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Full text of "Theologische Studien und Kritiken : eine Zeitschrift für das gesamte Gebiet der Theologie"

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FTIR 


HARVARD COLLEGE 
LIBRARY 


FROM THE BEQUEST OF 
JAMES WALKER 
(Class of 1814) 
President of Harvard College 


“Preference being given to worka in the Intellectual 
and Moral Sciences’ 





Theologiſche 


Studien und Kritiken. 


— 72" u 
Fine Zeitſchrift 


für 
das geſamte Gebiet der Theologie 
begründet von 
D. 6. ulmann und D. F. W. €. Umbreit 
und in Verbindung mit 
D. 3. Müller, D. W. Beyſchlag, D. Guſt. Baur 


herausgegeben 
von 


D. E. Riehm um D. J. Köſtlin. 


— — — — 


1878. 
Sinundfunfzigfier Jahrgang. 
Erſter Band. 





Gotha. 
Friedrich Andreas Perthes. 
1878. 


„KT, Au /E7E Gery 23 
// 
Halter CC. 














&heologifche 


Studien und Kritike 


Fine Sekte 


begründet von 
D. 6. Ullmann um D. F. ®. €. Hmbreit 
und in Verbindung mit 
D. 3. Müller, D. W. Beyfolag, D. Guf. 3 


RT herausgegeben 


D. E. Richn am D. J. öſlin. 


Yafırgang 1878, erſtes Heft. 


3 Gotha, 
Sriedrich Andreas Berthes. 





ce P/fLÖL 2 











Thrologiſche 


Studien und Kritilen. 


Fine Zeitſchrift 
für 
Das geſſauite Gebiet der Theologie, 


begründet von 
D. 6. Ullmann uns D. 3. W. €. Umbreit 
und in Verbindung mit 
D. 3. Miäler, D. W. Beyfchlag, D. Guf. Baur 
herausgegeben 
von 
D. E. Riehm um D. 3. Köſtlin. 


Dahrgang 1878, erſtes Heft. 


Gotha. 
Friedrich Andreas Perthes. 
1878. 


Poxwort. 


Die „Theologiſchen Studien und Kritiken“ beginne 
mit dem vorliegenden Hefte ihren 51. Jahrgang. Dart 
liegt Die Aufforderung zu einem kurzen Rüdblid auf ihre 
50 jährigen Zauf. Wir felbft, die gegenwärtigen Heraus 
geber, Fönnen uns nicht als Verdienſt anrechnen, daß fi 
noch lebensfähig in das zweite Halbjahrhundert ihres Be 
ſtehens eintreten; wir ſind nur in die Arbeit anderer ge 
fonnen. Hu fo mehr ziemt uns, bei biefem Anlaß da 

mis ihrer verewigten Begründer zu erneuern, bene 
fie ir An ſehen, ihre Lebensfähigleit und ihre Erfolge, näch 
Gottes Sega und Hilfe, in erfter Linie verdanken. 

Die Sründung der Zeitjhrift war bekanntlich das g 
meinfanıe Werk der beiden durch freundfchaftliche und coll 
gialifche Bae ziehungen eng verbundenen Heidelberger Theologe 
D. Earl Mllmann md D. Friedrih Wilhelm Enı 
ıtmabreäit, fowie bes hochſinnigen Friedrich Perthes 
dem jerre Üffentlid) das ehrennolle Zeugnis gegeben haben, de 
er daB Yinternehmen nicht bloß als Verleger, fondern au 
„ls MeitBexather und Mitarbeiter mit hoher Einſicht geförbe 
habe. Die einmüthige Abſicht ber Betheiligten gieng nis 
dahin, muam einen weiteren Stapelplatz theologiſcher Geleh 
famfeit canzulegen; fondern vor allem wollten fie der neue: 


> 


vi Borwort. 


teils fchon vorhandenen, theils in ber Geftaltung begriffenen 
Theologie, deren Bahnbrecher Schleiermacher war, ein 
eigenes Organ jchaffen, der Theologie nämlich, die „im 
Gegenfag ſowol gegen ben Rationalismus, als gegen den 
älteren Supranaturalisnus das Chriftentum als neue Lebens 
ſchöpfung und göttlide Offenbarung im vollen Sim des 
Wortes, zugleich aber als etwas in der Gefchichte der 
Menjchheit organisch fich entwicelndes auffaßt, und bie 
darum den chriftlichen Glaubensinhalt, ohne deſſen Beftand 
an Zeitflrönmmgen preiszugeben, doch mit ben gefunden und 
echten Bildungselementen der Zeit zu vermitteln, alfo den⸗ 
felben nicht bloß autoritätsmäßig Hinzuftellen, fondern vor 
allem auch innerlich zu begründen ftrebt.”’) Daß ein 
diefer Xheologie dienendes Organ bei aller ftreng wifjen- 
Ichaftlichen Haltung auch auf die Anregung, Kräftigung nnd 
Bertiefung des chriftlichen und Tirchlichen Lebens, zunächſt 
in der evangelifchen Geiftlichfeit, abzuzielen habe, und daß 
andrerfeits in ihm „die beutjch-evangelifche Kirche ebenſowol 
der lebensvollen Manigfaltigfeit, wie der wefentlichen Einheit 
ihrer Theologie jich bewußt werden” müſſe, und darum für 
die Mitarbeit Feine zu engen Grenzen gezogen werden 
dürften, vielmehr der wifjenfchaftlichen Verhandlung alle mit 
dem Grundcharakter der Zeitfchrift irgend verträgliche Freiheit 
zu laſſen fei, darin waren die Betheiligten ebenfalls einig. — 
Auf Grund diefer Gemeinfamkeit der Abfichten und Ueber⸗ 
zeugungen hat jeber berfelben nach feinen befonderen Gaben 
und vorwiegenden Intereſſen das Seine zum guten Anfang 
und erfolgreichen Fortgang des Unternehmens beigetragen. 
Selbftverftändlich ließ fich jeder der beiden Theologen Die 


1) Worte Ullmanns in den „Studien und Kritilen“ 1862, ©. 458. 





Vorwort. vo 


Förderung der vorn ihm vertretenen Fächer befonders ange 
legen fein. Der Geſamtcharalter der Zeitfchrift aber war 
wegngsweife durch den maßgebenden Einfluß Ullmanns 
beſtimmt, der. ihre Aufgabe am Harften und vollſtändigſten 
ejakt Hatte, fie fort und fort feharf im Auge behielt und 
Ve ganze Umficht, die bis in's Kleinfte gehende Sorgfalt 
und die unermübliche zähe Energie, bie ihm eigen waren, 
am ihre Erfüllung wendete. Befonders verfolgte er mit ber 
größten Aufmerkfamkeit den allgemeinen Entwicklungsgang 
de8 theologischen und religiös -Tirchlichen LXebens, um feine 
Gelegenheit unbenngt zu laſſen, wo ſich durch gründliche, 
principielle und hiſtoriſche Beleuchtung bremnender Tages⸗ 
Ragen oder aud durch ein kurzes Iebenswarmes Wort ein 
beilfam fördernder Einfluß auf denfelben üben ließ. Auch 
an bedeutendere Borlommmnifje des öffentlichen, befonders bes 
firhlichen Lebens, an wichtige Gebenktage u. dgl. knüpfte 
er gerne wiſſenſchaftliche Ausführungen von allgemeinerem 
Interefie und bleibendem Werthe an. So mar er ftets 
darauf bedacht, durch eigene oder von ihm veranlaßte fremde 
Beiträge den Inhalt der Zeitfchrift zu den Mittelpunkten, 
um welde fich die theologischen und Tirchlichen Intereffen ber 
jeesmaligen Gegenwart drehten, in möglichft vielfache und 
innige Beziehung zu ſetzen. — Aber auch die treue Pflege, 
weile Umbreit den „Studien und Kritiken”, wie einem 
Lieblingskinde, zuwandte, trug denfelben reiche Frucht. Der 
warme Lebenshauch einer fich religiös immer mehr vertiefen- 
den Begeifterung für die Herrlichkeit des Alten Teſtamentes, 
welcher den Leſern aus feinen eigenen Beiträgen entgegen- 
wehte, übte nicht geringe Anziehungskraft; feine milde Weit- 
herzigkeit führte der Zeitfchrift manche tüchtige Mlitarbeiter 
zu; und wie er felbft als Theologe nie ein Fertigſein ge- 


viu Borwort. 


fannt bat, fo war es ihm ein ftetes Anliegen, daß fich die 
„Studien und Kritifen” „einen jugendlichen Charakter be- 
wahrten, indem fie, ftets in der Entwidlung begriffen, das 
Enbziel der neuen Xheologie reblih und aufrichtig fuchen 
helfen” follten. — Friedrich Berthes endlich, getreu feiner 
Abficht, in dem Unternehmen „die Wahrheit und die Ehre 
Gottes fördern zu Helfen”, ließ es eine feiner Hauptforgen fein, 
daß die „Studien und Kritiken“ nicht in die Bahnen bloßer 
Schultheologie und todter Gelehrſamkeit gerathen, und über 
der Freiheit wifjenfchaftlicher Forſchung die Aufgabe tieferer 
Begründung des chriftlichen Glaubens nicht verfäumen möchten. 

Dankbar muß bier aber auch der zahlreichen Mitarbeiter 
gebacht werden, deren treuer Hilfe ein guter Xheil des er: 
dienftes um den gebeihlichen Fortgang des Unternehmens 
zuzufchreiben iſt. Beſonders in den erften Iahrzehnten, in 
welchen die „Studien und Kritiken“ noch das einzige wiſſen⸗ 
Ichaftlihe Organ jener „nenen” Theologie waren, Haben 
faft ohne Ausnahme alle nanıhafteren Vertreter derjelben, 
wie verjchieden ihre Wege fonft auch fein mochten, mehr 
oder minder zahlreiche Beiträge für dieſelben geliefert, und 
einige von ihnen haben mehrere ihrer werthvollſten wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Arbeiten darin veröffentlicht. Wir begnügen 
uns bier Giefeler, Lüde und Nitzſch zu nennen als 
die ftändigen Mitarbeiter, welche das Unternehmen mit ges 
plaut Haben und fort und fort mit der Redaction näher 
verbunden blieben, ferner D.R. Rothe und D. J. Müller, 
die — jener vom Jahrgang 1855, diefer von Jahrgang 
1856 an — nad dem Heimgange Giefelers und Lücke's 
in deren Stellen eintraten. Neben ihnen zählten aber nod) 
viele andere mehr oder weniger hervorragende Xheologen zu 
den regelmäßigen Mitarbeitern: von den ungefähr 120 


Borwort. IX 


Berfaffern, deren Beiträge den Inhalt der erften 10 Jahr⸗ 
gänge bilden, Haben 45 auch im 2. Jahrzehnt an der 
Zeitfchrift wmitgearbeitet; und in den folgenden Jahrzehnten 
waren unter den etwa 150 Berfaffern, auf welche fich 
die Artikel der betreffenden 10 Sahrgänge vertheilen, durch⸗ 
Ichnittfich immer gegen 60, welche ſchon im vorhergehenden 
Jahrzehnt oder noch länger Mitarbeiter geweſen waren. 
Dies Berhältnis hat ſich auch nicht geändert, fett durch die 
im Sabre 1856 erfolgte Gründung der auf bemfelben Boden 
ftehenden und in gleichem Sinn und Geift geleiteten „Jahr⸗ 
bücher für deutſche Theologie“, die fich (wenigſtens nad 
dem urſprünglichen Plan) vorzugsmweife die Förderung Der 
Igftematifchen Theologie zur Aufgabe machten, eine Arbeits- 
theilung eingetreten war, und ein Theil der bisherigen Mit- 
arbeiter nuferer Zeitſchrift fich diefer jüngeren Bundesgenoffin 
zuwandten. — Neben den dadurch entſtandenen Lücken 
hat freilich auch der Tod im Laufe der Zeit eine reiche 
Ernte unter den Mitarbeitern gehalten. Nur 6 Verfafſer, 
deren Namen fchon im Regifter des erften Jahrzehntes 
verzeichnet find, Haben noch im legten Jahrzehnt Beiträge 
geliefert; und auch fie find unterdeffen theilweiſe fchon aus 
diefer Welt gefchieden; unter ihnen zulest (am 10. Juni 
dieſes Jahres) der theure Dann, der ſich um die Vertiefung 
jener „neuen“ Theologie vor andern verdient gemacht, und 
von bem anregende Geiftesfunfen und befruchtende Lebens- 
waſſer in wunderbar reicher Menge nad) allen Seiten weit⸗ 
Ku ausgegangen find, wie von keinem andern zeitgenöffifchen 
Zheologen, D. Auguft Tholud. — Alle Rüden aber 
in den Reihen der Mitarbeiter, wie fie auch entftanden fein 
mögen, find immer wieder dadurch ausgefüllt worden, daß 
die nachwachſenden, von der Bereinbarfeit pofitiv chriftlichen 


x Borwort. 


Glaubens und freier wiſſenſchaftlicher Forſchung überzeugten 
Theologen fi) mit Vorliebe den „Studien und Kritiken“ 
zutvandten, und nicht wenige von ihnen, nachdem fie durch 
diefelben in die wiſſenſchaftliche Welt eingeführt worden 
waren, ihre treuen Mitarbeiter geblieben find. 

Bis zum Jahre 1860 Haben die beiden Begründer der 
Zeitfchrift die Leitung derjelben gemeinfam fortgeführt, feit 
1843 in Berbindung mit dem diefes Berlagsunternehmen, 
wie fo viele andere, im Sinn und Geift feines verewigten 
Baters (F den 18. Mai 1843) mit liebevollem Eifer fort- 
ſetzendn Herrn Andreas Perthes. Nach Umbreits 
Heimgange aber (F den 26. April 1860) ließ fich- der den 
„Studien und Kritifen” und deren Herausgebern fchon Lange 
Jahre naheftchende D. Rihard Rothe willig finden, 
vom Jahrgang 1861 an „interimiftiich”, wie er felbft öfter 
betonte, als Mitherausgeber Ulmanı zur Seite zu treten, 
während an feiner Statt D. Carl Bernhard Hundes- 
hagen in die Reihe der befonders namhaft gemachten Mit- 
arbeiter eintrat. Die nad) Bollendung des Iahrganges 
1864 dur den Rücktritt Rothe's nöthig gewordene Neu- 
geftaltung der Redaction vollzog Ullmann ſchon im Borge- 
fühl feines baldigen Scheidens, indem er in feinem dem 
Anſchein nah noch in männlicher Kraft ftehenden Freunde 
und vormaligen Collegn Hundeshagen und in dem mit- 
unterzeichneten, zu feinen Schülern gehörigen D. E. Riehm 
Gehilfen Herbeizog, in deren Hände er die Fortführung des 
ihm noch immer warm am Herzen liegenden Werkes als 
Vermächtnis feines Vertrauens glaubte legen zu können. 
Zugleich trat, dem Wunſche Ullmanns entſprechend, Herr 
D. Willibald Beyſchlag in die Reihe der fländigen 
Mitarbeiter ein. Nur bie beiden erften Hefte des Jahr⸗ 


Borwort. xt 


gangs 1865 find noch unter Mllmanns SOberleitung zu⸗ 
fammengeftellt worden. Dann gieng aud er (am 12. - 
Jannar 1865) zur ewigen Ruhe ein, und ihm folgte drei 
Jahre fpäter (den 21. Auguft 1868) in dem ehrwürdigen 
Carl Immanuel Nitzſch der lebte der Männer, die 
einft an der Wiege der „Studien und Kritiken” geftanden 
hatten und denfelben ihre Liebevolle Theilnahme noch weit 
über die Zeit, in denen ihnen thätige Mitwirkung möglich 
war, unverfünmert beivahrt hatten. Vom 2. Heft des 
Jahrgangs 1869 an trat an feine Stelle der unterzeichnete 
jegige Mitherausgeber D. Julius Köftlin. Aber auch 
Dundeshagens bewährte Treue, Erfahrung und Umficht jollte 
der Leitung der Zeitfchrift nur kurze Zeit zugute kommen. 
Seit feinem Heimgange (am 2. Juni 1872) und vom Yahr- 
gang 1873 an erfcheinen die „Studien und Kritifen“ unter 
der gegenwärtigen Redaction, der neben den früheren ftän- 
digen Mitarbeitern, unfern verehrten Herren Eollegen D. J. 
Müller md D. W. Beyſchlag, auf unfere Bitte Herr 
D. Guftav Baur in Leipzig feine befondere Mithilfe 
zugejagt hat. 

Fe vorwiegender e8 fi bei dem Rückblick auf die 
Leiftungen der „Studien und Kritilen” um das handelt, 
was unſere Borgänger gethan haben, um fo unbedenklicher 
dürfen wir mit Dank gegen Gott aussprechen, daß biefelben 
ihre Aufgabe an der Erneuerung und religiöfen und wifjen- 
ſchaftlichen Bertiefung der deutfch-evangelifchen Theologie mit- 
zuarbeiten, erfüllt haben, zwar nicht immer in einem bem 
Wunſche und der Abficht ihrer verewigten Begründer ganz 
enifprechenden Maße, aber doch mit fichtlichem Erfolg und 
reicher Frucht. Man wird ihnen da8 Zeugnis nicht ver- 
jagen Tönnen, daß fie am ihrem Xheile mitgehoffen haben, 


xI ı Vorwort. 


die deutfch-evangelifche Theologie wieder fefter auf den un- 
wandelbaren Grund des Evangeliums zu gründen und mit 
den Mitteln ebenfo ernfter und gründlicher,, als geiftesfreier 
Forſchung in der evangelifchen Geiftlichkeit, auch über die 
Grenzen Deutſchlands hinaus, tiefer gegründete chriftliche 
Ueberzeugungen zu meden, zu befeftigen und zu wiſſen⸗ 
Schaftlicher Klarheit zu erheben. Man wird ihnen das 
Zeugnis geben müſſen, daß fie je und je in der Berwirrung 
und dem Widerftreit der theologifchen Meinungen und ber 
kirchlichen Beftrebungen durch Zurüdführung der Gegenfäte 
anf ihre Principien und durch Beleuchtung der QTagesfragen 
von höheren Gefichtspunften aus zur Klärung der Anfichten 
beigetxagen, die Berftändigung, foweit fie möglich) war, er- 
leichtert und auf die dem inneren Weſen und der gefchicht- 
lichen Entwicklung der evangelifchen Kirche entſprechenden 
Ziele und Aufgaben der jedesmaligen Gegenwart hingewieſen 
haben. Und endlich wird ihnen allgemein zugeftanden werden, 
daß durch die zahlreichen darin veröffentlichten gelehrten 
Monographien aus allen Gebieten der theologischen Wiſſen⸗ 
Schaft vieles, was dunkel war, aufgehellt, manche Streit- 
frage gelöft und noch öfter menigftens der feite Boden ge- 
women worden ift, von dem jede gründliche weitere Er- 
forfchung derfelben Gegenftände ausgehen muß’). 

Getreu unferem Verſprechen, die Zeitfchrift als ein auf 
der breiteren Baſis gemeinfamen Zuſammenwirkens und 








1) Zur Nutzbarmachung des reichen wiſſenſchaftlichen Materials, welches in 
den bisherigen 50 Sahrgängen enthalten ift, empfehlen wir bie zu je 10 
Jahrgängen erfchienenen Regifterhefte.e Dem in einigen Monaten zur 
Ausgabe lommenden 5. Regifterheft zu den Jahrgängen 1867 — 1877 
gedentt der Herr Berleger ein nach ben Fächern georönetes Verzeichnis 
aller Abhandlungen und Bemerkungen, ſowie der bedeutenderen Recenfionen 
als Inbilaͤumsgabe beizufligen. 


Borwort. zu 


öffentlicher Theilnahme ruhendes Unternehmen fo lange fort» 
zuführen, al8 wir die Weberzeugung haben dürfen, daß fie 
noch einem Bedürfniffe entgegenkommt, werden wir dieſelbe 
in bisheriger Weife nach beftem Bermögen auch im neuen 
Jahrzehnt ihres Beſtehens herausgeben. Denn wenn die 
Stellung und Bedeutung der „Studien und Kritiken“ heut- 
zutage auch nicht mehr diejenige fein kann, welche fie in 
den erften Iahrzehnten hatten, wo e8 galt einer lebendigen 
und freien evangelifch-gläubigen Theologie Bahn zu machen, 
und wen fie auch mande Seite ihrer urſprünglichen 
Aufgabe mehr ober weniger anderen, in verwandtem Geifte 
wirtenden Zeitjchriften haben überlaffen können, fo bleibt 
ihnen doch — deſſen find wir gewig — immer noch ihre 
befondere Aufgabe, die groß und wichtig genug iſt, um zur 
Aufwendung aller dazu erforderlichen Zeit und Kraft und 
zur Bewährung gewifjenhafter Treue aufzuforden. Einer 
neuen Darlegung der Grumbfäge, nach welchen fie diefer 
Aufgabe nachkommen follen, bedarf e8 nicht. Die altbewährten 
unverändert feithaltend, können wir Hinfichtlich ihrer Anwen⸗ 
ding auf die theologifchen und Tirchlichen Berhältniffe der 
Gegenwart auf das Vorwort zum Jahrgang 1873 zurüd- 
weifen. Im Hinblid auf die über die Haltung der „Studien 
und Kritiken” feit dem Jahre 1865 neuerdings laut ge= 
wordenen, freilich jehr entgegengefegten Urtheile fügen wir 
dem dort Gefagten nur das eine Hinzu: daß die „Studien“ 
allerdings weder einem fpeculativen Idealismus, welcher die 
Bedeutung der geſchichtlichen Heilsthatfacden im Chriſtentum 
verfennt, noch einem Skepticismus, der es verleugnet, daß 
der Glaube ein wirklicher Ereyxos unfichtbarer Realitäten 
ift, und damit den Boden chriftlich-theologifcher Wiffenfchaft 
verläßt, dienftbar fein wollen, daß wir aber zwilchen Kritik 


zıv Vorwort 


und ſolcher Skepſas wohl zu mnderfcheiben wifſen und nicht 
gewillt find, jener willkürliche Feſſann anzulegen, auch über⸗ 
zengt find, damit german denſelben Standpunkt einzuhalten, 
welchen unſere Zeitſchrift von je Ber eingenommen bat. 
Schließlich richten wir an unfere geehrten Mitarbeiter 
die Bitte, ums auch ferner durch ihm xhätige Theilnahme 
zu unterftägen ’), laden andexe gleichgeſinnte Theologen zur 
Mitarbeit ein und empfehlen die Zeitſchrift auch für das 
nächte Jahrzehnt der Theilnahme wohlwollender Leſer. 


3) Nach dem Wunſche des Herrn Berlegers theilen wir bier noch mit, da 
ſich derjelbe mit Rüdficht auf die jetst üblichen Honorarſätze bereit erflärt hat, 
‘fortan das Honorar von 24 Mark pro Druckbogen anf 80 Marl zu erhöhen. 
Auch will deuiekbe, mehrfach ausgeſprochenen Wünſchen der Hexren Berfafler 
Rechnung tragend, denjelben Lünftig 10 Separatabzůge ihrer Beiträge koſtenfrei 
zukommen lafſen. 


Halle a / S. im September 1877. 


D. Ed. Riehm. D. J. Köſtlin. 


Abhandlungen. 


1. 
Amos Somenins. 
Bon 
Dr. $. Kleinert, 


Profeſſor in Berlin. 





Namentlich Bayle Hat in dem betreffenden Artikel feines 
Dictionnaire das Gefamturtheil über Amos Comenius auf lange 
Zeit Hin beftimmt. Und doch Täßt fchon ber Artikel felbft den 
aufmerkſamen Lefer darüber kaum in Zweifel, daß es ihm um ein 
gerechte8 und erfchöpfendes Urtheil nicht zu thun ift; fofern er die 
Hauptverdienfte des Mannes nur beiläufig, mit einigen theils an⸗ 
erfennenden, theils abfprechenden, überall aber inhaltlofen Urthetlen 
abthut, mit defto größerer Ausführlichkeit aber eine Seite im Wirken 
desfelben (vgl. unten Anm. 21) behandelt, welche für die Würdigung 
des Comenius nur mebenfächliche Bedeutung hat; und feine Details 
faft ausschließlich aus den perfönlichen Streitichriften des Arnold 
und Marefius fchöpft, ohne von der Abwehr des Komenius auch 
nur Notiz zu nehmen. Adelung Hat die Darftellung bes Bayle 
mit der felbftgefälligen Breite eines Pebanten des 18. Jahrhunderts 
vergröbert, und das immerhin gewagte Unternehmen, einen Mann, 
deifen eminente Begabung ihm auch aus dem Wenigen, was er 
von ihm Fannte, hätte einleuchten müſſen, feinen Platz in der Ges 
ſchichte der menschlichen Narrheit anzumweifen, mit fo wenig Bedacht 
durchgeführt, daß er die Berechtigung zu demfelben u. a. auf ein 
Bug: „Theatrum divinum “ (Pragae 1616) gründet, von dem 


8 Kleinert 


er, wenn er 8 gelejen, hätte wiſſen müſſen, daß es nicht von N. 
Comenius, fondern von Mathias Konecny verfaßt war. Nach 
den vereinzelten Andeutungen einer befjern Würdigung des Mannes, 
weiche bei Herder (Briefe zur Beförderung der Humanität, 
V. Sammlung, Riga 1795, S. 31 ff.) und Niemeyer (Grundfüge 
der Erziehung I, 473; IV, 333) begegnen, und den mehr im 
Dunkeln gebliebenen Bindicien ber Brüderbiftorifer Cranz und Elsner 
waren es namentlich die biographijchen Auffüäge von Palady (in 
der Böhmiſchen Zeitiehrift und ber Deutfchen Monatsfchrift bes 
vaterländifchen Mufeums zu. Prag, Jahrgang 1829) und die ein⸗ 
gehende und liebevolle Behandlung bei K. v. Raumer (im 2. Bande 
feiner „Sefchichte der Pädagogik“), welche ein billigeres Urtheil über 
den fchnell berühmt gewordenen und ebenfo jchnell vergefjenen 
Mann angebahnt haben. Wie denn dies Urtheil feither jowol in 
dem Artikel „Somenius“ von Guſtav Baur in Shmids Ench- 
Hopädie des gefamten Erziehungs» und Unterrichtsweſens, als auch 
in den populär gehaltenen Biographieen von Seyffarth (,Joh. 
A. Comenius nach feinem Leben und feiner pädagogiſchen Beden⸗ 
tung“, Leipzig 1871; als zweite Auflage bezeichneter Separatabdruck 
eines Aufſatzes aus dem Preußischen Schulblatt) und Zoubel 
(in 3. Bande der von 8. Richter herausgegebenen Püdagogiſchen 
Bibliothek) zur Geltung gekommen ift. Vgl. auch Bappenheim, 
4. Comenius, der Begründer ber neuern Pädagogik, Berlin 1871. 
Ammerbin Elingt Bayle's Auffaffung nit bloß in Hormayrs 
Defterreihtihen Plutarch (5. Bänden), fondern auch in dem 
bezüglichen Artikel der Erſch⸗ und Gruber'ſchen Enchklopädie (von 
Zipfer) und felbft in dem der Herzog’schen Realenchklopädie (von 
Dieckhoff) noch ſehr deutlich durch; und eine erneute, theils berich« 
tigende,, theils ergänzende Beichäftigung mit dem Gegenftawd er- 
ſcheint um fo weniger überflüßig, als fich jene gerechteren Beur⸗ 
theiler faft ausschließlich auf die pädagogiſche Seite desſelben ber 
ſchränken. Indem ich das biographiſche Material, ſoweit es die 
Genannten außer Zweifel geftellt haben, im folgenden Aufſatze 
einfach vorausfege, werden ſich die angefligten Bemerkungen it 
biographifcher Beziehung auf die Aufklärung einiger noch fireitigen 
Buntte, im Übrigen aber darauf beichränfen, weniger benchtete oder 


Amos Comenius. 9 


bislang ganz überfehene, namentlich theologijch interefjante Momente 
im Wirken det Mannes in's Licht zu rüden. Wie denn itbers 
haupt von Erfchöpfung des Gegenftandes auf fo wenigen Blättern 
nicht die Rede jein kann, und wie ich felbft mir bie weitere Aus⸗ 
führung einiger Punkte für gelegenere Zeit vorbehalten möchte, fo 
mein angelegentlichfter Wunfch der wäre, durch das Folgende Kirchen⸗ 
und Eufturhiftorifer von Beruf auf einen Gegenſtand hinzumeijen, 
deiien monographijche Behandlung wie wenige geeignet fein möchte, 
die Sonteuren für ein Geſamtbild des geiftigen Lebens eines noch 
inmer nicht hinlänglich gelannten Zeitalters zu geben. 





Der Schauplag, in dein Umrahmung das Lebensbild des 
Comenius betrachtet fein will, ijt der der böhmischen Brüderkirche; 
jener älteren, nad Art und Gaben nicht unebenbürtigen ſlaviſchen 
Echweiter der evangeliihen Reformationsfirchen, deren ehrwürdige 
Geftalt für evangelifhe Semüther dadurch an Anziehungstraft nichts 
verliert, daß wir ihrer als einer lebenden nicht mehr gedenken 
fönnen, fondern daß fie in das Grab hinabgeſtiegen ift, welches 
die Blut⸗ und Afchenhaufen des dreißigjährigen Krieges deden. 
Rad den Gewitterftürmen und Erdbeben der huffitiichen Bewegung 
war es das friedevolle Wehen bes Gotteögeiftes, welches die ver» 
iprengten Trümmer der echten Huffiten in Böhmen, Mähren 
und Schleſien in diefer Kirchengemeinihaft zu fchnell aufblühenden 
Gemeinden vereinigte. Leicht prägen fich ihre herporitechenden 
Sharakterzüge ein: ein tiefer Sinn der Brüderlichleit, der vom 
Höchſten bis zum Niedrigiten alle Glieder zujammenbindet; ein 
mächtiger fittlicher Ernft, der es auf Darjtellung der Nachfolge 
Chriſti in einer geheiligten Gemeinde anlegt und nicht bloß das 
Streben der Einzelnen, fondern auch die Organifatiou des Ganzen 
darauf anlegt, der Heiligung aller lieder zu dienen. ‘Dem ent- 
iprechend eine eindringende Sorgfalt, die Jugend lernend und 
übend in die lebendige Erfenntnis der chriftlihen Wahrheit einzur 
führen, und ein reger Wiffenstrieb, welcher eine über Verhältnis 
große Zahl lerubegieriger Jünglinge auf die Univerfitäten Deutſch⸗ 
lands hinaustrieb. Endlich eine nicht aus Gleichgäftigkeit, fondern 


10 Kleinert 


aus der tiefen Innerlichkeit des frommen Sinnes geborene chrift- 
liche Weitherzigkeit; ein ökumeniſcher Sinn, der andern Belennt- 
niffen gegenüber nicht das Trennende, fondern das Gemeinfame zu 
betonen feine Freude Hatte, und dem es daher befchieben war, daß 
die deutjchen wie die fchweizerifchen Neformatoren, Luther wie 
Calvin, eins waren in der herzlihen Schägung und Anerkennung 
und in der Pflege des Gemeinfchaftsbandes mit der böhmifchen 
Brüberfirdhe ?). 

Aus einer anfehnlichen Familie diefer Kirche, welche von ihrer 
Herkunft aus dem Orte Komna den Namen Komensky, Tatinifirt 
Comenius, führte, wurde unjer Johann Amos am 28. Yuli 1592 
zu Niwnitz bei Ungariſch⸗Brod im füböftlihen Mähren geboren. 
Frühzeitig ftarben ihm Vater und Mutter, und obgleich fie einiges 
Vermögen hinterlaffen, war es doch nicht die Abjicht der Vor⸗ 
münder, dem Snaben eine eigentlich wilfenfchaftlihe Ausbildung 
geben zu laffen. Erft in feinem fechszehnten Lebensjahre fette es 
feine Lernbegierde durch, einer Lateinfchule zugeführt zu werden, 
und zwar mit folhem Erfolg, daß bereits drei Jahre fpäter, im 
Sahre 16112), wir ihn unter der Schar der jungen Glaubens⸗ 
genofjen fanden, welche ſich den weftdeutfchen Univerjitäten Herborn 
und Heidelberg zuwenden. Es war eine geiftig hochbewegte Welt, 
in welche der wiffensdurftige Jüngling Hier eintrat. Wenn in der 
Gegenwart die möglichſt eindringende Durhforfhung und Beherr⸗ 
ſchung eines einzelnen Wilfensgebietes als das eigenjte Zeichen 
wiffenfchaftlichen Geiftes angefehen zu werden pflegt, fo iſt es ums 
gekehrt eine Richtung auf Ausdehnung des Willens auf möglichft 
weite Gebiete des Wiſſenswürdigen, von der wir die beften Kräfte 
jenes Zeitalter8 getragen fehn. Mit großer Begier, zugleich aber 
mit dem feften Halt eines in früher Verwaiſung gereiften, in 
inniger Frömmigkeit und Seelenreinheit fich felbit bewahrenden 
Charakters tritt Amos in diefe enchflopädiichen Bejtrebungen, die 
ihm namentlich, durch den Herborner Profeſſor Alfted nahe gebracht 
werden. Die manigfaltigften Bildungselemente werden feinem 
Geiſte zur Nahrung; und mo die ungemeine Biegſamkeit deöfelben 
und die Schnelligkeit feiner Auffaffungsgabe hätte erlahmen mögen, 
da ftählte den Willen die heiße Liebe zum Vaterlande und zur 


Amos Comenius. 11 


Mutterlirche, deren Dienft er fein Leben geweiht. Schon ale 
Student begann er jenes Rieſenwerk einer gelehrten Bearbeitung 
des geſamten tichedhifchen Sprachſchatzes, das vierundvierzig Fahre 
bindurch ihn begleiten follte. Je drüdender feinem lebendigen Sinn 
die geifttödtende Methode des felbftgenoffenen lateinifchen Unterrichts 
gemefen war, um jo begieriger ſuchte er den Geiſt der neuen 
Unterrichtslunft zu ergründen, mit welcher zu diefer Zeit Wolfgang 
Ratich alle bisherige Pädagogik der PVergefjenheit zu überliefern 
ih anheifhig machte. Ye weniger fein durchaus auf das Wirk⸗ 
liche und Wirkfame gerichteter Geift an der leeren und ſpitzfindigen 
Methode, über religiöfe und philofophifche Gegenſtände zu denken 
und zu reden, Gefallen finden konnte, die nach der wohlthuenden 
Suftreinigung der Reformation nur zu fchnell wieder den Weg 
anf die Lehrftühle gefunden Hatte, um fo mehr feilelten feinen Blick 
die Strahlen des neuen Lichtes, welches mit Campanella in Italien, 
mit Diontaigne in Frankreich, mit Baco von Berulam in Eng⸗ 
(and aufzuleuchten begonnen hatte; das mit Macht das Gebiet der 
Ratur in die Sehweite rüdte und hier ein Feld unmittelbaren 
Anſchauens, Beobadhtens und Erfennens aufwies, auf welches faum 
zu achten man fi gewöhnt Hatte; und das damit zugleich die 
Möglichkeit eines Weges ahnen ließ, auc in der Betrachtung der 
geiftigen und fittlihen Welt zu der verfchüitteten Einfachheit des 
geraden Sinnes zurüdzufehren ®). 

Mit einer Studienreife beſchloß Comenius 1614 feine Lern⸗ 
jahre. Ihr Hauptziel war die ftolze Burg, welche wenige Jahr⸗ 
zehnte zuvor die Niederlande bem Evangelium und der bürgerlichen 
Freiheit gegründet hatten, und in ber mit dem Weltverfehr zugleich 
jegliche Blüte geiftigen Lebens zur Höhe trieb. Ueberall öffnete 
dem über feine Jahre wiffensreichen und willensreifen Jüngling fein 
beſcheidenes, frifches Wefen jchnellen Zugang: und als der Zwei⸗ 
undzwanzigjährige das legte Stüd feines Heimmegs, von Heidelberg 
bis Prag, zu Fuße zurücegte, brachte er in zahlreichen Verbin⸗ 
dungen mit den bejten Namen des Zeitalters die Anfänge einer 
Weltcorrefpondenz mit ſich. Schon jet ward in der Heimat 
fo groß von ihm gehalten, daß der Edle von Zierotin, einer der 
Erften unter den Häuptern der Brüderkirche, ihn ſofort mit der 


12 Kleinert. 


Leitung der höhern Schule von Prerau betraute, welche Comenius 
in Vermwerthung feiner frifchen Eindrüde al8bald in ein Realgym- 
nafium überbildete. Auch dann bfieben jeine Gedanfen nod mit 
Liebe dem Schulwejen zugewandt, ald er 1616 für den BPrediger- 
dient der Brüderkirche ordinirt wurde. Aber nur zu ſchnell follten 
feinen Lehrjahren die Jahre der Prüfung folgen. Rings umher 
hatten jich die jchweren Gewitterwolken zufammengezogen , deren 
dreißigjährige Entladung über Böhmen begann, um mit der Ver⸗ 
beerung von ganz Deutichland zu enden. Die fcharfe Luft cal- 
viniſchen Geiſtes war vom Welten ber in's Land gelommen und 
gab ungeftümen KRathichlägen die Obmacht über die maßvolle Erb- 
weisheit der Leiter der Brüderkirche; und auch wenn es nicht jo ge⸗ 
wefen wäre, wären die finjteren Geſchicke, welche mächtige und liftige 
Gewalten dem Protejtantismus in Böhmen planten, nicht mehr ab⸗ 
zumehren gewejen. Bald nad) der unglücklichen Schlaht am weißen 
Berge legte fich, wie fehon vorbem mehrmals, die kalte Hand von 
Wien her an den Hals der Brüderlirche, und jest, um nicht mehr 
loszulaſſen, bis die Märtyrerin ausgeathmet haben würde. Schon 
1621 drangen ſpaniſche Scharen ſengend und brennend in Fulneck, 
dem Pfarrort des Comenius, ein und verbrannten es. Comenius 
ſah Haus und Habe in Flammen aufgehen, und die den Fremd⸗ 
lingen auf dem Fuße folgende Seuche raffte ſein junges Weib und 
ſeinen Erſtgeborenen von ſeiner Seite. Drei Jahre fpäter wurden 
die Prediger aller evangeliſchen Bekenntniſſe geächtet, und die Ge⸗ 
ſcheuchten, welche das Vaterland noch nicht verlaſſen wollten, mußten 
auf den einſamen Bergſchlöſſern der Edlen in Mähren und Böhmen 
ihre Zuflucht fuchen. Auch unjern Comenius finden wir mit zahl» 
reichen Genoffen erft unter dem Schuge Zierotins zu Kraliz in 
Mähren, wo der greife Biſchof Lanetius, der als die Säule der 
Brüderficche galt, feinen Tod fand; dann zu Branna in der Nähe 
der Elbquellen um böhmischen NRiejengebirge, wo der Edle von 
Sadowski die Flüchtigen verbarg. Schwer gingen die Wogen des 
Elends über das weiche Herz, das an ben Seinen, an ber Kirche 
feiner Bäter, am Evangelium mit der feurigen Zärtlichkeit des 
ſlaviſchen Naturels, mit der innigen Kraft ber deutfchen Bildung 
Bing. ALS ein Siebziger auf diefe Zeiten zurückſchauend, ſchildert 


Amos Comenius. 18 


er und, wie er Nacht für Nacht in fchlaflofem Kummer die Schmerz 
geſchicke bewegend nicht anders gekonnt habe, al® vom Lager aufs 
fpringend die heilige Schrift zu ergreifen und dem unter ihrer 
Leſung empfangenen Troſt mit bebender Hand niederzufchreiben. 
Seo entftanden, eine nad) der andern, jene Reihe von Troſt⸗ und 
Lehrſchriften, die zu dem Beſten gehören, was für die Gemeine 
geichrieben ift, und die mit Windeseile fih unter den Leidensge⸗ 
nojjen verbreiteten; hentzutage überaus felten geworden in den 
Biblisthefen, aber in mander Familie der Stillen im Lande in ben 
ſjchleſiſchen Gebirgögegenden ein von den Altuorbern her hochgehaltenes 
Erbtheil. Es zeichnet den geborenen Schriftiteller, in dem die 
bößmifche Literatur noch heut ihren erften Claffiler ehrt, wie dem 
Amss jegt und fpäter jede tiefere Erregung des Lebens alsbald 
zur Schrift wird. Es zeichnet das edle Gemüth und den wahren 
Epriften, daß der tiefe Klageton diefer Schriften ohne jegliche 
Bitterkeit ift, vielmehr getragen von dem Hauch des Friedens und 
von männlicher Faſſung. Sm den Leiden, die über die Gemeinde 
geben, zeigt Comenius den Weg zur Selbftprüfung und Beſſerung; 
in dem unfteten Elend den Eingang in das unantaftbare Paradies 
des Herzens, das in Gott als dem unbeweglichen Ruhepunft die 
Tiefe der Sicherheit gefunden hat. Ein katholiſcher Beurtheiler 
(&indely) jagt unter dem Eindrud diefer Schriften, daß fie auch 
ein Heiliger nicht anders gefchrieben haben könnte 9. 

Den Harten Schlägen folgte 1627 der härtere. Mit ihren 
Beſchützern wurden fämtlihe Evangelifche des Landes verwieſen. 
An 30,000 Familien, darunter allein 500 Adelsgeſchlechter, auch 
die Zierotin und Sadowefi, verließen die heimischen Gefilde. Wäh- 
rend die Zutheraner und Reformirten unter ihnen fih, wie fie in 
verfchiedenen Ländern freundlicher Aufnahme bei ihren Glaubens» 
genofjen gewiß fein durften, nach verjchiedenen Nichtungen zerftreuten, 
Schingen die böhmiſchen Brüder nur zwei Wege ein, den einen 
mad) Ungarn, den andern nah Bolen; und dieſen letztern nahm 
auch Comenind. Da, wo ditlih von Glogau die unergründlichen 
Meoräfte des Landgrabens und daran gelehnte Sanddünen Schlefien 
und Poſen von einander fcheiden, alſo damals die öſtereichiſch⸗pol⸗ 
nifche Grenze bildeten, erſtreckten fich weithin die Beflgungen des 


14 Kleinert 


edlen Grafenhaufes ber Leszezynski, das, felbft dem Evangelium 
zugethan, es ſich zur Ehrenpflidt machte, die aus Defterreich ver» 
triebenen &laubensgenoffen auf feinem Gebiete aufzunehmen, und 
auch nachher, ale es durch böfe Ränke in den Schoß der römischen 
Kirche zurücgenöthigt war, nicht aufgehört hat, ihr treuer Be⸗ 
ihüger zu fein. Noch 1500 war der Ort Polniſch⸗Liſſa hart 
an der Grenze ein Fleines DBauerndorf gewefen; durch den Zu⸗ 
zug der ftillen und fleißigen, Gott und ihrem Beruf getreuen 
Bürger war es nunmehr eine anfehnlide Stadt mit 20 Straßen, 
vier Kirchen, einem Gymnasium illustre, 1600 Wohngebäuden ge= 
worden, von deren 2000 Familienhäuptern nur vier dem römifchen 
Belenntnis angehörten. Hier zog Comenius am 8. Februar 1628 
ein. Hier war es, wo er, fern vom Vaterlande, die hervorſtechendſten 
Seiten feiner eigentümlichen Begabung entfaltet und den Grund 
zu dem Weltruhm des großen Pädagogen gelegt hat, der ihm fchon 
bei Lebzeiten zu Theil ward und den einzigen irdifchen Glanz eines 
in allen übrigen Beziehungen gramerfüllten Lebens bilden follte. 
Schon vorher war Lehren feine Luft gewefen, und in den Jahren 
der Verbergung Hatte ber raftlofe Geift fi mit been zu einer 
Neform des Unterrichts getragen, die künftigen Geſchlechtern zu 
gute fommen jollten. Und als er mit feiner Schar die Heimat 
verließ, und auf der Höhe de8 Sceidegebirged angelommen , fie 
alle fih ummandten und mit dem legten Abjchied auf das ver⸗ 
lorene Vaterland niederblichten ; als fie von gemeinjamer Bewegung 
ergriffen auf die Kniee fielen und unter vielen Thränen zu Gott 
beteten, daß er doch mit feinem Worte nicht gar aus Böhmen und 
Mähren weichen, fondern ſich einen Samen dafelbft behalten wolle, 
da war ihm der Gedanke feft geworden, der die folgenden Jahrzehnte 
hindurch feine Kraft in mächtigem Schaffen aufrecht erhalten hat: 
wenn einft Gott ihm und feinen Glaubensgenofjen die Rückkehr 
in’s Vaterland eröffnen würde, da follte der Grund eines neuen 
blühenden Lebens für feine Kirche und fein Vaterland bei der 
Jugend gelegt werden; und ‚wennfchon der Baum zu Falle ges 
fommen fei, folle aus dem Wurzelftumpf das arme verlorene Volk 
erneuert wieder aufgrünen. Es ift die Nachfolge Jeſu, des Kinder- 
freundes, deren ftille Kraft, die doch die größte, beiligfte und ſegens⸗ 


Amos Comenius. 15 


reichfte der Erde ift, wir zu allen ſchweren Zeiten der Chriftenheit 
in den beften Männern aufleuchten fehen. Den Jammer des Volkes 
ſehend, erbittet fie nicht Gerichte, fondern legt Hand an die Er» 
ziehung, und beugt ſich zu den Kleinen herab, damit dem Volke 
Heil were. So entitand unferm Amos, nit aus der Willkür 
eines phantaftiichen Weltreformers, fondern aus der heißen Liebe 
und Treue des der Herde beitellten Hirten der große Umriß eines 
allgemeinen Unterrichts 5), der, auf feinen unterften Stufen das 
ganze Bolf umfafjend, nicht zuläßt, daß durch PVerfchiedenheit der 
Anfänge eine Kluft verjchiedener Grundbildung zwifchen den Glie⸗ 
dern und Ständen des Volkes geriffen werde; und deffen Zeichnung er 
mit der feiten Hand reicher Kenntnis des bereits Geleifteten, mit 
der prumklofen Klarheit durchdringenden Verftändniffes und mit 
der herzlichen Sprache der Liebe und der jittlichen Geiftesfülfe 
durchführt. In vier Stufen fei das Unterrichtswefen zu gliedern. 
Die eriten ſechs Jahre der Kindheit gehören dem Haufe; fie find 
das Gebiet der Mutterfchule. ‘Die zweiten ſechs Jahre gehören 
der Bolksfchule. Innerhalb diefer Zeit könne und müfje gelernt 
werden, was alle Glieder des Volles an Wiffen für Erde und 
Himmel unumgänglich nöthig haben. Für die weiter Strebenden 
aber öffnet fi in dem folgenden jechsjährigen Zeitraum die Latein⸗ 
fäule, in dem vierten vom 19. bis zum 24. Jahre die Hochſchule. 
In jedem Haufe müffe eine Mutterfchule, in jeder Gemeinde eine 
Volksſchnle, in jedem Bezirk eine Lateinfchule, in jeder Provinz 
eine Afademie fein. Das Ziel aber des Unterrichts fei nicht bloß 
Wiſſen, jondern Erziehung, Charakterbildung. So treten fchon 
bei ihm die Stichworte, die für die feitherige Geiſtesentwicklung 
von fo großer Bedeutung geworden find: Bildung und Menfch- 
lihfet, cultura und humanitas, überall als die großen Ziele des 
Wertes entgegen ©), aber nicht als leere Worte, die Losgeriffen vorn 
ihrer lebendigen Wurzel durch die Zuft ſchwirren und jeglihem Winde 
der Begriffsverwirrung zum Spiel dienen, jondern mie fie in 
edler Klarheit aus dem Fundamentaljag abfolgen, den er mit Baco 
von Berulam überall in die Mitte ftellt: daß der Menfch nad und 
m dem Bilde Gottes gejchaffen ſei. Es iſt ihm unverborgen, 
daß fein auch noch fo ftolzes Rühmen menfchlicher Entwicklungs⸗ 


16 Kleinert 


fühigleit es begreiflihd machen wird, wie aus der menschlichen 
Natur etwas herausgebildet werden könne, was nicht wurzelhaft 
in ihr angelegt wäre; wie einer Natur, die bloß thierifch veranlagt 
wäre, der höhere Charakter der Menfchlichkeit angebildet werben 
könnte. Ebenſo aber erkennt er in jenem Yundamentaljag von 
dem göttlichen Ebenbild in der Dienfchennatur auch das einfache 
uud fchlagende Argument gegen diejenigen, melde die Möglichkeit 
des von ihm Hingeftellten Zield harmonifcher Menfchenbildung durch 
den Hinweis auf die fündige Verberbnis des Menjchenherzens be⸗ 
ftreiten: wie gewiß dieſe Verderbnis da fei, und wie groß fie fet, 
fo fei doch auch das gewiß, daß jedes Ding Luft habe, zu feiner 
Natur zurüczufehren. Gott erfennen, die Welt erfennen und 
fih jelber leiten Tönnen, da8 müſſe Erziehung geben. Fromme 
Einfachheit des Charakters und milde Sitten feien die Zeichen, 
daß Erziehung ihre Aufgabe erfannt habe und dem Biel zuitrebe; 
die Noheit aber und Zuchtloſigkeit des Uinterrichteten gebe Zeugnis, 
daß der Erzieher ein Miethling geweien fei. Der Lehrer, der 
wegen Trägheit und Unwiſſenheit ftrafe, klage fich felbft an; denn 
zum Ausgleichen fei er da, und nach dem Grade der Unwiffenheit 
und Trägheit müſſe feine Liebe und Mühe wachſen; der Lehrer 
aber oder Vater, der wegen Zuchtlofigfeit, Lüge, Yrivolität zu ftrafen 
unterlaffe, ber fei der Seele des Kindes ein Feind. Habe Gott 
der Seele des Menſchen den Leib zur Wohnung und zum Werkzeug 
gegeben, fo fei von frühfter Kindheit auf durch die forgfamfte 
Pflege der Leib für diefe Beftimmung fräftig und gefchidt zu machen; 
es fei nicht Harmonie der Erziehung, die Seele kräftigen wollen 
auf Koften des Körpers. Und wenn für den erwachfenen Menfchen 
acht Stunden angeftrengter Arbeit am Tage das richtige Maß 
bilden, jo muſſe das Biel der Schule bei tägli vierftündigem 
Unterricht erreicht werden Tönnen. Dazu freilich gehöre eine richtige 
Methode des Unterrichts, auf die überhaupt alles anfomme, und 
die dem Wirken Gottes in der Natur abzulernen fi. Omnia 
sponte fluant; absit violentia rebus. Vom Leitern zum 
Schwereren, vom Belannten zum Unbekannten fortfchreiten, nicht 
mit Sprüngen, nicht mit unzufammenhängenden Stoffmafjen den 
Geift verwirren, den Unterrichteten in fortwährender Selbftthätigkeit 





Amos Eomenius. 17 


erhalten: das fei Lehrweisheit; und nur durch die volle Xiebe werde 
der Lehrer die Weisheit lernen. So aber werde die erjte Schatten- 
ieite de8 dermalig gewohnten Unterrichts verfehwinden, daß die 
Schule und ihr Name den Kindern ein Schreden fei. Der Unter» 
richt, der nicht eine Luft fei, fei ohne Frucht. Der andre Schatten 
aber der dermaligen Methode trete greli hervor, wenn man die 
Unfitte der Zeit ind Auge fafje, leere Worte zu machen. Plan 
tehe, fagt Amos, die Praxis des großen Haufens an und die Art 
der halbgebildeten Stimmflührer desfelben, jo werde man merken: 
die Menſchen reden nicht, fondern fie ſchwatzen; fie haben nirgend 
mit Sachen, Begriffen und Erkenntnis, fondern überall mit leeren 
Vorten zu tun”). Ein Hauptgrund diefes Misftandes fei un- 
ſchwer zu erkennen. Aller Nachdruck fei auf den Sprachunter⸗ 
richt gelegt. Aber fo werde derfelbe betrieben, daß mit bloßen 
Vorten, ja bloßen Wortformen der fremden Sprade, ohne daf 
der Schüler eine klare Vorftellung mit denfelben verbinde, der Geift 
ansgedörrt werde. Vielmehr müſſe das Kind zuerft feine Mutter⸗ 


ſprache fprechen lernen, dann auch andere; immer aber jo, daß ihm 


überall mit dem Wort die Sache vor Augen geführt werde. Wie 
in der fittlihen Erziehung nichts geleistet fei ohne das perfönliche 
Vorbild, das das Kind am Erzieher fchaue; wie das Chrijtentum 
ion dadurch als die wahrhafte Erziehungsreligion fich ausweiſe, 
daß es allein das Ewige und Göttliche in der Geftalt Ehrifti 
nahe bringe, in einer Geftalt, in der auch Kinderherzen im An⸗ 
Idauen es liebend zu erfafjen vermögen; fo fei auch im Unterricht 
kein Berftändnis ohne die Sinne. Der Sprachunterricht müſſe 
ergänzt werden durch Anfchauungsunterricht in den Realien Wie 


wolle man Gott erfennen lernen, wenn man an feinen Werfen in 


der Welt vorbeigehe? So geht dem Comenius ſchließlich alle Lehr⸗ 


weisheit in dem tiefen Spruch des großen Meifters auf: der Vater 
liebet den Sohn und zeiget ihm alles. 


Und diefer Aufriß der Lehrfunft, von deffen Größe und Bedeu- 
tung, Feinheit und Reichtum diefe Züge freilich nur ein dürftiges Bild 


geben konnten, war unjerem Amos nicht bloß Theorie. Während 


vor ihm Ratich, nach ihm Peſtalozzi ihr Lebelang in dem kümmer- 
lihen Zwieſpalt der großen Principien und des prattiſchen Unge⸗ 
TZheol. Stud. Jahrg. 1878. 


18 Kleinert 


ſchicks hangen geblieben find, war er eine von den feltenen Naturen, 
denen es gegeben ift, mit der Kraft und Weite der zum Ziel drin» 
genden Anſchauung zugleich die völlige Klarheit Über die Mittel und 
ihren Gebrauch und die Virtuofität in der Ausführung zu verbinden. 
Fortwährend an dem Liffnifchen Gymnafium ſelbſt thätig, deſſen 
Directorat er neben feinen kirchlichen und fchriftftellerifchen Arbeiten 
bie zum Jahre 1641 ‚geführt hat, entwarf er die durch feine 
Methode geforderten Lehrbücher für alle einzelnen Stufen des 
Unterrihts, auch für die unterften; und bis auf den Heutigen Tag 
ift die kindliche Schönheit unvermwelft, mit der fein Buch über die 
Mutterſchnle chriſtliche Mütter unterweiit, wie fie in den Jahren der 
Kindheit mit Teibliher und geiftiger Pflege allen Grund der zu—⸗ 
fünftigen Lebensgeftalt in den Herzen ihrer Kinder zu legen haben. 
Denn die befte und edelfte unter allen Gaben Gottes fei das Kind; 
die edelfte auch darum, weil von allen andern Gütern der Erde 
der Menſch fich löſen könne, aber vom Kinde nicht: auch wenn 
Eltern e8 über ſich gewinnen könnten, ihres Kindes ſich zu entäußern, 
vor Gott und ihrem Gewiſſen bleibe es eben doc, ihr Sind. 

Wie er in allen diefen Arbeiten nicht gelehrten Ruhm gefucht, 
fondern dem mächtigen Antriebe feines Innerſten gefolgt war und 
die Zukunft feiner Kirche ımd feines Vaterlands im Auge gehabt 
Batte, jo blieben für's erfte diefe großen Werke ungedrudt. An 
dein Tage feiner Sehnſucht foliten fie bervortreten. Nur ein einzel- 
med Stüd veröffentlichte er: „Die geöffnete Spradenthär“,; 
ein praktiſches Mufter, wie nad feiner Methode die Spracden, 
zunächſt die Tateinifche, zu erlernen feien. Und dies eine Buch 
genügte, den Ramen des Comenins in aller Mund zu bringen 
und — es iſt nicht zuviel gefagt — die Augen der gebildeten Wert 
auf ihn zu richten. Weberrafchend fam dem befcheidenen Mann die 
Wahrnehmung, wie das Werkchen, für das er felber nur den Werth 
eines Kinderbuchs in Anfpruh nahm, feinen Weg von Land zu 
Lande fand und in nicht langer Zeit in fünfzehn Sprachen, darunter 
auch ins Türkiſche, Perfiiche, Arabifche, überfegt war. Mit den 
Gelehrten, mit dem polnifchen Adel, deffen edelfte Spigen wie der 
Graf Opalinsti v. Bnin fid) durch Comenius begeiftern Tießen, 
auf ihren Gütern Lateinfchulen nad feiner Methode einzurichten, 


Amos Comenius. 19 


wurden auch weitblidlende Regierungen auf ihn aufmerffam. Wenn 
Schweden fi ſchon vordem als ein treues Kind der Wittenberger 
Reformation durch den auf die SYugenderziehung gerichteten Eifer 
bewährt hatte, wenn gerade zu diefer Zeit Guftan Adolf diefen Eifer 
emerjeit3 durch die Stiftung der Univerfität Dorpat, anderfeits 
Dadurch bewies, daß er fogar in feinem Kriegslager regelmäßigen 
Schulunterricht einrichtete, fo erging nicht lange nach dem Tode des 
großen Könige die Aufforderung von Schweden an unfern Come⸗ 
nins, als Organifator des gefamten Voll» und Schulweſens über 
die Dftfee zu kommen. Er lehnte fie vorerft ab. Schon war fein 
raftlofer Geift zu anderen und höheren Plänen fortgefchritten. Auch 
der fetten ımd höchſten Stufe feines Erziehungsaufbaues wandte er 
feine Aufmerkſamkeit zu, und mit den Nachwirkungen feiner Uni- 
verfitätseindräde traf die innerfte Herzensrichtung des Menſchen⸗ 
freundes zufammen, in ihm den großen Gedanken einer Banfophie, 
einer allumfafjenden Wiffenfchaftsichre Hervorzurufen, in welder 
alles, was des Wiffens werth wäre, unter Abthun alles unndöthigen 
Kleintrams eigenliebiger Hypotheſen nach feften und Klaren Grund- 
begriffen zufammengeordnet werden ſollte. Dazu follten fich die 
beſten Geifter aller Nationen vereinigen, und mit Dahintenlaffen 
der perfönlichen Eitelkeit zum Heil der Menfchheit ihr Beſtes zu- 
fammenthun. So, hoffte er, würbe die unfelige Zerfahrenbeit 
aller öffentlichen Verhältniſſe zu heilen fein; denn was fie ver- 
wirre, fei zulegt immer die Verworrenheit der Begriffe, und die 
Zuſammenhangsloſigkeit und Auseinanderreißung der verſchiedenen 
Wiſſensgebiete, deren jebes feinen eigenen Geift und Sinn für ſich 
and im Gegenfaß zu den andern entwickle. Durch ihre klärende 
Zufammenfaffung aber würde die Menfchheit auch davor bewahrt 
bfeiben, immer wieder in die Labyrinthe Tängft Überwunbener Irrtümer 
bineinzugerathen, und der große Tempel Gottes, den der Prophet 
Ezechiel im Geiſt gefchaut, werde aus dem einmüthigen Zuſammen⸗ 
Hang aller Zungen und Nationen gebaut werden. “Denn wenn 
doch Feine Verftimmelung duch menjchliche Zuthaten die Gottes⸗ 
wahrheit verdeden köͤnne, daß Chriftus der Welt gegeben jei, um 
im eine ſolche Einheit die Herzen und die Gedanken der Menſchheit 


zufammenzufaflen; wenn doc unter allen Religionen diefe allein 
29% 


2 Kleinert 


al8 der urfprünglichen Menfchennatur entfprechend die Kraft, die 
Weite und die Tiefe habe, aller Menjchen Herzen und Gedanken 
zu umfpannen; wenn doch Gottes Werk überall Harmonie fei: 
wen, ber zum Heil der Menſcheit wirken wolle, müſſe nicht diefe 
Harmonie als eine nicht blog in der Natur, fondern auch im 
geiftigen und jittlihen Leben der Menſchheit zu vollziehende vor 
Augen ftehen? Oder wolle man Gott, der die allmädhtige Liebe 
ift, nicht zutrauen, daß er das unglückliche Schaufpicl der Welt 
mit einer glüdlichen Wendung fchliegen werde? ) — Ein Aufrig 
diefer und ähnlicher Gedanken, den Amos an Freunde in England 
jendete, wo der Boden für derartige Ideen wohl vorbereitet war, 
und der dort ohne fein Vorwiſſen zum Druck gebracht wurde, 
erregte folches Auffehn, daß auf Parlamentsbeſchluß Comenius nad) 
England berufen ward, auf Staatskoſten eine Verwirklihung diefer 
panfophifchen Pläne anzubahnen. Durch die verheerten Geftlde 
Deutfchlands, deren legte Halme dur die noch immer lodernde 
Kriegsfackel verfengt wurden, z30g Comenius 1642 hinüber. Aber 
auch die glänzenden Ausfichten, die fich ihm Hier eröffneten, jollten 
nur eine kurze Epifode feines Lebens bilden. Das mächtige Land 
lag in fchweren Wehen. Das Parlament, welches ihn berufen, 
ift das nämliche, welches in der Gejchichte unter dem Namen des 
(langen Parlaments befannt worden if. Die politiiche Entwidlung 
ftrebte der. Enthauptung Karls I. zu. Und auch auf Firchlichem 
Gebiete konnte dem harmonischen Geift des Comenius, dem Maß 
und Ordnung die Grundbedingung alles Gedeihend war, das anar— 
hifche Ungeftüm der SIndependenten nur wenig Freude erweden 9). 
Als nun zur felben Zeit der irifche Ausbruch ausbrad und das 
Intereſſe des Parlaments ſich dringenderen äußeren Angelegenheiten 
zumenden mußte, als den friedevollen Plänen der Panfophie, und 
als gleichzeitig von Frankreih und Schweden her die dringlichiten 
Einladungen an ihn gelangten, war fein Plan bald gefaßt. Für 
Schweden ſich zu entfcheiden beſtimmte ihu namentlich die gewichtige 
Stimme feines Gönnerd Ludwig de Geer, eines reichen nieder» 
ländifchen Batriciers, der ſich in dem ſchwediſchen Norköping 
niedergelaffen, und der mit fürftlicher Xiberalität überall die ver- 
folgten Belenner des Evangeliums und namentlich die Studien 


Amos Comenins. 21 


derfelben nnterftügte: den Großalmofenier von Europa nennt ihn 
Comenius, mit dem der mohlthätige Mann aus jenem Intereſſe 
Ihon Tängft in Verbindung getreten war. Man jpürt dem Bericht 
unjers® Amos über die viertägige Unterredung, die er mit dem 
Kanzler Drenftjerna Hatte, den mächtigen Eindrud an, den ihm das 
außerordentliche Wiffen und Urtheil diefes gewaltigen Staatsmannes 
gemacht hat. Niemals habe einer fo fenntnisreich und durchdringend 
über die Dinge, deren Ergründung die Arbeit feines Lebens gebildet, 
mit ihm verhandelt, als diefer Adler des Nordens. Zugleich aber 
seugt es von dem nüchternen Blick des Staatsmannes, daß er den 
plänereichen Geift des liebenswürdigen Sanguinifer® aus den 
ätherijchen Gefilden der Panſophie zu den nächſten Aufgaben und 
der nüchternen Wirklichkeit des eigentlichen volksmäßigen Unterrichts- 
weſens zurüdleitete. Acht Jahre wandte Comenius auf die Ausarbei- 
tung der großen Unterrichtömwerfe, welche jchwedijcherfeits von ihm ver⸗ 
langt wurden 9). Nicht in Schweden, fondern in Elbing und dann 
in Liſſa führte er fie aus, um feinen Gemeinden in Polen nidt 
fern zu fein. Denn wie bereit8 im Jahre 1632 zum Senior, 
fo wählten ihn dieje 1648 zum Bifchof (senior praeses) ihrer 
Kirche. Das war nicht bloß eine Huldigung für die wifjenfchaft« 
liche Bedeutung, fondern auch für den johanneifchen Geift des pa⸗ 
triarchalifhen Mannes, von dem Näher: und Fernerftehende zu fagen 
pflegten, man könne ihn nicht kennen lernen, ohne ihn lieb zu 
gewinnen; nicht bloß eine Beugung vor dem tiefen fittlichen Ernft, 
mit dem er durch Wandel und Wort, durd) Anwendung und Selbft- 
untermwerfung die altehrwürdige kirchliche Zucht der Brüderkirche 
als ihr beſtes Palladium hochhielt 11), fondern auch fchuldiger Dank 
für einen Mann, der ſchon Tängft auch in äußern Dingen der 
Gemeinde nicht bloß ein Glied, fondern ein Vater geworden war. 
So viele Verbindungen ihm felbft fein Wirken in allen Ländern 
öffnete, fo viele Kanäle der Verforgung wurden es für feine noth- 
feidenden Brüder. Große Geldſummen aus England, aus Holland, 
aus Schweden floſſen durch die ärmliche Studirftube des Comenius 
zu den verftreuten Gemeinden; auf den Schlöffern der Könige 
und Edlen aller Länder, an ihren Schulen, Archiven und Biblio⸗ 
thefen arbeiteten junge Gelehrte, die Amos dahin entjendet, die er 





22 Kleinert 


großentheils felbft gebildet, an denen er fortmährend die Seeljorge 
eines zärtlichen und doch nichts überfehenden Vaters übte; aller 
Ertrag feiner Titerarifchen Unternehmungen kam denen zu gute, die 
er hülfsweife dabei befchäftigte *2). 

Die Jahre feiner Arbeit für Schweden follten mit einer fchmerz- 
lihen Enttäufchung enden. Denn auch dieje entfagungs» und mühfal- 
reiche, Laft hatte er ja nicht ohne Abjehen auf das große Ziel ge= 
nommen, dem fein Herz entgegenglühte. Mit ängftliher Spannung 
verfolgte er den Gang ber Friedensverhandlungen von Münſter 
und Osnabrück, von denen er für feine Gemeinde die Heimkehr 
ind Vaterland, für feine Kirche Wiederherftellung und neues Auf- 
blühen erhoffte. Bon vier Millionen Einwohnern, die Böhmen 
dreißig Jahre zuvor gehabt Habe, waren noch fiebenhunderttaufend im 
Sande übrig. Sollte e& bei dem harten Spruch, mit dem Ferdinand 
in den Krieg gegangen war, daß das Land lieber eine Wüfte fein, 
als Proteftanten ernähren folle, fein Bewenden behalten? Der 
Friede ward gejchloffen, aber die Brüderlicche war vergeffen, war 
bon Schweden preißgegeben. Kin berber Schmerz durchklingt die 
Briefe, die er in diefer Veranlaffung am den fchwedifchen Kanzler 
geichrieben Hat; und in allen Schriften der Folgezeit ift es eim 
Wort, das er nicht nennen kann, ohne daß die Redeweiſe die 
Erneuerung diefe® Schmerzes anzeigte: das Wort Staatsraifon. 
Das fei ein Wort, an ſich leer und bedeutungslos, aber erfunden, 
um Unrecht zu verhüllen, da8 feiner Natur nach öffentlich gejchehen, 
und doc) fi) vor der Deffentlichkeit und vor Gott ſchämen müffe 1°). 
Als um die nämliche Zeit die Gemeinde zu Liffe gezwungen wurde, 
ihre Kirche den Katholiken auszuantworten, fchrieb er jene ergreifende 
Schrift: „Das Teftament der fterbeuden Mutter“, der böh- 
mifchen Brüderkirche; gemweihte Worte einer bis zum Tode betrübten 
Seele, die noch Heut niemand ohne Bewegung lefen wird 14). 

Comenius war gebeugt, aber nicht gebrochen. Seine Augen 
wandten fi) nad) dem Süden, wo das aufflimmende Fürftenhaus 
der Rakoczy in Siebenbürgen, den in Ungarn verftreuten Ge» 
meinden wohlgefinnt, ein Schild des Evangeliums gegen feine Feinde 
in Wien zu werden verſprach. Die Kürftinmutter Sufanna Lorendfi, 
eine warme Freundin des evangelifchen Bekenntniſſes wie des 


Amos Comenius. 2 


Schulweſens und daher ſchon längſt auf Comenins aufmerffam 
geworden, bedurfte nur einer Andeutung, daß er zu kommen willig 
ji, um ihn mit fürſtlichen Anerbietungen und Vollmachten zur 
Organifation des Schulwefens in den Staaten ihres Sohnes Sigie- 
mund Rakoczy zu berufen. Bald erbfühte (1650 — 1654) unter 
feiner Leitung das ganz nach feinen Plänen hergeftellte Realgym⸗ 
nafium von Saros Patak. Hier entitand fein Orbis pictus; 
eigentlich eine mit Ylluftrationen verjehene Umarbeitung jener 
‚Sprachenthür“ , die feinen Ruhm begründet Hatte. Auch feinen 
Lieblingsgedanken, den Abſchluß des Gymnaſiums durch panfophifche 
Curſe, verfuchte er ins Leben zu führen, mußte aber dieje Krönung 
des Werkes daran jcheitern jehen, dag das Fleiſch des jungen un⸗ 
garifchen Adels zu ſchwach war, um der erften Willigfeit des Geiftes 
dauernd zu folgen, und fein Dünkel zu groß, um fich mit den 
PBürgerfühnen unter einerlei Zucht zu beugen. Und wieder blitzte 
ein Wetterleuchten am nördlichen Himmel auf. Der kühne Karl X. 
Guſtav beftieg den jchwedifchen Thron; die Kundigen wußten, wie er 
gejounen fei, zunächſt im Kampf gegen das Fatholifche Polen, den 
Ruhm Guſtav Adolfs zu beerben. In diefer entjcheidungsreichen 
Zeitlage glaubte Comenius feinen Gemeinden nicht fern bleiben zu 
dürfen; er fehrte nad, Liſſa zurüd. Aber der Grimm der auge 
griffenen Polen warf ſich zunächft auf die Belenner des Evangeliums 
im eigenen Lande. Eine wilde Kriegsſchar rüdte (April 1656) 
gegen Liſſa heran und verbrannte die Stadt von Grund aus. Zum 
jweitenmal war Comenius feined Heims und feiner Habe beraubt; 
und was ihn am tiefften betrübte, auch feine Bibliothek und den 
größten Theil feiner ungedrudten Arbeiten fah er in Flammen 
aufgehen; unter ihnen das Werk beinah eines halben Jahrhunderts: 
jenen böhmiſchen Sprachſchatz, den er bereit in Herborn begonnen. 
Seine Gemeinde war zur irvenden Bettlerin geworden. Es war der 
härtefte Schlag feines Lebens. Mühſam und fiech fchleppte er fich 
duch Schlefien und die Mark der holländiichen Grenze zu. Wol 
bleibt er auch in diefen Tagen derfelbe, der feines Lebens Weis- 
heit in die kurze Regel zufammengefaßt Hat: „Haft du Fülle, fo 
preife Gott; fehlt fie, fo lerne dich begnügen mit dem Nothwendigen ; 
fehlt auch dies, jo fiehe zu, daß du dich felber retteſt; fiche zu, 


24 Kleinert 


daß du Gott nicht verliereft." Wol tritt auch auf feinen Bildern 
aus der nächjtfolgenden Zeit und immer noch die hohe ftattliche 
Geftalt mit der hochgewölbten Stirn, den feurigen großen dunfeln 
Augen, den ftarken Wangen, dem vollen Haar und dem wallen- 
Patriarchenbart unverfalfen entgegen. Aber es war doch ein müder 
Mann, der im Herbjt des Jahres 1656 im Amfterdam einzog. 
Hier, wo die Königin der Meere, der zu diefer Zeit die Hälfte 
aller Schiffe Europa’ gehörte, den Vertriebenen aller Lande ihre 
gaftlihen Thore öffnete; Hier, wo ſchon feine Jugend an dem 
Dilde eines im Evangelium freigewordenen Volkes fich gehoben 
hatte; hier in Holland, wo jedes Haus eine Mutterfchule, jedes 
Dorf eine Volksſchule, jede Stadt Lateinſchulen hatte, wo auf kleinem 
Raum fünf der erften Alademieen Europa’8 zufammengedrängt 
waren: bier wollte der Greis den Friedenshafen feines Alters 
finden. Die Edelmögenden der reihen Stadt, deren Händler 
Fürften waren, ließen ſich's nicht nehmen, den irrenden Flüchtling 
mit feierliher ‘Deputation willfommen zu heißen. Sie ehrten in 
ihm den Märtyrer des Evangeliums und gleichzeitig den großen 
Pädagogen, von dem fie aud für die Bildung ihrer Kinder Er⸗ 
jprießliche8 erwarten durften 75). 

Und Arbeiten diefer Art, Unterricht, Abfchluß der Literarifchen 
Pläne, überhaupt Werke des Friedens find es denn auch, die diefen 
legten Abjchnitt feiner Wallfahrt erfüllt haben. Won jeher hatte 
feine Seele nach Frieden gedürftet. Nicht feigen Sinn, fondern 
den Menfchen nach dem Herzen Gottes kennzeichnet es, wenn felbft 
der Eatholifchen Kirche gegenüber Amos in feinen Schriften fi) fo 
verhielt, daß der Jeſuit Balbin ihn als einen Schriftfteller charak⸗ 
terifirt, der allen Chriften zulicbe gefchrieben habe; menn die 
reformirten Klopffechter Arnold und Mareſius, die auch ihm gegen- 
über ihre Streitluft nicht bändigen fonnten, e8 ihm zum Vorwurf 
machten, daß er nicht genug literarifche Mitterfchaft gegen Rom 
geübt habe; wenn die einzige Schrift proteftantifcher Polemik, die 
wir aus feinen Händen befigen, ein für jenes Zeitalter faft einzig 
dajtehendes Muſter fittliher Würde und feiner Ueberlegenheit ift, 
einer Streitart, die nicht ficht um zu verlegen, fondern um zu über⸗ 
zeugen und zu gewinnen: die niemals die Hand mwegzieht 16). Er 


Amos Comenius. B 


unterſchied zwiſchen der Kirche Roms als einem lebendigen Aſt am 
Baum der Chriſtenheit, und zwiſchen ber römischen Weltmacht als 
einem der Welt verderblichen politiſchen Syſtem. Und war dies 
ſeine Stellung gegenüber der katholiſchen Kirche, wie vielmehr mußte 
ihm der Hader der evangeliſchen Kirchen unter einander ein Greuel 
ſein. Sah er's doch vor Augen und wird nicht müde darauf hin⸗ 
zuweiſen, wie dieſer bittre Streit unter denen, die doc ſelbſt von 
den römischen Gegnern in Anerkenntnis ihres gemeinfamen Glaubens⸗ 
rundes mit dem Einen Namen der Bibliften zufammengefaßt 
würden, lediglich dazu diene, auf den oberften Thron über alle 
Religion eine kalte Politik zu erheben, welche mit den umftrittenen 
Nebendingen auch die lebenzeugenden Grundlehren das Chriſtentums 
für Theologengezänk achte und ſich je Tänger, defto offener zu dem 
atheiſtiſchen Grundſatz befenne, daß nicht Gott, fondern Menſchen⸗ 
fünfte die Welt regieren. Wie fchon der Mann troß ſchwerer 
Amtslaſt fich jenem Neligionsgefprädd von Thorn nicht entzog, 
welches der Friedenskönig Wladislam IV. von Polen zur Schlichtung 
der kirchlichen Streitigkeiten berufen, fo erklingt jett des Greifen 
Stimme überall, wo er zwifchen Bekennern des &vangeliums den 
Srieden gefährdet fieht; in Geftalt von Flugſchriften, Vorreden, 
Briefen ſchickt er feine Friebensboten in ben Convent der zu Breda 
verfammmelten Sefandten, wie an die Hoflager der Könige. Und 
mit den Beften feiner Zeit, einem Calirtus, Duräus u. a., hält er 
die Kojung hoch, welche ſchon in den Anfängen des großen Krieges 
der fromme Lutheraner Melden in das Gemwühl der ftreitenden 
Parteien, wiewol vergeblich, hineingerufen: „Am Nothwendigen 
Einigkeit, im Nichtnothtwendigen Freiheit, in allem Liebe!“ 17) Nur 
einmal erhebt auch feine Stimme fich erregter, als der Soci⸗ 
nianer Zwider im Vertrauen auf die Friedensgefinnung des ange- 
ſehenen Greifes ſich erdreiftet, denfelben öffentlich al8 Begünſtiger 
feines Unternehmens anzurufen, den Frieden zwifchen allen Barteien 
der Ehriftenheit über dem Grabe der chriftlichen Grundwahrheiten 
zu fchließen. Aber auch die Neihenfolge der tapfern Schriften, in 
welchen Amos auf diefe Provocation die Abwehr fir den Glauben 
der Bäter führte 28), war nur ein kurzer Wellenfchlag auf ber 
ruhigen Tiefe des Stromes, der zu münden eilte. Immer fehn- 


“ 


28 Kleinert 


liher wurde das Verlangen des innerlich regen Geiftes nach völ- 
liger äußerer Stille. Und wenn duch jenes ganze Jahrhundert 
ein tiefer Zug des Sehnens aus verrotieten, verworrenen, über⸗ 
fünftlichen Verhältniffen nah der Einfalt der Natur bindurchgeht ; 
ein Zug, der ſich auf dem Gebiet der weltlichen Literatur in dem 
Strom der Robinſonſchriften eine breite Bahn gebroden; jo trägt 
dasſelbe Gepräge, aber in verflärter Geftalt, jenes Werk, in welchem 
der 77jährige Greis die Summe feiner chriftlichen Rebensweisheit 
niedergelegt: da8 Buch vom Einen Nothwendigen, unum necessarium. 
In jener tiefen Einfalt, die allen Bildungsftufen gerecht zu werden 
vermag, weil fie von einer innern Höhe aus alle überfieht und 
ins Wefen der Dinge fchaut, zeigt er den Weg aus den Wirr- 
falen und Labyrinthen der Welt: die Schlichtheit des Sinne und 
Willens, die in Gott beruhend nad der Regel Chrifti überall 
Icheidet zwifchen dem Unnöthigen, welches immerdar das Vielfache 
und DVerwirrende ift, und zwijchen dem Nothwendigen, das immer 
ein Einfaches ift!). Das Büchlein follte fein Xeftament fein. 
dern vom DBaterlande, wie Jakob, ftill und fanft, wie er gelebt, 
entichlief 78 Jahr alt Amos Comenius, der zwanzigfte und letzte 
Biſchof der böhmischen Brüderfirche, und ward am 22. Noveniber 
1670 zu Naarben bei Amjterdam begraben 29). 

Comenius war eine Prophetengeftalt in feiner Zeit. Nicht 
freilich im Hinblid auf jenes einzelne Moment, welches den oft be- 
mäfelten Schatten an biefem lichten Lebensgange bildet. Daß in 
einer Zeit, wo Schwert, Hunger und Peft allenthalben die granfigen 
Gerichtsbilder der Offenbarung Johannis vor Augen jtellten, daß 
in folcher Zeit das furchtbare Geſchick einer ganzen um blutigen 
Staube zertretenen Kirche unter ben Bekennern derfelben Erfchei- 
nungen fchwärmerifcher Begeifterung hervortrieb, die das Heil, das 
die Erde nicht gab, dem Himmel durch ftürmifche Weiffagungen hätten 
entreigen mögen, Tann nicht befremden: es ift eine gemeinſame 
Erſcheinung aller Nothzeiten der Kirche; und unbegreiflich ift auch 
das nicht, daß unfer Comenius, je herzlicher er jelbft aller Feind⸗ 
feligfeit abgeneigt war, um fo leichter dem Glauben ſich zuneigte, 
daß Gott von ſich aus die Mächte der Welt erregen werde, dem 
zu Boden getretenen Evangelium aufzuhelfen. Wenn num freilich 


Amos Comenius. 27 


er durch diefen Glauben ſich beftimmen ließ, dem übermächtigen 
Andringen jener Schwarmgeifter, namentlich des Mähren Drabic, 
nachzugeben, nnd ihre Weiffagungen in Tateinifcher Ueberſetzung der 
Belt mitzutheilen 2?), fo war das keineswegs prophetiich, fondern 
unmeife; obwol e8 am Urtheil über den Geſamtwerth des Mannes 
nichts ändern kann. Gott Hat ihm gnädig erfpart, den trüben 
Ausgang diefer Sache zu erleben. Erit ein Jahr nad feinem 
Tode ward jener Drabic von der Rache des durch feine Weiffagungen 
tödtlich gereizten Hauſes Oeſterreich ereilt und ſamt feinem Weil» 
ſagungsbuch, ohne Schonung feines S3jührigen Alters, zu Peſth 
auf ofjenem Markte verbrannt. 

Eher vielleicht möchte man etwas weifjugendes darin finden, 
wie Comenius von Amfterdam aus, „von den Enden der Erde 
her“ ,„ an die verfireuten Herden das rührende Abjchiedsfchreiben 
des fcheidenden Hirten erläßt, wie er aber gleichzeitig in unent- 
wegter Hoffnung die Bijchofsweihe feinem Schwiegerjohn ertheilt. 
So Hatte Jeremias unter dem Zufammenbrud Judas den Aders 
fauf von Anathoth unterfiegelt, zum Zeichen vor Gott, daß Israel 
doch wieder zu feinen Heiligtümern fommen werde. Und gerne 
fäßt man fid) daran erinnern, daß der zweite Erbe jener Weihe, 
Comenius' Enkel, jener preußiiche Hofprediger Jablonsky gemefen 
ift, der mit fo tiefem Ernft an der Bereinigung der evangelifchen 
Kirchen in Preußen gearbeitet, der der Krönung des erjten 
preußiſchen Königs affiftirt hat; der endlich im Jahre 1737 den 
Grafen Zinzendorf zum Biſchof der Herrnhutifchen Brüdergemeinde 
geweiht Hat, jener Enkelin der böhmifchen Brüderkirche, deren 
Miniaturbild einige der Tiebenswertheften Züge der Ahnin wieder- 
jpiegelt. 

Aber überhaupt nicht um folcher Einzelheiten willen nannte id) 
den Amos eine Prophetengeftalt in feinem Jahrhundert; ſondern 
im Hinblick auf den Gefamteindrud feines Wirkene. Wenn ung 
Nachgeborenen im Bilde der Propheten des Alten ZTeftaments 
naturgemäß die auögeftredte Hand am meiften in die Augen fällt, 
mit der fie auf den Meſſias des Neuen Teſtaments weijen, fo 
tritt doch faft noch mächtiger eine andere Seite ihres Bildes ent» 
gegen, wenn wir im Alten Teſtament Iefend unfere Augen darauf 


28 Kleinert 


rihten, was fie in ihrer Gegenwart, was fie ihrer Zeit ge- 
weſen find. Der unbeftechlihe Diannesmuth, der dem Volk vom 
König bis zum Bettler feine Sünden und das Gericht Gottes 
anzeigt, und die unzerbrechliche Manneshoffnung, die an der Zukunft 
ihre® Volkes nicht verzagen kann noch will; beide geboren aus dem 
Glauben, der in tiefer Finfternis die Hand Gottes ohne Wanfen 
fefthält und daher immerdar durch die Finfternis hindurch das 
Morgenroth fchaut, und aus der heißen Liebe, die nicht ftraft um 
zu erbittern, fondern um zu retten, ja die felber verbannet zu, fein 
wänfchte für das Heil ihres Volkes: das find die Züge, mit denen 
ehernen und doch lebendigen Geiftes voll die Angefichter ber Propheten 
ans den Blättern des Alter Teſtaments und anſchauen. Und 
wenn nun unfer Amos felber fi am liebften al den Mann der 
Sehnfucht bezeichnet; wenn wir dies edle Leben, voll herrlicher 
Gaben Gottes, klaglos fid) hinopfern fehen in der Arbeit für ein 
Baterland, das ihm ausgeftoßen hat, filr eine Kirche, die vor feinen 
Augen untergeht, für eine Zufunft, die er nicht fieht, wenn wir 
wahrnehmen, mie er in den finfterften Scidfalen und im Tode 
feiner Gemeinde nie die Sade der Murrenden wider Gott nimmt: 
Herr, warum zürneft du? — fondern immer die Sache Gottes wider 
das Volk, daß Er gerecht fei in feinen Gerichten und unfträflich 
in feinen Werfen; wenn wir gewahren, wie an diefem umverzagten 
Glanben ſich Taufende aufrichten, die fonft verſchmachtet wären ; 
wie diefe heiße Liebe, die den Kleinſten mit der völligften Hingebung 
zum Dienfte wird, in unermüdlicher Hoffnung eine Saat fät, von 
deren Früchten Völker Leben, ohne den Süemann auch nur zu 
fennen, ja deren Ertrag bis auf diefen Tag noch nicht ganz abge- 
erndtet ift — gewiß, wir fünnen uns dem Eindrud nicht entziehen: 
es ift der tiefere Glanz eines prophetifchen Wirkens, mit dem diefe 
Leidens» und Richtgeitalt über die Todtengefilde des nächtlichen 
Jahrhunderts fchreitet, um Leben zu fäen. 





Amos Eomenins. 2 


Bemerkungen nnd Exenrie 
zum vorfiehenden Auſſatz. 


1. [3u ©. 10.] Daß die böhmifche Brüderkirche viele Glieder auch 
in Mähren hatte, berechtigt, wenigſtens nach ben unmisverflänblichen 
Aenßernugen des Comenius, keineswegs zu der herkömmlichen Gleichſetzung 
ber Ramen „böhmiſche“ und „mähriſche Brüder“; wenigftend nicht 
für die Zeit ber Griftenz der Brüberfirde Comenius unterfcheidet dieſe 
als fratres Bohemi, unitas fratrum, feltener auch (ſynekdochiſch) ecelesia 
Bohemica fehr genau von ben fratres Moravi; fowol burd bie Hervor⸗ 
bebung des Zufammenhanges ber letzteren mit den Mennoniten, während er 
die fratres Bohemi überall mit den Walbenfern in bie nächſte Verbindung 
fest, als auch durch die ausbrüdliche technifche Definition ber fratres 
Moravi mit den beiden Merkmalen, daß fie anabaptistae und commu- 
nionem bonorum professi feier. Cf. Admonitio titerata de iterato So- 
antano irensco (Amstelod. 1661, 12; vgl. u. Aum. 18), p. 36. 468q. — 
Bon ſchleſiſchen Berzweiguugen der Kirche wird bie und ba berichtet. 
Tal. B. die Notiz über die Aufnahme des I. Menzel in Sprottau in 
Eomenins’ Schrift Luc in tenebris (f. u. Anm. 21) II, p. 19. — Eine 
Sammlung von Zeugnifien fir die lebhafte Anerfeunung ber böhmifchen 
Brüder burch Luther, Calvin, Bergerius, Beza, Zandi, Urfinus, Olevianus 
giebt Eomenius in feiner Vindicatio famae et conscientiae a colummiis 
Nie. Arnoldi (Lugd. Bat. 1659, 4), p. 20sqg. 

2. [3u ©. 10.] Das Datum 1611 (nicht wie gewöhnlich angegeben 1612) 
für den Eintritt des Comenius in Herborn giebt ex ſelbſt Lau in tenebris 
I, p. 15. — Ueber feine Ausbildung in den Jahren zwifchen 1602 (Tod 
feines Baters) und 1608 finde ich bei den Biographen nichts; in feinen 
Schriften nur die Notiz (Lux in tenebris IV, p. 8), baß er in ben Jahren 
1604 und 1605 die Volksſchule zu Strasnig befucht bat, wo er auf ein 
halbes Jahr bei einer Vaterſchweſter untergebracht war. Sie wirb alfo eine 
ſehr wechielnde und zerflüdelte gewefen fein. — Was feinen Geburtsort 
anlangt, jo ſchwanken die Biograpben noch immer zwiſchen Niwnitz (Baur 
u. a.) und Ungarifh-Brob (Zoubel u. a). Doch wird man Baur Recht 
geben müflen, daß durch die Eintragung des Comenius als Nivanus in 
ben Heidelberger Matrifeln von 1613 die auf Nimnig lautende Angabe 
Riegers, auf welche fih Palachy beruft, eine entſcheidende Betätigung erhält. 
Wenu fih Comenius coram publico einigemal als Hunnobrodensis bezeichnet, 
ſo erllärt fich dies hinreichend daraus, daß der Beranlaffung gemäß ftatt 
des unbelannten Fleckens die anfehnlichere Bezirksftabt zu nennen war. 
Sicherlich beweift der Umſiand, daß feine Eltern auf dem Kirchhof zu Un- 
garifch-Brob begraben Tagen (Zoubet), nichts für fein Geborenfein an biefem 
Orte. 

3 [Zu ©. 11.] Die nächſte Beſtimmung ber vorſtehenden Skizze für 


30 Kleinert 


einen öffentliden Vortrag bat an dieſer Stelle (mo es darauf ankam bie 
maßgebenben Einflüffe ſummariſch zufammenzufafien, welde in ber Lebens- 
arbeit bes Comenius bervortreten), ben Anachronismus mit fich gebracht, für 
ben ih um Verzeihung bitte, daß fchon Hier Baco von Berulam mit 
genannt iſt, obwol befien einflußreichfte Schriften, auf welche auch Eomenius 
überall reflectirt, dba8 Organon unb das Buch De augmentis scientiarum, 
erſt 1623 und 1626 erfchienen find. Immerhin ift e8 nicht auszufchließen, 
ba bem regen Geifte durch den lebendigen Verlehr zwifchen ben Gelehrten 
ber reformirten Länber auch fchon bie 1605 und 1612 erfchienenen vorläufigen 
Entwürfe dieſer Schriften zugelommen find. — Zmeifelßaft ift mir, ob er 
ſchon jetzt ben Scholaftiler leunen gelernt bat, ber als Borläufer biefer ganzen 
Richtung angefehen werben kann, und ber fpäter gerabezu als fein Lichlings- 
foriftfteller erfcheint: den Raimundbus von Sabunde. Er konnte ihn 
fennen, ba bereit8 Diontaigne die Aufmerkſamlkeit auf ihn gelenkt hatte. Die 
von Comenius veranftaltete caftigirte Ausgabe ber Theologia naturalis des 
Raimundus (Amfterd. 1661, 12) legt bie VBenetinmerausgabe von 1531 
zu Orunde. — Neben den im Text Genaunten ift namentlid Joh. Balentin 
Andbreae von großem Einfluß auf Comenius geweſen; „virum fervidi spiri- 
tus et defaecatae mentis“ nennt Comenius ibn Opp. didd. 1, p. 442; und 
überall auch fonftl, wo er auf ihn zu reden kommt, fplirt man ihm bie &e- 
nugthuung an, fi) mit dieſem reformatorifchen Geiſte in fortwährender Ver⸗ 
bindung und inniger Geiſtesgemeinſchaft zu wiſſen. 

4. [3u ©. 13.] Der im Tert angezogene Bericht Über bie Art, wie 
Comenius zu diefer fchriftftellerifchen Thätigkeit gekommen fei, findet ſich in 
feiner Erpistola ad Montanum. Diefer vom 10. December 1661 batirte, 
für die Kenntnis und Beurtbeilung de8 Schriftftellers Comenius mich- 
tige Brief, den Palacky als ſehr felten und ibm ſelbſt unzugänglich geblieben 
bezeichnet, findet ſich abgebrudt als Anhang zu dem Schriftchen unferes 
Autors: Faber fortunae, s. ars consultandi sibi spsi (Amstelod. 1661, 12), 
p. 7389q. Der diefer Periode der Verfolgung angebörige Kreis von Er- 
baunngsichriften umfaßt namentlich folgende: 1) Das Centrum secwritalis, 
geichrieben 1622, erft fpäter zu Liſſa gedrudt. Die mir vorliegende bentfche 
Ueberfegung, unter dem lateiniſchen Zitel ohne Iahreszahl herausgegeben, 
dem Könige Friedrich Wilden I. und feiner Gemahlin gewibmet, ift nach 
der Unterfchrift diefer Widmung von dem Prediger an der böhmifchen Kirche 
zu Berlin, Mader, angefertigt. 2) Der Tractat Arz inempugnabilis 
nomen Dei. 3) Der Tractat De orbitate. 4) Die Dialogi (tebende 
Berfonen Ratio, Fides, Chriſtus). 5) Der Tractat De tristibus. 6) Die 
Schrift Labyrinthus mundi et palatium cordis, geſchrieben 1623, gebrudt 
zu Liffa 1631; die berühmteſte von allen; ein Penbant zu der [jüngeren] 
Pilgerreife des Iohn Bunyan, und diefem von Macaulay fo hoch erhobenen 
Bude in Tiefe des religiöfen Inhalts kaum nachſtehend, in Anmut und 
ſchriftſtelleriſchem Schwunge bebeutenb überlegen. (Die in Berlin 1787 bei 


Amos Eomenins. 3 


Hordath erfähienene bentiche Ueberfetzung ift feineöwegs, wie man aus Baurs 
Anführung fließen möchte, die einzige bes vielgeleſenen Buches; die hieſige 
Königliche Bibliothek befitst noch zmei, allerdings unvollftänbige, von 1738 und 
1781; eine volfländige und bedeutend ältere fand ich 1868 in den Händen 
eines Schäfer and der Gegend bes ſchleſiſchen Streblen, dem fie leider nicht 
kil war.) — Alle biefe Schriften find von Eomenins urfprünglich in böh- 
miſcher Sprache abgefaßt, nur einzelne lateiniſch; bie meiften aber von ihm 
alsbald ins Lateiniſche und Polnifche überfetst worben. Eine beutfche Ueber⸗ 
fesung von feiner Sand befiken mir nicht. Dieß kann auffallen, da er fonft 
ebenſo gern Deutſchland als Böhmen fein Baterland nennt (‚Germania 
nostra‘“, fagt er dicium duplex [vgl. u. Anm. 16] u. ð.), und in feinen 
didaktiſchen Werten mit sermo vernaculus ebenfo oft die böhmifche wie bie 
dentſche Sprache bezeichnet, und faſt ausfchlieglih mit der letzteren erem- 
plificirt. Das Urtheil über die Elaffteität feiner böhmiſchen Proſa findet 
fh in der ©. 2 citirten Abhandlung des Sachlenners Palady. — Charak⸗ 
teriftifch für den Mann und noch mehr für die Zeit ifl, daß er in all biefen 
acetifchen Schriften, and noch in ben fpäteren und fpäteften, am liebſten 
an das Buch Eoheletb antnüpft; im Neuen Teſtament an die Korinther- 
brief. In feinen didaktiſchen Werten find am bäufigften angezogen Pro⸗ 
verbia und Johannes. — Sehr bebeutfame und großentheil® unverwerthete 
Rahrichten Über die Gelchide des Comenius ziwifchen 1624 und 1627, 
namentlidy über feine in biefe Zeit fallenden Reifen nah Sprottau und 
Bolen, Berlin und Frankfurt a. d. O., finden fi} passim in der II. und 
III. Abteilung ded Buches Lux in tenebris (Anm. 21); intereflantes Ma⸗ 
tertal über die Perjönlichleit Zierotins in Gindely's Gefchichte ber boh⸗ 
milden Brüber von 1450-1609 (Brag 1857f.), Bd. IL, S. 350 ff. 

6. [3u ©. 15—20.] Comenius bat in fpäteren Lebensjahren eine 
Sefammtausgabe feiner didaktiſchen Werte in vier Foliobänden ver- 
anftaltet und der Stabt Amfterbam gewibmet: J. A. Comenii opera di- 
dactica onmia (Amstelod. 1657). (Doch enthält diefelbe einiges nicht, was 
man darin fuchen follte, 3. B. den Orbis pietus und bie Elementarbücher für 
die Boltsſchule; andererfeit8 bagegen einige der panfophifchen Schriften. [Bal. 
n. Anm. 8.) Beim Gebrauch der Ausgabe iſt zu bemerken, daß in Bd. III 
die Seiten 451 — 592 doppelt vorlommen.) Die grundlegenden Schriften, 
welche der Zeit von 1627—1642, dem erften Aufenthalt zu Liffa, angehören, 
und nırter denen die Didactica magna ben oberfien Rang einnimmt, find 
im erfien Bande vereinigt. Eine gefchidtte Ueberfekung dieſes Hauptwerkes, 
ſowie ber „Mutterfchule“ und einiger anderer Stüde ift von Beeger, Leut⸗ 
beider und Zonbel veranftaltet und in ber Pädagogifchen Bibliothek von 
8. Richter, Bd. IT und XI berausgegeben worden. — Unter feinen 
pldagogifhen Borftubien und deren Beranlaffung, namentlich in ben 
Zeiten der böhmiſchen Berfolgung, giebt Comenins felbft Opp. didd. I, 3ega. 
Austunfl. Dort wie an anderen Stellen (vgl. 3. B. Opp. didd. I, 442) 


32 Kleinert 


zeigt die große Reihe von Namen ber Autoren, mit benen er fich befchäftigt ben 
Eifer der Zeit auf päbagogiichen Gebiet. Beſonderes Interefie erregt unter 
benfelben der Gießener Helvicus, deſſen Selbfibericht über feine didaltiſchen 
Reformverfuche man in Theoph. Spizels Templum honoris reseratum (Aug. Vind. 
1673 p.) 50 nadjlefen kann. Vgl. auh B. Schupp, Schriften, Anh. S. 121. 
Die Vorrede zu Eomenius’ Janua linguarum reserata (Opp. didd. I, 252) 
zeigt, daß für die eigentiimliche Anlage dieſes Buches zu den in ber Didaktik 
genannten Einflüffen auch der der Lehrmittel ber fpanifchen Jeſuiten (des iriſchen 
Collegiums zu Salamanca) Hinzugetreten ift. Es zeichnet den Comenius als 
Reformator der Pädagogik vor allen feinen Vorgängern und namentlich feinen 
Nachfolgern die reiche Kenutnis und gründliche Durdarbeitung alles bereits 
Geleifteten und die bewußte Anerlennung desſelben aus. Ihm felbft ift die 
gleiche Gerechtigkeit erſt feit einigen Iahrzehnten zu Theil geworben. — Bon 
Wichtigkeit ift e8, bie innere, pfychologifch= pragmatifhe Beranlaffung 
feft in's Auge zu faflen, welche Comenius jelbft a. a. DO. und wiederholt für 
die fehriftftellerifche Berwirflihung feiner bidaktifchen Intentionen darlegt und 
welche demgemäß im Xerte vorgetragen if. Dan verfehlt das Berfländnis 
des Mannes, wenn man fein Wert als das eines Reformers aus eigener 
Willkür auffaßt, der ſich etwa die Aufgabe geftellt, „vie unvollendet gebliebene 
Reformation zu vollenden” (Beeger im IU. Bd. der Päd. Bibl. S. ıvıı 
der Borrebe), sc. biefelbe, fofern fie eine religidfe war, in ihre Negation zu 
verwanbeln. „Ego“ — fagt Comenius Opp. didd. IV, p. 28 — „quae pro 
juventute scripsi, non ut paedagogus scripsi sed ut theologus, hoc pro 
scopo habens, ut gregis Christi agnelli juventus christiana externae 
literaturae beneficio ad majora et solidiora promoveretur.“ Rod im Jahre 
1650 notirt er fih: „Erbarmet ſich einmal Gott und eröffnet wieder bie Pforte 
zum Baterlande und die Freiheit zur Gründung von Schulen, fo ift in ber 
Widmung ber Didaktik auch diefes geltend zu machen: al8 man früher ſchlechte 
Schulen Batte, half man fih mit Wanderungen, in der Hoffnung durch diefe 
einen Erfat zu finden. Nun ſchwand aber auch diefer Troſt nach der gänz- 
lihen Berarmung aller. Daher ift unter dem Himmel der befte Rath: man 
errichte ji) zu Haufe tüchtige Schulen zu glüdlicher Ausbildung der Jugend.” 
Es ift das Kennzeichen aller wirklichen umd erfolgreichen Heformatoren, daß 
fie nicht proprio impetu, fondern durch etbifche Erfaſſung der Leitung ihrer 
perfönlichen und der Gejcdhide ihres Volles, durch Berufstreue fi auch zu 
ihren größten Werten leiten laſſen. (gl. au den Schluß von Anın. 8.) 
Der Begriff einer „unvollenbeten Reformation” ift dem Comenius allerdings 
nicht fremd. Aber wie er ihn in ben didaktiſchen Schriften nirgend gebraucht, 
fo verbindet er eine weit andere Borftellung mit biefem Gebanten, als etwa 
das moderne Ideal der Bildung ohne pofitive Religion. linvollendet könne, 
meint er, feiten® der Katholiten bie Reformation mit Grund namentlich des⸗ 
wegen genannt werden, weil in ben großen evangeliſchen Kircheukörpern, 
namentlich ben beutjchen, es mit der chriftlichen Sittenzucht noch immer ſehr 


Amos Comenius. 35 


nangeſhaft beſtellt ſei. Judicium duplex, p. 51. 589.: — Man möchte 
augeficht8 ber Betriebſamleit bes Comenius in Anfertigung von Lehrbüchern 
für jebe einzelne Abftufung des Unterrichtes zu bem Borwurf geneigt fein, 
daß fein didaltiſcher Blan zu wenig fir bie freie perfänliche Bethätigung bes 
tehrer$ übrig laſſe Doch wirb diefer Vorwurf zu befchränten fein, wenn 
man erwägt, daß dem Comenius Har fein mußte, wie bei Berwirffichung 
feiner Pläne er das Lehrermaterial werbe nehmen müſſen, wo ex es finde: 
uud daß auch umter unendlich günfligeren Berbältniffen nicht immer bie 
freie Probuctivität der Lehrer der Art ift, daß fie die Selbſtzucht durch das 
Lehrbuch eines durchgebildeten Geiſtes als etwas entbehrliches erlennen ließe. 
Schwerer wiegt der Vorwurf, den auch Comenius ſpäter ſich ſelbſt gemacht: 
daß er das Princip der Voranſtellung der Mutterſprache nicht noch energiſcher 
durchgeführt. Im der That liegt bier, in ber Vermiſchung des erſten An- 
ſchanungsunterrichtes mit ben lateiniſchem Sprachunterricht die Wurzel für 
die barbaries sermonis Latini, welde an feinen Schulbüchern mit Recht 
getabelt worben if. — Die corollariihe Berweifung auf Joh. 5, 20 findet 
fh am Schluß der Opp. didd. IV, 121. — lieber bie äußeren Berbältniffe 
uud den Wirkungstreis des Comenius zu Liſſa findet ſich eine gute Dar- 
Rellung mit trefflichem Onellenmaterial bei X. Ziegler, Beiträge zur älter 
Geſchichte des Liſſaer Gymnaſiums, in dem 300 jährigen Jubelprogramm 
des letzteren 1855, ©. Iff. 

6. [3u ©. 15.) Zur Erörterung dieſer Begriffe hat dem Comenius 
zamentlich feine nachherige Wirkſamkeit in Saros⸗Patak, die in mehrfacher 
Beziehung eine Aulturmiffion war, Beranlafiung gegeben. Die Haupt- 
erzengniſſe berfelben bilben ven Inhalt des 3. Bandes der Opp. didd. Zu 
eultura vgl namentlih die Erörterung der Fragen: quid sit cultura 
ingenü, quid sit homo cultus, quid sit populum esse cultum, quid 
eulti ab incultis differant? in ber 1650 gehaltenen Rebe De cultura in- 
geniorum in Opp. didd. III, 74sgq.; vgl. auch p. 3sq. unb ſchon I, 406: 
„lterarum studia animorum culturam esse debere ad sapientiam, extra 
quem scopum non nisi vana vanitas esse queat‘“. Zur humanitas 
rechnet er an den Stellen, wo er fie mit der justitia nnb benignitas auf 
die Brineipien des focialen Lebens (laedere neminem, tribuere suum cuique, 
prodesse insuper cuicui datur) bezieht, fieben Stiüde: modestia, affabilitas, 
candor, veracitas, urbanitas, concordia, mansuetudo. Opp. didd. III, 547. 
Ueber bie Herleitung ans bem Grundſatz von ber imago Dei im Menfchen 
tgl Opp. didd. I, 262qq. n. 3. — Das Hervortreten vieler Stichworte ber 
neneren Geiftegentwidelung des Eomenins fällt bei ihm mehr als bei andern 
Schriftftellern dieſe Wendezeit namentlich deßwegen in bie Augen, weil fein 
jententidfer und prunkloſer Stil bas einmal für den Begriff gebrauchte Wort 
fo leicht nicht wieder losläßt, und im Interefie pädagogiſcher Klarheit nor 
vielfacher Selbfiwieberholung nicht die mindeſte Scheu bat. Der Terminus 
tolerantia mit dem durchaus modernen Begrifi findet Au Judicrum 


Ipesl. Stud. Vahro. 1878. 








3 Kleinert 


duplex, p. 145; unb fiir Theologen wirb auch bie® von Intereſſe fein, daß 
bie Grundweſenheit der Religion von Comenius am liebſten als depen- 
dentia bezeichnet wirb (vgl. 3. B. Unum necessarium, p. 172); aud daß 
fchon er ein Buch De perfectione christiana geſchrieben hat, vgl. über das⸗ 
ſelbe Ep. ad Montan., p. 76. Er befinirt aber bie chriftliche Volllommen⸗ 
beit fo, baß fie tota consistat in facienda et patienda omni Dei voluntate. 
Wie Überhaupt die Brundbprincipien feiner Imbioibualethit viel weniger von 
den Principien ber beutichen Reformation beftimmt find, als vielmehr ein 
Mittelglied zwiſchen der Myſtik des Thomas a Kempis und dem Duielisums 
bilden. Sein Lieblingsjchriftfieller ift Senela. 

7. Bu ©. 17.] „Philologiea cam realibus studia tractanti tot 
annos mihi observare dedit Deus, homines vulgo non loqui, sed garrire: 
hoc est non res et rerum sensum exprimere, sed verba non intellecta aut 
parum vel prave intellecta inter se permutare. Idque non plebem tantum, 
sed et semsliteratorum vulgus: et quod magis dolendum, ipsos bene 
literatos multa ex parte propter infinitas in verbis quidem homonymias, 
in rebus autem (quod ad interiorem atque essentialem earum constitutionem) 
ignorantiam vel perpetuam.“ Ep. ad Montan., p. 97 gg. 

83 [Zu © W.] Zu den Arbeiten des Amos zur Banfophie if 
eine doppelte Bhafe zu unterſcheiden: bie erfte bie floffliche, en eyklopädiſche, 
bei welcher es ihm mehr auf Organifation bes Wiſſensſtoffes als ſolchen 
aubommt; bie zweite bie ethische, bei der e8 ibm auf bie durch die Wiſſen⸗ 
Ichaftslchre zu erreichende fociale Harmonie ankommt („scripts s. consul- 
tatio catholica de rerum humanarım emendstione‘“). Als Scheibejahr 
zwiichen beiden Phafen wirb 1645 angefeben werben können, wo er brieflich 
berichtet, dieſe letztere Art von Schriftfiellerei in Angriff genommen zu Haben. 
Zu der erfien Serie gehören der zuerft in Euglaud gebrudte Prodromus 
pansophiae (Opp. didd. I, 404sqq.) und bie Diluadatio conatuum pan- 
sophicorum (ibid. I, Abbsqq.), fowie die Schriften Via lucis (gedruckt erſt 
zu Amfterbam 1668) und Pansophiae diatyposis (Dantisc. 1648), üßer 
weile er in der Einleitung zum 2. Bande ber Opp. didd. Bericht erflattet. 
Zur zweiten Serie gehört die Panegersia und Panaugia, beide erft 1666 
zu Amſterdam gebvudt, während bie weiteren Pampaedia, Panglottis, 
Panorthosia wugebrudt geblieben find. (Bon ber Panegersia finbet fi eine 
gute Ueberſetzung in 8. Richters Päbagogifiher Bibliothet XI, ©. 308 ff.) 
In der Slkizze des Tertes babe ich beibe Phaſen zuſammengefaßt, wie fie 
denn thatfüchlich im Berhältuis zu der Entfaltung bes Comenins als 
literariſcher Berföntichleit eine untreunbare Einheit bilden. Bol. mit ber 
Dorlegung über bie Geueſis diefer panſophiſchen Beſtrebungen, welche er be- 
reiss in die erfien Zwanzigeriabre des Jahrhunderts zurlidverlegt, Opp. didd. 
I, 442 den abſchließenden Rüdblid im Unum necessarıum, p. 817: „Quae 
Christianorum adversus invicem obstinatio irritumque hactenus variorum 
eos reeonciliandi studium cogitare me fecit: facilius curari posse totum 


Amos Comenins. 85 


qaam partem; coepique extendere desideria ad totum humanum genus 
reconeiliandum mediague et modos quibus id fieri possit circumspec- 
tandum ‘“; und zwar fei, wie er binzufügt, von biefer Intention ſchon ber 
Prodromus getragen geweſen. Cine Mittelpbafe zwiſchen jenen beiben bildet 
ſachlich die Verbindung ber panſophiſchen Geſichtspunkte mit den bibaktifchen, 
wie fie in den Schulſchriften von Saros-Batal (Opp. didd. III) Kerbor- 
tritt. — Schon oben ift (S. 10) darauf Bingewiefen, wie bie encytlopä- 
bifche Geifteßrihtumg des Comenius im gewiſſer Beziehung einen Gegenſatz 
zu ber gegenwärtig vorwiegenden Auffaffung ber wiflenfchaftlichen Aufgabe 
darfiellt. Auch in anderen Beziehungen zeigt fich diefer Gegenſatz. Erſtlich 
in dem Comenius der Gedanke eines Wiſſens um bes Wiflens willen ein 
fernfiegender. Der Begriff. der scientia tritt ihm durchweg zuräd hinter 
den ber sapientia. Woburd er fralih auch, unb mit Bewußtfein, vor 
mander Ginfeitigleit bewahrt geblieben if. Dem Zwicker (ſ. oben S. 25), 
welcher im Berlauf bes Streiteß es für gut befunden, gegenüber bem greifen 
Braktiens die Miene wiſſenſchaftlicher Bornehmbeit anzunehmen, ſchreibt er 
lterata admonitio, p. 206): („Quomodo alios tus seripta afficiant nescio; 
mihi tua legenti non potest non toties illud Senecae oceurrere: ‚quo- 
rundam scripts clarım habent tantum nomen aut argumentum, cetera 
eısanguis sunt: instituunt, disputant, cavillantur; non tamen faciunt 
auimum, quia non habent. Cum legeris Sextium dioes: vivit, viget, 
liber est, supra hominem est, dimittit me plenum fiduciae.‘ De te autem 
verissime illud Senecae diei potest: ‚Graecorum morbus fuit, circa 
misutias sapere.‘ Quicquid enim tam vasto conatu agis, Zwickere, ex 
omni antiquitate scrupulos colligendo, revera nil nisi minutiae sunt, 
æruta, titivillitia; ut totum tuum librum ex rei veritate et absque 
omni convicio forum serutarium appellare liceat.“ Zweitens fehlt ihm 
die Gabe der hiſtoriſchen Kritil. Nicht bloß in feinen eigentlich kirchen⸗ 
hiſtoriſchen Schriften (aufgezählt in ber Ep. ad Mont. p. 92) fonbern auch 
ſeuft läßt ihn bie Sophroſyne, bie alle feine bibaktifchen Sachen auszeichnet, 
namentlich da im Stih, wo er feinen Liehlingsgebanten, ben durch bie alt» 
ſioveniſchen Milfionäre und Waldenjer vermittelten birecten Zufammenbang 
ber bohmiſchen Brüberliche wit den Apofteln berührt. Beide Momente 
wirken zufanmmen, zu exflären, baß eigentliche Kortfchritte des eracten Wiſſens 
auf Comenins nicht zurädzuführen find. Wie er nicht übel Luft zeigt, das 
copernicanifche Weltſyſtem nicht wegen entgegengefeiter Beobachtungen ober 
bibliſcher Ausfagen, ſondern aus PBrincipien der Panfopbie zu den Acten zu 
legen (Opp. didd. 1, 416), fo bleiben feine Schriften zur Phyſik und Aftro- 
nomie (Ep. ad Mont., p. 91) befler in der Bergefienheit, ber fie verfallen 
ſind. Mit um fo größerem Nachdruck iſt er dem zugewandt, mas ihm bie 
Sanytfache ift, der iwifienfchaftlichen Organifation. So hoch er den Baco 
Reit, fo laun er dad Syſtem desſelben, das für Metaphyſik und Ethil feinen 
Raum Habe, hoch nur für ein keineswegs befriebigenbes Theilſtück der Pau⸗ 
5 * 


86 Kleinert 


ſophie Halten (vgl. 3. 8. Opp. didd. I, 432); und als ber von ihm hoch⸗ 
gehaltene Ritſchel ihm bie Metaphyſik, welche ben Grundpfeiler bilden fol, 
nieht zu Dank barftellen kann, vertieft er fich felbft mit größten Ernft in 
biefe Studien, und fchreibt 1649 ſelbſt einen leider verlorengegangenen Abriß 
der Metapbufll. (Bol. Sinbely in der meift auf handſchriftlichen Quellen 
berubenden Abhandlung über des J. 9. Comenius Lehen und Wirkſamleit 
in der Fremde, melde in den Situngsberichten der Wiener Alabemie der 
Wiſſenſchaften, philofophifch-hiftor. Klaffe, von 1855 abgebrudt ift, &.505.) — 
Das theoretiihe Ideal der Panfjopbie entfteht dem Eomenius wie das ber 
Didaktik aus dem Fundamentalfag vom Ebenbild Gottes im Menſchen. 
Deun gemäß dem Weſen Gottes muß bie Herausbilbung dieſes Ebenhildes 
es auch auf Alliviffenbeit nah dem Maß der Gaben anlegen. Opp. didd. 
1, 4065q. Ausgangspnintt ift die Metapbufil, in welcher die Adern ber 
Dinge liegen, beberrfchenber Zielpuntt die Harmonie der Dinge, Princip der 
gensus communis; überall fei in breitheiliger Glieberung als bem in Gottes 
Wert überall zu Grunde liegenden Schema vorzugehen. Opp. didd. I, 446. 
435. Die formelle Gruppirung des Ganzen ſcheide eine Wiflenfchaft bes 
Seienden (Pansophia im engeren Sinne), des Gefchehenen (Panhistoria) und 
ber von der Menſchheit aufgeftellten, miberlegten ober beflätigten Meinungen 
(Pandogmatica). Bgl. den Brief des Comenins au 2. be Geer bei Gindely 
a. a. D., ©. 489. Dem fhließe ſich daun ber Ueberblid der menfchlichen 
Künfte an, das triertium catholicum. Ep. ad Mont., p. 92. — Die große 
etbifche Abſicht tritt namentlih in der Panegerfie in ihrer veifften 
Klarheit hervor, aus welcher auch der ſchöne Schluffat der Skizze im Tert 
entnommen if. (Diefer Schrift vornehmlich gilt das Lob Herders au bem 
©. 2 angeführten Orte; und es if befannt, daß biefelbe von Kraufe [Die 
drei älteftlen Urkunden als Yreimaurerbrübderfchaft 1820] und nad ihm von 
andern auch mit ber Gedichte der Berfolgung humaner Principien durch 
diefen Orden in Berbinbung geſetzt worden if.) Die menfchlichen- Dinge, 
um deren emendatio catholica es ſich handle, feien biejenigen, weldye zur 
fpecififhen Erhabenheit der menfchlichen Natur gehören, woburd wir über 
ben Tbieren fliehen und Gott ähnlich find: Philoſophie, Neligion, Staats- 
tunft. Nicht untbätiges Zuwarten werde ihrem Siechthum abbelfen, fondern 
ein rüftiger Wille, der fidh nach den brei Srunbprineipien ber Einheit, Ein- 
fachheit und Freiwilligkeit regulire. Zu folcher Berathung feien alle Philo⸗ 
fopben, Theologen und Staatsmänner aller Nationen zufammenzulaben. Den 
fanguinifhen Optimismus, der diefen Plänen des Comenius zu Grunde lag, 
der dem Manne keine Unehre macht und das Berdienſt feiner Schriften nicht 
ihmälert, charakterifirt fignificant feine ins Wert gefebte, aber unvollenbet 
gebliebene Abficht, die Bibel ins Türkiſche Überfegen zu laſſen und mit einer 
panfophifchen Präfation dem Sultan zu überfenden. Bgl. au Judiesum 
duplex, p. 527. Bon bier ans aber ergiebt fi auch bie einfache Wider⸗ 
legung ber oft aufgeſtellten Behauptung, daß Comenius je länger deſto mehr 


Amos Comenius. 87 


die Idee ber Humanität in Loslöfung vom chriftlihen Boden gefaßt und be- 
Rinmt babe. (So 3. B. Berger, Päbag. Bibl. XI, S. m.) Aus ben 
Schriften des Comenius läßt fi diefe Behauptung nicht begründen, am 
allerwenigften aus bem Hinweis auf 8 58 des Prodromus; wohl aber durch 
den Hinweis auf die großen Ausführungen itber den panfopbifchen Tempelbau 
im ber Dilucidatio Opp. didd. II, 463 qq. mit leichter Mübe befeitigen. Die 
Beitrebungen, den Comenius im inneren Zwiefpalt mit feinem kirchlichen 
Beruf uud der Stellungnahme feiner religisfen Schriften anfzufaflen, ruhen 
auf einer fchiefen Betrachtung des Mannes und einer verkümmerten Auf- 
faffung bes Chriſtenthums. Die fittliy-religidfe Idee, die Comenius überall 
verficht, ift keine andere, als ber chriftliche Begriff des Reiches Gottes. 

9. [Zu S. 20.] Die Verbindung des 4. Comenius mit England 
wurbe namentlich durch einen ausgewanberten Breußen Sam. Hartlieb, ben 
Freund Miltons, unterhalten. Das Mißbehagen bed Comenius über die inbe- 
pendeutiftifchen Bewegungen in England machte ſich ſpäter in zwei Schriften 
enft: De independentia confusionum ortigine, Lem. 1650 und Paraenesis 
ecelesiae Bohemicae ruinas passae ad Anglicanum ruinas praevenire 
quaerentem de bono unitatis et ordinis disciplinaeque atque obedientiae, 
Amst. 1660. Wie wenig Übrigens, troß feines kurzen Aufenthaltes in Eng- 
land, feine Einwirkungen dort ſpurlos vorübergegangen find, davon zeugt 
fowol Die dem Hartlieb gewidmete Schrift Miltons of education 1644, als 
auch noch fpäter Locke’s Thoughts on education, Lond. 1693. 

10. [3u ©. 21.] Die von 1643 — 1650 für Schweden verfaßten 
didaktiſchen Schriften find im 2. Bande der Opp. didd. vereinigt. Port 
aud im Vorbericht feine Erzählung von der Unterrebung mit Oxenſtjerna. 
And verdient das begeifterte Urtheil des fchwäbifchen Theologen Weinheimer 
über dieſen Schrifteneyelus nachgelefen zu werben, welches Opp. didd. IV, 
p. 7 abgedrudt ift: .... [Comenius] vir, .de quo dubito an ex ipse tota 
didactica, vel ipse totus ex didactica sit confectus... . lieber Lud. de Geer 
vergleiche man namentlich das dem SHeimgegangenen von Comenius ge⸗ 
weibte Encomium Opp. didd. III, p. 1051 gg. 

11. [3u ©. 21.] „Quantum ad me, non optem vivere in ecclesia 
ubi sine disciplina vivitur“, ſchreibt er noch 1659 in ber Vindicatio 
famae ei conscientiae, p. 56, in dem er zugleidh, der Bifchof, das evan⸗ 
gelifche Princip der Disciplin als einer alle umfaflenden Eompetenz ber Ge⸗ 
meinjchaft mit großer Klarheit barfiellt: „Neo enim ordinis veri aliter sibi 
constat ratio, quam ut qui attendit omnibus, illi rursum attendant 
omnes, et cujus disciplinae subjacent singuli, ille se rursum disciplinae 
subjieiat omnium.“ In häufiger Wiederkehr erfcheint, ver Gebante bei ihm, 
daß die Misgefchide feiner Kirche göttliche Züchtigungen für den Verfall der 
Dikeiplin feien, vgl. 3. B. die oben angeführte Schrift, p. 26sqg. ES war 
ans beimfelben Gedauken hervorgegangen, baß er von ber Historia de origine 
et moribus fratrum Bohenorum de3 Joh. Lafltius zu Liſſa 1649 eine neue 


38 Kleinert 


Ausgabe cum praemissa de prolapsu disciplinae dissertatione et subjuncta 
ad redeundum in viam exhortatione veranftaltet. (Ibid., p. 29. 12.) — 
Im übrigen vergleihe man betrefis ber Bedeutung des Comenius für bie 
Geſchichte ver Kirhenverfaffung namentlich in Bezug auf Das Weſensver⸗ 
hältnis desfelben zur Disciplin, welche nur im Zuſammenhang mit der Ver— 
faffungsgefchichte der Brüderkirche überhaupt erfchöpfenb gewürdigt werben 
kann und eine befonbere Monographie erfordern möchte, vorläufig ®. 8. 
Lechler, Gefchichte der Presbyterial- und Synobalverfaffung felt ver Refor⸗ 
mation, Leiden 1854, ©. 2321. 146. 289. 

12. [Zu S. 22.] Ueber biefen Zweig der Xhätigteit des Comeniuß 
findet ſich das werthvollſte Ouellenmaterial in Gindely’8 Anm. 8 angeführter 
Abhandlung. Bgl. namentlih S. 495 ff. 530 ff. nnd die Ratio collectarum, 
p. 53780q. Eine interefjante Illuſtration zu der Art feiner feelforgerifchen 
Behandlung der jungen Leute bietet der ebendaſelbſt &. 548 f. abgedruckte 
Brief an den P. Securius von Staliß. 

18. [Zn ©. 22.] Bol. 3. B. Unum necessarium, p. 163: „Ex hac 
umbras rebus praeferendi pessima consuetudine nata est alia humanam 
societatem premens et perimens pestis divina jura pro arbitrio infringendi 
dummodo statum queın sibi quis proposuerit consolidandi spes sit. Vocant 
rationem status intelliguntque licentiam quidvis agendi quod propriis 
commodis serviat nullis in contrarium obstantibus pactis aut promissis ... 
non jus regnabit, sed vis aut dolus.“ Daß die Beobachtung der Politik der 
Generalftaaten aus unmittelbarer Nähe in diefer Anfchauung des Comenius 
vom fittlichen Werth ber Staatsraifon nichts hatte ändern. tönen, begreift 
ſich leicht, wenn man etwa 3. B. Treitfchle'8 Erörterungen über jene 
Bolitit (im 2. Bande der Hiftorifhen und politifchen Auffäge, 4. Aufl. 1871; 
vgl. namentlih S. 528. 463) nachlieſt. — Die im Tert angezogenen Briefe 
de® Eomenius an Oreuftjerna find abgebrudt bei Gindely in ber mehrfach 
angeführten Abhandlung S. 541ff. — Zu den Zahlenangaben lber-die Be⸗ 
völlerung Böhmens bein Beginn und am Schluß bes breißigjährigen Krieges 
vgl. Häuffers Geſchichte des Zeitalter® der Reformation, herausgegeben von 
Onden 1868, S. 304. 

14. [Bu ©. 22.] Das „Teftament der Herbenden Mutter” 
— „vernacule scriptum et typis descriptum anno 1650, post exclusos a reli- 
giosa paoe in aeternum Bohemos‘‘, Lux in tenebris, p. 238 — ift beutfch 
in einer guten Weberfegung in Leipzig 1866 mit einem kurzen Lebensabrif; 
des Comenius herausgegeben. Unter den an bie Brüder feldft gerichteten 
Willensbeftimmungen tritt bie Weifung hervor, fi den beflehenden evan⸗ 
gelifchen Kirchliche Gerneinfchaften mit milligem Dienft anzufchließen „und 
das Beſte der Stadt zu ſuchen“. So bilden bie Ueberrefte der böhntifchen 
Kirche in Poſen, die fogenannten Unitätsgemeinden einen, Theil ber preußifchen 
Lanbestirhe. Jacobſon, Preußifches Kirchenrecht, S. 313. — Bemerkens⸗ 
werth find aber auch bie prophetifchen Baränefen, die Comenius ber Ster- 


Amos Comenius. 80 


benden gegenüber ihren enangelifchen Schwefterixchen in ben Mund legt: an 
die bentiche, daß fie in Gefahr fiehe, am Mangel chriftlicher Zucht zu Grunde 
n geben; an bie beivetifche, daß fie iu Gefahr fei, iiber dem Schein bie Ein- 
falt, unb in der Freude an den Schalen der Berfaflung den Kern zu ver- 
teren, uud durch Geburt unzähliger Spaltungen fich felb zu vernichten. 
Unſchwer erfennt man namentlich an ber Art, wie ber Borbalt an die luthe⸗ 
rifge Kirche Dentichlands ausgeführt wird, ben Vorläufer ber pietiftifchen 
Bewegung, die in fo vielfacher Beziehung (auch im bidaktifcher) an Comenius 
direct angefchloffen bat. Eben dahin flellt ihn auch ber Umſtand, baß bei 
ihm, einem ber erften innerhalb ber ewangelifchen Kirche, die Erkenntnis be- 
geguet, wie Die Miffjiou eine wefentliche Lebensäußerung ber lebendigen 
Kirdge ſei. Judicium duplex, p. 199. 

35. [Zu ©. 24] ,„Dudum afflictorum portus hbabita Hollandia 
urbiumque ocelle Amsterdamum!“ Opp. didd. IH, in der ®idmung vor 
p. 831. — Es wäre eine nicht undankbare Aufgabe, bie myſtiſche Seite 
an der damaligen Geſammtphyſiognomie des geiftigen Lebens der mächtigen 
Reopublit herauszuheben und in einem Gefammtbilde zur Darfielung zu 
bringen, wie fie namentlich durch biefe Flüchtlinge, wenn auch nicht aus⸗ 
ſchließlich durch fie, conftitnirt if. Um nur die Belannteften zu nennen, fo 
zigen Namen wie Comenius und Lobenftein, Labbabie und Felgenhauer, bie 
CS härmanu und die Bouriguon, Kuhlmann, Gichtel, Spinoza eine fo manig« 
faltige Ausgeflaltung der Myftit durch alle Schattirungen hindurch von ber 
einfach prattifchen, Firchlich-ascetifchen bis zur quietifiifchen und erotiſchen und 
wiederum biß zur tbeofophifchen und pantheiftifchen, wie fie felten auf einem 
zeitlich und räumlich jo eng bemeſſenen Gebiete wieberbegegnet. — Wunder 
tann e8 nehmen, daß Comenius feine nächfte Zuflucht nicht bei bem großen 
Ehurfärften, dem Bertreter der Evangelifchen, fuchte und fand, durch befien 
Laube ihn doch fein Weg führte. Um fo mehr, al8 nicht unbelannt if, wie 
der große Churfürſt in fpäterer Zeit ben Meflen der Böhmen in Polen fich 
ſehr freundlich und Hillfreich bewiefen und namhafte Beneficien für fie beim 
Joachimsthal'ſchen Gymnaſium in Berlin unb bei der theologiſchen Facultät 
zu Frankfurt a. d. O. geftiftet hat. Bol. Ziegler a. a. O. ©. xxxvu. 
Mau könnte zu vermuthen geneigt fein, daß die anfängliche Begeifterung bes 
Comenius für Karl X. Sufav von Schweden den Ehurfürflen verftimmt 
habe, deſſen nüchterner Sinu von dem nordiſchen Abenteurer ſich bald genug 
abwandte Dies würde für da® Jahr 1657 eine zuläßige Annahme fein; 
der in dieſem Jahr gefchriebene Brief des großen Churfürſten an Richard 
Cromwell, welcher in ben Epistolae praestantium et eruditorum virorum 
ed. II (Amst. 1684, p. 897) abgebrudt ift, brüdt feine Enträflung über 
die rüdfihtslofe und nur dem erflen Prätert nach ewangelifche Politik 
des Schweden fehr unverholen aus. Aber fürs Jahr 1656 und gerade 
für die Fluchtmonate des Comenius begünftigen bie Zeitverhältnifie jene 
Annahme nicht. Ich gebe bie Hoffnung nit auf, daß die Archive noch 





4 Kleinert 


Thatſachen zur Erklärung biefes auffallenden Phänomens ans Licht geben 
werben. 

16. [3u ©. 24.] Die polemifhe Schrift des Comenius gegen Rom 
bat den Titel: Judieium duplex de regula fidei, qualiter a Valeriano 
Magno constructa fuit, et qualiter ex intentione Dei et ecclesiae usu 
construenda venit; Amflerdam 1658, 12. Sie befleht, wie ihr Name anzeigt, 
aus zwei kleinern Schriften, welche bereitö in ben Jahren 1644 und 1645 
von ihm abgefaßt und unter dem Pſeudonym Ulrich Neufeld ebirt waren ; 
bie erſte (Jud. dupl., p. 7i—351) unter dem Titel Absurditatum echo, die 
zweite (p. 353—546) unter dem Titel Judicium de fidei catholicae regula 
catholica ejusque catholico usu. Beranlafjung zur Abfafjung berfelben 
gab dem Comenius der Kapuziner Balerianus Magni, ein kenntnisreicher 
und nicht ungefchidter Apologet der tribentinifchen Lehre, welcher beim welt⸗ 
lihen Belehrungseifer der Ferbinande mit einer Doppelichrift affiftirte, deren 
erfter Theil in ſechs Büchern bie proteftantiiche Glaubensregel durch deductio 
ad absurdum zu widerlegen unternabn, während ber zweite in acht Büchern 
die tatbolifche wider allen Zweifel klar⸗ und feſiſtellen follte. Daran anſchließend 
gebt die erſte Schrift des Comenius darauf aus, die abjurden Confequenzen, 
welche Balerianus Magui den PBroteftanten zufchob, als entweder nicht con⸗ 
fequent, oder nicht abſurd aufzuzeigen und die Abfurbitäten in ben Aufftel- 
ungen des Geguers nachzumeifen, bie zweite aber darauf, die proteftantifche 
Slaubensregel in ihrem Gegenfat gegen die katholiſche Har und unanfechtbar 
binzuftelen. Während viefe zweite durch ben weitfchichtigen fcholaftifchen 
Apparat von Diftinctionen, Axiomatis und Porismatis einigermaßen ermilbet, 
ift die erfte, daS absurditatumn echo, durch bie fhöne Bereinigung erasınifcher 
Grazie und evangelifher Mannhaftigkeit eine überaus anziebende Lectüre. 
Geht dies, wie das im Tert gegebene Urtbeil, zunächſt die Form der Schrift 
an, fo ift doch aud ber ſachliche Inhalt von ber Art, daß die gänzliche Nicht- 
beachtung biefer comeniſchen Polemik bei den Hiftorifern der Theologie nicht 
gerechtiertigt erjcheint. Es genüge, einige Hauptpuutte hervorzuheben. In=- 
dem Balerianus Magni fein Abfehn auf alle Alatholilen, bie noch Kirche 
wollen, richtet und fie unter dem Namen Bibliften zufammenfaßt, ift es 
ausſchließlich das formale Princip der Reformation, auf defien Belämpfung 
er fein Abſehen richtet. Und zwar fei, betreffend die dogmatifche Dignität 
der heiligen Schrift, eine Reihe von gemeinfamen Eäten zwilchen Katboliten 
und Bibliften vorhanden, und ber status controversiae unter Ausfchluß ber- 
jelben dahin zu beſtimmen, baß es fih darum handle: quibusnam certo et 
infallibiliter assistst Spiritus Sanctus ne errent in exponendo vero sensu 
sacrarum scripturarum ? Die Katholiten geben die Antwort: das fei bie 
Kirche, d. h. der Papſt mit dem allgemeinen Eoncil; die Bibliſten damit, es 
feien bie Einzelnen, welchen auf ihr Gebet der heilige Geift ein derartiges Ber- 
ſtändnis der Bibel exöffne (p. 1048q.). Comenius nimmt den gegebenen 
Kampfplag ohne weiteres an, indem er aber replicirt, baß der von Valerianus 


» 


Amos Comenius. 4 


angegeberte consensus zwifchen Tatholifcher und evangelifcher Lehre von ber 
heil. Schrift nicht richtig Angegeben, bemgemäß auch ber status controversiae 
talfch formulirt ſei. Es fei nicht, wie Valerianus Magni angebe, gemein- 
ſame Lehre der Katholiten und Bibliſten, daß bie heilige Schrift an fich certa 
und infallibilis fei, und daß niemandem, ſelbſt einem Npoftel ober Engel 
nicht, zu glauben fei, wenn fie etwas wider bie Schrift Ichren. Es laſſe fich 
vielmehr ans den officiellen Dogmatitern ber katholiſchen Kirche nachweiſen, 
daß fie bie Kirche über bie Schrift flellen (p. 107). Es fei wieberum nicht 
richtig als gemeinfame Lehre beider Theile bingeftellt, daß das, was ben 
Elauben regulire, nicht fowol in der Schrift felbft, als vielmehr in ber, das 
Vernäudnis berfelben bebingenden Affiftenz bes heiligen Geiſtes, alfo in ber 
Auslegung liege; daß beim Außleger, wofern er nicht von der Schrift abweiche, 
geglanbt werben müſſe, und daß, ba er die Erleuchtung bes heiligen Geiſtes 
babe, er von ber Schrift nicht abweichen künne. Vielmehr liege für bie Bibliften 
die Glaubensnorm ſchlechterdings nicht in der Auslegung, ſondern in der Schrift 
jelb, und bafire auf dem Satze, daß bie heilige Schrift in ben nothwendigen 
Stanbenswahrbeiten perspicua und clara fei. Nicht dem Ausleger werde ge- 
glaubt, jondern dem durch ihn evident bingeftellten Schriftfinn als ſolchem; — 
baber denn audh, ob die Auslegung eine offtcielle ober private fei, für die Norma- 
tiwitãt jenes Siunes gar nicht in Betracht kommen, und felbft zwilchen einem 
Rabbiner, der den Schriftfinn mit unzweifelhafter Klarheit an's Licht geftellt, 
nud zwiſchen einen Koncil, das an bemfelben vorbeigegangen, bie Entfcheibung 
des Bibliftien keinen Augenblid ſchwanken werde; — Infallibilität könne 
immer nur Gott ſelbſt, niemals irgend einem Außleger zugefchrieben werben; 
auch der höchſten Erleuchtung des heiligen Geiftes, fofern fie im Menſchen 
iR, lann fich Finſternis beimifchen ; if} credere — testimonio alicujus propter 
suam ipsius autoritatem acquiescere, fo gebe es für den Chriſten überhaupt 
nur einen Zeugen, ber ſchlechthin Glauben forderu könne, nämlih Chriſtum 
(p- 1085q. 145. 157. 110 q. 508). So fei denn auch ber status controversiae 
vielmehr bergeftalt zu formuliren: „Illud, in quod se nostra fides ultimo 
resolvrit quidnam sit? alienuamne testimonium (puta ecelesise con- 
gregatae) sufficit? an ad judicium usque personale veniendum sit, 
at fidei quisque domi testem habeat, seipsum ?‘“ (p. 113; cf. 216: „mihi 
satisfiat necesse est“.) Die Valerianiſche Formulirung verhülle lediglich die 
Schneide der Frage, daß nämlich der Stanbpunft des Gegners immer auf 
eine fides imperativa hinanswolle (die doch, als eine larva fidei, weder bie 
Apofel noch Chriſtus ſelbſt gewollt haben) nnd den Glauben immer anf 
Zenguis und Autorität ber Menſchen gründe; wie verſchieden müßte ein 
Chriſtus im Sinne der Balerianifhen Aufflelungen von dem biftorifchen 
Chriſtus in Erſcheinung und Rede geweſen fein! (p. 114sq. 328. 515.) Wolle 
Valerianus Ernſt machen mit dem von ibm aufgeflellten Grundſatz von ber 
keiberfeitig anerlannten Bedeutung ber heiligen Schrift, warum mit fo un⸗ 
endlichen Umfchweif von Concilien n. f. w. zu ben Duellen gelangen, zu 





7 Kleinert 


denen ber Biblift unmittelbar hinweiſe? wielmehr wozu burd jene Umſchweife 
bie Onelle verjperren ? (p. 217. 518.) Die Abfurbitäten, welche Valerianus auf 
Grund feiner Yormulirumg bes status controv. den Proteſtanten zufchiebe 
(p. 117sqq.), fallen bei genauerem Zufehen bin. Daß mit der Autorität 
ber heiligen Schrift Ungläubige nicht zu betehren fein werben, fei richtig be=- 
merlt, gehöre aber nicht in bie zwiſchen Gläubigen vwerbanbdelte Erörterung 
einer bogmatifchen Frage; oder meine Valerianus etwa, die Ungläubigen mit 
der Autorität der Kirche belehren zn können? Schon bie Mifflonspraris ber 
Jeſuiten, bie gar anders verfabre, könne ihn eines befferen belehren. Es 
handle fich bei der Frage nicht um hervorzurnfende Slaubensanfänge, fonderu 
um Ölaubensgewißheit, bie fih eben nur auf Gott felber gründen könne 
(p. 128sqq. 140. 153). Was aber bie pofitive Glaubensregel des Valerianus 
umb ihre Begründung felbft angehe, baf nämlich der Glaube durch die wahre 
Kirche, dargeftellt im Papft und .allgemeinen Eoncil8 normirt werbe, daß bie 
Wahrheit der Kirche durch die Wiebergeborenen in ihr, bie Wiebergeborenen 
aber durch fortgebende Wunder beglaubigt werben, fo fei zwar bie hohe Stel- 
lung fehr zu billigen, melde in diefer Regel ber Wiedergeburt zugemwielen fei 
(p. 181—201); um fo mehr fei die Art zu beklagen, wie biefelbe beflnirt 
und bie Berbinbungen in bie fie verfettet fei. Unaufgeklärt fei die Darfiellung 
ber Kirche durch Concilien, welche doch gegen Apſtgeſch. 15 keine Laien ent- 
bielten und auch abgefehn hiervon nur misbränchlich allgemein genannt werben 
tönnten; unaufgeflärt das Verhältnis von Papſt und Eoncilien zu- und neben- 
einander, wo doch die eigene Eonfequenz ben Gegner dazu treiben müſſe zu 
fagen: concilium errare potest, papa non potest (p. 272-284). Halte man 
die Bielheit als Garantie bes Richtirrens feht, To fei das lediglich Vorurtheil; 
lege man den Nachdruck darauf, daß diefe Vielheit, weil fie in bonitate von 
Gott denke, von dieſem bem Irrtum nicht werbe preißgegeben werben, jo heiße 
es nicht in bonitate von Gott benfen, wenn man buch Auffudhung und 
Aufftellung von Fürfpreddern Menſchen barınherziger darftelle, als ibn (p. 335. 
345). Die Definition aber der Wiedergeburt bei Valerianus Magni ſei 
pharifäifch (ultra legem nil sapiens), in jevem Betracht unbillig und natu- 
raliſtiſch: fie könne vom platonifhen oder eyniſchen Standpunft ans ganz 
ebenfo gegebeg werben (p. 205. 308— 313. 3385q). Vollends der Erweis 
ber Wiebergeborenen durch fortgehende phyſiſche Wunder, die doch auf Gott 
bezogen immer nur feine Allmacht beweifen können, die nach der Schrift 
ben inneren Werth bes Menſchen an fih nicht beurtunden, von denen Balc- 
rianus nad eigenem Geſtändnis keins weder gethan noch geſehen babe, fei das 
Gegentheil aller überzeugenden Beweisführung, und feine Abfurbität mit 
leichter Mühe auch aus katholiſchen Schriitfiellern ſelbſt darzuthun (p. 227. 
235. 2485qqg. 2608q. 319sqg. 840). Alle drei Syllogismen, in bie bei 
näberem Zufehen bie Slaubensregel des Valeriauus fich auflöſe, ſeien in ber 
major falſch, in der minor bebentlih (p. 2403qq.). Die Glaubensregel, weldye 
Comenius als die biblifiiche der des Valerianus Magni gegenüberfiellt 


Amos Comenius. 48 


and berem tatholtfchen Gebrauch er darein fest, baß fie von allen Kirchen- 
gfiebern und im allen kirchlichen Beziehungen der Lehre, Prüfung und Re 
ionmation zu gebrauchen if, p. 476. 490), Yegt ſich im der genetiſch fort- 
fhreitenden Entwidlung dar, baß bie Autorität ber heiligen Schrift, welche 
allen Ehriften facrofanct fein muß, dem Gläubigen durch eine breifache In⸗ 
Banz feftmerbe; zunädft in äufierer Weife durch bie Kirche, melde ihm ben 
Kanon der Schrift Übergebe, dann innerlicher und feſter durch bie Schrift 
ſelbſt, weldje ihn revelationum sublimitate, praeceptorum sanctitate, pro- 
missoram amplitudine, majestati styli summa cum summa simplicitate 
ceonjuncta von ihrer inneren Höhe überführe; enblih am fefteften und 
vollformmen durch das testimonium Spiritus Sancti in ipso corde fidelis 
(p. 4T3saqq.). Wenn Eomenins auch Hier der Abficht feiner Schrift entfpre- 
hend im mefentliden anf die richtige Kormulirung des formalen Princip® 
Ah einfchräntt, fo zengt doch die Formulirung felbſt von der tieferen Erfaſ⸗ 
Inng besfelben in feiner wachſtümlichen Berbindung mit bem materialen, 
wie diefe auch ſchon oben in der Forninlirung des status controversiae her- 
vortrat, und auch fonft 3.8. darin begennet, daß er an$brüdtich beruorbebt, 
wie unter ben fieben dogmatiſch und biblifch möglichen WBebenturigen bes 
Wortes fides die Aufftelungen des Valerianus, die er befämpft, es eigentlich 
anr mit ber wierten und fünften zu thun haben (fides historica, unb fides — 
abjecta eredita), während bie höchſte ſchriftgemãße bie fiducia aeternae mi- 
sericordiae in Christo nobis oblatae fei (p. 403). Auch fonft zeigt fi, daß 
die einfeitige Ueberfpannung des Schriftprincips, wie fie ber reformirten wie 
der Intherifchen Ortboborie dieſes Zeitalter8 eignet, ihm fremb ift, ſowol 
darin, daß er in feinen paftoralen Schriften von den Apokryphen (ſelbſt 
IV Esrae, vgl. 3.8. das Teftament der flerbenden Mutter) ſehr ausgiebigen 
Gebrauch macht, als auch barin, daß er in dem Streit Über bie Authenticität des 
maforetbifchen Textes teinesmegs fir die Burtorfe Partei nimmt. Bgl. 3.8. 
Unum necessarium, p. 189. Zn beachten ift auch bie hohe Stellung, bie 
er in Slaubensſachen der ratio zuweiſt, fofern biefelbe Inx mentis if. Bale- 
rianus babe Recht, die ratio Koch zu erheben: „denn fides Christiana, quia 
sla solida undique vera et undique harmonica est, irrationale nil admittit“ 
(Judie. dupl., p. 185). Darum fei auch die Einfchräntung derſelben bei 
Lalerianus auf die ariftotelifche Syllogiſtik und auf diejenigen bogmatifchen 
Atagen, welche jenfeit der Autorität der Kirche Itegen, nicht zuläßig. ‚, Hoc 
sublimitatis datum est menti humanae, ut in rerum scrutiniis nullo ac- 
quieseat teste nisi se ipsa. Autoritas nunquam rationi praeferenda;; rati- 
onum vero harmonia semper speetanda.“ (p. 198. 401. cf. 215. 265.) 
17. [Bu ©. 25.] Der Melden'ſche Spruch (Über welchen Lücke's Mono- 
graphie vom Jahre 1850 und' die Anzeige berfelben von 9. Müller in 
der deutfchen Zeitfchrift desfelben Jahrgangs zu vergleichen) findet ſich bei 
Comenins im Unum necessarium, p. 178. In berfelben Schrift auch viele 
Klogen über den durch den Confeſſionsſtreit mitverſchuldeten Atheismus ber 


44 Kleinert 


Bolitit, die aber auch fonft bei Eomenius häufig begegnen. Die vornehmfien 
feiner auf das collegium Thorunense bezügligen Schriften find dem in ber 
vorigen Anmerkung befprocdenen Judicium duplex, p. 604sqq. al® Anhang 
beigegeben. Ebenbafelbft auch als Einleitung eine Abhandlung de dissidentium 
in rebus fidei Christianorum reconciliatione. Der Angelus pacis ad 
legatos pacis Bredam missus indeque ad omnes populos mittendus erfchien 
zu Amſterdam 1667. 

18. [Zu ©. 25.] Die bebeutenbfie unter den polemifchen Schriften des 
Comenius gegen den Socinianismus if das Speculum Socinismi uno 
intuitu quicquid ibi ereditur exhibens (Amstelod. 1662, 12). Sie ift ein 
Eramen des Rakower Katechismus, demſelben von frage zu Frage folgend ad 
demonstrandum, hodiernos aeternae Christi Divinitatis abnegatores, Soci- 
nianos, in reliquis etiam religionis capitibus ebionizare, i. e. (secundum 
Eusebium) in tradendis de Christo dogmatibus pauperes et abjectos esse et 
prae aliis a veritatis et pietatis via aberrare (p. 5). Nach der Art bes 
Mannes, den Blid immer auf durchſchlagende Hauptgefichtöpuntte gerichtet 
zu balten, find e8 auch bier wenige Brennpunkte bes kirchlichen Gegenſatzes, 
auf die er immer wieber zurüdfommt und alle Differenz bezieht, während 
er den Streit über Minutien mit ausgefprochener Abficht beiſeite läßt und 
ganzen großen Abfchnitten bes Katechismus, welche von jenen Grunbfägen nicht 
berührt worden, warme Anerlennung zolt. Der erfie Orundmangel ber 
Socinianer ift nach Comenius ber, daß der Unterſchied von Geſetz und Evan- 
gelinm, Gebot und Glaube nicht erfannt fei und baber das perfönliche Ver- 
hältnis der Slaubenden zu Chriſto als Eentralpuntt der Religion nicht zur 
Geltung fomme Christus ubique fidlem in se, Sociniani ubique prae- 
cepta et opera inculcant. (p. 7. 19. 45.) Bon den Grundbegriffen Evan- 
gelium und Glauben gebe der Katechismus nicht einmal eine klare Borftel- 
Inng, fondern nur beiläufige Hiftorifche Erwähnungen (p. 78q.). Chriftus 
fei lediglich als volllommenſter Gefeggeber bargeftellt, aber darin Liege fein’ Heil, 
denn lex nunquam non erit lex, peccatum non tollens sed augens, quanto 
perfectior tanto magis (p. 37); und man müßte bei genauer Verfolgung 
dieſes Stanbpunftes, der die Gebote und Werte zählt, eher fagen, daß das 
Geſetz des neuen Bundes unvolllommener fei, als das bes alten (p. 42. 
41. 37. 36). So weiß denn auch ber Socinianismus nichts von einem Werte 
Chriſti in uns (p. 59); kennt keinen Heilswillen, ſondern nur einen Gebots⸗ 
willen Gottes (p. 63); macht Chriſtus zu einem Verhänger auch zeitlicher 
Strafen (p. 79); und fett, ein Iohnflichtiger Phariſäismus, als begrifflich 
erfüllendes Ziel der Religion bie individuelle Seligteit, und zwar eine folche, 
für welche nicht einmal die Gemeinſchaft mit Ehrifto integrirend fei (p. 6. 
30. 62); während bie heiligen Männer Gottes in ber Schrift deutlich bezeugen, 
daß das höchſte Gut in ihrem Sinne nicht bloß inviduelle Seligleit fei, Sondern 
ein allgemeines Heil, das zu verwirklichen fie fogar anf ihre inbivibuelle 
Seligteit verzichten wiärben (p. 6). Mit biefem erfien Grundmangel bed So- 


Amos Comenius. 45 


chianismn® hängt der zweite eng zuſammen: es fehlt die Erkenntnis von 
der grunblegenben Bebentung des hobenpriefterlichen Amtes Iefu Chriſti 
(p. 8. 24 sgq.); bie Frage cur tali servatore opus fuerit liege außer bem 
Geſichtstreis des Sociniauiſsnius (p. 23); wobei denn freilich, Hei fchlechtge- 
legtem Grunde, alles confus werben müfle, umb weder die Lehre vom Heil 
ſelbſt noch die von den Sacramenten zu ihrer richtigen Geſtalt und Ordnung 
gelangen tönne (p. 57. 51. 55. 65—68. 72). Ebenfo bauge am erſten der 
dritte Grundbmangel: die mangelhafte Darftellung der Lehre von der Ber- 
fon Jeſu Chriſti. Unbekümmert barım, daß er zu einem gefchaffenen Gott, 
alfo einem Gößen, gelange, und das logisch unmogliche Kunfiftäd einer 
Uebertragung von Weienseigenfcheften ohne Gleichheit des Weſens vornehmen 
mäfle (p. 10. 77), reiße der Socinianiemus Sohn und Bater auseinander 
(p. 12. 26); berufe fih für das Gottwerben des Geſchaffenen auf Stellen 
wie Kol. 1, 18. Rom. 1, 4, ohne zu ertennen, daß im Kolofierbrief die Rebe 
von eiuer boppelten Erfigeburt ei, wie dieſe durch die Grundanſchauung von 
der boppelten Schöpfung gefordert werbe: von Ehrifto ald dem Exrfigeborenen 
der Welt, und dem Exrfigeborenen ber Gemeinde; und dag Röm. 1, 4 ohne 
Sinn fe, wenn es fi) bloß um eine Auferwedung Ehrifti durch Gott, und 
uicht vielmehr um Wievernehmen bed Lebens durch bie eigene göttliche Seraft 
handle (p. 20 2gq.). (Dielen legten eregetilchen Bebanten hatte Comenius ſchon 
1638 zu Liffa, bei feinem erften Zufammentreffen mit den Soeinianern in 
Polen, im Auftrag feiner Synode, in einer befondern Monographie ausge» 
führt.) Aber freilich, es kommt eben zuletzt beim Socinianismus alles nicht 
anf Erkenntnis eines Seins hinaus, fondern eined Genanntwerbens. Nicht 
wer Chriſtus if, darum handelt es ſich für ihn, ſondern wiefo er fo ober 
anders bezeichnet werben lönne, und barin werde bie Morfchheit des ganzen 
Syflems in feinem tiefften Grunde offenbar (p. 16. 24. 46). — Die übrigen 
gegen Zwider und fein Irenicum direct gerichteten Schriften des Comenius 
(De ixentco irenicorum h. e. conditionibus pacis a Socini secta oblatis 
si Christianose admonitio, Amst. 1660; Iterata admonitio de interato 
Sociniano irenico, Amst. 1661; Admonitio tertia ad D. Zwickerum et 
ad Christianos, Anıst. 1662) find der eben beſprochenen an Durchſichtigkeit 
wicht gleich; aud) nicht frei von einer gewiſſen Gereiztheit. Zwider hatte ihn 
über feinen Staubpuntt unb feine Intentionen getäufcht. 

19. [Bu ©. 26] Der volle, nad Comenius' und des Jahr⸗ 
hunderts Art recht umfangreiche Titel ber Schrift, die neben dem Orbis 
pietus feine befanntefte if, ifl: Unum necessarsum scire, quid sibi 
sit necessarium in vita et morte et post mortem, quod non neces- 
sariis mundi fatigatus et ad unum necessarium se Tecipiens senex J. A. 
Comenius anno aetatis suae LXXVLI mundo expendendum offert (Amstel. 
1668). Die mir vorliegende Ausgabe in Sedez, auf welche auch ſchon in ben 
vorigen Anmerkungen mehrfach verwielen ift, ift zu Leipzig 1724 gebrudt. 
Bon fpeciell theologiſchem Jutereſſe ift in dieſem überaus inhaltreichen und 








4% Kleinert 


is vieler Beziehung unuübertroffenen Weisheitsbuch einmal ber Abſchnitt Über bie 
praktiſche als bie einzig augemefjene Lefung ber heiligen Schrift, p. 133sqq.; 
dann der de praxi regulae Christi in ecclesiasticis, cap. VIII: quomodo 
theologi, ecelesiarum pastores et episcopi accurata regulae Christi (de 
uno necessario) observatione totius ecclesiae saluti et conscientiarum quieti 
consulere ita poseint ut melius nequeat. Die nervoſe Diction madt einen 
Auszug unmöglih; ich begnüge mich mit Mittheilung bed bedeutſamen 
$ 16, p. 191: „A tot magistris nascuntur tot sectae inter christianos, 
ut nomina fere nos jam deficiant. Et quaelibet seota se aut solam ec- 
clesiam, aut purissimam ecclesiae partem credit; odiis inter se infinitis 
implicatae omnes eheu! Nec reconciliandi spem alii aliis relinquunt, 
irreconciliabilitatis scutum aliis alii perpetuo opponentes: confessiones 
quasdam peculiares, quas sibi post scripturas sacras ipsimet cudunt, iis- 
que se tanquam castellis aut propugnaculis includentes sese propugnant 
et alios oppugnant. Non dico confessiones pias (quales esse concedamus 
plerasque) malum quid esse per se; per accidens tamen, quatenus irrecon- 
ciliabiliter distrahunt, omnino malum sunt, tollendum in universum, si 
quando ecelesiae vulnera curanda sunt; aut semper christiana plebs quo 
se vertat nesciet.“ — Merkwurdig ift auch auf dieſem Gebiet feiner literarifchen 
Thätigkeit die Identität der Grundſtellung des Jünglings und Greiſes Co— 
menius, welche beim Bergleich dieſer letzten mit feinen erſten ascetifchen 
Schriften (Anm. 4) eutgegentritt. Er bietet bier wie in feinen bibaktifchen 
und panfophifchen Arbeiten bie ſeltene Erfcyeinung eines überaus beweglichen 
und empfängliden Naturels, eine® fortwährend ber Belehruug ſich offen- 
haltenden und an fich ſelbſt bildenden Charakters, der body mit feinem erften 
Hervortreten ſchon in allen weientlihen Beziehungen jo rund und fertig ent- 
gegentritt, baß feine Wandlungen und Yortfchritte far überall nur auf bie 
Form, nirgenb auf bie Subftanz feines geiftigen Befiges und Seins ſich erſtreden. 
2. [Zu ©. 26.) Das im Tert angegebene Todesjahr 1670- kaun 
gegenüber ver herkbmmlichen Datirung (1671) durch die von Hart mitgetheilten 
urtundlidden Notizen bei Baur als feftgeftellt gelten. — Weber bie bäustichen 
VBerbältuifie uud die Familie des Comenius findet fih ausführliches bei Ziegler 
(a. a. O., p. xxxv) und Binbely (in der ang. Abb. ©. 5335 ff.). Beiden 
gegenüber ift zu conflatiren, daß Comenius nicht einmal (Binbely) oder zwei⸗ 
mal (Ziegler) verheirathet war, ſondern breimal. Da feine erſte Gattin mit 
ihrem Erſtgeborenen 1622 farb (Ep. ad Mont., p. 77), muß er ſich niet 
lauge nach feinem Amtsantritt 1616 mit ihr verheirathet haben. Aus dem 
Labyrinthus mundi et palatium cordis (beutiche Ausgabe 1787, ©. 47) 
fchließe ich, daß fie ihm zwei Kinder geborem bat, und daß auch das zweite 
ihm in ber BVerfolgungszeit durch den Tod entrifien wurde. Die Xochter 
des Senior Cyrillus, über deren Kinder und Tod Gindely a. a. O. berichtet, 
war erſt feine zweite Gattin. Ueber die britte Verheirathung mit Johanna 
Bajusousta in Thom (1649) vgl. das Urkunbliche bei Ziegler a. a. O. 


Amos Comenius. 4 


21. [Zu ©. 27.7 Dies Weiſſagungsbuch if in mehveren Auflagen 
erſchienen, von denen die reichhaltigfte und feltenfte ben Titel führt: Law 
in tenebris novis radiis aucta h. e. solemnissimae divinae revelationes 
in usum saeculi nostri factae (1665, 4). Der Dradort und der Name bes 
Herausgebers find auf dem Titel nicht genannt; boch fegt Comenius in feinen 
Vorberichten und Anmerkungen überall voraus, daß er als ſolcher belannt 
jei; wie er beun die fchärfften Angriffe über bie Herausgabe ſchon 1659 zu 
erieiden gehabt Hatte. Tas Buch umfaßt 7 befonbers paginirte Abtheilungen, 
namlih: I. Eine Einleitung des Herausgebers, beſtehend aus dedicatoriis 
und informationibus, in welden namentlich die Quinteſſenz bes Inhalts der 
Prophetieen p. 40 zu beachten. II. Die Gefichte des Gerbers Chriſt. Kot- 
ter zu Sprottaw, aus den Yahren 1616 — 1624. III. Die Gefichte ber 
Chriſt. Boniatovia, der Tochter eines zur Briberlicche übergetretenen polni⸗ 
hen Emigranten aus bem berühmten Adelsgeſchlecht dieſes Namens; aus 
ben Jahren 16271629. IV. Die Gsfichte und Weiflagungen bed Mähren 
Ricolaus Drabic von Strasnitz nen 1638—1664. V. u. VI. Anhänge des 
Herausgebers; darunter bie vom Jahr 1667 datirte voluminis dimissio mit 
Aomonitionen an die Großen und Gemwaltigen der Erde VII. Ein ſehr 
reihhaltiger Inder über die Details, weldhe in den Sammlungen II—IV, 
betreffs der einzelnen Berfonen, Dynaſtieen und Reiche geweiſſagt find. — Bon 
ſechszehn zu feiner Zeit im den deutſchen umb öflerreichifchen Landen aufge 
tretenen Weiffagern, welche Comenius I, 37 aufzäplt, bat er nur bie drei 
Semannten berüdfidhtigt, nicht weil diefelben „ber böhmifchen Kirche angehörten” 
— das gilt einerſeits auch von einigen der Uebergaugenen, anbererfeits gilt 
es von Kotter nicht —, fondern weil ihre, als ber Hervorragendſten, Ge⸗ 
fihte totam ecclesiam totumqne mundum spectent. Kotter bat im 
Sahre 1616 die unmittelbar bevorfiehenden Kriegskataſtrophen, bie Boniatovia 
in Jahre 1628 das gewaltfame Ende Wallenfteins angekündigt; baf im 
Uebrigen bie Oralel, foweit fie nicht ermweiternde Reprobuctionen bibliſcher 
Borfleliungstreife find, mehr unrichtige als richtige Prädictionen enthalten, 
wird nicht befremden. Schon eine Bergleihung ber den Weiffagungen voran- 
geſtellten Bildniſſe ber Propheten läßt al8 den Gewaltigften unter ihnen ben 
Drabic ertennen. Die Gefichte Kotterd, mit vielfältiger Thierfumbolif, 
zeigen die Bindung aller Seelenkräfte unter eine eftatifche Phantafte; die der 
Bonistovia find zum großen Theile der manchmal rührende Ausdruck einer 
erstifchen, aber kinblich reinen Diyftil; bei Drabic dagegen erfcheint bie Phan⸗ 
tafie deutlich als die nicht felten zurldtretende Begleiterin eines ſehr flarlen 
Selöfbewußtfeind und eines mit glühendem Haß gegen das Haus Oeſter⸗ 
reich gefräntten Willens. An ihm Tag es nicht, wenn die gegen dies Haus 
geführten Etöße Ludwigs XIV., den er gern zum Cyrus ber böhmifchen 
Kirche gemacht hätte, nicht noch zertrümmernder wirkten. Es ftreitet nicht 
damit, daß über bie Lauterleit gerabe dieſes Fanatikers man nach feinen von 
Comenius ſelbſi (IV, p. 7) berichteten Antecebentien und namentlich nad 


48 Kawerau 


ben von Gindely a. a. O., ©. 519ff. mitgetheilten Auſzeichnungen bes 
unparteiifhen Zeugen Felinus die bebenflichften Zweifel hegen barf. Wie- 
wol, baß er an ſich ſelbſt glaubte, fowol durch feinen Tod bezeugt wir, 
ale auch durch den mächtigen Einbrud, den er perfönli auf fo bebentende 
Zeitgenoffen gemacht hat. 


2. 
Die Trauung. 


Ihre Gefchichte, Bedeutung uud Geflaltung mit Rückſicht auf 
die nenerdings darüber geführten Lontroverfen. 


Bon 


Kaweran, 
Pfarrer in Mlamzig bei Züllian. 


Die Einführung der obligatorifchen Civilehe in Preußen und 
bald darauf im gefamten Deutjchen Reich hat der wiſſenſchaft— 
lichen Forſchung einen fräftigen Antrieb zu neuen Unterfuchungen 
über das Recht der Ehejchließung und über das Verhältnis von 
Staat und Kirche betreffs derjelben gegeben. Beſonders als bie 
Kirchenbehörden der Frage näher traten, in wie weit eine Abände- 
rung und Neugejtaltung der bisherigen Trauliturgie durch die Eivilehe- 
Geſetzgebung geboten fcheine, durfte es nicht wundernehmen, daß 
Bedeutung und Form der kirchlichen Trauung zum Gegenftande 
nicht nur lebhafter Parteidebatten, fondern auch ernftlider For- 
ſchungen und erneuter mifjenfchaftlicher Verhandlungen gemacht 
wurden. Das gefchichtliche Material, deifen man zur Beurtheilung 
aller der Fragen bedurfte, die jegt auf einmal da8 Intereſſe wei- 
tefter kirchlicher Kreife erxegten: wie fi in deutfchen Landen das 
Recht der Eheſchließung geſchichtlich entwickelt habe, feit welcher 
Zeit mit der kirchlichen Einſegnung der Ehen ein eigentlicher 
Trauact verfnüpft geweſen fei, in welcher Beziehung diefer Trau- 


Die Trauung. 4 


oct zur Eheſchließung geftanden u. dgl. m., ift ein außerordentlich 
weitſchichtiges; es war, wie wir wol behaupten dürfen, in theo- 
logiſchen Kreifen im allgemeinen wenig gekannt und durchforfcht. 
Zwar beſaßen wir eine vortrefflihe Materialienfammlung in dem 
Berfevon&mil Friedberg: „Das Recht der Eheſchließung, (1865), 
einer Arbeit, die von einem feltenen Sammlerfleiße Zeugnis ablegt. 
Allein es find in diefem Werke die einzelnen Rechtsgebiete fehr ungleich) 
bearbeitet; fowol das deutſche wie das fanonifche Recht des Mittel- 
alters hatte durchaus nicht die eingehende Behandlung gefunden, 
wie etwa das proteftantiiche Eheichließungsrecht des 16. und 17. 
Fahrhunderts; die Nejultate waren daher auch weniger präcis und 
durchfichtig. Dazu kam ferner, daß feine Arbeit von dem Charakter 
einer Tendenzſchrift nicht ganz freizufprechen war. Es war offen- 
bar des Berfaffers Abficht gewefen, durch fie der Einführung der 
Bivilehe Terrain zu gewinnen. Die gefamte moderne Rechtsent⸗ 
widlung, fo fuchte der Verfaffer zu zeigen, dränge auf die Ein- 
führung derfelben hin; die bis dahin geübte Kirchliche Trauung fei 
eine Function gewejen, die aus einem Auftrage des Stantes her, 
zileiten fei._ Der Staat könne diefen Auftrag um fo leichter 
zurückziehen und bürgerlichen Organen übertragen, als die kirchliche 
Trauung durchaus nicht Forderung eines kirchlichen Dogma fei. 
Die Kirche felbft habe ihre Trauung niemals für eine abfolut 
nöthige Sagung erflärt (vgl. befonders a. a. D©., ©. 302. 303). 
Sriedberg ift fich deffen volllommen bewußt, daß feine Arbeit auf 
die neuere Geſetzgebung „einigen Einfluß“ ausgeübt Hat (vgl. feine 
Särift: „Verlobung und Trauung“ [1876], Vorwort S. v). Eine 
befondere Bedeutung erhielt feine Arbeit auch dadurch, daß ber 
Elaß des Evangelifchen Ober-Kirchenrath8 vom 21. September 1874 
in einer unverfennbaren Beziehung zu den Nefultaten ftand, die 
Friedberg ausgeſprochen Hatte. Die Behörde nahm den Standpunft 
än, den er kurz dahin bezeichnet hat: „Früher war der Firchliche 
At Tranung und Segnung; die Trauung ift ihm genommen, es 
bleibt die Segnung“ (a. a. O., ©. 75). 

Über eben jener Erlaß und die in ihm verordnete fegnende 
dormel, worin diefer von Friedberg bezeichnete Standpunkt zur 
Geltung gebracht wurde, rief einen lebhaften Widerſpruch her⸗ 

Vesl. Etud. Iahrg. 1878. 


5) Kaweran 


vor !). Die liturgiſche Abänderung der alten Trauformel ſtieß nicht 
nsr in praxi auf einen energifchen Widerwillen, fondern fie rief 
auch einen weitverbreiteten principiellen Widerfpruch hervor. In 
confeifionellen Kreifen war diefer Widerfpruch fait einmüthig, aber 
auch aus andern kirchlichen Kreifen wurden Bedenken laut. Frei⸗ 
lich war bie Begründung diefes Widerſpruchs durchaus nit ein- 
hellig. Zum Theil wurden Anſchauungen über die Eheſchließung 
entwickelt, die man kurzer Hand als ebenfo unüberlegte wie un» 
evatgelifche abweifen muß. Zwar drüdten fi) wol nur wenige 
jo derb aus, wie es einft Ludwig Harms gethan Hatte ?), aber es 
war doch im wefentlichen derjelbe Standpunkt, wenn man fdhrieb 
und äußerte, der Civilact ohne kirchliche Trauung fei nur als Be⸗ 
gründer eines „Legitimirten Concubinats“ zu betrachten, oder wenn 
man lehrte (wie 3. DB. das Volksblatt für Stadt und Land 1877, 
©. 139), Gottes Wort allein mache die Ehe und Tönne nım, 
da die preußischen Geſetze nicht mit Gottes Wort ftimmten, fondern 
mer von einer Che wüßten, die „tief unter ber Gottesordnung ber 
Ehe“ finde, and) der Cwilact für die kirchliche Trauung gar nicht 
maßgebend fein. Sehr weiter Berbreitung erfreute fi die An⸗ 
nahme, dag man nuterfcheiden müſſe zwifchen bürgerlicher ober ge- 
- jeglicher Ehe und chriftliher Ehe. Erftere werde durch den Civilact 
begritwdet, letztere durch die Firchliche Trauung. Von diefem Stand- 
puntt aus gab man denn auch zu, daß das „ich ſpreche euch ehelich 
zuſammen“ nidt pure beizubehalten fei, fondern ftatt „ehelich“ 
fortan zu ſagen fei „zw einer chriftlichen Ehe* oder „als chriftliche 
Eheleute”. — Einen ernſilichen wiſſenſchaftlichen Charakter befam 


1) Wir machen darauf aufmerkſam, daß bereite vor jenem Erlaß und che 
von den barauf bezügfichen Abfichten des Kirchenregiments überhaupt 
etwas fund geworden war, vom Berfafler der gegenwärtigen Abhand- 
fung der Aufſatz „Luther und die Eheſchließung“ (Stud. u. 
Kt. 1874, ©. 723ff.), in welchen fehon biefelben Grundſätze, wie in 
dem vorliegenden vertreten find und eine ihnen entfprechende Feſtſtellung 
der Trauungsformulars gefordert wird, uns übergeben unb von uns im 
diefe Zeitichrift aufgenommen worden ift. Die Redaction. 

2) Derſelbe lehrt im feinen „Evangelien⸗Predigten“ (5. Aufl., S. 163), das 
Zuſammenleben der Männer und Weiber ohne kirchliche Trauung fe 
„erel diehiſche Hrrerei“. 


Die Trauung. 51 


dieſer Wiberfpruch gegen den Erlaß des Oberkirchenraths jedoch 
erft, als im jahre 1875 bald nach einander zwei größere Mono- 
graphien über die Trauungsfrage erfchienen, beide übereinſtimmend 
in der Polemik wie gegen den Oberkirchenrath fo gegen Friedberg, 
beide aber auch übereinftimmend in der Ablehnung des foeben be⸗ 
zeichneten Standpunftes, beide darin gleich, daß fie für die unver- 
änderte Beibehaltung der alten Trauformel In die 
Schranken traten — und doch beide grumdverfchieden in der Art 
und den Grundlagen ihrer Beweisführungen. Die eine durch und 
durch rechtsgefchichtlih, aus der Feder des auf dem Gebiete des 
deutfchen Rechts hervorragenden Juriſten Prof. Sohm in Straßburg, 
die andere durchaus theologischen Inhalts, von dem Greifswalder 
Prof. Cremer verfaßt. (Sohm: „Das Recht der Ehefchließung”, 
Weimar 1875, und als Ergänzung dazu die Replik gegen Friedberg: 
Tranung und Verlobung“, Weimar 1876. Cremer: „Die kirchliche 
Tranung“, Berlin 1875, und al8 Ergänzung ber Artikel: „Bürger- 
liche Eheſchließung und kirchliche Trauung“, Evangel. Kirchenzeitung 
1876, Nr. 32f.) Letzterer fucht, wie fhon der Titel feines Buches 
andentet, nicht die Recht s entwicklung, fondern nur die Betheiligung 
der Kirche an der Ehefchließung ihrer Glieder zur Darftellung zu 
bringen. Er geht bis auf Ignatius zurück und fucht nun von jenem 
älteften Zeugnis an bis Hin zu dem vielftiimmigen Chorus der evan⸗ 
gelifhen Kirchenordnungen ben Erweis zu erbringen, daß die Kirche 
jederzeit in ihrem Firchlichen Act — ganz abgefehen von dem je- 
weiligen juriftiichen Inhalt, der dem Handeln der Kirche als eine 
Nebenbedeutung beigelegt worden fe — mehr habe ausbrüden 
wollen, als nur ein Segnen; daß es ihr zu allen Zeiten um Er⸗ 
teilung der göttlihen Sanction, um Eheſchließung (nit in 
jutiſtiſchem, fondern in ethiſchem Sinn) zu thun geweſen fe. Es 
ſei mithin ein berechtigtes Verlangen der Chriftengemeinde, auch 
unter den jest gefchaffenen Verhältniſſen diefen Charakter der kirch⸗ 
(hen Trauung voll und intact bewahrt zu wiffen und diefein Inhalt 
alſo auch die entfprechende Titurgifähe Ausprägung gegeben zu ſehen. 
Gegen diefe von Eremer eingefdjlagene Methode ift ficherlich im 
ptincip nithts ‚einzuwenden. Wie weit wir uns bie begrifflichen 


und praktifch-Titurgifchen Reſultate feiner Arbeit werden aneignen 
4* 


b2 Kameran 


fünnen, werden wir hernady am gehörigen Orte zu befprechen haben. 
Ganz anders verfährt Sohm. Diefer nimmt feinen Ausgangspunft im 
deutfhen Recht des Mittelalters und gelangt bei einer Betradh- 
tung bdesfelben zu dem Nejultate, dasfelbe habe bie Begriffe Ehe- 
ſchließung und Ehevollziehung fcharf unterfchieden; erftere 
fei die Verlobung, legtere die Trauung gewefen, jene habe die Ehe 
als Rechtsverhältnis, diefe die Ehe als thatſächliche Lebensgemein⸗ 
Schaft begründet. Er fucht dann weiter nachzumeifen, wie dieſe 
deutjch rechtliche Unterſcheidung von Eheſchließung und Ehevollzug 
auh das kanoniſche und das altproteftantifhe Eherecht bis zum 
Ende des 17. Jahrhunderts beherrfcht Habe. Erſt das vorige 
Jahrhundert Habe zuerft in der Theorie, dann auch in der Geſetz⸗ 
gebung diefe echt deutfche Anfchauung verdrängt. Jetzt aber fei 
durch die Civilehe diefer deutfchen Idee wieder der Boden bereitet. 
Deutfche Verlobung und deutſche Trauung feien jegt wieder, freilich 
modernifirt, aufgelebt als Civilact und kirchliche Trauung. „Der 
Civilact repräfentirt die Verlobung des deutfchen Nechts in moderner 
Form. Die kirchliche Trauung hat ihre urfprüngliche Bedeutung 
zurüdempfangen. Sie ift die alte „traditio puellae‘“ (Recht der 
Eheihliegung, S. 286. 289). Wir müfjen befennen, bag wir die 
Brüde, die Sohm vom alten deutſchen Rechte aus zu unfern 
modernen Berhältniffen hat hinüberjchlagen wollen, für ein völlig 
verunglüctes Unternehmen halten. Er hat auch felber fich genöthigt 
gejeben, in feiner zweiten Schrift viel klarer als in der erften 
einzuräumen, daß allerdings weder die alte deutjche Verlobung das 
gewefen fei, was wir jett Ehefchließung nennen, noch aud die 
firchliche Trauung gleichen Inhalts fei mit der traditio des deutfchen 
Rechts. Es Haben fih ihm felbft ſchließlich überall „wefentliche 
Unterfchiede” Herausgeftellt, wo nur immer er die modernen Acte als 
Fortfegung rejp. Erneuerung der deutſchrechtlichen Eheſchließungs⸗ 
acte darftellen wollte. Mit dem einen Sage, das deutſche Recht 
habe eine Chefchliegung in unferm Sinn gar nicht gelannt, 
denn an Stelle befien, was wir fo nennen, ftänden dort zwei 
Vorgänge, Verlobung und Trauung (Trauung und Berlobung, 
©. 139. 140) — hat er eigentlih, unſers Erachtens, felber die 
von ihm trogdem verfuchte Parallelifirung des modernen Rechtes‘ 


Die Trauung. 53 


mit dem beutfchen des Mittelalters als eine völlig verfehlte an« 
erkanut. Während wir alfo nad diefer Seite hin, in der An⸗ 
wendung feiner rechtsgeichichtlichen Unterfuchung der Verhältniffe 
des Mittelalters auf unfern gegenwärtigen Nechtszuftand, fein 
Unternehmen für einen bedauerlihen Misgriff erklären müfjen-, fo 
werben wir doch auf der andern Seite durd feine reichhaltigen und 
iharffinnigen rechtsgeſchichtlichen Unterfuchungen zu dem Urtheil 
getrieben, daß die Arbeit felbft als Förderung unfrer Kenntnis des 
Eheſchließungsrechts ernftlicher Beachtung werth fei. ‘Der von Sohm 
ſcharf angegriffene und in recht gereister Stimmung replicirende 
Brof. Friedberg Hat nicht umhin gekonnt, diefer Arbeit das Zeug- 
ms auszuftellen, daß fie „eine wiffenjchaftliche Leiſtung im eigent- 
ihen Sinne des Worts“ fei; und wir meinen, er hätte auch mit 
gleichem Rechte anerkennen follen, daß Sohm eine recht anſehn⸗ 
(iche Fülle neuen Apparates herbeigefchafft und keineswegs vorwiegend 
mit „&xcerpten“ aus Friedberge Buch gearbeitet Habe. Diefe Publi- 
cation mit ihren überrafhenden, dem bisher Angenommenen vielfach 
diametral entgegenftehenden Wefultaten ift es daher auch in erfter 
Linie gewefen, an welche die wiffenfchaftliche Controverfe angeknüpft 
hat. Friedberg felbft Hat es für nöthig eradhtet, mit einer eigenen 
Begenfchrift darauf zu antworten („Verlobung und Trauung”, Leipzig 
1876). Zu einem Abſchluß ift die wilfenjchaftliche Erörterung noch 
nit gefommen. Die Theorien, welche Sohm befondere über die 
Eheſchließung nach deutſchem und kanoniſchem Recht aufgeftellt hat, 
werden ficherfich noch für längere Zeit feinen fpeciellen Fachgenoſſen 
Anlaß zu neuer Prüfung und Durdforfchung des Duellenmaterials 
bieten. Gleichwol ift die Controverſe jett doch fo weit gefördert, 
daß es wol angehen möchte, die einzelnen Streitpunfte Revue pajfiren 
zu laſſen und die Ergebniffe der Verhandlungen zu vegiftriren. 


1. Die Eheſchließung nad deutſchem Rechte. 


Wie wir fchon andeuteten, war in dem grundlegenden Werke 
von Friedberg diefes Nechtögebiet im Vergleich zu andern Partien 
einer Arbeit etwas ftiefmütterlich behandelt worden. Nur wenige Seiten 
waren der Darftellung desfelben gewidmet worden (S. 17—30). 
Wenn aud einige wichtige Eigentümlichkeiten des deutjchen echtes 


54 Sawerau 


hervorgehoben waren, fo blieben doch wefentliche Fragen unbeant- 
wortet, oder es konnte die gegebene Ausfunft nur wenig befriedigen. 
Wir lernen von Friedberg, wie ſich die Ehefdjließung der Deutfchen 
urfprünglih al® Erwerb der Vormundſchaft, Mundkauf geftaltet 
hatte, fo daß die Vormundſchaft über die Braut dem Vormunde 
abgefauft werden mußte; wir erfahren, wie fi) dies fpäter dahin 
ummandelte, daß die von dem Ehemann zu zahlende Summe der 
Frau als Witwenverjorgung beftellt wurde, fo daß die Beitellung 
der dos umerläßliche Bedingung einer vollgültigen Ehe wurde. 
Aber ſehr unklar lautete Friedbergs Antwort auf die Frage, durd) 
welden Act denn eigentlich die Ehe gejchloffen worden fe. Die 
Antwort ſchwankt eigentümfih hin und ber. „Durch die Ueber- 
gabe de8 mundium, die fi durch Tradition der Frau und ihres 
Vermögens in der Geridhtöftätte vollzog, war die Ehe gefchloffen.... . 
zwifchen Verlöbnis und Vermählung beftand Fein rechtlicher Unter: 
jchied. Auch ſpäter erfolgte die Eheſchließung gewöhnlich mit der 
Verlobung zuſammen . . . das Beilager war zur Vollziehung der 
Ehe nöthig.. . . das Wefen der deutfchen Eheſchließung liegt 
allein in der Confenserklärung der Brautleute.“ Es möchte 
in der That ſchwierig fein, aus dieſen Sägen ein klares Bild 
über die deutſche Ehefchliegung und das juriftifche Verhältnis der 
einzelnen Acte zu einander zu gewinnen. Und aud die „präcifere“ 
Faſſung, welche Friedberg feiner Anficht jegt in der Schrift „Ver- 
lobung und Trauung“, ©. 21 gegeben bat, gewährt nicht viel 
befjeren Auffchlug: „Verlöbnis und Trauung find zeitlich gewöhnlich 
und fpäter faſt immer zufammengefallen, in einen Act zuſammen⸗ 
gezogen worden und Baben ſomit zufammen ehejchließende Wir: 
fung geäußert. Fielen fie auseinander, fo wurde die Che nur durch 
die traditio der Braut begründet, aber die traditio begründete 
eine Ehe nur, wenn die dotatio der Braut vorangegangen war, 
d. h. alfo im gewöhnlichen Falle ein Verlöbnis.“ — Es darf als 
ein allſeitiges Zugeſtändnis bezeichnet werden, daß diefe deutfch-recht- 
lichen Berhältniffe durch Sohms umfangreiche Unterfuhhungen unferm 
Verftändnis um ein Weſentliches näher gebracht worden find. Er 
bat zunächſt behauptet — und wie wir meinen, befonders durch 
die in feiner zweiten Schrift erbrachten Duellenmaterialien auch 


Die Tranıumg. 85 


erwieſen —, daß Verlobung und Trauung durchaus zwei zeitlich 
und inhaltlich getrennte Vorgäuge geweſen find )). Die Meinung 
Friedbergs, beide Acte feien fait immer zufammengefallen, wirb 
als ein irrtümlicher Schluß aus den uns erhalten gebliebenen Trau⸗ 
formeln erwiefen, in denen freilich die Trauhandlung regelmäßig 
durch die Berlöbnisformeln und Verlöbnisgebräuche eingeleitet wird; 
sber da8 war dann nicht die Verlobung jelber, die vielmehr als 
getrennter Act vorangegangen war, fondern nur eine folenne 
Recapitulation des bereits gejchehenen Verlöbniffes ?). Ebeufo 
glauben wir, dag Sohm die Anficht, Verlobung und Trauung feien 
gemeiniglich an der Gerichtsftätte vollzogen worden, mit Erfolg 
zurüdgewiefen hat. Es erweift fich diefe Meinung als ein unftatt- 
bafter Schluß aus dem ſprachlichen Zufammenhang von Gemahl 
und mallus. Ferner kann gar nicht in Abrede geftellt werden, 
dag Sohm unfre Kenntnis der gefchichtlichen Entwicklung des deutſchen 
Eheſchließungsverfahrens wefentlich gefördert hat. Er zeigt, wie 
die Verlobung aus einem Raufgefhäft in einen Act zur Begründung 
eines Zreuverhältniffes und die Form derjelben aus einem Real⸗ 
contract in einen Formalcontract ſich umgebildet habe. Dur 
Heranziehung des deutſchen Sachenrechts gewinnt er für das Ver⸗ 
ftändnis von Verlobung und Trauung den lehrreichen Vergleich mit 
Kauf und Tradition. Gm einer ganz neuen Weiſe entwickelt er, 
wie mit dem Erlöfchen der alten Gefchlechtänuormundichaft, die Ver- 
(obung der Braut durd den Vormund fi in Selbftverlobung, 


1) Bgl. die zuftimmenden Bemerlungen Bierlings in einem trefflichen 
Aufjat über die Bedeutung der Trauung, Deutichrevangelifche Blätter 1876, 
©. 119. 

2) In ganz analoger Weife hat Sohm unferes Wiffens zuerfl darauf auf- 
merffam gemacht, daß die Frage nach dem Conſens in umjern Tirchlichen 
Trauformeln urfprüngfich gleichfalls ale Recapitulation der bereits zuvor 
erfolgten Eonfenserttärung aufzufaffen fe. Die Spuren davon find noch 
in einer Anzahl von Tranformularen enthalten. „Fateris ... . quod 
accepisti et jam etiam nunc &accipias in uxorem N.?“ 
8.-D. der ausländiichen Gemeinde zu Frankfurt a. M. 1554. Richter, 
8.-D. U, ©. 157; ebenfo pfälziſche 8.-O. 1568 II, ©. 271. 272. 
Straßburger 8.-D. 1598 bei Sohm, Recht der Eheichliehung, ©. 216. 
217. 


56 Rawerau 


und demgemäß aud) die Trauung durch den „geborenen Vormund“ 
ſich begrifflih in eine „Selbfttrauung“ umgefeßt habe, die dann 
aber naturgemäß in der Weife vollzogen fei, daß die Braut (jpäter 
da8 Brautpaar) einen beliebig erwählten Dritten, den „gelorenen 
Vormund“, damit betraut habe, die Tradition zu vollziehen. Durch 
diefe Conjtruction bahnt filh Sohm in überrafchender Weife den 
Weg nicht nur zum VBerftändnis der im fpäteren Mittelalter fo 
häufigen „Laientrauung“ , d. 5. der Zufammengebung des Braut- 
paars durch einen beliebigen Dritten, fondern auch zum Verſtändnis 
des um diefelbe Zeit gefchehenen Weberganges der Trauung in die 
Hand der Geiftlichkeit. Diefe Sohm'ſche „Selbfttrauung“ ift nun 
freilich von ihm nicht pofitiv durch Duellenzeugniffe erwiejen, fte 
ift eben nur eine begriffliche Subftruction, um die von den Quellen 
bezeugten Thatbeſtände verftehen zu laſſen. Jedenfalls erklärt fie 
die Laientrauung und das erfte Auftreten der Firchlichen Trauung 
genügender, als die von Friedberg zum Verſtändnis herangezogenen 
„Fürſprecher“ des Iombardifchen Rechts. Aber all’ diefe höchſt ver- 
dienftlihen Unterfuhungen Sohms find ihm felber die Nebenfache. 
Den Hauptnachdrud legt er darauf, daß er zuerft das juriſtiſche 
Verhältnis von Verlobung und Trauung zu einander richtig erkannt 
habe. Nämlich Verlobung jei Ehefhliefung, Trauung Che: 
vollzug. Die erftere begründe das ehelihe vinculum, das 
ZTreuverhältnis, die negativen Wirkungen der Ehe, die lebtere 
dagegen das eheliche Semeinfchaftsleben, die pofitiven Ehewir- 
fungen. Wir fünnen bei diefer Deduction Sohms nur bedauern, 
daß er den Sag, den er im Schlußfapitel feiner zweiten Schrift 
aufgeftellt Hat, nicht von Anfang an als Richtſchnur und als eine 
Art Warnungszeichen, nicht über's Ziel hinauszuſchießen, vorangeftellt 
bat, nämlich den ſchon oben von uns erwähnten Sag: „Das deutjche 
Recht kennt feine Eheſchließung in unferem Sinne, d. h. feinen 
Rechtsact, welcher die rechtlich vollfommene Ehe durch fich und 
durch ſich allein Hervorbringt. An Stelle defien, was wir Ebe- 
ichließung nennen, ftehen zwei Vorgänge, Verlobung und Trauung.“ 
Es war daher ein zum mindeiten misverjtändliches Verfahren, wenn 
nun trogdem Sohm der Verlobung für fid) allein und zwar der- 
jelben im Gegenfag zur Trauung den Namen Ehefchließung vindicirte. 


Die Trauung. 67 


Biel annehmbarer ift es, wenn er fie in feiner zweiten Schrift „den 
Pegitimationsgrund“ für die Ehe, oder „da8 rechtliche Fundament, auf 
weihem die rechtlich vollfommene Ehe erſt ſpäterhin fich aufbaut“ 
(Tramıng und Verlobung, S. 140. 141) genannt bat. Was er 
bewiefen hat, ift num diefes, daß die Berlobungen wirkliche Rechts- 
gefhäfte waren, durch weiche alfo auch eine rechtögültige Gebunden» 
heit des Willens der Brautleute erfolgte. Das Erheblichſte, was 
er in diefer Richtung aus den Quellen nachgewiefen hat, ift wol 
dieſes, daß derjenige, welcher die Verlobte eines andern als fein 
Beib heimgeführt hatte, gezwungen werden fonnte, fie ihrem erften 
Bräutigam zurückzugeben (vgl. a. a. O. S. 25ff.); daß aljo eine 
bereit8 confummirte Ehe einem boraufgegangenen Verlöbnis weichen 
mußte. Diefer Nachweis ift daher z. 8. für v. Scheurl entſchei⸗ 
dend, in der Bezeichnung der deutſchen Verlobung als Eheſchließung 
uf Sohms Seite zu treten (Erlanger Zeitfchr. f. Brot. u. Kirche, 
Rovember 1876, S. 247). Umgelehrt ift für Bierling der Um- 
and, daß die Verlobung an fich den Bräutigam nicht berechtigte, 
tinfeitig von dem mundium Beſitz zu ergreifen, fondern er vielmehr 
als Entführer gegolten baben würde, wenn er wider Willen des 
Sormundes die Braut hätte beimführen wollen, hinreichend gegen 
die Bezeichnung der Berlobung als Chefchliegung zu proteftiren 
(Dentfch-evang. Blätter 1876, ©. 121). Der Name Epefchliegung 
will eben auf das durch die Verlobung begründete Verhältnis nur 
mit ſehr erheblichen Limitationen zutreffen. Sie ift allerdings viel 
mehr als die moderne Verlobung und die Verlobung des römifchen 
Rechtes; fie ift nicht nur ein Ehevorbereitungsact, fondern die 
erſte Stufe der Eheſchließung felbft. Dan mag fie mit eben fo 
bie Recht als ein matrimonium imperfectum bezeichnen, als man 
etwa das Fundament eined neu zu bauenden Haufes als eine domus 
imperfecta bezeichnen möchte. So viel darf al8 Ergebnis der bisher 
geführten Verhandlungen bezeichnet werden, daß gegen Sohm ſich 
erwieſen hat, daß die deutſche Verlobung den fanonifchen sponsalia 
de praesenti nit gleihwerthig war — freilich auch nicht den 
sponsalia de futuro. Aber, fügen wir hinzu, die Rechtsentwicklung 
lonnte gar wohl dahin führen, fie als den erfteren gleichwerthig zu 
behandeln. 


