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OMA CQ 283
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Quartalſchrift.
In Verbindung mit mehreren Gelehrten
beraußgegeben
von
D. ». fuhn, D. Bukrigl, D. ». Aberle, D. Himpel
unb D. fiobrr,
Profefjoren ber kathol. Theologie an ber f. Univerfität Tübingen,
Bierundfünfzigfter Jahrgang.
Erſtes Quartalbeft.
Tübingen, 1872.
Verlag ber H. Laupp'ſchen Buchhandlung.
Cheologifde
Quartalfchrift.
9n Verbindung mit mehreren Gelehrten
beraußgegeben
von
D. v. Auhn, D. 3uhrigl, D. νυν. Aberle, D. Himpel
unb D. Kober,
PVrofefioren ber kathol. Theologie an ber K. Univerfität Tübingen,
Bierundfünfzigfter Jahrgang.
Erſtes Quartalbeft.
Tübingen, 1872.
Verlag der H. Laupp'ſchen Buchhandlung.
Drud don δ. Laupp in Tübingen.
I
Abhandlungen.
l.
Unterſuchnngen über bie Lehre von Gejet unb Freiheit.
Bon Brofeffor gic. Linſenmann.
Dritter Artikel.
Die evangelifchen Käthe.
Die Lehre von den evangelifchen Raͤthen fteht mit uns
verwüftlichen Zügen in ber Gefchichte ber chriftlichen Kirche
gejchrieben. Wo immer altchriftlicher, Tatholifcher Boden ift,
ba ftehen noch, wenn auch zerbrochen, bie einfamen Zellen
fronmer Einfiedler und bie Kloftermauern, bie verlaffene
Heimat der Mönche und gottgeweihten Jungfrauen. Wo
irgendwie katholiſches Leben frifch erblüht, ba ijt e8 genährt
von jener höhern Myſtik be8 Glaubens, be8 Gebet? und
des Opferd, bie in ben Firchlichen Genoffenjchaften ihre
Wohnftätte hat; und jeder neue Auffchwung des Katholicis⸗
mu$ bat neue veligtdfe fürpevidjaften und in ihnen ebenjo
viele neue Formen des myſtiſchen Gnadenlebens, neue Afyle
ber gefährdeten Unſchuld, der ftillen Beichaulichkeit, ber ber
1 v
4 Linjenmann, >
roiſchen Nächitenliebe , ber ſelbſtloſen Wiſſenſchaft heruorge-
rufen. Wer für die Gegenwart wirken will, deſſen Aufgabe
ift εὖ, diefe Monumentenjprache ber Gefchichte zu beuten.
Die Ginóben Paläftinas, die durch die Aſceſe Johannes
be8 Täuferd und durch jene bedeutungsvolle Quadrages be8
Heilandes ſelbſt geheiligt worden, find feitdem nicht mehr .
ohne Afceten gewejen, welche daß befchauliche Leben, das
jelbft den Heiden wie Pythagoras und Platon als bie
wahre Philoſophie erſchien, für fid erwählten und
Ernſt machten mit der Verachtung ber Welt, bie ja vom
Herrn felbft jo oft im Gegenja& zum Reiche Gotte8
genannt unb ald daß Reich) des Widerſachers bezeichnet wurbe.
Die Idee von einem Gegenja zwilchen Gott und Welt,
Gottesdienſt und Weltdienft, war nun einmal im Evangelium
enthalten; wer mochte fie richtig auslegen?
Zu gleicher Zeit, da ein Theil der jungen Chriften fid)
in ber Welt einzurichten juchte, Gemeinden bildete, und vor
ber Welt frei und freudig den Glauben Chrifti befannte und
übte und im blutigen Martyriod beficgelte, juchte ein anderer
Theil fein Heil in der Flucht aus der Welt, indem er fid)
zurücdzog aus einer Gejellichaft, in welcher die Gegenjáte
unverjöhnlich zu bleiben fchienen; und auch dieß war nur
eine andere Art von Martyrthum, ob e8 nun in einem gue
tidgegogenen Leben in ven Paläften ber Hauptſtadt eder in
ber Wüften Agyptend und Syriens fid) vollzog; c8 war
nur eine andere Art, bie Welt zu überwinden um Chrifti
willen. |
Die Melt blieb Welt, auch nachdem mit Conftantin bie
riftliche Religion zur Staatsreligion geworden. Zwar ente.
faltete fid). jet die Kirche unter bem Schutze jened Echwerteß,
welches vorbem ihre 3Befenner hingerafft hatte, und fie durfte
Lehre von Geſetz und freiheit. 5
officiell ber ftaatlichen und bürgerlichen Gefellidjaft ihr Ciegel
aufdrüden; aber bie Ehe zwilchen Kirche und Welt war
eine unfriebliche und unfruchtbare. , Hin und bergemorfen
zwilchen Religion unb Politit, Glaubengeifer und Ehrgeiz,
apoftolifcher Einfalt und höfiſcher Intrigue, mußte mancher
unter den Beſſern zaghaft werben, auf dem glatten Boden
be8 öffentlichen Leben ſich ungefährdet zu bewegen; bie
Städte be8 Reiches wie bie Heerlager waren Heerde mora=
liſchen Berderbniffes, auf bem Rande war jchlecht übertünchtes
Heidenthum; da verließen fie in Echaaren eine Gefellichaft,
an deren Regeneration fie verzweifelten, und erfüllten bie
Gebirge und bie Wüͤſten mit Lauren und Klöltern; die Städte
erichienen ihnen als Einoͤden, bie Wüfte als Paradies. Es
find bie Größten ihrer Zeit, welche dieſes Leben erwählten;
‘wer trüge nicht eine jtile Verehrung zu jener Zelle zu
Bethlehem, deren Bewohner ein heiliger Hieronymus mat!
Daß und bie Formen jener Afcefe nicht immer ganz »et-
ftändfich find, darf ung nicht beirren. Nicht einmal die Ge:
fta(t Simeons des Stifiten möchten wir im Bilde jener alten
Kirche vermiſſen; e8 liegt darin eine erfchlitternde Gewalt
für denjenigen, ber über die Form hinweg dad Weſen ber
Sache zu erfaffen gelernt hat.
Jedesmal dann, wenn bie Welt in einer großen geiftigen
Verödung lag, wenn anjtatt geiftiger Bildung robe Gewalt
ber Waffen herrſchte, wenn politische Wirren die höhern Qe
tereſſen niederdrückten ober menn große fittliche Fäulniß fid)
ber Geſellſchaft bemächtigt hatte, wurde ein mächtiger Zug
zur Weltflucht bemerkbar; aus der anftecfenden Berührung
mit der Welt zogen fid) bie reinern, ernfter angelegten Seelen
zurück in die Ginjamfeit des Kloſters, vertieften fid) in bie
“verborgenen Wege chriftlichen Liebeslebens, verjüngten fich
6 Linſenmann,
am Borne frommer Contemplation; der Form nach war es
Θεὲ; in ber That aber keimte in dieſen geweihten
Stätten ſchon wieder eine neue Saat für ba3 geben; von
den ,Gejterbenen für diefe Welt” gieng eine regenerirende
Kraft aus in die Welt.
Das Wirken eined Gregor b. G,, eined Bernhard
von Elairvaur zu verkleinern ift nicht möglich; bier
fommt man fchlechterdings nicht au8 mit dem Vorwurf re-
ligiöfer Schwärmerei; ſolche Männer find einfach proviben-
tie; ohne fie wäre bie europäiiche Menſchheit nicht geworben,
was fie geworben ijt. Und wer ijt nicht erfüllt von Be⸗
wunderung für das reiche innerliche Geiſtesleben eines
$einrid Sufo und Tauler, unb wer könnte οἷς Quellen
verfennen, aus welchen fie fchöpften, bie Aicefe, οἷς Einſam⸗
feit, die Gontemplation, bie Gottesminne, bie um fo Tieblicher
in diefen heiligen Kreifen erblühte, je wirrer und wilder c8
brauBen in ber Welt gegen Ende des Mittelalters wogte und
ftürmte, im Etaat wie in ber Kirhe. Man bat fchon oft
als geijtige Frucht dieſes Ringens und Ctreben? nad) Inner
lichkeit bie beutíde Reformation baritellen wollen, und hat
babei nicht erwogen, daß gerade bie deutſche Neformation bem
lebendigen Baume be2 innerlichen Chriſtenthums die ächteſten
Quellen abgegraben Hat, indem fie in Baufch und Bogen das
Ordensleben verwarf, weil fie für die Myſtik der cwangelifchen
Näthe Fein Verſtändniß hatte.
Die Gefchichte des Proteſtantismus hat nur eine ber-
vorragendere Ericheinung, welche im Streben nach Inner:
Tichkeit, in ber Sehuſucht nad) einem myſtiſchen Gitabenleben
unb in ber Weltüberwindung durch Weltflucht einige Ver⸗
gleihungspunfte mit ber Fatholifchen Aſcetik darbietet, das
find bie Jünger Philipp Jacob Spenerd, bie collegia '
Lehre von Geje und Freibeit. 7
pietatis, für beren theologifche Richtung wir Bier nicht eins
zujtehen haben und deren veridjiebene Abzweigungen ung
nicht weiter intereffiren, bie und aber barum merfwürdig find,
weil wir in ihnen vornehmlich jenes religiöfe Bedürfniß wieder
finden, welche auf unfrer Seite dad Streben nad) chriftlicher
Bolllommenheit auf Grund der evangeliihen Näthe, alfo
namentlich ba8 Ordensweſen, hervorgerufen Bat !).
Und wie wir gerade in den befonbera kritiſchen Wende-
punkten ber Kirchengefchichte bie Ordensmänner jchaffend und
belebend eingreifen ſehen in ba8 religiöje Leben ber Völker,
jo Können wir und auch heute den Einfluß diefer eigenthüm-
lihen Myſtik nicht verbergen, welche hunderte ber tüchtigften
Kräfte in ba8 Klofter zieht und jene Hallen wieder baut,
bevölfert und fchmüct, in welchen wieder wie efebem bie
heilige Pſalmodie ertönt; aus ben Klöftern treten fie dann
wieder heraus in bie Welt; man lernt dad Ordensgewand
wieder fennen, und felbft feine principiellen Feinde lernen
ed achten, wenigftend an jenen frommen Frauen, deren Eman⸗
cipation darin beftcht, daß fie ben Kranken dienen in ben
Spitälern, den Gefangenen in den Zuchthäufern, den Waifen
in ihren Alylen, den Verwundeten auf den Schlachtfeldern.
1) Seine nefchichtliche Bebeutung erhielt ber Pietismus hauptſächlich
burch feinen Kampf gegen die flaıre Aeußerlichfeit und ben ertöbtenden
Drud ber herrſchenden (proteftantifchen) Theologie. Auch bierin ließe
fi eine Achnlichfeit zwifchen ibm und der Richtung eine® Sufo, ber
deutfhen Theologie u. f. w. nachweifen. — Ungefähr gleichzeitig
mit Spener lebte S. Ὁ. Gichtel, T 1711 zu Amſterdam; biefer er:
tidjtete bie Gemeinde der „Engelsbrüder“, welche, fid) aller Luft, Arbeit
und Sorge enthaltend, Durch Gebet und Zerknirſchung, burch fromme Bes
ſchaulichkeit unb Ehelofigfeit den Zorn Gottes gänzlich vertilgen und wie
t$ bie Bibel (Luc. 20, 56; Maith. 22, 80) verheißen, bie Meufchen zu
Engeln madjen wollten. Hettner, Literaturgefihichte be 18. Ihrh. III.
1. δ. 56.
8 Linfenmann,
Es ijt die katholiſche Kirche welcher diefe Erfcheinungen att
gehören; es ijt ba8 Princip des Mönchthumg, aus welchem
fie entfprungen, jene? Moönchthums, das feine Lobredner unter
ben Beiten unfrer Zeit, Möhler, Montalembertu. N.
gefunden hat. Der Fatholifchen Kirche gehören alſo aud) jene
fittlichen Principien an, bie in den „evangelifchen Räthen“
ihre Verwirklichung finden. |
Mir haben mit diefen kurzen Andentungen einen Tra⸗
ditionsbeweis geführt, einen bejjern vielleicht, af8 wenn wir
bei einzelnen Kirchenvätern um Belegftellen für die Lehre vom
Nath betteln gegangen wären P). Dagegen ift e8 nicht ganz
jo leicht, den Beweis dafür, daß dieſe Lehre wahrhaft im
Evangelium Ehrifti begründet und ein Element der ächt chrift-
lihen Moral jei, zu erbringen; oder vielmehr ijt es jchwer,
den wahren Sinn und bie eigentliche Bedeutung derjenigen
Sittenlehren herauszuftellen, welche man unter dem Echul-
ausdruck „evangeliiche Näthe” behandelt. Und doch haben
wir e8 hier mit einem der ethifchen Gontrabogmen zu thun,
welches wir wiljenjchaftlich begreifen müffen, wenn ung bie
immerhin feltfamen Erjcheinungen ber chriftlichen Myſtik, des
Ordenslebens u. f. τὸ. verftändlich werben follen.
Die Lehre von den Räthen überhaupt, zu denen bie fog.
evangelifchen Näthe nur eine befonderd charakteriftifche Art
ausmachen, bietet unfrer Erkenntniß diefelbe Schwierigkeit
wie bie chriftlichen Dogmen im Allgemeinen. Was liegt 3.8.
unſerm religiös - fittlichen Bewußtſein näher als ber Glaube
1) Wir meinen bamit Belcgftellen, welche Über δαδ Verhältniß
von Gebot und Rath Auffchluß geben könnten. Wie man in ber
alten Kirche über die Tugend ber Jungfräulichfeit u. j. το. gedacht,
bafür wären nicht nur einzelne Stellen, fonbern ganze Bücher anzuführen
à. 9. von Methodius, Ephräm, Hieronymus u. N.
Lehre von Gefe und Freiheit. 9
an bie Kraft unb Wirkfamfeit des Gebete; und bod) wie
ſchwer ijt derſelbe wiſſenſchaftlich zu vereinbaren mit ben
ewigen Rathichlüffen ber göttlichen Weltregierung! Aehnlich
ift e8 nun auch mit bem vorliegenden Problem. Die Subs
ftang dieſer Lehre gehört fo deutlich zu unferm Glaubens
bewußtfein, bie Wahrheit berfelben fteht jo lebendig vor. unfrer
Seele, daß biejelbe nur Fünftlich in Zweifel gezogen werben
fann, und doch finden wir ſehr jchwer bie richtige Formel,
bie wiflenfchaftlihe Bewährung für dieſelbe. Es ift nicht
möglich, bie gewöhnlichen Darftellungen biejer Lehre in ben
Lehrbüchern der Moral zu lefen, ohne von einem Gefühl
ber Unficherheit bejchlichen zu werben, als 05 bod) noch ein
Bruch in ber Rechnung [εἰ und al2 ob man fid mit einer
fophiftiichen Wendung oder unbemicfenen Vorausſetzung über
bieje oder jene Schwierigkeit hinwegſetze; jeder proteftantiiche
Ethiker bereitet und eine Art von Verlegenheit, weil er eine
Seite der Sache hervorkehrt, weiche eine evangeliiche Wahr:
heit rvepräfentirt und bod) mit unfern Fatholifchen Voraus:
ſetzungen nicht ftimmen will. Wir werden ber Wahrheit
näher kommen, wenn wir die Schwierigkeiten unferd Problems
anerkennen, als wenn wir fie einfach läugnen. Won biejem
Gedanken laſſen wir und in bec folgenden Darftellung leiten;
wir wollen Sinn und Bedeutung ber firchlichen Lehre nicht
abichwächen und verflachen, fondern fie in ihrer Tiefe faflen.
Wo immer und ein Verſtändniß aufgebt auch nur für eine
Ceite be8 Problems, ba ijt auch ſchon eine Stufe zum Bes
weis ber Wahrheit” erflommen.
Man braucht nicht voreingenommen zu fein gegen bie
ftrengern und ernfteen Formen chriftlicher Aſceſe; man braucht
nur einen Einn für gejchichtliche Wahrheit und einen ruhigen
Bid für die Wirklichkeit zu befigen, um wahrzunehmen,
10 Linfenmann,
baß ben meiſten jener gejchichtlichen Erfcheinungen, in denen
fid) die Idee der Afcefe und be8 Mönchslebens am ſchärfſten
audprägt, etwas anklebt, da bie Kritif herauzfordert.
Es ijt ſchon ſchwer, den Gegenjat zu verſtehen, welcher
nach verſchiedenen Ausſprüchen ber heil. Schrift beftcht zwifchen
ber Welt, bem Reiche des Türften der Finfterniß, und bem
Neiche Gottes. Der Gedanke aber, daß ba8 wahre
Chriſtenthum, bie volle und ideale Chriftusnachfolge, in der
MWeltflucht beftehe, enthält etwas Unwahres und Ber-
wirrendes, und müßte in ſtrenger Conſequenz zur bualifti-
ſchen Weltauſchauung führen. Chriſtus ſelbſt hat
30 Jahre im Elternhauſe gelebt und 40 Tage in bev Wüſte,
ſein öffentliches Leben und Wirken aber war in ber Welt
und für bie Welt. Mönche im jtrengeu Sinne diefes
Worte waren weder bie Apoftel roch ſelbſt Johannes ber
Täufer; bie Weltflucht konnte man viel eher bei den Pytha—⸗
goräern, Eſſenern und Therapeuten kennen lernen. Eolite
das Chriſtenthum bie menſchliche Geſellſchaft regeneriren und
ſollte durch daſſelbe das Angeſicht der Erde erneuert werden,
ſo durfte es nicht dadurch geſchehen, daß die Beſten ſich der
Geſellſchaft und ihrer Arbeit, den Pflichten des Bürgers und
Staatsuuterthanen, entzogen. Wir wollen kein ſehr großes
Gewicht darauf legen, daß, wie Spätere heidniſche Echriftfteller
bet Ehriften zum Vorwurf machten, taufende von Männern,
anf welchen bie Kraft des Staates ruhen ſollte, als Einfiedler
in bie Wüſte zogen, anftatt mit Fräftigem Arm bie ſtets be—
drohlichen vorbringenden Barbarenvölfer von den Grenzen
des Reiches abzuwehren; ber Ruin des Reiches, das Abnehmen
ber Widerſtandskraft be vömifchen Kaiſerthums gieng aus
andern Urfachen hervor; aber dag fanm bod) gelagt werben, .
baB wenigften? das morgenländifche Mönchsthum wenig ber
Lehre von Geſetz und Freiheit. 11
nidjtà vermocht hat, um bie allmählige Aufldfung des Staats:
wejend und bie Verkümmerung des Kirchenweiend au ver
hindern. Alle die geiftigen Früchte ber Afcefe, ja ſelbſt ihrer
Hände Arbeit, von deren Ertrag, wie man berichtet, ganze
Schiffsladungen von Lebensmitteln den Armen Rom? zulamen,
hatten für bie damalige Gefellichaft keinen ermweizlichen Nuten;
e lag in diefer Art von Afcefe feine [ebengebenbe Macht.
Um vieles fruchtbarer entfaltete fid) dad Mönchthum
im Abendland. Zwar war e8 auch bei ben Söhnen be?
ἢ. Benedift immer ber erjte Gebanfe, bie eigene Seele vor
der Welt in Sicherheit zu bringen und ein verborgened, bent
göttlichen Dienfte allein gemweihtes Leben zu Führen; aber
man lich dabei bod) bie allgemeineren focialen Zwecke nicht
ganz aus den Augen; man wollte nicht die Chriften aus bet
Welt hinaus, fondern ba$ Chriſtenthum in bie Welt einführen;
dag beſchauliche Leben wurde mit dem thätigen verbunden ;
man bildete die eigene Seele nach dem Bilde Chriftt, um
diefe Eultur aud) in die Welt überzupflanzen. Aber e8 ijt,
ala ob das ffofter die Berührung mit der Welt nicht ertrage;
gar bald ftand der Ordensmann mit dem einen Supe im
Klofter, mit dem andern in ber Welt. ὧδ leuchtender fid
die großen been, von denen das abendländifche Mönchthum
getragen war, enifalteten , befto beutfidjer zeigten fich auch
bie Gegenfäße, die im Weſen felbft lagen. Man kann nicht
jagen, daß εὖ eine Außartung be8 Mönchthumd war — c8
gehörte vielmehr mit zu feiner providentiellen Beftinnmung :
diejenigen, welde bie 9(rmutb Chriſti für fid) ermählt,
wurden bie Reichen unb Beſitzenden; bie ba8 vere
borgene Leben Chrifti erwählt, wurden ble Mäch—
tigen der Welt, Herren großer Gebiete, Dineingegogen
in die großen Welthändel. Ehemals entzogen fid) bie Ana-
12 Linfenmann,
choreten den Pflichten ber bürgerlichen Geſellſchaft; jetzt
wurden Mönche — und Geiftliche überhaupt — bie Politiker,
bie Säulen des Staatsweſens, feldft Kriegsherrn und Tiich-
genofjen ber Kaifer und Könige. Die trübern Erfahrungen
beginnen; man mijdjt fid nicht ungeftraft in bie Angelegen-
heiten ber Welt. Bald waren bie Äbte nicht mehr bie geiftigen
Führer ber untergebenen Mönche; es genügte ihnen nicht mehr
die Nolle des (S(ia8 oder Eliſaäus unter den Prophetenſoͤhnen;
weltliche Sorgen nahmen fie in Anfpruch, ein weltlicher Geift
309 ein in ben Kloftermauern, feind ber Plöfterlichen Stille
und bem heiligen Frieden des Gotteshauſes. Die Orden?-
δάμεν, die ein Beijpiel der Entfagung, der Demuth und be2
Friedens geben jollten, wetteiferten, um einander den Vor:
fprung an Macht, Anjchen und Einfluß abzugewinnen, und
wo (δ cine Fehde gab in Neich, Kirche oder Wiffenfchaft, ba
waren Mönche unter bem erbittertften Kämpfern. Wo fonft
ben Frauen öffentlich zu wirken verjagt ijt, in ber Kirche
unb in ber Politif, ba errangen fif bie Abtiſſinnen
Stimmberehtigung, Gewalt und Macht, und ber Rüdichlag
auf bie ftille Klofterzucht fonnte nicht außbleiben. Wir reden
nidi von ben eigentlichen Argerniffen, die aus ben Klöftern
hervorgiengen und erluftigen ung nicht an ben traurigen
Sittenfchilderungen αὐ ben Zeiten des Verfalls der Klofter-
zucht; denn nicht den Klöftern allein fondern auch den Welt:
geiftlichen jagt man nah: omne malum a clero. Das
eigentliche Verderbniß be2 Ordensweſens ijf nicht au8 beffen
Entwicklung jelbit hervorgewachſen, ſondern von außen ihm
angethan worden. Nur Gine8 müffen wir noch hervorheben.
Mährend dad SOrbengfeben feinen Urjprung und feiner Be-
ftimmung nad) ber Junerlichkeit und ber wahren evangeliſchen
Freiheit zuftrebt, iſt oftmals gerade von ben Klöftern αὐ bie
Lehre von Gefe& und Freiheit. 13
gehaltlofefte Außerlichkeit des Kirchenweſens
gepflegt worben, eine Werfheiligfeit, welche bezüglich ber
Mittel oft nicht jebr wählerifch war.
Man kann bie Gejchichte beà Mönchthumz im Allgemeinen
und eine? jeden Kloſters im Bejondern von einem boppelten
Standpunkt αἰ jdreiben. Man fann fid) für bie erhabene
Idee begeijterm, die großen Züge in ber Gejchichte verfolgen,
bie großen Erfolge und Schickjale herausheben, einzelne ber:
vorragende Erſcheinungen generalifiren, bie Verdienfte einzelner
Männer, bie Wiſſenſchaft einiger Gelehrten, die Heiligkeit ein-
zelner Nonnen als die charakteriftiichen Merkmale be$ Ganzen
aufführen, man fann einzelne Züge zarter Myſtik wie lieb:
liche Blumen aus einem großen Garten fammeln und zum
Strauße binden und damit den Ginbrud hervorrufen, als 0b
ed im ganzen Garten jo jchön blühe, al8 ob Alles wirklich
jo gewelen, wie e8 hätte fein können. |
Man fant aber auch bei der peinlich profaifchen Wirk:
lichkeit ftehen bleiben unb bie unbeugfamen Einzelthatfachen
verzeichnen; man kann erzählen von einer kurzen Blüthe und
bem langjamen Vorfall eines Klofter?, von den Berftimmungen
feined innern Organismus, ſeinen innern Streitigkeiten und
Spaltungen, von ehrgeizigen Umtrieben bei den Wahlen ber
Äste und Abtiffinnen, von den Auflehnungen gegen ftrenge
Dbern; man kann neben einzelnen hervorragenden und wür-
digen Gliedern die Anzahl der unbebeutenden unb ſchlechten
nadjredjnen u. f. wm. Jede biefer beiden Betrachtungsweiſen
τοῦτος für fid) allein einfeitig und ungerecht fein. Wir haben
an bicjem Orte nicht ſelbſt eine Gefchichte zu fchreiben, ſondern
mur bie Lehre daraus zu ziehen. Davor braucht ung nicht
bange zu fein, daß nicht bei Abwägung der großen Seiftungen
der Orden gegen die Mängel und Schäden, ihrer Tugenden
14 Linfenmann,
gegen ihre Ärgerniffe, ihrer Sconungen gegen ihre Verberb-
nifje, die Wagichale zu Gunften ber Orden überhaupt fid
fenfe und daß nicht der Segen eines jeden einzelnen Kloſters
größer geweſen ſei ald ber Nachtheil, ber aus feiner Corrup⸗
tion entjprang; man muß nur überhaupt einen Einn haben
für Werthſchätzung de Geiftigen und Geiftlichen im Ber:
hältniß zu den irdischen Dingen und Beſtrebungen.
Aber ἐδ mußte diefe Gegenfeite hervorgekehrt werben,
um zu zeigen, daß etwas mic Antinomie im Weſen des Mönch:
thums jel6jt liege, daß bie abftrafte Trennung von Welt und
Kloster jid) entweder nicht durchführen faffe, oder, wenn durch⸗
geführt, über bie Grundlinien der chriftlich fittlichen Welt:
ordnung binausführe Und gleichwie nun bie ganze groß-
artige Erfcheinung be Ordensweſens in ber Geſchichte unfrer
Religion eine dunkle, unverftänbliche Seite darbietet, fo ent-
halten auch bie theologischen Vorausſetzungen jener Erſchei⸗
nung ihre bialeftiiche Echwierigkeit, deren Loͤſung wir zu
verfuchen haben vom Standpunkt der wahren evangelifchen
Freiheit aus, wie wir im erjten Artikel (Jahrg. 1871, 1.9.
©. 113 f.) angekündigt haben.
Es ftehen gegeneinander chriftliche Gerechtigkeit und
chriſtliche Vollkommenheit, ein Leben nach den Geboten und
ein Leben nach den Räthen, ein thätiges Weltleben und ein
Leben der Befchaulichkeit. Es ift die Frage, ob wir e8 Bier
mit zwei getrennten fittlichen Nichtungen, mit gegenfälichen
fittlichen Standpunkten zu thun haben, ober ob es nur zwei
verſchiedene Seiten derſelben chriftlichen Sittlichkeit, nur bie
negativen und pofitiven Bedingungen beà Heiles find.
Die gewöhnliche Vorſtellung ber Theologen ijt, bap bie
Sittenvorichriften, bie un8 üt ber chriftlichen Offenbarung
gegeben find, in zwei Gruppen zerfallen, nämlich in Gebote, -
Lehre von Gefeb unb Freiheit. 15
beren Erfüllung zur Seligfeit nothwenbig tit,
b. B. deren Nichterfüllung, wenn fie fid) nicht etwa nur auf
einen Kleinen Bruchtheil des Gebotenen (materia parva) er-
ftredt, von der Seligkeit aufchlicht; und in Räthe, deren
Befolgung eine höhere Stufe der hriftlihen Voll, -
fommenheit, beziehungsweiſe Seligfeit bedingt, deren
Nichtbefolgung aber von der Seligkeit nicht ausſchließt, aljo
Sünde ün ftrengen Sinne be8 Wortes nicht tjt. Die Ge-
bote find Allen in gleicher Weile gegeben und beziehen fid)
auf bie Allen gemeinjfamen Pflichten, bie Näthe dagegen er:
gehen an Einzelne und beziehen fi. auf Seiftungen, die nicht
Allen zur Pflicht gemacht werben fünnen. Nach bicfer rein
formalen Seite, wornad) der Gegenftand des Rathes nicht
die Form eine? allgemeinen Geſetzes Dat, wird nun eben
als das Charakteriftifche diefer Sittenvorfchriften hervorge-
kehrt, baf ber Einzelne fid) ihm gegenüber frei verhalte, fo
[ange nämlich, ala er nicht durch einen ſpeziellen göttlichen
Beruf dazu angehalten wird ober durch ein Welübde fid)
ſelbſt verpflichtet.
Schon aus biejer fegteren Beifügung ijt jeboch zu er-
ſehen, daß εὖ fi) mit ber Freiheit in Erfüllung der Näthe
ähnlich verhaften werde, wie mit der freien Übernahme und
ber Erfüllung ber verſchiedenen Standespflichten,
jolcher Pflichten alfo, welche nicht Allen gelten, fondern nur
beu Angehörigen eines bejtimmten Standes, den fie — bei
ba8 ijt dad Normale — frei für fich gewählt haben, Noch
mehr würde die Analogie der „Räthe“ mit den Standes⸗
pflichten erfannt worden fein, wenn man zugleich bie ſachliche
Seite ber Räthe, ihre Subſtanz oder den Umkreis ber Lei—
ftungen, welche unter die Kategorie ber Näthe fallen, nach
ihrer Stellung im göttlichen Heildplane gewürdigt hätte.
16 Linfenmann,
Wir müfjen jedoch diefen Gedanken vorerft auf ber Seite
liegen laſſen — vielleicht bap wir ihn fp&ter brauchen koͤnnen.
Halten wir ung an bie gewöhnlichen Darftellungen, fo
wird allerdings überall anerkannt, daß die eigentliche Subſtanz
be8 Sittlichen für alle Menjchen bie gleiche fei, bie Erfüllung
be8 göttlichen Willens; und daß ber lebte Beweggrund nnd
ble eigentliche Form unfrer Sittlichkeit die Liebe fein müfle;
jo wie ja aud) allen Menfchen die gemeinfame Beftimmung
gegeben fei, welche in der jeligen Vereinigung mit Gott be-
ruhe. Aber ber göttliche Wille gebe fid) auf zweierlei Art
fund, in ber Form ded Gebot? und in ber Form be8 Rathez,
und bemgemäß lafje fid) zum Siele auf zweierlei Wegen
fommen, bem ber Gebote unb bem ber Näthe; ber eritcre
führe amar aud) zum Ziele, aber er fei ber weniger voll-
fommene, der jchwerere unb weniger jichere; ba8 Heil werde
leichter und ficherer erreicht, werın man jid) durch bie Räthe
gleichfam als durch Inſtrumente zur Ergreifung des Heil?
leiten. faffe ἢ).
Um nun aber ben Umfang und Anhalt des Gebotencn
im Unterfchied vom Gerathenen zu beftinnmen, hält man fich
an die formalen Wendungen, mit denen bie b. Schrift bie
Sittenvorſchriften darftelt. „Wenn Chriftus etwas abfolut
zu thun ober zu unterlaffen befichlt, wenn er bie Strafe
ber Hölle ober-be8 cwigen Todes androht, wenn er feine
Rede an Alle richtet — bann hat man hierin Gebote zu
erkennen. Wenn er dagegen bloß mahnt ober Nath gibt,
ober zwar eine Vorjchrift gibt, aber ihre Erfüllung bem
freien Willen anheimgibt (in arbitrio aut Jibertate relin-
1) Et hic patet, quod perfectio essentialiter consistit in prae-
ceptis ... secundario autem et instrumentaliter perfectio consistit
in consiliis. S. Thomae Aquin. S. Th. 2. 2. qu. 184 art. 8.
Lehre von Gefeg und Freiheit. 17
quit), |o liegen nur Näthe vor; 3. 33. wenn εὖ bezüglich
ber beitändigen Keufchheit heißt: wer c8 fallen kann, bet
faffe c8". So PBainzzi ), einer der beiten unter ben
Nrengern Moraliften. Ein folches Kriterium ijt aber auf
bem erjten Blid ungenügend. Denn bei weiten die meisten
Sittenlehren Jeſu find in einer Form gehalten, welche e8
zweifelhaft läßt, ob diejelben geboten ober gerathen felen ;
e$ ijt ja gerade der charakteriftiiche Unterſchied zwijchen
dem alten unb neuen Se|tament, daß bie Lehren des letztern
nicht in Gefeßesform gegeben find. Die Sittenlehren der
Bergpredigt z. B. find in fo ganz anderer Geftalt vorgetragen
af8 der Defalog, daß bie Eafuiften fid) ohne Ende ab-
müben werben, um zu erörtern, ob diefelben Gebote ober
Räthe fein. Um nun aus biejer Schwierigkeit herauszu-
fommen, unterſchieben fie dem Begriff be8 Gebotes ben
beà Geſetzes; was im ftrengen Sinne geboten ijt, dag
erfennen wir aus dem, was bie Kirche und als Gejch auf-
erlegt. Dieſes kirchliche Geſetz, bie äußerſte Echranfe ber
Sittlichfeit, jenfeitö welcher bie Sünde beginnt, wird a[8 ber
Snbegriff ber Gebote genommen, und Alle® was über biele
Gejegesbeftimmungen hinausgeht, ijt dem Gebiet der Räthe
angehörig. So erfüllt derjenige dad Gejeg, der am Sonntag
eine heil. Meſſe anhört; bag er aud) nod) dag Wort Gottes
anhöre, ijt gerathen; aber eine Pflicht befteht in biefer
Beziehung nicht.
Man [δὲ leicht, daß man mit diefer Auffafjung einen
Legalitätsſtandpunkt betreten würde, welcher dem chriftlichen
Gewifjen nicht genügen kann; eine ſolche Geſetzesgerechtigkeit
1) Theol. Moral. tom. I, tract. I. de leg., diss. II. cap. VIII.
n. 4.
Theol. Quartalſchrift. 1872. Heft I. 2
18 Linfenmann,
hätte zwei Fehler; fürd erite wäre etwas rein Negativeg,
ein Nichtthun des Böſen, ein blofe8 Vermeiden der Straf:
fälligfeit, noch feine pofitive Sittlichkeit; man könnte dabei
an den Knecht im Evangelium denken, der fein anvertrautes
Pfund unverkürzt zurüdgab, weil er ἐδ — vergraben hatte.
‚Fürs zweite aber ſcheint eine folche Geſetzesgerechtigkeit den
eigentlichen fittlichen Korderungen be8 Evangeliums nicht zu
genügen; denn in ben leßtern ijt enthalten bie Liebe Gottes
über Alles und dad Streben nad) fittlicher Vollkommenheit.
Indeſſen machen ſichs einige Moralijten leicht mit ber
Antwort auf bieje Schwierigkeit. Da einmal, fagen fie,
nach Fatholifcher Lehre Gott gewifje Tugendübungen nicht
befiehlt fonbern nur empfiehlt in der Form des Rathes,
jo folgt daraus, daß e8 eine mehrfache Art von Vollkommen⸗
heit 2) und cine mehrfache Art von Liebe 3) gibt, und daß
man auch mit der niebrigften Art noch fein Heil wirken Tann.
Das heißt jedoch nur ber Schwierigfeit mit Hilfe eines
eirculus in demonstrando ausweichen. Diejenigen, welche
tiefer auf die Sache eingehen, ftügen jid) darauf, daß ber-
jenige welcher genugſam in der Gnade befejtigt ift, um die
Sünde zu vermeiden, ebendamit auch in pofitiven Werfen
ber Xiebe fid) thätig zeige, daß er alfo nicht febiglid) auf
ber Grenzſcheide zwilchen der Sünde und dem Erlanbten
ftehen bleiben fünne, jondern aus freiem Antrieb und freier
Wahl mehr tue, αἷδ ber Buchſtabe des Gejebe8 fordere.
Mit einer andern Wendung fagt man, wer niemald etwas
mehr thun wollte als das Gebotene, der würde jchließlich
auch die Gebote nicht mehr zu erfüllen vermögen. Denn
1) Cf. Theolog. myst. (Schram). Paris 1848. tom. I. pag. 24 sqq.
2) Bellarmin. De monach. lib. Il. cap. II.
Lehre von Gefeg unb Freiheit. 19
ba al unjerm Thun doch eine gemijfe Unvolltommenheit
anhaftet, jo wäre εὖ ein Beweis der Lanigfeit, menn man
fi) damit berubigte, gerade noch die ſchwere Sünde zu ver-
meiden; eine jolche Seelenftimmung würde bald eine Er:
ſchlaffung der fittlichen Kraft unb in Folge davon unter bem
fteten Andrange der Berfuchung ven Tal in die Sünde
herbeiführen.
Sp gewiß in diefer Bemerfung eine piuchologifche Wahr-
heit enthalten ijt, jo gewiß ergibt fid) aus ihr, daß c8 für
einen eben conditio sine qua non ber Bewahrung des
Gnadenſtandes ift, bie eine oder andere Leiltung aus bem
Gebiet be8 Gerathenen zu vollziehen. Damit erhält aber
bie gewöhnliche Vorftelung vom Nathe einen ftarfen Stoß,
ganz Ähnlich mie mit ber Behauptung, ber Nath werde zur
Pflicht, wenn man zu deſſen Erfüllung berufen werde,
Merkwürdig aber ijt, wie fid) bie verfchicdenen Mora-
liltenfchulen, bie Probabilioriſten und bie Brobabi-
liften, zu unfrer Frage ftellen. Die Erjteren, bie ben
Geſetzesſtandpunkt vertreten gegenüber ber individuellen Frei—
heit, müßten conjequent auch den Gebrauch der Freiheit be:
züglich be8 Gerathenen als ba8 Gewagtere und Gefährlichere
betrachten, jo lange der Einzelne nicht weiß, ob er zu ben
Berufenen gehört; ba fie aber bod) den höheren fittlichen
Gehalt in den evangelifchen Aufforderungen zur Vollkommen⸗
heit, zur Chriftußnachfolge u. |. vo. erkennen, faſſen fie bieje Aug:
ſprüche der ἢ. Schrift z. Ὁ. Matth. 5, 48; 16, 24 in ber Form
von Geboten oder Gefegen auf, und ftellen bemgemá an [egli
hen Chriſten jolche Anforderungen, welche ihnen mit Recht den
Vorwurf des Rigorigmus zugezogen haben. Umgefehrt halten
fid die Probabiliften, wenn fie den Umfang des Gebotenen
beftimmen, nur an diejenigen Ausſprüche, welche deutlich bie
9 E
20 Sinfenmann,
Worm be8 Geſetzes haben; diejenigen Sentenzen aber, welde
allgemeiner und unbeſtimmter lauten, nennen fie Räthe.
Subem fo von ihnen gleidlam das Nivcan der gemeinen
Sittlichfeit herabgedrückt wird, erweiſen fie fid) un fo eifriger
in der Empfehlung ber Räthe jelbjt, in der Edhilderung
ber Verdienftlichkeit und Erhabenheit der freiwilligen Afcefe,
bes Klofterlebens u. |. f. Aber die Confequenz davon ijt
eine zwiejpältige Moral, cine andere Moral für bie
MWeltleute, denen e8 genügt, Feine Todſünde zu begehen, unb
eine andere Moral für die Frommen unb Außerlefenen.
Das tft der gefährliche Bunkt, auf welchem bie proba-
biliſtiſche Gajuijti£ angelangt ift und welcher für fie wieder
ebenso verhängnißvoll werden wird, wie efebem zu Pas cals
Zeit. Wir haben εὖ mit einer der wichtigften Zeitfragen
zu thun, wenn wir ba$ Problem von den „Räthen” einer
neuen Unterfuhhung unterziehen; es handelt fid auch bier
um den wahren und ben falfchen Probabiligamus, um Ge-
legesgeveditigfeit und evangelifcheFreiheit, unb
wir halten eine Nevifion der herrſchenden Vorftellungen bier-
über auch nad) den neuesten Publicationen von Shwane*)
und Ködffing 5 für wünfchenzwerth.
Der kirchliche Begriff be8 Rathes zerlegt fi und in
dret Elemente, bie wir num zunächſt jchrittweile aus ber
Lehre der hl. Echrift erheben; ſoweit diefelben fid einzeln
und erwähren, wird auch bie Wahrheit des Firchlichen
Begriffs berausgeftellt werden. Dieſe Elemente find a) bet
Begriff be8 opus supererogatorium; b) ber Begriff des
1) De operibus supererogatoriis et consiliis evangelicis in
genere. Monast. 1868.
2) Der reihe Süngling im Evangelium. Freiburg 1868. "Rs
Quartalſchr. 1869. ©. 844 ff.
Lehre von Geje und Freiheit. 9]
bonum melius; c) ber Begriff ber Freiheit, womit ber
Einzelne zwifchen bem Guten und Befjern wählt.
a) Das opus supererogatorium.
Gleichwie dad Merk des Erlöferd, wenn wir baffelbe
in unfrer Vorſtellung auf eine beftimmte Summe von Einzel-
aften, deren jeder von unenblidjer Verdienſtlichkeit ijt, au-
rüdführen, ba8 Löſegeld unendlich überfteigt, dad für unfre
Erlöfung bezahlt werden mußte, und gleichwie demnach ein
überfließender Schatz von Verdienſten hinterlegt ift, an
welchem die Erlösten vermöge ihrer Blutsgemeinfchaft mit
Chriſtus Theil haben: jo haben auch Viele won ben Erldßten
ſelbſt, injonberbeit bie Apoftel und Martyrer, in ihrem
Wirken und Leiden, welches ja nach Fatholifcher Lehre auf
Grund der Gnade und Lebendgemeinichaft mit Chriſtus
wahrhaft verbienftlich ijt, ein größeres Maß von Verbieniten
erworben, als ſchlechthin zur Erlangung ber Celigfeit, zur
Buße für etwaige Sündenſchuld u. f. τὸ. erforderlich gewejen
wäre. Man Sieht, bap bet diefer Vorſtellung bie Leiftun-
gen der Heiligen nach einem fleinjteu Maß, bag an Alle
angelegt werden fann, gemefjen werben; es gibt bemmad)
für den Einzelnen ein beitimmted? Maß: von Leitungen,
welches ihm feinen Antheil am Neiche Gottes fichert, [εἰ e8
nun, daß er von der Taufe an in ber Gnade beharrt, ober
daß er, in Sünde auritdgefalfen, ben weiteren und fchmerz-
fien Weg ber Buße betritt und vollendet; über dieſes
Heinfte Map aber kann er hinausgehen durch eine bejonbere
Steigerung feiner fittlihen Kraft und mit Hilfe befonderer
Hilfsmittel der Religion; er kann mehr thun, af8 er muß,
um bad Leben zu erlangen, und gleichwie bieje Mehrleiftung
jelbjt Schon Ausflug eines intenfivern Gnadenlebens ijt, fo
29 Linfenmann,
erwirbt fie auch wieder eine gefteigerte Gnabenmittheilung
und verdient einen entiprechenden höhern Kohn im Jenſeits.
Der Hl. Schrift ijt diefe Vorftelung keineswegs fremd.
Am deutlichiten Fpricht fid) der Apoftel Paulus aus (I Kor.
9. Kap); feine Berufsaufgabe ijt bie Verkündigung beg
Evangeliums; in diefer Hinficht ijt ihm Nothwendigkeit
auferlegt: „wehe mir, wenn id) nicht dad Evangelium
verfünde !^ V. 16. Wenn er dieß willig thut, jo hat er
Lohn; wenn aber widerwillig, jo trägt er bie Verantwortung
be8 Amtes, ®. 17. Dabei ftebt c8. ihm aber frei, von ben-
jelben Erleichterungen im Dienfte, welche andere Apojtel fid)
gönnen, Gebrauch zu machen, V. d—6, und ingbejonbere
feinen Lebengunterhalt von denen anzufprechen, denen er
ba$ Evangelium verkündet, 88. 7— 14; allein er will ein
Uebriges thun: „welches ijt nun mein Lohn? daR id) bag
Evangelium prebigend unentgeltlich mache dag Evangelium,
damit ich nicht mißbrauche mein Anrecht in bem Evangelium.“
$5. 18. Da im vorangehenden V. 17 jdjon von einem
Kohn bie Nede war für die Evangeliumsverfündigung an
fi, jo kann man ®. 18 nur von einem befondern Lohn
für eine verfönliche Mehrleiſtung verjtehen, bie den Gegen
ftand ſeines Ruhmes ausmacht, 38. 15 u. 16. — Um jetod)
dieſer Schriftftelle ganz gerecht zu werden, muß barauf auf:
merfjam gemacht werben, daß das opus supererogatorium
be8 Apoſtels nicht gang ohne Berechnung der Cituation ijt,
in welcher er fid) befindet, er fat gute und beftimmte Gründe
— nicht nur marum er ein Mehreres thut — jondern auch
warum er dich feinen Leſern fo nachtrüdlich in Erinnerung
bringt. Vielleicht hieng der Erfolg der Predigt des Apoſtels
unter den Korinthern gerade von bem befondern Opfer ab,
welches er brachte,
Lehre von Geje& und Freiheit. 28
Wir legen hier Fein befonderes Gewicht auf diejenigen
Sähriftftellen, welche auf eine Verfchtedenheit und Mannig-
faltigfeit der Belohnungen im Jenſeits hindeuten, denn biee
jelben werden in erfter Linie auf die verichiedenen Begabun-
gen und Berufdaufgaben bezogen werden müffen. Doch kön⸗
nen wir bie claffilche Stelle 9Dtattb. 16, 14—30 (Mark. 10,
17—31; $uc 18, 18—30) nicht ganz übergehen; hier ift
nämlich ein deutlicher Unterjchied gemacht zwiſchen bem
ewigen Leben, welches bem reichen Jüngling üt Augficht
gejtellt ift, wenn er bie Gebote erfüllt, 35. 16—19; und
fodann bem € dag im Himmel, melder als Belohnung
der vollen rückhaltsloſen Chriftußnachfolge verheißen wird.
Da bie Finger, Zeugen biefer Unterredung des Herrn mit
bem Jüngling, den Herrn gewifjermafjen beim Wort nehmen
und fi) darauf berufen, daß fie in Wirklichkeit Schon Alles
verlaffen haben, weizt ber Herr ihre Prätention nicht nur
nicht aurüd, ſondern jpecificirt. ihren befondern Lohn dahin,
bap fie einſtens fige werden auf zwölf Thronen, vichtend
die zwölf Etämme Iſraels; unb nicht nur bie Apoftel, fondern
„Jeglicher welcher vwerlaffen hat Haus oder Brüder oder
Schweſtern oder Vater oder Mutter oder Weib oder Kinder
ober Acker um meine? Namens willen, wird Hundertfaches
empfangen und ewiged Leben ererben." V. 27—29.
Läßt fid aus diefen und Ähnlichen Echriftitellen bie
Vorſtellung einc® opus supererogatorium conftatiren, jo
fann und bed) auch nicht entgehen, daß bieje Vorjtellung
etwas Unadaquates Dat; bicje$ Ticgt darin, daß man δα
fittlihe Thun, anftatt daffelbe nach feinem Grund und Wejen
als einheitliched Gange zu erfaflen, in Einzelhandlungen
zerlegt und barnad) numerirt und tarirt; ebenſo daß man
bie verfchiedenen Grade der Seligkeit gleichſam mad) bet
94 Linfenmann,
Elle mipt. Allein barau8, daß biefe Vorſtellung unadäquat
ift, Folgt nicht, daß fie jeglicher Wahrheit entbehrt; und ba
unsre religiöfe Erfenntniß überhaupt bie Form ber Sore
ſtellung niemals ganz abmerfen fann, jo werden wir auch
in bdiefer Vorjtellung einen Kern. ber Wahrheit fejthalten
müſſen.
Die Vorſtellung eines überfließenden Verdienſtes δὲς
währt fid auch unſchwer unſerm Gemeinbewußtſein. Mir
reflektiren z. B. über bie Obliegenheiten, welche unſre Ses
rufsſtellung uns auferlegt; wir grenzen einen beſtimmten
Kreis von Pflichten ab, obwohl wir wiſſen, daß unſer Beruf
den ganzen Mann und ſeine Kraft in Anſpruch nimmt;
wir ſind uns bewußt, daß wir noch etwas über jenen Kreis
hinaus zu leiſten fähig find; aber wir behalten uns in dieſer
Beziehung freie Dispofition über unſre Lörperlichen oder
geiftigen Kräfte vor; wir machen, um und gefchäftlich aus⸗
zudrücken, auf unfre Freiftunden Anſpruch, und wenn wir
auch diefe unferm Berufe widmen, jo ift daß zwar nur eine
befondere Art von Pflichttreue, aber vennech kommt es und
jo vor, als οὐ und dafür eine bejonvdere Anerkennung
gebühre.
Wir Sprechen mit bem Geſagten nicht einen fittlichen
Srundjag, fondern eine pfüchologifche Wahrheit aus; eine
jolche Geſinnung, wie die gefchilberte, mag fittlich betrachtet
unvolllommen fein, fie ijt vielleicht mehr menfchlich als
chriſtlich, aber eigentlich unfittlich wird man fie nicht nennen
können; e8 gibt vielleicht eine höhere, ibealere Auffaffung
ber Beruföpflicht, aber fie ift eben darum bie ideale, weil
fie die freiere ijt und die Empfindung des fittlichen Zwangs
ausſchließt. Bellarmin macht darauf aufmerffam, daß
in gut eingerichteten Republiken außer ben gemöhnlichen
Lehre von Gefeg unb Freiheit. 25
Belohnungen und Strafen für Beobachtung beziehungsweiſe
Übertretung der Geſetze noch beſondere Erkenntlichkeiten,
Bürgerfronen, Ovationen, Triumphe denjenigen vorbehalten
jen, welche fid) durch heroiſche Leiſtungen hervorthun.
Warum ſollten nicht auch im Reiche Gottes heroiſche Tugen-
ben einen bejonberm Lohn erhalten! !).
b) Das bonum melius.
Die Vorſtellung vom überfließenden Verdienſt erhält
eine neue Beleuchtung, wenn wir von der Abſchätzung ber
menschlichen Verdienste nad) Zahl und Maß fortichreiten
zu einer Würbigung ber Handlungen nad) ihrer Art
oder Dualität. Es gibt ein bonum melius, ba will
heißen, es gibt eine Klaſſe von fittlichen Übungen, benen
ein fpezififcher Tugendchatakter zukommt, gleichwie fie eine
bejonbere fittliche Begabung und eine bejondere Gnade vor:
ausſetzen. Bollftäntig Mar jebod, wir müfjen dieß fogleich
bemerken, ijt bie Unterfcheidung verjdjicbener Arten, species,
ber ſittlichen Subſtanz nicht, denn man kann etmaà blos
Gerathenes vollziehen, das nicht in ben limfrei3 be$ bonum
melius fällt. Wenn ich über das pflichtmäflige Almofen
hinaus noch Xiebesgaben fpende, jo vollziehe ich ein opus
supererogatorium, das aber nicht aug bem Gebiet be
bonum melius (nach ber gewöhnlichen Darjtellung) ge:
nommen ijf, fondern αὐ bem Umkreis der gewöhnlichen
Tugenden; dagegen etwas fpezififch Beſſeres übt derjenige,
welcher bie Zungfräulichkeit bem ehelichen Leben vorzieht *).
1) De monach. lib. II. cap. XII.
2) Ueber bie Unterfcheibung δὲς „allgemeinen unb eigentlichen
Räthe“ von ben „befondern fittlihen Räthen, welche fij im Gebiete
aller Tugenden bewegen“ f. Köſſing, ber reihe Süngling €. 854.
26 Rinfenmanı,
Wird aber einmal zugegeben, was aus dieſer Unterjcheibung
hervorgeht, daß nämlich auf jedem Gebiete der Sugenbübung,
ta ſelbſt in Beziehung auf bie Meidung des Böſen, näherhin
auf bie Mittel und Wege zur Ternhaltung des Böſen P),
etwas Gerathened zu thun möglich - εἰ, jo fchrumpft ber
eigentliche Gebanfe des bonum melius, bet fpezififche
Unterfchied zwiſchen gut und befjer, auf ein Kleinftes zu-
ſammen.
Die „allgemeinen und eigentlichen“ Käthe, welche mit
Vorzug die „evangeliſchen“ genannt werben, find bie frei-
willige Armutb, der Geborjam unter einem
geiftlihen Obern und bie bejtändige Bewah—
rung ber Jungfraufhaft. Genauer angejehen, wirb
man aber in biefen Näthen drei Kategorien von fittlichen
Übungen erfennen, unter welche eine Reihe von fittlichen
Bethätigungen im größern oder kleinern Etil eingereiht
werben können. Das freiwillige Almojen 3.8. bewegt fid)
auf demſelben Zugenbgebiet, wie bie vollftändige Hingabe
be8 Eigenthums; jede Verdemüthigung ijt eine Übung des
Gehorſams, denn fie ift ein Verzicht auf die Geltendmachung
ber eigenen Perjon. Und gerade von hier aus tjt c8 wiederum,
bag die Tchre vom bonum melius fid unjerm Bewußifein
bewährt. Es gibt täglich und ſtündlich Situationen, in
denen ich mir irgend eine Abtödtung, Entbehrung, Gelbfte
verbemüthigung auflegen könnte; eine ſolche Abtöbtung er-
ſcheint mir unter dem afcetifchen Gefichtöpunft ein Beſſeres;
aber bem entgegen jtehen Neflerionen anderer Art, welche
mid) von ber Abtödtung in dieſem Falle abſehen faffen; id)
beruhige mich damit, meine Pflicht gethan zu haben.
1) &éjfing a. a. Ὁ.
Lehre von Geſetz und Freiheit. 97
Nun (jt aber bie Vorftellung vom bonum melius faft
bis auf ben Ausdruck hin der heil, Schrift entnommen. Wir
wählen nur die Hauptbelegftellen. Für bie Sungfränlichkeit
ift außer Matth. 19, 12 maßgebend I. Kor. 7, 25 ff. Nach⸗
dem ber Apoftel ausdrücklich erklärt, daß er in Hinficht ber
Jungfrauen feinen Befehl des Herrn habe, wohl aber
einen Rath geben wolle ol Beguapdigter vom Herrn,
35. 25, erörtert er bie Vortheile der Ehelofigfeit mit mebre-
ren Gründen. Obgleich er aber in fcharfer Meife die Ge:
fahren des ehelichen Lebens hervorhebt, ‚will er bod) über
feine Leſer keinen Strict werfen, V. 35, b. 5. ihnen fein
binbenbe8 Geſetz, fid) der Ehe zu enthalten, auferlegen; e8
thun beide recht, jowohl ber, welcher feine Jungfrau ver⸗
heirathet, als auch der, welcher feſt beſchloſſen hat, es nicht
zu thun, V. 86—37; ſonach denn, wer verheirathet feine
Jungfrau, thut gut, und wer fie nicht verheirathet, thut
bejfer, 388. 38. Bon ber Wittwe aber, welche fid) zum
zweitenmal verheirathen könnte, fagt δεν Apojtel: Seliger
wird fie fein, wenn jte jo bleibt gemäß meinem Rathe,
id meine aber, daß aud) id) Gottes Geilt habe;
$8. 40. Einer Ähnlichen Ausdrucksweiſe bedient fid) bet
Apoſtel II. Kor. 8, wo ev um milde Gaben für bie Armen
bittet: „Nicht befehlsweiſe jage ich ed, ſondern um
durch Anderer Eorgjamfeit aud) curer Liebe ächtes Weſen
zu erproben. Denn ihr fennet die Gnade unſers Herrn
Jeſus Gbriftu8, daß er euretwillen arm geworben, er, wel-
der reich war, damit ihr durch feine Armuth veich wärct.
Und Rath hierin gebe ich euch; denn bie frommt euch”
u.f.w $8. 7—9 Tiefe Stelle läßt jid) neben Matth.
19, 16 ff. als Beleg für den Werth der freiwilligen Armuth
um Gbrijti willen und nach bem Beiſpiel Ehrifti verwenden,
28 Linfenmann,
fowie in ber Aufforderung an den Süngling, Ehrifto nach:
zufolgen, eine Empfehlung des Gehorſams erfannt wird.
Bezüglich ber Auslegung der angeführten Schriftſtellen
fordern wir vorerft nur bieje2, daß man ji) nicht über
ben gemeinverftändlichen Sinn und Wortlaut be8 Verfaſſers
ſchlechthin hinwegſetze; wie immer man fid) ber geiftigen
Auslegung bemächtigen möge, bem Buchſtaben darf fie nicht
bireft entgegengefeßt fein; man würbe fid) fonft einen Spiri-
tualismus aneignen, welcher nicht mehr hriftlich, fonbern
guojtijd) wäre. Es muB ein beftimmter Einn darin liegen,
wenn die bf. Schrift ſelbſt zwilchen gut unb bejfer, Befehl
vom Herrn und Rat de Apoſtels, unterfcheidet. Das
Tridentinum bezieht fid) ebenfall® auf bie angeführten
Echriftitellen, indem ε dem Eheftand den Etand der Sung:
fräulichkeit worzieht und e8 für das Befjere und Glückſeligere
erflärt, in ber Sungfraufchaft ober im Coͤlibat zu verharren,
a[8 in bie Ehe zu treten 1).
Möhler hatte einmal bemerkt, bie Qebre vom opus
supererogatorium [εἰ fein Dogmm ἢ. Darüber wird er
von mehreren neueren Theologen zurechtgewiefen, indem man
ibm ben eben berührten tridentinifchen Kanon entgegenhält.
Derfelbe bildet num allerdingd eine Inſtanz gegen Möhler,
jofern der Begriff be8 bonum melius den des opus super-
erogatorium einjchließt oder wenigſtens vorausſetzt, wie
man ohne Weitered annimmt. Allein diefe Annahme müßte
eben erit als berechtigt ermwiefen werden. Iſt die Sung.
1) S. q. d. statum conjugalem anteponendum esse statui
virginitatis vel coelibatus, et non esse melius ac beatius manere
in virginitate aut coelibatu, quam jungi matrimonio: a. 8. Sess.
XXIV. can. 10.
2) Neue Unterfuchungen ber Lehrgegenfäte. Mainz 1834. ©. 295 ff.
Lehre von Gefe und Freibeit. 29
fräulichteit an und für fi ba8 Beflere, fo darf body nur
derjenige fie erwählen, welcher jid) die Kraft dazu zutranen
fann (Matth. 19, 12), oder welcher bagu berufen ijt und
fid) eines befonderen Gnadenbeiſtandes erfreut; einem Sol⸗
chen afjo — fo koͤnnte man jagen — ijt es individuelle
Lebenzaufgabe, bag SBejjere zu thun; es ijt ihm mehr ge-
geben und wird barum mehr von ifm verlangt; und wenn
er im Verhaͤltniß zu Andern mehr feiftet, jo leiftet er doch
nicht mehr als in feiner Aufgabe Tiegt, ja εὖ ijt febr fraglich,
ob nicht ein Jeder von und weit hinter biejer feiner Lebens⸗
aufgabe zurücdbleibt, ba all unfer Thun menſchlich unvoll-
fommen ijt, wie ber Herr jelbit jagt: „Wenn ihr Alles
gethan haben werdet, was euch anbefohlen worden ijt, faget:
Unnüge Knechte find wir; was wir fchuldig waren, zu thun,
haben wir getfan^ 1). Es enthalten wohl beide Ideen, das
bonum melius und dad op. supererogationis, eine Wahr:
heit, aber biejelbe wird nicht baburd) erhoben, daß man zuerft
ba$ lebtere au3 dem erftern unb bann wieber bag erftere
aus bem fchtern beweilen will.
1) Luc. 17,10. Maldonat beweist aus biefer Stelle (B. 9—10)
gerade bie Möglichkeit be op. supererogationis. Da ber Knecht feinen
Dank verdient, wenn er nur thut, was ihm befohlen wird, jo folge,
baB er Danf verdiene, wenn er mehr thut. Allein will denn ber Herr
überhaupt an biefer Stelle jagen, bap wir Dank verdienen; will er nicht
vielmehr der Gefehesgerechtigkeit ber Syubem gegenüber ba& Mangelbafte
all unferd Thuns betonen? Und wenn man doch von einem Lohn ober
SSerbienft für bie Werfe redet, fo darf auch bie Parabel von ben Arbeitern
im Weinberg (Matth. 20, 1—16) nicht Überfehen werben; bier aber
wird denen bie mehr und denen bie weniger gethan, berfelbe Lohn ver:
abreiht. Wollten wir jedoch auch mit Maldonat bie obige Stelle preffen
bis fie Blut gibt, [o würbe fie lauten: Wer nur thut, was ibm be-
fohlen ift, ift ein unnüßer Knecht; alfo muß, mer ein wahrer Diener
Gottes fein will, mehr thun als geboten ijt; damit mürbe al[o bag
Gerathene zur Pflicht.
30 Linfenmann,
Vielleicht foumen wir einen Schritt weiter, wenn wir
bie Subftanz der Räthe in Betracht zichen. Der Vorzug
ber Virginität vor dem ehelichen Leben ift gar nicht einmal
ſpezifiſch chriftlih; er begegnet unà in ben religiöjen Vor:
ftellungen faft aller Völker; die Sungfraufchaft ijt Attribut
mancher heidnifchen Gottheiten, fie wird mehrfach alà Be-
bingung ber Prieſterſchaft gefordert, und gilt als Tugend
ber Philofophen. Das Parthenon ober ber Tempel ber jung:
fräulichen Athene war dag herrlichſte religiöje Gebäude Athens.
Die Keuſchheit der veftalifchen Suugfraucn wurde mit bem
Wohlergehen des römischen Staates aufs innigjte verbunden
erachtet, ihren Gebeten fchrieb man ſelbſt wunberwirfende
Kraft zu; Sungfrauen legte man Prophetengabe zu, wie ben
Sibylien, ber Kaſſandra; ebenfo in Indien. Beſondere Ent:
haltſamkeit finden wir bei den BPrieftern Aegyptens und
Indiens, bei den Efjenern und. Nazarenern Judäas, üt ben
Klöitern der Tartarei wie in den Mythologien Aſiens )).
Die ganze pythagoräiſche Schule machte bie Keufchheit zu einer
ihrer leitenden Tugenden; Strabo erwähnt, daß εὖ in Thra-
cen Vereine von Männern gab, die durch Chelofigkeit und
ftrenge Lebensweiſe zur Vollkommenheit zu gelangen ftrebten.
Ueberhaupt ijt den Religionen und Philofophien des Alter:
thums der Begriff der Ajcefe keineswegs fremd; er entipringt
einem Spiritualismus, der dem hriftlichen in Manchem ähn-
1) Eine chinefifche Legende erzählt, wie zur Zeit, als c8 bloß Einen
Mann und Eine Frau auf Erden gab, bie Frau ihre Sungfräulichkeit
nicht opfern wollte, jelbft zum Zwecke baburd) die Erde zu bevölfern,
baB bie Götter fie, in Anerfennung ihrer jungfräulichen Reinheit, Damit
begnabigten, durch ben bloßen Anblid ihres Geliebten befhwängert zu
werben, unb daß fo eine Jungfrau die Mutter ber Menſchen wurde.
Vgl. δε ἄν, Sittengefhichte Europa’s. 2te Aufl. beutjd von Q. Solo:
mig. I. Bb. ©. 93 f.
Lehre von Gefe und Freiheit. 31
[ὦ ijt; wenn ba8 höhere Geiſtesleben, bie Gontempfatton
und philoſophiſche Erkenntniß bie ebeljte Beftimmung bes
Menſchen ijt, jo liegt ba8 wirkſamſte Mittel, hiezu zu ge
langen, in der möglichiten Loslöſung be8 Menfchen von ben
Bebürfniffen und Begierben feiner jinnlichen Natur; wir
find um [jo geiftiger, je weniger die Welt an ung An-
theil Dat.
Aber wie? beruht diefe Art von Spiritualismus nicht
in einer Berfennung ber Beftimmung des Menjchen? Wir
wollen gar nicht davon veben, wie nahe e8 liegt, bieje fpiri-
tualiſtiſche Anſchauung von einer dualiftiichen Weltanfchauung
abzufeiten, welche bie Natur und die Einnlichfeit jchlechthin
mit der €ünbe ober bem böfen Element verwechlelt. Aber
jedenfalls ijt bie Beitimmung des Menfchen Dienieben feine
rein fpiritualiftifche, fonbern eine irdiſche und fociale; Gott
erlaubt nicht bloß, jonbern er fordert bie Ehe ald Mittel
zur Fortpflanzung be8 Geſchlechts; in ber ewigen Idee der
Menfchheit al8 einer focialen Ordnung ijt die Ehe etwas
Gottgewollted. Ebenſo ijt bie Weltflucht als vollftändige
Entäußerung von allen Schätzen und Eorgen ber Welt ent:
gegen der Beltimmung, welche bie Menjchheit im Großen
und Ganzen Dat, bie Erde zu cultiviren, Und wenn ber
Menfch durch feine Unterwerfung unter den geiftlichen Obern
fi feiner Freiheit begibt, bat er damit nicht ein Dofeg
und ſittliches Gut, auf welchem eine ſchwere Verantwortung
ruht, preißgegeben? Mit der Hinweifung auf eine höhere,
jenfeitige Bejtimmung des Menfchen fünnen bieje Bedenken
nicht gelü2t werben; bie irdische und himmliſche Beftimmung
dürfen fo wenig in einem principiellen Widerſpruch mit-
einander ftchen, af8 Natur und Geift im Menſchenweſen.
Dennoch ijt ed nur ſcheinbar, daß die Erfüllung der
82 Linfenmann,
jocialen Pflichten mit der Vorjtelung vom bonum melius
im Widerfpruch (tee, daß bie Eheloſigkeit u. f. Ὁ. ſchlechthin
der menschlichen Beſtimmung zuwider [jei. Es find brei
Erwägungen, welche wir biejem faljchen Schein entgegen
ſetzen können. 1. Bor Allem befteht für den Menfchen,
aud) menn wir ganz von ber übernatürlichen Ordnung ber
Dinge abfehen, eine Pfliht der Selbftbefhränfung.
In ber Cpradje ber Religion leitet man dieſe Pflicht der
Selbfthefchränfung ab au8 ber Abhängigkeit be8 crea-
türliden 9Renjden von feinem Schöpfer; ber
Mensch gehört nicht febigfid) fid) felbft an, fonbern feinem
Schöpfer. Aber auch wifjenfchaftlicher gefaßt, laäßt fid) Leicht
erfennen, daß im Begriff der menschlichen Perfönlichkeit eine
Selbſtbeſchränkung liegt; eine unbejchränkte Aneignung ber
Genufobjefte, welche die Erbe bietet, und ein ungezügeltes
Ausgreifen des menſchlichen Wollens, eine ſchrankenloſe
Willkühr, iſt dem vernünftigen Weſen des Geiſtes zuwider.
Ebenſo ijf bem Einzelnen Selbſtbeſchränkung auferlegt
mit Rückſicht auf die Rechte des Andern. So beſteht
doch gewiß das Weſen der Ehe nicht blos in dem freien
Genuß der Güter ber Ehe, ſondern zugleich in der Beſchrän⸗
fung des Genuffes auf beſtimmte Grenzen; nicht bie freie
Lizenz, fondern bie Pflicht, welche in der Ehe liegt, ift das
Charakteriftiiche derſelben. ine ſolche Selbitbefchränfung
it nun aber eines Theil dem Menſchen durch ein Geſetz,
[εἰ es ein natürliches — Vernunftgeſetz — oder poſitives
auferlegt; als erſteres bezeichnen wir z. B. das Geſetz der
Monogamie, als letzteres das Gebot des Herrn, von Baume
der Erkenntniß im Paradiesgarten nicht zu eſſen; zum andern
Theil aber iſt die Selbſtbeſchränkung eine frei gewählte und
wird meiſtens unter dem Geſichtspunkt des Opfers be—
Lehre von Gefet und Freiheit. 33
trachtet. In biejem Sinne fagt man, daß bie See de
Opfer ber natürlichen Neligion angehört. Das natürlich»
religiöfe Abhängigkeitögefühl beà Menfchen feinem Echöpfer
gegenüber lehrt und, auf gewifje Genußobjefte, auf die wir
ein Recht gehabt hätten, zu verzichten und fie bem Herrn
darzubringen, b. 5. durch einen ſymboliſchen Alt der Ver:
nidtung unjern Anfpruch und unjre Anmartfchaft auf bie
jelben aufzugeben. Faſſen wir dag Opfer in diefei weiteren
Sinne als Übung einer freiwilligen Selbſtbeſchraänkung bes
agli ber Genupobjefte, jo wird man vom chriftlichen Stand:
punft aus Fein Bedenken tragen können, die Nothwenbigkeit
be8 Opfers aud) ſchon ohne Vorauzfegung des Sündenfalls
anzunehmen. Das Opfer aber, bejtebe e8 num in ber Hin-
gabe eine? materiellen Gute oder in der Verzichtleiftung
auf eine eigene Willengentfcheidung, ijt nicht nur eine velt-
gidje, jondern aud) eine freie That, und diefe kann im Unter:
fchied vom erlaubten Genuffe als bonum melius bezeichnet
werden. Als bejonderen Gewinn biefer Erwägung notiven
wir für ſpäter die Erkenntniß, daß die Lehre von den Näthen
aus ber Lehre vom Opfer Licht empfängt.
2) Sodann legen wir Gewicht darauf, baf bezüglich
der Beftimmung be8 Menjchen feine Doppeljtelung αἱ
Einzelwefen und al8 Gattungsatelen in Betracht
gezogen werde. Der Gattung gilt jenes Segenswort:
„Wachſet und mehret cud), und erfüllet die Erde und unter:
werfet fie, und feib Herr über bie Filche be8 Meercd und
bie Vögel be8 Himmeld und über alle lebendigen Wefen,
(o fi regen auf Erden” ἢ). Um der Gattung willen bes
itebt alfo ba8 Gebot ber Ehe; aus bem Gattungsverhäftniffe
1) I. Mof. 1, 28.
Theol. Ouartaidrift. 1872. Heft I. 3
34 Linfenmann,
entfpringen bie focialen Pflichten bezüglich des Eigenthums,
entfpringen die gefellfchaftlichen Unterſchiede u. j. w. Haben
wir oben jdn angedentet, bag eben in. bem jociafen Rechte
ber Einzelnen gegeneinander ein Grund der Selbitbeichrän-
fung ber Einzelperfon liege, jo geben wir jegt weiter: bie
Verpflichtungen des Einzelnen gegen bie Gattung find weder
bie einzigen, noch auch mur bie höchſten. Das Intereſſe des
individuellen Seelenheils ſteht über dem Intereſſe an ber
Gattung; die Redensart: “Leber ijt ftd) felbft der Nächite,
ift nicht nothwendig egoiftifch zu nehmen, ſondern enthält
eine tiefere Wahrheit. Jeder ijt zuerſt fid) felbit, feinem
eigenen Gewiſſen, verantwortlich, und dann erit feiner Gat-
tung. Die fittliche Eriftenz des Menſchen ijt zwar ebenjo:
wenig wie feine phyſiſche ganz unabhängig von ber Gattung;
derjenige, der gar nicht® mit und im Intereſſe der Gattung
wirken, fich gleihfam gänzlich aus der Gefellfchaft und ber
Welt hinausſtellen wollte, würde bag wahre Wefen bet
Sittlichkeit mißverftchen. Der Einzelne empfängt Dienfte
von der Gattung und muß ifr hinwiederum aud) Sienjte
leisten; aber er wird dich um jo vollfommener zu thun ver:
mögen, je mehr er an feiner perfönlichen Bervolllommnung
und Heiligung zuvor gearbeitet hat. Diejenigen Mittel,
welche dem Einzelnen dazu dienen, fein Seelenleben in bte
rechte Verfaſſung zu bringen, machen ihn zugleich zu einem
um jo tüchtigern Glicde der Geſellſchaft. Jene 40 Tage,
bie Jeſus in der Wüſte zubrachte, waren fir feine öffentliche
Wirkſamkeit nicht verlorne Zeit. Man muß fih nur nicht
vorftellen, daß die Aufgaben der menschlichen Geſellſchaft
blos in ber materiellen Cultur der Erde und in der phyſiſchen
Fortpflanzung des Geſchlechts Dejteben. Dean erkennt darin
feine Pflichtverletzung, jondern preißt ἐδ als treue Hingabe
Lehre von Geſetz und Freiheit. 85
an eine große Sache, wenn ein Gelehrter um feiner Wiffen-
Ihaft willen auf bie Ehe und die Genüffe des gefellfchaft-
lichen Lebens verzichtet; man nimmt [don das Streben felbft,
auch wenn es oDue eigentlichen Erfolg follte geblieben fein,
für den vollen Dienft, den er ber Menjchheit zu Leiften ſchuldig
war. So ift aud) derjenige, der um ciner bübern Sache
der Religion willen fid) einem beftimmten Umkreis von
niebrigern ſocialen Funktionen entzieht, kein Pflichtwergefjener
gegenüber der Geſammtaufgabe ber Menfchheit. G8 gibt
ein bonum melius gegenüber den materiellen. Funktionen
bed Gattungslebens; e8 find bieB bie ibcalen Beſtrebungen,
weldye der Einzelne fid) απ freien Stücken zur Lebensauf⸗
gabe erwählt.
Wenn wir aud) nur ba rein änßerliche Werk anfchen,
jo dient bie Selbitbefchränfung des Einzelnen zum Nuten
be8 Ganzen; bie Armuth und freiwillige Entbehrung ber
Mönche ijt Fein Hinderniß für bie oconomiſche Entwicklung
ber Geſellſchaft, fie ijt vielmehr εἰπε ber vornehmſten Mittel,
bie forialen Schäden zu heilen, fie ift in mehr ala Einem
Betracht Wohlthat für bie Menſchheit; ber Mönch arbeitet
und entbehrt fir Andere. Die Ehelofigkeit um Gottes willen
entvölfert nicht die Erde, ſondern fie hütet ba8 heilige Teuer
ber Herzendreinheit und ehelichen Keufchheit. Der freiwillige
Gehorjam erzeugt Fein ſklaviſches Geſchlecht, ſondern gewährt
eine höhere Freiheit und Unabhängigkeit, welche derjenige
nicht fenut, bejjen Sinnen und Streben von ben unaufhoͤr⸗
fidem Zweifeln und Sorgen be8 Leben? eingeengt ijt. Und
wenn überhaupt Selbftverläuguung, Entfagung und Aſceſe
Mittel find, um ben Einzelnen fittlih zu erheben und zu
befeftigen, fo muß von ber Tugend be8 Einzelnen eine mo-
ταῖς Kraft ausgehen für die Menjchheit. Derjenige, bet
2 9*
36 Linfenmann,
. fid Gott zum Opfer bringt, bringt fid) zugleich der Menjch-
heit zum Opfer.
3) Die Bedeutung be8 Opfer und ber Afcefe tritt
aber noch Harer heraus unter der Vorausſetzung δε
Sündenfall? Durch der feptem ijt. allerdingd ein
Dualigmus hervorgerufen worden, ber nur eben fein kos⸗
mijcher,, fondern eiu ethifcher ijt; bie Natur ift zwar nicht
im Wefen böfe, aber das Fleiſch begehrt gegen den Geift,
und die Welt [teft dem Neiche Gottes feindlich gegenüber.
Die Selbſtbeſchränkung, wefde ber natürliche
Menſch fi auferlegen müßte, geftaltet fi im Ge:
fallenen zu einem Kampf gegen die natürlichen Triebe
und gegen bie Reize der Welt; bie chriftliche Tugend wird
zur Aſceſe, und ohne 9[jceje gibt εὖ Feine Sittlichfeit im
Geifte des Chriſtenthums. Wenn man nun nicht biejen
etbifchen Dualismus verichärfen will in der Weile, wie
dieß im Dogma Luther? von ber Erbfünde liegt; wenn
man nicht ba$ Sinnliche an jid) ſchon al8 das Fleiſchlich—⸗
fündhafte nimmt, und bie Welt a(8 ba8 Reich der Sünde
Ihlechthin bem Neiche Gottes gegenüberftclt; wenn man
vielmehr im Genuſſe der Grbenbinge, im Befiß, in der Ehe
u. ἢ. Ὁ. noch etwad Gutes erkennt, fo wird man babel
bleiben müffen, bap ein höherer Grab von Selbftüberwindung
und Entjagung, jo lange diefe fid) nur vor vernunftwidrigen
Ercefien bewahrt, fid) wirklich zu jenem Guten oder Er-
laubten als ba2 Befjere verhält. Es dürfte ſchwer zu
behaupten fein, daß der Apoſtel in ber oben angeführten
Belehrung über Ehe und Virginität größern Nachdruck auf
bie Empfehlung der Sungfräufichkeit legen wollte, als auf
die Anerkennung der Ehe als eined Standes, ber fid) mit
bem chriftlich = fittlichen Leben wohl vereinbaren läßt. Ob⸗
Lehre von Geſetz unb Freiheit. 97
gleich der Apoftel bie Virginität für das Beffere Hält, jo
muß cr bod) ausdrücklich hervorheben, daß bie Ehe etwas
Gutes ift. Damit tritt er gerade einer einfeitig rigoriftifchen
Richtung in der Afcefe entgegen.
c. Die Freiheit.
Unfre Unterfuchung drängt jetzt auf ben Punkt Hin,
auf welchem bie Entſcheidung liegt; e8 ijt die Trage über
bie Freiheit be8 Einzelnen üt der Wahl zwifchen bem Guten
und Beſſern. Die Unterfcheivung von Gebot und Hath
[δὲ voraus, daß id) in jedem einzelnen Kalle ba3-
jenige, was mir in ber Form eines Rathes vorgelegt wird,
ohne Sünde unterlaſſen kann. Dabei kommt c8 nicht auf
bie Subſtanz ter Sache an, jonberit auf bie Form; biefelbe
Sache, bie an und für fid) dem Gebiete des bonum melius
angehört, kann δα 8 einemal in ber Form be8 Rathes, das
andremal in ber bed Geboted-an mich herantreten; das
(febtere nämlich, wenn ich mid) burd) Beruf ober Gelübbe
dazu verpflichtet finde, ober wenn ich bie betreffende Übung
αἵ ein nothwendiges Hilfsmittel zu Ablegung einer böfen
Gewohnheit oder Überwindung einer Verſuchung erkenne.
Übrigens will man doch auch bem Berufe felbft noch feine
moralifch zwingende Macht einräumen; wer dem Berufe zu
einem Leben der Vollkommenheit wiberjteht, läuft zwar bie
größte Gefahr, bap fein geben. für diefe und jene Welt ein
verfehlte jet, um jo mehr als cr veichliche Gnadengaben
verfcherzt; aber, jo hält man fejt, ev ijt damit noch nicht
alfogleich aus bent Gnadenftand herausgetreten; er kann bie
Gebote erfüllen und auf diefem allerdings gefährlichern Wege
fein Heil wirkten. — Merkwürdig ift eine andere Anficht, bie
wir noch bel einem neuern Theologen finden, daß die Nicht:
88 Linfenmann,
befolgung εἰπε Rathes, den man im betreffenden Fall be
ftimmt als folchen erkennt, zwar eine Eünde, aber nur eine
läßliche enthalten würde Nun können wir aber [don
unfer Bedenken nicht zurückhalten über bie Art und Weife,
wie man in ber Eafuiftit mit ber nur läßlichen Sünde
umſpringt; jedenfalls ift mir Fflicht, dag zu thun, was ich
nicht ohne läßliche Sünde unterlaffen fann; endlich aber
wie will man mit jener Anficht beftehen, wenn ἐ fid um
die großen Lebensfragen des Beruf u. |. m. handelt? Es
ftehen fittliche Thaten und Entſcheidungen von ber höchſten
Tragweite auf bent Spiel; e8 ijt febr Heinlich, bie Differenz
zwijchen einer heroifchen Opferthat und deren Unterlafjung
nach dem cafniftifchen Maß der läplichen Sünde zu mejjen.
Wenn eine folche Unterlaffung a. 39. eines heroiſchen Liebes⸗
dienſtes Sünde ift, fo ijt fie eine Sünde von fchwerer
Berantwortlichkeit.
Was aber den Beruf felbit anlangt, jo will man in
bemjefben noch nicht eine moralifche Nöthigung im ftrengen
Sinne erkennen, eben au bem. formalen Grunde, weil man
fonft dad Moment der Freiheit im Begriffe des Gerathenen
negiren müßte. Man überhebt fid) damit ber Mühe, auf
ba8 eigentliche Wefen und die Bedeutung be8 Berufes und
namentlich auf die Frage, mit welchem Grade von Sicherheit
der Einzelne den Beruf erkenne, einzugehen. Wir werben
auf diefen Punkt zurückkommen.
Der Sab von ber Freiheit in der Wahl be8 Beffern
erleidet aber noch zwei weitere Einjchränfungen, von denen
wir bie eine ſchon oben berührt; darnach nämlich würde
berjenige, der fid gar niemals über dag blos Gebotene er:
heben wollte, ba8 Niveau der chriftlichen Sittlichkeit nicht
erreichen; ganz beſonders aber würde derjenige hinter feiner
Lehre von Gele unb. Freiheit. 39.
Chriftenpflicht zurücbleiben, welcher au8 grundſätzlicher
Mißachtung der evangelifchen Räthe fid) ſtets nur ber
ftrengen Geſetzesgerechtigkeit befleißigen wollte.
Allen diefen Aufitelungen fommt, wie man wohl fieht,
nicht der Charakter von Grundſätzen zu; man fönnte eher
geneigt fein, fie für fophiftifche Abſchwächungen ber allge
meinen Theſis anzujchen. Begreiflih; denn für bieje vage
und unbejtimmte Art von Freiheit läßt fi) aua der 5. Schrift
ber Beweis nicht erbringen. Gerade die claſſiſchen Belegitellen
für bie Räthe laffen dieß nicht zu. Wenn in der Erzählung
vom reichen Süngling der Herr fagt: Halte bie Gebote
(Matth. 19, 17), fo ijt Hierin noch keineswegs ein Kanon
der chriftlichen Gerechtigkeit gegeben, um jo weniger, als bie
Ipezificirte Aufzählung biejer Gebote (38, 18—19) fid) einzig
auf dad a. tl. Sittengejeß bezieht. Der chriftliche Katechet
müßte auf die Trage: wad muß ich thun, damit id) das
Leben habe, noch verjchievdene andere Bedingungen vorlegen,
$. B. du foliit an Chriſtus glauben, Buße thun, die Taufe
empfangen, Gott lieben aus ganzem Herzen und über 9L([e8! ἢ)
Wenn darum Chriſtus an unjrer Stelle al8 Bedingung de
Heiles einzig die Erfüllung ber Gebote verlangt, jo ijt dieß
bem ifraelitifchen Süngling gegenüber ein argumentum ad
hominem und fein Lebensgeſetz der chriftlichen Sittlichkeit.
Diele Auzleger quälen fid) mit ber Unterfuchung ab, ob
ber Süngling, nachdem er betrübt hinweggegangen (V. 22),
be8 Heiles verluftig gegangen jei, ober ob man annehmen
fönne, daß er dennoch gerettet werden. Allerdings, wein
die Schrift [εἰ ung eine Antwort gäbe, entweder: ber
1) Auch an die Schilderung bes jüngften Gerichts bei Matth. 25,
31—46 fann hier [don erinnert werden.
40 Linfenmann,
Süngling [εἰ verloren gegangen, weil er bem Rufe bed
Herrn nicht gefolgt, oder: der Süngling, der die Gebote er-
füllt, fei gerettet worden, obgleich er bem Rufe nicht gefolgt
— dann hätten wir annäherungsweife eine authentiſche Er-
Härung über die Bedentung einer bireften Berufung durch
den Herrn; über unjer Problem hätten wir aber erft πο
feinen Aufichluß. Da aber dad Goangefiunt. eine ſolche Ant-
wort nidyt gibt, [o ijt auch bie Controverſe der Gregeten
hierüber unfruchtbar; ob die Antwort ja ter nein lautete,
fie würde und nicht weiter führen; zwifchen tem Augenblick,
ba der Jüngling betriibt hinweggeht, und zwischen feinem
Tode Tiegen noch vice Momente für eine neue fittliche
Euntſcheidung.
Die Vorſtellung vom Rath, mit welcher wir es zu thun
haben, hat überhaupt zwei Härten, bie fid) faſt zu logiſchen
Miderfprüchen zufpigen. Die evite beftcht darin, daß man
Gott. ſelbſt das einemal einen Befehl, das anberemaf einen
Rath geben läßt. Ein Rath Gottes ijt aber Offen:
barung feines Willens, jenes Willens, der und in Allem
hoͤchſtes und einziges Gejet fein fol. (δῷ ijt jou einiger:
maſſen anthropomerphiftiich, wenn man Gott mit einem
Vater vergleicht, der feinen Willen gegen feine Kinder theils
in Form von Befehlen, tbeil3 in der von Wünfchen
offenbart, Kann man e8 nun bem Kinde hingehen faffen,
wenn es den Wunfch feines Vater nicht erfüllt, weil diefer
Wunſch vielleicht nicht ganz weile erjcheint, oder über bie
Kräfte des Kindes gebt, oder vom Vater egoiftifch gemeint
(t, [o dürfte c8 Schon ſchwerer zu rechtfertigen fein, einen
Wunſch Gottes unerfüllt zu laſſen; denn Gott hat nicht
nur ein unbeſchränktes Necht auf unfer ganzes Herz, fondern
feine Wünfche find Ausflug feiner höchſten Weigheit, Heilig:
Lehre von Geſetz und Freiheit. 41
feit und Güte. . Aber cin Rath bebeutet eigentlich noch
mehr, aß ein Wunſch; wenn ich einen Wunfch außfpreche,
benfe ich an mich ſelbſt; ich fordere damit gewiffermaffen
vom Nächten den Lohn für meine Liebe, eine Satisfaktion
für die Opfer, bie ich ihm gebracht; wenn ich ihm aber
einen Rath gebe, jo benfe ich dabei an fein eigenes Wohl⸗
ergeben; id) jege voraus, daß er Rathes bebürftig ijt und
dag meine Einficht nnb meine Erfahrung mich befähigen,
ibm zu rathen; id) gebe meinen Rath auf Gründe, bie
id) erwogen umb bie ich für bie jeweilige Eachlage als bie
beften erkenne, unb es (t menfchlich wahr empfunden, wenn
eie Nichtachtung und Zurückweiſung meined Rathes mich
verlegt; ja ich werde ntid) baburd) in gewiffen Fällen ge:
rabezu beleidigt fühlen, wenn ich nämli von ber Güte
meines Rathes überzeugt bin, wenn id) ein beſonderes Necht
hatte, Rath zu ertheilen, und wenn fih ba8 Thun des
Freunde, ber meinen Rath ausfchlägt, als Thorheit und
Undanf erweist. Nun. denke man fid) einen Rath Gottes,
der fid) ja nur auf unfer eigenfted Wohl bezichen kann und
Ansfluß der unendlichen Weizheit und Güte ijt! Gcwiß,
ein Rath von Gott ijt Befehl!
Die zweite Härte ber genannten Vorftellung Tiegt darin,
baB bie Befolgung des Rathes zwar einen förderlichen
Einfluß auf das fittliche Leben haben, bie Nichtbefolgung
aber in gewiffer Hinficht gleichgiltig fein foll, gleich:
giltig infofern, afà id) mich ungeachtet des lucrum cessans
und damnum emergens tod) keiner Sünde jdulbig mache.
Damit würde bie chriftliche Sittenlchre gerade ihren idealen
Charakter, wodurch fic fid) vom Moſaismus unterſcheidet,
ablegen.
Mir haben c8 aljo mit inadäquaten Vorftellungen zu
42 Linjenmann,
thun, bie einer reinern Erkenntniß zugeführt werden jollen.
Nun muß man fid) aber billig wundern, wie man ben
eigentlihen Wortlaut der 5. Schrift in der Sjauptitelle, bie
vom Rathe redet, jo wenig beachten fonnte. Sn 1. Kor. 7,
25 ff. Steht nicht ein Befehl unb ein Rath Gottes
gegeneinander; dem ἐπιταγὴ κυρίου V. 25 ftellt ber Apoftel
bad κατὰ τὴν ἐμὴν γναίμην 93. 40 entgegen, dem Befehl
von Gott feine eigene Anjicht, feinen Rath; und er
rechtfertigt fid jelbft wegen diefer feiner Meinungsäußerung:
„ic meine aber, daß auch ἰῷ Gottes Geijt Habe“. Gerade
in Ermangelung eine bejtimmten Ausſpruchs vom Herrn
fieht fid) der Mpoftel zu einem Deutungsverſuch einer all:
gemeinen chriftlichen bee nad) Maßgabe ber bei feinen
Lejern obwaltenden befondern Verbältnifje veranlagt und
berechtigt. (8 liegt aljo Leine Offenbarung Gottes vor,
welche für ben fpeziellen Fall eine beftimmte Handlungsweiſe
rathen würde; ber Apoftel felbft muß auf eine allgemeine
Sec zurücgreifen und biejef6e fubjeftiv auslegen. Nun ἢ}
aber die chriftliche Sittenlehre überhaupt, joweit fie über ben
Dekalog hinausgeht, nicht fo fajt in Geſetzesform, als in
allgemeinen Sbeen niedergelegt; ja die Ideen müjjen
erit erhoben werden aus Gleichnigreden, Parabeln und Hand-
lungen Jeſu. Eine [ofdje bee ijt nun 2. B. die Enthalt-
ſamkeit bezüglic) be8 gejchlechtlichen Umgangd, Matth. 19,
12, welche jo eingefleivet ift: „Denn e8 gibt Verfchnittene,
welche vom WMutterleibe an [o geboren worden, und gibt
Berjchnittene, welche verjchnitten worden find von ben
Menichen, und gibt Verfchnittene, welche fid) jelbjt ver-
jehnitten haben um be8 Himmelveiches willen. Wer es faſſen
fann, falle es“. Indem nun dev Apoftel I. Kor. 7 αὐ dieſen
und Ähnlichen Worten des Herrn eine Empfehlung der Jung⸗
Lehre von Gefeß und Freiheit. 43
fräulichkeit entnimmt, gibt er vor feinen Lefern eine Aug:
einanberfegung der Gefahren des ehelichen Lebens (Drangfal
des Fleifches werben Solche haben, 38. 28; wer vermählt tjt,
ſorgt, was ber Welt ijt, $8. 33. 34 ; aud) für bie Vermählten
fommt eine Zeit, in welcher fie fein müflen als wären fie
unvermählt, $. 29—31); ebenfo ber Vortheile des ehelojen
Leben? (größere Sorglofigkeit, ungebemmte Hingabe an Gott
3$. 32. 84. Schon vorher hatte er aud) die Gefahren
ber Ehelofigkeit (83. 2. 9), ja felbft ber nur zeitweiligen
Entbaltung (B. 6) erwähnt. Darauf Hin nun überläßt er
ἐδ dem Einzelnen, die Anwendung auf feinen eigenen Seelen:
zuftand zu machen.
Nicht viele von diefen allgemeinen fittlichen Ideen find
in ber ἢ. Echrift jelbjt jo in? Einzelne ausgelegt und aec
beutet; die Schriftterte, in denen fie niedergelegt find, laſſen
eine mehrfache Deutung zu, eine buchſtäbliche unb eine
geiftige. Unbedingt ijt 3. 8. bie Armuth nicht nur
burd) da Beilpiel, jondern auch durch dad Wort Ghrijtt
(Matth. 19, 21. 29) empfohlen; wer aber zu ben „Armen
im Geijte^ (Matth. 5, 3) gehöre, das ijt im einzelnen Falle
nicht jo unmittelbar ebibent. Ob e8 bie befte Art von Al:
mojen jet, wenn man von zwei Tuniken, die man δε δὲ,
die eine weggibt (Luc. 3, 11); ob man bemjenigen, der ung
auf bie rechte Wange jchlägt, buchjtäblich aud) bie fiufe bar:
bieten müjje (Matth. 5, 39), darüber wird man fid) im ges
gebenen Yalle erjt befinnen müſſen. Einige Ausfprüche be
Herren, bie einen tiefen ethiſchen Sinn enthalten, fordern
nicht nur nicht eine buchftäbliche Befolgung, jondern Taffen
eine jolche gar nicht einmal zu, wenn man nicht jene ver-
hängnißvolle Selbftverftümmelung eined Origenes mit Matth.
19, 12 oder 5, 29—30 rechtfertigen will. Was ijt in diejen
44 Linfenmann,
Sentenzen Gebot und was ift Rath? Aber auch ba,
wo eine buchjtäblihe Anwendung möglich ift, bleibt immer
noch fraglich, welches bie beffere fei, die buchftäbfiche oder
bie geiftige? Das fo beveutungsvolle Wort des Herrn:
wer e$ fafjen kann, ber faffe εὖ, will nicht ehva nur
heißen: wer bie Kraft zu Erfüllung des Rathes in fich fühlt,
ber erfülle ihn! Vielmehr beruft fid ber Herr auf unire
Faſſungskraft, auf bie Fähigkeit einer geiftigen
Unterfheidungs; Górijtuà gibt die Näthfelrede, wir
follen fie deuten mit Anwendung auf unſern Scelenftand,
und fo gewiß die geiftige Deutung der fittlihen
Ideen vollfommner ijt ala bie buchſtäbliche,
fo gewiß ift mit der äußern Form be8 Mönch ὃ-:
weſens noch nicht die höchſte Kormder hrijtlihen
Sittlichkeit gegeben. Wir verſtehen jetzt die Schilderun⸗
gen der aſcetiſchen Schriftſteller von den Vortheilen des
kloͤſterlichen Lebens; εὖ mag’ leichter fein im Frieden ber
Zelle zu wohnen, als im Streite ber Welt; leichter, das
rauhe Mahl am Kloftertifche zu koſten, al3 wie bie Weltleute
mit der täglichen Sorge um des Leben? Nothdurft fid) nieder⸗
zulegen und aufzufichen; ja e8 mag leichter fein, die Regun⸗
gen des Fleiſches zu zügeln in ber Abgefchlefjenheit und ges
ordneten Zucht und bei der ftetigen geiftigen Erfrifchung an
ben religiöfen Gnadenquellen, wie dad Kloſterleben εὖ ers.
möglicht, als unverjehrt zu bleiben in der fteten Berührung
mit der Welt; ed mag mehr volllommene Mönche, als voll-
fommene Ehriften unter ben MWeltleuten geben, unb. die buch-
ftäpliche Erfüllung der Lehren be8. Herrn im Ordensleben
ichließt bie geiftige nicht aus; 1) aber man wird nach tiefen
1) Nur unter biefer Vorausſetzung nehmen wir Aeußerungen Hin,
wie 3.8. von Branbes (im Vorwort zu ber Weberjeßung von Mon⸗
Lehre von Gefeb und freiheit. 45
Erwägungen bod) nicht mehr [o objektiv den Unterjchied
fixiren kͤnnen zwilchen bem Guten und bem Beffern, zwifchen
einem chriftlichen Leben in der Welt und im Kloſter.
So treten nun an den Einzelnen Gewiſſensfragen heran,
fchwerere an den enticheidenden Wendepunften feines Lebens,
leichtere Tag für Tag. Nur ein fleiner Theil unver Pflichten
ijt durch „Geſetze“ umfchrichen, ein großes Gebiet freier fttt:
licher Bethätigung liegt vor und. Jede einzelne Entjcheidung
aber ift folgenreich, fie wirft zurüc auf unfer Inneres und
beffen fittliche Verfaſſung, und it zugleich ein Glied in ber
fortlaufenden Reihe fittlicher Gnt[djeibungen; von einer
guten That hängen Hunderte ab; e$ kann unmöglich für
meine fittliche Verfaffung indifferent fein, wie ich mich εἰ
Heide. Ich ermáge meine Kräfte, meine Verhältniffe, meine
Lebendftellung; ich fuche Freundesrath und ringe im Gebet
nad) Erkenntniß; ich erwarte Fingerzeige der göttlichen Vor:
febung ; aber Niemand nimmt nir die endgiltige Entſcheidung
ab. Die ewigen Ideen ber Sittlichkeit leiten meine Nach⸗
benfen; bie „Räthe“ dienen dazu, bie Situation zu beleuchten,
in ber ich mich befinde, und mir die Wahl zu erleichtern ;
bie Nichtigkeit meiner Entjcheidung aber wird von der Güte
ber Gründe, bie mich dazu bewogen, abhängen; bie Ent-
ſcheidung muß eine vernünftige fein. Was mir in einem
ſolchen Augenblick ala bag wirklich Beſſere erjcheint, das wird
mir ſittliche Pflicht.
Man wird aber αἰ dem Gejagten entnehmen, daß εὖ
fi in jeder folcher Einzelentſcheidung um einen Zuſammen⸗
ftoß verjchiedenartiger Lebensintereſſen und ebendarum um
eine Colliſion von Pflichten handelt. Was bem „Ge:
talembert, Mönche be8 Abenblandes 1.8. €. IX): „Das Mönchthum,
bie vollefte BSermitflidung bes Evangeliums im Leben.“
46 Linſenmann,
rathenen“ gegenüber liegt, iſt nicht etwa blos das Erlaubte,
ſondern das Gute, d. i. der Inbegriff einer Summe von
Pflichten; abſtrakt genommen iſt es dem Menſchen erlaubt,
irdiſche Güter zu beſitzen, gerathen dagegen, auf dieſelben
zu verzichten; in Wirklichkeit aber ruhen auf dem Beſitz Ver⸗
pflichtungen, deren ich mich nicht ſchlechthin dadurch entledigen
kann, bap ih auf jenen Verzicht leiſte. Wenn ich aber gute
Gründe erkenne zu der Annahme, daß diefer Verzicht für mid)
ba8 Beffere fei, fo Handle ich -thöricht unb aljo unfittlich,
wenn ἰῷ dag erkannte Beffere nicht tue; ob meine Sünde,
um mit den Gajuijten zu reden, eine tödtliche ober laͤßliche
fei, hängt von ber Wichtigkeit ber Sache und von ber Klarheit
meiner GrfenntniB ab.
Wenn wir dad Problem über dag Verhältniß von Gebot
und Rath im Einzelfalle auf eine Pflichtencollifion zurüd-
führen, fo finden wir eine Beitätigung unfrer Auffaffung in
jenen Darjtelungen ber Moraliften, bie von „Liebespflichten“
reden, Die „Liebeöpflicht” läßt fid) cafuiftifch nicht deftniren,
oder höchſtens negativ tahin, daß ihre Übertretung nicht, wie
die Rechtspflicht, veftitutionspflichtig macht. Die Werke, welche
man als Liebespflichten fordert, gehören, im Unterſchied von
ben Gejegeswerfen, der freien Liebesthaͤtigkeit an; und doch
macht Jeſus von den Werken dieſer Liebe die
Theilnahme am Reiche Gottes abhängig; vgl. bie
Schilderung be? jüngften Geridjtea, Matth. 25, 31—46. Es
wird meiftend ſchwer zu ent[djeiben fein, wann der Erweis
eines Werkes der leiblichen oder geiftigen Barmherzigkeit ger
radezu Pflicht werde. Einen Ertrinfenden, den ich retten
fbnute, trotzdem umlommen zu laffen wäre ficher ſündhafte
Lieblofigkeit; aber fo blank feben bie im Leben vorfommenbden
Salle nicht aus; es find in ber Negel noch mehrere Zwiſchen⸗
Lehre von Gefeg und Freiheit. 47
fragen zu. erledigen, 3. B. ob der Gefährbete wirkfich ohne
meine Hilfe umkommen wird, ob ich mir zutrauen fann, ihn
zu reiten, ob ich mein eigenes Leben oder meine Geſundheit
an eine unfichere Sache wagen darf u. |. Ὁ. Meine Ent-
ſcheidung hängt aljo von verfchiedenen Umständen ab und
doch drängt der Moment zu handelır.
Dieß Beiſpiel jollte nur zeigen, wie wenig bie abftrafte
Unterfcheidung zwifchen Gebot und Rath ausreicht, wenn im
einzelnen Fall eine Entſcheidung getroffen werden full; bie
Freiheit meiner Entſchließung darf keinenfalls αὐ blofer
Willkühr, fonbern fie muß auß vernünftiger Unter:
1d eibung hervorgehen; und wir fommen damit im wejent-
lichen auf dafjelbe Refultat, welches fid) ung bei der Prüfung
ber Syſteme des Probabiligmug ergeben bat: wo immer im
Widerſtreit verfchiedener Verpflichtungen meine eigene freie
"Wahl den Ausfchlag -zu geben Dat, da bin id) nicht blos be-
rechtigt, ſondern auch verpflichtet, dasjenige zu wählen, was
mir nach moralifher Überzeugung als ba8 Rechte
ericheint, felbft wenn jid) unter einem oder mehreren Gefichtö-
punkten das Gegentheil als das Beſſere und Idealere darftellte. .
Gerade hierin erkennen wir ben richtigen Einn ber. chrifte
lichen Xehre, die in der Unterfcheidung von Gebot und Rath
ihren gemeinverftändlichen und praftifchen, aber nicht ganz
adäquaten Ausdruck gefunden hat. Wir behaupten bie Frei:
heit und Erlaubtheit, dad Gute zu wählen jelbjt mit Hint—
anfegung des Beſſern; denn nur jo kann e8 überhaupt zu
einem Handeln kommen. Es muß erlaubt fein, dem Nach—⸗
denken, Unterfcheiden und Prüfen einen Stilljtand zu jeßen,
eine Gnt[djeibung zu wagen, felbjt auf bie Ge
fahr Hin, bag man nicht das Beffere und 5 εἴτε
treffe. So lange unfere Einficht eine menſchlich unvoll⸗
48 Linfenmann,
fommene unb getrübte ijt, und jo lange wir nicht bte Folgen
einer jeben fittlichen That in ihrem ganzen Umfange berechnen
fönnen, jo lange wir nicht blos ung felbft angehören, fondern
zugleich der menfchlichen Geſellſchaft, fo Lange kann ung nicht
auferlegt werden, ba8 abjolut Beflere und Befte zu juchen,
denn jonft würde unfere Gewiffenzangft fein Ende nehmen 3)
und δα 3 Beljere würde der Feind be8 Guten
fein. Viele aber erkennen ein fittliches Ideal darin, daß
fie jelbjt noch auf bie Wreiheit der eigenen Weberzengung —
verzichten und fi einem geiftlichen Obern im unverbrüd)-
fien Gehorfam unterwerfen; in ber Gebundenheit des
Willens finden fie eine befjere Freiheit, bie Freiheit von
ben Ängſten de Gewiſſens.
Unfre Unterſuchung ijt aber bamit noch nicht zu Ende.
Wir haben jene großen Erjcheinungen im Leben ber. Kirche,
in denen fid) bie Lehre von den Näthen verkörpert, mod)
nicht würdigen gelernt, das Ordensweſen und ben Cölibat
ber Geiftlichen. Wir haben oben von Liebespflichten geredet
und darunter Erweiſe ber Liebe ver[tanben, bie ber Einzelne
feinem Mitbruder gibt. Es gibt aber auch ein Liebesleben,
dad fi ber Gejammtheit opfert. Wir haben ferner von
Pflichten geredet, bie fid) auf bie natürliche und irbifche
Beitimmung ber menfchlichen Gefellfchaft beziehen. Es gibt
aber och eine höhere Form unb Beitimmung der menfchlichen
1) Sn diefer Beziehung hat Heinrich eim treffendes Wort geſprochen:
„Machſt bu bag, was nur geratben ift, zum Gebote, fo haft bu bie Be:
wiffen verwirrt, eine umverfiegliche Duelle fowohl von Seelenangft und
Gewiſſensbeunruhigung, als von Eelbittäufhung und Heuchelei eröffnet
und fajt ba8 große, weltumfaflende, allen menfchlihen Bildungsftufen
und Bedürfniffen entgegenkommende Chriftentyum in eine engberzige und
[hwärmerifhe Sekte verwandelt." Die Klöfter unb ihre Gegner (Bro:
fdurenperein) 1866. ©. 5.
Lehre von Gefe unb Freiheit. 49
Geſellſchaft; und aud) gegen bieje b. i. gegen die Kirche gibt
ἐδ Leiftungen und Verbinblichfeiten, die der freien Liebe an⸗
gehören, bie aber in ber Idee Gotte8 von ber Kirche einge:
ichloffen find. Bon diefen Liebespflichten gegen die Kirche,
von ber göttlichen Berufung ded Einzelnen für dieſes
höhere Liebesleben unb vom Gelübbe als ber befondern
Form dieſer Pflichterfüllung wird ein weiterer und Ichter
Artifel handeln.
— — — — -ὕ
Theol. Quar taiſchrift. 1872. Heft I. 4
2.
Die alttchriſtliche Latinitat nnd die profane Philologie
der Gegenwart.
Fünfter Artikel.
Von Rector Dr. Allgayer,
Primat. Wie dieſes Wort in kirchlicher Bedeutung:
ald oberfte Leitung der Kirche burd) die Nachfolger
des bf. Petrus lateinisch ausgedrückt werben fünne, ijt bereits
- in unferem 4. Artifel nachgewiefen. Zur Vervollſtändigung
fügen wir bei, daß Zotius ecclesiae principatus aud) im
Append. ad opp. Leonis T. 3. p. 696 vorkommt und
totius ecclesiae principatum tenere gleicher Weile im
Append. ad opp. Leonis T. 2. XIV p. 54 gefunden
wird. Außerdem ijt die Phrafe: dag Kivchenregiment
führen von genanntem Kirchenvater ganz pajjenb durch
gubernaculis ecclesiae praesidere bezeichnet, Serm. 2, 2,
Ende, wie bie Regierung der Kirche antreten,
übernehmen bei bemfelben Auctor Serm. 3, 3 nicht
weniger gut heißt suscipere ccclesiae gubernacula. Ernte:
zeit. Für diefed Wort bietet (S. nur messium tempus.
Allgayer, Altchriſtl. Latinität unb profane Philologie. 51
Nun wird aber dafjelbe bekanntlich auch tropiich gebraucht
und in bicjem tropifchen Gebraudy auf ein ſingulares Object
— ben eben jo tropifch zu benfenben Waizen — in der Vulg.
Matth. 13, 30 bezogen, welche die Erntezeit in diefem Sinn
ganz richtig durch fempus messis woicbergiebt. Ebenſo ift
tempus messis bildlich genommen untabelhaft, wenn cà. im
Gegenfaß zur Saatzeit gefaßt wird, mie dic Leo bet
Große thut, wenn er jagt: praesens vita fempus est sa-
fionis et dies retributionis tempus est messis, Leo,
Serm. 10, 2 g. G. Krebdartig Wenn von G. für
unfer krebsartig um fid greifen bloß cancri modo
serpere geboten ijt, jo mag daran erinnert werben, daß
dafür [fid aud) eben fo gut verwenven läßt, was Bulg.
II. &imotb. 2, 17 au fejem ift: sermo eorum ut cancer
serpit ZOunbertbat ijt bei G. lediglich * facinus mirum
ober mirabile; aud) Kraft bietet im Ganzen nichts weiteres.
Wir machen deßhalb darauf aufmerkfam, daß die Wunder:
tbaten im eigentlichen Sinne des Wortes von Leo, Serm.
54, 4 Afg. ſehr gut durch miracula. operum divinorum
ausgedrückt werden. Im Zufanmenhang 3. B. im Gegen:
jape genügt e8 natürlich aud) an operum miracula. Bol.
darüber was bei Leo Serm. 51, 1 vou Chriſtus gefagt ift:
discipulos suos doctrinae monitis et operum miraculis
imbuebat. Daß ba$ heil. Abendmahl chen in der alten
Kirche unter anderm aud) durch mensa. dominica. bezeichnet
wird, iſt ſchon in unferem dritten Artikel aus Augujtin nach:
gewiefen worden. Der gleiche Tropus wird aber auch bei
Leo gefunden, denn Jemanden vom bi. Abendmahle
ausschließen heißt bei ihm mit einem ſchönen, ſehr ge:
wählten Ausdruck: a dominicae mensae convivio aliquem
segregare, |. Cod. can. eccles. bri eo T. 3. p. 557, 5
4 Ld
52 Allgayer,
fiebe83gebidjt. Dafür im $anbmtb. von ©. ganz gut
carmen amatorium, nur ijt der vorgelchte Aſterisk zu
ftreichen, da diefe Verbindung antike Muctorität hat: Alexim
puerum, in quem Plato etiam carmen amatorium fecisse
dicitur, Aug. de utilit. cred. $ 17 Ende (opp. T. 10).
Was in unferem dritten Artifel über bie lateinifche 9[u8-
prägung von ſündelos = immunis a culpa angeführt
wird, können wir jet auch aua Leo Serm. 37, 3 befräftigen;
außerdem aber findet fid) bei bdemfelben Vater noch ein
weiterer ganz abüquater Ausdruck: peccati expertem esse,
epp. 52, 2 und: abjolut jfünbelo8 fein: totius
[omnis] peccati expertem esse; Serm. 21, 1l. Tode?
tag. Reicher al? Kraft ijt an lateinischen Bezeichnungen
bieje8 MWorted dad Handwrtb. von George. Wenn aber
ber erjtere neben anderem aud) dies fati nach Curt. VIII,
33, 1 aufgenommen und diefer Ausdruck von ©. übergangen
worden ijt, jo ſcheint ung dieſe Uebergehung infofern nicht
ganz conjequent, als er au Tacit. dies fatalis entlehnt.
Beide Ausprüce haben ja bie gleiche Dignität, b. D. fie ges
hören ber heibnifchen Weltanihauung an. Was ift aljo
zu tun? Dean wähle für Todestag immerhin mit ©.
dies vilae supremus, ultimus und was er jonjt πο
bietet. Wenn aber fiv. und ©. gleichmäßig dies mortis
verwerfen, jo find wir damit nicht einverjtanben, denn dies
mortis findet fid), wie àu8 jeber Goncorbang zu erjehen
ift, jehr oft in ber Vulgata be8 alten Teftamentes, welches
fatum, dies fati, fatalis, fato cedere, concedere, fungi,
obire u. bergl. gar nicht fennt. Drückt fid) nuu aber bie
fateinijdje Ueberſetzung ber Schriften des alten Teftamentes
in wörtlihem Anſchluß au die hebräifchen Bezeichnungen
von Tod und Sterben in der genannten Weife aus, fo
Altchriftliche Latinität unb profane Philologie. 58
wäre εὖ bod) wohl ein allzu Angftliches Anklammern an
den heidniſchen Glajficiómu8, wenn man neben dem ihm
angebörigen dies vitae ultimus, supremus nicht aud
dies mortis ber Bulgata gelten laffen wollte Fato fungi
u. berg. aber ijt für unfere Latinität nicht brauchbar und
hat nur Hiftoriichen Werth. Todespein wird von ©.
durch * cruciatus mortis außgevrüdt. Wählt man ftatt
deſſelben tormentum mortis, Vulg. Sapient. 8, 1, jo
braucht man bei tormentum ftatt des Singulars nur ben
Plural zu jegen, um einen ganz untabelhaften Ausdruck
zu gewinnen. Himmelreih. Haben wir in unjerem
dritten Artifel auf das von G. früher unbeachtet gebliebene
regnum coelorum aufmerfjam gemacht, jo fügen wir mut
mehr hinzu, daß bofür ebenjo gut auch regnum. coeleste
gejagt werben fann, 3. B. regni coelestis gloriae prae-
parari, Leo, Serm. 65, 5 Ende, vergl. ebendaf. Serm. 9, 2
Ende und ebendaf. 3 Ende Unvernünftig in bem
Sinne von nicht mit Vernunft begabt heißt bei ©.
lediglich rationis expers; Leo erwähnt Serm. 20, 3 ani-
malia carentia intellectu, eine Bezeichnung, weldye, wenn
auch nicht klaſſiſch, fo doch jedenfalls gut ijt, jo bag intellectu
carens «ld Synonymum von rationis expers beſonders
variandae orationis causa Beachtung verdient. Faſten,
Taftenzeit wird im Handwrtbuch von G. durch * jejunsum
Paschale überjegt ; einen antiken Ausdruck dafür bat Leo,
Serm. 40.1 init.: jejunium quadragesimale, voa wir u:
verwerflich finden, obgleich quadragesimalis bis jest in
unfern lat.=deutfchen Wörterbüchern mit Ausnahme von
Quicherat, Addenda etc. umfonft gefucht wird. Oſter—
zeit. Menn ©. als fateinijdje Bezeichnung deſſelben * tem-
pus Paschale angiebt, fo ijt ber Aſterisk auch in dieſem
54 Allgayer,
Falle zu ſtreichen: Olim dominus per Moysem tempus
Paschale; significavit, Leo epp. 133, 2 init.; ebenjognt
ift. dafür aud) Tempus Paschae Ro a. a. O. c. 7 ᾳ. Mitte
und Append. ad opp. Leonis T. 3. p. 517, c. 7 Ende.
Staub. Zu ben lateinijden Ausdrücken welche wir im
ersten und im vierten Artikel für die deutfche Phraſe zu
Staub werden, wieder in Etaub und Aicdhe zer:
fallen, angeführt haben, fügen wir au8 Leo Serm. 22, 5
init. hinzu in pulverem et cinerem dissolvi. Almojen:
ipenuben, Almofengaben find von Leo Serm. 15, 2
mit einem unſeres Erachtens vortrefflichen Ausdrucke bes
zeichnet: benigna in pauperes Christi munera. Gnade,
Giabengabemn. Werben unter Gnabengaben die über-
natürlichen Gnadengeſchenke zum Heil der Seele verftanden,
jo kann man ſich für bie Lateinische Ueberſetzung davon,
daß alle biefe Gaben von oben kommen, an geo
erinnern, wenn ev Serm. 79, 4 fügt: Spiritus sanctus
alicui omnium virtutum dona confert. Paradies.
G ott ftich den (erften) Menſchen aus bem Bara-
dbiefe heißt nad) G. deus ejecit. hominem de paradiso ;
eine ſchwächere aber Elafjifche Bezeichnung hat tie Vulg.
Genes. 3, 23: emisit eum dominus deus de paradiso
voluptatis, cine jtärkere liegt in extrudere [ex] paradisi
sedibus bei Xen Serm. 22, 5 Anfang. MWürgengel [01
nad) ©. leteinijd) durch * angelus trucidator überlebt
werden. Wir billigen dieß nicht, einmal weil für biefe
moderne Berbindung jid) ein antifer Ausdruck fubftiiuiren
läßt, jodann weil die Vorftellung, welche ber angelus ir«-
cidator erweckte, cine gar zu grelle um nicht zu jagen
gräßliche wäre. Kraft nun überträgt dad Wort beffer durch
da allgemeinere angelus vastator populi, wie denn ange-
Altchriftliche Latinität und profane Philologie. 55
lus vastator ji aud) bei Xen Serm. 55, 5 findet: hujus
limina vastator angelus sanguine agni et signo crucis
praenotata non intrat. Noch fügen wir bei, daß dafür
qud) angelus percussor mit der Vulg. Exod. 12, 23 ver:
wendet werben kann. Opferung oder Opferhand—
[ung mangelt bei ©. ganz und gar, die geſetzliche
Dpfergabe darbringen heißt aber bei Leo Serm.
22, 4. p. init.: legalis sacrificii oblutione perfungi
und mit dev Darbringung einer Opferygabe bes
Ichäftigt fein in sacrifici. oblatione versari, ebendaſ. Serm.
26, 1 init. Seitenwunde Daß ber Aſtorisk vor atris
vulnus (Seitenwunde Jeſn Ehrifti) zu ftreichen fei, ijt bereits
in unjerem zweiten -und dritten Artikel erwieſen worden.
Weitere Belege dafür bietet Xco Serm. 65, 4, Serm. 71, 3,
epp. 28, 5 und 65, 4 und 71, 3 Ende und 124, 6, wozu
noch beizufügen ijt, daß bieje8 Wort mit Rüdficht auf das
verwundende Juſtrument nach) Leo epp. 104, 1 fid) aud)
gut durch vulnus lanceae wiedergeben läßt. Zerſchla—
gen. Für zerihlagen durch Hagel führt & wur
bad Horazilche ss grando contuderit vites an, |. Horat.
epp. I, 8, 5, allein wenn Leo Serm. 87, 4 unſer deutſches
der Hagel zerſchlägt δὰ ἢ Gaatfelb burd) prosternit
grando segetem augorüdt, jo ijt auch daran nichts aus:
zufegen. Laienſtand ift von ©. übergangen. Es heißt
itad) dem Append. ad opp. Leon. T. 3. p: 818, IX Anfg.
(Migne) im Gegenjag zur Priefterfchaft laicus ordo und
ebenbajelbjt p. 822, X XVII ordo laicorum. Für Menſch
werden in phyſiſcher Beziehung bietet G. humanam speciem
induere und fügt bei, hominem fieri voerbe in moralijcher
Beziehung gejagt. Dagegen ijt zu erümern, daß h. fier:
in ber patriftifchen Sprache auch im erjtgenannten Sinne
56 Allgayer,
gefunden wirb, 3. B.: Christus sic homo factus est ut
non destiterit deus ease, Aug. in evang. Joann. Tract.
28. 1. Serm. 262, 7, enarr. in Ps. 36, Serm. II, S 15
(bis), enarr. in Ps. 134, 5, Serm. 192, 1. Hieron. epp
98, 5 init. (ed. Maur.). Leo M. epp. 28, 3 p. medd.
Append. ad opp. Ambros. T. 4, p. 309 oben (Migne);
ebenſo in der alten Tateinifchen Meberfeßung des Nicänifchen
Symbolum® Append. ad opp. Leon. T. 3 p. 825 (Migne).
Was humanam speciem. induere betrifft, fo erlauben wir
unà zu bemerfen, daß daneben aud) humanam naturam
suscipere nady Aug. de ag. christiano, c. 1 und Leo
Serm. 24, 3 feine Geltung fordert, und zwar um jo mehr,
ala in species zunächſt nur ba8 Moment des Körperlichen
liegt, während natura humana beides, den leiblichen wie
den geiftigen Beſtaudtheil des Menfchen in [fid begreift. -
Endlich wird bie Menfchwerdung Chrifti Furz und gut bird)
susceptio hominis gegeben von Aug. Serm. 67, 7 Anfg.
Sür unfer ein neuev Menſch werden ijt vou G. febig-
ἰῷ novum ingenium sibi induere angeführt. Diefe Phrafe
ijt aus Livius 8, 33, 7 entlehnt unb dort von bem ftolzen
Patricier Appius Claudius gefagt, welcher nicht αὐ einer
Art von politifher Buße und Belehrung, jondern
lediglich aus Heuchelei und Herrichjucht auf einige Zeit bie
Maske be8 Volksmannes aufgelegt hatte und bald, wie
e. 36 defjelben Buches jagt, wieder zu feiner wahren Sinnes⸗
art zurückkehrte. Alſo ift die Phrafe in analogen Fällen
δε Gaufelfpiel® von Umkehr ber politifchen, moralijchen
ober foctalen Haltung ganz an ihrem Plate Wird aber
ein neuer Menfh werden im Sinne ded Chriften-
thums von ber Befehrung, ber eigentlichen Wiedergeburt
des ganzen Menfchen verstanden, fo müffet wir unfere
-
Althriftliche Latinität und profane Philologie. 57
Zuflucht zu ber Vulg. nehmen, welche dafür Ephes. 4, 24
und Coloss. 3, 10 vortrefflich jagt novum hominem in-
duere. Knechtsgeſtalt. Tiefe bei ©. ganz und gar
mangelnde Wort gehört der theologischen Sprache an und
gründet fid) auf Paul. ad Philipp. 2, 7 wo e3 heißt, daß
Chriſtus cum in forma dei esset ſich fefbjt ernichrigt
unb fénedita8geltalt formam servi angenommen habe
u. ſ. f. Natürlich alfo, bab forma servi, servilis in ber
Sprache der altlateinifchen Kirche cin jehr oft genanntes
Prädikat des Heilandes bildet. Man vergleiche darüber
unter anderem Ambros. epp. 46, 3 Gitbe, ebendaf. S Bit. 7.
August. Serm. 47, 19, de trinit. I. S 24 (fech3mal) in
Ps. 138, 3 (viermal) Greg. in Job lib. 30, c. 21, $ 66
gegen Ente Daher it. Knechtsgeſtalt annehmen
= formam servi suscipere, Ambros. in Ps. 35, Praef.
$ 5 unb Leo, Serm. 30, 5. Knechtsgeſtalt tragen
= gerere formam servi, Leo epp. 30, 1 πιὸ 31, 1.
Die unveränderlihe Gottheit bi 8 zur Knechts—
geftalt erniebrigen = usque ad formam servilem
inclinare immutabilem deitatem, Leo Serm. 51, 6 Ende,
Wenn endlich für Knechtſchaft von ©. aud) conditio
servitutis gejagt wird, jo mag beigefügt werben, bap in
der patriftifchen Satinitàt dafür aud) conditio servilis ge:
funben wird, 3. B.: ipse perrexit, ne videretur in cen-
turionis famulo conditionem despexisse servilem, Am-
bros. Expos. evang. Luc. lib. V, $ 84 Gnbe und ser-
vilem conditionem recipere wird von Chriftus bei Leo
Serm. 46, 1 Ende gebraucht. Scheinkörper heikt im
Handwib. von ©. * species quaedam corporis, " quod
corpus esse videlur. Wir würden feinen Anftand nehmen,
dafür mit Leo epp. 124, 2 Ende und epp. 165, 2 Ende
58 Allgayer,
phantastica corporis species (im Gegenſatz zur Realität
des menfchlichen Körper2) zu fagen, obgleich das Adjectiv
phantasticus ſehr fpätlateinifch ift. Indeß findet fid) in
biefem Gegenfabe aud) Aumani corporis speciem gerere,
opp.: humanae carnis veritas bei Leo epp. 35, 1. Sit
babel ben Puriſten nur humanae carnis anjtópig, fo
braucht man dafür nur mostri ober humani corporis
veritas nad demſelben Gewährsmann epp. 156, 2 Ende
und 165, 9 zu wählen, un einen ganz untabelhaften Aus—⸗
brud zu gewinnen. Berfhämte Armuth laßt fid)
lateinisch wohl auch furg nnb gut ausdrücken durch Zacıta
egestas nad; Leo Serm. 9, 16: sunt qui palam poscere
ea quibus indigent erubescunt et malunt miseria tacitae
egestatis affligi, quam .. Handgreiflich im cigentli-
hen Sinne: wer ober wad mit Händen gegriffen
werden fan, ift ganz richtig auch durch manibus trac-
tabilis (e) zu überjegen nach Leo Serm. 26, 1: coepit
etiam manibus esse tractabile was im bdeutjchelat. Howtb.
von ©. mangelt. Eines Herzen? und Sinne fein
heißt nah ©. unius animi esse mit der Auctorität Comic.
Sit e8 aber nicht cbenjo gut, wenn Leo mit dem Deutichen
völlig zufammenftimmend Serm. 89, 2 fagt: in operibus
pietatis totius ecclesiae unus animus et unus est sensus,
was wohl eine freie und fprachlich angefehen als Verbeſſerung
zu betrachtende Nachbildung von Vulg. A. A. 4, 32 fein
wird. Müßiggang Für unfer beutfches: der träge
Müpiggang finden fid) bei (S. drei Bezeichnungen, ed
mangelt aber ba8 ganz gute iners desidia, Leo Serm.
90, 2 Anfg., wobei wir aud) gelegentlich bemerken, daß
von ©. im beutfchelat. Theile des Hdwtb. unter den (ateini-
iden Ausdrücken für geſchäftiger Müßiggang ba3
Altchriftliche Latinität und profane Philologie. 59
befannte Horaziſche: strenua nos exercet inertia. nachzu⸗
tragen ijt. Apoftelamt. Daß man fchon frühe aufteng, |
die Firchlichen Ämter burd) ordines zu bezeichnen, ijt bereits
in unſerem vierten Artikel gezeigt worden. Demnach kann
man ftatt de& von ©. für Apoftelamt angegebenen *
munus apostoli jagen: ordo apostolicus, wie Leo Serm.
82, 3 thut: beatissimus Petrus princeps apostolici ordinis,
ebenjo Serm. 83, 1 Anfaug. Glaubengeinheit. Auch
diefed Wort ijt im Handwörterbuch von G. gänzlich über:
gangen; wie ed lateinisch auszudrücken fei, lehren bie Worte
Leos in Serm. 24, 6 ag. Ende: δες (fidei) unitati in-
concussis mentibus inhaerete. Ganz ebenſo verhält εὖ fid)
mit Glaubensvertheidigung, was bei Leo epp. 39 (bis)
defensio fidei heißt. Katholicismus. Das von ©.
dafür angegebene * doctrina. catholica ijt von bem Aſterisk
zu befreien, da ἐδ bei Leo epp. 38 bet: quae secundum
docirinam catholicam et didicimus et docemus, vergl.
darüber auch Append. ad opp. Leon. T. 8, p. 482
unten, (Migne); cebenfo hat ta$ von ©. g(eidjfallà mit *
bezeichnete veritas catholica antike Auctorität, |. Leo
epp. 12, 6: plenissime confiteri veritatem catholicam.
Für Himmelspförtner iſt coelt Janitor ſchon in unjerem
zweiten Aufſatz angegeben worden, wozu wir jetzt beifügen,
taf dafür auch regni coelorum janitor oder janitor regni
coelestis gebraucht werben kann, ©. barüber Xeo, Serm. 3,
3 und epp. 103 Ende Sterblichkeit wird von ©.
unter anderem aud) burd) mortalis conditio ausgedrückt,
was aud) bei Aug. Serm. 367, 5 gefunden wird; nicht
weniger richtig, jagt aber der gleiche Vater auch conditio
mortis wie: immunis a conditione mortis, Serm. 367, 1
und ebenjo bei Leo Serm. 70, 8 Ende. Theilmweife Wie
60 Allgayer,
ba8 deutfche: theilweife wahr fein fateinijd) zu über:
fegen fei, darüber geben wohl aud) bie folgenden Worte
$eo8 Serm. 24, 5 Anfang einige Belehrung: Aliae haereses
... habent tamen singulae in aliqua swi parte quod
verum est. Schweinehcerbe ift von ©. ganz übergangen,
bei Kraft findet fich dafür grex swillus nach Liv. 22, 10.
Daneben kann man aber auch ebenjo wohl grex porcorum
bei Aug. c. Faust. VI, c. 5 g. G. unb Vulg. Matth. 8,
30 unb 31, Marc. 5, 11 unb Luc. 8, 32 verwenden.
Schwahgläubig. Dafür bietet ©. febiglid) * haud certa
fide; von Leo hingegen wird dad Deutfhe: man findet
aber ſchwachgläubige Menjchen gang gut bird) ben
attributiven Genitiv auggebrüdt: inveniuntur autem. infir-
mae fidei homines, epp. 22, 2 (versio antiquior p. 729
(Migne. Sterndienft. (Sabäigmud). Merkwürbiger
Meile ift aud) dieſes Wort fowohl von Kraft als von ©.
mit Stillfehweigen übergangen. Der vollfommen adäquate
Ausdruck Tann aus Leo Serm., 42, 5 entnommen werben:
qui jejunium suum et ad siderum cultum (divinum) et
ad resurrectionis dominicae instituere contemptum.
Knurren. Was dafür von (S, und Kraft beigebracht
wird, ift aus Plaut., hat alſo bloß poetiſche Auctorität.
Daneben wird man afjo wohl aud) immurmurare gebrauchen
birfen: canes dormientes plerumque immurmurant,
Aug. c. epp. Manich. c. 17, 8. 20. Sünden. Der
arme Sünder b. 5. ber zum Sob Verurtheilte ift bei
G. morti destinatus. Beſſer ijt offenbar, was bei Aug.
Serm. 302, 8. 18: zu leen. ijt: supplicio destinatus.
Epiphanie. Was über die rein lateinische Ausprägung
biefe8 griechifchen Wortes bereit in unferem vierten Artikel
bemerkt ijt, wird bejtátigt und vervollftändigt durch das mas
Altchriftliche Latinität unb profane Philologie. 61
darüber Leo der Große bietet. Auch bei ibm tjt Epiphanie
manifestatio domini, Serm. 32, 2 oder apparitio domini
et salvatoris nostri, Serm. 35, 1 oder apparitio Christi,
Append. ad. opp. Leon. T. 3, p. 555 (Migne). Katho—
[1f wird im Hortb. von ©. lediglich burd) homo catholicus
mit bem Beiſatz Eccles. — im Plur. aud) bloß catholici
üterjegt. Wir erlauben ung gu bemerken, daß dafür eben
jo gut ober eigentlich noch beffer Christianus catholicus
gejagt wird, 2. 8.: unde christian: catholici et vos inter
zizania numerant, quia ... Aug. c. Faust. XVIII, 7.
Anfang; ebenjo: agnoscat ergo catholicus christianus,
Leo Serm. 79, 3 init. unb: hane legem sequentes
christianorum | catholicorum nomen jubemus amplecti,
Append. ad opp. Leon. T. 3 p. 681 unb 718, XXXI
unb 870, XXVII de hered. cleric. und 886, LX X (Migne).
Unnatürlih. Man beachte, daß außer bem im Hortb.
v». G. angegebenen qui, quae, quod. praeter naturam ex-
sistit , ebenfo gut gelagt werden kann qué, quae, quod
contra naturam est, vergl. darüber Vulg. epp. Pauli ad
Rom. 1, 26: «sus, qui est contra naturam. Kirchen—
bau. (δ. vergißt, daß dieſes Wort auch in bem Sinn von
Kirhengebäude gebraucht wird. Wir bemerken" barum,
daß int Append. ad opp. Leon. T. 3 p. 704 (Migne)
neben aedes sacrae aud) aedificia. ecclesiastica genannt
find. Wenn ferner für Kirhenbau al? Handlung,
al Act des Erbauen? von ©. * aedis sacrae aedifi-
catio vorgefchlagen wird, jo werden wir dafür licher aedis
sacrae fabricatio lagen, wie denn fabricationes aedificio-
rum von ©. felbit im lateinisch deutichen Theile des Hortb.
aus Vitruv angeführt find. Abbruch. Unter diefem Worte
mangelt bei ©. die Eirchliche Bedeutung, in welcher Abbruch
62 Allgayer,
den aus ethiſchen Gründen vorgeſchriebenen Verzicht auf
einen Theil von Speiſe und Trank bezeichnet; nach Leo
Serm. 94, 1 p. init. könnte dich ganz gut durch diminutio
cibi potionisque ausgedrũckt werden. Prieſterehe. Heißt
bei ©. lateinisch * sacerdotum matrimonium oder * connu-
bium sacerdotale (das Recht der Priejter fid zu verehlichen ;
bei Leo epp. 12, 3 9. G. kommt fir Priefterehe con-
jugium | sacerdotale vor. Thieropfer Dieſes Wort
üt von G. nicht berüchjichtigt, nad) Aug. c. Faust. XVIII,
6 Anfang find. Thieropfer lateinij sacrificia animalium
unb im Gegenfab zu denſelben müßten bie unbluti:
gen Opfer bod) wohl burd) * sacrificia. rerum. inani-
marum. außgeprägt werben. Wird zugleich auch noch bic
Thiergattung angegeben , auß welcher cin Opfer genommen
werben fol, jo wird biefe nähdre Beitimmung durch den
betreffenden Genitiv dargeftelit, alfo 2. B. avium pecudum-
que hostiae, Leo, Serm. 15, 2 Anfang. Allerchrift:
lichfter König it nad) bem Handwörtb. von G. * rez
christianissimus. Der Aſterisk ift auch im vorliegenden
Tale zu tilgen, weil biejer Gebraudy de Euperlat. von
christianus fid) durch antife, wenn auch, wie ed in ber
Natur der Sache liegt, Späte Auctoritäten erhärten läßt.
Wird ja bod) für christianissime princeps im [αἰεὶ εἰ
deutſchen Theil be8 Handwörterbudy8 von &. Ambros. epp.
1, 1 citivt und findet fid) diefe Titulatur auch bei Leo bem
Großen epp. 46, 1 init. unb 54 init., außerdem epp. 129,
3 und 156, 3 Anfg. So wird auch der dftrömifche Kaifer
Manriciud von Greg. dem Großen epp. VI, 16 mit
christianissime principum augeredet. Nicht weniger kommt
qud) christianissimus imperator vov, |. barüber Leo epp.
31, 4 Anfg. und 33, 2 und über christianissimus rerum
Altchriftlihe Latinität unb profane Philologie. 68
dominus, Greg. epp. I, 16 Ende. Was fpeciell rez christi-
anissimus betrifft, [0 ijt biefe Bezeichnung nach dem Kirchen⸗
leriton von Wetzer und Welte I, p. 173 den Königen von
Frankreich von den Päpſten Pius II. und Paul IL. um bie
Mitte be8 15. Jahrhunderts verlichen worden. Allein dieß
will nicht jagen, baj denjelben bie Auszeichnung dieſes Na:
meus nicht jdon früher aus Gourtoijie beigelegt worden,
iondern mur fo viel, daß jene Titulatur von jener Zeit an
allgemein und officiell geworden ſei. Und in der That heißt
es in dem ritus olim observatus in unctione regum
Francorum — ſ. Append. ad opp. Greg. T. 3, p. 260
— in dem Gebete post gladium unter anderem: propitiare
christianissimo regi nostro, wozu bie Mauriner a. a. Ὁ.
p. 591 aumerfen: Christianissimi appellatio regum
Francorum est propria et sane antiquissima etc. Dieſe
Situfatur ijt alfo ohne Zweifel von den römischen Kaifern
anf die Könige der Franken übergegangen. Auch unjer
alferburdíaudtigiter wird von G. burd) * serenisst-
mus überfeßt. Der Aſterisk ijt auch bier wieder zu ftreichen,
denn serenissimus war Ehrentitel ber Götter jchon im ber
nachklaſſiſchen Periode, vgl. Martial. 5, 6, 9 und ift von
ihnen auf bie römischen Kaifer übergetragen worden. So
jteht serenissimus princeps nad) ©. ſelbſt — j. im let.
dentſchen Theil unter serenus int Cod. Theod. und cbenjo
bei Greg. epp. 1, 16, 1. Allerheiligen. Dafür bei
&.* dies festus omnium sanctorum. Nun wiffen wir
aber, daß in ber morgenländilchen Kirche bereit3 in 4. Jahr⸗
hundert ein gemeinfames Feſt aller Martyrer unb. fonftigen
Heiligen gefeiert wurde und dag gleiche Felt um bie nämliche
Zeit wahrfcheinlich auch in der Kirche des Abendlandes be-
ftand, denn im Antiphon. von Papſt Gregor Opp. T. 3
64 Allgayer,
p. 712 in die ad missam finden fid) die Worte: gaude-
amus omnes in domino diem festum celebrantes . sub
honore sanclorum omnium. Weber den Antiph. Gregor
aber urtfeilen die Mauriner dafjelbe wie über feinen lib.
Sacrament., daß πᾶπι Gregor cher der Sammler und
Berbefferer als der Verfaffer ſei. Hat es damit feine Rich⸗
tigkeit, jo fanm bie eben αὐ dem Antiph. angeführte Etelle
verhältnißmäßig ſehr alt fein und giebt, wenn man nur
bie zwei Worte sub honore ftreicht, denſelben Ausdruck,
welchen &. durch den vorgejegten Aſterisk als moderne Bil-
bung bezeichnen wollte Ehebrechen. Es verſteht fid
von felbjt, daß neben dem von G. angegebenen Adem con-
jugis violare auch gejagt werben kann fidem. conjugalem
violare nach Aug. de bono conj. δ. 4 Ende; für Ehe-
brecherin bietet ©. im deutſch-lateiniſchen Theile ded Hand:
wörterbuched nur adultera; bat man aber ein Bebürfnik
eines ſynonymen Ausdruckes, jo würden wie aud fider con-
jugalis violatriz, Aug. am eben a. SO. zulaſſen, obgleich
violatric nur pätlateinifch bei Aug. vorzufommen jcheint.
Dlivenwald fehlt bei ©. gang unb gar. Finden fid
aber bei Aug. c. Jul. VI, $. 21 init. sölvae oleastrorum,
fo wäre Wald oder Wälder zahmer Dliven seva,
silvae olearum. Geburtsſchmerzen find nad) ©. durch
dolores »puerperae oder durch Umschreibung zu über:
jeßen. Wir bemerken deßhalb, daß auper bent bereit? in
unferem 4. Artikel S. 193 Beigebrachten ber Kirchen:
vater Augustin dafür auch nod) andere gute Bezeichnungen
bietet. Hat nämlich der Singular von dolor = Geburt!
wehen bie Auctorität von Serena, jo ijt e8 ganz beftimmt
gut, wenn Auguftin jagt: dolorem pariendi poenam dici-
mus esse peccati, opp. imperf. c. Jul. VI, XXVI p. 1650
Altchriftliche Latinität unb profane Philologie. 65
von T. 14 der Mauriner Aug. Venet. 1768. Nicht weniger
richtig Tagt derfelbe Vater: unde nec illud meum quod
... de parturientium doloribus posui, putasti esse tan-
gendum, a. a. Ὁ. V, 15 g. G. Wenn endlich der gleiche
Gewährsmann unmittelbar darauf jagt: si feminae sine
parturitionis cruciatibus parerent, puto ... jo würben
wir aud) dieß aufafjen, da parturitio ein wenn auch jpüteà
jo doch jehr gut gebildete Wort ii. Liebeswerke.
Berücfichtigt man was wir über Liebespflicht im 3. Artikel
€. 270 bemerkt haben, fo ijt Elar daß zu dem was G. ba-
rüber unter bem Worte Freundſchaftsdienſt beibringt,
bie opera pietatis αὐ Leo Serm. 11, 1 hinzuzunehmen
find. Daſſelbe fanum aber aud) durch opera caritatis aus⸗
gebrüdt werben: eleemosynae opera caritatis sunt, Leo,
Serm. 7, Serm. 10, 2, Serm. 74, 5. Wenn enblid) of-
ficiun ſchon im gewöhnlichen Gebrauch nicht bloß bic
Pflicht, fondern aud) bie pflihtgemäße Handlungs—
weise beveutet , jo können Liebeswerke natürlich aud
durch officia pietatis vollkommen adäquat ausgedrückt werben,
|. Leo Serm. 16, 6. Fleiſch. Unter biefem Worte
mangelt bei ©. ber lateinische Ausdruck für unfer Fleiſch
efjen, wa? nach Aug. c. Faust. VI, c. 6 Anfang ganz
gut au$gebrüdt wird burd) carmıbus vesci. Prüfung
it auh nah ©. examen als abmwägende Unterjuchung,
während für dad Probiren ald Handlung fentatio
angegeben ijt. Nun lejen wir aber doch bei Aug. c. Faust.
XII, c. 38 p. init. Gott habe bie befannte Prüfung Abra:
hama augelajjen ut ejus obedientia tali examine probata
posteris imnotesceret, eine Bezeichnung, bie und ganz an⸗
nehmbar jdjeint, wenn man nicht au$ lauter Purismus er-
gerimento ſtatt examine gebrauchen will. Faden. Einen
Tpeol. Quartalſchriſt. 1872. Heft I. 5
66 Allgaper,
Faden ziehen ift nad) ©. Alum ducere; baneben hätte
wohl aud) Alum torquere Ὁ. ὃ. wie ©. unter bem Wort
Dreben feíóft angiebt drehend verfertigen, aufge:
führt werden follen. Für wollen bietet dad Handwrtb.
von G. lediglich Zaneus, inbeB kann dieſes Ctojfabjectiv
auch durch eine leichte Umschreibung erjeßt werden, bent
einen wollenen Faden ſpinnen beißt bei Aug. c.
Faust. XX, c. 9 p. init. ganz gut filum ez lana torquere.
Ruf. Bei G. ijt bie allgemeine Phraſe: Jemand oder
etwas veridafft Semanben den Ruf von etwa?
nicht zu finden ; den wörtlichen lateinischen Ausdruck berjefben
bietet Auguftin c. litt. Petill. II, 8. 201: non istam vobis
famam furiosa vesira agmina per tolam Africam cum
terribili turpitudine passim | vagantia | compararunt.
Geldmittel heißen im Hdwrtb. von ©. lediglich copiae,
wenn aber bei diefem zufammengefeßten Worte der Gegenſatz
den Ton auf bie evite Silbe fegt, jo muß ter Goncinnitàt
wegen praesidia pecuniae ober etwas dergleichen angewendet
werden: non babet praesidia pecuniae, sed habet dona
naturae, Leo, Serm. 95, 3 p. medd. %ür unjer Zünb-
jtoff wird von G. unter anderem fomentum flammae an⸗
gegeben, was inbeß mur von bem Dell auflodernden Teuer,
ber Flamme gejagt werben fann. Wird dagegen Fener αἱ
Element überhaupt genommen, jo ijt ber eigentliche Jubftan-
tivifche Augdrud von Zündftoff fomentum ignis wie bei
Greg. in Job. XIV, 23 init.: sulghur quid aliud quam
fomentum ignis est? Beifpiel. Jemanden ein
ſchlechtes Beifpiel geben ijt bei G. nocere alicus
exemplo ; vielleicht verbient auch einige Beachtung was bei
Greg. in Job. XXII, 8. 56 gefunden wird: mali operis
exempla alicui praebere. Ganz auper Acht gelaſſen ijt
Altchriftliche Latinität unb profane Philologie. 67
aber von G. bie Phrafe: Semanbemn ein gutes Bei-
fptel geben. Nun fagt aber Leo Serm. 131, 1, baf
ber Bilchof von Alerandrien ein Eiferer für bie Fatholifche
Lehre unb ein enijdjebener Gegner der Häretifer ſei und
fährt dann fort: ut merito sperare possimus, eum ec-
clesiae eut praesidet et morum exemplo et insinuatione
[praedicatione] fidei profuturum, wie ähnlich bie praedi-
catio fidei dem exemplum morum. gegenübergeftellt erjcheint
bei bem gleichen Auctor, Serm. 169, 3. Für ba8 pluralifche
Heiligenbilder im allgemeinen kann man ganz gut auch
imagines sanctorum gebrauchen z. B. Heiligenbilder
zernichten = imagines sanctorum confringere, Greg.
epp. XI, 18. Sterntundiger. Zu den von ©. auf:
geführten lateiniſchen Bezeichnungen ijt für bie Phrafe, fich
alà beobachtender Aitronom auszeichnen, ber-
vortbun, wohl auch verwendbar, was bei Leo Serm. 34,
1 9. Ende zu Iefen ijt: spectandorum siderum arte pollere.
Himmelskönig = rex coeli ijt von unà ſchon im 4.
Artikel vertheidigt voorben. Jetzt εἰ beigefügt, bai fid) bieje
Form be8 Ausdrucks bejonberà für den Gegenjaß eignet,
benn menn wir von Gott ald bem König Himmels und
der Erde ſprechen, jo ijt bieje Redeweiſe ja ganz ber
Sprache der hi. Schrift entnommen, in welder bie Vulg.
dafür rex coeli et terrae bietet, vergl. darüber Genes. 24,
3, Esdr. I, 5, 11, Judith 6, 15, Matth. 11, 25, Luc. 10,
21, A. A. 17, 24, Leo Serm. 86, 1. E&hrijtenfeit.
Daß bri bem von G, propouirten * nomen christianum
ber * zu ftreichen jet, ijt. bereit im 8, Artilel ©. 260 bar:
gethan morben. Weitere Belege für biejem Gebraud) von
nomen christianum haben wir feitbem | aud) bei Leo ge:
funben, denn bie Ehriftenheit vom Erdboden ver:
8 d
68 Allgayer,
tilgen beißt bet ihm: de terris nomen christianum au-
ferre, Serm. 36, 3 init. und ebenjo [prit ev vom exci-
dium hominis christiani, Serm. 28, 5 g. Ende. Ctabt-
gejpräd: das Stadtgefpräd fein heikt nad) ©. in
fabulis esse, auch wenn nur von einer Perjon die Rede
ijt. Bei Greg. epp. XIII, 26 wird dafür apud suos in
fabula esse angewendet. Man wird dieß nicht weniger
richtig finden, wenn man jid) erinnert, daß bei bem klaſſiſchen
Dichter Horat. epp. 1, 13, 9: ne fabula fias im ganz
gleihen Sinne gejagt ijt.
Was wir fchon in frühern Artikeln über bie lateinifchen
Mebertragungen von Bfingitfeft, Namendrift, Tauf-
waffer, Geſetzlehrer, Menſchenfiſcher, Himmel:
reid, Apoftelgefhichte, Erbfünde, beigebracht
haben, voitb des weiteren beftätigt umb befräftigt durch Leo
Serm. 79, 1 u. Serm. 69, 5 p. init. u. Serm. 69, 5 Ende
u. S. 57, 1 init. u. 58, 2 init. u. Serm. 95, 3 u. Serm. 61,
5 (Erbe u. Serm. 67, 3 u. Append. ad opp. Leon. T. 3,
p. 487, 11. Als Suja& aber zu bem über Martyrer:
frone x. im erften und dritten Artikel Bemerkten fügen
wir an, daß die Martyrerfroneempfangen, gewin-
nen jid) auch ganz gut geben läßt burd) gloriam, palmam
martyri obtinere, adipisci, |. Serm. Leoni attrib. opp.
T. 1, XIII, p. 503 (Migne), XIII, IV Enve und eben-
bajefójt XVII, IV. Blinzeln. Neben luminum incon-
stantia trepidare = die Augen nicht feft auf einen Punkt
richten können und daher mit ihnen fort und fort zittern,
zwinden, zwindern wirb man beftinnmt eben fo wohl palpitare
oculis jagen nach Aug. de gestis Pelag. δ. 18 was ge
fügt wird durch palpitatio oculorum, welches nad) ©.
ſelbſt beim ältern Plin. fid) findet. Oftermahlzeit. €
Altchriſtliche Latinität unb profane Philologie. 69
ijt Schon in unjerem zweiten Artifel ©. 442 gezeigt worden,
daß für bieje8 bei ©. außgelaffene Wort lateiniſch gut cena
Paschalis gejagt werben fónne, welcher Ausdruck für das
DOftermahl, welches Chriftuß vor bem Beginn feines
Leiden? mit ben Süngern feierte, auch bei Leo Serm. 54, 8
vorkommt. Ebenſo wenig ijt bei ©. dad Wort (kirchliche)
Provinzialfynode berüdjichtigt. Nach dem Append.
ad opp. Leon. T. 3, p. 545 oben heißt dieß ganz einfach
synodus provinciae alicujus. Traumgeficht. Inſofern
Jemand durch ein Traumgeficht aufgefordert wird etwas zu
thun, laßt fid) dieß ganz wohl durch admonitio somnis
wiedergeben, |. tarüber Leo Serm. 33, 4 init.: magi se-
cundum admonitionem somnii non eodem quo venerant
itinere revertuntur. Kreuzestod. Daß dafür aud
supplicium crucis gejagt werbe, ijt (don in unferem zweiten
Artikel erinnert worden; es findet fid) diefe Ausdrucksweiſe
aber auch in ber epp. Secund. Manich. $. 4 bei Aug. opp.
T. 10 p. 626 und bei Leo Serm. 37, 3 unb 51, 7.
Untergraben. Dad tropiihe: bte Grundlagen von
etwad unterwühlen unb damit feine Eriftenz
gefährden fam gut auch burd) convellere überjeßt werben,
ba biefe8 Verbum nicht nur im eigentlichen Stun fteht wie
convellere fundamenta villae bei Columella, fondern auch
für bie bifpliche Bedeutung die beiten Anctoritäten hat. Richtig
alfo bei Leo epp. 47, 2: convellere fundamenta fidei und:
ipsa christianae religionis fundamenta convellere, eben-
να]. epp. 60 Anfang. Gnadengabe. Zu bem, was wir
über bie theologifche Bedeutung dieſes Wortes im erſten und
vierten Artikel bemerkt haben, fügen wir hinzu, daß außer
den dort angegebenen Ausbrüden auch beneficia gratiae
angeht, |. Leo, Serm. 48, 1. Habſucht wird von ©. aud)
70 Allgayer,
mit ber bem Deutfchen entfprechenben lateinifchen Zuſam⸗
menjegung durch habendi cupiditas, cupido. audgedrüdt ;
eine weitere Bezeichnung bietet Leo, Serm. 50, 2: hinc
habendi amor nunquam satiandus exoritur, ganz richtig,
ba amor = δα ὃ Teidenfchaftliche Verlangen, das Gelüjte
nach etwas aus Gic. belegt wird. Nlfo kann ferner für
Gelbgier neben bem Horazifhen argenti amor auch amor
pecuniae gejagt werden mit Xeo Serm. 60, 4. Gben-
daſelbſt ift für gewinnfüchtig Zueri cupidus angemenbet,
was gleichfall3 neben ben von ©, für diefe® Wort ange:
gebenen lateinischen 9(usbvüden feine Stelle findet. Lehre
(im Gegenfaß zum Wunder). Haben wir im gegenwärtigen
Auflage bereit? nachgewiejen, daß für Wunder miracula
operum divinorum ober im Zufammenhange bloß miracula
operum gut gelagt werde, |o erfordert e8 die Goncinnitàt,
baB, wenn Lehren und Wunderthaten neben einander ge-
nannt werden, für ba8 erftere docírinae monita. einfrete,
wie bei Xeo, Serm. 51, 1: ad hoc Christus discipulos
suos doctrinae monitis (= turd) Lehrunterweifungen) et
operum miraculis imbuebat, ut. ... Weiße Für
Meine des Echnees ijt bei ©. candor. nivalis aus Virg.
citirt. Daneben hätte für Ὁ ὦ πὲ εἴ εἰ B wohl auch nive
candidus — |. Horat. Carm. I, 9, 1 angeführt werben
fönnen, weiter aber fommt bezüglih der Weiße des
Schnee? in Betracht, daß e8 bei Leo Serm. 51, 3 init.
heißt, die Verherrlichung oder Verklärung Chrifti auf
Sabor [εἰ fo groß geweſen ut facies ejus solis fulgori
similis et vestitus candori nivium esset aequalis.
Teftament Die Geſammtheit der Urkunden ber vor:
hriftlichen wie ber chriftlichen Offenbarung werben aller:
dingd am allergewöhnlichften durch testamentum vetus et
Altchriftliche Latinität unb profane Philologie. 7]
novum audgedrüdt und bieje Vezeichnung ift fo alt und
allgemein, daß man an ihr weder mäleln noch rütteln darf.
Menn man inteß variandae orationis causa cin Bebürfniß
nach einem ſynonymen Ausdruck bat, fo fanı wirumque
foedus von Leo Serm. 51, 4 entlehnt werden. Eins
fteden, dad Schwert einfteden. Dan füge bei, daß
neben ben von ©. angegebenen lateinischen Phraſen: gla-
dium recondere in vaginam, vaginae reddere im Zuſam⸗
menhang aud) recondere allein genügt wie bei Leo: recondi
gladium jubet, Serm. 52, 4. Wegelagerer beißt bei
G. unter anderem auch eiae. insidiator, daneben ijt. natür:
[i aud) ciarum. insidiator bei Neo, Serm. 33, 1 ebenfo
gut oder noch beſſer, vote denn G. jelbit in viarum obsessor
ben Plural anerkannt hat. Hängen = 88 treibt etwas
einen Menſchen jo weit, daß er jid) hängt. Zu beu im.
Handwörterbuch von G. angeführten Tateinifchen Uebertra-
gungen kann aud) ad laqueum. trahere hinzugefügt werben :
quem (Judam) non poenitentia revocavit ad dominum,
sed desperatio traxit ad laqueum. Praenotare ijt cin
allerdings ſpätlateiniſches Zeitwort, aber in ber eigentlichen
Bedeutung: etwas von vorne, von außen bezeichnen, von
Leo, Serm. 55, 5 bei ber Schilderung der von Gott über
bie Aegypter verhängten Plagen gewiß vortrefflich auge:
wendet, wenn er Sant: Aujus limina vastator angelus
sanguine agni praenotata non intrat. Heilswerk wird
bei ©. gar nicht gefunden; unfer ganzes Heilswerk beißt
aber bei Xen Serm. 56, 1 gang gut omne opus salutis
nostrae. Prieſterſchaft = alle Prieſter zufammen tft
bei ©. lediglich durch sacerdotes gegeben, daneben kann
aber auch ganz wohl angewendet werden, was fid) bei Leo,
Serm. 57, 2 findet: quo (= ad quem) scribae οὐ omnis
72 Allgayer,
sacerdotalis ordo convenerat. Wird ferner für Priefter-
1d utu d! von G. nur ornamenta oder insignia sacerdotalia
geboten, |o verjteht e8 fid) wieder von jefbft, daR aud) ornatus
sacerdotalis; Leo Serm. 57, 2 Ende zulaͤſſig ijt. Ber:
tütber. Wie wird in ber chriftlichen Latinität ber Ber:
räther beà Herrn ausSgebrüdt? Das unferem Deutjchen
nächjtliegende Wort ijt natürlich proditor |. Hier. epp.
58, 1, €eo, Serm. 58, 8, Ambros. in Ps. 45 enarrat. $ 9
p. medd. (bis); noch gewöhnlicher aber ijt traditor b. ὃ.
derjenige, welcher bem Heiland in bie Hände feiner Feinde
überliefert hat, jo Aug. Tract. LV in evang. Joann.
$ 9, 1 unb lib. de haeres. XVIII, Xeo, Serm. 58, 3 u. 4,
Serm. 62, 4 unb Serm. 67, 3, feltener aber gang pafjend
it aud) venditor, ſofern ber Verrath um Geld geichah.
Aug. Tract. LV in evang. Joann, $ 4, %eo, Serm. 57,3.
Tempelſchatz. Dieſes Wort fehlt bei G. ganz unb gar.
Statt des hebrätjchen ober jorijden corbona Tann man
bafür paffenb arca templi fagen nad) Xeo, Serm. 57, 3
Ende: sacerdotum conscientia capit, quod templi arca
non recipit. Wiebderherjtellen, etwa? in den vorigen,
frühern Stand fegen ijt bei ©. bloß in pristimum resti-
tuere (im Allgemeinen) unb in integrum restituere (be:
ſonders in rechtlichen Verhältniſſen). Wenn bafür ın antı-
quum statum revocare bei Aug. c. litt. Petill. II, 8 224
und in integrum aliquid revocare bei Leo, Serm. 57, 4
vorkommt, [o jcheint wohl aud) dieſes aulájfig. Apoſtel⸗
amt heißt bei G. apostolatus ober * munus apostoli.
Statt des letzteren Wortes kann man einen antifen 9(u8-
brud von 9eo, Serm. 82, 3 entlehnen: beatissimus Petrus
princeps apostolici ordinis und: non apostolici ordinis
honor, non sacramentorum tibi (Judae Isch.) commu-
Altchriftliche Latinität und profane Philologie. 73
nio denegatur, leo, Serm. 58, 3 unb Serm. 83, 1.
Schand: oder Spottkleid fehlt bei ©. durchaus. Bis
jebt kennen wir dafür feinen einfachen Ausdruck als vestis
irrisoria (bei Leo, Serm. 59, 3 Anf.), was wir, obgleich
wrisorius ber ganz ſpäten Latinität angehört, feiner Kürze
wegen für gut halten. Stachel. Der Tod bat feinen
Stachel verloren heißt im Handwrtb. von G.: mors
maximam acerbitatem perdidit. Aber dieß ijt bod). ein
recht nüchterner und Fahler Ausdruck für den fchönen Tropus
ber Bulgata: wb? est mors stimulus tuus? 1. Cor. 15,
56 und Chriſtus bat bem Tode ben Stadhel ge
nommen, bie Spize abgebrochen heißt bei Ambros.
enarr. in Ps. 45, $ 9: mortis aculeum quidem Christus
obtudit, sed solus proditor non evasit, ebenjo epp. 46,
4 Ende umb: cum mortis aculeum recipere non posset
natura deitatis (Christi), suscepit tamen nascendo ex
nobis quod posset offerre pro nobis, eo, Serm. 59,8 p.
init. Wenn endlich sollicitudinis aculei Ciceros Auctorität
für fid) bat, jo läßt fid bod) wohl aud) moeroris aliquem
aculeis compungere hören, |. darüber Append. ad opp.
Leonis T. 3. p. 576, XXXV. Prätendent und from
prütenbent ijt bei G. aemulus regni ober imperii. Was
hieße aber Kronprätendent fein? Ganz gut wäre bafür
regnum affectare, wie benn Xeo, Serm. 61, 1 von ben
Juden fagt: hoc quasi insuperabile repererunt, ut domi-
num mundi (Christum) affectati 'regni invidia perur-
gerent, cin Ausdruck welcher nicht nur an unb für fid)
gut, jonbern, wie wir nachträglich aus bem Handwörterbuch
von Klotz erſehen, bei ben Roͤmiſchen Hiftorikern für hochvers
rätheriſche Beſtrebungen faſt itebenb ij. Thräne Für
unfer: zu Thränen gerührt werden bietet G. nur
74 Allgayer,
lacrimare, flere, bei Leo, Serm. 61, 3 fteht dafür auch
mit bem Dentjchen wörtlidy übereinftimmend 2n. lacrimas
commover? , offenbar ganz gut, ba ad miserationem. per-
moveri, ad misericordiam evinci, in gaudium | evinci
Berbindungen find, welche jchon bei Tacit. Ann. 1, 61
init. 11, 37, 4 und Hist. 2, 64 Ende gefunden werben.
Todesftunde Alle Iateinifchen Bezeichnungen, welche
dafür von ©. angegeben werden, brüden mur bie Stunde
be natürlichen Todes αἰ, während bie Todezftunde
eines zum Tode Verurtheilten ober zu Verur—
theilenden turd) hora supplicii auszudrücken iſt nad
Leo Serm. 63, 3 g. Ende. Kreuzigung wird bei ©.
unter anderem auch durch crux übergetragen. Wir fügen
bei, daß ber ag der Kreuzigung Chriſti demgemäß
gut heißen kann dies crucis domini Christi nach Leo
Serm. 67, 1. Silberling ijt von G. und Kraft febig-
fid) durch siclus überjeßt. Es fcheint 112 bemerkenswerth,
daß für die dreißig Silberlinge, umi welche der Heiland von
Judas verkauft wurde, bei Matth. 26, 15 u. 27, 3, 5 u. 9
bloß argentei (i. e. denarii) gebraucht ijt und biejes jid)
auch bei Leo Serm. 67, 4 fintet: utiliora tibi diaboli in-
citamenta credebas, ut facibus inflammatus avaritiae
ad trigenta argenteorum lucra inardesceres. Kaſſen—
diebſtahl. Die vou G. dafür propoutrten Uebertragungen
beziehen fid) alle auf Diebftähle, bie an öffentlichen Kaffen
begangen wurben, hingegen mangelt ἐδ an einer Bezeich—
nung für Kaſſendiebſtahl überhaupt. Nun jagt
aber Leo, Serm. 67, 4 g. E. in einer 9(pojtropbe an Judas
den Berräther feines Herrn und Meiſters: Patebant tibt
furta de loculis = du hatteft freie Hand zum Beftehlen
ber faffe. Hienach wären alſo Kaffenviebftähle im allge:
Althriftliche Latinität unb profane Philologie. 75
meinen furta de loculis oder (bei größeren affe) de arca
alicujus, aliquorum ; bei der Präpofition de trifft hier zu,
was Nägeläbach, Stiliſtik $ 122 über den energifchen Ge-
brauch ber Präpofition gejagt Dat, b. B. de involvirt ein
nach loculis zu benfenbc8 facta. Stehen — aum Falle
bringen Im eriten Brief an bie Eorinther 10, 12 heißt
t$ nach ber Vulg. befauntlich: qui se existimat stare,
videat ne cadat, eine bildliche Stebereije, deren Sinn an
und für fid) fíav ij. Haben wir aber bag Recht oder bie
Pflicht, die biblichen Tropen aud) in der fateinifchen Aus—
prägung berjefben zu wahren, [o ijt εὖ gewiß zu billigen
wenn $eo Serm. 71, 1 Ende den Einn der Morte: bie
Kinder Gottes zur Sünde, zumAbfall von Gott
verleiten ausdrückt durch stantes (n ruinam impellere.
Die fteben Gaben be8 heiligen Scifted. Yu bem
was wir über ben Tateinifchen Ausdruck der 1. G. ὃ. hl. ©.
in unjerem vierten Artifel bemerft haben, [εἰ hinzugefügt,
baB fid eine gang Ähnliche, nur ſpeciell auch nod) ben
Reichthum diefer Gaben markirende Phraje bei Leo findet:
septiformis donorum suorum (9. e. spiritus sanctı)
largitas , Serm. 76, 7 init. jo wie daß deutliche: alle
übernatüvíiden Gaben (zum Heil der Scele)
tommen vom heiligen ®eift, find Geſchenke be8
bL. Geiſtes, bet ebenbemjelben, Serm. 79, 4 heißt: speri-
tus sanctus alicui omnium virtutum dona confert. eov:
punkt, Lehrbeſtimmung. Keines dieſer Mörter ijt
von &. im Handwörterbuch berücdfichtigt. Wie man fid
hiebei gut lateinisch audbritden fünne, lehrt Leo Serm. 81, 1:
inter omnia apostolicae nstituta doctrinae, quae ex
divinae eruditionis fonte manarunt. ... Marter:
woche == bie Leidenswoche des Herrn ift von G. aufge-
76 Allgayer,
nommen aber εὖ mangelt Martertag, b. h. berjenige
Tag, an welchen ein ftandhafter Bekenner Ehrifti den Glau-
ben an ben Erlöfer durch den Martertod beflegeft hat; bie
ift einfach lateiniſch dées martyri? alicujus, aliquorum,
j. Leo, Serm. 82, 1 unb Append. ad opp. Leon. Tom. 1,
Serm. XIV, 1: cum dies martyrii ejus merito habeatur
clarissima. Auferftehungstag Chriſti. Zu bem,
was wir über bie Iateinifche 9(u2prügung biejeà Wortes
im vierten Artikel S. 291 gefagt haben, nehmen wir jebt
aud) dies resurrectionis Christi, Leo epp. 15, 4 unb
dominicae resurrectionis dies, $eo, Serm. attrib. VIII,
1 Anf. und Leo epp. 10, 6 Ende, endlich resurrectionis
dies redemptoris nostri, Leo epp. 133, 2 hinzu. Will
man einen umjdreibenben Ausdruck, jo läßt fid mit Leo
epp. 16, 1 jagen: dies quo Christus a mortuis re-
surrezit und auf den Tag ber (fünftigen) Aufer-
ffebung harren = resurrectionis (futurae) diem ex-
spectare, Leo lib. Sacrament. XXXIII, 111. p. 135
(Migne) Currus igneus = Yeuerwagen ijt bereit
in unferem zweiten Artikel nachgewiefen; e8 fteht aber auch
im Append. ad opp. Leon. T. 1. Serm. XX, II. p.
init. Metropolit wird von G. burd) * episcopus prin-
ceps Überjeßt. Dafür lagte man in der altlateinifchen Kirche
episcopus Primas provinciae |. Append. ad epp. Leon.
T. 3, p. 884 oben (Migne) ober im Zufammenhange Primas
allein, Greg. epp. IX, 58, Aug. epp. 43, 9 und Greg.
epp. IX, 59; Das Ant des Metropoliten = Pr-
matus officium, Greg. epp. IIT, 49 oder Primatus allein,
Aug. epp. 59, 1; ebeufo zur Würde be8 Metropoli-
ten befördern provehere ad primatus dignitatem
Greg. epp. Lj, 77; einen Metropoliten aufftellen
Altgefehichtliche Latinität unb profane Philologie. 77
constituere Primatem Greg. a. a. Ὁ. Da indeß fpäter
mit Primas und Primatus eine höhere Würde und Juris-
diction bezeichnet worben ijt, fo erfcheint e8 für unfern
Gebrauch offenbar gerathener, Metropolit woͤrtlich, b. b.
mit dem aus bem Griedijden ing Lateinifche herüberge-
nommenen metropolita, Greg. epp. IX, 8 Ende (bis) zu
benennen; ebenfo heißt der Metropolit metropolitanus
episcopus bei Leo epp. 5,5 u. 14, 6 u. 106, 2, 153, 1.
Append. ad opp. Leon. T. 3, p. 712, oder metropoli-
tanus allein, Leo epp. 108, 1 u. 129, 3, Append. ad
opp. Lon. T. 3 p. 391, 394 (Migne) und wie Primas
episcopus provinciae hoc est metropolitanus vorkommt
im Append. ad opp. Leon. T. 3 p. 834 oben (M.) jo
aud) metropolitanus episcopus provinciae Venetiae, bei
Leo epp. 2, 1. Oſternacht ijt von G. ganz übergangen.
Leo brüdt aber epp. IIT, 3 init. die heilige Oſter—
nacht jehr gut auß burd) wor sacrosancta Paschalis.
Eigenhändig Im Hanbwörterbuh vou ©. fehlt ein
kurzer Ausdrud für eigenhändige Unterſchrift, 3.38.
Semanden burd) eigenhändige Unterfchrift zu
etwas zwingen: aliquem manus suae subscriptione
compellere, ut... Leo epp. 7, 1 medd. Gotteßver-
ebrumg. Neben ben heibnifchen religiones colere läßt
fid) unbedenklich aud), wenn von ber Religion der Offen-
barung bie Rebe ijt, mit Leo divinae religionis cultus
anwenden, Leo epp. 10, Anfang Subaltern Der
jubalterne Beamte heißt bei (S. magistratus in-
ferioris juris oder magistratus minor. Was wären aber
untergeordnete Kirchendiener? Bei Leo epp. 10, 3 g. ©.
werben fie aí8 clerici minoris offic aufgeführt. Hir⸗
tenfónig. Die lateinische Webertragung dieſes Wortes
78 Allgayer,
bei ©. nimmt den Hirtenfönig nur im eigentlichen Sinne,
wenn dafür * regulus populi pastor? angegeben ijt. Be:
kanntlich nennt fid) aber Chriftus ſelbſt den guten Hirten
und ebenjo werden feine Apoſtel und deren Nachfolger oft
mit biejent Difofidjew Ausdruck bezeichnet. Es fünnte daher
nachgetragen werben, daß Ehriftuß ber Herr a8 ber geijt-
fide, unfihtbare Hirtenkönig, αἱ Oberſter aller
Sceelenhirten vom heiligen Petrus in Vulg. I. Petr. 5, 4
demgemäß als princeps pastorum. aufgeführt tjt, wie απ
bie Wohltbat ber Hirtenforge Semanbem zu
wenden bei Xeo, epp. 10, 5. p. init. lautet (alicui) sa-
lubritatem impendere curae pastoralis. &ollegium.
Semanben iu ein Golfegitum aufnehmen heißt bei
G. aliquem in collegium legere oder (wenn bie Mitglieder
iefbjt wählen) cooptare. Run find Ausdrüde wie legere
aliquem in patres, in judices, in senatum allerdings ge-
wöhnlich, allein für aliquem in collegium legere. tenen
wir bi jet feine Auctorität und würden daher, wo coop-
tare in c. nicht angeht, lieber ba8 fpäte recipere aliquem
in collegium, Digest. 47, 22, 3 wählen. Vielleicht Könnte
auch assumere aliquem in collegium bei Xeo epp. 12, 2
Ende Gnade finden, da nicht nur assumere aliquem filium,
generum = zum Gibam wählen, nehmen aud bei
bem jüngern Plinius epp. 8, 11, 7, Paneg. 7, 4, ἴοπ-
dern assumere sibi aliquem collegam aud) bei Suet. Tib. 65
gefunden wird. Probe (G3 verdient wohl aud) Beach⸗
tung, wenn unjer Deutfches: eine gute, genügende
Probe ablegen, in der Probe fih αἱ tüädhtig
zeigen von Leo epp. 12, 4 ausgedrückt ijt durch ex-
perimentum sui probabile praebere. Kenntniß. Etwas
zu Jemande? fenutniB bringen = perferre
Altchriftliche Latinität unb profane Philologie. 79
in notitiam. alicujus, was ©. au Pl. anführt, findet fid)
auch bei Leo epp. 50, 1 init. und epp. 65, 4; zur all:
gemeinen Kenntniß fommen heißt aber nah ©.
bloß ab omnibus cognosci. Es verfteht fich von {εἰ
daß dafür in omnium notitiam venire, Leo epp. 110 wicht
weniger richtig ijt. Ganz eben fo verhält εὖ fid) ſelbſtver⸗
ſtändlich, wenn Leo in diefem Fall ftatt des einfachen Ver—
bums in ber Regel dag zufammengejehte pervenire gebraucht,
j. epp. 80, 4 Ende, 108, 6. 116, 2 u. 119, 5. Ferner
mag angemerkt werben, daß für aliquid in notitiam ali-
eujus perferre ebenſo gut deferre gewählt ijt im Append.
ad opp. Leon. T. 3, p. 705 (Migne) Endlich fügen
wir nod) bingu, bag Leo in biejen Phraſen: zur Kennt:
nip fommen, zur Renntniß bringen neben in
notitiam ebenſo gewöhnlich mit bem Deutjchen wörtlich zu-
jammenftimmenb auch ad notitiam anwendet. Vergl. über
pervenire ad notitiam Xen epp. 115, 2 u. 120, 6 u. 150
Ende, u. epp. 15, c. 16 u. 16, c. 7 Ende, Append. ad
opp. Leon. T. 3, p. 459 (M.) unb ebendaſ. p. 554. So
aud εἰτοα zur Kenntniß von Semamnben brin
gen ad notitiam alicujus referre, Seo epp. 20 Anfang
und 24, 2 und 101 g. Ende unb ad notitiam deferre,
23, 1 Cn. Schafftall. Bei G. bloß ovile, danchen
(ἀβὲ fid) zur Abmwechfelung wohl aud) saepta ovium gt:
brauchen: Bestiae irruunt et (sacerdotes) saepta ovium
non claudunt, Leo epp. 15, 6.16. Gottesverehrung.
Unter biejem Wort ijt bie Phrafe eine reine Gottes—
verehrung haben berückſichtigt, nicht aber wahre
Gottesverehrung, was bei Leo epp. 15, c. 17, p. 691 (M.)
heißt verus veri dei cultus, offenbar ein vortrefflicher Aus⸗
brud, um ſowohl die.fubjective als bie objective Ceite ber
80 Allgayer,
wahren Gotteöverehrung hervorzuheben. Jungferſchaft.
Reine unbefledte Jungferſchaft. Neben vir-
ginitas impolluta oder illibata: des Handwörterbuches von
G. kann dafür auch umgekehrt integritas virginea (ober
beffer virginalis) gejagt werben; das erftere bei Xeo, epp.
16, 2. Ercommuniciren Ju bem, wo? barüber
im 2. Artifel €. 449 gejagt worben ijt, fügen wir als
weitere gute Bezeichnungen hinzu, communione ecclesiae,
communione ecclesiastica aliquem privare, 9o epp.
22, 4 u. 159, 4; a communione ecclesiae separare,
epp. 28, 1 9. G.; a corpore ecclesiae aliquem resecare,
&eo epp. 119, 1 Gnbe; einen fatbolifen ercom-
municiren: aliquem a catholicorum communione re-
secare, Leo epp. 114, 1 Ende. Glaube. Der Firchliche
Glaube im objectiven Sinn = $laubendlehre, Glau—
bensbefenntniß, Glaubens geſetz tjt bei G. doctrina,
formula, lex, 3.B.lex Christiana bei Amm. Marc. 25, 10, 15.
Mir fügen bei, daß demnach auch lex catholica gebraucht
ijt im Append. ad opp. Leonis T. 3, p. 491; ebenfv
ijt der chriftliche Glaube doctrina christiana, ebenvaf. p. 475,
III. unten. Irrlehrer. Sit in unferem vierten Artikel
©. 201 dafür errorum magister angeführt worden, fo
verweilen wir jebt auch auf Leo epp. 28, 1, wo magistri
erroris im Gegenlage zu veritatis discipuli genannt wer:
den. Stammbaum. Was den Stammbaum Se
mandes in auf: ober abjteigender ginieangeben
betrifft, jo (eint ed und immerhin einiger Beachtung werth
zu fein, wenn Seo epp. 31, 2. über bie Art und Weiſe,
wie bie beiden Evangeliften Matthäus und Lukas den Stamm:
baum des Heilandes verzeichnet haben, fid) aljo vernehmen
läßt: Matthaeus ita humanae originis ordinem sequitur,.
Altchriſtliche Latinität umb profane Philologie. 81
ut generationum lineas usque ad Joseph, cui mater
domini erat desponsata deducat. Lucas vero retror-
sum (= in aufiteigender Linie) successionum gradus re-
legens ad psum humani generis principem redit. Be:
fanntlih find in bem Erlöfer a(8 bem Gottmenfchen bie
göttlihe unb bie menſchliche Natur zur Ein
beit, oder zu einer Perſon verbunden Wie tft
bie nun Tateinifch zu geben? Wir glauben, baB eà faum
paffender ausgedrückt werden könne al2 durch: in Christo,
formam Dei ac formam servi, duas naturas, deitatem, ὦ
humanitatem in unam convenisse, concurrisse personam.
€. Leo epp. 31, 3 g. Ende u. Append. ad opp. Leon.
T. 3, p. 679 1. 681. Für Löwengebrüll ijt im Haute
wörterbuch von ©. iur rugitus leoninus angegeben. Die
brüdt aber nur ba? eigentliche, wolle Brüllen des Königs
ber Thiere aus, fo fern aber an ein dumpfes, knurrendes
Brüllen gedacht wird, ijt aud) fremitus leonis vidtig:
sicut fremitus leonis, ita et regis ira, Vulg. Proverb.
19, 12. Luftihiht Die Höhere Luftihicht iit
im Hanbwörterbuh von ©. durch coelum superius und
aér superior ausgedrückt. Dafür kann aber ebenjo gut
superior pars aéris gejagt werben mad) Aug. de genesi
ad litt. III, c. 10, & 14. Kirchenſache wird von ©.
durch "res ecclesiastica ausgedrückt. (G8 läßt jid causa
ecclesiastica αὐ Leo epp. 31, 4 u. epp. 38 init. jub-
jtituiren, waà wie causa fidei (Slaubenzjache, |j. unfern
4. Artikel, S. 193 und fege hinzu Leo epp. 38 init. u.
114, 1 u. 152 init) in$bejonbere fid) für ben Fall em-
pfiehlt, bap bie Kirchenſache ben Gegenjtand Firchlicher
Unterfuchung und Entfcheidung bildet. Ferner ijt ba8 fin:
verwandte Glaubendfrage, Glaubensunterſuchung
Theol. Quartalſchrift. 1873. Heft I. 6
82 Allgayer,
im Handwörterbuch von ©. gar nicht berüdfichtigt, aber
gang gut durch fidei quaestio außzubrüden, nad) Leo epp.
36 Anfang u. epp. 72 Ende. Vorgang. Bei biefent
Worte kann für bie lateiniſche Ueberſetzung der deutjchen
Phraje εὖ giebt feinen Vorgang von etwas aud
gefagt werben: nullum alicujus rey exemplum praecessit
nach 9eo, epp. 37, 7, p. medd. Religionsverlegung.
Dafür findet jid) bei G. aav feine wörtliche Mebertragung
und bod) liegt biejelbe in religionis injuria bei Xeo, epp.
45, 2 Gnte. Himmelsſchlüſſel. Den fateinijden Be-
zeichnungen, welche wir in unjerm zweiten und vierten Ar:
tifel angegeben haben, fügen wir bei, daß Himmels—
ſchlüſſel von Leo auch noch durch claves coelestes aus⸗
gedrückt werden, ©. deſſen epp. 56 ἃ. Ende Reben:
oder Weinbergshut fehlt bei ©. günglid. Jemanden
bieje Art von Hut anvertrauen, fami ſowohl für die eigent-
liche wie für dic tropische Bedeutung gegeben werben burch
vineae alicui custodiam. committere nach Xen epp. 98, 2
g. Ende. Himmeldpförtner. Zu janitor coeli —
|. unjern zweiten Aufia ©. 441 unten — nehme mai
binzu janitor regni coelestis bei Leo epp. 108 Enbe.
Erihleihen. Das Amt, die Stelle eines nod
Lebenden erſchleichen, durch Erichleihung ge
winnen, kann neben obrepere ad honorem audj durch
obrepere in locum alicujus überjeßt werben. — eo, epp.
109 Ende. Religiongübung. Su demjenigen, voa?
wir über cultus religionis jtatt *usus sacrorum bei ©.
im dritten Artikel €. 267 bemerkt haben, fügen wir für
religionis cultus jet auch bie 9[uctoritàt von Leo, epp.
122 gegen medd. Vgl. aud) epp. 10, 1 init. Grab:
jtein bat ©. wohl in bem Sinn be8 auf Semanb& Grab
(
X
Altchriftliche Latinität unb profane Philologie. 83
errichteten Gedächtnißfteines, aber der Grabftein des Hei-
landes — ber fein Grab jchließende, bedenbe Stein geht
babei leer aus. Derjelbe heißt bei Leo epp. 124, 6 und
165, 7 einfach lapis monument? (salvatoris) u. epp. 124,
8 g. δ. sepuleri lapis unb ganz ebenfo epp. 139, 2 g.
Ende; daher aud) ben Grabjtein hinwegwälzen =
revolvere monumenti lapidem, Leo epp. 124, 6 tt. Vulg.
Luc. 24, 2: invenerunt lapidem revolutum a monu-
mento. Befühlen. Wenn das Hanbwörterbuch von ©.
— leri, daß fir befühlen Zangere und Zentare ſowohl mit
al2 ohne digitis gebraucht werde, jo fügen wir bei, daß
aud) aliquid tractare digitis bei Leo epp. 124, 6 angeht.
Dad Wort Suffragan ober Suffraganbifchof wird
in den Handwörterbüchern von G. und Kraft gänzlich ver:
mipt. Mean veriteht darunter bekanntlich die wirklichen,
aber (im Gegenfage zu den exempten Biſchöfen) im Ver:
bande mit einem Erzbifchof jtehenden , demſelben unterge-
orbneten Biſchoͤfe. Es kann dieß ausgedrückt werben durch
* episcopus qui sedi alicui (3. 9. Alexandrinae) over
sedi archiepiscopi, metropolitae episcopi metropolitan,
metropolitani alicujus subjectus est, |. das W. Metro:
polit unb Leo epp. 129, 3, wie Suffraganbifchöfe am eben
angeführten SOvte aud) burd) comprovinciales episcopt be:
zeichnet find und dafür auch episcopi provinciales angebt,
ſ. Leo epp. 167, Inquis. 1 Angehen. ür unſer Je:
manden mit Bitten angehen wird von G. bloß das
wörtlicye precibus aliquem aggredi geboten, allein offenbar
gut kann dafiir auch verwendet werden, was bei Xen epp.
147, 1 Ende fteht: monere non desino ut clementissimi
principis fidem quantum opportunum fuerit precibus
ambiatis. Kivchenfreiheit. Dieſes Wort mangelt bei
6*
84 Allg ayer,
G. wieder gänzlich; wie εὖ lateiniſch wiederzugeben ſei, dar⸗
über vergl. man Leo epp. 146, 2: libertati ecclesiasticae
consulere et paci. So fann aud Glaubenzfreiheit
furz durch fidei libertas bezeichnet werben, 2. 8. Slaus
benzfreiheit der Katholifen = catholicae fidei
libertas, Leo epp. 156, 3 init. und ber Kirde von
Alerandrien bie Freiheit des alten Glauben?
zurüdgeben = Alexandrinae ecclesiae. statum. in anti-
quae fide libertatem revocare, ebendaſ. epp. 147, 2.
Die Wörter Glaubenseifer, Gíaubenà wärme, Gluth
des Glauben? find im Hanbmwörterbuh von G. durchaus
übergangen. Vollkommen gut werben dieſelben lateiniſch
burch fidei christianae, catholicae etc. fervor, 9o epp.
148 g. medd. oder durch fidei ardor Xeo epp. 154 9.
E. dargeſtellt. Ebenſo Bat ©. dad Wort Genevalebict,
Generalerlaf ganz übergangen, während e8 von Kraft
unter dem Artikel Generale berüdfichtigt wird. Einen
Generalerlaß an bie Metropoliten fenden beißt
aber bei Xen epp. 153, 1 p. medd.: ad episcopos metro-
politanos generales litteras mittere. In der gleichen
Rage befindet fi Glaubensfeind, Glaubensgeaner,
was bei Seo epp. 154 p. init. burd) inimicus fidei chri-
stianae ausgedrückt ijt. Schwäche im etbijden Sinne =
Energielofigfeit δε Willens, Mangelan That-
fraft bei Rügen und Bußen läßt fid) gang wohl durch
segnis indulgentia bezeichnen, 3. B. auß Schwäche bie
Bergehungen der Menfchen Hingehen faffen, ignoriren =
segni indulgentia delicta aliquorum tolerare, dissimu-
lare, $to epp. 155, 2. Schirmvogt ift von G. aus:
gelaffen, indem er nur Schirmherr aufführt und durch
patronus bezeichnet. Kraft Dat ba8 Wort aufgenommen
Altchriftliche Latinität unb profane Philologie. 85
und überjebt e8 durch praeses, Tutor, während er jo gut
wie ($. von Schirmvogtei fchweigt. Nun fchreibt aber
Papſt Leo epp. 156, 3 an den Kaiſer Leo: debes ad-
vertere, regiam potestatem tibi non ad solum mundi
regimen, sed maxime ad ecclesiae praesidium esse
collatam = ſondern hauptjächlich zum Zweck der Schirm:
vogtei über die Kirche. Aſche. Die Alche eine?
Todten (zum Hohn) in die Lüfte zerjtreuen, den
Winden preidgeben, worüber bei G. und Kraft nicht?
gefunden wird, ift im Append. ad opp. Leon T. 3, p.
609 gegeben durch cineres alicujus exspergere in ventos,
ein Ausdruck, der gang untadelhaft genannt werben muß,
wenn man dispergere für exspergere fubitituirt. Bei
Leo epp. 156, 5 wird derjelbe Gedanke mit einem eigen-
thümlichen, gewählten Ausdruck bezeichnet: concremati cor-
poris cinerem, in contumeliam aéris coelique dispergere.
Ehebund. Neben beu von ©. aufgeführten Nebertragungen
fann man wohl auch foedus nuptiarum gebrauchen, wie
benn legitimarum foedera nuptiarum redintegrare bei
Leo epp. 159, 1 vorkommt. VBernarben. Dafür find
im Handwörterbuch von ©. mehrere Inteinifche Bezeichnungen
angegeben; es mangelt aber im deutjchslateinifchen Theil
vulnus cicatricem obducit, Leo epp. 169, 1, was ber
eigentlichen Bedeutung von obducere ganz angemefjen ijt.
Dazu kommt, daß obducere tropijd), wie auch G. ſelbſt
unter diefem Worte bemerkt, jo von Cicero gebraucht wird:
obducta cicatrix rei publicae. Fußſtapfe. Sowohl
bei biejem Worte als bei Dicht, Ferſe wird eine ganz
gute Tateinifhe Phrafe dicht Hinter Jemanden ber
fein, unmittelbar ibm aufdem Fuße nachfolgen,
ibm auf der Ferſe fein vermißt; bieB ijt vestigia ali-
86' Allgayer,
cujus subsequi bei Leo lib. Sacram. Opp. T. 2, p. 23,
IX Ende. (M) Opferlamm. Dieſes Eubftantiv man—
gelt bei ©. ganz und gar. Bei Leo, lib. Sacramt. Opp.
T. 2, p. 30, XXVI wird Chriſtus als der Opferpriciter
und dad Opferlamm zugleic aufgeführt = idem sa-
— cerdos et sacer agnus. Himmelfahrt (Chrifti). Was wir
darüber im vierten Artifel bemerkt haben, finbet feine weitere
Beftätigung, denn im Append. ad opp. Leon. T. 2, p. 37
unten ijt bie Phrafe: Das hochheilige Himmelfahrts—
feft unfere3 Herrn feiern audgebrüdt burd) diem
sacratissimum celebrare ascensionis in coelum -do-
mini nostri Jesu Christi, ebenjo im Append. T. 3,
p. 855. Deßgleichen wird das, was über portae infernae
im eben genannten Artikel ©. 200 gejagt ijt, volllommen
beftätigt durch den Append. ad opp. Leon. T. 2, p. 51,
VI und p. 55, XVII und p. 59, XXV... Günbenjdulb
it bei ©. culpa et peccatum over peccata, allein. Warum
jollten wir aber als Chriften, zumal im Hinbliet auf Vulg.
Matth. 6, 12 und nicht auch in der Sprache der altlatei-
nischen Kirche ausbrüden und mit bem Append. ad opp.
Leon. T. 2, p. 69, II jagen dürfen: libera nos domine
a nostrorum debis peccatorum? Für Nachtruhe
bietet ©. lediglich quies nocturna; e& ijt aber auch, zumal
im Gegenjag quies noctis anwendbar wie im Append. ad
opp. Leon. Tom. 2, p. 80, XXXI: domine deus noster,
diei molestias noctis quiete sustenta. Yelt. Unter den
Phrafen für ba$ Deutſche ein Feſt feiern hätte aud)
bad gang gute sollemnia alicujus recolere genannt werben
fünnen, wie 3. B.: quoties sanctorum mariyrum sollem-
nia recoluntur, |. den Append. ad opp. Leon. T. 2,
p. 87, XIX p. init. und ebenjo beati Andreae sollemnia
Althriftliche Latinität und profane Philologie. 87
recolere a. ἃ. $O. p. 145 oben. So ijt auch baà [ub-
ftantivirte natalicta, iorum nicht Geburtstagsgeſchenk,
was für den Singular von ©. aus Censorin. erwiefen ift,
fondern Geburtstagsfefl. Sp fommt natalicia cele-
brare im missale Romanum von bem Tage be8 hi. Ste:
phanus vor. Daß bieB aber nicht etwa moderne Bildung
(ei, erhellt auß bem Append. ad opp. Leon. T. 2, p.
90, 7: beati Stephani ... natalicia recolentes ... vol.
auch ebenbaj. p. 103, II. Heirathsfähig. Neben ido-
neus oder idonea nuptiis kann bie Phrafe: Das hei:
rathsfähige Alter erreichen wohl auch überjeßt wer:
ben durch) ad aelatem nuptiis congruentem. pervenire,
Append. ad opp. Leon. T. II, p. 131, XXXI oben.
Uranfänglid. Wird diefes Adjectiv ftrifte auf bie
Zeit bezogen, jo läßt fid) dafür auch der attributive Genitiv
verwenden, 3. 3B. bie menfhlihe Natur zur urat:
fängliben Unfhuld zurüdführen = naturam
humanam ad primae origmis innocentiam revocare, |.
Append. ad opp. Leon. T. 2, p. 129, XXX. Licht. Im
Anſchluß an das, was bereità im vierten Artifel €. 217 über
Licht al Symbol der himmlischen Herrlichkeit und Glückſelig⸗
feit bemerkt worden ijt, führen wir an, daß tie Phraſe: Je⸗
mandenin die Seligkeit des Himmels aufnehmen,
bemgemäß ganz pafferd auch durch: aliquem in beatitudinis
sempiternae [aeternae] luce constituere überjegt wird
nach dem Append. ad opp. Leon. T. 2, p. 136, 11].
Urzuftand Menn bie chriftliche Dogmatik von dem Urs
zuftande ber erjten Menjchen fpricht, jo meint fie damit δὲς
kanntlich bie Neinheit und Heiligkeit, in welcher dieſelben
von Gott erichaffen wurden. Will man nun bieje, im
Handwoͤrterbuch von G. nicht berücfichtigte, Bedeutung von
88 Allgayer,
Urzuftand lateiniſch ausdrücken, jo wird originalis (pa-
rentum humani generis) dignitas bafür gejagt werben
fünnen nad) Append. ad opp. Leon. T. 2, p. 179; c. 10.
Cymbelklang heißt bei ©. lebiglid) cymbalorum stre-
pitus, im Append. ad opp. Leon. T. 2, p. 177, XIX
ift ba8 Wort auch ganz paffend burd) cymbalorum tinnitus
bezeichnet, wie cymbalum tinniens |o in der Bulgata
I. Cor. 13, 1 gefunden wird. Kirhengefhichte Daß
neben Ahistoria sacra aud) historia ecclesiastica angebe,
(t bereit in unferem zweiten Artikel ©. 450 bargethan
worben. Eine weitere Auctorität tragen wir nunmehr nad)
aus Append. ad opp. Leon. T. 3, p. 370, wo εὖ heißt:
Rufini liber qui conjunctus est novem libris ecclesia-
sticae historiae, quos vir eruditissimus Eusebius Cae-
sariensis edidit. Gewinn. Dem Gewinne uad
gehen heikt bei ©, bloß quaestu servire ober deditum
esse; ein weiterer offenbar guter Ausdruck findet jid im
Append. ad opp. Leon. T. 3, p. 398, Tit. XXIV:
Quoniam multi clerici avaritiae causa. lucra, sectantur
turpia... DOfterfeiertag. Sft ſchon in unferem erften
Artifel S. 78 nachgewiefen, baB man dafür unter anderem
auch dies Paschae jagen könne, jo fügen wir hinzu, daß
qud) dies Paschalis angeht, |. Append. ad opp. Leonis,
Tom. 3, p. 420 oben. Abendmahl als Firchliche Feier
wird von ©. unter anderem aud) durch "cena Domini
überjegt. Nun Fommt aber cena dominica in diefem Sinne
ſchon Vulg. I. Cor. 11, 20 vor und Anguſtin fagt mit
Recht, epp. 54, 7, daß ber HL. Apoftel Paulus den Empfang
der Euchariftie durch dominica cena bezeichne und eben
bafelbft S. 9 Heißt e$: neminem cogimus ante dominicam
illam cenam prandere, wie auch a. a. O. S. 10 ber Tag
Altchriftliche Latinität und profane Philologie. 89
angeführt wird, quo cena dominica anniversarie cele-
bratur. Ganz cbenfo heißt εὖ im Append. ad opp. Leon.