88 Kawerau 


2. Die Nereption der kirchlichen Trauung in Deutſchland. 


Das Urtheil Friedbergs, die kirchliche Feier bei Anlaß neu 
geichloffener Ehen fei Bis in's 12. Jahrhundert hinein niemals ein 
Act der Eheeingehung, fondern immer nur der Ebeheiligung, 
des Ehebefenntniffes und der Ehebeftätigung gemeien, fo 
daß alfo die Ehe ftets ſchon vorher vorhanden geweſen ſei (und 
zwar, wie wir binzufegen können, nicht nur de jure vorhanden, 
fondern ſehr Häufig auch fhon de facto durch hinzugetretene copula 
carnalis) ift von Sohm durdaus acceptirt und beftätigt worden. 
„Es gab (in der älteſten chriftlichen Kirche) keine Mirchliche Trauung, 
noch überhaupt eine kirchliche Form der Ehefchließung, fondern 
nur den Kirchgang des neuvermählten Ehepaare... Die 
ganze kirchliche Handlung enthielt nichts, was auf die juriftifche 
Seite der Ehe ſich bezogen hätte. Sie war nur Gottesdienft, und 
die gefchloffene Ehe nur ein Anlaß gleich anderen Vorgängen bes 
Familienlebens, zum Gottesdienft zu fommen und dort vor Gott 
und feiner Gemeinde bdanfend, betend -und um Segen bittend zu 
erfcheinen. Der Gang zur Brautmeffe wer nur ein Gang zur 
Kirche, nicht ein Gang zur Schließung noch zur Vellziehung der 
Ehe.“ (Recht d. Eheſchl, S. 157.) — Wefentlich anders urtheilt 
dagegen Cremer über die kirchliche Feier. Nach feiner Meinung 
hat es fi von Anfang an um kirchliche Eheſchließung gehandelt. 
Ehriftliche Nupturienten wollen eben nicht felber ihre Ehe fchließen, 
fondern Gott foll durch deu Dienft des Amtes ihre Ehe ſchließen. 
So fehe fhon Tertullian ganz deutlih die Sache an, wie fein 
„ecclesia conciliat, pater rato habet‘‘ ausweiſe. Wenn die 
Alten von Denedictton reden, jo iſt das in Eremers Augen wefent- 
lih ein Copulationsact, da für die Nupturienten wie für die Kirche 
erſt durch die priefterliche Benediction das Eheband zwar nicht recht: 
lich, aber doc, fittlich abichliegend geknüpft worden fe. Er rebet 
daher auch in Bezug auf die ältejten Ritualien (die wir nicht mehr 
fennen) von einem „Spruch“ der Kirche, einer „im Namen Gottes 
ertheilten Antwort an die Nupturienten“, durch welche der kirchliche 
Eheſchluß erfolgt jet (Trauung, S. 14—17). Bon einer Recep⸗ 
tion der Firchlichen Trauung im Mittelalter kann alfo auch für 








Die Trauung. 2) 


iga gar nicht die Mede fein, ſondern nur von einem Zeitpunkte, 
von welchem an der ſtets geübten Firchlichen Trauung die Neben» 
bedeutung zugefallen fei, auch zugleich rechtliche und nicht nur 
kirchliche Eheichließung zu fein a. a. DO., ©. 33. Aus ber deutfchen 
Trauung fei zwar die noch gegenwärtig üblihe Form der kirch⸗ 
lichen Trauung erwachſen, aber nicht die Trauung jelbft. Denn 
von Anfang an fei das die Bedeutung der kirchlichen Feier geweſen, 
daß in ihr die Ehe als Gottesftiftung und Gottesgabe erbeten und 
gegeben worden fei (Evang. 8.-3. 1876, ©. 357. 358). Es 
Ideint uns ein Fehler in den Deductiouen Cremers zu fein, daß 
der von ihm zu Grunde gelegte Begriff der Trauung, der fi 
dur fein Buch von Anfang bis zu Ende hindurchzieht, in den 
allerverschiedenften Dscillationen des Ausdruckes und des Gedankens 
vorgetragen wird, fo daß es fchwer wird zu formuliren, was er 
eigentlich ausdrücken will. Bald fagt er: die Kirche ift es, bie 
durch den Dienft des Amtes die Ehe fließt; die kirchliche 
Zrauung begründet die Che als Gottesſtiftung; in der firchlichen 
Feier wird die Ehe als Gottesgabe gegeben. Bald definirt er: 
die Trauung fei nicht Chefchließung, fondern Heiligung der Ehe- 
ihliegung; die Kirche mache die Ehe nicht, fie Habe nichts weiter 
zu geben als das Zeugnis von der &he. Dann definirt er bied 
Zeugnis von der Ehe wieder als ein „die Ehe Zuſprechen“ und 
als ein „die göttlich geftiftete Ehe Zuerktennen“. Er betont 
auf's ftärkfte, in der Firdlichen Trauung werde realiter etwas 
gegeben, mitgetheilt; aber dag, was gegeben werde, ijt igm das eine 
Mal das Wort Gottes von der Ehe, das andere Dial die Ehe felbit; 
bald ift es ihm die Vergewiſſerung der göttlichen Zuſammen⸗ 
fügung, bald diefe Zufammenfügung felbft. Aus diefer Unklarheit 
lommen wir in all feinen Ausführungen nicht heraus. Wir fommen 
abfofut nicht zur Entjcheidung darüber, ob wir die eine oder die 
andere Reihe von Ausdrücken als feine eigentlicde Meinung faſſen 
ſollen; ob wir als Duinteffenz feiner Meinung fagen dürfen, bie 
Trauung fei der Act, kraft deffen Gott ben einzelnen Ehebund ftifte, 
oder der Act, in welchem die Kirche Zeugnis gebe von der Stiftung 
Gottes, die auch dem einzelnen Ehebündniſſe gelte. Er fagt eben 
Beides und wird fich doch wicht verbehlen, daß das zwei ganz ver- 


60 Kaweran 


ſchiedene Auffaſſungen der Trauung wären. Jedenfalls ſehen wir, 
daß Cremer dem Worte Eheſchließung eine ganz neue Bedeu⸗ 
tung gegeben hat. Sonſt verſteht man darunter einen Act, der die 
Ehe begründet, der den Beſtand der Ehe erzeugt. Aber dagegen 
verwahrt er fich nachdrücklich. Chriſtliche Eheſchließung iſt ihm ein 
rein ethiſcher Begriff. Es iſt ihm von Seiten des Menſchen das 
Bedürfnis, ſich von Gott. zufammengeben zu laſſen, bie Ehe aus 
Gotted Hand zu empfangen, und von Gottes Seite diefe Ehegabe 
ſelbſt. Allein abgejeben von dem Bedenken, das wir gegen diefen 
Sprachgebrauch äußern müffen (man denke an die ähnlichen Nede- 
wendungen: Frieden fchließen, ein Bündnis fchliegen), müſſen wir 
dagegen proteftiren, daß diefer „ethifhe” Begriff nun von ihm 
felbft beftändig auf den Liturgifchen Act der Trauung übertragen wird. 
So wenig fid der ethifhe Begriff „chriftlihe Eheführung“ mit 
irgend einem liturgifchen Acte decken kann, ebenfo wenig der einer 
„chriſtlichen Eheſchließung“. Er fagt ja ausdrückich, chriftliche 
Eheſchließung heiße nicht Schließung einer chriftlihen Ehe, fondern 
Hriftlihe Schließung der Ehe. Aber, fragen wir wieder, find das 
identifche Begriffe: chriftliche Schließung der Ehe und Trauung? 
Kehren wir nach diefer Abfchweifung zu dem Bilde zurüd, das 
Cremer von ber kirchlichen Feier in ber alten chriftlichen Kirche 
entworfen Hat, fo müffen wir urtheilen, daß er aus den rhetorifch 
überfhmwänglichen Worten des Tertullian viel zuviel in die Bene⸗ 
dietionsfeier der alten Kirche hineingetragen. hat. Wir ftellen feinem 
Bemühen, der alten Kirche eine „Trauung“ zu imputiren, Die 
nüchternen Worte von Scheurls entgegen: „Die chriftliche Kirche 
führte in ihrer erften und beften Zeit für die Eingehung der Che 
eine firchenamtliche Handlung nicht ein, was fie deshalb ungehindert 
hätte thun können, weil die weltliche Rechtsordnung die Art und 
Weife der Eingehung der Ehe ganz dem Belieben der Einzelnen 
überließ. Sie befchränfte fi darauf, Einholung des Rathé des 
Biſchofs für die Verlobung (daraus wird bei Cremer eine, Sanction 
des Vorhabens, welche die Betreffenden der göttlichen Sanction gewiß 
madt‘), Verkündigung des Vorhabens der Ehefchliefung an die 
Gemeinde und einen Kirchgang der neuen Eheleute nad) der Ein- 
gehung der Ehe zu fordern, und bei biefem durch den Biſchof dem 


Die Tranung. 61 


Ehepaar den Segen ertheilen zu lafſen. Einen Zrauact kannte 
jie überhaupt nicht, am wenigften aljo einen ehefchließenden, 
Denn die conciliatio matrimonü, von welcher die befannte 
Stelle Tertullians ſpricht, kann bei unbefangener Auslegung gewiß 
mr von der berathenden Mitwirkung des Biſchofs bei der Berlo- 
bang verjtanden werden.” (a.a.D., S.249,) Bon einem „Sprud 
der Kirche”, der die göttliche Sanction ertheilte, wifjen wir abfolut 
nichts. Wir wiffen von einer evAoyix oder benedictio, aber 
das ift nicht eine Ehefchließung, fondern der Segen über eine ger 
Ihloffene Ehe. Die göttlihe Stiftung Hat fie zu ihrer Voraus⸗ 
ſetzung, aber fie ftiftet die Ehe nicht. — 

Es muß ferner Cremer Unrecht gegeben werden, wenn er fi 
\o energifch dagegen wehrt, anzuerfennen, daß die Trauung durd) 
den Geiftlichen, als fie im 13. Jahrhundert auftauchte, zunächft ein 
völlig augerfirhlicher Act war (Trauung, ©. 42. 113). Sohm 
hat den urfprünglich außerfirchlihen Charakter der Trauung durd) 
den Briefter vor der Kirchthür außer allen Zweifel geitellt. Es 
ift eine der trefflichften Partien, für den Theologen - ohne Zweifel 
die intereffantefte, in feiner Arbeit, Abjchnitt V, in welchem er nach⸗ 
weift, wie die Kirche in einem allmählichen Fortſchritt die weltliche 
Zrauung ihrer Benediction immer mehr genähert hat; wie es ihr 
in 10.—12. Yahrhundert gelungen ijt, die LYaientrauung vor bie 
Kirchthür zu ziehen, jo daß diefe zwar noch nach wie vor durch 
den Laien, den Gefchledhtsvormund der Braut, vollzogen wurde, 
aber doch bereitd zu einer Zrauung coram parocho geworden 
war; wie dann die Kirche im 13. Jahrhundert, entfprechend der 
Umwandlung, welde dem weltlichen Traurecht wiberfahren war, 
indem die Uebertragung des mundium aufgehört hatte, Rechtsinhalt 
der Zrauung zu fein, und indem die Vollziehung des Trauacts 
micht mehr an die Berfon des „geborenen Vormunds“ gelnüpft war, 
ſondern von einem beliebigen Dritten vorgenommen werden konnte, — 
die Zrauung zu einer Function des parochus- felbft hat machen 
Ennen. So wurde die kirdliche Feier aus einer juriftifch gleich- 
gültigen durch den ante portas ecclesiae vollzogenen Trauact eine 
furiftifh relevante. Die kirchliche Feier ift nun eine zweitheilige. 
Der Act vor der Kirchthür ift eine nichtkirchliche Handlung, 


64 Kawerau 


zuvor vollzogene eheſchließende Verlobung wurde. Die Trauung 
wurde alſo Ehebeſtätigung, weshalb auch in den Ritualien das 
ego conjungo mehrfach mit einem ego confirmo vertauſcht wurde. 
Und diefe Ehebeftätigung galt dann, firchlich betrachtet, als eine 
auch kirchliche Anerlennung des Ehebündnifjes, als ein Zeugnis, daß 
die eheliche Verbindung nach göttlichen Rechte zu Recht beftehe, 
daß fie von Gott zufammengefügt fei. 


3. Die Eheſchließung nah kausniſchem Recht. 


Bis zu dem Erfcheinen der Sohm'ſchen Schrift über bas 
Recht der Eheichließung war über die Bedeutung der kanoniſchen 
Sponfalienlehre eine Meinungsverfchiedenheit kaum vorhanden ge- 
wefen. Die Definition, welche z. B. v. Strampff in feiner Arbeit 
(„Luther über die Ehe“, Berlin 1857, S. 287) gegeben hatte: 
„Die gegenfeitige Zufage, die Ehe künftig fchließen zu wollen, 
heißt sponsalia de futuro. Den Gegenfaß derfelben bilden bie 
sponsalia de praesenti, die wechfelfeitige Erklärung, die Ehe 
gegenwärtig eingehen zu wollen, wodurd die Ehe wirklich, ob- 
schon formlos, gefchlofjen wurde“ — mar bie allgemein anerkannte. 
Ebenfo allgemein galt als ausgemacht, was Friedberg gelehrt hatte, 
daß diefe kanoniſche Sponfalienlehre in den Gedanken des römifchen 
Rechtes ihren Urfprung habe. Sponsalia de futuro wurden all- 
gemein dem römijchen Consensus sponsalitius, der eine spes nup- 
tiarum futurarum ift, gleichgeftellt, und ebenfo sponsalia de 
praesenti dem consensus nuptialis; von diefem letzteren allein 
follte dann der Sat gelten consensus facit nuptias. Genauer bat 
fich Friedberg in feiner Replit gegen Sohm über feine Auffaffung der 
Sponfalienlehre geäußert. Sponsalia de futuro feien lediglich 
Berlöbniffe von einem ganz andern rechtlichen Inhalt ale die Ehe⸗ 
fchließung, sponsalia de praesenti dagegen der vollgültige Ehe⸗ 
abſchluß, in keiner Weife das, was wir unter Berlobungen verftehen. 
Sie feien gewöhnlich im Trauact zum Bollzug gelommen, fo daß 
es wefentlich dasfelbe fei, ob man fage, Ehen feien durd; sponsalia 
de praesenti oder feien durch kirchliche Trauung gefchlofjen worden. 
„Die Trauung begründet regelmäßig die Ehe“ (a. a. O., ©. 35). 
Auf S. 43 fagt er dann freilicd wieder, sponsalia de praesenti 


Die Tranung. 65 


hätten für gewöhnlich) noch nicht das eheliche Zufammenleben her⸗ 
beigeführt, fondern erft die firchliche Trauung. Er denft alfo dod) 
mol beides als zwei fiir gewöhnlich zeitlich getrennte Vorgänge. 
Betreffs der Anwendung diefer kanonifchen Lehre auf die beutfchen 
Verhältniſſe urtheilt er ferner, eine bdeutfche Verlobung habe, wo 
fie überhaupt getrennt von der Trauung vorgelommen fei, als 
sponsalia de futuro, dagegen die deutjche Trauung als sponsalia 
de praesenti behandelt werden müjjen. Ganz anders Sohm. Nach 
ihm wurzelt bie fanonifche Sponfalienlehre durchaus in den An⸗ 
Ihauungen des deutſchen Rechts. Das fanonifche Recht habe 
urjprüngli nur eine Verlobung gekannt, und das fei die Ver⸗ 
lobung⸗Eheſchließung des deutfchen Rechts. Die durch Alexander II. 
in das Recht eingeführte Diftinction zweier Sponfalien habe nicht 
zwei verjchiedene Borgänge und Nechtsverhältniffe zur Grundlage, 
jondern fei nur eine künftlic) eingetragene diverfe Behandlungsweife 
ein und desfelben Rechtsvorganges. Beide Sponfalien feien wefent- 
fh identifch: fie feien beide Berlobungen, in jo fern das 
eheliche Gemeinſchaftsleben mit ihnen (ordnungsmäßig) nicht feinen 
Anfang nahm; fie feien beide Eheſchließungen in Anbetracht 
ihrer Bedeutung für das Recht. Der Unterſchied zwifchen beiden 
fei nur der, daß, wenn zufällig in dem einen Verlöbnis verba de 
futuro (accipiam te), in einem andern verba de praesenti 
(accipio te) gebraudht waren, das kanoniſche Recht das erftere 
als ein leichter lösliches Verhältnis behandelt habe, als das letztere. 
Die Diftinction fei eine durchaus künjtlihe, dem Nechtsbewußtfein 
des Volks fremde gewefen; treffend habe fie daher Luther als „Lauter 
Narrenfpiel” gegeißelt. Sponsalia de futuro feien aljo gleichfalls 
Ehejchließungen gewefen, die aber bis zu dem Moment ihrer Eon» 
jummation durdy copula carnalis in einer gewiffen Rechtsunficher- 
beit, fo zu fagen in ber Schwebe geblieben feien. Ich darf es 
nicht wagen, in einer Frage entjcheiden zu wollen, zu deren Bes 
urtgeilung ein umfängliches Studium des fanonifchen Rechts und 
feiner Entwicdlungsgefchichte gehört. Die Erörterung über die Vor» 
fragen, in welchem Verhältniffe das decretum Gratiani zu der 
Summa bes magister Rolandus ftehe, und was hiebei weiter in 
die Discuffion gezogen ift, das müſſen wir durdaus der Unter- 
Feol. Etub. Jahrg. 1878. 5 


‘66 Kuweran 


ſuchung ıntfrer Kanoniſten anheimgeben. Ueber ben Streit ſelbft 
über, was sponsalia de futuro und de praesenti geweſen ſeien, 
glauben wir folgendes Ergebnis conftatiren zu dürfen: Die Sohm’fche 
Faſſung der sponsalia de futuro als identifch mit den sponsalia 
de praesenti ift als allgemein zurüdgewiefen zu bezeichnen. 
Daß die erfteren mit der deutſchen Verlobung nichts zu thun haben, 
sondern die getrene Wiedergabe des römiſchen Verlbbniſſes find, 
erhellt nitht nur aus der beftändigen Berufung des corpus juris 
canonici auf die Definitionen des römischen Rechts, ſowie aus 
rer Bezeichnung als tractatus de matrimonio contrahendo, 
fondern auch aus der Thatſache, daß, wo sponsalia per verba 
de futuro vorangegangen waren, hernach eine zweite despon- 
satio per verba de praesenti nadfolgen Tonnte. Das wäre ja 
aber gar nicht möglich, wenn jene bereits Eheſchließung geweſen 
wäten, dgl. Corpus juris canonici (ed. Richter) II, p. 642. 
643: „quidam nobilis cuidam mulieri nobili de contra- 
hendo matrimonio fidem dedit quibusdam praesentibus et 
se cum ea infra biennium per verbade praesenticon- 
tracturum .. . firmavit“; nun will derſelbe in's Kloſter 
gehen und weiß nicht, wie er ſich verhalten ſoll. Darauf wird 
entſchieden: tutius est ei prius contrahere et postea ad reli- 
gionem imigtare si tamen post primam desponsationem 
copula non dignoseitur intervenisse carnalis.“ Hier haben 
wir alfo deutlich zuerft sponsalia de futuro (fides de con- 
trahendo matrimonio data), darauf folgen sponsalia per verba 
de praesenti, und das durch diefe letzteren geknüpfte Eheband wird 
dann kraft des impedimentum voti solennis wieder aufgelöft. 
Nur wenn Anf die prima desponsatio die copula carnalis gefolgt 
wäre, würde — aber nicht durch die desponsatio, fondern durch 
letztere — eine conſummirte Ehe erzeugt worden fein. Denn copula 
carnalis wird ‘in diefem Falle als die Realerklärung von spon- 
%alia de praesenti angejehen. Ebenjo muß die Sohm’fche Gleich⸗ 
ftelfung des fanomifchen und des deutfchen Rechts nad) dem im 
1. Abſchnitt Bemerkten ale unzutreffend bezeicynet werden. Da- 
gegen fann man ihm darin beipflihten, daß er die sponsalia de 
praesenti als ®Berlobungen bezeichnet bat. Denn wir haben fie 


Die Tranung. 67 


me, wie v. Scheurl treffend bemerkt, als „ein ſolches Ehever⸗ 
ſprechen zu denken, wobei die SHerftellung wirklicher Lebensge- 
meinfchaft der Zukunft vorbehalten ift, oder es wenigftens fein 
kann, fo daß alfo auch nad) fanonifchem Rechte die Trauung bloßer 
Bollzug der ſchon gefchloffenen ehelichen Verbindung it, ober es 
do fein kann; denn die sponsalia de praesenti find Ehefchliegung, 
nen aber unftreitig vor der Trauung oder Heimführung der Frau 
Hattgefunden Haben“ (a. a. O., S. 247. 248). In diefem be- 
Ihränften Sinn können fie als Verlobung bezeichnet werden, wenn 
wir dabei nur dem rechtlichen Unterfchied zwifchen ihnen und den 
deutihen Berlobungen nicht ans dem Auge verlieren. 

Unfer Hauptinterefje bei diefer ganzen Frage ift num offenbar, 
zu ermitteln, wie fid) die Anwendung bes fanoniihen Spon- 
lafienrehts auf die deutſchen Verhältniffe geftaltet Bat; 
d. b. ob die deutſche Verlobung kirchenrechtlich als sponsalia de 
ſuturo ober al8 sponsalia de praesenti behandelt worden ift. 
Run war ja die beutfche Verlobung nicht ein Vertrag über eine 
fünftig zm fließende Ehe, fondern galt als Fundament der Ehe- 
ſchlißung ſelbſt. Sie ift wol auch, mit feltenen Ausnahmen, zeitlich 
der Horhzeitsfeier fehr nahe gerückt geweſen. Man fihritt zur 
feierlichen Verlobung erft dann, wenn man auch thatfächlid) willens 
war, den Eheftand zu beginnen. Das Chevorbereitungsverhäftnis 
des römischen Rechtes war unbekannt und ungebräuhlid. Daher 
war es — einzelne befondere Verhältniffe abgerechnet — ganz natur⸗ 
gemäß, die Verlobung den sponsalia de praesenti gleichzuftellen. 
Berlöbniffe, welche ala sponsalia de futuro gemeint waren, kamen 
ſehr felten vor. Im allgemeinen galten daher Verlobungen in 
Deutfchland fomol in der Anficht des Volkes wie in der Behand» 
Img durch die Offizialen als sponsalia de praesenti. Dan 
vergleiche dafür das intereffante Zeugnis Luthers, Verlöbniffe per 
verba de futuro feien „eitel feltfame Fälle und ungewöhn— 
lihe Gefchichten, denn nach gewöhnlicher Weife muß ein 
Öffentliches Verlöbnis durch verba de praesenti geſchehen“ („Von 
Eheſachen“ 1530, bei v. Strampffa.a.D., ©. 319). Und eben 
dahin deutet wol auch die Bemerkung Schneideweins, des Witten- 
berger Juriften aus Luthers Zeit, sponsalia de futuro, b. h. 

5* 





68 Kaweran 


tractatus et consilia de ineundo matrimonio ſeien in dieſer 
Weife „apud nos“ gar nicht in Gebrauch (ſ. Allg. luth. K.⸗Z. 
1876, ©. 731). „Uxorem duxi“, ſchreibt Melanchthon von feiner 
Berlobung, und ebenfo meldet er von Agricola’8 Berlobung : 
„Noster Isleben uxorem duxit FElsam“ 1). Die Hochzeit 
fand in beiden Fällen etliche Wochen danach ftatt, aber die von 
der Verlobung gebrauchten Ausdrüde lehren, daß dieſe als spon- 
salia de praesenti gedacht if. Das Kriterium, welches das 
fanonifche Necht zur Unterfcheidung aufgeftellt hatte, ob nämlich 
verba de futuro oder verba de praesenti gebraudyt worden feien, 
paßte in feiner Anmendung auf die deutfchen Verhältniſſe gar 
nicht; denn das Deutfhe „willft du mid zur Ehe haben?“ 
lautet futurifch und ift doch präfentifch gemeint. So wurde alfo 
die Anwendung diefes Kriteriums auf bie Berlobungen unter 
den Deutfchen zu einer materiellen Ungerechtigkeit. Somit hatte 
Luther völlig Recht mit feiner zornigen Bezeichnung dieſer Diſtinc⸗ 
tionen als eines lauteren Narrenfpiels, — aber er war damit nur 
im Recht angefichtS der Lage der VBerlobungsverhäftniffe in Deutſch⸗ 
land. Dem eigentlihen Sinn des kanoniſchen Rechts iſt 
er damit nicht gerecht geworden. Und daher war es ein verfehlter 
Verſuch Sohms, von diefen Worten Luthers aus eine gänzliche 
Umgeftaltung der Sponfalienlehre zu verfuchen. 


4. Luthers Stellung zu Eheſchließung und Tranıng. 


Hier tritt uns eine ganze Anzahl von Controverfen entgegen. 
Zunädft kommt die Stellung Luthers zum lanonifden 
Recht in Betracht. Friedberg bat in diefer Beziehung ſehr ab- 
fällig über Luther geurtheilt. Er habe auf der einen Seite bie 
kanoniſche Doctrin verworfen, und fie anderfeitS doch wieder in 
praxi vollftändig reprobucirt; der einzige Punkt, wo er eine Aen⸗ 
derung vorgenommen habe, habe das immer ſchon unpraktifche Recht 
zu einem unpraftifchen und unbilligen gemacht (Recht der Eher 
fhließung, S. 210). Und auch neuerdings hat er wieder Luthers 
Stellung zum kanoniſchen Recht als eine Mifchung von Misver⸗ 


1) Corp. Ref. I, p. 209. 265. 


Die Trauung. 69 


fändniffen und blindem Eifer wider dasfelbe charakterifirt (Ver⸗ 
(bung u. Trauuug, S. 58. 59). 

Wir werden Sohm darin beipflichten müfjen, daß es gewiß 
geſchichtlich unbegreiflich jei, daß Luther mit feiner Heinen Schrift 
von Eheſachen mit einem Schlage nicht nur das Eherecht in den 
Gebieten der Tutherifchen Reformation, fondern auch in denen ber 
reformirten Kirche, ohne Widerfpruch zu finden, ganz neu geftaltet 
haben follte (Trauung und Verlobung, S. 110—114). Wir geben 
griedberg darin Recht, dag Luther die Bedeutung der fanonifchen 
sponsalia de futuro verfannt bat, daß alfo fein Say: „jedes 
öffentliche Verlöbnis ftiftet eine rechte, redliche Ehe“, allerdings nicht 
dem fanonifchen Rechte gemäß ift — aber zu diefem Deisverftänd- 
nis des Rechtes konnte er nur um deswillen fommen, weil thatfächlich 
derartige präparatorifche Berlöbniffe nicht in Brauch waren; Luther 
trat daher mit diefem Sag auch nit mit der Anfchauung des 
ganzen Volles in Kampf, fondern fprad einfach die Anficht aus, 
die man allgemein von der Berbindlichleit und Wirkung des Ver⸗ 
lobniſſes Hatte. Somit war Luthers Misverftändnis des kano⸗ 
nifhen Rechtes in diefem einen Punkt ein für feine Zeit burdh- 
aus unvderfänglicdes. “Der Fehler zeigte fih erft dann, als mit 
einer Beränderung der focialen Verhältniffe das Bedürfnis fich 
herausstellte, eine präparatorifhe Berlobung zu fchaffen. “Der 
eigentliche Begriff der sponsalia de futuro ift alſo allerdings bei 
ihm verloren gegangen, er läßt nur zwei Fälle ftehen, in denen er 
sponsalia de futuro (die dann auch nicht ehejchließende Kraft 
haben) geften läßt: desponsationes impuberum und desponsationes 
cum conditione. Jedes andere Verlöbnis ift Eheſchließung. Zum 
Berftändnis dieſer feiner Theſis (deren bibliſche Begründung 
befonders aus Matth. 1, 20 er lediglich dem Tanonifhen Recht 
felbft entnommen hat) ift es unferes Erachtens von Wichtigkeit, 
deranf zu achten, wie entfchieden er ſich das Verlöbnis als zeitlich 
dem Beginn des ehelichen Lebens ganz nahe voraufgehend dent. 
Ich rathe, wenn's Verlöbnis gejchehen ift, daß man aufs aller- 
erite das Beilager und öffentlihen Kirchgang halte. Denn die 
Hochzeit lang aufziehen und auffchieben, ift fehr fährlih .... darum 
ſoll man's nicht verziehen, fondern nur flugs zufammenhelfen.“ 





70 Kamwerau 


„Nach dem Berlöbnis ſoll man nicht lang verziehen mit der Hoch⸗ 
zeit... man muß Gott um Rath fragen und beten, und dar nach 
bald fortfahren.* (Tiſchr. IV, ©. 41. 55. 56 [Ausg. Förſt.⸗ 
Bindf.]) Melanchthons und Agricola’s Hochzeiten find feiner Meinung 
nach viel zu lange nad dem Berlöbnis hinausgeſchoben worden, 
und doch verjtrich bei der des Erfteren nur ein Vierteljahr, bei der 
des leßteren waren nur 6 Wochen dazwifchen. Ebenſo erjcheint 
es bei den alt=evangelifchen Kirchenordnungen — nicht als Ber- 
ordnung, wol aber al8 die thatjächliche Vorausſetzung, — daß Ver⸗ 
lobung, Anmeldung beim Pfarrer, Aufgebot, Hochzeit uno tenore 
als eine in fi zufammenhängende und zufammengehörige Handlung 
vorgenommen werden. So hebt beijpielöweife in der Cölner Re⸗ 
formation der Abſchnitt „Vom Einfegnen der Eheleute” mit den 
Worten an: „So fich die Leute mit einander vermählt haben, die 
folfen fi} beide zumal, der Bräutigam und die Draut ... . dem 
Baftor . . . anzeigen“ (Richter, Bd.Il, S. 47); oder in einer 
anderen heißt es: wenn Gott Leute zum ehelichen Leben berufen 
hätte, die follten postquam inter ipsos aut parentes eorum 
ita constitutum et ratum fuerit dataque fide firmatum, — 
alfo nahdem das Verlöbnis in gültiger Weiſe gefchloffen ſei, den 
Baftor davon benachrichtigen, damit die Gemeinde für fie Fürbitte 
thäte, jo daß nach Ablauf von 3 Wochen dad coeptum conjugium 
solenni ritu absolvatur coram tota ecclesia (a. a. DO. Bd. II, 
©. 157). Die thatfächliche Grundlage für die Lehre der Refor- 
mation von der ehefchließenden Kraft des Verlöbnifjes Tiegt affo 
ganz wejentlic in diefer engen Berfnüpfung von Verlobung und 
Trauung. 

Wo Luther des weiteren das kanoniſche Recht abgeändert hat, 
da werden wir ihm im vollften Maße beiftimmen müffen: es ift 
das feine Reclamirung der Deffentlichleit und der Nothwendig⸗ 
keit des elterlichen Conſenſes für ein gültiges Verlöbnis. 
Aber freilich dürfen wir nit mit Sohm bei diefem Vorgehen 
Luthers ein Wiederanfnüpfen an das deutſche Recht erbliden. 
Dies fpielt überhaupt bei ihm — fo weit wir bliden- fönnen — 
gar keine Rolle. Eine Rolle neben dem fanonifchen Recht fpielt bei 
ihm fonft nur kaiſerliches d. 5. römifches Recht. Vgl. für die 


Die Trayung 71 


Bedeutung, die er dieſem gerade in causis matrimonialibus beilegt, 
„Bon Eheſachen“ 1530, bei v. Strampff, S. 314; Tifchr., Vd. IV, 
©. 57. 99. Ferner die Vorrede zu der Schrift des Joh. Brenz 
„Don Ehejachen“ , die Luther dazu gefchrieben bat. Und dieſe 
Brenz'ſche Schrift ſelbſt (Wittenberg, Georg Rhaw, 1531) führt 
farz und bündig aus, für die Juden fei Mofls Geſetz, für bie 
Papiften tanonifches, für die Chriften in deutfchen Landen dagegen 
fniferlicheg Hecht in Eheſachen gültig. In der Lehre von der che- 
Ihließenden Kraft der Verlobung lafjen die Reformatoren fich frei. 
ii von den Anfchauungen des römischen Rechtes nicht beeinfluffen. 
Es ift intereffant — und eine Betätigung für das vorhin über 
die in Deutfchland üblichen Berlobungen Bemerkte —, daß Brenz in 
der angeführten Schrift gar Feine Clafjification der Verlöbniſſe 
aufſtellt. Er kennt nur eine Art, und diefe („Handftreich“ 
oder „bie (Ehe verheißen“) ift ihm gleichbedeutend mit „ein Ehe⸗ 
weib nehmen“ 1). 

Sriedberg und Sohm find ferner über Luthers Traubüchlein 
mit einander in Streit gerathen. Die Worte in der Vorrede: 
„Solches alles lafje ih) Herrn und Rath fchaffen und machen, wie 
fie wollen; es gehet mich nichte an. Aber fo man uns begehret, 
für der Kirchen oder in der Kirchen, fie zu fegnen, über fie zu 
beten, oder fie auch zu trauen, find wir fchuldig, dasfelbige 
zu thun“ — haben zu den allerverfcjhiedenften Deutungen Anlaß 
gegeben. Friedberg deutet dad „man“, von welchem das Begehren 


I) Auffallend ift allerdings die Lehre Brenz’, was zu thun fei, wenn ein 
Berlobter nach dem Berlöbnis feinen Sinn ändert und die gefchloffene 
Ehe nit vollziehen will. Das altproteftantische Eherecht mußte conſe⸗ 
quenterieife in folchen alle den Ehevollzug durch Trauung und Heim- 
führung zwangsweiſe herbeizuführen fuchen. Ganz anders Brenz: „So 
eine Tochter Einem vertrauet ift und er im felben Lande wohnt, führt 
fie jedoch nicht zur Kirchen, jo ſoll die Bertranete 2 Jahre fill ſtehen 
und hinzwiſchen den Kirchgang und Veftätigung dev Ehe erfordern; — 
will er aber nicht, foll es ihr unfträflich fein, fo fie ſich anderswo ver- 
heirathet.” Alfo flatt eines Zwanges zur Trauung, Auflöfung des Ber- 
hältniffes, wenn der eine Theil es Töfen will. Das if ein durchaus 
moderner Sat und im Syſtem jener Zeit eine Inconfequenz. 











72 Kaweran 


J 
ausgeht, aus den vorangehenden Worten auf den Staat oder die 
Obrigkeit. Er folgert ferner aus den Worten die juriſtiſche 
Unweſentlichkeit der Trauung (Verlobung und Trauung, ©. 61. 
62). Andere haben den Worten entnehmen wollen, Luther unter- 
ſcheide hier deutlich die Trauung als eine rein civile, in obrigfeit« 
lichem Auftrage zu vollziehende Chefchliefungshandlung von dem 
rein kirchlichen Segnen und Beten. Sohm wiederum hält die 
Brautleute felbft für die Begehrenden und meint hier den Beweis 
zu haben, daß die deutfche Trauung dem Bewußtſein jener Zeit 
noch Kar vorſchwebe. Die Brautleute begehren vom Geiſtlichen 
die Trauung, damit tritt diefer in die Holle des Vormundes ein, 
und als „gelorener Vormund“ giebt er die Braut dem Bräutigam 
auf Treue — und eben diefe Trauhandlung fei das juriftifch 
Wefentliche an der gefamten kirchlichen Handlung. In einem Stüde 
hat dann Sohm feine Anfiht mobificirt: der lateinifche Text des 
Traubüchleins hat nämlich nichts von der im deutjchen Texte an⸗ 
fcheinend indicirten Loslöfung des Wortes „trauen“ von „fegnen 
und beten“; die Worte find ganz forglo® wiedergegeben durch 
copulemus, benedicamus aut oremus; trauen und fegnen find 
alfo nicht gegenfäglich, fondern als verfchiedene Ausdrüde für dies 
felbe Sache verjtanden. Als Wechfelbegriff will nun freilich Sohm 
keineswegs die Ausdrüde veritanden wilfen, fondern er will nur das 
daraus entnehmen, daß für Luther das Trauen felbftverftändlich zur 
firhlihen Handlung mitgehöre. — Wer ift denn nun aber als Sub⸗ 
jeet zu dem „man begehret* gedaht? Das ift unzweifelhaft, daß 
Luther Hernach in derfelben Vorrede mehrfach von dem Begehren 
der Brautleute redet und alfo die Eirchlihe Handlung von 
diefem Begehren abhängig madıt, und wenn Sohm etwa meint, 
diefen Gedanken zuerft bei Yuther entdeckt zu haben, fo wäre das 
freilich eine Zäufhung (vgl. 3. B. Jacoby, Liturgit Luthers, 
S. 329). Ob aber aud in dem in Frage ftehenden Sake bie 
Beziehung des „man“ auf die Brautleute richtig fei, ift uns troß 
der erneuten Bemweisführung und der Berufung auf den lateinifchen 
Text fraglich geblieben. Er müßte dann confequenterweife in dem 
nachfolgenden Sate: „die es geftiftet haben, dag man Braut 
und Bräutigam zur Kirche führen foll”, die Brautleute felber für 


Die Trauung. 13 


die erffären, die ſolches geftiftet haben. Richtiger fcheint es ung, 
da in den borangehenden Worten die mancherlei Hochzeitsfitten und 
Volksbräuche beichrieben find, zu dem „man begehrt“ das ganz 
allgemein gefaßte Subject „die gute fromme Volksſitte“, die von 
den Bätern „geftiftete” Löbliche Gewohnheit, zu fuppliren. 

Was verfteht denn nun Luther unter „trauen“? Das darf 
als ein feites Ergebnis der in den lebten Jahren geführten Contro⸗ 
verje bezeichnet werden, daß e& ein Irrtum war, werm man früher» 
hin öfter Trauung und Segnung in der Weife entgegengeftellt 
hat, daB erftere, als eine wejentlich civile Handlung, der Act der 
Eheſchließung fei, letztere dagegen die Firchliche Weihe der Ehe 
bedeute. Das haben Friedberg und Sohm übereinftimmend klar⸗ 
geftellt, daß für Luther wie für die altproteftantiiche Kirche der 
Chefhließungsact in dem öffentlichen, durch elterlichen Conſens 
befräftigten Verlöbnis Liegt, daß es ſtets bereits gefchloffene Ehen 
find, für welche die firhliche Trauung begehrt wird, daß e8 — recht⸗ 
lich betrachtet — ftetS neue Eheleute find, die zur Trauung kommen. 
Auch darin treffen no beide Juriſten zufammen, daß fie bie 
Zrauung als Ghebeftätigung bezeichnen. Treffend entwidelt 
Sohn diefen Begriff (Recht der Eheichliegung, S. 226 — 228). 
In der Trauhandlung gefchehe zunächft die Betätigung der in der 
Verlobung geichloffenen Ehe durch die Brautleute felbft, indem bieje 
igre Eheverbindung öffentlich befennen. Aber es finde zugleich aud) 
vonſeiten des Geiftlichen eine Beftätigung ftatt, nicht nur ale 
amtliche Sonftatirung; er übe nicht nur paffive, fondern auch active 
Afiftenz. Seine Beftätigung bedeute zugleich eine kirchliche Zus 
timmung oder Approbation, auf Grund deren dann der göttliche 
Segen ertheilt werde. Aber damit, meint Sohm, ſei der Begriff 
der Trauung keineswegs erfchöpft, — und darin fchlägt er nun 
einen ihm völlig eigentümlichen Weg ein: die Trauung fei bei 
Luther außerdem noch die alte deutſche Trauung; „in unge 
brochenem Zujammenhange mit den Weberlieferungen des altdeutjchen 
Rechtes tritt der Geiftliche, in der Rolle des alten Bormundes, als 
geforener Trauungsvormund auf, welcher, das Eheverfprechen er» 
füllend, die verlobte Braut thatjächlih der Gewalt und der Lebens⸗ 
führung des Bräutigamd auf Treue übergibt. Die Trauung 


24 Kaweram 


Luthers ift eine Tronungsdandlung mit Trauungsform“ (a. a.O., 
©. 229). Wenn Sohm uns darauf aufmerffane macht, in welch 
ungebrochenem Zufammenhange die Formen ber alten deutichen 
Trauung fid von Jahrhundert zu Jahrhundert fortgeerbt haben, fo 
nehmen wir ſolchen Nachweis dankbar an; aber wenn er behaupten 
will, die Trauung Luthers fei aud inhaltlich noch durchaus die 
alte deutſche Trauung, fo fragen wir verwunders nach den Beweiſen 
dafür. Sein Beweis ift weſentlich uur der eine, dag nicht nur 
Luther, fondern auch eine große Reihe lutheriſcher Kirchenorduungen 
die kirchliche „Einſegnung“ oder „Einleitung“ der neuen Eheleute 
auch mit dem Namen „zufammengeben“, „tho hope geben“, 
benennen. Aber was beweift das, nachdem wir (durch Sohm felbjt) 
erfahren haben, daß bereits im Mittelalter die alte deutiche Trauung 
ihre urfprüngliche Bedeutung immer mehr abgeftreift und verloren 
hat (a. a. O., ©. 174—176)? Es iſt das alſo ein ähnlicher 
Beweis, ald wenn wir aus dem Umſtande, daß bis zum Eude des 
Mrittelalterd die Verlobung vielfach den Namen „Kauf“ behalten 
hatte, folgern wollten, fie fei wirklich auch zu jener Zeit noch das 
alte Kaufgefchäft vergangener Jahrhunderte gewefen. Die alten 
Trauformen haben ſich vererbt, der alte Name ift in allgemeinem 
Gebrauch geblieben, aber fein Meunſch denkt in Luthers Tagen bei 
dem trauenden Geiftlichen noch an den „gelorenen Bormund“, Tein 
Menſch definirt die Trauung noch als traditio puellae, fondern 
wer ihren Inhalt ausdrüden will, der nennt fie Ehebeftättgung. 
Über wie Sohm fi mit dem Begriff einer Tirchlichen Ehe⸗ 
beftätigung oder Approbation nicht begnügen mag und daher Rechts⸗ 
anfchauungen einer entfchwundenen Zeit in die Trauung hineinzu⸗ 
legen fucht, fo fühlt fi) auch Cremer von dem bezeichneten Trau⸗ 
ungebegriff nicht befriedigt... Er meint, gerade Luther habe mit 
Schlagendem Wort den eigentlichen Inhalt und in ihm die Bedeu⸗ 
tung des kirchlichen Actes hervorgehoben, daß derjelbe nämlich chrift- 
liche Ehefchließung fei, alfo daß dur den Dienft des 
Amtes die Ehe gefchlojjen, das Band zwifchen den Ehe— 
leuten gebunden werde. Den Quther fchreibe: „Wer ein ehelich 
Gemahl nimmt nach folchen [laiferlichen) Rechten, dem kann ein 
Pfarrherr mit fröhlichem Herzen fagen ober urtheilen, daß er es 


Die Trauung. 78 


mit gutem Gewiſſen, mit Gott und mit Ehren habe” (a. a. O., 
©. 68. 89). Aber wie? Das ift doch etwas ganz anderes, je 
mandem urtheilen, bezengen, daß er, weil er jein Weib ordnungs⸗ 
mäßig, im Webereinftimmung mit göttlihem und weltlichem Recht, 
m dem Berlobungsact fi) genommen bat, nun aud mit guteme 
Gewiffen, mit Bott und mit Ehren haben und fein eigen nennen 
lönne, als die Ehe jemandes in Gottes Namen ſchließen! Luthers 
Worte fegen die in Gottes Namen geſchloſſene Ehe voraus und 
Rellen dem Geiftlihen die Aufgabe, Zeugnis zu geben, das Urtheil zu 
fälen, daß die Betreffenden in gotigeftiftetenm Stande ſich befinden, 
niet aber, das Band zwifchen dem Ehelenten erft zu binden. Kremer 
bt m Evang. 8.3. 1876, ©. 362 biefe Worte Luthers noch 
weiter zu Gunften ſeines Eheſchließungsbegriffes auszudeuten ver- 
ſucht. Das kaiferliche Recht, ſagt er, komme bier nur in Betracht 
bezüglich der Möglichkeit der Ehe, ihrer Zuläſſigkeit oder etwaiger 
Hinderniſſe dawider; dagegen die „Herftellung ber Ehe“ geſchehe 
nach deutschem Recht d. h. durch kirchliche Trauung. Das ift aber 
der Meinung Luthers durchans zumidergeredet. Kaiferliches Recht 
gefällt Luthern um deswillen fo gut, weil ed auf bie elterliche 
Einwilligung dringt und daher den heimlichen Berföbniffen wider- 
ſtrebt. Nun fagt Luther: „Was burch Gottes Wort zufammen- 
gefügt wird, das hat Gott zufammengefügt, und fonft nichts“, 
aber dabei denkt er nicht entfernt an das Wort Gottes in ber 
Trauung, fondern Gottes Wort heißt hier „den Eltern und der 
Obrigkeit gehorfam fein“. Wer „wider der Eltern Gehorfam“ 
Berlöbmis Hält, der hat „fich felbit zufanımengefüget“, wer dagegen 
mit Willen der Eltern fidh verbunden hat, den Hat auch Gott zu⸗ 
ſammengefügt. So fteht Mar und deutlich in ber Schrift „Bon 
Eheſachen“ (bei v. Strampff, S. 319—321) und ebenfo Tiſchr. IV, 
S. 100 Luthers Meinung bezeugt. So handelt «8 fi) aud in 
der Borrede zu der Schrift von Joh. Brenz nicht um die „Mög- 
lichleit* der Ehe, fondern um ein Mares Priterium darüber, ob 
Einer jein Weib mit Gott oder wider Gott habe; und dies Kriterium 
liegt ihm nicht in der kirchlichen Trauung, fondern in der gemäß 
taijerlihem Rechte erfolgten Berlobung. Cremer würde ohne Zweifel 
Luthers Worte zutreffender gedeutet haben, wenn er die Schrift 


76 Kaweran 


des Joh. Brenz felbft verglichen hätte. Nicht nur, daß diefe Schrift 
die Trauung confequent als „Beftätigung vor der Kirchen“ oder 
als „einjegnen oder für beftätigt erkennen“ definirt, fondern wir 
leſen dafelbft auch folgendes: „ALS unfer Herr Chriftus (Matth. 19) 
von dem ehelichen Stande predigt, jagt er unter andern Worten 
alfo: Was Gott zufammengefüget . . . Aus welden Worten 
öffentlich zu verftehen wird gegeben, daß in eheliher Zufammen- 
fügung nicht allein die bloße Verpflichtung, fondern auch, ob die 
Verpflichtung durch Gott und göttlich gefchehen fei, angefehen werden 
fol. (Man follte nad) Cremer meinen, er werde mad) diefer 
Einleitung nothiwendig auf die Zrauung zu fprechen fommen, aber 
wie fährt er fort?) ... alſo wird diefe eheliche Pflicht für göttlich 
gehalten und al8 von Gott zufammengefügt geurtheilt, fo mit gött- 
lichen billigen Mitteln ohne Zerrüttelung göttlichen Geſetzes vor- 
genommen wird”, — alfo, 'wie er dann weiter lehrt, Verlöbnis 
mit elterliher Kinwilligung, von der Zrauung aber redet er in 
diefem ganzen Zuſammenhange mit keiner Sitbe! Wir dürfen nad) 
forgfältiger Prüfung des Duellenbefundes fagen: den Eremer’fchen 
ZTrauungsbegriff kennt weder Luther, noch kennen ihn die andern 
Neformatoren oder die altenangelifchen Kirchenordnungen. Sie 
wiffen und lehren wol, daß die Trauung durch den Geiftlicdyen 
eine „Qergewifjferung göttliher Zufammenfügung“ fei, aber daß 
die Zufammengebung durd den Geiftlichen, die deutfche reſp. kirch⸗ 
(he Trauung die Ehe „herftelle”, „das Eheband binde* — das 
ift eine ihnen ganz fremde Vorftellung. Was die Trauformel „ich 
Ipreche ehelich zufammen“ in ihren Augen bedeutet, das lehrt une 
die Weberfegung berjelben in der Iateinifchen Ausgabe des Trau⸗ 
büchleins in den fombolifchen Büchern: „ego pronmuntio vos 
conjuges“ (nidit, wie man erwarten möchte: ego Conjungo 
vos), fie ift alfo nicht copulativ, fondern declaratorifch aufgefaßt, 
das lehrt uns die Umwandlung derfelben in Ehebeftätigungs- 
formeln faft in der ganzen füddentfchen Kirche. Cremer fagt: „die 
Bedeutung der kirchlichen Trauung ift, daß bie chriftliche Ehefchlie- 
ßung in Analogie der göttlichen Stiftung der Ehe im Paradiefe 
erfolgt” (S. 67); aber aud mit dieſem Sage hat er Luthers 
Meinung gegen fi. „Quod addit Moses ‚et adduxit eam ad 


Die Tranumg. 77 


Adam‘ est descriptio quaedam sponsalium imprimis digna 
observatione. Nam Adam conditam Evam non rapit ad se 
ex suo arbitrio, sed expectat adducentem Deum.‘“ (Comment. 
in Genes.) Nach Cremer hätte Luther offenbar fchreiben müffen 
descriptio copulationis, aber nicht sponsalium. In dem ohne 
alle Betheiligung der Kirche erfolgten Verlobungs⸗Eheſchließungsact, 
wenn er nur in Gehorjam gegen Eltern und Obrigkeit, in legitimer 
Weiſe „ohne Zerrüttlung göttlichen Geſetzo“ vorgenommen ift, 
erblidt Luther „adducentem Deum“. Bgl. da® Citat bei 
Sohm, S. 200: „Regula Christi ‚quod Deus conjunxit, homo 
non separet‘, ad sponsalia quoque pertinet‘‘; und bei Fried» 
berg, ©.290: „Des HErrn Auſpruch ift Hell und Kar Matth. 
am 19. Was Bott zufammengefüget hat, ſoll fein Menſch nicht 
iheiden. Nun aber, wo Bräutigam und Braut find, welche ſich 
mit einander verlobt und in Beifein ehrlicher Leute die Ehe einau- 
der verfprochen haben, die hat Bott zufammengefüget, fie 
find in Gottes Augen Eheleute, darum ſoll fie kein Mensch fcheiden“. 
Eremer hält es für eine gefährlihe Entleerung und Verflachung 
der firchlichen eier, wenn man an Stelle „einer chriſtlichen Ehe⸗ 
ihliegung“ nur ein „gehaltlofes" Segnen einjegen wolle. Ja 
freilih, wenn man es fo inhaltlos auffaffen wollte, daß es eines 
„ientimentalen” Aufpuges bedürfte, um einige „Rührung“ hervor» 
wbringen (vgl. a. a. O., ©. 88. 89)I Aber man kann den 
Begriff des Segnens aud jo voll und fo ernit auffallen, daß man 
jener „Herftellung“ der Ehe durch die Trauung füglich entrathen 
fann. Und fo ernft und gehaltvoli hat es Luther gefaßt, wenn er 
in feiner Predigt über Hebr. 13, 4 von den Brautleuten fagt: 
„ne befennen öffentlih, dag fie in den Eheſtand treten“ und 
dann zur Charafterifirung deffen, was die Kirche ihnen giebt, hin- 
zufügt: „fie werden gefegnet“. Darunter verfteht Luther freilich 
nicht, wie Cremer mit Recht bemerkt, nur eine gefegnete Eheführung, 
jondern den Segen über eine in Gott gefchloffene Ehe; aber daß 
die Kirche fegnet, hat eben zur Vorausſetzung, dag Gott die Ehe 
geihloffen Hat, nicht daß die Kirche die Ehe fchließe. Luther 
nimmt nicht Anftand, den Trauact vor der Kirche felbft als ein 
„Segenwünfchen “ zu bezeichnen. „Es ift eine fehr feine umd 


TB Kaweran 


hriftlihe Orbmung, daß man dem neuen Ehevolk vor der 
Kirche Bottes Segen wünfcht und eine gemeine Fürbitte für fie 
thut.* Und wenn er im Traubüchlein erft von trauen, fegnen 
und beten, hernach jedody immer nur noch von fegnen und beten 
redet, das „trauen“ affo übergeht, fo wird fi das am matür- 
lichſten fo deuten laffen, daß ihm das Trauen in dem Segnen und 
Beten mitbeichloffen Liegt. Trefflich iſt der Begriff, den Luther 
und die alte proteftantifche Kirche mit der Trauung verbindet, 
durch v. Scheurl audgebrüdt worden, dba ex fdhreibt: „Die 
Trauung war feierliche Betätigung der erfolgten Cingehung der 
Ehe, auf Grund wiederholter Eheconfenserflärung, im Namen 
des dreieinigen Gottes, in fo fern aber folgeweife auch Tirchen- 
amtliche Bezeugung und PVergewifferung, daß die fchon gefchehene 
Eingehung der Ehe eine göttlihe Zufammenfügung des Ehepaares 
ſei, und daß daher nun in getrofter Zuverficht hierauf die Heim⸗ 
führung der Braut und der Antritt der Tebensgemeinfchaft erfolgen 
tönne und folle" (a. a. O., ©. 240) 1). 

Uebrigens kat Cremer mit vollem Rechte gegen Friedberg Broteft 
erhoben, daß dieſer in Luthers Behauptung, daß der Eheftand ein 
„weltlich Geſchaft“ und doch „der allergeiftlichite Stand“ fei, einen 
fo unvereinbaren Widerfpruch gejehen, daß er gemeint hat, ihn 
damit Löfen zu follen, daß er al& Luthers wahre Herzensmeinung 
nur das Erftere „ein weltlich Geſchäft“ ftehen laſſen wollte, da⸗ 
gegen bie Betonung ber Ehe als einer Gottesftiftung lediglich als 
ein bequemes und nöthiges Kampfmittel gegen die römifche Cölibats- 
Iehre amd gegen die Sittenlofigkeit des Volles angefehen wiffen 
wellte (Friedberg a. a.D., S. 158—169). Da hat Friedberg 
Luthern recht gründlich misverftanden. Vgl. Cremer ©. 39. 40. 


— — — — — 


1) Durch vorſtehenden Abſchnitt iſt die von mir (Studien und Keritiken 1874) 
verſuchte Darſtellung der Anſichten Luthers über die Eheichließung in 
mebrfacher Beziehung corrigirt worden. Es ift mir eine Pflicht der 
Dankbarkeit, es dabei auszufprechen, daß ich die Anregung zu erneuter 
Prüfung der Stellung Luthers und zu einer tieferen Auffaffung des 
Trauungsbegriffes der Arbeit Eremers, verdanke, obgleich ich auch 
jetzt noch derfelben in fo vielen Punkten entgegentreten muß. 


Die Vrauung. Ä 79 


Schleßlich finde hier noch Erwähnung, daß die Frage, ob 
&athers Ehe Firchlich gefegnet worden ſei, auch wieder in Disput 
selommen if. Sohm hat fih an Friedberg angefchloffen, der die 
Frage vermeinte. Cremer dagegen (S. 37) ftimmt in feinem Urtheil 
mit dem zufammen, welches Köſtlin (Luther, 8b. I, S. 809) in 
bejahendem Sinne abgegeben hat. Luthers Ehe Hit offenbar durch die 
fanenifchen sponsalia de praesenti gefchloffen, „peregit consueta 
sponsalia “, diefe-aber find coram parocho (WBugenhagen) gefeiert 
worden, fo baß bei ihm sponsalia ımd copula sacerdotalis in 
einen Act zuſammenfielen (mas ſonft gewöhnlich nicht geſchah). 
& fand aljo bei feinem Ehebeginn diefelbe Aufeinanderfolge ftatt, 
wie er fie Tifchr. IV, 41 angegeben hat: Verlöbnis (welches aber, 
wie bemerkt, em Ticchlich geſegnetes war), Bellager, Keirchgang. 


5. Die Auflsfung Des altproteſtantiſchen Eheſchließungbrechtes. 

& muß als das große Verdienft Frledbergs anerfemmt werben, 
daß er zuerft die ehefchliehenide Kraft der Verlobung im Eherecht 
des 16. und 17. Jahrhunderts mit aller Goidenz nachgewieien, 
gleich aber auch durch ferne überaus ſchätzbare Möaterialfamm- 
tung aus Thevlogifchen und juriftifchen Schriften gezeigt hat, wie 
mannigfachen Shwanlungen in Thesrie und Praris das Ehe- 
ihließungsrecht bereits im 17. Jahrhundert ausgeſetzt gewefen ift. 
Da nım Friedberg :dben von Quther eingenommenen Standpunft von 
vorn herein als einen ebenfo umpraktiichen mie unbilligen bezeichnet 
bet, jo ift effenbar, daR in ſeinen Augen die Weiterentwicklung durch 
Mämer wie Thomafins umd Böhmer, alfo die Beſeitigung der 
Heichließenden Wirkjamteit des Verlobniſſes und die Berfchiebung 
der Ehefchliegung von der Berlobimg anf den in obrigkeitlichem 
Auftrage zu voflziehenden Trauact, Ach als ein heilſamer und 
dringend erforderlicher Fortſchritt darftellt. Sohm Hat diefe 
rehtögefchiehtlichen Unterfudmmugen Friedbergs im ganzen voltftändig 
ald richtig anerkannt, im einzelnen hie und da das Material be- 
teihert (befonders durch eine ſehr eingehende Darftellimg der von 
Vöhmer entwickelten Chefchließungsboctrin). Der Gegenfat gegen 
Friedberg Liegt in dieſem heile ber Sohm' ſchen Arbeit vorwiegend 
im der Beleuchtung, in der fubjectiven Beurtheilung, :die dem be- 











80 Kamweran 


fonder8 durch Böhmers Autorität Kervorgerufenen limgeftaltungs- 
proceß des Eherechts zu Theil wird. Was bei jenem ald wefent- 
fiher Fortſchritt erfcheint, das gilt diefem als der beffagenswerthe 
Niedergang deutſchen Rechts, als eine traurige Unterjocdhung 
Deutfchlands ufter das Scepter des römiſchen refp. Natur-NRechte. 
Dagegen ift nun zunächſt einzuwenden, baß der ununterbrochene 
Zufammenhang deutfchen Rechtes in der Ehefchließung bis auf Böhmer 
gar nicht in dem Maße, wie Sohm behauptet hat, vorhanden ge- 
weien if. Weder ift das kanoniſche Recht die Wiedergabe des 
deutfchen Rechtes geweſen, noch auc darf zu Luthers Zeit von einer 
Continuität des deutfchen Rechtes in der Weife geredet werden, wie 
Sohm auszuführen verſucht hat. Sodann glauben wir, dag man 
noch viel entjchiedener, als es von feiten Sohms gefchehen ift, herpor- 
heben muß, wie bereits bei den Theologen de8 17. Jahrhunderts 
die Definition der Verlobung im römifchen Recht Einfluß gewonnen 
hat, wie fchon bei ihnen die Verlobung aus einem conjugium 
inchoatum s. initiatum fih mehr uud mehr umjegt zu einer 
spes nuptiarum futurarum, wie die Trauung immer mehr der 
Bedeutung fich nähert, die fie noch unlängft für uns gehabt hatte, 


die von der Obrigkeit erforderte und Iandeögefetzlich vorgefchriebene 


Form der Ehejchliegung zu fein. Luthers Sponfalienlehre tritt in 


eine unklare Verquickung mit der des römifhen Rechtes. Da iſt 


es Böhmers Verdienſt weſentlich gewejen, diefer unhaltbaren Ver⸗ 
quickung ein Ende zu machen und die in weſentlichen Stüden bereits 


de facto acceptirte Anjchauung des römischen Rechtes Har und frei 


herauszuentwideln und in der Doctrin zur Herrſchaft zu bringen. 
Dan ftelle nur einmal Johann Gerhard mit Böhmer in Vergleich. 
Erfterer redet zwar noch hergebrachterweife von den sponsalia 
als conjugium inchoatum, bringt die Xuther’fche Erklärung der 
sponsalia de futuro al8 sponsalia impuberum und sponsalia 
conditionata u. dgl. traditionelle Claffificationen, aber ebenfo 
Iehrt er mit dem römischen Recht die Unterfcheidung de8 consensus 


sponsalitius und consensus nuptialis, definirt die Sponfalien | 


als pactiones de futuro conjugio. Er bejaht zwar die Frage an 


sponsalia sint coram Deo matrimonium ? — aber limitirt zugleich 


feine bejahende Antwort fo energiſch, daß eigentlich nichts davon 








Die Trauung. 81 


ftehen bleibt „„dictum Christi: Quod Deus conjunxit, homo non 
separet — non de nudis sponsalibus, sed de consummato 
matrimonio proprie est accipiendum “. Bor jeder Confequenz 
der altproteftantifchen Sponfalienlehre, namentlih vor dem Zwang 
zur Confummirung durch Kirchgang und Heimführung der Braut, 
ihredt er zurüd und ſucht ausweichend und abfhwächend zu ant- 
worten. Factiſch ift für ihm nicht die Verlobung, fondern die 
Zrauımg der Eheſchließungsact; die benedictio sacerdotalis ijt 
im necessaria ad conjugium riteineundum (nit consum- 
mandum), und zwar nicht nur ob constitutionem ecclesiasticam, 
iondern auch ob constitutionem civilem (vgl. Loci theol. ed, 
Cotta XV, 129. 150. 159—161). Es muß unſers Erachtens 
ferner in Betracht gezogen werden, daß derartige neue Rechtsbil- 
dungen, wie fie bei Gerhard bereits vorhanden, aber noch mit den 
überlieferten Terminologien in eigentümlicher Durcheinandermifchung 
m Rampfe find, wie fie bei Böhmer dann Mar und frei hervor« 
treten, der Miederfchlag veränderter Geſtaltungen des 
jocialen Lebens zu jein pflegen. Wir Haben vorhin darauf 
hingewiefen, daß Luthers Sponfalienlehre nicht recht gewürdigt werde, 
wenn man fie nicht auf der Grundlage der thatjächlichen Tocialen 
Terhältnifje betrachte. Berlobungen als präparatorifche Verhältniffe 
waren nicht üblich. Dagegen zeigt uns der im 17. Jahrhundert jo 
oft erforderlich werdende Zwang zur Trauung, daß die focialen Vers 
hältuiffe andere geworden waren. „Das Ehevorbereitungsver- 
haltnis“ — fo lefen wir in einem beachtenswerthen Artikel der Allge⸗ 
meinen Intherifchen Kirchenzeitung 1876, ©. 732 — „ift namentlich) 
für jreiere fociale Geftaltungen ein unentbehrliches Inſtitut. Es 
hat weniger rechtliche als eine hochfittliche Bedeutung. Da, wo 
ungezwungene gejellfchaftliche Beziehungen zwischen beiden Gejchlechtern 
ich entwickelt haben, ift e8 vom höchften Werth, daß die zukünftigen 
Ehegatten in gejellfchaftlich anerkanntem züchtigem Verbundenſein 
&inander näher kennen lernen, um zu erfahren, ob fie für die Ehe 
zuſammenpaſſen, und um, wenn fie entgegengejegte Ueberzeugung 
gewinnen, das Band noch vor dem Eheſchluß Töfen zu künnen.... 
Während Schneivewein noch fagt: fol ein präparatorifches Ver⸗ 
haltnis ift bei uns nicht in Gebraud), fing es, hervorgerufen durch 
Test. Etub. Jahrg. 1878. 


82 Kawerau 


bie Kenntnis des römifchen Rechtes, doc) allmählich an ſich Bahn zu 
beedhen .. . Wenn infolge der großen Autorität Böhmers das 
Ehevorbereitungsverhäftnis als römische Sponfalten in Deutſchland 
zur vollen Anerkennung durchgedrungen ift, jo haben wir darin 
einen Fortſchritt guter Rechtsentwicklung zu conftattren.“ 
So fieht ſich Sohm in diefem für ihn fo wichtigen Punkte gerade 
von dem Blatte verlaffen, das fonft feinen Rechtsausführungen 
unbeichränften Beifall gezolit hatte (vgl. Allg. Iuth. 8.3. 1876, 
©. 56-61). Auch v. Scheurl hat fi) neuerdings zu dem Be⸗ 
fenntnis veranlaßt gefehen, er müſſe ſich jet den Gegnern Sohms 
darin völlig anfcliegen, daß bie ſcharfe Unterſcheidung zwifchen 
Verlöbnis und Ehefchließung, melde durch Böhmer zur Geltung 
gekommen und dazu geführt habe, die firchliche Trauung als den 
Eheichließungsact zu behandeln, ein wirklicher Kortfhritt 
geweſen fei (a. a. D., S. 248), — Jetzt, als Verlobungen als 
Ehevorbereitungsverhäftniffe gebräuchlich wurden, ba erwies es ſich 
als ein Mangel in der durch Luther vertretenen Sponfalienlehre, 
daß der urfprüngliche Begriff ber kanonifchen sponsalia de futuro 
in ihr in Folge jenes Misverftändniffes Luthers gar feinen Plag 
gefunden hatte. Darum war es erforderlich, den römifchen Begriff 
de8 Cconsensus sponsalitius nun in Oppofition gegen die alt⸗ 
proteftantifche Lehre geltend zu machen und ins Rechtsleben einzu⸗ 
führen. Und das war allerdings ein Verdienſt Böhmers. 


6. Die gegenwärtigen Verhältnifie. 

Ueber die Bedeutung und die principielle Auffaffung bes 
Civilactes find? Sohm und Friedberg in jcharfe Controverfe mit 
einander gerathen. Letzterer redet confequent und in bewußter Ab⸗ 
fihtlichfeit von dem Civilacte al8 von einer Civiltraunng; 
erfterer fieht dagegen in demmfelben die in moderner Form wieber- 
erftandene Verlobung » Ehefhliegung.. In gewiſſem Sinne ift das 
eine Aoyouaxle beider ohne allgemeines ntereffe: denn wenn 
Friedberg jagt, er wolle den Act, durch welchen juriftiich die Ehe⸗ 
fchließung vor fi) gehe, Trauung nennen, — fo hat er unbeftritten 
Recht, daß in diefem Sinne der Civilact eine Trauung ift. 
Und wenn Sohm wieder fagt, den Act, dem die copula carnalis 


Die Trauung. 85 


noch nicht unmittelbar folge, wolle er Verlobung nennen, — fo 
hat auch er in diefem Sinne Recht, ba unzweifelhaft unter Ehriften- 
leuten als ansgemacht gilt, dag man die copula carnalis erſt 
nach dem firchlichen Trauacte eintreten laffen will. Allein näher 
Betrachtet ift der Streit viel mehr als ein Wortgefeht. Bekannt⸗ 
fih hat Friedberg feinen Standpunkt jeit 1865 total umgewandelt: 
befannte er fich früher zum Confenfusprincipe, jo jegt ebenſo unbe- 
dingt zum Qrauungsprincipe. Und diefelbe Umwandlung ift feiner 
Meinung nach mit der Eivilehe in Deutfchland vor fich gegangen. 
Das preußifche Civilftandsgeſetz ftand rein auf dem Conſenſus⸗ 
prineipe. Die eheſchließende Wirkung lag in der Confenjuserffärung 
der Brautleute vor dem Standesbeamten, die Alfiftenz desfelben 
beichräntte fich darauf, daß er die Urkunde über die erfolgte Ehe- 
ichliefung durch Unterſchrift vollzog, umd biefe Unterfchrift wer 
natürlich nicht eine Trauungsfunction, fondern diente nur dazu, 
den Moment der erfolgten Ehefchließung zu firiren, fie gehörte zu 
den Beweismitteln, die das Geje erforderte. Die Eheſchließung 
erfolgte affo unzweifelhaft vor dem Standesbeamten, niht durch 
den Standesbenmten. Ganz anders, meint Friedberg, ftehe bie 
Sache jegt feit Einführung der Reichscivilehe. Dieſe erfolge nicht 
vor, fondern durch den Standesbeamten, nicht durch Conſensab⸗ 
gabe allein, fondern das Zufammenfprechen de8 Beamten jei ein 
integrirender Theil der Eheihliehungshandlung jelbit: fie ſei alfo im 
vollen Sinne Trauung. Sohm hat diefe Behauptung Lebhaft beftritten. 
Kur eine praftifche, nicht eine principielle Abänderung habe ftatt« 
gefinden. Der Wortlaut des Reichsgeſetzes ſcheint auf den erften 
Bid für Friedberg zu Sprechen, denn biejes fordert in 8 52 einen 
‚Ansipruh des Standesbenmten, daß er die Nuptnrienten nunmehr 
fraft des Geſetzes für rechtmäßig verbundene Eheleute erkläre“. 
Das Hingt wie eine Zramung dur den Standesbeamten. Allein 
wenn wir in diefer Frage ein Urtheil abgeben wollen, ob dieſe 
Anderung nur eine formelle aus praßtifchen Rüdfichten, oder eine 
principielie fein wolle, jo gilt e8 zuzuſehen, was für Erklärungen 
der Geſetzgeber ſelbſt darüber abgegeben hat. Die Entſcheidung 
fenn nicht dem Wortlaut des Gefeges, fondern nur ben Reichstags⸗ 
verhandlumgen und den dabei von Seiten der Regierung abgegebenen 
6* 


54 Kamwerau 


Erklärungen entnommen werden, und darauf einzugehen haben merk⸗ 
würdigerweife beide Streitführer unterlafien. Es iſt gewiß von 
Intereſſe, über diefe Principienfrage eine fichere® Urtheil zu gewinnen, 
und daher verfuchen wir das von jenen Berfäumte hier nachzuholen. 

Zunächſt muß daran erinnert werben, daß in dem von den 
Abgeordneten Völk nnd Hinſchius im Reichstag eingebrachten und 
im März 1874 berathenen Gefegentwurfe die Beftimmungen des 
preußifchen Geſetzes unverändert beibehalten waren. $ 29 
jenes Entwurfes lautete: „Die Ehe wird dadurch gefchloffen, daß... 
diefe Erklärung [der Verlobten] vom Standesbeamten in das Hei⸗ 
ratöregifter eingetragen, und daß die Eintragung von den Verlobten 
und von dem Standesbeamten vollzogen wird.“ Und diefen Para⸗ 
graph nahın der Reichsſtag damals unverändert an. Nun wurde 
im Januar 1875 der Gefegentwurf, den die Reichsregierung hatte 
ausarbeiten Laffen, zur Berathung geftellt. Sn den von der Per 
gierung beigefügten Motiven war zu 8 51 (da8 ift der jeßige 
8 52) über die Einfchiebung eines „Ausfpruches des Standesbe⸗ 
amten“ nur bemerkt, man habe gern diefelbe Form wählen wollen, 
die durch Bundesgeſetz vom 4. Mai 1870, $ 7 für bie Eheichlie- 
Bungen der Deutfchen im Auslande verorbnet worden fi. Nur 
biefer eine praftifche Gefichtspunft wird geltend gemacht; dag 
ein neues PBrincip damit eingeführt werden folle, wird mit feiner 
Silbe angedeutet (f. Anlagen zu den Stenograph. Berichten 1875, 
S. 1063). Als es zur Debatte um 8 51 kam, wurden zwei 
gleichlautende Amendements, eins von Seiten ber Conferpativen 
(v. Seydewig), eins vom Centrum aus (Dioufang) geftelit, welche 
die Wiederherftellung der im preußifchen Civilftandsgefege gegebenen 
Faſſung begehrten. Darauf gab der Commiſſar der Regierung, 
Geheimer Juſtizrath Stölzel, am 16. Yanuar 1875 die Erklärung 
ab, es handle fich dabei um „Fixirung des Momentes der beginnen- 
den Ehe“. Syn der Breife fei die Meinung aufgetaucht, als fei 
die preußifche Civilehe nur eine Verlöbnieform, da fie von den 
Drautleuten nur eine Erklärung fordere über den Willen, eine 
Ehe eingehen zu wollen. Daher fei es nöthig, erklären zu laſſen, 
daß die Eheleute jetzt wirklich rechtmäßig verbundene Eheleute feien. 
Die Regierung wünfche den Gedanken zu klarem Ausdrud zu bringen, 


Die Trauung. 85 


dag die einzige Form, in welcher die Ehe gejchlojfen werden könne, 
die vor (sic) dem Stundesbeamten fe. Es beruhte auf einem 
Misverftändnis diefer Worte, wenn der Abgeordnete Lieber am 
23. Januar 1875 den Regierungs⸗Commiſſar anflagte, er Habe 
von einer „&hejchließung durch die Erflärung des Standesbeamten” 
geredet, denn er hatte wörtli nur gejagt, „daß die Firirung 
bes Momentes des Eheabſchluſſes bezeichnet werden könnte 
durd die mündliche Erklärung des Standesbeamten“. Nach diefer 
Erflärung dürfen wir aljo urtheilen, daß es in der That nicht 
die Meinung der Reicheregierung war, aus dem Civilacte einen 
Zrauact durch den Standesbeamten zu machen, fie kennt nad) 
wie vor nur einen Eheſchließungsact vor dem Standesbeamten. 
Die Erklärung des Standesbeamten joll dem Zwecke dienen, ben 
Moment des Eheabſchluſſes zu firiren. Sie dient als Beglaus 
Digungsmittel, fie hat inhaltlich diejelbe Bedeutung, wie früher die 
Unterſchrift unter die Heiratsurfunde. Und ebenfo erflärte fich 
die Majorität des Neichstages. Als Sprecher diefer für den Para- 
graph ftimmenden Mlajorität trat der Abgeordnete Wehrenpfennig 
auf. Derjelbe ſagte am 16. Januar: „Diejenige Formel ift die 
befte, welche am Harften fagt, daß das Wefen der Eheſchlie— 
Bung in dem Conſens der Beiden Liegt, welche die Ehe ein- 
gehen. Diejenige Formel, welche am allerflariten diefe Thatſache 
hinſtellt, iſt die befte.” Und am 23. Sanuar: „Unfer ganzer 
Diffens beruht darauf: foll es zur Gültigkeit des Vertrages gehören, 
denſelben ſchriftlich zu ſtipuliren, ober foll die mündliche Er- 
Märung [der Nupturienten] vor Zeugen für die Vollendung des Actes 
genügen ?* (gl. Stenograph. Ber. 1874/75, ©. 1063ff. 1245 ff.) 

Somit ſcheint uns die Meinung Friedbergs allerdings unzutreffend 
zu fein. Sie ift zwar ſprachlich möglich, aber fie entjpricht nicht 
dem unzweideutig Tundgegebenen Willen des Geſetzgebers. Aud) 
die Reichscivilehe ruht auf dem Confenfusprincipe, nicht auf dem 
Zrauungsprincipe. Bon einer Civiltrauung können alfo nur die- 
jenigen reden, welche Trauung und Ehefchließung ohne weiteres als 
Wechſelbegriffe faſſen. Wie wenig diefe Namen fich aber deden, 
lehrt das kanoniſche Recht und ebenſo das altproteftantifche Ehe⸗ 
ſchließungsrecht. Wir können gegen Friedbergs Behauptung, die 


86 Kawerau 


Reichscivilehe ſei Trauung, des Weiteren auch das noch geltend 
machen, daß ja dieſe „Erklärung des Standesbeamten“ wörtlich 
dem franzöſiſchen Geſetze von 1792 entlehnt iſt. Dort heißt es: 
„aussitöt après cette déclaration faite par les parties l’officier 
public... prononcera au nom de la loi, qu’elles sont unies 
en mariage‘“ (Friedberg, S. 560); und doc hat gerade Fried» 
berg uns darüber belehrt, wie diefe franzöfifche Gefeßgebung gänz- 
lih aus der dee des Kontractes entitamme und in dem Conſen⸗ 
fusprineipe ihre Grundlage Habe. Ya er führt felbft an, wie dieſe 
Eheſchließung geſetzlich bezeichnet wurde als avoir contracte mariage 
devant l'officier de l’&tat public (S. 566). 

Somit fünnen wir zu der eigentlich) brennenden Tagesfrage 
übergehen, was für eine Bedeutung die firchliche Trauung gegen« 
wärtig babe, und welde Form daher für fie angemeſſen fei. 

Den Sohm'ſchen Verſuch, das alte deutſche Hecht in uufere 
modernen Verhältniſſe Hineinzutragen, Hatten wir fchon oben als 
einen mislungenen bezeichnen mülfen. Was ift die Trauung denn 
nun, nachdem fie jeder rechtlichen Bedeutung entlleidet worden ift? 
Cremer hatte fie. ald chriftliche Eheſchließung definiren wollen; welche 
Bedenken aber dagegen ſich erhoben, haben wir im 2. und 4. Ab⸗ 
Schnitt diefes Aufjages bereits auszuſprechen Veranlaffung gehabt. 
Eine ganze Reihe feiner Formulirungen des Trauungsbegriffes (vgl. 
Abſchnitt 2) können wir uns ganz unbedenklich aneignen, aber eben 
jo energifch müffen wir gegen die andere Reihe proteftiren. Wir 
fünnten bier einfah an das in Abjchnitt 4 von dem Trauungs⸗ 
begriff Luthers Bemerkte anknüpfen und kurzweg fagen: dasfelbe, 
was die kirchliche Handlung jenem bedeutete, dasjelbe bedeutet fie 
auch und. Wir fommen aber auch zu demſelben Refultate, wenn 
wir von dem Begriff de8 Segnens ausgehen, alfo von eben dem 
Begriffe, den Cremer als einen fo gehaltlofen weit abgemiejen 
hatte. Und wenn wir davon auögehen, jo haben wir nicht nur 
das ganze kirchliche Altertum auf unjerer Seite, fondern aud 
Xuther und den conftanten Spracgebraud der [utherifchen Theo- 
logie ). Es ſollen einzelne Individuen aus Anlaß eines bejon- 


1) Mit Recht hat Friedberg darauf aufmerffam gemacht, daß, wo die lu⸗ 


Die Trauung. & 


deren Schrittes in ihrem Leben den Segen der Kirche empfangen. 
Das kann nur gefchehen unter einer zwiefachen Borausjekung. 
Cinmal unter der Borausfegung, daR diefer Schritt an und für 
ich göttlichen Worte gemäß, Gott wohlgefällig fein muß: alſo in 
dieſem concreten Falle unter der Vorausfegung, daß nicht nur der 
Eheitand im allgemeinen ein mandatum divinum für fich habe, 
jondern daB auch in dem beftimmt vorliegenden Falle das Eheband 
göttlichem Worte entjpredhe. Und das wäre die objective Voraus⸗ 
ſetzuug. Zum andern unter der Vorausjegung, dag die betreffen» 
den Individuen bei ihrem Schritt der göttlichen Ordnung ſich be⸗ 
wußt jeien, diejelbe anerkennen, und auf Grund dieſes Bewußtſeins 
den Segen begehren: alſo bier, daß fie ihrer Che als eier 
Sottesgabe und Gottesitiftung fi) bewußt find, der göttlichen 
Ordnung im Cheitande fi willig unterftellen wollen, und auf 
Grund diefes Willens und dieſes Entfchluffes deu Segen Gottes 
für ihren Eheſtand begehren. Das wäre die jubjective Voraus» 
ſetzug. In welhdem Umfange nun diejen Vorausfegungen, 
anf denen das Segnen naturgemäß bafirt, in ber liturgiichen Aus⸗ 
geftaltung des kirchlichen Actes Ausdruc gegeben wird oder werden 
toll, das hängt von der gejchichtlichen Entwiclung der Zrauformen, 
jowie von dem jeweiligen Bedürfnis ab. Sollen die objectiven 
Borausjeungen liturgifch ausgeitaltet werden, fo ergiebt fi) daraus 
1) ein Zeugnis der Kirche, daß der Eheftand göttliher Stiftung 
jet (welches außer in der Traurede vor Allem in den Xectionen 
feinen Ausdrud findet), 2) eine kirchliche Beſtätigung und Aner- 
kennung des vorliegenden Ehebündniſſes und 3) das „Urtheil, daß 
fie fi mit Gott haben“, die „Vergewiſſerung göttlicher Zuſammen⸗ 
fügung”“ , die ja die VBorausfegung der kirchlichen Anerkennung 
it. Die fubjectiven Borausfegungen dagegen werden ihren natur⸗ 
gemäßen Ausdruck in ber den Traufragen zu gebenden Geitalt finden. 
Der nadte Eonjens, den Luthers Traubüchlein bietet, kann bier 
nicht genügen. Wir begehren in den Traufragen vielmehr ein 


theriſchen Theologen de8 17. Jahrhundert® von der benedictio sacer- 
dotalis reden, fie ftets den Trauact darunter mitbegriffen haben 
(a. 0.9. ©. 245). 








88 Kawerau 


hriftliches Ehebefenntnid, eine Anerkennung, eine Bejahung der 
Ehe als einer Gottesordnung, und ein darauf bafirteds Gelöb⸗ 
nis zu hören. Uud diefem Bekenntnis und diefem Gelöbnie 
antwortet dann die Kirche mit dem Segen, der Zuſicherung des 
Gnadenbeijtandes des Herrn, und mit der Fürbitte der Gemeinde. 
So kann ſich die kirchliche Feier, eben weil fie Benediction fein 
will, zu einer jehr reichen und gehaltvollen geftalten. Einzelne 
diefer aufgezählten Beftandtheile können fehlen, wie fie Jahrhunderte 
hindurch in der alten und mittelaflterlichen Kirche, wie aud) in vielen 
reformirten Formularen gefehlt haben, ohne dag die Ehen dadurch ihren 
hriftlihen Charakter eingebüßt hätten, und ohne daß das chriftliche 
Gefühl einen Mangel verjpürt hätte. Es war eben doch eine voll- 
werthige Benediction: die Stüde, welche nicht ausdrücklich liturgiſch 
ausgeprägt waren, waren doch ala naturgemäße VBorausjegung des 
zu jpendenden Segens ftilljchweigend vorhanden. Wo aber die chriſt⸗ 
liche Gemeinde an eine voller ausgejtaftete Form gewöhnt ift, wird 
es nicht wohlgethan jein, dieſelbe ohne dringende Veranlafjung zu 
verfürzen. Wir tragen daher auch Fein Bedenken, bie kirchliche 
Feier als Trauung zu bezeichnen, da uns dies eben der Ausdruck 
für eine in ihren Formen volljtändig ausgeftaltete Benedictions⸗ 
handlung geworden iſt. Will man ein Mehreres, eine Ehefchlie- 
Bung, eine Herjtellung der Ehe, eine Ehegabe mit dem 
Kamen Trauung bezeichnen, jo müſſen wir gegen den Namen 
Proteſt erheben. Und zwar fünnen wir es thun mit den fchönen 
Bekenntnisworten, zu melden fih v. Scheurl getrieben gefühlt 
hat, nachdem er jelber früher in mißsverjtändlicherweife über die 
Thätigfeit der Kirche im Zrauacte geredet Hatte: „Der Kirche ift 
von Gott keine jolhe Macht über ihre Glieder gegeben, kraft deren 
fie eine ihr ald Glied angehörende Aungfrau einem Manne zur 
Ehefrau geben könnte. So wenig bie Kirche einem Könige bei 
der Krönung fein Reich geben kann, ebenfo wenig kann fie einem 
Berlobten feine Braut bei der Trauung zur Ehe geben; nur 
über ewige Güter, nicht über Zeitliches hat fie eine göttliche Voll- 
macht. Sie kann nur, das entjprechende Gotteswort auf die ber 
jtimmte Chejchließung anwendend, den Verlobten bezeugen, daß 
fie, nachdem jie der Gottesordnung gemäß ihre Ehe mit einander 


Die Trauung. 89 


eingegangen haben, einander kraft göttlicher Zuſammenfüguug 
angehören. In dieſem Sinne nimmt der Ehemann bei der 
Zranımg jeine Frau im Namen Gottes aus der Hand der Kirche 
eatgegen.“ (a. a. O., ©. 250.) 

Wie nun aber mit der Zrauformel? Die Erörterungen über 
diejelbe haben glücklicherweife aufgehört als Parteifache betrieben 
zu werden, jeitdem einerjeits ein Blatt wie die Evangelische Kirchen» 
zeitung ihre Spalten einem Botum geöffnet hat, weldyes mit aller 
Entichiedenheit die alte Form „Ich fpreche zufammen“, als unange- 
meilen verwarf (1876, Nr. 18— 23), feitdem anderſeits ein 
Mann wie Heppe fich für Beibehaltung der Formel erklärt hat, 
feitdem der preußiihe ultusminifter felbjt nicht nur das hanno⸗ 
verihe Trauformular mit derjelben Formel beftätigt, fondern auch 
laut Zeitungsnachrichten in der Sigung des Abgeordnetenhaufes 
vom 19. Februar d. %. das „vielleicht anftögige Bekenntnis“ ab» 
gelegt Hat, daß „wir in eine Art von Wortklauberei hineingerathen 
feien“. Wir meinen, die Trage liege hier für den Staat ganz 
anders als für die Kirche. Für den Staat handelt es fi nur 
darum, daß die von der Kirche gewählte Trauformel ben Charakter 
des Civilactes als rechtögültiger Eheſchließung in feiner Weife an« 
taftet. Er kann fi daher offenbar mit dem von Sohm geführten 
Nachweis begnügen, daß dieſe Formel factifch in Gebrauch geweſen 
ift zu einer Zeit, da die Trauung der Kirche nicht die Bedeutung 
der Eheichließung Hatte, jondern letztere als bereits rechtsgültig 
geihehen vorausſetzte. Es könnte aber freilih auch, wie Bierling 
mit Recht gegen Sohm bemerkt, der Staat ſich veranlaßt fühlen, 
um der in der Gegenwart fi) vollziehenden Auseinanderfegung von 
Staat und Kirche willen, eine deutlichere und unzweideutigere Formel 
zu fordern, um Mar zu ftellen und jedes Misverftändnis darliber 
abzujchneiden, dag die kirchliche Trauung jet Lediglich eine reli- 
giöſe Handlung jei und mit den Nechtswirkungen der Ehe nichts 
zu jchaffen Habe. Wir könnten es daher wohl begreifen, wenn die 
Stellung der Staatsbehörden nicht aller Orten bie gleiche in 
Beurtheilung der Zuläßigkeit oder Unzuläßigkeit diefer Formel 
wäre. 

Weit ſchwieriger frelft fich die Trage für die Kirche jelbft. Denn 


90 Kawerau 


dieſe iſt durch Einführung der Civilehe natürlicherweiſe in die Lage 
verſetzt, ihr Trauformular überhaupt zu revidiren, d. h. nicht nur 
daraufhin zu prüfen, ob es juriſtiſch ſtatthaft ſei, ſondern ob es 
in kirchlich angemeſſener und verſtändlicher Form das ausſpreche, 
was die Kirche als Bedeutung der Trauung ausgeſprochen haben 
will. Es könnte alſo der Fall wohl denkbar ſein, daß der Staat 
von feinem Standpunkte aus nichts einzuwenden fände, und dennoch 
die Kirche eine Aenderung für angemefjen hielte. Wenn bei- einer 
Formel conjtatirt werden müßte, daß fie notoriih Misdeutungen 
ber kirchlichen Trauung provocirte, oder daß fie in weiteren Streifen 
als Scibolet eined unevangelifhen oder dem Staate gegenüber 
frondirenden Zrauungsbegriffed ausgenutt würde, dann könnte fein 
Zweifel darüber obwalten, ob fie beizubehalten oder mit einer un⸗ 
zweibeutigen zu vertaufchen wäre. Wir werden aud) hier dem 
Urtheil v. Scheurls beipflichten fünnen, der über die Trauformel⸗ 
Frage folgendermaßen urtheilt: „Wenn Luther, der gewiß ein ab⸗ 
gejagter Feind aller Zweideutigkeit war, fein Bedenken hatte, im 
feinem Traubüchlein anzurathen . . . daß man fpreche ‚fo fpreche 
ich fie ehelich zufammen‘ . . . obgleich er wiederholt mit allem 
Nachdruck gejagt Hatte, wo ein öffentliches unbedingtes Verlöbnis 
vorfliege, beitehe bereit8 eine Ehe vor Gott und der Welt, und 
während er offenbar im Traubüchlein vorausjegen mußte, daf 
regelmäßig Paare zu trauen fein, welde fid zuvor öffentlich und 
unbedingt verlobt hatten, wie jolite da jeßt Bedenken dagegen zu 
tragen fein, daß man Eheleute, welche die bürgerliche Eheſchließung 
vollzogen haben, in diefer Form traue, wenn man nur anneh—⸗ 
men darf, es werde die Form wieder ebenſo verſtanden, 
wie Luther ſie verſtanden hatte?“ (a. a. O., ©. 244.) Ya frei 
lih, wenn man das annehmen darf. Aber wir dürfen nicht ver- 
geilen, wie fehr ein ſolches Verftändnis erichwert wird nicht nur 
dur die juriftifhe Bedeutung, welche in den leßten 100 
Jahren der Trauformel thatjächlic beigelegt geweſen ift, fondern 
aud durch die von fo vielen Seiten behauptete Bedeutung derfelben 
als einer chriftlichen Eheſchließung !). Wie die Verhältniffe einmal 


1) Außerdem darf mol daran erinnert werden, daß gerade Luther fich mit 


Die Trauung. 1 


liegen, wird es ſchwer, die Frage getroft zu verneinen, welde 
griedberg aufgeworfen hat, ob denn das Bolt nicht durch die alte 
Zrauformef in Irrtum verſetzt werde, ob es denn nicht glauben 
müffe, dag die „Civiltrauung“ keine Ehe begründe, daß wenigftens 
die Kirche dieſe nicht anerkenne, da fie noch einmal diejenigen zu- 
ſammenſpreche, welche bereits zufammengefprochden worden jeien? 
(Berlobung und Trauung, S. 77). Das vom Evangelifchen Ober- 
Kirhenrath interimiftifch verordnete Formular ift von Cremer einer 
ſehr abfälligen Kritit unterworfen worden. Für basfelbe fcheint 
allerdings auch und eine Ergänzung und Erweiterung zwar nicht noth⸗ 
wendig, aber doch wiünfchenswerth zu fein. Die Traufragen 
fünnten unferd Erachtens noch beftimmter und vreichhaltiger als 
Hriftliches Ehebekenntnis umnd Gelöbnis ausgeftaltet werden, wozu 
ja ältere $ormulare ein treffliches Material bieten. Und auch die 
Trauformel Tieße fich Füglih im Sinne einer Chebeftätigung 
md Vergewiſſerung göttliher Zufammenfügung noch weiter aus⸗ 
geftalten, al& es gefchehen ift. Uber die an diefem Formulare ger 
übte Kritit müflen wir als ganz ungerechtfertigt abweijen. ‘Die 
Fermel: „So fegne ic) als einzverordneter Diener der Kirche hiemit 
ihren ehelichen Bund“, ift als ein Liturgifches Novum von Cremer 
perhorrescirt worden. Er bat gegen ihre Zuläßigfeit ganz bejondere 
den Umftand geltend gemacht, daß fie das Segnen dem Geiſtlichen 
in den Mund lege, während die Liturgifche und biblifche Sprade 
nur Gott ale den Segenfpender kenne. Dabei ift nur ganz ver- 
geilen, daß das von ihm bevorzugte „Ich fpreche zufammen“ oder 
„Ih verbinde“ auf derfelben Verwandlung des biblifchen quod 
Deus conjunxit in ein ego conjungo beruht! Und mas für 
eine abfonderliche Webertreibung liegt gar darin, daß Cremer von 
diefer Formel (S. 143) urtheilt, jie überbiete alles, was je die 
römische Kirche in Ueberfpannung und Verkehrung bed Amtsbe- 
griffes geleiftet habe! Wo Liegt wol die höhere Anfpannung des 
Amtsbegriffes, da, wo man auf Grund eines vorangegangenen Ge⸗ 


dem Gedanken einer Umgeftaktung des Trauformulars getragen hat; in 
welchem Umfange ihm eine folche wünſchenswerth erſchien, hat ex leider 
nicht näher ausgejprocdhen (vgl. Tiſchr. IV, ©. 76). 


92 Kawerau 


löbniffes in Gottes Namen Segen verkündet, oder wo man den 
Geiftlihen im Namen Gottes Ehen jchliegen läßt und fi zu dem 
ecclesia conciliat matrimonium des ZTertullian befennt? *) Ebenfo 
verwunderlich ift e8 uns, dag Cremer (5. 142) aus den Worten 
„Sch ſegne ihren ehelichen Bund“ eine „Segnung des bloßen Vor⸗ 
ſatzes oder Entſchluſſes chriftlicher Eheführung“ herausgelejen hat. — 
Es haben feit dem Vorangang des Evangelifchen Ober-Slirchenrathes 
fämtliche Kirchenbehörden und ſchon eine Anzahl von Synoden ſich 
mit der Neugejtaltung des Trauformulars befchäftigt, eine ganze 
Heihe von Vorjchlägen ift zu Tage gefördert und ein reichhaltiges 
Material zur Prüfung und Auswahl angefammelt. &8 fieht freilich 
fo aus, al& werde jede Xandesfirche jet ihre eigenartige Trau⸗ 
formel ſich Ichaffen, und werde eine gemeinfame, alljeitig befrie- 
digende Form nicht zu finden fein. Uebrigens hat Bierling mit 
Recht hervorgehoben, daB e8 für die preußische Landeskirche fich 
jet nicht mehr um die Frage handle, ob die alte Trauformel bei» 
zubehalten jei, jondern nur noch, ob fie eventuell wiederher- 
zujtellen jei. ‘Diefer Umſtand möchte wol nicht unerheblich zu 
Ungunften derjelben in's Gewicht fallen. Die von vielen Seiten 
befürwortete Form eines Zujammenjprechens „zur hriftlihen Ehe“ 
oder „als chriftliche Eheleute“ ift in feltener Webereinftiimmung von 
Sohm und Cremer und Bierling ald ganz unzuläßig nachgewieſen 
worden und darf daher wol aud als abgethan bezeichnet werden. 
Schlieglich fei noch erwähnt, daß von verſchiedenen Seiten dar» 
auf Hingewiefen worden it, daB wir jegt einer Mehrheit von 
ZTrauformularen bedürftig feien. Außer dem gewöhnlichen Formular, 
welches für den Ball berechnet iſt, dag die firchlihe Trauung une 
mittelbar nach dem Civilacte begehrt wird, bedürfen wir — fo er⸗ 


1) Es mag Übrigens auch daran erinnert werden, daß die Formel „Sch 
ſegne“ in Begräbnisliturgien jchon mehrfach gebräuchlich gemweien iſt, 
3. B. in der Liturgie im Herzogtum Naffau 1843, in der bairifchen 
Agende 1852. Und die damit auf gleicher Linie ftehende Formel „Wir 
jegnen ... im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geiftes” 
haben auch Liturgiker von der ſtrengſten Obſervanz, wie Löhe und Betri, 
unbedenklich recipirt (vgl. Kliefoth, Liturgiiche Abhandlungen, Bd. 1 [1854] 
&. 319—322). 


Die Tranumg. 98 


imert ein beachtenswerther Artikel in der Erfanger Zeitichrift für 
Proteftantismus und Kirche, Mai 1876, S. 256 — für die 
Fülle eines abweichenden Formulars, in denen der Segen der Kirche 
erft einige Zeit nachher begehrt wird. Es ſei, jo wird treffend 
bemerkt, in dem hiefür zu mählenden Formular ganz befonder® ber 
Schein zu meiden, als ob die Kirche die inzwiſchen geführte Che 
jegt erft wahrhaft zu einer Ehe machen, und berfelben in ihrer 
bisherigen Geftalt den Makel eines Concubinats anheften wollte. 
Anderfeits fei aber auch die Kirche es ſich fhuldig, in einer wenn 
euch noch fo milden und fchonenden Weife ihre Meisbilligung dars 
über zum Ausdrud zu bringen, daß die Che längere Zeit ohne 
kitchſichen Segen geführt worden fei. — Noch viel ſchwieriger wird 
fih ein kirchlihes Formular für die Fälle aufftellen laſſen, in 
welhen es ſich um eine Wiedertrauung ſolcher Gejchiebener handelt, 
denen die Kirche von ihrem Standpunkte aus die Trauung vers 
fügen mußte, die aber dur die Civilehe ein neues Cheband er⸗ 
halten haben. Wenn bei folchen Leuten das ernftliche Begehren 
erwacht, zur Kirche und ihren Gnadenmitteln zurüczufehren, fo 
entfteht für die Kirche naturgemäß auh die Nöthigung, nicht nur 
zu den Leuten qua einzelnen Perfonen, fondern auch zu der zwifchen 
ihnen beftehenden Ehe Stellung zu nehmen. Cremer bat diefe 
ſchwierige Materie in dem legten Abfchnitt feiner Arbeit „über die 
Anwendung der firhlichen Trauung“ *) mit einigen Worten berührt. 


I) Auf die Ausführungen des Verfaſſers in diefem Abſchnit Über die Che- 
Iheidungsfrage können wir bier nicht näher eingehen. Nur foviel fet 
bemerft, daß wir bei dem gegenmärtigen Stande der Exegeſe es nicht für 
zuläßig halten, den Grund der böslichen Berlafjung unter Berufung 
auf das einmlithige Zeugnis der evangg. K.OO. ohne nähere eregetifche 
Beweisführung als einen „biblifchen” in Anfpruch zu nehmen; ebenfo, 
daß es doch nicht angeht, die vom Evangelischen Ober⸗Kirchenrath vertre- 
tene Faffung der Worte Chrifti als eines Brincips einfach als eine 
gar nicht in Frage kommende zu übergehen. Thatfählich find in 
der evangelifchen Kirche die bibliſchen Erklärungen über Eheſcheidung 
ſtets als Princip, nicht ale Gefet gefaßt worden. Man hielt fich be 
treff8 des Scheidegrundes bes Ehebruchs ängftli an den Wortlaut, und 
machte dafür bei der böslichen Berlaffung die Thore fo weit auf, daß 
man jeden Fall, wo man eine Scheidung fir nothwendig eradjtete, in 


9 Kattenbuſch 


Er räth in ben Fällen, wo man bie Ueberzeugung von einer wahr⸗ 
baftigen Belehrung gewonnen habe, zu einer Trauung „in einfachfter 
und ftillfter Form“. In wie weit aber unfere Zrauformulare 
in folhem Falle anwendbar feien, darüber Hat er fih nicht näher 
ausgeiprochen (S. 185). Es Liegen hier fchwierige praftifcheliturgifche 
und zugleich firchendisciplinarifche Fragen vor, an deren ausreichen 
der und befriedigender Löſung wol noch längere Zeit zu arbeiten 
fein wird. | 


3, 
Kritifche Studien zur Symbolik 


im Anſchluß an einige neuere Werte?). 
Bon 
Lic. Ferdinand Kattenbuſch, 


Privatdocenten an ber Univerfität Göttingen. 


Erfter Artikel. 


Die Symbolik foll die Polemik erfegen. In biefem Sinne 
bat Marheinede im Jahre 1810 fie in den Kreis ber theo- 


1Kor. 7 unterzubringen verftand. Und daß diefer Scheidegrund nicht 
aus eregetiichen Gründen in's Kirchenrecht gelommen, fondern umgekehrt 
um der realen Berhältniffe des Lebens willen, angefichts derer man mit 
dem als Geſetz gefaßten Scheibungsgrund des Ehebruchs nicht auskam, 
aljo aus der Praris in die Exegefe eingedrungen ift, Tiegt doch wol hand⸗ 
greiflih vor Augen. Die Behauptung auf S. 182, daß Luther nur zwei 
Eheſcheidungsgründe zulaffe, entipricht den vorliegenden Zengniffen (vgl. 
dv. Strampff, S. 394—896) nur ungenau. 

1) 8. Gaß, Symbolik der griechiſchen Kirche. 1872. 
J. Delitzich, Das Lehrſyſtem der römifchen Kirche, 1. Theil 1875. 
5. Reiff, Der Glaube der Kirchen und Kirchenparteien nad) feinem Geift 

und inneren Zuſammenhang. 1875. 

G. 8. Oehler, Lehrbuch der Symbolik; heransgeg. von J. Delitzſch. 1876. 


Kritiſche Studien zur Symbolil. 9 


logiſchen Wiſſenſchaften eingeführt, nahdem J. ©. PBland ſchon 
vor ihm, ohne den Namen anzuwenden, die dee diefer neuen 
Viffenfchaft ausgefprochen Hatte). Es iſt nicht gleichgültig, dies 
jeſtzuftellen. Denn bamit haben wir den Gefichtspunkt gewonnen, 
um die Aufgabe ber Symbolik zu beftimmen. Marheinecke felbft 
hat diefen Gefichtspunkt ignorirt. Er ift es bejonders, welcher 
den rein bejchreibenden Charakter der Symbolik eingeführt Bat. 
Aber fo gewiß es fehr noththut, daranf hinzuweiſen, daß die 
einfahe quellenmäßige Beſchreibung des Linterfchiedes ber Confef- 
fionen noch viel zu wünſchen übrig läßt, fo wenig iſt dieſe Beſchrei⸗ 
bung an fich ſchon die vollftändige Aufgabe, welche der Symbolik 
nach gefhichtlicher Kontinuität zufält. Denn der fpecififche Zweck 
der Polemik ift dabei einfach aufgegeben. Aber die Polemik ift eine 
für die Theologie umnerläßliche Dieciplin. So lange Schleier- 
machers allgemeine Definition der Theologie zu echt befteht, fo 
lange die Theologie der Jubegriff derjenigen Wiffenfchaften ift, welche 
nothwendig find als Anleitung zu zweckentſprechender Leitung der 
Kirche, fo Lange die Kirche nur in Particularfirhen befteht, jo daß 
man fi) auf den Boden einer derjelben ftellen muß, wenn man 
nicht ſich löſen will von allen praftiichen Bedingungen der Leitung. 
der „Kirche“, jo lange ift die Polemik eine nothwendige theologifche 
Disciplin. Der Theologie einer beftimmten Kirche fällt naturgemäß 
ie Aufgabe zu, eben diefe Kirche gegenüber allen anderen als die 
obäquatere Darftellung der Gemeinde Chriſti nachzuweiſen. Findet 
fie fi dazu unvermögend, überzeugt fie fi etwa, daß die Parti⸗ 
aularfirche, welcher fie dient, mit einer anderen von gleicher religiöfer 
Art ift, fo ergiebt fich die praktiſche Aufgabe der Union diefer 
beiden Kirchen, eine Aufgabe, die nach den geſchichtlichen Umftänden 
in der verfchiedenften Weife vollzogen werden kann und deren Ziel 
nicht nothwendig die äußere Vereinigung in Cultus und Xehrmethode, 
Regiment und Sitte, zu fein braucht. Die Methode der alten 
Polemik war wenigftens für den Proteftantismus nad) feinen eigenen 


1) Marheinede, Chriſtliche Symbolik, 1. Theil, 3 Bände 1810—1813. 
Pland, Abriß einer hiſtoriſchen und vergleichenden Darftellung ber 
dogmatiſchen Syſteme unferer verjchiedenen chriftfichen Sauptparteien, 1796. 


% Kattenbuſch 


Grundſätzen unberechtigt. Man ging von der Anſchauung aus, 
dag nur die eigene Kirche chriſtliche Kirche jet, daß alle anderen 
Kirchen und Richtungen undhriftlich feien. Aber der Proteftantise 
mus ift durch die Neformatoren gehalten, zu glauben, daß die 
hriftliche Kirche allezeit beftanden hat und Überall beiteht, ſo⸗ 
weit in irgendwelcher Form das „Wort Gottes“ verfünbet wird. 
Damit ift er nicht verpflichtet, gleichgültig zu fein gegen die Dif- 
ferenzen ber Kirchen und etwa zu lehren, die verfchiedenen kirchlichen 
Genoſſenſchaften fein nur in der äußern Erſcheinung verfchieden- 
artig, in ihrem Wefen aber gleichwerthig. Aber weil er weiß, dag 
das Wort Gottes und das correcte theologifche Lehriyftem nicht 
identifch find, weil er weiß, daß die Kraft Gottes, welche bezeichnet 
iſt durch das Wort Gottes, wirkfam fein kann auch in den mangel- 
bafteften Formen, fo weiß der Proteſtantismus, daß fi hriftliches 
Leben anfchließen kann an fo viele Momente als verfchiedene Formen 
der Verkündigung von Chrifto möglich find (Phil. 1, 15—18). 
Und es giebt doch thatſächlich felbft in den directen Mitteln, das 
Chriftentum zu pflegen, eine breite Gemeinfchaftsbafis zwiſchen 
alfen Kirchen. Somit ift die Aufgabe unferer Polemik ebenfo 
ſehr, das Chriftliche der übrigen Kirchen feftzuftellen, al& den Vor⸗ 
zug unferer Kirche vor ben anderen darzutfun. Der Werthunters 
ſchied der Kirchen ergibt fi) bei der Beachtung der directen 
Tendenzen derfelben, der Vorftellungen berjelben vom Wefen 
des Chriftentums. Es findet nun unter den Kirchen eine 
Stufenfolge der Reinheit der Erkenntnis desfelben ftatt. Die 
richtige würdige Polemik wird fi damit begnügen, diefe Stufenfolge 
in großen Zügen aufzumeifen, ohne in ‘Detailpolemit einzutreten. 
Die Einzelheiten ber verjchiedenen kirchlichen Syfteme find von 
gewiffen Grundgedanken beftimmt. Es fohnt fi nur um die 
Grundgedanken zu ftreiten. Zum Austrage wird die Polemif nur 
in der Praxis kommen: die Kirchen müffen mit einander ringen 
und der Erfolg wird das Gottesurtheil fein. Wie man nun die 
Wiſſenſchaft vom Werthunterfchiede der Confeſſionen 
nenne, iſt gleichgültig. Iſt der Name Polemik anſtößig, ſo be⸗ 
halte man den Namen Symbolik bei. Nur daß man ſich dann 
klar machen muß, daß nicht zum voraus garantirt iſt, daß die 


Kritiſche Studien zur Symbolik. 97 


Shmbole genügen als Duellen der Erkenntnis des Wejens der 
Confeffionen. Und auch wenn fie genügen, fo ift fein Grund 
einzufehen, warum man fich auf fie befchränfen ſollte. Auch noch 
in anderer Hinficht darf man fid) nicht durch den Namen Sym⸗ 
bofit beirren laffen. Es ift gar fein Grund vorhanden, nur dies 
jenigen kirchlichen Genoffenfchaften auf ihren Werthunterfchied zu 
vergleichen, die e8 zu formulirten und firirten Symbolen gebracht 
haben. Der Umfang der Symbolif kann nur durch die Ueber⸗ 
legung beftimmt werden, welche Genofjenjchaften für die Gegenwart 
praftifh genügend wichtig find, um berücichtigt Ju werden. Syn 
den Hanptfachen werden da alle Theologen übereinfommen. In 
Bezug auf die Secten wird in einzelnen Fällen ein Schwanlen 
Hattfinden, welches niemandem bedenklich erfcheinen wird. Ich 
möchte aber noch auf folgendes aufmerffam machen. Jede Kirche 
hat wieder verfchiedene Richtungen. Soweit diefelben wirklich Ein- 
fluß auf das kirchliche Leben Haben, müſſen fie gefennzeichnet und 
beurtheilt werden. 3. B. muß in der Darftellung ber proteftan- 
tiſchen Kirche nit nur angegeben werden, was Intention der 
Reformatoren war, fondern aud), wie die Orthodorie den Brote 
fantismus verftand und was der Pietismus will. Denn diefe beiden 
Rihtungen find in der Gegenwart noch fehr lebhaft bemerklich. 
In Bezug auf die nachitehenden Blätter bemerfe ich folgendes. 
Diejelben bitten um die Nachficht, welche man einem Effay zu 
Theil werden läßt. Das ift vor allem die, dag man nicht für 
jede Behauptung den ausgeführten Beweis verlangt. Ich mache 
nicht den Verſuch, das ganze Gebiet der Symbolik kurz zu um- 
ihreiben, ſondern befchränfe mich auf die drei großen Kirchen und 
hier auch nur auf die legitimen Formen derjelben. Diejenigen 
teligiöfen Lebenserfcheinungen alſo, welche möglich find von den 
Principien diefer Kirchen aus, verfuche ich zu flizziven, indem 
ih für die griechifche Kirche die Darftellung von Gaß, für die 
römiſſche diejenige von Delitzſch und Oehler, für die proteftan- 
tifche diejenige von Keiff zum Ausgangspunkt nehme. Beim Pro- 
teftantismu8 begnüge ich mich mit ber Intherifchen Form. Der 
Grund für diefe Beſchränkung ift der Mangel an Raum. Dod) 
meine ih auch, daß zwifchen der Iutherifchen und der reformirten 
Teol. Gtub. Jahra. 1878. 7 


os Kattenbuſch 


Kirche kein wirklicher Werthunterſchied zu ſtatuiren iſt. Ich möchte 
die Gelegenheit ergreifen, um auf die vorzüglichen Ausführungen 
Hunbeshagens !) über den Gegenſatz des lutheriſchen und refor⸗ 
mirten Typus, welche viel zu wenig befannt find, wenigſtens hin⸗ 
zumeifen ?). 


1. 


In Gaß' Werk über die griechiſche Kirche Hat endlich auch 
berienige Zweig ber Symbolik, der wie fein anderer vernachläßigt 
war, die umfaffende, eindringende Bearbeitung, welche ihm gebürte, 
erfahren und, fügen wir gleich Hinzu, eine Bearbeitung, die qualitativ 
fih den beften Arbeiten über die anderen chriſtlichen Confeffionen 
ebenbürtig zur Seite ftellt. Es ift ein wirklicher Genuß, Gap’ 
Wert zu ftudiren. Dasfelbe bietet eine feltene Fülle neuer umd 
feiner Beobachtuugen. Man kann allerorten interejlantes und 
bedeutendes finden. Gaß' bekannte, wahrhaft gelft- und geſchmack⸗ 
volle Schreibweife tritt uns auch bier entgegen, und ift man auch 
zum voraus auf fie gefaßt, fo erfreut fie doch immer wieder von 
neuem. 

Es iſt nicht möglih, Hier ein jo eingehendes Referat zu 
bieten, wie es nöthig wäre, wollten wir alle Vorzüge des Werkes 
zur Anjhauung bringen. Raturgemäß find die Nachweiſe über 
da8 Detail der Lehre vielfach beſonders werthvoll. Eben Hier 
konnte Gaß eine Menge neuer Mittheilungen bringen. Halten wir 


1) In den „Beitsägen zur SKirchenverfaffungsgefchichte und Kirchenpolitik, 
insbefoudere des Proteſtantismus“, 1. Bd., 1864. 

2) Ich habe für das Weitere das Heft der BVorlefungen, welche Ritſchl 
im Winter 1874—1875 über Symbolif gehalten hat und welche ich felbft 
hörte, benutzen bilrfen. Gerne und dankbar bemerke ich, daß ich diefen 
Borkeiungen vor allem ein auſchauliches, tebendiges Bild der verfchtebenen 
Kirchen verdanle. Da die Elemente der Symbolik in Ritſchls verjchiedenen 
größeren und Hleineren Arbeiten faft vollfändig gegeben find, fo konnte ich 
übrigens für alles Erhebliche und Eigentümliche, welches ich von ihm entlehute, 
Belege aus feinen gebrudten Arbeiten beibringen. Es ift dadurch auch 
ermögficht, feſtzuſtellen, in wie fern ich eigene Wege gehe und die 
Anregungen und Geſichtspunkte, die ic; Ritſchl verdante, felbfländig ver- 
folge. 


Kritiſche Studien zur Symbol. 9 


und an die allgemeine Auffaffung der griechifhen Kirche, welche 
Gaß darbietet, und beſchränken wir uns in unferem Referate auf 
diejenigen Punkte, welche prineipielle Bedeutung haben. 

Gaß faßt zum Schluſſe fein Urtheil über die griechijche Kirche 
als Gefamterfcheinung in der Kürze zufammen. Er findet Bier, 
dag diefe Kirche „in ihren allgemeinen Beftrebungen jeder anderen 
firhlihen Darftellung der chriftlichen Religion ebenbürtig* fei. 
Allerdings ift diefelbe auch nur im ihren Idealen den anderen 
Emnfeffionen zu vergleichen. -enes günftige Urtheil gilt nur mit 
Bezug auf das Grundzügliche. Sehen wir auf die praftifche 
Seftaltung und das thatfächlihe Verhalten der Gemeinde, fo ift 
mcht zu verfennen, daß „die Seele der griechifchen Kirchlichkeit in 
einem beichränften Leibe wohnt“. Wir jehen dann eine Religion, 
„die ich im ihrem eigenen hohen Fluge hemmt, welche beginnt mit 
dem Aufſchwung zum Ewigen und Unfichtbaren und endigt mit 
finnlicher Beichränttheit, ohne ben Ruückweg zu der Heimat ihrer 
Ideen zu finden“. 

Diefes Doppelgeficht der griechifchen Kirche bringt nun Gaß’ 
geſamte Dearftellung zur Anſchauung. Weberali ift Gaß bemüht, 
m zeigen, welche wahren, echt religiöfen und echt fittlichen Ge⸗ 
danken dem griechifchen Lehrſyſtem in ber Tiefe zum Grunde Liegen, 
um dann allerdings zugleich zu zeigen, wie unzulänglich dieſe 
hohen Gedanken im einzelnen ausgeführt und praktiſch dargeftellt 
erden. 

Als Quellen benugt Gaß in erfter Linie die Belenntnisjchriften, 
weiche Simmel?) zufammmengeftellt hat. Unter diefen erweiſt ſich 
die fogenannte confessio orthodoxa von 1643, welche Petrus 
Mogilas verfaſſen Tieß, als die eingehendfte und nmfaffendfte.e So 
get denn dieſes Wert gewöhnlich den Vortritt. Ihm zumächft 
fteht nach Gaß' Schätung die dans oedodokses, die Decrete 
der jernfalemifchen Synode von 1672, in welche bie energifche 
econfessio Dosithei inferirt iſt. Doc benutzt Gaß daneben zur 
Aluſtrirung und geſchichtlichen Bewährung in reichhaltiger Weiſe 
auch die Privatſchriften alter und neuerer Theologen, eben Bier 


I) Monumenta fidei ecclesiae orientalis ed. E. Kimmel (2 Zhle.). 
7* 


100 Kattenbuſch 


uns beſonders zu Dank verpflichtend durch Nachweiſe, die man ver⸗ 
geblich in den anderen Symboliken ſuchen würde. 

Die confessio orthodoxa bemerft zum Eingange, ein ortho⸗ 
dorer Chriſt müfje den rechten Glauben und gute Werfe haben. 
Dem entfprechend gliedert Gaß feine Darftellung in die Lehre vom 
Glauben und die Lehre von den Werlen, in erjterer Hinficht 
fih anfchließend an den eriten Theil der genannten Confeifion, 
der eine Erläuterung des nicänifch-conftantinopolitanischen Symbols 
darbietet, in leßterer den zweiten und dritten Theil des Belennt- 
niſſes reproducirend, die von der Hoffnung und von der Liebe 
handeln mit Anfnüpfung an das Vaterunſer, bie Seligpreifungen 
und den Dekalog. Gemäß diefen Grundlagen jenes griechifchen 
Belenntniffes muthen uns die griehifchen Lehren, welche Gaß vor⸗ 
führt, zunächſt in der That faft heimiſch an: es find bie alten, 
wohlbekannten kirchlichen Formeln, werthe biblifche Forderungen, die 
uns entgegentreten. Erſt in den näheren Ausführungen empfinden 
wir doch den eigenartigen, fremden Geift der griechifchen Fröm⸗ 
migfeit. 

Sogleih zum Beginne begegnen wir dem eigentümlich ftarren 
griechiſchen Traditionalismus und Formalismus. Jeder vEenzepss- 
nos iſt als ſolcher Ketzerei. Das nicäniſch-conſtantinopolitaniſche 
Symbol ift der Inbegriff aller heilſamen und nothwendigen Lehre. 
So zerfällt der Glaube in zwölf Artikel, und nicht mehr und nicht 
weniger hat der Grieche feftzuhalten und auch diejes nur im Sinne 
der Väter. Indem er die altgriechifche Unterfcheidung der arAr 
und olxovoman Feokoyıa benugt, führt uns nun Gaß ziemlich 
in der hergebrachten Reihenfolge durch die loci der Dogmatif. 
In der Lehre von Gott, der fichtbaren und unfichtbaren Welt, be- 
gegnen wir den neoplatonischen Formen, wie fie die alte Kirche 
ſich angeeignet hatte. In der Gotteslehre fällt auf, daß die meta- 
phufiichen Beitimmungen bejonder8 in den Vordergrund treten. 
Jedoch gefchieht das mehr wie von ſelbſt, nit mit abjichtlicher 
Betonung; es fehlt nicht die religiös» praftifche Betrachtung, vor 
allem nicht der Hinweis auf Gottes fittlihes Weſen. In der 
Lehre vom Menſchen vernehmen wir ebenfalls den Nachhall der 
antifen Ideen, bejonder8 in der Betonung der fittlichen Freiheit, 


Kritifche Studien zur Symbolik. 101 


die troß aller fündigen Verderbtheit geblieben. Freilich ſoll damit 
der Gedanke der göttlichen Leitung, wie er religiös nothwendig 
it, keineswegs ausgefchloffen fein. Bei der Lehre von Gott ver- 
fehlt Gaß nicht, die griechiſche Zrinitätsformel einer genauen Be⸗ 
fmdtung zu unterwerfen und ein intereffantes, auch in der Kürze 
reichlich belehrendes Referat über den endloſen Streit mit dem 
Abendlande wegen des Ausganges des Heiligen Geiftes zu bieten. 
Er macht mit Recht darauf aufmerkfam, daß dogmatifch auf grie- 
chiſcher Seite der gleiche Geſichtspunkt für die Verwerfung des 
flioque geltend gemacht werde, wie von abenbländifcher für bie 
Rechtfertigung diefes Zuſatzes. Aber welches ift dann der Schlüffel 
za einem Berftändnifje der Erregung der Griechen? Gaß verweilt, 
meines &rachtens zu fehr nebenbei, auf die griechifche Anhänglich⸗ 
kit an dem alten Symboltert als folhem, eine Anhänglichkeit, 
welhe er auch nicht eigentlich erklärt. 

Sn der ölonomiſchen Zheologie treffen wir zuerft auf die 
Shriftologie, die ganz merkwürdig Zahl if. Die Darftellung der 
confessio orthodoxa wird von Gaß mit Recht als „Latechetifch 
aufzählend und erläuternd, nicht entwidelnd“ charakterifirt. „Der 
Igmbolifche Ausdrud wird biblifh begründet und in das Dogma 
von der perfönlichen Einheit zweier Naturen und zweier Willen 
hineingezogen. Das Wert Chrifti erfährt nur eine gelegentliche, 
feine jelbftändige Erwägung.” Sofern jedoch über die Bedeutung 
Chrifti für uns Auffchluß geboten wird, erhalten wir in farblofer 
Beife feine anderen als die abendlänbifchen Gedanken: Chriftus ift 
das Opfer gewefen für unfere Sünden. Genauer erörtert wird 
in den Hauptbefenntnisfchriften die Brage, wie wir und das Heil 
aneignen. Hier ift die Situation, in der diefe Schriften entjtanden 
find, zu berüdfichtigen. Bekanntlich zielen diefelben befonders ab 
auf Befeitigung der proteftantifchen Gedanken, wie fie namentlich 
der Patriarch von Conftantinopel, Cyrillus Lucaris, eingebürgert 
hatte. Hatte derfelbe die Rechtfertigung allein aus dem Glauben 
gelehrt, fo wird das mit Heftigfeit zurückgewieſen. Die Griechen 
ſchen in dem proteftantifchen Gedanken ein Attentat auf die Heiligkeit 
Gottes. Gerecht werden wir mur durch Glauben und Werke. 

Bislang wäre ald auffallend und ſpecifiſch griechifch eigentlich 


104 Kattenbufd 


daß menfchliches Denken den in der Darftellung der Liturgie ver- 
borgenen und rituell eingefleideten Geiftesreichtum völlig wiedergebe. 
Gaß ergänzt die Detailmittheilungen, bie er früher in feiner Schrift 
über Nikolaus Cabaſilas aus den Werfen jener Theologen gegeben 
hatte, befonder& durch eine Darftellung der Ausführungen der gewich⸗ 
tigften Autorität des Mittelalters, de8 Symeon von Theſſalonich. 
Es ift ja nicht zu leugnen, daß in den myſtagogiſchen Schriften mand) 
finniger, anfprechender Gedanke vorgetragen wird. Doc treffen wir 
des Geſchmackloſen faft noch mehr. Und vor allem, wie muß es 
in einer Kirche ausſehen, deren theologifches Intereſſe fih nun ſchon 
feit mehr als einem Jahrtauſend im wefentlihen erſchöpft in ſolchen 
myſtiſchen Contemplationen! Fürwahr, Gag hat Recht, wenn er 
im Rücbli auf jene Punkte des griechifchen Syſtems meint, die 
griechifche Frömmigkeit fei praftiich nur zu fehr zu abergläubifchem 
Staunen und ungeiftigem Genießen heruntergeſunken. 

Kurz gegennüber dem erften fällt der zweite, die Ethik behandelnde 
Theil des Gaß'ſchen Werkes aus. Es fei daraus nur erwähnt, 
dag wieder der Ausgangspunkt genommen wird von ben höchiten 
biblifchen orderungen. Fromm wird das ganze fittlihe Leben 
unter die Leitung des Geiſtes geftellt, deſſen Charismata alle 
Tugenden find. Aber dann ift man doch nicht fähig, die Hohen 
biblischen Ideen im einzelnen richtig auszudeuten. Es wird alles 
asketiſch, conventionell =Firchlich zugefpigt. Das Möndtum ergibt 
fih al8 Ideal, weldes in concreto in der griechifchen Kirche an⸗ 
gewiejen wird. Gegenüber den abendländifchen Kirchen aber erhellt 
im großen bie Energielofigkeit der griechiſchen gegenüber den fitt- 
lichen Aufgaben. Sclaffheit ift ihr fchlimmftes Gebredhen. So 
ift fie denn im großen, immer wieder gegenüber den weitlichen Kirchen 
als die zurückgebliebene zu bezeichnen. 


— — — 


Indem ich mich zu einer Kritik des Gaß'ſchen Werkes wende, 
will ich es nur gleich zum Eingange ausſprechen, daß ich mit Gaß’ 
Auffafjung der griechischen Kirche in mefentlichen Beziehungen nicht 
barmonire. Wenn ich meinen Widerfpruch nicht unterdrüde, fo 
thue ich e8 aber in dem Gedanken, daß im mifjenfchaftlichen Ver⸗ 





Kritifche Studien zur Symbolit. 106 


kehre e8 doch auch eine Form des Dankes ift, wenn wir nicht, 
ſchwören auf die Worte des Meifters, fondern und dadurch anregen 
laflen, weiter nachzudenken und auffteigende Zweifel zu verfolgen. 
Mein Widerfpruch trifft die Grundidee der Gaß'ſchen Darftellung 
der griechifchen Kirche. Leider muß es mit Rückſicht auf den 
Kaum, den ich in Anfpruch nehmen darf, genügen, wenn ich ohne 
eigentliche Auseinanderfegumg mit Gaß nur pofitio meine Anfchanung 
md ihre Gründe vorlege. 

Der Gegenfaß gegen Gaß, in dem ich mich befinde, datirt 
daher, daß ich die Quellen, aus denen derfelbe zuoberjt jchöpft, 
nicht für authentifh halten kann. Ich Halte es nicht für richtig, 
dag die griechiihe Symbolik weſentlich und im erfter Linie auf 
Grund der Eonfefjionsfchriften, die Kimmel herausgegeben hat, 
entworfen wird. Die Confeſſion des Gennadius, melde nach der 
Eroberung von Conftantinopel dem Sultan Muhammeb II. über» 
geben fein ſoll, ift jo kurz, dag aus ihr nicht viel zu erfahren ift. 
Die orthodoren und von Synoden gebilligten Confeffionsfchriften 
des 17. Jahrhunderts aber find erft recht nicht geeignet, die Grund» 
lage der Symbolif abzugeben. Es ift nämlich leicht zu erfennen, 
daß dieſe Schriften nicht die Gewähr befigen, uns wirklich mit 
allen oder doch den wejentlichen Eigentümlichkeiten der griechiſchen 
Lirhe befannt zu machen. Gaß felbft zeigt an einer Reihe Stellen, 
daß fie durchzogen find von Spuren Tateinifcher Einwirkungen. 
Die Deerete der jerufalemifchen Synode, die ſich durch ihre Leiden⸗ 
ihaftlichleit gegen die proteftantifchen Ideen, die Cyrillus Qucaris 
anzubürgern verfucht hatte, al® gut griechiſch auszuweiſen fcheinen, 
find gegenüber der fatholifchen Kirche nicht ebenfo ablehnend, fondern 
zum Theil fogar entgegenfommend. Beſonders aber zeigt die con- 
fessio orthodoxa, welche Gaß fpeciell bevorzugt, Abhängigkeit von 
lateiniſchen Einflüffen. Wenn dies direct, hinſichtlich der Aufnahme 
beftimmter einzelner abendländifcher Lehren und hinſichtlich der be- 
wußten Unterdrüdung griechifcher Gedanken aus Rückſicht auf die 
abendländifchen Kirchen, immerhin nur von wenigen Punkten gilt, 
ſo mdireet von dem gefamten Tenor des Schriftftüdes. Ich denke 
Bier an die unbeftimmt biblifche Haltung und die Farblofigfeit der 
meiften Lehrbeftimmungen, Die genuin griechifchen Lehren wollen 


166 Kattenbuſch 


nicht zum Vorſchein kommen, weil der Eindruck der abendländifchen 
nicht überwunden iſt. Zum voraus ift es auch nicht waährſcheinlich, 
daß Schriften des 17. Jahrhunderts uns auf den richtigen Weg leiten 
ſollten, um das Weſen der griechiſchen Kirche deutlich zu erfaſſen. 
Die Confeſſionsſchriften dieſer Kirche find ganz anders entſtanden, 
ald die der anderen chriftlichen Kirchen. Sie find hervorgegangen 
aus den Irrungen, welche katholiſche und proteftantiihe Eiuflüſſe 
hervorgerufen hatten; aber diefe Einwirkungen haben die griechifche 
Kirche bei weitem nicht fo aufgemählt, wie die reformatorifchen 
Ideen die oecidentalifche Kirche. Bis zur tiefften Beſimung auf 
ihre Eigentümlichkeiten fonnte die griechifche Kirche nicht gebracht 
werden durch die relativ doch wenig tiefgreifenden Umtriebe der 
Jeſuiten in Litthauen und ben weftlichen Provinzen Rußlands und 
duch die Ketzereien des Cyrill. Es wird im weiteren Verlaufe 
unferes Aufſatzes von felbft erhellen, warum die katholiſch⸗proteftan⸗ 
tiichen Gontroverfen für die griechiſche Kirche eigentlih gar fein 
Intereſſe haben. Diefelben find hier feine naturwüchfigen Probleme. 
So konnten fie denn auch nur momentane Zudungen hervorrufen. 
Uebrigens aber war die griechifche Kirche des 17. Yahrhunderts 
des theologischen Dentens viel zu ſehr entwöhnt, um alles zum 
Ausdrude zu bringen, was fie etwa gegenüber den fremden Ans 
ſchauungen, die bei ihr importirt wurden, inftinctiv als ihre afte 
Eigentümlichleit empfand. Die Confefftonsfchriften zeigen, wie be- 
merkt, daß man dem Abendlande zum heil, wenn auch wol meift 
nur im momentanen Ausdrud, unterlegen war, und ferner fonnte 
man in anderen Bunkten die griechiichen Formeln nur reproduciren, 
ohne vermögend zu fein, anzudeuten, welden Sinn und Werth 
diefe Formeln für die griechische Frömmigkeit haben. 

Im allgemeinen wird gelten, daß wir, um das Weſen einer 
Kirche richtig zu verftehen, in die Gründungsepodhe hinauf 
jteigen müffen. Die fumbolifhen Bücher des Proteſtantismus 
haben deshalb zum voraus das gute Vorurtheil, das Wefen des» 
jelben deutlich, erfennen zu laffen, weil fie aus der Gründungszeit 
ftammen. Die ſymboliſchen Schriften des Katholicismus ftammen 
wenigſtens aus der Zeit, wo ſich die römifche Kirche in einen Kampf 
auf Leben und Tod mit einem vollbewußten Gegner geftellt fand. 


Kritiſche Studien zur Symbolit. 107 


Freilich iſt es niemandem zu rathen, das Weſen des Katholicismus 
feſtzuſtellen ohne Rückſicht auf Thomas von Aquino und — Auguſtin. 

Die Gründungsepoche der griechiſchen Kirche als Particular— 
firde ift nun die Zeit der großen chriftologifchen Streitigleiten. 
Die damals erzielten bogmatifchen Enticheidungen bilden ja den 
cigentlichen Beftand der dogmatifchen Tradition in der griechijchen 
Kirche. Jene Streitigkeiten beginnen auch zugleich mit dem Eintreten 
der politifchen Umftände, die bei der Sonderung des Orients vom 
Dreident mitgewirkt haben. ALS die eigentlichen Säulen der grie- 
chiſchen Kirche find alſo zunächſt Männer wie Athanafius und Gregor 
von Nyfſa anzufehen. Doch wird man, um die griedijche Auf- 
faſſung des Chriftentums in ihrer Eigenart zu verftehen, überhaupt 
die gefamte theologifche Literatur jenes Zeitraumes zu Rathe ziehen 
mäfjen. So wird man befonders die Bedeutung des Pſeudo⸗Areo⸗ 
pagiten nicht leicht zu hoch veranjchlagen können. 

Wenden wir und nun zu einer kurzen Charakteriftit des grie- 
chiſchen Lehrſyſtemes gemäß den Quellen, welde jene Epoche uns 
darbietet, ſo denken wir zum voraus an ein Deſiderat formeller 
Art, welches die Gaß'ſche Symbolik hinterläßt. Gaß unterläßt es, 
die griechiſche Lehre von ihrer organiſirenden Ceutralidee aus zu 
erfaſſen. Das ift veranlaßt dadurch, daß er die confessio ortho- 
doxa als Leitfaden benutzt. Diefelbe ift ein Compendium mit 
ſcholaſtiſchem Zufchnitt, worin eine organifirende‘ Idee eben nicht 
zum Borfchein kommt, fondern nur ein Haufe einzelner, oft fchlecht 
genng nebeneinander beſtehender Ideen. Wir können uns num auf die 
geftalt: und Tebengebende Anſchauung führen laſſen, indem wir uns 
an die beliebte Behauptung erinnern, die Gag aber nicht unterftügt, 
wenn er fie auch nicht ausdrücklich zurückweiſt, daß der morgen- 
lindiſchen Kirche eine „intellectualiftifche Richtung“ im Gegenfatze 
zu der „praftifchen Richtung“ des Abendlandes eigen fei. Wie diefe 
Rede entftanden ift, ift fehr wohl zu begreifen. Nämlich die 
Chriſtologie und Trinitätslehre, „die objectiven Dogmen“, um welde 
die alte Kirche fich fo vorwiegend bemühte, fcheinen uns feinen 
unmittelbaren praktifchen Werth zu beſitzeu. Diefelben rufen bei 
und in der näheren Form, die fie erhielten, unwiderſtehlich zunächft 
tin intellectuafiftifches SInterefie hervor. Wir fommen nun einmal 


108 Kattenbuſch 


nicht daran vorbei, fie zunächſt als anziehende oder ärgerliche cruces 
für unfern PVerftand zu empfinden. Aber das follte uns doch 
nur darauf aufmerkſam machen dürfen, daß wir diefe Kormeln nicht 
mehr unmittelbar verftehen, daß wir andere religiöfe Intereſſen 
haben, wie die alte Rirhe. Denn daß dieſe Kirche auf jene Lehren 
nicht geführt fein kann durch intellectuelle Intereſſen, daß e8 nicht 
jpeculative Bedürfniſſe gewefen fein künnen, welche fie durch Die 
Ausarbeitung der trinitarifchen und chriftologifchen Formeln befriedigte, 
ift doch offenbar. Wären e8 nicht religiöfe Bedürfniffe, die ſich 
in jenen Lehrftreitigkeiten geltend machten, fo wäre die alte Kirche 
gar nicht Kirche, fondern philofophifche Schule. Indes bisher ift 
noch nicht viel gewonnen. Man darf darauf rechnen, daß jeder- 
mann bie Rede von der „intellectualiftifchen” Richtung der grie- 
Hifchen Kirche ſchließlich Für brachylogifch erklären und zugeben 
wird, daß es religidje Bedingungen gewefen, unter denen die Dogmen 
damal8 wie immer zu Stande gelommen. Aber man bringt fich 
num nicht deutlich zum Bewußtfein, was unter foldyen Bedingungen 
zu verftehen fei. In der Dogmengefchichtfchreibung wird es noch 
lange dauern, ehe die Einwirkungen der dee, daR die Entwidlung 
der Dogmengefchichte die allmähliche firchliche Bearbeitung der Reihe 
der als nothmendig gedachten loci theologiei darftelfe, völlig ab⸗ 
gethan find. Die neuefte Dogmengefchichte *) Legt diefe Vorjtellung 
noch einmal bewußt und conjequent zu Grunde. Thomafiug 
ftellt die Sache fo hin, was übrigens aud) in diefer näheren Form 
nicht neu ift, daß die alte morgenländifche Kirche die Zrinitätslehre 
und die Chriftologie, die alte abendländifche die Anthropologie und 
Hamartologie, das Mittelalter die Lehren von der Verſöhnung und 
den Heildmitteln, die Reformation die Lehre von der Heilsaneignung 
bearbeitet habe. Jeder diefer Dogmenkreiſe ift religiös bedingt ge» 
weien und fie zufammen find die nothwendige kirchliche Erplication 
der chriftlichen Wahrheit. Denkt man biernah zunädit, daß in 
den Epochen vor der Reformatign die chriftliche Wahrheit nur 


1) Thomaſius, Die riftliche Dogmengeichichte, 1. Bd., 1874. Nach 
den Tode des DVerfaffers ift der 2. Band von Plitt herausgegeben 
worden (1876). 


Kritische Stubien zur Symbolik. 109 


ſtückweiſe in der Kirche vorhanden gewefen, fo hat Thomaſius Vor- 
fchr getroffen, um aud) den älteren Stadien das ganze Ehriftentum 
vindiciren zu können. Es ift in der Form „unmittelbaren Wiffens“, 
nur ohne die volljtändig ausgebildete Form, die wir befiten, in der 
gläubigen Gemeinde damals vorhanden gewefen. Aber die ganze 
Borftellung ift unhaltbar. Sollte es richtig fein, daß die alte 
griechiſche Kirche die Lehre von ber Trinität und der Perjon Ehrifti 
al8 die relativ felbjtändigen Kapitel der Dogmatit ausgebildet Hat, 
jo wäre jene Kirche, wenn Teine philofophifche, fo doch eine theo- 
logiſche Schule gewejen. Denn das ift der Unterſchied der Kirche 
und der theologiichen Schule, daß erftere immer fih um die To⸗ 
talität der religiöfen Erkenntniſſe bemüht, während legtere ſich mit 
einem Ausſchnitt begnügen mag, den fie möglichſt forgfältig bes 
handelt. Wenn es richtig hergeht, fo befiten ja die einzelnen 
Glieder einer theologischen Schule auch, während fie fich ihr Leben 
lang vielleiht nur um ein einzelnes beſchränktes Gebiet der chrift- 
lihen Lehrwifjenfhaft bemühen, das ganze Chriftentum „im 
Gemüthe*. Indem Thomafius der alten Kirche den Befig des 
ganzen Chriftentums in diefer Form zufchreibt, Hat er alſo auch 
noch nicht gezeigt, daR diejelbe nicht eine Schule gewefen. Das 
Richtige ift, das bie griechifche Kirche in und mit ber Theo— 
logie und Ehriftologie das ganze Chriftentum in ihrer 
Weiſe behandelt Hat‘). Nur wenn wir dies fejthalten, fichern 
wir ihr den Charafter der Kirche. Jede religiös bewegte Zeit 
hat ihr Schlagwort, fo gut wie jede politifch bewegte Zeit. In 
der Zeit der Reformation war da8 Schlagwort: Rechtfertigung 
aus dem Glauben oder aus den Werfen; in der alten griechifchen 
Kirche war es die correcte hriftologifche Formel. In einer folchen 
Behauptung concentrirt eine Zeit all’ ihr Beftreben, vergegenwärtigt 
fe fih al’ ihre Güter, Natürlich Hat fie auch andere Fragen 
und Behauptungen, die ihr ebenfalls von integrivender Wichtig- 
keit find. Die Reformation hat Kontroverfen über fait alle Punkte 
des ſcholaſtiſchen Lehrſyſtems Hervorgerufen. Und die alte Kirche 


1) Bel. Ritſchl: „Ueber die Methode der Älteren Dogmengefchichte“, Jahr⸗ 
bũcher für deutfche Theologie 1871. 


110 Kattenbuſch 


hat ebenfalls neben der Lehre von Chriſto noch genug andere The⸗ 
mata gehabt. Aber das Thema von Chriſto war ihr der Inbegriff 
aller Themata, in der richtigen Lehre von Chriſto rettete ſie über⸗ 
haupt das richtige Chriſtentum, ſo wie ſie es verſtand. Aber 
wie verſtand fie e8 denn? Darauf gewinnen wir die Antwort 
durch die Frage: wie befchaffen war das Heildgut, welches die 
griechifche Kirche im Chriftentum ſuchte? Hier kommen wir zu 
der organifirenden Grundidee des griechifchen Lehrſyſtems. 

Ich beziehe mich Hier zunächſt auf die Schrift von Herr- 
mann über die Heilslchre des Gregor von Nyffa !). Es wird | 
dort des mäheren gezeigt, daß diefer Theologe unter dem chrift- 
lichen Heife nichts anderes denkt, als die adavanız und 
aydagoıe, die Lem aiwvıos im äußeren Sinne. Die Selig: 
feit wird von Gregor lediglich befchrieben als Befreiung von der 
Sinnlichkeit und Endlichkeit und den Uebeln, welche diefe beiden Be⸗ 
ftimmtheiten unferes irdiſchen Lebens mit fich führen. Das höchfte 
Gut, welches uns im Chriftentume geboten wird, die Gemein- 
ſchaft mit Gott, ift wicht gemeint als immer volllommener wer- 
dende Einigung unſeres Willend mit dem göttlichen, fondern als 
die Ablegung deſſen, was fterblih und endlih an uns tft, als Die 
Verſetzung unferes Lebens in Gottes unfterbliches, dem Leide ent- 
zogenes Leben. Es find alfo Lediglih phyfifhe Kategorien, 
in denen das Heil befchrieben wird. Und das Heil ift eine rein 
transfcendente, nur für die Hoffnung vorhandene 
Größe ES wird fih nun fragen, ob der Nyffener mit biefer 
Auffaffung des chriftlichen Heiles allein fteht. Aber derfelbe ift 
befanntlich fein abfeits der großen gefchichtlichen Entwicklung ber 
Kirche ftehender, fondern ein hochgeehrter, für feine Zeitgenofien 
und fir die Folgezeit höchſt autoritativer Dann. Und ber Be- 
weis ijt in ber That zu erbringen, daß er mit feiner Anſchanung 
von dem höchſten Gute nur die herrfchende Anficht feines Zeit⸗ 
alter8 vertritt. Doc kann es natürlich nicht hier meine Aufgabe 
fein, diefen Beweis anzutreten. In den vorhandenen Dogmenge- 


1) Herrmann, Gregorü Nysseni sententiae de salute adispiscenda, 
Halis 1875. 





Kritiſche Studien zur Symbolik. 111 


ſchichten findet man hin und her Belege; eine abſichtliche Unter⸗ 
fuchung über den Charakter des Heiles, welches die alte Kirche 
im Chriftentume fuchte, wiewol diefe Frage offenbar die Cardi⸗ 
nalfrage ift für das Berftändnis ihrer Lehrbildungen, trifft 
man nirgends. Am meijten Material ift zu finden in den Kapi⸗ 
ten, welde die Anfchaumngen vom Werke Ebrifti und von der 
Bedeutung der Sacramente behandeln *). Um wenigftens an Eines 
zu erinnern, erwähne ich, daß der Zwed ber Erjcheinung Chriiti 
im Fleifche gern dahin beftimmt wird, daß wir „vergottet“ werden 
ſollten. Es unterliegt feinem Zweifel, daß dieſes Yeorossıodaı 
als eine fubftantielie Aenderung unferer Natur, ale eine phnfifche 
Mittheilung des göttlichen Lebens an uns gedacht if. Athanafius 
bemerft ausdrüdlih, der Zwed der Sendung Chrifti könne nicht 
die Sündenvergebung und die vollfommene, vorbildlihe Erfüllung 
des göttlichen Geſetzes ſein. Daß dies wicht die Hauptſache fei, 
zeige der Umftand, daß es ſchon vor Chriftus fündlofe Menſchen 
gegeben habe. Die Hauptſache, die Ehriftus allein ſchaffen konnte, 
ift die Vermittlung des ewigen Lebens. Denn das ift das Ver⸗ 
hängnis der natürlichen Menjchheit, daß fie dem Tode verfallen ift, 
und dem fann bie Menſchheit fih nicht durch fich ſelbft ent- 
ziehen 2). Aehnliche Ausführungen finden wir bei allen Vätern. 
Immer ift das höchfte Gut ein phyſiſches umd jenſeitiges, nicht 
em fittliches umd in der Gegenwart zugänglided. Das Gute, 
die Erfüllung des göttlichen Willens, kömmt nur in Betradt 
als Bedingung für die Theilnahme an dem durch Chriftus 
wiedergebracdhten göttlichen Leben. Der Sacramente hödfte Wir: 
tang und Bebentung ift, daß fie yrdaxınoa sis avantacıy 
fun; alovıov, yagıazı un; adavanıazs find. 

Iſt das richtig, fo begreifen wir nunmehr die Chriftologie. 
Athanafius gibt direct an, melches Intereſſe ihn an die Behaup⸗ 


1) Bol. beſonders Nitz ſch, Dogmengeichichte, $ 58. 63. 64; Baur, Die hrifl- 
Giche Lehre von ber Berföhnung, S. 67 ff.; Steitz: „Die Abendmahls- 
lehre der griechischen Kirche in ihrer geichichtlichen Entwicklung“, Jahrbücher 
für deutſche Theologie 1864—1868 (ſechs Aufiäte). 

2) Herrmann, Die Metaphyfil in der Theologie, ©. Diff. - 





112 Kattenbuſch 


tung der phyſiſchen Homouſie des Logos mit dem Vater feſſelt. Kein 
anderer als Gott ſelbſt konnte uns mit dem göttlichen Leben durch⸗ 
dringen, kein anderer uns wahrhaſt vergöttlichen, als der Gott in 
ſich ſelbſt iſt, kein anderer uns die Sohnſchaft Gottes geben, als 
der, der von Natur Gottes Sohn iſt. Hatte der Sohn einen 
Anfang, ſo kann er auch wieder aufhören, und wir ſind unſeres 
eigenen ewigen Lebens nicht gewiß ). Begreifen wir hier die Lehre, 
daß der Logos Yvoss Gott geweſen, fo begreifen wir anderfeits 
auh, daß er Yvossı Menſch geweien fein muß. Wieder gibt 
Athanafius ſelbſt ausdrüdlih an, daß, wenn der Logos nicht 
wahrer Menfch geworden wäre, uns feine Gottheit nichts nüßen 
würde. Denn mit einer uns fremden Natur Haben wir nichts 
gemein. Es fam darauf an, daß der Logos mit uns in Natur- 
verbindung trat. Wir fehen deutlih, daß die Chriftologie des 
Athanaſius in der That ein Zeugnis confequenten Denkens 
ift, und begreifen die Streitigkeiten, die fich erhoben, jo oft 
die wahre Gottheit oder die wahre Menſchheit oder die reafe, 
phyſiſche Verbindung zwifchen beiden in ber Perfon Chrifti be- 
droht war. | 

Könnte e8 nun auf den erften Blick feheinen, als ob die grie- 
chiſche Kirche vermöge diefer Anfhauung vom Weſen des Heiles auf 
den fittlichen Charakter der chriftlichen Religion verzichte, fo fteht 
die Sache doch nicht ganz fo ſchlimm. Es iſt nämlih nun zu 
betonen, daß die Zulaffung zum ewigen Leben, zu dem von 
Chriſto erworbenen Gute, durchaus abhängig gemacht wird von der 
Erfüllung des göttlihen Geſetzes. Die griedifche Kirche Hat nicht 
vergefjen, daß die fatholifche Chriftenheit im Kampfe mit dem 
Judenchriſtentume feftgeftellt hatte, daß das Chriftentum das neue 
Gefet fei. Der von diefem Streite her datirende Nomismus 
ift alfo der andere, allerdings immer mehr zurüdtretende Bol der 
griechifchen Frömmigkeit. Derjelbe fteht in fchwebendem Gleichge⸗ 
wicht mit der finnfihen Auffaffung des Heiles und corrigirt den 
Fehler berfelben, fo weit das angeht. Die Forderungen aı Lebens» 
reinheit, welche die alten Väter ftellen, find nun in thesi äußerft 


— — — — — — — 


1) Baur a. a. O., ©. 106. 


Kritifche Studien zur Symbolik. 118 


hochgeſpannt. Doch werden fie felten concret ausgeführt und dann 
meiſt ascetiſch. Das paralyfirt denn für die Menge die eigentliche 
Wirkung diefer Strenge. Es bleibt im allgemeinen das Bild 
der Heiligkeit Gottes, welder nur mit den Neinen und Makel⸗ 
loſen in Gemeinſchaft treten kann. Gharakteriftiih ift für bie 
griechische Kirche, daß fie es bei der Forderung fittlichen Lebens 
als bloßer Bedingung des Heiles beläßt. Die Erkenntnis, daß 
das Gottes eigentliches Werk ift, daß er heiliges Leben fchafft, 
daß die Gnade ihr eigentliches Ziel an der Berfühnung ber 
Menſchen mit Gott hat, ift ihr nicht beſchieden — wenigftens nicht 
für die Theorie. 

Indes die griechiſche Kirche ift nun auch fo noch keineswegs 
erihöpfend charakterifirt. Denn das Heil, welches fie erftrebt, der 
Werth der Perfon Ehrifti, welchen fie conftatirt, ift nicht in ber 
Gegenwart und unmittelbar von den Einzelnen erfahrbar. Dar» 
auf aber fteht alle Religion, daß man bes Heiles perfünlid und 
gegenwärtig gewahr wird. Von ber Verheifung allein Iebt eine 
Lirche nicht. Kann die griechische Kirche ihren Gläubigen das 
Heil nicht ummittelbar nahebringen, fo werben die Gläubigen zu 
Surrogaten greifen. Iſt aber dag Heil der griechifchen Kirche 
in der Gegenwart nur in der Phantafie erlebbar, fo ift 
begreiflih, daß das praltifche Intereſſe der Mafje ſich immer 
mehr der jacramentlichen, Liturgifhen Seite der Religion zu⸗ 
wandte und fchlieglih im Cultus überhaupt den Inbegriff aller 
Heilsgäter ſah. Im Eultus, da trat man in unmittelbaren Con⸗ 
tact mit der Gottheit, mit dem Logos, Hier erlebte man eine Er» 
hebung über die Alltäglichkeit, über das Profane, über das Nichtige. 
Die Erfahrung, die jeder religiöfe Menſch in der Theilnahme am 
Cultus macht, die undefinirbare Steigerung des religiöfen Lebens⸗ 
gefühls, welche die Theilnahme an demfelben gewährt, mußte in ber 
griechifchen Kirche je länger je mehr als das werthvollſte Gut des 
Ehriften in der Gegenwart erjcheinen. Denn fie war die einzige 
Form, in der man des Heiles im gegenwärtigen Genuffe froh 
werden konnte. Man kann duch Steig in den angeführten Ab- 
handlungen erfahren, wie lebhaft von altersher in der Kirche das 

Tpest. Stud. Jahrg. 1878. 








114 Kattenbuſch 


liturgiſche, ſacramentliche Intereſſe geweſen, aber es iſt eine 
immer ſteigende Zunahme desſelben bemerkbar. Schon ein Cyrill 
von Jeruſalem, ein Chryſoſtomus ergehen ſich in für uns nicht 
nachzuempfindenden Ueberſchwenglichkeite. An ſich macht es da⸗ 
bei keinen Unterſchied, ob einer die Vergegenwärtigung des Heils⸗ 
gutes durch den Cultus, in specie die Sacramente, ſymboliſch oder 
realijtifch auffaßt. Aber an die letztere Auffaffung, welche feit der 
Mitte des 4. Jahrhunderts, befonders durch den Einfluß des Gre⸗ 
gor von Nyſſa, aufgelommen ift und übrigens auf die Dauer und 
für das Volt unvermeidlich war, fchliegt fi) allerdings leichter 
der Aberglaube und überhaupt der Untergang geiftiger Religio—⸗ 
fität an. Worauf fih nun das facramentliche, cultiih-rituelle 
Intereſſe im einzelnen wirft, ift, weil es wejentlich mit ein äjthe- 
tifches, von der Phantafie und dem Gefühle ausgehendes ift, nicht 
controlirbar. Es ift begreiflich, daß fchließlich jeder Einzelheit des 
GSottesdienfteß ein höherer Sinn, ein aparter, unveräußerlicher, 
religiöjer Werth beigelegt wurde. Eine Grenze ift nur gegeben 
mit der Leiftungsfähigleit der menschlichen Einbildungetraft und 
des menſchlichen Spürfinnes 9). 

Hier muß nun hinzugefügt werden, daß in naturgemußer Ent⸗ 
wicklung das dogmatiſche Intereſſe, welches urſprünglich den 
Anlaß für das liturgiſche geboten, hernach je länger je mehr von 
dem liturgifehen mit umfaßt und eigentümlich umgeftaltet wurde. Es 
ift offenbar fchr bald gelommen, daß das Dogma von dem Bolfe 
nur in feiner Darftellung durd Riten und Symbole und in feiner 
Aufpigung zum liturgifchen Bekenntnis vergegenwärtigt und hoch⸗ 
geichätt wurde. In den alten chriftologifchen Streitigkeiten ſchon 
hören wir immer wieder, daß es Liturgifche Ausprägungen der einen 
oder anderen Theorie gewefen feien, an welche der Streit anknüpfte. 
Bollends ift fpäter im Volke, in der Kirche als folder, die An⸗ 


1) Bol. neben den Gaß'ſchen Nachweiſen befonders Steig’ Mittheilungen 
aus der müftagogifchen Fiteratur jeit dem Pfeudo - Areopagiten, welcher 
der Kirche zuerfi eine zufammenhängende Deutung aller Einzelheiten ihres 
Cultus gegeben bat, a. a. O., 1866. 


Kritifhe Studien zur Symbol. 115 


hänglichkeit an beftimmmten Formeln bedingt durch die Liturgifche 
Berwendung derſelben. Das nicänifcheconftantinopolitanifche Symbol 
it besiegen fo werthvoll, weil e8 in der Liturgie eine wefentliche 
Stelle einnimmt. Im Anfchluß ar feine Aufnahme in die Liturgie 
als kurze Summe des driftlihen Glaubens gilt es je länger je 
mehr für Heilig und unveräußerlich. Es ift offenbar, daß ber 
ewige ausſichtsloſe Streit mit dem Abendlande über das filioque 
auh von hier aus erſt jein Licht empfängt. So verfchwindet all- 
mählih das Verftändnis für den urfprünglichen Sinn ber Formeln. 
Das abgeleitete Intereſſe fichert ihnen ihre Geltung. Wenn die 
alten Väter deutlich fich der Relation ihrer dogmatiſchen Behaup⸗ 
tungen mit der Borjtellung vom Heile bewußt waren, fo weiß die 
Ipätere Zeit e8 nicht mehr. Auch jegt kennt die griechische Kirche 
wol fein anderes Ziel des Chriftentums als die wunderbare Erhe⸗ 
bung des creatürlichen Lebens zu göttlicher äußerer Herrlichkeit im 
Jenſeits. Aber der Grieche felbft vermag über die urfprüngliche 
Rormirung feiner Formeln gemäß diefer bee nicht mehr zu orien« 
tiven. So fehen wir es in der confessio orthodoxa des Mogi- 
las. Dian läßt ſich abendländifche Ideen, die in ihrer technifchen 
Bezeichnung durch bibliſche Ausdrüde fih dem Wortlaute nad 
auch für das Griechentum ſchicken, unterfchieben, indem man fie 
nur halb verjteht. Indes es ift eben nicht ernft gemeint. Immer 
wieder jchlägt es durch, daB es der Weligiofität auf die Formeln 
als ſolche ankommt. Der Sinn derfelben im einzelnen ift gleich- 
gültig: das Ganze berjelben, das Glaubensbelenntnis, bewährt fich 
ala Heilsnothiwendig, weil es ein Stüd der Liturgie, in der 
alles geijterfüllt und nothwendig ift, darftellt, und in diefem Zu⸗ 
jammenhange gewährt es eine praftifche veligiöfe Befriedigung, die 
Selbitzwed ift. — Was fpeciell den Werth der rituellen ober 
Iymbolifhen Darftellung der Dogmen anlangt, fo gewinnen 
bier z. B. die merfwürdigen Anhängfel, welche verjchiedene Lehr- 
ausführungen bei Mogilas erhalten Haben, erft ihr richtiges 
Licht. Gag madht darauf aufmerfjam, daß in der Lehre von 
Chriſtus plötzlich Cultusvorſchriften eintreten (vgl. oben S. 102). 
Derartiges findet fich noch öfter. Gap nennt das „Nebeninterefjen 
der griechifchen Frömmigkeit“. Wichtiger urtHeilt Ritfchl, wenn 
8* 


116 Kattenbuſch 


er meint, bie Lehre erſcheine dem Mogilas erſt wichtig und bedeut⸗ 
ſam in ber rituellen Darſtellung ?). 

Neben derjenigen Conſequenz aus der griechiſchen Anſchauung 
vom Heile, die wir ſoeben verfolgt haben, ergibt ſich aber noch 
eine andere. Auch davon kann die griechiſche Kirche nicht allein 
leben, daß ſie im Cultus wenigſtens für die Phantaſie ſich das 
Heilsgut, welches das Chriſtentum bietet, vergegenwärtigt und un⸗ 
mittelbar nahebringt. Denn in dieſer Lebensfunction bethätigt 
fie nur erft die ihr ermöglichte Verbindung mit Gott. Aber 
im CEhriftentume gewinnen wir nicht nur eine Beziehung zu Gott, 
fondern ebenfo fehr zur Welt. In der Beachtung der Stellung, 
welhe eine Kirche dem bürgerlichen Leben und den weltlichen 
Gütern im Verhältnis zum Heile anmweift, vollenden wir erft die 
Erkenntnis des eigentümlichen Charakters derfelben. Iſt nun bas 
Heil begrifflih ein durchaus jenjeitiges, befteht dasfelbe, wie es 
nach griehifcher Anfchauung der Fall ift, in der Befreiung von 
den creatürlichen, endlichen Lebensbedingungen und ber Verjegung 
des Menfchen in das überweltliche göttliche Leben, fo ift klar, daß 
das Heil und die Welt Tediglih Gegenſätze find. Hier begreifen 
wir dann aber, daß in ber griechifchen Kirche für die vollkommene, 
eigentlich gottgemäße Form des Lebens in der Welt das Möndy- 
tum gilt, die ascetifhe Belämpfung der Triebe, die Sernhaltung 
von den weltlichen Intereſſen und Gefchäften, die ftetige Verfen- 
tung in myftifche Andacht, mit einem Worte die Entfernung aus 
der Welt. Im Oriente ift das Mönchtum entftanden und dort 
bat es auch feine correctefte Geftalt gefunden. ‘Denn nirgends tft 
das eigentlihe Eremitentum fo verbreitet gemefen, wie dort, und 
wenn man fi zu Tlöfterlichen Vereinigungen zufammengefunden, 
fo ift auch diefe Form die correctefte, fofern man dem griechifchen 
Möndtume am wenigften nachjagen kann, daß es durd Hinter: 
pforten das bürgerliche, geichäftliche, culturfördernde Leben der 
Welt bei fich eingelaffen. Die griechiſchen Klöfter find wirklich 


1) Ritſchl: „Der Gegenjat der morgenländifchen und abendlänbifchen Kirche 
und die Unionshoffnungen Gagarins und Harthaufens”, Gelzers Prot. 
Monatsblätter, 11. Bd., S. 838 ff. 


Kritifche Studien zur Symbolik. 117 


vorwiegend Stätten der Andacht und der myſtiſchen Contemplation 
gewejn. Im Abendlande hat die Kirche die Myſtik immer für 
verdächtig angefehen, im Morgenlande ift fie ein naturwüchfiges 
und darum auch kirchlich fanctionirtes und gehegtes Product. — 
Indes es Liegt nun in der Natur der Dinge, daß das mönchifche 
Lehen auch für die Kirchen, die es als das eigentlich vollkommene, 
eigentlich zu empfehlende Hinftellen, immer die Ausnahme: ift. 
Wie geftaltet ſich denn in der griechifchen Kirche das allgemeine 
Volksleben in fittlicher Beziehung? Auch Hier treffen wir feine 
andere Form, als welche wir nad) dem Bisherigen zum voraus 
vermuthen dürfen. Zunächſt nämlich begegnen wir natürlich einer 
Menge kirchlich rituelfer und asketiſcher Sagungen. Daneben aber 
begegnen wir für das Uebrige einer Hochſchätzung der nationalen 
Sitte, die faft einer Identificirung berfelben und des Sittengefegee 
gleiht 1). Gerade dies kann nicht überrafhen. Denn es ift die 
natürliche Folge, wenn eine Kirche Feine pofitive Stellung zu den 
irdiſchen Eriftenzbedingungen nehmen lehrt, wenn fie diejelben nicht 
direct oder inbdirect zu verwerthen weiß für ihre Zwede. Denn 
dort ift die Menge, welche die negative Stellung zum bürgerlichen, 
weltlichen Leben, die als deal von der Religion Hingeftellt wirb, 
vum einmal nicht einnehmen lan, für ihr fittliches Verhalten in 
den Beziehungen des Familien» und Staatslebens im wefentlichen 
unberatben. Es werden ja auch in der griehifchen Kirche gewiſſe 
fittliche Vorſchriften der Bibel eingejchärft, etwa die zehn Gebote. 
Aber wie weit kann ber von hier ausgehende Impuls zur fittlichen 
Hebung des Volles reihen? Und vor allem, wie weit fann fol 
eine compendiarifche Unterweifung zur Geftaltung eines eigen- 
artigen chriſtlichen Eulturlebens führen? ‘Dabei fonnte 
die Menge im allgemeinen feinen Antrieb empfinden die hergebrach⸗ 
ten Formen ihres Gemeinſchaftslebens einer Kritik zu unterwerfen. 
Dabei mußte in praxi alles bei dem gefchichtlichen Vollstum fein 
Dewenden haben. Es ift nicht zu verwundern, daß dann fchließ- 
fi unter dem Schwergewicht der Tradition die. Kirche felbft dazu 
tommt, in ber Weife Anleitung zu pofitiver Stellungnahme in der 


2) Ritſcht, Prot. Monatsblätter a. a. O. 


118 Kattenbufd 


Welt zu geben, daß fie die unbedingte Anhänglichkeit an der Volks⸗ 
fitte den Gläubigen einfchärft, wie es in der confessio orthodoxa 
des Mogilas gefhieht (I, 95; Kimmel, S. 168). Wiederum ift 
begreiflih, daß aud die Kirchliche Sitte in der Liturgie fo ftabil 
wird, daß jede Abweichung von dem Hergebradhten als Kegerei gilt. 
An ih ift durch das liturgiſche Intereſſe der Stabilität ober 
Variabilität der Eultusformen nicht präjudicirt. Allerdings Tann 
das äſthetiſche Intereſſe an gemilfen Formen fo ftark fein, daß 
es für ſich felbft die Dauerhaftigleit derfelben verbürgt. Aber es 
können doch auch gerade aus dem äfthetifchen Intereſſe Neubildun- 
gen des Eultus hervorwachſen. Mindeſtens ift Fleineren fpontanen 
Sectenbildungen Thür und Thor geöffnet. An letzteren Bat es 
denn auch befonders in der rufflfchen Kirche nicht gefehlt. Das 
große Schisma, welches in ber vuffifchen Kirche feit der Mitte des 
17. Jahrhunderts befteht, ift aber bekanntlich durch die gedanten- 
lofe Anhänglicleit des Volles an dem Hergebrachten auch im 
Cultus bedingt. 

Zum Abfchluffe unferer Skizze des eigentümlichen Weſens der 
griechiſchen Kirche müfjen wir nun aber noc einen Blick werfen 
auf ihre directe Lehre von der Kirche. Bisher haben wir mehr 
nur geachtet auf bie Form der privaten Frömmigkeit, zu welcher 
fie Anleitung gibt. Aber es kommt auch darauf an, zu erfennen, 
welchen Zwed und Charakter fie ſich als Corporation und Orga— 
nismus zufchreibt. Hier zeigt fi mun die epochemacdende Bes 
deutung bes Pfeudo-Areopagiten für das Morgenland, auf melde 
Ritſchl beſonders nachdrücklich Hingewiefen Hat). Ich verlaffe 
mich dabei auf die ausgezeichnet klare und eingehende Darſtellung 
des Syſtems des Areopagiten, welche Steitz?) uns bietet. 

Das Ziel der Religion ift für jenen chriftlichen Neoplatonifer 
die myſtiſche Einigung mit Gott, die Erhebung des creatürlichen 
Lebens zum göttlihen, eigentlich wahren Sein. „Wie alles zu 
Gott Hinftrebt, fo kann auch nur die Einigung mit ihm das 


1) „Ueber die Methode der älteren Dogmengeſchichte“, a. a. O., S. 200. 
212. 
2) a. a. O. 1866, ©. 197—229, 


Kritifche Studien zur Symbolik. 119 


Ziel diefes Streben fein. Dieſes Streben geht durch alle Kreife 
des Seienden, Lebendigen und DVernünftigen; es iſt alſo au ſich 
ein kosmiſcher Zug, der erft in der vernünftigen Ereatur zu einem 
bemußten und gewollten, zu einem perfönlichen wird und einen 
ethiſchen Charakter gewinnt“. Die myſtiſche Einigung mit Gott 
vollzieht Fich durch „die drei Stufen der Reinigung, der Erleuch⸗ 
tung ımd der Vollendung, in denen fi) ebenfo viele Kräfte und 
Birkungen des alles zu ſich ziehenden Gottes eutfalten.“ Aber 
die Wirkungen, durch welche die myſtiſche Einigung zu Stande 
fommt, find weder auf Seiten des Gebenden, noch des Empfangen- 
den durch einen Act des Denkens oder des Wollens vermittelt, es 
ft die ummittelbare Wirkung des Seins auf das Sein; „ba 
Göttliche will nicht bloß ſymboliſch erlernt, Sondern vor allem er⸗ 
litten (naoxsıv), d. h. in paffiver Hingebung erfahren und ge⸗ 
ioftet fein, damit die Seele in der myſtiſchen Einigung vollendet 
werde”. 

As Mittel der reinigenden, erleuchtenden und vollendenden 
Birfungen Gottes auf die Ereatur gelten nun für den Areopa⸗ 
giten beftimmte Weihen, die fi im manigfadher Weife abjtufen. 
„Auf der Abftufung diefer Wirkungen beruht der Begriff der 
Hierarchie, die wieder in eine himmlische und eine irdifche aus⸗ 
einandergeht“. Die irdifhe Hierarchie wiederum zerfällt in die ger 
jegliche, altteftamentliche und die nenteftamentlihe, kirchliche. 
Die legtere aljo vermittelt gegenwärtig den Menſchen das göttliche 
Sein, ihr Zwed ift, die geheimnisvollen Weihen an die Menge 
zu ertheilen. „Die Wirkung der Weihen ftellt ſich nad) der ‘Drei- 
teilung, welche das Syftem der Hierardhien durchweg beherrfcht, 
auch hier als dreifache dar, als reinigende, erleuchtende und voll: 
endende. Demgemäß trennen fi drei Orbnungen: die reinigenden 
titurgen (Dialonen), die erleuchtenden Priefter, die voll- 
endenden Hierarchen; doc haben die höheren Drönungen zugleich 
die Kräfte der niederen, fo daß die Priefter zugleich erleuchten und 
reinigen, die Hierarchen aber alle drei Wirkungen üben Fönnen. 
Den Hierarchen, die al8 durchfichtigere Geifter zur Aufnahme und 
Beiterleitung des Lichtes geeigneter find, bleiben als fpecififch hie⸗ 
rarchiſche Handlungen die Priefterweihe, die Weihe des Salböls und 


129 Rattenbuid 


des Altare vorbehalten.“ Ich verjage mir, genauer anf bie 
areopagitiihe Sacramentenlehre einzugehen. Die Sacramente 
find die myſtiſchen Weihen, durch welde die kirchliche 
Hierardie ihren Zwed erfülft. 

Haben wir nicht bier da6 Programm der ganzen jeitherigen 
griechiſchen Kirche, foweit fie ji als Ganzes und als Anftalt 
darfielit, vor uns? Natürlich ift der Areopagite nicht ohne Bor» 
gänger in feinen einzelnen Beitimmungen über die Fire. Über 
er hat alle Strebungen ber Bergangenheit zu einem einheitlichen, 
zufammenhängenden Spufteme ausgebildet und eben damit das 
löfende Wort für die Anſchanung der griechifchen Kirche von ſich 
felbft geſprochen. Angefichts „der Lehre des Areopagiten begreifen 
wir die Erelufivität des griedhifchen Bewußtſeins hinfichtlid des 
Wertes der anftaltlichen, fpeciell der morgenländifchen Kirche. 
Hier begreifen wir die feither unerſchütterte Anſchauung von der 
Kirche als Somplement der perfönliden Bedeutung Chrifti. Es 
ift nur eine befondere Anwendung diefer Anſchauung, wenn die 
kirchliche Lehrtradition auch für eine Ergänzung der Bibel anerkannt 
wird. Hier fehen wir auch die feither maßgebende Ausführung 
über die Nothwendigfeit des Prieftertums als des Inſtitutes zur 
Vermittlung des Heiled an die Laien, fpeciell weiter die Noth⸗ 
wenbigfeit der Gliederung der Priefterfchaft nad hierarchiſchen 
Rangftufen vor und. Noch einmal erkennen wir den Werth der 
Liturgie und der Sacramente für den griechifchen Gläubigen. Und 
indem ausdrüdtih die Wirkung der Weihen als eine phyſiſche, 
paffio Hinzunehmende dargeftellt wird, erfennen wir noch einmal 
die Gründe des blöden Müfterienftaunens, welches die wesentliche 
populäre Form des griechiſchen Bottesdienftes if. Indem aber 
fchliepfih von dem Berufe der Kirche in jedem Betracht alle ethi- 
fchen, ſei es auch nur politiichen, Beftimmungen ferngehalten 
find, fo begreifen wir hier die Abhängigkeit, im welche die Kirche 
auf griechifchem Gebiete vom Staate gerathen iſt. Ein Conflict 
zwifchen beiden Größen ift dort nicht möglich, fo lange der Staat 
nicht den Eultus und das Dogma, weldes weſentlich ein Stüd 
des Eultus ift, antaftet. Und das ift ja bisher nicht einmal im 
Gebiete der türkifchen Herrfchaft gefchehen. Unter bdiefer Bedin⸗ 


Kritifche Studien zur Symbolif. 121 


gung läßt die Kirche fich willig vom Staate leiten und überläßt 
ihm, refp. dem Volksgeifte, die Pflege aller fonftigen, auch der 
kitfichen Jutereſſen wenigftens der Menge. 

Das Refultat meiner ganzen Erörterung möchte fein, daß bie 
griechiſche Kirche als geichichtlihe Totalerſcheinung nicht zwie⸗ 
Ipältigen Charakters ift, wie Gaß meint. &8 fteht nicht fo, daß 
nur die Wirklichkeit Hinter dem Ideal zurücbleibt, refp. daß 
auf echt chriftlichen Grundideen unechte andere Ideen aufgefchichtet 
find. Bielmehr ift das griechifhe Lehr und Kirchenſyſtem ein 
einbeitfiches und in feiner Totalität den andern Kirchen nicht eben- 
bürtiges, in feinen Idealen degenerirtes. 

Es ift dabei zuzugeben, daß einzelne authentifche chriſtliche Ideen 
fi) bewahrt haben: hat doc die Verkündigung des Bibelwortes 
mie ceffirt. Daran darf ber Glaube conftatiren, daß auch in 
der griechischen Kirche die „Gemeinde der Heiligen“ ihre Glieder 
beſitzt. ALS Gefamterfcheinung hat die griehifhe Kirche aller- 
dings nur noch chriftlihe Form. Aber wo der Name Chrifti 
noch anerfannt wird, wo er noch der Grund alles Heiles ift, da 
iſt au für ‚die Zukunft noch gutes zu hoffen. Und die abend» 
fandifchen Kirchen haben ja auch jchon Einfluß auf die griechiiche 
Kirche gewwonnnen. Allerdings nur ſporadiſch. Als Syftem ift 
das alte Griechentum noch unerſchüttert. Das belegen fchließlich 
auh die Eonfeffionsichriften de8 17. Jahrhunderts. Im Lichte 
der gefchichtlichen Entwicklung der griechifchen Kirche erkennt man, 
wie ich glaube, daß fie umgekehrt interpretirt werden müſſen, als 
Gaß wil. Die biblifhen und Halb und Halb abendländifchen 
Feen find nit das Grundftreben der Theologie ihrer Ver⸗ 
faffer, fondern nur der Auftrag auf den antiken Anfchauungen und 
der übel genug eingewebte Einfchlag in den liturgiſch⸗formelmäßi⸗ 
gen, ascetiſch⸗ rituellen Intereſſen derjelben. Indeſſen wenn ich 
hier in das Detail eingehen wollte, ſo führte mich das zu weit. 


Gedanken nnd Bemerinngen. 







1. 


Ein Beltrag zur Eſchatologie der Reformatoren. 
Bon 


D. 9. Köfllın. 





Man hat öfters von den deutfchen Meformatoren gefagt, es 
fehle ihnen an Intereſſe für die „Lettten Dinge“. Indem fie das 
Heilsgut als ein gegenwärtige erfaffen und in der Nechtfertigung 
de® Heiles fchon gewiß feien, treten Hingegen für fie die großen 
Dbjecte der chriftlichen Hoffnung zurüd. Das ift nur in fo weit 
richtig, als fie es nicht für nöthig halten und nicht wagen, über die 
Art wie die künftige große Offenbarung Chrifti und Herftellung 
feines Reiches fich vollziehen werde, dogmatifhe Säge aufzuftellen 
oder concrete Schilderungen zu entwerfen. Es ift vollkommen falſch 
in fo fern, als gerade fie, und zwar fpeciell Luther, nicht bloß von 
diejer Gegenwart aus mit fehnlihem Wünfcen und Hoffen auf 
das große Ende fich Hinrichteten, fondern es gern auch fchon mög⸗ 
Gicht nahe ſich dachten, ja bdiefe Erwartung wol auch — nad 
der Weife ihrer Zeit — auf biblifhe und andere Berechnungen 
zu ftägen verfuchten. Die Verbindung folcher fehnfüchtiger Hoffnung 
mit jener Gewißheit des ſchon gegenwärtigen Heiles entfpricht ja 
auch ganz der Glaubensweiſe desjenigen Apoftels, aus deſſen Brie- 
jen fie ihre Heilslehre zumeift geſchöpft haben. 

Bekannt ift von Melanchthon, wie er die gegenwärtige Welt 
als eine zu charakterifiren pflegte, bie bereits im Greifenalter ſtehe. 


16 Köftlin 


In Betreff Luthers wird man 3. B. aus Mittheilungen in meiner 
Biographie des Reformators erfehen, wie er nicht nur fortwährend 
den „lieben jüngften Tag“ herbeimünfchte, ſondern wirklich ſchon 
feit dem Beginn feines eigenen Kampfes mit dem „Antidhrift” 
einen nahen Sturz desfelben durch den wiederkehrenden Chriftus 
hoffte, — wie er 1521 dachte, jene „Bewegung der Kräfte des 
Himmels”, weldhe der Parufte vorangehe, möge fchon i. J. 1524 
eintreten, nicht minder i. J. 1540, die Zahl der diefer Welt be- 
jtimmten Jahre fei jeßt am Ende, — wie er auch fein Bedenken 
trug, dergleichen in einer Predigt und Drudichrift auszusprechen, 
während er freilih weit davon entfernt war, den eigenen Wer: 
muthungen und Berechnungen Sicherheit beizulegen oder praktiſch 
auf fie zu bauen: denn, fagte er, als fein Freund Stiefel den 
jüngften Tag auf den 19. October 1533 angekündigt hatte, „jolcher 
Glaube ift lauter Lügen, denn es ift fein Wort Gottes dabei“ ?). 
Ich konnte, indem ich diefe Seite bei Quther immer und immer 
wieder jo mächtig hervortreten ſah, nur ftaunen darüber, daß fie 
bisher von den neueren Theologen jo wenig beadjtet worden war. 
Jene Erwartung Luther aus d. J. 1540 ift ausgeſprochen 
und begründet in feiner Schrift Supputatio annorum mundi, 
welche 1540 abgefaßt und 1541 in erfter, 1545 in zweiter, theil- 
weis veränderter Auflage erjchienen it. Ich habe von ihr in der 
Biographie Bd. OD, ©. 577 ff. geredet und ermähnt, daß Quther 
dort von einer alten, auch font verbreiteten Annahıne ausgehe, 
wonach die Dauer der Welt ſechs Yahrtaufende hätte betragen 
ſollen. Es bat wohl gefchichtlichen Werth, auf diefe, wie fie bei 
unferen Reformatoren auftritt, näher einzugehen, und ich kann Hie- 
bei zugleich eine Kleine handjchriftliche Reliquie Melanchthons mitteilen. 
Jener Schrift ſchickt Luther die Worte voran: 
„Elia propheta. 

Sex millibus annorum stabit mundus. 

Duobus millibus inane. 

Duobus millibus lex. 

Duobus millibus Messiah. 


1) Bol. in meinem „Martin Luther” namentlih Bd. I, ©. 512; Bd. II, 
©. 577 f. 326, 


Ein Beitrag zur Eſchatologie der Reformatoren. 1 


Isti sunt sex dies bebdomadae eorum Deo, septimus 
dies sabbatum aeternum est. Psalm 90. Et 2Petr. 2.“ 

Statt Elia proph. fagt die 2. Auflage: „Dietum eorum 
qui dicebantur de domo Eliae prophetae, Burgen. parte 
prima, distinct. 3 Cap. 4 srutinii.“ Gemeint ift Paulus von 
Burgos, den wir auch ſonſt bei Quther citirt finden, und feine 
Schrift „„Serutinium Scripturarum in duos libros divisum “, 
welhe Quther auch in feiner supputatio felbjt der Erwähnung 
würdigt, indem er ihre Abfaffung etwa ind Jahr 1432 fest. 

Ehendiefelben Eliasworte hatte ſchon vorher die Chronif 
Carions, auf die auch Luther für feine gefhichtlihen Beftimmun- 
gen fi berief, aufgenommen und ihnen gemäß jeine Weltgejchichte 
in drei Perioden zerlegt. Die Chronik (vgl. darüber Corp. Re- 
form., Vol. XIL., p. 707sqgq.) erfchien zuerft deutſch in Witten- 
berg 1532, und zwar in einer Geftalt, welche Melanchthon dem 
vom Mathematiker Carion beigebraditen Material nach defjen 
Wunſch gegeben Hatte, wie fie denn von Luther geradezu ale 
Chronicon Charionis Philippicum bezeichnet wird. So 
wurde fie von Hermann Bonnus 1537 in’ Latein übertragen. 
Mir fteht bloß diefe Lateintfche Ausgabe zu Gebot. Schon hier 
aljo Haben wir die 3X2 Yahrtaujende, als dictum domus Eliae, 
wobei ftatt „inane‘ daS deutende „sine lege“ fteht. An jenen 
ctften Sag aber, wornach die Welt 6000 Jahre beſtehen fol, 
ihfiegen fich nody die Worte an: et postea collabetur. ferner 
folgt auf die Angabe der drei Perioden der Sag, daß, wenn bie 
Jahre nicht voll fein werden, dies eine Folge unferer vielen und 
zogen Simden fei. 

Neu und viel weitläufiger hat Melanchthon die Chronik nach⸗ 
ber bearbeitet. Der erjte Theil, bis auf Augufts Regierungsan- 
tritt reichend, erjchien 1558 (ein zweiter, bis auf Karl M., 1560, 
das Weitere erft nach Melanchthons Tod durch Beucer). 

Dort lautet unjere Weißagung (als „dietum quod recitatur 
n Judaeorum commentaris “) aljo: 

Traditio domus Eliae. 


Sex millia annorum mundus, et deinde con- 
flagratio. 


128 Köflin 


Duo millis inane. 

Duo millia lex, 

Duo millia dies Messiae. Et propter peccata 
nostra, quae multa et magna sunt, deerunt 
anni, qui deerunt. 

Daran reihen wir das oben erwähnte Heine Schriftftüd an 
Melanchthon an. In einer Wittenberger Bibel nämlih v. %. 
1556, welche der Kirche zu Priklow bei Stettin gehört und 
über welche Näheres in den „Baltiihen Studien” (herausgeg. 
v. d. Geſellſch. f. pommer. Geſchichte und Altertumsfunde, Jahrg. 
XX, Heft 2) berichtet wird, ift ein von Melanchthon befchrie- 
benes Blatt eingelegt, von welchem Herr Baftor E. Wetzel mir 
ein Facſimile gütigft mitgetheilt hat. Es bietet uns den hebräi⸗ 
ſchen Text dar, welcher jenen Worten des Chronikon zu Grunde 
Tiegt. 

’ Hier nämlich fteht (auf Einer Folio⸗Seite): 
ION IT NN 
dby vn a SIDE NM 
an m 
sin DIDbN NW 
min DIDIN SW 
nwaa Mo dopbdt SW 
ae MPN 
BD 1n39 
NW 

Darunter folgen als Vieberfegung ganz diejenigen Worte, welche 
oben aus dem Chronilton v. J. 1558 wiedergegeben find. Ende 
(ih die Unterſchrift: Scriptum Anno 1559 postquam Christus 
ex virgine Maria natus est. Anno a mundi initio 5521. 
Scriptum manu Philippi  Melanthonis. 

Die bebräifchen Buchſtaben find mit fehr kräftigen Zügen aus⸗ 
geführt. Doc) ift nach der unmotivirten Art, wie Melanchthon ein- 
zelne Bocalzeichen angebracht hat, und nad dem Schreibfehler ba 
für o= auf der 2. Zeile, auch (Zeile 1) san für nun oder an 
und (Zeile 2) doy für woby nicht anzunehmen, daß er im Schreiben 
biefer Sprache geübt war. 


Ein Beitrag zur Eichatologie der Reformatoren. 129 


Hier aljo find wir direct anf eine jüdifche Duelle hingewieſen, 
ans welcher Melanchthon die Weißagung hatte. Sie ftammt, fo weit 
wir fie zurüchverfolgen können, aus dem Talmud. Fabricius, wel⸗ 
Ger in feinem Codex Pseudepigraphus Vet. Test. (pag. 
1079 qq.) von ihr handelt, führt zwei Stellen an, und ebendie- 
jelben hatte Hr. Prof. Dr. Franz Delisfh mir zu bezeichnen die 
Güte: Sanhedrin 97a und Aboda Sara 9a. Beide enthalten 
gleichbedeutend bie von Melanchthon niedergefchriebenen und ſchon 
in der erften Ausgabe des Chronikon benüßten Worte mit Aus« 
nahme der zwei Worte sn m auf unferer britten Zeile, die 
au der Burgensis bei Luther nicht hat. Wie es mit ihnen fi 
verhält, erfehen wir aus dem meiteren Zufammenhang jener 
Sauhedrinftelle, welche Delitzſch im Anhang feines Commentars 
zum Hebräerbrief (S. 763) überfegt Hat und über deren Grund- 
tert ich ihm noch weitere Erklärungen zu verdanken habe. “Dort 
nämlich jteht furz vor der Klinsweißagung ein Wort des Rab 
Retina: „Sechs Jahrtauſende befteht die Welt und in Einem 
(Zahrtaufend) wird fie zerftöärt (oder öde) nah Jeſ. 2, 11*, 
— bebräifh: aan m Gm bei Melandhthon ift nur andere 
Lesart mit gleicher Bedeutung). Wehnlich Heißt es in der Aus- 
führung des Midraſch Elijahu Rabba Eap. 31 (nad Delitzſch): 
das fiebente Jahrtauſend fei das, in welchem die gegenwärtige 
Beltgeftalt abgethan werben und ein Tag, der ganz Sabbath fei, 
eintreten werde. Jenes Wort alfo ift im Chronikon und bei Me- 
lanchthon mit der Eliasweißagung verbunden und er hat ohne Zwei⸗ 
jel die Verbindung ſchon in jüdifchen Schriften vorgefunden. Die 
gleichen Ausſprüche wurden Längft zuvor, wie ja auch der Elias⸗ 
ſpruch beim. Burgenfis, geradezu von Chriften benützt. So hat 
(vgl. Fabricius a. a. D.) der getaufte Jude Joſua von Lorka oder 
Hieronymus a Sancta Fide in Spanien auf einer Disputation mit 
Nabbinen, 1413 (Herzogs Real⸗Enc., Bd. 17, ©. 353) die 
Eliasweiſung beigezogen und zugleich erklärt, nach ihr werde die 
Belt im fiebenten Jahrtauſend zerftört werden. 

Betrachten wir den Inhalt der Stelle bei Melanchthon, jo ift 
die Ueberſchrift richtig überſetzt; ) = mı2 fteht für Schule. Unter 
dem Elias war nah dem Sinn bes Talmud fer der große 

Test. Gtub. Dahra. 1878. 


130 Köflin 


Thisbite zu verftehen und nicht etwa, wie mittelalterliche Juden 
(ogl. bei Fabricius) vorgaben, ein Elias aus dem 3. oder 4. vor⸗ 
hriftlichen Fahrhundert, der wohl gar nur wegen des Gewichtes, 
welches hriftliche Polemik auf die Weißagung legten, von jenen er» 
funden worden if. An den Thisbiten haben auch unfere Refor- 
matoren bei ihr gedacht. Ob fie wirklich von ihm herrühre, laſſen 
fie dahingeftellt. Sie fcheinen es wenigitens nicht für unmöglich 
gehalten zu haben. Jedenfalls erfchien fie dem Melanchthon fehr 
bedeutfam; ja er fagt geradezu: „Hoc modo Elias vaticinatus 
est“ (Corp. Ref. I. c., p. 717). „Sechstaufend Fahre“ alfo 
„befteht die Welt“ (soby): fo analog ihrer Schöpfung in ſechs 
Tagen und demgemäß, daß 1000 Jahre vor Gott wie Ein Tag 
find, — und fo auch ſchon nad der chriſtlichen Vorftellung des 
Barnabasbriefes (Kap. 15). 

Wefentlich aber weicht nun Melandthon und die Erwartung 
der Reformatoren überhaupt von dem ab, was, wie wir oben 
fahen, die Worte am rn befagen wollten. Sie bezogen fich auf 
jenen den ſechs Welttagen folgenden und gleichfall® 1000 Jahre 
ansfüllenden Sabbathtag, an welchem bie irdifche Welt gleihfam 
zum Brachliegen gebracht fein joll wie die Weder im Sabathjahr ; 
dabei ift ihnen im Unterjchied von andern jübifchen Ausfprüchen 
das eigentlimlich, daß fie diefen Zuftand nur nad) feiner negativen 
Seite bezeichnen. Melanchthon Hingegen kennt keine foldye Periode, 
fonbern nur einfach einen auf die ſechs Jahrtauſende folgenden 
Act des MWeltunterganges (vgl. ſchon in der 1. Ausgabe bes 
Chronikon) und zwar, wie er dann beftimmter noch es ausdrückt, 
der Weltverbrennung; über das ım („und in Einem“) hat er mit 
der ganz ungenanen Webertragung „et deinde“ ſich weggefeßt. 
Richt minder ijt hiemit die chriſtlich chiliaſtiſche Vorftellung von 
demjenigen 1000jährigen Reiche Ehrifti, das wir nad) der johannei⸗ 
ſchen Apokalypſe vor der legten Vollendung noch zu erwarten 
hätten, oder von dem fünftigen Sabbathjahrtaufend der Herrichaft 
Chriſti, von dem der Barnabasbrief redet, zurückgewieſen. Ebenſo 
bet Luther, indem er an der oben angeführten Stelle auf bie ſechs 
Welttage einen Sabbath folgen läßt, aber nicht ‚mehr eine einzelne 
Periode, fondern „Sabbatum aeternum“, d. 5. eben die Teste 


Sin Beitrag zur Eſchatologie der Reformatoren. 181 


Vollendung, zu welcher bet Act des Unterganges ber gegentürtigen 
Belt Hinäberführen fol. Auf Luthers Anmendung des Apokalyſe 
Immmen wir nachher. 

Es folgen im Eliasworte die Säke von ben drei Welt« 
perioben. 

Was die Juden mit dem Thohu der erften Periode gemeint 
haben, ift one Zweifel mit dem „sine lege“ der erften Ausgabe 
v6 Chronikon richtig gedeutet, während Melanchthon fpäter, in 
feiner Umarbeitung desſelben, die Beziehung darauf, daß die ent- 
feruteren Theile der Erde noch unbewohnt gewefen feien, meinte 
vorziehen zus müfjen (Corp. Ref. 1. c.). 

Hinſichtlich der zweiten Periode bHerrfcht allgemeine Ueberein⸗ 
ſtimmung darüber, daß fie mit dem abrahamiſchen Bunde und der 
Einfegung der Beſchneidung beginne. Aus ben Bahlenangaben des 
Alten Teſtaments nach dem hebräiſchen Text ift zu berechnen, daß 
Abraham i. J. 1948 der Welt geboren und 2023 (Gen. 12) 
berufett worden jel, während bie Sintflut ins Jahr 1656 fällt 
(gl. Herzogs Neal-Enc., Bb. 18, S. 425. 431ff.): fo nad) 
der rabbinifchen Zählung, nach dem Chronikon und nad) Luthers 
Supputatio. 

Bei ben Mefflastagen, welche den dritten Zeitraum bilden, 
dachten die Juden natürlich ar das Meffiasreich in derjenigen Ge⸗ 
alt, mit derjenigen äußeren Herrſchaft und Herrlichkeit, mit der 
fie auch fonft immer es fi) vorzuftellen pflegten: dieſem aljo wird 
regt die Tängfte Zeitdauer gegeben, die es unjeres Wiſſens über- 
haupt in jüdischen Weisfagungen oder Erwartungen erhalten bat, 
während belanntlih darüber, von verfchiedenen Borausfegungen 
ansgehend, verfchiedene Maße im Umlauf waren (in der Esra⸗ 
Apolalyſe find es nur 400 Jahre). Für die Ehriften und Re⸗ 
formatoren ift die Periode die des gegenwärtigen Chriftentums 
ser, wie die Heformatoren es ausdrückten, bes geiftlichen Reiches 
Chriſti anf Erden. 

Da ftimmten denn fir den Beginn dieſer Meffiasperiode die 
altteftamentlichen Zeitangaben recht gut. Denn fehr leicht Laßt fich 
aus ihaen für die Zeit von Abraham bie Chriftus die Zeit von 
2000 Fahren gewinnen. Nad) der, erftien Bearbeitung des Ehro- 

9% 


132 Köflin 


niton ift Jeſus im Jahre der Welt 3944 geboren, wozu dasſelbe 
bemerft, Gott habe die Jahresſumme der zweiten Periode um der 
Sünden willen ein wenig verfürzt, wie dies nod viel mehr bei 
denen der dritten gejchehen werde. Die zweite Bearbeitung fett 
dafür erſt das Jahr 3963 und findet dazu Teine erflärende Be⸗ 
merlung mehr nöthig. Nach Luthers Supputatio ift Ehriftus 3960 
geboren, 3993 geftorben. Dazu fügt Quther in eigentümlicher Weife 
die Wochenrechnung Daniele (Dan. 9, 25—27): die 7462 = 69 
Wochen, nad deren Ablauf Chriftus getödtet fein follte, feien vers 
ftrichen zwifchen dem — an Haggai und Sacharja im Jahre 3510 
ergangenen — Gottesbefehl (Dan. 9, 25) und dem Jahre 3993, 
in 69X 7 — 483 Yahren; hiezu fomme die eine Woche (Dan. 9, 27) 
in den 7 Jahren bis 4000, womit dann aljo das 5. Yahrtaufend 
beginne; und wie nach Daniel „mitten in der Woche das Opfer 
aufhören wird“, jo falle mitten in diefe letzte Jahreswoche des 
4. Jahrtauſends und hiemit an den Abfchluß der Gefegesperiode 
das Apoftelconcil (Ap.⸗Geſch. 15), auf welchen die Freiheit vom 
Geſetz angelündigt worden fei. — Eben die Leichtigkeit, mit welcher 
bie Zeit der Menſchwerdung Chrifti mit jener Elinsweißagung fich 
vereinigen ließ, erklärt uns genügend die Geneigtheit der Chriſten, 
von berfelben Gebrauch zu machen. 

Wie hat aber wol den Juden diefer Theil der Weißagung in feinem 
Verhältnis zum wirklichen Berlauf der Gefchichte ſich dargeftellt ? 
Sicher ftammt die Weißagung aus einer Zeit, wo nad) damaliger 
jüdifcher Zeitrehnung noch nicht über 2000 Jahre feit Abraham 
abgelaufen waren, man vielmehr noch auf ein Kommen des Meifias 
beim Webergang in’® 5. Weltjahrtaufend hoffen konnte und keiner 
ertlärenden Beifäte dafür, daß die geweißagten Zahlen nicht zutrafen, 
bedurfte. Nun wird in der rabbinifchen, noch jebt bei den Inden 
herrſchenden Zeitrechnung der Zwiſchenraum zwifchen der Sintflut 
oder Abraham und zwiſchen dem Jahr, in welchem wir Jeſus 
geboren fein lafjen, um ein Beträchtliches kürzer als in jener chriſt⸗ 
lichen Berechnung angefeßt: das 1. Jahr unferer Aera wird zum 
3761. Jahre der Welt. Das 4. Weltjahrtaufend oder die Periode 
des Geſetzes wäre hienach erft etwa im Jahre 240 unferer Aera 
abgelaufen geweſen. Eine jüdifche Berechnung, welche jenen Zwifchen- 


Ein Beitrag zur Eſchatologie der Reformatoren. 133 


raum noch mehr verkürzt hätte, ift uns nicht bekannt; früher (vgl. 
bei Joſephus) scheinen ihn vielmehr auch die Juden für länger 
gusmmen zu haben. Demnad können wir auch mit Beſtimmtheit 
anehmen, daß die Klinsweißagung mindeftens vor dem zuletzt ges 
nannten Jahr eniftanden und zu Anfehen gelommen war. Was 
aber ſollte man denn nachher zu ihr fagen, als der Lauf des 5. 
Weltjahrtauſends fort und fort vergebens auf den Anbruch der 
Meifiastage warten Tieß und man auch mit feiner verfürzenden 
Berehnung der verfloffenen Zeitläufe mehr ſich helfen Tonnte ? 
Hiemit fommen wir auf den Beifaß, den jene wirklich erhalten 
hat in den Worten 1Jmnnyd u. f. w. Sie find, wie wir fahen, 
Ihon in der Sanhedrinftelle mit jener verbunden. 

Der Sinn, weldyen die Worte bei den Juden haben, und der, 
melden Melanchthon in fie legt, find einander geradezu entgegen- 
geſetzt. 13? ift das Berfectum, während Melanchthon es für's 
duturum nimmt. Während aber hHiebei immer noch bie gleiche 
Deutung möglich blieb, wollten nun die Worte urſprünglich befagen: 
um der vielen Sünden des Volkes willen jei ausgefallen oder ab» 
gelaufen von dem für den Meſfias beftimmten Zeitraume, mas ab» 
gelaufen fei, ohne daß er wirklich erfihienen wäre. So beriefen 
ih denn Hierauf 3. B. die Rabbinen in jener Disputation mit 
Hieronymus a Sancta Fide ; fie zogen die Worte noch zur Weißagung 
jelbft, während Hieronymus gewiß mit Recht erwiederte, dag dies 
jelben erft eine Ausflucht fpäterer Zeit ſeien !). 

Mit den ausgefalfenen Jahren find Hier alfo folche gemeint, 
weihe zum Beginne der Mefjtasperiode gehören follten, während 
diefe jegt um fo viel fich verfpätet. Dagegen ift diefe nad) Mes 
lanchthon ganz zur rechten Zeit, ja faft fchon zu früh eingetreten, 
aber fie jolf verkürzt werden in ihrem Abſchluß. Weil die Gott- 
Infigfeit zunimmt, bricht der Weltuntergang und das jüngfte Gericht 
ſchon weit früher herein. In beiden Bearbeitungen des Chronikon 


1) Wie chriftliche Polemiler den Juden mit jener Weißagung zuſetzten, bat 
neuerdings au A. Kuenen in einer Abhandlung über den maforethifchen 
Text beſprochen — nad einem Referat von Delitfch im Literarifchen 
Gentrafblatt 1875, Nr. 84. 


134 Köſtlin 


beruft er fih dafür auch auf das Wort Ehrifti, daB die Tage 
werben verkürzt werden um der Auserwählten willen (Matt. 24,23). 
In der zweiten Bearbeitung tft, wie wie bemerkten, das Chroniken 
von Melanchthon nicht bis auf die neueren Zeiten fortgeführt 
worden. In der erften fchließt es ab mit der Ausficht: das Ende 
der Dinge fei, wie man aus Elias Wort fehe, nicht mehr fern; 
das deutfch-römifche Reich, die letzte Weltmonarchte, werde wel ſchon 
nach Kaifer Karla Tod zerriffen werden, aud das türkifche Reich 
nicht mehr lange beftchen u. f. w.; es fei Tein Zweifel daran, daß 
die ganze Weltzeit fchon beinahe abgelaufen jei. 

Luther Hat bei feinem Citat aus Paul von Burgos nichts von 
jenem Beifat. Uber die Verkürzung der gegenwärtigen Weltperiobe 
weiß er in feiner Supputatio auf andere, ganz eigentümliche Weiſe 
zu begründen und beftimmter zu bemeſſen. Er kommt darauf am 
Schluß feiner hronologifchen Tabellen. Aus den vorangegangenen 
Beitimmungen über die chriftliche Periode Haben wir noch her⸗ 
vorzubeben, daß er zum Jahr 1000 nad) Ehrifti Geburt anmerft: 
„Finito isto millenario solvitur nunc Satan et fit episcopus 
Romanus Antichristus etiam vi gladii, Apoc. 20.“ Schon 
unter Raifer Maximilian find dann ihm zu Folge große Zeichen am 
Himmel, auf Erden und im Waſſer erjchienen, wie fie nad) Ebhrifti 
Wort feiner Zuhmft vorangehen follen (auch den Ausbruch des 
„novus morbus Gallicus, alias Hispanicus‘“ redjuet er dazu): 
„quae spem certam faciunt diem illum beatum instare brevi“. 
Am Scluffe alfo erflärt er: da8 6. Jahrtauſend werde ebenfo nicht 
voll werden, mie die Dreizahl der Zage, welche für Chriſti Tod 
beftimmt geweſen ſei. Er rechnet dann biefe drei Tage künſtlich 
vom Abend des Donnerstags bis zum Sonntag und foment fo 
biufichtlich des dritten Tages, der ihm mit dem Abend des Sabbathe 
beginnt, zu dem Refultate: indem Jeſus fchon in der erften Frühe 
des Sonntags auferjtanden fei, fei er ſchou in der Mitte jenes 
dritten Tages auferftanden !). So, fagt Luther, fei gerade jett des 
6. Yahrtaufends Mitte da: das Jahr 1540, in welchem er fchreibe, 


1) In meinem „Luther“ (Bd. IL ©. 577), iſt dies nicht ganz geuan wieder⸗ 
gegeben. 


Ein’ Beitrag zur Eſchatologie der Reformatoren. 135 


ji gerade das Jahr 5500 ber Welt. Ganz unmittelbar alfo 
hätte damals der jüngfte Tag vor der Thüre ftehen müffen. Luther 
hat diefe Erflärung und Berechnung aud in der 2. Ausgabe feines 
Buches , worin er fonft einzelnes änderte, wiederholt. Sie zeigt 
gerade in ihrer Künftlichkeit, wie jehr ihm an jener Nähe bes Tages 
gelegen war. 

Diefe Mittheilungen werden genügen, um. bie ihnen vorange⸗ 
Midte Bemerkung über das Intereſſe unferer Reformatoren für 
die Efchatologie zu rechtfertigen. Gewiß aber gibt es auch für 
die echt enangelifche Befonnenheit, mit der fle die Heilslehre dar⸗ 
geſtellt und praktiſch gewirkt haben, kaum einen ftärferen Beweis 
als den Umftand, dag all biefes ihr Sehnen und all ihr Berechnen 
doh dort nirgends einen ftörenden Einfluß geübt, nirgends eine 
Spur von Schwärmerei und Phantafterei hinterlaffen Hat. 


2. 
Anslegung der Stelle Eph. 2, 19—22. 
Bon 


Lic. Dr. Xlexzander Kolbe, 
Vrofeffor und Oberlehrer am Lönigl. Marienſtifts⸗Gynmafium zu Stettin. 





Mag aud die wifjenfchaftliche Forſchung in Betreff des Briefes 
in die Ephefer keineswegs in dem Grade ohme rechtes Ergebnis 
geblieben fein, wie es Dr. Holgmann in feiner trog aller Auf- 
bietung kritiſchen Scharffinnes allzu fubjectiven !) „Kritik der Ephefer- 


1) Wenn der Herr Berfafler 3. B. S. 303 von einer „vorzugsweiſe ſchrift⸗ 
fellerifhen Wirkſamkeit“ des Paulus fpricht, fo entfernt er fich in 
moderner Anſchanung durchaus von dem Boden der Weberlieferung, um 
geiftreiche Hypotheſen anzufpinnen, deren Verhältnis zur Wirklichkeit eine 
unbefangene Prüfung ſchwerlich aushalten wird. 


136 Kolbe 


und Kolofferbriefe* (Leipzig, Engelmann, 1872) vermeint, zu der 
die eingehende Beſprechung diefes Buches von Dr. B. Weiß in den 
Sahrbüchern für deutfche Theologie XVII, S. 748—759 ein höchſt 
wohlthätiges Gegengewicht bildet: jo muß doch gerade der Verfaſſer 
diefer Zeilen, der dem zuerft genannten Briefe feit Jahren 1) be» 
fondere Aufmerkfamfeit gewidmet hat, unummunden zugeben, aller= 
dings herriche in den gangbaren, zum Theil recht anerfennenswerthen 
Schriften über diefe Epiftel noch nicht die Sicherheit und Klarheit, 
welche durchaus erwünſcht und wol auch erreichbar if. Zur Be⸗ 
gründung diefer Behauptung und womöglid zur Anbahnung ge» 
ſunden Fortſchritts erlaubt fich derfelbe im Folgenden die vielbe» 
jprochene Stelle II, 19—22 einer erneueten Betradhtung zu unter⸗ 
werfen. 

Wir erinnern und hiebei des Gedanlenganges in dem vorher⸗ 
gehenden Theile des Sendſchreibens. Nah der Grußüberfchrift 
beginnt fofort ein Lobpreis Gottes, welcher den Gnadenſtand der 
Ehriften unbedingt auf Gottes machtvollen, In Ehrifto vermittelten 
Rath zurückeitet (1, 3—14), woran fich die Fürbitte für die Leſer 
knüpft, Gott möge ihnen die Fähigkeit verleihen, die Erfenntnis 
der Größe feiner Macht aus ihren Wirkungen an Ehriftus zu 
ermeſſen (1, 15—23). Dem gegenüber wird in der Entwidlung 
von der Rettung der in Zod verfunfenen Sünder zum Leben in 
EHrifto, deffen Gnade der einzige Grund ihres Heifes fei (2, 1—10), 
alles auf Gottes überſchwengliche Machterweifung an den Egriften 
bezogen, um bieran (2, 11—18) eine Mahnung an bie beiden- 
chriſtlichen Leſer zu fchliegen, fie mögen wohl beachten, welche hoch⸗ 
erfreuliche, durchgreifende Veränderung ihres früheren Zuftandes 
fie der Gnade Gottes in Christo verdanken, eine Veränderung, 
deren nunmehr vorhandenes Ergebnis wir 2, 19—22 gezeichnet 
jehen. 

„So feidb ihr denn niht mehr Fremde und Bei- 
fafjen, fondern feid Mitbürger der Heiligen und 


1) Vgl. namentlich deſſen theologifchen Kommentar zu Epheſer I im Bro- 
gramm des Stettiner Gymnaſiums 1869, eine Probe eine® noch nicht 
abgejchloffenen Kommentars über die ganze Epiftel, 





Anslegung der Stelle Eph. 2, 19-22. 137 


Hausgenoffen Gottes (20), auferbauet auf dem Grunde 
der Apoftel und Propheten, da Edftein Ehriftus (Jeſuse 
ſelbſt)) ift (21), in dem ein ganzes Bauwerk fi zu— 
femmenfügend wächſt zu einem Tempel heilig im Herrn 
(22), in bem auch ihr miterbanet werbet zu einer Be- 
baufung Gottes im Geifte.“ 

Unfer von den biöherigen Erklärern abweichendes Verſtändnis 
ft in dieſer Ueberfegung natürlich nur Teicht angebeutet und bes 
darf daher einer eingehenderen Erörterung, welche, wie dem Kenner 
zicht entgehen Tann, vor allem die Möglichkeit einer angemefjenen 
Erflärung ber durch die Weberlieferung fo wohl geſchätzten Lesart 
zaca olxodonun ohne Artikel zum Gegenftande haben und fomit 
anf fprachliche Auseinanderfegungen eingehen muß, wie fie, in 
tgeologifchen Büchern zumal, nicht immer mit winfchens- 
werther Grundlichkeit und zugleich mit der unentbehrlichen Leichtig- 
keit der Auffaffung vorkommen. Verſuchen wir es, dem gegen» 
wärtigen Stande der Sprachwiffenfchaft zu genügen. Doch führen 
wir diefe Unterfuhung nicht für fi, fondern ftellen fie nad) ber 
von uns vertretenen ?) Methode der Exegefe mitten in den Fluß 
der Reproduction der ganzen Stelle. 

Wie B. 12 das Bild des Staatsweſens dem Apoſtel dazu 
diente, den früheren Vorzug des heilßgefchichtlichen Volkes vor 
feinen Lefern als Vertretern der heidnifchen Völkerwelt auszudrüden, 
fo gebraucht er auch Hier das nämliche Bild, um die nun einge 
tretene Gleichheit ihrer Stellung anſchaulich zu machen; zuvörderſt 
im negativem Ausdruck, indem er die Heiden, die er oben als 
annAlorpgıwusvos ıng nolsseias Tod Iogami?) xas 
!iyoı cov dadnx@v vis Ernayysilas bezeichnete, jet zuruft: 
ouxssı dor Esvos zal nragosxos. Vergangen ift der 
bisherige Zuftand, in dem fie ohne Antheil an dem Bürgerrechte 
des Gottesreiches waren, fo daß man fie angefiebelten Schutzge⸗ 


1) zou Xgsorod ohne aörou ımd ohne ’Inoou die Lesart des Sinaiticue. 

2) Bol. Kolbe: Qua fere via atque ratione interpretatio 
Novi Testamenti instituenda. . . Programm bes Stettiner 
Gynmaſtums 1872, 


188 Kolbe 


nofjen (agosxos) oder gar außerhalb des Staates lebenden 
Fremden (Esros) vergleichen durfte. „Vielmehr“, fährt nun das 
pofitive Glied fort „habt ihr jetzt eine neue Eriftenz (wir 
bedienen ums diefer Umfehreibung, um die durch überwiegende Be⸗ 
glaubigung geficherte Lesart nach ihrer rhetorifchen Bedeutung zur 
Geltung zu bringen: die repetitio des dass ift nicht umfonft) 
als vollberechtigte Mitbürger der Heiligen“, d. 5. derer, die 
zum Gottesreiche gehören, wie ja diefe Bedeutung von- &ysog, fo 
daß od &yıos (vgl. 3. DB. Eph. 1, Anfg.) in Briefeingängen = 7 
exxAnola ftehen kann, ohne Rüdfiht auf daB jittlide Verhalten 
der einzelnen, vollfommen feitfteht, was um fo natürlicher ift, wenn 
&ysos als Ueberfegung des hebräifhen wrrp Eingang fand, biefes 
aber die Grundbedeutung nicht der Reinheit hat, wie nah) Dehler 
(auch Theologie des Alten Teftaments I. 1873, ©. 160) nod 
Cremer (Biblifchetheologifches Wörterbuch der neuteftamentlichen Grä⸗ 
cität, 2. Aufl. 1872, S. 40) behauptet ?), fondern der „Geſchieden⸗ 
heit“ (daher Gegenfag von 5m, nicht von pp ift, dem Amy gegen- 
überfteht Levit. 10, 10 2)), wie wir mit Fleiſcher bei Delitzſch, 
Commentar zu dem Pjalter, gr. Ausg. I, S. 588f. Anm., auf 
Grund arabifher Erklärung, mit Delitzſch zu Se. 1, 4 
(2. Aufl.) und Bold, Segen Mofes, S. 35 behaupten (von 
der Wurzel 1p). ovetp find demgemäß im Alten Bunde nicht etwa 
nur Engel, fondern die Ysraeliten als Volt (vgl. Dan. 8, 24); 
im Neuen Teftament, der gegenwärtigen Offenbarungsftufe gemäß, 


1) So unter andern auch Keil zn Exod. 19, 6. — Delitzſch' frübere 
(Jeſurun, S. 155) Verbindung mit fr. dhüsch = glänzen leidet 
an dem fehler übereilter Bergleihung indogermanifcher und femitifcher 
Wurzeln, da eine genaue Beſtimmung einer etwaigen Berwanbtichaft 
beider betreffenden Sprachſtämme nicht gefunden tft. Auch R. v. Rau- 
mers neue Hypotheſe ift nicht ducchgedrungen. Dieftels Beziehung 
(f. deffen Abhandlung über „die Heiligkeit Gottes“, Jahrbücher für deutiche 
Theologie IV, ©. 3ff.) auf WIN, das nen erglänzende Mondlicht, hat 
ebenfall® nur den Werth einer Lünftlichen Hypotheſe. v. Zezſchwitz 
(„PBrofangräcität und biblifcher Sprachgeift” [Leipzig, Hinrichs 1859], S. 16) 
wagt feine Entjcheidung. 

2) Das erite Paar Begriffe weiteren Unfanges, Bgl. Keil z. d. St. 





Auslegung der Stelle Eph. 2, 19—22. 189 


wo ds’ auUE0U Exousy nv nO0Sayayıjv ol dumyossgos Ev &vi 
nvsvpası 77005 s09 nrarsoa (Gph. 2, 18), d’ysos die Ehriften, 
jedech, fofern es hier gilt bemerklich zu machen, wie die Heiden» 
Sriften andern Chriften völlig gleichgeflommen find, an unferer 
Stelle infonberheit die Judench riſten. Der Grund, befler noch 
die innere Seite dieſes neuen Zuftandes der Heidenchriften iſt ihr 
nenes Verhältnis zu dem wahren (Tod Isod) Gotte, in defien 
Haufe fie als Hansgenefien, felbftverftänblich nicht ala Knechte, 
jondern als Kinder des Haufes (win 72 92) daftehen. Das 
der gegenwärtige Zuftand der Lejer, welcher fich auf eine gefchicht- 
Ihe Thatfache ber Vergangenheit (Errossodoundsrrss, Bart. Aor.) 
gründet, daß fie nämlich (B. 20) auferbauet wurden (nach diefer 
Seite Hin wandelt fi jet in der mit orientalifcher Beweglichkeit 
geftaltenden Anſchaunng des Verfafers das Bild vom Haufe) auf 
dem ?) Fundamente der Apoftel und Propheten, in dem Chriftus 
Eckſtein if. Wol nemt anderswo derjelbe Paulus den Herrn 
den einzigen Srundftein, der gelegt werben könne (1 Kor. 3, 11). 
Aber follte wirklich diefe Bezeichnung es ausschließen ?), daß bier, 
bei fo ganz andersartiger Ausführung des Gefamtbildes, auch der 
Ansdruck Hepsksos eine andere Beziehung erhält? Auf die Gleich» 
beit des Ausdruckes Tann e8 unmöglich ankommen; bleibt doch die 
Einzigartigkeit der Stellung Chrifti in feinem Neiche durchaus ger 
wehrt. Erreicht wird dies in jchönfter Weife durch das hier wie 
Apg. 4, 11 (vgl. 1Petr. 2, Bf.) geſetzte axpoywurıatov. Wir 
erfennen demnach in den „Apofteln und Propheten“ die Grundfteine 
des Haufes Gottes, der Kirche Chrifti. Aber darf man denn bloße 
Menfchen als ſolche Grundfteine bezeichnen? fo hören wir fragen. 


1) al® auf welchen fie ruhen, daher Ent c. dat. 

2) Gegen Meyers hierauf bezilgliches Bedenken wenden wir feine eigenen 
Worte zu Eph. 6, 14—17 (S. 306, Aufl. 4): „Die bildliche Betrach⸗ 
tungsweife kann am wenigfien bei einem fo vielleitigen, veichen und 
lebhaften Beifte wie Baulus fo ftereotyp fein, daß fi ihm das Nämliche 
auch gerade ein anderes Mal unter dieſem felbigen Bilde hätte darftellen 
müffen. So ericheint ihm 3. B. als Gott wohlgefälliges Opfer einmal 
Chriſtus (Eph. 5,2), ein anderes Mal eınpfangene Liebesgaben (Phil. 4, 18), 
ein anderes Mal der Ehriften Leiber (Röm. 12, 1).“ 


149 Kolbe 


Welch’ übertrieben ängftlide Scheu vor Mienfchenverherrlihung ! 
Oder will man auch Matth. 5, 14 antaften, wo der Herr feine 
Jünger (vgl. 5, 1. 2, nit einmal bloß die Apoftel) als das 
Licht der Welt bezeichnet, welches Prädicat doch fo oft (ſ. Joh. 
1, 9. 8, 12. 9, 5. 12, 35) von ihm felbft vorlommt?! Und 
heißt nicht umgefehrt Jeſus felbft Hebr. 7, 1 amooroloc? Yeden- 
falls Haben alle jene Erflärer, welche bis auf Braune (in Lange’ 8 
Bibelwerk, Neues Teftament IX. 2. Aufl. 1875) den von ben 
Apofteln gelegten Grund, das Zeugnis von Chriſto, verftehen, den 
ganzen Zufammenhang der Stelle gegen fi. ft hier der Heiland 
Edftein, das Ganze der Kirche ein Baumerf, find ferner die einzelnen 
Chriften wie 1 Betr. 2, 5 als Tebendige Baufteine gedacht; fo kann 
doch nur abergläubifches Vorurtheil die Gleichmäßigkeit des Bildes 
jo zerftören, daß es ein unperſönliches Fundament zuläffig findet. 
Ueberdies ftügen gewichtige Analogien unfere Anfiht. Vergeſſen 
wir zunächſt nicht, daß nach Apok. 21, 14 die Grunbdfteine der 
Dauer des neuen Jeruſalem die Namen ber 12 Apoftel des 
Lammes tragen, welches felbft als Tempel der Stadt (V. 22) und 
als ihre Leuchte (V. 23) gefchauet wird. Vor allem aber er» 
innern wir und des Wortes des Heren Jeſu, womit er den Petrus 
den Felſen nannte, auf den er feine Gemeinde erbauen werde 
(Matth. 16, 18), eines Wortes, das gar wohl (wenn auch natür- 
lich nicht als Beftandtheil des eriten Evangeliums, fondern als ein 
Stüd der mündlichen Weberlieferung, aus der auch Apg. 20, 35 
Paulus ein Wort Jeſu anführt) beim Niederfchreiben unferer Stelle 
dem Berfaffer vorfchmeben konnte, wie Thierſch (Vorleſungen 
über Katholicismus und Proteftantismus, 1. Aufl. J. S. 118) _ 
urtheilt. Oder jollten wir hier weniger unpartetifch al® 3.8. Meyer 
auslegen, der. unbedenklich den jpäter auch in der That behaupteten 
Primat des Petrus?!) an diefem Orte anerkennt? Denn, baß 
errd Tavın ın ro unmittelbar auf ZZeroos zurüdweift, kann 
nur dogmatifche Befangenheit in Abrede ftellen. Will man aber, 
um etwa sro allgemeiner zu fafjen („die Belenntnistreue“), 
den Wechfel der Formen IZeroos und rıerox betonen, wie Wie- 


1) Nicht etwa des Biſchofs von Rom. 


Auslegung der Stelle Eph. 2, 19—22. 141 


feler (Chronologie des apoftolifchen Zeitalters, S. 585) oder 
Sange (3. d. St.), fo Hberficht man, daB ja der Herr aramäiſch 
geiprochen hat und in bdiefer dem Griechifchen an Reichtum und 
Beweglichkeit weit nachjtehenden Sprache beidemale ya = = np} 
ſagte, wie auch die Peſchito beidemale a bietet, wo dann die 
Kraft des Eigennamens neben der Bezeichnung der in Petri Per- 
jon conceret vorhandenen Teljennatur weniger fcharf hervortrat. 
„Aber wie Betrus nicht feinen Glauben im Unterjchiede von dem 
der andern ausgeſprochen, fondern nur die an die Zwölf gerichtete 
Frage in ihrem Sinne beantwortet hat; fo meint ihn aud des 
dern Berheißung nicht mit Ausfchluß der andern oder im Gegen» 
jage zu ihnen, fondern fpricht ihm nur ſonderlich zu, was der 
Fwölfe Beftimmung überhaupt iſt. ... Aber allerdings wird es fi 
ihm fonderlich verwirklichen, glei wie es ihm fonderlich zuge» 
Iprochen ift“ (v. Hofmann, Scriftbew., 2. Aufl. I, 2. ©. 270). 
Mit diefem Verftändnis der Stelle Matth. 16, 18, wie es treffend 
ſchen Bengel im Gnomon dargelegt hat, und mit dem Blick auf 
die vorher angezogene Stelle Apof. 21, 14 treten wir von neuem 
an Eph. 2, 20 heran und können nunmehr in Feiner Weife ein 
Bedenlen darüber hegen, hier die Bedeutſamkeit der Männer, durch 
deren Glauben und Dienft in ewig grundleglicher Weife die irdifche 
Stätte der wahren Gotteögemeinjchaft bereitet ift, auf denen in 
der That die Kirche beruht, in dem Bilde des Fundamentes aus» 
gedrückt zu ſehen. Doc, fragt es fich weiter, paßt dies auch auf 
Propheten? Sicherlich, wenn letztere den Apofteln jo nahe ftehen, 
daß fie durch die Unterftellung unter Einen Artikel (Tor anovzro- 
lay za noogmsov) als der nämlichen Kategorie angehörig ?) 
eriheinen. Freilich dürfen wir die no von Harleß und Hof- 
mann vertretene Meinung nicht anerkennen, neoynrov fei hier 
(und 3, 5) nur eine zweite Benennung der Apoftel felbft: in dem 
Zerte iſt diefelbe durch nichts veranlaßt und läuft überdies der 
Eph. A, 11 folgenden klaren Scheidung von aroorolos und 
npoynzar, mit der 1Ror. 12, 28 im Einklang fteht, gänzlich 
zuwider. Diefe Parallelen beweifen weiter, daß wir auch nicht 


1) Bgl. ol orgarnyoi zei Aoyayol, Xen. Anab. II, 2, 5. 





142 Kolbe 


etwa an bie Propheten des Alten Bundes denken follen, wie nach 
vielen Vorgängern noch Ewald (Sieben Sendfchreiben des Neuen 
Bundes, 1870) ©. 184, unter eiteler Berweifung auf die V. 12 
erwähnten meffianifchen Verheißungen für erforderlich erachtet. Mit 
naturgemäßer Rüdfiht auf die Zeitfolge hätte Paulus wol jene 
Propheten voranzgeftellt. Aber, da es fich um ben Nenen Bund 
handelt, möchte es fchwerlich nahe liegen ihrer hier zu gedenken. 
immerhin wollen wir einräumen, diefen beiben Gründen komme kein 
entfcheidendes Gewicht Hinzu: müſſen aber nicht die vorher 
erwähnten analogen Stellen an Männer wie Barnabas erinnern, 
welche mit einer der apoftolifchen Würde verwandten Autorität und 
in ähnlicher Thätigkeit an der Gründung der Kirche arbeiteten? Man 
vergegenwärtige fich nıır einmal, wie anerfennend die von einem Pau- 
liner berrührende Apoftelgefchichte von der hervorragenden Thätigfeit 
des Barnabas neben der des Paulus, ja vor berfelden zu erzählen 
weiß; fie fteht fogar nicht an 16, 4. 14 von beiden Männern gerabe- 
zu ben Ausdrud os anoovodos anzuwenden. Es war nicht eine 
Zeit modernen „Amtsbemußtjeins” und juriftiichen Verfaſſungsbaues, 
fondern des Glaubens und bes Geiftes. Hütten aber trogbem 
in Folge der fo ftarfen Betonung des apoftoliichen Anſehens die 
Lefer dazu neigen mögen, menfchliche Individualität zu überſchätzen 
und die Beziehung auf den Einen Meifter zurücktreten zu Taffen, 
wie bergleichen ja in dem von Eitelleit und Parteifucht erregten 
und zerriffenen Korinth wirklich der Fall geweſen ift: nun fo folgte 
bier gleichfam eine Warnungstafel övros daxpoyamınlov [adrov] 
tod Xgsorod [’Inoov]. Die Kraft der Warnung hat man bereits 
in der Voranftellung von övros gefucht, jo Bengel: Partici- 
pium övrogs initio commatis huius valde demon- 
strat in praesenti tempore, was Braune beifällig 
wiederholt. Ya Stier madt in feiner wortreichen Art daraus: 
verfteht ſich, Chriftus ift ein und alles; ift und bleibt. Aber wie oft 
ftehen bei Elaffilern und im Neuen Teftamente Formen gerade von 
elvas an der Spite, ohne daß irgendwie ein Nachdruck barin ges 
furcht werden dürfte!) Man denke nur an vois ovasw in ben . 


1) Bol. auch Meyer, Commentar zu dem Briefe an die Ephefer, ©. 7 


Auslegung der Stelle Eph. 2, 19—22. 145 


Irugüberfchriften, 3. B. Röm. 1, 7, wo wir ftatt vers ovow 
à Poun ayarıızois Isoö cher vois dv Pıdun ovoıw ayanınzois 
eos ader sols Ev Pam dyanızsois Isod ovaıw erwarten möchten. 
Der welchen Nachbrud hätte 69 Joh. 1, 18: 0 wv eis Toy 
z0inev roũ Tsarpos oder Lut. 3, 23 @v vioc, ws Eyouilero, 
roõ Ioonip, wo ja gerade der Zuſatz ws Evonsilsso eine jtärkere 
Deeutung des 65 aufhebt? Aehnlich eitirt K. W. Krüger 
Griechiſche Sprachlehre I, $ 56, 13, 1) aus Euripides ZoAkoi 
nv Övssg süyevsic " siaıv aaxol, wo nad jener Regel wenipftens 
evyeveis umgeftellt werden müßte. Auch in guter Brofa begegnet 
dergleichen oft genug; jo Hv de vis dnnolloyarns (Xen, 
H. G. 4, 1, 29), eder ibid. 3, 10: övros d’ adsod Ent 
7 &ußoin 0 Yuos unvosdis Bdofs yarımas, eine Stelle, 
weihe Bengel® Behauptung fofort auf's fchlagendfte als völlig 
begründet erweiſt. Vergleiche @v da als 0 Ereovızos Ev 
u ASivivn, ibid. 5, 1. Das Gewicht der genitiviabsoluti liegt 
in dxgoymvswlov, welches als Eefftein, al den dem ganzen Gehäube 
Halt und Richtung gebenden Stein, den Meſſtas benennt, wonach 
mter Erinnerung an die allbefannten, ſchon damals geläufigen (vgl. 
Math. 21, 42. Apg. 4, 11. 1Petr. 2, 6f.) Weißagungen 
as Jeſaja und dem Pfalter fofort die Majeftät Ehrifti dem Be⸗ 
wußtſein der Empfänger aufleuchten mußte. Ward ja felbft das bloße 
m „den“ in dem Sinne von Fürſten verwandt (Richt. 20, 2. 
lSam. 14, 38. Jeſ. 19. 13); dxeoymrındos entfpricht aber 
änem volleren ap win? (Pf. 118, 22) oder (mp6) m 78 (Hiob 
38, 6. Jeſ. 28, 16. Jer. 51, 26), wo überall (vgl. die Erffärer 
zu diefen Stellen) der dem Fundamente angehörige, zwei Wände 
zuſammenklammernde Edftein gemeint ift, wie auh Keil zu 
Sch. 4, 7 mit Recht bemerkt prob a3 (Ser. 51, 26), fteht 
mit michten im Gegenfag dazu: an „den bindenden Schluß und 
Reren Halt des gegründeten Baues“ (Stier) ift keineswegs 
zu denlken. Es wird fein Bewenden haben müſſen bei den Worten 
Rofenmüllers: nie Igw estinter eos lapides quibus 


— 





(4. Auflage und ſchon 1. Auflage), Anm. 1, der andere Belegftellen an⸗ 
fükt. 


144 Kolbe 


tanquam fundamento innicitur domus is potis- 
simum qui inextremo angulo fundamenti positus 
duos parietes sibi innixos sustinet et coniungit. 
In angulis praecipua vis qua aedificia sustinen- 
tur. Des Tundamentes weſentlichſter, gleihjam herrſcherlicher 
Beitandtheil ift mithin Chriftus, und fo ift auch hier der Ehriften- 
ftand der Lejer mit al’ feinen Segnungen auf Chriftus und deffen 
centrale Bedeutung für die Kirche nachdrücklich zurückgeführt. 
Diefelbe wird aber nod weiterhin durch den an Xososov ange- 
Inüpften Nelativfag (V. 21) erfichtlih, welcher mit Fortführung 
des Bildes vom Hausbau das fortdauernde Werben der Gemeinde, 
ihre felige Gegenwart nicht als gewonnenen Befig, fondern als 
triebfräftig in die Zufunft hineinwirkende Tchätigfeit darjtellt und 
dabei Ehriftus als das Bindeglied bezeichnet, in dem der har⸗ 
monifhe Zuſammenſchluß der Gefamtheit feiner Gläubigen ftetig 
beruht und weiter fchreitet. Denn ouvapuoloyovusen avksı wird 
man nicht voneinanderreißen dürfen, vielmehr den ganzen Aus⸗ 
drud, der faft einem Verbum compositum („zufammenwädft“) 
gleihlommt, mit &v @ verbinden, während &v xvplp, wie es fchon 
unfere Ueberjeßung ausdrüdte, der Stellung gemäß zu @ysov ge- 
hören wird: wogegen eine Verknüpfung von dv ® ovvaguoloyon- 
usvn einerjeits und av&es &v xuolo amderjeits unnatürlih, ja 
gewaltfam erjcheint. So ift e8 beidemale derfelbe Ehriftus, welcher 
das vorhandene Gut feiner Gemeinde erworben hat und ihr fort⸗ 
fchreitendes Wachstum bedingt, das in organifcher Weile nad Art 
eines menſchlichen Xeibes, an den jchon die in avvapguoloyovasen 
angedeuteten @onol erinnern, vor allem aber das für einen Bau nein 
uneigentlich anwendbare av&sı, zu herrlichem Ziele hinſtrebt. Ein 
„um Herrn Heiliger“, nicht etwa durch fich felbit koſtbarer, wie 
den Schmud feiner Heifigfeit Chrifto verdanfender Tempel ift es, 
der entfteht, indem diefer Bau emporwächſt. — Iſt jo der Vers 
im allgemeinen ar, fo bietet doch das Subject der Kritit und 
Erxegefe eine ſchwierige Frage dar: tft wirklich ohne Artikel na@oa 
olxodoun mit Kirchenvätern und vielen Handfdriften, auch den 
beften wie x, B, D zu lefen, und wie ift dann grammatifch richtig 
und zugleich finngemäß zu erklären? Die überwiegende Autorität 


Auslegung der Stelle Eph. 2, 19—22. 145 


der Ueberlieferung gegen den Sinn enticheiden zu laffen, wäre 
freilich abergläubifh; „denn nicht bis dahin können wir fie gelten 
laſſen, daß der Schriftfteller etwas fage, was er, wie wir ihn 
fennen, nicht fagen kann“ (Rüdert). Aber wollen wir nun wirk⸗ 
fi Hier die Weglafjung des Artifels bei fo vielen alten Zeugen 
als einen, etwa durch den Itacismus erflärbaren, Fehler anfehen 
md nace 7) olxodoum leſen, um gleichgeitig unfere Luther'ſche 
Ueberfegung „der ganze Bau“ feitzuhalten? Wozu da8? fagen 
manche 1) mit Berufung auf bie fpätere Gräcität, welche nicht 
felten, 3. B. in den ignatianifhen Briefen, aud ohne Artikel 
as — ganz gebraucdhe. Wirklich?“ Gerade as hat eine befonbere 
Neigung, fich mit dem Artikel zu verbinden: während bei Homer 
öde und odrog fehr felten fi) mit demfelben finden, fo ift das 
bei zes und feinen Compositis fchon öfter der Fall (K. W. Krüger, 
Sriehifche Spradlehre II, 8 50; 10, 2. 4), und wenn Herodot 
einige Male (I, 21; II, 113. 115) zravra Aoyov fchreibt, fo wird 
mar bier „jede Auskunft* mit demfelben Krüger (zu Hdt. I, 21) 
eflären dürfen. Auch Mullach (Grammatik der griechifchen 
Bulgarfprache in biftorifcher Entwidlung, Berlin 1856) verzeichnet 
feine Abweichung in diefer Richtung; wohl aber fchreibt er S. 308 
von ÖAos, das im gewöhnlichen Griehifch nah Analogie vom 
franzöſiſchen tout, vom lateinifhen totus an bie Stelle von 
rag getreten zu fein fcheint, dies Adjectiv habe den Artikel nad 
id, fo ÖAoc 0 x0onos die ganze Welt, 5Aos od avgogwros alle 
Menfchen (vgl. franzöfifh tout le monde, tousles hommes). 
"Wenn man aber Ignat. ad Eph. 12 &v naon enıoroin uvn- 
porsves vᷣucov überfegen wollte „inbem ganzen Briefe”, wie 
Harleß, fo Haben dagegen ſchon Rüdert (Commentar zu dem 
Briefe an die Ephefer, 1834, S. 276f.), Meyer (Eph., ſchon 
1. Aufl. 1843, ©. 5, vgl. 4. Aufl., S. 6) und Wiefeler (Chro- 
nologie des apoftolifchen Zeitaltere, S. 436f.) mit Recht Einſpruch 
erhoben und übertragen: in jedem Briefe. Wir verlangen aljo 
mit Grund einen wirfliden Beweis aus dem fpäteren Sprach⸗ 
gebrauche. Zugegeben aber, derfelbe wäre etwa für Ignatius er- 


1) So noch jet Braune, 
Theol. Stub. Yasrg. 1878. 10 


146 Kolbe 


bracht, jo bleibt, da da6 ganze Reue Teftament in biefem Punkte 
correct ift, „diefer bei Paulus vereinzelte Gebranch auffallend“ 
(Harleß). Darum mögen wir num auch nicht mit biefem Ges 
Iehrten fortfahren. „Die Annahme deöfelben dürfte nur da ge 
billigt werden, wo der Gontert fie mit folder Evidenz verlangt 
wie bier.” Die Evidenz ift mwenigfiend von neueren und zıbar 
von hervorragenden Auslegern in Frage geftelit. Der Artifel fei 
gar nit erforderlich, indem eine andere Bedentung von as 
(jeder) hier ftatthabe, bemerkt ein befonders in philologifcher Hin- 
ficht mit Recht hochangefehener Erklürer, der verewigte Meyer. 
Aber wie könnte man fich entfchließen, den Apoftel Hier von jedem 
Bauwerke ſprechen zu laffen, fo dag an die einzelnen Gemeinden 
zu denken wäre, deren jede in Ehrifto zu einem Tempel erwachſe! 
Ein ganz frembartiger Gedanke füme fo in den Zuſammenhang, ber 
eben von einem Ganzen handelt, zu dem jebt auch die Leſer ge 
hören, nicht von individuellen Größen !). Um diefem Bedenken zu 
entgehen, Hat der um die Aufhellung des Gebaufenzufammenhanges 
jo vielfady verdiente und durch feinen bis zur Spitzfindigkeit feinen 
Scharffinn ausgezeichnete Schriftforfher v. Hofmann (bereits 
tm Schriftbeweife I, 156f.; II, 2, 123; vgl. auch Erlanger Zeit 
schrift für Proteftantismus und Kirche 1860, Dec., ©. 336 „alles 
Gebän“ und wieder im Commentar 1870) aus Matth. 24, 1 = 
Mark. 13, 1 für edxodoun eine neue Bedeutung hervorzufoden ge 
fucht, als Heiße das Wort auch Baubeftandtheil, ähnlich wie 
er für SEovad« die Bedeutung „Machtgebiet“ erfonnen ?), aber 
nicht erwiejen und gar grammatifche Regeln der griechiſchen Sprade 
aufgezwungen Hat, die diefer fremd jind. Bgl. dagegen die treff⸗ 
liche Erörterung des Bhilologen Dr. Hermann Müller, 
(Grammatiſche Studien zur Exegefe des Neuen Teftamentes II, 
Zeitfihr. f. luth. TH. u. K. 1872, S. 631). „Incidit 
in Scyllam qui vult vitare Charybdim‘“, muß man 


1) „Da von der Kirche Chrifti im ganzen bie Rede, muß ‚der ganze Bau‘ 
überjett werden.” Winer, Gramm.des Neuen Teftaments, 6. Aufl., S.101. 

2) So 3. B. mit auffälliger Selbfigewifgheit trog Meyers Widerſpruch 
zu Epb. 2, 2, Commentar, ©. 68. 





Auslegung der Stelle Eph. 2, 19—22. 147 


bei dieſer Operation Hofmanns ſagen. oixodoun bleibt ber 
Etymologie zu Folge Hausbau (die Thätigkeit — elxodaunass) 
oder Gebäude (= oixodounue, das Ergebnis des olxodousiv) 1). 
Und bei dem prächtigen Tempel zu Jeruſalem, deſſen Herrlich. 
keit zu fchildern Claffiker wie Tacitns oder jüdlfche Schriftfieller 
wie Joſephus und Philo nicht müde werden (denn „wer Herodes’ 
Tempel nicht gefehen, hat nie ein prächtiges Gebäude gefehen“, heißt 
sim Talmud, vgl. Lightfoot zu Meatth. 24, 1), ber „nicht 
fowof ein Einzelgebäude, als vielmehr eine Feine Welt mit Vor- 
böfen, Terraſſen, Hallen und endlich dem Tempelhauſe felbft“ ?) 
daritellte — bei jolchem Prachtbau iſt es äußerft angemeffen von 
„Sebäuden“ oder „Bauten“ zu fprechen, welche die Jünger voll 
Bewunderung anfchaueten. Dover follte an nnferer Stelle, wie 
hen Chryſoſtomus wollte, von dem Dade, der Mauer und 
dergleichen die Rede fein? Wie machen denn biefe einzelnen 
Beitandtheile zu einem Tempel? Es wird wie 4, 16 von der 
evfncss Tod owueros aud hier von einem ſich entwickelnden 
Hausbaue unter dem Bilde eines ftetig wachjenden Organismus 
die Rede jein. Eben deöwegen wird Paulus auch bei Kor. 3, 9 
(Scoß yanpyıov, Jeoü oixodonn) dors) das Wort oixodeur, 
wiht ofxos gebraucht haben ?), um der PBhantafie feiner Leſer die 
Beziehung auf die Thätigfeit des oixodensiv zu erleichtern, was 
auch bei und der Fall ift, wenn wir ftatt Haus mit Quther 
Bau“ im der Weberjegung anwenden. Ewald überträgt „alles 
Schände“ und bemerft dazu: „alles was man nur auf jenem Grunbe 
aufbanet”. Wir vermögen dabei nicht einen anderen oder bejjeren 
Sinn zu ermitteln als bei den Meinungen von Meyer oder Hof⸗ 
mann, und jo fehen wir uns darauf bingewiefen, die in raca« 
oixodonn liegende Allgemeinheit der Bezeichnung auf andere Weife 
auszudrücken und zu verbeutfichen. Wir willen ja (8. W. Krüger], 
$ 50; 11, 9), daß in der Bedentung „ganz, all“ bei räc ber 


1) Bgl. auch Cremer, Bibl.-theol. Wörterb. zum Neuen Teftamente. 
9) Braun zu Mattb. 24, 1 (Bibelmerk f. d. Gemeinde, N. €. 1). 
9) So bei Ulfilas gatimrjo don gatimrjan = Jufammenzimmern, 
nicht das gewöhnliche Wort für Hans „gardi“. 
10* 


148 Kolbe 


Artikel fehlt, wenn das Subftantiv auch ohne was ihn nicht haben 
würde: naoa ndkss, eine ganze Stadt, 5. B. Hdn nors 
Evvanaoa rolss Epvysv (Plot. bei Krüger a. a. DO) Wir 
vergleichen neh Soph. Bhil. 385 ff.: xoVx airıwuar xelrov wc 
vous Ev reis, olis yap Eorı TT&0a TWv Nyovusuv OTERTOG 
re ovanas. (Und nicht Hage ich jenen fo fehr an wie die Feld- 
herren; denn ein Staat folgt ganz feinen Führern und ein Heer 
ganz und gar!).) Angefichts diefer Thatfachen erwägen wir im 
Bezug auf Eph. 2, 21 einmal, daß hier gar nicht eigentlih von 
einer beftimmten oixodowf etwas zur Ausfage kommen foll, 
vielmehr ein Bild in unferem Verſe fortgefeßt wird, welches das 
Verhältnis Chriſti zu feiner Kirche veranfhauligt. Anderſeits er⸗ 
innern wir und, auch &@xgoywrsaiov ftand ohne Artikel: Chriftus 
ift nit der Edftein genannt; eines Edfteines Eigenſchaft tft 
ihm beigelegt. Können wir nun ganz wohl einen Eckſtein als einen 
Stein bezeichnen, in dem ein Bauwerk fih zufammenfdhliche (vgl. 
oben), feinen Halt finde: fo wird es nicht minder ftatthaft fein, 
wo die Gefamtheit des Vereinigten al8 abhängig von einem 
folden Haltpunfte dargeftellt werden fol, von einem Eckſteine zu 
fpreden, in dem ein ganzer Bau oder ein Bau ganz und 
gar fich zufammenfüge und zu einem Tempel erwachſe. Auf diefem 
Wege, den die Grammatif ung gezeigt, können wir die vorzüglichere 
Lesart ohne Bedenken beibehalten und fehen zugleih den Bers 
ſich beftens in den Zuſammenhang einfügen: Mitbürger der 
Heiligen und Hausgenoffen Gottes feid jegt ihr 
Heidendriften dur eueren Aufbau auf den apofto= 
lifhen Grund, dba ja deffen alles tragender und Hals 
tender Edftein Chriſtus ift, in dem ebenfo aud ihr (V. 22) 
eneren Halt habt. Dieſen Relativfag fchließen wir grammatifch 
nit an &v xvolo, was an ſich berechtigt wäre und zunächſt zu 
Tiegen fcheinen könnte, fondern, zumal wir Ev xvolw zu &yıov ges 
zogen haben und in dem ganzen ayıov &v xvolo bloß ein nad» 


1) Nicht ungefchickt überfegt Biehoff: Denu, wie ein Staat ganz (micht 
etwa: „der ganze Staat” oder „jeder Staat”) um die hödhften Lenker kreift, 
fo aud) im Kriegsheer. 


Auslegung der Stelle Eph. 2, 19—22. 149 


gefügte Attribut zu vd» fehen, dem Barallelismus mit dv & 
(8. 21) gemäß an Xosorov, fo daß neben ®. 21, der das Allge⸗ 
meine darftellte und jo Chrifti Eigenart als Eckſtein zu befchreiben 
diente, da8 Befondere tritt, worauf e8 im vorliegenden Falle fchließ- 
ih anlommt: In Chrifto feid auch ihr Heidendriften Beſtand⸗ 
theile einer entftehenden geiftigen Behaufung Gottes, des Gegen« 
bildes des altteftamentlichen Tempels, wie er die Vollendung der 
göttlihen Offenbarung erheifcht: denn Gott will nunmehr nicht an 
Einem Orte nur fi erfchliegen, fondern allenthalben, wo man in 
Geift und Wahrheit ihn anruft (Joh. 4, 23f.), fo zwar, daß 
nit lediglich der einzelne Gläubige des Herrn Tempel üft, 
jondern, independentiftischem und mönchiſch⸗pietiſtiſchem Gelüfte zum 
Troge, die Gefamtheit, der Gemeinfchaft der Gläubigen Gott in 
fh jhließt, ein Organismus der Gottesgemeinihaft vorhanden 
it, vermittelt ‘durch Gottes Geift als Werkmeifter für den Bau 
der Kirche. Mir denken freilich hiebei nie meift (vgl. Rocholl, 
Die Realpräfenz [1875], ©. 325) nicht an den perfönlichen heiligen 
Geift, fondern einfach an den Geift als göttliche Kraft im Gegen- 
fag zu der Deaterie, aus welcher Israels Tempel im Alten Bunde 
hervorgegangen war. So fügt fih dr rvsdnarı, weldes zu avv- 
xodousto$e, das ſchon durch Ev @ beftimmt ift, überflüßig, wenn 
niht ftörend fein würde, in paffender Weife zu xarosznerjgsov 
1. vV. und ergibt eine angemefjene Parallele zu vaov Ayıov Ev 
wole. Wenn 1 Petr. 2, 5 einfacher olxos rsveuuarızos gejeßt 
it, fo entfpricht der gewähltere Ausdrud xarosnengsov Ev nvev- 
narı dem eigentümlihen Schwunge unferer Epiftel. 

So begegnen wir, wenn wir auf den audgelegten Abfchnitt 
mrüdbliden, einem mit dem Ende von Kap. 1 ſich berührenben 
Gedanken, der wieder die Hoheit der Kirche hervorhebt. Dort 
war diefelbe als Erfüllung *) und Leib Chrifti bezeichnet: bier er⸗ 
Iheint fie unter dem Bilde einer wahrhaften Wohnung Gottes, 
um die Lefer deffen recht inne werden zu laffen, was fie an der 
Zugehörigkeit zu der Kirche haben, bei welcher der Herr wohl auf 





I, Bgl. darüber unfer Programm von 1869, &. 25f. 


150 Kolbe, Auslegung ber Stelle Eph. 2, 19—22. 


dem Plan ift mit feinem Geift und Gaben, und wie viel fie darum 
Chriſto verdanken, durch deſſen Gnadenmacht allein es bewirkt ift 
und wird, daß fie im diefer erhabenen Gemeinfchaft fich befinden 
und, wiewol auf Erden, doch bereits Himmelsbürger find (vgl. 
Phil. 3, Schu). 


RKRecenfionen. 











1. 


lic. C. Budde, Beiträge zur Aritik des Buches Hiob. 
Bonn, bei A. Markus, 1876. 160 SC. 


Daß die Reden Elihu’s fein urfprünglicher Beſtandtheil bes 
Buches Hiob feien, gilt faft allen unbefangenen Auslegern für 
ausgemacht. Auch theilen wir nicht die Meinung des Verfaſſers 
vorliegender Schrift, daß die biblische Wiffenfchaft fchließlich noch 
ein anderes Urtheil über diejelben fällen werde. Nichtsdeſtoweniger 
entipricht eine erneute Behandlung der beiden für die Beantwortung 
jener Frage entfcheidenden Punkte, der dee des Buches Hiob 
und des ſprachlichen Charakters der Elihureden, jedenfalls einem 
wirklich vorhandenen Bedürfnis und muß auf alle Fälle das Ver⸗ 
ftändnis dieſes fchmwierigen biblifhen Buches fördern. Don dem 
reichen Material, das der Verfaffer in feiner Abhandlung über 
die fprachlichen Gigentümlichleiten der Elihureden mit großem 
Fleiße zufammengeftellt hat, wird mancher Ausleger Nuten ziehen, 
ah wenn er das Gefühl, daß Elihu eine andere Sprache ale 
das übrige. Buch rede, nicht los wird. Dasjelbe erwarten wir 
aber auch von der erjten Abhandlung, in welcher der Beweis 
unternommen wird, daß die fraglichen Reden nicht nur aus der 
Idee und Anlage des Buches Hiob als ein urfprünglicher Beftand- 
theil desfelben begriffen werden können, fondern daß das Buch ohne 
diejelben überhaupt unverftändlih fe. Allein ſchon die große 
Meinungsverfchiedenheit, die unter den Gegnern der Echtheit der 





154 Budde 


Elihureden über den Grundgedanken des übrigen Buches beftehe, 
legte dem Verfaſſer die Trage nahe, ob nicht das in der neueren 
Kritik faſt axiomatiſch feftftehende Urtheil über jene Neben einer 
Nevifion bedürftig fei. Beſtärkt wurde er hierin durch einen Auf⸗ 
fat Studers (Jahrb. f. prot. Theol. 1875), der von der herr- 
fchenden Meinung ausgehend die Einheit des übrigen Buches Leugnete, 
das er auf wenigftend 6 verfchiedene Verfafjer zurädführen wollte. 
Die Unhaltbarkeit diefes Nefultates Liegt auf der Hand; dennoch 
behalten nad) Budde's Anjicht die Gründe, auf denen es beruht, 
zum großen Theile ihr volles Recht, fo lange man eben die Elihu- 
reden von der Betrachtung nusfchließe, die allein im Stande feien, 
die Abrigen fonft disparaten Theile des Buches zu einem harmo- 
nifchen Ganzen zu verbinden. 

Dem Faden jenes Aufſatzes Studers folgend, fucht der Vers 
faffer uns zunächſt, abgefehen von der dee des Buches, die Un⸗ 
möglichkeit der urjprünglichen Aufeinanderfolge von Kap. 27—31. 
38— 42 fühlbar zu maden. Die frage nad) der Urſache von 
Hiobs Leiden bleibt Kap. 27—31 unbeantwortet. Mit Recht weift 
Budde aud) die Meinung zuräd, daß Hiob ſich Kap. 28 bei dem 
Gedanken an die unergründliche Weisheit Gottes über das ihn 
quälende Räthſel beruhigt habe. Die energifche Erneuerung der 
Brageftellung an Gott, die unmittelbar darauf Kap. 29—31 folgt, 
wäre dann ſchwer zu begreifen; vor allem aber würde der Inhalt 
ber Jahvereden vorweggenommen. Nun gibt Budde aber eine Er- 
Härung des ganzen Zufammenhanges von Rap. 27—31, wie fie 
in diefer Ausprägung bisher wol noch nicht vertreteu ift, die, 
wenn fie fi) als richtig bewähren follte, allerdings die gewöhnliche 
Auffaffung des Buches Hiob völlig umftogen würde. Nach feiner 
Meinung ift Kap. 28 weiter nichts als eine Banlerotterflärung 
Hiobs: Gott allen befigt die Weisheit und hat dem Menfchen, 
ftatt ihm als feinem edeljten Geſchöpfe von ihr mitzutheilen, unter 
den Namen der Weisheit nur fchwere Forderungen, nämlich ihn 
zu fürchten und das Böfe zu meiden gegeben. Es liege darin 
eine fchwere Anklage gegen Gott, ben eigennüßigen und Lieblojen 
Schöpfer der Welt, der fich felbft das Beſte vorbehalten habe. 
Bon hier aus falle erft das rechte Licht auf Kap. 27. Hat Hiob 





Beiträge zur Kritil des Buches Hiob. 15 


früher (Kaß. 21. 24) aufs ftärffte das erfahrungsmäßige Glück 
ver Frevler betont, fo muß dagegen fein Sottesbemußtjein reagiren 
(27, 115). Er behauptet allen Ernſtes a priori die Nothwendig⸗ 
kit des Unterganges der Sottlofen, die er als ſolche ja auch früher 
nicht geleugnet, und gefteht damit offen den Widerfpruch in feinem 
Innern ein. Es fehlt nur noc die offene Erklärung des Ban⸗ 
keretts, die Kap. 28 folgt, wo er zugleich die Schuld feiner Kath» 
lofigfeit auf Gott fchiebt. Damit befommt dann auch die Frage» 
ſtelling Kap. 29— 31 einen ganz anderen Hintergrund. — Mit 
biefer Auffafjung des Schluffes der Neben Hiobs, auf die Ver⸗ 
feffer mehrmals an entfcheidender Stelle recurrirt, ift allerdings 
die Echtheit der Elihureden entichieden. Zu einem fjolden Hiob 
farm Jahve ſich unmöglich herablaifen; er muß zuvor von Elihu 
zum Schweigen gebracht und gedemütigt fein. Wir bezweifeln 
aber, daß diefe Auffaffung Beifall finden werde. Ob fie auf 
Grund der früheren Reden Hiobs ſowol nach dem Plane des 
Dichters als auch nur pſychologiſch möglich fei, wollen wir nicht 
unterjuchen, da fchon der nächte Zufammenhang fie ausjchlieft. 
Statt in den an fich vieldentigen Schlußmworten des 28. Kapitels 
auf der Sclüffel zum Verftändnis de8 Ganzen doch wol im 
Ausgangspunkt der Nede Kap. 27, 2—10 geſucht werden. Hier 
Kigt aber der ganze Ton der Rede, ja die Conftruction der Säge, 
daß Hiobs Ruhe und Beſonnenheit wiederlehrt, jobald die Freunde 
von ihm ablaffen. Bon entfcheidender Bedeutung iſt das Bild, daß 
er 8. 8S—10 von feinem jegigen Gemüthszuſtand entwirft. “Die 
Art, in der er dort von feiner unzerftörbaren Gottfreudigkeit fpricht, 
ft unmöglich aus einer momentanen Erhebung des Glaubens, 
jondern nur aus einer Stimmung zu begreifen, die in ihm jegt 
adgliltig die Oberhand gewormen bat und die ihn in der Xhat 
dis zum Ende feiner Reden nicht verläßt. Wie er von da aus 
ohne einen ganz bejonderen Zwifchenfall zu dem bitteren Sarkas⸗ 
mus, den Budde in Rap. 28, 28 findet, gelangen könnte, ift rein 
muerfindfih. Auch kann er Kap. 27 feineswegs eine Erklärung 
feines inneren Widerfpruches beabfichtigen. Denn dann müßte hier 
doch irgendwie neben dem V. 11—23 Gefagten die gegentheilige 
Datſache der Erfahrung ausgefprochen, oder, wenn das nicht, durch 





156 Budde 


die Art, in der der Gedanke von V. 11—23 eingeführt wird, ein 
Gegenfag angedeutet jein. Statt defjen fommt aber Hiob ganz 
unwilltürlic zu jener Behauptung. Halten die Freunde ihn jeiner 
äußeren Lage wegen für einen Frevler, fo beruft er ſich dagegen 
auf feine Gemüthsverfaffung, auf fein unzerftörbares Gottvertrauen 
und feine innere Seligkeit, die ihn mitten im hoffnungsloſeſten 
Leiden noch auf Gott hoffen läßt, während die innere Unjeligfeit 
der Gottlojen fchlieplih mit Nothwendigkeit aud ihren äußeren 
Untergang herbeiführen muß. Hierzu muß Kap. 28 die Begrün⸗ 
dung geben. Denn die Ankündigung Kap. 27, 11 muß fi zunädhft 
freilich auf V. 12ff. beziehen. Das, was Hiob die Freunde 
lehren, womit er nicht zurüdhalten will, kann nicht die Weisheit jein, 
die nach Kap. 28 Gott allein bejigt und die außerdem unmöglich 
durch In m und Wi ny "win bezeichnet fein fann. Anderſeits wird 
die B. 12ff. ausgefprocdene Behauptung erjt durch ihre Begrün⸗ 
dung in Kup. 28 eine Belehrung für die Freunde. Der Gott» 
loſe muß fo enden. Denn der Menſch, der alle Schäße der Erde 
erwerben fann, ift nicht im Stande, das einzige Gut zu erwerben, 
deſſen Befig allein fein Lebensglück fichern könnte. Er kann nit 
alle feine Handlungen jo einrichten, daß dauerndes Lebensglück 
da8 nothwendige Reſultat wäre. Vielmehr ift die Weisheit als 
die Kunft des zweckentſprechenden Handelns nur Gott befannt und 
deshalb kann der Menſch nur dadurch zur Glückſeligkeit gelangen, 
daß er Gott fürdtet und feinem Willen gemäß Iebt. Das ift 
aljo die dem Menfchen von Gott verordnete Weisheit, der einzige 
Weg zum Heil. Mit diefer Auseinanderfegung über die Noth- 
wendigfeit einer Vergeltung belehrt Hiob in der That die Freunde, 
indem er ihrer äußerlihen Auffaffung der göttlichen Vergeltung 
gegenüber dieje aus der inneren Beziehung des Menſchen zu Gott 
und jeiner Weltregierung begründet. Bon da aus fann er dann 
auf Grund feiner inneren Stellung zu Gott die Frage nach der 
Urſache jeines Leidens erneuern (Kap. 29—31). — Bei der ent« 
ſcheidenden Wichtigkeit, die Kap. 27. 28 für das Verftändnid des 
ganzen Buches haben, wäre e3 unſeres Erachtens um fo nothwendiger 
gewejen, daß der Verfaſſer fih mit diefer von Deligfch und Dill: 
mann (welchen legteren er übrigens S. 6 völlig misverfteht) ver- 


Beiträge zur Kritik des Buches Hiob. 157 


tretenen Auffaifung *) auseinandergefett hätte. Denn jo lange ber 
Standpunft und die Stimmung Hiobs am Ende feiner Reden nicht 
genau firirt find, fann über die Frage, ob die Elihureden Hinter 
Rap. 31 nothwendig find (fo ftellt der Verfaſſer die Frage) und 
welche Rolle ihnen zufommt, überhaupt nicht entjchieden werden. 
Uehrigens fommt der Verfaifer auch dur das Urtheil Jahve's 
Rap. 42, 7. 8 hart in's Gedränge (S. 55f.). 

Hiob weiß aljo für das Räthſel feines Leidens feine Löſung. 
Man findet eine ſolche vielfach in den Reden Jahve's Kap. 38ff. 
Budde juht nun in Zufammenfaffung der Einwände Hengiten« 
bergs und Studers zu zeigen, wie wenig die Reden Jahve's 
das leiten, was man ihnen zumutbet, und zieht daraus den Schluß 
auf die Echtheit der Elihureden. Wir erlauben uns hier nur einige 
Gegenbemerkungen. Hiob fonnte von ber Meinung, dag alles 
Leiden Strafe für begangene Sünde fei, ebenfo wenig losfommen, 
wie die Freunde. Wo cr die vergeltende Gerechtigkeit Gottes 
nicht jah, blieb ihm nur die Willfür Gottes als Erflärungsgrund. 
Bon dieſem letzteren Hat er fih nun immer mehr losgemacht und 
suleßt die innere Nothwendigkeit der Vergeltung auf's ſtärkſte be— 
tont, Dadurch ift freilich die Frage nad) der Urſache feines Leidens 
um fo viel brennender geworden umd er fließt deshalb mit der 
Aufforderung an Gott, ihm feine Sünden zu zeigen. Diefer Aufs 
forderung fommt Jahve freilich nicht nach, ebenfo wenig beantwortet 
er die Frage, weshalb er ihn beftreite. Ueberhaupt war nach den 
früheren trogigen Herausforderungen Hiobs eine ausdrüdliche Dar« 
fegung der Urjache feines Leidens mit der Würde Gottes unvereinbar. 
Aber allen jenen Fragen wird fofort jede Grundlage genommen, 
indem Hiob Kap. 38, 2 bedeutet wird, daß fein Leiden weder in 
der Willkür Gottes noch in der Sünde Hiobs, fondern in einem 
göttlichen Rathſchlag feinen Grund habe. Damit ijt Hiobs frühere 
Unſchuld anerfannt, und jetzt ift’8 an ihm, feine troßigen Reden 
gegen Gott zu bereuen. Es handelt fih um einen weilen Plan 
Gottes bei Hiobs Leiden und es fragt jih nur, ob Hiob diefer 





1) Sie findet fich übrigens fhon bei v. Hofmann, Schriftb. I, 96 an⸗ 
gedeutet. 





160 Budde 


aber deshalb den Schlüſſel zum Verſtändnis des folgenden Buches 
nicht bieten, weil es ſich in demſelben um mehr als um eine bloße 
Bewährung handelt. Mit Rap. 3, 1 (vgl. 1, 22. 2, 10) tritt 
ein Wendepunkt ein; Hiob verfündigt fich gegen Gott, und mehr 
als einmal ſcheint fich der Sieg fogar "definitiv auf Satans Seite 
zu neigen. Mit vollem Rechte betont der Verfaſſer die Thatfache 
der Verfündigung Hiob8 den Berfuchen gegenüber, diefelbe als etwas 
acceſſoriſches aufzufaffen. Der energifhe Tadel, der aus den 
langen Reden Jahve's immer wieder heraueklingt, fowie die tiefe 
Neue Hiobs machen das unmöglid. Es muß alfo im Buche jelbft 
eine höhere Löſung gefucht werden, der ji) ſowol Perfündigung 
wie Bewährung unterordnen. Die Nothwendigfeit diefer Confequenz 
wird freilich von vielen geleugnet, die die dee des Buches dahin 
beftimmen, daß das Leiden des Gerechten eine Schickung der Ichlecht- 
hin unbegreiflidhen Weisheit Gottes fei. Dann Hätte der Dichter 
aber den großen Fehler begangen, daß er dem Leſer im Prologe 
ja dennoch eine Aufklärung über den Zweck von Hiobs Leiden gäbe, 
den nur der Meiftbetheiligte nicht erführe. Gehäjjig, wie Budde 
meint, würde darum einem ifraelitifchen LXefer jene „Wette“ mol 
faum erfeienen fein; denn Hinter Jahve ftehen alle Frommen und 
hinter Satan die Gottlofen, deren Todfeindſchaft gegen die erfteren 
im Buche Hiob klar genug durchſchimmert (17, 8. 22, 19f.). 
Auf feinen Fall erregte die Entfheidung nur ein Verftandesintereffe. 
Aber gerade deshalb würde jener Fehler des Dichter8 um fo fchwerer 
wiegen, wenn er uns über diefen (wenn fein anderer denkbar ift) 
hohen Zwed des Leidens Hiobs aufffärte, den Dulder ſelbſt aber 
nur auf die unergründliche Weisheit Gotted verwmieſe. Es muß 
deshalb im Buche felbit eine höhere Löſung gegeben fein, die die 
Mittheilung jenes himmlifchen Vorganges an Hiob, der doch hinter 
dem Lefer nicht zurüditehen darf, unnöthig machte. 

Wie jene Löſung zu finden fei, fann feinem Zweifel unterliegen. 
Der göttliche Rathſchluß, der Hiob fein Leiden fandte, muß fi 
in der ganzen Gefchichte Hiobs, wie fie ſich an fein Leiden anfnüpft, 
entfalten. Alle Thatfachen derfelben treten fo aus ihrem caufalen 
Verhältnis in ein teleologifches über. Es Handelt fi alfo nur 
darum, die Grundthatfahen richtig zu beftimmen. Der Verfaſſer 


Beiträge zur Kritik des Buches Hiob. 161 


ählt als folhe auf: Hiobs urſprüngliche Unfchuld, feine Verſün⸗ 
digung im Leiben und feine Reue, und gewinnt fo folgende Formel: 
Gott fandte Hiob, dem gerechten, (defien Sünde nur im tiefften 
Grunde des Herzens fchlummerte) das Leiden, um daburd die 
Sünde an die Oberfläche zu rufen und als Thatjünde zu Hiobs 
Bewußtſein zu bringen, damit er bie erfannte Sünde bereue und 
von fi thue und fo geläutert und gefördert aus dem Kampfe her⸗ 
vorgehe. — Gewiß muß die Verfündigung Hiobs in dem gött- 
lichen Rathſchluß ihren Platz finden. Der Dichter kann fie un⸗ 
möglich nur deshalb fo ſtark hervorheben, um uns zu zeigen, wie 
ihwer e8 aud dem Beiten und Frommſten falle, im unverſchul⸗ 
deten Beiden Gott treu zu fein, wenn er daraus nicht die Folgerung 
zog, daß das Leiden auch für den Beten nothwendig fei und den 
Zweck habe, ihn von den ihm anklebenden Schwächen zu befreien. 
Rothiwendigerweife mußte er das Wahrheitsmoment, das in den 
Borten des Eliphas 5, 17 ff. lag, irgendwie berüdfichtigen. Nichts⸗ 
deftoweniger leidet die vom Verfaſſer gebotene Auffaffung, fo fehr 
fie auch anderen gegenüber berechtigt ift, an dem Mangel, daß fie 
der Bewährung Hiobs nicht gereht wird. Diefe findet er nur 
darin, daß der Satan nah dem „strengen Wortlaut“ der Wette 
Unrecht behalte, indem Hiob Gott nicht geradezu mit dürren Worten 
den Abſchied gebe. Iſt das aber neben ber Verfündigung Hiobs 
dad einzige Refultat von Kap. 3—31, jo muß es uns ſehr zweifel- 
haft erfcheinen, ob der Satan wirklich unterlegen ſei. Mit Necht 
würde er jich darüber befchweren, daß Gott reſp. Elihn durch ihr 
unbefugtes infchreiten feinen Sieg vereitelt hätten. So gelingt 
es dem Berfaffer nicht, den Prolog mit dem übrigen Buche in 
Uebereinftimmung zu bringen, und der Vorwurf, daß die „kritiſche 
Tradition“ dazu nicht im Stande fet, fällt auf ihn zurüd !). Er 
tut aber Hiob Unrecht, wenn er in defjen Angriffen gegen Gott 
die Grundrichtung feiner Neben fieht, die er, wenn auch mit „er 


1) Schließlich neigt er fich deshalb zu ber Anficht, dag der Dichter Kap. 1, 2 
bereits in der Volksſage vorgefunden habe. Diefe Meinung ift Übrigens 
wicht nen; vol. Wellhauſen in den „Jahrbüchern für deutiche Theo⸗ 
logie“ 1871, der diefelbe freilich viel tiefer begründet. 

Theol. Stab. Jahrg. 1878. 11 





16% Budde 


heblichen Schwankungen“, bis zu Ende hin einhalte. Wehen ber 
Berfündigung Hiebs wird vom Dichter auf's ſtärkſte ſeine Be⸗ 
währung hervorgehohen. Aeußerungen wie Kap. 14, 13ff. 16, 8f. 
17, 9. 19, 25ff. 27, 8ff. ſollen auf keinen Fall nur „Schwau⸗ 
tungen“ in feiner Stimmung bezeichnen ober feinen vermeſſenen 
Reden den Hintergrund geben, daB er bei all feiner Verſchuldung 
nicht definitiv ven Gott abgefallen frei. Vielmehr erhebt fich der 
Dulder troß der unausgefegten Angriffe der Freunde, die ige 
immer wieder in den Unglauben Binabzuftürzen drohen, ſtets zu 
größerer Glaubensgewißheit. Er mat ſich nicht nur von dem 
Wahn eines ihn verfolgenden Gottes immer mehr los, ſondern 
mitten unter dem Drud des Leidens, das ihn vor den Augen der 
Welt zum Gottlofen ſtempelt, erftarkt feine Frömpiigfeit, wie er 
ſelbft Kap. 17, 9 fagt, mehr als zunor ), Die Zuverfiht, bag, 
wie er von Gott nicht Kaffe, auch diefer zuletzt ſich zu ihm be⸗ 
kennen müſſe, bridt Kap. 27 fiegreich duch; er gewinnt von da 
aus ſogar eine tiefere Erkenntnis der Wege Gottes. Es Handelt 
ſich olfo Hier Schon um eine wahre Förderung Hiobs im Kampfe 
mit dem Ynglauben, und damit ift exit der Sieg Gottes. über 
Satan entfchieden. Deshalb läßt ſich die Idee des Buches nicht 
auf eine fo einfache formel, wie der Verfaſſer meint, bringen. 
Wäre die Verfündigung Hiohs allein der nädjte Zweck der gätt- 

Uchen Leidensſchickung, fo wäre rein unverjtändlid), weshalb der 

Dishter im Verlauf von Hiobs Neben diefelbe immer mehr zurüch 
tzeten Tieße und feinen Sieg über dieſelbe in immer jtärferen 
Farben malte. Man wendet freilich ein, daß Hiob am Schluſſe 
feiner Reden immer noch nicht zuc Erkenntnis feiner Berfchuldung 
gekommen fei und uoh Map. 31, 35—37 indirect wenigſtens die 
Anklage gegen Bott vorliege. Dagegen muß man ſich bier gerade 
a den AZufammenhang erinnern, in dem Hiobs Verfündigung mit 
feinem unverfchuldeten Yrrtum ftcht. Das Dogma, daß jedes 
Leiden Strafe für begangene Sünden fei, fteht bis dahin als un 
umftößliche Wahrheit da, und eben erft (Rap. 28) hat Hiob, und 
zwar offenbar im Sinne des Dichters, die innere Nothwendigkeit 


1) Hoͤchſt intereffant iſt an dieſer Stelle das YHN. 


Beiträge zur Kritik des Buches Hiob. 168 


iner Bergeftung tiefer begründet. Wenn er von da aus fein 
furchtbares Leiden mit feinem fleckenloſen Gewiſſen zufammenpält, 
ſo muß er ſein Leiden als ein mit Unrecht über ihn verhängtes 
betrachten. Den Grund dafür ſucht er nun aber nicht wie früßer 
im einer wiſſentlichen Ungerechtigkeit Gottes; vielmehr Hat Die 
ganze Darlegung feines vergangenen Lebens (Rap. 31) den Zwech, 
Gott, der feine Unfchuld noch gar nicht zu kennen ſcheint, vom 
derfelben zu überzengen (B. 6. 37). Ein anderer Ausweg blich 
ihm nid übrig und er ift Bier in der That der Berſuchung ſoweit 
Herr geworden, als das möglich war. Das wird denn auch vor 
Gott jefhft dadurch anerfannt, daß er ſich zu dem bewährten Dulber 
berabläßt- und ihm bedeutet, daß fein. Leiden nichts mit der Strafe 
m thun Habe, und der- Dichter laßt Hiob fogar feine Reue damit 
motiviren, daß ihm ein Einblick in das göttliche Weſen und Walten 
gegeben jet, mie er ihn früher nie gehabt. Die Yörberung Hiobs 
iſt alſo großentheils ſchon ver ver Erfcheinung Gottes erreicht. 
Freilich ift fie da noch nicht vollendet. Denn Hieb ift Rap. 31 
noch nicht zue Erkenntnis und Reue über feine wirkliche Verſchul⸗ 
dung gekommen und das [üßt fich nicht durch feinen unverfchuldeten 
Irrtum rechtfertigen. Aber man hat deshalb fein Recht, die That⸗ 
jadhe, daß er im Kampfe mit dem Unglauben zu höheren Glauben 
fortichreitet, zu ignoriren. Wir glauben fomit, dag bie Einwände 
gegen die Elihureden, welche fich auf das von. Hiob felbſtündig 
erreichte Refultat ftügen, mit vollem Rechte beitehen bleiben, Der 
Berjaffer ſchneidet dieſelben freilich durch feine oben: berührte Er⸗ 
Mrımg von Rap. 27 — 831 ab und meint umgekehrt, daß bie 
Reden Ekihu’6 gerade deshalb echt fein müßten, weil fie allein die 
ung, die fih aus den Grundthatſachen des Buches mit: Noth⸗ 
wendigfeit ergebe, wirklich enthieften. Nach jener: Anſicht muß 
Lap. 42, 6 die Röfung bereits gefunden fein (S. 51). Dean Hieb: 
Önne weder zur Reue kommen, noch könne diefelbe ihm vom Dichter 
Kr von Gott in beffen Sinne zugemuthet werben, wenn: er nicht 
derher in Beantwortung. feiner Fragen Über: das Ziel feines Leidens: 
migelärt fei. Da num die Reden Gottes jene Aufllärung nicht: 
enthielten, müffe fie in- den Reden Elihu's gefucht werden: Damit 
wird alfo die Thatſache der Verfündigung. Hiobo, die der Virfaſſer 
' 11* 


164 Budde 


früher fo ſtark betont Hat, wiederum geftrihden. Kann Hiob erft, 
nachdem er durch Elihu ben ganzen Inhalt des göttlihen Rath⸗ 
Schluffes erfahren Hat, Reue zugemuthet werden, fo kann vorher 
überhaupt von einer Verfündigung nicht die Rede fein. Oder be⸗ 
zieht fi) der Tadel Jahve's etwa nur darauf, daß Hiob nicht 
fofort nach Elihu's Reden fein früheres (und damals berechtigtes) 
Hadern mit Gott widerruft?. Nein, die Verfündigung Hiobs be⸗ 
fteht darin, daß er die Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes angetaftet 
bat. Freilich wird feine Schuld daburch gemindert, daß er jene 
Wahrheit, die an ihm zulegt offenbar wurde, nod nicht kannte, 
und deshalb kommt Gott ihm auf halbem Wege entgegen und gibt 
ihm zu verftehen, daß fein Leiden feine Strafe fein follte; aber 
nichtsdeftoweniger bleibt Hiob8 Schuld beftehen. Im lUnglauben 
hatte er Gott Ungerechtigkeit, ja fogar Teindfeligfeit vorgeworfen, 
und dem gegenüber muß Gott unbedingten Glauben und rüdhalt« 
Iofe Ergebung in feine Fügung verlangen. Bevor Hiob dem nicht 
nachkam, konnte und durfte eine wirflihe Aufflärung über den 
Zwed feines Leidens nicht erfolgen. Aber auch abgefehen davon 
würde der Dichter fih in einen argen Widerſpruch verwideln, 
wenn er von einem Elihu das Problem löfen ließe. Weiß ein 
Hiob feine Antwort auf die Trage, weshalb der Gerechte leide, fo 
darf überhaupt kein Menſch eine folche wiffen, fie muß durd) Gott 
geoffenbart werden. 

Dieſelbe kann aljo erit im Epilog gegeben fein. Nachdem die 
Gemeinschaft Hiobs mit Gott in ungetrübter Reinheit wiederher⸗ 
geftellt oder vielmehr noch inniger geknüpft ift, kehrt fein früheres 
Glück in doppeltem Maße wieder, und der Dichter überläßt e8 ihm 
wie dem Lefer, das legte Facit zu ziehen. Es fragt ſich, ob er 
damit an die Yafjungsfraft beider übergroße Anforderungen geftelft 
babe. Für Hiob war wol kaum ein Zweifel möglich. Schon 
vor der Erſcheinung Jahve's hatte er die fürdernde Kraft des 
Leidens an ſich erfahren (was er einmal fogar felbft ausſprach 
Kap. 17, 9). Nachdem ihm dann auf feinen Ruf ein Einblid 
in das innerfte Weſen des fi) zu ihm herablaffenden Gottes zu 
Theil geworden, er dadurch zugleich zur Erkenntnis und Reue über 
feine Berfchuldung gelommen und von Gott in Gnaden angenommen 





Beiträge zur Kritik des Buches Hiob. 166 


und fein früheres Glück verdoppelt wiederhergeftellt war, konnte er 
über die Abficht Gottes nicht im unklaren fein. Etwas anders 
lag die Sache für den Lefer in fo fern, als ihm anfangs im Prolog 
eine Bewährung des Dulders in Ausficht geftellt war, während ber 
Dichter daneben im folgenden Buche die Verfündigung Hiobs einführte. 
Unjerer Meinung nad gehörte nun nicht allzuviel Wig dazu ein« 
zujehen, daß, wenn Hiob fi auch verfündigte, der Satan doch 
völlig unterlegen fein mußte und anderjeit8 auch einem Hiob bei 
aller Bolltommenheit noch etwas fehlte, was er erft in feinem 
Leiden erwerben follte, der göttliche Rathſchluß alfo über die Be⸗ 
ſchämung des Satans hinaus die Förderung Hiobs bezwedte. Nach 
des Berfafjers eigener Behauptung bedarf es ja nur „eines une 
befangenen Blickes auf die elementarften Thatſachen des Buches“, 
um die Löfung zu finden (S. 43). Dennoch ftellt er die For⸗ 
derung auf, daß lestere im Buche felbjt Iehrhaft ausgeſprochen 
fein müſſe, und ftügt fi dabei mit Riehm (Zeitfehrift für Lu- 
theriiche Theologie 1866) namentlih darauf, daß ja Eliphas 
Rap. 5, 17ff. die erziehende Wirkung des Leidens behaupte und 
damit Fiasko made. Es entziehe fih nun Leicht auch dem fcharfer 
Dlide, daß das dort nur in der falfchen Fundamentirung den 
Lehre feinen Grund habe, und wenn diefelbe nicht ausdrücklich auf 
rühtigem Fundament erneuert fei, fo entftehe der Schein, als ob 
der Dichter felbft diefe Töjung zurückweiſe. Wir behaupten ums 
gekehrt, dag diefer Schein geradezu vom Dichter beabfichtigt jet. 
Richt nur Kap. 5, 17ff., fondern durch den ganzen Dialog hin 
fügt er die Freunde immer wieder an die Wahrheit ftreifen; immer 
wieder kommen diefe auf den Gedanken zurüd, daß Gott Hiob 
durch Leiden läutern wolle, um ihn, wenn er ſich demüthig unter- 
werfe, zu um fo größerer Herrlichkeit zu führen. In der That 
wird Hiob auch geläutert ?), er muß ſich unterwerfen und der Aus⸗ 
gang feiner Geſchichte fpiegelt fogar in einzelnen Zügen das Zur 


V Es bedarf übrigens wohl keiner längeren Auseinanberfeßung barüber, 
daß der Zweck des Leidens Hiobs nicht ſowol Läuterung, fondern 
Förderung ifl. Diejen Gedanken konnte der Dichter nur dadurch aus⸗ 
drüden, daß er Hiob anfangs in Unglauben fallen ließ. 








166 Budde 


kunftsbild wieder, das ſie ihm vorhalten (Rap. 8, 7. 22, 30). Aber 
gerade deshalb muß es dem Leſer überlaffen fein, den wahren 
Grund des Leidens Hiobs zu finden. Die große Kunft, mit der 
der Dichter die Verwidlung des Dialoges von Rap. 3. 4 an ans 
gefnüpft bat, mo der Lejer in der That für den Augenblid nicht 
weiß, ob er fih zu Eliphas oder zu Hiob ftellen foll, würde voll 
fommen zerjtört, wenn ihm nachher durch lehrhaft correcte Darlegung 
der Wahrheit die Fehler Hiobs fowol wie die der Freunde auf» 
gededt würden. Wenn Budde dagegen meint, daß der Dichter auf 
diefe Weife „fein Gut dem Misverftändnis Unzähliger preisgegeben 
bätte“, fo verräth fich darin eine Vorftellung von dem erften Xefer- 
treife unferes Buches, die unbedingt falfch iſt. Auf jeden Yall if 
das Buch Hiob nicht für die Mafje des Volkes, fondern für einen 
Heinen Kreis gefchrieben, von deſſen Bildungsgrad und Geihmad 
wir uns feine geringe Vorftellung machen dürfen, und als Kunſt⸗ 
wert theilt es das Schickſal fo mancher anderen, daß feine dee zu 
allen Zeiten vielfach unrichtig aufgefaßt ift. Anderſeits fragt es 
fich aber, ob es denkbar fei, daß der Dichter durch Hinzufügung 
der Elihureden dem „Mieverftändnis Unzähliger“ habe vorbeugen 
wollen. Denn entbielten diefe Reden wirklich die Löſung des 
Problems, wie Budde fie beftimmt, fo Liegt diefelbe dort doch jeden 
Falls nicht Mar am Tage. Der Berfaffer nimmt das jedoch für 
diesmal als zugeftanden an und verfpricht den Beweis dafür fpäter 
zu liefern. Gelänge nun diefer Nachweis, fo würden wir darin 
nur einen neuen Beweis für die Unechtheit der Elihureden ſehen. 
Denn daß die vom Verfaſſer aufgeftellte Idee des Buches nicht 
die vom Dichter beabfichtigte fein kann, haben mir oben gezeigt. 
Aber jener Nachweis wird wohl kaum gelingen. Ein Läuterungs- 
feiden im Sinne Budde's wird von Elihu nicht gelehrt, fondern 
ein Züchtigungsleiden, das in einer Verſchuldung Hiobs feinen 
Grund hat, und es kann fi nur darum handeln, ob Elihu diefe 
Verſchuldung nur in den trögigen Neben Hiobs oder auch in feinem 
früheren Leben ſucht. Nur im erfteren Falle kann die Unechtheit 
noch fraglih jein. ebenfalls Härte Elihu uns dann aber nicht 
über die legte Urſache von Hiobs Leiden auf. 

In einer zweiten Abhandlung unterfucht ber Verfaſſer ben 





Beiträge zur Kritik des Buches Hiob. it 


fpradligen Sharakter der Elihureden auf felne Verwandtſchaft mit 
km des Übrigen Buches. Während bie Gegner ber Echthelt in 
den leuten Jahrzehnten immer wieder durch neues Material die 
Aweihungen beider in's Licht ftellten, begnügten die Verteidiger 
ſich meiftens damit auf Stideld Sammlungen hinzuweiſen, defjen 
Bewesführung fie nur durch einzelne gelegentliche Bemerkungen zu 
serftärfen fuchten. @ine Arbeit A. W. Krahmers blieb mit echt 
anberücfihtigt. Eine erneute Unterfuchung diefes Punktes ift jeden 
Falls nicht nur für das Verftänbnis der Elihureben, ſondern auch 
für die Entſcheidung für ober wider die Echtheit von einer Ber 
deutung, die man häufig unterfhägt. Die vorliegend Abhandlung, 
in ber der Verfaſſer alles bisher beigebrachte Material zuſammen⸗ 
geſtellt und auf Grund eier volfftändigen Concorbanz des Buches 
Hiob vervolfftändigt Bat, wird gewiß zur Klärung der Sachlage 
dienen. Mit Mecht geht es dabei von dem Grundſatze aus, daß 
in allen Punkten nicht nur die Elihureden mit dem übrigen Buche, 
fondern auch die einzelnen Theile des Ieteren unter einander vers 
gihen werden müſſen, weil nur fo das Maß der nöthigen 
ebereinftimmung wie der möglichen Abweichung beftimmt werden 
lann. 

Die nächfte Frage iſt die, wie ſich der Wortſchatz Elihu's feinem 
Umfange nach zu dem des übrigen Buches verhalte. Indem ber 
Verfafſer grüppenweife die Reden Elihu's, Jahve's, Hiobs (in 3 
Gruppen) und der freunde (diefe ſowol einzeln wie in ihrer Ges 
ſamtheit) zufammenfaßt, ftellt er die Zahl der jedem biefer Abs 
Ihnitte eigentümlichen Wörter, fodann bie der ihm mit einem anderen 
Theile des Buches gemeinfamen und endlih durch Summirung 
beider den Wortfchat jedes einzelnen Abjchnittes feit: Durch “Die 
vifion der Verszahlen in jene erhält es die WBergleichungszahlen. 
Das Reſultat ift, daß Elihu die wenigſten ihm eigentümlichen 
Wörter, zugleich aber auch die wenigfter mit dem übrigen Buche 
gemänfattten hat. Doc, entfernt er fich im beiden nicht alfzumeit 
vem Durchſchnitt und erklärt fich der größere oder geringere Worte 
ſchatz der einzelnen Abſchnitte hinreichend aus ihrer Verſchiedenheit 
nach äußerer Form und Inhalt. Dies Ergebnis hätte nun frei⸗ 
lich auch auf kürzerem Wege gewonnen werden können und wird Die 








168 Budde 


große Mühe des Verfaſſers hierin nicht entſprechend belohnt. Wichtiger 
ift fchon, daß die Orthographie der Elihureden im wefentlichen mit 
der des übrigen Buches übereinftimmt. Treilih bat auch dies 
Refultat nur negativen Werth, da jelbjt die auffallendfte Ueber⸗ 
einftimmung auf Rechnung eines Abfchreibers gefegt werden könnte. — 
Die Vergleihung der grammatifhen Yormenbildung bietet eine 
geringe Ausbeute. Auffallend bleibt aber immerhin, daß die im 
übrigen Buche fo häufigen dichterifchen Suffirformen (vgl. außer 
Rap. 24, 23. 25, 3. 27, 23. 39, 2 das ınb Imal und wohy 
Smal, außerdem no = von mir Amal u. f. w.) bei Efihu 
nicht vorlommen, wenn auch dieje Präpofitionen mit Suffigen über- 
haupt bei ihm felten find. Webrigens iſt es und nicht verftändfid, 
weshalb jenes 30 eigentlih Paufalform fein fol. Es findet ſich 
überhaupt nur 7 mal, darunter Amal nicht in pausa. Im anderen 
Falle fprechen die Punktatoren fogar 139. — Bei der Vergleichung 
der ſyntaktiſchen und lexikaliſchen Eigentümlichkeiten macht der Ver⸗ 
faffer vor allem den Fehler, daß er zuviel jelbftverjtändliche 
Dinge herbeizieht. Es wird das auch dadurch nicht entfchuldigt, 
daß man den Elihureden oft genug die gewöhnlichften Redeweiſen 
al8 Eigentümlichkeiten angerechnet bat. Denn über feinem Streben 
nad möglichſter Vollftändigfeit wird der Verfaſſer den wirklichen 
Abweichungen der Elihureden nicht gerecht; auch laufen viele Un⸗ 
richtigfeiten dabei unter. Wenn z. B. Hitzig jenes nınboy 37, 5 
und m»on 37, 12 als bezeichnend für Elihu's Stil anmerft, 
jo ift dem gegenüber mit al’ den Beiſpielen, die der Verfaſſer 
für den adverbialen Gebraudh des Accuſativs im Buche Hiob 
anführt, nichts anzufangen. Soldye Accufative wie 37, 5. 12, 
die man wol Uccufative des Reſultates nennen Könnte, finden 
fih nicht darunter; mar20 41, 6 ift obendrein noch st. constr. — 
Dei Elihu findet ſich befanntlih an einzelnen Stellen ein auf- 
fallender Gebraud der Präpofitionen, der entweder aus befonders 
prägnanter Conftruction oder aus ungewöhnlicher Bedeutung der 
Präpofition zu erklären iſt. Der meitläufige Beweis, daß im 
übrigen Buche oft diefelben Verba mit verfchiedenen Präpofitionen 
verbunden werden, war aber überflüßig. Daß von einem Dichter 
ya mit 3, dx, 5, ıy und wT mit bu, 5, mn verbunden wird, ift 





Beiträge zur Kritik des Buches Hiob. 169 


keineswegs „auffallend“. Denn bei al’ diefen Verbindungen leuchtet 
de zu Grunde Tiegende Vorftellung fofort ein; vergleiche auch das 
man mit 3 30, 20, mit by 30, 1 und mit y 38, 18 (womit 
32, 12 nichts gemein hat). Ein yon mit ny 22, 21 ift leicht 
verftändfich; höchſt prägnant dagegen jenes "n Dy ınya2 = Ger 
fallen haben (an der Gemeinfchaft) mit Gott 34, 9. Noch ftärler 
ft Kap. 34, 36: yım wann nisein by, das der Verfaffer durch 
ml) ui erffärt. Die zu Grunde Itegende Bedeutung von > 
kennt freilich auch der echte Hiob (24, 13); aber eine foldhe Härte 
ft da unerhört. So weiß der Verfaffer auch für jenes by na 
36, 21 und dy yır 37, 16 aus dem übrigen Buche keine be- 
friedigenden Analogien beizubringen. Weshalb ıD 12, 14 (vgl. 
, 8. Sad. 9, 11) prrn 18, 9 und Wan 31, 15 mit by ver⸗ 
bimden werden, ift Har. Aucd bei bar 24, 9 (mo freilich der 
Text unficher ift) und 9 6, 27 iſt das by fofort deutlich. 
Nur by oo 22, 2 könnte in Frage kommen. Aber da ift diefe 
Verbindung im 1. Veröglied durch b 750 vorbereitet und offenbar 
ebfihtlih gewählt um das Zurüdfallen der gerechten Handlung 
auf den Gerechten zu malen. — Auffallend ift ferner jene uam 
nm ab 32, 22 und völlig verfchieden von der 6, 28. 10, 16. 
19, 3 angewandten Conftruction; vgl. Ewald $ 285 b. c. 
Wenn ber Berfaffer aber (mit NRödiger -Gefenius 8 142, 3 c) 
meint, daß von den bei Ewald unter b aufgeführten Beifpielen 
engerer Beiorbnung die mit ad, wor, mann „entjchieden“ zu denen 
der Unterordnung (unter c) gerechnet werden müßten, jo möchte ihm 
der Beweis dafür doch fchwer fallen. Ewald zählt mit vollem 
Recht jene Beifpiele zur erften Claſſe, denn der Unterfchied ift der, 
daß im 2. Fall das 1. Verbum den Nachdruck bat und ſich das 
2. wie einen Objectfag unterordnet, während im 1. Fall das 2. 
Berbum zum 1. im Verhältnis des Zuftandsfages fteht, aber 
nichtöbeftoweniger als Hauptverbum gilt. Ob ein Fall zur 1. 
Claſſe gehöre, Tann man mit Sicherheit daran erkennen, ob fid 
das 1. Verbum durch einen adverbialen Ausdrud wiedergeben Täßt. 
Des iſt nun an allen jenen Stellen der Fall (und es ift deshalb 
vollfommen gleichgültig, ob wh> fi nur 19, 3 in diefer Verbin⸗ 
dung findet), während man Kap. 32, 22 fo auf den entgegen« 





Im | Budde 


gefegten Sinn käme. Die hier befolgte Conftruction bat nur 
an ef. 42, 21 eine fihere Parallele und ijt urfprünglich nicht 
hebräiſch 1). — Mit Recht nrgirt Ewald 34, 8 das nobbı, das 
nicht dem AÄand esordinirt iſt, ſondern das mim fortfegt. Dafür 
bieten Stellen wit 31, 33 überhaupt feine Analogie; eben auf 
jenes 1 kommt alle® an; vgl. Ewald $ 351 c. — Eigentümlich 
ift auch der Gebrauch von Am 36, 16, auf den Ewald aufmerk⸗ 
ſam madt. Sonft ordnet diefe Partikel ſcharf hervorhebend ſich 
immer ein einzelned Wort oder einen ganzen Sat unter. Hier 
fheint aber nm in der That nur ein ftärleres „und“ zu fein. 
Der Berfaffer Hätte alfo nur gegen die Ewald'ſche Deutung jenes 
Verſes polemifiren können. Ob fih im übrigen Bude 1 und nn 
finder, ift gleichgültig. — Genau fo verhält es fi mit mnyı 
85, 15. 37, 21. Ewald notirt die beiden Stellen deshalb, weil 
hier das an die Spike geftellte nny durch einen Sat näher be- 
ftimmt wird. — Dillmann madt zu 36, 33 auf die Hänfigkelt 
don Bildungen mie 298, madpo. WAbD, D5ED, yoxD in ben 
Reden Elihu's aufmerkſam. Es ift ihm dabei natürlich nicht ımm 
Bildungen mit v überhaupt zu thun und es ift werthlos zu wiſſen, 
daß der echte Hiob 42 und Elihu 19 Wörter der Bildung ber 
hat, vielmehr kommt es darauf an, ob der echte Hiob diefe in ber 
älteren Sprache felteneren Abftractbildungen, deren » eben kein 
„echtes ) instrumenti* (jo Budde, S. 144) ift, in demfelben 
Maße kennt. — Gerade ſolche Puntte wie die bier bezeichneten 
find von größter Bedeutung. Für den Derfaffer verwandeln fich 
diefe Abweichungen freilich meift in überrafchende Uebereinftimmungen. 
Doch macht er fih den Beweis dafür oft recht feiht. So ift 
3. B. auch eine DVergleihung des Gebrauches der längeren Präpos 
fitionsformen für die Echtheit nicht eben gimftig. Freilich Hat 
Elihu mit dem übrigen Buch die auch fonft häufigen wy, vo, 
fowie das feltenere ın3 gemein, dagegen fehlt bei ihm das im echten 
Hiob und fonjt häufige 109 ebenfo wie die felteneren bzw. mir 
im Hiob vorkommenden ıy, don und ınb. Zu bemerken ift auch, 


1) Man beachte doc) nur den Tempuswechſel Jeſ. 42, 21 und Hiob 82, 22, 
der Klag. 4, 14 nicht durchſichtig iſt. 


Beiträge zur Kritik des Buches Hiob. 11 


daß der echte Hiob neben dem einfachen 53 6 mal bzo (ohne) 
bet, wogegen Elihu nur lennt; ba 35, 16. 36, 12 und 
Sb 38, 41. 41, 25 find nicht eben eine „faum merkliche Nuance* 
jenes ba, fondern grundverfchieden. — In anderen Füllen ifi 
wirtfige, aber gleichgliltige Uebereinſtimmung falfch begründet. So 
Bätte der Berfaſſer fih für das Nachwirfen einer Bräpofition in 
rw 34, 10 nicht auf 12, 3 u. ſ. w. berufen jollen, we die 
Auslafjung der Präpofition nach > felbftverftändfich iſt; vgl. viel- 
mehr 15, 3. — Unnöthig war das Bemühek, für 33, 19 if 
5, 4 u. a. St. Belege für den Gebrauch eines „Subftantivs zur 
Ausiage in der Weile eined Adjectivs oder Adverbs“ zu fuchen, 
da oe belanntlich nichts als eine Elativform iſt. — In langer 
alpbabetifcher Reihe führt der Verfaſſer fodann die Berührungen 
m Wortfhat und Wortbedeutung auf. Im Vordergrund ftehett 
dabei natürlich folche Auedrucksweiſen, die fich außer dem echten 
Bude Hisb mehr oder weniger nur bei Elihu finden. Freilich 
wäflen wir auch hier in manchen Punkten vom Verfaſſer abweichen. 
Auf alle Fälle irrt er, werm er 30, 18 dasfelbe wo wie 33, 6 
finden will. Seine Einwände gegen die gewöhnliche Erklärung 
jener Stelle find haltlos. Er vergißt, Daß das Oberfleid überhaupt 
micht genäht war, wenigſtens von „guter Aupaſſung“ und „kunſt⸗ 
sollen Schnitt“ bei ihm nicht die Rede fein und es deshalb freis 
lich auch nicht „enger werden“ konnte. Anderſeits verbindet fi 
mit m nothwendig der Begriff des engen Anſchließens, was zu 
nm nicht paßt. — Die Unterfcheidung eines tranfitiven und 
intranfttiven Syn ift völlig illuſoriſch und die Bemerkung, daß 
das letztere fih nur 21, 105 und 35, 3 finde, obendrein uns 
richtig; dgl. ei. 47, 12. 48, 17. — Unbegründet ift ebenfo die 
Bemerkung, dag nur Hiob 24, 17 und 34, 25 die Bedeu⸗ 
bmg „vertraut fern mit etwas“ habe. — Aus demfelben Grunde 
legen wir wenig Werth darauf, daB Dun nur im Bude Hiob 
ohne Obejct fteht; vgf. übrigens &;. 21, 18. Bi. 89, 39. — 
Falſch ift die Behanptung, daß Py fi nur im echten Hiob und 
bei Elihn mit „idealem“ Objecte finde. Sagt Hiob wewm 'y, fo 
ift dies Object doch um fein Haar „idealer“ als das landfäufige 
zordn; vgl. außerdem 2 Sam. 23, 5. Anders ift es fchon, wenn 


172 Budde 


Elihu dedp y oder gar ’y allein ſagt, was ſich übrigens fonft 
häufig genug findet, 3. B. Pf. 5, 4. 40, 6. 50, 21. — Der 
Raum verbietet uns, auf andere Unrichtigfeiten der Art einzugeben. 
Schwer verjtändlich ift aber, wie der Verfaſſer 31, 30 mit 33, 2 
und 15, 21 mit 33, 8 zufammenftellen kann. — Freilich ift 
auch nach Abzug der gleichgültigen und nur fcheinbaren Berührungen 
die Zahl der wirklichen nicht. unbebeutend. So 3.8. der Gebrauch 
von nu 23, 7. 35, 12; m 4, 17. 32, 2. 35, 2; 5 13, 7. 8. 
36, 2. 12, 23. 37, 18; aud) der in der fpäteren Literatur freilich 
nicht feltene Gebraud) von dy 9, 26. 37, 18 gehört hieher. 
Intereſſant tit 3. B., dag aud Elihu wie der echte Hiob wieder» 
holt von der maws Gottes redet. Auch 4, 19. 10, 9 und 33, 6 
berühren fi auffallend. Freilich ſcheint Elihu die Schöpfung des 
Menſchen aus Thon mehr dogmatiſch zu fallen. Sodann findet 
fih bei Elihu eine ganze Reihe von Wörtern, die entweder über- 
haupt oder doc in diejer befonderen Bedeutung nur noch im echten 
Hiob vorkommen. Aber eine ſolche Uebereinftimmung war noth- 
wendig, großentheils beruht fie geradezu auf Anfpielungen und 
füllt deshalb der vorliegenden Abweichung gegenüber wenig im’s 
Gewiht. Zwar hat man auch bier vielfach an manchen Erfchei- 
nungen unnöthigen Anftoß genommen. So z. B. an dem nıym 
32, 3. 5, das vom Berfaffer gut erflärt wird, Auch die Zahl 
der aramätifchen oder doch aramäifch Elingenden Wörter im Elihu 
entfcheidet wenig, wenn wir auch gewünjcht hätten, baß ber Ver⸗ 
faffer denfelben nicht nur die bei Eliphas, fondern die im ganzen 
übrigen Buche vorkommenden gegenübergeftellt hätte. Dagegen 
bleibt feine Erklärung der wirklich auffallenden Abweichungen un⸗ 
befriedigend. Wenn z. B. Elihu ftatt Ir, das der echte Hiob 
conſtant 6 mal gebraucht, Sırım und gar dbırı hat, fo iſt mit der 
Verweiſung auf yyr 38, 12 neben 6 mal yıaın nichts gewonnen, 
da dort der Grund der Abweihung Har iſt. Ebenſo conftant bat 
der echte Hiob bıy, dagegen Elihu 2 mal Sy, was ſich doch wohl 
nit aus rhythmifchen oder euphonifchen Rücfichten begreifen läßt. 
Höchſt auffallend ift namentlich msn 34, 13. 87, 12 für yon, 
das der echte Hiob gegen 4Omal gebraucht. Wenn der Verfaffer 
daran erinnert, daß überhaupt im Buche Hiob eine ganze Reihe 


Beiträge zur Kritik des Buches Hiob. 178 


von eigentümlichen Yemininformen neben Masculinen vorkommen 
(og. Dillmann zu 3, 4), fo ift mbır neben dn doch wol 
etwas anderes als ısın neben yan und ınn27 5, 8 feineswegs 
= nr. Nur etwa fehs Wörter erkennt der Verfaſſer jchlieglich 
als Elihu eigentümlih an und diefe foll der Dichter abfichtlich 
gewählt Haben, um den Elihu durch diefe „termini technici‘ als 
den Vertreter der richtigen Theorie den Freunden gegenüber zu 
fennzeichnen. Als Stüge dafür dient freilich nur das 3 malige 
um des Eliphas 4, 6. 15,4. 22,4. So ift feiner Anficht nach 
37 Eſihu's überlegenes Wiſſen, das in einer Reihe von fignificanten 
Ausdräden fcharf gekennzeichnet fe. So die Offenbarung Gottes 
inne mb1; die Seele (?), um deren (?) Heil es fich handle, in 
0; das normale gottgewollte Ziel in ys (woflir das echte 
Bud om hat) u. ſ. w. Diefe Erklärung kann natürlich nicht 
befriedigen. Ebenſo unbegreiflich bleibt die ftiliftiiche Unvollkommen⸗ 
heit der Elihureden. Wie unvortheilhaft namentlich die ungefchickte 
Einführung Kap. 32 bis 33, 7 gegen das Übrige Buch abfticht, 
fühlt der Verfaſſer ſelbſt. Sie ift namentlid) dann unerflärfich, 
wenn man in den Reden Elihu's den Mittelpunkt des ganzen Buches 
ſucht. Jedenfalls brauchte fih der Dichter dann bier nicht „in 
eine fremde Situation hineinzuverfegen“, und die Bemerkung, daß 
der Drientale überhaupt „derartige perjünliche Verhältniſſe mit 
großer Breite auseinanderzufegen pflege“, hätten wir gern aus 
dem Alten Teftamente wenigftens belegt gefehen. Schließlich bleibt 
dem Verfaſſer denn auch nur die fchlimme Auskunft, dag der 
Dichter auf irgend eine Art verhindert geweſen fei, an dies Stüd 
die Iette Teile zu legen. Wir tbeilen durchaus die Meinung, daß 
der ſprachliche Charakter der Elihureden für fi allein ihre Un- 
ehtheit nicht beweiſen könne; aber baß berjelbe immerhin ein 
weſentliches Argument für diefe bleiben werde, davon hat uns 
gerade vorliegende Arbeit auf's neue überzeugt. 


Halle a/S. Rudolf Imend. 


Druck von Friedr. Audr. Perthes in Gotha. 





— Neuigkeiten — 
aus dem 
Verlage von Friedr. Andr. Perthes in Gotha 
ſ. angehängten Katalog. 
Inhalt der Theologiſchen Studien und Kritiken. 
Hafrgang 1877. Viertes Heft. 

Abhandlungen. 
Hering, Luthers erſte Vorleſungen als Lehr» und Lebenszeugnis. 
Schmidt, lieber Sal. 2, 14-21. 

Gedanken und Bemerkungen. 
1. Baur, Chriſtenum und Schule. 


Recenfionen. 
Baubiffin, Studieq zur ſemitiſchen Religionsgeihichte; rec. von R üf.dy. 
Zihimmer, Henfe's nachgelaſſene Borlefungen; rec. von Jacohi. 


u Inhalt der Zeitschrift für Kirchengeschichte. 


Jahrgang 1877. 2, Heft. 


Untersuchungen und Essays. 

K. F. Nösgen, Der kirchliche Standpunkt Hegesippes. 

P. Mehlhorn, Die Lehre von der menschlichen Freiheit nach 

Origenes’ repl dpyüv. 

& W. Gass, Zur Frage vom Ursprung des Mönchtums. 

4, G. Hertzberg, Einige Bemerkungen über die Erhaltung der grie- 
chischen Nationalität durch dje griechische Kirche. 

Analekten. 

1. Th. Zahn, Der griechische Irenäus und der ganze Hegesippus im 
16. Jahrhundert. 

2: A. Harnack, Zu Eusebius H. e. IV, 15, 37. 

38: O. Waltz, Vorläufige Mitteilung über zwei wertvolle Handschriften 
der Stadtbibliothek zu Riga. 

4, OÖ. Waltz, Epiptalae Reformatorum I. 

5. Chr. Meyer, Aus dem Briefwechsel Melanchthons und des Mark- 
grafen Johann von Brandenburg. 

aa 
Im- Berlage von Wiegandt & Grieben in Berlin iR foeben erfehienen 

und durch jede Buchhandlung zu beziehen: 

Sicher, P., Veſchäſtigung mit der Offenbarung St. Johannis. 75 4 

Kreibig, P., Bie Verſohnungslehre auf Grund des chriſtlichen Lewußtſeins. 
6A 





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2. 





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Berlag von Rudolf Befler in Gotha. 


dabrhüder für deulſche Theologie 


Berausgegeben von 
Dr. DSilmann und Dr. Dorner in Berlin, Dr. Eprenfendhter und 
Dr. Wagenmann in Göttingen, Dr. Landerer und Dr. Weizfäder 
in Tubingen. 
1877. Wo. IXH, Soft 3. 

Ichalt: Wiefeler, Ueber deu Brief des röm. Clemens an die Korinther. — 
Bellhauſen. Die Tompofttion des Herateuche. II, — Wendt, Ueber 
die richtige Merhode der Aumanduyg der Kailigen Schrift in der theo- 
ee Ethik. — Krenkel, Zur Erklärung des Namens Mephifto- 
pheles. 


Auzeige neuer Schriften. 








2 





Verlag von Ferdinand Buke in Stuttgart. 
Soeben erschien und ist durch alle Buchhandlungen zu beziehen: 
Die 
Geschichte der Quellen und Literatur 


des Capnonischen Rochts 
von Gratian bis auf die Gegenwart. 


Von 


Dr. JoM. Friesdn, von Schulte, 
Geheimem Justizraih und Professor der Rechte in Bonn. 
Brei Bände. 
Zweiter Band. 
Die Geschichte der Quellen und Literatur von Papst Gregor IX, 
bia zum Concil von Trient. 
or. 8. Preis 20 Mark. 








Neuer Verlag von Dreitlepf und Hãriel in Leipzig. 
Kirchengeſchichte. 
ehrbuch. 
zunächſt für akademiſche Vorleſungen 


von Dr. Karl Ang. haſe. 
Zehnte verhefierte Anflage. gr. 8.n. A 10. 








Verlag von F. A. Brockhaus in Leipzig. 





Soeben erschien: 


ASCENSIO ISAIAE 


AETHIOPICE ET LATINE 
CUM 
PROLEGOMENIS, ADNOTATIONIBUS CRITICIS ET EXEGETICIS 
ADDITIS VERSIONUM LATINARUM RELIQUIIS 
EDITA AB 
AUGUSTO DILLMANN, 
8. Geh. 3 M. 50 Pf. 

Auf der Vergleichung neuer Handschriften beruhend, welche 
während des abessynischen Feldzuges aus Magdala nach Europa 
gelangten, stellt diese Ausgabe den äthiopischen Text der „Himmel- 
fahrt des Propheten Jesaias“ in endgültiger Weise fest. Der be- 
rühmte Herausgeber hat die Schrift als Festgabe zum 400jährigen 
Jubiläum der Universität Tübingen dargebracht. | 


Neuefter Verlag von Hermann Goftenoble in Jena. 


Entwickelungsgeſchichte 
der 
Vorſtellungen vom Zuftande nad) dem Tode, 


auf Grund vergleidendber NReligionsforfhung 
dargeftellt von 


Dr. Edmund Spiek, 


Licentiat unb Privatbocent an ber tät Jena. 
Ein ftarker Band gr. 8%. — brod. 13 A 


Bei Wilgelm Violet in Leipzig ift erjhienen unb durch alle 
Buchhandlungen zu beziehen: 

Kluge, 8. Chr., Epiflelpredigten zum Borlefen in Land 
irchen, fowie zur inslehen Erbauung aufalle Sonn- 
und Feſttage des chriſtlichen Kirchenjahres. Vierte Auflage. 

Eleg. geh. 6 AM — Eleg. Halbfrzbd. 7 A 
‚, Evangelienpredigten. Zweite Auflage. leg. geh. 
6A — Eleg. Halbfrzbd. 7 A 
‚, Saflenpredigten, Begräbnißpredigten, kurze erbauliche 

DBetrahtungen. Zweite Auflage. leg. geh. 3. A — Eleg. 
Hulbfrzbd. 4 M 25 5. 

Alle drei Bände, deren jeder auch einzeln zu erhalten ifl, 
wurden in den angefebentten Zeitſchriften ſehr günftig 
beurtheilt. Proſpecte gratis. 

— — — 








Zur gefälligen Beachtung! 


Die für die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einfendungen 
find an Brofeffor D. Riehm oder Conſiſtorialrath D. Köftlin in 
Halle yes. zu richten; dagegen jind die übrigen auf dem Titel 
genannten, aber bei dem Redactionsgefchäft nicht betheiligten Herren 
mit Zuſendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re- 
daction bittet ergebenft, alle an fie zu fendenden Briefe und Packete 
zu franfiren. Innerhalb des Poſtbezirks des Deutfchen Reiches, ſowie 
aus Defterreich- Ungarn, werden Manuferipte, falls fie nicht allzu 
umfangreich find, d. h. das Gewicht von 250 Gramm nidt 
überfteigen, am beiten als Doppelbrief verfendet. 


Sriebrih Audreas Perthes. 


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Vorwort 


Abhandlungen. 

1. Kleinert, Amos Comenius. 

2. Kamwerau, Die Trauung . . 

3. Kattenbuſch, Kritifche Studien zur Sumbolif. (ei Krtitel). 
Gedanken und Bemerkungen. 

1. Köflin, Ein Beitrag zur Ejchatologie der Neformatoren . 

2. Kolbe, Auslegung der Stelle Eph. 2, 19—22 . 


Recenjionen. 


1. Budde, Beiträge zur Kritik des Buches Hiob; rec. von Smend . 





125 
135 


153 





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Theologiſche 


Studien und Kritiken. 


Fine Seifert 
dus gefamte Gebiet der Theologie, 


begründet von 
D. ©. Illmana um D. F. W. 6. Umbreit 
und in Verbindung mit 
D. 3. Müller, D. W. Beyſchlag, D. Guf. Baur 
herausgegeben 


D. E. Rich mn D. J. Röflin. 


Hafırgang 1878, zweites Heft. 


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"Gotha. 

Sriedrig Andreas Verthes. 
1878. 


ger BR PRER OUPAUR OBER =) R > ν* OEEIE HUN SIR3 


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Theologifche 


Studien und Kritiken. 


cFine Zeitſchrift 
für 
das gefamte Gebiet Der Theologie, 


Begrändet von 
D. 6. Ullmann um D. J. W. €. Umbreit 
und in Berbindung mit 
D. 3. Müller, D. W. Beyſchlag, D. Guſt. Baur 
herausgegeben 


D. E. Riehm D. 3. Köſtlin. 


Dahrgang 1878, zweites Heft. 


a 
Gotha. 
Triedrih Andreas Perthes. 
1878. 


Abhaudlungen. 


121 


l. 


Aritiſche Studien zur Symbolik 


im Anſchluß an einige neuere Werte!) 


Bon 
Lic. Ferdinand Kaffenbuſch, 


Privatbocenten an ber Uiniverfität Göttingen. 


LI SEO IeE Tr 22790 


Zweiter Artikel. 





2. Gehen wir nunmehr zu den abendländifchen Kirchen iiber, fo 
betreten wir ein Gebiet, welches uns zum voraus befannter umd 
beimifcher ift, als das foeben verluffene. Kine Anbeutung wird 
daher oft genügen, um minbeftens die äußere Geftalt ber einzelnen 
Lehren und vorzuführen. Allerdings die Gründe der einzelnen 
Lehren, ihr Zufammenhang als Ganzes, find noch ziemlich ebenfo 
wenig geläufig, wie bei der griechischen Kirche. 

Zeider ift das eigens der römischen Kirche gewidmete Wert 
von Joh. Deligfch, von dem wir zunächft ausgehen, nicht über 
den erften Theil, welcher das „Orunddogma des Romanismus“, 
feine Lehre von der Kirche, behandelt, Hinausgelommen. Der noch 
in ingenbfihen After ftehende Verfaſſer ift ſchon ein Jahr nad 
Vollendung dieſes Bandes, nachdem er noch die Symbolif feines 
dehrers Dehler druckfertig geftellt hatte, aus biefem Leben abbe⸗ 





1) Bol. Heft I, S. 94 diefes Jahrganges. 


180 Kattenbuſch 


rufen worden. Er ſtarb am 3. Februar 1876 in Rapallo bei 
Genua, wohin er kurz vorher, vergeblich im Süden Geneſung 
hoffend, geeilt war. Möge denn fein Werk, an welches er, wie 
er jelbft im Vorworte berichtet, feine ganze Kraft und Begeiſterung 
gefegt bat, auch in feiner unfertigen Geftalt feinen Namen unter 
uns bewahren. Denn nächſt dem Hafe’fchen „Handbuch der 
proteftantifchen Polemik gegen. die römiſch⸗katholiſche Kirche“, mit 
dem er fich freilich in einer Weiſe meſſen fann, bietet es aller- 
dings die werthvollſte Darftellung des Katholicismus, welche die 
neuere proteftantifche ‘Theologie geleiftet hat. 

Delitzſch hat fein Werk nicht eine Polemik gegen die römische 
Kirche nennen mögen. Denn feine nächſte Tendenz war die, das 
römifche Lehrſyſtem gründlicher, als bisher gefchehen, darzuftelfen. 
Aber die directe (Leider nicht felten zu wenig maßvolle) Polemit 
nimmt doch einen breiten Raum in diefem Werke ein. Freilich 
tritt fie immer erft ein auf Grund einer eingehenden gefdichtlichen 
Erörterung über den Sinn und die Herkunft der römischen Dogmen. 
Doch fehlt dem Verfaffer der eigentlich Hiftorifche Blick. Es ift 
ungerecht, die römische Kirche immer nur mit der proteftantifchen 
zu vergleichen. Auch darf die gefchichtliche Ableitung der Tatholifchen 
Anschauungen nicht jo äußerlich gefchehen, wie es bei Delisfch doch 
mehr oder minder ber Fall if. Das ſchließt nicht aus, daß wir 
das Werk als ein höchſt inftructives, vielfach intereffantes bezeichnen. 
Die Quellen, aus welchen da8 Werk die normative Geftalt der 
römischen Lehre erhebt, find in erfter Linie die officiellen kirchlichen 
Lehrentfcheidungen. In zweiter Linie werden aber aud) ausgiebig 
benugt die orthodoren dogmatiſchen Werfe des Mittelalters (bes 
fonders bes Thomas von Aquino) und der neueren Zeit (befonderg 
Bellarmins, aber auch neuefter Theologen, 3. B. Klees, Conr. 
Martins, Perrones). 

Eine zufammenfafjende Charafteriftit des Romanismus hatte 
ſich Delisfch für den Schluß feines Werkes vorbehalten. So werben 
wir denn nach der Quellenfchau kurzerhand in die Einzelheiten des 
Syitems felbft eingeführt. Und zwar gilt alfo der ganze vor⸗ 
liegende Band ber Lehre von der Kirche. Das erfte Lehrſtück 
handelt vom „Wejen und von den Eigenfchaften der Kirche“. Die 





Kritifche Studien zur Symbol. 181 


Idee der Kirche deckt ſich nach römischer Anfchauung mit der Außern 
Kirche. Das nächjte Merkmal derjelben ift, daß fie einen Nechts- 
oerganismms darftellt. Sie ift ihrem Weſen nah „jo fichtbar und 
greifbar wie das Königreich Frankreich oder die Republik Venedig“. 
Ihre Mitgliebfchaft ift in erfter Linie von äußeren Bedingungen 
abhängig: von dem äußeren Belennen des römischen Glaubens und 
von der Theilnahme an den Sacramenten. Delitzſch zeigt nun, 
wie im römifchen Kirchenbegriff alle die Kigenfchaften, die ber 
Kirhe nach dem Glaubensbelenntnis zukommen, materialifirt find. 
Die Einheit der Kirche befteht in der äußerlichen Einheit der Lehre, 
des Cultus, der DVerfaffung, fpeciell der Einheit des Oberhauptes, 
dem Bapfte als dem Vicar Ehrifti. Die Heiligkeit ift eine objective, 
jahliche, beftchend mefentlidh in den Vorzügen der äußeren Heils⸗ 
anftalt: in dem Beſitze der wahren Glaubensformeln, der echten 
Sacramente. Die Katholicität, welche empirisch aufgezeigt werden 
ſoll, ift natürlich fchwer im Gedränge mit den Thatfachen. Die 
Apoftolicität wieder befteht in dem mechanifchen Zufammenhange 
der gegenwärtigen Hierarchie mit den Apofteln vermöge ununter- 
brohener Handauflegung. Delitzſch jchließt mit der Darlegung der 
Lehre von der Infallibilität und der Erelufivität der Kirche. 

Das zweite Lehrſtück Handelt von der „Nepräfentation der Kirche 
oder der Hierarchie”. Jedoch was bier römiſche Lehre ift, braucht 
in feinen Grundzügen, die jedermann befannt find, nicht recapitulirt 
zu werden. Delisfch Hat diejes Lehrſtück größtentheils, nämlich 
die zweite Abtheilung: über die Gegenſätze des Episkopal- und des 
Curialſyſtems, mit befonderem Fleiße ausgeführt. Das mag ber- 
vorgehoben werden, wenn ich Hinzufüge, daß eine andere Parthie 
jemlich ungenügend ausgefallen ift. Zum Schluffe dieſes Lehr- 
ſtücks nämlich) fommt Deligfch auf „die Kirche der Hierarchie im 
Verhältnis zum Staate“. Aber gerade diefer Kehre Hätte ein eigenes 
behrftück gebürt. Daß Delitzſch diefelbe im Gegentheil einiger- 
maßen anhangsweife behandelt, zeigt, daß er ihre Bedeutſamkeit im 
Zufammenhange des fatholifchen Syſtems nicht voll erfannt Bat. 
Auch ift die gefchichtliche Drientirung hier nicht zulänglid. Dean 
erfährt nur das mehr oder minder Geläufige. Die Fülle von 
iteratur über die Lehre vom Verhältniffe der Kirche zum Staate, 


2 Rattenbufh 


welche das Mittelalter hervergebradht hat, kommt durchaus wicht 
zu ihrem Rechte und doch lagen hier bereits vorzügliche Vorarbeiten 
vor). Es wäre hier auch am Orte geweien, da ja die Beur- 
theilung der röwiſchen Lehre von Delitzſch im allgemeinen reichlich 
eingeflochten wird, bie römifche Uufchauung eingehender auf ihren 
Werth zu prüfen und zwar fowol nachſeiten ihrer wiſſenſchaftlichen 
Zulänglichkeit, als nachjeiten ihrer geſchichtlichen Wirkjamteit. 

Das britte Rehrftücd, womit der Band fchließt, gilt der „Lehre 
von den Erkenntnisquellen der Tirchlichen Wahrheit“. Der Inhalt 
desſelben ift kurz und genügend zu charakterifiren mit des Verfaſſers 
eigenen Schlußworten: „Apoſtoliſche Schrift und apoftolifde Tra⸗ 
dition — ſo lautete im Anfange dieſes Lehrftide das Feldgeſchrei 
bed Romanismus gegenüber dem proteftantiichen Schriftprincip. 
Im Berlauf unferer Unterfudung trat an die Stelle der apofto- 
liſchen Zradition die Machtfülle der Kirche des Papftes. Aber 
alsbald fahen wir auch die Autorität der Schrift von der Macht: 
fülle der Kirche verichlungen werden; denn zu diefer Machtfülle 
gehörte auch die Vollmacht, der Schrift nicht nur eine neue authen⸗ 
tiſche Form zu geben, fondern aud) die in ihr enthaltenen Anord⸗ 
nungen und Lehren Chrifti und der Apoftel abznändern und um⸗ 
zugeftalten. So fteht die römifche Kirche der evangeliichen Schrift- 
firche in Wahrheit nicht als die Traditionsfirche, fondern als bie 
Bapftlicche gegenüber.” — 

Ueber Oehlers Darftellung des römischen Lehrfuftens kann 
nun fo referiert werden, dag wir auf diefe Weife eine Ergänzung 
des Bisherigen erhalten, ohne Wiederholungen zu machen. Nämlich 
Dehler und Delitzſch haben bie allgemeine Vertheilung des römischen 
Lehrftoffes gemein. Beide beginnen mit der „Lehre von der Kirche“, 
um alsdann überzufeiten zu den „Lehren der Kirche“. So weit 


1) Bielleicht kam Riezler, Die literariichen Widerfacher der Päpfte zur 
Zeit Ludwigs des Baier (1874) zu fpät, um noch von Delitzſch benutzt 
zu werden. Aber wenigſtens die Nachweile in Friedbergs Aufſatz: 
„Die mittelalterlichen Lehren über das Verhältnis von Staat und Kirche“, 
Zeitſchrift für Kirchenrecht 1869, S. 69ff. waren zu beridfichtigen. 
Bol. jet auch Tſchackert, Peter von Ailli, beſonders S. 16— 46 
(1877). 


Kritiſche Studien zur Symbolik. 183 


bie Gemeinſamkeit des Stoffes reicht, ift aber auh im wefentlichen 
Grmeinfamteit der Auffaffung vorhanden und, fo wird eine Er- 
gänzung der Delitzſch'ſchen Darjtellung durch die Dehler’fche nicht 
Disparate® verknüpfen. Dehlers Werk als Ganzes ijt jo angelegt, 
dag die alte Methode der Vergleichung ver verfchiebenen kirchlichen 
Sufteme nach der Reihenfolge der einzelnen loci innegehalten wird. 
Das römische Lehrfyften fommt dabei am eheften zu feinem Rechte, 
indem Dehler „aus mehreren Gründen“ es für das Angemefjenfte 
hielt, da8 Schema dieſes Syftems dem Ganzen zu Grunde zu legen. 
In fo fern ift es auch am zweckmäßigſten, Oehlers Werf ge- 
tade beim Katholicismus zur Charakteriftil heranzuziehen. 

Die „Lehren der Kirche“ beginnen bei Dehler mit der „Theo⸗ 
lsgie“. Aber hier begegnen wir merfwürdigerweije im eriten Kapitel 
den Anweifungen über „die Anbetung Gottes und den Heiligen, 
Reliquien » und Bildercultus“. Im zweiten kommt Oehler dann 
auf die „ökumeniſche Zrinitätslehre und ihre Gegenjäte“, wobei 
er jedoch hinfichtlich des Katholicismus in specie nur feine Dif- 
ferenz mit der griechiichen Kirche in der Formel conftatirt. Oehlers 
Art iſt es durchweg, die einzelnen Lehren nur zu beſchreiben 
und aneinanderzureihen. Dabei entwickelt er gewöhnlich eine 
hohe Akribie, und für jeden, auch denjenigen, welcher die allgemeine 
Methode Oehlers durchaus misbilligt, wird auf dieſe Weiſe ſein 
Verf bleibenden Werth als Repertorium haben. Aber zum Ver⸗ 
Händnis der einzelnen Lehren, zur Erfenntnis ihrer Entſtehung 
und ihres Zuſammenhanges unter einander, vor allem zur Ein» 
fiht in ihren Werth verhilft er ung jelten und nirgends genügend. 
Ochler ftellt an die Spige feiner ganzen Ausführungen (nad) der 
Einleitung, welche die methodologiihen Fragen behandelt) eine Er⸗ 
Örterung über den „ökumeniſchen Katholicismus und feine Sym- 
bofe“ und bemerkt da zur richtigen Beurtheilung der Uebereinſtim⸗ 
mung aller Confejfionen über die Symbole der erften fünf Jahr⸗ 
hunderte: si duo profitentur idem non est idem. Aber er hat 
diejen warlich richtigen Gedanken im einzelnen nicht praftiich zu 
machen gewußt. In wie fern bat die nicänifche Trinitätslehre für 
das Abendland, auch für den Katholicismus, einen andern Werth 
wie für das Morgenland ? 


184 Kattenbufd 


Im weiteren treffen wir zunächſt al8 zweite Abtheilung die 
„Anthropologie“ , die Lehre vom Urftande, von der Sünde. Die 
Darftellung ift Hier durchweg richtig. Freilich der Gegenſatz, der 
zwifchen Ratholicismus und Proteftantiemus bier obwaltet, ift feinem 
Grunde nad nicht erfannt und demgemäß nicht präcis formulirt. 
Er ift der, daß fatholifcherjeits die Betrachtung eine empirifche, 
proteftantifcherfeit8 eine religiöfe if. Daraus find die Ab- 
weichungen im einzelnen fofort begreifiih. Doc darauf will ich 
nicht näher eingehen. 

Die dritte Abtheilung ift der „Soteriologie” gewidmet. Die 
„Lehre von der Perfon und den Ständen Chrifti” kann übergangen 
werden, da als fpecififch fatholifch e& Hier nichts zu beſchreiben 
gibt. Sofort führt Debler uns zur „Lehre vom Werke Chrifti“, 
welche nad) dem Schema des dreifachen Amtes abgehandelt wird. 
Erwähnen wir nur das über das „hohepriefterliche Amt Chriſti“ 
Beigebrachte. Nach Darlegung der Anfelm’fchen Satisfactionetheorie 
erwähnt Dehler die thomiftifche und fkotiftifche Auffaffung. Wenn 
Thomas die satisfactio nicht für simpliciter necessaria erffärte, 
fondern nur für den jchilichiten und zwedimäßigften Weg zur Er⸗ 
löſung der Menſchheit, übrigens aber die vollkommene Zulänglichfeit 
der Genugthuung Chrifti annahm, fo bildete Duns Stotus vollends 
die fogenannte Acceptationstheorie aus. Das Tridentinum ums 
ging die Frage nach der Nothwendigfeit und begrifflihen Zuläng⸗ 
lichkeit des Werkes Ehrifti zum Zwecke der satisfactio thunlichft. 
Aber in wie fern ift die ganze Lehre vom Werke Chrijti für den 
Katholicismus charakteriſtiſch? Und welchen Werth Hat ein fo 
kurzes Referat, wie Debler hier bietet? Auf diefem Punkte machen 
Oehlers Deittheilungen bejonders lebhaft den Eindruck von No—⸗ 
tizen. 

Kommen wir auf die Lehre „von der Aneignung bed Heils“, 
fo treten wir in die Fragen ein, die und Proteftanten gewöhnlich 
am meiften intereffiren in dem fatholifchen Syſtem. Es handelt 
ſich zunächſt um die Frage nad) der „göttlichen Vorherbeftimmung 
und dem Verhältnis der göttlichen Gnade zur menschlichen Freiheit“. 
Das Tridentinum befand fich Hier im Verlegenheit. Einerſeits 
folite die den Augujtinismus erneuernde proteftantifche Lehre ver» 


Kritiſche Studien zur Symbolik. 185 


urtheilt, anderfeits der Widerfpruh, in den man fid) dadurch mit 
mit dem „heiligen“ Auguftin fette, verhüllt werden. Zugleich galt 
18 hindurchzuſteuern zwifchen der ftrengeren Theorie ber thomiftifchen 
Dominicaner und der laxeren der flotiftifchen Franziscaner. Thomas 
von Aquino Hatte gelehrt: ohne Gnade gibt es in feiner Weife 
eine Erkenntnis, ein Wollen oder Thun des Guten, eine Liebe zu 
Gott; auch ſchon die Vorbereitung zum Empfange des Gejchentes 
der gratia habitualis ift ein auxilium gratuitum Dei interius 
animum moventis. Der Sfotismus aber lehrte, daß der Wille 
des Menschen ſich ohne Gnade zur justificatio di®poniren fünne. 
Dos Tridentinum trifft die Entſcheidung, daß der Menfch aller» 
dings nicht ohne die Gnade zur justificatio gelangt, betont aber 
daueben, daß die Gnade den Willen nur anzuregen und zu unters 
fügen brauche, daß alfo der Wille die justificatio mitbegründender 
dactor fei. Zu diefem Kapitel ift fatholifcherfeit8 monirt worden, 
daß auch die fkotiftiichen Theologen nur von einer fpontanen Prä- 
paration auf die gratia prima oder fidei, nicht die gratia secunda 
eder justificationis reden ?). 

Aber was ift denn die Nechtfertigung? Das Tridentinum 
erläutert diefelbe als translatio ab eo statu, in quo nascitur 
flius primi Adae iu statum gratiae et adoptionis filiorum 
Dei per secundum Adam. Sn fo fern aber ift fie non sola 
peccatorum remissio sed et sanctificatio et renovatio inte- 
roris hominis per voluntariam susceptionem gratiae et do- 
ıorum, unde homo ex injusto fit justus. „Hierin concentrirt 
Ad der Gegenfag gegen die evangelifche Lehre. Die Rechtfertigung 


I) Bol. Knittel: „Studien über die Grundfragen der Symbolik“, Theologifche 
Quartalſchrift 1876, S. 643. Freilich Hat jene Schulunterfcheidung 
ſachlich nicht viel auf fi. Oehler berichtet nur zu ſummariſch. In dem 
Beſtreben, möglihft viel Detail zu bieten, kommt er gelegentlich ins 
Gedränge mit dem Raume und der Zeit. Dan bebenfe, daß wir feine 
Borlefungen vor uns haben. Vielleicht hätte er gut getban, einiges 
gar nicht zus berühren, wenn es zu weitläufig war, es ganz Har darzu⸗ 
legen. — Auf Rnittels ſehr vefpectable, in mancher Beziehung beherzigens⸗ 
werthe Arbeit mache ich gerne aufmerffam. Da fie jedody die Methode 
der Vergfeichung befolgt, die, wie ich fogleich zeigen werde, unbrauchbar 
iM, gehe ich diesmal nicht näher auf fie ein. 





1856 Kattenbuſch 


ift hienach allerdings aud Sündenvergebung, aber dieſe iſt nur 
ein nebenhergehendes Moment. Der Vorgang, der nach evangeliſcher 
Anfchauung über Leben und Seligkeit entſcheidet, wird in der rö⸗ 
mijchen Kirche in den Hintergrund gedrängt. Wejentlich üft die 
Rechtfertigung nicht ein losſprechender und zurechnender, jondern 
ein mittheilender Act, nämlidy die Heiligung und Erneuerung des 
Menſchen ſelbſt.“ | 

Nach der allgemeinen Methode, welche Oehler befolgt, ift diefe 
Bergleihung der römijchen Yuftificationslehre mit der proteftau- 
tischen ſelbſtverftändlich. Da uns nun bier am geläufigften iſt, 
uns mit den Katholifen zu meilen, und da es bier nadh alter 
Tradition am berechtigtften erjcheint, die fatholifhe und pro 
teftantifche Lehre Direct zu confrontiren, fo mag dieſer Fall 
ftatt aller benugt werden, um zu zeigen, wie unzulänglich diefe 
Localmethode für das Gefchäft der VBergleihung in der Sym 
bolit ift. | 

Wenn zwei gleichnamige Lehren in zwei Confeffionen unmittel 
bar mit einander verglichen werden follen, jo muß doch voraus 
gefegt werden, daß beiderſeits dasjelbe Problem gelöft werden ſoll. 
Denn Mittel können nur im Vergleich mit dem Zwede, dem ſie 
dienen, richtig beurtheilt werden und nur wenn beidemale berfelbe 
Zwed erreicht werden fol, fann man verfchiedenartige Mittel an 
einander mefjen und mit einander vergleichen. Nun aber ift unter 
dem Titel der justificatio auf proteftantifcher und auf fathofifcher 
Seite ein ganz anderes Problem vorhanden. Die Beachtung der 
proftifchen Verwendung der Lehre von der justificatio ergibt, daB 
diefe Lehre bei den Reformatoren zunächft Antwort gibt auf bie 
Frage, wie ber in der Kirche ftehende und alfo durch dem heiligen 
Geiſt zu guten Werfen befähigte und auf die Hervorbringung guter 
Werke thatfächlich gerichtete Gläubige im Stande jei, die Un- 
vollfommenheit feiner irdifchen Leiftungen nicht al8 Bedrohung feines 
Heils empfinden zu müffen. Die Lehre von der Rechtfertigung 
aus dem Glanben ober von der Vergebung der Sünde hat alſo den 
Sinn, dem Belehrten feine Heilsfreudigkeit gegenüber der fich noch 
vegenden Sünde zu jichern, dem Gläubigen klar zu machen, wie er 
als Sünder dennoch Gemeinſchaft mit Gott baben könne. Hin⸗ 





Kritifche Stubien zur Symbolik. 187 


gegen belegen ſchon die oben nach Oehler ausgehobenen Stellen des 
Ttidentinums, dag die katholiſche Lehre das ganz andere Problem 
bezeichnet, wie der Sünder zu einem factifch Gerechten merbe, 
wie die Wiedergeburt des Sunders, die renovatio, zu Stande 
fomme. Ratürlich ift diefe Frage auch ein Problem für den Pro 
teſtantiemus. Aber eben unter einem andern Zitel und neben 
der Lehre von der Rechtfertigung, nämlich unter dem Titel der 
Heiligung. Und auch der Katholiciomus kennt irgend mie das 
Problem, welches für den Proteftantismus durch die Lehre von 
der Rechtfertigung aus dem Glauben gelöft ift, nämlich unter dem 
Titel des Bußſacraments, welches in der Abfolation fein Ziel hat. 
Alto erhielten wir für die Vergleichmg des römiſchen unb des 
evangelischen Lehrbegriffes nach der Localmethode als Correlata zu⸗ 
nachft die römiſche Lehre non der Rechtfertigung und die proteftan- 
tiſche Lehre von der Heiligung (refp. der Buße im Sinne ber 
eriten der 95 Thefen), wiederum die proteftantifche Rechtfertigungs⸗ 
lehre und die römiſche Vehre von der Buße ?). 

Indes ich habe nun folgendem Einwande zu begegrien. In 
io fern proteftantifcherfeits die Neihtfertigungslehre nicht nur Aut» 
wort bietet auf die oben bezeichnete ſpecielle Frage, fondern überhaupt 
auf die Frage, auf welchen Grund Hin der Menſch Geltung vor 
Gott erlange, fo tritt fie allerdings doch in eine relative Analogie 
mit der katholischen Juſtificationscheorie. Nämlich katholiſch ift «8, 
zu behanpten, daß die guten Werke als „Berdienfte* der Grund 
der göttlichen Gnade und unſerer Gemeinfchaft mit Gott feien. 
Dagegen ift es proteftantifche Lehre, daß die guten Werke, unbe- 
ſchadet ihrer Nothwendigkeit, niemals dieſe Bedeutung haben. 
Borausgefett, daß einer vollkommen alles erfüllt, was göttlicher 
Wille in Bezug anf ihn ift, fo würde feine Sündlofigkeit dad 
mt der Grund feiner Geltung vor Gott fein. Vielmehr würde 
der Grund derfelben auch für ihn nur die Gnade und Liebe Gottes 
jem, die in Chriſto offenbar ift und welche unter der Voraus— 
ſetzung von Sünde fich als Bergebungewille darftellt. Es find 


1) Daß dieſes die richtige Zuſammenordnung ſei, hat Ritfchl bereits feſt⸗ 
geſtellt (Rechtfertigung und Verſöhnung 1, 126ff. T44ff.) 





188 Kattenbuſch 


ſchon im Reformationszeitalter Zweifel über dieſen allgemeinen 
Sinn der Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben (an die 
Liebe Gottes) entſtanden, und Luther ſelbſt iſt daran nicht unſchuldig. 
Es ſind Stimmen laut geworden, welche meinten, der letzte Grund 
der Gemeinſchaft des Menſchen mit Gott ſei die ſittliche Lebens⸗ 
leiſtung des Menſchen, nur daß proteſtantiſcherſeits, wie billig, die 
Fähigkeit zu guten Werfen allein von ber Gnade Gottes, welche 
dem Glauben den heiligen Geiſt verleihe, hergeleitet werde. Melanch⸗ 
thon hat Anlaß .gehabt, dem gegenüber ſelbſt Brenz erft richtig 
über den Sinn der Lehre der Rechtfertigung aus dem Glauben 
zu inftruiren )). Der Sinn diefer Pehre ift eben, daß das ganze 
Verhältnis des Menſchen zu Gott gegründet fei nicht in feinen 
Leiftungen, fondern in Gottes ewiger Liebe. Hier aljo tritt (bei ſach⸗ 
lichem Gegenſatze) eine formale Analogie zwiſchen der proteftantifchen 
und der fatholiihen Auftificationslehre zu Tage. Indes aud fo 
bürfen dieſe beiden Lehren doch nicht einfach nebeneinandergeftelt 
und mit einander verglichen werden. Nämlich es ift num daran zu 
erinnern, daß die katholiſche Lehre von der Möglichkeit und Noth- 
wendigfeit von VBerdienften immer ein Gegengewicht hat an der 
Lehre von der DBermittlung alles Heiles durch die Sacramente 
(og. Trid. sessio VII), weldye Gottes Liebe, Hülfe, Vergebungs⸗ 
willen als Anfang, Begleitung und Ende des Juſtificationsproceſſes 
erfcheinen laſſen. Alſo müßte nunmehr die proteftantifche Recht⸗ 
fertigungsfehre in Vergleich gebracht werden mit der römiſchen Recht⸗ 
fertigungs- und Sacramentenlehre. Alſo auch hier zeigt fich die 
ehlerhaftigkeit der gewöhnlichen Rocalmethode. 

Sollte nun einer meinen, diefe Methode jet doch in fo fern 
brauchbar, als man ja in ben zu vergleichenden Spftemen nicht 
auf die gleichen Zitel zu fahnden braucde, um die gleihnamigen 
Lehren nebeneinanberzuftellen, man brauche nur auf bie gleide 
artigen Probleme achtzuhaben, um ihre verfchiedene Löfung in 
Vergleich zu bringen — nun, fo ift fein Streiten mehr möglid, 
wenn berfelbe es in den Kauf nehmen will, daß bei der ſachlich 


I) Bgl. Köftlin, Luthers Theologie II, 455; Ritſchl, Rechtfertigung und 
Berföhnung I, 180 ff. 





Kritiſche Studien zur Symbolik. 189 


angezeigten Zuſammenordnung der Einzelheiten der verſchiedenen 
Syſteme immer das eine oder das andere Syſtem in disjecta 
membra zerjdjlagen werden muß. Als lebendige Größen lernte 
mar dann jedenfall8 die Kirhen nicht mehr kennen und im Ver⸗ 
gleich mit einander beurtheilen. 

Den Schluß der Oehler'ſchen Symbolik bildet die Vergleihung 
der Lehren „von den Gnadenmitteln“, wobei für den Katholicismus 
natürlich der Hauptantheil auf die Lehre von den Sacramenten fällt. 
Fedoch ich bemerke hier nichts Charafteriftiiches und von der land⸗ 
läufigen Auffaffung abweichendes und darf vorausfegen, daß die 
wejentlicheren äußeren Beitimmungen (mit denen Dehler ſich be- 
grügt) allgemein befannt find. 

Dehlers Werk wird ohne Zweifel ein beliebtes Handbuch, bes 
fonders ein Nachfchlagebuch, werden. Und es würde diefe Gunft 
des theologischen Publicums auch vollauf verdienen. Der Heraus- 
geber, 3. Delitzſch, iſt felbft mit der Methode des Buches nicht 
ganz einverftanden. Er deutet an, daß fie allerdings vielleicht die 
„ehrhaftefte” ſei. Unter der Vorausfegung, daß die kirchlichen 
Lehrſyfteme alle diefelben Probleme und allemal in derfelben Reihen- 
folge und allemal unter demfelben Zitel darbieten, ift dies fo richtig, 
daß ich feine andere Methode billigen würde. Aber nachdem ich diefe 
Borausfegung wenigftend an einem fignificanten Punkte glaube 
widerlegt zu haben (das Weitere wird noch, ohne daß ich ausdrücklich 
darauf hinweiſe, genug andere Belege bringen), und indem ich dem⸗ 
zufolge auch beanftanden muß, daß die Localmethode überhaupt für 
den allgemeinen Zwed der Symbolif „lehrhaft“ jei, eigne ich mir gerne 
da8 weitere Wort des Herausgebers an, dag der Werth eines willen» 
ihaftlichen Werkes nicht ausschließlich durch die Methode bedingt fei. 
Dehlers ruhiges, relativ meitherziges Urtheil über alle Eonfeffionen 
bei warmem Einftehen fiir feine confeffionell lutheriſche Ueberzeugung, 
jeine Mühwaltung und Sorgfalt in der Auswahl ber Duellenbes 
lege, feine überaus reichhaltige Materialfammlung für die Einzel 
heiten, feine lichtvolle Darſtellung — das alles foll unvergeffen 
jen. Um fo mehr wünſchte ih allerdings, dag dies die lebte 
Symbolik im alten Stile wäre. Denn wenn fich diefer Wunſch 
zealificen follte, fo dürften wir der alten Methode im Hinblick 


1% Kattenbuſch 


auf Oehlers Werk mit einer gewiſſen Verſöhnung gedenken. Es 
ſollte ihr dann, weil ſie dann zum Schluſſe noch einmal redlich 
geleiſtet, wozu ſie fähig iſt, vergeſſen ſein, daß ſie ſo wenig bei⸗ 
getragen zur Löſung der höchſten Aufgabe der Symbolik, das Ver⸗ 
ſtändnis der Confeſſionen und die Erkenntnis des Werthunter⸗ 
ſchiedes derſelben zu vermitteln. 


Es liegt mir nun ob, in der Kürze poſitiv anzudeuten, wie 
das Bild des Katholicismus fich geftaltet, wenn wir verfuchen, 
feine Lehren in ihrem genetifchen Zufammenhange zu erfaften. Auch 
bier, wie bei der griechifchen Kirche, ift e8 die Quellenfrage, von 
weicher guten Theils meine Differenz mit Deligfh und Oehler 
ihren Ausgang nimmt. Freilich glaube ich aud) mit zweckmäßigeren 
Fragſtellungen, wie diefe beiden Theologen, an den Stoff heranzu⸗ 
tveten und dadurch eine vichtigere Vorftellung von der römifchen 
Kirche zu gewinnen. 

Ich Habe (Hft. I, S.107) bereits gelegentlich bemerft, daß es zum 
Verſtändnis des Katholicismus nothwendig fei, auch über die Beriode 
der Scholaftit noch Hinauszugehen und zwar bis auf Auguftin. 
Es iſt merfmürdig, wie zäh die traditionelle Auffaſſung dieſes 
Mannes ſich behauptet, wiewol alles Detail, weldes über feine 
Ideen bekannt wird, nicht zu der landläufigen Annahme, dag er 
der Ahnherr der Reformation jei, jtimmen will und wiewol man 
im einzelnen überall die Conceffion findet, daß er doch eigentlid) 
recht weit entfernt geweſen fet von den Erkenntniſſen der Refor⸗ 
matoren. Man muß fich aber entfchließen, das Urtheil Aber feine 
geſchichtliche Stellung viel radicaler dahin umzuändern, daß man 
anerkennt, daß er im mefentlichen, nämlich vermöge feiner formu⸗ 
lirten Lehren und feiner abfichtlichen kirchlichen Beſtrebungen, der 
Bater des römiſchen Katholicismus ift und daß bie Anknüpfungs⸗ 
punkte, welche die Reformatoren bei ihm fanden, nur der Zuſatz 
in feiner Gedanfenbildung find. Wer auch nur ein wenig in den 
Werten der Scholaftiker fich umgefehen hat, weiß, welche Rolle 
Auguftin für diefe Theologen ſpielt. Es fteht durchaus nicht 16, 
ale ob bloß gewiſſe oppofitionelle Theologen des Mittelalters feine 





Kritifche Studien zur Symbolil. 191 


Autorität angerufen und hochgehalten hätten. Vielmehr beziehen 
äh alle Barteien auf ihu, und überall gilt er für eine Größe, 
von der man füglich nicht appelliren könne, die man für fich ge- 
winmen müſſe, wenn man nicht gerichtet erjcheinen wolle. Auch 
Theologen, bie fich fo weit von feinen Anfchauungen über Sünde 
und Gnade, Freiheit de8 Willens und Prädeftination entfernen, 
wie die Nominaliften, halten doch ſtets darauf, mit ihm im Con⸗ 
tact zu bleiben, fi) auf ihn zu beziehen, zu behaupten, baß fie 
jeine Ideen fortfegten. Jede Richtung fühlt das Bedürfnis, ihre 
Feen in Auguftin wenigſtens bineinzulefen. Schon dies dürfte uns 
daranf aufmerkſam machen, daß das katholiſch⸗kirchliche Lehrſyſtem 
wohl feine Wurzeln und feinen eigentlihen Boden in Auguftins 
Theorien babe. Aber es läßt fi auch der urkundliche Beweis er⸗ 
bringen, daß die katholiſche Theologie fich nicht täufcht, wenn fie 
in Anguftin das geiftige Haupt ihrer Kirche erblidt. Der Katho- 
licismus verwendet in der That im wefentlihen nur religiöje 
Motive, die von Auguftin herſtammen. Er ift bie weltgefchichtliche 
Durdführung des Programme, welches biefer Kirchenvater formulirt 
bat. Geht man von Auguftin aus, wo man bie katholifchen Ge⸗ 
danfen in ihrer primitiven Geftalt und in ihrer Geneſis beobachten 
fann, fo wird man am eheften das Tatholifche Syftem als Einheit 
begreifen Lernen '). 

Zunäãchſt nun ift Auguftin derjenige, welcher ben noch jet gültigen 
römischen Kirchenbegriff durchgefegt hat. Eine Parallele mit dem 
Bfendo-Areopagiten, welcher, wie wir fahen, die analoge Bedeutung 
für die morgenländifche Kirche hat, wirb uns alfo am Tleichteften 
dahin führen, die Eigentümlichkeiten Auguftins und den Abſtand 
der römischen Kirche von ber griechiſchen zu erkennen 2). 


1) Ich verfuche im weiteren eine Ausführung und mehrfach eine Ergänzung 
der Andeutungen, welche Ritſchl befonders in feinem ſchon öfter citirten 
Anfiage „Zur Methode der älteren Dogmengeſchichte“, aber auch in feinem 
Werke über die „Rechtfertigung und Berſöhnung“ an verichiedenen Orten 
über Auguftins gejchichtliche Stellung gemacht hat. 

2) Bol. für Auguftins Lehre von der Kirche H. Schmidt: „Des Auguftinus 
Lehre von ber Kirche“ (Jahrbücher für deutiche Theologie 1861), — ein Aufſatz, 
der freilich nur zum hell richtig orientirt. Ferner Nitzſch, Dogmen- 

Theol. Etub. Iahrg. 1878. 13 


1% Kattenbuſch 


In die Augen füllt, daß zunächſt darin eine Uebereinſtimmung 
zwiſchen Auguftin und dem Wreopagiten ftattfindet, daß beide in 
der Zugehörigkeit zu der Außeren Kirche die unerläßliche Bedingung 
alles Heiles fehen. Auch für Auguftin gilt das extra ecclesiam 
nulla salus für die anftaltfiche, bifchöflich verfaßte Kirche, ja dieſer 
Sat ift geradezu der Mittelpunkt feiner ganzen Theologie. Indes 
tritt nun ber fundamentale Gegenfat beider Kirchenväter zu Tage, 
wenn wir auf die Anſchauung von dem Zwecke der Kirche acht⸗ 
haben. Iſt nämlich für Dionys die „irdifche Hierarchie“ nichts 
anderes als der Organismus derjenigen myſtiſchen, göttlich phy⸗ 
ſiſchen Kräfte, die geeignet find, die Menſchen mit immer höherem, 
wahrerem Sein bis zur Einigung mit Gott zu erfüllen, Haben 
für ihn bie kirchlichen Myſterien eben den Sinn, das effentielle 
göttliche Leben durch die mit reinerem, höherem Sein erfüllten 
Hierarchen überzuleiten in bie niedrige Dienge, — fo ift hingegen 
die Kirche für Auguftin der Organismus der göttlich ſittlichen 
Kräfte, jo Hat für ihn bie Kirche die ganz andere Anfgabe, unferen 
Willen mit göttlicher Kraft zu erfüllen und ihn mit Quft zum 
Guten auszuräften. Ich brauche wich für biefe Anſchauung 
Auguftind nur auf fen Hauptwerk De civitate Dei zu beziehen. 
Schmidt hat diefes Wert, welches doch das wefentlichfte Document 
der Theologie unferes Sirchenvaters ift, merkoürbigerweife faft 
gar nicht berückſichtigt. Eben barum wol bat er fein Auge dafür 
gehabt, daß in der Beſtimmung des Zweckes der Kirche die ber 
deutfamfte Eigentümlichkeit des Auguftin’fchen SKicchenbegriffes zu 
fehen ift. In jenem Werke ift e6 ja unverkennbar, daß die Kirche 
derin ihr unterfchiebliches Weſen bat, baf fie der Organisınus des 
Guten if. Was anders ift der Gegenfag des Gottesreiches und 
des Weltreiches als ber des Gehorſams gegen Gott und fein Geſetz 
und der Sünde, der Auflehnung gegen bie göttliche Weltorbuung? 
Es bedarf nun bloß einer kurzen Ueberlegung, um zu ertennen, 
daß die römiſche Kirche in der That die Häterin der Auguftin’schen 
Anſchauung von dem Zwecke der Kirche ift und eben damit eine 





— — 


geſchichte 8 26, 8 (S. 239 ff.). Bei letzterem vergleiche andy das Nötbige 
über die Borläufer der Anguftin’ichen Ideen. 


Kritifche Studien zur Symbolilk. 198 


höhere Stufe darfiellt, als die griechifche. Das Weitere wird yeigen, 
me der gefamte Zufchnitt des römiſchen Lehrfyftems bemefien 
iſt nach dieſer Grundauffaſſung. Hier will ih nur daran erinnern, 
wie die geſchichtliche Wirkſamkeit diefer Kirche unter ben Vollkern, 
in denen fie Wurzel gefaßt Hat, ein ftetiger Beleg dafür ift, daß 
fie die Erbin und Pflegerin des Auguſtin'ſchen Geiftes geworden. 
Bean die griechiſche Kirche kaum etwas beigetragen bat zur ſitt⸗ 
lichen Entwicklung ber Bölker, die ihr anhängen, fo ift im Gegentheil 
die römische in ihrer Art eine treue Lehrmeifterin der ihr ergebenen 
Böller in dieſer Hinficht geweſen. Die griechifche Kirche hat ſich 
cinfach gefügt und angefchmiegt an die überlommenen Formen des 
Staats⸗ und Boltslebens. Schließlich Hat fie biefelben gar direct 
geheiligt und damit am ihrem Theile noch eigens verhindert, daß 
die Bälker des Drients neue Ideale aufnehmen, neue Aufgaben 
ergreifen. &in ganz anderes, erhebenberes Bild zeigt ba bie römifche 
Kirhe. Mit kühner Entſchlofſenheit Hat fie neue Maßſtäbe, nene 
Peale aufgeftellt und durchgeführt. Welch weitgreifenden Einfluß 
bat fie — nicht zufällig, fondern in bewußtem Streben und Ringen — 
gewonnen auf die Geftaltung der Rechteverhältuiffe, auf bie Ent- 
widlung ber Sitten, auf bie Berftellungen von ben focialen uud poli- 
tiihen Aufgaben der Völker! In der That ift fie es geweſen, welche 
eine nene Cultur heraufgeführt bat, als bie antife in den Stürmen 
der Bölterwanderung zuſammengeſunken war. Wenn fie auch im 
einzelnen fich oft genug bat bereit finden laſſen, die hergebradhten 
Lecbentformen zu fanctioniren, — im großen hat fie ftet6 aufrecht 
erhalten, daß das Ghriftentum ein neues Leben fordere, daß bie 
Geistlichen Ideen das gefamte Leben der Völker durchdringen und 
umgeftnften follten. So ift denn auch die Eulter ber unter ihrer 
Erziehung gebildeten Völler eine eigenartige, eben eine chriftlice. Wir 
dürfen bier davon abfehen, daß ihre been über das Weien ber 
chriſtlichen Sittlichkeit nicht die correcten, vollfommenen waren. Es 
waren doch Fittliche Gedanken, die fie den Völkern eingepflanzt het. 
Die Forderung ber Kiebe als des höchften Gebotes bat fie doch un⸗ 
verlöfchlich eingefchrieben in das Bewußtſein ver chriſtlichen Nationen. 
Richt als ob Diefer Gedanke den orientalifchen chriftlichen Voöllern un- 


belaunt wäre; aber lebengeſtaltend ift er erft im Wbenblande geworben. 
13 * 


194 Kattenbuſch 


Es iſt bezeichnend für die römiſche Kirche, daß ihre Geſchichte eine 
ununterbrochene Reihe von Reformationsverſuchen aufweiſt. Das 
ſtetige Verlangen nach einer Reformation, welches durch das Mittel⸗ 
alter hindurchgeht, es iſt ja gewiß einerſeits ein Zeichen, wie wenig 
ideal die Zuſtände in der Kirche waren; — aber iſt es nicht zu—⸗ 
gleich ein Zeichen des Sinnes, den die Kirche den Böllern einge- 
pflanzt Hatte? Es ift doch nicht der jchlimmfte Zuftand, wenn die 
Völker noch die Unzulänglichkeit ihrer fittlichen Verfaſſung erkennen. 
Die Zuftände der griechiichen Kirche waren befanntlich nicht beifer, 
als die der abendländifchen. Doc) gebt die Unzufriedenheit und das 
Verlangen nach einer Beſſerung nur durch bie Tegtere! Iſt das 
Möndtum das Ideal der römifchen Kirche, fo ift es doch fehr zu 
beachten, daß es immer wieder nach neuen Grundjägen geregelt 
und erneuert wird. Das griehifhe Mönchtum bat immer nod) 
die gleiche alte Regel des Bafllius! Und ift nicht auch das ein 
Zeichen der verfchiedenen Art der römischen und der griechifchen 
Kirche, dag in letzterer das Mönchtum einfach neben dem bürger- 
fihen Chriftentum fteht, während in erfterer ſeit Franciscus von 
Affift in der Ymftitution der Zertiorier der Verſuch gemacht wird, 
das Leben der Chriftenheit im möglichft weiten Umfange dem 
Ideal anzunähern? Auch Heute no will die römische Kirche in 
ihrer Art nichts anderes fein, als die Stifterin und Leiterin des 
fittlichen Lebens. Daß fie, feit der Proteftantismus vorhanden ijt, 
der vollfommenen chriftlichen Sittlichleit zum Theil nur hemmend 
entgegentritt, daß fie im einzelnen vielfach) fogar im directen Gegen- 
fat fteht zu den wahrhaft chriftlichen Forderungen, da8 werden wir 
nicht leugnen. Doch darf uns das auch nicht den Blick dafür 
trüben, daß fie ihrer Abficht nach doch das chriftliche Sittengefeg 
hochhält und durchzuſetzen ſtrebt. Das ift noch immer ber Geift 
Anguftins, der in ihr wirkſam it! 

Wenn nun fchon gefagt tft, daß Auguftin als die Kirche, außer- 
halb deren alle Tugenden nur glänzende Lafter find, nichts anderes 
denkt, als die hierarchiſch verfaßte, anftaltliche Kirche, jo ift ja fein 
Wort darüber zu verlieren, baß der Katholicismus dieſe Idee ale 
eine unveränßerliche immerdar feitgehalten hat. Auch der Katho⸗ 
licismus bezeichnet die Kirche als communio sanctorum. Indes 


Kritische Studien zur Symbolit. 1% 


igen doch die Beitimmungen des römischen Katechismus über die 
Stellung der Böfen in ber Kirche und noch deutlicher Bellarmins 
berühmte Ausführungen, daß jene Bezeichnung im Ratholicismus 
ander8 gemeint ift, ald im Proteftantismus. Wir können in der 
Kürze vielleicht fagen, für den Katholicismus fei der Ausdrud 
communio sanctorum die Bezeichnung des deals, für den 
Proteftantismus hingegen die Bezeichnung des Begriffes der Kirche. 
Der Begriff der Kirche ift im Katholicismus der, daß fie der 
hierarchiſche Rechtsverband iſt. Diefer Nechtöverband ift nach 
proteftantifcher Anfchauung nur eine und nicht die mwejentlichite Form 
der Kirche. Wollen wir nun aber die römiſche Anfchauung von 
der Kirche im Unterſchiede von ber griedhifchen angeben, jo haben 
wir die römifche Kirche als einen Staat, fpeciell als den theo- 
kratiſchen Univerfalftaat zu bezeichnen. Auguftins Bezeichnung 
der Kirche ald civitas Dei iſt alfo eine jehr glückliche und ſigni⸗ 
fcante. Es entjpricht nun bdiefer Anfchauung, daß als das Mittel, 
wodurd) die Kirche ihren Zwed an den Menſchen zu erreichen dentt, 
nicht blos, wie in der griechischen Kirche, die Sacramente genannt 
werden, fondern vor allem audh da8 Regiment. Ya auf dieſes 
letztere, welches in der griechiſchen Kirche ganz zurüdtritt, fällt nach 
fatholifcher Anſchauung ein folches Gewicht, daß Auguftin als die 
eigentliche Kegerei die Trennung von dem legitimum regimen 
pastorum anjieht. Wie fehr feither der Katholicismus das Regi⸗ 
ment der Kirche jtets als conftitutives Merkmal derfelben hochge⸗ 
halten hat, bedarf nicht erft des Nachweifes. Es ſei nur dies eine 
bemerft, daß, wenn als die Bedingung der Zugehörigkeit zur 
Kirhe 3. B. von Bellarmin die professio fidei und die communio 
sacramentorum genannt wird, Hinfichtlich der erfteren nur nöthig 
it, auf .die überall anzutreffenden Erläuterungen des Begriffes der 
fides zu adten, um zu erkennen, daß diefelbe nichts anderes be- 
deutet als den Gehorſam gegen die Kirche, mögen nun ihre 
Satungen theoretifcher oder praftifcher,, veligiöfer oder moralijcher 
Ratur fein. 

Indem bie römische Kirche fich ſelbſt als einen Staat erfaßt, 
jo iſt es felbftverftändlich, daß fie ihre Kräfte ald in den Händen 
des Klerus, der Beamtenfchaft, ruhend anfieht. Es brauchte daher 


% 


1% Kattenbufd 


an ſich kaum notirt zu werden ,. daß in der That auch diefe Vor⸗ 
- ftellung von Auguftin deutlich Hineingezeichnet worden in das Bild 
von der Kirche, welches er entworfen. Indes ift die Lehre vom 
Klerus, wie fie bes näheren im Katholicismus ausgebildet ift, Doch 
nicht nothwendig gegeben gewefen mit der VBorftellung von der 
Kirche als einem Staate, und darüber wird ein Furzes Wort zu 
fagen fein. Nämlich diefe VBorftellung läßt zunächft noch die doppelte 
Möglichkeit offen, daß man die Beamtenfchaft als Ausſchuß des 
Volkes betrachtet, fo daß ber begrifflichde Befiter der Kräfte und 
Mittel des Staates doch das Volt bleibt — oder anderſeits, Daß 
man jenen Stand als den felbftändigen Befitzer der ſtaatbildenden 
Mittel und fomit als ben producirenden Grund des Staates ans 
ſieht. Es iſt offenbar, daß dieſe letztere Borftellung die in der 
katholiſchen Kirche je Tänger je mehr herrfchend gewordene ift. Der 
Klerus fteht über der Gemeinde, aus der er nicht hervorgewachſen 
ift, fondern welche er durch feine Thätigkeit erft erzeugt und allein 
erhält. So verleiht der ordo einen eigentümlichen geiftlihen Cha⸗ 
rofter, der ben Prieſter fpecififch über den Laien erhebt und un- 
möglich macht, daß er je wieder zum Laien werde. Iſt nun bier 
ein Punkt im römijchen Lehrſyſtem zu conftatiren, deſſen Noth- 
wendigkeit al8 eine Begriffliche nicht erkannt werden kann, jo gilt 
dasſelbe weiter von den Borftellungen über die hierarchifche Gliederung 
des Klerus. Und zwar gilt es fpeciell Hinfichtlich des Papſttums. 
Es ift in der That nicht einzufehen, warum unter allen Staaten 
bei der Kirche allein das Regiment fich nothwendig zufpigen follte 
in der Einheit eines oberften Machthabere. Auguſtin Hat nicht 
anders gedacht, als dag der Klerus feine höchſte Stufe habe in 
dem Collegium der Biſchöfe, welche alle an Dignität glei find. 
Dog ift nun hier zu bemerken, daß die Entftehung des Papfttums 
gerade fo wie es in unferer Zeit erft durch das vaticanifche Con⸗ 
cil fanctionirt ift, wie e8 aber Leo der Große bereits gedacht hat 
und wie es fich im Laufe der Jahrhunderte immer mehr im Volte- 
bemußtfein durchzufegen vermocht hatte, wenn feine theoretifche, fo 
doch eine praktiſche Nothwendigkeit war. Es ift ja Fein abfoluter 
Beweis dafür zu erbringen, leuchtet indes wie von feldft ein, daf 
die römische Kirche als diefer immenfe Staat fih nimmer in ihrer 


Kritiſche Studien zur Symbolil. 197 


Eigenart hätte behaupten können, wenn nicht ein einziger, energiſcher 
Bille die Oberleitung übernommen hätte. Daß der Herricer der 
Lirche gerade der Biſchof von Rom geworden, iſt bedingt durd 
die gefchichtliche Stellung diefer Stadt, daß überhaupt ein Monarch 
der Sirche entfland, der allen andern Regenten derfelben an Würde 
ud Macht jo überlegen ift, daß fie erft von ihm ihre Befugniffe 
herleiten fönnen, war umnvermeidlih, wenn die Kirche fich ale 
eine und als ein Staat behaupten wollte. In jo fern ift doch 
Auguftin der Bater auch des Papſfttums !). 

Die Mittel der Kirche find aljo das Regiment und die Sacra» 
mente. Es wird zwedimäßig fein, wenn wir die Frage nach dem 
agentlihen Inhalt der Vorfchriften, des Geſetzes, welches bie 
römische Kirche ihren Gläubigen auferlegt, für einen fpäteren Ort 
aufbewahren. Hier ift aber der Drt, in der Kürze auf die Lehre 
von der Tradition einzugehen. Die Xradition nämlich iſt neben 
der Schrift und in praxi über der Schrift die Quelle und der 
Rechtstitel für die kirchlichen Satzungen ). Die Entwidlung des 
Traditionsdogmas ftellt nun einen ftetigen Kampf zweier Richtungen 
dar. Während nämlich die einen feithalten, daß die echte Tradition 
bemeffen werben müfje nach dem Kanon des Vincentius von Leri⸗ 
num, wonach als katholiſch nur gelten kann, quod ubique, quod 
semper, quod ab omnibus creditum est, fo verfechten die andern 
die Anfchauung, daß auch Neues, bisher Unbekanntes von der Kirche 
um Dogmn erhoben werden könne, fo fern anzunehmen jei, daß 
eine fih als nothwendig aufdrängende Erkenntnis, die nicht als 
bewußte Tradition nachzuweifen fei, eine unbewußte gewejen, deren 
ih die Kirche in dem Augenblick entfinne, wo diejelbe für fie von 
Wichtigkeit werde. Diefe legtere Richtung hat offenbar gegenwärtig 
den Sieg in der FTatholifchen Kirche davongetragen. Wir werden 


I) Ueber die SImfallibilität des Papſtes (an Stelle der Eoncilien) eigens zu 
reden, ift nicht nothwendig. Sie ift nur eine Specialanwendung und 
ſelbſtverſtändliche Confequenz der allgemeinen Aufchauung vom Papfttum. 
Bol. über die geichichtliche Entwidlung der Lehre vom Papfttum Langen, 
Das Baticanifche Dogma von dem Univerfalepislopat und der Unfehl- 
barkeit des Papſtes. 

2) Bel. Holtzmann, Kanon und Tradition. 


1%8 Kattenbuſch 


dies nicht zufällig finden, denn wie die andere mit ihr auch mehr 
in abstracto und um Specialitäten in dem factiſchen Befſtande 
der von Rom fanctionirten Lehre ftreitet ald mit vollem praftifchen 
Ernfte — denn warum hütet auch fie fi, die Codification der 
Tradition ein» für allemal zu verſuchen? —, fo ift jene kühnere 
Richtung ohne Zweifel diejenige, welche die richtigere Empfindung für 
die Intereſſen des Katholicismus hat. Ein lebensträftiges Staats: 
weſen hat eben mit dem Wechfel der Zeiten neue Bebürfniffe, muß 
befähigt fein, neuen Combinationen der Weltgefchichte gegenüber 
neue, zeitgemäße Mittel zu ergreifen. Es ijt ein Zeichen der 
Superiorität der römischen Kirche gegenüber der griechifchen, daß 
fie e8 unmöglich findet, auszuruhen auf dem ftets Gleichen, von 
alteröher bereit8 Beftandenen. Die griechifche Kirche, welche Feine 
ethijchpolitifchen Aufgaben kennt, für welche die Glaubensformeln 
nur als liturgiſches Material in Betracht kommen, bat kein Be⸗ 
dürfnis, neue Erkenntniſſe an's Licht zu fördern. Die römifche, 
welche auf's directefte berührt wird durch den Wandel der allge 
meinen geſchichtlichen VBerhältniffe, wird immer wieder dazu gedrängt, 
neue Formeln, neue Saßungen aufzuftellen, um den Sturm der 
Zeiten zu beſchwören. &8 ift dies freilich auch ein Zeichen ihrer 
Inferiorität gegenüber ber proteftantifchen Kirche. Was die grie- 
chiſche Kirche noch nicht nöthig hat, das hat unſere Kirche nicht 
mehr nöthig. Denn wenn dem BProteftantismus die Kirche die 
societas fidei et spiritus sancti in cordibus ift, jo it ihm 
das Evangelium ein einheitlicher Gedanke, weldyer als folcher den 
„Heiligen“ zu jeder Zeit im gleicher Weiſe offenbar geweſen ift, 
der in feiner ganzen Fülle ſtets gleich nothwendig, aber in feiner 
Einfachheit auch ftets gleich ausreichend ift, welcher ein» für allemal 
eingetreten ift in unfer Geſchlecht in dem geschichtlichen Chriftus. 
Ueber die Sacramente im einzelnen zu handeln ift der Raum 
nicht vorhanden und ift auch nicht nothwendig, weil nur die all: 
gemeinen Gedanken von prineipielem Intereſſe find. Das Wich— 
tigfte ift, daß fie für ben SKatholicismus die fpecififchen Mittel 
find, um die göttliche Gnade an die Menſchen heranzubringen. In 
dieſem Sinne gilt das Anathema des Tridentinums gegen jeden, 
welcher behaupten würde, sacramenta novae legis non esse ad 


Kritifche Studien zur Symbolik. 19 


sslutem necessaria. Bezeichnet das Regiment der Kirche mit 
jeinen tbeoretifchen und praftifchen Vorfchriften und Forderungen 
die Summe desjenigen, was als fittliches Ideal durch bie Kirche 
zn realifiven iſt, und iſt es alfo in fo fern unter die Mittel der 
Lirde zu zählen, als es der ftets wirkfame Regulator ber Vor⸗ 
tellungen ift, nach denen die Gemeinde ihre fittlichen Aufgaben zu 
bemeſſen hat, fo find die Sacramente die Mittel, durch welche die 
Kirche ihre Glieder befähigt, diefen Aufgaben wirklich obzuliegen 
md fie zu vollführen. Es ift hier an den Sag des Tridenti⸗ 
amd (sess. VII prooemium) zu erinnern, daß bie Sacramente 
es find, per quae omnis vera justitia vel incipit, vel coepta 
augetur, vel amissa reparatur. Das eigentümliche Weſen der 
Sarramente ift nun, daß fie finnliche Dinge find, welche die Gnade 
enthalten, die fie bezeichnen, und denen, „welche feinen Riegel 
vorſchieben“, unfehlbar conferiren. Hier würde num der Ort fein, 
auf die Lehre, daß die Sacramente ex opere operato wirkten, 
anzugehen. Es mag jedoch nur daran erinnert werden, daß die 
traditionelle proteftantifche Vorftellung hier, wie fo manigfach, dem 
latholiſchen Lehrſyſtem wenigftens in fo fern Unrecht thut, als fie, 
mad von einer Schule gilt, der ganzen Kirche und der officiellen 
<chte imputirt. Nämlich die Meinung, daß jene Lehre behaupte, 
die Sacramente wirkten auch bei vollfommener Gleichgültigkeit 
und Baffivität die Vermittlung der Gnade, ift zwar richtig Hin» 
iihtlih beftimmter, auch fehr einflußreicher Theologen des fpäteren 
Mittelalters (Duns Scotus und Gabriel Biel), desgleichen wieder 
hinſichtlich der neueren jefwitifchen Theologie, indes ift fie nicht 
oder doch nur unter allerhand Einfchränkungen zutreffend hinfichtlich 
der eigentkich offlciellen Theologen, eines Thomas von Aquino und 
dellarmin. Darauf hat Steig mit Recht aufmerkſam gemadt !). 
Gegenüber einer gewiffen Art proteftantifcher Bolemit mag auch 
noch eigens erwähnt werden, daß es doch eher ein Zeichen echten 
teligiöfen Sinnes als des Gegentheils iſt, wenn der Katholicismus 
ſeine Saeramente zu ſolcher Zahl vermehrt Hat, daß er mit ihnen 


1) Act. „Saeramente” bei Herzog; vgl. auch ©. 8. Hahn, Die Lehre von 
den Sacramenten, S. 396 fi. 


200 Kattenbuſch 


das ganze Leben von der Wiege bis zum Grabe zu begleiten und 
zu geftalten befähigt iſt. Die Fixirung gerade der Siebenzahl und 
die Auswahl im einzelnen iſt, wie Steitz in intereſſanter Weiſe 
gezeigt Hat, allerdings nur willkürlich und zufällig zu Stande ge- 
fommen. Indes bie Ermeiterung des Cyclus der Sacramente zu 
einem irgend wie das ganze Leben berüdfichtigenden war nicht zu⸗ 
fällig, fondern indicirt durch ein Intereſſe des Katholicismus, 
welches auch wir Broteftanten nur ehren können. In wie fern 
immerhin eine eigentümliche Unzulänglichkeit aud der reichſten 
Sacrramentenreihe für die religiöfe Orientirung des Lebens übrig 
bleibt, kann ich erſt fpäter aufmeifen. Sicher gehört nun noch 
die Bemerkung, daß die Meſſe als ein eigentümliches Eomplement 
der Sacramente in Betracht kommt. Berlaufen nämlid die Wir: 
fungen dee Sacramente in der Richtung auf die Dienfchen, fo die: 
jenigen der Meſſe in der Richtung auf Gott. Steik zeigt in 
feinem vorzüglichen Auffate liber die Meſſe !), wie umfider abge 
grenzt und wie unftet biefe Lehre im einzelnen tft. Indes jener 
alfgemeine Charakter ift doch der fid) immer wieder Bahn brechende 
Grundgedanke bderfelben. In dem unblutigen Meßopfer erneuert 
die Kirche für die concreten Beblrfniffe der Gegenwart das auf 
Golgatha von dem Herrn in Berfon dargebrachte Opfer. Iſt num 
die Verſöhnung Gottes die Grundlage aller Kräfte der Kirche und 
alles Heiles, fo ift begreiflih, dag die Bevollmädtigung zur Boll- 
ziehung des Meßopfers das Grundattribut des Prieftertums in der 
katholiſchen Kirche ift. 

Es wäre für die zulegt berührten Lehren nur möglich geweien, 
zu zeigen, baß Auguftin in fo fern für fie mit haftbar gemacht 
werden kann, als er fie in unbeitimmter und mehr oder minder 
ſchwankender Form, die aber zur fchärferen Ausprägung nothwendig 
drängte, bereitd präformirt hatte. Wir kommen nunmehr aber 
noch zu einem ber wefentlichiten Züge ber römifchen Lehre von 
der Kirche, wobei wir Auguftin wieder in bdirectefter Weiſe ala den 
Bater der katholifchen Gedantenwelt erkennen. In dem Auguftin’schen 
Kirchenbegriff wird gewöhnlich ein Gedanke überfehen, der aber dod) 


— — — 


1) In Herzogs Realeucyelopädie. 





Kritifche Studien zur Symbolik. 1 


von der höchften Zragmeite if. Das ift der, daß die Kirche das 
tanfendjährige Reich und in fo fern bereits das Reich Gottes dar» 
ſtellt (ugl. De civitate Dei XX, 6sqq.) ?). Die Zeit der chiliaſtiſchen 
Hoffunngen, der fehnfüchtigen Ausfchau nach dem verborgenen, aber 
demnächft zu erwartenden Gottesreich war allerdings fchon ange 
dahin. Seit durch Eonftantin die chriftliche Kirche zur Staatskirche 
erheben war, hatte fie fich vollends heimisch eingerichtet in diefer 
Belt. Über doc ift erft Auguftin derjenige, welcher den folgen» 
ſchweren Gedanken ausſprach, daß die Kirche, die in eben diefem 
Anfammenhange noch eigens als die rechtlich verfaßte, von den 
Biihöfen regierte, ftantsmäßige Gemeinfchaft hingeſtellt wird (a. a. O. 
Rap. 9), das Meich Gottes in der gegenwärtigen Weltzeit darftelle. 
Das bat nämlich praktifch keine geringere Bedeutung, als daß die 
Kirhe keine Macht in der Welt neben fi dulden kann. Denn 
das Reich Gottes ift der letzte Endzweck Gottes, der fich immer 
mehr realifiren muß in der Welt, dem gegenüber alle fonftigen 
Zwecke unberechtigt find, dem von Getteswegen alle Mächte und 
Kräfte der Welt fich unterordnen und als Mittel dienftbar machen 
müßten. Es iſt alfo mit jenem Gedanken Auguftins der von ihm 
abhängigen Kirche ber Trieb nad allgemeiner Herrſchaft über 
die Welt eingepflanzt, eine Herrſchaft, die nach dem begleitenden 
Gedanken von der Kirche felbft, keine geiftige, ideale fein will und 
kann, fondern eine äußere, politifche. Wir haben in jenem Gedanken 
Auguftins den eigentlichen Mechtstitel und das leitende Motiv für 
Ye Politik, welche die Päpſte bis auf die Gegenwart fefthalten. 
Diefe Bolitit ift eben nichts anderes, als die rüdfichtslofe, Kühne, 
wenn man will, großartige und impofante Durchführung der Idee, 
daß die Kirche ald das Neid Gottes die berufene Herrin aller 
Verhältniſſe ſei. Die Kirche wäre auh ohne jene Kombination 
Auqguſtins zwiſchen dem Gedanken von ihr felbft und von dem 


1) Es if ein befonderes Verdienſt R tfchle, daß er die Gebantenreihe 
Auguftins, der ich Hier nachgehe, in ihrer Bedeutſamkeit erlannt und her⸗ 
vorgehoben hat („Leber die Methode der alten Dogmengeſchichte“ a. a. O., 
©. 201ff.; „Rechtfertigung und Verſöhnung“ IL, 246 ff.); vgl. aber auch 
Nitzſch in der zufammenfafenden Charakteriftil des Auguftin’fhen Ey- 
ms a. a. O. S. 174—77. 





202 Kattenbuſch 


Reiche Gottes nothwendig in ſtetige Confliete mit den übrigen 
Mächten des Weltlebens, beſonders mit den Staaten, geführt worden. 
Indem fie als ihre Aufgabe die Pflicht erkannte, die Welt fitt- 
fi zu erneuern, fo mußte fie verfuchen, ihre Hand auf möglichft 
alle Beziehungen des Lebens zu legen. Und weil fie fich jelbft 
nur kennt als den hierarchiſchen NRechtsorganismus, fo konnte jeder 
Verſuch ihrerfeits, die Welt fittlich zu heben und zu verflären, nur 
zu Stande fommen mit dem Verſuche, die Hierarchie zum oberften 
Tribunal und zur eigentlichen Lenkerin der Bölfer zu erheben. Aber 
das eigentliche Pathos und die wunderbare Sicherheit und Feſtig⸗ 
feit für ihre Politit hat fie doch nur gewinnen können in dem be: 
rauſchenden Gedanken, da8 Reich Gottes fchon felbft zu fein. In 
diefem Gedanken gewinnen auch ihre Beſtrebungen erft diejenige 
populäre Faßlichkeit und Beliebtheit, ohne bie fie doc immer er 
folglos bleiben mußten. Es ift nun noch ein Gedanke Auguftins 
in Betracht zu ziehen. Wie befannt, bat Auguftin die weltliden 
Staaten, überhaupt die civitas terrena im Unterfchiede von der ci- 
vitas Dei, aus der Sünde hergeleitet (vgl. befondere De civitate 
Dei XV, dsqq.). Diefer Gedanfe war nicht unbedenklich für die 
allgemeine Tendenz, die er der Kirche verliehen hatte, nämlich) nah 
alfgemeiner poſitiver Herrfchaft zu ftreben. Derfelbe kann näm: 
ih zu einem zweifachen Verhalten gegenüber dem Staate den An 
lag bieten. Er kann es motiviren, daß man fi von allem Ber: 
fehre mit ihm überhaupt zurückzieht. Er kann auch motiviren, 
daß man fich erft vecht um ihn kümmert, indem man ihn in feiner 
Eigenart aufzuheben ſtrebt. Beide Gedanken haben im Verlaufe 
der Geſchichte der römischen. Kirche ihre Vertreter gehabt. “Der 
erftere taucht immer wieder auf im Zuſammenhange mit den 
möndifchen Ydealen und hat im Mittelalter eine Menge fchlimmer 
Streitigkeiten erzeugt. Der lettere ift derjenige, den die officielle 
Kirche, die Hierardie, Rom ohne Schwanken vertreten hat. Es 
ift intereffant, daß Gregor VII. ihn mit befonderer Rückfichtslofig- 
feit wieder aufgenommen hat, indem er ſich direct an Auguftins 
Formeln angejchloffen hat. In der That bat Auguftin felbft im 
directer Weife es ausgeſprochen, daß der Staat, eben weil er aus 
der Sünde ftamme, fih der Kirche unterwerfen müſſe, daß bie 


Kritiſche Studien zur Symbolit. 208 


Kirche aus jenem Umftande nicht etwa Anlaß nehmen dürfe, den 
Staat feiner Wege gehen zu Laffen, fondern erſt recht fich feiner 
annehmen müſſe. Indem ber Staat mit feinen Machtmitteln unter 
den empirifchen Verhältniſſen jehr wohl in der Lage ift, der Kirche 
vofitiv zu nützen — Auguſtin denkt befonders daran, daB er die 
Schismatiker zwingen könnte, fich ber katholiſchen Kirche zu fügen —, 
io hat Auguftin ibm durchaus auch eine pofitive Beziehung zur 
Kirche gegeben. Es ift eben die, daß er ihr Trabant fein foll, 
der ihr und ihren Zwecken überall zur Verfügung ijt, der keine 
Selbſtãndigkeit erftrebt, fondern feine Normen und Geſetze von der 
Sirche bezieht. So hat Auguftin ſelbſt feiner zweiichneidigen Formel 
über den Staat die Gefährlichkeit benommen, indem er feinen 
Zweifel gelafjen, wie er fie praftifch angewendet fehen wolle. Es 
it Auguftins Geift, wenn die offlcielle romiſche Kirche nie gezweifelt 
hat, wie fie fich gegen die fpiritualen, unpraftifchen Parteien, die 
Rh von dem Einfluffe auf die Staaten zurückziehen möchten, ver- 
halten müffe. Indem Auguftin Gier noch ganz eigens der Kirche 
ihre Wege gezeigt, ift es bier vielleicht am deutlichften zu erkennen, 
daß er der Stifter des Katholicismus gewefen ift. — 

Es war die eine Seite des Tatholifchen Lebens, welche wir 
bitlang im Ange gehabt haben, die katholifche Anfchauung von der 
Organifatton und dem Zwecke der religiöfen Gemeinfchaft als 
jolcher. Dabei ift es indes nur möglich gewefen, im allgemeinen 
den Charakter des Katholicismus und feine, reſp. der Hierarchie 
vedentung als großen gefchichtlichen Factors zu beleuchten. Wie 
geftaltet ich denn in ber römischen Kirche die individuelle Frömmig⸗ 
keit? Welches ift für die einzelnen Gläubigen das Ziel, das fie 
kit? Wie harakterifiren wir die religiöfe Art ber in der fatholifchen 
Kirche Tebenden und webenden, von ihren Seen getragenen Per⸗ 
Ionen? Die Antwort, welde wir bier erlangen, wird das Bild 
des katholischen Ehriftentums vervolfftändigen und erft ein Gefamt- 
urtheil über feinen Werth zulaffen. 

Es ift nöthig, am diefer Stelle auf den Begriff des höchften 
Gutes, welcher im Katholicismus gilt, zu fprechen zu kommen. 
Auguftin ift mum auf dieſem Punkte nicht fo völfig von den grie- 
Gen, zu feiner Zeit noch gemeingüftigen Anſchauungen abgegangen, 


201 Kattenbuſch 


als man angeſichts feiner Anſchanung von ber Kirche denken ſollte. 
Leſen wir z. B. was er De civitate Dei XIX, 4 über das 
höchſte Gut der Chriften ſchreibt, was feine näßere Ausführung 
durh die ganze Schlußausführung des Wertes über bie zmeite 
Anferftehung findet, oder mas er IX, 15 über Ehrifti Bedeutung 
anseinanderjegt, fo könnte man denken, Athanafius ober Gregor 
reden zu hören. Da iſt das Heil ebenfo mit phyſiſchen Kategerien 
befchrieben, und ebenfo als ein transfcendentes hingeftelit, wie mer bei 
jenen griechiſchen Vätern ). Die Kirche iſt doch nur das Weich 
Gottes in der Fremde. Die civitas Dei in hoc temporum carsu 
bleibt untermifcht mit Ungläubigen. Erft im letzten Gerichte wirb 
der Weizen von ber Spreu gefchieden und die reine communio 
praedestinatorum bergeftellt werden. Die Seligleit des Jenſeitls 
aber erfcheint ebenfo wie Bei den Griechen zunächft als die Wurs- 
rüftung mit den Kräften des phyſiſchen Lebens Bette, und Ehriftus 
ift der Träger und Vermittler ſolchen Lebens file die Menſchheit. 
Wer freilich diefe Anfhaumg Hat bei Muguftin ein Gegengewicht 
an der Anfchauung von Sünde und Gnade, welde ihn den Me⸗— 
formatoren fo verwandt Hat erfgeinen Iaffen, und an der Erkennt⸗ 
nis Ehriftt als des Vermittlers ber Gerechtigleit und Helligkeit. 
Und von bier aus erfcheint das im Chriftentume gewährleiftete höchfte 
Gut ber Menfchheit als die immer völligere Ablegung ber Sünde 
und die immer völligere Durchdringung unjeres Willens mit bem 
göttlichen Willen. Don bier aus auch ergibt ſich die Anfchaunng 
von dem gegenwärtigen Chriſtenſtande ald der erften Aufer⸗ 
ftehung und ale des verheifumgsvollen Anfanges der Selig- 
feit und Herrfhaft mit Chriſto (XX, 9). 