T. 8, p. 427, XXVIII: sacramenta altaris non nisi &
jejunis hominibus celebrentur excepto die anniversario
quo cena domini celebratur. Vergl. auch cbenbaf. p. 609
oben. Wenn ferner vor sumere ober percipere cenam
Domini von ©. der * gejeßt wird, jo fünnte, abgejeben von
bem, wa3 im britten Artikel ©. 261 darüber berichtigt ijt,
als altlateinifh auch au8 Aug. beftätigt werden euchari-
stiam (Domini) sumere, Aug. epp. 54, 7. Tragen
weiter auch die Worte te8 Handwörterbuches von G. sacro-
sanctum | domini nostri corpus religiosissime accepit
bem Afterist an ber Stirne, fo ijt berfelbe in diefem Falle
ebenjo zu ftreichen, indem corpus οὐ sanguinem domini
accipere bei Aug. epp. 54, 7 Ende und ebendajelbit S. 9
Anfang und corpus Domini accipere im Append. ad
opp. Ambros. T. 4, p. 244 (Migne) gejagt wird. Ebenfo
anwendbar ijt auch sacramentum corporis Christi accipere
bei August. de serm. dom. in monte sec. Matth. II,
δ. 25. Zum Abendmahl gehen endlich ift nad) ©.
* accedere ad mensam sacram. St num [dion in unferem
dritten Artikel S. 271 gezeigt worden, baß bafür accedere
ad mensam dominicam ganz gut fel, jo mag bem beigefügt
werben, bap bieje Redeweiſe aud) bei Aug. Serm. 21, 5,
baB ferner ad mensam. Domini accedere im Append. ad
opp. Ambros. T. 4, p. 244, und accedere ad euchari-
stiam Domini ebenbaj. p. 243 (Migne) vorkommt. 9totb-
gebrungen Zu den von ©. dafür angeführten Tateis
nifchen Ausdrücken läßt fic) aud) necessitate αἰχμα co-
gente binzunehmen, 2. B. nisi necessitate cogente dedi-
tionem non facere, j. Append. ad opp. Leon. T. 3,
90 Allgayer,
p. 427, XXX. Jahresfeſt ijt bei &. sacra anniver-
saria ober festi dies anniversarii. Wir bemerken zu
bem letztern Ausdruck, daß ftatt dies anniversarios agere
aud) celebrare zu brauchen ift, wenn bie Feſtlichkeit αἱ
eine größere und allgemeinere angefehen wird, umb bap
festus bei Perfonen ober Sachen, mit denen bie Vorftellung
bed Heiligen und darum feierlich zu Begehenden jid) von
jelbft verband, auch mweggelaffen werben kann. Wie ed ba-
ber genügt — ſ. unfern 3. 31. ©. 268 — für Pfingft
feiertag bloß dies Pentecostes zu Jagen, jo fanum man
qud die Jahresfeſte ber Martyrer feiern aus:
briden durch anniversarios martyrum dies celebrare nad)
Append. ad opp. Leon. T. 3, p. 429. $Wür G56emn
tem pel fol( nad ©. bloß idolium ober idoleum gebraucht
werden. Es verftcht fi aber von jefbjt, baB templum
idoli , templa idolorum eben jo gut angeht: .qui
in templis idolorum cenaverunt, |. Append. ad opp..
Leon. T. 3, p. 436, V. Ebenfo findet fi) templum ido-
lorum Vulg. I. Regg. 31, 9 u. I Paralip. 10, 9 u. de-
lubra idolorum, Vulg. Jesaj. 65, 4. Das Wort Götz en⸗
mahl wird bei G. ganz vermißt. Im Append. ad opp.
Leon. T. 3, p. 436, V ijt ε furg und gut durch cena
$dolorum bezeichnet. Eheband. Maß wir über vinculum
conjugale ſchon in unjerem erjten Artikel S. 68 bemerkt
haben, finden wir nun auch beftätigt durch ven Append.
ad opp. Leon. T. 3, wo p. 448 u. 451, XIII vinculum
conjugale dissolvere, solvere vovfommt. Kircheng e⸗
meinfhaft (δὲ voerítebt fid von ibit, baB neben
ecclesiae communio — |. unjeru dritten Artifel €. 68 —
auch communio ecclesiastica angeht, |. Append. ad opp.
Leon. T. 3, p. 469 oben u. p. 470, V. Chrijam iit
Altchriftliche gatinitát und profane Philologie. 91
nach ©. * oleum sacrum. Am Append. ad opp. Leon.
T. 3, p. 518 heißt es sanctum oleum chrismatis, eine
Bezeichnung, an welcher nicht? auszuſetzen fein wird, fobafb
man nur sacrum für sanctum fubitituirt. Der Genitiv
chrismatis ijt nämlich feine Abundanz, denn man unter:
ſcheidet ja bekanntlich einfache und gemifchte HI. Dele, ber
Chrifam aber befteht gerade aus ber Mifchung von Del
und Balfam und unterjcheidet jid) dadurch von dem (εἶπε
fachen) oleum catechumenorum und dem oleum infirmorum ;
den Chriſam bereiten fant auch furg unb gut auß-
gebridt werben durch chrisma conficere, |. Appendix ad
opp. Leon. a. a. Ὁ. (bis) und ebendaſelbſt p. 695, V de
presbyt. Stammeltern jind bei ©. auctores gentis
Ober generis oder stirps (ber Stamm). Bon beu Stamm
eltern be8 ganzen Menfhengeihlehtes aber
heißt εὖ im Append. ad opp. Leon. T. 3, p. 523 oben:
in paradiso cum parentes humani generis conjunge-
rentur... Kirchenſtrafe. Mußten wir e8 im oritten
Artikel €. 267 dahingeftellt fein laſſen, ob poena eccle-
siastica den * verdiente, jo fonnen wir p. eccl. nunmehr
als antif nachweifen αὖ bem Append. ad opp. Leon.
T. 3, p. 547, XXIII und ebbaj. p. 857, III Ende und
p. 861 oben. Tejtament. Das Recht ein ὁ εἴτα:
ment zu machen beißt nach bem Handwörterbuch von ©.
neben Zestamenti factio aud) jus testamenti faciendi,
aber für ben ganzen Sat: Das Necht haben ein Ze
ftament zu machen bietet er bloß testamenti factionem
habere. ($8 fommt aber ber bem deutſchen correfpondirenbe
Ausdruck potestatem testament faciendi habere vor im
Append. ad opp. Leon. T. 3, p. 552, eine Phraſe, bei
ber man höchſtens au potestas jtatt de ſtehend gewordenen
92 Allgayer,
jus Anſtoß nehmen fann, wie denn aud) testamenti fa-
ciendi jus habere bei Ulp. Fragm. XX, 16 fid findet
unb Semamnbemn teftirfähbig maden = iit testa-
menti faciendi jus alicui concedere, Gaj. Instit. III, 75.
Rechtstitel. Dafür bei © nur causa. Wie fonnte
aber ber rein Außerliche, fingirte Mechtätitel, ber
Aushängeſchild be2 Rechts titels Iateinifch ausgedrückt wer-
ben, zum B. Jemanden etwas unter bem vorgewenbeten
Nechtötitel ber Schenfung übergeben? Da hilft
wohl aud) ba8 ὃν διὰ δυοῖν quà: donationis titulo et
jure aliquid in aliquem transfundere, j. Append. ad
opp. Leon. T. 3, p. 552. Kirchengeſetz. Lex eccle-
siastica werbient nicht, daß ihm mit ©. ber * vorgelegt
werde, denn im Append. ad opp. Leon. T. 3, p. 660,
C. 8 9. ©. heißt es: legibus ecclesiasticis, ut semper,
oportere constare, vgl. aud) ebenbajelbjt p. 859, XII init.
unb ebenbajelbft c. 9 wird aud) für Kirchenrecht das
von und bereità im dritten Artikel vindicirte jus ecclesia-
sticum gefunden. Peitſchen. Neben flagellis aliquem
caedere gebt auch flagellis verberare πα dem Append.
ad opp. Leon. T. 3, p. 698, XI init. Simonie Zu
bem, was in unferem 4. Artikel, ©. 217 u. 218 über ben
lateinischen Ausdruck der Phrafe: ein Kirhenamt auf
bem Weg der Simonie an jid bringen gejagt
haben, fügen wir bei sacram. dignitatem pretio mercari,
Append. ad opp. Leon. T. 3, p. 702 oben XIX.
firdengut. Daß Kirhengüter in Grund und Boden
altlateinifch praedia ecclesiae, ecclesiarum, praedia
ecclesiastica genannt werben, ift von un8 bereit? im zweiten
und im vierten Artikel nachgewiefen worden. Eine weitere
Bezeichnung läßt fid) entnehmen aus bem Append. ad opp.
Alitchriſtliche Latinität unb profane Philologie. 93
Leon. T. 3, p. 718, XXV, wo bie Erträgniffe kirch—
[ier Grundftüde agrorum ecclesiasticorum fructus
genannt werden. Bußzeit ijf von G. gang und gar ver-
gejjen. Im Append. ad opp. Leon. T. 8, p. 714, c.
LX, 11 Anfang ijt e$ poenitentiae tempus; ebenſo wird
bei ihm ba8 Wort Bußwerk umfonft gejucht, |. aber über
opera poenitentiae Vulg. A. A. 26, 20, Reuig. Außer
poenitens unb confessus von ©. kann man noch einen
weitern ganz guten Ausdruck au8 Vulg. Matth. 27, 3 ent-
nehmen, wo ἐδ heißt! Judas ... poenitentia. ductus re-
tulit triginta argenteos principibus sacerdotum. Für
Gaſthäuſer beſuchen bietet ©, [ebiglid * cauponas
frequentare. Wir machen beBmegen darauf aufmerkfam,
bap dieß im Append. ad opp. Leon. T. 3, p. 717, XXIV
auggebrüdt ij burd) fabernas intrare. Waiſenvater
it bei ©. einzig. orphanotrophus. Dhne Anſtand kann
man dafür auch pater orphanorum jagen, ba orphanus
nicht bloß einmal, wie e8 bei (S. heißt, vorkommt, ſon⸗
dern auch von Auguftin, in ber Vulgata, und von Greg.
bem Großen gebraucht ift und endlich aud) im Append. ad
opp. Leon. T. 3, p. 735 jteht: orphanıs vosmet ipsos ex-
hibete parentes. Wenn man in ber fegtgenannten Stelle
für parentes lieber patres jagen möchte, jo wird auch dieſes
Defiderium von ber Bulgata Ps. 67, 6 befriedigt. Todt-
fein b. Hier hätte &. auch den ſubſtantiviſchen Superlativ
inimicissimus berüdjichtigen können, alſo mein Ὁ οὗ ἐς
feind énimicissimus meus, was ſowohl klaſſ. a(8 im
Append. ad opp. Leon. T. 3, 741 medd. vorkommt.
Probezeit. Dafür werden von G. zwei mit * bezeichnete
Ausdrücke aufgeführt. Sm Append. ad opp. Leon. T. 3,
p. 836 heißt eine längere Probezeit longioris tem-
94 Allgayer,
poris comprobatio, richtig und gut, wenn man nur pro-
batio \tatt comprobatio eintreten läßt. Geiftlich in bem
. Sinne von Fivdlid) wird von ©. aud) durch sacer bezeichnet.
Für dieſes Adjectiv kann aber aud) wohl ber objective ie:
nitiv Des eintreten, denn feine geiftlihen Amtsver—
rihtungen, Dienftpflihten, Obliegenbeiten ang
ſchnöder Geminujudt vernahläßigen wird im
Append. ad opp. Leon. T. 3, p. 857, III init. gut be:
zeichnet durch ministeria Dei negligere. Keuſchheits—
wächterin ift nad) ©: bird) sancti pudoris custos au:
zubrücen, aber εὖ fehlt das Masculinum Keuſchheits—
wäcdter, wad, da custos g. communis ijt, mit
denjelben Worten fateinifch wiedergegeben werden muß. In⸗—
beB kennen wir bis jet feine Auctorität, beum im Append.
ad opp. Leon. T. 3, p. 865 ji pudicitiae custodes
nicht die Wächter über fremde, fondern bie Hüter und Be:
wahrer ber eigenen Keufchheit. Fir unfer: Die Keuſch—
heit verlieren fdeint und florem pudoris amittere
im Append. ad opp. Leon. T. 3, p. 438, XII ein jebr
gewählter Auzbrud zu fen. Verdammungsurtheil.
Wenn die Bhrafe: Das Verdammungsurtheil über
itd ſelbſt aussprechen lateinilch dargeftellt würde durch
ipsum in se damnationis sententiam dicere, proferre,
jo. fönnte man nach unfern Wörterbüchern verfucht fein,
dieß für durchaus mneulateinijd) anzufehen; es findet fid
aber bieje Otebemeije im Append. ad opp. Leon. T. 3,
p. 870 oben und 873, XXV Ende alten Falten:
brechen foll. nad) ©. durch * jejunium. solvere überfekt
werden, während es im Append. ad opp. Leon. T. 3,
p. 886, LXXVI ganz pajjeub durch jejunium. rumpere
Altchriftlicde Latinität unb profane Philologie. 95
ausgedrückt if. Goaugeltenbud) fehlt bei G. ganz und
gar. Wie εὖ lateinifch barzuftellen jei, lehrt der Append.
ad opp. Leon. T. 3, p. 887, XC: episcopus cum or-
dinatur, duo episcopi teneant evangeliorum codicem
super caput ejus. Kirchengefäſſe. Sit in unjerem
vierten Artikel nachgewielen, daß dafür auch ganz gut vasa
Sacra yewählt werben könne, jo wird bieje Verbindung aud)
burch den Append. ad opp. Leon. T. 3, p. 894 beitätigt.
Heiland ijt bei ©. unter anderem aud) burd) salutis
auctor überjegt, hingegen für Chriſtus unſer Heiland bietet
er zwei andere mit * bezeichneten Ausdrücke; es findet fid)
jedoch salutis auctor auf den Heiland bezogen bei Ambros.
enarr. in Ps. XLV, 8. 7: dominum Jesum praedicare -
suae salutis auctorem ; ebenſo bei Leo, Serm. 32, 4. init.
Rathſchluß ijt bei ©. lediglich consilium und nad
göttlihem Rathſchluß divinitus oder numine divino.
Kun heißen aber bie Rathſchlüſſe Gottes auch ganz
gut judicia Dei bei Greg. in Job XVI, 46: semel fixa
(Dei) judicia mutari nequaquam possunt und: quam
incomprehensibilia sunt judicia ejus Vulg. Rom. 11, 33.
Bei Leo Serm. 5, 3 Ende find bie unveränderlichen
Rathſchlüſſe Gottes incommutabilia (Dei) decreta,
ebenbajefbit und Serm. 67, 7 und epp. 16, 2 wird ber
Rathſchluß des ewigen Gottes aetern? Dei placitum,
wird der unerforschliche Rathſchluß der Weisheit Gottes énscru-
tabile propositum sapientiae Dei Serm. 52, 1 genannt.
Wirſehen, daß c8 nac göttlihem Rathſchluß δ ἐς
jtimmt war: divino intelligimus | dispositum | fuisse
consilio, ut ... Leo Serm. 58, 1; ber unausſprech—
fide Rathſchluß der gbttliden Barmherzigkeit
96 Allgayer, Altchriftliche Latinität ac.
it ineffabile misericordiae Dei consilium, Serm. 48, 1
und Serm. 62, 3, endlich die Tiefe, bie Unergründlichkeit
des göttlichen Rathſchluſſes = divini altitudo consilii,
Serm. 70, 3.
3.
DeB Origened Lehre von ber Menſchwerdung des Sohnes
Gottes.
Bon Repetent Dr. Knittel.
Einleitung.
Tür das Berftändnig ded Origenes ijt e8 durchaus
nothwendig, daß wir zwifchen feinem Glauben und feiner
Slaubenzerfenntniß (ψνῶσις, aud) σοφέα) unter:
jheiden. In erfterer Beziehung ijt durchgängig daran feit-
zubalten, daß er wifjentlich und abfichtlid, von dem, was er
ala göttliche Offenbarung erfannte, nicht abweichen wollte,
und bap er ausdrücklich in ber chriftlichsfirchlichen Sebre,
wie fie in den Büchern des alten und neuen Teſtaments
niedergelegt ijt, und von ber Kirche und deren Organen
allen Zeiten verkündet wird, Duelle und Norm ber gläu:
digen Grfeuntnig erblickte). Genauer ficht er gerade in
ber „Lirchlichen Lehrverfündigung” (praedicatio ecclesia-
stica) bie eigentliche und unmittelbare Quelle des Glaubens.
Mit namentlicher Beziehung auf die Häretifer erklärt ev 3):
„Da bie Firchliche gebrperfünbigung durch die Ordnung ber
Suceeffion erhalten wird, wie fie von ben Apofteln über-
1) vgl. de princ. praef. n. 1. u. 2. |
2) l. c. n. 2.
Theol. Quarialſchrift. 1872. Heft I. 7
98 Knittel,
liefert ift unb bis heute fortbauert, jo ijt nur das als
Wahrheit zu glauben, was in nidtà von ber Eirchlichen und
apoftolifchen Weberlieferung abweicht." Bon den Apojteln
it nämlich die chriftliche Wahrheit allen mitgetheilt worden,
menschlicher Weizheit und Wiffenjchaft aber, wenn fie unter-
fügt ijt vom göttlichen Geifte, bleibt e8 anheimgegeben,
Grund und Zujammenhang der Glaubendwahrheiten nad):
zuweifen und die vorhandenen Tücken zu ergänzen P). Was
die Apoſtel verkündet haben, empfangen wir durch die firchliche
Lehrverfündigung theild in deutlichen und beftinmten Aus—
brüden, theils im noch mehr ober weniger unbeſtimmter
Weife 3). Hier insbefondere mag bie menjchliche Wiſſen—
ideft ihren Scharfjinn einjegen, aber geleitet von der Bf.
Schrift, um bie nod) vorhandenen Süden auszufüllen und
bad Uubejtimmte zu größerer Beftimmtheit zu entwickeln 5),
und auf bieje Weile theils begründend theil3 ergänzend ein
Inftematifches Lehrganze herzuftellen 4). Wir wiederhelen
alſo im Sinne de Origenes: unmittelbare ΘΓ αἱ δ ἐπὶ ὃς
quelle für jeden einzelnen ijt eie Kirchenlehre, von dieſer
hat auch dev chriftliche Gnoſtiker αἱ pofitiver Norm und
Regel auszugehen, um bie chriftliche Wahrheit in ihrer
erſten und unmittelbaren Quelle, in der bl. Schrift, aufzu-
fuchen unb zu erheben, nach wifjenfchaftlichen Gefegen zu:
fammenzuftellen und zu verbinden und jo ba8 organijd) ge=
glieberte Ganze einer chriftlichen Lehrwiſſenſchaft herzuftellen.
Sonach ijt denn dem Drigenes die Aufgabe der chriftlichen
Gnoſis oder Sophia, nachdem in ben kirchlichen Dogmen
1) ]. c. n. 8.
92)} 6. ἢ. 4 ff.
8) l. c. n. 4.
4) 1. c. n. 10.
Drigened von ber Menſchwerdung. 99
bie Grund: und elementaren Baufteine gegeben find, alles
übrige durch Schriftforfchung und eigene Vernunftthätigkeit
berbeizufchaffen und den großen foftematifchen Bau eines
hrifilichen Lehrgebäubes aufzuführen 2). Es ijt Schon ander:
wärts 2) bemerft worden, wie biejer Begriff der Eirchlichen
Gnojtif, die bie gegebene chriftliche Wahrheit ergänzen
fol, bei allem Schein von ftrenger Gebundenheit an bie
poſitiven Gíaubenéquellet bod) unkirchliche Ausschreitungen
über jene ſchon wie im Keim in jid) ſchloß. Wir confta=
tire bier einfach da3 von allen unparteiiſchen?)
Beurtheilern des großen Alexandriners einstimmig anerkannte
gactum, bap ber Verſuch 5), eine ſyſtematiſche Darftel:
lung ber chriſtlichen Glaubenslehren zu geben, bent Origenes
im Großen und Ganzen miplungen ijt, nicht bloß weil bere
jelbe vielleicht überhaupt verfrüht war, jondern hauptfächlich
aus dem Grund, weil Drigened, ſtatt die Firchliche Lehre
aus jid) je[bjt, au der Fülle ihres eigenen Inhalte heraus
zu entwiceln und zu erklären, zu biefem mede [rembe,
dem chriftlichen Glauben oft widerjprechende Philofopheme
herbeizog. Was Origenes zu Stand brachte, war entfernt
nicht eine chriftliche Dogmatik, fondern eine philofophifche
Snoftif, in der iu trübem Gemijd) die heterogenften Ele:
1) vgl Kuhn, Dogmatik 2. Aufl. I, 370.
2) 1. c. |
- 5) Diefes Prädicat verdient das vierbünbige Werk von VBincenzi
(Origenes ab impietatis et haereseos nota vindicatus, Rom 1864)
gewiß nicht. Die Rabulifterei des SBerfojfer8 zeigt fid) aud) bei Be:
handlung einer in unfer Thema einfchlägigen Frage, weßhalb wir ung
begnügen, einfach auf den betr. Abſchnitt bei Vincenzi zu verweilen,
$85. Π. 6. 180—140.
4) So öfter von Origenes felbft bezeichnet 3. B de princ. I, 6,
1. II, 6, 2. 7.
7 *
100 Knittel,
mente der chriſtlichen Wahrheit und griechiſchen Philoſophie
zu einem unwahren, aber auch in ſich ſelbſt zerriſſenen und
mehr ober weniger unzuſammenhängenden Ganzen ver⸗
ichmolzen waren ). Es it Fein Zweifel, daß diefe, vom
Glaubensſtandpunkt aus angefehen, verkehrten Reſultate
feiner wiffenfchaftlichen Beftrebungen bem O. Lebenzüber:
zengungen waren, wenigſtens finden fid) bie wejentlichen
Serthümer üt den Schriften aller Lebengepochen de Manne2,
ebenjo in bem verhältnigmäßig frühen Buche de principiis,
wie in ber fpätern Apologie gegen Gelju8. Aber es Tiegt
fein Grund vor, mit den alten Polemifern gegen O. an
bewußte Abweichung von ber Kirchenlehre zu denken,
vielmehr [ΟΠ gerade auch die vorliegend behandelte Detail:
frage aus ber Dogmatik be8 Origenes Zeugniß davon ab-
legen, welchen verhältnigmäßig treuen und veblichen Ausdruck
er ber von ihm gläubig anerkannten chriftlichen. Wahrheit
gab, jo wenig biejelbe aud) fid) in [εἶπε wiffenfchaftlichen.
Vorausſetzungen einfügen und eingliedern laſſen wollte. Ber:
ſönlich war er jedenfall wur infofern ſich εἰπε Unter:
ſchiedes vom Standpunkt ber einfad) Gläubigen (ἀπλούσ-
vegot) bewußt, ala ev fid) als gebifbet Gläubigen (weuua-
71x05) anjah, ber zwar im Ganzen biefelbe Wahrheit wie
jene bejtgt, aber inhaltlich vollftändiger und betaillirter und
formell in den reinern Formen und Begriffen ber wiffen-
ſchaftlichen Erkenntniß.
S. 1.
Der Glanbensflandpunkt des Origenes.
Die Lehre über die Menfchwerdung be8 Sohnes gehört
nad) O. zu denjenigen Firchlichen Lehren, die „Kar unb beut-
1) gl. Thomaſius, Origenes ©. 47 f.
Origenes von ber Menjchwerbung. 101
lij" in den Kirchen verfündet werben. Der vor aller Greatur
and dem Vater gezeugte Sohn Gottes „hat in ben legten
Zeiten fi) ſelbſt entüugevt und Fleisch angenommen, indem
er Menjch wurde (homo factus incarnatus), während er
Gott war, und Menfch geworden, blieb ev, was er war,
nämlich Gott. Er nahm einen Leib an bem unfrigen ähn⸗
fif, nur dadurch unterfchieden, daß er von einer Jungfrau
und aus bem hl. Geijt geboren war. Diefer Jeſus Chriſtus
ift geboren worden unb hat gelitten in Wahrheit, und Bat
nicht bloß zum Schein diefen gemeinen Tod erlitten, er ber
in Wahrheit ftarb, denn in Wahrheit tft er von den Tobten
anferftanden, bat nach feiner Auferftehung mit den Jüngern
verkehrt und ift aufgenommen worben” 1).
Es ijt aljo Chriſtus in Folge feiner Menſchwerdung
wahrer Gott (in welchem [ubordinattanifirenden Sinn, bieje
Frage geht und hier nicht? an, vgl. indeffen Kuhn, Dogs
matif IT, 217) und wahrer Menſch. Der Begriff: Menjch-
werbung ijt im vollen Wortfinn, beſonders alfo auch von
ber Annahme einer menjchlichen Seele zu verjtehen. Died
geht (dor daraus hervor, daß er an dem Ort ?), wo er
die Miöglichleit einer Vereinigung der göttlichen mit ber
menfchlichen Natur befpricht, bie Eriftenz einer menfchlichen
Seele Jeſu einfach als allgemein anerkannt voraugfegt und
nur zu zeigen verfucht, woher ber Logos bieje menfchliche
Seele empfangen 9). Ohnedies fehlt e8 nicht an Stellen,
1) de princ. praef. n. 4. vgl. auch in Matth. Comm. Ser.
n. 88.
2) de princ. II, 6, 8 ff.
3) Wir führen bie8 nur an, um ſchon hieraus erkennen zu Taffen,
wie nichtig bie befannte, neueſtens wieder von Böhringer (Die griechts
ſchen Väter bes 3. u. 4. Jahrhunderts. Clemend und Origene, 2.
Aufl. €. 265) wiederholte Behauptung ijt, aI3 ob ber bisherige gemein:
102 Rnittel,
wo er diefe Qebre, auf bie er befanntlich bie Möglichkeit ber
Menſchwerdung fslbft begründet ἢ), direft zum Ausdruck
bringt. „Der Sohn Gottes nahm nicht nur einen menſch—
lichen Leib, wie einige glauben (ut quidam putant),
jondern aud) eine menjchliche Scele an, die ihrer Natur nad
unferen Seelen ähnlich war” u. j. w. 9) Gegenüber Eelfus,
der „in ber Annahme eines fterblichen Leibes und einer
menschlichen Seele” feitend „des unfterblichen Gott-Logos“
eine Veränderung und Wandlung befjelben erblicten wollte,
wird erſteres vollfommen anerkannt und nur bie Folgerung
des Celſus als unterfchoben beftritten 8). Diefe zwei Na-
turen, bie göttliche und bie menfchliche vereinigt der Logos
zur Subjektseinheit: ba8 ijf der weitere Sab, welchem Ori—⸗
genes ala Firchliher Lehre und eben damit als normativen
Ausgangspunkt feiner chriftologifchen Speculation Zeugniß
gibt. Nicht bloß, baB er, fomeit ung befannt, der erfte
Kirchenfchriftfteller von _Chriftug den Ausdruck: „Oott-
menfch” % gebraucht, ev jet ausdrücklich die Bedeutung ber
Menfchwerdung darein, „daß Zwei Eind wurden” (ut
fierent utraque unum) ὅ). Zudem geht αὐ feiner Dar-
ftelung ber. riftologischen Lehren überall hervor, daß er
im Menfchgewordenen feine Doppelperfönlichkeit unterjcheidet,
firchliche Standpunkt von einer menfchlihen Seele Jeſu nichts gewußt.
Bol. dagegen beu Proteftanten Thomaſius a. a. Ὁ. ©. 71 f.
Annı. 1.
1) de princ. 11, 6. 8.
2) 1. c. IV, 31.
8) c. Cels. IV, 15. vgl. ibid. III, 29: „er ift ber Bott, ber in
menſchlicher Seele unb in menfchlihem Leib gekommen tf^, vgl. eben
δαί. VII, 17. in Luc. hom. 19. |
4) in Ezech. hom. III, 8.
5) in Ezech. hom. I, 10.
Drigenes von ber Menfchwerdung. 103
jondern Einem und bemfelben Subjefte Präbicate der gött-
fihen wie menjchlichen Natur zufchreibt . (hierüber mehr
unten), ja er fpricht geradezu von einer Doppelnatur in
Einer Perſon. Wir führen die bebeutjamjte Stelle in
Schnitzer's („Origenes über bie Grundlehren der Glaubens:
wiffenfchaft”) Ueberſetzung (S. 118 |.) an ): „Das freilich
geht von allen feinen Wundern und feiner ganzen Hoheit
am weitejten über die Bewunderung des menfchlichen Geiftes
und über die Ichwachen Begriffe des Eterblichen hinaus,
baB jene herrliche Gottesmacht, dad Wort des Vaters und
die Weisheit Gottes felbft, in welcher alle Sichtbare und
Unfichtbare gefchaffen ijt, in οἷς Befchränftheit de3 Mannes,
ber in Galiläa aufftand, begriffen fein ſoll: noch mehr, daß
die göttliche MWeigheit den Sohn eines Weibes nicht ver:
ihmähte, als Kind geboren wurde unb wimmerte wie an:
dere Menſchenkinder: daß eben diefer im Todeskampf heftig
erfchättert war, wie er felbjt befennt mit den Worten:
Meine Seele ift betrübt bis in den Tod; daß er zum
ſchmachvollſten Tode, den e8 unter Menjchen gibt, geführt
wurde, obgleich er-am dritten Tage auferftand. Weil wir
darin einiges fo ganz Menschliche fehen, daß c8 von ber
gemeinen menfchlichen Schwachheit nicht abweicht, anderes fo
Göttliches, bag ed nur der urfprünglichen, unausſprechlichen
Natur der Gottheit zukommt, jo fteht der menjchliche Ver:
ftand till und weiß vor Staunen und Bewunderung nicht,
wohin er fid) wenden, was er fefthalten, wie er ausweichen
fol. Sucht er Gott, jo fieht er den Menfchen; glaubt er
einen Menſchen zu fehen, jo erblickt er den, welcher nad)
Befiegung der Gewalt de Todes im Triumph von ben
1) de princ. II, 6, 2.
104 Knittel,
Todten wiederkehrt. Wir dürfen daher nur mit ber größten
Schen und Ehrfurcht an die Betrachtung der doppelten
Natur in Einer Berfon gehen (ut in uno eodemque
ita utriusque naturae veritas demonstretur), bamit wir
weder unziemliche Vorſtellungen mit jener göttlichen — umb
unausſprechlichen Natur verbinden, nod) Thatfachen für tüu-
chenden Schein erklären.” Kurz und treffend drüdt er bie:
{εἴθε Wahrheit anderwärts 9 negativ aus: „es ijt nicht 70,
baB bie (menjchliche) Seele Jeſu und der Erjtgeborene aller
Greatur der Gott-Qogo8 zwei wären“ (οὐκ δἰσὶ δύο ἡ ψυχὴ
τοῦ Ἰησοῦ πρὸς τὸν πάσης κτίσεως πρωτότοκον Θεὸν
λόγον), ober, wie er ein andermal ?) bemerkt: „der Menich
ift nicht zu trennen von ihm (bem Herrn) und darf nicht
ein zweiter neben biefem genannt werden” (homo ... non
est solvendus ab eo, nec alter est dicendus ab eo).
Wir haben hierin um jo entjchiebenere Seugniffe, wie
einerjeità für bie Mebereinftimmung des damaligen Kirchen:
glauben? mit den Fpätern Beltimmungen des Ephefinum und
Chalcevonenje, fo andererfeitd für das treue Fefthalten des
D. am Glauben feiner Kirche zu erkennen, je mehr biefe
chriſtologiſchen Grundlehren im Widerfpruch mit des Letztern
philojophifchen Vorausſetzungen ftanden und je weniger jene
ih beBmegen in fein dogmatiſches Syſtem einfügen laſſen
wollten, wie wir das in fpätern Paragraphen des Nähern
jehen werben.
1) c. Cels. VI, 47.
2) in Matth. Comm. Ser. n. 65.
DOrigenes von ber Menfchwerbung. 105
S. 2.
Die hriftologifche Speculation des (Origenes.
1) Die göttliche Natur des Logos in ihrem Verhältniß zur
Menſchwerdung.
Richtig hat Origenes den chriſtologiſchen Fundamental⸗
ſatz dahin angegeben, daß er jagt: „Der unſterbliche Gott:
20903 hat einen fterblichen Leib und eine menjchliche Seele
angenommen“ 1). Uber ijf nicht baburd) in der göttlichen
Natur des Logos eine Veränderung ſtatuirt? Das war ber
Einwand, den Celſus gegen die Lehre von ber Menfchwer:
bung von biefer Seite her erhob). „Wenn Gott zu ben
Menfchen herabfteigt, jo kann das nicht gefchehen ohne eine
Veränderung ſeinerſeits“ (μεταβολῆς αὐτῷ dei), und er
fpibt diefen Einwand nur in platonifirender Weife zu, wenn
er fortfährt: „Diefe Veränderung ijt eine Veränderung von
Guten in's Böfe, vom Schönen in’ Häßliche, von Celigfett
in Unfeligfeit, vom Reinften in’3 Unreinſte. Wer möchte
eine fofdje Veränderung ji Jelber wählen? Außerdem aber
ἢ eà wohl bem fterblichen Weſen natürlich, fid) zu ver
ändern und umzugeftalten, bent unfterblichen aber gerade
umgekehrt fid) felbft immer durchaus gleich zu bleiben (κατὰ
τὰ αὐτὰ xal ὡςαύτως ἔχϑιν)." D. beantwortet den Gin
wand damit, daß er erflärt ὅ): „allerdings εἰ Gott nad)
Ausweis ber hl. Schrift (Pf. 101, 28 u. Malach. 3, 6)
unveränderlich.” Aber unter allen Umftänden fei er, „per
keine Sünde that” (I. Betr. 2, 22), nicht aus bem Seinen
u$ Unreine gekommen, fondern „wegen feiner Menfchen-
1) c. Cels. IV, 15."
2) 1. c. IV, 14.
8) I. c.
106 Rnittel,
freunb(idjfelt Habe er fid) ſelbſt erniedrigt”, „ohne deßwegen
weniger felig zu fein” P). Der 9ogo8 nahm wohl einen
fterblichen Leib und eine menfchliche Seele an, „er felber
aber, ber weſentlich Logos bfeibt, erleidet nicht? von bcm,
was der Leib ober bie Seele leidet” 9), Sonach bleibt ber
Logos unmandelbar, was er zuvor war, allein, wie er, ob-
gleich immer derjelbe, in feiner geiftigen Mittheilung an bie
Menſchen fid) mehr ober weniger ihnen, „je nach ihrer
Empfänglichfeit” (κατ᾽ ἀξίαν) hingibt "), fo wollte er aud
für bie, „welche das Herrlichere an ihm nicht fehen founten^,
eine ihrer Faſſungskraft entjprechende „Geſtalt“ wählen €).
Eo hat ber Logos denn „in Wahrheit” unter den Menjchen
gewohnt 5); denn „wir hätten ja feine Hilfe von ihm em:
pfangen”, wenn wir mit gewifjen Irrlehrern „feine Gottheit
leugnen und aus ihm nur ben Heiligften und Gerechteſten
aller Menjchen machen würden” 5).
Sp ijt ajo δὲν Logos, was er zuvor war — Gott —
geblieben und es ift nur eine Verprehung des Gelju8 7),
daß er den Ehriften die Lehre zum Vorwurf macht, Gott
habe fid) in Fleifch verwandelt. „Nicht den fichtbaren und
wahrnehmbaren Leib nennen wir Gott ..., nicht einmal
bie Seele, von der gejagt ijt: Betrübt ijt meine Seele big
jum Tod — fordern ben nennen wir jo, welcher gejprochen::
d) bin ber Weg, die Wahrheit und ba2 Leben — und ich
bin bie Thüre und ἰῷ bin dag lebenbige Brot, ba8 vom
1) c. Cels. IV, 15.
2) l. c.
8) l. c. IV, 18.
4) l. c. IV, 16.
5) 1. c. IV, 19.
6) in Joh. X, 4.
7) c. Cels. IV, 18; II, 9.
Origenes von ber Menfchwerbung. 107
Himmel Bernieber geftiegen ij^ ἢ. Eben weil ber Logos
unverändert verfelbe geblieben ift, ſo kaun man auch nicht
annehmen, „daß bie ganze Majeität feiner Gottheit in ben
Ranın eines jo Heinen Körpers eingeichloffen worben wäre,
jo daß ber ganze Logos Gottes, die wejenhafte Wahrheit
und das Leben von bem Vater [o8geriffen, in die Schranken
eined® Körpers eingefchloffen πὸ ohne anbermeitige Wirk:
ſamkeit gedacht werden müßte” 3. Das ijf nur ein Un:
verftand des Celſus, ber, „wenn wir jagen: Gott felbjt
fteigt zu uns hernieder“ — daraus fchließen zu müffen
glaubt, „er habe feinen Thron verlaffen” ®). Celſus „kennt
eben bie Macht Gottes nicht unb weiß nicht, daß der Geift
des Herrn den Erdkreis erfüllt und ber alles Zufammen-
haftende (Geift) Stimmenkenntniß bat; er kann das Wort
be8 Herrn nicht fallen: Erfülle id) nicht den Himmel und
die Erde, [prit der Herr, — und fieht nicht, bag nach ber
Lehre der Chriften, wie auch Paulus in δὲν Verſammlung
ber Athener lehrte, wir alle in ihm leben, weben und find” 9).
Inwiefern Gott afjo allgegenwärtig, b. D. über bie Schranfen
be8 Raumes erhaben ijt, kann man überhaupt nicht jageit,
daß er, indem er Menſch wird, feinen Thron verlaffe 5)
und daß er „im Naume [ei^ (regıyeyoauuivor), in ber
Weiſe, daß er außerhalb feiner Seele und feines Leibe
nicht wäre). Das läßt fid) direkt aus ber Bl. Schrift aus
bem Worte be8 Täuferd beweifen: In Eurer Mitte jteht
ber, welchen Ihr nicht fewnet, der nach mir kommt. „Haͤtte
1) c. Cels. II, 9. vgl. de princ. IV, 31.
2) de princ. IV, 30.
8) c. Cels. IV, 5.
4) l c. vgl. c. Cels. VII, 17.
5) c. Cels. 1V, 15.
6) 1. c. II, 9.
108 Knittel, ᾿
er nemlich gemeint, nur ba fei ber Sohn Gotted, wo ber
fihtbare Leib Zefu war, wie würbe er haben jagen Tonnen:
Su Eurer Mitte Steht ber, welchen Ihr nicht kennt“ ἢ).
Wie hier, wo cine leibliche Gegenwart geradezu ausgeſchlofſen
ijt, die anwefende Gottheit be3 Logos gemeint wird, jo aud
in be8 ferm Ausfprücen jelber: „Wo zwei oder drei in
meinem Namen verfammelt find, bin ich mitten unter ihnen“
unb „fiehe ich bin bei Euch alle Tage bis an’d Ende ber
Welt” N. Andererſeits darf man aber auch nicht jo benfen,
„als ob ein Theil der Gottheit des Sohnes in Ehrifto, ber
übrige Theil auderswo oder überall gewejen wäre ... Denn
das Unkörperliche hat feine Theile und kann nicht getrennt
werden, fondern ift in allem unb durch alles und über allem,
ganz wie die Weigheit, dad Wort und die Wahrheit gedacht
werben muß, bei welchen Gedanken unftreitig alle menjdbfidje
Begrenzung ausgeſchloſſen ijt ὅ).
So ſchließt denn alfo die Menſchwerdung bed Logos
feine Veränderung ber göttlichen Natur desſelben im fich,
diefe bleibt diefelbe wie zuvor, aljo, weil göttlich, über allen
Raum erhaben 4), überall zugleich und ganz anweſend 5).
Nicht die unveränderliche Natur des $0908, fónnen wir etwa
in den Terminen der fpätern Theologie den SOrigene8 itte
terpretiren, ijt etwas geworden was fie zuvor nicht war,
jondern die Perfon des Logos, diejer „hat jid) erniedrigt
und bie Geftalt eines Knechtes angenommen”, „er ift vom
1) c. Cels. 11, 9. ebenfo f. c. V, 12. de princ. IV, 30; in epist.
ad Rom. VIII, 2.
2) c. Cels. H, 9.
3) de princ. IV, 81.
4) 1. c. IV, 29.
δ) 1. c. IV, 81.
Drigenes von δὲς Menjchwerbung. 109
Bater ausgegangen und gefommen^, (oh. 8, 42) b. ὃ. wie
Origenes audlegt, er hat nicht feinen Ort, wohl aber feinen
„Stand“ (κατάστασις) verändert ), „indem er nicht bloß,
wie einige glauben, einen menjchlichen Körper, fondern auch)
eine menjchliche Seele annahm, ihrem Weſen nach wie bie
unfrige” ἢ. So „verläßt er feinen Vater und feine Mutter
b. i. da3 himmlifche Serufalem und fteigt auf dieſen irdischen
Ort herab” 8). Er „erniebrigt jid)" (exinaniens se) durch
bie Menſchwerdung, aber nur beproegen, weil er „durch feine
Erniedrigung und bie Fülle der Gottheit näher bringen
will” 9. In diefem Stande ber Erniebrigung, fagt D. fogar
einmal), fomme ihm jefbjt ein „Stammeln-Lernen und Kind:
lich-Reden“ mit ben Menfchen zu. Aber offenbar find bieje
und Ähnliche Aengerungen nicht mit Dorner 9) auf eine
eigentliche fenoje ber göttlichen Natur des Logos zu beziehen,
fondern beziehen fich einfach auf bie heilßpraftiiche Thätigkeit
beg Gottmenjden , der, wie e3 in ber a. St. heißt, „mit
Kindern finbfid) reden” mußte. Die „Selbiterniebrigung”
des Logos beſteht nicht etwa in ber einen, von Origenes
wie wir oft gehört, jo entjchieden verworfenen Veränderung
ber göttlichen Natur, — darauf füme gerade Dorner’3 An
ſchauung, wie er fie Origene8 unterjdjiebt 7), hinaus —,
1) in Joh. XX, 16.
2) de princ. IV, 31.
3) in Jerem. hom. X, 7.
4) de princ. I, 2, 8.
5) in Jerem. hom. I, 8.
6) Entwiclungsgefchichte der Lehre von ber Perfon Gbrifti. 2 A.
I, 677.
7) „Auch ijt bie Meinung nicht, daß eigentlich bie ganze Fülle ber
Herrlichfeit bes göttlichen Sohnes Menſch geworden fei, nur aber von
ber Thorheit ber Welt nicht erfannt werde: feine Selbftentäußerung alſo
nur fubjeftioer Schein fel, ben ber Glaube dann als folchen erfennen
110 Rnittel,
fondern dadurch „hat biejer Erhabenfte aller Geiſter jid feiner
Hoheit entäußert“ — „daß er Menfch wurde und mit
Menſchen umgieng” ἢ).
S. 8.
2) Die Annahme einer wahrhaft menfchlichen Seele und eines wahrhaft
menfchlihen Leibes durch den Logos.
Sm Akt ber Menfchwerbung „nahm ber Logos eine
wahrhafte menfchlihe Seele an^ 9), „von bem Geſchlecht und
ber Subftanz aller menjchlichen Seelen” 9%. So gewiß ber
20908 nach bem Augdrud der bf. Schrift Fleiſch geworden
it, πίε ὦ angenommen Bat, „jo gewiß hatte ev auch eine
menfchliche Seele” 9; „dern daß Gott fid) unmittelbar mit
dem Fleisch verbinde, ijt unmöglich” 5). Die Lehre, bap
der 80908 eine wahrhaft menjchliche Seele ἔταξε feiner Menfch-
werbung bejigt, ijt in der Bl. Schrift „auf's Deutlichite”
geoffenbart, „da der Heiland jpricht: Niemand nimmt meine
Seele von mir, fondern ich epfeve fie von ſelbſt; ich habe
Macht, meine Seele hinzugeben und habe Macht, fie wieder
müßte. Sonbern bier heißt ba8 Menſchgewordene jelbft ein Erniebrigtes,
ein ber Herrlichkeit Gntleerte2^ 1. c.
1) de princ. II, 6. 1.
2) de princ. IV, 81.
8) in Levit. hom. XII, 5.
4) de princ. II, 8, 2.
5) de princ. 11,6, 8. Danach ift offenbar bie eigentbilinlidje Stelle
in Joh. XX, 11. zu erflären, wo D. ben Ausdruck: ber 20908 ijt Fleisch
geworden — als dem: er ijt Menſch geworden — vorzuziehen vertbeibigt.
Sonft, meint er, müßte man aud) jagen: ber 20908 [εἰ gefreugigt worden.
Da er fonft den Ausbrud: ber Logos ijt Menſch gemorben unbebenflid)
z. Ὁ. oben de princ. II, 6, 1. gebraudjt, fo (dint unſre Stelle aus
einer polemifchern Tendenz gegen bie Dofeten erflärt werden zu müſſen,
bie er mit feiner Debuction ad absurdum zu führen verjuct.
Origenes von ber Menjchwerbung. 111
zu nehmen (Joh. 10, 18) und wiederum: meine Seele ijt
betrübt bi im den Sob (Matth. 26, 38), anderswo: Seht
üt meine Seele erſchüttert (Soh. 12, 27). Eine betrübte
und erjchütterte Seele kann nicht der Logos jefbjt fein, ber
in göttlicher Machtvollkommenheit jpricht: ich habe Macht
meine Seele hinzugeben” 1). Außer diefen Stellen im neuen
Teftament, neben welchen ev fid) auch einmal 3) auf die andere
beruft: Wenn εὖ möglich ijt, gebe diefer Kelch an mir vor:
über, Stellen, die er febr. oft wiederholt 5), wendet cv aud)
durch affegorijd) - typifche Erklärung Stellen aus dem alten
Teftament zum Erweis berjelben Wahrheit an, 3.8. Pf. 21,
20. 21, *), Pl. 43, 20 5, Ser. 15, 109. €o febr iſt O.
von der Eriftenz einer wahrhaft menfchlichen Seele Jeſu
überzeugt, daß er fogar einmal’) von ihrer Beschaffenheit
Rücjichlüffe auf bie Seelen der Engel und Meuſchen macht.
Wie alle andern menfchlichen Seelen ijt. auch die
menjchliche Seele Jeſu eine „gefchaffene” und infofern „Tpäter
αἰ die Gottheit des Eingebornen“ 8) und in befenderer
Weife vom $0908 „geitaltet und geformt” 9). Wie bie
übrigen Seelen hat aud) bieje Seele prüexijtirt, „iſt älter
ala ihre Geburt αὐ Maria” 19%), weßhalb Seju$ auch ge:
nannt wird „ein Mann, ber nach Sohannes kommt, aber
1) de princ. IV, 31.
2) c. Cels. II, 25.
3) 3 Ὁ. de princ. II, 6, 8. c. Cels. II, 9. in Joh. XXXII, 11.
4) de princ. II, 8, 2.
δ) ibid. II, 8, 5.
6) in Jerem. hom. XIV, 6.
7) de princ. II, 8, 1 unb 5.
8) in epist. ad Rom. IIT, 8.
9) in Joh. I, 81.
10) in Joh. I, 87. vgl. de princ. II, 6, 2.
112 Knittel,
vor ihm gewefen ift? ἢ. In diefem Sinne, b. 5. alſo auf
feine menfchliche präeriftirende Seele bezogen, nicht aber „als
Erjtgeborener aller Kreatur” fant ber Heiland „vom Himmel“,
wie ja Paulus ausdrücklich bezeuge (I. Kor. 15, 47): „Der
erſte Menſch von Erden ijt irdilch, der zweite Menfch vom
Himmel). Es ijt die „Seele Jeſu“ nicht von biefer Welt,
fondern von jener „überfinnlichen Welt” (κόσμορ νοητός) *),
wo fie im göttlichem Pleroma geweilt, bis fie e8 in ber
Annahme eined menschlichen Leibe im Alt der Meenfch-
werbung verläßt, fie allein unter allen Seelen „von Gott
gejanbt und durch göttlichen Willen vorausgeſchickt“ 4).
Dieje unferer Eeele „durchaus Ähnliche” Seele Ehrifti
(t, wenn man ber trichotomiftifchen Anſchauung folgt 5),
ebenfowohl (eibenbe „Seele“ (anima) ald „williger Geift“
(spiritus) — gegenüber bem fchwachen Fleiſch —, welchen
er ja auch in die Hände feines Vaters empfiehlt. „Vernünftige
Seele” (λογικὴ ψυχή) 9) wie finnlicheempfindende und Iei-
benbe Seele ijt fie "), ſchwach, wo Chriſtus betet: dieſer
Kelch gehe an mir vorüber, wenn es möglich ijt; ftark, wo
er beifügt: bod) nicht wie ich will, fondern wie Du willſt 9),
alſo menjchlicher Empfindungen fähig und leidensfähig, wie
fie denn auch in der That gelitten hat). Zwar ijt feine
Finſterniß in ihm (I. ob. 1, 5), aber beffenungeachtet wollte
et jelbjt die „Schwächen” (ἀσϑενείαρ) unferer Seele an—
1) in Joh. 1, 37.
2) in Joh. XIX, 5.
8) 1. c.
4) in Joh, XX, 17.
5) de princ. II, 8, 4.
6) exh. ad mart. 47.
7) de princ. II, 8, 4.
8) c. Cels. II, 26.
9) c. Cels. II, 28. 25.
Origenes von ber Menfchwerbung. 113
nehmen, worunter aber nicht etwa moraliſche Gebrechen
zu verjtehen find D. Denn diefe Seele Ehrifti ijt gerade
dadurch vor allen andern Seelen ausgezeichnet, daß [ie
„niemals mit ber Mackel einer Sünde ijt befleckt worden” 3),
fie it cine durchaus „gerechte Seele" (δικαία ψυχή ?),
weil fie in Folge ihrer beftändigen Hingabe an bie Gerech-
tigkeit ohne jede Sünde geblieben, ja „ohne allen Gebanfen,
ohne alle Fähigkeit zu jünbigen ijt^ 9.
Wie ber θοροῦ eine wahrhafte menjchliche Seele an—
nahm, jo aud) „die wahrhafte Natur des menschlichen
Fleiſches“ 5), bie eine leibenà- und jterbenzfähige ijt. „Da
er einmal einen Leib annahm, nahm er einen folhen an,
ber mud) für Leiden unb für ba8 was bie Körper zu treffen
pflegt empfänglich war. Wie er affo nicht einen Leib an-
nehmen wollte, der anderer Natur war ala unfer Fleisch,
jo nahm er mit feinem Leib auch das Leidens- und Schmer-
zensfähige eines folchen an, ohne von mun an mehr Herr
zu fein, fid dem zu entziehen” 9. Wirklich bat Seius
gelitten, wird gegen Celſus wiederholt von DO. ausgeführt 7),
weßhalb auch „jeine Nachfolger” fid ala Beifpiel, wie man
Leiden fromm ertragen joll, gerade feine Leiden ausgewählt
haben 9). Aehnlich aber wie die Seele Jeſu jo unterjcheidet
fi auch fein Leib von allen andern menfchlichen Leibern
1) in Joh. II, 21.
2) in Luc. hom. XIX.
3) in Joh. XIII, 25.
4) de princ. II, 6, 5.
5) in Matth. Comm. Ser. n. 88. de princ. IV, 81.
6) c. Cels. II, 23.
7) c. Cels. II, 28. 25.
8) c. Cels. II, 26.
Theol. Duartaljchrift. 1872. Heft I. 8
114 Rnittel,
baburd), daß ev nicht befleckt und ſündhaft, jonbern ein „veiner
Leib“ war ἢ).
$. 4.
3) Die fpecufative Begründung und Erklärung der perfönlichen Eini:
gung göttlicher und menſchlicher Natur im Logos.
a) Die ethifchen Vorausfeßungen der Einigung des Logos mit einer
menſchlichen Seele
Auch die menschliche Seele Jeſu, wie wir gejebeu, hat
prüexijtivt: e8 ijt alfo be8 Drigened (von der Firchlichen Lehre
abweichender) Gebanfe der, baf jid) der Logos im Aft ber
Menfchwerdung mit einer beſtimmten, präeriftenten Menfchen:
feele geeinigt dat. Worauf nun, ba8 war die Frage die fid)
O. auf feinem Standpunkt fofort aufwarf, worauf gründet
jih nun die Wahl des Logos, vermöge ber er gerade bieje
und Feine andere Seele zu biefent unbegreiflichen Vorzug er:
wählte? Da ber ganze fittliche wie phyſiſche Beſtand dieſer
Welt πα einem (ber neuplatoniſchen Philoſophie entlehn-
ten) ?) Grundgedanken der Drigeniftiichen Speculation auf
bem etbifdjen Walten göttlicher Gerechtigkeit berubt, bie jedem
dad Seine zutheilt 5), jo konnte jene Bevorzugung ganz
von felber weder auf die göttliche Güte und Gnade, gefchweige
auf Zufall oder Willfür, fondern allein auf die göttliche Ge-
rechtigfeit gegründet werden. Origenes jtellt died näherhin
jo dar.
Allein die Scele Chrifti hat unter denen, bie nad)
einem Schriftwort „von den Bergen herabgeftiegen find” 4),
niemal$ gefündigt. — Shear ift auch fie frei und darum „wic
1) c. Cels. 1,69.
2) Bgl. Huber, Philofophie ber Kirchenväter ©. ὅδ.
3) vgl. Thomaſius, nimis ©. bI.
4) c. Cels. ΠῚ, 15.
Origene? von ber Menfchwerbung. 115
alle vernünftige Seelen ihrer Natur nad) für Gute und
Boͤſes empfänglich” ἢ. Aber Hätte fie jemals von biefer
ihrer Freiheit für ba8 VBöfe Gebrauch gemacht, jo wäre qud)
eine Vereinigung des Logos mit ihr unmöglich geworben,
„den unr ber Grjte von allen Menfchen, der Höchite, won
allen und der Reichſte von allen faſſen Fonnte” 2). Eine
ſolche Secle aber fand der Logos an jener, „die allein immer
und bevor fie überhaupt nur das Böſe kannte, dad Gute
wählte” 9%. „Sie hat bie Gerechtigkeit jo ganz zum Gegen:
ftand ihrer Liebe gemacht, daß fie aus unendlicher Liebe ihr
unverrückt und unzertrennlich anhängt, ja daß bie Feftigfeit
ihres Entjchluffes, die Unergründlichkeit der Zuneigung, das
jener ihrer unauzlöfchlichen Liebe jeden Gedanken an Um—
kehrung oder Beränderung abſchneidet, und was früher in
ihrer freien Wahl Stand, ihr nun zur zweiten Natur geworden
it” €. Mie alle andere vernünftigen Scelen je nach dem
Grade ihrer Liebe am Logos mehr ober weniger hängen, je
ift diefe Seele von Anfang an „unaufhoͤrlich und unzertrenn—
fidj^ eben in Folge ihrer bejtändigen Treue am Logos ge—
bangen ὅ). Indem [ic jo von Anfang an „ganz an ihm
hieng”, „ihn gang in jid) einjog^ (tota totum recipiens),
und ſelbſt ganz in fein Licht und feinen Glanz übergieng,
ijt fie mit ihm vorzugsweiſe (principaliter = aora)
Ein Geift geworden, wie der Apoftel denen, die ihm uad
abmen jolfen, verheißt: „Wer bem Herrn anhängt wird Ei
Geiſt mit ihm“ (I. Kor. 6, 17) 9). Wenn alſo der Logos
1) de princ. 11, 6, 5.
2) in Joh. X, 4.
3) de princ. IV, 31.
4) de princ. II, 6, 5.
5) de princ. II, 6, 3.
6) 1. c.
116 Knittel,
gerade bieje Seele zur unzertrennlichen Bereinigung mit ihm
erwählte, „jo war ba8 weber Sache des Zufalls noch einer
parteilichen Bevorzugung , jondern "ganz allein Folge ihres
fittlichen Werthed (ἐξ ἀνδραγαϑη ματος) 1). Darum rebet
aud) der Prophet Gbrijtum im 44. Pſalm am 8. Vers an:
Du haft geliebt Gerechtigkeit und gebaffel die Ungerechtigkeit,
— was beweist, daß bie Seele Chrifti, wie bie Echrift aud)
jonft bezeugt, (Jeſ. 7, 165 8, 4; 43, 9. oh. 8, 46; 14, 30.
Hebr. 4, 15 werden von DO. citirt) wirklich ohne alle Sünde
immer geblieben ijt. Der Prophet fügt bei: „Darum Dat
Dich Gott, Dein Gott, gefalbt mit Freudendl vor Deinen (δὲς
noffen^. In Folge des Verdienſtes ihrer Liebe alfo wird
fie gejafót mit bem DI ber Freude, b. ἢ. bie Seele Chriſti
wird mit dem Logos verbunden — Chriſtus. Mit bem
Freudenoͤle gefalbt werben Deipt nicht? anderes als vom hi.
Geijte erfüllt werden. Der Beiſatz: „vor deinen Genojjen"
bat den Einn, bap ihm ber hf. Geift nicht au8 Gnaden gc
ichenft jei, wie bem Propheten, ſondern baB bie wefentliche
Fülle des göttlichen Logos ſelbſt in ihm fei (substantialiter
deo repletus)" wie ja (παῷ fol. 2, 9 b. 5. be8 O. eigen:
thümlicher Auslegung ber Stelle) bie Schrift Gbriftum in
Gott „verborgen“ fein fajje 9). Es gibt alfo auch andere
„Selalbte” (xesoroi), Ὁ. 5. foldye, welche gerecht leben und
das Böje haffen und darum einen Theil dieſes DIS empfan—
gen, während Chriftuß bie ganze Salbung mit diefem Ol
erhielt ὃ. „Auf allen nemlich, welche prophezeiten, (zu dieſen
rechnet O. hier απὸ bie SeptuagintasUleberjeger) rubte der
fl. Geijt, aber auf feinem jo wie auf bem Erlöfer; auf biejem
1) de princ. II, 6, 4. vgl. c. Cels. VI, 48.
2) de princ. II, 6, 4.
3) c. Cels. VI, 79.
Drigenes von der Menfchwerdung. 117
ruht ev „ſiebenfach“, b. f. e8 wird ihm deffen ganzes Weſen
zu theil, auf ihn fommt er nicht bloß herab, fondern wegen
feiner Süntelofigfeit „bleibt“ ev auf ihm (nach 305. 1, 38) ?).
Andere logiſche Wefen empfangen einige Strahlen ber gött:
fihen Gforie, ber Menfchenjohn empfängt den ganzen Glanz
ber göttlichen Herrlichkeit 7) und wird ganz des Geiftes
Gotted voll, wie er aud) allein mit jeiner Faſſungskraft
ihn erfaffen fonnte 5).
Recapituliren wir kurz den Grundgedanken ber vor:
ftehend behandelten Stellen, jo ijt zu jagen: bie phyſiſche
Union zwischen dem Logos und ber menschlichen Seele Jeſu,
zu ber es in ber Zeit kommen off, ijt eine von Anfang on
und in einem allmäligen Werben mehr und mehr ange:
Dante und vermittelte durch bie vollfommenfte ethifche Eini—
gung jener menfchlichen Secle mit dem Logos. Che dieſer
mit jener vollfonmen ein wird, Dat er jie zuvor fehon an
fif gezogen und in fid) aufgenommen, ja hat, wie Dorner *)
nicht mit Unrecht bemerkt, nach einigen Stellen ben Aft ver
Menſchwerdung, was bie Seele betrifft, ſchon vorher
anticipirt.
$. 5.
b) Natur und Weſen ber Einigung be8 20908 mit einer menfchlichen
Seele.
Durch eihifche Einigung ijt allmälig die phyfifche Eini-
gung awijden bem $0908 unb feiner menfchlichen Seele
angebahnt und fchlieglich vollzogen worden. In einer be:
1) in Num. hom. VI, 3. und fajt ebenjo in Jesaiam hom. III,
l. 2. 8.
2) in Joh. XXXII, 18.
8) it Luc. hom. XXIX.
4) a. a. Ὁ. S. 685.
118 xnittel,
rühmten, ſpäter bei faſt allen Theologen immer wiederkehren—
den Analogie hat O. dieſen Uebergaug vom ethiſchen zum
phyſiſchen Einswerden dargeſtellt. „Das Eiſen iſt ein für
Wärme und Kälte empfängliches Metall. Wenn nun eine
Eiſenmaſſe ftet3 im Feuer liegt, in alle Poren, in alle
Adern ba? Feuer aufnimmt: jo ganz Teuer wird, indem
weder das Teuer in ihr erlischt, noch dag Eifen von Feuer
getrennt wird, werden wir wohl jagen, biele im Teuer
liegende und ſtets glühende Eifenmafje koͤnne je Kälte auf:
nehmen ὁ Im Gegentheil wird fie, wie wir uns an ben
Defen überzeugen können, ganz Feuer, jeferi man nichts
als Feuer an ihr fieht, auch wird bie Berührung deſſelben
nicht das Gefühl vom Eifen fondern vom Feuer geben. Auf
gleiche Weiſe ijt jene Ceele; bie wie dad Eifen im Teuer,
in der Weizheit, im Worte, in Gott liegt, mit allem ihrem
Senfen, Fühlen und Thun Gott; daher kann man aud
nicht jagen, fie [εἰ wandelbar, δὰ fic bie Unmwandelbarkeit
mit bem euer ihrer ummmterbrochenen Einheit mit tent
Logos beſitzt“ 1), Einige Wärme, fo wird dann die Analogie
weiter geführt, haben aud) die Heiligen von Gott, aber eben
durch ben Logos empfangen: weſenhaft (substantialiter)
wohnt dag göttliche Feuer nur auf jener Seele, die Heiligen
„giengen im Geruch ihrer Salben”, Gbriftu8 ift dag Sal:
bengefäß ſelbſt 5. Sp unzertrennlich ijt bie Gottheit mit
diefer menfchlichen Seele verbunden wie ein Sthatten, ber
immer feinem Körper folgt: „hat ja der. Prophet Seremia?
wohl von der göttlichen Weisheit gejchrieben: der Geift
unjere® Angefichte®, der Gefalbte, der Herr, in deſſen
—— —
1) de princ. Il, 6, 6.
2) 1. c.
Drigenes von ber Menfchwerdung. 119
€datten wir zu wohnen gedachten unter den Völkern.”
„Es wollte, meine ich, der Prophet unter dem Schatten,
unter bem wir leben follten, die Seele Ehrifti darftellen,
beren fämmtliche Bewegungen fid) cben]o unveränderlich nad)
ihm richten, als fie ſelbſt ungertvenntid) mit ihm verbunden
it^. Ebenfo deutet DO. aud) bie Ausdrücke: Verwandlung
bed Gejalbten (Pſ. 88, 52), Euer Leben ijt mit Chriſto
in Gott verborgen (Kol. 3, 3), „Leichatten” (Luc. 1, 35)
und „Echatten” (Hebr. 8, 55; ob 8, 9) — al$ möglicher:
weife anf bajjelbe Geheimniß der Verbindung des Logos
mit jeiner menjchlichen Scele fid) beziehen. Daß tiefe, [ὁ
ungertvennlich unb innig mit bem Logos geeinigte Seele, die
ſchon vorher nic gefündigt, nun, obgleich frei bleibend, ber
Sünde durchaus unfähig wird, ijt cine felbftverftändfiche
Goujequena aus dem Vorhergehenden, der O. ohnedies
jelbev auch wiederholt und in den ftärkiten Ausdrücken
SeugniB gegeben 1).
So ijt denn die Ginigiug, welche zwiſchen göttlicher
wb menjchlicher Natur in ber Berfon be Logos eutjtebt,
eine wejenhafte, innere und phyſiſche und wicht bloß
ein äußeres Nebeneinanberfein (im Siun des Stejtoriu2) —
nicht aber jo, daß dadurch bie Zweiheit δὲν Naturen im
Sinne beg Drigened aufgehoben wäre Obwohl dag Cubjett
immer Eines und bajjelbe ijt, jo unterfcheidet bod) D. immer
genau, wo von benjelben nach jeiner göttlichen, und wo
von ihn nad) feiner menjchlichen Seite bie Rede ijt, wo er
von fid) jagt: „ich bin der Weg, die Wahrheit und dag
Reben”, und wo er jenes Wort gebraucht: „Nun aber fuchet
1) de princ. II, 6, 3. 4. 5. IV, 31. c. Cels. IV, 15. inJoh. XX,
17. in ep. ad Rom. hom. 11], 8; 11, 12.
120 fnittel,
Ihr mich zu tödten, einen Menſchen 1). Entſchieden ſpricht
er ſich als gegen eine häretiſche Ausſchreitung, „wenn man
Chriſti Menſchheit aufhebt und unr ſeine Gottheit annimmt“,
wie gegen ben umgekehrten Irrthum αὐ] 9), und des Celſus
Borwurf, eine Bloß fcheinbare Menfchwerbung [εἰ eine Got:
tes ummwürbige Täuſchung, trifft „uns“ b. f. bie Firchliche
Lehre nicht 5). Chriſtus felber unterfcheidet zwifchen feiner
göttlichen und menſchlichen Natur, indem er dad cinemal
ben Phartfäern jagt: „Ihr kennet weder mich, noch meinen
Bater” (ob. 8, 10) und das anderemal gerade umgekehrt:
„Ihr fennet mich unb wijfet, von wannen ich bin (Sob. 7,
284%. Wohl hat ber Prophet Jeremia (15, 10) Gbrijtum
prophetifch einjten8 fprechen laffen: „Wehe mir Mutter,
daß tu mich geboren, einen Mann“ (fo aud) Micha 7, 1.2.
und Pi. 29, 10): allerdings fpricht jo Chriſtus, aber „nicht
als Gott, ſondern als Menſch“, weil nur die menfchliche
Scele, nidyt der göttliche Logos betrübt und traurig ijt 5).
Man darf nicht glauben, baB in jener menfchlichen Seele
mit bem Akt ihrer Einswerdung mit dein Logos eine Weſens⸗
änderung vor fid) gehe: weder den annehmenden Logos,
nod) die angenommene Seele trifft eine ſolche 9). Diele,
1) c. Cels. 11, 25.
2) in Joh. X, 4.
9) c. Cels. IV, 19. Semnad) bat Böhringer (a. a. Ὁ. ©. 111
und 277) offenbar Unrecht, bem Origenes ohne,alle Einſchränkung „An:
ftreifen an ben Doketismus“ vorzumwerfen mit Berufung auf c. Cels. IV, 15
„der Logos werde gleichfam Fleiſch“ (οἱονεὶ σὼρξ γίνεται). Schon Thomafiuz
(a. a. Ὁ. ©. 300) hat mit Recht darauf hingewiefen, daß bier „gar nicht
von ber menjdliden Natur, fondern von ber Offenbarungsweiſe beg
göttlichen Logos bie Rebe ifi^.
4) in Joh. XIX, 1.
δ) in Jerem. hom. XIV, 6.
6) c. Cels. IV, 18.
Drigened von ber Menfchwerbung. 121
obgleich durchaus ſündelos (fj. oben) und der Sünde un-
fähig Ὁ) bleibt frei, infofern als bie Freiheit bei ihr burd)
bie Liebe gebunden b. ἢ. vollendet worden ijt 9). — Sa nach
ausdrücklichem Schriftzeugnig , (Ruf. 2, 52) ijt fie aud in
ihrer Bereinigung einer allmäligen Entwidlung fähig ge
wefen 5), jo jebod), daß nach des O. Anficht, diefe fchon im
zwölften Sabre eine weit vorgejchrittene war, (er war mit
Weisheit erfüllt) und ταὐ bie denkbar höchite Vollkommen⸗
heit erveicht hatte %. Jedenfalls war ev auch zeitlich über
bie Gejebe ber menjchlichen Entwicklung herausgehoben, denn
ion 40 Tage nach feiner Geburt muß er mit Weisheit
erfüllt geweſen fein 9). So ausdrücklich O. aber ben Unter:
ſchied zwiſchen göttlicher und wmenjchlicher Natur betont,
trennen (χωρέζειν) [9 man beide nicht %). Das macht
ja gerade das eigenthümliche Wefen ber Menfchwerbung aus,
daß in Folge derjelben „nicht mehr zwei, fondern Eins
it^ ἢ. Wenn (don: wer dem Heren anhängt, Giu8 mit
ihm wird (1. ffov. 6, 17), um wie viel göttlicher unb größer
it Eins, was mit bem Logos zuſammengeſetzt (σύνϑετον)
wirrde 2" 8) Diefe und bann die Stelle Gen. 2, 24 über
bic Verbindung von Mann und Weib werben hauptfächlich
von DO. benüßt, um aus der Echrift die Möglichkeit zu be:
weifen, „daß zwei Naturen doch in Wahrheit als Eins ges
dacht werben und Einz fein können” (δύο τῇ ἑαυτῶν φύσει
1) c. Cels, IV, 15.
2 in ep. ad Rom. V, 10.
8) it Matth. XIII, 26. in Luc. hom. XIX.
4) in Matth. XIII, 26.
5) in Luc. hom. XVII.
6) c. Cels. II, 9.
7) de princ. II, 6, 3.
8) c. Cels. II, 9.
132 Knittel,
τυγχάνοντα εἰς ἕν αλλύλοις εἶναι Aeloyıousva καὶ ὄντα) !).
(8 ijt afjo keineswegs etwas [o Wunderbare um biefe von
und behauptete innigfte Einigung (τῇ ἄκρᾳ μετοχῇ) te?
$0908 mit der Seele, die niemald mehr getrennt werben
kann 5), „und jo ijt e8: es find nicht zwei, bie Seele Jeſu
und der Erftgeborne aller Kreatur” ὅδ. Zu biejer Beſtim—
mung ber abjoluten Untrennbarkeit und Einheit beider 9ta-
turen kommen wir mittelft eines Schluſſes a minori ad
majus (αναβεβηκότας nad) bem von de la Rue vorgezo-
genen Serie), nämlich der von von jener moralischen Eins—
werbung ber Vollfommenen mit bem Logos 9. Diefe Gr-
füllung der Gläubigen mit den Geift Gottes 9), z. B. eine
Apostel Paulus 9), ober aud) bie Geiftegausftattung der
Propheten, die ja eine Ähnliche Sendung wie Gbrijtu$ Bat:
ten 7), bieten wohl Analogien für die Weſenstheilnahme des
Logos mit feiner angenommenen Seele: aber felbjt abgejehen
davon, daß Origenes bieje Koinonie aller vernünftigen Ge-
ſchöpfe am Logos 5), insbeſondere ber frommen und beilis
gen ?), felbft als eine reale fapt, verfäumte er in all ben
angeführten Stellen fait mie, auzdrüdlich auf das Unan—
aemeffene all jener Analogien binzumeifen und die unlögliche
1) c. Cels. VI, 47.
2) l. e. ebenjo auch ibid. VIL, 17.
3) c. Cels. VI, 47.
4) c. Cels. VI, 48.
5) c. Cels. VI, 47. 48.
6) c. Cels. II, 9.
7) c. Cels. IV, 3. 4.
8) c. Cels. IV, 89; de princ. 1V, 32.
9) c. Cels. IV, 5. Ὁ. nimmt aud) umgefebrt eine phyſiſche Theil:
nahme ber Böſen am Satandgeift au 3. 8. in Num. hom. VI, 3. in
Exod. hom. VIII, 6.
[d
Drigened von ber Menfchwerbung. 123
Schwierigkeit be8 Gcheimniffes der Menfchwerdung zu be:
tonen 3).
Der Ausdrücke, welcher fih Ὁ. bedient, um die Art
biefer umbegreiflichen Einheit zu bezeichnen, find e8 ver:
Schiedene. Nachdem der Logos „in eine menfchliche Seele
und einen fterblichen Leib Fam” 9), „fich mit einer menſch—
lichen Seele und einem menfchlichen Leib vereinigte” (οὐ-
χειοῦσϑαι, ἡνῶσϑαι ?), ift ev „zuſammengeſetzt“ (σύνϑε-
zog) *), „ein zuſammengeſetztes Weſen“ (σύνϑετον χρῆμα >).
Um aber jedes (Neftortanifirende) Mißverſtändniß abzu:
weijen, bedient er fich anderwärtd aud) ded Ausdrucks: „ver:
mifcht” (ἀνακεκραμμένον): „ver Menjch, fagt er, am Gobne
Gottes habe jid) mit der Gottheit vermischt” 8), Er fucht
glücklich zwifchen beiden Grtremen , jo weit dies iiberhaupt
möglich (t, Hindurchzuftreifen, wenn er fagt: „Wir jagen,
bag fein ſterblicher Leib und feine menfchliche Seele mit
jenem (dem Legos) nicht allein durch Theilnahme (xowwwig)
jondern auch durch Einigung und Mifchung (dvwası καὶ
ἀναχράσει) das Höchſte hinzuempfangen unb mit ber Gottheit
des Logos vereinigt in Gott übergegangen jei^ (τῆς &xeivov
ϑεότητος κεχοινωνηκότα εἰς Θεὸν μεταβεβηκέναι) 1). So
it der Zweck der Menſchwerdung erreicht: „daB aus zweien
Eind werden und der Mensch fid) mit der Gottheit und
9tatur be8 Eingebornen Gottes vereinigen jolie" (ut fierent
1) vgl. de princ. II, 6, 2.
2) 3. Ὁ. c. Cels. IIl, 29; VII, 17.
3) 3.8. c. Cels. V, 39. in Joh. XXXII, 18.
4) c. Cels. I, 66. 11, 9. 24. 31.
5) c. Cels. I, 66.
6) in Joh. I, 37.
7) c. Cels. III, 41.
124 Knittel,
utraque unum et consociaretur homo ... divinitati
ejus et naturae unigeniti Dei) !): Chriſtus ijt „Gott:
Menſch“ 3), „Einer in zwei Naturen” 5).
Sp macht denn auch Ὁ. in ber That ſchon von ber
ipäter jeg. communicatio idiomatum 4) Gebrauch, deren
Berechtigung ev auch theoretifch zuerft ausfprach: „Daher
wird fie (die menſchliche Seele Jeſu) mit Necht auch, [εἰ e8
darum weil fie ganz in bem Gottesfohn webte (quod tota
esset in Filio Dei), ober weil fie ihn ganz in ji) απ
nahm, nebft dem angenommenen Seclenleibe Sohn Gottez,
Gotteskraft, Chriftuß und Gottes Weisheit genannt; und
wiederum umgefehrt heißt der Sohn Gottes, burd) ben
Alles geichaffen ift, Jeſus Ehriftus und dei Menſchen Sohn.
Aber auch gejtorben [0 der Sohn Gottes fein, wenigſtens
bem Theile feiner Natur nach, welcher für ben Tod empfäng-
lid) ift. Er beißt ferner ber Menfchenfohn, ber in ber
Herrlichkeit be8 Vaters woieberfommen fol mit feinen heiligen
Engeln. Auf diefe Reife wird in ber Schrift jo bie göttliche
Natur mit menjchlihen Namen belegt, a(2 die menjchliche
mit göttlichen ausgezeichnet” 9). Und ebenſo wie andere
Väter macht er unbebenklichen Gebrauch von dieſer commu-
nicatio idiomatum 3.8. „der große Gott wird leiden und
fterben” 9), „die Juden bewachten dad Grab, „damit nie-
mand den Logos nach ihrer Nachitellung lebend erblicen
1) in Ezech. hom. I, 10.
2) in Ezech. hom. III, 8.
3) de princ. II, 6, 2. f. oben.
4) Freilich, wie Schniger (a. a. ©.) ©. 121 A. mit Recht fagt,
nicht im Sinne ber — Eutychianifirenden! — Eoncorbienformel.
5) de prine. II, 6, 3. vgl. in Joh. I, 80.
6) c. Cels. VII, 17.
Drigened von ber Menſchwerdung. 125
fóune^ 1), „der Unfterbliche ftirbt, ber Leivenzunfähige leidet,
ber Unfichtbare läßt ἢ ſehen“ Yun. f. f. n. ſ. f. ὃ).
δ. 6.
c) Der menſchliche Leib Sefu in feinem S8erbültnig zur Seele und zur
göttlichen Natur des Logos.
Zum vollen Begriff der Menjchwerdung gehört dem Ὁ.
im außgefprochenen Gegenjag gegen den bofetifchen Irr—
thum 4) auch bie, daß ber Qogo8 „die wahre Natur be2
menschlichen Fleiſches 5) b. b. einen menjchlichen Leib an:
nahm“. „Die Seele elu beim Bater in ihrer Vollkom—
menbheit wohnen war in Gott unb in feiner Fülle: von
dort ausgehend, weil vom Vater geſchickt, nahm fie den
Leib an aus Maria” 9), weßwegen aud) Chriſtus fagen
fonnte: „Nun aber juchet ihr mich zu tübten, einen Men:
iden^ *). Sp durch die Vermittlung ber menſchlichen Ecele
fonnte jid) ber Logos mit einem materiellen Leibe einigen.
Gerade „indem bie8 Seelenweſen die Vermittlung abgibt
zwifchen Gott und bem Fleiſche (denn bag Gott fi unmit—⸗
1) c. Cels. V, 58.
2) in Levit. hom. III, 1. Diefe Stelle ift von Dormer (a. a. Ὁ.)
I, 676 vollftändig mißverftanden unb zu Gunjten. einer fenofe der gótt:
hen Natur in ber Menfchwerdung ausgelegt worden, bie fid nun
einmal bei Origened nicht nachweiſen läßt (j. oben).
3) Sofrates (H. E. VII, 32) fagt, im erften Buch des Eommen:
tar zum Mömerbrief erörtere Ὁ. aud) ähnlich ben Namen ϑεοτόκος,
indeß in ber freilich jebr freien lleberfegung des Wufin, bie wir nod)
befigen, ift hierüber nicht? zu finden.
4) c. Cels. IV, 15. 19. in Luc. hom. XIV.
5) in Matth. comm. Ser. n. 33.
6) in Joh. XX, 17.
7) c. Cels. I, 66.
126 Knittel,
telbar mit dem Fleiſche verbinde, iſt unmöglich), entſteht
ber Gottmenſch. Jener vermittelnden Seele war es ganz
naturgemäß, ſich mit ciuem Körper zu verbinden. Aber
auch die Aufnahme der Gottheit war ihrer Natur als eine?
vernünftigen Weſens nicht entgegen, in welche evftere fie fid)
ſchon ganz verloren hatte” 1. So konnte aljo der Logos
einen Leib annehmen, „der in feiner Meife von der Ber
ichaffenheit de menfchlichen Fleiſches abwid)" *), Leivenzfähig,
mit den finnlichen Bedürfniſſen be8 Leibes 8), ber wirflic)
leiden wollte und gelitten bat %. Der Stoff dieſes Leibes
ijt mie bei allen andern menjchlichen Xeibern bie forme und
geſtaltloſe ), aber unendlich bejtimmbare Hyle 9).
Aber dad cwige Geje der Gerechtigkeit, auf welches
die Einrichtung diefer Welt im allgemeinen wie Bejondern
und Einzelnen bafirt ijt, verlangt auch, daß bie Beichaffen:
heit dieſes Leibes eine dem Stand der Seele entiprechende,
alfo fid) vor allen übrigen Seibern, die nur fündige Seelen
beherbergen, unterjcheidende jei. Gerade wegen ber Heiligkeit
der Seele Jeſu Chrifti, durch die fie. fid) vor allen andern
Seelen auzzeichnete, hatte auch der Leib Chrifti etwas „Eigen
thümliches“ (παράδοξον): nad) ber cinen Seite hatte er
etwas Gemeinfames mit den Menfchen, damit er im Stande
wäre, unter ihnen zu verweilen, nach der andern etwas Be—
ſonderes, damit die Seele ohne Berührung mit der Sünde
bleiben könnte "). So cmpfieng er aljo einen „befjern“ Xeib
1) de princ. II, 6, 3.
2) c. Cels. II, 28.
3) c. Cels. I, 70. —
4) c. Cels. II, 23; VII, 58.
5) vgl. de orat. 27.
6) c. Cels. 11,341.
7) c. Cels. I, 88.
Drigened von ber Menſchwerdung. 127
als alle Menfchen 1) nicht nur wegen der frühern Heiligkeit
feiner Seele, jondern auch, damit nicht bieje ſelbſt wie bie
andern Scelen durch die Berührung mit dem. Leib Deffedft
werde. Dieſe „Befleckung“ tritt für jede andere Seele ion
„un Bater und in ber Mutter“ in ber Empfängniß felbft
ein 9), gerade dadurch bap der einzelne Menfch in ben Mutter:
ſchoß gelegt ijt. und den Stoff feines Körpers vom väterlichen
Samen empfängt ?). Chriſtus mußte afjo einen üt gemiffer
Beziehung andern Leib annehmen als der gemeinmenfchliche
it und die Meinung derjenigen, „welche einen folchen Leib,
wie wir ihn befigen, bem Erlöjer beilegen”, ijt falſch 4).
Wie konnte Gbrijtu$ aber einen andern Leib annehmen?
An fi „konnte cr auch einen ätheriſchen Leib annehmen,
ber im Äther und an höhern Orten als dem Äther fid) be-
wegen fonnte und nicht? hatte von ben fleifchlichen Echwächen
und was (δεῖ δ unrein nennt” ὅ). Allein in That und Wahr:
heit wollte cv geboren werben nach ben prophetischen Worten:
„wie ein Wurm“ b. h. ohne Seugung 9), und ward deßwegen
aus Maria „ver Jungfrau” geboren, nachdem er ihren jung:
fräufichen alfo „unbefleckten Körper betreten hatte” 7), Durch
bie Annahme des menschlichen Fleiſches felber aber, ba8 nicht
an fich unrein ijt, ward er jo wenig befleckt, als dev Arzt
ed wird, wenn ev dem Kranken heilend nahe tritt 8). Ver—
— cr.
1) c. Cels. I, 32.
2) in Levit. hom. XII, 4.
3) 1. c.
4) in Luc. hom. XVII.
5) c. Cels. III, 42.
6) in Luc. hom. XIV.
7) in Levit. hom. XII, 4.
8' c. Cels. IV, 15. Darnach erledigen fid) wohl bie Stellen in
Levit. hom. IX, 5, wo er eine gewiſſe Verunreinigung be8 90908 „ba:
128 Knittel,
möge feiner jungfräulichen Geburt aljo war Jeſn Leib durch:
au rein. Denn die Annahıne, daß Joſeph der Vater Jeſu
gewefen, war nur eine Täufchung ber Juben !), und es ijt
gar nicht? anderes als bögwillige „Rüge“ und Verleumdung,
nüf den Juden unb Celſus von einer auperebfiden Em:
pfüngniB Jeſu zu Sprechen 5). Dies erweist fchon das Df.
Leben Jeſu als unmöglich, weil bei einem in .ſo chändficher
Weiſe Empfangenen undenkbar 9). Auch ward die Geburt
aus einer Jungfrau von den Propheten vorher gejagt *),
und am allerwenigiten haben bie Heiden, die ja ähnliche
wiewohl erbichtete Dinge von ihren Göttern glauben, einen
Grund an der Möglichkeit diefer Empfängniß zu zweifeln,
in ber Gottes Allmacht nur wiederholt, was fie am erften
Menfchen gethan und wofür bie generatio aequivoca
mancher Thiere Analogien bietet 5). Gewiß war bieje reine
Empfängniß und Geburt demjenigen angemeffen, ber ber
Welt jo große Wohlthaten erweifen und ber, wie ev rein
geblieben, aud) rein bleiben ſollte δ). Wie fo bie Erzeugung
dieſes Leibes ſündlos geweſen, jo blich derſelbe auch zeitlebeng
„rein“ 7), ſchon in Folge feiner durch bie Seele vermittelten
burdj baß er Unreines berührt“ unb in Luc. hom. XIV, wonach Jeſus
von einer „Madel” (sordes) am 40. Tage gereinigt wird, — babin,
bag D., wie er ja augbrüdlid) zwifchen sordes unb peccatum unter:
ſcheidet, bieje Befledung in einem phyſiſchen und nicht moralifchen Sinn
nimmt, entjprechend feine Anfchauung von ber Materie, bie zwar nicht
an fid Sünde, aber um ber Sünde willen erft geworden ift.
1) in Matth. X, 17.
2) c. Cels. I, 82.
8) l. c.
4) c. Cels. I, 84. 85. A
5) c. Cels. I, 37.
6) ll. cc. δεῖ. c. Cels. I, 82. 88; II, 69.
7) c. Cels. I, 69.
Drigenes von ber Menfchwerbung. 129
Bereinigung mit dem Logos !) 9febnlid) nemlich, wie ber
20908 bie Seele mehr und mehr an fid) heranzog und mit
ἢ einigte, jo wurde durch bieje mit bem $0908 ein? ge:
worbene Seele aud) ber Leib verklärt und „vergottet” (dei
ficavit quam susceperat humanum naturam) *), Xeib
und Seele „haben das Höchite erlangt”: „durch Theilnahme
an ber Gottheit in dieſe verwandelt zu werben“ 9), Zu
einer ſolchen Verklärung bietet ſchon bie Beſchaffenheit ber
Materie, bie alle Geftalten annehmen Tann, die Möglich:
feit 4): „was wunder, bap bie Bejchaffenheit des fterblichen
Leibes Jeſu durch bie Kürforge Gottes fid in eine ätheriſche
und göttliche Beichaffenheit verwandelte” δ), Sein Leib war
zwar faft immer fichtbar, „hatte eine Geftalt, nach ber alle
ihn erblickten“ 9), und zwar war dieſe „mißgeftaltet” (dvg-
ade‘), wenn aud) nicht „unedel“ ober „Llein“ wie (δε
behauptet hatte”). Aber nad) einer „Überlieferung“ hatte
Jeſus aud) eine andere Geftalt, „nach ber er jebem fich zeigte,
in bem Maße αἵδ᾽ er beffen würdig war” 9). „EZ Bat alfo
ber Logos verſchiedene Geftalten, jowie es jedem angemefjen
ift^ 9): für bie einen hat er „weder Geftalt noch Schöne”,
für bie andern (bie welche ihn al8 Gott erfennen) iit er
„Ion von Geftalt” 19). Anders erfchien er der SDtenge",
I) c. Cels. IV, 15.
2) in Matth. Comm. Ser. n. 88.
8) c. Cels. III, 41.
4) c. Cels. III, 41; VI, 77.
5) c. Cels. III, 41.
6) in Matth. Comm. Ser. n. 100.
7) c. Cels. VI, 76.
8) in Matth. Comm. Ser. n. 100.
9) Fragm. in Luc. Bei Migne T. III. Sp. 1908.
10) 1. c.
Weol. Quartalfchrift. 1872. I. Heft. 9
130 Knittel,
anders denen „die ihm folgten“, jenen wie Jeſaia von ihm
prophezeit (Jeſ. 53, 1—3), dieſen „jo glänzend und wunber-
bar, daß bie Augenzeugen feiner Schöne auf ihr Angeficht
fielen” 2). „Nicht auf gleiche Weife, fondern nad) der Fähig-
feit der ihn Schauenden gibt fid) der Heiland zu erfennen” 3).
Wie die Jünger dadurch daß ber Herr ihnen bie Parabeln,
bie er dem Volke vortrug, auslegte, beſſer αἴϑ bie andern
daran waren, jo auch durch bie Art und Weiſe wie fie ihn
erblickten 5). Tub. auch ſelbſt den Apoſteln erfchien er nicht
immer in gleicher Weife, weil fie feinen Anblic ohne Unter:
laß nicht Hätten ertragen können €). Selbſt die Juden
fannten dieſen Geftaltenwechjel des Heiland wohl ?) und
baB er auch [don vor feinem Leiden nicht immer fichtbar
war 9), darum mußte ihn Judas füffen ala Erfennungszeichen
und auch Jeſus Spielt auf jene Gigenidjaft an in den Worten:
„Täglich war ich bei Euch im Tempel und Ihr habt Euch
meiner nicht bemächtigt“ "). Celſus hat daher fehr Unrecht,
die Auferſtehung zu beanftanden, weil er nach derſelben, wie er
auch nicht anders Konnte, nur mehr feinen Jüngern fichtbar
wurde und auch diefen nur allmälig und barn und warın
fich zeigte 3). Schon vorher zwar ὁ. B. auf bem Berge ber
Verklärung, war auf Zeiten bie verflärte Schönheit feines
Körper? burchgebrochen 5), aber bie eigentliche Verklärung
1) c. Cels. VI, 77.
2) c. Cels. II, 64.
8) l. c.
4) c. Cels. II, 65.
5) c. Cels. II, 64.
6) c. Cels. II, 66.
7) c. Cels. IV, 64.
8) c. Cels.? Il, 65.
9) 1]. ce. und in Matth. XII, 36—40, wo inbeB, wie an anbern
Origenes von ber Dienfchwerbung. 131
trat erjt mit der Auferftehung ein, denn da war fein Körper
„in ber Mitte etwa zwilchen bem dichten Körper vor feinem
Leiden und demjenigen, in welchem bie nadte Seele erc
jcheint” 1. Denn „ed mußte auch Chrüti Körper verklärt
werben, damit er in allem erhöht voorben ijt" 3). Er zuerft
it auch mit dem Fleifche in den Himmel geftiegen 5) unb
durch alle Himmel gegangen *) und ἐδ wird fchließlich
„Shriftug nicht? anderes mehr. fein als der θοροῦ, jondern
berjelbe wie er” (τὸ μηκέτι ἕτερον αὐτὸν εἶναι τοῦ Aoyov,
ἀλλὰ τὸν αὐτὸν αὐτῷ) 9) „Denn wenn der, welcher bem
Herrn anhängt Ein Geift mit ihm ijt, wie jollte màn nicht
auch über diefen Geijt nicht mehr jagen können: fie find
zwei, und voie jollten wir nicht vielmehr jagen, daß das
Menjchlihe an Jeſu mit dem Logos Gin8 geworben jei,
indem derjenige, ber ἐδ für feinen Raub hielt, Gott gleich
zu jein, erhoben wurde, dagegen ber $0908 auf feiner Höhe
blieb ober vielmehr in biejelbe zurücverjegt wurde, ba er
bei Gott war — ſo Gott = Logos ſeiend und Meunſch“ 9).
Danach bleibt alſo troß aller innigen Verjchlingung von
Gottheit unb Menſchheit bod) bie beiberjeitige Natur beitehen,
und man kann nun wohl aud) bie beiden fchroffften Stellen:
„wenn er (ber $0902) Menjcd war, fo ijt er jedenfall jebt
ähnlichen Stellen bie allegorifche Beziehung auf folche nebenher geht, welche
im Glauben feine Gottheit ſchauen.
1) c. Cels. II, 62. Der Tert der Stelle ift etwas corrupt. Zum
Verſtändniß ber Stelle vgl. die Lehre des O. von ber 3Befdjaffenbeit des
Auferfiehungsleibes bei Thomaſius a. a. Ὁ. ©. 255 δεῖ.
2) in Matth. Comm. Ser. n. 50.
3) Fragm. in Ps. 15.
4) de princ. II, 11, 6.
5) in Joh. XXX, 11, 17.
6) 1. c. A
0 *
132 Rnittel,
nicht mehr Menſch“ 1) und „Chriftus war damals Menſch,
hat aber jet aufgehört Menjch zu fein” 3), wie namentlich
bei Ießterer Stelle auch der Sufammenbang mabefegt, in
bem Sinne auslegen, daß man O. fagen läßt, Chriſtus Hat
aufgehört gebrechlicher und fterbliher Menjch zu fein, wie
er e8 während jeine® Erdenwandels war.
Jedenfalls hat Chriſtus auch noch jet nad) Ὁ. εἴπει
verflärten Leib, der wenn auch nicht wie bie Gottheit mit
ber Gabe ber Ubiquität verfehen 9), doch über bie Schranken
be8 Raumes in gemijjer Weile erhaben und nicht „an einen
beſtimmten Ort gebunden zu benfen ij^ 9. Auch erklärt
er ausdrücklich, er (δῆς nicht oom Logos ben Menjchen, bet
einen Körper empfangen hat, weil jeder Geijt, der Sejum
zerreißt, nicht aus Gott ijt (I. Joh. 4, 3) 5): aber jchließlich
muß er nad) den Conjequenzen ſeines Syſtems doch aud
ein allmäliges vollkommnes Verſchwinden des Leibes Jeſu
gelehrt haben, nicht bloß deßwegen, weil er ſein Wiederkommen
zum Gericht immer rein geiſtig beſchreibt *), ſondern nament⸗
lich deßwegen, ‚weil er ja fchließlich alles Eriftirende in ben
rein geiftigen Urftand zurückkehrend benft 17). SDiveft hierüber
hat fid) O. nicht ausgeſprochen: wir ftehen Bier eben an einem
SBunfte, wo er wohl abfichtlich mit einer Entſcheidung zurück⸗
hielt, die bloß Anftoß gegeben hätte und bei ber er vielleicht felber
feinen fichern Ausgleich zwifchen feinem Glaubensſtandpunkte
und feinen wifjenjchaftlichen Grundüberzeugungen wußte.
1) in Jerem. hom. XV, 6.
2) in Luc. hom. XXIX. VBgl. de la Rue 2. ὃ. Gt.
8) in Matth. Comm. Ser. n. 65.
4) de princ. II, 11, 6.
b) in Matth. Comm. Ser. n. 65.
6) in Matth. Comm. Ser. n. 50. 70.
7) de princ. III, 6, 1. nadj ber Ueberfegung be. Hieronymus.
Drigened von ber Menfchwerbung. 133
S. 7.
Benriheilung der Cbriftologie des Origenes.
Die Chriftologie be8 O. ijt ohne Zweifel ein überaus
geiftonller und geiftreicher Verſuch, dad unergründfichite aller
chriſtlichen Geheimniffe einigermaßen wenigitenà bem benfen-
ben Begreifen ded Chriften näher zu bringen. Eine Reihe
von Gedanken be8 SO. haben geradezu einen für bie Theologie
aller Zeiten bleibenden Werth, und unfere Hochachtung vor
der wifjenichaftlichen Tüchtigfeit des großen Alexandriners
wird nur gejteigert, wenn wir und erinnern, daß er in ber
wiffenfchaftlihen Grfaffung und Erklärung dieſes Problems
zuerft bie Bahn brach und dies in einer fo überaus ſcharf⸗
finnigen, im Ganzen correcten, der folgenden Speculation
für immer die Wege anbeutenben und eröffnenden Weife.
fBejonber2 in drei Punkten müfjen wir ba8 überrajchende
geijtige Verſtaäͤndniß be8 O. anerkennen.
1) Gr war e2, ber zuerjt mit aller Schärfe auf bie
Natur be8 Geiſtes hinwies, der in die Mitte geftellt
zwifchen den Logos und die materielle Welt, jenem
ähnlich von Natur, diefer angeme[jen von Gott gejchaffen,
dad natürliche Bind- und Vermittlungsglied zwiſchen bem
Leib und der Gottheit abgab. Daß diefer Gebaufe beſonders
dogmenhiſtoriſch fruchtbar jid) erwieſen, geht jchon aus ber
dem $O. verbanften Unterwerfung be8 Beryll von Bogra !)
hervor, ift auch in alter Zeit 5) Schon anerkannt worden.
Jedenfalls hat SO. bie Klippe be8 Apollinarismus vermieden
unb ijt bem firchlichen Gebanfen von ber Annahme ber
1) Vgl. Hefele, Conciliengeſchichte I, 88.
2) ®gl. Eusebius, H. E. VI, 88. Socrates H. E. III, 7.
134 — Knittel,
vollen Meenfchheit fetten? be8 Logos vollfommen gerecht
geworden.
2) Noch idjmieriger als bie Qebre von ben zwei Naturen
des Logos ift die Frage nach ber SOenfbarfeit von deren
Vereinigung , bez. die Erklärung über dag Wie biejer Ver:
einigung. — In diefer Beziehung geftehen wir unjere ab:
weichende Anfchauung von ber gewöhnlichen Anfiht nament«
lich der proteftantifchen Benrtheiler be8 $O. zu. Man bat,
glauben wir, zu fehr bie Confequenzen des Syſtems von DO.
gepreßt, wenn man faſt allgemein behauptet hat, Ὁ. laſſe
jchlieglich bie Menſchheit vollfommen in bie Gottheit beg
Logod untergehen. Es mag fein, daß durch bie philojophi-
iden Grunbgebanfer des D. ein pantheifirender Grundzug
geht, inwiefern er zu wenig den Weſensunterſchied zwiſchen
göttlichen und creatürlichem Geijt betont, aber zum Bewußt-
jein ijt derfelbe gewiß bem DO. niemals gefommen und man
hat am allerwenigften ein Mecht, auf die Suppofition, daß
die menschliche Logosſsſeele und bie göttliche οροῦ - Natur
gleichen Weſens jeien, aus mehrdeutigen Stellen de! O.
heraus die angeführte Behauptung von einer fchließlichen
Eutychianiſchen Abjorption be8 Menfchlichen durch's Göttliche
im Logos zu ſtützen.
Schon der andere nicht minder häufige Vorwurf, O.
bringe e au keiner eigentlich realen und perſonlichen Einigung
beider Naturen des Logos wenigſtens in dieſer Welt, bloß hätte
aufmerkſam machen ſollen, daß der O., dem man auf der
einen Seite Neſtorianismus, auf der andern Eutychianismus
vorwirft, wahrſcheinlich keinen von beiden Vorwürfen verdiene,
ſondern die glückliche kirchliche und rechtgläubige Mitte ein—
halte. In der That glauben wir gezeigt zu haben, daß O
den richtigen Grundgedanken des kirchlichen Glaubens von
Origenes von ber Menſchwerdung. 135
ber Einen Perfon des 20508 al8 bem Sráger ber beiden
Naturen erfaßt und zum Ausdruck gebracht Dat. Und find
auch nicht alle Analogien, bie er für feinen richtigen Ges
banfen aufführt, von gleichem Werth, ſcheinen einige gerabegu
bedenklich zu fein: man wird gewiß dafür nicht den OO,
fondern bie unentwirrbare Schwierigfeit des Problems felber
verantwortlich machen.
3) Auch bie Art und Weife endlich, wie O. bie eigent-
liche Spite des Geheimniffes, bie Wechſelwirkung göttlichen
und menfchlicher Natur in dev Perfon des 90908 zu ers
klaͤren fucht, verräth trog eines febr erflärlichen Schwantens —
bad eben jo aufrichtige wie fcharfiinnige Bemühen be8 O.,
die eigene und eigenthümliche Thätigkeits- und Wirkungs-
weile einer jeben ber beiden Naturen, infoweit nur immer
bie$ butd) bie Subjeftscinheit möglich, zu retten. Daß bier
eine eigentliche Löfung dem O., und nicht bloß ihm, fonvern
vielleicht allen Zeiten unmöglich ijt, wird jedem Kenner
dieſes theologischen locus wohl befannt fein.
Die bem SD. in unferer Frage eigenthümlicyen Schwächen
unb Fehler refultiven fammt und ſonders aus feinen falfchen
pbilofophiichen Prämiffen, bie er vom Philonismus und
Neuplatonismus ber an biele theologische Frage heranbrachte,
und ε ijf nur zu vermindern unb bem firchlichen Geifte
be8 O. hoch anzurechnen, taB er von diefen Vorausſetzungen
aus noch verhaͤltnißmäßig jo wenig Fehler machte und eine
im Ganzen gelungene Löſung zu Stande brachte.
Bon vornherein machte er fi) bie Löjung ber ganzen
Frage unendlich jchwer und fajt unmöglich durch feine Her:
einztehung der Lehre von ber Präcriftenz. Nun, wenn ein:
mal eine von Ewigkeit ber δὶ zur Incarnation eigentlich
für fich felenbe perjönliche Seele angenommen vourbe, ſchien es
186 Knittel,
freifich unbegreiflich, wie dieſe ihre Perjönlichleit verlieren
(wohin?) unb auf einmal ihr centraled Ich in ber Perfon
be$ Logos finden follte. Der Verſuch be8 Ὁ, die phyſiſche
Einigung durch eine bejtändige und immer fid) fteigernbe
εἰς Annäherung vorzubereiten, kann eigentlich bod) bie
Kluft nur etwas überbrüden, zu einer Löfung fommt e8
nicht. Daß diefer Verfuch jelber wieder einen andern 23er-
fteB gegen die Kirchenlehre in fid) fchließt, infofern die Sn-
carnation efma8 vom Menfchen Jeſus Verbiente® unb von
ihm mit bem $0908 Herbeigeführtes wird, wollen wir nur
nebenbei anführen. Nur dies bemerfen wir noch, daß aller:
bing8 von biejer Prämiffe aus O. nothgebrungen auf bie
Klippe be8 Neſtorianismus treiben mußte, und wenn er
blefe vermieb, er nur feinem Glauben zu lieb bie Confequenz
bed Gebanfen8 opferte.
Weniger Gewicht legen wir auf eine andere Schwierig-
fit, nämlich die, welche bem Ὁ. in unferer Frage au jener
eigenthümlichen Anfchanung über den Grund ber Entjtehung
ber Materie, näherhin der Verleiblihung der Menſchen εἰς
wuchs. Hatte er auch ſchon anderwärts ἢ e8 ald möglich
angenommen, daß gewifje Geijter um ber Menfchen und
beren Rettung willen fid) verleiblichten, ohne bie8 durch per-
ſönliche Sünden verfchuldet zu haben, fo war ἐδ wohl aud)
möglich, bap ber Logos αὐ Liebe zu den Menfchen ebenfalls
einen Leib annahm. Freilich cin finnlich grober materieller
" Leib war nicht ber angemefjene für den Logos, und DO. Bat
dies wohl gefühlt unb ber Schwierigkeit einigermaßen durch
jene faft etwas doketiſirende Anſchauung vom Geftaltenmwechjel
Jeſu vorzubeugen gejucht. Aber ber eigentliche wunde Fleck
1) 3. Ὁ. de prince. II, 5, 4.
Drigened von ber Menſchwerdung. 137
lag nicht [0 faft am Anfang ala am Ende. Denn, wie wir
geſehen, dachte ji OD. ba8 Ende dem Anfang völlig gleich
— aljo rein geiltig. Folglich mußte ihn die Gonfequeng deö
Gedanken? zur jchlieglichen Aufhebung ber menfchlichen £eib-
lichkeit treiben; aljo blieb bie Xeiblichkeit des Herrn bod)
etwas Vorübergehendes, nicht nothwendig und immer Blei—
bendes, und behielt infoweit bod) der von ihm jo entjchieden
befämpfte Doketismus recht. Das aber hieß jchließlich nichts
anders, als die Bedeutung der Menjchwerbung überhaupt
leugnen und fie wohl in die Annahme einer menfchlichen
Seele, nicht aber eines menjchlichen Körpers jegen. Für O.,
ber auch ür ber menschlichen Leiblichfeit überhaupt etwas
nicht fein Sollende® und barum Vorübergehendes jab und
bewegen ba8 Weſen de Menfchen nur in feine geiftige
Seite fette, hatte ba πἰ ἐδ beſonders Befremdliches, defto mehr
aber auf bem Gtanbpunft ber Firchlichen Betrachtung, welcher
ber volle Menfch nur das finnlich- vernünftige Geiftwefen
ift: auf diefem Standpunkt ijt burd) die zuleßt angeführte 3Be-
hauptung be8 O. nicht mehr und nicht minder als ber ganze
Begriff der Menſchwerdung gefährdet. Wir fünnen vielleicht,
um feinem der beiden Standpunkte — weder bem unfrigen
noch dem be8 DO. Unrecht zu thun, jagen: Für O. beiteht
ba$ Wefen der Menfchwerbung eben bloß in einer Ge ift-
werbung, aber nur deßhalb, weil ibm aud) δα
Mefen δὲ8 Menſchen bloß deſſen geiftige Natur tit.
Dan hat wohl jer den DO. in alter wie neuer Zeit
zu ftreng beurtheilt. Auf unferm Standpunft und mit ben
uns erhaltenen Zeugnifjen be8 O. felbjt wenigſtens fünnen
wir bie einfchlägigen Säbe, die als Origeniftifche Irrlehren
Im Edikt de Mennas, Sab 3"), und auf ber Synode zu
1) Qefefe a. a. Ὁ. II, 766.
138 Knittel, Origenes von bet. Menſchwerbung.
fonftantinope( a. 543: Sab 8. 9. 10. 12. 1) anathematifirt
wurden, durchaus nicht als wirklich von Origenes gelehrt
gelten laſſen. Auch in neuerer Zeit hat man wie in andern
jo aud) in unferer Frage bejonder? bem DO. Lehren zu:
gefchrieben, bie wohl in ber Confequenz jeiner religions-
philoſophiſchen Vorausſetzungen gelegen, aber eben von bem
Alerandriner auf Grund feiner Anhänglichfeit an ben po-
fitiven Glauben nicht gelehrt worden waren. Die Urfache
fag, wie e8 namentlich bei den protejtantifchen Bearbeitern
ber Dogmengefchichte nicht wohl anders zu erwarten war,
in dem Weberjehen, baB Ὁ. zwar wohl bi8 auf einen ge
wiffen Grab feinen verkehrten philoſophiſchen Vorausfeßungen
Einfluß auf feine religios-kirchlichen Anſchauungen gab, im
Großen und Ganzen aber nicht bloß durch das Bibelmort,
bad ja jeder Deutung fid) fähig zeigt und aud) bem O. ge:
zeigt Dat, fonbern durch den kirchlich überlieferten Glauben
ih im Glauben und in. ber Glaubenswiſſenſchaft gebunden
weiß und gebunden wifjen wollte. So viel läßt jid) zu Guniten
be Ὁ. jagen: mehr aber nicht, man müßte denn mur zu
gewaltfamen Eregefen und ber durchaus unberechtigten An-
nahme von Snterpolationen der Schriften des SO. jette Zu:
fluht nehmen wollen, um Ὁ. vein zu wajden. Wenn
Drigened geivrt Dat, Bat er nicht mit Wiflen und Willen
geirrt und wo er geirrt, liegt der Fehler nicht am Herzen
und nicht am Wollen, fondern im Kopf und am Denken.
1) a. α. Ὁ. ©. 778. 774.
— — —— € —
4.
Veber bie Zahl 666 in der Apokalypſe.
Bon Prof. Dr. Aberle.
Ueber die Zahl 666 (Apok. 13, 18) zu fchreiben, iit
ein Entſchluß, der einige Selbjtverläugnung fojtet: mou muß
fürchten, in die Reihe der Leute geftellt zu werben, bie fid)
un bie Quadratur bed Cirkels bemühen. In der That
wird das Näthiel, dad und bie Apokalypſe mit jener Zahl
bietet, niemals bis zur vollſtändigen Unbeftreitbarkeit gelöst
werben können, und zwar nicht nur, weil ung die Auflöjung
auf authentiſche Weiſe nicht überliefert ijt, fondern weil, wie
man wenigſtens zum Voraus nicht läugnen darf, die Mög—
(idjfcit obwalten Pann, daß εὖ ber Verfafjer gleich urſprüng⸗
fid) daranf abgelegt habe, das NRäthiel, fo zu bilden, daß
zwar die Löfung mit Sicherheit errathen, aber der Beweis
für die Richtigkeit bc. gewonnenen Refultates nicht geliefert
werben fünne. Nichtöveftomeniger wird bie Wiſſenſchaft ἢ ὦ
ber Aufgabe nicht entfchlagen Können, auch bezüglich dieſes
Punktes [o viel Licht zu gewinnen, ala überhaupt möglich
iſt. Indem wir ung diefer Aufgabe unterziehen, haben wir
zuerft die Vorausſetzungen feftzuftellen, von welchen bei Loͤ⸗
fung des Raͤthſels ausgegangen werden muß.
140 Aberle,
Die erfte Frage, bie fid) in biefer Beziehung erhebt,
ift die, ob wir die das Räthſel conftituirenden Zahlbuch-
ftaben als griechifche oder ala hebräifche zu behandeln haben.
Für erftere Annahme Spricht hauptjächlich der Grund, daß
weil bie Apofalypfe unzweifelhaft in griechifcher Sprache ab-
gefaßt tjt, e8 ganz natürlich erjcheint, bap ber Verfafler
nur einen griechifch Tprechenden LeferfreisS vor Augen ge:
habt und mit Rückſicht auf biejen nur griechifcher Zahlbuch-
ftaben für fein Räthſel fich Habe bedienen dürfen. Allein
jo ſcheinbar biefe8 Argument auch fein mag, fo zeigt eg fid)
doch bei näherer Erwägung als völlig haltlos. Allerdings
ift bie Apokalypfe in griechiichen Worten abgefaßt, allein
bie benfelben zu Grund liegende SDenfoperation ijt hebräiich
ober näherhin vabbinijd) und bie Apokalypſe blieb einem
Griechen,. der nur griechifche Bildung genoffen, int. Großen
und Ganzen ebenfo unverständlich wie Aquila's Bibelüber-
ſetzung. Wie der, welcher bieje gebrauchen wollte, rabbinifch
gejchult fein mußte, fo blieb ohne foldje Schulung auch bie
erjtere ein mit mehr als jieben Siegeln verjchlojfened Buch.
Dazu kommt noch ein anderer Umftand. Die Zahl 666 ijt
offenbar ein Erzeugniß der gematrifchen feunjt. Dieſe aber
war ben Griechen [o gut wie unbefannt; um jo mehr hatte
fie dagegen jchon feit alter Zeit bei den Hebräern Eingang
gefunden und die trüben Verhältniſſe, welche die Herrjchaft
der Herodier und namentlich bie der Römer mit fid) brachten,
waren ganz geeignet, fie auf einen hohen Grad ber Aus:
bildung zu bringen. Gematrie wurde von ba an ein me
jentlicher Beſtandtheil vabbinifcher Gelehrſamkeit. Daher
muB man aud erwarten, daß bie gematrifch angelegten
Stellen der Apofalypfe in vabbinifcher Weiſe, b. 5. unter
Zugrunblegung be$ hebräifchen Alphabet durchgeführt feten.
Ueber die Zahl 666 in ber Apofalypfe. 141
Diefe Erwartung beftätigt ft) auch in ganz unläugbarer
Weile bei einem gematrifchen NRäthjel, ba8 bie Apofalypfe
(16, 16) in bem Worte Apuayedov enthält, und man fat
daher Recht zu fragen, warum bie Zahl 666 eine Ausnahme
bilden ſollte.
Die zweite Frage ijt, warum der DVerfaffer ber Apo-
falypfe an unferer Stelle zum Ausdruck ſeines Gedankens
bie Form des Näthfeld gebraucht habe. Daß er bieB nicht
gethan, blos um ein geiftreiche® Spiel zu treiben, bedarf
wohl feine2 Beweiſes. Man wird vielmehr anzunehmen
haben, daß er zu biejer Form nur aus Noth gegriffen, weil
er befürchten mußte, daß δα offene Ausfprechen deſſen, was
er zu fagen hatte, für ihn felbjt ober für bie Sache, bie er
vertrat, bie höchſte Gefahr mit jid) geführt haben würde.
Es muB alfo, wie dieß eigentlich jchon durch den Ausdruck
ἀριϑμὸς ἀνθρώπου angezeigt ijt, wit ber Zahl 666 eine
beftimmte Berfönlichfeit gemeint fein und zwar eine folche,
daß deren Bezeichnung als Thier bie ſchwerſten Criminal:
Itrafen nach jid) gezogen hätte Da nun bei ben Alten bie
Berbalinjurie in allen den Fällen ſtraflos durchging, wo (te
nicht zugleich ein crimen laesae majestatis in fid) fchloß,
fo bleibt nichts übrig, als unter jener beitimmten Perjön-
lichkeit einen römijchen Kaifer zu verjteben.
Unter diefen mehr ober weniger Klar erkannten Voraus⸗
jegungen, deren Triftigfeit wohl feinem Anſtand unterliegen
bürfte, bat fid im Anfang der dreißiger Jahre dieſes Jahr⸗
hundert? mehreren Erklaͤrern be8 N. T. gleichzeitig eine
Deutung der Zahl 666 aujgebrungen, bie jettbem fajt all
gemeined Anfehen erlangt Dat. Es ijt bieB bie Deutung
auf ben Kaifer Nero. Diefelde wird in folgender Weife Dev:
geſtellt:
142 . Aberle,
3= 50
= 200
1- 6
i= 50
> 100
D= 60
3 = 200
"Dp f = 666
Die Einwendung, bie man gegen diefe Deutung et:
hoben, baB nämlich dad Wort Cäſar (Καῖσαρ) bei ber
Trangfeription in das Hebräiſche bie scriptio plena er:
fordere, und aljo mn gejchrieben werden müßte, läßt fid)
leicht zurüchweifen. Denn belanntlih wurde jene8 Wort
nicht nur in der Volfäfprache wie Kecop gejprochen, fonbern
auch, ſelbſt in öffentlichen Documenten (vgl. Boͤckh n. 4300 x)
jo gejchrieben. Zur Transſeription aber eine e in δα
Hebräifche ijt nicht nur eine plena scriptio nicht nöthig,
jondern es braucht nicht einmal unter bie beireffenden Con-
jonanten ein Sere gejeßt zu werben, weil ein Sch’va genügt.
Kann man demnach von biejer Ginmenbung abjehen,
jo dürfte man leicht zu dem Glauben fommen, bap burd)
bie angeführte Deutung das Rathſel wirklich gelöst jet.
Jedenfalls verdient bielefbe den Vorzug vor allen Loͤſungen,
welche bisher aufgebracht worden, auch vor ber finnigften
unter biejem, bie bereit3 zur Zeit be8 Irenäus in Umlauf
war, und aus ber Zahl 666 ba8 Wort “ατεῖνος heraus:
rechnete. Deffenungeachtet vermögen wir fie nicht anzu:
nehmen und amar beBmegen, weil fie ber zweiten ber von
ung aufgejtellten Vorausſetzungen nur jebr unvollſtändig
entipricht. |
Um bieg zu beweljen, müjfen wir zuerjt darauf auf-
Ueber bie Zahl 666 in der Apotalypie. 143
merkſam machen, daß, wie früh man aud) die Abfaffung
ber Apofalypfe anfegen mag, man doch wegen Apof. 11, 2
nicht in bie Zeit zurücigehen darf, in welcher Nero noch am
Leben war. Iſt aber das Buch crjt nad) bem Tobe Nero's
verfaßt, jo flieht man feinen Grund mehr ein, warum ber
Verfaffer den Namen deſſelben fo jorgfältig hätte verhüllen
jollen. Man müßte alfo annehmen, bag der Verfaſſer mit
Bildung feines Räthſels nur ein Spiel habe treiben oder
ein specimen eruditionis habe liefern wollen, eine An-
nahme, die wir für principiell verwerflich erklären müffen.
Auch die Ausrede, dag ber Verf. ber Apokalypſe nicht an
ben wirklichen Tod be8 Nero geglaubt, baB er eine Wieder:
kunft deffelben in Augficht genommen habe, können wir nicht
gelten laſſen, weil fie rein aus ber Luft gegriffen ijt und
jedes einigermaßen haltbaren Beweiſes ermangelt.
Der zweite Grund, den wir für unfere Behauptung
anzuführen haben, wird wohl manchen gejer auf den eriten
Anblick ſeltſam Elingen. Unfere Meinung ijf, daß die Deu⸗
tung der Zahl 666 auf ben Kaifer Nero das Räthſel auf
eine viel zu treffende, viel zu unbejtreitbare Weiſe loͤſt, αἱ
dag man annehmen dürfte, ein chriftlicher Autor hätte das:
[εἴθε mit Vorausſicht biejer Röfung bilden dürfen. So etwas
tonnten wohl Juden während ber Negierungszeit Neros
wagen; denn bie Römer verftanden nicht? Hebräifches und
waren noch weniger in gematrifche Künfte eingeweiht, von
den Ehriften aber, bei denen dieſes beibe8 jtatt hatte, war
ein Verrath nicht zu fürchten. Anders jtelte fid) die Sache
bei einem chriftlichen Autor. Bei dem unauslöfchlichen Haffe
der Juden gegen die Chriften mußte eim folcher mit Sicher:
heit vorausſetzen, daß den Römern von jüdiſcher Seite aus
bie Löoſung des Räthſels werde gegeben werben, und er
144 Aberle ; .
τοῦτος alfo mit offenen Augen ven Vortheil gefährbet haben,
ben er baburd) intenbirte, daß er den Namen des betreffenden
Kaiſers nicht geradezu nannte, fondern ihn unter Zahlbuch-
jtaben verfteckte.
Mir müfjen daher bie Löſung unſeres Zahlenräthjels
auf einem anbern Wege juchen, und dazu bietet fid) ber
Namen be8 Trajan bar, ber hebräifch auch jo gefchrieben
werben fonnte, daß feine Zahlbuchitaben ebenjallà bie Summe
666 ausmachen.
Um dieß nachzumeilen, müfjen wir vor allem darauf
aufmerffam machen, daß die Juden daB außlautende S in
fateinijden und griehifchen Namen bei ber Umfchreibung in
ba8 Hebräifche nicht immer mit Samech wiedergeben, ſon⸗
bern auch geradezu außließen. Einen Beleg biefür bietet
bie Schreibung ram war (Romulud und Remus) in
Siphri col. 151. Außerdem kann noch bemerkt werben,
bap üt den von be Vogüé verdffentlichten althebräifchen und
aramäifchen Infchriften ber Name 196m öfter auch DY25D
gefchrieben ijt, ein Umftand, ber darauf hinweist, baB man
bie Beifügung ober Weglaffung eined Samech bei folchen
Namen für etwas gleichgültiges hielt. Lift man aber im
hebrätjch gejchriebenen Namen des Trajan ba$ Samech weg,
jo bleibt:
N = 400
= 200
= 10
3= DO
1— 6
Y"n = 666.
Wollte man gegen diefe Deutung ber Zahl 666 bie
Einwendung erheben, bap ber Name Trajand von ben
Ueber die Zahl 666 in ber Apokalypſe. 145
Rabbinen mit Tet, nicht mit Tau gefchrieben werde !), fo
Eönnen wir bag zugeben, ohne barum auch bie Folgerung
zugeben zu müffen, bap jener Name hebräifch nicht mit Tau,
jondern nur mit Tet gefchrieben werden dürfe Allerdings
entipricht bei ber Tranzfeription des Hebräifchen in das
Griechifche vegelmäßig das hebräifche Tau dem Theta und,
ba gricchifche Tau bem Tet und nach dieſer Schreibweife
find auch die hebräifchen Eigennamen bei ven LXX wicher:
gegeben. Allein eine Ausnahme findet doch iati. Wenn
nämlich in einem mit hebräifchem Sau anfangenden Worte
ber zweite Radicalbuchſtabe eine 9(jptrata ober 9tefd ijt, jo
wird mitunter auch das hebräifche Tau mit einem griechifchen
Tau wiedergegeben, Wir wollen in diefer Beziehung nicht
an bie Namen Tartefjus, Tarakon u. |. f. erinnern, da deren
Umfchreibung in Zeiten gurüdgebt, wo für ein folche wohl
noch Feine fejten Regeln bejtanben; e$ genügt, auf die Um:
jdreibung von ipm SJerem. 19, 11 ff, mp Num. 33, 27
1) Uebrigens gibt Derenbourg (Essai sur l'histoire et la géo-
graphie de la Paléstine I, p. 408) an, baß j. Taanit II, 18 ber
Name Trajans mit Avr wiedergegeben ſei. In bet Krotofchiner Aus⸗
gabe be8 Jeruſchalmi, bie ung allein zu Gebot fteht, ift aber am ber
angeführten Stelle mmo au lejen. Ob mum in biefer Ausgabe eine
Gorrectur angebracht worden, ober ob Derenbourg fid) babe eine Webers
eilung zu Schulden fommen laſſen, vermögen wir nicht zu entjcheiben
und dürfen legtere8 bel ber befannten Pünctlichleit bieje8 Gelehrten in
feinen Allegationen nicht leicht annehmen. Wir machen auf ben Punct
blos aufmerfíam, bamit andere, denen bejfere und reichere Hilfäinittel
als uns zu Gebot ftehen, benfelben vielleicht einer genanern Erforjchung
unterziehen. Derenbourg führt a. a. O. auch bie per[djiebenen, febr
abweichenden Weifen auf, nach welchen bie Rabbinen ben Namen Tra-
jans, abgefehen von bem Anfangsbuchftaben, zu tranzferibiren pflegten.
Die von uns adoptirte Schreibweife findet fid allerdings nicht barunter,
allein fie wird baburd nod) keineswegs unwahrſcheinlich. Namentlich
ift ber Umſtand, daß das a in ber vorlegten Silbe nicht wiebergegeben
ift, burdj bie Analogie be8 Namens ZYPYIR (Hadılan) volftändig gefichert.
Theol. Quartaliärift. 1872. Heft I. 10
146 Aberle,
bei den LXX aufmerfjam zu machen. Galt aber eine folche
Möglichkeit für die Umſchreibung von Namen aus bem
Hebräiichen ind Griechische, jo mußte ε auch umgefehrt ge:
ftattet fein, bei der Tranzfeription in das Hebräifche ba8 T
im Namen Trajand wegen be8 darauf folgenden R nicht mit
«εἰ jondern mit Tau wiederzugeben. Es mag bieje Schreib-
weile be8 Namen? Trajan bei den damaligen Hebräern bie
jeltenere, fie mag geradezu ungewöhnlich gewefen fein, un-
möglich mar fie jedenfalls in ber Weife nicht, daß fie nicht
bei Bildung eines Räthſels hätte zu Grund gelegt werben
dürfen. Das mußten die Rabbinen zur Zeit der Abfaflung
der Apokalypfe ficher auch recht gut, und wenn ber Ver:
faffer bieje8 Buches mit feinen Zahlenräthſel den Kaifer
Trajan meinte, [o entging ihnen feine Intention gewiß nicht,
aber einen Beweis für eine folche Löſung vermochten fie
nicht zu führen, da ihnen von chriftlicher Seite entgeanet
werden fonnte, bap im Hebräifchen ber Name Trajans
regelmäßig mit Ὁ gejchrieben werbe unb bei biejer Schrei-
bung aus den Zahlbuchſtaben jid die Zahl 666 nicht ev
gebe. Den Beweis aber anzutreten, daß ber Apokalyptiker
fid) einer ungewöhnlichen Schreibweife bedient babe, fonnte
ihnen vernünftigerweife nicht einfallen.
Demnach halten wir die Deutung unferes Räthſels auf
Trajan für angemeffener al8 bie auf Nero. Unter den Ver:
hältniffen, unter denen ber Apokalyptiker jchrieb, genügte e?
für ihn nicht, den Namen, den er im Sinne hatte, blos
unter Zahlbuchftaben zu verfteden, fondern er mußte aud
biefe Buchjtaben jo wählen, daß zwar jeder in ber Gematrie
Erfahrene den Namen errathen fonnte, ben fie ausdrücken
jollten, feiner aber ben Beweis zu führen vermochte, baf
(ie gerade diefen Namen ausdrücken mußten.
Ueber die Zahl 666 in ber Apofalypfe. 147
Indeſſen find wir weit entfernt, die Deutung auf Nero
geradezu für einen Mißgriff zu erklären, wir glauben υἱοῖς
mehr, daß dieſelbe zum vollen Verſtändniß unſeres Räthſels
beigezogen werben muß. Eine characteriftifche Eigenthüm-
Tichfeit der 9[pofafopje ijt nämlich ihr Mangel an Origi:
nalität bezüglich der in biejefbe aufgenommenen Bilver,
Stleihniffe, Typen, Rebefiguren u. f. w. Deßwegen glauben
wir auch, daß die Bildung uuſeres 9tütblel8 nicht eine
Driginalfchäpfung ihres Verfaſſers war, jondern bag er
daffelbe bereit3 vorgefunden und nur in feiner Weile unt-
gedeutet habe. Fragt man, wo dad Näthfel fid urjprüngs
lich gebildet Habe, jo wird man unwillführlich in die Zeit
vor Ausbruch be2 großen jüdischen Aufſtandes unter Nero
verwiefen. Die Anftifter und Führer dieſes von langer
Hand her vorbereiteten Unternehmen? müffen in ihren Gorre-
ipondenzen von Kaifer Nero gejprochen haben, und ba fie
dieſes nicht offen, mit Nennung des Namens, thun durften,
jo haben fie ohne Zweifel zu diefem Behuf zu gematrifchen
Künften gegriffen und jo mag unter ihnen bie Zahl 666
zu Bezeichnung ihres Gegner? auf dem Cäſarenſtuhl ganz
allgemein geworben fein. Einen folchen Vorgang konnte
ber Apofalyptifer, wenn er fand, daß biefelbe Zahl aud) auf
einen andern Kaifer anwendbar war, wohl benügen, iub
indem ev bieje8 that, gewann er ein weitered Schußmittel
gegen eine Anklage vor den römischen Behörden. Denn bie
Rabbinen, von welchen allein eine folche Anklage ausgehen
fonte, mußten fid) zum voraus fagen, bap fie damit nur
bie Chriften nöthigen würden, etwad zur Kenntniß ber
Römer zu bringen, was man vabbinifcherjeit3 im eigenen
Sutereffe jo geheim als möglic halten mußte.
10 *
IL
Arcenfionen.
1.
Die Blalmen über[ebt und erflärt von Prof. Dr. Ang. Rohling.
(Die heiligen Schriften des Alten Teftamentes nad) fatfo-
liſchen Prinzipien überſetzt und erflärt von einem Derein
befreundeter Fachgenoffen. Dritte Abtheilung: Die poeti
[hen Bücher: 1. Die Palmen) Münfter, Verlag der
Goppenratf/fdjen Buch⸗ und Kunfthandlung 1871. "VIII
und 440 ©.
Hätte ba8 Buch, das bier zur Anzeige gebracht ‚wird,
(ib zur Aufgabe geitellt, die ungebührlich große Zahl ber
erbautidjen Pfalmencommentare zu vermehren ober bod)
mit Angabe ded wie immer feitgejtellten Literalfinned praf-
tiiche Verwendung deſſelben zu verbinden, [o vermöchten wir
dafjelbe faum zeitgemäß zu nennen, ba on folden Süden
büßern ohnehin wohl niemalà Mangel fein wird und ihre
Produktion mit ber Nachfrage überrafchend genauen Schritt
hält. Wir finden jedoch den guten Gefchmad des Herrn
Verfaſſers auf anderer, richtiger Fährte und billigen voll:
fommen, wa8 er €. VIII fchreibt: „Anwendungen beg
heiligen Terted zu Nug ber Frömmigkeit glaubten wir aus
Rohling, Die Pfalmen. 149
boppelten Grunde übergehen zu jolfem. Einmal weil ber
Umfang und Preis be8 Werkes leicht um das Doppelte
wadjet würde Dann aber vorzüglich, weil ber heilige
Sot in feinem einfachen Wortlaut, wie ihn ftreng wiſſen⸗
ſchaftliche Exegeſe eruirt, bie Fülle erbauender und er:
hebender Gedanken in fid) birgt und nichts mehr geeignet
ift, Liebe und Achtung vor der Wahrheit in Theorie und
Praxis einzuflößen und zu fördern, als bie ernftliche aus⸗
dauernde Beichäftigung vorzugsweiſe mit bem Wortfinne. An-
wenbungen haben ein hohes, aber nur fecundäres Intereſſe“
u. f. Ὁ. Wäre dad immer beachtet worden, fo würde bie
hriftlihe Welt von arger Superfötation in erbauficher
Schriftmacherei verſchont geblieben fein und bie Frömmigkeit
hätte fich, jtatt an fecundären und tertiären Quellen ihre
Bedürfniſſe zu ftilen, mehr an bie urfprünglichen und in
emiger Lauterfeit fließenden gehalten, die, man [age was
man will, rückſichtlich des Alten Teſtaments, dad wir hier
augfchlichlich meinen, durch erbauliche Bearbeitungen, Ein⸗
tragungen und Anwendungen ber Mafje der Ehriften beinahe fo
fern gerückt worden find, a[8 den Juden durch den Talmud.
Der Verfaſſer εἰς fich bie Aufgabe, im Verein mit
andern katholiſchen Gelehrten für Solche, welche andere Be-
rufdarbeiten von den Quellen der alttejtamentlichen Schriften
fernhalten, eine deutſche Mebertragung berjelben nebjt kürzer
gefaßten Gommentarien herauszugeben, wobel, wie bie Vor:
rede bemerkt, zu .gewillenhafter Verwendung kommen fol,
was bie Gelehrten bald hier bald bort im Texte felbft oder
außerhalb deſſelben und für ihn im Völkerleben beſonders
be8 Orients, durch bie vergleichende Sprachwiſſenſchaft und
burch die Beobachtung ber Wunder ber Natur, die fid) auf
ben heiligen Blättern wieberjpiegeln, entdeckten und vete
150 Rohling,
fchiedenen Orts in gelehrtem Gewande aufftellten. Die Be
arbeitung der Palmen bildet fomit ben Anfang des in
Ausſicht gejtellten alten Teſtamentes in deutfchem Gewande.
Das Original foll dabei zu Grund gelegt werden und bie
Abweichungen beziehungsweife Unvichtigkeiten der Vulgata—
(Verf. fchreibt mildernd: Befonverheiten) werden in Noten
zur Erörterung kommen, wodurch ohne Zweifel das Ver—
ftändnig der Firchlichen Ueberſetzung ficherer und vollfom-
mener erlangt wird, a[8 auf dem umgekehrten Wege. Jeder
Band [off Fritiiche Zugaben erhalten, die mit Beiziehung des
Grundtertes über jchwierigere Stellen fid) auslaſſen (Verf.
nennt die betr. Beilage zu den Palmen ©. VIII, für orien:
tafi]d) gebildete Xefer beftimmt, ermäßigt dies aber fogleich
dahin, daß fie philologiſch Fritifche Belege bringt und nur
„die fenntniB der Elemente des Hebräilchen vorausſetzt“,
womit bod) wieber zu wenig gelagt ijt). Die Beilage enthält
nur fünf Blätter, fo daß das Etreben nad) Kürze unb con
cijent Ausdruck zwar entjchiedene Anerkennung verdient, aber
doch manche Dunkelheit verurfacht. Dem Verf. fcheint hiebei
bie etma8 läſtige Gründlichkeit und Profuſion befannter
anderer Commentare zum abjchredenden Beifpiel gedient zu
haben, und hat man, wie e8 fat fcheint, hier nur zwifchen
zwei Weußerften zu wählen, jo verdient bie von H. Rohling
gewählte Behandlungsweiſe bei der Menge leicht zu befchaf-
fenb erfonftiger Hilfgmittel, bie über die gewöhnlichen Echiwie:
rigfeiten be8 DVerftändniffes hinwegheben müfjen, ficher bem
Vorzug. Die Darftelung ermangelt defungeachtet nicht der
Klarheit und Verſtändlichkeit, Anmuth und Gemanbtbeit.
Die Einleitung behandelt Namen, Ursprung, Sammlung
ber Palmen, Form der heiligen Poefte, Inhalt, Liturgifchen
Gebrauch, alte Meberfegungen ber Pſalmen, wozu nod) al
Die Pſalmen. 151
Sprachliches zur Vulgata ein Abrig über bie Beſonderheiten
verjelben in Grammatif und Syntare fommt, den fid) Verf.
im Hinblid auf bie jüngst erfchienenen ausführlicheren Ars
beiten von Kaulen, Reiſchl, Roͤnſch u. A. eriparen fonnte.
Es werden (€. 2) einige der 73 in ben hebrätfchen Auf:
Ichriften David zugelegten Lieber für fpätere Bearbeitungen
Davidiſcher Lieder erklärt, wofür wohl befjer Sieberbid)tungenu
im Geifte Davidifcher Pfalmodie anzunehmen find. Schwer:
fid) wird man aber den Inhalt von Aufichriften der Geptuag.
und Bulgata, jomeit er aus den 48 anonymen Pſalmen bes
bebräifchen Tertes noch 15 David vinbicirt, auf eine „glaub:
bafte Tradition” zurücführen können, nod) wenn man eine
Anzahl der David im Original zugefprochenen für nach:
babibiid) nach Maßgabe ihre Inhalts erklärt, Hitzig⸗Ols⸗
haufen’scher Huyperfritif geziehen werben dürfen. Auch nach
Berf. det. der Aſaphpſalm 79 die Zeritörung Jeruſalems
voraus und ijt ber 88. Pſalm wahrjcheinlich ben Korachiten
ganz abzufprechen. Meaffabäifche Pſalmen werden durch die
Bemerkung abgewiefen, daß lange vor ben Kämpfen ber
Makkabäer ber Pfalter üt Aegypten nach Prol. Sirach ing
Griechifche überlebt worden ijt und bie ſtärkſte Stelle, welche
für Entjtehung einzelner Pjalmen zur Zeit jener Kämpfe
angeführt wurde (Bj. 78, 3), bereit3 in den Büchern bet
Makkabäer jelbit (1 Makk. 7, 16), ala ein folcher Text der
heiligen Schriften citirt wird, welcher durch die blutigen
Leiden der Juden unter Bacchides erfüllt worden jet. Dar:
an, ob (€. 4) aud) bei ftrengften Verfahren nicht fünf
Palmen aufzufinden feien, deren Aufichrift, foweit fie den
Autor betrifft, durch ben Inhalt abgewiejen werde, liegt
nach unferm Ermeſſen jehr wenig: ftrenge Beweisführung
ift Hier der Natur ber Cade nach nur in ben jeltenjten
152 Rohling,
Fällen möglich und ba8 Hohe Alterthum hat eben nur „im
Allgemeinen” nicht bie Gewohnheit anderer Leute gehabt,
nad) fubjeftivem Ermeſſen auf bloße Möglichkeiten hin Ge-
(dite zu machen, vefp. beſtimmte Schriftſtücke von biefen
oder jenen Namen beftimmt abzuleiten. Es ijt nicht zu ver-
aeffen, bag bie fchnöbe Abfprecherei, zu welcher die tenbern-
ziöje Verneinung des gefchichtlich Meberlieferten geworben
ift, Lediglich das Ertrem ber Anbelung des Buchſtabens und
der nur zu Häufig jophiftifchen Nechtfertigung berjefben ift.
Dabei laſſen wir aber nadj Möglichkeit auch bem Buchs
ftaben fein Befigrecht, ba8 ifm in ben meilten Fällen in
ven PBjalmüberfchriften wird gewahrt werden fünnen, ohne
baB man zu ber ©. 6 angenommenen Möglichkeit greift,
bap uriprünglich fpezielle Bezüge in den Liedern felbft ver:
merft waren, bie man bei fpäterer Verwendung für beu
Tempeldienſt weggelafjen ober verallgemeinert habe. — G8
fcheint und damit in angeblich confervativen Intereſſe ein der
fonft perhorrescirten freien Kritik angehöriger Grundſatz ver-
wendet, ber für jenes tro der Bemerkung, daß baburd)
wejentliche Aenderungen, die Glaubend- ober Sittenlehren
Glterirten, nicht zu Stande famen, nicht ganz unbedenklich
fein dürfte. Die Einleitung hat im Uebrigen ihr Material
gut und anfchaulich verarbeitet. Daffelbe ijt von der Er:
Härung der Pſalmen zu jagen, bie nur über manche fchwie-
rige und wichtige Stellen zu vajd) Hinmweggeht, indem fie
fid) begnügt, bie paſſendſt fcheinende Auslegung mitgutbeilen
unb mit wenigen Worten zu begründen. Hier tjt des Guten
häufig zu wenig gejchehen: man darf in folchen Fällen füg-
lich eine motivirte Abweifung wenigſtens einzelner von Auto:
ritäten vertretener ober allgemeiner angenommener Aus:
legungen erwarten. Der Originaltert ijf unabhängig von
Die Pfalmen. 153
bet Vulgata bearbeitet, aber der Sinn ber feglere doch
wieber zu wenig in feiner oft burchgreifenden unb nicht
immer an ber Oberfläche liegenden Verſchiedenheit berüd-
fichtigt. Pſ. 2, 12 (Küffet den Sohn, V. apprehendite
disciplinam) ijt mit Hinweis auf 1 Sam. 10, 1: huldigt
ihm, abgemacht und bie Abweichung der 8. nicht weiter εἰς
Örtert, was bod) nur der Bemerkung beburfte, daß ber grie-
dije Ueberſetzer bor jtatt bar (Reinigfeit, Läuterung, Zucht)
fag. In Pſ. 3, 3 ijt gewiß beffer: von meiner Seele zu über:
jegen, da bie folgende dritte Perſon nicht: „zu meiner Seele“
pabt. Pl. 5 nehmen wir mit bent Verf. feinen Anftoß
daran, daß ba8 von David auf dem Zion gebaute heilige
Zelt ein Tempel oder Gotteshaus heißt und bie Auffchrift
David ald Dichter nennt. Aber e$ hätte einmal im ber
Erflärung beſtimmter gejagt werden follen: im Heiligften
(nicht: im Heiligen), dem eigentlichen Tempel απὸ bie
Bundeslade, und ſodann doch ber von ber Nennung bed
Tempeld, Gotteshaufes genommene Einwand gegen bie
Davidiſche Abfafjung widerlegt werben können, wenn auch
nur durch Verweifung auf Sof. 6, 24. 2 Sam. 12, 20, wo
das Heiligthum ala Stiftszelt Haug Gottes heißt, und auf
1 Kön. 6, 3, wo ſchon dag Allerheiligfte des ſalomoniſchen
Tempels allein hekal heißt. Die Erklärung von Pſ. 6, 6
(denn im Tode gebenft man deiner nicht, im Scheol wer fan
dich Ioben?), der Motivirung der Bitte um Sebengrettung
burch dad Berftummen des göttlichen Lobes in ber Unter:
welt, bat fid) Verf. durch Einlegung fpäterer, chriftlicher
Glaubensvorſtellungen erjchwert. Schon ber erite Satz iſt
chief: „ein abfolute Verſtummen des göttlichen Lobes in
der Unterwelt für jeden Verftorbenen Tann unmöglich ge:
meint fein, denn ba8 Alte Teftament weiß, bag ber höchite
154 Rohling,
Zweck ber. Greatur. auch bie ſubjektive Verherrlichung Gottes
(t, und die Vernunft verlangt, daß ber Sob ben Neblichen
diefer Beſtimmung nicht entreiße.” Dieß verlangt bloß bie
τὶ ΠῚ ὦ aufgeflärte Vernunft; die der Pfalmenjänger
weiß bloß von einem Aufenthaltsorte fämmtlicher Geſtor⸗
bener in ber Tiefe ber Erde, wo fie mur ein EScheinleben
führen, fern von Gottes Licht und Gegenwart und der Sache
nach. wirflih cin abſolutes Verſtummen des Gotteslobes
ftatthat. Daher find bie drei Anjichten über die Stelle,
welhen Berf. ©. 59 gleiche Probabilität zufchreibt, gleich
verwerflich: David will voeber außbrüden, daß dermalen
bie abgejchiedenen Freunde Gottes nicht jofort nad) bem Tode
ihr letztes Ziel erreichen und daher nur in ſehr beſchränktem
Maaße Gottes €obprei fingen können, denn diefe Wahrheit
blieb nod) jehr lange mad) David unerfannt; noch will er
(agen, daß fein gewohntes Gotteg(ob zur Erbauung Israels
in der Unterwelt verftummen müfje, ober daß er dag Lob
be? Dankes (im engſten Sinne) fingen möchte, was bem
Gefturbenen nicht möglich fein werde. Das Leben allein
macht ihm ferner Lobpreis Gottes möglich und ijt ibm in-
ſoweit deſſen fchlechthinige Bedingung: mit bem Tod ijt ber-
[εἴθε auf ewig verftummt. Pf. 10, 10 und 17 tjt wie nod
an manchen andern Stellen, wie Pſ. 68, 29 f. vou δεῖ
maforethifchen Punktation abgewichen, wohl mit Grund, aber
ἐδ joflte kurz bemerkt werben. Pſ. 15, 2 (wer Wahrheit
redet in feinem Herzen) bleibt ohne Erklärung. Es könnte
bod) gefagt werden: daß hier vom Innern al Ort, nicht
als Mittel die Rede ift, und neben gottgemäßes Handeln
lautere Denkungsart gejtellt wird. Pſ. 16, 4 (Biel find
bie Schmerzen derer, bie einen Abgott eingetaufcht, Nicht
mag fpenden ich ihre Trankopfer von Blut, Und nicht nehmen
Die Pfalmen. 155
ihre Namen auf meine Lippen) [01] bildlich zu verftehen
fein, ba von Götzendienſt Israels unter David bie (δὲς
ſchichte nichts melde. Die Götzen wären dann bie falfchen
Crbengüter, denen ein Abſolom (marum nicht 9(6jafom?)
mit den Seinigen nachlief und opferte, wenn er Gott zu
opfern vorgab, weöhalb bie Opfer, wenn auch äußerlich
vorichriftgmäßig, bod) faftifd) wie von Meenfchenblut waren,
oder, jetzt der Verf. bei, mit Jeſaia zu reden, von Menjchenz,
Hunde-, Saublut. Aber damit iff der Gegenfat zu Gott
und feinen Heiligen auf Erden unterfchäßt: er fanm nicht
in den Gütern biejer Welt bejtebeu , denen Abſalom, und
fein weltlich gefinnter Anhang nachgieng: die ſtarken Worte
bezeichnen bieB um fo weniger, als aud) David felbit m.
10 f. neues irdiſches Glück und Wohlfein von Gott erhofft.
Es find nur Götzen und Götzendiener gemeint, ble David
verabjcheut. Die Situation be8 Liedes ijt eine höhere, all:
gemeinere, nicht Abſaloms ruchlofe® Treiben, fondern bte
Gemeinde der Gläubigen nnd ihre in den Tod hinein rei:
chende Bergung in Gott, gegenüber den Abgöttifchen unb
ihrem traurigen Geſchick. Daß Israel der Gefahr ber ers
führung von diefer Seite entnommen bleibe, founte auch
David nicht hoffen und um jo mehr feinen Abſcheu gegen
den Götzendienſt aussprechen. Nebenfache ift ſodann, ob bie
Opferfpenden wirklich aus Blut bejtebenb oder deren Wein
mit Blut gemischt zu denken find, ober nur als gleichjam
aus Blut beftehend, weil fie mit blutbefleckten Händen und
blutbeladenem Gewiſſen dargebracht werden (Del). Die
Auffchrift des Liedes (DRIN) gibt Verf. durch: Kleinod,
κειμήλεον, was nicht viel. bedeuten will. Hier werben Sept.
und Vulg. das Richtige haben: στηλογραφία, tituli in-
scriptio, Inſchrift, monumentale Dichtung, wa fid) etymo:
156 Rohling,
logiſch und inhaltlich gleich febr rechtfertigt. Zu 9. 5
(bu machft weit mein Loos) ijt bie ſprachliche Schwie⸗
rigfett durch bie Bemerkung im Anhang ©. 433 ff. nicht
gehoben, da das betr. Verb. fonft nicht vorkommt. Näber
liegt, dad Wort ala Participform von Yon mit voller,
allerdingd ungewöhnlicher Schreibung nad) 2. fib. 8, 21
zu betrachten, wenigſtens ſolchen Leſern, bie nur des He⸗
bräiſchen kundig find und mit Berufungen auf Arabiſches
verſchont ſein wollen. Ob V. 6: Meßſchnüre fielen mir
zu, nicht zu ſtreng woͤrtlich laute, ſteht dahin — Del. hat
(2. A. der Pſ. S. 141) noch undeutlicher bloß: Schnüre,
dagegen durfte V. 10 bie „Hölle” wegbleiben, ba ber Aus⸗
bruc namentlich im Sinne be2 Verf., welcher bem alttefta-
mentlichen Bewußtſein jchon für bie Davidiiche Zeit eine
Scheidung des jenfeitigen Aufenthaltes für Fromme unb Un:
fromme zujchreibt, mipbentbar ijt. Endlich wäre zu V. 11
zu bemerken, daß zwar der „Buchjtabe”, aber nicht der Sinn
unb Geift jener alten Zeit auch den Gebanfen zuläßt, daß
David hoffe, überhaupt niemals zu fterben. Mit der Be⸗
merkung (©. 83): „Nehmen wir Apg. 2, 13 (vielmehr 31
wie etwad weiter oben 9. 10 jtatt 11 in Klammern zu
leſen ijt) hinzu, [o dürfen wir jagen, daß David? PBerfon
vom (Geijte ihrer Individualität entrückt wurde und ἰῷ,
gleichviel ob bemußt ober nicht, al2 mit Chriſto ibentijd)
ausſprach“ muß man fid) einverftanven erklären, abgerechnet
bad: bewußt ober nicht. In der Gejchichte be8 Heilandes
haben fich Stellen nach ber Fügung bes göttlichen Geiftes
in höherer Weife erfüllt, deren Verfaffer mit denjelben einen
näher liegenden, zeitgejchichtlichen Sinn intendirten und von
ben großen Thatjachen, die fpäter fid) begeben und bie längſt
verheißene Erlöfung und Neufchaffung ber Geifter vorbereiten
Die Pfalmen. 157
und einführen follten, weder jelbft eine Ahnung hatten noch
eine offenbarungsmäßige Mittheilung erhielten. Auch im
dritten Bußpfaln (38. €. 148 ff.) hält ber Verf. eine ganz
ungerechtfertigte Umbeutung ber ftarken Ausdrücke (nichts
Geſundes ijt an meinem Fleifch, nicht? Heiled an meinem
Gebein vor meiner Sünde. Es jtinfen, eitern meine Beulen
— Meine Lenden find voll Brand, Und nicht? Gefunbes
ift an meinem δ εἰ δὲ — — Mein Herz pocht heftig, ver:
faffen bat mich meine Kraft, Und das Licht meiner Augen,
auch dag ijt mir gefchwunden) für nicht unmöglich. David
fol über jchweres Leid Hagen, dag in Folge eigner Sünden
durch boshafte Feinde herbeigeführt fet, denn „vielleicht ges
- hören bie eiternden Beulen, die Wunden am ganzen Körper,
der Brand in den Lenden ber bei Semiten beliebten hyper⸗
bofifchen Weiſe an, fo daß bie Äußere von ben Feinden be:
reitete Stoff und Trübfal bloß unter dem Bild einer ferant:
heit auftritt; dafiir wirb, freilich ohne zwingende Kraft, ges
jagt, daß bie Bitte um Befreiung V. 16. 17. 22. nur mit
ber Schilderung ber Feinde im nächften Verband ftcht wie
auch bap 3B. 13 überhaupt eine Wendung eintritt, die lediglich
auf Davids Feinde rüdfichtigt”. (Letzteres Wort halten wir
“ für feine glückliche Eigenthümlichkeit ber fonft geſchmackvollen
Schreibweife be8 Verf) Somit wäre ®. 13 ff. bie bildliche
Ausdrucksweiſe durch die eigentlich erflärt und erjegt, wie
allerdings häufig gejchieht. Es ijt jebod) bier ber jcharfe
Unterfchied der Sünbenftrafen des Sängers, bie fein leibliches
Leben getroffen haben, von den Außern Feinden, beren Ans
griffe ihm unverdient und unerffüvlid) find, nicht zu vete
fennen. V. 12 macht dazu ben pafjenden Uebergang. Sprache
und Gedanken find in beiden Theilen grundverſchieden. Im
erften ift Selbftanflage, Sündenbefenntniß, erpreßt durch ble
158 Rohling,
Leiden des Körpers aí2 ibm wohlbewußte Folgen feiner Über:
tretungen, und Bußeruf un Gottes neues Erbarmen; ba-
gegen bat er Haß und Verfolgung ber Feinde burch fein
Betragen gegen fie keineswegs verdient; was er hievon zu
leiden bat, ijt ihm unbegreiflih, 33. 15. 21, er beruft jid
daher ihnen gegenüber auf fein gutes Gewifjen, nachvem er.
fic) fura vorher, aufetgt nochmals V. 18 f. ſchuldbewußt unter
Gottes Zuchtruthe gebeugt hat. V. 16 f. geben zwar bie Bitte
um Befreiung von folchen Widerjachern, mit Berücfichtigung
be8 nächiten Zufammenhangd, aber V. 9—11 enthalten nicht
minder Kar bie Bitte um Wegnahme des leiblichen Siedh-
thums, feiner Körperqualen und 22 f. fallen beides, bie
göttlichen Strafpfeile, die in feinen Leib gedrungen jinb 33. 3
und bie äußern Widerfacher zufammen. Letztere find dagegen
deutlich in Pſ. 40, 13 ala Folgen ber eignen Verfchuldungen
erfaßt, ohne mit leiblichen Übeln afa Sündenftrafen zufammen:
geftellt zu werben. Del. fchreitt zu Pi. 38 (©. 281):
„Es wiederholt fid) an diefem Lied eine Eigenthümlichkeit
ber Bußpfalmen, daß πάπι ber Beter nicht allein über
Zerfnirichung feiner Seele und feines Leibes, jondern aud)
über äußere Feinde zu Klagen fat, die al feine Verkläger
auftreten und [εἰπε Sünde zum Anlaß nehmen, ihm ben
Uutergang zu bereiten. Died fommt daher, daß der alt:
tejtamentliche Gíünbige, deſſen Sündenerfenntniß nod) nicht
jo vergeiftigt unb vertieft ijt. wie bie neutejtamentliche, fajt
immer an ber Öffentlich gewordenen fündhaften That zur
Beiinnung fommt. Die Feinde, die ihm dann den Untergang
bereiten wollen, find bie Werkzeuge ber ſataniſchen Macht
des Boͤſen (vgl. 3B. 21 al), welche bem neuteſtam.
Gläubigen aud) ohne äußere Feinde fühlbar wird und ben
Tod des Sünders will, während Gott fein Leben“. — Auch
Die Pſalmen. 159
biefe Anficht, obgleich fie ben Kiteralfinn für ben erften Theil
be Pi. feſthaͤlt, ift chief und fehillernd. Der Betende ijt
nadj unferem Pf. nicht durch feine öffentlich gewordene ſünd⸗
bafte That, fondern durch die brennende Folter feiner Leibes⸗
fchmerzen zur Befinnung gefommen und nur augenblicklich,
$3. 19, fdeint er die Verfolgung feiner Feinde ebenfalls
unter den Gefichtöpunft ſelbſtverſchuldeten Anlaſſes zu ber-
jelben zu jtellen, während er ſonſt ihnen gegenüber won feiner
Verjchuldung weiß. Der Verf. möchte fid überreden, daß
bad ſchöne Wallfahrtslied, Pi. 122, von David fei, wie bie
Auffchrift will. Daß V. 1 und 9 vom Haufe Gotted, B. 3
vom Wallfahren dorthin gerebet werde, genügt zwar, wie er
mit Recht geltend macht, keineswegs zur Verwerfung bavibi-
her Autorſchaft, und namentlich zeigen die Maßregeln Je:
robeams I, feine Aufitelung der Stierbilver in Dan unb
Bethel und die Verlegung des Laubhüttenfeftes in einen
andern Monat, daß bie Feitwallfahrten ſchon in ber bavibijch-
ſalomoniſchen Seit üblih waren. Allein die Aufichrift auf
David fehlt mehrfah in Geptuag. Handſchriften, das Lieb
befindet fid) in ber letzten, jedenfall? jüngsten Abtheilung
be Pfalter8 unb 33. 3 wird 7122 ungeachtet des Widerſpruchs
bes Verf. nicht bauen, fondern wiederbauen heißen, wie 147, 2,
ba bie benachbarten Lieder dafjelbe Thema der Auzfichten,
Sorgen unb Freuden der nacheriliichen Zeit behandeln umb
B. 3. B., bie eng in fid) verbuntene Stabt, fich biejem Sinn
gut anſchließt. „Wie eine Stadt, zu der alles fid) zuſam⸗
menfchaart” , überſetzt zwar der Verf. läßt aber babel ba
Paffiv und Feminin des Verb und das eingelegte Subjekt
„alles“ unerklärt, um bie unfchöne Übertragung (cujus par-
ticipatio ejus in idipsum) ber Vulg. zu Ehren zu bringen.
Nicht anders fteht e8 um Pf. 124, bem bie Gefahren des
160 Rohling,
aramäifch-ebomitifchen Krieges und andere fchlimme Zeiten
ber davidiſchen Gefchichte eine pajjenbe Baſis geben jolfen.
Nicht bieje vage Möglichkeit entjcheibet, nach welcher fid)
noch viele andere Xieder alter unb neuer Zeit auf jenen
Krieg und „andre fchlimme Zeiten der davidiſchen Geſchichte“
ziehen laffen, fondern das fprachliche Gepräge, aramaifirender
Wortſchmuck unb bie Umgebung, was ihn als Nachbildung
alter davidiſchen Lieder charakterifirt. Auch bie ſchönen Lied:
hen Pf. 131 und 133 find ábnlid) zu beurteilen. Pf. 127
ift wohl bie Erwähnung des Geliebten Gottes V. 2 in Ver:
gleihung mit 2. Sam. 12, 25 und die Erfahrung Salomo’3
1. fn. 3, 5 ff., daß Gott. feinen Freunden im Schlafe gibt,
$3. 2, nicht jo fait pofitiv für bie Aufichrift empfehlend,
welche Salomo a(2 Dichter nennt, jondern ber Inhalt macht
erklärlich, daß man ſpäter das Lied nicht unpaſſend jenem
König ſubſtituiren konnte. Daß aber der Pf. weit beſſer in
bie Zeit Serubabel3 und Joſua's pajje, wo ber Tempelbau
durch bie feindlichen Nachbarvölker gefährdet vourbe unb bei
bem Bebürfniß jugendkräftiger Mannſchaft Kinderfegen als
befte Sottesgabe geſchätzt war, hat ſchon Theodoret bemerkt.
Wir dürfen aber unfre Bemerkungen und Anzitellungen
nicht weiter ausdehnen, ba fie bem Ganzen, das eine wohl
gelungene Arbeit ijt, nicht wejentlich Eintrag thun und ohne:
bin nur dag Intereſſe befunden jollen, welches bie genauere
Leftüre des Buches erweckt. Der Pfalter ijt nun einmal
volijtànbig nur im Urterte und verhältnißmäßig in einer
möglichit genauen Wiedergabe defjelben in allen feinen Schön-
heiten unb der uncrjchöpflichen Fuͤlle jeiner religiöjen An:
regungen zu erkennen. Man will daher gern glauben, baB
eine Mebertragung, wie bie von Nohling vorgelegte und mit
paffenbem Gommentar verjehene, neben der meiftens jehr
Probft, Lehre und Gebet. 161
mittelmäßigen,, an unzähligen Stellen geradezu fchlechten
unb ungenießbaren griechifchen ber Septuaginta, aus welcher
unsre Iateinifche ftammt, nicht a8 überflüffig werde betrachtet
werben,
Himpel.
2.
1, gere und Gebet in ben drei erſten hriftliden Jahrhunderten
von Dr. Ferdinand Brobft, o. ὃ. Profefior der Theologie
an ber Univerfität zu Breslau. Tübingen 1871. Verlag
der H. Laupp'ſchen Buchhandlung. S. VIII u. 371. Pr.
2 fl. 48 fr.
2. Bollſündige Ratedjejeu für bie untere Klaſſe ber katholiſchen
Bolksſchule. Zugleich ein Beitrag zur Katechetik. Von
©. Mey, Theol. Sic, Pfarrer in Schwörzkirch, Diöcefe
Rottenburg. Mit Approbation und Empfehlung des hochw.
Herrn. Biſchofs von Rottenburg. Freiburg i. B. Herder'ſche
Berlagshandlung. 1871. €. XLIX. u. 367. Br. 1 ff. 45 kr.
1) Die Schrift Hrn. Probſts über „Lehre und Gebet
in ben drei erften chrijtlichen Jahrhunderten” bildet einen
weitern Band zu der „Paſtoraltheologie ber drei erjten
Jahrhunderte”, von welcher wir den im vorigen Jahr er:
ſchienenen Band, ter die Liturgie dieſes Zeitraums bejchreibt,
in ber Q.⸗Schr. Jahrg. 1871. H. 3. ©. 450 ff. beſprochen
haben. Wir müffen um fo mehr hierauf zurückweiſen, als
der zuerſt erjchienene Band die wiljenjchaftlihen Voraus—
ſetzungen enthält, auf welchen bie weitere Unterfuchung fid)
aufbaut; man muß fid) aber zuvor mit jenen Vorausſetzungen
und den Hauptrefultaten des Verf. befreundet haben, che
Theol. Quartalſchrift. 1872. Heft I. 11
162 Probſt,
man mit bem vollen Intereſſe und Verſtändniß in bie weitere
Beweizführung eintreten kann; und wie wir in ber Befpre:
hung be8 evjten Bandes die Hoffnung außgefprochen, bap jeder
weitere Band zur Bewährung ber Grundanfchanung des
Verf. werde etwas beitragen können und müffen, jo können
wir auch jet. unſre Befriedigung ausdrücken, daß wir üt
manchen erheblichen Punkten weiter geführt werben in ber
GrfeuntniB der Tirchlichen Zuſtände ber frühelten abr:
hunderte.
Wir erkennen auch in biefem Bande eine gewiſſe Ur:
Iprünglichkeit der Behantlung und eim Echöpfen aus bet
unmittelbarjten und erſten Duelle, unbeirrt durch irgend:
welche Nebenzwecke. Dem Lefer kann Beides nur erwünſcht
fein, daß nämlich nur die alten Kirchenjchriftfteller ſelbſt zum
Worte fommen, und tap bie Darjtellung nicht burch at
fegentliche polemifche Ceitenblide. auf entgegenftebenbe An:
ſchauungen zerriffen oder augeinandergezerrt wird. Vom
ſtreng boftrinären Standpunkt aus wäre allerbing8 eine
jolche gelegentliche Augeinanberjegung hie und da zu wünfchen
geweſen; und namentlid) will unà fcheinen, daß der Verf.
das umfaſſende gefchichtlich angelegte Fatechetifche Werk von
G. v. Zezſchwitz bod etwas zu abſchätzig behanbelt.
Diejes, freilich in der Form ſehr fchwerfällige und ermüdende,
aber mit großer Gelehrſamkeit gefchriebene Wert Hat teni
doch das Feld, welches H. Pr. befchreitet, in der Hauptſache
aud) ſchon angebaut und über mehrere den „Lehrſtoff“ δε:
treffenbe Punkte 3. B. über das Verhältniß der Glaubens⸗
vegel zum Eymbolam jo einläßlich gehandelt, daß es nur
mit Beſchränkung auf Tatholifche Theologen zutrifft, wenn
Pr. dad Kapitel über ben Lehrftoff fonft nicht bearbeitet
findet, wie er in der Vorrede fagt.
Lehre und Gebet. 168
Verſuchen wir, ben Hauptinhalt ber Schrift fura zu
ſkizziren! Das oberfte Thema ijt bie ſeelſorgerliche
Behandlung des Wortes Gottes in ber alten Kirche.
Dad Wort Gottes hat den doppelten Zweit, Gott zu ver:
herrlichen (Aufgabe des Kiturgifchen Gebete8) und die
Menſchen zu Heiligen (Aufgabe der Predigt). Damit
find bie zwei Haupttheile gegeben: Lchre und Gebet.
Die Lchre oder Firchliche Berfündigung des Wortes
geftaltet fi anderd vor Ungläubigen (Miffionzpredigt),
anderd vor Gläubigen (Predigt im enger Sinn), unb
anders vor Unmündigen oder Solchen, welche vom Unglauben
zum Glauben überzugehen im Begriff find (Hatechefe).
Hiermit befaßt fid) der erfte Theil nach den zwei Geſichts—
punkten: Lehramt und Lehrſtoff.
Verhältnißmäßig leicht Fällt ber Nachweis, daß vou
Anfang an die Befugniß zur Verkündigung des göttlichen
Wortes an ein bejtimmled Lehramt gefnüpft war, und
dag nicht Jedem, ber im Beſitz der nothwendigen Kenntniſſe
war, die Verkündigung be8 Worte Gotted aujtanb. In
dad Lehramt theilen fid) nad) dem Verf. Diakonen, Pres—
byter und Biſchoͤfe. Obgleich nämlich im Biſchof bie lehr⸗
amtliche Thaͤtigkeit gipfelt, ſo findet man doch ſchon frühe
eine Art von Geſchaͤftstheilung, derzufolge ber Biſchof bie
Glaubenslehre, die Presbyter die Sittenlchre und die Dia—
fonen bie disciplinären Vorfchriften vorirugen. Der Biſchof
redet demnach vorherrfchend zu den Gläubigen und Gom:
petentem, die Presbyter unterrichten die Gläubigen und Kate:
diumenen, und bie Diakonen fchärfen bie Difeiplinargejege
vorzüglich den angehenden Chriften und jenen cin, welche
unter bejonderer Auffiht ftebeu (€. 18) Dad Wort
Doctor aber bezeichnete keinen eigenen hierarchiſchen Grad,
11”
164 Probft,
Sondern wurde von denjenigen unter den Preöbytern ober
niedern Klerikern gebraucht, welche man für tüchtig erachtete
und damit beauftragte, zu ehren (©. 22). Für mehr al
allgemeine Leitende Gefichtöpunfte wird man jebod) biele
Diftinktionen nicht anzufehen haben; e8 wird nicht möglich
und nicht nöthig fein, eine ftrifte Beobachtung berfelben in
den einzelnen Kirchen nachzumeifen.
Erheblicher find bie Nachweife des Verf. über den Lehr:
ftoff und feine erfte Geftaltung. Aus der Subftanz ber
geoffenbarten Wahrheit, bem depositum fidei, mußte nad
verfchiedenem Maße gejchöpft und ausgetheilt werben, To wie
e$ die Bebürfniffe der verfchiebenen Zuhörerklaſſen, das
Smterejfe der Arkandiſciplin 1. f. w. verlangten; e8 gab für
ben Prediger eine beftimmte Rihtfhnur für Verfündigung
be8 göttlichen Wortes; der Ausgangspunkt ijt die Glau—
bendregel, b. i. jene Sunme von Wahrheiten und That-
jachen, welche bie Apoftel in der Miſſionspredigt vwortrugen
(€. 41). Gleihwie aber bie Apoftel in ihren Vorträgen
Bezug nehmen mußten auf den jübifchen Gegenjat, jo brüdt
fi aud) fpäter in ber Glaubensregel eine Polemik gegen
die Härefie aus. So wird 3. 38. in ber apoftolifchen Predigt
ber Lehrſatz von ber Schöpfung gegenüber ben heibnifchen
Kosmogonien hervorgehoben, in ber fpätern Glaubensregel
dagegen ift die Xehre von Chriſtus präcifirt gegenüber ber
Härefie.
Dieje Glaubensregel kommt in anderer Weife in ber
Predigt, in anderer im Cultus zum Vortrag, nämlich im
euchariftiichen Danfgebet ober Kanon — wie früher in ber
Schrift über die Liturgie nachgewielen wurde. Da der
Inhalt der apoftolifchen Predigt fid) im Kanon ablagerte
und vererbte (€. 60), jo Hat der Kanon felbjt wieder bie
Lehre und Gebet. 165
Anhaltspunkte für den Fatechetifchen Unterricht; ev war fo
etwas, was man jebt Katechismus nennen würde; ein kurzer
Auzzug daraus ijt dad Symbolum, verbum breviatum,
Inbegriff deſſen, was ber Laie zu glauben hatte, wie [páter
von Eyprian ba3 Vaterunſer ein sermo breviatus aller chriftli-
chen Gebete genannt wird. Kanon und Glaubenzregel dagegen
war ba$ ben Bilchdfen anvertraute Depofitum, welches fie
in feiner Integrität bewahren und ihren Nachfolgern über:
liefern follten (€. 68 f). Während aber die Glaubens:
regel ala Firchliche Predigt offen bekannt gemacht und vor:
getragen wurde, war dad Eymbolum zugleich wieder ein
Wahrzeihen der Gläubigen, erhielt liturgifchen
Charakter, wurde geheim gehalten und erjt bei der Taufe
ben Competenten anvertraut. Dad Eymbolum wurbe ftreng
genommen burd) die härctiichen Kämpfe nicht berührt, wäh:
rend in ber Glaubensregel auf diefelben Nücficht genommen
wurde; jo hat wenigſtens die römische Kirche das apoftolilche
Symbolum in feiner uralten Form intaft erhalten, während
bie griechifche Kirche bie durch die nicänijche und conjtatt:
tinopolitanifche Synode bewirkten Zufäge in ihr Symbolum
aufnahm.
Der Verf. legt mun mit Recht ein Hauptgewicht darauf,
baB bie Einführung be8 Einzelnen in die Offenbarungs-
wahrheit in Abſtufungen nach genau beftimmten Grund:
regeln vor jid) gieng, was fid) hauptjächlich in der Organi-
fation des Katechumenenunterricht? außprägt. Deßhalb wird
nun dem altlirchlihen Inſtitut des Katechumenats eine
gründliche Unterfuchung gewidmet. Die Organifation bieje8
Anititut8 be|tebt darin, daß man 1) ble Katechumenen in
beftimmte Klaſſen eintheilte, 2) entfprechend diefen Klaſſen
auch im Unterricht einen Fortfchritt in Mittheilung des
166 Probſt,
Lehrſtoffes einhielt und 3) den Eintritt in die betreffenden
Klaſſen, beziehungsweiſe den Austritt aus denſelben, mit
einer religiöſen Symbolik und liturgiſchen Feierlichkeit ver⸗
knüpfte.
Noch die neueſten faſt gleichzeitig erſchienenen Schriften,
die ſich mit Detailunterſuchungen über das Katechumenat
befaßten 1), haben fein. übereinſtimmendes und abgeſchloſſenes
Ergebniß erzielt. Entgegen nun der gewöhnlichen Annahme,
bag erjt — ober höchfteng — jeit Origenes fid) eine Schei—
bung ber Katechumenen in zwei Klaflen und bie daran fid)
fnüpfende kirchliche Difciplin nachweiſen Tafje, behauptet Pr.,
baB fihon zur Zeit des alerandrinifchen Clemens zwei Ab-
theilungen von Katechumenen a(2 fürmliche Klaffen auftreten,
daß die Aufnahme in bie erite Klafje von da au mit einem
Geremoniell verbunden war und bap jet an den Katecheten
jelbft die Anforderung wifjenjchaftlicher Bildung geſtellt
wurde, während früher jeder fromme Gläubige mit biefem
GBefchäfte betraut werben konnte. Im Einzelnen hat man
fh nun bie Einrichtung jo zu denken. Der Aufnahme in
das Katechumenat gieng eine Prüfung über Stand, Be
ihäftigung, Sitten u. j. m. voran. Die Poftulanten ober
Hinzutretenden, προσεόντες, oder aud) Profelyten genannt,
wurden dann in einer Worbereitungsfatechefe zunächit in
1) $05. Maier, Gefdjidjte be8 fatedjumenata und ber Katechefe
in ben erften jedj$ Jahrhunderten. Kempten 1868. — Ad. Weiß,
bie altkirchliche Pädagogik. reiburg 1869. Beide Arbeiten, gekrönte
Vreisfchriften, find durchaus beachtenswerthe Leiftungen, auf bie wir
hiemit nadhträglid — ba eine einläßliche Beſprechung in ber Ὁ τς.
nicht erfolgte — angelegenilihft aufmerffam machen möchten. In
mehreren SDifferengpunften 3. 58. über das Alter ber Klafjeneintheilung
ber Katehumenen bürfte S3 eif richtiger geſehen haben al8 Maier,
wie bieB auch Probft anninmt.
Lehre und Gebet. 167
erzählender Weile mit den Thatſachen der Offenbarung
befannt gemacht, ober aud) in der Weile, wie bie für Heiden
berechneten Apologien, 3. B. der Brief an Diognet, abge
faßt find, je mad) Bebürfnig. Unter den Echriften be
Clemens entfpricht diefem Vorbereitunggfurfe die cohortatio
ad gentes. Der Eintritt in die ev te Katechumenenklaffe
geichah unter den ſymboliſchen Geremonien des Kreuzes—
zeichen? oder auch unter Handauflegung; der Aufenthalt in
diefer Klaſſe dauerte durchſchnittlich 3 Jahre, ber Unterricht
befapte fi außer der Erweiterung ber Glaubensbekenntniſſe
hauptfächlich mit fittlichen Anweiſungen; ihm entſpricht ber
„Pädagoge” des Gfem. A. Zum Gottesdienſt wurden diefe
Katechumenen jo weit zugelaffen, bap fie ber Homilie πο
anwohnen durften.
Der Aufnahmeritus für die zweite Klaffe beftand in
einer Widerfagung, renuntiatio; der Aufenthalt dauert 40:
Tage; ber Unterricht war ein dbogmatifcher mit bem Ziele,
baB bie Katechumenen in ben Stand gejegt wurden, beim
Empfang der Taufe ba8 Glaubensbekenntniß abzulegen;
außerdem verlangte man von ihnen fittliche Übungen, Gebet,
Falten u. ſ. w. Die fatedjetenjdjulen in Städten wie Ale-
randrien hatten nach Pr. den Zweck, außer dem eigentlich
Fatechetifchen Unterricht Bildungsanftalten für Solche abzu:
geben, welche nach höherer wiflenjchaftlicher Bildung ver:
langten. Daß heißt aber, mie und jcheint, den Zweck unb
die Beftimmung bieler Schulen zu allgemein und unbeftimmt
ausdrücken; man macht jid) eine zu umfaſſende Vorftellung
von ihnen, wenn man fie fid) al3 eine Art von chriftlichen
Afademien benft, im denen von einer größern Anzahl von
Lehrern verjchiedene Dijeiplinen der höhern Bildung gelehrt
worden wären; anf folche höhere Bildungsanitalten würde
®
168 Probft,
auch ber Name Katechetenfchulen nicht vecht pafjen. Eher
möchten wir annehmen, daß diefe Schulen urjprünglich und
in erjter Linie als Specialfchulen gedacht waren zu dem
Zwecke, taugliche Katecheten heranzubilden, namentlich folche
Katecheten, welche den intellektuellen Ansprüchen ber Katechu-
menen aus ben gebildeten Ständen genügen fonnten; biejem
Zweck entfpricht auch die überwiegende Pflege der Religions⸗
philofophie und ber Gregeje in diefen Schulen.
Mit derſelben 9(fribie, mit welcher Br. bie patriftifchen
Notizen über Liturgie und Katechefe zuſammengetragen und
“verglichen hat, wirb ſodann auch bie Homilie der drei erften
Jahrhunderte — nah Inhalt und Form — bargeitellt. Bes
ſonders lebrreid) find hier bie 88. 59—61, welche über bie
Schriftauslegung, ſpeziell über ben Gebrauch der allegorijchen
Schriftauslegung auf δὲν Kanzel handeln. Snterefjant, weil
in folhem Zuſammenhang neu, ijt auch. die Charakteriſtik
der homiletifchen Qebrmeije der Alten, be8 Clemens Aler.,
Origenes, Tertullian, Cyprian, Hippolyt.
Der zweite Theil des Buches handelt vom gemein-
Ichaftlichen Gebet, alfo vom Gebet als Eultaft, deſſen ſittliche
Frucht die Erhebung des Herzens zu Gotf ijt. Nach einem
zweiten Geſichtspunkt, vernad) dag Gebet Gnadenmittel ijt,
will der Verf. daffelbe als Sacramentale angefehen wiffen
und in einem folgenden Bande behandeln. Wir notiren
hiebei nur die eigenthümliche Auffaffung: „Wie Johannes
mit jeiner Waffertaufe auf der Grenzſcheide ber beiden Tefta-
mente fteht, als der höchfte und lebte Prophet jedoch dem
alten Bunde angehört: fo ftehen die Sacramentalien auf
ber Grenzicheide des propbetifchen und hohenpriefterlichen
Amtes, find jedoch dem erjtern zuzutheilen (&. 254). —
Sofern ba8 Gebet Erhebung des Herzens zu Gott ijt, fallt
Θ
A
Lehre unb Gebet. 169
auch bie Hymnologie in ben Bereich ber Daritellung.
War ſchon in der „Riturgie” nachgewiefen worden, baf man
efih das Liturgifche Dankgebet (den Kanon) unter dem Namen
und in Form be Hymmus vorftellen müfje, jo blieb au:
nàdjt noch zu ermitteln, ob auch andere Arten won Gefängen,
deren jchon die Ὁ. Schrift erwähnt, $ofoj 3, 16; Eyheſ.
5, 19, im Gotte3bienjt ber alten Chriften gebraucht wurden,
bei welchen Gelegenheiten fie gebraucht und in welcher Weife
bie verfchiedenen Arten des Gefanges bezeichnet wurden.
Hier mum kommen wir über einige allgemeinen Anhaltz-
punkte nicht wejentlich hinaus; etwas ergiebiger erweist fich
das Nachforichen mad) alten Hymnentexten oder Fragmenten;
jo erkennt Pr. ſchon in Epheſ. 5, 14 ein Citat aus einem
gottesdienſtlichen Hymnus der Chriſten. Außer mehreren
verwandten Anftängen und Andeutungen bei Ignatius, dem
Brief an Diognet, Theophilug, werben poetilche Gilde bei
G(emen8 Aler., Gommobian, ben apojto(ijden GG. in. An:
Ipruch genommen und mitgetheilt, fowie aus Methodius bet
herrliche „Pſalm dev Jungfrau Thekla.”
Das Kapitel von den Gebeten im engern Sinn tft
und nach Anoronung und Darftellung etwas fchwerfällig
vorgekommen, enthält aber viel Intereſſantes und gibt zum
Theil neue Geſichtspunkte; jo die Abhandlung über das
Stundengebet (Anfänge des Brevirgebet3), öffentliche Morgen:
und Abendgebete, Tilchgebet, Agapen — die freilid, nicht
ohne einigen Zwang unter ber Lchre vom Gebet unter:
gebracht werden — ; endlich über Procefftonen und Begräb:
nißgebete.
Wenn wir biemit das Unſrige dazu beitragen möchten,
um dem Werke ble verdiente Aufmerkſamkeit zuzuwenden, fo
koͤnnen wir bod) auch nicht umhin, wiederholt den Wunſch
170 Dies,
außzufprechen, daß ber Verf. der Darftellung größere Sorg⸗
falt widmen möge. Wir begegnen nicht blos manchmal einer
Iojen und harten Sabverbindung, ſondern einigemal geradezu
jprachlichen Unrichtigfeiten, 3. 3. ©. 79 während drei
Jahre, wo dad während bod) gewiß ald praeposit. und
nicht als partic. praes. zu nehmen ijt; €. 57. 3. 7 muß
biefe ftatt jene ftehen. Unſchön ijt ©. 80 Anm.: das
20EnX. ... riecht ganz nad) einem Katechumenat. S. 30
muß ftatt quc. 5, 22 ftehen Quc. 4, 22; Ὁ. 9 Agabus
ftatt Agapus; ©. 139. Anm. 18 Pädagogik ftatt Pro:
päbeutil; €. 149 Autolyceuz ftatt Autolicus; ©. 184
Diadoche Statt Diadochä; €. 262 liebliche Melodie
Statt leibliche; &. 335 und 336 Stolberg [tatt Stoberg.
2. Maucem Sejer der Qu.:Schr. dürfte der Verfaſſer
ber oben verzeichneten „wollitändigen Katechefen für die untere
Klaſſe der fatfolijd)en Volksſchule“ aus einer früher bier
erichienenen Abhandlung „Zur Katechismusfrage“ (Jahrg.
1863. $$. 3) in Erinnerung fein. Hat derjelbe auch damals
für jeine ganz bedeutungsvollen urb reiflich erwwogenen Wine
und Vorſchläge anftatt wohlwollender Aufmerkſamkeit mehr:
fad Harte und gehäflige Anfeindung erfahren (vgl. „Zur
Abwehr” Qu.-Schr. Sabrg. 1864. H. 3), jo getrauen wir
und doch zu Jagen, daß feine Ratbichläge ein Ferment ab:
gegeben, welches vielfach ſchon nachwirkt im katechetiſchen
Unterricht. Für eine erſprießliche Loͤſung der Katechismus:
frage ijt nad) heutiger Sachlage Feine Ausſicht; darum ſoll
wenigftens für die Eultur des Fatechetifchen Unterricht2, 0:
weit biejer in der Gewalt der Katecheten ftcht, dag Grreid
bare angeftrebt werden; und am Katecheten liegt am Ende
doch mehr, ala am Katechismns.
H Mey Hat nun auch biejem weitern Schritt gethan.
Vollſtändige Katecheſen. 171
In der richtigen Erkenntniß, daß von der Art und Weiſe,
wie in ber untern Klaſſe ver Grund des religioͤſen Schul—⸗
unterricht? gelegt wird, mwejentlich der Erfolg des fortjchrei-
tenden Unterricht? abhänge, wollte er nicht blos bie allge:
meinften und nothwendigſten Grundſätze ber Tatechetifchen
Unterweifung erörtern und feititellen, jonbern, was das
Mühevollere ijt, vollitändig ausgeführte Tatechetifche Vor⸗
träge für bie jüngften Altersklaſſen geben, Katechefen, bie
mit aller pädagogifchen Sorgfalt bis ing Gingelue und
Kleinfte ausgearbeitet und gewiffermaßen künſtleriſch mobellivt
find, Dieſe Katechefen wurden gerade jo veröffentlicht, wie -
fie vom Verf. in der Schule felbft gehalten werden. Wenn
wir hierin zum voraus einen beftimmten Vorzug erkennen,
fo ijt e8 bejonberà aus dem Grunde, weil ſich der Verf.
alà einen Mann zu erkennen gibt, ber Feine höhere Beruf:
aufgabe Kennt a(8 die Pflege und Weiterbildung des kateche⸗
tifchen Unterrichts; er darf wie Wenige in diefer Beziehung
unfer volles Vertrauen in Anſpruch nehmen. Die fate
cheſen gehen aus einer gewöhnlichen Landjchule hervor und
find Speziell für fie berechnet; an den Verhältniſſen ber
Dorfgemeinde, an dem Geſichtskreis der Kinder in bemjelben
hat ber Katechet fic ſelber orientirt; für fie find bie jprach-
lichen Wendungen, die Gleichniffe, Erzählungen u. |. Ὁ.
Ipeziell ausgewählt; bie durchichnittliche Faſſungskraft folder
Schüler war maßgebend für die Auswahl und Abgrenzung
be8 aufzunehmenden Stoffes, und fo erhalten die Katechefen
im Einzelnen und im Ganzen ein inbivibuelled Gepräge.
Darin liegt ein weiterer Grund ihrer Brauchbarfeit. So
gewiß eine gute Predigt inbividuell ſein muß, jo und noch
mehr muß die Katecheſe etwa an fich tragen von bem Bo:
ben, in welchen fie Wurzel gefaßt hat. Immerhin barf
172 Mey,
man wohl die Leitung einer Landſchule, wie fie unjer Ka⸗
techet vor fich hat, als Durchſchnittsmaß aud) für bie weis
teften Kreife in Deutfchland annehmen; höchiten? dürfte in
Ländern mit einem jtarf von unjerm einheimischen abwei-
chenden Dialekt zumeilen eine Aenberung des Tprachlichen
Ausdrucks nothwendig werden. Im Uebrigen kennt ja jeder
verftändige Religionslehrer den Unterichied zwischen geiftiger
Aneignung und pedantifcher Nachahmung brauchbarer Vor:
lagen.
Dad Buch ſelbſt nun enthält drei Elemente, welche
gleich ſchätzbar find und bafjelbe ala einen vollwichtigen
„Beitrag zur Katechetif” erjcheinen laffen, nämlich bie Ein-
leitung, in welcher der Verf. über bie Grunbjátge Rechens
idjaft gibt, bie fi) ihm aus ber Gadje felbft und aus einer
langjährigen Beobachtung umb llebung ergeben haben; fo:
bann bie Katechefen jelbft, jo wie fie — jede ein Ganzes
für fid) — in der Schule gehalten worben find, und enblich
am Schluffe jede der beiden Haupttheile (Sommer: und
Winterſchule; A. unb 9t. 2.) Bemerkungen, in benen
jede einzelne Katecheje, jo weit fie eine beftimmte Eigenthüm:
lidjfeit ober eine bejondere Schwierigkeit darbietet, bis auf
ben Ausdruck hin theologifch unb praktisch gerechtfertigt wirt.
Die Einleitung bietet gewiffermaßen eine Theorie ber
fatedjetif, welche ſowohl bem Katecheten als dem Wolfe:
ſchullehrer — welch [egtever als mitthätig beim Eatechetifchen
Unterricht voraußgefeßt wird — das Verſtändniß für Wie:
thode, Handgriffe und Ziele des Unterricht? auffchließt. Wir
heben einige Punkte hervor, in benen ber Verf. theilß ge
tabegu neue Winfe gibt, theild beftimmtere und klarere Lehr⸗
ſaͤtze formulirt, ala es bisher gefchehen war.
Gleich ber erjte Punkt, den wir namhaft machen, dürfte
Bollftändige Katechefen. 173
von vielen Seiten Widerfpruch erfahren; wir meinen die
enge Begrenzung des Fatechetifchen Stoffes. Es wird an
genommen, bap bie Kinder ber brei eriten Schuljahre, im
Alter von 7—10 Jahren, die untere Klaſſe ausmachen; ber
Katechet wendet jid) aber zunächſt an die Schüler des jüngften
Jahrgang? und nimmt Feine Katechefe auf, die nicht diefer
Altersklaſſe gerecht gemacht werben farm; was den Schuͤlern
des zweiten und britten Jahres geboten wird, fol außer in
ber Wiederholung nur etwa in einer erweiterten Erflärung
deſſelben Lehrftoffs, der auch ben Kleinſten vorgetragen wird,
beſtehen. So jebr nun auch als oberſter Grundfak ber
fatechetifchen Methode feftgebalten wird, daß ber evite Unter:
richt fi an bie biblische Gefchichte anjchließen müffe, fo
nimmt H. Mey doch ben gefchichtlichen Stoff, namentlich
beà A. T., in viel geringerem Umfange auf, als man bibet
allgemein gewöhnt war. Nach ber Erzählung ber Sünd—⸗
fiif hat M. nur noch eine einzige Erzählung über „alt:
teftanentliche Offenbarungen.” Unter ber zufammenfafjenden
Bezeichnung als Prophet wird Moſes und deſſen Sendung
erwähnt und darauf bie Verfündigung ber 10 Gebote vor-
getragen; bie nun noch folgenden Katechefen für ba8 Sommer:
halbjahr Handeln über bic 10 Gebote, das Baterunfer,
Morgen: und 9[benbgebet, Betragen in der Kirche, Meß⸗
anbadjt. Man erwartet außer einigen Mittheilungen über
die Patriarchen Abraham u. |. w. menigftend einige Er:
zählungen aus ber Gejchichte Joſephs, auch Samuel, Da-
vids, indem man von ber Vorausſetzung ausgeht, daß gerabe
ſolche Erzählungen für bie jüngften Schulfinder anziehend
und belehrend feien. Dagegen M. erachtet die Entechetifche
' Behandlung diefer Gejchichten als verfrüht und ungmed:
mäßig, nicht allein weil es bafür bem SKatecheten an ber
174 Mey,
nöthigen Zeit fehle, ſondern weil ſie ſogar ſtörend in den
Gang des Ganzen eingreifen würden; es müſſe vor Allem
darauf hingearbeitet werden, den Kindern die Kenntniß der
Grundthatſachen der göttlichen Heilsöconomie
beizubringen; dad Ganze ber Heilsordnung [ΟἹ in groß-
artigen, tief gemeißelten Zügen plaftifch und anfchaulich vor
die Augen der Kinder treten; dagegen jet Alles wegzulaſſen,
was den Anfängern die Grfajfung des Gefammtbildeö er:
ſchwert ober gar unmöglich macht; wenn nun a. 38. bte Ge-
hichte vom ägyptifchen Joſeph aufgenommen würde, fo
würden damit Nebenbilder in ba8 Hauptbild hineingezeichnet,
welche die Kinder verwirren und die Erfaffung des Umriffes
nicht auffommen laſſen würden. Namentlich fürchtet M.,
daß man „in allerlei oft Eleinliche 9tuganmenbtungen, ſelbſt
in vage, gemeine Nützlichkeits- und Anftandsmarime, bie
mit Glaube und Liebe in feiner Verbindung ſtehen“, ver-
fallen würde. (S. XXIV.) Nun ließen ji) zwar unfers
Erachtens bieje Fehler vermeiden, ohne daß man auf die bod)
immerhin bebeutenden lehrhaften Elemente jener Erzählungen
verzichten müßte; ber entjcheidende Grund dürfte bod) wohl
nur ber Mangel au Zeit ſein. Immerhin aber haben wir
bier die Anfchauung eines erfahrenen und feiner Sache
fern Katecheten vor und, gegenüber von welcher e3 dem
Ref. nicht Schwer fällt, eine bisher gehegte Meinung aufzu-
geben; um fo eher, al3 bie Grundregel: bejchränfe bid) auf
dad Nothwendige, vermertbe aber daſſelbe jo affeitig αἱ
πιδα! (€. XXII), unbejtreitbar eine goldene Wahrheit
enthält. Gben]o muB man bem praktiichen Geeljorger glauben,
wenn er auf die Gebetdübungen ber Kinder, die Einführung
der Kinder in ben Gottesdienſt i1. j. vo. jo viel Gewicht legt,
αἰϑ ed im vorliegenden Buche geldjiebt ; man kann damit
Vollſtändige Ratechefen. 175
nicht früh genug anfangen, ba es gerade in Sachen ber
veligidjen Hebung viel jchwerer ijt, das Verſäumte nadgu.
holen, als dieß bezüglich gefchichtlicher Kenntniffe der Fall
it. — Ferner halten wir εὖ für eine weile Bejchränkung,
wenn gejagt wird: „Die ganze Typik be8 A. B. muß vom
erften Religionsunterricht auögefchloffen bleiben” (S. X XIV).
Dafür bleibt in ber obern Klaffe Raum.
Vollkommen einverjtanden find wir ſodann mit bem
Grundſatz, daß man den Kindern bec untern Klaffe kein
Memorirbüchlein etwa in Form eine? „Heinen Katechismus“
in bie Hand geben fol. „Durch das Memoriren aus Büchern
alsbald, wenn das Kind faum bie Buchftaben verbinden
fann, wird dad Gebächtniß eher geſchwächt als geftärkt, denn
e$ wird zu [efr am bie Stütze be8 Buchſtabens gemöhnt.
Bei einem folchen Memoriren ijt. ein finnlofer Mechanismus
fait unvermeidlich, bie religiöfen Lehrjäte und Thatfachen
werden mißhandelt. ene Blafirtheit, Bloͤdigkeit des Geiſtes,
bie bei manchem unferer Echulfinder fid) bemerflich macht,
ift fte nicht wenigiten8 zum Theil eine Folge be8 unnatür-
lichen, verfrühten Verfahrens beim Memoriren? Bon Mund
zu Mund, von Herz zu Herz tjt der natürliche Weg; ber
künſtliche Schriftweg ſoll fpäter betreten werben ... zwifchen
ben Katecheten und bie jüngften Kaatechumenen ſoll jid) fein
Buch drängen” (€. XLVID. (8 ijt frühe genug, wenn
bie Finder im 4. Sabre ben Katechismus zur Hand be
fontmen; unb wenn fie ihn bekommen, fol e8 fein anderer
fein, als ber eine und einzige Didcefanfatehismm. „Man
gebe biejem einen eine folche Einrichtung, daß er für alle
Kinder, bie nach bem Katechismus unterrichtet werben, brauch:
bar ijt und brauchbar bleibt” (S. XLIX).
Endlich notiren wir noch eine Abweichung bed Verf.
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Volftändige fatedjefen. 177
Eine Art von theologifch Eritifchem Apparat Bat ber
Berf. feinen Katechefen- in den „Bemerkungen“ folgen faffen.
Hier werden ſolche Punkte au den Katechefen Kar geftellt,
bezüglicd, deren exegetifch-theologifche ober formelle Bedenken
erhoben werben fönnten. Gerne. folgen wir dem Verf. in
biefe feine verborgene Werkftätte, in welcher durch fast mifro-
feopifche Unterfuhung der Schriftworte dag theologifche Ma⸗
terial erhoben und in die Sprache des Schulkindes umgefett
wird. Wir werden dadurch aufmerffam gemacht auf Unge⸗
nauigfeiten in unfern Bibelüberfegungen, noch häufiger auf
Unrichtigfeiten in den „biblischen Geſchichten“ und Kate
chismen ober in traditionellen Vorftellungen. Sp ijt es
ἃ. 3B. eine gewöhnliche Vorjtellung über die Taufe Ehrifti
im Jordan — und bie bildlichen Darftellungen begünftigen
biejelbe, daß, während Jeſus noch im Jordan ftand, ber
Himmel fid) öffnete u. f. Ὁ. Nach Matth. 3, 16 aber ftieg
Jeſus fogleich aus dem Waffer, nachdem er getauft war,
und erſt af$bann Dffneten fid) ihm die Himmel; nad) guc.
3, 21 betete Jeſus noch zuvor nach der Taufe, ehe bie
erhabene Theophanie erfolgte. Beides, bap Jeſus nicht —
in einem Zuſtand leiblicher Entblößung — im Waffer jtanb,
und daß er betete, find hinlänglich bedeutungsvolle Züge,
bie bem ganzen Bilde nicht fehlen bürfen.
Wenn e8 aber nicht blos ein Akt der Pietät, jondern
auch eine Forderung thenlogifcher Eorreftheit ift, dag Schrift-
wort zu nehmen und zu lajfen, wie es ijt, jo darf ung in
dieſem Grunbjape aud) nicht die Vorliebe für eine theolo-
gifche Schulanficht wanfend machen; unb ε gibt z. B. fein
ächt theologiſches Snteveffe, welches ung gebieten würde, um
bie göttliche Natur in Chrifto nicht zu verfürzen, diejenigen
Schriftftellen abzufchwächen, in denen jid) die wahre Menjch-
Tpeol. Duartalfärift. 1872. I. Heft. 12
176 Mey,
von der gewöhnlichen Praxis, welche darin befteht, daß er
bie Jtepetitionen in bejondern Repetitionskatecheſen hält und
nicht zu Anfang ber Lektion eine kurze Nepetition über das
zuleßt behandelte Lehrftüc vornimmt. Er tritt jedesmal mit
einem neuen Thema vor bie Schüler; ſchon bie Erwartung,
was jet kommen werde, |pannt die Aufmerkjamfeit ber
Kinder und ber Gegenitand be Unterricht? wird jogletd)
furg und bejtimmt angegeben, gleichlam unterjirichen vor bie
Augen der Kinder gefchrieben. „Aller Augen find mir ba
begierig zugewendet; fein Kind wird von ber Angft beun-
vufigt, ob es nicht wegen unfleißigen Erlernen? ber Kate-
chismus⸗Aufgabe getadelt werde, Fein Blick ſchweift verjtohlen
oder voraußeilend nad) bem Katechismus“ (€. XLVIL).
Man wird bierin eine feine Beobachtung nicht verfennen;
nur ift eben, wie wir ſchon wiffen, vorausgejebt, daß aud)
dem Schullehrer feine Aufgabe bezüglich des Religionsunter⸗
richts zugewieſen voerbe.
Die eigenthümliche Art der Katecheſen ſelbſt läßt ſich
kurz in drei Worten jagen; fie find bis ins Einzelne durch:
dacht und ängftlih bi8 "auf dad Wort erwogen; fie geben
ſtets auf ein genau bejtimmtes Ziel vefigiöfer Erkenntniß
aus, und endlich fie find fnapp in ber Form bei allem
Reichthum an Gebanfen; es wird bei aller Einfchränfung
ben Kindern doch hinlänglich viel — [Ὁ möchte es manch⸗
mal [deinen zu viel — zugemuthet; bod) verjáumt der Verf.
in δὲν Regel nicht, dasjenige beſonders namhaft zu machen,
was für bie Kleinften zu |djmer und beBbalb für bie Kinder
ber beiden höheren Altersklaſſen vorzubehalten ijt. Noch
möge erwähnt fein, daß ber fprachliche Ausdruck durchweg
bem Zwecke angemefjen und in mancher Beziehung geradezu
meifterhaft gewählt ijt.
Vollſtändige Katechefen. 177
Eine Art von theologifch Eritifchem Apparat bat ber
Berf. jeinen Katecheſen in den „Bemerkungen“ folgen laſſen.
Hier werden jolhe Punkte aus den Katechefen fíav geitellt,
bezüglich deren exegetifch-thenlogifche ober formelle Bedenken
erhoben werden fünnten. Gerne folgen wir bem Berf. in
dieſe feine verborgene Werkftätte, in welcher durch faft mikro—
feopifche Unterfuhung der Schriftworte das theologifche Ma—
tertal erhoben und in die Sprache bes Schulfindez umgeſetzt
wird. Wir werden dadurch aufmerkfam gemacht auf linge:
nauigfetten in unſern :38ibefüberjegungen, nod) häufiger auf
Unrichtigkeiten in ben „biblifchen Geſchichten“ und Kate-
chismen ober in traditionellen Vorftellungen. So ijt e8
ἃ. 3B. eine gewöhnliche Vorjtellung über die Taufe Chrifti
im Jordan — und bie bildlichen Darftellungen begünftigen
diefelbe, daß, während Jeſus nod) im Jordan ftand, ber
Himmel fid) öffnete u. |. Ὁ. Nach Matth. 3, 16 aber ftieg
Jeſus fogleich aus dem Waffer, nachdem er getauft war,
und erji al3dann ‚öffneten jid) ihm bie Himmel; nad) quc.
3, 21 betete Jeſus noch zuvor nach ber Taufe, che die
erhabene Theophanie erfolgte. Beides, bap Jeſus nicht —
in einem Zuftand Teiblicher Entblößung — im Waffer [tanb,
und daß er betete, find Hinlänglicd, bedeutungsvolle Züge,
bie bem ganzen Bilde nicht fehlen bürfen.
Senn e$ aber nicht blos ein Akt der Pietät, ſondern
auch eine Forderung theologifcher Correftheit ift, das Schrift:
wort zu nehmen und zu lajfen, wie ἐδ ijt, jo darf uns in
dieſem Grundfage auch nicht die Vorliebe für eine theolo-
gifde Schulanficht wanfenb machen; und e8 gibt z. 3B. fein
ächt theologifches Intereſſe, welches und gebieten würde, um
die göttliche Natur in Chrifto nicht zu verfürzen, diejenigen
Schriftftellen abzufchwächen, in denen jid) bie wahre Menjch-
Theol. Duartalfegrift. 1872. 1. Heft. 12
178 Mey,
heit Jeſu, feine Unterwerfung unter die Bedingungen menſch—
licher Erſcheinungsweiſe, ausgeſprochen finbet. Mögen εὖ
die SDogmatifer verantworten, wenn man 3. B. Luc. 2, 52
folgendermaßen interpretirt: Jeſus nahm zu an Weißheit
und Alter und Gnade bei Gott und ben Meufchen; das ijt
uun fo zu veritehen: cigentíid) nahm Jeſus nicht zu an
Weisheit, jondern es fam den Leuten nur jo vor, weil fie
fortfchreitend neue Aeußerungen feiner Weisheit wahrnahmen.
Mir fügen diefe Bemerkung bei, weil uns fcheint, ba
aud) $. M. mehr, als das Dogma forbert, einer jupre-
naturaliftiichen Anffaffung, welche das allgemein Menſchliche
in ber Perfon und dein Leben Chrifti einfeitig ſublimirt,
fid zuneigt. Freilich läßt fid) bieje unſre Differenz nicht
mit ein paar Worten außgleichen, und bie theologische Eontro:
verfe über das Wachſsthum Jeſu in ber Erkennt—
niß wollen wir an biefem Orte um fo weniger fortipinnen,
als wir mit der Art und Weile, wie bie Katechefe ©. 219 ff.
den Gegenjtand behandelt, vom fatechetiihen Standpunkt au?
ſchon einverftanvden fein fónnen. Daſſelbe gilt auch 3. 9B.
. von ber Ratechefe: Jeſus im Tempel gefunden. Sn
ben Bemerkungen dazu verwifcht und M. namentlich beu
menjchlich fehönen, tief im die Seele dringenden Zug von
ber Seelenangft der Mutter und ihrer fummerooffen, mit
mütterlichem Leid ausgeſtoßenen Frage: Kind warum θα
bu und dag gethan? Man braucht jid) nicht bie B. Jung:
frau „jo raſch und aufgeregt, [o unzart und uuffug, [o
wenig bemütbig und ergeben” vorzuftellen, daß fie den
Wiedergefundenen plößlich vor allem Volk mit einem „vor:
wurfsvollen Tadel“ angefallen hätte; das möchte allerdings
ven Kindern anftößig fein; aber daß Maria erjt fpäter —
an einem andern Ort — (id) die Frage erlaubt habe und
Vollſtandige Ratechefen. — 179
zwar einzig üt ber Abficht, nm über dad im Benehmen bes
Heilandes liegende Geheimniß Aufichluß zu erhalten (S. 323),
ba$ heißt nicht mehr, ba8 Schriftwort nehmen wie εὖ ijt.
Doch wollen wir gerne hier wie in mehreren anbern Punkten,
bie uns beim Leſen aufgejtoßen, bie guten Gründe be Verf.
reipektiren und nicht anmaßlich Meinung gegen Meinung ſetzen.
Schließlich nur noch ein Wort über bie Reimfprüche,
welche jeder Katecheje beigefügt find und in welchen je gleich-
jam bie Quinteffenz der abgehandelten Lehre niebergefegt. ijt.
Sie find größtentheild vom Verf. ſelbſt abgefapt, weil ibm
bie gewöhnlichen Spruchlanmlungen und namentlich pure
Moralfprühe nicht genügten. Ueber den Werth folcher
Sprüche kann im Allgemeinen fein Zweifel fein; daß bet
Verf. Hierin des Guten etwas zu viel getban, koͤnnte man
dann vielleicht jagen, wenn pebantijd) von ben Kindern das
Memoriren al diefer Sprüche gefordert würde Manchmal
hätte ftatt eines neuen Spruches ober Liedes bie eine ober
andere Strophe eines Altern Kirchenlieveß u. dgl. genommen
werden fünnen; die Form biejer neuen Sprüche, an bie wir
natürlich nicht in erſter Linie das Richtmaß Äfthetifcher
Kritit anlegen, ijt zuweilen jchwerfällig und hart für bie
findlihe Zunge; manchmal ließe fid) durch eine Kleine Um—
ftellung ber Worte oder Zeilen helfen; an Sinn für Form
Ihönheit unb an poetifchem Gemüth fehlt e8 bem Verf.
nicht. Ein Beifpiel möge unſrer Kritik zu Hilfe kommen.
€. 192 ſchließt die Katechefe über ba8 Angelusgebet mit
den Verſen:
Meißt bu, was bie Gfoden fagen
Dreimal rings an allen Tagen?
„Unjer Heil bat angefangen,
Als die Jungfrau Gott empfangen.“
12 *
180 Scharpff,
Damit follte ber Spruch zu Ende fein, und man würbe
faum einen jdjónerr finden können. Allein nun folgt πο
bie nüchterne und profaifche Nutzanwendung, welche allen
poetiichen Duft abftreift:
Achte dieſes fchön’ Geläute,
Folg' dem Brauche frommer Leute!
Ref. wäre nicht auf diefe Einzelnheiten eingegangen,
wenn er nicht überzeugt wäre, daß er eine febr bedeutende
fatechetifche Leiftung vor fid) hat, deren Werth auch unter
einer ſcharf prüfenben Kritit nur um jo mehr bervortritt;
ba? Buch verdient, in ber Hand eine jeden Katecheten zu
fein; e8 wird wohl ber warmen Empfehlung, bie wir bem-
jelben mitgeben möchten, feinen Abtrag thun, wenn Ref.
befennt, daß er biejen Bericht gefchrieben unter bem Eindruck
dankbarer Erinnerung an jene Zeit, ba er ſelbſt noch —
ed find jeifbem mehr αἷδ 20 Sabre verfloffen — ben Re
ligionzunterricht be8 Verf. genoffen.
ginjenmam m.
3.
Der Kardinal unb Bilchof Nikslens ven Guía al? Neformator
in Kirche, Reich und Philofophie des fünfzehnten Jahrhun⸗
dert, dargeftellt von Dr. grew; Unten Scharpff, Dom:
capitular in Rottenburg. Tübingen, 1871. Verlag ber Q.
Laupp’ihen Buchhandlung. VII. 507. 8. Br. 3fl. 36 f.
Die Forfchungen über Nikolaus von Cuſa, bie ber
hochw. Herr Verf. bereits in feinen Stubienjahren aus An-
laß einer an Biejiger Univerfität geftellten Preisfrage be:
gonnen, find mit biejem Bande zum Abſchluß gebracht. Der:
Nicolaus von Cuſa. 181
felbe ſtellt fid) zwei früher erichienenen Bänden, von denen
der eine baà Lebensbild be8 großen Garbinaf2, ber andere
eine Ueberſetzung feiner wichtigften Schriften enthält, zur
Seite unb ijt eine Gefammtdarftellung feiner Titerarifchen
Leiftungen. Eine [olde war zur Vervollftändigung ber
Monographie nothwendig; denn ebenfo bebeutfam als das
praßtifche Wirken war bie literarische Thätigkeit Guja'8 und
e$ it nicht übertrieben, wenn er auf Grund derjelben auf
bent Titel der vorjtehenden Schrift ein Reformater in Kirche,
Reich und Philofophie genannt wird: er mirb wohl zu allen
Zeiten in ber Gejdidte des menjchlichen Geifted zu ben
Erften gerechnet werben. Zwar wurde in neuerer Zeit be:
reits durch einen anderen Gelehrten ein Bild von feinem
geiftigen Schaffen entworfen. Während aber dieſe Arbeit
f$ fnapp an die Schriften Cuſa's hielt und auf fie fid)
δε τάνδε, glaubte der Verf, fid) ein höheres Ziel ſtecken
zu müjjen; er wollte „von ber geſammten literariichen Thä⸗
tigkeit defjelben, namentlich von derjenigen, welche al8 bie
hervorragendſte zunächft in Betracht kommt, ber philofophi:
ſchen, ſpeculativ theologifchen, ein harmoniſches Gejammtbifb
in ber Art geben, daß nicht wur eine Einficht in die innere
Entwidlung be8 Syftemd, in bie Geiftegarbeit des Philo⸗
ſophen durch chronologiſch geordnete Vorführung ber ein
zelnen Schriften nach ihrem wejentlichen Inhalt gewonnen,
jondern auch die Beziehungen des ganzen Lehrſyſtems nad)
Bor: und Rückwärts, zu der Eulturftufe, bie ibm voraus:
gegangen, imb zu den nachfolgenden Geiftern, auf bie e8
anregenb und beftimmend eingewirkt, zur möglichit Maren
und vollitändigen Darftellung gelangen.” In der That
reicht erſt bieje umfaffende Behandlungsweiſe hin, ben Gu.
faner in feiner ganzen Bedeutſamkeit erjcheinen zu laſſen.
182 Scharpff,
Der Verf, ber unter den Gelehrten der neuern Zeit zuerſt
in tiefer gehende Studien über den großen Kirchenfürten
und Denker fid) einließ, bat fih taber um benfelben ein
nicht geringes Verbienft erworben und biejes ijt um jo höher
anzujchlagen, da ev felbjt durch feine vorgerücteren Jahre
und mannigfaltigen Berufsgeſchäfte fid) nicht abhalten fief,
das MWerf zu vollenden, nachdem e$ durch äußere Verhält-
niffe (ange war unterbrochen worden. Das Erfcheinen des
Bandes in gegenwärtigem Augenblicke könnte vielleicht in
Einigen den Gedanken hervorrufen, daß an feiner Entjtehung
und Geftaltung die Zeitverhältniffe einen Antheil gehabt
haben. Diefer Vermuthung gegenüber erklärt der Ber,
daß er die Schrift ſchon vor Ausbruch ber gegenwärtigen .
Bewegung in der Kirche begonnen und bap. er es „ſtets ber
erhabenen Aufgabe der Gefchichte unwürdig gehalten habe,
wenn fie jchielend nach vedjtà und linf3 fid) bald Diefem,
bald Jenem in jchnöde Dienftbarkeit Hingibt, ftatt den Blick
offen und gerade nur dev Wahrheit, wenn fie aud) wicht
gefällt, zuzuwenden.“ Die Aufrichtigkeit biejer Worte bürfte
wohl Niemand bezweifeln, ber das Buch ſelbſt in bie Hand
nimmt; beni ebenjo wie durch Klarheit und Gemanbtbeit
ber Darjtellung zeichnet es jid) durch firenge Objectivität
in Behandlung des Stoffes auà.
Was den Anhalt des Werkes anlaugt, jo find die darin
behandelten Schriften Guja'8 theils Firchlicher unb politifcher,
theil3 philoſophiſcher, theils mathematischer Natur. Die
Hauptichrift in eriterer Beziehung führt ben Titel de con-
cordantia catholica unb ijt ein Reformplan für Kirche
und Reich. Ihre Entftehung fällt in eine Zeit, da zum
letzten Mal ein energifcher Verfuch gemacht wurde, dem feit
bent Ende des vwierzehnten Jahrhunderts allenthalben fich
Nicolaus von Cuſa. 183
kund gebenben Verlangen nach einer Reformation an Haupt
und Gliedern zu entfprechen nnd einem drohenden Unheil
zu wehren, an den Anfang des Goncilà von Bafel. Nikolaus
wohnte biejem jelbft aiu und wie groß fein Anſehen und fein
Einfluß auf ber Verfammlung war, zeigt dad Mort beà
Aeneas Sylvind, der ihm nach feinem Webertritt von ber
Seite der Synode auf die Seite des Papſtes den Hercules
omnium Eugenianorum nannte. Den Reformbeitrebungen
des Concils joffte aud) die angeführte Schrift dienen. Nis
kolaus betrachtet Hier Kirche τὸ Reich unter dem Geſichts⸗
punkt eines einheitlichen Organismus und bemüht jid), bie
Rechte der Glieder dieſes Organismus üt ber Weiſe zu be-
ftimmen, daß fie zu einem harmonischen Ganzen ji zu:
jammen[ügen, cber, wie wir auch jagen könnten, bie einzelnen
Glieber in ihre Sphären zurüchzumeifen, da das zu befeiti-
gende Uebel vornehmlich durch Competenzüberjchreitungen
entftanden war.
Den Anfang machte er der Natur der Sache nad) mit
ber Beſtimmung der Befugnifje des römischen Stuhles und
ſeines Verhältniſſes zu den allgemeinen Coucilien. Wir
heben zur Kennzeichnung ſeiner Lehre folgende Sätze aus.
Cuſa erklärt, daß in Entſcheidungen über den Glauben ber
apoftolifhe Stuhl den allgemeinen Concil unterworfen fei,
und daß nur ber allgemeinen Kirche Snfallibilität aufomme
(€. 16). Er tritt mit Nachdruck für das göttliche Recht
des Epijfopates ein und betont, daß ber Papft nicht Unis
verjalbifchof ijt, fondern der Erjte über Audern, super alios
primus, und daß die Kraft ter heiligen Coneilten nicht in
bem Bapit, jondern in der Einftimmung Aller begrünbet [εἰ
(5. 22 u. 63). Als bie für bie SOcfumcenicitàt eine Con—
cil3 erforderlichen Nequifite betrachtet ev nanıentlich bie Be-
184 Scharpfi,
rufung durch den Papſt, obwohl er nicht verfenne, bag bie
fieben älteften Coneilien durch die Kaifer berufen worben
jen; ferner Oeffentlichfeit und volle Nevefreiheit, auf bie
mehr anfomme als eine große Anzahl, und endlich Einigkeit
ber Väter wenigſtens in Sachen be8 Glauben? (&. 17).
In ber Abhandlung über ba8 Necht ber Präſidentſchaft auf
ber allgemeinen Syuode wird dad Verhältniß von Papſt
unb Eynode nod) näher erläutert. Cuſa erklärt einerjeits
die Zulaffung ber Legaten be8 apoftoliichen Stuhles für
eine vocjentfidje Bedingung der Defumenicität eines Concils;
anberjeit8 betont er, die Präſidentſchaft begreife nur bag
Recht der gefchäftlichen SDivection in fid) und jedes Mitglied
richte und befchließe ebenfo gut al8 ber Präfident, denn θὲ:
ſäße biefer aud) noch eine Etrafgewalt, jo wäre die Freiheit
des Concils aufgehoben und Einer würde Alles zu Stanbe
bringen; ber Papſt ftehe unter den Geſetzen ber Kirche und
er fünne deßhalb für fid) Feine Glaubensdecrete erlaffen;
diejenigen, welche ibm Ießtere Vollmacht zufchreiben, machen
mit Unrecht geltend, daß ihn Gott nicht irren laſſe, das
heiße Gott verfuchen, zumal man wiſſe, daß einige Päpite
im Glauben geirrt haben, alle Gewalt des Papſtes ftamme
on der Kirche, [εἰ eigentlich Gewalt ber Kirche und lebe
baher auch nad) bem Tode ober ber Abjekung eines Papſtes
in der Kirche fort; denn Chriſtus widerrufe bieje Gewalt
nicht unb [dfe fie bei der Wahl eines neuen Papſtes nicht
von Neuem (S. 66—69). Später wurde bieje Anjchauung
von Cuſa wieder aufgegeben und im Anfchluß «m feine
philojophifchen Speculationen dag Verhältnig von Papft und
Kirche in ber Weiſe beftimmt, daß jener als mit dieſer
identifch, zugleich aber auch als verſchieden von ber five
Nicolaus von Gua. 185.
und als möglicherweife bem Fehlen und Irren unterworfen
erfcheint (€. 83).
Wie eine Unterfuchung über die Grenzen der Papal-
gewalt gegenüber ber Kirche wurde bem Gufaner durch bie
Zeitverhältniffe auch eine Beſtimmung ber Grenzen berfelben
Gewalt gegenüber bem Staat, bezw. bem Kaiferthum nahe
gelegt. Er gibt biejefbe im dritten Buch ber concordantia
eatholica und fpricht jid) wie gegen bie Vereinigung ber
gefammten geiftlichen Gewalt im Primat, [o gegen bie in
feiner Zeit vielfach ftatuirte Abhängigkeit der kaiſerlichen
Gewalt von ber päpftlihen au8. Er fennt feine Subor:
dination, jondern eine Goorbination ber beiden Gewalten.
Der Kaifer ijt, wie er jagt, dem römischen Papſt in ber
leiblichen Hierarchie in feiner Weife gleich, unbefchabet bet
Berfchiedenheit, die zwiſchen dem Leiblichen und Geiftlichen
bejtebt; die faijev(id)e Macht ijt ihrer inneren Natur nad
unabhängig, da fie ihren Urſprung unmittelbar in Gott hat
(€. 35. 42. 60 ff). Obwohl aber in dieſer Weife unab-
hängig, ijt bie Eaiferliche Gewalt doch nicht ſchrankenlos;
benn e8 muß das Beitreben des Königs fein, bie Geſetze
durch Eintracht feitzuftellen, und es ijt paffenb, daß in einer
Verſammlung beider Stände alle allgemeinen Neichdange-
legenheiten befchloffen und geregelt werben, jo daß bain ber
König das einmüthig Beichloffene zu vollziehen hat. Ein
durch Mebereinftimmung gegebenes Geje kann von ihm nicht
einfeitig aufgehoben werden; wohl aber fteht ihm das Urtheil
darüber frei, ob ein Gejeß in einem gegebenen Kal anwendbar
ijt oder nicht (€. 44). Nur in einem Fall δε δὲ dad Ober:
haupt ber Kirche eine weltliche Jurisdiction über ben Kaifer,
bezw. ben Erwählten; follte biejer im Glauben irren, fo
fünnte e8 auf Grund des Canon? Venerabilem de electione
186 Sharpfi,
erflären, er [εἰ nicht Kaiſer. Aber bei dieſem Urtheil handelt
ber Nachfolger Petri nicht fo faſt aus eigener Vollmacht,
ala vielmehr in Kraft eines Mandates des chriftlichen Volkes,
baà bei ber Webertragung der Herrfchaft oovausiebt unb nur
unter der Bedingung eine Wahl vornimmt, bap ber Tinftige
Regent mit ihm im Glauben übereinftimme ἢ). Diefe An:
fhauung über das Berhältnig von Papſtthum und Kaiſer⸗
ijum könnte jebod) nicht beftehen, wenn bie conſtantiniſche
Schenkung auf Wahrheit berubte; denn in bicjem Fall würde
ber Raifer jeine Macht einfach von bem Papfte zu Leben
tragen. Guja faf fid) durch diefen Umſtand zu einer Unter:
fuchung über bie fraglihe Schenkung veranlaßt und er ift
der Grjte, der mit Hiftoriichen Gründen fiegreich ihre Un-
ächiheit nachwie?, nachdem bereits Dante und Occam burd
ihren politifchen Standpunkt zu Bedenken gegen ihre Accht-
beit beitimmt worben waren.
Der Hauptiheil unferes Werkes (93—411) ift der Dar-
ftellung ber Leiftungen Eufa’3 auf dem Gebiete der Philo-
fophie und Speculation überhaupt gewidmet. Wir müſſen
εὖ unà indeſſen mit Rüdfiht auf den Charakter unferer
Zeitfchrift verfagen, auf das Einzelne defjelben einzugehen.
Dagegen dürften folgende allgemeine Bemerkungen am Plage
fein. Die Stellung, bie Eufa in biejer Beziehung einnimmt,
it eine jer hervorragende. Er fteht ebenſowohl bezüglid,
des Gehalte ald ver Form feiner Schriften weit über ben
fpätern Scholaftifern und reiht fid unmittelbar den großen
1) Gufa fteüt fió hienach bos Verhaͤltniß ber Regenten zu ben
Üntertbanen in religiöfer Hinficht ebenjo vor wie bie mobernen Staats:
verfaflungen, bie von bem SRegenten fordern, daß er einer ber hriftlichen
Gonfeffionen angeböre, wenn fie nicht nod) weiter geben unb ihm gar
ein beftimmtes confeffionelle3 Belenntniß zur Auflage machen. Bol.
BU. für da Königreid Württemberg S. 5.
Nicolans von Guía. 187
Meiftern der mittelalterlichen Wiſſenſchaft an. Erdmann
jagt von ihm in feinem Grunbrig der Gefchichte der Philo⸗
jophie und ber Verf. ftimmt bielem Urtheil vollftänbig bei,
er fafle in merfwürdiger Allfeitigfeit die verſchiedenen Rich⸗
tungen zufammen, bie ὦ biäher innerhalb der Scholaſtik
gezeigt hatten; bieg führe ihn zwar zu Erigena zurüd, ber
fie alle in jid) gebunden hatte; es evidjeine bier aber. ber
Ausgangspunkt erweitert zu einem SKreife, welcher Alles um-
faffe, was bie auf den folgenden Stufen gezeigt hatten. Eine
bejontere Erwähnung verdient noch, daß Guja durch feine
tieffinnige Speculation zur Grfenutuig der Bewegung ber
Erde gelangte und dadurch ber Vorläufer von Kopernikus
und Galilei wurde.
Die Sprache unſeres Denkers ijt. iubeffen manchmal
unbeitimmt und zweideutig. Dieß ward Anlaß, daß er von
den älteren Gefchichtichreibern der Philojophie des Pantheis⸗
mus angeklagt wurde, Die neueren haben ihn zwar, ges
jtügt auf gründlichere Forjchungen, von dieſer Anklage fret:
geiprochen:: bod) erfreute fid) ihr Wrtheil Feiner allgemeinen
Annahme. Beſonders ging Stöckl in feiner Gefchichte ber
Philoſophie des Mittelalter auf die beinahe ſchon antiquirte
Anfchauung wieder zurüd und warf den cujanijden Syſtem
vor, baB εὖ theils geradezu Pantheismus enthalte, theild an
ihn wenigſtens "aujtveife. Der Berf. ließ fid) durch biefe
Aufftellungen beftimmen, bie Schriften Guja'8 in Anſehung
jener philofophifchen Richtung mit Umficht zu prüfen und
er gelangte zu einem gauz anderen Reſultate ala Stödl.
Er verfennt zwar nicht, daß fid) ber große Garbinal an
einzelnen Stellen verfänglich ausdrücke; er weiß aber auch
darzuthun, daß jene Stellen eine befjere Auslegung nicht
bloß zulaffen, Sondern in Anbetracht der fonft beftimmt aus⸗
188 Sharpfi,
geiprochenen chriftlichen Lehre von Gott und der Schöpfung
unb in Anbetracht ber ausdrücklichen Forderung Guja'8, bei
philofophifchen Speculationen nicht am Worte hängen zu
bleiben, eine folche geradezu verlangen. Dieſes Urtheil über
bie Lehre des Cardinals ijt auch maßgebend bei der 3Be-
ftimmung des Verhältniffes, das Sorbano Bruno zu ihm
einnimmt. Nach Ctód( war biefer fein Schüler im vollften
Sinne ded Worted und verftand er bie Lehre bed Meeifters
noch beffer αἱ biejer ſelbſt; denn e$ gelangten bie ver-
meintfid) unftreitig im cuſaniſchen Syſtem angelegten Keime
des Pantheismus in Bruno’3 Lehriuftem zu ihrer Entfaltung.
Sch. tritt auch biejem Urtheil Θ δ 8 entgegen unb feine
Auffaffung ijt wohl fo lange a(8 richtig anzuerkennen, bis
ber Pantheismus Eufa’3 mit ftärferen Stüben berjehen wird,
ala e8 bisher geſchah.
Der Einfluß eines fo hervorragenden Geiftes wie Gua
konnte fid) nicht auf bie engen Grenzen in Raum und Zeit
beichränfen, bie im ber Negel bem menfchlichen Wirken ge-
ſteckt ſind; er mußte fid) in weitere Kreife und auf jpátete
Geſchlechter erftreden. Wir begegnen daher nicht bloß zu
Lebzeiten bed Denkers, fondern auch nach feinem Tode [eb-
haften Berehrern feiner Philojophie. Der Verf. bebnte feine
Unterfuchung mit Recht auch auf bieje au und gab eine
Darftellung der Schule Cuſa's (412—507). Zu biejer ift
wenigiten8 in einem weiteren Sinne felbft der bebeutenbfte
Philoſoph des fiebzehnten Jahrhunderts zu zählen. Der
große Leibnitz jcheint zwar nicht unmittelbar aus ben
Schriften feines großen Landsmannes gefchöpft zu haben,
aber er lernte deſſen Ideen aus den Werken feiner Schüler
fennen unb er nahm fo viel von benfelben an, daß Guja
in neuerer Zeit geradezu fein Vorläufer genannt wurbe
Nicolaus von Gufa. 189
(Zimmermann in ben Siäungsberichten der Tail. Akademie
ber Wiffenichaften 38b. VII).
Vorſtehendes dürfte genügen, um auf einen Dann hin
zuweifen, der vermöge feiner Größe unferer Aufmerkſamkeit
in hohem Grade werth ijt. Ein volles Bild von feiner
geiftigen Bebeutfamfeit wird ſich erft au8 ber Lektüre ber
vorliegenden Schrift gewinnen laſſen, bie wir daher ange:
legentlich empfehlen.
sunt.
Cheologifche
Quartalfchrift.
An Verbindung mit mehreren Gelehrten
beraußgegeben |
von
D. v. Kuhn, D. Bukrigl, D. v. Aberle, D. Yimpel
unb D. fobrr,
Profefforen ber kathol. Theologie an der 8. Univerfität Tübingen.
Biernndfünfzigfter Jahrgang.
Zweite? Quartalbeft.
gübingen, 1872.
Berlag ber. H. 2aupp'fden Buchhandlung.
fon von δι ?uupp in Tübingen,
L
Abhandlungen.
1.
Unterfugungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit.
Bon Prof. Dr. Linfenmann.
Vierter Artikel, (Schluß).
Die zwei Lebenswege.
Wir weifen die Unterſcheidung zwiſchen einer Moral
ber Chriften in der Welt unb einer Moral des Kloſters
oder „der höhern Stände in der Kirche” als mißverjtänblich
und falich mit Entfchievenheit aurüd. Man darf bie ge:
trennte Betrachtung der verichiedenen menfchlichen Kräfte,
Aufgaben und Beftimmungen, ber Gmaben und der Tugenden
nicht bi8 zu dem Punkte treiben, auf welchem bie getrennten
Theile ald Gegenfätze außeinanderfallen und nicht mehr
unter einen gemeinfamen hoͤhern Geſichtspunkt gebracht
werben koͤnnen; dahin aber hat e8 üt ber That bie moderne
Cafniſtik mit ihrem dürren Scholafticiamus gebracht. So
unterjcheidet man und klaſſifizirt verjchiedene Arten von Gna-
bet — und wer am ſchaͤrfſten jpaltet, gilt als der Icharf-
13*
194 Linfenmann, c
finnigfte Theologe — und man vergißt darüber, bap im
legten Grunde und Weſen die Gnade nur eine fit. Aehnlich
ift mit der Tugend; man Kaffifizirt bie verſchiedenen Tugen-
den, oder vielmehr man verwechjelt die Anlagen, Verſuche
und Anftrengungen zur Tugend fowie bie Xugenbmittel mit
ber Tugend felbft, und überficht, daß bie Tugend im Wejen
“nur eine ijt.
Tugend ift Vollendung des Menjchen in Gemápbeit
feiner Beftimmung, gleichwie das Inteinifche virtus bie voll-
endete Mannheit, bie erreichte Höhe ivenler Männlichkeit be-
beutet. Sene äußeren Mittel, durch welche wir zur Voll-
enbung geführt werden follen, nennen wir Mittel ber Bil-
dung, weil wir nad) einem Sbealbilbe geformt werben
jollen; ba$ Ziel ber Bildung ijt bie Tugend, unb bie Bildung,
bie wir wirklich erlangt haben, wenn fie wahre Bildung ijt,
ift fefbjt Tugend. Es ift die Höhe ber Bildung und eben-
damit ber Tugend, bap mir dasjenige ganz find, was wir
fein jollen; bag wir dasjenige ganz vollbringen, was wir
vollbringen follen. Das Bild aber, nach welchem wir ge
formt werben jollen, ijt Fein anderes ala Gottes Bild, nad
welchen wir gejchaffen find. Ein Jeder aber [01 gebilbet
und vollendet werden nach bem Maße jeiner inbivibuellen
Anlagen, Kräfte und Gnadengaben, welche in der Theologie
virtutes heißen, ſofern in ihnen eben bie Möglichkeit ber
Tugend und bie treibenden Kräfte ber wahren geiftig ſittli⸗
‚Gen Bildung gegeben find.
Die driftlide Tugend läßt fid noch näher ber
flimmen. Das Bild Gottes, nach welchen unjer Weſen umb
unfer Charakter fich geftalten fol, ift Chriſtus ſelbſt, Er,
welcher ijt Bild Gottes, de Unfichtharen 1); nach biefem
1) Kolofi. 1, 15; II. Kor. 4, 4.
Lehre von Geſet und Freiheit. 195
Bilde follen auch wir umgeftaltet werben ἢ, ober wie bie
bie heil. Schrift an andern Orten ausbrüdt, wir follen
Chriſtum anziehen ?), fo bag er bet und Wohnung nimmt 9)
und ſonach fein Geift und fein Leben das unfre durchwirkt
unb erfüllt nad) dem Worte des Apoſtels: „Sch lebe, aber
ſchon nicht mehr ich, jonbern e8 lebt in mir Chriftug“ €).
Der Weg aber, auf welchem wir zu biejer Vollendung
gelangen, ijt ber Weg, ben Jeſus ſelbſt gewandelt, inbem
ber Herr und auffordert, ihm nachzufolgen; unb e$ gibt
feinen ambern Lebensweg zu unjerm rechten Ziele, als bie
Nachfolge Chriſti.
Wenn wir aber dad Evangelium felbft um bie Bes
dingungen befragen, unter welchen unfre Nachfolge Chrifti
bie rechte unb volltonunene fet, jo begegnet un? eine boppelte
Reihe von Vorftellungen, welche fid) fireng von einander
zu [deben jcheinen. Auf ber einen Seite [tebem bie er-
fchütternden Worte von ber engen Pforte und dem jchmalen
Weg, welcher zum Leben führt und welchen nur Wenige
finden P), von ber Selbftverläugnung unb vom Kreuztragen δ),
vom Ausreißen be8 Auges, dad und ärgert '), von ber
Nothwendigkeit, nicht nur Vater und Mutter und Weib
und Kinder und Bruder und Schweiter zu haflen, ſondern
noch dazu fein eigen Leben ®), von bem Schwert, das ber
1) Röm. 8, 29.
2) Röm. 13, 14; Galat. 8, 27.
8) Job. 14, 28.
4) Galat. 2, 20.
δ) Matth. 7, 14.
6) Matth. 16, 24. 25.
T) Matth. 5, 29. 80.
8) Luc. 14, 26.
196 Sinfenmann,
Herr zu bringen gefommen ijt anftatt des Friedens ?), von
den Verfolgungen, welche die Sünger Chrifti erwarten
u. f. Ὁ. Anuf ber andern Seite dagegen fteht jenes milde
unb ermutbigente Wort: „Kommet zu mir Alle, die ihr
mühjelig und beladen jelb, unb ich werde euch erquicen.
Nehmet mein od) auf euch und lernet von mir, weil ἰῷ
janft bin und demüthig von Herzen, und ihr werbet Gr-
quidung finden für eure Seelen. Denn mein Sod) tft
füß und meine Bürbe leicht” ἢ. Man vergleihe damit
Parabeln und Schilderungen, wie bie vom guten Hirten.
Während afjo auf ber einen Seite die ganze Strenge eine?
neuen Geſetzes unà entgegentritt, athmet an andern Stellen
bad Evangelium einen Geift der Freiheit, der Milde und
Duldung, ber Nachficht gegen die menfchliche Gebrechlichkeit,
fo daß ber Gegenjatg einer rigoriftifchen und einer milbern
und freiern Auffafjung in der Moral Teicht begreiflich ijt.
Die Gegenjüge aber formuliren fid) näher dahin: entweder
e8 gibt nur einen Weg be8 wahren Chriftenlebend, uur ben
ſchmalen Weg, ben bie Wenigen wandeln, ben Weg der
ſtrengen Pflichterfüllung bis zur vollen Hingabe feiner jelbft,
den Weg ftrenger und erniter Buße und Abtöbtung; neben
blejem einen Weg zum Neben gibt es nur mod) bie breite
Straße, bie zum Verderben führt. Was bie heil. Schrift
von dem fanften Sod) und ber leichten Bürbe jagt, Tann
nach biefer Auffaffung nur fo verftanden werben, daß benen,
bie wahrhaft dad Koch Ehrifti tragen, burdj bie höhern
geiftigen Gaben und Tröftungen reichlicher Erſatz geboten
wird für bie Entbehrungen und Kämpfe um Chriſti willen.
— —
1) Matth. 10, 34.
2) Matth. 11, 28—80.
Lehre von Gefeg und Freiheit. 197
Oder aber — da ijt bie andere Auffaſſung — «8 gibt
zwei Wege zum Heil; e8 werden nicht an Alle bie ftrengen
Anforderungen des Evangeliums geftellt, fondern nur an
diejenigen, welche bie höhere Vollkommenheit erreichen wollen ;
für diejenigen, welche in der Welt leben, bem irbijdjen Be-
ſchaͤftigungen fid) widmen, genügt e8, daß fie nicht in ſchwerer
Weiſe die Gerechtigkeit verlegen. Es ift bie ſchon befannte
Scheidung von Gebot und Rath. |
Man hätte zu diefer, auf den erjten Anblick äußerlichen
unb oberflächlichen, Anſchauung nicht kommen Fönnen, wenn
nicht bie erjtgenannte rigoriftifche Auffaffung ebenfalls ihre
Härte und Einfeitigkeit darbieten würde — G8 muß ein
Mittleres geben.
Wenn wir diejenigen Sittenlehren des Evangeliums
betrachten, im benen fich jo recht. der eigentliche Charakter
und bad Weſen ber fittlichen Forderungen Chrifti ausprägt,
jo finden wir nicht, daß ein Unterfchien gemacht würde
zwifchen ‚beitimmten Klaſſen von Chriſten oder zwiſchen Per:
onen von bejondern fittlichen Anlagen und Dispofitionen.
Wir willen au$ der mehrfach erwähnten Schilderung des
legten Gerichte? ἢ), daß bie Seligfeit abhängig gemacht wird
von ber Ausübung ber werkthätigen freien Liebe, deren
Werth nicht nad) dem Umfang ber geijtung bemefjen wird;
denn wenn bad Scherflein der Wittwe mehr gilt als viele
Gaben der Reichen 9), und wenn der Becher frischen Waſſers
nicht des Lohnes verluftig gehen wird ®), jo ijt beutfid)
genug dad Hauptgewicht nicht auf das äußere [onberm auf
dad innere Werk gelegt, und e8 kann Keiner von ber Ver:
1) Matth. 25, 81— 46. "
2) Marc. 12, 41—44.
8) Matth. 10, 42.
198 - Linfenmann,
pflichtung, das innere Werk, bie innere Bereitwilligfeit zum
Guten und die Reinheit der Gefinnung herzuftellen, | ent:
faftet werben.
Ganz beſonders belchrend aber find jene Auzfprüche
ber fog. Bergprebigt, in denen Chriſtus bem vollen und
reichen fittlichen Gehalt feiner Lehre den altteftamentlichen,
näherhin vabbinifch-phariäifchen Sittenlehren und Nebungen
gegemüberftellt. Im Unterſchied von dieſer am Buchftaben
haftenden äußerlichen, für die Schan berechneten, nach äußern
Symptomen abgefchätten Gefegegerfüllung dringt Chriſtus
in diefem Lehrvortrag fo febr auf eine geiftige Geſetzesaus⸗
legung und auf ba3 innere Wefen ber Sittlichkeit, daß man
leicht geneigt fein fünnte, die Spite ber Angriffe, welche
gegen die jübifch-pharifäifche Sittenlehre gerichtet find, aud)
gegen ba8 „Äußere Werk” im chriftlich Eatholifchen Kirchen:
wefen zu febren. Die Jünger Ehrifti, heißt es bort,. follen
ihre Gerechtigfeit nicht wirken vor ben Menfchen, um von
ihnen gefchen zu werben; wenn [le Almofen geben, follen
fie nicht vor fid) Der pofaunen, gleichwie ble Heuchler thun
üt den Synagogen und an den Eden, damit fie geehrt
werben von ben Menfchen; wenn fie beten, jolfen fie in ihre
Kammer treten und bie Thüre fchließen und zu ihrem Vater
. im Berborgenen beten, unb ber Vater, ber ind Verborgene
fieht, wird ihnen vergelten; wenn fle beten, jolfen jie nicht
Ichwäten wie die Heiden, die ba meinen, daß fie vermöge
ihres Vielredens erhört würden ἢ). An der Spite ber ganzen
Bergprebigt aber ftehen bie jog. Seltgpreifungen, deren tiefe
und zugleich praftiiche Bedeutung gar nicht erfaßt wird,
wenn man fie nicht auß bem Zufammenhang und dem eigent-
1) Matth. 6, 1—7.
Lehre von Gejeb und Freiheit. 199
fidjen Ziele ber Bergprebigt begreift. Auch ble Juden kann⸗
ten eine Art von Armuth, welche fie al8 eine befondere
Anmwartfchaft auf das mefftanifche Neich anfahen. Nicht
nur erkannten fie in dem politifchen Elend jener Zeit [id
jelbft a(3 bie Armen, denen nach ber Weiffagung Salas!
bie Botjchaft vom Neiche Gottes zu Theil werden miüffe 3),
fondern εὖ hatten auch fchon Einzelne auf dem Wege freier
Afcefe fid) zu Armen gemacht (vof. die Ebioniten). Aber
ba8 waren noch nicht die Armen „im Geijte”, welche Jeſus
felig preist. Auch die Juden fennen eine Neinheit unb Un-
beflecktheit, ohne welche e8 feinen Antheil am Meſſias gibt,
eine körperliche, äußerliche Reinheit in Enthaltung von
unreinen Speifen, von Berührung mit Leichnamen, fowie
auch eine Reinheit bezüglich geichlechtlicher Enthaltung. Aber
ba$ war nicht die Reinheit „des Herzens“, welcher ber Herr
die Anſchauung Gottes verheißt.
G8 wird fid) nicht Täugnen laffen, baf in dieſen Ma⸗
farigmen, von denen wir ber Kürze halber nur zwei ange-
zogen haben, gerabezu Leitende und zielzeigende Ideen chriſt⸗
licher Sittlichkeit gegeben find; mögen andere Schriftitellen
eine entgegengefette Auffaffung begünftigen, fo find biejelben
nur inſoweit buchftäblich zu fallen und nur inſoweit richtig
auögelegt, a8 fie mit bem leitenden Ideen vereinbart werben
innen. (G8 ijt nicht zuläffig, mit Berufung auf das Wort:
„Ich bin nicht gekommen, ben Frieden zu bringen, fondern
dad Schwert”, jene Tertesworte abzufchwächen, in welchen
den „Sanftmüthigen” ba8 Land ber Verheikung und den
„Triedfertigen” die Kindſchaft Gottes verfprochen wird. Und
3 gibt bezüglich biejer Grundideen feine Ausnahmen für
1) 3f. 61, 1.
. 200 infenmanm,
einzelne Klaſſen oder Stände der Chriftenheit. Nur das
läßt fib behaupten, daß das innere chriftlich fittliche Leben
ba$ äußere Werk nicht nothwendig ausfchließt oder durch
bleje8 legteve an adjtem Wejen und Verbienft verliert; denn
fonft wäre εὖ um ba8 Wort bed Herrn gefchehen, welcher
fagi: „Sp leuchte euer Licht vor den SRenjden, damit fie
fehen eure guten Werke und euren Vater preifen, ber in
ben Himmeln ijt^ P). Dagegen läßt jid) fireng genommen
ſchon nicht mehr behaupten, daß derjenige ber Vollkommenere
fei, welcher zu dem innern Werfe auch noch das äußere
fügt, welcher alfo 3. B. nicht nur nicht fein Herz an bie
Erdengüter hängt, jondern auch freiwillig al jein Hab und
Gut hingibt; ba8 innere und dad Außere Werk find nicht
gleicher Art, jo daß fle zufammen eine größere Summe
ausmachten; vielmehr verhält ji das Außere Werl zum
innern wie bad Mittel zum Zwecke; der Mittel gibt c8
aber viele und verſchiedene; der Eine wird von biefem, ber
Andre von einem andern Mittel gefördert je nach jeiner
Anlage und feiner Stellung im Ganzen. Darum aber
fommt auch ba8 innere Werk nicht ohne das Äußere zu
Stande; im Werke offenbart fid) bie Gefinnung wie im
Leibe bie Seele; vie Seele aber ijt nicht ohne Leib, vole das
Licht nicht ohne Flamme. Es gibt aljo auch hier feine
Scheidung von Goldjen, welche das innerliche Chriftenthum
in fid verwirklichen, und Colden, welche auch äußerlich
baffelbe daritellen in Werken der Abtödtung, Selbftverläug-
nung unb fiebe.
Dennoch liegt der Unterſcheidung von zwei Lebens
wegen eine Wahrheit zu Grunde Es it unverkennba,
1) Matth. 5, 16.
Lehre von Gefe& und Freiheit. 201
daß Ehriftus ſelbſt umter ben zu feinem Reiche berufenen
Einzelne in bejonberer Weiſe augerwählt bat, um ihnen eine
befondere Bahn anzuweiſen. Nicht Alle, welche ble Botichaft
be8 Heils empfangen, werben zu jener Nachfolge de Herrn
berufen, welche buchftäblich bie vollftändige Trennung von
Vater und Mutter, Weib und Kinder, Haus und Gut for-
beri. Es ijt nur ein enger Kreis, den Jeſus um fi ſam⸗
melt, um buchſtaͤblich in feine Fußſtapfen einzutreten. Biel-
[fett war ber reiche Süngling, ben Jeſus Tiebte!), in bie
jen engern Kreis von Schülern Jeſu berufen, folgte aber
bem Rufe nicht, weil er reich war, b. 5. fid) von feinem
Beſitz, von feiner Stellung in ber Welt nicht losſagen wollte.
Erwaͤhnt werben im Evangelium außer den Apofteln felbft
und jenen 72 Jüngern, deren Namen nicht genannt werden,
aus diefer engern Umgebimg Jeſu nur wenige Namen, wie
ea Sticobemu8 und einige ber frommen Frauen. Dieſe
Wenigen theilen ba8 arme, müheſame geben. Jeſu auf feinen
Wanderungen durch das heilige Land, forgen für feine ges
ringen irdiſchen SSebürfnifje, bereiten ihm bie Wege und nef»
men wohl auch ihren Antheil an den Schmähungen unb
Verfolgungen, denen ihr Meiſter ausgeſetzt iit. Dafür aber
erfreuen fie ſich an bem perjönlichen Umgang mit Jeſus,
vernehmen aus feinem Munde bie Lehren des Heil; ihnen
werben bie Gleichnißreden erklärt, bie ber Maſſe des Volkes
dunkel bleiben, fie erfahren bie beſondern Beweiſe der Liebe
Sefu und ihr ganzes geiftigfittliches Leben fteht unter feiner
bejondern Leitung unb Zucht. Es tritt aber auch beulfid)
hervor, daß biefen bejonber8 außerwählten unb in ben en-
gern Kreis gezogenen, in bejonbere Leitung nnd Bucht ges
1) Marc. 10, 21.
202 Linſenmann,
nommenen Süngern eine gang beſtimmte Stellung unb Auf:
gabe im Reiche Chrifti zugebacht wurde.
Es ift im Grunde nutzlos, zu fragen, ob bie Außer:
wählung biejer Wenigen geldjeben, weil bieje vermöge ihrer
geiftig-fittlichen Richtung, ihres Glaubens unb ihrer Tugend
fih ganz beſonders würdig und für ihre Aufgabe tauglich
erwiefen; oder ob bie göttliche auporfommenbe Gnade um
diefer ihrer Aufgabe willen fidj in ihnen beſonders wirkfam
erwiefen. Mean wirb Beides in gleicher Weile und Beides
zufammen fefthalten müffen. Soweit und aber ein Einblid
gewährt ift in die Wege ber göttlichen Vorſehung, ift ihre
Augerwählung geichehen in erfter Linie im Intereſſe und
zum Nuben ber Gefammthelt, des Reiches Gottes auf Er-
ben, jo daß fie ihr Heil wirkten in demſelben Verhältniß,
als fie fidj zu tauglichen und würdigen Organen für ihre
höhere Aufgabe heranbilveten.
Diefe Aufgabe bezeichnen wir ein für allemal als
Apoftolat, Sendung im Dienfte be8 Reiche
Gotte8 auf Erden. In ben Bereich biefer Aufgabe
fallen alle jene Dienfte, welche ber Einzelne ber höhern Form
ber menjchlichen Gocietüt, b. i, der Kirche, leiſtet und durch
die Kirche auch wieder ber irdiſchen Wohlfahrt der menfch-
lichen Geſellſchaft. Es gibt eine fpezielle Nachfolge
Chriſti, melde fid in ber Erwählung und Aus—
übung be8 Apoſtolats vollzieht unb welde al—
[erbing8 aud fittlihe Leiftungen fordert,
weldhe das Evangelium Chriſti nit Allen zur
Aufgabe und zur Bedingung be8 Heils macht.
Hier fdetben jid) zwei Lebenswege.
Wir betrachten nun bie Idee be8 Apoſtolats, wie fie
Lehre von Geſetz und Freiheit. 203
im Evangelium grundgelegt ijt umb wie fle fid im Leben
ber Kirche fortwährend realifirt.
Nachdem bie Apoftel in ben Dienſt be8 Herrn getreten,
da befam jened Wort be2 Herrn von ber Unmöglichkeit,
zweien Herren zu bienen !), für fie eine prägnante Bebeu-
tung; fie Fonnten nicht zugleich Gott dienen und bem Mam⸗
mon; fie mußten ihre Nebe verlaffen, um binfür Menſchen
zu fiichen; für fle gab εὖ feinen. heimathlichen Boden mehr
und feine irbiichen Beichäftigungen; fie waren Nachfolger
deifen, ber nicht hatte, wohin er [εἶπ Haupt lege. War e3 auch
mur Weniges, was fie verfteßen, jo war e8 bod) ihr Alles;
und ber Arme trennt fid) von feinem Wenigen ebenjo jchwer
a8 ber Reiche von feiner Fülle. Aber mit bem irdiſchen
Beſitz fallt auch bie Sorge hinweg. Als ejus feine Apo-
ftel ausſandte, das Reich Gottes zu prebigen, fprach er zu
ihnen: „Nehmet nicht? mit auf den Weg, weder Stab nod)
Tafche, weder Brod nod) Geld; auch nicht je zwei Roͤcke fol:
[fet ihr haben.” 9) Wenn fie biefer Weiſung gehorchten, fo
waren fie berechtigt, fid aller Sorge zu entichlagen unb auf
die göttliche Vorſehung zu bauen, welche die Vögel des Him⸗
meld ernährt und bie Lilien f[eibet, und welche benen, bie
zuerft das Reich Gottes fuchen, alled Andere zulegen wird ®).
Aber nod; mehr. Die Apoftel hatten Anſpruch auf ben Un:
terhalt von Seiten der Gläubigen; Gott jorgt, bag εῷ den
Seinigen nicht am Nothwendigen fehle); aber er forgt fo,
daß er dem Einen ble Sorge abnintmt und fie bem Andern
auflegt und daß fomit Einer des Andern Laſt trägt.
1) Matth. 6, 24.
2) Luc. 9, 2—8.
9) Matth. 6, 265—834.
4) Quc. 22, 85. 86.
204 Linſenmann,
Mit der apoſtoliſchen Armuth war eine zweite Form
ber Weltentſagung von ſelbſt gegeben, bie Losloͤſung aus dem
Verband ber Yamilie, die Ehe: und Kinderloſigkeit. Es be-
barf an biefem Orte wohl feines Beweiſes, daß auch folche
Apoftel, welche wie Petrus vor ihrer Berufung verehelicht
waren, den Freuden und Annehmlichkeiten des Familienle⸗
ben$ in ihrem Miffionsberuf entjagen mußten, und wie Pau:
(uà von ber Virginität dachte, ift ohnehin befannt. Es hieße
nun allerdingd bie Bedeutung der gejchlechtlichen Enthalt-
jamfeit abjchwächen, wollte man ben Grund der Eheloſigkeit
der Apoſtel blos darin finden, bap fie ihnen eine größere
Unabhängigkeit gewährte, eine Neihe von Lebensſorgen ab-
nahm unb eine pollere Hingabe an ihren Beruf ermöglichte.
Uber man muß diefen Geſichtspunkt bod) miteinbeziehen, wenn
man bie Virginität. würdigen will, unb wir berufen ung
darauf gegenüber einer andern faſt frivolen Anfchauung,
wornach bie Losloͤſung beg Dienerd ber Kirche aus den Fa⸗
milienbanden geradezu ein Hinderniß Acht apoftolicher Wirk-
ſamkeit wäre, weil fie ihn den rein menjchlichen Empfindun⸗
gen, Erfahrungen und Pflichten entfremde.
Schwieriger dürfte e8 fcheinen, als dritte fittliche For⸗
berung des Apoſtolats bie Idee bed Gehorfamd aus bem
Evangelium zu erweilen. Man kann jid) ein Bilb vom Ge⸗
horſam ausmalen, welches fid) mit ber Würde eines Chriften,
gejchweige denn eines Apoſtels, nicht vertrüge uub welches
und geradezu wie ein Spott erfchiene auf. bie wahre männ-
liche Unabhängigkeit und geiftige Freiheit. SDieje Art von
Geborjam ift aber aud) gar nicht geforbert. Aber was ben
Seift und dad Weſen des chriftlichen Gehorfams ausmacht,
bad warb den Apofteln reichlich zugemefjen, die Hingabe ber
ganzen Perſoͤnlichkeit an den Beruf, der Verzicht auf Ehren
Lehre von Gefeg und Freiheit. 205
und Würben ber Welt, Demüthigung und Dienftbarkeit nicht
blos gegenüber ber Welt, fondern aud) bec Sünger gegen
einander (Matih. 20, 25—28; Luc. 22, 25—27), und
endlich dad Martyrium.
Man wird zunächit geftehen müflen, daß aus ben füt-
lichen Vebungen , von denen wir geredet, ben Apofteln ein
großer Theil ihrer fittlichen Kraft, ihrer materiellen und gei-
figen Freiheit entflofjen ijt, und baB von ihren Uebungen,
ihren materiellen und perjünlichen Opfern ſich ihre Wirk⸗
famfeit im Weinberge bed Heren befruchtete,; bie Strenge
ihrer Afcefe, bie Selbftlofigkeit und Uneigennüßigfeit ihres
öffentlichen Auftretens gab ihren Worten Kraft und Nach-
brud. Dennoch Haben wir damit das tieffte Wejen fittlicher
Vollkommenheit, welche im Apoftolat verlangt wird, noch nicht
ausgedrückt. Es lag offenbar in ber Beitimmung ber 20po-
πεῖ, ein fittliches Soeal vor den Augen ber Welt barzuftel-
fen und zu verwirklichen; nicht nur bie chriftliche Lehre, ſon⸗
bern aud) bie chriftliche Sitte follte bie Welt umgeltaften
und erneuern; nicht blos für die Lehre gibt es eine Hinter-
lage in der Kirche; auch das chriftlich fittliche Seal muß
in ber Kirche Geftalt gewinnen, um von ba αἰ reinigenb
und heiligend au wirken auf die fittlichen und focialen Zu⸗
fände ber Menſchheit.
Das ſittliche Ideal im höchiten Sinne des Wortes (jt
Chriſtus jelbjt, und wir müffen einen Augenblid auf das
Leben Ehrifti zurücdigreifen, um bad, was wir oben ange:
deutet, Klar zu machen. Nichts fällt in ber irdiſchen Erſchei⸗
nung Ehriftt fo febr in die Augen, al? feine Armuth und
Niedrigkeit, und εὖ tjt unmöglich, bie fittliche wie jociale Be⸗
deutung biejer Lehre und dieſes Beiſpiels der Armuth zu
vertennen; e8 Περὶ darin ein Xebenzprincip ber chriftlichen
206 Linfenmann,
Societät, in welcher die Armuth, die Arbeit, bie Entfagung
und bie Wohlthätigkeit zu Tugenden erhoben worben find.
Nicht ebenfo allgemein würdigt man bie fociale Bedeutung
der Geburt be8 Herren aus der reinen Jungfrau, uud Ehrifti
eigene Jungfraͤulichkeit. Gewiſſe Moraliften möchten bei der
Debatte über ben Werth ber Virginität die Berfan be3 Gott-
menfchen am liebften aug dem Spiel laſſen, etwa wie man
nach den Grundſaätzen des parlamentarifchen Brauch? bie Per⸗
fon des Königd von ber Debatte ausſchließt. Aber man
gebe und nur eine volle und runde Antwort auf bie Frage.
warum widerſtrebt εὖ dem chriftlichen Zartgefühl, ung Chri⸗
fué, ber in Allem ung gleich geworden — die Sünde au
genommen — als Gatten und Familienvater vorzuftellen?
Warum anderd, als weil e8 eben im Menfchenleben nod
etwas Höhered gibt αἷ ba8 Gejchlechtäleben und weil wir
in Chriftus immer und überall das Höchfte, was beg Men-
iden würdig tft, juchen unb finden? Eben jo wenig mag
man fi gerne eine richtige Vorftellung machen von ber
Selbftentäußerung und von der Knechtsgeſtalt, in welcher
Jeſus erſchien); bieje bedeutet nämlich nicht blos bie Ar-
muth und Niebrigkeit ber menfchlichen Erſcheinungsweiſe,
fondern gerabezu eine Dienftbarkeit, vermöge deren Se
ſus geborjam geworben bis zum Tode. Und auch hier müffen
wir die Worte in ihrer vollen Bebeutung nehmen; auch
Jeſus fiel es fd)mer, diefen Gehorfam zu leiften, ex empfand
bie SBitterfett feiner Erniebrigung unb die Größe feines Op-
ferd. Wie ba3 möglich tjt, daß bem Gottmenjchen eine $i-
ftung des Gehorſams gegen ben bimmlifchen Vater fchwer
fülft, daß er etwas Anderes wünjcht und barum betet, ala
1) BOIL 2, 7. 8.
Lehre von Geſetz unb Freiheit. 207
was ber Vater will, bleibt uns freilich undurchbringlich.
Aber ber Schweiß, der wie Tropfen Blutes zur Grbe nie-
berrinnt, und dad Gebet im Delgarten jagen e8 ung, daß
e$ den Herrn eine Meberwindung Poftete, feinen Willen bem
feines Vaters zu unterwerfen, daß Jeſus in feinem Ge-
müthe erfchauerte ob des bevorſtehenden SOpfertobe8, daß er
nicht blos am Leibe, jonberm auch an der Seele litt. — Go
ijt Chriftuß das Vorbild im Gehorfam geworben. Sn fol-
her Weite erkennen wir bie Armuth, die Jungfräufichkeit
und den Geborjam αἷῷ die Signatur ber wahren Nachfolge
Chriſti, gleichwie bie Signatur der Welt ijt: „pie Begter-
lichkeit des Fleiſches und bie Begierlichkeit der Augen und
die Hoffart be8 Lebens” ἢ).
Das Werk Ehriftt zur Erldfung der Menſchheit (jt nicht
abgeſchlofſen in feiner Lehre, auch nod) nicht in feinem Sue
gendbeifpiel, ſofern dieſes leptere nur al8 ein tranjcendentes
Seal gefaBt würde; Chriftuß lebt auf Grben fort, nicht nur
in feiner Lehre, jonbert auch in feinem Werke, das Böſe
burh ba8 Gute überwindend. Das Tugendideal, das für
ung in bem Leben Jeſu liegt, muß Nealität gewinnen in
feinem Reiche auf Erben. Es liegt in ber Aufgabe ber
Kirche unb ijt eine ihrer Lebensbedingungen, daß bie höch—
ſten Ideale reiner Stttlichfeit in ihr bargeftellt werden und
daß in Kraft bieje8 idealen Leben? die Wirkjamfeit de?
Chriſtenthums für die Welt ununterbrochen fortgejeßt werbe.
Die Armuth Ehriftt muß in der Kirche bargejtelft werben,
damit ben Armen das Evangelium verkündet werde, — Das⸗
jelbe gilt von ber Virginität und vom Gehorjam.
Merfwürdig ijt in biefer Beziehung die Schilderung,
1) 1. Sof. 2, 16.
Theol. Quartalſchrift. 1872. Heft II. 14
208 Linfenmann,
welche von ber erften chriftlichen Gemeinde zu Jeruſalem in
ber 5b. Schrift gegeben ijt. Es offenbart fid) in biejer Ge:
meinde eine eigenthiimliche organiſatoriſche Kraft, bie zu εἰς
ner praktiſchen Ausgeitaltung bes chriftlichen Lebens drängt;
ba8 Princip ber Gemeindebildung prägt fid) eben darin aus,
baB man nicht bei einem vefigibjen Convent ſtehen bleibt,
fondern eine Neubildung auch auf bem weltlich jocialen Ge:
biete anftrebt. Diele erſte Gemeinde mußte bekanntlich al?
Borbild gelten für manche fpätere communiftifche und ſocia⸗
liſtiſche Beſtrebungen mit mehr ober weniger veligiöfer Yar-
burg. Ebenso fat diefe erjte Ehriftengemeinde dad Vorbild
geben müjjen für beftimmte Formen ber Ceftenbilbung 3.2.
für die „Brübergemeinde” und pletiftiiche Verſammlungen.
Nun fat man allerdings bie Erfahrung gemacht, bap, wenn
jene erjte Gemeinde nicht? weiter geweſen wäre als eine
jocialiftiiche ober pietiftifche Brüdergemeinde, vdiefelbe eben
jo wenig zu einer großen weltumfaffenden Kirche fich hätte
außwachjen fünnen, als e8 jene Sekten zu einer großen or:
ganifirten Gefellichaft gebracht haben. Man bat nämlich
bie Bedeutung ber erften Gemeinde fäljchlich dahin veritan-
ben, αἰ wäre bieje, wie ber Urtypus, fo aud) jchon bog
vol ausgeprägte religiös fittliche Ideal ber chriftlichen Kirche ;
man hat nicht beachtet, daß fie erft im Stabium ber begin-
nenden Entwicklung jtebt, daß verſchiedene Kräfte in ihr nod)
in gebunbenem Sujtanbe fid) befinden, bag verjchiebene Le—
bendprincipien der Kirche noch im Zuſtande be2 Keimes fid)
barjtellen; die Gemeinde ijf noch unfertig, einzelne Snftitu-
tionen find noch evft Verfuche, wie 3. Ὁ. eben die facultative
Gütergemeinfchaft. Es ijt nicht von ungefähr, daß fie die
apojtolifhe Gemeinde heißt. Denn dad Apoftolat
Lehre von Geje& unb Freiheit. 209 :
und bag irbijd) fociale Element find noch nicht von einander
gejchieben.
Nicht als ob etwa dad Grundprincip der hierardhifchen
SOrbnung, ber Unterfchied des clerifalen Amtes von ber Ge-
meinbe ber Laien, bem Urchriſtenthum unbekannt gewefen
wäre; wir fünnen diefen Unterſchied hier einfach als etwas
Gegebenes vorausſetzen. πὸ wenn ed nun eine befondere
Aufgabe innerhalb be8 Chriſtenthums für einen bejonbern
Stand gibt, jo wird ed wohl aud) bejonbere Stanbespflich-
ten und Standedtugenden geben. — Dieſer Schluß liegt
nahe, aber dennoch Stimmt er nicht mit bem zufammen, was
wir zu erweifen und vorgenommen haben; wir hätten ba:
mit nur Statt be8 Unterſchieds von Klofter: und Weltmoral
einen Unterjchied von PBriefter- unb Laienmoral, und wir
wären um feinen Schritt weiter in ber Erfenntniß der fitt-
lichen Prinzipien des Chriſtenthums. Der bierarchifche Stan:
besunterjchied Fällt nicht genau zufammen mit unjerer Un-
terfcheidung ber beiden Lebenswege; aber er bietet ung we-
nigftend ben Anknüpfungspuntt. Wen εὖ eine Nachfolge
Ehrifti giebt, bie einer peciellen prowidentiellen Aufgabe der
hriftlichen Religion entipricht, fo fällt fie zum vornehmften
Theil dem Briefteritande zu; aber nicht außfchließlich dieſem.
Gerade im moraliichen und nicht im bierarchifchen Sinne
ift e$ zu verftehen, menn das chriftliche Volk in feiner Ge-
ſammtheit genannt wird „ein geiftlich Haus, eine heilige Prie-
fterfchaft, um darzubringen geistige Opfer”, und wieder: „ein
außerwähltes Gefchlecht, eine königliche Prieſterſchaft, cin bei-
fige8 Volt’). Die Idee be8 Apoftolat? wird nicht einzig
durch den Clerikalſtand verwirklicht; es foll ein Jeder nad)
1) 1. $e. 2, δ. 9.0
14 *
210 Linjenmann,
dem ihm zugewiefenen Maße an biefer Aufgabe Theil
nehmen.
Dad muß nun concreter bargejtellt werben. Das Apo⸗
Ποία! hat bie Beftimmung, ba8 Werk Ehrifti auszuwirken
in ber Welt, das Reich EChrifti zu erhalten und auszubrei⸗
ten im ganzen Umfang feiner religiöfen, fittlichen und focia-
len Wirkſamkeit. Wir unterjcheiden eine breifache Form des
Apoſtolats; ein Apoftolat be8 Wortes, ein Apoftolat des Ge⸗
bete und bed Opfer?, und ein Apoftolat der werfthäti-
gen Siebe.
& Das Apoſtolat be8 Worte?.
An der großen Miffionsaufgabe, ber Verkündigung ber
Heilälehre unter den Völkern, läßt fid) am beutlichiten bie
Idee be8 Apoſtolats Mar machen; Bier tritt fie anſchaulich,
gewiffermaßen Förperlich vor unfern Blick; von diefer Miſſion
haben bie Apoftel ihren Namen; wir fünnen die Aufgabe
diefer Art von Apoftolat ziemlich genau umfchreiben und wir
wiſſen, daß e8 gerade für diefe Aufgabe einer fpeziellen Sen =
burg bebarf. Ohne Prebigt fein Glaube; „wie aber mer-
ben fie prebigen, ohne daß fie gelenbet werden?” 1) Sm bie
Aufgabe δε Apoſtolats faällt aljo jegliche Art von Berfün-
bigung ber Heilslehre, durch welche ber Glaube bedingt ift.
Die Sendung aber für den Dienft be8 Wortes fällt im All⸗
gemeinen zufammen mit der Erwählung für den Klerikal⸗
land — wobei ung zunächit bie weitere hierarchiſche Glie—
derung des Kleruß in ein magisterium und ein ministe-
rum, jowie ber Unterjchted zwifchen ber immanenten Lehr:
1) Röm. 10, 14. 15.
febre von Geſetz umb Freiheit. 211
gewalt des biſchöͤflichen Amtes und ber übertragenen bes
Priefterd nicht berührt. Wir haben einen Lehrſtand unb
fónnen von beitimmten fittlichen Eigenfchaften reden, welche
bie Befähigung zu diefem Stande bedingen.
Es Mingt faft wie ein Gemeinplat, wen wir für den
Boten ber Heilölchre einen hohen Grab von fittlicher Tüch—⸗
figfeit und Tugend fordern; den theologifchen und pfycholo-
gifchen Beweis hiefür wird man und erlaffen; nur von je:
nen fittlichen Eigenfchaften, welche für ben tüchtigen Miſſio—
πᾶν Gbrijtt beſonders charakterijtifch find, ſollen einige er-
wähnt werben; bieje find Gerabheit und Offenheit, bie keinen
geheimen Hinterhalt im Herzen des Redners befürchten läßt,
Treue ber Weberzeugung, Freimuth δε SBefenntniffe2, Un-
eigennüßigfeit und Unabhängigkeit. Der Redner darf nicht
(deinen, dad Seinige zu fuchen, noch auch ba8 Sieb beffen
zu fingen, deſſen Brod er ipt. Die Heilige Sache muß ihm
höher ſtehen als perfóníidje Ehre und Erfolge, ald Wohl:
leben und MWeichlichkeit und Genuß; ev mug fid) auf einer
fittlihen Höhe über dem Niveau ber gemeinen Sittlichkeit
bewegen. Man muß ber Wahrheit mit priefterlicher Auf:
opferung dienen; jede wahre Meberzengung und Begeifterung
bat ihr Martyrium.
Mir berufen und auf bie Erfahrung, wenn wir die Be-
ftätigung für das Gejagte vor Allem in ber Wirkſamkeit
be8 Ordensmannes, be8 Mönchd, juchen. Der Ordendmann,
wenn er wahrhaft ijt, was er fein (off, wenn er in Wahr:
heit nicht blos das Gewand, ſondern auch den Geift ber apo:
ftolifchen Armuth in fid) trägt,-ift zu allen Zeiten der rechte
und wahre Milftonär gemejen; er predigt nicht bloß durch
jein Wort, ſondern auch durch fein Gewand, durch feine
Tugend; er verlangt nicht, daß feine Zuhörer dieſelbe Form
212 Sinfenmann,
ber Abtödtung üben, bie er jelbit übt; indem er jelbjt mehr
thut, als er von ihnen verlangen fanır, befticht er ihre Her-
zen und macht fie bereitwillig, wenigſtens das Keichtere
zu thun.
Und bod) ift dad Moͤnchthum nicht eigentlich in eviter
Linie, Sondern nur ſubſidiär mit dem Dienste be8 Wortes
betraut; in erfter Linie ftehen auch hier, wie in jedem Zweige
ber Paſtoration, die Weltpriefter. Nicht die ſpezifiſche Form
des Mönchthums, wohl aber etwas vom wahren geiftigen
Gehalt deffelben verlangt die Kirche von ihren Milftonären,
und wir wollen nicht jo ganz gering anjdjfagen, daß bie
Kirche ihren Prieftern im Ganzen ein höheres Maß perfün-
fidjer Freiheit in der Wahl ber Wege zur Vollkommenheit
verftattet, als dieß innerhalb einer Ordensgemeinſchaft ber
Tall zu fein pflegt. G8 hat wohl eine tiefe pinchologifche
Berechtigung, ijt aber nicht im ftrengen Sinne wejentlich,
wenn die firchliche Geſetzgebung die perjönliche Freiheit
welche bem Briefter nach bem Evangelium gewährt ift, durch
pofitive Gebote über Elerifale Eitten, über Cölibat u. |. Ὁ.
wieder einjchränkt.
Dagegen leitet der Ordensſtand im engern Sinne [εἰπε
Berechtigung als Stand innerhalb ber Kirche eben dayon
ab, baB er Theil nimmt an den Aufgaben des Apoſtolats.
Darin liegt feine Kraft und Weihe; ein Ordensinſtitut, dag
fi den großen Aufgaben ber irbi]den Beltimmung der
Kirche entziehen wollte, hätte weder Berechtigung noch Les
benskraft.
Iſt aber einmal erkannt, daß es auch außerhalb des
Prieſterſtandes noch Träger einer apoſtoliſchen Aufgabe gibt
und daß ber Lehrſtand nicht eine Kafte ijt, an welche aus⸗
' Schließlich die Gaben beà Geiftes unb ber Erkenntniß gebuns
e
febre von Gefeß und Freiheit. 218
ben wären, [o fönnen wir noch einen Schritt weiter gehen.
So gewiß während ber eriten Verbreitung des Chriſtenthums
Mancher, ber nicht mit bifchöflichen Briefen verfehen war,
bie Kunde vom Erldfer αὐ Judäa weiter trug in bie Kreife
feiner Angehörigen und Belannten und dadurch den kirchli⸗
hen Prebigern die Wege bahnte; und fo gewiß jeder Fa⸗
milienvater ein Xehrer der Religion für feine Familie fein
kann und fol, jo gewiß muß man nicht nothwendig Kleriker
ober Mönch fein, um am Apoftolat des Wortes mitzuarbei-
ten nach Maßgabe Dejonberer Fähigkeit und Lebenzftellung,
auf bem Gebiete ber Preſſe, ber Wiffenfchaft u. f. Ὁ. Jede
Wahrheit auch in natürlichen Dingen iff Förderung ber Det
ligen Cade. Der Dienjt der Wahrheit und Wiſſenſchaft
it auch ein Prieftertfum und fordert Tugenden und Opfer,
ob man fie nun mit ben og. evangelifchen Räthen umfchreis
ben fünne oder nicht. Es gibt einen Beruf aud) für die
ſes Prieſterthum der Erkenntniß und Wiſſenſchaft; auch er
verlangt genstife fittliche Dispofitionen, Tugenbübungen, Gei-
ſteskämpfe, Entjagungen und Opfer; unb wenn wir biefel-
ben unter den Begriff des „Rathes“ bringen, jo wird man
un? kaum wiberjprechen Tönen.
b. Das Apoftolat be$ Gebeta.
Wir treten bier in ba8 Gebiet ver Myſtik ein; wir
betrachten jene innere Seite des chriftlichen Gnadenlebens,
welche hauptfächlich in Gebet und Gottebienft fid) Fund gibt
unb eben daraus ihre Kraft jchöpft. Auf diefem Wege my:
[εν Hingabe gewinnen wir jenes innerliche Chriftenthum,
von welchem ber Mpoftel vebet in ben Worten: „Nicht mehr
ich febe, fondern Ehriftus Tebt in mir.” Gebet, Gottebienft,
214 Linfenmann,
mit einem Worte Religion, bezeichnen das Kommen des Rei:
dà Gottes in unferm Innern); e8 ijt der Lebensnerv des
Chriſtenthums und eine gemeinfame Aufgabe aller Ehriften.
Darum ijt e8 auf den er[ten Anjchein frappant, wern man
von Religiofen, von einer vita religiosa, in jolcher Weiſe
reden hört, als ob Religion und Ordensleben eine und ba8-
Selbe je. Schroffer kann man ben Gegenjag zwifchen Klo—
fter und Welt nicht faffen, als wenn man ben Eintritt in
Klofter den Eintritt in8 religiöfe Leben nennt. Dennoch
dürfen wir an biejem Sprachgebrauch der afcetiichen Theo:
Iogie nicht wegwerfend vorübergehen; e8 liegt Sinn barin.
Sa wir verfchärfen ben Eindruck ber Überrafhung noch, in-
bem wir ben verborgeniten Hintergedanfen jenes Sprachge-
brauch hervorfehren, dag ijt der Gebanfe einer Stellver-
tretung in ber Übung der Religion. Die Religio-
fen üben Religion, beten, opfern, fafteien fij — an unfrer
Statt; vulgär gefprochen, te thun mehr an religiöfen und
afcetifchen Tlebungen als Erſatz für dad, was bie Welt zu
wenig thut; fie wandeln ben Weg ber evangelifchen Näthe
zum Entgelt für das, um was bie Mehrzahl ber Ehriften
hinter der Erfüllung der Gebote zurücbleibt.
Diefe Idee der Stellvertretung, jo jchwer faßlich fie ijt,
hängt bod) unmittelbar aujammen mit ber Heilddconomte und
wird annehmbar, fobald wir die erlöfte Menfchheit unter bem
Geſichtspuukt einer vealen Einheit betrachten. Die erfte und
urbildliche Art von Stellvertretung im Syſtem der δ εἶδε
ordnung iſt gegeben in ber ftellwertretenden Genug-
tbuung Chriſti; bleje beruht darauf, daß Gbrijtus un-
fer Einer geworben tft, unfer Volksgenoſſe und Blutsver⸗
1) guc. 17, 21.
Lehre von Geſetz und Freiheit. 215
wandter; um vefjentwillen fonnte ev unjre Mängel auf fid)
nehmen, unfre Sünde büßen, unjre Strafe tragen. So wirb
bie Stellvertretung des einen Menfchen (der Menfchheit)
vor Gott durch einen andern Menjchen (ben Menſchenſohn)
ein Begriff unfrer Theologie, der ſymboliſch und typiſch bar-
geitellt ift in bem Opfer, ſowohl bem jübilchen als bem
heidnijchen, unb feinen Vollzug findet im SOpfertobe Chriftt
ſelbſt. Vom Opfer Ehrifti al3 bem Urbild werben wir auf
eine andere Art von Opfer geführt, bie freilich mur in ab-
geleitete Weile Opfer heißt; nach bem Opfer, das Chriftus
für und gebracht, gibt es auch ein ſolches, dag wir Chrifto
und in ihm der ganzen erläften Menſchheit bringen müſſen.
Es bat fi, man möchte [αἴξ jagen unbewußt, ber
Sprachgebrauch gebildet von Opfern, bie man ber Menfch-
beit, bem Staate, ber Wiffenjchaft u. |. w. bringt. Das
fat einen tiefern Sinn, als man gewöhnlich ahnt; c8 liegt
darin nichts Geringered als bie Idee ber Stellvertretung.
Der Einzelne opfert fid dem Ganzen, b. D. er übernimmt
eine Leiſtung, die in der Beitimmung der Gejanimtbeit Tiegt,
bie aber nur vom Einzelnen durchgeführt werden kann; ba-
burch gewinnen folche Leitungen einen tvealen Werth, ber
ben materiellen weit .übertriffl. Der geworbene Söldling,
ber im Kampfe fällt, gibt auch jein Leben dar; aber man
nennt feinen Tod bod) nicht mit berjefben Emphaſe einen
Opfertod, wie den Tod be8 Bürgers, ber im Kampfe für
fein Vaterland ftirbt. Was macht nun ben Tod des Letztern
zum Opfertod? Dieſes, baB er pro aris etfocis, für Haus
und Hof kämpft, bap er [εἶπ Xeben einjegt für bie Seinigen,
für fein Boll. Er thut ἐδ auf ben Auf hin, ber an ihn
ergangen; und e8 fällt Niemanden ein, diejenigen, bie nicht
zum Kampfe berufen worden, be8 Mangeld an Patriotismus
216 Linfenmann,
zu zeihen barum, daß fte nicht jelbjt unter die Waffen gt:
treten, daß fie fid) vielmehr durch bie Tapfern bed Kriegs⸗
heers haben vertreten laſſen.
Sp gibt es nun auch eine militia Christi, einen Kampf
für ein höheres Vaterland, ein Opferleben und einen Opfer-
tod, ein Abfterben ber Welt, um ganz ben höheren Snter-
effen des Geiftes, der Religion, ber Kirche zu leben; und
wir fchreiben einem folchen Opfer einen wahren, im beften
Sinne idealen Werth zu. Wie einſtens Moſes jein Leben
anbot bem Herrn zur Sühne für fein Volt, und wie auf
dad Gebet des Moſes der Herr feinem Volke Sieg verlieh,
jo jchreiben wir auch einem reinen Opferleben der Fronmen,
den Gebeten ber Gerechten, ber heiligen Pjalmodie ber Weönche
einen propitiatorifchen Werth zu.
Wir müſſen dieß in einer concreten Anwendung erläu-
tern. Unfer Glaube jagt ung, daß Jeſus Chriftus in fteter
facramentaler Gegenwart in unfern Kirchen weilt; wir fün-
nen und jchwer darüber verantworten, daß nicht fromme
Chriften wie eine heilige Zeltwache Tag und Nacht hier ver:
weilen und dasjenige im Werke vollbringen, was bie large
Flamme des „ewigen Lichtes" ſymboliſch anbeutet, nämlich
ben fortwährenden Tribut der gebührenden Anbetung und
be8 heiligen Dienftes. Wie nun, wenn einzelne Fromme
oder ganze Genofjenjchaften fich’8 zur befondern Aufgabe
machten, das tägliche und ſtündliche Gebetsopfer darzubrin-
gen, jo daß feine Stunde ded Tages und der Nacht. vergeht,
ba nicht Gebet, Anbetung und Lobpreis von menfchlichen
Lippen dem Höchjten bargebrad)t wird? — Das ijt nur
einer ber Ge[idjt2puntte, unter welchen gewiſſe religiöſe Ue—
bungen und Verpflichtungen, ba8 Brevier des Prieſters, ber
Lehre von Geſetz und Freiheit. 217
nächtliche Gefang ber Mönche, bie Nachtwachen in ben Kirchen
„zur ewigen Anbetung” gewürdigt werben müflen.
Als Zeus in Gethfemane in Todedangft vang, hat er
feinen Süngern den Vorwurf nicht erfpart: fo Eonntet ihr
nicht eine Stunde mit mir wachen? Was bie jünger da-
mals nicht gethan, das ſoll bod) jet von treuen Nachfol⸗
gern des Herrn geſchehen. G8 ijt eine befondere Art von
myſtiſcher Vereinigung mit Chriſtus, welche fid) die beſon⸗
bere Betrachtung be8 Leben? und Leidens be$ Erlöjerd zur
Aufgabe macht; ein Nachfolgen in den Fußſtapfen des Herrn
durch innerliche Vergegenwärtigung ber einzelnen Momente
jeined Leiden? und feines Opfer; aus biejer Betrachtung
entfpringt ſodann das innere Mitleiden, das Nachempfinden
feiner Schmerzen in ber gläubigen Seele. Wie Chriftus
unfere Natur angenommen, unjre Sünden und unjve
Schmerzen getragen, jo will bie gläubige Seele aud) Gbrijti
Leiden tragen, diefelben in fid) ſelbſt abprägen, um auf dieſe
Meile Chrifto ähnlich zu werben bis zu einer geheimniß-
vollen Verähnlichung mit Jeſus, welche ber Apoftel erreicht
und angebeutet hat mit den Worten: „ch trage bie Mal-
zeichen be Herrn eju. an meinem Leibe” 1), Dieſe myſtiſche
Bereinigung und Verähnlichung mit Jeſus durch Gebet, Gone
templation und Aſceſe zu erreichen ijt. ba8 Ziel beſonders
ber jog. bejchanlichen Orden. Nur wer fid) in principiellen
Gegenſatz zu der fatbolijdjen Erlöſungstheorie ftellt, kann in
Abrede ftellen, daß eine folche Nachfolge Chriſti ein tief
religioſes und chriftliches Element darftellt, ein Hohes Ideal
von fopferleben. Es iff nur fcheinbar, wenn man eine
ſolche Beichaulichkeit in Gegenjag zum thätigen ober nüßli-
1) Salat. 6, 17.
218 Linfenmann, '
chen Chriſtenthum jtellen will. Wir dürfen auch bier dag
ftellvertretende Opfer fo hoch tariven, daß wir bemjelben
einen Werth für die ganze chriftliche Kirche zuerfennen. Die
Uebungen einer ſolchen „Religion“ gehören zu jenen ibealett
Beitrebungen der Menfchheit, welche wie auf einem andern
Gebiete bie Werke der Achten Wiffenfchaft und Kunft weit
höher ftehen als materielle Arbeit. Man muß freilich wün—
Ken, daß Alles in ber vechten Art gejchehe „mit ber Meß—
ſchnur, nach Gewicht und Maß” 1); aber man darf aud
hier bie Sache felbft nicht büßen laſſen, was ba und bort
Mißverſtändniß und Mißleitung in ber Form verjchulbet.
Schwärmeret ijt nicht Religion, aber alles Hohe und Gottes:
würdige kommt nicht ohne außergewöhnliche Anftrengungen
zu Stande; und wenn man einem hochbegabten Geifte, dem
Künftler ober Gelehrten, manche Extravaganzen verzeiht, weil
wir ohne feine Fehler eben aud) feine großen Schöpfungen
nicht hätten, fo fol man audy nicht allzuftreng richten über
Ueberſchwänglichkeit der religidjen Empfindung und über ein
Uebermaß von Afceje und Opfergeiit.
Das Gelagte fann genügen, um jtd) eine Vorſtellung
davon zu machen, was wir mit bem Apoftolat be8 Gebet?
meinen. Ein jolches ftellvertretendes Gebets- und Opfer:
leben fällt nun gewiß unter die Pflichten be8 priefterlichen
Standes. Aber eben nicht ausſchließlich. Die Myſtik biejer
innerlichen Religion ijt nicht ba8 Gange ber priefterlichen
Lebendaufgabe; fie kann ihn nicht einzig bejchäftigen, [elu
Leben kann in ihr nicht aufgeben, Aus bemfelben Grunde
aber, weil der Priefter dag aſcetiſche mit bem thätigen Leben
und Wirken verbinden muß, erklärt es fid) aud), daß in
1) III. Mof. 19, 35. Weish. 11, 21.
Lehre von Gefe und Freiheit. 219
ihm bie Eultur diefer höhern Myſtik noch nicht den Höhe:
punkt erreicht; daB gewiflermaßen eine Lücke bleibt, bie
durch freiwillige Opferliebe Anderer ausgefüllt werben fat
und fol. Darum fällt der Prieſterſtand mit bem. SOrben-
ftand nicht zufammen; aber e8 hat einen guten Sinn, wenn
man die Orden bod) aud) zum Klerus rechnet, unangejehen
bie Ordination, welche einzelnen oder der Mehrzahl ber
männlichen Ordensmitglieder ertheilt wird. Der Orbend-
mann, bie Nonne lebt ein Priefterleben auch ohne Sacrament
ber Weihe.
$96 nun ein Seber, ber folchen Opfergeift in fid) trägt,
fb abjonbern, einer geiftlichen Communität anfchließen und
durch Gelübde binden müſſe, wollen wir hier nicht erörtern.
Genug, wenn wir die Sache nehmen, wie fie und gefchichtlich
erjcheint. Jede Blüthe des geiftlichen Lebens braucht ihren
bejondern Boden und ihre bejonbere Guitur; nicht jedes
Klofter ijt eine Pflanzftätte folcher Myſtik geworden ober
‚geblieben ; aber wer die wahre Myſtik oder, wie ber zarte
Ausdruck be8 Mittelalterd lautet, bie heilige Gottesminne
fudjen will, muß fie doch in jenen Klöftern fuchen, in denen
am tremeften die Armut, Weltentfagung und Flöfterliche
Zucht bewahrt wurde.
Haben wir im Biäherigen einen beſondern Stand für
das Apoſtolat des Gebetes, den Prieſter- und Ordensſtand,
vorausgeſetzt, in welchen man auf Grund eines ſpeziellen
Berufes eintritt, ſo kann dieß doch wieder nur mit einer
Modification gelten. Schon die Idee der Stellvertretung
darf man nicht rein äußerlich faſſen, als ob der Eine um
der Mehrleiſtung des Andern willen von ſeinen eigenen
ſittlichen und religiöſen Pflichten entbunden würde; wir
können uns keinen Stellvertreter kaufen, der an unſrer Statt
220 Linfenmann,
einſtens vor dem ewigen Richter erſchiene. Auch Chriſtus
ſelbſt hat nicht in dem Sinne für uns Stelle vertreten, daß
wir das Heil erlangen, ohne daß wir ſelbſt an unſrer
Heiligung arbeiten. So darf aud) unſer Keiner ganz ent:
laftet werden von ber Chriſtusnachfolge durch Gebet und
Opfer.
c. Das Apoftolat ber werfthätigen Liebe,
Die Kirche Chriſti ijt [o wenig ein θοῦ jenfeitiges Reich
und bat jo wenig eine bloß tranfcendentale Aufgabe, daß,
wie Toit oben erwähnt, jchon bie erjte chriftliche Gemeinde
jociale Probleme zu [ἤει fi) anjdjdte. Und e8 waren
nicht etwa Utopien, an deren Verwirklichung man fich ab:
mühte; man legte praktiſch Hand an zur Sinberung gejell-
Ichaftlicher Nothftände; man organijirte bie werfthätige Liebe,
beauftragte beſtimmte Diener ber Kirche mit einer geordneten
Pflege ber Armen, der Witwen und Kranken und wies dafür,
jowie für ben Unterhalt der Kleriker, aus den gefammelten
Spenden der Gläubigen die nothwendigen Mittel an. War
bie einzelne Gemeinde arm und traten in ihr Nothftände ein,
|o wurden von veichern Gemeinden Beiträge erbeten und
geſendet.
Doch es bedarf Feiner langen Ausführung, um zu er-
weifen, daß bie Kirche von Anfang an einen beftimmten und
jehr weiten Umkreis focialer Aufgaben zu löfen fid) anſchickte.
Bon unten herauf und von innen heraus follte die Gejell-
ſchaft verebeft und gehoben werben; materielle Hilfe ſollte
bie Brücke bilden zur geiftigen Neufhaffung; materielle
Eultur den Boden bereiten für die höhere Eultur bed Geiſtes.
Es ijt kaum ein Gebiet der focialen Intereſſen, welches bie
Kirche nicht ihrer Thätigkeit vindicirt; Alles was zur Lin-
Lehre von Geſetz unb Freiheit. 291
derung irgend einer Noth dient, Alles wa zum menfchen-
"würdigen Dafein gehört, bie Würde ber Ehe und ber Familie,
die jectafen Rechte be8. Weibes, bie Aufhebung der Sklaverei
und Leibeigenichaft, Echub der Völfer gegen politische SDefpotie
und Anarchie, Förderung aller freien Entwicklung ber menich-
lichen Kräfte, Schule, Wiſſenſchaft — Alles nimmt bie Kirche
für ihre Thätigkeit in Anſpruch. Ste Tann fid) in diefe Auf-
gaben mit andern geiftigen und politifchen Mächten theilen;
aber fie kann nie, ohne fid) felbjt untven zu werben, aus
biejem Arbeitsfeld ji) freimillig zurückziehen.
Für unfern Zwed aber fragt ε fij, ob auch bier
eine Gliederung der Stände ftatthaft jei, ob das Apoftolat
ber Charitad an einen befondern Stand und Beruf gebunden
fe. Ja und nein! Die werkthätige Liebe ijt jo febr all:
gemeine Chriftenpflicht, daß gerade fie ald das Zeichen der
wahren SJüngerjchaft Chrifti bezeichnet und von den Werken
ber Liebe die Seligfeit im Jenſeits abhängig gemacht wird.
G8 fünuen bie Sntentionen der Kirche nicht verwirklicht
werden, wenn nicht ein Jeder nad) Mannezantheil Hand
anlegt zum Wohle be8 Ganzen. Wenn ed nun aber [don
ein tief bedeutſames Lebensgeſetz des Chriſtenthums iſt, bag
Einer des Andern Laſt trägt P, ſo iſt eine nicht weniger
bedeutſame Bedingung alles nachhaltigen Erfolgs bie τᾷ a⸗
niſation oder nach einem modernen Ausdruck das Princip
ber Arbeitstheilung; das ſetzt nun aber Gliederung der Ge-
ſellſchaft in Stände, Genoſſenſchaften u. |. vo. voraus.
Nun denkt man zunächſt wieder an die hierarchiſche
Gliederung ber Kirche; unb gewiß fällt dem Prieſterthum
wieder ein hervorragender Theil des Apoſtolats der Charitas
1) Galat. 6, 2.
222 Linſenmann,
auf die Schultern; aber nicht ihm allein. Oder iſt es wohl
ein zufälliges Zuſammentreffen — oder etwa gar ein Abfall
von ber eigentlichen Beftunmung, daß gerade bie Firchlichen
Genoſſenſchaften, die Orden, Gongregationen, Brüberjchaften
und Bereine, beftimmte Provinzen des focialen Arbeitsfeldes
fi bejonber8 zugeeignet haben, bie einen bie Cultur de?
Bodens, Armen: und Krankenpflege, Loskauf der Gefangenen,
bie andern dag Unterrichtsweſen, wifienichaftliche Unterneh:
mungen uj. w.? Man muß fid die Vortheile einer jorg-
fältigen Organifation und fpeziel die Weberlegenheit ver
Ordensgenoſſenſchaften über alle concurrirenden weltlichen
ober Laienkräfte vergegenwärtigen, um bie provibentielle
Stellung der Orden zu verftehen. |
Diefe Genoſſenſchaften arbeiten mit einem doppelten
Kapital. Das materielle Kapital erwächdt aus der Vereini⸗
gung vieler Einzelfräfte zu Einem Zwecke; organifirte Arbeit
gibt materielle Erfolge und Mittel; wer fennt nicht bieje
lebendigen und nie verfiegenden Quellen ber Wohlthätigkeit,
jelbft wenn man die Klöfter nur wie jener englijche Staats⸗
mann als bie Hühner betrachten wollte, welche bie goldenen
Gier legen! Anhaltende Tätigkeit, weiſe Defonomie bei
moͤglichſt geringen Bebürfniffen: fein Nationaldfonom Tann
ung befjere Garantieen für da Gedeihen ber Gocietàt nennen.
Aber was der Nationalölonom gar nicht ober faum in Red:
nung zieht, und was in Wirkfichkeit den höhern Werth Bat,
das ijt ba8 moralijche ober ideelle Kapital, welches hier ein-
geworfen wird. Wenn wir jagen, baf eine wahrhaft τοῖς
gidfe von gutem Geift bejeelte Genofjenfchaft eine Fülle von
fittlicher Kraft und Tugend, von Gnade und Gegen repräs
jentirt, jo iff dad zwar richtig, brüdt aber noch nicht bie
volle Bedeutung bieje$ moraliihen Kapitals aus. Die
Lehre von Gefeg unb. Freiheit. 223
Tugend, hier fpeciell die Charitas; unb ber auf ihr ruhende
Segen ift nicht einzig an bie Werke eines beftimmten Stan-
bed gefnüpft; ber Samariter im Evangelium befchämt Priefter
und Leviten. Schon näher kommen wir ber Sache, wenn
wir erwägen, daß jene8 Almojen das werthvollite ijf, dag
wir und am eigenen Munde abgejpart, jene Gabe, bie unà
[16 ein Opfer foftet. G8 muß aljo ein befonberer Segen
auf ben Liebeswerfen derjenigen ruhen, welche für jid jefbjt
auf Hab und Gut, auf Alle was die Welt begehrenswerth
nennt, verzichten und ein Leben des Opferz, ber Entbehrung
und Guijagung erwählen um ihrer Brüder willen.
Man unterfhäge nicht dad Beiſpiel und die Lehre,
welche in einem joldjen Leben des Opfers enthalten ijt. Das
jociale Elend bejtebt viel weniger in der materiellen Armuth
einzelner Klafjen ber Gejelljdjat, als darin, bap bie Armuth
brüdenb empfunden unb ſchwer ertragen wird. Unzufrieden⸗
heit und Rüfternheit der Armen, faliche Werthſchätzung ber
materiellen Güter, Mangel an häuglichem Sinn, ait. Spar:
jamfeit und Entbehrungskraft, Auflöfung der Familienbande
bei früh gereizter gejchlechtlicher Begehrlichkeit, Zunahme ber
Bebürfniffe mit bev fortjchreitenden Entwicklung de Ver:
febr, be gejelligen Leben? und ber Eultur überhaupt, fo:
dann auf Seiten der Reichen drückender Hochmuth, verlegende
und brutale Schauftellung des Luxus und des Genujjes,
Guítud der Materie: das find die Brutftätten jener Auf-
tegungen, von denen bie heutige Gefellfchaft immer und
immer wieder bebroht ijt. Wahrlich diejenigen haben fein
Herz für das Volk ober fein Verſtändniß für dejjen wahre
Bebürfniffe, welche ba8 vaube Gcwand bed Mönch? ober
den Schleier ber Nonne höhnen und mit Geringſchätzung
auf diejenigen herabjehen, welche Selbjterniedrigung, Ent:
Theol. Duartalichrift. 1878. II. Heft. 15
224 Linſen mann,
behrung und Armuth zuerſt an ſich ſelbſt üben, und das
nicht etwa gezwungen, nicht erſt in Tagen des Alters oder
der Krankheit, nicht blos in vorübergehenden Augenblicken
frommer Aufwallung oder Eentimentalität, ſondern freiwillig
das ganze Leben lang. Dieſe ſinds, deren Armuth Andern
zum Reichthum wird, ſie erwerben ſich damit das Recht,
Andern zu predigen, Laien und Geiſtlichen, Königen und
Papſten.
Wir reden hier von kirchlichen Genoſſenſchaften unter
der Vorausſetzung, daß ſie nicht allzuweit hinter der idealen
Beſtimmung, welche fte fid) ſelbſt gegeben und welche ihnen
in der Geſellſchaft zukommt, zurückgeblieben ſeien. Wir
haben bie Orden als Träger einer gang beſondern kirchlich⸗
jocialen Aufgabe angujefen; fie werden für biele Aufgabe
befähigt eben dadurch, daß fie in einer vita religiosa jener
geiftlichen Zucht fid) unterwerfen, welche in der Webung ber
evangelifchen Räthe bejtebt. Daß eine jolche Geiftegzucht
nothwendig ijt, erleidet faum einen Widerſpruch; daß gerade
in den evangelifchen Räthen, in biejem fpezifiich geiftlichen
geben, eine heilfame Difciplin gegeben tjt, bewährt fid aus
ber Erfahrung aller Jahrhunderte, Ὁ
Su der hierarchiſchen Orduung δὲν Kirche find bie
veligiöjen Genofjenichaften Fein organiſches Glied; infofern
kann man jagen, daß fie nicht Ichlechterdingd nothwendig
ober wejentlih für Daritellung ber fichtbaren Kirche find;
ihre Berechtigung tjt eine bedingte; dieſes zeigt jid) nament-
fid) auch darin, daß e8 feine won ber Kirche direft und aus⸗
Schließlich fejtgeftellte Korm und Regel für biejelbem gibt,
vielmehr bie Möglichkeit und jogar bie Nothwendigkeit ihrer
Umgeftaltung anerfannt werden muß. Es läßt fid) im Ein-
zelnen nicht behaupten, daß bie Erreichung ber von und
Lehre von Geſetz unb Freiheit. 225
dargeſtellten religiöfen und focinlen Zwecke nur gerade in
ber gebundenen Form be$ Ordensweſens möglich fei, nod)
weniger, daß alle 9(mbern, bie nicht durch Beruf ober Ge-
lübde den jog. höhern Ständen in ber Kirche angehören, von
ber Pflicht entlaftet jeten, am myſtiſchen Liebesleben und
jeciafen Wirken ber Kirche Theil zu nehmen. Aber das läßt
fic bod) wieder nicht verfennen, bag bie Orden nur aus einer
organifatoriichen Triebfraft des Firchlichen Geijte$, aus einem
immanenten Lebensgeſetz des Chriſtenthums ihren Urfprung
nehmen fönnen. (Ὁ ijt von ber göttlichen Vorjehung einem
Theil der Chriftgläubigen ein Lebensweg zugewielen, ver:
möge bejjen fie jid) deutlich aus der Gefammtheit der Gläu-
bigen herausheben. Wir erkennen außer dem allgemein
priejterlichen Charakter des chriftlichen Volkes nod) ein ſpe⸗
zielles Sacerbotinm, und außer ber Religion, welche ble Ge⸗
Jammtheit ber Gläubigen übt, noch eine bejonbere Religion,
b. i. bie professio monastica. Aber wir behaupten jofort,
wie wir fchon oben angebeutet, daß bieje fpezififche Art von
Religion nur darin und nur foweit Berechtigung hat, αἰ
fie eine Firchlich fociale ober eine apoſtoliſche Aufgabe erfüllt;
nur jo Bat e$ Sinn und Bebeutung, wer wir von einem
befondern Stand in ber Kirche mit Standesrechten und Stan⸗
beöpflichten reden, und jo werben bie evangelifchen Näthe
Standespilicten.
Mir wollen Hier nicht ἘΝ wie fid) nad) den ge-
ſellſchaftlichen Zuftänden ber heutigen Welt bie vein befchaus
lihen Orden zu ben in Seelforge, Wiffenfchaft oder Liebes⸗
werten thätigen Orden fid) verhalten und inmiefern bie erftern
fih eine Zukunft nerfprechen fünnen. Wir wollen ud)
feine Wünfche formuliren über zeitgemäße Oteorganijation
Ὁ $ Ordensweſens unb wollen feinen Klagen Raum geben
15 *
226 ginfenmant,
über etwaige Mißſtände un fiber jo manchen Unverftand,
ber auf diefem Gebiete zu Tage tritt. Sollten wir nicht _
von Idealen chriftlichen und Firchlichen Liebeslebens reden
dürfen, weil die Wirklichkeit jo weit hinter den Idealen zu-
zuͤckbleibt? Sollten wir nicht vom Wejen chriftlicher Voll:
fommenheit reden bürfen, weil bie zeitlichen Kormen, in
welche man das religiöfe Leben einzwängt, rauh, allzu fürper-
Daft, oft falt niedrig veafijtijd), ober auch veraltet und
unverftändlih find? Dürfen wir ben Philofophenmantel
eined heil. Suftinus fchmähen, weil etwa die Kutte des
Bettelmönchs unfer entwöhntes Auge beleidigt, ober follen
wir bie Harfe Davids zerichlagen, weil unà aus einer
Kloſterkirche Chorgebet und Chorgefang ohne Würde und
shne Geſchmack entgegentönt ?
Aber eine Lehre dürfen wir bod) daraus τι Nicht
etwa dieſes, daß jede menfchliche Smtitution, und zwar nicht
erit in ber Periode ihres Niederganges, fonbern fchon zur
Zeit ihrer moralifchen Höhe unb Vollfraft, bem gemeinen
Schickſal alles Irdiſchen, ber Endlichkeit und Unvollkommen⸗
beit unterworfen ijt; daß ijt eine gemeine Erfahrung, welche
auch bei denjenigen SInftitutionen zutrifft, welche ihren Ur⸗
fprung auf bejonbere Verfügung der göttlichen Vorſehung
zurüctühren. Ja wenn wir das Gättliche jelbjt mit unjerm
irbifchen Auge ſchauen dürften, würben wir e8 weniger
vollfommen fchauen als e2 in fid) ijt; unb noch unvoll-
fommener würden wir es auszufprechen und nachzubilden
vermögen. Das göttlichjte aller Werke b. i. die Kirche
ſelbſt ſtellt bie göttliche oce in det harten und jprüben
Form menſchlicher Enplichkeit bar — um wie viel mehr. bie
Inſtitution eines heil, Benedikt ober heil. Sanatiug.
Aber wir gehen weiter. Diefe AInftitutionen blieben.
Lehre von Belek unb Freiheit. 997
um jo gewifler hinter ihrem Ziele zurüd und giengen um
fo ficherer ihrem Verfalle entgegen, je mehr eine einfeitige
Moral ihnen eine fBebeutung beilegte, welche ihnen nicht
zufommt, je mehr man bie Form über das Weſen erhob,
bie Beitimmung der Orden in bie äußere Form legte, Re⸗
ligion mit Mönchthum verwechjelte und den Religiofen um
bed Gewandes, beà Brevird und ber Difeiplin willen für
den allein vollfommenen Chrijten anſah.
Es gilt für ben Klerus überhaupt und für bie Regularen
inàbefonbere, daß man nicht Alles πα Einem Echnitte jollte
einrichten wollen; man muß Suititutionem werden lafien,
nicht aufprängen. Die Zukunft «des Klerus und ber Orden
wird bavon abhängen, ob man verftcht, fallen zu lafien
was veraltet ijt, zu pflegen was Zeit und Verhältnifje mit
fij bringen. G3 fol nicht allen Bäumen Eine Rinde
wachlen. Wenn ber Kleriker nicht eine Nebenperjon in öffent:
lichen Dingen werben will wie im alten Rom der rex
sacrificulus, wenn er vielmehr in ber Gefellichaft und auf
fie wirken will, dann muß er die geiftigen Ettömungen bet
Zeit fennem lernen und verfolgen ; nicht Privilegien und
nicht ber Habit machen feinen Einfluß aus, jondern geijtige
Reglamkeit und Freiheit.
Darum off der Klerikalftaud nicht zur Kafte werden.
Der Eintritt in denjelben ijt weder ba8 Vorrecht noch bie
Fäftige Verpflichtung einer beftimmten Claſſe von Gläubigen;
es fteht Allen ber Weg offen zu der einen oder andern Weile
apoftolifcher Wirkfamkeit; und wer immer einen folchen Weg.
erwählt, ber thut εὖ mit dem hödhiten Grade perfönlicher
Freiheit. Der Eintritt in das Apoftolat ijt ein freies
Opfer, ber Kirche dargebracht von denjenigen, welche nach
bett Worten be8 Evangeliften „nicht aus bem Geblüte und
228 Linfenmann,
nicht aus Fleiſches⸗Willen und nit aus Mannes: Willen,
fondern aus Gott geboren find” ἢ. Dennoch [εἰπὲ (8,
baß diefe Freiheit eine weſentliche Einſchränkung erfeibe, fo-
fern der Eintritt in ben Priefter- oder SOrbenajtanb bebingt
ift durch befondern göttlichen Beruf. Damit ftehen wir
vor einem neuen ‘Problent.
Die Berufsfrage.
In welcher Weile ergeht der göttlihe Nuf an bem
Menihen? Woran erkennt der Einzelne ben göttlichen
Beruf zur ſpeziellen Nachfolge Chriſti im Prieſter- ober
Drbenzftand? Was gibt ben Ausſchlag bei ber Entſcheidung
ded Einzelnen über feinen Beruf? Das ijf der Kern der
Berufsfrage. Nun redet man zwar in ber Theologie von
einem Beruf im eigentlichen Sinne nur bezüglich des Einen
Lebendweged, nämlich be8 vollfommenen oder „religidfen“
Lebend, weil ein folcher Beruf eben eine Erwählung ober
eine Ausſcheidung aus der großen Maſſe ber Gläubigen in
ὦ begreift. Dennoch legt ung ber vitígüre Sprachgebrauch
nahe, aud) darauf Nücficht zu nehmen, was man im ge-
wöhnlichen Xeben unter Beruf im weitern Sinne, unter
Berufgart und Berufdwahl verfteht. Indeſſen ift die vul-
gäre Ausdrucksweiſe oft unbeitimmt und ſchwankend; man
verwechfelt bie Begriffe von Stand, Beruf gu einer beftimm-
ten Lebenaftellung, Beruföpflicht u. j. Ὁ. Wir müffen uns
nun zunächſt vergegenwärtigen, auf welche 9Beije bem ein⸗
zelnen Menſchen feine Lebenzftellung und [εἶπ Wirkungs⸗
kreis in der menjchlichen Sefellichaft angemwiefen wir. In
1) So. 1, 18.
Lehre von Geſetz unb Freiheit. 999
einem Gemeinweſen, in welchem jcharf ausgeprägte unb
trennende Standedunterfchieve ebwalten, ijt bei weitem ben
meiften Einzelnen ihre Lebendftellung durch den Etand,
bem [ie von Geburt angehören, angewieſen; es bebarf bei
ihnen feiner bejonbern Reflerion, die Geſetzmäſſigkeit des
täglichen Leben? bringt e8 mit fih, daß ber Sohn des
Bauerd wieder Bauer wird; die Entſcheidung liegt. vielfach
geradezu in einem focialen Zwang. Dieß könnte man nun
jo ausdrücken, daß bier Stand und Beruf zufammenfallen ;
richtiger aber wird e8 bod) jein, Hier nicht von Beruf zu
ſprechen; Beruf febt auch bier eine Außerwählung des
Einzelnen au8 der Gefammtheit voraus. Man
redet nicht von einem Beruf des Adelichen für ben Abel:
fand; wohl aber kann ein Adelicher Beruf haben zum
Staatömann, aum Gelehrten, zum Künftler; unb biejer
Beruf muß id auf eine befondere Weife ankündigen, eben]o
wie wenn ber Sohn de Bauerd ober beà armen Hand-
werkers u. j. Ὁ, fid für bem Stand des Geiftlichen, des
Beamten, des VLehrers beitimmt. Daß nun der Einzelne
über jeinen Beruf vejleftirt, daß er aus ber Sphäre, bie
ibm durch bie Standesverhältniffe angewieſen ijt, heraus⸗
tritt, ba8 ſetzt zwei verſchiedene Triebfräfte voraus, nämlich
fürs erfte ein gejteigerte® Maß von Willendenergie. und
freier Selbftentfcheidung, und fürs zweite eine providentielle
Einwirkung auf diefe Selbftentfcheidung.
Die rechte Ordnung ber bürgerlichen Gejellichaft ers
fordert eine Mannigfaltigkeit von Berufßarten ober. von
Funktionen, zu deren Vollzug die Einzelnen aus ber Ges
ſammtmaſſe ſich auf Grund eines Berufs dafür barbieten;
das Gebeiben ber Geſellſchaft ift baburd) bebingt, daß bie
verichiedenen Berufdarten im rechten Verhältniß zum Ganzen
280 Linſenmann,
vertreten ſind; und ſo gewiß Gottes Vorſehung über die
Geſellſchaft wacht, ſo iſt es dieſelbe Vorſehung, welche ſorgt,
daß es der Geſellſchaft nicht an den nothwendigen Organen
fehle; ſie vertheilt Gaben und Kräfte, erweckt Neigungen,
gibt Einſprechungen und Erleuchtungen und führt bie Men-
iden auf mannigfady verborgenen Wegen zu bem iate,
auf den fie berufen find.
Aber jo ganz verborgen find bieje Wege doch nicht.
G3 läßt fid) ziemlich genau erfennen, nach welchen Gejeßen
Π die einzelnen Berufszweige fortpflanzen und ergänzen,
in bemfelben Verhältniß nämlich, als bie Geſellſchaft Teloft,
näherhin bie Regierung und Verwaltung bevjefben, bafür
Sorge trägt. Die Vorſehung bebient fid) der Menfchen
jeldft, um ihre Ziele zu erreichen. Es gibt auch auf biejem
Gebiete ein Verhältniß von Angebot und Nachfrage. Der:
jenige Berufsfreiß, ber einer Ergänzung ober Erweiterung
vorzugäweife bedarf, muß beſondere Vortheile in Augficht
jtellen können, übt baburd) einen anziehenden 9telg αὐ und
[odt zur Goncurreng, während ein unverhältnißmäfliger An⸗
drang zu einem Arbeitögebiete jid) baburd) rächt und ba-
burd) zurüdgebämmt wird, daß die Vortheile an Erträgniß,
Standegehre, Einfluß u. f. wm. fid) vermindern. Indem fo
bie Geſellſchaft fid) ſelbſt Hilft, wird fie zur Wegweiſerin
für diejenigen, welche fid) ihr zu Dienftleiftungen anbieten.
Noch mehr. Die Geſellſchaft eröffnet nicht etwa blos eine
Goncurreng, jonbern fle befördert gewiſſe Zweige gemein-
nüpiger Thätigfeit durch Inſtitute verfchiedener Art, Spezial-
ſchulen, Akademien, Stipendien u. f. Ὁ. Sind nur εὐ
folche Vorbebingungen und Ausfichten gegeben, die Anlagen
und Kräfte finden ſich ſchon.
Mas den Einzelnen beftimmt, einen beftimmten Berufs:
Lehre von Gefeg und Freiheit. 231
ameig zu ergreifen, das ijt in verhältnißmäßig feltenen Fäl-
fen ein beſtimmtes Maß von Kraft und Fähigkeit, dad man
für eine Beruföthätigfeit in fid) zu finden glaubt. Ein flär-
fered Motiv oder vielmehr ein beutlicherer Fingerzeig ijt bie
innere anhaltende Neigung; in biejer drückt fid) mehr bie
Individualität des Geiftes aus, in ihr offenbart fich ein
Stück Seelenleben, in welchem der Zug ber Natur und bie
Gin|predjungen ber Gnade jid) vernehmlich machen. Den:
noch wird durchfchnittlich die innere Neigung erzeugt und
genährt durch die äußern Reize, welche eine Berufsart bar:
bietet, durch die Vorftelung von Vortheilen und Schönheiten
einer gewiffen Lebensſtellung. Dadurch wird e8 möglich,
daß verjehiedene Mächte zufammenwirken, um eine Neigung
zu erzeugen ober zu zerftören, e8 ijt der Einfluß der Eltern, °
ber Umgebung, der Erziehung unb verfchieener Lebensſchick⸗
fafe, ber hier zur Geltung kommt, — onde geheime Nei—
gung wird durch ben Zwang ber Verhältniffe unterdrückt,
manche erweiſt fid) auch af8 unächt; unb in jehr vielen Fäl-
len ijf ber erfte und wichtigfte Schritt ſchon geichehen im
zarten Alter, ehe bie Kräfte und bie Neigung fid) erproben
konnten. Wie Steht e8 aber um ben lebten und ἐπ εὶς
denden Schritt?
Durchichnittlich hängt ba8 ganze Lebensglück des Men-
ſchen davon ab, daß er feinen Beruf nicht verfehlt, ober daß
er jenen Pla im ber Gefelichaft einnimmt, beu ihm bie
göttliche Vorfehung beftimmt hat. Nicht Allen wird die Ent:
ſcheidung ſchwer; Viele find durch ihren Lebendgang wie von
ſelbſt dahin geführt werben, wohin fie gehören; Viele erfen-
nen in den Wünfchen und Anordnungen ber Eltern und Er:
zieher Wine ber Vorſehung. Die eigentlichen Schwierig:
keiten und Gewilfensbeängftigungen beginnen meiften® erft
232 Sinfenmann,
ba, wo eine bejonbere Neigung einem Widerſtand begegnet,
ſei's von Seite ber Eltern, Rathgeber u. f. w., fei von
äußern Hindernifien, Armuth, focialen Schranken u. dgl.
In jolchen Fällen regt fid) mit Macht das Gewiffen, b. b.
ba8 Bewußtjein von ber eigenen Freiheit und Verantwort⸗
lichkeit. Der Menich jteht vor einer Gollifion der Pflichten,
deren Löfung ihm Niemand abnimmt; wir können auch fa-
gen, er fteht vor ber Wahl zuilchen bem. Guten und dem
Beſſern; e8 gibt nicht bío8 für den Kandidaten des Prieſter⸗
thums ober be3 Ordensſtandes eine Berufsfrage. Nehmen
wir Alles zufammen, was dazu dienen fann, bie Wahl zu
erleichtern, das Gefühl der nothiwendigen Kraft und QTüch-
tigkeit, ernftliche Neigung, Ausficht auf eine genügenbe und
ehrenhafte Lebensſtellung, Zuftimmung erfahrener und wür-
diger Rathgeber, innere Beruhigung und Klarheit ala Frucht
des Gebete um Gnade und Erleuchtung, |o liegt doch in
alfebem bie Entſcheidung nicht; diefe liegt vielmehr in einem
jtttlichen Alt ber freien Selbſtentſcheidung; εὖ find nicht
innere Stimmen und nicht äußere Einfprechungen, auf welche
bie Berantwortung zurüdfällt; fie fällt auf ba8 eigene Ge-
wiffen; und c8 gibt — wein wir bon einzelnen djariómae
tifchen Fügungen der göttlichen Vorſehung abjehen — in der
Beruföfrage feine andere Gewißheit, al8 bie ber moralijchen
Ueberzeugung.
Wenn man nun von einem Beruf zum geiſtlichen Stande
faterochen vedet, fo laflen wir und das gern gefallen. Es
it Gotte8 Sache, die Herzen derjenigen zu lenfen, welche
in bie hoben Aufgaben des Apoſtolats eintreten jollen; und
es ijt hier die Berufsfrage um fo wichtiger, als biejet Bes
ruf nicht nur ein höheres Maß von geiftigen und fittlichen
Volllommenheiten vorausſetzt und ein höheres WüaB von
Lehre von Gefetz und Freiheit. 238
Pflichten auferlegt, fonberm auch ummiberruffi b. 5. für
da3 ganze Leben entjdjelbenb ift. Aber bie Berufsfrage be:
zuͤglich des getitlichen Standes wirb auf feine andere Weife
entfchteden als bezüglich der übrigen Stände. Wie Viele
oder wie Wenige jeweilig durch bie göttliche Providenz, welche
ble Geſchicke der Kirche beftimmt, außerwählt und berufen
feien, verbirgt fij unfre Erkenntniß, da ja immerhin bent
bar ift, baB Manche dem Berufe widerftreben. Dagegen
zeigt bie Geſchichte, daß die Zahl und Tüchtigkeit der in bert
apoftolischen Beruf Eintretenden im direkten Sujammenbang
ftet mit ber jeweiligen Situation ber Kirche in einem Lande.
Findet fid in einem Lande ein rege8 Glaubenzleben, jtebt
der geiftliche Stand in Anfehen, ijt die Kirche ungebemmt
in der Entfaltung ihrer geiftig fittlichen und ſocialen Macht,
it {τὸ insbeſondere im Beſitz blühender geiftlicher Lehran⸗
ftalten umb zeitgemäßer Amititute, in denen Vielen bie Moͤg⸗
lichteit zur wiſſenſchaftlichen und fittlichen Ausbildung ges
währt wird, fo wird fid) auch ein größerer Zudrang zu den
Seminarien und Klöftern bemerflich machen, und man braucht
bieß nicht daraus zu erklären, bap eben in biefem alle fid
viele Unberufene zubrängen, wie dieß etwa in jenen Ländern
angenommen merben Fönnte, in welchen der Eintritt in bem
Klerikalſtand reiche Pfründen, Ehrenftellen oder zum wenigs
ften ein verhältnigmäßig forgenfreies angenehmes Leben üt
Ausficht. πε, Man wirb im Ganzen die Beobachtung
machen, bag ein unter ernfter und firenger Diseiplin jtehen-
des Klofter mehr Poftulanten anzieht, ala ein anderes vom
gleichen Orden, in welchem bie Dizciplin gelodlert und daB
Leben weichlicher ij. So hängt es alio in hohem Maße
von ber Thätigfeit der Kirche ab, bag in manchem Einzelnen
ber Beruf gleidjjam zum Bewußtjein kommt, die Neigung
234 Linſenmann,
geweckt und für die weiteren Schritte der Weg geebnet wird.
Noch mehr. Die Kirche entſcheidet ſogar über den Beruf
der Einzelnen. In dieſem Sinne ſagt ber Catechismus
Roman. P. II. Cap. 7. Qu. 8: Vocari autem a Deo
dicuntur, qui a legitimis ecclesiae ministris vocantur.
Die Kirche urtheilt nämlich enbgilltg über ble Kennzeichen
be8 Berufd, und wer ohne Falſch und Trug durch bie Or-
bination oder bie Ordensprofeß in dad Apoftolat eingetreten
ift, ber darf und fol ji αἴϑ von Gott wahrhaft berufen
- erachten. Dennoch Liegt nicht hierin die Entjcheidung der
Gewiſſensfrage al8 folcher.
Die Kirche beruft nur diejenigen, welche fid) ijr an⸗
bieten; [le übt in biejer Hinficht feinen, auch nicht morali⸗
iden, Zwang. Kein Beichtvater kann demjenigen die Abio-
Iution verweigern, welcher troß verſchiedener Anzeichen des
Berufs fid) weigert, bie Weihen zu nehmen ober in ben Or-
den zu freien. Und wenn bie Auflegung der bifchöflichen
Hände ben Abſchluß ber Beruföfrage bildet, fo ift fie doch
nur bie firchliche Beficgelung eines vom Kandidaten des Prie-
ſterthums zuerſt frei vollzogenen fittlichen Aktes. Die Paſto⸗
rallehre und die aſcetiſche Theologie pflegt die innern und
aͤußern Kennzeichen des wahren Berufs anzugeben; wir
ſprechen denſelben ihre Bedeutung nicht ab; ein Jeder, der
jelbft in eruften, ſchweren Stunden ble Berufsfrage an ſich
geftellt und nach Erkenntniß darüber gerungen, unb ein Je⸗
ber, ber Andern in folcher Frage Rath, Troſt und Ermun-
terung zu geben hatte, weiß, wie viel und wie wenig au8
[οἴει Anzeichen für bie legte Entjcheidung zu entnehmen
tft; nur über zwei Punkte möchten wir und beitimmter und
entſchiedener ausfprechen, als e8 gewöhnlich gejchicht; ber
erfte ift, bag man nicht Zeichen und Wunder verlangen jolf.
Lehre von Geſetz und Freiheit. 235
Nicht ala o5 man gleichgiltig fein dürfte gegen Fingerzeige
ber göttlichen Providenz, oder ala ob nicht befondere ὃς
rungen, DOffenbarungen, Ginfpredjungen u. }. v. möglich
wären; aber jolche Fingerzeige werben dann beutlich erkenn⸗
bar fein und fid nicht in das aftermyſtiſche Halbdunkel von
Träumen, Sibyllenweiffagungen und Augurien einhüllen.
Jedermann aber weiß, daß, wer fich gerne täufchen laſſen
will, überall Zeichen flieht und Stimmen vernimmt, daß aber
dieß nicht bie Weiſe ijt, wie Gott in ber durch Chriſtus ge
fetten fittlichen Ordnung ftd) zu offenbaren pflegt. Zwei⸗
tens fann auch bie Kirche ſelbſt nicht, weder in ber Perſon
des Biſchofs noch in der be8 Beichtwaterd, mir bie Entſchei⸗
bung der Berufsfrage abnehmen. Auch der Beichtvater fanm
mir nur Rathgeber, aber nicht entfcheidende Auktorität fein;
eine auftoritative Befugnig Steht ibm Hier nicht in anderer
Weife zu, als fie in feinem Nichteramt überhaupt tegi; er
fann urtheilen über die fittlichen Difpofttionen feines Beicht-
finde unb kann burch Verweigerung ber Abjolution ben
unwürbigen Empfang der Orbination u. |. w. vermehren,
Darin liegt aber noch fein Urtheil über den Beruf jelbft
Ober darüber, ob das Beichtkind nicht dennoch nach Herftel-
fung befjerer fittliher Verfaffung dem Beruf aum geiftlichen
Stande folgen müfje Darüber bejtebt fein Zweifel, daß
ber SJüngling oder die Jungfrau, welche an ber Grenzſcheide
ber zwei Lebenswege ftehen, nebſt ben heißen Gebeten um
Erleuchtung feine befjere Zuflucht haben als einen weiſen
und erfahrenen Seelenführer und Gewifjensrath, ber ihr
Außeres eben und ihre innere Berfaffung fennt und in bett
Pflichten und Kämpfen des geiftlichen Leben? erfahren tft;
unb ε mag bie bemüthige Unterwerfung unter bie Anficht
eined Beichtvaters wirklich eine ächte Probe fein von jener
236 , Linfenmann,
inplichen Hingabe, womit wir und Gott zum Opfer brin-
gen wollen. Aber wenn man behaupten wollte, man müffe
fid bezüglich ber Standeswahl unter δὲν Pflicht be8 Ge-
horſams bem Beichtvater unterwerfen, jo würde man ben
Gehorfam, den wir den Forderungen unſeres eigenen Ge-
wiſſens ſchuldig find, verwechleln mit jenem Geborjam, zu
welchen man ji) erſt freiwillig burd) bie Ordination ober
durch Gelübbe verpflichtet. Nein, zur Entjcheivung ber
Standedwahl gehört der Höchite und vollſte Grad ethifcher
ober Wahl⸗Freiheit; bie Verantwortung für ben unwider⸗
euflihen Schritt kann und Niemand abnehmen.
Dergegenwärtigen wir und nod) einmal bie ganze Widh-
tigfeit ber richtigen Standeswahl. — SSerfeblter Beruf, vers
fehltes Leben, hoͤchſt wahrfcheinlih auf immer verfehltes Heil.
Keiner darf fid bem Rufe zu einem geben be? Apoftolats
oder ben Aufgaben ber Kirche Chriſti willführlich entziehen;
jeder muß feine Kräfte wägen; apodiktiſche Gewißheit gibt
eg nicht, mat muß wählen und wagen. Wer burd) bie gött⸗
fije Führung feines Lebens vor eine große Aufgabe geftellt
it, wer die Kraft dazu in fid) empfindet unb auf ben Bei
ftand Gottes vertrauen darf; wer feine Seele erglühen fühlt
von Wärme und Begeijterung für ein hohes Werk und εἰς
nen hoben Stand, und dennoch den Schritt nicht ibut: hat
ein Solcher danıı etwa blos einen Nath in den Wind gre
Schlagen, ober Hat er nicht vielmehr feine Pflicht und bas
mit fein Gewiſſen verlegt? Hier Steht Pflicht gegen
Pflicht. Alle jene Darftellungen der Sache, welche aus bem
modernen Probabilismus hervorgehen und wodurch bie Gui-
ſcheidung einer jo wichtigen Lebensfrage dem Gingelgemijfen
abgenommen und auf eine äußere Firchliche Auktorität über:
gewälzt werden ſoll, verflachen bie chriſtliche Moral. Die
Lehre von Geſetz unb. Freiheit. 237
eigene Meberzeugung muß den Entjcheid geben, unb ihr zu
folgen ijt Pflicht...
Und wie e2 im Großen ijt, fo aud) im Kleinen. Hans
delt es fid) auch nicht bei jeber Wahl einer Lebensſtellung
um cine ſo verhängnißvolle Entſcheidung wie beim Eintritt
in den geiftlichen Stand, jo kann bod) ein jeder Fehlgriff
in einem kritiſchen Moment von ben jchweriten Folgen be:
gleitet fein. Nicht viel feichter a(2 bie Wahl zwiichen bent
geiftlihen und weltlichen Stande fällt bem Manne bie Wahl
einer füchtigen Lebenzgefährtin; auch hier ift Ungewißheit
unb Wagniß; und jo in taufend Fällen des täglichen &e-
Deng, ein ſtetes Schwanken zwijchen Erlaubtem und Pflicht:
müpigem, zwifchen bem Guten und Beſſern; unfer heiliger
Glaube gibt und Licht und Kraft in den bunfeln Fragen
des Leben; aber εῷ bleibt eben beim Glauben, Vertrauen
und Wagen; Gemipoeit wird un8 erſt im Schauen jenfeit2.
Wenn ber befannte Wahljpruch: omnia ad majorem Dei
gloriam einen andern Sinn haben follte al8 den, daß man
in jedem Augenblick thue, wa man nach bejtem Wiffen und
Gewiſſen ober nad) moraliicher Meberzeugung für dag Rechte
halt, jo enthält er eine jchiefe und fronffofte Moral.
Wir haben hauptfächlich bie hohen Zwecke und Ziele
tà kirchlich-apoſtoliſchen Wirken hervorgehoben, um ung
Tet zu vergegenwärtigen jenes innere Lebensgeſetz ber chriſt⸗
lichen Kicche, welches heroiſche opferwillige Seelen nicht blos
erfordert, fonbern auch erzeugt und beruft; bie göttliche Vor⸗
ſehung hat gewifiermaßen die Aufgabe, ber Kirche taugliche
Organe zu evmeden umb zuzuführen; fie thut e8 aber nicht
anders als auf bem Wege der moralijden Einwirkung auf
den Einzefnen; und ber wahre fittliche Werth diefer beſon⸗
bern Nachfolge Chriſti beruht eben darauf, daß fie im eis
238 Linfenmann,
gentlichen und vollen Sinne freie fittlihe That ohne allen
Zwang ijt. Aber bag ijf ja eben der Grund, warum bie
Tathelifchen Moraliften „die Wege ber höhern SBollfommen-
heit" als ba8 Gerathene bem Pflichtmäßigen, zu welchem
man burd) bie moralijche Nöthigung de Gebots verbunden
ijt, gegenüberftellen? Allerdings; aber wir halten auch
baran feit, daß der Menfch für bem richtigen Gebrauch die-
fer feiner Freiheit verantwortlich ift. Co ijt ber rechte Ge-
brauch ber Freiheit wieder nicht? Anderes, als der Gchor-
fam gegen den göttlichen Beruf oder gegen ben Ruf ber
Pflicht, der fich in unſrer moralifchen Überzeugung vernehm-
(id madjt. Und ebenjo halten wir baran feit, baB εὖ ſtets⸗
fort gerade in ben höchiten Lebensfragen „Gewiſſensfälle“
gibt, bezüglich deren wir über eine bloß moralifche Über-
zeugung nicht hinauskommen; e8 find jene Variationen aus
ber ächten Tragik des großen Weltdrama, bie fi) in allen
Kreifen des menjchlichen Lebens wieberholen. Bol. 2. Art.
Qu.⸗Sch. 1871. €. 232. Diejenigen kennen dad Menfchen-
leben nicht, welche meinen, ung bie theologifche Wahrheit fo
zufchneiden zu fónnen, bag uns für jebe Gewiffendfrage
eine fertige und allbefriedigende Antwort gegeben würbe; fie
fertigen und mit Formeln ab, unb menn wir bieje näher
befehen, jo haben wir ftatt Brodes einen Stein in unjrer
Hand. Eine folche Formel ijt die nicht jelten gebrauchte
Marime ber „Moral für Weltleute”: erlaubt ijt, was nicht
verboten ijt, ober: nur feine Todfünde! Es fehlt diefen
Formeln nicht an der Wahrheit fchlechthin, jondern an ber
Beitimmtheit, denn was ijt Todjünde? Wem weniger gege-
ben (jt, voi dem wirb auch weniger gefordert. Wem aber
ein reicher Geift, eine glückliche Erzichung, ein höherer unb
größerer Wirkungskreis zu Theil geworden, von dem wird
Lehre von Gefek und Freiheit. 239
auch ein höhere Maß von Neflerion und Unterfcheidung,
ein mächtigeres Ringen und kühneres Wagen gefordert, mit
einem Wort, ein intenftverer Gebrauch ber perfönlich ethifchen
Treiheit. Gerade aber, wenn ba8 Bewußtſein diefer Frei-
heit mit der hoͤchſten Gewiſſensnoth am höchften fteigt, nimmt
ber Menfch Zuflucht zu einer fittlichen That, weldye gugleich
ber höchfte Akt von Freiheit und ein Verzicht auf die Frei—⸗
heit ift; er bringt feine Freiheit gleichfam in Sicherheit un-
ter dem Schilde eines befonderen Gehorſams und erwirbt
damit eine Freiheit zurück, die jeldjt ein Gioetbe würbigt, wenn
er feine Spbigenie Tprechen läßt: „Und folgſam fühlt” ich
immer meine Seele am fchönften frei.” — Damit gelangen
wir zum letzten Punkt unſrer Unterfuchungen.
Das Gelübde,
Bellarmin!) findet bei ben hHeibnifchen Nömern und
Griechen einen Mangel an wahrer Trömmigfeit und Gottes-
verehrung darin, daß fie fid) ein Gelübbe nicht ohne Ver:
bindung mit Gebet vorjtellen konnten; ba8 gehe nämlich aus
ihrem Sprachgebraud, hervor; denn votum bezeichne in
Einem Gebet, Wunjch unb DVerjprechen (Gelübbe); und ber
griechifche Ausdruck für Gelübde eUy» [εἰ wenigftens δε εἴς
ben Stammes wie προσευχή, was Gebet beveutet. Nur im
Hebräifchen habe bie Bezeichnung für Gelübde nicht auch den
Stebenbegriff be Gebets; das 9L. T. fenme alfo, wie bie
hriftliche Kirhe, abfolute Gefübbe, b. b. folche, welche
feine Beziehung zum Gebet (preces, Bittgebet) haben. Das
fomme baber, daß ble Hebräer Gott wahrhaft verehrten (quia
Deum pie colebant).
1) De monach. cap. XIV.
Theol. Duartalichrift. 1872. Heft II. 16
240 Binjenmann,
Schnöver kann man fid) nicht felbft fd)aben und einen
Begriff aushöhlen, af8 bier Bellarmin thut; dag heißt bem
Gelübde fajt alle pſychologiſche und theologiſche Wahr⸗
heit nehmen.
Betrachten wir zuerſt das Gelübde unter dem allge⸗
meinſten Geſichtspunkt als Akt der Gottesverehrung, jo ſteht
daſſelbe in gleicher Linie mit dem Gebet und dem Opfer.
Beide, Gebet und Opfer, koͤunen nun zwar aud um ben
Bellarmin’ichen Ausdruck zu gebrauchen, abjolut gefaßt
werben; das würde jo viel heißen als, man betet und op⸗
fet, mur um einen Akt ber Gotteßverehrung zu vollziehen,
nicht aber um im gegebenen Kal eine beitimmte Bitte um
eine Gabe an Gott zu richten. So unterjcheidet man amic
iden Anbetung, Bitt: und Danfgebet. Allein genauer ans
geſehen ijt auch ba8 nur eine büvre Abjtraftion. Gebet
ſchlechthin ijt nicht bo ber Tribut unſrer Pietät gegen Gott,
jondern der Ausdruck unfrer Abhängigkeit von Gott und
unfrer Hilfsbedürftigkeit. Oder wäre das etwa fein gerech-
tes und lautered Danfgebet, bei welchen wir zugleich neue
Gnade und Barmherzigkeit von Gott erwarteten? Es gibt
fein wahres Gebet, das nicht ein Geben und Empfangen
zugleich wäre; man betet, um Gott jid) gnädig zu ftimmen
ober gnädig zu erhalten.
Nun ijf e8. ferner eine pſychologiſche und gejchichtlihe
Thatjache, bag man zu allen Zeiten geglaubt bat, die Kraft
be8 Gebete8 zu verftärken durch Opfer, indem man von bent
Gedanken ausging, daß Gott um der Opfer willen die Ge-
bete guädig aufnefme unb daß Gott fich nichts vom Men:
iden ſchenken fale, ohne εὖ reichlich durch Spenden von Huld
und Gnade wieder zu eritatten.
Wir wiffen, weld) hohe Bebentung dem Opfer in ber
Lehre von Θείεθ und Freiheit. 241
Hriftlichen Dogmatit, Moral und Aſcetik beigemeffen wird;
nicht nur bem Opfer, das Chriſtus für uns barbringt, jon:
bern auch jenem Opfer, wodurch wir unſere Gaben, unfere
Leiden, unjer Leben mit bem Opfer Chrifti vereinigen unb
in biefer Weife dem himmlischen Vater anfopfern. Sa man
fanm in gewiffer Weife jagen: ohne Opfer fein Gebet, obne
Gebet kein inneres Leben der Gnade und feine wahre fitt:
lide Kraft; ohne Opfer und Gebet feine Gnade von Gott.
Haben wir aber Gnaden, Erleuchtungen, fittliche Kraft
immerbar nothwendig,. jo bod) gang bejonber$ an gewiffen
Wendepunkten unſres Lebens, in Augenblicken beſonderer fitt-
licher Gefahr, Heimſuchung oder Gewiſſensnoth, da von Gi-
nem Schritte Wohl und Wehe für uns und Andere abhängt.
Das ſind die Momente, wo Gott Opfer von uns fordert.
Welcher Art aber ſind die Opfer, die Gott von uns fordert?
Mag es auch etwas Armſeliges fein um materielle Ga-
ben, fo Können fie bod) Opferwerth erhalten, namentlich wenn
fie zugleich gemeinfamen veligidfen Bebürfniffen dienen; fo
hat dag Scherflein der Wittwe jeinen Werth und jener Nar-
denbalfam, womit Maria zu Bethanien bie Füße Jefu fafbte 1).
Vielleicht ſchon Höher anzufchlagen find perfönliche Leiftun-
gen, die mit Förperlicher Anftrengung, Entbehrung u. j. w.
verbunden find, Wallfahrten, Kafteiungen. Aber weder jene
materiellen noch bieje perfünlichen Opfer laſſen ὦ jedesmal
gerade in bent Momente vollziehen, in woeldem man mit
kinem Anliegen vor Gott triti; man gelobt barum, bieje8
Opfer fpäter zu bringen; fo entfteht das Gelübbe, in wel-
dem implicite dad Opfer jdn enthalten oder welches wur
eine andere Form ded Opfers ijt, weil man fid) durch bag-
1) Sob. 12, 1—8.
16 *
242 Linfenmann,
[εἴθε in Form eined Vertragd Gott gegenüber verbindlich
macht, eine gewiffe Opferleiftung zu vollziehen. So ijt das
Gelübde nicht δίοδ ein Alt ber Gottesverehrung neben Ge-
bet und Opfer, fondern es iſt Verbindung von Gebet
und Opfer. :
Nun gibt es aber noch eine höhere Art von Opfer.
Gleichwie Chriftus jid) für uns geopfert, jo Tünnen aud)
wir und ſelbſt Gott zum Opfer bringen mit unjrer ganzen
Perjönlichkeit, indem wir auf Alles verzichten, wad und an
irdiſchen Gütern und Genüffen, an. Freiheit im Gebraud)
be Erlaubten u. f. vo. übrig gelaffen ijt. Ein ſolches Op⸗
fer, deffen SBebentung für daB firchliche Leben wir im Ver-
laufe unferer Darftelung kennen gelernt haben, könnte nun
fucceffive von Moment zu Moment fid) vollziehen, jedesmal
aus einem neuen Entſchluß Deroorgefenb. Man koͤnnte ein
geiftliches geben führen, ofne fid zum Voraus burd ein
Gelübbe zu binden. Thatfächlich ijt es anders. Der Ent-
ſchluß, ein vollfommened Opferleben zu beginnen, ſetzt ſchon
eine gefteigerte Guadenthätigkeit und Erleuchtung voraus;
man fühlt einen Beruf, aber man möchte fid bod) be8 rech-
ten Weges noch beffer verfichern; man fühlt in jid) Kraft,
aber man möchte ein Zeichen vom Himmel dafür, baB man
in biejer Kraft ausharren werde bis an das Ende; für das
größte Maß von Erleuchtung und Gnade bringt man ben
höchften Einfat dar, das größte Opfer, indem man fid) durch
ein Gelübbe ein für allemal zu bem, wad man als Lebens⸗
aufgabe erfannt hat, verpflichtet.
So fteht der Süngling vor ber Berufsfrage. Die Nei-
gung zieht ihn zum Eintritt in eine veligiöfe Genoffenfchaft,
und in der Neigung glaubt er den Zug der Gnabe zu er-
fennen; aber vor ihm fteht auch bie ganze Größe ber Auf-
Lehre von Geſetz unb Freiheit. 243
gabe, bie er antreten foll, Ungewißheit Taftet auf feinem
Geiſte und ein ernjter Zweifel an feiner eigenen Kraft. Da
nimmt ihm Gott durch bie Organe ber Kirche fein Gelübde
ab, und indem Gott jo bad Opfer feines Leben annimmt,
gewährt er ihm zugleich die zur Erfüllung feiner Aufgabe
nothwendige Kraft und Zuverficht; jegt find bie Zweifel ge-
hoben, bie Wege geöffnet, bie Richtung des Lebens genau
vorgezeichnet. Zwar koſtet ed noch manches Stadjbenfen und
manchen Kampf, ba$ begonnene Opfer in der rechten Art
zu vollziehen; aber bod) geht er gebahnte Pfade, bie ſchon
Viele vor ihm gemarnbert; eine erprobte und geheiligte Regel
ift fortan feine Lebensrichtſchnur; fein Opfer bejtebt im
Gehorſam.
Das Gelübde bietet aber noch eine andere Seite der
. fBelradjtung bar. Daſſelbe wird von der Kirche acceptirt
und erhält von ba αἰ feine verbinbenbe Kraft. SDieB drückt
fih auf mehrfache Art aus; zunächſt find es bie feierlichen
Gelübde, deren Charakter darin beiteht, daß fie von ber
Kirche acceptirt werden; aber auch bezüglich anbever Gelübbe
behält fid) bie Kirche ein Jurisdiktionsrecht vor; fie wünfcht
nicht nur, baB überhaupt Gelübbe von größerem Belang nicht
ohne Einverftänbniß mit einem Gewiſſensrath abgelegt wer:
ben, ſondern fie erkennt aud) über die Giltigfeit ber Ge⸗
[übbe und beanjprucht das Recht, über Umwandlung oder
Aufhebung derſelben zu entjcheiden. Wir erkennen bierin
einen tief bedeutſamen Zug des kirchlichen Organismus und
feinegwegd etwa blos einen willführlichen Anſpruch ber
Hierarchie.
Das Gelübde iſt in der That eine Art Vertragsver⸗
haͤltniß und zwar nicht blos zwiſchen dem Gelobenden und
Gott, ſondern auch zwiſchen dem Gelobenden und der Kirche;
244 Linfenmann,
indem dieſer fid) der Kirche unb mit ihr ber gefammten
Menſchheit zu heiligem Dienfte zu eigen gibt, gehört er zu
ber militia Christi, vermittelt derer die Kirche ihre große
Aufgabe auf Erden vollzieht. — Indem bie Kirche über bie
Gelübde Jurisdiktion übt, führt fie gleichfam Rechnung über
das fittliche Kapital, welches ihr für ihre hohen Jede von
ber Gläubigen zur Verfügung geftelt if. So arbeiten bie
freien Entihlüffe ber Menfchen und bie Verfügungen ber
göttlichen Vorjehung in gehetimnigvoller Gegenwirfung ges
meinfam an ber großen Aufgabe bed Reiches Ehrifti
auf Erden. |
Dan pflegt gegen bie katholiſche Anschauung vom Werth
be8 Gelübdes geltend zu machen, daß das Gelübde mit bet
evangeliſchen Freiheit fid) nicht vereinbaren laffe, ober bap
derjenige, ber wahrhaft in der Gnabe Ehrijti geheiligt wor-
ben, des Zwangs der Gelübde nicht bedürfe ). Betrachten
wir das Gelübde mit Rückſicht auf den einzelnen Chriſten,
ſo können wir zugeben, daß derjenige noch nicht die ideale
Hoͤhe ſittlicher Freiheit und Vollkommenheit erreicht hat, der
des Zwanges der Gelübde bedarf oder dem das Gelübde noch
ein Zwang ijt. Allein auch jo läßt fid) das Gelübde be:
greifen al ein Mittel zum Zwecke. Man follte nur nicht
vergejfen, baB jene fittliche Freiheit, in.mwelche wir mit ber
Wiedergeburt eintreten, erjt eine anfangenvde Sittlichkeit ijt,
bie noch vieler Gnaden und Übungen und vieler fittlicher
Zucht bedarf, bis fie jene Vollendung erreicht, welche bie
Krone eines lebenzlangen fittlichen Ningen? und Kämpfen?
it. Sollte e8 nun ein jo großer Irrthum fein, wenn man
fi an der Hand ber Kirche auf jenen Wegen leiten läßt,
1) Bol. Wuttfe, Sittenlegre II. ©. 368.
Lehre von Gefe und Freiheit. 245
auf welchen viele Taufende ver und zur wahren und hohen
Vollkommenheit gelangt find? Wenn wir und einer Dis-
ciplin unterwerfen, jo ſoll c3 bod) wenigſtens diejenige fein,
welche bie Gewähr der ehrwürbigen Überlieferung und ber
Kirche fefbjt Dat; wir werden dann ficherer gehen, ala wenn
wir blos den fubjeftiven Stimmungen und Anregungen be
Augenblicks folgen. Daß jenes aber gerade vermittelft eines
Gelübdes geichehen jolle, dürfte nicht mehr ſchwer verjtánb-
lich fein, nachdent wir dad Gelübde in feiner Bedeutung für
bie kirchliche Societät Tennen gelernt haben. Die Kirche be:
darf des Gelübdes für Ihre irdiſche Meifften, wie ber Ein-
zelne deſſen bebarf als cine heilſamen Zuchtmittels und εἰς
ner höheren Beſiegelung. feines Pflichtverhältnifles zur chrift-
lichen Kirche und einer Bekräftigung jenes Berufs zu einer
apoftoliichen Lebensaufgabe.
Bon Zwang aber [olf bei Erfüllung des Gelübdes über
haupt nicht die Rede fein. Die Erfüllung des Gelübdes ift
eine forigejebte fittliege That und jet darum Freiheit vor-
and. Qa, wenn es aud) überhaupt möglich wäre, ale und
jegliche innere und Äußere Alte des Ordensmannes unter
den Zwang einer Regel ober unter den Commandoftab eines
Drbensobern zu ftellen, und wenn es möglich wäre, ben
Endavergehorfam zu fordern und au feijtet, fo wäre das
nicht bie chriftfatholiiche Auffaffung von Gelübde und Ge:
borfam, jonbern ſchnoͤde Verzerrung einer großen Sec.
| 2.
Ueber den Brief Jacobi.
Bon Prof. Dr. Karl Werner in Wien.
Die neuteftamenttiden Schriften find der erfte und un-
mittelbarfte fchriftliche Reflex des chriftluhen Wahrheitsgei⸗
ſtes, die älteſten jchriftlichen Dentmale, in welchen ver Geift
ber chriftfichen Wahrheit und Erfenntniß burd) feine gottbe-
rufenen Träger und Vertreter von fid) felber Zeugniß gege-
ben bat. orem Geifte nach und in ihren Haupt: unb
Grunbgebanfen Eins, liegen fie bod) in Beziehung auf Zeit
unb Ort ihrer fucceffiven Entftehung auseinander, bringen
auch den ihnen gemeinfamen chriftlichen Bewußtſeinsinhalt
nach verjchiedenen Seiten und unter mannigfady inbipibua-
fifirten Lehriypen und Lehrtropen zur Erjcheinung und laffen
nebftvem auch bie Stabien- eine der apoftolifchen Urkirche
eigenen geiftigen Entwickelungsproceſſes in ihrem Inhalte
fehr deutlich und erkennbar bervortreten. Damit find denn
auch bie fpeciellen Gefichtöpuncte angedeutet, unter welchen
jede einzelne der neuteftamentlichen Schriften in Bezug auf
ihren lebhaften Inhalt in's Auge zu fafjen tit.
Der Brief Jakobi gehört zufammt dem Briefe δὰ
und dem Evangelium Matthät in bie Kategorie derjenigen
Werner, über ben Brief Jacobi. 247
neuteftamentlichen Schriften, durch welche ſpecifiſch das palä-
ftinenfifche Chriſtenthum' vepräfentirt if. Seiner ganzen
Haltung nad) hat er die durch bie erſten pauliniſchen Briefe
repräſentirte und gekennzeichnete ev|te Epoche der apoftolifchen
Urkirche, bie Epoche des Kampfes gegen den Judaisſsmus b. ἢ.
gegen dag Beitreben,. bie chriftlichen Bekenntnißgenoſſen un:
ter ba$ Sod) ber moſaiſchen Sabungen zu beugen, bereit?
hinter fid) und weift auch in Bezug auf bie chrijtliche Lehr⸗
entwidelung ein Hinaugfchreiten über ben von Paulus in
feinem Kampfe gegen den Judaismus eingenommenen Stand:
punkt oor. Paulus hatte, um bie chrijtliche Heilsidee in ih-
ver Reinheit zu wahren und gegen jebe alterirende, trübende
oder abjchwächende Verſetzung mit jüdiſch-moſaiſchen Elemen-
ten zu wahren, ben ſubjectiven chriftlichen Glaubensbeſitz ala
bie abjolule Verbürgung be8 Gerechtjeind bed Glaubenden
vor Gott vertreten, und ben Glauben aí[2 bie dem Menfchen
einwohnende Macht der Heiligung erklärt, welche alle Sa-
cramente, Objervanzen und rituelfe Satungen des alttefta-
mentlichen Judenthums als überflüffig und zmedlo hinweg:
fallen ἴα. Der Jakobusbrief beftätiget bieje Auffaffung
des chriftlichen Glaubens als einer lebendigen Gotteamacht
im Menjchen, unterfcheidet aber zwifchen bem lebendigen, in
Werken ber. Gerechtigkeit fid) befunbenben Glauben und zwi:
iden bem Glauben als bloßem theoretiichen Yürwahrhalten,
welches letztere freilich auch nach Jakobus nicht ber ächte,
wahrhafte und Gott mwohlgefällige Glaube, aber bod) immer:
hin die nicht au mifjenbe Hinterlage ijt, auf welcher fub:
jectiv dad ben ganzen inneren Menfchen unpfafjende und
bewegende lebendige Gíaubengbemuptietr ſteht. Mit dieſer
Ablöfung des Glaubend nach feiner Bedeutung αἵδ᾽ theore-
tiſches Dafürbalten vom fubjectiven Glaubenäleben als in-
248 Werner,
nerlichem chriftlichen Onabenleben hängt dann weiter bie Ber:
weifung auf ben objectiven Lehrgehalt des chriftlichen Glau⸗
bensbewußtfeind zufammen, anf den Adyog ἀληθείας (Jat.
1, 18), welchen Jakobus als οἷς objective Hinterlage ber
ſubjectiven chriſtlichen Weberzeugtbeit firirt. Auch Paulus
kennt dieſen λόγος aAndelas al$ δῆμα ϑεοῦ (Rdn. 10, 17),
aber er faBt ihn in feinen früheren Briefen nidyt nach {εἰς
nem objeetiven Beitande an ji, ſondern bloß αἰ Mittel
und Vehikel des chriftlichen Heilsglaubens in ben Seelen ber
zum Seile zu Bekehrenden in's Auge Ou. feinen fpäteren
antignoftiichen Briefen ift es abermol3. nicht jo jehr bie Wahr-
heit als jolche, bie er ala objectiv gegebene einfach voraug
iet, denn vielmehr bie aus bem unverfälichten Glaubens
leben herausgeſetzte tiefere Wahrheitserkenntniß ober chriſto⸗
ſophiſche Grfenntnip, alſo wieder ein fubjectiver Befitz und
Habitus be8 Gaubenben, was er vorwiegend betont unb als
den, ben myſterlöſen Tiefen jene® λόγος ἀληϑοίας entipre:
chenden Denkgehalt be8 im Glauben münbig und geiſtmäch⸗
tig gewordenen gläubigen Subjectes darjtellt. Jenen λόγος
ἀληθείας aber nach feiner objectiven Bedeutung als Geift
und Wort der göttlichen Lehr: und Heilsoffenbarung läßt er
unerörtert und ohne näheres Eingehen bei Seite liegen; ein
ſolches Eingehen papte nicht in die Denkconceptionen feiner
durchwegs auf bie concrete Wirklichkeit des chriftlichen Heils⸗
gedankens gerichteten Geijtmittbeifungen. Ganz anders ver:
hält e$ ſich in ber chriftlichen Lehrdarſtellung dei Jakobns⸗
briefed und der beiden Briefe Petri, deren eviter. fichtlich vom
Jakobusbriefe beeinflußt ijf; bier wirb ber Inhalt des chrifte
(ten Glaubensbewußtſeins nach feiner ftreng objectiven Be⸗
bentung als göttliche? Wahrheitäwort gefaßt und dieſes αἱ
die göttliche Norm des fittlichen Denkens und Lebens δεῖ
Weber den Brief Jacobi. 249
gläubigen Subjectes belont. Es hängt bleg mit dem Zu⸗
rüdgeben auf bie objectiven geichichtlichen Grundlagen des
Beftandes des Chriſtenthums zufammen; wenn Paulus ben
Judaiſten gegenüber veranfapt war zu zeigen, baB ba8 In⸗
denthum burd) dag Ehriftenthum geiftig überwunden unb ab:
gethan [εἰ und [egtere8 in δὲν Macht des ihm einwohnenben
göttlichen Geiſtes und Lebens durch fid jelber ftehe, |o war
im Gegenjabe Hiezu nunmehr auch hervorzuheben, bag jener
göttliche Wahrheitägeift, ber bie neue, chriftliche Lebensord⸗
nung hält und trägt unb ihr als lebendige Seele einwohnt,
auch in der alten vergangenen Ordnung gewaltet habe uud
die gefammte neue Ordnung auf dem Grunde derfelben ftebe ;
bap bie in ber alten Ordnung niebergelegten Seugnifje des
Geiſtes unvergängliche” Zeugniffe, und bie in denſelben ent:
haltenen Lehren für alle Zeiten giltig feien. Wenn Paulus
auf dad Alte Teſtament hauptſächlich barum zurüdging, um
aus demſelben Beweiſe für die göttliche Wahrheit des Neuen
zu jchöpfen, jo gilt bem Verfafſſer des Jakobusbriefes bie in
den altteftamentlichen Büchern niedergelegte Weisheitsoffen⸗
barung unt ihrer jefbjt willen. Freilich fucht er bielelbe zu-
πὰ nur auf bem eihifchzpraktifchen Gebiete; aber auch hier
brüdt jid) abermals der relative Gegenja zur chriſtoſophi⸗
schen Myſtik des Apoſtels Paulus aus, bie mit der Baulini-
chen Anſchauung vom Glauben als heilöwirfender Präfenz
Chrifti im inneren Seelenmenfchen fo enge vermadjjeu war.
Diefer relative Gegenjag ber beiberfeitigen Anſchauungswei⸗
fen, üt deren einer ber Unterſchied unb Gegeujag, in ber
anderen die Kontinuität ber alten und ber neuen Ordnung,
in ber einen bie im gläubigen Subjecte wirkſame Gottes⸗
macht, in der anderen ber objective und. vom gläubigen Gub:
jecte unabhängig beftehende Wahrheitögehalt des in feinen
250 Werner, .
alten und neuen Offenbarungen mit fich ftet3 ibentijen
göttlichen Wahrheitägeiftes in's Auge gefaßt wurbe, poftu-
lirte durch fid) feldft feine SSermittefung und Ausgleichung
in einem höheren Dritten, in deſſen Kraft die im relativen
Gegenjag zu Paulus hervorgetretene Richtung wieder in ben
Geijt der Paulinifchen Anſchauungsweiſe zurückvermittelt
wurde. Und bieB war bie Sohanneifche Logoslehre, in wel:
dr ber von Jakobus unb Petrus unperfönlich gedachte
λόγος ἀληϑείας in eine concrete. lebenbige Wirklichkeit um⸗
gefeßt unb bieje zum lebendigen Grunde aller Wahrheit und
alles Heiled gemacht wurde. Mit ber Aufweilung dieſes
lebendigen und perſoͤnlichen Wahrheitögrundes verwandelte
ἢ die durch Safobus und Petrus vom fubjectiven Glau⸗
benshabitus abgefchiedene objective Hinterlage de jubjectipen
Glaubensbewußtjeind in den lebendigen Grund unb Ber:
urfacher bieje2 Bewußtſeins; und in ber Verweiſung auf
bie continuirliche Wirkfamkeit be8 Logos in der Menjchheit
jeit Anbeginn ftellte fi) auch bie Continuität zwiſchen ber
alten und neuen hell und unzweideutig hervor, ebenfofehr
aber auch biep, baB mit ber Fleifchwerbung des ewigen
Wortes alle feine vorausgegangenen Offenbarungen in eine
endgiltige lebte und Bódjjte aufgenonmen feien, die an bie
Stelle aller vorausgegangenen [id jebend jchlechthin für
und durch fid) ſelber gelten will, und als abjolute Gottes:
offenbarung üt ber Zeit alle ihr vorausgegangenen zu bloßen
Vorbereitungsacten ihrer ſelbſt herabgeſetzt bat.
Die Nichtverbindlichkeit der jüdiſchen Legalien für bie
außerpaläftinenfiichen Heidenchriften wurde bekanntlich auf
bem Apojtelconcil zu Sjerufalem (zwilchen a. 50—52) aus:
geiprochen, und Petrus zeigte durch fein perfönliches Ver:
halten zu Antiochien, bag er aud) bie Subendjrijten zur Be-
Ueber den Brief Jakobi. 951
obachtung bejfefben nicht für verbunden eradjte. Innerhalb
des Machtbereiches ber dazumal noch beftehenden jübijd)en
Theofratie war bie Beobachtung ber jübifchen Legalien für
jeden gebornen Juden bürgerliches Landesgeſetz, welches bie
Apoftel, Paulus mit inbegriffen, auf jüdiſchem Boden fehon
aus Rückficht auf bie ohnehin vielfach gefährbete und be-
brobte Lage ber yaläftinenfilchen Chriften nicht zu verlegen
wagten, unb Jakobus aus aufrichtiger Pietät bi8 an fein
Lebensende beobachtete. Er wollte, obſchon ganz und voll-
fommen von bem Sufammenbange mit ber jüdiſchen Prieſter⸗
fchaft In2geldst und felbftftänbiges Haupt ber Chriftenges
meinde zu Serufalem, doch den geiftigemoralifchen Verband
mit ber alten Orbnung, aus welcher fid) bie Ordnung des
neuen Gottesreiches herausgeſetzt, nicht vollftändig zerreiken,
[onbern Tegte fich fefber alle jene Uebungen und Entbeh⸗
rungen auf, welche nach jüdich- nationalen Begriffen zum
Weſen ächter Frömmigkeit gehörten; er lebte und wandelte
unter ben Augen feiner jerufalemifchen Mitbürger nach bem
Vorbilde und Beifpiele der großen alttejtamentlichen Heiligen,
bie fi) durch ihren GebeiBeifer unb durch ihre Strenge
gegen fid) jelbft hervorthaten, jo, ba er in ben Augen be2
Volkes als ein wahrhaft Sommer, αἷδ ein Gerechter vor
bem Herrn galt. Gleichwohl fteht er innerlich und geiftig
vollkommen auf dem Stanbpuncte der evangeliſchen reiheit,
nur daß er ihn nicht in ber Weiſe des antijudaiftifchen
Paulus, fordern vielmehr in der durch ben Herrn felber
in ber Bergprebigt vertretenen Weife geltend macht (af.
2, 12). Dur die Art ber Bezeichnung, welche er für
diefen von ihm eingenommenen Gtonbpunct wählt, gibt er
zu erfennen, daß ihm das Einftehen Pauli für die chrift-
liche Freiheit b. h. für die Unabhängigkeit vom altteftament-
252 Werner,
lichen Geſetzesdienſt ganz wohl befannt ift, und daß baffelbe
feine Billigung hat; er nennt bie Gebote ber. evangelifchen
Moral, wie fie in ber Bergpredigt und anbermárià in ben
Evangelien entwidelt find, das Geje ber Freiheit (vonog
ἐλευϑερίας), nur läßt er die von Paulus betonte vechtliche
Seite biejer Freiheit außer Acht, fondern beſchränkt fi) auf
bie ethifche Seite bevjelber b. i. er faßt fie als Verpflich⸗
tung und fittliche Vermoͤglichkeit zur vollfommenen Erfüllung
be Geſetzes, und zur Erfüllung deſſelben bem Geifte πα.
Dieſes Beide aber, bie vollfommene Erfüllung und bie
Erfüllung dem Geifte nad) ift im gegeben in der Erfüllung
de? Einen Haupt= unb Grundgebotes der enangelifchen
Moral, der hriftlichen Nächitenliebe, die er das Fänigliche
Gebot nennt (Saf. 2, 8). Hierin fteht ev aber im voll-
fommenen Ginfíauge mit Paulus, ber auch ſeinerſeits bie
Kiebe als dad Höchfte und ala bie vollkommene Erfüllung
des Geſetzes preigt, obſchon Paulus in’ den geiftigen Grund⸗
gehalt ber chriftlichen Lebenzgefinnung tiefer eingeht, und
bie allumfaffende Bedeutung derſelben aus ihrem innerjten
Weſen deducirt. Daß bie fiebe ihrem Weſen nach eine
höhere, durch die göttlichen Gnaben der Heiligung bewirkte
Klärung des geſammten inneren Menjchen jet, wird übrigens
auch von Jakobus gejagt, ber fie ja ausdrücklich der ὀργή
b. i. der felbftfüchtigen Otobbelt des feinen natürlichen Begeb-
rungen anheingegebenen undisciplinirten Menſchenweſens
entgegenjtellt. Der Unterſchied amijdjen Paulus und Jakobus
ift nur biejer, bap Paulus bie Liebe als fittliche Grund-
geſinnung hervorhebt, Safobus aber als höchfte und erites
Gebot, αἵ objective Geſetzesmacht Hinftellt — entjprechend
bem ſchon vorher bezeichneten Gegenjage zwilchen pſychologiſch⸗
jubjectiver und vorwiegend gegenftändlicher Auffaſſungsweiſe
Ueber den Brief Jakobi. 253
des chriftlichen Heilsglaubens und Heilsbewußtſeins. Die in
ber Heiligungsgnade geflärte natürliche Stimmung und Ge:
jinnung des inneren Menfchen Heißt bei Jakobus πραὕὔτης
(Sat. 3, 13), bie aber freilich, jowohl als Präbispofition
zur Reception des Geiſtes der. Gnade und Erleuchtung, αἱ
aud) als Frucht dieſes Geiftes etwas von bem in der ἀγάπη
wirkſamen göttlichen Geifte des Lebens und ber Gnabe Ver⸗
ſchiedenes ijt.
Die Beionung der unabhängig vom chriftlichen Glau⸗
benzbewußtjein und Heilgeifer objectiv fixirten Wahrheits⸗
norm des chriftlichen Denken? und Lebens bat zur Folge
baB Jakobus, wie ber jubjectiven πέστες den objectiv ge:
gebenen λόγος ἀληθείας, jo bem fittlichen Willen und
Heilgeifer be8 Glaubenden ben νόμος in feiner objectiven,
und vom menfchlichen Wollen und Zuthun unabhängig bes
ftebenben Geltung gegenäberftellt und überordnet. Nach
Paulus ijt daS Gefeh dem Gíaubenben in ber ἀγάπη ganz
innerlich; bie mit dem Glauben als einer Kraft Sottes
im Menſchen von ſelber gefeßte und ala dominante Herzens⸗
ftimmung vorhandene Liebe fühlt ji burd) fid) ſelbſt zu
dem angetrieben, was bad Geſetz ber chriftlichen Vollkom⸗
menheit vorfchreibt. Wenn aber ber Glaube als theoretiſches
Fürwahrhalten von dem mit dem lebendigen Glauben als
fubjectivem Lebensprinzipe geſetztem Heils- und Liebeseifer
unterſchieden und abgelöst wird, fo kommt es von ſelber
dazu, bap bie Inſufficienz des bloßen Glaubens erklärt, und
die Erweiſung des Glaubens durch bie Werke ala Beweis
be3 Vorhandenſeins des ächten, heiläfräftigen und lebenbigen
Glaubens geforbert wird. Ein fachlicher Widerfpruch gegen
bie Pauliniſche Lehre von bem bie Gerechtigkeit des Menjchen
durch fid) felber wirkenden Glauben liegt hierin nicht vor;
254 Werner,
weit näher fegt fid) ber Gedanke an ein-Beftreben des Jakobus⸗
briefeß, den falſchen Ausdeutungen ber Paulinifchen Lehre
von der Slaubensgerechtigkeit zu begegnen — eine Vermu⸗
thung, welche durch ble, gewifer Maßen ba8 Gegenfpiel zu
Röm. c. 4 bildende Beleuchtung der Glaubensgerechtigkeit
Abrahams (af. 8, 21—24) fait zur Gewißheit erhoben
wird. Paulus beweißt unter Berufung auf 1. Mof. 15, 6,
dag Abraham durch feinen Glauben an bie ihm von Gott
gewordene Verheißung ein Gerechter vor Gott geworben fei;
ber Jakobusbrief jiebt in der Bereitwilligfeit Abrahams,
feinen Sohn, auf deſſen Leben die Erfüllung ber Verheißung
tubte, als Opfer darzubringen, bie Bewährung ber ächten
Stäubigkeit Abrahams, worauf übrigen? auch Paulus un:
verfennbar Bedacht nimmt, wenn er Roͤm. 4, 17 von ber
Slaubenszuverficht Abrahams, daß Gott dad Tobte Tebenbig
machen fünne, fpricht. Ob es nicht ble Abficht des Jakobus
war, biejem Worte be8 Paulus zum rechten Verſtändniß
bel feinen Leſern zu verhelfen? Aber auch bie Qebre von
bem zur fittlichen Sougenb und Gerechtigkeit nothwendigen
Selbfthandeln beg fittlichen Willens wickelt fi) quà der von
Jakobus dem werkthätigen Glauben Abrahams gegebenen
Beleuchtung heraus, wenn Sal. 3, 22 von einem „Mit:
wirfen (συνεργεῖν) des Glauben? mit den Werken” b. f.
poi einem bem freithätigen Thun des Menfchen durch den
Glauben gegebenen Impulſe und beftimmenden Einfluffe bie
Rede ift. Daß Paulus ba8 freie Wollen und fittliche Frei⸗
heitävermögen be8 Menjchen nicht läugnen wollte, tft flar
und jelbjtverftänblich; nicht minder Kar liegt aber bie 9fb-
fibt be2 Jakobusbriefes vor, bieje8 von Paulus nicht
geläugnete felbfteigene Handeln des Menfchen unter Anerken⸗
nung und Betonung be8 beftimmenden Einfluffes des leben-
Veber den Brief Jakobi. 255
digen Glauben? auf dafjelbe beitimmt hervorzuheben. Daß
ber Glaube in Kraft: der Gnade fi als wirkfame Macht
be2 Guten erweife, wird Diebei ſtillſchweigend vorausgeſetzt,
und fteht nad) den Grundvoranzfegungen des Jakobusbriefes
feft. Jede gute Gabe und jedes vollfommene Geſchenk —
heißt εὖ Sal. 1, 17 — fommt von Oben, vom Vater ber
Lichter; von ihm fommt aljo vor Allem aud) die Weiäheit,
unter beren Erleuchtungen ber Menfch recht und gerecht
handelt. Wenn Paulus jagt, dag wir ba$ Wollen und
Bollbringen de Guten aus Gott haben und alle Gute
demnach in Gott gewollt und gethan wird, jo jagt Jakobus
unter einer anderen Lehrwendung daſſelbe; ber werfthätige
und lebendige Glaube ijf ber in das Licht ber göttlichen
Erleuchtung und Gnabenftrahlung eingerücte Glaube, ber
Gíaube ald der lebendige Habitus gottverlichener Weisheit,
ber au ber Klärung ber menjchlichen Seele durch ba8 Licht
ber göttlichen Wahrheit ſtammt. Dieſen Habitus gibt fid)
der Menjch nicht jelber, er ijt eine Frucht de Gebetes (Kat.
1, 5), ſomit ein Gejchen? ber Gnade; fol ber Menſch in
jebem Augenblicke meije und in jeder Verſuchung ftark fein,
jo muß ihm dieſes Gefchen? ber Gnade in jedem Augenblicke
und in jeder Prüfung feines fittlichen Willen? gegenwärtig
iem. Dieß ijt bie denknothwendige Folgerung αὐ ben burd)
ben Jakobusbrief felber gegebenen Prämiſſen; ἐδ ift bie
Umfegung ſeiner rein gegenftändlichen Auffaffung unb Dar:
ftelfung ber Heilgobfecte und Heilsbedingungen in ben [eben-
digen Fluß ber pinchologiichen Auffaſſungs- und Darſtel⸗
lungsweiſe. F
Wir wollen nicht in Abrede ſtellen, daß mit der Son-
derung und Unterfcheidung be[fen, was bei Paulus in eine
lebendige Einheit verjchlungen, ijf ein relatives Zurücdgehen
Theol. Quartalſchrift. 1872. Heft IL ' 17
256 Werner,
auf einen vorpauliniichen Stanbpunft ber chriftlichen Lehr:
auffafſung verbunden ift, ein relative Zurückgehen von bem
erchufiven und ſpecifiſchen Chriftianigmus bed Paulus auf
ben Standpunct der gemeinmenſchlichen religiäfen Anjchau-
ungsweiſe, wie dieß mit ber praktiſch⸗ethiſchen, auf fittliche
Werkthätigkeit dringenden Tendenz be8 Jakobusbriefes zum
Theile wohl ſchon von jelber gegeben ijt. Es erklärt fü)
bie aber anvererfeitö auch au8 ber Situation des Verfaſſers
jelber, der aus der Mitte des paläftinenfifchen Judenthums
heraus jchrieb, und aus ber Befchaffenheit der von ibm. an⸗
gereveten Sejer, bie, wie die Auffchrift de Briefes (af. 1, 1)
funbgibt, auswärtige Yubenchriften waren, bie in Syrien
unb Kleinafien angefiedelt waren unb wohl zum nicht geringen
Theile, den Gewohnheiten ihrer ſonſtigen außerpaläftinenft-
iden Stammesgenofien folgend, mit Handel und Erwerb be-
ichäftiget gewejen fein mögen (vgl. Sof. 4, 18 f). Diefe
gejer werben zum großen Theile auch, wenn jchon Ehriften,
noch an den Denfgewohnheiten ihrer nicht befehrien Stame
mesgenoſſen gefangen haben, und e8 mochte dem Berfaffer
beö Briefed angemcefjen bünfen, ihren Herzen und Gewiffen
von ihrem durch Geburt und Jugenderziehung angeerbten
Standpuncte au$ nahe qu fommen. Daher ba8 Zurückgehen
auf die allgemeinen Grundwahrbeiten des durch ba8 Juden⸗
thum vertretenen religiöfen Monotheismus (Sal. 2, 11;
2, 19; 3, 12), und bie damit verbundene Betonung des
Verhältniſſes zu Gott als ftrengem Herrn, Gefeßgeber und
Richter. Dieſes Surüdgeben auf bie allgemeinen Grund:
wahrheiten des religiöfen Monotheismus hatte aber außer:
bem auch feine anbermeltigert guten Gründe, und wir mid:
ten um feinen Preis den Jakobusbrief neben den paulini-
iden Briefen im neuteftamentlichen Schriftlanon mifjen; fo
Ueber den Brief Jakobi. 951
lange die von Paulus in jo begeifterter Weiſe geſchilderte
Eingeburt des Heiles in dem chriſtlich getauften Menſchen
noch nicht ganz und wahrhaft vollzogen, der Stand der
Gotteskindſchaft kein bleibender geworden iſt, ſo lange er
wieder und wieder durch ſittliche Schuld in den Stand der
Ungnade und fittlichen Knechtſchaft zurückſinkt, bedarf es
einer ſtets erneuerten Geſetzespredigt, die ihm die ewigen
erſchütternden Grundwahrheiten des allgemeinen Religions⸗
glauben? von ber abſoluten Machtherrlichkeit. und unnah—
baren Heiligkeit Gottes, des jouverainen Herrn und Gebieterd,
Geſetzgebers und Richters einfchärft. Auch mochte fid) das
Bebürfnig fühlbar machen, ben von Paulus ftettg auf bie
Idee beà Mittlerd und Erloͤſers Chrifti zurückbezogenen
Complex des chriſtlichen Lehrganzen einmal auch auf die
monotheiſtiſche Grundidee des chriſtlichen Religions- und
Heilsglaubens zurückzuführen, wozu freilich nicht im Jakobus⸗
briefe, ſondern in einem anderen an jüdiſche Leſer gerichteten
Sendbriefe, im 11. Kapitel be8 Hebräerbriefed der Anlauf
genommen wird. Die abjofute Vermittelung dieſer beiden,
in ber principiellen Ableitung und Begründung des chriftlis
den Religionsglaubens einander entgegenjtvebenden Richtuns
gen, deren eine auf ble fpecififche Grundidee des Chriften-
thums hinweist, bie andere auf bie allgemeine Grundidee
ded Religionzglaubenz als folchen zurückgeht, bot fid) in ber
Johanneiſchen Logosidee, deren Erpofition burch fid) felber
ar machte, daß bie Zurücdführung be8 gefammten chriftli-
hen Religionzinhaltes auf die nach ihrer vollen Tiefe ge«
fagte See des Mittlerd und Verfühnerd ibentijd) [εἰ mit
ber Zurücleitung des gefammten chriftlichen Religionsge⸗
haltes auf bie abjofute Grundidee aller Religion, auf bie
17 *
258 Werner,
nach ihrer ganzen Tiefe und Fülle gefaßte Idee de leben⸗
digen Gottes.
Das Zurückgehen des Jakobusbriefes auf bie allgemeinen
Grundwahrheiten des monotheiftiichen Religionsglaubens ift
von ber fritijd)en Bibelforjchung ber Neuzeit mehrfach als
ein Mangel an fpecifiich chriftlichem Religionsbewußtſein
gerügt worden. Nah F. Chr. Baur joll ber Verfaffer des
Briefed gar fein Bewußtjein von ber bei Paulus entwickelten
Idee des Verſöhnungstodes Chriſti haben; überhaupt [εἰ
vom Tode Chriſti im ganzen Briefe nicht auch nur ein
einziges Mal die Rede. Dieß Letztere möchte wohl einfach
unrichtig fein; die Stelle Jak. 5, 11: καὶ τὸ τέλος κυρίου
eidere, wird wohl zweifelloe® auf ben Tod de ferri zu
beziehen fein 1), jchon bepbalb, weil in bem vom Jakobus⸗
1) Der hauptſächlichſte Grund, απ welchem viele Ausleger biefe
Beziehung abzulehnen fid gedrungen fühlten, Yiegt in ber Schwierigkeit,
bie folgenden Worte: ὅτι πολύσπλαγχνός ἔστιν ὃ κύριος καὶ οἰκτίρμων,
mit bem voraußgehenben Inhalte de betreffenden Verſes in einen logi⸗
iden Zufammenbang zu bringen, wenn bie oben im Xerte angeführten
Worte auf ben Tod bes Herrn bezogen werden, während, wenn fie auf
den durch ben Herrn bewirften Ausgang (τέλος κυρίου) ber gelben obs
bezogen würben, ber angefügte Schlußfaß fid) fo natürlich ergübe. Wir
bemerken hierauf: Sym den unmittelbar voraußgehenben Verfen ift. zwei-
mal (5, 7. 8) von Chriftus unter ber Benennung κύριος bie Rebe. Vom
Leiden be8 ob wird gefagt, daB es bie Leſer gehört haben, vom Aus:
gang be8 erm, daß fie ibit ge[eben Haben. Wollen wir aber auch
ber Bedeutung jeben, bie auf etwas. zeitlich nahe Gerücktes binbeutet
die minder beſtimmte „wiſſen“ fubftituiren, unb wollen wir überbieß,
dieſes „Wiſſen“ auf den durch Gott bewirkten troftvollen Ausgang ber
Leiden Jobs beziehen, [o ift noch immer nicht bie Iogifche Verbinbung
bes folgenden ὅτι πολύσπλαγχνος x. v. A. mit bem Vorhergehenden θεῖς:
geftelt, indem der Gat) ὅτι πολύσπλαγχνός ἔστιν ὃ κύριος καὶ olxr(guev
nicht den Grund bed vorausgehend Gefagten, fonbern vielmehr eine
Folgerung aus bemfelben enthält. Deßhalb Haben aud) Einige bag
Wort edere zu bem Gabe ὅτε πολύσπλαγχνος x. v. Δ. hinübergezogen,
x Ueber ben Brief Jakobi. 259
briefe abhängigen erjten Briefe Petri die Vermahnung zur
ὑπομονή mit bem Hinweiſe auf ba8 für bie verfolgten
Ehriften vorbildliche Leiden Chrifti verbunden ijt (1. Petri
2, 21 ἢ; 8, 18). Der Verfaſſer dieſes letzteren Briefes
wußte fich bod) wohl beffer und richtiger in den Sinn und
Gebanfeninbalt be8 von ifm benügten Briefes hineinzu-
benfen, als ein burd) eine Reihe von Sahrhunderten von
ben Berfaffern beider Briefe gefchievener .]páterer Xefer.
Doran, daß Jakobus bie Auferftehung und Verherrlichung
be2 Herrn unter die Belege des vorſehenden gnábigem und
erbarmungsgreichen Waltens Gottes einbezieht, fann nicht
Anftop genommen werden, da e8 fid) nicht um eine bent
wiebererwechten und verherrlichten Jeſus bewiefene Gnabe
und Erbarmung handelt, fondern vielmehr um einen in
feiner Perſon muftergiltig und prototypiſch dargeftellten
Beweis, baB dad Hoffen ber verfolgten Fronmen auf einen
troftvollen,, freudenreihen und glorreichen Ausgang ihrer
zeitlichen Bebrängnifje Fein eitfe8, grundloſes und vergebli-
dea Hoffen ſei. Daß bie Grmedung Jeſu von ben Sobten
als eine That de über feinem Geheiligten waltenden Gottes
gefaßt wird, ijt eine Reſonanz dev nod) unentwidelten, aber
und bag τέλος κυρίον vom voraußgehenben ἠκούσατε abhängig gebacht.
Daß auch bieB nur gezwungen ausfällt lehrt ein einfacher Blick auf
ben betreffenden Sat. Wohl aber ift zu beachten, baB neben ber durch
codd. x. B.*K etc. bezeugten Lefeart εἴδετε eine anbere burch A. B. G
etc. bezeugte Lefeart ἴδετε eriftirt, mit ber man wegen ihrer Schwierig:
feit nichts Nechtes anzufangen weiß. Wie, menn beide Lefearten richtig
wären, imb in bem nad) edere zu ſetzenden ἴδετε bag in Pluralform
wieberholte ἰδοὺ beg Versanfanges zu erkennen wäre? Sebenfalls wird
ber ganze Vers nur unter diefer Vorausſetzung lesbar, und gewinnt
logischen Sujammenbang: ’Zdov, μακαρίζομεν τοὺς ὑπομένοντας" τὴν
ὑπομονὴν "lof ἠκούσατε, καὶ τὸ τέλος κυρίου εἴδετε" ἴδετε, ὅτι πολύ--
σπλαγχνός ἦστιν ὁ χύριος καὶ οἰκτίρμων.
260 Merner,
augenſcheinlich typiſch firirten primitiven Lehrform ber apo
ποίει Predigt, wie wir fie in ben erften unb älteſten
Apoftelreden (Apgſch. 2, 32; 3, 15; 4, 10; 10, 40; 18, 87;
vgl. 1, for. 15, 15) dargeftellt finden. Der über bem Cet-
nen waltende Gott muß κατ᾽ ἐξοχήν über demjenigen walten,
ber feit Geheiligter per eminentiam ift; barum ijt Chriftns
ber Erftling ber Entjchlafenen b. 5. der unter den Entſchla⸗
fenen zuerſt Wiedererftehende (ἀπαρχὴ τῶν xexouumuévow
1. Kor. 15, 20), und durch ihn, ben Erftling der Eritan-
denen bie glorreiche Auferftehung unb Verberrlichung Aller,
bie Chriftt find, verbürgt: ἀπαρχὴ Χριστὸς, καὶ ἔπειτα
οὗ τοῦ Χριστοῦ, ἐν τῇ παρουσίᾳ αὐτοῦ (1. Kor. 15, 23).
Auf die Parufie Chrifti weist auch Jakobus bie duldenden
und verfolgten Gbrijten hin (Sat. 5, 7. 8), und deutet feinen
Leſern an, daß ihre Wiedergeburt im Worte der Wahrheit
nach dem Willen des vorfehenden Gottes bie Beitimmung in
fib trug, fie jollen, zur Generation ber Erſtbekehrten gehörig,
durch ihre Belehrung und burd) das, was bie Belehrung
aus ihnen machen follte, zu einer ἀπαρχή τῶν αὐτοῦ (scil.
τοῦ πατρὸς τῶν φώτων) κτισμάτων werben (af. 1, 18).
Eben biejer leßterwähnte Vers dürfte aber durch bag, was
er weiter noch enthält, auch zum Belege dienen, daß bem
Jakobusbriefe bie tiefere Bedeutung und heilswirkende Kraft
des Todes Chrifti durchaus fein frember Gebanfe jei, ja
dag er, obſchon mur vorübergehend und furg anbeutenb,
benjelben fo tief greift, wie nur irgend einer der apoftolt-
ſchen Schriftfteller. Βουληϑεὶς ἀπεκύησεν nucg λόγῳ ἀλη-
ϑείας εἰς τὸ εἶναι ἡμᾶς ἀπαρχήν x. v. À. — heißt es im
dem angeführten Verſe. Das Subject des Sabes tft
ber πατήρ τῶν φώτων; ber Ausdruck ὠπεκύησεν aber,
ber im Neuen Teftamente einzig bafteht, weigt. auf eine
Ueber den Brief Jakobi. 261
Schmerzgeburt Hin, wobei man doch wohl nur an Jeſu
Leiden und Tod, unb an bie Heiläfraft bieje8 Leidens benfen
fann, fofern e8 zur myſtiſchen Duelle der Graben. unjerer
Wiedergeburt und Heiligung, unferer Erhebung in den Stand
bet Gotteskindſchaft und ber darin begründeten Anwartichaft
auf die Herrlichkeit des zukünftigen Gottesreiches geworden
iR. Sp wenig nun auch berlei Ideen im Jakobusbriefe
entwickelt find, fo gewiß unb beftimmt liegen fie im Denken
feines Verfaſſers geborgen, und ev hätte ihnen feinen. prágs
nanteren Ausdruck zu geben vermocht, aíà durch das von
ihm gewählte Wort arsoxveiv, welches zugleich auch auf das
berzinnige Erbarmen be8 Gott-Erlöferd (Luk. 1, 78), unb
bamit auf bie ibeelle Hinterlage ber Theologie des heiligen
Leidens Ehrifti hindeutet. Sollten wir und täuſchen, wenn
wir in der Gruß: und Segensformel 1. Betri 1, 2 — eine
&enbbriefe8, beffen Geiftgemeinjchaft mit jenem des Jakobus
außer Zweifel jteht, eine mit Bezugnahme auf den Inhalt
ber chriftlichen Tauf- und Bekenntnißformel (Matth. 28, 19)
gegebene Analyje ber Jak. 1, 18 ausgeſprochenen Idee
jehen? Petrus wünfcht ben von ifm angeredeten Gemein-
ben bie Fillle ber Gnade und des Heiled κατὰ πρόγνωσιν
ϑεοῦ πατρὸρ, ἐν ἀγιασμῷ πνεύματος, eig ὑπακοὴν καὶ
δαντισμὸν αἵματος Ἰησοῦ Χριστοῦ.
Der Grund, daß Jakobus auf bie Idee ber chriftlichen
Heilövermittlung und deren myſtiſche Duelle nicht näher
eingeht, liegt in bem ihn beherrichenden Beftreben, ſeinen
Zejern bie Forderungen ber fittlichen Gerechtigkeit und pratti«
ſchen chriftlfichen Lebensweisheit nachdrücklichſt und eindring-
licht einzufchärfen. Diefem Berhalten liegt die Voraus⸗
ſetzung zu Grunde, daß dort, wo dieje Korberungen erfüllt
werben, [fid aud) ſchon jelbjt bie tieferen Ginbfide in bie
262 Werner,
verborgenen göttlichen Gründe und Quellen be8. chriftlichen
Heiled erjchliegen werden. Der Berfaffer des Safobug-
briefed faßt in Bezug auf bleje tiefere Heilserkenntniß {εἰπὲ
Aufgabe αἷ eine propäbentifhe auf, und läßt in bem, was
er über ble Wetöhelt von Oben unb deren Wirkungen auf bie
für bie Grleudjtungen derjelben empfänglichen Herzen und '
Seelen — τοαῦ er ferner über bie Empfängniß unb Aus
geburt ber Sünde im Menfchenherzen (Sal. 1, 14 f.) im
Gegenjage zu ber vorerwähnten Wiedergeburt au8 Gott fagt,
bejtimmt genug erfennen, bag fein Mahnwort auf beu
Grunde eines tiefer vermittelten Heilöbegriffes ſteht. Es iſt
wohl in feiner Art ganz richtig, wenn zur Charakterifirung
ber geiftigen Haltung feines Briefes bemerkt wird, berjelbe
jtehe auf dem durch bie Bergprebigt verfretenen Standpuncte
ber chriftlichen Lehrauffaſſung; nur darf damit nicht bie Vor-
ausſetzung verbunden werben, daß der Brief feine Lefer auf
jenen Standpunct zurückverſetzen wolle, auf welchem bie ber
Bergpredigt lauſchende Zuhörerjchaft ftand, bie von bem
göttlichen Heils- und Lebendgrunde, auf welchen bie in bet
Bergprebigt verkündete neue Ordnung bes fittlich-religiöfen
Menjchheitslebend gejtellt werben jollte, feine Vorſtellung,
ja kaum noch eine Ahnung hatte, Richtiger wird man jagen,
ber Berfafler be8 Briefes jtelfe fid) jelber feinen Leſern gegen-
über auf den von Chriſtus in ber Bergpredigt eingenom-
menen Standpunc, indem er bie von Chriftus in jener
Rede verfolgte Abficht, die im Judenthum erzogene Zuhörer:
Ihaft zur vollfommenen Erfüllung be? Geſetzes anzuleiten
und über die rechte Art und Weife und den ächten Geijt
biefer volffommenen Gefegeserfüllung zu unterweifen, aud
zu feiner eigenen Abficht macht. Es tjt in dieſer Beziehung
gewiß nicht bedeutungslos, daß Jakobus fo genau mit ber
Weber den Brief Jakobi. 263
Tendenz, welche die Bergprebigt in ber burd) dad Matthäus-
evangelium ihr gegebenen Faſſung verfolgt, zufammentrifit;
wir haben bier zwei apoftoltfche Vertreter des paläftinenfis
iden Chriſtenthums vor und, b. 5. zwei Repräfentanten
und Bertreter jener Lehrform, welche fid) für die apoſtoliſche
Lehrverfündigung auf paläftinenjtichem Boden und zur Zeit
ber noch beftehenden jüdiſch-theokratiſchen Herrſchaft al bie
einzig angemefjene erwied. Daß Jakobus, der als ftändiger
Bilchof der paläftinenfiichen Kirche fid) ganz in bte Verhält-
niffe derjelben bineingelebt hatte, ben charakteriftiichen Typus
jener Tehrform auch in einer an außerpaläftinenfifche Juden⸗
chriſten gerichteten Mahnrede beibehält, wird man nur höchft
erflärlich finden Tönnen, ja bei bem vorausſetzlichen geiftigen
Zufammenhange jener audwärtigen Gemeinden mit der palä-
ftinenfiichen Mutterkirche für etwas Selbjtverjtändliches zu
halten haben,
Der Jakobusbrief trifft mit ber Bergpredigt ſowohl in
Hinficht auf den lehrenden, αἷ auch auf den mahnenden Theil
ber Ietteren aujammen, und dieſes Zuſammentreffen bezieht
fid nicht bloß auf bie Sache, jonberm das eine und andere
Mal aud) auf den Wortausdruck. Stellen leßterer Art find
die beiderjeitigen Abmahnungen von mißbräuchlicdem und
fündhaften Schwören (af. 5, 11 verglichen mit Matth. 5,
34 ff.), bie beiderfeitigen Belehrungen über bie Eitelfeit unb
Nichtigkeit ber mit jündhafter Gier zufammengerafften irbifchen
Schätze, welche von Roſt und Motten verzehrt werden (Sal.
5, 2 f. vgl. mit Matth. 6, 19), über bie Unmöglichkeit,
Gott unb der Welt zugleich zu dienen (Sal. 4, 4 vgl. mit
Matth. 6, 24), obſchon e8 fid) in biejem letzteren Beifpiele
nur mehr um ein völlige Zufammentreffen in einem ge:
meinfamen Haupigebanfen ber -beiberfeitigen Durchführungen
264 Berner,
handelt. Wir würden fein befonbered Gewicht legen auf
bit Gleichartigkeit ber beiberfeitigen Mahnung, nicht bloß
Hoͤrer, jondern auch VBollbringer des Geſetzes zu fein (Sat.
1, 22 vgl. mit Matth. 7, 21. 24. 26), wenn die Gleich:
artigfeit diefer Mahnung nicht aud) noch durch die Gleich⸗
artigfeit des Objectes der beiderjeitigen Mahnung (Jak.
l, 25: ὁ νόμος τέλδιος, ὁ τῆς Eizvdepias), ſowie ber
beiderfettigen Hinbeutung auf Form und Charakter des
guten und fchlechten Handeln? b. i. auf das verfländige
Verhalten deſſen, der nicht bloß Hörer, jondern aud) Voll:
bringer iff, unb auf das unverftändige Verhalten deſſen,
ber bloß Hörer, nicht aber Vollbringer ift, jo überrajchend
bervorgeftellt würde. Nicht minder überrafchend ijt bie
Sleichartigkeit in der Motivirung der Nothwendigkeit einer
volllommenen Erfüllung be8 Geſetzes. Wer ba8 Gejet aud)
nur in den mindeften Dingen verfehrt, heißt εὖ Matth.
5, 19, gehört fchon zu den Mindeſten im Himmelreiche; wer
ἐδ in einem einzelnen wichtigen Puncte übertritt, lehrt
Satobus (2, 10), ijt ein Übertreter des ganzen Geſetzes,
b. b. ſchließt fi felber factiſch volftändig vom Himmels
veihe and. Die wiederholte Seligpreifung der in ber. τί
lichen Gerechtigkeit Bewährten (Sal. 1, 12. 255 5, 11) darf
immerhin auch als ein Anklang an bie Makarismen, mit
welchen bie Bergprebigt eröffnet wird, verjtanben werben.