Diele doppelte Ideenreihe Auguftins charakterifirt nun in fo 
fern auch die Scholaſtik und überhaupt die im der römiſchen Kirche 
heimiſche Anſchauung von dem Werthe des Ehriftentums, als einer- 
feits das höchſte Gut, die fruitio Dei, darchaus dem Jenſeits vor⸗ 
behalten ift, anderjeit8 aber doch der Werth der Perſon Chriſti nach 
ſittlichen Maßftäben beftimmt wird. Dan wird fagen müffen, baß die 
latholiſche Kirche einerfeits Auguſtin in gewiſſer Weife überwunden 


1) Nachweiſe über Auguftins Anfhauung vom Werke Ehrifti bi. Dorner, 
Auguftiinus, S. 170ff. 


Kritifche Studien zur Symbolil. 2306 


hebe, auderſeits and wieder hinter ihn zurückgegangen fei. Nämlich in 
io fern ftellt fie einen Fortſchritt über ihn hinaus dar, ale fie in 
der Theorie beisußter die Bebeutung der Berfon Ehrifti als eine 
ütliche verftanden Hat. Was in biefer Hinficht Auguftin ausge 
iprochen, war bocd noch mehr religiäje Intnition geweſen, als be⸗ 
wahte Formel. Hingegen vollzieht ſich in der Scholaftif theoretifch 
md dauernd der Umſchwung von der Auffaffung Chriſti als des 
Krlöfers von der Endlichleit und Bergünglichkeit, als des Herftellers 
der allgemeinen phyſiſchen Bedingungen eines ewigen Lebens ber 
Nenſchheit mit Gott, zu der Auffaffung bdeöfelben als des Ber- 
ſthaers Gottes und der Menfchen, als des Mittlers, durch welchen 
die fittlihe Gemeinschaft des Menſchen mit Gott wieberhergeftellt 
iſ. Es wäre bier der Ort, wenn «8 nicht zu weit führte, zu 
zigen, dag Die alte nicäniſche Zormel der Ehriftologie für den 
Rulolicismus im der That nicht die nüämliche Bedeutung hat, wie 
für die geiechifche Kirche. Anderfeits aber hat die Tatholifche Kirche 
u fo fern einen Rückſchritt Hinter Anguftin gethan, als fie deſſen 
rligtöfe Conception von der gegenwärtigen unmittelbaren Zugänglich- 
kit des höchften Gutes, der Gemeinjchaft mit Gott ale Seligfeit, 
nicht feftzuihalten vermocht hat. Hat fie die finnliche Anſchauung 
vom Wefen des höchften Gutes bewußter zurüdzuftellen gemußt 
als Anguftin, fo bat fie fich dach verfangen in einem letzten Reſte 
er aktlirchlichen Borftellung. Als Seligleit gilt ihr das An- 
Idauen Gottes, welches erft unter der Bedingung des Eintrittes 
in den Himmel, alfo nad) bem Tode mögli it. So bat fie denn 
die Trausſcendenz des höchſten Gastes um fo mehr fetgehalten. 
Das ergibt aber für bie Frömmigkeit in jener Kirche diefelben 
Eonfequenzen, wie in der griechifchen. Das Bedurfnis des reli- 
gieſen Menfchen, in der Gegenwart jhen die Seligkeit in Gott zu 
erfahren, das Heil wenigftens irgend wie ſchon Hier zu keiten und 
a erieben, ift unausrotibar. Und fo greift benn bie gläubige Ge⸗ 
meinde auch im Natholicisius nothwendig und mit ſtets wachſen⸗ 
ver Leidenfchaft zu demjenigen kirchlichen Gute, welches erfahrungs- 
wißig unmittelbar eine Erhebung des Gemüthes über bie Eonflicte 
des Lebens verfchafft, nach dem Cultus in feiner die Phantafie 
mrtifenden Macht. Ausdrücklich lehrt ja auch der Katholicismns 


206 Kattenbuſch 


in ben Sacramenten eine Berührung des Menſchen mit Gott er- 
kennen. Stürzt fi aber die Menge mit ihrem ganzen Bedürfnis 
an unmittelbarer Heilserfahrung auf dieſe Myfterien, ift fie nur 
befähigt, in dieſen cultifchen Formen Gott direct zu finden, fo ift 
dem Aberglauben Thür und Thor geöffnet und es ift dann ſchwer 
den Geiftern einen Halt zu gebieten. Das bloße, abergläubifche 
Genießen des Eultus, in specie ber Sacramente, welches fo oft 
die katholiſche Weligiofität cdharakterifirt, ift nicht im Sinne der 
Ideale des Katholicismus. Aber diefe Form der Frömmigkeit 
macht fich fehließlih von felbft, wenn das Ziel der Frömmigkeit 
al8 ein in der Gegenwart unerreihbares, in der Ferne fhimmern- 
des, allein der Phantafie zugängliches Hingeftellt wird. Es ift dann 
fein Wunder, wenn fchließlid die Menge im Katholicemus den 
Eultus nicht viel ander anfieht und aufnimmt, als in der grie- 
chifchen Kirche, und in den gottesdienftlichen Gebräuchen überall bie 
Hauptſache erblidt. Aber auch wo man bes eingebent bleibt, daß 
es katholisch fei, die Sacramente und die cultifchen Darbietungen 
überhaupt, nicht zu trägem, bloßem Genuffe zu misbraudhen, fondern 
als Stärkung zu fittlidem Handeln, zur Ausrichtung guter Werke 
zu gebrauchen, aud da ift in ebleren Formen und Empfindungen 
doch die Religioſität als ſolche jo ſpecifiſch eultifch gerichtet, daß 
es uns BProteftanten immer krankhaft erfcheint. Unterſcheiden wir 
die Neligiofität von der Sittlichleit und anerkennen wir das Recht 
der erſteren als unmittelbaren Genuſſes der Verbindung mit Gott, 
fo kann fie eben im Katholicismus nur cultifch fein. 

Es ift num eine Betätigung dafür, daß das Heil im Katho⸗ 
ficiemus für die Theorie ein jenfeitige® tft, daß in den directen 
Beziehungen ber bdogmatifchen Lehre von den Sacramenten Keine 
religiöfen Functionen vorgefehen find. Der Zwed der Sacramente 
ift die justificatio d. h. die renovatio; diefelben vermitteln die 
Gnabe Gottes, aber die Gnade Gottes kommt fofort in Betracht 
als die Ausräftung mit Kräften zu guten Werfen. Gott ift durch 
die Sacramente ber Grund des Chriftenftandes, Bott und die Selig⸗ 
feit in ihm iſt auch das letzte Ziel desfelben in dem zukünftigen 
Leben. Über für die Gegenwart zielt in der Theorie von den 
Wirkungen der Kirche auf bie einzelnen Gläubigen alles ab auf 





Kritiſche Studien zur Symbolik. 207 


die Befähigung derfelben zum guten Handeln. Es iſt darin bie 
von der alten Kirche übernommene Anfchauung vom Chriftentume 
als dem „neuen Geſetze“ wirkſam. Bekanntlich ift ja auch der 
Ausdrud nova lex die bevorzugte Bezeichnung bes Chriftentums 
m der fatholifchen Dogmatil. Der Katholicidmus hat vermöge 
der Auguftin’schen Auffaffung von der Aufgabe der Kirche diefe 
Anfhauung wirklich durchgeführt und im Leben praftifch gemacht. 
Aber es ift gewilfermaßen die Rache für dieſe Einfeitigkeit ber Auf- 
faſſung des Chriftentums als Sittlichkeit, die, wie gefagt, auf’s 
tefflichfte ſtimmt mit der Behauptung der Transſcendenz des 
höhften (religiöjen) Gutes, daß das Titurgifche Intereſſe gerade 
ach in der Form der Richtung auf den bloßen Genuß praktifch 
m Katholicismus jo rege ift. 

Freilich gibt es in der katholischen Art, EChriftentum zu hegen, 
der Regel nad) doc auch fehr lebhaft eine Seite, welche jener 
theoretifchen Anfchauung vom Weſen des Chriftentums fpecifiich 
gerecht wird. Ja auf diefe Seite find wir Proteftanten fogar 
gewöhnlich aufmerkjamer und mehr zum voraus gefaßt, als auf 
die religiöfe, welche carakterifirt if. Was ih im Sinne habe, 
ift jenes gefchäftige, auf Werke gerichtete Wefen, welches man an 
normalen Katholiken beobachtet, und welches auch bie bloße, cultifche 
Religiofität im Katholicismus gewöhnlich fo eigentümlich tingirt. 
Auch die Theilnahme am Gottesdienfte wird als Werk betrachtet. 
Diefe Stimmung wird offenbar in der Ausübung des Gottesdienftes 
jelbft dev Regel nach zu Gunften rein receptiven Verhaltens ſus⸗ 
pendirt, aber fie geht diefer Theilnahme voran und folgt ihr nad). 
Und neben dem cultifchen Intereſſe zeichnet fich allerdings der 
fromme Katholik gewöhnlich aus durch einen hohen Eifer in den 
Berfen, die er für vorgefchrieben hält. Ja felbft die rohe Menge 
ft durchaus nicht abgeneigt, gewiſſe durch die Sitte bevorzugte 
oder durch den Briefter geforderte Werke ausdrücklich in ihre Re⸗ 
ligionsübung aufzunehmen. 

Im wie fern der Charakter diefes Werk⸗ und Pflichteifers aud) 
in den reſpectabelſten Fällen ein innerlich befchränfter zu fein pflegt, 
[ll fogfeih aufgezeigt werden. Doch kommt es nun zumächft 
darauf an, daran zu erinnern, daß dieſer fittlihe Trieb im Katho⸗ 

Tyrol. Stub. Jahrg. 1878. 14 


208 LKattenbuſch 


licismus begleitet ift von dem Gedanken der Möglichkeit und Noth⸗ 
wendigleit von Verdienſten. Das iſt der eigentümlich Tatho- 
liſche Gedanke, dag die Seligkeit als Lohn erworben werden könne 
und ſolle, daß die Geltung, welche der fromme Menſch vor Gott 
beſitzt, wenigſtens mit abhängig fein ſolle von ſeinen Verdienſten. 
Hier alſo finden wir jenes Intermittiren der religiöſen Beurtheilung 
der ſelbſtthätigen Leiſtungen des Menſchen, welches uns Proteftanten 
an deu Katholiken jo anftößig und unerträglich ift. Es wäre falfch, 
den Katholiken ohne weiteres Selbfigerechtigfeit zuzutrauen. Ohne 
Zweifel ift diefe Stimmung bei ihnen nicht felten und zumal für 
die Menge charakteriftifch, welche ihre Proceffionen u. ſ. w. fich 
fehr zum Verdienſte anrechnet. Aber anderjeits wird man gerade 
bet den Katholiken auch fehr häufig das beſcheidenſte Urtheil über 
die thatfächlich geleifteten Werte finden. Aber diefe Beſcheidenheit 
ift die Wirkung eines hohen Ideals, welches man fich gefteckt Hat. 
Diefe ſchätzbare Tugend ift alfo nicht zu verwechjeln mit der reli- 
giöfen Selbftbeurtheilung, die überhaupt die Möglichleit von 
Berbienften leugnet. Nun fehlt ja auch die religiöfe Beurtheilung 
bes fittlihen Handelns im Katholicismus nicht durchaus. Die Fähig⸗ 
keit zu diefem Handeln wird ja augelnüpft an die Sacramente, durch 
welche Gottes Gnade den Menjchen zu Theil wird und die gratia 
cooperans ift der dauernde eine Factor des verdienftlichen Handelns. 
Dft genug auch im einzelnen vermag der Katholik fich zu der Stim- 
mung zu erheben, daß er alles, was er ift und bat, auf Gottes 
Gnade zurücführt. Des find der heilige Bernhard und der heilige 
Franz und fo mancher andere katholiſche Bannerführer leuchtende 
Zeugen. Man lefe au die Biographien moderner frommer Ka⸗ 
tholifen und habe ein Auge auf die Tatholifchen Gebetbücher! Aber 
biefe Stimmung ift eben nicht der Grundton und nicht die dauernde 
Grundlage des Tatholifchen Werkeifers und fie ift vor allem nicht 
gefichert durch die officielle Theorie von der justificatio.e. Und 
das ift fchlieglich auch Fein Wunder. Hier vor allem glaube ich 
die unheilvolle Conſequenz der faft ausschließlichen VBergegenwärtigung 
der göttlichen Gnadenwirkungen an den Sacramenten zu erfennen. 
Mag das Leben noch fo fehr durchzogen werden mit facramentalen 
Weihen und Spendungen, die Sarramente find doch immer einzelne 





Aritiſche Studien zur Symbolik. 299 


Acte, welche vorübergehen.. Wird gar gelehrt, daß die Gnade ge 
siffermaßen in die Elemente gebannt ift, daß die Sacramente ala 
Saden zu denken find, in denen die Gnade mehr oder minder 
äußerlich befchloffen ift, fo wirb erft recht bie Entrückung der facre- 
mentlichen Zeichen einer Entrückung der göttlichen Gegenwart gleichen. 
So ift es kaum möglih, daß eine das ganze LXeben begleitende 
Selbfibeurtheilung aus dem Gedanken an Gott und feine Gnade 
auffommt. Dabei muß ja unwillkürlich ein Abwechſeln zwifchen 
dem Gedanken an die Liebe Gottes und demjenigen an die eigenen 
teiftungen eintreten, bei welchem es durch die individuelle Dispofition 
bedingt ift, welche Stimmung bie hänfigere und gewohntere ift. 
Eine Art Gleichgewicht zwifchen jenen Stimmungen wirb num aud 
indicirt durch die offlcielle katholifche Lehre von der justificatio, 
Ich kann e8 aber unterlaffen, diefe Lehre im einzelnen darzulegen 
md dadurch meiner Auseinanderfegung bie quelienmäßige Subftruc- 
tion zu geben, weil ich Keinen Anlaß babe zu bezweifeln, dag 
Kitſchls Darftellung der katholiſchen Theorie correct ift, fo dag 
ih mich auf diefelbe beziehen darf ?). 

Es wäre bis Hieher auch im einzelnen ber Nachweis möglich 
geweſen, daß bie fatholifche Theologie von Auguftin’fchem Gute 
zehrt, — bezeugt doch Ritfchl?), daß das ganze Material der 
mittelalterlichen Lehren von Freiheit und Gnade, Yuftiftcation und 
derdienft von Auguftin herſtammt — ; aber es mag bier genligen, 
daß auch meine Kurze Deductton fchon zeigt, wie die Motive der 
ganzen Lehrentwicklung des Katholiciemus offenbar auf Auguftin 
zutrũckgehen. Für das Weitere würde ich auch keineswegs baranf 
verzichten, nachzumeifen, daß die Tatholifche Lehre felbit in den 
Details zurückgeht auf die abfichtlichen Lehrausführungen jenes 
großen Kirchenvaters. Indes es muß an diefem Orte genligen, 
wenn ich darauf hinweiſe, daß es wieder Impulſe bdesfelben find, 
in deren Confequenz die römifchen Lehren ftehen. 

Das ift aber offenbar der Fall Hinfichtlich der Lehre vom Ge⸗ 
I, anf die ih nunmehr zu fprehen fommen muß. Die guten 


1) „Rechtfertigung und Verſchnung I, 8. Kap. 
an O. S. 83 
14 * 





210 Kattenbuſch 


Werke werden bemeſſen nach den göttlichen Forderungen, welche die 
Kirche definirt. Da iſt num aber charakteriſtiſch, dag als göttliche 
Forderungen eine Summe ftatutarifcher Gebote gelten, wie es eben 
ganz natürlich ift in einer Kirche, die nach ihrer Anfchauung von 
ſich ſelbſt fi) als eine Art Staat erfaßt. Daher die Gebunden: 
heit der fittlichen Auffaffung in der Ffatholifchen Kirche. Eine 
wefentliche Rolle fpielt die Kirchlichkeit. Die Kirche ſchaut fid 
jelbit an in ihrem Regimente und ihren cuftifchen Mirakeln. Ge: 
borfam gegen die theoretischen und praktiſchen Satzungen der Hier 
archie, Thellnahme am Eultus, das find daher die beiden allgemeinen 
Forderungen der Kirche. Kein Wunder, daß das Volk oft genug 
befriedigt ift, wenn: es fich den politifchen u. f. w. Intentionen bee 
Klerus willig zeigt und die Sacramente und fonftigen Bräuche 
mitmacht. Freilich fehlt es an Anleitung zu idealerer fittlicher 
Haltung keineswegs. Doch hat auch das edeljte Tugendftreben im 
Katholicismus etwas conventionelles, „geſetzliches“ an fih. Nicht 
als Tegte nicht aud die Fatholifche Kirche durchaus Gewicht auf 
die Gefinnung, aber der Einzelne wird in ihr nicht angeleitet, frei 
von fich und feinem Gewiſſen aus zu beftimmen, was feine Pflicht 
ſei. Gewiſſe Handlungen gelten als idenle Pflichten für den einen 
fo gut, wie den anderen. Das Coder derfelben ift zwar nie fixirt 
worben, wie der Coder der Glaubensſätze. Aber die Kirche fichert doch 
einer Summe von Vorfchriften ihre ftets gleiche Geltung. Man 
muß die Heiligenlegenden Iefen, um ein Bild zu gewinnen von dem, 
was als Ideal eines „erbaulichen* Lebens gilt. Immer find es 
beftimmte, durch die kirchliche Sitte ausgezeichnete Verrichtungen, 
die wir darin gepriefen finden. Gin frommer Katholik wird im 
bürgerlichen Leben feine Berufspflichten jo treu und ehrlich erfüllen, 
wie ein Broteftant. Aber feine Obliegenheiten fchweben ibm vor 
als eine Reihe einzelner bejtimmter Borderungen. Und er wird 
darüber hinaus mit Vorliebe ſich eine Anzahl bejonderer Tugend⸗ 
übungen auferlegen. Vielleicht nirgends als bei frommen Katho⸗ 
(ifen wird man fo viel Bereitwilligleit zu Liebeswerken im engern 
Sinne des Wortes finden. Armen⸗ und Krankenpflege gelten unter 
allen Umftänden als ideale Aufgabe, eine Aufgabe, ber fich unter 
den Umftänden des praftifchen Lebens keineswegs jeder Katholil, 





Kritiſche Studien zur Symbolik. 211 


der ernftliches und hohes fittliches Streben hat, wirklich widmet, 
die ihm aber befonders chriftlich erſcheint. Demutsübung in der 
Berrichtung niedriger Dienfte ift ein anderes deal. In all der⸗ 
artigem zeigt ſich die äußerliche Auffaffung des Sittengefeges und 
bes Vorbildes Chrifti. Einen ähnlichen Charakter, wie die Ans 
fdauung vom Sittengefeg trägt die Anfchauung vom Glaubensge⸗ 
feg. Auch bier eine Summe einzelner Beftimmungen, die als 
ſolche gelten, die jeder feithalten muß. Das ift die Vorftellung 
von ber Kirche als Rechtsorganismus, der kirchlichen Anleitungen 
als Rechtsvorſchriften! Es fei Hier nur bemerkt, daß bie Ent- 
fagung, mit welcher intelligente Katholiken fo oft ihr Urtheil und 
igre &infiht dem Roma locuta est opfern, für fie feine Unfitt- 
lichkeit ift, es tft die Conſequenz des ganzen Principe für den 
Ginzelnen, der ein treues Glied feiner Kirche fein will. Damit 
soll nicht gejagt fein, daB diejenigen, welche wie die heutigen Alt⸗ 
katholiken der Conſequenz des Princips ſich entziehen, weniger 
ehrenwerth jeien. 

Hier muß nun au ein kurzes Wort über das Möndtum, das 
eigentlich vollfommene Leben, feine Stelle finden. Es find mander- 
fei Gründe, weshalb es auch in der Tatholifchen Kirche für natur» 
wüchſig gelten muß. Zunächſt ift es durch diefelbe Rückſicht nahe 
gelegt, wie in ber griechifchen Kirche. Das Ziel des Menſchen 
fiegt Lediglich im Jenſeits, es kann im Umkreiſe des Weltlebens 
nicht irgend wie conftatirt werden. So flieht man ſchon im Dies- 
feits fo weit aus der Welt, wie das nur-angeht. Aber die römijche 
Kirche läßt doch da8 Diesfeits für das praftifche Verhalten nicht ohne 
Aufgaben? Und fie weiß doch dem Welt- und Staatsleben felbft 
pofitiven Nuten abzugewinnen? Das ift in der That ihre Vorzug 
vor der orientalifchen Kirche. Indes behaftet fie das gewöhnliche 
bürgerliche Thun und Zreiben doch anderfeits mit dem Makel der 
Unvofffommenheit. Weil es nicht unmittelbar der Kirche gilt, weil 
es doch nur theilweife fich ihrem Dienfte fügen kann und nur zu oft 
in der Praxis ſich als gefährlichen Gegner erweift, fo kann fie ſich 
nicht entfchließen, e8 als die maßgebende Baſis der DBethätigung 
der chriftlichen Sittlichleit anzuerkennen. Mindeſtens erſcheint es 
ihr als eine befondere und die höchſte Begnadigung, wenn einer 


212 Kattenbuſch 


ſich entſchließen kann, auf Eigentum und Familie und Selbſtändig⸗ 
feit zu verzichten. Der dritte Grund ift mit der ftatutarifchen 
Auffaffung des Sittengeſetzes gegeben. Derſelben entipricht es, 
wenn Thomas den timor filialis, die Furcht vor Verſchuldung 
gegen Gott, als ftetige, eigentlich correcte Stimmung bed Chriſten 
empfiehlt. Wie aber das Mönchtum in feiner werthvollſten Ge⸗ 
ftalt der praktifche Ausdrud dieſer höchſten Stimmung ift, zu 
welcher der Katholicismus Anleitung gibt, Hat Ritſchl ſchon nad)» 
gewiefen ), Es ift fehr begreiflih, daß ernfte Gemüther das 
alltägliche bürgerliche Leben mit feinen vielen Anläffen, die Gebote 
der Kirche zu vergeffen und zu übertreten, ſcheuen und fliehen, um 
geleitet von einem bejtimmten Willen, nicht beſchwert durch 
Rückſichten auf die Mittel der Eriftenz, aber auch ohne die Ver⸗ 
ſuchung mehr zu erwerben, als zur Erxiftenz gehört, frei von der 
Sorge für andere, allein dem „Guten“ zu eben. Das occiden⸗ 
talifhe Möndtum bat in concreto eine ganz andere Geftalt als 
das orientalifhe. Es gibt nur wenige Orden, welche der reinen 
Beichaulichleit und dem bloßen Cultus leben. Die meiften ftehen 
im Tebendigften, fruchtbarften Dienfte der politifchen und focialen 
Intereſſen der Kirche. An ihnen kann man im Heinen ben Unter: 
ichied der griechiſchen und römijchen Kirche in intereffanter Weiſe 
conftatiren. 

In den bisherigen Ausführungen Hat num manches Stück der 
katholiſchen Lehre Feine Unterkunft gefunden. Aber es fehlt doch 
hauptſachlich nur noch eine Anjchauung von eigenartigem und praf» 
tifhem Belang: das ift die Anſchauung von dem Verhäftniffe 
des Sittengefees zu Gottes Macht und Weſen. Indem nämlich 
der Gottesbegriff in der katholiſchen Theologie ?) beherrfcht bleibt von 
der neoplatonifchen (auguftinifchen) Zradition, wird die abfolute 
Transſcendenz Gottes über der Welt in rein negativer Weiſe feft- 
gehalten. Nun bildet zwar Thomas in der Anlehnung an Arifto- 
tele8 die Vorftellung von Gott ale bloßer Subftanz zu der Vor: 


1) aa. ©. II, 576ff. 
2) Bol. Ritſchl: „Geſchichtliche Studien zur chriftlichen Lehre von Gott“ I, 
Sahrbücher für deutfche Theologie 1868. 


Kritiſche Studien zur Symbolik. 218 


ftelfuung desſelben als Geift und Wille um, aber in der Confequenz 
jenes zuerft berübrten Moments der Gottesibee fteht es, daß er 
und deutlicher noch Duns Scotus das Verhältnis Gottes zur 
Belt als ein zufälliges denken. Der Beſtand der Welt ift nichts 
für Gott nothwendiges. Ebenſo wenig find die Einzelheiten 
deifen, was Gott in der Welt anordnet, etwas im Willen Gottes 
nothwendiges. Dieſe Anſchauung von dem Verhältnis der Welt 
und der Ordnungen in ihr zu Gottes allgemeiner Macht ift 
nun wirkſam zunächſt in den Zweifeln an der Nothwendigkeit 
bes Dpfertobes Chrifti. Dans aber auch in der fubjectiven Stim- 
mung der Gläubigen. Es ift zwar nirgends als in der nomina⸗ 
Gftifhen Schule am Ausgange des Mittelalters in ber Theorie 
formulirt, daß der Inhalt des Sittengefeges ein zufälliger, will- 
türficher fei, der aud) anders, ja gar entgegengefeßt jein könnte. 
Aber indireet hat fich diefe Anfchauung auch officiell in eine gewiſſe 
Geltung zu feßen gewußt. Nämlich diejelbe ergibt für das praftifche 
Urtheil leicht die Confequenz, daß der Wille Gottes in feiner con⸗ 
creten Form wohl nicht fo hoch zu veranfchlagen jei und dann wieder 
Die Conſequenz, dag derfelbe vielleicht auch über Erfordern erfüllt 
werben fönne. Und nun find eben diefe Vorftellungen durch offi⸗ 
cielle katholiſche Theorien fanctionirt. So ſcheint mir die Unter⸗ 
ſcheidung von peccata venialia und mortalia ein Symptom zu 
jein, daß jene erftere Conſequenz wirklich gezogen und anerkannt 
ift: nur gewiffe fchwere Sünden find eigentliche, volle Sünden. 
In der letteren Confequenz aber erfcheint die Herunterfeßung der 
Bedeutung des göttlichen Willens in der Lehre von der Möglichkeit 
bon opera supererogatoria und in der Lehre von den „evangelifchen 
Rüthen”. Sn beiden Formen fpiegelt ſich die unwilllürliche Ent- 
wertäung des göttlichen Willens für das praktifche Urtheil. Jene 
beiden Eonfequenzen aus der Lehre von ber Zufälligfeit des con» 
creten Inhalts des göttlichen Willens find ja nicht logiſch noth- 
wendig, aber praktiſch um fo unausbleiblicher, wenigſtens bei der 
Menge. Wir refpectiven nun einmal durchfchnittlich eine zufällige 
BWillensäußerung nicht befonders. Sie erfcheint uns zunächft nicht 
wichtig. Dann aber kommt es leicht dahin, daß ein Verftoß gegen 
diefelbe, der nicht allzu flagrant ift, als nichts fchlimmes gilt. 


214 Kattenbuſch 


Wiederum kommen wir einem Willen gegenüber, der fein noth⸗ 
wendiged Maß im fich felbft und feinem Zwecke befitt, leicht dazu, 
unfere Leiftungen nad dem Wechſel der Stimmung verjchieden zu 
beurtheilen. Warum follte dem Herru, dem wir gehorchen, nicht 
ſchon eine unvollfommene Leiftung genügen? Seine Schägung ift 
ja an keine Norm gebunden. Freilich dann kann man auch viel- 
leicht über Erfordern foldhes thun, was ihm lieb und recht ift. 

Für den Einzelnen kann die Entwerthung des göttlichen Willene 
natürlich compenftrt werden durch die Wucht, die dem Statutarifchen 
als thatfählihem beimohnt. Ein ernftes religiöjes Gemüth 
wird den willkürlichen Willen Gottes vielleiht um fo fchwerer 
empfinden. Aber ein leichtes Gemüth, welches die Majeftät Gottes 
nicht mit unmittelbarem religiöjem Blick vor fi Hat, vor allem 
die Menge, wird auf den angedeuteten Wegen Anlaß zur fittlicher 
Laxheit nehmen. 

Aft nach jener Anfhauung vom göttlihen Willen das Ber- 
hältnis Gottes zum Menſchen das eines Willkürherrichers, fo läßt 
fih die unmwillfürliche praftifche Wirkung diefer Vorftellung auf 
die Fatholifche Frömmigkeit auch nod) in anderen Spuren conftatiren, 
3. B. im Heiligencult. Iſt nicht ein Wille, der in ſich felbft 
feine nothwendige Norm Hat, vielleicht Einflüffen von außen zu: 
gänglich? Die Menge ift offenbar von diefem Gedanken fehr 
lebhaft durchdrungen. Sonft wäre folches Unweſen des Marien: 
und fonftigen Heiligencultus, wie es die Gegenwart wieder an den 
Tag gebracht, gar nicht denkbar. 

Doc id) berühre Punkte, die in dem Leben des frommen 
Katholiken fi nur als gelegentliche Nüancen der Stimmung gel- 
tend machen. Dean kann in der That nicht behaupten, baß Be⸗ 
quemlichkeit in fittlicher oder religiöfer Beziehung einem correcten 
Katholiten befonders naheliege. Jene Theorien über die Sünde 
und über den Umfang des göttlichen Gefees oder über die Madıt 
der Fürbitte der Heiligen, die derartiges begünftigen, ftehen ja in 
directem Widerfpruch mit der Grundtendenz des Katholicismus auf 
Einprägung und Realijirung des Chriftentums als Sittlichkeit, 
Wo diefe Tendenz Iebhaft empfunden wird, werden fie daher für 
da8 Handeln mehr oder minder unfchädlich fein. Sie bieten ja 


Kritiſche Studien zur Symbolif. 215 


auch als Kehrfeite fogar die Möglichkeit quälerifchen, weil end⸗ und 
ziellofen fittlihen Bemühens. 

Indes wirft die berührte Anjchauung von Gott auch bei nor» 
malen Berbältnifien nad in dem Mangel an unmittelbarer Sicher: 
heit und Unbefangenheit der fittlichen und religiöfen Empfindung, 
welcher die Stimmung des Katholiken charakteriſirt. Diefe Uns» 
jiherheit muß ja aud da entftehen, wo man fich nicht einem in 
fich gefchloffenen, notwendigen, cdharaktermäßigen Willen Gottes 
gegenüber weiß. Als Gemüthsberuhigung bleibt da nur die Aus 
terität der Kirche übrig. Wir kommen bier zu unferem Ausgangs- 
punfte zurüd. Zum Ermeife, daß auch der Katholicismus ein 
einheitfiches, zufammenhängendes Syſtem ift, jei hier nur noch con» 
ftatirt, wie e8 nunmehr auch klar ift, warum bie Kirche im Katho- 
licismus gerade fo vorgeftellt wird, wie es der Ball if. Nur 
wenn die Kirche als eine Außerliche Anftalt, die auch für das 
empirifche Urtheil unverkennbar ift, gedacht wird, kann fie dem 
Einzelnen denjenigen Halt gewähren, deſſen er bedarf, um in der 
Unficherheit, die der Gottesgedanke felbft über Gottes Weſen und 
Ziele übrig läßt, dennoch des rechten Weges und des Heiled gewiß 
zu fein. 


3. Kir kommen fhließlich zum Brotejtantismus. Das Wert, 
welches uns bier zur Anknüpfung dienen fol, ift dasjenige von 
Keiff. Dasfelbe ift ja auch eine Darftellung der gefamten Sym⸗ 
bolit, wie das Dehler’fche, Tann aber ebenfo wie dieſes füglich 
nah einem Bruchtheile charakterifirt und beurtheilt werden. 

Das Werk ift leicht gefchrieben; nicht felten ift die Darftellung 
vielleicht zu ungezwungen und formlos. Offenbar ift es in der 
Form ſchnell concipirt. Es enthält die Vorträge, welche der nun⸗ 
mehr nad Stuttgart übergefiedelte Verfaſſer als Lehrer an der 
Miffionsanftalt zu Baſel über unfere Disciplin zu halten Hatte. 
Diefem Urfprunge entfprechend ift e8 mehr oder minder populär 
gehalten. Doc wendet es fi) auch an wiffenfchaftliche Theologen 
und hofft ihnen fogar recht viel bieten zu können. Der Verfaſſer 
„erlaubt fi, dem Gange der Idee etwas voller und freier fi 
hinzugeben und namentlih durch Analyfe und Würdigung der 


216 Kattenbufd 


wichtigften Punkte, wie auch durch Skizzirung bebeutenderer kirchen⸗ 
geichichtlicher Proceſſe und durch allgemeine Charakteriftiten ber 
kirchlichen Eigentümlichkeiten mehr zu orientiren, als dies in ben 
Handbüchern der Symbolik gewöhnlich üblich ift.“ 

Wenn an dem Buche von andern gerügt ift, daß es fi) mande 
Flüchtigkeitsfehler im einzelnen zu Schulden kommen laſſe *), io 
wage ich nit, es in Schuß. zu nehmen. Der Verfaſſer hätte 
wohl die Treue im Heinen höher veranfchlagen dürfen. Indes 
dad Hauptgemwicht legt er nun einmal auf die Orientirung über 
da® Ganze, über die rumbeigentlimlichkeiten der verſchiedenen 
Kirchen. Hier erwähne ich nun, daß die griechifche Kirche wohl 
nur pro forma Berüdfichtigung findet. Denn wenn Reiff ihr 
17 Seiten widmet von 600, fo ift offenbar, daß er fie unver: 
hältniemäßig zurückſtellt. Doch ich will ja nicht von dem Werke 
im allgemeinen handeln, fondern nur von feiner Darftellung des 
Luthertums. Diefelbe fcheint bie Glanzpartie des Werkes fein 
zu jollen. Wenigftens hat der Verfaffer hier Quellenbelege beige⸗ 
bracht, die im übrigen fehlen. 

Ich kann nun nicht verhehlen, daß ich mit der Darſtellung des 
Luthertums, wie wir ſie bei Reiff finden, nur ſehr zum Theil 
einverſtanden bin. Reiffs Auffaſſung iſt meiſt pietiſtiſch gefärbt. 
Der Pietismus hat ganz beſondere Schwierigkeiten, die Reformation 
richtig zu verſtehen, und Reiff verlennt auch in der That die werth⸗ 
vollſten Gedanken Luthers. 

Es ift ziemlich felbftverftändlich, dag Reiff für die Beſtim⸗ 
mung des Weſens des Proteftantismus fi) an da8 Schema des 
Material» und Formalprincips in der befannten Formulirung an: 
ſchließt. Diefes Schema Hat die Eigentümlichkeit, dag eigentlid 
niemand an feine Zulänglichkeit glaubt ®), faft jeder aber es an⸗ 
wendet. Vielleicht wirkt Ritſchls Nachweis, daB es ganz zufällig 


1) Bol. z. B. Plitts Recenfion, Theologiſche Literaturzeitung 1876, 
©. 514ff. 

2) Vgl. die Ueberficht über die neueren Verſuche das Princip des Proteſtau⸗ 
tismus zu formuliven bei Sieffert: „Der reformatorifche Kirchenbegriff 
unter den Principien des Proteftantismus”, Theologifche Arbeiten aus dem 
theinifchen Bredigerverein, herausgegeben von Evertsbufd, 3. Bd. 1877. 


Kritifche Studien zur Symbolik. 217 


zu Stande gekommen und noch ganz junger Herkunft ift >), keines» 
wegs geheiligt ift durch die Tradition von der Urzeit des Pro» 
teftantismu® her (wie &. Bed?) ganz richtig die allgemeine Em⸗ 
pfindung fchildert), am eheften dahin, daß man endlid von ihm 
abfieht. 

Die Dispofitton des Stoffes, welche Reiff auf Grund eines 
angeblichen Gedantenganges der Auguſtana vornimmt, ift folgende: 
„1) die Glaubensgerechtigkeit, wobei zugleich die Voraus⸗ 
iegungen und Folgen derfelben zur Sprache kommen; 2) die 
Gnadenmittel als die Quelle und Bürgfchaft ber Glaubens⸗ 
gereihtigleit (wie überhaupt als die Gegenwart des Heiles auf 
Erden); 3) die Kirche als die Gemeinſchaft des Glaubenslebens, 
das die Gerechtigkeit hat und der Önadenmittel, die diefelbe bringen, 
gleihfam der Grund und Boden, auf dem beide eriftiren und ſich 
bewegen“. 

Zreten wir in die Einzelheiten ein, fo handelt es ſich alfo 
zunächſt um die Glaubensgerechtigkeit. Die Vorausſetzungen derjelben 
iind theologifche, anthropologiſche, foteriologifche. Die theologifchen 
find weſentlich Gottes Heiligkeit und Zorn Über die Sünde, die durch 
das Geſetz offenbart werden, und feine Liebe und Barmherzigkeit, die 
durch dad Evangelium offenbart werden. Die Aufgabe der Recht- 
fertigung ift die Stillung des durch das Geſetz über die Sünde 
bis zur Berzweiflung geängfteten Gewiſſens. Indem die Ruhe 
des Gewiffens allein durch den Glauben an das Evangelium er⸗ 
reicht werden fol, wirb Gott die Ehre gegeben. Um Gottes Ehre 
md Majeftät aber handelt es fi überall im Broteftantismus. 
Gegen biefe Darftellung ift zu bemerken, daß fie zu mechanifch ift. 
Es iſt durchaus nicht an dem, daß nur ein durch die terrores 
conscientiae hindurchgegangenes Gemüth Iutherifchen Sinn gegen 
Sott Haben könne. Luther felbft fett zwar feiner perjünlichen 
Erfahrung entſprechend durchweg folche Aengftigung durch die Sünde 
bei den Gläubigen voraus. Aber fein Nechtfertigungsgedante an 


1) „Ueber die beiden Principien des Proteftantismus”, Zeitfchr. f. Kirchengeſch., 
1. öft. 1877. 
3) Bol. Stubien und Kritifen 1852, ©. 408. 


218 Kattenbuſch 


ſich iſt derart, daß er, um praktiſch erprobt zu werden, nicht in 
jedem Falle jene Gewiſſensnoth als Grundlage fordert; vgl. meine 
weiter unten folgenden poſitiven Ausführungen. — In der An: 
thropologie ift die Darftellung der Lehre von der Sünde und vom 
Urftande richtig, wenngleich) mir zweifelhaft ift, ob der Verfaſſer 
den methodologifchen Unterfchied der Iutherifchen und der katholiſchen 
Anthropologie erfannt hat (vgl. oben S. 183). Merfwürbigermeife 
wird diefer Abfchnitt befchloffen mit Ausführungen über das „gött⸗ 
liche Recht der Natur und der natürlichen Ordnungen“, die nad) 
der richtigen Ordnung der Dinge keineswegs hieher gehören. Leider 
hat der Verfaſſer nur zu wenig Erfenmtnis von dem Werthe der 
reformatorifchen Bofitionen. Die Vermuthung, die reformatorijche 
Hochſchätzung der natürlichen Ordnungen, d. 5. in specie des 
bürgerlichen Berufs, des Familien» und Staatslebens, könne als 
Ueberſchätzung bderfelben erfcheinen und die Bemerkung, daß die 
„geiftlichen Dinge“ doch für Luther immer die Hauptſache ge- 
blieben, laſſen auch Leinen Zweifel, warum der Verfaſſer den 
Reformator fo wenig verfteht. Der Pietismus ift in der That 
eine übele Brille für die Betrachtung der Reformation. — Die 
joteriofogifchen Vorausfegungen behandeln die Lehre von der Ber: 
jon Chriſti, vom Werke Ehrifti, von der Heileordnung weſentlich 
nach dem Schema der Theologie des 17. Jahrhunderts. Als ob 
dieſes Schema nicht die eigenartigen Erfenntniffe des Proteftantie- 
mus mehr verhüllte als deutlich machte! 

Bei der Frage nach dem „Wefen der Glaubensgerechtigfeit“ 
begegnen wir zunächſt einer Erörterung, warum der Glaube, beffen 
Weſen Vertrauen ift, rechtfertige — er kommt dafür nicht als 
Quelle der Liebe und Brincip des neuen Lebens in Betracht, fon- 
dern lediglich als opyavov Annzixov —, dann einer Erörterung 
über den. „Begriff, die Momente und Merkmale der Hechtfer- 
tigung“ — fie ift negativ Sündenvergebung, pofitiv Annahme zur 
Gotteskindſchaft —, ſchließlich der Frage nach „Hergang, Zeitpuntt 
und Verſicherung der Rechtfertigung“. Auf letzterem Punkte 
find eigenartige, nicht zu unterſchätzende Schwierigkeiten durch die 
Quellen felbft geſchaffen. Aber Reiff ift ihrer nicht Herr ge 
worden. Er polemijirt dagegen, dag die Rechtfertigung ein „Unis 


Kritische Studien zur Symbolik. 219 


verfalbegnadigungsact, ein Generalpardon für die Mienfchheit fet, 
den Gott etwa bei der Faſſung des Erlöfungsrathfchluffes ober 
bei der Opferung Chrifti hätte ergehen laſſen“. Es ſei darauf 
zu beftehen, daß das Nechtfertigungsurtheil über jeden einzelnen 
Menfchen als folchen ergebe, fonft könne das Gewiffen fich feiner 
mt tröften. Nun findet der Verfaſſer durch die ſymboliſchen 
Vñcher indirect angezeigt, daß man denken müfje, die Rechtfertigung 
ſei „förmlich abgeſchloſſen“ erft in dem beftimmten Wtomente, 
in welchem das Subject zum Glauben fommt. Die Taufe leitet fie 
ur ein, dann muß die Buße fommen, fchließlich vollendet fich der 
ganze Proceß im Glauben. Indes damit ift erſt der himmlische 
Act der Rechtfertigung abgeichlofien. Der irdiihe „ber Verkün⸗ 
digung des göttlichen Urtheild in das Herz hinein“ ift davon zu 
unterfcheiden.. Die Verſicherung und bemußte Empfindung des 
Heiles ift nicht immer unmittelbar mit der „objectiven Rechtfertigung“ 
für das Subject gegeben. Allerdings ganz ausbleiben kann fie 
nicht. Ihre Bermittlungen find das Wort und die Sacramente, 
auch die guten Werke, die man nach geſchehener Rechtfertigung in 
Kraft des Heiligen Geiſtes wirkt. Es iſt nicht zu Teugnen, baf 
Reiffs Darftellung Anhaltspunkte bei Luther und in den ſymboliſchen 
Schriften beſitzt. Dennoch teifft fie nicht den Sinn Luthers, wie 
das in unferer pofitiven Ausführung über den Lutherifchen Pro⸗ 
teftantismus erhellen wird, Obige Darftellung ift praktiſch erprobt 
worden im WMethodismus und Frande’fchen Pietismus. Indes 
deutet der Verfaſſer an diefer Stelle durch nichts darauf Hin, daß 
in jenen beiden fectenhaften Kreifen die eigentliche Vollendung der 
Reformation zu fehen fei. 

Unter dem Zitel der „Folgen der Rechtfertigung” finden wir 
lediglich Erörterungen über das neue Leben, bie guten Werke in 
Kraft des heiligen Geiftes, das Geſetz, fofern es für den Wieder⸗ 
geborenen gift. Der Verfaſſer ift bier nicht ganz zufrieden mit 
der Lutherifchen Lehre. Der „Bedentung der guten Werke“ gefchieht 
nicht volles Genüge. Sie find mehr als bloße Anbängfel der 
Rechtfertigung, fie find ein für fich felbft gewollter göttlicher 
Zweck. Der Pietismus, „auch hier eine Fortbildung der Iutherifchen 
Lehre“, wurde der Bedeutung derjelben mehr, aber auch noch nicht 


29 Kattenbuſch 


vollſtändig gerecht. Unzufrieden iſt der Verfaſſer auch mit der 
lutheriſchen Lehre von den Sünden der Wiedergeborenen. Man 
macht die Rückkehr zur Gnade zu leicht; das Richtige iſt, daß der 
Gnadenſtand unwicderbringlich verloren gehen kann. „Er geht jedoch 
nicht fo ſchnell verloren.“ 

Es folgt die Lehre von den „Snadenmitteln als Mitteln der 
Rechtfertigung und als Gegenwart des Heiles auf Erden“. In 
diefem Kapitel wäre zunächt zu wünſchen, daß nicht zum voraus 
angenommen wäre, daß die mechanische Auffaffung von der Gegen- 
wart des Geiftes in den „Gnadenmitteln“, wie fie die orthodoxe 
lutheriſche Theologie firirte, fo weientlich Luthers Ideen gerecht 
werde. Dann fehlt völlig eine Unterfuchung über ben Begriff 
des „Wortes Gottes“ ; denn die Notizen S. 379 verrathen nicht, 
einmal, daß ber Verfaſſer weiß, daß bier eine Frage vorliegt. 
Jedoch wird der Begriff des Sacramentes in fo fern richtig ange 
geben, als betont wird (beſ. 8 77), daß das Wort auch im Sa 
cramente die Hauptfache fe. Die Orientirung über die einzelnen 
Sacramente iſt nicht faljch, aber zu wenig eingehend. Es hätte 
ſich verlohnt, vor allem Luthers Wandlungen in der Abendmahls⸗ 
(ehre genauer darzulegen. Auch vermiffe ich die Erkenntnis, daß 
Luther in feiner fpäteren Zeit in der Lehre von beiden Sacramen- 
ten feinen allgemeinen Saeramentesbegriff mehr oder minder aus 
dem Auge verlor. Dagegen ift e8 erfreulich, daß Reiff nicht Luthers 
befannte Yeußerung über die Bedeutung des Abendmahles für die | 
Berklärung des Leibes als Spige der Lehre des NReformatore 
binftellen mag, wie Blitt!) das über fih gewonnen hat. 

Schließlih kommt Neiff auf die Lehre von ber Kirche. Die 
Kirche ift ein Doppeltes: Gemeinſchaft der Heiligen, Anftalt zur 
Verwaltung von Wort und Sacrament. In beiden Beziehungen 
ift fie nothwendig. 1) Sie ift nothwendig als Gemeinjchaft der 
Heiligen. „Denn das Glaubensleben jelbft treibt zur Gemeinfchaft.“ 
Indes eine folche Vorftellung von der Kirche, wonach fie zu Stande 
fommt als die Summe der einzelnen Gläubigen, ift wohl pietiftiich, 
aber nimmermehr Iutherifh. 2) Sie ift nothwendig als Snaden- 





1) Einleitung in die Auguftana II, 363 ff. 


Kritiſche Studien zur Symbolik. 221 


mittelanftalt.. „Denn der Glaube kommt nur aus den Gnaden⸗ 
mitteln; die Gmadenmittel aber find nur in der Kirche, in welcher 
allein ihre fortgehende Verwaltung und ihre Yortpflanzung von 
Geſchlecht zu Geſchlecht garantirt if.” Aus dem Begriffe ber 
Gemeinde der Heiligen ergibt ſich das allgemeine Prieftertum der 
Gläubigen, aus dem Begriffe der Onadenmittelanftalt die Noth⸗ 
wendigfeit des Amtes. Indes Reiffs Vorjtellung, wonach die 
Gemeinde durch die amtliche Predigt und die amtliche Darreichung 
der Sarramente als ſpecifiſche Mittel erzeugt wirb ober fidh 
ſelbſt erzeugt, ft zwar nicht ohne Anhalt in beitimmten Stellen 
jelbft Luther'ſcher Schriften, dennoch aber nicht „lutheriſch“, fondern 
katholiſch — In $ 82 erörtert Reiff „Verhältnis und Zuſammen⸗ 
faſſung der beiden Seiten im Kirchenbegriff“ und bier erhält das 
tatholifche Moment feiner Vorftellung von dem proteftantifchen 
Kirhenbegriff das Uebergewicht. Urfprünglich wurde in der luthe⸗ 
rien Kirche das Hauptgewicht auf die „fubjective Seite“ gelegt. 
„Später aber, als die Intherifche Reformationsidee unabhängiger 
von dem katholiſchen Gegenjat fi in fich ſelbſt auszugeftalten 
und im eigenen Lager ſich fchwärmerifcher Verirrungen zu erwehren 
hatte, auch die leidige: Erfahrung des Erfaltend ber erften Liebe 
und der Rohheit der großen Mafje zu machen war, ging es ähnlich, 
wie einft in der Tatholifchen Kirche.“ Da fing man an, „auf das 
Objetive , allein Standhaltende, mehr Gewicht zu legen“. Über 
die beiden Seiten bes Kirchenbegriffes ſchließen ſich doch einheitlich 
ufammen — nämlid in Chriftus. „Von ihm geht der Geift 
md als Kanal bes Geiltes das Wort und Sacrament aus. Und 
mt ihm, dem Haupte, hängt wiederum die Gefamtheit derer zu⸗ 
ſammen, welche in dem Evangelium zufammenftimmen, denfelben 
EHriftus, denfelben heiligen Geift und dieſelben Sacramente haben. 
Tag Eigentümliche in dieſem Verhältnis ift aber, daß nicht nur 
die Gemeinschaft der Gläubigen durch die Gnadenmittel fortwährend 
erhalten wird, jondern daß jene auch wiederum diefe in ihrem 
Gange erhält, indem fie ihre regelmäßige Betreibung in’s Wert 
iekt, und überwacht. Ergibt fi uns ſonach das eine Mal die 
Reihenfolge: Chriftus, die Gnadenmittel (und das Amt), die Ger 
meinde — das andere Mal die Reihenfolge: Chriftus, die Gemeinde, 


222 Kattenbuſch 


die Gnadenmittel (und das Amt), ſo haben beide Betrachtungsweiſen 
doch nichts widerfprechendes." Nämlich das eine Mal kommt die 
Gemeinde als werdende, das zweite Mal als gewordene in Betracht. 
Alfo die Gemeinde befigt an ben Önabdenmitteln, fofern fie 
als bejtimmte, amtlih verwaltete Dinge vorgeftellt 
find, die fpecififchen Inſtrumente, ſich zu erhalten und ſtets neu 
zu erzeugen. Das ift eben katholifch ! 
Reiffs Werk ift inhaltlich nad) meinem Urtheil meift verfehlt. 
Dennod hat es Vorzüge, die es räthlich erfcheinen laſſen, es nicht 
zu ignoriren. Nämlich e8 ift nicht zu leugnen, daß der Verfaſſer 
feinen Stoff bis zu einem gewiffen Grade geſchickt verarbeitet Hat. 
Das Berbienft, in feiner Weife zu den Theilen das geiftige Band 
gefucht zu haben, darf ihm nicht abgefprocdhen werden. So kann 
die Lebendigkeit der Auffaffung vielleicht anregend wirken. 





Es ift oben bemerkt worden, die ſymboliſchen Schriften dee 
Proteitantismus hätten, weil fie aus ber Gründungszeit desfelben 
ftammen, das gute Vorurtheil für fi, das Weſen des Proteftan- 
tismus deutlich erkennen zu laffen. Dieſes Vorurtheil beftätigt ih 
— in der Hauptſache —, wenn wir von jenen Schriften Kenntnis 
nehmen. Indes iſt es doch nicht zu empfehlen, fich für die Sym 
bolit auf diefelben al8 Quellen zu befchränfen! Denn die Sade 
fteht fo, daß man nur bei ftetiger Achtſamkeit auf die gefchichtliche 
Entwidlung der Anfchauungen der Reformatoren die fombolifchen 
Bücher wirklich verfteht. Die Erfahrung hat gezeigt, daß diejenigen, 
die mit Vorliebe diefe Bücher für fich allein al8 zulängliche Duelle 
zur Erkenntnis des Wefens der Reformation Hinftellen, die meijten 
Misverftändniffe begangen haben. Aber es ift auch zu unterfcheiden 
zwifchen den verfchiedenen Symbolen. Ich rede nur von ben 
Iutherifchen. Es ift Feine neue Erkenntnis, daß die Concordien- 
formel einen anderen Charakter Hat, als die Auguſtana. Der 
Unterfchied ift freilich oft fehlerhaft angegeben. Er Liegt nicht fo 
fehr in ben einzelnen Beitimmungen — die find denen der Au⸗ 
guftana conformer, als mande es Wort haben wollen —, ale 
vielmehr in dem Totalcharalter, in der Tendenz. Die Anguftana 





Keitifche Studien zur Symbolik. 228 


bringt die religiöfe Differenz des Katholicismus und Proteftantis- 
mus zum Ausdrud, die Koncordienformel fchlichtet theologijche 
Streitigfeiten in der neuen Kirche, fo zwar, daß die VBorausfegung 
ift, diefe Streitigkeiten bedrohten den Beſtand der Kirche und müßten 
daher durch ein „Belenntnis” entjchieden werden. Daß der Ab- 
ftand ber Zeit der Concordienformel von derjenigen des Anfanges 
entf heidend gekennzeichnet wird durch den Abftand des fpäteren 
Kirchenbegriffes von dem früheren, durch den LUnterfchieb der Auf- 
faſſing der „Predigt des Evangeliums nad reinem Berftande“ 
als Merkmals der Kirche in der Zeit, wo Luthers Genius noch 
ungebrochen war, und in der Zeit, wo Melanchthons Geift ihn 
überwunden Hatte, hat Ritſchl an mehreren Stellen, zulett und 
am durchichlagenbditen in feiner „Entftehung der Tutherifchen Kirche“ *) 
dargethan. Aus jener Zeit ftammt noch die Auguftana, die Con⸗ 
cordienformel ift das nach den Umftänden meift ſehr glücklich for⸗ 
mulirte Programm ber zweiten. Aber auch in der Auguftana gibt 
es Punkte, die nicht mehr der urjprünglichen, eigentlich veforma- 
torischen Conception Luthers entfprechen. Auch um deswillen alfo 
ift e8 nöthig, bis im die Anfänge der Reformation zurückzugehen, 
wenn man das Weſen des BProteftantismus völlig und in feiner 
Idealität erfaften will. Kine vellftändige Symbolit müßte die 
Entwidlung des Werkes Luthers zur Iutherifchen Kirche des 17. 
Jahrhunderts, wie fie in unferem Yahrhundert von den „Luther 
ranern“ wieber belebt hat werben follen, verfolgen. Ste müßte 
auch den Pietismus in Betracht ziehen. Denn das iſt die zweite 
Hauptform, wie und in der Gegenwart ber Proteftantismus bes 
fonders bemerflich wird. Ich beſchränke mich darauf, das Wefen 
des Proteftantismus nach den höchſten Intentionen Luthers zu 
harakterifiren. Denn e8 kann mir in diefem Auffage nur darauf 
anlommen, die legitime Gejtalt bes Proteftantismus barzuftellen, 
ebenfo wie ich bemüht gewefen bin, die Iegitimen Formen des grie⸗ 
chiſchen und römischen Chriftentums bdarzuftellen, ohne mic .auf 
Formen, die zufällig oder im Widerfpruch mit dem Principe jener 
Kirchen find, einzulaffen. Es Tann nichts ſchaden, wenn auch 


1) Zeitſchrift für Kirchengeſchichte, I. Jahrgang (1876), 1. Pl 
Aeol. Stud. Iabıg. 1878. 


m Kattenbuſch 


einmal die urſprünglichen Ideen und Abfichten Luthers ausſchließ⸗ 
fih zur Darftellung kommen, nachdem man in den vorhandenen 
Symboliten überall nur die fpäteren, fo manigfach verfümmerten 
been für den eigentlichen Proteſtantismus ausgegeben bat !). 

Der Artikel von der Nechtfertigung ift derjenige, „von dem 
man nichts weichen oder nachgeben kann, e8 falle Hinunel und 
Erde oder was nicht bleiben will”. Aber was befagt diefer Artifel? 
Die allgemeine Antwort lautet, daß durch ihn der Weg zum Trofte 
für die Herzen gewiefen wird. Nun wird bei Luther und in ben 
ſymboliſchen Schriften diefer Troſt durchweg für den concreten 
Fall der Aengftigung des Gewiſſens durch die Sünde geltend ge- 
macht. Es ift aber nicht gleichgültig, ſich Har zu machen, dag der 
Gedanke der „Rechtfertigung aus dem Glauben“ an fi weiter 
reicht und auch noch Gültigkeit hätte unter PVorausfegung der 
Sindlofigkeit. Die Frage nach dem Grunde der Redtfertigung 
ift die Brage nah dem Grunde der Geltung des Menſchen 
vor Gott. Ich will Hier nicht wiederholen, was ih oben (S.187 ff.) 
bereits ausgeführt habe. Ob Luther mol daran gedacht hat, daß 
es möglich fei, anzunehmen, Adams urfprüngliche Reinheit und 
Gerechtigkeit habe Gottes Gnade erft begründet und „verdient“? 
Aber das würde Selbjtgerechtigleit in feinem Sinne geweſen fein. 
Ja als ſolche gilt ihm nicht nur das Bemühen, aus eigener Kraft 
den Willen Gottes zu erfüllen und fo das Heil zu verdienen, 
fondern auch der Gedanke, daß wir auf Grund des von Gott ge 
wirkten Guten in uns Gottes Gnade gewiß fein dürften. Es iſt 
auch nur ein anderer Ausdrud für den Gedanken, daß Gott die 
Liebe ift, wenn wir feithalten, daß in jeder Verfaffung die Geltung 
des Menfchen vor ihm ruht in feiner ewigen Liebe, die nicht verdient 
zu werden braucht, die nicht verdient werden fann, die immer 
ſchon da ift, ehe der Menſch überhaupt etwas thut und fchafft. 

Diefe Erkenntnis von der Tragweite des Intherifchen Rechtfer⸗ 


1) Im weitern werde ich befonders Ritſchls Werk über „Rechtfertigung 
und Verſöhnung“ (1. n. 3. Bd.) und Köſtlins Werk über „Lurthere 
Theologie” (2 Bde.) als befannt vorauefegen, ohne fie im einzelnen zu 
eitiven. 





Kritifche Studien zur Symbol. 226 


tigungögebanfens ift feftzuhalten, wenn man nicht beirrt werben ſoll 
durch die verbreitete mechanische Auffaffung der Lehre Luthers, daß 
die Rechtfertigimg identisch mit „Sündenvergebung“ fe. Unter 
den tbntfächlichen Umftänden, wo wir alle des Ruhmes ermangeln, 
den wir vor Gott haben follten, wäre es ein Verkennen ber 
Virklichkeit und eine gefährliche Tauſchung, zu Teugnen, baß in der 
That die Rechtfertigung ein Wechfelbegriff für Sündenvergebung 
iſt. Indeß es ift darum doch irrig, wenn man, mie Reiff, die 
proteftantifche Lehre von der Rechtfertigung fo darftellt, als rechne 
fie überall auf die Erfahrung der Gewifjensnoth und auf die ftetige 
acute Sündenempfindung, welche Luther perfünlich eigen war. Luther 
it umter abnormen Umftänden zu der Erfenntuis ber alleinigen 
Gültigkeit der Gnade Gottes zum Zwecke unferes Helles gelangt. 
Er hat ben Weg der „Selbftgerechtigfeit" im eigentlichften Sime 
des Wortes verſucht. Er bat ihn verſucht, umgeleitet durch bie 
aomimaliftische Theologie feiner Zeit. Die nominaliftifche Schule, 
welche an die Spitze des ganzen Heilsproceſſes merita (wenn aud) 
nur de congruo) ftellte, war auch auf katholiſchem Boden ein 
Abweg. Die officielle, thomiftifche Lehre ftellt befanntlih an den 
Anfang die gratia praeveniens. Der Nominalismus praktiſch 
erprobt muß zur Verzweiflung bringen oder zur Laxheit. Indem 
das erftere regelmäßig für ein religiös ernſtes Gemüth der Fall 
fein wirb, ift Luthers Sündenangft begreiflih. Wir werden in 
Luthers Lebensführung die Fügung Gottes erfennen müffen, wodurd) 
er die Energie des Reformators gewann, nachdem ihm bie 
richtige Erkenntnis über den Heildweg durch Staupitz und durd) 
die Bibel erjchlofien war. An der Hand der officiellen Theorie 
wäre er vielleicht Jeichter zu bewegen geweien, auf merita zu ver- 
jihten. Daun aber wäre er vielleicht nur ein Mann geworden 
wie Staupitz felbft und Bernhard von Clairvaur, Leute die per» 
ſön lich vielleicht durchweg ſich nur auf die Gnade verlaſſen haben, 
aber nicht das Bedürfnis der Reformation der öffentlichen officiellen 
Lehre, die ihre Frömmigkeit nur ermöglichte, nicht direct 
forderte, erfaunten und ver allem nicht den Beruf des prak⸗ 
tiſchen Reformators der chriftlihen Gemeinde in fi fanden. 
Zu letzterem war Luther geeignet, indem er auf's tiefite die Un- 
15* 


226 Kattenbuſch 


ſeligkeit desjenigen Heilsweges, der die Erwerbung von Verdienſten 
fordert, erfahren hatte. Sobald ſich die officielle Lehre gegen ihn 
aufwarf, mußte er auch in ſeinen Erfahrungen die Kraft haben, 
fie in ihrer Halbheit ebenſo wie die nominaliſtiſche Theorie abzu⸗ 
werfen. Es ift bemerlenswerth, daß Luther in feinen erſten Jahren 
in Wittenberg, wo er feine Rechtfertigungslehre pofitiv durchaus 
ar vertritt, noch nicht weiß, daß er damit die offictelle Lehre in- 
direct abrogire.. Er hat feinen Zwieſpalt mit derfelben erft fpäter 
erkannt, dann aber auch in feinen religiöfen Erfahrungen die Ener: 
gie beſeſſen, fie und die Kirche, welche fie vertrat, für unchriſtlich 
zu erflären. Wenn nun Luther auf Grund der Anleitung zum 
Ehriftentume, die er fand, nur durch die tieffte Empfindung der 
Sündennoth, der Unzulänglichkeit unferer natürlichen Kraft Gottes 
Willen zu erfüllen, bindurchdrang zum Xrofte des Glaubens an 
die ewige Liebe und Gnade Gottes, die Sünden vergibt, wenn er 
dabei fein Leben lang die Lebendigfte ftetige Vorftellung von der Un- 
vollfommenheit aller menfchlidhen Leiflungen behielt, follen wir 
jedermann anleiten, es ihm nachzuerproben, follen wir jedermann 
auch ermuntern, den Weg der „DVerdienjte” einmal zu verfuchen, 
um ihn erft hernach durch den Hinweis auf die Gnade zu tröſten? 
Es wäre das eine gefährliche Pädagogik. Iſt aber die richtige 
Erziehung darauf zu richten, die Kinder von vornherein nur auf 
Gottes Gnade aufmerkſam zu machen, fo ift es fehr wol möglich, 
daß einer fein Leben lang ſich demütig der Gnade Gottes getröftet, 
ohne je die terrores conscientiae erlebt zu haben. Auh iſt es 
dann eine individuelle Sahe, ob man lebhafter und ftetiger der 
Unvollkommenheit, die auf Erden an uns bleibt, bewußt ift oder 
lebhafter der begonnenen Erneuerung, der von Gott gegebenen ſitt⸗ 

lichen Kraft, alfo auch des Vollbringens, welches uns neben dem 
Straucheln geſchenkt wird. Luther kennt auch die Freude des 
Ehriften, gute Werke vollbringen zu können. Und es ift nicht 
- abzufehen, warum der Gedanke der Rechtfertigung aus bem Glauben, 
der Geltung dor Gott nicht Kraft unferer Leiftungen, fondern 
kraft feiner ewigen Liebe, das Bewußtſein fittlich werthvoller 
Leiftungen ausschließen follte. Man ignorire doch nicht, daß jeit 
Luther die evangelifche Kirche nicht erft erzengt zu werden braucht, 





Kritiſche Studien zur Symbolil. 227 


ſendern da ift, daß die Gemeinden, zu denen wir heute reden, in 
der Borftellung leben, daß Gottes Liebe erft zu verdienen nicht 
nöthig und nicht möglich ift. So fee man doch auch nicht mecha⸗ 
nich die Form, in der Luther zu feiner Zeit feinen Nechtfer- 
tigungsgebanten ausfprechen mußte, fort, fondern ftelle ihn in der 
vorm dar, in der er jede individnelle, chriftlich legitime Stimmung 
zu begleiten geeignet ift! 

Hanptfächlich geftütt wird die mechanifche Auffaffung der Aus- 
jagen Luthers über die Rechtfertigung durch die Lehre von dem 
Zaftandefommen berfelben, fo wie Quther diejelbe in unzweckmäßiger 
Rachgiebigkeit gegen Melanchthons Rüdfiht auf den „gemeinen 
groben Mann“ in feiner fpäteren Zeit formulirte. ‘Diefe Lehre 
geht dahin, daß die Rechtfertigung zu Stande komme durch die 
Predigt des Geſetzes und des Evangeliums, fo zwar, daß eritere 
zunächſt die contritio zu bewirken habe, worauf die fides den Troſt 
des Evangeliums ergreifen dürfe. Melanchthon hatte Gefe und 
Svangelium, Zerknirſchung und Glaube, in diefer zeitlichen Auf- 
enanderfolge al8 die Faktoren der Rechtfertigung bingeftellt, weil 
er nur fo der fittlichen Verwilderung der Gemeinden glaubte ftenern 
zu können. Aber die urfprüngliche Lehre Luthers ging dahin, daß 
au die contritio Schon aus dem Glauben ftamme, daß die Predigt 
des Evangeliums den Anfang machen müſſe. Es bedurfte nur der 
nöthigen paftoralen Weisheit, um bem „gemeinen Mann“ ben Ges 
danfen abzugewöhnen, dab die Predigt von ber Vergebung der 
Sünde fittliche Laxheit legitimire. Auch tft es unfchwer zu zeigen, 
warum die Melanchthon'ſche Methode, die Übrigens von ihrem 
Ureber felbft für theologiſch incorreet erklärt wird, erſt recht 
mzweckmäßig ift!). Das „Geſetz“ hat nur Macht über die Ge⸗ 
müther um bed „Evangeliums“ willen. Es Teuchtet nun ein, daß 
die urfprüngliche Lehre Luthers das Dringen auf Erfahrung der 
Angft um die Sünde, die Beſorgnis, daß man auf den Gedanken 
gerathen könne, durch eigenes Verdienft Gottes Gnade erwerben 


1) Mit diefer fehlerhaften paftoralen Methode wird ohne Zweifel der Mangel 
an fittficher Energie, der in der fpäteren, zumal der „orthodoren” Zeit, 
in der Tutherifchen Kirche fo befremdend auffällt, zuſammenhängen. 








28 Kattenubuſch 


zu wollen, die Gewöhnung, alsbald an die Unvollkommenheit aller 
menfchlihen Sittlichkeit zu erinnern, welches alles im individuellen 
Falle ebenfo fehr lähmend und beirrend als fürbernd wirken kann, 
al8 eben nur relativ berechtigt erfcheinen läßt, während allerdings 
die Spätere Lehre des Reformators die mechanische ufuelle Aus⸗ 
führung feines Nechtfertigungsgedantens nahe legt. 

Es ift nun hier der Ort, darauf aufmerffam zu machen, welchen 
Werth der reformatorifche Rechtfertigungsgedanke für das praf: 
tiiche Leben bat. Das fcheint fo felbjtverftändlich, daB die meiften 
Symboliter diefe Frage gar nicht aufwerfen. Wenn nur nicht 
dieſes Vertrauen auf das unmittelbare Verftändnis der Errungen- 
ſchaft der Reformation überall eine fchiefe Bezeichnung des Gegen: 
ſatzes des Katholicismus und Proteftantisemus zur Folge hätte! 
Aber diefer Gegenfag kann gar nicht auf eine richtige Formel ge: 
bracht werden ohne Achtſamkeit auf die Zweckbeziehung des pro- 
teftantifchen Nechtfertigungsgedantene. Nun bat ja Quther diefelbe 
nur zu bald — nit zwar für fein praktiſches Verhalten, aber 
für die öffentliche Belehrung — aus dem Auge verloren. Aber 
einmal hat er fie doch fo bewußt und lebendig zum Ausdruck 
gebracht, daß man ein Recht Hat, die Schrift, worin das gefchieht, 
troß ihm ſelbſt, als das Programm feiner Reformation binzuftellen. 
Es iſt Ritſchls größtes Verdienft um das Verſtändnis des Pro: 
teftantismus, daß er Luthers Schrift de libertate christiana m 
ihrer Bedeutfamkeit wieder entdect hat. Nur im Hinblid auf fie 
fanıı man erkennen, welch' eine That die Reformation gewejen ift, 
und dag zwiſchen Katholicismus und Proteftantismus ein wirklicher 
Stufenunterfchted befteht: Iſt der Katholicismus darauf gerichtet, 
das Chriftentum als Sittlichleit einzuprägen, fo der Proteftan: 
tismus darauf, den Charakter des Chriftentums als Religion 
vor allem zu wahren. Das gejchieht in dem Gedanken der „Frei⸗ 
heit eines Chriſtenmenſchen“, wie ihn Luthers liebliche Schrift 
ausführt. Es ift der Sinn aller Religion, ben Eonfliet zwiſchen 
der überweltlichen Beftimmung des Menfchen und feiner natürlichen 
Einordnung in die Welt zu löfen. Das Chriftentum verheißt dieſe 
Löfung in abfchliegender Weife (Matth. 11, 28ff.). Während aber 
die griehifge Kirche im Rückfall in phyſiſche Maßſtäbe diele 


Kritifhe Studien zur Symbolik. 28 


Löfung darin fah, daß das Chriftentum die fchließliche Erhebung 
unfered Lebens über feine creatürlihen Bedingungen hinaus zu 
gättlicdyer Seinsform gemwähre, während die römifche Kirche, dent⸗ 
liher zwar den eigenartigen, fittlichen Charakter des Chriftentums 
ertennend und die Seligfeit als geiftigeg Gut (fruitio Dei im 
Auſchauen feines Weſens) begreifend, dennoch gebannt blieb in dem 
Gedanken, daß das höchſte Gut des Ehriftentums erft im Jenſeits 
zugänglich werden folle, fo daß für die Gegenwart der Theorie 
nach nur das fittlihe Handeln als der Selbſtzweck des Chriſten⸗ 
ums übrig blieb, fo hat der Broteftantismus es bemußtermweife er» 
faft, daß das religiöfe Gut des Chriftentums, welches er zugleich 
erit volllommen als ein geiftiges, fittlich bedingtes erkennt, Schon in 
der Gegenwart zugänglich jei, daß die Seligleit im Chriftentume 
bier ſchon nicht bloß verheißen, fondern auch gewährt fei. “Die 
„Königeherrfchaft“ über die Welt in dem Bemußtjein, daß denen, 
die Gott lieben, alles zum beiten dienen müſſe, die „Freiheit über 
md von der Belt“ in dem Bewußtſein der Nechtfertigung im 
Glauben, der Geltung vor Gott kraft feiner ewigen, unvergäng- 
fihen Liebe — das ift der Werth, welchen der Broteftantismus 
den Ehriftentume beifegt, das iſt das Gut, weldhes er im Chriſten⸗ 
tume finden ehrt und womit das Bedürfnis des menschlichen 
Herzend nad) Seligkeit in Gott geftillt wird. Der proteftantifche 
Glaube kennt auch das Jenſeits als die Vollendung der Gegen 
wart und hält mit Paulus feit, daß es beſſer ift abzufcheiden 
und bei Ehrifto zu fein. Aber er lehrt auch die Gegenwart als 
der Seligkeit voll erlennen. Wo Vergebung der Sünden ift, fagt 
Luther, da ift auch Leben und Seligkeit. Damit erft ift die Ge- 
müthöbefteiung und die Gemüthsbefriedigung in der Gegenwart 
geboten, welche zu fröhlicher Arbeit in der Welt nothwendig ift. 
Welche Berlümmerungen der Proteftantiemus dadurd erfuhr, 
wie viele Rüdbildungen in katholiſches Weſen in ihm dadurch er- 
zugt wurden, daR die Reformatoren die urfprünglice Zweckbezie⸗ 
hung ihres Rechtfertigungsgedantens für die Belehrung in der Theo⸗ 
logie und in der Predigt aus der Sicht verloren, ſoll nicht Bier 
erörtert werden. Ich erwähne hier aber, daß, wie die Chriftologie 
in der griechifchen und in der römiſchen Kirche erſt verftändlich 


20 \ Kattenbuſch 


wird im Zuſammenhange mit der Idee des Gutes, welches jene 
Kirchen in Chriſto garantirt ſehen, daß ſo auch die religiöſe Ver⸗ 
gegenwärtigung Chriſti, welche Luther eignet, erſt klar wird im 
Zuſammenhange mit der Idee der „Königsherrſchaft des Chriſten“. 
Luthers Bedürfnis iſt dieſer Idee entſprechend darauf gerichtet, in 
Chriſto als geſchichtlicher, uns menſchlich naher, menſchlich anſchau⸗ 
licher Perſon Gott anzuſchauen. Die griechiſche Kirche hatte dies 
Bedürfnis nicht. Es genügte für ihren Standpunkt, wenn ihre Vor⸗ 
ſtellung von Chriſtus genügend äußerlich als authentiſch bezeugt er- 
ſchien. Denn da8 Gut, welches ihr in Chrifto gewährleiftet fein 
folfte, war ja fein für die Gegenwart zugängliches, war feines, welches 
man jich hätte vorftellen müffen, um es in Kraft des Willens fich 
anzueignen, e8 fam unter der Bedingung der Zugehörigkeit zur Kirche 
und der Erfüllung des Geſetzes von felbit, mit Naturnothwendigfeit 
in wunderbarer unbegreiflicher Verwandlung der Lebengbedingungen 
im Tode. Anders ſchon ift der Standpunkt des Katholicismus. 
Chriftus ift unſer Verföhner, er ift die Kraft neuen, Verdienſte 
ermöglichenden Lebens. Die Zweinaturenlehre wird der Tradition 
balber feftgehalten. Aber die Scholaftif hat nit mehr das Ver⸗ 
ftändnis der griechijchen Ortbodorie für die Bedeutung der beiden 
Factoren. Was die Macht des griechifchen religiöfen Bedürfniſſes 
vermocht hatte, daß man hinwegſchaute über die begrifflichen Un⸗— 
möglichkeiten der Zweinaturenlehre, das vermag das wefentlich 
anders geartete fatholifche religiöfe Bedürfnis nicht mehr zu Stande 
zu bringen. Der Takt und die Sicherheit der Aufrechterhaltung 
beider Factoren in ihrer Eigenart geht verloren. Aber das Bes 
dürfnis, ein geſchichtliches, menfchlih anſprechendes Bild der Perfon 
Chrifti zu gewinnen, hatte man doch auch nicht. Die Kraft feines 
Lebens in der doppelten Beziehung auf Gott, welder verföhnt 
worden, und auf und, die wir ſittlich umgeftaltet werden follen, 
ift ja an die hierarchiſche Sacramentslirche übergegangen. So 
genügt die Vergegenwärtigung des Willens Chrifti in dem Gefege 
der Kirche und feiner Kraft in den Sacramenten. Hingegen 
im Proteftantismus fol durch Chriftus die Freiheit über die 
Belt und zwar fchon in der Gegenwart ermöglicht fein, und fie 
joll erlebt werben im Vertrauen auf Gott in feiner Offenbarung 


N 


Kritifche Studien zur Symbolik. 21 


m Chriſto. Hier kommt es darauf an, daß Gottes Offenbarung, 
jene Liebe, in der wir geborgen fein follen, uns wirklich vertrauen- 
und glaubenerwedend d. i. in einem Berfonleben entgegentritt. 
Darım kann Luthern die Zweinaturenlehre, welche die nothwendige 
Bergegenwärtigung Chrifti als Berfon nicht gewährt, immer nur 
in einer unmwillfürlichen Umbdentung genügen !). Warum fie ihm 
überhaupt werthooll geweſen, kann ich diesmal nicht erörtern. Daß 
Suther leine neue Theorie über Chriſtus aufgebracht, iſt im dem 
Katurgrenzen feiner Fähigkeiten begründet. Es ift aber werthvoll, 
zu beobadyten, wohin fein religiöfe® Bedürfnis in der Chriftologie 
ih wendet. Wir werden auch hier nicht bazufommen, Luthers 
religiöfen Gefichtsfreis zu überbieten. 

Wenn bisfang hervorgehoben wurde, daß der Proteftantismus 
darin feinen wejentlichen Vorzug vor dem Katholicismus Habe, daß 
er dem Wefen des Chriftentums als Religion gerecht werde, jo 
müffen wir hinzuſetzen, daß er darüber das Weſen desfelben ale 
Sittfihfeit nicht vergißt ober vernachläßigt. Iſt das Chriftentum 
in feiner Gejamtheit nur erfaßt als bie fittliche Religion, fo voll» 
endet fih darin die Weberwindung des Katholicsmus dur den 
Proteftantismus, daß der letztere auch Hinfichtlich des Weſens der 
Sittlichfeit erft die vollftändige und richtig biblifche Anſchauung 
darbietet.. Die Bedingung der Rechtfertigung ift die Buße. Buße 
aber ift nach der erften der 95 Thefen und überhaupt nach Luthers 
Fee in der erften Zeit nicht eine im beftimmter Zeit abfolvirbare, 
nah Bedürfnis wiederholbare Leiftung, wie im Katholicismus, 
jondern die Anderung ber gefamten Richtung des Willens. Es 
iſt hiemit das denkbar lebhaftefte fittliche Intereſſe des Reformators 
dorumentirt. „Die Rechtfertigung befreit nicht von den Werfen, 
jondern von dem Wahne ber Werke.“ ALS Luther fpäter ſich Hin- 
fichtlich des Ausdruckes poenitentia wieder auf die katholiſche Tra- 
dition zurückzog und als „Buße“ einen beftimmten einzelnen Act 
definirte (ogl. Auguftana, Art. 12), hat er darum feine geringere 
Borftellung gehabt von der umfafjenden Aufgabe des neuen Lebens, 
des Ehriften. Es muß nun zunächſt darauf Hingewiejen werden, 


1) Acynfid Herrmann, Die Metaphufit in der Theologie, &. 63ff. 





282 Ratienbufid 


daß Luther, indem er alles Gute ans der Kraft Gottes Herleitete, 
noch befondere Borkehr traf, daß der Artikel von der Rechtfertigung 
ans dem Glauben allein durch diefe Betonung der Nothwendigkeit 
der guten Werke nicht alterirt werde. Ja es darf nicht verfchwiegen 
werden, baß er in feinem Bemühen in biefer Hinficht eine Theorie 
von ber Abhängigkeit des Menſchen von Gott ausgebildet hat, bie 
in beftimmten Beziehungen entfchieden zu weit geht). Welches 
ift aber der Inhalt des Sittengefege8? Darin muß fich der 
Vorzug des Proteftantismus vor dem Katholicismus entjcheiden. 
Denn mit dem allgemeinen Intereſſe, daß der Glaube nid 
ohne Werke fei, hat ja der Proteftantismus nichts vor dem Ka⸗ 
tholicismus voraus, und ift erft bezeugt, daß der Proteſtautismus 
die katholiſche Auffafjung des Chriſtentums nicht abweift, ohne das 
berechtigte Moment derjelben auch feinerfeits feftzubalten. Nun 
wird man vergeblich bei Luther die correcten theologischen For— 
meln zur fittlihen Normirung bes chriftlichen Lebens fuchen. 
Aber in mandherlei Weife Hat er die Elemente zu der richtigen 
Theorie dargeboten, fo daß wir wieder feinen praftiichen Gefichts- 
freis nicht zu erweitern haben, um die maßgebende Formel für 
dad Weſen des Sittengeſetzes aufzuftellen. Welche Vorftellung 
Quther von der fittlichen Verpflichtung des Chriften Habe, erkennt 
man vielleicht am ficherften ans feiner Schrift de votis mona- 
sticis 1521. Ich fann bier diefe Schrift nicht analyfiren. Aber 
es ift offenbar, daß für Luther hier das Geſetz ber guten Werk, 
welches dem Ehriften obliegt, Tein irgendwie ftatutarifches ift, nichts 
irgendwie mit einer Summe einzelner Vorſchriften, welche für 
jebermann gleicherweife gelten, gemein hat. ‘Der göttliche Wille 
ift ein Geſetz der Treibeit, welches jeder Ehrift nah Maßgabe 
feines Gewilfens und unter felbftändiger Beurtheilung feiner natür- 
fihen Organifation und der Umftände feines Lebens felbft auf 
feine Perſon anwenden und für fich concret machen muß. Ce ift 
die Idealität des göttlichen Geſetzes, welche Luther hier geltend 
macht und welche er nicht nur gegen den römischen Mechanismus, 


1) Bgl. meine Schrift: „Luthers Lehre vom unfreien Willen und von der 
Pradeſtination nach ihren Entftefungsgründen unterfucht.“ 


Kritifche Studien zur Symbolik. 238 


jmbern auch gegen ben Mechanismus ber Neformer, mit denen 
er bald nachher in Wittenberg zu fümpfen hatte, aufrecht erhalten 
hat. Die Summa des göttlichen Geſetzes aber, die Idee, welche 
des ſittliche Verhalten des Chriften regeln fol, ift flir Luther die 
Yiebe, wie fie in Chriſtus anfhaulid ift. Diefem Ges 
danken gilt bekanntlich befünders ber zweite Theil der Schrift de 
ibertate christiana. Und bier bietet Luther auch die Vorftellung 
ven einem großen Organismus des fittlichen Lebens der Chriften- 
hat, da „die Güter, die wir ans Bott haben, aus einem in den 
andern fließen”, wo Chriftus das Haupt und wir die Glieder 
fand, die ſich wechfelfeitig tragen und fördern in der Liebe. Diefem 
Gedanken ift es nım conform, wenn Luther auch die fittlihe Auf- 
gebe des einzelnen Chriften fo anfieht, daß er eine einheit- 
liche Geftaltung des ganzen Lebens durch bie Liebe im Sinne hat. 
Yuther denft über die Verpflichtung des Chriften zu „guten Werken“ 
nicht jo, daß er und alle möglichen Liebesleiftungen, zu denen wir 
in abstracto befähigt wären, zumuthet. Vielmehr Hat er die 
deutliche Borftellung einer einheitlichen Lebensaufgabe, gemäß welcher 
wir Ordnung ftiften können unter der Menge guter Werte, bie 
ſich im allgemeinen als möglih für uns bdarftelfen, und gemäß 
weicher wir entfcheiden können, was in concreto unſere Pflicht fei. 
Die fittlichen Aufgaben des Ehriften find flir Luther zufammen» 
akt in der Borftellung des von Gott zugewiefenen Berufes. 
Luther beurtheilt die Beziehungen, in welche wir durch Geburt und 
Erziehung Hineingeftellt werden, als göttliche Fügungen und will 
demgemäß nicht, daß wir uns von biefen losſagen, um uns ein 
millfürliches Gebiet fittlicher Arbeit zu fchaffen. Diefen Gedanken 
barürt er in der manigfachften Weiſe; vergleiche befonders die Schrift 
de votis monastics. Alle jene Beziehungen zu geftalten und 
zu vereinen nach dem freien Geſetze der Liebe, die aus ihnen eitt- 
Ipringenden Aufgaben, die eben nur für uns in diefer Verknüpfung 
und ſich wechfelfeitig bedingenden Art vorhanden find, zu ergreifen, 
um in ihnen den chriftlichen Liebesfinn zu bewähren, in diejer 
Beife einer einheitlichen, individuellen Lebensarbeit mit ftetigem 
Sime nachzugehen — das ift für Luther die Forderung, die Gott 
an uns ergeben läßt. In unferem Kreife mit unferen Gaben zu 








234 | Kattenbufch 


wirken, wozu uns die Liebe anhält, das iſt der kleine oder große 
Beitrag zum Wohle der Geſamtheit, den Gott von uns in An⸗ 
ſpruch nimmt. Die Predigten Luthers find voll von concreten, 
anſchaulichen Ausführungen über den individuellen einheitlichen 
Charakter der fittlihen Verpflichtung des Chriſten. SDiefelben 
weifen dem Familienvater, der Mutter, den Kindern, ben Dienſt⸗ 
boten, den verfchiebenen Ständen ihre eigentümlichen Pflichten nad. 
In diefer PVorftellung von dem individuellen, von Gott gewiefenen 
Berufe und von der zufammenbängenden Lebensleiſtung, 
die uns obliegt, hat Quther dem fittlichen Streben die Orientirung 
wiebergeboten, die nur zu Tange der Chriftenheit abhanden gelommen 
war und gemäß welcher allein Freudigkeit und Sicherheit in der 
Arbeit möglich if. Es ift die Frucht diefer Erkenntnis von dem 
Weſen der „guten Werke“, daß Luther auch die Tatholifche Unter: 
Iheidung von Geboten und Räthen, die Unterfcheidung bes „voll: 
fommenen“ Möndyftandes und des minder werthvollen bürgerlichen 
Standes zu caffiren vermochte. Die allgemeinen Ordnungen bes 
menjchlichen Xebens, die natürlichen Ordnungen, die Rechtsordnungen, 
beftehen kraft göttlicher Stiftung, und es hat jeder es mit fich und 
feinem: Gotte abzumadjen, in welchem Stande und Berufe er ihm 
dienen fol. So befteht zwar ber Unterfchied des volllommenen 
und unvollfommenen chriftlichen Lebens, aber nicht als der zweier 
Schichten der chriſtlichen Geſellſchaft, ſondern als der Gradunter- 
Ichied des fittlichen Ernftes der Individuen in ihrer Pflicht). — 
Es ift nun nicht gleichgültig für die gefchichtliche Entwidlung der 
von Luther reformirten Kirche geweſen, daß Luther in der Gefamt- 
bezeichnung der fittlichen Aufgabe des Chriften Feine andere Formel 
aufgeftellt Hat, als die hergebradhte, daB wir zu „guten Werten“ 
verpflichtet fein. Um zu jehen, wie weit er fich in feiner Auf: 
faffung des Geſetzes vom Katholicismus entfernte, müſſen wir 
auf feine Specialausführungen achthaben. Dann ift es evident, 
dag unter dem gleichen Titel bei ihm eine ganz andere Vorftellung 
fih birgt. Indes Konnte feine rveformatorifche Erneuerung der 
fittlichen Vorftellungen, da fie eben nicht gefichert war durch eine 


1) Bol. Ritſchl, Die Hriftliche Belllommenheit; dazu Anguftana DI, 6, 49. 


Kritifhe Studien zur Symbol. RE 


mtjprechende Formel, welche in die öffentliche Belehrung hätte .über- 
schen Können, fich nicht fo im Vollsbewußtfein durchjegen und ein- 
Bürgern, daß nicht bedenkliche Schwankungen zu erwarten gemwefen 
wären, fobald die Erinnerung an feine pajtorale PBraris und an 
fein geniales perfünliches Vorbild verblihen war. Es ift nicht zu 
verwundern, daß da aud) in feinem Reformationsgebiet fi Nich- 
tmgen angefiedelt haben, welche die Katholifchen Anſchauungen vom 
volffonumenen und unvolllommenen Chriftentume, wenn auch unter 
amderer Beſtimmung der concreten Geftalt des volllommenen Weſens, 
weder in Gang geſetzt haben. Ich denke an die befannten Vel⸗ 
leitäten der pietiftifchen Kreife Hinfichtlich der „geiftlichen Dinge“. 
68 find bald fo, bald fo beftimmte befondere Leiftungen, die in 
diejen Kreifen für die eigentlich erft wahrhaften geiftlichen Dinge 
ausgegeben werden. Wer darin nicht mitmacht, gilt als lau, als 
jurüdgeblieben in ber Heiligung, mag er auch übrigens in Treue 
md Demut in feinem Tagewerke dahingehen. Die evangelifche 
Kirche befitzt Hiegegen nicht den genügenden Schuß, fo lange die 
mzulängliche Formel, daß der Glaube „gute Werke“ erfordere, in 
Curs bleibt. „Gute Werke“, das ift eine unendliche Fülle von 
Möglichkeiten, die beirrt und unſicher macht. Wir müſſen einen 
Maßſtab haben, wonach wir aus der Fülle abftracter Möglichkeiten 
zu gutem Handeln einen überjehbaren Kreis nächfter Pflichten aus- 
(beiden können. War Luthers praktifche Anweifung vergeffen, fo 
war es nicht anders möglich, als dag wieder ein ftatutarifcher 
Maßſtab irgendwelcher Art in Geltung kam, und es war dann von 
jelbft gegeben, daß beftimmte Webungen der Heiligung vor andern 
den Borzug erhielten. So ift die Formel Luthers der Hoden, 
anf dem auch die pietiftiiche Praxis gedeihen konnte. Doch ift es 
aun unfer Recht, ober vielmehr nach den Grundfägen gefchichtlicher 
Forſchung unfere Pflicht, darauf Hinzumeifen, daß Luthers praftifche 
Eonception größer war, als feine Formel. Die fittliche Verpflich- 
tung des Einzelnen ift für ihn durchaus individuell bemefien. ‘Das 
mit ift nicht die fittliche Willkür Tegitimirt. Die fittliche Arbeit 
empfängt ihre Begrenzung und Definirung durch die religiöfe 
Drientirung, kraft welcher wir wifjen, dag wir nicht von ohngefähr 
in den Beziehungen ftehen, in die wir durch unfere natürliche 





236 Aattenbuſch 


Art geſtellt find. So Hat das Geſetz der Liebe, welches ber 
Chriftenheit obliegt, Luther vorgeftanden als der Zweckgedanke einer 
einheitlichen Drganifation des gemeinidhaftlichen Lebens in der 
Form, daß jeder Einzelne an feiner Stelle, in den durch feine 
nächſten Beziehungen gegebenen Anläffen Handelt nad) bem Maf- 
ftabe nicht des egoiſtiſchen Wohles, fondern bes fittlichen Beſten 
ber Gefamtheit. Demgemäß hat er mit unmittelbarem Takte die 
naturgemäßen Lebensformen der Menſchheit auch als die normalen 
Bedingungen chriſtlicher Sittlichleit wieberhergeftellt, Familie, 
Staat, bürgerlichen Beruf, wie ſich benn eben diefe Formen ale 
die Bafis der chriftlichen Liebesübung ermweifen, fobald man das 
„Reih Gottes“ als die fttliche Aufgabe der Menſchheit er- 
kannt hat. | 
Zu der Sicherheit ber religiöfen und fittlidhen Empfindung num, 
die Luther durchweg charakteriſirt, ift der Schlüffel feine Vorſtellung 
von dem Verhältnis ber Welt zu Gottes Selbftzwed. Für feine 
praftifche Intuition ift Gott gar nicht vorhanden, ohne wie er in 
Chriſto offenbar ift, als heilige Liebe, als der immerbar die Welt 
ſchafft und trägt und mit feiner Liebe und Gerechtigkeit füllt. 
Luther Hat ja freilich den Gedanken oft genug ausgefprochen, daß 
Gott der Welt nicht bedürfe, und er hat unter Umständen felbft 
mit viel Pathos (vgl. die Schrift de servo arbitrio 1525) alle 
Nothwendigleit der thatfächlihen Beziehungen Gpttes zur Welt 
abgelehnt: „Deus est, cujus voluntatisg nulla est ratio.“ ber 
er bat auch faft mit demfelben Athemzuge biefe Gedanken als 
mäßige, beirrende Speculationen bezeichnet. Die Statuirung des 
„verborgenen Gottes“, welche die Rationalität und Zuverläßigkeit 
der Gefinnung, mit welcher fih Gott in der Offenbarung an und 
wenbet, in Trage ftellt, ift ihm doch nur unter beſtimmten Um⸗ 
jtänden homogen und im Gedächtnis gewefen. Und es läßt fh 
zeigen, wie er in diefen Momenten unter der NRachwirkung feiner 
fotholifchen, fpeciell feiner nominaliftiihen Epoche fteft ). Im 
allgemeinen bat er gar nicht daran gedacht, .über Chriſtus und 
über die Offenbarung hinauszugrübeln. Dieſe durchgängige ſichere 


1) Bel. meine Schrift: „Luthers Lehre vom ımfreien Willen" n. f. w. 


Kritiſche Studien zur Symbol. 2317 


teligiöfe Orientirung unterfcheibet in von den Scholaftifern, melde 
die Unterfcheibung bes offenbaren und des verborgenen Gottes niel 
erufthafter aufgeftellt haben. So ift ihm denn die Liebe Gottes 
‚„Ratur“. Gottes Gefinnung gegen die Welt, Gottes Verhalten 
zur Welt, ift ihn ein charaltermäßiges. Darum kann er auch 
geradezu definiren: „Ein Gott ift, dazu man ſich verjehen ſoll alles 
Guten und Zuflucht haben in allen Nöthen“. Wie fehr das Ge- 
eg nach) Luthers Anfchauung ein für Gott felbjt nothmwendiges, 
um jemer willen aufrecht zu erhaltendes ift, zeigt die Lehre von 
km Verſöhnungswerke Chrifti. Luther Hat nie Zweifeln über die 
Nothwendigkeit besfelben zum Zwecke der GSündenvergebung 
Raum gegeben. &8 ift dies ſpeciell freilich wieder ein Punkt, wo 
fine Theorie als ſolche gegründeten theologischen Bedenken unter⸗ 
liegt. Indes ift fie ein Beleg für feine Gewißheit, daß die fitt- 
liche Weltordnung in Gottes Wejen begründet fei. Auf diefem 
wie auf andern Punkten macht es fich zum Nachtheile der Theorie 
geltend, daß Luther es unterlaflen bat, die Gorrefpondenz ber 
ſittlichen und religiöfen Ideen nachzuweiſen, zu zeigen, daß fie fid 
gegenfeitig bedingen umd nur in ihrer Wechfelwirfung Beftand und 
Gültigkeit Haben. Er behauptet nur das ftetige Beieinanderfein 
der gnädigen Gefinnung Gottes und feiner fittlichen SHeiligfeit, 
die fh in feinem Geſetze darſtellt. In beiden Beziehungen 
weiß er fih in Bottes Weſen gegründeten Orbnungen gegenüber. 
Es find ja Verſuche bei ihm vorhanden, alles zu begreifen als 
Ausdruck der Liebe Gotted. Aber weil ihm der Gedanke bes 
Reiches Gottes als des Correlates des Gedankens Gottes felbft 
ut Har geworben, behalten jene Berfuhe immer einen apho- 
riſtiſchen Charakter. Daß das eigentümlich nadhtheilige Folgen 
haben mußte für eine Zeit, welche nicht mehr unmittelbar unter 
dem Eindrucke feiner einheitlichen, ficheren Perfönlichkeit ſtand, ift 
offenbar. 

Wir treffen auf bdenjelben Webelftand, wenn wir die Trage 
aufwerfen, wie fi) Rechtfertigung und fittlide Erneuerung d. 5. 
Diedergeburt zu einander verhalten. Wir berühren bier ohne 
Zweifel einen der difficilften Punkte der Luther’fchen Theologie. 
Gewöhnlich wird man hier an das oben ſchon beiläufig erwähnte 


238 Kattenbuſch 


Schema der Entwicklung des Chriſtenſtandes erinnert, welches Luther 
ſeit den Erfahrungen der ſächſiſchen Kirchenvifitation in der An⸗ 
lehnung an Melanchthon fich aneignete. Danach aljo ift die con- 
tritio gewirkt durch das Geſetz das Nächſte, welches vorangehen 
muß, wenn der Glaube ein Recht Haben foll, fich die Vergebung 
der Sünde gemäß dem Evangelium anzueignen, worauf daun die 
Wiedergeburt als Frucht der Rechtfertigung folgen muß. Indes 
diefes Schema ift doch nicht das überall von Luther dargebotene, 
und anderfeits hat es feine eigentümfichen Schwierigkeiten. Nämlich 
es ift unſchwer zu zeigen, daß es fogar geradezu den reforma- 
torischen Intereſſen Luthers entgegen if. Man fieht nicht ein, in 
wie fern die contritio nicht bereits Zeichen ber Wiedergeburt ift. 
Muß fie zu Stande gelommen fein, ehe die Rechtfertigung in Kraft 
tritt, fo wäre alfo doch die Wiedergeburt, wenn auch nur der An- 


fag derſelben, der Rechtfertigung übergeordnet. Nun aber Iehrt 


Luther, daß alles Gute erft in Kraft der Rechtfertigung möglich 
ſei. Es fcheint hier ein Widerſpruch vorzuliegen. Die einfache 
Lehre, daß die Wiedergeburt der Rechtfertigung nachfolge, war 


dahin gemisbraudht, dag die Menge fi die Nechtfertigung zum 
voraus aneignete und dann auf die Erneuerung des Lebens ver- 
zichtete.. Um dem vorzubeugen, legten Luther und Melanchthon 
vor die Rechtfertigung die contritio, die es garantiren ſollte, daß 
der Rechtfertigung die Wiedergeburt folgen werde. Aber Hier ers | 


gibt fich zunächſt die ſchon erwähnte Schwierigkeit. Es kommt 
folgendes dazu; offenbar verdeckte es ſich den Reformatoren auch, 
daß, indem die contritio vor die Rechtfertigung geſtellt wurde, den 
Zweifeln am Heile wieder Thür und Thor geöffnet war. Ander- 
ſeits war damit auch die Möglichkeit katholiſcher Anſchauungen über 
unſere fittliche Haltung, als ob dieſelbe der Grund unſerer Geltung 
vor Gott ſein ſolle, wieder dargeboten. Luther nun begnügt ſich, 
einerſeits immer wieder zu betonen, daß die contritio nicht der Grund, 
ſondern nur die conditio sine qua non ber Rechtfertigung ſei. Andere 


feit8 macht er darauf aufmerffam, daß man nicht über die Vollſtän⸗ 
digfeit der Neue zu grübeln habe. Indes zur vollen begrifflichen 
Klarheit bringt er es eben nicht. Seine concrete Anfchauung tft jo 
zu bezeichnen, daß ihm die Rechtfertigung umd die Wiedergeburt in 


Kritische Studien zur Symbolik. 239 


untrenubarer Wechfelbeziehung vorfchweben. Sein Intereſſe 
war darauf gerichtet, die fittliche Thätigkeit in das richtige refigiöfe 
Kcht zu ftellen, aljo abzuwehren, daß fie für den Realgrund unferer 
Geltung vor Gott gehalten werde, zugleich aber aud darauf, ihre 
Unerläßfichleit im Chriftentume feftzuftellen. Indem er beide In⸗ 
terefien ausgleichen wollte, kam er zunächft auf die Formel, daß 
die guten Werke auf die Rechtfertigung nothiwendig folgten. Aber 
den dies, daß fie zeitlich folgen follten, erwies ſich als eine 
praktiſch bedenkliche Formel. Luther verbeiferte die Sache nicht, 
ſendern zeigte nur feine theoretische Unficherheit, indem er nun bie 
Viedergeburt zum Theil ſchon vor die Rechtfertigung ftellte.. 
Seine nicht durch theoretifche Abficht beftimmten Ausführungen über 
den Berlauf des Chriftenftandes zeigen unverfennbar, daß berfelbe 
für ihn eine ftetige Wechfelbeziehung barftellt zwifchen dem 
Gedanken an die Rechtfertigung und dem an die Wiedergeburt, fo 
dag in concreto feiner der erfte und feiner ber zweite, fondern 
beide fich wechſelſeitig bedingende Gedanken find. Diele An⸗ 
ſchauung erflärt fih nun auch, wenn wir an den Zweck der Recht⸗ 
fertigung zurückdenken. Indem wir denfelben noch einer befonderen 
Crläuterung unterziehen, vollenden wir aljo die Darlegung der bee 
Luthers. Wenn wir das Bewußtſein der Rechtfertigung, unferer 
Geltung vor Gott, hegen, jo haben wir darin deshalb die Selig- 
kit, weil wir uns jegt in Gottes Liebe geborgen willen. Was 
keit denn das? Offenbar, daß wir in unjerem wahren Zwecke, 
m defien Erreichung unfere Seligleit gegeben ift, nunmehr gefichert 
find. Unjern wahren Zwed, unfer eigentliched Weſen haben wir 
aum aber nach Luther zu denken als unjere Beftimmung zur Sitt- 
fihfeit, um es mit dem Ausdrude zu bezeichnen, den Luther nicht 
bietet, aber der feinen Sinn trifft, als unjere Beftunmung für 
das Reich Gottes. Als fittlihe Größe willen wir uns in 
der Gewißheit der Rechtfertigung geborgen. Verzichten wir auf 
ſittliche Haltung, jo tft unfer Zwed, wie immer er beichaffen fei, 
der Art, daß er nicht von Gottes Liebe garantirt ift, nicht unter 
den Schub der Rechtfertigung füllt. So ftehen „Rechtfertigung“ 
und „Wiedergeburt“ in unlöslicher Correſpondenz. Es ift an fidh 
ein Ungedanfe, ſich die Rechtfertigung aneignen zu wollen, ohne 
TiesL Stab. Ialeg. 1878. 16 





240 Kattenbuſch 


ſich ſelbſt als ſittliche Größe zu erfaſſen. Die Möglichkeit, daß 
dies verkannt wurde, hat Luther allerdings ſelbſt verſchuldet. Sie 
lag darin, daß er den Gedanken der „Seligkeit“ nicht immer deut⸗ 
lich ausprägte und eigentlich nirgends abſichtlich erläuterte. Sein 
Gedanke von der Freiheit über die Welt als der Seligkeit des 
Ehriften ift ja unverlennbar fittlic) normirt. Frei von der Welt 
find wir nur, in fo fern wir aller Welt Knecht in der Liebe 
find. Nur in fo fern wir darin unfern Zwed erfennen, fir die 
anderen „wie Chriftus“ zu fein, Haben wir Theil an Chrifti 
Herrfchaft über die Welt, fo daß uns alles dienen und fördern 
muß. Aber wo fpricht Luther diefe Gedanken fonft noch deutlich 
und mit Abficht aus? Und felbft in De libertate christiana 
bietet er keine abfichtliche Ausführung über da8 wechfeljeitige Ver⸗ 
bältnis der „Freiheit“ und der „Gebundenheit” eines Chrijten. Doch 
ift es die Pflicht des Interpreten feines Gedanfens, aus den 
Elementen feiner praftifchen Belehrung die theoretifche Yormel zu 
erheben. Wir fagen alfo in feinem Sinne, daß in concreto die 
Gnade und die Seligkeit des Chriftenglaubend von uns nur erlebt 
werden fann zugleich mit der Erkenntnis unferes fittlidhen Weſens 
und mit bem Entfchluß, dem Reiche Gottes nachzutrachten. Doch 
ift nun noch dies hinzuzufegen. Sofern der Gedanke der Recht- 
fertigung bdefagt, daß wir mit unferm Zwecke aufgenommen find 
in den göttlichen Zweck, fo wiſſen wir ja, daß der göttliche Liebes⸗ 
zwed ewig if. Wir willen, daß wir in ihm erjchaffen find und 
daß unfer Leben von Anbeginn gemäß demjelben regiert war. Iſt 
darin eins für allemal der Gedanke verwehrt, ale könnten und 
follten wir Gottes Liebe „verdienen“, die doch immer fchon da ift, 
jo Liegt darin zugleich die Erkenntnis, daß Gott es ift, der auch 
das Wollen gegeben bat. Haben wir gefehen, daß die Rechtfer⸗ 
tigung nicht befteht ohne die Wiedergeburt, jo fehen wir bier, daß 
auch die Wiedergeburt nicht befteht ohne die Rechtfertigung. Ya 
wir erfennen bier, daß von Gott her die Rechtfertigung die 
Grundlage unferer fittlihen Kraft iſt. Die Rechtfertigung 
würde das fein auch im Falle der Sündlofigfeit. Sie würbe dann 
wirkſam fein in der Providenz, in der wir gehegt und geborgen 
waren von Anbeginn. Indes ift ja der Fall der Sündfofigkeit 


Kritiſche Stubien zur Symbolik. 241 


km wirllicher. Um fo gewiffer ift für und die Rechtfertigung, 
die fi nun als Vergebung der Sünde und Erldjung barftellt, der 
Anfang und der Grund unferer Wiedergeburt. Sofern wir nın 
nilfen, daß Gottes Gnade uns ergriffen hat, ſo dürfen wir aud 
gewiß jein gegenüber aller Schwarhbeit und Sünde, die auf Erden 
em uns bfeibt, daß der in uns angefangen bat das gute Werk, daß 
der es auch vollenden wird. 

Bisher haben wir die allgemeine Auffaffung vom Wefen, Werthe 
md Zuſammenhange der chriftlichen een im Auge gehabt. Es fragt 
id zum Schluffe: wie gefangen wir in ben Befig diefer Ideen? 

Hier muß ih nun vor allem auf einen Punkt aufmerkfam 
machen, ben bie Meiſten nicht beachten, wenn fie die proteftantifche 
Anſchauung vom Weien und Zuftandelommen des Chriftentums 
darftellen. Doch darf ich mich wenigftens auf Köftlin und Ritſchl 
bejiehen als ſolche, welche die richtige Anficht bereits nachdrücklich 
vorgetragen haben. Es ift nämlid nunmehr darauf hinzuweifen, 
daß für Luther alle Heilsgüter nur in dee Gemeinde vorhanden 
im. So befrembend es für manches Ohr klingt, fo ift es doc 
Luthers Lehre, daß „die Kirche der Vergebung der Sünde voll 
ft", daß der Einzelne, um deſſen Rechtfertigung es fich handelt, 
am in Betracht kommt ald Glied der Gemeinde. Mehrfach 
hat Luther es ausdrücklich und lehrhaft hervorgehoben, daß ber 
Einzelne nur durch die „Mutter“ Kirche zum Heile gelange '). Es 
it aber unverkennbar, daß indirect diefe Anfchauuug ale feine An« 
weijungen über die Heilsorduung beberricht. Die riftlihe Ger 
meinfhaft ift für ihn nicht das nachträgliche Product der Recht⸗ 
fertigung, die Summe der Einzelnen, die gerechtfertigt find, fondern 
der Grund und die Bafis der Erfahrung ber Rechtfertigung für 
den Einzelnen. Und wie die Gemeinde allein der Sündenvergebung 
vell ift, Fo Äft fie auch die Trägerin der fittlichen Kraft, fo ift ber 
Einzelne auch nur in ihr fähig, feinen Willen fittlich zu bethätigen. 
Bir haben Luthers Anſchauung dahin zu formuliven, daß aller 
religidſe Troft und alle fittliche Kraft nur gemeinfames Be 
ſiztum der Chriften ift, daß wir nur im wechſelſeitigen Verbande 


nn 


3) Dal. Köflin, Luthers Lehre von der Kirche, heſonders $ 8 u. 5. 
16 * 





242 Rattenbufd 


fähig find, den Nechtfertigungsglauben zu hegen und die Erneuerung 
unferes Lebens auszurichten. Es wird alfo hier die Frage dringend: 
was ift im Sinne Luthers die Kirche? Und wenn wir fragen, 
wie wir zum Chriftentume gelangen, fo ift die Frage dahin zu 
präcifiren: wie werden wir Glieder der Kirche? 
Was nun zunächſt Luthers Lehre vom Weſen der Kirche betrifft, 
fo ift diefelbe befonders zu. entnehmen aus ber Schrift „Vom 
Papfttum zu Rom“, 15201). Wenn e8 überall erhellt, daß Luther 
genau ebenfo intereffirt ift für die Kirche, wie der Katholicismus, 
jo ift freilich für ihn die Kirche etwas anderes als für den Katho- 
licismus. Zur äußeren, rechtlich verfaßten, äußerlih die Sacra⸗ 
mente fpendenden, amtlich da8 Wort Gottes predigenden Kirche 
rechtlich und äußerlich zu gehören, gilt ihm nicht für heilsnothwendig 
(ogl. auch) den „Sermon vom Bann“, 1519). Aber darum ift 
ihm die Kirche, welche die wahre ift, die Gemeinde der Heiligen, 
doch nicht bloß die geiftige Verbindung der Gläubigen. Bei Luther 
treten zwei Betrachtungsreihen auf. Einmal erflärt er die Kirche 
al8 die Gemeinde der Heiligen für unfichtbar, „eine geiftliche, nicht 
leibliche Verſammlung“. Anderfeits ift ihm die Gemeinde der 
Heiligen doc) aber äußerlich erfennbar: fie ift immer thätig im der 
Verwaltung der Gnadenmittel, und wo diefe, welche zufammenge: 
fagt find in dem Begriffe des „Wortes Gottes”, vorhanden find, 
da ijt immer Gemeinde der Heiligen, „follten’® auch nur Kinder 
in der Wiege fein“. Diefe letstere Bemerkung zeigt zugleich, daB 
Luther den Umfang des Geltungsbereiches der Gnadenmittel durd- 
aus nicht mechaniſch identiftert mit der Gemeinde der Heiligen, 
jo daß ihm jeder ein „Heiliger“ wäre, ber unter die Wirkfamteit 
der Gnadenmittel tritt. Seine Anfchauung ift folgendermaßen zu 
interpretiren. Es ift zu unterfcheiden zwifchen dem religiöfen und 
dem empirifchen Begriffe der Kirche. Religiös ift die Kirche die 
1) Zu dem Weiteren vgl. ſpeciell Köftlin, Luthers Lehre von der Kirche: 
Ritſchl, Ueber die Begriffe „fichtbare” und „unfichtbare” Kirche (Stud. 
u. Krit. 1859), ferner: „Die Begründung bes Kirchenrechtes im evan- 
geliichen Begriffe von ber Kirche”, Zeitfchrift für Kirchenrecht 1808: 
Krauß, Das proteftantiiche Dogma von ber unfichtbaren Kirche, S. 281-; 
Jacoby, Die Liturgik der Reformatoren (1. Bd.: Luther). 


Kritische Studien zur Symbolik. 243 


Gemeinde der Heiligen, empirisch die eigentiimliche gefchichtliche 
Genofſenſchaft, deren fignificanteftes Merkmal beftimmte Inſtitute 
nud Rechtsformen zur Verwaltung der Gnadenmittel find. Die 
Gemeinde der Heiligen und diefe gejchichtliche Genoffenfchaft haben 
num zunächft nah dem Spracgebrauh den Namen „Kirche“ 
gemein. Aber ihre Verwandtichaft reicht weiter, fie gehören auch 
jahlich zu einander. Die äußere Kirche Hat den Werth, Gemeinde 
der Heiligen zu fein, und die Gemeinde der Heiligen ftellt fi) 
nothwendigerweiſe al8 äußere Kirche dar. Das will befagen, die 
Chriftenheit exiſtirt nur fo, daß fie ſich äußerlich bethätigt und 
zwar in der manigfachften Weife. Sie ſchafft auch amtliche In⸗ 
ititnte und verfaßt fi in Rechtsformen, um das „Wort Gottes“ 
zu verfünden. Wo nun in irgend welcher Weife das unverfälfchte 
Wort Gottes gepredigt wird, ba ift immer zugleich Gemeinde der 
Heiligen, da ift nie nur der Schein, fondern ftet8 auch das Weſen 
der Ehriftenheit. Denn „das Wort Gottes kann nicht wieder leer 
m Gott zurückkommen“. Aber nun ift zu beachten, dieſes Urtheil 
über die äußere Kirche ift, wie eben die angegebene Motivirung 
gt, fein empirifches, ſondern ein religiöfee. Empiriſch ift es 
nicht zu conftatiren, daß die äußere Kirche zugleich die Gemeinde 
der Heiligen if. Würde Luther behaupten, daß das der Fall fein 
müffe, fo würde er fich auf die Bahn der Sectenftiftung begeben 
haben. Denn das ift das Charafterifticum der Secte, daß fie die 
communio sancetorum empirifch in ihrem Kreife darzuftellen unter- 
nimmt. Aber für den Glauben, in unfichtbarer Weiſe, ift die 
geihichtliche äußere Kirche, fo weit in ihr das „Wort Gottes“ 
erhalten ift, die Gemeinde der Heiligen. Luther lehrt alfo nicht 
eine „unfichtbare” und eine „ſichtbare“ Kirche, fondern die Sicht- 
barkeit und die Unfichtbarfeit der einen Kirche. Unter verfchiedenem 
Gefichtspunkte ift diefelbe Größe fihtbar: als fich eigentümlich 
bethätigende Gemeinfhaft, in specie als befonderes Rechtsweſen, 
md unſichtbar: als Glaubensgegenftand. Luther unterläßt den 
Nachweis, warum das Glaubensobjeet „Kirche“ nothwendig aud) 
äußere Merkmale producitt. Das rührt wieder daher, daß er 
umnterläßt, innerhalb der Lehre von der Gemeinde der Heiligen 
die dogmatifche und die ethifche Betrachtung ausdrücklich zu unter⸗ 


ur — ——— — —— ——2— 


24 Kattenbuſch 


ſcheiden. Das hat die Unſicherheit über ſeinen Kirchenbegriff, die 
nur zu lange geherrſcht Hat, bedingt. — Der Gegenſatz ver 
proteftantifchen und der fatholifhen Auffafjung von der Kirche ift 
fein folder, der mit einem Worte zu bezeichnen wäre. Iſt es 
für den kathofifchen Kirchenbegriff charakteriftiich, daB einer aliquo 
modo Glied der vera ecclesia fein kann, ohne alle interna 
virtus (Bellarmin), fo ift e8 für den Proteftantismus charakteriftiich, 
daß einer Glied der vera ecclesia in feiner Weife fein fann 
ohne eine interna virtus. Das Hauptmerfmal der Kirche im 
katholiſchen Sinne ift, daß fie Rechtsanftalt ift, die Kirche im 
proteftantiihen Sinne Hat auch Rechtsformen, aber fie ift erft in 
abgeleiteter Weife NRechtsanftalt. Dean kann ſagen, fatholifch jei 
es, daß die Kirche als Rechtsweſen die Kirche ale Glaubensobject, 
als Gemeinde der Heiligen, producire, proteftantifch, daß die Kirche 
als Gemeinde der Heiligen die Kirche als befonderes Rechtsweſen 


hervorbringe. Nur ift die Verfaſſung in aparte Rechtsformen zum 
Zwede der Verwaltung der Gnadenmittel nah protejtantifher 
Anfchauung nicht die ganze Thätigleit der Gemeinde der Beiligen, 


wodurch diefelbe fich Außerlich darſtellt. Wir kommen theologiſch 


nicht aus ohne den Begriff des Reiches Gottes ale Yubegriff 


der Bethätigung der chriftlichen Gemeinde einzuführen. Das „Red 


Gottes" als der ſittliche Organismus ber religiöfen Gemeinde 
bat als eine Unterart die Kirche als Rechtsweſen in fih. Eine 
Gemeinfehaft der Menfchen im Handeln ift eben in Feiner Weile 
denkbar, ohne dag Rechtsformen gefchaffen werden. Kommt jo einer 
jeits der Staat als eine nothwendige Form der Realifirung dee 


Reiches Gottes in Betracht, fo anderfeits die Kirche im politifd- 
jmiftifchen Sinne als die öffentliche Cultusgemeinſchaft. Es ift 


and im Proteftantismus normal, daß ein Gläubiger zur politiihen 
Kirche gehört. Indes ift e8 für den Proteftantismus denkbar, dab 


einer durch befondere Umftände von der Kirche im legteren Sinne 
fi trennte oder getrennt würde, ohne darum feine Qualität ale 
Chriſt zu verlieren. Denn als politiſches Inſtitut Hat die Kirche 
einen Charakter angenommen, der fi) auch als rein weltlicher be 
merklich machen kann. 

Das Merkmal der Kirche, d. 5. alfo der Chriftenpeit 


Kritiſche Studien zur Symbolik. 245 


als Gemeinde ber Heiligen, ift „die Predigt des Wortes 
Gottes". Luther nennt mancherlei andere Merkmale; indes gehen 
diejefben immer für ihn begrifflich zufammen mit dem bezeichneten. 
Die „Predigt des Wortes“ iſt aber darum das Merkmal der Kirche, 
weil fie das unmöglich verjagende Mittel ift, wodurch Gott die 
Kirche erhält und ſchafft. Hier aljo werden wir auch Antwort 
erhalten auf die Frage, wie wir zum Chriftentume gelangen. Es 
wird fi fragen, wie wir jenes Merkmal der Kirche zn verftchen 
haben. Daß die Interpretation desfelben nicht fo ganz einfach ift, 
zeigen die vielfachen Verhandlungen darüber, welche die letten 
ahrzehnte gebracht haben. Die Frage zerfällt offenbar im zwei 
Unterfragen: was ift das „Wort Gottes“, was ift die „Predigt“ 
des Wortes Gottes? 

Bas zunächſt die erfte Frage angeht, fo hat Ritſchl in 
feinen verjchiedenen Arbeiten über den Iutherifchen Kirchenbegriff 
den Nachweis angetreten, daß das „Wort“, dns „Evangelium“, 
nicht zu indentificiren jei mit der „reinen Lehre“, mit den cor» 
tecten „Slaubensartifeln“. Diejer Nachweis fcheint mir durchaus 
geglückt, wenn feine ernfteren Argumente dagegen vorgebradht werben 
können, als neuerlich ſeitens eines anonymen Vertreters der Erlanger 
Theologie der Fall geweien !). Wenn es doc Luthers ganzer 
Anihauung entfpricht, daß der Glaube nicht Menſchenwerk ift, daß 
die Gemeinde ihren Urfprung und Beftand nur in Gott hat, fo 
it e8 ja völlig felbftverftändlich, daß die Lehre nicht ber Grund, 
daß das Bekenntnis nicht das Fundament ber Kirche ift. Denn 
die Lehre und das Bekenntnis find die menfchlichen Formen für 
dm göttlichen Inhalt und dürfen mit dem Evangelium, welches 
fie umjchreiben und erklären und als perfünliches Erlebnis bezeugen, 
nicht identifteirt werden, wie eben bie Sache felbft und der Bericht 
über die Sache nicht gleichgeftellt werden bürfen. Das Evangelium 
als Gotteskraft zum Trofte der Gemüther ift die Thatfache des 
Gnadenwillene Gottes, der ſich uns zu erfahren gibt. Indes mit 
diefer Bemerkung treffen wir den Streitpunft noch nicht. Denn 


1) Bgl. „Aus der neueren Dogmatik“, Zeiticheift für Proteſtantismus und 
Kirche 1876, Augufiheft. 


246 Kattenbuſch 


wenn dieſer Gnadenwille Gottes uns doch nicht anders offenbar 
wird, als indem er ſich zu einer Vorſtellung für uns objectivirt, 
ſo fragt es ſich, ob er ſich uns nicht nothwendigerweiſe darſtellt 
als die Summe der Vorſtellungen, welche die „Glaubensartikel“ 
ausdrücken. Ich will nun gegen diejenigen, welche das „Evan⸗ 
gelium“ und das „Bekenntnis“ in dieſer Weiſe gleichſetzen, nicht 
erinnern an Luthers Proteſt gegen die fides implicita, welche für 
den gemeinen Mann genüge !), — offenbar müßte fie genügen, 
indem der „gemeine Dann“ die Glaubensartifel nun einmal durch⸗ 
weg herzlich fchlecht Tennt und trogdem es oft leidlich verftcht, 
Demut und Gottvertrauen und im täglichen Leben Freue in feiner 
Arbeit, d. H. Ehriftentum, zu üben. Aber wenn Luther felbft 
die Summe der Vorjtellungen ausdrücklich bezeichnet, welche ihm 
das Evangelium darftellen, fo lautet feine Anweijung anders. 
Dann ift ſtets die Interpretation, welche Art. V der Augujtana 
von dem Begriffe des Evangeliums gibt, diejenige, welche auch er 
darbietet 2). Diefer Interpretation entfpricht es, wenn die Apologie 
(IV, 20 und 21) als die Lehre, welche allein nothwendigerweiſe 
einträdhtiglih in der Kirche gewahrt werden müſſe als das 
Tundament, auf dem die Kirche ruhe, die Verfündigung von 
Chriſto als demjenigen, in dem wir ohne Verdienſt gerecht würden, 
binftellt. Diefe Ausführung ift um fo bedeutfamer, als fie fid 
mit der ausdrüdlihen Erklärung verbindet, daß auf diefem Grunde 
verfchiedene theologische Lehrgebäude von fo verfchiedenem Werthe, 
wie Heu, Stoppeln, Stroh und edele Steine (1Ror. 3, 12) fid 
erbauen Fönnten, ohne daß dadurch der Beſtand der Gemeinde der 
Heiligen bedroht würde (vgl. auch „Won Conciliis und Kirchen“, 
E. 4. 25, 359). Es ift aber nun Binzuzufegen, daß auch die 
Lehre von der Rechtfertigung aus reiner Gnade nicht als Lehre 


1) Bal. Köftlin, Luthers Theologie I, 436. 

2) Aug., Art. V: evangelium scilicet quod Deus non prop- 
ter nostra merita, sed propter Christum justificet 
hos, qui credunt se propter Christum in gratiamre- 
cipi; vgl. 3. ®. De libertate christiana im Eingange und Art. Torg. 
F, (C. R. XXVI, 193). 


Kritiſche Studien zur Symbolik. 217 


für Luther der Grund ift, auf dem die Kirche ruht. Denn als 
Lehre ift diefe Erkenntnis vor der Reformation nicht vorhanden 
gwefen. Dann aber müßte es vor Luther feine chriftliche Ge⸗ 
meinde gegeben haben. Indes das ift eben für ihn der fchlimmfte 
Unglaube. Gemeinde der Heiligen ift allezeit vorhanden ge 
weſen, wie Luther oft genug betont (vgl. auch Aug., Art. VID. 
Der Reformator wußte eben befier, als manche feiner Schüler, 
daß der Gedanke und die Erfahrung der Redtfertigung 
ans dem Glauben fi anfchließt an unzählige Umftände neben 
der eigentlichen lehrhaften Hinmweifung darauf. Wenn er fi ver- 
gegenwärtigen will, daß in der römifchen Kirche auch allezeit „die 
Kirhe und etliche Heilige blieben“, fo weiß er auch die bloße 
Lorhaltung des Erucifired als Mittel zur Ermedung des rechten 
Glaubens zu begreifen !). — Ich will an diefer Stelle für Luthers 
Anfhauung vom „Worte Gottes” nur noch darauf hinweifen, daß 
8 für ihn keine menfchliche, untrügliche Autorität für die Inter⸗ 
pretation der Bibel d. i. der Offenbarung Gottes in Chrifto gibt. 
Feder Ehrift Hat das Recht, ein felbftändiges Verſtändnis diefer 
Offenbarung zu fuhen und je nad) dem Reſultate feiner Arbeit 
eine Reformation der Kirche zu verfuchen (vgl. die Schrift an den 
Adel). Diefes Freigeben der SYnterpretation des „Evangeliums“ 
tangiet natürlich nicht die Ueberzeugung des Reformators, daß 
jeme Interpretation desfelben die vichtige fei. Aber es ift ein 
wilfommenes Eingeftändnis, dag die lehrhafte Form, in der er 
den Schatz ber chriſtlichen Offenbarung gehoben, einer Aenderung 
mterworfen werden könne, ohne daß das „Evangelium“ unter: 
ginge. Melanchthon hat fpäterhin daran gedacht, die Kirche, die 
ihrerfeit8 an die „Glaubensartikel“ gebunden ſei (vgl. feine Lehre 
von der Kirche in der dritten Ausgabe der Loci), in ihren amt- 
lichen Organen zur einzig berufenen Interpretin der Schrift zu 
trflären %). Dagegen hat der Proteftantismus In der (Erinnerung 
an Luther feftgehaften, daß nur die Schrift die Schrift auslegen 
dürfe. Diefes Paradoron legittmirt die Schriftforfchung eines jeden 





1) Stellen bei Plitt, Die Apologie der Auguftana, S. 141. 
2) Bgl. Ritſchl, Die Entflehung der Iutherifchen Kirche a. a. O., ©. 79ff. 


248 Kattenbuſch 


Chriſten nach ſeinem Maße. Es ſpricht ſich darin zugleich die 
Ueberzeugung aus, daß das richtige Verſtändnis des Evangeliums 
unter Gottes Leitung ſich ſchon immer wieder Bahn brechen werde. 

Dieſe Ablehnung der Gleichſetzung des Evangeliums und der 
reinen Lehre hat natürlich nicht den Sinn, den Werth der letzteren 
irgend wie herunterzuſetzen. Es iſt ein großer Uebelftand, wenn nur 
trotz der Theologie Chriſtentum möglich iſt, nicht gemäß derſelben. 
Die Glaubensartikel und die Bekenntniſſe ſollen alſo nicht überhaupt 
verurtheilt ſein, wenn wir ſie nicht der Offenbarung gleichſetzen. 
Bewähren fie ſich theologiſch, fo wollen wir fie in allen Ehren 
balten. Aber fie müffen fich eben jedem Einzelnen wieder bewähren 
und fie dürfen nicht die mechanisch zum voraus ein⸗ für allemal 
feitgeftellte Lehrform fein wollen. Es ift Har, daß der Eifer, den 
Luther gerade auh um die reine Lehre, fo wie er fie verftand, 
bethätigte, keineswegs eine Sinconfequenz war. Nur im einzelnen 
ift er darin vermöge feiner heftigen Geiftesart zu weit gegangen 
und feinem Grundgedanken über das Evangelium untreu geworden. 
Wir haben in feinem Sinne feftzuhalten, daß aller theologiſche 
Streit darin bie Ruhe des Gemüths geftattet, daß er eben den 
Beſtand der Kirche fo gewiß nie bedroht, als eben die Kirche nicht 
ruht auf Menſchenwerk, fondern auf Gott. Zugleich fordert «6 
Luthers Sinn, daß alle theologischen Parteien, fofern fie über> 
haupt in Ehrifto die Erkenntnis Gottes nnd unfere® 
Hetles ſuchen, in der gemeinfamen Erkenntnis, daß feiner das 
Vorreht der Aufallibilität in der Ausdeutung der Offenbarung 
eignet, fich innerhalb der Kirche dulden und ehren. 

Es bleibt uns die Frage, wie die „ Predigt“ des Worte 
im Sinne als Mittel zur Erhaltung der Gemeinde zu deuten jei. 
Ich bin gezwungen, mich Hier kurz zu fallen, wiewol ich mich auf 
keine Schrift berufen kann, in der ich völlig die Auffafjung ver 
treten finde, die fi) mir als die richtige bewährt hat. Ein Ber 
juh, meine Anfhauung aus Luthers Schriften zu belegen, 
müßte mich zur fehr in Einzeleregefe führen, da faft alles com 
trovers ift !). 


1) Direet und indivect if dieſer Punkt in ben letzten zwei Jahrzehnien 


Kritiiche Studien zur Symbolik. 249 


Ich glaube folgendes als Luthers Anſchauung vertreten zu 
Kumen, Zunuchſt ift die Predigt als Gnadenmittel nicht identifch 
mit der amtlichen, Öffentlichen Predigt. So gewiß bie letztere ein 
verzügliches Mittel zur Erweckung des Glaubens, zur &rbauung 
ud Stärkung ift, jo gewiß foll fie die Nothmwendigkeit und Wirk⸗ 
jamfeit der privaten Predigt nicht verdeden. Jeder Chrift hat 
dem anderen Troſt und Ermahnung zuzufprechen das Recht und 
fe Pflicht. Feder Chriſt ift jeder Zelt in ber Lage, dem anderen 
ale Güter der Chriftenheit mitzutheilen und zuzufprechen. Daß 
dies nun in feinem Bollfinne verftanden werde, ift dies hinzuzu⸗ 
ſetzen. Die Predigt des Wortes, wodurch die Chriftenheit erzeugt 
wird, der Glaube entfteht, das Heil conferirt wird, iſt nicht iden⸗ 
th mit der ausdrücklichen Verkündigung der Botſchaft von 
Chriſto. Natürlich nimmt diefe eine wefentliche Stelle ein, aber 
re üt nicht daB ſpecifiſche Mittel zur Erzeugung des Glaubens, 
welhes den anderen Mitteln begrifflih an Werth übergeordnet 
wäre. Vielmehr fteht der directen die indirecte Verkündigung des 
Wortes gleichwerthig zur Seite. Es ift hier auf Luthers Anficht 
vom Werthe der Erziehung hinzuweiſen. Erziehung gefchteht 
aber, wie Luther auch hervorhebt, nicht bloß durch directe Weis 
jung, jondern noch viel mehr durch Beifpiel und praftifches 
Borbild. Der Hausvater hat den Seinen das „Wort* zu 
verfünden. Das thut er aber nicht bloß, indem er aus ber 
Bibel vorlieft, den Kindern den Katechismus einprägt ꝛc., fondern 
ebenſo Fehr, indem er in feinem Haufe auf Zucht und Ord⸗ 
zung hält, in feinem öffentlichen Berufe tadellos ift, in feinem 
genen Leben Gottvertrauen übt, furz, fi) als Ehrift darlebt. 
Ben wir 3. B. den zweiten Theil der Schrift De libertate 
christiana lefen, wo Luther ausführt, wie jeder Ehrift durch fein 


jeher Häufig zur Sprache gebracht durch die Unterſuchungen über den 
Werth des „Amtes“ nach Intherifchen Grundfägen. Die neuefte Arbeit if: 
8. Köhler, „Die Lehre der Iutherifchen VBelenntnisichriften über Kirche, 
Kirchenamt und Kirchenregiment”, Jahrbücher für deutfche Theologie 1871. 
So vielfach ich mit dieſem Auffate, der in den Bahnen des trefflichen 
Höfling gebt, übereinſtimme, fo vermiffe ich doch die enticheibende Er⸗ 
leuntnis über den Begriff ber „Prebigt“. 


0 Zattenbuſch 


ganzes Leben den Nächſten fördern fol in dem, was ihm „nütz⸗ 
Gh“, d. b. in dem, was für ihn „ſeliglich“ ift, wie jeder für den 
anderen „wie Chriftus“ werden, ihn für Gott gewinnen foll durd) 
fein gefamtes Verhalten, fo fehen wir auch, welche Vorftellung 
ihm eignet über das Wefen der „Predigt“, der „Verkündigung“ 
des Evangeliums, der Form der Darbietung des Evangeliums von 
einer Generation an die andere. Es ift Luthers Erkenntnis, 
wenn wir die Predigt des Wortes als Gnadenmittel definiren ale 
das Xeben der chriftlihen Gemeinde, in allen Formen, in 
denen es fi Eundgibt. An diefer Anfchauung von ben 
Gnabdenmitteln der Kirche ift der Gegenfag gegen den Katholicismus 
offenbar. Katholiich find die Mittel, woburd die Kirche uns das 
Heil nahebringt, beftimmte einzelne. Nach der gewöhnlichen Auf: 
faffung des Weſens der „Predigt des Wortes“ als Gnadenmittel, 
wonach diefelbe mindeſtens gleichgejeßt wird der directen Hin 
weifung auf die Gnade Gottes in Chrijto, erfchiene die lutheriſche 
Anſchauung als keine qualitativ verjchiedene. Indes entfpricht erft 
meine Ausführung der evangelifchen Anjchauung, daß das Heil 
in der Gemeinde empfangen und erlebt werde. Es iſt erft hier 
Mar, daß wir uns in unferem religiöfen Bewußtfein nicht ifoliren 
fünnen und bürfen von der Gemeinfchaft des Geiftes mit allen 
Chriften, mit weldhen unfer gejamtes religiöfes Leben in ftetiger, 
im einzelnen uncontrollirbarer Wechjelwirkung ſteht. Es iſt hier 
auch Mar, daß es ziello8 wäre, wollten wir der Entftehung unferes 
Chriftentums Im einzelnen nahforihen. Wir find in der chriſt⸗ 
lichen Gemeinde geboren und erwachſen. Die chriftlichen Lebends 
motive find uns alſo nicht anders zugeführt, wie uns auch die 
familiären und nationalen Lebensmotive zugeflommen find. Das 
unmittelbare, unerfchütterliche Gefühl der Zugehörigkeit, weldes 
wir in den Beziehungen des Yamilien» und Volkslebens befigen, 
es darf uns auch eignen gegenüber der Chriftenheit und es wird 
uns am eheiten befähigen, ein wahres, echtes Chriftentum auszu- 
üben, 

Daß die Predigt des Wortes immer wieder wirkſam iſt zur 
Erzeugung chriftlichen Lebens, daß die Chriftenheit nicht untergedt, 
fondern von einer Generation zur anderen fich erhält und immer 


Kritifche Studien zur Symbolik. 51 


weiter verbreitet, ift Glaubensgewißheit. Empirifch Können wir 
ed ja nicht conftatiren, daß die Offenbarung Gottes in Chrifto 
gemäß dem religiöjen Troſte und den fittlichen Impulſen, welche 
fie darbietet, wirklich noch lebendig unter uns ift. Aber wir 
glauben es, weil wir glauben, daß Gott, der in der Prebigt 
wirffam ift, fich nicht vergeblih an den Menfchenherzen bezeugen 
hm. Die Bermittlung der Offenbarung ift deshalb an bie 
menschliche Form der „Predigt“ geknüpft, weil ohne dies die Ge⸗ 
meinichaftlichfeit der Religion nicht möglich wäre. Warum nun 
das Chriftentum nur gemeinfchaftlich ausgeibt werden könne, das 
bat Luther nicht ausdrücklich gezeigt, fondern einfach vorausgefekt. 
Es farm auch nicht diefes Ortes fein, Luthers praftifche Eonception 
tgeoretifch theologifch zu bewähren. Wenn ich nicht irre, fo Liegt 
hier eine Frage der fyftematifchen Theologie vor, die noch auf 
lange hinaus die Geifter fpalten wird. 

Wir dürfen nicht verhehlen, daß Luther felbit den Misver- 
jtändniffen über feine Anfchauung vom Weſen der Gnadenmittel, 
wie fie nur zu tief eingewurzelt find, Vorſchub geleiftet hat durch 
die undvorfichtige Weife, wie er feit dem Kampfe mit den „Schmär- 
mern“ die Mittel des öffentlichen Cultus, die amtliche Predigt 
und die Sacramente, ald die unumgänglichen Vehikel des Geiftes 
bingeftelft hat. Um ihm Hier ganz gerecht zu werden, feine Auf- 
ttellungen in ihrer polemifchen Bebingtheit völlig klar zu legen, 
müßten wir genauer auf die Art der Gegner eingehen, als es ge⸗ 
ftattet if. Es fei nur dies bemerkt. Indem die Schwärmer 
jede äußere Vermittlung des Heiles verwarfen, machten fie bie 
Gemeinfchaftlichkeit des Chriftentums unmöglid. Als Menfchen 
fönnen wir nun einmal nur in der Weife Gemeinfamteit auch in 
der Religion haben, daß wir uns gegenfeitig unfere Güter vers 
mitteln. Mit der Theorie der Schwärmer war der Beftand der 
Chriftenheit al8 Gemeinde bedroht. Es kommt folgendes dazu 
in Betracht. Die öffentliche expreſſe Verkündigung von Chrifto, 
wie fie fich darftelft in der amtlichen Predigt, hat die befondere 
Bedeutung, daß fie eben als öffentliche am leichteften und ficherften 
der Eontrolfe unterliegt. Hier kann die Chriftenheit am eheften 
die Aufficht üben, ob ihr ihre Ideale auch bewahrt bleiben und 


2 Kattenbuſch 


ob dieſelben ftetS wieder für die Erinnerung belebt und außen 
Stehenden zur Gewinnung vermittelt werden. Indem die Schwärmer 
die Entftehung des Chriftentums als eine unmittelbare Illumination 
anfahen und in specie die üffentlihe Predigt als Gnadenmittel 
verwarfen, erjchwerten fie die Controlle des Geiftes, den fie pflegten, 
tegten fie den Verdacht an, daß in ihrem Sreife gar nicht Des 
Ehriftentum als ſolches erhalten werden folle. Luthers Mistrauen 
war um fo mehr gerechtfertigt, als die Schwärmer fi in ber 
That zum Theil „neuer Dffenbarungen“ rühmten. Damit aber 
bedrohten fie direct den Beftanb der Gemeinde Chriſti. Diefe 
Gemeinde hat ihre Norm ein» für allemal an ber Offenbarung 
Gottes in Ehrifto und fofern diefelbe in der Bibel allein ur⸗ 
kundlich bezeugt ift, an der Bibel, 

Luther fehlte darin, daß er die öffentliche Predigt als 
Mittel der Erhaltung der Chriftenheit zu ausfchließlih betente. 
Er hätte fie betonen umd die private, directe und indirecte, baneben 
anerkennen Tönnen. Seine Gedanken über den Werth der [egteren 
verfehwinden ja nicht überhaupt, aber fie treten ungebürlich zurück. 
Es ift hier der Ort, ein kurzes Wort über bie Sacramente ein- 
zufügen. Die Sacramente find neben ber amtlichen Predigt Die 
wichtigfte Form der Öffentlichen Darbietung der Gnadenoffenbarung 
Gottes. Die Sacramente find für Luther da8 verbum visibile, 
wie die Predigt die Hörbare Darftellung der Gnabe Gottes ift — 
eine Anfchaunng, die er im einzelnen allerdings oft genug aus der 
Sicht verloren, um gut Fatholifch die Dinge des Sacramentes 
als ſolche für die Vehikel der Gnade zu erflären. Es war nur 
berechtigt, wenn Ruther feithielt, daß die Sacramente Vehilel des 
Geiftes und als folche Mittel der Erhaltung der Chriftenheit feien. 
Indes fehlte er, wenn er fie als die ftatutarifchen, für jeden Ein⸗ 
zelnen vorgejchriebenen Mittel zur Erlangung des Heiles hinftellte. 
Die Ehriftenheit als ſolche Tann fie nie aufgeben. Sie find am 
gewiffeften auch in der Form die Darbietung der Offenbarung 
Gottes in Chriſto, welche diefer ſelbſt für feine Gemeinde zweck⸗ 
mäßig erachtet hat. Aber fie find darum doch nicht für jedes 
einzelne Individuum der unumgängliche Weg, um in den Beſitz des 
Heiles, der Eingliederung in die chriftliche Gemeinde im @eifte und 


Kritiſche Stublen zur Symbolil. 28 


in ber Kraft, zu gelangen. Es ift in abstracto denkbar, daß 
einer, ber in der Ehriftenheit aufwächft, ein tabellofer Ehrift würde, 
eine je dazu zu kommen, die Sacramente zu empfangen. Luther 
anerkennt felbft dieſen Gefichtspuntt hinfichtlich des Abendmahles, 
wenn er, vor ber Gefahr ftehend, excommmunicirt zu werden, den 
Grundſatz aufftellt: Glaube nur, fo Haft du fehon genofjen. Aber 
allerdings, es überwiegt die Vorftellung, daß der Empfang wenigftend 
der Taufe der ftatutarifche, umerläßliche Weg zur Erlangung des 
Heiles ſei. Und doc ift Luther in legter Inſtanz immer wieder 
idwanfend, ob er einem ungetauft fterbendeun Kinde die Selig- 
fit abfprechen müffe. 

Begenüber der Einfeitigleit Luthers in der Betonung ber amt» 
lichen Predigt und der Sacramente ald der Vehikel des Geiftes 
ft zurückzufehren zu derjenigen Auffaffung der Gnadenmittel, die 
wir oben gekennzeichnet haben und wonach jene Gnabdenmittel nur 
einzelne umter unzähligen find. Gerade in ihr Tiegt die eigentliche 
Kraft des Broteflantismus. Wenn alle Mittel, wodurch die chrift- 
liche Gemeinde den Geift, der in ihr lebt und dem fie dient, dar⸗ 
ftellt, die Öffentlichen und die privaten, die abfichtlichen und die 
ubewußten, die Kraft haben, göttliches Leben in und zu erzeugen, 
ms zu Chrifto zu führen, fo ift es offenbar, daß wir leben und 
weben unter der Wirkfamkeit des Geiſtes. Iſt damit biefelbe 
der empirifchen Ausmeffung entrüdt, kann fie alfo nur im Glauben 
md in Willenskraft erfaßt und erfahren werben, fo kann der Ge⸗ 
danke an fie fo zugleich erft eintreten in unfer Gemüth als ein 
einheitlicher, der alle unjere Empfindungen zu beherrfchen geeignet 
it. Darin aber haben wir den Grund unjerer Vorzüge vor dem 
Latholicismus. 


A Braun 


2, 


Die religiöjen und fittlihen Auſchauuugen von Adam 
Smith. 


Bon 
Dr. Friedrich Braun, 


Repetent zu Tübingen. 


1776 erfchien die „Unterfuchung über die Urfachen des Wohl: 
ftandes der Völker“ von Adam Smith. Der Hulturbiftorifer 
Buckle nennt es „vielleicht das wichtigfte Buch, das je gefchrieben 
worden“. Jedenfalls bat nicht Leicht ein anderes fo unmittelbar 
praftifch gewirkt. Was Smith in der ftillen Studirftube zu Kir⸗ 
kaldy niederfchrieb, ift von den Männern des Handel und ber 
Induſtrie, ift von den Staatslenkern und Vollsvertretungen ale 
löſendes Wort erfaßt und realifirt worden. Die Frucht davon 
fehen wir in der wirtbichaftlichen Entwicklung der letzten 100 Jahre, 
in den mirtbfchaftlidhen und focinlen Zuftänden der Gegenwart 
mit ihren Licht» und Schattenfeiten. Gewiß fordern dieſe Zuftände 
ernfte Beachtung gerade vom Theologen, der alle Rebensgebiete vom 
fittlihen und chriſtlichen Standpunkte prüfen und verftehen lernen 
fol. Und ift denn nicht das wirthichaftliche Leben eines Volles 
mit deſſen fittlich«veligiöfem Zuftande eng. verfnüpft? Nehmen 
wir beifpielsweife das capitaliftifde Gründertum und den Socia- 
lismus unferer Tage. In diejen zwei frappanteften und abnormften 
wirthſchaftlichen Erfcheinungn — die fih zum Smith'ſchen Sy- 
fteme als nothwendige Conjequenzen verhalten — offenbart fich 
ein fchauerficher Schiffbruch fittlichen und religiöfen Lebens. Sit 
etwa dafür Adam Smith mit verantwortlich zu machen? Jeden⸗ 
falls mag es nicht ohne Intereſſe fein, feine ſittlichen und religiöfen 
Anfchauungen in's Auge zu faſſen und ihren eventuellen Zufammen- 
bang mit feinen wirtbfchaftlichen Theorien zu unterfuchen. Das ift 
der Zweck diefer Slizze. 


Mam Smiths religidſe und fittliche Anfchauungen. 255 


Zunähft wird es nicht unpaffend fein, in einem 1. Abfchnitte 
Smwmiths wichtigfte nationalölonomifche Grundfäge kurz zu recapitu- 
liren und die dagegen vom fittlihen und religiöfen Standpuntt 
erhobenen Bedenken zu präzifiren. So verhält fich diefer 1. Ab⸗ 
ſchnitt zu den folgenden, die Smith religiöfe und moralifche An⸗ 
ſchauung ſchildern, wie die Frage zur Antwort. 


1. Gegenüber dem Kolbert’fchen Merkantilſyſtem, das im Handel, 
mb der Phyfiofratie, die in den Bodenproducten eines Landes das 
Fundament von beifen Wohlftand erblidte, gieng Adam Smith 
von dem einfahen Sate aus: Die Arbeit ift die Quelle 
de8 Wohlſtandes. Es gilt daher, um den Volkswohlftand zu 
ſteigern, die Arbeit möglichit zu vervollkommnen. Das gefchieht 
einmal durch die Arbeitstheilung Wer fih auf einen pe 
tiefen Arbeitszweig concentrirt, leiſtet darin mehr und beſſeres, 
als wer verfchiedenartige Zweige cultivirt. Smith gibt das Bei- 
ſpiel: ein Nagelſchmied verfertigt täglich 2300 Nägel, ein Schmied, 
der nur bisweilen Nägel macht, 800 — 1000, Schmiede, die noch 
nie Nägel gemacht haben, 200— 300. — Gewiß ift der Durchführung 
dieſes Smith’fchen Principes bie heutige Volltommenheit, ja Raf- 
finerie in vielen induftriellen Branchen zu danken. Im heutigen 
England gibt es 102 Zweige bes Uhrmachergewerbes, die befon- 
der gelernt werden; in Birmingham gibt es eigene Etabliſſements 
für Gold», für Silber», für Metall» und für Berlemutterfnöpfe. 
(diefe Beifpiele nah Rofcher, Nationalök. I, 110. 111). 

Das zweite Smith'ſche Hauptprincip ift die freie Concur— 
tenz, die Handels» und Gewerbefreiheit. Sol die Arbeit 
reht gedeihen, jo muß jeder die ihm zufagende Branche frei wählen 
und üben dürfen; der daraus entftehende Wettftreit kann die Güte 
der Producte nur fteigern. Der Staat darf darum nicht durd 
Monopole, Zunftprivilegien u. f. w. in die Freiheit und 
keiftungsfähigkeit der Einzelnen eingreifen; er bat nur die Aufgabe, 
diefe Zreiheit zu ſchützen durch Landesverteidigung, Rechtspflege 
md Erhaltung derjenigen gemeinnüßigen [Verkehrs- und Unter- 
richts⸗) Anftalten, die von ben Einzelnen nicht unterhalten werden 
fönnen. 

Zheol. Gtub. Sahrg. 1878. 17 


26 Braun 


Auch dies Smith’fche Princip ift heute fo ziemlich überali 
Wahrheit: wir haben die abjolute wirthichaftliche Freiheit des In⸗ 
dividuums, in die der Staat ſich nicht durch Gewerbeordnungen, 
Zunftprüfungen u. ſ. w. miſcht. 

Nur eine Ausdehnung der freien Concurrenz auf's internationale 
Gebiet ift die Smith’fche Forderung de8 Freihandels, wonach 
weder die Einfuhr fremder noch die Ausfuhr einheimifcher Waaren 
befchräntt werden und fo ein Verhältnis des Wettſtreites und der 
Ergänzung zwifchen den Völkern fi) bilden foll, das ihrem Wohl- 
ftand nur förderlich if. — Auch diefes Princip ift, zwar nicht jo 
vollftändig wie die Arbeitstheilung und die freie Concurrenz der 
Individuen, aber doch zu einem guten Stüd realifirt, bejonders 
auch vom deutichen Reich. 

Bei diefen zwei oder drei Orundfägen Smiths bleiben wir ftehen, 
von feinen vielen rein technischen Detailunterfuchungen abſehend. Was 
den eriten von der Arbeitstheilung betrifft, jo iſt er techniſch, 
wirthſchaftlich für jeden eimleuchtend und unanfechtbar. Anders 
vom fittlichen, ja ſchon vom geiftig-pädagogiihen Stan» 
punkte. Da ericheint e8 bedenklich, daß der Menfch durch feine 
Arbeit auf einen engen und engften Kreis befchränft wird, in dem 
er ſich zwar mit mechanischer ertigkeit bewegt, aber Leine Ge— 
legenheit zu vielfeitiger und felbftändiger Bethätigung 
von Verſtand und Willen findet. Wie dumpf und bornirt muß 
faft ein Menſch werden, der Jahr und Tag nur Stecknadellöpfe 
fabricirt oder Schwefelhölzchen verpadt. Gewiß liegt in diefer Enge 
des Geſichtskreiſes ein Hauptgrund, warum die Arbeiter einfeitigen 
Ideen und Beftrebungen, bie an fie herantreten, fo leicht zum Opfer 
fallen, warum Socialismus und Sectirerei fo viele Projelyten 
finden: es fehlt die geiftige Nefiftenztraft, die nur vielfeitigem und 
felbftändigen Denken und Wirken eigen ift; dem halb zur Maſchine 
‚gewordenen Menſchen erjcheint auch die einfeitigfte und verwegenite 
fociale und religiöfe Idee, eben weil's doch eine dee ift, als eine 
erlöfende Offenbarung, der er num mit blindem Fanatismus an 
hängt. — Diefe Gefahr hat Smith nicht verfannt; er faßt fie Har 
in's Auge (V. Buch, 3. Abtheilung, 2. Artikel „von den Ausgaben 
für Erziehungsanftalten“), und will ihr begegnen durch obligatoriſche 


Mam Smiths refigiök umd fittliche Anſchauungen. u 


volksſchulen, in denen Leſen, Schreiben und Rechnen, fo 
wie die „Klemente der Geometrie und Mechanik“ gelehrt werden 
(wozu nach Art. 3 die religiöfe Unterweifung kommt), und durch 
Prüfungen „über bie wichtigften Gegenftände des Unterrichtes“, 
die der Staat zwangsweife mit allen abhält, che fie in die Be⸗ 
rufßarbeit eintreten. Dadurch ſoll alfo jedem eine Mitgift an 
geiftigem Leben und ein Präfervativ gegen den verdumpfenden Ein. 
Aug mancher Specialarbeit mitgegeben werden. Nun, was Smith 
m feinem Schottland mit Stolz vorfand und den übrigen Rändern 
empfahl, das haben wir in faft allen civilifirten Staaten, feit 
1870 auch in England: obligatorifcdye Volksschulen mit Prüfungen. 
Abet dadurch wird der ungünftige Einfluß majchinenmäßiger Arbeit 
auf die niederen Volksſchichten nicht durchfchlagend paralyfirt. 
Was man von der Schule mitnimmt, das verliert man eben wieder 
in der Fabrik. Wenn and die technischen Fertigkeiten des Leſens, 
Schreibens, Rechnens — oft freilich nothhürftig! — fi erhalten, 
jo wird doch die in der Schule begonnene Erweiterung und Klärung 
des geiftigen Horizontes bei fehr vielen fiftirt, und macht der un- 
vermeidfichen Enge und Dunkelheit Pla, die nur durch das phan- 
taftifche Irrlicht unverftandener und unverjtändlicher Ideen erhellt 
wird. Bon manchen freilich wird der Mangel bitter empfunden, 
und feine Hervorhebung gehört zu den bereditigten Klagen dee 
keutigen Socialismus. Diefem Mangel fann in erfter Linte 
nur dadurch begegnet werden, dag dem Arbeiter freie Zeit und 
Anleitung zur Fortbildung gegeben wird. Darin liegt das 
befte Mittel gegen bie verdbumpfenden Bolgen der Arbeitstheilung 
nur des Maſchinenbetriebes. Es iſt auffallend, daß Smith diefe 
Bortfegung der Schule gar nidt ins Auge faßt. 
Ya, er widmet allerdings einen ganzen Abfchnitt (V, 3, 3) den 
‚Unterrihtsanftalten für alle Alterstlaffen“; «ber 
unter diefen „Unterrichtsanftalten“ verſteht er die Kitchen, er 
weiß von feinem anderen Unterricht für Erwachſene als von refi- 
gisſer Lehre und Seelſorge. Gewiß macht es feiner Frönmig—⸗ 
keit as Einficht alle Ehre, daß er der Religion ſolche Bedeutung 
vindicizdt. In der That iſt und bleibt fie ja das Bildungsmittel 
erften Ranges für alle Altersflaffen, das erft wirflih human 
17% 


28 Braun 


und weit macht. Aber daß er in ben weltlichen Fächern, 
hinaus über die Vollsſchule und jene Prüfung, von der man nicht 
recht erfieht, ob es eine Schul⸗ oder Fachprüfung fein foll, 
an eine weitere Ausbildung gar nicht denkt, bleibt ein entſchiedener 
Mangel. 

In zweiter Linie werden wir, um bie ſchlimmen Folgen 
der Arbeitstheilung zu vermeiden, fordern, daß das Princip felbft 
nicht in übertriebenem Maße angewandt, fondern die Arbeit im einer 
Weife vertheilt werde, die doch noch jedem Arbeiter eine gewiile 
Abwechslung gewährt, ihn intereffirt, ibm Gelegenheit zu 
jelbftändigen, bis zu einem gewilfen Grade abgerumdeten 
Leiftungen bietet und ihn fo innerlich befriedigt und hebt. Mag 
vielleicht die rein mechanifche, mafchinenmäßige Fertigkeit darunter 
ein wenig leiden, wir ſchlagen das geiftig und ſittlich bil- 
dende Moment höher an, das wir fo auch der materiellen Arbeit 
wahren und durch das allein wir fie zu einer menfchenwürdigen 
Beſchäftigung machen. Es ift ein fataler Mangel, daß Smith 
diefe geiftige Werthung der materiellen Arbeit nidt 
vollzieht. | 

Daß Smith fo in doppelter Weife die geiftigen Intereſſen der 
arbeitenden Bevölkerung verkürzt, kann um fo auffallender fcheinen, 
da er felbft fein Leben lang von den vielfeitigften geiftigen Jutereſſen 
beherricht war. Dabei ift freilich von einer egoiftifchen Tendenz 
auf Verdummung und dadurch erleichterte Knechtung und Ausnitgung 
des Volkes nicht entfernt die Rede; wir werden Smiths Humanität 
fennen lernen! Vielmehr ift fein Optimismus im Spiel, der ihn 
einmal fagen läßt: „Was fehlt zum Glück eines Menfchen, der 
gefund ift, feine Schulden und ein gutes Gewiſſen befigt! Diefe 
Lage darf die natürlihe und gewöhnliche der Menſchen genannt 
werden.“ Daß durch Unbildung eine Lücke im Glüd eines Menfchen 
oder einer ganzen Klaſſe gejchaffen wird, das Liegt ihm hienach 
ferne. Er ſcheint als jelbftverftändlich anzunehmen, daß die geiftigen 
Güter, die er ſelbſt fo hoch fhäßt und in dem von ihm aufgeftellten 
Ziel der „allgemeinen Wohlfahrt” in vollfter Entfaltung mitdenkt, 
auf einen Theil der Menjchheit bejchräntt bleiben, ohne von ben 
anderen vermißt zu werden — eine Annahme, die fi) wol durch 


Aam Smiths veligiöfe und fittliche Anſchaunngen. 29 


bie geiftige Stumpfheit ber niederen Klaffen in feinem Vaterland 
nabelegte. Freilich Tiegt in diefer Auffaffung eine gefährliche Iſo⸗ 
firung des materiellen Arbeitsgebietes, eine Loslöſung desſelben von 
geiftigen und damit theilweife auch von fittlichen Geſichtspunkten; 
indireet fogar eine Herabwürdigung der phyſiſchen Arbeit und ein 
Unrecht gegen die Arbeiter, jo wenig die von Smith erkannt und 
gewollt war. 

Soviel über das Smith’fhe Princip ber Arbeitstheilung, das 
ms in der folgenden Unterfuhung kaum noch begegnen wird und 
deshalb hier gleich abjchliegend behandelt wurde. Centraler und in 
engerem Zufammenhang mit feinen fittlichen Anfchauungen erfcheint 
das zweite Smith’ihe Princip, das der freien Concur- 
renz, mit feiner Confequenz, dem Freihandel. 

As Haupteinwand wird hier, zunächſt vom wirthfchaftlichen 
Geſichtspunkt, geltend gemacht, daß die Individuen, besiehungsweife 
bie Bölfer eben nicht mit gleichem Vermögen und gleicher Kraft 
ausgeftattet in den Wettlampf eintreten, daß diefer vielmehr dem 
„Kampf ums Dafein“ gleicht, worin der Stärfere den Schwächeren 
nieberwirft, und daß durch den Untergang des letzteren ein Ausfall im 
wirthfchaftlichen Gefamtleben entfteht. Mit diefem wirthfchaftlichen 
combinirt ſich fofort ein fittliher Geſichtspunkt. Menſchen 
mit verfchiedenem Bermögen, verfchiedener Kraft fi 
entgegenzuftellen, die Schwachen unrettbar der Ueberflügelung 
der gar Aufreibung preiszugeben, erfcheint ungerecht, inhu> 
man. Im Smith’fhen Concurrenzigftem, das ja gewifjfermaßen 
die wirthfchaftliche Revolution einleitete, fehlt zwar nicht bie 
übertE, wohl aber die 6galit& und die fraternité! Daher 
wird die Forderung an den Staat, den Schwachen unter die Arme 
zu greifen, die mächtigen Kapttaliften und Arbeitgeber vor Ueber⸗ 
vortheilung abzuhalten, nicht nur im Namen des Volkswohl⸗ 
fandes, fondern auch in dem der Sittlichkeit zu ftellen fein. So» 
tialdemotraten, Kathederfocialiften, Conſervative 
ftellen heute diefe Forderung; dasfelbe fordern für's internationale 
Gebiet, entgegen dem radikalen Freihandel, die Schußzöllner. 

Ein zweiter, vorwiegend fittliher Einwand gegen die freie 
Concurrenz gründet ſich darauf, daß die Menfchen, die fich voller 


260 Braun 


wirthichaftlicger Freiheit erfreuen, nicht bloß an materiellen Mitteln, 
an leiblicher oder geiftiger Kraft, fondern auch an moraliſchem 
Sinn und Fleiß differiren; daß fie diefe Freiheit — was 
gegen das Intereſſe der Gejamtheit, wie ihr eigenes fittlicdhes und 
wirtbfchaftliches Intereſſe verſtößt — zu ſchlechten Leiftungen, 
Taulheit und Indolenz misbrauchen können; daß des⸗ 
halb eine Zucht, wie ſie das alte Zunftweſen übte, nöthig 
iſt, um die Güte der Arbeit und beſonders auch die ſittliche 
Normalität der Arbeitenden zu controliren und zu fördern. 
Derartige Gedanken find gegenwärtig beim conſumirenden Publikum 
wie bei Arbeitgebern, bejonders kleinen Handwerksmeiftern, fehr 
verbreitet, provocirt durch üble Erfahrungen. 

Aber von diefen Mängeln abgejehen, die ſich aus der wirth- 
ſchaftlichen und fittlihen Ungleichheit der Eoncurrenten 
ergeben, fann und muß faft die geiftig-fittliche Betrachtungs⸗ 
weiſe jchon gegen den Gedanten ed Concurrenzlampfes 
jelbft als einen egoiftifhen und materialiftifchen opponiren. 
Jener Kampf ſetzt ja allerdings voraus, daß ber einzelne 
jeinen VBortheil, und zwar einen in äußeren Gütern be- 
jtehenden, erjtrebt. Daher wirft Dtto (Arbeit und Ehriftentum, 
©. 31) Smith geradezu Senfualismus vor; im Pathos fittlicher 
Entrüftung fagt Robert von Mohl (Staatswirthſch. III, 304) 
über das Smith'ſche Syitem, „daß es rückſichtslos, faſt unmenſch⸗ 
lich iſt, indem es ganz außer acht läßt, daß der Menſch kein 
fühlloſes, todtes Werkzeug zur Reichtumgewinnung, ſondern ein 
mit Gefühl für Schmerz und Luſt, für Hoffnung und Verzweif⸗ 
ung begabtes Geſchöpf iſt“. 

Dieſe Vorwürfe ſteigern ſich, wenn wir in den chriſtlichen 
Anſchauungskreis eintreten: 

Die Selbſtſucht, die auf der einen Seite den Nächſten mit allen 
Mitteln zu überflügeln ſucht, auf der anderen Seite ſeine Trägheit 
oder ſeinen Leichtſinn ohne Zucht, vielleicht gleichgültig und ſchaden⸗ 
froh, gewähren läßt — iſt fie nicht das directe Widerſpiel der 
chriſtlichen Liebe, die „nicht das Ihre jucht, fondern das was 
des Nächten ift“ ? 

Das raftlofe Jagen nah irdifhem Gut, ftimmt « 


Ham Smith religidfe und fittliche Anfchauungen. 261 


nicht ſchlecht zu dem „Himmlifhen Sinn“, der nad dem 
Reich Gottes und feiner Gerechtigkeit trachtet, zu dem Glauben, 
daß uns alsdann „alles zufallen“, dag der himmliſche Vater feinen 
Rindern auch im Srdifchen das Nothwendige befcheeren werbe? 
Egoismus und Materialismus, das fheint die undhrift- 
liche Signatur diefer Xehre und Praxis. Gewiß, es ift vielfach 
de Signatur der Praris im heutigen wirthichaftlichen Leben. 
Benn naive Apofalyptiter in dem Draden der Offenbarung ben 
Mammonsgeift der Gegenwart, oder gar in der „großen Hure“ 
de Stadt London als Repräfentantin von Handel und Induſtrie 
erblicen wollen, fo Tiegt in dem eregetiichen Wahn ein großes 
KLörnlein bitterer Wahrheit. Aber fälſchlich werden jene Vor⸗ 
würfe der Smith’fchen Lehre gemadt. Das ergibt fi, wenn 
wir ihre religiöfen und fittlichen Vorausſetzungen, wenn wir die ganze 
Weltanſchauung des Mannes kennen lernen, in die feine wirth⸗ 
ſchaftlichen Theorien nur als ein Glied neben und unter anderen ein⸗ 
reißen if. Otto (Arbeit und Ehriftentum) redet S. 31 von 
Smith, „ber ja freilich das Verhältnis der Volkswirthſchaft zur 
Sittlichkeit ganz umerörtert ließ“. Das ift allerdings wörtlich 
richtig. Das Verhältnis beider zu einander hat Smith in feinen 
Schriften nirgends ex professo erörtert. Wenn er aber doch beide 
Bebiete als akademischer Lehrer in zufammenhängenden Vorlefungen 
befprah; wenn er beide in großen milfenfchaftlichen Werfen bes 
handelte, und wenn er zur Moral, ber fein erftes Werl gewidmet 
war, in hohem Alter, nad Abſchluß feiner volfswirthfchaftlichen 
Thätigfeit, noch einmal zurückkehrte und fich ausdrücklich zu feinen 
alten Anfchauungen, die ihn durch's Xeben begleitet und fich ihm 
ſtets beftätigt hätten, befannte: — fo fordert fehon die Biftorifche 
Gerechtigkeit, einen Zufammenhang zwifchen beiden Werfen, 
änen Zufammenhang der fittlichen mit den wirthichaft- 
lien Ideen bei Smith anzunehmen und ihn, wo er nicht aus» 
gefprochen zu Tage liegt, zu fuhen Das ift bisher von den 
nationaldfonomifchen Darftellern zu wenig gejchehen. Roſcher 
, B. (Gefchichte der Nationalölonomit, S. 595) nennt wol 
unter den „melthiftorifchen Richtungen, die ſich in feiner Berfon 
vereinigen“, bie „neuere Bhilofophie“, aber ohne weiteres Eingehen. 


262 Braun 


Ebenfo wenig gehen die philofophifchen und theologifhen 
Ethifer, die fih mit feiner religiöfen Moral auseinanderfegen 
(Zeuerlein, J. ©. Fichte, Wuttle I, 241ff.), auf jenen 
Zufammenhang ein). Und doch wäre es von diefer Seite faft 
nöthiger: denn feine Nationalöfonomie ift und bleibt ein standard- 
work, e8 bat gewirkt und wirft fort, Iosgelöst von feiner Ethik; 
die Ethik Smiths dagegen hat in der philofophiichen Wiffen- 
ſchaft feine befonders bedeutende, nicht einmal eine fehr felbjtändige 
Stelle; ihr Werth befteht darin, daß wir durch fie die „Unter- 
fuhung” ergänzen und verftehen lernen, welchen Zie- 
len Smith aud mit feinen wirthfchaftlihen Grundfägen 
zuftrebte.. Wir werden ihn vom Verdachte des principiellen 
Materialismus und Egoismus losſprechen, aber auch zeigen können, 
wie der materialiftifch-egoijtifche Zug der „Unterfudung“ 
mit gewiffen ſchwachen und inconfequenten Partien 
feiner ethifchreligiöfen Weltanfhauung zufammenhängt. 

Sehen wir uns nun Smith, ben Moralphilofophen, zu— 
nächſt nach feiner gefchichtlihen Stellung und wilfenfchaftlichen 
Genefis an. 


2. Das 17. und 18. Jahrhundert ift für England das klaſ⸗ 
fifche Zeitalter der Moral. Aber diefe Moral ift meijt empirifch 
deferiptiv, ift eigentlich Pſychologie. Sie fucht nicht objective 
Güter al8 Ziel, objective Pflichten als Ausgangspunkt fittlichen 
Handelns; fie betrachtet und bejchreibt einfach das menfchliche 
Geiftesleben mit der Lupe genauer Analyſe. Was fie da als 
beherrſchendes Streben vorfindet, das erjcheint ihr als normal, als 
legitim, in biefem Sinn können wir fie Tugendlehre nennen. reis 
lich ſtimmen die Moraliſten in der Declarirung des pſychologiſchen 
Zhatbeftandes nicht zufammen. Doch tritt mehr und mehr der 
Egoismus als pſychiſcher Grundfactor in Vordergrund, bald im 
feinern Gewande des Strebens nad) harmoniſchem Lebensgenuß 


1) Auszunehmen iſt Lange (Geſchichte des Materialismus) und Vorländer 
(Philoſophie der Franzoſen md Engländer), bie einiges Treffende darüber 
bieten. — Ueber das neue Werk von Oncken ſ. Schluß. 


am Smithe refigiöfe und fittfiche Anſchaunngen. 283 


(Shaftesbury, Bolingbrofe), bald im gröbern Kleide des rückſichts⸗ 
loſen Gewinn- und Beherrſchungstriebes (Mandeville). Halten 
wir ms zur Erklärung ben reißend gefttegenen Wohlftand Groß« 
britanniens vor Augen. Dem materialiſtiſch eudämoniftiichen Zug, 
der mit folhen Blütezeiten untrennbar verbunden ift, entjpricht 
ftets und entfprad in England die DVerweltlihung und Discredi- 
tirung der Kirche, das Sinfen des ibealen und ſpeciell des religtöfen 
Geiſtes. So fehen wir auch bei ben englifchen Deoraliften die 
Religion theils ironifch beifeite gefett, theil® doch nur fehr loſe an 
die Lebensanfchauung angeknüpft. 

Es würde uns wol nicht wundern, wenn Smiths volle- 
wirthſchaftliches Syftem auf diefem lax moraliichen Boden erwachſen, 
in ber beiftifchen Luft gereift wäre. Wir find vielleicht vorn herein 
geneigt, ihn anch ale Moralphilofophen in diefen Reihen zu fuchen. 
Veit gefehlt! er gehört der Oppofition gegen fie an! “Die 
Deafiftifch = veligiöfe Oppofttion war ſchon im 17. Jahrhundert 
md zu Beginn des 18. durch einige theologische und theologifirende 
Moraliften (Cudworth, Clarke, Woollafton) vertreten; im 18. 
Jahrhundert übernehmen die Schotten biefe Rolle!). Obſchon 
Mitglieder des brittifchen Neiches und an deſſen Wohlftand betheiligt, 
find fie doch im induftriellen Betrieb und Erfolg hinter den Eng- 
lindern zurüd, ſchon in Folge der Beſchaffenheit ihres Landes. 
Es fehlt ihnen darum das Aufgehen in den materiellen Intereſſen 
und die Selbftgefälligkeit des Engländer. Sie find viel tiefer 
als die Engländer, die folche Dinge eben als Momente der Eigen« 
fümlichkeit und des Glanzes ihres Landes gleihfam mit In den 
Lauf nehmen, den religidfen Intereſſen zugefehrt; ihre pres⸗ 
byterianiſche Kirche ift nie verweltlicht. Eine ftrenge, religiös 
gefärbte Moral ift Herrfchend; zugleich aber ein Humaner 
8osmopolitismus, der fe fehr vortheilhaft von den Eng⸗ 
lindern umterfcheidet. Diefe Züge fallen gewiß jedem fremben 
Beſucher Schottlands in's Auge; fie fptegeln fich in jener ſchot⸗ 
tichen Moralphilofophie, befonders treu in ihrem Vater und Führer, 
duthefon, dem Lehrer Smiths. In religiöſer Beziehung iſt er 


1) von denen nur ber anglifirte Hume eine freilich wichtige Ausnahme macht. 


264 Braun 


ftrenger Theiſt. Seine Moral ift wie die der Engländer empirifch, 
jo fern er im Menſchen verſchiedenartige Strebungen conftatirt ; 
aber über allen proclamirt er einen „moralifhen Sinn“, ber 
nur eine Reihe jener Strebungen, die wohlmwollenden, voll» 
ftändig billigt und unterftügt, und darin ben Willen der 
Gottheit repräfentirt. Wir finden bei ihm die hübſche Aeußerung, 
Wohlwollen fei im geiftigen Leben, was die Gravitation im phy⸗ 
fifchen. - Dem Wohlwollen will er einen möglihit weiten Um- 
fang gegeben wiffen, er dehnt e8 aus zum Kosmopolitigmus. Das 
find nur ein paar Züge feines „Tiebenswürdigen* Syftems, wie 
Smith es nennt. In langer, ftilfer Lehrthätigkeit zu Glasgow 
bildete er es aus. Ein fchroffer Gegenfag zu den englifchen Welt⸗ 
männern Bolingbrofe und Mandeville (der freilich ein anglifirter 
Tranzofe war) ftellt fih uns dar in diefem Hutcdhefon mit feinem 
religiöfen und fittlichen Ernft und dem harmlofen Gelehrten - Op- 
timismus, der ihn mwähnen läßt, „bei den Menfchen verfließe die 
größte Zeit des Lebens im Dienfte natürlicher Neigung und 
Freundſchaft, unfchuldiger Selbftliebe und Liebe des Landes“ (vgl. 
Borländer ©. 454). 

Diefem feinem Lehrer ſteht nun Smith fehr nahe, 
wie er auch gleich ihm den moralischen Lehrftuhl in Glasgow inne 
hatte (1752 — 1764). Mit ihm theilt er die ftrenge Religio- 
jttät, den fhon an Kant erinnernden Pflihtbegriff, den 
wohlmwollenden kosmopolitiſchen Sinn, und den Optimismus; 
Daneben zeigt fich indes bei Smith von Anfang an neben den 
idealen Intereſſen eine praftifche Ader, die ihn der englifchen Reihe 
annähert. Un Hutchefons Syſtem tadelt er, daß es „nicht gehörig 
erklärt, warum auch die untergeordneten QTugenden der Klugheit, 
Wachſamkeit, Umficht, Mäßigung, Beharrlichkeit, Feftigkeit unfere 
Billigung finden“. 

Als Profeffor der Moral in Glasgow theilte Smith feine 
Borlefungen in vier zufammenhängende Kurfe ein, wie und fein 
Freund Dugald Stewart berichtet. Im erften behandelte er die 
„natürliche Theologie, d. h. die Lehre von Gottes Dafein und 
Wefen und von der religiöfen Anlage des Menjchen“ ; im zweiten 
die Moral — daraus entftand die 1759 erfchienene „Theorie der 


Ham Smiths refigiöfe und ſittliche Anſchauungen. 285 


moralifhen Empfindungen“; im dritten bie Rechtslehre — 
auch ihre fchriftliche Bearbeitung war projectirt, kam jedoch nicht 
jur Ausführung; im vierten Theil gab er einen Weberblid „über 
die commerciellen,, financiellen, kirchlichen und militärischen Ein⸗ 
rihtungen ber Völker“. Diefer Theil gab den Grundftod ab für 
die viel Später (1776) erfchienene „Unterfuchung über die Urfachen 
des Wohlſtandes der Völter“ 1). 

So zeigte fih fchon in jener Zeit des alademifch philoſophiſchen 
Schramtes bei Smith eine Intereſſe für’s wirthichaftliche Leben. 
Sefteigert wurbe es durch die Kontinentreife 1764—1766, deren 
Höhepunft der Winter in Paris bildete, 1765/6. Vorher war 
doch bie Hauptſache für Smith, fein eigentliches Fach, die piycho- 
logiſch⸗ethiſche Analyfe des Menfchen gemwefen, wobei fih ihm wie 
Hutchefon das Wohlwollen ale „Iympathiicher Trieb“ in den Vorder: 
grund der Betrachtung ftellte. Jetzt, im Getriebe von Paris und 
im Berfehr mit den empirifch gerichteten Denkern und Staats⸗ 
männern Frankreichs konnte Smith nicht mehr umhin, feinen Blick 
immer ausfchließliher auf das wirthfchaftlihe Leben und feine 
Ordnungen zu firiren; hier fah er freilich einen anberen Factor 
als das Wohlwollen im Bordergrunde wirkſam, einen Factor, 
den er fchon in der „Theorie“ behandelt und moralisch gewerthet, 
doh aber in feinen ungeheueren Wirkungen nicht fo voliftändig 
gelannt Hatte, den Egoismus. Der Analyje der Wirkungen, 
die der Egoismus auf materiellem Gebiet bervorbringt, war nun 
das große Werk gewidmet, an dem er noch 10 Jahre im Still. 
leben von Kirkaldy arbeitete: die „Unterfuhung“. Sie ift in erſter 
Linie eine Naturgefchichte des wirthfchaftlichen Lebens, oder aud des 
materiell gerichteten Egoismus (wenn wir die wenigen, der Pflege 
geiftiger Sintereffen gewidmeten Abfchnitte des 5. Buches ausnehmen). 
Die fittlihe Tarirung bes Egoismus, die ganze Welt- 
anfhaunng blieb aber bei Smith die alte. Dafür ift neben 
manchen Stellen der „Unterfuchung” der befte Beweis, daß er in 
hohem Alter, lange nachdem ihm die „Unterfuchung“ Weltruhm und 


1) Nur als Zeichen fir Smiths reichen Geift mag augeführt werden, daß 
wir außerdem vom ihm eine Reihe Eſſays ans bem Gebiete der Natur- 
wiffenfchaft, Geſchichte, Philofophie und ſchönen Literatur Beftten. 


266 Braun 


eine bedeutende Stellung (als fehottifcher Zollinfpector) eingetragen 
hatte, zum Werk feiner Jugend zurückkehrte und mit dem lebten 
Aufwand geiftiger Kraft eine neue, ſtark bereicherte, aber principiell 
von der früheren nicht im mindeſten verfchiedene Ausgabe feiner 
moralifchen „Theorie“ ausarbeitete ?), Wie gering er im Grunde 
von den materiellen Gütern immer noch dachte, zeigt 3. B. fol- 
gende, aud in diefer fpäteren Auflage ſich findende Stelle: „Ju 
dem, was das wahre Glück des Lebens ausmacht, ftehen die Armen 
keineswegs unter benen, die fo hoch über ihnen fcheinen. Was 
Körpergefundheit und Seelenfrieden betrifft, befinden fich alle die 
verfchiedenen Lebensordnungen fo ziemlich auf einer Stufe, und der 
Bettler, der fih an der Straße fonnt, befigt eine behagliche Sicher» 
heit, um die Könige ſich ftreiten“ (I, 310). Charafteriftifch ift auch, 
was Stewart mittheilt, daß Smith für feine Perfon ein unprafs 
tifcher, auf die Tiebende Auffiht einer Baſe angemwiefener Haus 
halter war und blieb — wozu freilich feine Beobachtungsgabe für 
wirtäfchaftliche Verhältniffe ſeltſam contraftirt. 

Daß die Welt jene in der „Unterfuchung“ gegebene Natur: 
gefchichte des Egoismus als Rechtfertigung . desfelben hinnehmen 
und benugen werde, ohne fih um die ganze Weltanfchauung des 
Verfaffers zu fümmern, das bat Smith gewiß nicht gewollt und 
in feinem Optimismus "nicht geahnt. Um fo nötbiger ift es für 
feine fcheinbaren Nachfolger wie feine ihn misverſtehenden Gegner, 
den ganzen Smith fennen zu lernen. Dazu wollen wir beitragen, 
indem wir nun zunächſt von feinen religiöfen Anfichten, dann von 
feiner Moral einen Abriß geben. 


3. Obwol ber erfte Theil des Smith'ſchen Vorlefungscuries, 
bie „natürliche Theologie”, uns nicht in fchriftlicher Bearbeitung 
vorliegt, können wir doch aus den zahlreichen Excurſen ber „Theorie“ 


1) Diefe Ausgabe: The Theory of Moral Sentiments, New Edition, 
Vol. I& II, Basil. 1798, ift den folgenden Eitaten zu Grunde gelegt. — 
Die Inquiry on the Causes of the Wealth of Nations babe ich theil® 
in der englifchen Aırögabe vom M’Culloch (New Edition, Edinburgh & 
London 1888), theil® in der deutſchen ucherſetung von Aſcher (Stutt⸗ 
gart, Engelhorn) benutzt. 


Ham Smiths refigidfe und fittliche Anfchauungen. 267 


an ziemlich vollftändiges Bild feiner religtöfen Anfchauungen ges 
binnen. 

Diefelben concentriren fi in einen ungemein warmen, man 
möchte jagen begeifterten Theismus und BProvidenzglauben. 

Beweiſe fürs Daſein Gottes gibt Smith nicht (fie batten 
wohl in jenem 1. Theil ihre Stelle); dagegen erweift er das 
Befeu Gottes aus bem zwedmäßigen Weltzuftand: „Das Glüd 
der Menfchen, wie aller andern Creaturen, fcheint der urfprüngliche 
Plan des Schöpfers geweſen zu fein, als er fie in's Dafein rief. 
Diefe Erwägung, zu der die abftracte Betrachtung feiner unend⸗ 
lichen Vollkommenheit führt, wird noch mehr befräftigt durch die 
Erforfhung der Werke der Natur, die alle darauf angelegt er» 
ſcheinen, das Glück der Ereaturen zu fördern und ihnen gegen Unglück 
Schuß zu bieten.“ (I, 275.) — „Alle Bewohner des Univerfums, 
die geringften fo gut wie die größten, ftehen unter ber befonderen 
(dügenden Fürforge jenes großen, gütigen und allweifen Wefens, 
da8 alle Bewegungen der Natur Teitet, und das durch feine eigenen 
unwandelbaren Vollkommenheiten beftimmt wird, in der Welt jeder» 
zeit das größtmöglihe Quantum von Glück aufrecht zu halten“ 
(U, 79). Die Wohlfahrt aller Ereaturen ift aljo Gottes Zweck bei 
Schöpfung, Erhaltung und Regierung der Welt; feine Grund- 
eigenfchaft ift bie Liebe, der die Weisheit dient. 

Wenn Smith in der eben citirten Stelle von dem „größt⸗ 
möglihen” Quantum von Glüuck redet, fo gibt er damit zu, daß 
das Glück der Creaturen feine Lüden bat. Dieſe Lüden faßt 
Smith freilich höchſt optimiftifch; fie find für ihn faft vers 
ſchwindend, kaum ein paar dunkle Schatten, die über fein Tichtes 
Weltbild Hufchen. Bezeichnend ift 3. B. folgendes faft naiv zu 
nennende Dietum: „Nimm die ganze Erde im Durchſchnitt, fo 
findeft din auf einen Menſchen, der Schmerz oder Elend zu tragen 
bat, zwanzig in Glück und Freude oder wenigftens in erträglichen 
Umftänden. Es ift fein Grund, warum wir eher mit bem einen 
weinen, als mit den zwanzig und freuen follten.“ (I, 227.) 

Bon der furdtbaren Macht der Sünde, die nach der chrifts 
hen Anſchauung den göttlichen Liebesplan zwar nicht zerftört, 
aber hemmt und die Welt zu einer Stätte des Uebels macht, hat 


208 Braun 


Smith feine entſprechende Vorſtelling. Soweit er Uebel 
in der Welt zugibt, faßt er es allerdings meift ) als eine Folge 
der menſchlichen Freiheit, die der göttlichen LXiehestendenz an 
einzelnen Punkten entgegenwirken fann, aber von Gott gleichjam 
wieder umgebogen und indirect für’ allgemeine Wohl ver- 
wendet wird, fo daß das partielle Uebel in Hegel'ſcher Weile 
als Moment des Gefamtfortfchrittes erfcheint. Diefer Gedanke 
an's Ganze ift der Troft des Einzelnen, der vom Uebel be 
troffen wird; ein Zroft, der mit dem Providenzglanben 
aufs engfte zufammenhängt. Daß der Glaube durch's 
Unglück erfcgüttert werden könne, das Liegt Smith ganz fern; im 
Gegentheil, hier bewährt er feine Kraft: „Wenn ein Menfch einen 
tiefen Eindrud davon hat, daß diefed gütige und alfweife Weſen 
in das Syſtem feiner Regierung kein partielles Webel einlaffen 
fann, das nicht nothwendig ift flir das allgemeine Wohl, fo muß 
er alle Misgeſchicke, die ihn, feine Freunde, feinen Stand oder jein 
Land treffen, betrachten al nothwendig für das Glück bes Univer⸗ 


1) I, 276 ff. fcheint er das Uebel ganz in die fubjective menfchliche Betrach 
tungsieife verlegen zu mollen. Alles in der Welt, fagt er dort, ficht 
wohlbegrändet im Eaufalnerus der Dinge da und kann in fo fern nicht 
„Uebel“ genannt werben. &o if 3. B. der Reichtum bes Schurken die 
normale Folge feiner Rübrigleit und Verfchlagenheit in pekuniären Dingen, 
während der fromme und redliche Mann als normale Folge diejer 
Tugenden nur ideale Güter, Achtung und Ehre, aber nicht Reichtum er 
warten kann. Gegen biefe Bertheilung nun rebellirt unſer more‘ 
liſchee Gefühl, das einen anderen Maßſtab anlegt und dem letzteren 
Mann Wohlftand, dem erſten Strafe wünſcht. Das normale Gefühl 
empfindet alfo den berrfchenden Cauſalnexus öfters als Uebel“, uud 
fucht ſolches Uebel zu überwinden durch Geſetze, Belohnungen, Strafen, 
die den Guten fördern, den Schlechten niederhalten. Doch erreicht «6 
damit feinen Zwed nicht völlig: „ber Strom des Natmelanfes ift fo 
ſtark und veißend, daß der Mensch ihn nicht aufhalten kann“. Aber weil 
dieſes moraltiche Gefühl ebenfo eine gottgefehte, piuchologiiche Potem iR 
wie jener natürliche Caufalnegus eine gottgeſetzte Natur⸗ und Weltorduung, 
weil beide auf die „allgemeine Wohlfahrt“ angelegt find und und fie auf 
verſchiedenen Wegen erftreben, fo ift ein endlihes Zuſammentreffen, 
ein Ausgleich beider im Jenſeits, eine moralijche Regulirung des Eamfıl 
negns ımd damit Ueberwindung des Uebels (Boftulat I, 281). | 


Adam Smiths fittliche und veligidfe Artichaunngen. 269 


uns, und darum ald etwas, bem er fich nicht nur in Ergebung 
zu unterwerfen Bat, fondern als etwas, das er felbft hätte auf- 
richtig und andächtig (devoutly) wünfchen müfjen, wären ihm bie 
Zufammenhänge und Folgenreihen aller Dinge bekannt gemwefen.“ 
(IV. 80. 81.) Und ebendafelbft die prächtige Stelle, die zugleich 
eine Brobe davon gibt, zu welcher Kraft und welchem Schwunge 
Smiths Sprache ſich erhebt: „Kein General Tann unbebingteres 
Zutrauen, eifrigere und feurigere Liebe verdienen, als ber große 
keiter des Alle. In den größten Öffentlichen und privaten Un⸗ 
fällen follte ein weifer Mann bedenfen, daß er, feine Freunde und 
dandolente, nur auf den verlorenen Boften des Weltall® comman- 
dirt find; dag fie, wäre es fo nicht gut für's Ganze, nicht dahin 
commandirt fein würden, und daß es ihre Pflicht ift, nicht nur 
mit demütiger Ergebung fich diefem Los zu fügen, fondern fich zu 
bemüßen, es mit frifchem Muth (alacrity) und Heiterleit zu er- 
jaſſen.“ Ganz befondere ſchön tritt in diefen Stellen die enge 
Berihlingung des religiöfen Elementes mit den humanen koſsmo⸗ 
politiihen Anfichten Smiths hervor, den individuellen Egoismus 
in großartiger Weife ausſchließend. Webrigens wird das Glüd 
des Individuums doch nicht preisgegeben, fondern auf den 
Bollendungszuftand im Jenſeits verfchoben, in dem Gott 
einem jeglichen „geben wird nad feinen Werfen“ (I, 281), und 
mr diejenigen endgiltig beglüdt, die auf Erden im Sinne feines 
tiebesplanes gewirkt haben. 

Das ift nämlih an der Stellung des Menfchen das 
Große und Centrale, daß er, im Unterſchied von Naturelemen⸗ 
tm und Geſchöpfen, die ohne Wiſſen und Willen dem göttlichen 
Beltplan dienen, dazu berufen ift, fich frei und bewußt an 
diefen Blan anzufchliegen, und fo durch fein Wirken ein „Mit- 
arbeiter Gottes“ zu werden (I, 276). Dem göttlichen 
Ebenbild der hriftlihen Lehre entſpricht bei Smith 
diefer Beruf des Menſchen, gleih Gott Liebe zu Kben. 
Selbſt die Zulaffung partieller Uebel ftellt Smith einmal (I, 281) 
unter den Gefichtspunft, daß fie „nüßlich und geeignet ift, den Eifer 
und die Aufmerkfamfeit des Menſchen zu fteigern“, ihm Gelegenheit 
gibt, feinen Beruf zu üben, fein gottähnlichee Weſen volllommen 


270 Braun 


darzuftellen durch Belümpfung und Ueberwindung jener Uebel. Wer 
dagegen feine Freiheit misbraucht, im Gegenfat zur göttlichen Tendenz 
der allgemeinen Wohlfahrt wirkt, ift „ein Feind Gottes“ (I, 276); 
und kann er auch nicht fchaden, weil fein Wirken durch göttliche 
Providenz zu ihren Zweden umgebogen wird, fo harrt body feiner im 
Jenſeits die vergeltende Strafe, wie dem „Mitarbeiter Gottes“ 
der Lohn winkt. „Daß e8 eine zufünftige Welt gibt, in der 
vollfommene Gerechtigkeit an jedem geübt wird, . . . das iſt 
eine Lehre, fo ehrwürdig, fo tröftlih für die Schwäde, fo 
ſchmeichelhaft für die Größe der menſchlichen Natur, daß der 
tugendhafte Menſch, der das Unglüd Hat fie zu bezweifeln, 
nicht umbin Tann, fih den Glauben an fie ernftlih und 
dringend zu wänfden.“ (IL 216. 217.) | 
Durch diefe Lehre tritt zu der göttlichen Liebe und Weisheit 
die Gerechtigkeit Hinzu; und es verfteht ſich, daß nach Smith, 
wie der Glaube an den liebevollen und weifen Gott uns im Uns 
glüd ergeben macht, das Leiden uns erleichtert, fo der Glaube 
an den gerehten Gott und die jenfeitige Vergeltung unfer 
Handeln in der entfcheidendften Weife beftimmen, uns dad 
ftärffte Motiv zum Wirken für die allgemeine Wohlfahrt werden 
muß. Das ftärkfte, nit das einzige; dagegen proteftirt 
Smith fehr Iebhaft I, 285ff. Es gibt noch andere Motive für 
jene correcte Handeln als den Glauben; fie Liegen in ber pfy- 
hologifhen Ausrüftung des Menfchen, in den „Xrieben“, 
die ihm Gott eingepflanzt hat mit Rückſicht auf feinen Beruf, und 
die ihn von felbft ein Stüd vorwärts auf diefer Bahn führen. 
Wir lernen fie im nächſten Abfchnitt kennen. Hier haben wir nur 
zu conftatiren, daß Smith fie filr unzulänglich Hält, um den 
Menſchen zur vollftändigen Erfüllung feines Berufes zu befähigen; 
daß nah Smith befonders für fchwierige Anforderungen dieſes 
Berufes ber Glaube unentbehrlich ift, in allen Fällen aber belebend 
und fräftigend wirft. Bei normalen Menfchen und im großen und 
ganzen denkt fich Smith das Handeln fo gut wie das Leiden vom 
Glauben beherrfcht; der ungläubige und doch tugendhafte Menſch 
ift ihm abnorm, „unglücklich“, wie bie oben citirte Stelle jagt. 
Freilich fteht diefe Baſirung der Sittlichkeit auf die Religion und 


Adam Smiths religiöfe und fittliche Anſchauungen. 271 


jene pfychologifch autonome Begründung derſelben nicht recht ver- 
mittelt neben einander. Wir haben da eine Probe jener im 18. 
Jahrhunderte herrfchenden human rationaliftifchen Auffaffung, wo⸗ 
nah die Sittlichleit rein natürlih und pſychologiſch begründet 
wird, anderjeitö der Religion ihre hohe Würde gewahrt bleiben 
jll und darum auch auf's fittliche Gebiet hinüber eine weihende 
md verflärende Einwirkung derjelben übertragen wird. Eine gewiffe 
dermittlung werden wir in dem Smith’fhen Begriff des Gewiſ⸗ 
ſens finden, das als eine natürliche, autonome Potenz erfcheint, aber 
am Inhalt die teleologijche Verpflichtung des Dienfchen, d. h. eben 
de praftiiche Conſequenz des Smith’fchen Gottglaubend hat. Es 
fegt fomit ein religiöfes Bewußtjein im Menfchen voraus. 