Es fünnte nebjibei noch, was im Jakobusbriefe (1, 5 ἢ;
3, 2 F5; 5, 17 f.) über die Nothwendigkeit und die Kraft
des Gebete, über bie rechte Weile zu beten und ben rechten
Gegenſtand des Gebete8, forie ferner, was in ben Der:
mahnungen zur Gerechtigkeit, Billigkeit, Schonung und
mitleidvollen Güte im Verhalten zum Nächften gejagt
wird, mit demjenigen, was in ber Bergprevigt hierüber
Ueber den Brief Jakobi. 265
enthalten it, im Vergleich geftellt werben, obſchon wir üt
biefen Puncten Leinen unmittelbaren Sulammenffang, jonbern
nur ein allgemeine geiftiges Verwandtſchaftsverhaͤltniß zwiſchen
bem Jakobusbriefe und ver Wiedergabe be8 Lehrvortrages Ehrifti
durch dag Matthäusevangelium erkennen. Die im Jakobus⸗
driefe gegebene Darftellung von ber Zenguug und Geburt
ber Simbe erinnert in ihrer Hindeutung auf das menſch⸗
fide Herz als Zengungsftätte unb Hegeort ber Sünde an
den Ausfpruch des Herren bei Matth. 18, 15 f; bie Gr-
wähnung ber Slaubenzgerechtigfeit der Rahab (yaf. 3, 25)
bat ihre Barallele in der Erwähnung ber Rahab als einer
ber Stammütter be2 Herrn bei Matthäus (1, 5). Da bie
Rahab jonjt im ganzen 90. T. nirgends, al? in einer, wahr⸗
icheinlichft von af. 3, 25 abhängigen Stelle des Hebräer-
briefed (Hebr. 11, 31) erwähnt wird, [o darf aud) bie bem
Matthäusevangelium ung Sefebus3briefe gemeinjame Erwäh-
nung berjelben ala ein bem beiverfeitigen apoftoliichen Ver⸗
faffern gemeinfamer Zug ber Tpecifilch palaͤſtinenſiſchen Lehr⸗
weife genommen werben, bie ſich durchwegs durch dad Zu⸗
rüdgebeu auf bie alttejtamentlichen, Offenbarungsbücher (tim
gegebenen Falle durch Surheibegiehung auf Pialm 87, 4)
zu begründen jtvebte.
Wenn ba Matthäusevangelium feinem befonderen Zwecke
gemäß fid vornehmlich, ja fait ausschließlich, auf das pro-
phetiiche Element des A. T., wie daffelbe nicht mur in ber
Prophetenbüchern, fondern auch in ben Pſalmen und im
Pentateuch enthalten ijt, fid ftüßt, jo ber Jakobusbrief [εἰς
ner Abficht gemäß, bie Achte chriftliche vebensweisſsheit au
febren, auf bie Sapientialbücher des A. T., auf ble Sprich-
wörter, auf bie Weisheit Salomond und auf ben Sivaciven.
Diefer letztere ijt εὖ. namentlich, auf welchem faſt der ger
266 Werner,
fammte doctrinelle Inhalt be8 Briefes beruht unb aus wel-
dem zum nicht geringen Theile auch ba8 Sprachgut deſſel⸗
ben entlehnt ijt. Echon das Jak. 1, 19. 20 angegebene
Grundthema des Briefed iff dem Gedankeninhalte und theil-
weile auch bem Wortlaute nach aus ben altteftamenifiden
Saptentalbüchern gefchöpft: „ES [εἰ ber Menfch jchnell be-
reit zum Hören), aber langjam befonnen zum Reben ἢ),
und eben fo langſam befonnen gegenüber ben in ihm auf
gährenden Negungen des Sorne2 und Ungeftüms δ), bie ben
ber fittlichen Selbjtherrichaft Ermangelnden zu Werken ber
Ungerechtigkeit fortreißen und im Sünbigen gegen bte Ge:
rechtigkeit Gottes untergehen lafjen 9." Mir haben fchon
oben angegeben, was ber Jakobusbrief unter ber ὀργή, der
Rohheit des jelbftfüchtigen Gelüften? des ungellärten Sin-
ned unb Herzens verfteht, und eben [o auch hervorgehoben,
wie fle den Widerſatz zur πραὕτης. b. i. zu bem im göttli-
djen Weisheitslichte geläuterten und geflärten Menſchenſinne,
zur frommen Lauterfeit des mildfanften Chriftenfinnes bil-
1) Ἔστω πᾶς ἄνϑρωπος ταχὺς εἷς τὸ ἀκοῦσαι. Bol. Sirac. 5, 11:
Ilvov ταχὺς iv — σου.
2) Βραδὺς εἷς τὸ λαλῆσαι. — Girac. b, 11, 12: Καὶ iv uaxpo-
ϑυμίᾳ φϑέγγου ἀπόκρισιν" ei ἔστιν σοι σύνεσις, ἀποκρίϑητι τῷ πλησίον,
εἶ δὲ un, ἢ χείρ σον ἔστω ἐπὶ orouarl σου.
8) Βραδὺς εἷς ὀργήν. --- Pred. 7, 10: My σπεύσῃς ἔν πνεύματί
σου τοῦ ϑυμοῦσϑαι, ὅτι ϑυμὸς iy κόλπῳ ἀφρόνων ἀναπαύσεται.
4) Sal. 1, 20: Ὀργὴ γὰρ ἀνδρὸς δικαιοσύνην ϑεοῦ οὐ χατεργαζέται.
Die ὀργή bebeutet bie ungeftüme Wilbheit unb Rohheit des Herzens,
ba$ ber Klärung durch dad göttliche Weisheitslicht (Saf. 1, 17) et:
mangelt. Bol. hiezu Gap. 10, 1—8: Adım (scil. 7 oople) πρωτό--
πῖαστον πατέρα κόσμου μόγον κτισϑέντα διεφύλαξεν, καὶ ἐξείλατο αὐτὸν
ἐκ παραπτώματος ἰδίου ...... ἀποστὰς δὲ ἀπ᾽ αὐτῆς ἄδικος ἐν ὀργῇ
αὐτοῦ ἀδελφοχτόνοις συναπώλετο ϑυμοῖς. — Sirac. 1, 19: Οὐ δυνήσεται
ϑυμὸς ἄδικος δικαιωθῆναι, ἡ γὰρ gor τοῦ ϑυμοῦ αὐτοῦ πτῶσις αὐτῷ.
Ueber ben Brief Jakobi. 267
det; hier handelt es ſich darum, die im Jakobusbriefe gege⸗
bene fittliche Beleuchtung ber ὀργή und des in ihr begrün-
deten fittlichen Verderbens aus den altteftamentlichen Sa⸗
pientialbüchern, dem Siraciden namentlich, nachzuweiſen.
In biefer Beziehung ift nun vor Allem Cap. XXVIII des
Siraciden ober ber Σοφέα Σειράχ hervorzuheben, welches
οἷς Warnung vor der ὀργή unter jenen Beziehungen, welche
im Jakobusbriefe hervorgekehrt find, enthält, und auch in
der Beleuchtung ber ὀργή durchaus biefelben Gedanken ent:
wickelt, bie und im Jakobusbriefe entgegentreten. Jakobus
bringt bie Verfündigungen ber ὀργή zunächft mit ben Ver⸗
fehlungen der Zunge!) in Zufammenhang, die er an bem
der fittlichen Selbftzucht entbehrenden Menſchen als ein un⸗
bändiges, durch feine Menfchentraft zu bemältigended Uebel
voll tobibringenben Giftes bezeichnet). Als Habitus eines
1) Die Wichtigkeit und Wefentlichfeit ber SBeberridjung der Zunge
wird im Jakobusbriefe auch unabhängig von ber Beziehung auf bie
Berfündigungen der ἐργή, mit Rüdficht auf bie Grimbabfidjt des Briefeg,
bie chriſtliche Gerechtigkeit in Gedanke, Wort und That zu Tebren, nad:
drüdlichft hervorgehoben: Πολλὰ πταίομιεν ἅπαντες" εἶ τις ἕν λόγῳ οὐ
πταίει, ovrog τέλειος ἀνὴρ, δυνατὸς χαλιναγωγῆσαι καὶ ὅλον τὸ σῶμα.
Saf, 3, 2. Bol. Sirac. 28, 7: 1]αιδείαν στόματος ἀκούσατε τέκνα, καὶ
ὃ φυλάσσων οὐ un did: iv τοῖς χείλεσιν αὐτοῦ καταληφϑήσεται ἁμαρτω--
Ade, καὶ λοίδορος καὶ ὑπερήφανος σκανδαλισϑήσονται Ev αὐτοῖς. — Gpridym.
13, 8: Ὃς φύλασσει τὸ ἑαυτοῦ στόμα, τηρεῖ τὴν ἑαυτοῦ ψυχὴν, ὃ δὲ
προπϑτὴς χείλεσιν πτοήσει ἑαυτόν. Bol, Sprichw. 12, 18.
2) Sal. 8, 7. 8: Πᾶσα γὰρ φύσις ϑηρίων τὸ καὶ πετεινῶν, ἑρπετῶν
τα καὶ ἐναλίων, δαμάζεται καὶ δεδάμασται τῇ φύσει τῇ ἀνθρωπίνη" τὴν
δὲ γλῶσσαν οὐδεὶς δύναται ἀνθρώπων δαμάσαι' ἀκατάσχετον κακὸν, μεστὴ
ἰοὺ ϑανατηφόρου. --- Bol. Gir. 28, 18—21: Πολλοὶ ἔπεσαν iv στόματι
μαχαέρας, καὶ οὐχ og πεπτωχότες διὰ γλῶσσαν. μακάριος ὃ σκεπασϑεὶς
dm αὐτῆς, ὃς οὐ διῆλϑεν iv τῷ ϑυμῷ αὐτῆς, ὃς οὐχ KAxvce τὸν ζυγὸν
αὐτῆς, καὶ ἂν τοῖς δεσμοῖς αὐτῆς οὐκ ἐδέϑη" O γὰρ ζυγὸς αὐτῆς ζυγὸς
σιδηροῦς, καὶ οἱ δεσμοὶ αὐτῆς δεσμοὶ χάλκεοι. ϑάνατος πονηρὸς ὃ ϑάνα-
τὸς αὐτῇς, καὶ λυσιτελὴς μᾶλλον ὃ ἔδης αὐτῆς.
268 Berner,
Gemüthes voll Gehaͤffigkeit und Rohhelt, vol Neid und un-
lauterer Selbftfucht ftiftet die ὀργή allenthalben Haß und
Zwietracht, Zank und Streit, untergräbt Frieben und Wohl-
fahrt ber Menſchen, führt zu blutigen Scenen, Morb unb
Tödtung !); es ijt ein erbhafter, τοῦ animalifcher, daͤmoniſch
infpirirter Geift in ihr — der vollfte Widerfab zu der aus
ven rleuchtungen der himmliſchen Weisheit ftammenben
Sanftmuth beà frommen, wahrhaft gottergebenen Gemüthes ?).
Sm Zujfammenhange bomit wird die Zunge, dad Organ ber
fündigen ὀργή, eine Welt voll Ungerechtigfeit genannt; ob-
idon ein Meines Glied des menfchlichen Leibes, ftiftet fie
bod) die größten Uebel, vergleichbar einem Funken, der einen
ganzen Wald in Brand zu jegen vermag; fie ijt ſelber ein
ſolches verwüſtendes Feuer, ein von ber Hölle angefachter
Brand, ber den gefammten fittlichen Beſtand be8 Menſchen
vernichtet und zerftärt ). ES ijt nicht jchwer, bie ähnlich
1) Sf. 8, 18. 14. 16: T; σοφὸς καὶ ἐπιστήμων ἐν ὑμῖν ; δειξάτω
ἐκ τῆς καλῆς ἀναστροφῆς τὰ ἔργα αὐτοῦ ὃν πραὕτητι σοφέας. εἶ δὲ Chlor
πικρὸν ἔχετε καὶ ἐρίϑειαν ἐν τῇ καρδίᾳ ὑμῶν, μὴ κατακανχᾶσϑε καὶ
ψεύδεσϑε κατὰ τῆς ἀληϑείας. Ὅπου yag ζῆλος καὶ ἐρίϑεια, äxei ἀκα--
ταστασία καὶ πᾶν φαῦλον πρᾶγμια. — (Θίτας. 28, 8. 9. 18—106: Anoayov
ἀπὸ μάχης, καὶ ἐλαττώσεις ἁμαρτίας, ἄνθρωπος γὰρ ϑυριώδης ἐκκαύσει
μάχην, καὶ ἀνὴρ ἁμαρτωλὸς ταράξει φίλους, καὶ ἀνὰ μέσον εἴρηνενόντων
Zußalei διαβολήν. ψίϑυρον καὶ δίγλωσσον καταρᾶσϑαι, πολλοὺς γὰρ
εἰρηνεύοντας ἀπώλεσεν. γλῶσσα τρίτη πολλοὺς ἐσάλευσε, καὶ διέσεησεν
αὐτοὺς ἀπὸ ἔϑνους εἷς ἔϑνος, καὶ πόλεις ὀχυρὰς καϑεῖλε, zo olx(a;
μεγιστάνων κατέστρεψε" γλῶσσα τρίτη γυναῖκας ἀνδρείας ἐξέβαλε, καὶ
ἐστέρησεν αὐτὰς τῶν πόνων αὐτῶν. © προσέχων αὐτῇ οὐ o) even
ἀνάπαυσιν͵ οὐδὲ κατασκηνώσει μεϑ᾽ ἡσυχίας.
2) Sat. 8, 15: Οὐκ ἐστιν αὕτη κα σοφία ἄνωθεν κατερχομένῃ, al
ἐπίγειος, ψυχωοὴ, δαιμονιώδης. Bol. mit biefer Aeußerung über bab
fbümoni[de be$ Zornes bie oben angeführte Stelle Sir. 28, 21.
8) Jak. 8, 5. 6. Das Bild vom Funken, ber zum Brande er:
wächſt, ift aus bem Giraciben entlehnt; vgl. Sir. 28, 10 ff.: Kara
Ueber den Brief Jakobi. 269
lautenden Stellen aus bem Giraciben, namentlich aus bem
vorgenanten c. 28 beffelben und aus ben übrigen alttefte-
mentlichen Sapientialbüchern beizubringen; wir haben fie
unter dem Xerte den betreffenden Stellen des Jakobusbriefes
angeſchloſſen. Wir wollen nicht umerwähnt lafjen, daß un-
[εὐ Brief aud) bezüglich biefe2 feines Lehrjtüces, der Wars
nung vor bem Borne, mit ben Matthäusevangelium zuſam⸗
menflingt, wa3 um jo beachtenswerther ijf, da ble bezügliche
Stelle des Evangeliums (Statt. 5, 21. 22) im gefammten
Lehrinhalte ber vier Evangelien feine gleich ober ähnlich fauc
tende Parallelftelle neben ji hat. Da der Jakobusbrief ben
Begriff ber ὀργή In weiterem Sinne faßt, fo bringt er mit
ijr die Härten in Zufammenhang, welche von ben Vermö—
- genden, Mächtigen und Reichen gegen die Armen, Hüflofen,
Berlaffenen, Wittwen und Waiſen begangen werden D); wie
τὴν ὕλην τοῦ πυρὸς οὕτως ἐκκαυθήσεται, καὶ κατὰ τὴν στερέωσιν τῆς
μάχης ἐκκαυθήσεται" κατὰ τὴν ἰσχὺν τοῦ ἀνθρώπου 0 ϑυμὸς αὐτοῦ ἔσται,
καὶ κατὰ τὸν πλοῦτον ἀνυψώσει ὀργὴν αὐτοῦ. ἔρις κατασπευδομένη
ϑχχαίει πῦρ, καὶ μάχη κατασπεύδουσα ἐκχέει αἷμα. ἐὰν φυσήσῃς σπιν--
γῆρα bxxojaeras, καὶ idv πτύσῃς im αὐτὸν offecÓraerai, καὶ ἀμφότερα
ix τοῦ στόματός σοὺ ἐξελεύσεται. Vogl. zu biefen iegieren Worten at.
9, 9. 10.
1) Sat. 5, 4: Tdod, ὁ μισϑὸς τῶν ἐργατῶν τῶν ἀμησέντων τὰς
τὰς χώρας ὑμῶν, ὃ ἀπεστερημένος ap ὑμῶν, κράζει" καὶ αἱ βοαὶ τῶν
ϑερισάνγτων εἷς τὰ ὦτα κυρίου σαβαωθ εἰρηλύϑασιν. Der Schrei ber
Unterdrüdten zum Himmel, unb ba$ Eintreten Gottes für fie gegen
ihre Unterdrüder ift alerbing8 ein in ben altteftawtentlichen Büchern
wiederholt ausgeſprochener Gebante; er fehlt aber auf beim Siraciden
nicht, Bgl. Girac. 82, 18-15: Οὐ λήψεται πρόρωπον ἐπὶ πτωχοῦ,
καὶ δέησιν ἠδικημένου naar: οὐ un ὑπερίδῃ inerelav ὀρφανοῦ, καὶ
χήραν, lav. ἐκχέῃ Aullav. οὐχὶ δάκρυα χήρας ἐπὶ σιαγόνα καταβαίνει, καὶ
7 καταβόησις ἐπὶ τῷ καταγαγόντι αὐτά; — Noch bezeichnender iff [οἷς
gende Stelle: "Apros ἐπιδεομένων ζωὴ πτωχῶν, ὁ ἀποστερῶν αὐτὴν ἄν--
ϑρωπος αἱμάτων" φονεύων τὸν πλησίον ὃ ἀφαιρούμενος ovußlacıy, καὶ
270 Werner,
denn in2gemetr die Herzenzhärtigfeit ber Reichen, ihre golt-
vergeffene und gebanfenfofe Sicherheit tm Befite ihrer Reid):
thümer, als ob biejer Beſitz ein ewig bauernber wäre, und
überhaupt ba8 Sagen und Rennen nad) gewinnreichem Er:
werb ein Hauptgegenjtand ber fittlichen Mahnungen unferes
Briefes ijt. Die Antithefe zu dem lebterwähnten Puncte
bilden bie troftvollen Worte und Mahnungen ber Bergpre
blgt zum Vertrauen auf bie göttliche Vorjehung (Matth. 6,
26—34), bie fid) gleichfalld an bie Erwähnung be8 Mam-
mongculte8 anfchließen; für das Webrige find bie entſpre⸗
chenden Parallelftellen wieder in den altteftamentlichen Sa
pientialbüchern aufzusuchen, bem ganzen Abjchnitt aber von
Soft. 4, 13 618 5, 6 tft ba8 zweite Capitel ber Sapientia
. Salomonis als unverfennbare Vorbild unterzulegen ἢ), Auch
bie von Jakobus getadelte Zurückſetzung ber Armen aus De:
ferenz gegen bie Reichen, Ungefehenen und Mächtigen ?)
nüpft an Gebanfen an, bie in ber altteftamentlichen Weis⸗
heit außgefprochen find ®), nur daß biefelben von Jakobus
mit chriftlicher Tiefe gefaßt, werben, bie nicht bloß im Ar-
ἐκχέων αἷμα ὃ ἀποστερῶν μισϑὸν μισϑίου (Git. 81, 21. 22). Ferner
Sir. 4, 4--6: Ἱκέτην ϑλιβόμενον μὴ ἀπαναίνου, καὶ μὴ ἀποστρέψῃς
τὸ προσωπὸν σου ἀπὸ πτωχοῦ. ἀπὸ δεομένου μὴ ἀποστρέψῃς ὀφϑαλμὸν,
καὶ μὴ dus τόπον ἀνθρώπῳ καταράσασϑαι ce: καταρωμένου ydo σε iv
πικρίᾳ ψυχῆς αὐτοῦ, τῆς δεήσεως αὐτοῦ ἐπακούσεται Ó ποιήσας αὐτόν.
1) Sof. 4, 14 ff. bat eine andere Stelle bes Weisheitsbuches, nämlich
Weish 5, 8—14, zum offen daliegenden Subfirate.
2) Sal. 2, 1—10.
8) Vgl. Gir. 10, 22: Οὐ δίκαιον ἀτιμάσαι πτωχὸν συνετὸν, καὶ
οὐ καϑήκει δοξάσαι ἄνδρα ὁμαρτωλόν. — Sir. 82, 12: My ἔπεχε ϑυσίᾳ
ἀδίκῳ, ὅτι κύριος κριτής ἔστι, καὶ οὐκ ἔστι παρ᾽ αὐτῷ δόξα προσώπου. ---
Weish. 6, 8: Οὐ ὑποςελεῖται πρόρωπον ὃ πάντων δεσπότης, οὐδὲ ἔντρα-
πήσεται μέγεϑος. ὅτι μικρὸν καὶ μέγαν αὐτὸς ἐποίησεν, ὁμοίως τὸ προνοεῖ
περὶ πάντων" τοῖς δὲ χραταιοῖς ἰσχυρὰ ἐφίσταται ἔρευνα.
Neber ben Brief Jakobi. 271
men das Bild be8 Schöpfer8 ehrt, ſondern auch bie Ehriften-
τοῦτος de Armen und bie den Armen im Geifte gewordene
evangelifche Verheißung im Auge hat. — Gbenio Hat aud)
feine Schilderung des Böfen in der Geftalt ber ὀργη den
Vorzug chriftlicher Tiefe vor jener der altteftamentlichen Sa-
pientialbücher voraus, indem er bie deyn nicht nur pſychologiſch
tiefer und principienhafter faßt, fonbern- in dieſer tieferen
principienhaften Faſſung zugleich aud) ala etwas Abgeleite⸗
te erfaßt, das auf die ἐπιϑυμέα, auf bie rohe Begierlich-
feit des in ben Graben der Heiligung noch nicht umgebilde-
ten und geläuterten Menſchenweſens als feinen wurzelhaften
Grund zurüdzuführen ijt. Vgl. Sof. 1, 145 4, 1.
Jakobus fapt bie durch die Zunge geübten Sünden
ber ὀργή als Bilingnität, als einen widerchriftlichen Miß-
brauch der Zunge, mit der man Gott zu preijen vorgibt, zu
Cntebrungen, Kränkungen und Schmähungen des nad) Got-
tes Bild gefchaffenen. Nächiten, den man nad) Gottes Gebot
achten, chren usb lieben fol (Sal. 3, 9 ff). Diele Di-
glojfie ift Kundgebung einer Dipfychie (Sal. 1, 8), einer
Getbeiltbeit der Seele zwilchen die Hingebung an Gott und
bie erbhaft niedrigen Reidenjchaften be& ungeläuterten, vohen,
begehrlichen Selbſt — eine Getheiltheit, in welcher gang
gewiß ber fündige Wille bey rohen Selbftfucht das eigent-
[fide wahre Wollen ber Seele ausdrückt (Sal. 3, 11 ἢ)
daher ba$ Vorgeben des Religidsgeſinntſeins von folcher
Seite ganz gewiß eitel ijt und auf Selbjtbetrug beruht (af.
1, 26). Wer nun weiß, daß bie Bilinguität unter bie Ge
genjtände gehört, welche bie altteftamentliche Spruchweisheit
wiederholt und mit befonderem Nachdruck zur Sprache bringt, —
wird nach ben bisher gemachten Angaben über bie nahen
Beziehungen des Jakobusbriefes zu ben altteftamentlichen
Speo. Quarialſchrift. 1862. IL. Heft. 18
272 Merner,
Sapientialbüchern feinem Augenblick zweifeln, daß ſowohl
bie von Jakobus getabelte Digloffie, al? auch deren Zuſam⸗
menhang mit ber Dipſychie auf Gebanfenanregungen au
alttejtamentlichen Büchern zurücdzuführen find. Man ber
gleiche die Charakteriſtik des δέψυχος bei Jakobus *) mit
ber Schilderung, bie ber Giracibe vom δέγλωσσος gibt?);
man beachte ferner, mie ber Siracide, obfchon er ba8, bei
bet LXX und in den gricchifch gejchriebenen Büchern be?
A. S. überhaupt nicht vorkommende Wort δέψυχος nicht
gebraucht, doch auch gleich dem Jakobusbriefe bie Digloffie
auf einen dipſychen Habitus zurücführt 5), den er zugleich
auch mit Sal, 1, 6—8 αἷδ einen Habitus ber Unjtetigkeit
und irreligidfen Vertrauensloſigkeit auffaßt 9. Der Zufam:
menflang be8 zweiten Gapitef8 be8 Siraciden, aus welchem
wir ben Beleg für das jo eben Gefagte als Citat unter bet
Sert lebten, mit ben erften 12 Verſen des Jakobusbriefes
liegt fonach augenfällig da und bedt auch bezüglich ber in letz⸗
teren enthaltenen Vermahnungen zur ὑπομονή in den von
1) Saf. 1, 8: Arge δέψυχος, ἀκατάστατος ἐν πάσαις ταῖς ὁδοῖς
αὐτοῦ.
2). Git. 5, 9. 10: My λίχμα ἐν παντὶ ἀνέμῳ. καὶ μὴ πορεύου ἣν
πάσῃ ἀτραπῷ' οὕτως ὃ ἁμαρτωλὸς ὃ δίγλωσσος. ἴσϑι ἐστηριγμένος iv
συνέσει σον, καὶ εἷς ἔστω σου ὃ λόγος. Man beachte auch den Anklang
diefer Stelle an Saf. 1, 6, mo gefagt wird, bag man mit einem feften
unb zuverfichtlicden, burd) feine. Zweifelmüthigfeit ſchwankend gemachten
Gíauben beten jolle: ὁ ydo δθχρινόμενος ἔοικε κλύδωνι ϑαλάσσης ἀνεμι-
ζομένω καὶ ῥιπιζομένῳ.
8) Ἴχνος ἀλλοιώσεως καρδίας τέσσαρα μέρη ἀνατέλλει, ἀγαθὸν καὶ
xaxov, ζωὴ καὶ ϑάνατος, καὶ 5 κυριδύουσα ἐνδελεχῶς αὐτῶν γλῶσσά εστιν.
Girac. 37, 17. 18.
4) Girac. 2, 12—14: Οὐαὶ καρδίαις δειλαῖς καὶ χερσὶ παρειμέναις,
καὶ ἁμαρτωλὼ ἐπιβαίνοντι ἐπὶ δύο τρίβους" οὐαὶ καρδίᾳ mageuéyy, ὅτι
. QU πιστεύει, διαὶ τοῦτο οὐ σκεπασϑήσεται" οὐαὶ ὑμῖν τοῖς απολωλεκόσι
τὴν ὑπομονὴν, καὶ τί ποιήσετε ὅταν ἐπισκέπτηται ὃ κύριος:
-
Ueber den Brief Jakobi. 278
Gott. gefügten oder zugelafjenen Prüfungen be8 Starfmuthes
und ber ftandhaften Beharrlichkeit, bezüglich ber Anpreifung
ber Nüblichkeit und Heilfamkeit jener Prüfungen, ber De-
muib und des Gottvertrauens, fowie be8 göttlichen: Lohnes
derſelben bie altteftanentliche Duelle oder Unterlage be8 apo-
ſtoliſchen Conceptes auf; für Sal. 1, 5!) aber wirb man
Sir. 20, 14?) und 41, 22°) al8 Erklärung und Aufhel- -
[ung für ben von Jakobus ausgeſprochenen Gebanfen jo:
wohl, wie für befjen eigenthümlichen Ausdruck zu fuchen ha⸗
ben. Dean vergleiche aus demjelben Abjchnitte des Jakobus⸗
briefes ferner Saf. 1, 6*5) mit Sir. 7, 105); Sat. 1, 99)
mit Sir. 11, 17); bezüglich des Jak. 1, 12 den Bewährten
verheißenen στέφανος τῆς ζωῆς ijt Weißh. 5, 16 als clafji-
ide altteftamentliche Belegitelle und ala Erflärungsgrund ber
Ausdrucksweiſe unjeres Verfaſſers berbeizuziehen.
Der Jakobusbrief ftellt ber ὀργή ober der Rubität bed
erdhaften animalifchen Sinne bie πραὕτης σοφίας (Sat.
9, 13) al8 die himmlische Milde unb Sanftmuth der ächten
Chriftengefinnung gegenüber. Daß diefe σοφέα, biejcr Weis—
heitögeift, nicht® anderes, af8 die in allen altteftamentlichen
Sapientialbüchern empfohlene religiös-fittliche Gefinnung des
nach Gottes Herzen gerechten Menfchen ſei, bedarf feiner
1) «Αἰτείτω παρὰ τοῦ δέίδοντος ϑεοῦ πᾶσιν ἁπλῶς, καὶ un ὀνεέ-
διζοντος.
2) ζφρων) ὀλίγα δώσει καὶ πολλὰ ὀνειδίσει.
8) (Aloyiveo9e) ἀπὸ φίλων περὶ λόγων ὀνειδισμοῦ, καὶ μετὰ τὸ
δοῦγαι μὴ ὀνείδιζε. .
4) «Αἰτείτω δὰ iv níge μηδὲν διακρινόμενος.
5) Mn ὀλιγοψυχήσης ἐν τῇ προφευχῇ σου.
G) Kavyao9o δὲ ὁ ἀδελφὸς ὃ ταπεινὸς dr τῷ ὕψει αὐτοῦ.
7) Zogía ταπεινοῦ ἀνυψώσει κεφαλὴν αὐτοῦ, καὶ ἐν μέσῳ μεγιστάνων
καϑίσει αὐτὸν.
18 *
274 Werner,
befonderen Erwähnung; bie wiederholte Erwähnung biefer
σοφία würde für fid) allein jchon bie Abficht des Briefes
tenntlich machen, den Weißheitögeift und Weisheitsgehalt bet
altteftamentlichen heiligen Bücher den Leſern des Briefed ald
ben Geift, von dem fie erfüllt fein jollten, kenntlich und ver:
ftändlich zu machen; bie chriftliche Gefinnung, dag chriftliche
SDenfen und Handeln find dem Verfaſſer des Briefes bie
lebendige Wirklichkeit dieſes Geiſtes. G8 ift demzufolge ganz
erflärlich, wenn in feiner Anempfchlung, in das dieſen Geift
ausdrückende Geſetz des vollfommenen Lebens fid) zu ver
jenfen (Sal. 1, 25), δα Mahnwort des Siraciden wieder:
flingt 1); εὖ verdient aber ausdrücklich hervorgehoben zu met
ben, daß Jakobns, wenn er ben Volbringer des Gejches
weife nennt ?), in Wort und Gedanke nur den Ciraciben
wiederholt 2). Nicht minder wieberflingt dad Mahnwort deö
Ciraciben in der Anempfehlung der πραὕὔτης unb üt der
Verknüpfung derjelben mit der ταστδενότης *).
1) Vgl. bie Iebendige unb berebte Schilderung des emfigen Weiß:
heitsſuchens Gir. 14, 20-25, und darin befonders bad von Jakobus
wiederholte Bild: παρακύπτων διὰ τῶν ϑυρίδων αὐτῆς (Scil τῆς σοφίας)
.... Vgl. damit Sal. 1, 25: ὁ δὲ παρακύψας εἷς νόμον τέλειον Tor
τῆς ἐλευϑορίας καὶ παραμείνας (bieje8 παραμείνειν als furz zufammen:
fafjende Wiedergabe ber Worte bes Siraciden: à καταλύων σύνεγγυς τοῦ
οἴκου αὐτῆς καὶ nınkeı πάσσαλον Ev roig τοίχοις αὐτῆς, στήσει τὴν σκηνὴν
αὐτοῦ κατὰ χεῖρας αὐτῆ). Auch ber weiter folgende Sag bei Jakobus:
οὗτος οὐκ ἀκροατὴς ἐπιλησμονῆς γενόμενος, fordert zur Erklärung des in
ibm enthaltenen ἅπαξ λεγόμενον ben Rüdblid auf Gir. 11, 25, wo
gleichfalls das fonft ungebräuchlihe Wort ἐπιλησμονὴ fid) findet.
2) Sal. 3, 18 in Verbindung mit 1, 25; ἐλλὰ ποιητὴς ἔργον. ....
8) Sir. 19, 18: Πᾶσα σοφία φόβυς κυρίου, καὶ dv πάσῃ σοφία
ποίησις νόμου.
4) Jak. 1, 95; 4, 6. Bgl. Sir. 3, 17—19: Texvor, ἐν πραὕὔτητι
τὰ ἔργα σου διέξαγε, καὶ ὑπὸ ἀνθρώπου δεκτοῦ ἀγαπηϑήσῃ. ὅσῳ μιέγας
Ueber den Brief Jakobi. 915
Wir wollen fchlieglich noch eine Reihe unverkennbarer
Zurüdverweifungen des Jakobusbriefes auf den Siraciden
nambaft machen, welche die offendaliegende Rückſichtnahme
bes eriteren auf jenes altteftamentliche Buch noch mit wei-
teren Belegen erhärten. Dahin gehören bie dem Jakobus⸗
briefe mit dem Siraciden gemeinfame Betonung der Bemäh:
rung ber Gerechtigkeit Abraham in ber That unb im Werke 1);
die jchon erwähnte Warnung vor bent Mißbrauche δε
Schwured und ber eiblichen Betheurung *); bie beiden Ver:
faffern gemeinfame Rüge der ungerechten Bevorzugung beg
Reichen vor würdigen Armen); bie Unterweilung über dag
Verhalten in ber Krankheit, wo Jakobus der vom Giraci-
ben mit veligidfer Weihe aufgefaßten ärztlichen Mühcwal:
tung als gottoerorbneter Hilfe für den Kranken ben facra=
mentalen Dienft ber firchlichen Presbyter ſubſtituirt €); das
von Jakobus ald Werk wechjelfeitiger chriftlicher Erbauung
empfohlene wechfelfeitige SBefennen der Fehler und Gebrechen 5);
bie am Beilpiele be8 Gia beleuchtete Kraft des Gebetes
des Gerechten ^).
εἶ, τοσούτῳ ταπεινοῦ σεαυτὸν, καὶ ἔναντι κυρίου εὑρήσεις χάριν" ὅτι us-
γάλη καὶ δυναστεία κυρίου, καὶ ὑπὸ τῶν ταπεινῶν δοξάζεται.
1) Sat. 2, 21 ff. val. mit Sir. 44, 20 fj.: ὃς συνετήρησθ νόμον
ὑψίστου... . καὶ ἐν πειρασμῷ ϑιῤρέϑη πιστός.
2) Kal. 5, 12 vgl. mit Sir. 28, 9—11.
3) Jak. 2, 1 ff. vgl. mit Sir. 10, 22: Οὐ δίκαιον ἀτιμάσαι πτωχὸν
συνετὸν, καὶ οὐ xadyxeı δοξάσαι ἄνδρα ἁμαρτωλόν.
4) Jak. 5, 14 f. vgl. mit Sir. 88, 12—14: (Τέκνον, ἐν ἀξῥω--
στήματί σου) ἰατρῷ dos τόπον, καὶ γὰρ αὐτὸν ἔκτισε κύριος, καὶ μὴ dno-
στήτω σου, καὶ γὰρ αὐτοῦ χρεία. ἔστι καιρὸς ὅτε καὶ ἐν χερσὶν αὐτῶν
εὐοδία, καὶ γὰρ αὐτοὶ κυρέου δεηϑήσονται, ἵνα εὐοδώση αὐτοῖς ἀνάπαυσιν
xci ἴασιν χάριν ἐμβιώσεως.
δὴ Sal. 5, 16 vgl. mit Sir. 4, 26: Mn ἐπαιαχυνϑῇς ὁμολογῆσαι
ig ἁμαρτέαις σου.
6) Sat. 5, 17 f. vgl. mit Sir. 48, 2. 8.
276 Berner,
Die ὀργή hat, foweit fie Stimmung und Kundgebung
irdiſch gefinnter roher Selbſtſucht ift, bie chriftliche ἀγάπῃ
zu ihrem Gegenbilde, die Jakobus (2, 8) das Königliche Ge-
fe nennt. Diefe Benennung be2 chriftlichen Liebesgebotes,
über deren Sinn im Jakobusbriefe jelbft dann, wenn man
feine Belanntichaft feines Verfaſſers mit bem eriten Korin-
therbriefe vorauszuſetzen berechtiget wäre ἢ), im Hinblicke auf
die allbefannten Worte Chrifti über bie zwei Haupt: und
Grundgebote feiner Lehre Fein Zweifel fein Könnte, fordert
doch wegen der Eigenthümlichkeit de Ausdruckes βασιλικὸς
eine bejondere Erklärung, bie abermald durch die alttefta-
mentlichen Sapientialbücher an die Hand gegeben wird. Und
zwar ift e8 für biefem Fall bie Σοφία Σαλωμών, die ben
erwünjchten Auffchluß gibt. Weisſsh. 6, 19 wird af8 Haupt:
ziel aller Zucht und fittlichen Leitung bie ἀγάπῃ hingeſtellt,
. von ber ed heißt, daß fie bie Erfüllung ber Gebote jener
Zucht je, und die Bewahrung zum uufterblichen Sinn in
fi fchliegend den Menſchen Gott zunächit bringe und ihn
ἐπὶ βασιλείαν führe. Daran fnüpft fid) weiter die Mah⸗
nung an die Könige, bie Weisheit, die zur ἀγάπη anleitet,
zu ehren, um auf ewig zu herrichen. Dieſe Weahnung, bie
fi in ihrem EC chluffe an die Könige richtet, geht ala Wort
Salomo’3 von einem König aus; jomit fchlickt die von Ja⸗
kobus für ba$ Liebeögebot gewählte Bezeichnung νόμος βα-
ouaxcg neben ihrem ſpecifiſch chriftlichen Sinne eine Neben:
beziehung im fid), bie bei ver unverfennbaren Bezugnahme
ber Worte Fat. 2, 8 auf Weisheit 6, 19 ff. fid) nicht in
1) Die Berechtigung einer folhen Vorausſetzung gründet fid) auf
δα8 auch in 1 for. 6, 9; 15, 13 vorkommende μὴ πλανᾶσϑε Jak 1, 16
— bad freilich au8 GalL. 6, 7 in bie Redeweiſe unſeres Berfafiers über:
gegangen fein fünnte.
Ueber ben Brief Syafobi. 977
Abrede ftellen läßt und offenbar den Zweck hat, da Haupt:
und Grundgebot des chriftlichen Wandels durch bie Auctos
rität be8 weifeften und einlichtigften aller Könige zu beitäti-
gen. Daß aud) ber Ausdruck ὁλόκληροι in Sof. 1, dan.
ble ἐλόκληρος δικαιοσύνη Weish. 15, 8 mahne, [εἰ hier
nur vorübergehend bemerft.
Der Einfluß ber Lehrbarftellungen der altteftamentli-
chen Sapientialbücher reicht auch noch üt eine andere neu⸗
teftamentliche Schrift hinüber, bie nad) dem Safobusbriefe
entftanden gleichfalls an jubenchriftliche Leſer gerichtet ijt —
in den Hebräerbrief, deſſen eilftes Capitel unverkennbar eine
Nachbildung der Kapp. X und XI des altteftamentlichen Bus
dje8 ber Weiöheit ift, mit dem Unterfchiede jedoch, daß der
im altteftamentlichen Buche empfohlenen Weisheit ble πέςις
αἷδ ber concreter und voller gefabte Habitus jener Weisheit
fubftituirt ijt. Hinfichtlich diefer πέστις ftetit fi) zwifchen
ber Auffaffung des Hcebräerbriefed und jener des Jakobus:
briefe8 eine beftimmte Wechſelbeziehung hervor, bie ſowohl
etwas Gemeinſames und Gleichartiged Beider, als aud) eine
ganz bejtimmte Unterfchiedenheit der beiderjeitigen Auf:
faffungsweifen in jid) Ichließt. Der Verfaffer des Hebräcr-
briefed ſagt, ohne Glaube fei ed unmöglich, Gott zu gefals
len; ber Jakobusbrief bemerkt, daß ber Menſch daran wohl-
thue, zu glauben, ba8 bloße Glauben als ſolches aber,
nämlich als theoretiſches Fürwahrhalten ber. religiöfen Wahr:
heit das Heil be& Menfchen durchaus nicht verbürge Wie
ber Jakobusbrief führt auch ver Hebräerbrief den Bewußt⸗
feinzinhalt be8 Glaubens auf die Grunddogmen des monos
theiftifchen Gottesglaubeng, auf den Glauben an den Einen
übermeltlichen Gott ald Schöpfer, Negenten und Richter der Welt
zurück (vgl. oben S.257). Indem er aber den Glauben, deffen
278 Berner,
vollentwickelten Gehalt er im chriftlichen Religionsglauben er:
kennt, der altteftamentlichen Weisheit fubjtituirt, fapt er ihn
als Ichendigen Gemüthshabitus, ber bem inneren Menſchen
wejentlich eine Richtung nach Oben auf das Ewige und Himm-
liſche ertheilt; er legt alfo in bie πέστες unmittelbar das⸗
jenige hinein, Ἰοαῦ ber Jakobusbrief ber im Geifte der ver:
trauensvollen cic vou oben zu erfichenden Gabe unb
Erleuchtung der σοφέα zutheilt. Darin aber, bap bie Frucht
diefer MWeisheitägabe ein Emporgehobenſein de? Menfchen
über fid) felbft und über die Echwäche, Zagheit und Ver
juchlichfeit be8 von ber Grbenme(t und ihren Freuden und
Sorgen gefangen genommenen Erdenmenſchen fei, ftimmen
beide, der Jakobusbrief und Hebräerbrief und mit ihnen ber
in berfelben gemeinfamen Abficht der Stärkung des Glau⸗
bensmuthes fid) begennende erfte Brief Petri zufammen. Es
fünnte in biefer Hinficht wohl gefragt werben, ob nicht die
im 11. Kap. des Hebräerbriefes enthaltene Vorführung einer
langen Reihe altteftamentlicher Glaubenszeugen für bie wei
tere Ausführung εἰπε Sal, 5, 11 nur kurz angebeuteten
Gedankens zu nehmen fel. Für diefen Fall würde fid) dann
ba8 merkwürdige Verhältniß herausftellen, daß fid) ber He:
bräerbrief und ber erjte Brief Petri in die Ausführung des
erwähnten Verſes des Jakobnsbriefes gleichſam theilen, in:
bem Petrus den andern Theil feiner Mahnung, nämlich bie
Berweifung auf da mujtergiltige Beilpiel des janftmüthig
bufeenben Heilandes zum Gegenftande berebter, eindringlicher
Mahnungen macht. Demgemäß ftünde, was fid) auch ἀπ’
berweitig in mannigfaltiger Art näher ausführen licBe, ber
Jakobusbrief in einer Art grundhaften VBerhältniffes zu bem
beiden anderen Briefen, bie e8 fid) zur fpeeifiichen Aufgabe
machen, über ber Grundlage der vom Jakobusbriefe bei [εἰν
Weber ben Brief Jakobi. 279
nen judenchriftlichen Lefern vorausgefegten veligiöfen Grund⸗
gefinnung den Himmel be8. chriftlichen Glaubensbewußtſeins
mit feinen erhabenen Anfchauungen, Tröftungen, Ermunte-
rungen und Anforderungen an den fittlichen Sinn und
Strebemuth des zeitlichen Erdenmenschen aufzujchließen, was
von Seite δε Hebräerbriefed mit fpecieller Rückſicht auf bie
Gefahr des Rückfalles in den jübijdjen Eult, von Seite des
erſten Petrusbriefes mit Rückſicht auf bie vom heibnifcher
Seite drohenden Glaubensverfolgungen unternommen wird.
Der den beiden Petrinifchen Briefen mit dem Safobusbriefe |
gemeinfame Hinweis auf die Paruſie be8 Herrn findet feine
endgiltige abjchliegende Ausführung in einer anderen neu=
teftamentlichen Schrift, bie, menn fchon über den primitiven
Gegenſatz von Subenchriftentbum und Heidenchriftenthum
durch Zeit und Ort ihrer Abfaffung, fowie durch ihre 3Be-
ftimmung und Tendenz hinausgeſtellt, gleichfall3 bie paläftt-
nenjijdje Abkunft ihres Verfafferd nicht verláugnet — in
ber Apofalypfe des Apoftel3 Johannes.
IL
Recenſionen.
1:
Lehrbuch des Kirchenrechts aller hriftlihen Confeſſionen
von Ferdinand Walter. Vierzehnte, ſehr verbeſſerte
und vermehrte Ausgabe. Im Auftrage des Verfaſſers be⸗
ſorgt von Hermann Gerlach, Doctor beider Rechte und
Domcapitular in ۟nburg. Bonn, bei Adolph Maren. .
1871.
Walter's Lehrbuch des Kirchenrechts erfreut fich feit
feinem erften Ericheinen im S. 1822 einer fo allgemeinen
Anerfennung und weiten Verbreitung, daß eine ausführliche
Beſprechung deffelben als überflüffig erfcheint und ebenjo
allgemein befannt und anerkannt find die hervorragenden
Verdienfte, welche ſich der Verfaffer um die Nehabilitirung
einer Wiffenfchaft erworben Dat, bie in den erften Decen-
mien unſeres Jahrhundert? — wenigitend in Deutſchland —
gänzlich barnieberfag und in den damals mapgebenben Krei⸗
jen als abgethan angefchen wurde. Auch daran wollen wir
„nicht erinnern, bap οἷς begeifterte Hingabe an den großar-
tigen Etoff, welche dad Werk gleich anfänglich auszeichnete,
Walter, Kirchenrecht. 281
butd) die lange Reihe der fid) vafch folgenden Auflagen im-
mer diefelbe geblieben iff und daß bie leßtere mit der Ent:
wicklung ber Kirchenrechtswiſſenſchaft ſowie mit den Greig-
niffen auf kirchlich-politiſchem Gebiete immer gleichen Schritt
gehalten haben, fo bag das Lehrbuch auf jeder Stufe feiner
eigenen Weiterbildung ein treuer Spiegel des Fortſchritts
it, welchen bie Wiffenfchaft und da Leben während ber
fünfzig Sahre feines Beſtandes in jo erfreuficher Weiſe ges
macht haben. Statt derartiger Ausführungen beichränten
wir und auf eine furge Anzeige ber neulich erjchienenen
vierzehnten Auflage Als biejelbe nothwendig gewor:
ben war, beabfichtigte ber SSerfajjer, in der gewohnten Weile
bie erforderlichen Ergänzungen beizufügen und einzelne Theile
vollftändig umzuarbeiten, aber ein ſchweres Augenleiden hin⸗
berie ihn an der Ausführung Seinem Wunjche entgegen:
kommend übernahm „einer feiner frühern eifrigen Zuhörer“,
Herr Domcapitular Dr. Gerlach in Limburg, bie Beſor—
gung der neuen Auflage, |
Indeſſen war e8 bem Verfaffer bod) möglich, „einige
Schon früher ausgearbeitete Zuſätze und Verbefferungen, nae
mentlih im tirchlichen Vermögensrecht und im Eherecht“
einzufügen. Diefe noch von Walter's eigener Hand her:
rührenden Aenderungen finden fid in den SS. 251. 2818
(die Lehre vom Eigenthum am Kirchengut, der eritere Pa⸗
ragraph (jt umgearbeitet, ber Ichtere ganz neu binzugefoms
men), δ. 262. 264 (die Beerbung der Beneficiaten, bie
Früchte be8 legten Jahres) S. 53a und 321 (je ber Echluß-
fag), die Zufäge in F. 137 wit Note 2, S. 165 mit Note
1, S. 295 (Gefchichte des chriftlichen Eherechts), S. 298
(die Form ber Abſchließung der Ehe) u. f. τὸ. u. f. Ὁ.
Wenn Herr Dr. Gerlach im Vorworte fagt: „Die
282 Walter,
vierzehnte Auflage ift eine febr verbefferte und vermehrte;
bie Ergebniffe ber Kirchenrechtäwiflenfchaft in den Tegten zehn
Sahren find eingehend berüd[idjtigt worden und man wird
dem Herausgeber nach näherer Prüfung dad Zeugniß nicht
verfagen, daß er dad Werk feines Lehrers mit Liebe bebat
delt hat, um bei Herftellung ber neuen Auflage den Anfors
derungen der Zeit zu genügen“, [o befindet fid) Neferent
in ber angenehmen Lage, bieB in jeder Beziehung beftätigen
zu fónnen, Der Umfang ded Buches hat bedeutend zuge
nommen, beum während bie breizehnte Auflage 758 Seiten
zählte, haben bieje üt ber vierzehnten ble Höhe von 781 εἰς
reicht, bie neuefte Literatur wurde mit wenigen aber unbe⸗
dentenden Ausnahmen febre fleißig verzeichnet, insbeſondere
bat Maaſſen's „Eeſchichte der Quellen und ber Riteratur
des canonifchen Recht?" im zweiten Buche eine eingehende
Berücfichtigung gefunden, bie practiiche Brauchbarkeit ijt
durch jorgfältige Angabe des jetgt geltenden Rechts wejent-
fid) erhöht und dad Regiſter in dankenswerther Weile ver
mehrt worden.
Der Herausgeber hat bie von ihm neu Hinzugefügten
Paragraphen und Noten mit zwei Sternchen verjehen und
ble Zufäße mit einem Sternchen bezeichnet. Demnach et
giebt eine nähere Durchficht, daß bie SS. 28 ἃ und 305 neu
hinzugefommen find und 83 Paragraphen mit Zuſaͤtzen ver:
jehen wurden, námlid S. 7. 45. 47. 47a. 51. 54. 54a.
58. 62. 62a. 66. 67. 72. 85. 87. 88. 90. 91. 95. 99
100. 101. 105. 106. 108. 111. 116. 1168. 116b. 127.
130. 143. 144. 145a. 153. 156. 160. 167a. 171. 181.
185. 192. 194. 195. 203. 207. 208. 209. 217. 218. 219.
225. 232. 234. 2350. 250. 253. 260. 265. 271. 275.
288. 297. 300. 301. 802. 308. 305a. 805b. 806. 307.
Kirchenrecht. 288
308. 8084. 314. 315. 326. 330. 331. 333. 336. 338.
341. 351. Außerdem kann man unter dem Terte 327 No:
ten zählen, welche von Dr. Gerlach neu hinzugefügt wur:
den und 268, welche von ihm Zuſätze erhalten haben.
Schon ans diefen wenigen Bemerkungen bürfte zur Ge:
nüge hervorgehen, daß bie neue Auflage gegenüber ihrer Vor⸗
gängerin zahlreiche Verbeflerungen und beträchtliche Erwei⸗
terungen erfahren habe. Wir empfehlen daher die treffliche,
den Anforderungen ber heutigen Wiſſenſchaft vollftànbig ent:
Iprechende Arbeit den Theologen und Juriſten auf Ange⸗
fegentlichfte und zwar nicht blos mit Rückſicht anf den in
neren Werth be8 Buches an ji), ſondern aud) im Hinblick
auf bie Firchlich-politifche Situation ber Gegenwart. Sn fet-
terer Beziehung wollen wir nicht unterlaffen, die Schluß:
bemerfung aus der Vorrede des Verfaſſers zu allfeitiger
Erwägung bieher zu ſetzen. „Mit der erlangten Freiheit
it bie Kirche in ein neues Stadium eingetreten. (δ᾽ ijt
baburd) für ben Klerus dad Maß ber Anforderungen und
ber Berantwortlichkeit vergrößert, εὖ find ihm, darüber täufche
man fid) nicht, neue jchwierige Aufgaben zugeführt worden.
Die Löjung derſelben erfordert aber, einer jo geiftig ent:
widelten Zeit gegenüber, eine Umficht, Mäßigung und eine
gewifle Höhe ber Weltanfchauung, welche nur burch ben ver-
trauten Umgang mit der wahren Wiffenjchaft erworben wer-
den kann.“ Kober.
2.
Bibel und Ratur in der Harmonie ihrer Offenbarungen. Bon
Theodor Zollmann, b. 3. evangelifchem Geiftlichen an ber
deutfchen Gemeinde in Buenos Aires. Gefrönte Preisfchrift.
284 Zollmann,
Dritte Auflage. Hamburg. Agentur des 9taufen Haufes.
1872. XXXVI und 323. Lopr. 1 Thlr.
Vorſtehende in dritter Auflage erjchienene Schrift ver-
dankt ihre Entftehung einer vom Centralausſchuß für in—
nere Miffion auf VBeranlaffung einiger Freunde be8 Reiches
Gottes eröffneten Concurrenz, „welche den angeblich unlös=
baren Conflict zwifchen ber B. Schrift ‚und ben Naturwifjen
Tchaften zu ihrem Gegenjtanbe^ Hatte (III). „Es handelte
fi für ihn um Provocation einer wiffenfchaftlichen, in ber
worm möglichft allgemein verftändlichen Arbeit, bie den Eon-
flict, in welchen zur Beunruhigung Bieler die Naturwiſſen⸗
fchaften in ihren neueren Refultaten gegen bie. Theologie
unb den chriftlichen Offenbarungsglauben getreten find, zum
Schutze ber letzteren klären und den Boden fichern jollte,
auf dem bie Heiligthümer be8 Evangeliums troß aller wirk⸗
lichen ober vermeintlichen: Refultate der Naturwifjenichaften
unferm Volke fiegreich bewahrt werden Können“ (IV). Das
Preizrichteramt übten bie Herren Prälat Dr. Ullmanı in
Carlsruhe, Gencralfuperintendent Dr. Hoffmann in Berlin
und Brofeffor Dr. Braun dafelbft au8 (VI). Unter 7 Ar=
beiten wurde bie vorftehende a[8 bie bem Ziel am nächiten
fommende und barum zu. trönende Schrift anerkannt. Der
Verfaſſer, früher Pfarrvermefer zu Dülmen in Weftphalen,
war einem Rufe ar bie deutjche evangelifche Gemeinde zu
Buenos Aires gefolgt, von wo aus auch dad Vorwort zur
dritten Auflage datirt ijt.
Wir haben die Schrift mit großem Intereſſe gelefen
und mit Befriedigung aus ber Hand gelegt. Sowohl bie
ſchoͤne Darſtellung als aud) bie jachgemäße Ordnung find .
ganz geeignet, den Leſer zu feſſeln und ihm die Lectüre leicht
und angenehm zu machen. Der Berfafjer ijf. zwar fein Na⸗
Bibel und Natur. 285
turforfcher von Tach, hat fid) aber mit der einjchlägigen Li⸗
teratur ſehr vertraut gemadt. Ein practiſch geübter 9ta-
turforscher würde wenigftend manche Ungenauigkeiten im
Detail, die und aufgefallen find, leicht vermieden haben.
Bei bem Kreislauf des SBlute8 3. B. gefchieht ber Vorhoͤfe
oder Herzohren gar feine Erwähnung Wie dad Blut in
ber rechten Herzfammer mit neuer Nahrung verjehen werbe
(€. 123), ift um fo weniger eingujeben, al® das vendfe
Blut derjelben erit durch den Athmungsprozeß in ber Runge
in arterielled verwandelt und boburd) zur Ernährung wieder
tauglich gemacht wird. Won ber Runge febri e8 aber nicht
in bie linfe Herzfammer zurüd (l.c.), jondern in ben lin-
fen Vorhof und von ba erf in die Sergfanumer. Daß ber
Sonnenkörper an id) dunkel [εἰ (S. 83), ijt feit der Erfin-
bung ber Spectralanalyje zum mindeſten febr unmwahrjchein-
lich; im Gegentheil muß er fij in einer großen Glühhige
befinden. Das einfache Sehen mit zwei Augen (€. 172)
hat auch ſchon längſt feine genügende phyſikaliſche Erklä—
rung gefunden, wie jedes befjere Handbuch ber Phyſik zeigt.
Die Drehung der großen Achle in einem Cyclus von 21,000
S. wird wohl auf die Drehung im PBlatonifchen Jahr von
25,868 zu vebuciren fein. Auch ber conjequent gebrauchte
Ausdruck generatio originaria [tatt ber faft allgemein üb-
lihen gen. aequivoca ober spontanea ijt und aufgefallen.
Diefe Auzftellungen thun übrigen? ber ganzen Durchfüh—
rung wenig Eintrag, da die Refultate der Naturforjcher mög-
lichft getreu benützt find. Citate find dem Zwecke ber Schrift
entiprechend durchaus vermieden worden, bod) werben im
Gonterte wiederholt bebeutentere Stellen der Gewährsmän⸗
ner ohne Angabe be8 Orts angeführt. Der Gang ber Ent:
widelung ijt mit Necht dem Gange der Natur nachgebilbet,
286 Zollmann,
Von den religiöſen Anſchauungen der Bibel, der Atomen⸗
hypotheſe und der Schoͤpfung ſchreitet der Verfaſſer durch
alle Stufen der Natur fort, bis er, bei der Seele angekom⸗
men, in's geiſtige Gebiet, beziehungsweiſe zur Syntheſe von
Geiſt und Materie, zu dem Menſchen gelangt, um endlich
mit der Auferſtehung und Weltverklärung zu ſchließen.
Anerkennenswerth iſt es, daß die Waffen des Confeſſio⸗
nalismus durchaus verſchmäht worden ſind. Im ganzen
Buche fanden wir auch nicht eine Stelle, in welcher religid-
ſes Parteiintereffe bie Feder be8 Verfaſſers getrübt hätte.
Zwar ftimmen wir nicht mit ihm überein, wenn cr im Vor⸗
wort bemerkt: „der bogmatijdjen: Entwicklung des Ehriften-
thums können wir allerdings nicht einen normativen Werth
zuerfennen; (don darum nicht, weil ung ble Wahl zu ſchwer
wurde, welcher bogmatifchen Entwicklung wir und zumwenben
jollen, um und ihr auf Treue und Glauben gefangen zu
geben“ (XXIII) aber wir find doch ber Anficht, bap man
in allen Punkten, welche zum Grenzgebiet zwiſchen Natur
‚und Bibel gehören und allen chriftlichen Confeſſionen ge-
meinfam find, mit mehr Nuten fehreibt, wenn man bie con:
feffionelle Färbung zurücktreten läßt. Auch ohne bie per-
spicuitas ber bl. Schrift, an welcher ber Berf. feithält
(XXV), Stimmen in diefen Punkten die pofitiven Theologen
jo ziemlich überein. Uebrigens ijt an ber Verurtheilung
Galiläi's eben fo wenig die fotbofijcóe Dogmatit af8 ber
chriftliche Glaube ſchuldig (S. 6), fondern bie einjettige und
Furzfichtige Auffaffung feiner Richter.
Bei Beiprehung der Sache felbit hat der Verf. vor:
wiegend den Meaterialiamug im Auge. Büchner, Moleſchott,
Bogt unb Conſorten find e8, gegen bie er befonders zu Felde
zieht und bie er nicht jelten mit dem conjequente[ten State:
Bibel jund Natur. 287
rialiſten Czolbe mundtodt macht. Dieſe Kampfesweiſe hat
ohne Zweifel ihre gute Berechtigung und ihre große Vor⸗
theile. Sie hat ihre gute Berechtigung, denn bie Stroͤmung
in ber Naturwiffenfchaft treibt ja gegenwärtig unverkennbar
diefem Ziele zu. Wer vor Jahren noch jo naiv war, aug
dem Umftande, bap Darwin in feinem epochemachenden Werte
über bie Artenbilbung durch den Kampf um'8 Dafein und
die natürliche Auswahl bie ftrengen Gonjequengen [εἰπε
Standpunft3 nicht gezogen batte, auf eine Rückkehr dieſes
berühmten Naturforfcherz zu hoffen, dürfte durch fein neue⸗
ſtes Werk gründlich geheilt fein, in dem derjelbe fid Häckel
und andern ebenbürtig zur Seite ſtellt. Aufgefallen ijt e8
und, daß aud) ber Verf. darauf einen Werth zu legen ſcheint,
wenn er fagt (€. 161), Darwin felbit habe diefe Eonfe-
quenz (bie Abitammung de Menjchen vom Affen) nicht ge:
zogen, fonvdern fie einem K. Vogt und Gonforten überlaffen.
Das neue[te Werk fonnte er alferbing8 nicht gelefen haben,
ba bie Vorrede feiner Schrift vom Februar 1870 datirt tjt,
aber ob bie Gonjequengen gezogen find ober nicht, ijt gleich-
giftig, fie Liegen jo im Darwin’fchen Syftem, daß wer A
fagt auch B. jagen muß, wie auch ber Verf. an einem an⸗
dern Ort (€. 135) fid) der Befürchtung nicht entjchlagen
fann, daß unfre deutſche Materialiſten mit ihren Confequen-
zen aus feinen (Darwin’3) Prämifjen im echte jind.
- Diefe Kampfesweife bat aber auch ihre große Vortheile,
denn dem audgefprochenen Materialismus gegenüber ijt e$
leicht, bie Abfurbität mancher naturwiffenichaftlichen Auf-
ftellungen nachzuweilen. Wenn Büchner „alle, was über
bie finnliche Welt und die aus der Vergleichung finnlicher
Objecte unb Berhältniffe gezogenen Schlüſſe hinaußliegt”,
Hypotheſe und nicht? ala Hypotheſe fein läßt, jo tit e$ um
Theol. Quartalſchrift. 1873. Heft II. 19
288 Zollmann,
ſo leichter, die Grundloſigkeit des Standpunkts aufzudecken,
als ſelbſt dieſer eingefleiſchte Materialiſt noch Schlüſſe aus
ber Vergleichung ſinnlicher Objecte und Verhäͤltniſſe zulaſſen
muß. Das Denken fónnen bie Materialiften nicht elimini⸗
ren, ohne daß fie jelbjt aufhören zu denken, und damit foutz
men fie auf ein Gebiet, dad über bie 5 Sinne binaußliegt.
Der Berf. zeigt in der Verfolgung dieſes Gebanfen2, der
ſich als rother Faden durch bie ganze Schrift hindurchzieht,
eine nicht geringe Gewandtheit und εὖ ijt gewiß von gro-
Bem Werth, ben jo oft an Denkffaulheit leivenden Halbge-
bildeten bamit eine Fräftig wirkende Arznei zu geben. Das
Nimium feheint er und aber doch nicht in alfmeg vermieden
zu haben. Es ijt richtig, dad Denken ift die conditio sine
qua non aller Wiffenfchaft unb bie Naturwiffenjchaft müßte
auf den Titel einer ſolchen verzichten, wenn fie den Denk⸗
prozeß in Abrede zöge. Aber ijt beBbalb, weil cine Schluß:
folgerung ober eine Begriffebildung ftattgefunden hat, ſchon
binlänglicher Grund vorhanden, dad Refultat af8 ein inex-
acte8 zu bezeichnen ? Dies thut aber ber Verf. in ber That.
„Ewige Naturgefeße find nicht zu ſehen und nicht mit Häns
ber zu greifen. Ehe der Naturforjcher zu ihnen gelangt,
muß er einen Denkprozeß durchmachen. Der taujendfältige
Zuſammenhang der Ericheinungen liegt auch nicht für bie
5 Sinne offen: für diefe exriftirt nur ein Nebeneinander ber
Dinge und ein Nacheinander der Erjcheinungen” (S. 2).
„Wir können daher als „eracte Refultate” ber Naturwifien-
Schaft nur ben Beitand anerkennen, welcher das enthält, was
nach unwiberjprochenem Zeugniß der competenten Naturfor-
(ber — jet es mit, [εἰ e8 ohne Hülfe von Inftrumenten —
geſehen, gehört, fura mit ben 5 Einnen wahrgenommen tft”
(S. 3). Died können wir gewiß nicht als einzige Grenze
Bibel und Ratır. 289
zwifchen eract umb nicht exact anerkennen. Denn fobald man
bad Denken bei der Forſchung verbannt, jo ijt jedes Reſul⸗
tat unmöglid. Man darf alfo gar nicht mehr von eracten
Rejultaten Sprechen, ganz abgejeben davon, daß auch bie
Sinne täufchen können. Die Belegung ber Erbe um bie
Sonne iji, um ein von dem erf. nicht zu den eracten Re⸗
fultaten im ftrengen Sinne gezähltes Beifpiel anzuführen,
deßhalb noch nicht ineract, weil fie das Product eines febr
ſcharfen Senfprogeffe8 if. Denn wenn ber Foucaultiche
Pendelverſuch zeigt, daß die Schwingunggebene bes Pendels,
bie ἰῷ erfahrungsmäßig nicht ändert, von Oſt nad) Welt
τ δ und die Rechnung nachweilt, daß bie Größe der Dre-
hung in 1 Stunde gleich 15°. sin φ ijt, wo @ die geogra-
pbijdje Breite bebeutet, jo gehört zu dem Schluffe, daß bie
Erde bie entgegengejeßte Bewegung haben und in 24 Stun
den fid) von Welt nach Oft drehen müffe, zwar cin Denk⸗
progeß, aber wer dad Reſultat desſelben ineract nennen
wollte, müßte ba3 Denken, bie Logik überhaupt ineract nei:
nen, müßte bie Verſtandeswiſſenſchaft, bie Mathematit, aus
der Zahl ber eracten Wilfenfchaften ſtreichen. Daß aud)
jeder [ogijd) gebifbete Menſch, der fich die Thatfachen von
den Natnrforjchern bat mittheilen Laffen, dieſelben beurtbei-
[en Tann, unterliegt keinem Zweifel, aber daraus folgt nicht,
baB, wenn ber Naturforicher dieſes fefbjt thut, das Reſultat
ineract ijt und eben [o wenig, baB ber Naturforfcher feine
Beobachtungen nicht befjer ordnen und beurtheilen fann al?
ber logiſch gebildete Laie. Das ijt ja eben ber Fehler, daß
ein jeder, welcher logiſch gebildet zu fein glaubt, alsbald ein
Recht in Anfpruch nimmt, in den Naturwifienfchaften mit:
zufprechen, daß fo viele, welche bie Natur nur aus Büchern
kennen, naturwiſſenſchaftliche Bücher für dad „gebildete Pu⸗
19*
290 Zollmann,
bfifum^ ſchreiben. ,Geijter 2. und 3. Ranges aber und
bie leichtbeflügelte Schaar ber für das große Publikum ſchrei⸗
benden Literaten bemächtigen fid) der Forſchung und ber Au⸗
torität jener Erften. — Unter bem Namen der Wiffenfchaft,
ber Bildung, ber Aufllärung wird bie fafjd)e Waare zu
ipottbitligem Preife feilgeboten, und was ben Naturforichern
erften Ranges noch prob(ematijd) ijt, wird von benem nie:
deren Grade? und von den Kiteraten al neuefte naturwiflen-
Ihaftlihe Errungenfchaft auspofaunt” (S. 321). Ja felbft
ber Philoſophie gilt dig. Wir müffen geftchen, bag uns
eine Naturphilofophie, eine Pfychologie von Männern ohne
naturwiffenfchaftliche Bildung eigentbiuntid) anmuthet. Vom
Standpunkte ber Philofophie αὐ mag die Suvüd[übrung
des Licht auf eine Weltentheorie ein wirklicher Widerſpruch
gegen dad Wefen ber Erjcheinung fein, wie der 3Berf. Plant
lagen läßt (S. 45), aber wer bie optifchen Erfcheinungen,
in3bejondere die Polarifation u. |. vo. genau fennt und bie mas
thematiſche Behandlung verfelben verfteht, wird fid) um bie
Einfprache der Philofophie wenig fümmern. Man mag über
die Atomenhypothefe (S. 41—51) benfen wie man will,
neben den philofophifchen Ausführungen über biefe Mate:
tie wird die Begründung vom Standpunkte ber Chemie aus
als Helles Licht erſcheinen. Solche Echlußfolgerungen, die
auf realem Boden ftehen, find über philofophifche Deductio⸗
nen ber idealſten Art weit erhaben. Wohl mag man Ans
ftoß daran nehmen, daß ba8 Atom fchlechthin- untheilbar
fein fol und diefen Gedanken für ſchlechthin unvollziehbar
betrachten (&. 46), wie [don Ariftoteles bie Materie in's
Unendliche theilbar fein ließ, allein bie Chemie gebietet ein
[o beftimmtes Halt, daß ihr vor aller Philofophie ber Vor⸗
zug zu geben ijt, und auch ber Verf. [θὲ ὦ trot aller
Bibel und Natur. 291
Schmierigfeiten gendthigt, die Atomenhypotheſe vorläufig
gelten au laſſen. Die Anfichten des Verf. über bie dyna-
mifche Hypotheſe find und etwas unverftändlih, Daß nad)
ihr ein Faden, den man fort unb fort zieht, nicht reißt,
fondern nur unendlih an Dichtigfeit abnimmt, ijt bed) zu
eigenthümlich, wenn ber Faden factijd) bod) in zwei Stüde
zerriffen ift. Wenn ber Mineralog Weiß, weldyer bie bpna-
mijde Hypotheſe vertrat, gegen den Atomiftifer Haug pole:
mifirt, indem er geltend macht, bap bie Blätterbrüche des
Kryſtalls von gewiflen Kryjtallifationzrichtungen abhängen,
welche imt Innern be8 Kryſtalls wirken, fo erfennt man hier
die Dynamis, aber der Kryſtall zerbricht nad) Weiß doch,
9b (ideale) Achſen ober Flächen maßgebend find. |
Sind wir aljo auch etwas realiftiich angelegt, jo find
wir bod) weit entfernt, alles, was von biejer Seite geboten
wird, als bare Münze anzunehmen. Nicht dag Denken
als ſolches macht bie Rejultate der Materialiften ineract
unb unwahr, fondern das [ας Denken, welches bie 9üe-
fultate nad) der Tendenz beftimmt und dadurch als Geban-
kenloſigkeit ericheint, Mit vollem Recht deckt der Verf. in
dem Kapitel über bie Weltentwicklung (S. 58 ff.) das un-
Togifche Verfahren be$ Materialismus auf, ber Lebendes απ
febfojem hervorgehen làpt. Durch bie Bewegung, in ber
fid) die Atome befinden, joll bie Entwiclung eingeleitet und
fortgefeßt worden fein und bod) kann auf die Frage nad)
der lirjadje ber Bewegung, ber gegenüber vor allem bie
vis inertiae im Befitftand ift, feine Antwort gegeben werben.
Aber ſelbſt bie Bewegung ber Atome angenommen, fo ijt
eine Erklärung für ben Übergang αἰ einer niederen in
eine höhere Stufe durchaus nicht gegeben. „Denn es er-
fcheint eben|o gut möglich, bag bie Atome in fortwährender
292 Zollmann,
Bewegung auf derſelben Stufe verharren, oder daß die Be⸗
wegung fie auch auf eine niedrigere Stufe zurückführt; denn
e$ ijt durchaus nicht einzufehen, weßhalb bie Atome bie
höhere Ordnung ihrer Aneinanderlagerung feſthalten müſſen,
weßhalb fie bicfe nicht auch wieber verlieren koͤnnen“ (S. 69).
Der Materialismus hat für diefe Entwicklung des Häheren
aus bem Niederen nur den Zufall αἵ Grund geltend zu
machen. „Es ijt bie coloffalite Zufallshypotheſe, tie fid
erfinnen läßt: zufällig lagern fid) Atheratome jo aneinander,
daß fidt entſteht; zufällig ponderable Atome zu Eäuren
und Baſen; Balen und Euren zu Ealzen, zufällig zu
Steinen, zu Pflanzen, zu Thieren, zu Menſchen, zu Fir
jternen, zu Planeten, fura zu allem Möglichen” (S. 60).
Eo fpottet ſchließlich ber geringfte Prozeß in der Natur
ber Erklärung, wenn man ἢ gegen jedes Hereinragen einer
höheren Macht fträuben zu follen glaubt. Man fucht licher
die Tächerlichiten Echeingründe oder verzichtet mit Zuhilfe⸗
nahme be8 Zufall® auf jede Erflärung. Died gilt aber nicht
nur von dem Materialismus, fondern auch von bem Dar:
winismus. Diefer hat etwas Verlockendes an fid, da burd
ihn in bie ganze Natıır ein einheitlicher Gedanke gelegt wird,
ber von ber crften Zelle bi8 zum Menſchen mit äußerſter
Conſequenz verfolgt wird, und gewinnt daher nicht wenige
Anhänger. Aber er ijt eine nicht ebenjo wahre als fchöne
Idee. Denn auch er leidet an ganz ähnlichen Vorausſetzun⸗
gen wie der Materialismus, auch er muß dem Zufall einen
weiten Epielraum geben. „Man erwäge wohl das Eolofjale
biefer Behauptung: das erjte Auge hat fid) durch einen
Kampf umd Dafein, durch dad Bebürfniß zu ſehen gebilbet
unb jid) bi8 zur Höhe be8 wunderbar conjtruirten Menſchen⸗
auges entwoide[t — wieder burd) einen Kampf ums Dajeln
-
Bibel und Natur. 293
und eine natürliche Ausleſe, ohne irgend cine leitende Idee!
Ebenſo der ganze übrige, über alle Maßen finnreiche Bau
be3 thierifchen Organismus mit all feinen vegetativen, feinen
Fortpflanzung und allen übrigen Organen! Ob das
wohl Jemand glauben kann?“ (©. 137). Die Gründe
dafür find allerdings in feinem Verhältniß zur Tragweite
bet Behauptung. Es wird geltend gemacht, baB bie Em-
bryonen aller Thiere nicht fennbar von einander verfchieden
feien und indbefondere der des Menſchen alle niederen
Etnfen durdlanfe Aber „wie kommt c8, daß αὐ dem
einen Embryo eine Eidechſe, au8 dem andern ein Walfilch,
aus bem dritten ein Menſch entjtebt, da fie bed) ununter⸗
ſcheidbar einander gleich find? Man follte nad) Darwin’:
cher Theorie vermuthen: ein beſonders Eräftig angelegtes
Thiereinbryo würde unter dem Einfluß begünftigender Unt:
ftände bie höchfte Etufe ber Arbeitätheilung erreichen, fid)
zum Menjchen entwickeln, wenn es auch von einer Kuh
herrührte, unb umgekehrt ein fchwächlicheg Menfchenembryo
müßte bei Ernährung durch Schlechte Säfte auf einer niebrigen
Stufe verharren und vieleicht als Eidechje zur Welt foms
men” (S. 138).
Auch bie Stufenreibe vom Unvolltommenften bià zum
Bollfonmenften, auf bie fid) berufen voirb, ijt keineswegs fo
volftändig als man glauben machen möchte. Man muß
ja je(bft Lücken zugeben. Freilich weiß man auch bier
einen Ausweg. Daran {{ die Mangelbaftigkeit unferer
geologifchen Kenntniffe ſchuldig. Uber geſetzt jelbit, es
werben alle möglichen Zwiſchenformen aufgefunden, jo wäre
ber Vebergang aus δὲν einen in bie andere evít nod)
nicht erwichen. — Es weidt ber Verf. mit Recht darauf hin,
daß einzelne Arten als unverändert feit. Jahrtauſenden be:
294 Zollmann,
wiejen werben, „Man bat egyptiſche Mumien von Thieren,
bie vor 2000 bi8 8000 S. Ichten, mit ihren jet lebenben
Nachkommen verglichen und Feine weſentlichen, feine Art-
unterfchiede gefunden, fondern nur Unterſchiede, wie fle
(wilden Individuen berjefben Art vorzulommen pflegen.
Man Bat Weizenkörner, die in egyptiſchen Pyramiden vot:
gefunden find, gelät und hat eine Weizenart erhalten, bie
mit einer ber heutigen vollftändig übereinftimmt. Hier
ſcheint fid) alfo bod) die Dauerhaftigfeit der Art zu zeigen“
(€. 141). Sod) man wirft mit Millionen und Billionen
von Fahren um fid, gegen welche affe Gefchichte verfchwindet.
Aber auch dagegen läßt fid) ein auffallendes Beilpiel an-
führen. „Es findet fid) eine Gattung, die fid) feit. den
älteften ſiluriſchen Echichten bi8 in die Neuzeit unverändert
erhalten bat unb mit verfchievenen Arten, die nur wenig
von einander abweichen, in fajt allen Schichtengruppen τὸς
präfentirt ijt: bie Gattung Ringula” (Ὁ. 142). Diefe Lin-
gula (lingula prima) gehört in der That zu ben erften
lebenden Weſen und fie läßt fid) von ben fpätern im Wrufchel-
fall, Sura kaum unterfcheiden. Ihr Geſchlecht Tebt heute
nod) im inbijden Ocean. Man fünnte dagegen einwenden,
daß die Ausnahme die Regel bejtátige, aber abgejeben von
ben analogen Beifpielen bevenfe man, was die Darwinianer
mit folhen Ausnahmen 3. B. bem Lanzettfifchchen unter ben
Wirbelthieren alles zu beweifen fudjen, und man wird aud
biefe als bedeutungsvoll gelten lafjen müfjen. Warum ὦ
untevgeorbnete Arten, wie geſchlechtsloſe Thiere neben ben
höher entwickelten beim Kampf ums Dafein erhalten konnten
und bis heute fort eriftiren, bleibt ohnehin ein Näthfel.
Daß eim Rüdfall nicht vortommt ijt — Zufall. Der Bo:
tanifer wenigftens Tann ὦ aus Tauſenden von Beifpielen
Bibel und Natur. 295
die Qebre abſtrahiren, bab Barietäten febr. Häufig wieder
zur urfprünglichen Art zurückkehren und nicht umjonft muß
ber Gärtner, wenn er alle, aud, bie unwefentlichen Eigen⸗
Ichaften einer Pflanze vererbt wiffen will, auf bie Fort
pffangung verzichten unb zu den Mitteln für Vermehrung
ber Pflanzen feine Zuflucht nehmen.
Uchrigend hat Darwin in feinem neueften Werk in ber
That zugeftanden, daß er ber natürlichen Zuchtwahl zu
viel Werth beigelegt habe und zieht nun bie gefchlechtliche
Zuchtwahl ala Erflärungdgrund bei. Aber auch damit wird
dem Zufall wieder viel aufgebürbet. Wie früher die weißen
Tauben zuerft vom Habicht dem Untergange geweiht und
die weißen Mäufe von den Katzen und anderen Kiebhabern
zuerft auf ben 9(ugfterbeetat gejegt werden mußten, jo müffen
Jebt die Männchen für bie Vererbung gewiſſer Abnormitäten
forgen, während fid) bod) im Leben ſtets dad Normale fiber
dad Anormale zu erheben weiß. Es muß doch wohl Zufall
fein, wenn unter den Ahnen des Menfchen zufällig ein
weibliche Individuum des Haarſchmucks am ganzen Leib
beraubt geweſen iſt, und noch mehr Zufall, wenn für dieſes
Individuum der genannte Mangel eine beſondere Vorliebe
erweckte und dieſe Vorliebe bei den bislang behaarten In⸗
dividuen allgemein wurde. Es mahnt dies viel an den
Kampf der männlichen Hirſche, denen bei dieſer Gelegenheit
die Geweihe gewachfen find,
Auffallend erjcheint auf den erften Blick bie Bemerkung,
baB bie Entwiclungsgefchichte der Erde nach ber Geologie
und ber Bibel nicht vereint werben fünne. Wer die Frage
nad) dem Verhältniffe beider „zu beantworten verjucht hat,
δαὶ fid) unſers Erachtend eine unlösbare Aufgabe geſtellt“
(€. 76). Der einzige mögliche Ausweg, wenn man nicht
296 Zollmann,
vor dem unldsbaren Widerſpruch ſtehen bleiben wolle, ſei
der, daß man entſchieden mit dem mechaniſchen Inſpi⸗
rationsbegriffe breche. „Machen wir Ernſt mit bent Grund⸗
ſatze, daß die Entſtehung dieſer Offenbarungsurkunde unter
bie Geſetze der natürlichen menſchlichen Entwicklung ift ges
ſtellt geweſen!“ Doch beſtätigt die Ansführung die hervor⸗
gerufene Befürchtung keineswegs. Es ijf bem Verf. nur
darum zu thun, zu zeigen, daß cine buchſtäbliche Auffaſſung
ber Geneſis fid in unüberwindlihe Echwierigfeiten vers
widíe, bap bie ſcharfſinnigſteu Gembinatienen von bicjem
Gtautpunfte and am Ende niemand genügen, vielleicht faunt
bem Erfinder folder Harmoniſtik felbft. Darin bat er zwei-
feläohne 9tedjt. Denn man muß wirklich ſolche Verfuche
gelefen haben, um von ver Siſyphusarbeit überzeugt zu fein.
Auch ber Verſuch, bie Sage = Perioden zu nehmen, fcheint
ung nicht zum Ziele zu führen, weßhalb wir jdon früher
in diefen Blättern auf die ideale Auffafjung als die allein
befriedigende hingewichen haben, die aud) immer mebr Anz
Dünger gewinnt, wie auch Steujd) in der dritten Auflage
feiner „Bibel und Natur”. ihr das Mort redet. Es fell ja
die Bibel Fein naturwifjenfchaftliches Buch fein, ihr Zweck
ijt ein religidfer und darnach ijt ihr Inhalt zu beurtbeilen,
„Die Naturbetrachtung der Echöpfungsgejchichte tjt. durchaus
teleofogid) angelegt; fie nimmt ihren Etandpunft rein oom
Menichen αἰ. — Die ivealen Plane Gottes haben jene
Urmenfchen geídjaut; bie Stufen der gegenwärtigen Ratur-
ordnung bis zu ihrer Spike im Menfchen bin — fie find
in der Schöpfungsgeichichte niedergelegt, und zwar aus bem
Geſichtspunkt, wie alles übrige Gefchaffene zum Menſchen
in Beziehung fteht; fie find in der kindlichen Form einer
realen Gefchichte gegeben, bie ihrem Weſen nach ideale Ge:
‚Bibel und Natur. 997
ſchichte ift^ (6. 78). Sm Allen möchten wir übrigen? bier
bem Verf. nicht beiftimmen, δὰ bie idealen Erklärungen
manchmal etwas weit geben (S. 211 f.).
Von ber Naturbetrahtung im engeren Einne erhebt
fid der Verf. zur Beſprechung ber Über bie Natur hinaus⸗
liegenden Factoren, fo. weit fic. auf ben Menfchen Bezug
haben. Der Menich ftcht mit einem Theile feine Weſens
über ber Natur, er hat eine Eccle „dad Thier bat aud)
eine Seele; es empfindet, e8 denkt. Mögen bie Epuren
des Denkens noch fo gering fein im Berbältniß zu bem
Denken be8 normalen Menichen, fo find fie bod immer
groß genug, um nicht αὐ bem Suftinft, mit bem man
gleich bei der Hand zu fein pflegt, fid) ableiten zu laſſen“
(€. 169 f). Aber ba8 Denken des Thieres bleibe Tpecifiich
thierifcher Art (S. 170). Deßhalb gewinnt bie Trage nach
ber Cecle erft beim Menſchen Bedeutung. Wir wiffen zwar
wohl, daß man vielfach anftößt, wenn man von einer Thiers
feele nicht? wiffen will und dadurch den fichgewonnenen
Thiermärchen und Aneldoten alle Poeſie raubt, Elternliebe
und mas dergleichen mehr trot alles Augenſcheins in reine
inftinetive Handlungen aufldst, aber nichts befto" weniger
fbunen wir und zur Annahme einer Thierſeele nicht vers
ftehen. Diefe feheint allerdings bei unfern Hausthieren ſelbſt⸗
verftändlich zu fein, bei denen aud) bie Darwinianer jo gern
verweilen, aber íobafb man in die freie Natur tritt, welche
die eigentliche Heimat der Thierwelt ijf, wird man leicht
anderer Anficht, falla nicht eine beftimmte Tendenz bte Beob⸗
achtung färbt. Wir vermeifen diejenigen, welche fid) hiefür
befonderg intereffiren, auf bie Schriften von Dr. Altum unb
Bach und ihre Zeitichrift, Natur und Offenbarung. Es fanu
und von unjrer Anfiht auch der Einwand nicht abwenbig
298 Zollmann, Bibel und Natur.
machen, daß man baburd) Die Lebenskraft aus der orgmtifchen
Welt verbanne, da nur Unkenntniß des Eachverhaltd einen
ſolchen Vorwurf erheben kann. Bei ver Pflanze fpricht ja
ſchon (üngjt fein Menſch mehr von einer Seele und fie iit
bod) ein organifche® Weſen. Gbenjo wenig macht uns
ber Umftand darin wmanfenb, daß ein Mechanismus in bie
Natur hineinkommt, der ein Grundariom dei Materialismus
it (€. 320), denn bie Meaterialiften pflegen in der Regel
ba8 Denken des Thieres nicht zu beitreiten.
Wir bemerken nur noch, bag was δὲν Verf. im Folgen-
den von den angeborenen Ideen, ber Gottesidee, Freiheit
und Eünde, von dem Alter ded Menfchengefchlechtes, ber
Abſtammung von Einem Paare, ber Heiligung, Naturver-
berbniB, bem Wunder unb bem Seal: Menfch (Chriſtus)
fagt, in allen Hauptpunkten gewiß Billigung verdient. Auf:
gefallen ijt und nur, bag bie „Bibel und Natur” von Reuſch
nirgends erwähnt ijt, welche auch bei proteftantijdjen Leſern
nicht ohne Wirkung bleiben woürbe. Reuſch's Schrift dürfte
den wiſſenſchaftlich Gebildeten befjer entfprechen, obige Echrift
ben allgemein Gebildeten. Es wird Tegtere ihren Zweck ohne
Zweifel bei vielen erreichen und wir ftehen nicht an, fte
wiederholt zu empfehlen. |
€ dar.
3.
Stargaretja Berflaflen, ein Bild aus ber Tatholiichen Kirche von
€. H. Zweite Auflage mit Porträt. Hannover. Karl
Meyer 1871.
Das „Bild“, ba8 unà in voranjtehendem Buche entwor-
fen ift, und das wir jchöner und Tieblicher, in immer ausge:
9L H., Margaretha Verflafien. 299
prägteren und feineren Zügen vor. bem Auge unfered Geiſtes
gleihfam entftehen jehen, ift daS ſehr anziehende und
lebensvolle Bild von bem zeitlichen Ringen, Erleben unb
Streben einer, zumal in gemüthlicher Richtung, jehr tiefs,
aber auf der andern Seite aud) ebenjo Fräftig und voll-
tönend angelegten Ecele, bie bei äußerlich fort und fort
gegen ihren Willen fi) gelta(tenben Verhältniffen unter ben
Schwerften und heißeften Kämpfen „die ganze Skala meuſch⸗
fiher Empfindung vom höchſten Aufwallen bià zum ticfften
Verzagen auf- und abläuft”, bie aber gleichwohl in al’
bem je länger je mehr nur bie Wege erkennt, auf denen
fie die Vorſehung läuternd ihrem Endziel entgegenführt :
„Gottes Wege”, jo äußert fie ſelbſt fid) darüber in einem
ihrer fpäteren Briefe, „waren immer andere, al die meinen,
auch wenn id) auf dem beiten zu fein glaubte, war's ein
Wahn”. Zu biejer göttlichen, alles mit Weisheit und Liebe
regierenden Borfehung blickt fie daher auch, o6 noch [o ges
beugt und gebemütbigt von augen unb innen, bod) immer-
fort feften und unverwandten Blickes hinauf und ringt zu
ihr fid) empor in ber Kraft ihre® Glaubens, ſowie ihres
ftarken, unbeugfamen Willend. Aus jedem Sturm geht fie
am Ende nur fejter und glaubendmuthiger, aus jedem
Kampfe nur ftärker und fiegezfroher, αὐ jeder Feuerprobe
nur reiner und jelbftlofer, ja Ichöner unb freier und in ſich
jelber vollendeter hervor. Ihr Leben ijf durch eine höhere,
alle ihre Verhältniffe berührende chriftliche Ordnung geweiht,
ehne dabei in einer etwa hohlen und felbftgemachten, gefühl:
vollen ober gar fentimentalen Beichaulichkeit aufzugehen. Ed —
find gerade im Gegentheil bie Werke chriftlicher Charitag,
vor allem ber Armen= und Krankenpflege, denen fie mit
unermübetem Eifer fid) bingibt unb unter deren Uebung jte
800 W. 9, Margarethe Berfiafien.
für andere ſchneller und raſcher fij felbft verzehrt Denn
wohin fie auch immer in biejer Beziehung bie Noth ruft
und ent[predjenb bie Liebe treibt, ba kennt fie für ihre Perfon
feine Schonung, fondern bringt immer freudig und neu
fi zum Opfer, bi8 fle darüber „ven bimmlifchen Gärtner
als eine früh gegeitigte Frucht in die Hand fällt“.
Das ijt im Allgemeinen und in feinen Grundzügen an-
gegeben ba8 in genanntem Buche dem Leſer entworfene Bild.
Was nun die Ausführung und bie Schattirung des⸗
jelben ing Einzelne anbetrifft, jo ijt e nad) unferem Dafür:
halten nicht nur ſehr jorglam, ſondern auch wirklich jehr
ſchön durchgeführt — um dad Bild bier felbft beizubehals
ten — gleidjjam auf bem Golfbgrunbe katholiſchen Leben?
unb Wefen?.
Wie ,Gretdjen", das geiftige Objekt in ber Darftel-
lung, zur Zeit, ba fle anfieug, wegen ihrer inneren Boll
endung ber Gegenftand der Bewunderung von Seite ihrer
Mitmenjchen zu werben, an eine ihrer Freunbinen, bie ihr
ihre innere Hochachtung bewegen ausdrückte, befcheiden und
wahr genug folgenden Sat jchrieb: „Was bu bei mir für
Kraft und Ernſt meiner Natur Hältft, das ijt nicht mein
Eigenthum, das find bie Gaben, bie ich meiner Kirche ver:
banfe, vei mich au8 ihr heraus unb ihren Einfluß aus
mir, unb bu wirft fchaudern vor ber Schwäche und Nacktheit
meiner Natur” — jo ijt die Verfaflerin (Amalie v. Haffen-
pflug, eine Protejtantin vgl. Hifter. polit. BL. 1870. ©. 613)
jetbft auch durch ba8 Ganze bemüht, eine Erjcheinung, wie
Greichen, aus dem innern Leben ber Tatholifchen Kirche
heraus zu begreifen, unb umgelehrt aus der erjteren Leben
und Lebensweiſe das Leben der Kirche zu würdigen. Dabei
verdienen bie Ruhe und Objektivität, jowie bie vorurtheils⸗
Cantus Passionis. 301
freie und liebevolle Gefinnung, mit ber fie diefe ihre Auf-
gabe lösſst, unfere volle Achtung und [obenbe Anerkennung.
Die Verfafferin zeigt überhaupt ein fehr warmes Intereſſe
unb ein gutes Verjtändniß für katholiſches Leben und fatbo-
lifche Einrichtungen. |
Wir wünfchen es ebenjo herzlich, als aufrictig, daß
biejem Büchlein, dad wir wenigftend mit großem Intereſſe
von Anfang big zu Ende gelefen haben, bie verbiente Be⸗
adjtung in immer weiteren Kreifen zu Theil werde.
Rep. Ziefel.
4.
Cantus ecclesiasticus sacrae historiae Passionis D. N.
Jesu Christi sec. quatuor evangel. itemque Lamenta-
tionum et Lectionum pro tribus matut. tenebr. etc.
Ratisbonae, Pustet. 1868. Preis 1 fl. 48 fr.
Borliegende rituelle Melodien find nad) einem roͤmiſchen
Eremplar von 1838 „und andern”, leider nicht näher be-
zeichneten „approbirten Ausgaben” vebigirt und ftimmen,
joweit fie fid) auf Paſſion und Lamentation beziehen, mit
den in Sübbeutfchland hauptſächlich durch bie Kemptener
Preſſen — vgl. Bonner Lit.bl. 1867. ©. 871 ff. und dazu
Haug Magaz. f. Päd. 1868. €. 283 — allgemein ver:
breiteten Geſangsweiſen gegenüber a. B. ber Mechliner Aus:
gabe ber Ramentationdgefänge (vgl. Vesperale Rom. Mech-
lniae 1859 u. |. v.) auf Genauefte überein, während bie
Lectionzformel, gleichlautend mit der bei Janſſen (Grund⸗
regeln ac. €. 207) ftehenden von ber in ber Nottenburger
302 Cantus
Diözefe hergebrachten, übrigens von Wollersheim (Theor.
praft. Anweifung zur Erlernung des Choralgef. xx. ©. 196)
ala römischer bezeugten in ihrem definitiven Schlußpunkt
weſentlich abweicht.
Einen fritijd) gefichteten Choral bietet auch biele Au2-
gabe nicht, daher unfere Bemerkungen auf mehr formale
Dinge der Rebaktion fid) zu beichränten haben. Der Roth:
und Schwarzdruck leidet vielfach an ſolchen Inconcinnitäten,
daß ein primavista - Eingen nahezu unmöglich ijt und jeden-
falls ein etwaiger Verſuch die jchlimmften Störungen veran-
laſſen müßte. Falſche Noten und Schlüffehjtellungen finden
fid) 3.8. p. 22. 23. 27. 35.36. 45. 46.55. 56. 60. 70 u. f. f.
Einigemal (3. 98. p. 11 „accepissent“) ijt δα runde b
nach ftatt vor bie betreffende Note gejegt und baburch bie
Ligatur ‚aufgehoben; p. 59 „interficerentur“ und p. 63
,Joannem", wo e jid) in beiden Fällen nicht um eine
Ligatur handelt, muß genannte? b unmittelbar vor h ge-
zeichnet werben, aud) p. 54 „quia ego“ jteht Ὁ vor a
ftatt vor h. p. 7 muß bie zweite Note über „dormientes“
a Statt ὁ heißen. Was und aber am meilten mißfiel, das
find die Heinen Striche, welche die einzelnen Worte von
einander fcheiden. In alter Zeit war durch ble Sitte, bie
Tertworte ohne Interpunktionszeichen eng aneinanderges
ichloffen zu druden, die Nothwenbigfeit, dem des Lateins
unfunbigert Sänger ben Schluß de einzelnen Worts mittelft
folcher Striche zu bezeichnen, volftändig gerechtfertigt, allein
bei heutiger Schreib - und Drudweife find fie ohne allen
Widerſpruch ein zöpfiger Ballaft, der eine unmittelbare Auf:
faffung der melobijchen Phrafe nur zu erſchweren geeignet
it, und um [o eher wegbleiben Tann, als 3. 8. in bem
„Cantus ecclesiast. officii maj. hebd. collectus et emen-
Passionis. 303
datus a J. Guidetto Bonon. etc. Romae Jac. Tornerii
1587“ und in bem ,Cantus eccl. Passionis D. N. Jesu
Christi etc. 4 J. Guidetto Bonon. Romae ap. Andr.
Phaeum 1615“ wie in den übrigen Ritualbüchern ber
eigenen Puſtet'ſchen Offizin — ‚von weiteren bießbezügli-
hen Ausgaben ganz abgefehen — die einem ängftlichen
Rebaktor etwa benöthigten und unjere8 Wiſſens noch burd)
feine Genfur gerügten biftorifchen Vorgänge [ἅπας ge:
geben find.
In den vorgebruditen Rubriken endlich wird u. A. auch
über ben Zeitwerth ber Choralnoten kurzer Unterricht ge:
geben und wenn wir und mit ber einen Qeftion: „motae
siquidem, quae quadrati figuram |referunt, si solae
et caudatae sint, omnium longissime producuntur; quae
vero solae et absque cauda, item quae caudatis sup-
positae et consequenti invicem ordine per lineas sibi
connectuntur, hae omnes eadem mensura, tantoque
tempore produci, non longiore, non breviore; sed
prorsus aequali ac ubique desiderant. Quae vero
rhombi formam induunt, et sine comite, sed unicae
unicis syllabis, et breves brevibus supersunt positae,
celeriore spiritu et tono citius decurrere gestiunt“
(p. IV) im Ganzen noch einverftanden erflären koͤnnen, fo
müfjen wir bod) gegen den weiteren, dad Vorausgehende
überbieß wieder paralifirenden 3uja& „bene noveris, quod
nota talis (die jog. Choral-longa) cum cauda unam
integram (ut vocant) mensuram , talis (bie (og. Chorals
brevis) sine cauda mediam partem mensurae, talis
(die jog. EChoral-semibrevis) autem quaríam partem -
unius mensurae seu tactus ordinarie valeant et signi-
fcent* (p. IV) aufs Entichiedenfte un erklären, denn fürg
Tpeol. Quartalſchrift. 1872. Heft II. 20
304 Vegni,
Erfte ijt e8 einfach nicht wahr, daß ber Zeitwerth einer
Choraljemibrevis genau den vierten Theil einer Chorallonga
unb bie Choralbrevis wiederum bie Hälfte biejer longa aus⸗
mache, weil bie Choralnotenzeichen überhaupt in feinem
matbematifd) abgemefjenen Zeitverhältniß zu einander ftehen,
und bann würde ein biefer Notenwerthbeitimmung ent-
ſprechender Vortrag eine mwelentliche Eigenfchaft des Choral,
nämlich feine Nichtmenfurirtheit vernichten, wie ſchon Thal:
hofer an der oben citirten Stelle des Bonner Lit.-Blatts
ganz richtig bemerkt Dat.
Zeller.
δ.
L'ecclesiaste secondo il testo Ebraico. Doppia traduzione
con proemio e note di Gabriello Vegni. Firenze coi
tipi di M. Cellini e C. 1871. 174 S.
Der Gommentar eines italienischen Geiftlichen, welcher
die ihm von praftifchen Berufsarbeiten gelaffene Muße aufs
gewiffenhaftefte verwendet. Die Schrift ijt frei von allem
Ueberſchwang, von confufer Myſtik und Myſtification, tjt voll
gerechter Anerkennung der beftoerläumbeten beutidjen Wiſſen—
Ihaft, hat felbft Berufungen auf Ewald's große und Fleine
bebräiiche Grammatik und zeugt von Belanntichaft mit
deutfcher, Fatholifcher und proteftantifcher SBibelliteratur.
S. Vegni gibt eine längere Einleitung zum Prediger
(€. 9—81), eine möglichjt wortgetveue lateinifche unb ite-
lienijd)e Ueberſetzung defjelben aus dem Driginaltert (S. 84
— 123), und den Sommentar dazu von C. 127—174. Die
lateinische Ueberfegung, die wir für ziemlich überflüſſig
l'ecelesiaste. 305
halten, ijt nicht jeften Bart und mißverftändlich, ba ber Verf.
fb peinlich genau an das Original hält (2, 13 fchreibt er,
um auch das bebr. Hilfsſuffix auszudrücken: quod fecerunt
ipsum, faſt wie Aquila σὺν τὸ φῶς übertrug, um bie —
hebräiſche Accuſativpartikel nicht zu kurz fommen zu Taffen)
1, 10 und 12, l res, quam quis dicat und anni, quos
dices u. a. m. Diefe Härte entjchuldigt er €. 131 in
einer Note: in ambedue i luoghi ho reso, benché non
latinamente, la forma dell originale, come faccio
sempre che la chiarezza del senso sia conciliabile con
sintassi e con frasi anche non latine. Allein eine gute
Ueberſetzung gibt dag eine nicht ohne bag andere: Klarheit
be8 Sinnes nicht obne Berücfichtigung der Syntare und
Ausdrucksweiſe der Sprache, in welche man überträgt. Die
italienijche Ueberſetzung lie8t jid) leicht und angenehm, und
i ungezwungen und fließend ohne breit zu werben unb fid)
zu jehr von ber fuappen Kürze be$ Driginald zu entfernen.
Die untermijdjten Eentenzen gibt Verf. in gebunbener Nebe,
wovon wir 12, 6 ἢ. die jchöne Stelle über den Tod als
Beiſpiel ausheben :
Pria che l’argenteo funicel si spezzi,
E laurea lampa infrangasi ;
E cada lurna sulla fante in pezzi,
E la guirevol rota al pozzo frangasi;
E la polve alla terra, onde fu presa,
Torni, e a Dio l'alma ch'é da lui discesa.
Sp ſehr der Verf. beftrebt ijf, bie Reſultate ber pro:
teftantischen Bibelftudien ſich nugbar zu machen, jo wenig
üt er mit der negativ fritifchen Nichtung berjefben und ihren
gegen Chriftum und Kirche umverträglichen Tendenzen ein—
| 20"
306 Vegni,
verftanden. Aber der gelehrte italienische Priefter verfchmäht
ed mit richtigem Takte, bie ganze Wiffenjchaft beu Unfegen
einer einfeitigen Richtung derſelben entgelten zu laffen und
ba8 für legtere zu fprechende Verbift auf jene auszudehnen.
Cr fchreibt zwar ©. 10 f.: „Von Scmler big Rabbinowicz
(dem Verf. der Schrift: le röle de Jesus et des apótres,
Paris 1869, welcher Jeſus ben Phariſäismus αἱ Mittel
fi auf den Königsthron zu jchwingen wieder aufrichten
läßt) wurde bie Bibel auf ein Procuftesbett gelegt und alle
ihre Bücher, von ber Geneſis bi8 zur. Apokalypſe verrenft
und jchlimmer behandelt als von Wolf bie homeriichen Ge-
dichte, von Niebuhr und Mommſen bie römifche Gefchichte.
Man that der Sprache Gewalt an, vermuthete Verftümme-
lungen, Sujáge und Aenderungen jeter Art, man erbachte
fih Ausfüllungen, Ergänzungen und Wiederherftellungen,
man machte ingenióje Theilungen und Untertheilungen nad)
$aune einer vorgefaßten chronologiihen Ordnung, unb wo
ba8 bem Bebürfnig nicht zureichte, ließ man Thatfachen unb
PVerfönlichkeiten im 99tptbu8 und in ber Allegorie verſchwin⸗
ben, ober jchloß bequemer mit ber Läugnung der Echtheit
der Schriften. Archimedes hatte jo großes Vertrauen in
bie Kraft des Hebeld, bap er durch ihn bie Welt empor:
heben zu können glaubte, aber er verlangte wenigiten8 ein
που στώ, während die Kritik, die nad) Stärkeres von ihren
Kräften präfumirt, bie Welt ohne einen Stützpunkt auf den
Kopf zu ftellen ὦ vermipt^ u. f. Ὁ. Doc, wendet ber
Verf., nachdem er biefe Art Kritik aufgefordert Dat, die Exi⸗
ftenz Gottes abzubelvetiren (allora ogni questione ὁ finita)
wieder zurüd, ſetzt die manchfachen Vortheile der andern
Methode biblifcher Forfchungen außeinander (die Abjurbität
ber Syſteme diene zur Beftätigung der Wahrheit ber Tra-
l'ecclesiaste. 907
dition, das rveichliche Licht, welches fie in alle Fragen ber
biblifchen Einleitung und Gregeje getragen, habe ben Ber:
theidigern ber Orthodoxie einen neuen Horizont eröffnet und
fhärfere Waffen geliefert). Der Verf. ftellt diesfalls fein
Baterland hinter Deutfchland und Frankreich zurüd: ve
n'ha pure (pofitive Bibelforfcher) in Italia, ma qui, convien
confessarlo, ó anzi penuria che no di lavori biblici si
per altre ragioni, si perché pochi sono qui fortunata-
mente i lavori in senso negativo, e que' pochi o tra-
duzioni o rimpasti d'opere straniere o scempiaggini
indegne di seria confutazione Ma raro non ὁ peró,
che tra noi si prenda oggi il partito, si pieno di
pericolo come vuoto d'onore, di accettar le pratiche
conclusioni della critica d'oltremonti (€. 13. Note). 3d
darf mir hiebet nicht verjagen, au bem Gommentar ©. 141
in getreuer Meberfegung ein Urtheil Vegni's über deutſche
Gelehrte auszuheben, dag für dag blödfinnige Gezeter deutſcher
Sonoranten, hochgeftellter unb ordinärer, über bie „hoch-
müthige beut|de Wiſſenſchaft“ beſchämend genug ijt. Er
fe&t fid Hier mit einem andern Bearbeiter be8 Prediger,
Goftelli, audeinander unb meint: während berfelbe bie
Werke der berühmteften Männer Deutſchlands plündert ohne
fie zu verftehen , hadert er bejtändig mit benjelben, bie bod
ijr Leben im Ctubium der Bibel und ber orientalifchen
Sprachen bingebracht haben und was immer auch ihre relj-
gidfen Meinungen fein mögen, bie heilige Kritik mit Gelehr⸗
ſamkeit und Umficht, und allgemein mit Ernft und Achtung
betreiben (— — che qualunque siano le loro opinioni
religiose, trattano la critica sacra con dottrina e cir-
cospezione, e generalmente con serietà e con rispetto.
J. Vegni fet die Gründe, welche fid) für bie Salomo⸗
308 Vegni,
nische Abfaffung des Buches angeben laſſen, gut und Ticht
vol auseinander, ohne gerade neue Geſichtspunkte und fchla-
gende Gründe in biefer fehr ſchwierigen Materie beizubringen,
indem er nach einer kurzen Geſchichte der Aufftelungen Diet:
über im Vorwort bic Authentie des Predigerd nad) Tradition
unb ben Zeugniffen des Buches, den Girumbgebanfen, Inhalt
und Zweck defjelben, die Idee des fünftigen Lebens zur Zeit
Salomo’3, bie Lehre, Einheit, Bedeutung, Sprache und Stil,
den Sext und die alten Meberfegungen in ebenfo viel Kapiteln
bornimmt. Er findet (S. 15) die Schwierigkeiten des Buches
nicht in Duntelheiten von Stil und Ausdrücken, fonbern im
Gang be8 Buches, in der Natur feiner Gebanfen und häufi-
gen Diffonanzen, im Durchfcheinen eines beftändigen innern
Kampfes und im büjter traurigen Ton, der fajt dad Ganze
beherricht und oft in Hoffnungslofigkeit zu enden εἰπε,
Der dunkeln Worte find e8 in der That wenige, der Anfichten
dagegen über Grundgedanken und Zwed fehr viele. Der
Berf. gibt aber fein Mares Bild über bie Gejchichte der Aus—
legung des Predigers in neuern Seiten, der e8 an wi[feng-
werthen Momenten nicht fehlt. ©. Ὁ. Bibelwerk von Stange,
XIII, ©. 110 ff. Er hätte auch nicht verfchweigen bürfen,
baB bie Abfaſſung des Buchs in nacherilifcher Zeit und durch
einen in freier bichterifcher Fiktion fid) mit Salomo ibentt
fizirenden Weifen auch auf ortbobor yproteftantifcher Seite
faft ausnahmslos feitgehalten wird und namentlich alle be
beutenbeve Vertreter berjelben, wie Hävernit, Keil, Hengſten⸗
berg, Gerlach, Vilmar, Deligich 11. A. fich dafür ausgeſprochen
haben. Die Tradition ijt Verf. ©. 22 geneigt, bier um fe
böher anzufchlagen, da das Buch jonft, nach feinem Inhalte
fid nicht befonders zu empfehlen vermochte und nur weil
ed wirflih von &alomo war, tin den Canon aufgenommen
Pecclesiaste. ! 309
worden jei. Die Ehrfurcht der Juden vor den heiligen
Büchern, auf bie ebenfalld ©. 23 ſtarkes Gewicht fällt
(e peró la circospezione grandissima, con che dove-
vano esaminarne la provenienza e il tenore, prima di
accoglierli nel codice religioso) gilt jebenfollà unbean⸗
ftandet für bie ſtrenge orthodoxe Zeit jeit Gàra. Aber in
vorerilifcher Zeit beftand fie nicht im felben Grade, wie auß
unzweideutigen Merkmalen zu erkennen tft. Beredt und zum
Theil nicht ohne Weberzeugungsfraft äußert fid) Verf. am
Schluß des Abſchnittes über bie Zeugniffe des Buches: Daß
Jemand in eigener Schrift die äußern Eigenfchaften Salomo’3
abbilden und ihn auch redend einführen fonnte, war nichts
Schwieriged. Etwas jchwierig war ſchon, daß er feinen
Geift anzunehmen vermochte, feine Gebanken und Stimmungen
wiedergeben, fid) mit ihm identifiziven, kurz feine Rolle in
der Weife Übernehmen konnte, daß er fid) nidji$, was mit
deſſen Berfon und Zeit nicht ſtimmte, entichlüpfen Π 8. Aber
baB e8 ihm hernach gelungen wäre, mit folcher Kunſt bieje
Schrift ald Wert Ealomo’3 jelbft zu. beglaubigen, bie Wach—
famfeit Anderer zu täufchen, einen nicht weniger allgemeinen
als feſten Glauben zu erzeugen, und dieß ohne fid) um bae
zweckmäßigere Mittel hiezu zu bekümmern, nämlich ohne um
bie Stirne des weilen Königs jene Anreola des Ruhmes zu
legen, womit ihn bie Hebräer umgeben hatten, unb bie fid
por ihren Augen fteigerte, während feine Geftalt fich in ber
Worm ber Vergangenheit mehr abb[apte, dad war noch weit
mehr unmöglich a(3 jchwierig, und wenn je möglich, würde
e$ eine um fo bewundernswerthere Lift gewejen fein, je mebt
bie Kritik, bie εὐ} heute nad) fo vielen Jahrhunderten fich
das Privileg der Gnibedung zuichreibt, bie offenbaren An.
zeichen davon zu erkennen glaubt.
810 . ^ Vegni, ᾿
Vegni warnt, indem er ben Nachweis einer Weberein-
ftimmung des Unfterblichfeitsglauben? der &olomonijdjen
Zeit mit bem be8 Predigers verjucht, felbjt davor, die Feiner
Mißdeutung mehr fähigen Borftellungen des Neuen Sejta-
mentes hierüber in dad Alte zurüczutragen: dennoch fällt
er zum Theil ©. 42 [. in denjelben Fehler rücfichtlich des
Unfterblichfeitäglaubeng de3 ganzen Alten Seftament2. Es
ift zwar unrichtig, ta& anche la semplice lettera dei libri
di Mosà non fornisca manifestissime prove dell’ uni-
versale credenza tra gli Ebrei nell immortalità dell
anima, und jid) hiefür auf Gen. 2, 7. 17. 3, 19. 5, 24.
25, 8 u. a. m. berufen, aber daß ce quindi la fede dell
immortalità conforto in mezzo ai travagli della vita e
speranza in morte gewejen fei, hat für den alten Bunb
big tief in ble nmacherififche Zeit herab feinem Grund und
Halt und Kohelet felbft ijt der fchlagendite Beweis bafür.
Mit jener Annahme des Verf., die er fchon für die Patri⸗
archenzeit geltend macht, war das ganze Buch unmöglich.
Doch gibt Verf. dieß €. 45 ſelbſt wieder zu in ber Schil⸗
derung des Scheol, nicht ohne aud) hier wieber zu ftarf bie
neuteftamentliche Lehre zu ftreifen, indem er fchon bie alten
Hebräer auf Geridjt, Vergeltung, jenfeitigen Triumph ber
Guten über bie Böſen hoffen Täßt. Anch dab er bem
Abraham mit dem Gebeinu der Erlöfung deß Todes und
im Hiob 19, 25 ff. bie Auferftehung des Fleiſches geoffenbart
fein läßt, müflen wir beanftanden. Es ift evibent, bof,
worauf ©. 60 f. gewiefen wird, unfer Buch in bem, worin
e$ die Inſuffizienz des alten Teſtaments offenbart, einen
Appell an dad Evangelium einfchließt, eine Sehuſucht nach
bem wahren Licht, da jeden Menſchen erleuchtet, bap εὖ
ein koſtbarer Ring in ber Kette der andern ijt, bie ba
l'ecclesiaste. 811
Evangelium vorzubereiten hatten, una voce lamentevole,
ma armoniea nel concerto di tutte l'altre anelanti al
Christo ch’ à fine della legge. Aber diefe Bedeutung
be8 Buches, welches bie andern jonjt mehr vereinzelten Rufe
be8 alten Teftam. nach einer neuen. vollflommenen Offenba-
rung wie im fib ſammelt unb weit intenfiver darftellt, ſcheint
unà mehr für baffelbe eine fpätere Periode ber altteftam.
Geſchichte als Zeit feiner Abfaffung zu fordern. Wenn dag
Sud) wirklich bie unvollkommenen Seiten ver afttejtam.
Offenbarung, die iden und Mängel. damaliger Erkenntnik
bet Wege Gotted und ber Gejdide ber Menſchen wie in
einem Brennpunkt gefammelt vor Augen ftellt, jo ‚gehört fein
Standort nicht in bie Mitte oder den Höhepunft ber (Ge:
jchichte Iſraels, fondern in bereft Abſchluß oder nahe vor
denſelben. Indeß gibt Neferent auch auf diefen Gedanken
nicht [o viel: er begnügt fi), denjelben gegen andre abwei⸗
chende, auf welche die 9tpoíogetif à tout prix zu viel baut,
anfzuftellen und befcheidet fib, au8 in der Regel fo leicht
wicgenden inneren Gründen apobiktiich über Zeit unb Ver⸗
faſſer eines jo dunkeln Buches zu urtheilen.
Der Commentar zeigt gefehmadvolle Auswahl der Be-
nützung ber zahlreichen Vorgänger, lobenswerthe Bejchräne
tung, namentlich auch in Mittheilung von Abweichungen der
alten Ueberſetzungen, gründliche, aud) das Arabiſche und Sy⸗
τε in einzelnen Fallen berüdfichtigende Sprachkenntniſſe
und geidjidte Begründung ber eigenen Anfichten. Nur find
ziemlich viele wichtigere Stellen zu wenig. ober gar nicht bes
dacht, wie 5, 5. 7, 15, welche gewöhnlich für einen fpätern
Berfaffer urgirt werben. Weber Manches: läßt fid) ftreiten,
Einzelne? wird wohl unrichtig fein. 1, 8, wo nur Bulg.
von allen alten Meberfegungen debarim mit res mwiebergibt,
812 Vegni, '
bie andere mit: Worte, ift bemerft, ba auch letztere Weber:
tragung gut fei: tutte le parole sul moto del creato son
piene di fatica, difficili in modo che l'uomo non pub
parlare, allein im Folgenden ijt nicht bloß vom nidt aus
reden können ber Debarim Rebe, jondern das Auge wird aud
nicht jatt be8 Sehens, ba8 Ohr nicht voll vom Hören ber-
jelben, alſo Fönnen fie bloß bie Dinge der Welt bezeichnen.
Berf. unterläßt nicht, zu 1, 9 zu bemerfen, daß bie dortige
Partifel, (ᾧ-τ Ὁ) welche nur im Predigen gebraucht ijt,
per maggior chiarezza e precisione di linguaccio filo-
sofico,, fein completer Aramdigmus ijt, ba ber erfte Theil
berfelben jchon Sen. 39, 8 in unbeitimmten Sinn jteht und
Gr. 32, 33 die Verbindung beffelben mit bem Relativ al?
gut hebräicher Sprachgebrauch rechtfertigt; ähnlich zu nigy
2, 2, daß es in ber Bebeutung gewinne, nicht evt bei ben
Rabbinen, ſondern fhon Gen. 41, 47 fo vorkomme, und
bemüht fid) veblid), alle fprachlihen Eigenthümlichkeiten und
Abweichungen ber alten bebräifchen Sprache zu vindiziren
oder als Salomonifche Bildungen, die durch ben philofophifch
refleftirenden Charakter der Schrift ihre Rechtfertigung ha—
ben, zu erflären. Fände fi) Solches nur ba und dort,
jelbft häufiger, im Buche zerftreut, jo wäre ein ſolches Be⸗
mühen noch dankbarer, aber wie baffelbe mum einmal tjt,
bietet fast jeder einzelne Vers ſprachlich Eigenthümliches,
Aramäifches ober wenigſtens aramäiſch Gefärbtes, und es
hält immerhin etwas ſchwer, all das auf die ausnahmsweiſe
Driginalität des weifen König, bie bod) in den Sprüchen
unb im Hohenlied fi) feine2weg8 jo weit vom gewöhnlichen
Sprachgebrauch entfernt hält, und auf bie Erforberniffe phi-
Iofophifcher Diktion zu fchieben. "Den zahlreichen direkten
und indireften Berührungen mit dem Sprachgebraud) ber
l'ecclesiaste. 818
Bücher Daniel, Gàra, Nehemia, δῆθεν Chronik treten zur
Seite bie vielen philofophiichen Ausdrücke und Abftraftbils
dungen, welche durch der jonjt bekannten Salomonifchen
Sprache charakteriftiiche und in unferm Buche wiederkeh⸗
vende Ausdrücke nicht aufgewogen werben, felbjt wenn letz⸗
tere nicht auf abfichtlicher Entlehnung und Nachahmung be:
ruhen. Alles zufammengefaßt läßt der fprachliche Eindruck
aufmerkjamer Lektüre des Buches fid) woejent(id) faum an-
ders wiedergeben αἰ durch die Worte Ewald, bie Dichter
be? A. B. IL, 268: „Das Hebräifche ift hier ſchon fo ftaxf
vom Aramäifchen durchdrungen, daß nicht bloß einzelne häu⸗
fige Wörter gang aramäiſch find, fondern auch in das feinfte
(Seüber der fremde Einfluß verbreitet ijt, während zugleich)
ber au$ ber alten Sprache gebliebene Stoff fib vielfach weis
ter und zwar aramälfchartiger gebildet hat.” Der weitern
Tolgerung Ewalds, daB ba8 Buch von einem Berfaffer
fonunt, von bem wir fonft im Alt. Teftam. nichts haben,
wäre durch die Annahme, bie Sprache verrathe durch ihre
Merkmale von Zerfeßung und Auflöfung das hohe Alter,
ben marasmus be$ Königd, weder augreidjenb nod) ange:
mejjen begegnet. — Zu 1, 13 wird bemerkt, es [jet unge
reimt, p3y die bloße Bedeutung: Sache, Geſchäft zu geben,
ba eà nur sollicitudo, aerumna heißen könne und fein
Verb esser afflitto, molestato bedeute. Aber gleich darauf
if geſagt, ΤῺ» bedeute urjprünglih venire o star di
contro, onde al nome il significato di obietto, und das
gleichbedentende arab. anna verglichen. Neben der Grund:
bedeutung dieſes Verb.: niedrig, gedrückt, niedergebeugt fein,
Dat e8 die andere: drehen, wenden, dann allgemein: tbun,
betreiben. Sämmtliche Stellen vertragen aber wohl bie ein-
fachere Bedeutung be8 Nomen, 1, 14 überjebt Vegni de-
314 Vegni,
pastio spiritus, consunzione di spirito, uni eine Tauto⸗
[ogie zu vermeiden und vergleicht zu ry mj. 80, 14,
das gänzliche Abweiden, Abfrefjen be8 Weinberge. Aber
ein übertragener Sprachgebrauch ijt hier hart und Ay7 bat
in biefer Verbindung zweifelsohne die Bedeutung firmen,
nadjbenfen, bie von verfnüpfen, einer Sache anhängen au:
geht, und zu vergleichen ſteht Hof. 12, 2, wodurd ber Einn
für m» Wind, Gite, auch für unjve Stelle außer Zwei⸗
fel gelegt wird. Zu 2, 5 wird auf 1. Kön. 7, 2 vergl.
mit bem Sargum dazu verwieſen, um wahrſcheinlich zu
machen, daß Ealomo felbft ba8 Wort pardes (παράδεισος)
eingeführt habe. jedenfalls findet e8 fid) auch Hohes. 4,
13 und ijt in ber That feine Inſtanz gegen Salomonifche
Abfaffung Eine folhe kann eben fo wenig der Gebrauch
von kanas 2, 8 abgeben, Aber mißlicher ftebt c8 bod) mit
medina ebenbaj., Provinz. ‚Daß dies Wort erjt in Echrif-
ten des jechdten Jahrhunderts gebraucht ijt, beweiſt nicht?
an fid gegen deflen früheres Vorhandenjein, aber baB es
burch bie territorialen Veränderungen und Annerionen un
ter David veranlaßt fein werde, ijt bed) eine prefäre An—
nahme. Schidda und schiddot' giebt Verf. Hier mit: in
abbondanza e a ribocco, in Hülle und Fülle. Man hätte
bonn gutarabiſchen Sprachgebrauch. Es ift aber jo ziemlich
fchleppend am Ende, weshalb fid) bie Ucberf.: Herrin und
Herrinen ober Gattin und Gattinen beffer empfiehlt a(8 Er-
f&ufrung des vorangehendeit Nomen, das Hohel. 7, 7 von
ben Genüffen ber Gefchlechtäliebe fteht. 2, 12: che farebbe
l'uomo, che volesse tener dietro al re, in paragone di
quel che già à stato fatto? Es ijt ſchwer zu jagen, wie
Verf. tiep verfteht. S. 141 ff. will er nicht biveft einer An-
fptefung auf Rehabeam, bie man bier findet, ausweichen,
l'ecclesiaste. 315
fdeint aber doch zu fürchten, daß wenn man eine folche
zugebe, die Abfaffung durch Salomo darunter leide. Des⸗
halb bevorzugt er eine Erklärung, welche in fid) unwahr⸗
fcheinlich ijt und nicht in ben Zuſammenhang paßt, denn
was foll εὖ heißen: der Menſch, welcher dem König nad
foınmen, b. 5. nacheifern wolle in Erfahrungen und Verſu⸗
chen, könne nicht? von bem thun, was jchon vor ihm ges
tban ift? Der Vers heißt: Was wird ber Menſch thun,
ber fommen wird nad) bem Könige? Das was [ie längft
getban haben, nämlich Unverftändiges unb Verkehrtes. Ko⸗
beleth beginnt hier, Weisheit und Thorheit in ihrem Ver⸗
Hältnig zu einander zu betrachten und es jdeint ihm zu⸗
nächft fein höherer Werth ber erfteren einzuleuchten, ba gar
nicht felten der Nachfolger des Fürſten vernachläfiigt oder
aevitórt, was biejer mit Mühe und Umficht geichaffen hat.
Troßden findet er noch einen Vorzug ber Weiöheit, bem er
aber im Folgenden wieder abjchwächt und V. 18 f., wo er
wieder auf feinen Nachfolger zu reden kommt, bent er all
feine Mühe lafjen jol, nahezu aufhebt. 38, 18 allein zeigt
ſchon deutlich, wie jene etwas dunklen Worte 35. 12 m vers
jtehen find.
Wir brechen aber hier bie Beurtheilung einzelner Ste.
len ab und empfehlen bie Schrift des gelehrten Verfaſſers-
welcher die Palmen und bie übrigen poetifchen Bücher des
Alten Teſtamentes in ähnlichen Bearbeitungen nachfolgen
laffen will (wir möchten wünfchen: ohne lateinifche Weber:
ſetzung) freundlicher Beachtung io: diefjeit3 der Berge. .
Himpel,
316 Alzog,
6.
Handbuch der Univerſal⸗Kirchengeſchichte von Dr. Johaunes Al:
zog, Geiſtlichem Rath und Profeſſor der Theologie an der
Univerſität zu Freiburg i. B. Ritter des Zähringer Löwen—
Ordens. Erſter Band. Neunte vermehrte und umgearbei-
tete Auflage. Mit zwei chronologifhen Tabellen und zwei
firchlichegeographiichen Sarteu. Mainz. Drud und Verlag
von Florian Kupferberg. 1872. VIII. 744. 8°.
Ein theologifches Werk, dem das jeltene Gíüd zu Theil
wird, in neunter Auflage in die Welt zu treten, ift ben te:
jeu der Qu.Schr. jo befannt, bap es überflülfig erjcheint,
über Plan und Anlage jowie bie Vorzüge befjelben befon-
derö zu referiren. (δῷ ijt allein unſere Aufgabe, auf bie
Veränderungen und den %ortichritt hinzuweifen, bie in bie
jer neuen Auflage gegenüber ber vorausgegangenen zu Tage
treten. Der Berf. bemerkt in dieſer Hinficht jelbit, daß dad
Buch in ber vorliegenden Gejtalt auf „einer forgfältigen
Revifion des Ganzen nach Inhalt und Form, befonderz in
ber Diktion” beruht, ja vielfach eine Durcharbeitung ijt,
und die Verficherung, bie ev gibt, ijt nicht unbegründet.
Was die Erweiterung anlangt, die feine Kirchengefchichte
mit bem Mebergang von der Form eines Xehrbuches zu ter
eines Handbuches erfahren mußte, fo jollte fie üt biejer Auz-
gabe Hauptjächlih bem Alterthum und dem Mittelalter zu
Theil werden, während bie Gefchichte ber Neuzeit ſchon in
ber letzten Auflage entiprechend umgeftaltet wurde. Der
äußere Zuwachs beträgt nach unjerer Berechnung für bo?
chriſtliche Alterthum 25 und für den vorliegenden Theil beà
Mittelalter3 17 Seiten. Die Zertheilung be8 Stoffes wurde
jet infofern eine andere, als ber erjte Band nicht mehr mit
Univerſal⸗ Kirchengeſchichte. 317
Gregor VII., ſondern erſt mit Bonifacius VIII. abſchließt.
Der Verf. ließ jid) zu dieſer Dispoſition durch bie Rück
ſicht einer gleichmäßigeren Vertheilung des Geſammiſtoffes
in zwei Bände ſowie durch die Erwägung beſtimmen, daß
mit dem Tode be P. Bonifacius VIII. die neuere Zeit beginne.
Seit bem Erfcheinen der achten Auflage find auf dem
Gebiete der Kirchengefchichte ernjte Discuffionen entjtanden,
Der Berf. erklärt, auf fie die gebührende Rückſicht genom-
men zu haben und dabei fich freuen zu dürfen, „daß er nad
gewiflenhafter Erwägung feine frühere Darftellung bezüglich
ber Controverſen ded Tages im Wefentlichen nicht änbern
durfte, biejefben wielmehr öfter beſſer begründen konnte.“
Wir heben einige ber hierher gehörigen Punkte kurz hervor.
Der erjte, der in Betracht kommt, ijt οἷς Erklärung ber υἱεῖς
berufenen Stelle Iren. adv. haer. III. 3, 2: ad hanc
enim ecclesiam propter potentiorem principalitatem
necesse est omnem convenire ecclesiam, hoc est: eos
qui sunt undique fideles; in qua semper ab his, qui
sunt undique, conservata est ea, quae est ab aposto-
lis traditio. Der Verf. folgte nod) in ber legten Auflage
bet bis dahin vorherrjchenden Ueberſetzung be$ convenire
mit übereinftimmen, Set wurde er burd) „ven Gontert und
bie Gonjttuction von convenire mit ad hanc ecclesiam"
beftimmt, biefe Verſion trog ihrer neueften Vertheidiger auf-
zugeben und zu überjegen: „denn an bieje müfjen wegen
ihre mächtigeren Vorranges fid) alle Gläubigen wenden,
weil in ihr bie bei Allen und allerwärts geltende apoftolifche
Tradition immer erhalten ijt." Wir find mit biefer Ueber-
tragung in ihrem erſten Theil infofern einverftanden, αἱ
dad Moment der Bewegung, dad in convenire in bet frag:
lichen Stelle nothwendig anzunehmen iit, anerkannt wird,
318 91309,
Sod) müſſen wir befennen, bap wir noch eine nähere Er⸗
fíárung gewünſcht hätten und wir glauben, baf dieſer Wunſch
nicht ganz ungerechifertigt ijt, da bie Ausbrüde convenire
und fid) wenden bod) nicht völlig zufammenfallen Weniger
einverftanden find wir mit ber Berfion in ihrem zweiten Theil
und wir möchten annehmen, daß bie gleichen Rüdfichten ber
Eonftruction und Grammatik, auà denen ber gelehrte Verf.
zu einer anberen Erklärung von convenire fid) entichloß,
demfelben auch bier eine andere Erklärung nahe legen und
ihn beftimmen dürften, den qui sunt undique eine genauere
Stellung anzuweifen, ala e8 in jeiner Meberfegung gejchieht.
In ber Behandlung ber Honoriusfrage blieb jid) ber
Berf. gleich. Nur fügte er, um bie ortfobore Gejinnung
des Papſtes zu erweilen, einige Erweiterungen und Erläu-
terungen bei. Wir nehmen von εἶπεν Beurtheilung feiner
Aufitellungen Umgang. Bloß die Bemerkung erlauben wir
und beizufügen, bap c8 und unrichtig jcheint, au8 bem. Bes
fenninig ber. vollfommenen Gottheit und vollkommenen
Menſchheit in Chriftug auch εἶπε. richtige Anfchauung be8
Papftes bezüglich ber Wirkungsweife üt bem Erlöfer folgern
zu wollen. Auf Grund diefer Argumentation können wir
auch bie Urheber des Monotheletiamug von biejer Irrlehre
freiſprechen, da. fie jänmtlich zu ‚den vier erſten allgemeinen
Concilien ftanden.
Bezüglich ber allgemeinen Concilien des chriftlichen Al:
terthums, die gleichfalls in ber neueften Zeit Gegenjtanb
vielfacher Erörterungen geworben find, vermiffen wir in
einigen Punkten bie volle Genauigkeit und Deutlichfeit. In⸗
bet in ber allgemeinen Auseinanderſetzung in 8. 181 neben
bent -pofitiven Rechtsſtandpunkte auch einzelne entgegengefehte
Anfprüche einfach zur Darftellung gebracht werden, wirb
Univerfal-Kirchengefchichte. 319
eine klare Einficht in bie Sachlage erſchwert. So wird 3.8.
mit Bezug auf ein Wort be8 BP. Pelagius II. die Berufung
ber ökumenischen Goncilien für ein befondered Vorrecht des
Nachfolgerd Petri erklärt und bod) zugleich erwähnt, daß
fie im Altertfum „meift von den Kaijern“ vorgenommen
wurde. In ben befonderen Ausführungen finden jid) einige
Behauptungen, die zwar bisher ziemlich allgemein hingenom⸗
men wurden, bie fid) aber keineswegs quellenmäßig belegen
laſſen. Wir rechnen Dieber bie Annahme, daß bie vierte
allgemeine Synode den Papſt um Beltätigung ihrer Be-
Ihlüffe gebeten und baB Vigilius in die Berufung ber
fünften allgemeinen Synode eingewilligt habe. Das Synodal⸗
fohreiben von Chalcedon an Leo ben Großen will von bie:
jem nur die Anerkennung des von feinen Legaten vermorfe-
nen Beichlufjes, keineswegs aber bie Anerkennung der Goi
eilsbeichlüffe überhaupt. Was Vigilius betrifft, [o erklärte
er fi) wohl im Allgemeinen mit dem Plane einverjtanden,
zur Schlichtung des Streites über die drei Gapitel eine öfu-
menijde Synode zu veranftalten. Aber er verlangte bie
Abhaltung des Concils im Abendland und er war gegen
ein Goncif, wie der Kaiſer e8 wünjchte und thatjächlich be .
rief; mit einem Worte: er wollte die Veranftaltung de?
fünften allgemeinen Concils nicht. "Er erkannte bieje Sy-
node, bie nad) ihrer Anlage bloß als ein Generalconcil be8
Driented in Betracht kommen kann, mit dem Abendland
erit nachträglich an und diefelbe erhielt durch dieſe Zuftim:
mung den Rang einer öknmeniſchen.
Wir Schließen unfere Anzeige des vorliegenden Bandes
mit bem Wunfche, das Bud) möge wie in feiner alten jo
aud) in feiner neuen Geftalt recht erfprießlich wirken.
| e uit.
Theol. Quartalſchrift. 1872. 11. Heft. 21
320 Gerardi Magni
T.
Gerardi Magni epistolae XIV e codice Hagano nunc primum
editae et perpetua annotatione, qua melius et ipse et
tempora eius cognoscantur, instructae etc. publico ac
solemni examini submittit Johannes Gerhardus Richardus
Aequoy. Amstelodami apud H. W. Mocij 1857. VIII
unb 123 G.G. in 8.
Ju ben Männern, welche in den unerfreulichen Zeiten
des vierzehnten Jahrhunderts unermübet im beißeften Kampfe
für bie Verbefferung ber fittlichen Zuftände, für bie Neu—
belebung des gejunfenen Tirchlichen Leben? wirkten, gehört
unftreitig Gerhard Groote aus Deventer. Erſtreckte feine
perjönliche Wirkſamkeit fid) aud) hauptſächlich und zunächft
auf dad Utrecht'ſche Bisthum, jo hat er bod) aud) Durch
feine Verbindungen mit einflußreichen und hochgeftellten
Männern außerhalb feines Vaterlandes und bejonbera durch
bie Stiftung be& aud) raj) in Teutfchland und den ſüdli⸗—
chen Niederlanden vornehmlich fid) ausbreitenden Ordens
ber Fraterheren fid) um bie heil, Kirche bejonber8 verdient
gemacht. Sein Leben iſt öfter kurz bejchrieben. Seine
. Schriften aber, welche ung eine tiefere Einficht in die Schick⸗
jefe ſeines &ebenà und fein Wirken eröffnen, find bi8 auf
οἷς jüngjten Zeiten unbeachtet und unebirt geblieben. Denn
ba? Wenige, was im chronicon Windesemense bed Buſchius
und in Thomas von Kempis Schriften von ihm gebrudt
jteht, ijt nur gering. Der jüngere und ältere Dr. Clariſſe
haben einen guten Anfang mit der Veröffentlichung von
Grootes Schriften gemacht; leiber haben fie lange Zeit feine
Nachfolger gefunden. Um jo freudiger ijt die Herausgabe
von vierzehn unedirten Briefen zu begrüßen, welche Herr
Acquoy in ber oben verzeichneten Doctordiffertation und
Epistolae. 321
fiefert. Wie vortheilhaft diefe Ausgabe von derjenigen ab-
fttt, welche be Ram von acht andern Briefen Grootes nach
einer Straßburger Handſchrift beforgte, Ichrt eben cin
Blick, welchen ev auf beide Schriften wirft. Die be Ram’-
ide ijt 55djít ungenügend, um nicht zu jagen, febr fchlecht.
Die Vorrede Acquoys (p. 1—19) giebt bie Kitteratur
über Gerhard Groote's Leben und Schriften, bie Bejchreibung
des 'sSGravenhaagener ober, dem ber Herausgeber bie vier-
zehn von ihm veröffentlichten Briefe entnommen hat, nebft
Angabe der Bibliotheken, weld)e nach jeinem Wiffen Hand:
Schriften von Grootes Werfen befigen. Dann folgt der Sext
mit Fritifchen und beſonders hiſtoriſchen Noten; jedem Briefe
geht eine Einleitung voraus, einem ijt ein Exkurs beigefügt.
Da ich jelber mich ehemals mit der Deventer Schule
und ihrem Stifter wie deſſen Genofjen befaßt habe, jo be-
nußte ich bieje Gelegenheit, aus einer Handjchrift, welche ich
entdeckte, volljtändig zu fopirem, was nicht ebirt war, wie
ba8 Edirte zu vergleichen. Als ich ſämmtliche Briefe Groote'8
abgejchrieben hatte, erhielt ich Kunde von be Rams Publi—⸗
cation und durch diefe von ber Schrift 9[cquopa. Außer
Groote's Rede de focaristis und deſſen Briefe enthält meine
Schrift auch einen tractatus magistri Gerardi in divini-
taie super septem verba dicta a domino Jhesu Christo
pendente in cruce.
Die Reihenfolge ber Briefe meiner Handſchrift ftimmt
mit der des Haagener Gober überein; der Tert be8 Qebteven
kann aus bem meinigen bier und da Lerichtigt werden; in
der Orthographie ftimmen beide ziemlich überein; nur jtebt
in meinem cod. jtet3 Zwollis nicht Swollis, Heinricus oder
Heynricus, um andere derartige Kleinigkeiten zu übergehen.
Sch will zuerft die einzelnen Briefe durchgehen und zeigen,
21"
399 Gerardi Magni
wie mein cod. = A vom Haagener abweicht, bezüglich: ihn
berichtigt, wobei ich zugleich Gelegenheit finden voerbe, ſelbſt
einige verderbte Stellen zu verbefferm u. f. f.
€. 22 Zeile 4 fehlt vosin A, der ferner possum-
ad animum bietet und ©. 23. 3. 2 et propter defen
dendam. — ©. 27, 3. 6 hat auch A legatione, spero
Dei fruens, ebenjo epist. 55 am Schluffe, wo jedoch cod.
Argentin. richtig fungens giebt, wie aud) an unferer Stell
zu verbeffern ijt. €. 31, 3. 11 A aud) hic, was mit
bem Editor nicht in "hine zu verändern nöthig ἱ hie
— rebus ita comparatis. S. 40 A hat überall in Rafur
Bartholomaeus u. j. f. für Bertholdus u. j. f. und ferner
multa de heresi (bie beiden letzten Wörter über b. 3)
habet, de quibus .... separetur et (et üb. b. 3.) ut...
Is etiam (i verb. über e ab al). — ©. 42 A: fratris
Bartholomei luculenter .... de hoc dominum Wil
helmum informare; ©. 48 secundum deum populum
aemulancium .... sancti nostri (1 jteht auf Rafur ....
Ori experiemur. ©. 49 postea primum electum ....
beata Maria in Winderim prope Zwollis. ©. 51 leote
3. aquilonis ipsum fulcientia. €. 55 Sapientiae secundo
" eapitulo. €. 56 bonorum efficiamur quae in eo multi-
plicari aptamus. ©. 63, 3. 2 fehlt gratis; ©. 67 et
etiam illi (nad) 1 9tajur und ein Fleined Loch); quibus
ütrum. ©. 68 Et quid proderunt (αν — rint verbeffert
ab eod. man.) .... vestram animae bonam ord. ©. 71
Frater m$..... electe. Scitis .... vidistis. Licet n.
praedicaverim, non cessant.... plurimae. Inst. cotid.
. obicientibus al. respondeo. Sicut de ducibus ....
informare et ut l ap.... ©. 74 Sie discipulis Jo-
hannis respondit (sc. Christus). ©. 75 ante faciem
Epistolae. 323
nostram (biefe® am Äußeren Rande) per porcos nostram
(bleje8 hier durchgeſtrichen). ©. 76 dabit adhuc ex vobis
que non crederetis. ©. 79 ut Aioch und acceptanti
ac habitanti. S. 83 quam vere (ba legte e auf Rafur)
mater ecclesia. ©. 84 incidit circum, jedoch ab al.
üb. b. 3. richtig lud. ©. 85, 3. 14 fteht nad) proponit
außerhalb ber Zeile am Rande firmiter. ©. 86 curatus
proprius. €. 87 imo non erit, aber ab al. am äußeren
Rande proderit. — Si videro te reversum. ©. 90, 3.4
Missilem Johannis de Francovordia. Der Herausgeber
vermuthet, e8 [εἰ Missalem (= librum quo continetur
missarum officium) au lefen, was ganz faljd) ij. Denn
1) jagt man Missale, ‘nicht Missalis; 2) giebt e3- nur
Missale wie Romanum, Ambrosianum, Gallicanum t. f. f.
aber nicht ein Missale Johannis de Francovordia. 3) ber
Titel be8 Buches war alfo Missilis. Weber feinen Inhalt
weiß ich ebenjomenig Etwas zu fagen, als über den Verfaſſer,
ba e8 mir an Zeit fehlt, um Nachforichungen bieferhalb vor-
zunehmen. S. 92, 3. 6 libere disponat habito illud ad
ea 1t. . f. unter illud ftehen vier Punkte, was die Streichung
biefe8 Wortes anzeigt, am inneren Rande fteht die Abbre-
viation von respectu, was in ben Text zu ſetzen ijt. ©. 94,
3. 8 vel quam jam resignaverit. ©. 100, erjte Zeile
ad dictamen Florentii et Gerardi; Gerardi ijt wohl
Groote felbjt. ©. 103 bie Ueberſchrift in A ift: Ad eundem
Ὁ. 8. ad magistrum Wilhelmum Vroede, an ben aud)
bie brei vorhergehenden Briefe (XI. XII. XIIL) gerichtet
find. ©. 104, 3.19.... carnem scilicet (= s. im cod.)
fratrem u. |. f. qui nec scientiam nec vifam veri pastoris
habet. S. 108 Indui iustitiam, ut saneti Christi u. f. f.
it nicht mit bem Editor zu verändern, ähnliche Formeln zu
224 Gerardi Magni
Anfange von Briefen finden fid) auch anderswo, 2. B. Beim
Ὁ. Bernard; vgl. auch ben zweiten Brief tom. I, p. 218
in W. Moll's Schrift über Johannes Brügman. ©. 113,
3.4 gratiam suam facere (bieje8 Wort am inneren Rande)
abundare; 3.22 a virtute sanctum conguerimini ; €. 114,
3. 2 aeternum eternare periculum .... tam grandia
sua pericula. ©. 117, 3. 11 quod multis errare pro-
fuit. €. 119, 3. 3 fchreibe ih: Apostolum, quonam
Deum u. f. f. 3. 7 si computantur hat A. ©. 120,
3. 4 hat A vident, wie 123, 3. 22 minuit, jedoch ex-
correct., ba nad) den beiden t eine Raſur over ein locus
male habetur folgt. So viel über die Eritifche Ausbeute,
welche der cod. A Liefert, beffen Fehler anzuführen nutzlos tjt.
Unter den mitgetheilten Briefen habe ἰῷ in Betreff
des VIII. (im eod. ijf cà ber XXXI) mod) einige Be
merfungen zu machen,
Giroote war febr befreundet mit und febr beſchützt vor
bem Lütticher Domkanonicus und Archidiaconug von Brabant,
ber vorher cantor ecclesiae Parisiensis gewefen war. Gein
Name wird auf verjchtedene Weife von unferer Hdjchft ge
fchrieben. In ber Meberichrift der epl. XIX. unb in ihm
jelbft fteht de Saluaruilla, an zwei andern Stellen heißt er
Saruauilla. Delpont und Acquoy fchreiben jtet8 Saluauarilla.
Sn bent von Car. Jourdain zu Paris 1862 veröffentlichten
Index chronol. chartarum pertinentium ad historiam uni-
versitatis, Paris 11. |. f. findet fich fein Name von 1364 an
p. 162. 165. 168. 173; er wird bald Saluauilla, bald Sal-
uaruilla gefchrieben; er wirb als cantor ecclesiae Paris.
genannt und nach dem Actenſtücke vom 25. 9fugujt 1371
war er doctor in sacra pagina. Die Urkunde vom 24.
Suni 1876 ijt die leßte, in der er vorkommt. ch vermuthe
Epistolae. 225
beBbafb, daß er in viefem Sabre. (1376) Domherr zu Lüttich
unb Archidiakonus von Brabant geworben ijt. Im Staats⸗
archiv (archives de l'empire) habe ich in ven Aktenſtücken
L. 492 und L. 493, welche auf bie Chanterie und Sous⸗
djanterie der Pariſer Gatebrale fid beziehen, vergebend πα
einem auf ihn bezüglichen Actenſtücke geſucht. Glücklicher
war id) in Bezug auf die Documente, welche auf die Biblio:
thek der Corbonne Bezug haben, beum in den Xetenftücen,
welche fid unter M. 75 befinden, lieferte mir das 131. Acten⸗
fü eine neue Notiz. Dieſes Actenſtück beginnt alfo: In
nomine Domini. Anno a nativitate eiusdem Domini
millesimo trecentesimo octoagesimo indictione octava
secundum usum Romane (Roman) curie mensis No-
vembris die decima septima u. |. f. Der Provifor der
Sorbonne ftellt eine notarielle Vollmacht aus, petendi,
exigendi, recuperandi, recipiendi quoscumque libros
ac alia bona .... ipsi collegio seu domui de Sorbona
et specialiter et expresse cronicas .... per bone me-
morie Reverendum verum Guil. de Seruauilla (s'uauilla)
quondam sacre theologie doctorem et cantorem ecclesie
Parisiensis legatos, legata, legatas. Das ſpecial erwähnte
Buch bildet jegt cod. 16017 und 16018 1) ber kaiferlichen
Bibliothek, wenn ich nicht ivre; ehemals bildete εὖ nur cinen
eod. Die in franzöflicher Sprache abgefapte Notiz, welche
auf dem inneren Deckel ſteht, tjt. ohne Werth und unrichtig,
wie fajt alle übrigen in ben ehemaligen Sorbonnerhdichften.
Die lateinische Notiz lautet: 'Istum librum atque plurima
alia bona videlicet magnam et pretiosam mensam
auream, que anteponitur magno altari in capella legauit
1) Der eine cod. enthält fol. 1—269; ber andere fol. 270—805.
226 Gerardi Magni
pauperibus scolaribus collegü de sorbona Parisios Re-
uerendus doctor in heologiat Magister Guilielmus Sar-
uauilla cantor ecclesiae Parisiensis atque canonicus
Rothomagensis (folgt eine Rajur von einigen Wörtern)
ciuitatis Rothomagensis ciuis ı. j. f. Die Heimath bed
Archidiaconus war alfo Sauvarville in der Normandie. Aus
ber bem Provifor be8 Eorbonner-Collegiums ertheilten Vol:
macht ſehen wir zugleich, daß er wohl bald nach ber Mitte
des Jahres 1385 geftorben, alſo feinem Freunde Groote
bald ind Grab nachfolgte.
Die Worte in dem ad dominum Bernardum geridjte-
ten Briefe €. 61: ‘per dominum et magistrum Johan-
nem, olim cantorem Parisiensem, nunc Archidiaconum
Campaniae enthalten meiner Anficht nach eine Gorruption.
Der Eopift felbft hat, wie ©. 63, 3. 6 cantorum iit can-
toris, jo bier Campaniae in Campiniae verändert, Einen
Archidiaconus der Champagne in Frankreich gab e8 wohl
jchwerlich, ob einen der Italiens, vermag ich nicht zu fagen.
Daß ein Johannes cantor ecclesiae Parisiensis gewejen
jei, dariiber habe id) nirgends Etwas findeu fónnen. In
ber histoire écclesiastique du diocäse de Liege par
Desaulx — Hoſchft in ſechs Foltobänden auf der Lütticher
Univerfitätsbibltothef — fand id) in 8b. VI. al3 Archidiaconi
campiniae für 1350 Rainald des Ursins und für 1404
Louis de Flisco ou Fiesco, de Fiesque, génois, cardinal.
Alſo finden wir hier feinen Aufſchluß. Gleichwohl verbeffere
ih ohne Weitered Johannem in Guilielmum; denn unfere
anderen Quellen wiffen nicht? von einem Empfehlungsbriefe
an Urban VI. für Groote, den ein Johannes u. j. f. ge
ichrieben habe, fie fennen nur einen ſolchen Brief von Wil-
helm be Sauvarville, ven ber Copift unſeres Coder fof. 202
Epistolae. | 997
rect. 1 col. fin. irrig Wernerus anjtatt Wilhelmus nennt.
Der meiner Anficht nad) jebr unzuverläffige Devaulx legt
tom. IV. p. 740 unjerem Archidiaconus bie Würde eines
Garbinal$ bei. Möglicher Weile hat Wilhelm von Sauvarville
eine Zeitlang af2 Archidiaconus aud) ber Kempen (campiniae)
fungirt. Ob ber in unferem Briefe ©. 66 erwähnte prae-
positus Leodiensis in summo (sc. templo = ber Rathe-
brale von St. Lambert) ber in ber Gall. christ. unb von
Devaulr angeführte Johannes V. Aegidius (de Gille) Gallus
war, kann id nicht fagen. Wäre er ed, jo fónnte fein
Name bem Eopiften oder in einem Momente der Zerftreuung
feldft Groote Veranlaffınıg zu der Verwechslung mit Gui-
lielmus gegeben haben. Vielleicht ftand an u. St. in Groote's
Driginal nur per dominum et magistrum G. (ber erite
Buchftabe), welchen ein Gopijt fpäter fafjd) J lad und ben
Namen vollftändig fegend Johannem fchrieb. Durch unfere
Berbefjerung allein werden alle Schwierigkeiten bejettigt,
und wird der Brief veritändlih und in Webereinftimmung
mit unjeren anderweitigen Quellennachrichten gebracht.
Sonſt habe ich noch zu bemerken, daß manche fachliche
Noten, wie a. 3B. ©, 21, 33, 37, 64 ſelbſt für die in ber
artigen Stüden wenig bewanderten afatholifchen Theologen
zu ausführlich fein dürften. Sehr beachtenswerth find δε
Berfafjer® Bemerkungen ©. 28 und flgd. über bie Gecte
liberorum spiritwum, wie ber Erfur® ©. 44 seqq.: ‘De
haereticae prauitatis inquisitione Gerardi Magni, aetate
et paulopost in patria nostra (= in ben Niederlanden)
uigente‘.
Die Sorgfalt, welche Herr Dr. Acquoy auf bie Be-
arbeitung biejer Ausgabe verwandt hat, verdient alles Lob.
Möchte er alle Werke Groote’3, bejjen Freunde und Schüler
328 Lipfius,
in ebenſo forgfältiger Bearbeitung, jedoch mit weniger reich⸗
licheren Noten und gedrängteren Einleitungen, herauszugeben
ſich entſchließen und dazu die nothwendige Ermuthigung und
Unterſtũtzung finden!
Dr. Nolte.
8.
Die Quellen der Römiſchen Petrusſage, kritiſch unterſucht von
9t. A. Lipſius. Kiel, Schmers 1872. VI und 168 ©. 8.
Sage und Tradition bilden ohne Zweifel eine Duelle
ber Gefchichte, haben alfo jelbftverftändlich nur inſofern einen
wifjenjchaftlichen Werth, als ihnen eine beftimmte gefchicht-
fije Wahrheit zu Grunde liegt, ein pofitiver fern, ben
bloszulegen und zu verwerthen eben bit Aufgabe ber For⸗
(dung ijt. „Wie ba8 Märchen zur Sage, fteht die Sage
ſelbſt zur Gefchichte, und laͤßt ὦ Hinzufügen, bie Gefchichte
zu ber Wirflichfeit ded Lebens. Am wirklichen Dafein find
alle Umriſſe fcharf, heil und ficher, bie fid) im Bild ber
Gefchichte ftufenweile ermeichen und bunfler färben” (ac.
Grimm. Deutſch. Mythol. 3. 91, XIV). Da nun fdon bet
Titel des Buche? , das wir hier zur Anzeige bringen, eine
kritiſche Beleuchtung eine beftimmten Sagenkreiſes in
Ausſicht ftellt, fo glaubte Ref. fi) zur Erwartung berechtigt,
e& werde au dem Knäuel ungefüger Fiktionen irgend eine
pofitive hiſtoriſche Thatſache als Enprefultat feiner Forſchung
ſich entwirren. Indeß hat ſich hiezu der Verf. ſchon in der
Einleitung den Weg verſchloſſen. Er geht nämlich von der
Vorausſetzung aus, daß der Apoſtel Petrus nie und nimmer
in Nom geweſen ijt; deshalb bleiben diejenigen Zeugniſſe,
Die Ouellen der Römiſchen Petrusfage. 829
welche ınan gewöhnlich für δἰ στ ὦ Hält, entweber unbe: '
rücfichtigt, ober fie werben, den richtigen Principien ber
Sagenkritik entgegen, im Dienfte der Gage fe[bjt verwerthet. .
Die Nachwirkung biefe8 Verfahren findet gleich anfangs
einen Ausdruck in der vom B. ausgeſprochenen Anficht über
die Entjtehung der Fatholiichen Kirche. Diefelbe verdankt,
meint er, ihren Urfprung lediglich ber im 2. Jahrhundert
entjtandenen Gimonjage. Das Auftreten bes Heidenapoſtels
habe nämlich ber judenchriftlichen Partei genügenden Anlaß
geboten, auch „den Petrus wider alle beglanbigte Gefchichte
nah der Welthauptſtadt zu vwerjegen” (€. 9), um den
„unter der Maske des Magier? Simon” verlappten Paulus,
den falſchen Apoftel unermüdlich zu befümpfen und völlig
zu überwinden (S. 1). In der Folge habe man „den ur:
Tprünglichen Sinn der Simonfage vergeffen, und in bem
Magier nur den Erzketser geſehn, von welchem alle gnoftifchen
Parteien ihre Entjtehung herleiten follten. So konnte man
beide Sagengeftalten vubig verbinden und den Petruß üt
Nom den Zauberer Simon befämpfen, mit dem Apoſtel
Paulnus aber friedlich zufammenwirfen und gemeinfam fterben
fajjet. Schon zu Ende be8 2. Jahrh. ijt. bei Fathotifchen
Kirchenlehrern jede Erinnerung an den antipaulinischen Ur:
ſprung der Cimonjage erlofchen”, und von ber Zeit au
datirt fid) bie altchriftliche auf Petrus und Paulus gegründete
Kirche (©. 2).
Es wird bem 3B. Freude machen, wenn Ref. die Tpärlichen
Angaben feiner Schrift benußt, um ber fatholifchen Kirche
ben Zeitpunkt ihrer Snauguration fo genau als möglich zum
Bewußtſein zu bringen. „Die Kerygmen find ums S. 140
— 145, die Anagnoridmen ... noch etwas fpäter gejchrieben.
Die ältefte Grundfchrift dagegen muß längere Seit vor ber
330 Lipfius,
Mitte des 2. Jahrh. entſtanden fein” (€. 17). Wann
hierauf die „petropauliniſche Sage“ begonnen hat, wird
nirgends genau angegeben; jedenfalls beſtand ſie neben der
„antipauliniſchen Ueberlieferung“ um's J. 170. Denn
Dionyſius von Korinth, meint L., ſage von der Simonſage
deshalb nichts, „weil die von ihm überlieferte petropauliniſche
Sage eben das katholiſche Gegenſtück der ebionitiſchen iſt und
mit ihrer gefliſſentlichen Hervorhebung des gemeinſamen
Wirkens beider Apoſtel handgreiflich den Zweck verfolgt,
die antipauliniſche Ueberlieferung zu verdrängen“ (S. 7).
Das letztere Beſtreben wird nach bem V. fo guten Erfolg
gehabt haben, daß ungefähr ein Decennium fpäter die anti
paulinifche Tradition vollends verjchwunden war. Wenige
jtend hebt Irenäus die Succeffion der römiſchen Biſchoͤfe
von Petrus an bis zu feiner Zeit mit großer Emphafe hervor
(adv. haer. 8, 3, 3) und e$ zeigt fid) niemand, ja wicht
einmal ein Häretifer, durch den bie Kirche an ihren Ur-
ſprung erinnert worden wäre. Bekanntlich glaubte ein alter
Philofoph eined Standpunkte zu bedürfen, um bie Welt
aus ben Angeln zu heben; ber 93. aber führt und gemäß
bem Gejagten eine Anftalt vor die Augen, die, obgleich fie
auf bloßen Fiktionen bevubte, alſo feinen Stanbpunft hatte,
dennoch, af8 unbeitrittene Trägerin des Chriſtenthums, bie
heidniſche Welt aua ben Angeln hob und eine neue Ordnung
der Dinge ind Dafein rief.
Bei biejer bodenloſen Hypothefe, bie nicht einmal ben
Reiz der Neuheit Dat, länger zu verweilen, ijt überflüffig,
zumal der DB. in den tiefgreifendften Bartien einfach auf
Baur verweist und felbft eingefteht, Feine „erſchoͤpfende Be⸗
handlung ber vómijdjen Petruzfage”, fondern eine „Quellen:
Eritif” bezweckt zu haben, welche „dad Material für eine
Die Quellen ber Römifchen Petrusſage. 331
zuſammenfaſſende Darſtellung“ ſichern ſoll (S. 12). Wie
e$ mit dieſer „Quellenkritik“ ausſieht, will ich an einem
Punkte zeigen, der, wie mir feheint, fehr viel beigetragen
hat, den talentvollen Verfaſſer für bie Vertheidigung einer
jo δα ει Behauptung zu veranlaffen. In feiner vor drei
Fahren erjchienenen „Chronologie der römischen Bifchöfe”
hat L. bie vom liberianifchen Chronographen benußten
Quellen meifterhaft auseinandergeſetzt (S. 45), namentlich
dad hohe Alterthum ber von ihm überlieferten Depositio
martyrum So überzeugend nachgewiejen, daß man nicht
umbin fann, die Anfänge verjelden in bie erite Hälfte des
3. Jahrhunderts zu verfegen. Da dieſes Martyrerverzeich-
nip bie 9toti& enthält: Tertio Kal. Julii, Petri in Cata-
combas, et Pauli Ostiense, Tusco et Basso Coss.; ba8
Gonjufat be8 Tuscus und Baſſus aber in bie Regierung
Xpjtue' II. fällt (258 m. Ch.): jo glaubte €. aus jener
Angabe den Schluß ziehen zu müjjen, bie „vermeintlichen
Gebeine beider Apojtel wären erjt unter Xyſtus IL, ober
bed) nicht viel früher, zum Vorſchein“ gefommen (Chronolog.
€. 51). Zur Bekräftigung diefer Anficht fagt er weiter,
anfangd habe man „nur bie Depofitionztage und Begräb-
nißftätten ber Martyrer (beziehungsweiſe Confefjoren) vegel-
mäßig aufgezeichnet, bie Biſchöfe aber, foweit fie nicht auc
gleich Märtyrer waren, erft fett den Zeiten ded Stephanus“
(5.44). Da Lipſius blos den Buchftaben bed Kalendariums
angejehen, nicht auch zugleich Geiſt und Leben beafelben ver-
faßt Dat, jo entgieng ihm ein Hauptmoment, warım man
die Sterbtage ber Martyrer aufzeichnete, nämlich dad Mo-
ment der alljährlichen Feier ihrer Natalitien (cfr. Cypr.
epp. 12; 39. Ed. Hartel). Wan mag ihm, ber al8 Prote=
fant von einem Heiligeneult nichts wiffen will, dies Verſehen
332 Lipfiug,
zu gute halten, obgleich ber Umftand, daß das Kalendarium
unter anderem auch das Geburtzfeit Chrifti, ebenjo die Namen
einiger auswärtiger Meartyrer, deren Andenken in Rom ge
feiert wurde, enthält, hierin eine gewiſſe Abfichtlichfeit ver-
muthen läßt, um nämlich für die willfürliche Deutung ber
bie beiden Apoftel betreffenden Notiz einen Anhaltspunkt zu
gewinnen. Das eregetifche Kunſtſtück ſollte ihm jedoch nicht
gelingen. Denn bagjelbe Kalendariun verzeichnet im Fe—
bruay ba8 Feſt: Octavo Kal. Martü, Natale Petri de
Cathedra, ein Beweis, bag man jchon in ber erften Hälfte
des 3. Jahrh. nicht b(o8 ben Urfprung der vömifchen Kirche
auf Petrus zurücdführte, fondern auch deſſen Stuhlbefteigung
bereit3 durch ein Feſt firirt hatte. Nachdem 2. hierauf hin:
gewiefen worden war (Bonn. Theolog. Siteraturb. 1871.
Sp. 391), blieb ihn nicht? übrig, als entweder die ge- -
zwungene Erklärung ber auf bie Apoſtel bezüglichen Notiz
fallen zu laſſen und unter den betreffenden Worten b[o8
die Gedächtnißfeier ihrer Beifeßung zu verjtehen, oder aber
ba8 hohe Altertfum des Martyrerverzeichniffes aufzugeben
unb bamit zugleich bejjen Beweisſskraft zu jchwächen. In
feiner vorliegenden, eigens ber Duellenfritif gemibmeten
Schrift entjcheidet jid) 9. ohne Bedenken für bic legtere
Alternative, ober, um mich richtiger auszudrücken, er eignet
einerjeit3 bem Chronographen vom J. 354 da Kalendarium
zu, während ev e8 andererfeitö im Intereſſe jeter Siebfing8-
anficht für ebenjo beweiskräftig hält, ald ftammte e8 aus
per 1. Hälfte be8 3. Sahrhundert3 (©. 8; 96; 165).
Setzt 8. in diefer Weife feine „Quellenkritit” fort, dann
wird das Bebürfniß einer nenen Ausgabe feiner „Chrono:
logie“ unabweislich.
Mit dem Geſagten iſt jedoch für das richtige Ver—
Die Quellen ber Römiſchen Petrußfage. 333
ftànbniB ber die Apoftelfürften betreffenden Notiz noch weiter
nicht3 gewonnen. Im vorigen Jahr Hatte 9tef. über bie
Echtheit ber Worte Tusco et Basso cons. Zweifel erhoben
(Lit.-Bl. a. a. O.). Der deshalb von L. gegen mid) erho-
bene Vorwurf, „dieſes ältefte, über dad Grabmal des Petrus
und überlieferte Zeugniß verdächtigt” zu haben (S. 165),
fallt nach dem oben Gefagten jebenfalla nicht minder auf
ihn zurück. Sebenfall® verdiente die Frage, warum δα
Deartyrerverzeichniß gerade in ber auf bie Apnitelfürften
bezüglichen Notiz bie beiden Conſuln namhaft macht, einige
Aufmerkjamkeit, und es ift febr auffallend, daß L. fte mit
feinem Worte berührt. Wenn ber Tert blos von einer
Beiſetzung in den fatafomben fprechen joll (S. 156):
warum fehlt denn bie Zeitbeftimmung bei Xyſtus II., ber
unter denfelben Confuln gemartert wurde und überhaupt
bei allen vor der biocfetiantiden Verfolgung hingerichteten
Blutzeugen? Wären volfenb8 bie Gebeine, wie $. annimmt,
erit im J. 258, „oder bod) nicht viel früher” zum Vorſchein
gefommen, wie müßte man dann bieje „officielle römiſche
Duelle” (Gfronolpgie €. 3) characterifiren, daß fie aus—
nahmsweiſe bei ben Apoftelfürften bie Zeitbeftimmung Dine
zufügte und dadurch die Entdeckung des Betruges bem er[ten
beiten Kritiker möglich machte? Man hätte dem B. zufolge
ven Glauben an bie Anwefenheit Petri in Rom gegen Ende
des 2. abro. erichlichen, und benjefben Glauben um bie
Mitte be8 3. Jahrh. wiederum unmöglich gemadjt! Nein,
e8 ijt bem 3B. mit diefer Behauptung nicht ernſt. Was be-
zeugt denn daS liberiani]de Martyrerverzeichniß in Bezug
auf bie beiden Apoftel? Es bezeugt, daß am 29. Juni 258
dad Gedächtniß ber Beiſetzung be8 D. Petrus in bem
fatafomben und ba8 be8 D. Paulus an ber Pia Oſtia ge-
334 Lipſius, Die Quellen ber Römifchen Petrusfage.
feiert worden ij. Die beiber Conſuln find aber binzuge-
fügt, um angubeuten, δὰ αὶ von ber Zeit an eine Nenderung
eingetreten ijt. Nachdem nämlich Xyſtus II. am 6. Auguft
258 „auf ber Kathedra im Goemeterium ergriffen unb ent—⸗
hauptet worden war” (Chronologie, ©. 2145; 223), ba über:
trug man wieder die Gebeine beg b. Petrus aus den Kata-
fomben in den Batican ?), wo fie von Anfang an begraben
waren, bi8 Kalliſtus 9) fie unter Heliogabalus in ben Kata:
fomben in Sicherheit bradjte. (Vgl. $.-39(. a. a. Ὁ.)
Allerdings kann ich für bieje Anficht Fein „klares gejchicht-
liche? SeugniB^ anführen (vgl. oben Grimm.) ; indeß komme
ἰῷ bod) nicht in den Fall mit den τροπαῖα be8 Gajus jo
umzufpringen, wie e8 2. thun mußte. Suerjt verſtand er
darunter „einfache Denkſteine“ (Chronologie, ©. 51); nad»
her bie „Richtjtätte” (bie Quellen und ©, 95); etwas fpäter
bie in der Legende genannten Bäume ,Serebintbe und Fich-
tenbaum” (€. 106); zu alfevfegt die „Martyrerjtätten”
(€. 167). Da er letere Bedeutung ein für allemal fejt-
hält (€. 167), |o wird ihm meine „Combinätion” bod
nicht zu „haltlos“ fcheinen, zumal BESIEGT. in ber
Regel aud) „Martyrer“ vorausjegen.
Zuremburg. Peters.
1) Valerian kämpfte zwar nicht gegen die Todten; aber wo die
Todten lagen, ba verfammelten ſich bie Lebenden zum Gottesdienſt.
2) Gemäß den Philoſophumenen (IX, 11) batte Zephyrin ben Kal:
liſtus zum Vorſteher über „das Goemetertum^ gemacht. Ob nicht υἱεῖ:
Yeicht jo Roſſi bereit3 nachgewiefen hat, daß dieſes Goemetertum^ Fein
anderes fein Pann, als der Batican, Tann ich, ba mir beffen Werke nicht
zugänglich find, nicht bezeugen. Der V. bleibt ben Beweis jchuldig, ba
e „jebenfalls an ber Via Appia lag". Wäre e8 nur ein „Pleiner Raum“
gemejen, „welchen Zephyrinus für bie Gräber der Gläubigen erworben
fatte" (Chronol. S. 45), jo würde Hippolyt bem Zephyrin über bie
heöfallfige Beförderung be8 Kalliſtus Feine Klage erhoben haben.
Detitzsch, De inspiratione scripturae sacrae. 335
9.
De inspiratione scripturae sacrae quid statuerint patres
apostolici et apologetae secundi saeculi: Commentatio
dogmatico-historica quam summe venerandi theologorum
ordinis auctoritate in academia Lipsiensi ad impetran-
dam veniam legendi publice defendit Joannes Delitzsch
theol. Lic. phil. Dr. Lipsiae apuded. A. Lorenz. 1872.
S. 98.
/
Es fünnte fcheinen, daß bie Xehre von ber Inſpiration
αἰ der Grundlage unjerd Glauben? an bag gejchriebene
Wort Gotte2 Tängft eine vollftändige Darftellung gefunden
habe. Allein bem ijt nicht jo, wie man jid) leicht überzeugt,
wenn man die bezüglichen Abhandlungen nachliegt. Die
meiften begnügen jid mit Anführung einer Reihe Stellen
aus ben Kirchenvätern unb nur wenige gehen bis zu ben
ältejten Vätern zurüd. Daß aber auch dieje die Späteren
einer neuen Unterfuchung be8 Gegenjtanbe8 nicht überhoben
haben, wird, wie, ber Verf. vorftehenden Schriftcheng mit
Recht bemerkt, niemand leugnen. Denn glaubt auch ein
jeder, einen richtigen Inſpirationsbegriff zu haben, jo würde
fi bod) mancher täufchen, wenn er mit bemjelben ernſtlich
an dad Studium ber Hl. Schrift heranträte. Som bogma-
tifchen Standpunkte aus ijt ἐδ in ber Megel leicht fi zu
recht zu finden, eine wiffenfchaftliche Gyegele führt aber zu
vielen Schwierigkeiten. — Ich erinnere beiſpielsweiſe nur an
bie Genefid, an das ſynoptiſche Verhältnig der Evangelien,
ja bloß an bie Tertgeftalt der HI. Schrift. Es liegt nir
gegenwärtig der von Weiß nach ben älteften Codices emen-
birte Tert beà Marfußevangelium vor, welcher fait in jedem
Berd Abweichungen von ber NRecepta zeigt. Diez ijf eine
Theol. Quartalichrift. 1872. Heft II. 99
336 Delitzsch,
von ben vielen Thatjachen, mit welcher die Eregefe rechnen,
an welchen auch ber Inſpirationsbegriff feine Probe beſtehen
muß. Wir find dem Berf. deßhalb zum Bank verpflichtet,
baB er für feine Erftlingsarbeit fid bie Bebauung dieſes
Feldes augerwählt und vor allem feine Blicke auf bie Ur-
anfänge be8 Chriftenthums gelenkt hat.
Der eigentlichen Abhandlung geht ein Kleiner Abfchnitt
voran, welcher die Lehre ber Juden zur Zeit ber alten Kirche
jowie jene be8 Herrn und der Apoftel über bie Inſpiration
zum Gegenftande hat (€. 1—29). Auß ber berühmten
Stelle des Joſephus (I, 8. T. IL. p. 441) geht hervor,
baB παῶ ber Überzeugung ber Siraeliten die bL. Schriften
nicht von Menfchen ober von Menſchen allein, fondern von
(ott ausgegangen, alfo injpirirt find (6. 3). Sn ber Gv»
Märung des Vorgang? weit der griechijche Judaismus nicht
wenig von bem talmudischen ab. Diefer unterjcheidet zwiſchen
ber Thora, welche im ftrengiten Sinne ded Wortes göttlichen
Urſprungs ijt, zwiſchen den Propheten, die nicht wie Moſes
bloße Inſtrumente des göttlichen Geijte waren, und ben
Hagiographen (€. 9). Philo und Joſephus dagegen nehmen
zwar auch alle Schriften als injpirirt an und ftimmen auch
in ber Auffafjung der Inſpiration, die ihnen theils als
Ekſtaſe (€. 10) theils al$ geringere Einwirfung auf bie
Schriftfteller erjcheint (S. 14) mit ben Safmubijten überein,
aber fie geben außerdem noch einen weiteren Begriff von
ber Inſpiration, wenn fie fid) jelbjt und überhaupt jedem
Weiſen bie Gabe ber Prophezie vinbiciriren (S. 18). Da-
durch kommt der Verf. zur Aufftellung folgender Theſen:
1) Die Infpiration ijt nad) der Meinung be8 Philo und
Joſephus eine ἔχστασις und ware. 2) Eine andere Form
der Inſpiration findet fid) in ihren Schriften nicht. 3) Auch
De inspiratione scripturae sacrae. 337
bent Acte be8 Schreiben legen fie bieje Inſpiration bei.
4) Sie glauben, daß allen Weifen und Gerechten die In—
ipiration zu theil werde (S. 19 f.). Intereſſant tjt der
Nachweis, daß insbeſonders bie leßtere Anficht ihre Duelle
nicht in der jüdischen Lehre, jondern in den heidniſchen Vor-
ftellungen hat, wie ſchon bte Zufammenftellung ber Ausdrücke
für bie göttlich Erleuchteten darthut (€. 21 f.). Derjelbe
Gedanke begegnet ung wiederholt bei den Apologeten und
eg dürfte bieje Bemerkung wejentlich zur Würdigung ihres
Snfpirationsbegriffes beitragen. Das Gefammtrefultat aus
biefem Theile tjt in bem Gate ausgeſprochen: So Streng
auch im Talmud über bie Inſpiration geurtheilt wird, fo
wird doch bem Moſes das GSelbftbewußtjein beim Acte bet
Inſpiration nicht abgefprochen. Die Helleniften aber glauben,
baB bie wahre göttliche Infpiration mit der Aufhebung des
Selbitbewußtjeind verbunden fei” (&. 23).
Die Anficht de Herrn und der Apoftel über die In—⸗
Ipiration be8 U. S. läßt fid ſchon aus ben häufigen feier-
lichen Citaten erfennen. Aber weder aus II. Tim. 3, 16
nod) aus I. Pet. 1, 10 und IL Bet. 1, 21 geht hervor,
baf bie Apojtel an eine mantische Inſpiration gedacht babe.
Es ſteht ihnen feit, daß die injpirirte Wahrheit nicht Product
be8 eigenen Denkens, ſondern göttliche Wahrheit ijt, ja [ie
laſſen auch bei prophetifcher Inſpiration die menjchliche Per:
Sönlichfeit mehr zurücktreten als bei der apoftolifchen, feineg-
wegs ift aber damit geleugnet, daß bie Propheten beim In—⸗
Iptrationzact beim Selbftbewußtjein waren (©. 27 ἢ.
Nach dieſem grundlegenden Abſchnitt geht ber Verf. zu
dem eigentlichen Thema ber Abhandlung über und bejpricht
in 2 Theilen zunächſt die apoftolifchen Väter: Clemens
Romanus, Barnabad, Ignatius und Polycarpus, jodann
338 Delitzsch,
bie 9(pofogeteu: Juſtinus Martyr, Tatian, Athenagoras
und Theophilus. Der erfte Theil handelt von der Inſpi—
ration be8 A. T. (€. 30—35), der zweite von der de:
9t. &. (€. 56—96). Daß die Ausbeute bei den apofto-
liſchen Vätern nicht bedeutend ijt, weiß jeder, welcher fie
einmal gelefen, Es war ihnen zu fehr jelbitverjtändlich,
daß bie Hl. Ehrift injpirirt ijt, alà daß fie εὖ beſonders
hervorzuheben nöthig gehabt hätten. Die jüdiſche Lehre wie
ber heidnifche Aberglaube konnte daran feinen Anſtoß nehmen.
Aus demjelben Grunde dürfen wir auch bei ben apoftolifchen
Vätern feine beftimmte Lehre über den Vorgang felbit er:
warten (S. 33). Dagegen ijt e8 von Intereſſe zu erfahren,
wie fid) die Väter bem beutero-fanonifchen apofryphen, wie
ber Verf. fie nennt — Büchern gegenüber verhalten und
welche Schriften des 9t. T. ihnen befannt waren. In
Betreff des eviten Punktes gibt der Verf. zu, daß fid) bie
Väter auch der in bie Alerandrinifche Ueberfegung aufge
nommenen beuterofanonifchen Bücher bedienen, glaubt e8 aber
verneinen zu müfjen, bap fie diefelben mit jolennen Formel
citirten. Doch fcheint er darauf ſelbſt Fein großes Gewicht
zu legen, ba er al3bald bemerkt, daß, falla fie auch biejen
Büchern einen göttlichen Urſprung zugefchrieben haben jollten,
daraus doch für bie fatbolifen fein Recht vejultivte, diefelben
den andern Büchern gleichzuftellen. Den dieſelben Väter
cifire auch anerkannt apokryphe Schriften wie ba8 vierte
Buch Eſra, das Buch Henoch u. a. mit der Formel λέγδι
ὁ κύριος (©. 34). Allein daraus kann nicht gefolgert
werben, bap bie Väter alfo auch bie deuterofangnifchen
Bücher für nichtfanonifch anfaben, jondern mur dies, baf
fie nod) mehr als bie deuterofanonischen Bücher den Faro:
niſchen gleichjegten oder, was das Richtige ijt, daß ber Kanon
De inspiratione scripturae sacrae. 339
damals mod) nicht ganz feſtſtand. Jedenfalls zeigt Died Ver—
fahren, bap bie Väter fid) an den jübilchen Kanon nicht
hielten und wenn Spätere wie a. 38. Melito und Origenes
ben jüdischen Kanon nennen, [o bemerken fie babel unzwei—
deutig, bap fie diefen — aljo im Gegenjatg zu einem andern
— im Auge haben ἢ. Der Schluß „nam illi (sc. cano-
nici) libri prophetica sua indole, quae his (sc. apocry-
phis) deest, tantam auctoritatem nacti sunt^ bewegt
ih im Kreiſe. Denn haben bie Väter auch bie Apokryphen
gu dogmatiſchen Zweden citivt, jo mußten fie auch bei biejen
eine „prophetica indoles^ annehmen.
Der Gebrauch ber neuteftamentlichen Schriften läßt fid
ihon frühe bei ben Vätern nachweiſen, wie auch Tifchendorf
in feiner Schrift: Wann wurden unſre Evangelien verfaßt?
bereit3 nachgewiejen hat. Das Matthäusev. wird im Briefe
be8 Barnabas (€. 60 f.), das Matthäus- Lukas- und Jo—
hannesev. und ber Brief an bie Ephefer von Ignatius citirt
(€. 65). - Überhaupt [εἰ feftzuhalten, daß fchon im Anfang
des zweiten Zahrhunderts bie apoftoliichen Briefe und eine
Sammlung ber Evangelien beftanden habe unb bie von Gu-
ſebins fog. ὁμολογούμενα den altteftamentlichen Echriften
gleichgeftellt worden feien (€. 68). Das Zeugniß be8 Pa:
pia möchte ich aud) höher anfchlagen als es vom Verf. ge:
ichehen ift. Denn fóunte man aus der von Eufebius (h.
e. III, 39) aufbewahrten Stelle, fo weit fie angeführt ijt,
auch ſchließen, daß Papias Apokryphen im Auge habe, jo
bleibt doch, wenn man bie ganze Stelle berüͤckſichtigt, fein
Zweifel darüber, daß er auch von beu kanoniſchen Evange—
lien ſpricht. Es ift ja bieje Stelle feit Schleiermacher in
1) Eus. h. e. IV, 26. VI, 25.
340 Delizsch,
ber Evangelienkritik eigentlich fíajfil) geworben und ber
Streit dreht fid nicht barum, ob Papias bort bie kanoni-
ſchen Evangelien anführe, fondern bloß um bie Trage, ob
‚unfere fanontjdjen Evangelien mit jenen tventifch feien.
Biel beftimmter fprechen fid nad) beiden Seiten bie
Apologeten aus. Ja fie legem theilmeife dem A. SE. eine
medjnijde ober mantiſche Anfpiration bei. Von Juſtin
und Athenagoras [εἰ dies gewiß, von den andern fünne es
nicht beitimmt gejagt werden (S. 49). Wenn man ben
Wortlaut mancher Stellen nimmt, jo ijt die ficher richtig.
Aber baB fie jo veritanben fein wollen ijt doch um [o weniger
wahrſcheinlich als fid), wie ber Verf. mit Recht hervorhebt,
aus ber Reaction gegen bieje Auffaffung jchließen läßt, daß
durchaus nicht alle Chriften ihr Bulbigten, wie denn auch ber
Apologet Miltindes fid) veranlaßt fab ein Buch zu ſchreiben
„rrepl τοῦ un δεῖν προφήτην ἐν ἐκστάσει λαλεῖν". (©. 50).
Man muß bel ber Erklärung ſolcher Stellen verfahren wie
in der Gnadenlehre. Auch über fie finden fid) bei den ver⸗
ſchiedenen Vätern ziemlich abweichende Ausſprüche, fo lange
man am Worlaut hängen bleibt, ohne daß fie irgendwie bie
menſchliche Thätigfeit ausſchließen. Ebenſo heben bie Apo-
Iogeten den göttlichen Einfluß aus naheliegenden Gründen
ganz Dejonbera hervor ; bie übernatürliche Wirkung geht aber
beßhalb nicht gegen bie Natur, jondern burd) fie. Auch
barin finden wir uns mit dem Berf. in Uebereinftimmung,
baB bie Anficht des Miltiades nach und nad) von ber ganzen
Kirche angenommen wurde. Da e8 außer bem Zwecke be?
Berf. lag, näher darauf einzugehen, |o begnügt er fid) mit
ber Anführung mehrerer einfchlägiger Stellen. Ich fünnte
benjelben 10d) viele beifügen, barf aber doch nicht unterlafjen
zu bemerken, daß Π auch gegentheilige Stellen vorfinden.
De inspiratione scripturae sacrae. 341
Eine größere Anzahl folcher bat Kleutgen ausfchlichlich ber
andern in feiner Theologie der Vorzeit citirt !).
Ihr Zweck brachte e mit ſich, daß bie Apologeten des
zweiten Jahrhunderts fich des N. T. weniger häufig bedienen.
Das 9. T. hatte fie durch bie Verheigungen, deren Erfüllung
fie in Chriſtus ſahen, zur GrfenntniB ber lang vergeblich
gejuchten Wahrheit geführt und darnach geftalteten Tid auch
ihre Beweiſe.
Als Reſultat der ganzen Abhandlung gibt ber Verf. ait:
1) Alle Bäter ohne Ausnahme halten feft, baB dag A. 3.
bad von Menfchen fehriftlich firirte Wort Gottes ijt. Über
ben amipiration2act jagen fie aber nicht? Beſtimmtes. Da⸗
gegen vertheidigen bie Apologeten bem göttlichen Urſprung
ber Schrift, gegen bie ftd) widerfprechende heidniſche Weis⸗
heit auß ben Weisſagungen und ber wunderbaren Überein-
ſtimmung ber hl. Schriftjteller und jtellen einen beftimmten,
mechanischen ober mantischen Inſpirationsbegriff auf.
2) Die Bücher be8 N. Sj. genießen ſchon vor der Mitte
be& zweiten Jahrhunderts göttliches Anfehen. ... Überhaupt
ift εὖ wahrfcheinlich, daß bei Beginn δὲν Regierung Hadrians
die ὁμολογούμενα durch den Gebrauch der Kirche fancirt
waren. (€. 97 f.)
Wir wünfchen biejer Erſtlingsſchrift des Verf. einen
weiten Leſerkreis und hoffen, daB er auf vom eingeichlagenen
Wege rüftig weiterjchreite.
Θ dat.
1) 1, G. 56f.
Cheologifdhe
Quartalfchrift.
9n Verbindung mit mehreren Gelehrten
beraußgegeben
von
D. v. Kuhn, D. Bukrigl, D. v. Aberle, D. $impel
unb D. fobrr,
PVrofefforen ber kathol. Theologie an ber K. Univerfität Tübingen.
Vierundfünfzigſter Jahrgang.
— Drittes. Quartalheft.
&übingen, 1872.
Verlag der H. gaupp'[den Buchhandlung.
Drud von H. Laupp In Tübingen,
e
L
Abhandlungen.
1.
Die Würzburger Sala - jyragnente.
Bon mof. Dr. 9tenfd in Bonn.
Der Titel des Buches, welches zu bielem Aufſatze den
Anlaß und den größten Theil be8 Materials geboten, Tautet:
Par palimpsestorum Wirceburgensium. Antiquis-
simae Veteris Testamenti versionis latinae fragmenta,
e eodd. rescriptis eruit edidit explicuit Ernestus
Ranke, Phil. ac Theol. Doctor hujusque in academia
Marburgensi Prof. etc. Vindobonae, Guil. Braumüller
1871. XVI und 432 ©. 4. |
Der Beiprechung ber darin veröffentlichten Fragmente
ſchicke ich eine allgemeinere Bemerkung voraus.
Peter Sabatier’3 Sammlung der Weberbleibfel der
vorhieronymianifchen Tateinifchen Bibelüberfegung (Rheims
1743 ober, mit einem andern Titelblatt, Paris 1751), eines
bev werdienftvolliten Werke ber franzöfiichen Benebictiner des
24 *
346 Reuſch,
18. Jahrhunderts, reicht jebt für das Neue Teſtament nicht
mehr aus, da ſeitdem mehrere wichtige Handſchriften hinzu⸗
gekommen ſind. Für das Alte Teſtament iſt die Sammlung
noch jetzt das Hauptwerk; ſie koͤnnte aber auch hier jetzt,
wenn eine neue Ausgabe derſelben beſorgt werden ſollte,
vielfach berichtigt und bedeutend vermehrt werden.
Was die Berichtigung betrifft, ſo ſind die von Sabatier
benutzten Handſchriften allerdings im Ganzen forgfältig ver⸗
glichen, aber immerhin vielfach nicht ſo genau, wie man das
heutzutage mit Recht verlangt. Das Vaticaniſche Fragment
des B. Tobias z. B. ijt ſchon in Bianchini's Vindiciae
canonicarum scripturarum, Rom 1740, €. CCCL ge-
nauer abgebrudt ald bei Sabatier. Ferner find. Sabatier's
patriftiiche Citate vielfach nach den ſeitdem erjchienenen
beſſern Vaͤter-Ausgaben zu berichtigen. Die bekanntlich zahl
reichen und umfangreichen Gitate des Sucifer von Cagliari 3.2.
jtehen, worauf mich zuerſt der felige Vercellone au[mertjam
gemacht, in ber Ausgabe der Brüder Coleti vom Jahr 1778
(abgebrudt im 13. Bande von Migne's Batrologie) in einer
vielfach ganz andern Geftalt als bei Sabatier. Auch in
biejer Beziehung verfpricht die neue Wiener Ausgabe ber
lateiniſchen Kirchenfchriftfteller für die Theologen von Bes
beutung zu werben. Hartel’3 Ausgabe des Cyprian bietet
zwar bezüglich ber Bibelcitate nicht. [o viel Ausbeute, b. D.
nicht jo viele Abweichungen von den frühern Ausgaben, wie
man hätte erwarten jollen; aber bie BVibelcitate bei Hiero-
nymus ἃ. B. werben, wie mir Prof. Reifferjcheid mittheilte,
in ber neuen Ausgabe vielfach ganz anders lauten als bei
Ballarfi.
Was die Vervollftändigung ber Sabatierfchen Samm⸗
lung betrifft, jo Tommen auch babel einerjeità biblische
Die Würzburger Stala-Fragmente. 347
Handſchriften, anderſeits patriftifche Eitate in Betracht.
Letztere hat Sabatier mit ſtaunenswerthem Fleiße gefammelt ;
gleichwohl hat er in den von ihm außgebeuteten patriftifchen
Merten Einiges überjehen (Einiges ijf im dritten Bande
€. XXX nacgetragen). Einige Werke, in denen fid)
Itala⸗Citate finden, hat ev, obſchon fie damals ſchon gebrudt
waren, nicht benußt; andere find erjt ſpäter wieber aufge:
funden oder veröffentlicht worden, Das wichtigſte darunter
tft befanntlih ba8 von W. Mat zuerft im 9. Bande be
Spicilegium, dann vollftändiger unb genauer im 1. Bande
ber Nova Patrum Bibliotheca (Nom 1853) heraudge-
gebene Speculum beà Hl. Auguftinug. Hieher gehören
außerdem die Auguftintfchen und Pſeudo-Auguſtiniſchen
Sermones, bie Bobbienſer arianifchen Fragmente, ber Com:
mentar be2 Bictorinug zu den Pauliniſchen Briefen, jämmt-
fid) von 9f. Mai ebirt, bie von Pitra ebirten Gommentare
bed Verecundus (fj. Vercellone, Variae Lectiones I,
585), bie von Münter (j. Nr. 7) gelammelten Fragmente
and römischen und fanonijden Rechtsbüchern, des Julius
Hilarianus chronologia sive libellus de duratione mundi
(bei Migne 13, 1098), bie ber Mitte des 3. Jahrhunderts
angehörende Schrift de pascha computus (in Hartel's
Ausgabe des Cyprian ΠῚ, 348) u. f. v. ἢ).
Die handjchriftlichen Weberbleibfel der Sala des Alten
1) Zum Buche ber Weisheit und zum B. Tobias find bie patriftis
ſchen Eitate vollſtändiger als bei Sabatier verglichen in meinen Obser-
vationes criticae in l. Sapientiae, freiburg 1861, und. in bem
Libellus Tobit e codice Sinaitico editus et recensitus, freiburg
1870. Aber auch ba Babe ich [eitbem allerlei nachzutragen gefunden. —
Ueber die Gitate aus Auguftinus und Ambrofius vgl. Rönfch in ber
Zeitſchrift für hiſtor. Theol. 1867, 609 ; 1869, 434; 1870, 91.
948 Reuſch,
Teſtaments, welche Sabatier noch nicht kannte, ſind — ab⸗
geſehen von den Büchern, welche in die Vulgata übergegangen
und barum in vielen Handſchriften erhalten find (bie Pſal⸗
men und bie beuterofanonifchen Bücher mit Ausnahme von
Tobias und Judith) — folgende:
1. Der Aſhburnham'ſche Gober ber Bücher Leviticus
unb Numeri (mit Ausnahme von Xen. 18, 30— 25, 16),
welchen ich in ber Quartaljchrift 1870, 32 ausführlich be-
ſprochen habe ἢ).
2. Die von E. Ranke herausgegebenen Weingartener
Fragmente der Propheten. Das erfte Heft ber Ranke'ſchen
Publication iff in ber Quartalichrift 1857, 400 von N.
Ruland ausführlich beiprochen, ba8 zweite 1861, 615 von
mir furg angezeigt worden. Im J. 1868 hat Ranfe in dem
Marburger Lectionskatalog für dag Sommerjemefter die zuerft
von 9f. Vogel veröffentlichten weitern Bruchftüde der Wein-
gartener Handſchrift (f. Nr. 3) gang in berjelben Weife wie
ble früfern edirt 3), Diefe Weingartener Fragmente ent-
halten Stüde von Sce, Amos, Michäas, Sod, Jonas,
Ezechiel und Daniel.
8, Die „Beiträge zur Herftellung ber alten lateiniſchen
Bibel-Ueberfegung” von Albrecht Vogel (Wien, Brau-
müller 1868) enthalten außer den Weingarteuer Fragmenten
1) Vgl. Ronſch in ber Zeitihrift für wiſſenſchaftl. Theologie.
1871, 290.
2) Diefe Ranke'ſchen Publicationen find aufammengebeftet heraus:
gegeben unter bem Site; Fragmenta versionis sacrarum scriptu-
rarum latinae antehieronymianae, e codice mser. eruit atque
&dnotationibus criticis instruxit Ernestus Ranke. Editio
libri repetita, cui accedit appendix. Wien, Braumüller 1848. IV
und 52, 126, 82 ©. 4. 9 Thle. Bol. über tante 3 und Vogel's Publi⸗
cationen H. Rönfch in ber Zeitſchr. f. miffenfdy. Theol. 1871, 592.
Die Würzburger Stala: Fragmente. 349
be8 Ezechiel (j. Nr. 2) zwei Giüde aus ben Sprüchen
Salomo’d, 2, 1— 4, 23 und 19, 7—27, au einem Wiener
Palimpſeſt; vgl. darüber Theol. Literaturblatt 1868, 102.
4. Einige andere Fragmente der Sprüche (15, 9 — 26;
16, 29 — 17, 12) fat Fredegar Mone (De libris pa-
limpsestis tam latinis quam graecis, farlöruhe 1855;
vgl. Quartalſchrift 1857, 416) aus einem Palimpſeſt in
€t. Paul im Lavant- Thale aus bem 5. Jahrhundert ebirt.
5. Zwei Heine Fragmente des Jeremias, 17, 10—16;
49 (Vulg.) 12—18 bat Tifchendorf (Anecdota sacra
et profana, Leipzig 1861, ©. 231) aus einem St. Galfenet
Palimpſeſt mitgetheilt.
6. Eine Anzahl von kleinen Bruchſtücken des Pentateuchs
namentlich der Geneſis und ber Exodus, quà einem Codex
Ottobonianus des 7. ober 8. Jahrhunderts !) finden fid)
im erften Bande von VBercellone3 Variae lectiones,
befonber8 ©. 183. 309. Auch im zweiten Bande hat Ver:
cellone Sabatier’3 Apparatfaus Handfchriften und patrijti-
hen Eitaten vielfach vermehrt; vo. €. XXI. 14. 78. 179
u. ſ. w. 3).
1) Ausführlicher [pridjt Vercellone über diefe Hanbfchrift in ben
Dissertazioni accademiche, Rom 1864, ©. 17.
2) 3n Am. Peyron's Ausgabe ber Fragmente von Cicero's
Reben pro Scáuro, pro Tullio und in Clodium (Stuttgart 1824)
fieht (Θ. 78 ff. das zweite Buch der Machabäer αὐ einer Ambrofia⸗
niſchen Handfchrift bes 10. Jahrhund erts, welche aud) ba8 9B. Tobias
unb Efih. 1, 1—2, 28 παῷ ber tala. enthält), und S. 188 ein Tleines
Fragment and einem Ambrofianifchen Palimpfeft des 5. Jahrhunderts,
welches Peyron für ein Stüd ber alten lateinifchen Neberfekung von
Gen. 27 Hielt. Es gehört aber zu ber apokryphiſchen „feinen Geneſis“,
welche nebft δεῖ Assumptio Mosis aus eben biejem Palimpfeft A. M.
Ceriani (Monumenta sacra et profana, Tom. 1, fasc. 1, Mailand
350 Reuſch,
7. Nächſt dem Aſhburnham'ſchen Codex das Bedeutendſte
was ſeit Sabatier publicirt worden iſt, liegt in dem pracht⸗
voll ausgeſtatteten Quartbande vor, deſſen Titel im Anfange
dieſes Aufſatzes mitgetheilt worden iſt. Die Würzburger
Handſchrift, welche ben Anfang von Auguſtins Enarrationes
in Psalmos au? bem 8. Jahrhundert enthält, Hatte fchon
im Anfange bieje8 Jahrhundert? ber damalige Oberbiblio-
thekar M. Feder (T 1824) al? Palimpfeft der alten fatei-
nischen Bibelüberjegung erkannt unb einen Theil der erften
Schrift copirt 1). Dieſe von Feder abgejchrichenen Stüde —
31 ganze Spalten (jede Seite hat zwei Spalten) unb 10
Spalten theilweife, — wurden 1819 zu Kopenhagen von
dem bànijden Biſchof Friedrih Münter veröffentlicht,
unter dem Titel: Fragmenta versionis antiquae latinae
antehieronymianae prophetarum Jeremiae, Ezechielis,
Danielis et Hoseae, e codice rescripto bibliothecae
universitatis Wirceburgensis. Als ich in ber Quartal⸗
ſchrift 1861, €. 616 ben Wunfch duBerte, es möchten bie
Mürzburger Fragmente ebenjo jorgfältig bearbeitet werben,
wie bie Weingartener von Ranfe, unb dabei die Vermuthung
ausſprach, vielleicht Tieße fich auch nod) etwas mehr davon
entziffern, ba ahnte ich nicht, daß Ranke jchon feit 1856
mit der Entzifferung der Handſchrift — deren einzelne
1861) herausgegeben bat. Vgl. δὲ δπ| ὦ in ber Zeitfchrift für will
Theol. 1868, 76. 466; 1869, 218; 1871, 60.
1) In ber beutfchen lleberjepung ber „Abhandlungen über ver:
ſchiedene Gegenflünbe^ von Carb. Wifeman (Regensburg 1854)I, 37 fteht:
„Ich babe vor einigen Jahren in Würzburg ein Palimpfeſt von einer
antihierongmianifchen [sic] Tateinifchen lleberfegung aufgefunden. Dr.
Weber fchrieb alles, was lesbar war, ab^ u. f. m. Sm engliidjen Ori⸗
ginal fieht aber (I, 42): A palimpsest... having been discovered
some years ago at Würzburg Dr. Federer transcribed etc.
Die Würzburger Itala⸗Fragmente. 851
Lagen ihm vor und nach von bem jebigen Oberbibliothefar
U. Ruland mit dankenswerther Gefälligkeit überſandt wur⸗
den, — und der Bearbeitung des Textes beſchäftigt war.
Noch weniger ahnte ich, daß die äußerſt mühevolle Arbeit
Ranke's ein ſo günſtiges Reſultat liefern würde. Er hat
nämlich nicht nur die bereit? von Münter edirten Fragmente
viel genauer wiedergegeben, — Feder hat ji beim Abfchrei-
ben manche Verjehen und Münter bet ber Herausgabe große
Nachläſſigkeiten zu Schulden kommen laſſen, — fondern auch
bedeutende Stüde der prophetiichen Bücher, zum Theil mit
Hülfe von demijden Mitteln, entziffert, bte Feder nicht ge-
lefen hatte. G8 liegen jet im Ganzen 95 Seiten dev Hand-
Ichrift, freilich manche nur theilweife, entziffert vor, welche
folgende Stücke ber Propheten, zum Theil mit einigen Lücken,
enthalten: Of. 1, 1— 2, 18; 4, 13—7, 1; Ion. 8, 10
—4, 11 3); Sf. 29, 1-80, 6; 45, 20—46, 11; Ser.
12, 12— 18, 12; 14, 15—22; 15, 1—19; 16, 15—17,
10 2); 18, 16—29, 29; 35, 15—391, 11; 88, 23—40,
5; 41, 1—17; Klagel. 2, 16—8, 40; Ezech. 24, 4—21;
26, 10—27, 4: 84, 16—8b, 5; 81, 19—28; 38, 8—20;
40, 8—42, 18; 45, 1—46, 9; 48, 28—35 8); Dan.
Euf. (3Bulg. 13) 2—10; 1, 15—2, 9 5; 8, 15—50; 8,
5—9, 105); 10, 3—11, 4; 11, 20—33; Bel (Qulg. 14)
96—42.
Außerdem hat aber Nanfe gefunden, daß andere Blätter
1) Einige andere Stüde von Dfee und Jonas fteben in ber Wein-
gartener Handſchrift.
2) 17, 10—16 ſteht in bem Gt. Gallener Gober, f. o. Nr. 5.
8) Einige Stüde von Ez. 16—18. 24—98. 42—48 fiehen in
ber Weing. Handfchrift.
4) Dan. 2, 18-- 38 fteht in bec Weing. Handſchr.
5) Dan. 9, 25—10, 11 fleht in ber Weing. Handfchr.
᾿
802 Reuſch,
bes Gober in erſter Schrift Stücke der alten lateiniſchen
Meberfegung des Pentateuchs enthalten. Bon biejer find
44 Seiten, zum Theil gleidjfallà nur bruchftückweife, ent-
ziffert, welche folgende Abjchnitte, zum Theil mit einigen
Lücken, enthalten: Gen.96, 2—7; 14—24; 40, 12—20;
41, 4. 5; €x. 22, 7—28; 25, 30—26, 12; 32, 15—33;
33, 13—94, 27; 85, 13—86, 1; 39, 2—40, 30; θεν.
4, 283—6, 1; 7, 2—8, 18; 11, 7—47; 17, 14—18, 21;
19, 30—20, 8; 20, 20—71, 2; 22, 19—28, 9 ;
Deut. 98, 42—53; 81, 11—26.
Die Ausgabe hat Otanfe ganz Ähnlich eingerichtet, wie
bie ber Weingartener Fragmente. Nach einem Bericht über
die Handfchrift folgt €. 3—144 ber Tert in Uncialſchrift
in Spalten genau nach ber Handfchrift, mit 9(mbeutung ber
Lücken und vermuthungsweiſer Ergänzung der unleſerlichen
Buchitaben in kleinerem Druck. Daran [liegen fid ©.
145—160 „diplomatiſche Anmerkungen”. €. 162—406
werden barmit ber griechifche SLert, der Würzburger Text, bie
Bulgata und, wo das Material dazu vorhanden ijt, ber Text
wie er ἢ bei Inteinifchen Vätern oder in andern Hand:
ſchriften findet, in drei, vier ober fünf Spalten neben eht-
ander geitellt; unter biefen Texten ftehen ber zur Beurthei⸗
lang des Würzburger bienliche kritiſche Apparat der Sep
tuaginta, eine Auswahl aus dem Apparate Eabatierd und
andere Eitate aus den Vätern, namentlich die au8 bem
Speculum, und fritijde Bemerkungen. Dann folgen nod)
eine zufammenfafjende Erörterung des Verhältniſſes des
Mürzburger Terte8 zu den andern fritifchen Zeugen ber
Sceptuaginta (€. 406—411), Bemerkungen über den Eharal:
» 1) $ev. 18, 80—25, 16 fehlt im ber Aſhburnham'ſchen Hand:
rift.
Die Würzburger Stala-Fragmente. 853
ter der in ben Würzburger Fragmenten vorliegenden Iateinis
iden Weberfegung (S. 411—427) und einige allgemeine
Bemerkungen über die Itala (€. 428—432). Beigefügt
find fchöne photolithographirte Facſimiles der beiden Theile
der Sanbidrift. Das ganze Merk bekundet benfelben um
ermüblichen Fleiß, dieſelbe gewifienhafte Sorgfalt unb bie»
jelde umfafjende Erudition, welche die frühern ähnlichen
Arbeiten Ranke's auszeichnen ἢ. Sch ftelle im Folgenden
bie Hanptrefultate der Unterfuchungen Nantes zufammen,
. wm daran einige eigene Bemerkungen anzufnüpfen.
I. Die Pentateuch-Stücke unb bie prophetifchen Stücke
find nicht von berjelben Hand geichrieben; leßtere gehören
nah Ranke's und Tiſchendorſ's Urtheil ber Mitte des
5. Jahrhunderts an, bie erftern find etwas jünger. Beibe
Handichriften find alfo aus etwas fpäterer Zeit als bie
Weingartener, welche Ranke in den Anfang des 5. Jahr⸗
hunderts verjegt, aber älter als bie Aſhburnham'ſche, die
πα Ranfe (&. 404) „vielleicht im 6. Jahrhundert“, wahr:
IWeinlich aber nicht wor bem 7. Jahrhundert gefchrieben ift
(f. Quartalfchrift 1870, 33), unb älter als die Ottoboni⸗
anijdje Handfchrift, bie nach SBercellone dem 7. ober 8. Jahr:
Dunbert angehört. Beide Gobice8 find aber nicht von bem
Ueberfeger ſelbſt gefchrieben, fondern Gopieen älterer fateinis
\her Handichriften. Das beweifen Schreibfehler wie bie
€. IX und XII aufgezählten und folgende: Of. 5, 18
potius fi. potuit, 3j. 29, 3 auis jt. Dauid, Ser. 16, 16
peccatores ft. piscatores, 22, 22 effunderis jt. confun-
deris, 37, 10 exponunt ft. expugnant, δὲ. 24, 10 ligna
|." Y) Einen ausführlichern Bericht über bag Wert gibt 9L. Ruland
um Theol. Literaturblatt 1871, 777.
354 Reuſch,
ft. ignem, 38 18 iuvenis ſt. tu venis, Dan. 8, 15 viris
ft. visus.
Eine Vergleihung des Serteg ber beiten Würzburger
Handfchriften mit dem Texte anderer Mala Gobice8 und den
umfangreichern patriftiichen Gitaten (fürzere Citate find,
weil vielfach ungenau, zu einer ſolchen Vergleihung nicht
geeignet) Liefert folgende Ergebnifle.
1. Die Bentateuch-Fragmente treffen mit bem Aſhburn⸗
ham'ſchen Gober bei mehren Stücken des Leviticus zuſammen.
(Der Aſhburnham'ſche Tert ijt Ranke leider erft während
beà Druckes feine® Werkes bekannt geworden und borum
nidt €. 209 ff. neben dem Würzburger abgebrudit, ſondern
evt €. 220 jf, die Anmerkungen dazu ©. 404). Man
braucht nur wenige Verſe ber beiden Texte zu vergleichen,
um Ranke's Bemerkung ©. 411 richtig zu finden, daß Bier
zwei von einander verfchiebene Weberjegungen vorliegen.
Bei einigen Stüden (Gen. 41, 4. 5; Gy. 25, 30—
26, 12) treffen bie Würzburger Bentateuch - Fragmente mit
ben (von Ranke unbeachtet gelaffenen) Ottobonianifchen Frag:
menten zujammen. Den Tert ber letztern, wie ihn Vercellone
— feiner VBerficherung gemäß (Variae lectiones I, 183)
ganz genau — veröffentlicht hat, ijt furchtbar corrumpirt;
ἐδ läßt fid) aber mit einiger Mühe ermitteln, wie ber Ueber:
ſetzer gefchrieben fat. Die einander entiprechenden Stücke
find zu wenig umfangreich und bieten zu wenig Anhalt:
punkte, um mit Sicherheit zu entjcheiden, ob ber Würz-
burger unb ber Dttobonianifche Tert zwei Recenfionen ber
nämlichen Ueberſetzung oder zwei verſchiedene Ueberſetzungen
bieten. Ich wähle zur Veranfchaulichung ihres Verhältnifjed
das Stück Er. 26, 6—12, welches und bei Auguſtinus,
Quaest. in Exod. 177, noch in einer dritten Form vorliegt.
Die Würzburger Itala⸗Fragmente.
W.
6. Et facies circulos L
aureos, et coniunges atria
ad alisalium de circulis,
et erit tabernaculum unum.
7. Et facies vela capilla-
cia cooperimentum taber-
naculi; XI vela facies.
8. Longitudo
veli unius erit XXX cubi-
torum,etquattuor cubitorum
latitudo veli unius; mensura
355
OÖ.
6. Et facies circulos L
aureos, et coniunges ianuas
aliam ad aliam de circulis,
et erit tavernaculum unum.
7. Et facies velà capilla-
cià operimentum supra ta-
vernaculum; XI vela et
facies ila. 8. Longitudo
unius veli XXX erit cubi-
torum, et .IIII cubitorum
latitudo eius; mensura una
una erit XI. velis. 9. Et erit XI velorum. 9. Et con-
6. «“Σὐλαίαι, welches in O Hier und 3B. 5 burdj januae wieberge:
geben wirb, wird ©. 1. 2 in O, wie in W immer, burd atria über:
feßt. Aug. bat dafür aulaea unb jagt Qu. in Ex 177, 2: αΑὐλαίας
quas graeci appellant, Latini. aulaea perhibent, quas cortinas
vulgo vocant. Non ergo decem atria fieri jussit (Exod. 26, 1),
sicut quidam negligenter interpretati sunt; non enim αὐλώς, sed
αὐλαίας dixit. — ad alis alium W fteht für ἑτέραν τῇ ἑτέρᾳ (ἢ. 5
für ἀλλήλαις, vgl. Rbn[d, Stola und Vulgata €. 275); O hat hier
aliam ad aliam, aber $8. 8 ex alis alio für καὶ ἑτέρα τῆς ἑτέρας; Aug.:
eonjunges aulaeum ad aulaeum circulis. — de in inftrumentaler
fBebeutung (j. δὲ ὃ π| ὦ ©. 892) fommt oft vor (val. f. 5, 8 canite
de tuba; €r. 39, 12 ad ministrandum de ipsis), unten ®. 11 aud
bei Aug. | ;
7. Statt cooperimentum tabernaculi W, operimentum supra
tabernaculum Ο, σκέπην (ἐπὶ) τῆς σκηνῆς, hat Aug. operire super
tabernaculum. Berfelbe bat undecim vela facies. ea, . Erdex« δέῤῥεις
ποιήσεις αὐτά. Cyn O ift et vor facies Abſchreiber⸗Fehler, in W wahr:
ſcheinlich illa durch ben Abfchreiber ausgelafien.
8. latitudo ejus O, genauer latitudo veli unius W, Aug., τῆς
δέῤῥεως τῆς μιᾶς. Am Ende hat Aug.: mensura eadem erit undecim
velorum, gt. τὸ αὐτὸ μέτρον ἔσται ταῖς ἕνδεκα δέῤῥεσιν.
9. in se O, ftatt in unum W, ἐπὶ τὸ αὐτό, hat auch Aug. —
356
coniuniges quinque vela in
unum et duplicabis velum
sextum secundum velum ta-
bernacuh. 10. Et facies
aneas L in orificio veli
unius contra medium secun-
dum commissuram et L
ansas facies
veli huius, qui coniungitur
&d secundum velum.
11. Et facies
circulos aereos L et con-
. junges circulos de ansis et
tenis,
iunges V vela in se et sex
vela in se, et reduplicavis
velum sextum secundum
faciem tavernaculi. 10. Et
facies ansas L in fronte
veli unius, quae contra me-
dium est secundum com-
missura, et L ansas facies
super frontem veli, quod
coniunctum est ad secun-
dum velum. 11. Et facies
circulos aureos L et con-
iunges circulos de ansis et
coniunges vela, et erit
unum. 12. Et suppones
coniunges vela, et erit
unum. 12. Et subpones
duplicabis W, 9(ug., reduplicabis O, ἐπιδιελώσεις, — vela binter sex
(0, Aug., Or.) ift t. W durch ben Abſchreiber ausgelaflen. — secun-
dum velum W if Schreibfehler für secundum faciem O, Aug., κατὰ
πρόσωπον. ]
10. ἐπὶ τοῦ χείλους wird in W aud) $3. 4 durch in orificio, in
O burd in fronte, von Aug. bier burdj in ora, 3D. 4 burd) in ora
summa tolebergegeben. — συμβολή, bei Aug. immer commissure, W
und O bier commissura, ®. 4 6eibe commissio. — Statt contra me-
dium W genmter quae (quod) contra medium est O, Aug., vga mis
τῆς ara μέσον. — Bor weli hujus W bat bet Abfchreiber in orificio
außgelaflen, ἐπὶ τοῦ χείλους τῆς δέῤῥεως, super frontem veli O, super
oram veli Aug. — qui (quod) conjungitur W, quod eomjunctum
est O, Aug., τῆς συναπτούσης. — Um Schluſſe ftebt im Gr. nur τῆς dev-
κέρας, in allen drei lat. Xerten ad secundum velum.
11. aureos O verfchrieben für aereos. Ang. ſtimmt ganz genou
mit W. |
12. superavit ftebt für superabit, tabernaculis W ift verfchrieben
für tabernaculi. — velis W, in velis O, Wug., i» ταῖς δέῤδεσιν. — Der
legte Satz Inutet im Gr. : τὸ ἥμισυ τῆς δέῤδεως τὸ ὑπολελειμι μένον Uno-
καλύψως εἷς (eig fehlt in den meiften Hanbfchriften) τὸ πλεονάζον τῶν
Die Würzburger Rala⸗Fragmente. 857
quod superavit velis ta- quod superavit in velis ta-
bernaeulis; dimidiam par- bernaculi; demediam veli,
tem veli abscondes quod quod superavit, subteges;
superaverit quod exuperat ex velis ta-
velorum, abseondes post vernaculi, subteges post ts-
tabernaculum. bernaculum.
Die in biejen Verſen vorkommenden Differenzen jchlies
Ben die Annahme, daß den beiden Terten die nämliche Ueber⸗
-fegung zu Grunde liege, nicht aus. Daffelbe gilt von ben
vorhergehenden Verſen, au8 denen noch folgende Differenzen
zu bemerken find: 25, 30. 82 x. ijt oyaupwangss in O
burch speroteres, in W durch lychnuchi wiebergegeben,
25, 32. 33 χρατῆρες ἐχεετυπωμένοε xapvloxovg in O durch
crateres deformati charyssos, it W burdh crateres de-
formati in modum nuclioli (tii beiden Fällen jcheint W
die revidirte Ueberſetzung zu bieten), 25, 40 εὐπὸς in O
burd) exemplum, in W burdj forma (Hilariuß species),
26, 5 ἀνειπρόσωποι ἀντισπίπτουσαι ἀλλήλοις elg ἑκάστην
in O burd) faciem contra faciem invicem incumbentes
in unamquamque, in W burd) ad alis alium propen-
dentes ad invicem in unamquamque. Dagegen ftimmen
beide Terte überein in ber lleberjegumg von τορέυτός 25,
36 durch tornatus, von βύσσος κεκλωσμένη 26, 1 durch
byssus tortus, von ἐχόμεναι 7; ἑπέρα ἐκ τῆς ἕτερας 26,
3 burd) continentes ex alis alio und daneben continentes
alterutrum (W, alter alteri O) u. |. w.
δέξῥοων τῆς σκηνῆς ὑποκαλύψεις ὀπίσω τῆς σκηνῆς. Ὁ gibt bieje Worte
genau wieder (demediam iff verfihrieben für dimidium Aug.). In W
ſcheint quod (quae) superaverit irrthümlich Hinter, ftatt vor abscondes
gefeßt unb ba8 bem τὸ πλεονάζον Entſprechende (quod exuperat 0)
außgelaffen zu fein. Aug. ftimmt mit O, nur hat er abundat in velis
flatt exuperat ex velis.
358 Reuſch,
Der Serb des Auguſtinus ſtimmt bet den oben mitge⸗
theiften Gtüden mehr mit O als mit W. Auch bei Gr.
24, 1—11; 26, 13—37 bdifferirt Auguſtinus nicht viel von
dem Ottobonianischen Terte, und das Gitat Gen. 50, 15
—21 im Speculum c. 17 ftimmt mit bemjefbem big auf
wenige Worte überein). Von dem Würzburger Xerte
bifferiren die Gitate in Auguftind Quaestiones bald mehr
(Lev. 5, 14—19), bald weniger (Lev. 5, 2—7); dag Spe-
culum bifferirt Er. 34, 12—17 ftart, weniger Gy. 22,
21—27. Der Sext des Ambrofiuß weicht bei Er. 22, 25
—27 nur wenig, bei Gen. 40, 12—15 jtärfer von bem
Würzburger ab. Cyprians Tert weicht bei Er. 22, 22—24
nach Hartel's Ausgabe weniger von dem Würzburger ab,
als nach bem bier von Ranke aus Sabatier eninommenen
Terte 3).
Zucifer von Cagliari ftimmt χοῦ. 32, 26—29; Sv.
18, 2—5; 19, 32 [o jtarf mit bem Würzburger Texte
überein, daß biejer und fein Text dieſelbe Meberjegung zu
repräfentiren jcheinen. Die ftärffte Abweichung ijt ba2 wahr⸗
fcheinlich auf einem Abjchreiberfehler berufenbe paratus ve-
niat ftatt pergat Er, 32, 26. Dagegen hat Xucifer Gyob.
32, 29 nad der Coleti’fchen Ausgabe (Migne 13, 937) nicht,
wie Ranfe €. 179 citirt, consecrastis hodie manus vestras
Domino, ſondern implestis hodie manus Domino (W:
implestis hodie manus), und nicht in fratre suo, ut detur
vobis benedictio, jonbern, wie W, in fratre, dari in
vobis benedictionem. — Deut. 31, 11—13 ijt bie Dif:
1) f. Vercellone, Dissertazioni p. 90.
2) Hertel hat, wie Ww, $5. 22 vexabitis flatt vexaveritis und
®. 24 occidam flatt perimam.
Die Würzburger Itala⸗Fragmente. 359
fereng ftärfer,, aber nicht wefentlich )). Die ftärfere Ab-
weichung bei dem einzelnen Verſe Lev. 19, 35 beruht wohl
auf ungenauer Citirung 3),
2. Was bie prophetifchen Fragmente angeht, jo treffen
ber Würzburger und der MWeingartener Gober bei on. 3,
10—4, 8; Ga. 26, 11—27, 5; 45, 1. 2; 48, 21;
Dan. 10, 3—11 gujanunen. Sch glaube, bier fagt Ranke
©. 411 zu wenig, wenn er bie beiden Terte al aliquan-
tum cognata bezeichnet. Ihre Uebereinftimmungen find in
Vergleich zu ben Differenzen jo merkwürdig, daß mir bie
Annahme gerechtfertigt jcheint, daß hier zwei, freilich revi⸗
dirte, Abjchriften ber nämlichen lateinischen Meberjeßung vor:
liegen. Zur Begründung bieler Anficht ftelle ich aunádjt
die beiden Xerte (F bezeichnet den Weingartener) von Son.
3, 10—4, 8 neben einander;
W. F.
3, 10.. malitiam, quam 3, 10.. mala, quae lo-
locutus est ut faceret, et cutus est ut faceret eis, et
non fecit. 4, 1. Et contri- non fecit. 4, 1. Et contri-
1) 3, 12 ift nach Goleti zu leſen: et proselyto qui fuerit.
2) Lev. 19, 32 fehlt bei Ranke in bem Gitat aug gucifer honora-
bis faciem presbyteri.
8, 10, malitiam quam W entjpridjt bem gr. τῇ κακίᾳ ἢ genauer
als mala quae F. — eis (αὐτοῖς) F ift in W vielleicht vom Abſchrei⸗
ber außgelafien. Tert.: de malitia, quam dixerat facturum se illis,
nec fecit. ALucifer: de malignitate (f. 8. 2: in malignitatibus),
, quam locutus est facere eis, et non fecit. Qieron.: super mali-
tiam, quam locutus fuerat (anber8mo est) ut faceret eis, et non
fecit.
4) 1. tristia W ift Schreibfehler für tristitia, est F fir et. —
confusus est W ent[pridjt bem griech. συνεχύϑη genauer als maestus
factus est F. Luc.: et contristatus est Jonas tristitia magna et
confundebatur. Hieron.: et contr. est J. tr. grandi et confusus est.
Theol. Ouartalfirift. 1872. III. Heft. 25
360
status est Jonas tristia
magna et confusus. 3. Et
orabit ad Dominum et di-
xit: Ο Domine, nonne sunt
haec mea verba, dum ad-
huc essem in terram meam
terra? Propterea proposu-
eram fugere in Tharsis,
quoniam sciebam, quia tu
misericors et indulgens et
patiens et nimium miseri-
cors et paenitens in ma-
lignitatibus. 3. Et nunc,
Dominator Domine, accipe
animam meam a me, quia
Reuſch,
status est Jonas tristitia
magna est maestus factus
est. 4. 1, Et oravit ad
Dnm et dixit: Domine
nonne haec sunt verba mea,
cum adhuc essem in mea
terra? Propter hoe propo-
sueram fugere in Tharsis,
quoniam sciebam, quia tu
misericors [et indulgens et
patiens et nimium miseri-
cors] et paenitens in ma-
lignitatibus. 3. Et nunc,
Dominator Domine, accipe
animam meam a me, quo-
2. O Domine W ent[pridt ber Ledart ber beften griedj. Sands
fchriften à xe beſſer als Domine F; ba$ o fann burd) den SXbfdrei-
ber weggelaflen fein. — in terram meam terra W ift verfchrieben für
in terra(m mea(m) ober in mea terra. Die Uebereinſtimmung ber
beiben Xerte bei proposueram (aud) menm bieje8 verjchrieben fein follte
flatt praeoccupaveram, ſ. uc und Qierom. und bei ber folgenden
Formel (bie in 3Barentbefe geſetzten Worte fehlen bei Ranke G. 255,
ftehen aber in F) ift beſonders bemerkenswerth gegenüber ben Gitaten
Tert.: propterea praeveni profugere in Tharsos, quia cognoveram,
te esse misericordem et miserescentem, patientem et plurimum
misericordiae, poenitentem malitiarum. &uc.: Et oravit apud De-
um dicens: O Domine, nonne haec sunt verba mea, cum adhuc
essem in terra? Ideo praeoccupaveram fugere in Tharsis, qno-
niam scivi, quia tu miserator et benevolus, patiens et misericors
et poenitens in malignitatibus. $ieron.: O Domine, nonne isti
sunt sermones mei, cum adhuc essem in terra mea? Propterea
praeoccupavi fugere in Tharsis; scio enim, quod tu misericors
et miserator, patiens et multae miserationis et agens poeniten-
tiam super malitiis.
Die Würzburger Stala-Fragmente.
bonum est mihi mori quam
vivere.
4. Et dixit Dominus ad
Jonam: Si vehementer con-
tristatus es tu?
5. Et exiit Jonas extra
civitatem et
fecit ipse sibi
tabernaculum et sedebat
sub ipso, donec videret,
quid accideret civitati.
6. Et praecepit Dominus
Deus cucurbitae, et ascen-
dit supra caput ejus, ut
esset umbra supra caput
Jonae, ut a malis obum-
361
niam bonum est mihi mori
magis quam vivere.
4. Et dixit Dominus ad
Jonam: Si valde contrista-
tus es tu?
5. Et exiit Jonas extra
civitatem et sedit contra
civitatem et fecit ipse sibi
tabernaculum et sedebat
sub ipso in umbram, donec
videret, quid accideret civi-
tati. 6. Et praecepit Do-
minus Deus cucurbitae, et
ascendit super caput Jonae,
ut esset umbra super caput
ejus et obumbraret eum a
8. magis fann von bem Abfchreiber in W außgelaffen ober in F
beigefügt fein; wiele Minuslelhandſchriften haben μάλλον, welches in ben
älteren Qanb[driften fehlt. Mar. Zaur.: Tolle igitur Domine ani-
mam meam, quia melior est mihi mors quam vita. Hieron.: Et
nunc, Dominator Domine, tolle animam meam a me, m melius
est mihi mori quam vivere.
4. Hieron. wie W, aber ohne si. — vehementer unb valde
fónnen von ben Abſchreibern vertaufcht fein.
δ. es sedit contra civitatem ift in W wahrſcheinlich von bem
Abſchreiber ausgelaflen (im Griech. fehlt e$ nur in einigen Minuskeln);
eben[o in umbra(m) (ἐν σκιᾷ III. XII al) Bemerkenswerth ift ipse
Sibi (αὐτῷ oder ξαυτῷ) und quid accideret für ví ἔσται in beiben
Texten.
6. Die Vertauſchung von ejus und Jonae Hinter caput in W
(bet gr. Text ſtimmt mit ΕἼ, die Weglafiung von ejus hinter malis
in W (xaxov αὐτοῦ) unb et für ut in F fommen auf Rechnung
ber Abfjchreiber. Der Tert bei Hieron. weicht nur im Yolgendem von
F ab: utesset umbraculum super caput ejus et profegeret eum ἃ
guis malis; laetatusque est Jonas super SUB
25°
362
braret illum. Et gavisus est
Jonas super cucurbitam
gaudio magno. 7. Et prae-
cepit Deus vermi matutino
in crastinum, et percussit
cucurbitam et arefacta
est. 8 Et factum est
confestim oriente sole et
praecepit Deus spiritui
Reuſch,
malis ejus. Et gavisus est
Jonas super cucurbitam
gaudio magno. 7. Et prae-
cepit Dominus vermi ante-
lucano in crastinum, et
percussit cucurbitam et are-
facta est. 8. Et factum
est confestim oriente sole
et praecepit Deus spiri...
Bon Ezech. 26, 11. ff. theile ich den Würzburger Sext
mit und notire in ben Anmerkungen die Abweichungen be
MWeingartener.
11. Ungulis equarum plateas tuas conculcabunt,
populum tuum gladio .interficiet et substantiam virtutis
tuae in terram deducet. 12. Et exercitum tuum de-
7. Dominus F für Deus A (δ᾽ 9«c;) ijt ein gewöhnlicher Abfchreiber-
fehler. — vermi matutino A bat aud) Qieron. in Is. 45 (bier vermi
mane). Ob bieje$ ober antelucano bie urjprüngliche Ueberjepung und
welches von beiden oon bem Gmenbator ober Abfchreiber herrührt, ijt nicht
zu entjcheiden (Dj. 6, 4 bat W: lux matutina et ros antelucanum). Bes
merkenswerth ijt bie Uebereinſtimmung bei in crastinum (auch bei Hieron.;
Big. Tapf.: in crastino) unb confestim oriente sole für ἅμα τῷ ἀνατεῖλαι
τὸν ἥλιον, Hieron.: statimque ut ortus est sol, Vig.: orienti sole.
Zu 4, 6 citirt Ranke bie Bemerkung bed Hieron. (in Jon. p. 426),
8686 veteres translatores secutum esse, qui et ipsi hederam inter-
᾿ pretati fuerint. Er hätte beifügen fünnen, bap Hieron. Ep. 112, 22
fügt: Aquila cum reliquis hederam transtulerunt, i. e. χισσόν, δαβ
aber mabr[djeinfid) nur Symmachus κισσός, Aguila und Theodotion »-—
κεών geichrieben (f. Field 2. b. St.).
11. F: equorum ejus, τῶν ἵππων αὐτοῦ (αὐτοῦ fehlt nur in einigen
Minusfeln); ejus ſcheint ber Abfchreiber überfehen zu haben. — Bor
plateas fehlt in beiden Texten πάσας. — ἘΠ: et populum ; im Griedj.
fein xo. — F: interficient für dve4e ift Schreibfehler, ba deducet
folgt. — Statt virtutig bat. Hieron. fortitudinis.
12. detrahent unb demolient in F find Schreibfehler, beögleichen
Die Würzburger Itala⸗Fragmente. 363
praedabitur et possessionum tuarum spolia detrahet et
muros tuos demoliet, parietes tuos concupiscibiles
destruet et lapides tuos et ligna et pulverem tuum in
medium maris tui inmittet. 13. Et dissolvet multitu-
dinem musicorum tuorum, et vox psalteriorum tuorum
non audietur amplius. 14. Et dabo te in levem pe-
tram, siccatio retiarum eris, non aedificaberis [quo-
niam ego locutus sum], dicit Dominus.
Die folgenden Verſe 15— 18 finden fid) auch bei Ti-
djoniu$ (bei Sabatier), unb zwar in fo manchen Stücken mit
den beiden Handfchriften übereinftimmend, daß aud) feinem
Terte die nämliche Ueberſetzung zu Grunde liegen fünnte.
15. Haec dicit Dominus ad te, Sor: Non a voce
bie Weglaſſung von tui nach maris in F unb von et vor parietes in
W. — Statt parietes tuos bat F domus tuas (τοὺς olxow cov) und
flatt inmittet (ἐμβαλεῖ) jactabit; erfteres iff Emenbation nach bem
Griechiſchen. Gebr bemerfenswerth ift bie Webereinftimmung beider Terte
bei exercitum (δύναμιν) wnb possessionum tuarum spolia detrahet
(σκυλεύσει τὰ ὑπάρχοντά oov). Hieron.: vastabit opes tuas, spoliabit
substantiam tuam.
18 ift in beiden Terten gleich. Bei 14 weichen fie ſtärker als ge:
wöhnlich von einander ab. Zunäcft fehlt in W am Schluffe durch ein
Berfehen des Abſchreibers quoniam ego locutus sum, was ἰῷ oben
aus F in Parentheje beigefügt babe; dann hat F genauer et ultra jam
non reaedificaveris (beris), οὐ u7 οἴκοδομηθῆς ἔτι, ferner sagenarum
(σαγηνῶν) ftatt retiarum. Auffallender ift, daß ftatt in levem petram
W, eis λεωποτρίαν, in nitidissimam petram Hieron., F in saxa hat.
24, 7 bat aber auch W super saxa für ἐπὶ λεωπετρίαν (24, 8 wieber
levem petram). Danach [dint auch bier in ber TYateinifchen Webers
ſetzung urfprünglih in saxa geftanben zu haben und dieſes ſpäter nad)
dem Griedj. geändert worden zu fein. Field führt hier αἵ urjprüngliche
Lesart ber Sept. λεωπετρίαν an, bem in ber Herapla aus Aquila und
Theodotion πέτρας beigefügt war; 24, 7 notirt er als Ueberjegung ber
Sept. λεωπετρίαν, aus 9(quila λείαν πέτραν.
15. Am Anfange fehlt in W unb bei Tich. propterea ober propter
quod (διότι, propterea quod F, quia Hieron.). Statt ad te Sor
364 Reuſch,
ruinae tuae in gemitu vulneratorum tuorum interfectione
in medio tui commovebuntur insulae? 16. Et descen-
dent a sedibus omnes principes maris et auferent mitras
& capitibus suis et vestem suam se despoliabunt in
—
haben F unb Tich. ad Sor, Hieron. Sor, τῇ Zoe (nur III ἐπὶ σέ, Zoe,
biefelbe Differenz Czech. 27, 8, wo W unb F ad Sor haben). Statt
non W F haben Ti. unb Hieron. nonne. Statt interfectione W (dum
interficiuntur gladio Tich., ἐν τῷ ἀναιροϑῆναι μαχαίραις 29; jebenfalld
fehlt in W gladii) bat F: in evaginatione gladii, ἐν τῷ σπάσαι μά--
χαιραν, cum evaginatus fuerit gladius. Hieron. in medio tuo
F kann verjchrieben fein für in medio tui W id.
16. descendens F ift Schreibfehler für descendent W Xi. Hie⸗
ton. — Sn W fehlt hinter sedibus ba$ (Bron. suis F Ti. Hieron,
(αὐτῶν). — de gentibus (dx τῶν ἐϑνῶν), was F hinter principes bat,
fehlt auch in 62 und bei Tich unb Hieron., feheint alfo auch im ber
bem Ueberſetzer vorliegenden Handſchrift nicht geftanben zu haben und
bon einem Emenbator, ber eine andere Handſchrift verglich, nachgetragen
worden zu fein. — Statt a hat F de capitibus suis; bei Tich. fehlen
bieje drei Worte (Hieron. hat coronas suas) burd) einen Abfchreiber:
fehler ober auf Grund einer Revifion nad) bem hexaplariſchen Zerte, in
welhem ano τῶν κεφαλῶν αὐτῶν mit bem Obelus bezeichnet ift. —
Hinter vestem hat in W ber Abfchreiber variam F Tich. (ποικίλον)
ausgelaſſen. Bemerkenswerth ift. bie Mebereinflimmung in vestem suam
se despoliabunt (se dispoliabunt F, dispoliabunt se Tich.) für τὸν
ἱματισμὸν... αὐτῶν ἐκδύσονται (£B braucht nicht σχυζεύσονται geſtanden
zu baben, wie Otanfe zu meinen fcheint), vestimentis suis variis nu-
dabuntur Hieron. Ebenfo iff ἐκστάσει in W unb F und bei Xid). burd)
in stupore mentis (Hieron. in furore) iberjegt. Genau bem gried.
ἐκστάσει ἐκστήσονται entiprechenb hat Sid). in stupore mentis stupebunt.
F bat in stupore mentis et stupebunt; ber Ueberſetzer bat alfo ἐκστάσει
mit bem vorhergehenden ἐνδύσονται verbunden unb dann vor bem stupe-
bunt (= ἐχστήσονται) et einge[djoben. Dieſes et stupebunt in F ift wohl
Emenbation des et dementia induentur in W. Ob bieje8 nur freie
Ueberfegung von ἐκστήσονται ijt ober ber Ueberſetzer flatt beffem etwas
anderes [a8 (μανέαν ἐνδύσονται, wie Ranke vermuthet, ober wohl ebet
ἔκπληξιν ἐνδύσονται, wie Symmachus bat), ijt nicht zu entjcheiben. —
super terram sedebunt ift bei Sij. ausgelaflen; vor ingemiscent
Die Würzburger Stala: Fragmente. 365
stupore mentis et dementia induentur. "Super terram
sedebunt et timebunt perditionem eorum, ingemescent
super te 17. et accipient super te lamentationem et
dicent tibi: Quomodo destructa es de mari, civitas illa
laudabilis, quae dedit timorem super omnibus habi-
tantibus in ea; 18. nune timebunt insulae ex die rui-
nae tuae.
Aus den folgenden Verſen notire ich nur einige bemer-
kenswerthe Einzelheiten: 26, 20 fehlen in W in Folge
eines Homdoteleuton einige Zeilen: in foveam (ad populum
aeternitatis, et collocabo te in profunda terrae, sicut
seternam solitudinem cum descendentibus foveam), ut
non etc. Tann haben beide Handjchriften ut non consti-
tuaris ad inhabitandum als Ucberfegung von ὅπως um
κατοικηϑῆς (ut non habiteris $jicron.). — 27, 3 hat W
hinter Sor die Worte terrae domus, bie in F und im
Griech. fehlen. Beide Handſchriften überfegen ἐμπόριον durch
invectio (Hieron. negotiatio) — 27, 4 hat W Dobelin,
verfchrieben für Beelim E, τῷ Besleig, ferner circumdede-
runt speciem tuam (circumdederunt tibi decorem
fehlt in W et, welches F, Tich., Hieron. und ba$ Griech. haben. Statt
perditionem eorum W hat F interitum eorum, Tich. in interitu
suo, Hieron. perditionem suam.
Bei 17 ftimmen F und Sid. mit W überein; nur haben fie ti-
morem suum (φόβον αὐτῆς) fiatt timorem super, was ein Abfchreiber:
fehler ifi; Sid. bat außerdem inhabitantibus. Hieron. hat eine anbete
Ueberfegung unb nad) urbs laudabilis ben aus Theobotion ftammenden
(auch in III, 28 und andern gried. Sandfchriften ftehenden) Zuſatz:
quae fuisti fortis in mari ipsa et habitatores ejus.
Auch bei 18 flimmen F und Sid. mit W überein; nur haben fie
et ftatt nunc; bie griech. Handfchriften haben theils καέ theild xoi vore
Bei Hieron. folgt noch (au8 Theobotion): et turbabuntur insulae in
mari in exitu tuo.
366 Reuſch,
Hieron.) für περιέϑηκαν σοι κάλλος, während F dafür, wie
$8. 3 beide Hanbfchriften, inposuerunt tibi decorem jet.
Ezech. 45, 1. 2; 48, 21; Dan. 10, 3—11 Stimmen
beide Handſchriften bis auf Kleinigkeiten überein.
Danach fcheint εϑ mir unzweifelhaft, baB ber Würz-
burger und der Weingartener Handſchrift blefelbe Ueberſetzung
ber Bropheten zu Grunde liegt. Der Sext des Tichonius
ſtimmt, wie gefagt, bei (aed. 26, 15—18 und ebenjo bei
Eich. 87, 21—28 im Wefentlichen mit dem Würzburger
überein. Die Bergleichung anderer längerer pafriftifcher Gitate
Liefert folgendes Nefultat: Cyprianus hat einen andern Sext
als den Würzburger (j. namentlich Sj. 46, 1. 5—7; Jer.
28, 23. 24; Dan. 2, 16. 17; 8, 18—18; 9, 4— 7); be&-
gleichen Ambroſius (Klagel. 2, 16 ff; Ezech. 38, 14. 15).
Dan. 9, 3—9 bei Auguftinn® (Epist. 111) jtimmt im
Mefentlichen mit dem Würzburger Sext; bei Czech. 34,
17—31 find die Differenzen zwifchen Auguſtinus und bem
Würzburger Terte viel ftärker, ohne gerade bie Möglichfeit
auszuſchließen, daß beiden Serten eine urfprünglich identische
Ucberfegung zu Grunde liege). Daß Speculum ftimmt
bei Sf. 20, 8—10; 30, 1. 6 ) jo genau mit dem Würz—
burger Texte überein, daß man die Identität dev Meberfegung
annehmen könnte. Aber 31. 29, 13. 14 citivt ba8 Speculum
abweichend von bem Würzburger (unb bem griechifchen) Texte.
Bei er. 14, 22 jtimmt das Speculum ziemlich genau mit
1) Of. 1,1 ff. wird von Auguſtinus c. Faust. 22, 89 nad) ber
Vulg ata cititt.
2) Sf. 80, 1 ſteht im Spec. c. 88 pactum, nicht factum. 80,6
"Spec. c. 114 fehlt bei Ranke ©. 264; es lautet: In tribulatione et
angustia leo et catulus leonis, index (I. inde et) aspides et pro-
genies aspidum.
Die Würzburger Itala-Fragmente. 867
dem Würzburger Terte; aber er. 22, 3 finden fid) wieder
ftärfere Differenzen. Die Abweichungen Xuciferd find bet
Son. 3, 10—4, 2 (j. c. €. 359) und 4, 9—11 nicht fo
ftavf, um bie Identität der Meberfegung auszuschließen 3),
wohl aber Ὁ]. 5, 1.
Bei der Oratio Azarise (Dan. 3, 25 ff.) hat Sabatier
zwei Handjchriften unb den Sert des Card. Thomaſius ver-
glichen;; diefe geben den nämlichen Sext mit einigen Varianten.
Der Würzburger Tert ijt von biejem verſchieden, unb mit
ihm Stimmt Auguftinug viel mehr überein als mit bem
andern ?). |
IT. Was das Verhältniß zum griechifchen Terte betrifft,
jo ftinnmen nad) Ranke's Vergleihung die prophetifchen Stücke
unter den Uncial = Hanbichriften am meiften mit XI, nod)
mehr mit der Minuskel-Handfchrift 51 (einem Mediceus
1) Son. 4, 11 Bat Zucifer nach Coleti’3 Ausgabe wie W : qui non
sciverunt dexteram, nidt: qui nesciunt quid sit inter dexteram.
2) Ranke bat Hartel’3 Ausgabe bed Cyprian erft von S. 261 an,
Goleti'8. Ausgabe des gucifer und den pollftünbigen Abdrud beg Specu-
lum in Mai's Nova Patrum Bibliotheca gar nicht benukt. Einige
aus ber Vergleichung biefer Ausgaben fid) ergebende Berichtigungen habe
ich bereit8 angegeben. In Gyprian8 Text find S. 179. 252. 253 noch
einige Kleinigkeiten zu corrigiren; überjeben ijt zu Sf. 80, 1 Ep. 59,
5. Aus bem Speculum fehlen noch folgende Gitate: Df. 6, 6 (c. 24):
Quoniam misericordiam volo quam sacrificium et agnitionem Dei
quam holocausta. ter. 16, 19 (c. 44): Domine fortitudo mea et
adjutorium meum et refugium meum in die malorum etc. er.
17, 5 (c. 107): Maledictus homo, qui spem habet in homine et
confirmaverit carnem brachii sui et a Deo recesserit cor ejus.
Ser. 17, 10 (c. 9): Ego Dominus scrutans corda et probans renes;
ut dem etc. Sr. 21, 12 ftebt im Spec. c. 111: eripite direptum
de manu injuriantis eum. — Le. 28, 5. 6 fehlt das Gitat Jul.
Hilarianus, de pascha c. 11 (Migne 18, 1112). Gen. 40, 12.
18; Ex. 22, 26 fehlen ein paar kleine Citate aus Auguſtins Lo-
cutiones.
368 Reuſch,
aus dem 11. Jahrhundert), die pentateuchiſchen Stücke mit
VII und 134 (gleichfalls einem Mediceus aus dem 11.
Jahrhundert). Ich habe eine Anzahl von Stellen mit der
neuen Ausgabe ber Fragmente ber Hexapla von Field ver-
glihen und dabei Folgendes gefunden:
1. Die prophetifhen €tüde geben burchgängig ben vor
hexaplariſchen Text. Hieronymus gibt bekanntlich in feinen
Commentaren eine dem beraplarifchen Xerte entfprechenbe
Meberfeßung. Die von ihm beigefügten Eritifchen Zeichen be?
Origenes find in den Handfchriften und Ausgaben meift weg:
gelafien, Tießen fid) aber nach ben Field'ſchen Fragmenten
uud dem Würzburger Terte großentheils wieder herftellen,
3. B. Iſaias 29.
W.
5. Et erunt sicut pulvis
de pariete (zoiyov) divitiae
Hieronymus.
5. Et erunt sicut pulvis
de rota (τροχοῦ) divitiae
impiorum et sicut pulvie
qui vi fertur
7. Et erit (erint?) sicut
qui in somnis vidit ((. videt)
divitiae gentium omnium,
quicumque militaverunt ad-
versus Hierusalem !)
impiorum, et sicut favilla
quae rapitur 3t multitudo
eorum qui te oppresserunt :
7. Et erunt quomodo vi-
dentis somnium : nocte:
divitiae omnium gentium,
quae militaverunt contra
Ariel — et omnes qui pu-
gnaverunt contraJerusalem:
1) ᾿]ερουσαλήμ ftatt ᾿4ριη2 haben auch viele griech. Handfchriften;
ba8 Folgende fehlt nur in brei Minusfeln und wirb bei Yield auf:
dbrüdlich aI8 in ber LXX ftehend angegeben, tit alſo nicht heraplarifche
Zuthat, Tondern von bem lateinifchen Abfchreiber ausgelaffen. Hieron.
bemerft p. 890: LXX transtulerunt: et omnes qui milstaverunt
[pugnaverunt] conira Jerusalem, quod in Hebraeo non habetur;
er bat dieſes aljo mit dem Obelus bezeichnet.
Die Würzburger Itala⸗Fragmente.
369
et universi qui congregati
et qui adfli- sunt super eam et afflixe-
gunt eam. runt eam.
13. Adpropiat mihi plebs 13. Appropinquat mihi
haec, populus iste $£ ore suo : et
labiis suis honorant me.
24. Quiautem murmurant
discent obaudire, et linguae
labiis suis glorifica(n)t me
24. Et mussitatores di-
scent obedientiam —- et
quae balbutiunt discent linguae balbutientes discent
loqui pacem. loqui pacem ?).
Zu Sieh. 24, 4—14 führt Ranke ©. 324 ble Be⸗
merfung be8 Hieronymus (p. 274) an: Quorum pleraque
(ba8 heißt nicht „das meijte", ober „jehr vieles“, ſondern
„manches“) de Theodotione addita sunt, et verbum he-
braicum emma, pro quo nos execrabilem immunditiam
interpretati sumus. Illudque ab eis (LXX) additum
est quod in hebraico non habetur et obelo praenotan-
dum est: Propterea . ... ad irritandum (38. 14). Ranke
fügt bei: Quae ex Theodotione addita sint, nobis in-
quirentibus praeter infelix illud zemma potissimum vo-
cula ista Adonai, quae vv. 6. 9. 14. 21 habetur, in
oculos incurrit; sed absque dubio Hieronymi testimo-
nium plura flagitat. Mit Hülfe Field's und be8 Würz-
burger Textes [ajfen fid) diefe plura, die aljo mit bem
Aſteriscus zu notiren find, wie Propterea etc. mit bent
Obelus, ziemlich ficher ermitteln: V. 9 vae civitas san- |
guinum, ®. 10 et ossa concrementur, ®. 11 suos in-
censa est und illus, ®. 13 immunditia tua zemma und
et non es emundata ab immunditia tua, ®. 14 nec
2) Hieron. bemerft bier p. 899 ausdrücklich: obelo praenotan-
dum est.
370 Reuſch,
deprecabilis ero. Andere Stellen, bie den Unterſchied des
vorhexaplariſchen und bed hexaplariſchen Textes veranſchau⸗
lichen, find z. B. Ser. 18, 10; 21, 4; Ezech. 26, 17. 18
(f. 0. ©. 365). |
Die Stüde Ser. 17, 1—4; 39, 4—14 fehlen, wie in
ber Septunginta, fo aud) im Würzburger Text. Die Verſe
Ser. 23, 7. 8 fehlen in ber Septuaginta hinter 23, 6, ſtehen
aber hinter 23, 40, wo fle auch in bem Würzburger Gert,
ber mit 28, 89 abbricht, ge[tanben haben werben. Der
Schluß dieſes Capitels, foroelt er in ber Handſchrift erhalten
üt, lautet: 36. Et dictum Domini nolite nominare, pro-
pter quod dietum erit homini verbum ejus. 37. Et quare
locutus est Dominus Deus noster? 38. Propter hoc
haec dicit Dominus Deus: Propter quod dixistis ver-
bum Domini istut dictum Domini et misi ad vos dicens:
non dicetis dictum Domini, 39. propter hoc ecce ego...
Dazu bemerft 9tanfe ©. 306: Quae inde a v. 37 usque
ad v. 39 sequuntur, eo gratiora accipiuntur, quo majo-
rem ab ((. ea) quae in Hieron. comm. post factam
versuum 37—40 allegationem dicta sunt: Hucusque in
Septuaginta non habetur criticis lectoribus horum ver-
suum addubitationem moverunt. Das beruht auf einem
Irrthum. Das Hucusque in LXX non habetur jteht iu
Vallarſi's Ausgabe richtig hinter Haec dices (sive dicetis)
ad prophetam: Quid respondit tibi Dominus et quid
locutus est Dominus? Si autem onus Domini dixeritis.
Die diefen Sätzen entfprechenden griechifchen Worte werben
von yield mit X © hinter ®. 36 angeführt, mit ὁ (LXX)
mur καὶ ví ἐλάλησε χύριος ὁ ϑεὸς ἡμῶν, wad im Würz
burger Tert a8 38. 37 fteht, 323.38 ff. ftanden alfo in der
Septuaginta.
Die Würzburger Itala⸗Fragmente. 371
An einzelnen Stellen ſcheinen einige heraplarifche Ele-
mente in ben Würzburger Sext. gekommen zu fein. Ser. 40,
5 bat er: et si malum est oculis tuis venire te mecum
in Babyloniam, revertere ad Galadiam, filium Achicam,
fili Saphan. Der urfprüngliche Tert der Septuaginta lau-
tet: δἰ δὲ μή, ἀπότρεχε, ἀνάσερεψον πρὸς τὸν Todo-
Ma» xvÀ., der hexaplariſche Text: + καὶ ei πονηρὸν ἐν
᾿φϑαλμοῖς gov ἐλϑεῖν μετ᾽ iuo? εἰς Βαβυλωνίαν, ἰδοὺ
. πᾶσα ἢ. γῆ ἐναντίον σου, εἰς ἀγαθὸν καὶ εἰς τὸ εὐϑὲς ἐν
ὀφϑαλμοῖς σου πορευϑῆναι. ἐχεῖ πορδύου, καὶ ἕως ἐμοῦ
ἐτι οὐκ ἀποστρέψεις, ἀπότρεχε σὺ: καὶ ἀνάστρεψαι πρὸς
τὸν Γοδολίαν. Es ijt inbeB möglich, daß hier der Tateinifche
Ueberjeger (ober fein Abſchreiber) den Anfang des Verſes
nach Analogie be8 im vorhergehenden Verſe ftehenden (si)
bonum est ante te venire te mecum in Babyloniam
mobificirt hat. Anders fcheint es ji mit Ser. 19, 6 zu
verhalten. Der Würzburger Xert lautet: non vocabitur
huic loco taphee et multitudo virorum enom, sed ruinam
trucidationis, ber Gert ber Septuaginta: οὐ κληϑγσδται
τῷ τόπῳ τούτῳ ἔτι (ἔτι om. IIT) διάπτωσις καὶ πολυαν-
δριον υἱοῦ "Eyyóu, ἀλλ᾽ ἢ πολυάνδριον τῆς σφαγῆς. Hierony⸗
mu? tabelf e2, daß bie Geptuaginta pro Topheth διάπτεωσιν
h. e. ruinam et pro valle πολυάνδριον h. e. virorum
multitudinem gelegt. Am Rande einer griechiſchen Hands
Schrift (XII) fteht Gagà9 καὶ φάραγξ neben διάπτωσις
καὶ πολυάνδριον, und eine andere Handjchrift (88) unb bie
ſyriſch-hexaplariſche Ueberſetzung haben dieſes (φάραγξ beide
Male ftatt πολυανδριον) im Texte; εὖ ijt aljo wohl eine
(aus Theodotion ftammende) beraplarijche Lesart. Danach
scheint mir, ber lateiniſche Meberjeger hat gejchrieben: et
non vocabitur huie loco ruina et multitudo virorum
372 Reuſch,
(fli) Enom, sed multitudo virorum trucidationis; ein
Meberarbeiter hat taphet über ruina gejchrieben, und ber
Würzburger Abjchreiber hat dann ven. Text gejtaltet, wie er
jet. vorliegt.
2. Auch bie Pentateuch-Stücte geben den vorberaplarifchen
Text wieder. Es fehlen darin die in bem heraplarifchen Texte
mit dem Aſteriscus beigefügten Worte, 3. Ὁ. Gen. 36, 18
ϑυγατρὸς Ava γυναῖχος ᾿Ησαῦ, (y. 22, 13 μάρτυρα bitter
ἄξεε αὐτὸν, Er. 25, 34 xol ἀαφαιρωτὴρ ὑπὸ τοὺς δύο
καλαμίσκους ἐξ αὐτῆς u. |. Ὁ. Dagegen bat der Würz-
burger Text bie in dem beraplariichen mit bem Obelus θὲς
zeichneten Worte, 3. Ὁ. Er. 32, 15 tabulae /agpédeae
(πλάκες — λίϑιναι :), B. 18 principatus vini (ὀξαρχόν-
των — οἴνου :), ®. 19 duas tabulas (τὰς —- δύο : πελά-
καρ) u. |. Ὁ. Wenn Gr. 22, 14 bie mit dem Obelus be-
zeichneten Worte ἢ αἰχμάλωτον γένηται aud) im Würzburger
Terte fehlen, jo wird das wohl nur auf einem Verjehen bes
Ueberfeger? oder des Mbfchreiberd beruhen. — Gbenjo find
wohl Deut. 31, 15 nur in Folge eines Homöoteleuton einige
Worte ausgelaſſen, welche in der Herapla mit dem Obelus
bezeichnet find (e8 fehlt im Lateinischen auch καὶ ἔστη, welches
jücher zum Ceptuagiuta- Texte gehört), Wenn dagegen Er.
25, 32 Field bie Worte καὶ φρεῖς χρατῆρες . . . xQivor
mit bent Afteriscuß bezeichnet, welche nicht ruv in bem Würz-
burger, ſondern auch in dem Ottobonianiſchen Texte ftchen,
jo wird das wohl auf einem Fehler Field’S oder feiner
Duellen beruhen.
Eigenthümlich ijt die Stelle deb. 20, 2: quicumque
dederit de semine suo principi Moloch, morti moria-
tur. Die Septnaginta haben nur ἄρχοντι irimcipi): τῷ
Moàoy ijt die Ueberſetzung Aquila's, Theodotion's und
Die Würzburger Itala⸗Fragmente. 373
Symmachus' (f. Field ©. 197 n. 14). In mehreren grie-
chiſchen Handfchriften ijt Modox am Rande beigefügt; eine
ſolche Handſchrift muß aljo ber lateiniſche Ueberfeger oder
fein emendirender Abjchreiber vor jid) gehabt haben. Merk—
würdiger Weife hat er Lew. 18, 21 einfach prineipi (ber
Aſhburnham'ſche Tert superposito), objdjon aud) dort τῷ
ἹΜολόχ neben ἄρχοντε fid) am Rande von Handfchriften -
findet. ;
ΠῚ, Die in den Würzburger Fragmenten vorliegende
Ueberfegung ijt im allgemeinen fehr wörtlich, man faun fagen
buchftäblih (SRaufe €. 416 B), mitunter felbjt in der Weife,
daß der Weberjeger bie Buchjtaben genau wiedergegeben und
bet Siun verfehlt hat. Ser. 22, 19 ijt 2. B. ταφὴν ὄνου
ταφήσεται durch sepulturam quam non (ὃν οὐ) sepe-
lietur übevjet und διφήσεται ἐπέκεινα τῆς πυλῆς durch
projicietur ad illam partem (ἐπ᾽ ἐκεῖνα) portae. (Andere
Beifpiele der Art |. bei ϑὲαπέε ©. 413.) Das fchließt aber
nicht αὐ, bap ber Veberjeger jid), wie Ranfe ©. 418 B
anerkennt, auch manche reiheiten erlaubt bat P). Dazu
gehören, um nur einige Einzelheiten hervorzuheben, welche
Ranke nicht gebührend beachtet zu haben ſcheint 3), folgende:
1. Aenderungen der Wortftellung, 3. Ὁ. Gen. 40, 14
cum tibi bene fuerit, ὅταν δὖ γένηταί σοι, (y. 84, 12 ne
contingat tibi, μή σοι γένηται, Lev. 11, 32 opus fiet,
ποιηϑῇ ἔργον, 18, 3 in qua(m) ego vos induco, eig ἣν
ἐγω εἰσάγω vpog.
1) Vgl. meine Observationes criticae in 1. Sap. p. 7.
2) Sd) fchließe dies aus ber faft Ängftlichen Sorgfalt, mit welcher
er an vielen Stellen bie Abweichungen vom griechiſchen Texte in der Weife
notirt, wie 3. DB. zu Ger. 40, 14: σοὶ οὖ γένηται nuspiam, ober zu
Lev. 18, 8: ὑμᾶς elgdyo in graecis codicibus non invenitur neque
vero strenue flagitatur.
374 Reuſch,
2. Die Vertauſchung von Singular unb Plural, 2. 38.
Er. 32, 27 ponite unusquisque gladios vestros in femo-
ribus, ϑέσϑε ἕκαστος τὴν ἑαυτοῦ ῥομφαίαν ἐπὶ τὸν μη-
ρόν, 82, 31 pro peccatis vestris, περὶ τῆς ἁμαρτίας,
Lev. 17, 15 morticina, ϑνησιμαῖον, Sj. 29, 8 in somnis,
ἐν τῷ ὕπνῳ, Ser. 14, 16 non erint qui sepeliant, οὐχ
ἔσται 0 ϑάπτων, 14, 18 sacerdotes et prophetae, iepeus
καὶ προφήτης, 19, 8 in omnibus plagis ejus, ὑπὲρ
πάσης τῆς πληγῆς αὐτῆς, — ev. 7, 1. 10 de carne,
ἀπὸ τῶν κρϑῶν (dazwifchen 7, 8 de istis carnibus), 11,9
in aqua, ἐν τοῖς ὕδασιν (daneben in aquis) und in mari,
ἐν ταῖς ϑαλάσσαις, Ser. 16, 15 ab omni regione, απὸ
πασῶν τῶν χωρῶν, 18, 20 verbum, ῥήματα, 19, 4 san-
guine, αἱμάτων, 41, 8 frumentum et hordeum, zuvgoi
καὶ χριϑαί. (Auch in griechifchen Handfchriften werben mit:
unter die Numeri vertaufcht, à. 98. Ser. 18, 16 τὴν xega-
λήν, τὰς κεφαλας). Omnis potestas Ser. 41, 11. 16 fcheint
verjchrieben zu fein für omnes potestates (]. 38, 13), da qui
cum eo erant folgt.
3. Die Beifügung einzelner Wörter, 3. 38. Gen. 36,
15 hi sunt legati, οἶτοι ἡγεμόνες, 40, 15 et hic nihil
mali (Ambr. male) feci, xal ὧδε ovx ἐποίησα οὐδέν, Gy.
32, 17 vox pugnae in castris auditur, φωνὴ πολέμου ἐν
τῇ παρεμβολῇ !), 33, 14 ipse ego antecedo, αὐτὸς προπο-
ρϑύσομαι, Ser. 19, 4 quos in fofum non noverant, οἷς
ovx ἤδεισαν, 22, 1 arbores cedri, κέδρους.
1) Die Beifügung be8 auditur liegt [o nahe, daß ich ba8 ululatus
pugnae auditur in castris ber Vulgata nicht, wie Ranke ©. 425 B
thut, mit unter ben Beweifen für bie übrigens unbeftreitbare Thatſache
anführen möchte, bag Hieronymus fid) vielfach an bie ältere Meberfegung
angefchloffen Bat.
Die Würzburger Itala⸗Fragmente. 375
4. Die Ueberſetzung deſſelben griechifchen Wortes durch
zwei verfchiebene Iateinifche, 3. 5. Ser. 13, 1 ff. cinctum,
13, 6 ff. praecinctum für περίζωμα (andere Beifpiele bet
Ranfe €. 421 A). Wenn ὅτε gewöhnlich durch quia oder
quoniam wiedergegeben wird, fo jteht Lev. 11, 45 ego enim
für ὅτε ἐγώ und DJ. 5, 6 devertit enim für ὅτε ἐκκέκλεκδν,
und wein gewöhnlich αὐτός durch is, &xeivog durch ille wieder⸗
gegeben wird, fo fteht Ser. 16, 15 patribus illorum für πατρά-
σιν αὐτῶν und 18, 18 feriamur illum für αὐεόν. Vielleicht ijt
auch nam für πλήν Klagel. 2,16; 3, 3 nur eine folche Freiheit
de Weberjeßerd, wiewohl bie Aenderung in tamen, wie Am-
brofius 2, 16 hat, nahe liegt. Ser. 23, 9 abalienatus a vino
jcheint mir nicht ἀπαλλοτριώμενος vel ejus generis quid-
piam ftatt συνεχόμενος ἀπὸ οἴνου zu verlangen, ba ber
Ueberfeger abalienatus in ber Bedeuiung „betäubt, von
Sinnen gebracht” gebraucht haben faun, wie Dan. 2, 1.2
(timore) alienatus est spiritus für ἐξέστη τὸ πνεῦμα.
5. Als bloße Freiheiten be8 Ueberſetzers (nicht ala Zei⸗
chen einer andern Lesart in feinem griechifchen Texte) find
auch anzuſehen: Gr. 35, 19 tunicas sacerdotales, τοὺς
χιτῶνας τῆς ἱδρατείας, Lev. 4, 27 de populo in terra,
ἐκ τοῦ λαοῦ τῆς γῆς, T, 5 sacrificii-laudabilis, ϑυσίας
αἰνέσθως, er. 22, 7 virum qui vobis exterminio sit,
ἀνδρα ὁλοθρεύοντα, 40, 1 in media peregrinatione,
ἐν μέσῳ τῆς ἀποικίας, 41, 7 in media civitate, sig τὸ
μέσον τῆς πόλδως u. bgL, aud) wohl Deut. 28, 47 mundo
corde, ἀγαθῇ καρδίᾳ, Ser. 21, 2 secundum maxima
mirabilia sua, κατὰ πάντα τὰ ϑαυμάσια αὐτοῦ.
IV. Hinfichtlich der Latinität unterjdjeiben fich die Würz-
burger Fragmente wicht weſeutlich von anderen Stüden ber
Sala. Ich Bebe auch Bier wur einige Punkte hervor.
Theol. Quartalſchrift 1818. III. Heft. 26
376 eut,
1. Bezüglich der Orthographie kommen biefefben Ver—
taufchungen von Buchftaben vor, wie in anderen Stücken (j.
9tanfe ©. 414; Roͤnſch €. 455). Namentlich werben e und
1 vertanfcht, a. B. Lev. 4, 24 delecti für delicti, wie 9.
25 ftcht, 18, 3 legetima, Iſ. 46, 8 ingemescite, — Gr.
22, 18 sinitis für sinetis, $e. 11, 42 incidit für incedit,
&;. 26, 20 discendere für descendere ı. dgl. Dana
jteht Lev. 18, 5 vivit für vivet (ζήσεται) πὸ DJ. 6, 2
vivimus für vivemus (ζησόμεϑα) und 3j. 29, 16 dicit
für dicet (ὀρδῖ, wozu Ranfe aljo ohne Noth bemerkt: prae-
sens φησί pro futuro ἐρεῖ nuspiam).
. 2. Wie am Ende ber Wörter ein m ober der daſſelbe
entfprechende Strich oft weggelaffen wird (Rönſch €. 462),
jo wird oft ein m angehängt, wie Klagel. 2, 17; Dan. 8,
8 cornum, Of. 6, 4 misericordia vestram, Sev. 19, 19
in necessitate et in captivitatem. Nach bieler orthogra-
phiſchen Eigenthümltchkeit liegen jid) alfo erflären: Lev. 18,
3; Deut. 31, 13 in qua für δὶς ἣν, Deut. 28, 56 in si-
num ejus für ἐν χόλπῳ αὐτῆς, 31, 15 in nubem für ἐν
νεφέλῃ, Gy. 39, 19 in circuitum neben in circuitu u. bgf.
Es femmen aber viele andere Stellen vor, welche zeigen,
daß der lateiniſche Ueberfeger die Präpofition in ganz regellos
bald mit bem Accufativ, bald mit bem Ablativ conſtruirte
(Rönſch €. 406. 410), 3. 33. Er. 32, 16; Ser. 19, 7 m
manus ejus, ἐν ταῖς χερσὶν αὐτοῦ, Leo. 7, 9 im panes
fermentatos, & ἄρτοις ζυμέταις, 18, 3 in legitima ejus
non ambulabitis, ἐν τοῖς νομίμοις αὐτῶν οὐ πορεύσεσϑε,
Deut. 81, 11 in loeum, ἐν τῷ τόπῳ, 31, 24 in filios,
ἐν υἱοῖς, Ser. 20, 4 cadent in gladium, πεσοῦνται ἐν
μαχαίρᾳ, 22, 2 in portas istas, ἐν ταῖς πυλαῖς ταύταις,
— (Gen. 40, 15; Gy. 34, 26 in domo, εἰς τὸν οἶχον, Er.
Die Würzburger Itala-Fragmente. 877
32, 29 in vohis, Sp ὑμᾶς, 84, 18 in tempore, δὶς τὸν
καιρῦν, 39, 4 in capitibus, eis τὰς κεφαλίδας, S. 30,
6 in adjutorio für δὶς βοηϑείαν neben in confusionem
et ignominiam. So erklärt jid) aud) in crastinum, am
folgenden Tage, für μετὰ τὴν αὔριον Er. 32, 30 ober für
τῇ ἐπαύριον Son. 4, 6. — In munere Lev. 22, 27 kann
verjehrieben fein für in munera (eig δῶρα), wie in ora
Deut. 31, 19 für in ore (εἰς τὸ στόμα); aber Ser. 40, 1
fiet in catulum für ἐν χϑιροπέδαις, aljo der Acc. Sing.
für den Abt. Blur.
Was die anderen Präpofitionen betrifft, [o wird in de
partem Er. 26, 5, de carcerem er. 39, 4, de sangui-
nem 6. 45, 19, pro ignorantiam (neben pro peccato)
G3. 42, 13, sine quam ij. 2, 3 ba$ m angehängt fein
wie in ad marem (δὲ. 42, 18, Es finden fich aber auch:
ἃ Moysen Gy. 35, 20, ab senioribus et ab sacerdotes
Jer. 19, 1, a dorsum (neben a dorso) G3. 40,44, coram
inimicos ‘er. 15, 9, prae omnes nationes Dan. 8, 87
(j. Röuſch €. 409 ff.).
3. Der Artikel wird nament(id) vor indeclinabelen Eigen-
namen oft durch hie wiedergegeben (Rönſch €. 420), 3.8,
' Gen. 36, 14 huic Esau, τῴ Ἡσαῦ, Dj. 2, 8; Ser. 12,
16 huie Baal, τῇ Βααλ, Dj. b, 14 huie Ephrem, τῷ
Egoníu, 6, 10 hujus Ephrem, zov Ἐφραΐμ. Auch joujt
fteht mitunter im Lateinifchen ein DemonjtrativsPronemen, wo
im Griechifchen der bloße Artikel fteht (CRönſch &. 419), wie
Deut. 31, 26 sumentes hune librum (τὸ βιβλίον) legis,
(x. 34, 23 cum enim ejecero istas gentes (Ta &397) &
facie tua, Lev. 7, 8 si autem manducaverit ab istis
carnibus (ἀπὸ τῶν x95») .... anima autem illa quae-
26*
878 Reuſch,
eunque manducaverit (ἡ δὲ ψυχὴ ἥτις ἐὰν φάγῃ). In-
deß find dieſe Fälle vielleicht unter III, 3 einzureihen.
V. Ich habe bei meinen Erörterungen einen außgebehnten
Gebrauch — einen außgebehntern ald Ranke — von der
Borausfegung gemacht, bap die Abfchreiber fid) viele Nach—
läffigkeiten haben zu Schulden fommen lafjen. Sch ftelle,
um mein Verfahren zu rechtfertigen, nod) einige Beweiſe
bofür zufammen.
1. Gedankenloſe Wieberholungen find: Of. 5, 8 super
colles super colles, “on. 4, 2 in terram meam terra,
Son. 4, 11 non parcam nunc parcam, Lev. 11, 14 et
his similia et simile illis.
2. Dagegen find vielfach einzelne Wörter ausgelaſſen:
Gen. 40, 17 volatilia, τὰ πετεινὰ τοῦ οὐρανοῦ, Deut.
31, 7 faciem, τὸ πρύόςωπόν μου, DJ. 1, 11 Judae, υἱοὶ
Ἰούδα, Ser. 18, 18 feriamus illum, πατάξωμεν avrov ἐν
γλώσσῃ, Ser. 40, 4 bonum est, δἰ ἀγαθόν ἐστιν; vgl. Ser.
19, 7. 8; 23, 28; Klagel. 2, 19; 8, 19; &. 24, 6. Auch
bie größeren Auslaſſungen Er. 32, 15. 165 Seo. 4, 24. 26;
SO. 6, 1; Ez. 34, 18. 19 u. f. Ὁ. möchte ich eher den Ab-
Schreiben als bem UWeberfeßer imputiren; über G3. 26, 20
|. e. €. 365.
3. Als bloße Abfchreiberfehler find anzufehen unb wer:
ben auch größtentheild von Ranke angefehen: Er. 33, 18
dicis ftatt dicit, 33, 19 vocabor ftatt vocabo, 34, 21
messis jtatt messi, 40, 29 in eum ftatt in eam, ev. 11,
7 hic jtatt hoc, 18, 3 adinventionem ftatt adinventiones,
Di. 5, 1 attendat ſtatt attendite, Iſ. 29, 10 quis ftatt
qui, 30, 3 in corruptionem [tait in confusionem (eig
αἰσχύνην), Ser. 14, 21 nomen ftatt thronum, 18, 13 ab-
sciderunt ftatt absconderunt (éxgvyo»), 22, 7 injiciet ftatt
Die Würzburger Itala⸗Fragmente. 379
injicient, 22, 25 et eradam te de manibus ftatt et tra-
dam te (in) manibus, 22, 28 Jeremias jtatt Jechonias,
86, 6 legere jtatt leges, 41, 9 Istrahel jtatt Ismahel,
Klagel. 2, 19 exalta te nocte ftatt exulta (de). nocte
(ἀγαλλίασαι ἔν νυκτὶ). Auf Grund einer Handſchrift, in
ber jolche Verſehen vorkommen, hätte Ranke einzelne fonft
nicht belegte Wörter nicht ©. 415 zu der copia verborum
des Ueberſetzers zählen ſollen, wenn fie jo leicht burd) Emen—
bation zu befeitigen find, wie Er. 35, 32 architecti f. archi-
tectonari (apyırexvoveiv, Rönſch ©. 248), er. 23, 32
implantant I. implanant (πλανᾷν, Nöni ©. 253), Dan.
2, 4 syricate |. syriace (συριστί). Wo folche Verjehen
vorkommen , halte id) e8 ferner für unbedenklich, aud) an
folgenden Stellen bloße Ubfchreiberfehler anzunehmen: Deut.
28, 51 agnata (f. nata) pecorum tuorum (za &xyova τῶν
κτηνῶν cov), 31, 12 cognationem [. nationem ober natos
(&xyova, Lucif. natos), Ser. 21, 10 confirmavit faciem
suam Í. confirmavi faciem meam, 22, 24 regredietur
[. ingredientes (ἐπεβεβηκίτες), 36, 30 erit mors (f. erint
morticina) ejus projecta (τὸ ϑνησιμαῖον αὐτοῦ ἔσται
ἐῤῥιμμένον), &. 24, 8 continerent [. operirent, wie
καλύψαι 9B. 7 überjeßt ijt, 24, 10 fluat I. minuatur
(ἐλατετωθῇ). Vielleicht ijt auch Klagel. 2, 17 ftatt jucunde
accepit super te inimicum zu leſen jucundavit (ηὔφρανεν)
super etc., (5. 38, 14 in die non in locum habitavit
verfchrieben für non in die illo cum habitavit (ovx & τῇ
ἡμέρᾳ &xelın, ἐν τῷ κατοικισϑῆνα!) und Of. 6, 4 sicut
ros antelucanum eris das lette Wort in iens zu Ändern
(πορευομένη, Hieron. pertransiens; “er. 19, 10; 23, 14
fteht euntes für πορδυόμεδνοι).
Namentlich glaube ich aber, Angeſichts folcher Nach-
380 ες, διε [ᾧ,
läffigfeiten des Schreiber? , ein paar ingentöfe Bermuthungen
Ranke's ablehnen zu müjfen. Dan. 3, 46 fteht im Griechiichen:
καὶ οὐ διέλιπον οἱ ἐμβάλλοντες ὑπηρέται τοῦ βασιλέως xalov-
τες τὴν κάμινον. Der Würzburger Sext hat: et nonnecessa-
verunt qui miserunt eos ministri regis incendentes fur-
nacem, und Ranfe meint ©. 387, ber Schreiber jcheine mit
non necessaverunt ausdrücken zu wollen, Azariam ejusque
Socios a ministris regis ad silentium non coactos fuissse.
Der Schreiber hat vielmehr, ohne viel nachzudenfen, einfach
non necessaverunt für non cessaverunt gejchrieben, unb
Ranke hätte alfenfalía diefe Stelle zu denjenigen zählen können,
von welchen er ©. X für möglich hält, daß fie auf ein falſches
Hören ded dietando (dyreibenben Eopiften zurüdzuführen jeten.
— ev. 18, 9 hat ber Würzburger Tert: turpitudinem so-
roris tuae ex matre tua et ex patre tuo, quae domi
est nota aut foris, non deteges turpitudinem ejus. Der
griechiſche Text bat: ἀσχημοσύνην τῆς ἀδολφῆς cov ἐκ πα-
τρὸς σου ἢ ἐκ μητρός σου ἐνδογενοῦς κει. Ranke meint
€. 221: Haud exigua quae huic loco a textu graeco
differentia inest unde explicatur? Mosaicae de incestu
legi hic aliquod mihi dari videtur laxamentum ad san-
ctificandos mores Afrorum, qui permittendis inter fratres
et sorores matrimoniis inde ab antiquitate faverunt,
compositum. Si pro animorum duritie fieri non poterat,
ut matrimonia inter eos, qui ex altero tantum parente
Sorores et fratres erant, omnino prohiberentur, hoc
saltem firmiter vetabatur, ne, qui ex eodem paire
eademque matre essent, ligarentur connubio. Mean
thut einem Schreiber, ber in eben biefem Verſe nota für
nata und Er. 32, 30 et deprecer für ut depreoer [τοί δέ,
nicht Unrecht, wenn man ihn für fähig Hält, ohne irgend
Die Würzburger Itala⸗Fragmente. 381
welche Abficht et ex patre für aut ex patre zu ſchreiben,
wie Auguftinus bat (ber Aſhburnham'ſche Tert Dat ſogar
vel ex patre vel ex matre). — Statt καὶ ἀποκτενῶ αὐτὴν
à» δίψει, καὶ τὰ τέκνα xvÀ. DI. 2, 4 hat der Würzburger
Tert: et occidam eamet sitim mei, filiis etc. Nanfe meint,
bei sitim mei möge bem Abjchreiber bic Stelle Amos 8, 11
vorgejchwebt haben, wo von bem Durfte nad) dem göttlichen
Worte bie Rebe ijt. Er hat aber wohl cher gebantenio8 bie
Worte et occidam eam (in) siti(m) et filis corrumpirt.
Vielleicht hat auch in feiner Vorlage et occidam eam
fame(m) et siti(m) et filiis geftanben; (famem findet jid)
nah ©. 149 aud) jet von jüngerer Hand beigefchrieben).
VI. Noch bei einigen anderen Stellen al8 ben oben
€. 371 beiprochenen jcheint mir die Vermuthung gerecht:
fertigt, daß in ber lateinischen Handfchrift, aus welcher ber
Mürzburger Tert copirt ijt, Emendationen am Rande ober
zwifchen ben Zeilen beigefügt waren, bie ber Abfchreiber in
ben Sert aufnahm. Of. 1, 4 bat cr: compescam et aver-
tam regnum de domo Israhel Im Griechifchen ſteht in
einigen Handfchriften καταπαύσω, in andern ἀποστρέψω
βασιλείαν οἴκου Ἰσραήλ. Der Iateinifche Weberjeger jchrieb
wohl compescam, ein Ementator darüber avertam (oder
umgefehrt); ber Abjchreiber nahm beide Wörter in den Sext
auf. Of. 1, 5 fteht contribulabo sagittam arcus Israhel,
im Griechifchen συντρέψω τὸ τόξον τοῦ Ἰσραήλ. Der Ueber:
(eber jchrieb contribulabo sagittam, ber Emendator arcum,
ber Abfchreiber combinirte beibe8. Eo wird aud) wohl Dan.
1, 18 et post finem dierum quos praefinierat lex !) dixit
rex introduci eos — gried uera τὸ τέλος τῶν ἡμερῶν
1) So bat Ranke G. 376; bagegtm ©. 127: quos rex defi
nierat.
382 Reuſch, Die Würzburger StalasFragmente.
ὧν εἶπεν ὁ βασιλεὺς elgayayeiv αὐτούς — eher anzuneh—
men fein, baß zu praefinierat rex oder rex definierat
(vielleicht corrumpirt aus rex dixerat) vom Emenbator dixit
rex beigeſchrieben war, ala daß bier, wie 9tanfe meint, loci
potius interpretatio textu non flagitata quam versio vot:
Tiege. Auch andere Wörter in bem Würzburger Tert mögen aud
Randbemerkungen herſtammen (Ranke €. X). Ob aber Ser.
22, 14: aedificasti tibi domum mensuratam superiora
omnia perversa disposita fenestram per cedrum lignum
caedar et linitam minio da? omnia perversa urſprũnglich
eine 9tanbbemerfung geweſen, beren Urheber bemerkte, bag
in bem Terte „alles verkehrt” fel, jcheint mir doch zweifel-
haft, obfchon dieſes Urtheil nicht ganz unberechtigt ijt.
Die Unterfuhung der Würzburger Fragmente deut
mir für ben Gebraud) ber Stala zur Kritik der Scptuaginta
die Regel zu beftätigen: Ehe man annchmen darf, daß bet
bem lateinifchen Weberjeger vorliegende griechifche Text Led-
arten enthielt, bie fid) in ben griechifchen Handfchriften nicht
finden, muß conjtatirt werben, daß nicht Fehler der Ab-
Schreiber ober Verſehen des Ueberſetzers vorliegen. In den
meiften Fällen wird fid) auf bie eine ober bie andere Weiſe
bie Abweichung von dem in den griechifchen Hanbfchriften
überlieferten Terte erflären laſſen.
2,
Die Berwaltung des Kirchenvermögens in den erſten
drei Jahrhunderten.
Bon Prof. D. Probft in Breslau.
S. 1. Kirchenvermögen im Allgemeinen.
Sofern man unter bem Worte Kirchenvermögen den
geſetzlichen Befig von Eigenthum feitend der Kirche ver-
fteht, gab εὖ in den erjten drei Jahrhunderten Fein Kirchen:
vermögen. Als verbotene Gefellichaft beſaß bie Kirche bie
Fähigkeit nicht gefetzlich Vermögen zu erwerben und Eigen:
tjum zu beſitzen. Andrerjeit? hatte fie aber Vermögen und
Cigentfum. Sie theilte ebenfo den Armen Gaben aus, αἱ
ihre Gotteshäufer und Begräbnißorte in den Verfolgungen
zeritört oder eingezogen wurden unb ihre heiligen Gefäße
ausgeliefert werden jollten. Wenn der Diacon Laurentius
bem lebten Anfinnen dadurch entiprach, daß er bem Richter
bie Armen vorftellte, fo Dat bieje einen tiefen Sinn, beni
fte Hauptjächlich waren die Nutznießer des Vermögens, das
ble Kirche belap. Der wahre Eigenthümer dezjelben war
Gott, bie Kirche verwaltete es durch ihre Organe und ben
Bedürftigen wurde ed ausgetheilt. Für den Laien geziemt
e$ fich zu geben, für ben Bifchof, als Oekonomen und Ber:
walter der Firchlichen Sachen, auszutheilen. Er hat aber
384 Probſt,
Gott Rechenſchaft zu geben, der dieſe Verwaltung in ſeine
Hand legte, da er ihn des Prieſterthums gewürdigt hat ἢ).
Das Wort Chriſti, was ihr einem von dieſen gethan,
habt ihr mir gethan Math. 25. 40, klingt ebenſo durch
alle Jahrhunderte hindurch, als das apoſtoliſche: „Almoſen
iſt ein Gott wohlgefälliges Opfer.” Philipp. 4. 18. Wer
Almofen reicht, der weißt, baB ev e8 Gott gibt, heißt εὖ
in jenem Theile der fibyllinifchen Meiffagung, deſſen Ab—
faffung Frieblieb in dad Ende des zweiten Jahrhunderts
fest. (Ὁ. II. 2. 82.) Beinahe mit denfelben Worten
wiederholt diefen Ausſpruch Cyprian. „Der, welcher fid)
be Arınen erbarnıt, borgt Gott, und wer dem Geringſten
gibt, gibt Gott, opfert Gott geiftig einen lieblichen Gerud) 3).
Noch entichtevener tritt der Charakter des Almoſens, al?
einer Gott geweihten Gabe, bei Drigened hervor. Wenn
Jemand bei der Erndte oder Weinleſe gelagt Dat: Diejes
will ich allein ber Kirche darbringen, ober nur zum Ge
brauche ber Armen und Reiſenden geben, und wenn er
nachher etwas davon zum eigenen Gebrauche verwendet, jo
bat er nicht von feinen Früchten genommen, jonbern dad
Gott Geheiligte verlegt 5). Das Betreffende wurde alfo ber
Kirche dargebracht und gehörte damit Gott, und weil e?
Gott angehörte, durfte e3 weder zur eigenen nod) zu pro
fanen Zwecken verwendet werden. Den lebten Punkt be
rührt Origenes nicht nur nebenbel, jondern in ihn legt er
ba$ eigentliche Weſen des Getigemeihtieind. Das, was ber
Kirche gegeben wurde, war ibut ein sanctum. Der Unterjchied
1) A. C. L. 2. c. 85.
2) Cyp. de orat. dom. p. 426. 6. et de opere et eleem. p. 482. c.
8) Orig. in Levit. hom. 11. n. 1. p. 185.
Verwaltung bed Kirchenvermögens. 385
äwilchen res sacrae und res ecclesiasticae ijt überhaupt
nod) nicht, am wenigften bem Worte nach, vorhanden.
Wenn nämlich Hier Adamantius das Kirchenvermögen
eine res sacra nennt, fo an einem andern Orte res eccle-
siastica ἢ), oder ca τῆς ἐκκλησίας 3), τὰ τῆς ἐκκλησίας
χρήματα ὃ), munera, quae in ecclesia deferuntur *).
Deßgleichen nennen e8 bie apoftolifchen Eonftitutionen „Güter
ber Kirche” (τῶν χυριακῶν, va τῆς ἐκκλησίας ὅ) nnd bie
apoftolifchen Kanonen „Lirchliche” Sachen 9).
Nach ber Anſchauung der eriten Sahrhunderte war
demnach dad Gott Geopferte und ber Kirche gegebene tbeı-
tisch, bie τὰ τοῦ ϑεοῦ find bie τῆς ἐκκλησίας πραγματαΐ).
Dean opferte Gott und Chriſtus, indem man feiner Stif⸗
tung, feiner Braut, feinem Leibe gab und went man ber
Kicche gab, (o gab man nicht blog einer Gemeinfchaft von
Menfchen, die in gewiffen Dingen übereinftimmten, fondern
einer Gemelnidaft, deren Haupt Chriftug der Sohn Gottes
ift und die der heilige Geist leitet und regiert.
2. Da in jenen Jahrhunderten nicht nur bie große
katholiſche Kirche, fondern auch eine einzelne Didcefe mit
bent Namen Kirche bezeichnet wurde, fragt e8 fich ferner,
it unter ber Kirche, welcher die Gaben geopfert wurden,
bie Eine allgemeine Kirche, ober die einzelne Didcefe und,
man verzeihe den. Anachronigmus, einzelne Pfarrei, zu ver:
ftebe ? Faßt man bie Kirche zunächſt als Gemeinfchaft der
1) Orig. in Math. series 61. p. 144.
2) In Math. tom 11. n. 9. p. 448.
8) L. c. tom 16. n. 22 p. 868.
4) In Isai. hom 7. n. 8. p. 882.
b) A. C. L. 2 c. 25.
6) ἸΕκκχλησιαστικὰ πράγματα can. 89. τῆς ἐκκλησίας πράγματα can. 41
7) Can. apost. 89.
386 PVropft,
Stäubigen, fo gaben bie damaligen Chriften ifr Almofen
armen Glaubensverwandten (Ungläubigen in Fällen großer
Not). ΜΠ folche wurben nicht nur bie Didcefanen, ſondern
bie Katholiten überhaupt angefehen, weßwegen ebenjo die von
Macebonien unb Achaia ihre Gaben den Brüdern von Se
ruſalem fanbten, af Cyprian bie Namen jener Biſchofe be-
fannt machte, bie feine Didcefanen unterjtügten ἢ, wie er
fid) auch bereit erflärte ble Bebürftigen einer anderen Diöcefe
zu unterhalten, wenn e8 bie bortige Kirche nicht vermöge ?).
Das Bewußtſein ber Zufammengehörigkeit war fo ſtark und
burchichlagend, daß 9teijenbe und Wanderer wie Einheimifche
angejehen wurben und Einheimiſche fid ala SReijertbe und
Wanderer betrachteten. Die jo oft wieberholte Empfehlung
ber Gaſtfreundſchaft hat eine tiefere Unterlage, ala
bie Bewirthung von hilflofen Fremden; fie follte Zeugniß
geben, bag in ber Kirche ſolche Unterſchiede nicht vorhanden,
baB alle Brüder ſeien. Lactantius geht noch weiter, und
führt die LKiebespflicht Almofen zu geben, nicht nur auf bie
Einheit der Gläubigen in der Kirche, fondern auf die Ein-
heit ber Menfchheit überhaupt anrüd ®).
Aus ber Einen katholiſchen Kirche, deren unfichtbares
Haupt Chriftug, deren fichtbares Petrus ift und die al
MWeltfirche alle Völker umfaſſen ſoll, bildeten fid) jedoch ein⸗
zelne Eleinere Kreife, bie Didcefen, heraus. Sie find nicht
etwa Bruchſtücke ber Kirche, noch viel weniger aus ber
Kirche heraustretende durchaus felbititändige Körper, ſondern
organische Theile bevje[ben, weßwegen fid) dad Weſen ber
Kirche in ihnen außprägt und wiederholt. Wie Chriſtus
1) Cyp. epist. 60. p. 216. d.
2) Cyp. epist. 61. p. 218.
8) Lactant. instit. 1. 6. c. 10 1t. 11. p. 882. Gall.
Berwaltung des Kirchenvermögen?. 387
nicht nur in jeder Geftalt ber Euchariftie ganz gegenwärtig
it, fondern auch in jedem Theile derjelben: fo verhält εὖ
fib auch mit der Diöceſe. Der Bilchof iſt ber fichtbare
Stellvertreter Ehrifti, die Didcefe ber Leib Chrifti, aber
6108 dann unb nur infoforn als fie ein organischer Theil -
ber ganzen Kirche ijt unb ber Biſchof ben Papſt als Ober:
haupt anerkennt. Diejer Bildungsproceh geht jedoch noch
weiter. Auch die Pfarrei (Klofter) ijt unter der Bedingung,
daß fie organisch mit ber Diöcefe und durch fie mit ber
ganzen Kirche verbunden ijt, der Leib Chrifti und ber Pfarrer
der Stellvertreter Ehrifti, der durch ihn tauft, Sünden
nachlaͤßt ac.
Das Chriſtus und ber Kirche gegebene Vermögen muß deß⸗
halb nicht fchlechtweg αἰ Gigentbum ber ganzen Kirche, mit
Ausſchluß der in ihr ſtehendenKreiſe, betrachtet werben. Auch
die Pfarrkirche fann Vermögen befiten. Bon ihr gilt aber
bafjelbe, was von ber jurijtifchen Perſon überhaupt, bei ber
dad Subjekt ber Rechte nicht in den einzelnen Mitgliedern,
εἴ} nicht in allen Mitgliedern aujammen, jondern üt bem
ibealen Ganzen beiteht. Daß ideale Ganze ijt bei
einer juriftiichen Perjon eine Abjtraktion, auf Firchlichem
Gebiete aber eine reale Grijteng, bie katholiſche Kirche, von
ber bie Pfarrei oder Didcefe einen organifchen Theil bildet.
So lange von allen anerfannte Mitglieder der juriftifchen
Perfon vorhanden find, wird ihnen in ber Wirklichkeit Niemand
das Eigenthumsrecht ab und dem idealen Ganzen zufprechen,
weil in ihnen dieſes Ganze concrete Geftalt gewonnen hat
unb fie e8 repräfentiren. Entſtehen hiegegen Zweifel über
den Charakter ihrer wahren Mitgliedſchaft, finkt ihre Zahl
auf ein Minimum herab ober verichwinden fie völlig, dann
mag die Abjtraftion be8 idealen Ganzen eintreten. In ber
L1
388 Probſt,
katholiſchen Kirche iſt dieſes ideale Ganze hingegen die Kirche
ſelbſt. Die Didcefe, Pfarrei 2c. hat blos ein Eigenthums⸗
recht, joferu fic da ibeale Gauge repräfentirt. That fie
bad nicht, weil fie feine Mitglieder mehr bat, ober weil fie
von der Kirche abgefallen find, dan wird das Subject ber
Rechte dad Ganze, von bem fie einen organifchen Theil
bildeten, bie Kirche.
Evelt Bat den Einwurf berüdkjichtiget, bap fij auch in
jeder Pfarrgemeinde unter ihrem Pfarrer, in jeder Diöccfe
wnter ihrem Biſchofe das Reich Chrifti ala unfichtbarer
Leib barjtelle, deſſen Glieder durch einen und denſelben
Geiſt verbunden find, fucht ihn aber durch ein Citat aus
Hirſcher zu entträften!). Allein Hirſcher vebet von bloßen
Gemeinden und bloßen Stationalfivdjen, von jolchen ffetue-
ven Kreilen, ioferm fie für fid) unb von ber Kirche getrennt
in Betracht kommen. Won diefem Geficdhtäpunfte aus ijt
bad Gefagte auch völlig vidjtig. Darum Handelt εῷ (id
jedoch nicht, ſondern bie Frage ift, ob bie mit ber Kirche
in normaler Verbindung ftehende Kleinere Gemeinde ben
Leib Ehrifti darftellte und dieſe Frage bejahen wir, weil
in jebem Theile eines organiſch Geglieverten, das Weſen
ded Ganzen wieder zum Vorjcheine kommt. Die Pfarrge—
meinde befigt ein Eigenthumsrecht unter der Obhut ber
1) Bloße Gemeinben und bloße Nationalfirchen ftellen das Reid
Chriſti auf Erben nit dar. Gà kann nur eine Genoſſenſchaft, melde
alle National-Gränzen überjchreitet und affe Chriftgläubigen umfaßt,
den Univerfalismus des Reiches Chrifti zur Anfchauung bringen. In
allen bloßen Rational:Firchen ijt ein große? Moment aufgegeben, oder
ποῦ zurüd. Die egoiftifche Scheidewand zwiſchen Voll und Bolt,
zwifchen Einheimischen und Fremdlingen ift noch nicht geftürgt.^ Bei
Evelt die Kirche und ihre Inſtitute auf bem Gebiete des Vermögens:
Rechts. ©. 81.
Verwaltung des Kirchenvermögen?. 389
Diöcefe und die Didceje unter der ber ganzen Kirche, ober des
Papftes. Hört aber dag GigentQuméred)t ber Pfarrei aus
Mangel an kirchlichen Mitgliedern auf, fo tritt dag ideale
(reale) Ganze ber Didceje ein und Hört diefe auf, jo macht
fib dag Eigenthumsrecht der ganzen Kirche geltend.
$. 2. Das Kirchenvermögen und feine Verwaltung nad)
der heiligen Schrift.
Chriſtus lebte mit feinen Jüngern von Almofen, das
ibm hauptfächlih durch Fromme Frauen zu Theil wurde.
Luc. 8.8. Der Bericht des Evangeliften, er habe mit feinen
zwölf Jüngern einen Vorrath von fünf Gerftenbroden und
zwei Wilden bejejjen Marc. 6. 38, gewährt ebeujo einen
Ginb(d in ben irdifchen Haushalt des Gottmenfchen als
ber Auftrag an Betrug, mit dem Stater, ben er im Maule
des Fiſches finden werde, den Zoll zu bezahlen. Dennoch
hatte er, der gejagt, man [0 nicht für ben andern Tag
jorgen, einen Verwalter für bie gejchenkten Gaben. „Einige
meinten, Jeſus habe, weil Judas den Beutel hatte, zu ihm
geſagt: Kaufe was wir für dag Feſt brauchen, ober baf
er den Armen etwas gebe" ἢ. Diefer Ver zeigt deutlich,
baB Jeſus den Judas mit der Aufbewahrung ded Almoſens
betraut und daß er e8 nach der Vorſchrift des Herrn zu
vertheilen hatte.
Werner ſieht man, dieſes Almoſen diente einem drei—
fachen Zwede, zum Unterhalte Sefu und feiner Jünger,
zur Unterftügung Ar mer unb zur Beitreitung der Koften
für dad Paſchamahl. Wie ba? Folgende zeigen wird,
verhält e8 jid) mit dem Almofen der alten Kirche nicht an:
1) Joh. 18. 29 c. 12. 6,
390 Probſt,
ders. Sein Sammeln, Aufbewahren und Vertheilen war
buch das Verhalten Jeſu präformirt, wie es auch für
die nächſten Jahrhunderte maaßgebend blieb. Das Beiſpiel
Jeſu war das Geſetzbuch für ſeine Jünger, und die Kirche,
in dieſem wie in anderen Puncten.
2. In der apoſtoliſchen Zeit wiederholt ſich deßhalb
daſſelbe Verfahren. Die Gläubigen brachten einen Theil
ihred Vermögend und legten e8 zu ben Füßen der Apoftel
nieder act. 5. 2, daß an eben, je nach feiner Beduͤrftig⸗
feit, auögetheilt wurde act. 2.45. Die theilweile Verwendung
befjelben für bie Feier der Gudjarijtie zeigt der folgende
Vers: Se nach Häufern dad Brod bredhend, nahmen fie
Speife mit Freude und Einfalt des Herzen? act. 2. 40.
Die Apoftel aber waren vom Herrn ſelbſt auf biefe Unter:
ftüßung angemiefen, denn er hatte fie ohne Mittel mit
ben Worten audgefandt, in bem Haufe in bem fie ein-
fehren, jollen fie ejfem und trinken, der Arbeiter [εἰ des
Lohnes mertb !).
Sn außerorbentlichen Fällen, wie bei ber von Agabus
vorausgefagten Hungersnoth, veranftalteten die Gläubigen
eigen? Gollefter unter den Brüdern und janbten ben Be-
trag an bie Presbyter der betreffenden Gemeinde act. 11.
29. 30. Weil jebod) bei der Bertheilung ber Almofen
Mißſtände eintraten und bie Apoftel durch ihren anderwei⸗
tigen Beruf gehindert, fid) der Almojenpflege nicht ungetheilt
bingeben konnten, ftellten fie die Diaconen als Almojen-
pfleger in Serujafem auf. act. 6. 1. ἢ, obwohl fie und
ble Presbyter jid) dag Oberauffichtsrecht vorbehielten. act.
11. 30.
3) SOiejefbe Verwaltung offenbart fid) in den Briefen
1) Luc. 10. 7. Math. 10. 10.
Verwaltung δε Kirchenvermögens. 391
des Apoſtel Paulus, wenn aud) um einige Züge reicher.
Am Sonntage jolfte Feder, was und fo viel ihm gefiel,
für fid) bei Seite und in den Schab legen, bamit bei der
Ankunft des Apoſtel feine Golfefte nöthig wurde 1. Gor. 16. 2.
Weil der Apojtel burd) bie fonntäglichen Beiträge eine
Sammlung bei feiner Ankunft vermeiden will, wurden fie
am Sonntage eingezogen und in einem Schatze aufbewahrt,
Diefe Einrichtung war in Korinth nen, woraud man er:
fennt, daß früher blos dann Collekten veranjtaltet wurden,
wie fie durch beftimmte Ausgaben veranlaßt wurden, wie
3.B. ble Gemeinden in Macedonien unb Achaia für die Heiligen
in Serujalem fammelten. Röm. 15. 26. Erwägt man
ferner die Rüge: Ein Jeder nimmt fein eigened® Mahl
vorweg beim Effen, und ber Eine hungert ber Andere aber
jchwelgt 1. Gov. 11. 21.: jo tit leicht gu erfenmen, in Korinth
fanden bei ber Feier des Gottesdienſtes überhaupt feine
Almojenopfer ftatt und der Apoftel verpflanzt bieje bei den
armen Judenchriſten entjtandene Sitte zu den veichen Ko—
rinthern. Wahrjcheinlich führte er fie in allen von ihm
gegründeten Gemeinden ein. Das euchariftifche Opfer ijt
barum [o wenig mit Almofenopfern identiſch, bag jenes
jelbjt ohne diefe gefeiert wurde.
Sm Allgemeinen wurden die Almofen den Armen und
Reifenden zugewendet. Röm. 12. 13. Der Ueberfluß ber
Reichen an zeitlichen Gütern jollte bem Mangel der Armen
abhelfen und Gleichheit fein. IL. Gor. 8. 14. Der Dienft
biejer Liebeöpflicht half aber nicht nur bem ab, wa beu
Heiligen mangelte, fondern brachte auch reiche Frucht durch
die vielen Dankfagungen (dev Armen) im Herrn. IL Gor.
9. 12. Deßungeachtet hatte aber Jeder für bie Geinigen
zu forgen I. Tim. 5. 8 und bie, welche zu einem Armen,
Theol. Quartalſchrift 1872, III. Heft. 27
392 Probſt,
ober einer Wittwe in näherem Verhältniſſe ſtanden unb fie
unterhalten fonntem, follten die Kirche nicht beſchweren
(non gravetur ecclesia) I. Tim. 5. 16. Um fo weniger
unterftügte man Müßigänger; wer nicht arbeitete, jollte
nicht effe. II. Theſſ. 3. 10.
Der Apoftel felbft empfing aus bem Schaße Unter:
ſtützung Philip. 4. 17 und wenn er fid gewöhnlich aud
burch Handarbeit ernährte, jo machte er eod) Anfpruch bare
auf. Denn bie Geiftiges ſäeten, konnten Xeibliches erndten,
bie bem Altare dienten, fonnten von ibm leben; jo hatte
ed der Herr je(bjt angeoronet. I. Gor. 9. 10—14. Selbit-
verständlich Hatten bieje Sätze nicht nur auf bie Apoftel,
ſondern auf alle Lehrer Anwendung, auf die Katecheten Sal.
6. 6. wie auf bie Preöbyter, bie doppelter Ehre würdig
geachtet wurben I. Sim. 5. 17. Dieſes Wort legte man
Ihon im zweiten Jahrhunderte dahin aus, daß den Priejtern
bei den Agapen zwei Portionen zugemefjen wurben. Wenn
nämlich Tertullian hierüber fpottet, fo a ba$, daß bieje
Sitte in Uchung war.
δ, 8. Die Einkünfte der Kirche im zweiten und dritten
Iahrhundert.
Die durch bie Apoftel eingeführten ordentlichen und
außerordentlichen Colleften wurden beibehalten und die or-
dentlichen Opfer jeden Sountag, bei Beranlafjung ber eucha=
riſtiſchen eier, eingefammelt. Die im Stande und guten
Willend waren, gaben nach Belieben und der Ertrag wurde
beim Vorſteher ober Bifchof deponirt!) Daffelbe gefchah
noch in ber Mitte beg dritten Jahrhunderts ἢ. Wenn ba-
1) Just. apol. c. 67. p. 270.
8) Cyp. de oper. et. eleem. p. 482. a.
Verwaltung bes Kirchenvermögens. 393
ber Tertullian eine monatíide Sammlung, üt der vore
herrſchend Geldbeiträge verabreicht wurden ἢ) erwähnt, [9
ſchließt dieſes eine jonntägliche nicht aus, die bauptfächlich
in Naturalien, Milch, Honig, Del nnb bejonderd in Brod
und Wein beitand?).
Der, welcher bent Nächiten von Allem mittheilte, Jedem
gab, ber Dittete, ber wandelte auf dem LKichtweg δ). Keiner
- jollte deßwegen die Gelegenheit dazu vorübergehen laſſen,
denn Almoſen befreit vom Tode 9. Der Reiche jollte bem
Armen mittheilen und bieler für ihn zu Gott beten, der.den
Reichen alle Güter verleiht ). Noch höher ftand der, wel-
dr das, was er Sich faltend am Munde abjparic, ben
Armen: gab 9). Das Beilpiel ber MWittwe im Evangelium
diente nämlich zum Beweife, Daß auch die Armen Almofen
ertbeilen ſollten). Die Reichen hingegen erfuhren Tadel,
welche: mit leeren Händen in die Kirche famen, unb einen
Theil von dem Opfer, ba8 der Arme brachte, nahmen 5).
Selbſt die Heiden kannten biefe Wohlthätigkeit. ucian
ipottet in bem Peregrinus: Dieſe Leute rufo in allen ber:
gleichen Fällen, welche ihre ganze Gemeinjchaft betreffen
bon einer unbegreiflichen Nührigfeit und Thätigkeit und
ſparen babei weder Mühe noch Koften. ‘Daher wurde aud)
dem Peregrinus feiner Gefangenjchaft wegen eine Menge
1) Tert. apol. c. 89.
2) Can. apost. can. 3.
8) Barnab. epist. c. 19.
4) Polyc. epist. ad Phil. c. 10. p. 200.
5) Clem. R. ad Cor. c. 88. p. 88. Herm. similit. 2. p. 291.
6) Herm. sümil 6. n. 8. p. 295. |
7) Cyp. de opere et elem. p. 482. b.
8) Cyp. 1. c.
27*
394 Propft,
Geld geſchickt und cr verfchaffte fid) unter biefem Titel
Ihöne Einkünfte. Ä
2. Als bie Gemeinden zahlreicher wurden und mehrere
Geiftliche notbwenbig waren, mußte man darauf Bedacht
nehmen größere und feititehende Einnahmen zu erzielen.
Die darauf bezüglichen Ermahnungen des SOrigene2, Eyprian
und ber apoſtoliſchen Gonjtitutionen laſſen nicht verfennen,
baB ba und dort dad Einkommen des Gleru$ jehr fürglid)
war ἢ). Diefem juchte man durch den Bezug ber Erftlinge
und Zehnten abzubelfen; eine Einnahmsquelle die durch
bie altteftamentliche Gejebgebung empfohlen und nahe ge-
legt war.
Die Entwiclung, welche bie Dizciplin in biejer Rich-
tung nahm, fchließt fih am beten auf, wenn man bie Aus⸗
iprüche be8 Irenäus mit den fpäteren Schriftftellern ver:
gleicht. Nach Irenäus unterjcheiden fich die jübildjen Opfer-
gaben von ben chriſtlichen dadurch, daß bie Juden ihre
Gaben, durch das Geſetz genöthiget, verabreichten, bie Gri-
sten aber freiwillig all δα Shrige zu gottespienftlichen
Zweden hergaben ?). Die Ehriften opferten aljo feine eigens
bezeichneten Gaben, denn all ihr Beſitz ftand Gott zu Ge-
bot, und nicht durch ein Gejet waren fie zum Geben
verpflichtet, jondern die Liebe drängte fie dazu. Wer
geben kann und c8. nicht thut, beſitzt Feine Liebe zum Herrn 5).
1), Man vergleihe nur die dringende Aufforderung des Origenes
zur Unterftügung des Clerus in lib. Jesu Nave. hom. 17.2. 2 u. 8.
und bie Ermahnung be8 Clemens A., bie Lehrer follen fih nit um
zeitlichen Gewinnes willen zu dem Lehramte binbrüngen, ba fie wifien,
bag die Chrifto Geweihten (Gläubigen), gerne ba8 zum Unterbalte
Nothwendige verabreihen. Strom. l. 1. c. 1. p. 319.
2) Iren. l. 4. c. 18. n. 8. p. 242. 1. 4. 6.:8. n. 2. p. 260.
8) Iren. fragment. IV. p. 341.
Verwaltung des Kirchenvermögens. 395
Der Reihung be8 Zehnten wird alfo hier noch nicht ge—
dacht und bie Erftlinge, von welchen ber Bilchof von
Lyon ſpricht, find gleichfalls uod) nicht die Erftlingäfrüchte
überhaupt, fondern bie primären Gaben, Brod und Wein,
die bei ber Feier der Euchariftie verwendet wurben ἢ).
Hippolyt hingegen Tennt [bon die Verabreihung von Erft-
fingen, fowohl von Getreide af8 Wein, Del, Honig, Milch,
Wolle und be2 Lohnes für Handarbeit, bie mit den Grit
Yingen von Obft bem Biſchofe in bie Kirche gebracht unb
gefegnet wurden). Ob diefe Erftlinge als Almofen ber
Kirche verblieben, ober nach vollbrachter Segnung dem Eigen
thümer aurüdgejtelft wurden, ijt nicht gefagt. Weil es aber
in dem Weihegebet heißt: sintque ad satietatem pauperi-
bus populi tui, ijt bie erſte Annahme wohl die richtige.
Damit war der Anfang gemacht, Erftlinge zu opfern. Der
Zehnten wird jeboch von Hippolyt noch nicht erwähnt. Auch
Eyprian kennt ihn nicht. Wenn ev eine Parallele zwifchen ben
jüdifchen Leviten und chriftlichen Clerikern zieht, |o wendet
er im Nachſatze (quae nunc ratio et forma in clero
tenetur) bie Achnlichkeit nicht auf den Genuß des Zehnten
an, jondern auf das Freifein von weltlichen Belchäftigungen,
um ben geiftlichen ungetheilt obliegen zu fónnen 8). Dieſes
jet allerding? ben Unterhalt der Elerifer von Seiten ber
Gläubigen voraus, aber nicht durch Zehntabgaben, jonbern
Almofen überhaupt. Die Richtigkeit deſſen folgt aus den
Morten Cyprians: rüber verkauften die Chriften ihre
Häufer und liegende Gründe und brachten den Erlös den
1) ef. Probſt Liturgie S. 120.
2) Hippol. Can. arab. 86. p. 98. Ihre Segnung lehrt aud) A.
C. 1. 8. c. 40. wie bie Synode von Elvira auf fie anfpielt can. 49.
8) Cyp. epist. 66. p. 246. a.
396 Prob,
Apofteln, jet aber geben wir nicht einmal vom Patrimonium
ben Zehnten ἢ). Die Smititution der Sebntabgabe fam vou
Orient in ben Occident. Im Abendlande, wenigften? in
Rom, war bie Opferwilligfeit jo groß, bap das Bedürfniß
nah ἤχει Einnahmen weniger fühlbar wurde. Sodann
brachte e8 bie große Stadt mit fid), daß ſolche Almofen
weniger ober gar nicht gegeben werben fonnten.
Su Morgenlande ijt e8 zuerft Origenes, ber anf
bie Reihung des Zehnten und der Erſtlingsfrüchte
dringt. Er verbreitet fid) über dieſen Gegenftand beſonders
in ber Homilie, welche bie Aufſchrift de primitiis offerendis
trägt. Bon bem Sabe au2gebenb, das Gele gebietet, ben
Prieftern bie Erjtlinge von Früchten und Vieh zu opfern,
hält er bie buchftäbliche Beobachtung deſſelben auch im
Chriſtenthume für nothwendig. Man erwidere nicht, bie
altteſtamentlichen Gelee haben für den Gbrijten feine (δεῖς
tung, denn εὖ gibt im alten Bunde verſchiedene Borſchrifter.
Der 18. Palm fpriht von lex, mandatum, judicium,
justificatio etc. Die lex ijt jene Vorfchrift, die im Chri-
ſtenthum ihre höhere Erfüllung findet und barum von ben
Chriſten nicht buchſtaͤblich, ſondern im geiftigen Sinne zu
verftehen und zu beobachten ijt. Dahin gehört das Gejek,
welches die Feier des Paſcha und bie Beichneidung var:
ſchreibt. Das mandatum (Decalog) Bat hingegen Feine vor⸗
bildlihe Bedeutung und tft darum aud) von bem Chriften
buchftäblich zu faffen und zu beobachten. Die justificatio
läßt bie buchftäbliche allegorifche Deutung zu. Die Bor:
Ichrift über bie Erftlinge ijt aber ein mandatum und bef-
wegen aud) im Chriftenthume buchſtäblich zu beobachten.
1) Cyp. de unit. p. 406. c.
Verwaltung bed Kirchenvermögens. 207
Gründe dafür find: Es ift gegiemenb und nüßlich ben
Prieſtern des Evangeliums die Grjtfitge zu opfern, beng
ber Herr fagt: bie dad Evangelium verfündigen, leben vom
Evangelium, und die dem Altare dienen, nehmen Theil am
Altare. Ferner folfen die Gläubigen durch dieſes Opfer
davon Zeugniß geben, daß fie die Früchte von Gott εἰς
langen. Wenn nämlich Jemand glaubt, er habe fie von
Gott erhalten, fo weiß er aud), daß er Gott für feine Gaben
ehrt, wenn er ben Priefteru gibt. Endlich jagt Jeſus:
Wehe euch, ihr Pharifäcr, die ihr den Zehnten vom Klein⸗
ften gebt, das Wichtigere des Geſetzes aber übertretet.
Heuchler ! dag Eine follt ihr thun, dad Andere nicht unter:
[affen. Wenn nun elu? verlangt, die Pharifäer jollen bie
Erftlinge und Zehnten geben, um wie viel mehr fordert ἐν
bieje von feinen Jüngern, bere Gerechtigkeit größer fein
ſoll, ala bie der Pharifäer ἢ).
Die beitimmtere und deutlichere Hinweiſung auf bie
Eritlinge bat ihren Grund in der Erklärung des Schrift»
lerted, der von den Primitiä handelt, und bie Zehnten δι:
rüdftelt, aber nicht außfchließt, wie denn auch Origenes
von ‚jenem auf bieje übergeht. Sodann war bie Berab-
reihung ber Eritlinge, laut Hippolyt3 Zeugniß, bereits ἤθε
lich geworden, bie ber Zehnten war εὖ jedoch nich Aus
Drigenes fieht man jedoch, wie man auf bie Sebutabgabe
fam. Wer dad mandatum für den Ehriften verpflichtend
und gehörte die Spende der Erftlinge in diefe Kategorie,
jo war ber Schritt zur Zehntabgabe ein Meiner, ober viel-
mehr in der. Theorie bereits gethan. Terner zeigt die Stelle
aus Drigened, daß bie Derabseihung ber Erftlinge und
1) Orig. in Num. hom 11. n. 2. p. 345.
398 Probſt,
Zehnten nicht mehr als völlig freies Almoſen, ſondern ala
Pflicht der Gläubigen angeſehen wurde!) Das Letzte
war übrigend mit dem Erften gegeben. Wurden beftinmte
Früchte ala folche bezeichnet, bic fi zu Gaben bejonbers
eigneten, fo trat aud) die Verpflichtung zu ihrer Verab-
reihung von ſelbſt ein, vorausgeſetzt, baB die Verpflichtung
zum Geben im Allgemeinen bejtanb.
Auf demfelben Standpunkte, ich möchte jagen durch
Origenes ermuthiget und feine Motive acceptirenb, ſteht
ber Verfaſſer ber ſechs evíten Bücher ber apofto(tiden
Sonftitutionen. Wenn jedoch Origenes hauptſächlich
bie Erftlinge im Auge hat und die Zehnten blos berührt:
jo ftellt der genannte Verfaffer beide auf gleiche Linie neben
einander. Das war ber Fortſchritt in dieſem Entwidlungs-
procefle. Im zweiten Buche heißt εὖ, bie nach bem Gebote
Gotte8 gegebenen Zehnten und Erftlinge foll ber
Biſchof recht gebrauchen, bie freiwilligen, um der Armen
willen gereichten Gaben recht verwenden ἢ. Es wird alfo
geradezu ein Unterſchied zwilchen gebotenen und freiwilligen
Opfern gemacht. Dennoch iff von einem neuteftamentlichen
göttlichen (Gebote, vole dieſes Drigened zu debuciren ſucht,
hier feine Nede. Das Gebot Gottes, von bem bie Rebe ijt,
bezieht fid) auf das alte Teftament. Im Verlaufe heißt εῷ
weiter, wie im alten Bunde bie Priefter den Unterhalt von
den Laien Hatten, fo follen aud) im neuen Bunde bie,
welche der Kirche leben, von den Gütern der Kirche genährt
1) An einem anderen Orte, wo er von ber Unterflübung ber
Geiſtlichen mit zeitlichen Gütern. rebet, fagte ev: tu imple officium
tuum, comple mandatum Dei erga obsequia sacerdotum. Orig.
in Jes. Nave. hom 17. n. 8. p. 716. P
2) A. C. 1. 2. c. 25.
Verwaltung b&& Kirchenvermögeng. 399
werben. Nachdem die alttejtamentlichen Gitate, welche das
Gebot ber Zehntabgabe enthalten, beigebracht find, fährt ber
Verfafler fort: Höret das ihr Qalen, höre das bu ermwählte
Kirche Gottes. Hierauf macht er bie Wendung, wa8 ehe⸗
mals die Zehnten und Erftlinge waren, das find jebt bie
Gebote und Gaben, welche οἷς Bilchöfe barbringen ?).
Man ficbt der Verfaſſer unterjcheidet zwiſchen Gaben,
die ben Armen gereicht wurben, bie freiwillige waren, weil
Almofen eine Liebespflicht ijt und zwifchen Gaben, bie zum
Unterhalte der Priefter dienten, ber auf einer Nechtöpflicht
beruft. Wie die Juden zum Unterhalte ihrer Prieſter
rechtlich verpflichtet waren, jo auch bie Gbrijten. Das tjt
ber Inhalt der Stelle. Dabei beftrebt fid) aber der Ver:
faffer die Gläubigen zu überzeugen, taB zu diefem Zwecke
die Abgabe ber Zehnten und Erftlinge. bejtimmt jei. Die
genannten Abgaben find in ber zweiten Hälfte be dritten
Jahrhunderts noch nicht üblich und durch Gewohnheit fanc-
tionirt, fondern jte werden in biejer Seit erft eingeführt.
Sm fiebenten Buche ber apoftoliichen Gornjtitutionen wird
hingegen die 9teidjung der Zehnten und Erftlinge nicht
mehr durch Beibringen verjchievener Gründe empfohlen,
fondern einfach als zu Recht beitehend vorausgeſetzt und
6103 angeordnet, wie diefe Gaben vertheilt werben follen *).
Gbenjo verhält e8 fid) mit dem 30. apitel des achten
Buches.
3. Je mad) Umftänden wurden außerorbentlidhe
Golleften veranftaltet. Wenn die täglichen Opfer nicht
1) 4. C. 1. 2. c. 25.
2) A. C. 1. 7. e. 29. Die Vorfchrift, e8 ſollen bte Erftlinge von
Thieren, Geld, Kleidern sc. verabreicht werben, enthält hingegen ig
Neue, δὰ fie fhon Hippolyt fennt.
400 Vrobk,
außreichten, follte e3 ber fBijdjof ber Gemeinde funb ihm
und Sammlungen veranftalten ἢ), Vorzüglich geichah biefe,
wenn eine auswärtige Kirche von einem Unglück betroffen
wurde, ober in Noth war. Die römifche Kirche zeichnete
ſich in ſolchen Fällen durch ihre Wohlthätigkeit vor alfen
aus, was jelbft Tertullian nicht füugnet ἢ). Das ijt euere
Gewohnheit, fchreibt Dionyſius von Korinth an Papſt Soter,
von Anfang an, allen Brüdern auf alle mögliche Weiſe
Wohlthaten zu erweifen, an bie Kirchen in jeder Stabt
Unter[titgungen zu jenden unb jo bie Armuth der Bebürftigen
zu erquiden, den in die 3Bergwerfe verbannten Brüdern zu
helfen 5). Aehnlich lautet ber Brief des Biſchofes Dionyſius
von Alexandrien an Papſt Stephanus *).
Aber aud) einzelne Gläubigen gaben der Kirche
außerordentliche Beiträge. Vorzüglich bei ber Aufnahme im
die chriftliche Gemeinschaft [deinen die Neophyten große
Dpfer gebracht zu haben. Wenn, jagen die apoftolifchen
Eonftitutionen, der, welcher παῷ Erfenntniß ded Gött⸗
lichen fein Vermögen den Armen gibt, vollkommen ift, fo
um fo mehr der, welcher e8 den Martyrern ſchenkt 5). Bon
Marcion ift dieſes befannt, wie daß ibm bieje Almofen
bei feinem Abfall von der Kirche wieder erjtattet wurde 5).
Werner gaben öfter folche, bie den Beruf in fid) fühlten,
dad Evangelium zu verkündigen, ehe fie ihn antraten, ihr
ganzes Vermögen ber Kirche und ben Armen”). G8 war
1) A. C. 1l. 4. c. 8.
2) Tert. de jejun. c. 18. p. 416.
3) Euseb. h. e. l1. 4. c. 28. p. 276.
4) Euseb. 1. c. 1. 7. c. 5. p. 485.
δ) Α. Ὁ. 1.8. c IL
6) Tert. adv. Mare. 1. 4. c, 4. p. 191. ἀφ prsese, & 80. p. 86.
7) Euseb. h. e. ]. 8. c. 87. p. 901. i
Verwaltung beg. Firchenvermögen?. 401
barum nichts Unerhoͤrtes, wenn mad) bem obigen Gitate
Quà ben apoftelifchen Eonftitutionen Manche ihr Bermögen
opferten, um die Martyrer zu befreien. Kennt ja Clemens
von Rom ſelbſt folche, bie jid) in Gefangenschaft begaben, um
Andere frei zu machen, bie jid) in die Sclaverei verkauften,
um ben Kaufpreiß den Hungernden zu geben ἢ). "
4. Dad Gefammelte wurde in dem δἰ τῷ εἰ ὦ αϑ
aufbewahrt, ven ZTertullian arca 3), Gyprian corban 5) und
dad zweite Buch ber apoftolifchen Conftitutionen korbanas
nenut*). Der Bifchof follte nämlich bie Gaben nicht io:
gleich und übereilt austheilen, ſondern den Bedürftigen zur
rechten Zeit geben. Sg. verlangte es eine gewiffenhafte
Berwaltung ὅλ. In der erjten Zeit wurden die betreffenden
Gegenftünbe beim Bifchofe hinterlegt 9), was wohl fo viel
beißen wird, man bemabrte fie in feinem Haufe απ.
Dem fünften apoftolifden Kanon zufolge
jollten bie geopferten Früchte in ein Haus nnd nicht auf
den Altar gebracht werden, während man die Eritlinge den
Biichöfen und Presbytern einhändigte. Ueber da Alter
dieſes und des vorhergehenden Kanon gehen bie Anfichten
weit augeinander. Drey erflärt fie für Sujüge zum 8.
Kanon, bie im 5. Jahrhundert gemacht wurden. Aus bem
Berbot Früchte auf bem Altar zu legen, ſchließt ev, daß fie
1) Clem. R. ad Cor. c. 55. p. 150.
2) Tert. apol. c. 39.
8) €yp. de op. et elem. p. 482. a.
4) A. C. 1, 2. c. 36. Koefavég est Josepho sacer thesaurus,
Hieronymo gazophylacium et dona Dei. Deducitur a Corban,
quod proprie significat munus Deo oblatum. Cotel a. h. 1.
5) A. C. l. 8. 6. 4.
6) Just. apol. c. 67. p. 271.
402 A Probſt,
nicht geſegnet wurden und va A. C. 1. 8. c. 40 ein Weihegebet
fiber Erſtlinge und Zehnten enthält, folgert er ber 5. Kanon
[εἰ nad A. C. 1. 8. c. 40 abgefaßt. Da jedoch auch bei
den Agapen dad Brob gefegnet wurde, ba nad) Tertullian,
ble Gläubigen das Bett mit dem Kreuze bezeichneten, was
auch, eine Segnung ift: fo ijf der Schluß von bem Nicht:
auf:den Altarzlegen, auf dag Nicht-fegnen jedenfall? nicht
fo ficher, daß man auf ihn bauen fünnte. Zweiten? be-
merkt Drey, weil fich fpüter die Einnahmen fo vermehrten,
daß fie in ber Kirche nicht untergebracht werden fonnten,
babe man zu diefem Sede eigene Gebäude errichtet. Gin
ſolches Gebäude bezeichne ber οἶκος bes 5. Kanon, der befi
wegen einer fpäteren Zeit angehöre. Allein, wie Orey
felbft zugefteht, nannten die Chriften auch bie Kirche οἶκος.
Es liegt deßhalb Fein Grund vor den οἶχος unferes Kanon
auf ein Nebengebände zu beziehen. Will man ἐδ aber bod)
thun, fo ijt zu beachten, baf unter Papft Eorneliug in Rom
153 Gferifer und 1500 Bebürftige au8 bem Kirchenſchatze
unterhalten wurden. Ein Nebengebäude zur Aufbewahrung
dieſes Schatzes fonnte bereit bamalà nothwendig und befe
wegen vorhanden fein. Weil der Kanon jedoch vorjchreibt,
man lege οἷς Früchte nicht auf den Altar, fondern in δα
Haus, jo fett bieje8 vielmehr voraus fie feien zu der Aeit,
als berjefbe abgefapt wurde, nicht fo maſſenhaft geopfert
worden, denn in dieſem Falle konnten fie nicht auf ben Altar
gebracht werden und wäre aljo ein Verbot überflüfjig ges
weſen. Sodann fpricht gegen den Urfprung bed Kanon im
vierten Jahrhundert, daß ber Zehnten nicht gebacht ijt
und bie Verwaltung ber Opfer beu Bilchdfen und Presbytern
aufgetragen wird. Wäre er im fünften Jahrhundert ges
jehrieben worden, fo würde er ftatt der Genannten, bie
Berwaltung bes Kirchenvermögens. 403
Dekonomen anführen), unb bie Diaconen würden ald bie
Verwalter erjcheinen, wenn er im 4. Jahrhundert verfaßt
wäre. Andererſeits Tann er aber auch nicht vor der Mitte
des dritten Jahrhunderts entjtanden, weil bie Bilchdfe und
Presbyter den Diaconen und übrigen Glevifern von
den Erftlingen mittheilen jollen. Der dritte und jtärkite
Beweis für ba8 junge Alter diefer Kanonen, bemerkt end»
[ὦ Drey, ijt die Erwähnung des Weihrauches unb ber
Räucherungen beim Gottesbienfte *). Hierüber Lönnen wir .
jedoch hier nicht handeln,
Uebrigens beſtand dad Kirchenvermögen nicht bloß im
Geld und Früchten, auch dad Kirchengebäude und bie Bes
gräbnigpläge wurden dazu gerechnet. Schon dad (bift beg
Kaiſers Gallianus (260—268) befiehlt, ut cuncti (ethnici)
a religiosis locis (Christianorum) abscedant ?) unb
Kaifer Aurelianus ließ bie Kirche, bie Paul von Camojata
fid) aneignen wollte, den katholischen Biſchoͤfen übergeben 4).
Sonftantin ftellte Gebäude und Grundbeſitz, theild Weder,
tfeifà Gärten al2 ben Kirchen gehörig, ibuen zuurüd®).
Sie gehörten aljo vor ber biofletianifchen Verfolgung bem
Kirhen an, bie in ihren Erträgniffen eine Einnahmsquelle
beſaßen.
8. 4. Verwalter des Kirchenvermögens.
Die Verwaltung des kirchlichen Vermögens geſchah
unentgeltlich. Der, in deſſen Haus das Almoſen ausgetheilt
1) cf. Can. 26 δὲς Synode von Chalcedon.
2) Drey, Neue Unterfuhungen ©. 367.
3) Euseb. h. 6. 1. 7. c. 18.
4) Euseb. ]. c. c. 30.
5) Euseb. de vita Const. 1. 2. c. 39. p. 874.
404 7 Proof,
und aufbewahrt wurbe, durfte nicht? von ben bargebrachten
Segenftänden für feine Mühewaltung zurlicfbehalten, jon
dern er follte αἰ Barmberzigfeit Alles vertheilen ἢ. Ge
wöhnlich wurde baB Almoſen beim Biſchofe deponirt und
er verſah auch die Vertbeilung ohne Anfpruc auf Kohn P).
Die apoftolifchen Kanonen jchreiben geradezu vor, der Biſchof
habe zwar bie Sorge für bic kirchlichen Sachen, εὖ [εἰ ihm
aber nicht geftattet irgend einen Theil derjelben für fid) oder
die Seinigen zu verwenden. Vielmehr fol er das, wo?
Gottes tft, ben Armen, wie unter Gottes Augen, verteilen ®).
Die Laien brachten deßhalb auch ihre Gaben felbft ober
durch den Diacon dem Biſchofe ) zur Vertheilung.
Während bet erjten drei Jahrhunderte ijt der Biſchof
unbeftritten der eigentliche Almojenpfleger und Verwalter
des Kirchengutes. Guprian fchreibt vor, voie viel biejem
und Senem gegeben werben [01 und bemerkt ausdrücklich
in feiner Abwefenheit jollen die Briefter und Diaconen an
feiner Statt (vice sua) bie Verwaltung getreu bejorgen
und fid der Armen foweit möglich annehmen 6). Er habe
von feinem Heinen Vermögen bereitö zur Vertheilung Einige
geſchickt 9), ſollte es- aber fchon verwendet fein, oder nidi
zureichen, jo, fenbe er durch einen Akoluthen noch mehr”).
Folgender Fall zeigt una den Bischof in Ausübnng feiner
Amtsthätigkeit. Schaufpieler wurden in bie Kirche nicht
aufgenommen. Es war nun ein Solcher, ber, um Chrift
1) Hippol. can. 32. p. 91.
2) Tert. apol. c.. 39.
9) Can. apost. c. 39.
4) A. C. 1. 2. c. 27.
5) Cyp. epist. 5. p. 38. c.
6) Cyp. epist. 6. p. 38. d.
7) Cyp. epist. 86. p. 114. a.
Berwaltung bed Rigchenvermögen?. 405
zu werben, von ber Bühne abtreten, aber zu feinem Sebena-
unterhafte, Anderen Unterricht in feiner Kunft evtbeilen
wollte. Auf die Anfrage, wie man fid) in dieſem Falle zu
verhalten Habe, jchreibt Cyprian, aud) dieſes [εἰ nicht zu
dulden. Er fol feinen früheren Beruf ganz aufgeben und
und wenn er Noth und Armuth vorichüße, koönne ev wie
Undere von ber Kirche unterjtüt werden. Uebrigens dürfe
er nicht glauben, man müjje ihn durch cin €alaire von bet
Sünde loskaufen, denn e$ gereicht nicht und, wohl aber ihm
zum Seile, jondern er begnüge fid) mit ber Färglichen aber
heilfamen Spende der Kirche. Wenn aber bie Kirche da-
jelbft folchen, die arbeiten fónner, bie hinlängliche Unter:
ſtützung nicht zu gewähren vermöge, (oll. er zu ihm kommen,
er voerbe für feine Kleidung und Nahrung forgen, bamit er
nicht außer der Kirche Andere Heillofes lehre, fonbern in
ber Kirche Heilfames (erue 1),
Die Aufnahme von Dieſem ober Senem unter bie Zahl
ber Bebürftigen Ding [onad) vom Bilchofe ab. Daffelbe
folgt aus citer Notiz Tertulliand. in Bilchof hatte eine
ποῦ nicht 21 Jahre alte Jungfrau in dag Viduat aufge⸗
nommen. Gegen „diejed Mirakel, um nicht zu jagen Mon:
ſtrum,“ ereifert fid) ber Montanift. Wenn [te ber Bifchof
unterffügen mußte, hätte er dieſes auf eine andere Art thun
fünnen ?). Der Bifchof ift εὖ alfo auch hier, ber bie Be-
treffenden in bie Klaffe derer aufnimmt, bie eine intere
ftügung empfingen. In derfelben Eigenichaft, ala Verwalter
des Kirchengutes, erjcheinen bie Bifchöfe auch bei den übrigen
Schriftſtellern unferer ‘Periode.
1) Cyp. epist. 61. p. 218..
2) Tert. de veland. virg. c. 9. OP 19.
406 Probſt,
Um keinen Beduͤrftigen zu überſehen und feinen Un⸗
würdigen zu unterſtützen, bemühten ſich bie Bifchöfe eine
genaue Kenniniß ihrer Gemeinbemitg(ieber zu erlangen.
Ignazius ermahnt feinen Freund Polycarp allen mit Ramen
nachzufragen ἢ. Wenn es ferner heißt: Er ſelbſt Tennt
die Armen und gibt Jedem nach Bedarf, damit sicht der
Eine zweimal ober dfter an demfelben Tage, oder berfelben
Woche empfängt, der anbere aber Teer ausgeht 9: To for:
dert das ebenſo perſoͤnliche Bekanntſchaft mit ben Armen,
wie wenn Cyprian fchreibt: ALS ich euch af8 meine Stell:
vertreter fandte, um die Noth unferer Brüder durch Unter
ftügung zu heben, zugleich ihr Alter, ihre Lage nnb Wür⸗
digfeit zu prüfen, bamit ich, dem bie Sorge obliegt alle jo
genau als möglich zu Tennen, bie Würdigen zu bem Amte
ber Firchlichen Verwaltung befürbere 3).
2. Dem Bifchofe von Kathago liegt feinen eigenen
Worten zufolge ebenfo bie Sorge ob, alle genau zu fennen,
ala er Würdige zu bem Amte ber Armenverwaltung zu
befördern hat. Er jelbft theilte demnach ba2 Almoſen nicht
immer ſelbſt aus, jonbern ftellte Vertreter auf. Diele
war nothwendig, wenn der Biſchof fij vor der Verfolgung.
flüchten mußte, frank, oder aus anderen Urjachen abweſend
war. In einem folchen Falle waren gewöhnlich die Pre
byter feine Stellvertreter. — Gbenjo ging bie Verwaltung
be$ Kirchenvermögend an fie über bei Erledigung des Dt
ichöflichen Stuhles. Dieſe VBerufsthätigfeit übten bie Pres⸗
byter ſchon in ben Tagen Polycarps, denn er legt ihnen
nicht nur die Sorge für Wittwen und Waiſen und Arme
1) Ignat. ad Polyc. c. 4.
2) A. C. 1. 2. c. 27.
3) Cyp. epist. 38. p. 115. c.
Berwaltung bes Kirchenvermögeng. 407
and Herz, fondern warnt fie auch vor Geiz‘). Cyprian
hatte dem Presbyter Rogatianus die Mittel gegeben um
Arme und Neifende unterftügen zu können ®).
Als fid) dag Chriftenthum von den Städten auf dag
Land verbreitete, entitanden bafelbft eigene Gemeinden. Der
Verband mit bem Bilchofe war zwar noch ein fehr Teben-
diger, fie hatten aber gewöhnlich einen Prezbyter ala Seel-
forger, bent dann bie Sorge für bie Armen oblag, Eine
weitere Berufsthätigfeit verfelben war ber Beſuch ber im
Gefängnifje befindlichen Belenner. Da für die Confeſſoren bie
bedeutenditen Summen aufgewendet wurben, übten bie Briefter
auch im dieſer Eigenjchaft einen großen Einfluß auf bie
Bertheilung be8 Almojend. In letzter Inſtanz jtanb jedoch
die Verwaltung bent Bifchofe zu, „jo daß üt feinem Auf-
trage durch die Presbyter und Diaconen ben Armen alles
gefpendet wurde” 9).
3. Wenn ber Bilchof in ber Didcefe anweſend war und
fie leitete, ftanbem bie Diaconen bezüglich des Armen-
weſens in einem ähnlichen Verhältniſſe zu ihm wie bie
Presbyter. Durch fie [penbete er bie Almoſen unb ver-
theilte er bie Früchte. Sie waren ble Hände des Biſchofes,
die ohne fein Wiffen nicht geben durften. Hinter bem
Rücken des Biſchofes einen Armen zu unterjtügen, war
ihnen unterfagt, denn fie klagten damit ben Biſchof gleich:
jam ber Nachläffigkeit aut). Mean fieht daraus, bie Dia-
conen hatten Zutritt zu dem Kirchengute, fie hatten es auch
auszutheilen, jollten aber den Biſchof zuvor benachrichtigen,
1) Polyc. epist. ad Philipp. c. 6. p. 197.
2) Cyp. epist. 36. p. 114. a.
8) Can. apost. c. 41.
4) A. C. 1. 2. c. 82.
Theol. Quartalſchrift. 1813. ΠῚ. Heft. 98
408 Prod,
in bejfen Auftrag fie handeln !). Darum vergleicht Origenes
gewiffeniofe Diaconen, welche die Güter der Kirche fchlecht
verwalteten, mit den MWechölern, bie Jeſns aus dem Tempel
trieb 9). In diefer Stellung zum Bifchofe ericheinen die
Diaconen auch, wenn e8 fid) um bie Aufnahme eine Armen
im die Klaſſe der Unterftügungsbebürftigen handelte. Die
Bittſteller follten jt) nicht unmittelbar an den Bilchof wen-
ben und ihm dadurch Täftig fallen, fondern ihm ihre Wünsche
durch bie Diaconen vortragen und burch fie feinen Beſcheid
entgegennehmen 5).
Zu den Presbytern traten bie Diaconen in ein
ähnliches Verhältniß, wie zum Biſchof, wenn bie Grften
Almofen ſpendeten, [εἰ es in Abweſenheit des Biſchofes,
oder auf Filialkirchen, oder bei Beſuchen, die ſie den Con⸗
feſſoren Im Gefängniſſe machten. Sie ſollten nämlich bem
Biſchofe und den Presbytern nicht nur beim heiligen
Opfer, ſondern auch beim Dienſte der Kranken und Armen
behilflich ſein), und den Biſchof mit ihnen bekannt machen,
1) A. C. 1. 2. c. 31. Nach bem unüdjten Briefe des Glemen?
an Jacobus follen bie Diaconen ben. Kranken das Nothwendige, πα
bem Ermeſſen be8 Biſchofes, geben. Sie fündigen jedoch nicht, wenn
fie biefeg heimlich tun. Epist. Clem. n. 12.
2) Orig. in Math. tom. 16. n. 22. p. 369.
3) A. C. 1. 2. c. 28.
4) Daffelbe jagt [don Ignazius: Auch bie Diaconen als Diener
der Geheimniſſe Jeſu Ehrifti, müffen auf alle Weife allen gefällig zu
fein ſuchen; bem nicht Diener von Speifen unb Getränfen find fie,
fondern Diener ber Kirche Gottes. ad Trall. c. 2. Wenn Razinger
daraus ſchließt, bie Diaconen hatten mit ber Sorge für bie Armen
nichts zu ſchaffen, ihre ganze Thätigfeit befchränkte fid) auf die Titur:
giihen Alte Geſchichte ber hriftl. Armenpflege. S. 83): fo ift doch zu
bedenfen, daß Ignazius zu biejem Wor:en gar nicht kommen fonnte,
wenn fie nicht Einige blos für Diener von Speifen unb. Getrünfen
gehalten hätten. Wurden fie aber von Einigen dafür gehalten, fo ift
Verwaltung bes Kirchenvermögens. 409
daß er für fie beten und fie unterftügen fonnte. Auch
Anderen deren fid) ber Biſchof erbarmt, follten fie beifteben,
und in Stand gejegt fein, Wittwen, Waifen und Armen
ba8 Nothwendige zu geben ἢ).
Schließlich ift zu bemerfen, bag mad) den 77. Kanon
der Synode von Elvira manchen Randgemeinden fein Prez-
byter, jondern blos ein Diacon vorjtand. Ohne Zweifel
wird in einem folchen Falle der Diacon dieſelben Befugniffe
bezüglich der Armenpflege gehabt haben, die bem Presbyter
zufamen.
8. 5. Annahme und Vertheilung von Almofen im
Allgemeinen.
Meiftend wurden die Eolleften mit ben gottegdienftlichen
Verſammlungen verbunden. Die Zeit, in welcher fid) bie
Gläubigen zujfammenfanden, war auch bie geeignetfte zu
diefem Zwecke. Es hatte dieſes jebod) nod) einen tieferen
Grund. Almoſen erſcheint bei den Chriften womöglich in
Begleitung des Gebetes, weil es daſſelbe unterjtügt, für
einen gotteödienftlichen Akt gilt. Jacob. 1. 27. Die Beten-
ben follten daher nicht mit leeren Händen zu Gott kommen,
denn ein folches Gebet ijt unfruchtbar 2). Gott hat es
vielmehr jo georbnuet, daß der Arme und ber Betende zu
diefeß ein ficherer Beweis, daß fie Almofenpfleger waren. Diefe ihre
Eigenſchaft ift auch act. 6. 1—8 fo beftimmt bezeugt, bap fie fid) nicht
wegflügeln laäßt.
1) Hippol. can. 5. p. 66. — Die Diaconiffen vermittelten
auf ähnliche Weife den Verkehr zwifchen bem Bilchofe und bem weib-
iden Armen. A.C.1. 3. 6.19. Arme Wittwen b. h. alle weiblichen
Armen follten ihnen wie dem Bifchofe, den Presbytern und Diaconen
gehorſam fein. Doch führte ein Diacon bie Auffiht. A. C. 1. 8. e. 7.
2) Cyp. de orat. dom. p. 425. f.
28"
410 Propft,
berjelben Zeit. und an demfelben Orte zufammen fonunen ἢ
Sodann erhielt zwar ber Arme bie materielle Gabe, geiftig
wurbe jebod) Gott und Chriftus gegeben, weßwegen der,
welcher durch viel Almofengeben bei Gott reih war, nidt
arm werben founte 3).
Aus diefer Verbindung de Almoſens mit bem Gebete
ergab εὮ fid) won felbit, bag εὖ jo menig gleichgültig war,
was und wie gegeben wurde, al εὖ gleichgültig ift,
was und wie man betet. Die Tirchlichen Vorfteher Hatten
bie Pflicht, ὦ zu verfichern, ob bie angebotene Gabe ge
rechtes Gut ſei*). Ein Armer, ber eine Einladung ober
ein Gefchen? erhielt, mußte die Erlaubniß des Diacon cin:
holen, benn man weiß nicht, wer ber Geber ijt und ob er
fi Vermögen und Unterhalt nicht auf eine ungerechte ober
unerlaubte Weife erworben hatt. Doch nicht nur bie
Unbefledtheit der Gabe, fondern aud) bie Unbefchol-
tenfeit be8 Geber wurde in Betracht gezogen. Gott
ſah nicht auf bie Opfer, welche Abel md Kain darbrachten,
fondern auf ihr Herz, und bejjen Opfer gefiel ihm, am beffen
Herz er Gefallen batte 9). Als barum Marcion von ber
Kirche abfiel, gab man ihm fein Almoſen zurüd. Cbenfo
wurden die Gaben abgewiejen von Wirthen, Hurern, Räu-
bern, Ehebrechern, Chrijtenverfolgern, Verfertigern von Gö—
zenbildern, Dieben, ungerechten Anwälten, Zöllnern, Wagen:
meiftern, gemaltthätigen Soldaten, ungerechten Richtern,
1) Orig. de orat. c. 11. p. 452.
2) Lact. inst. 6. c. 12. p. 335. e.
3) Commodiani instruct. 65. Qui de malo donant. Gall. III.
p. 645. |
4) A4. C. . 8. c. 8.
5) Cyp. de orat. dom. p. 428. c.
Verwaltung bed Kirchenvermögens. 411
MWucherern, Gottezläfterern, Gottlofen, Excommunicirten ἢ).
Qa, bemerkt Drey zu der Stelle, ber Verfaffer treibt vie
Strenge jo weit, baB er cap. 8 gerabezu fagi: wenn bie
Noth ber Gemeiude jo groß werben follte, daß ihre Armen
nur durch bie Beiträge folher Menſchen erhalten werben
fönnten, jo [εἰ ed beffer Hungers zu fterben, als ihre Gaben
zur Schmach Gotted und feiner Freunde anzunehmen. Um
jedoch genauer würdigen zu fünnen, von was für Menfchen
bier eigentlich die Rebe ijt, jo tjt noch zu beachten, daß bet
Berfaffer c. 7 von folchen, bie fid) nicht beffern wollen und
c. 8 von Ereommunicirten fpricht, die fij ber Wiederauf—⸗
nahme nod) nicht würbig gemacht haben. Gegen biefe it
bie entwickelte Strenge begreiflich, theild wegen. des Bel:
fpiefe2, theils damit fie nicht durch diefe Art von Beftechung
ihre Wiederaufnahme zu erfaufen fchienen, anjtatt fie durch
eine wahre SSejferung zu verdienen ?).
Aufgebrungene Gefchenke ſolcher Berjonen durften höch-
ftend zu Holz und Kohlen verwendet werben, denn e8 ijt
billig, bag bie Gefchenten ber Gottlofen bem euer, nicht
aber den Frommen zur Nahrung dienen ὅ).
Den Büßern wurde hingegen bag Reichen von Almoſen
empfohlen, da es ein Mittel war ihre bußfertige Geſinnung zu
conſtatiren und fid) von bem Tode ber Seele zu befreien. Zeit⸗
licher Befib war häufig Urfache be8 Abfallend und Verderbeus,
fle follten ihn daher zum Mittel machen, die Schuld abzu⸗
tragen und die durch ihn gefchlagene Wunde zu heilen 4).
2. Der Ertrag der Collekten murbe nicht immer jo-
1) A. C. I. 4. c. 6—8.
2) Drey, Neue Unterſuchungen ©. 28.
8) A. C. 1. 4. c. 10.
4) Cyp. de laps. p. 885. b.
412 Probſt,
gleich, ſondern mit Hüuͤckſicht auf ble Beichaffenheit ber Gabe
und die Noth der Empfänger, büfber oder jpüter vertheilt.
Aus Nachläffigkeit des Verwalters follte aber bie Verthei—
[ung nicht verzögert werben und blieb von Lebensmitteln
den eriten Tag etwas übrig, fo verjchenfte man den Reſt
ben zweiten ober dritten Sag D. Für gewöhnlich jcheint
den Laien alle Wochen, den Gferifert alle: Monate Unter:
ftüßung gereicht worden zu jein 9). WBielleicht ftand bamit
die wöchentliche und monatliche Einfammlung des Almoſens
in Berbindung Weil jebod im britten Jahrhundert bie
Euchariftie häufig täglich gefeiert wurde und bei biejem
Anlaffe Almofen empfangen und gegeben wurden, fam e8
wahrjcheinlich aud) täglich vor.
Im Allgemeinen galt der Grundſatz bie Bilchöfe follen
ben Ertrag ber Eolleften Bedürftigen unb Würbigen
einhändigen. Sie follen durch benjefben ben Waiſen bie
Hilfe der Eltern, den Wittwen den Schub des Marne,
jungen Leuten den Eheftand, dem Handierfer Arbeit, bem
Schwachen Barmherzigkeit, bem Fremden Obdach, bent Hung:
rigen Speife, bem Dürftenden Trank, dem Nakten Kleidung,
Kranken Beſuch, Gefangenen Hilfe gewähren. Zudem follen
fie ihre befondere Sorge ben Waiſen zumenden, bamit ihnen
nicht8 mangelt. Jungfrauen, bie in ba8 mannbare Alter
eintreten, jollen fie einem Bruder zur Ehe geben, einem
Knaben Geld vorſchießen zur Erlernung einer Kunft. Wenn
er feine funjt auszuüben verfteht, feien fie ihm zur An-
1) Hippol. can. 82. p. 91.
2) Ceterum presbyterii honorem designasse nos illis jam
sciatis, ut et sportulis iisdem cum presbyteris honorentur et di-
visiones mensurnas aequatis quantitatibus partiantur. Cyp. epist.
84. p. 110. d.
Verwaltung des Kirchenvermögen?. 413
ſchaffung des Werkzeuges behiflich, damit er nicht ferner der
Wohlthätigkeit zur Laſt Fällt, ſondern fid) felbjt durchbringen
fann !) Dabei wurde aber ar dem apoftoliichen Worte
feftgehalten: wer nicht arbeitet, [ΟἹ nicht efjen. Jemand,
ber bem Fraße und Trunfe ergeben, oder ein Müßigänger
war und beBbafb Noth (itt, der verdiente nicht nur feine
Unterftüßung, jondern war der Kirche Gotted unwürbig.
Trägheit ijf mit Necht die Mutter des Hunger: 3).
Sowohl weil bie Glevifer meiftend arm waren, αἱ
auch damit ſie frei von zeitlichen Sorgen ihrem Berufe un-
getheilt Leben konnten, erhielten auch fie Unterftügung.
Die, welche der Kirche dienen, follen aus den Gütern der
Kirche ernährt werben, nämlich Priefter, Leviten, Vorſteher,
Diener Gottes, wie fchon im vierten Buche Moſes von ben
Prieftern gejchrieben fteht®).
Endlich wurden die für die Kirche und ben Got:
tesdienft nothmendigen Ausgaben aus dem Kirchenver-
mögen bejtritten. Aug den fpöttifchen Bemerkungen Ser:
tulliang erfieht man, baB die Gläubigen den Soldaten
Geld fchenkten, um ihre gottesdienftlichen Berfanmlungen,
fiber vor Ueberfall, abhalten zu können ἢ. Für gottes⸗
bienftliche Sroede waren auch die Summen verwendet, bie
für dag Begräbniß armer Gläubigen ausgegeben wur-
ben. Wie jer ein anftändige® Begräbniß ben Chrijten
am Herzen lag, geht daraus hervor, daß Xertullian eigen?
bemerkt, bie monatlichen Beiträge werben zu biefem Zwecke
1) A.C.1. 4. c. 2. cf. Epist. Clement. ad Jacob. n. 8. p. 615.
2) A. C. 1. 2. c. 4. Clem. A. strom. 1. 1. c. 1. p. 821. cf. 1.
7. c. 12. p. 878.
8) A. C. 1. 2. c. 25.
4) Tert. de fuga. c. 18. p. 198.
414 Probſt,
geſammelt Ὁ und Lactantius führt ba, wo er die hauptfädh-
lichſten Ausgaben and dem Kirchenvermögen nahmhaft
macht, die Beftreitung ber für eim chriftliches Begräbniß
nothwendigen Koften an ?).
Die Grundjäbe, welche im Einzelnen bei der VBerthei-
fung be8 Almoſens zur Richtfehnur dienten, enthält das
folgenve. |
$. 6. Unterflükung der Armen.
Die Armen überhaupt wurden aus bem Kirchenver:
mögen untevjtügt 5). „Die Vermöglichen und die, welche
wollen, theilen nach Belieben mit, wie e8 Jedem gefüllt.
Das Gefammelte wird beim Vorfteher beponirt und dieſer
unterftüßt davon Waiſen, Wittwen und folche, die entweder
wegen Krankheit, oder aus einer anderen Urfache in Noth
find, deßgleichen auch bie Gefangenen und anweſenden rem:
ben, fury er forgt für alle Bebürftige*). In völliger
Uebereinftimmung biemit, bemerkt Tertullian, dieſe Depofita
der Trömmigfeit werden verwendet zur Ernährung und
zum Begräbniß der Armen, S3ebürffjgen, armer Waiſen,
betagter Gläubigen (domesticis senibus), Schiffbrüchiger,
die fid) in den Bergwetken, Inſeln oder Gefängniffen θὲς
finden, wenn fte um bed chriftlichen Glauben? willen folches -
leiden ?). Beachtendwerth ijt dad Wort domesticis. Ber:
gleicht man hiemit bie Worte Cyprians: Wir jolfen Al-
mejen geben circa domesticos Dei), |o fiet man ba8
1) Tert. apol. c. 39.
2) Lact. instit. ]. 1. c. 12. p. 885.
8) Iren. 1. 2. c. 81. n. 8. p. 164.
4) Just. apol. c. 67. p. 270.
5) Tert. apol. c. 39. p. 94.
6) Cyp. de orat. dom p. 426. d.
Verwaltung des Kirchenvermögens. 415
Geſammelte wurde Hauptfächlich unb in erfter Linie für
die Gläubigen verwende. Das Wort be8 Apofteld: Sajfet
und ba voir Zeit haben, Gutes thnn Allen, vorzüglich aber
ben Glaubensgenofjen Gal. 6. 10, war maaßgebend.
Am jorgfältigiten und reichlichiten wurden deßhalb bie
wegen de8 Glauben? VBerfolgten bedacht. Diele
hatten alf ihren Beſitz verloren )) unb ba fie weder durch
Armuth noch Verfolgung niedergeworfen, dennoch bem Herrn
treu dienten und den übrigen ein Beifpiel des Glauben?
gaben, verdienten fie größere Liebe und Berücfichtigung ?).
Noch mehr gefchah bieje8 den Martyrern, b. B. jenen
gegenüber, bie um ded Namen? Jeſu willen in ben Ge-
fängniffen, Bergwerfen und ber Verbannung lebten. Zu
ihrer Erleichterung oder Befreiung follten die Gläubigen
durch Arbeit, Schweiß und Abbruch am eigenen Wunde
ſich etwas zu erübrigen fuchen ®).
Die zweite Stelle nahmen bie Wittwen und Wai—
jen ein. Doch wurden bie Erjten nicht fo bevorzugt, daß
eine durch viele Kinder, Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit
verarmte Ehefrau nicht vor der Wittwe unterjtüßt worden
wäre 4). Weberhaupt jollte fid) der 3Bijdjof die Sorge für
arme Kranke, bià auf die irdenen Gefäße herab, bie fie
bedurften, angelegen fein Taffen 5. Von ihnen fagt der
Herr: Brich dem Dürftigen dad Brod. Man bringe ihnen
barumt bei einem Befuche nicht Worte, ſondern Wohlthaten.
1) So erging εὖ ber Familie bes SOrigene8 cf. Euseb. 1.6. c. 2.
p. 889.
2) Cyp. epist. 87. p. 116. a.
3) A. C. L 5. c. 1.
4) A. C. 1. 2. c. 4.
5) Hippol. c. 25. p. 81.
416 Probſi,
Ebenſo ſollen die Frauen einer kranken Schweſter Lebens⸗
mittel verſchaffen. Vierfach wird ed Gott erſetzen 1).
Unter den übrigen Armen wurden, wie ber Brief
Cyprians über den Schaufpieler lehrt, jene zuerft unter:
ftüßt, bie nidt arbeiten konnten. Dann erit. traf bie
Reihe die fürper(id) 9tüftigen. Beſonders jüngere Leute
wurden zum 1nverbroffenen Arbeiten aufgeforbert, um bie
Kirche Gottes nicht zu belaften ἢ. Das Vorbild bed 9[po-
ftel3 und feine Ermahnung ®) war jo jer. Ehrenſache für
fremme Gläubige, bag man e8 von einer 9Bittme, welche
die Kirche nicht belaftet hatte, auf ber Infchrift ihres Grabes
bemerkte und dabei ba8 vom Apoſtel fanctionirte Wort
gravare gebrauchte). Auch in den Martyreralten des
Pionius heißt t8: quod multis indigens nulli gravis
fuisset 5).
Ueberhaupt genügte eine trene Verwaltung allein nicht,
jondern fte follte ber Elugen die Hand reichen. Die Ber:
walter jollten ber Urfache der Armuth nachipüren und
ebenfo mit Berückſichtigung der Würbigkeit als Bedürftigkeit
austheilen. Die, welche von Sugenb auf hart und ftreng
erzogen wurben, behandelte man nicht auf diefelbe Weife,
wie bie welche im Weberfluß und Weichlichkeit aufgewachlen,
Ipäter herabgekommen waren. Man gab nicht dafjelbe ben
1) Commod. instruct. 71. p. 647. Gall. III.
2) A. C. 1. 2. c. 68.
8) II. Cor. 12. 18. I. Thess. 2. 9. II. Thess. 3. 8. I. Tim. 5. 16.
4) Dafnen vidua q. cum vix... ecclesia nihil gravavit...
Regine vene merenti filia Sua fecit vene regine matri vide que
sedit vidua annos LX et eclesa nunqua gravavit unibyraque
vixit annos 80 menses 5. dies 26. Marchi Monumenti etc. p. 98.
(unibyra-univira, blos einmal verebelicht).
5) Ruinart. I. n. 11. p. 334.
Verwaltung bed Kirchenvermödgens. 417
Männern und Frauen, nicht gleichviel dem Greis unb
Süngling und unter jungen Tränklichen Leuten unterſchied
man zwijchen Seren, bie fid nichts mehr verbienen unb
jenen, bie fid) zum Theil noch das Brod erwerben unb
helfen fonnten. Ebenſo unterfuchte man, ob fie Kinder
haben und für ihre Erzichung thätig feten, ober ob fie fie
vernnachläffigten. Um nicht mehr zu fagen, jchließt Origenes,
wer bie firchlichen Einfünfte gut verwalten will, bedarf
großer Weisheit, damit er als treuer und Anger Verwalter
erfunden und felig werde ἢ).
Bergleiht man hiemit bie Aeußerungen Cyprians, fo
zeigt die Uebereinſtimmung beider, daß ba8 nicht nur private
Ermahnungen, fondern die in ber Kirche allgemein geltenden
Grundfäße waren, an welche der Bilchof gebunden war.
Die Laien ſollten jedoch fein Verfahren nicht argmöhnifch
überwachen, ba ihn Gott zur Nechenfchaft zieht und dag
Richten nicht ihnen, fondern ben Priejtern zufteht 3).
2. Die Armen hatten bie Obliegenheit für ben
Geber zu beten). In diefem Behufe wurde beim Aus⸗
teile be3 Almoſens der Name des Gebers genanıtt,
damit bie Empfänger namentlich für ihn beten fonnten *).
Aus demfelben Grunde macht Eyprian die Namen berjelben
befannt, wie aud) die der Bilchöfe, welche da üt ihren
Gemeinden Gefammelte ihm überjchieften 9). Es gab jeboch
aud) Fälle, in welchen weder ber Name deſſen bekannt
gemacht wurde, von dem ba8 Almofen herrührte, noch ber
1) Orig. in Math. series 61. p. 145.
2) Α. C. 1. 2. c. 35. u. 86.
8) Pastor Herm. simil. 5. c. 8. p. 296.
4) A. C. 118. c. 4.
δ) Cyp. epist. 60. p. 216. d.
418 Probſt,
Name des Empfängers. Manche erkundigten fid nämlich
nach dem Namen, und machten den Gebern Vorwürfe.
Warum haſt du jene mir vorgezogen, da ich doch bedürftiger
bin und dir näher ſtehe P). Man ſieht daraus zugleich, bie
Seber konnten ifr Almojen einer beftimmten Perfon zu⸗
wenden, ber e8 dann aud) durch ben Verwalter eingehändiget
wurde. Sm foldhen Fällen jcheint ber Name bejonber$
verfchwiegen worden zu fein. Im Allgemeinen wurbe er
aber, fefbjt in der Kiturgie?), genannt. Wahrjcheinlich
gejchah bieje8 erſt im dritten Jahrhundert, während früher
dev Geber nur im Allgemeinen gedacht wurde, wovon bie
älteften Liturgien Zeugniß geben ).
Wie im Gottezdienfte für die Wohlthäter gebetet wurde,
jo hatte ber Empfänger nod) inZbefondere für viefelben, wie
für den Bifchof und austheilenden Minifter zu beten. Die
apoftolifchen — Gonjtituttonen legen einer Wittwe folgende
Worte in den Mund: Gepriefen feilt bu, ὁ Gott! Der bu
bie Wittwe erquickt haft, fegne Herr unb verherrliche den,
ber e8 ifr gegeben unb feine That [teige in Wahrheit zu
bir empor, und gebenfe feiner gnädig am Tage feiner Heim-
fudjung. Auch den Bifchof (fegne), ber nach deinem Willen
(die Gaben) ausgetheilt und angeorbnet hat, daß mir ber
alten, armen Wittwe, das btenlide Almofen zu Theil
werde, gib ihm Herrlichkeit und den Kranz des Ruhmes
an bem Tage, an welchem beine Heimfuchung fid) enthüllt.
Aehnlich bete fie auch für den ber ihr dad Almofen ein-
hänbigte 4).
1) A. C. 1. 8. c. 14.
2) Cyp. l. c.
3) cf. Probſt Liturgie S. 268 unb 327.
4) A.C.1.8. c. 18.
Verwaltung des Kirchenvermögens. 419
Allen aus dem Kirchenvermögen Unterftüßten war das
Betteln unterjagt. G3 gab unter den armen Witwen
jolche, bie fid) burd) unverſchämtes Betteln und unerfätt-
liches Nehmen auszeichneten. Nicht zufrieden mit ber firch-
lichen Unterftügung, gingen fie von Haus zu Haus und
brachten Manche dahin, bap fte erklärten, unter diefen Um:
ftänden geben fie fein Almojen mehr. Derartigen Unfug
juhte man zu befeitigen. Man hielt ihnen das Beifpiel
ber Wittwe im Evangelim vor unb forderte fie zum fpinnen
anf, um dadurch Andere zu unterjtüßen, ſtatt ſelbſt von
Almofen zu leben, und verlangte, fie folet von ihrem un-
georbneten Wandel ablafen. Wollten fie aber bem Befehle
des Biſchofes, ber Priefter, Diaconen und Diaconifjen feine
Folge Leiften, wollten fie, von Jemand zum Eſſen, ober zum
Empfang einer Gabe eingeladen, fich nicht nach ber 3Bor-
Ihrift be8 Diacon richten: jo wurben fie burd) Saiten ge-
ftraft, oder aus ber Zahl jener, bie Firchliche Unterftügung
genofjen, ausgeſchloſſeu 1).
Wie e8 fcheint wurden arme Wittwen öfter zum Effen
eingeladen. Es geſchah dieſes gewöhnlih an Sonn:
tagen ?). Der, welcher fie bewirthete, follte fie nach Neichung
bon genügender Speife nebjt Trank vor Sonnenuntergang
entlaffen, und wenn ed mehrere waren, barau[ achten, daß
jede Unorbnung verhindert wurde.
3. Zunächſt hatten chriftliche Arme auf Unterftüßung
zu vechnen, bei großer Noth wurden ihrer aber,auch Heiden,
1) A. C. 1. 8. e. 7. p. 778 u. 779.
2) De die dominica quid dicis? si non ante locavit, Excita
de turba pauperem, quem ad prandium ducas. In tabulis spes
est vestra de Christo refecto. Commod. instruct. n. 61. p. 644.
Gall. III.
v
420 Probſt,
überhaupt Nicht-Gläubige theilhaftig. Pontius
berichtet von Cyprian, da Seuche und Tod furchtbar wüthe⸗
ten, Leichen und Sterbende untereinander da lagen und die
Ledenden ſich flüchteten, habe er die Gemeinde verſammelt,
ihr durch Beiſpiele aus der h. Schrift die Uebung der
Barmherzigkeit ans Herz gelegt und im Verlaufe der Rede
bemerkt, das ſei nichts Großes, wenn man blos den Gläu-
bigen mit Liebeswerken zu Hilfe eile. Der ſei hingegen
vollkommen, der aud) dem Zöllner und Heide beiſtehe, und
Böfes mit Gutem aufwiegend bie Feinde liebe. Es wurden
jofort Dienftleiftungen und Gaben aller Art den Bebrängten
gereicht), Als die Belt in Alerandrien und Egypten
Schrecfliche Verheerungen anrichtete und die Heiden bie Ihrigen
erbarmungslos verliehen, nahmen ji), durch ben großen
Bifchof Dionyfius von Alerandrien angefeuert, die Chriften
ber Berlaffenen jelbjt mit Aufopferung ihres Lebens an.
Presbyter, Diaconen und Laien holten jid) bei Uebung bie-
jer Liebeswerke den Tod”). Nicht anber8 war es, als
unter Mariminus die Peſt ausbrah. Die Verfolgung?
decrete beantworteten die Chriften mit Pflege und Unter:
ſtützung kranker und halbverhungerter Heiden, fo daß Alle
den Gott der Ehriften lobten und bekannten, fie allein haben
fij in ber That und durch Werke als fromme Gottesver⸗
ehrer erprobt ®).
δ. 7. Unterſtützung des Clerus, der Dinconiffen und
gottgeweihten Inngfranen.
Sene unter den Gläubigen, die vollfommen werben
wollten, verkauften ihre Güter, brachten den Erlös der
1) Pontius vita Cypriani. Ruinart II. n. 9. p. 81. :
2) Euseb. h. e. 1. 7. c. 22.
8) Euseb. 1. 9. c. 8. n. 5. p. 689.
Verwaltung des Kirchenvermögens. 4921
Kirche unb wurden, ſoweit dieſes nöthig war, von ihr unter:
fügt. Zu den Volllommenen follten aber, ihrem Berufe
entipredjenb, bie Glerifer gehören, weßwegen fie fid häufig
alles eigenen Befiged entäußerten P. Denn wenn
ber, welchem fein Heil am Herzen fag, allen weltlichen Ge⸗
ſchäften entjagen, all das Seinige verkaufen jolíte, um bie
Eine wahre Berle zu Faufen 5): fo ergibt fih der Schluß
auf die Gíerifer Leicht. Die Priefter und Diener Gottes
hatten Fein irdiſches Erbtheil, weil ihr Erbe ber Herr war),
weil fie bent Altare und Gott dienten *).
Großer S3efi und Verwaltung eines bedeutenden Ver⸗
mögens erjchien bem clericalen Stande und feiner Befchäf-
tigung jo wiberfprechend, daß ber der Depofition fchuldig
erflärt wurde, welcher weltliche® Sinnen und Trachten in
fh aufnahm). Frei von aller Sorge für ba8 Zeitliche,
jette der Gfevifer bloß bem Himmlifchen leben δ). Cyprian
ſtellt den allgemeinen Sat auf, ber kann von ber Welt
nicht Hejiegt werden, welcher in ber Welt nichts beſitzt, wo:
durch er bejiegt werben könnte. Frei und ungebunden folge
man Chriſtus, wie die Apoftel und mad) ihnen Biele e$
gethan haben, die Alles zurücklaffend durch die engften Bande
mit Chriftus verknüpft, ihm folgten. Wie können die aber
Chriftus folgen, welche durch bie Bande be8 Eigenthums
gefefjelt find, wie können bie nad) dem Himmel verlangen,
welche durch irdiſche Begierben niedergedrückt werden ? Sie
1) Orig. in Math. tom. 15. n. 15. p. 218.
2) Reeognit. l. 3. e. 62. p. 1809.
3) Orig. in Num. hom. 21. n. 2. p. 480.
4) Iren. 1. 4. c. 8. n. 8. p. 287.
5) Can. apost. c. 81.
6) Cyp. epist. 66. p. 246. c,
422 Probſt,
glauben zu beſitzen und werden beſeſſen, ſie ſind nicht
Herren, ſondern Sclaven ihres Gottes 3).
Bei ſolcher Anſchauung erklärt es ſich leicht, wie Eu—
ſebius von Solchen berichten kann, die vor dem Eintritt in
ben geiſtlichen Stand alle ihre Güter ben Armen ſchenkten 2).
und man erfeunt au feinen Worten, dad war nicht etwa
eine feltene Ausnahme, jonbern dad Gewöhnliche. Bon
Drigened ijt bekannt, wie er felbjt feine Bibliothek weggab
und von bem Erlöfe lebend, jid) zur höchften Spike ber
evangelifchen Armuth erhoben hatte ?). Sein Schüler Gregor
Thaumaturgus hatte nicht nur alles Gigentfum verfchentt,
jondern wollte nicht einmal einen eigenen Begräbnißort *)
und Cyprian hatte beim Eintritt in die Kirche all das
Seinige ben Armen außgetheilt.
Die nothwendige Folge defjen war, bap fle ihren
Unterhalt von ber Kirche bezogen. Ohne frühere
Belegftellen hiefür zu wiederholen, verordnet ber 41. apoftolifche
Kanon, ber Bifchof foll dag Kirchenvermögen zu Gunften ber
Armen verwalten, wenn er aber felbft arm fei, dürfe er
das 9toffmenbige für (id) und zur Uebung der Gojtfreunb-
(daft nehmen, denn, wer bem Altare diene, werde vom Al-
tare erhalten). Wie e3 fid) verhielt, wenn ber Bijchof
1) Cyp. de laps. p. 876. c.
2) Euseb. h. e. 1. 8. c. 37.
8) Euseb. h. e. 1l. 6. c. 3. n. 5.
4) Gregor Nyss. vit. Greg. c. 28. p. 466. Gall. III. Ruinart
II. n. 2. p. 23. ;
5) Auf daſſelbe Schriftwort hinweiſend, verlangen bie Elementinen,
die Gemeinde foll den Elerus erhalten. Auf bie Frage, bad um[onjt
gegebene Wort wird alfo verfauft? antworten fie, bag jei ferne Blos
ber, welcher eigene Mittel befitt, unb bod) von ber Gemeinde Unter:
ſtützung annimmt, verfauft dag Wort, nid)t aber ber, welcher arm ben
Unterhalt empfängt. Clem. hom. 8. n. 71. p. 661.
Verwaltung bes Kirchenvermögens. 423
eigened Vermögen befaß, darüber gibt der 40. apoftoliiche
Kanon Aufſchluß, ber folgende Anordnung trifft Wenn
ber Biſchof auf bem Todbette Liegt und da vorhandene Ver-
mögen theils offenbar dem Bilchofe, theils offenbar ber
Kirche gehört, Hat er das Necht ſein Eigenthum, welchen
und. wie er ed will, zu Hinterlaffen und er foll bafjelbe
nicht unter bem Vorwande, ἐδ [εἰ Kirchenvermögen, verlieren,
denn bisweilen bat ev Frau unb Kinder, Verwandte und
Gefinde. Und εϑ ijt gerecht vor Gott und den Menjchen,
baf meber bie Kirche einen Schaden erleide, weil man wicht
weiß, was dem Bijchofe gehört, nod) ber Bifchof, oder feine
Angehörigen, unter bem Vorgeben, das [εἰ Kirchenvermögen,
benachtheiliget werben. Drey glaubt, biejer Kanon fei ber
Eynode von Antiohien anno 341 entnommen 1), weil fie
ähnliche Beſtimmungen traf. Hefele gejteht, bie Meinung
habe Vieles für fich, bod) [εἰ bie Möglichkeit nicht ausge—
ſchloſſen, daß umgekehrt das antiochienische Goncif aus un-
ferem Kanon gejchöpft babe.
Durchichlagende Gründe haben wir allerdings für bie
legte Annahme nicht, halten fie aber für die wahrjchein-
fichere, weil gerade jene Beſtimmungen, bie einer jpüteren
Zeit angehören, im apoftoliichen Kanon fehlen, im antio-
επί ἐπ aber aufgenommen find. Dahin gehört bie An—
ordnung über die Verwendung „ber Einkünfte der Kirche
ober ber Früchte ihrer Selber," welche der apofto-
lifde Kanon nicht hat. Im Sabre 341 beſaßen bie Kirchen
jedenfall? Grunbjtüde und mehr Grundjlüde alà im Zeit-
alter der Berfolgungen. Daher ijt e8 ebenjo erklaͤrlich,
daß bie antiochenifche Synode diefen Zuſatz bem älteren
1) Can. 24 u. 35. ct. Hefgle Conciliengefh. I. &. 500.
2) Hefele Conciliengeſchichte I. ©. 772.
Theol. Quartalſchrift 1872. III. Heft. 29
424 Probſt,
apoſtoliſchen Kanon beifügte, als es ſchwer zu begreifen
wäre, warum der Verfaſſer des apoſtoliſchen Kanon ihn
weggelaſſen haben ſollte, wenn er aus dem antiocheniſchen
geſchoͤpft hätte 1)y. Nach unſerem Ermeſſen ijf darum ver
39., 40. und 41. apoſtoliſche Kanon älter als ber 24. und
25. antiochenifche und fällt bie Abfaſſungszeit derjelben vor
bad 4. Jahrhundert.
2. Die Bifchöfe hatten aber auch das Recht und bie
Tfliht dem übrigen Clerus einen Theil von dem Kirchen:
vermögen zu geben und wenn durch feine oder eines Prie—
fter Schuld ein Gfevifer an dem Nothwendigen Mangel
fitt, follte cv anögefchloffen und bei hartnädigem Verharren
beponirt werben. Daß von din Bilchöfen und Presby—
‚tern die Rede ijt, kann nach dem Vorausgegangenen al?
1) Ferner verlangt ber 24. Kanon ber antiochenifchen Synode,
die Priefter und Tiaconen follen wiflen, was bem SBijdof, was bet
Kirche gehört, während ber apoftolifche Kanon eine Unwiſſenheit in bie:
fer Beziehung vorauzfegt, [o daß amijden ber Abfaffung des Einen
und Anderen bierüber Beſtimmungen getroffen wurden. Der liber
pontificalis läßt aber den Papſt Lucius verordnen, e8 [offert zwei Pres⸗
byter und brei Tiaconen befländig in ber Nähe bes Bifchofes fein prop-
ter testimonium ecelesiasticum.'
Der apoftoliihe Kanon redet von ber Frau bed Biſchofes, ber am:
ttochenifche fchweigt hierüber. Da aber im 4. Sahrhundert verehelichte
Biſchöfe feltener waren als im britten, ijt c8 begreiflih, warum bie
antiochenifche Synode ba8 Wort Frau wegließ. Nicht einzufehen wäre
aber, weßwegen ein aus ihr ſchöpfender Verfaffer e8 aufgenommen haben
ſollte.
Nach dem apoſtoliſchen Kanon ſollen die Prieſter und Diaconen
nichts ohne Wiſſen des Biſchofes thun. Nach dem antiocheniſchen Kanon
verwaltet der Biſchof die Einkünfte der Kirche „nach der Meinung der
Prieſter und Diaconen“. Die Vorſchrift des apoſtoliſchen Kanon, der⸗
gemäß ber Biſchof bie Vollgewalt beſitzt und fid) ber Diaconen und
Presbyter αἷ feiner Organe bedient, ijt offenbar bie ältere.
Verwaltung de Kirchenvermögen?. 425
fein Merkmal einer fpäteren Abfaffung angejehen werden !)
und ebenjo wenig weilt bie VBernachläffigung der Cleriker
auf die Bifchöfe al8 „vornehme Herren” in der nachcon=
ftantinischen Zeit Hin), Bon Bifchöfen feiner Zeit fagt
Cyprian: Episcopi plurimi, quos et hortamento esse
oportet ceteris et exemplo, divina procuratione con-
temta, procuratores rerum saecularium fieri, derelicta
cathedra, plebe deserta, per alienas provincias ober-
rantes, negotiationis quaestuosae nundinas aucupari,
esurientibus in ecclesia fratribus, habere argentum
largiter velle, fundos insidiosis fraudibus rapere, usuris
multiplicantibus fenus augere ?).
Die Gaben bejtanben theild in den gewöhnlichen Joni
täglichen Opfern, theil3 in den Erftlingen und Zehnten, ſo
weit folche gereicht wurden. Daß zweite Buch ber apojto-
liſchen Eonftitutionen verordnet och die unterſchiedsloſe
Bertheilung der Zehnten, Eritlinge und Opfer überhaupt
an Arme wie Clerifer an“). 9tad) bem fiebenden Buche
ſoll Hingegen der Zehnten den Armen, bie Grftfinge ben
Brieftern gehören). Das achte Buch weit die Erftlinge
ber Biſchöfen, Prieſtern und Diaconen, bie Zehnten ben
übrigen Elerifern, Zungfrauen, Wittwen und Armen zu 9).
Nicht alle Gferifer erhielten die gleichen Theile. Das
achte Buch ber apoftolifchen Conftitutionen enthält folgende
Scala. Die Eulogien, welche von ber Feier der Myſterien
1) Can. apost. c. 59.
2) Drey 1. c. ©. 303.
3) Cyp. de laps. p. 374. b. Origenes Hagt häufig über bie un-
gerechte Verwaltung mancher Biſchofe unb ebenjo Hermas Simil. 9. n. 26.
4) A. C. 1. 2. e. 26 u. 34.
δ) A. C. 1. 7. c. 29.
6) A. C. 1. 8. c. 30.
29 *
426 Probſt,
übrig blieben, vertheilten die Diaconen nach dem Willen
des Biſchofes und der Prieſter dem Clerus. Der Bi—
ſchof erhielt vier Theile, der Presbyter drei, bie Dia-
conem zwei, bie übrigen aber, Subdiaconen, Leltoren,
Santoren, Diaconiffen je einen Theil). Diefer Kanon
mag dem vierten Jahrhundert angehören, er jet jedoch nur
fcit, was jchon im dritten Jahrhundert unb zwar nicht nur
bezüglich der Eulsgien vorhanden war. Abgeſehen von den
Agapen, bei welchen bie Priejter zwei Theile erhielten, ließ
Cyprian einigen Lektoren, die jid) auszeichneten, Beiträge
zukommen, die gewöhnlich blos ben Presbytern ertheilt wur:
den 2), woraus deutlich hervorgeht, e8 fand ſchon zu feiner
Zeit eine Abftufung in der Unterftügung der Cleriker ftatt.
3. Wittwen und Sungfrauen, die fid) bem
Berufe ber Diaconiffen mwidmeten, erhielten ben Unterhalt
von der Kirche, weil fie ihr, wie bie Gíerifer, dienten ®).
Jedoch auch jene gottgeweihten Jungfrauen, die nicht zu den
Diacouiffen gehörten, waren Gegenftand der bejonderen
bifchöffichen Vorſorge, obwohl απὸ bem Faktum, daß ein
Bifchof eine noch nicht 20jährige Jungfrau in das Viduat
aufnahm 4), auf eine reichlichere Unterftügung und geficher-
tere Grijterig der unter die Diaconiffen Aufgenommenen
gejchloffen werden barf. Als gottgeweihte Perfonen gaben
fie wahrjcheinlich ihr Vermögen den’ Armen, trat nun
Krankheit oder Arbeitöunfähigkeit ein, fo fielen fie ber
Kirche zur Laſt. In den Martyraften dc h. Theodot
werden nämlich die Namen von drei Jungfrauen genannt
1) A. C. 1. 8. c. 31.
2) Cyp. epist. 34. p. 110. d.
3) A. C. 1. 8. c. 81.
4) Tert. de vel. virg. c. 9. p. 19.
Verwaltung bed Kirchenvermögens. 4271
mit bem Bei] abe: et has tres apotactitae dicuntesse
suas, sicuti revera sunt!). Bapebroch glaubt, fie feien
apotactitae oder renuntiantes genannt worden, weil fie
auf all ihr Vermögen verzichteten und in apoftolifcher Ar-
muth lebten.
$. 8. Opfer für die Kirche.
Ein Theil der gefammelten Gaben wurde zu gotte3-
bienjtfidemn Zwecken verwendet. Die Erbauung von
Kirchen und der Schmud der Altäre verurfachte ebenſo
Koften, wie die Ausgrabung der Krypten und Loculi in bert
Cömeterien, von welchen bie eriten unter Umftänden nicht
blos zu Privatbegräbnifjen fondern aud) zu Verſammlungs—
orten bei Abhaltung des Gottegdienftes dienten. Zum Behufe -
ber Beleuchtung bein Gottesdienfte und ben Agapen war
Wachs und Del, bei ber Taufe Honig unb Milch, bei ber
Firmung Chrifam nöthig. Deßgleichen wurde Weihraud)
bei den Begräbniffen, vielleicht auch bei der Liturgie ver-
wendet. Niemand wird barım das Opfern von ſolchen
Gegenftänden in Abrede ftelen wollen, wie dein auch δα
ſiebente Buch der apoftolifchen Conftitutionen c. 29 von
dem Opfer von Del und Honig |pricht. Bolftändig zählt
ber dritte apoftoliiche Kanon bieje Gaben auf.
Die Feier ber Euchariftie verlangte ferner Brod und
Wein Da alle anmwefenden Gläubigen communicirten,
war ber Betrag nicht jo unbedeutend, bap ctwa ber Bijchof
benjelben aus feinem Privatvermögen beftreiten konnte; um
um jo weniger aí2 bie meilten berjelben jefójt arm waren.
Die Gläubigen ſchafften deßwegen das Nothwendige durch
1) Ruinart II. n. 19. p. 301.
428 Probſt,
freiwillige Gaben bei. Das ſind die Gaben, welche in
bevorzugter Weiſe „Opfer, genannt wurden, obwohl fie
biefert Namen im vollen Sinne des Wortes erft durch bie
Gonjecration be8 Priefterd erhielten. — Sm weiteften Sinne
nannte man fogar jebe8 Almofen Opfer, weil, wie Cyprian
erflärend fagt, daB was den Armen gegeben wurde, Gott
gegeben wurbe ἢ).
Die Berbindung, in welcher diefe Gaben mit dem eu
hariftiichen Opfer ftchen, jofern fie bie Materie δε:
jelben bilden, war auch bie llrjadje warum-fie zur Zeit
be 8 Gottesdienſtes dargebracht wurden; denn Eyprian
tabeft jene Reichen, welche den Gottesdienſt ohne Opfergaben
befuchten und von ben Opfern, welche bie Armen gebracht
. hatten, in Empfang nahmen ἢ. Ander3 verhielt εὖ fid)
“mit den Almofen für die Armen. Nach Juſtin gehörten fie
nicht zur Liturgie, denn er, der ihren Verlauf bejchreibt,
erwähnt derſelben nachträglich. Tertullian Tpricht von mo:
natlichen Beiträgen und macht ſchon damit Fund, baB fie
nicht zur Feier ber Euchariftie felbft, bie wenigftend alle
. Sonntage gehalten wurde, nothwendig gehörten.
Auch ber Ὅτι, auf weldem Brod und Wein nieber:
gelegt wurden, unter[djeibel fid) von bem ber übrigen Al-
mofen. Cie wurden, [eif den Tagen ber Apoftel, auf ben
Altar gebradjt. Im Berlauf der Zeit jebfid) fid) ber Miß—
braudy ein, auch andere Gaben daſelbſt niederzulegen, wo:
gegen jedoch Gin|pradje erhoben wurde. Der dritte, febr
1) Cyp. de orat. dom. p.426 e. de opere et eleem. p. 482. c.
Razinger ift von feinem Geganftande fo eingenommen, baß er Stellen,
in welchen offenbar von ber Gudjariftie bie Rede ijt (4. B. Tert. ad
ux. 1. 2. c. 9), auf Almofenopfer beutet.
2) Cyp. de op. et elee. p. 482. a.
Berwaltung bes Kirchenvermögens. 429
alte, apoftoliiche Kanon jebt nämlich feit: Wenn ein Bi-
iof ober Presbyter gegen die Anordnung des Herrn bei
den Opfern etwas Anderes auf ben Altar bringt, e8 [εἰ
Honig oder Milch, ober ftatt Wein Obftmoft ober Einge-
machtes (ἐπιτηδευτα) ober Vögel, ober Thiere, oder Hilfen:
früchte, werde er al gegen bie Anorbnung des Herrn Dane
delnd, ausgeſchloſſen ).” Der folgende Canon geftattet
friſche Aehren und Trauben, wenn. die rechte Zeit dafür ba
it, jowie Del zur Beleuhtung und Weihrauh auf ben
Altar zu legen. Oel und Weihraudy gehörten zur eier
bed Gottesdienſtes, weßwegen fie auf den Altar gelegt wer:
ber durften. Weil ba3 bei ben übrigen Früchten und
Erftlingen nicht der Fall war, war ihr Niederlegen auf bem
Stare verboten. Ber vierte Kanon fanum demnach ein Su-
faß zu dem jpäteren fein, bem Zuſammenhange nad) muß
er e aber nicht fein.
1) Can. apost. c. 8.
3.
Ueber Die Grundſätze, welde Die Rire in Den erflen
Jahrhunderten bei Zulaflung zur Buße für bic ſchweren
ESünden πεν bei Ertheilung Ber Sos[predjung vou
denſelben befolgte.
Bon Lic. Fechtrup in 3münjter.
Wenn wir bier von jchweren Sünden fprechen, fe
verftehen wir darunter jene drei, welche unter dem Namen
ber kanoniſchen befannt find, nämlich Unzucht, Idololatrie
und Mord. Es unterliegt feinem. Zweifel, daß, wenn bie
alte Kirche für bieje Sünden Buße auferlegte, diefe nur die
öffentliche war, fo lange wenigften® jener, ber fid) eine?
ſolchen Vergehens ſchuldig gemacht hatte, nicht fchon einmal
in der Zahl ber Öffentlichen Büßer geftanden hatte. Ganz
ander? aber verhält jid) bie Sache, wenn wir fragen, zu
nüdjt, ob in der Kirche ſtets ber Grundſatz geherricht habe,
alfen, die zum erjten Male in eine jener Sünden fielen,
öffentliche Buße anfzuerlegen und in Xolge diefer Buße
Berzeihung derſelben zu gewähren; und ferner, ob jene, bie
nad, einmal geleifteter Öffentlichen Buße das Unglück hatten,
wiederum eine foldye jchwere Sünde zu begehen, wenn aud)
nicht durch Öffentliche fo doch burd) Privatbuße von ber
Kirche Vergebung erlangen fonnten. In der Beantwortung
Fechtrup, Zur alichriſtlichen Bußpraris. 481
biefer beiden Fragen gehen bie chriftlichen Archäologen
diametral aneinander. Unter ſolchen Umftänden rechtfertigt
e8 fid) von jelbft, jene beiden Fragen einer erneuten Untere —
ſuchung zu unterziehen. Wenn wir fie in einer von ber
gegenwärtig herrfchenden Anfchauung vielfach abweichenden
Weiſe beantworten, jo glauben wir, daß nur dad Gewicht
der Gründe und dazu beftimmt habe.
I.
Was die Frage angeht, ob in ber alten Kirche [168
ber Grundfag Geltung gehabt habe, bem jchweren Sünder
jut Buße und nach geleifteter Buße durch bie Abfolution
zur Kirchengemeinfchaft wieder zuzulaſſen, jo wird biefelbe
mit Nückficht auf bie Kirche des Drient3 von ben chriftlichen
Alterthumsforſchern einſtimmig bejaht; und εὖ find in der
That bie Zeugniffe aus derjelben jo ffav, daß fie feinen
Zweifel aufajjen. Wir können und daher ciner näheren
Begründung überheben 1).
. dm von ber Praxis ber Kirche des Abenblandes in
diefem Punkte cin klares Bild zu gewinnen, müffen wir
diefelbe an verfchiedenen Drten und zu verfchiedenen Zeiten
betrachten. Beginnen wir unjere Unterfuchung mit den
Grunbjáten, welche bie römische Kirche befofate. Denjenigen,
welche annchmen, daß in derfelben jtet3 dem jchweren Sünder
Buße und Verzeihung gewährt jei, erwächlt eine große
Schwierigkeit αἱ Tertullians Echrift de pudicitia, zu
deren Wegräumung die verjchiebenften Wege eingejchla=
gen find. |
1) Bol. grant, bie Bußdisciplin ber Kirche. ©. 894 fi, wo fih
bie Seugniffe zufammengeftellt finden.
432 Fechtrup,
Gleich im 1. Kapitel dieſes Buches heißt εὖ nämlich:
Audio etiam edictum esse propositum et quidem pe-
remptorium, Pontifex scilicet maximus, quod est epi-
scopus episcoporum edicit: Ego et moechiae et forni-
cationis delicta poenitentia functis dimitto '). Die
ganze Schrift argumentirt dann gegen bie Vergebbarfeit ber
Unzuchtfünten. Im 4. 5. und 6. Kapitel ſucht Tertulltan
diefelbe dadurch zu erweiſen, daß er bie Unzuchtfünden mit
Idololatrie und Mord auf eine Stufe ftellt, ja fie fogar
für die größte unter den dreien erffürt ἢ. Mit ven leb—
hafteften Worten und in den verjchiedenften Wendungen
hält er feinen Gegnern ihre Inconſequenz vor, da fie ber
einen Sünde, die mit den anderen fo innig verbunden ift,
Verzeihung angebeihen laffen, während fie ben Gößenver:
ehrern und Mördern zwar die Buße nicht aber bie Wieder:
aufnahme in die Kirchengemeinfchaft gewähren. Hören wir
feine Worte: Quis eam (bie Unzucht) talibus lateribus
(nämlich Gügenbienft und Mord) inclusam, talibus co-
stis circumfultam a cohaerentium corpere divellet, de
vicinorum criminum nexu, de propinquorum scelerum
complexu, ut solam cam secernat ad poenitentiae
fructum ? Nonne hinc idololatria, inde homicidium
detinebunt; et si qua vox fuerit, reclamabunt: noster
hic cuneus est, nostra compago. Ab idololatria meta-
mur, illa distinguente coniungimur, illi de medio emi-
canti adunamur; Concorporavit nos scriptura divina,
1) Tertull. opp. ed. Oehler. Lips. 1858. $8b. I. ©. 792.
2) Cap.5.: Pompam quandam atque suggestum aspicio moe-
chiae, hinc ducatum idololatriae antecedentis, hinc comitatum
homicidii insequentis. Inter duos apices facinorum eminentissi-
mos sine dubio digna consedit. S. 799.
Zur altchriftlichen Bußpraris. 433
litterae ipsae glutina nostra sunt, iam nec ipsa sine
nobis potest. Ego quidem idololatria saepissime moe-
chiae occasionem subministro. . . Ego quoque homi-
cidium nonnumquam moechiae elaboro.. . Igitur aut
nec illis aut etiam nobis poenitentiae subsidia con-
venient. Aut detinemus eam aut sequimur. Haec ipsae
res loquuntur. Sires voce deficiunt, adsistit idololatres,
adsistit homicida, in medio eorum adsistit et moechus;
pariter de poenitentiae officio sedent in sacco et cinere
inhorrescunt, eodem fletu gemiscunt, eisdem precibus
ambiunt eisdem genibus exorant, eandem invocant
matrem. Quid agis, mollissima et humanissima di-
sciplina ? Aut omnibus eis hoc esse debebis (beati
enim pacifici) aut si non omnibus, nostra esse. Ido-
lolatram quidem et homicidam semel damnas, moechum
vero de medio excipis, idololatriae successorem, homi-
cidae antecessorem, utriusque collegam. — Personae
acceptatio est, miserabiliores poenitentias reliquisti.
Plane, si ostendas, de quibus patrociniis exemplorum
praeceptorumque coelestium soli moechiae et in ea
fornicationi quoque ianuam poenitentiae expandas, ad
hanc iam lineam dimicabit nostra congressio ἢ). 9tad-
bent er dann gefagt hat, ba8 N. T. mit feiner größeren Gitten-
ſtrenge, nicht mehr ba8 Alte [εἰ maßgebend, fährt er alfo
fort: Ceterum si qua nobis exempla in sinu plaudent,
non opponentur huic quam defendimus disciplinae.
Frustra enim lex suprastructa est, origines quoque
delictorum, id est concupiscentias et voluntates, non
minus quam facta condemnans, si ideo hodie conceda-
1) Cap. 5. 6. ©. 799 f.
434 Fechtrup
tur moechiae venia, quia et aliquando concessa east.
Cui emolumento hodie plenior disciplina coercetur,
nisi ut a maiore forsitan lenocinio tuo indulgeatur?