Das hohe Gewicht, das Smith dem Glauben beilegt, fteht 
fft. Um fo mehr Liegt ihm an der Reinhaltung desfelben; denn 
lo viel ein reiner Glaube nüsgt, fo viel fhadet ein 
unreiner. „Falſche Neligionsbegriffe find faft die einzigen Urs 
jahen, die eine fehr große Verwirrung unferer natürliden Ems 
pfindungen anrichten können; und dasfelbe Princip, das den Pflicht- 
regeln die größte Autorität verleiht, ift das einzige, das unfere 
Bflichtbegriffe beträchtlich zu verwirren im Stande ift“ (I, 296). 
Immerhin fordert nach Smith jelbft eine moralifche Verirrung, 
die aus „falſchen Religionsbegriffen“ hervorgeht, milde Beurtheilung ; 
er macht dies am Beifpiel von Seid und Balmira flar, den zwei 
Lebenden in Voltaires Mahomet, die einen väterlichen Freund 
ttog inneren Widerjtrebens morden, weil ihnen diefer Mord des 
gremdgläubigen als Opfer zu Gottes Ehre auferlegt wird. Um⸗ 
gekehrt ift unfere Anerkennung keine ungetheilte, wo ein an fich 
moralifches Verhalten mit dem Glauben des Betreffenden im Wider- 
much fteht: als Beiſpiel nennt Smith einen Barifer Katholiken, 
der in der Bartholomäusnacht nicht mitmordete, und einen Quäder, 
der feinem Beleidiger den Schlag zurüdgibt (I, 297—299). Der 
Awiefpalt zwifhen Moral und Religion behält eben ftets 
etwas Bellemmendes; dad Normale ift, daB an eine reine 
Religion die reine Moral fih anrankt. Diefe reine 
Religion ift fichtlih für Smith, ohne daß er es zufammenfaffend 
thetiſch ausfpricht, fein oben gefchilderter Gott-, Providenz— 

Vesol. Stud. DSahrg. 1878. 18 


272 Braun 


und DBergeltungsglaube. Das Supranaturale, das 

geſchichtlich Chriftliche, das Konfeffionelle bat für ihn wenig 
Werth. „Unferen Erlöjer” nennt er einmal (I, 299) in einem 
Citat, ohne dogmatifche Tendenz. Was die einzelnen Kirchen und 

Secten betrifft, fo wäre nad der Unterfudhung V, 3, 3 (Ueber- 
fegung von Aſcher II, 311) fein Wunſch, „die Zugeftändniffe, zu 
denen fie fih aus Zwedmäßigfeit und Friedensliebe gegenfeitig ver- 
ftehen, würden mit der Zeit dahin führen, die Glaubenslehren bei 
ben Meiften zu jener reinen und vernunftgemäßen Reli— 
giom zu führen, die frei von jeder Beimiſchung der Thorheit, 
ber Unmöglichkeit oder bes Fanatismus ift und bie die Weijen 
aller Zeiten berrichend zu ſehen gewünſcht Haben“. Wenn «8 
Bier fast ſcheinen will, er betrachte alles Dogmatifche außer feinen 
theiftifchen Grundlinien als unnügen, abzumwerfenden Ballaft, fo 
tft er doch noch viel fchärfer gegen die Verkehrung dieſer Grund- 
linien felber, wie fie befonders in der katholiſch möuchiſchen 
Ascefe zu Tage tritt, die für die göttliche Vergeltung einen ganz 
folſſhen Maßſtab aufftellt, nämlich ftatt der thätigen Mitarbeit am 
göttlichen Liebesplan Außerliche, au fich religiös fein follende Au⸗ 
dachtsübungen, opera operata. Er citirt Thl. I, ©. 217 als Bei 
ſpiel diefer Fäljchung eine Rede Maſſillons an die in's Feld ziehen 
den franzöfiichen Dfficere, worin der Prediger ſich zu den Worten 
verfteigt: „Ad der einfame Mönd in feiner Zelle, verpflichtet, 
das Fleiſch zu Freuzigen und dem Geifte dienftbar zu machen, darf 
fih trößten mit ber Hoffnung des verheißenen Lohnes . . . aber 
Sie, Lünnen Sie es anf dem Zodtenbette wagen, Ihre An 
ftrengungen und täglichen Entbehrungen Gott als Opfer darzu⸗ 

bieten?“ Hierauf antwortet Smith: „Das ift der Geift, der den 
Himmel bloß für Mönche und Einfiedler, oder ſolche, die ihuen 

im Leben und Reden gleichen, reſervirt und alle Helden, Staats 
männer uud Geſetzgeher, alle Dichter und Philofophen früherer 

Zeiten, alle, hie fich Hernprthaten in den zum Unterhalt, zur Ber 

quemlichkeit und Zier des menfchlihen Lebens dienenden Künften, 

ale die großen Beichäger, Lehrer und Wohlthäter der Menfchheit, 

benen unſer natürlicher Sinn das höchste Verdienft zufchreibt, in dit 

Hölle verdammt Hat“ (I, 210). Und ſehr richtig fügt er hinzu: 


—— 


Adam Smiths religidſe und ſittliche Anſchauungen. RB 


„Köunen wir uns wundern, daß eine ſolche Fälſchung ber ehr⸗ 
würdigften Lehre fie oft der Verachtung und dem Spotte preisge⸗ 
geben bat?“ Die Caricatur des Glaubens erwect den Unglauben. 
Bern übrigens Smith jene einfeittige Tarirung der mn» 
chiſthen Ascefe für eine Caricatur der Meligion hält, fo liegt 
& ihm doch durchaus fern, die contemplative Verſenkung 
m den Glauben, auch wo fie ein ganzes Leben ausfüllt und für 
praktiſches Wirten wenig Raum läßt, gering zu fchägen. Er 
findet vielmehr in der Verehrung, die wir ſolchen Männern wibnten, 
en einen Tribut der Hochachtung, die der Religion felbft erwiejen 
Bi. Aber — das muß auch für foldhe Ausnahmsmenſchen 
gelten — wenigftens im engften Kreis haben fie ihre praßtiichen 
Pflichten treulic zu erfüllen: „Die feinfte Speculation des bes 


wachtenden Werfen kann ihn micht entjchuldigen, wenn er ſein 


‚niedrigere® Departement‘ (die Sorge für fi, feine Familie, 
Iteunde und Vaterland) vernadhläffigt“ (II, 83). 

Bea diefer durchaus praftifchen Religioſität faßt er auch die 
Stellung und das Amt der Religtonsdiener ımd Anſtalten prattif: 


die Beiftlihen find religiöfe Lehrer, die Kirchen, im Unter 
ſſchied von den für die Jugend beftimmten Schulen, „Unter: 


tigtsanftalten für alle Altersclaſſen“. Unter dieſem 
Zitel, der zumüächſt anderes vermuthen läßt, gibt Smith in der 
Unterfuhung V, 3, 3 eine Belenching des kirchlichen 
Lebens. 

Er geht aus von der Frage, wie die Koſten jener „Unterrichtö- 
anftalten“ zu beftreiten fein — und zwar behandelt er weiterhin 
als ſolche Koften nur die Beſoldung der Geiftlichen. Er erflärt 
(V, Schluß), die Koften dürfen fo gut wie die für Landesver- 
teidigung, Würde des Staatsoberhauptes, Rechtspflege und Ber- 
khr vom Staat übernommen werben, da fie gleich dieſen 
dem Ganzen zum Nuten gereichen; uber mit gleichem Recht 
„und vielleiht mit einigem Vortheil“ könne man ihre 
Beitreitung deren überlaffen, die von dem Unterricht unmittelbaren 
Bortheil haben, d. h. alfo den Öliedern ber Kirche. Er be- 
gründet dies damit, der Eifer der Gelftlihen je ein viel 
größerer, wenn fie durch die Amtsführung ihr Ein- 

18* 





274 Braun 


fommen fich erft verdienen müjfen, als wenn fie durch 
ftaatliche Pfründen gefichert jeien Y. 

Es will uns freilich ärmlich und faſt beleidigend dünfen, bag 
Smith in ſolcher Weife auf den Egoismus der Geiſtlichen reflec- 
tirt. Indes ergeht es ihnen damit bei Smith nicht fchlimmer 
als allen Menſchen, wie der nächfte Abfchnitt zeigen wird; und es 
ift im Auge zu behalten, daß nah Smith diefer — wie jeder — 
Egoismus eben als Mittel für die allgemeine Wohlfahrt, bier 
fpeciell für die tüchtige religiöfe Berforgung bes Volkes 
dient. Ein von ber Gemeinde abhängiger Geiftlidher, 
argumentirt Smith näher, ift erftens zu einem fireng moras 
lifhen Wandel genöthigt, da gerade in den niederen Schichten, 
die das gros der Gemeinden bilden, eine ftrenge Moral berrfcht 2); 
es wird bei foldhen Geiftlihen ein die Berufswirkſamkeit zer- 
ftörendes ſittliches Aergernis viel jeltener vorlommen als bei Staats 
pfründnern. Sodann wird ein joldher Geiftliher der religiöfen 
Belehrung und Seelforge fi ausfchlieglicher widmen und 
fo viel mehr Gutes ftiften, als die Staatsgeiſtlichen, die 
häufig Gelehrte, Hofmänner, Lebemänner, kurz alles cher find als 
Seelenhirten. 

Wie Smith die Befoldung der Geiftlichen durch die Gemeinden. 
empfiehlt, fo aud) eine annäherend gleiche, mäßige Beſoldung 
derfelben im Gegenſatz zu dem Pfründenfyften mit feinen hoben, 
reichbezahlten Stellen. Nur im erjten Ball bleiben die Geiftlichen. 
in der Einfadhheit und dadurd in der für jie nothwendigen 
Fühlung mit dem Bolt. | 

Dagegen misbilligt Smith die Wahl der Geiftlichen durch 


1) Ganz diefelben Gefihtspunfte madjt Smith V, 8, 2 bei Beſprechung des 
Jugendunterrichtes gegen die öffentlichen Anftalten, befonder® Univerfitäten 
und für das Syſtem des Privatunterrichtes geltend. Jener ganze Ar 
Schnitt mit einer Fülle feiner Bemerkungen aus ber Pädagogif und. 
ihrer Gejchichte würde eine eigene Darftellung verdienen. | 

2) Warum? „Die Lafter der Leichtfertigfeit find für den gemeinen Mann 
immer verderblich, und ber Leichtſinn und die Vergeudung einer einzigen 
Woche reichen oft Hin, einen armen Arbeiter auf immer zu Grunde zu 
richten umb in feiner Verzweiflung zu den größten Verbrechen zur treiben.” 





Adam Smiths refigiöfe und fittliche Anſchauungen. 275 


die Gemeinde wegen ber dabei unvermeiblichen Beigabe von Partets 
auf und Fanatismus. Er Täßt den Wahlmodus offen. Das 
ſchottiſche Patronatſyſtem verwirft er nicht, und nimmt die fchot- 
tijche Seiftlichleit gegen den etwaigen Angriff in Schuß, als werde 
dedurch „miedrige Kriecherei“ gepflegt. „ES find beffere und edlere 
Mittel, wodurch in allen presbyterianifchen Kirchen (?) mit 
äiner feftbegründeten Batronage die Geiftlichleit ſich die Gunſt 
ihter Borgefeßten zu erwerben gefucht: es find Gelehrſamkeit, ein 
tadellofer Lebenswandel, eine treue und unermüdliche Pflichterfüllung.* 

Smith fcheint Hier nicht ganz confequent. Zum presbpteria- 
mihen Syitem gehört entfchieden die Anftelung fowie die Beſol⸗ 
dung durch die Gemeinden. Dur die von Smith eben dem 
preöbyterianifchen Klerus zugefchriebenen Zugenden muß fich doc 
diefer beim Volke fo gut wie den bei Batronen empfehlen !). 

Schr bemerfenswerth bleibt bei der ftrengen Wagjchale bes 
Proftifch -Nüglichen, anf die Smith alle religiöfe Thätigkeit Tegt, 
kin ungemein günftiges Urtheil über den fchottifchen, 
weiterhin den ganzen presbyterianifchhen Klerus: „Nirgende 
m Europa gibt es vielleicht eine Claffe von Männern, bie an 
Gelehrſamkeit, Sittenreinheit, Unabhängigkeit und Achtbarkeit die 
Mehrzahl der presbyterianifchen Geiftlichen in Holland, Genf, ber 
Schweiz und Schottland überträfe.“ 

Eine befonders feine Bemerkung macht Smith über die Pflege 
der Gelehrſamkeit in reichen Pfründlirhen und in einfachen Kirchen» 
gemeinfchaften nad feinem Sinn. m den letteren werben bie 
wiſſenſchaftlich fähigften Köpfe die Kirchenämter verlafjen und bie 
beffer botirten Brofeffuren ſuͤchen, wo fie nun ftubirend und 
lehrend am fruchtbarften wirken. So ſtehe es, fagt Smith, in 
den meiften proteftantiichen Ländern. Im anderen alle, wo bie 
Kirche fette Pfründen bietet, werden bie Gelehrten ben Univerfi- 
täten entzogen und in Kirchenämter geſetzt: das gibt die gelehrten 
Domberren und Biſchöfe der anglifanifchen und der römischen Kirche, 


1) In der That ift feit 1874 die PBatronatsernennung auch in ber fchot- 
tiſchen Staatskirche abgefchafft, nachdem fie zu einer Reihe von Seceſ⸗ 
fionen geführt Hatte und allgemein als Uebelſtand anerlannt war. 


276 Braun 


leßtere befonders in Frankreich. „Selten findet man ba bebeutenbe 
Gelehrte unter den Profefforen, außer etwa in den juridifchen und 
medicinifchen Facultäten, aus denen die Kirche fie nicht Leicht wegzieht.“ 

Es ift das — fo ſcheint Smith die Sache anzufehen — nicht günftig 
für die Kirche, da folche bloß gelehrte Kleriker das warme Herz 
für. die praktischen Aufgaben nicht befigen; und ebenfo ungünſtig 
für die Wiffenfchaft, da die das Studium belebenden und befruc- 
tenden &femente der Docententhätigkeit fehlen. Beſſer ift die 
Scheidung profeffioneller Gelehrter und praktiſcher Geiftlicher, die 
im proteftantifchpresbpterianifchen Gebiete herrfcht. Freilich nennt 
Smith in den oben citirten Stellen die presbpterianifchen Geijt- 
lichen felbft im Durdfchnitt „gelehrt“; doch iſt dieſe „Gelehr⸗ 
famfeit“ ſicher cum grano salis zu verftehen, die Hauptſache iſt 
für Smith bei ifnen die Fühlung mit dem Volke, der 
praktiſche Eifer. | 

Diefer Eifer fann freilich, jagt Smith, zu Fanatismus 
und Intoleranz führen und dadurch die Ruhe des Staates 
und der Geſellſchaft ftören. Das ift aber nur da möglich, wo 
eine Kirche im Staate geduldet wird, ſo daß dann die ganze 
Bevoölkerung fich verhegen läßt, oder da, wo 2—3 ſtarke Kirchen 
in ein Staatsweſen ſich theilen, fo daß ſich die Bürger in reli⸗ 
giöfen Parteien gegemüberjtchen. Als befter Zuftand erfcheint 
daher Smith das Mebeneinander vieler kleinen Secten, 
200-—300 : meint er oder ebenfo viele 1000, „beren feine groß 
genug ift, die öffentliche Ruhe zu ftören“. „Die Lehrer diefer 
Secten würben, da fie fi mehr von Gegnern als von Freunden 
umgeben jehen, bie Nothmendigfeit der Ehrlichkeit und Mäßigug 
lernen“ ; und am Ende würde die Annäherung gar zur Ginheit 
auf Grund: der „reinen, vernunftmäßigen Religion”, d. b. dee 
Smith’fchen Theismus, führen. | 

Es ift fo natürlich, daß Smith den Jndependentigmus 
der englifhen Revolution und die Zuftände in Peunſyl⸗ 
vanten hoch belobt. Aber ift auch die Zerfplitterung in. Heine 
Secten fein Ideal, fo wirb er doch dadurch nicht blind gegen dad 
Gute, das. er auch, in nicht independentiftifchen Kirchen, wie in 
feiner fchottifchen Mutterkirche findet, |. o. 





Adam Smiths religiöfe und fittfiche Anfchannngen. 77 


Neben dem Vorzug der Toleranz nach außen, durch den die 
Meinen Secten ſich meift von den großen Kirchen unterſchieden, bes 
fiken fie nach Smith ben weiteren, daß bet ihnen durch den geringen 
Umfang die Controllirung ber Mitglieder fich fchärft und eine 
trengere Moral fih durchführen läßt. „Bei diefen Secten 
hat man in der Regel bei dem gemeinen Mann ein fehr anftän- 
diges und fittliches DBetragen bemerkt, und zwar in weit höherem 
Grade als bei den Mitgliedern der herrfchenden Kirche.“ Mit 
dieſem Vorzuge verbindet fi) aber der Webelftand, daß bie 
ſtrenge Moral leiht „unangenehm ſchroff und abftoßend" 
wird. Diefer Gefahr muß der Staat vorbeugen, indem er theils 
die wiffenfhaftlihe Bildung befördert, theils öffentliche 
Euftbarleiten begünftigt. „Wenn der Staat nur einige Auf» 
munterung, d. h. völlige Freiheit denen gewährt, die in ihrem 
eigenen Intereſſe es unternehmen, das Volt fern von Wergernis 
md Unanftändigkeit durch Gemälde, Dichtlunft, Muſik, Tanz, 
pramatifche Borftellungen und Scauftellungen aller Art zu be 
Injtigen, fo würde er Leicht bei der großen Waffe die melancholifche, 
düftere Stimmung verfcheuchen, die faft immer die Mutter des 
Bofksaberglaubens und Fanatismus ift. Deffentliche Luftbarkeiten 
find ſtets von allen zelotiſchen Volksführern auf's äußerſte gefürchtet 
und gehaßt worden.“ Sicherlich hat Smith dabei beſonders den 
Puritanismus bes 17. und den Methodismus des 18. 
Jahrhunderts im Auge; fie befämpft er ebenfo ſcharf wie [die 
katholiſch-mönchiſche Acseje. 

Blicken wir auf diefe etwas bunten praktiſch⸗kirchlichen Be⸗ 
merfungen Smith zurück, fo ift zuzugeben, daß er bie volk s— 
bildende Miffion der Kirche und ihrer Diener pietät- 
voll und dankbar anertennt, als echter Proteftant und 
Presbyterianer für Rechte und Pflichten der Gemeinde 
tintritt und alles Hierarhifche wie Ascetifche und Aber» 
glänbifche energifch bekämpft. 

Allein einmal ift die Aufgabe, die er der Kirche ftellt, religiös⸗ 
moralifche „Unterrihtsanftalt“ zu fein, viel zu eng; es 
fehlt die Betrachtung der Kirche als Gemeinschaft, als „Leib Chrifti” ; 
daher die Gleichgültigkeit, ja der Widerwille gegen große organi» 


278 Braun 


firte Verbände, die Vorliebe für atomiſtiſch independente Genoffen- 
haften. Jene Rechte und Pflichten der Gemeinde, die er wahrt, 
find ja auch religiös betrachtet nicht centraler Natur: es ift das 
Recht, den Pfarrer zu controlliren und zu befolden, die Pflicht, ſich 
gegenfeitig zu controlliren. Von einem tieferen, myftifchen Gehalt 
des Gemeindelebens Feine Spur. Diefer Mangel hängt freilich 
mit dem zweiten zufammen, daß die Lehre, die nah Smith die 
Kirche verfündigen fol, eben wejentlid feinen Theismus und 
defjen moralifche Conjequenz, die philanthropifhen Pflichten, 
zum Inhalt hat. Die Übrigen Elemente, alles Supranaturale, 
Myftifhe und Gefhichtliche faht Smith — da es zu feinem 
Glauben nicht gehört — auch für die Kirchenlehre und für bie 
Kirche als unnügen, mit der Zeit abzuwerfenden Ballaft. 

Das find Mängel und Lücken, die in feiner prattifch nüch— 
ternen Betracdhtungsart ihren Grund haben, die aber durch das 
ernfte Pathos, mit dem er bie Religion als fittlide 
Lebenspotenz geltend macht, wohl aufgewogen werden. 


4. In Smiths religiöfes Weltbild fügt fich feine Pſychologie 
und Ethik leicht ein. Wie oben bemerkt, ift ja die pſychologiſche 
Ausrüftung des Menſchen ein gottgeordnetes Mittel zur Förderung 
der allgemeinen Wohlfahrt. Diefe Ausrüftung befteht in zwei 
Trieben, dem egoiftifhen und ſympathiſchen. Ihre Dar 
ftellung macht den defcriptiven, pfychologifchen Theil der „Moral 
theorie“ aus; den eigentlich ethifchen Theil bilden die Erörterungen 
darüber, wie beide Zriebe in's richtige Verhältnis zu einander zu 
ftellen und zu bethätigen find ?). 

Dee egoiftifche Trieb geht zunächſt auf die individuelle 
Wohlfahrt. Er hat — wenn wir das I, 77ff. und II, 36ff. 
Gefagte zufammenfaffen — drei Formen: als finnlider Selbft- 
erbaltungstrieb, Befig- und Autoritätstrieb. Aber 


1) Im Folgenden kaun und foll natürlich nicht die ganze Moraltheorie mit 
ihren vielen Detailunterfuchungen und Abichweifungen reproducirt werden. 
Auch wäre es nicht erſprießlich, dem oft ziemlich willlürlichen und un 
ſyſtematiſchen Gange bei Smith zu folgen. Mein Streben iſt mur, aus 
der bunten Fülle die weientlichiten Züge herauszuheben. 





Mam Smiths religiöfe und fittfiche Anſchauungen. 279 


gerade bie mittlere Form, die wir bei Smith im Vordergrunde 
erwarten, nimmt eine durchaus unfelbftändige Stellung ein; fie 
dient theils der erften, theils der legten, die nah Smith im ent« 
widelten Menfchen dominirt: „Das Streben, Object der 
Achtung unferer Mitmenfchen zu fein... ., ift vielleicht ber 
tärffte aller unjerer Wünfche; und unfere Beforgtheit, ma» 
teriellen Wohlftand zu erwerben, ift demgemäß vielmehr 
durch jenes Streben erregt und befördert, als durch das, 
die nothwendigen leiblichen Bedürfniſſe zu befriedigen, benen raſch 
ogeholfen wird“ (IE, 37). Der Selbfterhaltungstrieb jpielt aller- 
dings, in raffinirter Geftalt, auch noch herein, fofern es dem 
Mmfchen begehrenswerth erfcheint, die Mittel zur Befriedigung der 
kifihen und überhaupt perfünlichen Bebürfniffe in Fülle, Be⸗ 
quemfichfeit und Eleganz bei der Hand zu haben (I, 300ff.). Von 


der eigentliden Habſucht, ber der Beſitz Selbftzwed ift, 


weiß Smith wenigftens in der „Theorie“ fo gut wie nicht®. 
Meint er doch, der Reiche freue fich feines Beſitzes weſentlich, 
weil er damit imponire, der Arme härme fich weſentlich darüber, 
daß er fo unbeachtet, fo obfeur daſtehe! Wir ftaunen über diefe 
Rher unrichtige pſychologiſche Analyfe, und werden durch fie an 
Dngald Stewarts Mittheilung erinnert, wonach Smith fih in 
der Menfchenbeurtbeilung in praxi häufig ftarf getäufcht hat. 
Wenn Smith freilih die Autorität ausfchließlihd auf Beſitz 
gegründet denken würde, fo wäre fein Autoritätsbegriff wiederum 
ein ſehr Änßerlicher, und fein Autoritätstrieb würde fi) dann mit 
km Befitstrieb weſentlich decken. Aber dem ift nit fo. Er 
kant eine Höhere Art von Autorität, die durch tugendhafte, 
beſonders philanthropifhe Handlungen erworben wird; 
demgemäß wirkt meift aud bei foldhen Handlungen das egoiftifche 
Autoritätsmotin — wenn auch nicht al& einziges oder Hauptmotiv — 
mt), Soweit gibt er II, 220ff. Mandeville Recht, deffen über- 


N) Das Autoritätsmotiv ift es auch, das nad) der Unterfuhung V, 3, 3 
fo viele Arme und nicht Angefehene in die Heinen veligiöfen Secten treibt, 
wo fie nun durch fivengen Wandel und propaganbiftiiche Ruhrigkeit Leicht 
eine hervorragende Stelle gewirmen. 


280 Braun 


triebene Behauptung,.der Egoismus fei bei allen’ Handlungen einzige 
ZTriebfeder, er übrigens lebhaft befämpft, wie auch die egeiftifchen 
Theorien Epikurs und anderer (II, 185 ff.). 

Obwohl ber Egoismus zunäcft das individuelle Glück fördern 
will und fördert, jo wird doc durch fo viele Anfäge an einzelnen 
Punkten dad Geſamtwohl wefentlich gefteigert. „Diefer Trieb 
erhält den Eifer eines jeden in beftändiger Spannung. Er führte 
die Menfchen zuerft zur Bearbeitung des Bodens, zum Bau von 
Hänfern, zur Gründung von Städten und Gemeinweſen und zur 
Erfindung der Künſte und Wiffenfchaften, die- den Erdboden total 
verändert, den Deean zum Verfehröweg und zur Erwerbsquelle 
gemacht haben u. f. w.“ (I, 309). 

Das Normale und Correcte ift nun nad Smith, daß jeder 
auch in feinem egeiftiichen Handeln dieſes allgemeine Intereſſe mit 
berüciichtigt, den egoiftiichen Trieb mit dem fympathifchen in Ein⸗ 
Hang bringt (ja ihn unter diefen unterordnet). Der ſchranken— 
lofe Egoismus, ber diefe Rüdficht nicht nimmt und fich um 
bie göttliche Weltordnung der Liebe nichte kümmert, wird von 
Smith entſchieden verurtheilt, und micht nur in der „Theorie“, 
fondern auch in der Unterfuchung, z. B. ©. 183 „gemeine Maxime“, 
S. 154 „gemeine, felbftifche Gefinnung“, ©. 185 „Krämergeifl”. 
Während er aber in der Theorie noch in Hutcheſon'ſcher 
Weife von der Anfhauung auszugehen [cheint, der cor— 
recte, gemäßigte Egoismus fei in der That der herr: 
IShende, muß er in der Unterfuhung, auf Grund 
reiherer Erfahrung und Weltbeobadhtung, die Herr: 
Ihaft des maßlofen Egoismus gerade bei den herrſchenden 
Claſſen conftatiren; ©. 183; „alles für uns felbft, nichts für 
andere, das ſcheint jederzeit der leitende Grundfag der Herren 
der Menfchheit geweſen zu fein“. 

Freilich — jo kommt er fhon in der Theorie auch über den 
rüdfichtslofeften Egoismus mittelft feiner teleologifch - optimiftifchen 
Gebankenreihen leicht Hinweg — auch bie ausfchreitendfte Selbft- 
judht wird von Bott zum Glüd des Ganzen umgebogen. 
Ge mehr der Egoift feinen Befig fteigert und feinen 
Genuß raffinirt, defto mehr und in deſto manigfaltigerer Weile 


Adam Smiths religiöfe: und fittliche Anfchauungen. 231 


braucht er vie Arbeit anderer, bieihnen Lohn und Wohl- 
tand bringt. "„Umjonft überblickt der hochmüthige und herzlofe Land» 
befiger feine ausgedehnten Felder, und verzehrt in der Eimbildung 
die ganze Ernte, ohne einen Gedanken an die Bebürfniffe feiner Brüder. 
Hier beitätigt fich das Sprüchwort: „Das Auge ift größer als der 
Magen.“ Die Aufnahmefühigkeit feines Magens jteht in feinem 
Verhältnis zu der außerorbentlichen Ausbehming feiner Wünfche und 
lam nicht mehr fafjen als der des ärmften Bauern. Alles übrige 
muß er unter diejenigen vertheilen, die in der eleganteften Art 
das Wenige zubereiten, das er felbft benußt; fie empfangen fo von 
jener Ueppigkeit und Laume den Antheil an den nothwendigen 
Drdürfniffen des Lebens, ben fie umſonſt von feiner Humanität 
erwartet hätten. — So werden die Reichen durch eine unſicht⸗ 
bare Hand dazu geführt, nahezu diefelbe Vertheilung 
vr notwendigen Lebensgüter zu vollziehen, die fich bei 
einer Bertheilung der Erbe unter alle Bewohner nad) 
gleihen Bortionen ergeben Hätte u. f. w.“ (I, 309). 
Wir können diefe Smitſch'ſche Theodicee nicht billigen. Wird 
auch, das miüffen wir- zugeben, durch den Egoismus Cinzelner oft 
für den Fortfchritt im ganzen und das Wohl fpäterer Generationen 
das Größte gewirkt, fo bleibt doch manches individuelle Glück zer- 
treten; jene „gleiche Vertheilung der nothwendigen Lebensgüter“ 
läßt fih doch nur behaupten, wenn unter diefen Lebensgätern ein 
verihwindendes Minimum von Eriftenzmitteln gedacht wird. Mit 
diefem Minimum kann doch aber Smith die Armen nicht beruhigen, 
da er zugleich den egoiftifchen Trieb als normalen mit weiten 
Horizont der Objecte allen zufpriht. Smith irrt hier, aber freis 
li aus edein Motiven: aus feiner perfünlichen Genügfamteit, bie 
nichts mehr will als „Geſundheit, gutes Gewiffen und feine Schul» 
dm“ 1), und aus dem feften religiöjen Glauben, daß Gott alles 
Böſe fofort zum Guten lenken müſſe. Böſe, ſittlich verwerffich 
bleibt ihm ja das Verhalten jenes Egoiften unter allen Umſtänden. 
Falſch wäre es, ihn hier der ſittlichen Laxheit bezichtigen zu wollen. 
Das über den Egoismus bei Smith Geſagte wird nun auch fein 


ı) ZU. 1, ©: 69. 


282 Braun 


Brincip der individuellen wirthſchaftlichen Freiheit ver- 
ftändfih machen. Er will damit allerdings dem egoiftifchen Triebe 
einen möglichft weiten Spielraum geben, reiheit der Bethätigung 
bindieiren; aber mit der Intention, daß ein jeder dieſe Freiheit 
nicht erclufiv egoijtifch, fondern zugleich im Dienfte anderer | 
verwenden folle; freilich zugleich mit der Gemißheit, daß aud 
der Ichrofffte und verworfenfte Egoismus, der jenes : 
Princip für ſich misbrauche, nichts fchaden, fondern in der Hand :; 
der Weltregierung nüßen werde Mit jener an * 
und dieſer Gewißheit zeigt er ſich wol als Optimiſten, den din: 
Erfahrung widerlegt, aber wahrlich zugleich al8 ebenfo weit Huma-; ., 
nen wie tief refigiöfen Mann, dem nichts ferner Tiegt als bi 
Rechtfertigung des radikalen, atomijtifchen Egoismus. e lin 
Dem egoiſtiſchen Triebe geht der ſympathiſche zur Sei: iii 
„Als die Natur den Menfchen für die Gemeinſchaft ſchuf, bega: hey 
fie ihn mit einem natürlichen Streben, Die Brüder zu erfreur, en 
und mit einer Abneigung davor, fie zu verlegen. Sie lehrte : eine 
über den günftigen Zuftand der Brüder Vergnügn, 
über den ungünftigen Schmerz empfinden“ (I, 193). 
Diefer Trieb ift „keineswegs bloß den tugendhaften. 
humanen Menſchen eigen, obwohl fie ihn vielleicht mit der 
gefuchteften Zartheit empfinden. Der roheſte Kerl, 
verhärtetfte Feind der öffentlichen Ordnung ift nit ganz oM 
ihn“ (I, 2). Wenn die „Tugendhaften“ dieſen Trieb befont 
intenfiv in ſich finden und walten laſſen, fo liegt darin fchon et 
moralifhe Werthung desfelben enthalten: er erjcheint 
der in specie fittlidhe, die Idealſeite des Menſchen bilde 
Und das ift ja natürlich, wenn wir an das oben flizzirte Welt 
Smiths denken: durch diefen Trieb arbeiten wir ja direct d 
der allgemeinen Wohlfahrt, erfüllen wir unferen centralp® d 
Beruf in der Welt. „Viel für andere und wenig für uns ſelSwod 
zu fühlen, die felbjtifchen Affecte zu befchränten und die mtuate 
wollenden zu befriedigen, bildet die Vollkommenheit menſchlid 
Natur“ (1, 30). „Wie Tiebenswerth ſcheint derjenige zu fein, Defferun 
Iympathifhes Herz alle Gefühle feiner Lebensgesn 
führten wiederzutönen ſcheint: der über ihr Unglück weint, 
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Ham Gmiths religidſe und ſittliche Anfhanungen. 233 


ber ihnen angethane Unbill zürnt und über ihr Gluck fich freut“ 
1,29). Gilt 8, den egoiftifchen Trieb einzubämmen, fo gilt «6, 
ieſen in weitem Umfang wirken zu laffen. 
Der fympathifche Trieb betätigt fih auf zwei Stufen. Auf | 
ser erften ift er Mitgefühl. Wir haben das Bebürfnis, uns 
in die Lage des Nächſten hineinzudenken und wo möglich 
ji Stimmung nadhzufühlen. Dies Iegtere gelingt nicht 
immer. Denn da wir bei der Verfegung in die Lage des Nächften 
dd ſtets umfer individuelles Ich mitbringen, fo macht 
itme Lage eventuell auf und einen andern Eindrud als auf 
3 febft; wir fühlen manchmal feinen Schmerz, wo er Schmerz, 
Xer Scham, mo er feine Scham empfunden Hat. Diefer Fall \ 
ter Diserepanz ſchließt nun ein misbilligendes U 










zietmehr ſtets feine Gefutegdi. 88). en 
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282 Braun 


Prineip der individuellen wirthſchaftlichen Freiheit ver 
ftändfich machen. Er will damit allerdings dem egoiſtiſchen Triebe 
einen möglichft weiten Spielraum geben, Freiheit der Bethätigung 
vindieiren; aber mit der Intention, daß ein jeder diefe Freiheit 
nicht excluſiv egoiftifch, fondern zugleich im Dienfte anderer 
verwenden folle; freilich zugleih mit der Gewißheit, daß aud 
der Tchrofffte und vermworfenfte Egoismus, der jenes 
Princip für fih misbrauche, nichts fchaden, fondern in der Hand 
der Weltregierung nügen werde Mit jener Intention 
und diefer Gewißheit zeigt er fi wol als Optimiften, den bie 
Erfahrung widerlegt, aber wahrlich zugleich al8 ebenjo weit huma⸗ 
nen wie tief religiöien Mann, dem nichts ferner Tiegt als bie 
Rechtfertigung bes radifalen, atomijtischen Egoismus. 

Dem egoiftifchen Triebe geht der fympathifche zur Seite. 
„Als die Natur den Dienfchen für die Gemeinſchaft ſchuf, begabte 
fie ihn mit einem natürlichen Streben, die Brüder zu erfreuen, 
und mit einer Abneigung davor, fie zu verlegen. Sie lehrte ihn 
über den günftigen Zuftand der Brüder Vergnügen, 
über ben ungünftigen Schmerz empfinden“ (I, 193). 

Diefer Trieb ift „feineswegs bloß den tugendhaften und 
humanen Menfchen eigen, obwohl fie ihn vielleicht mit der aus⸗ 
gejudhteften Zartheit empfinden. Der rohefte Kerl, der 
verhärtetfte Feind der öffentlichen Ordnung ift nicht ganz ohne 
ihn“ (I, 2). Wenn die „Zugendhaften“ diefen Trieb befonderse 
intenfiv in fi finden und walten lafjen, fo liegt darin ſchon eine ;; 
moralifhe Werthung desfelben enthalten: er erjcheint als ae 
der in specie fittliche, die Idealſeite des Menfchen bildende. . 
Und das ift ja natürlich, wenn wir an das oben flizzirte Weltbild ;,, 
Smiths denken: durch dieſen Trieb arbeiten wir ja direct aumſ 
der allgemeinen Wohlfahrt, erfüllen wir unferen centralenen . 
Beruf in der Welt. „Viel für andere und wenig für und ſelber N 
zu fühlen, die felbftifchen Affecte zu befchränfen und bie —* 
wollenden zu befriedigen, bildet die Vollkommenheit menſchlichptgefi 
Natur“ (1, 30). „Wie liebenswerth ſcheint derjenige zu fein, deſſ rin 
fympathifhes Herz alle Gefühle feiner — 
fährten wiederzutönen ſcheint: der über ihr Unglück wei 

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Adam Smiths vefigiäfe und fittliche Anfchanungen. 288 


über ihnen angetbane Unbili zürnt und über ihr Glück fich freut“ 
(I, 29). Gilt es, den egoiftiichen Trieb einzudämmen, fo gilt «6, 
diefen in weiten Umfang wirken zu laſſen. 

Der fympathifche Trieb bethätigt fi) auf zwei Stufen. Auf 
der erften ift ee Mitgefühl. Wir haben das Bedürfnis, uns 
in die Lage des Nächſten hineinzudenken und mo möglid 
fine Stimmung nachzufühlen. Dies Teßtere gelingt nicht 
immer. Denn da wir bei der Verfeßung in die Lage des Nächften 
doch ftetd umfer individuelles Ich mitbringen, fo madt 
ine Lage eventuell auf und einen andern Eindrud als auf 
ihn felbft; wir fühlen manchmal feinen Schmerz, wo er Schmerz, 
wer Scham, wo er feine Scham empfunden hat. Diefer Fall 
der Discrepanz ſchließt nun ein misbilligendes Urtheil 
ein, das wir über die Stimmung und das Benehmen bes Nächften 
fällen müſſen — zu unferem eigenen Bedauern, denn wir wünſchten 
vielmehr ftets feine Gefühle bifligen und mit ihnen 
übereinftinmmen zu können. Ebenſo ift es unſer Wunſch, daß der 
Nächſte unfere Stimmungen theile. Der ſympathiſche Trieb ift ein 
Begehren nad wichfeljeitiger Sympathie“ (I, 1—14). 

Man kann yerfucht fein, gegen biefe erfte Stufe des fympa- 
thiſchen Triebgf bei Smith geltend zu machen, baß ja durch dieſe 
Berpflanzumg in die age des Nächſten eben ftets das eigene Ich 
afficirt, Au die Theilnahme im Grund ber eigenen Perfon, in 
gemiſſt Situationen hineingebacht, erwiefen wird und jo unter 
der Haste der Sympathie ein verfeinerter Egoismus 
hertſch Dieſer Vorwurf ift ungerecht. Allerdings muß 
nach Smith das ſympathiſche Deitgefühl erft durch jenen Kanal 

erfeßung der eigenen Perfon in die Lage des Nächſten durch» 

en: aber daß ih nah Smith nicht nur ein Bedürfnis nad) 

vr Verſebung, ſondern nach wirklichem Mitgefühl in allen 

Fr habe; daß jener Ball, in dem die Verſetzung nicht zum 

tgefüpl führen kann, mich betrübt, das zeigt doch deutlich die 

Reinheit und urſprüngliche Kraft des ſympathiſchen 

Ferne Allerdings erfcheint jene Verfegung als ein ganz 
1 







nnöthiger Umweg zur Bethätigung des Triebes; gewiß gehen in 
Wirklichkeit nur ſehr wenige Menſchen dieſen Umweg. Die Er» 


281 Braun 


fahrung ‘zeigt uns viele Egoiften, die ‚nit entfernt ſich in die 
Lage und Stimmung ihrer Mitmenſchen verfegen, und daneben 
Philanthropen, bei denen die Sympathie nicht erft durch jenen 
Kanal Täuft, fondern unmittelbar hervorquillt und ſich bethätigt. 
ragen wir, wie Smith zu diefem feltfamen Ummeg | 
tam, fo Eiegt wol die Antwort zum Theil darin, daß er den 
ſympathiſchen Trieb zwar vom egoiftifchen nicht abhängig | 
machen, aber doc im Intereſſe der Einheit in innigen Zu: | 
ſammenhang mit diefem fegen wollte, zum Theil darin, def 
jenes billigende oder misbilligende Urtheil über den Nächten, 
da8 ald Begleiter des Mitgefühles reſp. Nichtmitgefühlee as 
der DVerfegung hervorgeht, für ihn einen befonderen Werth hat. 
Dieſes Urtheil bildet für ihn, wie wir fpäter fehen werden, das 
Fundament wichtiger fittliher Beftimmungen. 

Bon der erſten Stufe des Mitgefühls erhebt ſich nun der ſym⸗ 
pathiſche Trieb auf feı eiten Stufe zu dem Streben, für 
andere zu handeln, ihr Glü 
Potenz ift er jo zu fagen der un 
des göttlichen Liebesplanes, und b 
Hilden Beſtand des Menſchen. „Die ftärkſten Bethütigungen der 







keit“ (I, 133). Den Trieb der Förderung nnd Hürfekt 
pfinden wir nun freilich nicht gleihmäßig gegenüber and Reben— 
menſchen; er bethätigt fi) nad) IL, 47 ff. indrei concent iſchen 
Kreiſen. Den erſten bilden die Perſonen, die durch natir⸗ 
liche oder gewohnheitsmäßige nahe Beziehungen, durch ung e fer 
Wohlthaten, durch ihre Trefflichkeit oder durch das Auff ende 
Erponirte ihrer Stellung (in Freud ober Leid) 1) unfere Som 
1) Es ift nah Smith unſer natürlicher Zug zu Gllick und Freude * 
ung an auffallendem Glück anderer freudigen Antheil nehmen, ja e8 hd 
ſteigern Heißt (daher leitet Smith auch unfer Intereffe und unfere Bo 
eingenommenheit für die Sohen ber Erde, Fürften u. ſ. w. ab, im den 

wir gleichſam das concentrirte Glück ſehen), und der uns — 





Armuth, Elend u. ſ. w., wo wir es ſehen, unerträglich macht und zı 
Beſeitigung desſelben treibt. 





Adam Smiths vefigiöfe und ſittliche Anfchauungen. 3835 


erregen; den ‚zweiten Kreis :bilden die Gemeinſchaften, die fih 
aus denfelben Gründen uns empfehlen; oft combiniren fich diefe 
Gründe, fo bei dem Staate, ja auch dem Stande, dem wir ange- 
hören, weshalb es Smith einen thörichten und hinfälligen Verſuch, 
ia ein Bergehen nennt, die Stände zu nivelliren und ihnen ihre 
Privilegien und Immunitäten zu nehmen (IL, 76ff.). 

Scheint in der Beftimmung dieſer zwei reife ober eigentlich 
der Gründe, durch die fie unfer ſympathiſches Intereſſe provociren, 
das egoiſtiſche Element, die Bemeſſung nach den nahen Beziehungen 

zum Ich etwas ftark hereinzufpielen, jo kommt nun in dem dritten 
| Kreisder fympathifche Trieb zur reinften und vollften 
' Entfaltung. Diefen Kreis bildet das ganze Univerfum. 
uunjer guter Wille ift durch keine Schraufen gebunden, fondern 
ann die Unendlichkeit des Univerfums umfaſſen“ (IL, 79). Freilich, 
pm That kann unfer Streben in diefem untiverfalen Maß 
niht werden. „Die Leitung de Univerfums ift die Sache 
Gottes und nicht des Menſchen“ (II, 88). ber fo wenig der 
Menſch direct für's Ganze wirken fann, mit feinem Herzen, feinem 
Willen foll er es umfaffen und durch dieſe Gefinnung fich in feiner 
engeren Sphäre zu Thaten der Hiugabe, Selbſtverleugnung n. |. w. 
begeiftern laſſen. Diefe Gefinnung Aft indes ohne den religiöjen 
Hintergrund und Abſchluß des Gottes- und Providenzglaubens nicht 
denkbar. Den religiöfen Hintergrund braucht unfere uni— 
verfale Sympathie, weil bie bloße Vermuthung einer „vater⸗ 
lojen Belt“ uns, möchten wir felbft auch in ben glüdlichften Ver⸗ 
haͤltniſſen fein, im Intereſſe der vielen unglüdlihen Brüber tief 
beprimiren, unjere Bemühungen für fie lähmen müßte. Weil wir 
der Grenzen unferer Kraft uns bewußt find und unfere Sympathie 
dennoch Teine Grenzen Tennt, müfjen wir eine Ergänzung unferes 
" Handelns fordern. Wir finden fie im göttlichen Liebesplan. 

Auf diefe Weile wird vou Smith aus der Analyfje bes 
Ifompathiſchen Triebes heraus der Gottes- und Pro— 
guidenzglaube pſychologiſch debucirt, während wir oben 
diefem Glauben heraus das ſympathiſche Handeln als Pflicht 
eleitet fanden. Wieder ein Beweis für die Unauflöslichkeit und 
echſelwirkung des voligidfen und moralifchen Efementes bei Smith. 










236 Braun ” 


Die Analyfe der beiden Triebe foll zunächſt freilich nur 
den piyhifhen Beſtand Fildern und im feiner Ange: 
meſſenheit an den göttlichen Weltplan erweifen; aber im letzteren 
Ermweis liegt Schon die moralifche Werthung, fofern der Trieb, 
der am directeften und energifchiten den göttlichen Plan fördert, 
eben dadurch Über dem anderen fteht und darum eine befondere 
lebhafte Eultivirung fordert. Indeſſen leitet Smith die Sitt- 
lichkeit noch genauer aus dem fympathifchen Triebe ab, 
und zwar fo, daß den beiden Stufen desfelben zwei Reihen 
fittlider Grundbeftimmungen entfprecden. 

Auf feiner erfien Stufe producirt der fympathifche Trieb, 
wie wir fahen, als erfte Folge der Verſetzung in die Qage bes 
Nächten ein Urtheil über diefen. Diefes Urtheil beftimmt, ob 
die Stimmung und Handlungsweife des Nächften ihrem Motiv, 
d. 5. der Lage, woraus fie bervorgieng, angemeffen ift oder nidt. 
Im erften Fall Heißt fie „ſchicklich“, im zweiten „unſchic— 
lich“ (I, 15—28). Das fohickliche Verhalten, unter beſonders 
Ihwierigen Berhältnijfen oder beſonders intenſiv ge 
übt, heißt „Tugend“ (I, 31. 32). 

Bir haben hier ein ganz Heteronomes Princip firtlider 
Deurtheilung. Der Nächte beurtheilt!, ob mein Verhalten 
mwohlbegründet, vernünftig, fittlih if. Er bat dazu ein wichtigee 
Hilfsmittel: er verſetzt fich in meine Lage, lernt alfo mein Motiv 
fennen. Aber bringt er nicht dazu eben fein individuelles Ich 
mit? Tann nicht auf ihn meine Lage einen ganz anderen Eindruck 
machen al8 auf mih? Soll dann diefer Eindrud maßgebend fein? 
fol das, was für ihn nach feinem Temperament unbegründet 
wäre, bei mir auch grundlos, „unſchicklich“ fein? Diefe Er 
wägungen konnten Smith nicht verborgen bleiben. Er juchte daher 
die Willkür des beteronomen Urtheils dadurch zu corrigiren, daB 
er einen „unparteiifchen Zuſchauer“ poftulirt, und, ba 
wir fehr oft in der Lage fein werden unferen Beurtheilern dieſes 
Attribut ftreitig zu machen, uns die Berechtigung, ja die 
Pflicht zufprit, felbft diefe Function an uns zu üben, 
uns „in zwei Berfonen, den Richter und den zu Rid- 
tenden, zu ſcheiden“ und je nach dem Erfund dieſes Richters 





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Adam Smiths religiöfe und fittliche Anfchauungen. 27 


das Urtheil anderer über und zu berichtigen und zu ignoriren. Damit 
ift neben das heternonome ein ebenjo fohroff autonomes Prin- 
cip geftellt. Denn was gibt mir die Garantie, daß ich affectlofer, 
correcter und objectiver, als andere über mich, urtheile? Smith 
gibt zwar dem Factor diefes Selbfturtheiles, dem unparteiifchen 
Zuſchauer in uns, die höchſten Namen: „Bernunft, Brincip, 
Gewiffen, großer Richter unſeres Thuns, Mann in der 
Bruft“ (1,224 ff.), und fpricht von ihm öfters mit einem heiligen 
Pathos, das uns wie ein Vorbote Kant’fher Gewiffens- 
lehre erjcheint und felbjt die Frage, ob Kant nicht Smith etwa 
gefannt babe und von ihm berührt worden fei, nahelegt; aber doch 
muß er zugeftehen, daß auch diefes eigene Gewiſſen fein abfolut 
unpartetifcher und zuverläffiger Zuſchauer ei, vielmehr 
vom Triebleben oft theils übertäubt, theils verunreinigt werde, 
(ogl. I, 261ff.). Es muß daher das Gewiffen fi wiederum 
eontrolliren und reinigen laffen zwar nit vom Einzelurtheil 
andererer, das ja unter ihm oder höchftens neben ihm fteht, aber 
von den „allgemeinen Regeln“ (I, 263ff.), unter denen Smith 
gleihfam das gemeinfame Gewiſſen, bie in ganzen Völkern 
und Generationen herrfchend gewordenen Urtheile über Schicklichkeit 
md Zugend verfieht. 

Wir fehen in diefen drei Stufen des „unpartetifchen Urtheiles“ 
(dem des Nächten, dem eigenen, dem ber Gejamtheit) wieder bie oben 
berührte Wechſelwirkung fympathifcher und egoifticher Momente. 
Die fympathifche Unterordnung unter des Nächften Urtheil corrigirt 
ih durch's Gewiſſen, das eigene ibeale „ch“, dieſes wieder hat 
fd durch die allgemeinen Regeln zu normiren. Aber auch damit 
lann ja ein befriedigender Abſchluß nicht gegeben fein: auch dieſe 
Regeln können befonder8 durch den maßgebenden Einfluß einzelner 
Berfonen (Mode u. ſ. w. II, 1ff.) parteiifh, unrein werden 
und weifen darum auf ein noh höheres Tribunal zurück 
(1, 216ff.), auf das Urtheil Gottes. Auf diefe Iekte Inftanz 
deuten alle die drei befprodenen Formen („die Stell- 
bertreter Gottes, die aber auch ihre fterblidhe Seite 
haben“) des Einzel» und Gefamtgewiffens hin, theils durch ihre 
Unvolftommenpeit, die eine ſolche Correctur erfordert, theils 

Tpesl. Stud. Yahrg. 1878. 


28 Braun 


durch ihre relative Bolltommenheit, ihren vom göttliden 
UrtHeil entlehnten Maßſtab. 

Welches ift diefer Mafftab? Die Beftimmung der „Schicklich— 
Leit“ als ber Angemefjenheit einer Handlung an ihr Motiv war 
rein formell. Smith fügt dazu I, 34ff. die Material: 
beftimmung, daß jede Handlung, um „angemefjen“ zu fein, „eine 
gewijfe mittlere Stärke“ (a certain mediocrity) wahren 


müffe, weil fie nur fo auf die Billigung des affectfreien, un 


parteiifhen Zuſchauers rechnen könne. Aber diefe Stärke ift 


eine andere auf dem egoiftifchen, eine andere auf dem ſympathiſchen 
Gebiete. Die egoiftifchen Gefühle, Strebungen, Handlungen, 
und zwar je mehr fie excluſiv, rein individuell find, 


fönnen auf die Theilnahme des Zuſchauers, der fich in fie 
nur ſchwer und unvollſtändig Bineinverjegt, Teinen hoben An- 
ſpruch maden (I, 35ff.). Bei ihnen ift daher bald das Maß 
überfchritten, das er billigt. Sie gilt es zu befhränfen. Um: 
gekehrt ift e8 bei fympathifchen Gefühlen, Strebungen, 
Handlungen. Ihnen bringt der Zufchauer fein eigenes ſympathiſches 
Herz entgegen und freut fich ihrer möglichften Entfaltung. 
Wohl können auch fie das normale Stärkemaß überfchreiten, ;. B. 
wenn Wohlthaten an Unwürdige verfeäwenbet werden. Aber die 
Mishilfigung, die ihnen dann vom Zuſchauer widerfährt, ift 
doch eine viel Teichtere, al8 das Verwerfungsurtheil über extra 
vaganten Egoismus. Sie ift in jenem Fall mehr nur Bedauern 
(1, 56ff.) | 

Sp ift denn der wichtigfte Maßſtab, nach dem Gefühle, 


Handlungen, Strebungen gemeſſen werden, ihr ſympathiſcher 
Charakter. Gott legt dieſen Maßſtab an, weil der fympa 


thifche Charakter einer Handlung zugleih ihren teleologifchen 
Werth für's Gefamtwohl beftiimm. Der menihlide Zu: 


ſchauer und Richter greift zu diefem Maßſtab, theils unwille 





türlich vom eigenen fympathifchen Triebe dazu geführt, theild 


— und das ift die höhere ethiſche Stufe — in bewußter 
Uebereinftimmung mit ber göttlich teleologifdhen Br 
trachtungsweiſe. Es ift eigentlich nah Smith nichts anderes als 


der teleologifche Gebante, der den Inhalt des Gewiſ⸗— 


Adam Smiths veligiöfe und fittliche Anfchauungen. 23 


jen® bildet, hier zwingend für den einzelnen auftritt und unfer 
fittlihes Thun wie Urtheilen leiten foll. Am diefer 
Richtung jagt Smith von dem „Mann in der Bruft" (I, 224): 
‚Er iftes, der uns, wenn wir duch unfer Handeln in das Glück 
anderer eingreifen wollen, mit einer die aufdringlichen Leidenfchaften 
nieerbonnernden Stimme zuruft, baß wir nur Einer find in der 
Menge, in feiner Beziehung befjer als ein anderer in ihr, und 
dag, wenn wir und fchamlos und blind anderen voranftellen, wir 
mt Recht Objecte der Rachſucht und des Fluches werden. Er 
len Tehrt uns die thatjächliche Kleinheit unferer Perfon und 
Sphäre erfennen und die natürlichen Verirrungen des Egoismus 
Üönmen nur durch da8 Auge diefes unparteitichen Zuſchauers be- 
fihtigt werden. Er zeigt uns die Schicklichkeit des Edelfinnes und 
die Häßlichkeit der Ungerechtigkeit; die Schicklichkeit, die darin bes 


. ſicht, den größten perſönlichen Intereſſen zu entſagen für die noch 


größeren anderer, und die Häßlichkeit, die darin Liegt, dem anderen 
das Heinfte Unrecht zu thun um den größten Erfolg für uns zu 


. jewinnen.“ 


Hienach ergeben fid) für Smith die zwei großen Claſſen der 
‚ahtungsmwerthen“ (awful, respectable) Tugenden, db. 5. 
detjenigen, die den Egoismus in feine Grenzen bannen: 


i Selbſtbeherrſchung, Mäßigung, Ausdauer n.f.w. (I, 28ff.) 


und der „liebenswürdigen“ (amiable) Tugenden, welche 


da ſympathiſchen Trieb energiſch realiſiren: Güte, 


Vohlthätigkeit u. ſ. w. (I, 28ff.). 
Indeſſen iſt mit dieſen Hauptelaſſen nicht das ganze pſfychiſche 
Leben moraliſch gewerthet. Smith ſelbſt füllt die Lücken (wiewohl 


i anderem Zuſammenhange) aus. Einmal muß es im Gebiet des 
- tgoiftifchen Triebes auch eine berechtigte Bethätigung des—⸗ 
ſelben neben ber Beſchränkung geben: fie erzeugt die Tugend ber 


me ur 


„chicklicher“ Bethätigung der Triebe: 


Klugheit“ (II, 36ff.). Sodann muß der fympathijche 
Zrieb, ehe er den Nächſten direct fördert, ihn in feiner Sphäre 
anerfenuen und vor Eingriffen und Schädigungen ſchützen: 


das thut die „Gerechtigkeit“ (I, 127 ff.). 


Somit haben wir folgende Tugendelaſſen oder Arten 


19* 





290 Braun 


J. auf ſympathiſchem Gebiete: 
1. fiebenswürdige Tugenden (Woplthätigkeit:c.), 
2. Geredtigfeit; 
D. auf egoiftifcdem Gebiete; 
3. Klugheit, 
4. ahtungswerthe Tugenden (Mäßigung:c.). 
An fittlihem Werth jcheint, nad dem bisher Ausgeführten, 
bie erfte Gruppe der zweiten unbedingt übergeordnet. Das bleibt 
auch im Grunde die Meinung von Smith. Aber nun frappirt 
er uns und verwirrt wohl fich felbjt durch einen neuen Gefichts⸗ 
punkt, der ihn dazu führt, unter Umftänden der egoiftifchen Klug: 
beit, ja fogar dem maßlofen Egoismus ben höchften fittlichen Werth 
zuzuschreiben. 
Neben den Begriffen der Schidlichleit (Tugend) und Un 
ſchicklichkeit ftellt er nämlich no ein zweites Paar auf, die Be 
griffe „Wohlthat“ und Uebeltbat“ (jo wird merit und de- 
merit wohl am angemefjenften überſetzt). Wie jenes erfte Paar 
an die erjte Function des ſympathiſchen Zriebes, die Verſetzung 
in die Lage (Motiv) des anderen ſich anknüpft, fo diefes zweite 
direct an bie zweite Stufe, dad Streben, Glüd beim Nächften zu 
"realifiren. Wir können uns auf diefer Stufe nicht mehr 
mit der Beurtheilung der Handlungen nad ihren Motiven, 
nach ihrer fympathifchen Tendenz zufrieden ftellen; mir wollen: 
das Glück der Nebenmenfchen wirklich gefördert fehen und beur: 
theilen daher auch die Handlungen anderer nad ihrer Wirkung 
in diefer Beziehung: eine Handlung, die Glüd ftiftet, iſt 
„Wohlthat“, eine Handlung, die fhadet, „Webelthat‘ 
(I, 104ff.). So erhält denn eine Beftrebung ihren höchften Werth 
noch nicht durch's Motiv, fondern erft durch den Erfolg: die 
„Liebenswürbige Tugend“ vollendet fi zur „Wohlthat“. 
Zunädft ift nun dabei die Reinheit des Motives 
vorauszufegen. Das Normale ift nah Smith, daß „Wohl 
thaten“ aus philanthropifher Geſinnung heraus geübt werden. 
Aber — und hier beginnt das Bedenkliche, ber einfeitige Cultud 
des Erfolges bei Smith — es gibt Fälle, wo mir Aus⸗— 
nahmen maden. Wir fchreiben oft einer Handlung dem 





Adam Smiths religiöfe und fittliche Anfchauungen. 291 


Gharalter der „Wohlthat“ zu, auh wo wir fie ihrem 
Motiv nach nicht oder kaum ſchicklich finden, wenn nur ihre 
Wirkung eine offenbar für die Mitmenfchen günftige ift. Umge⸗ 
lehrt erregt und eine an fi) gut gemeinte, rein motivirte Hand» 
lung, die ungünftige Folgen für andere hat, Misfallen, fie kann 
jelbft als „Uebelthat“ prädicirt werden. 

Smith nennt diefe Beurtheilung nad) dem Erfolge felbft eine 
‚Inregelmäßigteit“ (I, 175 ff.), die ihren pfychologifchen Grund 
cen in den Wunſch, möglichft viel Glück realifirt zu fehen, findet. 

Es wird num nicht recht klar, wie weit Smith die Fälle aus» 
dehnt, in denen diefe „unregelmäßige“ Betrachtungsmweife eintritt. 
Da ja nach früher gefagtem auch die exchuſivſt egoiftifchen 
Handlungen von Gott zum Glüd der Menfhen umge: 
bogen werben fünnen, fo ergibt fich jedenfalls die Möglichkeit, 
daß Smith — obwohl er es nicht ausfpridt — auch ſolche 
Handlungen um des Erfolges willen als „Wohlthat“ be- 
trachtet. Die Moral, die fo rein idealiftifch damit begann, 
eine Handlung nach ihren innerften Motiven zu prüfen, Hört fehr 
empirifch-realiftifch damitauf, fih bei dem Erfolg, den doch 
nicht der Handelnde felbft, fondern Gott gewollt und durchgeſetzt 
hat, zu beruhigen. Aber fo unvermittelt, fo „unregelmäßig“ dieſer. 
Grfolgmaßftab neben dem Motivmaßſtab bei Smith fteht, fo ge- 
gefährliche Conſequenzen ſich daraus ziehen laſſen, fo gilt es doch 
für ung zweierlei zu beachten. Einmal, biefer Beurtheilungs- 
maßſtab ift nah Smith dem Menſchen als der energifchfte 
Antrieb zu kräftigem philantbropifhem Handeln einges 
plant. „ALS die Natur die Wurzeln biefer Unregelmägigkeit 
der menſchlichen Bruft einpflanzte, ſcheint fie wie fonft ftets das 
Glück und bie Vervollkommnung der Menjchheit geplant zu haben“ 
1, 175). „Der Meunſch ift gejhaffen zum Handeln und 
um durch Ausübung feiner Fähigkeiten ſolche Veränderungen in feiner 
und anderer Lage herbeizuführen, die für das Glück aller günftig 
ind. Er darf fih nicht zufrieden geben mit ſchlaffem 
Bohlmollen,: oder ſich einbilden, er fei ein Freund der Menſch⸗ 
beit, wenn er im Herzen ihr wohlwill. Er foll die ganze Kraft 
jeiner Seele anwenden und jeden Nerv anfpannen, um bie Ziele 


22 Braun 


zu fördern, deren Verwirklichung der Zweck feiner Exiſtenz iſt“ 
(I, 177). Es ift aljo derfelbe praktiſch-philanthropiſche 
Zug, der früher, wie wir fahen, Smith vor einfeitig fpeculativen 
und theoretifchen Befhäftigungen warnen Meß, und der ihn nun 
dazu führt, den Erfolg als Höchften Maßftab bes fittlichen Urtheils 
zu proflamiren. Dieſer Maßftab kann freilich fittlich fehr ver: 
wirrend wirken. Nicht nur der thätige Bhilanthrop, auch der 
ichamlojefte Egoiſt kann mit ihm fein Handeln deden, und ba, wo 
Gott aus dem Egoismus Früchte für's Geſamtwohl reifen ließ, 
die Anerkennung einer „Wohltbat“ fordern. Dieſe Shlimme 
Conſequenz hat Smith in feinem großen, faft naiven mora- 
lifchen Optimismus nicht beachtet und darum nicht ge- 
hörig abgewehrt, was durch eine genauere Beſtimmung der 
Fälle, in denen jener „unregelmäßige" Maßſtab allein zuläßig ift, 
hätte gefchehen können und follen. Nur ein Gedanke findet ſich 
bei Smith, der als Abwehr gegen jene Conſequenz gelten fan 
(obmohl er von ihm nicht fo verwendet wird), und das iſt dat 
Zweite, was wir zur Erklärung oder Entfchuldigung feines „Wohl: 
tbatbegriffes“ beachten müffen: es ift die Abrehnung der Emig: 
feit; vor dem Tribunal Gottes wird doch wohl nicht ein: 
feitig der Erfolg gewürdigt, fondern nur der Erfolg im Zu 
jammenhang mit dem Motiv. Den Lohn eines „Mitarbeiters 
Gottes“ empfängt doch nur der philanthropifch Geſiunte; 
natürlich inum fo reiherem Maß, je kräftiger er feine Ge— 
finnung realifirt bat. Der Egoift — wenn auch fein Wirken 
von Gott umgebogen wird zum Glück der Mitmenfchen, wenn fo 
feine Feindfeligkeit gegen die Brüder wider feinen Willen zur „Wohl: 
that“ wird — fteht doch vor Bott als „Feind Gottes“ da. Somit 
bleibt es in letter Inſtanz doch bei dem reinen Motivmaßftab. 
Der andere gilt nur interimiftifch, dient als wichtiges Vehikel, zu 
fräftigem Handeln anzufpornen, und fällt weg, wenn der Zwed der 
allgemeinen Wohlfahrt erreicht ift. 


5. Bliden wir num auf den Gang unferer Darftellung zurüd, 
und beleuchten wir mit ihren Reſultaten die im erften Abſchnitt 
gegen Smiths nationalökonomiſches Syftem erhobenen Bedenken. 





} 
} 





Adam Smiths religiöfe und fittliche Anfchauungen. 298 


8 gänzlich ungerechtfertigt hat fi) uns ber Vorwurf 
des irreligiöfen Matertalismus oder Senfualismus gezeigt. 
Bir fanden in Smith einen Denker, deffen Neligiofität, auch wenn 
fe uns dem Inhalt nad etwas dürftig fcheinen mag, doch durch 
Gruft und Begeifterung hervorragt. Wenn er die Kirche als 
„Unterridtsanftalt für alle Altersclaffen“ betrachtet 
md hochſchätzt, fo foll uns das als ein Wink an die Kirche und 
ihre Diener gelten, jener Bunction auch heute wahrzunehmen und 
ein wichtiges Stüd ihrer Pflichten in den focialen Kämpfen der 
Gegenwart zu erfüllen durch religiöfe Belehrung, Befeitigung 
von Misverftändniffen, Meberwindung des vermworrenen Atheismus 
und Materialismus, der in fo viel Köpfen und Herzen Grund 
und Stütze des Socialismus bildet. 

BU es nun auffallend fcheinen, daß ein jo ideal und 
religiös angelegter Geift wie Smith gerade die materielle 
Sphäre, das Handels- und Gewerböleben, fich zum Hauptgegen- 
ftand feiner Erwägung, ja zum eigentlichen Object feiner geiftigen 
%hensarbeit gemacht bat, fo ift zunächſt daran zu erinnern, daß 
jeine Religiofitüt durchaus feinen ascetiſchen oder einfeitig 
transcenbenten Charakter trägt. Wenn er auch erft für's 
Jenſeits die volle Verwirklichung des göttlichen Liebesplanes Hofft, 
lo fieht er doch eine Anbahnung und relative Realifirung desfelben 
ihon in diefer Welt. Er nimmt in diefen Liebesplan die mate⸗ 
tiefe wie die geiftige Wohlfahrt der Geſchöpfe, um kantiſch zu 
reden, die Glückſeligkeit wie die Vollkommenheit auf, und betrachtet 
mn alle Bactoren des Lebens: die Naturfräfte, ⸗-Geſetze und 
Producte, bie geiftige Organifation des Menjchen, feine Leiſtungen 
auf materiellem wie geiftigem Gebiete als Mittel zur Realifirung 
der allgemeinen Wohlfahrt nad ihren verfchledenen Seiten. Die 
materielle Wohlfahrt und die materielle Arbeit befonders in's Auge 
zu faflen, ihre Naturs oder Entwictungsgefchichte zu fchreiben, das 
legte fich Smith Hauptfächlich durch die Eindrücde und Erfahrungen 
ſeiner Sontinentreife nahe; daß ihm trotzdem die geiftigen Güter 
im Bordergrund feines Wohlfahrtbildes ftehen blieben, 
darüber kann fein Zweifel fein, wie er denn perfünfich den Lodungen 
des Reichtums unzugänglih, und bis zum Tode geiftiger Arbeit 











294 Braun 


ergeben blieb. Wie Smith freilih den Zufammenhang 
ber geiftigen und materiellen Wohlfahrt, fowie das 
Berhältnis der Arbeit auf beiden Gebieten dadte, 
das hat er nicht erörtert, und dies bleibt eine empfindliche 
Lücke. Beſonders bei feiner Theorie der Arbeitstheilung Haben 
wir die geiftige Werthung und Geftaltung auch der phh- 
ſiſchen Arbeit vermißt. Es wird für uns nöthig fein, Smith 
hierin zu ergänzen und jenes Verhältnis ausdrücklich jo feftzu: 
ftellen, daß die materiellen Güter nur die Bedingung und Unter: 
lage für die Entfaltung und Bereicherung des geiftigen Lebens 
bilden, und daß anderfeitS die materielle Arbeit felbft in einer 
das geiftige Leben anregenden Weiſe geitbt werden kann und muß. 

Das von Smith feftgehaltene Ziel der allgemeinen Wohlfahrt 
hat uns gezeigt, wie fälſchlich der Vorwurf des atomiftifchen 
Egoismus ihm gemadht wird. Wohl will er durch fein Princip 
der wirthbfchaftlihen Freiheit dem Egoismus des Einzelnen 
möglichft weiten Spielraum geben, aber wie wir fahen, eben damit 
von fo von vielen einzelnen Punkten aus die allgemeine 
Wohlfahrt gefördert werde. Freilih wird diefer Zweck 
in Wirklichkeit nicht erreicht, fondern eher das Gegentheil, die Zer- 
rättung der allgemeinen Wohlfahrt, der Krieg aller gegen alle. 
Daß Smith dies nicht erfannte, Liegt an feinen optimiftiid 
irertümlihen Vorausfegungen. Er hat einmal die Borand- 
fegung, daß ja im Menfchen felbft ſchon der egoiftifche Trieb durd 
den fympathifchen gehörig bejchränft und von excluſiver Bethätigung 
zurüdgehalten werde. Wir können ihm das Nebeneinander beider 
Triebe zugeben, müffen aber conftatiren, daß bei ben meijten 
Menschen der egoiftiiche Trieb einfeitig dominirt, und darin finden 
wir eben das Abnorme des jetigen piychifchen Beitandes, die 
Grundfünde der Selbſtſucht. Smith beachtet diefen thatfächlichen 
Zuftand, menigftens in der „Theorie“, zu wenig, er zeigt fid Hier 
mit den englifchen und deutfchen Rationaliften auf demfelben Boden 
des pfychologifhr-ethifhen Optimismus, der die Sünde 
in ihrer furhtbaren Macht nicht fennt und einen natür 
lichen, gutberzigen Menfchen fih erträumt. 

Allerdings gibt num Smith ſchon in der „Theorie“ als Aus⸗ 





Ham Smithe religiöfe und fittliche Anſchauungen. 295 


nahme da8 Vorkommen eines erclufiven Egoismus zu, und in der 
„Unterfuhung“ ſcheint er ihm in weiterem Umfange, bei ganzen 
Ständen, wo ihn die Erfahrung ihm indeffen gezeigt hatte, voraus⸗ 
wiegen; aber er meint — und das ift die. zweite optimiftifche 
vorausſetzung —, auch der exclufiofte Egoismus werde durch Gottes 
Leitung ftetS zum allgemeinen Wohl umgebogen, und zeigt damit, 
dab er die Folgen der Selbftfuchtfünde, die furdhtbare 
Ausdehnung bes Uebels in der Welt, ebenfalls nidt 
fennt ober fie zu vertufhen ſucht. Wir mögen hier an- 
erlennen, daß Smith dur feinen fiarfen Gottes» und Vor⸗ 
hungsgfauben über das factifche Uebel fich erhebt, aber diefer 
Haube ift eben auch der optimiftifch-rationaliftifche, der die Sünde 
nicht erfennt als das ftörende Element, das fich nicht nur in der 
Menſchheit als Erzeuger des Uebels eingebürgert, ſondern fich, ale 
Enpörung wider die göttliche Ordnung der Demut und Liebe, 
wiſchen Menſch und Gott eingedrängt hat, fo dag nun Gott 
in gerechtem Zorne die Sünde nicht fofort wieder paralyfirt, 
jondern fie ihre Früchte reifen läßt und damit die Menfchheit 
fraft, wenn auch zugleih in der Liebestendenz, die Menjchheit 
durch Strafe zur Umkehr und alsdann zur Befreiung vom 
Uebel zu führen. Das ift die religiöfe, die chriftliche Anſchau⸗ 
ung bom Uebel, bie der Erfahrung befjer entipricht als die 
optimiftiich » Smith’f he. Daß freilich Gott feine zürnende Zu— 
rückhaltung manigfah durchbricht, daß er oft durch rajche oder 
almählihe Paralyfirung des Uebels, Wendung des Böſen zum 
Guten, dem Menſchen die Fortdauer feiner Liebe bezeugt (und ihn 
fo ermuntert, durch Ueberwindung der Sünde in Vollgenuß feiner 
Liebe einzutreten), wollen wir nicht leugnen; aber wir werden darin 
ftet8 nur eine Wohlthat Gottes fehen und nicht, wie Smith thut, 
auch dem Menſchen, deſſen an fich egoiſtiſches Thun von Gott in 
dieſer Weiſe verwendet ift, dankbar die Wohlthat als fein Product 
vindiciren. Smith will freilich, wie wir fahen, mit diefem Wohl- 
tgatebegriff nur feiner Freude über das wirklich realiſirte Gute 
Ausdruck geben und zu Eräftigem Handeln anfpornen; fo kommt 
auh bier feine Humane Tendenz herein. Aber in der That ver: 
wifht erdurd feinen Wohlthat- Begriff alle ſittliche 


2336 Braun 


Beurtbeilung, hebt den von ihm felbft poftulirten 
Gegenſatz des fympathifchen und egoiftifhen Handelns 
auf und gibt jedem Egoiften die Erlaubnis, fi aud 
noch, mit Berufung auf feinen Boften im Ganzen ber 
göttlihen Weltordnung, als Wohlthäter der Menfchheit 
zu proclamiren. An diefe Eonfequenz, wie fie fo oder ähnlid 
von raffinirtem, heuchlerifchem Egoismus vielfach gezogen wird, 
bat Smith eben wieder in feinem Optimismus nicht gedacht. 

So coneentrirt ſich denn fchließlich unfer Eindruck dahin: Der 
Fehler Tiegt bei Smith nicht im irreligiöfen Materialiemus oder 
atomiftifchen Egotsmus, die ihm fälfchlich imputirt werden, fondern 
in feinem moralifden und wirtbfchaftlihden Optimig- 
mud. Er kennt nicht die Sünbe, das radicale Böſe 
im Menschen, und nicht das radicale Hebel inder Welt. 
Es fehlt ihm das, was bei Kant eminent praftifchen Wahrheits- 
gehalt bildet, daher die Irrtümer und gefährlichen Eonfequenzen 
feines Syſtems; darum konnten fi) unter der Fahne feines Syftems 
Beftrebungen gruppiren, die er, fo wenig er fie gutheißen würde, 
doch auch nicht widerlegen und bekämpfen könnte. 

Gegen das Hebel in der Welt und zur annähernden Reali⸗ 
firung allgemeiner Wohlfahrt gibt es — das ift und bleibt da® 
große Vademecum hHriftliher Weltanfhauung — kan 
anderes Mittel, als die Belämpfung der Selbftfu htfünde, 
die deren Erfenntnis vorausjegt. Die Sünde gilt e& zu be 
fümpfen in den Herzen, durch religiöfe Untermweifung und geiftige 
Anregung, die ja im Bunde mit jener das Herz auch meit und 
groß und jelbftlos macht; durch Erziehung in Haus, Schule und 
Kirche. Die Sünde gilt es aber auch zu befämpfen in ihren 
Aeußerungen und Folgen. Es kann, wofern dem Staate 
noch fittliche Pflichten vindicirt werden, gar fein Zweifel fein, 
daß er das Necht und bie Aufgabe hat, den fündfichen Egoismus 
der Einzelnen zu Gunſten der andern und zu ihrem eigenen fill: 
lichen Heil niederzubalten, und es müßte dies zunächſt geſchehen 
dur Gefege, die die abfolute wirthfchaftliche Freiheit 
befhränten und damit deren Misbrauch unmöglich 
machen. So lange aber und foweit der Staat dieſe Pflicht eben 


N 





Adam Smiths religiöſe und fittliche Anfchauungen. 297 


mt erfillt, gilt es, in freier Weile, durch Genofjenfhafts- 
md Bereinsthätigkeit dem Egoismus entgegenzutreten und das 
vorhandene Elend möglichft zu reduciren 1). Da wir freilich mit 
aller Anftrengung die Sünde und ihre Folgen nur zu bejchränfen, 
nicht aufzuheben vermögen, fo müfjen wir auch einen ungelösten 
Reit von Uebel im der Welt ums ſtets gefallen Laffen, und bier 
mit Smith auf die Verwirklichung des göttlichen Liebesplanes im 
Jenjeits hoffen. Mag der atheiftiiche Socialismus diefen Hinweis 
als werthlofen , nie einlösbaren Wechfel verfpotten, derjelbe wird 
doch ftetö feine tröftende und beruhigende Kraft gegenüber der Armut 
and den Unglüd da bewähren, wo er mit kräftigen, praktiſchem 
Birken, mit der Belämpfung des Egoismus und mit der felbft- 
verleugnenden Liebeshingabe als ihr idealer Abfchluß ſich verbindet. 


Die vorliegende Arbeit war ſchon geraume Zeit vollendet und an bie 
Redaction diefer Zeitfchrift übergeben, als das neu erfhienene Wert von 
2. Onden mir zu Gefiht kam: „Adam Smith und Immanuel Kant, der 
Einllang und das MWechfelverhältnis ihrer Lehren über Sitte, Staat und 
Wirthſchaft, Leipzig 1877, 1. Abtheilung: Ethik uud Politik.“ Dieſes Buch 
ft anziehend, in reihem, bie und da faft pompöfem Stile gejchrieben, und 
enthält über Smith viele werthvolle Gefichtspuntte. Böllig einverftanden 
bin ih mit Onden, wie bie vorliegende Arbeit zeigt, in der Verteidigung 
Smiths gegen ben Borwurf des materialiftifhen Egoismus, in dem Nad- 
drad, ber auf den Zuſammenhang der „Unterfuhung” mit ber „Theorie“ 
gelegt wird, in ber Conftatirung von Smiths fittlich-religiöfer Grundanſchau⸗ 
ung. Aber in feiner Barallelifirtung ſcheint mir Onden weit über's Ziel 
hinanszuſchießen. Wohl ift in den religiöſen Anfichten beider Denker die 
Aehnlichkeit nicht zu verlennen; und im ethifhen Gebiet gibt e8, worauf auch 
ih oben hinwies, einen Punkt, wo die Parallele frappant und die Frage, 
ob Kant durch Smith angeregt worden, unabweislich wirb: es ift Die Au- 
torität des Gewiſſens. Mit dem, was Onden darüber jagt S. I1ff., 
bin ich einverftanden. Aber viel zu weit geht er nun, wenn er bei Smith 
gerade wie Kant die Sittlichteit ausfchließlih aufs Gewiſſen zurüdführen 
will, ohne Mitwirkung der Triebe, ja im Kampfe mit diefen. Die ganze Ein- 
tbeilung des Oncken'ſchen Buches beruht auf diefem Misverftänbnig. Gr will 

I) Einen großartigen Beweis für das, mas durch Vereinsthätigkeit geleiftet 

werden kann, gibt die von Profeffor von Miaskometi verfaßte Feſt⸗ 
ſchrift zum 100 jährigen Beftehen der Basler Gefellfchaft zur Beför⸗ 
derung des Guten und Gemeinmütigen, 1877. 





298 Braun 


nämlich die Parallele in 3 Gebieten durchführen, in der Ethil, Delonomil 
und Politik. Gegenitand der Ethik (bei Smith aus ber „Theorie“ zu fhöpfen) 
let bei beiden Denkern das Reich des Gewiſſens mit dem transcendenten 
Biele der Volllommenbeit ; Gegenitanb der Delonomil (die Smith in ber 
„Unterfuhung” behandelt) da8 Reich der Triebe mit dem ſinnlichen Glüd- 
feligfeitögiel; Gegenftanb ber Politik (bei Smith im 5. Buch der „Unter 
ſuchung“ erörtert) dag Mittelgebiet zwiſchen jenen beiben, das Staats⸗ und 
Rechtsleben mit bem Ziele ber Sicherheit. 

Die Berechtigung diefer Eintheilung muß ich entfhieden beftreiten. Der 
Gegenfag des Glückſeligkeits- und Volllommenheitsibeals ift bei Smith gar 
nicht vorhanden. Sein Wohlfahrtsziel ſchließt, worauf ich öfters hinwies, 
das ideale und materielle Element ungejchieden in fh, ohne daß, was id) 
als Lüde rügte, das Verhältnis beider näher erörtert wurde. Ebenſo un- 
richtig wie dieſer aus Kant in Smith hineingetragene Gegenfag iſt ber andere, 
den Onden auf dem fubjectiven Gebiete bei Smith finden will, zwiſchen Ge- 
willen und Trieben. Das Gemwillen ift freilich bei Smith etwas Selbftän- 
diges, aber e3 fteht den Trieben nicht feindlich gegenüber, zu einem berfelben, 
dem ſympathiſchen, fteht es in einem natürliden Berwandichaftäverhältnis. 
Das Gewiffen ift ja — damit glaube ich gerade den von Onden vermißten 
Inhalt des Gewiſſens bei Smith aufgezeigt zu haben — das teleologiſche 
Bewußtſein, die Erkenntnis der Stellung uud ber theils egoiſtiſchen, theils 
und bauptjählih philanthropiſchen Verpflichtung des Menſchen im Ganzen 
ber göttlihen Weltorbnung. So dient e3 beiden Trieben ald freundlicher 
Gontroleur und Dirigent, den egoiftifchen beſchraͤnkend, ben ſympathiſchen 
ermunternd und fteigernd, aud ihm Object und Maß anmweilend, beide 
Triebe in's correcte Verhältnis ftellend. Ganz chief it e8 daher, wenn 
Onden ©. 74ff. 99ff. die Znitiative zu den tugendbhaften Handlungen 
bei Smith ftet3 vom Gewiſſen abgeleitet findet. In einem eigenen Abſchnitt 
der „Theorie“ (I, 286ff.) leugnet Smith dies ausprüdlic für Die Acte des 
„liebenswürdigen" Tugendgebietes, die vielmehr in den meilten Fällen un 
mittelbar dem ſympathiſchen Triebe entgtiellen und vom Gewiſſen nur Beifall, 
ſowie Bezeihnung bes Maßes und Objectes empfangen. Für ſich, ohne 
diefe Unterftügung durch's Gewiſſen, wäre allerdings ber ſympathiſche 
Trieb nicht ftark genug, den egoiftiihen zu überwinden. Nur das jagt ja 
das von Onden S. 74 gegebene Citat aus. Den erften, wenn aud) nidt 
genügenden Impuls zum fittlihen Handeln gibt der ſympathiſche Trieb. 
Gerade das leugnet freilih Onden S. 74 ff. 99 ff. 102. Er läßt ihn 
bloß als „pafliven Zuſtand“, ala „Leitdraht”, ala „Organ, welches die Em: 
pfindungen weiter vermittelt” gelten. Dagegen kann ich auf bie Ausführungen 
in meiner Arbeit verweifen. Onden findet eben für den ſympathiſchen Trieb 
feine rechte Stelle übrig, da, wie er meint, die tugendbaften, d. h. weientlih 
ſympathiſchen Handlungen rein vom Gewiſſen ausgehen, und ba3 andere 
Gebiet, in dem die Triebe wirken follen, das ber finnlichen Glüdfeligfeit, doch 





Adam Smiths religiöfe umd fittliche Anſchauungen. 299 


meientfih vom egoiftiichen Triebe beherrſcht erjcheint. Freilich verlennt er 
aud den egoiſtiſchen Trieb, wenn er ihn S. 99 für bloß auf bie „finnliche 
Güterwelt” gerichtet hält. Iſt Doch, wie ich gezeigt babe, der Egoismus bei 
Emith in erfter Linie Autoritätstrieb, und richtet er ſich als folder auf das 
tein geiftige Gut der Ehre und Anerlennung. — Uebrigens ift auch das 
Verhältnis des egoiftiichen Triebes (in feiner idealen wie materiellen Ten⸗ 
denz) zum Gewiſſen keineswegs das einer feindlihen Spannung, ſondern 
da, wo der Trieb fi) normalerweile vom Gewiſſen beſchränken und dirigiren 
laßt und fo eine eigene QTugenbgattung erzeugt, ein ganz freundliches. Onden 
ml ©. 87. 88 die Kantiihe Spannung zwiſchen Gewiſſen und Trieben 
durch ein Citat nachweiſen, dasjelbe jagt aber davon nichts; es ift in ihm 
nit von Befiegung der Triebe durch's Gewiſſen, ſondern von Zurück⸗ 
drängung ber jelbfifüchtigen Hinter die wohlwollenden Regungen die Rede. 
dieſe correcte Berhältnisftellung beider Triebe herbeizuführen ijt allerdings 
die Function des Gewiſſens, es erzeugt durch fie im Menden innere Har- 
monie, Befriedigung, während die Action des Gewifleng bei Kant doch ſtets 
einen für's Triebleben peinlihen Zwang involoirt. 

Bon Kant'ſchem Dualismus ift aljo bei Smith feine Rebe. In der 
fteundſchaftlichen Zufammenorbnung von Gewifien und Trieben, die Smith 
ala das Normale voraußjegt, ift er völliger Moniſt; freilich liegt eben darin 
die oben von mir aufgezeigte optimiftijch - pelagianifche Schwäche. (Eher als 
mit Kant möchten ſich Berührungspuntte mit einem anderen, fpäteren beutjchen 
Denker, Herbart, aufzeigen laſſen.) 

Soviel über das Principielle bei Onden. Nun noch wenige Einzelbe- 
merlungen. Die religidös- metaphyſiſchen und moraliiden Anfichten Smiths 
find, von jenem verhängnisvollen Misverſtand abgefehen, richtig, doch faft 
zu kurz und allgemein dargeftellt. Aus ber „Politit” hebe ich die Darftel- 
lung der kirchlichen Grundfäge Smiths hervor. Hier läßt Onden zwar die 
antiklerifale Bolemit Smiths zu Worte kommen (S. 186.187), verfäumt es 
aber, die Hohe Wertbihägung auch nur anzudeuten, die Smith dem geiftlichen 
Beruf als religiöfem Lehr- und Erziehungäberuf fpendet und die fich beſonders in 
feinen panegyriſchen Aeußerungen über ben presbyterianiſchen Klerus kundgibt. 

Wenn Onden ©. 108 jagt: „— weil eine deutſche Ueberjegung ber 
Theory nicht vorliegt”, jo ift fie wohl ihm nicht vorgelegen; es gibt aber 
eine ſolche (Braunſchweig 1773), die freilich ungenügend ift, ſchon weil fie 
der legten, jo vielfach bereicherten engliihen Ausgabe voranging. 

Im 2. Bande gedenlt Onden bie Oekonomik zu behandeln, in der freilich 
bei Kant wenig zu holen fein wird. Vom vorliegenden 1. Band (ber neben 
der Ethik Die Politik enthält) ift noch zu bemerken, daß er neben feinem Haupt- 
inbalte, der Vergleichung beider Tenker, viele intereflante, auch für ben Theo- 
Iogen inftructive gejchichtliche Berfpectiven allgemeinerer Art gibt. Dahin rechne 
ih 5.8. das S. 175 ff. Über die wirthichaftliche Bebeutung der mittelalter- 
lien Kirche Gejagte. 


— 


— — r— 


Gedanken und Bemerkungen. 


3 


| 1. 
| Ein Diandat Jeſu Chrifi von Nikolaus Herman, 


in vierzehn Ausgaben. 
| (1524—1613.) 
| Bon 


Dr. Doedes, 
Profefior der Theologie in Utrecht. 





Am 3. Mai 1561 entjchlief in feligem Frieden ein Mann, 


deſſen Andenken und ſtets Lieb und theuer fein wird, der fromme 


Ritolaus Herman, der Kantor von Joachimsthal, der Freund des 
altbefannten Rectors Johannes Mathefius. Wer hat nicht dann 
md wann eins feiner geiftlichen Lieder gefungen, nicht oft fie ges 
leſen? Wenn auch vielleicht weniger allgemein befannt, jo find 
doch auch feine „Sonntags⸗Evangelia“ nicht vergeffen. Nikolaus 
Herman und Johannes Matheftus, der Cantor wie der Rector 
von Joachimsthal, find und bfeiben uns fo liebliche Geftalten 


aus der Reformationgzeit, dag wir fie niemals der Vergefjenhei 
anheimfallen Lafjen können. 


Will man etwas genaueres über Nikolaus Hermans Leben er- 
fahren, fo müſſen wir befennen, daß davon nur wenig auf uns 
gelommen if. Dem Urtheil von Lebderhofe: „Daß des Tieben 
Cantors Leben wie ein ftilfes, fegensreiches Büchlein dahinfließt, 


ohne daß man fein Rauſchen vernimmt, thut manchem leid; man 
möchte gerne mehr von ihm willen“, ftimmen wir von ganzem 
Theol. Stud. Jahrg. 1878. 20 





504 Doedes 


Herzen bei !). Aber auch die Frage iſt erlaubt: Wiſſen wir denn 
alles, was man von ihm wiſſen kann, oder haben wir vielleicht 
bis jeßt bei der Beſchreibung feines Lebens oder feiner Werke 
etwas außeracht gelafjen ? 

Schwerlich könnten wir diefe Frage verneinend beantworten. 
Allerdings muß es uns befremden, daß Nikolaus Hermans Bio: 
graphen einen Auffag von feiner Hand gar nicht erwähnen, deifen 


Titel feit längerer Zeit in den Annalen der Bibliographie und in 
den antiquarifchen Katalogen feine Stelle gefunden hat). „Man 


möchte gerne mehr von ihm willen”? Nun, es gibt noch einigee 


von ihm zu erzählen. Iſt nur wenig von ihm bekannt, fo ift es 
doppelte Pflicht, von diefem Wenigem nichts zu ignoriven. Den 


Bibliographen ift „Ein Mandat Jeſu Chriſti“ von Nilolaus 


Herman fein unbelannter Titel. So kann denn auch hier einmal 
die Bibliographie der Biographie zur Seite gehen und ihr Hülfe 


leiften.. Um fo weniger aber dürfen Tünftig die Biographen es 
fih erlauben, von diefem Auffage zu fchweigen, als ſchon zwei 


deutſche Gelehrte in ihren bibliographiichen oder Titerar-hiftorifchen 
Werken diefes Mandat Jeſu Chriſti da anführen, wo vom Dichter 
Nikolaus Herman die Rede ift, wir meinen Karl Goedele und 
Emil Weller °). 

„Ein Mandat Jeſu Ehrifti“ von Nikolaus Herman ift ein 
Auffag, der, wenn auch feine weltgefchichtliche, doch immerhin eine 
Rolle in Deutichland gefpielt hat, und das will fchon etwas fagen. 
Ebenfo hat das Schriftchen eine eigene Gefchichte, deſſen fich doch 


1) 8. 5. Ledderhoſe, Nikolaus Hermans und Johannes Mathefins geif- 
liche Lieder, mit einer Einleitung (Halle 1855), ©. xxv. Vgl. and 
E. Pfeifer, Nikolaus Herman. (Berlin 1857), und den Artikel von 
3. Bagenmann m Hergogs Real-Enchclopädie V, S. 770. 

3) Den Titel findet man in Banzers Anmalen, in Gräffe’e Trösor de 


livres rares, in Emil Wellers Repert. typogr. (1864), in 
A. Kuczynsti’s Thesaurus libellorum hist. reform. illustrantium 


(1870), u. |. w. 


3) Bgl. 8. Goedeke, Grundriß zur Geſchichte der deutichen Dichtung, Bdu J 


(2. Ausg. 1862), ©. 165. Emil Weller, Annalen der poetiſchen 
Nationalliteratur der Deutſchen im 16. u. 17. Jahrhundert, Bd. II (1864), 
©. 329. 





Ein Mandat Jeſu Ehrifi von Rikolans Herman. 506 


auch nicht alle Aufſätze rühmen können. Daß es wirklich eine 
eigene Gefchichte Kat, wird uns Har werben durch eine Veberficht 
der verfchiedenen Ausgaben, deren es fich erfreut bat. Nachdem 
das Mandat im Jahre 1524 zum erften Mal herausgegeben war, 
erihien e8 in demfelben Jahre noch fiebenmal, darauf einmal in 
1525, zweimal in 1546, einmal in 1547, einmal in 1556 und nod) 
einmal in 1613. Alſo find uns bis jegt vierzehn Ausgaben 
bekannt 2). Vielleicht Laffen ſich noch mehrere nachweifen. 

Vie Schon ber Titel andeutet, ift es ein Ausfchreiben, vom 
Berfaffer auf unferes Herrn Jeſu Namen geftellt; ein Außfchreiben 
aa die Ehrijten. Wie in einem Vorwort wird der Inhalt kurz 
alſo zufammengefaßt ?): „Argument. Inn dieſer Epiftel odder 
Mandat wird kurtzlich angezeygt, aus was Urſache das chriſtlich 
vold fo yemerlich gehrret, den Glawben verloren hab, und wie es 
widderumb darzu fommen müge. Daneben wird auch eyn chrift« 
licher Krieg widder den Teuffel und feyn Hoffgefinde mit chrift 
lichen Waffen auffs furkfte abgemalet und geleret, allen ſchwachen 
Gewiſſen tröftlih und Tieblich zu Iefen.” Das Mandat felbft 
fängt aljo an: „Ich Jeſus Chriftus, der Tebendig Sohn Got- 
teö, geporn ans dem fönigliden Stame David, eyn König ber 
Ehren, eyn Heyland der gangen Welt, eyn Verſöhner des Zorns 
Gottes, eyn Mitler zwifchen Gotte und dem Menſchen, eyn 
Sündentrager und wares Lamp Gottes, fo hynweg nympt bie 
Sünde der Welt, empiet allen meynen Lieben getrewen Chriften und 
Brüdern meyn Gnad, Fride und Barmhersicdent, Amen.“ Dann 
mahnt der Herr feine „Lieben Getreuen“ daran, wie er vor 1524 
Jahren in die Welt gekommen, damit Er fie von allem Elend 


— 


I) E. Weller kannte in 1864 acht Ausgaben. Die von Kuczyuͤski be 
jhriebene Sammlung enthielt Exemplare von jieben Ausgaben, unter 
denen drei, die Weller (Repert. typogr.) ebenfallg nennt. Bon neun 
der vierzehn mir befannten Ausgaben ift ein Exemplar in meiner Samm- 
Inng; von drei andern fah ich ein Exemplar. Bon der erſten Ausgabe 
NM mir nur ein Eremplar befammt, in Deutichland gar nicht bekannt, in 
Leiden aufbewahrt. 

2) Ich behalte die Orthographie der erften Ausgabe bei; die ber fpäteren 
Ansgaben ift hie und da von ber früheren verſchieden. 

14* 


806 Doedes 


erlöſete; wie Er fie „zu eynem erblichen Volck erfaufft“ babe; 
wie fie fich gegen Ihm „mit Eydes Gelübde ynn der Taufe ver- 
pflicht“ und Ihm „als ihren Erbherren gehuldet und geſchworen“ 
haben. Aber Er ift „von ihrer Abfallung und Nachleffiglent 
jeyner Gepot zupilmalen underridht“. „Es ift audh für mid 
fommen, wie durch ewer Unachtſamkeyt und Nachlafjung meyner 
Gepot die ſterckfte Vehſt, jo ich zu Verwarung des ganten Lande 
mit großer Arbeit erbawet, euch trewlich zu verwaren und ynne 
zu balden befohlen Hat, von dem Zeuffel durch feyn Heer des 
geuftlojen Hauffens eyugenommen und bemweldiget ſey, nemlich der 
Glaub an meyn Wort, das heylig Euangelion, mit welcher Vehſt 
ih da8 gan Land der chriftlichen Kirchen verwaret, ficher und 
unüberwindfich vor den Feynden gemacht hat.“ Seinerfeits habe 
Er fie warnen lafjen; es ihnen aud möglich gemacht, dem Feinde 
zu widerftehen und „diefe Burg und edles Schloß“ gegen den 
Feind zu verteidigen. Er babe ihnen ihren Feind Mar und deut: 
lich befchreiben lafjen, unter andern durch „feinen getremen Kantzler 


Mattheus“, und durch fein „auserwelts Bas Paulus... *. Es 


jei aber alles umfonft gewefen, und da habe Er fich zurückgezogen. 
„Da ergrymmet ich und feret meyn Augen von euch. Aber“, jo 
fährt der Herr fort, „Ich wil meyn Angefiht und Barmhertzig⸗ 
feyt nicht von dyr wenden . . Neygt alleyn ewer Oren und kompt 


zu myr.“ Es kommt alle® an auf „das eyngenommene Schlos, 


den Glauben an mic und mein Wort, . . denn es ift bes ganten 
riftlichen Königreychs Verluft und Gewyn an dem eynigen Schlos 
gelegen“ . . „Derbalben ſamlet euch, meyn allerliebften Getrewen, 
und eylet zu dem Tenlein, laufft nach dem Klang und Gedön ber 
Heerbauden, welche meyn Diener igund und Propheten bey fünff 
Haren!) lang Haben auffgejchlagen.” Darauf werden jehr aus 
führlih die Waffen befchrieben, mit denen fie kämpfen follen 


1) „Bei fünf Iaren lang ...“ jo heißt es in 1624. Der terminus 8 
quo ift alſo entweder etwas jpäter als 1517 angegeben, ober der Ber- 
faffer Hat feinen Aufjag vor 1524 gefchrieben. Im einigen fpäteren 
Ausgaben ift die Zahl fünf, in Uebereinflimmung mit dem fpäteren Drud 
des Mandates, umgeändert. 





Ein Mandat Jeſu Chriſti von Nikolaus Herman. 307 


(„weldhe meyn getrewer Hauptman Paulus angezeygt und beichrieben 
bat, zu ben Ephefern am 6.*), und verheißt ihnen der Herr bie 
Erlöfung von allen ihren Feinden, „Verfurern und faljchen Härten, 
dem genftlichen Geſchworme, Bapft, Bifchoffen, Cardinelen, Eur- 
tfanen, Grtprieftern, Dechant, Officinlen, Notarien, Mond und 
Bioffen*. ... Schließlich Heißt e8: „Geben zu der Rechten meynes 
hymliſchen Vaters, nach meiner Geburt ym 1524 Jahr !). Iheſus 
Chriftus der Tebendige Sohn Gottis und Heyland der gangen 
Belt.“ 

Diefes Mandat ift alfo ein Aufruf zum Kampf, zum Kampf 
wider Rom, als den Feind des Glaubens an Jeſum Ehriftum; 
eme Ermunterung zur Rückkehr zum Glauben an den Herrn 
Feſum Chriftum und fomit zur Unterwerfung an ben ewigen 
König des Gottesreiches, welchem die Chriften fi in der Taufe 

feterlichft zum treulichen Gehorfam verpflichtet Hatten. 

Gleich anfangs hat diefes Mandat großen Beifall gefunden und 
Ipäter wurrbe e8 oft angewendet, um neues Leben unter den Gläubigen 
zu erwecken. Einer Bofaune gleich hat e& die Ehriften mehrmals 
zum heiligen Kampf für den Glauben des Evangeliums aufgefordert. 
Bill man feine Gefchichte kennen lernen, jo hat man die vierzehn 
Ausgaben zu überblicken, welche uns bis jetzt befannt geworben 
md). Wir laſſen bier die Titel der einzelnen Ausgaben folgen, 
damit fich die Geſchichte dieſes zwar Fleinen, aber keineswegs un- 
bedeutenden, und bisher felbft in Deutfchland nicht genug gewür⸗ 
digten Monumentes aus der Neformationgzeit vor unferen Augen 


entfalte. 
1. Eyn Man: | dat hen | Ehrifti an | alle ſeyne getrewen 
Chriften. | 1524. | O. O. 8%. 12 Bl. (Letzte Seite leer.) Mit 


I) So mie im Anfang des Mandates ift auch Hier in den fpäteren Aus- 
gaben die Jahreszahl 1524 nad) der Zahl des Jahres geändert, in welchem 
e8 herausgelommen if. 

3) Die verjchiedenen Ausgaben gleichen einander nicht in jeber Hinficht. 
Der Titel ift in ben früheren fehr kurz, in dem fpäteren fehr ausführlich. 
Die am Rande verzeichneten Stellen aus ber heiligen Schrift, beren es 
in der erfien Ausgabe nur wenige gibt, find fpäter vermehrt worden. 
Die Ortbographie, wie auch die Mundart, variirt. 


308 Doedes 


breiter Titelbordüre. (Die Jahreszahl 1524 auch auf dem Säulen- 
fuß links in der Zitelbordüre.) 

In Leiden, Bibliothef der „ Maatsſchappy van Nederlandſche 
Letterkunde“. Vgl. Catal. II, S. 334. 


2. Ein Mädat Iheſu Chriſti an alle ſeyne getrewẽ Chriſten. 
Im 1.5.2.4. Jar. O. O. 40. 12 Blätter (letztes leer). Mit Titel⸗ 
einfaſſung. 

Bei Weller, 2913. 


3. Eyn Mandat Ihe⸗ſu Chriſti, an alle fegne | getrewen 
Chriften. | Im 1.5.2.4. Yar. | DO. ©. 4%. 10 Blätter (legtes 
leer). Mit breiter Titelbordüre, worin die Buchſtaben M. L. 
und das Wappen Luthers, von 2 Engeln gehalten. 

Kuczynski, 1010. (Stimmt nit mit Weller, 2914.) Auch in 
meiner Sammlung. 


4. Ein Mandat Ihe⸗ſu Ehriftt: an alle feine getrewen | 
Chrifte. In welchem er vffgebewt | allen fo im in der tauff ge: 
boldet vnd ge= | fchworn haben, das fy, das verlorne | Schloß 
(Den glaubt an fein wort) | DE teuffel widerumb abgewinne | follen. 
Gezogen auſſ Heiliger | jchrifft von Nicolao | Herman. | Am Ende: 
Straßburg, Joh. Schwan. (1524.) 4%. 8 Blätter (letzte Seite 
leer). 

Weller, 2909. Kuczyuski, 1008. Auch in meiner Samm- 
lung. 


5. Ein Mandat Ye | ſu Chrifti, an alle feine getrewen Chri- | 
ften, In welchem er auffgebewt al» | len... . | fchrifft, vo Ni⸗ 
colao Her: | man. | DO. O. (1524). 4%. 8 Blätter (letztes leer). 
Mit Titeleinfaffung. 


Dei Weller, 2912. " 
6. EIn Mandat Hhefu | Ehrifti, an alle ſeyne getremen 
Gris | ften. In welche er auffgebewt allen... .. | gen aus Hey: 


liger Schrifftl. Von Nie | colao Herman. Anno ꝛc. XXiij. | 
D. D. 4%. 8 Blätter (letzte Seite leer). Mit Titelholzſchuitt. 

Weller, 2911. Auch in Amfterdam (Bibl. des Evang. Luth. 
Semin.). 





Ein Mandat Jeſu Chriſti von Nilolaıs Herman. 309 


7. EIn mandat Jeſu Ehrifti, an | alle feine getrewenn Chriftenn, 
Yun | welchem er auffgebewt allen jo imin |... . . | jchrift, von 
Nicolao Herman. | DO. O. (1524). 4%. 8 Blätter (fettes leer). 
Mit Ziteleinfaffung, worin Ehriftus als Lamm mit der Yahne; 
Agnus.. Dei. Tollens . Peccata . Mundi . Hunc . Audite., als 
Umſchrift. 

Weller, 2910. Kuczyüski, 1009. Auch in meiner Sammlung. 

8. Ain Mandat Iheſu Chirfti, an alle feyne | getrewen Ehriften, 
In welchem er auff | gebewt . .. . | der Hayligen gefchrifft, Vo | 
Nicolao Herman. MDXXIII. | DO. O. 4°. 8 Blätter (Tette Leer). 
Mit ſchmaler Randleifte und dem Lamm Gottes als Titelholzfchnitt; 
Amus.Dei. Qui. Tollis. Peccata . Mundi., als Umſchrift. 

Banzer II, 2349. Kuczyuski, 1006. (Stimmt nit mit 
Gräffe III, S. 249.) Aud in meiner Sammlung. 


9. Eyn Mandat Jeſu Ehri | fti, an alle ſeyne getrelwen 

Chriſten, Fa | welchem er vffgebeüt allen jo jm in der |. 
d heyligen gejchrifft, V5 Ni | colao Herman. | D. ©. (1 525) , 
8 Blätter (leiste Seite leer). Mit Titeleinfaffung, worin Chriſtus 
als Lamm mit der Sahne; Agnus Dei | Qui Tollis | Peccata | 
Mundi, | als Umſchrift. 

W. von Maltzahn, Deutſcher Bücherſchatz, 1. Abth., ©. 36, 
Ar. 227. Auch im Befig des Herrn Prof. Dr. A. Wolters in 
Halle. 

10. Ein new Mandat Yes | fu Ehriftt, an alle feine getreue 
Chri | ften in welchem er auffgebeut, alien]... ... | Gezogen 
auff heyliger ſchrifft. DO. O. (1546). 4%. 8 Blätter (letztes Leer). 
Mit Titelholzfchnitt, ein anderer auf der Rückſeite des Titels. 

Kuczyüski, 1011. In meiner Sammlung. 


11. Agn neüw Mandat | Yeju Ehrifti, an alle jeine getreliwe | 
Ehriften, in welchem er auffgebeüt allen, fo im|..... | follend, 
Örzogen anfj der hayligen Schrifft, | und bey difen Kriegfsleiiffen, 
ms | ih und troftlich zulefen. | Weitter | Win geſprech deſſ 
Zeitihen Landes, |... . . | tag gegeben. |M.D.XLVI. | Am 
Ende; Augspurg, Bal. Othmar. 4%. 16 Blätter (fettes leer). Mit 
zwei Holzfchnitten. 


310 Doedes 


Panzer II, 2349. Kuczynski, 1007. W. v. Maltzahn, Nr. 228. 
Auch in meiner Sammlung. 


12. Ein new Mandat Yes | fu Chrifti, an alle feine getrewe 
Chrift- | en, in welchem er vffgebeüt, allen fo ym in der | ....| 
zogen vſſ heyliger fchrifft. | (1547). Am Ende: Straffzburg, Hans 
Grymmen. (Die Worheyt bleibt ewig befton, | So die lügen 
müſſen vndergon.) 4%. 8 Blätter (legte Seite Teer). Mit Titelholz⸗ 
Schnitt, ein anderer auf der Rückſeite des Titels. 

Kuczyüski, 1012. In meiner Sammlung. 


13. Ein new Mandat Ihe⸗ſu Ehrifti, an alle feine gtreie | 
Chriften, in welchem er auffgebeut, allen fo im|. . . . | follen, 
Gegeben inn diefem 56. Jar, | Am Newen Yard Xage. | Am 
Ende: Schleufingen, Herman Hamfing. (1556.) 4°. 12 Blätter 
(letzte Seite leer). Mit Titelholzfchnitt, ein zweiter auf der Rüd- 
feite des Titels, ein dritter auf der lebten Seite. 

In meiner Sammlung. 


14. Ein Mandat | Yelu Ehrifti, an]|..... | abgewinnen 
follen, | Gezogen aus Heiliger Schrifft, | Von | Nicolao Herman, 
Anno M. D. XXI. | Allen ond jeden der recht Coangelifchen, 
Luthe= | rifchen Lehre, Liebhabenden . . . . | Aus dem Originali, 
mit vorgefaßter Braefation, | jego bona fide, wider an tag gegeben | 
Durh | M. Casparum Pamlern, Pfarrern auffm Schnee- | berge 
.... | Gedrudt zu Freybergk in Meiſſen, bey Georg Hoffmann, 
1613. 4°, 16 Blätter (letztes leer). 

In meiner Sammlung aus dem Antiquarifchen Bücherlager 
von Kirchhoff und Wigand in Leipzig, Katalog Febr. 1877, ©. 28, 
Nr. 889. 


Die Gefchichte diefes Mandates läßt ſich nach diefen Notizen 
ohne Schwierigkeit befchreiben. Der Zmed des Schriftftellers ift 
uns befannt. Er gab es (Nr. 1) 1524 (in 89) Heraus, ohne 
feinen Namen auf dem Zitel zu nennen, wahrſcheinlich damit nidt 
etwa der Eindrud, den das Schreiben zu machen beftimmt war, 
geſchwächt oder gar verwifcht würde. Sehr bald glaubte man eine 
Schrift Luthers vor fi zu Haben, und wurde das Mandat aud) 





Ein Mandat Jeſn Chriſti von Nikolaus Herman. 311 


wirflih (Nr. 3) mit den Buchftaben M. L. auf dem Titel nad) 
görudt. Dies machte eine Hinwelfung auf den Autor durchaus 
nothwendig, und fo erfchten das Mandat mit dem Namen des 
Derfaffers, welcher überdies auch noch mit wenigen Worten auf 
dem Titel anzeigen ließ, was man vom Briefe zu erwarten habe 
md dog fein Inhalt der Heiligen Schrift entnommen fei. Alſo 
mit dem Namen des Nikolaus Herman verfehen, erjchien das 
Mandat noch fünfmal in 1524 (Nr. 4—8). Es wurde alfo 
viel gelefen. Im Jahre 1525 kam es noch einmal heraus (Nr. 9), 
wobei jedoch die Zeitangabe „be fünff jaren lang“ unverändert 
beibehalten wurde. Bald gerieth es aber ganz in den Hintergrund, 
bis man in 1546 ſich fagte, man könnte doch noch wohl etwas Gutes 
damit wirken. Auf's neue wurde es herausgegeben und erfchien 
8 (Nr. 10) al8 „Ein neues Mandat Jeſu Chriſti“. Die 
Zahl fünf („bey fünff Jaren lang“) ift verändert in 29, weil 
von 1517 bis 1546 neunundzwanzig Jahre verfloffen waren. 
Ter Name des Verfaſſers wird .nicht genannt, obgleich) man, wie 
aus dem ausführlichen Titel zu erfehen ijt, bei der damaligen neuen 
Angabe ein Eremplar benubte, worauf der Name des Nikolaus 
Herman zu lefen war. Giner anderen Ausgabe (Nr. 11), eben- 
tale in 1546 erjchienen, in Augsburg gedruckt, ift „Ain Geſprech 
des Teutſchen Landes“ beigefügt. In 1547 wurde es nochmals 
old ein „neues“ Mandat, ohne des Verfaſſers Name (Nr. 12), 
md zwar in Straßburg gebrudt. Anftatt der Zahl „fünf“ iſt 
nn aber nicht die Zahl 30, fondern 29 gefchrieben. Zu Ende 
des Jahres 1555 glaubte man es noch einmal anwenden zu können, 
nun aber als ein „Neujahröfchreiben“ bes verklärten Herrn der 
Kirhe. Mit diefem Titel erfcheint e8 dann (Nr. 13), ala ob es 
am 1. Sanuar 1556 zum erften Dale herausgegeben würde, ohne 
den Namen des Verfaſſers, gedruckt in Schleufingen, als „gegeben 
im diefem 56. Jar, am Newen Yars Tage“. Es follte damals 
ganz das Gepräge von etwas neuem an fich tragen. Für die 
Zahl 5 (Jahre) ift, muthmaßlich durch einen Druckfehler, 20 ge 
ſchrieben. Die Zahl der Ausgaben hat ſich alfo bereits bis auf 
13 gefteigert, als eine Ruhezeit von ungefähr einem halben Jahr⸗ 
Hundert eintritt. Darauf kommt es abermals ans Licht (Nr. 14), 











812 Doedes 


diesmal jedoch nicht nur um wider Rom, ſondern zugleich um 
wider die Calviniſten zu dienen. Schon ber Titel beſagt es. 
„Ein Mandat Jeſu Chrifti ... . Allen und jeden der redt 
Evangeliſchen Lutherifchen Lehre Liebhabenden Chriftlichen Herzen, 
fonderfich aber denjenigen, fo vielleicht von den Bäpftlern, Jeſuitern, 
Calvinianern, und andern Ketzern, möchten eingenommen, ober viels 
leicht nur etlicher Maßen irre gemacht worden feyn, bey der einmal 
erfanndten und befandten Warheit Jeſu Chrifti, beftendiglich bif 
ans Ende zu verharren ... .. wider an Tag gegeben.“ in jehr 
ausführliches, elf Seiten langes Vorwort, dadirt Schneeberg, den 
21. Sanuar 1613, unterfchrieben von M. Casparus Pamler, 
ibidem Baftor, beſpricht das Mandat, famt dem Zwecke dieſer 
neuen Ausgabe. In der „Vorrede“ fagt Herr PBamler, daß ihm 
„in kurtz verfchienen Wochen gar ein fein alt, in Gottes Wort recht 
wol fundirt, und nunmehr vor Acht und achtzig Jahren in öffent: 
lichen Drud publicirt und ertheiltes Qractetlein von einem gar 
guten Freunde zu Banden kommen, aus deijen Verlefunge ich denn 
nicht allein für meine Perfon, aus und durch mitfolgende Gnade 
meines lieben Gottes, höchlichen bin erfrewet und gefterdet, fondern 
auch tacite von Gott dem heiligen Geift erinnert und angemahnet 
worden, folch recht ſchön und Liebreiche Tractetlein (weyl ſonderlich 
daffelbe innerhalb fo viel verfloffenen Yahren nunmehr Distrahirt 
und vielleicht an jetzo nicht fo bald mag zu befommen feyn) aud 
andern Gott und feinem Wort ergebenen himmelßjehenden Hergen 
in öffentlihem ‘Drud auffs neue widerumb zu ertheilen”. Hin 
fichtlich der Erwartungen, mit denen er das Zractätlein aufs neue 

herausgibt, ift er „der gant ungezweiffelten Hoffnung und Zuver⸗ | 
ficht, e8 werden ihr viel durd; Gottes Gnad und Segen, unter 
denjenigen, fo vielleicht in verjchiener Zeit von unfern Widerjacdern, 
den Bapiften, Jeſuitern, oder Galviniften etliher Maßen mögen 
irre gemacht worden feyn, nad Verlefung und Anhörunge foldee 
Tractetleins ſich eines befferen bedenden und widerumb zu der 
Uralten, Chriftgleubigen, vecht Catholifche und Apoftolifchen Lu 
therifchen Kirchen begeben und bequemen ... .“ Scheint aljo das 
Mandat im Anfang des 17. Jahrhunderts ſchon zu den Rariffima 
gehört zu Haben, fo ift auch Herrn Pamlers Ausgabe im legten 





Ein Mandat Jeſu Chriſti von Nikolaus Herman. 315 


Biertel de8 19. Jahrhunderts gewiß zu den bibliographifchen Selten» 
beiten zu zählen. 

Das Mandat ift aber auch mit einer Weberfegung beehrt 
worden, nämlich in's Niederfächiiihe. Sechs Jahre, nachdem es 
zum erften Male erfchienen, kam es heraus als: Eyn Mandat - 
Fheſu Ehrifti an alle ſyne getrumen Chriften Inn wellerem be 
apbüt alle de em hm der Döpe gehüldet unde gejwaren hebben ... 
getagen uth Hilfiger Schrifft von Nicolao Herman. MDXXX“ 
(Magdeburg). 8%.1) Ein neuer Beweis dafür, daß es dem da- 
maligen Geſchmack entſprach und in vielen Kreifen Anklang fand! 
Es redete in paſſender Sprache ganz für die Zeit, in welder es 
id hören ließ ?). Zweifelsohne war es ein vom Herrn gejegnetes 
Mittel um viele Schlafende aufzurütteln, und Schade wäre «8, 
wenn man nicht künftig überall, wo über den Dichter Nikolaus 
Herman verhandelt wird, auch feines Mandates nach Gebür gedächte! 

Wer nach Leiden kommt, unterlaffe e8 nicht, wenn die Zeit 
es irgendwie erlaubt, das einzig befannte Exemplar der erjten 
dentichen Ausgabe zur Hand zu nehmen. 

In feinem „Nikolaus Herman, Lebensbild eines evangelifchen 
Lehrers aus der Reformationszeit“ (S. 9) redet E. Pfeifer von 
„Slugfchriften, die zur Zeit der Reformation der Taube Noahs 
gleich über das fintende Deutfchland flogen und die Delzweige der 
neuen Lehre den heildwärtigen Seelen zutrugen“. Eine jener Flug: 


ſchriften war ohne Zweifel auch das „Mandat Jeſu Ehrifti“. 


1) Sal. 8. 5. 9. Scheller, Bücherkunde der Saffiich » Riederdeutfchen 
Sprache, S. 195. (Goedeke, a. a. O. ©. 165.) Die Zahl 5 [Yahre] 
iR in diefer Meberfegung in „9" umgeändert. 

2) Scheller fagt a. a. O.: „Ein etwas feltfamer Einfall von NR. Her- 
man, Chriftus an feine Getreuen ein förmliches Aufgebot ergehen zu 
lafſen... Man könnte beinahe da8 Ganze für Ironie nehmen, wenn 
nicht der herzliche Ton den Ernſt des Verfaſſers an ben Xag legte.“ 
Ber ſich aber in die Zuftände von 1524, wie der barauf folgenden 
Jahre, verfeßt, wird gar nichts Außerordentliches in dem Mandat Jeſu 


Chriſti finden. 


314 Seidewmann 


2. 


Anz Spenglers Briefwechfel. 
Mitgetheilt 


von 


Dr. theol. 9. K. Heidemanı, 


Pastor emeritus. 


— — — um 


Zu denjenigen, welche mit Melanchthons zaghaftem Verhalten auf 
dent Reichſstage zu Augsburg im Jahre 1530, dem zu Folge 
„Melanchthon den Tatholifchen Anfchauungen weit mehr enigegen- 
kam, als Luther“ — (vgl. v. Druffels Vortrag: „Die Mes 
lanchthon-Handfchriften der Chigi- Bibliothel* in Rom, Sitzungs⸗ 
bericht der königl. bayerischen Alademie der Wiffenfchaften, Hiftorifche 
Claffe, vom 1. Yuli 1876, ©. 14 des Separatabdrudes) — 
jehr unzufrieden waren, gehörte vor allen, troß frübefter, herz 
lichſter Freundſchaft, Hieronymus Baumgartner, der fh 
bei Spengler ernftlih über Melanchthon beklagte. Spengler 
faßte diefe Klagen, ohne Baumgartner als Gewährsmann zu 
nennen, in einem Schreiben an Luther zufammen, um bdiefen zum 
Einfchreiten wider Melanchthon zu bewegen, fendete den Brief durd 
eigenen Boten an Quther, damit biejer fogleich an Melanchthon 
fchreiben und der Bote die Mahnung, die Spengler umgehend 
nad) Augsburg befördern wollte, alsbald mitnehmen möchte, und 
veranlaßte den Wenceslaus Link, ebenfalls klagend am Luther 
fi zu wenden. Auch an Veit Dietrich fchrieb er, den Doctor 
Luther anzubalten, und an den Kanzler Georg Bogler. Die 
ift der eigentliche und genaue Hergang diefer Dinge, ber ſich aus 
folgender Mittheilung deutlich ergiebt. 

I. 
1530 den 19. September. 

Hern Hieronimo Baumgartner deß Rats zu Nurmberg Meinem ! 
In fonnders gonftigen Kern vnd gepieter | — — Darunter 





—e—— ß —ññ— — — 


Aus Spenglers Briefwechſel. 315 


mit blaſer Dinte: 1530 | Auguftae | 21 ſeptembris per Vere⸗ 
darium 
Dominus dabit fortitudinem 
plebi sue Benedictus Deus 

Mein ganntz Willig Dienft Zunor Gonnftiger lieber Herr Baum⸗ 
gertner. Ich Hab euer annderwait fchreiben und anzaigen. Wie 
unbeftenndig onnjere Theologi handeln Mit Daran gehefftem euerm 
ermanen vernomen. vnd verftee ed von euch gewißlih annders 
nt. Dann ganntz getreuer mainung und auß ainem Chriftenlichen 
eier beichehen. Sr follt mir auc glauben. ‘Das auch mein 
lebenlang kain hanndel fo hoch alle Diſes Wandelmutig vunbeftenn- 
dig Weſen, Zunoraber. Das man In deß glaubens ſachen, ſo 
Ineptirn, vnd mit ſolchen verzickten Sophiſtiſchen gloſen, Diſpu⸗ 
tation, vnd vnſchicklikaiten, Die man doch vor In vil außgangen 
puchlen, ſo maiſterlich hat reprehendirn konnen, vmbgeen ſoll, be⸗ 
kummert hat, Zum hochſten beſchwert mich aber Das. Das dieſelben 
onnſer Theologi, [bered auögeftrihen] vnns alle bereden vnd das 
mit gewallt vnd gantzer Importunitet verfechten wollen, Alls ob 
es gar holtſelig gut Ding. nit Wider die gewiſſen, auch der ſchrifft 
und vnnſer vbergeben Confeſſion, gar nit entgegen, und Zu Zeit⸗ 
lichem frid (Den fie ſchon gewiß Inn bennden Haben) furderlich 
ſey. Das fie auch offenlih Im dife Statt vnd anndere ort 
Ihreiben borffen, Das Lutherus alle folche Jr hanndlung approbirt 
und Inen Zugefchriben hab. noch vil mer nachzulaſſen, und fompt 
mir Deßhalben Zugedehtnus Was Cicero fagt. Omnis Iniustitie 
nulla capitalior. quam eorum qui cum maxime fallunt, etiam 
id agunt. vt viri boni esse videantur. Ich hab es bißhere 
gejehen, vnd finnd es In Der thatt das Philippus Zway augen- 
tuhlin vor Den beden augen bangen hat, Das ain Iſt Weltliche 
Weißhait vernunfft und fehidlilait, Der er vil vertraut vnd Ine 
jo hoch verplenndt, Das auch kains anndern Ratſchlag, anzaigen und 
perſuaſfion. Wie gut vnd Chriftenlich auch die feien, bey Ime 
gellten, Fa er heilt von niemand annderd, dann feinem aintgen 
verftannd, Eben alle ftee Chriſtianiſmus nofter In MWeltlicher 
Weißhait vnd hochfarender philofophei. und nit vil mer In ainem 
Diemutigen gaift, Der gottes Wort vertraut. Das annder ft 





316 Seidemaun 


Zeitlicher frib, den Hat er allſo fur die augen gefpannt, das er 
nichts Hort und fiht, Dann Wie man eufferlichen frid, auch mit 
ergernus aller Chriften, mit nachtail Deß Enangeliong und verur- 
ſachung vil Zappelter onbeftendiger gewiffen, fauffen mocht, vnd 
fagt mir Ofiander frey. Das Ime philippus Zu Augfpurg auff 
ain zeit gefagt hab, Das es nit unrecht ſey, Zeitlichen friden, auch 
mit vnrecht Zuerhallten, Dem gemeß wie paulus fagt, facia- 
mus mala vt eueniant bona. Difen zeitlichen friven. Wie 
Ich gewißlich Waiß. und Was guts demſelben anhengt, herwi⸗ 
derumb Den groſſen nachtail Der Dem vnfriden nachuolgt hat er 
auß feinen hiſtorien vnd vil leſens. allſo Inn fi gefaſſt. Das 
er Dagegen. Den vortail Deß Euangelions, auch Das Demſelben 
Das Creutz auß not volgen muß nit ſehen fan, Es were vernunfftig 
und Weißlich gehanndelt, Zeitlihen friden, auch mit groffem Zeit- 
lichem fchaden Zufauffen, Aber Zeitlihen friden. mit verlefiterung 
Deß Euangelions. mit nachtail gemainer Ehriftenhait, mit verletzung 
Der gewiffen Zuerlangen, fan ye nymmermer gut fein, vnd ver- 
flucht fey Der frid. Der mit vnfrid der gewilfen, aintweder er- 
langt oder erhallten Wurdet, 

Es Were gar ain fein Ding. ond füß Chriftentyumb. Dat 
Euangelion on alles Ereug Zuhaben, Vnd bey Der Wellt kainer 
veruolgung vnd wiberwertilait. Wie philippus Durch fein nad) 


geben zuerlangen verhofft, Zugewarten. Die hennd unnbdterzufchlagen, 


und In Zeitlihem friden Zufigen, Aber. Wie es vil armer 
gewifſen gieng, Da Wer nit angelegen. und Iſt mir von Diien 
leuten nichts Wunnderlich zuhorn, Dann Das Ir ainer ober Zwen, 
vnnſer aller Die Wir vnns Chriften bekennen, gemifjen regirn, 
und mit gewallt Dahin tringen Wollen. vnnſer gewiffen, nad 
rem Srrigen gewiffen [Zuregirn ausgeſtrichen, bafür am Rande 
lints:) Zuregnlirn, Das Doch allfo Wandt Das fie heut aine 
An Zren locis comunibus ond anndern Irn puchlin fchreiben, 
vnd morgen ainannders Raten, jagen und hanndeln eben, alle 
muffen Wir auß not, vnns alle auff Difen baculum arundineum 
egipti fteuern, In Summa. Ich Waiß mich nit Zubereben. Das 
ſſich ausgeſtrichen) Ich Dife vunbeftendige Wandelmütige handlung, 
Zuuor aber difes kruppeln Der fchrifft, Diſes Silogifirn Dil 





Aus Spenglers Briefwechſel. 817 


patira vnd captioß glofiru In gottes Wort und vnnſerm glauben, 
Weder loben ober bilfichen kann. vil weniger ain gefallen Daran 
haben, vnd fihe aigentlih Das es war ft wie paulus fagt 
Comprehendam sapientes in astutia eorum, et prudentiam 
prudentum reprobabo. Ich fund auh Das dife leut Die Topf 
geitredt Haben. Iren felbs adinuentionibus zuuolgen, nyemand 
Zuhorn, vnd allain Die Weiſſen gelertften, Chriſtenlichſten Zufein 
Aber got Wurdet men fagen Wie er Durch Dauidem thut 
Consilium Inopis confudistis, sed Dominus est spes eius. 
vnd Wiewol Zh Wider Diſe Ieut, alles Widerwertigs per: 
ſuadirn, fchreiben vnd ermanen fur vnfruchtpar acht, Yedoch Da⸗ 
mit Ich meinem ampt alls ain Chriſt auch guug thue fo hab YA auff 
euer ſtattlich ermaunen (Das mir Warlich Das gewiſſen nit Wenig 
gerurt hat). D. Martino geftern frue ain aigen poten gejchidet. 
ainen außzug auß euern fchrifften. mit allerlay Zu fegen vud 
befferungen gemacht, mit anzaig Das mir ſolch fchreiben, Der Ich 
nm von mer dann ainer perfon, vil empfangen Hab, von ainer 
tapfern perfon, hochs ftands Die taglich bey den Handlungen jey, und 
Die ſach gegen philippo und dem Euangelio Chriftenlich und hertzlich 
main, Auß Augfpurg ſey Zugeſchickt Worden. und Ine Darauff 
ermant philippo bey meinem poten Zufchreiben. Woll Ich Ime 
Den briefe Zufchiden. hab Daneben Doctor Wengeln auch ain 
fattfiche fchrifft an D. Martinum thun laffen, Deßgleichen Ich 
auch an Bitum Dietrich. gejchriben, Den Doctor anzuhallten. 
Dabey Hab Ich auch Georgen Vogler Dem Die fachen beſchwerlich 
obligen, Den man aud, Wie Ich In vertrauen aigentlic erfaren 
hab, In ainen ſchein groffer fare. Droe vnd forg Dep kaifers 
ond der anndern Margrafen, allain von Deß Euangeliond Wegen. 
vom hof beredt und gefertigt hat, gefchriben vnd ain unuermerdten 
auſſzug euers fchreibens In vertrauen Zugeſchickt vnd allfo alle 
ſporn, Die möglich ſein geſucht, Diſem mittag teufel ain Wenig 
Widerſtannds ſouil möglich Zuthun, Damit Ye an vnns. Die es 
Chriſtenlich vnd getreulich mainen, nichts erwynnd. Ir aber bitt Ich, 
Wollet Zu friden, keck und guter Ding fein, vnd Die fach got haim- 
itelfen ond Dem Vertrauen, Der Wirdet. Wie Ir fehen Werdet, 
ain aunder mittel vnd ennde verordnen. Dann Wir vnns alle vers 


818 Seidemann 


muten. Dann fein wort, von deßwegen yo Zu Augfpurg gehannbelt 
wurdt, Iſt der ganngen Welt Zu hoch und mechtig. vnd menſchlicher 
Weißhait oder Hugkhait nit vunndterworffen. So Iſt Dife fad 
fein aigen Die wurdt er wol binaußfurn ungeachtet. Was Ihener 
oder vnnſer taile furnemen, So verſihe Ih mid auch ES ſoll 
* ainer oder zwen aigenfunnig kopf, nit alle Chriften regirn, furen 
oder layten, dohin fie Wöllen. Vnnſere Herrn, find. got Lob nit 
Hainmutig. laffen ſich auch Herr Georgen Truchſeſſen oder annber, 
alls erfarner geſchickter Hofleut. practica und bedroungen. nit fo 
hoch erfchredlen. und find der mainung noch Das fie fefft hallten 
Wollen, Darinn Wolf fie got fterden. Constantes estote et 
videbitis auxilium Domini super vos. Viriliter agite [Am 
Rande links: et confortetur cor vestrum] omnes qui speratis 
in Domino. Wollet, bitt Ich, Dem Schnepfen mein willig 
Dienft fagen, Deßgleichen herr Element voldamer Der mir aud) 
geſchriben Hat !) vnd vunnferm leto. Damit gotes huld beuolhen 


[Datl ausgeftrihen.] Ir mufft mit meinem ehlenden krupelten 


Tchreiben vergut nemen Datl 19. Septembris 1530 
Lazarus Spr R’fIr 
Diefer eigenhändige Brief, den M. M. Mahers Spengleriana, 
Nürnberg 1830, S. 75. 128f. nit kennen, befindet fich, gleich 


den beiden folgenden, feit 1872 im Befige der Töniglichen öffent: . 


lichen Bibliothef zu Dresden, Msc. Dresd. C 107f, Nro. 52. 
Er ift die Antwort auf Baumgartnerd Briefe vom 13. und 15. 
September 1530, die in J. Fr. Mayer's Disp. de Lenitate 
Ph. Melanchthonis, Gryphiswald. 1707, p. 17sqq. und daraus 
in der Yortgefegten Sammlung 1730 S. 390—397 abgedrudt 
find, -und worin er S. 392 fagt: „Philippus ift Kindifcher denn 
ein Kind worden.“ Walch XVI. 1839. Zur Sache vgl. de Wette 
IV, 166f. 158 gKöftlin, Martin Luther II, 239. 241. 
v. Druffels am 1. Juli 1876 gehaltenen Vortrag: „Die 
Melanchthon-Handſchriften der Chigi- Bibliothel.‘ 


1) Corpus Ref. I. 395. 415. — Ueber Laetus, Fröhlich, vgl. Nopitſchs 
Fortſetzung von Wille Gelehrtenlerilon, Th. V, S. 867—369. 8. Gut: 
tom, Hohenfhwangau, Bd. I, ©. 5. 367; Bd. IV, ©. 848. 873. 





mu 


ü  — 


Aus Spenglers Briefmechfel. 819 


Sigungsberichte der Münchner Akademie, Hiftorifche Claſſe, S. 14 
de8 Separatabdrudes. Aus Msc. Dresd. B 193. 4to. Abra- 
hami Bucholzeri Libellus Arcanorum, u. f. w. Blatt 6 füge 
id bei: „Anno 15 30. omnes cum esset ibi ®. clamauerunt, 
eum esse abiecto animo & nihil contra posse efficere. In 
summa er richte e8 gar vbel auf. Postea reuerso ®. ex Co- 
mitiis dixit Baumgartnerus Noribergae statim cum videret 
eum. D. Philippe Tebeftu noch. Ey da Du mufts gewohnen, 
Du wirft ſolchs vndt noch ergers offte muſſen hören. [Um Rande 
tehts: Haec ipse ®. mihi narrauit etc. Item in ipso con- 
uentu hatt niemandt wollen noch können ettwas thun. finxerunt 
bi mirabilia quaedam portenta ex Canone.] Et ®. fagte 
mihr einmal vald& irato & commoto animo. Als ich ihn kaum 
zuvor iemals gefehen Hatte: Etiam Lutherus ipse non voluit 
:cribere talem aliquam confessionem, cuius tamen erat 
scripere.* — Vgl. Shirrmader, Briefe und Acten, S.489. 575 


I. 
1531 den 20. October, 


An Georgen voglern | Eantlern 
Anndere Neuezeittung Das Modon 
Widerumb durch den Zurden eingenomen 


8 

Wir haben aus venedig vnnd anndern orttenn ſchrifften Das 
Die Feſt Statt Modon, Durch Die vnnſernn widerumb verlorn, 
und vom Turckenn eingenomen ſey, mitt ‘Dem hatt vns gott, 
alls Ich acht, ein apffel gezaigt, und wider genomen, wie wir 
auch, als Die jo Die Zeitt Irer haimſuchung, nitt erkennen 
wollen, wol wirdig fein, und geet hie nad) Dem allttenn gereimpten 
ſprichwortt, Niemand laß ſich Das gluck betriegen, Dann e8 Tan 
malgenn ſchwymmen und fliegen, Darumb haben Die alltien Das 
ziuck alls ain kugel Die Im waſſer ſchwimbdt zwen flugel haben 
gewalltt (sic), Das es an allenn orttenn vnſtett vnd nitt zuhaltten 
iſt Datum freittags 20 Octobris 15 31 
Laſarus Spengler. 

Theol. Stud. Jahrg. 1878. 21 


38 Steidemann 


Ein halber Foliobogen. Scheint Schreiberhand. — Ueber 
Bogker vgl.: ©. Veeſenmehers Literargefchichte S. 63. Neu 
deckers Urkunden ©. 143. Strobeld Leben Veit Dietrichs ©. 62. 
121. 126. UN. 1705 ©. 811, 1713 ©. 736, 1730 ©. 392. 
Meuſels Hiftor. literar. Magazin 1802 I, S. 207. Seckend. U, 
121. 141. 8. Gutzkow, Hohenſchwaugau, Bd. I, S. 326; 
Bd. IV, ©. 369f. Th. Prefiel, Anecdota Brentiana, ©. 565. — 
Ueber Modon: CR. XXV. 299. Emil Weller, Die erften 
deutichen Zeitungen, Zübingen 1872. Bibliothek des literarijchen 
Bereins in Stuttgart. CXI, S. 104. 


II. 


Nachträgliche Einlage, ein kurzer halber Bogen, au 
Baumgartner. 


1533 den 28. Auguft. 


Sleih alle Ich difen briefe Zumachen Wolle. kamen mir 


fchrifften von Wittenberg Aine von luthero und aine von M. vito 


dietrich. dartnnen fie ſich der Altercatis mit vnnſern predicanten 
vber die maß hoch beichwern, ond Zaigt luther ainen wege an, 
Wie er mainet wit Oflandro (der wie fein fchreiben meldet Zu 
ainem kynnd Worden) Zuhaundeln fein follt, So ſchreibt M. Vitus. 
alls mein jchreiben, fo Ich auß benelhe gein Wittenberg gethan. 
vnd gelegenhait Oftanders haundlung mit dem befchaidenlichften an- 
gezaigt on Iuthern gelangt fey. Hab Luther geſagt. Homo ille 
ruine proximus est. hab auch dabey gemeldet. Wann he diſer 
man fur den mir berglich layd Iſt. [Ye ausgeſtrichen] fo unge: 
ſchickt hanndeln, und mer ſich ſelbs. dann das Hayl feiner kirchen 
ſuchen wollt, Were vil beſſer. Ime das [Bu ausgeſtrichen] predigen 
Zuuerpieten vnd von Nürmberg Zuweiſen, Dann Zuzuſehen. das 


er durch ſein pracht. Rempub. turbiret, Daneben ſchreibt M, vitus, 


Das der vorſter von dem er vorgeſchriben vnd Ine Comendirt 
hab die predicatur und Brobſtampt In ainer [Um Rande lints:] 
ſolchen groſſen pfarr alls Zu Nürmberg), feiner kainen lſtymm 
vnd ainfeltigen Wanndels vnd Weſens halb beſchwerlich verwallten 
Werd, und ſchlagen die Zu Wittenberg, DE Chriftoffern Ering jo 


Aus Spenglers Briefwechſel. 321 


ettwo hertzog Georgen Caplan geweſt [Iſt ausgeſtrichen), vnd ytzo 
Zu Zwickan Iſt. fur, den. hab Ich vff dem Reichstage zu 
Vorms jchier ain halb Jar hörn predigen, bin vil vmb Ine 
geweſt und bedunckt mich Warlich meine herrn ſollten nit vbel mit 
Ime verſorgt fen. Ich Will In ſölchem euer Juditium auch 
dernemen, Sie ſchlagen Brentzium fur Wo der möcht Zuwegen 
gebracht Werden. Aber Ich hab kain troſſt darzu. Dann Ich 
ein mal fafft vertreulich mit Ime Dauon gehanndelt Aber er ſchlug 
wir das mit ainem groſſer verdruß vnd vnlufft ab, Zu dem. das 
Ich auch [ar ausgeſtrichen]) nit waiß. Ob es gut Were. Sue 
hzo. Zuuor In diſem Zwiſpalt gein Nurmberg Zubringen. hab 
deß vil vrſach vnd ſonnderlich, das er derſelben altercation ettwas 
anbengig vnd ain parthei Iſt, vnd dem Ofiandro, Wie auch Georg 
Vogler vor diſer Zeit bericht bat. Zum hochſten fauirt !), So 
Waiß Ich Was er ber annbern vunfer predicanten halb ainer 
jonndern perfon (Die ſich deßhalb wider Iren Willen gegen mir 
verſchoß) hieher gejchriben hat, In Summa dife Gohe gelerte leut, 
And auch mennſchen, und Wann fie allfo an ainem geringen ort 
latitiin vnd nyemand anndbers vmb fi Haben. fo find fie Allſo 
das fie billih fur hohe gelerte vnd heilige leut Zu achten fein. 
Die auch Warlich Breutzius. ain vbertrefflicher aber befchaibner 
man Iſt. Aber Warn anndere neben Ine fen. So Wilft Ir 
vor mir Wie es ye Zuzeiten Zugeet, Das hab Ich euch dannocht 
In eyl auch mit vnangezaigt laſſen können 

Geftern hat men den Juden der ain kriegéknecht geweſt vnd 
Im loch gelegen Iſt, Zu S. Sebald In ber kirchen getaufft find 
herr C kreß vnd herr L. tucher gefatter Worden 





Dieſe Einlage muß vom 28. Auguft 1533, Donnerstag, und an 
Hieronymus Baumgartner gerichtet fein, der am 7. Auguft der 
Sterbensläufte wegen nach Nördlingen verritten war und erft im 
Januar 1534 nad) Nürnberg zurückkehrte. Der Jude hieß Joachim 
amd war aus Prag; er wurde am 27. Auguft 1533 getauft, die 


ı) Zu. Preſſel, Aueedota Brentiana, Tübingen 1868, &. 339. 
21* 





822 Seidemann 


Pathen find Ehriftoph Kreß und Leonhard Tucher; vgl. 
Andr. Würfel, Juden⸗Gemeinde (Nürnberg 1755, 49), ©. 108. 

Ueber Chriſtoph Ering vgl. v. Langenn, Morit I, 293; meinen 
Dr. Zacob Schenk; ©. 92. Ueber die Propfteiverhältniffe jchreibt 
mir Herr Recor Dr. W. Lochner, Stadtardivar in Nürnberg, 
unterm 27. April 1876: „Mit Georg Pepler ſchließt die Reihe 
der Pröpfte. Er refignirte am 5. Mai 1533, und übergab die 
Propftei mit allen Einkünften dem Rath, gegen 250 fi. jührlider 
Penfion, 20 fl. Hanszinsentfchädigung und den lebenslänglicden 
Genuß des propjteilichen Gartens an der Bucherftraße, ehedem 
mit Nr. 106 bezeichnet, jet durch fortfchrittliche Neubauten kaum 
mehr auffindbar. Er ftarb bekanntlich oder wurde wenigftens be- 
graben am 22. Auguft 1536 zu Poppenreut (Sieben. Mater. 2,454). 
Daß man fih eine Zeit lang mit Wiederbefegung der Stelle in 


Gedanken befhäftigt haben mag, tft möglich, aber es kam nidt 


dazu. Es ift auffallend, daß Spengler in feinen Briefen an Beit 
Dietrih, die Mayer in den Spenglerianis Hat druden laſſen, 
biefen Fall gar nicht berührt. Erft im Briefe vom 9. Auguft 
1533 erwähnt er, Dr: Froſch, Propfteiverwefer und Prediger zu 
St. Sebald, ſei geftorben, und man denke daran, feine Stelle zu 
bejegen. Sein Vorgänger war feit 1524 Dominikus Schleupner, 
den man aber 1533, weil er wegen feines Organes unlieblich zu 
hören war, nad St. Katharina fegte und Froſch, der vorher bei 
St. Yacob gewefen war, an feine Stelle treten ließ. Schlenpner 
hatte gegen den ſchwachen und unbedeutenden Pepler, der nie eine 
persona grata gewefen war, intriguirt und ſich mit der Hoffnung 
geſchmeichelt, jelbit an feine Stelle zu kommen, aber Nürnberg 
war bei aller Frömmigkeit doch zu ariftokratifch, um diefe Stelle, 
die, wie auch die von St. Lorenzen, immer nur von Nürnbergern, 
aus ben beften, meiftens rathsfähigen Gefchlechtern, befetst gemefen 
war, an einen advena gelangen zu laffen. Es traten daher nad) 
Froſchens Tod Verwefungen ein, bis 1536 Veit Dietrich Prediger 
wurde. Daß Spengler den Dr. Froſch Propfteiverwefer nennt, be 
weift nur, daß man durch ihn wahrfcheinlid noch einige Functionen 
des Propftes beforgen Tieß, obgleich ich nicht zu fagen wüßte, worin 
dieſe beftanden haben könnten, da der ältefte Gaplan ale Scaffer 








Aus Spenglers Briefwechſel. 823 


oder dispositor alle zu beforgen Hatte. ALS Verweſer zwiſchen 
droih und Dietrih Hinein nennen die Diptycha Sebaldina den 
Baplan Stephan Waldeder. ..... . Paumgartnerifhe Familien- 


Papiere wurden vor 20 oder 30 Yahren in Mafjen verkauft.“ 


Radıtrag 
zu 3. 566 des Jahrgangs 1876 diefer Beitfcrift. 


In Auguft Stöbers Alſatia 1875— 1876, Colmar 1876, 
&. 289— 293 weift Johann Georg Stoffel in feinem Auffate: 
Sanet Anftet der Batron der Beſeſſenen ©. 292 nad), : 
daß S. Anftet — S. Anastasius, Acta Sanctorum 17. Auguft, 
die Stätte feiner Verehrung in Wittersdorf bei Altkirch im 
Elſaß Hatte. — Ueber Alberus vgl. den Auffag von W. Ere- 
eins: Erasmus Alberus in Dr. Schnorrs von Carolsfeld Archiv 
für Literaturgefchichte, VI. Bd., 1. Hft., S. 1—20. ! 





3. 


Die Regeln des Pachomins). 
Aus dem Aethiopiſchen überfegt und mit Anmerkungen verfehen 


bon 


Dr. Ad. König, 
Oberlehrer an der Thomasſchule zu Leipzig. 





Erſter Theil. 
Im Namen der heiligen Dreieinigkeit! Die Anordnung, welche 
der Engel Gottes des Herrn dem Abba Pachomius gebot. 


1) Ich habe es mir nicht zur Aufgabe gemacht, dieſe Regeln, welche als 
ſolche des Pachomius überliefert worden ſind, hinſichtlich ihrer Authentie 
kritiſch zu bearbeiten, ſondern wollte nur dem Kirchengeſchichtsſchreiber, 
welcher das äthiopiſche Original nicht benutzen kann, durch Uebertragung 


324 König 


In einem Orte, Namens Tabennefis !), im Gebiete der Thebais, 
war ein Mann, Namens Pahomins, weldher zu denen gehörte, 
welche ein reines Leben führten, und ihm wurde Erkenntnis und 
Anblick anch der Engel gegeben, und diefer Mann war ein großer 
Liebhaber Gottes und ein Liebhaber der Brüder. Und während 
er in ber Höhle ?) faß, erfchien ihm ein Engel Gottes des Herrn 
und fagte zu ibm: „Was dich anlangt, fo haft du es vollbradit, 
und überflüßtgerwete figeft du nunmehr in der Höhle; and wohlan 
nun, geh Heraus und laß die geringeren (weniger volifonnmnen) 
Jumglinge ih verfammeln und laß dich nieder und fei mit ihnen, 
und wie id) dir die Anordnung neben werbe, jo Tehre fie! Und 
er reichte ihm eine Tafel von Erz, auf welcher geſchrieben war, 
was lautete: 

Laß jeden effen und trinken und nad Verhältnis ihres Eſſens 
gib ihren ihren Dienft; und weber Faſten noch Eſſen verhindere, 
allein, wie die Speife für die Starken kräftig und für die 


desfelben die Möglichkeit gewähren, auch die äthiopiſche Form diefer Regeln 
zu vermwertben. Ich babe deshalb zwar für den erften Xheil wegen 
einiger Duntelheiten des Aethiopifchen die Kapitel 89 und 40 von der 
Historia Lausiaca des Pallabius, und für dat Gange den Codex re- 
gularum von Holſtein, wo ®b. I, S. 63 — 95 aud) eine Regula S. 
Pachomii abgedrudt ift, verglichen; füge aber nur Hinzu, daß ber Hol- 
ftein’fche Tert, eine Ueberſetzung des Hieronymus, ſich mir am weiteften 
von der Duelle zn entfernen fcheint, während Palladbius, weil er 368 
geboren, 388 nad Aegypten gekommen iſt, wohl Anordnungen des Pa⸗ 
homius felbft, welcher Beiunntlich 348 geſtorben ift, überliefert haben 
Tann. 

1) Balladius ſchreibt ausbrüdlich „ Taßevunals darı ranos &v Tj Onpaidı.“ 
Man unterichied alfo diefen Ort von der Nilinfel Tabenna (zwiſchen 
Theben und Tentyra), auf weißer er lag. Ob man, wie in der Aus 
gabe des Palladius von Meurfins gefordert wird, Taßeyun zis Earı 
zönos Ev Onßaidı fchreiben muß, weil Sozomenus „er vemweilte auf 
ber Infel Tapevon“ (Nicephorns lateiniſch: Tabenna) fchrefbt, iſt zmweifel- 
haft, da der äthiopifche Ueberſetzer, indem er Tarbenſes ſchrieb, bereits 
bie verwnthete faliche Schreib⸗ und Lebart Tapkvuıwis vor ſich hätte 


2) „In der Höhle“ fliegt auch im Griechiſchen ohue näßere Beſtimmung, 
weil jedermaun bie des Pachomins verſteht. 


we tg RE u —⸗2— 


Die Regeln des Pachomius. 325 


Schwachen ſchwach ift, fo gib ihnen die Speife ihres Dienftes! ") 
Und made eine Wohnung in einem eingefriedigten Raum, und 
drei jolfen in einem Haufe wohnen! Und das Effen von ihnen 
allen [gefchehe) in einem! Und fie mögen fchlafen, ohne dabei 
zu fiegen, ſondern gleichwie einen Stuhl von Bauwerk (Maner- 
wert) mögen fie fich eine Lehne machen und auf fie mögen fie 
ire Aeider als Unterlage breiten und ſollen figend ſchlafen! — 
Und fie follen eim Unterkleid von Zunder (ganz dünnem Stoffe) 
md als Gürtel Leder anlegen! [Aus dem griehiihen Texte: Und 
jeder von ihnen ſoll eine Haardecke, and weißen Ziegenhaaren ges 
arbeitet, Haben) und ohne fie follen fie micht effent Und wann 
fie am Ruhetage der Ehriften zum Opfer gehen, follen fie ihre 
Gürtel Löfen ımd Ihre Haardeden ablegen [und folfen] mit ihren 
Ropflappen Laflein hineingehen]! Und verordne ihnen Kopflappen 
ohne zottige® Haar, wie die der Kinder, und befiehl das Zeichen 
des Krenzes von Purpur darauf! — Und aus je 24 Gemeinden 
tollen fie beftehen, und die einzelnen Gemeinden benenne mit den 
Lauten des Alphabetes der Griechen von Alpha und Beta und 
Gamma und Delta an der Reihe nah! Und jo oft im emer 
Gemeinde der Erfte den Zweiten nächſt ihm?) fragt, fo wird er 
fagen: „Wie fteht es mit der Gemeinde des Gamma und wie 
mit der Gemeinde bes Beta? Grüße das Rõ!“ Und jeder ſoll 
je in feiner Reihe und an feinen Zeichen bemerkt werden. Und bie 
Zahmen nenne Jota und die Wilden nenne Xi, und fo nenne je 
nad der Reihe und nach der Art und der Berorönung und nad 


1) Man erwartet „den Dienft ihrer Speiſe“ d. 5. den Dienſt, welcher ber 
Kraft ihres Effens, dem Maße ihrer Rahrung entipricht. Daß dies ber 
Sinn der Stelle ift, erficht man aus dem deutlicheren Werten des grie⸗ 
chiſchen Textes: „Erlaube jedem nad; Kräften (mach feiner Kraft) zu efien 
and zu trinken, und ben Kräften der Efienden entfprechende Werte 
handige ifmen ein,‘ d. h. übertrage ihnen, und weder zu eſſen noch zu 
faften verhindere!l So um fürwahr übertrage die arten Werke dem 
Stärteren und [deshalb wiel] Eſſenden, die nicht auftrengenben unb leichten 
deu Umgelbten und Schwächeren!“ 

2) Im Griechischen flieht: 6 Kozsuandeiıns zov devrsgov devrod,. Die 
äthiopifche Lesart „und wenn in der Gemeinde eines zweiten fragt“ iſt 
unverfländlich. 


326 König 


dem Leben ber einzelnen Gemeinden ihre Buchſtaben! Nur die 
Geiftigen wiffen, was die Schrift auf der Tafel befagt. — Und 
wenn ein Fremder aus einem anderen Klofter anfommt, weldes 
nicht eine folche Ordnung bat, fo foll er weder mit ihnen efjen 
noch trinken, noch ſoll er in ihr Klofter eintreten, außer wenn fie 
fih auf der Straße getroffen haben. Aber wer zu ihnen kommt, 
um zu bfeiben, Lauch) den follen fie nicht in ihre Gemeinde auf: 
nehmen, ehe er 3 Jahre vollendet hat, fondern fie follen ihn in 
der Arbeit ald Knecht verwenden, und dann, wenn er 3 Jahre 
volfendet hat, foll er eintreten. — Und während jie effen, follen 
fie ihren Kopf mit ihren Kopftappen bedecken, damit nicht ein 
Bruder den anderen die Speife zum Munde führen ſieht. Und 
nicht ſoll Unterhaltung fein, während fie effen. Und nicht außen 
herum und nicht auf einen anderen fol ihr Auge vom Tiſche und 
von der Schüffel bliden. — Und befiehl: jeden Tag follen jie 
12 Gebete verrichten, in der Abendbdämmerung 12, und in der 
Naht 12 und um 9 Uhr (früh um 3 Uhr) 3. Und fo oft die 
Gemeinden effen, foll vor dem Gebete ein Pſalm geſprochen werden, 
das befiehl! 

Und Pachomius erwiederte dem Engel: Wenig Gebete ſind dies; 
und der Engel ſagte zu ihm: Dieſe habe ich befohlen, damit auch 
die Unvollkommeneren dieſer Anordnung nachkommen und fie aus: 
führen können, ohne daß fie fi) grämen; aber die Vollfommenen 
brauchen feine Anordnung für fi, denn fie felbft Haben in ihren 
Wohnungen ihr ganzes Leben Gott dem Herrn überlaffen, welder 
fieht; Diefes aber habe ich denen verordnet, welche keinen Ermunterer 
haben, damit fie wenigftens als Dienft thun können, was ihnen 
befohlen ift, und zur Heiligen Handlung offen mit ftrahlendem Ge⸗ 
ſichte kommen. | 


Und zahlreich find die Klöfter diefer Regel, und fie erreichen . 
[die Zahl] 5000 Mann. Das erfte große Klofter, wo Pachomius 
jelbft wohnt und weldyes auch andere Klöfter erzeugte, bat 300 
Menſchen. Und unter ihnen Tebt Aphthonius, der mir!) früherhin 


1) Balladius fpricht von fi. 





vg — — 


Die Regeln des Pachomius. 327 


in Freund geworden ift (der ein alter Freund von mir ift) und 
er ift jet der Zweite nad Pachomius im Klofter; und fein 
"ben ift ohne Anftoß und Anftößiges; und fie pflegen ihn in 
die Gegend von Alerandrien zu ſchicken, damit er ihnen etwas 
verfaufe, und er kauft ihnen, was fie brauchen. Und es gibt 
auch andere Klöfter diejes Verbandes von 200 und 300. Und 
in den Ort Panos !), welcher zu ihnen gehört, gelangte ich und 
ich öfter und fand 300 Menfchen des Verbandes. 

Und fie pflegen jede Runftarbeit, und mit der Arbeit ihrer 
Hände arbeiten fie für die Frauenklöſter und für das Gefangenen- 
haus, Und an denen die Reihe ift, die jtehen fehr früh auf: die 
einen find in der Küche beim Kochen, die anderen beim Anrichten 
des Tiſches, und fie bereiten und legen, bis feine Zeit fommt ?), 
eben auf den Tiſch Brod, Gemüſe, Eingemachtes von Delbäumen 
und Käſe von der Kuh und Abgezupftes vom Garten. Und welche 
treten mittag& 12 Uhr ein [und] effen, und welche treten um 1 Uhr 
ein, und welche treten auch um 2 Uhr ein, und welche treten auch 
um 3 Ubr ein, und weldhe um 5 Uhr, und melde am fpäten 
Abend, und welche in der zweiten Nachtwache, ihre einzelnen Buch⸗ 
ftabenzeichen Kernen jedes feine Stunde. Ebenſo ift e8 mit ihrem 
Dienfte: der eine bebaut das Land und ackert, und ein anderer den 
Garten, und ein anderer den Gemüfegarten und ein anderer ge- 
hört in die Bädkerwerfftatt 9); und ein anderer zimmert und ein 


!) Damit ıft Panopolis gemeint, das auch in der Thebais, aber weiter ab- 
wärts als Tentyra am vechten Ufer des Nils Tag. 

3) Nämlich: des Brotes, des Tiſches, des Effene. Im Griechifchen: „bie 
anderen find um die Tiiche beichäftigt; fie follen fie alfo bie früh 9 Uhr 
anfftellen (anrichten), nachdem fie bereitet und auf den Tiſch geftellt 
baben Brote, Gemüfe u. ſ. w.“ Kür anaprnouvres „aufgehängt, ab⸗ 
gehängt, getrennt habend“, voelches feiner Unverſtändlichkeit halber bei 
Meurfius in der Tateinifchen Weberfegung übergangen ift, empftehlt uns 
alſo das Äthiopifche jästadalewu „fie bereiten; werden, follen bereiten“ die 
&esart anaprloayrs; „bereitet habend“ (Jotacismus). 

3) Diefe letzten Worte fliehen im Aethiopiſchen Hinter „und einer zimmert“, 
gehören aber vor dieſes. Auch die Worte „und einer ſchreibt“ würde 
man gern am Ende der Aufzählung leſen. Allerdings ftehen im Grie- 





328 König 


anderer ſchnitzt, und einer macht große Körbe und ein anderer 
macht Nege mid einer mäht Leder und einer jchreibt und einer 
flicht Fruchtkörbchen, welches Heine Körbe find, und alle jagen die 
Schrift aus dem Gedächtniffe her. 

Und zu diefen gehört ein ſFrauen⸗Kloſter im Umfange von 
400, die diefe Regeln befolgen, ohne die Schaffelle (Haardeden) 
zu tragen. Und die weibliden Mönche unter ihnen wohnen am 
jenfeitigen Ufer des Fluffes, und die Männer unter ihmen gegen 
über, diesſeits 1). Und wenn eine Nonne ftirbt, wideln ihre 
Schweftern, die Nonnen, fie in Leinen, und nachdem fie fie ein- 
gewidelt haben, bringen fie fie an das Ufer des Fluſſes, und 
es jegen Brüder auf einem Floſſe mit PBalmzmeigen und Del: 
baumzweigen über und bringen diefelbe bei Pjalmengefang zu fid 
und begraben diejelbe in ihrem Grabmal. Außer Priefter und 
Diacon nur allein geht Teiner hinüber in das Frauenklofter, und 
auch [fie thun] dies nur an jedem Sonntage. 


Zweiter Theil. 


Im Namen de Vaters und des Sohnes und des Heiligen 
Geiſtes! Die Regel und der Befehl des heiligen Abba Pad 
mius. | 

Diefes ift die erfte Negel, welche als Grundlage dient: Wenn 
du hörſt, daB fie dich zum Pjalmenfingen rufen, fo fteh fchnell 
auf, und während du gehft, lies, bis du zur Thüre der Kirde 
gelangft, oder bete! Und feiner foll fi ummenden oder umher: 
bſlicken, während die Brüder beten! Wenn einer unter dem Pfalmen⸗ 
fingen fi unterhalten oder gelacht Hat, jo werde er vor dem 
Altare gezüchtigt! Und wenn einer ein Gebet des Tages unter: 
laſſen hat, fo werde er gezlichtigt, und wenn einer drei Gebete 
der Nacht unterlaffen hat, jo werde er gerichtet! Und feiner fol 
aus der Kirche gehen, während die Brüder beten, ohme daß eı 


hifchen die umgefteliten Worte vom Bäder wie im Aeihiopiſchen, dit 

vom „Briffelführer” aber noch mehr in ber Mitte der Reihe. 
1) Im Griechiſchen: Und zwar find die Frauen jenfeite des Rilufere, die | 

Mäuner aber dieſen gegenüber. 


“| 


Die Regeln des Pachomins. 329 


fragt. Und nachdem das Pfalmenfingen aufgehört Hat, left, wäh- 
rend ihr in eure Wohnungen heimgeht, was Ihr vorgetragen habt, 
58 ihr nach eurem Haufe gelangt! Und keiner ſoll fi verhüffen, 
während er lieft. 

Und feiner biide umher, während bie Brüder eifen, und feiner 
toll feine Hand zum Zifhe vor dem niederlaffen, welcher älter 
ds er iſt. Umd feiner ftreite ſich und unterhalte fich; wenn er 
aber lacht, fo werde er gerichtet! Wenn einer nicht zum Tiſch⸗ 
gebete formmt, wann die Brüder effen, jo werbe er gerichtet, oder 
er gehe faſtend Heim und effe nicht! Und wenn du bei Tifche 
twas wimſcheſt, fo Sprich nicht, murmele! Und nachdem du von 
da hinausgegangen bift, wo du ifjeft, mache nidht viele Worte! 
Und niemand drehe, während er ißt, feinen Kopf zum Tiſche ber 
Brüder, um zu fehen, wie fie die Speife bereiten! ?) Dem Bruder, 
welcher krunf ift, thue der Abt feinen Willen, indem er fragt, was 
gewünſcht (gebraucht) wird! Und am Orte franfer Brüder effe 
feiner einen Biſſen und trinte Wein, außer wer Trank ift! Seiner 
bringe Speife der Kranken in die Küche der Brüder, mo fie für 
ſich kochen, Tondern man richte für fie, die Kranken, allein vor! 
Und nicht ſoll man es reichlich machen, wenn man benen gibt, 
weiche krank jind. 

Und werm einer aus der Welt tommt, um Mönch zu werden, 
jo mag man ihn zuvörderſt das Gebet des Evangeliums lehren, 
md ſodam mag man ihn den PBfalmengefang lehren, und er 
bleibe affo in der Vorhalle, mährend er in der Ordnung und 
Setfeßimg der Brüder belehrt umd erprobt wird, und fodann aljo 
mag man ihn feine Weltkleider ausziehen und ihn die Kleider des 
Moͤnches anziehen laffen! 

Und ſeine Weltkleider, welche er ausgezogen hat, und wenn er 


1) So hat Dillmann die fchwierige Lesart des Aethiopifchen nach dem 
Lateinifchen verändert. Da aber dies nicht Kar ift, denn das Efien wurde 
nit an den Tiſchen bereitet, fo möchte ich die äthiopiſche Lesart be⸗ 
richtigend überfegen: „Zum Tiſche der Brüder, deren Amt es ift, daß 
fie Sie Speiſe bereiten.” Diefe konuten ſich allerdings eine andere, beffere 
Speife auftragen. 





330 König. 


anderes hat, was es [auch] fei, gebe man dem Verwalter der Frucht, 
die unter dem Baume ift! Und diefer Befehl ift ihm (diefem) 
gleich: Keiner laſſe wohnen in feinem Haufe und zwar gar nice, 
und feiner erwerbe und zwar ganz und gar nichts, ausgenommen 
was ihm von feiten feiner Vorgefeßten gegeben wird, außer was 
er anzieht, und dieſes iſt Zweies: Unterkleid und eine Dede und 
ein rauhes Fell (hier allgemein: Ueberwurf) vou Leder und Schuhe 
und zwei Kopflappen und Gürtel und Stod. 

Und feiner gehe irgend wohin, ohne daß es der Abt wiſſe! 
Und keiner fchlafe außerhalb feiner Lagerftätte! Und feiner gebe 
aus dem Klofter hinaus, ohne daß es der Abt wiffel Und keiner 
unterhalte ſich mit einem andern an dem Orte, wo er fhläft! 
Keiner ftreue auf feine Lagerftätte irgend etwas außer Lagerdede 
allein! Und feiner falbe oder waſche ſich feinen Körper ganz 
außer in feiner Krankheit! Keiner unterhafte ſich mit dem andern 
im Sinftern! Und feiner erfafje die Hand des anderen, ober wo 
es aud) fei feinen Körper! Sei es während fie ftehen, oder ſei 


es während fie lange Liegen, fo follen fie zwifchen fi den Raum 


von einer Elle Lafjen, und ebenfo follen fie thun, während fie 
figen? Keiner Lafje fich fcheeren, ohne daß es ber Abt wiſſe, und 
feiner irgend etwa fcheere, ohne daß es ihm befohlen wird! Und 
feiner nehme, was es auch fei, von einem anderen, ohne daß cö 
der Abt wifje! Keiner reite auf einem Efel bloß mit einem anderen! 
Keiner gehe an die Kunftarbeit, um feinen Dienft zu thun, ehe es 


ber Abt wifje! Keiner nehme ein Geräth, welches es fei, wie 


etwas was er ihm zum Aufbewahren übergab, bis er es ale dus 
feinige empfüngt! Und feiner unterbalte fih in der Bäckerwerl⸗ 


ftatt, während die Brüder Brot bereiten, fondern fie follen leſen, 


bis fie es fertig Haben; feiner unterhalte fi, fondern fie follen 
murmeln! Keiner werde vonfeiten der Brüder verlaffen, zur 
Zeit warn ein Bruder ftirht, damit fie ihm bie zum Berge ') 


1) Mit dem „Berge“, welcher im Anfang des 3. Theiles „heiliger“ Berg 
beißt, fcheint der Berg Nitria, weftlic vom Delta, gemeint zu fein, wo 
Ammon das Kiofterleben einführte, vgl. Mangold, De monachatus | 
origg. et causis, 1852, p. 66. 


Die Regeln des Pachomins. 881 


geleiten! Keiner gehe vor dem Abt! Keiner knete Thon ?), ohne 
dag es der Abt weiß; und alles, was darauf folgt, möge gethan 
werden; nichts möge gethan werden, che es der Abt wiſſe! Seiner 
gebe in ein Frauenklofter, um eine Schwefter unter ihnen zu be- 
jnden, e8 fei denn kurze Zeit mit dem, der zum Priefter beftelit 
ft, und die, welche ihn dienen ?). Sei es, daß über einem Kleide, 
während es zum Trocknen aufgehängt ift, die Sonne dreimal 
aufgeht, fo werde der Beſitzer des Kleides deswegen gerichtet, und 
er werfe fi in der Küche nieder und ftehe, wo die Brüder eſſen; 
oder ſei es Über Haardecken oder Schuhen oder einem Gürtel ober 
etwas was es fei, fo foll man auch ihm thun, wie das erfte Gericht 
ft! Wer diefes ſGeſetz)] befeitigt und nicht beobachtet, werde ge⸗ 
rihtet ohne irgend welchen Streit darüber, damit fie ein ewiges 
Reich ausmachen (bilden) ! 

[Das ift] die andere Rede des Heiligen Bachomius. Und feine 
leibliche Schweiter liebte das Mönchstum und er befchor fie und 
mmgürtete fie und machte ihr eine Wohnung für fie allein am 
gegenüberliegenden Ufer des Fluſſes eine Meile entfernt. Und auf 
ihte Beranlaffung verfammelten ſich Jungfrauen und Witwen und. 
wurden überaus gut. Und feiner ging dorthin hinüber außer 
denen, welche von feiten des Abba Pahomius als Verordnete und 
Qute an den beftimmten Feiertagen unferes Herren dazu verordnet 
wurden. Und wenn eine von ihnen zur Ruhe einging, hielten fie 
Pialmengejang und ſchmückten fie in Heiligkeit und wickelten fie 
in Leinen; und bie Brüder nahmen fie auf einem Floffe in Em- 
fang und begruben fie an ihrer Stätte; und weder fahen bie 
Männer das Gefiht der Frauen noch die Frauen das Geficht ber 
Männer. Und die Frauen erreichten die Anzahl 180 und die 
Männer 340, und er befahl ihnen, daß fie ſich überaus hüteten 


I) Schon Dillmann bemerkte, daß der äthiopifche Weberfeger undonomon 
für das urfprüngliche Griechiſche rAnporzoınon gelefen babe; aber ich 
weiß auch micht, welche Bedeutung diejes in diefem Zuſammenhange 
haben foll. 

2) Statt deffen könnte auch Üiberfegt werben „und mit denen, welche ihm 
dienen”, aber da hätte die Zahl der Begleitenden eine noch weniger fefte 


Grenze. 








König 


vor dem Anblid des Gefichtes der Frauen umd dem Hören ihrer 
Stimme. 


Dritter Theil. 





Zuvörderft von allem ift e8 micht angemefien, daß auf em 


heiligen Berge Zank und Schreien und lautes Rufen fei, und wenn 


einer dieſes thut, jo dauere feine Buße bis zum 8. Tage, und er 
werfe fih je 300mal des Tages nieder! Wenn einer von der 


Berfommlung, während fie auf dem Berge ift und aus dem Haufe 
der Berfammlung berausgeht, ißt ohne Kraukheit und ohne Er 


mächtigung feines Lehrers, fo dauere feine Buße bei Waffer und 


Brod bis zum 10. Zage, und er werfe fi 200mal an jedem 
Tage nieder! Und wer nicht zur Zeit der Mitternacht aufwacht 
und ohne beftimmte Krankheit nicht mit den Brüdern zur Kirde 
fommt, werfe fih 1000mal nieder, und an diefem Abend Tofte, 


noch trinke er eine Brühe außer bloß Waſſer. Und wer auch am 


Tage von denen, welche auf dem Berge find, nit um drei Uhr 
nachmittags zur Kirche kommt, mit dem foll man ebenfo handeln. 


Und wenn einer Webelnehmerei und Spigigkeit, Wortwechſel und 


Streit nad) einem Eſſen oder nad) einem Feſtmahle fich zu Schulden 
fommen läßt, jo danere feine Buße 10 Tage, und auch vom 
Abendmahle halte man ihn zurüd! Und wenn einer wider einen 
andern ſchmäht, indem er ihn mit der Verwandtſchaft feiner Ab- 
ftammung, mit wen es auch fei?), nennt — weil e8 eine groß 
Verirrung im Haufe der Heiligen ift, weil mir Gott der Herr in 
Betreff diefer Sache gezeigt bat, daß fie mit Feuer und Schwefel 
gerichtet werden —, fo foll er dieſertwegen, fage ih, 40 Tage falten 
und fol fih an jedem Tage 500mal nieberwerfen, und jein 
Faſten fol bei Waffer und Brod fein, und das Abendmahl em 
pfange er nicht, und man foll es ihm ganz und gar nicht leidt 
machen, denn er bat die Schafe der Kirche Ehrifti getrennt und 
zeritreut. — 

Und wenn einer von den Brüdern zur Ruhe eingeht, fo fol 


1) Diefes iſt zwar nicht ganz Mar, aber der Wortlaut ſcheint bieje Ueber⸗ 
ſetzung zu fordern. 








Die Regeln des Pachomins. 


man ihn an jedem Tage zur Zeit des Räucherns von der Sünde 
losſprechen; und am 40. Tage follen fich alle Heiligen zur Zeit 
des Schlafes in der Kirche verfammeln, und die BPriefter und 
Diaconen und alle heiligen Väter follen den Weihrauch unter ſich 
tbeilen und follen fich vor ihn, welcher geftorben ift, niederwerfen, 
joweit ihre Kraft reiht, und fodann follen fie ihre Thräne über 
den Weihrauch gießen und follen räuchern, indem fie die ganze 
Racht wachen; denn ich habe gefunden, wo es heißt: Er wird 
jin wie ein Kind, wenn er vor feinem Schöpfer fteht, und denen, 
welche beten, wird es zu einem großen Lohne gereihen. — 

Und wenn einer ji im Haufe der Gemeinde ein Befſitztum 
jogar bis auf eine Nadel herab erwirbt, ohne daß es fein Lehrer 
wife, To fol feine Buße 50 Lage mit Baften bei Waffer und 
Drod dauern, und auch das Befigtum ſoll man ber Gemeinde 
überlajfen, und zwar ſoll ihm fein Sichniederwerfen auf 200 ge- 
fteigert werden. 

Und in Betreff diefer Sade, daß mir Gott der Herr im 
Himmel das Thun der Verlorenen und der anderen, welche ihnen 
gleichen, gezeigt hat, fo ſah ih fünf Gemeinden von Schled- 
ten: eine Gemeinde von Hyänen und eine andere Gemeinde von 
Hunden und eine dritte Gemeinde von Wölfen und eine vierte 
Gemeinde von Schafalen und eine fünfte Gemeinde von Ziegen. 
Und wiederum zeigte er mir fünf andere Gemeinden von 
Guten: eine Gemeinde von Schafen und eine andere Gemeinde 
von Zauben und eine dritte Gemeinde von Qurteltauben und eine 
vierte Gemeinde von Bienen und eine fünfte Gemeinde von Neben. 
Umd ich fagte zu ihm: Deute mir die erften! Und er fagte zu 
mit: Höre mit dem Ohre deines Herzens! 

Welche den Hyänen gleichen, die du gefehen haft, dies find 
die Mönche, welche ihrem Namen nad bei den Brüdern bderfelben 
Gemeinde figen, allein deren Thun dem der Hyäne gleich ift. Den 
Zag bringen fie hin, indem fie mit den heiligen Brüdern faften, 
und wenn es Abend ift, zur Zeit des Schlafens geben fie anftatt 
des Wachens der Nacht im Finftern hinaus wie bie Hyäne. Und 
fie gehen in ein Klofter der Nonnen zur Luſt ihres Bauches, und 
indem fie fich fättigen, zerreißen fie die Schafe Chrifti, obgleich 


334 König 


fie die Armen fennen, indem fie mit einem Weibe huren, welches 
ebenjo wie fie Mönch ift, und fie verftriden fi in ihr das Schiff 
ihrer ewigen Seele, und ber Flügel ihres Mönchstums wird zer- 
brochen. Wehe ihnen, menn fie fich nicht zur Buße befehren! 
Gelobt fei Chriftus, welcher Buße zur Vergebung der Sünde ge: 
geben hat! 

Und ferner die Gemeinde der Hunde, welche du gefehen haft, 
dies find die Mönche, welche, während fie in der Gemeinde fißen, 
für fi felbft Beſitztum erwerben, fei e8 groß fei es Klein, ſeien 
e8 Saiten oder eine Schuhahle oder eine Nadel, ohne Ermächtigung 
ihres Lehrers. Sie find wie die Hunde, denn ein Hund läßt 
nichts, was er findet, fei es Miſt oder eine Maus, oder eine 
Heufchrede und irgend welde Würmer, und es gibt nichts, was 
er verwirft. Und auch diefe Mönche gleichen deswegen in ihrem 
Thun den Hunden. 

Und ferner die du als Gemeinde von Wölfen gefehen Halt, 
das find die Mönde, welche den Tag mit Hafchen nad Worten 
hinbringen, indem fie mit dem Meſſer ihrer Zunge den Körper 
ihres Nüächften zerfleiichen gleihwie Wölfe, indem fie [nämlid] 
Worte gegen ihren Lehrer oder gegen ihren Nächten verbinden; 
wie der Wolf Laute ausftößt und feine Genoffen ruft, um There 
zu tödten, ebenfo demnach diefe Mörder, [um] die Seele einee 
Menfchen mit ihrer Zunge [zu tödten]. Und deswegen gleichen fie 
in ihrer Erfcheinung den Wölfen, und felig ift der Menſch, welder 
ji diefem Gericht entziehen kann, deſſen wir gedachten | 

Und die Gemeinde der Schafale, dies find die Mönche, melde 
al8 Gemeindeglieder in ihrem Innern und in ihrem Aeußern den 
Schakalen gleichen. Und fie ejjen für fi allein, und die Scafale 
haben ja die Gewohnheit, daß fie für ſich allein freſſen, was ſie 
finden, und nicht in Gemeinschaft find beim Freſſen, denn fie find 
im Freſſen fehr unerfättlih. Und ebenfo diefe Mönche; cs gibt 
welche, die beim Austritt aus dem Haufe der Verfammlung effen, 
und es gibt welche, die, bevor fie in da® Haus der Verfammlung 
eintreten, für fic allein ein jeder mit feinem geliebten Teufel ejjen. 
Und diefertwegen gleichen fie ganz den unreinen Schafalen. Und 
ich fagte zu dem, welcher mir erfchien: „Bis wohin zulegt führt 





en Zee 


Die Regeln des Pachomius. B 


dieſe unerſättliche Gier des Fleiſches? Und er ſagte zu mir: 
Wahrlich, ichEfage dir, überaus ſchwer iſt ihr Gericht. Wehe dem 
Mönde, welder in dieſem böfen Nege gefangen ift, wenn er ohne 
Buße ftirbt! 

Und die Gemeinde der Ziegen find Mönche und Gemeinde 
glieder, welche andere Mönche freveln fegen und ihrer Spur folgen, 
wie Ziegen, wenn ein Panther Tommt und eine erfaßt, fodann alle 
zu dem reißenden Panther gehen und er alle Ziegen erwürgt. Ind 
chenſo, wie gejagt, hüten ſich diefe Monche nicht, indem fie die 
Ermordung eines anderen von feiten bed Satans, Ihres Tyeindes, 
ſehen; und wenn fie einen Hurer jehen, fo huren fie wie er, und 
wenn einen Verleumder, fo machen fie fi) zu Genoſſen feines 
ſchlechten Thuns, und wenn fie bei Abichaffung (Verſäumung) des 
Faſtens oder bei irgend etwas, was es ſei, dabei find. Und 
deswegen gleichen fie Ziegen; gleih Sindern find fi. Und als 
ih es hörte, verwunderte ich mich darüber; und ich fagte zu 
isn: Deute mir diefe fünf anderen Gemeinden ! 

Und er fagte zu mir: Höre mit dem Ohre der Weisheit und 
freue dich über fiel Und dieſe erſten, welde den Schafen 
gleichen, dieſe find die zur Gemeinde gehörigen Mönche, welche 
zuſanmnen eifen, ohne fidh zu trennen, voll Liebe wie von einer 
Seele beieht; und auch beim Gebet und Abendmahl und der Taufe 
und kei jeber guten Handlung find fie beifammen ohne Abjonderung 
wie Schafe. Und ebenfo haben einerſeits Schafe die Gewohnheit, 
daß fie zufammen freien, und aud fo oft fie Hinabfteigen, um 
Baffer zu trinken oder um falzige Pflanzen zu freien, jo fondern 
fie fich nicht jedes für Sich, ſondern fie find in ihrem ganzen 
Wandel verbunden; und biefe Mönche gleichen anderſeits den Schafen 
in der Bemeinfamleit ihres Wandels. Und ferner haben Schafe 
eine andere Gewohnheit: Wenn fie jehen, daß ein Panther eines von 
ihnen erfaßt, fo zertreuen fie fich jedes für fih, und der Mörder 
findet fie nicht; und ebenfo, wenn diefe Heiligen jehen, daß ein 
Mönch in ihrer Nüge ſei es in Hurerei oder in Prahlerei oder 
in Uebermut oder in Verleumdung gefunfen ift, fo hüten fie fich, 
dab fie wicht der Mörder der Seele erfaßt. Und ſe ſehſt du dieſe 

Aeol. Sud. Sahes. 1818. 


886 | König 


heiligen, weißen Schafe ded Evangeliums; felig find die, welchen 
diefes Theil zugemefjen ift! 

Und ferner gleich Tauben — dies find die zur Gemeinde 
gehörigen Mönche, fanftmüthig wie eine Taube mit Wiffen und 
Weisheit und Liebe zu ihrem Nächten; die fie fchimpfen und 
fhmähen, lieben fie wie ihre Seele. Denn die Tauben find fehr 
feichtfliegend, und diefe Heiligen machen ihre Flügel Leicht durch 
bie Schönheit ihres möndifchen Thuns. Denn e8 wird von den 
Tauben gefagt: Wenn man ihre Jungen nimmt, fo zürnen fie 
nicht, und ebenſo rächen ſich biefe, obgleich fie alles wiſſen, nicht 
an den Menſchen. Und deswegen fiehft du fie leichtfliegenden 
Tauben gleich, und während fie im Körper find, fliegen fie mit 
weißen Flügeln des Geiftes. 

Und diefe wiederum, welche du gleich einer Zurteltaube 
gefehen haft, und diefe find eine Gemeinde von Mönchen: Prieſter 
und Dialonen und Heilige und Sänger, welche mit wohlffingenber 
Stimme und mit liebliher Gefangsweife ohne Ueberhebung und 
Prahlerei fingen; in geiftlicher Demut mit Furcht und Zittern 
und Herabfließen der Thräne figen fie, indem fie in der Kirche 
zur Ehre des Schöpfere Pfalmen fingen, bis fie fchwigen. Und 
deöwegen gleichen fie der Zurteltaube, denn die Stimme ber 
Zurteltaube ift wohlflingend; und deswegen jagt die Braut durd 
den Mund Salomo’s, des Propheten: die Stimme einer Turtel⸗ 
taube wird in unjerem Lande gehört. Und um des willen gleichen 
diefe diejem Bilde. Selig find die Priefter, welchen diefes Theil 
zugemeſſen ift! | 

Und diefe wiederum, welche den Bienen gleich find, find die 
zur Gemeinde gehörenden Mönche, weiſe wie die Bienen. Und 
wie die Biene Honig aus allen Blüten ſammelt, fo figen dieſe, 
indem fie Werke der Gerechtigkeit aus dem Ringkampfe der Heiligen 
fammeln. Und deswegen gleichen fie den Bienen. | 

Und ferner die den Rehen gleich find, find die zur Gemeinde 
gehörenden Mönche, welche fortwährend im Laufe dienen gleichwie 
ein Reh ohne Ermattung, fei e8 der Kirche, fei e8 dem Haufe der 
Gemeinde, denn es ift ein Haus Gottes des Herren und nicht ein 
Haus der Menfhen. Denn er felbft, unfer Herr, fagt im Evan 





Die Regeln des Pachomins. 887 


slim: Wo zwei und drei in meinem Namen verfammelt find, 
da Din ich in ihrer Mitte. Nicht wird demnad) alfo bie Stimme 
Ehrifti Rügen geftraft, denn der Retter wird ja nicht aus ber 
Hitte der Gemeinde gefondert. Sehr ſchön fei e8 euch, o Brüber, 
ki dem Schöpfer alle Tage eures Lebens zu bleiben! Und wer 
8 ik, der im Haufe und draußen dient, nicht dem Menſchen, 
jmdern Gotte dient er; und wer zur Zeit bes Tiſches den Heiligen 
zur Seite fteht, fteht nicht ihnen, fondern dem Sohne des Vaters, 
dem Aelteften der Gemeinde, zur Seite, welcher in ihrer Mitte 
ft. Seinem Andenken gebührt Ehre und Verherrlihung und 
Kiederwerfung. Selig feid ihr, meine Kinder! Wenn ihr bies 
beobachtet und thut, fo werdet ihr meine Stimme an jenem 
Zoge an ber engen Pforte im erfchreclichen Gerichte finden. Und 
et, Gott der Herr, wird euch Helfen, diefe Befehle auszuführen, 
welcher in alle Ewigkleit gelobt feil. Amen. 


22* 





KRecenfionen. 


——m mm ur un — ⏑ü⏑ 


Sul 


1 


Gefchichte der deutschen VBibelüberfeßungen in der fchwei- 
zerifch-reformirten Kirche von der Reformation bis Zur 
Gegenwart. Ein Beitrag zur Geſchichte der reformirten 
Kirhe von 3. J. Mezger, Antiftes und Profefior in 
Schaffhaufen. Bafel, Bahnmaiers Berlag (C. Detloff), 
1876. 





In diefem Buche, das von großem Fleiße, reicher Belefenheit 
und geſundem Urtheile des Herrn Verfaſſers zeugt, wird die Ge⸗ 
Ihichte der deutſchen Bibelüberſetzungen, ſoweit fie bie Schweiz 
betrifft, im weiteften Sinne aufgefaßt und durchgeführt, es wird 
theils die Stellung, welche die fchweizerifche Kirche zur Iutherifchen 
Dibelüberfegung von Anfang an bis auf unfere Zeit herab eins 
nahm, angegeben, theild die Entftehung und vielfache Umbildung 
der befonderen fchweizerifchen Weberfegungen gefchildert und von 
fegteren eine eingehende Charakteriftit gegeben, e8 werden fodann 
auh die verfchiedenen in der Schweiz gedrudten Bibelausgaben 
bibſiographiſch, felbft nach den beigegebenen Bildern, befchrieben, 
und ebenfo wird auch die Gefchichte der Bibelverbreitung in den 
einzelnen Cantonen ausführlich behandelt. Gewiß läßt es fich vor 
allem nicht verfennen, daß das Werk einen bedeutenden Werth als 
Beitrag zur Gefchichte der reformirten Kirche hat; denn wie es 
fih von felbft verfteht, daß das Verhalten einer Kirche zur heiligen 
Schrift zu allen Zeiten für die Beftimmung ihres ganzen Charakters 
von grimdwefentlicher Bedeutung ift, fo unterläßt es auch ber 
Berfaffer nicht, auf den Gefamtzuftand der fchweizerifchreformirten 


342 Mezger 


Kirche an den gehörigen Orten ein deutliches Licht fallen zu laſſen. 
Es werden aber auch die Mittheilungen namentlich über die Züricher 
Bibelüberſetzung an ſich ſelbſt viele Leſer in Deutſchland intereſſiren, 
um ſo mehr als dieſe Ueberſetzung in Deutſchland ziemlich unbe⸗ 
kannt iſt, eine Unbekanntſchaft, worüber auch der Verfaſſer klagt 
S. 283 und 399, indem er jedoch verſichert, daß die Züricher 
Bibel in der ſogenannten Berlenburger Bibel vielfach benützt 
worden ſei, fo daß manches, was in ber Polyglottenbibel von 
Stier und Theile der Berlenburger Bibel zugefchrieben fei, fid 
als arſprungliches Gigentum der Ziwicher bet ausweife. Duaps 
kommt, daß die Mezger' ſche Schrift in der gegenwärtigen für 
die Revifion der Bibelüberſetzungen günftigen Zeit: einem bedeu⸗ 
tenden praftifchen Bebürfnis begegnet; ob fie den Erfolg haben 
wird, die fehmeizerifchen Theologen und fonftigen Liebhaber des 
göttlichen Wortes zur Wiederaufnahme der im Jahre 1859 ange 
fangenen, in den legten Jahren aber wieder in's Stoden gerathenen 
Arbeiten zu Herftellung einer für die Schweiz gemeinjamen 
Bibelüberfegiing aufzumuntern, wird die Zeit lehren, fie euthält 
aber auf jeden Yall mandjes Lehrreihe auch für die im Auftrag 
der deutſchen Kirchenregierungen unternommene Revifion der lu⸗ 
theriſchen Bibelüberſetzung. 

Um nun auf das Buch näher einzugehen, ſo ſchickt der Ver⸗ 
faſſer ſeinem Thema eine intereſſante Einleitimg voraus, welche 
von der Kenntnis und dem Studium der heiligen Schrift in der 
Schweiz vor der Refotmation handelt; der erſte Abſchnitt betrifft 
die Zeit vor Erfindung der Buchdruckerkunſt, der zweite die Zeit 
von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zur Reformation; im 
erjten Abfchnitte bildet der Natur der Sache nach das Klofter 
St. Ballen, im zweiten die Univerfität Baſel den Mittelpuntt der 
Betrachtung. Aufgefallen ift mir Hier bloß, dab S. 6 in der 
Anmerkung gefagt wird, es ſei in der Schrift Notlers „Liber de 
interpretibus divinarum scripturarum‘“ unter den Apokryphen 
mt von dem Ecclesiasticus und dem Bude Strah die Rede, 
während doch der Name ecclesiasticus (nicht zu verwechſeln mit 
ecelesiastes == Prediger) der jeit der Mitte bes 4. Jahrhunderts 
in der lateiniſchen Kirche üblich gewordene Name für das Bud 








a u rn EEE“ —p. 





Gefchichte der deutschen Bibelüberjegungen. 818 


Sirach jelbft ift, nachdem er urfprünglicd eine Bezeichnung der 
Apofryphen überhaupt geweſen war. Vgl. hierüber Fritzſche's 
Commentar über die Weisheit Jeſu⸗Sirachs, Einleitung 8 3. 