Dabis ergo et idololatrae et omni apostatae veniam,
quia et populum ipsum totiens reum ipsorum totiens
invenimus retro restitutum. Communicabis et homicidae,
quia et Nabothae sanguinem Achab deprecatione dele-
vit, et David Uriae caedem cum causa eius moechia
confessione purgavit. . . Utique enim dignum est
peraequari nunc quoque gratiam circa omnia retro
indulta, si de pristino aliquo exemplo venia moechiae
vindicatur !. Dann zur Widerlegung δε Argument
übergehend, welches gegnerifcherfeit3 aus bem nenteftament-
lichen Parabeln vom verlornen Schafe, verlornen Grefdjen
und verlornen Sohne hergenommen wurde, jagt er: Nam
si Christianus est, qui acceptam a Deo patre sub-
stantiam utique baptismatis, utique spiritus sancti et
exinde spei aeternae longe evagatus a patre prodigit
ethnice vivens, si exutus bonis mentis etiam principi
saeculi (cui alii quam diabolo?) servitium suum tra-
didit, et ab eo porcis alendis immundis, scilicet spi-
ritibus curandis, praepositus resipuit ad patrem reverti,
iam non moechi et fornicarii, sed idololatrae et blas-
phemi et negatores et omne apostatarum genus hac
parabola patri satisfacient et elisa est verissime hoc
magis modo tota substantia sacramenti?) Und fur
nachher bemerkt er zum Schluß feiner Augeinanderfegung
über bie drei Barabeln: Ceterum si in hoc gestit diversa
pars ovem et drachmam et fili luxuriam Christiano
1) Cap. 6. ©. &01 f.
2) Cap. 9. ©. 810.
Zur altchrikfigen Bußpraris. 435
peccatori configurare, ut moechiam et fornicationem
poenitentia donent, aut et ceter adelict& pariter capi-
talia concedi oportebit, aut paria quoque eorum moe-
chiam et fornicationem inconcessibilia servari *). .
Niemand, ber bie angeführten Stellen, voeldje wir alle
mit Fleiß berausgehoben haben, ohne Vorurtheil Üieft, kann
verfennen, daß Tertullians Gegner wirklich die Praxis hatten,
den Göbenverchrern und Mördern die Wiederaufnahme in
bie Kirchengemeinfchaft zu verweigern. Es jcheint und da⸗
bec unmöglich, mit Morinus?) anzunehmen, Tertullian habe
feinen Gegnern eine andere Praxis angebichtet, αἰ fie üt
ber That Hatten, um einen entjchiedenern Schlag gegen fie
führen zu können, unb ebenjo wenig können wir mit Probft *)
ihn einer Unredlichkeit zeihen, ba er wohl eingejehen habe,
daß das in Rede ftehende Gift mit der Praxis der Katho⸗
fifen nicht in Widerſpruch ſtand, e8 aber nicht babe εἰπε
jebeu wollen, um den Papſt einer Inconſequenz zeihen gu
fönnen. ZTertullian hätte doch offenbar feiner eigenen Sache
geichadet, wenn er ber Wahrheit, die jeder ihm entgegen
halten founte, jo plump ind Antlit gefchlagen hätte Wer
will dad aber von bem Eugen und wohl berechnenden Mon
taniften annehmen ?
Es fragt jid) nur, gegen wen die Schrift de pudicitia
gerichtet ijt. Peter? 4) meint, dieſelbe [εἰ gegen die Saren
aus dem Lager der Meontanijten gefchrieben, welche den
Unzuchtfündern Verzeihung ihrer Sünden und Wiederauf-
nahme in die Kirche gewährten. Allein es jcheint uns
1) Gbenbaj. ©. 812.
2) Commentarius de poenit, lib. IX. cap. 20.
3) Tüb. Theol. Quartalſchr. 1868. &. 180.
4) Bonner Theol. Lit.⸗Bl. 1868. ©. 726 f.
436 Fechtrup,
aus der Schrift ſelbſt aufs unzweideutigſte hervorzugehen,
daß ſie zur Bekämpfung eben jenes peremptoriſchen Ediktes
gegen den Ausſteller deſſelben und ſeine Anhänger verfaßt
iſt. Tertullian ſagt nämlich von feinen Gegnern, daß fie
bie Frucht ber Buße, bie Verzeihung, in ihre Gewalt ges
geben wähnten, und ftellt fie feiner Partei jchroff gegen-
über!) Wenn er bann ferner die befämpfte Dizciplin ame
redet: Quid agis mollissima et humanissima disciplina ?
Aut omnibus eis hoc esse debebis... aut si non
omnibus offenbar nostra esse ἢ), jo ijt, daß er nicht zu
Anhängern des Montanismus [pridjt. Auch zeigen alle
Gründe, welche Tertulltan als die feiner Gegner befämpft,
baB ein principieller Unterjchieb zwifchen dieſen und feiner
Sefte obwaltete. Daß bie diversa pars, quae gestit ovem
et drachmam et fili luxuriam Christiano peccatori
configurare, ut moechiam et fornicationem poenitentia
donent, unb von der er forbert, daß fie entweder auch die i16:
rigen Kapitalverbrechen nachlaffe ober bie gleichjchweren Uns
zuchtjünden nicht verzeihe °), daß tiefe diversa pars die Katho-
fiten jeden, muB felbjt Peters zugeftehen; bod) glaubt er
ble Schwierigkeit, die hieraus gegen feine Anficht ent[tebt,
dadurch befeitigen zu fönnen, daß er jagt: „er fühlt, daß ibm
ber Boden unter den Füßen want, bricht fofort ab und
fehrt zu feinem eigentlichen Thema zurüd.” Freilich bricht ev
ab, aber nicht, weil ihm der Boden unter den Füßen voantt,
1) Cap. 3.: Merito itaque opponunt, quoniam huius poeni-
tentiae fructum, id est veniam, in sua potestate usurpaverunt.
Quantum enim ad illos, ἃ quibus pacem humanam consequi-
tur. Quantum autem ad nos, qui solum Dominum meminimus
delicta concedere, et utique mortalia, non frustra agetur. ©. 797.
2) Cap. 5. ©. 800.
8) Cap. 9. 6. 812,
Zur altchriftlichen Bußpraxis. 437
ſondern weil er die Inconſequenz feiner Gegner ſchon fatt-
(am getabelt hat. Sed plus est, fagt er, quod nihil aliud
argumentari licet citra id de quo agebatur. Daß er
wirklich hinreichend die Snconfequenz zum Kampfe ausge:
beutet Bat, bezeugen bie vorher angeführten Stellen. —
Dur nicht? wird überdied bie Annahme gejtügt, Tertullian
habe verjchiedene Gegner vor fid) gehabt; bie ganze Anlage
ber Schrift zeigt vielmehr, daß ev nur eine Klaffe von Gegner
befämpfte, die Katholiken. Denn wenn er feinem Gegner
apostolicus nennt P) und ihn tabeft, daß er, weil bem Betrug
die Gewalt zu binden und zu Töfen gegeben fei, bie Fol—
gerung ziche, daß auch auf ihn jene Gewalt übergegangen
fei, da diefelbe bod) nur dem Petrus, nicht der Kirche ver:
lichen fet, und dann fortfährt: Quid nunc et ad eccle-
siam et quidem tuam, psychice? Secundum enim Pe-
tri personam spiritalibus potestas ista conveniet aut
apostolo aut prophetae. Nam et ipsa ecclesia proprie
et principaliter ipse est spiritus. . . Illam ecclesiam
congregat, quam Dominus in tribus posuit. Atque
ita exinde etiam numerus omnis, qui in hanc fidem
conspiraverint, iecclesia ab auctore et consecratore
censetur. Et ideo ecclesia quidem delicta donabit, sed
ecclesia spiritus per spiritalem hominem, non eccle-
sia numerus episcoporum *), |o ift Far genug, daß
gegen niemand ander? als gegen die Katholiten und
bejonberà gegen ben, ber δα peremptorifche Gbift zu Gun:
ften ber Unzuchtſünden erlaffen Hatte, die ganze Argumen-
tation des Tertullian gerichtet ijt.
Bei Beantwortung der Frage nach bem Urheber be8 Ediktes
1) Cap. 21. S. 842.
2) Ebendaſ. S. 848 f.
438 Setup,
geben bie Meinungen woieberum aug einander. Einige, Katho⸗
liken wie Broteftanten, Halten einen Biſchof von Karthago dafür.
Sn neuefter Zeit ijt bieje Anficht wieder von Peters ver
treten worben !). ($8 Fann freilich nicht geleugnet werben,
daß die Worte: ali ad metalla confugiunt et inde
communicatores revertuntur ?) auf Afrifa bhinmeifen,
allein für jene Anficht ijt damit nicht? gewonnen. Es war
eben ganz natürlich, daß Xertullian die S3eijpicle für bit
Ichlimmen Folgen der Fürbitte der Märtyrer, die, wie e8
fheint, in dem Edikte geftattet war, αὐ feiner Nähe herbei-
holte, aus der afrikanischen und nicht etwa aus ber römifchen
Kirche. Auch nennt er die Kirche, deren Anordnungen er be:
fämpft, eine ecclesia Petri propinqua, bod) damit ijt keines⸗
wegs die farthagifche, ſondern bie ganze katholiſche Kirche ge:
meint, wie der Sujammenbang deutlich ergicbt. Der Urheber
bed Ediktes hatte nämlich für bie Kirche dic Gewalt der Sün-
benvergebung in Anspruch genommen und berief fid) unter an-
berem darauf, daß bem Petrus, dem Fundamente ber Kirche,
dieſe Gewalt vom Herrn verlichen ſei. Tertullian beitreitet ber
Kirche dieſes Recht und begegnet beſonders dem Argumente, wel-
de von ber Gewalt be8 Petrus hergenommen war, baburd,
bap er behauptet, bieje [εἰ mur bem Petrus perjónfid), als
homo spiritalis perliehen worden, nicht aber in Petrus
jeder Kirche, bie mit ihn zujammenhange Mi Unrecht
führe daher ber Urheber be8 Ediktes zur Begründeng
ber von ihm beanspruchten Binde: und Löjegewalt bie
bem Petrus verliehene Macht an ?). Die ecclesia Petri pro-
pinqua ijt feine andere, als jene, welche er gleich nachher
1) Bonner Theol. Lit.:Bl. a. a. Ὁ.
2) Cap. 22. ©. 845.
8) Vgl. Cap. 21. ©. 848.
Zur althriftlichen Bußpraxis. 439
bie Kirche des Pſychikers nennt, jene Kirche, welche bie
Menge ber Bilchöfe ausmacht (ecclesia numerus episco-
porum), da3 ijt eben bie katholiſche. Da er aber die ganze
fatfofijdje Kirche die des Piychiferd nennt, ber nach dem
Zufammenhange nur fein Gegner, der Urheber des Gifte8,
jein kann, fo ergiebt jid) allein jchon hieraus, daß δα
Oberhaupt ber Kirche, der römiiche Bilchof, dag Gbift ev
laſſen Hatte. Auch die Namen, welche Tertullian feinem
Gegner beilegt: Pontifex maximus, episcopus episco-
porum und apostolicus kann man, menn man den Wor:
ten nicht Gewalt anthun will, nur auf den Papſt, nicht
aber auf ben Metropoliten von Karthago beziehen. Hat aber
ber römische Biſchof dag Gbift erlaffen, 1o kaun biejer nur
ber Papſt Zephyrin fein !).
Daß das peremptori]dje Goift vom Papſte Zephyrin
berrühre, und ber Vorwurf ber Inconſequenz, den Sertuflian
erhebt, begründet εἶ, giebt aud) Frank zu, jebod) glaubt
er alle Schwierigkeiten, bie daraus gegen bie Anficht ent-
ftchen, bag in der römiſchen Kirche ſtets alle ſchweren
Sünden vergeben jeien, dadurch heben zu können, daß er
annimmt, dag Gbift jei gegen einige a[rifauijdje Bifchöfe
erlaffen, welche den Unzuchtjündern die Aufnahme in die
Kirche verweigerten 2). Bon Eyprian erfahren wir nämlich,
daß unter feinen Vorgängern einige der Meinung gewejen
feien, den Ungüchtigen dürfe ber Firchliche Friede nicht ges
währt werben ὅ).
Es ftcht nun freilich bie Möglichkeit offen, daß diefe
1) gl. Döllinger, Hippolytus und Kalliftus. €. 126. Anm. 11.
2) 9. a. Ὁ. ©. 8585 ff.
8) Ep. 55. Cypr. opp. ed. Hartel. ©, 638 f. (Bei Baluz.
ep. 52.)
Theol. Quartalſchrift. 1872. III. Heft. 30
440 Fechtrup,
Praxis zur Zeit Tertullians gehandhabt wurde, allein
die Hypotheſe Franks wird unhaltbar durch die Art und
Weiſe, wie er die Inconſequenz, welche Tertullian ſeinen
Gegnern vorwirft, ſtatuirt. Er ſagt nämlich, von dieſer
afrikaniſchen Praxis habe ber romiſche Biſchof, jet es, bap
eine Anfrage deswegen bei ihm geſtellt wurde, oder wie
auch immer Kunde erhalten. „Mittlerweile, meint er daun,
machte der Montanismus weitere Fortſchritte, insbeſondere
ſeit Tertullian, der gefeiertſte Lehrer Afrikas, zu ihm über:
getreten war. Durch ſeinen Namen und ſein Anſehen irre
gemacht, fingen nun einzelne Biſchöfe an, der montaniftifchen
Anficht zu Huldigen und nicht bíoà bie Unzucht, ſondern
überhaupt alle fanonilden Vergehen von der Wiederauf:
nahme auszuſchließen. Zu eben diefer Zeit erfchien Zephyrins
Edikt, worin er fid) über die Praris jener Bilchöfe aus:
\pricht,, bie nicht von ber Unzucht losſprachen, und fie
perentpterijd) auffordert, auch diefem Vergehen die Nach:
laffung zu gewähren. .. Da aber die Praxis mancher,
vielleicht auch vieler afrikaniſchen Bifchöfe fi) in der Art
geändert hatte, daß fie bem Montanismus Huldigten und
nun auch ben Mördern und Abgefallenen die Wicderauf:
nahme verweigerten, jo hat Zertullian δὲ ganz gewiß ein
Recht dazu, wenn er fagt, daß ε eine Inconſequenz δε
zephyriniſchen Bußedikts fei, wenn e8 den afrifantjchen
Bifchöfen”befchle, die Unzucht allein unter den kanoniſchen
Vergehen zu begünjtigen^ u. |. Ὁ. Das Ungenügende an
diefem Erklärungdverfuche beftcht darin, daß er ohne allen
Grund bie Biſchöfe, welche bis dahin blos die Unzucht
nicht vergeben hatten, ober bod) eineu Theil derjelben völlig
zum Montanigmus übergehen läßt, um jo dem zephyrini-
ſchen Edikt wenigjtend einen Schein der Inconſequenz zu
Zur altchriftlichen Bußpraxis. 441
geben. Auch mußte Tertullian doch jo gut, wie jeber an⸗
bere, willen, daß bie Biſchöfe, felbft wenn wir das völlig
unbegründete Faktum zugeben wollten, bie Praxis, bie θεῖς
den anderen Kapitalfünden nicht zu vergeben, nicht au8 bem
katholiſchen Lager mitgebracht, fondern als Meontaniften an:
genommen hatten. Würden nicht zudem bie Katholiten, bie
den Sachverhalt kannten, ihm fofort zugerufen haben: wir
vergeben alle Sünden, und dag Edikt ift nur gegen jene
gerichtet, bie jet eurer Sekte folgend aud) die Mörder und
Abgefallenen nicht wieder aufnehmen.
Auch fpridt, wie Probſt richtig bemerft!), gegen eine
ſolche Auffafjung der Inhalt des Ediktes. Diefer befteht
nämlich nad) allem, was Tertullian anführt, in einer bog:
matijden Begründung ber Vergebbarkeit der Unzucht⸗
jünben. Wozu aber eine folche dogmatifche Begründung
für die, welche durch Aufnahme ber Mörder und Adgefallene be-
wiejen, daß fie an ber Bergebbarkeit durchaus nicht zweifelten,
bei welchen vielmehr nur bie Disciplin in Frage fam.
Mir glauben in bem Vorhergehenden gezeigt zu haben,
daß Tertullian feine Schrift de pudicitia gegen den Papft
Zephyrin, gegen fein Edikt und feine Anhänger verfaßt babe,
und daß c8 nicht auf Unwahrheit oder abfichtlicher Faͤlſchung
berufen fünne, wenn ev feine Gegner der Inconſequenz zeiht,
indem fie von den drei Kapitalfünden mur einer einzigen
Berzeihung angebeihen ließen. Diefe Praxis kann alfo bei
feinem andern als beim Papſte und in der römiſchen Kirche
in Uebung gewejer fein. Wiſſen wir bod) überdies in
Betreff der afrifanifchen Kirche von Tertulltan jelbjt, bag
fie den Grunbjag ber allgemeinen Sündenvergebung απ:
1) Tub Theol. Ouart.:Scht. 1868. ©. 179.
x
30 *
442 Fechtrup,
recht erhielt ?), wenn nicht vielleicht aud) damals bie von
Cypria erwähnte Praxis einiger Biſchoͤfe bejtaub, bie in
Rückſicht auf die Unzucht eine Ausnahme machten.
Wie aber, wird man fofort fragen müfjen, ijt in ber
römischen Kırche bie Gewohnheit aufgelommen, einigen Eün-
dern die Vergebung und Wiederaufnahme in die Kirche zu
verweigern, ba es doch durch Clemens Nomanuz 3) unb ben
SBajtor be8 Hermas?) feititet, baB dort allen Eündern
Verzeihung zu Theil wurde? Die Thatjache, daß üt bicjer
Kirche bis auf Hermad allen Sündern, wenn fie gebüßt
hatten, bie Neconciliation gewährt wurde, läßt ὦ nicht
beitreiten; allein eben auf den Paſtor be8. Hermas glauben
wir mit Hagemann 4) eine Aenderung in der Bußdisciplin
zurücdführen zu müjfen.
Hermas verfolgte bei Abfaffung jeiner Schrift ben
Zweck, in den von ber anfänglichen fittlichen Höhe berab-
gefunkenen Gläubigen bie Erkenntniß ihrer Sündhaftigkeit
und den Bußgeift zu wecken, überhaupt eine größere Sitten-
ftrenge in der Kirche anzubahnen. Ihre Ctürfe und ihr
Gewicht erhalten feine Mahnungen durch bie Lehre, daß bie
Ankunft des Herrn zum Gerichte nahe bevorſtehe. Mit
1) Vgl. De poenit. cap. 4. bi$ 12. Um einige8 bieher gehörige
anzuführen, fo fagt er cap. 4. (Θ. 649): Omnibus ergo delictis
seu carne seü spiritu seu facto seu voluntate commissis, qui
poenam per judicium destinavit, idem et veniam per poenitentiam
spopondit. Daß Tertullian aber von ber Dffentlidjem Buße unb ber
Abjolution burd) bie Kirche fpricht, bezeugen die Worte: An melius
est damnatum latere quam palam absolvi? (Cap. 10. ©. 662.)
2, Ep. 1. ad Corinth. cap. 7. 8. Patr. Apost. ed. Dressel
1857. ©. 54.
3) Lib. II. mand IV. 1. 3. Dressel &. 589 f.
4) Die Römiſche Kirche und ihr Einfluß auf Discipl. unb Dog:
ma. €. 53.
Zur althriftlihen Bußpraxis. 443
Ernſt und Nachdruck fordert er alle auf, bie bis dahin, das ijt
bis zum Zeitpunkte der ihm gewordenen Enthüllungen ge-
jünbigt haben, die bis zum jüngften Sage noch gegebene
Frift zu benugen, um wahre und aufrichtige Buße zu üben.
Denn nur alfo werden fie von ihren Sünden befreit und
in die Kirche, die unter dem Bilde eincd Thurmes εὐ εἰ,
wieder aufgenommen werden, Wenn aber diejenigen, welche
Schon getauft find, nach bem Zeitpunkte diefer Offenbarungen
wiederum fündigen, jo wird ihnen bie Buße nicht? mehr
nügen; den Heiden dagegen wird bi8 zum jüngften Sage
Verzeihung der Sünden und Aufnahme in bie Kirche ger
währt durch die Taufe Daß dies die Xchre des Hermas
lei, ergiebt fid) deutlich aus der zweiten Bifion, wo ibm aufs
getragen wird, bie. empfangene Offenbarung feinen Kindern
und feiner Gattin mitzutheilen, und e3 dann weiter beißt:
Kal μετὰ τὸ γνωρίσαι oe ταῦτα τὰ δήματα αὐτοῖς, &
ἐνετείλατό μοε ὁ δεσπότης, ἵνα σοι ἀποχαλυφϑῇ, τότε
ἀφίενται αὐτοῖς αἱ ἁμαρτίαι πᾶσαι, ἃς πρότερον ἥμαρτον.
Πᾶσι δὲ τοῖς ἁγίοις ἄφεσιν ἐπάγει τοῖς ἁμαρτήσασι
μέχρι ταύτης τῆς ἡμέρας, ἐὰν ἐξ ὅλης καρδίας
μιϑτανοήσωσι καὶ ἄρωσιν ἀπὸ τῶν καρδιῶν αὐτῶν τὰς
διψυχίας. "Quooe γὰρ ὁ δεσπότης κατὰ τῆς δόξης αὐτοῦ
ἐπὶ τοὺς ἐκλεκτοὺς αὐτοῦ Ἐὰν ὠρισμένης τῆς
ἡμέρας ταύτης ἔτι (τες) ἁμαρτήσας γένηται,
un ἔχειν αὐτὸν σωτηρίαν" 7 γὰρ μετάνοια
τοῖς δικαίοις ἔχει τέλος" πεπλήρωνται γὰρ αἱ
ἡμέραι μδτάνοιας πᾶσι τοῖς αγίοις * τοῖς δὲ ἔϑνεσι μετανοιά
ἐστιν ἕως τῆς ἐσχάτης ἡμέρας 1"). Es wird in diefer
Stelle offenbar ein Unterfchied gemacht zwiſchen ben Heiden
1) Vis. II. 2. ed. Dressel. €. 575.
444 Fechtrup,
und denjenigen, die ſchon zur Kirchengemeinſchaft gelangt
find ; denn während bie Buße ber erſteren bis zum jüng-
flet Tage angenommen wird, Dat bie ber [egterer ein Ende.
Denn nicht mehr für alle Sünden, welche bieje jemald noch
begeben werben, erhalten fie Buße und Verzeibung, ſondern
nur für die früheren (ἧς πρότερον ἥμαρτον), nur für bie-
jenigen, welche fie bis zu biejem Sage begangen haben
(ὡμαρτήσασι μέχρι ταύτης τῆς ἡμέραρ); wenn aber nach
dieſem feftgejchten Tage wiederum jemand fündigt, wird ibm
feine Verzeihung mehr zu Theil. Der durch μέχρε ταύτης
τῆς ἡμέρας unb ὡρισμένης τῆς ἡμέρας ταύτης feſtgeſetzte
Zeitpunkt Tann im Gegenfage zur ἐσχάτῃ ἡμέρα nur ber
Tag, an welchem Hermas bie Offenbarung erhält, ober
im allgemeinen bie Zeit des Hermas fein). Peter meint
nun freilich 3), diefe ftrenge Dizciplin [εἰ im Hirten nicht
fo αν ausgeſprochen, fonft hätte Tertullian ihn nicht mit
einer ſolchen Verachtung zurückgewieſen ?). Allein es beftcht
bod) ein jer großer Unterſchied zwifchen ber Lehre Tertullianz,
bie principiell Teinem fchweren Sünder Verzeihung ange:
beihen läßt, und ber des Hirten, bie eine zweite Buße ans
erkennt, venn auch nur bis zu einem gewiſſen Zeitpunkte.
Zudem konnte im Laufe der Zeit, als ὦ bie Weiffagung
von ber nahe bevorftehenden Wiederfunft ded Herrin nicht
verwirklichte, und die Strenge allmählig wieder einer größern
Milde wich, ſehr leicht, da der Hirt eine Buße nach δεῖ
Taufe zuließ, jene Zeitbeftimmung anders interpretirt werden,
1) Val. noch bag Folgende ber Vis. IL 2. unb Mandat. IV.
8. S. 6590. fipfiu$, ber Hirte be8 Hermas unb ber Montanismus in
Nom; in Hilgenfelds Zeitfchr. für wiſſenſchaftl. Theol. 1866. ©. 29 ff.
2) Bonner Theol. Lit.:Bl. 1868. Ὁ. 725.
8) De pudic. cap. 10. &. 818.
Zur altchriftlichen Bußpraxis. 445
und be8 Hermad Schrift für ben Grunbjag wiederholter
Siündenvergebung in Anſpruch genommen werden.
Wie Hermas ſelbſt anbeutet, beftanb zu feiner Zeit in
ber römischen Kirche eine ftrengere Nichtung, nach welcher
nur ein einzigedmal, vor der Taufe nämlich, die Buße ge—
ftattet werden folte!). In geſchickter Weife verfchmolz er
ſelbſt diefe ftrengeve Richtung mit ber mildern auf die an-
gegebene Weife. Diejeg und das hohe Anjehen, das bet
Hirt in der alten Kirche genoß, bie, nod) in lebenbigem Zu-
fammenhange mit jenen, welche ba8 Charisma ber Prophetie
befaßen, ihn vielfach ben. infpirirten Schriften gleichftellte 3),
machen c8 leicht erflärlich, wie Hermad mit bem ftrengen
Grundſatze, nach jeiner Zeit den [deren Sündern bie
Aufnahme in die Kirche nicht mehr zu geftatten, durchdringen
fonnte, weshalb wir auch nicht mit Frank Seugnijfe für
zahlreiche und jchwere Kämpfe verlangen brauchen, welche
biele 9fenberung in der Bußdisciplin veranlaßt hätte. Daß
aber bie Aenderung nicht blos möglich war, jonberm aud)
wirklich durchgeführt ijt, folgern wir aus bem, was wir über
Tertulliand Schrift de pudicitia gejagt haben.
Uebrigens war bdiefer ftrenge Geift der alten Kirche
burchaus nicht fremd. Als im der bdeziichen Verfolgung
viele ben Glauben verleugnet hatten, wurde von ben Bi:
fchöfen, welche Cyprian un jid) verfammelt hatte, nicht nur
berathen, weldye Buße den Gefallenen aufzulegen fei,
fondern vor allem, οὐ fie überhaupt zur Buße gugu-
[afjer feiern, da Cyprian mehrmals ausdrücklich er-
1) Mandat. IV. 8. (Dressel. &. 590): Ἤκουσα, φημέ, κύριθ,
παρά τινων διδασκάλων, ὅτι ἕτερα μετάνοια οὐκ ἔστιν, δὶ un ἐκείνη, ὅτε
eis ὕδωρ κατέβημεν καὶ ἐλάβομεν ἄφεσιν ἀἰμαρτιῶν ἡμῶν τὴν πρότεραν.
2) 8.1. Gaub, ber Hirte des Hermaß. ©. 8 ff.
446 Fechtrup,
wähnt, es ſei beſchloſſen worden, den Gefallenen zu Hülfe
zu kommen ἢ), und andererſeits alle Mühe auf den Beweis
verwendet, daß bie deßfallſigen Beſchlüſſe dem chriſtlichen
Geifte entfprächen ἢ. Belannt tjt ja auch, welche Strenge
diefe afrifanijdje Synode gegen diejenigen gewahrt wifjen
wollte, bie erft in der Krankheit oder in Lebendgefahr um
ble Buße anhielten ὃ. Auch fagt Cyprian felbft, bap bie:
jenigen feiner Vorgänger, welche ben Unzuchtfündern den
Meg zur Kirche verfchloffen, dadurch nicht von ihren Mit
bifchöfen fld) getrennt oder das Band der kirchlichen Einheit
zerriffen hätten *), fo wie er an Novatian mehr tabeft, bag er ein
Schisma in ber Kirche aufrichtete, ald daß er die Gefallenen
für immer von ber Kirchengemeinfchaft ausſchloß*). Und
fcheint nicht gerade der Umftand, daß in ber römiſchen
Kirche der Novatianismus fo mächtig um fid) griff, darauf
binzubenten, daß dort nod) Mefte des alten Rigorismus
fi) fortgeerbt Hatten ?
Nah dem Geſagten ftellt ὦ alſo bie Praxis ber
römischen Kirche uns folgendermaßen dar. Bis auf Hermas,
deſſen Paſtor mir in die Zeit des römischen Clemens ſetzen,
1) Ep. 55. (bei Baluz. 52.): Copiosus episcoporum numerus
. in unum convenimus et scripturis diu ex utraque parte
prolatis temperamentum salubri moderatione libravimus, μὲ nec
in totum spes communicalionis et pacis lapsis denegaretur, ne
plus desperatione deficerent et eo, quod sibi ecclesia cluderctur,
secuti saeculum gentiliter viverent, nec tamen rursus cen-
sura evangelica solveretur, ut ad communicationem temere prosi-
lirent. ed. Hartel. & 627. VBgl. daſ. S. 636; epp. 56. ©. 659 (fri
Baluz. 53.), 57. ©. 650 (bei Baluz. 54.).
2) $Bgl. bejonberà epp. 55. unb 57.
8) 3Bgl. ep. 65. ©. 641.
4) 341. ebenbaj. ©. 688 Ff.
5) Vgl. ebenbaj. S. 642 ff.
Zur altchriſtlichen Bußpraris. 447
wurde in Rom allen Sündern Buße und Verzeihung ge
währt, jo jedoch, daß ſchon eine Neigung zur ftrengen Dis—
ciplin vorhanden wor. Durch den Paſtor des Hermas
wurde bieje Richtung zur herrſchenden, jo daß in ber Folge⸗
zeit für die fanonijd)en Vergehen von ber Kirche feine Ber:
zeihung mehr gegeben wurde. Da jedoch die Unzuchtfünden
verhältnigmäßig noch ziemlich häufig vorfommen mochten,
und auf diefe Weife die ftrenge Disciplin cine große An-
zahl Sünder für immer von ber ird) fern halten mußte,
jo jab man fich veranlaßt, in Bezug auf biefe zuerft eine
Milderung eintreten zu laffen. Dazu fam, daß ber Mon:
tanismus mit feiner Xehre, bie Kirche habe wicht die Gewalt,
die Sünden zu vergeben, arößere Kortichritte machte, fo daß
auch diefer Sekte gegenüber die Kirche praftijd) die gegen—
theilige Lehre bezeugen mußte. So mag vielleicht jchon eine
Zeit vor Zephyrin bie Praxis fih Bahn gebrochen haben,
bie Unzüchtigen wieder in die Kirche aufzunehmen, was ges
wiß von ben ftrengen Montaniften benußt wurde, ben Ka—
thofifen jcharfe Vorwürfe zu machen. Zephyrin nun, ein
entjchiedener Geguer beà Montanigmus ?), erlich gegen ben
jelben fein peremptoriſches Edikt, in welchen er von allen
fordert, den Unzuchtfündern nach geleifteter Buße Verzeihung
augebeifer zu foffer, und die Vergebbarkeit der Sünden
durch die Kirche eines längern begründet. Aus feiner Beweis⸗
führung, wie wir fie aus Tertullians Schrift de pudicitia
fennen, geht klar hervor, bap er bie Macht, allen Sündern bie
Wiederaufnahme in die Kirche zu gewähren, ganz entfchieben
für ὦ in Anſpruch nahm; doch lie er in Bezug auf
1) Sein Presbyter Cajus verfaßte eine eigene Schrift gegen ben
Montaniften Proklus. Euseb. h. e. 1. II. c. 25. ed. Reading. ©.
83 f. und |. VI. c. 20. ©. 286. Bgl. Lipfius a. α. Ὁ. ©. 198 ff.
448 Fechtrup,
Idololatrie und Mord noch die ſtrenge Disciplin beſtehen.
Seine Ehrfurcht gegen das Alte zog ihm von dem ſcharfen
und zürnenden Montaniſten bie bitteren Vorwürfe ber In⸗
conſequenz zu.
Dieſe Inconſequenz ſollte jedoch bald gehoben werden,
damit der rigoriſtiſchen Häreſie die Gelegenheit des Bor.
wurfs genommen, allen Sündern ohne Ausnahme aber
durch Hoffnung auf Verzeihung bie Milde der Kirche offen:
bart werde. Zephyrins Nachfolger nämlich, ber Papſt Kal
ftue, ftellte den Grundfag ber allgemeinen Sünbenver:
gebung auf und bob alfo aud) bie Echranfe, welche bis da:
hin nod) die mit den zwei kanoniſchen Vergehen Befleckten
von ber Kirche zurückgehalten hatte. Hippolytus erzählt
nämlich, bag Kalliſtus der erfte gemefen jet, welcher alle
Sünden nachgelaffen habe: πρῶτος τὰ niecg Tag ἡδονὰς
τοῖς ἀνθρώποις συγχωρεῖν ἐπενόησε, λέγων πᾶσιν vn
αὐτοῦ ἀφίεσθαι ἁμαρτίας. Und bald darauf fagt er:
Ταῦτα μὲν οὖν ὁ ϑαυμασιώτατος Κάλλιστος συνεστήσατο,
οὗ διαμένει τὸ διδασκαλεῖον φυλάσσον τὰ ἔϑη καὶ τὴν
παράδοσιν, μὴ διακρῖνον, τίσι δεῖ κοινωνεῖν, πᾶσε δ᾽ ἀκρίτως
προσφέρον τὴν κοινωνίαν !).
Wenn Peters meint 3), ber Tadel be8 Hippolyrus habe
nicht dem Princip, jondern nur der Form ber Sündenver⸗
gebung gegolten, und tiefer habe nur in dad Gewand ein
Bormwurfes die Thatfache einkleiden wollen, daß fehr viele
aus feiner Gemeinfchaft in bie feines Gegner? übergetreten
unb von biefem ohne weitere® aufgenommen feien; fo if
bod) dagegen zu bemerken, daß ohne Zweifel Kalliftud ben
Sündern nicht ohne vorbergüngige Buße Verzeihung tt
1) Philosophum. 1. IX. c. 12. ed. Migne. ©. 3385.
2) Bonner Theol. Lit.“Bl. 1868. &. 727 f.
Zur altchriftlihen Bußpraxis. . 449
theilte, ba dies gewiß von Hippolytus mit bem fchärfften
Tadel gegeißelt wäre. Daß εὖ fid) vielmehr in der That
um das Princip der Sünbenvergebung handelte, um bie
Trage, ob die Kirche einige Sünder für immer ausſchließen
oder alle wieder aufnehmen folle, zeigt ble Begründung bed
Kaliftug, von welcher Hippolytus einiges mittheilt: ᾿41λλὰ
xal παραβολὴν τῶν ζιζανίων πρὸς τοῦτο «ἔφη Ayeodaı.
"ἄφετε τὰ ζιζάνια συναύξειν τῷ σίτῳ, vovv. ἔστιν ἐν τῇ
ἐχκλησίᾳ τοὺς ἁμαρτάνοντας. Alla καὶ τὴν κιβωτὸν τοῦ
Noe εἰς ὁμοίωμα ἐκκλησίας ἔφη γεγονέναι, ἐν 7 καὶ κύνες
καὶ λύκοι καὶ κόρακες καὶ Travca τὰ καϑαρὰ καὶ ἀκάϑαρτα.
οὕτω φάσκων δεῖν εἶναι ἐν ἐκκλησίᾳ καὶ ὅσα πρὸς τοῦτο δύνα-
τος 7 συνάγειν οὕτως ἡρμήνϑυσεν. Aus diefen Worten
erhellt, daß der Tadel be8 Hippolytuß ji nicht auf bie
worm ber Wiederaufnahme erftreckte, jonber daß ihm bie
Kirche eine Kirche der Reinen war, von ber gemiffe Sün-
der ein für allemal ausgeichloffen waren, wogegen Kalliſtus
ben entgegengefegten Grundſatz aufitellte, nach bem alle Sün-
ber Verzeihung ihrer Sünden und Aufnahme in bie Kirche
erlangen fonnten ?).
Diefe Anordnungen dad Kalliſtus in der Bußdisciplin
und bie durch ihn eingeführten 9fenberungen bleiben für bie
Zukunft in Kraft, zur alten Strenge ift die römifche Kirche
nie wieder zurüdgefehtt. Daß zur Zeit, a(8 Hippofyt
Ihrich (etwa 230), dieſe mifbere Praxis noch beitand, be-
zeugt ev fefbjt 9). Nach einem Zmifchenraume von zwans
zig Sahren befommen voir wiederum Kunde von der
römischen Bußdisciplin durch den Brief, den ber vömifche
Klerus mad) bem Tode ded Papſtes Fabian an Cyprian
1) Bel. Döllinger, Hippol. unb fallit. ©. 125 ff.
2) A. a. Ὁ. ©. 8308 a.
450 Fechtrup,
erließ!) Die grauſame deziſche Chriftenverfolgung hatte
viele zum Abfall vom Glauben gebracht. Mit Ungeſtüm
forderten jet manche, ohne fid) ber langen Buße unterzichen
zu wollen, bie Aufnahme in bie Kirche Der römiſche
Klerus nimmt den Gefallenen bie Ausſicht auf Wiederver⸗
föhnung nicht, aber er forbert, bap fie warten, bis ber
Friede der Kirche wiederhergeftellt, und ihr ein neuer Papſt
gegeben if, und bai fie nad) den Anordnungen, bie bicjet
uad) Berathbung mit den Prieſtern, Diakonen, Confeſſoren
und Laien treffen wird, ernitlihe Buße thun. Denn „non
sit minor medicina quam vulnus, non sint minora reme-
dia quam funera; ut quomodo qui ruerunt ob hoc
ruerunt, quod caeca temeritate; nimis incauti fuerunt,
ita qui hoc. disponere nituntur omni consiliorum mo-
deramine utantur, ne quid non ut oportet factum tam-
quam irritum ab omnibus indicetur* ἢ). Nur denjeni—
gen, deren bevoritehendes Ende einen Auffchub der Verzei—
hung nicht mehr zuläßt, glaubt er ſchon vorher mit Vor
fit und Sorgfalt zu Hülfe kommen zu müſſen, wenn
fie Buße getban und ven Abſcheu über ihre Sünden und wahre
Reue durch Meinen und Klagen an ben Tag gelegt haben?).
1) Inter epp. Cypr. 80. (bei Baluz. 81.) &. 549 ff.
2) Ebendaſ. ©. 553.
3) Gbenbaj. €. 556: Ante constitutionem episcopi nihil
innovandum putavimus, sed lapsorum curam mediocriter tempe-
randam esse credimus, ut interim dum episcopus dari a Deo
nobis sustinetur in supenso eorum qui moras possunt dilationis
sustinere causa teneatur, eorum autem, quorum vitae suae finem
urgens exitus dilationem non potest ferre, acta poenitentia et professa
frequenter suorum detestatione factorum, si lacrimis, si gemiti-
bus, si fletibus dolentes ac vere poenitentes animi signa prodide-
rint, cum spes vivendi secundum hominem nulla substiterit, it&
demum caute et sollicite subveniri.
Zur altchrifilihen Bußpraxis. 451
Hier finden wir alfo bieje[be Praxis in Betreff ber
Gefallenen ausgeſprochen, welche Kalliſtus eingeführt hatte.
Und damit man nicht etwa glaube, daß zu diefer Zeit fol-
hen Sündern eine ftrengere Buße aufgelegt fei, als zu
Zeiten des Papſtes alfijtus, jagt der römijche Klerus au$-
brüclich, jo verlange e8 bie durch alte Tradition geheiligte
Dizciplin 1). So lange die Öffentliche Buße beftand, war
von nun an ber Grundjaß ber allgemeinen Sündenver—
gebung in Geltung, nur treten im Laufe ber Zeit in der _
Behandlung der Sünder Milderungen ein, bie jeboch fo
jehr von ber Natur ber Sache gefordert wurden, daß man
nicht beftimmen fann, zu welcher Zeit bieje verjtattet
wurben.
Schon oben haben wir auf bie Bußdisciplin der afri=
fanifchen Kirche hingedeutet, wie ung biejelbe in Cyprians
Schriften entgegentritt. Die Milderung, welche die römische
Kirche eingeführt hatte, war auch bier durchgedrungen, fo
daß die Strenge, welche einige Bilchöfe handhabten, indem
fie den Unzuchtſündern die Abjolution vyerweigerten, völlig
verihwunden war. Bei Guprian ijt εὖ feititehender Grund:
fa — und die große Zahl afrikanifcher Bifchdfe, welche
mit ihm über die Behandlung der Gefallenen berathen hatte,
jtimmte darin mit ihm überein — daß jeder, der wahrhaft
Buße thut, Verzeifung und Wiederaufnahme in bie Kirche
erlangt?). Nur tadelt er jo ba$ ungebufbige und unge:
ftüme Drängen jener, welche ohne bie Ichuldige Buße ge=
1) Gbenbaf. ©. 550: Nec hoc nobis nunc nuper consilium
cogitatum est, nec haec apud nos adversus improbos modo super-
venerunt repentina consilia, sed antiqua haec apud nos severitas,
antiqua fides, disciplina legitur antiqua.
2) Vgl. bejonber& ep. 55. (bei Baluz. 52.) und lib. de laps.
452 Fechtrup,
than zu haben, der Gemeinſchaft der Kirche und des Leibes
des Herrn wieder theilhaftig werden wollen, wie das falſche
Mitleid und bie Unvorſichtigkeit derer, welche ben Gefalle:
nen ber evangelifchen Strenge und dem Geſetz be8 Herrn
zuwiber gar zu leicht den Firchlichen Frieden verleihen, ber
aber deshalb denen, bie ihn geben, gefahrvoll, und denen,
bie ihn empfangen, zu nicht? nüge ijt ἢ).
Bon feinem allgemeinen Grunbjage macht ber h. Cyprian
. jebed) eine Ausnahme, nämlich in Betreff derer, welche erſt
in Todedgefahr um Buße und PVerzeihung anhalten. Die:
jen verweigert er die Xosfprechung P); und wir können an-
nehmen, daß bieje Ausnahme in der ganzen afrifanifchen
Kirche gemacht wurde, ba Cyprian bie Negeln für bie Be-
handlung der Gefallenen auf einer zahlreich befuchten Synode
feftgeftellt hatte 9).
Diefed Verfahren, jenen, welche erit auf dem Todes⸗
bette bie Wiederaufnahme in die Kirche verlangten, dieſelbe
zu verweigern, war nicht allein ber afrifanifchen Kirche
eigenthümlih. Wir finden bafjelbe auch in Gallien, wo
im übrigen feine Sünde principiell von der Vergebung
ausgejchloffen wart). Der lebte Canon be8 Concils von
Arles beſtimmt nämlich, daß den Ayoftaten bie Wiederauf:
1) 2gl. de laps. ©. 247.
2) Ep. 55. ©. 641: Poenitentiam non agentes, nec dolorem
delictorum suorum toto corde et manifesta lamentationis suae
professione testantes, prohibendos omnino censuimus a spe com-
municationis et pacis, siin infirmitate atque in periculo coeperint
deprecari; quia rogare illos non delicti poenitentia sed mortis
urgentis admonitio compellit, nec dignus est in morte accipere
solatium qui se non cogitavit esse moriturum.
3) Ebendaf. S. 627.
4) ®gl. Irenaei contra haeres. 1.1. c. 7; 1. VI. c. 9. Opp. ed.
Stieren. 38b. I. €. 158 unb 706.
Zur altchriftlichen Bußpraris. 453
nahme in bie Kirchengemeinschaft zu verweigern fei, wenn
fie um bielefbe in ber Kranfheit anhalten, vorher aber nicht
ber Buße fid unterworfen haben 1).
Daß aud) zu Rom bieje(be Sitte geherrjcht habe, zeigt
fein Brief be. Papſtes Smnoceng I. an den Bifchof Eru-
perius von Toulouſe, welcher beim ἢ. Stuhle angefragt
hatte, wie e8 in Betreff derer zu halten fei, welche mad)
ber Taufe während ihres ganzen Lebens unkeuſchen Lüſten
fi hingegeben hätten und am Ende de Leben? Buße unb
Berzeihung verlangten. — In der Antwort unterjcheidet In⸗
nocenz eine zweifache Obſervanz, eine ältere und ftrengere,
welche diefe Eünder zwar zur Buße zuließ, ihnen aber bie
firchliche Gemeinfchaft verjagte; unb eine fpätere und mil:
bere, welche Buße und Verzeihung gewährte, damit es nicht
fcheine, al würde in der Kirche die Härte Novatians nach:
geahmt, ber feine Verzeihung ertbeilte 3). Wir werden wohl
faum der Wahrheit zu nahe treten, wenn wir annehmen,
daß zur Seit Innocenz' I, aljo gegen Anfang des fünften
Jahrhunderts, jene ftrengere Digciplin in der ganzen occi=
bentalifchen Kirche nicht mehr ausgeübt wurde,
Um und einen Einblid in bie Bußpraxis be8 ganzen
Abendlandes zu verichaffen, ſoweit es nad) ben vorhandenen
1) Harduin, conc. coll. t. I. ©. 266.
2) Innoc. ep. 3. ad Exuper. c. 2. bei Harduin t. I. Ὁ. 1004.
Hier und ebenfo in bem angezogenen Canon be8 Goncilá von Arles
wird dad Wort communio gebraucht, und Frank (a. a. Ὁ. ©. 887 ff.
und ©. 741 ff) und andere meinen, fowohl Eyprian wie aud) δα
Gonci von Arles und der Bapft Innocenz fprüdjen nur von ber Vers
weigerung ber euchariftiihen Gommunion; allein aus bem Gonterte und
bem, was wir unten über ba8 Wort communio [agen werben, ergiebt
fid Far, daß jene Stellen von ber Verweigerung ber Aufnahme in bie
Kicchengemeinjchaft durch bie Oteconciliation zu verfteben find.
454 Fechtrup,
Zeugniſſen geſchehen kann, erübrigt uns noch, die der ſpani⸗
ſchen Kirche zu betrachten. Die erſte Kenntniß über die
dortige Bußdisciplin bieten uns die Akten des um das Jahr
305 zu Elvira gehaltenen Concils. Es tritt uns in den—
ſelben ein ſo ſtrenger, rigoriſtiſcher Geiſt entgegen, daß wir
ſchließen koͤnnen, auch in der vorangegangenen Zeit muß
dort eine Strenge gewaltet haben, wie wir ſie in keiner anderen
Kirche finden. Bon den 81 Canones dieſes Concils ver:
weigern nämlich nicht weniger als 18 gewiffen Suündern aud)
am Ende des Lebens die Sufajjung zur Kommunion. So
heißt es gleih im 1. Canon: Placuit inter eos: Qui
post fidem baptismi salutaris adulta aetate ad templum
idoli idololatraturus acceserit et fecerit, quod est crimen
capitale, quia est summi sceleris, placuit nec in finem
eum communionem accipere. Wehnliche Entſcheidungen
treffeh die Canones 2, 3, 6, 8, 12, 17, 18 u. f. τὸ.
Zum Berftändniß -diefer Canones fommt e8 darauf
an, zu beftimmen, welche Bedeutung dag Wort communio
habe. Darin ftimmen alle überein, daß e8 ſowohl bie Kir:
chengemeinicheft al2 auch bie Gemeinschaft des euchariftilchen
Leibes Chrifti bezeichnen. fónne, allein bei Erklärung der
Canones beà Concil von Elvira gehen die Anfichten weit
auseinander. Während nämlich einige meinen, das Goncil
habe jenen, welchen e8 für das Ende des Lebens bie Come
munion verweigerte, nicht nur bie Theilnahme an der Eu:
djarijtie, fondern auch bie Kirchengemeinichaft verfagt?),
glauben andere, eine jolche Strenge [εἰ dem Geijte der alten
1) 3341. Morinus, Commentar. de poenit. lib. IV. c. 22. ©.
223 f. lib. V. c. 28, ©. 345. fefe, Conciliengefhichte. Bb. I. ©.
129. Sams, Kirhengefhichte von Spanien. Bd. II. Ὁ. 23 ff. Tübing.
Theol. Quartaljchr. 1821. Die Syuode von Elvira. ©. 24 f.
Zur altchriſtlichen Bußpraris. 455
Kirche fremd, und nehmen daher an, εὖ [εἰ jenen Sündern
wohl Verzeihbung der Sünden, nicht aber bie euchariftiiche
Kommunion gewährt worden !). Aus dem jedoch, ma8 wir
bereitö über bie Grunbjáge gejagt haben, welche die alte
Kirche bei Ertheilung der Sündenvergebung befolgte, geht
zur Genüge hervor, daß e$ in ber alten Kirche durchaus
nicht unerbórt war, aud) am Ende des Lebens jchiveren
Sündern die Wiederaufnahme in bie Kirche zu verweigern.
Wir finden daher in der Bußdisciplin ber erjten chriftlichen
Zeit feinen Grund, der und zur Annahme nöthigte, bie
Bäter be8 Eoncil3 von Elvira hätten dad Wort communio
in ben beregten Ganone$ nur von der euchariftiichen Gom-
munion gebraucht, find vielmehr der Anficht, daß fie unter
demſelben zunächſt bie Tirchliche Gemeinfchaft verjtanden und
von diefer afjo eine Anzahl von Sündern für immer aug-
gejchloffen Haben. Dieſes wollen wir näher zu begründen
fuchen.
Bei Goprian finden wir häufig zur Bezeichnung ber
Ausſöhnung ber Büßenden die Ausdrücke communicare
und communicatio. Diejen Worten liegt. offenbar dieſelbe
Bedeutung zu Grunde, welche das Wort communio hat.
Daß aber ba? cyprianifche communieatio und communicare
zunächſt „kirchliche Gemeinſchaft“ und „Antheil haben ober
erhalten an der Firchlihen Gemeinjchaft” bezeichnet,
kann nicht zweifelgaft fein, Denn nid nur unterjcheidet
Eyprian von communicare mit Faren und bejtimmten
1) Vgl. Notae Rinii zu biefem Goncif, bei Mansi, conc.- collect.
t. II. &. 29. Mendoza, de confirmand. conc. llliberit. lib. IL. c.
16. Daſ. ©. 116 ff. Natal. Alexand: in hist. eccl. Ill. saec. dissert.
VIL prop. Ill. ed Roncaglia. Lucae 1750. t. IV. ©. 88, ftatbolif, -
1821. Weber bie Synode von Elvira. II. €. 417 ἢ. Frank, a. a. Ὁ.
©. 740 ff.
Theol. Quartalfcrift 1872. III. Heft. 3l
456 Fechtrup,
Morten den Empfang ber h. Euchariſtie ἢ, ſondern er ge:
braucht auch communicatio promiscue mit den Worten
pax und venia?). Da aber bei venia und pax gunüdjt
an die Befreiung von den Sünden und die Wiederaufnahme
in bie firdofide Gemeinschaft gedacht wird, jo muß aud
bem communicatio biejelbe Bedeutung beigelegt werden.
Eowohl pax und venia aber, wie aud) communio und
communicatio begreifen, wenn wir bie Ausjöhnung der
Sünder in ihrem ganzen Umfange nehmen, aud) bie Theil
nahıne am Leibe und Blute des Seren in ſich; dieſe bildete bert
Echluß und die Beftegelung der,erfolgten Wicdervereinigung
mit den Gläubigen, da in ter euchariftifchen Gomnuution
fid bie firchliche Kommunion am vollfommenften ausfpricht 5).
Allein wenn auch jemand die Gleichbedeutung des εἷς
virenfilchen Wortes communio mit dem cyprianifchen com-
municatio nicht zugeben wollte, würde au$ den Canones
des in Rede ftchenden Concils ſelbſt fid) erweiſen laſſen,
daß die Väter deſſelben bei den Ausdrücken ad communio-
nem admittere und ähnlichen zunächſt an die Löfung von
bem Vergehen und die Wiederaufnahme in bie Gemeinschaft
ber Gläubigen getacht haben. Im Canon 61 bejtimmen
biefelben: Si quis post obitum uxoris suge sororem
eius duxerit et ipsa fuerit fidelis, quinquenium a
1) gl. ep. 16. (bei Baluz. 9.) &. 519: Nam cum in minori-
bus peccatis agant peccatores poenitentiam iusto tempore...
nunc crudo tempore . . . ad communicationem admittuntur, et
offertur nomine ipsorum, et nondum poenitentia acta, nondum
exomologesi facta, nondum manu eis ab episcopo et clero im-
posita, eucharistia illis datur. *Ep. 17. (bei Baluz. 11.) ©. 522.
2) 2gl. lib. de. laps. c. 16. 17. ©. 248 f. epp. 36. G. 578;
64. ©. 717 (bei Baluz. epp. 30. und 59.).
8) gl. Cypr. ep. 16. (bei Baluz. 9.) ©. 518 f.
Zur altchriftlichen Bußpraxis. 457
communione placuit abstineri, nisi forte velocius dari
pacem necessitas coegerit infirmitatis. Hier wird pacem
dare ganz in berje(ben Bedeutung wie an anderen Stellen
communionem dare ober ad communionem admittere
gebraucht. Wie wir [don bemerft haben, heißt pacem dare
ftet3 ven Sünder durch die Losſprechung wieder in bie firchliche
Gemeinichaft aufnehmen P); e8 Tann afjo unter jenen in Ver:
bindung mit communio gebrauchten Ausdrücken zunächft nicht
bie Zulaffung zum Tifche beà Herrn, jonbern nur bie Zulaffung
zur feirdjengemein]djaft verjtanben werden. — Derſelbe Sinn
ergiebt fid) auß bem Canon 59. Prohibendum, heit e8 dort,
ne quis Christianus ut gentilis ad idolum Capitolü
causa sacrificandi ascendat et videat; quod si fecerit,
pari crimine teneatur: si fuerit fidelis, post decem
annos acta poenitentia recipiatur. In biejem Canon
bezeichnet recipere unzweifelhaft daſſelbe, was in Anderen
durch communionem dare au$gebrüdt werben fol. Daß
aber recipere heißt in bie firchliche Gemeinfchaft aufnehmen,
zeigt der 44. Canon, in welchem dafjelbe Wort mit Bezug
auf eine heidniſche Perfon gebraucht wird 9).
Es ijt nad) dem Gefagten wohl nicht zu bezweifelt,
baB bie Väter des Concils von Elvira jene Sünder, denen
fie jelbft am Ende des Lebend die Kommunion verweigern,
1) 89f. Cypr. epp. 18. ©. 524; 36. ©. 578; 54. ©. 717;
68. ©. 745 (bei Baluz. epp. 12. 80. 51. 68.). Du Cange erflärt ba$
Wort pax: «venia, dimissio et absolutio peccatorum, quae fit a
sacerdote, reconciliatio, communio, seu potius admissio poenitentis
in ecclesiae communionem. Glossar. med. et infim. latinit. B®b. V.
©. 156. 8. v. pax. |
2) Meretrix quae aliquando fuerit et postea habuerit mari-
tum, si postmodum ad credulitatem venerit, incunctanter placuit
esse recipiendam.
31 *
458 Fechtrup,
nicht nur vom Genuſſe der h. Euchariſtie, ſondern auch
vom Empfange ber Reconciliation und von ber Wiederauf—⸗
nahme in bie Kirchengemeinschaft ausſchließen wollen. Wir
" müffen jedoch bemerfen — und dadurch wird ber häretifche
Charakter, ben einige diefen Canones haben auftrücten wollen,
entfernt — daß ba8 Concil nicht deshalb eine [οἵδε Strenge
babe walten lafjen, weil e8 glaubte, die Kirche habe nicht
bie Gewalt, die jchweren Sünden zu vergeben, fondern nur
aug bem Grunde, um auf bieje Weife die Gläubigen von
ſolchen Sünden zurückzuſchrecken. Daß bie zu Elvira ver-
fammelten Bifchöfe über bie Firchliche Binde- und Löſegewalt
correft dachten, dafür zeugt die Art und Weiſe, wie fie bicje
jchwerfte Etrafe verhängen, wie auch, daß fie vielen ſehr
ſchweren Sündern Verzeihung und Wiederaufnahme in die
Kirche zu Theil werden fajfen.
Spuren einer folchen Strenge, wie fie zu Elvira
herrfchte, finden wir in Epanien uod) um das Jahr 380
auf ber Eynode zu Earagofja. Der 3. Kanon diejer Synode
belegt nämlich diejenigen mit immerwährendem Anathem,
welche die Euchariftie zwar empfangen aber nicht genieken,
und im 4. Canon wird diefelbe Strafe über bie verhängt,
welche während ber drei Wochen vor dem Epiphaniefeſte
von der Kirche fid) fern halten ἢ). Allein da diefe Synode
gegen bie Priscilianiften gehalten wurde, find bie Ctrof-
beftimmungen vieleicht mehr darauf berechnet, deren Härefie
auszurotten, ald gewiffen Sündern für immer bie erbarmende
Milde der Kirche zu verfagen. Die erfte Synode von Toledo
wenigſtens, welche zwanzig Jahre [püter algehalten wurde, kennt
bie Verweigerung ber Abfolution ant Xebendende nicht mehr.
1) Harduin, conc. coll. t. I. ©. 1041.
Zur altchriftlihen Bußpraxis. 459
II.
Die zweite Trage, welche wir geftellt haben, wie näm—
[ij die Kicche in den Älteften Zeiten diejenigen behandelte,
welche nach einmal geleifteter öffentliher Buße in ein fa-
noniſches Vergehen zurücficlen, beantwortet Frank, der
jüngfte Bearbeiter der Gefchichte der Bußdisciplin, dahin:
jene Sünder feien zwar nicht noch einmal zur öffentlichen,
wohl aber zu einer Privatbuße zugelaffen, mit welcher bie
faframentale Losſprechung verbunden geweſen, die volftän-
. bige Wiederaufnahme in die Kirche aber und ber Zutritt
zum ἢ. Abendmahle [εἰ ihnen auf immer verfagt gewefen®).
Zur Begründung biejer Anficht führt er einige Väterſtellen
an, in denen ganz allgemein gejagt wird, bag für alle
Sünden durch bie Buße Verzeihung zu erlangen fei. Allein
diefe Stellen beweifen nicht, daß bie Rückfälligen von ber
Kirche die faframentale Losſprechung erhal:
ten fonnten, worauf allein bei diefer Trage ba8 Gewicht
fällt. Denn aud) wir find der Meinung, daß bie Kirche
den Nücfäligen nicht bie Hoffnung auf Verzeihung ges
nommen und fie eben deshalb auch aufgeforbert habe, fid)
eifrig den llebiutgei der Buße hinzugeben, allein wir glau—
ben, daß fie ihnen die faframentale Abfolution verweigerte.
Cie wies diefelben auf Gott hin, ber ald ber Gütige und
Barmherzige ihnen ihre Sünden verzeihen werde, wenn fie
würdige Früchte ber- Buße brächten.
Bevor Wir bieje unfere Anficht weiter begründen,
müjjen wir eine Stelle aus dem Briefe des Papſtes Siricius
an den Bilchof Himeriud von Tarragona bericjichtigen,
da Frank auf fie befonderen Werth legt. Der Papft ſchreibt:
1) €. a. $9. ©. 875 ff.
460 Fechtrup,
De his vero non incongrue dilectio tua apostolicam
sedem credidit consulendam, qui acta poenitentia
tamquam canes et sues ad vomitus pristinos et volu-
tabra redeuntes, et militiae cingulum, et ludicras vo-
luptates et nova coniugia, et inhibitos denuo appetivere
coneubitus, quorum professam incontinentiam generati
post absolutionem filii prodiderunt. De quibus, quis
iam suffugium non habent poenitendi, id duximus de-
cernendum, ut sola intra ecclesiam fidelibus oratione
iungantur, sacrae mysteriorum celebritati, quamvis
non mereantur, intersint; a Dominicae autem mensae
convivio segregentur, ut hac saltem districtione cor
repti et ipsi in se sua errata castigent, et aliis exem-
plum tribuant, quatenus ab obscoenis cupiditatibus
retrahantur. Quos tamen, quoniam carnali fragilitate
ceciderunt, viatico munere, cum ad Dominum coepe-
rint proficisci; per communionis gratiam volumus
sublevari !).
Es fcheint nach diefer Stelle, "ald babe jid) um δα
Ende be8 4. Jahrhunderts in Spanien ein Umfchwung in
ber Behandlung der Rückfälligen angebahnt, und der Bilchof
Himerius, unentjchieden, ob er ber alten Sitte oder der fid)
geltend machenden größeren Milde folgen jollte, ben Papſt
, Siriciud um Rath gefragt. Die Antwort enthält drei ber
Beachtung wirdige Punkte:
1) Die Rüdfälligen haben das suffugium poenitendi
nicht mehr.
2) Obſchon fie e8 nicht verdienen, dürfen fie am Gebete
der. Gläubigen und ber Feier ber Ὁ. Geheimniffe An:
theil nehmen.
1) Ep. 1. ad Himer. c. 5. Constant, epp. Pontiff. €. 410.
Zur altchriſtlichen Bußpraxis. 461
3) Am Ende des Lebens wird ihnen die Gnade der Com⸗
munion gewährt.
Wie das Schreiben des Papſtes angiebt, find bie θεὶς
ben letzten Punkte Neuerungen auf dem Gebiete der Bug:
bisciplin, [εἰ εὖ, daß fie üt der römischen Kirche ſchon einige
Zeit vor Eiriciud in Gebrauch gekommen und von ihm
bejtätigt find, oder, was wahrjcheinlicher ift, daß er jelbft
fie zuerft einführte Hieraus erjchen wir alfo, daß vorher
bie Rüdfälligen weder zur eier der Liturgie noch auch
am Lebensende zur Kommunion zugelaffen wurden. Weber
bie Abfolution der Rückfälligen jchweigt bie päpftliche Ver:
ordnung, wenn nicht bie gratia communionis cben bie
volle Ausſoöhnung des Sünders durch‘ Micderaufnahme zur
kirchlichen Gemeinschaft und Empfang der 5. Euchariftie ijt,
was wir annchmen, worüber wir aber nicht vechten wollen.
Trank glaubt daher, daß in Betreff ber Losſprechung nichts
geändert, fondern diefelbe nach wie vor — ob fofort, wenn
fid) der Sünder dem Prieſter ſtellte, oder nach kürzerer
oder längerer Frift je nad) dem Ermeſſen des Prieſters,
darüber jchweigt er — in der Privatbuße ertheilt fei. Allein
ber Grund, daß obne Vorausſetzung der erhaltenen Ber:
gebung feinem rücfälligen Sünder jemals erlaubt worden
wäre, bem vollftändigen Titurgiichen Gottesdienſte beizu—
wohnen, jcheint nicht Jtihhaltig zu fein; dem e8 lag bod)
gewiß in be3 Papſtes Macht, den Niücdfälligen, um ihnen
nicht alle Gnadenſchätze zu verfchließen, bie Theilnahme am
Gotte2bienjte zu geftatten. Auch jcheinen die Worte „quam-
vis non mereantur" nur dann einen wahren Sinn zu
enthalten, wenn von einem Zulaſſen der noch nicht abjol-
pirten Eünber die Rebe if. Daß es überdies febr incon-
fequent erjcheint, einen Suünder als von feinen Sünden bes
462 Fechtrup,
freit und die Gnadengemeinſchaft zwiſchen ihm und Gott
als wiederhergeſtellt zu erachten, und ihn dennoch von allen
Gnaden, die Gott den Menſchen in der Kirche gegeben hat,
auszuſchließen, iſt einleuchtend. Nein, die alte Kirche hielt,
weil in ihr das Glaubensleben ein ſo inniges und reges
war, ben Rückfall in eine Sünde, die durch Öffentliche Buße
zu ſühnen war, für etwas jo jchredfiched, baB fie zwar
nicht an ber Vergebbarkeit defjelben zweifelte, aber bod nicht
dad Urtheil zu fällen wagte, daß ein joldjer Rückfälliger
alfo ben Geift der Buße in fid) genährt habe, daß fie ibm
Verzeihung der Sünden angedeihen Iaffen Lönne Hören
wir nur, a3 Tertulltan ala Katholik fchon von ber nach
ber Taufe begangenen Sünde urtheilt: Demjenigen, ber
nach ber Tanfe wieder jünbigt, fonn feine Unmiffenbeit
mehr zur Entichuldigung dienen; es ift vielmehr Verwegen—⸗
beit, von neuem in bie Sünde [id zu ftürzen, nachdem
man den Herrn erkannt, feine Gebete angenommen und für
feine Vergehen gebüßt bat. Es ijt überdies eine Verachtung
Gottes, den der verachtet den Geber, ber deſſen Gefchen?
verichmäht. Sa der aljo Handelt, zieht jogar den Teufel
ben Herrn vor; denn ba er beide fennt, hat er gewifier-
maBen zwifchen ihnen einen Vergleich angeftellt unb ben
für den befjeren erklärt, bejffen Eigenthum zu fein er ge-
wählt bat. Wie er durh Supe für feine Eünden bem
Herrn genugzuthun fid) entfchloffen Hatte, fo thut er "durch
eine andere Buße für feine Buße dem Teufel genug, und
er wirb Gott um fo viel verhaßter fein, als er bem Teufel
angenehmer ift!). Wie mußte Biernad) das Urtheil über
den ausfallen, der nad) der zweiten Buße wiederum ſchwer
1) gl. de poenit. ed. Oehler. ®b. 1. ©. 651 f.
Zur altchriſtlichen Bußpraxis 463
ſündigte! Gemäß dieſen Anſchanuugen von ben Rückfälligen
ließ die Kirche dieſelben ihre Wege gehen, zu einer Buße,
die von ihr aufgelegt, vor ihrem Angeſichte geübt und nach
einer beſtimmten Friſt die Losſprechung zur Folge hatte,
jt dies num eine öffentliche oder Privatbuße, ließ fie die—
ſelben nicht zu. Eine ſolche Buße verſtehen wir auch unter
dem suffugium poenitendi, von welchem der Papſt Siricius
ſpricht, ſo daß auch er den nach geleiſteter Buße Wiederge⸗
falleuen noch nicht eine ἔν ὦ lich Buße bewilligte; wenn
fie eifrig eine freiwillige Privatbuße geübt Hatten, foll:
ten ſie am Ende des Lebens wieder mit Gott und der Kirche
ausgeſoͤhnt und mit ber euchariſtiſchen Communion verſehen
werden.
Für die Richtigkeit unſerer Anſicht ſprechen zunächſt
ſolche Stellen der kirchlichen Schriftſteller, welche ganz all-
gemein die Zuläſſigkeit einer zweiten Buße für die ſchweren
Sünder verneinen. So ſagt Clemens von Alexandrien:
Ἔδωκεν οὖν ἄλλην ἐπὶ τοῖς κἂν τῇ πίστει περιπίπτουσί
τινι πλημμελήματι πολυέλεος ὧν μετάνοιαν δευτέραν !),
ἣν εἴ τις ἐκπειρασϑείη μετὰ τὴν κλῆσιν, βιασϑεὶς δὲ καὶ
χατασοφισϑεὶς μίαν ἔτι μετάνοιαν ἀμδτανίητον
λάβη. Ἑχουσίως γὰρ ἁμαρτανόντων» ἡμων μετὰ τὸ λαβεῖν
τὴν ἐπίγνωσιν τῆς αληϑείας οὐκ ἔτε περὶ ἁμαρτιῶν
ἀπολείπεται ϑυσία, φοβερὰ δέ τις ἐκδοχὴ κρίσεως καὶ
πυρὸς ζῆλος ἐσθίειν μέλλοντος τοὺς ὑπεναντίους ?). Ai
δὲ συνεχεῖς καὶ ἐπαλληλοι ἐπὶ τοῖς ἀμαρτήμασε μετάνοιαν
οὐδὲν τῶν καϑάπαξ μὴ πεπιστευχότων διαφέρουσιν ἢ μόνῳ
τῷ συναισϑέσϑαι ὅτι ἁμαρτάνουσι, καὶ οὐκ old’ ὁπότερον
αὐτοῖν χεῖρον 7) τὸ εἰδότα ἁμαρτάνειν ἢ μετανοήσαντα ἐφ᾽ οἷς
1) Die erfte Buße ijt bie vor ber Taufe.
3) Hebr. 10, 26 f.
464 Fechtrup,
ἥμαρτον πλημμελεῖν αὖϑις. Und etwas weiter heißt ed, eben⸗
fallà zur Begründung der Praris, bie Burke nicht öfter zu ges
währen: Φόκησις τοίνυν μετανοίας, οὐ μετάνοια, τὸ πολλάκις
αἰτεῖσϑαι συγγνώμην, ἐφ᾽ οἷς πλημμελοῦμεν πολλάκις 1).
Mit aller Beſtimmtheit fpricht fid) Tertullian darüber
aus, baB nad) ber Taufe für bie fchweren Vergehen nur
einmal gebüßt werden kann. Nachdem er in dem Buche
de poenitentia zunächſt über die Tugend ber Buße und
über die Buße vor der Taufe gehandelt hat, geht er unter
Anrufung des göttlichen Beiſtandes zur Buße für die nach
ber Taufe begangenen Kapitalfünden über. Er jagt: Piget
secundae immo iam ultimae spei subtexere mentionem ;
ne retractantes de residuo auxilio poenitendi spatium
adhuc delinquendi demonstare videamur?) &ertullian
fürchtet aljo, daß bie Lehre von ber Buße nah ber Taufe
bie Menfchen zum Sündigen aníode, unb deshalb jagt er
lofort, daß bie zweite Hoffnung auf Verzeihung auch bie
legte fet, Diefes ſchärft er furg darauf noch mehr ein.
Nachdem er nämlich jeune Lejer über bie verfchmigte Schlaus-
heit be8 böjen Feindes belehrt hat, burd) welche bie Mens
iden nicht jelten zum Falle gebracht würden, fährt ev fort:
Haec igitur venena eius providens Deus, clausa licet
innocentiae ianua et intinctionis sera obstructa, aliquid
adhuc permisit patere. Collocavit in vestibulo poeniten-
tiam secundam, quae pulsantibus petefaciat; sed iam
semel, quia iam secundo, sed amplius numquam, quia
proxime frustra. Non enim et hoc semel satis est)?
Sm diefen Stellen wird ganz allgemein bie Möglichkeit
1) Stromat. lib. II. c. 18. Opp. ed. Klotz, 3b. II. €. 159 f.
2) De poenit. cap. 7. 6. 666 f.
3) 9€. a. O.
Zur altchriftlihen Bußpraxis. 465
einer zweiten Buße für bie nach der Taufe begangenen
ſchweren Enden außgeichloffen, und die Meinung, ἐδ fet
bier nur Rede von der Dffeutfidjen Buße und ber mit ber:
felben verbundenen Abfolution, jo bap bie Nückfälligen durch
Privatbuße von der Kirche Verzeihung der Sünden erlang:
ten, wird durch nicht geſtützt. Denn nirgends finden wir
von einer ſolchen Praxis ber alten Kirche auch nur eine
Spur. Ja wir meinen, es geradezu beweifen zu können,
daß fie berjefben völlig unbefannt war.
Ambroſius verwirft bie zweite Buße mit folgenden
Worten: Merito reprehenduntur, qui saepius agendam
poenitentiam putant, quia luxuriantur in Christo: Nam
si vere agerent poenitentiam, iterandam postea non
putarent, quia sicut unum baptisma, ita una poenitentia,
quae tamen publice agitur; nam quotidiani nos debet
poenitere-peccati, sed haec delictorum leviorum, illa.
graviorum ἢ. Da Ambrojind jagt, una poenitentia,
quae tamen publice agitur, meint Frank, bie Celle
ſpreche für feine Anficht. Allein ber folgende Gegenfaß:
quotidiani nos debet poenitere peccati und das „haec
(vie tägliche Buße) delictorum leviorum, illa graviorum“
zeigt Far genug, baB poenitentia quae publice agitur
nur cine Umfchreibung ijt für poenitentia graviorum
peccatorum, und bieler Sujag im Sinne des Ambrofiug
gewiß nicht heißen joll: nur bie öffentliche Buße ift ben
in jchwere Sünden Rüdfälligen verfagt, aber durch Pri—
vatbuße können fie doch immer noch bie faframentafe Ab:
jolution erhalten. Einzig zu diefer Auffaffung paffen aud)
1) De poenit. lib. II. c. 10. Opp. ed. Paris. 1661. t. IV.
©. 418 E.
466 Fechtrup,
bie Worte: quia luxuriantur in Christe unb si vere
agerent poenitentiam, iterandam postea non putarent.
Daſſelbe Refultat ergicht ſich αὐ einem Briefe des
5. Auguftinu3 an einen gewiffen Macedonius. Dieſer δὲς:
zweifelte nämlich, ob die Religion ble Sitte der Bilchöfe
fordere, beim weltlichen Gerichte für die Werbrecher Fürs
ſprache einzulegen, da von Gott die Sünde fo ftrenge ver⸗
boten fei, baB nach der eriten Buße nicht einmal die Mög:
lichkeit einer zweiten gegeben werde, und fatte fid) hierüber
beim 8. Auguſtinns befragt ἢ). Gà feudgtet cin, ba Maceto-
niu$ von einer Prariß der Kirche, den Nüdfälligen durch Pri⸗
vatbuße zu Hülfe zu fommen, nicht? wußte, denn fein Ar-
aument gegen bie bifchöfliche Sitte wäre ja unter bicjer
Vorausſetzung in jid) ſelbſt zerfallen.
Was antwortet nun Auguftinug, um des Macedonius
Bedenken zu zerjtreun? Ctwa: freilich, die öffentliche
Buße wird ſolchen Sündern nicht mehr verftattet, wohl
aber eine Privatbuße und erhalten fie in diefer von ber
Kirche Verzeihung ihrer Sünden? Wenn die Kirche fo
gehandelt hätte, würde Auguftinus εὖ gewiß gejagt haben,
benn baburd) wären auf die natürlichite Weife bie Zweifel
bes Macedonius gefallen. Allein davon findet fi in ber
Antwort nichts. Sie giebt zu, daß denen, ble nad) bec
erften Buße diefelben oder Ähnliche Sünden begehen, bie
1) Inter epp. Aug. 152. (alias 53.) n. 2. Opp. ed. Caillau. ®b. 40.
&. 206 : Officium sacerdotii vestri esse dicitis intervenire pro reis,
et nisi obtineatis, offendi, quasi quod erat officii vestri, minime
reportetis. Hic ego vebementer ambigo, utrum istud ex religione
descendat. Nam si a Domino peccata adeo prohibentur, ut ne
poenitendi quidem copia post primam tribuatur, quemamodum
nos possumus ex religione contendere, ut nobis qualecumque
illud erimen fuerit dimittatur?
Zur altchriftlihen Bußpraxis. 467
demüthige Buße verfagt voerbe, jucht aber dem von Mace⸗
boniu? vorgebrachten Grunde dadurch zu begegnen, daß fie —
auf bie Güte und Barmherzigkeit Gottes hinweiſt, ber jeine
Sonne aufgehen fügt. über Gerechte und Ungerechte, ber auch,
wenn ber Ciber freiwillige eifrige Buße woivfe, ihn wieder
zu Gnaden aufnchmen werde, Vergleichen wir Augufting
eigenen Worte: In tantum autem hominum aliquando
iniquitas progreditur, ut etiam post actam poenitentiam,
post altaris reconciliationem vel similia vel graviora
committant; et tamen Deus facit etiam super tales
oriri solem suum; nee minus tribuit quam ante tri-
buebat largissima munera vitae ac salutis. Et quam-
vis eis in ecclesia locus humillimae poenitentiae non
concedatur, Deus tamen super eos suae patientiae non
obliviscitur. Ex quorum numero si quis nobis dicat:
Aut date mihi eumdem jterum poenitendi locum, aut
desperatum me permittite, ut faciam quidquid libuerit,
quantum meis operibus adiuvor et humanis legibus
non prohibeor, in scortis omnique luxuria, damnabili
quidem apud Dominum, sed apud homines plerosque
etiam laudabili: aut si me ab hac nequitia revocatis,
dicite, utrum mihi aliquid prosit ad vitam futuram,
si in ista vita illecebrosissimae voluptatis blandimenta
eontempsero, si libidinum ineitamenta frenavero, si ad
castigandum cerpus meum multa mihi etiam licita et
concessa subtraxero, si me poenitendo vehementius
quam prius excruciavero, si miserabilius ingemuero,
si flevero uberius . . . quis nostrum ita desipit, ut
huie homini dicat: Nihil tibi ista proderunt in poste-
rum; vade, saltem vitae huius suavitate perfruere?
Avertat Deus tam immanem sacrilegamque dementiam.
468 Fechtrup,
Quamvis ergo caute aalubriterque provisum sit, ut
locus illius humillimae poenitentiae semel in ecclesia
concedatur, ne medicina vilis minus utilis esset aegrotis,
quae tanto magis salubris est, quanto minus contemp-
tibilis fuerit, quis tamen audeat dicere Deo: Quare
huic homini, qui post primam poenitentiam rursus se
laqueis iniquitatis obstringit, adhuc iterum parcis!) ?
Auguftinus will mit biejen Worten dem Macevoniug
beweifen, daß die Sitte ber bifchöflichen Fuͤrbitte, trotzdein
den Nücfälligen ber Weg ber demüthigen Buße verfchloffen
ijt, dennoch auf religiöfer Grundlage berufe. Denfen wir
nun, e habein der Kirche bie Gewohnheit beftanden, ſolchen
Sündern zwar bie Öffentlihe Buße zu verjagen, aber durch
Brivatbuße ihnen zu Hülfe zu fommen, wie ſchwach, matt
unb unpafjend wäre bann dieſe ganze Auseinderſetzung, ab-
gefehen davon, daß unter ſolchen Verhältnifien bie auge-
führten Worte dem Sünder hätten faum in ben Mund
gelegt werben können. Wie Har und jdjar[ ijt dagegen bie
Argumentation, wenn wir annehmen, baB nach einmaliger
Buße von der Kirche weder durch Öffentliche noch Pri⸗
vatbuße Verzeihung erhalten wurde. Auguftinug führt jeinen
fBemeià dann afjo: Bon ber Kirche wird allerdings bem
gedachten Menfchen feine Buße mehr auferlegt und feine
Verzeihung gewährt, ne medicina vilis minus utilis sit
aegrotis; aber Gott wird nach feiner Barmherzigkeit dem
Neumüthigen unb Bußfertigen die Sünde vergeben. Ober
glaubſt bu, einem ſolchen unglüdlichen Menſchen folle man
nur die Befriedigung aller Leidenschaften geftatten, ba ihm
bod) nichts mehr für8 emige Reben nütze, und e8 [εἰ ihm
1) Ep. 158. (alias 54.) n. 7. ©, 211 f.
Zur afidrififiden Bußpraris. . 469
nicht vielmehr zu rathen, ben Gleijt und die Werfe der Buße
zu üben, da Gott fid) feiner erbarmen werde. Wenn aber
bie der Fall ijt, jo verliert dein Bedenken gegen dad Ber:
fahren der Bilchöfe feinen Gehalt. — Died ſcheint ung bie
einzig richtige Auffaffung der Stelle zu fein. Ueberdies
beutet Augustinus eine von ber Kirche zu erlangende Ber:
zeihung nicht einmal an, ſondern woeijet nur auf Gott Hin,
af von welchem Berzeihung zu erhoffen jet.
Hiermit glauben wir hinreichend unjere Anficht θὲς
gründet zu haben, daß bie Kirche in den erſten Jahrhun—
derten denjenigen, welche nach einmal geleifteter Buße in
ein kanoniſches Vergehen gurüdficlen, weder die öffentliche
nod) eine Privatbuße geftattete, burd) welche die ſakramen—⸗
tale 9(bjofution verdient wurde. Jedoch nahın fie denfelben
nicht die Hoffnung auf Verzeihung ihrer Sünden, forderte
fie vichnehr auf mit Eifer und Hingebung den Bußgeift in
fib zu weden und zu nähren, da ber barmbergige Gott
ihre Werke gnábig anfehen und ihre Sünden ihnen nach-
laſſen werde.
Zur Zeit de Papſtes Siricius wurde in diefem Punkte,
wie wir oben geſehen haben, in ber römischen Kirche bie
Bußdisciplin gemildert, und ba zu jener Seit ber Geijt
ber alten Strenge überhaupt mehr und mehr wich, fünnen
wir annehmen, daß e8 nicht gar Tange wübrte, big die
römische Neuerung aud) in den übrigen Kirchen be8 9(benb-
[anbe8 in Aufnahme fam, — In der orientalischen Kirche
fcheint durch Nektarius, deffen Wirkſamkeit auf bem Gebiete
be8 Bußweſens von tiefgreifender Bedeutung war, die
Praris [o umgeändert zu fein, daß von ba an bie 9tüd-
fälligen nicht ander behandelt wurden, als jene, welche
zum erjten Male Buße zu üben Hatten. Wenigſtens iit
470 Fechtrup, Bur altchriſtlichen Bußprarxis.
es wahrſcheinlich, daß Chryſoſtomus, der Nachfolger des
Nektarius, nad) ſolchen Grundſätzen handelte, da feine Feinde
auf der Synode an der Eiche es zum Anklagepunkt gegen
ihn machten: ὅτε dam παρέχεε τοῖς ἁμαρτάνουσι, du-
δάσκων" ἐὰν πάλεν ἁμάρτῃς, πάλιν μετανόησον " καὶ ὁσάκις
ἂν ἀμαρτανῃς, ἐλϑὲ πρὸς μὲ καὶ ἐγώ 08 ϑεραπεύσω !).
1) Harduin. t. I. €. 1041. gl.’ Socrat. h. c. lib. IV. c. 21.
ed. Reading. ©. 339 f.
II
Recenſionen.
l.
Hiſtoriſch⸗kritiſche Darſtelluug ber pathologiſchen Meralprineipien
und einiger ihrer vornehmſten Erſcheinungsformen auf dem
ſocialen Gebiete. Von Dr. Franz Joſef Stein, o. ὅ. Pro:
feſſor der Moral- und Paſtoraltheologie an der Hochſchule
zu Würzburg. Wien, 1871. Wilhelm Braumiller. XI.
und 426 ©.
Schriften, welche fid) mit der Löfung der großen ethijch-
focialen Frage abgeben, fónnen heutzutage einer bejoubeven
Aufmerkſamkeit verfichert fein. So hat auch das vorliegende
Buch, welches feine Leſer über bie ethiſch-ſocialen Principien-
fragen zu orientiren jucht, beveitö die freundlichite Aufnahme
von Seite fatholifcher Beurtheiler gefunden. (Allgem. Sitera:
turzeitung 1871 n. 44 u. 45. Literaturblatt v. Reuſch
1872 n. 5). Wenn man fid zum voraus unweigerlich
auf den Standpunkt des Verfaſſers [εἴ und nicht mehr
fordert, als was er für feinen nächiten didaktiſchen Zweck
leiften wollte, fo wird man feinen umfafjenden Kenntniſſen
und feiner Arbeitfraft veichliche Anerkennung nicht vers -
jagen; und indem wir Diemit bie Aufmerkjamfeit unfrer
Theol. Quartalſchrift. 1872. IIL Heft. 32
472 Stein,
Lefer bem Buche zuwenden, haben wir wohl faum zu be
fürchten, bem Anfehen deſſelben Eintrag zu thun, wenn wir
von einem etwas ftrengern Standpunkte aus mehrere Ein
wendung gegen H. Stein's Stoffdifpofition, Methode und
Kritik zum Ausdruck bringen.
Die Aufgabe, welhe St. zu löſen unternimmt, ſcheint
ziemlich einfach zu fein; wenn man fid) einmal über Be
griff und Bedeutung ded Moralprincips geeinigt hätte, wären
bie verfchiedenen ethiſchen Theorien, wie fie in der Gejchichte
ber Ethik vorliegen, auf ihre höchſten Principien zuridzu
führen und mit bem Maaßſtab be8 von der τί {ἰδεῖ
ſtiſchen Weltanfchauung dargebotenen Moralprincipd zu
meffen. In Wirklichkeit aber { die Schwierigkeit eine
große. Schon ber Begriff εἰπε Moralprincips ijt nid
jo einfach als e8 ſcheint; ebendarum ijte8 auch ſchwer, den
richtigen Gedanken, welcher ven verfchiedenen Theorien ber
Gtbifev, Polititer, Secialiften u. j. vo. zu Grund liegt,
herauzzuftelen; und endlih muß, jtreng genommen, ber
Maaßſtab zur Beurtheilung der verjchiedenen Theorien etit
gewonnen werden; denn auch die. chriftlichen Theologen find
noch keineswegs einig über bie willenfchaftliche Faſſung ihred
Moralprincipg, wie wir jehen werben.
Was nun den Begriff de Moralprincipd anlangt, ſo
wird (€. 4) zuerft unterfchieven zwiſchen einem hoͤchſten,
oberften und legten, und zwiſchen fecundären Weoralprincipien,
Dem Berf. handelt ἐδ fid blos um bie oberften Priw
cipien, und gewiß hätte feine Darftellung an Klarheit
ungemein gewonnen, wenn er fid darauf beichränft hätte.
Aber bieje Ausscheidung der „feeundären Principien“ ijt ibm
gerade nicht gelungen. Hätte er jid nur wenigftend Hat
gemacht, was bieje „ſecundären Principien“ fein! Der
Parho · aiſche Moralprincipien 473
Worm nad) ſehen fie einer contradicu. in adjecto gleid);
ber Sache nad) ſind es gemijfe Grundjäße, die an <.. Spige
einer Gebanfenreibe jtehen und das fittliche Thun in einer
beftimmten Richtung leiten, die aber felbft ihre Wahrheit
und ihre Begründung aus einer höhern Wahrheit ableiten.
Uns fcheint, daß der Verf. mehr als cinmal Aeußerungen
eines Autors, welche höchſtens den Werth von ſolchen
Grundſätzen ober „ſecundären Principien“ haben, anſtatt des
oberſten Moralprincips genommen habe.
Aber auch von einem oberſten Moralprincip kann man in
mehrfachen Sinne ſprechen; man verſteht darunter dag eine-
mal „dag wiflenjchaftliche Brincip ober bie oberjte Furzgefaßte
Formel eined Syſtems der philojophifchen oder theologischen
Moral;“ danı wieder δα 8 höchſte Ideal- unb Real:
princip des fittlih Guten (dad Erkenntnißprincip
und bag Fundament, dad ὅτε und das Ours der Tugend);
oder auch endlich „den oberiten Ὀδ ἐπ Sittencanon, bie
Lebensnorm, dad Geſetzgebungsprincip, oder, wie Raut fid)
audbrüdt, den Fategorifchen Imperativ.“ Diefe Sijtinftion
macht die Sache nicht Far; das richtige wäre gewelen, meun
der Verfaffer eine Elare Augeinanderjegung gegeben hätte über
den Speal- und ben Realgrund des fittlih Guten, fo bag
man fid burd) ba$ ganze Buch hindurch hätte daran vrien-
firem können, und wenn er nur folche Genteugen ber
Ethiker aufgeführt hätte, in denen wirklich ein Moralprincip
in diefem Sinne niedergelegt ijt.
Die Moralprineipien find nicht? Anderes als die ewigen
Geſetze der fittlichen Weltordnung; fie zu erkennen haben
wir nicht blos ein fpeculatives ſondern ein eminent. praf-
tiſches Intereſſe. Ob fie nun richtig ober unrichtig er:
kaunt werben: fie wirken αἰ ethiſche been üt allen großen
32*
474 Stein,
geiftigen Beweon-ocıt ber Weltgefchichte; fle zu ergründen
it »— cher die vornehmite Aufgabe der Denkenden aller
tationen geweſen; und ed unterjcheidet eben die ſocratiſche
Weisheit von der der Sophiften, daß jene ſpeculirt nicht
um ber blofen Speculation willen, fondern um in ber Er-
fenntniß der Wahrheit zugleich das Weſen und die Quellen
des fittlich Guten zu finden. Nicht die metaphyfifchen, evft
ble praftifchen oder ethischen Speen haben ihre Epuren in
ber Weltgeichichte zurückgelaffen, haben Umwälzungen, blutige
und unblutige, hervorgerufen. Die Macht einer jeden Be—
wegung auf bem politifchefecialen wie auf bem religiöfen
Gebiet bejtcht darin, daß fie mit bem Anfpruch verbunden
üt, ein ethiſches Princip zu vertreten. Gleichwie die Re—
formatoren die Berechtigung ihres Auftretens darin fafem,
daß gegenüber dem zerrütteten Kirchenweſen die wahre Ethik
des Chriſtenthums wieder zur Geltung kommen müffe, [fo
haben ſowohl bie englifchen und franzöfiichen Freidenker als
die heutigen Cocialiften ihre relative orer fiheinbare Be—
rechtigung darin, daß fie die ethifchen Ideen ber Human i—
tät, der Freiheit und Gleichheit zu retten fid an—
heifchig machen.
(ine hiſtoriſch kritiſche Darftelung der bie Welt be-
wegenden fittlichen Ideen hat nun eine mehrfache Aufgabe.
Sie wird in erfter Linie zu einer Apologie der chriftlich-
fittlichen Weltanfchauung werben. — Indem fie ſodann zwei—
tens unà in den Stand feet, die großen Erjcheinungen und
Strömungen in der Gejchichte der Menfchheit auf die ihnen
zu Grund liegenden fittlichen Principien zurüczuführen und
diefelben fo in ihren Quellen beurtheilen zu lernen, hilft
fie und, dad Blendende und Sophiftifche ber faljchen Theorien
zu. burchichauen, damit wir ung nicht trüglid, beftechen
Bathologifhe Moralprincipien. 475
Yaffen durch ben Anfchein fittlichen Ernfted und fittlicher
Größe, womit gewiffe Syfteme und Nichtungen an und
berantreten. Und durch all dich wird drittens unfre eigene
Erkenntniß ber chriftlichen Principien wiſſenſchaftlich vertieft;
und auch das thut und noth, wenn wir ſehen, daß aud)
innerhalb der chriftlich-firchlichen Theologie mancher Kampf
geführt worden ijt und noch geführt werden wird um bie
wahren ethiſchen Principien. Denn fo fertig und abge-
fchloffen, wie man und neuejtend gerne überreden möchte, ijt
weder die „chriftliche Philofophie” noch die Theologie.
Um nun die verjchiedenen Moralprincipien, jo wie fie
im Laufe der Gefchichte wiffenschaftlichen Ausdruck gefunden
haben, fennen zu lernen und zu begreifen, ift vor Allem
notbwenbig, fie in cine bejtimmte Ordnung zu bringen oder
nach einem logiſch angelegten Plan zu gruppiren. Dazu
ließen jid) zwei vwerichiedene Wege einjchlagen.
Der Berf. erkennt ganz richtig und führt des näheren.
aus (Θ. 14 f.), daß bie ethiſche Weltanfchauung eines jeden
Denker nicht zu treimen ijt von feiner Metaphyſik, ba
jene wejentlich von diefer getragen und beftimmt wird.
Demnach müßte fid) die Geſchichte der ethiſchen Principien
in denjelden Nahmen faffen laſſen, wie die der Philojophie
überhaupt; es ließen fid) alfo die Ethifer gruppiren je nach
ber Berwandtjchaft, in welcher ihre jpeculativen Prineipien
miteinander ftehen; εὖ wäre zu reden von einer Moral ded
Nationalismus, des idealiftifchen Pantheismus, be8 Senſua⸗
lismus und Materialismus, be3 theologifchen Quietismus
u. f. w. So ungefähr hat Bautain in feinen geijtvollen
Vorlefungen über die Moral be8 Evageliumd
(übevieBt von S. M. Gaißer, Tübingen 1856) feine Auf-
gabe erfaßt. Indem fo bie ethischen Grundjäge aus ihrem
476 Stein,
organifchen Zufammenhang mit ber ganzen philojophiichen
Weltanſchauung entwicelt werben, wird bie ganze Dar:
itelfung überzeugender; man ijt ficherer, Einn und Geift
eined Syſtems richtig erfaßt zu haben, als wenn man bett
jelben blos aus einzelnen Neußerungen, welche wie Grund:
ſätze lauten, aber vielleicht doch nicht als joldje gemeint find,
eruiren fol. Es würde bei einem folchen Berfahren wohl
feum geichehen, was im vorliegenden Buch mehrfach der
Tall tft, daß ein und bevjelbe Autor an verſchiedenen Orten,
nämlich αἰ Vertreter verſchiedener „oberiter Moralprincipien“,
aufgeführt voltrbe. Denn entmeber müßten fid) die vet-
fchiedenen Gefichtöpunfte, unter denen fie das Ethifche be
trachten, αἰ einem höhern Grunbgebanfen ableiten Lafjen,
oder jolhe Männer hätten e8 überhaupt nicht gu einer
abgejchloffenenen Weltanfchauung gebracht, und fie könnten
darum auch nicht als Vertreter wirklicher Principien auf:
geführt werden. Die Bedeutung jolcher Männer, wie 3.38.
eined Voltaire, Tiegt doch hauptſächlich nur in ber Ver:
neinung, in ber äzenden Kritit gegenüber den herrſchenden
Borftelungen und Tendenzen.
Endlich aber würde eine Anoronung, wie wir fie im
Sinne haben, bie Kritif der fajchen Theorien um Vieles
erleichtert und vereinfacht haben; bie Kritit würde fid) näm-
lid nur mit jolchen Theorien befaffen, welche auch für ung
noch weniftens einen Schein von Wahrheit und welche für
unjere Seit nod) eine Macht und Bedeutung haben; was
einem längjt überwundenen Standpunkt angehört, fant
kurz abgethan werben; und was ij e8 für eine große Gei-
ftesthat, nachgemwiejen zu haben, daß Sinnengenuß oder
Ehre nicht bie 63d [ten fittlichen Güter jeien !
H. Stein hat einen anderen Weg eingefchlagen. Um
Pathologiſche Moralprincipien. 477
„die denkbar möglichen !) oder wirklich aufgeſtellten höchſten
ethischen Grundſätze“ herauszuſtellen und zu ſortiren, hält
er fid) an bie „einzelnen praktiſchen Formeln, welchen ber
Rang des höchiten ethiſchen Principd oder der oberften
Sittenregel je einmal zuerkannt worben ift;” biefelben haben
„ihre Breite und Tiefe entweder in ber Sinnlichkeit,
oder in der rationalen Natur, ufib. zwar theilß .in
ber vernünftigen Natur überhaupt, tbeif8 in ber ded Mens
iden insbefondere.” Dem entfprechend werden zwei Haupt⸗
klaſſen von Moralprincipien unterſchieden, von denen die
einen pathologiſche, bie andere rationale heißen,
(€. 43.) Zunächſt werden nun die pathologiſchen Prin⸗
cipien behandelt; die Darſtellung der rationalen wird uns
in einem weiteren Bande in Ausſicht geſtellt.
Mit dieſer Dichotomie können wir im Ganzen wohl
einverſtanden ſein; dagegen halten wir die Bezeichnung
„pathologiſche Principien“ für unglücklich und die von
Verf. vorgenommene Dreigliederung der pathologiſchen Prin—
cipien für logiſch verfehlt. Pathologiſch heißen ſie näm—
lich, weil nach den Vertretern der hier einſchlägigen Theorien
dad Gefühl der Maßſtab für das ſittlich Gute wäre,
und zwar entweder dad niebere finnlihe Gefühl,
was der Berf. mit Trieb zufammenwirft, Luſttrieb, Selbft-
erhaltungstrieb und Ehrtrieb (daher Principien der Luſt,
be Nutzens und der Ehre); ober zweiten? dad höhere
Gefühl; damit meint er den moraliihen Sinn, den
fittlihen Gefchmad, die Sympathie, dad religtöfe Gefühl.
Soweit konnten wir allenfall3 folgen, indem wir ber Dur:
ftellung de3 Berf. ein wenig zu Hilfe famen. Nun foll εὖ
1) Bon biefen nad St. ,benfbar möglichen" Principien werben
wir unten einige Proben geben.
478 Stein,
aber noch eine dritte ffajje von pathologiſchen Principien
geben unb zwar folche, bie gerade nicht innerhalb des Men-
ien jefbft ihren Urjprung haben. Ginige nämlich nehmen
mad) dem Verf. an, daß es einen objectiven Maaßſtab
für das fittlih Gute gar nicht gebe, daß vielmehr ber
Einzelne das fittlih Gute nur darin erfenne, was ihm
burd) bic Erziehung ober burd bie Geſetzgebung
als dag Rechte vorgejtelft voerbe, während andere gar Das
Princip der fittliden®mancipation proclamiren.
Das find bem Verf. bie indifferentiftifhen Moral
principien, und fie jollen zugleich eine Unterabtheilung
bet pathalogifchen fein, weil fie nämlich, „auf einem burd)
vorberrichend äußeren Einfluß hervorgerufenen, Fünjtlich
erzeugten Gefühle beruhen.” (Ὁ. 44) Uns dt nun fchon
ber Begriff eines indifferentiichen SOtorafprincip? rein un:
verständlich; bie Anfchauungen, welche ber Verf. Hier im
Auge bat, gehen ja gerade von ber Leugnung eines
oberften Moralprincipd aus, alfo koͤnuen ihre Forderungen
nicht darauf gehen, ein folches zu ftatuiven;. und wer be:
hauptet, daß es gleichgiltig jei, nach welchem Cittenfanon
man handle, will bod) damit fein Moralprincip ausfprechen,
ba er vielmehr auf alle Moral, b. i. auf alle Handeln
nad) etfijden Grunbfägen, verzichte. Wenn aber bod)
jolche Anfchauungen beiprochen und widerlegt werben wollen,
jo können fie bod) logiſch nicht unter die pathologifchen
Moralprincipien eingereiht werben.
Dad Verfahren St.s befteht nun im Einzelnen darin,
daß in chronologifcher Neihenfolge je eine Anzahl von Aus
toren als Vertreter eines beftimmten Princips aufgeführt
und ihre verfchiebenen Anſchauungen und Ausfprüche mög-
{Ὁ auf einen gemeinfamen Grundgedanken, auf eine Theſis
Pathologiſche Moralprincipien. 479
oder Formel zurückgeführt werben. Wir führen einige biejer
Tormeln wörtlich an, weil ihre Faſſung für die Beleuchtung
de3 ganzen Verfahrens bedeutungsvoll ijt. ©. 60: „Das
hedoniſche Princip läßt fi in folgenden Worten
ausſprechen: Alles ijt fittlich gut (wahrſcheinlich — Recht),
wa3 und inwieweit es ſinnliches Vergnügen oder förper-
liche Luft gewährt, und Alles ijt böfe ober verfebrt, was
und inwieweit ed Schmerz ober Unluft erzeugt. Erlaubt
tjt Alles, was gefällt.“ „Für dad Princip des egoiſti—
Then Utilitarigmnd kann man verjchiedene Formeln
aufitellen, die im Grunde auf eines und daffelbe hinaus:
laufen. Sie lauten fo: Alle iſt gut (fittlich erlaubt,
Recht), was dem Einzelnen Nuten gewährt oder feine
Glückſeligkeit befördert; und Alles ijf böfe (Unrecht), was
dem menjchlicdyen Individuum Schaden verurfacht. Die
QTugend ijf nur ein Intereſſe, die Sünde lediglich eine
Nichtberückſichtigung be8 Intereſſes. Leder für [i und
Gott für Keinen! Die eine Menfchenklafje ijt lediglich zum
Bergnügen, zur Annehmlichkeit und zum Nuben der ander
geichaffen. Die höchfte Beſtimmung des Menjchen ijt, tbeuer
zu verkaufen und wohlfeil. einzufanfen. Siebe bid) über
Alles unb Gott und den Mitmenfchen lebigfid um beinet-
willen." (€. 195. Das Princip der Erziehung
lautet alfo: „Das fittlih Gute hat fein Maaß und Fun⸗
dament Tediglich in ber Erziehung. Sittlich gut ijt Etwas,
weil und infofern ihm bie Erziehung (ble Eultur) diejen
Stempel aufbrüdt; Hingegen ijt fittlichböfe dasjenige, was
ala folches von ber Erzichung gebrandmarkt wird.” (©. 381.)
Da Princip ber fittlihben Emancipation ijt
formufirt : „Alles, was ber Menfch benft, begehrt und
vollbringt, ijt vecht und gut, ober vielmehr an ji ganz
480 Stein,
gleichgültig.” Als oberite Regel lautet es: „Denke, τοῦδε,
thue, was bu willit: ε8 ift Alles einerlei. Laß bid) babet
in Feiner Weife durch Erziehung, Gewohnheit, Gefeßgebung,
religiöfe Vorurtheile bevormunden! Abſolute Freiheit in
Allen [εἰ dein höchites Geſetz!“ (&. 393 f.)
Indem der SBerfaffer folche Formeln als die Quin⸗
teſſenz der betreffenden Theorien herausſtellt, hat er fich
freilich die Kritik leicht gemacht, ja er Bat fic zum größten
Theil ſchon anticipirt, infofern er aus den Kehren fchon die
Conſequenzen gezogen hat. Aber dennoch iff eben eine
deductio ad absurdum ποῶ feine genügenbe Wieberlegung,
was St. allerdings zugibt, ba ev jedesmal eine fpecielle
MWiderlegung nachfolgen läßt; aber aud) jo erjcheint ung
fein Verfahren nicht ſtreng wiffenichaftlich nnb bündig zu
fein. Der Lefer gewinnt nämlih aus den furgen und
apforijtild) mitgetheilten Stellen der citirten Autoren nur
felten die MWeberzeugung, daß bie Derauggeltellte Formel
wirtlih den Sinn und Gedanken der Echriftfteller treffe
und nicht vielnehr nur durch eine vorfchnelle Confequenz-
madjeret vom Berf. in fie hineingetragen [εἰ, Wenn man
fib mit einem Gegner wifjenjchaftlid auseinanderſetzen will,
io muß man fid) an das halten, was er gejagt Dat und jagen
wollte, nicht an das, was er gejagt haben füunte; unb
man muß fid an ben Sinn des Verfaſſers, nicht an den
Unjinn ober an gewiffe Paratorien halten.
Ein Beilpiel. Unter den Vertretern be. Luftprincipg,
freilich nid im finnlichen jonbern im höheren Einne, wird
€. 63 Pascal aufgeführt; ber Beweis hiefür wird mit
wenigen Andeutungen mit Berufung auf Ritter, Geſch. der
Philoſ., geführt; bei einem Manne aber von der Bedeutung
Pascals wärce c8 wichtig genug gemejen zu unterfuchen, üt
Pathologiſche Moralprincipien. 481
wiefern ſich ſein Eudämonismus unterſcheide von demjenigen,
den man in der Darſtellung der meiſten chriſtlichen Ethiker
findet. Ebenſogut als Pascal ließe fid) ber ἢ. Auguſtin
als Vertreter des Princips der geiſtigen Luſt bezeichnen,
indem Auguſtin, um die Wirkſamkeit ber Gnade zu erflären,
das dichterifche Wort: trahit sua quemque voluptas zum
Ausgangspunkt nimmt. Aber nod) mehr; Pascal ijt nur
theilweife zu den Vertretern bed Luſtprincips zu zählen,
mie St. beifügt, ev läßt fid) alfo zu einer andern Zeit von
einem andern ethischen Grundſatz beherrjchen. Daraus geht
bod) wohl hervor, daß man nicht ohne weiteres berechtigt ijt,
den einen oder andern Ausſpruch a[2 den Ausdruck einer
abgejchloffenen Geiftegrichtung oter als ein höchſtes ethifches
Princip auszulegen. Dean kann der Luft einen jehr jtarken
Einfluß auf dad Vollbringen de Guten einräumen, ohne
daß man in ihr das höchſte Gut ober ba8 lebte Motiv ber
Tugend erfennt, wie Ct. fefbjt weitläufig ausführt.
Unſere Einwendung wird vielleicht noch deutlicher
durch folgende Bemerkung. Wenn bie Theoretifer auf bem
Gebiet der focialen Kragen gewiffe etbijd)e Ideen, wie Frei-
heit und Gleichheit aller Meenfchen, zum Ausgangspunkt
nehmen, um darauf Syjteme zu bauen, Wrbeitsfreiheit,
Coalitionsfreiheit u. |. vo. zu fordern, jo beherrfchen dieſe
Ideen nur einen bejtimmten Umkreis im Gebiete des
Ethiſchen; fie jtehen an der €pipe ber jociafen Orb:
nung, wie die Theoretifer fie fid) benfen, nicht an ber ber
ethiſchen. Der Begriff der Freiheit erhält jelbjt wieder
feine nähere Beftimmung aus der gefammten ethifchen Welt:
anfchauung, welche ja auch die chriftliche [εἶπ kanu. So
fann man auch verschiedenen politiichen Principien Huldigen,
ohne deßwegen mit bem chriftlichen Sittengefeß in Gonjfift
6
482 Stein,
zu fommen; das pofitijdje Princip wird dann mein Ber:
halten innerhalb ber politiihen Ephäre beftimmen; alle
andern Pflichtgebiete werden davon nicht nothwendig θὲς:
rührt. Achnliches ließe fid) von ben Principien ber Philan⸗
thropie, ber Humanität u. dgl. fagen. St. ereifert fih ©.
258 gegen den Cof „hilf dir ſelbſt, fo wird bir Gott
helfen,” ber nicht wur dem Chriftenthum, ſondern ſelbſt
dem antifen Heidenthum fremd ſei; afferbing8 wärc er bie,
wenn er ala oberſtes Moralprincip außgefprochen werben
wollte; aber e8 ijt nicht einzufchen, warum ev nicht von einem
guten Chriften als Marime für gewiffe Lebensverhältniſſe
follte gebraucht werben funem. Eine ganze große theolg-
aide Schule Dat dafjelde Wort zu einem Eckſtein ihrer
Gnabenlehre gemacht: facienti, quod in se est, Deus
non denegat gratiam.
Diejenigen Leſer des Buchs, welche geübt find, in bie
Anſchauungen Anderer einzugehen und diejelben nach ihrer
relativen Wahrheit zu würdigen, werben von ber Sat
ftelung St.3 den Ginbrud empfangen, daß er jid) bie Ans
ſchauungen ber Autoren mit einiger Willführ zurechtgelegt
und [o den Beweis für feine Behanptungen erichlichen habe.
Für eine umfafjende Würdigung ber hervorragendern Er:
[heinungen 3. 3B. eined Machiavelli, Montaigne, Malthus
it dad Werk überhaupt nicht angelegt.
Mollen wir nun aber erfahren, welches das allein
wahre oberite Moralprincip nad St. ijt, jo kommen wir
ebenjowenig au8 ber Unkflarheit heraus, welche au8 bem
Durcheinanderwerfen von Erlenntnißprincip, Motiv, Fun⸗
bament, fecundären Principien u. ſ. f. entfpringt. Die
Hauptichwierigfeit, das oberjte Princip zu beftimmen, Tiegt
barin, daß dem chriftlichen Moralſyſtem unleugbar ein
Pathologiſche Moralprincipien. 483
eudämoniſtiſches Element innewohnt, während doch gegen
den Eudämonismus in allen Formen angekämpft wird.
Theologen wie Et. Thomas ftellen unbedenklich ben Traftat
de beatitudine an bie Epige ihrer Moraltheologie, und in
ber vulgären Darftellung der Sittenlchre ift nidit$ gewoͤhn⸗
licher, af8 daß man αἰ ſtärkſtes Motiv der Tugend bie
ewige Ecligkeit in Ausficht ftelt. Dieß wurde nun alfev-
dings mehrfach jo gedeutet, als ob das Gbrijtentbum eine
egoiftifche und eudämoniftische SDtoral lehre, und um dieſem
zu entgehen, haben bie Theologen jene bekannten Diſtink—⸗
tionen zwilchen der unvollfommenen und der vollfommenen
(unintereflirten) Liebe; zwifchen Gott als bem hoͤchſten Gut
an fid) und dem bódjten Gut für und; zwijchen ber Selig-
feit, die Gott ſelbſt ijt ober die im Beſitze Gottes felbit
befteht, und zwiſchen ber Scligfeit, welche als eine res
creata von Gott verfchieden ijf unb den Gerechten al 3u-
gabe zu Theil wird, aufgebracht. Inſofern bemnad) bie .
Scligfeit etwas von Gott Verſchiedenes ijt, darf der Menſch
wohl ſeine Hoffnung darauf richten, aber ba8 legte und
entſcheidende Motiv jeined® Handelns darf fie nicht fein; εὖ
ift eine Unvollkommenheit, die aber bie Güte ded Handeln?
nicht ganz aufhebt, wenn mit ber Liebe zu Gott, dem body:
ften Motiv be8 Guten, zugleich fid) nod) die Hoffnung auf
Lohn verbindet.
Das tjt ungefähr bie Richtung des Verf, fofern es
bem Refer. gelungen ijt, ihn zu verſtehen. Das fegte Ziel
be2 Menjchen Tann nad) ihm nicht bie Giüdjeligfeit fein,
fondern allein „ber abjofut vollfommene, in fi unendlich
(elige Gott, der fid) je(bjt abjofuter Zweck ijt." (©. 233.)
Der Erfenntniß: und Nealgrund des ΠΗ Guten wäre
benutad) jchlechthin der göttliche Wille; bag höchſte Motiv
484 Stein,
bed Guter wäre bie unintereflirte Liebe. Wir müfjen aber
einige Säbe herausheben, um uns mit feiner Logik vertraut
zu machen. ©. 215 Heißt e8: „Das fittlih Gute mit
feinem unbebingten Werthe bleibt ein ſolches und das
Sittengefeg verliert nicht dad Mindeſte von feiner Erhaben⸗
heit und Allgewalt, wenn auch alles fittliche Kämpfen πὸ
Ringen um bie Tugend, wenn ſelbſt bie getreueſte und
aufopferndfte Pflichterfülluug feinen, gar feinen zeitlichen
oder ewigen Lohn zu gewärtigen hätte.“ Das widerfpricht
ſchon dem gefunden Sinn; mit viel größerem Recht fóunte
man fagen: wenn alles Kämpfen und Singen um bie
Tugend feinen Lohn zu gewärtigen hätte, jo wäre Gott
ungerecht unb alle jittlihe Ordnung umgeftoßen. Es fragt
il nicht, ob das Sittengefeb in feiner Erhabenheit und
Allgewalt bleibt, fondern ob εὖ ein Sittengefch bleibt,
wenn bie Tugend feinem Lohn empfängt; ein tragifches
Weltgeſetz, tine abjolutiftiiche Satzung wäre es dann, und
fein Sittengefeg. Und worin beſteht denn der unbe—
bingte Werth des fittlih Guten, als baB εὖ eben etwas
Gutes für ben Menſchen ijt? Da wird man und
freilich die Unterfcheivung entgegenhalten zwiſchen einem
Gut an jid und einem Gut für und. Wir weifen
bieje Unterjcheidung zurück; wir verftehen fie ebenjomenig
wie die oben erwähnte Unterſcheidung zwijchen „ver ver-
nünftigen Natur überhaupt und ber be8 Menfchen insbe—
ſondere“ (S.43). Wir laffen und aud) gar nicht imponiren
von der Diftinktion zwiſchen Gott αὐ ἢ ὃ ἐπὶ höchſten Gut
an fid) und bent höchſten Gut für und. Wem daß
Prädicat gut, dad wir Gott beilegen, überhaupt etwas be-
deuten, wenn ed nicht Jchlechthin gleichwerthig fein foll mit
ben Prädicaten abjolut, unendlich, vollfommen u. j. vo, fo
Pathologiſche Moralprineipien. 485
muß εὖ eine Eigenfchaft ausdrücken, welche Gott in feinem
Verhältniß zur Welt zufommt. Gott kann nur gut
genannt werden, weil cr für und ein Gut ijt; das
ftii Gute ijt dich deßwegen, weil aus der Sittlichfeit
für ung Gutes entfpringt, gleich wie dad Schöne beBmegen
ſchön heißt, weil es vom äfthetifchen Einn wahrgenommen
und als jon etfannt wird. Alle Herrlichkeiten des Himmels
find nicht ſchön und nicht gut, al8 barum, weil fie zur
Wonne dienen Gott jefbjt uud feinen Engeln und Seligen.
Aber ebenfo halten wir auch bie Unterfcheidung zwifchen
Gott und der bei ihm zu boffenden Eeligfeit, zwiſchen dem
Beſitz Gottes und dem Beſitz der Seligkeit für eine dürre
Abſtraktion; die wahre Seligfeit ijt Gott jefbjt und fein
Befiß; mag man bann nod) von einer bejtimmten Summe
von himmliſchen Freuden reden, welche man als Accibenzien
ber Geligfeit betrachtet, jo fami daS den Hauptſatz nicht
umjtopen, den wir mit dem Worte be8 Herrn ſelbſt aus—
Iprechen wollen: „Ich bin dein überaus großer Lohn“ ἢ).
Aber bie Glückſeligkeit kann nad) St. noch auà bem
Grunde nicht Princip der Sittlichkeit fein, weil fie als
Folge und Wirkung der GSittlichfeit nicht zugleich
Grund und Urſache berjeben fein kann. (S. 218.)
Faſt möchte man bier an bie berühmte Frage erinnern, ob
die Henne früher fei oder dad Gi. Gerade weil Seligkeit
die Folge der Sittlichfeit ijt, und weil ich dieß weiß,
übe ich ba8 Gute; diefe Erfenntniß ijt alfo früher, al ba
Thun ded Guten, und ift die Urfache defjelben; fie kann
alfo ein Motiv der Eittlichkeit fein, und cà kommt nur auf
meine Vorftelung von dem Weſen der Seligkeit an, ob
1) I. Mof. 15, 1.
486 Stein, Pathologiſche Moralprincipien.
dieſes mein Motiv ein niedriges, unchriſtlich egoiſtiſches,
oder ein reines und edles iſt. Nicht weil ich Seligkeit
erwarte, iſt mein Princip ein unvollkommenes, ſondern nur
wenn ich meine Seligkeit in etwas Auderem ſuche, als
in Gott. Nach St. aber dürfte man nur auch ſo nebenher
ein wenig bie Seligkeit im Auge haben; bie Seligkeit würde
etwa den Rang eine? „jecundären Princips“ haben. Aber
bezüglich der Trage: was denn nun wirklich das hoͤchſte
Meralprincip mad) chriftlicher, tfeijtijd)er Weltanfchauung
jet, lágt er und eigentlich im Stich. Denn wenn wir aud
wiffen, daß dad Fundament ber GSittlichleit Gott, Gotte
Wille ober Gotte8 Geſetz ift, fo wiffen wir damit mod
nicht, wie wir Gottes Willen erkennen unb. erfüllen follen,
unb am wenigjten, wenn man und den Sittenfanon al
einen Akt veiner legislatoriſcher Willführ von Seite Gotte
darjtellt, wie eine gemijje Richtung der heutiger Theologie
will. —
Doch wir find vielleicht unbillig in unſern Anfprücen
geworben, indem wir vergaßen, daß wir nicht ein ganz ab-
geichlofjenes, ſondern erft ein Hälftiges Werk vor ung haben.
Werden erft auch die rationalen Moralprincipien dargeftellt
fein, jo kann Manches fíarer erfcheinen, als e$ bigfer ijt
Möge aber auch der Verf. nad) diefer Klarheit ringen, bit
Begriffe jchärfer ind Auge faffen, fid) auf das Hauptiäd-
fichfte concentriven, und dann erjt Können wir ihm wahr:
haft Dank wifjen für feine ebenfo mühevolle ala wichtige
Arbeit ! | Linfenmann.
Weis, Marcusevangelium. 487
ἃ ;
Das Marendenangelium und feine ſynoptiſchen Parallelen er-
Hört von Dr. Bernhard Weiß, ordentlichen Profefior ber
Theologie zu Kiel. Berlin. Verlag von Wilhelm Herk.
1872. ©. XII u. 515.
Die Marcushypotheje Dat zwar alle möglichen Stadien
durchlaufen, ijt aber keineswegs zu einem befriedigenben
Abſchluß gekommen. Ja manche ber neueren Erjcheinungen
über diefen Gegenftand berechtigen zur Annahme, daß eher
ein Rücjchritt als ein Fortjchritt gemacht worden ijt. Wir
find es hinlänglich gewöhnt, Willkürlichkeiten aller Art
von den Vertretern genannter Hypotheſe in den Kauf zu
nehmen, allein ein Verfahren, wie es Scholten?!) und Volk:
mar 3) belieben, überhebt und gewiß einer Kritik, da felbit
Vertreter ber Markushypotheſe fid) zu einem ähnlichen Ur-
theil veranlaßt chen (©. 20). Scholten nimmt neben
einem mad) Wilke'ſcher Methode willfürlich zugefchnittenen
Urmarkus noch drei verjchtedene Matthäus und fügt ein
bejonbere8 Verzeichniß der mythiſchen Beftandtheile im «Proto:
markus (€. 192 f.) und ber ungejchichtlichen Bejtandtheile
im Matthäugßevaugelium (€. 235 ff.) bei. Volkmar fert
dadurch wieder zu Wilke zurüc, bap er diejelbe Neihenfolge
Markus, Lukas, Matthäus annimmt und im übrigen bie
von früher befannte Tendenzkritik vertritt, wobei in beiden
Werken bie Verdienſte um die Detaileregefe unberührt blei-
ben follen. Es ijt bie8 auch die nothmwendige Conjequenz
des Wilfe’fchen Standpuuft3 und möchten wir fajt jagen,
1) Das ältefte Evangelium. Ueberfeßt von Redepenning. Elber⸗
feld 1859.
3) Die Evangelien ober Marcus u. bie Synopfid. Leipzig 1870.
Seo. Duartalfhrift 1872. III. Heft. 33
488 Weiß,
ber Markushypotheſe überhaupt, wenn nicht vorſtehendes
Werk eine mehr befriedigende und ruhig gehaltene Dar:
jtellung ber Trage böte. |
Weiß vertheidigte ſchon längft bie Priorität de Mar⸗
fußevangeliumd, wie zahlreiche Aufſätze in den verfchiedenen
theologischen Zeitjchriften zeigen. Er war εὖ aud, der zu—
er[t die Markushypotheſe dadurch gegen die gewichtigen
Einwände zu fichern fuchte, daß er in vielen Partien bem
Matthäugevangeliun die Priorität zuerkannte. Eine Folge
davon war ohne Zweifel. die Annahme eined Urmatthäus
und εἰπε Urmarkus, bie zwar ihrem lebtern Theile nad)
von Weiß auch im vorliegenden Werke nicht gemacht wird,
aber auch bier bleibt er mit wenigen Modiftcationen — bei
feiner früheren Anſicht ftehen. (δ᾽ ergibt fid, daß ber
Markustert im großen und ganzen dem ber beiden anderen
Evangelien zu Grunde liegt, wie fid) jchon aus ber durd)
dad Papianiſche Seugnig beftätigten Wahrnehmung fchließen
läßt, daß ba8 zweite Evangelium feinem Hauptinhalte nach
auf ſelbſtſtändiger (Petrinifcher) Ueberlieferung beruht (S. 10).
Dazu kommt, daß der im zweiten Evangelium ausgeprägte
Sprachcharakter in den Parallelen jid) bei beiden anderen
Evangelien nachweifen läßt und in den Teßteren fid) häufig
Doubletten finden (€. 11). Da aber mit diefer Annahme
das Problem ber Evangelienfritit noch nicht gelöst ijt, jo
ift bie weitere Annahme nothwendig, daß bem Matthäus
und Markus eine ältere fchriftliche Quelle zu Grunde fiege,
bie im Meatthäugevangelium oft nod) die urfprüngliche
Faſſung bat. Diefe Quelle tft die von Papias erwähnte
Apoftelfchrift, bie ͤbrigens ber jprachlichen Mebereinitimmung
wegen in ber griechiichen lleberjegung vorgelegen fein muß
(€. 14). Dieſe λόγεα werben mit Unrecht auf bloße Rede
Markusevangeltum. 489
ftüde beſchränkt; fie waren feine pragmatifche Gefchichts«
erzählung, ſondern eine Sammlung von größeren Neben,
Sleichniflen, einzelnen Sprüchen und Spruchreihen, denen
oft jede gefchichtliche Einleitung fehlte, oft eine ſolche nur
in furgen Andeutungen beigegeben war. Dazwijchen zeigt
fid) aber eine Anzahl von ebenjo Locker aneinander gereibten
Erzählungen und felbft Fleineren Erzählungsgruppen, welche
meilt nur ben ſtizzenhaften Rahmen um cinzelne Worte
Jeſu bildeten ober jon|t beveutfame Momente feines geben?
firirten, jo daß alfo bie Papianische σύνταξις τῶν λογίων
höchitend a potiori ald Spruchjammlung bezeichnet werben
fann. (6. 15 f.)
Da das in großen Partien des Lebens Sefu im ganzen
jo gleichförmige Tagewerk feines Sebren und Heilen, feiner
Wanderungen mit den Jüngern und feiner Kämpfe mit
den Gegnern ed unmöglich machte, eine bejtimmte zeitliche
Beziehung berzuftellen, jo blieb dem Erzähler (Markus)
nicht3 übrig, als bie gleichartigen Ereigniſſe in fachlich ge-
ordnete Gruppen zufanmenzuftellen und jo einzelne Seiten
und Perioden des Lebens elu in ihrer durch den Forts,
Schritt der Entwicklung bedingten Eigenthümlichkeit durch
folche in ſich abgeſchloſſene Bilder zu illuſtriren (&. 21).
Darnach ergibt jid), baB Markus feinem Evangeliun eine
beftimmte Anjchauung von dem geichichtlichen Fortjchritt des
Leben? Jeſu und feiner öffentlichen Wirkſamkeit zu Grunde
gelegt hat, mas aber nicht auzjchließt, daß auch hier das
[lebte Motiv ber Schrift nicht ein biographiiches, ſondern
ein didaltiiches war. Da die Barufie verzog hat man burd)
Rückblicke auf das Leben Jeſu den Glauben an bie Tu
anität neu ftärfen wollen (€. 23).
Der Verf. zerlegt von biejen Geſichtspunkten au das
33 *
490 Weiß,
Evangelium in 7 Theile. Im erjten Theil (1. 1445)
fchilvert ber Evangelift ba8 Bewunderung erregende Auf—⸗
treten Jeſu, im 2. Theil (2, 1---8, 6) tritt fchon bie Oppo⸗
fition der berrichenden Parteien hervor, bie ſich rajd) zur
Todesfeindſchaft fteigert, ter 3. Theil (3, 7—6, 13) zeigt
unà Jeſu wieder mitten in der Vollsmenge, deren Andrang
ihn jogar nöthigt, fid) einen eigenen Jüngerkreis auszu-
wählen, im 4. Theil (6, 14—8, 26) ericheint Seju8 auf
dem Höhepunkt feiner Volkswirkſamkeit, mie aud) anberjeit?
bie Feindfchaft der Parteien fid) zu einer bedeutenden Höhe
gefteigert hat, ber 5. Theil (B, 27— 10, 45) berichtet bie Aus:
bildung der Jünger und beginnt deßhalb mit ber Todes⸗
weifjagung, mit bem 6. Theil (10, 46—13, 37) nimmt
bie jerufalemitifche Zeit ihren Anfang; in biefem ijt nad
fachlichen Geſichtspunkten alle zufammengefaßt, was Markus
von dortigen Creigniffen, Kämpfen unb Weiffagungen zu
erzählen weiß, worauf im 7. Theil (14,1—15,17) bie Xei-
densgeſchichte folgt, ber fid) ein Abſchluß anreiht, welcher
von bent geöffneten Grabe aus bie Perſpective auf bie
Erfcheinungen des Auferitandenen eröffnet (16, 1—8)
©. 22, |
Bor allem wird nun ber Markustert nad) Tiſchendorf
(editio octava. Lips. 1869) gegeben, aber mit mancherlei
je beſonders motivirten Stobificattonen, da der Verf. unge
fähr in bemjefben Maße unter den beiden Zeugen δε
älteften Serte8 den Vaticanus bevorzugt wie Tiſchendorf
den GClnaiticu8 (S. 37 Anm. 1). Zur Seite fieht in ben
Parallelen ber Matthäug: und Lukastext nach Tiſchendorf,
worauf in jedem Abjchnitt ber Marfustert eregefirt und
jein Verhältniß zu den beiden anderen zu beftimmen gefucht
wird, ein Verfahren, ba8 durchgehends ftreng feitgehalten wird.
Markusevangelium. 491
Was zunächit bie tertfritifche Arbeit betrifft, jo Hat
fb der Verf. ohne Zweifel um das Marfugevangelium ein
große? DVerdienft erworben. (8 ijt für bie Gyegeje von
großem Werth, einen möglichit genauen Sext zu Grund
legen zu fónnen, denn wenn auch im großen und ganzen
an ber Auffafjung des Evangelium wenig geändert wird,
jo find die Varianten doch für bie Detaileregefe nicht zu
unterfhäßen. Geradezu unentbehrlich ijt aber ein auch in
ben fleinften Dingen ficherer Text für die jung ber
ſynoptiſchen Frage. Müſſen wir auch befennen, daß gerade
mit ben ftiliftifchen Eigenthümlichkeiten von ven 3Bertretern
ber Markushypotheſe großer Mißbrauch getrieben worden
it, jo ift bod) nicht zu leugnen, daß durch geringe Aende-⸗
rungen oft die ganze Auffaflung eines Stückes verändert,
bie Färbung eine ganz andere wird, was auch für eine
andere ſynoptiſche Betrachtung von Bedeutung ifl. Deß-
bald find wir bem Verf. für bieje mühevolle und Zeit vaubende
Arbeit zu Danke verpflichtet. Auch die ſchöne Auzftattung
entfpricht bem SBebür[nijjeu vollfommen und wir fünnen
dem Verf. ba8 Zeugniß geben, daß ber Thatbeitand ber
zwifchen ben ſynoptiſchen Parallelen obwaltenden Meberein=
flimmung nnd Abweichung mit einer Genauigkeit und Voll-
ftändigfeit dargelegt, und die Auffaffung, reſp. Beurtheilung
desfelben durch ben Paralleldrud und bie typographilche
Hervorhebung des Webereinftimmenden in jener Weije er:
feichtert tft, daß er auch nad) biejer Seite der kritiſchen
Unterfuchung einen Dienft geleiftet dat (C. VIL).
Obwohl fid) unfere Recepta verbältuigmäßig jelten
lebigfid) auf Minugfeln ober auf einige wenige Majuskeln
gründet, jo folgt fie bod) einem Sexte, welcher auf? beut-
fichfte ben Charakter der Emendation trägt, wenn man ihn mit
dem durch bte beiven Codices be8 4. Jahrhunderts, ben
Baticanız (B) und Sinaiticus (N) gemeinfam bezeugten
Terte vergleicht. Zwar find auch biele nicht mehr ganz
fehlerfrei, aber bod) find fo wenige und zu bem fo augen-
fällige Verſtöße oder Verbeſſerungen vorhanden, baB fid
eine veflermäßige Aenderung nicht nachweijen läßt, während
dies bei allen andern wirklich der Fall ijt (S. 28). Der
ältefte Steprájentant des emenbirten Xertes ijt. ber Cod.
Alexandrinus (A) au8 tem 5. Jahrhundert, naͤchſt ibm
ber Cod. Bezae Cantabrigiensis (D) αἰ bem 6. Jahr⸗
hundert. Der Tert oou A ijt in ble Mehrzahl der jüngeren
griechtichen Handfchriften übergegangen, ber von D in bie
Gobice8 der altlateinifchen Weberfegung Die Grundlage
be8 emenbirtem Terted, nach welchem die Quellen von A
und D corrigirt find, bifoet aber eine nod) ältere unb ur:
iprünglichere Zertgeftalt αἱ die in M und B enthaltene
(S. 29). Für den älteften in XB gemeinfam erhaltenen
Sext find außerdem noch 3 wichtige Zeugen vorhanden:
ber Cod. Parisiensis num. 62 (L) au? bem 8., ber Cod.
Sangallensis (4) au8 bem 9. ober 10. und ber Cod.
Ephraemi Syri (C) aus bem 5. Safrbunbert. Bon ben
beiden Gobice8 MN unb B erweist fid) leßterer als der ur:
ſprünglichere, ba jener fid) öfter dem emendirten Text näbert
(€. 32). Aus all bem gebe hervor, bap man fi duod
immer entfchiedener von bem Vorurtheil [o2jagen müſſe,
als fóune für die Echtheit einer Lesart irgendwie bie Zahl
ber Eodiced ober jonftiger Tertzeugen entjcheiden (G. 33).
Immer müjje die innere Kritik mit der biplomatijdjen Tert:
Fritit Hand in Hand gehen. Einc rein mechanifche Tert-
kritik üt allerdings nicht möglich, ba jid) auch in bie beften
Gobice2 ſchon burd) bie Abjchreiber manche Fehler einge
Marfusevangelium. 493
fchlichen haben. Aber große Vorficht ijt bei der inneren
Kritit immerhin nothwendig, damit nicht die vorgefaßte
Meinung zu Gunften weniger beglaubigter Lesarten ent-
jcheivet, wenn bieje nur mit bem jonjtigen Charakter bes
Evangeliums harmoniren. Denn eine folche Gonjequeng im
Stil darf man bei unjern Evangelijten um jo weniger er-
warten αἴ, jo gering man auch bie Katechefe und Predigt
anfchlagen mag, bod) in manchen Stüden ber Evangelien
aud) jprachliche Meminiscenzen aus denfelben nachflingen
müffen. Ein Heiner Mißſtand für bie ſynoptiſche Frage ijt
dadurch entftanden, daß ber Text be Matthäus: und Lukas—
evangeliums nicht nach demfelben Princip revidirt ijt. Es
müßte fid) dabei in gleicher Weile heraugftellen, daß manches
ihnen eigen ijt ma8 man bisher für fremd aufah.
Um mwenigftend eine Andeutung zu geben, nach welcher
Nichtung durch bieje SLexifritif das Markugevangelium vers
ändert vourbe, [o bemerfen wir, daß ber emendirte Tert
gern bag Imperfectum üt den Aorift verwandelte (&. 55)
oder den vorhergehenden Aoriften confirmirte (S. 86), die
häufigen Aſyndeta durch Verbindungspartikeln entfernte
(S. 47), die Monotonie des Ausdrucks aufhob und zwar
beſonders gern durch Veränderung beg xoi in δέ (S. 43),
Pleonadmen und Abundanzen befeitigte und die Wortjtellung
bald vereinfachte, bald nachdrucksvoller ordnete (S. 28),
gewiffe Formen conjequent durchführte wie 2, B. δύϑέως
ftatt des urfprünglichen δὐϑύς u. ſ. w. Bedenkt man nun,
daß alle diefe Stileigenjchaften dem ganzen Evangelium
eigenthümlich find, |o ijt alferbing8 bie Vermuthnng der
Emandation begründet, auch wenn mitunter nur B gegen
bie anderen Codices fteht.
Die Erklärung des Markusevangeliums bietet viel
494 Weiß,
Gutes und zeichnet fid) vor denen der anderen Gyegeten
gleicher Richtung vortheilhaft aus, aber der Grundton,
welcher burdjà Ganze geht, wiberfpricht doch gleich bem
eriten Vers des Evangeliums. Dieſes ift. dad Evangelium
Jeſu Ehriftt des Sohnes Gottes und als folches ift e8 aud)
in jener Durchführung leicht zu erfaſſen. Aber nicht?
berechtigt zu der Erklärung, daß ber Gottezfohn derjenige
fel, welcher, weil er der erwählte Gegenftand ber göttlichen
Liebe ift, zugleich den meflianifchen Beruf (14, 61) empfangen
bat (€. 38). Aug bem Text ſelbſt läßt fid) dieſes [o
wenig herauslefen als αἰ 9. 11: „Sie (sc. bie Stimme)
begrüßt den Geiſtesgeſalbten als den Sohn Gottes unb er-
πίετε diefen Ausdruck jo[ort, indem fie ihn als bem et-
wählten Gegenftand ber göttlichen Liebe bezeichnet. Er ijt
affo der im prophetifchen Pfalmmworte alfo begrüßte, bent
Gott auf Grund feiner Sohnedftellung die mefjtanifche
Weltherrichaft in Ausſicht ſtellt (pj. 2, 7—9). Die Liebe
Gottes zu ihm beruht aber darauf, bap Gott an ihm Wohl:
gefallen gefunden hat, daß er aljo feinem fittlichen Weſen
nach der würdige Gegenftand biefer £iebe ift. Damit ijt fofert
ber Sinn, in welchem die Ueberſchrift (1, 1) Jeſum αἱ
ben Sohn Gottes bezeichnete, Har gelegt. Von einer πιείας
phyſiſchen Gottesſohnſchaft (Myr.) fawn Bier |o wenig wie
dort die Rebe fein; ber Meflind trägt dad Ehrenpräbicat
bed Gottesſohnes, weil nur ber erwählte Gegenftand ber
Liebe Gottes auch zur Ausführung feiner höchiten Heils⸗
rathſchlüſſe in ber mefltanischen Vollendungszeit berufen jein
fonn^ (€. 49). (8 Heißt bod) gewiß bem Tert Gewalt
anthun, wenn man au$ o υἱός μον ὃ ἀγαπητός heraus⸗
eregeftrt, du bift mein Sohn, weil du der Gegenftand meiner
Liebe οἷ und ben Grund des Mohlgefallend (δι δόκησα)
Markugevangelium. 495
in dem fittlichen Wefen findet! Wenn e8 als Grunbjab
einer gefunden Gregeje fejtgehalten werben muß, baB vor
allem grammatiſch⸗hiſtoriſch erklärt wird, fo berechtigt gewiß
auch hier bet klar vorliegendem Wortſinn nicht? ala eine vorz
gefaßte Meinung zur Annahme eines übertragenen Sinne.
Und bieje Interpretation muß nun bei allen übrigen Stellen
ihre Dienjte leiften, um über bie Schwierigkeiten, welche
fid) bod) immer wieder zeigen, hinwegzuhelfen. Wenn fich
Seius 8, 38 ausdrücklich a(8 den Menſchenſohn bezeichnet,
der in ber Herrlichkeit be8 Vater? kommen werde, jo fart
das Sohnesverhältniß gewiß nur ala metaphyſiſches ges
nommen werben und e8 ijt Willkiir, wenn ber einzigartige
Menſchenſohn feit anderer ift al8 ber Gotte2jobn, b. b.
ber zum Vollſtrecker aller göttlichen Heilsrathſchlüſſe oder
zum Meſſias erforene Gegenjtanb ber göttlichen Xiebe (1, 11.
3, 11) (©. 292), wie auch bie Maren Worte ber unveinen
Gieifter „av el ὁ υἱός τοῦ ϑεοῦς wur willlürlich Sefum
ala den zum meſſianiſchen Berufe geweihten Gegenftand
ber göttlichen Xiebe bezeichnen Finnen (€. 115). Als id)
üt der Einleitung den S über den Plan imb Charakter bea
Markusevangeliumd (€. 22 ff.) lad, wunbderte id) mich
nicht wenig ba8 diktatiſche Motiv desſelben in ber Stärkung
be2 Glauben? an bie Meffianität beftimmt zu finden. Bisher
war ich gewöhnt zu Iefen, daß im Matthäusevangelium
bieler Charakter außgefprochen jei was mit feiner Beftim-
mung für Judenchriſten im Zuſammenhange ſtehe, aber
baB auf einmal dieſer Charakter dem Markugevangelium
anfgeprägt werben will, ijf mir neu. Es ijt ja fdjon zum
Voraus unmahrjcheinlich, bap in einer für Heidenchriften
beitimmten Schrift - gerade ber πιο απ ὥς Beruf Jeſu bes
ſouders betont worden ijt und ba8 Pauliniiche Evangelium
496 Weiß,
ſpricht durchaus nicht dafür. Für Heidenchriſten mußte
υἱὸς ϑεοὺῦ die verſtändlichere Bezeichnung der Einzigar⸗
tigkeit Sefu fein, ihr Sprachgebrauch konnte aber unter
bemjelben auch nichts anderes als ben Sohn Gottes im
eigentlichen Sinn verftehen. Aber wie wenig vollenb3 biefer
Charakter im Evangelium ſelbſt ausgeprägt ijt, geht am
einfachiten aus der Exegeſe be8 Verf. hervor, nach deren
Sectüre ich mich nicht mehr vounberte, wie er zu biefer Auf:
fafjung fam. Er wollte bem υἱὸς ϑεοῦ eine gut Elingenbe
Erflärung geben. Der Gottezjohn wird in ben Meſſias
nad) beg Verf. Begriff umgewandelt und der Menſchenſohn
als gerade biejer Meſſias aufgefaBt. Daß ber Wortlaut dad
birecte Gegentheil bietet wurde ſchon bemerkt, bag bie ganze
Idee ber Schrift eine folche Eregefe nicht befürwortet zeigt
ein beliebiges Beiſpiel. Jeſus heilt den Gichtbrüchigen, in-
bem er ihn zuvor mit den Worten anredet: ,,7éxvo»,
᾿ ἀφίδνταί σου αἱ ἁμαρτίαι" (2, 5). Die Schriftgelehrten
benfen: „wis δύναται ἀφιέναι ἁμαρτίας εἰ μὴ εἷς ὁ ϑεός;"
(v. 7) und Sefus beweist burd) bie Förperliche Heilung,
baB der υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου Macht hat Sünden zu ὑεῖς
geben (v. 10). Daraus geht doch nothwendig hervor, daß
f efus eine göttliche Macht, bie Sündenvergebung, bei
legt. Er zeigt damit, bag ber Menfchenfohn und ber Gotte?-
john biejelbe einzigartige Erfcheinung iſt, nämlich eine
göttliche Perfon. Die Sündenvergebung gehört zum Begriff
be$ Menfchenfohnes und zum Begriff eined Einzigen, ber
Gott ijt, alfo muß nah Markus Jeſus in Wahrheit Gottes
Sohn, mit Gott eins fein. Der Meſſias ijt. eben zugleid)
Gottesfohn im metaphyſiſchen Sinne und die göttliche Prä-
rogative ber Sünbenvergebung (€. 81) weist, wie ba?
Benehmen der Schriftgelehrten zeigt, vor allem auf bie
Markuseyangelium. 497
Goͤttlichkeit des Menſchenſohnes Hin. Der falſche Meſſias—⸗
begriff ber Juden, in welchem dieſes Moment zuruͤcktritt
oder gar nicht zur Geltung kommt, iſt der Grund, warum
fie be Herrn nicht als ben Meſſias erkennen. Der Be—
griff Menſchenſohn war ihnen freilich bekannt, aber nicht
daß dieſer den Anſpruch der meſſianiſchen, ſondern daß er
den goͤttlicher Macht erhebt, iſt ihnen ein Aergerniß. Wenn
Me. 8, 29 (S. 282) den Petrus das Bekenntniß ablegen
läßt, du bift Ehriftug, jo muß jeder Leſer an den 1,1 ge:
nannten υἱός ϑεοῦ benfen und nicht an den Meſſias des
Berf., jo gewiß als die durchaus nicht miBoevitànbftd)en Worte
de3 Genturio: ναληϑῶς οὗτος 0 ἄγϑρωπος υἱὸς ϑεοῦ ἢν“
im heidnifhen Munde nur die wirkliche Gottesſohnſchaft
bezeugen fönnen. Für den Evangeliften ijt diefer Ausruf
be$ Genturio allerdings ein Beweis, wie noch in feinem
Tode Jeſus jid a[8 den Gottesfohn erwiefen hat (&. 502),
für und ijt aber diefe Wendung des Ausſpruchs ein Be:
weis, daß wir das Evangelium des Gottesjohnes im meta=
phyſiſchen Sinne vor ung haben. _
Die Vorherſagung de Leidens und Todes (©. 349
u. à. a. $9.) wird gewiß zu einer Apologie für die Meſſi—
anität be8 am Kreuze Geftorben, aber das fpecifilch Dreffia-
nische tritt bei Matthäus ſchon durch die zahlreichen Citate
viel beſtimmter hervor. Markus legt Werth darauf, bap
Jeſus freiwillig und mit beftimmtem Vorherwiffen in ben
Tod ging. Damit [egt ev Jeſu eine göttliche Eigenfchaft
bei und befeitigt zugleich einen Einwand, ber au8 bem 33e:
nemen ber Jünger während der Leidendtage gemacht wer:
ben fonnie. Nehmen wir bagu mod) bie Vorliche beg
Markus für bie Wundererzählungen, bie er bis in das
kleinſte Detail mit überrafchender Friſche und Lebendigkeit
498 Weiß,
augmalt, bei denen e8 ihm ftetd barum zu thun ijt, alle
Umftände hervorzuheben, welche dad Wunder über jeden
Zweifel erheben, während Matthäus e$ liebt, bie Wunder
zu häufen und zu generalifiren, jo ijt es ſicher viel richtiger,
ba$ didaktiſche Motiv des Markus in ber Abficht zu fuchen,
bie Göttlichleit Seju aus feinem wunbderreichen Leben unb
prophetiichen Verfündigungen zu beweijen.
Darnach wird fid) auch die Eintheilung des Evangeliums
etwas anders geftalten. Wohl ijt e8 richtig, bap einzelne
Gruppen jo geordnet find, daß die mehr und mehr wachjende
Feindſchaft der herrſchenden Parteien dem Leſer ffav vor
Augen tritt, aber wenn man imabejonbere die Reihenfolge
der babel erzälten Wunder näher betrachtet, fo zeigt fi in
ihr eine ähnliche Steigerung be& Wunderbaren. Ganz δὲς
ſonders aber tft zu beachten, bap ber Grund jener Yeindfelig-
feit faſt durchgehends nicht in den meflianijchen Anfprüchen
be8 Herrn (©. 23), ſondern in feiner Oppofition gegen
bie phariſäiſchen Obfervanzen zu fuchen ijt. Dies zeigt
fi) ion beim erften heftigen Sujammenjtop. Gegen bie
Sündenvergebung wagen bie Schriftgelehrten nicht einmal
etwas zu jagen, dagegen das Efjen Sefu mit den Zöllnern
und Sündern (€. 88), dad Nichtbeachten δε jüdiſchen
Waftengebote8 von Seiten ber Jünger (S. 93 f.), das
Aehrenraufen der Jünger (€. 99), das Heilen .ber
Kranken am Sabbath (S. 106), dies find die Punkte,
welche tie Gegner zum töptlichen Haffe fortrißen (S. 110);
in feinem zeigt fid). ein Anfpruch auf meffianische Vollmacht,
fondern in allen bie bewußte Oppofition gegen die engher-
agen Objervanzen, jo daß wir vielmehr Volkmar beiftimmen
müffen, ber in biejem Theil einen Fortſchritt des Chriften-
tbuma über dad Judenthum Hinaus annimmt. Wenn
Markusevangelium. 499
Jeſus 2, 28 den Menſchenſohn als Herrn δε Sab—
baths erklärt, weil der Sabbath wegen des Menſchen
und nicht der Menſch wegen des Sabbaths da iſt (v.
27), ſo iſt dieſer Beweis gewiß nicht dem meſſianiſchen
Charakter entnommen. Bezeichnend iſt außerdem, daß
es nur die Parteiführer ſind, welche an ſolchen Dingen
Anſtoß nehmen. Nun vergegenwärtige man ji) bie römiſche
Borftelung von ben Juden, wie fie a. B. in den Schriften
be8 Horaz auggelprodjen ijt, unb man wird fid) alsbald
überzeugen, daß ejus, ber über bieje kleinlichen Dinge erhaben
war, ben Römern in einem ganz andern Lichte erjcheinen
mußte als bie verachteten uber und zumal als die ränfe-
vollen Barteihäupter. Jeſus ijt ebenjo erhaben über bie
jüdische (pharifäifche) Engherzigfeit af8 über bie Herſchſucht
der Parteien. Dies tritt in dem „unter Römern und für
Römer” (C. 29) gejchriebenen Markusevangelium nachbrüc-
lich hervor, darum muß diefen Abfchnitten ein bahinzielendes
Motiv zu Grunde liegen. Aber diefclhe Wahrnehinuug
macht man im ganzen Evangelium. Denn jtetà iif dag
Volk vol Begeifterung für Selu, wenn aud) nicht für ben
Gottesſohn, jo bod) für ben Wunderthäter; die Fälle find
Ausnahmen, in denen die Wunderwirkſamkeit auf Un-
empfaͤnglichkeit jtieß (4, 35 ©. 165 f.) unb bie Verwerfung
zu Nazareth bietet außerdem noch einen ganz anbern Ge:
ſichtspunkt als ben, daß in ihr die Unempfänglichkeit güpfelte
(€. 204 f). Es zeigt fid) hier am bdeutlichiten, wie weit
Jeſus von allen PBarteiumtrieben entfernt war. Denn als
Parteiführer hätte er vor allem in feiner Vaterſtadt jid)
einen Anhang verichaffen müfjen; daß er bie8 nicht that,
zeigt feine Aufnahme bajefbjt.
Wie dad mehr und mehr fid) trübenbe Verhältniß des
500 Weiß,
Serm. zum Volke fid. geftaftete erfieht man übrigens ſogleich
aus bem 4. Theil, indem wir Jeſus auf einmal wieder
auf dem Höhepunkt feiner Volkswirkſamkeit jehen (©. 211
οἱ 277). Das Bolt judjt den Herrn, nicht der Herr da?
Boll. Ja um das Auffehen möglichft zu vermeiden, ver:
bietet der Herr fogar bie Verkündigung der Wunderheilungen.
Wenn fein Verbot nichts bejto weniger ben entgegengefebten
Erfolg hat, jo zeigt fid) gerade in der conjequent befolgten
Aufnahme desfelben von Seiten des Marfus der fpecielle
Zweck ded Evangeliums. Jeſus vermeidet jebe Agitation
und dennoch folgen ihm bie Volksmaſſen. Darum glaube
ih auch, bap bem Markus Unrecht gejchieht, wenn man
3. B. die Erzählung von ber Erweckung der Sairustochter
ala einen neuen Beweiß der Unempfänglichleit aufnehmen
läßt (€. 195). Darum ijt aud) bie Auffaffung falſch, daß
e8 felbft ber Menge dabei bleiben jollte, bap dag Mädchen
nicht tobt war, jondern ſchlief (tn ihrem Sinn) unb felbft
ber weitere Apoſtelkreis dag Größte noch nicht wifjen durfte.
Mar e8 denn ındglich, bafj dad Wunder unbekannt blieb,
ba eine große Menge mit bem Herrn hHerbeigeftrömt war
oder follte bieje felbjt von dem Kinde und jeinen Eltern
auf dem Glauben gelaſſen werben, bap feine Todtener⸗
wedung ftattgefunden habe? Wenn der Ber. beifügt:
„Wäre freilich da® Mädchen nur vom Scheintode erwacht,
jo wäre das eitle Geheimthuerei, die den Glauben an eine
vollgogene Todtenerweckung erzeugen mußte, wenn nicht gar
erzeugen folfte^ (& 197), jo beweist er ja jefbjt, bap in
jebem alle bie Menge nothwendig zum Glauben am bit
Todtenerwedung fommen mußte und bod) follte e8 für [ie
dabei bleiben, daß das Mädchen jchlief! '
Daß bie Beziehungen Jeſu zu den Phariläern und
Marfusebangelium. 501
ihrem Anhange denen zum Volke gerade entgegengefebt
waren ijt jo Bar, daß fein Evangelift darin feinen Ein-
theilungdgrund zu juchen nöthig hatte. Jeſus tritt ihnen
immer jchärfer gegenüber, aber e8 ijf wieder jehr djaratte-
rijti]d) für ba8 Mearkusevangelium, bag der Grund aud
beim gefteigerten Conflict nicht ber meffianifche 9Injprud)
it. Auch hier (€. 244 ff.) ijt bie Veranlafjung das Gffen
ber Jünger mit ungewajchenen Händen unb bie Strafrede
Jeſu feBt ba8 Gebahren ber Pharifäer in birecten Gegen-
ja zu bem Gejeg Moſes. Freilich tritt bie Unterweifung
ber nicht? deſto weniger immer wieder unverjtändigen
Jünger fiet wieder in den Vordergrund, aber nirgengs fo,
bap des Volkes nicht mehr gedacht würde. Muß bod) ber
Verf. noch im 5. Theil, indem fid Jeſus ganz der Unter:
weifung ber Jünger widmete, felbjt bekennen: „Allerdings
fälle dad unmotivirte Erjcheinen des ὄχλος bei Markus
8, 34 f.) immer auf, da für ihn bod) der Hauptaefichtöpunft
bie Unterweilung ber Sünger ijt und in den folgenden
Sprüchen an jid) Feine Nothwenbdigfeit liegt, den ὄχλος ala
Bublifum zu benfen^" (€. 289 Anm. 1). Allein ba hilft
wieder glücklicherweije bie apoſtoliſche Duelle: „Der Grund,
weshalb Markus ben ὄχλος herbeizieht, fanum alſo mur darin
liegen, daß bie apojtolifche Duelle bieje Sprüche an beu
ὄχλος gerichtet fein ließ,“ als ob mit biejer Annahme cin
Beweis gegeben wäre und Markus fich jo Augftlih an bie
Quelle gehalten hätte!
Ebenſo wenig befriedigt die Erklärung ber zahlreichen
Volksmaſſen, bie nach 10, 1 berbeigeftrömt find. Denn ab-
gefehen, bag von bem Aufgeben be8 Incognito (S. 830)
nirgends bie Rebe ift, da die Predigt evjt beginnt als daß
Bolt (ὄχλος während Markus den Singular, Matthäus
502 Weiß,
den Plural liebt; der Singular in den Parallelen bei
Matthäus ijt ein Zeichen feiner Abhängigkeit von Markus
(€. 250. 268) wa8 ijt aljo der Plural bei Markus?)
verfammelt war, ift ausdrücklich hervorgehoben, daß bie
"Predigt an ba8 Volk zu den gewöhnlichen Beichäftigungen
bed Herrn gehöre (xal ὡς εἰώϑει πάλιν ἐδίδασχεν αὐτούς).
Auch der Einzug in Jeruſalem, bei welchem ben Herrn
viele αἰ bem ihn begleitenden ὄχλος mit königlichen Ehren
empfingen (€. 367) zeigt zur Genüge, wie bie Unempfäng-
lichkeit ded Volles zu erklären ijt. In Serufalem jehen wir
fogar, wie jelbit- im Kreife der Schriftgelehrten Jeſus un-
verholenen Beifall fand (€. 399 f.)
Es lápt fid) aber außerdem ein anderes Bedenken gegen
bie Weiß'ſche Auffaſſung de Markusevangeliums geltend
machen, dad zwar von unferem Gtanbpulte αἰ irrelevant
ijt, den Vertretern der Markushypotheſe gegenüber aber
Bedeutung bat. Man leugnet bie bogmatijde Neflerion
(€. 24), läßt ben Markus überhaupt nicht reflexionsmäßig
fchreiben, fondern alles in epijder Weile durch bie Dar:
ftelung ſelbſt zur plaftifchen Anſchauung bringen (©. 26),
e$ ijt zwar ein didaktiſches Motiv vorhanden (S. 23),
aber nur feine Refferion in dem planvollen Organismus.
Iſt denn deßhalb Feine Reflerion vorhanden, weil fie weniger
beutlich durchblickt oder ift nothwendig ba Reflerion, wo bie
beffere Ordnung ijt? Nun bann müßte nad) be8 Berf.
Standpunkt bei Marku die meijte Reflexion zu finden fein,
wie fid) aud) an einer Menge Stellen nachweilen läßt.
Wir befchränfen und hier, darauf Hinzumeilen, baB ber
Verf. oft die jefbft bemerft (6. 45 f., 85, 129, 139, 165,
181, 223, 285 u. a. a. Ὁ.) Es ijt überhaupt die Durdy-
führung eines beftimmten Plane ohne Neflerion nicht ans
Markusevangelium. 503
zunehmen. Daher ijt aber aud) bie Reflexion fein Beweis
ber PBofteriorität. Ein jeder Schriftiteller, der nicht blog
ein biologiſches Motiv Dat, jonberu einen planvollen Or-
ganismus herftellen will, nach gewiſſen fachlichen Geſichts—
punkten orbnet, muß fein Material refleriongmäßig fichten
und aujammernjtellen. Die Evangeliften find zu bem Augen
zeugen ober Schüler von Augenzeugen, jo daß alle ur-
Iprünglich fein können, ohne bap damit über bie eitfolge
und das Abhängigkeitsverhältniß etwas entfchievden wäre.
Sie find daher anders zu beurtheilen ald andere Schriftfteller,
welche Tediglich auf ihre Duellen angewiefen find. Ent—
Scheidet man auch „nach ber Tertkritif zwiſchen verſchiedenen
gleichberechtigten Lesarten für die Urfprünglichfeit derjenigen,
aus welcher fid) die Entftehung der Varianten am leichteften
und einfachiten erklärt" (S. 10), fo darf unter den drei
Baralfelterten unjerer Evangelien über bie Urjprünglichkeit
doch nicht ebenjo entjchieden werden, da der Spätere in bem
Cage feiner Erfahrungen binlänglich Mittel hatte, eine
Lesart zu wählen, bie nach den Geſetzen der Textkritik als
die frühere betrachtet werden müßte.
Darum find neben den jprachlichen auch die biftorifchen
Momente bei ber Beurtheilung zu würdigen unb nach biejen
fteht daS Marfusevangelium ber Zeit, in welcher ba$
Evangelium von den Juden zu ben Heiden überging, viel
näher al3 ba8 Matthäusevangelium, unb das Lukasevangelium
bezeichnet einen noch größeren Fortfchritt. Zu beachten ijt,
daR diefer Standpunkt im Matthäusen. überall gleichmäßig
hervortritt, nicht etwa bloß in ben aus ber vermeintlichen
anoftoliichen Duelle aufgenommenen Partien. Aber gelegt
jelbft, eà habe mit biejev feine Nichtigkeit, fo geht daraus,
daB ber Verfaffer des Mathäusev. bie auf fpeciell jüdiſche
heol. Quarialſchrift. 1872. III. Heft. 34
504 Weiß,
Berhältniffe, namentlich auf bie SBermerfung ber Suben
gehenden Sprüche unverändert aufnahm, während [ie
Markus weglieB, hervor, daß zur Zeit ber Abfafjung des
Markusev. „die Heidenmiffion mit rajchen Schritten ihrem
Ziele entgegenging” und 13, 19—24 beweist, bab bie Weig-
fagung Jefu, welche in ber älteften Duelle die Parufie
unmittelbar mit ber Kataftrophe in Judäa verband, ber
Zeitlage entſprechend bereit3 in etwas weiterem Sinn gefaht
werben mußte" (©. 25. 423 f). Es Klingt in ber That
fonderbar, wenn ber Verf. dazu Demerft: „Dad δὐϑέως
ber Duelle (Mt. 24, 29), ba$ gewiß nicht ber nach ber
Zerftdrung Jeruſalems [djreibente erſte Evangelift hinzuge⸗
fügt bat, weil e8 ihm nun höchfte Seit ſchien, ijt offenbar
abfichtlich vermieden” (&. 426) und „Lukas vermeidet offen-
bar abfichtlih jede genauere Zeitbeftimmung, ba bei ibm
awijden bie Sevitórung Jeruſalems und bie Paruſie bie
καιροὶ ἐθνῶν (v. 24) treten" (S. 428). Sollte aljo nur
der Verf. be8 Matthäugen. bieje Incongruenz mit ber Zeit:
lage nicht bemerft und trop dei Vorgang? im Markusev.
ba$ εὐθέως vecht αὐδῇ εἰ ftehen gelaffen haben? Ob
eine Grundfchrift angenommen wird ober nicht, das Ver⸗
hältniß bleibt bazjelbe; das Matthäusev. verbindet bie lebte
Rataftrophe mit ber Parufie, das Markusev. bat ba3 fonft
eigenthümliche δὐϑέως. nicht und Lukas vermeidet abfichtlich
jede Zeitangabe, weil er eine große Zwiſchenzeit annimmt.
Died war, wie die apoftolifchen Briefe zeigen, ver biftorifche
Gang, afjo ijt Fein Grund vorhanden eine andere Reihen⸗
folge der Evangelien anzunehmen oder zum mwenigften müffen
bieje Momente in bie Wagjchale gelegt werden.
Es gäbe noch vieles zu bemerken. Namentlich enthalten
die ſpecifiſch ſynoptiſchen Erläuterungen, weldhe jedem Ab-
Markusevangelium. 505
jchnitte beigegeben find, viel Anjprechendes und Belehrendes.
Müfjen wir auch der ganzen Richtung unfere Anerkennung
verfagen, fo darf bie8 ung nicht hindern, ble trefflichen Dienfte
zur Erkennung des Sprachgeifte® der Evangelien und zur
MWürdigung ber Hl. Schrift überhaupt in hohem Maße
anzuerkennen. Aber treu bem VBorhergehendan wollen wir
auch bier und nicht auf das Einzelne einlaffen und unjere
Bemerfungen beijeite legen, ba dem Verf. am Aufdecken
einzelner Blößen feiner Argumentation wenig zu liegen
Icheint, aber „Hochtönende Machtiprüiche” find wir nicht ab-
zugeben geneigt und ber Verf. wird und wohl ebenjo wenig
zu den „Unbefangenen” rechnen als wir ihn, ber fid) ja
ſeinerſeits Tängft in „eine kritiſche Grundanſchauung einge-
fponnen und in ihr verfeftigt bat" (S. VII) und wie bie
Klaſſe feiner Gegner zu denjenigen gehört, bie nicht Leicht
befchrt werden fünnen. Nur anf einen Punkt wollen wir
bier noch aufmerkſam machen. Der Berf. faßt in der ganzen
Argumentation bloß bie „Marfug: und bie Griesbach'ſche
Hypotheſe in ben Blick“, αἴϑ ob e8 feine weitere Möglichkeit
gäbe. Und doch zeigt der wiederholt benüßte Kloftermann,
baB auch bie Aufeinanberfolge des fanonà ihre Vertreter
bat. Daß bie Tatholifche Exegeſe nicht berücfichtigt ijt,
jcheint in dem protejtantifchen Herfommen feinen Grund zu
haben. Die Griesbach'ſche Hypotheſe hat aber nach unferm
Dafürhalten heutzutage ihre Bedeutung verloren. Wenigſtens
fanden wir aud) von bem Berf. dafür faft nur Baur cilirt,
defien Schule wie in manch anderer, fo auch in dieſer Rich—
tung bem Meifter nicht treu geblieben tft. & dang.
34*
506 Lerch,
3.
Das Weſen δεῖ Renſcheuſeele. Eine Vorſchule für empiriſche
Pſychologie von Dr. Matthäus d. Será, Religionsprofeſſor
am f. f. Gymnaſium in Kommotau. Wien, Braumüller 1871.
©. VIII u. 137. 8. 20 Ggr.
Der Verf. der vorliegenden Schrift fteht zum Theile
auf dem Standpunkte Herbart’2, daher er nicht mit allen
Behauptungen feines Syſtems einverjtanden ijt. So 3. 2.
tavelt er unb dieß mit Necht, daß Serbart'a Schule einen
zu ftarfen 9tadjorud auf ven Mechanismus des Seelenlebeng
lege. ©. 101: „Eine gewiſſe Schule Läuft durch ihren
Mechanismus, ben fie in's GSeelenleben gebracht, Gefahr,
eine ähnliche Nothwendigkeit, wie bei den Thieren, in die
Seelenthätigkeiten des Menfchen hineinzutragen. Indeß
nicht die Vorſtellungsmaſſen wirken, ſondern die Seele wirkt
durch fie." — Er weiß aber anderſeits auch gewiſſe Argu⸗
mente der Herbart'ſchen Schule für feine eigenen Anſchau⸗
ungen trefflich zu verwerthen. Denn jo bat er die imma
terielle Einfachheit der Seele auf bieje Art gut bewiefen
©. 6 ff. — Doch fteht Lerch außerdem hauptfächlich auf
bem Standpunkte des von ihm fogenännten „milderen Sua-
lismus“, welcher „ven Leibe aud) eine gewiſſe Selbft-
ftändigfeit in feiner Entwiclung und Erhaltung zugefteht,
wobet aber ber Geift als einziges höchſtes Lebensprincip
feftgehalten wird." Diefen Dualismus bat er „feinen (ὅτε
Örterungen über dad Seelenwefen beſonders zu Grunde
gelegt” (©. 54). Nur ijt er hie und da von bemjelber
wieder abgewichen. — Seine Hauptabficht jebod) in biejer
Schrift ijt: Die Immaterialität ber Menfchenjeele gegen
ben heut zu Tage berrichenden Materialigmud mit erneuer-
Wefen der Menfchenfeele. 507
ten Gründen zu vertheidigen (Vorrede &. I u. VI). — Ferner _
aber, jagt er ©. III u. IV, ſoll diefe Schrift „zugleich
eine Einleitung in bie empiriiche Piychologie bifben, Denn
daß diefelbe durchaus eingehender Erörterungen über Dafein,
Weſen unb Eigenfchaften ver Seele als propäbentifche Ein-
leitung bebarf, erficht man daraus, weil ohne bdiefelben
ihr Studium unmöglich, ober bod) unfruchtbar, unficher
und ſchwankend ii."
Wohl hat der Verf. infofern Recht, daß durch biele
metaphyfiiche Vorbegründung eine tiefere Einficht in dag
Seelenleben gewonnen, und defjen Erfcheinungen leichter
erklärhar werden. Doch find über diefen Punkt bie Mei- .
nungen ber Piychologen getbeilt. Denn nach Lindner 2, Ὁ.
ift diefe metaphyſiſche Einleitung nicht abfolut nöthig. Er
meint in ſ. Lehrbuch der empirisch. Piychologie 3. Aufl.
1872: Die Phyſik vermöge zwar „nicht anzugeben, was
Stoff ijt, was Kraft und wie fid) beide zu einander ver-
halten. Allein fowie bepungead)tet ber Phyſik ein weites
Gebiet der Forſchung im Bereiche der vermittelten Natur:
erfcheinungen übrig bleibt: eben[o bleibt ber empirischen
Pſychologie ein weites Feld ber Unterfuchungen offen, bie von
einer metaphyſiſchen Anficht über das Weſen ber Seele
ganz unb gar unabhängig find” (©. 8). In etwas ähnlich
verfährt Kaulih in f. Handbuch der Pſych. 1870, bod;
äußert er zugleich S. IV: „Wo metaphyſiche Voraus⸗
fegungen nicht vermieben werden konnten, ba wurden bie
metaphyſiſchen Erörterungen auf bie Grgebnijfe ber ſpy⸗
chiſchen Unterjuchungen gejtügt." Hierauf [ἐδὲ er hinzu:
e8 wäre freilich gnt gemejen, wenn er auf eine „in feiner
Denkrichtung“ bereits verfaßte Metaphyſik hätte vermeijen
innen. Hagemann in |. Piychol. 1870, ©. 14 dagegen
508 Lerch,
hält bie metaphyſiſchen Vorausſetzungen für unbedingt nöthig,
und gibt a(8 ſolche folgende Site an: Der Menſch „beiteht
aus zwei aw fich wefentlich verfchiebenen, aber zur leben:
digen Einheit verbundenen Subftangen, aus Körper und
Geift. Der Menfchengeift, welcher als Geijt, Princip des
Denkens und freien Handelns ijt, ift zugleich organifirendes
Princip des Qeibe2, ſowie Princip ber Empfindungen und
willfürlichen Bewegungen, unb beBfalb wird er Seele ges
nannt.“ Demzufolge jagen wir: daß weber ber materiali-
ftifche, noch ber jemis, noch ber pantheiftiiche (moniftijche),
πο ber monabiftifche, nod) der trichofomifche, fondern nur
ber bualiftifche Standpunkt die Seelenerjcheinungen richtig
zu erklären vermag. Dieß ift in der empirischen Pſychologie
nothwendig voraus zu bemerken. Dieſe Erfenntniß aber
ergibt fid) anfangs aus ber Aualyſe des menſchlichen Selbft-
bemußtfeind. Was dag Weſen ber Menfchenjeele vollitändig
ift, fann ὦ evit nach ber totalen Gr[affung und Dar-
ftellung ber Scelenerfcheinungen am Schluße ber empiriichen
Pinchologie herausftellen, deßhalb fic aud) Hier bie rationale
Piychologie an bie empirifche anſchließt.
Der Berf. behandelt nun feinen Gegenftand in brei
Abtheilungen. In ber I. Abtheilung befpricht er die Frage:
„Was ijt die Seele?" Scharfjinnig zeigt ev, daß bie
Menjchenfeele ein Sein für fi, eine Subitanz tjt (€. 11.),
und daß fie zugleich wefentlich verjchieden ijf von ber ma-
teriellen unorganiichen und bewußtlofen Naturwelt (S. 10).
— Da aber aud) die Natur Bemwuptfein in den finnbegab-
ten Thierindivibuen hat, jo mußte er auch ben mwefentlichen
Unterjchteb ber Meenfchenfeele von ber Thierfeele erhärten,
um ben Beweis vollftändig zu führen. Darum betrachtete
er jpäter S. 58 aud) den Charakter der Thicrjeele. — Zuvor
Weſen δὲς Menfchenfeele. 509
jedoch 1881 er dad Problem: ob man Seelenvermögen beim
Menſchen annchmen füónne? Er beitreitet diefe Annahme
unb jtüßt jid) hierbei auf Herbart. — Seine Gründe
fonnten und von biejer Behauptung nicht überzeugen. Es
it bie einfache Menjchenfeele wohl dad Princip aller ihrer
Thätigfeiten, aber bieje Thätigkeitsweiſen find unbeſchadet
ihrer Einfachheit doch verſchieden. Aus Einer S bütigfeit8-
weile lafjen jid) nimmer die mannigfaltigen ſpychiſchen Er-
ſcheinungen begreifen. — Xerch erörtert dann weiter: — mie
ber Materialismus (S. 30), ber SpiritualiSmug (€. 47),
der Realismus Herbart's, ber Idealrealismus Schelling’s,
unb ber Idealismus Hegel's (€. 54—58) dad Weſen ber
Menjchenjeele beftimmen, und fritijirt bie Anfichten all die⸗
jr Syfteme treffend. Doch bie Widerlegung be8 Materia-
lismus ijt vom Verf. am vollftändigften und gut durchge-
führt (€. 30—42). Wichtig ijt feine Aeußerung gegen
jene, welche im Darwiniamus feine Möglichkeit mehr erjehen,
aus bem Materialismus herauszukommen. „Set e$" (be-
merft er ©. 43), „daß bie Thierorganiämen aus wenigen
Species fid) entwickelten und be8 Menjchen leibfidger Or:
ganismus denſelben Urfprung ber allmähligen Entwidlung
babe, folgt daraus, daß der Menſch ein potencirter Affe
ijt? Er mag e$ bezüglich des Leibes fein, muß er εὖ
auch bezüglich be8 Seelenlebens fein? — Die Sache fann
jb doch auch jo verhalten, baB bem mad) natürlichem
Gange vollenveten leiblichen Organismus, ber au$ einer
Affenart hervorgegangen fein mag, die Seele von Gott ein-
gefchaffen wurde.“ Aus dieſem Grunde zeigt Ser nun
auch, bag bie Meenfchenfeele, weſentlich verjchieden ijt von
ber Thierjeele. Sein Beweis lautet: „Alle Xhätigfeiten
und Zuftände” (der Thierfeele) „haben ein ganz individuelles
510 Lerch,
Gepraͤge, und koͤnnen fid) zu keiner zuſammenfaſſenden All⸗
gemeinheit, wie dieß bei den Vorſtellungen des Menſchen⸗
geiſtes der Fall iſt, erheben. Das Thier hat keine Vorſtellung
vom Baum überhaupt, ſondern nur von dieſem einzelnen
beſtimmten Baum und dann wieder von einem anderen
Baum u. ſ. f.“ (€. 64). — Dieß ſollte nad) unſerer An-
ſchauung richtiger ſo heißen: Die Thierſeele hat keinen
allgemeinen Begriff von einem Baum, ſondern nur ein
Gemeinbild, da nur der Geiſt das allgemeine Weſen
der Dinge zu erfaſſen vermag. Außerdem ſagt der
Verf.: Die Thierſeele iſt „ein unſelbſtſtändiges“ (S. 63),
die Menſchenſeele dagegen ein ſelbſtſtändiges Weſen (Sub-
fang). — „Die Thierſeele iſt nur ein integrirendes
Accidenz des Leibes“ (S. 63). — Hierauf S. 61:
„Beim Menſchen fordert die Einheit des Bewußtſeins, des
Selbſtbewußtſeins, der Freiheit die Annahme eines felbit-
ſtaͤndigen Seelenweſens, das auch in der Trennung vom
leiblichen Organismus für fid fortexiſtiren und fein Leben
fortleben kann.“ Das Thier hat „kein Selbſtbewußtſein.
Bon Freiheit iſt Leine Spur; das bischen Willkür in beu
Bewegungen bejagt nicht viel mehr, αἱ Abweſenheit äußern
Zwanges.“ — Wir funem εὖ mur billigen, daß Lerch,
um biefen qualitativen Unterſchied zwiſchen ber Menfchen:
und Thierfeele noch tiefer zu begründen, bie wefentlichen
Eigenfchaften der Meenfchenfeele cigen8 im ΠῚ. Capitel
noch erläutert bat. Was aber feine Definition der Ber:
nunft (€. 96) betrifft, jo ift hiermit wohl bie Schule
Herbart’3 zufrieden, bod) die anderen philofophiichen Schulen
werden fid) mit felber nicht für einverftanden erklären. —
Gbenfo wenig ijt feine Definition ber Freiheit ganz richtig,
als „Selbſtentſcheidung aus überwiegenden Gründen für
Weſen ber Menſchenſeele. 511
eine beftimmte Handlung.” Denn bie beleuchtet ber Spruch
des Dichter fchon: Video meliora, proboque, deteriora
sequor. Auch proteftirt dagegen der Probabilismus.
Sm I. Eapitel erklärt ber Verf. „dag Verhältniß
der Seele zum Leibe" (©. 64 ff.) Hier Debt er jebod)
manche Behauptungen auf, bie er früher bem mildern SDua-
lismus vindicirt hat, Er negirt nun die eigentliche, ftrenge
Wechſelwirkung zwifchen Leib unb. Geift. Anfangs hatte
er behauptet ©. 53 ff: Die Anficht vom Menjchen als
Lebenseinheit von Geijt und gelb „it einer doppelten Mo⸗
bification fähig. — Man kann dem Leibe nicht nur alles
eigene felbftftändige Leben, fondern auch alle Entwicklungs⸗
und Erhaltungskraft abfprechen. Die Seele ijt dann Alles
in Allem Sie ift die Baumeifterin und Erhalterin bes
Leibes in ausfchließlicher Weile; alles Andere, was bie
Keiblichkeit noch beeinflußt, iit Nebenfächliched. — Ober
man gelebt dem Leibe bod) eine Selbſtſtändigkeit in feiner
Entwicklung und Erhaltung zu, wobei aber der Geijt als ein
einzigeß hoͤchſtes Lebensprincip feitgehalten wird.“ Hierüber
war feine Kritik früher (S. 54): „Erſtere Mopification
fpielt in den Spiritualigmus hinüber, und ijt bet biefem
fchon gerichtet worben; letztere erſcheint jomob( dem Be:
wußtfein als der inneren Erfahrung und den Refultaten
anderer Wiffenfchaften gegenüber am haltbarften.” Dieſe
Modification verſprach er auch „allen feinen Erörterungen
über ba8 Geefenmejen zu. Grunde zu legen.” Denn bei
ber Beurtheilung des Spiritualismus hebt er ausdrücklich
hervor ©. 48: „Wenn οἷς Materie für die bejondere
individuelle Form gar feine Selbſtſtändigkeit und Fein felbft-
ftánbige8 Bildungsgeſetz in fich trägt und Alles der Geijt
bewirkt, woher foutmt bann die unendliche Mannigfaltigfeit
512 et,
ber individuellen Gejta(ten 2 — Es ſprechen zu viele Er-
fahrungen und Beobachtungen dafür, daß ingbejonbere bei
ber Entwidlung und Ausbildung be8 Menſchengeſchlechtes
gar mancherlei individuelle phyſiſche Bebingungen günftig
oder ungünftig wirkſam find und bem Leib nicht mur feine
eigenthümlich bleibende Geftalt geben, jondern im günftigen
alle inbirect für den Geift felbit die Quelle gewifler An:
lagen und Fähigkeiten, im ungünftigen Falle eine unüber-
windliche Beeinträchtigung ber geijtigen Thätigfeiten werben.
Niemand wird ven leiblichen Bedingungen des individuellen
menfchlichen Dafeind jeden Telbitftändigen Einfluß auf bie
Gejtaltung be8 Leibes ab[predjen, außer er wollte bie Augen
vor ber handgreiflihen Wirklichkeit ganz „verſchließen.“
Dann €. 71: „Die Seele gibt den Anftoß zur Entwid-
[ung be8 (leiblichen) Organismus als oberſtes Lebens princip
und erhält als ſolches auch das Leben bed Organismus,
jo lange berjefbe lebensfähig ijt. — Außer bem oberiten
Lebensprincip gibt e8 aber viele untergeorbnete und bieje Liegen
in den materiellen zu einem Weenjchenleibe organifirbaren
Stoffen, bie einer neuen Menjcheneriftenz jon von vollen-
beten Menjchen dargereicht werden. Diele geftalten jene
individuellen Formen ded Organismus aus fid) heraus. —
Die Seele baut jid) alfo durchaus nicht ihren leiblichen
Organismus; der wird ihr vielmehr gebaut. Sie muß ihn
eben nehmen, wie er ijt und wird. Sie wirft nur, was
ihrer Natur zulommt.”
Frage: wie flimmt nun biele frühere Anficht Lerch's
vom Menfchen mit feiner nachfolgenden Erklärung ber
Wechſelwirkung zwifchen Geift und Leib überein (©. 74 ff.) ?
„Wenn die Seele ba8 vegetative und animalifche Princip
bes Leibes durch fich jelbjt von allem Anfang an ijt fo
Weſen δὲς Menfchenfeele. 513
müßte vom Leibe zunächſt auf bieje8 Princip etwas fiber:
tragen — auf biele8 zunächſt gewirkt werben. Aber was
Fol denn ber Leib von feinen vegetativen Functionen auf
ba? vegetative Princip übertragen, ba diefe Functionen doch
nur Functionen de Princips felber find, auf das fie umge-
geſetzt werbeit jollen. — Und was jolf denn ber Leib von
feinen animalifchen Functionen — den Empfindungen —
Wahrnehmungen — Bewegungen — Begehrungen — bem
animalifchen Princip mittheilen, da bieje bod) nur durch
bieje8 Princip bewirkt werden, bem fie vom Leibe aus
communicirt werden jollen. — Und wenn fobdann das
vegetative nnb animaliiche Princip bie Geiftfeele ſelbſt ijt,
was foll denn von bicjen Principien ihr übermittelt werben,
dag nicht [don in ihr wäre?" Es kann ja ba von einer
eigentlichen „Wechſelwirkung gar Feine Rede fein.” —
Allerdings nach biejer letzteren Auffaſſung des Verfaſſers.
Wie kann er aber bann jpüter ©. 102 wieder jagen: „Im
Zuſammen der Seele mit dem Leibe, welcher in feinen
Thätigfeiten den nothmwendigen Gefegen δὲν Materie unter:
worfen ijt, fanm es oft zu ſolchen abnormen Wirkungen
des Leibes auf die Seele fommen, daß die Seele in ihrer
Thätigfeit in die phyſiſche Geſetzmäßigkeit der förperlichen
Zuftände mit Dineingegegen unb ganz unfrei wird,” befon-
ders „im Zuftande bed Irreſeins“. — Es fann aber mad)
diefer Erflärung der Wechjelwirkung vom Verf. auch ferner
feine Rebe mehr fein von einer gewiffen Selbitftäntigfeit
des Leibe und von einer gewiljen jelbitftändigen Entwick⸗
lung befjelben, welche beibe SÜtomente er doch früher ange:
nommen bat (€. 48), wenn die Geiftfeele ausſchließlich
alle im menfchlichen Leibe wirt? Wie? Verfällt va Lerch
nicht ſelbſt bem Spiritualigmus, ben er bod) früher ftrenge
514 Lerch,
getabelt Hat? Uns menigiten8 jcheint ed. — Will der Verf.
nad) unfrer unmaßgeblichen Meinung mit feiner zuerft auf:
geitellten Anficht über das Weſen ber Menfchenfeele in
Einklang kommen, jo wirb er nothwendig jid) bie Frage
aufwerfen müſſen: im welchem Sinne wohl kann bie vege-
tative und fenfitive Function ber vernünftigen Geiftfeele
vindicirt werben, ohne bap Dieburd) bie relative Selbftitän-
bigfeit und bie relative jebititändige Entwicklung bed Leibes
aufgehoben wird? Da wirb er zurüdgehen müflen auf
feine frühere Behauptung ©. 70: Die Seele weckt und
erhält (durch ihre Gegenwart) bie Lebensfähigkeit des Leibes
und „verleiht dem Organismus vefjelben eben nur δαϑ
menfchliche Leben ober ihm ihr ſpecifiſches eben, dad man
menjchlicheg nennt” durch ihren ibealiftrenden Einfluß.
Es findet afjo ein Zufammenwirken bes Geiſtes und Leibes
bei der Teiblichen vegetativen Geftaltung und bei der feibz
lichen Sinnenthätigfeit ftatt. Wird aber die vernünftige
Geiſtſeele des Menſchen im Weſen (in ihrem Unfichjein)
ion als vegetative und als Sinnenjeele beitimmt, und
nicht 6108 wegen ber Relation ihrer mitwirkenden Thaͤtigkeit
zum Leibe, dann wirb jte zur Naturjeele, und Kym bat
vollfommen Recht, wenn er behauptet, daß die Menjchenfeele
nur eine gejteigerte Thierjeele ijt. WIM alfo ger ben
Materialismus volftändig überwinden, jo muß er auch noch
zeigen, bap die Menfchenfeele in ihrem Weſen keineswegs
eine gejteigerte Thierfeele tjt. — Er bat früher über δα
Weſen ber Menſchenſeele einige Aeußerungen getan, bie
tad unferem Dafürhalten einigermaßen geeignet wären,
bie Behauptung von Kym, welche aud) von Vogt, Darwin
und Häcel fef bejaht wird, zu widerlegen. — Sp bemerft
er [Φατἤϊππ S. 12: „Man betone den Einfluß δεῖ
Weſen ber Menfchenfeele. 515
Leibes auf ba8 Seelenleben noch jo ſtark, e8 gibt bod) un⸗
zweifelhaft Zuftände unb Thätigfeiten ber Seele, bei welchen
eine Abhängigkeit vom Leibe nicht erfichtlich gemacht werben
fami, mögen nebenbei ober hinterher bieje Thätigfeiten aud)
von einer phyſiologiſchen Reſonanz des Leibes ober blos
be8 Gehirn? begleitet fein, wie bieß in Folge ver innigen
Verbindung zwilchen Seele und Leib nicht ander zu er
warten if. — Man benfe an dag Iogifche Urtheil, an ben
Schluß, an die Thätigkeit ber Vernunft, wenn fie ihre
Billigung ober Verwerfung über etwas ausfpricht, ait das
Wahrheitögefühl und die höheren Gefühle überhaupt, an den
freien Willenzentjchluß, ber aus rein geijtigen Motiven er:
folgt u. dgl.” Man Eönnte nad) unferer Anfchauung viel
Leicht noch Hinzufügen: die Menjchenfeele kann nimmer eine
gefteigerte Thierfeele fein. Denn alsdann wäre fie ja blos
eine vollfommnere, höhere Naturjeele mit gefteigertem Natur:
verftand. Sie hat aber tbatjächlich nicht blog Erkenntniß
des Sinnlichen, jonberm aud) Erkenntniß des Ueberfinnlichen
(ded Sittlichen und Religidjen), alje nicht blos gefteigerten
Naturveritand, fondern aud) Vernunftthätigfeit. Vom Sinn⸗
lichen zum Weberfinnlichen gibt e8 jeboch feine Steigerung,
indem beides einander mejentfid) entgegeugelegt ift. Dazu
fommt noch, daß bie Geiftfeele des Menſchen, weil fie ein
Sein für ὦ, im Jenſeits auch ohne Beihülfe des Leibes
(be8 Gehirns) denken kann, wie ber reine Geift, während
bie Wiſſenskraft auch einer höheren und vollfommneren
Staturjeele immer gebunden tjt an den individuellen Ein-
brud des Leibes, wie dieß auch bei einer höheren und ὅθ:
Tommneren Thierjeele der Fall ift.
Su der II. Abtheilung hierauf beantwortet Lerch bie
Trage: „Woher ijt die Seele?” — Cr widerlegt ben
516 Gerin,
Traducianismus (€. 103) Furz, doch vollfiändiger nnb
gründlicher den Generatianismus (€. 106—110). Noch
viel fcharffinniger erhärtet er den Greatiani2nu8 (S. 113
bi 117). — Endlich in ber III. Abtheilung loſt er ba8
Problem: „Wohin geht die Seele?“ Er handelt biet
furg und bünbig bie bigber geführten Beweiſe für bie Un
fterbfidjteit der Seele ab (©. 120 ff). Dann {εἴ er bic
verſchiedenen Auffafjungen ber Beitimmung, insbeſondere ber
Seele des Menſchen bar (S. 124 jf). Schlagend erweist
er, bap nur der Creatianismus bie wahre Beſtimmung be8
Menichen richtig auffinden könne. — Sind wir nun aud
mit einigen Behauptungen be8 Verfaſſers in feiner Schrift
nicht ganz einverftanden, jo müfjen wir deßungeachtet bie-
ſelbe als eine febr inftructive, gründliche und ernfte For-
chung über dad Weſen ber Menſchenſeele, welche auf bie
neueſten philoſophiſchen Auffaſſungen Schelling’3, Hegel's
und Herbart's Rüͤckſicht nimmt, bezeichnen. Wir glauben
ſelbe auch Allen mit Recht emfehlen zu können. Denn fie
gibt ohne Zweifel zur tieferen Erforfchung der Seelener-
ſcheinungen eine bebeutende Anregung. Zufrigl.
4.
Les deux pragmatiques sanctions attribuées à saint Louis
par M. Charles Gérin, juge au tribunal civil de la
Seine. Deuxiéme édition corrigée et considérablement
augmentée. Paris. Lecoffre. 1869. XII. 304.
Die Frage nad) ber Aechtheit der pragmatiichen Sanc-
tion Ludwig's des Heiligen ift fett ihrer Beſtreitung burd)
Thomaſſin und bie Bollanbiften vielfach erörtert worden
les deux pragmatiques sanctions. 517
und wie es fcheint fat bie negative Anſchauung im den
kirchlichen Kreifen Frankreichs im Ganzen den entſchiedenen
Sieg davon getragen. Wenigſtens erklärte vor einigen
«abren ein talentvoller und wohl unterrichteter jüngerer
Seiftlicher au Paris, ald er den im biefigen Convict üb-
lichen Disputationen anmohnte, wo eben die Aechtheit ber
Sanction in einer ber aufgeftellten Thejen behauptet wurde,
daß biele Anfchauung in feinem Vaterland nicht mehr vor:
getragen werben dürfe In Deutichland herrſchte die ent-
gegengelegte Anficht vor, big im J. 1853 Dr. Röfen mit
feiner Abhandlung über die pragmatijche Sanction hervor:
trat. Er brachte zwar im Wefentlichen Feine anderen
Grünbe vor, ala fie bereit früher namentlid, in franzöfilchen
Schriften zu leſen waren; er erfuhr dur Dr. Golban in
Niedner's Zeitfchrift für Hiftorifche Theologie 1856 in ber
Hauptfache εἶπε Hinreichende Widerlegung und die Argumente
des letztern find unjeve2 Wiſſens nirgends umgejtoßen wor-
ben. Trotzdem jcheint die Arbeit Roͤſen's nicht ohne Wir-
fung gewejen zu fein. Alzog erflärt ſich in ber neueften
Auflage feiner Kirchengefchichte 33b. L €. 642 f. für bie
Unächtbeit.
Die vorjtehende Schrift reiht fid) in bie Zahl δεῖς
jenigen ein, welche die Frage nach ber Wechtheit der Sanc-
tion verneinen, und ber Verf. ijt feiner Sache jo fider,
daß wir durch jeine Haltung in der eben außgeiprochenen
SBermutfung bejtürft werden, die Trage gelte in ven ffevt-
kalen Schulen Frankreichs als entichieden. Freilich drängt
ſich uns dabei unwillkürlich die weitere Frage auf, wozu
unter ſolchen Umſtänden dieſe neue Unterſuchung? Eine
Antwort legt ſich indeſſen leicht nahe: Gérin wollte feiner
Anſchauung auch in den außerfirchlichen Kreifen jeiner
518 Gérin,
Heimath Eingang verjchaffen. Diefer Zweck wurde von
ihm jedoch fchwerlich erreicht. Seine Arbeit ijt zu ober:
μά, um diejenigen, bie fid) in der Frage näher orien-
tirten, in ihrer Anfchauung zu erjchüttern. Ohne tiefere
Duellenftudien gemacht zu haben, ftüßt fid ber Verf. auf
bloße Hilfsmittel und zeigt beinahe mehr ba8 Beſtreben,
die Vetreter der gegneriſchen Anficht durch Aufdeckung ihrer
Einfeitigfeiten und Schwächen lächerlich zu machen als feine
eigene Theje zu erhärten. Gewichtige Gründe, welche für
ble Aechtheit der Sanction bereit durch Beugnot in feinem
Essai sur les institutions de St. Louis p. 416 ff. nam-
haft gemacht worden waren, werben von ihm nicht einmal
berührt, fondern einfach ala abgetban vorausgeſetzt. Was
er aber an fachlicher Begründung fehlen Tieß, dad glaubte
er burd) Maßloſigkeit in der Sprache erjegen zu Fönnen.
Die pragmatifche Sanction ijt in feinen Augen ein Sfan-
dal und ein Attentat gegen die Kirche und — darum bent
heiligen Ludwig abzufprechen. Er meint, e2 gehöre geradezu
Verwegenheit dazu, an ihre Aechtheit zu glauben, und er
erflärt, bie Verhältniffe, welche der fünfte Artikel (Verbot
ber römischen Gelbforberungen in Frankreich) vorausjebe,
jeten in abjofutem Widerfpruch mit bem Xhatbeitand, wie
er au? allen gleichzeitigen Documenten erhelle und wie er
ſelbſt durch bie größten Feinde ber Kirche dargeftellt werde.
Zum Beleg für daS Lebtere wird ſodann die Angabe
Michelet’3 erwähnt, daß Philipp ber Schöne nur burd) bie
Kirche Geld erhalten fonnte. Was aber bie Berufung auf
bie gleichzeitigen Documente anlangt, fo fanden wir für fie
feinen andern Beweis, als daß ber Verf. fid nicht gar
große Mühe gab, mit ben Duellenfchriften eine nähere
Bekanntſchaft zu machen.
les deux pragmatiques sanctions.' 510
Wir verdanken bem Verf. nur in einem Punkte eine
Belehrung. Man nahın biäher an, daß das Goikt Ludwig's
in ber Originalchrift in den PBarlamentsregiftern ſich bec
fand, bie 1618 durch einen Brand zu Grunde gingen, und
jomit bis zu biejem Jahre eriftirte. Diefe Annahme ἢ
nad) ©. 249 f. unrichtig. Der fragliche Brand berübrte
die Regifter nicht; diefe find noch vorhanden, ohne jedoch
bag Gbift zu enthalten.
i Wir fönnen bier von einer eingehenden Wiberlegung ber
Aufſtellungen Gérin'$ Umgang nehmen, da Soldan -in viefer
Beziehung bereit? dad Genügende gethan hat, wiewohl bie
Frage durch ihn nicht gerade jo weit gefördert wurde, daß
fi bie Argumente für die Aechtheit der Sanction nicht
noch vermehren und verftärken Tießen. Nur auf einen
Punkt wollen wir hinweifen, ber unſeres Wiſſens bisher
unbeachtet blieb, ber jebod) geeignet ijt, eines ber Bedenken
gegen bie Erlafjung ber Sanction durch Ludwig IX. als
völlig unbegründet erfcheinen zu laffen.
Es ſcheint auffallend, daß ber Text bed wichtigen
Geſetzes im Laufe der Jahrhunderte verloren ging. ©. legt
auf diefen Punkt ein Hauptgewicht und ruft ©. 142 Ff.
aus: Pourquoi l'aete invoqué par Basin, quel qu'il
füt, n’a-t-il pas été déposé immédiatement au Trésor
des Chartes, que l'on conservait à la Sainte-Chapelle?
Et comrment expliquer que les Procureurs généraux
au Parlement de Paris, à qui ótait spécialement con-
fiée l& garde de ce dépót, et sans le consentement
de qui on ne pouvait y &voir accès, aient laissé
échapper ce titre vónérable des libertés gallicanes?
Le Trésor des Chartes, transféré ensuite aux Archives
de France, etait particuliörement riche en piàces
S eof. Quartalfchrift 1872. III. Heft. 35
520 Gérin,
datant de saint Louis. On y trouve encore aujourd'hui
une multitude de documents concernant les rapports
de nos Rois avec le Saint-Siége, parmi lesquels il
n'y en a pas un qui soit aussi important que notre
pretendue ordonnance, et lon veut qu'on n'y ait pas
móme conservé une copie de cette Pragmatique!
. Wir geftehen, daß biejer Punkt αἰ ein Grund gegen
die Aechtheit der Sanction auch ung viel befchäftigte. ne
befjen mußten wir und bei ruhiger Ueberlegung jagen, bag
er gegenüber den Karen hiftorifchen Zeugniffen für bie
Aechtheit desſelben nicht aufzufommen vermóge. Wir mußten
jene Bedenken um jo mehr unterbrüden, je größer ber Haß
war, welcher gegen ba8 Gejet jid) offenbarte und ber nicht
erft von geftern batirt, jonberm fchon lange Zeit befteht.
Denn unter biejen Umftänden ijt die Annahme ebenjo be-
gründet, daß ber Driginaltert bea Geſetzes durch feine Feinde
zeritört wurde, αἱ bie Beichuldigung ber fegteren, daß das
Geſetz durch bie Gegner des römiichen Stuhles im 15.