Das Thema felbft wird nach drei Berioben durchgeführt: erſte 
Periode vom Beginn der Reformation bis um die Mitte des 17. Jahr⸗ 
handerts, zweite Periode von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis 
am Ende des 18. Jahrhunderts, dritte Periode vom Anfang bes 
19. Jahrhunderts big zur Gegenwart. Im erften Abſchnitt der erften 
Periode werden bie Anfünge der jchweizerifchen Reformation unb 
das Auftreten der lutheriſchen Bibelüberſetzung in der Schweiz ber 
handelt, wie nümli in Bafel und dann auch im Zürich bald nach 
dem Ericheinen des Imtherifchen Nenen Teitamentes im Jahre 1522 
dasjelbe in mehreren Ausgaben nachgedrudt wurde, woranf fpäter 
in Bafel auch der Abdruck des Alten Teftamentes folgte. In den 
im Jahre 1524 herausgelommenen Züricher Ausgaben ift bie Sprache 
bereits vielfach dem fchmeizerifchen Dialekt näher gebracht, wie das 
durch Aufährung von einer größeren Anzahl einzelner Proben bewiefen 
wird, . D. „huß“ ftatt „Haus“, „zyt“ flatt „Zeit“, ferner, was 
die Erfegung einzelner hochdeutſcher Ausbrücke durch fchmeizerifche 
betrifft, Matth. 5 „Wo nun das falz fin rägı verlürt“ ſtatt 
„summ wird", Matth. 6 „glychjner“ ftatt „Heuchler“, Röm. 13 
„Kür“ Statt „ſchoß“. Beſonderes Intereſſe erregt die Beiprechung 
der in den Basler Abdrücken enthaktenen Holzſchnitte, und es wird 
als vollftändig ficher bezeichnet, dag die zum Neuen Zeftament von 
keinem Geringeren herrühren, al8 von Hans Holbein bem jüngeren. — 
Im zweiten Abfchnitt wird die Züricher Bibelüberſetzung befprocden, 
nachdem zuerft die Veranlaffung zu berjelben dargelegt worden 
ft, welche nicht bloß in der Verſchiedenheit des beutfchen vom 
ſchwetzeriſchen Sprachidiom Tag, fondern auch im der durch den 
Abendmahlsfſtreit entitandenen Trennung zwiſchen ber Imtherifchen 
amd reformirten Kirche. Indem der Verfaffer auf eine Darftel⸗ 
lung der Abendmahlejtreitigleten ſich einläßt, Hätte er doch die 
bervorgetretenen Differenzen etwas tiefer auffaſſen dürfen, ale daß 
fie nur auf einer verfchiedenen Erklärung der Einfegungsworte bes 
ruhen. Denn man kann bie reformirte Erflärumg derjelben wenigftens 
noch der Weife Defolampads: „Das ift das Zeichen meines Leibes“ 


344 Mezger 


vollkommen annehmen, ohne darum das Abendmahl in eine bloße 
Erinnerungsfeier zu verwandeln. Freilich wird der Verfaſſer fagen, 
eine genauere Darlegung des Abendmahleftreites habe nicht zu 
feiner Aufgabe gehört; allein das Gleiche gilt auch von der Er- 
Härung der Einjegungsworte, da die Verfchiedenheit hierin feinen 
Einfluß auf die Ueberjegung der Worte felbit Hatte; nur au der 
Ueberfegung bes edloyrfoas Marc. 14, 22 mit „fprad den Segen“, 
wie Luther 1522—1525 überjegt hat, nahm Zwingli als papiſtiſch 
Anftoß, indem er, wie der Verfafjer anführt, fagt: „Segnen 
reden bie Päpftler, von denen entlehnets Luther... . . es dient 
mal zur fach, fegnen; es foll vermögen, daß man mit den worten 
einer materie fraft geb, und den Luther vermögen den lychnam 
Chrifti ins brot bringen“. | 
Die Züricher VBibelüberfegung felbft ging aus von der von 
Zwingli fo genannten Prophezey, d. 5. einer im Jahre 1524 ge 
ftifteten Vereinigung von Gelehrten zu DBibellectionen, und Leo 
Judä wurde bald die Seele der Züricher Ueberfegungsarkeit. 
Während aber die übrigen Theile der Züricher Bibel großentheils 
eine Wiedergabe der Qutherbibel waren, einen im Jahre 1529 
die Propheten und die Apokryphen felbftändig überſetzt, noch ehe 
Luther diefe Theile der Bibel ganz herausgegeben hatte. Die in 
ben Propheten öfters erfichtliche Zufammenftimmung mit Luthers 
Ueberfegung erflärt der BVBerfafler aus dem Umijtand, daß ſowohl 
ben Zürichern als Quther die im Jahre 1527 im Worms erfchienene 
Ueberfegung der beiden Wiedertäufer Ludwig Hüter und Hans 
Den? vorgelegen habe. Aus den mitgetheilten längeren Proben 
ber Züricher Weberfegung heben wir nur hervor Jeſ. 9, 2: 
„Wirftu aber das Volk vilen und die fröud nit ouch groß machen?“ 
Rückſichtlich der Apokryphen unterfcheidet ſich die Züricher Leber 
fegung von der Luther'ſchen auch dadurch, daß die Züricher unter 
Weglaffung einiger Heineren apokryphiſchen Schriften auch das 
dritte Buch der Makkabäer und das dritte und vierte Buch Esra 
aufgenommen Haben. Was nun aber das Verhältnis der übrigen 
biblifchen Bücher in der Züricher Bibel zu der Ueberfegung Luthers 
betrifft, fo ift Referent, wie er offen gefteht, an der Darjtellung 
des Verfaſſers irre geworden. Denn indem derſelbe die auch hier 





ee 


u — — 


Geſchichte der dentſchen Bibelüberſetzungen. 345 


neben den ſprachlichen Verſchiedenheiten vorhandenen materiellen 
Ahweihungen angeben. will, begegnet es ihm, daß er viele Stellen 
al eine Eigentümlichfeit der Züricher Ueberfegung betrachtet, welche 
doch nichts anderes find, als ein Abdrud der älteren Qutherüber- 
fegung ſelbſt. So gibt er fhon S. 72 an, Gen. 2, 7 babe bie 
Züriher Bibel „uff ftonb von der erden“ ftatt des Luther’schen 
„ms einem Erdenkloß“, aber das lettere ift erft 1534 im den 
Luthertert gelommen, vorher hatte derſelbe „aus ftanb von der 
erden“. ©. 81f. werden wohl theilweife wirkliche Verfchiedenheiten 
angeführt, 3. B. Sen. 3, 16 „und zu dinem man din gelüft oder 
begird“. Aber viele angegebene Varianten find einfach aus der 
Latherbibel abgedrudt, 3. B.: Gen. 27, 40 „Und es wirt ge 
ſchehen, daß du fin joch ablegeft und von dinem hals reyßeſt.“ 
Hiob 39, 13 „des ftrußen“ (Luther „des ftraufjen* und erſt ſpäter 
„8 Bauen“). Pf. 39, 10 „Ich bin verftummet und tue min 
mmd mit uff, denn du Haft e& gemacht.“ Prediger 1, 18 „Wer 


vil erfart“ (Luther: „wer vil erfert”, erft von 1541 an: „wer 


vl leren mus“). Luc. 3, 23 „war by odryßig jaren“ (Luther: 
‚war bey dreyſſig jaren“, und erft von 1541 an: „gieng in das 
dreiffigft jar“) u. ſ. w. Joh. 1, 6 wird fogar „Es ward ein 


| menſch“ als Variante der Züricher Ueberſetzung angeführt, während 


Luther felbjt immer fo gejchrieben Hat, und nur einige neuere 
Ausgaben dafür gefebt haben „Es war ein. Menſch“. && fcheint, 
Herr . Antiftes Mezger habe die fritifche Bearbeitung von Luthers 
Bibefüberfegung durch Bindſeil, welde freilich S. 317 als 
„kitifche Bibelüberfetzung von Dr. Bindfeil“ angeführt wird, 
nicht verglichen, fonft wäre er davor bewahrt worden, in jeder 
Abweichung der Züricher Ueberfeßung von den fpäteren Ausgaben 
der Rutherbibel eine Eigentümlichkeit der erjteren zu finden. Be⸗ 
merft mag übrigens noch werden, daß der Herr Verfaffer bei 
Beiprechung von Pi. 23, 5, wo bie Züricher Ueberfegung hat: 
„Du macheft myn houpt feißt mit Sl“ (Luther in den früheren 
Ausgaben: „du machſt mein heubt fett mit Öle“) die viel verbreitete 
Angabe zu widerlegen für gut findet, die Züricher Weberfegung 
habe an diefer Stelle: „Du fchmiereft min grind mit Schmeer”. 
Die folgende Ausgabe von 1531 enthält eine neue Weberjegung 





346 Mezger 


der poetiſchen Schriften des Alten Teſtamentes, z. B. Pf. 8, 4.5: 
„So ih die himmel, die du mit deinem fingeren gemacht haft, 
betrachten: den mon vnd fternen bie. du gejchaffen Haft, fo dent 
ich, wie groß vnd wärd ift doch der menſch das du ſein gedacht 
baft: das: du. fein rechnung Haft“, und bie Ausgabe von 1540 
zeigt: ach mwirffiche. Verbefferungen des Luther'ſchen Textes im 
Neuen Teftament, z. B. Luc. 24, 1 „an hem erften tag nach dem 
fabbath“, Apg. 17, 11 „edler und artiger denn bie zu SChefle 
lonich“. Ich muß nun aber in Beziehung auf die weitere Angabe 
und Charalterifieung. der vielen aufeinanderfolgenden Ausgaben 
der Züricher Ueberfeßung. und der darin ſtets wieder vorgenommenen 
Aenderungen lediglich auf das Buch felbft verweifen, da ein Aus 
zug aus dem reichhaltigen Material nicht wohl gegeben werben 
far. — Noch wird über die Berbreitung der dentſchen Bibel⸗ 
überjegung in der Schweiz bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts 
geſprochen, wobei interefjante Nachweijungen gegeben werden über 
das Verhalten der einzelnen Cautone zu der Züricher und zu ber 
Luther» Biel in Verbindung mit den Kämpfe gegen kutheranifirende 
Beitrebungen in einzelnen Gantonen; auch unterläßt es der Ber 
fafjer. nicht, über die Frage, in wie weit die Züricher Ueberſetzung 
is Deutjchland Eingang gefunden habe, ſowie über die umgünftigen 
Urtheile Luthers; und feiner Anhänger über die ſchweizeriſchen Be 
fteebungen zu. berichten. ‘Dem, was über Qekolampad gefagt ill, 
daß er nämlich bei den Pſalmen der Züricher Weberfegung folge, 
liegt wieder das oben angegebene Verſehen zu Grunde, indem bie 
uchprünglichen Lesarten des Luther'ſchen Pfalters als Variauten 
der Züricher Ueberſetzung gefaßt find; denn die S. 193. mitge 
theilten Proben aus Pf. 51 md 86 erweiſen fich füntlich ale 
Wiedergabe des Luthertextes vom Jahre 1524. 

Die Geſchichte der zweiten Periobe von der Mitte dea 17. Jahr 
hunderte bis Eube des 18. Jahrhunderts wird eröffnet burd eine 
Einleitung, in der die allgemeinen Verhältniſſe in der ſchweizeriſchen 
Kirche behandelt werben, namentlich bie allmühliche Durchbrechung 
der Orthodoxie und die Wieberanfnüpfung der Verbindung der 
reformirten Kirche der Schweiz mit der enangelifchen Kirche Deutſch 
lands, vermittelt durch den Pietismus, Herrnhutismus md die 





Geſchichte der deutſchen Bibelüberſetzungen. 347 


deutſche Literatur. Damı wird im erften Abfchnitt die Gefchichte 
der Züricher Bibelüberjegung ‘behandelt, zunächft die nach mehreren 
Borarbeiten erfolgte neu revidirte Ueberfetzung von 1667. Bon 
den vielen Anderungen wollen wir nur herausheben Hiob 19, 25: 
„Ich weiß, daß mein Erlöſer lebet unb daß er zuletzt liber den 
ftaub ftehen wird“, was 1542 gelautet hat: „Dann ich weiß, daß 
mein retter und fchirmer läbt, und daß er der legt Über den kaut 
fton wirt“, noch früher, 1539: „das ich ber tag eins aus dem faat 
wider anffton wird“. Die Weberfegung von 2 or. 4, 17 wird 
som Berfafier felbft als ſehr fchwerfällig bezeichnet: „denn bie 
fünelle Leichtigkeit unferer Trübfal würket uns ein allerflirtreffe 
lihite ewige Wichtigkeit der Herrlichkeit‘. Ziemlich häufig da» 
gegen findet eine Rückkehr zu Luther ftatt, amd bamit fteht im 
Zufammenhang, daß die Sprache jegt der hochdeutithen näher ge⸗ 
bracht wird, wobei der Verfaſſer auch eine pedantifch durchgeführte 
ſyntaltiſche Eigentümlichkeit anführt, daß in Nebenfägen das Verb 
anmer an's Ende geitellt wird, 3. B. Exod. 16, 23: „daß es 
bis an den morgen behalten werde“, früher: „daß es behalten werde 
58 morn“. Auf die Reviſion von 1667 folgte ein ‚mehr als 
hundertjähriger Stillftand in der Ueberſetzungsthätigkeit der Züricher 
Kirche, und man begnügte ſich während diefes Zeitraumes mit dem 
Wiederabdruck der bisherigen Ausgaben; auch ſpütere Privatver- 
juhe neuer Ueberfegungen gingen nicht in den kirchlichen Gebrauch 
über. — Der zweite Abfchnitt des zweiten Theiles Handelt von 
einer dritten Bibel, welche außer der Luther’fchen und der Züricher 
Ueberſetzung in der Schweiz in Gebrauch kam, nemlich der Lieber» 
ſetzung von Zohann Piscator in Herborn vom Sahre 1602 .urd 
1603, welche, wie ber Berfaffer vermuthet, durch Berner Theo⸗ 
bogen, die in Herborn ftubirt Hatten, in ihre Heimat gebracht 
wurde und da nach und nad) Eingang fand, bis im Jahre 1684 
eine offictelle Ausgabe diefer Bibelüberfegung in ‚Bern erfchien, 
der fpäter noch andere, mehrfach veränderte, nachfolgten. Der 
Berfofier ift übrigens auf diefe Pisentorbibel nicht ‚gut zu fprechen 
wegen ihres Beftrebens, die Ausbrüde der Grundſprachen möglichft 
wörtlich wiederzugeben, woburd fie undeutlich und undeutſch wird. 
Bon den gegebenen Proben feien folgende erwähnt: Jeſ. 9, 3 


348 Mezger 


nad der Ausgabe von 1684: „du haft [zwar] diß volf groß ger 
macht, [aber] du Haft die freude nicht [fo] groß gemacht“, nad 
ber Ausgabe von 1719: „du Haft des volks vil gemadt, du halt 
ihm die freud groß gemacht“. Matth. 12, 34 nach der Ausgabe 
von 1684: „Weß das herz voll ift u. f. w. (wie Luther), 1719: 
„Aus dem Ueberfluß des Herzens vedet der mund!" Schon in der ! 
erften Ausgabe bemerkte ein Bericht an den chriftlichen Leer, € 
fei da, wo Piscator göttlihe Eidſchwüre in einer etwas harten 
Sorm ausgelegt Habe, eine etwas gelindere Redensart gewählt 
worden, und es wurde darum 3. B. Num. 14, 23ff. der Aut 
drud „fo will ich nicht Gott fein“ in den „fo wahr ich Lebe“ 
verwandelt. Doch iſt Mark. 8, 12 ftehen geblieben: „Wann 
biefem gefchlecht ein zeichen wird gegeben, fo jtraffe mich Gott“, 
und erſt 1784 wurde dafür gejegt: „Wahrlih ich fage euch, es 
wird diefem gejchleht fein Zeichen gegeben.” In Beziehung auf 
Drud und Papier wird die Berner Bibel von 1684 ale ein 
Mufter ſchöner Ausstattung bezeichnet, und ein auf der Stadt: 
bibliothek in Bern befindlihes Exemplar von 1736 wird die ſchönſte 
Schweizer Bibel genannt, nit nur wegen des Einbandes, fondern 
auch wegen der 216 ihr einverleibten Kupferftihe in Folio und 
Doppelfolio, welche aber einem niederländifchen Werke entnommen 
waren. — Der britte Abfchnitt des zweiten Theiles behandelt den 
fortgeſetzten Gebrauch der Lutherifhen Bibel in Baſel und die 
Umftände, unter welchen diefelbe auch in Schaffhaujen, St. Gallen, 
Appenzell und Graubünden den vollftändigen Sieg erhielt. Mit⸗ 
getheilt werden hier auch einige Broben aus einer originellen im Fahre 
1776 berausgelommenen Bibelüberfegung von Grynäus, Pfarrer zu 
St. Peter in Bafel, 3. B. Spr. 1, 8. 9: „Mein Sohn, fiehe 
ben Unterricht deines Vaters und aud) was dir deine Mutter ein 
geprägt hat, als ein Geſetz an; fie leiten dich zu Tugenden, dieſem 
alle äußerlichen Verzierungen übertreffenden Schmude ber Seele.“ 
Der dritte Theil, die Zeit vom Anfang des 19. Jahrhunderts 
bis zur Gegenwart oder die Zeit der Bibelgefellfchaften umfafjend, 
betrachtet ähnlich wie der zweite zuerft kurz die allgemeinen kirch⸗ 
lichen Verhältniffe der reformirten Schweiz während biefer Zeit, 
die durch die Nevolutionsftürme eingetretene Verwirrung, die Re 


Geſchichte der deutſchen Bibelüberfegungen. 319 


fauration und den durch den Anſchluß an Schleiermader und 
die übrige deutſche Theologie erfolgten Umſchwung, die gegenwärtig 
in der Schweiz einander gegemüberjtehenden theologifchen Richtungen, 
wie aud) die in Deutfchland Hervorgetretenen Beftrebungen zur Reviſion 
der Lutherbibel. Der zweite Abfchnitt enthält eine Geſchichte der 
ſchweizeriſchen Bibelgeſellſchaften, mobei aus den Acten derfelben 
über die einzelnen in Betracht kommenden Punkte, namentlich über 
die Beziehungen zu der britifchen und ausländischen Bibelgefellfchaft 
und über den Wpofryphenftreit Mittheilungen gemacht werden. 
Zuerft fommt an die Reihe die Basler Bibelgefellfchaft und die 
an diefelbe fich anfchliegenden WBibelgefellfchaften anderer Kantone, 
weile den Luthertert und zwar im Anjchluß an die Canjtein’ichen 
Ausgaben verbreiten. Bemerkenswerth find beſonders bie wegen 
einer Revifion des Bibeltextes von Baſel aus mit Stier geführten 
Unterhandlungen, fowie die innerhalb der Schaffhaufer Bibelgeſell⸗ 
haft und zugleich der dortigen Synode über eine etwaige Ein» 
führung der Stier’fchen Weberjegung von 1856 mit vieler Sadj- 
fenntnis gepflogenen Berathungen. Auh eine in St. Gallen 
herausgekommenen revidirten Ausgabe des Neuen Teftamentes wird 
erwähnt, welche zulegt da8 Schidjal hatte, in die Papiermühle zu 
wandern. Sehr eingehend wird fodann über bie Thätigkeit der 
Züriher Bibelgeſellſchaft und namentlich über die auch in dieſem 
Zeitraum zu wiederholten Malen erfolgte Revifion der Züricher 
Bibelüberjegung berichtet. Von den gegebenen Proben führen wir 
an: Joh. 1, 16 wurde im Jahre 1814 geſetzt: „Gnade über 
Gnade“, während e8 1772 geheißen hatte: „eine Gnade vor die 
andere”, 1724 aber und auch 1809 mie Luther: „Gnade um 
Gnade ; 1Kor. 10, 16 im Jahre 1814: „der Kelch der Dank⸗ 
ſagung, welchen wir fegnen“, dagegen 1772: „der kelch der bene» 
deyung, welchen wir benebegen“, 1724 und 1809: „das trinfge 
fdirr der benedeyung*. Umfafjendere Reviſionen wurden in den 
Jahren 1860 und 1868 vorgenommen. Bon der Revifion von 
1860 fagt der Berfafler, es fei zum erften Mal bier Rückſicht 
genommen worden . auf die neueren kritiſchen Arbeiten über den 
Orundtert bes Alten und Neuen Teftamentes; ferner, es fei die 1772 
bis zur Pedanterie getriebene Setzung des Verbs an das Ende 


sc Mezger 


der Nebenſätze aufgegeben worden, es ſei auch der letzte Weit der 
ſchweizeriſchen Sprachform, das erzählende Perfectum, völlig ver- 
fchwunden, und von fchweizerifchen Idiotismen fei vielleicht in der 
ganzen Bibel nur das Wort „Räße“ Matth. 5, 13 übrig ges 
blieben (S. 275 ijt jedoch erwähnt, daß 1772 in diejer Stelle 
gefegt worden fei: „Wenn aber das falz feine fraft verliert“, und 
in der Ausgabe von 1868 heißt es ſodann: „eine Schärfe ver- 
tiert”). Als einzelne Probe der Ausgabe von 1860 möge hier 
erwähnt werden Hiob 19, 25f.: „Aber ich weiß, dag mein Er⸗ 
{djer lebt und daß er zulegt über dem Staub ftehen wird. Und 
nachdem diefe meine Haut zerichlagen ift, alsdann werde ich, ven 
meinem Fleiſche los, Gott fehen“, während 1816 der letzte Verb 
gelautet Hatte: „Und nachdem meine Haut wieder wird überzogen 
fein, alsdann werde ich in meinem Fleiſche Gott ſehen.“ Zu be 
richtigen ift die S. 380 und dann weiter unten S. 405 jid 
findende Angabe, es fei dem Buche Sirach das früher wie bei Luther 
weggefallene Vorwort vorangeſtellt. Vielmehr Hat Luther dieje 
Vorrede in jeine Meberfegung aufgenommen, und erft in fpäteren 
Ausgaben iſt biejelbe zugleih mit den Vorreden Luthers zu den 
bibliſchen Büchern aus der beutfchen Bibel verfchwunden; fiehe 
das Nähere hierüber bei Mönckeberg, Vorfchläge zu Nenifton von 
Luthers Bibelüberjegung (1861), ©. 23f. Aus der Ausgabe von 
1868 führen wir an: Exod. 12, 35 „forderten von den Aegyptern”, 
während 1860 geftanden hatte „entlehnten von den Weghyptern“ ; 
Bi. 22, 17 wird im Jahre 1868 zu der Ueberfegung „fie haben 
mir meine Hände und Füße durcdhgraben“ unten die Anmerkung 
beigefügt: oder „bat fi um mich gelagert wie ein Löwe um meine 
Hände und Füße“; oh. 2, 24 ift ſtatt des früheren „am gelte 
bes Ueberſchrittes“ geſetzt „am Paſſahfeſte“, wie auch die Aus 
gabe von 1860 an anderen Stellen ſchon geändert hatte. Im 
allgemeinen fagt der Verfafſer von der Ausgabe von 1868, es 
ſchließe mit derjelben vorderhand die beinahe dreiundeinhalb Jahr⸗ 
hundert fortgehenbe unermübliche Ueberfegungsthätigfeit zum Beſten 
der Züricher Bibel, und er beklagt fi, daß diefe Bibel von den 
deutſchen Gelehrten zu wenig gefannt und gewitrdigt fei. Auch 
die Berner Wibelgefellichaft hat im Jahre 1823 eine nene Aus⸗ 


ug, rer | En 


Geſchichte der deutichen Bibelüberfeungen. 851 


gabe der Piscatorbibel veranftaltet, jedoch mit der ausdrücklichen 
Erklärung, fie habe keineswegs hiebei die Abfiht, Luthers herr- 
liche Ueberſetzung, die fi) nun fchon ſeit 15 Jahren im ganzen 
Canton verbreitet habe, zu verdrängen. Der Verfaſſer rühmt von 
diejer Ausgabe, fie babe wirklich das Beſtreben Elarer und aud) 
bie und da geſchmackvoller zu überfegen (3. B. Röm. 4, 19 „ber 
eritorbene Leib der Sara“ ftatt früher „die erftorbene Bärmutter 
der Sara), das unerträgliche „belangend“, das im Alten Teſta⸗ 
ment belaffen wurde, 3. B. Pi. 2, 7 „Mich belangend, fo babe 
ih dich heute gezeuget“ fei im Neuen Teſtament meiftens befeitigt 
worden, 3. DB. Röm. 8, 10 „wegen der Sünde . . . wegen der 
Gerechtigkeit“ ftatt des früheren „belangend die Sünde... . be 
langend die Gerechtigkeit” ; Matth. 28, 1 wurde gefegt: „Am 
Ende aber der Woche, beim Anbruch des eriten Worhentages“ 
fatt des früheren: „Am Ende der Woche aber, an dem age, 
welcher anbrach, daß es der erfte Zag der Woche wurde‘. — 
Im dritten und letzten Abfchnitt werden noch die in der Schweiz 
vom Jahre 1835 und befonders vom “Jahre 1859 an unter- 
nommenen Verſuche zur Aufftellung einer einheitlichen Bibelüber⸗ 
jung für die dentfch-reformirte Kirche befprochen, welche aber 
nach hoffnungsvollen Vorarbeiten daran jcheiterten, daß der Canton 
Zürich, feine eigene Bibelüberſetzung nicht aufgeben wollte, während 
die niedergeſetzte Commiſſion nur eine durchweg in der Sprache 
Luthers gehaltene Reviſion der Luther’fchen Bibelüberjegung beab- 
jihtigte, durch diefen Widerftreit geriethen die Arbeiten der Come 
miffion in's Stoden, um fo mehr, als auch einige Mitglieder der- 
jelben ftarben. 

Zum ganzen Bud ift endlich ein ſprachlicher Anhang Hinzu- 
gefügt, der den Zweck Hat, die des Schweizerdialektes weniger 
Kundigen beim Leſen ber aus den älteren Bibeln gewählten Stellen 
zu unterftügen und zugleich zu weiteren Forſchungen anzuregen, 
indem der Verfaffer auch darüber klagt, dag der Ziüricher Bibel 
vonfeiten der deutſchen Sprachforſchung nicht die verdiente Auf» 
merkjamkeit gefchenkt worden fei. 

Fragen wir nım, indem wir dem Herrn Verfaffer für feine 
werthoollen Unterſuchunden und die daraus gewonnene Belehrung 

Theol. Stud. Jahrg. 1878. 23 


2 Mezger 


aufrichtig danken, noch zum Schluß, was wir in Deutſchland, be⸗ 
ſonders für die bei uns gegenwärtig in Ausführung begriffene 
Reviſion der Luther'ſchen Bibelüberſetzung aus ſeinem Werke lernen 
können, ſo könnte die Geſchichte der Züricher Bibelüberſetzung uns 
faſt ein abſchreckendes Beiſpiel zu bieten ſcheinen. Denn es hat 
in der That etwas tragiſches, dag dieſe Ueberſetzung, auf welche 
von Anfang an und fortwährend fo viel Mühe und Gelehr⸗ 
famfeit verwendet wurde, in der Schweiz felbft immer mehr an 
Boben verlor und fogar Mühe bat, fich gegen die unrevidirte 
Luther’fche Bibelüberjegung zu’ behaupten. Bei näherer Erwägung 
der Gründe jedoch, auf welchen diefe Erſcheinung berußt, wird man 
fich weniger an berjelben ftoßen und nur eine Mahnung zu mög- 
(ichfter Vorfiht bei dem Werke der Reviſion der Luther’fchen 
Bibelüberfeßung daraus entnehmen. Neben dem Umftand nämlid, 
dag eine in einem größeren Gebiete verbreitete Bibelüberfegung 
von felbft eine Anziehungskraft auf das daneben befindliche Fleinere 
Gebiet ausüben wird, liegt ein Hauptgrund der ungünftiger ge: 
worbenen Situation der Züricher Bibel gegenüber von der Luther⸗ 
bibel in den ſprachlichen Verhältniſſen der Schweiz zu Deutfchland. 
Zur Reformationgzeit mag es zwedimäßig, ja nothiwendig geweſen 
fein, die Qutherbibel im ſchweizeriſches Deutſch umzugießen; feit 
aber die Schweiz in die Entwicklung der deutſchen Literatur herein: 
gezogen wurde und die Kenntnis der deutihen Schriftſprache ſich 
mehr und mehr auch unter dem Wolfe verbreitete, mußten bie 
befonberen fehweizerifen Sprachformen und Ausdrücke für den 
Gebrauch der Bibel im Gegentheil ftörend ericheinen, umd die 


fchweizeriichen WBibelüberfegungen verloren durch ihren fofort er 


fotgten Anſchluß an das Hochdeutfche einen großen Theil ihrer 
früheren Berechtigung. Sodann kann nicht geleugnet werden, daß 
die Züricher Ueberfegung viel zu oft und immer wieder nach anderen 
Grumdfägen geändert wurde, fo daß fie fchon um diefes fort 
währenden Schwankens willen fih nicht fo im Volle einbürgern 
konnte, wie die Lutherbibel. Endlich weicht auch die neuefte Aus 
gabe von 1868, die mir allein vorliegt, überhaupt zu weit ab von 


der durch ihre ganze Ausdrucksweiſe eben doch maßgebenden Lu⸗ | 


ther’fchen Weberfegung. Zwar begegnet man überall Stellen, in 


Geſchichte ber deutfchen Bibelüberſetzungen. 358 


denen der Sinn nicht nur richtiger als bei Luther, fondern aud) 
wirffih auf gelungene Weife wiedergegeben ift (wir verweifen 
beiſpielsweiſe nur auf Röm. 2, 15 „indem auch ihr Gewiſſen 
joihes bezeugt“ ftatt des Luther'ſchen „fie bezeugt”); aber auf ber 
andern Seite find theils viele Abweichungen von Luther vorhanden, 
melde durchaus feinen Vorzug vor der entſprechenden Luther'ſchen 
Faſſing haben (warum 3. B. Joh. 20, 22 „Empfanget ben 
heiligen Geiſt“ beffer fein ſoll als das Luther’iche „Nehmet Hin 
den heiligen Geift“, wird nicht wohl gefagt werden können), theils 
haben fh die Züricher duch ihr Streben nad) größerer Ange- 
meſſenheit an den Grundtert nicht felten zu Weberfegungen ver- 
leiten laſſen, welche abgejehen von der Frage nach der eregetifchen 
Richtigkeit Thon durch die Faſſung des Ausdrudes weit Hinter 
den Luther'ſchen Weberfegungen zurüditehen. Oben wurde bie 
ſchwerfällige Ueberjegung von 2KRor. 4, 17 nad der Ausgabe 
von 1667 angeführt; auch die Faſſung von 1868 „denn die 
\hnell vorübergehende leichte Laft unfrer Trübſal ſchafft uns 
immer überfchwenglicher ein ewiges Gewicht der Herrlichkeit“, 
taın unmöglich mit der bekannten Quther’fchen Faffung concur- 
riren. Pred. 7, 15, wo Luther überfegt „daß der Menfch nicht 
wiſſen ſoll, was fünftig ift“, Haben die Züricher: „meil der 
Menſch nichts finden ſoll nach ihm“. Allein wer fann das ver- 


ſtehen? Es foll das wohl die Hitzig'ſche Erflärung der Stelle 


ansdrüden; da müßte aber nothwendig gefettt fein „nach feinem 
Tode”, wenn irgend eine Dentlichfeit für den deutſchen Lefer er- 
reiht werden fol. Faſt fünnte man auf den Gedanken kommen, 
das „ihm“ in der Züricher Ueberfegung auf Gott zu beziehen, 
wie Luther früher die Stelle erklärt und deshalb überfeßt Hat: 
Dorum auf daß der Menſch nicht finde etwas anderes“, mit ber 
Stoffe: „nichts anderes dem was Gott ihm zufügt“. Doch genug 
an diefen Ausführungen! Mein Zwed ift nur, baranf Hinzu- 
weiien, daß die Züricher Bibelüberjeger bei allem Vorbildlichen, 
das ihre Arbeiten für uns haben, doc auch zugleich uns zeigen, 
wovor wir bei der Revifion der Lutherbibel uns zu hüten Haben, 
damit nicht über kurz oder lang in der deutſchen evangelifchen 
Kirche eine Reaction entftehe, welche die vorgenommenen Aenderungen 
23* 





34 Mezger, Geſchichte der deutichen Bibelüberjeßungen. 


wieder abwirft, um im einzelnen oder im ganzen lieber zum un⸗ 
revidirten Texte zurückzukehren. 


— K. 3. Schröder. 


2. 


Die Massora Magna. Erſter Theil: AMMaſſoretiſches 
Wörterbuch oder die Maſſora in alphabetifcher Ord 
nung. Don Prof. Dr. S. Frensdorf. Hannover und 
Leipzig (Cohen & Rich) 1876. Xu. 20 u. 389 ©. 4. 

21 Mark. 


— — e— 


Bei vielen Völkern des Altertums ) zeigt ſich das Streben, 
den Text ihrer heiligen Urkunden durch befondere Maßnahmen un- 
verfehrt zu erhalten, namentlich durch Vorſchriften über das Ab- 
ſchreiben, durch Zählen der Zeilen, Verſe, Wörter und Buchſtaben 
u. f. w. Bei feinem Volke aber find diefe Vorfichtsmaßregeln jo 
fehr entmwidelt worden, wie bei den Juden 2), zuerjt in Bezug auf 
das Gefeg, dann auch hHinfichtlich der anderen Theile der Bibel. 
Da die Juden feit der Zerftörung Jeruſalems zahlreihen Be 
ihränfungen und Unterbrüdungen unterworfen waren, concentrirt 


1) Nicht nur bei den Chineſen, Indern, Syrern, Arabern (vgl. 3. 2. 
Ewald, Abhandlungen zur orientalifchen und biblifchen Literatur, Bd. 1. 
S. 57; Nöldeke, Gedichte des Dorans), fondern auch in griechiſchen 
Sandfchriften (vgl. 3. B. Ritſchl, Die alerandrinifchen Bibliotheken, S. 92 
bis 136; Vömel, £ codicis Demosth. descriptio, Progranım vom 
Jahre 1858). 

2) Die, mit der Maffora zum Bibeltexte ſich nicht begnügend, eine ähnliche 
Arbeit auch für die bei ihnen im höchften Anfehen ſtehende chaldäiſche 
Ueberfegung anfertigten, |. Luzzatto im der Wiener Zeitfchrift Oyar 
Nehmad IV (1868), S. 156ff.,; A. Berliner, Die Mafforah zum 
Zargum Ontelos (Leipzig 1877), XXXII u. 143 ©. (eine fehr fleißige 
Arbeit). 





Die Massora Magna. 355 


fich faft ihre gefamte Literarifche Thätigkeit um das ihnen gelaffene 
Notionalheiligtum , die „vierundzwanzig Bücher”. Alles wurde 
aus der Bibel, infonderheit aus dem Geſetze abgeleitet oder doc) 
dazu in Beziehung gefett. So gewann natürlich der Wortlaut, 
der Buchſtabe der heiligen Schrift eine ganz befonbere Bedeutung, 
und erflärt fich daraus die ungemeine Sorgfalt, welche die Juden 
feit den erften nachchriſtlichen Jahrhunderten auf die unveränderte 
Dewahrung auch der geringfügigften damals durch Weberlieferung 
feftitehenden Eigentümlichleiten des Heiligen Codex verwendeten. 

Die Maffora, welche fih anfangs natürlich nur auf den Con⸗ 
fonantentert erftreckte, wurde nad) Erfindung der Punktation auch 
auf die Vocale und Accente ausgedehnt. Die mafforetiichen No- 
ten waren doppelter Art: erftens Meittheilungen über das Vor: 
kommen einzelner Wörter, Wortverbindungen und Wortformen, 
zweitens Reihen (befonders in alphabetifcher Ordnung) von Wör- 
tern, die eine gewiſſe Eigenfchaft gemeinfam haben, und Regeln 
allgemeineren Inhalts. Erftere wurden faft immer!) auf Die 
Ränder von Bibelcodices gefchrieben (längere Bemerkungen auf 
den oberen und den unteren Rand, Türzere auf bie fchmalen 
Seitenränder), lettere 2) finden fi meift am Ende von Bibel» 
manuferipten. | 


1) Bon der Sammlung folder Bemerkungen in befonderen Büchern weiß 
ih nur zwei Beifpiele: den codex Massoreticus, No. 19 in Tichufut- 
fale (ſ. Zeitjchrift für Tutherifche Theologie 1875, ©. 615. 616) und 
codex de-Rossi, No. 810, weldyen der Befier (MSS. Codices biblio- 
thecae J. B. de-Rossi [Parmae 1803] II, p. 183) alſo befchreibt: 
„Liber masorae seu commentarius masoreticus ac criticus in 
Pentateuchum, membr., rabb. 4°, sec. XIV... Masorae libri seor- 
sim exarati sunt rarissimi.‘“ 

2) Elias Levita kannte nur ein derartiges Manufcript, |. ſein Maſſoreth ha⸗ 
mafloretb ed. Ginsburg (London 1867), p. 94. 138. (Im der von 
J. S. Semler herausgegebenen deutſchen UWeberfekung [Halle 1772], 
©. 38 der zweiten, S. 85 der dritten Borrede.) Die von Elias be- 
nußte Recenfion der Ochlah⸗W'ochlah⸗Maſſora galt lange für verloren: 
bor etwas mehr als einem Jahrzehnt wurde fie in der Halle'ſchen Uni- 
verfitätsbibfiothet aufgefunden. Hupfeld hat fie im XXI. Bande der 
ZOMS (1867, &. 201ff.) eingehend befchrieben. — Cine kürzere, in 


856 Frensdorff 


Da der für Bemerkungen freie Raum bei Feſthaltung einer 
beſtimmten Zeilenzahl für den Text auf jeder Seite gleich war 
und die Schreiber je länger in defto höherem Grade auf ein ge: 
fälliges Ausfehen der Manuferipte achteten, begann die Maſſora 
mehr und mehr zur Verzierung der Codices zu dienen: zuerft hielt 
man darauf, daß die fogenannte Massora magna auf jeder Seite 
denfelben Raum ceinnehme (3. B. auf dem oberen ande ſtets 
zwei, auf dem unteren ftetd drei Zeilen); dann fchrieb man die 


Bemerkungen in fünftlichen Figuren, als da find Dreiede, Kreile 


u. f. w. Am wmeiteften giengen hierin die deutfchen Schreiber, 


welche aus den mafforetifhen Notizen Blumen, Thiere und aller 
hand Karrifaturen bildeten. Der Umfang der Massora finalis, 


welche ſchon im Coder Petersb. B 198 vom “Jahre 1009 theil: 


weife in Lünftlich verfchlungenen Linien gefchrieben ift, wurde oft 


durch die Zahl der noch leeren Blätter, fowie durch den größeren 


oder geringeren Fleiß des Schreibers beeinflußt. Daß alle diefe 


Umftände während ihres mehr als 60Ojährigen Wirkens Y) ſowohl 
die Nichtigkeit wie auch die Ordnung der mafforetifhen Anmer: 
fungen weſentlich jchädigen mußten, ift einleuchtend. 

Das große Verdienft, die in zahlreihen Handfchriften zeritrente 


rudis indigestaque moles gefammelt, einigermaßen geordnet und 


publicirt zu haben, gebürt Jakob ben Chajim ben Iſaak ibn 
Aonijah ?). Bon den YVebensumftänden dieſes für die jüdiſche 


Literaturgeſchichte ſehr wichtigen Mannes ift nur wenig befannt. 








Baris befindliche Recenſion edirte und verfah mit trefflichen Anmerhnugen, 


leider noch ohne Kunde von der Halle’fchen Handſchrift, ſ. Fren sdorff, 


Das Buch Ochlah W'ochlah (Hannover 1864). Ueber die von de Wette | 
(Einleitung [8. Auft.], $ 1214) erwähnte Maäfforahandichrift (cod. Palat. 


in Rom; vgl. Annal. litt. Ilclmstad. an. 1784, p. 97) habe id 
näheres noch nicht erfahren können. 

1) Schon im Codex Babylonicus vom Jahre 916 (Petereb. B 3) zeigt 
die Maffora ein Streben nad) Symmetrie, jchon damals enthielt die 
Maffora manche charakteriſtiſche Fehler der fpäteren Handſchriften und 
Drude. 

2) Bpl. Ch. D. Ginsburg, Jacob ben Chajim ibn Adonijah’s intro- 
duction to the Rabbinic Bible, Hebrew and English; with explana- 
tory notes, II. ed., London 1867, VIII u. 91 ©. 





Die Massora Magna. 867 


Er mar in Zunis (feiner Baterftabt?) mit wiffenfchaftlichen 
Studien!) befchäftigt, ale Kardinal Ximenes mit einem Heere 
unter Führung des Pedro Navarro in Afrifa erichien, um die An- 
hänger des Islam gewaltfam zu befehren. Bald nach dem Falle 
von Bugiah (31. Januar 1510) capitulirte aud Tunis. Mehr 
als jieben Jahre irrte Jakob ben Chajim heimatlos umher. Endlich 
lam er nad) Benedig, wo Daniel Bomberg aus Antwerpen im 
Jahre 1516 eine hebräifche Druckerei errichtet hatte. Im Verein 
mit biefem berühmten Drucker entfaltete er eine wahrhaft ſtaunens⸗ 
werthe Thätigkeit: der babylonifche Talmud (1520 — 1523), der 
jerufalemifche Talmud (1522 — 1523, editio princeps), die 
ebräifche Concordanz des Iſaak Nathan ben Kalonymus (1523, 
ed. pr.), der große Gefeg- und Ritual» Coder Miſchneh Thorah 
oder Jad ba-chafagah des Moſe ben Maimon (1524). Sein 
Hauptwerf aber ift die rabbinifche Bibel (1524 — 1525, tu vier 
Holianten). Dieſelbe enthält nach einer fchr intereffanten von Ybn 
Abonijah felbit herrührenden Einleitung ?) außer dem VBibeltert die 
haldäischen Paraphraien, Kommentare von Raſchi, Ibn Efra, 
David Kimchi, Moſe Kimchi und Levi ben Gerfon, fowie die 
Maſſora. 

Bon ben ſpäteren Schickſalen Jakobs wiſſen wir nur, daß er 
zum Chriftentum übertrat ®) — wahrfcheinlid nur wenige Jahre 
nah Vollendung der eben genannten großen Arbeiten, denn nur 
durch diefe Annahme wird der Umftand erflärlich, daB fein Name 


1) Daſ. &. 88: mon Dinoa mpb by Tpw nm. 

2) Die Einleitung enthält: 1) eine Unterſuchung über Keri und Kethib, An⸗ 
fihten Ephodis, Kimchis, Abravaneld; 2) Abweichungen des Talmuds 
von der Maflora bei den Bibelcitaten; 3) Widerlegung dev Behauptung, 
daß die Juden den Bibeltert gefälicht Hätten; 4) Darlegung der Ber- 
dienfte Jakobs um die Bearbeitung der Maflora. 

3) Dies lange Zeit unbelammt gebliebene oder bezweifelte Factum ergibt fidh 
zur Evidenz aus den Worten der Venediger Mifchnah- Ausgabe, 1546 
Ginftiniani, am Schluffe des Tractates Taharoth: 13997 3737 on ba 
SD maw bum 92 pp Dune BRpb ıoW min wann 
—X mo 30 wıma Dy 8. Luzzatto in Ozar Nechmad 
Il, 112; Ginsburg, Introd., p. 12. 


868 Srensborff 


auf keinem fpäteren Drude Bombergs genannt wird. Daniel 
Bomberg war zwar felbft Ehrift, er durfte es aber mit feinen 
Hauptkunden, den Juden, nicht verderben — und diefe hätten ihm 
gewiß fein Buch abgelauft, in dem ein Abtrünniger als Mitarbeiter 
genaunt geweſen wäre. Daß er im Jahre 1538 bereits geftorben 
war, ergibt fih aus ber Art, wie Levita im feinem im genannten 
Yahre gedruckten Maſſoreth ha-maſſ. (S. 94 ed. Ginsb.) feiner 
gedenft: win apy> xp bnumw2 BNEb DW mm DSDS me 
pP) 33 many nom )). 

Dei der Anordnung der Maffora verfuhr Ibn Adonijah fo, 
daß er die Bemerkungen möglichit gleihmäßig über das ganze Alte 
Teftament zu vertheilen fuchte, alles aber, was über und unter 
dem Schriftterte nicht Platz fand, in alphabetifcher Reihenfolge ale 
Massora finalis fammelte. Die vollftändige Stellenangabe für 
ein mehrmal® vorfommendes Wort follte nur einmal abgedrudt, 
bei den anderen Verſen nur eine Vermweifung gegeben werden. Da 
jedoch auch eine regelmäßige genaue Verweiſung bei häufigen Wör: 
tern zu viel Raum erfordert und dem Herausgeber zu viel Zeit 
gefoftet Haben würde, ift den Wörtern, für welche ausführliche 
Angaben vorhanden find, oft nur ein Zahlbuchſtabe beigefett. Da: 
mit nun auch im folchen Fällen die bezügfiche Massora mägna 
leicht zu finden fei, nahm Jakob die Vermeifungen auch in die 
alphabetifche Schlußmaffora auf. Ein Beiſpiel möge fein Ber: 
fahren erläutern. Die Bemerkung „wx nm ſechs Mal“ jteht 
mit Augabe der Steffen nur in der Massora magna zu Ser. 21, 14. 
Auf die Stelle verwiefen wird zu Ser. 49, 27. Amos 1, 14, 
Mass. fin. s». Zu er. 17, 27. 50, 32 ift „ı“ (ſechs Mat), 
zu 43, 12 ift „ won 1“ (ſechs Dal kommt diefe Verbindung vor) 
notirt. 

Trotz des bewunderungswürdigen Fleißes, welchen Jakob ben 
Chajim auf die Sammlung und Ordnung der Maſſora verwen: 


m — — — 


1) Verwandlung der bekaunten (f. Zunz, Zur Geſchichte und Literatur 
1845, ©. 351) ans 1Sam. 25, 29 entlehnten Enlogie in ihr Gegen⸗ 
theil. Ganz falſch ift alfo in der Semlerſchen Ausgabe (zweite Borrede, 
S. 39) überfeßt: sit anima eius addita fasciculo celebri. 





A ge —————— ⏑ — 


u Er DE 


Die Massora Magna. 869 


dete, konnte es doch nicht fehlen, daß feiner Arbeit manigfache Ge⸗ 
brechen anhafteten. Das vorliegende Material war zu umfang» 
reich, al8 daß eine Mienfchenfraft, felbit wenn durch nichts anderes 
in Anfpruch genommen, es hätte im Laufe weniger Fahre bewäl- 
tigen fönnen; die zur Verfügung ftehenden Hülfsmittel — vor» 
wiegend Bibelcodices mit mafforetiiden Anmerkungen, doch auch 
efbftändige Mafforabliher ) — Tiefen an BVollftändigfeit wie an 
Correetheit viel zu wünſchen übrig. Die fchon in den Hand⸗ 
ihriften enthaltenen Unrichtigkeiten und Widerfprüche find keines⸗ 
wegs immer verbeffert worden; neue Irrtümer kamen hinzu durch 
Mieverftändniffe des Bearbeiters und durch Druckfehler. Nichts» 
deſtoweniger ift die von Jakob bearbeitete Maffora noch heute für 
die Textkritik des Alten Teftamentes von außerordentlihem Werthe. 
Der Originafdrud ift fehr felten geworben (erft nach mehrjährigen 
Bemühungen gelang e8 mir ein Exemplar zu erwerben), ebenfo 
die fpäteren Venediger Drude: II, 1547 — 1549 (Bomberg); 
II, 1568 (Bomberg); IV, 1617—1619 (Bragabini). Johann 
Burtorf hat in feiner rabbinifchen Bibel zwar nicht weniges richtig 
verbeffert, aber auch manches misverftanden, willfürlich verän- 
dert und verbalihornt; nod weniger brauchbar find die fpäteren 
Drucke. 

Zuſtimmung und Anerkennung von Seiten auch der chriſtlichen 
Theologen verdient daher der von Herrn Profeſſor S. Frensdorff 
gefaßte Plan eines getreten Wiederabdrud® der 1524 — 1525 
publicirten Maſſora, welcher 2), treu nad der Neihenfolge der 
Bibel, doch ohne den Text der letzteren enthalten foll: 

„Y die Bemerfungen der Majfora nach der Folge der biblifchen 
Bücher mit den bezüglichen Kapiteln und Verſen; 

2) die Schlagwörter vollftändig punftirt, weil ohne dies, wie 

bieher, allerlei Irrungen durch unrichtige® Leſen entftehen; 


!) Zu diefen gehörte, nach den ausdrüdfichen Zeugnis des Elias Levita 
(Maffor. ha⸗maſſ., S. 188 ed. Ginsb., S. 85 ed. Semler) auch [die 
jetzt in Halle befindliche Recenfion des] Ochlah W’ochlah. 

9) Wahrſcheinlich in 5 Bänden: Bentateud); Hiftorifche Bücher; Propheten; 
Sagiographen; Schlußmaffora. 


860 Frensdorff 


3) die Belegſtellen mit Bezeichnungen der BB., Kapitel und 

Verſe, wo ſie zu finden ſind; 

4) die ſchwerverſtändlichen Angaben mit Ueberſetzung.“ 

Ein bei der Benutzung der gedruckten Maſſora ſehr ſtörender 
Uebelſtand ift die Unrichtigkeit, bzw. Unvollſtändigkeit vieler Ber: 
weifungen. Gen. 5, 24 und Jeſ. 19, 7 wird bezüglich der Be 
merfung „am zwölf Mal“ auf die Massora finalis verwieſen, 
ftatt auf Hiob 27, 19; ebenfo Gen. 21, 17 „nwna fünfzehn 
Mal“ auf Massora finalis ftatt auf Richt. 5, 27; ferner 
Gen. 25, 7. „bon febzehn Mal am Bersanfang im Pentateud“ 
auf Massora finalis ftatt auf Exod. 1, 1; ferner Gen. 40, 14 
und Exod. 12, 48 „am fiebzehn Mal im Pentateuch“ auf Mas- 
sora finalis ftatt auf 2ev. 10, 15, u. bgl. m. Auch in der 
Schlußmaffora find manche unrichtige und nicht wenige unvellftän- 
dige Verweiſungen. In der Rubrik 7 3. B. fehlt bei amymnb 
die Verweiſung auf Dan. 5, 15; bei nyım die auf Exod. 35, 31, 
bei yn mb (lies &by) die auf Ser. 14, 18. Dazu kommt noch, 
daß in der Massora finalis feineswegs alle über und unter dem 
DBibelterte abgedructen Angaben berlickfichtigt find (fo fehlt z. D. 
„non ftets mit a, nur ein Mal mit x“, vgl. Maſſora zu 
Dan. 2, 5. Eſr. 6, 4). 

Da e8 nun nothwendig ift, daß man alle auf denfelben Gegen- 
ftand bezüglichen Angaben raſch auffinde, hat Herr Profeſſor Frens— 
dorff den jett vorliegenden Index zur Maffora ausgearbeitet, 
welcher „zu jedem Worte und zu jeder Wortform bie Bemerkungen 
der Maffora angibt und zugleich nachweift, wo fie in der gedrudten 
Maſſora zu finden find. Damit ferner anderjeits die vielen zur 
Erklärung und Berichtigung der Maffora erforderlichen Anmer 
tungen mehr concentrirt würden, fo daß man fie ohne vieles Suchen 
leicht an beftimmter Stelle finden könne, empfahl es fidh, dieſt 
Anmerkungen mit bem Wörterbuche zu verbinden und diejes ale 
erften Band dem eigentlichen Texte der Maſſora voranszufciden. 
Das jo geftaltete Wörterbuch bietet außerdem ben Vortheil, daß 
e8 als felbftändiges, von den folgenden Bänden unabhängiges Werl 
zu jeder Ausgabe oder Handfchrift der Maſſora beugt werden 
kann.“ 








u 


Die Massora Magna. 561 


Zur Herftellung eines Index zur Maffora war Herr rend» 
dorff jedenfalls der DBerufenften einer. Seit einem halben Jahr⸗ 
hundert den größten Theil feiner von Berufsgefchäften freien Zeit 
dem Studium der Maſſora widmend, hat er von jeiner tüchtigen 
Kenntnis derfelben fchon zwei fchägenswerthe Proben gegeben: 
1) Fragmente aus der Bunctationd» und Accentlehre der hebräifchen 
Sprache, angeblich von R. Moſes, PBunctator (Hannover [Hel- 
win] 1847), X u. L u. 30 ©., aud mit dem hebräifchen 
Titel MIT PT 99975 2) das Buch Ochlah W'ochlah (Han- 
nover 1864). Auch feine nenefte Arbeit ift, trog mancher hernach 
bersorzuhebenden Müngel, als ein von großem Fleiße zeugendes 
und recht brauchbares Nachſchlagebuch zu bezeichnen. Ich bedauere 
ſehr, daß das „Meafforetiihe Wörterbuch“ erft erfchien, als meine 
Anmerkungen zur Ausgabe des Coder Babylonicus im Manufeript 
bereits faft vollendet waren. Hätte ich e& früher gehabt, jo wäre 
mir manche Woche mühfamen Nachſuchens erfpart worden. 

Die Einrichtung des Werkes ift folgende: In vier Abfchnitten 
werden behandelt: 1) Zeit: und Nennwörter ©. 1—208; 2) Par» 
tifeln S. 209260; 3) Eigennamen S. 261—326; 4) allge 
meme Süße S. 327 — 387. Ym erjten Abfchnitt ift auf die 
etgmologijche Zugehörigkeit Rücficht genommen (es fteht alfo po 
unter Dip u. |. w.). Die Sonderung der Partikeln ift nicht mit 
offer Conſequenz durchgeführt: bon 64° und 239°, 7533 121°, 
und 255®, oyp> 155° und 260°, np) 170% und 253*, {31P2 
171* und 260* ftehen im erften und im zweiten Abfchnitt; 2120 
129, mn 171° (143°), nn2 206 find im erften, 3Ip> 260°, 
"ons, nasına 260, fowie ob, nen im zweiten. 

Die Abtdeilung „Eigennamen“ ift auch nach der unlängft er- 
folgten Bublicirung der Brecherſchen Eoncordanz (Frankfurt a. DM.) 
Ihr dankenswerth, da letztgenanntes Wert an vielen Mängeln leidet 
(+ B. die Stellen, an welden ein Name mit einer PBräpofition 
zuſammengeſetzt ift, nicht von den andern Stellen fondert). 

Die „allgemeinen Zufammenftellungen* (or55>, 327 — 387) 
ind in zehn Rubriken getheilt: a) Alphabete, d. h. alphabetifch 
geordnete Verzeichniife von ein bis höchitens vier Mal vorkom- 
menden Wörtern, welche eine gewiffe Eigentümlichkeit gemeinfam 


562 Frensborff 


haben, 3. B. alle die auf Mem endigen ; b) Bemerkungen der Maſſora 
zu dem vierbuchftabigen Namen Gottes, zuerft mm allein mit 
Präfiren, dann in feinen Verbindungen und zwar fo, daß zuerſt 
die angeführt werden, in welchen mm vorangeht (3. B. ind mm), 
darauf die, in denen es die zweite (3. B. onb mm on), dritte 
u. ſ. f. Stelle einnimmt; c) yını d. i. Verzeichniſſe von zwei bie 
höchſtens vier Mal vorkommenden Wörtern mit einer gemeinfamen 
Eigenfchaft; d) oyo b. i. die Wörter, über deren Accentuation die 
Mafjora etwas bemerkt; e) yamımy d. i. Wörter, die nur ein 
Mat in einer beftimmten Form (Verbindung) vorkommen (3. B. 
16 WW., die nur ein Mal mit yanı verbunden werden); f) >, 
Wörter, von denen eine gewiffe Eigentümlichkeit angegeben wird; 
g) rad, Wörter, bei denen man eine andere Form erwarten 
möchte (3. B. vier Mat fteht oa „in ihnen“, wo man 2 „in 
ihr“ erwarten follte); h) oımoB (3. B. Verſe, in benen jedes 
Wort mit Mem endet); i) gs Reihen; k) die Buchſtaben und 
ihre Vocale. 

Diefe Eintheilung geht nad) des Referenten Meinung etwas zu 
weit, da man leicht in Zweifel fein kann, unter welcher Rubril 
eine mafjoretifche Notiz zu fuchen fei. Wer fih 3. B. nur erin 
nert, daß eine Angabe die Wörter aufzählt, welche nur ein Mal 
(außer bei Athnach und Silluk) Kamez haben, wird biefelbe in 
Frensdorffs Buch unter now, yo u. f. w. vergeblich fuchen, bie 
er auf den Gedanken kommt, die Bemerkung fei vielleicht in alpha- 
betifcher Form gefchrieben, und dann S. 330° die gewünfchte Aut: 
funft erhält. In der gedruckten Massora finalis braudt man nur 
unter op (Kamez) nachzuſehen. Herr Profeſſor Frensdorff Hätte 
alfo entweder mehrere Rubriken vereinigen oder feinem Buche noch 
einen Realindex beigeben müffen. ALS befonders hinderlich ermeilt 
fi feine compficirte Eintheilung, wenn man bandfchriftlide 
Mafforaangaben mit den gedrudten vergleichen will: denn jene 
bringen (wie 3. B. im Codex Babylonicus) nicht felten Alpha 
bete, wo der Drud einfache Reihen hat, und umgekehrt, oder 
haben bei ihren Angaben andere Titelmörter (mw 3. B. wechſelt 
mit yo). 

„Findet ſich die vollftändige mit Anführung der Belege ver’ 











Die Massora Magna. 863 


jehene Angabe an. mehreren Stellen, jo werden außer der erjten 
die folgenden durch ein Sternchen (*) bezeichnet, fo dag man die 
ausführlichen Angaben von denen, wo nur auf fchon dagewefene 
oder folgende Stellen hingewiefen wird, leicht unterfcheiden Tann.“ 
Ber 3. B. zu wiſſen wilnfcht, wo bie Maffora über das Vor⸗ 
lommen des Wortes wir berichtet, erfieht aus S. 111%: 
Am. 2,15. Job 20,20. 22*, 30. Koh. 8, 8. Mf. do 23 —'n ubos 
daß die vollftändige Angabe der acht (m) Stellen fih in der Mas- 
sora magna zu Am. und Job 22 findet, die Noten zu Job 20, 
Koh. 8 aber und die Massora finalis nur PVerweifungen ent- 
halten. | 
Unferer Anfiht nad) hätte Herr Frensdorff aud der eriten 
vollftändigen Angabe ein Sternen beifegen müſſen; denn diefelbe 
it jet, wenn fie nicht zugleich überhaupt die erfte Stelle, durch nichts 
kenntlich. Ein Beifpiel: zu „sy bat elf Mal den Zon auf der 
legten Silbe“ wird ©. 28° notirt: „Gen. 29, 6. Ser. 10, 22. 
47, 5. Mf. na 4." Die ausführliche Angabe fteht nur in der 
Mf.,. die anderen Stellen geben nur Verweiſungen (Gen. wird 
af Mf., er. 10 und 47 irrig auf Sadar. 14 verwiefen). 
Da diefer Mangel beim Gebrauch des Buches fehr ftörend ift, 
glaubt Referent dur Mittheilung der von ihm bemerften Bei- 
Ipiele allen denen, welche fich mit der Maſſora bereits befchäftigen 
oder noch bejchäftigen werden, einen Dienft zu erweifen. S. 5 
„un 134 Mal“ volftändig nur Mf. — ©. 25% ann by, bu 
volfftändig nur Mf., zu Ez. 14 nur für das Buch Ez.; Deut. 12 
und 23 nur DVermeifungen. — 53° an nur 1Sam. 18 vollftän- 
dig; van nicht zu Erod. 7, 20, fondern zu 26, 24. — 55° bu 
nur zu Gef. 56, 7 (of. 57,7 ift doppelter Druckfehler). — 
72° „un nur Job 18, 6. — 77° ya nicht zu Gen. 19. — 
880 any nur zu Ser. 17. — 110° wann mur zu Lev. 11. — 
113° oym vollftändig nur zu 2Sam. 12 und Hag. 1. — 128 
mn, m nur zu 2Chron. 34. — 138° Sy by nur zu Ser. 
32. — 139* dyn nicht zu Exod. 10. — 139% mbyp Deut. 14 
auf Mf. verwiefen; 1 Sam. 7 und Mf. chaldäifche, Jer. 50 und 
Nah. 3 chaldäiſche und hebräifche Stellenangabe. — 190° „an 
25 Mal“ nit zu Gen. 40. — 211° „Sechszehn Verſe mit m 


364 Frensdorff 


pw“, vollſtändig nur zu Se. 40 und Ser. 8. — 211° am 
nur zu Job 27. — 2140 omba nur Mf. — 215° bu nur zu 
Gen. 26; Abm nur zu Exod. 1. — 219° x m nur zu Ser. 
23. — 220* nit zu Deut. 10. — 220° wma nur zu Nicht. 5. — 
224° mn nidt zu 1Sam. 12. — 225° am nur zu Ben. 10. — 
226* znın nur Mf.; pin „fechzehn Mal plene“ nur Mf. — 248” 75 
nicht zu Gen. und Exod. — 260° pydd nicht zu Richt. 20. — 334° 
mm 973 nur zu Ser. 8. — 337° mm by nur zu Bf. 2 und 
2 Ehron. 13. — 340° „fünf Baare*, nicht zu Deut. 7, fondern zu 
Prov. 19, wo aber ſechs Paare (mas Herr Frensdorff nicht er: 
wähnt). — 369° „25 Wörter“ nur in Mf. — 374P „act am 
Versanfange“ nicht zu Lev. 7. — 381? „25 Verſe“ nur Mf. 

Auch abgefehen von der erjten Stelle, find nicht alle vollftän- 
digen Angaben durd ein Sternchen Tenntlih gemadt. S. 47° 21 
auch zu 1 Kön. 6. — 76* pay auch zu Ger. 33 und Mf. — 
76° ayaı nd auch Mf.; nam aud) Ser. 13. — 77° u auf 
zu Koh. 9; pyan auch Job 19; ym auch 2Chron. 6; am 
auch 1Kön. 8 und Brov. 10. — 77° umyamb auch Dar. 
5, 15. — 79% wu m aud Ser. 1.— 91 m auch Pf. 34. — 
95° sum auch 2Sam. 13. — 128° nn auch Ser. 37. — 
214° un dn aud) zu Num. 33 und &.1. — 216 bad auch 
1Kön. 22. — 219 sun 98 auch 1Chron. 17. — 220 by 
[on au Bag. 1. — 221° wma auch Jeſ. 66, 4. — 255, 
Anm. 3, Zeile 3 v. u. fehlt die Notiz, dag die gedruckte Maſſora 
zu Nicht. 11, 34 fünf Sebirin aufzählt und Joſ. 1, 7 wegläßt. 
In der Maffora zu Yof. 1, 7 (ſechs Sebirin) wird auf Xev. 6 
verwiefen. — 269° auch 2Kön. 19. — 292" aıpyı auch 
Ser. 30. 

Die Zahl der von Herru Frensdorff ganz überſehenen majjo- 
retifchen Bemerkungen ſcheint nicht erheblich zu fein. Referent hat 
nur Folgendes notirt: &. 170° nanp5 ift hinzuzufügen „2 Kön.* 
5, 26%. — 171° amp lies, Joſ.* 9, 16. Yer.* 9, 7... — 
77° yam fehlt „Mf. 41“. — 77 ummnb fehlt „Bf. 7 
41°. — 155° oyes. Diefe Angabe auch zu Richt. 20, 30, 
wo auf Mf. verwiefen wird. — 253*, Zeile 12 fehlt außer de 
Berweifung auf Mf. noch „Num.* 20, 18*. 








an. w- 


Die Massora Magna. B6h 


Die Titel der mafforetifchen Angaben find mehrfach nicht genau 
angeführt, jo daR man dem Inhalt der Tekteren nicht Klar erkennt. 
S. 29° fchreibt Herr Frensdorff einfach „ni2 fieben Mal plene. 
Gen. 32, 8. Lev. 14, 8. 16*, 28. Num.* 8, 24. Mf. a 66.“ 
ẽs mußte heißen „fieben Dial plene im Pentateuh“. Gen. 32 und 
de. 14 wird nur auf Lev. 16 vermwiefen. Lev. 16 zählt die 
feben Stellen aus dem Geſetze auf, Mf. die aus den andern 
biblischen Büchern; die Maſſora zu Num. 8 umfaßt das ganze 
Alte Teftament. — 172? „raö viermal, zwei mit Vav, zwei mit 
He am Schluffe”. Zu Gen. 26 ift nad der ausführlichen Ans 
gabe Hinzugefügt: „und ein Mal in Roh. 9, 11°. — 77° „yp 
neunzehnmal“. Zu Pfalm 92 und zu Koh. 9 werden auch bie 
sormen mit Pathach in der zweiten Silbe aufgezählt. y) und 
m fommen zuſammen neunzehn Dal vor. 

Sehr danfenswerth find die zur Erläuterung und Berichtigung 
der maiforetifchen Angaben binzugefügten Anmerkungen. Herr 
Brofeffor Frensdorff benutte bei denfelben außer den Schriften der 
hebräiſchen Nationalgrammatifer die der Tachmänner !) Meir ha⸗ 
Levi ben Todros (13. Jahrhundert, Mn) vo non, Florenz 17 50), 
Elias Levita, Menachem ben Jehuda di Lonfano (main in in 
mv nw, DBenedig 1618), Eliah ben Ariel Wilna (monD an, 
Hamburg 1738 zufammen mit Ör thorah gedrudt), Salomo 
Rorzi (ww nrun in der Mantwaner Bibel 1742—1744), Joſeph 
ben David Eſchwege (nm yo, Amfterdam 1765), Anfchel 
Borms (nd 290, Frankfurt a. M. 1766), Salomo Dubno 
(anaıd ppn in der Miendelsfohn’fchen Pentateuchausgabe Nethi- 
both ha-schalom, #erlin 1783). Ganz befondere Förderung 
aber gewährten die Arbeiten des größten Maſſorakenners im 
19. Zahrhundert, Wolf Heidenheim, und zwar ftanden Herrn 
örensdorff nicht nur deffen gedruckte Werke zu Gebote, fondern er 
war in der glücklichen Lage auch die Handichriftlichen Bemerkungen 
dieſes verdienten Mannes zu Burtorfs Concordbanz und zur 
Maſſora, fowie fein unvollendet gebliebenes Onomafticon zu bee 





I) Referent hat bei jedem Autor in Klammern die editio princeps der ge- 
memten Schrift (angegeben. 


366 Srensdorff 


nugen und fo viele verderbte Mafforaangaben zweifellos zu emen- 
diren. Endlich konnte Herr Frensdorff mande Handſchriften be- 
nugen: „Mpt. Hamb.“ ift ein Bibelcoder der Hamburger Stadt: 
bibliothef, Kennicott 612, ſ. Ochlah W'ochlah, ed. Frensdorff, 
S. XIV; mit „Mpt. Hal.“ ift wol die Halle’fche Recenfion des 
Ochlah W'ochlah gemeint. 

Die von Heidenheim und Frensdorff aufgeſtellten Verbeſſerungen 
der Maſſora werden mehrfach durch den Codex Babylonicus be: 
ſtätigt. S. 77° yany „dreimal“. Auch in Coder Babylonicus 
fehlt der falfche Zufag „mit Sageph*. — 90, Anm. 3.4. Daß 
Jeſ. 6, 5 um mit Vav zu fohreiben fei, ergibt fi) auch aus 
Soder Petersburg B. 19° und Coder Babylonicus (f. meine Anm. 
zu Jeſ. 10, 24). — 153, Anm. 1. In oder Babylonicus zu 
Her. 34, 3 fteht Job 3, 1 [fo lies ftatt 2, 14]. — 190, Anm. 3. 
Der fehlende [25.] Vers 2Chr. 34, 16 fteht auch in Coder 
Babylonicus zu Ez. 44, 1. — 226, Anm. 1. Coder Babylonicus 
zu &. 3, 27 läßt, wie da8 von Heidenheim angeführte Manu— 
ſeript Ez. 38, 17 weg, fügt 2, 4 hinzu. — 252, Anm. 3. Co 


der Babylonicns zu Mid. 2, 11 hat wie Mpt. Hal. — 253, 


Anm. 3. Mit Heidenheims Mpt. ftimmt Coder Babylonicus zu 


Ser. 11, 15 (f. meine Arm. dafelbft) im wejentlichen überein. — — 


294, Anm. 3. Vgl. zu Coder Babylonicus er. 27, 1. — 332, 
Anm. 7. Coder Babylonicus zu Am. 5, 8 Hat richtig 7 4. — 
340, Anm. 5. Vgl. Eoder Babylonicus zu Ser. 1, 18 u. meine 
Anm. dafelbft. — 374, Anm. 5. Die fehlende Stelle (Er. 26, 13) 
fteht aud) in Codex Babylonicus zu Ey. 48, 22. 


Bei weiten nicht alle faljchen Angaben find von Herrn Fren® 


dorff berichtigt oder aud) nur erwähnt worden. S. 21° yo. 
In Massora magna zu Gen. 32, 5 und 2 Kön. 18 ift ftatt 
377 = Chronik zu lefen 'yarı = Hei. (fiehe zu Codex Babyloni- 
cus ef. 37, 6). — 105* andy. Ueber die Maffora zu Richt. 9 
vgl. zu Eoder Babylonicus Jeſ. 30, 32. — 212, Anm. 7. Auch 


die Angaben der Bomberg’fchen Bibel über die BVerbalformen, 


welche nur ein Mal dan, fonft I vor fich Haben, find nicht richtig; 


dern 1) kommen awın dx und amum In nicht vor, 2) fehlen 
aayn ben Pfalm 27,9 (nd Pi. 38, 22 u. f. f.) und num Im | 


Die Massora Magna. 867 


Richt. 13, 4 (nd B. 7), vgl. Coder Babylonicus zu Ser. 
14, 17. — 254, Anm. 4. Nicht 14 Wörter find ein Mal mit 
jr verbunden, fondern 16, nämlich außer ann m noch nwan 01 
Er. 10, 11, vgl. Codex Babylonicus zu Yer. 44, 18. — 259. 
ny 25 Mal am Bersanfange*. Die gedrudte Maffora zu 
ehr. 6 gibt ftatt 2Chr. 30, 8 irrig Pi. 95, 8; richtig Coder 
Babylonicus zu Ezech. 26, 18. — 330°, 3. 7. Zwei Fehler 
in diefer Angabe hat Referent zu Eoder Babylonicus ef. 28, 6 
orrigirt. — 330, Anm. 2, f. 3. Coder Babylonicus Jeſ. 57, 6. — 
377, Anm. 1. Die beiden Stellen won find zu ftreichen, da 
jedes Wort nur einmal in dieſer Eigentümlichkeit vorfommen fol. 
Auh die Angabe (13) in Codex Babylonicus Ser. 20, 6 ift un- 
oolftändig, da j'm Gen. 14, 8 und Sam Neh. 12, 39 fehlen. 
Die richtige Zahl möchte „15“ fein, denn 8S+-15-+9==32. — 
382%, 3. 5. VBol. z. B. Jeſ. 52, 11. 

Nicht wenige in der gedruckten Maffora vorhandene Widerfprüche 
werden fih durch die Vermiſchung orientalifcher und oceidentalifcher 
Angaben erklären laſſen. S. 47, Anm. 1. Zu ana bemerkt 
die Mp. bald „12“, bald „13”; die Mm. zählt nur 12. Die 
jung diefer Schwierigkeit bietet. die Maflora bes jehr alten Per⸗ 
pamentcoder Tſchufutkale Nr. 1 zu Ez. 29, 5: „amaman kommt 
bei den Madinchaëk 13 Mal vor: Er. 4, 27. Lev. 16, 10. 21. 
Num. 21, 23. 33, 8. Deut. 1, 40. 2,1. Richt. 20, 42. 45. 47. 
1Sam. 13, 18. 26, 3. Ez. 29, 5.“ ober Petersburg B 19° 


. md Koder maſſ. Tſchuf. 7 jagen ausdrüdlich, daß Nicht. 20, 42 


die Manrbad sen, die Madinhad nsmn leſen (wonach das 
gedruckte DBariantenverzeichnis zu berichtigen tft. — S. 251, 
Anm. 7. Bei mon lautet im Pentateud) die Mp. meift „12 Mal 
mit Vav“, mehrfach aber auch „13 Mal mit Vav“. Jenes ift 
die occidentaliſche Lesart; die Drientalen haben auch Deut. 32, 34 
won (nach Cod. Peters. F 132 35. St., Cod. Tſchuf. 30 zu 
Gen. 42, 22 und Cod. Tſchuf. 81 zu Gen. 31, 15). — Ein 
drittes Beiſpiel hat Heidenheim erkannt (S. 90, Anm. 4), ein 
viertes Herr Frensdorff felbft (S. 82, Anm. 5). 

Die von Burtorf in feiner Rabbinifchen Bibel vorgenommenen 
Deränderungen der Mafjora find von Herrn Brensbnrt, joweit 

Theol. Stud. DSahrg. 1878. 


568 Frensborff 


Referent bemerkt bat, forgfältig angegeben (doch ber S. 330, 
Anm. 2 gerügte Fehler 1 7 fteht Schon in der Ausgabe des Jakob 
ben Chajim): fomit ift da8 hier angezeigte Werf auch für den 
Befiger der Burtorf’fhen Bibel verwendbar. 

Dem mit der Maſſora noch nicht Vertrauten wird der 20 be: 
fonders paginirte Selten umfaffende Abfchnitt „Eigentümlicde Aus: 
drücke und Abkürzungen, deren fich die Maſſora bedient“ ſehr will- 
fommen fein. Hauptquelle für Herrn Frensdorff war hier wohl 
die Einleitung zu Mebin chidoth, dem bereit oben erwähn- 
ten vorzüglihen Commentar zur Pentatenchmalforı. Zu ©. 2 
fonnte bemerkt werden, daß ſchon Elias Levita, Maſſoreth ha⸗maſſ. 
©. 261 (Ginsb.) den Urfprung des Wortes anobwn nicht mehr 
fennt. Eine neue Deutung von D. Oppenheim ſ. in Geigerd 
jüdifcher Zeitfchrift XI, 85. — ©. 4. Zu ſypa dgl. Maſſoreth 
ha⸗maſſ. S. 211. 213; zu un daſelbſt ©. 233; zu rin 
(welches nicht bloß „aufeinanderfolgend“ bedeutet) dafelbft ©. 218; 
zu 30 dafelbit S. 225 — 227. — Die Bemerkungen über die | 
Codices don (S. 4) und wo (©. 9) find ungenügend. Warum 
fehlen Pory und ınm? — ©. 7 wird zu nano nur be 
merkt „Bezeichnung eines beftimmten Bibelmanufcriptes“. no kam 
jedes Sammelwerk heißen, welches eine beftimmte Ordnung befolgt. 
Der Name des alten fchen von Ben Naphtali als Autorität an: 
geführten Muſtereoder, an welchen Herr Frensdorff (dem Ber 
faffer des Meb. chid. folgend) gedacht Hat, ift Machasors 
rubba. — ©. 10°. Das Wort nn wird zwar in Meb, 
chid. ımd in Maſſ. ha⸗maſſ. angeführt, ift aber in der Maſſora 
vom Neferenten vergeblich gefucht worden. — S. 12. pn vum 
heißt „acht Arten“, nicht „acht Alphabete*. 

Die Ausftattung des Buches ift trefflich. Bei haushälterifcherer 
Druckoinvichtung hätte, auch ohne Anwendung anderer Typen viel 
Raum gefpart und der Preis niedriger geftellt werden können. 
Außer den S. 388. 389 aufgezählten Druckfehlern verdienen 
folgende hier erwähnt zu werden: S.45°, 3.8 lies „oa 12* fiaft 
„pa 2%. — 46%, 3. 12 nah 31, 29 add.: „Exod.“ — 7, 
3.7 fies „m 60° ftatt „7° 66%. — 88®, 3. 13 lies „21, 24° 
ftatt „21, 19°. — 91°, 3.12 lies „2 ©. 22° ftatt „26.21. —- 


ED u nme «m Geil " — nd HERE ⏑⏑⸗⏑·⏑ —— —, BEE —0O ee er 


Die Massora Magna. 269 


116%, 3.5 lies „31, 22“ ftatt „31, 32°. — 168, 3. 7 v. u. 
lies Geh. „7, 12°. — 189, Anm. 6, 3. 3 lies „35, 10°. — 
0, 3.3 fies „23, 18°. — 21le, 3, 5 v. m. „2b, 28%. — 
293, An. 1 lies „orbunan“. — 294° ſteht neun Mab nom. — 
391%, Anm. 1 fies „Dan. 3, 15* ftatt „&ft. 3, 12“. — 75°, 
kegte Zeile ift „Dan.* 5, 15* zu ftreihen. — 321, 3. 3. Weber 
onde fteht zu Hag. 1, 12 nur eine Mp., feine ausführliche 
Angabe 


Ale vorftehend gemashten Ausftellungen, denen. ſich noch andere 
hinzufügen ließen, halten den Neferenten nicht ab, das maſſoretiſche 
Wörterbuch des Herrn Brof. Frensborff nochmals ausdrücklich für 
ein mit felbftlofem Fleiße ausgearbeitetes und ſehr nützliches Nach⸗ 
ſchlagebuch zu erflären. Möge es dem fchon betagten Herrn Ver⸗ 
faffer vergönnt jein, die Arbeit feines Lebens zum Abſchluß zu 
bringen, ihm zur Ehre und der Willenfchaft zum Nuten! 

Zum Schluſſe fei e8 geftattet, den Nuten der Maffora für 
die Textkritik des Alten Teſtaments durch einige Beifpiele zu be⸗ 
weifen. 

Sem. 11, 29 Hooght ip. Die ridtige Lesart ift ip ſ. 
Ochlah W’ochlah Abſchn. 21, Cod. Bab. zu Ger. 22, 14. Joel 
4, 4. Sachar. 7, 13. 

Gen. 18, 6 Hooght may; richtig ohne Dageſch, |. Maſſora zu 
Gr. 12, 39, Norzi zu Gen. 18. Auch God. Pet. B 19* Hat 
kin Dageſch. Ebenfo ift ad, auD u. f. w. ohne Dageſch zu 
ihreiben, |. Bär zu ef. 1, 22 und Dip. in Cod. B 19. 

gef. 10,16. Daß mm, nidt aan [Hooght] zu lefen, ergibt 
fih aus Mf. 8 (mo ef. 10, 16 nicht unter den 134 Stellen, 
an welchen Adonai gelefen und gefchrieben wird) und aus Mm. 
zu Jeſ. 3, 1, wo 10, 16 unter den fünf msas mm pen. Gef. 
38, 14 ift Hooghts mm in a8 zu corrigiren. 

Ye. 30, 14 man [Hooght nma], ſ. Mf. > 5, Ochlah W'och⸗ 
(ch Abſchn. 1, Cod. Bab. Mp. 3. St. 

ef. 39, 1 Tino darf fein otiirendes Aleph nad) Reich haben, 
denn es gehört nicht zu den 48 Ausnahmen, welde Ochlah W'och⸗ 
Inh Abfchnitt 103 aufzählt. Auf Grund derfelben Maffora ift 
das Schwa unter Kaph in wanaım SYob 19, 2 zu ftreichen. 

24* 





30 Frensdorff, Die Massora Magna. 


Jeſ. 42, 18 army, He mit Pathach (Hooght Kamez) ebenfo 
Hiob 29, 15 yb Lamed mit Pathach; nad) der wigig formulirten 
Regel purp Pay JMD NOD. 

Jeſ. 60, 5 wm mit einfahem Schwa, alfo von mn. Bol. 
Mi. x 20, Ochlah W'ochlah Abſchnitt 56. 

gef. 63, 11 mit Jod, denn diefe Stelle gehört nicht zu 
den vier ıyn, Massora magna zu Pjalm 80, 2. 

An allen diefen Stellen hat der Petersburger Eoder vom 
Jahre 1009 (B 19") die von der Maſſora geforderte Lesart. 


Berlin, Januar 1877. Hermann S. Stra. 





Miscellen. 


1. 


Programm 
der 
HZaager Geſellſchaft zur Verteidigung der chrifllichen Religion 
für das Jahr 1877. 


— — — — 


Die Directoren haben in ihrer Herbſtverſammlung am 10. Sep⸗ 
tember 1877 und folgenden Tagen zehn vor dem 15. December 
1876 eingegangene Abhandlungen ihrem Urtheil unterzogen, deren 
neun zur Löſung dienten der Preisaufgabe: 

„In weldem Verhältnis zur Religion und 
Sittlidhleit ftehen die neueren Theorien Dar» 
wins und anderer mit Hinfidt auf die Ab- 
ftammung des Menſchen?“ 

Eine diefer Abhandlungen von einem deutfchen Verfaſſer, ge- 
zeichnet mit dem Sprucde: „Absit ut ideo credamus, ne 
rationem“ etc., ift zur Mitbewerbung um den Preis nicht zuge. 
lofjen worden. Nach dem einftimmigen Urtheil der Directoren war 
die Schrift äußerſt ſchwer zu lefen; die meiften von ihnen erflärten 
logar, daß fie diefelbe nicht oder nur mit Mühe hätten entziffern 
können und folglic) außer Stande waren, über den Inhalt der Arbeit 
ein auf guten Gründen ruhendes Urtheil zu äußern. War die Preis- 
zutheilung ſchon dadurch unmöglich, fo fchien außerdem von ihr feine 
Rede fein zu können nach dem Eindrude, welchen die Arbeit auf 
diejenigen gemacht hatte, denen eine zufammenhängende Lefung am 
beften gelungen war. Bei weitem die größte Hälfte enthielt näm« 


874 Programm 


lich eine Beurtheilung des Darmintsmus aus dem Gefichtöpuntte 
des Naturftudiums, welche offenbar von vieler Kenntnis zeugte. 
Aber zur gehörigen Würdigung diefes Lrtheiles mußten die Direc- 
toren fih für unbefugt erflären, wie fie denn durch die Preisauf⸗ 
gabe dasfelbe nicht hervorgelocdt hatten. Unabhängig von dieſer 
Kritit wurde im zweiten Theil der Abhandlung die Frage behandelt, 
ob Religion und Sittlichleit fih mit dem Darwinismus felbft und 
den damit verbundenen naturphilofophiichen Theorien vereinigen 
ließen? Die Anfichten und Betrachtungen des Verfaſſers darüber 
waren nicht glücklich geordnet, aber jedenfalls Tejenswerth und, 
wenn fie aud) bisweilen Bedenken erregten, oft fehr richtig und 
treffend. Jedoch gaben diejenigen, welche das günftigfte Urtheil 
darüber äußerten, ohne weiteres zu, daß das Bedenken gegen den 
erften Theil der Abhandlung dadurd nicht aufgehoben und jeden 
falls die Schwierigkeit nicht aus dem Wege geräumt wurde, welche 
oben, den Bedingungen des Preisfampfes gemäß, der undentlichen 
Schrift entnommen wurbe. 

In Betreff der acht übrigen Arbeiten führten die WBerath- 
ſchlagungen zu den folgenden Refultaten. 

Eine franzöfifche Abhandlung mit dem Sprude: „Le mate6- 
rialisme est un syst&me a priori“, wurde, als ein uns 
bedeutender Auffag ohne irgend einen wiffenfchaftlichen Werth, gleich 
beifeite gelegt. ‘Die Form, namentlich die Zertheilung in fehr kleine 
Kapitel und die Hinzufügung breiter Noten zu einem kurzen Texte, 
war äußerft mangelhaft. Bon den drei Theilen konnte im Grunde 
nur ber zweite fir eine Antwort auf die geftellte Frage angefehen 
werden, da der erfte naturhiftorifche Einwürfe gegen den Dar: 
winismus enthielt und der dritte, der Verteidigung der Einheit 
des menschlichen Geſchlechtes gewidmet, wicht die Frage felbft be 
traf. Aber die Kleine Seitenzahl dieſes zweiten Theiles enthielt 
nur eine Misbilfigung der von Darwin angegebenen Gefeke auf 
Grund eines willkürlich vorangeftellten ‚monisme relatif ou 
théiste““, welcher daher durchaus fein Werth zuerkannt werden 
konnte, und welche außerdem oft auf Misverftändnis beruhte. 

Ebeuſo ungünftig war das Urteil über eine zweite franzöſiſche 
Abhandlung, gezeichnet mit den Worten Newtons: „Deus sine 


ber Haager Geſellſchaft 3. Verteid. d. chriſtl. Religion. 875 


dominio, providentia“ etc. Da bie drei erften Kapitel 
(Exposition et critique du systöme de Darwin, principale- 
ment au point de vue de la Providence; Exposition et cri- 
tique du systöme de Vogt; Les th6ories de Darwin et de 
Vogt etc. devant les savants) ſich großentheils auf einem anderen 
Gebiete bewegten, als in der Preisaufgabe deutlich genug vorges 
zeichnet und feftgefeßt war , und überdies, wern fie gleich einzelne 
richtige Bemerkungen enthielten, feine unparteiifche Auseinander- 
jegung und Würdigung des Darwinismus lieferten, fo mußte das 
208 ber Abhandlung abhängig gemacht werden von dem Wefultat, 
za welhem die Prüfung des vierten Kapitels (Les theories de 
Darwin, de Vogt etc. et la morale et la religion) führen 
würde. Aber da ergab fich gleich, daß der Verfaffer fich beſchränkt 
hatte auf die — eigentlich ganz überflüßige — Beweisführung der 
Unvereinbarfeit der Descendenzlehre mit der mofaifhen Schöpfunge- 
geihichte und mit der kirchlichen Lehre von der Schöpfung, Bor» 
fchung, Erbfünde, Fleifchwerdung und Erlöfung. Glaubte der 
Berfaifer auf feinem dogmatischen Standbpunfte verpflichtet zu fein, 
dieien Maßftab anzumenden, fo erwies er fich gerade hiedurch nicht 
m Stande, dem Zwed der Geſellſchaft beim Stellen ihrer Preie- 
aufgabe zu entfprechen. 

Bon ganz entgegengefegter Richtung war eine dritte, nieder» 
lindifhe Abhandlung, mit dem Motto: „Natura non facit 
saltum“. Der Berfaffer zeigte fi als einen warmen Verteidiger 
des Darwinismus, von dem er im zweiten Kapitel des erften Theiles 
fein unverbienftliches Schema lieferte. Weniger befriedigte, wegen 
des Mangels an Objectivität und Unparteilichkeit, die Beſchreibung 
„der Schöpfungshypotheſe“ im erften Kapitel des nämlichen Theiles. 
Beſonders aber trugen die Directoren Bedenken gegen den zweiten 
Theil der Abhandlung, welche das Verhältnis zwifchen Religion 
und Sittlichkeit und dem Darwinismus darlegen mußte. Er zeugte, 
ihres Erachtens, von Mangel an Nachdenken und philofophifchem 
Sinn. Fanden ſie ſchon wenig Logik in den Weberfchriften ber 
Theile und Unterabtheilungen der Abhandlung, wie auch in mancher 
Argumentation in Bezug auf Einzelheiten, fo erfchien ihnen das Ur» 
theil des Verfaffers im ganzen über das oben genannte Verhältnis mehr 


876 Programm 


als ein pſychologiſches Räthſel denn als ‚eine befriedigende Löſung 
des Probleme. Der Dualismus von Glauben und Wiſſen wurde 
vom Verfaſſer nicht gehörig erflärt, viel weniger gerechtfertigt. 
Es zeigte fich nicht, wie feine Auffaffung der Methode und der 
Ergebniffe der wifjenjchaftlihen Naturforfchung fich möglicherweiie 
vereinigen ließ mit derjenigen Anficht der Natur im ganzen und 
de8 Menschen insbefondere, welche er als die feinige vortrug. 
Dem zu Bolge konnte feinen been über den Werth des Darwi- 
nismus für das religtöfe und fittliche Leben auch nur wenig Ge 
wicht zuerfannt werden, indem darin überdies infeitigfeit und 
Vebertreibung bemerkt wurden. Von Krönung konnte daher feine 
Rede fein. 

Auch der vierten, einer franzöfifchen Abhandlung, gezeichnet mit 
den Worten: „Leschoses nouvelles‘“ etc., fonnte der Preis 
nicht zu Theil werden. Der Verfaffer war unftreitig ein gefchidter 


und tüchtiger Mann, in der Materie zu Haufe, erfüllt mit warmer 


Theilnahme an Religion und Sittlichleit und überdies ein geübter 


Schrififteller. Seine Schrift war aber in hohem Maße unbe: 
jriedigend. Er war überzeugt, daß der Darwinismus im Grunde 
materialiftiich jei und daher am Ende zur Vernichtung der Keligion 
und wahren Sittlichfeit führen müſſe. Dieſen Erfolg bedauerte 
er nicht nur, ſondern derjelbe diente ihm auch zum entfcheidenden 
Beweis für die Unwahrheit einer Theorie, welche ſolche verderb: 
liche Folgen nach fich ziehe. Er ließ denn auch die Hoffnung nicht 
fahren, daß die drohende Gefahr abgewandt werden und eine Aus— 
föhnung der Naturwiffenfhaft mit den Forderungen des Gemüthe 
und des Lebens zu Stande fommen würde. Aber er unterfieß, zu 
zeigen, wie dies würde gefchehen können, und fchien fogar, dur 
feine Darftellung und Beurtheilung de8 ,„Darwinisme mitige“ 
im 2. und 3. Paragraph, den Weg zur erwünjchten Ausföhnung 
abgefchnitten zu haben. Dem zu Folge machte die Abhandlung 
einen ganz andern Eindrud, als vom Verfaſſer beabfichtigt war, 
und mußte fie für untauglich gehalten werden zum Zwed, welden 
die Geſellſchaft jich vorgefeßt Hatte. 

Eine fünfte, deutfche Abhandlung, mit dem Spruche: „Es find 
manderlei Kräfte“ u. ſ. w. (1Gor. 12, 6), fonnte cbenif 





der Haager Geſellſchaft 3. Verteid. d. chrift. Religion. 877 


wenig den Preis bavontragen. Zwar bewunderten die Directoren 
den Scharffinn und das Talent des Verfaſſers und ſchien ihnen 
manche Unterabtheilung feiner Arbeit bem Inhalt und der Form 
nach ſehr verdienftfich zu fein. Aber, abgefehen davon, daß auch 
die beften Stücke durch Weberladung und bisweilen auch durch 
falſchen Wig verunftaltet wurden, waren fie der Meinung, daß der 
derfaffer den Anforderungen der Breisaufgabe keine Genüge geleitet 
habe. Es fehlte in der ausführlichen Abhandlung eine volljtändige 
md deutliche Charakterifirung der neueren Theorien betreffend die 
Abſtammung des Menfchen. Sie enthielt mehr Auslaffungen, 
Ergüffe und Abjchweifungen nach Anleitung der Schriften Darwins 
ud einzelner Darwiniften — welche mit Unrecht dem Meiſter 
dielmehr entgegengeftellt als von ihm unterfchieden wurden — ale 
eine ruhige und unparteiifche Würdigung ihrer Ideen aus dem 
Geſichtspunkte der Neligion und Sittlichkeit. Beſonders richtete 
der Berfaffer feine Angriffe gegen den materialiftiichen Monismus, 
den er zumeilen empfindliche Schläge verſetzte. Aber eine vor- 
fägliche Widerlegung diefer Meinung war von der Gefellfchaft nicht 
verlangt. Ungeachtet einer aufrichtigen Werthacdhtung fowol ber 
Tendenz als auch der vielen Vorzüge diefer Abhandlung, mußten 
die Directoren ihr den Preis verweigern. 

Die dentfche Abhandlung, gezeichnet mit den Worten: „Ber 
wahre mih vor meinen Freunden“ u. f. mw., zeichnete jich 
vor der vorhergehenden aus durch Bündigkeit nnd ruhige Beweis⸗ 
führung. Der Abriß des Darwinismus, im erften Kapitel, war 
deutlich, Tieß aber, was die Vollftändigkeit betrifft, zu wünfchen 
übrig; die Nachweifung der auseinanderlaufenden Urtheile über 
dad Verhältnis des Darwinismus zur Religion und Sittlichkeit im 
zweiten Kapitel, war fehr Iehrreich, aber fchon von anderen, deren 
Schriften dem Berfaffer zu Dienften ftanden, umftändlicher gegeben; 
die Behandlung des eigentlichen Gegenftandes der Preisfrage, im 
dritten und vierten Kapitel, fand bei den Divertoren im allgemeinen 
Beifall und Zuftimmung, fchien ihnen jedoch hie und da nicht 
frei von Oberfläclichkeit und im ganzen nicht fo vorzüglich, daß 
fie als befondere Hervorragend anerfannt werben konnte. Diefe 
Mittheilung des über die einzelnen Theile der Abhandlung gefällten 


378 Programm 


Urtheiles ftellt zugleich in’S Licht, warum das Ganze, ungeachtet 
feiner nicht gering zu fchägenden guten Eigenſchaften, den auöge- 
fetten Ehrenpreis nicht davontragen konnte. 

Auch dem niederländifchen DVerfaffer der Abhandlung, gezeichnet 
mit einem Citat aus R. Sted: „Nur daran muß man feit- 
halten“ u. f. w., konnte der Preis nicht zugetheilt werden. Die 
Direetoren meinten, daß auf die Form mehr Sorgfalt hätte ver- 
wendet werden können, und daß die Tendenz der Abhandlung nicht 
überall Hell und flar genug hervortrat. Auch gegen den Inhalt 
einzelner Stüde hatten fie Bedenfen. Die Unterfuchung nach dem 
Ursprung und der Entwiclung der Religion in Verbindung mit 
dem Darwinismus, im erften und zweiten Kapitel des erften 
Theiles, ſchien ihnen nicht gleicher Art mit der nach dem echte 
der Religion im dritten Kapitel, und eigentlich nicht zum Gegenftand 
der Preisaufgabe zu gehören ; überdies wurden darin, namentlid 
in Bezug auf die Entwidlung der Religion, ſehr anfechtbare Theſen 
vorgetragen. Das fchon genannte dritte Kapitel und der ganze 
zweite Theil der Abhandlung waren, ihrer Meinung nach, zwar 
viel Höher zu fchägen, hätten aber, um den weniger günftigen 
Eindrud, welchen das Vorhergehende hinterließ, ganz auszulöfchen, 
vollftändiger, dentlicher und fchlagender fein müfjen. Zur Krönung 
konnten die Directoren ſich daher nicht entfchließen. Die Abhand: 
(ung zeugte jedodh von fo viel Studium und Nachdenken und ent 
hielt ſo viel vortreffliches, daß fie es für ihre Pflicht Hielten, dem 
verdienftlichen Berfaffer einen Beweis ihrer Werthichäßung feiner 
Arbeit anzubieten, und dem zu Folge ihm eine Summe von 
200 Gulden zuzuerfennen, wenn er erlaubte, das feinen Namen 
und Wohnort enthaltende Billet zu eröffnen. Nachdem, in Folge 
einer Bekanntmachung in den Zeitungen, die Erlaubnis eingetroffen 
war, ergab ſich, daß die Abhandlung eingefandt war vom Herrn 


2. 9. Sietemaler, 
Dr. theol. und Prediger in Arnheim. 


Die legte der eingegangenen Abhandlungen über den Darwinis⸗ 
mus war von einem deutfchen Verfaffer und gezeichnet mit dem 
Motto: „Zn zweifelhafte Lage fommend, aber nidt der’ 


der Haager Gefellichaft 3. Verteid. d. chriſtl. Religion. 879 


zweifelnd" (2Cor. 4, 3). Cinftimmig waren bie Directoren 
im ihrem Urtheil, daß dieſe Arbeit alle die anderen übertraf. Sie 
zihnete fih aus duch Friſche und Urfprünglichkeit, bildete ein 
Ihönes Ganze und enthielt eine kurz gefaßte und vollftändige Ant- 
wort auf die geftellte Frage. Scien die Beurtheilung der Ab⸗ 
Nammungslehre und bes Darwinismus anfangs zu fehr einen 
naturwiſſenſchaftlichen Charakter an fi) zu tragen, fo ergab ſich 
ipäter, daß fie für den Zweck, welchen der Berfaffer zu erreichen 
itrebte, unentbehrlich war und daher bei feiner Löfung ber Preis- 
aufgabe nicht fehlen durfte. Die Directoren befchloffen dern auch, 
ihm den ausgeſetzten Preis zuzuerfennen und feine Abhandlung in 
die Werfe der Gefellfchaft aufzunehmen. Sie ließen ſich davon 
nicht zurückhalten durch die Bedenken oder Zweifel, welche die Be- 
weisführung des DVerfaffers hie und da erregte. Einige Directoren 
trugen fogar ſchweres Bedenken gegen feine Anficht vom Wefen 
der Religion und gegen fein Urtheil über das kirchliche Chriften- 
tum. Sie waren aber mit ben Webrigen der Meinung, daß bie 
Krönung einer Preisabhandlung, wenigſtens einer fo individuellen 
Arbeit als die von diefem Verfaſſer, keineswegs als eine Bilfigung 
einer befonderen Anfichten, fondern vielmehr als eine Anerkennung 
jeiner Berdienfte und der allgemeinen Tendenz feiner Arbeit, der 
Berteidigung der Religion und Sittlichkeit und ihrer Grundlagen, 
betrachtet werden müßte. Das verfiegelte Billet wurde nun er 
öffnet und enthielt den Namen des Herrn 


Dr. ©. 9. Weygoldt, 
großh. bad. Kreisfchulrath in Lörrach (Baden). 


— — — — 


Auf die Preisfrage: 

„Zn welchem Berhältniffe ftegt, der Geſchichte 
nah, der religidöfe Slaube der Völker zur Be- 
handlung ihrer Todten?“ 

war nur eine Antwort eingegangen, eine deutſche und gezeichnet 
mit den Worten: „'O Javaros undev rrgös nuäs. Epicurus.“ 
Die Directoren ertheilten dem Verfaſſer diefer ausführlichen Arbeit 


380 Programm 


gerne das Lob, daß er fih viele Mühe gegeben und in Betreff 


der Leichenbegängniffe und Gebräuche der alten umd heutigen 
Völker und Stämme wijjenswerthe Einzelheiten und &igentümlid: 
feiten zufammengetragen hatte. Auch nahmen fie mit Intereſſe 
und Sympathie Kenntnis vom fetten Kapitel, „der Trage der 


Gegenwart gewidmet“. Aber diefes Kapitel, welches ihnen bei 


weiten das Befte der Abhandlung zu. fein däuchte, betraf, einem 
großen Theile nah, in fo fern es ſich auf hygieniſchem Gebiete 


bemegte, die geftellte Frage nicht und durfte daher am allerwenigiten 
das Urtheil über da8 Ganze beftimmen.. Dies mußte abhängig 


bleiben von der Frage, ob der Berfalfer in Kap. 1—9 der Auf⸗ 
gabe der Gefellfchaft Genüge geleiftet und das Verhältnis, in 
welchem der religiöfe Glaube der Völker zur Behandlung ihrer 
Todten fteht, Mar und deutlich in's Xicht geftellt Hatte? Diele 
Frage wurde verneint. Das genannte Verhältnis ſchien oft gan; 


aus den Augen verloren zu fein: Gebräuche, welche mit der Re 


ligton faum oder gar nicht verbunden waren, wurden ausführlid 
beichrieben ; religiöfe Vorjtellungen,, deren Zufammenbang mit den 
Leichenbegängniffen zweifelhaft war, breit erzählt; auch da, wo ber 
religidfe Glaube offenbar feinen Einflug ausgeübt hatte auf die 
Behandlung ber Todten, fehlte oft die Nachweifung dieſes Einfluffer 
md die Beftimmung feiner Grenzen. Die Abhandlung Tonnte 
dem zu Folge nicht fiir eine Löſung ber Breisaufgabe gehalten 
werden. Dazu kam nod ein anderes Bedenken. Die Anorbnung 
der Völfer und Stämme in den obengenannten Kapiteln der Ab- 
handlung war höchſt unglücklich. Der Berfaſſer Hatte ſich vorge: 
jeßt, die verfchiedenen Welttheile hintereinander weg zu behandeln, 
und diefen Plan, obwol nicht ohne bedeutende Abweichungen auch 
ausgeführt. Dadurch hatte er oft das Ungleichartigfte zufammen: 
gefügt und fich den Weg verfperrt, um die äfteften Gebräuche aus: 
findig zu machen, deren fpätere Abänderungen pragmatifch zu er 
ffären und ihre Verbindung mit der Entwicklung ber religiöjen 
Begriffe, mo diefe Verbindung fich wirklich vorfand, in's Licht 
zu Stellen. Die Abhandlung glich deshalb mehr einer Samm 
fung merhvürdiger oder feltfamer Thatſachen als einer willen 
ſchaftlichen Sichtung und Bearbeitung der reichen Baumaterialien 





dee Haager Geſellſchaft 3. Berteid. d. chriſtl. Religion. 881 


welche Gefchichte und Ethnographie darbieten. Wäre der Verfaſſer 
cbhenſo vertraut geweſen mit den neueren Unterfuchungen über die 
Afmologie und die Gefchichte der Religion, als er fich durch aus⸗ 
gebreitete Beleſenheit auszeichnete, er würde diefen Fehler wohl 
vermieden haben. Yet konnte ihm, troß den guten Kigenjchaften, 
welche ſeine Abhandlung Ternzeichneten, der Preis nicht zuertheilt 
werden. 

Die beiden folgenden Preisfragen wurden zum zweiten Male 
außgeichrieben : 

l. In welchem Berhpältniffe fteht, der Geſchichte 
sah, der religiöfe Glauben der Bölfer zur Behand— 
lung ihrer Todten? 

H. Die Gefſellſchaft verlangt: 

Eine Geſchichte und Kritik der kirchlichen Lehre 
vom Stande der urfprünglihen Bollftommenheit und 
vom Sündenfall. 

Ferner wurde biefe neue Preisaufgabe Hinzugefügt: 

DI. Die Geſellſchaft verlangt, nachgewiefen zu fehen, 

In wie fern die vergleichende Religionsgeſchichte, 
wiejiejegt getrieben wird, beiträgt zur Kenntnis und 
Verthſchätzung des Chriftentums? 

Vor dem 15. December 1878 fieht man den Antworten auf 
diefe Fragen entgegen. Was fpäter eingeht, wird beifeite gelegt 
und der Beurtheilung nicht unterzogen. 

Vor dem 15. December 1877 erwarten die Directoren Ant» 
worten auf die 1876 ausgejchriebenen Preisaufgaber, über die 
altfatHolifhe Bewegung diefer Tage, die chriſtliche 
Pädagogik, und den Einfluß des Islamismus auf das 
häusliche, foctale und politifche Leben feiner Bekenner. 

Auf die „zweite der genannten Fragen ift fchon jett eine deutfche 
Antwort eingegangen (Motto: La felicidad del cuerpo etc. 
Cadalſo). | 

Für die genügende Beantwortung jeder Preisaufgabe wird bie 
Summe von 400 Gulden auögefet, melde die Verfaſſer ganz 





382 Programm ber Haager Gefellichaft 3. Verteid. d. chriſtl. Religion. 


in baarem Gelde empfangen, es fei denn, baß fie vorziehen, die 
goldene Medaille der Gefellihaft von 250 Gulden an Werth nebjt 
150 Gulden in baarem Geld, oder die filberne Medaille nebft 
355 Gulden in baarem Gelde zu erhalten. Ferner werden die 
gefrönten Abhandlungen von der Gefellichaft in ihre Merle auf: 
genommen und herausgegeben. Kine Krönung, wobei nur ein Theil 
des ausgeſetzten Preijes zuerfannt wird, es fei die Aufnahme in 
die Werke der Gefellfchaft damit verbunden oder nicht, findet nicht 
ftatt ohne die Einwilligung des Verfaſſers. M 

Die Abhandlungen, welche zur Mitbewerbung um den Preis in 
Betracht kommen follen, müfjen in holländifcher, Iateinifcher, fran⸗ 
zöfifcher oder beutfcher Sprache abgefaßt, aber mit Tateinijchen 
Buchſtaben deutlich lesbar gejchrieben fein. Wenn fie mit 
deutfhen Buchſtaben oder, nad dem Urtheil der Directoren 
undeutlich geſchrieben find, werden fie der Beurtheilung nidt 
unterzogen. Gedbrängtheit, wenn fie der Sache nicht fchadet, 
gereicht zur Empfehlung. 

Die Preisbewerber unterzeichnen die Abhandlung nicht mit 
ihrem Namen, fondern mit einem Motto, und jchiden diejelbe mit 
einem verfiegelten, Namen und Wohnort enthaltenden Billet, 
worauf dad nämliche Motto gefchrieben fteht, portofrei dem 
Mitdirector und Secretär der Gefellfchaft A. Kuemen, Dr. theol. 
Profeſſor zu Leiden. 

Die Verfaſſer verpflichten fi) durch Einlieferung ihrer Arbeit, 
von einer in die Werke der Gefellfchaft aufgenommenen Abhand- 
[ung weder eine neue oder verbefjerte Ausgabe zu veranftalten noch 
eine Ueberfegung herauszugeben, ohne dazu die Bewilligung der 
Directoren erhalten zu haben. 

Jede Abhandlung, welche nicht von der Gefellfchaft herausge 
geben wird, kann von dem Verfaſſer felbft veröffentlicht werben. 
Die eingereichte Handfchrift bleibt jedoch das Eigentum der Geſell⸗ 
Schaft, es fei denn, daß fie diefelbe auf Wunſch und zu Nugen des 
Verfaſſers cedire. 








Programm der Teyler ſchen Theologiſchen Geſellſchaft zc. 338 


2. 


Programm 


der 


Teyler ſchen Theologiſchen Gefellfchaft zu Haarlem 
für das Jahr 1878. 





Die Directoren der Teyler'ſchen Stiftung und die Mitglieder 
br Teyler'ſchen theofogifchen Geſellſchaft Haben in ihrer Sitzung 
m 9. November 1877 ihr Urtheil abgegeben über die drei, 
kıtfh verfaßten, Abhandfungen, welche eingefanbt wurden zur 
Beantwortung der Frage: 

„Wie foll man, mit Rüdfiht anf den Heu» 

' tigen Streit unter den Staatsdlonomen, über 

das gegenfeitige Verhältnis des Staates und 

der Gefeltfchaft nad den Grundſätzen der dhrift- 
liden Sittenlehre urtheilen?“ 

Die eine Abhandlung, mit dem Motto: „Prüfet aber alles 
m das Gute behaftet, 1 Theſſ. 5, 21”, wurde flr ungenügend 
Mlärt, hauptſächlich weil fie keine Antwort auf die Preisfrage 
abet. Der Verfaſſer Hatte viel mehr eine Kritik der bedeutend» 
im finatsöfonomifchen: Syfteme gegeben als, mit Nüdficht auf 
ken Unterfchied, das gegenfeitige Verhältnis des Staates und der 
deiellichoft gezeigt. Die Grundfäge der chriftlihen Sittenlehre, 
relche ihn bei feinem Urtheil hätten beftimmen follen, waren dabei 
übt oder kaum hervorgehoben. 

Ein günftigeres Urtheil erhielten die zwei anderen Abhandlungen, 
fe eine mit dem Spruch: „Die Erde ift u. ſ. w., Pf. 24, 1°, 
t andere mit: „„Rusticus expectat dum defluat amnis. Ho- 
Rus“, Der Berfaffer der zuerſt genannten follte den Plan 
kiner Arbeit nicht erft am Ende angegeben ımd nicht fo häufig 
Üitete in den Text aufgenommen haben. Uebrigens zeigte er fich 
AB einen talentvollen Mann und wurden mehrere Unterabtheilungen 

Veol. Et. Jahrs. 1878. 25 


384 Programm 


feiner Arbeit nach Verdienft geſchätzt. Er Hatte aber feinen 2 
griff von den Grundſätzen der chriftlichen Sittenlehre nicht gen 
gend motivirt; feine Anfichten über den Staat waren unvolljtä 
dig, befonder8 weil eine genaue Andeutung der Grenze der Staat 
jorge fehlte; dem fogenannten SKathederfocialismus hatte er je 
Studium nicht zugewendet. Aus diefen Gründen fonnte die A 
handlung nicht für preiswürdig erflärt werden. 

Der Berfafjer der foeben in zweiter Linie genannten Schri 
war offenbar mit den Syſtemen der bedeutenditen Staatsölonom 
gut bekannt; feine Behandlung der Grundfäge der chriſtlich 
Sittenlehre bewies Studium und felbftändige® Urtheil; der pre 
tifche Theil der Abhandlung enthielt beachtungswertge Winfe; d 
gegen Hatte man einzuwenden, daß die Form nichts weniger a 
anziebend war; daß auch bei dieſer Arbeit den Kathederſocialiſt 
nicht die gehörige Aufmerkjamfeit gewidmet war; daß der Verfall 
feine Methode beim Aufftellen der Grundfäge der chriſtlich 
Sittenlehre zwar umftändlich erläutert, jie aber nicht gegen di 
Bedenken der Willkür gefidert Hatte, endlich dag die praftijct 
Vorſchläge nicht direct aus jenen Grundfägen, wie fie der Ve 
fajfer beftimmte, folgten. Auch ihm konnte daher der ausgeſetz 
Preis nicht zuerfannt werben. | 

Die Trage wird aljo für's folgende Fahr wiederholt: 

„Wie foll man, mit Rüdfiht auf den heu 
tigen Streit unter den Staatsölonomen, übe 
das gegenfeitige Verhältnis des Staates un 
der Geſellſchaft nad den Grundfägen der chriſt 
lihen Sittenlehre urtheilen?“ | 








ALS neue Breisfrage wird angeboten: 

„Die Sefellfhaft verlangt: eine Abhandlun 
über die Anwendung der Conjecturaftritif 
Bezug auf den Tert der neuteftamentlidel 
Schriften, worin ihre Geſchichte erzäpft, ih! 
Nothwendigkeit beurtgeilt und eine mögliäl 
vollftändige Ueberſicht ihrer vichtigſten Reſul⸗ 
tate gegeben wird.” 


der Teyler'ſchen Theologifchen Geſellſchaft ꝛc. 385 


Der Preis befteht in einer goldenen Medaille von 400 Gulden 
a innerem Werth. 
Man Tann fich bei der Beantwortung des Holländifchen, Latei- 


| ‚ Mihen, Tranzöfifhen, Englifchen oder Deutjchen (nur mit Tatei- 


"sicher Schrift) bedienen. Auch müfjen die Antworten mit einer 
deren Hand als der des Verfaffers gefchrieben, vollftändig 


| : mgefandt werben, da feine unvollftändigen zur Preisbewerbung zu» 


gelaffen werden. Die Frift der Einfendung ift auf 1. Januar 1879 
anberammt. Alle eingefchickten Antworten fallen der Geſellſchaft als 
Eigentum anheim, welche die gefrönte, mit oder ohne Weberfegung 
in ihre Werke aufnimmt, fodaß die Verfaſſer fie nicht ohne Er» 
lauhnis der Stiftung herausgeben dürfen. Auch behält bie Ge- 


ſcelſchaft fi) vor, von den nicht gefrönten Antworten nach Gut» 


Anden Gebrauch zu machen, mit Verfchweigung oder Meldung des 


Namens der Verfaſſer, doch im legten Falle nicht ohne ihre Bes 


milligung. Auch können die Einfender nicht anders Abjchriften 


* ter Antworten bekommen ‚ale auf ihre Koften. Die Ant» 


worten müſſen nebft einem verfiegelten Namenszettel mit einem 
Denlſpruch verfehen, eingefandt werden an die Adreſſe: Funda- 
tiehnis van wijlen den Heer P. TEYLER VAN DER 
AULST, te Haarlem. 


Drnd von Friebr. Andr. Perthes in Gotha. 





Im Berlage von Sriedrich Andreas Perthes in Gotha erichienen 
foeben nachfolgende, durch alle Buchhandlungen zu beziehende Bücher: 
Baur, Guflan, Die Berechtigung der Theologie als eines 

nothwendigen Gliedes im Gejammtorganismus der 

Wiſſenſchaft. Vortrag auf der Conferenz au Meißen 

am 10. Juni 1874 . . 
Chriſtenthum und Schule 


Beyſchlag, Willib. Zur johanneiſchen Frage. Beiträge 
zur Würdigung des vierten Evangeliums, gegenliber 





den Angriffen der kritifchen Schule. . . . 
Broich, Moritz, Papft Zulius IL. und bie vrinding des 
Kirchenſtaates 


Die „Neue freie Preſſe“ ſagt darüber: 

„Es war und vergönnt, diefe ausgezeichnete hiftorische Mono⸗ 
grapbie ſchon mährend des Berlaufs ihrer Drudlegung kennen 
zu lernen. Der Berfaffer, ein Wiener von Geburt, Iebt, mit 
geichichtlichen Forſchungen beihäftigt, in Venedig, und‘ dort, aus 
den reichen archivaliſchen Schäten der Dogenftabt, hat er das 
Material geihöpft, um die Geſtalt des Triegeriicheften Papſtes und 
eines der gewaltigflen überhaupt ‚auf ein beinahe völlig neues 
Poſtament zu ftellen. Es war eine ſchwierige Aufgabe, dem 
eigentlichen Begründer bes Kirchenſtaates gerecht zu werden. 
Sultan della Hovere war eine von jeuen Figuren, vor denen ber 
Pſycholog bisweilen rathlos ftehen bleibt, um den Faden dee 
Berftändniffes, der feinen Händen entgfitten, dem Hiftorifer zu 
überlafjen. In diejen fiebrig Lebensjahren ift fein einziger Ruhe⸗ 
punkt; raſtloſe diplomatiſche und militäriſche Arbeit wechſelt mit 
genialem Kunſtſtreben, aus welchem die Förderung Michel Angelo's 
unvergeßlich hervorſticht. Wer heute der Frennd des Papſtes iſt, 
wird morgen fein Feind; die Staaten find ihm nichts als Karten, 
welche er gegen einander ausfpielt. Dazwiſchen Täuft eine Moral, 
welche an den Zmeden, nicht an den Mitteln haftet und vor 
Gemwaltthätigfeiten nicht zurüdichredt, wenn bie Klugheit fie ap- 
probirt. Diefen Charakter sine ira et studio zu jdildern, war 
eine lohnende, aber auch eine dornenvolle Aufgabe. Broſch Hat 
fie vortrefflich gelöft, und es ift ein wahres Vergnügen, feiner 
Schilderung zu folgen, welder weder die rechte Bertheilung 
von ruht, und Schatten, noch eine hohe Kunft der Darftellung 
mangelt.“ 


Buſch, R., Die Innere Miffton in Deutſchland. Dit 
Bereinslalender. 2. Ausgae . . . . 


Droyien, % G., Geſchichte des Hellenismus. 3 Bye. 
2. Auflage. 
I. Band: Geſch. Alexanders des Großen. — 1. Daran 
2. Sl rn oo. 





40 
40 








[ et 


Zur gefäligen Beachtung! 


Die fir die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einfendungen 
find an PBrofeffor D. Riehm oder Eonflitorialrath D. Köftlin in 
Halle as. zu richten, dagegen find die übrigen auf. dem Titel 
genannten, aber bei dem Nedactionsgefchäft nicht betheiligten Herren 
mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re- 
daction bittet ergebenft, alle an fie zu fendenden Briefe und Badete 
zu frankiren. Innerhalb des Poftbezirfs des Deutfchen Reiches, fowie 
aus Defterreich- Ungarn, werden Manuferipte, falls fie nicht allzu 
umfangreich find, db. 5. das Gewicht von 250 Gramm nicht 
überfteigen, am beiten als Doppelbrief verfenbet. 


Friedrich Andreas Perthes. 


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Inhalt 


Abhandlungen. 


Kattenbufh, Kritifche Studien zur Symbolik (zweiter Artikel) 
Braun, Die religiöfen und fittlichen Anſchauungen von Adam 


Smith 


Gedanken und Bemerkungen. 
Docdes, Ein Mandat Jeſu Ehrifti von Nikolaus Herman 


Seidemann, Aus Spengler Briefmechfel 


. König, Die Regeln de8 Pachomius 


Necenfionen. 


rec. von Schröder . 


. Frensdorff, Die Massora Magna; rec. von Strad. 


Miscellen. 


. Mezger, Gelchichte der deutichen WBibelüberfetsungen in der ſchwei⸗ 
zerijch » reformirten Kicche von der Reformation bis zur Gegenwart; 


. Brogramm der Haager Gejellichaft zur Verteidigung der chriſtlichen 


Religion für das Jahr 1877 . 


. Programm der Teyfer’ichen Eneogien Sera zu Heart [> 


das Jahr 1878 





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Theologiſche 


Studien und Kritiken. 


Fine Zeilſchrift 
für 
dag geſamte Gebiet der Theologie, 
begründet von 
D. 6. Ulmann und D. F. W. C. Umbreit 
und in Verbindung mit 
D. 3. Müller, D. W. BVeyſchlag, D. Guſt. Baur 

herausgegeben 


D. €. Riehm um D. J. Köftlin. 


— — — — — 


1878. | 
Sinundfunfzigfier Zahrgang. 
Zweiter Band. 


Gotha, 
driedrih Andreas Perthes,. 
1878. 





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3 Theologiſche 

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i Studien und Kritiken. 
d Fine Zeitſchrift 
* für 

das gefamte Gebiet der Theologie, 
3 begründet von 

5 D. C. Ullmann un D. F. W. 6. Umbreit 

& und in Verbindung mit 

D. 3. Müller, D. %. Beyfhlag, D. Suf. Baur 
& 

3 herausgegeben 

4 D. E. Riehm am D. 3. Köflin. 

3 Dahrgang 1878, driftes Heft. 

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Fi Gotha, 

& Triedrih Andreas Perthes. 

ö 1878. 


RETTET TRETEN 








Theologiſche 


Studien und Kritiken. 


ine Zeitſchrift 
für 
das gefamte Gebiet der Theologie, 


begründet von 
D. 6. Ulmen und D. F. W. 6. Nmbreit 
und in Verbindung mit 
D. 3. Müller, D. W. Beyfdhlag, D. Guſt. Baur 
Herausgegeben 


D. E. Riehm m, 3. Köflin 


Jahrgang 1878, drittes Heft. 


Gotha. 
Sriedrid Andreas Perthes. 
1878. 


Abhandlungen. 


N 


- 1. 


Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Zein 
mit bejonderer Rüdficht auf 
den gottmenſchlichen Charakter feiner Berfon. 


Bon 


H. Schmidt, 


Dialonus in Stuttgart. 





Raum eine der theologischen Disciplinen hat fi in dem lebten 
Jahrzehnt eines ſolch reichlichen Anbaues zu erfreuen gehabt als 
das Leben Jeſu. Seit Renan mit feinem belannten Werfe fo 
weite Verbreitung gefunden, hat die deutfche Theologie mit einem 
Eifer, als gälte e8, den Franzoſen auf diefem Gebiete die äußerfte 
Concurrenz zu machen, ſich auf die Aufgabe geworfen, die Strauß 
3 Decennien zuvor in Angriff genommen und die damals das 
deutfche Publikum in fo weiten reifen aufgeregt, ohne doch blei- 
bende Früchte zu bringen. Die Baur’fche Schule hatte damals 
von der weiteren Verfolgung der Aufgabe abgemahnt, obgleich ja 
aus ihren Reihen felbft die Bewegung den Anfang genommen hatte. 
Kritifche und dogmatifche Fragen befchäftigten die Theologte. Aber - 
allerdings Hatte Baur in feinem legten Eirchengefchichtlichen Werke, 
in dem Buche: „Das Chriftentum und die chriftliche Kirche der 
erften 3 Jahrhunderte”, feine Arbeit bis an den Ausgangspunft 
zurücgeführt. „Unterfuchung der Quellen” war fein Xojungswort 
geweien, mit dem er dem kühnen Sturm bed Schülers Einhalt 
gebot. Diefe Arbeit war nun in feinem Sinne: getan, und bei 
feinem Berfuch, einen gefchichtlihen Ausgangspunkt für die chrift- 


394 Schmidt 


fihe Kirche zu gewinnen, ftand er felbft doch wieder vor der Frage 
nach der Perfon des Stifters, einer Frage, deren gründliche Löſung 
doc wohl nur von einer Bearbeitung des Lebens Jeſu erwartet 
werden konnte. Nun lag e8 eigentlich in der Natur der Sache, 
daß der alte, einft zur Ruhe verwiefene Arbeiter auf diefem Ge⸗ 
biete über dem Grabe des Lehrers mit dem ungeduldigen Rufe, 
daß die Kritik allzu fehr in's Kraut gefchoffen fei, fih auf's neue 
erhob, um noch einntal für Deutfchland den Anftog zu einer Reihe 
von Arbeiten zu geben, unter denen wir ja nur die Werfe von 
Schenkel, Weizfäder, Krüger, vor allem aber Keime 
große Monographie, neuerdings die Schrift von Wittichen nennen 
dürfen, um an die Bedeutung zu erinnern, welche da8 „Leben Jeſu“ 
in der neueſten theologifchen Wiffenfchaft fpielt. Die Frage über 
das Eriftenzredht und die Möglichkeit einer Disciplin fcheint ange» 
ſichts aller diefer Leiftungen eine fehr verfpätete zu fein. Und doch 
hat ein Mann, in dem die hiftorische Theologie gewiß einen Kory- 
phäen verehrt, noch neuerdings allen Ernjtes e8 als einen Mis⸗ 
griff rügen können, daß die deutjche Theologie pofitiver Richtung 
fih von ihrem Gegner die Aufgabe der Herftellung eines Lebens 
Jeſu habe ftellen Laffen, eine Aufgabe, die allerdings um fo mehr 
ftugig machen konnte, al8 der, welcher fie ftellte, die Bemerkung 
dabei nicht unterdrüdt hatte, daß das Leben Jeſu der Tod des 
orthodoxen Ehrijtus fe. Und man wird vielleicht fagen können, 
gerade jest erft ift die Beantwortung der Frage nach der Mög—⸗ 
lichleit eine® Lebens Jeſu an der Zeit, da eine genügende Anzahl 
Berfuhe gemacht find. Es gilt am Ende aud) hier das Sprüch⸗ 
wort: Probiren ift über Studiren. Die thatſächlichen Ergebniffe 
der angeftellten Verſuche find vielleicht erft im Stande, apriorifche 
Bedenken gegen die Aufgabe zu erledigen oder zu beftätigen. 
Wollen wir e8 freilich verfuchen, diefe Bedenken näher zu 
würdigen, fo ift die erfte Aufgabe wol die, daß wir uns über 
den Begriff eines Lebens Jeſu überhaupt verftändigen. Nachdem 
einmal jedenfalli® der, den die Chriftenheit als ihren Herrn ver⸗ 
ehrt und anbetet, in den Grenzen einer irdifchen, in Gleichheit mit 
jeden anderen Menfchenleben verlaufenden Berufsarbeit, in einem 
nad) den allgemein anerkannten Bedingungen fich geftaltenden Ver⸗ 











Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſn. 395 


fehr mit anderen Menſchen, in offenbarer Bedingtheit von den 
natürlichen gefchichtlichen Verhältniffen und von den Zeugen feines 
Lebens vor Augen geftellt ift, fann es keinem Zweifel unterliegen, 
daß die Wiffenichaft ein undiscutirbares Recht bzw. die ent- 
Schiedene Aufgabe hat, den äußeren Pragmatismus diefes Lebens, 
fomeit e8 nach den vorliegenden Quellen möglich ift, ‚herzuftellen, 
über die Anknüpfungspunfte feiner Wirkſamkeit im Volke Klarheit 
zu fuchen, den Plan und Gang diefer Wirkfamfeit ſelbſt ſoviel wie 
möglich im Zuſammenhang darzuſtellen, über den zeitlichen wie 
räumlichen Umfang ſeiner Wirkſamkeit ein ſicheres Reſultat aus 
den Quellen zu gewinnen, über die Eindrücke, welche feine Wirk—⸗ 
famteit auf die verfchiedenen Volkskreiſe machte, und über die 
Gegenwirkungen derſelben fich zu verftändigen. Aber es ift Far, 
daß ſchon die Vollziehung diefer Aufgaben kaum durchführbar ift, 
wenn nicht alfererft der Mann felbft, der im Mittelpunfte fteht, 
in feinen perfönfihen Anknüpfungspunkten und Beziehungen Kar 
vor Augen geftellt if. Allein wo follen die nöthigen Notizen 
in diefer Hinficht hergeholt werden? Mutter und Brüder treten 
wol ab und zu einmal auf; aber im ganzen erfcheint doch der 
Herr offenbar in Aechnlichkeit jenes Melchifedet, den der Hebräer- 
brief andewe, dunzwg, Ayevsahöynros nennt. Man kann ſich 
mit einiger Phantafie die wenigen Notizen ja wohl fo oder fo 
weiter ausmalen, aber wer wird es verfuchen wollen, ein „exactes“ 
Reſultat über die Yamilienbeziehungen des Herrn zu gewinnen, 
eine Anfchauung von allen den Punkten, die wir jegt zum perfüns 
lichen Leben im engeren Sinne rechnen. Wenn es aud in ganz 
anderem Sinne gemeint ift, e& bat doch ein gewiffes Recht, was 
Strauß gefagt hat, daß wir von faum einer anderen gefchichtlich 
bedeutjamen Perfönlichleit fo wenig zuverläffiges willen als von 
dem Herrn, wenn wir nämlich die Anforderungen an die Quellen 
machen, welche ein Leben Jeſu im gewöhnlichen Sinne allerdings 
zu ftellen hätte. So reih und anfhauli manche Theile des 
öffentlichen Lebens gefchildert find, über Jeſu außerberufliches Leben, 
über jene Beziehungen, die auch bei dem Größten fonft eine 
Holle fpielen, aus denen heraus das Berufsleben felbft wieder 
Anregung und Stärkung oder auch Hemmung und Hinderniffe er- 





896 Schmidt 


führt, herrſcht ein abſolutes Schweigen, ſelbſt wo wir Jeſum im 
fcheinbar ungeziwungenen perjönlichen Verkehr finden, wie z. B. in 
Betbanien, tritt und doch alsbald wieder der Prophet, ja der 
Meffiag entgegen. Aber wenn wir in diefe Lücke uns auch finden 
wollten, die Hauptfache wäre doch immer für eim Leben Jeſu: 
das Bild feiner inneren Entwicklung, feines geiftigen Werdens, ein 
Mares Bild der zwifchen den äußeren Verbältniffen und mehr noch 
zwischen anderen Perjönlicgkeiten und feinem innerften Wefen ſtatt⸗ 
findenden Wechſelwirkung zu geben, und mo es wirklich verfucht 
wurde, ein Leben Jeſu zu fchreiben, da bat man auch verfucht, 
eben diefen innerften Tiefen des Selbſtbewußtſeins des Herrn und 
jemem Werden auf den Grund zu kommen. Erheben wir die 
Trage nach der Möglichkeit eines Lebens Jeſu, fo kann diefe Frage 
nur dahin verftanden werden, ob es möglich jet, das geiftige Werden 
des Herrn, die Bildung feines Selbitbewußtfeins zu bejchreiben ? 
Wenn man zunächit die Quellen anfteht, fo ift auf dem erſten 
Blick Mar, dag diefelben nad einer Seite Hin ganz entjdhiedene 
Lücken: haben. Bei jedem Menfcheuleben ift doch für die ganze 
Bildung des Charakters und der Gefinnung, wie der Gaben und 
Fertigkeiten das Kindheitd- und Yugendleben von der eingreifendften 
Bedeutung. Was bieten uns hierüher die Quellen? Auch wenn 
ein confervativer Standpunkt. in der Kritik die hieher bezäglichen 
Theile des erften und dritten Evangeliums mit Erfolg. gegen die 
Angriffe der modernen Theologie in ihrer Echtheit zu behaupten: 
im Stande fein mag, für eine nad) den gewöhnlichen biographifchen 
Maßſtäben eingerichtete Darftellung find auch diefe Theile entfchieden 
zu. wenig qußgiebig. Daß in dem Haufe, darinnen er aufgewachlen, 
die altteftamentliche Frömmigkeit in ihrer edelften Blüthe geherrſcht 
habe, daß die Mutter insbefondere, genährt an ben großen Ver⸗ 
heigungen des Alten Bundes, die feinsten und edeljten Züge ifraeli- 
tiichen Weſens in ſich ausgeprägt getragen habe, das könnte uns 
innerlich wahrſcheinlich erfcheinen, auch wem es nicht aus den oben 
genannten, fritiich fo befonder® angefochtenen Theilen unferer Evan» 
gelienliteratur herporginge.- ‘Daß auch eine von dem Parteiweſen 
im Bolfe ganz unabhängige Verbindung der religiös bejonders 
tief angeregten. Geifter un Volle vorhanden war, ein. Kreis von 

















Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 897 


Stillen im Lande, die, ohme fich fonderlich bemerklich zu machen, 
die altteftamentlichen Gedanken über Iſrael bei ſich pflegten in 
einem von der Schultradition mehr oder weniger unabhängigen 
Sinne, das ift eine Erkenntnis, die uns immerhin als Element 
bei der Bildung des inneren Lebens des Herren von Wichtigkeit 
fein muß, — eine Erkenntnis, die wir ungerne verloren geben 
möchten, die und aber allerdings fehr zweifelhaft werden müßte, 
wenn die Echtheit diefer Abſchnitte nicht haltbar fein follte, denn 
andere fichere Spuren eines ſolchen Thatbeſtandes fehlen. Aber 
mern wir die durchaus altteftamentliche theofratifche Haltung in 
den Aeußerungen des religiöfen Lebens und der religiöfen Hoff- 
nungen in Betracht ziehen, wie fie aus jenen Abfchnitten uns ent 
gegentritt, fo dürfte doc immerhin noch viel fehlen, um daraus 
die Entitehuug der Anfchauungen des Herrn dom Reiche Gottes 
und vollends, von feiner eigenen Perjon zu erflären. Es kann ja 
auch feinen Zweifel unterliegen, daß wir beim erften Auftreten des 
Herrn feinegwegs jchon gewiſſe SKreife bereit finden zu näheren 
Anflug an ihn, am wenigften die ihm von früher her naheftehenden. 
Selbjt wer die Geſchichte Luk. 4, 16ff. anzweifeln wollte, würde 
überall auf Spuren davon ftoßen, daß der Herr von Anfang an 
fich nicht eines mit feinen Ideen auch nur bis zu einem gemiffen 
Grade Schon einverftandenen Kreifes von Genoffen erfreute, die in 
ihm etwa den, Dolmetfcher ihrer eigenen Anfchaunngen und Be- 
ftrebungen fahen (Mark. 3, 31ff. Matth. 12, 46ff. 13, 53 ff. 
Luft. 8, 19. Yon. 2, 4. 7, 5) Es würde fi als Refultat 
jener Einwirkungen der religiös tiefer angeregten Kreife nur die 
Thatſache erflären, daß der Herr in der Auffalfung der altteftament- 
lichen Offenbarung fo. vollſtändig von der Schultradition frei war 
und fi) mit den großen religiöfen Zeitfragen in einer von allem 
Barteitreiben völlig unabhängigen Weife frühe befchäftigen Ternte. 
Oder will man gar die Entftehung des meifianifchen Bewußtſeins 
des Herrn aus den directen Weittheilungen. erklären, die ihm aus 
dem, Kreife feiner Familie über die wunderbaren Vorgänge bei 
jeiner Geburt: zugefommen fein? Wer dag verſuchen wollte, würde 
ja zum vorqus auf die eigentlich pſychologiſche Vermittlung verzichten, 
mürde zum. voraus den Boden verlaffen, von dem aus mon mit 


% 


398 Schmidt 


ganz befonderem Intereſſe e8 verſucht, dem inneren Werben des 
Herrn nachzugehen. Solche directe Mittheilungen würden aber 
gewiß vorausjegen, daß auch feine Umgebung mit den Anſprüchen 
de8 heranmwachfenden Knaben und Jünglings nicht unbefannt geweſen 
wäre, daß fein Auftreten fofort auch die divecte Trage, ob er der 
Meſſias fet oder nicht, angeregt hätte. Für diejenigen, welche bie 
Borgefchichte des Herrn im erften und dritten Evangelium un⸗ 
gerne den Fritifchen Zweifeln preiszugeben gemeint find, gehört 
e8 wohl zu den fchwierigften Aufgaben, zu erklären, wie angeficht® 
diefer aufßerordentfichen Vorgänge bei der Geburt Jeſu nicht wenige 
ſtens in gewiffen Kreifen die Frage Über feine Meffianität zum. 
voraus entfchieden gewefen fein ſollte. Wenn diefe Schwierigkeit 
ihre Löfung doch nur wird fuchen fönnen dur die Annahme einer 
göttlich geordneten außerordentlichen Zurückhaltung der Mutter ins⸗ 
befondere, jo werden auch etwaige Vortheile, die man fi) von jenen 
befonderen Vorgängen für die Erklärung des inneren Lebens des 
Herrn verfprechen könnte, wieder verloren gehen. Vollends be- 
züglih der Schule find wir völlig von Andeutungen verlaffen. 
Man fann ein langes und breites über die Art des damaligen 
Unterrichtes aus Joſephus oder fonft woher zuſammenſchreiben, aber 
für die Frage nad den befonderen Einflüffen, welche die Jugend 
des Herren erfahren, ift damit lediglich nichtE gewonnen. ALS ein 
toftbares Kleinod aus der Vorgefchichte des Herrn tritt uns jene 
Erzählung Luk. 2, 41ff. entgegen, — eine Erzählung, über welche 
jelbft eine fonft refolute Kritit den Stab ohne weiteres zu brechen 
Bedenken trägt. Aber diefe Erzählung, auch wenn wir dazu nehmen, 
was fi) ohne allzugroße Mühe nad) rüdwärts und nad) vor⸗ 
wärts daraus ſchließen läßt, dürfte doch kaum im Stande fein, 
den fonftigen Mangel an Nachrichten ganz auszugleichen. Es ift 
uns hier offenbar ein Entwiclungsfnoten im Leben des Herrn 
geſchildert — das Erwachen der kindlichen Seele zum Bewußtſein 
eines einzigartigen Verhältniffes zu dem Gotte Israels und einer 
einzigartigen Berufsaufgabe. Aber wie ift dieſes Erwachen ver» 
mittelt ?_ Sind e8 die Eindrüde des tsraelitifchen Cultus gemefen, 
welche dies Erwachen hervorbrachten, und in wie fern Tonnten die: 
jelben eine ſolche Selbfterfenntnis zur Reife bringen? oder war bie 


Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 5% 


Beichäftigung mit der altteftamentlihen Offenbarung die Beranlafjung, 
näher noch find e8 die Lehrer gewefen, die vielleicht unbewußt den 
unten In feine Seele warfen? Uber er erjcheint ja offenbar als 
der jelbftändige, originelle Yüngling, der mit Gefeg und Propheten 
Shon Bekanntſchaft gemacht hat und mit genialem Ahnen — um 
zunächft rein menfchlich zu reden — eingedrungen ift in dieje Tiefen. 
Man kanıı höchftens etwa fchließen, daß in der Dialektit mit der 
Eregefe der Schriftgelehrten die letzte Hülle, welche über feinem 
Ahnen noch lag, vollends Hinweggenommen fein wird. Aber nicht 
einmal ein Name ift und aus dem Kreiſe jener Schriftgelehrten er- 
halten, noch weniger eine Notiz über das, was geredet und gefragt 
wurde. Liegt in dem oUx Tjdsırs, Örı 8v Tols Tod narpds mov 
dei eival us; nur eine naive kindliche Vermunderung darüber, daß, 
was dem eigenen Bewußtjein fo Kar war, nicht auch den Eitern 
jofort offenbar und verftändlich ward, oder ift das religiöfe Ahnen 
des Sohnes doc) ſchon vorher ein Gegenjtand der Mittheilung zwifchen 
Sohn und Eltern gewejen, konnte der Herr vorausfegen, daß nad 
dem, was eiwa die Mutter ihm ſchon angedeutet über das Außer- 
ordentliche feines eigenen Weſens, dieje auch ein Verjtändnis haben 
müßte für die befonderen Beziehungen zu Gott, welche bei Gelegen- 
heit des Tempelbeſuches ihm offenbar werden mußten? Wir fehen, 
dag in „eracter Weife“ doch fehwerlich aus diefer Erzählung für die 
Einficht in das innere Werden des Herrn genügendes Material fich 
gewinnen lafjen dürfte, jo werthooll für die Erkenntnis des Cha» 
rakters des Elternhauſes die Erzählung auch ift, jo werthvoll nament- 
lich die aus dem Schluffe derfelben fich ergebende Einſicht in die 
von der Mutter geübte keuſche Zurückhaltung ift, dem wunderbar 
geheimnisvollen Leben des Sohnes gegenüber. Das, was ein 
„Leben Jeſu“ in dem gewöhnlichen Sinne fordern müßte, Täßt fich 
aus diefen Angaben nicht herauslefen. Es kann fich alfo nur fragen, 
ob man diefen Mangel etwa aus Angaben über das fpütere Auf- 
treten des Herrn ergänzen kann. | 

In diefer Hinficht ift nun ſchon das eine wichtig, daß ſich 
noch im fpäteren Leben des Herrn durchaus Feine Beziehungen auf 
fein früheres Leben finden. Man follte dod in der That denken, 
ein Dann fo zarten fittlihen Sinnes hätte müſſen gelegentlich auch 





260 Schmidt 


ein Wort des Dankes ſagen für „Anregungen“, die ihm bon dieſer 
oder jener Seite zu Theil getvorden find. Wir Ttehen in der That 
bier fon vor einem Dilemma, das uns im Kaufe unferer Be- 
trachtung noch öfter begegnen wird, vor dem Dilemma, entweder 
eine Originalität bei dem Herrn bezüglich feines inneren Lebens 
anzuerkennen, die weit Hinausgeht über irgend ein fonftiges menjch- 
liches Muß, ober eitien tiefen fittlihen Schatten an ihm ju finden. 
Wenn der Mutter Wort und Art ihm auch für feinen Beruf 
irgendwie von Bedeutung wurde, wie darf er fie jo völlig von 
allen Beziehungen zu dieſem Beruf ausfchließen? wenn es ein 
Schriftgelehrter war, unter deſſen Einfluß fein Geiſtesleben auf- 
wachte, wie konnte ei ſo ohne Ausnahme die befannten Urtheile 
über die Schriftgelehrten fällen? auch wenn er als Schüler nod) 
fo weit hinauswuchs über irgend einen Meifter, etwas von Pietät 
mußte doch noch übrig fein. Wit werden auf. das Verhältnis des 
Herrn zu dem Täufer Hoch weiter zu fprechen kommen, aber 
möchten an biefer Stelle ſchon bemerken, wie die Aeußerungen bes 
Herrn über diefen Mann doch aud feine Spur eines äuch nur 
vorübergehenden AbBängigkeitsverhäftniffes verrathen. Vielleicht daß 
irgend ein „exactes“ Auge noch etwas durchſchinimern ſieht. Wir 
können uns nicht rühmen, ein ſolches Auge zu beſitzen. Wir fragen, 
wenn der Herr dutch die Tuufe des Fohanries erft duf die Idee 
bed Reiches Gottes gefiihrt wurde, wenn ihm felbjt erft unter dem 
Wehen biefer Bewegung. ber Gedanke an die eigene Meifianität 
kam, wie waren die Aeußerungen möglich, wie Matth. 11, 11 oder 
Matth. 11, 6? Wohl ruft der Herr (Matth. 21, 25) den Täufer 
zum Zeugen für ſich auf, aber der Sinn diefes Zeugniſſes kann 
doch nun ein doppelter fein. Theils will der Herr feitftellen, daß 
bie Frageſteller, wenn fle eine unmittelbat göttliche Bevollmächtigung 
überhuupt leugnen, eine folhe auch dem Täufer nicht zugeftehen 
föntiten, theils will er, wie überall fonjt, auf das göttlich geordnete 
Zufammentreffen der Johannistaufe miit feiner Himmelreihöpredigt 
hitimelfen, aber eben indem er indirect für ſich felbft eine unntittel- 
bare göttliche eFovace in Anſpruch nimmt, ftellt er fi) auch von 
den QTäufer wieder unabhängig. Man fage nit, daß daß die 
Eigentümlichleit ded prophetiichen Bewußtjeins überhaupt gewejen 


Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 491 


fet, die Vermittlung ber eigenen Ideen zu üiberfehen über dem Be⸗ 
waßtfein der göttlichen Offenbarung. Beides ſchloß fi) doc) gegen⸗ 
feittg nicht aus. Daß wir im A. T. eine Diadoche und Tradition 
der Prophetie vor uns habeıt, tritt doch deutlich hervor, und wenn 
wir don den Propheten oder auch nur von einzelnen derfelben in 
ähnlichem Umfange wie von dem Herrn eine Lebensgeſchichte hätten, 
würde dies ohne Zweifel noch viel deutlicher fich zeigen: Weberbies 
handelt es fich ja bei dem Herrn nicht nur um das „Woher“ ger 
wifier Ideen. Hiefür fehlt es ja bei ihn an Anfnüpfungspunften 
allerdings nicht, ſondern um die Entitehung ſeines fpecififchen 
Meſſiasbewußtſeins und feines Geiſteslebens überhaupt. Und in 
diefer Beziehung werden wir jagen muſſen, daß die neuteftäment- 
lichen Quellen auch in dem, was fie von Aeußerungen des Herrn 
aus fpäterer Zeit berichten, keinerlei Winfe Über die allmähliche 
Seftaltung desfelben in der Kindheit. und Jugend geben. Und wie 
er jelbit, der Herr, in dieſer Hinſicht ſich nicht äußert, fo find 
uns auch feine Aeugerungen anderer überliefert, die darüber Licht 
geben Tönnten. Mac den bereitd angeführten Stellen vermundern 
fih die Belannten von früher her einfach: rrdYer rodrw n cople 
odın al ab duvansıs (Matth. 13, 54 parall.). Sie wiffen von 
feiner Schule, feinen Einflüffen irgend welcher Art, aus denen fie 
fein Auftreten erklären ließe. Wenn wir mit diefer Notiz Matth. 
3, 14 in Einklang bringen wollen, fo wird «8 doch nur fo ge 
fchehen können, daß wir annehmen, es fei dem Herrn nicht etwa 
fhon ein Ruf aus Galiläa vorangegangen, fondern nur in Folge 
einer Offenbarung habe der Täufer diefen befonderen Eindruck ges 
habt von der Bedeutung der fich ihm nahenden Perſönlichkeit. Es 
gehört in Wahrheit zu den wunderbarften Thatſachen, daß eine fo 
emineute Perfönlichkeit auf den Schauplag der Geſchichte tritt, ohne 
dag fie im engen Kreife des Haufes oder der Gemeinde irgend 
welche außerordentliche Eindrüde zuvor gemacht — mit Ausnahme 
jenes einzigen Ereigniffes Luk. 2, 41ff. 

Halten wir hier einen Augenblick ftilfe, um zu fehen, wie bie 
neueften Erſcheinungen auf dem Gebiete der Literatur über das Leben 
Jeſu ſich, über die offenbaren Dlängel der Quellen hinweghelfen. 
Seiner ganzen Tendenz nad) konnte das erfte Beben Jeſu von Strauß 


402 Schmidt 


auf die Frage, fo wie wir fie geftellt, gar nicht antworten. Dem 
Berfaffer war es ja nicht darum zu thun, dem wirklichen Hergang 
auf die Spur zu kommen, fondern nur das Nichtwirkliche kritiſch 
zu vernichten. Nach Ausführung der letteren Aufgabe blieb dann 
freier Raum genug übrig, um fich den Hergang der Dinge nad) eigener 
Phantafie zu conftruiren. So ift denn der 8 58 des erften Lebens 
Jeſu (1. Auflage) eine auf dem Standpunkte der heutigen Evan- 
geliumforfchung doch ziemlich flüchtige Ausführung über die erft 
im Laufe feiner eigentlichen Lehrthätigkeit fallende Entftehung des 
mejjianifchen Bewußtſeins. Bei folder Auffaffung kann dann frei 
lich) ohne große Mühe die Zeit des Dunkels ausgefüllt werben mit 
dem Beibringen von Analogien in Bildung anderer Zeitgenoffen 
und man fann ſich den Luxus erlauben, auch die Geſchichte vom 
zwölfjährigen Jeſus in die mythiſche Rumpelkammer zu werfen. 
Auch in dem zweiten Leben Jeſu finden wir im wejentlichen feine 
anderen Ergebniffe. Auch hier geht Strauß von der Annahme 
aus, dag Jeſus erft im Laufe feines Lehramtes den Meſſiasgedanken 
fi) angeeignet habe; den Einfluß des Täufers auf den Herrn ift 
er dagegen nicht abgeneigt etwas höher anzufchlagen (S. 195 ff.), 
ohne daß er fich freilih die Mühe nähme, die Punkte näher zu 
präcifiren, in welchen ein foldher Einfluß ſich geltend mache oder 
gar mit den Angaben der Evangelien fi) näher auseinanderzujegen. 
Diefer Auffaffung haben fih Renan und Schenkel angefchloffen, 
bis zu einem gewilfen Grade aud) Keim, indem die beiden erfteren 
den Herru erft im Laufe feiner öffentlichen Wirkſamkeit eine bes 
ftimmte Stellung zu ben mejfianifhen Erwartungen des Volkes 
gewinnen lafjen, während Keim den Meifias- „Entfchluß*“ jchon unter 
der Bewegung durd die Taufe des Johannes zu Stande fonımen 
läßt. Weizſäcker, welcher den Gedanken eines Meſſias⸗, Entſchluſſes“ 
beanftandet, hat nach der ganzen Anlage feines Werkes zu einem 
Eingehen auf die vorliegende Frage feine Veranlafjung gehabt, wie 
auch Wittichen bei dem Gang, welchen er einjchlägt, nicht auf dies 
Problem geführt wird. In älterer Zeit hat ed wol am ausführ⸗ 
fichften Range verfucht, vom orthodoren Standpunkte aus die Ent- 
Faltung des inneren Lebens Jeſu zur Anfchauung zu bringen. Allein 
es ift Mar, daß die Ausführungen bdesfelben im fünften Abſchnitt 








leder die Grenzen der Aufgabe eine Lebens Jeſu. 408 


Des zweiten Buches ein Stüd Chriftologie, nicht ein Stüd Ge 
fhidhte find. Man wird, wenn man einmal zu der Weberzeugung 
von der gottmenfchlichen Natur des Herrn gelommen ift, immerhin 
verfuchen dürfen, das Problem de Zuſammenſeins eines under» 
änderlichen göttlichen Bewußtſeins mit der dem Menfchengeifte noth⸗ 
wendigen Form des gefchichtlihen Werdens zu Löfen; aber geſchicht⸗ 
liche Anhaltspunkte, die uns die Löſung gewiſſermaßen als Reſul⸗ 
tat der Forſchung von ſelbſt in die Hand geben würden, liegen 
nicht vor. Was Lange (Buch I, 2. Abth., 12. Abſchnitt) über 
die Entwidlung Jeſu beibringt, tft ebenfo Phantafie, wie die Aus⸗ 
führungen Renans, mit dem fich Lange in Hervorhebung des Ein⸗ 
fluffes der äußeren Natur auf die Entwidlung des inneren Lebens 
des Herrn berührt. Am ausführlichiten ift e8 von Haſe verſucht 
worden, die Entftehung des mefftanischen Bewußtſeins aus der Ent. 
widlung feiner Kindheit heraus begreiflih zu machen. Freilich 
gerade die einzige Notiz aus dem Entwidlungsgange des Herrn, die 
Geſchichte vom zwölffährigen Jeſus, benutzt Hafe in diefer Rück⸗ 
fiht niht. Wohl verteidigt er den gefchichtlichen Charakter der 
Erzählung, aber die Offenbarung eines eigentümfichen Bewußtſeins 
des Herrn will er nicht darin ſehen. Er polemifirt (S. 222) in 
biefer Beziehung gegen Reinhard und Heubner, welde in der Ant⸗ 
wort des Zwölfjährigen das Hare Zeugnis finden, dag er fich für 
ben großen Religionsverbefjerer gehalten habe. ‘Der Nachweis, da 
dies nicht der Fall geweſen fei, ift nun in fo. fern leicht zu führen, 
als ja allerdings von einer Bezugnahme auf feinen künftigen Les 
bensberuf direct durchaus nicht angedeutet ift. Aber daß jeder 
andere Knabe in Israel, wenn er anders religiös angeregt und 
foweit gereift war, derfelben Worte fich hätte bedienen können, dürfte 
doch mehr als fraglich fein. Wir dürfen doch nicht vergeffen, daß 
bie Anwendung de8 Vaternamens auf Gott feitend des einzelnen 
Israeliten jeden Falls etwas ganz außerordentliches war. Ober 
hat nicht gerade ber Nationalismus, aud) der moderne, die weient« 
Tichfte Bedeutung des Herren daranf eingefchränft, daß er etliche 
neue Ideen und vorab die Bateridee in Eurs gebradht Habe? Man 
müßte alfo jeden Falls geftehen, daß, wenn er fich nicht felbft als 
den Meſfias erfannt, er doch wenigftens das ſchon ausgeſprochen 
Theol. Stud. Iahrg. 1878. 27 


404 Schmidt 


babe, was ſpäter ber eigentliche Kern feiner meſſianiſchen Wirkſamkeit 
war. Dazu fommt, daß er eben nicht nur zod szargos fagte, ſondern 
Tod naroög mov, wie er ja auch fpäter niemals fein Verhältnis 
zu Gott mit dem feiner Jünger gleichjegt. Und endlich wäre doch 
wol darauf Binzumeifen, daß die ganze Entfchuldigung einen rechten 
Sinn nur hat, wenn der Herr ein ganz einzigartiges Verhältnis 
zu Gott hat. Wenn er in feiner näheren Beziehung zu Gott fteht, 
al® jeder andere religiöfe Menſch auch, fo Hat er auch fein beſon⸗ 
beres Hecht gehabt im Tempel zu bleiben, während andere doch 
auch fromme Leute den Heimweg angetreten haben. Wer die Er- 
zählung für Hiftorifch Hält, kann fi wol kaum dem Zugeftändnis 
entziehen, daß ein für das meſſianiſche Bewußtſein Jeſu bedeut- 
famer Entwidlungsfnoten Hier aufgezeigt werden foll und dag nur 
fraglich fein kann, wie weit diefe Beziehung reicht, welchen Einfluß 
die Reife nach Jeruſalem, der Aufenthalt im Tempel jelbft auf 
die Geftaltung dieſes Bewußtſeins übte oder welche Schlüffe ſich 
etwa nahelegen auf die vorgängige Kindheitögeſchichte. Wenn wir 
felbft im Obigen «8 als problematifch Hinftellten, ob man einen 
ſolchen Rückſchluß machen und in der Verwunderung über bas 
Nichtwiſſen der Eltern ein Zeichen dafür fehen dürfe, daß doch ir⸗ 
gendwie über fein einzigartiges Verhältnis zu Gott vonfelten der 
Mutter fchon Andeutungen ftattgefunden haben, daran, glauben wir, 
follte man nicht zweifeln, daß die Erzählung für das Bewußtfein 
feines einzigartigen Verhältniffes zu Gott zeugt und ohne Zweifel 
den Moment fchildern will, da diefed Bewußtſein eritmald zum 
Haren Durchbruch kam. Was es eigentlid war, das diefen Durch» 
Bruch vermittelte — ob die Unterredungen, die er bier pflog, ob 
die Rocalität des Tempels, ob die Eindrüde des Feſtes, wird fich 
ſicher mit „Exactheit“ nicht ausmachen laſſen. Sicher dürfte nur 
eines fein, daß es fih um eine Erzeugung des meſſianiſchen Bes 
wußtfeins nicht handeln Tann, fondern nur um eine Vermittlung 
des völligen Hervorbrechens. 

Die Entftehung dieſes Bewußtſeins fucht nun Hafe auf zweierlei 
Art vorftellig zu machen. Entweder will er annehmen, fein 
Meifiasbewußtfein fei mehr als eigentlicher Entſchluß aus Hoff⸗ 
nungen und Zweifeln hervorgegangen (S. 285) ober es fei kurz 





Ueber die Grenzen ber Aufgabe eines Lebens Jeſu. 406 


gejagt, if der Form genialer Ahnung von Anfang in ihm vorhan⸗ 
den geweſen. Allein die erftere Annahme mwürbe uns vor allein 
über die Tape ber Kindheit Hinausführen. Wie follte das Kind, 
wie ber Yüngling fchon einen ſolch tiefen, Haren Einblid in das 
Verderben, in die Noth det Zeit gehabt Haben in der nazaretanifchen 
Adgefchloffenheit, um zu diefem dringenden Begehren eines Meſſias 
geführt zu werden und noch mehr, wenn wir auc annehmen woll- 
ten, daß in den Kreifen feiner Umgebung die Zeit fich in fo dunkeln 
Farben gejpiegelt Habe, um ihm dad Herz mit biefer ringenden 
Sehnſucht zu erfüllen; aber wie follte er auf ben Gedanken kom⸗ 
men, daß er gerade es fein konnte — gab es denn nicht andere 
Männer in Jeruſalem und in der Wäfte, die vor ihm berufen 
fein konnten? Eine ſolche Weberlegung konnte ihm kommen in 
einem Eritifchen Augenblid. Wenn er in jenen Stunden am Jor⸗ 
dan, da Israel gefpannt auf den Meſſias Harrte, der Täufer felbft 
aber fich dem Verlangen des Vollkes entzog und fein größerer ſich 
zeigen wollte, wenn er da etwa die Frage an ſich felbft und an 
feinen Gott richtete, ob er ſelbſt es nicht fei, fo Liege ſich das 
piychologisch verftehen. Wreilih müßte dann auch fofort erwartet 
werben, baß er fich offen zu dieſem Berufe befannt Hätte, und «8 
ließe ſich kaum verjtehen, wie er eigentlich nur durd die Erwat⸗ 
tungen des Volkes gedrängt, nur durch augenblickliche Nöthe ver- 
anlaßt zur Ergreifung diefes Berufs, doch auf die nähere Geftal- 
tung deöfelben den Mejftaserwartunger des Volkes fo wenig Einfluß 
geftattet haben follte. Wenn eine Jungfrau bon Orleans, atif 
welche Hafe fi beruft, im Angeficht ber Außerfter Gefahr Ihre 
Landes den Beruf zur Rettung in ſich verfpürt, fo kann fie fit 
biefen Beruf doch nur als den zu einer augenblicklichen, fichtbaren 
benlen. Aber dad Meſſiastum im Sinne des Herrn war den 
Erwartungen und Hoffnungen Israels in feiner Weiſe gan; adü⸗ 
quat, jo dag wir und auch nicht denken können, fein Bewußtfein, 
der Meſſias zu fein, fei aus ben Einbrüden von der Noth und 
ben Hoffnungen der Zelt heraus geboren. Ueberdies kann bie Ein- 
wendung, die Haſe ſelbſt macht, daß bei einer ſolchen Entftehttig 
des melfianifchen Berwußtfeind das Schwanken und der Zweifel 
eigentlich integritende Momente dieſes Bewußtſeins geweſen fein 
27* 





406 Schmidt 


müßten, daß mindeftend bei den eintretenden Miserfolgen dieſe 
Zweifel fich wieder geregt haben müßten — dieſe Einwendung kann 
nicht leicht befeitigt werden. Man vergeffe nur eines nicht. In 
dem meiftanifchen Bewußtjein lag doc eines ganz unfraglich ein« 
gefchloffen, die Ueberzeugung, daß an feine Perfon, nicht nur an 
die von ihm verkündigte Wahrheit das Heil der Welt gebunden 
ſei. Wie foll dies Bewußtſein ohne den Halt einer objectiv ver» 
fiegelten Gottesoffenbarung gegen das Gewicht des in ben That» 
Sachen ſcheinbar ſich vollziehenden Gottesgerichtes ſich feitgehalten 
haben? Ein Hus mag die Ueberzengung gehabt haben, daß feine 
Lehre Wahrheit fei, er mag den Scheiterhaufen beftiegen haben in 
der Zuverfiht, daß bie von ihm verkündigte Wahrheit ſich Bahn 
machen müfje und ihren Triumph feiern werde; aber daß diefe Wahr- 
heit von feiner Perfon unablöslid fe, dag fie felbjt auf immer 
nur mit der Anerkennung feiner Berfon auf Anerkennung zu rechnen 
babe, das konnte er fich ohne äußerſte Schwärmerei dody nicht ein⸗ 
bilden. Aber das, müſſen wir doc fagen, liegt mindeftens in dem 
meſſianiſchen Bewußtſein, daß er fich felbft diefe abfolute Bedeu⸗ 
tung zugefchrieben, auch ohne dag wir, wozu hernach Gelegen- 
heit geboten fein wird, dies Bewußtſein noch näher unterfucht 
haben. 

Können wir alfo in feiner Weife in dem Verjuche Haſe's, die 
Entftehung des meffianischen Bewußtſeins denkbar zu machen, aus 
den Analogien fonftiger Erfahrungen von der Uebernahme ober, 
eigentümlicher Berufsaufgaben heraus, eine gelungene Löſung des 
Problems erblicen, jo will auch die Analogie der genialen Ahnung 
nicht binreichen, eben aus dem Grunde, weil ber Meſſiasberuf ein 
ganz eigenartiger iſt. Wenn es fih etwa nur um Schriftaus- 
legung und Volkspredigt gehandelt hätte, da mochte ja in allewege 
eine Ahnung früher in ihm aufdämmern, daß er berufen fei, eine 
neue Schriftauslegung, neue religiöje Erkenntniffe zu bringen, aber 
zugleih mit dem Triebe, in die Schrift ſich zu verſenken, in reli⸗ 
giöfer Contemplatton mit Gott zu verkehren. Im kindiſchen Spiel 
Ihon mochte er den Volfslehrer machen und ein Bewußtfein davon 
gewinnen, daß er berufen fein Lönne, die hohen Meiſter feines 
Volkes, die Hillel u. a., zu überbieten; aber von bier bis zum 


Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 407 


Demußtfein der einzigartigen Bedeutung feiner Perfon ift doch noch 
ein weiter Schritt. Wenn ein Alexander die Ahnung gehabt haben 
foll, dag er der erfte Feldherr, ein Raphael, daß er ber erfte Maler 
fein werde, fo konnte diefes Bewußtfein an der Erfahrung von 
anderen Feldherren und anderen Malern fich bilden; aber ohne daß 
Raphael ein Bild gefhaut, von einem Maler gehört, Alexander 
ben Homer gelefen, Soldaten gefehen, von Schlachten vernommen, 
wäre ihm doc immer eine folche Ahnung gefommen. Es wäre ein 
Großes, ein ſchon außer der Analogie Liegendes, wenn der Herr 
etwa da8 Bewußtſein gehabt hätte, auf dem Wege der Ahnung 
mehr zu fein als Menſch — denn ein Prophet iſt man ja nicht 
fraft des Gefühls befonderer Leiftungsfähigkeit, fondern nur kraft 
ded Bewußtfeins, beftimmte Aufträge von Gott fchon empfangen zu 
haben, aber ber Meſſias ift dann doch noch etwas ganz anderes. 
Dazu kommt, dag alle Genialität, das Lernen, die allmähliche Uebung 
nicht ausfchließt. Auch der genialfte Dichter oder Maler hat nicht 
mit feinem Meifterwert angefangen. Wäre das Mefftasbewußt- 
fein nad) Analogie des genialen Selbftbewußtfeins zu erflären, fo 
müßte man annehmen, daß auch in den Tagen der Kindheit fchon 
die erften Schritte von ihm zu dem Ziele Hin erfolgten, das fein 
Geiſt ahnungsvoll in's Auge faßte. Der tiefe, aus dem „Un 
bewußten“ ftammende Drang würde fich irgendwie geäußert haben. 
Aber das Wunderbare ift, daß mit dem Aufleuchten des Meſfias⸗ 
bewußtfeins fofort auch die Mare Einficht gegeben war, es fei 
diefe Erkenntnis mit dem Schleier eines heiligen Geheimniffes zu 
verhüllen, daß der Meſſias nicht dem Drange genialer Anlage 
folgend fich frühe auf feinen nachfolgenden Beruf einübte, fondern 
unerkannt, ungeehrt von der Welt die Tage der Kindheit und des 
Sünglingsalters zubrachte. Je concreter man ſich die Sache vor» 
zuftellen fucht, deito weniger wird man mit den von Hafe ange: 
führten Analogien fich zufrieden geben künnen. Wer die Entftehung 
diefes Bewußtſeins wirklich erflären will, wird wol es verjuchen 
müffen, die Gefchichte des Lehramts auch dazu zu nehmen, wird es 
verſuchen müſſen, mindeften® die Taufe des Johannes als Voraus» 
fegung dazu zu nehmen. 

Treten wir nun damit an die Hauptfrage unjerer Unterfuchung 


408 Schmidt 


näher heran, ob innerhalb des Rahmens feines öffentlichen Lebens 
Spuren einer allmählihen Bildung feines Selbſtbewußtſeins ſich 
finden, fo dürfte für die Beantwortung diefer Frage eine Ver⸗ 
ftändigung darüber nöthig fein, was denn fchließlich die Elemente 
dieſes Bewußtſeins find. Erſt wenn wir damit in's Reine ge» 
fommen find, wird ſich darüber urtheilen laſſen, ob unfere Quellen 
Schlüffe auf das anfängliche Fehlen eines diefer Elemente enthalten 
oder ob überhaupt denkbar ift, daß dieſes Bewußtſein ſich fo zu 
Sagen ſtückweis gebildet habe, fo daß man aljo ein Element des⸗ 
jelben als vorhanden, das andere erit als ſich entwidelnd vor» 
jtellen Tönnte. Wenn der Berfaffer bei diefer Unterfuchung fich 
zunächft an die Synoptifer hält und das 4. Evangelium mehr nur 
als Parallele herbeizieht, jo thut er das nicht allein weil er gerne 
ex concessis argmentiren möchte, fondern auc weil er glaubt, 
daß eine unbefangene theologische Anfchauung fi nicht der Er⸗ 
fenntnis verfchließen darf von der eigentümlich theologifchen Fär⸗ 
bung diefes Evangeliums, kraft deren e8 die Geſchichte sub specie 
aeternitatis betrachtet, womit der Authentie natürlich in feiner 
Weiſe präjudicirt fein fol. 

Es ift wol allgemein zugeftanden, daß zur Erfeuntnis des 
Selbftbewußtjeins ded Herrn wir zunächſt an die Namen gewiejen 
find, mit denen er fich felbft bezeichnet, daR deshalb fein anderes 
Wort wichtiger ift für diefen Zweck als das Wort vioc vav av- 
Jeonov. Um fein Wort bat darum aud) die Exegeſe fo fehr fidh 
bemüht als um dieſes. Vielleicht gelingt es ung, ohne Eingehen 
auf die verfchiedenen Vorſchläge der Eregefe doch etliche Haupt⸗ 
punkte hervorzuheben, die fchließlich unbeftreitbar fein dürften und 
für unferen Zwed genügen können. Wichtig erfcheint ſchon der 
Umjtand, daß er fid) überhaupt einen eigentümlichen Namen gibt 
und zwar nicht nur auf ergangene Bitte um Auskunft feine Berfon 
jo bezeichnet, fondern auch ohne ſolche Veranlaffung ſich auf dieſe 
Weiſe gewiffermaßen von der übrigen Deenfchheit untevfcheidet. 
Wozu dieje Umfchreibung des einfachen pron. personale, wenn er nicht 
glaubte, zum voraus auf ein in ihm vorhandenes eigentümliches 
Weſen aufmerffam machen zu müffen? (Vgl. Keim II, 70.) 
Daß mindeftens jchließlih der Name meiftanifche Bedeutung Baben 





Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 409 


will, ift wol im allgemeinen auch zugeftanden. Strauß (In 
feinem zweiten Leben Jeſu), Hafe, Keim, Wittichen findin diefer 
Hinfiht einftimmig. Aber ebenjo unbeftreitbar dürfte auch das 
andere fein, daß der Herr in ganz beftimmter Abficht diefen Namen 
benorzugt und einen befondern Sinn demſelben zu geben fucht. 
Schon der altteftamentliche Gebrauch bei Daniel, wie im 8. Pſalm 
weit auf die ideale Seite des menjchlihen Weſens hin. Die 
Gegeneinanderftellung der Thiere und des Menfchenfohnes kann doc) 
nur den Sinn haben, daß die Weltreihe, fofern ſie von Gott ges 
Ihieden und ihren natürlichen Xrieben hingegeben find, thierifchen 
Charakter haben, im Meſſiasreiche aber die Meenfchheit in ihrem 
wahren, vollflommenen Wejen erjcheint. Trägt nun das ganze 
Meſſiasreich einen folchen im vollften und wahrften Sinne huma⸗ 
nen Charakter, ſoll in demfelben das menschliche Weſen überhaupt 
zu feiner Vollendung kommen, fo muß das von bem Haupt 
und Urheber diefes Neiches in befonderem Maße gelten, er 
muß im Unterfehiede von den übrigen Menfchen darauf Anſpruch 
machen, der Menih im vollflommenen Sinne zu fein. Ober 
iſt dieſer Schluß zu rafh? wird man fidh vielleicht mit einer 
gewiflen Unklarheit in diefer Beziehung helfen wollen, mit 
der Behauptung, daB Jeſus vielleicht mehr zufällig auf dieſen 
Namen gelommen fei, feinen Inhalt nicht fo ernftlich gemeint 
babe? Aber wie? Die Wahl einer fo conftant feitgehaltenen 
Bezeichnung jollte etwas zufälliges an fih haben — und der 
Herr ſollte nit ſchon durch den Gedanken, dag der Daniel’sche 
Menjchenfohn auf des Himmels Wolfen zu dem Alten der Tage 
fommt, zur Frage nad den Eonfequenzen diefer Bezeichnung ſich 
veranlaßt gefehen haben? Und wenn er ausdrüdlid das Kommen 
auf den Wolfen des Himmels für fih in Anſpruch nimmt, ſollte 
ihm dann eine Anfchauung, wie fie der Apoftel Baulus (1 Kor. 15) 
geltend macht, wirklich ferne gelegen haben? Wenn die Bezeichnung 
Menfchenſohn ohne Zweifel vor der Deffentlichkeit die meſſianiſchen 
Ansprüche mehr verdecte ald der Name Davids Sohn, wenn dad 
Bolt über die Tragweite de8 Namens Menfchenfohn im unklaren 
bfeiben konnte, für ihn felbft, den Herrn, Lagen doch ſchon in diefem 
Namen Aufprüche, welche weit bimnusliegen über den bloßen 


410 Schmidt 


Davidsfohn. Will man nicht den Tächerlichen Verſuch machen, den 
Namen auf das Niveau des Menſchenkindes überhaupt zu redu« 
ciren, fo wird man fchon bier zugeitehen müfjen, daß in dem 
Selbftbewußtfein des Herrn ein Element lag, das jchwer in ein 
nicht krankhaft geftörtes Bewußtſein des empirischen Menfchen ſich 
fügen will. Wenn Keim (Leben Jeſu, Bd. U, ©. 64 ff.) in 
der ihm eigentümlichen Redeweiſe einen - Doppelfinn in dem 
Namen findet, wenn er darin einerfeits die Bezeichnung des menjch- 
lihen Meſſias findet, wenn er fagt, biefe Erkenntnis, „biefer Wille 
(der ſich nämlich in dem Gebraud des Wortes ausſpreche) ber 
leuchtet neu und zauberhaft den echtmenjchlichen Charakter und den 
geijtigen wie fittlichen Grundgedanken de8 Himmelreichs“ — wenn 
aber anderfeit8 auch die Hoheit darin Liegen foll, wenn Keim 
jagt, „sie läßt die Immer noch übrige, fcheinbar fo entjcheidend wich⸗ 
tige Berjpeftive auf Thronherrlichkeiten wie ein duftiges Ahnungs⸗ 
bild erfcheinen“ — fo ift damit doch feineswegs die Möglichkeit, diefe 
Bezeichnung mit einem empirischen Dienfchheitsbewußtfein zuſammen⸗ 
zubringen, erflärt. Auch die Stellung eines dıexovog der ganzen 
Menſchheit ift eine fo einzigartige, daß fie auch aus der Parallele 
mit dem Vorgefühl genialer Naturen von der Bedeutung ihres 
künftigen Wirkens nicht kann verglichen werden, fehon darum nicht, 
weil es ſich in der That doch nicht um eine Leiftung handelt, 
welche nur durch ein außerordentliches Maß von Begabung bedingt 
dt, fondern zu welcher auch eine einzigartige fittlich-veligiöfe Stel 
fung erfordert wird. Mag der Name immerhin den Rahmen ber 
Menfchheit überhaupt noch nicht überfchreiten, wir werden vergeb- 
lich nad genügenden Analogien uns umfehen im greife aller der 
Menden, die nicht in befonderem Maße an Selbjtüberhebung leiden. 
Wenigſtens wird man biefe ganz eigentlimliche Bedeutung, die der 
Herr fih dur den Gebrauch diefes Namens zufchreibt, zugeftehen 
müffen, wofern man nicht etwa mit Strauß darin den Ausdruck 
eines vagen, aufgeflärten Kosmopolitismus gegenüber den angeb⸗ 
lien nationalen Beſchränktheit des gewöhnlichen Meſſiasglaubens 
fehen will. 

Leichter ald der Name Menfchenfohn ſcheint fich der Gottes⸗ 
john mit dem empirischen menfchlichen Bewußtfein zu vertragen. 














Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 411 


Strauß findet diefe Betrachtungsweife feiner als des Gottesfohnes 
auf eine breite, rationelle Bafis geftellt (8. J. f. D. V., ©. 202). 
Denn feiner Meinung nad) theilt der Herr bie Gottesfohnfchaft 
mit allen feinen Jüngern, fie beruht nur auf dem Glauben an 
die unterfchiebslofe, alle Menſchen umfaffende Güte Gottes, ber in 
diefer Güte als Vater erkannt wird. Aber in der That gibt es feine 
oberflächlihere Anficht als diefe, obwohl man ihr immer wieder 
begegnet. Es Tanıı doch nicht geleugnet werben, daß der Herr fid) 
felbft niemals zufommengefaßt hat mit den übrigen Menſchen, wo 
er die leßteren als Kinder Gottes bezeichnet, und es ift die Der 
merkung Keime (Bd. II, S. 308) daß im fpäteren Theil feiner 
Wirkſamkeit an die Stelle des „euer Vater“ bei dem Herrn der 
Ausdruck „mein Vater“ trete, eben dahin zu ergänzen, daß auch in 
dem „euer Vater“ das „mein Vater“ eigentlich impficite fchon Liegt. 
Wenn er principiell auf dem gleichen Boden ftand mit deu übrigen 
Menſchen — mit den Jüngern, warum denn diefe abfichtliche Vermei⸗ 
dung des „unfer Vater“. Legt er den Seinen dieſe letztere Formel 
in den Mund, warum jchließt er fich felbft von diefer Formel aus, 
indem er eben ansdrüdlich den Jüngern fagt, jo jollen fie beten? 
Vergeblich wird man nad) irgend einer Spur fuchen von einer Gleich⸗ 
ftellung des Herrn mit den übrigen Menjchen, auch mit den höchften 
und beften. Thatſächlich erfcheint auch der Gottesfohn der Synoptifer 
als Wovoysrnis, wenn auch nur das 4. Evangelium wirklich diefen 
Ausdrud anwendet. Wie foll man biefes fpecififche Sohnesbewußt- 
jein erflären? Die theofratifche Bedeutung wird durch alles, was 
der Herr zur Erklärung feines PVerhältniffes zu Gott anführt, 
nicht unterftügt. Ya, man wird jagen bürfen: wenn der Herr 
jein Sohnesbewußtfein auf die Erwählung zum Meſſias begründete, 
jo würde allerdings die Anwendung des Sohnesnamens auf die 
übrigens Reichsgenoſſen unverftändlich fein. Wäre die Gottesfohn- 
Ihaft die Prärogative de8 Meffinsthrones, fo könnte aud nicht 
in abgeleiteten Weife der Sohnesname auf die Unterthanen überges 
tragen werden. Nur wenn mit dem Namen ein Wejensverhältnie 
zwifchen dem Herrn und Gott bezeichnet werden foll, erklärt fich 
beides, die Webertragung des Namens auf bie XTheilhaber am 
Reich und der fpecififche Vorbehalt, welchen ber Herr für fich felbft 


412 Schmidt 


macht. Daß damit die Annahme des Titels auch im theokratiſchen 
Sinne nicht ausgeſchloſſen ift, verſteht ſich non ſelbſt — nur ruht 
für den Herrn dieſe theokratiſche Bedeutung des Namens auf dem 
Grunde eines Weſensverhältniſſes. 

Freilich hat man nun verſucht, doch wieder den ſpecifiſchen 
Unterſchied auf einen graduellen zu reduciren. Nah Wittichen 
(L. J., S. 125) iſt der Name Gottesſohn „ber Ausdruck für die 
freie perſonliche Hingebung an Gott, welche zuerſt und in eminenter 
Weiſe in ihm ſelbſt realifirt, feiner. Gemeinde durch feine Wirk 
ſamkeit als Lebensprincip mitgetheilt wird, und für die entfpredjende 
Selbftmittheilung Gotted an bie Menſchen“. Bezeichnend ift in 
diefer Erffärung fchon die VBoranitellung der Selbfthingabe an Gott. 
Es entfpricht ganz dem pantheiftiichen Zuge des modernen Rationa« 
(mus, daß Gott als ein Naturding gefaßt wird, das, in immer 
gleicher Güte und Vollkommenheit auf die Meenfchen ftrömend, diefen 
ganz nach dem Maßſtab ihrer Capacität, ihrer Hingabe fich mit- 
teilt. Aber davon abgefehen ijt der Herr jo nicht eben doch nur 
der primus inter pares? Wenn auch er erft andere zur Selbft- 
hingabe anregt, gibt ihm das ein Recht, fein eigenes Verhältnis zu 
Gott als ein von dem ber übrigen weſentlich verſchiedenes zu denken ? 
Wie kann er darauf kommen, zum voraus gemiffermaßen die Mög⸗ 
lichleit auszufchließen, daß es zwiſchen Gott und einem anderen 
Menſchen zu dem VBerbältuis, ich will nicht fagen innigerer, aber 
doch gleicher Selbftwittheilung und Selbitbingabe komme? Bedeu 
Falls wird man gut thun, mit Keim von dem großen Sohnesbe⸗ 
fenntnis (Matth. 11) auszugehen. Hier erſcheint das Sohnesver- 
hältnis ats ein Verhältnis ausschließlichen Erfennens. Auch wenn 
wir nur zunächft beim einen Gliede ftehen bfeiben, bei der Er⸗ 
fenntnis des Vaters durch den Sohn, wird man fofort zu der 
Trage weitergeführt, woher fommt es, daß der Sohn allein den 
Bater erkannte? Wenn man freilih mit Reim den Text auf 
Grund der nachapoftolifchen Literatur ändert und den Vater zum 
Subject der Offenbarung macht, jo kann man fagen, der Herr 
wolle damit nur thatfächlich aussprechen, daß er zuerſt den Vater 
erkannt habe, ohne daß er darum die Möglichkeit ausfchliegen wollte, 
daß auch andere, mun, nachdem er den Weg gexeigt, 34 dieſer Er⸗ 














Ueber die Grenzen ber Aufgabe eines Lebens Jeſu. 413 


fenntnis gelangen. Allein dieſe Tertesänderung iſt doch zu gewalt⸗ 
fam und ob man nun mit Matthäus das devrs moos we u. f. w. 
folgen oder mit Lufas das uaxagıoı od oysakuol ſich anjchließen 
(äßt, immer wird man doch einen inneren Zuſammenhang zwiſchen 
feiner Erkenntnis des Vaters und feiner Bedeutung für die Menſch⸗ 
heit finden und zugeftehen müfjen, daß der Herr das Verhältnis 
aller Menjchen zu Gott — zunädhft einmal bezüglich der Erkennt 
nis — dur ihn vermittelt benft!). Seine Erkenntnis Gottes 
als des Vaters ift aljo nicht das Ei des Columbus, dag nun jeder 
unabhängig von der Perfon des Herrn zu ihm gelangen könnte, 
londern jeder Ginzelne ift an feine.Bermittlung für immer gewielen. 
Dann aber muß er ein jedem anderen Menfchengeift fehlendes Er» 
fenntnisorgan gehabt haben — er muß Jich bewußt geweien fein 
eines fpecififchen Wefensunterfchiedes von den übrigen Menfchen, 
wodurd er wie fein anderer zur Erlangung dieſer Erkenntnis be= 
fühigt war. Wie darf man dann aber fo vornehm jede phyfifche 
oder metaphufifche Bedeutung bes Sohnesnamens zum voraus ab- 
lehnen? Die jpeciftfche religiöfe oder ethifche Dignität des Herrn 
ift ohne einen metaphufiichen Hintergrund nicht denkbar. Je gewiljer 
der Herr jeine meffianifche Würde nicht auf eine von feiner Perfon 
ablögbare Amtsbefugnis gründet, fein Königtum nicht al8 ein ihm, 
abgefehen von feinem perfönlichen Werth, lübertragenes Amt anfieht, 
wie es nah Haſe (S. 413) den Anfchein gewinnen könnte, deſto 
jicherer muß auch feine Prärogative auf einem perfünlichen Weſens⸗ 
vorzug beruhen. Noch mehr aber tritt diefe ſpecifiſche Unterfchetdung 
bernor in dem, nad dem kanoniſchen Text, erjten Gliede: Niemand 
fennt den Sohn. Mit Recht Hat dies Wort der Tübinger Schule 
folhen Anftoß bereitet, bag Baur es einfach eliminirt, Strauß 
fopffchüttelnd davor ſteht. Warum foll niemand ihn fennen, wenn 
in feinem Wefen nicht ein Etwas fich findet, das eben mindeftene 
über alles empirische Menſchenweſen hinausgeht? Es iſt obers 
flählih, wenn Haſe fagt, den göttlichen Menſchenſohn zu erfennen, 
jei Schwer, denn es iſt nicht nur Schwer, fondern unmöglih. Trium⸗ 
phivend zwar fragt Reim am Schluß feiner Deductionen: Bleibt 


1) Bgl. gegen die Aeuderung der Recepta auch Weizjäder, ©. 438. 


414 Schmidt 


bier auch noch ein eigentlich dunkles Geheimnis, wenn man ben 
Spuren der geſchichtlichen Thatſachen folgt? (a. a. D. ©. 386). 
Wir unferfeits beftreiten aber auch Keim das Recht, das Wort 
ovdeis Erriywooxes Toy viov Lügen zu ftrafen. ft weiter nichts 
nöthig, als dag man den Spuren der gefchichtlihen Thatjachen 
nachgeht, um alles Geheimnis zu Tüften, jo ift eine fpecififche 
Offenbarung Gottes in Betreff des Sohnes überflüßig, Keim 
beruft ji auf ein Wort A. Schweizers, daß große Aussprüche 
begreiflich feien bei centraler Einzigleit. Aber eben darum handelt 
ſich's: wie ift die centrale Einzigkeit und das Bewußtfein davon 
auf dem Boden des empirischen menjchlihen Weſens möglich? wie 
joll ein gewöhnliches, auch das höchſte Menſchenkind zu ber Ueber⸗ 
zeugung kommen, daß ihm ein Wefen eigne, „welches Gott felbft 
ein Intereſſe bietet, ein Problem öffnet, eine Verwandtſchaft zeigt“ ? 
fofern nämlich dies Weſen ihm eignen fol im Unterfchied von 
allen anderen. Man fei doch ehrlich! Man mag der orthodoren 
Dogmatik gegenüber mit folchen Erklärungen den Schein der Nüch⸗ 
ternheit fi) geben, al8 habe man nun alles begreiflich gemacht; 
aber wenn man fich die Sache concret vorftellig machen will, fo find 
ſolche Sohnesbelenntnijfe doch eben ftark genug, um uns zu dem 
Geftändnis zu zwingen, daß wir von irgend einem anderen Menfchen, 
auch wenn er die wnnderbarften Entdeckungen auf dem refigiöfen 
Gebiete gemacht, ähnliche Belenntniffe uns nicht gefallen ließen, 
weil wir fie mit einem auf der Köhenlage des uns bekannten 
Menſchenweſens, fo lange dasfelbe normal ift, ftehenden Bewußt⸗ 
fein nicht zu reimen vermögen. Auch wenn man das ravra wos 
scegedosn auf bie rein religiöfe Bedeutung reduciren will, als 
bfoß Hyperbolifchen Ausdrud der Ahnung von der Weltbedeutung 
der neuen Religion wird man das Wort doc) nicht leicht zurecht- 
legen künnen. Daß feine Perfon, nicht nur feine Entdedung, feine 
Religion in eine ſolch' weltgebietende Stellung gerüct werde, 
dürfte doch kaum zu beftreiten fein, — wie ift das aber möglich, 
wenn die Berfon, wie bei allen Menjchen fonjt, ihre Bedeutung für 
die Welt doch nur durch ihre Leiftung empfängt? In der That, 
man bat, angefichts folcher Aeußerungen vom „rein hiſtoriſchen“ 
Standpunkte aus, alle Urfadhe die Frage zu erheben, wie weit bei 





Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 415 


bem Herrn die Tugend der Demut ihre volle Vertretung gefunden 
babe; aber man wird fi faum mit der Antwort begnügen können, 
daß es eben das Amt geweſen fei, welches der Herr habe in Ehren 
halten müfjen, da doch im Gegentheil der Herr überall gerade feine 
Perſon als folche, ohne Rüdfiht auf fein melfianifhes Amt, mit 
biefen hohen Prädikaten umfleidet. Wenn die DVerfiherung, daß 
er zarreıwos fei, 5 xagdie feinen widerwärtigen Eindrud auf 
uns machen fol, jo muß fie zum Hintergrund eine thatjächliche 
Hoheit haben, die über dag Maß aller fonftigen menfchlichen Würde 
hinausgeht. Mag diefe Hoheit auch zunächſt eine religiöfe und 
fittliche fein, die Vorausfegung, daß er in einzigartiger Weiſe Gegen- 
itand des Wohlgefallens Gottes fei, fo dag auch kunftighin fein 
anderer Menſch dieſelbe Stellung gewinnen fünne, ftreitet nur dann 
nicht mit der Demut, wenn fie auf dem Bemußtfein eined einzig« 
artigen Weſens ruht. Ohne metaphyſiſchen Hintergrund wiſſen 
wir uns das Bewußtſein ber religiöfen Einzigkeit nicht denkbar zu 
machen, fo wenig als die thatfächliche fittliche Einzigartigkeit. 

Daß auch auf folche der Herr einen Anfpruch erhebt, wird faum 
zu leugnen fein. Daß der Herr davon durchdrungen ift, daß alle 
Menfchen fündig feien, ergibt fi) aus einer ganzen Fülle von 
Aeußerungen, auch wenn nicht jchon der Bußruf, mit dem er auftritt 
und den er an alle Menjchen richtet, es beweifen würde. Er lehrt 
feine Jünger um Vergebung ihrer Sünden bitten, mahnt diefelben 
ganz allgemein zur Verſöhnlichkeit mit der Begründung, daß fie fonft 
auch Feine Vergebung erlangen bei Gott, er ſetzt in dem Gleichnis 
vom großen Schuldner voraus, daß die Menfchen allgemein eine 
unendlich große Summe von Verfchuldungen Gott gegenüber haben, 
jein Tod dient zur Vergebung der Sünden für die Jünger und 
für viele, er nennt die Menfchen allgemein novngol Ovreg 
(Matth. 7, 11. Zul. 11, 13), er leugnet, daß jemand gut ſei außer 
dem einigen Gott. Und das Wort Joh. 3, 6 findet in diefen 
fynoptifhen Ausdrücden feine Corollarien. Rechnet fi nun ber 
Herr zu den aljo dharakterifirten Menfhen? Wir können uns 
natürlich nicht anmaßen, die Frage nad der Sündlofigleit des 
Herrn hier eingehend zu erörtern, haben e8 auch jeden Falle nur 
mit dem Bewußtfein des Herrn in diefer Beziehung zu thun. 