Jahrhundert fälſchlich gefertigt und zu geeigneter Zeit zur
Sicherheit be8 Betruged den Augen ber Menfchen wieber
entzogen worden fei. Die leivenfchaftliche Erregtheit, bie
ben Verf. felbft bei ber Behandlung des Gegenitanbe8 be-
berrichte und bie jo groß ijt, daß e8 den Anſchein Bat, αἱ
wolle er eine rein Hiftorische Frage einfach durch das Ueber:
maß feiner perlönlihen Entrüftung erledigen, war nicht
wenig geeignet, ung in biefer Annahme zu beſtärken. Sollten
indeffen diefe Erwägungen Nicht? vermögen, fo dürfte ba-
gegen folgende Thatjache defto ſchwerer wiegen.
Es ijt befannt, in welchen Zuſammenhang bie prag-
matijdje Sanction Ludwigs be Heiligen und bie von Bourges
vom J. 1438 mit einander ftehen. Xebtere kann einfach
les deux pragmatiques sanctions. 591
die Durch bie Firchlichen Verhältniffe ded 15. Jahrhunderts
veranlaßte neue Auflage ber erfteren genannt werben. Die
Sanction von Bourge® wurbe burd) das Concordat vom
%. 1516 aufgehoben unb Leo X. verordnete in der Bulle
Pastor aeternus über fie näherhin Folgende. Er verbot
(inhibentes) in virtute sanctae obedientiae ac sub
poenis et censuris infra dicendis, omnibus et singulis
Christi fidelibus, tam laicis quam clericis saecularibus
et quorumvis ordinum etiam Mendicantium regularibus,
et aliis. quibuscunque personis, cujuscunque status et
gradus et conditionis existant, etiam sanctae romanae
eeclesiae cardinalibus, patriarchis, primatibus, archi-
episcopis, episcopis et quibusvis aliis ecclesiastica vel
mundana vel quavis alia dignitate fulgentibus, omnibus-
que aliis et singulis praelatis, clericis, capitulis et conven-
tibus saecularibus et ordinum praedictorum regularibus,
etiam monasteriorum abbatibus, prioribus, ducibus, co-
mitibus, principibus, baronibus, parlamentis, officialibus
eliam regiis, judicibus, advocatis, notariis et tabellioni-
bus ecclesiasticis vel saecularibus, et quibusvis aliis
personis ecclesiasticis regularibus et saecularibus, ut
praefertur, quacunque dignitate fulgentibus, in praefato
regno Franciae, Delphinatu et ubicunque praedicta
Pragmatica directe vel indirecte, tacite vel expresse
vigeret, quomodolibet existentibus vel pro temporibus
futuris, ne de cetero praefata Pragmatica sanctione
seu potius corruptela, quomodolibet ex quavis causa
IT uti seu etiam eam allegare vel secundum eam
judieare . . . . praesumant aut per alios fieri permit-
fant seu mandent: nec praefatam Pragmaticam sanc-
tionem autin ea contenta capitula seu decreta ulterius
522 Gerin, les deux pragmatiques sanctions.
in domibus suis aut aliis locis publicis vel privatis
teneant: quin immo illam ex quibusvis archivis etiam
regiis, seu capitularibus et locis praedictis, infra sex
menses a data praesentium computandos, deleant seu
deleri faciant, sub majoris excommunicationmis ἰδέας
sentenbiae, nec non quoad ecclesiasticas et regulares
personas praedictas, omnium etiam patriarchalium,
metropolitanarum et aliarum eathedralium ecclesiarum,
monasteriorum quoque ef prioratuum, etiam conven-
tualium et quarumeunque dignitatum aut beneficiorum
ecclesiasticorum saecularium et quorumvis ordinum
regularium privationis et inhabilitatis ad illa in po-
sterum obtinenda: quo vero ad saeculares praefatae
excommunicationis nec non amissionis quorumcunque
feudorum tam a romana quam alia eoclesia ex quavis
causa obtentorum, ac etiam inhabilitatis ad illa in
pesterum obtinenda, inhabilitatisque ad omnes et sin-
gulos actus legitimos quomodolibet faciendos, infe-
mesque ac criminis laesae majestatis in jure expressis
poenis, eo ipso et absque ulteriori deolaratione per
omnes et singulos supradictos, si (quod absit) contra
fecerint, incurrendis: & quibus vigore cujuscunque
facultatis, ac clausularum etiam in confessionibus,
quibusvis personis sub quibusvis verborum formis
concessis, contentarum, nisi a romano pontifice canonice
intrante" vel alio ab eo ad id in specie facultatem
habente, praeterquam in mortis articulo constituti, ab-
solvi, nequeant; non obstantibus etc. etc. Harduin,
Acta conciliorum t. IX. p. 1830 seq.
Nach fideren hiſtoriſchen Zeugniſſen war das Original
ber pragmatiſchen Sanction Ludwig's LX. im 15. Jahr:
Altes, Entftehfung und Jortbildung bes Chriſtenthums. 523
hundert noch vorhanden, Die Eriftenz desſelben läßt fid
jogar bi an den Anfang des 16. Jahunderts verfolgen. Bon
ba an verlieren mic bie fiere Spur des Ediktes. Die
Urfache diefer Ericheinung dürfte angefichts be8 eben an⸗
geführten furchtbaren Vernichtungsurtheils Mar fein,
unt.
5.
Gnifiehung und doribilouug des Chriſteuthuus. Mit befonderer
S:Berüdfidjtigung der griedjijden und römischen Culturzu⸗
fände Don J. 38. Allied. Autorifirte Ueberſetzung.
Münfter. Drud und Verlag der Afchendorfihen Bud:
Handlung. 1870. 332 ©. 8°,
Vorſtehende Schrift enthält eine Meine Angahl von
Borlefungen, welche an der katholischen Univerfität zu Dubliu
gehalten wurben. Der Verf. bemerkt in der Vorrede, daß
er keineswegs beanfpruche, ven Gegeujtanb, ben ev fuf zum
Vorwurf genommen, vollitändig zu erichöpfen, bab biefer
Band nur ein Theil eines größeren Werkes εἰ, deſſen Ver⸗
öffentlichung ihm einftweilen gerathen ſchien. Wir müſſen
beifügen, daß er Inhaltlich etwas Anderes lieferte, af2 er
burch den Titel anzudeuten ſchien. Das Buch tjt nicht, wie
man annehmen follte, eigentlich Hiftorifcher Art; es enthält
vielmehr, abgefehen von der Snauguralvorlefung, bie von
ber Philofophie der Gefchichte handelt, religidg-fittliche und
fociale Betrachtungen mit befonderer Betonung ber Punkte,
in denen ba8 Chriftenthum zum Heidenthum im Gegenjatg
fteht und einen Fortſchritt gegeniiber demjelben begründet.
Der Titel würde bober beffer etwa jo lauten: Ehriftenthum
524 Allies,
unb Heibenthum auf bem Standpunkt ber Religion, Moral
und Societät. Schon eine kurze Inhaltsangabe dürfte dieſes
zur Genüge zeigen. Die Borlefungen handeln nach ber vom
Verf. fefbit gegebenen Meberfchrift 1) von bent Untergang bet
alten Welt; 2) von der Wiedergeburt des individuellen Wien:
chen; 3) vom Helden im Gegenjag zum Chriften ; 4) von
ber Wirkung des Chriften auf ble Welt; 5) von ber Neu:
bildung des Hauptverhältniffes zwilchen bem männlichen und
weiblichen Gejchlecht in ber Ehe; 6) von der Schöpfung
bed jungfräulichen Lebens.
Der Verf. widmete fid) feiner Aufgabe mit Liebe und
Wärme Im Beſitze einer blühenden Darftellung verftand
er εὖ vielfach den Stoff fchön zu disponiren und zu grup-
piren unb eine anziehende und intereffante Lectüre zu liefern.
Man wird daher dad Buch mit Vergnügen lejen und δα
größere gebildete Publikum wird basfelbe aud) nicht ohne
Nuten in die Hand nehmen. Die Ueberfeßung ift nicht
frei von einzelnen Härten und Unrichtigfeiten, Tann aber
doch im Ganzen als befriedigend erflärt werden. — Indem
wir bieje$ mit Freude anerkennen, find wir im Intereſſe
ber Vollſtaͤndigkeit unſeres Urtheild doch auch genöthigt zu
bemerken, daß bie Wiffenfchaft ala joldje feine Bereicherung
durch die Arbeit erfuhr. Die Schrift entbehrt tieferer
SOuelfenjtubiei und beruht vorwiegend auf bereit? vorhan-
benen Bearbeitungen. In einigen Partien it ber Verf.
mit feinen Auseinanderfegungen ober Meditationen zu breit;
in anderen vermiffen wir bie volle Gründlichkeit und
Sicherheit; bisweilen überwuchert die pathetifche Phrafe
zu jehr den geichichtlichen Thatbeſtand. Die Diagnoſe ber
antiken Welt fonte z. B. noch gründlicher geftellt werben.
Die Entwielung be8 Cölibatsgeſetzes C. 297 ijt wenn
Entftehung und Fortbildung bes Chriſtenthums. 525
nicht unrichtig, |o doch zu ungenau angegeben. Der Hin:
weis auf dad Klofterleben ant Ende ded 15. Jahrhunderts
(S. 321) ijt wenig geeignet, um die Erhabenheit und Bor:
trefilichfeit der Virginität darzuthun, Beſonders aufgefallen
ijt e8 ung, daß der Verf. auf den wichtigen Gegenjag nicht
näher eingegangen ift, ber bezüglich des menjchlichen Verhal-
ten? zur materiellen Güterwelt, zu Beſitz unb Eigenthum,
zwijchen dem Chriftentbum und Heidenthum befteht. Daß
diefer Punkt für ba8 vom Verf. behandelte Thema von
hoher Bedeutung iit, ijt am fid) einleuchtend und wurde be-
reit2 von Juſtin Apolog. I. c. 14 augbrüdlich hervorge⸗
hoben, in einer Stelle, in ber der Fortjchritt der chriftlichen
Welt über bie vorchriftliche fura, aber treffend gezeichnet tjt.
Worin aber ber fragliche Unterjchied befteht, iſt aus bem
bem Verf. wohlbefannten Werke Döllinger® Heidenthum
und Judenthum ©. 722 ff. zu entnehmen (vgl. Qu.⸗Schr.
1871, 427 ff). Indeſſen dürfte diefer Punkt vielleicht im
einem weiteren Bande zur Darftellung kommen.
Funk.
Cheologifdhe
Quartalſchrift.
In Verbindung mit mehreren Gelehrten
herausſsgegeben
von
D. ». Kuhn, D. 3uhrigl, D. νυ. Aberle, D. Himpel
unb D. ober,
Profefforen ber kathol. Theologie an ber f. Univerfität Tübingen.
Bierundfünfzigfter Jahrgang.
Viertes Duartalheft.
Tübingen, 1872.
Verlag ber 9. en Buchhandlung.
/
fru von ὃ. ?aupp in Tübingen,
L
Abhandlungen.
1
Neber Richtungen und Ziele der heutigen Moral⸗
wiſſenſchaft ἢ).
Bon Profeſſor Dr. Linſenmann.
Es iſt in den großen, weltbewegenden Ereigniſſen und
Kämpfen der jüngftverfloffenen Jahre beſtimmter als je er-
fannt unb ausgeſprochen worden, daß bie Kraft einer Nation
nicht allein in ihrem materiellen Wohlftand und nicht in ber
Stärke der Waffen, fondern in ber fittlichen Gefundheit unb
Tüchtigkeit be8 Volles und Staates ruhe; und e8 tft heute
mehr alà je zu einem allgemeinen Intereſſe aller Denkenden
geworben, bie Machtverhältniffe urb Eulturzuftände unter
bem Geſichtspunkt ber Völfer-PBiycholegie und Moral zu ver:
gleichen und zu beurtheilen. Um jo mehr darf bie Wiffen-
fchaft ber Moral fid) Anfehen und Einfluß verfprechen, wenn
fie ihre Aufgabe richtig erfaßt, wenn e8 ihr gelingt, ben
1) Cie akademiſche Rebe.
860"
530 Linſenmann,
Pulsſchlag des öffentlichen Lebens zu beobachten, bad Ge⸗
wiſſen ber Volksſeele zu belauſchen, bie ſittlichen Strömungen
kennen zu lernen, welche durch unſere Literatur, Wiſſenſchaft
und Kunſt gehen, den Quellen der wahren ſittlichen Kraft
nachzufpüren und bie Ziele zu zeigen, auf welche eine ge-
funbe Entwiclung bed Volkslebens hindrängen muß.
Mir Theologen Lönnen jedoch an bieje Aufgabe nicht
ohne eine gewiſſe Vorficht gehen. Es ijt wohl nicht ganz
wahr, was man zuweilen gejagt Dat, daß man nämlich um
fo mehr von feinen Sougenben,rebe, je weniger man beren
befige; und εὖ wäre ungerecht, das Gute, bejjen unfre Seit
und unfre Nation fid) rühmt, aus dem Grunde zu läugnen,
weil Manche unter ung in eitler und geichwäßiger Selbft-
überhebung über bie Sitten anderer Zeiten unb anderer
Völker befangen und jelbitgefällig abfprechen. Aber die mo:
ralifirende Tendenz, welche fid) in einem großen Theil ber
heutigen Literatur bemerklich macht, velat zu einer Verglei⸗
hung früherer Epochen der Literatur: und Eulturgejchichte
und legt die Beobachtung nahe, daß ziemlich regelmäßig bie
moralifirenden Richtungen in Theologie, Philofophie, Sorte
tätöwifjenjchaft u. j. m. in einen folchen Zeitpunkt fallen,
in welchem bie pofitive Theologie darnieberliegt und die Dog⸗
men und Gejege bed Offenbarungsglaubend einen großen
Theil ihres Einfluffes auf bie Gejellfchaft im Großen und
Ganzen eingebüßt haben. Man moralifirt, weil man
mit ber berrjchenden Form des religidfen und firchlichen
Bewußtſeins gebrochen bat, und weil man fid) diefed Bruch?
unb der Verantwortung dafür bewußt ijt. An bie Stelle
be2 alten Glauben? tritt die Moralphilofophie. Diejenigen,
welche gegen die herrſchenden theologifchen Syiteme im In—
tereſſe der Aufklärung ankämpfen, fuchen fid) vor bem ben-
Richtungen und Ziele ber Moralwifienfchaft. 531
enden Theil der Nation zu legitimiren, indem fie zeigen,
baB ber Bruch mit den herrichenden veligiöfen An-
Ihanungen nicht zugleich ein Bruch mit den unverbrüch-
lichen Forderungen be8. ſittlichen Leben? fet; unb wenn
wir den relativen Werth einer neuen Richtung nach ihren
Erfolgen beurtheilen dürfen, jo läßt jid) der Einfluß 3. 99.
ber fog. Aufflärungdmoral feit bem 17. Jahrhundert
auf das Eulturleben ber Gegenwart nicht gering anfchlagen.
Sn England, von wo biefe Moral ihren Ausgang
nahm, hatten die religidg=politifchen Kämpfe zwifchen ber
bifchöflichen oder Hochfirhe und bem Puritanerthum lange
Zeit das öffentliche Leben beherrjcht, bis enblid) mit Cromwell
die Puritaner über Hochkirche und Königthum fiegten und
eine rigoriftifche Weltanfchauung in ber öffentlichen Sitte,
in Theater, Xiteratur u. |. mw. fid) oorbrüngte. Da man aber
bald des Catonenthums der Erommwell’fchen Epoche überbrülfig
ward, überließ jid) in einer leicht begreiflichen Gegenftrömung
gegen ben puritanifchen Zwang die Geſellſchaft bem religidfen
Indifferentismus und einer fittlichen Ungebundenheit und
Trivolität. Dagegen waren ἐδ die Deiften, welche, bei aller
Echwäche ihrer philofophiichen Grundlagen und vielleicht 2115
weilen blos mit affeftirtem fittlichem Ernſte, bie fittlichen
Ideen der Freiheit, Humanität, Toleranz Dod)
hielten, und damit eine Saat außftreuten, deren Früuͤchte
Tchlieglich unter jeder Sonne reifen müfjen.
Aehnlich in Frankreich. Während bie eigentlich
ftreitbaren Parteien auf dem Gebiete be8 pofitiven Glaubens,
bie Janſeniſten und bie firdjfid) ftrengen Anhänger ber
Bulle Unigenitus wie tobmüde Opfer erjchöpft auf ber
Arena blieben, und bie Reihen ber Theilnchmenden und
Zuſchauenden, ohne dad Ende abzuwarten, ſich lösſten und
532 Linfenmann,
zerftreuten; während bie große Menge verbroffen ober gleich-
giltig über den theologiichen (aber hinweg zum heitern finn-
[iden Lebensgenuß eilte und fid) am Anblick der arijtofra-
tiſchen Ausfchweifungen im Zeitalter des vierzehnten Ludwig
weidete und ürgerte, ba war der Boden bereitet für eine
moralifirende Literatur, welche ber zmanzigjährige Voltaire
(a. 1713) inaugirirte mit einer Dde über ben ftaatlichen
und fittlichen Verfall Frankreichs.
Und wer möchte Täugnen, daß man eà aud) in Deutſch—
[anb bem lleberbruB am der theologifchen Polemik zuerft
zwifchen den großen Heerlagern ber. Katholiken, Zutheraner
und Neformirten, und Später ber einzelnen Schulen unter
fi zugufchreiben Dat, menn man das Auftreten eines Tho—
maſius, &eibnig, Wolffen. 9. al8 eine Art von Be
freiung empfand? Die Gefchichte unfrer ganzen neueren
Literatur und ber Bildungskämpfe im vorherrichend prete
ftantifchen Deutfchland macht es begreiffid), warum biß in
unfre Tage berein die Vorftellung jo mächtig und verbreitet
ijt, e [εἰ gerade ber Dogmatismud und ber Eonfef:
fionalismus ber wahren Entwillung ber Moralität
Dinberfid), und e8 liege ber Triumph be2 Geiſtes darin, bap
bie Cittlid)feit unabhängig geftellt voerbe von den Dogmen
einer geoffenbarten Religion.
Diefe Vorftelung muß auf ihren wahren Gehalt zurüd-
geführt werden. Es iſt nicht bie ächte und gründliche Theo:
logie, ſondern eine einjeitig erftarrte Theologie, welche außer
Brod gejet zu werben fürchtet burd) ben Sieg einer freiern
philofophiichen Bewegung. Wer an wahrer Aufklärung at:
beitet und für Geiſtesbildung, Geiftezfreiheit und Völkerfrei⸗
heit veblich füntpft, ber arbeitet mit und unb für ung. Moͤgen
e$ auch dunkle unb verworrene Gänge fein, auß benen mad)
Richtungen und Ziele ber Moralwiſſenſchaft. 533
und nach das edle Geſtein zu Tage gebracht wird, Alles
was edel und ächt iſt, wird ein dauernder Gewinn für die
Religion und damit für die Theologie. Kant, in ſeiner
Schrift über den Streit ber Fakultäten, bemerkt einmal über
ben ftolzen Anspruch ber Theologie, bag bie Philoſophie ihre
Magd ſei, man koͤnne fid) diefen Anfpruch immerhin gefallen
faffe; nur [εἰ bie Frage, ob bie Magd ihrer gnädigen Frau
die Tafel vortrage oder bie Schleppe nadjfrage. So laſſen
aud) wir ed und gefallen, wenn eine jolibe wifjenjchaftliche
Forſchung, Gedanken anregenb und Licht verbreitend, ung
zur Hand geht; leicht möchte fid) dabei herauzftellen, bap
gerade bie Moraliften unter ben Philojophen bei ber geoffen-
barten Religion, ohne e8 zu wifjen, borgen giengen, wenn
fie een wahrer Humanität und Aufklärung in Umlauf
fegten ; ich erinnere nur an bie erft in neuerer Zeit nahezu
durchgeführte, aber wejentlich vom Chriſtenthum verkündete
und geforderte Abſchaffung der Sklaverei.
Wenn dennoch zwifchen ber Theologie und der fort:
fchreitenden Entwiclung ber fittlihen Ideen ein Conflikt zu
Tage tritt, fo ift es billig, daß auch bie Theologie fid) felbft
prüfe, ob fie ihre Aufgabe richtig erfaffe und fie zu loͤſen
die Kraft habe.
Die Theologie trägt von Haus aus den Charakter des
Confervatismud, und Ipeziell gilt dieß von ber fa:
tholiſchen Theologie, welche fid) nicht vom fichern Boden
ber Tradition und ber gegebenen Verhältniſſe verdrängen
[affert darf. Die Kirche als Hüterin der bejtehenden Orb:
nung und be3 beſtehenden Rechts ijt empfindlich gegen neue
Bewegungen und Störnngen im Reiche ber Ge
banfen, mte im politifchen und foctalen Xeben;
und εὖ ift dieß πο nicht einmal jpegtftid) kirchlich, ſondern
534 Linſenmann,
allgemein menſchlich; wir Alle tragen etwas von dieſem
Conſervatismus in uns; jede neue Mode, jede neue Form
des Luxus, um ſo mehr jede neue Rechtsform verletzt in
einem gewiſſen Grade unſer ſittliches Gefühl; iſt aber die
Mode einmal Sitte geworden, ſo trennen wir uns wieder
nur mit einer Art von ſittlichem Kampfe von derſelben.
Der Kirche aber und mit ihr der Theologie iſt der
Conſervatismus von der Vorſehung zugewieſen. Wohin ſollte
es kommen, wenn uns nichts von dem Beſtehenden mehr
heilig wäre? Wohin, wenn wir nicht berechtigt wären, an
bie wechfelnden Meinungen be8 Tages einen fejtem und un-
veränberlichen Maßſtab anzulegen? Uber in dem Berufe,
bie Meberlieferung zu bewahren und bag Beftehenbe heilig zu
halten, liegt eben auch die Verſuchung zu jener falſchen
Selbſtgenügſamkeit, bie fid) an bie bürre Hülfe hält
und barüber das befruchtende Korn verliert; fie Hebt an
Formen, deren tiefern Grund und Gehalt fie nicht erfaßt;
fie hält theglogifchen Hader und engherziged Wortgefecht für
geiftigeß Leben, Bewegung unb Kortichritt, und verlegt in
fried- und lieblofen Sànfereien, Verbächtigungen und Keber-
gerichten das fittliche Gefühl ber eblevem Naturen. So ge-
ſchieht εὖ, daß bic Theologie zurücbleibt und bap fie in
demſelben Verhältniß, αἰ ihre fpefulatioe Kraft im Aufbau
ber Syſteme erfchlafft, auch aufhört anregend zu wirken für
Eutwicklung ber fittlichen und focialen Sbeen ; ait ihrer Statt
find εὖ bie Philojophen, Politiker, Nationaldfonomen, welche
bie been aufgreifen und dann in ihrer Gegenftellung gegen
bie Theologie ihrerſeits wieder über bie vechte Linie hinaus—
getrieben werden. Die jeweils herrfchende theologische Rich—
tung, im Befig ihrer Macht und vertrauend auf bie Weber:
legenheit ber Aufterität, ſtemmt [id ber allgemeinen Eultur=
Richtungen und Ziele δὲς Moralwiſſenſchaft. 535
bewegung entgegen, unb ba bie Außenftehenden ihre Stimme
nicht hören, fo läßt fie ihr Webergewicht um jo härter bie:
jenigen fühlen, welche tm eigenen Lager Religion und Eultur-
fortichritt zu verfühnen fuchen. Dieſe Theologie tft mächtig
gegen ihr eigen Tleifch und Blut, aber ohnmächtig gegenüber
den großen focialen Fragen ber Zeit.
Sch greife au2 ber Gejdjidjte ber Tatholiichen Moral
zwei Erfcheinungen heraus, in welchen ein feindlicher Zu-
fammenftoß verfchiedener theologifcher Richtungen erfolgte.
Suerft Pascal in feinem Kampf gegen die Jeſuiten⸗
moral feiner Zeit. Jedermann fennt das brillante Gefecht,
welches Pascal in ben Provinzialbriefen gegen bie jefwitifche
Caſuiſtik eröffnete, und fein Erfolg war infofern nicht gering,
als auch die römiſche Kirche (td) veranlaßt jab, beftimmte
Ausſchreitungen des erceffiven Probabilismus abzuwehren
und zu cenfuriren. Dennoch wird bie Bebeutung Pascal
für die Entwicklung ver Moral meift weit überſchätzt. Er
hatte ber Einfeitigkeit feiner Gegner, bie er bitter genug
geijelte, nur eine andere Einfeitigkeit entgegenzufeßen; feine
ſteptiſch angefräntelte Philoſophie und trübe rigoriftifche Welt-
anſchauung fonnte ihn nicht zum Vorkämpfer einer freien
und großen Fortichrittöbewegung machen. Gegenüber feiner
Praufbaft afcetifhen Weltfludhtmoral war bie
Lehre ber Sejuiten bie mevftbütige, weltläufige,
verftändige Sittenlehre, die freiere, fortfchritt-
[ide Weltauffaffung Sie Sefuitenmoral ijt. zwar
nicht an fid) fortfchrittlich, aber’fie wußte fi anzubequemen,
fie war nadjgiebig und verfähnlich ; fte betrachtet den Fort—
ſchritt der Eulturverhältniffe, wie ihn die Gefchichte ber .
neuern Zeit aufweist, als Schwäche, aber fie rechnet mit
biefer Schwäche unb erträgt fie. Trotz ber vielen bem An-
536 Linfenmann.
griff blosgeſtellten Seiten ſtand die Sejuitemnoral damals
höher als bie Pascald. Ihre Pofition war durch biefen
Kampf nur befeftigt worben.
Näher an unferer Zeit unb inniger vermadjjen mit
beuticher Art und beutfchem Geifte ijt das Auftreten und
bie Wirkſamkeit eine8. Mannes, ver einſtens zu den Sievben
unjrer Hochſchule gehörte und beffen Andenken zu erneuern
mir als einem feiner Nachfolger auf bem Lehrftuhle heute
bejonders aujtebt; e8 ἢ Johann Baptift Hirfcher.
Hirfcher gehörte nicht zu denen, welche fid) vom Glanz
des rationaliftiichen Zeitalter blenben Tießen; ihm jchmerzte
vielmehr ber Anblick der Verftörung, welche eine feichte, auf
halbes Wiffen und oberflächliches Denken gegründete Auf:
Härung im Lirchlichen und fittlichen Leben hervorgerufen
hatte. Der Bruch mit den kirchlichen Traditionen hatte, wie
er fid) fagen mußte, mit bem Abfall vom Glauben überhaupt
geendet. So gewiß nun nach feiner Meberzeugung das Heil
für bie fittlichen und focialen Schäden allein im Chriften-
thum zu finden, fo entjchieden betonte er, daß e$ ber Welt
an einer wahren, Geijt und Herz bewegenden Erfenntniß
von Chriſtus und feinem Reiche fehle; und er ſuchte
bie Urfachen, warum ber wahre chriftliche Glaube jowenig
gefannt unb woirfjam jet, nicht etwa mur in Äußerlichen
ftörenden Einflüffen, fondern in den hriftliden
Schulen felbft und in der Art und Meile, wie chrift-
lide Lehre und Sitte in den Schulen erfaßt und verkündet
werde; unb fo warf er einen prüfenden Blick auf den Stand
ber Theologie feiner Zeit, ber ihm ein unglüclicher zu fein
fchten. Was er von nun an, von feinen früheften literaxt-
iden Arbeiten an bis an ben Schluß feiner langjährigen
Lehrthätigkeit, befämpfte, dag war ihm die Scholaftil in
Richtungen und Ziele der Moralwifienfchaft. 537
ber Geftalt, wie fie damals nod den größten
Theil der theologifhen Schulen mehr oder
weniger beherrſchte. An ben Namen der Scholaftik
knüpfte jid) damal? Alles, was an Formelkram, oberfläch⸗
licher Lehrweife, dürrer Dogmatifirfucht, Aeußerlichkeit in
Religionsübung und Kirchenzucht ftehen geblieben war, wäh—⸗
vend fchon längſt ber Geift der Aufklärung bie ftrebfameren
Köpfe eingenommen und ben größten Theil ber gebilbeten
Welt der pofitiven Religion und der Kirche entfremdet hatte,
Darum war ihm der Kampf wider bie alte Schnle
oder die Scholaftil und bie Wiedererweckung de?
Hriftlihen Studium? im Geifte einer beffern
Borzeit eine? und daſſelbe. Der Schwerpunft aber fag
ihm auf ber etbijd) praktiſchen Seite der chriftlichen Lehre.
Bon Seite der Moral aus wollte er dag ſcholaſtiſche Lehr⸗
ſyſtem erjchüttern.
Man liebt e$, zwei Hauptrichtungen Tirchlicher Mora:
liſten als caſniſtiſche und ſyſtematiſch-wiſſenſchaft⸗
liche einander gegenüberzuſtellen, als ob in der verſchiedenen
Methode auch je eine beſondere Geiſtesrichtung ſich ver⸗
körpere. Aber ſo ſtand die Sache nicht zu Hirſchers Zeit,
und jo ſteht fie an: heute nicht. Die Caſuiſtik, obwohl zu
gewiffen Zeiten einfeitig und fo vecht Daubmerfémápig ge⸗
pflegt, galt bod) niemalà anstatt ber wifjenfchaftlichen 9Dtoral ;
fie hat ihre eigenthümfiche, auf das Gebiet der Bußdiſciplin
begrenzte Bejtimmung und hat bier jo gut Sinn und Bes
vedjtigung , wie εὖ in ber Jurisprudenz unb ber Mebicin
eine Gajui[tif gibt. Auf den Geift kommt es an, in welchem
bie Caſuiſtik gehandhabt, auf bie dogmatiſchen Grunbjápe,
auf welchen fie aufgebaut wird.
Diefer Geift aber ſchien Hirſcher damals nicht der rechte
538 Linſenmann,
au fein, vielmehr vom Chriſtenthum abzuführen. Eine geiſt⸗
Iofe mechanische Lehrmethode, ein äußerliches Kirchenthum,
mehr Difciplin ala Moral, ein finnlicher Gottesdienſt — all
ba3 war in Hirfcherd Augen Abfall von den großen Seen
bed Evangeliums, ba8 nicht gefannt, nicht in feiner Tiefe
und Kraft erfaßt war. Die Scholaftit, ein äußerliches Ge-
tippe von Lehren und Satzungen, war ohne belebenven
Geiſt; wo nurbie Sinne und die Verſtandeskräfte
thätig find, da geht δα Semüth, das eigent-
liheOrgan der Religion, leer aud; umb wo bie
Sittenlehre beim Außern Werfftehen bleibt, ba
wird ba8 Gemijfen nicht gefhärft für ble Cr
fenntniß wahrer Tugend und für ernite in
Leben eingreifende Pflihterfüllung.
Hirſcher war viel offenfiver und herausforbernber auf:
getreten al? fein Geiftesverwandter Joh. Michael Sailer,
von bem man gerne in ber Gefchichte ber Moral eine neue
Epoche datiren möchte, der jedoch wiffenjchaftlich keineswegs
bahnbrechend geworben tft, menm er aud) durch feine Geiſtes⸗
art in hohem Grade anregend gewirkt hat. Hiricher aber,
dag konnte nicht unvermerkt bleiben, war aud) jchon nahe
an ber Grenze ber Kirchlichkeit angefommen, und e8 bedurfte
einer febr wohlwollenden und milden Auslegung, wenn man
feine Entgegenfegung von Kirchenthum und Ehri-
Rentbum und feine Reformvorjchläge zur Ber
bejjerung be8 veräußerlidten Kirchenweſens
ihm nicht aum vernichtenden Vorwurf machen follte. Jedoch
hatte Hiriher die Stimmung ber Zeit für fij; feine Ab—
handlungen und Kritiken zündeten, und feine Moral, fein
Hauptwerk und die wiffenjchaftliche Zufammenfafjung feiner
almählig gereiften Weltanfchauung, erlebte in Furzer Zeit
Richtungen und Ziele ber. Moralwifienfchaft. 539
5 Auflagen; man verehrte in ihm einen Erneuerer chriſt⸗
licher Moralwifienfchaft und erkannte in feinen Anwetfungen
für Verwaltung ber Cecfjorge, in feinen Beſtrebungen für
Kanzel und Schulunterricht ven Geiftegmann, der au8 ber
Tülle be8 Herzen? fchöpfte Und in ber That Spricht aus
feinen Schriften eine folche hriftlich burchgebilbete Seele und
jo viele geiftige Erfahrung, daß e8 aud) ben entſchiedenſten
Gegnern nicht gelang, feinen Namen und Charakter angue
taften. |
Dennoch ijt bem heutigen Geſchlecht Hirſcher's Geift
und Richtung fremd geworben. Und e8 ijt nicht etwa ein
Veberholen, ein Weiterbilden ber von ihm angeregten been ;
wir find, menn wird nach der großen Maffe nehmen, kaum
in einigen Gtüden über Hirfcher hinaus, in bebeutenden
Punkten aber hinter ihn zurücgelommen.
Der Umschlag erfolgte ziemlich raſch; mit leichtem Herzen
legte ba8 jüngere Gefchlecht Hirſchers Moral aus ber Hand;
und ble neue ober eigentlich alte Moral, bie man ihm
bot, machte auf dafjelbe ben Eindruck ber Befriebigung ähn⸗
lich wie bei jenem Schüler im „Fauſt“: „Das ftebt fchon
bejjer aus! Man fieht bod) mo und mie?"
Es war wieder die traditionell pofitive Moral; e8 war
wieder Caſuiſtik. Diele hatte für jeden Begriff eine fertige
Definition, für jede Frage eine prompte Antwort, für jebe
Schwierigkeit eine feine Deftinktion, für jeden Gewiſſens⸗
jerupel eine Löfung, für die Bußpraxis einen Schlüffel, ber
das Herz bis zu ben innerjten Falten aufichloß und bem
bußfertigen Gbrijten die Zunge löste.
Das hatte bie Moral eined Sailer und Hirſcher nicht
geboten und überhaupt nicht ble Moral aus der Aufflärungs-
zeit; und darin lag wirklich ein Mangel; [ie blieb bel all⸗
540 Linfenmann,
gemeinen &ütgen ftehen, fie Id2te nicht jene Conflikte des
innerlichen beichaufichen Chriſtenthums mit den Anjprüchen
bed thätigen Weltlebend; fie fuchte wohl bie Gewiflen zu
ſchärfen und an bie Religion zu binden, aber fie vermochte
nicht bie praktiſchen Lebendaufgaben in mitten ber. Verwid-
lungen der politifchen unb fociafen Kämpfe in ein bejtimmtes
Pflichtgebot zu foffen und zu formufiren ; fie überließ ben
Einzelnen zu fehr ὦ jelbft, jeiner eigenen Einficht, feinem
eigenen Gewiffen; e8 fehlte bie Cafuiftil. Aber das war
nicht das Entſcheidende.
Hirſcher hat die Schwäche ber herrſchenden Theologie
erkannt aber nicht überwunden; darin Tiegt — ich möchte
fagen dad Tragiſche feines fruchtlofen Kampfes. Cr kannte
bie überlieferte Theologie nur in ihrer ſchwächſten, durchaus
unfpeculativen Darftellung, ble damals ble jcholaftifche hieß;
und weil ihm bieje Art von Scholaftit nicht genügte, ſchloß
er fid) ab gegen jede jpeculative Darftellung der Theologie
und erkannte in ber Scholaftit überhaupt ein Verderbniß
ber Religion. Ihm war e3 ein Irrweg, wern bie Theologie
bie evangeliichen been in feite Begriffe, Dogmen,
umjeßte, wenn man Symbole, Slaubendfäße, ar
παῖ der Schriftworte zum Ausgangspunkt der Lehre
nahm. So entjtand ein Mißverhältnig zwifchen bem Hirfcher-
iden Religionsſyſtem — denn als folches ijt feine Moral
angelegt — und bem in ber Kirche überlieferten pofitiven
Lehrſyſtem, obgleich Hirfcher mit feiner ganzen Perfönlichkeit
jo feft und fidjer in ber Tatholifchen Kirche wurzelte, bof
feine Schriften als Apologien ber. chriftlichen Grunddogmen
gelten fonnten und feine fpätere Unterwerfung unter bie
kirchliche Cenſur ein Alt aufrichtiger Hingebung war.
Als nun aber eine neue fpeculative Theologie oder
Richtungen und Ziele der Moralwifjenfchaft. 541
vielmehr eine Erneuerung und Weiterbildung einer ältern
befjern Schofaftit fid) Bahn brach, da fühlte man wieder
mehr heimatlichen Boden unter den Füßen; man fand fid
„voteber geiftig verbunden mit den großen Denfern früherer
Jahrhunderte, mit den großen Theologen des Mittelalters,
bie jept wieder gu Ehren. famen ; bie Theologie wurde poft-
tiver, oder — wie man fid ausdrückte — kirchlicher; und
auf biejer Grundlage, im Anſchluß an bie Syfteme früherer
Jahrhunderte, namentlich des Hl. Thomas von Aquin, ent-
ftand eine neue Moralwiſſenſchaft; ſie war im Stande und
berechtigt, Hirjcher zu verdrängen, weil jte über ihn hinaus⸗
führte. |
Wenn id) einen ber Männer, welche eine bejfere Theo⸗
[ogie einleiteten, nennen ſoll, fo jol e Möhler fein, nicht
nur weil aud) er gleichzeitig mit Hirfcher unferer Hochjchule
angehört bat, jondern weil er, wie wenige Anbere, ein
reiner Typus diejer tiefern, idealern Ric:
tung ijt; und er ijt bie noch bejonberà dadurch geworben,
baB er aus der Aufflärungdgeit und nicht αὐ den alten
Schulen hervorgegangen ijt, und baB nicht der Gola
ftiler in ihm, fondern ber Geſchichtsforſcher οὗ war,
ber ben frifchen Hauch neuen Frühlings in das thenlogifche
Studium gebracht und die Theologie wieder an bie befjern
Traditionen früherer Jahrhunderte angefnüpft Dat.
(68 ijt jeitbem Vieles gejdjeben, um e8 gu einem fröh:
lichen Gedeihen biejer neuen geijtigen Bewegung nicht fommen
zu lafjen. Eine jede ibeafe Richtung hat ihre Feinde ſchon
weil fie geiſtige Anftrengung und Opfer fordert; die Menge
zieht die leichteren Wege vor; unb unter denjenigen, welche
im Befiße ber Macht find, fehlt es nie an engherzigen Be⸗
fürdtungen, es möchte ein freierer Flügelſchlag des Geiſtes
542 Linſenmann,
auf gefährliche Pfade tragen; man fürchtet fidj fo ſehr vor
den Erceflen geiftiger Treiheit, bag man ben Geiftern Tieber
etwas weniger Schwung unb etwas mehr Behaglichkeit wünſcht.
Doch ich brauche ja diefer verehrten Verſammlung nicht zu
jagen, was Reaktion ijt. Durch fie erhielt unjere Wiffen-
ſchaft eine rüdläufige Bewegung; man drängt uns wieber
auf den verlaflenen Standpunkt ber bürren Scholaftif. Und
baber ble Jeſuitenmoral.
Wir haben e8 bier mit ber Theorie zu tun, nicht mit
jener Borftellung von Sejuitenmoral, welche auf der Gafle
läuft. Uns tft Sejuitenmoral ber Ausdruck für eine theo-
logiſche Richtung, die zwar früher war, af8 ber Sejultenorber,
aber im MWejentlichen von biejem aufgenommen und ausge
bildet wurde und heutzutage einen großen Theil der Schulen,
Lehrbücher u. f. m. beberricht.
Man läßt fid) bei ber Beurtheilung biefer jog. Jeſuiten⸗
moral meijten8 von Außerlichen Gefichtöpunften beftimmen.
Bald ijt e8 die cafuiftifche Anlage ihrer Lehr
bücher, bald ber fog. Probabili3mug, woran man
einen freilich nicht ganz ungerechten Anftoß nimmt, bald find
es einzelne ſpitzfindige Loͤſungen unmöglicher und unlösbarer
Probleme, unvorfichtig dargeftellte und deßwegen bevenfliche
und mißverftändfiche cafuiftifche Entjcheidungen.
An al dem hängt bie Sache nicht. Es fteht in ben
heutigen Xehrbüchern faum die eine ober andere Entjcheidung,
bie man nicht bei forgfältiger Berückfichtigung ber Termino-
[ogie und be8 Zuſammenhangs zurechtlegen und -wertigftend
als erträglich darſtellen könnte, unb ber eigentfichen Fehl—
griffe dürften fid) mehrere bei den Rigoriften, als bei ben
nachfichtigen Jeſuiten finden. Sodann wird e8 nicht vom
Prinzip gefordert, fondern ijt eine zufällige Abirrung, wenn
Richtungen und Ziele der Moralwiſſenſchaft. 543
bie rein äußerlich cafuiftiiche Behanblungsweife eine mehr
pfychologiſche Behandlung ber fittlichen Probleme in beu
Hintergrund brängt. Einen ftarfen Vorwurf muß freilich
auch wieder die neueſte Caſuiſtik Hinnehmen, daß fie nämlich
in ein breiteg Detail eingeht bezüglich jener Sünden, welche
nad) bem Apoftel unter Chriften gar nicht genannt werben
ſollten (Epheſ. 5, 3), umb bezüglich derer auch ber ehelofe
Priefter unb Beichtvater mehr Achtung und Vertrauen ge
winnt, wenn er fie nicht kennt, al wenn er fie fennt.
Mehr dem Gebiete ber Theorie angehörig ift ver fog.
PBrobabili3mus. Aber auch darmıter verftand man
urfprüngli nicht ein Syſtem, fondern einen praftijdjen
9totbbebelf für gewiſſe Situationen, in denen [id bie
Gewiſſen durch ben Gefegesbuchjtaben fiber Gebühr beſchwert
fühlen.
Es möge mir verftattet fein, bier mit Umgehung aller
Mittelglieder und Hilfsbegriffe den allgemeinen Gedanken be
Probabiligmus auf einen gemeinverftändlichen Ausdruck zu
bringen. Die katholifche Sittenlehre hat e8 nicht allein mit
den univerjalen chriſtlich-ethiſchen Ideen und
Grundfäben zu thun, fondern auch mit pofitiven
Gefegen, Sabungenz gleichwie fie und zur Beobach⸗
tung ber bürgerlich-jocialen Gefege verpflichtet, jo binbet fie
und auch an Firchlich-fociale Beitimmungen, ait die canones
ber Difciplin und des Kirchenrechts. Nun fieht fid) der
Einzelne leicht einmal vor einen Conflikt geftellt zwiſchen
einer legalen Beſtimmung und einer gebieteriichen Forderung
des Augenblicks. Aeußere Satzungen haben, eine zufällige,
vorübergehende Beſtimmung; es bilden ſich neue Lebensver⸗
hältniffe, e tauchen neue Probleme auf, bie fi mit bem
ftarren Geſetzesbuchſtaben nicht Löfen Laffen. Der Probabilis:
Theol. Quartalſchrift. 1872. IV. Heft. 37
544 Linfenmann,
mus nun nimmt an, baß eine freiere Auffaflung der Ver:
pflichtung gegenüber bem buchftäblichen Geſetzesgehorſam be-
rechtigt fei, fofern für diefelbe nur ein vernünftiger Grund
erbracht werben fünne. Damit aber Diebel nicht ber inbipt-
buelen Meinung und den fubjeltiven Wünſchen zu viel
Spielraum gegeben werde, weist man den Einzelnen bei
jolchen Gewiſſensbedenken an Auktoritäten, an Sachverftän-
bige, fo daß er jid) beruhigen darf, wenn er für [εἶπε freiere
Auffafiung die Anfiht aud) nur Eines jadjfunbigen Ge:
wifjengrathed oder Schriftitellerd aufbringen Tann, mögen
auch Andere rigoriftilcher urtheilen.
Man muß in der Beurtheilung diefer Auffaffung bilfig
fein und ihr nicht Ungehöriges unterlegen. In ihren Bei-
fpielen veben die Caſuiſten nicht von den unvergänglichen
und unverbrücdhlichen Geſetzen Gottes, denen man jid ἐπὶ:
ziehen könne, fonbert von veränderlihen, legalen
Satungen. Gegenüber ber Wahrheit, der Gerechtigkeit,
ber Lauterkeit u. |. v. gibt e8 feine Freiheit vom Geſetz.
Ja vielleicht haben fid) die Eajuiften am meiften baburd) ge-
ſchadet, bap fie fi) in ihren Unterfuchungen nur in Klein:
lichen Fragen, nicht in großen fortichrittlichen Problemen
bewegten. Faſt alle großen Fortſchritte in der Entwicklung
ber Menfchhett find aus gewiffen Wagniffen, kühnen Ber:
fuchen und Experimenten hervorgegangen, welche nur baburd)
möglich waren, bap man fid) mit einem Schwung geiftiger
Teiheit über eine rigoriftiiche Auslegung fittlicher Rückſichten,
über bie engen VBorftellungen der großen
Menge Binmegjebte. Wer im Intereſſe einer wifjenfchaft-
lichen Entdeckung fein Leben wagt, handelt probabiliftifch;
und das Urtheil der VBerftändigen bejtimmt fich dabei feineg-
wegs nur nach dem Erfolg; e8 fordert nur, daß er nicht
Nichtungen unb Ziele ber Moralwiflenfchaft. 545
an ein Phantom fein Leben fee, daß ber Erfolg aus innern
oder äußern Gründen wenigftend wahrfcheinlich war. Wohin
wäre es 3.2. in ber Heilkunde gelommen, wenn man niemals
ben Bann der herrſchenden Anjchauungen hätte Durchbrechen und
ein Experiment wagen dürfen? — Man muß fid) alfo nur
nicht durch eine Terminologie irre machen unb durch For-
meln beengen laſſen, und man fann bem Probabilismug
eine ganz gute Seite abgewinnen. Das Grundgebrechen
biefer Sittenlehre liegt nicht in dieſen Aeußerlichkeiten, fon=
dern in ihren wifjenschaftlichen Grundlagen.
Die Jeſuitenmoral ift ein Produkt der Spätjcholaftik,
welche fid) zur ächten fpeculativen Theologie verhält, wie bie
Sophiftit zum Platonismus. Die Erklärung und der Beweis
diefer Behauptung liegt in folgenden drei Punkten.
Der erjte ijt jene Scheidung ber philoſophiſchen
von ber theologifchen Erkenntniß, welche ihre Spitze
erreicht in dem befannten dem Pomponatius zugejchrie-
benen Paradoxon, bap ein Sab in ber Philojophie wahr
und in ber Theologie falfd) fein könne. Für bie Moral
gejtaltet ſich dieſe Theorie fo. Die Offenbarung lehrt unà,
was göttliche Geſetz ijt, aber unſer Denken vermag nicht,
und eine wiffenfhaftlihe Erfenntniß von bem
»Weſen, von der imanenten Vernünftigteit unb
Güte be8 Geſetzes zu verſchaffen; ble Gebote er
ſcheinen ung nicht anber$, denn als unbegrenzt freie Erlaffe
be2 göttlichen Herrfcherwilleng ; wir bürfen nicht fragen, ob
fie in fid) felbft gut, Ausflug einer ewigen Idee des Ethos
find; wir müfjen fie für gut anjeben, weil es Gott gefallen
bat, fie und aufzulegen; wir können nicht wiffen, ob Gott
nicht ein ganz andere Sittengefeß hätte geben Können. Da⸗
mit hätte, wer man bie volle Conſequenz ziehen wollte, bie
37”
546 .. Kinfenmann,
Vernunft für bert Gläubigen aufgehört, eine Quelle fittlicher
Crfenntuig zu fein; wir hätten nicht in unjver eigenen fit-
lichen Anlage und Grfenntnig einen Maßſtab für das Rechte
und Gute, fobald uns in den dunkeln Gängen be8 geben?
nicht mehr ber Faden des pofitiver Geſetzes zu leiten ver-
möchte. Daher wird unſer Wahrheitöbewußtfein unficher;
was wir ala Wahrheit zu beiten glaubten, löst jid) auf in
bloße Wahrfcheinlichkeiten, Probabilitäten; überall ijt Un-
gewißheit, Schwanken, Zweifel. Die Caſuiſten ſuchen bieß
auch gar nicht zu verheimlichen, fie erörtern viele Detail-
fragen pro et contra in ber Weile, daß jchlieklich bie be
jahende und bie verneinende Antwort al gleich annehmbar
ericheint.
Zweitend. Wenn ba$ Sittengefeß nicht in feiner
innern Seredtigung und Sernünftigfeit er-
tannt wird, fo erkennen wir auch feinen innern οὖς
ganifhen Zuſammenhang be(fefben; bie Gejammt-
ſumme des Sittlichen 188 jid) auf in einzelne Gebote, Gat
ungen; bie Theologie fügt fid) nicht mehr in ein Syftem,
fie befteht nur noch in einzelnen, äußerlich zufammengefügten
&raftaten, man operirt nicht mit been, jonbern mit
Lehrfägen, Definitionen unb Oiftinftionen. &
wird bie gefammte Lehre in ftehende Formen geprept; eine
herkömmliche Definition ijt maßgebend für Beurtheilung oft
ganz neuer Verhältnifje; weil man 3. 38. das Binfennehmen
aus einem Darlehen als Wucher befinirt Dat, wird mod
heute die Kapitalanlage auf Zinjen al8 ein in fid) wuche-
riſches unb unerlaubtes Gefchäft bezeichnet, bem man erft
ein Mäntelchen anhängen müſſe, um feine Blöße zu beden
und ed annehmbar zu machen. ;
Wir achten den conjervativen Geift, ber fid) in biefem
Richtungen und Biele ber Moralwiffenfchaft. 547
Streben nad feiten Begriffen und Haren Definitionen aus:
fpridt; aber wir erfennen auch eine Gefahr darin. In—
bem die chriſthiche Sitte in Lehrſätze gefaßt,
eodificirt wird, verfeltigt fie fid zu einem
Rechtsſsſyſtem; bie Kirhenfitte wirb firden-
recht; die Definitionen ber Schule erhalten
Geſetzeskraft und werden baburd unbeugfam,
bie fittlihen Seen werden unter bem Zwang
ber redtfiden Formel oder ber Rechtsentwick—
Yung niedergehalten. Wer möchte à. B. leugnen,
daß religidfe Duldung eine Acht chriftliche eee tt? Nach:
bem aber bie Glaubendeinheit ein Satz des Staatsrechts
geworben war, hatten die Theologen bie Anjchauung ber
Juriſten zu jtüßen, die Idee der Toleranz wurde unter bem
Drude be8 Geſetzescodex verfümmert. Und wie man aus
Sittenvorſchriften Rechtzfäte gemacht, jo umgab man auch
bte Rechtsſätze mit bem Charakter der Heiligkeit und Un-
veränberlichkeit, wie er nur den ewigen Ideen ber Wahrheit
und Gerechtigkeit zukommt; was in feinem Urſprunge menfd)-
liche Einrichtung war, möchte man für unveräußerliches gött-
liches Recht behandelt willen und hält darum eine Ausſoöh—
nung ber religiößcchriftlichen Weltanfchanung mit dem mo-
dernen Staats⸗ und Rechtsleben für eine Cade der Un:
möglichkeit. i
Endlih ein dritter Punkt. Da Det aller Fülle von
Vorſchriften oder vielmehr gerade wegen berfelben das Ges
jet doch zu eng tjt, um alle praftifchen Fragen des häus-
fidjen, focialen und bürgerlichen Lebens zu umfafjen, und ba,
wie jchon berührt, bem eigenen Urtheil bie vechte Sicherheit
abgeht, fo ſchwebt ber Einzelne unficher zwischen fchwerer
Gewiſſensbeänſtigung einerfeit? ober bem Libertinismus ans
548 Linſenmann,
dererſeits; dafür gibt es nur eine Abhilfe im ſtrengſten
Anſchluß an eine äußere Auktorität; ble Verant⸗
wortung für eine ſchwierige Entſcheidung wird bem δ ἐπ εἰς
gewiſſen abgenommen; man läßt ſich berathen unb unter⸗
wirft fi bem Gemeinbewußtſein der Kirche, con—
cret geſprochen dem Beichtvater, dem kirchlichen Obern ober
einem approbirten Caſuiſten.
Es liegt nun ſchon etwas Beſtechendes in dieſer Theorie;
das iſt ihre Einfachheit; der ſittliche Proceß iſt auf
wenige und leichte Funktionen reducirt; wo der Katechismus
nicht ausreicht, ba fragt man feinen Gewiſſensrath, und
biejer feine theologifche Bibliothek, und im ſchlimmſten Fall
hätte man ja Eifenbahnen und Telegraphen, um fij zu den
höchiten Auktoritäten in Beziehung zu feßen.
Diefe Theorie tjt aber aud) wirkſam unb gewinnt
Boden wegen ber relativen Wahrheit, welche ihren
einzelnen Poſitionen zukommt. Gottes Gebote find Licht
dem chriftlich durchgebilbeten, von der Gabe durchleuchteten
Gemüth; aber keineswegs laſſen fie fid) einfach auf bie vul-
gären Klugheitsregeln und Verſtandeslehren reduciren; e8
bleibt ein Dunkel in ihnen, jo gewiß fie Ausflug einer
höhern Offenbarung find; Mar wie Wafjer wirb und nie-
mal werben, was bie Chriftenpfliht von und fordert, und
vor Allen diejenigen, welche eine hohe und verantwortungg-
volle Stellung in ber Gefellfchaft einnehmen, werden ſich
nicht fo leicht mit ihrem fubjeftiven Gewiſſen abfinden
fönnen. Wie dem Juriſten die fogenannten Rechtöregeln,
[o werben auch und zumeilen Außerliche Anhaltspunkte und
Formeln erjegen müſſen, was und an innerer Sicherheit
und Klarheit abgeht. Auch wir werben un? 3. 38. in einer
ſchweren fitt(tcben Kriſis an bem Ariom orientiren dürfen: In
Richtungen unb Ziele der Moralwiſſenſchaft. 549
extremis extrema sunt tentanda, Und wenn e3 bem Beamten
nicht verargt wird, in ſchweren Lagen bei der vorgefegten Be⸗
Hörde Weifung zu fuchen und auf fie bte Verantwortung zu wer:
fen, jo kann e8 auch und nicht zum Vorwurf werben, wenn wir
ung mit denjenigen berathen, und ihnen einen vernünftigen
Gehorſam leisten, bie höher ftehen, einen weitern Gefichtäfreig
haben und nad) göttlihem und menjchlichem Recht ung Auf:
torität find.
Wir brauchen unfern kirchlichen Standpunkt nicht zu
verläugnen, um es gleichwohl auszufprechen, daß bie Ziele
der bisher gejchilderten Moral nicht die unfrigen find!
Hat bie Gtbif — ich meine biefenige, welche unjer
heutiges politifches, ſociales, Literariiches Leben beherricht —
Bat bieje Ethik fid) mannigſach emancipirt von ber pofitiven
offenbarung2gläubigen Theologie, wetl die Theologie
hinter ihrer Aufgabe zurüdgeblieben ijt, fo
kann fie ung aud) wieder zurücdführen zur Religion, Tann
ein Gorreftto abgeben für einjettig ſcholaſticirende Richtungen,
fann bie Theologie neu befruchten. Socrates, ber ble Götzen
und die Sophiften überwunden, Tann wiederum ein Führer
zu Chriſtus werben.
Es ift nicht eine nothwendige Forderung be8 Offen⸗
barungsglaubens, daß wir im göttlichen Gefe nur einen
Willkührakt des abjoluten Herrſchers erkennen follen, daß
dad Böſe aud) gut, das Gute auch böfe fein fünnte, menn
e8 Gott fo befohlen hätte. Eine folche Auffaffung freilich
ergiebt eine Moral des Abſolutismus und des [et-
benbem Geborjama3; fie verlegt den Schwerpunkt ber
Sittlichfeit nicht in das Gemijjen be8 Einzelnen,
fondern in den Geſetzesbuchſtaben und in die üu-
Bere Auftorität. Dagegen eine fpefulative Auffaffung
550 Linfenmann,
von Gottes Wefen und Offenbarung läßt und das Sitten⸗
gejeß in feinen Beziehungen zu unfrer Vernunft, in feiner
innern Wahrheit und Harmonie erkennen; und
in biejer Erfenntniß liegt bie wiffenfchaftliche Betätigung
jener evangelifchen Grundidee von ber ethifchen Frei-
heit, tole fie 3. B. der Apoftel ausſpricht mit den Worten:
„Wo aber ber Geift be8 Herren ijt, ba tjt Freiheit.” 2. Kor.
3, 17. Die chriftliche Ethik ijt nicht eine Ethik des Abſo⸗
lutismus fondern der Freiheit. Diefe Freiheit ijt Feine ge-
jeßlofe; denn eine Freiheit ohne Gejetg wäre wie ein Baum
ohne Rinde; vielmehr liegt eben im Begriff der Freiheit
bie Verantwortlichleit, bie wir in unjerm Gewiſſen tragen.
Wir Schwächen damit bie 9(uftoritàt nicht ab; e8 wird
zwilchen ihr und der Freiheit ſtets dieſelbe Antinomie θὲς
ftehen bleiben, wie zwifchen Wiffen und Glauben, Kirche und
Staat; wir werben ba lebte Wort nicht finden, welches
diefe Antinomie Töft, und e8 kann bier nicht erörtert werben,
wie weit und auf welche Gebiete die Freiheit des Einzelge-
wiſſens gegenüber der Auftorität jid) erjtredt. Aber εῷ
liegt in der Natur der Religion, daß fie und für ein großes
Gebiet des bürgerlichen und focialen Lebens nur bie allge
meinften fittlichen Gefichtöpunfte barbietet, für Gingelent-
ideibungen aber und an unfre eigene Einficht verweilt.
Aeuperliche Mebungen kann und bie Kirche genau vor
Schreiben, gewiffe Alte des äußeren Belenntniffes, gewiſſe
Forderungen ber firchlichefocialen Ordnung; fie kann aber
nicht vorschreiben, wie ein Water feine Kinder leiten und
erziehen, zu welchem Lebensberuf er fte anleiten; fie kann
nicht vorjd)reiben, wie ber Haußvater feiner Familie vor⸗
ſtehen, feine woirtbfchaftlichen Verhältniſſe ordnen müſſe;
Richtungen und Ziele der Moralwiflenfchaft. 551
fle ann dem Bürger nicht vorfchreiben, welchen Einfluß auf
die politiichen Angelegenheiten er nehmen fol, bem Staats⸗
mann nicht vorfchreiben, welche Regierungsform die allein
gerechte fei; fie bat hiefür nur bie allgemeinen Ideen von
Gerechtigkeit, Wahrheit und Treue lebendig zu erhalten.
Wohl kann der Einzelne fid) orientiven an bem erhalten
derjenigen, bie in feinen Augen die wahren Träger be8
Hriftlich-firchlichen Geiftes find, und es wäre freilich das
Reichtefte, denjenigen, burch deren Auktorität man fid) bes
ftimmen läßt, auch die Verantwortung zu überlaffen; aber
das Keichtefte ijt nicht auch fittlich gut. Auch der Gehor:
fam muß eine frete ftttliche That fein; und felbft wer zu
leben3länglichem Orbendgchorfam fid) verpflichtet, muß am
allermeiften dieſen entſcheidenden Schritt mit voller eigener
Berantwertlichkeit thun und darf ihn fid) von Niemanben
befehlen fajfen. Die berüchtigte Theorie des Abſolutismus
vom bejchränften Unterthanenveritand, wornach die Regie⸗
rung für Alle benft und Handelt, barf nicht in bie Theo:
[ogie übergehen, wenn wir nicht von den Principien ſelbſt
abfallen wollen, wonah mit bem Geiſte Gottes ein
Geift ber Wahrheit unb Erfenntniß in und auß-
gegoſſen wird und wornach ber Glaube felbjt ein Licht
ift, ba8 unfere Vernunft innerlich erleuchtet.
Mögen auch bie Gaben ungleich verteilt fein, jo wollen
wir doch bie fittliche Erkenntniß des Ehriften nicht geringer
anfchlagen, als ber Apojtel ble ber Heiden anjchlägt, von
been er fagi, daß ihnen das Gefeb ins Herz geichrieben
jet. (Röm. 2, 15.)
Endlih ijf e8 feine nothiwendige Folgerung au$ dem
Dffenbarungsftandpunft, bag unfre Sittenlehre gebannt
552 Linſenmann,
bleiben müſſe in ſcholaſtiſchen Formeln, in einer canoniſtiſchen
Schuldoktrin. Rechtstheorien find für und noch nicht un—⸗
abünberfidje Dogmen über Gott und fein ewiges Geſetz.
Wir wollen unerjchütterlih Fuß faflen auf ben Dogmen.
Auch fie erjcheinen ber heutigen Welt hart; fie find Kiefel:
fteine, man muß aus ihnen Funken jchlagen; wir Tieben bie
Dogmen nicht wegen ihrer Härte, wir lieben fie wegen be8
Tenerd, das in ihnen enthalten tjt, wegen ber Ideen, bie
aug ihnen immer meu, immer ftrahlend, leuchtend und
wärmend, erfließen. Derjenige, welcher im Stande ijt, fid)
mit fpeculativem Geifte der Dogmen zu bemächtigen,- wirb
auch ein offene® Auge haben für bie fortjchreitende Ge-
ſtaltung ber irdiſchen Dinge; in bem Xichte, ba8 ibm aus
ber geoffenbarten Wahrheit entipringt, wird er auch an bec
neuen Geftaltung der Dinge im Staatd- und Wirthſchafts⸗
leben ba2 wahrhaft Gute und Dauernde erfaflen und er:
proben ; ihm fteht die Religion in feiner Feindfchaft zur
modernen Cultur und zum ächten Fortſchritt in Geiſtes⸗
bildung, Recht und Freiheit.
Sit e$ Rouffeau, ober find es wirklich bie Pre⸗
biger ber chriſtlichen Lehre, welche in ber muobernen
Guítur und Wiſſenſchaft nur ben fittlich « religiöfen und
focialen Rückſchritt der Völker erkennen? Wahrlich εὖ ijt
ein falfch verftandener Conſervatismus und eine tragis-fomijche
Situation, mit unmächtigen Broteften fij neben den Strom
zu ftellen, beffen Waffer nach dem natürlichen Gejege vor:
wärt? fließen! Solche Wächter des Heiligthums wiſſen e8
nicht, wie ſehr fie jelbjt den wahren Glauben an bie
hriftlihe Offenbarung uud dad Vertrauen auf bie welt-
überwindende Kraft der Hriftlichen Ideen untergraben.
Nichtungen und Ziele der Moralwifienichaft. 553
Ahnen tft e3 nicht genug an ber Wahrheit, welche der Ur⸗
heber und dad Haupt unfrer Kirche geoffenbart; fie jeben
ihre Zuverficht auf Viftonen, Zeichen und Wunder; und
wenn bie irbijden Dinge fid) ihren MWünfchen nicht fügen
wollen, jo rufen fie nach ben göttlichen Gerichten. Zeichen
am Himmel wollen fie deuten, die Zeichen der Seit aber
können fle nicht verfiehen! (Matth. 16, 1—4.)
2.
Bel und der Drake. Dan. Gay. 14.
Bon Prof. D. Wiederholt in Hilbesheim.
Nachdem id) früher in ber Quartalfchrift bie Mechtheit
und Glaubwürdigkeit ber beiden erjten -beutero = fanonijdjen
Zuſätze 2. B. Daniel nachgewielen habe, [εἰ e8 mir geftattet,
auch den [fegten, die Erzählung von Bel und bem Drachen,
einer Ähnlichen Beſprechung zu unterziehen. Während bie
Hauptichwierigkeit in der Gejchichte der Sufanna in bem
Nachweiſe bejtand, daß fie in hebrätfcher ober chaldäifcher
Sprache verfaßt fei, und von dem Gebete be8 Azarias und
bem Hymnus ber drei Männer gezeigt werden mußte, daß
fie zu der Seit und der Situation paflen, in welcher fie
gefprochen wurden, find e8 in bent lebten Sujate haupt:
ſächlich hiſtoriſche Angaben, deren Nichtigkeit in Zweifel ge:
zogen und von denen zu beweifen ijt, daß fie mit der und
bekannten Gefchichte wohl vereinbar find. Es wird nämlid
in ihm berichtet, daß der Perſerkoͤnig Cyrus den Gott ber
Babylonier, Bel, eifrig verehrt und feinen Tempel täglid
befucht habe. Er forberte auch den Propheten Daniel,
welchem er fein ganzes Vertrauen gefchenkt fatte und ber
ber erjte feiner Freunde war, anf, gleichfalls den Bel an-
Bel und ber Drache. 555
zubeten. Als er beffen fid) weigerte, weil derſelbe ein tobter
Götze jet, verlangte ber König von den Prieſtern beffelbert,
ἤϊε jollten beweifen, daß er ein lebendiger Gott fel und bie
Speijen verzehre, welche ihm täglich in großer Menge vor-
gelegt wurden ; er bebrobte fie mit dem Tode, wenn c8 ihnen
nicht gelänge, im anderen Falle aber follte Daniel jterben.
Im Vertrauen auf die verborgenen Thüren, durch welche
fie in den Tempel kommen fonnten, machten jte ihm ben
Borichlag, er felbit ſolle ba8 tägliche Opfermahl vor ba$
Bild des Bel hinfegen, den Tempel verjchließen und
verfiegeln, und am anderen Tage nachiehen, ob «8
nicht verzehrt ſei. Daniel aber vereitelte ihre Liſt, in⸗
bem er heimlich ben Boden mit Ajche beitrenen Tiep. Wie
fie nun des Nacht? auf dem geheimen Wege hineingingen
und bie Speifen aufaßen, ließen fie ihre Fußſpuren in ber
Afche zurüd; und wie der König am andern Morgen gunt
Heiligthum fam, erkannte er ihre Betrügerei ſowie bie Nich-
figfeit θεῷ Bel. Erzürnt ließ er fie tödten; Bel aber und
feinen Tempel überließ er Daniel, ber beide zerſtörte. —
Gbenjo überzeugte berfelbe den König von der Nichtigkeit
eine® andern Gögen der Babylonier, einer lebendigen
Schlange. Mit feiner Erlaubniß warf er ihr ein Gemiſch
von Pech, Fett unb Haaren vor, woran fie crepirle. Die
Vernichtung ber Gügen und die Hinrichtung ihrer Prieſter
erregte aber einen Aufftand ber Babylonier; und erbittert
forderten ‚fie, bap ihnen Daniel ausgeliefert werde. — In
feiner Angſt und Bedräugniß gab ihnen der König be
felben preis, worauf fte ihn in eine Löwengrube warfen.
Aber obgleich er jedjà Tage unter ven Löwen bleiben mußte
unb man fie noch dazu Dungern ließ, fo verlegten fie tu
bod) nicht. Ja Gott verherrlichte ihn noch durch ein ans
556 Wiederholt
deres Wunder; indem er durch einen Engel den Propheten
Habakuk au dem fernen Judaͤa herbeiführte, damit er ihn
ſpeiſe. Als am fiebenten Tage der König zur Grube Tam
und ihn nod) am Leben fand, erkannte er dic Macht Se
hova's und rief αἰ: Groß bift Du, Herr, der Gott Da:
niels und nicht ift ein anderer außer Dir. Er ließ ben
Propheten herausnehmen , während feine Feinde die ver-
diente Strafe erlitten.
—.. Sx Srrihümer find es beſonders, welche bie Unglaub-
würbigfeit ber Erzählung conftatiren follen. Cyrus wird
als eifriger Verehrer des babylonifchen Göten bargeftellt;
afa Perfer aber [εἰ er feim Polytheift geweien und habe
Tempel wie Götzenbilder verabicheut. Sie läßt Daniel be-
reit3 den Belstempel zerftören, während es nach Herodot,
Strabo unb Arrian früheftend durch Xerre8 gefchehen fei;
endlich wird ben Babyloniern ein Drachen oder Schlan-
gencult zugeichrieben; davon wifje aber die Gejchichte durch⸗
aus nidjt2. Wegen biejer unb anderer, weniger bebeutenben
Unrichtigketten und uumahrjcheinlihen Angaben hält man
bie Gefchichte für ganz abenteuerlich und des gefchichtlichen
Hintergrundes in hohem Grabe entbehrend“ ἢ. Man glaubt,
e8 [εἰ biefelbe Sage von ber Errettung Daniel? aus ber
Löwengrube, welche Dan. Gap. 6. erzählt wird; fie habe
fih aud) in Aegypten erhalten und unter dem Ginffuffe beà
dortigen Goͤtzendienſtes nur etwas anders geftaltet ἢ. An-
1) Fr. Fritzſche, Eregetifches Handbuch zu ben Apokryphen bes
A. Ὁ. I. 119.
2) Berthold, Hifl.sfrit. Einleitung in bie Schriften bez A. u. N. 9.
IV. ©. 1586. De Wette, Lehrbuch ber hiſt.-krit. Einleitung, neu
bearbeitet von Schwaber. ©. 511.
Bel umb ber Drache. 557
bete halten fie für eine reine Dichtung und ſchlechte Nach-
bildung jene8 Berichtes, für eine Parabel, wie ἃ, Jahn !)
meint, bei welcher die Schwierigkeiten zu äfthetifchen Fehlern
berabjünfen und von bem Verfaſſer abfichtlich eingemengt
oder nicht jorgfältig vermieden feien, damit man bie Gr-
zählung nicht für wahre Gefchichte anſähe; für eine humo⸗
riſtiſche Perfiflage ber heidniſchen Göttermahlzeiten oder
Zectifternien nach dem Ausdrucke von Merr 9), Als Zwed
der Dichtung wird. angegeben, die Nichtigkeit be8 Götter:
glauben und die Größe Jehova's zu beweiſen, fowie auch
ben altberühmten Daniel als Enthüller des Priefterbetrugs
zu verherrlihen. Da in berjelben von der Verehrung Te:
benbiger Schlangen bie Rebe ift, fo zieht man daraus ben
Schluß, fte [εἰ in Aegypten, wo ber Gult berjefben in Ue⸗
bung war, entjtanden und von bem griechifchen Ueberſetzer
be8 B.3 Daniel, wenn nicht verfaßt, jo bod) mit letzterem
verbunden.
Nac Berthold wäre [ie jogar erjt im 2. ober 1. chrift-
fidjen Sahrhundert von einem gewiſſen Habafuf Ben Jo⸗
ſchuah gefchrieben. Die Sprache, in ber fie verfaßt wurde,
fann demnach nur bie griechifche fein.
Demgemäß ijt e3 zunächſt wieder unfere Aufgabe, bie
beiden vorhandenen griechifchen verte ber Erzählung, ben
ältern der alerandriniichen Bibelüberfegung und den Jine
gern von Theobotion zu prüfen, ob fie nicht auf eine he—
bräifche oder chaldäiſche Urjchrift zurüchweifen, unb menn
bie, welcher [ie am getreueften wiedergibt. Dieſe Unter:
juchung tft um jo nothwendiger, als bie Texte nicht um-
1) Einleitung in bie göttlichen 9.8. des X. B. 1T. ©. 879 f.
2) Bibel⸗Lexikon von Ὁ. Schenkel s. v. Baal.
558 Wiederholt,
weſentlich von einander abweichen. Ließe es ſich darthun,
daß der ältere der richtige ſei, ſo würden zwei der genannten
Schwierigkeiten verſchwinden; weder jagt er, daß ber König,
welcher Bel verehrte, ber Perſer Cyrus gemejen jet, nod)
daß Daniel den Beltempel zerftört habe. Danach tit ber
Inhalt der Erzählung zu prüfen, ob er wirklich mit ber
Geſchichte im Widerfpruche (tet und fo unwahrſcheinlich ijt,
als man meint.
I.
Die Urſchrift der Erzählung.
Der Beweis, bag biefelbe Debrüijd) ober chaldäiſch ge:
fehrieben jei, wäre bebeutend erleichtert, wenn fid) die Ver:
muthung beftätigt hätte, daß noch ein Fragment berjelbeh
erhalten wäre. Raymundus Martinus theilt im Pugio
fidei €. 956 f. Edit. Carpzov. ein Gitat au8 einem
alten jübifchen Gommentar zur Geneſis, Bereschith rabba
mit, welches den Schluß der Erzählung 35:5. 27—41 in
ſyriſcher Sprache enthält. Man behauptete 5), daſſelbe fei
ber Urjchrift entnommen ; biefelbe müjfe alfo noch im 4ten
Sahrhundert, mo jener Kommentar gefchrieben wurde, eri-
{τὸ haben. Der Abjchnitt ftimmt aber weder ganz mit
bem Terte be8 Theodotion, noch mit bem ber Septuagintea
überein, dagegen buchitäbli mit bem ber jorijdjen Bibel:
überfegung; alle die Leinen Zuſätze und Auslaffungen,
durch welche bieje fid) von bem griechifchen Texte unter:
jcheidet, finden fid auch in jenem Fragmente. Es tjt darım
bie Vermuthung ?) richtiger, e8 [εἰ aus ber Peſchito an
1) Welte, Einleitung in da8 A. T. II. Abth. 8. ©. 257. ὅτ,
Deligfh, de Habacuci prophetae vita ©. 31.
2) Fr. Delitzſch, 1. c. 101.
Bel und ber Srade. 559
ben Rand ber Bereschith rabba gejchrieben und dann
burdj Zufall in den Sext gekommen. Es ift bie8 um fo
wahrſcheinlicher, als in den nod) vorhandenen Hanbfchriften
be8 Commentar’3 dag Citat nicht zu finden iſt. Auch würde
ber heilige Hieronymus, welchem die Sujáge a. B. Daniel
jo viele Ungelegenheiten bereiteten, ber bei den Juden Er-
fundigungen über fic eingog und bort lebte, wo Bereschith
rabba gejchrieben tft, jicher von ber Unterfchrift Kunde
erhalten haben, wenn fie zu feiner Zeit noch eriftirt hätte.
Lernte er bod) daſelbſt bie Driginalien anderer beutero-fa-
ποπί εν Bücher feunen.
Auch die Sprache unb bie Darftellung geben feinen
entjcheidenden Beweis für bie hebrätfche Abfaffung der Er-
zählung, wiewohl fie aud) nicht gegen fie zeugen. m Ge:
gentheil verweilen die Einfachheit und Umftändfichkeit ber
Darftellung mehr auf einen hebrätjchen Verfaſſer ala einen
Griechen; wie denn auch Frißjche eine nicht wegzuleugnende
hebraifirende Diction zugefteht. Dazu kommt ber häufige
Gebraud) von καί, mit welchem bie Erzählung beginnt und
$5. 14. aud) ber Nachſatz eingeleitet wird, bie Wiederholung
des Prongmend 3. 15, die Gonftvuftion in den V.V. 14.
' 17. 40. Und zwar tritt bie hebraifirende Diction beſonders
in bem Texte beg Theodotion 5) hervor; bie Ausdrucksweiſe
des Altern entfpricht Viel mehr bem griechifchen Sprachgeifte,
wie eine Vergleihung der citirten VV. leicht ergibt. Ins—⸗
befondere mache ich noch auf 93. 14. aufmerffam: ἤνεγκαν
τέφραν καὶ κατέσεισαν ὅλον τὸν ναόν (LXX: ὁ
δὲ Δανιὴλ ἐκέλευσε. .. .. καταστῆσαι ὅλον τὸν ναὸν
σποδῷ.) Diefe Ausdrucksweiſe ijt gang ungriechiich, er⸗
1) Nach biefem Habe ich in der Abhandlung durchgehende citirt.
Theol. Quartalſchrift 1872. IV. Heft. 38
560 Wieberholt,
Märt fid) aber [eit ala wörtliche lleberjepung aus bem $e»
bräifchen Po Hin und ber bewegen, ſchütteln, heißt aud)
befprengen und beftreuen und wird mit dem doppelten Accu-
fatio verbunden. ſ. Spr. 7, 17., Bi. 68, 10.
Um jo mehr Gewicht lege ich auf die Differenzen,
welche zwijchen ben beiden Terten beftehen. Sie find zahl-
reich und betreffen nicht bloß den Ausdruck und bie Dar-
jtellung. Die meiften berjefben find unmejentlih unb Tiefen
fi vielleicht durch bie Annahme erflären, daß Theodotion
den alerandrinifchen Text habe verbefjern, die Erzählung
zufammenhängender und anjchaulicher machen wollen, obgleich
e8 gegen feine Gewohnheit ijt und er εὖ Tiebt, fid) wo-
möglih an bie Septuaginta anzuschließen. Aber ganz at
ber? verhält e8 ji) mit dem Gingange be8 Zuſatzes. Nach
ben fegteren hat er die Ueberſchrift: "Ex προφητείας ᾿Αμ-
Baxovu υἱοῦ ᾿Ιησοῦ ἐκ τῆς φυλῆς Aevi, und beginnt mit
ben Worten: ᾿ΑΑνϑρωπός τις 7» ἱερεὺς ᾧ ἔνομα ovum
υἱὸς "fa συμβιωτὴς τοῦ βασιλέως Βαβυλῶνος. Theo:
dotion ließ die Ueberfchrift ganz weg und beginnt mit fol-
gender Weife: Kal ὁ βασιλδὺς "Aorvdyns προσετέϑη
πρὸς τοὺς πατέρας αὐτοῦ καὶ παρέλαβε Κῦρος ὁ Πέρ-
σης τὴν βασιλείαν αὐτοῦ καὶ ἦν Δανιὴλ συμβιωτής τοῦ
βασιλέως καὶ ἔνδοξος ὑπὲρ πάντας τοὺς φίλους αὐτοῦ.
Erſt in dem folgenden 93. treffen Beide Texte zufammen.
Diefe Verfchiedenheit Täßt fich nicht aus der beliebten An-
nahme einer Umarbeitung des Altern durch Theodotion et:
klaͤren.
Wenn man auch zugeben wollte, daß er, um die Er⸗
zählung mit bem B. Daniel zu verbinden, bie Ueberſchrift
weggelaffen babe, jo bleibt bod) immer noch der jonderbare
Anfang und bte beftimmte Angabe, daß Cyrus ber König
Bel unb ber Drache. 561
gewejen ijt, ven Daniel über οἷς Nichtigkeit ber Goͤtzen be-
lehrte. Viel erflärlicher wäre e8, wenn feine Worte in bem
alerandriniichen Texte jtänden, und er jo wie diefer begänne,
Dann Fönnte man jagen, er fei mit den Gebräuchen und -
Anſchauungen der Perſer befannt gewefen und habe es für
unrichtig gehalten, bag Cyrus den Bel verehrt habe, unb
habe barum die Aenderung vorgenommen. Ebenſo verhält
e8 fid) mit ber Bemerkung, die er V. 22. eingejchoben hat,
baB Daniel auch den Tempel des Bel aer|tórt habe, wäh.
rend bie Septuaginta nur die Jertrümmerung feines Bildes
berichten.
Gr mußte eine fichere Bürgfchaft von der Unrichtigfeit
dieſes Textes haben, daß er gegen feine Gewohnheit unb
entgegen den befannten Nachrichten über bie Perfer von
denfelben fo wefentlich abwich, und dieje fonnte er nur in
einer Urjchrift finden, welche er neu überſetzte. Hatte er
bieje vor Augen, fo erklären fid) einfacher und natürlicher
Weiſe bie Differenzen ber beiden Xerte, feine mehr hebrai-
firende Diction, jo wie auch der abgebrochene Eingang ber
Erzählung. Ohne Aufichluß über bie Perfonen zu geben,
von benen er vebet, fie als befannt vorausfegend, beginnt
er: „Und Aftyages wurde bei feinen Vätern beigefeßt 3c."
So wird Niemand eine Gefchichte einleiten; noch weniger
fant man annehmen, daß er abfichtlich den Altern Text, ber
einen paſſenden Eingang bat, jo umgeändert habe, Fand
er aber eine Urfchrift vor, jo war εὖ eine Forderung einer
guten Veberjeßung, daß er fie |o wiedergab, als er fie fand;
und ber abgebrochene Anfang der Erzählung deutet dann
barauf bin, daß fie ein Bruchtüc einer größeren Schrift
über ba8 babylonifche Grit oder den Propheten Daniel ijt.
| 3g?
562 Miederholt, -
Wie aud bem Gefagten hervorgeht, daß Theodotion
noch bie Urfchrift fannte, jo beweilt e8 auch, baf er bie
jelbe mit größerer Treue übevjete , als fein Vorgänger. Ihm
fallen afjo die Differenzen zur Soft, burd) welche fid) bie
beiden Texte unterjcheiden. E3 fanm aber jdjon barum nicht
auffallen, daß er den Bericht der Urfchrift veränderte, tell
er auch jonjt mit großer Willkür überfeßte, wie er e8 an
bem B. Daniel bewiejen hat. Es läßt fij indeß mit gro-
Ber Wahrfcheinlichkeit aud) der Grund aufzeigen, ber ihm
verbot, den Anfang der Erzählung [o zu fofjen, wie er ihn
vorfand. Aus Dan. 1, 21. fchloß er, daß ber Prophet nur
bi8 zum erjten Regierungsjahre be8 Cyrus gelebt habe; ba-
vum erjchien e8 ihm aud) unrichtig, baB bie Weiffagung
Gap. 10. au$ dem dritten Sabre beffefben datirt war, und
er ſetzte deßhalb in feiner Verſion ba8 erſte Jahr an. Ohne
allen Zweifel tft hierin der Grund zu erbliden, weßhalb er
den er[ten Verd be8 Zuſatzes einfach wegließ; baburd) wurde
ἐδ unbeftimmt gelaffen, unter welchem Könige die Ge:
ſchichte ji) zugetragen Habe. Statt deffen [ὥσθ er eine
Bemerkung über bie Perfon Danield ein, welche aubeutet,
bap er denſelben nicht für ben befannten Propheten hielt.
Er bezeichnet ihn als Pricjter und Sohn Abal's. Nach
Dan. 1, 3. gehörte der Prophet aber dem Stamme Juda
, und nicht dem Stamme Levi an, man fann wegen 1, 3.
nicht gerade behaupten, er [εἰ füniglidjen Geſchlechts ge
weien, da Nebucadnezar befahl, nicht bloß aus ben Gefan-
genen der Föniglichen Familie, jonbern auch anderer vor:
nehmer Gefchlechter Pagen auszuwählen, und nicht beftimmt
gefagt ijt, bap er zu jener gehörte. Auch bie Weiſſagung
Sj. 39, 7, daß bie Nachlommen des König: Ezechias Gi
uuden am Hofe zu Babylon jein würden, beweiſt jene
Bel unb bet Drache. 563
Meinung nicht, obwohl fie in der Beſtimmung Danield und
feiner Gefährten, am Hofe 9tebucabnegar'8 zu dienen, thre
Erfüllung fand. Denn fie fchließt nicht au8, daß neben
Königlichen Prinzen noch andere Sünglinge dazu erwählt
wurden. Aber jo viel gebt αἰ Dan. 1, 6 hervor, daß er
zum St. Juba gehörte. 1, 3 werben bie Gefangenen, bie
Nebucadnezar au8 Juda fortgeführt Hatte, Kinder Iſraels
genannt; 1, 6 heißt ed: Es waren unter ihnen (ben Pagen)
von ben Kindern Juda's, Daniel u. f. m.^ Da ber erjte
Name bereits ihre Nationalität angibt, [o muß ber zweite
ihren Stamm bezeichnen; und man fann nicht fagen, bag
nach der Vernichtung bed Reiches Iſrael alle Angehörigen
be$ jühlichen Reiches Juda, auch bie Priefter und Leviten
Juden genannt, und e3 demnach doch unbeftinmt jei, ob
nicht Daniel ein Levit gewefen.
Ale Verſuche, ben Widerfpruch zu Deben, welcher
zwifchen bem B. Daniel und der Angabe des alexandriniſchen
Textes der Erzählung beiteht, find vergebfid). Man kann
nicht jagen, daß ἱερούς als Weberfegung von a aud)
einen Staatsbeamten bezeichnen fünne. Wohl hat das Deb»
räiſche Wort II. Sam. 8, 18 bicfe Bedeutung; aber von
bem griechifchen [àpt fich nicht dag Gleiche behaupten, und
bie Septuaginta haben εὖ demnach an ber citirten Stelle
durch αὐλάρχη wiedergeben. Die Auskunft aber, daß ber
Prophet väterlicher Seits von Königlichen, mütterlicher Seits
von priefterlihem Gefchlecht geweſen jei, trägt zu febr ben
Charakter des Gefuchten, a(8 daß man ihr beiftinnmen könnte,
Es ift der Widerſpruch einfach anzuerkennen; unb cr be
weilt, daß ber alerandrinifche Ueberjeger ben Daniel, welcher
in der Gefchichte von Bel unb bem Drachen auftritt, nicht
für den Propheten be8 $9.8 Daniel hielt. Darum eben be-
564 MWieberholt,
richtet auch von ihm, wer fein Vater gewefen, und welde
Amt er befleivcte; er will feine Leſer erſt über bie Perjon
veffelben unterrichten. In der Geſchichte der Sufanna fe
len ſolche Bemerkungen ; obgleich er fonjt viefelbe ganz um:
geändert hat, Tpricht er doch in ihr von Daniel, ala wäre
er den Leſern voob[befannt. WBielleicht meinte ev, bap ber
Daniel unferer Erzählung ber Priefter dieſes Namens [εἰ
welcher Eſra 8, 2 erwähnt ijt.
Adgefehen von dem Inhalte Tpricht aljo alles dafür,
daß die Erzählung üt Debrüljdjer Sprache verfaßt ift. Diejer
ift e$ hauptſächlich, weßhalb man an ber griechijchen Ab-
faffung μά, Weil man wegen ber berichteten Schlan-
genverehrung glaubt, bag ber Verfaffer in Aegypten gelebt
habe, fo mußte man natürlich auch behaupten, er habe in
ber griechifchen Sprache gefchrichen‘). ine fpätere Unter:
fuchung wird zeigen, baf die Grundlage diefer Behauptung
eine unfichere ift, daß bie Babylonier ebenjowohl den Schlan-
gen göttliche Ehre erwiefen, a[8 bie Aegypter. Hier ſei
nur noch bemerkt, daß aud) bie Worte καὶ τὸν οἶνον xt-
ρᾶσας x. $8. 11. fie nicht zu beftätigen geeignet find.
Fritzſche meint nämlich, Wein mit Waſſer zu vermilchen,
{εἰ griechifche und rümi]dje Sitte, wohl nicht orientalifche,
wenigſtens nicht altjüdifche, wie mit Beftimmtheit behauptet
werden könne ἢ). Aber κδράννυμε hatte von der allgemeinen
Gewohnheit, Wein unb andere geiftige Getränfe durch
Mafler zu temperiren und in größerer Quantität trinfbar
zu machen, geradezu bie Bebeutung von ,einjdjenfen^ be
kommen; und nidht3 hindert, ο auch bier jo zu überjegen.
1) Fritzſche 1. c. 121.
2) 1. c. ©. 148.
Bel und ber Drache. 565
SmbeB war jene Sitte auch bei den Juden vor dem Exile
befannt; f. Sj. 5, 22; unb aud) bei ihnen hatte dad Wort
„miſchen“ qp die Bedeutung „einſchenken“ angenommen.
Bol. Sj. 19, 14.
Damit find denn auch bie genannten Aufftellungen
fiber ben Berfaffer widerlegt. Sie beruhen eben auf ber
Meinung, baB die Erzählung in fpäter Seit und in grie-
chiſcher Sprache gefchrieben fel. Wer derjelbe aber gewejen
unb mann er gelebt hat, Laßt fid) freilich nicht beſtimmen.
Daß e8 der Prophet Daniel nicht ſelbſt geweſen ijt, wie
manche Kirchenväter, ältere Eregeten und in neuerer Zeit
noch Vincenzi und SDanfo annahmen, geht ſchon daraus
hervor, daß bereità ber aleranbrinifche Ueberſetzer fie. als ein
von dem Buche bejfelben getrennte Schriftſtück vorfand und
durch die Meberfchrift einem anderen Manne zufchrieb; und
auch in der Verfion be8 Theodotion bildet fie einen Anhang,
ber mit bem Buche Daniel in feiner Verbindung fteht.
Gehörte fie zu ihm, [o würde fie am Ende des gejchicht-
lichen Theile πα cap. 6 ihren Platz gefunden haben, und
Niemand würde auf ben Gedanken gerathen fein, fie von
ba zu entfernen. Dazu fommt, baB während im Buche faft
alle Anreden an die Könige mit den Worten beginnen:
„O Rönig, lebe ewig” vgl. 2, 4; 3, 9; 5, 10; 6, 7. 22.
in dem Zuſatze bieje Formel fehlt; und bag dort ber Vor⸗
gänger be8 Cyrus Darius genannt wird Dan. 6; berfelbe
hier Aftyages heißt — Verſchiedenheiten, welche jo unbe-
beutend fie auch und, auf verfchievdene Verfaſſer hinweiſen.
Nach ber Weberjchrift der Septuaginta haben wir ben
Anhang bem Propheten Habakuk zu verdanken. Wie weit
dieſelbe richtig ijt, ob fie auf einer glaubhaften Tradition
beruht, ober auf einer bloßen Vermuthung, gejchöpft aus
566 Wieberholt,
ber Nachricht, daß Habakuk Dantel in ber Löwengrube ge:
gefpeift habe, Täßt fid natürlich nicht mehr controliren.
Jedenfalls enthält fie die älteſte Nachricht über den Ver⸗
faffer und hat infofern den meijten. Anfprudy auf Glauben.
II.
Cyrus.
Herodot berichtet I. 131 von ben Perfern, bap fie εῷ
für unerlaubt hielten, von den Göttern Bilder zu fertigen,
ihnen Xempel und Altäre zu errichten, und daß fie alle
verachteten, welche dergleichen thäten. Damit ſcheint nun
in gerabem Gegenfab zu ftehen, was der biblijche Bericht
von bem Perſerkönig Cyrus erzählt: er befucht täglich ben
Tempel eines babylonischen Götzen und läßt vor feinem
Bilde Opfermahle bereiten. Außerdem erfahren wir πο,
daß er vor den empörten Babylonicrn fid) fürchtet und ihnen
feinen beiten Kreund preisgibt. Weber glaubt man, daß
biele in ihrer Verweichlichung εὖ jollten gewagt haben, ge-
gen den Träftigen und mächtigen Eroberer Cyrus fid) zu
erheben, noch daB er ber Volksmenge feige nachgegeben habe.
Darım war ε da Beitreben ber Fatholiihen Gelehrten,
darzuthun, daß die Geſchichte gar nicht in die Regierung
des Cyrus falle, fondern unter einem frübern babylonifchen
Regenten gejchehen jei; und meiſtens nahm man an, daß
ber etfte Vers, in welchem allein der Name be8 fünig8 ge-
nannt war, nicht zur Erzählung gehöre Es [ag bieje
Meinung um fo näher, als ber Text der Septuaginta ihn
wirklich nicht bat. Einige behaupten, er bilde den Schluß
von der Gefchichte der Sufanna, welche im Codex Chisi-
anus und in ber Vulgata unmittelbar vorhergeht und in
Bel und ber Drache. 567
ber That mit bemjefben endigt ‘); ein Anderer, er fel zu:
fällig praeter rectam historiae seriem atque ordinem
temporum eingefügt ?): Behauptungen, welche fid) jelbft
richten. Daß ber Berd in ber Vulgata und einer griecht-
jen Handichrift au8 bem 8. Jahrhundert am Ende ber
Geſchichte der Sujanna fteht, kann nur burdj Srrtbum, in
Folge jchlechter Kapitelabtheilung gefommen ſein. Da bie
Errettung der Sufanna in die Jugendzeit Daniela fällt,
jo Tann bie Angabe, Cyrus habe die Herrichaft übernommen
und er ſei fein Freund gemefen, in feiner Beziehung zu
berjelben ftehen. Nicht befjer iff bie Meinung, welche Cor-
nelius a Lap. (comm. in Dan. XIII 65. XIV 1.) aus
Ipriht: V. 1 [εἰ ein titulus chronologicus, ut sciamus
quo tempore ea contigerit sc. post mortem Astyagis.
Gr vermutbet nümlid), bie Erzählung [εἰ ein Bruchſtück
einer Chronit, welche ein Sube von ber babylonifchen Ge-
fangenjchaft verfaßt Habe. ‚Um die Gunft der perfifchen
Könige zu gewinnen, habe er alle Ereigniffe αὐ derſelben
nad) ihren Negierungsjahren datirt, wenn fie auch nicht in
ihren Reiche gejchehen waren. V. 1. würde e8 demnach
unbeftimmt lafjen, wer ber König fei, von bem bie Gradb-
lung ſpricht.
Man nahm fodann allgemein arm, e8 [εἰ Evilmerodach,
der Nachfolger Nebukadnezar's gemejen. Denn von ihm dit
e$ befannt, daß er den Juden gewogen war und ihren Kö—
nig Jechonias wieder in Freiheit jegte. IV. $n. 25, 27.
Es kann barum nicht auffallen, wenn Daniel großen Ein-
ffuB auf ihn hatte. Ihn beſchuldigt ferner Beroſus ber
1) Vincenzi, Sessio IV. Conc. Trid. 1Π| 104. Goldhagen, In-
troductio in 8. scr. V. T. II. 486.
2) Peresins, Comm. in Dan. XIII 65.
568 Wiederholt,
Gottloſigkeit; darum ſei er von ſeinem Schwager Nerigliſſar
nach einer zweijährigen Regierung ermordet worben ἢ. Zu
dieſem Vorwurfe würde unſere Erzählung einen guten Com⸗
mentar geben. Man koͤnnte endlich noch darauf hinweiſen, daß
Darius Medus Daniel in der Loöwengrube mit ben Worten
troͤſtete, ſein Gott werbe ihn reiten. Dan. 6, 17. Soiejec
Zuruf würde üt dem Munde eines heidniſchen Königs we-
niger auffallen, wenn ber Prophet jchon einmal aus ber-
ſelben Gefahr wunderbar wäre befreit worden und jo Da⸗
rius von der Macht feines Gottes Kunde erhalten hätte.
Allein jo viel auch für diefe Hypotheſe fpricht, jo darf
und bod) die Wahrſcheinlichkeit derſelben nicht bewegen, V. 1.
für unächt zu erflären. Nur dann wären wir dazu berech—
tigt, wenn ber Text der Septuaginta der richtigere wäre,
was nicht ber Tall ijt. Es ijt darıım zu unterfuchen, ob
fb nicht dennoch ber biblifche Bericht mit ber Gejchichte
be8 Cyrus vereinigen lafje, ober ob er nicht mehr Anſpruch
auf Gíauben hat, ala bie bekannten Nachrichten der Pro:
fangefchichte.
Man braucht fid) nicht auf Xenopbon zu berufen, bet
an mehreren Orten feiner Cyropädie (f. 3. 38. I. 6, II. 1;
III. 1.) berichtet, Cyrus Habe verfchiedenen Göttern geopfert;
auch Herodot erzählt l c; daß bie Perſer mehrere Gott:
heiten hatten, bic fie durch Opfer verehrten. Damit ftim-
men auch ihre eigenen Religionsbücher und, was ποὺ wid)
tiger ijt, die Keilinfchriften überein. „Wir betrachten, jagt
Tr. Spiegel P), nur die Züge, bie fid) aus den Inſchriften
1) Οὗτος προστὰς τῶν πραγμάτων ἀνόμως καὶ ἀσελγῶς ἐπιβουλευ--
ϑεῖς ὑπὸ τοῦ τὴν ἀδελφὴν ἔχοντος αὐτοῦ 'Νεριγλισσώρου ἀνῃρέϑη βασι-
λεύσας ἔτη δύο. Fl. Josephus c. Ap. I. 20.
2) Gran, ba Land ami[den Judas unb Tigrid. Berlin 1868. ©. 98.
Bel und bet Drache. 569
entnehmen laffen. Hier ift nun ganz unzweifelhaft zu feben,
daß die Religion der alten Perſer zur Seit des Darius,
wenn auch nid. im allen Einzelheiten, fo doch mit ihren
Grundzügen mit der altbaktrifchen übereinftimmt, deren An-
ſchauungen im Avefta niedergelegt find. Wir finden da ben
Auramazda ald den Gott, der Himmel und τος erjchaffen
bat; bie übrigen Götter, bagas genannt, werben fpärlich
erwähnt unb in den Inſchriften nicht namentlich angerufen.
In den Inſchriften be8 Darius werben die Glangütter noch
bejonber8 unterichleden. In den fpätern Snfchriften werben
außer bent Auramazda mod) die Namen einiger anderer
Götter genannt; e8 find diejelben welche im Avefta ericheinen,
Anahita oder die Göttin be2 Waſſers, bann Mithra, bie
Gottheit des Lichtes. Die Religion ber Perfer ſchloß alfo,
obwohl fie Auramazda als den höchiten Gott betrachteten,
die Verehrung anderer Götter nicht aus, und Cyrus war
fein Unitarier wie etwa bie Iſraeliten. Sodann aber kann
das, was Herodot und erzählt, aunádjt nur won ber Ne:
(igion ber Perjer feiner Zeit gelten, deren Anfchauungen
und Gebräuche er aus eigener Erfahrung fannte, wenn er
auch verfichert, er [εἰ von Anfang an fo gewelen. Die In—
ſchriften aus der Zeit des Darius Demeijen, baB ber jpä-
tere Haß der Perſer gegen Tempel, Altäre und Gütterbi(ber
damals nod) nicht vorhanden war. In ber berühmten In⸗
jhrift von Bihistun findet [ Col. I. 14. folgende merk⸗
würdige Stelle; „König Darius fpricht; bie Herrichaft,
welche unferm Gefchlechte entriffen war, habe ich wieder
hergeftellt ; ich habe fie wieder auf ihren (rechten ober frü-
bern) Platz gebracht. Sch habe alles wieder jo (eingerichtet),
wie ε früher war. Die Gotteähäufer, welde
Gomata der Magier vermüjtet hatte, habe td
570 Wiederholt,
wieder ausgebeſſert.“ Mordtmann?t) bemerkt dazu:
Rawlinſon überjegt: The houses of the God, which
Gomates, the Magian destroyed, I rebuilt. Oppert:
Les autels, que Gomat6s the Mage avait renversés,
je les ai restaurós . . .... Oppert hat ayadäna durd)
autels überfegt, ohne Zweifel, weil bie Zoroafter = Religion
feine eigenen Tempel, jondern nur Feuer-Altäre erforderte.
Aber eben diefe Inſchrift beweilt und, daß der Magismus
mit der Hof- und Staatäreligion ber Achämeniden durchaus
nicht in Webereinftimmung war.” Er meint, daß bie Ure
funben, bie und über benfelben Aufſchluß gäben, erft aus
ipäter Zeit ftanımten, und vermuthet, daß er fid) etwa
während der Partberzeit oder im Anfange der Saflaniden-
zeit mit ber frühern Religion ber Perjer geeinigt hätte. In
Betreff des wichtigen Worte ayadäna jagt er noch, daß
bie Meberfegung, bie et gegeben, burd) dad Babyloniſche
beftätigt werde, wo geradezu „Gotteshäuſer“ ftebe. Auch
MWindifchmann, welder das Zoroaſtiſche Syſtem jchon vor
Cyrus in voller Geltung fein läßt, nimmt Angeſichts biefer
Stelle doch au, daß baffelbe nicht überall in feiner vollen
Reinheit beobachtet wurde. „Was Herodot von der Oteli-
gion der Perſer berichtet, mag von jener reineren Form
be8 Magismus gelten, die wahrſcheinlich Pfeubofmerdis
vertrat, während die Achämeniden eine Beinifchung von
Tempeldienit geftatteten, welche in bem Mithra- und Ana⸗
hita⸗Cultus des Artarerre ung beſtimmt entgegentritt *).*
Nur bei einer folchen Annahme läßt ε jid) endlich aud)
begreifen, daß Cyrus den Juden nicht bloß erlaubte, jo:
dern befahl, den Tempel zu Jeruſalem wieder zu erbauen,
1) Zeitfchrift ber Ὁ. M. ©. 3b. XVI. 1862.
2) Zoroaſtriſche Studien, ©. 129.
Bel unb ber Drache. 3 571
und dad Werk eifrig unterftühte.e Mochten ihn auch, vole
man annimmt, bie veineren religiöfen Anfchauungen ber:
[εἴδει für fie gewinnen, jo fonnte er bod) nicht jo weit
gehen, etwas zu befördern, was er nach feinem Glauben
haſſen mußte. War er aber durch ihn nicht gehindert, Se-
hova, dem Gotte ber Juden einen Tempel zu erbauen, fo
fonnte er auch den Tempel des babylonifchen Götzen be:
ſuchen. Ebenſowenig beſtand damals fchon ber von SHero-
bot berichtete Haß der Perſer gegen Bildniffe der Götter,
Auf den Denkmalen ded Darius ift Auramazda fefbjt mehr-
fad) als ernfter Greiß mit langem Bart in einem geflü-
gelten Ringe dargeſtellt; auch auf perfifchen Münzen findet
fih fein Bild); und befannt ijt, daß Artarerred ber Ana⸗
bita Bildfäulen in Babylon, Suſa und Efbatana aufftellte,
Was εὖ ἱποοβ noch begreiflicher macht, daß Cyrus ben
Bel verehrt habe, ijt bie von Herobot I. 135 und Gtrabo
XI. 12, 9 bemerkte Neigung der Perfer, Gewohnheiten und
Gebräuche fremder Völker anzunehmen. Als fle in bie
Gefchichte eintraten, waren ſie ein noch ungebildetes Natur—
volk und zeigten [ὦ jehr empfänglich für die Sitten und
Einrichtungen der gebildetern Nachbarvälfer und inter
thanen, befonder ber femitischen Völker. Diefe Abhängig-
feit bewiejen fie nicht bloß durch Nachahmung fremder
Kleidung, Lebensweiſe und Staatzeinrichtungen; auch ihre
Schrift empfingen fie von den Babyloniern. „Daß bie
Granier fich bieje (Keil-JSchrift von außen her angeeignet
haben, ijt nicht zweifelhaft; ebenfo trägt ba8 Laut und
Schriftſyſtem unverkennbare Spuren jemitifchen Einfluffes
an fi; e8 ijt ja burd) Denkmale ganz offeufunbijy, bap
1) f. Sunfer, Geſchichte de Alterthums II. ©. 588.
572 Wiederholt,
man [don lange vor ber Achaͤmeniden⸗Dynaſtie weſtlich von
Eran in Keilſchrift jchrieb 1).^ Noch unverfennbarer unb
eigenthümlicher (jt aber der Einfluß, welchen die Sffraeliten
auf die religiöfen Anſchauungen der Perjer geübt haben.
Bekannt ijt. die große Verwandtſchaft zwifchen ben Religionen
ber beiden Völker. Beide haben benjefben reinen Gottes-
begriff; Auramazda ijt wie Jehova ber alleinige Gott; alle
übrigen Wefen, auch die höchften, find feine Gefchöpfe unb
ihm unterworfen). Auch den Grundbegriff des Schaffens,
bie Sechszahl der Schöpfungsperiopen finden wir bei ihnen. .
Selbit der Name Ahuramazda hat mad) Spiegel biefelbe
Bedeutung wie Jehova. „Man hat [djou lange darauf auf:
merkſam gemacht, baB ba8 Wort Ahara ebenfal2 den Sei-
enden bebeutet; denn bafjelbe kommt von ah ober as jein
δεν 5." Dieſe Berwanbtfchaft, welche in nod) manch andern
Punkten hervortritt, jo wie ber Gegenjag zu den Mythen
und Sagen anderer, auch ber ben Perfern ftammvermwanbten
Völker beweifen, daß fie auch in religiöfen Dingen abhängig
waren, und nicht etwa die Sfraeliten von ihnen geborgt
haben. Und zwar müfjen fie mit bemjelben in directer Be:
ziehung gejtanden fein, als bie Entjtehung ftattfaub. Nur
zwilchen ihnen zeigt jid) bieje enge geijtige Verwandtſchaft;
nicht auch bei den andern femitischen Völkern, fo daß etwa
jene religiöſen Anjchauungen als ein Gemeingut be8. femi
tifchen Geiftes betrachtet werben füónnten. Hätten bie Ber:
fer fie durch bie Babylonier erhalten, jo müßte jid) ihr Re:
ligionsſyſtem viel mehr bem ber letztern nähern. Es kann
1) Fr. Spiegel, Eranifche Alterthumskunde. Leipzig 1871. I. 448.
2) Neben ihm verehrten bie Perfer nodj andere Weſen, benen fie
auch Opfer barbrachten; aber fie betrachteten fie bod) als feine Geſchöpfe.
8) 1. c. 449 ff.
Bel und ber rade. 573
barum auch dieſe Entlehnung nicht vor ber Zeit ftattge-
funden haben, in welcher die Bewohner des Reiches Ifſrael
nah Aſſyrien und Medien beportirt wurden. Für unfere
Unterſuchung ijt es indeß gleichgültig, wann biefe[be begann.
Sie bemeijt immerhin, wie ftarf bie Abhängigkeit der Perſer
von fremden Völkern war, daß fie felbft in Sachen ber Re⸗
ligion von ihnen lernten.
Gà fann darum nicht im minbeften Verwunderung er:
regen, daß Cyrus den Gott ber Babylonier verehrte. Gerade
. bieß, daß er Perſer war, macht es erflärlich. Das Bei⸗
Iptel der Babylonier, unter denen er lebte, übte feinen Eins
ffuB auf ihn aus und bewog ihn, im berfelben Weife fein
religiöſes Bebürfniß zu befriedigen. Man braucht barum
aud) nicht anzunehmen, bap politifche Motive ihn dabei [εἰς
teten, daß er bie Abficht hatte, dadurch bie jüngft unter:
worfenen Chaldäer zu gewinnen, unb fid) den Schuß ihrer
Götter zu fichern, obgleich id) nicht wüßte, was fid) mit
Grunb bem entgegenftellen ließe. Wenn gejagt wird, es fel
unerweislich, bag bieje Sitte, bie Götter der bejtegten Voöl⸗
fer anzubeten, jchon zur Zeit be8 Cyrus vorhanden gemejen
fei, und nod) unerweizlicher, daß der Perjerfönig ihr ge:
huldigt habe ἢ, fo ijf das Erſtere geradezu falſch; bereits
ber jüdiſche König Amaſias Dufbigte ihr. II. Chron. 25, 14;
und er war ficher nicht ber Grite. Warum ſoll nicht aud)
Cyrus fein Beispiel nachgeahmt haben, wenn er baburd) εἰς
was zu erreichen hoffen durfte ?
Was aber ben Aufitand ber Babylonier und die Nadh-
giebigfeit ded Cyrus gegen fte betrifft, fo ijt es gleichfalls
nicht geeignet, die Glaubwürdigkeit der Erzählung zu beein:
1) Reel, bie 9(pofrypben des A. T. ©. 88.
574 Wiederholt,
traͤchtigen. Man ijt gewohnt, denſelben als einen einfich-
tigen, ſtaatsklugen und kraäftigen Regenten zu betrachten.
Aber man bedenke, daß die Nachrichten über ihn febr un:
fier find. Das Bild, welche Xenopbon in ber Eyropädie
von ihm entwirft, entfpricht nicht dem Berichte, welchen
Ktefind und hinterlaffen; und von beiden weicht wieber He-
rodot ab, dem man noch den meiſten Glauben fehenkt. Aber
auch er fagt I. 95, daß verjchiebene Sagen über ihn im
Umlauf wären und man ihn zu verherrlichen und zu ver
Hören ftrebe. Wenn er, Herodot, auch getreu berichtete, fo
haben wir tod) Feine Sicherheit, daß feine Gewährsmänner,
bei welchen er Erfundigungen einzog, ihm ſtets bie Wahr-
heit mittheilten. Wan darf deßhalb die Gejchichte von Bel
und bem Drachen noch nicht ber Unmwahrheit bejchuldigen,
wenn jie über Cyrus etwas enthält, was [i ſonſt
nicht belegen läßt oder mit anderen Nachrichten nicht har:
monirt. Uebrigens ijt ſelbſt bieje8 nicht der Fall.
Daß bie Babylonier einen Aufftand erregen, gegen ihn
fi erheben und Drohungen ausftogen, erklärt fid) leicht.
Denn fie waren noch nicht das verweichlichte und entmu-
thigte Voll, für ba8 man fie hält. Nur durch eine Liſt
hatte fid) Cyrus in den Beſitz ihrer Stadt gelebt; ihre
Kraft war aber nicht gebrochen. Bald nachher fannen fie
darauf, fid) wieder frei zu machen, bereiteten mit vieler Um-
fibt den Aufitand vor und, als fie unter der Regierung
des Dariud den günftigen Zeitpunkt gelommen jahen,
führten fie mit aller Energie und Opferwilligfeit den Plan
aus. Siebzehn Monate belagerte Darius die Stabt ver-
geben, bià e3 ihm endlich, aber auch wieder nur durch eine
Lift gelang, [16 zu unterwerfen. Herod. IIL 150. Die
Suidrit von Bihistun Col. I. 16 jf. III. 13 ἢ. ergänzt
Bel und bey Drade. 575
ben Bericht Herodots; nach derjelben mußte der Perſerkoͤnig
ba8 babylonifche Heer erſt zweimal in offener Feldfchlacht
Gberwinden, ehe er zur Belagerung der Stabt fchreiten
fonnte; und nachdem fie erobert war, wagten fie es ſpäter
noch einmal, ji gegen ihn zu erheben !). Dieſe voicber-
holten Aufftände geben Seugnig von ihrer Kraft und bem
Muthe, ben fie befaßen, fowie von bem Unwillen, mit
welchem fie bie perſiſche Herrfchaft ertrugen. Nun hatte
Cyrus fie auf dad höchfte gereizt; ihre Götter zerjtören und
bie Priefter derjelben Hinrichten laffen; und dies war auf An-
ftiften eines Juden gefchehen, dem fie nur δ Ὁ ungern in ber
hoben Stellung jafen, bie er bejag. Das mußte fie erbittern 5 und
wir dürfen ung nicht wundern, daß fie jid) gujammenvotteten und
brobenb bie Anzlieferung des verhaßten Fremdlings verlangte,
Der König aber faute gewiß ihre Macht ; er mußte befürchten,
daß, wenn er nicht nachgebe, der Aufſtand fich verbreiten und dag
Signal fein werde, daß auch die übrigen noch nicht lange unter:
worfenen Völker fid) empörten. — Es darf ihm barum nicht ala
Schwäche und Feigheit ausgelegt werden, wenn er in kluger
Berechnung der ifm drohenden Gefahr einen wen αἰ
thenren Freund preisgab. Die Sorge für feinen Thron
und bie Nuhe be8 Reiches war ftärker αἰ bie Macht ber
Treundichaft.
Endlich findet man ἐδ noch unglaublich, bap Cyrus
geglaubt babe, Bel verzehre wirlich bie ihm vorgeſetzten
Speifen; daß er von Daniel verlangte, aud) er folle ben-
jelben anbeten, nachher aber fein Bild faınmt dem Tempel
zerftören ließ. Dazu jei er zu tolerant gewejen. Aber Er:
ftere war doch ganz natürlich; wenn er einmal Bel fir
einen Gott hielt, jo nahm er aud) ait, was die Babylonier
1) Mordtmann 1. c. ©. 64 ff. 88 f.
Theol. Quartalfeprift 1818. IV. Heft. o9
576 Wiederholt,
allgemein von ihm glaubten, daß er menſchliche Bedürfniſſe
habe und ſie nach Art der Menſchen befriedige ſ. Her. J.
182. Wir haben keinen Grund, ihn in dieſer Beziehung
für einſichtiger zu halten, αἰ ſeine Zeitgenoſſen. Von fei-
ner Toleranz gilt daſſelbe; er hat durch nichts bewieſen,
daß er toleranter war, als andere Herrſcher ſeiner Zeit.
Trotz ſeiner Milde gegen die Juden forderte doch Nebucad-
nezar, bap fie das goldene Bild anbeten jollten, welches er
in der Ebene Dura hatte errichten laffen; und Darius,
ber Vorgänger von Cyrus, befahl gleichfalls unter Todes⸗
ftrafe, baB alle feine Unterthanen an ihn ihre Gebete richten
jollten, als wäre er ihr Gott. Wenn Gpru8 den Juden
bie Erlaubniß gab, Jehova einen Tempel zu erbauen, [0
hatte dad andere Gründe. Sp fonnte er vedjt wohl von
Daniel verlangen, daß er feinem Beifpiel folge und mit ibm
den Bel anbete; um jo mehr, wenn efma politifche Motive
ihn dazu bewogen hatten; dann mußte ihm daran liegen,
daß auch fein Freund und Vertrauter fid) gleichfalls vor
bem Gotte ber Babylonier beugte. Wahrjcheinlich aber Tag
bie nächte Veranlaffung darin, daß berfelbe ihn, wie Naa-
man den fyrifchen König 4. Kön. 5, 18, bei feinen Tem⸗
pelbefuchen begleiten mußte; da fiel e8 denn [febr auf, bap
er um den Gott fich nicht kümmerte, während fein König
vor ihm anbetend nieber[ie[ ; und da dieſer nicht warte,
baB ber Iſraelit nur Jehova verehre, jo war nicht? natür-
licher, als daß er ihn aufforberte, Bel auch anzubeten.
Daß er ihm ſodann fpäter die Erlaubniß gab, ben
Tempel und dag Bild δε Bel zu zerftören, war eine Folge
be2 ihm gejpielten Betrug und ber Enttäufchung, bie er
erfahren, fowie des Dejonber8 bei den Perfern Tebhaften
Haſſes gegen alles, was Lüge ijt. Er mochte dabei nicht
Bel und ber Drache, 577,
politifch Flug gehandelt haben, indem er nicht bedachte, daß
er die Babylonier zum Aufftande reizen fónnte; aber wie
leicht war e8, im Zorne über den Betrug die Vorficht bei
Seite zu feßen; und hatte er einmal einen Auzfpruch ge-
than, jo durfte er ihn nach Sitte ber Perſer und Meder
nicht mehr zurücknehmen. 1. Dan. 6, 16; fein Wort war
wie dad Wort eines Gottes, ba unveränderlich ijt.
. UM.
Der Tempel des el.
Aber gerade die Zerftörung des Tempel hat noch zu
einem anderen Cinwurfe Veranlaſſung gegeben. Den
tad) Herodot, Strabo und Arrian habe er noch lange nach
ber Regierung ded Cyrus beftanden. Man muß jid) wun⸗
dern, daß man immer nod) darauf befteht, es herrſche Wider:
ſpruch zwiſchen ben Berichten diefer Gefchichtfchreiber und
ber bibliſchen Erzählung; e8 ſcheint faft, als habe man bie-
ſelben nicht aufmerffam gelefen. Herodot bejchreibt I. 181 ff.
den Belstempel: Derjelbe ftand in einem großen mit Mauern
umgebenen Raume, beffen Seiten je zwei Stadien lang
waren, unb war ein ungeheurer vierediger Thurm, ber in
acht Terraffen aufftieg, fo bag acht Thürme über einander
zu ftehen jchienen. Auf ber Spike war ein Tempel, in bent
fich nicht? befand ala ein Ruhebett und ein goldener Tiſch;
und ed ging bie Sage, daß ber Gott dort jede Nacht er-
fhiene. Am Fuße de Thurmed war ein anderer Tempel
mit der gofbenen Bilbfäule des Bel und einem Tiſch für
die Lectifternien; vor ihm waren zwei Altäre errichtet, auf
welchen die Opfer bargebrad)t wurden. Herodot erzählt
dann noch, bap Darius Hyſtaspis bie Abficht gchegt habe,
ba8 Bild wegzunehmen, aber davon bod) abgejtamben fei;
39*
678 Wiederholt,
erſt Rerxes habe es geraubt, nachdem er ber Prieſter ge-
tödtet hatte, welcher ihn daran hindern wollte. Das ganze
Heiligthum wird in der Beſchreibung ἱδρόν genannt; bie
beiden kleineren Tempel werden mit νηός bezeichnet. Was
Ctrabo XVI. 5 erzählt, bezieht fich offenbar auf dag erftere,
ba8 er dad Grabmal be8 Bel nennt. Er beginnt feine
Beichreibung mit ben Worten: ἦν δὲ πυραμὶς τετράγωνος
ἐξ ὀπτῆς πλίνϑου καὶ αὐτὴ σταδιαία τὸ ὕψος" σταδιαία δὲ
καὶ ἑχάστη τῶν πλευρῶν. Ex bemerkt dann aber, Xerxes habe
ihn, wie man fage, zerftört und Alerander b. Gr. jei Willen? ge:
wefen, ihn wieder aufzubauen. — Ihm ſchließt fid) eng Arrian
Expedit. Alex. VII. 17 an; aud) er fpricht nicht von den
kleinern Tempeln, jondern von dem großen Beldthurme und
erzählt gleichfalls, daß ihn Xerxes zerjtört habe, damit ijt
er wie Strabo offenbar im Irrthume; da Herodot den
Tempel dod) jab.
Wenn man nun von einem Sempel beg Bel redet, jo
kann man jowohl den großen Beldthurm meinen, als eines
ber fleinern Heiligthümer, die eigentlich allein den Namen
verdienen. Der Verfaſſer ver Erzählung hat aber offenbar
an dasjenige gedacht, welche unten an dem Belsthurm
ftand; denn er jagte, daß in ihm Lectifternien dargebracht
jen; daß jobald die Thüren geöffnet fein, ber Blick beg
eintretenden ſogleich auf den Opfertiſch fiel V. 18; und daß
in ihm ein Belsbild gejtanden habe B. 22. G8 Tann ba-
rum fein Zweifel fein, bap e$ biejer Tempel war, ben Da—
niel zerjtörte.
Das fat aud) der Verfaffer ber alerandrinijchen Weber-
fegung wohl erfaunt. Den Tempel, in welchen bie gecti-
jternien bargebrad)t wurden und dag Bild ftand, nennt er
δἰδωλεῖον B. 10. Bon dieſem unterjcheidet ev aber das
Bel und ber Drache. 579
Βήλιον V. 22; worunter man den ganzen Tempelraum mit
dem Thurme verftehen muß. Denn nad) feiner Darftellung
verließ der König, nachdem er den Betrug ber Priefter ent-
deckt hatte, dad εἰδωλεῖον, kam zur Wohnung derfelben und
ließ jid) die geheimen Wege zeigen, auf welchen fie Nachts
in ben ‚Tempel drangen. Dann fagt er: ber König ließ
fie ἐκ τοῦ Βηλίου herausführen. Daffelbe umſchloß aljo
die Wohnungen für die Priefter und den Opfertempel. Da:
rin, daß biefer nur einen Theil be8 großen Heiligthums be
Bel bildete, mag aud) ber Grund Liegen, daß ev die Ser:
förung deffelben nicht erwähnt.
Zur Zeit Herobot3 war er fowohl mie das Bild be
Bel wieder vorhanden. Auch ba8 ift wohl begreiflich. Die
Babylonier hingen, wie ijr Aufftand gegen Cyrus beweiſt,
jehr an ihrem Gotte; fie werben recht bald die Schmach,
bie ihm angethan war, wieder gut gemacht und dad Zer:
jtörte woieber hergeftellt haben. Cyrus fat ihnen babel ges
wiß nicht? in den Weg gelegt, um fie nicht auf? neue zu
erbittern. Wenn die genannten Gejchichtfchreiber von dem
allen nicht? wiſſen, obwohl fie bte Attentate von anberen
perfifchen Königen berichten, fo darf es ſchon wegen bes Dun:
kels nicht auffallen, das auf der Gefchichte des Cyrus liegt;
der eigentlihe Grund liegt aber darin, daß bie babyloniſchen
Priefter, von denen Herodot feine Nachrichten über ben
Belstempel erhielt I. 183, ihm gewiß nicht eine Gefchichte
mitgetheilt haben, welche die Nichtigkeit ihres Cnltus und
ble dabei vorkommenden Betrügereien offen darlegte. Strabo
und Arrian aber waren noch weniger im Stande, genaue
Nachrichten zu erhalten; Taffen fie doch im Widerjpruch mit
Herodot ben Belsthurm durch Xerxes zerjtört werben.
580 Wiederholt,
IV.
Der Schlangencult in Babylon.
Während im erſten Theil der Erzählung ausdrücklich
berichtet wird, bag Cyrus den Bel verehrt habe, ſagt fie in
Betreff der Schlange nur, bap die Babylonier fie angebetet
hätten; fie zeigt baburd) daß der Perferfönig ihnen barin
nicht gefolgt ſei. Wenn er fie im Gefpräche mit Daniel
einen Gott nennt, V. 24, |o gefchieht e8 im Sinne jener.
Aber ba8 fol eben ganz fraglich ober vielmehr faljd) fein,
baB diefe einen Dradencult gehabt hätten. „Wenn we-
nigftend bie alfgemeinjtem Angaben über Bel nicht wider
bie Gefchichte verjtopen, fo iff e8 Hingegen anders beim
Drachen. Bon einer Verehrung lebendiger Schlangen in
Babylon, alfo von einem Thierdienfte, wie beirden Aegyp-
tert, weiß Niemand cetwas!).” Aber ijt denn ber Umftand,
daß fonft feine Nachrichten darüber vorhanden find, ſchon
ein Beweis, daß berjefbe in Babylon nicht eriftirt babe?
Oder fennen wir bie Religion der Chaldäer jo genau, bap
wir mit Beftimmtheit Jagen könnten, welche Götter fic hatten
und welche nicht? GemiB verdient bod) bie biblifche Erzäh—
lung diefelbe Autorität, wie jebe8 andere alte Schriftſtück;
und wir haben [o lange ihre Angaben für wahr zu halter,
a[8 nicht ftrifte bewiefen ijt, daß fte Irrthümer enthalte.
Es ijt eine Verkennung des Ctanbpunfte?, den man ihr
gegenüber einnehmen muß, zu verlangen, daß fie erſt noch
durch anderweitige Berichte beftätigt werben mü[je. Die
Juden, bie erften Beftreiter ihrer Aechtheit, haben bod) ait
ber Schlangenverehrung in Babylon feinen Anftoß genommen.
Dieſe Eregeten ber frühern Zeit, wie Sanctius, Tirinug,
Salmet u. 3C, fanden e8 wegen der Eigenfchaften der Schlan-
1) Fritzſche 1. c. ©. 120.
Bel und ber Drache . 581
gen und ber weiten Verbreitung ihres Cultus febr wohl
glaublich, ba man auch in Chaldäa fie für Götter gehalten habe,
Ste hatten Recht, denn es fehlt nicht an Anzeichen und
beitimmten Zeugniffen des Alterthums, welche die Angabe
der Erzählung beftätigen. Für's Erſte ijt wohl bie richtige
Bemerkung J. ©. Müller’3?) zu beachten, welcher, obwohl
er fle für eine Sage anfieht, dennoch meint, fte Inüpfe an
einen wirklichen Guítu8 an. Denn die Annahme eines
Schlangencultug in Babylon [εἰ viel weniger unwahrjcheinlich,
αἵ bie Vorausſetzung, bie weitgereiften alerandriniichen Ju⸗
den jeien mit den Zuſtänden daſelbſt unbekannt gemejen.
Das ijt aber noch weniger anzunehmen, wenn dev Verfaſſer
nicht griechiſch ſondern chaldäiſch und hebräiſch fchrieb, alfo
vielleicht in Babylon fefbjt ober bod) in Judäa gelebt hat.
In feinem. Vaterlande, dag feit dem Erile unter perſiſcher
Herrſchaft ftand und in Verkehr mit den Juden in Chal-
báa blieb, fonmte er mod) viel leichter über bie dortigen
Sitten und Gebräuche fid) unterrichten; und wie [εἶπε An⸗
gaben über den Belstempel und Cyrus beweiſen, bejaß er
wirklich eine ganz vichtige Kenntniß der Perſonen und Orte,
von denen er fpricht. Ferner war der Schlangencult, wie
% ©. Müller gleichfalld gezeigt bat, fajt überall bei den
Völkern ber alten und neuen Welt, auch bei den Griechen
und Römern bis in die fpätefte Zeit in bung. „Wenn
bel den Griechen und Römern, bie noch viel mehr als ait
bere heidnifche Völker den alten Tihierbienft zur bloßen Sym-
bolik veränderten, dennoch fo zahlreiche Lebendige Nefte des
alten Thierdienſtes fid erhielten, ijt denn ba bie Ueberlie—
feruug eines folchen Reſtes für Babylon fo unglaublich?“
1) f. Real-Encyclopädie v. Herzog 8. v. Drache.
582 Wiederholt,
Beſonders aber wird fie durch bie Verwandiſchaſt be-
ftätigt, welche zwiſchen den Chaldäern und Phöniziern in
religiöfer Hinſicht beſtand. Es beruhte bie Religion beider
Völker auf derſelben Grundanſchauung. Man vergötterte
die Naturkraft und zwar in einer Doppelheit von Geſtalten,
welche ſich einander wie Mann und Weib entſprachen, und
von denen die eine das ſchaffende, erhaltende und zerſtörende
Princip vertrat, während die andere die empfangende und
gebärende Kraft war. Dem Bel ſtand die Mylitta zur
Seite, wie Baal bie Baaltid oder Aſchera. Bei beiden
Bölfern waren bie Götter auch fiderifcher Natur, Perſoni⸗
ficationen von Sonne und Mond, weil fid) in diefen un:
mel3förpern bie Naturfraft am glängendften offenbarte und
fie für die Urheber alles Werdens und Schaffen? angejehen
wurden. Wie Bel feinen Tempel auf bem Belsthurme hatte,
jo nerehrte man auch Baal auf natürlichen oder Fünftlichen
Höhen; ebenjo empfingen die Aſchera und Mylitta ben
gleichen Cult durch Hierodulen und Proftitution. Auch
Teuergötter Tannten die Chaldäer; bie von Sepharvaim
nach bem Reiche Iſrael deportirten Coloniſten opferten ihre
Rinder dem Adramanelech und Anammelech, wie die Fana-
nitijden Völker bem Moloch. 4. Kön. 17, 31. Endlich
finden wir bei ihnen dieſelben Mythen, bie fid bei ben
Phöniziern an die Schlangengötter fnüpfen. (ὃ ijt bajfelbe
Weſen, denen num beiverfeit? die Erfindung der Schrift,
bie Abfafjung der heil. Bücher, die Gründung der Städte,
überhaupt dag Gntjtebeu der Cultur zufchrieb; und man
erzählte, daß bemjelben nach Verfluß einer langen Zeit an⸗
dere Ähnliche gefolgt feien, um feine Schriften zu evflären.
Nur die Namen find verfchieden; während bei ben Baby:
loniern das evite Dannes hieß unb bie folgenden bie Anne-
Bel und ber Drache. 583
boten, nannten bie Phönizier daS eine Taaut, das andere
Surmubel. Nah einer andern Anſchauung fand Sur:
nıubel, b. i, die Schlange bed Bel in der engjten Beziehung
zum höchiten Wefen und war nur eine Modification be-
jelben, gleich diefem der Urheber aller Dinge Dieſelben
Mythen finden wir auch in Aegypten, und man verehrte aud)
ba wie in Phönizien diefe fagenhaften Weſen in lebendigen
Schlangen, welche man in Sempefr und Häufern unter:
hielt). Mit ben Negyptern hatten auch noch Moverd ?)
die Babylonier im achten Jahrh. eine Verbindung ange:
fnüpft, welche einen Austauſch der Eulte zur Folge hatte,
Während in Aegypten der chaldätfche Geſtirndienſt Eingang
fand, wurde, wie Macrobiug Saturn I. 21. berichtet, das
Bild be8 Sonnengottes von Heliopoli3 jammt deſſen (δι
nach Babylon gebracht. |
Es ijt barum gewiß feine Vermefjenheit, anzunehmen,
daß auch bie Babylonier den Schlangen göttliche Ehre er:
wiejen, [εἰ e8 in Folge ded Verkehrs, ben fie mit bem Ae—
gyptern hatten, fei c3 von Anfang an. Letzteres tit. barum
nicht ohne Wahrjcheinlichkeit, weil in Chaldäa urfprünglich ein
chamitiſches Bolt wohnte, von deſſen Leben „und Wirken,
Sitten und @ulten jid) gewiß mande Reſte uuter ber
Ipätern Bevölkerung erhalten haben werben. G8 wird bied
nicht bloß burd) Gen. 10, 8 ff. bezeugt, ſondern findet auch
bird) die neueren Forichungen Beftätigung. „Uralte hami—
tifche Grundlagen der Völker und Reiche Aſiens werben
burd) bie neuejten Forfehungen immer gemijfer. Für ct
ſchitiſche Uranfänge be8 babyloniſch-aſſyriſchen Reiches in3-
befondere zeugen mehrere von Knobel gefammelte Spuren;
1) f. Movers, Die Phönizier I. 103 f. 500 ff.
2) vgl. ©. 80 rf.
584 Wiederholt,
ein Wechſel-Verhältniß der älteſten babyloniſchen und ägyp⸗
tiſchen Cultur läßt fid) nach den Unterſuchungen von Ideler,
Letronne unb Lepſnus nicht mehr bezweifeln; in ber Sprache
ber aſſyriſchen Keilinfchriften hat Rawlinſon neben femitifchen
auch ägyptiſche Elemente gefunden; wie denn mannigfache
Berührungen des koptiſchen Wurzelſchatzes mit bem femi
tiſchen und arifchen fid) gar nicht leugnen laſſen Y.“
Bet diefer Verwandtſchaft Babylon’3 mit Aegypten und
Phönizien durch Abftammung, Sprache, Bildung und Res
ligion haben die direkten Nachrichten über den Schlangen:
cult daſelbſt doppelted Gewicht. Arrian 7, 26 berichtet
nämlich, c8 [εἰ dort ein befonderer Schlangentempel, ein
Serapheum gemejen, im welchem ber Gott Drafel gab.
Philo von Byblus läßt den Zorafter Ichren: „Der Schlan-
gengott hat einen Sperberfopf; biejer ift der Erfte, un-
ſterblich, unfichtbar, ungeboren, untheilbar, nur fid jelber
gleich, der Lenker aller guten Dinge, unbeftechlich, ber Befte
ber Guten, der Weifefte ber Weiſen, ber Bater der Billigkeit
und Gerechtigkeit, nur durch fid) jefbjt belehrt, der Natur:
gejege kundig, vollfommen weile und Erfinder ber Natur:
weißheit ἢ.“ (δ ijt daffelbe, was bie Aegypter und Phö-
niger von dem Agathobämon oder der Belsſchlange glaubten.
So viel fönnen wir mit Sicherheit aus blejen Worten entnehmen,
daß mam zur Zeit Philo's allgemein die Meberzeugung hatte,
in bem Gebiete der Perfer, demnach auch in Babylon habe
ber Schlangencult beſtanden; jonjt hätte er fie bem Zoroafter
nicht in den Mund legen Eönnen. Sie paffen freilich wenig
zu dem Syſtem, welches biejem Manne zugefchrieben wird.
1) Fr. Delitzſch, Gommentar 3. Geneſis ©. 304.
2) f. Eusebius, Praepar. evang. I. 41. 42. Migne P. Gr.t.21.©.88.
Bel und ber Drache. 585
Wenn die Perſer dennoch Schlangen verehrten, jo ‚werben
fie εὖ, wie jo vieles andere, von ben Babyloniern ange-
nommen haben. Gewöhnlich verweilt man noch auf SDiobor
I. 9. (Gr berichtet, daß auf ber Spike des Belstempels
drei Götterbilder gejtanben hätten, dad be8 Zeug, der Hera
und der Rhea. Daß legtere habe neben fich zwei große
jülberne Schlangen gehabt und Hera eine folche in ber Hand
gehalten. Daraus geht jedoch nicht hervor, daß man bieje
Thiere für Götter hielt, fondern nur, daß fie als heilige,
ber Göttin gemeifte Thiere galten.
Wenn nun die heil. Schrift die bejtimmie Angabe ent-
hält, daß die Babylonier der Schlange göttliche Ehre er:
wiejen, wie kann man Angeficht3 diefer Seugnifje dag Ge-
gentheil behaupten und jagen, daß diefelbe jeber Begründung
entbehre? Oder war ber übrige Cult derjelben derart, daß er
diefen ausſchloß? Daß er mit bem Geftirndienft fid) wohl
vertrug, wird man bod) wohl ebenjowenig leugnen, af8 bag
bie Aegypter neben den Thieren bie Geflirne verehrten und
Altrologie trieben.
V.
Der Prophet Habakuk.
Nachden die Babylonier Cyrus gezwungen hatte,
ihnen ‚Daniel auszuliefern, warfen fie ihn in eine omen:
grube. Sechs Tage brachte er in berjefben zu, unb um bie
Beitien zu zwingen, fid) endlich auf ihn zu ftürzen, entzog
man ihnen dad Futter, das fie täglich befamen. Gott
wirkte dagegen für ihn ein boppeltes Wunder entjprechend
bem ziweifachen Beweiſe, welchen Daniel von der Nichtigkeit
beg Göbenbienfted gegeben hatte. Die wilden Löwen zähmte
er, daß fie nicht ihrer durch ben Hunger noch gefteigerten
586 Wiederholt,
Wildheit folgten und ihn verletzten; ihn ſelbſt aber, der
auch vont Hungertode bedroht war, ließ er durch einen au
bet Propheten ſpeiſen, welchen fein Engel aus Judäaͤa Ber
beigeführt hatte.
$96 nun biefer Prophet diefelbe Perfon fel, beffen
Meiffagungen wir in der heil. Schrift befigen, kann mit
Sicherheit nicht entſchieden werden. Viele der Altern Ere-
geten bejahten biefe Frage; e8 war für fie mit ein Grund
für die Annahme, baB die Gefchichte von Bel tmb bert
Drachen nicht unter Gurus, fondern unter einem babylo:
nifchen Könige fid) ereignet habe. Sie meinten, Habakuf,
welcher vor dem Exile bereitS weijfagte , foune nicht wohl
bis zum Ende beffelben gelebt haben. Andere, wie &anc
tius, Cornelius a. Lap., Ackermann glaubten aus bem]efbeu
Grunde, es habe zwei Propheten biefe8. Namens gegeben.
Wahrſcheinlich ift εὖ indeß nicht. Indem der Verfafler 2.
33. Habakuk einfach den Propheten „o προφήτης“ nennt,
ohne Aber feine Perfon Weitere zu jagen, deutet er an,
es fel der Prophet, welcher durch jeine Weiffagung fiber
bie Eroberung Jeruſalem's ft) befannt gemacht hatte. Auch
ba8 ganze Alterthum-weiß nicht? davon, daß nachher duod
ein anderer Prophet Habakuk gelebt habe, und jchreibt dem
erftern auch die Cpeifung Daniel? zu. Nach einer Eage,
welche Dorothend und Epiphaniud erwähnen, floh ev bei
der Eroberung Jeruſalems durch bie Chaldäer παῷ SOftra-
fine in Arabien, kehrte mad) bem Abzuge ber Feinde nad)
Judaͤa zurück, wo cr mit Landbau befchäftigt bis zum Ende
be$ Exiles lebte.
Unmdglih war e8 keineswegs. Der einzige fichere
Anhaltspunkt, wonach fein erſtes Auftreten zu beſtimmen
ift, liegt in feiner Weiffagung, befonders 1,5. Das Straf:
Bel und δὲς Drache. 587
gericht, welches die Chaldäer an Jeruſalem vollziehen jollen,
bezeichnet er als ein GreigniB, dag ganz unerwartet nod) in
ben Tagen feiner Zeitgenoffen eintreffen werde. Er hat
bemnadj nicht (ange vor dem erften Einfalle der Chaldäer
a. 606 geweiffagt; nach Defigjch!) etwa im 12. Regierungs⸗
jahre des Joſias 629; wahrfcheinlicher aber, wie Schegg?)
nadgemiejen, nad) dem Tode defjelben, e. 609. Denn in
diefer Zeit trat das von’ ihm tief beklagte fittliche Verderben
in dem Volke wieder hervor, nachdem εὖ eine zeitlang durch
den veformatorischen Eifer des frommen Joſias zurüdges
halten war; während man andererfeit3 nod) nicht daran
dachte, bap Babylon zur Weltherrichaft gelangen und bem
jüdischen Staate gefährlich werden könnte. War ber Bro:
phet zu biejer. Zeit etwa 20 abre alt, jo hatte er im er-
ſten abre des Cyrus ein Alter von 80—90 Jahren; ges
wiß nichts außergewöhnliche, Und ſelbſt wenn er feine
prophetiiche Thätigkeit 629 begann, kann er bi8 zum Ende
des Eriles gelebt haben, Er wäre bani etwa 110—120
Sabre alt geworden; alferbingà ein außerorbentliches Alter,
Aber von bem Hohenpriefter Jojada, ber nicht υἱεῖ früher
lebte, wijje wir, daß er 130 Jahre alt geworben ijt. II.
Chron. 24, 15.
Die Verſetzung Habakuk's war ἐδ ganz allein, woburd)
die Juden die Verwerfung der Erzählung rechtfertigen
wollten. Wie Hieronymus, Praef. in Dan. berichtet, er:
hoben fie bem nichtöfagenden Einwurf, daß in der ganzen
heil. Schrift Fein anderer Fall erzählt wird, daß jemand in
feinem Körper von einem Orte zum andern verſetzt fei.
—
1) Commentar z. Propheten Habakuk IV f.
2) Die Heinen Propheten. II. 78 f.
588 Wiederholt,
Auch Neuere, wie feev( *) und Keil?) bezeichnen fie αἱ
eine Abenteuerlichkeit. Schmerlich werden fie, ba fie am
bie übrigen Wunder ber heil. Schrift glauben, an der Ver-
fegung ſelbſt Anſtoß nehmen; Apg. 8, 39 f. wird zudem
ein ähnliches Wunder berichtet. Es ſcheint fogar, bag folche
Verſetzungen gar nicht fo felten waren. Als ber Prophet
Elia? zum Himmel gefahren war, meinten die Propheten:
ſchüler, der Geift be8 Herren habe ihn erfaßt und an einen
entfernten Ort getragen, IV. fn. 2, 16. und IIL Kön.
18, 12 wird ebenfall3 die Befürchtung auögefprochen, ber
Geiſt be8 Herrn könne ihn plöglic an einen unbefamiten
Ort führen. Auf folche Gedanken wäre man fchwerlich ge-
fommen, wenn man nicht Fälle kannte, in denen e wirklich
gefchehen war. Zu dem Vorwurfe der NAbenteuerlichkeit
bat wohl bie Bemerkung Anlaß gegeben, daß der Engel
ben Propheten beim Kopfe erfaßt und bei den Haaren nad)
Babylon ' getragen habe. 38. 36. Indeß braucht man fid)
ble doch nicht [o zu denken, daß derjelbe wie eine Laft an
ber Hand ded Engeld hängend fichtbar zum Grauen Aller,
bie εὖ jaben, durch bie Luft geflogen ſei. Die Verſetzung
geſchah in einem Augenblicke, ohne baB jemand etwas ah,
jo daß er plöglich an ber Löwengrube evjdjiem. Von dem
Engel jah Daniel voenig|ten8 nidjt2; denn Habakuk, nicht
er, redete denſelben an, und auch in ber Antwort wird er
nicht erwähnt. Der Berfafler aber Bat den Vorgang in
anfchaulicher anthropomorphiftiicher Weiſe befchrieben, als
wäre ber Engel ein Menjch und hätte den Propheten nach
Menjchenweife davongetragen. Ganz jo ftellt aud). Ezechiel
8, 3 feine Verjeßung vom Fluſſe Chobar nach Serufalen
1) Die Apokryphen des A. B. 84.
2) Lehrbuch der Bift.-frit. Einleitung in b. A. T. 788.
7
Bel und ber Drache. 589
bar, die bod) nur im Geifte geſchah, und lehrt ung dadurch,
wie wir die Worte unſeres Verfafferd zu veritehen haben ?).
Daß Gott in biejer Weife für Daniel forgte, aus bem
fernen Judäa einen Mann berbeiführte, bamit er ihn vom
Hungertode errette, bat nicht wohl darin feinen Grund, δας
mit derfelbe Zeuge feiner wunderbaren Erhaltung [εἰ unb
fie in Judäa verfünde, fondern es geſchah theils deßwegen,
weil die Babylonier gewiß keinen feiner Freunde in die Nähe
ber Löwengrube ließen unb er nicht durch fie Speife εἰς
halten fonnte, theils weil es nicht weniger geeignet war, ble
Allmacht Jehova's und feine Fürforge für feine Diener zu
offenbaren, a[2 die Bezähmung der Löwen.
. VL
Schluß.
Das Bisherige hat bem Beweis erbracht, daß bie Er-
zählung von Bel unb dem Drachen durchaus nicht die Srr-
thümer enthält, welche man in ihr gefunden haben wollte,
fondern im Gegentheil mit den Berichten der alten Gejchicht-
Schreiber, wie mit ben NRejultaten neuerer Forſchungen auf
bejte Harmonirt. Sie fat darum auch nicht den Jagenhaften
Charakter, ben man ihr beilegte. — G3. tjt vielmehr mit Aus:
nahme der Wunder alled, was fie berichtet, in ber einfachen,
natürlichen Weiſe gefchehen, welche ber wahren Gefchichte
eigen ijt. Die Stellung SDanielà zu Cyrus iſt eine derartige,
wie wir [ie nach bem, was wir über fein Verhältniß zu
1) Aehnlich ijt auch bie Entrüdung Henoch's bildlich bargeftellt
3. 8. in ber Conſtanzer Biblia pauperum, herausgegeben Ὁ. Pfr. Laib und
Dr. Schwarz, Züri 1867. Taf. XVI: Ein Engel in den Wollen er:
greift Henoch bei ben Haaren, um ihn in ben Himmel binaufzuziehen.
590 Wiederholt,
Darius Medus wiſſen, erwarten. Seine Freundſchaft mit
demſelben, feine Gewifjenbaftigkeit und Einficht in ber Amts⸗
führung und die wunderbare Errettung aus der Löwengrube
machten ihn bed Vertrauen? würdig, dad Eyrus ibm fchentte.
(δῷ konnte Darius feinen Nachfolger feinen treuern Freund
und Natbgeber in dem jüingft eroberten Reiche emipfehlen,
αἰ den erprobten und mit allen Verhaͤltniſſen befannten
Propheten. Seine Stellung war aber bie fajt nothwendige
Beranlaffung, daß der König ihn aufforberte, de Bel angue
beten. Daß er dieſes verweigerte und ohne Schen jeinen
Glauben an Jehova bekannte, verjtanb fid) bei einem Manne,
wie Daniel, von felbjt; wie e8 andererfeitö nicht verwundern
fann, daß Cyrus von ben Belöprieftern den Nachweis ver:
langt, daß ihr Gott ein wahrer lebendiger Gott ſei. Das
ehrwürdige Alter Daniels, [εἰπε Weisheit und Treue machten
feinen Glauben an die Gottheit des Bel wankend unb ver:
anfapten ihn, fie einer Prüfung zu unterziehen. Zudem
hatte er ja erſt vor Kurzem begonnen, ihn zu verehren.
Daß er drohte, je nachdem die Probe ausfiel, bie Priefter
oder den Propheten mit bem obe zu beftrafen, war bei
feinem religiöfen Eifer und feinem Haſſe gegen bie Luͤge
natürlich.
Die Probe jelbft bietet ebenfowenig Auffallended. Die
Belöpriefter jchlagen fie vor; denn fie waren aufgefordert,
ben Beweis für bie Gottheit des Bel zu liefern, und waren
ihrer Sache auch vollftändig fier. Darum überließen fie
e$ auch bem Könige und Daniel, das SOpfermabl hinzuftellen,
und entfernten jid) in ihre Wohnung. Das Mittel, deſſen
ber Letztere fid) bediente, fie zu entlarven, fag nahe, ba er
als Oberfter ber Magier Dan. 2, 48, fiher Kunde von
ihren Betrügereien erhalten hatte, und war einfach in ber
Bel und ber Drache. . 591
Ausführung. Der Opferaltar jtanb in ber Nähe be8 Tem⸗
pels; von dort fonnte er unbemerkt die Aſche Derbeibringen
lafjen, mit welcher er benjelben beſtreute. Da die Priefter
fi entfernt hatten, jo mußte e8 ihnen verborgen bleiben,
was er that und bezweckte.
Er zerftörte dann den Tempel und das Bild des Be,
aber nicht aus fanatifchem Eifer, jondern um eine Pflicht
zu erfülfen, Wie ba8 Mofaifche Geſetz ihm verbot, fremde
Götter anzubeten, jo gebot ἐδ ifm auch, bie Bilder und
Tempel verjelben zu zeritören. }. Er. 23, 24; 34, 18; Deu:
teron. 7, 5 x. (8 faun ihm dies fomenig zur Laſt gelegt
werben, wie dem Gítag die Hinrichtung ber Baalspfaffen.
Die Vernichtung bes Bel hatte aber die Tödtung der Schlange
zur Folge. Denn damit der König vollftändig von der Eitel-
feit des Göbendicnfted überzeugt wurde, mußte ihm nod) be-
wieſen werden, daß auch andere Götzen, bie in der That
lebten, ohnmächtige und vergängliche Weſen feien; und δὰ
er einmal fo enttäufcht war, fo gab er bereitwillig bie Er-
laubniß, aud) bie Schlange einer Probe zu unterwerfen.
Daniel verjprach fie ohne Schwert und Speer zu tödten;
e8 liegt darin Feine Prahlerei, fondern εὖ war dies notb- '
wendig. Obgleich man die Schlangen für Götter hielt, jo
glaubte man doch, daß fic ftürben, aber nur auf gewaltfame
Weife *). Hätte er fie mit bem Schwerte zerhauen, fo wäre
ber Glaube an fie nicht erfchüttert worden. Er warf ihr
barum eine unverdauliche Speiſe vor, an ber fie zu Grunde
gehen mußte. Da die Schlangen feine Geſchmacksnerven
haben und ihre Beute mit Haut und Haaren verfchlingen,
1) ὅτι ἀϑάνατον ein καὶ eis ἑαυτὸν ἀναλύεται, ὥσπερ προκεῖται" οὐ
ydo ϑνήσχει ἰδίῳ ϑανάτῳ, εἰ μὴ βία τινι πληγὲν τοῦτο τὸ ζῶον. Euseb.
Praep. evang. I. 41 Migne. P. Gr. t. 21. ©. 88.
Theol. Quartalſchrift. 1872. IV. Heft. 40
592 Wieberholt,
jo kann man e8 auch nicht unmwahrjcheinlich finden, daß fie
bie aud Fett und Haaren präparirten Kuchen [ral ἢ).
Wie nun ber Aufruhr ausbrad und ber König ge
nöthigt wurde, feinen Freund den Babylontern auszuliefern,
haben wir bereit gejeben. Er mußte ſechs Tage in ber
Löwengrube bleiben; biele Angabe ijt nicht gemacht, um ben
Bericht über bie erfte Errettung aus derſelben zu überbieten.
Da er früher nur eine Nacht unter den Löwen gewejen war,
fonnien feine Feinde glauben, biejelben jeten nicht hungrig
gemefen, ober er habe durch den Blick feiner Augen oder
andere natürliche Mittel fie gezähmt, unb dieſen Umſtänden
feine Erhaltung zuichreiben. Darum ließen fie ihn jede
Tage in ber Grube und wollten bie Löwen durch Hunger
zwingen, endlich über ihn herzufallen. Darum aber aud
ba8 doppelte Wunder, durch welches Gott ihnen noch jchla:
gender a[2 früher bewie2, daß „er Macht habe über alles
Fleiſch.“ V. 6. Er konnte e8 unter den obwaltenden Um-
tänden auch kaum augenjcheinlicher darthun, als daß er
jene zwang, ihrer natürlichen Wildheit und bent brennenden
Hunger zu wiberjiehen, und einen Mann aus dem fernen
Judäa herbeiführte, feinen treuen Diener zu fpeifen.
Wie die ganze Erzählung natürlich und innerlich wahr
it, jo tritt aud) ber Charakter Daniels in ihr fo hervor,
wie er nad) feinem Buche jid und darftellt. Offen, wie
derjelde Nebucadnezar und Baltafjar an ihre Sünden er:
innerte, Dan. 4, 24; 5, 17. machte er auch Cyrus auf bie
Thorheit [εἰπε Götzendienſtes aufmerkſam und befennt feinen
Gíauben. Wie er fid) um das Gebot be Darius Dan. 6,
11. nicht fümmerte und fortfuhr, in gewohnter Weile zu
1) f. Berthold 1. c. 1688.
Bel und ber Drade. 593
feinem Gotte zu beten, jo zeritörte er auch nicht adjtenb ben
Grimm der Babylonier ihre Göben, weil dad Geje εὖ
gebot.
Und ebenjowenig, wie er früher in Todesgefahr dag
Bertrauen auf Gott nicht verlor Dan. 2, 17 ἢ, verließ e8
ihn jet, und a(8 Habakuk erfchien, um ihn von Hungertobe
zu befreien, fab er darin eine Belohnung feines Vertrauen.
B. 38. Freilich ij bie Sprache, bie er dem Könige gegen-
über führt, etwas vertraulicher und nicht in bem Tone ber
Ehrfurcht gehalten, welchen er im Umgang mit Nebucadnezar
beobachtete. Aber ber Verfaſſer fagt auch, daß er ber ver-
trautefte Freund und beftändige Begleiter deſſelben geme-
fen fei.
Wir jehen, bie ganze Schilderung, alle einzelnen Züge
derfelben entiprechen ber Wirklichkeit und waren durch bie
Umftände gegeben; ein abjichtliched Streben nad) Verherr⸗
lichung des Propheten ijt nirgends wahrzunehmen. ft ion
biefe8 ein fprechendes Zeugniß für bte Treue bed Verfaſſers,
fo kommt noch bie Beftimmtheit feiner Angaben hinzu. — 9(5-
fehend von denen, bie wir jdjo geprüft haben, weiſe ich
bier nod) barau[ hin, daß er genau dad Maaß ber Speijen
und des Weines angibt, welches täglich zum Opfermale des
Bel verwandt wurde B. 3, be8 Futters, dad bie Loͤwen er-
hielten 83, 32; fowie bie Zahl der 3Belprielter VB. 10. Darin
Liegt angezeigt, daß er in Babylon felbjt zur Zeit des Cyrus
oder doch bald nachher lebte.
Die Erzählung zeigt die Nichtigkeit des babylonifchen
Güpenbienjte und bie Wundermacht beà wahren Gottes;
eben zu bem Zwecke ijt fie aufgezeichnet. Sie jchließt fid)
demnach würdig den ähnlichen Berichten im erjten Theile
be$ 38/8 Daniel an, Iſt ja aud) ihr Ausgang, daß bet
40 *
594 Wiederholt,
perſiſche König die Gottheit Jehova's anerkennt. Fragen
muß man ſich daher, weßhalb der Verfaſſer des Buches dieſe
Geſchichte, bie jo gut zu ſeinem Plane paßte, nicht aufge⸗
nommen hat. Aber darin ijt eben ohne Zweifel ber Grund
zu Juden, weßhalb man fie fpäter Dütgufügte. Wir haben
in ihr alfo eine werthvolle Ergänzung deſſelben; abgejehen
von den Auffchlüffen, welche fie uns über bie Perſon des
Cyrus und bie Babylonier gibt, beweist fie, baB dad wun—⸗
berbare Wirken Danield zur Ausbreitung des wahren Olau-
ben? fortbauerte big zu feinem Ende. Aber jollte fie nicht
nod) weitere Aufklärung bieten ?
Sm B. Géra 1, 1 ff. wird dag eigenthümliche Ghift
mitgeteilt, in welchem Cyrus ben Juden den Aufbau bed
Tempels erlaubt, und dad mit den Worten beginnt: „So
jpricht Cyrus, der König ber Perſer: alle Königreiche ber
Erde bat mir Jehova, der Gott de Himmels, gegeben und
er bat mir befohlen, ihm einen Tempel in Serufalem zu
bauen.” Es waren nicht politiiche Motive, welche ihm δα]:
jelbe eingaben und bewogen, ben Juden bie Freiheit zu geben,
etroa bie Abficht, fid in ihnen eine fejte Stüge feine8 Thrones
zu ſchaffen. Hätte er dies gewollt, jo würbe er jogleich nad)
der Eroberung Babylow’3 ihre Gefangenjchaft aufgehoben
gaben. Aber er wartete noch zwei Jahre; und kaum waren
zwei abre nach GríaB des Gbifte8 verfloffen und ber Tem:
pelbau begonnen, jo woupten c8 bie Feinde der Juden dahin
zu bringen, daß er auf der Ausführung nicht mehr beftand —
eit Beweis, daß e8 nicht eine wohl überlegte Maßregel ber
Politik war, vgl. Gàr. 4,5. Was hätte ihm denn auch eine
Judencolonie in bem ganz verödeten Lande berjebem nien
fönnen, bie fib Faum ber eigenen Feinde erwehren fonnte
und felbjt noch des Schutzes beburfte? Den meiften Juden
Bel und ber Drache, 595
gefiel eà unter den Babyloniern recht gut unb fie bezeugten
feine Luft, das Land ihrer Gefangenjdjaft zu verlaflen; fie
lebten zudem zerjtveut in bemjelbe ; jo daß aud) fie wenig
geeignet waren, bei einem Aufjtande etwa die perfilche Herr-
ſchaft zu ftügen. Außerdem aber würde aus ber Politik des
Cyrus bod) nicht das Bekenntniß Jehova's zu erklären fein,
welches ev in bem Edikte ablegt.
Auch die reinern religiöfen Anfichten der Juden waren
e8 nicht, welche ifi zu dem Erlaß deſſelben vermochten.
Wir haben gefehen, daß ber Parſismus, welcher bie bem
Moſaismus verwandten Säße enthält, in jener Zeit evjt im
Entjtehen war, wenigiten? in ber Füniglichen Familie noch
nicht bie Herrichaft erlangt hatte. Jedenfalls hätte bie 3Ber-
wanbtichaft ber Religion Cyrus doch nicht bewegen konnen,
Jehova den König be8 Himmels zu nennen, bem er feine
Herrichaft verdanke.
Fl. Joſephus berichtet antiqu. 11, 1. 2, man habe ihm
bie MWeiffagung ef. 44, 24 ff. vorgelegt und er habe jid)
dadurch veranlaßt gefühlt, bie dort gemeijjagte Erbauung
Jeruſalems und ded Tempels anguorbnen, Das mag rid
tig fein. Aber efe er dazu fid) verftand, mußte er bod)
überzeugt fein, daß man ihm eine wahre Weiffagung vor-
gelegt habe, mußte er an den Gott glauben, welcher durch
diefelbe ſprach. Schwerlich mar Daniel, trop beà Vertrauens,
dad er genoß, vermögend, durch bie Mittel der Belchrung
unb Meberzeugung biefe Umwandlung in bem Könige bervor-
zurufen. Auch die Wunder, durdy welche Jehova früher
feine Macht in Babylon bezeugt hatte, und von denen dag
B. Daniel berichtet, hatten kaum folche Krafl. Wunder
wurden auch von ben heibnifchen Góben erzählt. Die Aner-
fennung Jehova's mußte aber einem Marne wie Cyrus um
596 Wieberholt, Bel unb ber Drache.
fo ſchwerer fallen, als berjefbe von einem Wolfe verehrt
wurde, ba8 aller Macht beraubt und bei den übrigen 9ta-
tionen verachtet war. Nach der Macht des Volkes Tchätten
bie Heiden die Macht feiner Götter. Es beburfte der jchla-
gendften Thatfachen, ihn zu überzeugen, bap troßdem ber
Judengott ber wahre, und feine Götzen nichtig feien, That—
lachen, wie fie unjere Erzählung berichtet. Erſt wenn ba-
burdj in ihm ber Glaube an Sehova begründet war, Eonnte
man ihm die Schrift des Iſaias zeigen; erſt dann konnte
biefelbe ihn bejtimmen, das jüdische Volk in die Heimath zu
entlaffen und ben Tempelbau anzuordnen. Die Meberzeugung,
welche Daniel durch bie in ber Gefchichte von Bel und bem
Drachen berichteten Handlungen in ihm bewirkt hatte, war
indeß feine bleibende; durch unerwartete Greignijje plöglich
hervorgerufen wurde fie fchwächer und ſchwand endlich υἱεῖς
leicht ganz als ber Ginbrud ber Ereigniffe fid) verlor und
an die Stelle be8 greifen Daniel andere Rarhgeber traten.
Sp fonnte εὖ denn gefchehen, daß auch fein Eifer für ben
Sempelbau bald fchwand und er nicht mebr auf bie Aus—
führung beg Ediktes drang.
Menn ich dafjelbe als - εἶπε Folge des in der Erzählung
Berichteten betrachte, jo ijt das allerdings nur εἶπε Ver:
muthung; aber das Bekenntniß Jehova's, welches er unter
bem (inbrude ber wunderbaren Errettung Daniels ablegt,
entjpricht deinjenigen in ſeinem Edikte, und bie Thatjachen,
welche in ihr angeführt find, fine wohl geeignet, auch letz—
teres zu erflären. Es ijf barum wohl ber Schluß erlaubt,
baB beide in Beziehung zu einander jtehen.
Traum und Weiffogung nad bibliſcher und alterthüm⸗
fidjer Anſchauung.
(Eine religionsgefchichtliche Studie.)
Bon Profefior Dr. Werner in Wien.
Der Traum ijt zunächit ein pſychologiſches Problem,
welches unter ben Philoſophen be8 Alterthums zuerft Arifto-
tefe8 einer eingehenderen Erörterung unterzogen bat. Die
Träume beruhen nach 9[vijtotele8 ?) auf einer im fchlafenden
Menſchen noch nachwirkenden Erregtbeit de Sinnenver:
mögen? (αἰσϑητικον), auf Nachbewegungen der Sinne,
welche in ber Seele be8 Schlafenden beftimmte Vorſtellungsbilder
hervorrufen. Diefe Vorjtelungsbilder find nicht Bilder ber
Gegenftände felber , bie von ben Sinnen be8 MWachenden
wahrgensinmen worden find, jondern nur etwas diefen Wach:
bildern Aehnliches; man fieht im Traume nicht den $o-
riskus, fondern nur etwas bem Koriskus Aehnliches, bie
Traumbilder find nur bie Reſte wirklicher Sinneöwahr:
nehmungen. Die Traumbilder find natürlich nur unter ber
Vorausſetzung möglic, daß das empfindende Wefen zugleich
ein be8 Vorſtellens fähiges Weſen ijt; ber Menfch hat alfo
Träume, weil und infofern er ein be2 Empfindes und Vor-
1) In ber Schrift de somniis (περὶ ἐνυπνίων).
598 Werner,
ſtellens fähiges Sinnenweſen if. Damit ijt im Weſentlichen
erichöpft, was Ariftoteles zur pſychologiſchen Erflärung des
Träumen? beibringt; das UWebrige, was bei ihm hierüber
jonft noch zu finden ijt, kann nur mangelhaft ausfallen, ba
er zufolge feiner gänzlichen Unbekanntſchaft mit der Nerven-
phyſiologie weber bie Gentralftätte ber Sinnesapperceptionen
fennt, die er im Herzen, bem Sammelorte des Blutes fudit,
noch auch von ben jomatijdjen Mittlern und Leitern ber in
Borftelungen umzufegenden Sinnesapperceptionen eine nur
halbwegs genügende Vorftelung hat. Der Hauptmangel
aber dürfte in bem Mangel an Abvertenz auf das ber Seele
im Traume eigenthümliche Thun und Handeln gelegen fein.
Die Träume find nach ihrem ftofflichen Inhalte bod) wohl
Reproductionen von Sinnenbildern, welche bie Seele im Wach:
zuftande be8 Menfchen in fid) aufgenommen hat, und im
Schlafzuſtande desselben wieder au8 fid) hervorftellt und απ:
haut; nur verhält fie fid) in biefem Anfchauen ber aus
dem inneren Seelengrunde fid) ablöfenden Bilder vorwiegend
pajfto, unb die Abldjung felber vollzicht fid) αἵδ᾽ ein won ber
Obmacht be8 orbnenben Denkens größtentheild emancipirtes,
und [omit ungeregelted, vein natürliche® Thun der Seele,
zu deren MWefen als Iebendiger Form des Menſchenweſens
e$ gehört, in ftetem Bilden und NReprobuciren be8 in fie
recipirten finnlichen Vorjtellungsinhaltes begriffen zu fetu.
Dad Traumleben der Seele ijt fomit ungebundene, unge:
vegelte Selbftreproduction be8 im Seelengrunde vecipirten
ſinnlichen Vorſtellungsinhaltes ber Seele; Gefeß und Regel
bieleà ungebundenen regellojen Thuns ijt ausjchließlich auf
gewiffe ſtatiſch-dynamiſche Verhältuiffe be8 von der Seele
nicht vollfommen beherrfchten und bewältigten Voſtellungs⸗
inhaltes zurücdzuführen. Dem, wo bie Seele dieſes ihres
Traum und Weiffagung. 599
Borftelungsinhaltes vollkommen Herrin ijt, da träumt fie
nicht, ba fieht fie Del und klar, da geftaltet fie den αὐ
ihrem Grunde auftauchenden Bewußtſeinsinhalt fefojttbátig
und mit ber Macht jpontaner Energie, fie jchöpft ihn ſelbſt⸗
tbütig aus dem Grunde ihrer Erinnerungen, und gejtaltet
ihn nach den ihr bewußtes, felbthätige® Thun und geben
beherrjchenden und discipfinivenden Zwecken und Ideen.
Der Unterfchied zwifchen Traum: und Wachleben ber Seele
vebucirt fid) afjo auf ben Gegenjag zwilchen paffiver und
activer, ungebundener und geijtig disciplinirter Selbjtrepro:
duction ded Denk- und Vorſtellungsinhaltes der Seele, bie
in allem ihrem gebanfenhaften Thun fich jelber darftellt,
und auf irgend eine bejtimmte, inbivinuelle Art ihren all:
gemeinen Lebensinhalt veprobucirt, Das Weſen be8 Trau—
mes ift e3, eine vorwiegend paſſive ungeregelte Selbſtrepro—
buftion dieſes denkhaften ſeeliſchen Lebenzinhaltes zu fein,
wie fie dem Schlafzuftande der Seele zukommt; denn ber
Schlafzuftand ijt eben fo gut fpecifiicher Zuſtand der Seele,
wie be8 in den Schlaf verjenkten Geſammtmenſchen. Der
Schlafzuſtand ijt ein, allerdings durch das Gebunbenfein
ber Äußeren Ginnesthätigfeit bedingter, aber damit nicht
Ihlcchthin zufammenfallender Involutionszuſtand der Seele
unb des Lebens; die Hemmung ber Ginuentfátigfeit, welche
Ariftoteled ald Grund ded Eintrittes des Schlafzuftandes
angibt, möchte weit eher als Folge bea Eintrittes dieſes Zu—
ſtandes aufzufaſſen lei, obſchon nicht verkannt werben jo,
baB ihrerjeit3 aud) die Grmitbung der Sinnesorgane jenen
Involutionszuſtand veranlaffen farm und auch wirklich ver-
anfapt. Der Sadwerhalt in feiner Ganzheit aufgefaßt ijt
eigentlich biejer: Die der finnlichen Xeiblichkeit des Menſchen
als Animations- und Formprincip eingeſenkte Menfchen-
600 Werner,
feefe hat zufolge ihres Mangels an vollkommener Selbit-
mächtigkeit über den ihr zeitlich eignenden irdiſchen Stoffleib
dad Bebürfniß, in regelmäßig fid) wiederholenden Friften in
fid) ſelbſt zurückzugeben, und fi) zu einer erneuerten ener-
giſchen Faſſung be8 ihr eignenben leiblichefinnlichen Organs
ihrer zeitlich-irdiſchen Dafeinsthätigfeit zu fammeln. Dieſes
Surüdgeben der Seele in fid) ſelber hat bie Erjcheinung
einer allgemeinen Involution jenes Lebens zur Folge, defien
Prinzip bie Seele ijt; deinzufolge dann δα 8 allgemeine Zus
rücktreten fämmtlicher äußerer Sinnesthätigkeiten, welche?
den Schlafenden einem Leblofen ähnlich macht, wie dies in
bem befannten Worte der Alten, daß Schlaf und Tod Brüder
feien, ausgefprochen tjt. Das Zurückgehen der Seele in jid)
felber kann nun einfach ein Zurücktreten in den Stand be2
Unbewußtjeind fein, oder aber umgefehrt ven Kichtaufgang
einer höheren Welt und Ordnung im Anſchauungs- und
Denkleben ber von ber irdilchen Tagwelt abgezogenen Geele
zur Urſache oder Folge haben; ba8 Gewöhnliche indeß iit
dad Niedertauchen der vom ſinnlich⸗irdiſchen Tagleben ab:
gewendeten Seele in den Dämmergrund ihres geiſtigen
Selbſtlebens, welchem Dämmergrunde ſich ſofort in regel⸗
loſer bunter Folge ſich die Bilder entheben, mit welchen die
Seele während des Schlafzuſtandes halbbewußt beſchäftigt iſt.
Um das Traumleben der Seele in ſeiner ganzen vollen
Tiefe zu faſſen, genügt es nicht, die Seele als Formprincip
des menſchlichen Leibes zu begreifen, obſchon dieſe Wefens-
qualität der Menſchenſeele die Unterlage des Verſtändniſſes
des menſchlichen Traumlebens, wie des menſchlichen Grfennt-
nißlebens insgemein, abgibt. Der Grund, daß die Seele
überhaupt träumt, iſt aus ihrer Verſenktheit in die ſinnliche
Leiblichleit zu erklären; leibloſe Geiftwejen können feine
Traum und Weiffagung. 601
Träume haben, fondern [eben in ber lichten Tagwelt klarer
Anſchauungen, oder find in bie finjtere Nacht bildlofer Ge-
danfen gebannt. Die Verjenktheit der Seele in die finnliche
Zeiblichleit aber Dat ihrerſeits bie Wefendgemeinfchaft ber
Seele a(8 Formprincipes der finnlichen Leiblichkeit zu ihrem
metaphyſiſch⸗ontologiſchen Erflärungdgrunde; denn nur unter
Vorausſetzung diefer Weſenseigenſchaft der menſchlichen
Seele erklärt es fid), daß fie einerſeits entweder, wie bie
Kirche vom Urzuftande der Protoplaften lehrt, und wie nach
Schrift und Kirchenlehre in vollfommener ſchlechthin voll
endeter Weife im jenfeitigen Verklärungsſtande ftatthaben
fol, im Stande gnabenvoller Gehobenheit die finnliche Leib:
Tichkeit über jid) felbft emporgehoben halten kann, ober
daß fie andrerfeit3 dieſer bi8 auf einen gewiflen Grab ver-
haftet fein könne, wie dieß im Stande der gefallenen, und
während ber irdiſchen Seit mur relativ veftituirbaren Natur
ſtatthat. Ariſtoteles hält fid) am dieſen empiriſch gegebenen
Stand der gefallenen Natur, baber fid) aud) in feinen Be—
Ichreibungen pſychiſcher Vorgänge und Zuftändlichkeiten
allenthalben das Unfrete und Gebundene, burd) ben pſychiſch⸗
phyſiſchen Naturcharakter des Menjchen Determinirte an den=
felben in den Vordergrund jtefft. Dieß zeigt fid) aud) im
der ariftotelifchen Erklärung des Traumlebens. Nicht nur
wird ba der Traum ansjchließlih nur von Seite feiner
Entjtehung aus bem finnlichen Vorftellungsleben be8 Menfchen
in’3 Auge gefaßt, fondern überdies nad) Seite jeiner phufilch-
veranlaffenden Urfachen jo erklärt, baB er; wenn die Er:
Märung richtig und erjchäpfend wäre, gar nichts anderes,
af nur Phantadmen finnlicher Objekte zum Gegenftande
haben fónnte. Indem im Schlafe — fagt Ariftoteles!) —
1) De somnüs p. 460, b, 11.
602 Werner,
ber größte Theil des Blutes in bag Herz fich zurückzieht,
folgen ihm die bari enthaltenen Bewegungen (κενήσειρ),
und tauchen eine nach der anderen auf, um in Sinnbilver
imgejegt der Scele fid) zu präfentiven; im Wachzuftande
ſind diefe Bewegungen in ben von reichlicherem Blute et
füllten Sigen und Organen der Sinneswahrnehmung mehr
ober weniger niedergehalten — nicht fo im Schlafzuftande,
wo wegen des Zurückſtrömens be2 Blutes ind Herz bie
Hemmungen wegfallen, und fomit jene κιρήσδες ungeftört
fid bl$ zum Herzen fortpflanzen können, wohin gelangt fie
fodann in der Seele Bilder hervorrufen, welche fid) wie
wirkliche Wahrnehmungen eines beftimmten Sinnes reprä-
jentiren. Alfo, bie Träume kommen Tediglich aus bent Blute,
die Seele jet. feine Traumbilder aus fid) ſelbſt heraus;
ba2 zu denfelben hin unb wieder jid). geſellende Denken und
Meinen ift nur eine zufällige Zuthat zum Träumen αἱ
ſolchem. Damitift denn wohl auch die Unzufriedenheit, ja
förmliche Unrichtigfeit der ariftolifchen Erklärung des Traum:
phaͤnomens fchon bloßgelegt; biejer Erffärung zufolge founte
es feine Gebanfenträume, jondern nur Boritellungsträume
geben, bie fogenannten Gewiſſensträume würden lediglich
eine gewifle Gattung pſychiſch-phyſiſcher Sentationsphänontene
vepräfentiren! — —
Dem Gejagten zufolge dürfen wir bei Ariftoteles wohl
auch Feiner tieferen Auffchlüffe über fogenante Offenbarung?-
träume gemwärtig fein. Eine Traumoffenbarung fanıı bod
wohl nur eine aus bem inneren tiefften Seelengrunde her:
ausgeſetzte Offenbarung fein, jet e8, daß fie einem der Seele
felber eigenen tieferen Ahndungd: unb Wahrnehmungsver:
mögen entjpringt, fei e3, daß fie aua unmittelbarer Influenz
einer natürlichen Erregung und Einwirkung hervorgeht.
Traum und Weiffagung. 603
Eine derartige, au8 ber inneren Seelentiefe gefchöpfte Traum:
ahndung ober Taumeffenbarung ijf nach ber von Ariftoteles
gegebenen Erklärung det Traumphänomens ſchlechterdings
nicht möglich. Er verfagt zwar der Traummantik nicht
ſchlechterdings feinen Glauben ?), läßt aber ein hin unb
Yoleber ſtatthabendes Eintreffen von Traumvorbebeutungen
nur in Beziehung auf nachfolgende Zuftände ober Hand»
lungen be8 Tränmenden gelten, dem fich bie in ihm felber
gelegenen phyſiſch-⸗pſychiſchen Dispoſitionen zu jofden Zu⸗
ſtänden ober Handlungen in feinen Träumen angefünbiget
hatten. Sn allen anderen Fällen it das wirkliche Ein-
treffen be8 Vorausgeträumten lediglich Zufall, mithin bie
Dualität der geſammten Traummantit nach der einen Geile
auf pbpjild) - pinchifchen Determinismus, nach ber anderen
auf bie Willfür des Zufalled gejtellt, beffen Bereich die.
Sphäre des fublunarifchen Erdlebens ijt. Zufall und Nöthi-
gung find Gorrefate, welche der Kategorie be8 unfreien De—
terminirtjeind® angehören; der Unterjchieb zwijchen beiden
dt nur bier, daß in ber Nöthigung ba? in ber Natur ber
Dinge angelegte Determinirtfein wirklich durchgreift. Dieſes
Berhältnig des Zufälligen zum Nothwendigen muß aber ben
Ariftoteles dahin führen, zuzugeben, daß auch Dinge, deren
Ursachen außer dem träumenden Subjecte gelegen find, int
Traume vorausgefchaut werden können, wenn im träumenden
Subjecte die Apperception für bie, jene Dinge ober Greig-
nifje veranlaffenden allgemeinen kosmiſchen Einwirkungen
nicht durch eine im Selbjtleben des Menfchen gelegene Ur:
jache gehemmt ober zerftört wird ?). Aug biejer unge—
1) Vgl. feine Schrift de devinatione (περὶ τῆς καϑ᾽ ὕπνον μαντικῆς.)
2) Diefe Anſchauung wurde befanntlich auch in bie von der arifto=
telifhen Kosmologie abhängige Scholaftik Hinübergenommen. Vgl. Tho-
ma? Aq. Summ. 2, 2 qu. 95, art. 6.
604 Berner,
hemmten Empfänglichkeit für neceſſitirende ober betermini-
rende Urfachen irdischen Gefchehens leites Ariftotele bie Mög:
lichkeit ab, daß aud) Wahnfinnige Zulünftiges vorausfchauen,
weil in ihnen fein ſelbtſtthätig energijches Gedankenleben
die. Wahrnehmung für die aus kosmiſchen Urjachen itam-
menden Grregungen bed künftigen Geſchehens intercipire.
Daraus ergiebt ſich aber von felber, daß für gewöhnlich und
bei normalen gefunden Zuftänden bed Trämenden dag Ein-
treffen eines auf Äußere Thatjachen bezüglichen Traumes
etwas Zufälliges ijt. Menſchen von geſchwätzigem Wefen
und melancholiicher Art — jagt Ariftoteled — haben man⸗
cherlei Gefichte, und treffen barum auch auf foldhe, bie
ben Ereigniffen ähnlich find. Ueberhaupt feten e3. nicht bie
. Beten unb Verftändigiten ber Menfchen, welche jofdje an:
gebliche Weiflagungsträume haben, jonberm kommen bei
biefem ober jenem vor, wie es fid) eben trifft; man wird
demzufolge derlei Träume nicht für göttlich, jonbern befler
für dämoniſch halten, gleichwie auch bie Natur, aud beren
Cauſalzuſammenhange fie zu erklären find, nicht göttlich,
ſondern dämoniſch ijt.
Wir entnehmen aus dieſen letzteren Worten, wie Arifto-
teleg bemüht ijt, ben Glauben feiner Zeit: und 3Bolf8genofjen
an göttlich infpirirte Träume philoſophiſch zu erklären und
zurechtzulegen ; zugleich aber erjehen wir aus ber Geſammt—
heit deflen, wa er über Träume. und Traumoffenbarungen
bemerft, daß ihm der Gebanfe an ein prophetifch-intuitives
Bermögen der Seele, an eine divinatoriſche Kraft bevjefben
völlig fremd ijt, und zufolge feiner Faflung des Verhält-
nijfe8 der Seele als Formprincipes ber menjchlichen Leib-
lichkeit zu bieler fremd fein muß. Nicht, als ob bie bee
ber Seele ald Formprincipes des Menſchenweſens ein bivi-
Traum und Weiffagung. 605
natoriſches Ahndungsvermögen ber Seele ausfchlöße; ber
Fehler liegt vielmehr in bem Verhältniß unfreier Gebunden:
beit, in welches bie Seele nad) ariftotelifcher Auffaffung zur
finnlichen Leiblichkeit geftellt erfcheint, und welches bieler
Auffaſſung zufolge eigentlich nur im intellectuellen SDenfen
überwunden wird. Die anima intellectiva aber ijt bei
Ariſtoteles, ob]djon ber Subjtanz nach mit ber anima sen-
sitiva Eins, bod) der Sache nach etwas von ber (ebterem
wefentlich Verſchiedenes, die Syntellectualität erfcheint ala
etwad zur Senfitivität Hinzugelommened, was zu ber
Senjualität nur zufolge der Unterordnung beider unter ben
allgemeineren Begriff ded Pſychiſchen in Relation ſteht; ba
nun der Traum als [older der youyn alosmrıen, angehört,
und dad Denken der ψυχῇ voega an ihm keinerlei Antheil
hat, fo kann ev niemals feinem Weſen und feiner Natur
nad), jondern nur zufolge einer außerhalb ber Seele gele-
genen phyſiſchen ober kosmiſchen Influnenzirung prophetifcher
Natur fein. Ariſtoteles Tennt zufolge feiner realiftifchrempi-
riftifchen Denkrichtung feine aus der Tiefe ber menschlichen
GSeeleninnerlichkeit gejchöpften Anjchauungen, kann alſo auch
nicht auf ben Gedanken einer Durchgeiftung ber. Traumges
fite durch ſolche Anſchauungen fommen; cben jo wenig
Läßt feine Pſychologie eine Stelle für das Eindringen eines
‚aus höheren Welten in die Seele ſtroͤmenden Lichtes offen,
ba ihm dad höchite Licht und dic vornehmſte Leuchtkraft ber
Seele eben nur ber ihr eignende νοῦς ποιητικὸς ift. Dem:
zufolge Tann feine Pfychologie feine Ankündigungspunfte
für eine tiefere Würdigung, weder der menjchlichen Ahnungs—
träume, uod) auch der eigentlich prophetifchen Träume bar-
bieten. Eher möchte jeine Bemerkung über den dämoniſchen
Charakter der Träume als Naturoffenbarungen im Gegen:
606 Werner,
ſatze zu göttlichen Offenbarungen ἢ wenigftens in entfernter
Weiſe an dasjenige anklingen, was eine [pütere, weiter vor:
gejchrittene Naturkunde über die mit Hellfehen, Magnetismus
u. |. w. zufammenhängenden. Traumoffenbarungen in Er:
fahrung gebracht δαί, Das Urtheil des Ariftoteleg über
bie Traummantif ift, wenn fchon zunächſt burd) fein phi-
loſophiſches Denkſyſtem bedingt, zugleich aud) durch das
Verhaͤltniß feiner Philoſophie zum religiöſen Volksglauben
der Griechen beeinflußt, mit welchem er weder unbedingt
brechen wollte, noch auch ſich in das Verhältniß einer inneren,
innigen Uebereinſtimmung zu ſetzen vermochte; feine eigent-
liche Meinung hierüber wird wohl dieſe geweſen fein, daß
die philojophifche Einficht ba8 geläuterte und auf den Stand:
punkt be wahrhaften Vernunftdenkens emporgehobene Be—
wußtfein defien enthalte, was al8 Wahrheitsgehalt im reli-
gidjen Denken und Meinen des Volkes Iatenter Weife ente
halten fein möge. In Wahrheit trat aber für ihn, jo wie
ſchon früher für feinen Lehrer Plato die Philofophie an
die Stelle ber Religion, die er nur unter der Form des
heidniſch⸗griechiſchen Volksglaubens kannte. Daher auch feine
geringe Geneigtheit, den in demfelben wurzelnden Glauben
an die Wahrheit ber Traumprophetie zu theifen.
Sofern die antike Philojophie lid) dem heidnifchen
Volksglauben gegenüber af8 wahrhaftes Bernunftwiffen
fühlte, ſah fie ὦ unwillkürlich genöthiget, bie gefammte
Mantik, ſowohl die des Traumes, als jene des MWachzuftandes,
nach ihrem piychifchen Charakter zu einem der menjchlichen
Eigenvernunft entblößten Habitus des Wahrnehmeus und
1) Ὅλως δ' inet καὶ τῶν ἄλλων ζῴων ὀνειρώττει τινά, ÓOeoneunra
x , ES » 03»! sa ' , ? 2
μὲν οὐκ ἂν εἴη τὰ ἐνύπνια, οὐδὲ γέγονθ τούτων χάριν δαιμόνια μέν τοι "
3
7 γὰρ φύσις δαιμονία, ἀλλ᾿ ov ϑεία.
Traum tb Weiſſagung. $01
Erkennens herabzudrücken. Dieß geſchah nun Yon Selle
Erniger mit unverholenem Spotte!), während Citero, ob⸗
ſchon in Sachen der religivſen Divindtion gleichfalls philb⸗
fophiſcher Skeptiker, mit wirdigem Ernſte darüber Feist,
wb im eine umſtaͤndliche Eroͤrterung bed geſammten Div
natiosweſens f$ einlaäͤßt. Gemäß der im erſten Buche
Teined Werkes de divinatione enthaltenen apologetiſchen
ODoctlegung bed überlieferten Oivinalkonsweſens Find Schlaf
und Heiliger Wahnſinn bie amet Zuſtaäͤnde zurüchgetretenen
Selbſtlebens, durch welche die Seelen zur Reception gött⸗
fer Einflüße befaͤhiget würden. Plato®) jagt den Heiligen
Waähnſinn ver Weiſſagenden als eine Art theoleptiſchen Zus
ſtandes, in welchen ver Menſch außer ſich verſetzt gang nur
Werkzeug des Gottes ſei, ber auf und durch ihn wirke.
Gt unterſcheidet vier Arten ſolcher Zuſtaͤnde, bit er auf
Apollo, Divnyſos, auf ble Mufen, auf Aphrodite und Grab
zurückfüͤhrt. Sofern er, allerdings mehr fehergenb, den ero⸗
tiſchen Wahnſinn für ben beiten exfüct, kann ex ben theofep-
kiſchen Wahnſinn ber Seher tnb Welffäger, vbſthon er den⸗
ſelben in feiner Aufzählung der verſchiedenen Arten gött⸗
fien Wuhnſinns obenan ſtellt, nicht fo hoch gehalten haben,
als er ihn hätte halten müſſen, wenn ex ſein Denken mit
jenem des religibſen Volksglaubens ibentifieitt Hätte; er
wird ihn m erſter Linie eben Nur als einen pathologiſchen
Zuſtand höherer Art gewürdiget haben. Er gibt dann
1) Diogenes Laertius (VI, 24) erzählt von bem Cyniker Diogenes,
derſelbe habe fub gektpert, ak Drury μὰν ἴδῃ κοβερνητὰς ὃν HB βίῳ καὶ
tarevdc καὶ φιλοσόφους σονενώτατον τῶν Cow wird: τὸν ἄνϑρωπον- Ger
8b πάλεν ὀνειγοχρίχας er αἄνέεις καὶ roUQ "tpo8Kyorté: τούτοις, υὐϑὲν
μαϑαιδτερον vonkLeır ὀνθῥόώνιου.
2) Phaedrus p. 244 et 266.
Theol. Quartalſchriſt 1872. IV. Heft. 41
608 Werner,
weiter zu erkennen, daß er bie gleichlam im Stande des
Unbewußtfeind geübte ‚Weiffagefunft ober Meantik. höher
ſtelle, a8 die zur Kunft und Fertigkeit ausgebildete Deutefunft
(οἰωνιστική), was wohl in feiner Weife dann auch vom Ber-
hältniß ber Traumdeutekunſt (Oneiroſkopie) zur Traum⸗
prophetie (Oneiropolie) zu gelten haben wird.
Man wird wohl nicht irren, wenn man dieſe Auffaſſung
für die mittlere Durchſchnittsanſicht der vorchriſtlichen grie=
chifchen PHilofophie nimmt, obſchon e$ an Abweichungen
nach ber einen und ber entgegengejeßten anderen Seite hin
nicht fehlt. Cicero, welcher eine kurze Meberficht der hierauf
bezüglichen Anfichten ber griechischen Philofophen gibt 1),
berichtet, Xenophaned. und Epicur hätten alle Divination
verworfen;. dad Gleiche jagt von ihnen Plutarch ?) mit [pe-
ziellev Beziehung auf die Mantil. Bon ben Platonikern
und GStoifern gibt Plutarh an, bap fie die meiſten Arten
ber Mantik zugelaffen hätten; Ariſtoteles und Dikäarch aber
hätten bloß Träume und Weiffagung aus Inſpiration gelten
laffen *). Cicero fügt biejen Beiden als Dritten feinen
Beitgenofien Kratippug beit). Bon ben GStoifern nennt
Cicero Zeno als denjenigen, welcher der Mantik zuerft
einige Aufmerkfamleit gewidmet, fid) aber auf einzelne An
deutungen beſchränkt habe, bie ſodann durch Kleanthe weiter
ausgeführt worden ſeien; Chryſipp bingegen habe in nicht
1) Divin. I, 8.
2) De placitis philosophorum V, 1. $8ergl. audj Diog. Laért.
X, $. 186. :
8) Πλάτων μὲν καὶ οἱ «Στωϊκοὶ τὴν μαντικὴν εἰσάγουσι κατὰ τὸ
ἔνϑεον, ὅπερ ἐστὶν ἐνϑουσιάστικον, καὶ τὸ ὀνειροπολικόν * οὗτοι τὰ πλεῖστα
μέρη τῆς μαντικῆς ἐγκρίμουσι . .. .. ᾿Αριστοτέλης καὶ Axalapyos τὸ ster
ἐνθουσιασμὸν μόνον παρεισάγουσι καὶ τοὺς Oveípow.. Plac. philos. V, 1.
4) Divin; I, 3.
Traum und Weiffagung. 609
weniger a[8 drei Schriften fid) über Mantif, Orakel und
. Träume verbreitet; ihm feten Diogenes von Babylon, Anti-
pater und Pofidoniug mit Schriften Ähnlichen Inhaltes nach-
gefolgt. Einzig Pandtius, Schüler des Antipater und Lehrer
bed Poſidonius habe eine gewiſſe zweifeljüchtige Zurückhal⸗
tung gezeigt, ohne jebod) bi8 zur förmlichen Läugnung ber
Mantik fortgejchritten zu fein. Cicero ftellt fid den Stot-
fern gegenüber entſchieden auf bie Seite des Panätius, ja
er geht noch um einen Schritt weiter, unb fucht bie Une
vereinbarfeit des gefammten Divinationswefens mit einer ge-
Yäuterten und vernunftgemäßen Anficht von Religion und
Melt darzulegen. Wenn bie Stoifer, wenn ein Chryſippus,
Diogened, Antipater den Glauben an bie Realität der Di-
vinatton als eine unabweizbare Confequenz be8 Götter:
glauben darftellten und in den vielerlei zu Gegenftänden
ber Beobachtung gewordenen signis, ostentis, monstris
und prodigüs eine denknothwendige Selbftbefundung ber
Grijteng der Götter fahen, fo vermag Cicero 1) den inneren
denfnothwendigen Zuſammenhang zwiſchen ber Eriftenz ber
Götter unb ben bezeichneten Arten der Bekundung biefer
Eriftenz nicht einzufehen, und erblickt in bem Nachweis blefe8
Zufammenhanges eine fünjtfld) gefügte Kette von Beweis⸗
gliedern, deren jedes feinem inneren Werthe und Gehalte
nach problematisch jet, und hoͤchſt unficher mit den anderen,
deren Reihe es eingefügt fei, zufammenhänge. Da biefe
Bemängelung dad Divinationdwejen in feiner Geſammtheit
trifft, jo ijt Cicero natürlich nicht geneigt, jelbit aud)
nur bie von ben Beripatetifern anerkannten Arten umb
Formen der Divination: Traum und Weiffagung anzuer-
1) Divin. II, 48 ff.
41*
610 Berner ,
tennen. — G9 erfcheint ihm wiberfinmig, daß ber ſogenannte
heilige Wahnfinn das erfchauen jolle, was bem befonnenen
Sinne des Weifen verhüllt ift; die ſybilliniſchen Weifla-
gungen find, wie die in ihnen enthaltenen ἀκροσεεχέϑες
beweifen, nicht mantifche Inſpirationen, jondern künftlich zu-
rechtgemachte carmina deren umbejtimmte vieldeutige Aus⸗
jagen allerlei Anmendung und Ausbeutung zulaffen. Die
Seherin Kaſſandra gehört der mythifchen Dichtung am; bit
apollinifchen Orakel, mit welchen Chryfippus ein ganzes
Buch angefüllt bat, find zum Theile unwahr, zum heile
nur zufällig eingetroffen, andere fiub dunkel ober aud) jo
gehalten, daß fie für jeden Fall eintreffen mußten und ven
entgegengejeßten Möglichkeiten des Geſchehens Raum ließen.
Die Traumbivination wird: von den Stoifern auf das im
Schlafe den Hemmungen des finnlichen Wachlebens entrückte
Göttliche der Seele geſtützt; man braucht aber nur die bon
Zeno gegebene Erflärung be8 Schlafes zu lejen !), um bie
Unvereinbarfeit derfefben mit bem nebenbei behaupteten Frei⸗
werben der Seele im Schlafe augenfällig baliegen zu fehen.
Blato und Pythagoras wollen, baB man fid) durch eine bes
ſtimmte Disciplin be8 finnlichen Wachlebend zur Empfäng-
ftdyfeit für wahre und tieffchauende Traumvifionen vorbe⸗
reite; wenn Pythagoras αὐ blejem Anlaß den Bohnen-
genuß unterjagt, jo wird man unwillfürlich gemahnt, es fei
nicht? jo abſurd, daß ἐδ mid alfenfallà auch von einem
Philoſophen gejagt jein koͤnnte. Daß die Seele im Traum:
zuftande falfche Vorftelungen haben fónne, möge fie biejt
ans fich erzeugen ober möge fle, wie Demofrit annimmt,
1) Contrahi animum et quasi labi putat et concidere, et
ipsum esse dormire. Divin. II, 58.
Traum und Weiffagung. 611
von außen fommenbe Bilder im fich aufnehmen, liegt auf
ber Hand; bie Seele des Träumenden unterliegt denſelben
Täufchungen und Srrungen, wie jene be8 Wachen, beà Irr—
finnigen, Trunfenen. Wenn e8 jid) trifft, daß zufällig εἰπε
mal aud) Srrfinnige und Trunfene etwas Zufünftiges εἴς
rathen, jo wird ian fid) nicht wundern dürfen, daß unter
ber Menge ber Träume ber eine und andere wirklich auch
in Erfüllung geht. Es verhält (id) damit, wie mit bem
Venerius oder Glückswurf ber Würfeljpieler. Wenn im
Traume cingegeben würde, was ber wache Einn des Weifen
nicht zu erfpähen vermag, jo müßten Phyſiker, 3Bbilojopber,
Geometer und Dichter fid) jederzeit fchlafen legen, jo oft
fie ungeahntes Neues entdecken ober erjinnen wollen. — Im
Traume fol der Jucubator ober Tempelfchläfer das geeignete
Heilmittel für feine Krankheit erfahren; warum legt fid)
nicht auch bei anbebenbem Meerezfturme ber Steuermann
Ichlafen, um zu erfahren, wie fein Schiff aus den Gefahren -
ber wogenden See zu retten ſei? Man fage nicht, bie
Träume werben von ben Göttern eingegeben; es würde ber
weiſen Gottheit nicht ziemen, ben Menfchen im Schlafe über
dad zu belehren, wa er im wachen Zuftande jedenfalls viel
bejjer anfzufaflen im Stande ijt. Auch blicbe noch immer
ble Frage, welche Träume für goitgejenbete zu halten jeten,
und welche nicht. Man müßte ferner fragen, weßhalb bie
Götter, wenn jle fid) herbeilaffen, ven Stenfden im Traume
zu belehren, doch nicht zugleich jo beutfid) lehren, bag man
eines Traumdeuters entbehren fónnte? Chryſipp definirt
das Amt der Traumdeuter als Dollmetſchung der den Träu—
menden gewordenen Götteroffenbarungen; genügt hierfür
ein niederer Grab geiſtiger Einſicht, oder ijt. ein ausgezeich—
net hoher Grab von Bildung und Urtheilskraft nöthig?
612 Werner,
Wenn Iebteres der Fall fein follte, jo tjt. Cicero überzeugt,
noch nie im Leben einem ächten Traumdeuter begegnet zu
haben.
Wenn ber Philoſoph Gicero jo dachte, jo wirb felbit-
verftünb[it ber vornehme römijche Lebemann auch nicht an⸗
ber8 gebacht haben ἢ, und die geſammte gebilvete römijche
Heidenwelt der erften Kaiſerzeit wird in der Anficht einig
gewejen fein, daß man das Dergebradjte Divinationgwefen
und den ihm zu Grunde liegenden Divinationdglauben [ebig-
lich aus Gründen ber Staatsraifon und als unvermeibliches
Element des religidfen Volksglaubens zu reipectiren habe?).
Allein eben bieje8 Bewußtſein von ber unlöglichen Verwachſen⸗
heit be8 Beftandes ber gefammten Ordnung des heidniſchen &taa-
te8 und ber heidniſchen Gefellfchaft mit ben Bräuchen und Mei-
nungen bed heidnifchen Volksglaubens ſetzte auch der religiöfen
Skepſis wieder Grüngen, und jo lange man Feine andere, höhere
und geläutertere Form ded Religionslebens Tannte, als bie
überlieferte Beibnijdje, vermochte man fi auch ben 3Bors
ſtellungsweiſen derſelben geiftig nicht zu entziehen; ja man
umfaßte biejefbe mit erneuertem Eifer, als bei dem zuneh-
menden Verfalle der heibnifchen Soctetät ba8 Bebürfnik
1) Vergl. bie Verſe be8 Petronius in Satyr. CIV:
Somnia, qua mentes ludunt volitantibus umbris,
Non delubra Deüm, nec ab aethere numina mittunt,
Bed sibi quisque facit. Nam cum prostrata sopore
Urget membra quies, et mens sine pondere ludit,
Quicquid luce fuit, tenebris agit . . .. ..
2) Vergl. hiezu bie Stelle bei Gicero Divin. II. 88: Errabat
multis in rebus antiquitas, quas vel usu jam vel doctrina vel
vetustate immutatas videmus. Retinetur autem et ad magnas
utilitates reipublicae mos, religio, disciplina, jus augurium, collegt
guctoritas,.
Traum unb Weiffagung. 613
nad) einer Kräftigung unb Sicherung ber ethifch-religtöfen
Grundlagen ihres Beſtandes zuſehends tiefer fühlbar wurde.
Da aber diefe Grundlagen eben nicht die wahren und rich
tigen waren, fo fam man auch in biejer lebten Epoche des
antiten Heidenthums über den unverſöhnten Gegenfab
zwifchen Unglauben und fuperjtitiöfer Gläubigfeit nicht hin-
aus, und ber Proteſt gegen bem erjteren ibentificirte ſich
mit einer forcirten Repriftinatiou und Fufton aller Arten
von Superftition. — Sene rechte Mitte zwilchen Unglaube
und Aberglaube, deren Einhaltung Plutarch περὲ δεισι-
δϑαιμονίας urgirte, war eben auf dem Boden bes heibnifchen
Religionsbewußtſeins nicht zu ermitteln; auf einem Boden,
ber aus dem Stanborte ber Wahrheit einfach herausgerückt
it, kann e8 einfach nur eine Oscillation zwifchen unver:
mittelten Extremen geben. Der gebildeten philofophifchen
Reflexion heidniſcher Denker mußte fi im Hinblide auf
die Vorftelungen, Bräuche und Uebungen be8 heibnifchen
Volksglaubens "allenthalben dag Nohfinnliche, Weußerliche,
Unverftändige und jeber nationellen Baſis Entrücte der
heidniſchen Religionsübung aufbrängen; da aber bielen
Dentern nebenbei das Gebiet ber erften mweihevollen, vom
Lichte höherer Wahrheit erfüllten Neligiofität verdeckt war,
jo konnte das Philofophiren für fle mur entweder den Her:
austritt aus dem Bereiche des veligiöjen MWorftellend und
Denkens bedeuten, ober bie Philoſophie mußte ihnen zum
Mittel und Vehikel werden, ben Vorftellungen und Bräuchen
des Volksglaubens einen nationellen Sinn abzugewinnen.
Aber ſowohl ba8 Eine wie dad Andere fitt an unüberwind-
fihen Schwierigkeiten, da einerfeit3 ba8 veligtöfe Gefühl
und Bebürfniß nicht zu befchwichtigen war, anbererjeit8 aber
. ba8 gebildete nationelfe Denken mit der Unvernunft be
614 Wernar,
Vollsglaubens fid) nicht innerlich befreunden mochte. Indeß
behauptete hierin die Macht der eingelebten Gewohnheit ein
ſiegreiches Uebergewicht; das Heidenthum mochte als eine
bem Menſchheitsleben eingelebte Macht nicht fid) ſelber auf⸗
geben und konnte nur in ber Macht eine. höheren und ge—
klaͤrteren veligiöfen Principes überwunden werben. Das
veligidfe Vorftellen und Denken des Heidenthums hatte dem⸗
nach feine Apologeten und wilfendfundigen Vertreter big
in feine legten Zeiten hinab; erſt dann, ala ibm durch Auf:
gebet äußerer Machtmittel Ort und Gelegenheit freier Selbft-
aͤußerung gänzlich entzogen war, erloſch es gleich einer
and Mangel an Raum und Nahrung erjterbenden Flamme,
nicht ohne bie und da noch einmal trübe aufzufladern und
im ſchmutzigen Bobenfage de aufgezehrten Nahrungsftoffes
ble fegten Reſte jeined vergehenden Daſeins friſtend.
Die Neigung zur Traumdivination fcheint bem unge
bildeten Stune gleichfam angeboren; und wo fid) mit biejer
Neigung überdieß noch irrige Vorftellungen über Wefen und
Bedeutung der Träume ald Eingebungen höherer Schid-
jalgmächte verbinden, muß ber Glaube an bie Wahrheit je-
ber Divination faft unausrottbare Wurzeln fchlagen. Dieſer
Glaube Hat bei den Griechen eine ganze Literatur über
Traumprophetie unb Traumdeutung hervorgerufen; Qucian?)
hebt dein Nriftander aus Telmiſſos, erſten Seidjenbeuter am
Hofe Aleyanderd beà Großen, und ben dem zweiten chrift-
lichen Jahrhundert angehörigen Artemivor ala nambaftefte
Auftoritäten im Fache ber Traum⸗ und Zeichendeuterei her:
vor. Artemidor nennt al2 feine Vorgänger nebftvem einen
Nikoſtratua von Epheſus, Panyaſis von Halikarnaß, Artemon
1) Philopatr. 21. 22,
Traum und Weiffagung. 615
von Milet, Alexander von Mindos, Dionyfiod von Heli
polig, Phoibod von Antiochien; die ung noch erhaltenen
Overgoxgisixa Artemidors enthalten eine vollſtaͤndige Theorie
ber Traumdeutung zufammt etuer reichen Fülle von Belegen
und Beifpielen merkwürdiger Träume, deren Sammlung er
fid) zur Lebensaufgabe gemacht, und durch eifrige vieljäh-
rige Grfunbigungen auf Reifen in Griechenland, Stalien
und Alten zu Stande gebracht hatte. Nicht alle Träume —
lehrt Artemebor — find vorbebeutenb; e8 gibt eine Menge
von Träumen, bie einfach nur Neflere der fomatifchen und
pſychiſchen Affectionen des Wachlebeng find (ἐνύπνια), und
demnach nur gegenwärtig vorhandene Zuftände des trüu-
menden Subjectes anzeigen (σημαντικὰ τῶν ὄντων). Bon
biefen find alfo bie vorbebeutenden Träume abzufcheiden
(σημαντικὰ τῶν μελλόντων), die auch zum Unterfchiebe yon
ihnen mit einem anderen Namen belegt werden und ὄνϑεροι
heigen!). Dieje Klafje von Träumen zerfällt in zwei Haupt:
gattungen: övesgoı ϑεωρηματικοὶ und ὄνδεροι ἀλληγορικοί.
(rjtere zeigen dag Künftige in feiner eigenften Gejtalt, letz⸗
tere deuten e3 quf irgend eine Weife ſymboliſch an. Der alle-
gorifchen Träume gibt εὖ fünf Arten: ὄνδεροε ἔδιοι, daß:
jenige betreffend, waß ber Träumende fich felber tum ober
[eiben fieht; ὄνθεροε ἀλλότριοι, welches baà Thun obet
Leiden Anderer zum Juhalte haben; ὀνείρατα κοινά, mit
Beziehung auf Dinge, bie in Gefellfchaft oder Gemeinfchaft
be8 Srüumenben mit einem Anderen fid) begeben; ὀνείρατα
δημόσια, welche Dinge und Vorgänge auf Öffentlichen
Plägen zum Gegenftande haben; cveigare κοσμικά, mit
1) Die Definition ber Vorbedeutungsträume lautet: Ὄνειρός ἐστι
κίνησις ἢ πλάσις φυχῆς πολυσχήμων σημαντικὴ καὶ ἐσομένων ἀγαθῶν ἢ
xaxov. Oneirocrit. I. C. 9;
616 ferner,
Beziehung auf Vorgänge am Himmel, Sonne, Mond unb
Sternen u. j. Ὁ. Bet der zweiten und britten Gattung:
ὀνείρατα ἀλλότρια und κοινά handelt es fid) um eine fire
Megel, nach welcher zu bemeffen tft, ob das Geträumte an
bem Träumenben ober an bem im Traume gejchauten Dritten
fij erfüllen [013). Abgeſehen aber von ber in biejen
beiden Arten von Träumen zweifelhaften Perſonsbeziehung
ijt dei allen genannten Arten weifjagender Träume zu be
rücfichtigen, τοαῦ unb wie viel in einem beſtimmten Traume
wirklich vorbebeutend jel, unb in welcher Weile ba8 $Bor-
bedeutende bem Träumenden gezeigt werde. Mit Rückſicht
auf den erfteren Punkt ſowol wie auf den leßteren zerfallen
ble vorbebeutenden Träume in verjchiedene Gruppen, bie fid
nach beftimmten allgemeinen Geficht3punften (τρόποι καϑο-
Asxol) ſcheiden. Es kann nämlich, ba8 Was und wie Biel
δε votbebeutenben Inhaltes ber Träume anbelangend, εἰς
weder Vieles oder Weniges im Traume bedeutfam fein, und
durch dieſes viele ober wenige Bebeutfame Vieles oder We-
nige8 vworbebeutet werben; daraus ergeben fid) bie vier feate-
gorien: ostensio multorum per multa, multorum: per
pauca, paucorum per multa, paucorum per pauca.
Die find die τρόποι yevexob, unter welche bie SBorbebeu-
tungsträume zu jubjumiren find ° Sie find zu unterjcheiden
von einer anderen Art τρόποι, in welchen ber modus
significandi in's Auge gefaßt wird. Es kann nämlich burd)
eine dem Träumenden an fichangenehme Vorftellung etwas
Angenehmes, aber auch etwas Unangenehmes worbebentet
1) Die Regel lautet: Ὅσα μὲν πρὸς ἡμᾶς ve καὶ di ἡμᾶς yl-
verc, ἡμῶν αὐτῶν ἴδια νομιζέσϑω" ἃ δὲ un πρὸς ἡμᾶς ἢ δὲ ἢ μᾶς, ταῦ--
τα τοῖς ἄλλοις ἀποβήσεται. — Oneirocr. I, 2.
Traum und Weiffagung. 617
werben; ba8 Gleiche gilt von einer dem Träumenden an
fi unangenehmen Vorſtellung. Damit find al[o ble vier
τρόποι sidıxol der Borbeveutungsträume gegeben, welche,
wie bie vorauggehenden, von Artemibor durch Beifptele er:
f&utert werben. Auf Grundlage biefer allgemeinften vor:
läufigen Ortentirungen verbreitet jid) Artemibor über alle
benfbaren Gegenflände, welche ben Inhalt eines Traum-
bildes ober einer Traumvorftellung abgeben können. Um
möglihft volfjtànbig unb im genetifcher Ordnung das (δὲς
fammtmatertale alle8 Träumbaren zu umfaflen, verfolgt er
bie Gefammtreihe ber Bilder und Vorftellungen, bie fid) an
bie Einzelheiten ded menſchlichen Dafeind und Lebenslaufes
von ber Geburt bis zum Tode anknüpfen; Geburt, Gries
hung, Leibespflege 1), Lern» und Jugendzeit des Menjchen,
zufammt Allem, was bazu irgend wie fid) in Beziehung
feben läßt, daS Leben des gereiften Menſchen mit allen
feinen vielfältigen Beichäftigungen und Beftvebungen, ba?
Öffentliche Leben in feinen mannigfachen Abtheilungen, ble
gejammte Naturwelt, Pflanzen, Thiere, Steine, Metalle
u. ſ. w. werben burdjgenommen, um von Seglichem bie nach
Umftänden vielfach diverfificirte Bedeutung anzugeben. tam
bat mit einem Worte ein volfjtünbige8 Traumbuch vor fid,
nicht? zu jagen von einer Menge merkwürdiger Träume
und Traumerfüllungen, bie in den fegten Büchern be8 Werkes
1) Da ber menfdlide Körper aus vielen Gliedern befteht, unb
jedes Einzelne derfelben irgendwie Gegenftand einer Traumvorftellung
fein fann, jo muß von jeber biefer befonderen Traumvorftellungen auch
bie Bedeutung angegeben werben. Gin ergößliches SBeifpiel in Bezug
auf Träume, bie bag Ohr betreffen, ijt folgendes: Ὥτα ὄνου ἔχειν do-
xeiv φιλοσόφοις μόνοις ἀγαθὸν, ὅτι μὴ ταχέως κένει τὰ ὦτα ὁ ὄνος" τοῖς
dà λοιποῖς δουλείαν καὶ ταλαιπωρίαν σημαίνει. Oneirocr. 1. 24. .
618 genes,
ber Theorie ber Traumbeutungskunft angeſchloſſen werben?).
Die rationelle Unterlage des ganzen Syſtems ber Traum
deutung ift freilich von feinem fonverlichen Werih. Aus:
gehend von bent Unterſchiede zwifchen natürlich entſtehenden
und gottgejendbeten Träumen vindicirt ev ben leßteren eine
weiffagenbe Bedeutung, deren Interpretation auf bie gemein-
bin recipirte natürliche und conventionele Symbolik und
figürlihe Semantik der im Xraume erjcheinenden SObjelte
geftüßt ijt. In der richtigen Auffaffung dieſer Bedeutung
und deren Variationen und Mobificationen durch bie vielerlei
näheren concreten Beſtimmungen des SDeutung2objefte8. be-
fiebt aljo die Kunst des Traumauslegerd. Wann und unter
weichen Bebingungen ein Traum al? ein gottgefenveter an⸗
zujehen fei, unterläßt Artemivor zu jagen, oder gibt we
nigſtens ein fehr empirifches Kriterium biefür an; was un-
vermittelt und unerwartet im Traumleben auftaucht, gilt
ihm αἰ Heorraunsov. Als ob nicht auch derartige Trauım-
vorſtellungen und Traumbilder Nefultate eine ganz natür-
fiden Proceſſes fein füunten! Mann erkennt bier, wie ber
vBklige Mangel an einer pragmatildjen Pfychologie dem ſuper⸗
ftittöfen Meinen und Dafürbalten der heidniſch-antiken Welt
Vorſchub leiſtete; denn aus einem jolchen Mangel muß εὖ
erklärt werden, daß ein fo gebildeter unb vieljeitig belefener
Mann, als welchen Artemidor in feinem ganzen Werte fid)
bekundet, allen Ernſtes glauben konnte, durch den von ihm
qufgewiefenen Unterſchied zwifchen ὄνϑερος und ἐνύσενεον
die ffeptifchen Bedenken des Ariftoteles wider bie Realität
1) Als Schriftfteller, welche über merfwürdige Traumerfüllungen
berichteten, werden Oneirocrit. II. 54 Artemon von Milet, Ritoftratus
von Ephefus, Phöbus von Antiohien, Panyaſis von Halifarnaß an-
geführt.
Traum imb Weiflagung 619
ber Traumbivination überwunden und bejeitigt zu haben,
Sm Wahrheit geht dag richtige Verſtändniß biejer Divinn-
tion Beiden ab; bem Ariſtoteles, weil er fie aus ‚einem
kosmiſch⸗phyfikaliſchen Determiniamus erflärt, bem Artemidor,
weil er fie in der alleräußerlichiten Weile auffaßt und bie
Divination der träumenden Seele einfach für ϑεόπεμπεα
nimmt. Bon einer angebörnen Divknationzkraft δὲς Seele
weiß er eben jo wenig als Ariftoteles; er Hält jtd) einfach
an ben bekannten Homerifchen Spruch: ovsigara & vede,
welcher wohl immerhin auch einer tieferbringenden Ausdeu⸗
tung fähig gewelen wäre, wenn bie Anhaltspunkte zur ὅτε
gvünbung feiner finnigen Tiefe nicht überhaupt bem Stande
punkte des heidniſch-antiken Denkens entruͤckt geweſen wären.
Man würde irren, wenn man dem vorchriſtlichen Hei⸗
denthum bie ahnungsvolle Erkenutniß eines divinatorifchen
Vermögen? ber Seele ganz abiprechen wollte. Wie alle αἷς
deren gemeinjchaftlichen tieferen Auſchauungen und Wahre
heiten gehört auch diefe Erkenntniß oder Ahnung zum
Gemeingut und Gemeinbefig der gejfammten culturfähigen
Menfchheit, und bricht deßhalb auch bei ven Griechen in
genialen Inſpirationen be8 poetiſchen Schaffens umb philo⸗
jophifchen Deukens hervor. Die an Achilles gerichteten
Weiſſagungsworte des fterbenden Sektor ἢ Gelben bie
Meberzeugung, daß die im Tode freimerdende Seele In bie
Zukunft fieht — ein Gedanke, welchem Xenophon in feiner
Gyorepübie den οἰαἠι ει Ausdruck verliehen hat, wenn er
ben [fterbeuben Cyrus in ber Mahnrebe an feine Söhne
jagen läßt, bap, wenn e8 zum Sterben Pomme, die Seele
be8 Menjchen am göͤttlichſten [εἰ unb zur volllommenen
1) Iliad. XXII, 858—360.
620 Werner,
Freiheit gelange ἢ. Wir werben dieſes „Freiwerden“ am
Beſten als Entbindung eines in den Tiefen ber Seele ver⸗
borgenen Ahnungsvermögens faffen, weldjes nicht nur durch
den bejdymerenben Druck der unvollkommenen Leiblichkeit des
irdiſchen Zeitmenſchen ntebergehaften tjt, fonbern im finn-
fidjen MWachleben des zeitlichen Grbenmenjden auch durch
bie Maffe ber Eindrüde und Einwirkungen ber finnlichen
Außenwelt, und überhaupt durch ben gejammten Thätigkeitz-
und Lebensverkehr des menfchliichen Arbeitsleben zurück⸗
gebrängt wird, und eben beghalb mitunter nur im Traum⸗
leben ber in fid) ſelbſt zurückgezogenen Seele Raum findet,
ft jelber zu offenbaren. So welt es atjo eine Traumdi⸗
vinattor oder natürliche Traumprophetie gibt, wird fie auf
bie angegebene Art zu erklären fein; es verfteht fid aber
von felber, daß dad Wenigfte von dem, was man im Alter-
thum dafür hielt, wirklich eine derartige Traumprophetie
war, jo wie weiter auch noch die Identificirung und Gon-
fundirung der natürlichen Traumoffendarung mit ber über:
natürlichen ein Grunbirribum war, ben dad Heidenthum
von feinem Standpunkte aus jelbftverftändfich nicht über-
winden Tonnte.
1) ἸἘννοήσατε δὲ, ὅτι ἐγγύτερον μὲν τῷ ἀνθρωπένῳ ϑανάτῳ οὐδέν
ἔστιν ὕπνου' ἡ δὲ τοῦ ανϑρώπου ψυχὴ τότε δήπον ϑειοτάτη xaragat-
yeraı, καὶ τότα τι τῶν μελλόντων προορᾷ" τότε γὰρ, ὡς ἔοικε, μάλιστα
ἐλευϑεροῦται Cyropad. 8, 7, 21. In biefer Stelle ift zunächſt wohl
nur von bem, dem Tode nächftverwandten Schlafzuftande δὲς Seele bie
Mebe, was inbefjert am Sinne bes oben Geſagten nicht? ändert. An⸗
bere ganz direct lautende Aeußerungen über ba8 propbetije Schauen
ber Sterbenden find jene des Pythagoras und bes Ariftoteles, bie fi
hei Diodor. Sic. Biblioth. XVIII, p. 586 unb Sextus Empiricus
adv. Mathem. IX, 20. 21, unb zwar an beiden Stellen mit birecter
Beziehung auf bie in ber vor. Anm. citirte Homeriſche Stelle, mitge:
theilt finden.
Traum und Weiffung. 621
Eine natürliche Traumprophetie anzunehmen, werben
wir burd) die Bibel felder genöthigt. Die von bem ägyp-
tischen Joſeph gebdeuteten Träume des Mundſchenkes und
Bäkers am pharaonifchen Hofe, [o wie ber von Daniel ge-
deutete Traum des Stebufabnegar ftammten gewiß nicht aus
übernatürlicher Eingebung, waren aber anbererfeit3 un⸗
zweifelhaft prophetilche Träume Wir Haben und dieſe
Träume aus einem ber Seele natürlich eigenem Vorſchau⸗
ungsvermögen zu erklären, wobei allerdings noch ein [pecie
fiſcher Unterſchied zwijchen jenen Träumen, bie fid), wie
bie von Joſeph gebollmetichten beiden erfteren, auf bie gue
künftigen perjönlichen Geſchicke des Träumenden beziehen, und
jenem anderen Traume, ber univerjalgefchichtliche Entwicke⸗
lungen von meittragenbjler Bedeutung zum Inhalt hatte, zu
beachten ijf. . Jeder Menſch jtebt mit feinem Denken und. Leben
innerhalb eines allgemeineren Kreiſes und einer allgemeineren
Ordnung, bie ihn hält und trägt, unb mit welcher er Durch ble
vielfältigften Beziehungen verjchlungen tt; -fofern nur durch
bieje Wechjelbeziehungen fein eigenes Zukunftsgeſchick be⸗
ſtimmt oder bedingt ijt, ijt e8 jebr erklärbar, daß fid) ihm
bieje8 in Momenten, wo bie von ber Außenwelt abgezogene
und träumend in fich jelber verfunfene Seele tiefer in jid) ſelber
geht, unwillfürlid, zum Bewußtjein bringt, wenn jchon nicht
in Haren, beftimmten Gedanken, fondern in bilblicher Güt-
Fleidung und Verhüllung, entſprechend bem Weſen ber Seele,
bie als Lebendige Weſensform des Menfchen unabläßig im
Geſchäfte be8 Formens und Bilden begriffen ijt, und bieje
aus fid) zu erzeugenden Bilder und Formen jener concreten
Wirklichkeit, in deren Bereich jte als zeitlich wirkende ges
ſtellt iſt, adäquirt. Wenn die Seele ahnungsvoll dag
eigene zeitliche Zukunftsgeſchick ergreift, jo weilt bieB auf
622 isertee,
einen verborgenen, ihr Felber undrwußten Goutact mit jenen
Potenzen bin, durch deren Wirken dieſes Geſchick herbet-
geführt werben ſoll; fle berührt jtd) mit den itod) unberwußt
in den Seelen Anderer ſchlummernden Gebanken, Vorfäken
und Entfchließungen, durch deren Ausführung bab von ihr
erahnete Geſchick ſich erfüllt. Dieſer Griff in ble Tute
be? Qebertà, der bob noch ungewordene Zulänftige üt bie
unmittelbare Gegenwart der ahnenden Seele rüdt, ift aber
zu tief, als daR ba8 irdiſche Tagesbewußtſein bed Menſchen
f fofort über Sinn und Bedeutung des Erahneten fo
fort Mar zu werden vermöchte. Daher Tommi r$, bap bie
beiden Gefaͤngnißgenoſſen des Aguptifchen Joſeph ihre Ah:
nungaträume wicht verftanden, deren Deutung nicht das
Wert einer erlernten Kunſt ober irgend Eier refleriven
Dentoperation fein Tonnte, fonberm ben Vichtblick eines
geklaͤrten Seclertaugeß erforderte, ber, bem. Deutenden felber
nicht bewußt, bit geheimnißvolle Berlihrung der Seele beb
Träumenden mit ben die Traumerfüllung vernrfadhenden
Potenzen erahnete und erfaßte, und demzufolge auch ben
Sinn und Inhalt des meiffagenden Ahnungstraumes an's
Licht des hellen Denkens zu ziehen verſtand. Der von Da:
niel gebeutete Traum Nebufabnegard gehört einer höheren
Stufe erahneter Zukunftswahrnehmung an, bat aber mit
ben beiden vorigen Träumen bie gemein, daß er ohne Zu⸗
hilfenahme übernatürlicher Jafluenzen auf bie Seele des
Träumenden erflärbar ijf. Dasjenige, was ihn von jenen
beiden anderen Träumen unterjcheibet, ijt dieß, daß ev über
ben Bereich individueller Lebensbeziehungen des Träumenden
hinausgreifende Ahnungen allgemeinfter und umfaflendfter
Art in fid) fehließt, in welcher fich ihm univerjalgejchtcht-
liche Vorgänge und Entwickelungen, die noch im Schoße
Traum unb Weiffagung. 623
der Zukunft verborgen lagen, anfündigten, freilich ohne bap
ber träumende König bieje Ankündigung veritanden oder
auch nur in lebendiger Erinnerung zu behalten vermocht
hätte. In bielem Traume ſowohl, wie im Nichtverftehen
be2jelben, veflectirt fich - ren und genau da allgemeine
Berhältniß des naturaliftiichen Heidenthums zu der feine
Eulturentwicelung im tiefften Grunde haltenden und tva:
genden Macht der Wahrheit, bie ber gefammten univerjal:
gefchichtlichen Menjchheitgentwiclung verborgen immanitt,
ohne daß bieje, fomweit fie in ben Bahnen ver Gottentfrem:
bung und Gotteöferne verläuft, jener Wahrheit immanent
wäre. Weil der Verlauf der heidniſch-weltlichen Cultur⸗
entwicelung in jene Wahrheit nicht eingerückt war, konnte
Nebukadnezar den Traum nicht verjtehen; er mußte ihm
dur einen Mann von wahrhaft jeherifcher Tiefe gedeutet
werden, deſſen gotterleuchteted und gottgeflärtes Denken in
ber vom König nicht gefaunten Wahrheit jtand. Daß aber
biefe Wahrheit in der Seele eined Königs, ber über ein
Weltreich berichte, als eine Macht beà Gerichtes fid) au—
fünbigte, ijt etma? Natürliches, ja zufolge ihrer Smmanenz
im Menjchheitäleben etwas Unvermeidliches; bieje Art von
Prophetie ijt. im menfjchheitlichen Gejchichtöleben bleibend
vorhanden, und wird in ber lebendigen Mitte feiner Stroͤ⸗
mung perpetuirlich fid) anfündigen — traumartig ba, wo
bie Geijler ber Wahrheit abgewenbet find, im hellen Sehen
bort, wo die Seelen der Wahrheit zugewendet find und in
ihren Strahlen fid) formen.
Das vorhriftliche Heidenthum fand, obwohl aus ber
Wahrheit herausgerückt, auf dem allgemeinen Grunde ber
göttlichen Wahrheitäoffenbarung, ber dad gejammte gejchicht:
liche Eulturleben der Menjchheit hält und trägt. Es konnte
Theol. Quartalſchrift 1872, IV. Heft. 42
624 Werner,
fih demzufolge auch ben Inſpirationen dieſes göttlichen
Mahrheitägrunded aller menfchlihen ultureriftenz nicht
entziehen, und appercipirte in traumbafter Unbewirktheit bie
gefammte in's vorchriftliche Religionsleben ber gottgläubigen
Menjchheit projectirte Rückſtrahlung der Myſterien des
Heiles und ber Gnade, bie in Chriſtus jid) geoffenbart ;
und fo Könnte das vorchriftliche Heidenthum nach bert mannig-
fachen Geftaltungen feiner biftoriichen Exiſtenz ſelber eine
vieftge Traumprophetie genannt werben, welche ben Ge
fammtinhalt ber chriftlichen Heilßoffenbarung in mehr ober
minder unbemuplen Ahnungsregungen präfigurirte, und fo
fid) ſelbſt als dunkel empfundene aber tiefgehegte Sehn-
fucht deſſen Hinftellte, wa8 ber auf ein‘ erwählte Volk be
ſchränkte Verheißungsglaube der vorchriftlichen Dffenbarung?-
zeit als troftreich erhabene Hoffnung in fi) trug. — Dieß
wird die richtige unb einzig zuläffige Erklärung der chrilt:
lihen Wahrheitzahnung des Heidenthums fein — eine Er:
Märung, welche nad) bem [ἅπας objolet gewordenen An:
nahmen von Gnifebnungen au8 dem Moſaismus und zu:
folge der Unthunlichkeit eines ercejfiven Traditionalismus
allein als möglich übrig bfeibt.
Sofern dad Heidenthum nach jeiner lichten, ber gött-
fihen Wahrheit. ahnungstief zugemendeten Seite auf bent
Grunde der göttlichen Wahrheitsoffenbarung ftand, fonnten
ibm auch jupranaturale Erleuchtungen nicht ganz fehlen,
wenn jdon die Strahlen derfelben zufolge ber au8 bem
göttlichen Wahrheitögrunde herausgerücten Stellung bes
Heidenthums nur ſchräg einfallen fonte, und in bem ge
trübten Medium, in ba8 fie einfielen, gefchwächt, zerbrochen
und zerjtreut wurden. Ein Beifpiel derartiger unvoll-
fommener, aber wirklich fupranaturaler Erleuchtung, bie zum
Traum unb Weiffagung. 625
Theile eine unmittelbare, zum Theile aber durch ein tiefer
ahnendes Naturbewußtfein, vermittelt war, bietet unà bie
Bibel in ber Perſon be8 Bileam, ber Gott in Träumen δὲς
fragt, auch die Erforſchung von Wahrzeichen zu Hilfe zieht,
nebftbei aber im Wachzuftande bie hellften, unzweideutigen
Dffenbarungen erhält, freilich nicht zufolge feiner perjönlichen
Würdigkeit, jondern um als pajjiot8 Organ des Geiſtes,
ber ihn ergreift, bem providentiellen Berufe und der fünj-
tigen Glorie des erwählten Volkes Zeugniß zu geben.
Bileam ift nicht bloß eine merkwürdige Geftalt ber
altteftamentlichen Dffenbarungsgefchichte, ſoudern eine wahr:
haft charakteriftifche Yigur, an welcher fid) ebenfowohl ber
Unterſchied als auch die Wechfelbeziehungen zwifchen Heiden-
ibum und Judenthum, antiksorientaliicher Naturweisheit
und hebräiſcher Offenbarungsreligion ftudiren lafjen. Bis
[eant wird aus bem Lande am Euphrat, αἰ Pethor ge:
rufen; er war ohne Zweifel ein babylonifcher Naturweifer,
und wird von Balak, ber ihn ruft, für einen Mann ge-
halten, der mit Magie und Theurgie, nut Wahrjager: und
Beſchwörungskünſten umzugehen weiß. Das abergläubifche
- Bertrauen auf die Wirkſamkeit diefer Künfte hat den baby:
[onijden Ajtraleult zu feiner Vorausſetzung und Hinterlage ;
die zanberfundigen Männer müjjen allerdings auch gewiſſe,
ihren Zeitgenoffen verborgenen Kräfte und Wirkfamleiten ber
Natur für ihre Smede zu benüßen gewußt haben, haupt:
fächtlich aber wird das dunkle, räthjelhafte Gebiet magne:
tijder Erregumgen in feinen mannigfach mobificirten Gr-
Scheinungen von ihnen bis auf einen gewiſſen Grab be
herricht worden fein, und bieje Herrjchaft ihnen den Nim—
bus tieferbringenber Naturweisheit verliehen haben. So—
fern der babyloniſche Aftralglaube, ber im Eulte des höchjten
42”
626 Berner,
Himmelöheren, des Bel gipfelte, au8 der Elohimverehrung
b. t. au ber alten Verehrung ber Himmeldmächte heraus
gewachfen war, wies er anf eine, im aftralifchen Kosmis⸗
mus ber babylonifchen Naturmweisheit freilich ion ſehr ver:
dunkelte monotbeijtije Hinterlage zurüd, bie er mit ber
bebräifchen Offenbarungsreligion gemein hatte, unb bie [id
wohl aud) im Bewußtfein jener Naturweifen hin und wieder
ſehr entjchieden hervordrängen mochte. Wir werben dick
auf Rechnung jener verborgenen Wahrheitsmacht zu jeben
haben, bie im hiftorifchen Völferleben allgegenwärtig, al
Macht natürlicher und übernatürlicher Erleuchtung wirkt.
Ihre gejammelte Kraft Hatte fid von bem Zeitpunkt bet
Erwählung ber Abrahamiden angefangen in bem erwählten
Volke beg Heren concentrirtz ihre jeitlich gehenden Strahlen
warfen aber ihre erhellenden Lichter in bie Gejammtheit ber
das hebräifche Volk umgebenden Eulturfreife;. und jo ſtanden
denn auch die babylonifchen Naturweiſen im Bereiche biejer
Dffenbarung, deren Vernehmen in Bileam ſchon eine natür-
liche Ahnung von ber Bedeutſamkeit jenes Volkes, welchem
zu fluchen er gerufen worden war, ermeden mochte. Denn
er wußte ohne Zweifel von jenem Volke |o viel, daß εὖ
den Jehova-Elohim ehre und zu feinem Gotte habe; Jofern
er nun denſelben Höchften als Gott erkannte und verehrte,
fonnte fid) die hohe Bebeutfamfeit eines Volkes, das jeneu
Höchſten al8 feinen eigenen Gott ehrte, feinem Denken nicht
entziehen. Hiedurch war er disponirt, jene Erleuchtungen
zu empfangen, in welchen ifm das tiefere weltgefchichtliche
Verſtändniß jenes Volkes, bem er lud) DER follte,
au[gteng. -
Bileam empfängt von Jehova Elohim Offenbarungen
in Träumen; dieß hat er mit den Patriarchen des Debrüi-
Traum unb Weiffagung. 627
ſchen Volkes gemein, von welchen ev fid) baburd) unterjchet-
bet, daß die in ibm theilmeife noch vorhandene Empfäng:
lichkeit für Dffenbarungen ber himmliſchen Lichtwelt mit
einem prophetiſchen Snjtincte anderer Art gepaart ift, va er
als Habylonischer Kosmoſoph weit mehr Naturfeher denn
Prophet des Höchiten it. Zudem tjt er von den Patriarchen
des hebräifchen Volkes durch Jahrhunderte gejchteden, und
gehört einer fpäteren Zeit an, in welcher ber zu den Seiten
- Abrahamd nod) vorhandene Monotheigmug im Bereiche ber
vorchriftfichen Culturwelt allenthalben bereit? fo ziemlich im
kosſsmiſchen Naturalismus untergegangen war. Das träu-
merifch ahnende Weſen, welches ben allgemeinen Habituß -
ber noch au feinem entwickelten Culturdaſein gelangten Ge-
Tchlechter, Stämme und Völker ber culturfähigen Menjchbeit
bildete und einen Stand der zwijchen Kindheit und Jugend
Ichwanfenden Unreife conftituirt, war da in der Abwendung
von den ewigen unfichtbaren Dingen δένει δ völlig in die
Erahnung der Geheimniffe des fichtbaren Weltdaſeins ver:
jentt, und folgte unbewupt und unwillfürlich ben auf das
Sichtbare und Irdiſche gerichteten Inſtincten be8 menjchlichen
Lebend und Etreben?.
Die Bibel verlegt die Offenbarung durch Träume in
die Patriarchenzeit als erjte Anfangszeit des hebräifchen Volkes
und Anfangszeit jener Offenbarungen, bie in einem beſon⸗
deren von Gott gewählten Geſchlechte und Volke fid) επί:
falten follten. Moſes empfängt bie Offenbarungen des Herrn
bereit3 nicht mehr in Träumen, fondern in inneren Schau⸗
ungen eine zur höchſten geiftigen Energie gefammelten Wach⸗
lebend; und wenn fpäter ba3 eine oder andere Mal in den
altteftamentlichen Büchern eine Zraumoffenbarung erwähnt
ift, fo erfcheint fie zugleich auch ala ein minder vollfommener
628 Merner,
Grab und Modus göttlicher Mittheilung; Im Buche Daniel
erjcheint ſte als Form ber auf heibnifchem Boden fortge-
festen beilägefchichtlichen Propheteninfpiration. Demzufolge
gibt die Bibel unzweideutig zu erkennen, baf ble Traum-
offenbarung die‘ unterfte Stufe und mindeft volllommene
Form ber göttlichen Wahrbeitäoffenbarung darſtelle; fofern
fle in die Anfänge der israelitiſchen Volfägefchichte, in bie
PBatriarchenzeit fällt, bekundet fie, bag bag von Gott erwählte
Geſchlecht und Volk durch diefe mindeft vollfommene Art
und Form beà Offenbarens in ben Bereich ber göttlichen
Dffenbarungsthätigkeit überhaupt erjt eingeführt werben
mußte. Nebftvem ift nicht zu verfennen, bap fie für bie
Zuftände der Naturgebundenheit, wie wir fie in jener alten
Zeit vorauszufegen haben, und in Rückſicht auf ben unent-
widelten Stand eines felbftihätigen geljtigen Wachlebens, wie
wir ihn bei einfachen wandernden Htrtenfcheichen der Pa⸗
triarchenzeit finden, nicht blog bie vollflommenangemefjene, jon-
dern vielleicht auch bie einzig mögliche war. Andererſeits fónnen
wir nicht umhin, bel vefigió8 geitimmten Gemüthern von
. eblerer fittlicher Anlage und Denkart die Empfänglichkeit
für eine derartige Offenbarungsweife uns vecht groß zu
benfen; bie im Menfchheitäleben allgegenwärtige Wahrheit,
bie bajfelbe a(8 verborgener Grund hält und trägt, unb in
bie Tiefen ber von ihr nicht freiwillig abgewendeten Seelen
bineinleuchtet, mußte fid) bei der SSerbunfefung und mangel-
haften Entwidelung des höheren, geiftigen Wachlebens in
Traum und Viſion zum Durchbruch verhelfen. Es war
dieje Art von Apperceptign ble durch die gegebene Befchaffen-
heit menfchlicher Zuſtände naturnothwendig bedingte Form
ber Communication des menfchlichen Herzen? und Gemüthes
Traum und Weiffagung. 629
mit der im Menfchheitäfeben verborgen gegenwärtigen Macht
ber ewigen Wahrheit.
Die im menjchlichen Zeitbafein zu verwirflichende gött-
liche Idee fteht als eine vollentwickelte feit ewig vor bem
göttlichen Denken unb Anſchauen; fie projicirt dieſe ihre
vollfommene Auzgeftaltung auch in's Denken der zeitlichen
Erdenmenſchheit, jo wie bieje fte zu faffen und zu recipiren
im Stande ift. Die Brojectionen der vollentwickelten Idee
ber Menjchheit find, wie fid) von ſelbſt verfteht, Tauter gei-
fige Anticipationen der abjofuten Wirklichkeit ber Idee, vote
biejelbe im himmliſchen Sein αἵδ᾽ ewig vollendete fi) bars
jtellt, und als jo[dje burd) dag Kommen Chrifti auch i8
menſchliche Zeitbafein ft eingeführt bat. Demzufolge wird
alle Offenbarung als folche die Enthüllung der himmliſchen
Herrlichfeit zu ihrem Inhalte haben, [εἰ e$, daß bleje als
eine gegenwärtige gejdjaut, ober als eine zukünftige gehofft
werde. Im Geifte der altteftamentlichen Verheigungsreligion
fag εὖ, die Euthüllung diefer Herrlichkeit alà. etwas Sutünf-
tiged zu hoffen, und aud) bem chriftlichen Glauben und Be⸗
wußtjein, ba8 fid) der Erfüllung ber alten, bi8 in ven Be-
ginn der menjchlichen Erdenzeit zurückreichenden Heilsver⸗
beigung erfreut, ijt εῷ wefentlich und natürlich, bie voll:
fommene Berwirflichung ber heiligften und erhabenften Dienfch-
heitshoffnungen einer jeufeitigen, verflärten Wirklichkeit zus
zuweilen. Da biefe Wirklichkeit eine fupranaturale ijt, fo
muß auch jede ächte und glaubhafte, auf fie hinmeifende
Prophetie jupranaturalen Urſprunges fein; die Achte, wahr:
bafte Prophetie tft nichts anderes, als ein unmittelbare ober
mittelbare, näheres oder entferntered geijtig innerliches Ver⸗
nehmen jener heiligen, göttlichen Vollendung. ber Dinge, bie
im Reiche ber Himmlifchen Herrlichkeit ihr wahrhaftes Da-
630 Werner,
fein hat. Zwar bie Idee des vollendeten Seind unb beà
Seins in Vollendung ijt eine bem inneren Geiſtmenſchen
urbaft eigene bte, mag fte auch noch jo unentwidelt in
ihm Jchlummern; aber der Modus ber Vollendung und bit
Gieftaft des vollendeten Seind ergibt jid) bem Menſchen
nicht unmittelbar aus feinem von ber Gejchichte ber menſch⸗
lichen Gefammtentwidelung losgelöſten Selbſtdenken, und
die Gefchichte der menfchlihen Geſammtentwickelung kann
ihrerſeits jelber wieder nur in geiftiger Ergreifung bes in
berjelben wirkenden göttlichen Principes central erfaßt wer:
den. Sofern nun dieſes im Menfchheitöleben alldurchgrei-
feb wirkende Höchfte eine göttliche Macht tt, in beren
Kraft das labile und der Labilität anheimgefallene Menſch⸗
liche über fid felbft zu feinen unmandelbaren höchten Zielen
emporgehoben werben joll, ift jenes geiftige Ergreifen zu-
nádjt und unmittelbar nicht ein actipe2, im urhaften Selbft-
können begrünbete8 Ergreifen, jondern vielmehr ein Ergriffen-
fein von der Macht jenes höchſten alldurchgreifenden Prin⸗
Cipe3, und der Unterfchteb zwilchen ver Offenbarungsreligion
und ben vorchriftlichen heidniſchen Eulturreligionen iſt nur
der, daß dieſes Ergriffenjein in letzteren ein dunkles, traum
haftes, ſich ſelber nicht verſtehendes Ergriffenſein iſt, wäh:
rend ble ermwählten Propheten und Verkünder des geoffen⸗
barten Heild- und Verheißungsglaubens ein Bewußtſein von
ber activen Nähe des ihre Seelen und Herzen berührenden
göttlichen Geiftes und Principe haben und durch bie Macht
δε εἴθε jid) gehoben und getragen fühlen. Und jo wird
man wohl nicht irren, wenn man bie gefammte, an ben
chriſtlichen Offenbarungg= und Heildglauben anf(ingenbe my-
thiftrende Myſterioſophie der vorchriftlichen heidniſchen Völker:
religionen als eine riefige Traumprophetie des religidfen
Traum und Weiffagung. 631
Menſchheitsgeiſtes betrachtet, ber die im altteftamentlichen
Prophetismus als meſſianiſches Heil erfchaute neue Wirt:
fichkeit,, gleichfall8 in dunkler Wahrnehmung vielfältigft er-
ahnete und erahnen mußte, weil in ber alten, fid) au8-
lebenden Zeit unſichtbar und verborgen Dereitó ber chrift-
liche Welttag, der Gottestag der zeitlichen Erbenmenjchheit
gegenwärtig war.
Alles geiftige Vernehmen göttlicher Offenbarung febt
ein Ergriffenfein des inneren Menfchen von der Macht des
Göttlichen voraus. Dieſes Grgriffenmerben ijt ein Empor:
gehobenwerben de inneren Menjchen über fid) ſelbſt. So⸗
fern er von einer höheren Macht über ibm ergriffen und
dadurch jeiner gewohnten Lebensſphäre entrückt wurde, ijt
allerdings fein Verhalten ein paſſives Verhalten, welches
aber nicht als unfreie Zuſtändlichkeit gefaßt werden darf.
Der Fatalismus des vorchriftlichen Heidenthums , welches
bie Achte, wahrhaft göttliche Inſpiration nicht fannte, mochte
auf den Gedanken eines heiligen Wahnſinns hinführen, unb
ven Zuftand ber Theolepite felber als eine Art von Ver⸗
hängniß erjcheinen laffen, von welchem betroffen zu werben
bie zum Organe des weiffagenden Gotted gewordene Seele
ala ein tiefftes Wehe empfinden müjje. Wenn Philo unb
Joſephus Flavius diefe Vorſtellungsweiſe auf das Gebiet ber aft-
teftamentalichen Religionsoffenbarug übertrugen, fo mochten
ite hiefür in einzelnen Stellen ber altteftamentlichen Religions-
und Offenbarungsbücher Anhaltspunkte gefunden zu haben glau=
ben (vgl. I. Sam. 19, 24 und bie in 2. Kön. 9, 7; $90]. 9, 7 ; Ser.
29, 26 vorkommende Bezeichnung der Propheten als yao);
in Wahrheit aber zeigten fie fid) in biefer Hinficht von bem
Einfluffe heidniſch-antiker Religionsanſchauung abhängig, und
befundeten damit zugleich, daß das mit ber heidniſch-antiken
632 Berner,
MWeltbildung in nähere Berührung gefommene altteftamentliche
ubentbum nur von cinem über baffelbe hinausgreifenden
Standpunkte aus das richtige Verſtändniß feiner felbft und
feiner heiligen Weberlieferungen fid) retten könne Die alt-
teftamentlihe Prophetie ift nur dann wahrhafte Prophetie
geiwejen, wenn fie in ber neuteftamentlichen Gottesoffen-
barung ihre vollfommene Erfüllung gefunden Dat; bat fie
diefe in derjelben gefunden, fo waren bie Propheten bes
A. T. hellſchauende Männer, in deren Geift der große
Gottestag, ber mit Chriftug auf Erben aufgehen follte, ſchon
hineinleuchtete, ehe diefer Tag gefommen war. Das Kommen
biefed Tages ijt aber als ein Werk ber weltlcitenden göft-
lihen Providenz aufzufaflen, deren Vorkehrungen und Be
ichlüffe von ben Propheten geiftig erfaßt wurben, ehe fie in
die gefchichtliche Wirklichkeit übergeführt worden waren.
Diefes geiftige Erfaſſen und Ergreifen göttlicher Heildrath:
ſchlüſſe feßt aber eine geiftige Sammlung und Xetivität
höchiten Grades voraus, ble mit ber heiligen Raſerei eines
theoleptiſchen Wahnſinns nicht nur nicht dad Geringfte ge-
mein bat, fondern in demſelben excluſiven Gegenjatge zu ber:
felben fteht, wie ber erleuchtete und wahrhaft veligiöfe Bor:
ſehungsglaube zum heibnifch-antifen Fatalismus. Diefer ift
wejentlih Naturalismus, und das gejammte heidniſch-antike
Orakelweſen fteht auf bem Boden biejed Naturaligmus; vie
altteftamentliche Offenbarungsreligion tjt aber ihrem innerften
Weſen und eigenften Geifte nad) ber ausgeprägteſte Wider:
fag bieje8 Naturalismus, und dag Ehriftenthbum, in welchem
ber altteftamentliche Religiond- und Verheißungsglaube jid)
erfüllt Bat, bat fid vom Anbeginn ber als Religion bes
Geiftes und ber lidjten Gottegwahrheit in's menfchliche Zeit-
baje eingeführt, und ift feinem Weſen nad) Erhebung
Traum und Weiffagung. 633
zum Dafein in ber ächten Freiheit, zum Freiſein in Gott.
Wie vertrüge [i mit diefem Charakter der chriftlichen
Heilgwahrheit und Offenbarungsweisheit jene geiftige Un-
freiheit als fpecifiiche Signatur ber ihre Enthüllung geiftig
anticipirenden alttejtamentlichen Prophetie?
Die altteftamentliche Prophetie hat ihr Eorrelat im
Bereiche der heidniſch-antiken Welt. Dieſes Correlat tit
aber nicht in bem mit Superftition behafteten Neligiong-
leben ber in Kosmismus und Naturalismus verſenkten
Heidenwelt, jonberi in dem über diefe fuperftitiöfe natuta-
fiftiid) getvitbte und verdunkelte Neligiöfität hinausſtrebenden
Geiſtesleben der antifen Welt zu fuchen, unb bietet fich
demzufolge dort dar, wo e$ ein entwideltes geiſtiges Bil⸗
dungsleben gab, aljo vornehmlich im Bereiche des antiken
Griechenthums, welches den Hochpunkt und bie eigentliche —
Blüthe des vorchriftlichen freiweltlichen Bildungslebens dar-
ftelt. Die wahrbaften und wirklich von einem höheren,
göttlichen Hauche berührten Propheten der heidniſch-antiken
Welt find die Dichter und Denker be8 hellenifchen Volkes,
in deren Geijter bie tiefften Ideen der chriftlichen Erfenntniß
als Abjchattungen jener Einen und Höchiten in Chriſtus
bargeftellten Wahrheit ahnungsvoll aufgiengen. Wir rechnen
hieher die tieffinnigen Gebanfeu und Ahnungen der pytha⸗
goräiichen und platonifchen Philofophie, bie tiefen ethiſch⸗
religtöfen Gebanfen und Ahnungen ber großen griechiichen
Tragifer, unter welchen Aeſchylos mit bem erhabenen Schluße
jeiner Prometheustragddie obenan ſteht. Plato ſchwang
fih in feinem Sinnen und Denken in dad Reich einer
idealen überweltlichen Wirklichkeit auf, in welcher das irdiſch
Unvollkommene und zeitlich Unvollendete in ewiger himm⸗
liſcher Vollendung eriftirt; bie griechifche Tragik bedie bie
634 Werner,
Geſetze einer Heiligen Ordnung des fittlichen Menfchendafeing
auf, und lehrte in den Ideen von Schuld und Sühnung
ble tiefften Geheimniſſe be8 menfchlichen Zeitdaſeins erahnen.
Sp wurden ein Aeſchylos und Sophofles ihrer Zeit und
ihrem Volle zu Lehrern heiliger Gottesfurcht, Plato aber
lehrte bie Menjchheit den himmlifchen Urfprung der Seelen
und bie wahre ewige Heimath ber Geijter. Es mar bie?
fein Erkennen unmittelbar im Lichte jener ewigen Wahrheit,
deren Glanz in die Seelen der Propheten hineinleuchtete ;
aber e8 war vom Glanze diefed Lichtes umſäumt, e8 war
eine unvermittelte ideale Anticipation beffet, was auf bem
Boden der chriſtlichen Erkenntniß in volllommener Ber:
mittelung mit dem gejchichtlichen Zeitdaſein des Menfchen
αἱ tiefſter Gehalt unb tieffte Wahrheit diefed durch jr
tbum, Schuld und Sünde getrübten Zeitdaſeins fid) ent-
$ülfen ſollte. Es waren göttlich injpirirte Ahnungen und
Schauungen des geiftigen Wachlebend ber außerhalb dem
Bereiche der -unmittelbaren göttlichen Heilsoffenbarung
ftehenden Menſchheit, es war bie göttlich infpirirte Geijt-
prophetie auf dem Boden des heibnifch-antiten Eulturleben?.
Plato überfliegt die Gefchichte und flüchtet jib unmittelbar
in dag Reich ber een, weil er die in der Geſchichte fid
offenbarende Religions- und Heilgtüchtigfeit der gnädig
waltenden Gottheit nicht fennt; bie antife Tragik vertieft
. fi in den ethifchen Sinn und Gehalt ver Gefchichte, und
faßt ihn jo tief, als er ohne chriftliched Erlöfungsbemwußt:
fein nur immer gefaßt werben fann, weiß aber das lebte
erffürenbe Wort nicht zu finden, fondern bleibt vor bem er:
ahneten heiligen Walten ber Gottheit als einem dichtum—
ſchleierten undurchbringlichen Geheimniß ftehen. Die Spuren
ber verborgenen Wege Gottes leuchteten von Anbeginn ber
\
Traum und MWeiflagung. 635
in ber altteftamentlichen Heilsgefchichte, und bie im Lichte
ber Heilsoffenbarung gemedte Prophetie verfolgte bie Ent-
widefung jener Wege, vorſchauend bis in bie fernften Enden
ber irdifchen Seit; dag in der chriftlichen Offenbarung2zeit
aufgejchlofjene Gebeimnip des göttlichen Rathſchluſſes, der
auf die Vollendung der Zeit und Welt unb der Menijch-
heit in beiden abzielt, ftand bereitd halb enthüllt vor ben
geiftigen Blicken der altteftamentlichen Seher, und uns bleibt
einzig übrig, ber in [ucceljio erweiterten Peripetien ſtets
reicher und voller jid) geitaltenden Erfüllung und Ent-
widelung der im propbetijd)en Schauen anfgegangenen Zus
funft2bilber zuzujehen. Unſere gefammte Erkenntniß der
menschlichen Dinge tjt zuhöchſt eine hiftoriojophifche Erfennt-
nip, bie zum Mittelpunfte Ehriftus bat; alle Radien des
geiftigeethifchen Lebens der Meenjchheit laufen in der Idee
Chrifti, be8 heiligen Urbildes und himmliſchen Erneuererd
ber Menjchheit zujfammen, und mit Beziehung auf Diele
Idee vollzieht fid im gejchichtlichen Menjchheitsleben bie
Scheidung ber großen Gegenjüge, deren enbgiltige und δὲς
finitive Auseinanderſetzung den zeitlichen Erdentag der
Menschheit abjchließen, und dad Ende ber Weltentwidelung
üt den erſten Anfang derjelben, in die uranfängliche Schei—
bung von Licht und Finſterniß zurückvermitteln wird. Der
erfte KTichtaufgang in der fichtbaren Welt und Schöpfung
war jchon eine erjte Weiffagung auf bie legte Vollendung
und Klärung derſelben in einem Höheren göttlichen Lichte,
beffen fonnenhafter Herb der himmliſch verklärte Chriſtus,
bad Prototyp der in Gott verflärten Schöpfung und bie
wirkſame Urjache ihrer Vollendung und Verklärung, ijt.
Diefe Idee Chrifti als göttlichen Prinzipes der Weltvollen-
dung und Meltverflärung ijt eine bie meſſianiſche Heils⸗
636 Werner, Traum und Weiffagung.
prophetie tragende und ftüßenne Grundidee, gehört aber
nicht mehr der Prophetie, fondern der chriftlichzevangelifchen
Gneſis an, und Debeutet einen letzten Aufichluß und Ab-
ſchluß ber in ben Apoſtelſchriften fid entfaltenden neutefta-
mentlichen Offenbarungsweisheit, bie einen legten, höchften
Abſchluß der gefammten altteftamentlichen Offenbarungs-
entwicelung und zugleich bie ibeelle Grundlage bildet, in
welche ba8 geſammte geiftige Selbſtdenken der Menfchheit
eingerückt werben muß, um zur richtigen Orientirung über
ba3 bem menschlichen Herzen und Gemütfe angeborne Seh:
nen und Hoffen, und über bie ihm unvertilgbar eingefenften
Ahnungen und urhaften Begehrungen ber Seele zu ge:
langen.
Recenſionen.
l,
Menahem Ben Saruk. Mit Berückſichtigung feiner Vorgänger
und Nachfolger. Ein Beitrag zur Giſchichte der hebräiſchen
Grammatif und Lerikographie von Dr. Siegmund Grof.
Bredlau 1872.
Es bedarf wohl feiner Rechtfertigung, wenn in einer
Zeitſchrift für wiſſenſchaftliche Katholifche Theologie ein
Buch näherer Beurtheilung unterzogen wird, welches fid)
die Darftelung des allmähligen Fortfchrittes ber Erkenntniß
ber alttejtamentlichen Sprache während des frühern Mittel:
altera in ben Kreifen, die allein damals bibliſch-linguiſtiſche
Studien betrieben, zur Aufgabe gemacht und diefelbe in
Anbetracht des jchwierigen Stoffes nicht unrühmlich gelöft
hat. Man gewinnt dabei Günblid in eine rege Titerarifche
Thätigkeit in Jahrhunderten, welche jonit mit faum ftellen-
weife durchbrochenem Dunkel bebedt erjcheinen, und in εἰς -
ftige Verfehräwege von Land zu Land, auch über Meere
und Berge, [omie anberjeit8 in die Schwierigkeiten eines
gründlichen Verſtändniſſes der Heiligen Schriften Alten
638 Groß,
Bundes jelbft innerhalb ber fleifchlichen Nachkommen des
Bunbesvolfes, die fich erit allmählig und nicht ohne häufige
Rückfälle au8 ten Feſſeln von Talmud und Kabbala her-
audwanden, während jener Jahrhunderte, wo bie lleber-
ſetzung be8 Hieronymus in immer mehr fid) verfchlechternben
Abſchriften bem chriftlichen Abendlande, vie griechifche ber
Septuaginta in ähnlicher Depravirung dem Morgenland
genügte. Was aber nod) wichtiger ijt: Wir vermögen und
bie Schwierigkeiten zu vergegenwärtigen, unter welchen SHie-
ronymus, von rabbintichen Gelehrten unterftüßt, feine 3Bibel-
überjeßung fertig brachte, denn daſſelbe Herumtaften und
Ringen nad) Ichärferer Ergründung des Sinnes dunkler
Worte und Säbe begegnet und bei bent großen Kirchen:
vater wie bei den jüdiſchen Sprachgelehrten des früheren
Mittelalters, bie jener, ein halbes Jahrtauſend früher, an
Geſchmack, congenialem Erfaffen des theologifchen Gebaufen8
unb pajfenber Wiedergabe defjelben übrigens durchweg liber-
troffen hat. — Wir müffen aber, ehe wir ben Inhalt des
Buches näher betrachten, auf geſchichtlichem Wege das Ber:
ſtaͤndniß und bie Würdigung beffelben anbahnen, da e8 von
ben gewöhnlichen theologischen Wiſſenſchaftszweigen ziemlich
abliegende Studien vorlegt, die nichtsdeſtoweniger diefelben
in ihrer Grundlage lebendig berühren.
Die talmudiſche Periode des alttejtamentlichen Schrift-
verjtändnifjed hatte mit ber Gobificirung des betreffenden
Materiales, das die Traditionen vieler Lehrer und Schulen
ber vorhergegangen Jahrhunderte feit Zerſtoͤrung Seru:
ſalems und felbjt nod) älterer Zeiten umfaßte, gegen Ende
des fünften Sahrhundert3 ihren relativen Abfchluß gefunden
und wurde burd bie ber Geonim abgelöſt. Soie
war ber Gbrenname (von Tiny, Hoheit, afjo illustres) ber
Menahem Ben Saruf. 639
orthodoxen Lehrer, welche bem ſchon in ber vorigen Periode
gegründeten hohen Schulen ber Juden in Mefopotamien,
namentlich zu Cura und Pumbedita, vorftanden und für
die gejamunte jüdische Diaspora geiftliche Vermittler des
Schriftverſtändniſſes und Leiter des religiöfen Lebens wurden.
Erſt nad vier Jahrhunderten hörte Vorderafien auf, ben
geijtigen Mittelpunkt ber gefammten Judenſchaft im Gao—
nate zu bilden, da in bem Verfaſſer ber arabifchen Bibel:
überfegung Saadia im zehnten Sahrhundert noch zum
letztenmal aufleuchtete. Nun begann aber in Spanien (Ge:
farad), ba8 die Muhammedaner 711 zum erjtenmal betreten
und den MWeftgothen nach und nach zum größern Theil ent-
rißen hatten, daß wiljenfchaftliche und refigibje Leben unter
ber Judenſchaft Wurzeln zu jchlagen und Andalufien über:
nahm die TFührerfchaft, bie vordem Judäa und Babylon
inne gehabt hatten. Spanien [0 nad) wenig zuver:
läffigen Berichten feiner Chroniken zur Seit. des erften
Sempelà Bekenner des jüdischen Glauben? gehabt haben
unb wurde jebenjallà zur Zeit ded zweiten Tempels, vor
unb nad Zeritörung Jeruſalems Heimathsſtaͤtte für zahl:
reiche Flüchtige aus Judäa. Joſephus Ant. 1. 18 fennt
Juden in Spanien, Sueton (Vit. c. 4) und Tacitug (Ann.
II, c. 8) weiß von dorthin deporfirten Juden, was auch
jübijde Chroniken von Veſpaſian und der Spauier Juan
Vaſäus im Chronic. Hisp. von Hadrian betätigen, Den
Juden gereichte bie muhammebanifche Eroberung zum Vor:
theil: Stammed= und Neligiondverwandtjchaft rief gleich:
artige Beitrebungen in beiden wach und ber Drud, ben
das Judenthum vielfach in ber fpätern weftgothifchen Herr:
Schaft zu erbufben gehabt, Hatte natürlich feine vollften Sym-
pathien für bie moßlimifchen Eroberer wachgerufen. In den
eol. Duartalichrift. 1873. VI. Heft. 43 |
640 Groß,
ſpaniſch⸗arabiſchen Schulen, bie der Chalife Haſchem errichtete,
erlernten die Juden die Sprache ber Eroberer und handhabten
fie bald allgemein als Mutterfprahe. Zu Anfang des
zehnten Jahrhunderts, |. 911, verbreitete der Chalifenthron
Abdurrahmang IIL, der zuerſt fid) den Titel „Fürft ber
Gläubigen”, Gmir al Muminin, beifegte, von Gorbooa aus
bad milde Licht ber Künfte unb Wiffenfchaften über δα
ſüdliche und mittlere Spanien hin: es weckte auch vielfach
den Geift vornehmer alteingejeflener Sudengefchlechter, von
denen manche fi auf dad Davidiſche Koͤnigshaus zurück
führten. Die jüdiſch-ſpaniſche Eultur förderte damals vor-
zugsweiſe Chasdai Ben Iſak Ibn Schaprut (915—970), ber
ſich als Arzt und Sprachgelehrter einen Namen gemacht,
vom Chalifen zuerjt a[8 Dragoman gebraucht, jid) zu deſſen
vertrautem Staatzrath in den wichtigjten Angelegenheiten
aufichwang und Reichtum, jowie hohe Stellung in bem
Dienft eine8 fegenzreihen Mäcenatenthums für alttejta--
mentliche Sprach: und Religionswiſſenſchaft ftellte. Beide
jtanden damals tief: fett vier Jahrhunderten war. geiftiges
Leben und Bemühen unter bem Niveau be8 in der Mifchna
unb den Talmuden befundeten geblieben und auch die nad)
Mitte des achten Jahrhunderts aufgekommene Karäerjekte,
bie mit Ausschluß alles Traditionellen fid) auf den erclu-
jiven, bornirt bibliſchen Standpunkt zurücichraubte, brachte
feine ſtarke Bewegung in bie ftagnirenden Wafler. Doch
gab immerhin ihr Kampf gegen die hagadiſche Auglegung
ber Bibel mit ihrem Mythen: Legenden: und Traditiong-
wuft ben Anftoß zu einfacher, wort: und zuſammenhangs⸗
gemäßer Auslegung der Schrift. Den bier durch das tal-
mudfeindliche Bekenntniß be8 Karäerthums gegebenen An
fteB nahm Saadia auf und verbreitete ihn weiter, indem
Menahem Ben Saruf. 641
er zuerſt eine wifjenfchaftliche Bearbeitung ber bebrätfchen
Sprahe und kritiſche Auslegung ihrer heiligen Urkunden
in umfafjender Weife verjudbte. Daß biejer gelehrte Bibel—
überfeger, der dad Gaonenthum fura vor deſſen Untergang
nochmal glänzend emporhob, von höchſt bedeutender Wirk-
ſamkeit war, zeigt ftd) in ben Folgen berjefben. Alttefta-
mentliche Wifjenjchaft verpflanzte fid) nun von Babylonien
nad) Nordägypten, wo Saabia lebte, nad) Nordafrifa und
Spanien, wohin babylonifche Gelehrte die Salmubjtubien
verpflanzten und wo mun Menahen Ben Caruf unter bem
Protektorat des genannten Staatömanned Chasdai das erjte
nad Stämmen georbnete hebräiſche Wörterbuch !) verfaßte,
ba8 er Machberet, Vereinigung von Stanımworten und
ihren Ableitungen, nannte. Er fand aber alsbald einen
Icharfen oft ungerechten Gegner an bem Dichter und Sprach-
foricher Dunaſch B. Labrat, einem Schüler Saadia's, ber
idon bie grammatiichen und exegetifchen Schriften feines
Lehrer ſelbſt feiner Kritik unterjtefft batte in den Teſchu—
both?) (herausgeg. von Schröter, Breslau 1866). Aehnliche
Tefchuboth, fritije Bemerkungen ſchrieb er nun über Me⸗
nahems Arbeit neb[t einem Spottgedicht, und janbte beides
mit lobpreifender Widmung an Chasdai, um in defjen Augen
ben von Menahem erlangten Ruhm zu beeinträchtigen.
Bebterer fandte eine Wiberlegung der Kritik de Dunaſch
ebenfallà an Chasdai und der Streit jpaun fid) erhißt
weiter in gereimten und ungereimten Duplifen, unb Re⸗
1) ὉΠ mnn Antiquisimum linguae hebraicae et
chaldaicae lexicon ad sacras scripturas explicandas a Menahemo
B. Saruc Hispaniensi Saeculo decimo compositum ex quinque co-
dicibus descriptum — primum edidit Filipowski, Londini 1854.
2) ὯΝ mayo Ἢ by v1 mawn NED
43”
642 ᾿ Θυοβ,
plife ber Schüler beiber Männer, eine lürmenbe Juden⸗
ſchule im mufanmnebanijden Spanien de zehnten abr:
hundert3, aud ber inbef erheblicher Gewinn für bie hebräi-
fhe Sprachwifienfchaft hervorging. Wir wenden un? nun
zu bem wejentlichen des auch bie mittelalterliche Religions⸗
gefchichte mehrfach berührenden Inhalte der Schrift.
Hebräifche Sprachwiſſenſchaft liegt im Zeitalter der
Sammlung ber Talmude faum εὐ} in den Windeln. Die
Talmudiſten faßten nicht die Form, fondern den Sinn in’
Auge und nicht zierlih unb fprachgerecht, jonberm ohne
Rückſicht auf Sprachregeln fchlagfertig ſich auszudrücken
war ihr Abfehen. Selbſt für Grammatik bat der SEalmub
nod feinen beftimmten Ausdruck, denn die Benennung
pp" unb pp für Grammatik und Grammatifer ſcheint
früheftend bem 10. Jahrh. anzugehören, wo er fid) bei bem
Karäer Jephet (950—990) zuerit findet. Talmudiſch be-
deutet daſſelbe Wort nur erſt Genauigkeit, Feinheit. Das
talmudiſche Idiom, das fid) ber ſcholaſtiſchen Latinität füg-
fid) zur Seite ſtellt, iſt zwar eine Rüſtkammer für 9Bort-
und Spracherklärungen und es finden dort durch Verglei⸗
chung mit griechiſchen, ſyriſchen auch perſiſchen und andern
Sprachelementen manche ſchwierige Bibelſtellen ihre Loͤſung,
aber feine von eindringender grammatiſcher Beobachtung
zeugende Winfe vermag man kaum in ben vom Verf. aus⸗
gehobenen Stellen mit demjelben zu evfennen ; bie ©. 7 ff.
angeführten Verdeutlichungen bunfler Ausdrücke durch Ana⸗
[ogie, bird) das talmudijche Idiom, Etymologie, andere fe
mitifche Eprachelemente, ober nichtfemitifche, ſind bod) meijt
nur Gurioja und feine Erklärungen; fo wird Hohesl. 4, 4
(wie ber Thurm Davids ijt dein Hals, hochragend) rnvbon
erflärt durch „Berg (bm), Tempelberg in Sevujolem, bem
Menahem Ben Saruf. 643
fij jeder Mund (Ὁ PD) gumenbet," unb ber Talmud finbet
in biejent Worte bie Andeutung für den Gebraud, beim
Gebete ba8 Angeficht gegen Often zu kehren. Die Erklä⸗
rung ift nicht einmal finnig zu nennen, ba die Ellipſe febr
hart ijt, von ber Triftigkeit derſelben iſt aber ganz zu
fchweigen. Wo ber Talmud hellenifche Sprachelemente her-
einzieht, ift e8 womöglich noch ärger. Er erklärt In Hiob
28, 18 durch év und überjeßt: Eines allein, Gottesfurdht
nämlich ift Weisheit, und δῦ ebenbaf. 6, 14 burch λαεμορ,
„es bedeutet Hund, denn jo heißt ein Hund in ber grie-
chiſchen Sprache." Wiffenfchaftliche Anregung konnte von
folcher Sprachbehandlung für bie Folgezeit nicht ausgehen,
aber αἰ das hebräiſche Sprachſtudium in Folge ber aus⸗
fchließlichen Befchäftigung der Karäer mit bemfefben beim
ortboborer tradittionsgläubigen Rabbinenthum als ketzeriſch
verſchriern und verpönt wurde, konnten bod) jene talmu⸗
diſchen Stellen zum Beweiſe dienen, daß Sprachforſchung und
genaues Eingehen in den Wortſinn der Schrift die Tradi⸗
tion nicht beeinträchtigen und mit δου εἴδει fid) wohl ver:
tragen. Nicht? Neues unter der Sonne: auch innerhalb
ber Kirche gibt e8 fcheelfüchtige, trabitiondgläubige Rabbi's in
Menge, welchen eine die approbirte Kirchenüberfegung corri
girende Behandlung der Schriftterte wie ein Dorn ing
Auge ftidjt. Spätere Lexikographen wie Gannach, Parchon
bebientem jid) auch be2 Hinweiſes auf ble talmudifchen Pro-
ben von Sprachforihung, um nicht eines veligiöfen Ver: -
ftoßed und kezeriſcher Abweichung vom Hergebrachten be:
idjufbigt zu werden. Doppelter Außerer Anregung verdankt
man, ungeführ drei Jahrhunderte nad) Abſchluß des Tal:
mud, die Wiederaufnahme be8 Studiums ber hebräifchen
Sprache. Einmal nöthigte der neuaufgefommene Islam
644 Groß,
mit ber durch ihm bewirkten tiefgehenden Erregung der δῇ:
lichen Völker bie Juden, die Verbrehung bibliicher Stellen
zu Gunften ber neuen Religion abzuwehren. Diefelbe nahm
δ. B. Deut. 38, 2 für fid in Anfpruch: der Herr fam
vom Sinai, ging ihnen auf von Seir unb ftrahlte vom
Berg Paran. Der Sinai follte auf die moſaiſche Religion,
ber Cir (in Gbom, wad ber Name ber Chriſten bei ben
Juden war) auf bie chriftliche Offenbarung und ber Paran
auf den fam fid) beziehen, durch welchen bie beiden frü-
bern Offenbarungen num aufgehoben feien. Das Juden⸗
thum mußte fid) dem ungeftümen Entlehner feiner eigenen
Satungen und religiöjen Bilderſprache gegenüber auf fid)
ſelbſt befinnen und (ab fid) von felbft auf tiefere Durchfor-
hung feiner heiligen Schriften zurückgetriehen, als des
einzigen Mitteld, feine Grijfeng zu rechtfertigen. Dazu
fam aber bie Liebe und Begeifterung der Araber für ihre
Sprache, bie mehr unb mehr burdj den eifrigften Betrieb
von Dichtkunſt unb Wiſſenſchaft ausgebilbet wurde. Die
uber ber moslimiſchen Ränder gewannen mit bem Studium
des Arabifchen, bem fie fid) fajt überall voibnteten, Liebe und
Intereſſe für ihre eigene, bem 9[rabijdje jo nah verwandte
Sprache zurüd, unb fuchten auch jie wieder gründlicher
fennen zu Iernen!). Den zweiten Anftoß gab das ſchon
berührte Karaͤerthum, DIN ‚NPD *92, in ber talmudifchen
1) Mofe 38. Gfra fchreibt zu Anfang be8 12. Jahrhunderts im
Traktate ber Rhetorik und Voetif f. 19: Als die Araber Andalufien erobert
hatten, drangen die Unfrigen bald in alle Gegenftände ihrer Stubien
ein, erwarben [id allmählig bie Kenntniß ihrer Sprache, lernten bie
Feinheit ihrer Ausdrucksweiſe, machten fid) vertraut mit bem wahren
Sinn ihrer grammatiihen Biegungen unb erwarben eine volllommene
Kenntniß ihrer verjchtebenen Gattungen von Gedichten, bi$ daß dadurch
Menahem Ben Saruf. 645
Zeit Ehrenname der Bibelfundigen, fpäter aber auf bie
Bibelgläubigen im Gegenlag zur Tradition und deren Ver:
tretern, den Rabbaniten angewendet, bie MIWHD *32 hießen.
Der Karäismus, nad) Mitte be8 achten Jahrh. gegründet,
verbreitete fid) jchnell in Babylonien, Irak und PBaläftina
und machte die Bibel zum ausfchliehlichen Studium und
zur einzigen Norm feined Verhaltens. Seine Anhänger
forichten nach bem Wortfinn der Schrift (Pefchat) im Gegen-
ſatz zur talmudifch-hagadiichen Weile (Derafch) unb befreun-
beten fid) [o bald mit grammatifchen Studien. Der wahrfchein-
liche Gründer der Sekte, Anan B. David, Enkel des Erilarchen
Chasdai aus Basra im Often von Bagdad wollte bie Has
lacha, δα 8 im Talmud niedergelegte mündliche Gefeß befei-
tigen und gab feiner Schule, für die er in Jeruſalem eine
Synagoge baute, bem Wahlſpruch: NNTTMND PD Dr
(forfchet fleißig im Gejet). Raſch entzündete fid) ber Hader
mit den Talmudiften oder Nabbaniten unb bie Feindfchaft
zwifchen beiden Richtungen fteigerte fid) fo febr, daß
Anan [päter ber Ausſpruch zugejchrieben wurde, er wünfche
daß fid ſämmtliche Talmudanhänger in feinem Xeibe bes
fänden, damit er fid entleiben fónne und fie mit ibm
ftürben: !) *52m53 wmv in m wow ΠΣ pon py
MM Dh DD Ww 25n2 nni MM w22 ON. Segen
Beginn des zehnten Jahrh. begann ber Haß fid) zu legen und
ließ man (td) zur Kenntnißnahme von der karäiſchen Exegeſe
Gott ihnen ba8 Geheimniß ber bebräifchen Sprache und ihrer Gram⸗
matif, ba$ von ben weichen Buchflaben, von ber Verwandlung, Bewegung,
Ruhe, Vertaufhung, Einfaugung und anderer grammatifcher Gegen:
ftände offenbarte.
1) b. i. ber Minder, feet.
646 Groß,
herbei, deren Wirkungen zuerſt der Bibelcommentar des
Arztes und Philoſophen Iſak Israeli (845—940) an ſich
trug. Doch kann erſt Jehuda B. Koreiſch, ungefähr aus
derſelben Zeit, als eigentlicher Vorgänger Menahems gelten,
aus Tahort in Marokko. Er verfaßte eine ſprachwiſſen⸗
ſchaftliche Schrift als Sendſchreiben an bie jüdiſche Gemeinde
zu Fez, in welchem er ſeine Glaubensgenoſſen zum Stu—
dium des Targum ermahnt und deſſen Wichtigkeit zum Ver⸗
ftànbnig des Bibliſch-Hebräiſchen betout ἢ. Koreiſch ift
weder Karäer nod) bornirter Talmudjude, ſondern unbe:
fangener Forſcher, der das Hebräiſche nach mehr metbo-
diſchen Geſichtspunkten mit den verwandten Dialekten nnd
Sprachen vergleicht. Bebeutender war auch auf btefem Ge-
biet der Schon genannte Saadia, ber ohne den rabba-
nitifch-orthonoren Standpunkt aufzugeben karäiſches Wiſſen
demfelben angebilbet hatte Auch philoſophiſch gefchult und
bon veligidß - fittlichem Geift durchdrungen zeigte er, daß
eifriges Forſchen nach dem Wortſinn der Schrift bie alte
Orthodoxie nicht verlege. Er jchrieb mie Koreifch noch ara-
bijdj, um dad Volk, welches dad Hebrätiche kaum mehr
kannte, vor den Gefahren be8 Karaismus zu warnen: erjt
Menahem verfaßte fein Machberet in hebräifcher Sprache
und wies [o fernen Nachfolgern bie Bahn, auf welcher fie
nun bald biejefbe für gewöhnlichen wifjenjchaftlichen Aus—
brud und Darftellinng weiter außbifveten und der arabifchen
ebenbürtig zur Seite ftellten.
1) ΜΌΝΟ (risaleh, Brief) R. Jehuda B. Coreisch Tihar-
tensis ad synagogam Judaeorum civitatis Fez de studii Targum
utilitate et de linguae chaldaicae, misnicae, talmudicae, arabicae,
vocabulorum item nonnullorum barbericorum convenientia cum
hebraea, ed. Bargés et Goldberg, Paris 1857.
Menahem Ben Saruf. 647
An Entjagungen gewöhnt durchlebte er, uneigennübig
feiner Wiffeufchaft, der nicht durch jüdische Traditionen be-
einflußten Erklärung der Bibel ergeben, ein armes, ge
drücktes und viel angefeinvdete® Dafein. Bon Chasdai's
Bater aud Tortoſa, feinem Geburtsort nach Gorbova be-
rufen, fang er bier in hebräifchen Verſen das Lob feines
Patron, deflen Sohn Chasdai ihn ziemlich ungünftig und
unwürbig behandelte, obgleich er ihn mit ber Abfaffung
eines prachwiflenjchaftlichen Werkes, das den Wortſchatz ber
heiligen Schrift umfaffen und erflären follte, beauftragt
hatte und Menahem mit größtem Eifer fi) ber Aufgabe
unterzog. Mitten in der Arbeit ſah er fü) von ber maf.
loſen Kritik feines Rivalen Dunaſch angefallen, bie nur zu
deutlich beu Neid und Stolz der Magrebim (afrikanijchen
Gelehrten) gegenüber den Sefardim (Spanier) verrieth.
Dunaſch von jüdifch-fürftlicher Familie aus Fez hatte feine
Jugend in Bagdad verlebt und mochte e3 nicht mitanfehen,
daß ein Spanier δα Gaonenthum feiner Heimath in
wiſſenſchaftlichem Verſtändniß der Schrift überbole. Auch
er griff zu dem kaum fehlichlagenden Mittel, feinen Gegner
zu verfegern. Menahem ließ die talmudiſchen Erklärungen
für die Praxis unangelajtet, mußte ihnen aber zu feiner
dem Wortfinn nachgehenden Exegeſe den Weg verjperren,
Der hieraus ſich ergebende Gegenfab zur rabbanitischen
Schrifterflärung konnte ihm bei feinem fonftigen Ioyalen
Verhalten gegen Trabition und Talmud zwar vor ber Ge⸗
fahr fügen, offen als Karäer denunzirt zu werben, aber
nicht vor bem Vorwurf, daß er weder zu den Srtfoboren
nod) zu den Ketzern fich Halte, jondern vornehm über beiben
fich bewege „ben Wildeſeln gleich snb den Affen in ben
Baumwipfeln” (DWIAN — "wa COND? DNB). En
648 Groß,
Dunaſchite (S. 31) ruft von ſeinem Meiſter abtrünnigen
Genoſſen, die zu Menahem ſich gewandt, welcher umſonſt
durch Milde und Sanftmuth ſeinen Gegner zu entwaffnen
ſuchte, bie bitter Worte zu: Verſchmäht habt ihr das Wort
der Leviten, deren Ruf verbreitet iſt in allen Landen, um
euch zu ergötzen am Gebrüll ber wilden Eſel unb zu ver:
brefen bie Worte be lebendigen Gottes. Unter ben Schü-
lern Menahems fanden fid auch Sünglinge, bie aus dem
riftlichen Theil Spaniens ftammten und deren Eltern ba?
Chriſtenthum zum Schein angenommen hatten. Durch ben
Makel, der in orthodor jüdischen Augen auf ſolchen Schü-
lern Baftete, fuchte man nun auch ben 2ebrer zu compromit-
tiren, der wie ein Magnet jubenfeindliche Elemente an fid)
ziehe. Menahem hatte unter folchen Umftänden Gorbova
verlafien, war aber durch Chasdai zurücdberufen worden
und vollendete nun dort fein lexikaliſch-exegetiſches Merk,
ohne übrigens von feinem vornehmen Glaubensgenoſſen mehr
σε δὲ zu werden ald früher. Menahem fchrieb eine Anti-
δἰ δ gegen bie Teſchubot be8 SDunajd), welche bie Zer-
ftörung feines Haufe? zur Folge hatte, und als er über bie
Unbill fid) beffagte, erwiederte ihm Chasdai: Haft bu ge
fehlt, jo babe ich dich mit Recht gezüchtigt, haft bu nicht
gefehlt, jo habe id) bir durch biefe Züchtigung das Jenſeits
gefichert. In einem legten Schreiben verlangt ber tief Ge-
frünfte, bem die Verzweiflung Muth verlieh, Gehör und
Gerechtigkeit. Seine Schüler traten nun für ihn ein und
führen gegen die Schule [εἰπε Widerſachers den Kampf
in Miderlegungsgedichten. Der Verf. meint am Schluffe
be8 biographifchen Abjchnittes, daß Menahem allen Anfor-
derungen genüge, welche an einen Lerifographen jener Zeit,
wo dad Wurzelſyſtem noch nicht ausgebildet war, billiger-
Menabem Ben Saruf, 649
maßen geftelt werben könne ©. 42. Allein weder feine
genaue Bibelkenntniß, noch feine Vertrautheit mit den chal-
däiſchen Paraphrafen, dem Talmud und bem Arabifchen,
ba$ jeine Mutterfprache war, aber von ihm fo gut wie ganz
unberüdfichtigt für die Erforfchung des Hebrätfchen blieb,
förderte ihn im richtigerer Grfenntnig ber nächften Sprach—
elemente, der Wurzeln, unb ſelbſt Hinter dem älteren Ibn
Koreiſch blieb er infofern zurück, als er bie Keime ber
Iprachvergleichenden Methode, welche jener gepflanzt Hatte,
nicht weiter entwiceln kounte oder wollte Dagegen bat
Menahem unzweifelhaft ein richtigeres Verſtaͤndniß mancher
ſchwieriger Stellen zuerft aufgebracht, das [fi bis zur
Stunde bewährt hat: Joſ. 9, 4, wo bie alten Verff. nach
bloßer Vermuthung au8 V. 12 vnm? mit Dalet lafen und
durch: Sichverjehen mit Wegzehrung (tulerunt sibi ciba-
ria Vulg.) wiebergaben, erflärt er ba8 Wort mit mb;
Sj. 8, 21 (regem et Deos detestabuntur suos Vulg.)
bat er richtig: ev flucht feinem Moloch, feinen Göten und
wendet fid) nach oben. Indeß hatte hier jchon das Targum
jo, und I. Kön. 19, 21, a8 Berf. eben[allà ala Beweis
feiner richtigen Auffaffung anführt (Elifa fochte ihnen das
Fleiſch, das Accuſ. Suffir. ftatt des Dativ gefeßt), bezieht
man bod) ungezwungener ba$ Suffir auf ba8 Baar Rinder,
zu welchen das Fleiſch als Appofition tritt, und bebar[ ber
Eorreftur des Verf. nicht, welcher wand lieit, um wie es
ſcheint nicht beide Stücke ganz unter das Volk fommen zu lafien.
Zum erjtenmal ijt jegt die Lexikographie Hauptjache und
Gregeje wird in ein dienendes und ftübendes Verhältniß zu
berfelben geftellt, Bei den Vorgängern war ed umgekehrt.
Erflärten bieje ferner dad Wort, ohne e8 in feine Beftand-
theile zu zerlegen, theils αἰ bem Zuſammenhang, theilg
ων
650 Groß,
burd) Vergleichung mit andern femitijden Dialekten, fo zer:
gliedert Menahem bafjefbe und fcheibet von ihm bie zufälligen
Beitandtheile, um auf den Stamm und die Wurzel zu
fonunen. .Die Erklärungen ruhen meift auf Analogie, ben
Zufammenhang zieht er nur bei den ἀπ. Aey. bei mit beu
Worten: vby nm 19 „ber Zufammenhang deutet baraug
hin” oder Xy DI WIND Er erläuterte nicht für bie
traditionelle Erklärung ba8 Wort, ſondern juchte für ba$
Wort gewiflenhaft οἷς paflendfte Erflärung, und wenn fie ihm
bad faft für fenonijd) angefehene Targum des Onkelos
nicht bot, jo heute er fid) nicht, von demfelben abzumweichen,
wofür er aufs neue in den Geruch der Härefie fam. Grund:
faßlih Schloß er aber ba8 Nrabilche, feine Mutterſprache
von ben Mitteln für jeme Worterklärungen αἰ. Sein
Gegner Dunafh madt ibm diefe Vernachläffigung mit
Necht zum Vorwurf, durch weldye ev fid) des fruchtbarften
und zum Theil Schon von Saadia und Fon Koreiſch betre-
tenen Pfades zur Erkenntniß ber Eiymologie und de Wort:
ſinns beraubte, und ftellte 168 im Arabifchen und Hebräifchen
in Laut und Sebeutung Übereinftimmende Stämme zufammen,
welche im Anhang (S. 104 ff.) mitgetheilt find und faft
überall zutreffen. Bor folder Vergleihung hielt Menahem
religidfe Scheu zurück: er betrachtete bie hebräifche Sprache
ala hochheilige, die nur aus fid) jelbit zu erflären je. Seine
Anficht hierüber, tie man zum Theil bi8 auf unfere Seit
in guter aber irregeleiteter Intention forterhalten hat, theilt
er in ber Worrede mit: „Mit Hilfe deffen, ber die Frucht
ber Rippen gejichaffen, beginne ich ben Unterricht in ber aus:
erwählten und herrlichen Sprache, die vorzüglicher ijt als
alfe, deren fid) Menſchen bedienen, feitdem fie fid) gejonbert
nach Völkern unb Sprachen. So wie Gott ben Menfchen
Menabem Ben Saruf. 651
burd) die Sprache ausgezeichnet Dat, und ihn allen übrigen
Weſen vorgezogen hat, jo erhob er ſein Volk vor allen
übrigen Völkern und wie er wundervoll den Menfchen bie
Gabe be8 Ausdrucks verlichen hat, jo erfor er bie heilige
Sprache vor ber aller übrigen Nationen.” Diefelbe Ein-
jeitigfeit, welche bie proteftantifche Buchjtabenorthodorie eben-
falls auf jpätere Tage gebracht hat, zeigt er in feiner Ehr-
furcht gegen ben Tert der heiligen Schriften, an beffen aus⸗
nahmsloſe Integrität er glaubt, indem er nicht einmal Ver:
wechdlung ber Buchſtaben deſſelben Organs nod) Metathefe
zuläßt. „Dan [elite bod) willen, bag nicht der ganze
Schag von Wörtern in unfrer heiligen Schrift niedergelegt
if. Wäre ber gefammte Wortvorrath auf ung gefommen,
jo würden wir jene Worte, bie der Erklärung bebürfen, in
ben B. Schriften felbft angetroffen und in veichem Maaß
erflärt gefunden haben. Wie dürfen wir alfo ber heiligen
Sprache etwas andichten, ba8 Kurze breit und das Breite
kurz geftalten? Dieß darf nicht gefchehen bis der Geijt von
oben ung zu Theil werden wird.” (MIN ay 120) Nb 12
Dan nm wby), b. 5. biß wir etwa vom Geijt Gotte8 in-
fpirirt biefe(be Gewalt über fein Schriftwort erhalten, wie bie
jBerfaffet deſſelben. „Wenn ber Erklärer bei Worten, bie
er nicht kennt, und deren Verſtändniß ihm abgeht, diejelben
dennoch deuten will, indem er Buchjtaben wegninunt, hinzu⸗
thut ober auch vermwechjelt, jo wird dad Wort in feiner
Grundbedeutung erjchüttert, feine Stüßen wanken und εὖ
ift ber MWillführ Thor und Thür geöffnet.” Selbft bie
Sprache ber Mifchna, ‚die vor und nach ihm als reiche
Fundgrube zur Erklärung des A. Teitam. betrachtet ward,
zieht er nur felten herbei. Einen grammatijden Theil
fchiefte er als Einleitung voraus, wie nun fajt alle feine
653 Groß,
Nachfolger thaten, fette aber nachbefjernd im Lexikon felbjt
ebenfall3 grammatildje Bemerkungen ein. Da er nun zwei⸗
ja ſelbſt einbuchltabige Stämme annimmt, δα 3 von Chajug
aufgejtellte Syſtem ber drei Wurzelbuchftaben ihm noch un:
befannt war, jo mußte der Stamm ein und befjelben Wortes
jehr oft und in verfchiedenem Sinn wiederfehren; deßhalb
jtellte er, um den Gebrauch des Lehrbuchs zu erleichtern,
bei jedem Buchftaben in alphabetifcher Ordnung bie Worte
zujammen, bie zu vdemfelben gehörten und erklärte fie.
Jede einzelne fo entftandene Wortgruppe ijt. ihm eine Mach:
beret. Um bei feiner (faljchen) Annahme jo Furzlautiger
Stänme nicht zu verwirren, ftellt er in ber Einleitung auch
folhe Buchftaben zufammen, aus beret Verbindung fid)
fein hebräiſches Wort bilven affe. Der Arbeit bleiben aud)
theologifche Gebanfen keineswegs ferne. So warıt er s. r.
12, Bibeljtellen, wo körperliche Bezeichnungen auf Gott an-
gewenbet werben, wörtlich zu nehmen: „Verſtändige fehen
ein, daß es πηι ὦ ijt, unferm Gott Geftalt, Form unb
Mejen zu geben. Die b. Schrift Dat bie Begriffe vom
göttlichen Weſen erweitert und burd) Beilpiele dem Sinn
ber Menfchen näher gebradyt, denn τοῦτος fie fid) in ber
dem Gottesbegriff gemäßen, erhabenen Weile ausgebrüdt
haben, jo würde wegen feiner Erhabenheit derjelbe von den
Menſchen nicht erfaßt werden koͤnnen. Weber Lesarten zu
entjcheiden, denen er als Inſtanzen gegen bie vorausgeſetzte
volle Integrität des D. Textes nicht grün ijt, läßt er Lieber
im Anftand und Gott über, „der allein das Richtige er-
kennen kann.“ (δ8 fehlt auch keineswegs an Euriofa, wie
bieß wohl ſelbſtverſtändlich bet einem jüdischen Gelehrten
be8 zehnten Jahrhunderts, der αἰ bem wirren Dornge-
ftrüppe des Talmud heraus die erjten Schritte zu einfacher
Menahem Ben Saruf. J 653
Eruirung be8 Wortfinnd wagt. Er erklärt 2. 35. ἫΝ für
Licht und Finfterniß zugleich und führt als Beleg für das
Wort al Finfterniß am Gr. 14, 20: nbn nw Ww" und
Hiob 37, 11. Die jemitifchen Gelehrten jener Zeit mußten
fi, um allgemein verftanden zu werben, in ihren Schriften
des Arabiſchen bedienen, daß auch für weit ben größten
Theil der Juden Mutterfprache geworden war. Deßhalb
Ichrieben nicht nur Saadia, ber erjte große rabbanitifche
SBibeferfürer und Ibn Koreifch arabiſch, fondern mod) im
12. Jahrh. Theologen wie Maimonided. Um jo fchwerer
that Menahem mit dem erjten Verſuch einer Ausprägung
des Hebräifchen zur wiffenfchaftlichen Sprache in einer Zeit,
wo der Ausdruck in derjelben bem Volk feit. mehr als tau-
[πὸ Fahren faft entfrembet mar.
Die ©. 69 ἢ. gegebenen Nachweife über die Benugung
be8 Machberet von Seiten der ſpaniſchen, italtenijchen und
franzöfischen Antoren in hebräifcher Grammatik, Lerifographie
und Gregeje find hier nicht weiter zu berühren. Sie θὲς
weifen den großen Einfluß be8 bahnbrechenden Gelehrten
in8bejonbere in den beiden folgenden Jahrhunderten,
bis er durch bie vollftändigeren Arbeiten eite. Chajug und
Parchon verbunfelt wurde.
Wir meinen aber, der Verf. habe gut gethan, ein an⸗
ſpruchloſes, raſtlos thätiged und für das tiefere Studium
ber Sprache, jomit auch für bie bejjere Grfenntnig des In⸗
haltes ber Schriften be8 alten Bundes ſehr bebeutungsreiches
Gelehrtenleben jener frühen Zeit, in welcher das übrige
Abendland noch Lange nicht? Aehnliches am bie Seite zu
ftelfen hatte und fid) erjt mübjam auf andern Gebieten zu
einigem Lichte emporarbeitete, mit fleißiger Hand, wenn auch
Die und ba in etwas zu breiter Darftellung bejchrieben zu
haben. Himpel,
654 j Strack,
2.
Prolegomena critica in Vetus Testamentum hebraicum, quibus
agitur 1, de codicibus et deperditis et adhuc exstan-
tibus, 2, de textu bibliorum hebraicorum, qualis talmu-
distarum temporibus fuerit. Scripsit Hermannus Strack
Berolinensis. Fasciculus primus. Lipsiae 1872.
Der erite Fascikel der Prolegomena bed H. Strad
handelt, über alte verlorene und noch vorhandene Hand:
ichriften des alten Teſtamentes. Die Materie, welcher ber-
[εἴθε bier kritiſchen Fleiß und Sorgfalt widmet, gehört wie
bekannt keineswegs zu ben ftärker ummorbeuen und für Aus
tor und gejer beſonders angenehmen, ijt aber immer wieder
einer einbringenden Unterfuhung werth, wie fie denn auch
in frühern Zeiten auf Seite beider chriftlicher Hauptcon-
feffionen ſtets ihre tüchtigen Bearbeiter gehabt bat. Man
adjtete nicht? gering, was irgendwie mit der Gefchichte be$
Textes der heiligen Schrift und der Aufhellung der leßtern
zulammenhing, unb that gewiß wohl daran: ber Unter:
zeichnete hat bie {εἴ} von einem Papſt, wie Sixtus V.
eigenhändig beforgte Gorrectur der Drucdbogen der neuen
Bulgataausgabe und die Beitimmung von Lesarten für bie-
jelbe, abgerechnet bie dabei geübte Willführ, immer für eine
ſehr lobenswerthe Beichäftigung gehalten, welche die auf:
richtigfte Anerkennung verdient.
Es ijt mehr richtig, a(8 bekannt, daß big zur Stunde
bie Tertgeftalt des alten Teſtamentes im Argen liegt und
von einer befriedigenden Bearbeitung noch jehr weit ent-
fernt ift. Sm ben Tegten Jahrhunderten wurden einfach nach ber
vorliegenden SOrudausgaben neue mit jehr geringen Aende—
rungen bejorgt und die Hilfömittel für Erſtellung kritiſch
Prolegomena in V. Test. 655
berichtigter Texte beinahe völlig außer Acht gelaffen: ber
competentejte Beurtheiler, ber parmenftfche gelehrte Geiftliche,
Bernh. be Roſſi fonnte 1784 (proll. ad Var. lect. V.T.,
Parmae, S. X, p. XII) Hagen: annon demum fatentur
omnes critici fontem hodiernarum editionum vel vul-
gati textus (Hebraici) esse Biblia Veneta R. Jacobi
Chajim an. 1525, hanc autem editionem mendosam :
esse, ex mendoso codice haustam, insignia et mani-
festissima in sacrum textum et secutas omnes vel fere
omnes editiones menda invexisse ac singulares lectio-
nes null codicum auctoritate firmatas. Roſſi hätte
gerabezu jagen können, bap ἐδ hierin jeit 1525 durch neue
Verſehen im Ganzen noch ſchlechter geworben und auch feit
feiner Zeit und frog feiner ausgezeichneten Bemühungen
nicht bejjer gefommen ijt. Die Schriften von Juden und
Chriſten, in welchen biejefben die Ergebniffe ihrer Fritifchen
Bemühungen um reinere Schriftterte niedergelegt hatten,
wurden von ben Herausgeberin neuer SOrudausgaben mei
ften$ nicht benüßt, häufig ſelbſt blieben jie ihnen unbekannt.
Kritifchen Apparat zum Mentateuch ſammelte zuerft
R. Meir Halevi, B. Todros, ber zu Toledo 1244 ſtarb.
Gebrudt erjchien jener zu Florenz 1750 und Berlin 1761
unter bem Titel: Zaum des Geſetzes (ΠΝ avo).
Ihm folgte dad „Licht be8 Geſetzes“ von 9t. Menahem,
DB. Sehuba von Songano, öfters, zuerit in Venedig 1618.
erichienen. Sehr viel bebeufender war die Arbeit des Sa:
lomon aus Nurfia (Norcia), Norzi genannt, kam aber erft
über hundert Jahre nach bem Tod beg Verf. 1742. 44 zu
Mantua in Drud, wo X. Chajim Baſila den Eritifchen
Apparat be8 Norzi feiner Tertauggabe des Alt. Teftaments,
ber |. ᾳ. Mantuanifchen Bibel, einverleibtee Unter ben
Theol. Quartalfchrift 1872. IV. Heft. 44
656 Strack,
Chriften verwandte ber Oxforder Profeflor Kennikott mit
vielen in einem Auftrag arbeitenden Gelehrten große, aber
Ichlecht ge(obnte Mühen und Koften auf fein Vetus Testa-
mentum Hebraicum cum variis lectionibus, Oxonii
1776. 80, 2 tom. fol. Die variae lectiones find im
Ganzen ein Wuft von Fritiflod aus großentheild fchlechten
Handſchriften zufammengetragenen Barianten und bald üt
Schatten gejtellt worden burd) bie altteftam. kritiſchen Ar:
beiten des italienischen Geiftlichen Roſſi. Schon beffen Bros
legomenen verratben grünblichite Kenntniß der bibliſchen und
maforetiichen Haubfchriften, bie er mit fcharfer Auswahl
rücjichtlich des Alters und ihrer fonftigen Bedeutung ver:
werthete. Seit Roffi ijt auf dieſem vornichten Gebiet wenig
mehr gejchehen, bi? in jüngiter Zeit Deligich und Baer das⸗
ſelbe wieder mit Erfolg anzubauen begonnen haben, beren
Arbeiten am Schluffe der Anzeige zur Sprache gebradt
werden. Der Verf. nimmt fl, um auf ftreng geichichtlichem
Wege die annähernd tefte Textgeſtalt ber alttejtam. Bibel
zu crreichen, bie Behandlung de Homeriſchen Textes zum
Mufter, bie auf Ariftarch, von da auf die von Ältern grie-
chiſchen Autoren angeführten homerifchen Verſe und zuleßt
auf bie Necenfion des Piſiſtratus, jomeit von ihr nod) fri
tische Hilfsmittel zu erhalten find, zurückgeht, um mit einiger
Sicherheit auf die Entjtchungszeit und „Art der Gedichte
jelbft und deren früheſte Geftalt jchließen zu können.” Im
ber ausführlichen Darlegung der Sorgfalt, welche bie Juden
auf Erhaltung ber Worte des heiligen Textes verwandt
hatten (S. 9—14), vermißt man die Hinweilwig auf bie
alte Zeit vor Eſra, in welcher man fich eine vielfach freiere
Behandlung defjelben verjtattete. Es ift fogar fraglich, ob
nicht Eſra jelbjt und feine Schule noch geraume Zeit nad)
Prolegomena in V. Test. 651
ibm diejelbe Freiheit in Anſpruch nahm. (Nachdem S. 1
von der berührten Eorgfalt der Juden gefprochen, er
ſcheint es als unpafjend, ein caput primum de codicibus
deperditis, ben Fein zweites im Faſcikel folgt, zu betiteln
und bod) wieder mit S 2 weiterzufahren.) Die verlornen
codices find bie ältejten Handfchriften, deren Lesartenma⸗
terial theilweiſe in Marginalnoten fpäterer Handjchriften
und in jüngern rabbiniſchen Schriften erhalten und der
Natur der Sache nad) von großem Werthe ijt. Eine ber
bedeutendſten ijt der Gober Hillels, weder des jüingern Zeit:
genoſſen Ehrifti, den dad moderne Judenthum als Pſeudo⸗
erlöfer unb Doppelgänger be8 Heilandes in die Mode zu
bringen verfucht bat, nod) be8 gelehrten Rabbinen gleichen
Namen? aus bent vierten Jahrhundert. Der Gober- ijt nicht
vor bem fiebenten Jahrhundert gefchrichen, wie Jchon fein
Berhältnig zur Punktation zeigt, wahrfcheinlicdy von einem
Sepharbäer, einem der jpanijden Sopherim an Toledo,
(KOT) wo er von fpätern Gelehrten häufig gebraucht unb
abgeichrieden worden fein muß. erf. gibt von ber heu—
tigen hebräiſchen Vulgata abweichende Ledarten ©. 17 ἢ,
denen wir bier nur entnehmen wollen, daß ol. 21, 86 Ff.
(nicht 35 f.) ebenfall3 in der Handfchrift fehlten, und daß
biejefbe an drei Stellen mit febr vielen andern das Ber:
dopplungszeichen in Aleph jette, worüber 90toje8 der Nach:
manide im &ommentar aur myſtiſchen Sezira in Ermang-
fung bed Berftändniffes der Abnormität bemerkt, daß ber
Grund davon in den Geheimniffen der Kabbala liege.
Roſſi bejaB med) eine Abjchrift des Hillel'ſchen Cover (o.
418 feiner Bibliothek), welchen Norzi bem Jeruſalemer Sext
be8 alten Teſtaments entgegenzufchen pflegt. Verf. gebentt
die Varianten der Abjchriften biejer alten Hanpjchrift au
44 *
658 Strack,
fammeln und zu fichten, wodurch erjt ein Urtheil über Art
und Werth ber jpanifchen Handfchriften ermöglicht würbe.
Bon andern Ältern Handjchriften, deren Abweichungen vom
hergebrachten Text und nur aus jüngern Schriften bekannt
find, werden als bebeutendere noch genannt: (δ, Sanbuki,
für den ſchon R. Simon Ungarn als wahrfcheinlichen Ent:
ftehungsort vermuthet hat, der Pentateuch von Jericho
(mm warn), wohl berjebe mit dem „Temari“ ges
nannten, von ber Stabt ber Palmen, Samar, dad Bud
Sinai’, ebenfall ben Penteuch enthaltend, nicht auf bem
Sinat, ſondern nad Delisih (Br. an bie Roͤm. in das
Hebrätfche überjegt, Leipzig 1870, p. 121) von einem Mann
dieſes Namen? gefchrieben, und der Gober bed Ben Naph—
tali, e Karäcrd, der um 900 in Babylonien lebte und
mit Außerfter Sorgfalt eine neue Handichrift anfertigte, um
ber paläftinifchen des Ben Afcher Goncurreng zu machen.
Die Handfchrift wurde febr häufig in arabijden Schriften,
ben Maſoren ber rabbinifchen Bibeln, den Polyglotten be-
nützt und zeigt in ber Abfolge biblijdjer Bücher unb εἰπε
zelner Kapitel derſelben ziemliche Verjchievenheiten. Die
Drudausgaben fowie Handfchriften des alten Teſtaments
folgen gewöhnli der Autorität des Paläftinenfer?, und
nahmen nur jelten Ledarten 38. Naphtalt’3 auf, ausgenommen
bie Handjchriften mit babylonischer Punktation.
Der Verf. gehört zu den wenigen Arbeitern, welche auf
einem in ber Gegenwart noch ſtark vernachläffigten aber in
feiner Wichtigkeit nicht zu unterſchäzenden Felde, dag bie
meiften abjchreckt, mit aufopferndem Fleiße thätig find. Die
Aufgabe der Heritellung eine? möglichjt guten alttejt. Bibel⸗
textes würde einer nicht mehr allzufernen Löfung entgegen:
gehen, wenn fein Beifpiel Nacheiferung und Förderung
Prolegomena in V. Test. 659
findet. edge er anf dem’ ziemlich dornichten Pfabe, ber er
fid erwählt hat, unverbroffen weiter ſchreiten. Das Ganze
ſoll noch, wie ich einem Schreiben des H. Verf. entnehme,
in biejem Jahr bei Hinrichs in Leipzig erſcheinen.
Wir haben im Anschluß Hieran noch amet Textaus—
gaben ind Auge zu faffen, bie fid) als Muſter Fritifcher
Tertbehandlung des alten Teſtam. legitimiren. Es ſind:
liber Genesis. Textum masoreticum accuratissime ex-
pressit, e fontibus Masorae varie illustravit, notis cri-
ticis, confirmavit S. Baer. Praefatus est edendi ope-
ris adjgtor Fr. Delitzsch. Lipsiae ex offic. B.
"Tauchniz 1869, und fdon früher (1861) erichienen: Li-
ber Psalmorum hebr. Textum masor. accuratius quam
adhuc factum est expressit, brevem de accentibus
metricis institutionem praemisit S. Baer. Die erfte
ἔτι ὥς Pfalmenausgabe, bie wir hiermit erhalten haben,
denn bei dem jefr Fünftlichen Accentuationsſyſtem, das fid)
für bie drei poetifchen Bücher, Pjalmen, Sprüchwörter und
Hiob ausgebildet hat, bieten die Druckausgaben von ber
eriten zu Bologna 1477 erjchienenen an bis zu den Gepa-
rataußgaben der Palmen durch Heybenheim 1825 und
Biefenthal 1837 für jene Bücher noch incorrektere Texte,
al8 für bie übrigen Theile des alten Teſtaments. Bär hat
nun für feine Ausgabe bie Mafora, deren befter Kenner er
ijt, überall zuerjt berücichtigt, die älteften grammatifchen
Werke zu Rath gezogen, gute Handfchriften benützt, Samın-
fungen von Ledarten und eine Menge von Altern SOrudenu
verwerthet. Am Schluß findet ὦ eine Tabelle von bevor:
zugten Ledarten mit Furzer Begründung der Auswahl bere
jelben. Rudimente der metriichen Aecentuation, bie bem Terte
vorgebrudt find, geben Kenntniß von der eigenthümlichen
660 Strack, Prolegomena in V. Test.
Auffaffung und Firirung bes Zuſammenhangs ber einzelnen
Beftandtheile ber Verſe durch bie ἰδ ἐπ Gelehrten. ft
bad Verſtaͤndniß, welches burd) biejefbe fid) bekundet, häufig
unrichtig ober unvollfoinmen, fo wetteifert doch barin bes
wundernswerther Scharfiinn in Erfindung des complicir-
teften Accentſyſtems mit der Ehrfurcht vor bem heiligen
Schriftwort in deſſen minutidfeften Beſtandtheilen. Die Aus-
gabe der Geneſis ijt in vielen Stüden vollfommener, ba bie
Herausgeber bie unterdeß geſammelten Erfahrungen benügen
fonnten und bat auch einen ſehr gefälligen ftereotypirten
Drud aus der rühmlich befannten Tauchniz’ichen Officin.
Als weitere Hülfömittel zu bem bei ber Pſalmenausgabe gt:
. brauchten famen zur Verwendung eine Mainzer und Er-
furter Handichrift und bag maſoretiſche Werk „Zaun be
Geſetzes“ von Meir Todros. Der Schluß ber Ausgabe
beiteht in Tabellen mit außgewählten und kurz motivirten
Lejearten, mit Aufzählung der Stellen der Genefi3, welche
unverlängerten Vokal in Mitte oder am Ende be3 Verfes haben,
ber zwiſchen ben öftlichen (babylonifchen) und abendländifchen
(paläftinifchen) Schulen controverjen Ausfprachen und Schrei-
bungen von Wörtern, ber von B. Afcher und dem Baby:
[onier Ben Naphtali verfchieden accentuirten und vocalifirten
Stellen, der ähnlich fautenben und leicht zu verwechſelnden
foci der Geneſis, der mit bem Trennungsftrich Paſek ver:
jehenen Stellen derjelben, bie in ber Mafora zu allen Bü⸗
chern einzeln aufgezählt werden, mit maforetifchen Bemer⸗
tungen und ben Cebarim (Abfchnitten) ber Genefiß nach ber
Maſora. Die jebige Kapiteleintheilung im alten Teftament
it erft um Mitte des dreizehnten Sahrhundert3 durch ben
Ipanifchen Garbinal Hugo be S. Caro ober beu Erzbifchof
Stephan Laugthon ohne Autorität ber Mafora willführlich
Spieß, Logos Spermaticös. 661
für die Vulgata beftimmt worden und fant dann auch in
den bebrätfchen Tert, zuerft burd) den 9t. Iſak Nathan
gegen 1450 in [εἰπὲ Goncorbang, die 1523 erſchien (S.92),
fovann in D. Bombergd zweite Ausgabe der Rabbiniſchen
Bibel von 1521. Die alte maforetifche Eintheilung in Ges
dern ijt davon durchgängig verfchieden.
Die kürzlich erfchtenene Bearbeitung des Jeſaianiſchen
Tertes durch diefelben Gelehrten ift und noch nicht auge-
fommen. Das Unternehmen, welche? in den zuverläffigiten
Händen ruht und einen gleich harmlos internationalen wie
intereonfejfionellen Charakter trägt, verdient alle Förderung.
Himpel.
3.
Logos spermaticós. Barallelitellenzumneuen Teftas
ment απ den Schriften der alten Griechen. Ein
Beitrag zur chriftlichen Apologetif unb zur vergleichenden
Religionserforfhung von Edmund Spieh, Doktor ber Phi-
Iofophte, Lie. und Privatdocent der Theologie an der lini:
verfität Jena. Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmam.
1871. ©. VII u. LXIII u. 505.
De religionum indagationis comparativae vi ac digni-
tate theologica. Dissertatio inauguralis etc. Edmun-
dus Spiess etc. Jenae 1871, In aedibus Eduardi From-
mann. Pag. 52. à
Diefe beiden Publikationen ftehen im nächſten Sujame
menhang mit einander. Die Inauguraldiſſertation nämlich,
Iiterarifch ein Fragment, enthält gewiffermaßen ein Pro-
gramm, mit welchem bev Verfaſſer feine akademiſche Lehr:
thätigfeit eröffttet und einen beftimmten Zweig theologifcher
Forſchung, nämlich vergleichende Religionswiſſenſchaft, für
ft üt Anspruch nimmt. Mit der größern Schrift, Logos
spermaticós betitelt, bietet er gleichzeitig eine Probe davon,
662 Spieß,
wie fid) der weitauzjehende Plan, ber bor feinem Geifte
ftebt, im verſchiedenen Einzelarbeiten durch Znſammenwirken
mannigfacher Kräfte ſtückweiſe verwirklichen Tieße; οϑ werben
nun bier zunächſt au8 den heidniſch⸗griechiſchen Dichtern,
Phtlofophen u. j. Ὁ. ſolche Stellen und Sentenzen aus-
gehoben, welche als Lichtblicke religißfer und fittlicher Gr-
fenntnig in Vergleich gebracht werben koͤnnen mit ber ge-
offenbarten Wahrheit in den Büchern be 9t. T.;
und es geichieht bieB mit Berufung auf die befannte pa-
teiftifche Idee vom λόγος σπερματικός. Dad Hauptinter:
effe des Leſers jedoch werdet fid) ber febr umfaffenden und
gedankenreichen Einleitung zu.
(3 it bem Verfaffer nächſtes Anliegen, ber verglei-
chenden Religionswiſſenſchaft einen Plat zu erobern im Um-
freiß der theologiſchen Wiſſenſchaften. Als er i. %. 1869
eine Zufammenftellung ber Lehrkräfte und Vorlefungen ber
theologiſchen Fakultäten an fämmtlichen Univerfitäten deutfcher
Zunge vornahm, fand er, wie er und mittheilt, daß an
feiner deutſchen Hochfchule bisher ein Collegium über ver-
gleichende Neligionzforichung gelefen wurde. Das ijt num
zwar mehr nur dem Buchitaben als ber Sache nach richtig;
fo hätte er z. B. im Vorleſungsverzeichniß unſrer Hiefigen
Univerfität, vom Sommer 1868 zwei Borlefungen angezeigt
finden fónnen, bie im Wefentlichen feinen Intentionen ent-
Sprechen dürften, bie eine in ber evangelifchstheologischen
Fakultät über „Philofophle und Gefchichte der Religion”,
bie andere in der philofopbifchen über „allgemeine Reli:
giondgefchichte". Ob nun die vergleichende Religionsfor⸗
hung gerade in den Organismus der theologischen Vor—
lefungen einzufügen ober, wie andere Hülfgwifjenjchaften
ber chriftlichen Theologie, ber philofophilchen Fakultät zu
Logos spermaticós. 663
überlafien ſei, darüber wird fid) immer noch fprechen fajfen;
thatlächlich wird bie Entſcheidung durch die ſchon beſtehenden
Verbältniffe an den Univerfitäten gegeben fein. Die Frucht
ber vergleichenden Religionsforſchung wird ber Apologetit
zufallen ; aber ob dieſer aud) die unabjehbare fachmännifche
Spezialforihung auf dem Gebiete der verjchiedenen Reli
gionen augenutibet werden müſſe, oder ob fie fid) daran ge⸗
nügen laſſen fune, die Stubien befonderer Fachmänner auf:
merkfam zu verfolgen und ihre Otelultate in geiftiger Durch⸗
dringung jid) angueignen, dad wird zu allermeift nach bem
Stand ber vorhandenen Lehrkräfte beftimmt werden. Eine
Lebensfrage tjt e3 bod) für bie Theologie nicht, fid in felbft-
ftändiger Forſchung auf ba8 vom Verf. beanfpruchte Gebiet
eingulajfjen , wenigítenà fo lange nicht, als ba8 theologiſche
Studium in lebendiger Berührung jteht mit den andern au
ber Univerfität vertretenen MWiffenfchaften. Dabei ſetzten
wir allerdings ba8 Doppelte voraus, daß nämlich ſowohl
bie Lehrer ber Theologie ihr Auge offen behalten für bie
Fortſchritte der Wiſſenſchaft in Philofophie, Gefchichte u. f. w.,
als aud) bie Studirenden der nothwendigen Anregung nicht
entbehren und ihren Geſichtskreis durch den Ausblick auf
die verfchiedenen Gebiete der Wiſſenſchaft erweitern Fönnen.
In der Werthichägung der vergleichenden Religions:
forschung ſelbſt jtimmen wir dem Verf. δεῖ und heben gerne
einige Punkte aus feinen mit großer Wärme und jugend:
friiher Hingebung gejchriebenen Auzeinanderfegungen her⸗
vor. AS Ziel feines Streben? jchwebt ihm vor bie Ver:
ſöhnung von Glauben und Wiffen, von Bibel und natür-
licher Erkenntniß. Nicht nur zwilchen ber Naturforſchung
und bem Offenbarungsglauben , ſondern aud) zwilchen bem
Humanismus ber Philologen und der geoffenbarten Religion
664 Spieß,
beſteht in unfrer Zeit eine tiefe Kluft; bie höhern Schulen
find zum großen Theil dein Chriftenthum entfrembet, und
ebenbamit ber größte Theil der Gebildeten. Seitdem bie
Philologie aus einem reinen BDienftbarfeitöverhältnig zur
Theologie herandgetreten und zu einer jelbftändigen Eultur:
macht geworden ift, hat fie fid) daran gewöhnt, bie Gr-
forfchung des Alterthums als Selbſtzweck zu betrachten, ben
Werth der antiken Geiſtescultur zu überfhäßen und auf
Koſten des Chriſtenthums zu erheben. Diefe Verirrung ber
Wiſſenſchaft erflärt fid dem Verf. allerdings ſchon zum
Theil au8 dem natürlichen Widerſtreit des menjchlichen
Geiſtes gegen ba8 Göttliche; fie fünnte aber, wirt weiter
vorgeftellt, bod) nicht [o allgemein geworben fein, wenn nicht
gleichzeitig eine höchft beflagenswerthe Unkenntniß ber ge:
offenbarten Wahrheit felbft vorhanden wäre; und bara
haben die Theologen felbft eine große Schuld. Zunächſt
fallt bie Thatfache in die Augen, daß eine fo große Unbe:
fanntbelt der Gebildeten mit ber h. Schrift gefunden wird.
„In Tatholifchen Ländern darf man eine Kenntniß der Bibel
überhaupt nicht erwarten; aber auch in proteftantiichen
Kreifen der bürgerlichen und ber höhern Gefellfchaft findet
fi eine bafiliblanijdje Unwiffenheit über Inhalt unb Zweck
ber B. Schrift ausgegoſſen und gelagert, zum Theil von
Jugend auf treu bewahrt, zum Theil noch erweitert und
vertieft durch ble Errungenfchaften des Vergeffend und ben
Raub ber Zeit.” (S. VIIL.)
Diefe Auslaſſung, die zugleich als Stilprobe gelten
fam, it nun freilich beffer gemeint als getroffen unb er-
wogen. Bei bem fichtlichen Beftreben des Verf., katholiſche
Berhältniffe zu würbigen umb einjchlägige Forſchungen Tatbo-
liſcher Gelehrten zu berücfichtigen, dürfte er jid) den Rath
Logos spermaticós. 665
nicht entgehen laſſen, jo apobifti]de Wrtheile, welche bie
Frucht veifer Prüfung und vielfeitiger Lebenzerfahrug fein
follten, über katholiſche Verhäftniffe zurückzuhalten. Es
will fid) nicht recht ziemen, mit Emphafe den Kathofifen
mangelhafte Berbreitung von Bibellenntniffen vorzumwerfen
in bemfelben Athen, in welchem man bie mangelhaften Gr»
folge der eifrigften proteftantifchen Bemühungen zu beflagen
bat. Schwerlich dürfte H. Sp. genau willen, wie Vieles
ober wie Wenige bei und für Berbreitung von Bibel:
kenntniſſen gejchieht; e8 handelt fid) bier ja nicht ein-
mal um bie Volksſchule und bie niebern Volksklaſſen, denen
man bie Bibel ala „Leſebuch“ vorenthält unb bie wielleicht
in romanifchen Ländern wegen mangelnden Schulzmangs
etwa3 weniges „bibelfeft“ fein werden al3 unfere bentfchen
Proteftanten; vielmehr handelt e8 fid) um ble Bumanijtijd)
Gebildeten, und bier trifft bev Schlag gegen die „katholiſchen
Länder” geradezu ind Waffer.
Im übrigen wünfchen wir ebenio aufrichtig nit bem
Berf. eine gründlichere Bekanntſchaft unfrer Gebildeten mit
der geoffenbarten Wahrheit, al8 wir ung feinen Ausfüh-
rungen über ben Werth der Hbumaniftiichen Studien für
die Geiftlichen anfchließen, und wir aboptiren ba8 Wort
Nägelsbachs: „Bewahret die klaſſiſchen Stubien, jonft
bricht die Barbarei über und herein! Aber haltet auch fejt
am Evangelium, ſonſt bleibt und dag Alterthum unverftanden
und bringt und unbeilvolled Heidenthum.“ Wuch befchei-
nigen wir gerne das Lob, welches den württembergifchen
Convikten ober Stiften geſpendet wirb, weil hier in muſter⸗
bafter Weiſe bie humaniftifchen mit den theologiichen Stu⸗
bien verbunden werben. (S. XI.) Weberbied wirb auf
666 Spieß,
die Schulen der Jeſuiten aufmerkſam gemacht, bei welchen
man lernen koͤnne, „daß philologiſche Bildung und chriftliche
Erziehung vereinbar find.” (©. XI.)
Ein ernftes Eingehen auf bie alte Belbnijde Guftur,
eine gründliche Kenntniß ihres geiftlich-fittlichen Gehalts
wie ihrer bebeutfamen Mängel entjpricht nicht nur einem
allgemeinen. Bildungsiuterefje, ſondern ſoll ſpeziell für bie
prattiiche Theologie, für die Verkündigung des göttlichen
Wortes verwerthet werden. Zunächſt für bie Predigt. Auch
bier fällt nun wieder für die fatholifchen Prediger ein Com⸗
pliment ab, für welches H. Sp. doch nicht ganz fompetent
fein dürfte „Auch bie katholiſchen Kanzelredner greifen
zu den fchönen Wahrheiten in den heidniſchen Schrift-
ftelern.... Die ber Fatholifchen ſonſt jo weit überlegene
Beredtſamkeit der evangelifchen Kirche kann bod) Manches
von jener lernen. Offenbar wiffen bie bebeutenderen Pre:
biger ber Katholifen ihre Rede vielfach anziehenber und po-
pulärer zu machen, a[8 wir es werftehen. Sie legen feinen
Werth darauf, bie Sprache der ἢ. Schrift, eine -bejonbere
Sprache be8 Heiligtbumd zu reden; barum Flingt, was fie
jagen, oft profan und trivial, aber fie reden. verftändlich
und eindringlich. Alle dient ihnen zur Beweisinſtanz und
aus allen Wiffenichaften, aus allen möglichen Verhältniſſen
bed Leben? und Ereigniffen der Welt nehmen fie Stoff und
ztehen fie Lehre” u. |. Ὁ. (S. XL).
| Allzu zuverfichtlich, wie folche Behauptungen, erjcheinen
und aud) zum Theil bie Hoffnungen be8 Verf. Es Klingt
fait wie eine bloße Phraſe, wenn wir lefen: „Wo ber
Zimmermannzfohn von Nazareth, bie Filcher aus Galiläa,
, ber Teppichmacher von Tarfus nicht für jalonfähig gehalten
werden, ba haben doch bie Dichter und Sänger, bie Ge:
Logos spermaticós. 667
ſchichtsſchreiber und Philofophen, die Staatsmänner und
Feldherrn des Haffifchen Alterthums freien Zutritt.” (©.
XLI.) So weit unfre Erfahrungen reichen, ijt es bert
doch einerjeit3 mit den aftffajfijben Studien unfrer Theo-
logen nicht jo jchlimm beftellt, und andrerſeits widerftrebt
es und und Scheint ung nicht jo vielverfprechend, bie diiit:
liche Wahrheit durch einen folchen Aufpuß falonfähig machen -
zu wollen. Hart an der Grenze befjet, ma8 Sp. forbert,
flegt Mebertreibung und Verirrung de Geſchmacks.
Weitere Zwecke, welche man bei der Empfehlung ber
vergleichenden Religionzwiflenihaft im Auge haben müffe,
Beziehen fid) auf das Miſſionsweſen unter ben Belennern
ber verfchiebenen heibnifchen Religionen, unb fodann auf
bie humaniftifchen Studien an den Eymnaſien und πὶ:
veriitäten. Wir könnten bier manches ſchöne Wort be?
Berfafferd anführen, wenn wir und nicht mit Rückſicht auf
ben Raum unfrer Zeitfchrift eine Beſchränkung auferlegen
müßten.
Schriften wie die vorliegenden lafjen fich überhaupt
nicht wie fertige und abgefchloffene Arbeiten vecenfiren; es
(t Schwer zu beftimmen, wann biejelben als vollendete Lei⸗
ftungen in ihrer Art bezeichnet werden können; wir haben
e8 noch überall nur mit 9(njágen und mit Anregungen zu
umfafjendern und weitausfehenden Studien zu tun; e$
werben große Ziele gejtedt; zu ihrer Erreichung find nur
erit einige anfehnlichen Schritte geſchehen. Was bis jetzt
vorliegt in den nad) Büchern, Kapiteln und Verſen ber 5.
Schrift geordneten Auzfprüchen der alten Griechen, hat etwas
von jenen Reiz, ben ber helleniiche Genius auf jeden Ge-
bildeten, nach Wahrheit und Schönheit Suchenden auzübt.
Wir nehmen ba8 dankbar an und überlaffen e8 ben Phi-
668 Spieß,
Iologen vom Fach, das mitgetheilte Material im Einzelnen
auf Genauigkeit und SBolfftünbigfeit zu prüfen. Dagegen
können wir und nicht verfagen, von einigen Eindrücken zu
berichten, welche ein Sefammtüberblict über bie vorliegenden
Arbeiten auf und gemadjt hat.
Was zunächit bie Auswahl der Stellen aus den arie:
chiſchen Weiſen betrifft, jo ijt fie nicht forgfältig genug er:
wogen, bie Stüde find nicht auf ihre Beweiskraft geprüft.
Der Berf. verbirgt fid) biefen Fehler nicht, nur jchlägt er
ihn geringer an ald wir. Er gibt von manchen Außfprüchen
zu, daß fie mehr dem Klange ald bem Sinne nach ben ähn:
fid) lautenden Worten der Schrift verwandt find, umd er
ift fi der Gefahr bewußt, „vom eigenen Ctanbpuntt aus
und nicht au8 ber Seele des Autor? heraus zu überjegen
und zu deuten“ (OG. XXIII). In ber That geht ev gar
nicht darauf aus, eine innere Vermittlung unb Vergleichung
des heidnifchen unb chriftlichen Geiſtes bevaujtellen ; er macht
mehr nur auf cinen äußerlichen Gleichklang aufmerkfam.
So wird die ganze Zufammenftellung fat nur eine Mate—
rialienverfammlung für Gläubige, nicht aber eine Rüſt⸗
fanuner für bem apologetifchen Beweis; ber ffeptifche Leſer
wird gerade barum nicht überzeugt werden, weil man ibm
zu viel bemeijen will.
Noch bebeutjamer aber erfcheint und ein anderer Mangel.
Es fehlt nämlich an einem fichern und beftimmten Maße,
nach welchem bie bellenijdje Weisheit oder überhaupt das
Geiftegleben des Heidenthums gemeflen werben fol. Wir
werben freilich auf die 5. Schrift gewielen a[8 die untrügliche
Hinterlage der Wahrheit; aber das ijt nur die Umgehung
einer viel wichtigern und eigentlich entjcheivenden Frage.
Pidelgläubig jind wir Alle. Wir fónnen die Meinung
Logos spermaticós. 669
unjer2 Autors dahin deuten, daß eben bie Schrift ber ge:
meinfame Boden fei, auf welchem fid) alle Confeffionen und
Denominationen zujammenfinden und fich zur gemeinjamen
Arbeit gegen den Unglauben verftändigen können. Aber
eine jolche Hoffnung gehört ind Meich der Illuſionen. Es
gibt Fein „Bibelchriſtenthum im Allgemeinen”, fondern je
ein beſtimmtes confejfionelled und perfönlich erfaßtes Glau⸗
bendbemwußtjein. Sollen wir nun aus den Augfprüchen
der heibnifchen Weisheit bie Belege holen für unfern bes
jtimmten confejftonellen oder firchlichen Ctanbpunft? Ober
jollen wir ung bem Vorwurf augfeßen, daß wir, von unferm
fubjeftiben religiöſen Bewußtjein beherrfcht, der heidnifchen
Literatur Gewalt anthun und fie fo fauge mißhandeln, bis
fie fid) zu unferm Bibelglauben veimt? Wir jagen εὖ un-
ummwunden, wir fünnen und von einer DVergleichung bed
„Chriſtenthums im Allgemeinen” niit bem Heidenthum nicht
jo viel verfprechen,, jo lange bie Grijten felbft fid) nicht
über einen Kirchenglauben geeinigt haben, ber ebenfo wahr-
haft bidlifch ober offenbarungsgemäß ijt, als er [fid in
Uebereinftimmung befindet mit bem Wahrheitögehalt, beu
bie Eulturmächte unjter Zeit, Philofophie, Gefchichte, Natur:
foridjung wu. j. Ὁ. zu Sage fördern. Es ijt nicht bie Ver:
nachläjfigung der humaniftifchen Studien allein, welche ben
Prediger um feinen Einfluß auf bie Gebilbeten gebracht
bat; εὖ ijt viefach der traurige Zuftand ber Theologie ſelbſt.
Wenn ein Paftor Goeze und ein Leſſing gegen einander
jtehen, wer will fid) da wundern, wenn ber geiftig frifche
und benfenbe Theil der Nation fid) auf Leſſings Seite ftellt?
Die Weltanfchaunng cines Bajtor Kuad oder John Hampden
oder auch eines Hengſtenberg kann unmöglich bem Chriften-
thum Belenner unter den Gebildeten werben. Wir wollen
670 Wolf,
e$ Bier nicht verſuchen, bie kirchlichen Zuſtände ber Gegen⸗
wart zu ſchildern und uns nicht in all den theologiſchen
Hader miſchen, der mehr als alles Andere die Kirchen ent⸗
völfert. Wir wollen auch nicht in ber Zerfahrenheit des
proteftantiichen Kirchenweſens einen Troſt fuchen für bie
traurigen Erfahrungen im eigenen Lager. Wir würben e$
aber als die jchönfte Frucht der vergleichenden Religions⸗
forihung begrüßen, wenn fie ihre Adepten lehren würde,
binwegfehend über die Unvollfommenheit der empiriichen
Erſcheinung, ben Geijt und dag Weſen unfrer Religion und
Kirche zu erfaflen. So dürfte bann diefe neue Wiffenfchaft
nicht blos einen apologetiichen jondern auch einen ivenijden
Zweck haben. Dazu reichen wir bereitwillig unjre Hand.
Rinfenmann.
4.
Die Aufhebung ber ſelöſter in Inneröfterreih 1782—1790. Gin
Beitrag zur Geſchichte Kaiſer Joſeph's IL von Adam 3861).
Wien, 1871. W. Brammüller. VII. 174. 8°.
G8 fehlte bisher über die Klojteraufhebung unter So:
jeph IL. an einer qellenmäßigen Unterfuhung. Zwar hat
€. Brummer in feinen beiden Schriften „die theologische
Dienerſchaft am Hofe Joſeph's IL^ und „Myſterien ber
Aufklärung in Oefterreih 1770—1800^ einige Mitthei-
[ungen über diefe Angelegenheit aus den Wiener Archiven
gemacht ; aber feine Darftelung ijt unvollftändig unb, wie
aus ber vorjiehenden Schrift erhellt, theilweife ungenau.
Auch der SBerfajfer ber letztern hat feine Unterſuchungen nicht
anf das ganze Gebiet ber habsburgiſchen Erblänber auöge-
dehnt, jondern auf Snneröfterreich, b. i. Steiermarf, Krain
Aufhebung ber Klöfter. 671
und Kärnthen beichränft; aber wegen ihrer Grünblichkeit
vermag feine Arbeit auch bei ihrem geringen Umfang voll-
jtändig zu befriedigen. Eine Controle feiner Mittheilungen
ijt und natürlich nicht möglich, ba bie meiften unmittelbar
den Regierungdarchiven zu Graz, Saibad) und Klagenfurt
entnommen find; fie ijt inbefien auch kaum nothwendig, ba
ber Verf. fid) ein rein Hiftorisches Ziel jeßte und, wie feine
Arbeit zeigt, feiner Aufgabe wirklich gerecht wurde. Wir
begnügen uns daher, einige wichtige Punkte aus bem Buche
auszuheben.
Wie die Reformen Joſeph's II. überhaupt, ſo reichen
auch bie bezüglich des Kloſterweſens mit ihren Anfängen
in die Regierung feiner Mutter Maria Therefin zurüd,
Zweimal wourbe während berjefben das Projekt in Aure-
gung gebracht, bie Verwaltung feiner Güter bem Regular:
klerus abzunehmen, jte ber Kammer zu übergeben und jedem
Drpdensgeiftlichen einen Sahresgehalt anzumeifen. Die Kai:
jerin απὸ in Folge ber Vorftellungen des päpftlichen Nun-
tius von dem Vorhaben ab, jedoch traf [ie andere Neues
rungen, welche ihr nütlich und nothwendig jenem. Sie
beichränkte unter Anderem die Zunahme der Klöfter, bejet-
tigte den fojterfevfer, unterjagte bie Aufnahme neuer Mit:
glieder in ben fog. dritten Orden, verbot bie Ablegung ber
Drdendgelübde vor bem 24. Lebensjahre. Dieje Reformen,
bie a[8 unabweisbare Yorberungen des veränderten neuen
Staatslebens im achtzehnten Jahrhundert betrachtet wurden,
wurden fofort durch Joſeph IL. weitergeführt. Der Sohn
ging dabei zunächſt von ben gleichen Anſchauungen aus wie
bie Mutter; er handelte als Staatsmann und glaubte mit
feiner Reformthätigkeit nur jeine Pflicht als Oberhaupt de
Staates aw erfüllen. Aber die dee be8 modernen Staates
Theol. Quartalſchrift. 1812. IV. Heft. | 45
672 Wolf,
hatte ihn in einem höheren Grade erfüllt und er that in
feinem Uebereifer ſelbſt Schritte, bie fid) als große lleber-
ſtürzungen herausſtellten.
Was ſein Vorgehen gegen bie Klöjter anlangt, jo be-
Schränfte er beren Freiheit vom Anfang feiner Regierung
an durch eine Reihe von Verordnungen. Erft gegen Ende
be2 Jahres 1781 fahte er den Plan, einzelne Klaffen zu
ſchließen. Der tiefere Grund diefer Entſchließung war ber
auggelprodyene Wtilitätzjtandpunft, von dem aus er Alles
beurtheilte und von dem aus er den contemplativen Orben
bie Eriftenz abjprechen mußte; die Veranlaffung dazu gaben
die zerrütteten VBerhältniffe der Karthaufe Mauerbach in
Niederöfterreih. Nach bem Gefete vom 12. Januar 1782
wurden aufgehoben alle Häujer „des Karthäuſer-, Gamal-
eufenjerorbenà und die Eremiten oder fogenannten Walb-
brüber, bann vom weiblichen Gejchlechte der Sarmeliterinnen,
Clariffinnen, Sapuzinerinnen, Franziskanerinnen.“ (S. 288).
Das Bermögen biejer Klöfter floß in ben Religionsfond
und vourbe abgefeben von ber den burd) bieje Maßregel δὲς
troffenen Perſonen zu entrichtenden Penſion zur Durchfüh—
rung ber neuen Pfarreintheilung verwendet. Letztere iſt
ein wejentliched Verdienſt der jojephinifchen Regierung. Bes
reits Maria Therefia hatte fie al ein dringendes Bedürfniß
in Ausficht genommen, war aber in Folge ber Oppofition
bes Klerus von ihr abgeitanben. Joſeph IL. brachte den
Plan zu Ausführung. Aber für die Errichtung und Do—
tirung der vielen Pfarreien, bie ſich als nothwendig er:
fanden, reichte bag Vermögen ber anfänglich aufgehobenen
Klöſter nicht hin. Anderſeits ftellten fid) durch bie neue
Pfarreintheilung mehrere Klöjter als überflüffig heraus, ba
der Seeljorge des Weltflerug größere Ausdehnung gegeben
Aufhebung ber Alöfter. 673
wurde. Es wurben baber nod) weitere Klöfter eingezogen.
Die Geſammtſumme beläuft fid bis zum Jahre 1786 auf
738, wobei jedoch bie 139 Häufer der Sefuiten, bie bereit?
durch ben P. Glemenà XIV. gefchloffen worden waren,
mitinbegriffen find; bejtehen blieben 1425. Die Aufhebung
betraf ſomit ungefähr ein Drittel. — In Inneröſterreich allein
wurden im Ganzen 65 Häufer mit einem Neinvermögen
von beiläufig zehn Millionen Gulden jäcularifirt.
Nachdem der Verf. bieje Vorgänge im Einzelnen zur
Darftellung gebracht, ftellte er am Schluß feiner Schrift
noch eine furge Betrachtung über die volkswirthſchaftliche
unb ſociale Bedeutung ber jojephinifchen Klofteraufhebung
an. Die große Ausdehnung des Beſitzes der tobten Hand
in Inneröſterreich — das Aftivvermögen ber dortigen Klöfter
betrug über zwölf Millionen — ijt nach ihm eine ber Ur—
fachen ber mit dem jechözehnten Sahrhundert beginnenden
und ſtets zunehmenden Verarmung be8 Landes. Dieſem
Mebelftande wurde durch bie jofephinische Maßregel nicht
unmittelbar abgeholfen; ba8 eingezogene Vermögen war αὐ
im Meligionzfond gebunden nnd die ftaatliche Wirthichaft
war wenig beffer als bie δεν 6. Aber immerhin er-
folgte eine Beſſerung. Ein Theil der liegenden Kloftergüter
wurde verkauft, der freien Arbeit überlaffen und bamit eine
neue Duelle de Wohlſtandes eröffnet. Noch Debeutjamer
waren bie Folgen für Religion und Unterricht. Die Er:
richtung von neuen Pfarreien und Schulen, zu ber δα
Kloftervermögen verwendet wurde, konnte nicht verfehlen,
fich als jegensreicdh zu erweifen. In Anbetracht biejer Um:
ſtaͤnde, wird man davon abſtehen müſſen, für das Vorgehen
Joſeph's II. gegen einen Theil der Klöfter feiner Länder nur
Worte beà Tadel? zu haben. Daſſelbe erjcheint allerdings
45 *
674 Freiburger Didcefanarchiv.
rechtlich angefehen af8 ein Unrecht. Aber e8 gibt beſonders
auf bem Gebiete der materiellen Güterwelt Krifen, bie eine
Löſung zu fordern fcheinen oder thatlächlich zu einer Löſung
führen, zu deren Beurtheilung eine einfache juriftifche Regel
nicht immer gureidjenb ijt. Läßt man endlich feinen Blick
auf bie nächſte Folgezeit vorwärts fchweifen, fo dürfte bie
Trage nicht unberechtigt ſein, ob nicht burd) das Verfahren
Joſeph's IL die Kirche in Defterreich vor Vorfällen bewahrt
blieb, wie wir fie im außeröfterreichifchen Deutfchland im
Gefolge ber franzöfifchen Nevolution ὦ vollziehen jeber,
wo allenthalben mit ben Klöftern gänzlich aufgeräumt wurde.
eunt.
5.
Sreiburger Didcefan » Ardis. Drgan be8 Tirchlich = biftorifchen
Bereind der Erzdiöcefe Sreiburg für Gefchichte, Alterthums⸗
funbe unb chriftlihe Kunft, mit Berüdfihtigung ber angren-
zenden Bisthümer. Freiburg i. B. Herder.
Eine [εν erfreuliche Erjcheinung, die wir hier zur An-
zeige bringen. Bor zehn abren trat ein Verein in2 Sieben,
ber fid) bie Erforſchung der Gefchichte ber Erzdiöcefe Freiburg,
bezw. ber alten Didcefe Conſtanz zum Ziel fette. Im Jahre1865
konnte bereit3 die Publikation be8 zu diefem Behufe gegrün-
beten Diöcefanarchived beginnen und find jeitbem [ε
Bände von durchſchnittlich 25 Bogen cvjdjienen. Unter
den Mitarbeitern erjcheinen außer bem H. Dekan Haid von
Lautenbach, ber den erjten Anftoß zu dem Unternehmen ge⸗
geben, Männer, deren Namen in der wiflenfchaftlichen Welt
bereit? vortheilhaft befannt find, bie HH. Profefforen an
ber Univerjität Freiburg Alzog, Bock (jeitvem geftorben)
Freiburger Didcefanardiv. 675
und König, die HH. Archivare Freiherr Roth Ὁ. Schreden-
ftein, A. Kaufmann, Zell, 33aber, Echnell u. U. Das
Unternehmen hat fid damit ala lebenskräftig erwiejen und
e$ darf in Anbetracht der ſoliden und intereffanten Qet-
ftungen, bie es aufzuzeigen bat, mit vollitem echt bet
Wunſch ausgefprochen werben, e8 möchte auch in weiteren
Kreifen ber wohlverdienten Aufnahme fich erfreuen. Wir
fügen bier noch kurz die Bedingungen ber Theilnahme an
ben Verein bei. Das Mitglied bat 2 fl. Eintrittögeld (εἰμ:
mal) und jährlich 1 fl. 45 fr. zu bezahlen: dafür wird ihm
ber jährlich ericheinende Band des Diöcefanarchived ſowie
dad 9tedjt zu Theil, Titerarifche Arbeiten in das fegtere zu
tiefern, dag üt der Negel und vorzugsweile nur ben Bubli-
fationen der Vereindgenoffen dient. .
Es iff und bier nicht möglich, auf den reichen Anhalt
der bisher erjchienenen ſechs Bände näher einzugehen. Wir
verweifen auf biefe jefbjt und auf bie literavijdje Anzeige
und Einladung, welche bie Redactiongcommiffion im Des
zember v. 3. erlaffen hat. Doch wollen wir auf einzelne
Publikationen beſonders aufmerkffam machen.
Das Wichtigfte tjt der liber decimationis cleri Con-
stanciensis pro Papa de anno 1275 (38v. I. €. 1—245)
unb ber liber Quartarum et Bannalium in dioecesi Con-
stanciensi de anno 1324, zum er[tenmat aus bem erzbiſchoͤf⸗
Tichen Archiv ebirt durch Dekan Haid. Der liber decimationis
bietet uns bie älteſte Etatiftif ber Didcefe Conſtanz. Diefelbe
zerfiel im breizehnten Jahrhundert in 10 Archiviafdonate
und in 64 Dekanate; die Zahl ber Pfarreien und Bene:
ficten belief fid) auf etwa 1964; ber WBerfonalbeitand des
Regular: und Säcularklerus wird von bem Heraußgeber in
runder Summe auf 4000 geſchätzt. Die Gon[tanger Did-
676 Freiburger Didcefanarchiv.
cefe war, wie befannt, eine ber größten Deutſchlands und
umfaßte nicht bloß ben größten Theil von Schwaben, fondern
auch bie deutſche Schweiz. Einen Ueberblick über ihren
Umfang gewährt die Karte, welche bem 6. Bande be8 Ar-
hives beigegeben ward. An bieje Publikationen jchlteßt
fi eine weitere enge an, ber liber taxationis ecclesiarum
et beneficiorum in dioecesi Constantiensi de anno
1353, eine GStatiftif des 3Bigtum8 aus bem 14. Saft
hundert (Bd. V. ©. 1—115). Diefe Dokumente gewähren
nicht bloß über ben äußeren Befitftand ber Didcefe Eonftanz
Aufichluß, ſondern fie geftatten und auch einigen Einblic
in die inneren Berhältniffe der Kirche in ber damaligen
Zeit. So zeigt und ber liber decimationis an vielen
Stellen, daß ber cumulus beneficiorum bereit im 13.
Jahrhundert tief eingeriffen war.
Außer biefen Publikationen möchten wir noch beſonders
hervorheben, das Itinerarium. ober Raiſbüchlin be8 P.
Conrad Burger, Gonventual des Gijtergtenjer-fefojter8 Then⸗
nenbadj unb Beichtiger im Frauenkloſter Wonnenthal vom
abre 1641 bis 1678, herausgegeben von Alzog (Bd. V.
u. VL) und ben liber fundationis seu Annales ecclesiae
Marchtallensis ab anno 992—1299, ebirt von Schoͤttle;
ferner die Abhandlungen über den Firchlichen Charakter ber
Spitäler, bejonderd der Grabiücele Freiburg (Haid), über
bie Neichenauer Bibliothef und über Walafried Strabo
(König), über die bildlihen Darftellungen der Himmelfahrt
Chrifti vom fechiten bis zum zwölften Sahrhundert (3Bod).
Den Annalen von Marchtbal möchten wir noch eine
weitere Aufmerkfamkeit erweifen. Diejelben gehörten früher
zur Bibliothek des Kloſters, gelangten aber fpäter in bie
Regiftratur einer der vormals Marchthaler Pfarreien und
Freiburger Diöceſanarchiv. 677
blieben dort bis zu ihrer jebigen Veröffentlichung verborgen.
Sie wmfajfje die Zeit 992—1299 und zerfallen in vier
Theile. Die zwei erften erſtrecken fid) biß zum 9. 1229;
ber dritte enthält einige Einzelheiten aus ber Folgezeit, bet
vierte endlich behandelt bie Sabre 1229—1299 und er ift e8
näherhin, bem bie nadjtebenben Bemerkungen gelten. Sein
Verfaffer war angeblich eim gewifjer Chorherr $., ber im
Jahr 1299 fchrieb, aber jonft nad) feinen äußeren Verhält—
niffen uubefannt ijt. Der Herausgeber nahm die Schrift
als Acht an, und ftiegen aber beim Leſen berfelben verſchie—
bene Bedenken auf. Die hauptjächlichiten find ber frivofe
über das Heilige jpotte(nbe Ton des Autors, der im Ganzen
bem 13. Jahrhundert fremd ijt; fein Wohlgefallen an Spie-
Yereien, bie er fo weit trieb, bap er die Hymnen des Dre:
vierd von ber Prim bis zur Gomplet der Reihe nad) in
feine Darſtellung verflocht und ganze Seiten reimte; ber
Charakter ber Arbeit, die weniger einige Gefchichte als eine
Satire auf bie Kloftervorftände zu fein jcheint. Diefe Be:
denken wären allerdingd zu unterbrüden, wenn für bie
Schrift eine hinreichende Außere Beglaubigung vorhanden
wäre. ine folche Gewähr liegt aber unter den obmaltenbert
Umftänden zunächft nicht vor und der Herausgeber unter:
ließ e8, bie Frage nad) der Nechtheit näher zu erörtern.
Eine fichere Löſung diefer Frage dürfte indeffen nicht uns
möglich fein unb fie fónnte wohl am Eheften auf dem ya:
läographifchen Wege gegeben werden, ba bem Herausgeber
nicht etwa nur eine Kopie, ſondern das Original vorlag.
Fiele aber diefe Unterfuchung gegen bie Aechtheit aus, fo
möchten wir ber Bermuthung des H. Prof. Ὁ. A. beiftimmen,
biefer vierte Theil ber Annalen jei eine Fälſchung ded Se—
678 Kraus, Kirchengefchichte.
baftian Caller, der bei Abfafjung feines „jubilivenden March:
tal” (1771) Anlaß batte, fid) mit der Gefchichte feines
Klofterd näher zu befaffen und deſſen Geift und fententiöfe
Schreibweife ganz zu bem Bruchſtücke pajfen würbe.
Sunt.
6.
Lehrbuch ber Rirjengeididte für Studierende. Bon Qj. X.
ſtraus, SDoftor der Theologie unb ber Philofophie. Erfter
Theil. Altchriſtliche Kirchengeſchichte. Xrier, Link, 1872.
197 ©. 20 Sgr.
Je mehr bie Entchriftlihung ber menjchlichen Gefell-
Ichaft überhand nimmt, je mehr Indifferentismus und Un⸗
glaube jid) breit machen und mit ihrem Gifte alle Lebens:
verhäftniffe infictren, um fo allgemeiner wird daß Bebürf-
nip die Vergangenheit ber Kirche kennen zu lernen, [εἰ es
um durch Vorführung ihrer Kämpfe und Siege ben Muth
und bie Begeifterung ihrer Anhänger zu beleben unb zu
erfrifchen,, [εἰ e8 um aus ben unleugbaren Thatjachen der
Geſchichte zur Heilung ber zahlreichen Schäden ber Gegen-
wart wirffame und erprobte Mittel ausfindig zu machen
und zur Ausführung zu bringen. Es ijf barum mehr αἱ
‚reiner Zufall, e8 ift ein Zeichen ver Zeit, daß nicht bloß
für Theologen , jonbern für Gebildete aller Stände und
Klaffen, jefbft für einfache Volksſchulen Handbücher ber
Kicchengefchichte erjcheinen, bie inggelammt in ber einen
Ober anderen Form theild bie zahlloſen Angriffe ber Geg-
ner abzuwehren, theild das Intereſſe und Verſtändniß für
die Kirche anzuregen bezwecken. Sol bie Abficht, in welcher
Erzeugnifje diefer Art zu Sage gefördert werben ‚wirklich
Kirchengeſchichte. 679
erreicht werden, dann iſt vor allem nothwendig, daß die
Prieſter, „das Licht und Salz der Erde,“ in der betreffenden
Disciplin nicht zurückſtehen; fie müſſen vielmehr im Stande
fein, bie Grgebniffe der Hiftorifchen Forſchung feitzuftellen,
Zweifel zu loͤſen, Widerfprüche auszugleichen und bie Er-
fahrungen der verflofjnen Jahrhunderte für bie Geftaltung
ber Gegenwart zu verwerthen unb auszubeuten. Da aber
die Kirchengefchichte auf bem umfangreichen Gebiete ber
Theologie nur einen Zweig bildet, jo muß ba8 Studium
derſelben jo viel als möglich erleichtert werden, jedoch un⸗
befchadet ihrer ſtreng wifjenjchaftlihen Behandlung. In
biejer Hinficht hat der 3D. vorliegender Schrift, defien Name
in ber theologifchen Literatur bereit3 einen guten Klang hat,
einen wefentlichen Beitrag geliefert. Laut dem Vorwort ge-
denft K. erſt in der Vorrede zu dem lebten Bande fid) um:
gebenber über Plan und Anlage des Buches, forie über
bie bei ber Abfaſſung desſelben maßgebenden Grundſaͤtze
auszuſprechen; dem Recenſenten liegt daher die Aufgabe ob,
den Erklärungen des V. vorgreifend, ſchon aus bent vor-
liegenden erſten Bande die dem Werke zu Grunde liegenden
leitenden Anſichten nach dem Eindrucke einer aufmerkſamen
Lektüre zu beurtheilen.
Zunächſt iſt das Werk nicht etwa ein Handbuch, in
dem ber kirchengeſchichtliche Stoff in hinreichender Ausfüh—
rung für ſich verftändlich erfchiene; auch nicht ein einfacher
Grundriß, in dem nur ein gedrängter Ucherblid der charak⸗
teriftiichen Momente be8 kirchenhiſtoriſchen Entwicklungs⸗
ganges gegeben würde, wobei dem Lehrer bie weitere Aus⸗
führung ber wichtigiten Partien überlaffen bliebe: e8 hält
vielmehr zwifchen beiden bie Mitte, indem e8 ben Gegen:
ſtand nicht nur nach allgemeinen Umriffen » ov führt, fondern
680 Kraus,
auch in benfelben einführt. Der Verf. öffnet bem Stubie-
renden fo zu fagen bie Werkftätte de Lehrers, zeigt ibm
bei jedem Schritt und Tritt ble Quellen, woraus er fchöpfte;
bie Bearbeitungen, die er zu Otatbe zog; die Gründe, bie
fein Urtheil Teiteten, ſowie bie tieferen Urſachen ber biftorifchen
Erſcheinungen. Auf bieje Weife bleibt ber Schüler nicht
6103 receptiv, fondern wirb auch bei Firirung und Klar:
ftellung ber geichichtlichen Ergebniffe in einem gewiffen Sinne
mitthätig, ein Umſtand, ber ohne Zweifel das Sutereffe für
bad Studium in hohem Grabe erregt und dazu beiträgt,
bad einmal Gelernte dem Gebächtniffe um fo tiefer einzu-
prägen.
Natürlich ijt bei biejem Verfahren die Stelle, wo, und
ble Art, wie die Quellen und Duellenauszüge angebracht
werden, nicht gleichgültig. licht man die Detaild in ben
Haupttert ein, [o kann dies nur auf Koften einer fließenden
Darſtellung und einer leichteren Erfafjung be8 Stoffes ge:
ſchehen. Verlegt man fie in der Form von Noten an ben
Rand, fo werben fie Leicht überjehen, um jo mehr, ba fie
meiftenà aus trodenen Eitaten bejtehen, die überhaupt jelten
ba$ Intereſſe des Schüler? erregen, wenn fie nicht burch
Eingliederung in den Tert Geftalt und Leben gewinnen.
Tillemont’3 Methode, bie Detail in zulammenhängender
Worm an dad Ende be8 Buches zu verjepen, mag fich für
οἷς auf Folianten berechnete Geſchichtsſchreibung fehr gut
eignen, nicht aber für ein kurz gefaßtes Lehrbuch. Der
Verf. hat nun nach Art des Kurtz'ſchen Lehrbuches bie Leit—
unb Kernpunkte durch fettere Echrift im Drud hervorge:
hoben, darauf in Petitſchrift bie SOctail8 in der Weiſe folgen
laffen, daß fte in ber Regel eine Erläuterung und weitere
Ausführung des Haupttertes bilden. Deshalb können fit
Kirhengefchichte. 681
um fo weniger unbeachtet bleiben, al8 fie meiften? SQuelfen-
befege für dasjenige enthalten, was ber Verf. unmittelbar
vorher als ba8 Reſultat der hiſtoriſchen Forſchung ausge:
fprochen Hat. In diefen Ausführungen einzelner Punkte
bekundet dev Verf. cine ungemeine Belejenheit, eine unge:
wöhnliche Bertrautheit mit den Quellen und Hilfämitteln.
Um bei bem ſparſam zugemefjenen Raume von nur 197
GSroßoctavfeiten die Special-Literatur mit ſolcher Ausführ⸗
lichkeit beitragen zu Finnen, mußte f. rückfichtlich des Stoffes
etwas wählerifch zu Wege gehen. Bei der jorgfältigen Au2-
Scheidung alles deſſen, was nicht fireng in den Rahmen
gehört, vermiBt man doch auch nichts, was zur Bervollftän-
bigung bed Gemüfeca nöthig wäre. Sn den 61 Paragraphen
wird einfchließlich der altchriftlichen Kirchengeichichte alles vor-
geführt, was irgendwie ber Behandlung betarf, Dabei
finden bie hriftliche Kunft und Poeſie, ble theologiiche Wiffen-
(daft eine verhältnigmäßig jo eingehende Beſprechung, vote
ἐδ bi8 dahin nicht einmal in größeren Handbüchern zu ge:
ſchehen pflegte.
Zu unferem Referate über die Anlage des Werkes gehört
ichlieglich noch bie vom Verf. angenommene Eintheilung ber
Kirchengefchichte. Der gefchichtliche Stoff wird zuerft chrono-
logisch in Zeiträume (3) und Perioden (je 3, 4, 3) zerlegt,
bieje wieberum mit Rückſicht auf bie nebeneinander fort
laufenden Grunbrichtungen, welche die fBejtanbtfeile bet
&uBeren und inneren Kirchengefchichte bilden, nach ben
Materien getheilt, fo bag Neal: und Zeitabtheiluug mit ein:
ander verbunden find. Ganz treffend ijt die zu Gunften
biefer Eintheilung in S 2 gegebene Begründung.
Die voranftehenden allgemeinen Bemerkungen über bie
aͤußere Einrichtung des Buches entheben Ote. ber Mühe,
682 Kraus,
noch im Beſondern auf bie Verbienfte be8jefben weiter ein-
zugehen. Sein Urtheil tt, wie man leicht aus bem Gefagten
erfehen Tann, ein febr günftiges. Dieſes Urtheil glaubt Ref.
eher zu befräftigen als zu jchwächen, wenn er fid) erlaubt,
auf einige Punkte aufmerffam zu machen, die nach feiner
Anfiht einer Verbeſſerung bebürfen. Was zunächit bie
Form angeht, fo ijt zwar nicht zu überfehen, baB ber Verf.
laut bem Titel für „Studierende”, b. D. für folche, die mit
Eifer, Luft und Liebe bem Studium obliegen, fein Lehrbuch
gefchrieben hat. Indeß werden bei bem beharrlichen Streben
nah Kürze die Zumuthungen an angehende Theologen mit-
unter zu ſtark. Der Verf. wird, wenn er feinen eigentlichen
Sejerfvei8 nicht au8 bem Auge verliert, ohne Mühe einige
Stellen herausfinden, wo nicht jo jehr größere Klarheit, als
‚vielmehr eine faßlichere Darftellung anzuftreben wäre. Bei
etlichen Paragraphen ift m. G. die Ausführung de Haupt-
thema? zu knapp und fteht zur reichhaltigen Special-Riteratur
in feinem rechten Verhältniß. Findet man 3. B. am Kopfe
des Bericht? über das Leben Jeſu die Schriften von Renan,
Strauß und Schenkel verzeichnet, jo iſt man zur Beurthei⸗
lung der negativen Kritif auf einige Ternhafte Gedanken in
dem betreffenden Artikel gefaßt; tft bie8 aber wegen ber
Kürze, ber man fid) befleißigen will, nicht möglich, dann
fcheint es gerathen, die Schriften von fo deftruftiver Tendenz
ausnahmsweiſe in einer Note am Rand namhaft zu machen.
Gbenjo ijt der bem bf. Petrus gewidmete Paragraph (€. 41)
zu kurz ausgefallen. Mögen ble bem Apoftelfürften zu Theil
gevoorbenen Verheißungen und Audzeichnungen noch jo bes
fannt fein, fie dürfen in einem Lehrbuch der SKirchenge:
ſchichte nicht vollftändig unerwähnt bleiben. Auch fpáter
wird bie Lücke nicht ausgefüllt, weder in S 16, wo von
Kirchengeſchichte. 683
ber Verfaſſung, noch in 8 29, wo von ber Einheit ber
Kirche bie Rede ijt. Hier ftellt ber Verf. bie ganz richtige
Behauptung auf, „daß ber Primat” nicht einfeitig al?
bloßer „Reflex der Einheit der Kirche” (Möhler), ſondern
auch als ber Ausgangspunkt derjelben erfaßt werden will”
(€. 83). Allein während Möhler in feinen ſpäteren Schrif—
ten den Standpunkt feiner Erſtlingsſchrift aufgab (vergl.
SBatrofog. ©. 859), ſcheint der Verf. davon nicht gang um-
berührt geblieben zu fein. Erwägt man Möhler's Worte:
„Nach Gpprian ijt nicht die räumliche Vielheit der Kirchen
allgemach in eine fichtbare Einheit aujammengevonnen; jon-
dern αἰ ber fichtbaren Einheit ijt ihm die räumliche Viel-
heit ber fichtbaren Tatholifchen Kirche beraus$gemadjen,
und ber Feld Petri war nicht ber lebte, dev Schlußftein in
bem Einen Gottesbaue oben, jondern ber Grunb[tei in ber
Tiefe unten” (a. a. $0), dann dürfte S 29 eine Heine Mobi-
flcation erleiden müfjen.
Einige Male gefchah εὖ, daß ber Verf. zur Klarftellung
be8 Thatbeitanded das Beweismaterial theild nicht gehörig
verwerthet, theils micht ausreichend mitgetheilt bat. Auf
€. 116 ijt nicht Mar genug hervorgehoben, daß Liberius
mit dem nicänifchen Wort nicht auch den nicänischen Glau-
ben Bat fallen laſſen. Nach €. 129 wäre Honoriuß ebenfo
wie bie übrigen Häupter der Härefie von der 6. allgemeinen
Synode anathematifirt worden. : Indeß fprach die Synode
in mehrern Cigungen Aber Honoriug und unterfchieb ihn
faft immer von den eigentlichen Urhebern der Härefie.
Desgleichen unterſcheidet Leo IL. ihn ganz fíar von ben
inventores novi erroris; und daß ber Papſt hierin nicht
im Widerſpruch mit der Synode Stand, vielmehr bem Spruche
berjelben ben richtigen Ausdruck gab, dag beweist ber Brief
684 Kraus,
des Kaiferd, demgemäß Honorius blos ala „ein Befeſtiger
ber Härefie, ber fid) ſelbſt widerſprochen hat“ verurtheilt
wurde. — Anſtatt zu jagen, Heracliuß habe, „durch bie
Briefe be8 Honorius ermuthigt,” 688 die Ektheſis als
Reichsgeſetz veröffentlicht, würde e8 bejfer heißen, ber Kaifer
[εἰ dadurch von Sergiuß ermuthigt worden. Der Grund
aber, warum Sergius, ber fchlaue Byzantiner, die Efthefiz
erjt veröffentlichen ließ, nachdem die Nachricht vom Tode
des Honorius in Konftantinopel angefomunem war, ijt leicht
zu errathen, und fpricht gewiß mehr zu Gunften, als zu
Ungunſten ber jo arg mißbrauchten vielbeiprochenen Briefe. —
Wenn man ben Hauptpaſſus, den ber Hl. Auguftin ung
von bem Befenntuiffe des Coͤleſtius binterlaffen Bat, mit-
teilt, jo darf man, um über Papſt Zofimus richtig urthei⸗
len zu können (€. 137), aus bemjefben Bekenntniſſe ben
Sag: Si forte ut hominibus quispiam ignorantiae
error obrepsit, vestra sententia corrigatur nicht weg⸗
fajjet (Aug. lib. de pecc. orig. c. 6). Außerdem bemerft
Auguſtinus, Papſt Zoſimus habe durch Fragen und Ant-
worten den Giüfejtiug zu gewinnen gefucht und auf Grund
biejer Beſprechungen, nicht Grund ſämmtlicher Worte des
eingereichten Bekenntniſſes mochte letzterer unfchuldig be-
funden werben. — Das Urtheil über Konftantin (€. 104)
ijt zu hart und durch den Brief an Alexander und Arius
vom Sahr 324 gar nicht begründet. Nah €. 112 war
ja Konjtantin felbft über bie Arianer |o erbittert, „daß er
fogar ihren Namen vertilgen und fie Porphyrianer genannt
wifjen wollte”. Gujebiu8 von Nikomedien, von bem er
jpäter bie Taufe empfangen, war erilirt worden und burfte
erjt aurüdfebren, nachdem er gehörig jati$facirt hatte.
Es bedarf wohl faum ber Bemerkung, daß bie gemachten
Brockhaus, Aureliuß Prubentius Clemens. 685
Ausstellungen den Werth des Buches nicht vermindern wollen.
Ref. wünſcht ibm die möglich größte Verbreitung und
hofft, bag in einer neuen Auflage, bie voraugfichtlich bald
nöthig werben wird, einige Mängel und Verſehen in Bezug
auf Inhalt und Form verfchwinden werben.
guremburg. Peters.
T.
YAurelins SSrubeutius Giemens in feiner Bedeutung für bie Kirche
feiner Zeit. Nebft einem Anhange: bie lleberjegung des
Gebidjte8 Apotheofis. Von Clemens Brockhaus, Dr. der
Philofophie, a. Profeffor der Theologie und Pfarrer zu
St. Johannis in Leipzig. Leipzig, F. A. Brodhaus. 1872.
X. 334. ©. 8°, |
Borftehende Schrift ijt eine volljtánbige Monographie
über ben erften lateinijchen Dichter des chriftlichen Alter-
thums. Sie enthält eine Unterfuchung (über fein Leben,
eine Analyfe feiner Schriften, eine Ueberſetzung feiner Apo⸗
theoſis, eine Darftellung feiner Theologie mit Bezugnahme
auf feine Abhängigkeit von früheren firchlichen Schriftftellern,
eine Abhandlung über feine archänlogiiche Bedeutung und
über Sujammenbang und Tendenz der altchriftlichen Poefie
und Kunft. In dem legten Kapitel ruht der Schwerpunft
ber Arbeit. Der Verf. ftatuirt einen engeren Zuſammen⸗
hang zwilchen Poeſie unb Kunft im chriftlichen Alterthum,
ala e$ ſonſt gewöhnlich gejchieht, und er ſetzt fid) in bieler
Schrift bie Aufgabe, benjelben an einem einzelnen Beifpiele
nadjgumetjen und zu zeigen, wie bie bichterifchen Arbeiten beg
Prudentius von der chriftlicden Kunft feiner Zeit einerjeits
686 iBtodbaus,
abhängig find und wie fie anderſeits wiederum bie Tendenz
zeigen, ihr und mit ihr bem chriftlichen Leben und Streben
bienftbar zu fein. Sein Beweißverfahren tjt. im Wefentlichen
folgended. Der chriftliche Bilderkreis, der und in bem
Schriften unfered Dichter entgegentritt, fällt im Ganzen
mit demjenigen zufammen, ben auch die Ueberre|te der alt:
chriſtlichen Kunft, Darftellungen auf Gemälden, Sarfophagen,
Grabjteiten, Gefäffen, Amuleten und Ringen enthalten.
Diefed bloß Außerliche. Zufammentreffen führt für jid) mod)
nicht zu dem erwähnten Ergebniß, da ber Dichter feiner
Bilder möglicherweife nicht der Kunft feiner Zeit, fondern
ihrer tieferen Quelle, der bf. Schrift felbft entnommen hat.
Seine Gedichte weifen indeffen noch andere Eigenthümlich-
feiten auf, aus denen bad fragliche Verhältnig rejultiren
dürfte. Einige Bilder find mit folcher Qebenbigfett unb An-
ſchaulichkeit gezeichnet, fte bieten außerdem fo charakteriftifche
Seiten bar, daß ihre Duelle nicht mehr bie Df. Schrift, bie
zudem in manchen Fällen ver [epteren entbehrt, jondern eine
bilvlihe Darftellung gewejen zu fein ſcheint. Bon nod
größerer Beweiskraft für bie bezügliche Abhängigkeit find .
mehrere Tetraftichen im Dittochäon (Diptychon). Sie weifen
ebenjo durch ihre Meberfchrift a(8 durch ein demonjtratives
Hic auf Bildwerke hin, denen fie zur Erffärung dienen
bürften. Der Verf. will noch weiter geben. Nach einer
furzen Außeinanberjegung über das Verhältniß des chrift-
lichen Bilderfreifeg in der Zeit ber Berfolgung zu bem im
vierten Jahrhundert faBt er auch noch ben mit dem fünften
Sahrhundert beginnenden in Auge. Der lettere unterfcheibet
jb von den früheren durch eine reichlichere Verwerthung
der bibliſchen Erzählungen und burd) die außgejprochene
Tendenz, bem ungebifbeteren Volke zur Belehrung zu dienen.
Aurelius Prudentius Clemens. 687
Von ſolchen Motiven ließ ſich Paulinus von Nola bei der
Ausſchmückung von Kirchen und wohl aud) der Papſt Da:
maſus bei feinen Arbeiten in dei Katakomben leiten. Der
Berf. glaubt nun, daß Prubentiuß zur Zeit diefer Arbeiten
bie Katakomben befuchte und von ihnen Inhalt und Directive
für jeine Dichtungen empfing. „Der Zug, ber jenen Papſt
zur poetifchen, bildneriſchen und avdjiteftoni]d)en Ausſchmück—
ung biejer Stätten treibt, durchdringt auch jette Poefien und
die taufendfache Sprache der Bilder, bie jene Gräber belebten,
hallt in feinen Gedichten wieder nnd macht diefe abjichtlich
und unabfichtlich au Interpreten jener und zu einer beredten
Anweiſung, ihren Subalt zu verftehen und ihre Mahnung
zu benugen, Gemeinfam ijt ihnen mit jenen Bildern ber
Grundgedanke, ben zu verherrlichen, ber, wie bie apoftolifchen
Eonftitutionen ausfprechen, den Lazarus auferweckte, der jeit
vier Tageır fobt war, ber Tochter des Jairus und dem Sohne
ber Wittwe dad Leben zurüdgab, die drei Jünglinge aus dem
Weuerofer, ben Jonas nach drei Tagen au8 dem Bauche be?
MWalfiiches, den Daniel aus ber Löwengrube errettete und
damit aud) uns auferwecken wird. Gemeinſam ijf. ihnen der
Grundzug, zu fittlicher Mahnung die Geftalten und Scenen
ber Schrift zu verwerthen, bie Paulinus fo jdn bei Ge-
fegenheit feiner altteftamentlichen Bilder ausſpricht: die Ge-
nefià lehre ihn bitten, daß ev fein ivdifcher Adam bleibe,
fondern neugeboren und nengebifbet, der alten Art in ber
Taufe fid) entkleide, daß er leicht fid) befehren (affe wie Kot,
um dem Feuer von Sodom zu entgehen, und nicht rückwärts
fb wende, daß er wie Iſaak ein lebendiges Opfer für Gott
[εἰ und fein Holz tragenb witer dem Kreuze den Vater finde,
daß er gleich Jakob ein Flüchtling ber Welt für ba? mühe
Haupt in Gbrijto zur Ruhe gelange, daß er vor der Welt
Neigung fid) bewahre gleich Sofeph, bap, wie Israel aus
Aegypten, er den Leidenschaften be8 Herzens fi entwinbe,
Theol. Quartalſchrift. 1872. IV. Heft. 46
688 Brockhaus,
und endlich, wie Israel nad) feinem Durchzug durchs rothe
Meer, in dem Pharao unterging, den Sieg des Herrn an
fi preijen könne.” (&. 304.)
Man wird bem Verfaſſer beiftunmen müflen, bag bie
chriftlihe Kunſt wirklich einen Einfluß auf bie Poefie des
Prudentius anzübte, Der Beweis wurde von ihm erbracht.
Eine andere Frage ijt, wie weit fid) diefer Einfluß evitredte
und in welchen Dichtungen er nachweisbar hervortritt. In
diefer Beziehung fcheint unà der Verf. zu weit zu gehen, indem
er den Dichter ganz allgemein in Abhängigkeit von der bil:
denden Kunft und in ben Dienft der Kunſt treten läßt.
Streng nachweisbar ijt das Abhängigkeitöverhältnig nur für
dad Dittochäon und für einzelne Theile des Periftephaneng,
nicht auch für die anderen Gerichte, ta die Anfchaulichkeit,
Lebendigkeit und Jubividualität der Bilder bei einem Dichter
nod) faum ein Necht geben dürfte, ſofort an eine unmittel—
bare Vorlage zu denken, wenn ond) wohl eingeräumt werden
mag, daß die Betrachtung der Kunfterzeugnifje geeignet war,
feinen dichterifchen Einn zu entwickeln; denn die hierin liegende
Abhängigkeit ijt cine andere, als fie ber Verf. in feinem Aus:
führungen ver Augen hatte. Daß bie chriftliche Poeſie mit
ber chrijtlicyen funjt aud) darin zufanmentrifft, bajs fie fid)
eine ſittliche Veredlung und Befferung zur Aufgabe fet, ijt
nach unſerem Erachten wiederum nicht zu jehr zu betonen,
da fid) dieſes Ziel von ſelbſt verfteht, fobald mai, wie für
dag chriftliche Altertum nothwendig zu gejd)eben Dat, an:
nimmt, bap Poeſie und Kunst ihren Swed nicht in fid) jelbjt,
jondern in einem Höheren haben. |
Wie hier jo ſcheint ung der Verf. aud) bezüglich bet
Abhängigkeit zu weit gegangen zu fein, üt die ec Prudentius
von Tertullian ſetzt. Es Tiegt in einigen Stellen allerdings
am Tage, daß der Rhetor dem Dichter vorgelegen fein muß:
auch ijt unbeftreitbar, daß die Theologie des Prudentius über:
Aurelius Prudentius Glemena. 689
haupt keinen Anſpruch auf Originalität erheben kaun; aber
es ſcheint uns verfehlt zu ſein, ſie im Ganzen oder in den
wichtigeren Stücken gerade auf Tertullian als Quelle zurück—
zuführen, und wir glauben, daß die vom Verf. zu dieſem
Behufe vorgebrachten Beweiſe nicht Stand halten. Die theo—
logiſchen Vorſtellungen und Anſichten, die von ihm als ter-
tullianiſch bezeichnet werden, waren im chriſtlichen Alterthum
meiſt Gemeingut der theologiſchen Welt und Prudentius
mußte fie keineswegs einem beſonderen Schriftſteller ente
nommen haben, zumal ſie dieſem nicht einmal in erſter Linie
eigen waren. Der Verf. läßt Prudeutius, um einige Bei—
ipiefe anzuführen,, die Vorftelung ber Näter, mad) ber ber
Logos das Eubftrat der altteftamentlichen Theophanien war,
aus Tertullian jchöpfen und er ſchreibt dieſem das Verdienſt
zu, fie angebahnt zu haben (€. 208). Diefe Anfchauung
wurbe aber bereits von Jujtin dem Martyrer ausgejprochen
(Dial. cum Tryph. n. 127) und fie findet fid) bei faſt
ſämmtlichen Bätern bis zur Seit Auguſtins (f. Kuhn, Kath.
Dogmatif. IL, 12 fi). Ebenſo zweifelhaft feheint unà ber
tertullianifche Urſprung der Borjtellung, daß der Logos wohl
von Ewigkeit im Schoße des Vaters gerubt, aber evjt zum
Zwede der Meltichöpfung ein perfönliches Yürfichjein ges
wonnen habe, wenn bicje überhaupt bei Prudentius angue
nehmen ijt, ba bei ber Prüfung feiner Arbeiten doch auch
wohl ihr dichteriicher Charakter in Betracht zu ziehen und
nicht einfach der ftrenge Maßſtab der Dogmatif anzulegen
fein dürfte.
Wir haben im Bisherigen die Punkte angeführt, in
denen wir mit bem Verf. nicht ganz übereinſtimmen fönnen,
Zum Schluß erübrigt c& und noch zu bemerken, daß feine
Schrift im Ganzen eine ſehr fleißige und gründliche Arbeit ijt.
Sunt.
690 Alzog,
8.
Handbuch der Univerſal⸗Kirchengeſchichte von Dr. Johannes Alzog,
Geiſtlichem Rathe und Profeſſor der Theologie an der Uni⸗
verfität zu Freiburg i. B. Zweiter Band. Neunte vermehrte
und umgearheitete Auflage. Mit amet hronologifchen Tabellen
unb zwei kirchlich⸗geographiſchen Karten. Mainz, ST. Kupfer:
berg 1872. XI. 676. 8°.
Der vorliegende zweite Band dev 9, Auflage ber Alzog'⸗
iden. Kirchengefchichte erfchien zwar etwas fpäter, ald in bem
erften Bande in Ausſicht geftellt wurde. Wir fehen jedoch
dem gelehrten H. Berfaffer die Heine Verzögerung gerne nad,
ba fie bem Buche wohl zu Statten fam. Wie eine Ber:
gleihung diefer neueſten Auflage mit der ihr vorausgehenden
zeigt, ijt ber vorftehenbe Band um 56 Seiten gewachlen.
Diefe Erweiterung ergab fi Hauptjächlich durch bie 7yort-
führung ber Gefchichte ber fatholiichen Kirche big auf bit
jüngfte Zeit und durch bie Umarbeitung der Gefchichte ber
legten allgemeinen Concilien. Der Darftelung des Vatika⸗
nifchen Concils und feiner Folgen find allein 21 Seiten ge:
widmet; auf ba$ Concil von FerrarasFlorenz fommen jebt
9 Seiten, während e8 nod) in ber achten Auflage auf zwei
Seiten abgethan war, Aehnlich verhält es fid) mit ven an-
bern allgememmen Synoden und die hier vorliegende Umar:
beituug ijt es zunächit, Für die wir einige Aufmerkſamkeit üt
Anſpruch nehmen.
Während der Verf. ben Synoden von Gonftang und
Terrara-Florenz bie Defumentcität bisher beftritt, erfennt er
fte ihnen jet zu. Wie cr S. 32 erflärt, gründete fein früherer
negativer Standpunkt bezüglich des Conftanzer Eoncil3 barauj,
baB einem Theil feiner SDecrete die päpftliche Approbation
nicht zu Theil wurde; feine jeßige Anschauung aber beruht
auf ber Erwägung, daß „ſolche Defecte auch für das zweite
ökumeniſche Concil zu Eonftantinopel (381) wie für ba& vierte
Univerfal-Kirchengefchichte. 691
zu Chalcevdon (451) beitehen und daß anderfeit3 auch bte Ge⸗
Iehrten in nenefter Zeit fid. immer beſtimmter fir die Se:
fumenicitàt be8 Conftanzer Eoncil3 wegen der bebeutenberen
Erfolge ausfprachen.” Wie unfchwer einleuchtet, fülft von
diefen zwei Momenten hauptjächlich daS lebte ind Gewicht.
G8 verdiente überhaupt mehr gewürdigt zu werben; denn
wenn bei der Frage nad) ber SOefumenicitàt und Nicht-Oeku—⸗
menicität eines Concils Aufgabe und Leiftung gänzlich außer
Acht gelafjen wird, droht ber Lehre von den allgemeinen Gon-
cilien mit Nothwendigkeit bie Gefahr, zu einer bloßen Ju—
riſterei herabzuſinken, bei der e& fid nur um eine Äußere
Form, nicht aber auch um Sache und Inhalt handelt. Wird
nun bei der Synode von Conftanz febteve Seite ins Auge
gefaßt, fo kann Über ihre Defumenicität wohl faum ein Zweifel
beftehen. Wenigſtens hatte feine andere abendländiſche Synode
im Mittelalter auch nur entfernt eine gleich große Aufgabe
zu loͤſen und hat feine andere eine gleich große Reiftung auf:
zumweifen wie fie, die einem verheerenden Schiöma von θεὶς
nahe vier Decennien ein Ende machte und die Kirche αἰ
einem Zuftande befreite, ber zu den betrübenbften in ihrer
ganzen Geſchichte gehört.
Weniger Har liegt bie Sache bei ber Synode von Fer:
rara⸗Florenz. Der Berf. erklärt fid) hierüber ©. 60 in
folgenden Worten: in Ferrara „hatten fid) auf ben Ruf
Gugen'$ IV. theild von Bafel theild von anbermürt8 160
abendländiſche Biſchöfe verfammelt, welche feit 8. Januar 1438
ba? anfgelöste Basler Goncil fortfeken follten. Am 15. Februar
war aud) der Papft eingetroffen unb hatte bie noch in Baſel
tagenben Väter abermals aufgefordert, ihre Berfammlung inner:
halb 40 Tagen aufzulöfen, was bekanntlich nicht geſchah. Als
jo auch bie Aufgabe des Basler Goncil2: „Die Reforma-
tion“ verlafen ward, und für die Verhandlungen zu Ferrara-
Florenz ble Union berlateinifchen und griechiſchen
)
692 Algog,
Kirche alleiniger Zweck ward, ijt dieſes Concil alà felbft-
ftáubig zu betrachten, und weil es alle Requifite der früheren
allgemeinen Concilien δε δὲ, für öfumenifch zu halten.“
Eine Entſcheidung dürfte bier nicht jo Leicht fen. Mag man
auch über bie damals beftehende Spaltung des Abendlandes
binwegfchen, jo ift ed immerhin noch fehr bedentfam, daß ber
„alleinige Zweck“ der Synode, die Union der lateinischen und
griechifchen Kirche, nicht erreicht wurde und nach ber ganzen
Sachlage nicht erreicht werden konnte. Die Griechen wurden
jeit dem breizehnten Jahrhundert zu einer Annäherung an
bie abenb(anbijdbe Kirche nie burd) das Glaubensintereſſe,
ſondern ſtets nur durch die Äußere Bedrängniß getrieben, wie
bet Verf. in der 8. Auflage mit Recht hervorhob. Die Noth
be8 Reiches war e8 auch, bie fie i. y. 1439 zur Union von
Florenz bewog, unb aus freien Stücken hätten fie ben Glauben
be8 Abendlandes niemalà auch nur für wenige Augenblide
angenommen. Aus diefem Grunde darf bei Würdigung be?
Goncilà von Ferrara-Florenz der Umſtand nicht betont werben,
daß hier wieder eine Vertretung ber Kirche des Drientes neben
bet dad SOccibente8 ftattfand. Die Betheiligung der erjteren
war nur eine burd) bie Tage, näherhin burd) den Kaifer Jo:
banneà VI. Paläologus erzwungene und die Eynode fanm
in Mabrheit nur als eine Repräfentation der abendländiſchen
Kirche in Betracht kommen, bie zudem nod, in ber damaligen
Zeit in fich felbft gefpalten war. Will man der Eynode unter
biefen Umständen dennoch bie Oekumenicität zuerfennen, jo
kann ed nur auf Grund ihrer Berufung und Approbation
durch den päpftlichen €tubl geichehen. Der €tanbpunft in-
deflen, von bem hiebei ausgegangen wird, treibt weiter, al?
ber Verfaffer in feiner Darſtellung annahm. Wird bie De:
fumenicität allein von den fraglichen Momenten abhängig oc
macht, fo forbert εὖ die Conſequenz, auch dad Goncil von
Baſel in feinem erjten Theil und jo weit e$ in Einheit mit
UniverfalsBicchengefchichte. : 698
bem päpftlichen Stuhl beharrte, αἰ allgemeines anzuerkennen,
und dieſes um jo mehr, ba fid) ba Concil von Ferrara-Flovenz
jelbft nur als feine Fortſetzung anfündigte und wohl faum
in bem Sinne al „jelbjtändig” zu betrachten ijt, als ob es
ein völlig neues Goncil wäre (j. Harduin, Acta Conc. IX,
698 f). Der Berf. dürfte daher üt der nächjten Auflage
dem 17. allgemeinen Goncil. cine. größere Ausdehnung geben
und die 25 erſten Eigungen der Basler Synode zu ben
jelben rechnen — oder aber dem Florentiner Eoneil bie Oe—
fumenteität wieder abſprechen müſſen. Tertium non datur.
Eine ähnliche Aenderung feiner Anſchauung wie bei den
beiden genannten Concilien ergab fid) für ben Verf. bei bem
Goncil von Trient felbftverjtändlich nicht. Doch wurde auch
ihm eine eingehende Umarbeitung zu Theil. Im Befonderen
ward dem der sess. XXIII. vorangehenden Streit über δα
Berhältniß des Episkopates zum Papſtthum, der Frage, ob
der Epiöfopat göttliher Einfegung jei oder ob die Bifchöfe
Sendung und Gewalt erit. vom Papſte erhalten, eine einge=
benbere Behandlung gewidmet. Die Frage führte zu lebhaften,
ja jtürmifchen Debatten. Pius IV. legte indefjen den Streit
durch die Erklärung bei; „ed genüge ihm, daß weder über
feine noch über der Bilchöfe Autorität entſchieden würde;
jedenfalls dürften nur ſolche Definitionen ftattfinden, in welchen
alle Bätervollftändig (unanimi consensu) überein
ftimmen” (©. 283). Es lag für den Verf. nahe, fid) auf
diefe Erflärung bei der Darftellung des Vatifanischen Eoncil3
zu berufen, und wir glauben, feine bezüglichen Worte hier
noch anführen zu folle. „Inzwiſchen“, jagt er ©. 538 ἢ,
„hatten ſich der Primas Simon von Ungarn, ber S3jährige
Biſchof Rivet von Dijon, und ber Biſchof Ketteler von
Mainz im Namen ihrer Gefinnungsgenoffen eiue Audienz bei
bem heil. Bater erbeten, um ihn iod) in [eter Stunde zu be:
jtimmen, Angeſichts der brobenben Gefahren bie Bromulgation
694 Alzog, Univerſal⸗Kirchengeſchichte.
be$ Majoritätsbejchluffes zu unterlaffen ober doch nad) forgfäl-
tiger Erwägung zu verſchieben, bis die vollftändige Lehr:
beftimmung über die Kirche vorliege und entſchieden werden
fónne. Die Audienz wurde für bem 15. Juli bewilligt. Es
war ein großer Augenblid, als diefe erleuchteten und tief er—
regten Brälaten bem Vater der Chriftenheit, bent in der Stell-
vertretung des göttlichen Erloͤſers bie erhabene Aufgabe geftellt
ijt, Alle an fid) zu ziehen, nicht aber jid zu entfremden, ihre
Beforgnifje in eindringender, vübrenber Weife vortrugen, Bi⸗
ſchof Ketteler fid) ihm drei Mal zu Füßen warf. Doch der Papſt
blieb unerjchütterlich, ebenfo al3 noch der Eardinal Rauſcher
am 17. Juli in der Abſchiedsaudienz ihm bie großen und viel:
fade Gefahren, welche für die Kirche aus jener Definition
entftehen würden, vorſtellte. Pius IX. founte fid) nicht zur
Verzichtleiſtung Pius' IV. entichließen. Seine Antwort lautete:
Die Sache [εἰ ſchon zu weit vorgerückt! Darauf haben 55 Bi:
Ichöfe aus Frankreich, Defterreich-Ungarn, Deutjchland und
Amerika noch am 17. Juli bem Papſte untenftehendes Schreiben
überfandt, welches ihm am 18. Juli Morgens übergeben worben
it. In dem denkwürdigen Aktenſtücke erklären dieſe Väter,
warum fie von ber bevorjtehenden öffentlichen Sigung fern
blieben und erneuern ihre Abſtimmung vom 13. Juli, obſchon fie
wußten, daß nur die Bota ber wirklich Anweſenden gelten.“
Mir beendigen bamit unfer Referat über οἷς Umarbeitung,
welche bie Gefchichte der allgemeinen Goucifien in diefer neuen
Auflage erfuhr. In Betreff des Uebrigen erlauben wir ung
noch den Wunfch auszusprechen, ber Verf. möchte bei ber Re—
formationaágeldjid)te von Genf mit Berücfichtigung ber Kamp-
ſchulte'ſchen Monographie über Calvin eine ceingehendere und
genauere Darlegung der Urfachen und des Verlaufes bes reli-
giöfen Umſturzes in biejer Stadt geben. Eine befondere
Einpfehlung feiner Kirchengefchichte dürfte überflüffig fein,
ba fie fid) durch ihre wiederholten Auflagen zur Genüge be:
währt hat. Funk.
Inhaltsverzeichniß
des
vierundfünfzigſten Jahrgangs der theologiſchen Quartalſchrift.
I. Abhandiungen.
Unterfuchungeu über bie von ΤῊΝ unb Freibeit. Lin:
fenmann. . . .
Die althriftliche Matinitüt ἘΠῚ bie vase: Villi der Grgen-
wart. Allgayer. .
Des Origenes Lehre von ber Denfäwerdun bed Soins d Gottes,
Rnittel. . . :
Ueber bie Zahl 666 in ber Apolalypfe. Aberle. Fe
Unterfuchungen über bie Lehre von ps unb Freiheit. gin:
jenmann. . . » , HO EE
Ueber ben Brief Jacobi. Berner. ET SE
Die Würzburger Itala-Fragmente. Reuſch. o
Die Verwaltung be ae in ben erjten brei Saft:
Bunderten. Brobft. ,
Ueber die Grundſätze, weldje bie Rirde in den erften Jahrhunder
ten bei Zulaſſung zur Buße für die ſchweren Sünden und
bei Ertheilung der —— von denſelben de
Sedtrup. . .
Meber Richtungen und Ziele ber heutigen moriwiſenet gin
fenmann . . i
Bel und ber Drache. Wieberbolt. 2
Traum und Weiffagung mad) — und ὁ aliene ἢ An-
Ihauung. Werner. . . . à à
HD. Rerenfionen.
Acquoy, Gerardi Magni epistolae. Nolte.
Allies, Entſtehung unb Fortbildung be Chriſtenthuuis. suu at.
Alzog, $anbbud ber Univerſalkirchengeſchichte. Funk.
Seite
383
430
529
554
597
320
δ28
810
696 Inhaltsverzeichniß.
Seite
Brockhaus, Aurelius Prudentius Clemens. Funk. 685
Cantus ecclesiasticus sacrae historiae Passionis. Zeller. 301
Delitsch, De inspiratione scripturae sacrae. ne 801
Didcefanardhiv, Freiburger. Sunt. . 674
Gérin, Les deux pragmatiques sanctions. Sunt. 516
Groß, Menahem Ben Saruk. Himpel. 697
A. H., Margarete Verflaſſen. Ziefel. Wee opo . 298
Kraus, Lehrbuch ber Kirchengefhichte. Peters. . 678
Lerch, Das Wefen ber Dienfchenfeele. Zufrigl.. . . . . 506
Lipfius, Die Quellen ber Römifchen Petrusſage Peters. . 828
Mey, Volftändige — für die untere Klaſſe. Linfen-
mann. . . 161
Probſt, Lehre unb "Gebet in ben drei een Sahehunbre.
Linfenmann . 161
Rohling, Die Pfalmen. Himpei.. iy 148
Scharpff, Der Cardiual unb Biſchof Nicolaus * Cufa. punt. 180
Spieß, Logos Spermaticós. Linfenmann. 661
Spiess, De religionum indagationis comparativae vi | theo-
logica. Linfenmann. . . 661
Stein, Hiftorifch-fritifche Darftellung ber yathologifhen Moral
principien. Linſen mann. 471
Strack, Prolegomena critica in Vetus Testamentum he-
braicum. Himpel. — 654
Vegni, L'eeclesiaste. Himpel. . , a 804
Walter, Lehrbuch bes Kirchenrecht. Rober. — 280
Weiß, Das Marcusevangelium und — Senilis.
Θ dat. "P 5 487
Wolff, Die Aufhebung be βιόβει. Sunt 670
Zollmann, Bibel und Natur. Schanz. 283
UI. £iterarifcher Anzeiger.
Nr. 1. 2. 3 und 4 am Ende jedes Heftes.
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