416 Schmidt 


Da wird man nun vorab zugeftehen müffen, daß ber Hert nirgends 
auch nur den Schatten des Bewußtſeins von einer concreten Sünde 
zeigt. Kein Wort nimmt er zurück, feinem bittet er ab wegen ir⸗ 
gend einer Uebereilung. Wenn Keim (a. a. DO. IH, 648) 3.8. in 
dem Auftreten gegen Petrus (Matth. 16, 8. 23), noch mehr in der 
Tempelreinigung eine nicht zu rechtfertigende Leidenſchaftlichkeit fieht — 
ber Herr ſelbſt hat fich nicht bewogen gefunden, dafür Abbitte zu 
thun, er hat auch fein Bedauern über fein Auftreten bei der Tem: 
pelreinigung ausgefprochen, weder den Oberften noch den Süngern 
gegenüber. Er weiß wohl von einem Gegenfag zwifchen bein Ich⸗ 
willen und dem Gotteswillen, aber er empfindet diefen Gegenſatz 
mindeftens nicht al8 Sünde. So tief er fich in Gethfemane beugt, 
ein Wort der Buße und Neue kommt nicht aus feinem Munde. 
Selbft das Kreuz erpreft ihm fein Bekenntnis auch der geringfteh 
Schuld. Was Keim eigentlich damit beweifen will, daß er fid, 
wo er die Ohnmacht des Menfchen, die phufifche und geiftige, die 
Schwachheit des Denkens und ſittlichen Könnens u. f. w. betont, 
unter dieſe thatfächlihen Menjchen täglicher Erfahrung eingerechnet 
habe (a. a. O., ©. 643), ift ſchwer verftändlih. Einmal ift von 
einer expreffen Einrechnung des Herrn in allen von Keim geltend 
gemachten Stellen gar nicht die Rede, im Gegentheil, wenn mat 
die Worte preffen wollte, könnte man bei den melfter berfelben auf 
das vusis und vv hinweiſen. Aber felbft wenn wir darauf 
fein Gewicht legen wollen, fo kann man mit diefen Stellen nut 
beweifen, daß der Herr ſich unter Gott geftellt hat, was auch ber 
orthodoxeſte Dogmatiker nie in Abrede ziehen wird, bezüglich det 
menfchlichen Seite an dem Herrn. Wie gänzlich nichtsfagend biefe 
Argumentation ift, beweift wol am beften bie Behauptung, daß 
aus dem Worte Matth. 19, 26 gefolgert werben will, der Herr 
babe damit auf die Fähigkeit, das Gute in anderen Menſchen zu 
ichaffen, verzichtet, ja auch auf die durchſchlagende Kraft der eigenen 
guten Natur und fittlihen Tüchtigkeit — als ob der Herr nicht 
im Kapitel vorher (18, 11) gerade von ſich felbft gefagt hätte, daß 
er gelommen fet oo ro danoAwmios, und als ob jemals der 
Herr von einer religionslofen Sittlichfeit modernen Stils eineh 
Gedanken gehabt hätte. Daß alles fittlich Gute immer nur in der 








Ueber bie Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 417 


Gemeiuſchaft mit Gott gefchehen könnte, ift ihm fo zu fagen feldft- 
verftändliche Vorausſetzung; aber was foll das in aller Welt mit 
der Frage nach der thatfächlichen Sündlofigleit zu thun haben? 
Dagegen ift unbeftreitbar, daß der Herr die Vergebung ber 
Sünden ausübt und zwar nicht nur in declaratoriihem Sinne, 
fondern daß er diefe Macht als eine feiner Berfon anbaftende 
Prärogative hat und fie feinerfeits feinen Wpofteln überträgt; es 
ift unbeftreitbar, daß er ſich für den Weltrichter erklärt, alſo offen- 
bar fi von dem Gericht erimirt, dem alle anderen Menſchenkinder 
unterftellt werden follen; es ift unbeftreitbar, daß er fich felbft als 
das Opfer für fremde Sünden bezeichnete. Wie kann er dieſe 
Unfprüche alle erheben, wenn er felbft ſich als Sünder weiß, wenn 
er felbit ſich als dem. Gerichte Gottes verfallen anfehen muß? Der 
nach Luk. 15, Uff. in den außerordentlichen Unglüdsfällen göttliche 
Bußrufe fieht, hätte in dem über ihn felbft hereinbrechenden Gericht 
nicht auch eine Aufforderung zur Buße jehen follen, wenn über» 
haupt au nur ein leifes Bewußtſein von Schuld in ihm vors 
handen war? Gegen alle biefe fchwerwiegenden Beweiſe für das 
Bewußtſein de8 Herrn von feiner Schuldlojigkeit hat man nun 
neben der Laufe durch Johannes hauptfählih die Stelle Matth. 
19, 17 geltend gemacht. ‘Die Taufe des Herrn durch Yohannes - 
werden wir an einem amberen Drte nocd ausführlicher befprechen, 
ihre Deutung ift mindeftens fo beftritten, daß man nimmermehr - 
einen ftringenten Beweis daraus wird führen fünnen. Was aber 
die Matthäusftelle betrifft, fo muß doch ver allem feitgehalten 
werben, daß der Herr über feine Perfon dort nicht dogmatifiren 
will. Er bat die Abficht, den jungen Dann ſchon bei jenem erften 
Schritte jo zu fagen auf den Punkt hinzuweiſen, der gewiſſermaßen 
die Entſcheidung über feine weiteren ragen in fich trägt. Es muß 
daran erinnert werben, daß der Gedanke volllommener Gefegeser- 
füllung mit dem empirifchen Zuſtand der Menfchen in Widerſpruch 
ſteht. Um ihm diefe Mangelhaftigkeit menſchlicher Gerechtigkeit 
zum Bewußtjein zu bringen, verweift er ihn auf den höchiten Maß- 
ftab derfelben, den einigen Gott. Hätte er ihn ftatt defien auf 
ſich felbft verweifen follen, hätte er fagen follen: niemand ift gut 
außer mir, und bamit fofort die Gebanfen auf einen ganz anderen 


418 Schmidt 


Punkte lenken, als er eigentlich beabſichtigte, und in dieſem Augenblick 
eine Controverſe über ſeine eigene Perſon veranlaſſen? oder hätte er 
in dogmatiſch correcter Weiſe zu Nutz und Frommen für die fünf- 
tige exacte Forſchung fagen follen: „niemand ift gut außer dem 
einigen Gott und mir, dem Sohne Gottes“, und mit feiner Ant⸗ 
wort die fchlagende Beweiskraft ſchwächen? Für das Bewußtſein 
feiner Zuhörer zunächft, die ihn felbft ja doch nur xasa oapxa« 
fannten, follte e8 außer dem einigen Gott keinen Guten geben und 
will man weiter die Antwort dogmatifch preffen, fo wird man ja 
immerhin fagen können, der Herr will darauf binweifen, daß, wenn 
er felbft gut ift, er es nit ift al8 Wulog aydowrsos, fondern 
nur in feiner außerordentlichen Gemeinfchaft mit diefem Gotte. 
Allen den eben geltend gemachten Momenten gegenüber Tann in der 
That ein auf andere Weife unfchmwer zu erklärender Ausdrud nicht 
in’8 Gewicht fallen. Die moderne Kritik mag ja das thatfächliche 
Verhalten des Herrn meiftern — wir können's ihr nicht wehren, 
fie mag es fehwierig finden, die thatfächlihde Sündloſigkeit des 
Herrn zu erweifen, aber darüber, glauben wir, kann fein Zweifel 
fein, daß der Herr felbft von feiner Sünde wußte Wir willen 
darum auch den neuerdings vielfach angefochtenen Ausdrud Suͤnd⸗ 
Tofigkeit nicht zu tadeln. Denn gerade diefe® Negative, bie Freiheit 
des Bewußtſeins des Herrn von aller Schuld, läßt fi am fchla- 
gendften beweifen, und wir haben auch gar nicht zu fürdten, daß 
damit wirklich zu wenig gejagt ſei, denn bei der Höhe der fittlichen 
Anforderungen des Herrn läßt fi eine Freiheit vom Schuldbewußt- 
fein nicht denken ohne das Bewußtſein, dem Geſetz auch nach feiner 
pofitiven Seite vollſtes Genüge gethan zu haben. — Wenn nun - 
aber der Herr auf ber einen Seite an der allgemeinen Sündhaftig⸗ 
feit der Menfchen fefthält, auf der anderen fich felbft davon aus» 
nimmt, werden wir nicht damit auch auf eine metaphyſiſche Eigen- 
tümlichfeit des Herren Hingewiefen? So gewiß bie Sünde nidt 
zum Wefen der Menfchheit gehört, fo gewiß hebt allerdings bie 
Sünblofigfeit des Herrn ihn nicht. hinaus über die Reihe der 
Menfchen überhaupt. Aber wenn wir darauf, daß jeder vom Weibe 
Geborene auch fündigen wird, mit folcher mathematischen Sicher: 
heit rechnen, als wir darauf rechnen, daß ber Apfellern, wenn er 





Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 419 


aus ber Erbe emporfeimt, wieder zum Apfelbaum werden wird, 
wofern wir nicht etwa im Lauf der Zeiten dazwiſchen greifen, fo 
müfjen wir fragen: wie fommt mitten in dieſen Zufammenhang 
fündiger Menfchen der ideale Menfch herein ohne eine göttliche 
Wundertbat? wie fann ein Menfch, wenn er nicht eben in der 
gröblichften Selbfttäufchung fich befindet, beides in feinem Bewußt- 
fein vereinigen — die volle Ueberzeugung von der Sündhaftigkeit 
aller Menfchen und die Gewißheit eigener Sündlofigfeit, ohne die 
Legitimation einer irgendwie, metaphufifch gearteten Einzigkeit? 
Wenn das meſſianiſche Bewußtſein des Herrn von dem gewöhnlichen 
Meifinsglauben feines Volkes ſich dadurch unterfchied, daß es 
auf dem Bewußtfein feiner, wie wir gezeigt zu haben glauben, ohne 
eigentümlichen metaphufifchen Hintergrund nicht vorftellbaren reli⸗ 
giöfen und fittlichen Einzigkeit beruhte, fo ſchloß es doch ander» 
ſeits auch die Beziehungen zu dem in den Hoffnungen Israels gegebenen 
Meffiasbilde nicht in dem Grade aus, wie es gewöhnlich vorges 
ftellt wird. Wenn er in der befannten Stelle (Matih. 22, 41ff.) 
der gewöhnlichen Auffafjung gegenüber jenes höhere Bewußtſein 
bervorhebt, dem bloßen Davidefohn den gegenüberftellt, welchen 
auch David einen Herrn nennt, jo hat er doch eben an das Siten 
zur Rechten Gottes angeknüpft. Es ift ein vergebliches Bemühen 
die efchatologifchen Neben des Herrn auf urchriftliche Misverftänd- 
niffe fehr einfacher Meden Aber die eigne Unfterblichleit rebuciven 
zu wollen. Wir rechten auch bier zunächft nicht mit denen, welche, 
in bie Wahl geftelit, der religiöfen Autorität des Herrn eine Schranfe 
zu ziehen oder dem Glauben auch an ein äußerlich in großartigen 
Wunderthaten fich vollendendes Reich Gottes ſich zu unterwerfen, 
eher die erfte Alternative wählen; wir fordern nur von ihnen, daß 
fie anerfennen, daß der Herr ſelbſt folhen Glauben bezeugt hat. 
Nicht gelegentlich, nicht in einigen dunkeln Andeutungen ift biejer 
Glaube als ein unüberwundener jüdifcher Reſt in feinem Bewußt⸗ 
fein mit untergelaufen, fondern da8 meſſianiſche Gericht, er felber 
al8 der Herr der Engel, der in fihtbarer Herrlichkeit das Himmel- 
reich zum Ziele führt — das find Züge von dem Zulunftsbild 
des Himmelreichs, ohne die geradezu die ganze Predigt des Herrn 
bei den Synoptifern unverftändlich werden müßte. Von der DBerg- 
Theol. Stud. Jahrg. 1878. 28 





420 Schmidt 


predigt an finden wir diefen Hinweis auf Gericht und Errettung, 
die owsnete ift fo wenig etwas rein innerliches als die Bacıksla 
Toy ovoavav, die als Lohn für äußere Leiden verheißen wird. 
Schon in der Bergpredigt fteht er felbit als der Richter da, der 
die Herr-Herr-Sager von ſich hinwegweiſt (Matth. 7, 21ff.). Das 
dem Samen ähnlich) wachfende Gottesreich weiſt auf eine wirkliche 
Bollendungszeit, das feite Land, an weldies das Ne mit den 
Fischen gezogen wird, auf eine neue Welt Hin, in welcher das Gute und 
Böſe fihtbar gefchieden fein wird. Ja um kurz zu fein, wäre der 
„Menſchenſohn“ möglich gewefen, ohne den Gedanken der Wieder 
funft? Die Trage, wann der Herr den Dieffiasgedanfen ſich an⸗ 
geeignet babe, wird uns fpäter noch bejchäftigen, jeden Falls muß 
daran feitgehalten werden, daß der Gedanke feiner Wiederfunft für 
das Bewußtfein des Herrn eine fehr eingreifende Bedeutung hatte. 
Diefer Gebanfe war nicht nur ein Außenwerk, das fich fo Leicht 
abtrennen ließe, ein ihm felbft vielleicht problematifcher Zug an 
dem Meffinsbilde, das er fich entworfen und das auszufüllen er 
den Anfpruc erhob, jondern es wirkte in die Tiefe. Es war nicht 
nur eine leife Schwärmerei, die man einem fonft nüchternen Manne 
zugute halten muß, fondern ein ernfter Glaube, ber uns in Be 
urtheilung des Herrn zu einem ernften Gntweder-Dder führt. So 
gewiß- ber Meffinsglaube des Volles vom Herrn die eingreifemdfte 
Umbildung erfuhr, wir können uns doch hicht denken, daß ein fo ernfter 
Mann zu irgend einer Zeit diefem Meffiasglauben die Richtung 
auf fich jelbft zu geben gewagt hätte, wenn für ihm ſelbſt die Her- 
ftellung einer auch äußerlich vollendeten Theofratie gar feinen Sinn 
gehabt Hätte. Nun muß man aber doch fragen, wie eine folde 
Erwartung ohne die Bafis des Bewußtſeins einer einzigartigen 
Wefensbefchaffenheit möglich geweſen fein ſollte. Mit Recht jagt 
Weizfäder (S. 479f.): Es ift nur eines dabei zu erklären, nämlich 
die Möglichkeit, daß ein Iebender Menſch das Bild biefes von 
Himmel kommenden Erwählten Gottes auf fich angewendet habe. 
Weit entfernt, daß durch jene Vorftellung erflärt würde, wie er 
fih eine himmliſche Natur habe zufchreiben können, ift biefelbe 
gerade in ihrer Anwendung das Unerklärlichſte. Das ſchwärmeriſche, 
bhantaftifche Weſen, welches biefür zu denken wäre, fteht in einem 














Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 421 


unauflösbaren Widerfpruh mit dem Prediger der Entjagung und 
des geiftigen Gottesdienſtes. — Es gibt nur ein denkbares 
Band, welches diefe fo verfchiedenen Elemente feiner Selbftbezeugung 
zu verbinden im Stande ift: die allen Ausfichten der Zukunft, 
allen Vorjtellungen feiner Berufswege vorausgebende innere Ges 
wißheit der Erwählung von Gott, der Glaube an jein Sohnesver- 
hältnis.“ Wenn Wittihen (S. 340) fid) begnügt, ohne den Ver⸗ 
ſuch einer pfychologifchen Vermittlung den „Irrtum“ einfach für 
ein Ziehen ftarker religiöfer Energie zu betrachten und als durch⸗ 
aus nothwendig für die Weiterführung feiner Sache, fo hat dagegen 
Keim ben Gedanken an „Träftige Schwärmereien“ dadurch abzumweifen 
gefucht, daß er ben Glauben an die Wiederkunft für einen „Noth- 
behelf“ ertlärt, nicht für eine Xiebhaberei (Bd. IL, ©. 571). Es fei 
dem Herrn nicht zuzumuthen gewejen, weder auf feine Perſon zu 
Gunften der „ewigen Sache“ zu verzichten, noch auch einfach re⸗ 
fignirt und blind die verhüllte Zukunft Gottes zu acceptiren. War 
rum freilich feine diefer beiden Zumuthungen zu ftellen geweſen 
wäre, das hat Keim nicht erklärt. Iſt thatjächlich feine Sache 
nur zum Stege gelommen, ohne fein ferneres, perfönliches Wirken 
und Eingreifen, ift feine Berfon in feiner anderen Weiſe gerecht- 
fertigt worden, als jo wie jede welthiftorifche Perſönlichkeit am 
Ende in dem Sieg ihrer Sache auch den eignen feiert, warum 
folfte dem Herrn nicht die Unterfcheidung zwilchen fi und feiner 
Sache auch zuzumuthen geweien fein? Der „Nothbehelf“, als 
welchen Reim den Gedanken der Wiederkunft im Munde des Herrn 
zu rechtfertigen fucht, dürfte ein Nothbehelf im Munde des Ger 
ſchichtſchreibers felbft fein. Auch daß es fih nur um einen Irr⸗ 
tum des Berftandes um das unbewußte Gedicht einer hochfliegenden 
religiöfen Phantafie gehandelt habe, wie Hafe will (S. 543), kann 
nicht zugegeben werden. Außer dem bereitö oben Bemerkten muß 
noch beſonders hervorgehoben werben, daß auf diefem Punkte zwei 
Grunddifferenzen hervortreten, welche zwifchen dem modernen Natio- 
naltisums und der Anfchanung des Herrn unferes Erachtens ob» 
walten. Trotz aller Berfuche, der Berfon des Herrn eine würbigere 
Stellung zu fihern, als die des Landrabbiners oder des jüdiſchen 
Weifen, welche der ältere Nationalismus dem Herrn zutheilte, ver» 
28* 


422 Schmidt 


mag doch auch der neuere nicht, die „Sache“ des Herrn in dauernder 
Abhängigkeit von feiner Berfon zu Halten. Und im Zufammenhang 
damit fteht der Verſuch, die äußerliche Geftaltung des Gottesreiches 
zu etwas gleichgältigem zu machen. In beiden Beziehungen jeden 
Falls ift der Herr, wie ihn Keim aus anderem Anlaß nennt, ein 
Realiſt. Nirgends finden wir, daß ber Herr feine Sache ſich ale 
von feiner perfünlichen Ein- und Mitwirkung unabhängig gedacht 
hat. Bezüglich des zweiten Punktes find gerade die Synoptiker 
zufammen mit der ganzen apoftolifchen Literatur Zeugen für das 
Bewußtfein des Herrn von feiner mejfianifchen, theokratiſchen Herr- 
lichkeit, die man ſchwer befeitigen und abſchwächen wird. Jeden 
Falls könnte man es höchſtens mit Hülfe des johanneiſchen Evan⸗ 
geliums. — Es iſt ja nicht zu leugnen, daß im vierten Evangelium 
der Gedanke der ſichtbaren Wiederkunft zurücktritt — obgleich der⸗ 
ſelbe durchaus nicht fehlt, ſofern doch unfraglich die Lehre von der 
Auferſtehung und der meſſianiſchen Krifis ſich findet und der erſte 
. Brief in diefer Beziehung ergänzend eintritt und zeigt, bag min = 
deftens dem Verfaſſer des vierten Evangeliums die allgemeine 
Erwartung der älteften chriftlihen Kirche geläufig war. Aber wir 
wiffen, warum gerade die neueften Biographen des Herrn lieber 
auf den Vortheil, ber ihnen aus dem Yohannes - Evangelium er- 
wachfen könnte, verzichten. Für die perfünliche Pofteriftenz müßten 
fie die perfünliche Präexiftenz eintaufchen und dieſe ift allerdings 
für die „rein hiſtoriſche“ Betrachtung noch tödlicher als die erftere. 
Ihre Befeitigung aus dem vierten Evangelium, wie fie Beyſchlag 
verfucht Hat, dürfte kaum leichter möglich fein als die der perfün- 
lichen Parufle aus den Synoptikern. Es kann freilich nicht ge- 
feugnet werden, daß auch das johanneifche Evangelium auf keinem 
Punkte die Conſequenz aus diefem Bewußtjein der Präeziftenz zieht, 
daß dem Herrn in derfelben concreten Form auch bie himmliſche 
Bergangenheit, wenn wir menſchlich davon reden follen, wäre vor 
Augen geftanden, wie die irdifche: die Kenotif hat ohne Zweifel 
bier noch vielen Spielraum. Aber mag auch dieſes Bewußtſein 
der Präexiſtenz einen ziemlich allgemeinen Charakter gehabt Haben, 
mag es nur einen Tichten Hintergrund gebildet haben zu feinem 
Weltbewußtjein, immerhin ift bies im johanneifhen Evangelium 








Ueber die Grenzen ber Aufgabe eined Lebens Jeſu. 423 


niebergelegte Zeugnis von einem Bewußtſein ber Präeriftenz ber 
fchärffte Ausdruck der eigentüimlichen Natur feines Selbftbewußt- 
feins überhaupt, verbietet uns am allerbeftimmteften, den Verſuch 
von der Baſis eines empirifch-menfchlichen Wefend aus bie Ent- 
ftehung des meſſianiſchen Bewußtſeins des Herrn begreiflich zu 
machen. 

Im übrigen dürfte alles, was im vierten Evangelium über 
die Zeugniffe der Synoptiker Hinausgehendes. von der Perfon des 
Herrn gejagt wird, doch nur als Epexegeſe zu den erfteren Zeug- 
nifjen angefehen werden, und der Linterfchied zwifchen beiden Dar» 
ftellungen erfcheint mehr nur der zu fein, daß, was die ſynoptiſche 
Darftellung andentungsweife oder als Vorausfegung angibt, die des 
vierten Evangeliums ausdrücklich hervorhebt und ausführt. Iſt 
einmal zugeftanden, daß auch nach den ſynoptiſchen Quellen ein 
ſpecifiſches Sohnesbewußtfein fich findet — und zwar ein Sohnes- 
bewußtfein nicht als Eonfequenz, fondern als Baſis des mefftanifchen, 
jo kann die Hinzuflügung des „Movoysyns“ zum Sohnesbegriff 
nichts auffallendes mehr haben. Iſt das Verhältnis des Sohnes 
zum Vater als das einzigartiger gegenfeitiger Erkenntnis feftgeftellt, 
fo ift e8 doch nur eine nähere Beftimmung dieſes ausfchlieglichen 
Verhältniffes, wenn der Herr fein Thun und fein Reden als ein 
Thun und Reden bes Vaters bezeichnet (oh. 5, 19 ff. 7, 16 ff. 
9, 25 ff. 14, 10 u. f. w.). Liegt der Gedanke, daß der Vater 
im Sohn und der Sohn im Pater ift, der fih dann endlich) 
zufpigt in dem Worte (10, 30); 400 xai 0 nano Ev dauer, 
nicht ganz in der Linie des großen Sohneebelenntniffes (Matth. 11), 
eines Belenntniffes, das wir felbft wieder als bie Auslegung von 
Aeußerungen erfannten, die regelmäßig fein eigenes Bewußtjein 
über fich bezeugten? Wenn ber Herr in den verfchiedenften Wen- 
dungen im johanneifchen Evangelium fih als ausfchlieglichen 
Mittler der Offenbarung hinſtellt, fo blieben, felbft wern man mit 
Keim das o dav Povimas 6 vios anoxaldıyar (Matt. 11, 27) 
anzweifeln wollte, in den Synoptilern immer noch genug Parallelen 
übrig.” Denn wenn ber Herr fich dem “Johannes und allen Pro» 
pheten, wenn er fich dem Gefete felbft gegemüberftellt, fo Tiegt 
darin doch der deutliche Anfpruch auf eine Stellung als Mittler 


424 Schmidt 


abſchließender Offenbarung. Damit iſt dem auch fein Aufprud 
auf völlige Irrtumsloſigkeit im religiöſen Gebiet ſchon gegeben, 
wie derſelbe in dem Ausdruck 7 aAnIeıe (Joh. 14, 6) begrifflich 
fixirt iſt. Die Sündloſigkeit iſt, wie wir ſahen, auch auf ſynopti⸗ 
ſchem Boden fo ſehr Vorausſetzung, dag Joh. 8, 46 nichts neues 
ſagt, auch wenn wir das Wort im Vollſinn nehmen und nicht, 
wie Keim will, die @ueoria nur auf bie ſpecielle Sünde der Un⸗ 
wahrbeit einfchränfen. Endlich, wenn der Herr fi die Con) zai 
avacraoss nennt im vierten Evangelium und ausdrüdlich die Macht 
der Todtenerweckung zufchreibt, jo dürfte die ganze Barufieerwar- 
tung, wie wir fie aus den fynoptifchen Neben kennen lernen, hin 
reichend biefen Anſpruch begründen. 

Mit den eben gemachten Bemerkungen founten wir nicht gemeint 
fein, zur Löoſung der Frage über das Verhältnis des fynoptifchen 
und johanneifchen Chriſtus etwas weſentliches beibringen zu wollen. 
Das Thema diefer Abhandlung erfordert ja nicht eine durchaus 
vollftändige Darftellung deſſen, was als Zeugnis für den eigen 
tümlichen Gehalt des Selbftbewußtfeins de8 Heren gelten kann, 
nicht eine ſyſtematiſche Darftellung der Perfon des Herrn ift ja 
der Zwed diefer Abhandlung, — und genügt, die wichtigften und 
bervorragendften Punkte geltend gemacht zu haben, in denen fi 
da8 Bewußtfein bed Herrn von feiner eigenen Perſon in ihrer 
Eigen» und Einzigartigkeit geltend macht, und da war es und nur 
darum zu thun, nachzumeifen, daß, wenn man auch bie ſynoptiſche 
Darftellung als diejenige zu Grunde legt, von welcher aus am 
eheften eine rein menfchliche Erklärung diefer Perfünlichkeit möglich 
erfcheint, doch immer noch fo viel eigentümfliches übrig bleibt, daß 
auch die Hauptpunfte der johanneifchen Selbftbezeugung des Herrn 
nur wie weitere Ausführungen und Erklärungen erjcheinen. Dies 
letztere wenigſtens in furzen Andeutungen durch das eben Bemerkte 
gezeigt zu haben, darauf erheben wir allerdings Anſpruch, und von 
diefer Prämiffe aus verfuchen wir nun den weiteren Gang zu 
unternehmen und zu fragen: ift irgend welche Ausjicht vorhanden, 
der Entjtehung dieſes fo gearteten Selbſtbewußtſeins auf geſchicht⸗ 
lihem Wege, d. h. durch Betrachtung und Unterfuchung der von den 
Duellen berichteten Rebensumftände des Herrn näher zu fommen? 








Ueber bie Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 425 


Da die Quellen diefe Umftände weſentlich nur aus ber Zeit 
feiner öffentlichen Wirkſamkeit näher ſchildern, und wir bereits 
gefehen haben, daß die wenigen Berichte aus dem Vorleben bes 
Herrn bie gewünfchte Erklärung zu bieten in feiner Weiſe aus- 
reichend find, fo ftellt fich bie Frage näher fo: finden fih in den 
Berichten über, des Herrn öffentliches Leben feit der Taufe Johan⸗ 
nis genügende Andeutungen, daß er von augen her durch Erfah: 
rungen und Eindrüde in der Dialektik mit Freund und Feind erft 
darauf geführt wurde, feiner eigenen Perſon gewiffe auszeichnende 
Präbilate zuzufchreiben, die er ihr von Anfang an nicht zueignete, — 
ift e8 uns vergönnt, in die Motive und Vermittlungen Hineinzus 
ichauen, durch welche er dahin geführt wurde, fich ein einzigartiges 
Verhältnis zu Gott zuzufchreiben und für jeine Perfon eine ewige 
und fehlechterdings allgemeine Bedeutung zu erwarten ? 

Da fümtliche Evangelien darin übereinftimmen, daß die Wirk: 
ſamkeit des Herrn fi an die des Täufers angefchloffen, fo wird 
ſich zunächft fragen, ob aus biefer Verbindung etwa ſich Anhalts⸗ 
punkte in diefer Richtung ergeben. Nun kann auch eine An- 
Ichauung, welche davon ausgeht, daß das Selbftbewußtfein des 
Herrn nur auf einer ganz eigentümlichen Wefensbeichaffenheit des 
Herrn beruht Haben künne, nicht gemeint fein, eine nach und nad 
erft fich vollziehende Entfaltung dieſes Weſens für das Bewußt- 
fein des Herrn irgendwie anzuzweifeln. Wie hoch man dad Wefen 
des Herrn ftellen möge; es wäre boch der bare Doketismus, 
wollte man bie Allmählichkeit in der Entwidlung bes Selbftbewußt- 
feins leugnen. Die Darftellung der Quellen weift ja auch ent« 
fchieden darauf hin, daß es gerade die Jordantaufe des Herrn war, 
die ihn zur vollen Klarheit über fein Wefen und feinen Beruf 
brachte. Zwar das johanneifche Evangelium fcheint die Bedeutung 
des außerordentlihen Vorganges, den auch die drei erften Evange⸗ 
lien berichten, auf eine dem Täufer zu Theil werdende Belehrung 
einzufchränfen; aber die johanneifche Darftellung fließt damit doch 
nicht aus, daß auch für den Herrn felbft das Ereignis eine Bedeu⸗ 
tung hatte. Der Geift, den Johannes herabfommen fieht und 
bleiben auf dem Herrn (30h. 1, 33), muß doch wol aud) auf 
den Herrn felbft eine Wirkung gehabt haben. Schon Weizſäcker 


426 Schmidt 


hat in dem Worte des Täufers (Joh. 3, 34): OU yap dx uergov 
didwoıw 0 Seos vo nrvevue, einen Aug gejehen, der an bie 
gewöhnliche Meiftasdarftellung anflinge, einen Zug, der jeden Falle 
beweift, daß die fynoptifche Auffaffung in den Augen des Verfaffers 
des johanneifchen Evangeliums die Beziehung der Viſion auf den 
Täufer nicht ausſchloß. Diefer Zug aber beweift anderfeite 
auch, daß die in der Taufe gefchehende Geiftesmittheilung nicht im 
Widerſpruch fteht mit der außerordentlichen Wejensbefchaffenheit des 
Herrn, die ihm von Anfang an eignet. Die Schrift ift ferne 
von ber geiftlofen Auffaſſung, als ob der Geift Gottes ein ding⸗ 
licher, todter Befi für den Menfchen fein Tönnte — im Gegen- 
teil, die Geiftesmittheilung ift ein fortgehender, nur an einzelnen 
Punkten fi befonders fühlbar machender Alt (vgl. Joh. 1, 52. 
Matth. 16, 19f. parali. Apg. 4, 8. 315 vgl. 2, 4 un. f. w.). 
Darum kann auch für die eben geſchilderte Anfchanungsweife die 
Annahme nichts gegen fi) haben, daß in ber Laufe des Johannes, 
vermittelt durch eine Bifton, das Selbſtbewußtſein des Herm 
von feinem Weſen und feiner Aufgabe zu einem gewiſſen Ab⸗ 
ſchluß kam. 

Wie ift nun aber diefe Jordantaufe felbft zu denten? Iſt der 
Herr, wie wir zu fagen pflegen, rein zufällig mit den Anderen 
zu Sohannes gelommen — Hat er auch die Bußtaufe auf fich 
genommen und ift dann erft durch das Verlangen nad einem 
Meſſias dazu veranlagt worden, in großartigem Entſchluß fich 
jelbft der Erwartung des Volles darzubieten? Oder wie weit ift 
er zum voraus fchon in feinem Bewußtſein und feinen Entfchlüffen 
gefommen geweſen? Einer rein Hiftorifchen Betrachtung bieten 
fih Hier, auf welde Seite man treten mag, nicht unerhebliche 
Schwierigkeiten dar. Suchen wir ohne Rüdficht auf die evanges 
lifchen Berichte Über dns Ereignis, das an ſich Wahrjcheinliche zu 
eruiren, fo fünnte man ja allerdings zu der Annahme fich neigen, 
daß der Herr von der Taufbewegung, wie andere Israeliten auch 
ergriffen, an ben Jordan gefommen fei, ſich dort mit den Ideen 
des Zäufers in längerem Verkehr vertraut gemacht babe, um end» 
lich doch feine eigenen Wege zu fuchen, und nah und nach zum 
Slauben an die eigene Meffianität zu kommen. Daß aber ein 





Leber die Grenzen ber Aufgabe eines Lebens Jeſu. 427 


folcher Gang doch wieder kaum fi annehmen läßt, haben wir 
oben fihon hervorgehoben. Die Art, wie der Herr von dem Täu⸗ 
fer redet, fchließt überall ein auch nur zeitweiliges Schülerverhält- 
nis aus. Wir müßten doch irgendwie auh Symptome davon 
haben, daß der Herr nad und nad) etwas Johanneiſches abgeftreift 
babe, während das Umgefehrte, daß der Herr gegen das Ende 
feines Wirkens auf die Art des Johannes zurückgegriffen Habe, 
immerhin leichter fich wahrſcheinlich machen ließe. Wäre Jeſus 
aus der Schule des Johannes hervorgegangen, jo wäre auch fein 
felbftändiges Auftreten faum ohne Bruch möglich gewefen. Können 
mir und überhaupt denken, daß Johannes auf ber Höhe feiner 
Arbeit, inmitten einer gewaltigen Volksbewegung ftehend, Zeit zum 
Schulhalten, dag ich fo fage, follte gefunden haben? Man wird 
aljo den Verkehr des Herrn mit Johannes auf eine verhältnis: 
mäßig kurze Zeit befchränten müffen, auf eine Zeit, zu kurz, als 
daß innerhalb derfelben die Entftehung der Meffiasgedanfen bei 
den Herrn zu denken wäre. Oder foll der Entſchluß ein raſcher, 
augenbliclicher geweſen fein, foll er, fortgeriffen von der Bewe⸗ 
gung, ſich plöglich von der Ueberzeugung feiner Meffianität ergriffen 
gefühlt Haben? Aber dann wäre es auch kaum zu benfen, wie 
diefer plögliche Entſchluß nicht follte hervorgetreten fein vor dem 
Bolke, wie der Meſſias, der unter dem Wehen ber Taufbewegung 
zum Mefſfias wurde, boch ein fo ganz anderer follte geworden 
fein, als ein folcher, wie ihn diefe Bewegung zu fordern jchien. 
Man wird alfo nicht auskommen ohne die Annahme, daß der Herr 
ſchon vorher Meſſiasgedanken in fi trug. Die Behauptung 
Renans aber, daß der Herr ſchon vorher eine Art Schule gefam- 
melt gehabt und erft von Johannes den Gedanken bes Himmel⸗ 
reich8 aufgenommen habe, bewegt fih fo jehr auf dem Gebiet 
willfürficher Hypotheſe, daß ſich fchwer dagegen ftreiten Täßt. 
Ueberdies aber ließe fi dann, wenn der Herr ſelbſt ſchon einen 
Kreis von Jüngern hatte, eine Unterordnung unter Johannes, wie 
fie in der Mebernahme feiner Taufe lag, pfychologifch kaum erklären. 
Man wird alfo noihwendig zu der Annahme gedrängt, daß in dem 
Heren in fpontaner Weiſe das Meſſiasbewußtſein fi zu bilden 
anfteng, daß die Grundlage besfelben, das Bewußtſein feiner Sohn» 


423 Schmidt 


Schaft, im weſentlichen fertig war, und nun erft bei der Jordan⸗ 
taufe fich dieſes Sohnesbewußtfein zu der Karen Erkenntnis feines 
meiftanifchen Berufes fortbildete. ‘Diefe Taufe war für ihn das 
Signal zum Eintritt in diefen Beruf. Wie ift nun aber, muß 
man weiter fragen, unter diefer Vorausſetzung die Webernahme 
der Taufe zu denken? 

Sie kann feine Bußtaufe für ihm perfünlich geweſen fein, nicht 
nur darum, weil, wie Keim (I, 531 ff.) hervorhebt, nad} den Quellen 
der Herr abgefondert vom Volt getauft wurde, ohne daR ihm ein 
Sündenbefenntni® abverlangt, eine befondere Verpflichtung auferlegt 
worden wäre, fondern auch darum, weil irgend wie in feinem 
fpäteren Leben die Erinnerung an und die Auseinanderfegung mit 
diefer Bußverpflichtung müßte zum Ausdrud gefommen fein. &8 
fann alfo die Taufe nur die allgemeine Bedeutung der Weihe zum 
Reich Gottes, der Verpflichtung, für dasſelbe die ganze Kraft ein- 
zufeßen, gehabt haben. In fo fern ift der Gebanfe auch der Leidens⸗ 
bingabe zum mindeften nicht auszuschließen — um ſo weniger, 
wenn wir bedenfen, daß das der Taufvifion ähnliche Erlebnis auf 
dem Berge der Verklärung mit dem Leidensentichluß zuſammen⸗ 
hängt. Es Liegt alfo in der Zaufe fofort eine Klare Andentung, 
daß der neue Meſſias nicht nad) johanneifher Erwartung ohne 
weiteres den Königsthron auffchlagen und die MWerfichaufel in 
die Hand nehmen werde, fondern daß aud fir den Meſſias bie 
Herbeiführung des Gottesreiches eine fittlihe Aufgabe fei, eine 
Aufgabe, zu deren Erreihung e8 eben des Einſatzes der eigenen 
Perfönlichkett bedürfe. Eben darum’ verfteht der Täufer das Tauf- 
begehren 'de8 Herrn nicht. So ferne er in Jeſu den Fünftigen 
Meſſias fieht oder ahnt, kann er fich deffen Unterorbnung, die in 
der Uebernahme der Taufe zu liegen fchien, nicht denken. Ein 
Grund zum Zweifel aber an ber Anerkennung des mefftanifchen 
Berufes Jeſu durch den Täufer liegt nicht vor. Jeden Falls kann 
als ein Zeugnis gegen diefelbe der Umſtand nicht angeführt werben, 
daß er nicht fofort ihn auch als Meſſias proclamirt Habe. Denn 
mit der Anerkennung war da® Andere doc nothwendig auch gegeben, 
daß er die Gedanken bes Herrn nicht kreuzte, jondern ihm die 
Wahl des geeigneten Zeitpunftes überließ. Für die Anerkennung 





Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 429 


aber fpricht, von dem johannelfchen Bericht ganz abgejehen, außer 
den ſynoptiſchen Taufberichten, die Erzählung Matthät 11 parall., — 
ja man möchte fagen da8 ganze Verhältnis Jeſu zu dem Täufer 
und feiner Schule, wie e8 uns im Neuen Teſtament entgegentritt. 
Die Anerfennung des Herrn als Mefftas bürfte aber ohne bie 
Taufviſion allerdings ſchwer piychologifch denkbar fein. Hält man 
alfo die Thatfache der Taufe des Herrn überhaupt für hiſtoriſch, 
wie man muß, wenn man nicht unferen Evangelien fchlechterdings 
jede gefchichtliche Autorität nehmen will, fo wird man von felbit 
zu einer Borftellung von dem wirklichen Hergang der Sache 
gedrängt, die der evangelifchen Darftellung entſpricht. Alles deutet 
darauf Hin: Jeſus kann nie ein Schüler des Yohannes geweſen 
fein, er kann ben Gedanken des Himmelreiches und des Meſſias 
nicht von Johannes entlehnt und nur weitergebildet haben, er 
muß vielmehr von Anfang an über fein Verhältnis zur Predigt 
de8 Täufers fich Mar gewefen fein. Er kann aber aud vorher 
noch feine Schule gefammelt gehabt haben, er muß vor dem Volfe 
unbekannt gewefen fein. Eben darum kann auch nicht irgend 
welcher Erfolg erft ihn auf den Gedanken gebracht haben, daß er 
der Meſſias fei; anderſeits weift alles darauf hin, daß er nicht 
nur von der Taufe an ſich al8 den Meſſias angefehen hat, fondern 
daß auch ber Zäufer felbft in ihm den Meffias erkannt und ges 
ahnt Hat, wenn er auch freilich damit noch weit entfernt war, den 
Weg des Herren wirklich zu verftehen, das Weſen des Reiches, 
wie es der Herr verfündigte, wirklich zu begreifen, fo daß es und 
wohl verftändlich ift, wie der Herr den Johannes als noch außer» 
halb des Gottesreiches ftehend bezeichnen fanı. Bat er fich aber 
wirflih in diefem Zeitpunkte ſchon als den Meſſias erlannt, fo 
kann es nur gefehehen fein auf Grund eines Wiffens von feinem 
eigentümlichen Wefen, das fich ihm in ber Taufe vollendete. 
Machen wir nun von bier aus die Probe auf das Amtsleben 
ded Herrn und fragen uns, ob hier vielleicht eine Correctur unferer 
Anschauung fich darbiete, ob die Quellen nicht doch nod) die Entwick⸗ 
lungsknoten erkennen laſſen, welche erft von dem allmählichen Reifen 
des Selbftbewußtjeins Jeſu Kunde geben. Bekanntlich hat nament⸗ 
ih Schenkel verfucht, den Renan'ſchen Roman deutſch zuzuftugen. 


450 Schmidt 


Die Vorbedingung für dieſes Unternehmen ift die Leugnung der 
Bezugnahme der Johannespredigt auf das kommende Meffiasreich. 
Wenn fih Scentel in diefer Beziehung auf das Schweigen bes 
Joſephus von einer ſolchen Tendenz bed Täufers beruft, fo zeigt 
fi) darin die ganze Einfeitigfeit moderner Duellenbehandlung. 
Wenn wir von irgend einer Beriode der mobernen Gefchichte nur 
eine einzige Gefchichtsdarftellung hätten, jo würde e8 wohl niemand 
einfallen, daß ein folcher Gefchichtfchreiber a priori tu allen feinen 
Angaben im Recht fei gegen anderweitige Darftellungen, bie einen 
jpeciellen Theil der Zeitgefchichte behandelnd auf einzelnen Punkten 
im Wiberfpruche ftehen mit jenem Gefchichtfchreiber. Wer bürgt 
uns felbft bei pofitifhen Angaben für das abfolute Recht des 
Joſephus unferen Evangelien gegenüber? Aber wenn wir auf biefem 
Gebiete auch dem Joſephus einen Vorzug einräumen wollen, ift es 
nicht gegen alle Vernunft, ohne weiteres vorauszufeken, daß auch 
für religiöfe Bewegungen, bie Joſephus felbft nicht einmal als Zeit 
genoffe mit erlebt, er ein beſſeres Verftändnie gehabt haben follte als 
unfere Evangelien? Wenn jemand die religidfe Bewegung ber 
Gegenwart etwa nad) Ablauf eines halben Jahrhunderts fchildern 
wollte und er würde etwa bei Beſprechung der Pearſall Smith’fchen 
Bewegung fi auf etliche Notizen einer fortfchrittlichen Berliner 
Zeitung zum Beweis dafür ftügen, daß bie Angaben unferer 
Kirchenzeitungen über biefen Mann nicht richtig fein können, fo 
würbe ein ſolcher Mann nicht weſentlich unvernünftiger handeln, 
als wer in diefer frage den Joſephus gegen bie Evangelien fekt. 
Schenkel felbft mobifleirt zwar feine Berufung auf Joſephus 
dur das Zugeſtändnis, daß allerdings eine Nüdfichtnahme auf 
das Gottesreich möge ftattgefunden haben, aber es foll diejelbe doch 
nur accefforifch gewefen fein, mährend nad unferen Evangelien offen 
bar die ganze Bewegung ihren Mittelpunkt in den Bezugnahme 
auf das Gottesreich hatte, die ganze Bußpredigt nur motivirt war 
durch die Nähe des Gottesreiches. Darum ſchloß auch die Taufe 
offenbar die Verpflichtung ein, fih für das Meſſiasreich bereitzu⸗ 
halten, war ein Slaubensbelenntnis an das Kommen dieſes Reiche. 
Darum ift auch der Gedanke, daß der Herr fich mit den übrigen Sins 
bern gleichgeftellt habe, aus demütiger Accommodation ein keineswens 





lieber die Grenzen bee Aufgabe eines Lebens Jeſu. 431 


nothwendiger, ſondern ein mit der fonftigen Praxis des Herrn durch⸗ 
aus nicht übereinftimmenderr. Es ift einfah unrichtig, wenn 
Schentet behaupet, der Herr habe ja auch gebetet: erlaß uns 
unfere Schulden, denn er gibt das Gebet feinen Jüngern; daß er es 
ſelbſt gebetet Habe, davon findet fidh keine Andeutung. infeitiger 
aber, als es Schenkel thut, kann man wol das Verhältnis des 
Herrn zu Johannes nicht verzeichnen. Wenn Johannes fich direct 
an Jeſum mit der Frage wendet: „Biſt du der da kommen joll?“ 
fo foll das mehr Zweifel als Glauben beweiſen, als ob nicht min» 
deſtens die Frage eine unbebingte Anmerkung des prophetifchen 
Charakters des Herrn in ſich ſchlöſſe und angefichts der Aeuße⸗ 
rungen Matt. 11, 16 ff., aus denen jeder Unbefangene gewiffermaßen 
eine Parallelifirung des Täufers durch den Herrn mit fich felbit 
herausleſen wird, behauptet Schenkel, der Herr habe Johannes 
für einen Thoren erklärt. Gefangen in dem unglückeligen Banı 
der Tendenz wider Satung und Formelkram, ift Schenkel nidt 
im Stande, da8 Verhältnis wirklich Hiftorifch zu faſſen; freilich ganz 
„rein hiſtoriſch“ gebt eben hier die Gejchichte nicht ab. Aber wer 
„rein biftorifch * diefe Geſchichte erzählen will, mag einen Roman 
Schreiben, nur foll er fih nicht auf die Quellen berufen. Für 
ganz unmöglich erflärt Schenkel die Anerkennung der mejfianifchen 
Würde Jeſu durch Johannes, da er fonft fi) nothwendig hätte an den 
Herrn anjchliegen müffen. Es ift dagegen ſchon oben bemerkt worden, 
daß mit diefer Anerkennung Jeſu bei Johannes noch lange Fein 
Berftändnis für ben Gang des Himmelreiches verbunden war, wie 
ihn der Herr einſchlug. Johannes konnte nach wie vor erwarten, 
dag in feierlicher Proclamation Jeſus das Reichsſcepter ergreifen 
werde. So lange das Reich Gottes nicht proclamirt war, hörte 
auch fein Beruf, auf diefed Weich Gottes vorzubereiten, nicht auf. 
Auch die von den Jungern Jeſu nah dem vierten Evangelium be- 
triebene Taufe wie ihre pätere Predigt hatte ja wefentlich noch diefen 
vorbereitenben Charakter. So lange Jeſus fich nicht felbft ale Meffine 
proclamirt hatte, war auch das Reich immer noch nicht im Kommen 
und ber Täufer auch noch nicht darin. 

Für feine Behauptung, daß auch der Herr felbft nad der 
Fordantanfe noch unentſchieden geweſen ſei, ob er Überhaupt nur 


432 Schmidt 


auftreten ſoll, beruft fich Schenkel auf die Verſuchungsgeſchichte, 
von der er natürlich nichts für geſchichtlich anerkennen will, als die 
Zurüdziehung in die Wüſte. Wer fieht aber nicht, daß diefe ganze 
Gedichte nur Sinn Bat unter der Vorausfegung, daß Jeſus fi 
als den Meſſias erfannte. Plagten den Herrn nur Zweifel, ob 
der von Johannes eingefhlagene Weg zur Volksverbeſſerung wirklich 
Erfolg habe, fo wäre es dod) am nächften gelegen, wenn er mit Jo⸗ 
hannes felbft fich in’ Benehmen geſetzt Hütte, oder ſah er ſchon, daß 
auf ganz anderem Wege geholfen werden müſſe, warum wartet er, 
bis Johannes gefangen genommen tft. Warum trägt er nicht vor⸗ 
her fchon feine moralifhen Grundfäge vor? 

Nichts ift gewiffer, als daß der Herr feine Predigt nnmittel- 
bar an die des Täufers anjchloß und mit der Verkündigung des 
Himmelreiches begann. Das ſoll nun nah Schenkel heißen, der 
Herr habe verfündigt: es beginne jegt eine neue Zeit, mit der 
alten Theofratie ſei es aus, jetzt fange erft das rechte Himmelreich 
an, das Reich des Geifted, denn unter Buße verftcehe der Herr 
etwas ganz anderes als der Täufer! Es genügt wol dieſe Aus- 
legung anzuführen. Was find gegen ſolche Meifterftücde ber Exegeſe 
die Künfte des alten Rationalismus? Und das fol Hiftorifch fein! 
Hat der Herr das Reich Gottes verfündigt im Anſchluß an die 
Zaufbewegung, jo muß er das entweder gethan haben rein im 
Sinne des ZTäufers, alfo fo, daß er die Herftellung desfelben von 
einer anderen Perfünlichkeit erwartete. Dann wäre e8 aber wol 
nicht anders denkbar, als daß er die theofratiiche Vorftellung des⸗ 
jelben in den Vordergrund geftellt und erft nah und nad die 
mehr ethifche Seite hervorgehoben haben würde, während in ber 
That vielmehr eher der umgekehrte Gang zu beobachten ift. Sat er 
aber beim Beginn feiner Predigt ſchon den troß alles innerlichen An⸗ 
Schluffes an die Reichserwartung der Beſten in Israel doch wefent- 
lich felbftändigen Begriff vom Reiche Gottes gehabt, fo muß er auch 
innerlich fi) über feine perſönliche Stellung zu diefem Reiche Har 
gewefen fein. Für diejenigen Xheologen, die den fpectfifchen 
Dffenbarungsbegriff verwerfen, ift e8 ſchon ſchwer genug, den Täufer 
gegen ben Verdacht Schwürmerifchen Weſens zu ſchützen, da es doch 
eine Vermeſſenheit war, die Erfüllung aller Hoffnungen Israels 


Ueber die Grenzen ber Aufgabe eines Lebens Jeſu. 458 


nur anf Grund etlicher Geiſtesblitze als in unmittelbarer Nähe be- 
findfih zu verfündigen, aber wie follte erft der Herr gegen foldhen 
Borwurf geſchützt werden, wenn er es wagt, dad Vorhandenſein 
dieſes Reiches zu verfündigen, ohne über bie Perfon des Meſſias 
und die Mittel, welche ihm zu Gebote ftehen, im Haren zu fein. 

Ja wenn ber Herr am Jordan, ergriffen von der Bewegung, 
in ber Einfiht, daß die Vollöbegeifterung nicht über dem Fehlen 
einer Perſon des Meſſias verraucen dürfe, ſich dem harrenden 
Bolt als folchen dargeboten hätte, dann möchten wir’s verfuchen, 
da® piychologifch uns denkbar zu machen als den genialen Entfchluß 
einer großen Seele, die e8 auf fih nahm, im Drang der Umftänbe 
das Höchfte zu wagen. Aber nicht dem bdrängenden Volle ftellt er 
fih als Meſfias dar, nicht die Wogen der Begeiſterung, nicht das 
unmittelbare Zeugnis des Täufers benugt er, fondern alle dieſe 
Chancen, die rein menfchlicher Ueberlegung den Entſchluß erleichtern, 
einen genialen Griff erklären fünnten, gibt er daran, um fo zu fagen 
von neuem anzufangen, und nicht allmähliche Erfolge feiner Predigt, 
nicht der Anhänger, nicht eines ganzen Volles ftaunende Bewunderung 
wartet er ab, um über fich jelbft gewiß zu werden, fondern er affein 
predigt dad Neid als erfülltes und macht fih damit Tediglich 
auf Grund feiner inneren Welbſtgewißheit anheifchig, alle Hoffnungen 
eines Volles und der Jahrhunderte zu erfüllen. Man wird zuge 
ftehen müſſen, daß ohne die Einzigartigkeit eines Selbftbewußtfeins, 
wie und basfelbe am Ende feines Ganges ficher entgegengetreten ift, 
der Anfang feines Werkes ein gottverfucherifches Spiel geweſen 
wäre. Daß er feine meſſianiſche Würde nicht felbft alsbald ver- 
fündigte, im Gegentheil forgfältig darauf bedacht war, eine birecte 
Verkündigung Bintanzuhalten, kann für eine allmähliche Entftehung 
des Glaubens an feine eigene Mejflanttät nichts beweifen. Denn 
das ift doch Kar, daß die laute Geltendmachung derartiger Anfprüche 
alles fofort auf eine entfcheidende Spitze getrieben haben würde. 
Entzog er fich dem Drängen derer, die in dem Meifias den Mann 
ihrer Gedanken und Wünfche fahen, jo war er auch als Meſſias ber 
Einfältigen und Armen nicht mehr möglich. Er mußte zu allererft 
doch zeigen, wie er das Reich Gottes verftanden wiflen wolle, in 
welchen Sinn er der Meſſias jei, ehe er fich als ben letzteren pro⸗ 


134 Schmidt 


clamiren konnte. Aber Hat num nicht eben bie Predigt vom Neid 
Gottes ihre Geſchichte — zeigen fih nicht Spuren in unjeren 
Duellen, welche uns daranf hinführen, daß erft nach und nach der 
Herr felbft zu einer gewiſſen Klarheit über bdiefen Bunkt gelommen 
it? Es dürftedoch das Verdienft Renans jein, diefe Frage angeregt, dar⸗ 
auf aufmerkfam gemacht zu haben, daß eine Lebensentwichlung des Herrn 
nad gemeinen pfychologifchen Maßftäben nur vorftellig zu machen ift, 
wenn die Grundidee feiner Predigt, das Reich Gottes, keine von An- 
fang an fefte ift. Und fo wenig im einzelnen die beutfche Forfchung 
den Wegen des Franzofen gefolgt ift, fo Hat fie doch im allgemeinen 
den Gedanken desſelben in ihrer Weiſe weiter auszuführen verfucht. 

Renan behauptet belanntlid, dag der Herr von dem Gedanken 
ausgegangen fei, mit einer Reihe von Deoralfprüchen eine idyllische, 
parabiefifche Gemeinfchaft zu gründen, beren Mitglieder ohne beftimmte 
cultliche oder gefetliche Bande als Brüder und Schweitern zufammen- 
leben. Um nun freilich diefe Ideen zu realifiren, mußte er aus 
der ſchönen Naivetät, in der er fie zuerft verfünbigt Hatte, heraus⸗ 
treten. Das Reich Gottes in diefem ibealften Sinne mußte bei 
dem Verſuch, es in's Leben einzuführen, Meodiftlationen annehmen. 
Erft die Berührung mit dem Täufer leitet ihn dann fort zn einer 
mehr theokratifchen Auffaffung. Das Hlınmelreich tritt erft von 
jet ab in den Vordergrund für ihn. Nicht um eine ideale Ge⸗ 
ſellſchaft tft ihm mehr zu thun, fondern eine gründliche evolution 
erwartet er. Dieſe will er freilich nicht mit äußerer Gewalt herbei- 
führen, vielmehr fol fein Gott ihm den Königsſtuhl mit Wunder. 
thaten zurichten. Er felbft indeffen will dies Reich doch burch feine 
Predigt zubereiten. Aber die ſchönen Tage von Galiläa, in denen 
er leicht eine große Menge glücklicher, einfacher Galilüer fammelt, 
mit denen er in einem paradiefifchen Zuftand ber Unbefangenheit, 
ibealen Genuffes dahinlebt, hören auf bei der Berührung mit dem Geifte 
Serufalems, dem engherzigen der Tempelariftolratie und der Ariftolra- 
tie der Schriftgelehrten.. Jeſus wird zum Kampfe wider das Gefek 
gedrängt, auf Heiden und Samariter richtet er fein Augenmerk. Cr 
wird zum revolutionären Fanatiker, der fi nun auf bedenkliche 
Wege ziehen läßt, feine eigene Dieffianität immer beftimmter hervor⸗ 
hebt, Immer einfeitiger verteidigt, um das Reich Gottes mit Ger 


Ueber die Grenzen ber Aufgabe eines Lebens Jeſu. 435 


walt in's Werk zu feßen. Bekannt ift die zweideutige Rolle, welche 
Renan den Herren auf feinem legten Lebenswege fpielen läßt, frei- 
lic) nicht erft da. Im wejentlichen ift der Herr ja von Anfang 
an nad der Darjtellung des Franzoſen ein zweideutiger Charafter. 
Es find doc) eigentlich jehr zufällige, rein äußerliche Umftände, welche 
diefe Entwicklung zumege gebracht haben. Wenn der Gedanke des 
Himmelreiches ihm überhaupt erft durch den Täufer nahegelegt wurde, 
wenn er erft dadurch auf den Einfall fam, ſich als Reformator und 
Meffias vorzujtellen, jo waren e8 die Illuſionen, die ihm fein Mangel 
an Welterfahrung und der offene Sinn der Galiläer erregten, durch 
welche er fich verleiten ließ zu dem Glauben, ein ideales Gottesreich 
zu fchaffen, und wieder war es die Verehrung feiner Umgebung 
gegen ihn, welche neben dem unerwarteten Widerftand gegen feine 
Seen zu der düfteren, apolalyptifchen Auffafjung des Himmelreiches 
führte, wonach er felbit als der Daniel'ſche Menfchenfohn erfcheinen 
follte. Wer diefes Bild, wie es Renan zeichnet, für das richtige 
halten Tann, muß einmal das Verfahren, die einzelnen Theile unferer 
fanonifchen Evangelien nad Belieben aus ihrem Zufammenhange 
zu reißen und wieder zufammenzufegen, ald das der Geſchichtſchrei⸗ 
bung entſprechende vorausfeten und ebenjo es über's Herz bringen, 
den, welcher im Mittelpunft der Weltgefchichte fteht, zu dem auch die 
fittlich gefördertften Männer mit Ehrfurcht Hinaufbliden, nach den 
Mapftäben eines genial angelegten, aber etwas unflaren und unge⸗ 
bildeten Autodidakten und eines anf dem Niveau moderner Alltäg⸗ 
lichkeit ftehenden, fittlichen Durchſchnittsmenſchen piychologifch zu beur- 
theilen. So wenig die deutfche Theologie dieſe beiden Vorausſetzungen 
zu erfüllen im Stande war, fo läßt ſich doch nicht leugnen, daß 
diefelbe in ihrer Art die Renan’fchen Gedanken zwar mit wefent« 
lichen Modifikationen fich aneignete. 
Am unmittelbarften in Abhängigkeit von Renan fteht das 
Schenkel'ſche Charakterbild. Auch nach Schenkel joll aufänglich 
der Gedanke des Gottesreiches, wie wir jahen, für den Herrn eigent- 
fih nur nebenfächliche Bedeutung gehabt haben, auch nah Schenkel 
erfcheint das Reich Gottes zunächſt in ganz idealer, aber auch 
vager Allgemeinheit. Der Herr tritt auf als Stifter einer neuen, 
von den theofratifchen Bedingungen unabhängigen Gemeinſchaft 
Theol. Stub. Iabrg. 1878. 29 





456 Schmidt 


frommer Joraeliten mit Gott (Charakterbild, S. 60). Das Neid 
Gottes ift zumächit ein Reich allgemeiner Humanität, follte Ver⸗ 
wirklichung moderner Zoleranzideen fein. Cine weitere Beſtimmung 
erhält diefer Gedanke dadurch, daB der Herr eine Ausdehnung 
biefer Gemeinſchaft über die Heiden, ja Über die ganze Welt in 
Ausfiht nimmt und ſich felbft als den geiftigen Schöpfer und 
Herrn diefes Weltreiches anfleht. Endlich ift der Herr genöthigt, 
fih auch über den weiteren Gang feines Meiches zu erklären im 
Angefichte feines Leidens und Sterbens, und da tritt in den eſcha⸗ 
tologifchen Reben die Aaoslslx Toy odpavoy umleugbar in einer 
den jüdifchen Erwartungen viel mehr zufagenden Form auf. Nur 
will Schenkel nicht mit Renan diefe apofalyptifchen Erwartungen in 
das Bewußtſein des Herrn verlegen, vielmehr haben wir es hier 
nun mit Accommodationen zu thun, er Tann nur feine Ideen in 
feiner anderen Form feinen Jüngern darbieten. Das ift freilich 
ein Ausweg, der die Achtung des Verfaffers vor dem fittlichen Charakter 
bes Herrn beweift, nicht aber deifen pfychologifcges Verſtändnis, 
denn wenn wirklich der Herr den Seinigen, die in ſolchen apofalypti- 
chen Ideen befangen waren, etwas anderes fagen wollte, ale was er 
dem Buchftaben nad) fagte, fo war das doch ein gemwagtes Spiel 
und Konnte nur zur Verſtärkung der falfchen dee dienen. Weber- 
haupt wie viel Harer hätte man, wenn der Herr wirflid die Be⸗ 
fämpfung theofratifcher Ideen zu feiner Hauptaufgabe machte, feine 
Reden wünfchen müſſen. Da die Hörer doch wol in Heidelberg 
nicht Hermenentit gehört hatten, kann man ihnen nicht übel nehmen, 
daß fie zum Theil in fo geringem Maße von ihren alten Vorur⸗ 
theilen fich abbringen ließen. 

Auh durch Keims geiftuolle Ausführungen Klingt doch wo 
etwas von dem Nenan’fchen Schema Hindurd. Schon ber Titel 
der Abfchnitte: galiläifcher Frühling, galiläifche Stürme, jerufale 
mifches Zobesoftern, erinnern einigermaßen an die Ausbrudsweile 
des Franzoſen. Freilich läßt Keim gerade im Gegenfat zu Renan 
und Schenkel ben Herrn mit einem realiftifchen Begriff des Gottes⸗ 
reiches beginnen, das er dann freilich auch im Anfange nicht als bes 
reit8 gefommen, ſondern als nur im Kommen begriffen verfündigt haben 
ſoll. Dagegen ſoll er in einer zweiten Periode gerade im Unger 





Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 457 


gefichte des beginnenden Widerftandes, mancher Miserfolge und Ent» 
täufchungen zu der beftimmten Ausfage fortgefchritten fein, daß dae 
Gottesreich bereits da ſei, womit eben von ſelbſt der Verzicht auf 
eine äußerliche Geftaltung desjelben durch göttliche Machtthat ge- 
geben geweſen ſei. Schließlich aber im Angefichte der Tettten ernfte- 
ften Wendung zum Tode habe er dennoch wieder zum Glauben an 
ein äußerlich, finnlich kommendes Meeffiasreich gegriffen. Gerade 
bei diefer dritten Stufe alſo machen fich doch bedenkliche Aehnlich⸗ 
feiten mit Renan geltend. 

Bor Keim Schon Hat Weizjäder den Unterfchieb geltend ges 
macht, der darin liege, daß der Herr zunädft nur die Nähe, nicht 
ſchon das Dafein des Reiches verlündige — nur macht er bezüg- 
fih der erften Geftalt, in der das Reich Gottes vor feinem Auge 
ftand, weniger den Einfchlag nationaler Hoffnungsbilder geltend, in 
der Schilderung defien, was nad dem erjten Entwurf als wefent- 
ih zum Neid) Gottes gehörig angefehen worden fein foll, berührt 
er fih freilich in einem weniger an die Tagespreſſe erinnernden 
Zon mit Schenkel. Mit ber Erkenntnis, daß in der Erfüllung 
der wefentlichen Bedingungen ber Theilnahme am Gotttesreich auch 
der Beſitz desfelben eigentlich gegeben fei, mit der Einficht in die 
Erfolge feines Thuns und Lehren gieng ihm auch die Erkenntnis 
von ber wejentlichen Gegenwart des Neiches und die volle Klarheit 
über feine eigene Meffianität auf, während die Vorausficht feines 
Leidensweges ihm gerade die Weltbedeutung des Meffiasreiches in 
ben Borbergrund treten ließ und ben Gedanken perjünlicher Wieber- 
kunft zur Reife brachte. Die Wetzfäder’ ſche Darftellung macht nicht 
nur die doch peinliche Annahme Keims eines letztlichen Schwankens 
zwijchen Brophetentum und Meffiastum, einer gewiffen Unklarheit über 
feine Aufgabe und feines Reiches Schickſal überflüßig, fondern fie 
tät möglichft organifch eine Form aus der anderen entftehen, ohne 
die Modifikationen in diefem Begriffe des Reiches Gottes allzu 
ſehr von den Eindrücken, die ihm von außen her nahegebracht würden, 
abhängig zu machen. Dennod können wir uns nicht überzengen, 
daß die Quellen oder die pfychologiſche Empirie es wahrjcheinlich 
machen bürfte, daß in dem Bewußtſein des Herrn felbft fich der 
Sebante des Himmelreiches in diefer Weife mobifleirt Habe. Wir 

29* 


438 | Schmidt 


könnten e8 verftehen, wie bereit8 gejagt, wenn die Idee des Himmel- 
reiches im Sinne der Bedürfniffe moderner Theologie einen allmäh- 
fihen Reinigungsproceß durchgemacht hätte, wenn bie nationale 
die apofalyptifche Form des Meffinsreiches, wie er fie im Anſchluß 
an bie Predigt des Johannes urſprünglich im Sinne gehabt, ſich 
erweicht hätte, wenn der rein ethiſche, veligiöfe Kern jich immer 
mehr abgeklärt Hätte, wenn etwa ber Herr in zweiter Linie auf 
eine nur fittlichereligiöfe Erneuerung bes Volkes hinzuarbeiten ſich 
begnügt hätte. Wir könnten es verftehen, wenn er, vom Volfe ab- 
gemwiefen, endlich fi) damit zufriedengegeben hätte, daß doch ein 
enger Kreis von Jüngern feine Ideen aufgenommen und daß diele 
Ideen, an fi unfterbli, auferftehen und fortleben werden. Aber 
daß der Herr gerade gegen das Ende feines Lehrens mehr die apo- 
falyptifchen Ideen gepflegt, die nad moderner Anichauung mit den 
befchräntt jüdifchen Hoffnungen zufammenhängen, geben, dem Thatbe⸗ 
ftand der Quellen folgend, alle diefe Darftellungen zu. Die Betonung 
dieſer apofaluptifchen Ideen ſoll ja eben die Folge des Widerftandes 
gewejen fein, dem der Herr begegnete. Aber wie, wenn ihm jelbit 
das Reich Gottes zuvor etwas rein innerliches war, wenn ihm 
felbft die Erkenntnis aufgegangen war, daß das Neich Gottes nur 
im Bewußtfein der Gotteskindichaft beitehe und in der freien Sitt- 
fichleit, was fonnte ihn dann veranlaffen, die alten Schläuche einer 
engherzigen nationalen Hoffnung mit jolcher Zähigkeit feftzuhalten, 
daß er ſich felbft in eine für dies Geiftesreich ganz werthlofe ſchwärme⸗ 
rifhe Erwartung Hinein fteigerte und über derjelben untergieng ? 
Man könnte doc) höchftens diefen ganzen legten Theil als einen Ab- 
fall von feinem befjeren Ich anfehen, man mußte darauf beftehen, 
was auch die Biographen mehr oder weniger deutlich zugeben, daß 
er nie zur vollen Slarheit über fein eigen Neich gelommen fei. Man 
wird in diefer Hinficht dem Franzoſen wenigftens den Ruhm der Eonfe- 
quenz nicht beftreiten können, wenn dieſer den Gedanken des Himmel: 
reiches von Anfang an ſchon als eine Trübung der reinen Moral 
auffaßt, dann ift eigentlich die ganze Geſchichte feines Lehramtes 
nur eine fortgehende Beftätigung de8 Hegel'ſchen Axioms, 
daß jede Idee in ihrer Berührung mit ber Wirklichkeit den Erd⸗ 
gefchmac annehmen muß. Aber wie fehon gezeigt, fett diefe Auf⸗ 








Ueber die Grenzen ber Aufgabe eines Lebens Jeſu. 459 


faffung aud eine völlig fouveräne Behandlung der Quellen und 
. eine Anfhauung von der Perfon des Herrn voraus, die felbft 
wieder neue pfychologiſche Räthſel ſchafft. Nach der durch die 
Quellen am eheſten zu belegenden Auffaſſung wäre die mittlere Pe⸗ 
riode des Herrn bie reinfte. Aber dann ift eben nicht zu verftehen, 
warum der Herr nicht aud den Testen Schritt gethan und den 
Gedanken feiner Meffianität im Sinne äußerer Herrlichkeit vollends 
ganz abgetban Haben jollte. 

Die Uebereinftimmung , mit der bie Biographen eine dreifache 
Modifikation des Gedankens des Meffiasreiches unterfcheiden, weift 
allerdings darauf hin, dag in den Quellen jelbft eine VBeranlaffung dazu 
gegeben fein muß. Und man wird ja nicht leugnen können, daß in den 
Spnoptitern ein dreifacher Kreis von Reden beutlich abgegrenzt ift. 
Es ift zuerft das Weſen des Reiches Gottes als eines Reiches ber Selig- 
feit und Gerechtigkeit der Inhalt feiner Predigt; es wird ung in zweiter 
Linie in den Gleichniffen die Entwiclung des Gottesreiches ge⸗ 
ſchildert, und endlich richtet fi das Augenwerk vorzüglich auf die 
Bollendung und Geftaltung diefes Reiches. Aber es fragt ſich: ge- 
hören diefe drei Gruppen nicht innerlich zufammen, verhält fich nicht 
der eine Theil nur als Ergänzung bes anderen und lag es nicht 
in der Natur ber Sache, daß in der Predigt des Herrn, eben bie 
eine Seite nach ber anderen hervortrat, eine um die andere mehr 
Intereſſe gewann ? 

Wir verfuchen das zunächſt aus inneren Gründen wahrſchein⸗ 
ih zu machen und fobann zu zeigen, daß auch die Quellen einer 
ſolchen Auffaffung günftig find. Das Himmelreich ift doch zunächft 
ein Reich, wie es in der Welt der Vollendung, in den Himmeln, 
ſchon vorhanden ift, als ein Reich unbefchränfter Gemeinfchaft mit 
Gott, in der alle die Gottesfinder, die dem Vater im Himmel 
fittlich ähnlich find, feined Segens und Schutzes auch alljeitig ſich 
freuen. Das Himmelreih ift das Reich Gottes, die Vollendung 
der Idee der altteftamentlichen Theokratie, es ift das Neih, in 
welchen das Verhältnis Gottes zur Menfchheit fi) dahin beftimmt, 
daß dem freien, willigen Gehorfam ber Unterthanen der wahrhaft 
fittlichen und vollfommenen Gefeßeserfüllung der Genuß des inneren . 
und Äußeren Segens Gottes entſpricht. Dies Reich verfündigt 


440 Schmidt 


der Herr als nahe. Er kann das Himmelreich darum nicht ale 
etwas an ſich transfcendentes aufgefaßt Haben, fondern, um mit 
Keim zu reden, das Himmelreih follte Erdreich werden ober 
richtiger die Erde foll zum Himmel werden. Daß das nur dur 
göttliche Thaten und Gnaden, durch Mittheilung himmliſcher Güter 
und Kräfte gefehehen kann, ift die Vorausfegung bed Herrn und der 
Grund, warum aud die irdiiche Geſtalt dieſes Reiches Himmelreich 
ift und heißt. Wenn nun Werth darauf gelegt wird von Weizfäder 
und Keim, daß der Herr dies Himmelreich erſt nur als zufünftiges 
verfündigt habe und erft fpäter zur larheit darüber gelommen fei, 
daß es Schon vorhanden jei, jo muß vorab daran erinnert werden, 
dag mit Ausnahme der Stelle Luk. 17, 21 bei ben Spnoptifern ein 
ausdrüdlicher Ausſpruch darüber, daß das Weich Gottes da ſei, 
nicht vorliegt. Dem nyyıxev 7 Baoılsla vou Jsov bei Mart. 1, 15 
jteht nicht eine entiprechende, bad Vorhandenfein des Reiches betonende 
jpätere Formel entgegen, während umgelehrt in den vorangeftellten 
zrenAnpwras 6 xargos doch die Erklärung liegt, daß das Heid) 
Gottes eigentlich fchon vorhanden ſei. Es liegt das aber auch in 
ber Natur der Sade, daß zwijchen Zukunft und Gegenwart gar 
nit fo ftreng geichieden werden kann. Wenn von Anfang an zum 
vollen Wefen des Gottesreiches auch eine äußere Herrlichkeit, der 
Befit des Erdreiches, die Freiheit vom Uebel, die Abjcheidung der 
Gerechten von den andern gehörte, jo war natürlich, daß das 
Reich Gottes erft ale im Kommen begriffen dargeftellt wurde. Wenn 
doch minbeftens eine veränderte Stellung der Menſchen zu Bott 
eine innere Umwandlung zur Nealifirung bes Reiches gehört, fo 
ift natürlich, daß der Herr, der diefe Ummandlung erſt hervorbringen 
will, nit mit der Verkündigung des Daſeins, fondern nur der 
Nähe des Meiches beginnen konnte. Sofern er aber fich felbft ale 
der Mittel zur Herftellung diefer Umwandlung mächtig weiß, fie 
anbieten kann, fo fern er der ift, durch den das Reich Gottes aud 
feine letzte Vollendung erhält, kann er auch das Borhandenfein bee 
Reiches behaupten, und er kann ed in um jo höherem Maße, went 
fein Wort fchon Eingaug gefunden, wenn jchon Kinder des Keiches 
da find, ja die Anfänge einer Reichsgemeinde ſich ſchon regen. 
Zu der Folgerung aber, daß der Herr am Anfang erwartet 





Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſn. 441 


babe, dad Weich Gottes werde etwa durch einen anderen Mann 
oder durch directe Wunderthat hergeftellt werden, und er felbjt fei 
nur der Vorbereiter — liegt fein Grund vor. Wenn der Herr 
denen, bie hungern und dürften nad) ber Gerechtigkeit, die Sätti⸗ 
gung als eine zukünftige in Ausficht ftellt, ſoll das nothiwendig 
beweifen, dag er felbft nicht daran gedacht habe, diefe Sättigung 
Bieten zu können? Will man die Aeußerungen des Herrn, in denen 
fih deutlih das Bewußtſein über fein Verhältnis zum Reiche 
Gottes ausgefprochen (vgl. das Evexsv duoo Matth. 5, 11, fowie 
das gewaltige 6y0 da im zweiten Theil desjelben Kapitels, zu 
gefchweigen von Kap. 7, 21—23), nicht aus der DBergrede elimi- 
niren, jo wird man zugeben müffen, daß er von Anfang an über 
fein Verhältnis zum Reiche Gottes im reinen war, alfo nicht der 
Meinung fein konnte, das, was er zu bringen und zu bieten babe, 
jei zunächft nur Vorbedingung feines Reiches. Daß er nicht direct 
mit der Verkündigung feiner Würde angefangen, erklärt fi, wie 
bereit8 an anderer Stelle bemerkt, zur Genüge daraus, daß er 
doch erjt dem Wolfe den richtigen Begriff des Reiches Gottes Klar 
maden mußte, ehe er in der Lage war, fich dem Volke anzuver- 
trauen. Das Volt mußte erft zu der Erkenntnis geführt werden, 
daß das Reich Gottes in erfter Linie als inneres Gut kommen 
müffe, daß keine vorhandene Gerechtigkeit für dies Reich genüge, 
auch die der Frömmften nicht, dag darum aud) nicht ein Gericht, 
in welchem eben diefe Frömmſten nicht zu beitehen vermöchten, die 
Einleitung zur Rettung fein könne. 

Diefe Auffaffung allein empfiehlt ſich auch aus piychologifchen 
Gründen. Wäre des Heren Predigt die einfache Fortſetzung der 
des Täufers gewefen, fo würde man nicht begreifen, daß er fi 
von bemfelben getrennt, nicht wenigftens mit feinen Jüngern eine 
innigere Fühlung behalten. Trat er aber in felbftändiger Weife 
auf als Berfüudiger eines Reiches in einem neuen Sinne, fo 
konnte der Fortſchritt doch nur darin beftehen, daß er das ange 
fündigte Reich als thatſächlich gekommen predigte. Die Zuverficht 
zu folcher Predigt konnte er aber nicht aus den Zeichen der Zeit 
allein ſchöpfen: ſolche zuverfichtliche Predigt war doch nur möglich, 
wenn er auch Über die Meffinsfrage im reinen war. Man mag 





442 Schmidt 


es verfuchen, verftändlich zu maden, wie ein Mann nad großen 
Anfängen fpäteren Enttäufchungen durch Illuſionen Trotz bietet, 
daß ein nüchterner Mann die Verantwortung folder Predigt auf 
fih genommen habe, fo Lange er noch ſchwankte bezüglich des 
Weſens diefes Reiches und der Perfon des Herftellers, das dürfte 
ſchwerlich fih wahrjcheinlih machen Lafien. 

Wie weit der Herr die weitere Geftaltung dieſes Gottesreiches 
im einzelnen vorausgefehen, wird fich gefchichtlich nicht mehr er- 
weiſen laſſen. Daß er auf eine Gemeinfhaftebildung ber Kinder 
des Neiches, auf Kämpfe und Anfechtungen, durch melde fie Hin- 
durchzugehen habe, auf eine endliche Gerichtsfataftrophe gerechnet, 
das können wir doch fchon aus der Bergrede bes Matthäus ent- 
nehmen, und wenn man auch die unmittelbare Zufammengehörigfeit 
der Mebetheile mit Grund bezweifeln mag, fo wirb man doch ohne 
beftimmte bogmatifche VBorausfegung aus lediglich, kritiſchen Gründen 
nicht behaupten fünnen, daß diefe Medetheile nicht dem erften Ab» 
Ichnitt der Wirkfamkeit des Herrn angehören. Ob aber bei diefer 
zunächſt innerlichen Scheidung der Gemeinde nicht ein folder Theil 
der Nation mit diefem neuen Leben erfüllt werden könnte, daß 
diefe neue Gemeinschaft in die Form des nationalen Lebens geklei⸗ 
det werden könnte, das mochte noch zweifelhaft bleiben. Wer 
möchte auch behaupten, daß eine folhe Benützung der vorhandenen 
Form mit dem Weſen des Gottesreiches wäre unverträglich 
gewefen? Die Weltbeftimmung des Reiches, die der Herr ja von 
Anfang an in's Auge faßte (vgl. Matt. 5, 14), fchloß die 
zunächft nationale Geftaltung der Gemeinfhaft nit aus. Wem 
eine fpeciell offenbarende und erziehende Wirkſamkeit Gottes an 
Israel kein Unding ift, wird ſich immer auch wieder fragen müſſen, 
ob denn nicht der normale Gang der gewejen wäre, daß die Nation 
in ihren Häuptern, in ihrem Kern fich aufgejchloffen Hätte den 
Gaben, die der Herr brachte. 

Darum ift es natürlich, daß der Herr auch erft unter dem 
Eindrud der thatfächlichen Abkehr des Volkes und feiner Häupter, 
zunächft in den Gleichniffen, die innere Scheidung ber Reichsge⸗ 
meinſchaft von dem nationalen Leben Israels ausfpridt. Was er 
ale Wefen des Reiches von Anfang an ausgeiprochen, wird damit 








Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 443 


nicht modificirt. Das Reich Gottes ift jet wie auch fchon früher 
zunächft ein inneres Gut, es ſoll endlich durch eine Gerichtelata- 
ftrophe hindurch zu einem auch in äußerer Herrlichkeit erfcheinenden 
Reich werden, das ift Hier wie in der erften Redegruppe audge- 
fprochen. Nur das tritt eben deutlicher hervor, daß es zunädhft 
die Geftalt einer ganz neuen Gemeinde annehmen, im übrigen 
als eine alle Welt umfafjende und alle Weltverhältniffe durch- 
dringende Geiſtesmacht fich geltend machen foll. Die beiden Pole, 
der Aufang des Reiches im Herzen und das Ende unfichtbarer 
Herrlichkeit, treten ebenfo deutlich, wie die Weltbedeutung des 
Neiches hervor !). Und es heißt, Widerfprüche mit Gewalt fuchen, 


1) Es mag an diefem Orte am eheften Gelegenheit genommen werden zu 
einer kurzen Auseinanderfegung mit bee Schrift von Weiffenbach: „Der 
Wiederkunftsgedanke Jeſu“, Leipzig 1873. Der Kern des Buches ift be» 
fanntlic) der, daß Jeſus in dunkeln, für die Jünger unverfländlichen 
Worten zugleich mit dem Giege feines Reiches fein perfönliches Wieder⸗ 
erfcheinen vorausgefagt habe. Diefe Vorausſagung habe ihre Erfüllung 
gefunden in den Ericheinungen, die den Süngern nad) ber Auferftehung 
zu Theil geworden. Diefe letzteren aber, befangen in ihren groben, ſinn⸗ 
Iichen Meffiaserwartungen, haben nun die Borausfagungen des Herrn 
gewiflermaßen in zwei Theile zerlegt, indem fie einerfeits die bereits er⸗ 
füllte Auferſtehungsweißagung, anderjeits die Verheißung der ihres Be⸗ 
dũnkens noch nicht erfüllten Aufrichtung des Meffiasreiches daraus heraus⸗ 
gelefen. Wenn der Berf. (S. 376) vorfichtig fi die Ruckzugslinie offen 
erhalten will von der Pofition aus, welche er zu gewinnen unternimmt, 
jo ift das freilich fir da8 Heer der Lejer, die fich feiner Führung anver- 
trauen möchten, nicht fehr ermuthigend. Aber wir könuen in dieſem all 
die Borficht, dies befiere Theil der Tapferkeit, doch nur billigen. Denn 
in der That muß der Verſuch als jehr gewagt ericheinen, wenn man 
auch nur oberflächlich die große Menge von Zukunftsreden mit ber viel 
befcheideneren Anzahl von Auferftehungsweiffagungen vergleicht. Aber 
auch & priori muß es doch gerade auf dem Standpunkt, den der Verf. 
einnimmt, für pfychologifch viel natürlicher angejehen werden, daß ber 
Herr den Endfleg feiner Sache nur unter feiner eigenen perfünlichen Be⸗ 
theifigung für moͤglich hielt, als daß er auf ben, weder von einer fonfligen 
Analogie noch von einer Schriftfielle ihm dargebotenen Gebanfen einer 
flüchtigen, perfönlichen Bezeugung an bie Jünger nad) der Auferflehung 
gerieth. Oder will der Berf. in diefem Fall ein dem Herren rein auf 
übernatürlichen Wege vermitteltes Borherwiſſen einer zulünftigen That⸗ 





444 Schmidt 


wenn man behauptet, daß fich die perfönliche Beſchraänkung des 
Herrn auf Israel, die nationalen Züge in feinem Hoffnungebild 


ſache vindiciren? Dann möchten wir fagen, eine foldye verbännte Auf- 
erflehung, wie fie W. von Keim entiehnt bat, ift zu arımfelig, als daß 
ſich eine fie betreffende Ertraoffenbarung verlohut hätte Die Einwen⸗ 
dungen, die von mir f. 3. gegen das der einer Auferfiehung im Keim’ chen 
Sinne erhoben wurde (Jahrb. f. D. Theol., Bd. XVII, &. 90—101) 
find meines Erachtens bis jetzt noch nicht in zureichender Weiſe widerlegt 
worden. Wenn bie Auferfiehung des Herrn nichts weiteres den Süngern 
verbärgte als fein Fortleben — und weiteres kann eine Auferfiehung im 
Keim'ſchen Sinne nicht verbärgen —, daun finkt fie zu einem „zufälligen“ 
Geichichtsereignis herab, und man kann die Ermuthigung der Jünger als 
ebenfo gut auf einem anderen Wege bewirkt anfehen und es ift dann auch 
eine Weiffagung dieſes zufälligen Ereigniffes nicht mehr recht begreiflid. 
Doch wir möchten hier nicht lediglich a priori argumentiren, einem Buche 
gegenüber, das ſich veblich bemüht, auf kritiſchem und eregetiichen Wege 
jeine Behauptungen zu begründen. Da es indes viel zu weit abführen 
märde, wenn eim Eingehen auf die kritiſchen und eregetiichen Voraus⸗ 
ſetzungen des Verf. bezüglich des in erſter Linie in Betracht kommenden 
Beroeismateriald verſucht werben wollte, jo möge es Bier genügen an 
einer Beleuchtung der Art, wie W. gerabe eines ber im Terxt berüßrten 
Gleichniſſe behandelt. S. 314 beipricht der Verf. Die Parabel Matth. 
13, 24—80. Im fi freiere Hand zu jchaffen, fucht derjelbe die Aus⸗ 
legung (B. 37—43) auf kritiſchem Wege zu befeitigen, während bie Echt- 
heit der Parabel ſelbſt nicht bezweifelt werben kann (5. 815). Nun 
wollen wir über biefe kritiſche Frage nicht rechten, wollen auch nicht mit 
ber Erklärung des d anelgwwv beginnen. Wir verlangen nur ein Zu- 
geftänbnis, das uns W., fomeit wir fehen, nicht verweigern wird, das 
Augeftändnis, daß die Parabel ein Eudgericht lehrt, durch welches das 
Himmelreich erſt zur rechten Bollendung und zwar zu einer auch äußer⸗ 
lich hervortretenden Vollendung kommen fol. Nun wirb uns mit bdiejem 
Augeftänduis aber verfichert, daß ber Herr weit entfernt fei, fich ſelbſt 
als den Richter darzuflellen, er habe vielmehr in feiner Demut niemals 
jemand anders als Bott für ben Weltrichter gehalten. Das ift denn 
nun freilich eine Behauptung, die gerechten Bedenken unterliegen muß. 
Was war denn die ganze Vorausſetzung der Meifinshoffaung? Doch 
wohl vor allem die, daß der Meſſias auch das meſſianiſche Gericht halten 
werde? So redet zum voraus ber Täufer (Ruf. 3, 17), oder wenn dieſe 
Stelle kritiſchen Anftänden unterliegt — man ift vor ſolchen bei dieſer 
modernen Behandlung der Synoptiler ja nirgends ſicher — fo ift doch 
die einfache Frage übrig, was iſt deun ber Meifies überhaupt, if er 





Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 445 


mit der Weltbedentung des Weiches nicht reimen. Das eich 
Gottes widerftrebt nationaler Ausgeftaltung nicht, und es wäre 


denn wicht der König des Gottesreiches? Ober wird une W. auch 
darüber noch beiehren, daß der Herr das Königtum ausſchließlich Gott 
borbehalten habe und weit davon entfernt geweſen jet, fich ſelbſt für den 
König zu halten? Wir würden, redlich geftanben, durch eine ſolche Be⸗ 
hauptung nicht mehr überraſcht fein, als durch diefe Entdedung, daß der 
Herr ſich felbft ein Gericht anzumafßen weit entfernt geweſen fei. Denn 
wer anders als der König fol doch überhaupt richten? Daß damit an⸗ 
dere Stellen, in denen auch Gott wieder als Richter erfcheint, fo wenig 
firelten ale Röm. 2, 6ff. mit 2 Kor. 5, 10 oder Matth. 19, 28 mit 
ſich ſelbſt im Widerſpruche ift, wenn neben ben Richtftuhl Chriſti auch bie 
zwölf Thronftühle für die Mpoftel aufgeichlagen werden, follte doch einem 
ſcharffinnigen Theologen nicht entgehen. Wahrlih, wenn W. die Demut 
des Heren nad) folchen Kriterien beurtbeilen will, dann mirb er noch 
vieles aufzuräumen haben, dann muß er auch Matth. 7, 21—23 aus- 
merzen, wo doc wol ber Herr dr dxeivp Ti nusor auch ale Richter 
auftritt und Kap. 11, 20—27, wo die Gerichtsdrohungen in einem be 
denklichen Zuſammenhang mit dem raüure wos napedosn ſtehen. Alſo 
ohne ung eine Rückzugsbrücke offen zu halten, find wir erbötig, die Thefis 
aufrecht zu erhalten: wenn ber Herr fich fiberhaupt für den Meifins ge- 
halten hat und ein meſſianiſches Endgericht erwartet bat, jo Bat er aud) 
ſich felbft als den Richter angefehen, und jo gewiß im dem beiprochenen 
Gleichnis die Saat auf dem Ader nur das Reich Gottes fein kann und 
er fich felbft für den Gründer desfelben hält, fo gewiß ift 0 onelgwv 
niemand als der Meſſias. Iſt er aber der Richter, foll er dann auch 
wie die anderen zum Behuf des Gerichtes erſt auferweckt werben, ober iſt 
er nur ebenfo unſichtbar dabei betheiligt, wie jett an der Entwidlung 
feines Reiches? Wir brauchen kaum zu jagen, daß eines fo unmöglid) 
ericheint ale das andere unb das tertium, das übrig bleibt, ift doch uur 
die perfönliche Wieberfunft in Herrlichkeit und die Auferftehung hat weient- 
lich ihre Bedeutung auch (natürlich nicht in erfter Linie und ausſchließlich) 
darin, daß fie diefe Wiederkunft verbürgt. (Vgl. Apg. 1, 11.) Wenn 
aber diefe Barabel nur in dem ausgeführten Sinne gedeutet werben Tann, 
wenn die nambaft gemachten Stellen aus Matt. 7 m. 11, Stellen, 
deren Zahl ſich noch vermehren ließe — nur als Hindeutungen auf ein 
von ihm perfönlich zu vollziehendes Endgericht gedeutet werben können, 
fo ſcheint uns auch das Hanptbemeismittel, mit dem W. argumentirt, wefeutlich 
erfäyättert zu fein, nämlich die Behauptung, daß die Wiederlunfsmweißagung 
erſt gleichzeitig mit der Ankündigung feines Leidens und feiner Aufer⸗ 
ftehung auftrete — und nicht bie Vorausfegung für die ganze Reichs⸗ 





446 Schmidt 


traurig, wenn da8 allgemein Gültige und Wahre nicht in geſchicht⸗ 
liher Form, in concreten Typen erjcheinen könnte. 

Wieder mag ed dahingeftellt bleiben, wie weit der Herr die 
concrete Geftaltung feines eigenen Leidens und der ihn erwartenden 
Kämpfe vorausgefhaut. Daß er von Anfang an bes Leibene 
gewärtig war, dafür zeugen — wenn man aud an die Zaufe 
nicht erinnern will — bie Haren Ausſprüche der Bergpredigt. 
Naturgemäß aber konnte er von feinem Leiden doch erft weiter 
reden, als die Verhältniffe fein Kreuz in Sicht gebracht Hatten. 
Die er den Seinen gegenüber eine Erklärung binfichtlich feiner 
Meifianität zu geben immer mehr fi) gedrängt fah, je mehr 
die Reichöpredigt die Frage nad) dem Meſſias auf aller Lippen 
brachte, fo geftaltete ſich auch die Verachtung der Predigt vom 
Reiche immer mehr zu einer pofitiven Feindfchaft wider feine 
Perfon. Dies nöthigte den Herren in feiner Predigt, einerfeite, 
feine Perfon in den Vordergrund zu ftellen, bis er fchlieglich mit 
feinem Einzug in Serufalem die Tange verjchobene, indirect oft 
genug erhobene Entfcheidungsfrage unverblümt ftellen konnte, ander: 
ſeits aber auf die gerichtliche Entwidlung feines Reiches mehr ſich 
einzulaffen. Wollen wir den dem dritten Evangeliſten eigentüm- 
Iihen Theil (Kap. 10—18) hier hereinnehmen, fo werden wir 
fagen dürfen, daß diefe gerichtliche Seite fih ausſpricht zunächſt 
in ber Ankündigung, daß die Heiden an Stelle Israels gefekt 
werden — bis endlich die Kataftrophe über Israel, die Wieber- 
kunft des Herrn u. f. w., beitimmt ausgefprodhen wird. In ben. 
hierher gehörigen Reden in der ganzen Auffaffung des Reiches als 
eines auch in äußerlicher Herrlichkeit erjcheinenden, in Neben, die 
doch nur die concretere Ausgeftaltung der ſchon in der Bergrede 
und den Gleichniffen gemachten Andeutungen find, dürfte fich dod) 
keinerlei Widerfpruh wider das Wejen des Reiches, wie es nad) 
feinem inneren Gehalt urfprünglich charakterifirt wurde, finden. 
Dber follte e8 ein Widerfpruch fein, daß das Kindfchaftsverhält- 


prebigt fe. Durch diefe Auseinanberfegung dürfte es als gerechtfertigt 
erfcheinen, wenn auf die Weiffenbach' ſche Darftellung im Eontert nicht 
öfter Rüdficht genommen ift. 


lieber bie Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 447 


nis zu Gott auch in dem ungetrübten äußeren Genuß deſſen, 
womit die Gnade des Vaters die Kinder erfreut, fich fpiegeln ſoll! 
Sollte e8 ein Widerfprud fein, daß die innere Scheidung von dem 
Weltweſen fih auch endlih in einer äußeren Abfchetdung fpiegeln 
fol? Mit all? den eſchatologiſchen Reden nimmt der Herr doch 
fein Jota von dem zurück, was er liber die geiftlichen Güter, über 
den Demutögang feines Reiches gejagt. Höchſtens könnte man 
fragen, ob denn die Zufammenfaffung von Weltende und Gericht 
über Israel mit den Gleichniſſen, welche von einem langfamen 
Gang des Neiches in der Welt reden, verträglich ſei. Aber es 
darf zur Begründung der Anſchauung, daß doch Bier eine Unflar- 
beit feitens der Redaction diefer Neden bei Matthäus vorliegt, 
darauf bingewiefen werden, daß eben in diefem efchatologifchen 
Theil der Reichspredigt doch wieber für den Weltgang des Reiches 
Raum gelaffen ift (vgl. Matth. 22, 10. 26, 47) Wir 
glauben, daß eine Auffaffung des Ganges der Neichepredigt, wie 
wir fie im Obigen geltend zu machen fuchten, am ungezwungenften 
ohne kritiſche Gewaltthätigleiten fih an das vorliegende Quellen⸗ 
material anfchließt, und daß, wenn man nicht Tünftlich erft Wider⸗ 
ſprüche fchafft, die Vorausfegung, daß die drei, freilich fich Teicht 
erfennbar madenden Theile der Reichspredigt ohne Schwierigkeit 
als organische Theile eines Ganzen erfannt werden, das von An- 
fang an in dem Bewußtſein des Herrn fertig daftand. 

War dem aber alfo, dann kann auch der Herr über feine 
eigene Perſon, über feine eigene Würde nicht im unflaren gemejen 
fein, wie wir glauben gezeigt zu haben. Und indirect bat ja der 
Herr von Anfang an deutlih genug auch dem Volle es nahe- 
gelegt, daß fte feines andern zu warten haben. 

Matthäus ftellt die Bergpredigt voran, und es Tann ja nicht 
dem geringften Zweifel unterliegen, daß, der fi) dem Mofe als 
ebenbürtig gegenüberftellt, nur der Meſſias fein Tann. Bei Marfus 
leſen wir ſchon im erften Kapitel, daß wenigftens ein unfauberer 
Geift ihn als den Heiligen ausruft (Mark. 24, 25); im zweiten 
Kapitel übt der Herr bie Prärogative der Siündenvergebung, nennt 
ih den Bräutigam u. f. w. Lukas ftellt befanntlih den Auftritt 
in Näzaret voran, jenen Auftritt, zu dem er den erften Anlaß 


448 Schmidt 


gegeben durch die Predigt von der Erzählung einer meifianifchen 
Stelle des Alten Teftaments. In Betreff des johanneiſchen Evange- 
liums bedarf es nicht einmal einer Erinnerung, daß hier das 
Meffiasbemußtfein von Anfang an fertig if. Welcher Relation 
man folgen will, immer wird man zugeftehen müſſen, daß indirect 
wenigftens der Herr von Anfang an meiftanifche Anſprüche machte. 
Oder hält man dafür, daß die eigentliche Antrittsprebigt uns über⸗ 
haupt nicht erhalten fei, fo wird man doch immerhin fein Recht 
haben, aus eigener Phantafie herans fid) eine von den eigenen 
Meſſiasanſprüchen abfehende Probepredigt zu conftruiren. Dazu 
erfcheint der Menſchenſohn fon von Anfang an, dazu der Vater- 
name Gottes nicht al8 ein ihm und allen andern gleich geltender, 
fondern von Anfang an in feiner fpeciflihen Geltung für ihn. 
Wir behaupten alfo, daß ber Herr von dem Angenblid an, 
da er das Reich Gottes zu verfündigen begann, fi) auch über den 
wefentlihen Gang besjelben und damit über feine eigene Stellung 
zu demfelben Har geweſen ift; dann kann ſich aber auch fein meffia- 
niſches Selbftbewußtfein nicht erft Im Laufe feines Berufslebens 
entwicelt haben. Er Tann nicht gemeint geweſen fein, durch 
Hineinwerfimg etliher neuer Ideen in das Volt Thon feinem 
meffianifchen Beruf genuggethan zu haben, fo daß er erit fpäter 
feine Berfon zum Mittelpunkt für eine Gemeinde gemadt und erft 
noch fpäter zu dem Glauben gelommen wäre, daB er in theofratifcher 
Herrlichkeit wieder tommen werde. Man mag über die Verfnu⸗ 
Hımgsgeichichte denfen, wie man will, die Erinnerung, baß der 
Herr vor Antritt feines Amtes fchon ſich innerlich auseinanderge- 
fett habe mit den Anfprüchen und Erwartungen des Volkes von 
einem Meifias, mit ben Mögfichfeiten zur Realifirung feiner eigenen 
Aufgabe, wird als eine Hiftorifch richtige fih immer bewähren. 
Damit ift ja nicht ausgeſchloſſen, daR auch die klarſte Einficht des 
Herren ji unter den Eindrüden des wirklichen Lebens, unter ben 
Erfahrungen, die er zu machen Hatte, immer wieder neu bewähren, 
fagen wir noch mehr, immer wieder neu errungen werden mußte. 
Mit diefem letzteren Zugeſtändnis aber ftreitet e8 nicht, werm wir 
leugnen, daß erft von außen her ihm ber Meſſiasgedanke entgegen- 
getragen worden, daß erft unter dem Eindrud der Erfolge und 





Ueber die Grenzen ber Anfgabe eines Lebens Jeſu. 449 


Miserfolge er felbft fich zu feiner hohen Meinung von fich felbft 
gedrängt gefehen Habe. ine ſolche Sicherheit über den Gang 
jeine® Reiches und Über feine eigene Zukunft macht auch die Ge⸗ 
ſchichte felbft noch nicht dofetifh. Die concrete Ausfüllung des 
gegebenen Rahmens war ja dadurch nicht überflüßig. 

Dies gilt insbefondere auch bezüglich des Punktes in dem 
meſſianiſchen Bewußtfein des Herrn, der am eheiten als ein erſt 
unter den Eindrücken von außen entftandener gelten konnte — in 
Bezug auf den Gedanken bes Leidens und Sterbens. Die 
beftimmte Firirung des Zettpunftes, von dem an der Herr feinen 
Füngern von dem bevorftehenden Leidendgang geredet habe, weift 
ja darauf hin, daB ihm felbft erft angefichts des Wiberftandes, 
ben er fand, dies Ende Kar geworden fe. Und gewiß wird man 
zugeben müfjen, daß die Meifiasfrage des Herrn ebenfo gut, wie 
bie Leidensverfündigung in einer beftimmten, im einzelnen nicht 
gerade jo vorhergefehenen Wendung feines Lebensganges ihren 
Grund Hatte. Aber ſchließt das die allgemeine, von Anfang an 
feftftehende Erkenntnis aus, daß zu feinem Berufe das Leiden 
gehöre? Wenn er in der VBergpredigt von ben Verfolgungen um 
feinetwillen redet, fett das nicht voraus, daß er fich bewußt war, 
felbft auch ein Gegenftand der Verfolgung fein zu müffen, mern 
er in der Antwort an bie Johannesjünger von der Hinwegnahme 
de8 Bräutigams vedet, weift das nicht auf ein Bewußtſein von 
dem Ausgang feines Berufslebens hin? Noch beftimmter als 
die Bergpredigt weiſt die Inſtructionsrede (Matth. 10) auf die 
Berfolgungen hin, und die Erzählung von feinen Erfahrungen in 
Nazaret (Luk. 4) ift ja fo zu fagen die Vorausbarftellung feines 
ganzen Berufsganges. Es dürfte darum die Anficht kaum durch⸗ 
führbar ſein, daß wenigſtens in dieſer Beziehung eine weſentliche 
Beränderung in feinen Anſchauungen vom Kommen des Himmel⸗ 
reiches vorgegangen ſei. Sollte er in der That erwartet haben, 
daß feine Himmelreichspredigt widerſtandsloſen Anklang finden, 
und im kampflos ein Thron zufallen werde? Sekte nicht der 
Nmne vos sod avdomrsov eigentlich von Anfang an den Gedanken 
eines Durciganges durch den Tod vorans, ober folite der Herr 
angenommen haben, daß er geradezu mur von der Erde zum 


\ 


450 Schmidt 


Himmel erhoben werde, um von oben wieberzufommen? Gewiß 
ſchloß die Erkenntnis der Nothwendigleit des Leidens und Sterbens 
nicht aus, daß er ben Entfchluß dazu immer wieder neu fallen 
und behaupten mußte, aber jo wenig die Scene in Gethjemane an 
der Sicherheit des Ergebnifjes etwas zu ändern vermag, daß der 
Herr die Nothwendigfeit des Todes ſchon lange vorher ausgeſprochen, 
fo wenig ftehen die Andeutungen von früheren Kämpfen gegen die 
Schwachheit der Menfchennatur im Widerſpruch mit der von An 
fang an feftftehenden Weberzeugung, daß fein Beruf ihn dem Tode 
entgegenführe. Daß mit der Einfiht in die Nothwendigkeit des 
Sterben noch feineswegs auch das Vorauswiſſen der Einzelheiten 
gegeben fein mußte, liegt auf der Hand. In welchem Umfang 
fih der Widerftand gegen ihn entwicdeln werbe, welche Theile bes 
Volkes fih ihm am eheften zuwenden, in welchen Gegenden er am 
meijten Anklang finden werde, wie lange die Frift feiner Wirkſam⸗ 
feit dauern werde — das und noch manches andere konnte ihm 
allerdingd erft in der Erfahrung Far werden. Ein Schwanten 
dagegen in dem Maße, wie e8 Keim vorausfeßt, wenn er ben 
Rückzug des Herrn nah Cäſarea Philippi geradezu als einen 
Fluchtweg bezeichnet, würbe mit der fonft fo einmüthig bezeugten 
Klarheit und Entfchiedenheit des Herrn ftreiten. Es dürfte über⸗ 
haupt nicht ganz leicht fein, aus den vorliegenden Quellen heraus 
im einzelnen zu beftimmen, wie weit die Anjchauungen des Herrn 
und die Wege, welche er einfchlug, von außen her beeinflußt waren. 
So jehr auf der einen Seite die echt menjchliche Art des Herrn, 
in der er diefe Eindrücke wiedergibt, zu dem Verſuche reizt, aud) 
die inneren Vorgänge im Seelenleben des Herren ſich ganz nad 
den Maßen unferes empirischen Bewußtſeins auszumalen, fo tritt 
do auf der anderen Seite immer wieder diefe abjolute Sicher⸗ 
heit und Selbftgewißheit, diefer ohne alle Fünftliche Geſchraubtheit 
doch felbftverftändliche Anſpruch auf unbedingte Autorität fo unge 
fucht hervor, daß man ohne Gewaltthat an den Quellen immer 
wieder an ber Durchführung eines „rein gefchichtlichen“ Verfahrens 
irre werden muß, wenn man nämlich als unbebingte Voransfegung 
für ein folh „rein gefchichtliches" Verfahren fefthält, dag alle 
Ausfagen des Herrn fi auf ein, wenn auch noch fo ideal gerich⸗ 








Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 451 


tetes, doch im keinerlei wefentlicher Differenz von dem unfrigen 
ftehendes Geiftesleben reduciren laſſen müſſen: Iſt man entfchloffen, 
das letztere um jeden Preis zu verſuchen, jo follte man auch nicht 
mehr fo ängſtlich davor zurüdjchreden, ihn auf das Niveau empi- 
rifher Sittlichkeit herabzudrücken. Muß man mit Hafe alle 
Augenblide den Herrn mit Sofrates zufammenftelien, ift zwifchen 
beiten Männern kein Wefens-, fondern nur ein Stufenunterfchied, 
fo ſei man auch nicht unbillig und wage e8, dem Sokrates ben 
Preis in der Beicheidenheit zu geben. Wenn uns die zahlreichen 
Stellen auch in den Synoptifern, in welchen ber Herr direct und 
Indirect an feine Perfon und das Verhältnis zu ihr das Heil 
bindet, nicht widerlich erjcheinen, fo gefchieht dies nur, weil auch 
den kritiſchen Geiftern noch der Reſpect vor der inzigfeit des 
Herrn in metaphufifdem Sinne innemohnt. Streicht - man die 
letztere bis auf die legte Spur hinweg, jo wird man denen, welche, 
um mit Strauß zu reden, nicht in der Illuſion aufgewachfen 
find, auch nicht wehren können, daß fie diefe Zufammenfaifung 
von Perfon und Sache bedenflih finden und den Wunfch Hegen, 
der Herr möchte lieber felbit beides getrennt und fich zufrieden 
gegeben Haben, wenn nur feine Ideen auferftehen. Wir halten es 
für unmöglih, die Entftehung diefes hohen Selbftbewußtjeins auf 
rein menfchlicher Grundlage zu erklären, ohne den Schatten fittlicher 
Schwäche auf den Herrn zu werfen. Wir können aber auch nicht 
zugeftehen, daß, ſelbſt wer folche nicht abweiſen wollte, pſychologiſch 
damit ganz zu Stande käme. 

Ja, wenn der Herr überrafchende Erfolge erzielt, menſchlich 
ftart in die Augen fallende Leiftungen aufzumeifen gehabt hätte, — 
dann ließe fich einigermaßen eine folche Selbftüberhebung erklären ; 
aber während er von Anfang an mit feinem für wie fittlichen 
Mängel feines Volkes und feiner Zeit fo feharfen Auge auch die 
Unlauterkeit der vielen erkennt, die fi um ihn drängen, während 
er von Anfang an nur von wenigen weiß, die in's Himmelreich 
eingehen, von Anfang an fieht, welche innerlichen Hinderniffe der 
Aufnahme feines Wortes fich entgegenftellen, foll er dennoch zu 
immer höheren Ausjagen über feine Berfon fortgefchritten fein, 
ohne daß uns halbwegs Spuren des Schwanfens, des Verzagens 

Theol. Stub. Jahrg. 1878. 80 


452 Schmidt 


an feiner eigenen PBerfon wären aufbehalten worden. Oder will 
man in dem großen Sohnesbekenntnis eine folche Spur finden, jo 
bat man auch unmittelbar daneben die gewaltigfte Erhebung aus 
einer augenbliclichen Verdunkelung. Will man die Scene in Geh: 
femane zum Beweiſe aufführen, jo darf man nicht vergeffen, 
dag unter allem Zagen doch immer das Bewußtſein des Berufes 
feſt bleibt. | 

Nimmt man zu den unmittelbaren Aeußerungen feines Selbit- 
bewußtfeins noch die Thaten Hinzu, fo Tann diefer Eindrud, daß 
wir es bier mit einer Perjönlichkeit zu thun haben, deren inneres 
Leben binausragt über die Schranken des gewöhnlichen menschlichen, 
nur verftärkt werden. Wllfeitig tft wohl heutzutage die Verrichtung 
von Wundern durch den Herren zugegeben. Sucht die „rein ger 
ſchichtliche“ Forſchung auch das Gebiet der Wunder jehr einzus 
ichränfen und auf pſychiſche Mittelglieder zu redneiren, fo därfte 
doch nicht zur leugnen fein, daß der Herr felbft von ſolchen pſycho⸗ 
logischen Wundern nichts wußte. Wo er Wunder thut, ba thnt 
er’s im Bewußtfein abfoluter Sicherheit des Erfolges. Er mag 
es ablehnen, ein Wunder zu thun; aber wo er wirklich eine Bitte 
gewährt, da wird fie auch von dem Heren in unbedingter Weiſe 
gewährt. Nun verfuche man zu erklären, wie der Herr, ohne mit 
diefer feiner Gewißhelt zu Schanben zu werden, in allen folchen 
Fällen zu Stande fam. Soll bier der Zufall gewaltet Baben, 
oder find uns eben die Bälle des Mislingens nicht aufgezäglt und 
bat er, wie ein Wunderdoctor neuerer Zeit, für ſolches Mislingen 
immer wieder gute Ausreden gefunden? Man ftelle ſich vor die 
Confequenzen, die für umnfere ganze Anſchauung von dem Herrn 
eine ſolche Selbfttäufchung gehabt haben müßte. Er flieht in ben 
Wandern ein Zeichen feiner meſſianiſchen Werke (Matth. 11, 5. 
12, 28), und feine ganze Heilfunft bejteht in dem gewaltigen Ein- 
druck, den er auf Kranke madt, ein Eindrud, der doch der Natur 
dee Sache nad in vielen Fällen feine Wirkung verfagen müßte. 
Mir können uns ganz wohl denken, daß das Voll über einzelnen 
Erfolgen viele Nichterfolge vergaß; aber daß er felbft burdh bie 
fegteren nicht irre wurde, das ift ebenfo wenig zu erklären, wie 
das Wunder an dem Ausfägigen, dad Keim, Wittihen u. a. 





Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. ABB 


einfah für eine Erklärung der ftattgefundenen Heilung erklären. 
Auf die Gefahr Hin, darüber für einen Mann von grobem Ber- 
ftändnis erklärt zu werden, behaupten wir, daß eine ſolche Hand- 
lungsweiſe des Herrn, wie fie diefe Auslegung ihm zufchreibt, von 
einem gemeinen Humbug nicht mehr zu unterjcheiden iſt. Hatte 
der Herr da8 DBewußtfein, daß der Menſch ſchon vorher rein 
geworden, fo durfte er nicht eine Antwort geben, die immer noch 
die Anficht offen ließ, als fei er durch feine That rein geworben. 
Da die Wunderfrage nicht in den Kreis unferer Unterfuchung 
gehört, fo mag e8 genügen, daran zu erinnern, daß Wunder, wie 
die von dem Gichtbrücdhigen und die Speifung, wol hinmwegdecretirt, 
aber nimmermehr auf rein Tritifchem Wege befeitigt werben können. 
Wer aus dogmatifchen Gründen folche Wunder nicht zugeben kann, 
wird uatürlid) auch durch den ftricteften Nachweis, daß die früheften 
Quellen eine folhe Erzählung ſchon haben, zu feiner anderen An- 
fiht gebracht werden, — nur gebe man ſich dann nicht den Anfchein, 
als hätte man nur Fritifche Bedenken, als wäre e8 nur die exacte 
Forſchung, welche zu negativen Nefultaten führe. Daß auf einem 
Punkte die eracte Forſchung ohne dogmatischen Machtſpruch nichte 
auszurichten vermag, nämlich bezüglich der Auferftehung des Herrn, 
dürfte auch vonfeiten der Leugner diefer Thatſache im ganzen 
zugeftanden fein. Auch Holften begehrt ja nur das Zugeſtänd⸗ 
nis vonfeiten der pofitiven Xheologie, daß die Vifionshypothefe 
im Stande fei, die unlengbaren Thatſachen zu erklären, nicht daß 
die Geſchichte felbft auf diefe Hypotheſe führe. Ich habe gewagt, 
ben erfteren Sag in meiner Abhandlung über die Auferftehung 
(Jahrb. f. d. Theol., Bd. XVII, ©. 412ff.) in Zweifel zu 
ziehen, und glaube noch, daß bie Schwierigkeiten, welche fih vom 
geſchichtlichen Standpunkte aus der Vifionshypothefe entgegenftellen, 
zu groß find, als daß diefelbe behaupten könnte, eine genligende 
Erflärung darzubieten; ich habe insbefondere aber auch in dem 
zweiten Theil diefer Abhandlung ausgeführt, wie die Thatfache der 
Auferftehung felbft in der Geftalt, bie ihr Keim gibt, in der fie 
der Bifionshypothefe möglichſt angenähert ift, bezüglich des Selbft- 
bewußtjeins des Herren, die wichtigften Schlüffe fordert (a. a. O., 
Bd. XVII, ©. 98ff.). Auch wenn man die Tetjefte metaphyſiſche 
80 * 


5° Schmidt 


Grundlage des Auferftehungsglaubens zuläßt, wird man nicht mehr 
im Stande fein, gegen jede eigentümfliche metaphyſiſche Grundlage 
des Selbftbewußtfeins des Herrn zu proteftiren. Muß man aber 
in diefer Beziehung Zugeftändnijfe machen, fo wird man aud nicht 
mehr in der Lage fein, aus dem Gange feines Lebens das Werden 
feines mefjlanifchen Bewußtſeins zu erflären. So ſehr die 'ſynop⸗ 
tiſchen Berichte nicht nur, ſondern ſelbſt die johanneifchen uns 
darüber Gewißheit gegeben, daß die Analogieen empiriſch⸗menſchlichen 
Gemüthölebens ſich aud) bei dem Herrn finden, daß die Erfahrungen 
des Lebens fein Willen bereicherten, feinem Willen Aufgaben ftellten, 
die er im Ernfte fittlicher Entfcheidung löfen mußte, die Grund» 
züge feines fittlichen Weſens erjcheinen ebenfo fertig, wie das eigen» 
tümliche Bewußtſein über fein eigenes Weſen — und bie Offen 
barungen biejes Selbftbewußtfeins und dieſes fittlichen Lebens weifen 
auf eine Baſis Hin, die mit den Grundlagen unferes geiftigen 
Lebens incommenfurabel ift. 

Ein Leben Jeſu hat gewiß immer nod eine ſchöne und Lohnende 
Aufgabe, wenn es fich darauf bejchräntt, den äußeren Gang dieſer 
Geſchichte ohmegleihen zu ordnen, den Fortfchritt in feiner Selbft- 
offenbarung und in der Entwidlung der Lehre darzuftellen, die 
Verhältniſſe der Anziehung und Abftoßung, in welchen wir die Par- 
teien und Gruppen feines Volles zu ihm befangen fehen, zu unters 
juhen. Es bietet einen eigenen Heiz, den Andeutungen nachzu⸗ 
gehen, die und über das Maß von Sympathie oder Feindſchaft 
Auffchluß geben, das wir bei Saliläern und Judäern, Samaritern 
und Zöllnern, bei Pharifäern und Sadducdern nad und nad fi 
bilden fehen. Die Fragen über den Grund und Anlaß ber Feind 
Ihaft, die einen fo blutigen Ausgang berbeiführte, über bie Art, 
wie der Herr dagegen reagirte, wie über mande noch mehr äußer⸗ 
liche Lebensumftände, Über die Zeit des Wirken u. ſ. w. werden 
immer einen bedeutfamen Vorwurf für das Leben Yefıı abgeben; 
. aber die Aufgabe, die fonft einem biographifchen Werke geftelit ift, 
muß für ein Leben unlösbar bleiben angefichts des „ Niemand 
fennt den Sohn“; damit ift dann freilich ausgeſprochen, daß auch 
jene andern Aufgaben, welche einem Leben Jeſu noch bleiben müſſen, 
wol kaum ganz reinlich zu löfen find, da ihre Erledigung vielfach 


Ueber die, Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 455 


eben bavon abhängen würbe, daß uns bie Maßftäbe für das in- 
wendige Leben des Herrn in unferem eigenen Bewußtfein mit ge⸗ 
nügender Sicherheit gegeben wären. Wir Haben verfucht zu er- 
weifen, daß eine Behandlung des Lebens Jeſu, die nicht ihre dog⸗ 
matifchen Vorausfegungen den Quellen um jeden Preis aufdrängen 
will, nothwendig auf verfchiebene non liquet ftoßen muß. Es ift 
noch nicht an dem, daß das Leben Jeſu die Ehriftologie erjegen 
fünnte oder daß wir mit H. Schult in feiner befannten Abhand⸗ 
fung (Jahrb. f. d. Theol. XIX, 1) zu einem gewifjen Neftoria- 
nismus ‚bezüglich des Verhältniffes des dogmatifchen Chriftus zu 
dem Jeſus der „exacten“ Forfchung uns bequemen müßten. Mit 
vollftem Recht Hat Dorner in der Kritik, welche er der Schulz’fchen 
Abhandlung zu Theil werden Tieß, gegen den Gebraud des Wortes 
„exact“ proteftirt.- Die Gefchichtswiffenfchaft Tann Höchftens für 
einen ihrer Theile auf den Namen einer „exacten“ Anſpruch er- 
heben. Am wenigften aber kann auf dem Boden der Religion, bei 
Darftellung der religiöfen Perfünlichkeit je von Eractheit die Rede 
fein. Wie es mit diefer Exactheit beftellt ift, das zeigt ein Blick 
in die Literatur diefer Disciplin. Auch unfere übrigen Eröterungen 
werden wenigftens jo viel gezeigt haben, daß gar feine Ausficht vor- 
handen ift, jemalen auf Grund einer unbefangenen Quellentritif 
ein Lebensbild des Herrn zu entwerfen, das in feinen wefentlichen 
Zügen auf unbedingte Zuftimmung aller derer Anſpruch machen könnte, 
die überhaupt hiftorifches Urtheil und Hiftorische Gewiſſenhaftigkeit haben. 
Wer zum voraus durch den Begriff der Gefchichte jeden übermenſch⸗ 
lichen Factor für ausgefchloffen erachtet, fieht fich bei diefer Ge⸗ 
fhichte zu Combinationen genöthigt, für die er in den von der gegen- 
theiligen Vorausſetzung ausgehenden Quellen auf Feine ficheren An⸗ 
haltspunkte mehr rechnen kann. Wie follen denn berlei Combina⸗ 
tionen je den Charakter wirklich zwingender, überzeugender Geſchichts⸗ 
darftellung annehmen? Wem diefe Vorausfekung mindeftend noch 
problematifch iſt, wer wirklich erſt aus den gefchichtlichen Zeugniffen 
felbft über das eigentliche Wefen des Herren Aufflärung zu gewinnen 
fucht, wird von ſelbſt ſich zu der Erkenntnis getrieben finden, daß 
das Leben Jeſu an der Chriftologie eine Ergänzung finden muß, 
daß ein Berjtändnis des Weſens des Herrn, fo weit e8 überhaupt 





456 Schmidt 


möglich ift, erft aus dem Ganzen der von feiner Offenbarung ausgeben» 
den Weltanfchauung zu gewinnen if. Wenn Schulz; die beiden 
Wilfenfchaften Dogmatif und Leben Jeſu ihre Arbeit gefondert will 
thun laſſen, um, wenn jede fertig ift, an ihrem Theil Verbindungs- 
füden zu fuchen, behaupten wir dagegen auf Grund der biöherigen 
Leiftungen ber Tetteren Disciplin, daß diefelbe mit ihrer Aufgabe 
gar nie zum Abſchluß kommen kann, fondern von felbft der Dogmatil 
da8 Gebiet zur Arbeit frei laffen, ja fie zur Hülfe rufen muß. 
Umgelehrt Hat die Dogmatif ihr Maß an der Geſchichte. Wie 
die Chriftologie nirgends apriorifch entftanden ift und man ganz 
fiher Jagen kann, daß die zahlreichen philofophifchen Chriftologien, 
welche irgendwie den Gedanken eines menjchgewordenen Gottesfohnes 
als an fih für unfer Denken nothwendig zu erreichen ſuchen von 
der alten Gnojis an biß auf die modernfte Philojophie, doch indirect 
iedenfall® der Erfahrung entitammen, jo ift umgekehrt jedenfalls 
jede Chriftologie chriftliher Dogmatik zum voraus verurtbeilt, 
welche mit dem Bild des Menfchenfohns in der Schrift nicht ftimmt. 
An diefer gefchichtlichen Bezeugung muß fie ihr Maß und ihre 
Controle finden. 

Sreilih läge e8 nun nahe, beide Disciplinen wieder fo zu com⸗ 
biniren, daß man, nachdem nun der dogmatifche Chriftus confiruirt 
iſt, verſuchte, mit Hülfe diefer Conftruction das Leben Jeſu zu 
vollenden, die Lüden, welce die bloße Geſchichtsdarſtellung laffen 
mußte, zu ergänzen und fo zu fagen progreijiv zu verfahren, mit 
anderen Worten nach johanneifchem Typus, aber dod) den modernen 
Anforderungen an eine biographifche Darftellung gerecht werdend, 
das Leben des Herrn zu erzählen. Wir haben das hic Rhodus 
hic salta in dieſer Beziehung ſchon öfters an die pofitive Seite 
der Theologie richten hören. Seid ihr unzufrieden — jcheint mit 
Necht gefagt werden zu können — mit den Darjtellungen, welche von 
der DVorausfegung eines ausſchließlich menschlichen Weſens des 
Herrn auögehen, fo verſuchet doch mit eurem dogmatischen Chriſtus 
die Probleme zu löfen und vom Rogosbewußtjein aus die ganze evange⸗ 
liſche Geſchichte darzuftellen. Diefe Aufforderung wäre gewiß billig, 
wenn es überhaupt die Aufgabe der Dogmatik fein könnte, das Weſen 
des Herrn zu einer wirklich anſchaulichen Erfenutnis zu bringen. 








Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 487 


Aber fo wenig alle Offenbarung Gottes uns eine wirklich anſchau⸗ 
liche Erkenntnis des Weſens Gottes geben kann, fo gewiß wir nad) 
des Apojteld Wort eben nur Kinder find, bie kindiſch von den 
himmlischen Dingen reden, fo gewiß ſoll fi) aud) feine Dogmatik 
anmaßen, das Selbftbewußtfein des Herrn ganz klar zu machen. 
Ihre Aufgabe wird die mehr negative fein, folche Vorftellungen 
‚ amd Confequenzen abzuwehren. Sie muß froh fein, wenn es ihr 
gelingt, etliche Grundlinien zu ziehen, im übrigen gilt auch fir den, 
welcher den Geift Ehrifti hat, das „Niemaub kennet den Sohn“ noch 
in gewilfem Maße. Ihn fehen, wie er ift, das ift nach der Schrift 
die Hoffnung zukünftiger Vollendung. Darum Halten wir zum 
voraus alle Verfuche, das Selbſtbewußtſein des dogmatischen Chriſtus 
in concreter Weiſe in bie Gefchichte einzuführen, für ebenfo unbe» 
friedigend als die entgegengefeßten Verſuche, das chriftologifche Dogma 
auf dem Wege der Gefchichte überhaupt zu eliminiren. Es würde 
eigentlich zur Erledigung unſeres Themas eine Kritit der Dar⸗ 
ftellungen de Leben Jeſu auch gehören, welche es verfucht Haben, 
vom Boden pofitiver Dogmatit aus die Entfaltung des Selbſtbe⸗ 
wußtjeins des Herrn uns zu ſchildern. Wenn wir auf eine Kritik 
verzichten, jo geſchieht es nicht aus principiellen Gründen, fondern 
weil Zeit und Raum diesmal nicht reichen. Wir fürchten, daß bie 
Behauptung, dieſe Darftellungen entbehren ber Friſche der An⸗ 
fhauung und ftellen ſich als künftliche Combinationen dar, nur zuviel 
Zuftimmung finden wird. Wir glauben, daß die pofitive Theologie 
alles geleiftet hat, was man von ihr verlangen kann, wenn es ihr 
gelingt, unter dem ausdrücdlichen Zugeitändnie, daß ein Leben Jeſu 
ein Zorfo bleiben müſſe, die Gejchichte aus den vorhandenen Quellen 
in anſchaulicher Weife darzuftellen und überall die Punkte zu be» 
zeichnen, wo die Dogmatik ihre Arbeit beginnen darf und muß. 


458 j Goergens 


2. 


Das altteftamentlie Ophir '). 


Bon 
Dr. Hoergens, 


Profeflor in Bern. 


Die Ophirfrage Hat das eigentümliche Schidfal, daß, wiewol 
die verjchiedenften Hypotheſen aufgeftellt worden, um eine den bibli- 
ihen Daten möglichſt Rechnung tragende Löſung herbeizuführen, 
doch ein jeder neuer derartiger Verfuch keineswegs alljeitig befriedigt 
bat, er vielmehr neue Zweifel und Bedenken in dem Lefer anregt. 
Bon den älteren Vermuthungen abgefehen, die meiltens ohne Rück⸗ 
fiht auf die wirkliche Sachlage nur entfernte Orte in's Auge faßten, 
jo daß Columbus fogar in Haiti das altteftamentlihe Goldland ent» 
deckt zu haben glaubte, laſſen fich die Mehrzahl der neueren An⸗ 
jichten hauptſächlich nach drei verfchiedenen Geftchtspunften zuſammen⸗ 
faſſen. Von den Angaben der Königsbücher und der Chronik aus⸗ 
gehend, finden wir, daß 1Kön. 9, 26—28 und 2Chron. 8, 17—18, 
ſowie 1Kön. 10, 11 vgl. 2Chron. 9, 10. 9, 22 fih inhaltlich 
im allgemeinen decken, wobei die eingefchlichene Zifferdifferenz ſchon 
von Keil als eine Verwechslung von 3 und > erflärt worden. 
Die 2Chron. 8, 18 erwähnte Abfendung der Schiffe Hirams gibt 
einer mehrfachen Deutung Raum, indem biefelben von anderen 
phöniziichen Handelsftationen in den füdlichen Gewäſſern, 3. B. dem 
perfiihen Buſen aus, nad) Eziongeber beorbdert oder in zerlegten 
Zheilen aus dem Weitmeer über die Tandenge nad) dem roten 
Meere transportirt werden fonnten, wie ja ſchon Alerander Schiffs: 





1) In Folge eines Misverftändniffes wurde ein kürzerer Auszug diejet 
Artilele in der Revue de Thöologie et de Philosophie von 
MM. Dandiran u. Astie, Lausanne 1878 (Janvier) ſchon abgebrudt, 
bevor der Originalauffag in den Studien und Kritifen veröffentlicht 
war. Der Berfaffer. 








Das altteftamentliche Ophir. 459 


bauholz zur Belämpfung der Gerrhäer von Phönizien nad) Tapſacus 
hatte bringen laffen. (Bol. Keil's Biblifchen Commentar, Bücher 
der Kön., S. 111 Anmerkung.) Eine größere Berfchiedenheit tritt 
ſchon zwifchen 1 Kön.10, 22 und 2 Chron. 9, 21 hervor, indem neben 
dem Zarfisihiff letztere Stelle noch Tarſis als Ziel der Fahrt 
angibt. Der Ausdrud Tarftsichiff, eigentlich ein turbitanifches 
Fahrzeug, wurde fpäter als technifche Bezeichnung nur Schiffen 
größeren Tonnengehaltes beigelegt (Jeſ. 2, 16. Pf. 48, 8. 1 Kön. 
22, 24, wo die Zarfisfchiffe ald nach Ophir fegelnd gemeldet 
werden; Movers, Phönizifhe Alter. III, S. 164). Der 
Ehronift Hat diefen Ausdrud, den die griechifche Ueberjegung mit 
rrAoiov Iakaoans umjchrieb, mit dem Zufage wunn mob er- 
fäutert und neben Ophir das befannte Tarſis oder Tarteſſus in 
Spanien ald Neifeziel aufgebracht, ein Irrtum — eines ähnlichen 
machte fich der arabifche Ueberfeger durch die Note el hind ſchuldig —, 
der wol dem fpäten Urfprung der Paralip. feine Entftehung ver⸗ 
dankt. Die Annahme eines” europäifchen Tarteſſus als Ziel der 
Ophirfahrer mußte den gefchichtlichen Charakter des biblischen Be⸗ 
richtes in zweifelhaften Lichte erfcheinen Taffen; daher an gleichnamige 
Drte in den füdlichen Gewäſſern, 3. B. das PVorgebirge Tarſis 
im perfifchen Bufen, gedacht wurde, indes Quatremère dem Worte 
Tarſis die Bedeutung eines lieu éloigné unterzufchieben fuchte. 
Seiner Anfiht nad) Hätten die Phönizier in den Anfüngen der 
Schiffahrt zuerft gegen das bekannte Zarfis in Eificten, dann mit 
der Entwiclung der Nautif weitere Rreife bis Tunis in Afrika 
ziehend, zulett gegen Tarteſſus Hin die Grenzlinien ihrer Seefahrten 
gehabt (Quatremire, Inscript. de l’ac., T. XV, P. II, p.373). 
Die dee eines Goldlandes iſt keineswegs dem Altertume fremd; 
merfwürdigerweife verlegen die Schriftfteller es übereinſtimmend 
an die äußerſte Grenze bes Oſtens. Chryſe und Argyre, die beiden 
Gold⸗ und Silberinfeln, liegen über die Indusmündung hinaus 
(Plin. H.n. VI, 23; Solin. LXV). Mela (lib. III) verlegt erftere 
gegenüber dem Vorgebirge Tamos, Ießtere in der Richtung der 
Gangesmündung. Btolemäos Tennt Chryfe vom Feitland füdlich 
und citirt fonft noch die goldene Cherfonnefos (Malakka). Die 
1Kön. 10, 11 und 2Chron. 9, 10 gemachte Angabe, derzufolge 





460 - Goergens 


die Seereiſe drei Jahre dauerte, trug, neben dem, daß man gerne 
das Goldland in unnahbare Ferne rückte, um jede Controle unmög⸗ 
lich zu machen, dazu bei, Ophir an die äußerſte Grenze der damals 
belannten Länder zu verlegen. Will man gerne den drei Jahren 
die elaſtiſche Deutung innerhalb drei Jahren geben, ſo erübrigt den⸗ 
noch eine Menge Zeit, weil ein von dem idumäiſchen Hafen 
auslaufendes Schiff, einen nicht zu langen Aufenthalt mit einge⸗ 
rechnet, kein volles Jahr bedurfte zur Hin⸗ und Rückfahrt nach 
einem beliebigen Hafen der perſiſchen oder indiſchen Küſte. 
Prüfen wir nun die aufgeſtellten Verſuche näher, ſo gilt die 
von Quatremere und Movers namentlich vertretene Hypotheſe 
(ſonſt noch Bruce, d'Anville, Robertſon, Guillain, Mauch), die 
das Ophir der Alexandriner in Sofala Ki am der oſtafrikaniſchen 
Küfte fucht, jegt al aufgegeben. Für Indien ſprach die dreijährige 
Fahrt, die indifchen Bezeichnungen der importirten Sandelsartifel, 
endlich die Auffaffung der LXX, die anftatt Ophir (nur Gen. 10, 29 
Ovgsip) fonft Suysipa’, Zovpie, Zovgeip, Zugipa’ u. ſ. f. jegen, 
das als Foptifche Benennung für Indien gilt; gleihjam unterftütt 
wird diefe Meinung noch durch einen von Ptolemäus (7, 1—6) 
eitirten an der Küfte gelegenen gleihnamigen Ort Zovrrage, den 
der Peripl. mar. erythr. Arr., p. 30 in Ovrnaga wieber 
gibt, während Edrifi 5lizw Sofara las. Die arabifchen Ueber: 
jeter find durch einfache Zufäge zu Ophir in ef. 13, 12. 1 Kön. 
9, 28. 10, 11 el hind, fowie durch ermeiterte Beifügungen 
„Ophir Dahlak, das zu Indien gehört“, der gleichen Unfchauung 
der Siebenzig beigetreten. Auch Flav. Joſephus (Ant. VIII, 6) läßt 
die Leute Salomo’8 verblindet mit den jeefundigen Phöniziern 
„nah dem ehemaligen Sophira und dem heutigen fogenannten 
Goldlande in Indien Schiffen, um Gold zu holen“, freilich im 
Widerfpruche mit einer andern Stelle, wie wir fehen werden. Mit 
Recht wendet man dagegen ein, baß das Altertum von einer Golds 
ausfuhr aus Indien nichts weiß, daß die Küſte nicht metallreich 
it, da die Goldfelder erft gegen Kaſchmir beginnen, und daß Die 
Berufung auf die weit landeinwärts wohnenden Abhira nur ale 
ein nothdürftiger Behelf erfcheint, der mit nichts bewiefen if. Zus 
dem läßt fich nicht errathen, welche Rimefjen außer Sclaven Salomon 


Das altteſtamentliche Ophir. 461 


hätte den Indiern gegen ihren Goldftaub in die Wagſchale legen 
können. Was konnte Paläjtina von Naturprobucten in den Handel 
bringen, was Indien, das Gewürzland, nicht in reichliherem Maße 
erzeugte. Unmöglich Tonnten die phöniziichen Fabriten und Manu⸗ 
facturen mit indischen Stoffen concurriren, den feinen baumwollenen 
Gewändern und den billigen feidenen Geweben. Die Haupteinfuhr 
nad) Indien waren auch noch in fpäterer Zeit Pferde, die von Ormuzd 
Kiſch, Aden ober zu Lande über die Keyberpäffe hinbefördert: wurden. 
In den Sahrhunderten nach der Hegira, als bie Araber zum zweiten 
Male den Welthandel in die Hand nahmen, kauften fie Indiens 
Spezereien und Koftbarfeiten mit Gold und Silber. 

Dagegen ftimmen die alten Schriftfteller darin überein, dag 
der indifche Gewürzbandel den weftlichen Geldmarkt bedeutend er- 
leichtere. Strabo (XVII, p. 545), ber in Alerandrien ſich ein 
eingehendes Urtheil über den mit Indien betriebenen Handel vers 
Ichaffte, gelangte zu dem Wefultate, daß der Export von dort nad) 
Aegypten die Einfuhr um ein Bedeutendes überſteige. Plinius 
(Hist. nat. VI, 26, 33) beffagt die Abnahme der edleren Metalle, 
die vom Handel Indiens abforbirt würden, ein Umſtand, der nad 
Zacitu6 (Annal. III, 53) ſchon den Senat zu ernftem Nachdenken 
veranlaßt Hatte. 

Wenn Herodot (III, 94) die Perſerkönige aus Indien ihre Gold⸗ 
ſchätze beziehen läßt, fo find feine weiteren Mittheilungen betreffend 
die Ameifen, die in der Größe von Hunden Hügel von Goldftaub 
aufwerfen, als Fabeln auf die gleiche Quelle zurücdzuführen. Diefe 
indiihen Myr meken erleiden eine eigentümliche Metamorphoſe unter 
der VBergrößerungsbrille mancher Berichterftatter. Plinius (Hist. nat. 
XI, 36) verwies fie in's Kabengefchlecht, die im Winter das Metall 
fchlürfen, das fie im Sommer von fid geben. Near (Arr. 
Ind. 15) hatte ſich einige Felle zeigen laſſen. Mela (lib. II) 
weiß von ihnen als von Hunden über mittlerer Größe zu erzählen, 
die nad) Solin (cap. XLIII) Löwentatzen hatten. 

Iſt fo Indien, das allgemein für das goldreichſte Land ger 
halten wird, in der That aber metalların ift und nur dem Handel 
feine Einnahme zuzufchreiben hat, als ein keineswegs glücklich ges 
wähltes Ziel der Hiram- Salomonifchen Schiffahrt zu betrachten, 





462 Goergens 


ſo wird dieſer Löſungsverſuch geradezu als geſcheitert angeſehen 
werden müſſen, wenn man bie einer ſolchen Seefahrt entgegenſtehen⸗ 
den Schwierigkeiten näher in’8 Auge faßt. Mögen auch die Phönizier 
bis gegen Ende des zweiten Jahrtauſends v. Chr. eine Reihe von 
Stationen im perfifchen Bufen befeffen und badurch vielleicht Fühlung 
mit Indien gehabt haben, fo folgt doch daraus noch keineswegs 
ein Schluß auf die zweite weftliche Wafferftraße, das rothe Meer. 
Leider ift ber ſabäiſche Welthandel, der den Tranfit ber oftafri- 
fanifchen, indifchen und arabischen Producte vermittelte, noch zu fehr in 
Dunfel gehüllt; nur ſoviel fteht feit, baß fie über das Geheimnis 
ihres Monopoles, worin die ganze Schwerkraft des Handels ruhte, 
ebenfo eiferfüchtig wachten, wie die Pöner ihre Beziehungen zu den 
Cajftteriden, die Portugiefen ihre Colonialausfuhr oder die Holländer 
ihren Gewürzkram zu verfchleiern fuchten. 

Die verfchrobene geographiſche Vorftellung, die noch Claudius 
Ptolemäus von den füdli von Bab el mandeb gelegenen Meeres» 
teilen und Ländern Hatte, die Verlängerung des oftafrilanifchen 
promontorium gegen Often Hin, die feltfame Configuration, die 
er der vorderindiichen Halbinfel gab, die unnatürliche Vergrößerung 
von Zaprobane (Eeylon), fowie die.aus feiner Zeichnung hervor- 
gehende Geftalt eines mittelländiſchen Binnenmeeres, die er von 
dem indiſchen Dcean entwarf, beweifen zur Genüge, wie dürftig zu 
feiner Zeit noch die Kenntnis Indiens war: Aleranders Admirale 
bezweifelten anfangs no, ob es zu Waffer möglich -fein werde, 
Andiens Küfte zu erreichen, indem bei ihnen auch die Anficht eines 
vom Lande ringsum eingejchloffenen Meeres obwaltete. Die Fabeln 
der Alten über jene Meere, wie die Araber fie Nearch erzählten 
und Agathardides fie ruhig hinnahm, die in einigen Schredene- 
namen Bab ef mandeb, Meta, Gardafır 2c. einen concreten Aus⸗ 
drud erhalten; die vollftändige Unmwiffenheit über die Heimat der 
in den Handel gebrachten Güter, das relativ fpäte Bekanntwerden 
der Manfune, der atmosphärischen Vehikel im erpthräifchen Meere, 
die die Nömer nach dem angeblichen Entdecker ventus Hippalus 
nannten (Plin. Hist. nat. VI, 26), obgleich die Yemeniten ſchon 
viele Jahrhunderte lang ihre Schiffahrt nah ihm einrichteten 
— bie Himjaren hatten Jogar einen eigenen Monat, Charik ihm zu 


Das altteftamentliche Ophir. 468 


Ehren benannt —, erhärten die ausdrüdliche Verficherung, daß noch 
zu Eratofthened’ Zeit niemanb über die Weihrauch: und Myrrhen⸗ 
gegend hinausgefommen fei. (Strabo XVI, p. 529; II, b. p. 118; 
XV, 4. p. 666.) 

Eine Kenntnis von Indien konnte den Juden erft nach dem 
Zuge des Darius Hyſtaspis geworden fein; Hodü, arab. Hind, 
wird erſt im Buche Efther erwähnt. Das ptolemäifhe Apaple 
sddaiuov, wahrſcheinlich Aden, bildete die Grensftation, wo bie 
indischen Segler ihre Waaren Löfchten, die dann unter ſabäiſcher 
Flagge nah) Qoçayr (Aegypten) giengen. Seit mit Benußung 
der Jahreswinde (April — October Sübweitmanfun; October — 
April Nordoftmanfun) die directe Verbindung mit Indien ange« 
fnüpft wurde, verlor Aden feine Bedeutung, um fo mehr als die 
jabäifhe Stämmeliga fich aufgelöjt hatte. Plinius (VI, 23) gibt 
die Dauer der Fahrt von Berenike bis Okelis auf 30 Tage, von 
da bis zur malabarifchen Küfte Mufiris oder Barace auf 40 Tage 
an; rechnet man dazu von Elath bis Berenife 15 Tage, fo brauchte 
ein Schiff 85 Tage, fo daß es nad) Austauſch der Güter mit dem 
im Spätjahr wehenden Nordoftmanfun bequem die Rüdfahrt antreten 
fonnte. Die jährlich von Myoshormos oder DBerenife abfahrende 
Handelsflottille nahm regelmäßig einige Cohorten Bogenfchügen 
an Bord, wegen ber zahlreichen im jüdlihen Meere ſchwärmenden 
Piraten. Die der Schiffahrt wenig günftige Küftenbefchaffenheit 
Arabiens ſchränkte die directe Fahrt nad Indien immer auf ein 
gewiffes Maß ein, da genauefte Kenntnid der Gewäſſer für die 
bis Nas el Fartak oder el hadd in Sicht des Landes fegelnden 
Schiffe die unerläßlichite Bedingung war. Die angeführten Daten 
nöthigen zu dem Schlufje, daß die Hiram-Salomonijchen Schiffe nicht 
nad) Indien als ihrem Ophir gefahren find. Ein Theil der Erklärer, 
Niebuhr, Öefenius, Rofenmüller, Seeßen, Hikig ꝛc., 
hat denn auch diefen Ausweg als verfehlt zurückgewieſen und den fonftigen 
Angaben der Bibel entfprechend an Arabien als dem Goldlande 
feftgehalten, ohne daß jedoch geſchichtlich oder thatſächlich jetzt noch 
die von ihnen in Vorjchlag gebrachten Gegenden als goldreich hätten 
erwiejen werden können; aus diefem Grunde muß auch Seetzens 
Vermuthung, ber das Edriſiſche gie wieder aufnahm, das freilich, 


464 ©oergens 


mit unferem Ophir nichts zu thun bat, aufgegeben werden, wiewol 
frühere Beziehungen der Thrier mit der Küſte Omans nicht zu 
beftreiten find. De auch feiner der über die Lage des aliteftamentli- 
chen Californien in Arabien gemachten Vorfchläge allgemeine Billi- 
gung erhalten, jo Hat Rofcher nad) dem VBorgange Heerens, Tychſens, 
der die Wurzel auf l, abundantia zurüdführt und mit H. eine 
Handelszone für Ophir annimmt, darin eine von ber oftafrilanifchen 
quer durch Arabien bis an die indiſche Küfte fich binziehende Ver⸗ 
kehrsſtraße erblid. Das von den chelonidiihen Sümpfen des 
Btolemäos über Meroe bis Adulis (Mafſaua) führende Itinerar 
berührte in der Verlängerung durch Arabien die Hauptftädte Yemens 
Sabota und Tzafar, Anklänge an die Bezeichnung ber LXX, bie 
er auch unweit der Indusmündung in Suppara oder Uppara 
wieder erfennt. Diefe ununterbrochene Handelslinie vom Niger 
bis Indus bildet nah R. das altteftamentlihe Ophir. Die ur 
ſprünglich am perfifhen Bufen angefeffenen, fpäter durch die Naba⸗ 
töer verdrängten PBhönizier fuchten, von Salomon unterftüßt, jene 
Meere zu beherrichen, und „mit dem Golde Weſtafrika's nad) Indien 
zum Zaufche fegelnd Tehrte man nach 3 Yahren mit Gold umd 
indifchen Producten bereichert zurid*" (Rofcher, Ptolemäns und 
die Handelsftraßen in Central⸗Afrika, S. 58 ff.). 

R. hat namentlich der breijährigen Fahrt Rechnung getragen, 
ohne dabei die mancherlei im Wege ftehenden Schwierigkeiten befeitigt 
zu haben. 

Hier fei noch einer jüngeren Anficht gedacht, die unter feinen 
der vorher berührten Rahmen gebracht werden kann. Road (Bon 
Eden nach Golgatha, Bd. I, S. 47ff.; Bd. II, Anm. ©. 41ff.), 
Chavila in Huilah wiedererfennend, verlegt Ophir nad Syrien 
in die von Antiochien gegen die füdliche Tauruskette fich erftredende 
Ebene; ber Metallreichtum diefes Gebirgszuges hatte fchon früher 
einzelne Gelehrte veranlaßt, das Goldland unweit aufzuſuchen, 
fo v. d. Hardt in Phrygien, Calmet in Armenien. N. nimmt 
den von ben kurdiſchen Bergen in den Antiochener See fließenden 
Bergftrom Afrin für den bei Hiob 22, 24 erwähnten Goldfluß. 
Durch den bis Antiochia ſchiffbaren Drontes und den gleichnamigen 
See fegelnd, fuhren bie Ophirfahrer den Afrin Hinauf nach dem 





Das altteftamentliche Ophir. 465 


Ziele ihrer Expedition, das dem Verfaſſer als die Aia des Argo- 
nautenzuges erjcheint. Eine Stelle der von Tiſchendorf in der 
vatikaniſchen Bibliothek entdeckten Handſchrift 1 Kön. 16, 28 im hebr. 
und 22, 48 im griechiſch-alex. Texte: „und ein König war nicht 
in Syria Nafib und der König Joſaphat machte ein Schiff, nad 
Tarfis zu gehen, nad) Söftr zu dem Golde“, benimmt N. jeden 
Zweifel gegen diefe Anfiht. Da aber damit auch fonftige topo⸗ 
graphifche Veränderungen vor fich gehen mußten, fo werben bie 
Indikk des Joſephus, die Debebai- Araber des Agathardhides, 
da8 Reid) von Saba mit feinem Weihraud nördlih von Paläftina 
aufgefucht, daS rothe Meer foll das phönikische Meer oder die rothe 
Marſchwieſe, als Binnenmeer gefaßt, fein. Wir hätten alfo, außer 
den 2 bibliihen Saba, dazu ein durch die Seilinfchriften entbecktes 
im Stromland, noch ein viertes am Libanon. Für Pfauen und 
Affen, die heimwärts gebracht wurden, iſt der Verfaſſer ebenfalls 
nicht verlegen. Das Zeugnis des Flav. Joſephus in der Opbirfrage 
ift wol das zweifelbaftefte des ganzen Altertums, weil er fi in 
mehrfachen Widerfpruch mit fich ſelbſt vermwidelt; zufolge Ant. jud. 
VIH, 6 baut Salomo „viele Fahrzeuge theils im ägpptifchen Meere, 
theils in einer Bucht am rothen Meere, die Aftongabaros heißt, 
nicht weit von Aelane, das jegt den Namen Berenike führt“ eine 
Stelle, die doch nach N. unmöglich auf das Weſtmeer bezogen 
werden kann; dagegen befigt der König (Jos. VIII, 7) „im foge- 
nannten tarfifchen Meerbufen viele Schiffe, welche zu den fernften 
Bölfern die Landesprodufte bringen mußten, um baflir Gold, Silber, 
fchwarze Sclaven und Affen einzutaufchen“. Mit Bezug auf 2 Kön. 
10, 22 meldet Joſephus ein Bündnis Joſaphats mit dem Sohne 
Achabs, um Schiffe auszurüften, die nah Pontus und Thracien 
fegeln follten, aber durch ihre Größe zu Grunde giengen; Tegtere 
Stelle hätte als die geeignetere für des Verfaſſers Hypotheſe 
mehr berücdfichtigt werden müfjen; freilih macht die ganze Dar» 
ftellung N.s, die das mühfam zujammengejudte Material gefchickt 
für den Zweck verwendet und zu einem Ganzen verwebt, meiften- 
theils den Eindrud von Schlußfolgerungen, die mit den Haaren 
herbeigezogen find, und gegen die fich überdies noch ſchwerwiegende 
Bedenlen geltend machen. 





466 Goergens 


Ritter, der ſich für Indien entſchied, konnte noch behaupten: 
„die Ophirfrage wird wol ſtets eine unermittelte bleiben, welche die 
unauflösbarſten Räthſel darbieten würde, wenn man bei Ophir als 
dem Lande der joktanidiſchen Erzväter am Südende Arabiens ſtehen 
bleiben wollte”, denn der Reihe nach waren Theile der Weſt⸗, Süd⸗ 
und Oftküfte Arabiens für das falomonifche Golbland ausgegeben 
und die verfchiedenen Anfichten mit Gründen belegt worden, bie 
von vorn herein dem Anfehen einer jeden abweichenden Vermuthung 
Eintrag thun mußten, ohne daß jedoch jede einzelne ober nur eine 
überhaupt die Goldausbeute Ophirs in feinem Wejen genligend er: 
fannt und auseinandergelegt hätte. Anders Liegt die Trage jekt, 
wo wir über einen feinen Strid) Yemens fo weit unterrichtet find, 
daß dadurch berjelben jich ganz neue Perfpectiven eröffnen. Die 
Mehrzahl der aufgejtellten Vermuthungen verloren von vorn herein 
Ihon jede Wahrjcheinlichkeit, als ſie ausfchließlich die merkantile 
Thätigkeit der Ophirerpedition in den Vordergrund ftellten; denn 
jämtlihe Glas- und Purpurmwaaren der thrifchen und fidonifchen 
Bazars hätten nicht ausgereicht, um im Tauſchhandel mehr denn 
400 Talente Goldes in ben Häfen des fernen Landes dagegen 
einnehmen zu können; als ein fernerer Verſtoß ift es anzufehen, 
wenn die Ophirfrage ſtets allein, ohne Rückſicht auf die andern in 
der Bibel erwähnten Goldländer behandelt wurde, wodurch freilich 
der Willkür des Einzelnen ein größerer Spielraum blieb, feine 
eigenen Ideen zu entwideln, ohne daß jedoch dadurch mehr Klarheit 
in die an fich dunfele Frage hineingetragen worden wäre. 

Außer Ophir werden noch Chavila und Saba, Parwaim und 
Uphaz als goldreiche Gegenden angeführt; letzteres (Jer. 10, 9. Dan. 
10, 5) wirb von manchen, wie®ejenins, als eine andere Bezeichnung 
Ophirs angefehen, da 1 und A im Arabifchen verwandt find, während 
Higig es mit Ufal in Yemen identificirt. Mit Parwaim (2 Chron. 
3, 6) wußte man vollends nichts anzufangen, bis Gef., es mit der 
Sanscritwurzel pürva „vorne, öſtlich“ in Zuſammenhang bringend, 
ihm die Bedeutung „Land des Oſtens“ unterlegte; feine Rage näher 
zu beftimmen, wurde nicht verfucht. Chavila und Saba wird mit 
Ophir (Gen. 10, 28. 29) als joftanidisch nad) Südarabien verlegt, 
Chavila, in erweiterter Bedeutung als Collectiobezeichnung der 


Das alttetamentfiche Ophir. 467 


füdlichen Länder gleichwie Indien gebraucht, zu welchen letteren noch 
Dahlak und Adulis gerechnet werben, wird in engerem Sinn zwei 
Diftricten Arabiens beigelegt: bem Gebiete der am perfiichen Bufen 
angefeffenen, von Strabo zugleich mit den Nabatäern (Strabo XVI, 4) 
angeführten Chaulotäer und einem Xheil der Weftküfte Yemens, 
Chaulan genannt, den Niebuhr fchon für das bibliihe Chavila 
anfah. Der unmittelbar nördlich gelegene Küftenftrich ift das von 
Agatharchides, Plinins, Strabo, Diodor u. a. erwähnte Goldland. 
Ein das Land der Debai durchfchneidender Fluß führte nad) Agatharchi⸗ 
bes ($ 95) foviel Goldftanb mit fih, daß der Sand dem Waffer ein 
röthlich fchillerndes Ausjehen gab. Die dort gegrabenen Goldſtück⸗ 
chen von verfchiedener Größe, vom einfachen Nußkern bis zur Dicke 
eines Mispels oder einer Wallnuß werben mit Glasſtücken abwech⸗ 
felnd in Fäden gleich PBerlichnüren aufgereiht und als Schmud um 
Hals und Handfnöchel getragen. Strabo (XVI, 777) meldet weiter, 
wie jene Bewohner für Kupfer das Dreifahe und Eifen das Doppelte 
geben, da diefe Metalle für ihre Bedürfniſſe unerläßlicher find; 
die plinianifchen Goldfelder (Plin. VI, 28) — litus Hammaeum 
auri metalla —, im ganzen mit den vorhergehenden übereinftimmenb, 
lagen an ber Küfte Hamidha, von Athr bis Sirrayn fich erftredend. 
Arabien Goldreihtum war im Altertum ſprüchwörtlich; nament- 
lich jedoch wird die Küfte von Dzahaban als die an Fluß⸗ und 
Minengold reichfte gefchildert (vgl. noch Diod. Sic. II, 50; I, 93; 
Il, 44. 45. 47). Die Felſeninſchriften von Hammamät nennen 
die arabijche Wüfte und die dazu gehörige Küfte am rothen Meere 
das Götterland. Brugfch ift geneigt, die gleiche Bezeichnung „das 
heilige Land” auf den füdlichen Theil Arabiend auszudehnen, was 
nur im Sinne feines Bodenreichtums eine Bedeutung hätte. Wenn 
fpätere Schriftfteller, wie Beriplus, von der Goldküſte nichts wiffen, 
fo fpricht diefer Umftand nicht gegen die Angaben der übrigen, da 
der durch Wäschereien gewonnene Goldftaub, ſowie die Ausbeute der 
Bergwerke fich nothiwendigerweife einmal erfhöpfen mußte. An Stelle 
des Austaufches war im Anfang unferer Zeitrechnung ſchon eine 
geregelte Metallwährung getreten, gegen bie die römifchen und per- 
ſiſchen Kaufleute die arabifhen Hanbelögüter erwarben. Sprengers 
großes Verdienſt ift e8, eine Anzahl bisher unbelannter arabljcher 
Theol. Etub. Jahrg. 1878. al 





468 Goergens 


Handſchriften erſchloſſen und durch Auszüge aus denſelben jene alten 
Mittheilungen in ein neues Licht geſtellt zu haben (A. Sprenger, 
Die alte Geographie Arabiens als Grundlage der Entwicklungsge⸗ 
ſchichte des Semitismus, S. 52). Sprenger conſtatirt landeinwärts 
gegen die rechte Yemenſtraße zu eine Anzahl reicher Goldminen; 
die eine, wegen ihres Reichtums Ma din-al-Ahfan genannt, gehörte 
dem Kiläbftamme Abu Bekr; andere Goldbergwerke find die von 
al Hofayr, von Tiyas, von Aqhq, den Oqayl gehörig, deren Land 
nad dem Propheten Gold regnet. Die erftere lag auf bem Wege 
der vom perfifchen Golfe nad den fyrifhen Märkten ziehenden 
Dafilas, und fo erflärt Sprenger Ezech. 27,29, daß die Raemiten 
das auf dem Durchmarſche im Negd eingehandelte Rohmetali ben 
Tyriern verfauften. Andere Minen find die der Thanyya; ſechs 
weitere ohne fpecielle Angabe des geförderten Metalle (von einigen 
vermuthet man mit Necht, dag es wie die vorhergehenden Goldminen 
geweſen feien) werden noch angeführt, von denen mehrere, dazu bie 
ergiebige Mine der Oqayl in Dyahabän, den günftigften Ausfuhrhafen 
hatten. Ohne auf bie weiteren durch die Handfchriften befannt ge 
wordenen Fundſtellen des Goldes einzugehen, fei hier nur kurz 
derer gedacht, die in unmittelbarer Nähe der Hamidhafüfte Liegen. 
Unter den Diftricten der Provinz Mekkla wird der erfte Aſaf mit 
dem Zunamen einer Goldmine aufgeführt. Faſt in der Mitte zwifchen 
Diahabän und Hamidha, alfo genau an der von Plinius beftimmten 
Stelle, wird die Mine Dhankaͤn mit „vortrefflihem Golde“ (tibr) 
erwähnt. Hier vermuthet Sprenger ben Goldfluß bes Agatharchi⸗ 
des. Folgen wir dem Verfaſſer weiter über die Grenze Chauläns, fo 
tritt Sprenger nunmehr den Beweis an, daß dieſes mit dem bibl. 
Chavila identifch ift und daß die (Gen. 3, 11) an Chavila gerühmten 
Roftbarkeiten, Gold, Bdolach und der Schohamftein in der That hier 
gefunden werden. Bei der Aufzählung der chaulanitiſchen Goldberg- 
werfe gelingt e8 Sprenger den Fundort des 2 Chron. 3, 6 erwähn- 
ten Goldes von Parwaim in dem Orte Farwa wiederzuerfennen, 
dag, auf der öftlihen Abdachung der Linie Chacuf-Gada gelegen, 
mit Brunnen und einem Wildbache verfehen, etwa eine Stunde ent- 
fernt, die Mine al-Qofäa befaß, fo daß deren Gold als das von Farwa 
oder Parwaim bezeichnet werden konnte. Durch diefe Entdedimg gewinnt 





Das altteſtamentliche Ophir. 469 


die ganze von Sprenger aufgeftellte Anficht über die Ophirfahrt 
einen hohen Grad von Wahrfcheinfichkeit, da fie zum erjten Male die 
biblifchen Goldländer alle in unmittelbarer Nähe von einander nachweijt 
und den wirklichen Goldreihtum jener Gebiete außer allen Zweifel 
jeßt; ein Umftand, der bei den meiften bis jett verfochtenen Ophir⸗ 
hypotheſen fich in der Regel auf einige vage VBermuthungen reducirt. 

Die Chaulän widmeten ſich meiftens dem Aderbau, während 
der Stamm Balyy ein Ableger der weit verzweigten, urfprünglich 
in der Weihrauchgegend anfäßigen Dobdhäa, genannt Bandı lqayn, 
Söhne des Dietallarbeiters, die Goldminen ausbeutete. Ihr Ans 
benfen Lebt noch in al Dayn (offenbar ein Hinweis auf ihre Be⸗ 
Ihäftigung), einer Stadt. unweit abu Toräb, nördlich von Aththar 
fort; die ſtraboniſchen Chaulotäer am perfifchen Bufen find wahr 
fcheinlich eine von hier ausgegangene Kolonie, da auch bort ein gleich« 
namiger Ort al Dayn (der Metallarbeiter) angeführt wird. 

Außer der Madin Solaym in Chaulän, trieben fie fpäter bei 
ihrer Auswanderung nah dem Miſchlaf Cada die Goldwäfcereien 
von Cirwah, wo noch Metall gewonnen wird (Sprenger, ©. 56). 

Die Nachricht griehifcher Autoren von dem Auffinden von 
Goldklumpen in der Gegend von Dzahaban wird durch arabifche 
Quellen glänzend beſtätigt. Solches Gold \usd oder Br To 
6) rothes oder Gräbergold genannt, weil man in den Ruinen 
zwiſchen Gauf und Muͤrib viel ſolches Gold entdeckte — einer zu 
Dhahr aufgefundenen Frauenleiche wurden 100 Mithgäl rothes 
Gold an Knöchelringen abgezogen — wird als beſonders fein ge⸗ 
rühmt (Sprenger, ©. 57). 

Außer Gold werden Chavila noch zwei Toftbare Erzeugniffe zu⸗ 
geichrieben, Bdolach und der Schohamitein. Erfteres arabiſch moql, 
aus dem Plinius durch Umftellung der zwei letzten Confonanten 
malacum gemadt zu haben fcheint, wächſt in verfchiedenen Gegen- 
den Arabiend. Dieſes wird das arabifche oder melfanifche genannt, 
im Gegenfage zu dem aus andern Lündern, Perjien, Bactrien, Indien 
:c. eingeführten, welches die Bagdader Pharmalologen zum Unter« 
fchtede Judenmogl heißen. Wrede fand Daumpalmen in Hadhra- 
maut; vier Zagereifen von Medina gegen Dru Marwa wächſt die 
vorzüglichite Moqlart. Nah Sprengers Anficht ift die in ber Bibel 

31* 


470 Goergens 


citirte Sorte unweit Dzahabaͤn in dem Wady al Daum, ſo genannt 
wegen ber Menge ber Palmenbäume, aufzuſuchen (Sprenger, S.59). 

Der Onprftein, vorausgefegt, dag dieſes die richtige Deutung 
für den Stein von Schoham ift, da die Etymologie zu dunkel iſt, 
um darauf einen jtihhaltigen Schluß zu bauen, wurde in verſchie⸗ 
denen Gegenden Oberchauläns gefunden; der von Nogm galt als 
der befte. Die Induſtrie Hatte fich dieſes Steines bemächtigt, um 
allerlei Zieraten, Schmuckgegenftände, wie Mefferhefte, Schwertgrifie 
zc., daraus zu verfertigen und in den Handel zu bringen. Da die 
in Oberchaulän gefundenen Onyrforten nad) dem Fundorte Scha’wary 
Dharh ꝛc. genannt werben, fo Schlägt Sprenger vor, Schoham in 
gleichem Sinne als Rocalbezeichnung des Fundorte zu faſſen, fei es, 
dag man Sohaym als einen zwifchen Hakam und Dhankaͤn gelegenen 
Seehafen oder das zwei Tagereifen füdlih von Dyahabän befindliche 
Dzu Sohayın für da8 Onyremporium annimmt, oder aber Sochaym 
Vliest, was ald Bezeichnung des Diftrictes, in dem der noqo⸗ 


mifche Onyr gefunden wird, glei) dem Golde von Parwaim Farwa, 
auf eine bejtimmte Sorte hinweiſt (Sprenger, ©. 62 u. 63). 
An diefer Küfte Arabiend von Dyahabän bis Oberchaulaͤn 
haben wir unzweifelhaft das Ziel der Hiram-Salomonifchen Expedition 
zu ſuchen. Nur ein auf bergmännifchen Erwerb des edlen Me: 
talles gerichtetes Unternehmen läßt eine fo ungewöhnliche Maſſe 
Goldes begreifen, wie fie als Ausbeute nach Jeruſalem abgeliefert 
wurde. So begreift fich der hohe Werth, in dem das Ophirgold bei 
den Hebräern ftand, das ähnlich wie das rothe oder Gräbergold der 
Araber aus einer Quelle gefloffen war. Daß bis jett Feine nur 
halbwegs genügende Etymologie von Ophir eriftirt, oder daß an jenem 
Küftenftriche feine topographifchen Anklänge an die Wurzelermittelt wor- 
den find, thut der Hypothefe nicht den mindeften Eintrag. Sprenger 
beflagt es fchon, daß Hamdäny’s Gazyrat al-Arab Beichreibung von 
Arabien leider feinen Abfchnitt über die Goldminen Yemens enthält, 
und vermuthet, daß Hamdäny fidh vielleicht anderweitig etwa 
im Iklyl darüber ausgelaffen hat. Es bleibt alfo abzuwarten, ob 
nicht arabifche Handfchriften Auffchlüffe darüber geben, ob der Name 
Ophir den Goldbergmerfen ober deren Diftrict im allgemeinen oder 
aber einem Ausfuhrhafen angehört. Im letzteren Falle fonnte das 


Das altteftamentliche Ophir. 471 


Iandeinwärts durch Bohrungen geförderte Gold nach feinem Emporium 
noch immerhin opbiritifches heißen, ſowie der yemenitiſche Kaffee 
nad dem Stapelplag als Miola- Kaffee in den Handel gelangt, 
wenngleih im Umkreiſe von 20 Stunden ringe um Mofa feine 
Raffeeftaude wählt. Da die Völkertafel (Gert. 10, 28) die drei 
Joqtaniden Saba, Dphir und Chavila nad) einander aufzählt, jo 
würde mit Nücficht darauf, daß Saba, als ein mächtiger Stämme- 
bund mit der Hauptftadt Mariaba, deren Trümmer Botta 1842 
befuchte, das füdlicher gelegene Gebiet inne hat, an den nordweſt⸗ 
fih die Chaulaͤn grenzten, für Ophir die zwifchen beiden gelegene 
Wafferfcheide, wo zudem die ergiebigften Bergwerke liegen, oder der 
nörblihe Strich von Chaulän übrigbleiben, im letzteren Falle 
fiele fie mit der Goldküſte der griechifchen und römischen Schrift: 
fteller zufammen. Intereſſant jedenfalls ift die Thatſache, daß 
eine Station unweit Cana‘ nod) in ihrem Namen das Andenken an 
den bibliſchen Stammvater verewigt hat; „glei Ka, das Byſcha 
der Jaktan Tiegt in fruchtbarem Gefilde und ift mit guten Brunnen 
verfehen. Dabei würde eine Schwierigkeit leicht befeitigt werden; 
nämlich das gänzliche Stilifchweigen ber Königsbücher und der 
Chronif über die Quellen, aus denen Salomon Kenntnis von ben 
fuölich gelegenen Goldfeldern erhielt; die aus der Weihrauchgegend 
nah ben ſyriſchen Märkten ziehenden Karawanen verriethen die 
Heimatdes Goldeg und weckten bamit bie Begierde der Judäer. Der 
gänzliche Mangel weiterer Meittheilungen in dem Kapitel, wo die 
Dibel die Ophirfahrt erwähnt; der Umftand, daß das Übrige Alter» 
tum feine Notiz von dem hebräifchen Californien nahm, während 
doch die Bergwerke, aus denen bie Phönizier die Metalle gewannen, 
fih überliefert haben, fpricht für unfere Vermuthung, daß nur vor» 
übergehende Verfuche, jene von der Weſtküſte Arabiens landeinwärts 
gelegenen Goldfelder auszubeuten, gemacht worden find; die Felſen⸗ 
infohrift in Hammamät gedenft der ägyptifchen Opbhirfahrten nach 
Punt und dem heiligen Lande, ſchon unter der Regierung Sand» 
kara's 25 Jahrhunderte vor unferer Zeitrehnung (Brugſch, Ges 
ſchichte Aeg, S. 111). Die topographifch ſchwer beftinnmmbaren 
Bohrungen erklären hinreichend das die. Ophirfrage einhüllende 
Dunkel; auch der längere Zeitraum von drei Jahren, den eine 


472 Goergens 


Fahrt beanſprucht, erhält eine genügende Erklärung, wenn man an 
bergmänniſch gefördertes Metall denkt; möglicherweiſe hat auch 
die ſabäiſche Liga, die, damals in der Blüte ſtehend, jeden Verſuch 
einer Concurrenz unterdrückte, weiteren Unternehmungen ähnlicher 
Art eine Schranke zu ſetzen gedroht. Bisher war noch keine 
Rede von in Paläſtina zur Zeit Salomons in Betrieb befind⸗ 
lichen Bergwerken, woraus ſich der Schluß nahelegen würde, daß 
die Judäer dieſen Zweig cultivirten. Die Angaben der Bibel be» 
ſchränken ſich mehr auf leiſe Andeutungen mit Bezug auf diefen 
Punkt. Die Schilderungen Hiobs (XXVIII), fei e8 dag Bergwerke 
der oftjordanifhen Landfchaft oder des eigentlichen Arabiens ihm 
borjchwebten, der noch aus älterer Zeit datirende Hinweis Moſe's 
auf den Metallreihtum des Landes, wie fein Segen an After ihn 
ausdrüclich bezeugt (Deut. 33, 35), fowie der große Bedarf me- 
talfener Geräthe und Werkzeuge für ein aderbautreibendes und 
friegführendes Volk beredhtigen, unterftügt von einer Anzahl Bilder, 
die die Läuterung der Metalle behandeln, zur VBermuthung, daß die 
Ausbeute der Bergwerke den Yudiern befannt war. Schon Uſur⸗ 
tafen I. betrieb Bohrungen in’ den Mafkatgruben der Sinaihalbinfel. 
Der Minifter feines Nachfolgers Amenemhat erzählt, wie er Berg⸗ 
bau angelegt durch die Jungen und die Alten gezwungen habe, Gold 
zu waſchen (Brugſch, Geſchichte Aegyptens, S. 136). Will 
man auch fein zu großes Gewicht auf die mitfahrenden Phönizier 
legen, denen Erfahrung und Verſtändnis in dieſem Punlte nicht ab⸗ 
zuſprechen iſt, ſo verdient eine leider vereinzelte traditionelle Notiz 
des Euſebius doch immerhin Beachtung. Eupolemus und Theo 
philus melden (Praep. 9, 30): „David der König ſchickte Berglente 
nach Ourphe, einer Inſel im rothen Meere, auf welcher ſich Gold⸗ 
bergwerke befinden; von dort brachten die Bergleute das Gold nach 
Judäa.“ Emald ift geneigt, dieſes Oroyn als die urfprüngliche 
Form für das fpätere Ophir anzufehen (Geſch. Isr., Bd. ILL, 
S. 317 Anmerkung). 

Die fragliche Inſel ift da8 von dem arabifchen Ueberfeger 
(1Kön. 9, 28) zu Indien gerechnete Dahlaf, das die Araber fpäter 
Dibus (Gold) nannten, worin Rofcher (S. 59) eine Verwandt⸗ 
ihaft mit den Debai der Goldküfte vermuthet. 





Das altteflamentfiche Ophir. 473 


Eines Einwurfes fei Hier noch gedacht, auf den geftütt manche 
fih für Indien als Ophir erflärt haben; es find die Indischen Be⸗ 
nennungen der fonftigen importirten Handelsartikel; eine genaue 
Prüfung der im erften Königsbuche gemachten Mittheilungen (1 Kün. 
9, 28. 10, 11. 10, 23) erheifcht, daß nothwendiges von zufälligem 
auseinandergehalten werde; an erfter Stelle ift Ophir das uns 
erfhöpfliche Kalifornien, aus dem Hirams und Salomons Knechte 
auf einer Fahrt 420 Talente ausführen. An der zweiten Stelle 
werben außerbem noch Sandelholz und Edelfteine angeführt; Arabien 
galt immer als ein Fundort von Edelfteinen, die dann durch Qafilas 
als Taufchartikel in ben Handel kamen. Die Almuggimhölzer hielt 
man bisher für nicht arabifchen Urfprunges, wiewol die Form ficher 
arabifirt durch den Artikel al, wenn nicht arabifch if. Auf dem 
Berge Hanum im Gebiete der Chaulän wurde eine dem weißen 
Sandelholz ähnliche Pflanze angetroffen, die bezüglich des Geruches 
tm nahelommt und das indiſche Sandelholz vertritt (Arabifche Hand» 
Schrift Nr. 333 bei Sprenger, ©. 58). Bon den übrigen Ophir- 
waaren: Elfenbein, Affen und Pfauen, find die beiden erften wahr⸗ 
ſcheinlich oftafrifanifchen Urjprungese. Die Elfenbeinausfuhr aus 
Oſtafrika war zu allen Zeiten bedeutend und die merfantilen Be⸗ 
ziehungen Yemens zu Wethiopien find ficher älter, als die mit dem 
Induslande. Añroç bedeutet nach Ariftoteles '(Hist. an. U, 8) 
eine geſchwänzte Affenart, die er unter der allgemeinen Bezeichnung 
rInxos fubjumirt. Strabo und Plinius kennen als ihr Vaterland 
Aethiopien; letterer fchildert fie ald an Händen und Füßen den 
Menſchen ähnlich (Plin. H. n. VIH, 9). Niebuhr traf in ben 
Waldungen Südarabiens die Affen in der Zahl von über 100 zu⸗ 
fammenlebend an (Befchreibung Arabiend, ©. 167). Bon dort 
her werben fie nach den ägyptifchen Märkten zum Verlaufe gebradit. 
Uebrigens wird ſchon einer Ausfuhr von Hundelopf-Affen aus Ae⸗ 
thiopien nach Aegypten neben anderen Produkten unter der Regierung 
der Gattin von Thutmes IT. gedacht (Brugſch, S. 284). 
Silber wurde außer von den Nabatäern auch in Yemen in dem durch 
feinen Silberreihtum berühmten Bergwerke al Radhrädh, zwei Tage 
öftlih vou Cüna, gegraben. Grenzitreitigleiten zwifchen Stämmen 
ftörten den Betrieb der Silberminen. Somit ift von ben ophiri- 


474 Goergens 


tiſchen Waaren eigentlich nur der Pfau indiſchen Urſprunges, während 
mehrere Produkte aus Oſtafrika ftammten, die Metalle und Edel 
fteine jedoch ganz fiher aus Arabien famen. Die Handelsbeziehungen 
Indiens und Arabiend, die durch die Ägyptifchen Inſchriften für 
eine weit frühere Epoche al8 die Zeit Salomons erwiejen find, die 
zahlreichen indifchen Kolonien im yemenitifchen Arabien u. f. w., 3.2. 
Nogara und Socotra, erflären zur Genüge die om; unter den 
verjchtedenen Etymologien über Ophir kann die von Sprenger nod 
befonder8 angeführt werden, bie in dem plinianifchen arzvgos (H.n. 
XXI, 11) centralarabifch afıra = splendidum clarumque effi- 
cere, yemenitiſch anders ausgeſprochen in der Bedeutung von roth, 
wofür noch einige Belege citirt werden, eine Ableitung von Ophir im 
Sinne rothes Gold, arabiſch tibr, ungejchmolzenes Gold im Gegenſatz 
zu Dzahab, Gold im allgemeinen erfennen will (Sprenger, ©.57). 
Die Ophirfrage nach den von uns vertretenen Gefichtöpunften hat in 
neueſter Zeit eine erhöhte Bebeutung gewonnen, durch die Aufmerkſam⸗ 
. keit, die die ägyptifche Regierung der Weftfüfte Arabiens bezitglich der 
Metaliförderung zugewendet hat. Ein Theil der ehemals ſchwung⸗ 
haft betriebenen Bohrungen, die feit langer Zeit gänzlich verfallen 
und in Vergeffenheit gerathen waren, konnte durch genaue Angaben 
der arabifchen Manuſcripte wieder aufgefunden und näher unterſucht 
werben. Der duch feine Reiſe nah Medina und Mekka bekannte 
engliiche Capitain Burton fungirte unter anderen als Mitglied der 
mit der Prüfung der örtlichen Verhältniffe betrauten Commiſſion, 
deren Gefamtrefultat fi für die Wiederaufnahme der fo lange 
außer Betrieb befindlichen Minen fehr günftig ausgefprochen Bat. 
Die Regierung des SKChedive hat eine mittlere Summe für Erploi⸗ 
tation einzelner Bergwerke ausgeworfen, in bem Gedanken, das 
Unternehmen fo lange in engerem Rahmen zu betreiben, als bie 
eine wirkliche Rentabilität in größerem Maßſtabe erwiefen ift. Wir 
dürfen daher mit Spannung den von dort eingehenden Berichten 
entgegenfehen, die zweifelsohne manche Lücke in der Kenntnis jener 
fandeinwärts gelegenen, bis jet fo gut wie unbelannten Diftricte 
ausfüllen werben. 

Die Bibel bezeichnet Chavila näher durch die Angabe, daß der 
Piſchon es umfließe. Da die Araber auch den Nil als einen pa 


Das altteftamentliche Ophir. 475 


radiefifhen Strom auffaffen, ferner den Chärid ald den wieder her» 
vorbrechenden Euphrat anfehen (Plin. VI, 28: Euphratem emergere 
putant), fo vermuthet Sprenger, daß der Einfall von der Wieder» 
geburt der Flüffe arabifchen Urfprunges fe. Die vom Aridh flie⸗ 
enden Bäche ergießen nad) Hamdäny von ihrem Sammelplage aus 
fih durch einen unterirdifhen Durchgang, bevor fie in’ Meer 
münden. Alexander fcheint in ähnlicher Weife im Indus die Ver- 
längerung bes Niles erblictt zu haben (Arr. VI, 1. 3). 

Der von der Grenzſcheide zwifchen Gabanitis und Chaulän in’s 
rothe Meer fich ergießende Baitios des Ptolemäos reichte höchſtens 
einige Meilen in’8 Gebirg hinein, erhält auf feinen Karten jedoch 
ein Flußgebiet von nahezu 100 deutfchen Meilen; aus diefem Mis⸗ 
verhältniffe legt fi die Vermuthung nahe, daß Ptolemäos das 
jenfeit8 der Wafjerfcheide gelegene Wady Bayſch, das allerdings 
mehrere Stationen der Weihraudftraße noch enthält, mit Hinzuges 
vechnet Habe. Diefe Vorftellung Scheint durch die Handeldcaramanen 
nad Syrien und Aegypten gefommen zu fein. Möglich ift es da⸗ 
ber immerhin, dag man in dem das arabifche Goldland Chavila 
begrenzenden Wady Bayſch, wo noch der Name des Stammpvaters 
Joktan nachweisbar ift, einen Anklang an ben parabiefifchen, faft 
gleihnamigen Strom Pifhon gefunden Hat und daß die in Arabien 
mehrfach beobachteten Erjcheinungen von wieder auftauchenden Flüffen 
dem einheitlihen Gemälde der parabdiefifchen Ströme keinen Ab- 
bruch gethan haben. 


Gedanten und Bemerkungen. 


l. 


Luther und feine Beziehungen zn Servet. 
Bon 


Kawerau, 
Pfarrer zu Klemzig. 





Jahr für Yahr wird unfere Kenntnis der Reformatoren und 
ihrer Zeit durch werthvolle Einzelforfchungen und Bublicationen 
bereichert, und oftmals genug gefchieht e8, daß durch neu erfchloffene 
Quellen bisher gültige Urtheile berichtigt werden, daß das Bild 
jener großen Zeit nicht nur um charafteriftifhe Züge vermehrt, 
ſondern aud) in einzelnen Strichen umgezeichnet und modificirt wird. 
Dennod find wir über die Hauptträger der Reformationsbewegung 
fo weit orientirt, ihre äußere und innere Gejchichte Liegt in ſolchem 
Umfange bereit8 vor uns aufgefchloffen, dag wir uns eines gewiffen 
Befremdens nicht erwehren können, wenn jemand mit Yorfchungen 
hervortritt, welche das uns wohlbefannte Bild eines der Mefor« 
matoren in wichtigen Punkten umgeftalten, und wenn er ganz neue 
Aufichlüffe über denjelben zu geben fich anheiſchig macht. In be⸗ 
fonders hohem Maße gilt dies von dem Bilde Luthers: feine 
äußere Lebensgefchichte und ebenfo feine theologische Entwicklung, 
beides ift mit minutiöſem Fleiße durchforſcht, fo daß fein Bild 
in Haren und beftimmten Zügen vor uns erfchloffen fteht. Wer 
da ein Neues zu bringen unternimmt, muß fi auf eine fleptiiche 
Aufnahme und auf ein ftark kritisches Verhalten vonfeiten des theo⸗ 





480 Kawerau 


logiſchen Publikums von vorn herein gefaßt machen. Mit ſolcher 
Empfindung ſtehen wir der Arbeit des Lic. Tollin über „Luther 
und Servet“ (Berlin 1875) gegenüber. Die Zufammenftellung - 
beider Namen hätte nichts befremdliches, fo lange es fich etwa 
nur um eine gefchichtliche Parallele beider handelte, — und in ber 
That verſucht Tollin auch eine folhe, indem er Luthern, als dem 
Nepräfentanten der „augsburgifchen Reformation“ Servet als den 
geiftig bedeutendften Vertreter der „Reformation des freien Ge- 
wiſſens“ gegenüberftellt ). Aber wir finden viel mehr in bdiefer 
Duellenftudie al8 nur eine derartige Parallele, wir leſen von Ser- 
vets perfönliher Bekanntſchaft mit Luther und einem darauf 
erfolgten tiefgreifenden Einfluß des Spanier auf den MWitten- 
berger — und da beginnt unfere Ueberrafhung. Denn von Bes 
ziehungen dieſer beiden Männer zu einander hatte man bisher 
ſchlechterdings nichts gewußt. Meder die biöherigen Bearbeiter des 
Lebens und der Lehre Servets wie Mosheim, Trechſel (in 
feinen „Antitrinttariern“ und in feinem Artikel „Servet” in Herzogs 
Real⸗Enc.) und neueſtens Pünjer (De M. Serveti doctrina, 
Jena 1876, S. 100) Hatten davon etwas entdect, noch Hatten 
anderjeit8 die DBiographen Luthers Anlaß gefunden, von irgend 
welchen Beziehungen Luthers zu Servet zu berichten; man vgl. 3. B. 
die kurze und nur beiläufige Erwähnung, die Servet bei Köftlin 
(M. Luther, Thl. II, ©. 325) gefunden hat. Nun erhalten wir 
dagegen von Tollin folgende neue und überrafchende Auffchlüffe 
über das Verhältnis beider zu einander. 1) Eine perſönliche Be⸗ 
gegnung beider babe während des Reichstages zu Augsburg im 
September 1530 ftattgefunden, indem nämlich) Servet Butzern 
am 18. Septbr. auf feinem Ritt nach Koburg zur Beſprechung 
mit Luther begleitet habe 2). 2) Und dieſe Begegnung ſei auch für 


1) Wie weit letztere Bezeichnung zutreffend fei zu unterfuchen, liegt nicht in 
unferer Abficht bei diefen Zeilen. Wir vermeifen hiefür auf bie treffenbe 
Kritit, welde Bünjer (Theolog. Literaturzeitung 1876, ©. 294) ge 
geben bat. 

3) Das Datum bes 18. Septbr. für die Abreife von Augsburg hat Tollin 
wol dem Berichte Bau ms (Capito und Butzer, S. 473. 474) entuonmten; 
Köſtlin Hat mit Recht daran erinnert, daß basjelbe corrigirt werden 








Luther und feine Beziehungen zu Servet. 481 


Luther von großer Bedeutung gewejen, denn er behandle Servet 
ftetS mit einer feltenen Rüdjiht, der Aragonier habe e8 ihm an⸗ 
gethan, fo dag er viel gelinder mit ihm verfahre, als mit feinen 
Sefinnungsgenoffen Campanus und Wigel und ebenfo viel milder 
über ihn urtheile, als die ſüddeutſchen und Schweizer Theologen. 
3) Auch in Luthers nächſter Umgebung ſeien Servets Schriften 
eifrig gelefen und auffallend gelinde beurtheilt worden. 4) Aber — 
bei aller Milde gegen die Perfon des Antitrinitarierg — hätte 
doch fein Auftreten Luthern zu einer wichtigen und folgenfchmweren 
Srontveränderung getrieben. Er, ber einft jelbft ernfte trinitarifche 
Anfechtungen durchgemacht, werfe fih nun der Tradition in bie 
Arme; die kirchliche Continuität, die Autorität der Kirchenväter, 
ein katholiſch gedachter Begriff von Kirche und Priefterftand: das 
feien die Stüßen, mit denen er fortan in fehneidigem Widerfpruch 
gegen feine ganze Vergangenheit, die durch Servet vertretene, auf 
Bibel und hriftliches Gewiſſen geftütte Aeformationsbewegung 
niederzubalten ſuche. 5) Und aus der größeren Schrift Tollins 
(Lehrſyſtem Servets, 1876, Thl. I, S. 216) nehmen wir noch als 
ein in ähnlicher Weife uns überrafchendes Novum ben Sat hinzu: 
Servet ſei e8 gewefen, von dem Luther und feine Kampfgenoſſen 
in ihrer Chriftologie entſchiedenes Auftreten gegen den Dofetiemus 
gelernt hätten. 

Halten diefe neuen Auffchlüffe Tollins die Probe aus, dann 
wäre allerdings der Einfluß Servets auf Luther recht beträchtlich 
und eine wejentfiche Lücke in den biöherigen Arbeiten über Luthers 
Entwidlungsgang vorhanden gemefen. Prüfen wir denn feine Be⸗ 
hauptungen auf die Solidität ihrer Duellenbegründung, und zwar 
in derfelben Reihenfolge, in der wir fie foeben dem Leſer vorge- 
führt haben. 


möäffe; denn bat na Baum die Beiprehung mit Luther fchon am 
19. und 20. Septbr. flattgefunden, jo hätte Butzer ja bereit am 
Abend des 18. in Koburg eintreffen müſſen (a. a. O., ©. 245. 631). 
Anders Seidemanns Angabe, Butzer fei erfi am 19. von Augsburg 
abgereift (vgl. Luthers Briefe, Thl. VI, ©. 710), da biefer das Collo⸗ 
quium in Koburg felbft offenbar auf ein fpäteree Datum legt, als 
Banm und Köflin gethan haben. 


482 Kaweran 


1. Daß Servet, was bisher unbeachtet geblieben, mit Luther in 
perſönliche Berührung gekommen ſei, folgert Tollin aus einer 
Aeußerung, die ſich in Servets Brief an Oecolampad (bei Mos⸗ 
heim, Anderweit. Verſuch, 1748, S. 393) befindet. Die Worte 
„aliter enim propriis auribus a te declarari audivi 
(scil. fidem) et aliter a doctore Paulo et aliter a Luthero“ 
geben allerdings einer folchen Deutung Raum. Wann und imo 
dies ftattgefunden haben follte, bleibt freilich ungefagt. Die und 
bisher von den DBiographen Servets gemachten Mittheilungen über 
den Lebensgang des Spaniers liegen uns faum eine Stelle erfennen, 
wo eine Begegnung mit Luther hätte ftattfinden können. Tollin, 
der auch in verfchiedenen anderen Servetftudien ſchon verfucht Hat, 
in das Dunkel der äußeren Lebensmege Servets Licht zu bringen, 
glaubt nun auch hier mit Sicherheit die vorhandene Lücke ausfüllen 
zu fönnen. Es ift ihm zunächſt ganz unzweifelhaft, dag Servet 
als Amanuenfis des faiferlichen Beichtvaterd Duintana den Ver⸗ 
bandlungen des Augsburger Reichstages beigemohnt habe. In dieler 
Stellung fei er der „Pförtner“ der Neformatoren geweſen, fo viele 
ihrer beim Kaifer Zutritt gefucht hätten. Hier habe er ihre De 
fanntfchaft gemacht, hier auch Gelegenheit gefunden, ſich M. Butzer 
auf feinem Ritt nach Koburg zu Luther anzufchließen. Trechſel 
hat es noch (Herzog, Bd. XIV) für fehr zweifelhaft erklärt, ob 
Servet überhaupt beim Neichstage zu Augsburg zugegen gemejen 
fei: Directe Zeugniffe dafür fehlen. Tollin meint nun freilid, 
ein folches in dem Luthers Werken beigefügten Berichte über bie 
Begebenheiten auf dem Reichstag zu haben. Es heißt dort: „Bei 
des Kaifers Beichtvater Tiegt ein fpanifher Hauptmann, bei 
dem hat ein Spanier zu Melanchthon gejagt, ob der Luther fommen 
würde?“ 1) Tollin nimmt es als felbftuerftändlic) an, daß diejer 
„Hauptmann“ eben der damals neunzehnjährige Amanuenfis Ser- 
vet gewesen jei; allein einen Beweis für diefe Identität vermiffen 
wir durchaus. Das ift, ſoviel wir erfennen, der einzige pofi- 
tive Anhalt für feine Behauptung, Servet habe dem Reichstage 


1) Luthers Werke, Leipz. Ausgabe, Bb. XX, ©. 208. 


Luther und feine Beziehungen zu Servet. 483 


beigewohnt, und der ift freilich recht ſchwach )). Allein die Mög⸗ 
Tichkeit, daß Servet damals in Augsburg gemefen fei, wollen wir 
gern einräumen. Wir fragen dann nur weiter nach irgend einem 
Zeugnis dafür, daß Servet Butzers Begleiter nach Koburg geweſen 
ji. Er citirt Sleidan, allein diefer berichtet eben nur: „Bu- 
cerus Augusta proficiscitur ad Lutherum conciliationis cau- 
sa“), — einen Begleiter erwähnt er nit. Auch Aurifaber 
erzählt nur von Butzers Perſon*). Wir fchlagen in Luthers 
Briefen nach; aber die beiden Stellen, an welchen er von Butzers 
Beſuch redet, laſſen die Mitanweſenheit eines andern fchlechterbings 
nicht vermuthen: „Bucerus mecum familiari colloquio Coburgi 
de hac re ut ageret missus fuit“; und an Butzer felbit: „si- 
cut et Coburgi tibi dixi .... sperabam post colloquium no- 
strum Coburgense magnifice‘“ 4%). Ober wir lefen, wie Bußer felbft 
über feine Reife berichtet: „Da Hat mich Quther zum Imbis ge- 
laden“, „den andern Tag bin ich wiederum zum Imbis kommen, 
wie er befohlen“ 5), — auch Hier kommt uns feine Vermuthung 
ein, es fei noch ein Frember dabei gewejen. Ya, je näher wir die 
Sache beleuchten, um fo unmahrfcheinlicher wird uns die Ver—⸗ 
muthung Tollins. Butzer reift ale Abgefandter zu einer durch 
aus vertraulichen Verhandlung — mas foll da des kaiſerlichen 
Beichtvatere Famulus als Begleiter? Seine Miffton wird in 
Augsburg fo im geheimen betrieben, daß im Kreife der übrigen 
Evangelifchen feine Reife noch am 21. Septbr. (aljo als fein Collo⸗ 


1) Au in dem Aufſatz Tollins „Servet und Butzer“ (Mag. f. d. Lit. 
des Auslandes 1876, ©. 338—336) wird Servets Anweſenheit beim 
Reichstage, fein Beſuch in Koburg, feine intime Beziehung zu Butzer, 
daß er in Augsburg Kapito „ſchätzen und lieben“ gelernt u. dgl. m. Te 
diglih behauptet, nach quellenmäßigen Beweiſe jehen wir uns ver- 
geblih um. Baum fdheint die Belanntichaft Butzers mit Servet erft 
1531 ihren Anfang nehmen zu laffen (a. a. O., ©. 478). 

3) Ausg. v. 1561, 119». 

8) Leipz. Ausg, Bd. XX, ©. 200b- 

4) Briefe von de Wette, Bd. IV, ©. 191. 217; auch die Erwähnung des 
Koburger Geſprächs, Tiſchreden, Bd. II, S. 350 ifl für Tollins 
Bermuthung unergiebig. 

5) Bei Baum a. a. O., 68.473. ⸗ 

Theol. Stud. Jahrg. 1878. 82 








484 Kawerau 


quium in Koburg bereits vorüber war) nur als ein Gerücht laute 
bar wird, vgl. den Brief des Brenz v. 21. Septbr. 1530; „Bu- 
cerum apud nos dicunt ad Lutherum equitasse“ !). Nun 
redet ferner Servet in jenem Briefe von Ausfprüchen Luthers über 
das Verhältnis von Glauben und guten Werfen zu einander, bie er 
vernommen hätte; wie wäre Luther damals in Koburg gerade auf 
diefe8 Thema gelommen, wo einmal die Abendmahlslehre zur Ver» 
handlung ftand und anderjeits die Berichte über den bedroßlichen 
Charakter der fchwebenden Reichstagsverhandlungen Luthers Seele 
in furchtbarer Weife aufregten? Vgl. die Heußerung im Briefe 
vb. 20. Septbr. 1530 an Yuftus Jonas: Ego paene rumpor 
ira et indignatione| ?) 

Wir müffen daher, fo lange Tollin nicht pofitive Zeugniſſe 
für Servets Beſuch bei Luther in Koburg erbringt, diefen Theil 
feiner neuen Aufſchlüſſe als eine verunglüdte Combination und 
Conjectur bezeichnen, die aller Wahrfcheinlichkeit entbehrt. Freilich 
tritt dann für uns die Nöthigung ein, den auf Luther bezüglichen 
Paſſus in jenem Briefe Servets an Decolampad anderweitig genügend 
zu erflären. Behauptet denn Servet wirklich dort, Luthern perſönlich 
gehört zu Haben? Er fchreibt an Decolampad über die Differenz, 
die unter den Qutheranern felbft bezüglich der Definition des Glau⸗ 
bens zu finden fei. Und zwar bezieht er ſich dabei offenbar auf 
ein Geſpräch, das er darüber im Haufe des Decolampad mit dieſem 
gehabt hat „ex ore tuo audierim‘, „te in domo tua monui“. 
Decolampad habe ihm felbft mitgetheilt, wie ‚„crude‘ Luther bie 
Liebe (die guten Werke) behandle, denn er fage ja, solum se ea 
facere ne sit otiosus“ — alfo offenbar eine Beziehung auf 
Luthers Schrift De libertate christiana, in der fich diefe präg- 
nante Aeußerung befindet. Ebenfo gering achte Melanchthon den 
Werth der guten Werke vor Gott. Es Handelt fich alfo um Mit 
theilungen, die Decolampad bem Servet im vertraufichen Geſpräch 
über die Lehre der Wittenberger gemacht hatte. Wenn nun Ser- 
vet fortfährt: „Aliter enim propriis auribus a te decla- 


1) Corp. Reform., ®b. I, ©. 385. 
2) De Wette, Bd. IV, ©. 171.e 





Luther und feine Beziehungen zu Servet. 485 


rari (fidem) audivi et aliter a doctore Paulo (dod wohl Fa- 
gius?) et aliter & Luthero et aliter a Melänchthone, teque 
in domo tua monui, sed audire noluisti‘‘, fo ſcheint mir 
diefer Zuſammenhang zu fordern, daß man das a te nicht nur zu 
declarari, fondern auch zu audivi zieht, und alfo überfegt: ich 
habe es ja mit eignen Ohren (von dir in deinem Kaufe bei jener 
Unterredung) gehört, daß der Glaube anders von dir als von 
Fagins, anders von Luther und wieder anders von Melandthon 
erflärt werde. Sinb wir zu diefer Faſſung der Worte berechtigt, 
dann redet alfo Servet überhaupt nicht von einer perfönlichen Be⸗ 
kanntſchaft mit Luther, fondern nur von Mittheilungen, die er durd) 
Decolampadb über Einzelheiten feiner Lehre erhalten habe. Damit 
wäre natürlich der Eonjectur Tollins jeder Anhaltspunkt genommen. 
2. Beſteht diefe, unjere Faſſung der Briefftelle zu Recht, dann 
erflärt fi uns natürlich die don Tollin bervorgehobene „feltene 
Rückſichtnahme“ Luthers der Perſon des Antitrinitarierd gegenilber 
ganz amders, aber unfered Erachtens viel einfacher und richtiger. 
Richtig ift es, dag Luther ben Namen Servets nur ein einziges Mal 
erwähnt, nämlich Im Briefe an Caspar Gitrtel (Güttel) 1539 1); die 
beiden andern Antitrinitarier Campanus und Witel werben viel öfter 
erwähnt und befümpft. Aber weit entfernt, darin eine „feltene 
Rückſicht“ zu erkennen, mit welcher Luther den Spanier um bes 
Eindruds willen, den feine Perſönlichkeit angeblich auf ihn gemacht 
hätte, follte behandelt haben, fehen wir darin nur den natürlichen 
Reflex der Thatfache, daß jene beiden andern in dem Luther nahe 
liegenden SKirchengebiete mit ihren Lehren hervortraten, ihm alfo fo 
zu fagen in den Wurf gekommen waren, während Servet mit feiner 
Petfon wie mit feinen Schriften dem Kreife, den Luther zunächſt 
überfchaute, fern geblieben war. Luther, der befanntfich fogar gegen 
ihn direct gerichtete Schriften nicht vollftändig zu leſen pflegte, hat 
von den Erzeugniffen Servets höchft wahrſcheinlich gar nicht felber 


1) de Wette V, 155. Die Stelle in ben Tifchreben (I, 297): „Die Theologie 
fol Kaiferin fein, die Philoſophie und andere gute Künſte follen derſelben 
Dienerin ſein, nicht fle regieren und meiftern, wie Serbetus, Campanus 
und ardere Schwärmer thun“ — fcheint ganz der Beachtung Tollins 
entgangen zu fein. i 

82* 


486 Kawerau 


Notiz genommen; ſeine Keuntnis darüber beruhte nur auf dem, 
was die Freunde ihm gelegentlich mittheilten ). Nicht eine be⸗ 
fondere Rüdfiht nimmt er auf ihn, fondern er läßt ihn einfach 
unbeachtet. Wie er über Servet Kenntnis erhielt, zeigen die Tiſch⸗ 
reden. Das eine Mal wird bei Tiſche von dem „gräulich böſen 
Buch) wider die Heilige Dreifaltigkeit“ geredet 2), ein anderes Dial 
erzählt Melanchthon von dem großen Zufall, den Servets Lehre 
in Stalien finde ®). Aber gerade Luthers Erwiderungen auf Diele 
Geſpräche der freunde bemweifen, daß er weder von Servets Schriften 
eigene Kenntnis hatte, noch zu feiner Perjon in irgend welcher Ber 
ztehung ftand. Seine Bemerkungen find ganz allgemein gehalten; 
das eine Mal giebt er eine ganz allgemein gehaltene Charafteriftif 
„ber Schwärmer“ al8 Antwort, das andere Mal redet er ebenjo 
allgemein über Italien als ein für fchädliche Irrtümer ergiebiges 
Land. Man vergleiche nur feine fonftige Weife, bei Erwähnung 
eines der Schwärmer, mit denen er perjünli in Berührung ge 
fommen war, fofort in concrete Mittheilungen auf Charakter, Leben 
oder Lehre des betr. Schwärmers einzugehen %). Tollin fieht eine 
bejondere Lindigfeit gegen Servet darin, daß Luther zwar feine Lehre 
als gemeingefährlichen Irrtum bezeichne, aber nirgends zu einer 
Verfolgung feiner Perfon antreibe, wogegen er doch einen Mann 
wie Campanus auf Schritt und Tritt verfolgt habe (S. 29). 
Allein der Unterfchied tft doch wol fehr einfach erklärt: diefer dringt 
in Luthers Gemeinden ein, jener dagegen fommt ihm nie in feinen 
Geſichtskreis. Das ganze Räfonnement Tollins (S. 30 und 31) 
iſt daher ein reines Phantaſieſtück ohne gejchichtliche Grundlage. 


1) Vgl. Punjer a. a. O. ©. 100: „Lutherus quem res Germanicae 
omnino occupabant Servetum ejusque errores non impugnavit nec 
per literas nec per orationes.“ 

3) Tiſchreden (Ausg. Förſtemann⸗Bindſeil) I, 308. Ich ſtimme Tollin in 
der Beziehung dieſes Gefprähs auf Servets Dialogi de trinitate bei, 
Förftemann hält die Beziehung auf eine Schrift des Campanus für 
wahrſcheinlich. 

8) Tiſchreden IV, 679. 

4) Eben um der allgemeinen Haltung feines Geſprächs (Tiſchreden I, 303) 
willen möchte ich dasſelbe nicht auf Campanus, fondern auf Servet 
beuten. Denn von jenem vebet ex ſtets ganz concret und draſtiſch. 





Luther und feine Beziehungen zu Servet. 487 


Nun glaubt Zollin die Stellen, in denen Luther aus befon- 
derer Rüdficht gegen Servet auf feine Perſon und Lehre nur fo 
zu fagen durch die Blume angefpielt Habe, gegen bie gewöhnliche 
Annahme um etlihe vermehren zu können. Zunächſt trägt er eine 
nene interpretation der Stelle in Luthers Brief an die Erfurter 
Prediger vom 1. Yuli 1532 vor, wo Luther von Witzel fchreibt: 
„qui nobis cras Campanum Mauro obstetricans ostendet‘ (de 
Wette, Bd. IV, ©. 386). Maurus fei niemand anders als ber 
Spanier Servet, denn Maurus fei ja im 16. Jahrhundert häufig 
Bezeichnung hriftlicher Spanier gewefen; in obstetricans hätten 
wir zugleich eine deutliche Anspielung auf Servet als Arzt. Die 
Worte Zollins über diefe Briefftelle find ein Tehrreiches Beiſpiel 
um zu zeigen, was für Verwirrung bei einer flüchtigen Quellens 
benutung entftehen Tann. Sehen wir davon ab, daß er fidh für 
feine überrafchende Bemerkung, fpantfche Chriften feien häufig ale 
Mauren bezeichnet worden, der Mühe eines Beweiſes entzieht, — 
es ift auch fonft faft jedes Wort irrig, das er zu diefer Stelle 
bemerkt. Er lieft Mauro obstetricante, wie de Wette allerdings 
im Texte gefchrieben hat, allein ſchon die Anmerkung Bd. IV, 
S. 386, noch mehr aber was Seidemann (Bd. VI, ©. 494) 
bemerft bat, hätte ihm zeigen Tönnen, daß fein Grund vorliege, 
vom Text bes Originals, das obstetrieans (alfo auf Witel be- 
zogen) hat, abzuweichen. Ferner führt Tollin unfern Brief als 
Zeugnis dafür an, wie Luther den armen Campanus auf Schritt 
und Tritt verfolgt Habe: ber Brief ift aber lediglich gegen Wigel 
gerichtet, zu verhindern, daß dieſer nicht Profefjor des Hebräifchen 
in Erfurt werde. Ebenſo irrig ift Tollins Annahme, der Brief 
ſei gejchrieben, fowie Luther erfahren, dag Witel den Campanus 
in Nimegk beherbergt habe: denn der Brief ift vom 1. Juli 1532, 
jener Beſuch des Campanus dagegen fand 1529 ftatt, fteht aljo 
zu unferem Briefe in gar keinem birecten Zufammenhange ). In 
den dazwiſchen liegenden Jahren waren Witel und Campanus fo 
weit auseinander gekommen, daß erfterer am SYohannistage 1532 


1) Bgl. Witzzels Brief v. 24. Febr. 1530 in Epistolis G. Wicelii, Lips. 
1537, 81. Eij und Luthers Brief vom 1. April 1580 (de W. III, 566). 


488 Rawerau 


von Erfurt aus fchreiben konnte: Superest Campanus, qui si 
coram adstaret, in faciem illi expuerem (si vera sunt quae 
de portento isto narrantur) adeo odi quotquot sunt haereses 
adversus sacrosanctam Trinitatem !)., Daß man in Luthers 
Driefe an die Erfurter bei dem Worte Mäurus nicht an Servet 
denken könne, vielmehr eine Berfönlichkeit juchen müffe, die unter 
diefer Bezeichnung den Erfurtern felbjt bekaunt und verftändlic 
war, Tiegt doc wohl auf der Hand. Meltere, wie Schelhorn, 
haben auf den befannten Buchhändler Mauritius Golze Hingewiefen, 
diefer war ja, laut des Zeugniſſes der Briefe Witzels der Ver⸗ 
mittler der Bekanntſchaft des Campanus und Wigel ?),; auch findet 
fih der Name eined Johannes Morus unter den Belaunten 
Witzels ). Seidemann hat in feiner vorfichtigen Weife unferen 
Maurus, ohne eine beftimmte Entſcheidung zu treffen, mit einem 
Tragezeichen verfehen (de Wette, Bd. VI, ©. 679) — und daran 
werden auch wir wol uns genügen laffen müffen. Aber Tollins 
Ausdeutung wird wol nur wenigen plaufibel erfcheinen, 

Ferner nimmt er an, daß Luther in ber Vorrede zu Bugen⸗ 
hagens Athanafius 1532 mit feiner Klage über einige „welſch⸗deutſche 
Schlangen und Ottern, welche in ihren Schriften und Colloquiis 
bin und wieder Samen ausftreuen, der um ſich frilfet wie. der 
Krebs“ ©), neben andern auch Servet gemeint habe. Doch bfeibt 
uns auch hier die Beziehung fehr zweifelhaft, wenn wir bedenfen, 
wie beftimmt Luther fonft unter einem, Italo Germano einen. 
Deutfchen verfteht, der nach Stalien gefommen ift (ogl. Zijchreden, 
Bd. IV, ©. 674. 675), Daß Luther mit dem Wort serpentes 
gar auf ben Namen Servet. und mit dem Ausdruck Colloquiis auf 
die Dialogi de trinitate habe anfpiglen wollen, will ung durdaus 
nicht einleuchten. Wäre übrigens in diefer Vorrede, wie Tollin 
beftimmt glaubt, Servet bezeichnet, fo wäre gewiß die „Lindigfeit“ 
gegen feine Perfon bei Luther nicht fonderlich groß geweſen! 

Tür völlig verfehlt halten wir aber Tollins DVerfucd,, aus 


1) a. a. O., Bl. düj. 

2) a. a. O., Bl. Eij. Hiijb- 
8) a. a. O., Bl. Niij b. 

4) Leipz. Ausg. XXI, 106. 








Luther und feine Beziehungen zu Servet. 459 


Luthers „Warnungsichrift an bie zu Frankfurt“ 1533 eine fort» 
währende, aber aus den befannten Rückſichten verfteckt gehaltene 
Polemik gegen Servet berauszulefen. Diefe Schrift fagt ja deut» 
lich genug, gegen wen fie gerichtet jei, nämlich gegen die unter 
Zwingli’fchen Einfluß gerathene Geiftlichleit Franffurts, gegen die 
„Zropiften und Figuriften“ mit ihrer Abendmahlslehre. Das 
Treiben dieſer Männer ſucht er als ein doppelzlingiges zu brand» 
marfen, fie predigten mit dem Munde vor dem Volke, Ehrifti Leib 
und Blut fei im Sacrament wahrhaftig gegenwärtig, aber für fi 
im geheimen hätten fie ihre heimliche Gloffe, mit der fie ihre 
öffentliche Lehre umdeuteten und entwertheten. Um nun dies ihre 
„Gaukel“⸗Weſen, dies ihr „unter dem Hütlein fpielen“ zu charakteri= 
firen, führt er zwei Analoga an, einmal das Gaufelfpiel ber 
Arianer in alter Zeit, die es ja auch geliebt, ihren chriftologifchen 
Standpunft unter zweideutigen Ausdrücken zu verfteden, und dann 
als Beifpiel aus gegenwärtiger Zeit das täufchende Spiel feiner ka⸗ 
thofifchen Gegner, die nun wol auch von ber Glaubensgerechtigkeit 
in einer Weiſe vebeten, daß man fich dadurch fchier möchte täufchen 
Loffen und glauben, fie hätten den alten Greuel der Werfgerechtigkeit 
Fahren lafjen. Wo liegt num hier eine Veranlaffung vor, Quthern zu 
imputiren, er meine, wenn er von den Arianern zu Hleronymi Zeiten 
rede, nicht dieje, fondern den Antitrinitarier Servet? und wenn er 
von den Bapiften rede, jo meine er wiederum nur Servet um 
feiner pelagianifchen Nechtfertigungslehre willen? Xollin fucht 
fogar ganz fpecielle Beziehungen auf Servet herauszufpüren; die 
Worte Luthers, betreffs der Arianer „fie Hatten den Karren zu 
weit geführt, da wijchten fie das Maul, fchwiegen ftill von der 
Kreatur und nannten Chriftum einen Gott, ja einen wahrhaftigen 
Gott“, feien ein verjteckter Hieb auf den Widerruf, mit welchem 
Servet feine Dialogi de trinitate eröffnet hatte; und die Worte 
betreffs der Papiften „fie pugen fich herfür“ follen gar eine An- 
Ipielung auf Butzer fein, darum daß diefer eine Zeit lang ſich zu 
Servet gehalten (!). Zu diefem Spüren nach verftedten Beziehungen 
fehlt unferes Erachtens jede Veranlaffung. Nach Tollins Inter⸗ 
pretation wäre diefer geheime Angriff auf Servet die eigentliche 
Haupttendenz des Schreibens. Er Hat dabei aber außeracht ges 


4% Kameran 


loffen, wie tief Luther durch die aus Yrankfurt ihm gewordenen 
Mittheilungen über die Abendmahlsfrage erregt worden war. 
Das ganze Schreiben ift ein wuchtiger Hieb gegen das Vorbringen 
Zwingliicher oder genauer Straßburgiſcher Abendinahlsanfchauungen 
in Deutfchland. Luther ift ingrimmig, weil er hier wieder ein 
täufchendes Spiel mit zweidentigen Worten und Formeln zu ers 
fennen glaubt. Dies Gewebe will er mit wuchtigen Hieben durch⸗ 
hauen. Es ift daher unferes Erachtens ganz unmöglich, in dies 
Schreiben, das fo ganz in tieffter Indignation über verſtecktes Spiel 
der Gegner gejchrieben tft, irgend welche künſtlich verftedte Hinter⸗ 
gedanken Luthers Hineinzulegen. Es ift ein unglücklicher Gedanke, 
Luthern gerade in der Schrift, die mit fo grimmiger Rede das 
„unterm Hütlein ſpielen“ geifelt, jelber ein verftectes, hinterm 
Berge Haltendes Kampfſpiel führen zu laffen. Hier ift ficher jedes 
Wort fo gemeint, wie e8 lautet, und bedürfen wir zum Verſtändnis 
diefer künſtlichen Interpretation Tollins ganz und gar nicht. 
Wenn man fi übrige wundert, warum doch Quther den Sacra- 
mentirern gerade die Arianer als warnendes Bild vorhält, fo 
wolle man fi erinnern, daß er ja von Anfang an Zwingli und 
feinen Genoffen mit dem Argwohn gegenübergeftanden, als ob es 
wol mit ihrem ZTrinitätsbelenntnis nicht richtig beftellt fein möchte. 
Es fei daran erinnert, wie er fhon 1529 in Marburg — mo 
alfo noch fein Servet durch feine Beziehungen zu Decolampab oder 
zu Butzer die „Sacramentirer“ verdächtig gemacht hatte — Zwingli 
befonders auch über feine Zrinitätslehre befragte 9). 

3. Tollin bat fich weiter bemüht, in dem Kreiſe der Luther 
naheftehenden Freunde fowol ein lebhaftes Intereſſe für die Schriften 
des Servet, wie ein auffallend mildes Urtheil über ihn nachzu⸗ 
weifen. Er erzählt, Joh. Aurifaber, Luthers intimfter Schüler 
und Zifchgenofje, habe 1532 ServetS Dialoge bald nad ihrem 
Erſcheinen gelefen; während nun die oberländifchen Theologen 
Gottesläfterung, Frevel u. dgl. darin gefunden, bediene fich der 


1) Vgl. Köftlin, Luther IL, 181; vgl. auch die Verbächtigung Butzers 
bei Luther durch Gerbel im April 1527 bei Baum a. a. D., ©. 388; 
ſ. auch Zollins eigene Bemerkungen im Magaz. f. d. Kit. d. Ausibe., 
1876, ©. 334. 





Luther und feine Beziehungen zu Gervet. 491 


Famulus Luthers der milden Bezeichnung „Irrtum“, und Luther 
verweiſe ihm diefe Lindigfeit des Urtheils nicht. Woher weiß Tollin 
all' diefe Einzelheiten? Seine Quelle ift Aurifabers „Erzählung 
derer Begebenheiten mit Luther”, in welcher diefer unter vielen an⸗ 
dern kurzen Notizen auch beim Jahre 1532 das Erfcheinen der 
Schriften des Spaniers notirt ?), Aus ber kurzen Notiz geht ab» 
ſolut nicht hervor, ob Aurifaber felbft jemals diefe Schriften gelefen 
und ein felbftändiges Urtheil fich über fie habe bilden können. 
Bedenkt man nun ferner, daß Aurifaber im Jahre 1532, wo ihn 
Zollin mit Eifer Servets Dialoge ftubiren läßt, ein Burſche 
von 13 Yahren war, daß er erjt 1537 in Wittenberg Student 
wurde 3), fo fällt Tollins ganze Erzählung rettungslos zufammen. 
Was aber die „Lindigkeit“ angeht, bie angeblid) in dem Gebraud) 
des Wortes „Irrtum“ fich zeigen foll, jo hat Tollin ganz ver» 
geffen, dag ja eben derſelbe Aurifaber jene Tiſchrede veröffentlicht, 
in welcher Servets Dialoge als ein „gräulich bös Buch“ betitelt 
iwerden. „Und diefe Lindigkeit verweift ihm Quther nicht“, — meint 
Zollin etwa, Luther babe jene Aurifaberfche „Erzählung derer 
Begebenheiten mit Luther” durchgefehen und mit feinem placet 
verfehen? Auf ebenfo unficherem Grunde erbaut Zollin eine 
genaue Belanntfhaft Veit Dietrich mit Servets Schriften. An 
ber ſchon erwähnten Stelle der Tifchreden (I, 303), two Luther vors 
her geäußert, es ſei der Schwärmer Art eigene Gedanken bem Worte 
Gottes entgegenzufegen, und Dietrih dann erwidert: „es follte 
einer ſchier bitten, daß er in der 5. Schrift nicht gelehrt würde“, 
glaubt er nämlih als zum Verſtändnis nothwendig einfchieben zu 
mäüffen, dag Dietrich aus Servet® Schriften erfehen, daß der 
Spanier nichts weniger beabfichtigte, al8 dem Worte Gottes eigene 
Gedanken entgegenzufegen, er babe alfo den rein biblifchen Charakter 
feiner Arbeiten wohl erkannt. Aber dabei ift überfehen, daß ja 
Luther dem Geſpräch eine ganz allgemeine Wendung gegeben, daß 
er gar nit von Servet in specie, fondern von der Art ber 
Schwärmer im allgemeinen redet. Dietrichs Bemerkung erflärt fi 


1) Leipz. Ausg. XX, 858. 
3) S. Herzogs Real-Enc., 2. Aufl. D, 2. 


.492 Kamwerau 


alſo auch völlig aus. der Erinnerung an die gewöhnliche Erfahrung, 
daß fi die Schwärmer allerdings mit Vorliebe auf einzelne Schrift⸗ 
ftellen berufen. Eine fpecielle Beichäftigung mit Servets Schriften 
ift durchaus nicht mit irgend welcher Gewißheit inbieirt. 

4. Am ſchärfſten muß ich nun aber dem Verfaffer in dem ent» 
gegentreten, was er über die Ummandlung redet, die mit Luther 
feit dem Auftreten der Antitrinitarier vorgegangen fei. Seine Vor: 
eingenommenheit für Servet Hat ihn Hier verleitet, das Bild des 
Wittenberger Reformatord arg zu verzeichnen. Weber vieles, was 
bier hervorzuheben ift, ſoweit es namentlich Servets Standpunft 
betrifft, verweifen wir auf die treffenden Bemerkungen Pünjers 
(Theol. Lit.-Bl. 1876, ©. 294. 295; vgl. auch in der Differtation 
de M. S. doctrina den Abſchnitt ©. 11—13). Ein Sat, wie 
wir ihn beijpielsweife S. 45 leſen: „Luther bat eben noch feine 
Ahnung von der Dogmengeſchichte“, ift von Tol lin ſicherlich nicht 
fo hochfahrend gemeint, wie er Elingt; es lautet in feinen Arbeiten 
manches Wort provoeirender und abfprechender, als der Verfaſſer 
wol jelbft beabfichtigt hat. Beleuchten wir bier zunächft die Ans 
Inge gegen Luther, daß er im Kampf gegen die Antitrinitarier 
nach der Firchlihen Tradition als nad) der ficheren Stüße und 
Fundament für die firchliche Lehre gegriffen habe. „Die Heiligen 
Kirchenväter wurden die Fahnenträger des Proteftantismus, und 
Continuität die Inſchrift der evangelifchen Reichsfahne. An den 
Fahnen ift fortan Luthers Heer nicht mehr zu unterjcheiden von 
den Legionen der fcholaftifchen Sophiftif und den Raubritterrotten 
der römischen Inquiſition.“ „Luthers Sprade, aber des Papftes 
Geiſt.“ Diefer Frontwechjel ſoll in den Sthriften des J. 1532 
for vor Augen liegen. Es ift alfo im weſentlichen der Vorwurf, 
Luther habe das Formalprincip zu unten der Tradition fallen 
laſſen, und zwar zunächſt in Bezug auf die Trinitätslehre. Allein 
die Sache fteht dod) hier nad) Ausweis aller Selbftzeugniffe Luthers 
fo, daß er fich nicht um des Athanafins oder um irgend welcher 
Concilbeſchlüſſe willen an die Trinitätslehre gebunden weiß, fondern 
allein durch die Macht des Schriftzeugniffes, vgl. Zrinitatisprebigt 
1535: „Hier jollen wir Chriften wiederum Gott von Herzen danken, 
daß wir von folchen Hohen Artifein fo herrliche, klare, fchüne, 





Luther und feine Beziehungen zu Servet. 493 


unleugbare Zeugniffe in der heiligen Schrift Haben, da wir 
unfere Herzen auf gründen können. “Denn wir dürfen bier nicht 
den Menſchen glauben; Chriftus, unjere Seligfeit, felbft zeuget und 
prediget und auf das allerfeinſte.“ „Diefer Artikel ift der höchfte 
in der Kirche, der nicht von Menjchen erdacht, noch je in eines 
Menſchen Herz kommen, fondern allein durch das Wort uns 
offenbart ift.” I) Es gilt hier wefentlich dasfelbe wie von feiner 
Abendmahlslehre: gebunden fühlt er fich durch das Schriftwort; 
daneben jucht er nach Kräften Zeugniffe der patres für feine 
Auffaffung des Schriftwortes beizubringen (man denke z. B. an 
die Sammlung von testimoniis patrum, die er unmittelbar nach 
dem Marburger Geſpräch auffegt, Köſtlin II, 139), So ift 
ed auch feine volle exregetifche Ueberzeugung, daß die Schrift Alten 
und Neuen Teſtaments die Trinität lehre; nicht der Continuität 
zu Liebe hält er fie feit, fondern. weil er „von der Schrift nicht 
weichen“ will. „Die hohen Schulen haben. mancherlei distinctiones, 
Träume und Erdichtung erfunden, bamit fie haben wollen anzeigen 
die heilige Dreifaltigkeit, und find darüber zu Narren geworben. 
Darum wollen wir aus der Schrift eitell Sprüde nehmen.“ 
(Kirchenpoſtille, Erl. Ausg., 1. Aufl. XIL, 378.) Ob er zu feiner 
Exegefe der Schriftftellen gelommen wäre, wenn er nicht in ber 


1) Wir erinnern daran, wie Luther 1525 de servo arbitrio gegen Eras- 
mus die perspicuitas ber 5. Schrift gerade in Bezug auf bie Trinität 
nerfiht: „von den 8 Perfonen der Gottheit, von der Bereinigung der 
Menfchheit und Gottheit Chriſti . . welche Artifel- du fageft, daß fie 
auch noch dunkel ftehen. Denn fo bu damit willft gemeint haben der 
Sophiften vergeblich Gezänt, die fie bei diefen Stücden aufgebraddt, was 
hat dir das Wort Gottes gethan und die reine heilige Schrift: daß bu 
ber willſt der heilloſen Sophiften Misbrauch Schuld geben? Die Schrift 
redet Har genug davon und faget, daß 3 Perſonen ein Gott fein, daß 
Chriſtus wahrer Menſch und Gott je. Da ift nichts dunkels oder finfters. 

Wie aber das alles zugehe, das drüdet die Schrift nicht aus, iſt auch 
nicht noth zu wiffen. Die Sophiften magft du fchelten, die h. Schrift ift 
freilich unfchuldig . . die Arianer u. dgl. magſt du ſchelten, daß fie die 
Maren Sprüche von ber Dreieinigleit, von der Menſchheit und Gott⸗ 
heit Ehrifti nicht gejehen haben.” "(Walch XVII, 2071.) Dieſen Stand- 
punkt hat Luther unſeres Wiſſens ganz unverändert beibehalten. 


494 Kamweran 


kirchlichen Zrinitätslehre aufgewachfen wäre, ob er bei einem völlig 
„vorausſetzungsloſen“ Scriftforfchen fie in der Schrift gefunden 
hätte, — das ift ja eine ganz andere Frage; aber das muß con⸗ 
ftatirt werden, daß er aud) Bier mit vollem Bewußtſein fih auf 
die Schrift allein ftellt. Hat er nun in ber Bibel die Zri- 
nitätslehre des Athanaſius bezeugt gefunden, fo ift ja ganz natür⸗ 
ih, daß er in den altlirdhlidien Kämpfen um Chriftologie und 
Zrinität, in dem Unterliegen der Arianer, Neftorianer u. f. w. 
ein Gericht Gottes über die gegen Gottes Wort anlaufende. Ver⸗ 
nunft erblict, daß er alfo auch diejenigen, welche die von Gott in 
der kirchengeſchichtlichen Entwidlung bereits gerichteten Irrlehren 
erneuern wollen, num nicht nur mit dem Hinweiſe auf die Schrift, 
fondern aud mit dem Zeugnis der Geſchichte befämpft. Aber die 
Schrift ift ihm auch jet noch die eigentliche Waffe der erneuerten 
Irrlehre gegenüber; er gibt 3. B. den Rath, das Evangelium Jo⸗ 
hannis und die Briefe Pauli fonderlich gegen die neuen Arianer 
zu treiben ?), oder ermahnt im Kampf gegen diefelben Irrlehrer 
fleißig Schrift gegen Schrift zu halten, um nicht durch ein verein- 
zeltes aus dem ganzen der Schrift gelöftes Schriftwort verwirrt 
zu werden 3). Er bat fich aljo keineswegs jett der Tradition völlig 
untergeben, er vertaufcht keineswegs das Schriftprineip mit Rome 
Fahnen. Man lefe nur in eben der Schrift, in welder er nad 
Tollin feine „Umwandlung“ vollzogen hat, feinen Spott über 
die Leute, die da fagen: ich glaube, was bie Kirche glaubt. „Wie 
fönnte ein befjerer Glaube fein, der weniger Mühe und Sorge 
hätte benn diefer ?*°) Man leſe ferner die Schrift „Wider bas 
Concil. Obftantienfe” 1535 und das gewaltige Zeugnis in „Von 
den Conciliis und Kirchen“ 1539 — da fieht man, wie wenig er 
der Continuität oder Firchlichen Autorität fich zu untergeben ge⸗ 
fonnen ift. 

- Ebenfo nichtig ift die Behauptung einer Frontveränderung in 
Bezug auf „den eigenen Priefterftand und bie zwifchen Gott und 
dem Einzelnen als Verſöhnerin eintretende Kirche“ (S. 45). ALS 

1) Werke, Jenenſ. Ausg. VI, 193. 201b (1534), 


3) Ebendaſ. VI, 513b (1537). 
3) Ebendaf. VI, 112b. 





Luther und feine Beziehungen zu GServet. 4% 


„Bapftes Geiſt“ offenbarende Worte citirt Tollin die Stelle in 
der „Warnungsihrift an die zu Frankfurt“: „ih wollt, daß man 
die Jugend und den Böbel nicht allein gemöhnet zu fagen: wür- 
diger Herr, fondern auch Heiliger Herr, heiliger Vater“. Das 
klingt ja freilich nad) einem ftramm römischen Amtsbegriff. Allen 
man fehe doc nur auf den Zufammenhang. Luther ift erzürnt, 
daß die Frankfurter Sacramentirer fi über feinen Heinen Sate- 
. Hismus Iuftig gemacht haben, weil er daſelbſt den Beichtvater mit 
„wärdiger Herr“ anreden läßt. Dieſem Spott gegenüber betont 
er nun, ſchon „weltliche Zucht“ erfordere, daß Jugend und Pöbel 
den Wlten und den Lehrern mit Ehrerbietung begegnen follten. 
Ein Stücklein Pädagogik hält er ihnen vor, denkt aber nicht daran, 
einen neuen Amtöbegriff aufrichten zu. wollen. Einen PBriefter- 
ftand als Klerus den Laien gegenüber kennt er jet jo wenig wie 
früher, man vergleihe nur feine Auslegung von Palm 110 
(Zenenj. Ausg. VII, 326) vom Jahre 1539. 

5. Mit wenigen Worten fei bier auch noch eine Behauptung 
Zollins in feinem „Lehrigftem Servets“ zurüdgemwiefen. Er 
eitirt bort (S. 215) die entjchiedenen Worte Luthers gegen Mel⸗ 
chior Hofmann, in melden er dem Dofetismus entgegen» 
tritt und die reale Menjchheit Chrifti betont. Servet habe, ſetzt 
Zollin hinzu, ſolche markige Sprache ſchon vier Jahre früher dem’ 
Doketismus gegenüber geführt. „Servet ift e8, der jene fächftfche 
Männer diefe antidoletiiche Sprache gelehrt hat.“ 

Auch bier zeigt fich die Neigung des Verfaſſers, den Spanier 
einen Einfluß auf Luthers Lehrentwiclung üben zu laffen, den ber» 
felbe doc) entfchieden gar nicht gehabt Hat. Es möchte ja genügen, 
auf Luthers Auslegung bes zweiten Artikels im kleinen Katechis⸗ 
mus zu verweilen, die doch ohne Beeinfluffung Servets gejchrieben 
worden if. Doch können wir ja auch fonft noch in Luthers 
Schriften aus den zwanziger Jahren antiboletiiche dieta in Menge 
anführen. Er beruft ſich 3. B. 1522 in der „Antwort auf König 
Heinrich von England“ zur Widerlegung der römischen Wandlungs⸗ 
Iehre anf die Analogie der beiden Naturen in Chrifto; wie man 
fage, da8 Brot fei Chrifti Leib, und doch höre das Brot nicht 
auf, Brot zu fein, fo könne man auch fagen, dieſer Menſch ift 





496 Kaweran 


Gott, und body verfchwinde dadurch die Menſchheit nit X). Ober er 
predigt 1525 von Chrifto al8 einem „rechten, natürlichen, pur 
lautern Menſchen“, der „ein recht natürliches Kind und lauter 
Menſch fei, der Abrahams Fleiſch und Blut an fi Habe“ 2). 
Wäre bas etwa nicht eine marfige antidofetifche Sprache? End⸗ 
fi fet mir no eine Bemerkung Über Luthers „trinitarifche An- 
fechtungen“ geftattet. Die mehrfach erwähnte Stelle in den Tiſch⸗ 
reden (I, 303) redet davon. Tollin ftellt num die Sade jo bar, 
daß Luther in feiner vorreformatoriſchen Zeit ernftlich verfucht 
babe, trinitarifch einen eigenen Weg zu betreten, auf fpeculativem 
Wege eine eigene. Trinitätslehre, feitab von der Zweinaturenlehre 
ih zu Schaffen. Hernach habe er je Länger je mehr an Wort und 
Weſen der Trinität im Sinn der traditionellen Kirchenlehre fich 
gewöhnt, bis ihn die Tradition völlig in ihre erftarrende, ein 
engende Gewalt befommen babe. Zum Beweis dafür erinnert er 
an Luthers Weihnachtöpredigt 1515, dann wieder an jene Stellen, 
in denen er das omoovasos abgewiefen und ſeine Abneigung gegen 
den terminus Trinität zu erkennen gegeben. Aber auch bier er- 
jcheint mir Tollins Auffaffung des Sachverhaltes nicht zutreffend 
zu fein. Wenn Quther befennt, trinitarifche Anfechtungen verfpärt 
zu haben, jo meint er damit gewiß nicht jenen einzelnen fpeculativen 
Verſuch im %. 1515, denn da hat er wol nichts weniger im Sinne 
gehabt, als jeitab von ber Kirchenlchre eine eigene Trinitätsfehre zu 
conftruiren, es war vielmehr nur ein Verfuch, die von ihm gläubig 
acceptirte Kirchenfehre mit den Mitteln philofophifcher Schulweisheit 
vorzutragen. Ich möchte bei feinen „trinttarifchen Anfechtungen” 
viel Lieber Ausſprüche Luthers In Vergleich ftellen, wie etwa fein 
Belenntnis (1538): „Das hat mich die Erfahrung allzu oft ge 
lehrt, wenn mich der Teufel außer der Schrift ergreift, da ich an- 
fange mit meinen Gedanken zu fpazieren, und auch gen Himmel zu 
flattern, fo bringt er mich dazu, daß ich nicht weiß, wo Gott 


1) Senenf. Ausg. DI, 141. 

2) Erl. Ausg. XIX, 3. 17. Rgl. aud) 1519 im Sermon vom hochw. 
Sacrament den Ausdrud „natürlich wahrhaftiget Leib Chriſti“ (Ienenf. 
Ausg. 1, 208), und für die frühefte Lehrpertobe Luthers 1515—1816, 
vgl. bie Bemerkungen Herings in dieſer Beitfchrift 1877, &. 619. 


Luther umd feine Beziehungen zu Seroet. 497 


oder ich bleibe.“ !) Oder was er vom Bekenntnis der Gott: 
heit Ehrifti (1539) fchreibt: „Dies ift der fpigigen Vernunft hohe 
Klugheit wider diefen Artikel, welche wir Gottlob auch fehr 
wohl wiffen und verjtehen und gleich fowohl ald andere bei 
uns finden fünnen“ 2). Er redet damit nicht von einer bes 
ftimmten Periode feiner Lehrentwicklung, fondern von den Anfech⸗ 
tungen des Zweifels, die dem nicht erjpart bleiben, der eben nicht 
den bequemen Weg „ich glaube was die Kirche glaubt”, gehen, 
jondern feinen Glauben in viel Kämpfen und Ringen fich erarbeiten 
muß. Das find Gewiſſensnöthe geweſen, bie aber auf feine öffent- 
liche Lehre nie einen Einfluß gelibt haben. Auch wo er dad opoov- 
csog preisgibt, ift 'er nicht etwa in der Sache felbft ſchwankend 
geworden, fondern will nur im Intereſſe einer rein biblifchen Ter⸗ 
minologie den in der dogmatifchen Entwicklung der Kirche erft 
fpäter geprägten terminus fallen laſſen. „Wer will mich zwingen, 
des Wortes mich zu bedienen, wenn ich nur an ber Sache Halte, 
welde nah der Schrift auf einem Concil feftgefegt worben 
11?“ 2) Ebenſo wenn er zu wiederholten Malen fein Meisfallen 
an dem Wort Trinität und den Verdeutichungen desfelben zu er- 
kennen gibt, fo jind das rein formelle Bedenken, bie für feine 
Zrinitätslehre felber nicht mehr Bedeutung haben, als fein Ber» 
druß über das „undeutſche“ Wort Kirche ) für feine Lehre von der 
Kirche. Wir können Hier nur mit Köftlin fagen: „Anfangs ift 
er einer nicht aus dem Scriftwort geichöpften Terminologie viel« 
mehr abgeneigt; dann fühlt doch aud er da8 Bedürfnis einer 
ſolchen zur Feftftellung des fchriftgemäßen Glaubensinhaltes bejon- 
ders gegenüber den Kebern, welche diefen verkehren, und fchließt 
fih dann an die Firchlich herkömmliche an.“ ©) Er hat ja felbft 
biefen Fortfchritt in der Schrift von Eoncil und Kirchen zu recht⸗ 


1) Aust. v. Joh. XVI, Ienenf. Ausg. VE, 204». 

2) Pſalm 110, Ienenf. Ausg. VII, 801. 

8) Walch XVIII, 1455 und in der Einleitung zu diefem Theile S. 78—81. 
Uebrigens erſchien die Refutatio rationis Latomianae 1521, nicht 1522, 
wie Tollin angibt. 

4) Bol. Zenenf. Ausg. VI, 279. 

5) Luthers Theologie II, 292. 


498 Kawerau, Luther und feine Beziehungen zu Servet. 


fertigen gefucht: „Daß man nicht follte brauchen mehrere oder andere 
Worte, als in der Schrift ftehen, das kann man nicht halten, 
fonderlih im Zank und wenn die Ketzer die Sachen mit blinden 
Griffen wollen faljh machen und der Schrift Worte verkehren. 
Da war von nöthen, daß man bie Meinung der Schrift, fo in 
vielen Sprüchen gejeget, in ein kurz und fummarien Wort faffet.” ') 
Wollen wir diefe Yortentwidlung Luthers nicht als eine ganz na 
türliche und fachgemäße anerkennen ? 

Wir ftehen am Ende unferer Prüfung der neuen Auffchlüffe, 
die und über die Beziehungen Luthers zu Servet haben gegeben 
werden follen. Das Ergebnis ift, das wir dad Neue, womit 
Zollin bie Kenntnis und Beurtheilung ber Reformationsgejchichte 
glaubte fördern zu können, als auf unfolidem Fundament ruhend 
ablehnen mußten. Der DVerfaffer befigt bie gefährliche Gabe, un 
icheinbare und in der That unergiebige Quellenmittheilungen ver- 
möge feiner ingenidfen und erfindungsreichen Phantafie ergiebig zu 
machen, und trägt dann die Gebilde feiner Inventions⸗ und Com⸗ 
binationsgabe mit einer fo zweifellofen Sicherheit und einer fo über 
zeugungsvollen Berufung auf feine Quellen vor, daß der Xefer, der 
fi nicht die Mühe nimmt, die einzelnen Quellen zu prüfen, von 
der zuverfichtlichen Sprache bes für feinen Servet begeifterten Ver⸗ 
foffers vollftändig captivirt wird. Die zahlreichen Servetftudien, 
mit denen der rührige und mit voller Begeifterung arbeitende Ver⸗ 
faffer fich befchäftigt, werdet — das hat uns die Prüfung biefer 
einen Studie gezeigt — erft dann der nüchternen und ungejchminkten 
Gefchichtsforfchung den Gewinn bringen, den man von fo viel 
Mühe und Fleiß erwarten darf, wenn der Verfaffer ftrenger ſcheiden 
wird zwifchen dem, was die Quellen wirklich fagen, und dem, was 
fein lebhaftes Intereſſe an Servet aus ihnen herauszulefen weiß. 


1) Ienenf. Ausg. VII, 267. 


Diegel, Bergleichung der heutigen evangelifchen Predigtweiſe. 499 


2. 
Bergleihung der heutigen evaungeliſchen Predigtweiſe 
mit der vor fünfzig Jahren. 
Bon 


Dr. 9. ©. Diegel, 


Profeſſor in Briebberg. 





Auf Grund der beiden Predigt-Sammlungen ; 


1) Bredigten über fämtlihe Sonn- und Belttags - Evangelien 
des Jahres. Kine Gabe chriftlicher Liebe, der neuen 
evangelifchen Gemeinde in Mühlhaufen dargebracht von 
jest Tebenden deutſchen Predigern. Herausgegeben von 
Dr. €. Zimmermann. ‘Darmftadt, bei Lesle. 1. Band, 
1825; 2. Band, 1827. 

2) Die Hriftliche Predigt in der evangeliſchen Kirche Deutfch- 

lands. Sammlung geiftliher Reden über die Evangelien 
des Sirchenjahres. Herausgegeben von W. Stödigt. 
Wiesbaden, J. Niebner, 1876. 


———— 





Im dritten Heft des erſten Bandes dieſer Zeitſchrift für 1828, 
©. 669 ff. hat de Wette die oben zuerſtgenannte Predigtſammlung 
angezeigt und dabei feine Unficht über den damaligen Stand ber 
deutjch »evangelifchen Kanzelberedfamleit ausgefprocdhen. Das Er- 
fcheinen des zweitgenannten ähnlichen Werkes, gerade 50 Jahre 
fpäter, legt die Frage nahe, in wie fern fich feit jener Zeit die evan⸗ 
geliſche Predigt verändert hat, insbefondere In wie weit die von 
de Wette damals gerügten Fehler überwunden find. Gewiß wird 
man billigen, daß fich nachfolgendes möglichft genau an die einfti- 
gen Urtheile de Wette's anſchließt. Demfelben eigneten ja in jel- 
tener Vereinigung ebenſowol wiffenjchaftliche Tüchtigleit als feines 
religiöfes DVerftändnis und warmer praftifher Sinn. Wenn 
Referent nad) einem folchen Vorgänger das Wort nimmt, fo glaubt 

Theol. Stub. Sarg. 1878. 33 


N Diegel 


er den Beruf dazu dem Umſtande entnehmen zu dürfen, daß nidt 
nur Überhaupt Homiletik und insbefondere Geſchichte der Predigt 
fette Hauptledensaufgabe bilden, fondern daß er and mamentlid 
feit einem Jadhrzehnte Predigten über bie Perikopen zu fiudiren 
pfleut. Er bat dabei je 20 bie 30 Predigten über diefefbe Peri⸗ 
tepe unuritteldar dinter einander genau vorgensmmen Wie made 
nach Derurtigert Ardeiten eine ſolche Bergleichung, wie die hier ver⸗ 
radın, geloyen dat, veritehe ſich ohne weitere Erörterung. 

Ieder Predigt ae deeaderes Wort zu women, mie de Wer 
aut UL dc m gerutii Es miste Aus, ER IDZT Eiger 
wur RI TETIOE zu Meeteer, reitet But Raum or Br 
Sad Kuumgnt wine Un mie zryinde Aeiuhlımg zu 
Yoga, NR wunde er Peduge? er Kıruenee ünrt mel 
Aüuttt at "gut ANZ Wr Qur Rurent zarter m, anihrena 
Ra sat wu Re nooermer Summüng Teuer eur 
Ta tr Brite zu og her ur mut wrr su be > 
pad y rm Kerrune zsenreo. Ru NE .&£ mm: 
um! AA U Mc a ne Sratx no Berdgiang 
wa der nd ig vum) er m am ame Peruemmg 
md Sep AT wimz um zur Um 
kg at Bermeiung NER muupi.mz Ärger ec Be 
wm. 

Ted tt gu ir vu’ SITZE Nr Sage m 
uhr der o Aal Dam, Pr mt 
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Bergleihung der heutigen evangelifchen Predigtweiſe. 501 


wort als Duelle der Heilserkenntnis und als Lebensrichtſchnur an⸗ 
erkennen und befähigt ſind, dasſelbe — man ſtöre ſich nicht an 
dem Ausdruck — in die Sprache unſerer Zeit zu überſetzen, d. h. 
es für die Zeitbedürfniſſe geltend zu machen und ſolcherweiſe 
denjenigen zu genügen, welche in den Zeitbeſtrebungen nicht ver⸗ 
fernt haben, da8 Emige zu fuhen und fih daran zu halten.“ 
Diefe Worte Haben wir um fo lieber angeführt, da fie einige 
treffliche Anhaltspunkte für unfere fpäteren Darlegungen bieten. 
Borerft werde nur noch erwähnt, dag weit mehr nad) der 
rechten, als nad der linken Seite hin über die fogenannte Mittel- 
partei im engeren Sinne hinausgegangen wird. ‘Demnad) erleidet 
die Vollftändigkeit der überjichtlichen Bemerkungen über die neueite 
evangeliiche Predigt von vorn herein die Bejchränfung, daß die Art 
und Weife, wie die vorwiegend kritiſche Schule ihre theologifchen 
Anfchanungen auf der Kanzel darlegt ober auch zurücktreten läßt, 
bier nicht zur Sprache fommt. Uebrigens darf man annehmen, 
daß mehr als auf andern Gebieten auf dem homiletijchen viele 
Wahrnehmungen mehr oder minder für jede theologifche Richtung 
gelten, alſo die hier mitgetheilten auch großentheils für ftreng con« 
fejfionelle und für weitgehend Tiberale Predigten. Sie alle ent- 
ftehen ja vielfach unter den Kinflüffen derfelben geiftigen Luft⸗ 
ftrömungen. Doch findet fich diefe Gleichheit natürlich weit mehr 
in der homiletifchen Geftaltung als im theologifchen Inhalte. 
Jedenfalls darf es als ein großer Vorzug der Wiesbadner 
Sammlung vor der Darmftädter bezeichnet werden, daß erftere weit 
mehr aus einem Geifte hervorgegangen iſt. Auf benfelben 
Grundüberzeugungen wird benjelben Zielen zugeitrebt. Das ift für 
ein Undachtsbuch eine fait umerläßliche Forderung. Nur unter 
diefer Bedingung wirken Predigtjammlungen von ganz verfchiebenen 
Verfaſſern heilfam. Andernfalls zerftört der eine, was ber andere 
aufgebaut bat. Dieſes Gegeneinander wirkt bei denen, bie fich 
besjelben nicht Har bewußt werden, vielleicht am meiften verwirrend 
und abjtumpfend. ntfalten dagegen auf denfelben Grundan⸗ 
ſchauungen verfchiedene Individualitäten ihre Gaben, dann regt 
beren Manigfaltigleit an und ihre Wirkungen verftärlen einander. 
Dieſen der Wiesbadner Sammlung eigrienden Vorzug werden na» 
93* 





502 Diegel 


mentlich diejenigen würdigen, welche an der neueren Predigtweiſe 
eine gewiſſe Eintönigfeit beflagen. 

Während wir demnach bei der Wiesbadner Sammlung feine 
Schwierigkeit haben, Gemeinſames aufzufinden, miffen wir bei der 
Darmitädter Sammlung, um einen einheitlichen Unterfchied gegen 
die Neuzeit feftzuftellen, eine Anzahl Prediger ausſcheiden. 
Schleiermader, Theremin, Dräſeke, El. Harms, 
Nitzſch, vielleicht auch de Wette felber gehören eigentlich weit 
weniger in die Darmftädterr Sammlung al8 in die Wiesbadner. 
Sie find gleihjam die Väter der Verfaffer von letzterer; aber in 
der Darmftädter Sammlung fallen fie jegt auf als Vorkämpfer 
eines ganz anderen Geſchlechts. Wir faſſen daher bei nachfolgenden 
Vergleihungen nur die große Mehrzahl der Predigten jener älteren 
Sammlung in dad Auge. 

Beiläufig fei erwähnt, daß bie Wiesbadner Sammlung keines⸗ 
wegs den Anfpruch erhebt, von dem großen Kreife der in ihrem 
Geiſte wirkenden Prediger auch nur die tüchtigften alle aufge: 
nommen zu haben. Die beabfidhtigten weiteren Predigtbiicher über 
die altficchlichen Epifteln und über freie Texte werden noch viele 
andere zum Worte kommen lafjen. — 

Es fcheint am förderlichften, wenn wir zuerft kurz einige weniger 
wichtige Punkte erledigen, um dann eingehender von der Stellung 
zum Texte und der ‘Dispofltionsweije, von dem Hauptinhalte, von 
der Darftellung und Ausführung zu ſprechen. 

1) Einige kurz zu erledigende Puntte. 

Die Wiesbadner Sammlung enthält nicht mehr wie die Darm- 
ftädter Bredigten über die Apoſtel- und Marienfefte 
Wir tadeln ba8 keineswegs, merken es aber an als ein Zeichen, 
daß die Feier diefer Tage wol in unferer evangelifchen Kirche jegt 
meift nicht mehr ftattfindet. — 

de Wette tabelt, dag in der Darmftädter Sammlung die meiften 
Predigten eine doppelte Einleitung haben, eine allgemeine 
vor dem Texte, eine befondere nad demſelben. Namentlich die 
erfte Einleitung ergieng fih Häufig in zu allgemeinen, weit herge⸗ 
holten Reflexionen. In der Wiesbadner Sammlung dagegen fteht 
der Text faft immer voran, fo daß bie Kinleitung- fogleich von 





Bergleihung der heutigen evangelifchen Predigtweife. 508 


ihm aus zur Feſtſtellung des Thema's übergehen kann. Bei den 
alten Peritopen, alfo bei gegebenen und wohlbelannten Texten, bei 
welchen bie Texteswahl Feiner Begründung und bie Textesverleſung 
feiner Vorbereitung für das Verſtändnis bedarf, ift diefes Voran⸗ 
ftellen de8 Textes ficher das Beſte. Nur an hohen Feiten und 
bei fonftigen befonderen Anläffen kann ein kurzes, kräftiges Wort, 
ein fogenannter Auftritt vor dem Texte empfehlenswerth fcheinen. 

Insbeſondere fpricht fich de Wette gegen die auf bie Predigt 
Bezug habenden Gebete am Anfange vieler Predigten ber Darm- 
ftädter Sammlung aus. Solche Gebete erfcheinen ihm nidt 
natürlich herbeigeführt. Er hätte Hinzufegen können, daß diefelben 
Häufig ein fehr docirendes oder doch reflectivendes Gepräge tragen 
und zu den ſchlechteſten Leiftungen des Nationalismus oder auch 
Supranaturaliemus gehörten. Indem man Reflexionen in das 
Gebetsgewand Eleidete und Gott vortrug, was man doc eigentlich 
den Menjchen jagen wollte, ‚erreichte man anftatt des Aufſchwunges 
der Rede meift nur eine kalt laſſende Gefpreiztheit der Form. Be⸗ 
fanntlich erklärte ſich auch Schleiermacher ganz entſchieden gegen 
Gebete an diefer Stelle. In der Wiesbadner Sammlung finden fie 
ſich dafelbft nirgends. — 

Seit dem Erſcheinen der Necenfion über die Darmftädter 
Sammlung bat man fi, namentlih nad Lisco's Vorgang, viel 
mit der Beftimmung und Stellung der einzelnen Be» 
rifopen im Kirhenjahre und mit ihrem Zuſammen— 
ange untereinander befchäftigt.. Man wußte darüber öfter 
zu’ viel herauszufinden. Auch berüdfichtigte man nicht genug, daß 
man jeßt in der Iutherifchen Kirche nicht das urfprüngliche, ſondern 
ein mannigfach verändertes und verfürztes Pertlopenfyftem vor fich 
hat. Jedenfalls gehören die oft fcharffinnigen, aber auch manchmal 
ſehr willfürlihen Vermuthungen einzelner über die Auswahl der 
verjchtedenen Perikopen nicht als kirchlich feftftehende Wahrheit auf 
die Kanzel. Da fie jedoch nicht ganz felten dafelbft erfcheinen, 
fonnte man fürchten, daß in einem Predigtbuche Über die alten 
Perikopen, in welchem jeber Text von einem andern behandelt 
wird, Schon allein da8 Streben nah Heritellung eined Zu⸗ 
fammenhanges zu viele und deshalb einander widerfpredhende Er⸗ 


504 Diegel 


Örterungen über die Stellung der einzelnen Texte und Predigten 
im Kirchenjahre bringen möchte. Wir freuen uns, dag man mit 
ganz geringen Ausnahmen diefer Verſuchung widerftanden hat. 
Zwar nehmen die Einleitungen mit Recht öfter von der kirchlichen 
Zeit und dem Verhältuiffe des Textes zu derfelben ihren Ausgang ; 
aber fie verbleiben foft immer bei dem wirklich Geficherten "und 
zur Sache Gehörigen. — 

Ebenfo Hat man bei einem andern, womit fett dem Erſcheinen 
der Darmftädter Sammlung fid die Predigten mehr als früher 
bereichert und belebt Haben, das rechte Maß eingehalten. Wir 
denfen an Verſe und Kirchenlieder, fowie an Erzählungen 
aus Geſchichte und Leben der Kirche. Auch fonft fehr tüchtige 
Predigtbücher bieten der Form nach zu unedle Liederverje und etwas 
zu viele Anekdötchen. ‘Derartige Verirrungen finden fich in der 
Wiesbadener Sammlung nit. Natürlich zeigen ihre einzelnen 
Predigten bezüglich des Genannten große Verſchiedenheit. Im 
ganzen wird mannigfacher Gebrauch von Liederverſen und ge⸗ 
ſchichtlichen Zügen gemacht; das Gebotene erſcheint gut und nicht 
zu ſehr gehäuft. — 

Ein Fehler endlich, an dem leider auch ſonſt ausgezeichnete 
Predigtbücher in Folge der Arbeitsüberladung ihrer Verfaſſer häufig 
leiden, tritt in der Wiesbadner Sammlung gar nicht hervor. Wir 
meinen die ungebürlihde Verkürzung und offenbar flüd» 
tigere Bearbeitung des legten Theiles oder der letzten Theile, 
während auf die Ginleitung und überhaupt die erjte Hälfte weit 
mehr Zeit und Kraft verwendet wird, Gleichmäßig forgfältige 
Durcarbeitung läßt ſich übrigens aud von einer Sammlung er- 
warten, deren Verfaffer immer nur je eine Predigt für diefelbe 
liefern. 

2) Stellung zum Terte und Dispofitionsweife. 

Wir bejprechen beide zufammen, weil erftere großentheild von 
letzterer abhängt. 

de Wette klagt S. 673: „Der ganz tertmäßigen Predigten 
find fehr wenige. Nur drei oder vier Homilten - und wenige 
homilienartige finden ſich darunter; unter den übrigen ſynthetiſchen 
machen die tertmäßigen und die gefchichtlich -Firchlichen noch lange 





Bergleichung der heutigen evangelifchen Predigtweiſe. 505 


nicht die Hälfte aus, und die meiften Ichnen fi nur an den Text 
oder gehen ‚neben ihm Hin; in mancden fogar ift der Text ganz 
ſchielend aufgefaßt, und einige wenige ftehen mit ihm im Gegenſatz. 
Bon diefer unmwillfommenen Erfdheinung mag wohl ein Grund 
darin liegen, daß die meiſten Predigten bis auf ſechs die gewöhn- 
lichen Sonn und Feittags-Peritopen behandeln, welche wegen ihrer 
häufigen Wiederkehr fo ausgefhöpft find, daß die Prediger ſich in 
der Nothwendigkeit befinden, den Text beifeite liegen zu laffen, oder 
ſich Höchftens an einen Theil oder Umftand desfelben zu balten.... 
Dean findet in diefer Sammlung von Perilopenpredigten meiſtens 
alles andere, nur nicht die praftifche Auslegung der Berikopen 
jelbft. Vielleicht aber muß man auch Hier ein fchlimmes Zeichen 
des homiletifch-theologifchen Geiftes finden, wie denn felbft die frei- 
gewählten Texte zum Theil ungenau behandelt find. ‘Der Peri⸗ 
fopenzwang hat die Prediger gehindert, fich im der homiletifchen 
Behandlung der Bibel zu üben, um fo mehr, da fie durd die 
dürftige grammatifch-hiftorifche Exegefe, welche bisher im Durch⸗ 
ſchnitt auf den LUniverfitäten betrieben worden, nicht dazu vorge⸗ 
bildet waren.“ 

de Wette erwartet von ber damals fchon vielfach eingetretenen 
Aufhebung des Perilopenzwanges einen neuen Aufjchwung der 
Kanzelberedſamkeit. Seine hier angeführten Anfichten geben zu vielen 
Bemerkungen Anlaß. 

Ueber die Nachtheile und Über den Segen des Feſthaltens an 
den alten Berifopen find auch fonft vielfach Übereinftimmende, eben» 
ſowol wiſſenſchaftlich wie praftifch tüchtige Theologen ganz ver- 
Schtedener Meinung, 3. B. Nigih und Palmer. Zu genauerer 
Unterfuhung darüber fehlt bier der Raum. Diejenigen Landes» 
firchen fcheinen das Rechte getroffen zu haben, welcde die alten 
Beritopen alle zwei bis drei Jahre wiederfehren Laffen und für die 
Zwifchenjahre andere Berilopenreihen anordnen oder freilaffen, auch 
im Bedürfnisfalle die Wahl eines ganz freien Textes geftatten. 
de Wette hat den Perikopen jedenfalls zu viele Schuld an der 
untertmäßigen Haltung der Darmftädter Sammlung zugejchrieben. 
Der Hauptgrund lag anderswo. Ein Beleg dafür ift die Wies- 
badner Sammlung: fie behandelt durchweg die alten Perikopen, 








506 Diegel 


und Zertgemäßheit iſt durchweg eim Haupworzug ihrer 
Bredigten. 

Die von de Wette erwähnte Berjucdhung, bei jo oft behandelten 
Zerten die Hauptſache und die natürlichite Themabildung beifeite 
zu laſſen, dagegen etwas nenes, nebenſächſiches und abſonderliches 
auszufinnen, kann nicht geleugnet werben. Aber die Berfaſſer der 
Wiesbadrer Sammlung haben mit ganz feltenen Ausnahmen biefe 
Berfuhung nicht an jich herankommen laſſen. Sie behaudeln faft 
immer die Haupthemata. Allerdings find die Themata einigemal 
recht funitooll ansgeſonnen. Doch aud in diefem Falle ftellt fid 
bei genauerer Betradhtung in der Regel heraus, dag nur der Ge 
fihtspunft, unter welchem der Text betrachtet wird, ein neuer if, 
dag er aber zu einer Beiprechung des ganzen Textes Anlaß gibt. 
Muß andy zugegeben werden, daß diefe an die Spike geftellten 
neuen Gefichtepuntte zuweilen der urfprünglichen Tertesabficht ſchwer⸗ 
(ich entfprechen, fo erwächſt doch die Ausführung ganz oder zum 
großen Theil aus dem Terte. 

Dies führt auf die Dispofitionsweife. 

Bei der großen Berfchiedenheit und Verwirrung, welche auf 
dieſem Gebiete bezüglich) der Ansdrücke herricht, werde folgendes 
sur Berftändigung vorausgefhidt. Was de Wette bomilienartige 
Bredigt nennt, bezeichnet man jett gewöhnlich als analytiſche Pre 
dig. Hauptunterſchied der fegteren von der Homilie ift das be 
ftimmtere Thema und die Partition. Der Unterfchied zwiſchen 
fonthetiicher und analytifher Predigt läßt jih am leichteften fo 
feitftellen: bei erfterer erwachſen Zheile und Ausführung aus dem 
Thema, je nad deifen Maßgabe das Nöthige von überall her zus 
jammengeitellt wird, bei legterer erwachfen fie unmittelbar aus dem 
zerte. Man kaun noch einen Unterjchied zwifchen fireng analy- 
tiihen und zwiſchen anafytifch = fynthetifchen Predigten machen. 
Durdaus nöthig ift diefer Unterfchied nicht, und manche verwerfen 
ihn gänzlih. Die Theorie wird auch wirklich durch denfelben ver: 
widelter, aber für die Geſchichte der Predigt, und um überhaupt 
die Dienge der vorhandenen Predigten ihrer Methode nach genan 
auseinander zu halten, wird er ſchwer entbehrt werden können. 
Macht man ihn, fo kann man die ſtreng analytiſche Methode nad 





Bergleichung der heutigen evangeliſchen Predigtweiſe. 507 


den befannten Schriften von Heubner und Lisco bie Henbnerifch- 
Liscotfche nennen und fo beftimmen: der ganze Text, womöglich 
nach der Reihenfolge feiner Beftandtheile, und nur der Text bildet 
die Wurzeln, aus welcher Theile und Ausführung der Predigt er- 
wachſen. Sobald da8 Thema in der Weife auf Theile und Aus⸗ 
führung einwirkt, daß um feinetwillen manches vom Texte hin» 
weggelaffen und mandjes Wejentliche von außerhalb des Textes 
hinzugefügt wird, hat man die analytifch=fynthetifche Methode. 
Leicht begreift fih, daß bei der ftreng analytifchen Methode die 
Themata viel weiter fein müffen, al8 bei der analytifch = funthe- 
tifchen, um den zwanglofen Anfchluß an den Text nicht zu hindern. 
Der Unterfchted überhaupt ift natürlich ein fließender, die Bes 
zeichnungen genügen wenig; aber es wäre ein großer Gewinn, wenn 
man fih die Sadje Har zum Bewußtſein brächte. 

Die analptifhe Methode, die analptifchsfynthetifche hier mit 
eingefchlofjen, fam gewiß gemäß der ganzen neneren theologifchen 
Entwidlung mit vollem Rechte zur Herrſchaft. Sie Hat die Bre- 
digt nicht nur zum Worte, fondern auch in den Geift der Schrift 
zurüdgeführt. Aber diefe Methode Tegt doch auch große Gefahren 
nahe, die man am fürzeften fo bezeichnen kann: um des Themas 
willen wird dem Texte Gewalt angethban, und um des Textes 
willen fommt da8 Thema nicht zur Maren, befriedigenden Durch» 
führung. Das gefchieht namentlid dann, wenn man fich die Auf- 
gabe ftellt, da8 Thema immer ftreng analytifh durchzuführen, 
auch dann, wenn dasjelbe weder den ganzen Text beberrfcht, noch 
genügend durch den Tert ausgeführt wird. In diefem Falle zerren 
oft Zert und Thema, fo zır fagen, einander zu wechjeljeitigem Schaden 
hin und ber. Man verfährt thatfächlich analytifch = funthetifch, 
während man rein analytifch zu verfahren vorgibt und meint. 
Eine bewußte Scheidung des Verfahrens würde diefem Gebrechen 
abhelfen. Im glücklichen Salle, wenn Text und Thema ganz zu- 
fammenfallen, wird der Unterjchied beider Methoden verfchwinden. 
Andernfalls gebe man, je nah) Maßgabe des Zertes und des 
Themas, entweder um ber ftreng analytifchen Behandlung des Textes 
wilfen mit vollem Bewußtſein und mit Harer Wahrung gegen bie 
möglichen Misverftändniffe eine einfeitige Faſſung des Themas; 





498 Kaweran, Luther und feine Beziehungen zu Servet. 


fertigen geſucht: „Daß man nicht ſollte brauchen mehrere oder andere 
Worte, als in der Schrift ſtehen, das kann man nicht halten, 
ſonderlich im Zank und wenn die Ketzer die Sachen mit blinden 
Griffen wollen falſch machen und der Schrift Worte verkehren. 
Da war von nöthen, daß man die Meinung der Schrift, fo in 
vielen Sprüchen gefeget, in ein kurz und ſummarien Wort faſſet.“ ') 
Wollen wir dieje Fortentwicklung Luthers nicht als eine ganz na⸗ 
türliche und fachgemäße anerkennen? 

Wir ftehen am Ende unjerer Prüfung der neuen Auffchläffe, 
die uns über die Beziehungen Luthers zu Servet haben gegeben 
werden follen. Das Ergebnis ift, das wir das Neue, womit 
Tollin die Kenntnis und Beurtheilung der Reformationsgefchichte 
glaubte fördern zu können, als auf unfolidem Fundament ruhend 
ablehnen mußten. Der Verfaſſer beſitzt die gefährliche Gabe, un- 
Scheinbare und in bee That unergiebige Duellenmittheilungen ver- 
möge feiner ingeniöfen und erfindungsreichen Phantafte ergiebig zu 


machen, und trägt dann die Gebilde feiner Inventions- und Com⸗ 


binationsgabe mit einer fo zweifellofen Sicherheit und einer fo über: 
zeugungsvollen Berufung auf feine Quellen vor, daß der Lefer, der 
fi nicht die Mühe nimmt, die einzelnen Quellen zu prüfen, von 
der zuderfichtlichen Sprache des für feinen Servet begeifterten Ber- 
faſſers vollftändig captivirt wird. Die zahlreichen Serpetftudien, 
mit denen der rührige und mit voller Begeifterung arbeitende Ver⸗ 
faffer fich befchäftigt, werdet — das hat uns die Prüfung dieſer 
einen Studie gezeigt — erſt dann der nüchternen und ungeſchminkten 
Geihichtsforfchung den Gewinn bringen, den man von fo viel 
Mühe und Fleiß erwarten darf, wenn der Verfaſſer ftrenger ſcheiden 
wird zwifchen dem, was die Quellen wirklich jagen, und dem, was 
fein lebhaftes Intereſſe an Servet aus ihnen heranszulefen weiß. 


1) Jenenſ. Ausg. VII, 267. 








Diegel, Bergleichung der heutigen evangelifchen Predigtweiſe. 499 


2.7 
Sergleichung der heutigen enaugelifchen Predigtweiſe 
mit der vor fünfzig Jahren. 
Bon 


Dr. 8. ©. Diegel, 


Profeflor in Wriebberg. 





Auf Grund der beiden Predigt-Sammlungen: 

1) Predigten Über ſämtliche Sonn» und Fefttags » Evangelien 
des Jahres. Eine Gabe dhriftlicher Liebe, der neuen 
evangeliichen Gemeinde in Mühlhaufen bargebracht von 
jet lebenden deutſchen Predigern. Herausgegeben von 
Dr. €. Zimmermann. Darmitadt, bei Leske. 1. Band, 
1825; 2. Band, 1827. 

2) Die KHriftliche Predigt in der evangelifchen Kirche Deutfch- 
lands. Sammlung geiftliher Reden über die Evangelien 
des Kirchenjahres. Herausgegeben von W. Stödigt. 
Wiesbaden, J. Niedner, 1876. 


Im dritten Heft des erften Bandes diejer Zeitichrift für 1828, 
©. 669 ff. Hat de Wette die oben zuerftgenannte Predigtfammlung 
angezeigt und dabei feine Anficht über den damaligen Stand der 
deutjch »evangelifchen Kanzelberedfamkeit ausgefprodien. Das Er- 
fcheinen des zweitgenannten ähnlichen Werkes, gerade 50 Jahre 
fpäter, legt die Trage nahe, in wie fern fich feit jener Zeit die evan- 
geliiche Predigt verändert Hat, insbejondere in wie weit die von 
de Wette damals gerügten Fehler überwunden find. Gewiß wird 
man billigen, daß fich nachfolgendes möglichft genau an die einfti- 
gen Urtheile de Wette's anjchließt. Demfelben eigneten ja in fel- 
tener Vereinigung ebenfowol wifjenfchaftlihe Tüchtigkeit als feines 
religiöfe® Verſtändnis und warmer praftifcher Sinn. Wenn 
Referent nach einem ſolchen Vorgänger das Wort nimmt, fo glaubt 

Theol. Stud. Jahrs. 1878. 33 


500 Diegel 


er den Beruf dazu dem Umftande entnehmen zu dürfen, daß nidt 
nur überhaupt Homiletit und insbefondere Gefchichte der Predigt 
feine Hauptlebensaufgabe bilden, fondern daß er auch namentlich 
feit einem Jahrzehnte Predigten Über die Perikopen zu ftubiren 
pflegt. Er hat dabei je 20 bis 30 Predigten über diefelbe Peri⸗ 
kope unmittelbar binter einander genau vorgenommen. Wie nahe 
nach derartigen Arbeiten eine folche Vergleihung, wie die bier ver: 
fuchte, gelegen bat, verfteht fih ohne weitere Erörterung. 

Geber Predigt ein befonderes Wort zu widmen, wie de Wette 
gethan hat, fcheint nicht gerathen. Es müßte dazu, um nur einiger 
maßen befriedigende® zu bieten, ungebürend viel Raum in Ans 
Spruch genommen werden. Auch wäre ungleiche Behandlung zu 
fürchten, indem mande ber Prediger dem Referenten längft wohl 
bekannt und ſchon vielfach von ihm bearbeitet worden find, während 
er andere zuerft aus der vorliegenden Sammlung fennen lernte. 
Ans einer Predigt Täßt ſich aber nur höchſt felten ein ficheres in- 
dividuelles Bild des DVerfaffers entwerfen; denn das „ex ungue 
leonem“ paßt aus mehr als einem Grunde nicht durchgängig 
hieher. Es Handelt ſich ja auch gar nicht um eine Befprechung 
und Kennzeichnung der einzelnen Prediger, fondern um eine Dar- 
ftellung und Beurtheilung des den evangelifchen Predigten jet Ge 
meinfamen. 

Freilich tritt uns Hier fogleich zwifchen der Darmftädter und 
zwifchen der Wiesbadner Sammlung, wie wir obengenannte Pre⸗ 
digtbücher kurzweg nennen wollen, ein jehr bemerfenswerther Unter- 
fchied entgegen. Zu eriterer lieferten Theologen aller Richtungen 
igre Beiträge. Schuderoff erjcheint da z. B. neben El. Harme. 
Die Wiesbadner Sammlung dagegen enthält vorzugsweife Predigten 
der fogenannten gläubigen Mittelpartei, der pofitiven Union, ober 
doch jolcher confelfioneller Theologen, die keinen Anftand nehmen, 
mit andern evangelifchen Theologen zufammen in einer Erbauung 
Schrift zu erfcheinen. Der Herausgeber fagt Vorrede S. 4: „Zur 
Mitarbeit wurden folche Kanzelredner eingeladen, welche, entjchieden 
auf dem ein» für allemal gelegten Heilsgrunde ftehend und der 
Kirche der Reformation von ganzem Herzen und mit perfünlichem 
Glauben ergeben, das in der heiligen Schrift überlieferte Gottes⸗ 


Bergleihung der heutigen evangeliſchen Prebigtmeife. 501 


wort als Duelle der Heilserkenntnis und ald Lebensrichtfchnur an⸗ 
erfennen und befähigt find, dasſelbe — man ftöre fih nicht an 
dem Ausdrud — in die Sprache unferer Zeit zu überjeten, d. 5. 
es für die Zeitbedürfniffe geltend zu machen und folcherweife 
denjenigen zu genügen, welche in den Zeitbeftrebungen nicht ver- 
fernt haben, da8 Emige zu fuchen und fi daran zu halten.“ 
Diefe Worte haben wir um fo Lieber angeführt, da fie einige 
treffliche Anhaltspunkte für unfere fpäteren Darlegungen bieten. 
Vorerſt werde nur noch erwähnt, dag weit mehr nach der 
rechten, als nach der linken Seite hin über die fogenannte Mittel- 
partei im engeren Sinne hinausgegangen wird. Demnach erleidet 
die Bollftändigfeit der überfichtlichen Bemerkungen über die neueſte 
evangelifche Predigt von vorn herein die Beichränfung, daß die Art 
und Weife, wie die vorwiegend kritiſche Schule ihre theologischen 
Anfchauungen auf der Kanzel darlegt oder auch zurücktreten läßt, 
hier nicht zur Sprache kommt. Uebrigens darf man annehmen, 
daß mehr als auf andern Gebieten auf dem bomiletifchen viele 
Wahrnehmungen mehr oder minder für jede theologifche Richtung 
gelten, alſo die bier mitgetheilten auch großentheils für ftreng con⸗ 
feiftonelle und für weitgehend Tiberale Predigten. Sie alle ent- 
fteben ja vielfach unter den Ginflüffen derjelben geiftigen Luft⸗ 
ftrömungen. Doc findet fich diefe Gleichheit natürlich weit mehr 
in der homiletifchen Geftaltung als im theologifchen Inhalte. 
Jedenfalls darf es als ein großer Vorzug der Wiesbadner 
Sammlung vor der Darmftädter bezeichnet werben, daß erftere weit 
mehr aus einem Geiſte Hervorgegangen iſt. Auf bdenfelben 
Grundbüberzeugungen wird denfelben Zielen zugeftrebt. Das ift für 
ein Andachtsbuch eine faft unerläßliche Forderung. Nur unter 
diefer Bedingung wirken Predigtſammlungen von ganz verjchiedenen 
Verfaſſern heilfam. Andernfalls zeritört der eine, was der andere 
aufgebaut hat. Diefes Gegeneinander wirkt bei denen, die ſich 
desſelben nicht Kar bewußt werden, vielleicht am meiften verwirrend 
und abitumpfend. Entfalten dagegen auf denſelben Grundan⸗ 
Ichauungen verfchiedene Individualitäten ihre Gaben, dann regt 
deren Moanigfaltigkeit an und ihre Wirkungen verjtärken einander. 
Dieſen der Wiesbadner Sammlung eigrienden Vorzug werden na⸗ 
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602 Diegel 


mentlicd) diejenigen würdigen, welche an ber neueren Bredigtweile 
eine gewille Eintönigfeit beflagen. 

Während wir demnach bei der Wiesbadner Sammlung teine 
Schwierigkeit haben, Gemeinſames aufzufinden, müffen wir bei der 
Darmftädter Sammlung, um einen einheitlichen Unterfchied gegen 
die Neuzeit feftzujtellen, eine Anzahl Prediger ausscheiden. 
Schleiermadher, Theremin, Dräfele, El. Harms, 
Nitzſch, vielleicht auch de Wette felber gehören eigentlich meit 
weniger in die Darmftädterr Sammlung als in die Wiesbadner. 
Sie find gleihfam die Väter der Verfaſſer von leßterer; aber in 
der Darmftäbter Sammlung fallen fie jest auf als Vorkümpfer 
eines ganz anderen Geſchlechts. Wir faffen daher bei nachfolgenden 
Vergleihungen nur die große Mehrzahl der Predigten jener älteren 
Sammlung in das Auge. 

Beiläufig fei erwähnt, daß bie Wiesbadner Sammlung keines⸗ 
wegs den Anfpruch erhebt, von dem großen Kreife der in ihrem 
Geiſte wirkenden Prediger auch nur die tüchtigften alle aufge: 
nommen zu baben. Die beabfichtigten weiteren Predigtbiicher über 
die altkirchlichen Epiſteln und über freie Texte werden noch viele 
andere zum Worte kommen laſſen. — 

Es fcheint am fürderlichften, wenn wir zuerſt kurz einige weniger 
wichtige Punkte erledigen, um dann eingehender von der Stellung 
zum Texte und der Dispofitionsweife, von dem Hauptinhalte, von 
der Darftellung und Ausführung zu fprechen. 

1) Einige kurz zu erledigende Punkte. 

Die Wiesbabner Sammlung enthält nicht mehr wie die Darm- 
ftädter Predigten über die Apoftel- und Marienfefte. 
Wir tadeln das keineswegs, merken es aber an als ein Zeichen, 
daß die Feier diefer Lage wol in unferer evangelifchen Kirche jetzt 
meift nicht mehr ftattfindet. — 

be Wette tadelt, daß in der Darmftädter Sammlung die meiften 
Predigten eine doppelte Einleitung haben, eine allgemeine 
vor dem Xerte, eine befondere nad demjelben. Namentlich die 
erſte Einleitung ergieng fi häufig in zu allgemeinen, weit berger 
holten Reflexionen. In der Wiesbadner Sammlung dagegen fteht 
der Text faft immer voran, fo daß die Einleitung- fogleich von 


Bergleihung ber heutigen evangelifchen Predigtweiſe. 503 


ihm aus zur Teftftellung des Thema’s übergehen kann. Bet den 
alten Perikopen, alfo bei gegebenen und wohlbelannten Texten, bei 
welchen die Texteswahl Feiner Begründung und die Tertesverlefung 
feiner Vorbereitung für das Verſtändnis bedarf, ift diefes Voran⸗ 
ftellen des Textes ficher das Befte. Nur an hohen Feften und 
bei fonftigen befonderen Anläffen Tann ein kurzes, Träftiges Wort, 
ein fogenannter Auftritt vor dem Texte empfehlenswerth fcheinen. 

Insbeſondere ſpricht fich de Wette gegen die auf die Predigt 
Bezug habenden Gebete am Anfange vieler Predigten der Darm⸗ 
jtädter Sammlung aus. Solche Gebete erfcheinen ihm nicht 
natürlich herbeigeführt. Er hätte hinzufegen können, daß dieſelben 
* Häufig ein fehr docirendes oder doch reflectirendes Gepräge tragen 
und zu den fchlechteften Leiftungen des Nationalismus oder aud) 
Supranaturalismus gehörten. Indem man Reflexionen in das 
Sebetsgewand Feidete und Gott vortrug, was man doch eigentlich 
den Menfchen jagen mollte, ‚erreichte man anftatt bes Auffchwunges 
der Rebe meift nur eine kalt Laffende Gefpreiztheit der Form. Be⸗ 
kanntlich erklärte ſich auch Schleiermacher ganz entfchieden gegen 
Gebete an diefer Stelle. In der Wiesbabner Sammlung finden fie 
ſich dafelbft nirgends. — 

- Seit dem Erfcheinen der Necenfton über die Darmſtädter 
Sammlung bat man fich, namentlich nach Lisco's Vorgang, viel 
mit ber Beftimmung und Stellung der einzelnen Pe— 
rifopen im Kirhenjahre und mit ihrem Zufammen» 


 Hange untereinander befhäftigt.. Man wußte darüber öfter 


zu’ viel heranszufinden. Auch berücfichtigte man nicht genug, daß 
man jett in der Tutherifchen Kirche nicht das urfprüngliche, fondern 
ein mannigfach verändertes und verfürztes Perikopenſyſtem vor ſich 
bat. Jedenfalls gehören die oft fcharffinnigen, aber aud) manchmal 
ſehr willkürlichen Vermuthungen einzelner über die Auswahl der 
verfchiedenen Perifopen nicht als kirchlich Feftftehende Wahrheit auf 
die Kanzel. Da fie jedoch nicht ganz felten dafelbft erfcheinen, 
fonnte man fürchten, daß in einem Predigtbuche über die alten 
Perikopen, in welchem jeder Text von einem andern behandelt 
wird, Schon allein da8 Streben nad Herftellung eines Zus 
ſammenhanges zu viele und deshalb einander widerfprechende Er» 





504 Diegel 


örterungen über bie Stellung der einzelnen Texte und Predigten 
im Sirchenjahre bringen möchte. Wir freuen uns, dag man mit 
ganz geringen Ausnahmen diefer Verſuchung widerftanden bat. 
Zwar nehmen die Einleitungen mit Recht öfter von der kirchlichen 
Zeit und dem BVerhältuiffe des Textes zu derfelben ihren Ausgang; 
aber fie verbleiben faft immer bei dem wirklich Geficherten "und 
zur Sache Gehörigen. — 

Ebenfo Hat man bei einem andern, womit fett dem Erfcheinen 
der Darmftädter Sammlung fi) die Predigten mehr als früher 
bereichert und belebt haben, das rechte Maß eingehalten. Wir 
benfen an Berfe und Kirchenlieder, fowie an Erzählungen 
aus Gefchichte und Leben der Kirche. Auch fonft fehr tüchtige 
Predigtbücher bieten der Form nach zu unedle Tiederverje und etwas 
zu viele Anekdötchen. ‘Derartige Verirrungen finden fich in der 
Wiesbadener Sammlung nicht. Natürlich) zeigen ihre einzelnen 
Predigten bezüglich” des Genannten große DVerfchiedenheit. Im 
ganzen wird mannigfacher Gebraudh von Lieberverfen und ge 
Schichtlihen Zügen gemacht; das Gebotene erfcheint gut und nicht 
zu jehr gehäuft. — 

Ein Fehler endlih, an dem leider auch fonjt ausgezeichnete 
Predigtbücher in Folge der Arbeitsüberladung ihrer Verfaſſer Häufig 
leiden, tritt in der Wiesbadner Sammlung gar nicht hervor. Wir 
meinen die ungebürlihe Verkürzung und offenbar flüdr 
tigere Bearbeitung des legten Theiles oder der Tegten Theile, 
während auf die Einleitung und überhaupt die erjte Hälfte weit 
mehr Zeit und Kraft verwendet wird. Gleichmäßig forgfältige 
Durdarbeitung läßt fih übrigens auh von einer Sammlung er 
warten, deren Verfaſſer immer nur je eine Predigt für dieſelbe 
liefern. 

2) Stellung zum Terte und Dispofitionsmeife. 

Wir beiprechen beide zufammen, weil erftere großentheils von 
letzterer abhängt. 

de Wette klagt S. 673: „Der ganz textmäßigen Predigten 
find jehr wenige. Nur drei oder vier Homilien und wenige 
homilienartige finden fi) darunter; unter den übrigen fynthetifchen 
machen die tertmäßigen und die gefchichtlich -Firchlichen noch Lange 





Bergleihung ber heutigen evangelifchen Predigtweife. 505 


nicht die Hälfte aus, und die meiften Ichnen fi nur an den Text 
oder gehen .neben ihm Hin; in manchen fogar ift der Text ganz 
Schielend aufgefaßt, und einige wenige ftehen mit ihm im Gegenſatz. 
Bon diefer unwillfommenen Erfcheinung mag wohl ein Grund 
darin Tiegen, daß die meijten Predigten bis auf fechs die gewöhn⸗ 
lichen Sonn und Feſttags⸗Perikopen behandeln, welche wegen ihrer 
häufigen Wiederkehr fo ausgefchöpft find, daß die Prediger ſich in 
der Nothwendigkeit befinden, den Text beifeite Liegen zu laffen, oder 
ih höchftens an einen Theil oder Umftand desfelben zu balten.... 
Dean findet in diefer Sammlung von Berilopenpredigten meiftene 
alles andere, nur nicht die praftifche Auslegung der Berilopen 
ſelbſt. Vielleicht aber muß man auch hier ein jchlimmes - Zeichen 
des homiletifch-theologifchen Geiſtes finden, wie denn felbft bie frei 
gewählten Texte zum Theil ungenau behandelt find. ‘Der Beri- 
fopenzwang hat die Prediger gehindert, fich in der homiletifchen 
Behandlung der Bibel zu üben, um jo mehr, da fie durd die 
dürftige grammatifchshiftorifche Exegefe, welche bisher im Durd- 
fhnitt auf den LUniverfitäten betrieben worden, nicht dazu vorge- 
bildet waren.“ 

de Wette erwartet von der damals ſchon vielfach eingetretenen 
Aufpebung des Perikopenzwanges einen neuen Aufſchwung der 
Kanzelberedfamteit. Seine hier angeführten Anftchten geben zu vielen 
Bemerkungen Anlaß. 

Ueber die Rachtheile und Über den Segen des Feſthaltens an 
den alten Perikopen find auch fonft vielfach übereinftimmende, eben» 
ſowol wiffenfchaftlih wie praftifch tüchtige Theologen ganz ver- 
ſchiedener Meinung, 3. B. Nitzſch und Palmer. Zu genauerer 
Unterfuchung darüber fehlt hier der Raum. Diejenigen Landes» 
firchen fcheinen das Mechte getroffen zu haben, welche bie alten 
Beritopen alle zwei bis drei Jahre wiederkehren laſſen und für die 
Zwiſchenjahre andere Berilopenreihen anordnen oder freilaffen, auch 
im Bebürfnisfalle die Wahl eines ganz freien Textes geftatten. 
de Wette hat den Perifopen jedenfalls zu viele Schuld an der 
untertmäßigen Haltung der Darmftädter Sammlung zugejchrieben. 
Der Hauptgrund lag anderswo. Ein Beleg dafür ift die Wies— 
badner Sammlung: fie behandelt durchweg die alten Perikopen, 





506 Diegel 


und Tertgemäßheit ift durchweg ein Hauptvorzug ihrer 
Predigten. 

Die von de Wette erwähnte Verſuchung, bei fo oft behandelten 
Texten die Hauptfadhe und die natürlichfte Themabildung beifeite 
zu laffen, dagegen etwas neues, nebenfächliches und abjonderliches 
auszufinnen, kann nicht geleugnet werden. Aber die Verfaffer der 
Wiesbadner Sammlung haben mit ganz feltenen Ausnahmen diefe 
Berfuhung nicht an fich Heranfommen laſſen. Sie behandeln faft 
immer die Haupthemata. Allerdings find die Themata einigemal 
recht funftvoll ansgefonnen. Doch aud) in diefem Falle ftellt fich 
bei genauerer Betrachtung in der Regel heraus, dag nur der Ge⸗ 
ſichtspunkt, unter welchem der Text betrachtet wird, ein neuer ift, 
dag er aber zu einer Beſprechung des ganzen Textes Anlaß gibt. 
Muß auch zugegeben werden, daß dieſe an die Spige gefteliten 
neuen Geſichtspunkte zumeilen der urfprünglichen Textesabſicht ſchwer⸗ 
fih entfpredhen, fo erwächlt doch die Ausführung ganz oder zum 
großen Theil aus dem Texte. 

Dies führt auf die Dispofitionsmweife. 

Bei der großen Verfchiedenheit und Verwirrung, welche auf 
diefem Gebiete bezüglich der Ausdrücke herricht, werde folgendes 
zur Verftändigung vorausgefchict. Was de Wette homilienartige 
Predigt nennt, bezeichnet man jett gewöhnlich als analytifche Pre- 
digt. Hauptunterfchied der letteren von der Homilte ift das bes 
ftimmtere Thema und die Partition. Der Unterſchied zwiſchen 
ſynthetiſcher und analytifcher Predigt läßt ſich am leichteften fo 
feitftellen: bei erfterer erwachjen Theile und Ausführung aus dem 
Thema, je nad) deſſen Maßgabe das Nöthige von Überalf ber zu- 
. fammengeftellt wird, bei Teßterer erwachfen fie unmittelbar au® dem 
Zerte. Man kann noch einen Unterfchied zwifchen ftreng analy⸗ 
tifchen und zwiſchen analytifch » fynthetiichen Predigten machen. 
Durchaus nöthig ift diefer Unterfchted nicht, und manche verwerfen 
ihn gänzlih. Die Theorie wird auch wirklich durch denfelben ver: 
widelter, aber für die Gefchichte der Predigt, und um überhaupt 
die Menge der vorhandenen Predigten ihrer Methode nach genau 
auseinander zu Halten, wird er ſchwer entbehrt werben fünnen. 
Macht man ihn, fo kann man die ftreng anafytifche Methode nad 











Bergleichung der heutigen evangeliſchen Prebigtmeife. 507 


den befannten Schriften von Heubner und Lisco die Henbnerifch- 
Liscotfche nennen und fo beftimmen: der ganze Text, womöglich 
nach der Reihenfolge feiner Beftandtheile, und nur der Text bildet 
die Wurzeln, aus welcher Theile und Ausführung der Predigt er- 
wachfen. Sobald das Thema in der Weife auf Theile und Aus» 
führung einwirkt, daß um feinetwillen mandes vom Texte Hin» 
weggelaffen und manches Wefentliche von außerhalb des Textes 
hinzugefügt wird, hat man die analytifch=fynthetifche Methode. 
Leicht begreift fih, daß bei der ftreng analytifchen Methode die 
Themata viel weiter fein müſſen, als bei der analytiſch-ſynthe⸗ 
tifchen, um den zwanglofen Anfchluß an den Text nicht zu hindern. 
Der Unterfchted überhaupt ift natürlich ein fließender, die Be⸗ 
zeichnungen genügen wenig; aber e8 wäre ein großer Gewinn, wenn 
man fi die Sache Har zum Bewußtfein brächte. 

Die analytiiche Methode, die analytifch-fynthetifche hier mit 
eingefchloffen, Fam gewiß gemäß der ganzen neueren theologifchen 
Entwidlung mit vollem Rechte zur Herrſchaft. Sie hat die Pre⸗ 
digt nicht nur zum Worte, fondern auch in den Geift der Schrift 
zurüdigeführt. Aber diefe Methode legt doch auch große Gefahren 
nabe, die man am fürzeften fo bezeichnen Tann: um des Themas 
willen wird dem Texte Gewalt angethan, und um des Tertes 
willen fommt das Thema nicht zur Haren, befriedigenben Durch⸗ 
führung. Das gefrhieht namentlich dann, wenn man fich die Auf» 
gabe ftellt, da8 Thema immer ftreng analytifh durchzuführen, 
auch dann, wenn dasfelbe weder den ganzen Text beherricht, noch 
genügend durch den Tert ausgeführt wird. In diefem Falle zerren 
oft Text und Thema, fo zu jagen, einander zu wechfelfeitigem Schaden 
hin und ber. Dan verführt thatfächlich analytiſch⸗-ſynthetiſch, 
während man rein analytifch zu verfahren vorgibt und meint. 
Eine bewußte Scheidung des Verfahrens würde diefem Gebrechen 
abhelfen. Im glüclichen Falle, wenn Text und Thema ganz zu- 
fammenfalfen, wirb der Unterjchied beider Methoden verjchwinden. 
Andernfalls gebe man, je nah Maßgabe des Textes und dee 
Themas, entweder um ber ftreng analytifchen Behandlung des Textes 
willen mit vollem Bewußtſein und mit Harer Wahrung gegen die 
möglichen Misverftändniffe eine einfeitige Faſſung des Themas; 





508 Diegel 


oder man nehme zu völliger Durdführung des Themas das 
Nöthige offen und ohne Gewaltthaten oder Künfteleien am Texte 
von außerhalb desjelben, d. h. man verfahre analhtiſch⸗ſynthetiſch. 

Diefe Bemerkungen fcheinen bier am Plate, weil gerade in ber 
Dispofitionsweife ein großer Unterfchied und Fortichritt der Wies⸗ 
badner Sammlung im Verhältnis zur Darmftädter vorliegt. Jene 
zeigt in hohem Grade die Vorzüge und in fehr geringem Grade die 
Schattenfeiten der neueren ‘Dispofitionsweife. Auch diefe Schatten» 
jeiten ſcharf heranszuftellen, fchien .unerläßlihe Pflicht, wenn vor⸗ 
liegende Arbeit wirklich fördern foll. 

Während die Darmftädter Sammlung meiſt ſynthetiſch ver- 
fährt, und zwar öfter in der falfchsfynthetifchen Weife, welche das 
Thema nur an einen Nebenpunkt dee Textes anfchließt, fo daR 
Theilüberfchriften und Theilausführung dann ganz neben dem Texte 
berlaufen: finden wir in der Wiesbadner Sammlung fait nur 
das analytifche und das analytiſch-ſynthetiſche Ber- 
fahren. Dabei ift eine gewiffe Mannigfaltigkeit zu rühmen. Faſt 
immer find die Theile fo gefaßt, daß der Text in ihnen zwanglos 
dargelegt werden fanı. Manchmal gefchieht das ftreng analptiich 
Wort für Wort; mandmal auch ftellen die Theile den Text 
überhaupt unter verfchiedene Gefichtspunttee Allerdings find 
die Themata, um bdiefe völlige Behandlung der Texte zu er- 
möglichen, zuweilen ſehr weit, eigentlich nur Weberfchriften; aber 
da8 darf bei ftreng analytiſchem Verfahren nicht anders erwartet 
werden. j 

Ganz befonders verdient die Form der Dispofitionen An- 
erfennung und Lob. Die Darmftädter Sammlung hat noch öfter 
die alte Zheilung in Erflärung und Anwendung; fie bringt gern 
längere Hauptjäge und Theilanfündigungen in breiten, abftracten, 
reflectirend umftändlichen und matten Ausdrüden. In der Wies⸗ 
badner Sammlung find diefe Ankündigungen kräftiger, anfchaulicher, 
namentlich aber weit bündiger geworden. ine ziemliche Anzahl 
von Disppfitionen verbindet mit Tertgemäßheit und Einfachheit den 
feltneren Vorzug eigentümlicher, überraſchend neuer, ſchöner und 
ebenmäßiger Faſſung. Hierdurd wird nicht blos Ueberſichtlichkeit 
und Behaltbarkeit erzielt, fondern folche treffliche Dispofitionen 








— 


Bergleichung der heutigen evangeliſchen Predigtweiſe. 509 


weiſen auch überhaupt auf ähnliche Vorzüge des Inhaltes, deſſen 
Zuſammenfaſſung in ihnen vorliegt. — 

Homilien im engeren Sinne, die einen Text Vers für 
Vers ohne Theilbildung auslegen und anwenden, finden ſich in der 
Wiesbadner Sammlung nicht häufiger als in der Darmſtädter. 
Etwas häufiger als letztere bietet erſtere ſolche Predigten, welche, 
wie 3. B. die Becks, der Partition entbehren, ohne Vers für 
Vers den Text vorzunehmen. Das kann in völlig ſynthetiſcher 
Weiſe, d. h. mit völligem Abſehen von den Einzelheiten der Texte 
gefchehen, wie 3.38. von Shuderoff in der Darmftädter Samm- 
fung; man fann aber auch, wie in der Wiesbadner Sammlung, 
die Erörterungen bem Geifte und an dem geeigneten Stellen dem 
Worte nach ans dem Texrte hervorgehen laffen. Man vermag fich 
bei diefer Methode mehr nur an die Hauptgedanken der Texte zu 
haften, al8 bei der eigentlichen Homilie, und man geminnt durch 
die Befeitigung der Partition eine freiere Bewegung. Doch fcheinen 
mir die Gefahren diefer Methode größer als ihre Vortheile. Zus 
weilen nur wünfchte ich fie angewendet, wie überhaupt eine größere 
Manigfaltigkeit des homiletifchen Verfahrens. Daß die Wies- 
badner Sammlung einer ſolchen Manigfaltigleit, daß fle insbes 
fondere auch Homilien und partitionslofe Predigten, und 
zwar beide recht geſchickt abgefaßt, vorführt, das muß jedenfalls als 
ein Borzug derfelben bezeichnet werden, den namentlich auch der 
auf homiletiſche Studien bedachte Prediger willlommen heißen muß. 
In fo kurzen Predigten, wie die vom 12. nah Trin., wird fein 
Dernünftiger eine Partition verlangen. 

Die Wiesbadner Sammlung ift aljo fehon ihrer Dispofitions- 
weife nad) ungleich mehr auf Xertbehandlung angelegt, als die 
Darmftädter. Diefe Textbehandlung iſt faft immer eine 
exegetifch und erbaulich ‚fruchtbare, öfter jelbft eine fehr fruchtbare, 
auch meiſt eine exegetiich richtige. Der großen Gefahr, daß der 
Prediger um ber praftifchen Anwendung willen, die er gern machen 
möchte, ſchon allerlei in die Auslegung des Tertes hineinjchaut, 
was gar nicht in der Xertesabficht Liegt, unterliegen die Berfafler 
nur felten. Einigemal freilich ftößt man auf derartige Künfteleien. 
Auh das bei amalytifchen Predigten jo nahegelegte zu ftarfe 





510 Diegel 


Ausdeuten einzelner Züge des Textes, fo daß deſſen Hauptpumfte 
nicht genug hervor und deffen Nebenpunkte nicht entjprechend zurück⸗ 
treten, wurde meift vermieden. Weberhaupt werben, auch abge 
fehen vom Xerte, zum öftern, jedoch nicht im Uebermaße und in 
der Regel treffend Schriftftellen angeführt. 

Die Wiesbadner Sammlung ermeift ſich alfo als eine [hrift- 
mäßige und bezeihnetdurd ihre Tertbehandlung und 
mehr noch durch ihre oft geradezu vorzüglide Dis— 
pofitionsweife erfreuliche Fortſchritte der Predigt. 

Da die Epifteln bezüglich der Dispofitionsweife noch ganz bes 
fonbdere, eigentümliche Schwierigkeiten darbieten, fo darf man barauf 
gefpannt fein, wie die von bemfelben Verleger und Herausgeber zu 
erwartende Sammlung von Epiftelpredigten dieſe Schwierigkeiten 
anfaßt und bewältigt. 

3) Der Hauptinhalt. 

Zum großen Theile hat darüber fchon bie vorige Nummer 
Ausfunft gegeben. Doc Halten wir eine kurze Zufammenftellung 
für zweckdienlich. Wird gut analytifch disponirt, erwächſt demnach 
die Ausführung aus dem Texte, werben deren Hauptthemata bes 
handelt: dann wird der Inhalt der Predigten mit Nothwendigkeit 
ein biblifcher und bei neuteftamentlihen Texten, wie unfere alten 
Perikopen, ein fpecififch chriftlicher. de Wette klagt bezüglich ber 
Darmftädter Sammlung: „Verhältnismäßig wentge Predigten gehen 
in die Tiefe der chriftlichen Ideen ein. Die meiften Halten fid 
am Umkreiſe derfelben auf oder gehören dem allgemeineren, fittlich* 
religiöfen Gebiete an, und befchäftigen fi mit Erfahrung und An- 
wendung.“ Indem wir eine Auselnanderfegung mit de Wette 
bezüglich feiner Anfichten über die chriftlichen Ideen bier für nicht 
erfprießlich erachten, brauchen wir Tieber den Ausdrud: das 
Specifiſch- oder Eigentümlid-Chriftlihde. Dieſes 
herrfcht in ber Wiesbabner Sammlung durchaus vor, in der Darm- 
ftädter dagegen das Allgemein - Religiöfe und Sittlihe. Namentlich 
wird in erfterer mit Kntfchiedenheit und Herzenswärme Jeſus 
Chriftus als der Heiland und Gottesfohn verkündigt. 
Diefe eigentümlich « hriftlihen Grundwahrheiten treten ganz felten 
in fteif »dogmatifcher, etwas öfter ſchon in theologifch-bocirender, 


Bergleichung der heutigen evangelifchen Predigtweife. 611 


meift aber in religiös⸗erbaulicher Haltung entgegen. Man findet 
feine unnatürliche Trennung zwifchen Dogmatik und Moral. Bloße 
Moralreben, die ja auch gar feine Predigten wären, find gar nicht 
vorhanden. Meift werden Hanptthemata des Chriftentums und 
des religiöfen Lebens beiprochen. Findet man zuweilen feinere und 
einzelne Punkte, die mehr nach der Peripherie zu liegen, in das 
Auge gefaßt: fo darf man das keineswegs tadeln; denn es foll ja 
nicht immer bloß Grund gelegt, fondern auch ausgebaut werden. 
Man muß nur in biefem alle immer ben tieferen Hintergrund 
ber großen Heilswahrheiten hindurchfühlen. Man kann letztere 
nennen und doch weit von ihnen entfernt ſein; man kann, ohne ſie 
zu nennen, die Gedanken völlig von ihnen durchdrungen fein laſſen. 
Der Wiesbadner Sammlung kann nicht nur letzteres nachgerühmt 
werden, fondern auch ein fharfes Hervorheben der großen 
Heilewahrheiten mit ausdrüdlichen Worten. Vielleicht fogar 
geſchieht dieſes gefliffentlichen Hervorhebens manchmal etwas 
3u viel. 

In der DVorrede der Wiesbadner Sammlung wird bemerkt, 
es jei, um die Erbauung nicht zu ftören, aller polemiſch— 
tendenzidfe Inhalt ausgefchieden worden. Damit ftimmt ber 
Inhalt vollfommen. Auch die Iutherifche Lehre wird zum öftern 
dargelegt, aber ohne ſcharfes Heransftellen der von der reformirten 
Kirche oder von andern evangelifchen Richtungen fcheidenden Lehr- 
ftüde und Auffaffungen. So erinnere ih mich z. B. nicht, eine 
Erörterung über das Amt gefunden zu haben, während Wort und 
Sacrament öfter entjchieden hervorgehoben werden. Auf bie 
Unton fommt meines Erinnern® nur einmal die Rede. Die po- 
fitio-aufbauende Art überwiegt durchaus, fo daß auch dem Un⸗ 
Hriftentum gegenüber nicht zu viele Apologetik im engeren . 
Sinne vorfommt. Allerdings aber haben, und gewiß dringenden 
Zeitbebürfniffen entfprechend, einige Predigten eine vecht gute vor⸗ 
wiegend-apologetifche Haltung. Den einzigen wichtigeren Wunſch, 
den wir bezüglich des Inhaltes auszufprechen hätten, verfparen wir 
auf die Bemerkungen über die Ausführung, die er weit mehr be- 
trifft, ale den Hauptinhalt an fid. 

Bezüglich dieſes Tegteren dürfen wir unfer Urtheil in die Ber 


512 -  Diegel 


hauptung zufammenfafien, daß derjelbe in der Wiesbabner Samm⸗ 
lung verglichen mit der Darmftädter nit nur weit mehr ein 
biblifher und eigentümlih Kriftlider geworben ift, 
fondern daß er auch abgefehen davon an Gediegenheit 
und Werth gewonnen hat. 

4) Sprade und Ausführung, 

Bezüglid der Darmftädter Sammlung : fagt de Wette: 
„Recenfent unterjcheidet in Hinficht der Ausführung und Vortrags- 
weife zwei Hauptarten, die didaktifche ober verftündige, und bie 
thetorifche oder gefühlemäßige. . . . Recenſent wagt in diefer Hin- 
fiht im allgemeinen das Urtheil, daß die verftändige und empirifche 
Behandlungsart überwiegt, und die dadurch herbeigeführte Kälte 
häufig duch erfünftelte Rhetorik, Blümelei und dergleichen ver: 
deckt wird, ein Zeichen, daß unjere Theologie noch) unter der er- 
faltenden Herrichaft des Begriffes fteht, fie mag num rationaliftifch 
oder fupernaturaliftifch fein.“ 

Die Predigten der Wiesbadner Sammlung tragen ein merklich 
anderes ſprachliches Gepräge. Die kalte, abftracte oder reflec- 
tirende Haltung hat einer lebendigeren, abwechslungsvolleren, ans 
ſchauungsreicheren Plag gemadt. Die Art des Satzbaues 
ift eine andere geworden. Der in langen Sätzen allzu 
regelrecht und gleihmäßig einherfchreitende claffischefteife Periodenbau 
hat einer viel lebendigeren, manigfaltigeren, fich öfter auch in kürzeren 
Sätzen ergebenden Schreibweife weichen müſſen. Auch bezüglich 
des Stiles fühlt man ſich weit. öfter an Claus Harms und 
Drüfele erinnert ald an Reinhard und Zollikofer. Natür- 
lich wollen wir nicht jagen, alles fei bei legteren vom Uebel, bei 
erjteren dagegen muftergültig für jedermann. Auch die kurzen 
Süße können zur Manier werden, und einigemal ift die Wies— 
badner Sammlung wirklich von bderartigem nicht ganz frei geblieben. 
Im allgemeinen aber darf ihre Sprache, die fih auch mit fehr 
geringen Ausnahmen von vermeibbaren Fremdworten erfreulich rein 
hält, als eine natürliche, Klare und edle bezeichnet werden. Sie 
jteht dadurdy auf der Höhe unferer formalen Bildung, und zwar 
ohne, die der Kanzel gebürende Würde und Kraft aufzugeben. 
Doß im übrigen die Doarftellung viele Abwechslung zeigt, baß 








Bergleichung ber heutigen evangelifchen Prebigtweife. 518 


geiftreich-fchöne und rhetorifch-blühende Predigten mit einfach bar: 
legenden wechſeln, darf bei einem ſolchen Sammelwerke nicht bes 
fremden und noch weniger al8 ein Schaden betrachtet werden. 
Die Eindrücke werden einander vielmehr ergänzen und fteigern. 
Nur in einer Beziehung glaubt Referent hier auf einen Mangel 
hinweifen und einen Wunfch für die Lünftige homiletifche Ent: 
wicklung ausſprechen zu follen. Er thut das um fo ungefcheuter, 
da er ja felbft zu ben Mitarbeitern diefer Sammlung gehört, und 
da er aufrichtig an fich felber beflagt, was er jetzt als allgemeine 
Schattenfeite bezeichnet. Unfere Predigtfprade ift noch 
vielfah zu hoch und doctrinär; fie ſchleift noch zu 
viel von der theologifhen Schule nad, und zwar von 
einer Schule, die durch manigfache kunſtvolle Ver— 
mittlungen hindurchgegangen iſt; unſere Gedanken— 
bildung trägt demnach oft ein zu feines, vornehmes 
Gepräge; wir malen nicht genug mit den vollen Far- 
ben der Wirflichlett, ſondern unſere Darftellung tft 
von der Bläſſe der Abftraction angelränfelt; wir 
jollten einfaher und volkstümlicher reden, klarer 
und fhärfer in das gefamte Leben ber Gegenwart 
hereingreifen. Mit Recht bat ber Herr Herausgeber bas 
Ueberjegen in die Sprache unferer Zeit al8 Forderung aufgeftellt, 
und wir zweifeln nit, daß es die redliche Abficht der Verfaſſer 
gewejen if. Wir müffen auch in Anfchlag bringen, daß die Vor⸗ 
rede erklärt bat, das auf Tocalsfirchliche Verhältniffe Bezügliche fei 
ausgefchteden worden. Solches Ausſcheiden war gewiß ganz zived- 
entfprecdend. Aber obige Ausftellung bleibt trogdem eine im all⸗ 
gemeinen wohlbegründete. 

Die Sache hat große Wichtigkeit und greift fehr tief. Man 
muß befennen, daß die Darmftädter Sammlung in dem fraglichen 
Punkte einen großen Vorzug vor der Wiesbadner hatte. Ihre 
Anfihten, fo abftract und reflectivend fie uns oft ammutben, 
ftimmten weit mehr mit den Durchichnittsanfchauungen der das 
maligen ®ebildeten überein, als die an’jich fo viel werthoolieren 
und beffer dargeitellten Ausführungen der Wiesbadner Sammlung 
mit den Durdichnittsanfchauungen der jegigen Bildung. Ein 


514 Diegel 


ftarker Theil unferer Bildung und unferer Vollgmeinungen einer» 
feit8 und ein großer Theil unferer theologifchen Entwicklung ander 
feitS geriethen auf ihren Wegen weit auseinander. Wir unterfucdhen 
nicht, was alles daran fehuldig war. Es gilt, Hare Fühlung und 
fräftige Wechſelwirkung herzuftellen. Man wird unferer wiffen- 
ſchaftlichen Theologie nicht Unrecht thun, wenn man beklagt, dag 
dem außerordentlichen Aufwande von Eifer und Kraft, mit dem fie 
fi) der Erforfchung alter Zeiten und ihrer Schriften zumendete, 
nicht gleiche Leiftungen bezüglich des Lebens und geiftigen Be⸗ 
dürfens ber Gegenwart zur Seite ftehen. Sonft fehr tüchtige 
theologifche Brofefjoren fcheinen manchmal zu vergefien, baß fie 
nicht zur Ausbildung kritiſcher Gelehrter bezüglihd der Vergangen⸗ 
heit, fondern zur Ausbildung von Predigern des Heils für Kinder 
unferer Zeit berufen find. Aber nicht bloß insbeſondere Dogmatik, 
Ethik und Apologetit haben für die Ueberbrüdung der angedeuteten 
unglückſeligen Kluft große Aufgaben zu Löfen, fondern es muß noch 
vieles andere und namentlich die Predigt friich von ſich felbit aus 
in vorderfter Reihe mitarbeiten. Nicht fo, daß fie ihren tieferen 
riftlichen Gehalt, ihre Textgemäßheit, ihre edle, gemüthsinnige, ge⸗ 
danfenreihe Sprache aufgibt, wol aber fo, daß fie fi auf Grund 
von dem allem zu noch größerer Einfachheit, Deutlichkeit und 
Volkstümlichkeit erhebt. Unſere ganze bisherige geiftige Entwid- 
fung, insbejondere auch die theologifche, hat letztere Vorzüge über- 
aus erſchwert. Die homiletifche Theorie kann auf den Schaden 
aufmerkfam machen, und Zanfende werden ihr beiftimmen; aber 
wirklich geheilt wird berfelbe nur, indem mächtige Entwicklungen 
die Anstrengungen ber Einzelnen fteigern und leiten. &8 gilt bier 
das Schriftwort: „Ein Menſch Tann nichts nehmen, es werde 
ihm denn gegeben vom Himmel.“ Unfere kirchlichen Kämpfe, das 
Segeneinander- und Miteinanderarbeiten von Geiftlichen und Laien 
dabei, die wachſenden Notbhftände der Kirche und des Volles, die 
zugleich wachjende Liebe zum Heilande und zum Volle, überhaupt 
nicht die Verflachung, fondern die Vertiefung unferer Frömmigkeit: 
diefes und anderes, mehr Wird uns Prediger durch Vergeſſen des 
einen und durch Auffinden des andern zur echten Volkstümlichkeit 


binführen. 


Bergleihung ber heutigen evangeliſchen Predigtweiſe. 515 


Als die vorzüglichften Predigten der Wiesbadner Sammlung 
erweifen fich die fehr geiftreichen, durch theils mehr Gemüthstiefe, 
theil8 mehr feine und hohe Gedanken, überhaupt durd edle, hoch⸗ 
gebildete Form ausgezeichneten Arbeiten einiger Männer, die zu⸗ 
meiſt in hervorragenden Stellungen oder doch vor gebildeten Ger 
meinden reden. Eine beträchtliche Anzahl anderer Predigten kommt 
ihnen mit ähnlichen Vorzügen wenigftens nahe. Andern darf eine 
einfache, Hare, oder auch eine recht lebendige Sprache nachgerühmt 
werden. Aber eigentlich volfstümlich » Fräftige Predigten von etwa 
gleichem Werthe treten jenen vorzüglidhften nicht zur Seite. 

Für den erbaulichen Zwed der Sammlung fchadet das freilich 
nicht allzu viel. Der ganzen Art und namentlich auch der ausge. 
zeichnet Schönen Ausftattung des Buches gemäß wird dasfelbe vor» 
zugsweiſe von Gebildeten benügt werden. Bei dem Lefen wird 
diefen die mehr hohe und feine Art der Darftellung fehr gut 
zufogen. Man bat ja mit treffenden Gründen behauptet, daß ge- 
druckte Predigten fich einer höheren und vollftändigeren Darftellung 
befleißigen follten, al8 die auf der Kanzel. Gewiß hat auch wirt 
ih die Rüdfiht auf den Drud den vorliegenden Predigten mehr 
Gelehrſamkeit und kunſtvolle Sorgfalt zu Theil werden laſſen, 
während fi) mancher ihrer Verfaſſer für gewöhnlich einfacher hal⸗ 
ten wird. Im ganzen jedoch glauben wir bie Seite, nad 
welcher Hin der homiletiſche Fortſchritt zumächit noththut, mit 
unferer Forderung größerer Volkstümlichkeit richtig bezeichnet zu 
haben. 

Man wird indefien der Wiesbadner Sammlung nicht anrechnen 
bürfen, daß fie eines Vorzuges entbehrt, der den Predigten unferer 
Zeit überhaupt abgeht. Die wenigen Prediger, die ihn wirklich 
befiten, haben ihn zum heile durch Preisgeben anderer For⸗ 
berungen fo theuer erfauft, daß man ihnen nicht mit gutem Ges 
wiffen folgen würde, felbft wenn das fonft möglich wäre. 

Dagegen hoffen wir mit Recht behauptet zu haben, daß fidh 
die manigfachen Vorzüge der gegenwärtigen evangelifchen Predigten 
vor den 50 Jahre älteren in der Wiesbadner Sammlung reichlich 
finden, insbefondere: weit größere TZertgemäßheit, warmes 
Hervorheben des Eigentümlich-Chriſtlichen, treff- 

Theol. Stub, Salıyg. 1878. 54 » 


516 Röſch 


liche, theilweiſe geradezu muſtergültige analytiſche 
Dispoſionen, eine manigfaltige, wohlgebildete, oft 
ſchöne und edle Sprache, ein wahrer Reichtum an er— 
bauliden, an feinen und guten Gedanlten Wir 
glauben fie niht nur zur Erbauung, fondern aud 
den Theologen zum Studium beſtens empfehlen zu 
können. 


u; 
Die drei Sänlennpoftel in der Geheimſprache des 
Thalmud. 
Von 


Guſtay VRöſch. 





Vier altteſtamentliche Perſonen ſind es, die in der Gemara 
des Thalmud von dem ewigen Leben ausgeſchloſſen werden: Bi⸗ 
leam, Doeg, Ahitophel und Gehaſi. Der erſte iſt nach 
Joſt, A. Geiger, Perles, J. Levy u. a. der Geheimname 
FJeſu im Thalmud, alſo werben die drei andern mit ihm zu⸗ 
fammengenannten Männer in ber Umgebung Jeſu, beziehungsweife 
unter den Apofteln zu fuchen fein. Natürlich verfällt man um 
der Dreizahl willen zunächft auf die-doxoövres orülos sivas, Ya: 
tobus, Kephas und Yohannes, in Gal. 2. Und im ber 
That haben auch zwei Shyuagogengelehrte, der verftorbene Rabbiner 
Jakob Ezechiel Löwy in Beuthen in Oberjchleften und der Water 
meines verehrten Freundes D. Marcus Brann in Breslau, der 
Nabbiner Brann in Schneidbemühl in Pofen, ganz unabhängig 
von einander ans Doeg durch die ſcharffinnige Combination ber 
Lesart aha mit 7 „Bilder“, den Petrus herausgebracht. Wer 
ift danm aber Ahitophel? Jakobus oder Johannes? Ye 
nachdem ergibt fi) dann die wahrſcheinliche Bebentung Gehaſi'é 
von felbft. 











Die drei Sänlenapoftel in der Geheimſprache bes Thalmud. 517 


Nach dem mir von D. M. Brann mitgetheilten und, weil ich 
der hebräiſchen Umgangsſprache des heutigen JIudentums allzu 
wenig kundig bin, wörtlich deutſch überfegten Artikel Spming in 
dem „ Sepher bikkoreth hathalmud “, oder „Kritifchethalmudifches 
Lexikon“ des vorgenannten J. E. Löwh ift Abitophel „Jakob 
der Bruder Jeſu, oder ein anderer Apoſtel, vielleicht auch Saulus 
oder Paulus“. Unbedingt richtig iſt nun in dieſer Interpretation 
die Deutung der erſten Hälfte des Namens auf den status con- 
structus von ng = Bruder, Freund und Genoffe, aber (hie 
haeret aqua!) die zweite Hälfte pm foll der Eigenname 
Theophilus in der Debication der Apoftelgefhichte fein, und 
„diefe® Wort bedeutet ſowol im Griechifchen als im Lateintfchen 
Theo filius — Gotte8 Sohn“. Halten wir dem wärdigen Todten 
dieſes kindiſche Spiel mangelhafter Schulbildung zu gut, und prüfen 
wir den Vorſchlag Löwy' s, Ahitopkel mit Jakobus, dem Bruder 
des Herren, zufammenzuftellen, mit unferen wiſſenſchaftlichen 
Mitteln, denn „hoher Sinn liegt oft im kindiſchen Spiel“. 

Forſchen wir zunüchſt nach dem thalmudiſchen Motiv, gerabe 
Ahitophel, den Rathgeber Abjaloms, mit Bileam-Yejus in 
Verbindung zu bringen, fo werben wir den Schlüffel hiezu in bem 
Umftand zu fuchen haben, daß die Kombination Bileam⸗Jeſus auf 
ber altteftamentlihen Brandmarkung der Apoftafie als Hurerei, 
ja fogar ale Ehebruch, beruft. War es doch Bileam, ber 
nah Num. 31, 16 Balak den ärgerlichen Rath gab, die Kinder 
Israel durch die Töchter der Moabiter zu dem unglichtigen Cultus 
bes Baal-Beor verführen zu laſſen! Einen gleich ärgerlichen Rath 
bat aber Ahitophel dem Abſalom gegeben, warnm fell alfo ber 
Thalmud in feiner Geheimfpradhe ihn nicht zum Jünger Bileams 
mahen? Souft kommt er freilih unter den Püngernamen der 
jüdifchen Sage nicht vor, vgl. „die Jeſusmythen des Judentums“ 
in den Theologiſchen Studien und Kritiken von 1873, &. 98 - 100. 

Iſt nun Abitophel in der Geheimſprache des Thalmud mit 
Hecht ein Jünger von Bileam⸗Jeſus, fo haben wir jet die thal- 
mudiſche Tradition über ihn zu Rathe zu ziehen, um an ihr die 
Berechtigung feiner Eombination mit Jakobus, dem Bruder des 


Heren, zu prüfen. Dieſe erzählt nach ber Mittheilung D. Branns 
34 * 


518 Röſch 


an mich folgende zwei Züge von ihm: „Ahitophel hat täglich 
drei neue Gebete verrichtet“, und: „Drei Dinge befahl 
Ahitophel ſeinen Söhnen: ſeid nicht im Streit, und 
empöret euch nicht gegen das Königtum des Hauſes 
David, und wenn das Wochenfeſt (nysy) klar (oder: au 
erwählt, Ip) ift, ſäet Weizen“. Eine Variante diefer lept- 
willigen Verordnung Abitophels läßt das erſte Gebot weg und 
fchaltet zwifchen da8 zweite und dritte folgendes ein: „und ver» 
fehret niht mit dem, weldhem die Stunde lat”. Es 
ift auf den erften Bli Mar, dag diefe beiden Züge unmöglich den 
hiftorifchen Ahitophel, fondern nur den fyombolifchen angehen 
können; wie verhalten fie fich nun zu dem cdhrijtlichen Bilde Ya- 
kobus', bes Bruders des Herrn? 

Um mit den tägliden drei neuen Gebeten zu beginnen, 
fo erblickt D. M. Brann einerfeits ein Fefthalten an der jüdifchen 
Sitte dreier Tagesgebete und anderfeits eine Reform diefer Sitte 
entweder durch Umänderung ber ftatarifchen Gebetöformeln im 
Sinne bes erfchienenen Meſſias oder durch deren Erſetzung mit 
jedesmal freien Herzensergüffen. Diefe Auffaffung dürfte ebenjo 
richtig, ald dem Bilde des Jakobus angemefjen fein. Denn daß 
Jakobus einerfeits den väterlichen Neligionsgebräuchen treu blieb, 
beweift feine langjährige Vorſtandſchaft in der jerufalemifchen Ur 
gemeinde, welche nach der uns in ber Apoftelgefchichte aufbehaltenen 
Ueberlieferung ihre Gebetsverfammlungen im Tempel hielt und dabei 
die jüdiſchen Gebetsftunden beobachtete (vgl. Weizjäder: „Die 
Berfammlungen der älteften Chriftengemeinden“, in den Jahrbüchern 
für Deutfche Theologie von 1876, ©. 474—530), fodann fein 
Vorbehalt der Predigt unter der Beſchneidung im Galaterbrief, 
feine bei aller Liberafität doch judaiftifche Haltung in der Apoſtel⸗ 
gefhichte und feine, wenn auch mythiſch gefärbte, doch nicht unde- 
dingt vermwerflihe Charakteriftit von Hegefippus bei Euſebius. 
Daß er aber anderfeits bei allem Confervatismus der Maun de 
Fortfchrittes und namentlid in Sachen des Gebets für eine .freic 
Bewegung war, läßt fi) aus der Betonung bes Segens des Or 
bets in dem feinen Namen tragenden und wahrſcheinlich trog der 
Zweifel Weizfäders wenigſtens feine Richtung rvepräfentirenden 








Die drei Sänlenapoftel in der Geheimfprache des Thalmud. 519 


Brief und aus der Erhebung des Brotbrechens und der Ge- 
bete zu umnterfcheidenden Merkmalen bes jerufalemifchen Gemeindes 
lebens in Apg. 2, 42 vermuthen, in fo fern bie roogsuyai al8 
fpecififche Ausflüffe des neuen Glaubens nothwendig die Formeln 
bes Herkommens verändert oder neben diefen fich wenigftens ihre 
eigenen Ausdrüde gefchaffen Haben müſſen, deren anfänglich wie 
bei der paulinifchen Gebetsweife freier Fluß vielleicht frühe fchon 
in die Kanüle der Stabilität geleitet worden iſt. Welchen Geift 
diefe roogsvgas athmeten und in welche Formen fie fich ergoffen, 
(ehren und nah Weizſäckers feiner Bemerkung die Oben ber 
Apofalypfe. 

Nicht weniger glücklich als die täglichen drei neuen Gebete har⸗ 
moniren bie drei Gebote Ahitophel® mit ber Geiftesrichtung 
des Jakobus. „Seid nihtim Streit”, das ift die Quinteffenz 
der Warnungen vor den Sünden der Zunge, vor Neid und Zank 
im Jakobusbrief und das Motiv bes Hegefippifchen Beters im 
Tempel zu feinem unabläſſigen Gebet um Vergebung für das Volt, 
Bon biefer Fürbitte des Jakobus fällt zugleich das rechte Licht auf 
das zweite Gebot: „Empöret euch nicht gegen das König— 
tum des Haufes David“. Wir können nämlich mit Lechler 
(Das apoftolifche und nachapoftolifche Zeitalter, 2. Autg., S. 297) 
die Schuld Israels In den Augen des Jakobus nur in der Verwerfung 
Jeſu als Meffias ſuchen; alfo ift das zweite Gebot eine Ermahnung 
an die Widerchriften unter den Juden zum Glauben an Jeſus als 
den Meſſias unter der Berufung auf feine der Weißagung ent» 
fprechende Abkunft von dem Haufe David gleich der: Antwort des 
Jakobus auf die Frage nad) dem Werthe Jeſu: rovzov elvas 
zov owrnoa. Aehnliches Hat fi wohl Löwy bei feiner Erfläs 
rung des zweiten Gebots gebadht: „Führt immer die Genealogie 
des Meſſias auf König David zurück“, ih Tann fie wenigfteng 
nicht anders verftehen. Biel fchwieriger ift die Deutung, des 
dritten Gebotes: „Wenn das MWochenfeft Har (oder: auserwählt) 
ift, füet Weizen.” Um eine Bauernregel Tann e8 fi bier uns 
möglich handeln, denn was hätte ber Name Ahitophel mit einer 
folchen zu fchaffen, und feit wann ſät man in Paläftina im Mai 
oder Juni Weizen? Das Gebot muß eine ſymboliſche und in Ahi⸗ 





520 Röſch 


tophels Mund eine chriſtliche Bedeutung haben. Löwyh ſucht dieſe 
in der angeblich chriſtlichen Sitte der Taufe der Neubekehrten am 
Pfingſtfeſt, das er mit Quaſimodogeniti, dem ſogenannten weißen 
Sonntag, dem Tauftag der alten Kirche, verwirrt, und erklärt da⸗ 
raufhin das Gebot ſo: „Nehmet neue Genoſſen auf an dem 
Wochenfeſt, welches dazu auserwählt worden war, daß ihr an 
ihm den heiligen Geiſt empfanget.“ Die Beziehung von nouy 
auf da8 Wochen⸗ ober Pfingftfeft ift unanfechtbar, denn ſchon %0s 
jephus nennt (Antigg. III, 10, 6) als deſſen hebräifchen Namen 
Acagdd, aber die Beziehung der Weizenſaat auf die Taufe ift 
unrichtig, denn diefe Tann nach den Sleichniffen Jeſu nur die Pre⸗ 
digt des Evangeliums bedeuten. Hienach kann im dritten Gebot 
der Sinn liegen, wenn Pfingften Far oder Beiter fei, d. h. durch 
den ftarfen Zufammenfluß von Fremden in Jeruſalem eine güun⸗ 
ftige Gelegenheit darbiete, folle man in der Erinnerung an ben 
gefegneten Pfingiterfolg des Apoſtels Betrus an dieſem Feſt das 
Evangelium predigen. Die Beziehung von nyyx, auf Pfingften 
wird jedoch nicht nothwendig fein, fondern man wird mit dem Alten 
Zeftament auch an den Schlußtag des Paſſah⸗ oder Laubhütten« 
fefte® denken dürfen; dann läßt ſich das dritte Gebot mit Nückficht 
auf Joh. 12, 24 auch als eine Reminiscenz an den Märtyrertod 
des Jakobus in den Paffahtagen auffafien. Ohne alle Schwierig» 
feit erklärt fi) dagegen der Einfchub der Variante: „Verkehrt 
nicht mit dem, welchem die Stunde lacht”, aus der Bo- 
lemik des Jakobusbriefes gegen den verdienftlofen Reichtum. 
Erhebt die Gefchichte Feine Einwendung gegen die Identifikation 
Ahitophels mit Jakobus, dem Bruder des Herrn, fo gilt es end» 
lich, aud) die Etymologie glüdlicher als Löwy mit ihr auszu⸗ 
föhnen. Seine Deutung ber erften Hälfte des Namens auf 
„Bruder“ ift zwar, wie ſchon oben bemerkt worden ift, zweifellos 
richtig, aber was hat ben mit Jeſus gemein? Das Wort bedeutet 
im Altpebräifchen nah Maßgabe von Spa und mbun ſicher 
„ſündlich Thörichtes“, oder „fündlihe Thorheit“; dann 
heißt Ahitophel „der Bruder der Thorheit“. „Der Narr“ aber 
wird Jeſu mehr als einmal, wenn auch mit anderem Wort, im 
Thalmud geſcholten. Sucht man jedoch für dum ein Homonym 











Die drei Säulenapoftel in der Geheimſprache des Thalmud. 521 


im Thalmudiſchen, fo begegnet und hier wopm oder mopn als 
„Unzucht“; dann ift Abitophel „der Bruder der Unzucht.“ „Der 
Sohn der Buhlerin“ ift aber Jeſus im Thalmud ebenfalls 
nad) Benennung und Sage. 

Wer iſt dann aber fchließlih Gehaſi? Natürlih niemand 
anders als der Apoftel Johannes. Eine etymologiiche Barallele 
Tägt fih zwar zwiſchen diefen beiden nicht ziehen, wol aber eine 
fachliche. Wie Gehaſi der Erzähler der Thaten Elifa’s vor König 
Joram war, fo ift Johannes als Evangelift der Erzähler ber 
Thaten Jeſu; wie Gehaft ein Lügner vor feinem Meifter war, 
fo war nad jüdiſchem Urtheil Johannes ein Lügner über feinen 
Meifter. Das Evangelium Johannes aber fcheint in den thal- 
mubifchen Kreifen befannt geweien zu fein, wenigftens kannte Rabbi 
Chanina die von Ihm vorausgefegte drei» bis vierjährige Dauer des 
Lehramtes Jeſu, wenn anders auf die Erzählung bed Thalmud 
von einem Gefpräcde eines Sadducüers (d. ı. in fpäterer Zeit ges 
wöhnlich Judenchriſt) mit Rabbi Chanina etwas zu geben ift. Der 
Sadducäer fragte den Rabbi: „Weißt du vielleicht, wie alt Bileam 
wurde?‘ Die Antwort lautete: „Geſchrieben ift hierüber nichts, 
aber er wurde vielleiht 33 oder 34 Jahre alt.“ Jener erwiderte: 
„Du haft Recht, denn ich Habe felbft ein Buch (eine Chronik) des 
Bileam gejehen, worin e8 heißt: 33 Jahre alt war Bileam, der 
Lahme (d. i. nah 1 Kön. 18, 21 der Abgöttifche), als ihn Pine 
has der Räuber (Geheimname des Pilatus, weil Pinehas den 
Israeliten mit ber Moabiterin im Hurenwinkel erftach) tödtete.‘‘ 
Bol. 3. Levy, Wörterbuh über die Zargumim, s. v. DM. 


Necenfionen. 


1. 


Die dentfche Nationalität der kleinafintifchen Galater. 
Ein Beitrag zur Gefchichte der Germanen, Kelten und 
Galater und ihrer Namen. Bon Dr. Karl Wiefeler. 
Gütersloh, Drud und Verlag von €. Bertelsmann. 
1877. 





Die Hoffnung, welche die Rebaction des Riehmſchen „Hand⸗ 
wörterbuches des biblischen Altertums* in einer Anmerkung zu 
dem Artikel „Salater” (5. Lieferung, &. 456) ausfpricht, daß nämlich 
ber ältere, feiner Zeit weitverbreitete „Irrtum, bie Heinafiatifchen 
Salater feien Germanen geweſen“, durch Willibald Grimme gedie⸗ 
gene Unterſuchung in diefem Blatte „für immer abgethan fein werde“, 
ift nicht in Erfüllung gegangen. Der ausdanerndfte Verteidiger 
des vorausgeſetzten Deutfchtums jenes merkwürdigen, nach der 
Mitte von Kleinafien verjprengten, nordifchen Volles, Dr. Kart 
Wiefeler, bat jüngft die Discuffion in höchſt umfaffender Weife 
wieder aufgenommen und ſucht in einer felbftändigen Schrift nod) 
einmal mit höchſter Entfchtebenheit diefen Volkerſplitter für die 
deutfche Nationalität zu reiten. Verſuchen wir es, der Frage näher 
zu treten. 

Die Zeit ift innerhalb bes Kreiſes der deutfchen Philologen 
und Hiftorifer vorüber, wo man mit Vorliebe darauf ausgieng, in 
der halbdunkeln Vorwelt immer neue ethnographifche Eroberungen 
zu Gunften unferer dentſchen Nation zu mahen. Was fpeciell die 
Salater in Kleinafien angeht, fo bietet deren ältere, dramatiſch 
belebte Geſchichte, wenigftens unjerer Anfiht nach, freilich nur 


526 Wiefeler 


wenig Veranlaffung, die Entdeckung, daß auch diefes Volt Deutſche 
gewefen, als beſonders wünſchenswerth und erfreulich anzufehen. 
Die entfeglichen Greuelthaten der Galater in den Ländern ber 
Balkanhalbinſel vor ihrer Weberfchreitung der Meerengen zwiſchen 
Aften und Europa; bie fürchterliche Verwüftung von Kleinaſien; 
ihr Soldbienft; endlich ihre Tocale Geſchichte bis zur Ausgeftaltung 
des galatifchen Landes zu einer römifchen Provinz, bieten nur fehr 
wenige lichtere Momente. Wir haben durchaus nichts dagegen, wenn 
franzöfifcher Chauvinismus mit wiffenfchaftlicher Berechtigung die Gar 
later für fi in Anfpruch nimmt; die „souvenirs imperissables “, 
welche die Galater in Kleinaſien zurückgelaſſen haben, find nicht der 
Art, da fie gerade dem deutfchen Namen zu befonderer Ehre gereichen 
könnten, bis herab zu dem König Dejotarus. Es ift wol nur, oder 
doch weit überwiegend, das gemüthliche Intereſſe an der Beziehung 
des Apoftels Paulus und der chriftlihen Miffton ſchon in der Urzeit 
des Chriftentums zu einem möglicherweife deutfchen Wolfe, was 
namentlich ſeitens der theologifchen Gelehrten wiederholt dahin ge 
führt Hat, das Deutfchtum der Galater zu verfechten. Bis jetzt 
allerdings ohne wirklichen Erfolg. 

Das wiffenfhaftliche Material, mit welchem wir es bei 
diefer galatifchen Frage zu thun haben, leidet an erheblichen Mängeln. 
So oft auch das Volk der Heinaftatifchen Galater In der Geſchichte 
genannt wird; fo beftimmt es auch al8 ein abgefplitterter Reſt der 
wilden, blutgierigen Raubfcharen bekannt ift, welche feit 280 v. Chr. 
die Länder zwifchen dem See von Skodra und dem Heiligtum des 
belphifchen Apollo verheerten; fo wenig hat ſich doch ein Zeugnis 
aus dem Altertum erhalten, welches rund und nett, umd jeden 
Zweifel ausfchließend, uns über ihre Nationalität unterrichtet. Wir 
find alfo immer wieder hingewiefen auf die leidige Frage über den 
oft fehr wenig präcifen Gebraud der Namen Kelten und Galater 
bei den Alten. Und auf der anderen Seite ift das Material ziem- 
lich dünn, aus welchem wir uns über das innere Leben bes ſchließ⸗ 
ih in Kleinaſien feft angefiedelten galatifchen Volkes unterrichten 
können. Und doch ift die vorliegende ethnographifche Streitfrage 
nur von diefen beiden Punkten her zu entjcheiden: 1) „Welcher 
Nationalität theilten die Alten die kleinaſiatiſchen Galater zu?" 











Die deutiche Nationalität der Heinafiatiichen Galater. 527 


und 2) „Was willen wir von Sitten, Verfaffung, Lebensweife und 
Sprache der Galater, um unabhängig auch von falihen Auffaffungen 
oder Ungenauigkeiten der alten Schriftjteller die nationale Zuge: 
bhörigfeit der Galater beftimmen zu können?“ 

Bei den Philologen und Hiftorifern der Gegenwart ift zur 
Zeit die Anficht fo gut wie allgemein angenommen, daß die klein⸗ 
aſiatiſchen Galater anzufehen find als das in Hiftorifcher Zeit am 
weiteften und zwar völlig ifolirt nach Oſten vorgefchobene Glied 
der großen keltiſchen Volkergruppe; daß der Name der Galater 
identifch fei mit jenem der Kelten, und daß endlich diefer Name 
„Salater* im engften provinciellen Sinne den drei großen ver: 
brüderten Teltifchen Stämmen in bem Heinafiatifchen Galaterlande zu 
eigen geblieben. Gegen diefe Annahme iſt da8 Buch des Dr. 
Karl Wiefeler gerichtet. Der Verfaſſer fucht namentlich nach⸗ 
zuweilen, daß der Galatername nicht für, fondern eher gegen die 
feltifche Zugehörigkeit der Tektoſagen, Zrofmer und Zoliftoboger in 
Kleinaſien ſpreche; daß ferner auch andere Motive antiker ethno⸗ 
graphifcher Anfchauung die germanifche Abkuuft diefe Stämme 
unterftügen,; daß endlih das uns von diefen Stämmen befannte 
Detail nicht für Feltifches, fondern für germanifches nationales 
Weſen zeuge. Wir verfuchen es im Verfolg, die Unhaltbarkeit 
diejer Beweisführung zu erhärten. 

Was den erften Punkt der Wiejeler’fchen Darlegung an⸗ 
geht, jo jtügt fich diefelbe eigentlih nur auf die noch nad Cäſar 
und deſſen großartigen Entdedungen in Nordeuropa fortdauernde 
Unflarbeit und Unficherheit antiter Schriftfteller über die wirkliche 
Verſchiedenheit zwiſchen keltiſchen und germanischen Völkern, be- 
ziehentlich über die territoriale Vertheilung der Stämme dieſer 
beiden Völkergruppen nordiſcher „Varbaren“. Und doch kann uns 
dieſe Erſcheinung nicht ſehr überraſchen. Alle hochgeſteigerte Cultur 
der römiſch⸗griechiſchen Welt hinderte doch nicht, daß nicht neben 
der richtigen, ſichern Erkenntnis einiger weniger ſcharf beobachtender 
römiſcher Heerführer und Verwaltungsbeamten die Mehrzahl auch 
der gebildeten Bewohner des ſubalpinen Südens doch immer in einer 
gewiſſen Unklarheit über die Ethnographie des überrheiniſchen 
Landes verharren blieb; noch weniger, daß nicht neben einer Reihe 


528 Wiefeler 


bedeutender geographifcher und ethnographiicher Entdeckungen die 
älteren, auch durch beliebte ‘Dichter getragenen, oft wiederholten 
Anſchauungen von den nordifchen Verhältniſſen die Phantafie der 
meijten beherrfchten. Wir dürfen enblich gerade in unferer Zeit, 
wo Geographie und Ethnographie zu den Lieblingswifienfchaften 
namentlich der beutfchen Welt gehören, nicht vergeffen, daß wenig- 
ftens die wiſſenſchaftliche Ethnographie die ftarle Seite der Alten 
nicht gerade geweſen ift, einige bevorzugte Männer ber Praris 
und ber Wilfenfchaft felbftverftändlich ausgenommen. An fi ift es 
nicht überrafchend, wenn in der älteren Zeit, ehe man in dem grie= 
chiſch⸗romaniſchen gebildeten Süden von einer tieferen Verſchiedenheit 
zwifchen den Völkern weftlich und öftlich des Rheins etwas mußte, — 
oder mehr noch, ehe die deutſchen Völker den Rhein und Main 
auch nur erreicht und überfchritten, zugleich auch die keltifchen Stämme 
aus den Örenzen des jpäteren weftlichen und füdlichen Deutſchlands 
verdrängt Hatten, die gejamten Länder von Spanien bis nad 
Stythien als das Gebiet der Kelten oder Galater bezeichnet werden. 
Aber die Unficherheit und Unbeftimmtheit namentlich bei den Grie- 
chen gieng doch fo weit, daß man anfieng, die urfprünglich völlig 
gleichbedentenden Namen Kelten und Galater zur Bezeichnung für 
verſchiedene Böflermaffen zu gebrauchen. Nur daß dabei damals 
noch keineswegs an beutjche Stämme gedacht wurde. ALS feit Cä⸗ 
far und Auguftus bei den Römern die Scheidung zwiſchen keltiſchen 
und germanischen Völkern mehr oder minder officiell zur Geltung 
kam, folgten doc keineswegs alle griechiſchen Schriftfteller dem 
neum Sprachgebrauhe. Es iſt befannt, daß einer der intelligen- 
teften Schriftjteller ber fpäteren Taiferlichen Zeit, Caſſius Dio, arge 
Confuſion angerichtet hat, indem er angibt, in alten Zeiten habe 
man die Volker auf beiden Seiten des Rheines Kelten genannt, 
fpäter nur die dftlihen, und nun die Germanen als Kelten, 
die Gallier als Galater bezeichnet. Wie nun Dr. Wiefeler bie 
Ausdehnung des galatifchen Namens auf die Völker im Often 
und Nordoften von Gallien benugen will (S. 10 f.), um für 
das Deutſchtum der Galater zu plädiren, fo dünkt uns das unhalt⸗ 
bar. Denn in älterer Zeit, noch bis tief hinein in das letzte Jahr⸗ 
hundert der römifchen Republik, war in der That von deutſchen 











Die deutfche Nationalität der Heinafiatifchen Galater. 529 


Stämmen dftlih vom Rhein, wenigftens bis zur Mainlinie, noch 
feine Rede, und felbft zur Zeit der Cäfaren, nad Einrichtung 
des fogenannten Zehntlandes, Tonnte der Rhein von feinem Ur- 
jprunge bis zum Nedar noch immer, auch im Sinne richtiger 
Ethnographie, als ein Feltiiher Strom gelten. Aber felbft ber 
fharf beobadtende und mohlunterrichtete Strabo wird von 
Dr. Wieſeler al8 Zeuge für die germanifche Abkunft der Ga- 
later in Kleinaſien angerufen. Wir meinen — nicht mit Red. 
Dr. Wieſeler findet e8 befremblih, daß (S. 12) Strabo das afia- 
tische Keltenland niemald Kcarixij, fondern immer nur Galatia 
oder Gallogräcia, die Einwohner niemals Kelten, jondern nur 
„Galater* nenne. Da liegt doch der Einwand auf ber Hand: 
er that das, weil feit alter Zeit in feiner Heinafistifchen Heimat 
für da8 fremde Volt und fein Land inmitten der alten Stämme 
der anatolifchen Halbinſel diefe Namen „Galatia“ und „Galater“, 
völlig gäng und gebe geworden waren, während in feiner Zeit 
unter den wirflih Sachkundigen der Ausdrud „, Kcarixij“ immer 
beftimmter als geographiiche Bezeichnung für das galliihe Ge- 
biet diesſeits und jenfeits der Alpen techniſch geworben war. 
Die Unhaltbarkeit enblih der Holgmannfchen Auffaffung in 
Sachen der Germanen als „yajosı Takasaı“ bei Strabo, bie 
auch Dr. Wiefeler fich aneignet (S. 14), Hat ſchon Contzen 
in feiner Schrift über „die Wanderungen der Kelten“ (S. 11 f.) 
nachgewieſen. 

In zweiter Reihe ſucht Dr. Wieſeler das Deutſch⸗ 
tum der kleinafiatiſchen Galater durch eine Reihe anderer ethno⸗ 
graphiſcher Hypotheſen zu ſtützen, die allerdings nach unſerer An⸗ 
ſicht den Charakter bedenklicher Kühnheit tragen, und trotz des 
unleugbaren Scharfſinnes und des Aufgebotes einer großen Gelehr⸗ 
ſamkeit für den Referenten wenig Überzeugendes enthalten. Es 
kommt dem Verfaſſer vor allem darauf an, das Deutſchtum des 
bekannteſten der galatiſchen Stämme, nämlich der Tektoſagen, zu 
erweilen. Da die Berfuhe (S. 18 f.), aus den wenigen Notizen 
bet Cäfar und Tacitus über eine angebliche Kolonie von Tekto⸗ 
fagen am hercyniſchen Walde gegen Cäfars ansdrückliche Ans 
gabe, daß fie Gallier geweien, dennoch den deutjchen Charafter 


530 Wiejeler 


der Teltofagen zu erweifen, dem Berfaffer wol felbft nicht genügend 
erfcheinen können, jo wird nun ein ftärkeres, nach unferer Anfict 
freilich fehr bedenkliches Rüſtzeug aufgeboten. Die folgenden Aus 
führungen nämlich (S. 19 ff.) zeigen und das gefährliche Experi- 
ment, aus weit zeritreuten Volksnamen von oft zweifelhafter Schreib: 
art, aus weit zerftreuten Stellen der alten Schriftfteller verſchie⸗ 
dener Zeiten, und auf Grund rafcher Umbiegung irgend brauchbar 
erfcheinender Namen, auf ungeheure räumliche Linien Hin uralte 
Volkswanderungen zu verfolgen. Bon der an ſich richtigen Annahme 
ausgehend, daß auch die Tektoſagen in dunkler Vorzeit zuerft aus 
dem fernen Often nah Europa gelommen, glaubt Wiejeler in 
den „age 70 "Iuaov Texvooaxes“ bei Btolemäos (VI, 14. 
p. 426) einen Reft von Xeltofagen noch im zweiten Jahrhundert 
n. Chr. am Ural zu entdeden. Mehr aber, er macht die Tekto⸗ 
fagen umbedentlih zu einem Zweige bes großen Volles ber 
Safen, und vindiert — im Unfhlug an Jakob Grimme 
höchſt bedenkliche Hppothefe einer Fdentität von Saken und Sad 
fen — die Tektofagen unbedenklich als reine Deutfche, ohne auf 
nur, wie J. Grimm es getban, in ihnen eine alte Meifchung 
keltifcher und deutfcher Stämme zu ftatuiren. Damit nicht genug, 
fo fol auh aus dem Namen der Bolcä, den die Xektofagen 
mit ben Arelomilern theilten, ihr bdeutfcher Stammbaum erhellen. 
Der Verfaſſer ſtellt nämlich unbedenklich Wolch und Belcä ale 
identifch Hin. Belcä find ihm natürlich die DBelgen. Da nun 
nad Pomponius Mela (II, 36) feythifche Völker an den Rhipäi⸗ 
ſchen Bergen oder am weitlihen Ural Belch biegen; da ferner 
die biftorifchen Belgier oder doch ein Theil derjelben ſich mit Vor⸗ 
liebe als halbe Germanen bezeichneten, jo find nach bes Verfaffers 
Anfiht auch die Volcä, alfo die Tektoſagen, als Germanen an 
zuſehen. Es iſt alfo nicht nöthig, bier noch näher auf die ger» 
maniſchen Elemente in Belgien und das ficher gejtellte Keltentum 
der Belgier einzugehen. Es genügt wol, auf die luftige und 
Iprunghafte Beweisführung in Sachen ber Tektoſagen binzuweifen, 
um ihr eine wirkliche Beweiskraft abzuſprechen. 

Noch fchattenhafter ift aber das Folgende (S. 21— 23), was 
fih unmittelbar auf die Galater in Kleinafien bezieht. Der 





Die deutfche Nationalität der Meinaftatifchen Balater. 631 


Verfaſſer fchenkt wirklich den Berichten jener alten Schriftfteller Glau⸗ 
ben, welche — wie namentlih Plutarch und Diodor, einerjeits 
die uralten Kimmerier der Krim, die vom 8. bis zum 6. Jahr⸗ 
hundert v. Chr., namentlich zur Zeit der Indifchen Mermnaden, zuerft 
von der Krim aus, Kleinafien verheerten und endlich in Kappabofien 
fefte Site gewannen, mit den deutfihen Kimbrern zufammen« 
bringen, anderſeits dieſen legteren alle möglichen älteren Raub» 
fahrten, mit Einfchluß der galliſchen Eroberung Roms und (mie 
auch Appian) namentlich des Brennuszuges gegen Delphi, zu⸗ 
Schreiben: natürlich ein neuer fogenannter Beweis für bie deutſche 
Abkunft der Gallogriehen. Mehr aber, auf S. 25—29 foll 
das noch eine ftärkere Unterftüßung erhalten. Es ift befannt, daß 
die wilden alten Kimmerier der Krim und Kleinaftens von den 
Semiten ald Gomer bezeichnet wurden, und nah Dunders befon- 
nener Forſchung (Geſchichte des Altertums, 4. Aufl., Bd. I, ©. 
396 — 401; Bd. I, ©. 433 ff.) wird man nicht irregehen, 
wenn man diefes Triegerifche Volt fo gut wie die ihm ſtets zur 
Seite gehenden Treren für einen thrakiſchen Stamm oder body für 
den Thrakern unmittelbar verwandt hält. Die Gefchichte diefer 
Rimmerier ſchließt aber mit ihrer Zurückdrängung durch die lydi⸗ 
fhen Mermnaden zu Anfang des 6. Yahrhunderts v. Chr. für 
Immer ab. Und es ift Lediglich die in der alten Welt, wie bei 
manchen modernen Schriftitellern beliebte, unglüdliche und gefähr- 
fiche Neigung, den Irrlichtern zufälliger Namensanklänge zu folgen, 
was eine Verbindung zwifchen ben burch König Alyattes zufammen- 
gehauenen Kimmeriern und den nahezu fünfhundert Jahre fpäter 
auftretenden kimbriſchen Weltftürmern hat ans Licht treten laſſen. 
Nichtsdeftomweniger folgt Dr. Wiefeler unbedenklich diefen antiken 
Hrrlichtern; noch mehr, indem er fich zugleich unmittelbar anlehnt 
an Joſephus, der (Ant. 1, 6, 1) nad alter unbeftimmter Manier 
die „Salater“ von der Mäotis und Kleinaſien bis nad) Spanien 
reichen Täßt und diefelben als „Gomerier“ bezeichnet, nimmt er 
Gomer und die alten Kimmerier einfach ald Germanen der Ur- 
zeit in Anſpruch (S. 27). 

Nicht damit zufrieden, auf Grund der angeblichen Führung ber 
Kimmerier oder Kimbrer bei dem Zuge nad) der Baltanhalbinſ el 

Theol. Stud. Sahra. 1873. 


382 Biefeler 


feit 280 v. Ehr., die ein fo gering wiegender, fo oft alles confun- 
birender Zenge wie Diodor (V, 32) ihm berichtet, die kimbriſche, 
alſo deutfche Zugehörigkeit namentlih der Teltofagen gegen bie 
fonftigen Angaben bafirt zu haben, foll durch den Verfaſſer nun 
weiter nachgewiefen werben, dab Germanen, die damals natürlich 
diefen Namen noch nicht führten, einen Hauptfactor bildeten bei den 
fiegreihen Brennuszügen nad Rom und Delphi. Auch hier ift 
die Deweisführung wieder überaus bedenklich. Bei dem gallifchen 
Zuge nach Rom kommt e8 dem Verfaffer namentlich darauf an, 
die mehrfach genannten keltiſchen Gäſaten ebenfalls als Deutſche 
zu erweilen (SG. 36— 40). Da diefer Punkt für uns Hier nur 
eine fecundäre Bedeutung hat — freilih Hält Dr. Wiefeler die 
Säfaten für „eine Sippe verwandter Völker”, zu denen nach feiner 
Anficht auch die nordifchen Tektoſagen gehört hätten —, fo ſei nur 
Kurz erwähnt, daß er einerfeits ein großes Gewicht legt auf den 
Name ,„Germaneis‘ in den Tapitolinifchen Faſten, mo von ben 
Kämpfen des Marcellus bei Claftibium gegen Inſubrer und Gä⸗ 
faten unter Biribemarus berichtet wird. Doc hat fhon Momm- 
fen (Röm. Geſch. Bd. I, 4. Aufl, S. 561) das fehr Zweifel⸗ 
bafte des germanifchen Namens an biefer Stelle der Faften erhärtet 
und rund und nett gezeigt, daß hier an eine Mitwirkung deut» 
[cher Krieger nicht gedacht werben darf. Aber fehr ſchlimm it 
das Wagnis Wiefelers, die Sigynnen des alten Herodot, an 
denen fich fchon viele Forſcher vergeblich bemüht haben, ohne wei- 
teres für Germanen und als wahrfcheinfich für identisch mit den 
Säfaten zu erflären, und zwar: für Germanen (S. 40), weil die 
Siginen bei Strabo am kaspiſchen Meere in der Nähe der deutfchen 
Saken wohnten, weil ferner nad) Strabo ein Volk der Sibynen 
(nah Wiefelers Meinung — Sigynnen) fi an Marbods Neid 
anſchloß, und für Gäfaten, weil beide Völker kurze Speere führten 
und namentlich Hofen trugen. Abgeſehen davon, daß ber Teßtere 
Punkt bei den Gäſaten fofort an ben bekannten Brauch und bie 
Tracht der transalpinen Kelten erinnert, genügt wol auch bier 
die einfache Darlegung zur Erkenntnis der höchſt zweifelhaften 
Natur diefee Argumentation. 

Die Erörterung ferner über bie Raubfahrten der Kelten, 











Die deutiche Nationalität der kleinafiatiſchen Galater. 588 


namentlich auch der Tektoſagen, nach der Balkanhalbinſel ſeit 280 
dv. Chr. (S. 41 ff.) führt und nun wieder ganz nahe zu den 
Heinaflatifchen Salatern heran. Die Raubfahrer dieſes Zeitalters 
find es ja, als deren wichtigfter Reſt die Galater in Kleinaſien 
übrigblieben; alſo kommt es für Dr. Wiefeler darauf an, 
das Mienfchenmaterial gerade diefer nach der Griechenwelt gelelteten 
Züge als weſentlich dentfch Hinzuftellen. Beweiſe follen num fein: 
1) die Angaben bei Diodor (V. 32) und Appian (Ilyr. 4 ımd 5), 
daß die (unbezweifelt deutſchen) Kimbrer den Zug nach Delphi 
unternommen hätten. (Vgl. ſchon oben.) Aber diefe Phantafien 
oder DVermuthungen zweier als ethnographiſche Beobachter nichts 
wertiger als gerade klaſſiſcher Zeugen und diefe Einführung der 
Kimbrer in die alte Gefchichte mehrere Meenfchenalter vor ihrem 
wirklich beglaubigten. Auftreten Tann doch gegen die ganze wohl- 
beglaubigte Weberlieferung des Übrigen Altertums nicht ernithaft 
ing Gewicht fallen. Und ebenfo wenig berechtigt die Angabe des 
Paufanias (1, 3, 6), die betreffenden Galater feiern von dem äußerften 
Meere, wo der Bernftein gefunden wird, gefommen, zu der An- 
nahme von deren Ankunft aus dem heute als das wirkfiche Bernſtein⸗ 
gebiet befannten Lande, nämlich „aus dem nordöſtlichen Germanien“. 
Bei diefer vaſchen Entfchloffenheit des Verfaſſers, altüberalt ſchon 
in einem Zeitafter, wo die wirklich als deutſch nachzuweiſenden 
Völker, wie die Teutonen des Nordens und die Baftarnen des 
Sädens, nur erſt ganz von ferne am Horizont der alten Welt 
momentan auftauchen, deutfche Völker zu entdecken, tft es and 
nicht überrafchend, wenn fofort (S. 42) aud) die Skordisker, 
deren Theilnahme an diefen Raubzügen Wiefeler für wahrfchen- 
fich Halt, als Deutfche im Anfprud; genommen werden. Gegen 
die einmüthige Angabe der Alten, welche die Stordister als Kelten 
fennen, kann Livius (40, 57) nicht in Betracht kommen, der fie in 
Sitte und Sprade allerdings deu Baftarnen gleihgeftellt; jet es 
nun daß bier ein Irrtum des Livius vorkiegt, ſei ed daß die 
Baftarnen ſelbſt erft als germanifirte Kelten oder als mit Kelten 
gemifcht anzujehen find. 

Wefentliches Gewicht legt Dr. Wiefeler endlich auf mehrere 


Namen galatifcher Führer bei diefem Zuge. Brennus wird 
85* 





634 Biejeler 


natürlich (S. 36) aus dem Deutjchen erklärt und dem bei Tacitus 
(Hist. 4, 15) vorfommenden Namen eines Caninefaten, Brinno, 
gleichgeftellt.. Bei der Unficherheit der Ableitung dieſes Wortes 
aus dem Keltifchen muß diefes allerdings dahingeftelit bleiben. Da⸗ 
gegen find erhebliche Bedenken zu erheben gegen die Ableitung ber 
Namen Alihorios, Leonnorios, Rutarios und des jpäteren 
Dejotarus aus dem Deutfchen. Referent bat ftets nur mit 
höchftem Bedenken das Erperiment beobachtet, Namen, die uns 
nur in römischer ober griechifcher, oft genug durch „Volksetymo⸗ 
logie” erft noch beftimmtere Umſchmelzung aus fehr alter Zeit 
überliefert find, durch Heranziehung ganz junger deutfcher, ähnlich 
fautender Eigennamen erflärt zu fehen. Die Jugendzeit unferer 
germaniftifchen und deutfchhiftorischen Studien gleich nad) den Be 
freiungsfriegen bietet uns ber warnenden Beiſpiele genug, zu wel 
hen jeltfamen Nefultaten man auf dieſem Wege gelangen kann. 
Wie ift e8 nur möglich, in dem alibefannten Namen bes Könige 
Dejotarus (S. 43) das beutfche Dietrich wiederfinden zu wollen? 
Was in aller Welt berechtigt den Verfaſſer, aus dem bei Strabo, 
alfo auch erft wieder nahezu 300 Jahre nad) der aflatifchen Ein. 
wanderung ber Galater, vorkommenden Namen des Sigambrerd 
Deudorix, der natürlich auch für Diederich erflärt wird, zu fchließen, 
dag „neben ber alten vollen Form“ des Namens Theodorich 
deffen fpätere Abwandlungen bereits in alter Zeit gebraucht worden 
feien? 1) Noch bedenklicher iſt bie Erklärung (S. 42) des Na—⸗ 
mens Leonnorios durch das deutfche Leonhard, Leonard (wel 
cher deutfche Name übrigend auf den urdeutſchen Stamm lewon 
zurückgeht, auch die Nebenform Levinnard hat und zuerit als 
fräntifcher Name im fechften Jahrhundert n. Ehr. vorkommt). 
Lutarios wird natürlich durch Lothar erklärt; auch Hier foll man 


1) Völlig unmögfich ift ein Zufammenhang zwiſchen Theodoricus (Thiuda⸗ 
reiks) oder einer Form wie Deotaricus freilich nicht. Allerdings finden 
fi im Deutfchen „Kofeformen“, die den zmeiten Theil des Compoſitums 
nicht ganz wegwerfen, fonbern nur ablürzen, 3. B. Ercambius für Gr 
cambertus, Ratpo für Ratpoto, Abalbo für Adalbero ; fo Könnte allenfalle 
auch Deotaro für Deotarits fiehen, — aber nur erft auf einer jehr vor 
gefchrittenen Stufe der Lautverichiebung. 


Die deutfche Nationalität der Meinafiatifchen Galater. 585 


alfo das ifolirte Auftauchen eines deutihen Namens für wahr- 
fcheinlich Halten, der (die Abwandlung ans der härteren Urform 
bier außeracht gelalfen) erſt nad nahezu acht Jahrhunderten 
unter den fpäteren Biftorifchen Stämmen der Deutjchen wirklich im 
Gebrauche erſcheint. Ungleich berechtigter bleibt doch die Erffärung 
des Namens aus dem Keltifhen. Wenn alfo, wie W. Grimm 
in d. DI. bereit8 (1876, ©. 214) mittheilt, Lutarios auf Loth 
(Sumpf) mit der in keltiſchen Berfonennamen üblichen Endung 
sario zurückgeführt werden kann, jo mag man dabei an einen Führer 
denfen, der aus einer Moorlandihaft fam. Ebenfo fcheint es un⸗ 
nöthig, Alichorios aus dem Althochdeutfchen zu erklären, da dieſer 
Name doch offenbar, wie auch Leonnorios, zu den nicht feltenen 
£eltifchen Perfonennamen mit der Teltifchen Endung -orio zu rech⸗ 
nen ift. 

Alles zufammengefaßt, fo müſſen wir dabei beharren, daß die 
Anficht der urtheilsfähigen Berichterftatter der alten Welt alle Zeit 
dahin gieng, daß die Galater Kleinaſiens ein Glied der großen 
Leltifhen Bölfergruppe geweſen find. Nur moderne Specu- 
latiou bat ernitlih den Verſuch gemacht, die Teltifche Eroberung 
Roms im Zeitalter des Camillus deutfchen Völkern vor dem Auf- 
fommen des germanifchen Namens und vor dem beglaubigten Ein- 
treten der Deutſchen in die Gefchichte zuzutheilen. Die Römer 
ihrerſeits wußten fehr gut, und haben e8 niemals vergeffen, aus 
welcher Gemitterwolfe biefer VBlitz auf ihre Stadt herabgefahren 
war. Sollte nachher der grimme Conſul Manlius Vulſo ſich 
wirklich geirrt Haben, als er 189 v. Chr. bei dem Angriff 
anf Galatien feinen Soldaten diefe Galater als unmittelbare 
Stammesverwandte der Kelten von der Allia Hinftellte? (Liv. 
38, 17.) Auch König Mithradates VI. von Pontus, der große 
aflatifche Feind der Aömer in Sulla’8 Zeit, der bet feiner ausge: 
breiteten Kenntnis aller möglichen Völker und Sprachen fehr wohl 
als „MHaffifcher Zeuge“ für uns fungiren kann, wußte jehr gut, 
daß die Galater am Sangarios und Halys die nächften Stammes» 
vettern der alten keltiſchen Conguiftadoren in Italien waren 
(Justin. 38, 4). Mehr aber: das galatifche Weſen in Klein⸗ 
afien war noch im vierten Jahrhundert ber römiſchen Kaiſerzeit 


556 Wiefeler 


nicht ganz erlofchen. Und während diefer langen Zeit, wo Römer 
und Griechen nur zu viel Gelegenheit gefunden Hatten, deutſche 
Menſchen aller möglichen germanifchen Stämme ſehr genau kennen 
zu lernen, findet ſich durchaus Feine Ungabe, aus welcher mit 
einigem Scheine des Richtigen auf bie germanifche Art diefer 
Galater gejchloffen werden Tönnte. 

Wenn wir nun drittens die Momente noch zufammenftellen, 
aus denen, auch abgefehen von den allgemeinen Angaben der Alten, 
das Keltentum diefer Galater ſich zu ergeben jcheint, fo fei zuvor 
noch eine Bemerkung erlaubt. ine Vergleichung der Galater mit 
den unbezweifelt als deutfche geltenden Völkern hat ihr fehr Miß⸗ 
fies. Die Deutſchen erfcheinen in ber Geſchichte ſicher zuerft 
als Kimbrer und Teutonen; damals nur im Zuftande der Bewer 
gung, des wildeften Kriegsjturmes; aber auch die Germanen in 
Cäfars Zeit treten uns noch in fehr primitiven Verhältniſſen ent⸗ 
gegen, während uns die angefiedelten Galater Kleinafiens bereits 
als mehrfach überzogen mit griechifcher Eivilifation und von afia- 
tischen Einflüffen berührt begegnen, fo daß es jehr ſchwer wird, 
die Trage und die Vergleihung immer richtig zu ftellen. 

Dr. Wiefeler nun geht begreiflicherweife auch bei dieſem 
Stadium der Unterfuchung confequent weiter in derfelben Aichtung, 
in der wir ibm bisher folgten, ohne in ber Hauptſache ihm jemals 
zuftimmen zu Fönnen. Aber auch gegen alle weiteren Aufjtellungen, 
die er jetzt erhebt, müfjen wir unferjeitö Einfpruch erheben. Bei 
einer eingehenden Betrachtung des galatifchen Volkes kommt zunächſt 
die Berfajfung feiner Stämme in Betradt. Da iſt e8 nun 
unleugbar, daß bei diefen Galatern von dem Inſtitut der Druis 
den feine Rede ift; und es wird diejes für den Verfaſſer ein 
wefentlicher Grund, das Keltentum der Galater als Hinfälfig zu 
bezeichnen. Und doch vergikt Dr. Wiefeler dabei gänzlich, daß 
bis jet, nach Angabe aller neueren Forſcher auf diefem Gebiet, 
das Inſtitut der Druiden jenſeits der Grenzen Britanniens und 
Galliens überhaupt noch nit Hat nachgewiefen werden können. 
Will er darum etwa auch fämtlichen keltiſchen Völkern zwifchen 
dem Genfer See und ber mafedonifchen Nordgrenze die Zugehörig- 
keit zur keltiſchen Nationalität abſprechen? Ebenſo gut könnten 








Die deutſche Nationalität der Meinaftatifchen Galater. 587 


künftige Forſcher einft die englifche Abkunft der Eoloniften in Ca⸗ 
nada, am Cap und in Auftralien in Zweifel ftellen, weil deren junge 
Berfafjungen fein Haus der Lords entwidelt Haben und fchmerfich 
je entwideln werden. Es bleibt immer das Wahrfcheinlichfte, daß 
das Inſtitut der Druiden in Britannien und Gallien feine eigen- 
tümfiche kunſtvolle Ausbildung erft dann erhalten hat, nachdem 
die großen Keltenzüge nach dem italienischen, pannonifchen und 
illyriſchen Often erfolgt waren, — nicht etwa erft feit 280 v. Chr., 
wie Dr, Wiefeler auf S. 45 feinen Gegnern zu imputiren 
Scheint. Ram aber die Maffe der Kelten, welche die Balkanhalbinſel 
überfhwenmten, theils (damal8 vor den Römern weichend) aus 
Ktalien, theils (wie namentlich die Tektofagen felbft und ihre be» 
gleitenden Stämme) aus den pannonifchen SKeltenländern, gleichviel 
wie früh ober wie fpät immer die aus Gallien ausgewanderten 
Tektoſagen und beren Begleiter auch nah PBannonien gekommen 
waren: jo ift es nicht weiter befremdlih, wenn nachmals in dem 
fernen Kleinaſien, von aller Beziehung zu den Keltenländern bes 
atlantifchen Oceans abgefchnitten, unter den Nachlommen der wüften 
Lanzknechte des Leonnorios und Lutarios von einer Entwicklung 
des Druidentums Überhaupt Feine Rede geweſen ift. 

Die Berfafjung der Galater, behauptet Dr. Wiefeler ferner, 
fei demoflratifch geweſen; dieſes und ihr ftarkes Freiheits⸗ 
gefühl charakterifiren fie, jagt er (S. 47), abermals als Germanen, 
Nah diefer Richtung muß nun von vorn herein gefagt werden, 
daß folche Allgemeinheiten an fi) nur fehr wenig Beweiskraft be⸗ 
figen; wie denn dasjelbe auch von den Schlüffen aus den bekann⸗ 
ten Geſchichten von der ftolzen Keufchheit und ehelichen Treue 
zweier galatifcher Edeldamen gelten wird. Energiſche Freiheits⸗ 
liebe gegenüber fremden Eroberern charakterifirt ſehr viele Völker 
auf den erften Stadien ihres Hiftorifchen Lebens; wir wollen hier 
nur noch an die Rhätier und Vindelicier und an bie alte Geſchichte 
fehr zahlreicher ſlaviſcher Stämme erinnern. Daraus allein laffen 
ſich keinerlei ethnographiſche Schlüffe ziehen. Und wenn nad) der 
befannten Erzählung der Alten die ftolze galatifche Fürftin Chio⸗ 
mara (189 v. Chr.) ihre gewaltfame Entehrung durch einen auch 
ſonſt nieberträchtigen römischen Offizier mit Blut rächt; wenn ferner 





588 Wieſeler 


die fürſtliche Prieſterin Kamma die Ermordung ihres Gatten durch 
einen liebeswüthigen galatiſchen Ritter an dieſem Frevler bei paſ⸗ 
ſender Gelegenheit durch Gift rächt und dabei zugleich ſich ſelber 
den Tod gibt: ſo ſind ſolche Züge eines wilden weiblichen Herois⸗ 
mus ſo wenig ſpecifiſch national, laſſen ſie vielmehr ſehr zahlreiche 
Analogien ans der Frevelgeſchichte aller Völker der Welt zu (gleich⸗ 
viel ob jedesmal Sitte und Zucht vorberrfchende Tugenden waren 
oder nicht) derart, daß aus folchen Motiven allein unferer Ans 
ficht nach weder fittengefchichtliche no ethnographiſche Schlüffe ge 
zogen werden follten, noch überhaupt können. 

Was endlich die Berfaffung der Galater im engeren Sinne 
angeht, fo ift wohl Dr. Wiefeler der erfte Forſcher, der diefelbe 
(S. 47) für demokratisch, der ferner die Verſammlung der Drei⸗ 
hundert, die doc nur den hohen Rath der galatifchen Edlen ober 
Ritter ausmachte, für eine demofratifche gehalten hat. Ganz im Ge- 
gentheil, wie auch Mommſen und Contzen ſchon es nachwiefen, 
war die Verfaffung der Galater einfach die keltiſche Gauverfaffung, 
die hier ebenjo ftreng ariftolratifch ausgearbeitet erfcheint, wie 
nachmals zu Cäſars Zeit bei den großen Stämmen besjelben Volkes 
jenfeitö der Alpen. 

Schließlich kommt Dr. Wiefeler nod) einmal auf die Sprache 
der Galater zurüd. Einerfeits gilt e8 nod einmal, mehrere 
galatifche Eigennamen aus dem Deutjchen zu erklären. Weil 
Strabo (S. 187) bemerkt, daß die Zoliftoboger und Trokmer 
nach ihren Führern genannt feien, werden wieder fühne Etymologien 
verſucht, unter anderen (unferer Meinung nad ohne Noth und unbe: 
rechtigt) die Trofmer (S. 45) einfach als die „Mannen des Trogo 
oder Drogo“ erklärt, alfo wieder auf einen beutfchen Namen zu» 
rüdgeführt, der erft neun bis zehn Jahrhunderte fpäter öfter in 
der wirklich deutjchen, beziehentlich fränkifchen Gefchichte auftritt. Der 
Name des Kleinen Stammes der Zeutobodiaci bei Plinius (V, 32) 
klingt allerdings teutonifh an; und doc) find wahrfcheinlich die im 
Recht, welche aud hier (vgl. Congen, S. 83) an feltifche Ab⸗ 
feitungen von dem Götternamen Teutätes, beziehentlich von teu, 
denken, und an Namen wie Teutomatus bei ben Keltifchen Nittobrigern 
erinnern. Ganz wilffürfih werden Ortsnamen wie Germia und 


Die deutiche Nationalität der Heinaftatiichen Galater. 539 


Tyskon, wie auch der Frauenname Chiomara und ber ihres Gatten 
Ortiagon (S. 82 und 83) auf deutfche Wurzeln zurüdgeführt. 
Dem gegenüber ftehen doch nun bie höchft zahlreichen galatifchen 
Namen unzweifelhaft Teltifchen Gepräges; wie (Außer den auf 
sorio auslautenden) die vielen Perfonennamen mit der Endung ⸗orix, 
alſo Adiatorir, Aeorix, Sinorir, Toredorix, Albiorix, Ateporix, 
Gezatorix; wie andere mit der Endung ⸗gnatus, alſo die Häupt⸗ 
lingsnamen Karſignatus uñd Epoſſognatus; und ferner Localnamen, 
unter denen das von W. Grimm in d. B. (S. 217) genannte 
Eccobriga im norböftliden Galatien, namentlich) aber der Name 
des heiligen Eichenwaldes, ber heiligen Stätte, wo der adelige Senat 
der Galater zufammentrat, Drunemetum oder Drynemetum, 
bejonders wichtig find. (Vgl. Contzen a. a. O. S. 83. Grimm 
a. a. O. S. 216. Mommfen, Bd. I, ©. 698.) 
Entſcheidendes Gewicht endlich legt Dr. Wieſeler auf eine in 
der That in hohem Grade intereſſante Bemerkung des heiligen 
Hieronymos. Dieſer berühmte Kirchenſchriftſteller des vierten 
chriftlichen Jahrhunderts, der ſowol Gallien und das römiſche 
Rheinland, wie anderſeits Galatien perſönlich kennen gelernt hatte, 
beſchäftigt ſich im Proömium feines lib. II in epist. ad Galatas 
mit der Nationalität und Sprache der Galater. Wer die betref⸗ 
fende Stelle unbefangen in Angriff nimmt, der kann (unſeres Bes 
dünkens) über die Meinung bes gelehrten Dalmatiners kaum in 
Zweifel fein. Wenn derjelbe auch für die ältefte Zeit fich die Ans 
fiht des Joſephus (j. 0.) aneignet und die Gomerier für &a- 
later im weiteſten Sinne nimmt, fo iſt e8 doch kaum möglich, ihn 
miszuverftehn, wenn er die zu feiner Zeit erheblich griechiſch civili- 
firten Galater Kleinaſiens de ferocioribus Gallis, von den wilden 
Galliern des Weftens, abftammen läßt. Und wie er dann bemerkt, 
daß (ed. Vallars. VII, 1. p. 430) die Galater ihre alte Sprache, 
neben dem Griehifchen, von einigen Korruptionen abgefehen noch 
immer fi) bewahrt hätten und etwa diefelbe Sprache redeten, wie 
die Trevirer: fo ziehen die Philologen und Hiftorifer jegt jo gut 
wie einmüthig daraus nur den Schluß, daß die Galater in Afien 
neben dem Griechiſchen und die Trevirer an ber obern Mofel neben 
dem Lateiniſchen ihren einander ziemlich gleichlautenden keltiſchen 


540 Wieſeler 


Dialekt noch im vierten Jahrhundert der Kaiſerzeit feſtgehalten 
haben. 

Dr. Wieſeler kommt zu einem ganz anderen Ergebnis. Wir 
erinnern daran, daß er (ſ. oben) ſchon S. 23 ff. auf Joſephus 
und Hieronymos geftügt bie unglüdliche Idee verfochten hatte, daß 
die Rimmerier des fernen Oſtens Germanen geweſen. Jetzt muß 
(S. 48 ff.) die Angabe des Hieronymos über die Sprachverhält- 
niffe dazu dienen, das Deutſchtum ber Galater noch ficherer zu 
erweilen. Wie fi) von felbft verfteht, weil er dad Volk der 
Trepirer unbedingt für Deutſche erkennt. Die Sache dürfte ſich 
aber doc anders verhalten. Allerdings ift es vollkommen waht, 
daß namentlich nad) Zacitus’ Angabe (Germ. 28) die Trevirer 
zu jenen Helgifhen Stämmen gehörten, welche mit befonberem 
Nahdrud ihre germanifche Abkunft betonten und nicht als Gallier 
angefehen fein wollten. Man kann nun immerhin zugeben, daß 
möglicherweife ein erheblicher Theil deutfcher Elemente in dem 
Volle der Trevirer lebte, und daß diejer Fräftige Stamm ſich deijen 
mit Stolz gegenüber den mehr verweichlichten Galliern des innern 
Landes bewußt war. Uber ebenſo wahrjcheinlich ift e8, daß das 
durchaus nicht gehindert hat, daß nicht da8 Volk ber Trevirer die 
feltifche Sprade nad Maßgabe des belgifchen Dialektes ſprach. 
Es Tiegt doch auf der Hand: ſprachen die Trevirer einen deut: 
hen Dialett, fo konnten weder Kelten noch Römer an ihrer 
deutfchen Abfunft zweifeln, und wenn fie mit Heftigkeit auf dieſt 
germanische Abkunft pochten, fo muß eben das ficherfte äußere Kenn 
zeichen, nämlich die deutfche Sprache, den etwa in dem Moſelgebiet 
von Trier vor Alters unter belgischen Kelten angefiedelten Deutjchen 
ihon zu Cäſars Zeit Tängft abhanden gefommen fein. Mochte 
alfo immerhin das Volt der Trevirer fi feinem Blute nach den 
Germanen bes rechten Rheinufers nicht fremd fühlen: die Sprache, 
die Hieronymos feiner Zeit in dem nicht romanifirten Dörfern bei 
Trier gehört hat, ift ficher die keltiſche geweſen *). 


m — 


1) Die ganze Letzte Discuffion würde freilich fiberflüffig fein, wenn wirklich 
die Ausfage des Hieronymus Über die lange Erxiftenz ber feltiichen Spradk 
in Oalatien überhaupt ivrig wäre. Aus Kieperts Lehrbnd der 











Die deutſche Nationalität der Heinafiatifchen Galater. 541 


Schließlich fei nur noch binzugefügt, daß es auch noch einige 
andere Momente gibt, die uns die Galater Aftens als unmittelbare 
Stammesbrüder der Kelten des Weftens erfcheinen laſſen. Die 
Angaben der Alten über die Größe, Weiße und Blondheit der Gas 
later ftimmen im ganzen mit den Schilderungen überein, wie wir 
fie von den übrigen Kelten haben (Pausan. X, 20; Liv. 88, 
17, 21); dasfelbe gilt in Bezug auf ihre Waffen; nod in den 
Kämpfen gegen Manlius Vulſo zogen ihre fchmalen Schilde und 
nationalen langen Schwerter gegen die Maſſe der römischen Schuß» 
waffen den Kürzeren. Auch die Art ihrer Verfchanzungen im 
Kriege (Liv. 38, 19) war in Sleinafien diefelbe, wie in den 
Hauptfigen der Teltifchen Nation (Congen, ©. 79 u. 244). 
Endlich aber theilen fie vollftändig die Neigung ihrer abendländischen 
Stammesbrüder zur Anfiedlung in Städten und Dörfern, und 
zeigen feine Spur von der den Germanen fo lange charakteriftifch 
gebliebenen Abneigung gegen das Wohnen in gefchloffenen Plägen. 


G. Herkherg. 


Geſchichte der religiöfen Aufklärung im Mittelalter vom 
Ende des acdten_Inhrhunderts bis zum Anfange des 
vierzehnten von Hermann enter. 2 Bände, Berlin 
1875 u. 1877. Xu. 335 ©, X u. 391 ©. 8°. 





Diefes jetst vollendet vorliegende Wert ift ausgezeichnet durch 
den Reichtum und die Selbftändigfeit de8 Quellenſtudiums und 
durch eine jeltene Sorgfalt Fünftlerifcher Gruppirung und Darftellung. 
Es maht auf den Leſer einen faft blendenden Eindrud und hat 


alten Geographie (S. 102), erfehen wir, daß ©. Perrot in ber Ab- 
handlung „De la disparition de la langue Gauloise en Galatie“, 
die und unbekannt geblieben, dieſe Anficht vertritt. 








542 Reuter 


in dem Berichterftatter wer weiß wie oft den Wunſch hervorgerufen, 
ſich ſogleich in die Quellenfchriften einzulaffen, aus benen die Er⸗ 
zählung gefchöpft ift. ALS die Gründe biefer Anziehung glaube id) 
bezeichnen zu dürfen, daß der Gegenftand die Bedeutung der Ges 
Schichte als Xehrmeifterin für die Gegenwart in der Tebhafteften 
Weife einprägt, und dag der individuelle Geſichtspunkt des Verfaffers 
dem Verlauf feines Berichtes eine überaus fcharfe Beleuchtung zu- 
wendet. Durch beides wird der an der Sache intereffirte Leſer zu 
einer entjprechenden Spannung feines Urtheil® über die Dinge und 
über den vom VBerfaffer gedeuteten Zuſammenhang bderfelben herausge 
fordert. Dazu wirft der Umftand mit, dag man erft am Schlufie 
de8 Ganzen da8 Motiv durchfchaut, welches in dem Verfaffer ben Plan 
feines Werkes hervorgerufen bat. Er bat bdasfelbe zwar in der 
Vorrede zum erften Bande angegeben, nämlidy daß er eine Vorbe⸗ 
reitung der „ghibellinifchen Bildung“ in der Epoche des Hohen- 
ftaufen Friedrich II. durch analoge Elemente des 12. Jahrhunderts 
wahrgenommen babe. Durch diefe Notiz ift man aber nicht ge 
nügend darauf vorbereitet, daß das Buch mit dem Farolingifchen 
Zeitalter beginnt, mit welchem, wie I, 85 zugeftanden wird, die 
Entwicklung feit der Mitte bes 11. Jahrhunderts in keiner nach⸗ 
weisbaren birecten Kontinuität fteht. Schon durch dieſes Verfahren 
wird der Lefer, welchem eine allgemeine Kenntnis diefer Gefchichte 
beimohnt, in eine Theilnahme verfett, welche etwas aufregenbes 
an fih hat. Dazu kommt noch folgendes. Der Berfafler be 
zeichnet in ber Vorrede feine Aufgabe als ein ergänzendes Kapitel 
zur theologifhen Dogmengefchichte. Allein indem er zugleich es 
ablehnt, die in der chriftlichen Theologie von Anfang angelegten 
Elemente der religiöfen Aufflärung als die Unterlage feiner Dar- 
ſtellung aud nur anzudeuten, indem er vielmehr den Leſer im 
farolingifchen Zeitalter in medias res hineinftellt, fo bedient er 
fi eines Rechtes des Kirchenhiftorikers, welches ich mir nicht ge 
trauen würde im Zuſammenhange der Dogmengefchichte auszuüben. 
Und, mie ich meine, darf der Verf. auf nicht zu zahlreiche Leſer rechnen, 
welche die durch feine Darftellung vielfach hervorgerufenen Leber 
raſchungen von vornherein durch die Erinnerung ausgleichen, daß die 
ſcheinbar originellen Gedankenreihen, welche er vorführt, aus ber alt- 











Geſchichte der refigiöien Aufflärung im Mittelalter. 548 


kirchlichen Apologetit und von Auguftin herftammen, der als ber 
elaffifche Vertreter des abendländifchen katholiſchen Chriftentums zu- 
gleich nicht bloß das Element bes Protejtantismus, fondern auch das 
der Aufflärung in jenem Scoße trägt. Zu nicht geringer Er» 
ſchwerung de Verſtändniſſes dient aber endlich der Umftand, daß 
der Verfaſſer feine Vorrede mit einer Definition von „Aufklärung“ 
eröffnet, deren Wichtigkeit er dadurch betont, daß er ihre Mittheilung 
als „Sewifjensbedürfnis“ bezeichnet. Er fügt freilich Hinzu, daß mit 
Formeln der Art, wie feine Definition ift, ſich die Fülle des gefchicht- 
lihen Lebens nicht umfpannen läßt. Aber indem er ferner auch 
darin Recht Hat, daß er eines Begriffes der Aufllärung bedurft 
habe, um die entfprechenden geſchichtlichen Erjcheinungen finden zu 
fünnen, jo bezweifle ich, ob es für die Lefer zweckmäßiger war, fie 
von vornherein zur Disputation über den Begriff der Sache aufzu- 
fordern, als fie durch die Vorgefchichte derjelben dazu anzuleiten, 
in bie allmählich vorfchreitende Darftellung der mittelaltrigen Aufklä⸗ 
rung einzumwilligen. Der Titel „ Aufllärung “ hat ja feinen anerkannten 
- Drt in der Epoche der neueren Kirchengefchichte, welche durch die 
manigfadye Spaltung ber abendländifchen Kirche und durch die 
Erfahrung bedingt ift, daß der wilfenfchaftliche und politifche Kampf 
diefelbe nicht rücgängig zu machen vermochte. Unter diefen Um⸗ 
ftänden befann man fi auf die von allen Eonfeffionen anerkannte 
fogenannte natürliche Religion, um in ihr ben Grund identifcher 
Meberzeugung und Verpflichtung zu gewinnen, ohne den rechtlichen 
Beſtand der getrennten Kirchen anzutaften, oder fih ihm zu ent⸗ 
ziehen. Das legtere Merkmal halte ich für weſentlich. Nun leuch⸗ 
tet e8 ein, daß die abendländifche Ehriftenheit Schon im 12. und 
13. Jahrhundert in eine ähnliche Lage gelommen war. Die Er- 
fahrung, dag man den Islam aus feiner Machtftelung an den 
äußerften Spigen der damaligen europäifchen Welt nicht verdrängen 
fonnte, traf zufammen mit einem gefteigerten wifjenfchaftlichen Aus» 
taufche zwijchen Juden, Ehriften und Moslems; und beides diente 
dazu, daß man aus der Vergleichung ber drei Neligtonen in mannig- 
facher Abftufung zu Weberzeugungen gelangte, welche der Auf» 
Härung im 17. und 18. Jahrhundert gleichartig find, ohne daß 
man an dem Beſtande der kirchlichen Einrichtungen rüttelte. Es 





544 Reuter 


ift vielmehr an fi wahrſcheinlich, daß deren ungebrochene einheitliche 
Macht von vornherein der damaligen Aufflärung Schranken jebte 
und Ruckſichten gegen die geltende Tirchliche Lehre auferlegte, welde 
in ber fpäteren Epoche nicht mehr wirkfam waren. ‘Deshalb wird 
man im Mittelalter nicht auf diejenige Präcifion und Neife der 
aufllärerifchen Gedanken rechnen dürfen, wie in der nachfolgenden 
Zeit. Es würde alfo aus diefen Beziehungen rathſam geweſen 
fein, nicht durch einen möglichft präcifen und den modernen Er 
fheinungen angepaßten Begriff von Aufflärung Erwartungen von 
den entfprechenden Erfcheinungen im Mittelalter zu erwecken, hinter 
welchen diefelben zurückbleiben. 

Der Berfaffer unterfcheidet allerdings in der Aufklärung drei 
Stufen, nämlich die Tendenz auf die Reinigung des Chriftentums 
durch Vernunftkritik, ferner die Erfegung desfelben durdy die natür- 
liche Religion, endlich die Auflöfung aller Religion. Er nimmt 
das Recht in Anſpruch, auch die Erfcheinungen der erften Art, die 
im Mittelalter fich zeigen, zur Darftellung zu bringen. Und diefes 
ift gewiß nicht zu beftreiten. Dennoch vermag ich nicht zu ver 
Schweigen, daß das vom Verfaſſer vorangeftellte gemeinfame Mert- 
mal ber drei Stufen, nämlich „die Oppofition der als jelbftändigee 
Licht fich wiffenden Vernunft gegen den als Tichtfchen vorgeftellten 
Dogmatismus“, an den Erfcheinungen der erften Stufe, welde er 
ſchon im karolingiſchen Zeitalter nachweift, nicht wahrgenommen 
wird. Der Proteft gegen die Bilderverehrung, welchen nach ein 
ander die fogenannten farolingifhen Bücher, weiter Claudius 
von Turin und Agobard von Lyon erheben, wird zwar vom 
Verfaſſer mit einer etwas peinlichen Inquifition darauf Hin unter⸗ 
fucht, ob nicht der im voraus aufgeftellte Begriff der Aufflärung 
auf fie paßt. Aber er entfcheidet ftets felbft, daß diefes nicht der 
Fall ift, daß theils die pofitive Autorität des Chriftentums aus⸗ 
drüclich vorbehalten, theil® gerade die Ynftanz des Glaubens dem 
Aberglauben entgegengejett wird, theils die Abhängigkeit von Auguftins 
theologifcher Weberlieferung ſich als maßgebend zeigt, wo ber Zug 
eines abftracten Spiritualismus fi) momentan von der Rüdfiht 
auf die gefchichtliche Bedingtheit der chriftlichen Weltanfchauung zu 
löſen droht. Ich möchte aber noch auf folgendes hinweiſen. Nad 








Geſchichte der religiöfen Aufklärung im Mittelalter. 545 


ben für jenes Zeitalter feftftehenden Maßſtäben ber kirchlichen Ueber⸗ 
lieferung ift weder die Bilderverehrung nod) die Geltung des Wunders 
der Gottesurtheile, gegen welche die genannten Männer auftreten, 
zum hriftlichen Dogma zu rechnen; deren Widerfpruch dagegen fällt 
aljo auch nicht unter den aufgeftellten Begriff der Aufllärung. Endlich 
finde ich die zugleich ausgejprochene Borausfegung einer zufammen- 
hängenden Weltorduung und das Mistrauen gegen Täufchung durd) 
eingebildete Wunder um fo weniger aufflärerifch, als jener Anſpruch 
gerade durch die chriftliche Deutung der Welt als eines Gefüges 
bon Zweden auf den Endzwed Chrifti hin berechtigt wird. Des⸗ 
halb nimmt- insbefondere Agobard, indem er die abergläubifche 
Wunderſucht feiner Zeitgenoffen als Verſtoß fowol gegen die Ver: 
nunft wie gegen die Anforderungen des Glauben beurtheilt Hat, 
eine vollkommen correcte Haltung ein, welde ihm aud von dem 
Verfaſſer zugeftanden wird. Es ift nur fchade, daß der Verfaffer 
die Spuren der mistrauifchen Unterfuchung, welcher er diefes Zus 
geftändnis erſt abgewonnen bat, in der Daritellung nicht getilgt 
hat. Ebenjo hätte nach der eigenen Entjcheidung des Verfaſſers 
der Auguftinianer Gottſchalk ausfallen müfjen, da er nichts 
weiter gethan Hat, als die eine Reihe der Heilslehre feines Meifters 
gegen die andere kirchlich üblich gewordene zu betonen. Endlich 
möchte ich vermuthen, daß, wenn die erfenntnisstheoretiichen Ges 
danken des Neuplatonikers“ Scotus Erigena an den Vorbildern 
Auguftins, des Areopagiten und des Marimus Confeſſor ge 
prüft würden, jeder Schein des aufllärerifchen Tendenz, die im 
ihnen gefucht wird, fich auflöjen würde. Auch die Anficht von dem 
Sittengefege ald dem Wefen der wahren Religion, die Erigena nur 
non den alten Apologeten entlehnt, ift von ihm noch nicht zur Hers 
abſetzung des Chriftentumd verwendet worden. Und daß bei der 
Deutung der Erlöfung das trdifche Leben Jeſu Hinter die Aufer- 
ftehung zurüchgeftellt wird, ift nichts neues, ſondern nur der Ueber- 
Lieferung derjenigen Kirchenlehrer gemäß, welchen die nicänische 
Glaubensregel ihren Urfprung verdankt. Es ergibt fih m. E. aus 
der vorliegeuden Darftellung felbit, daß die Vermuthung auffläre- 
rifcher Beftrebungen, mit welcher der Verfaffer an die befprochenen 
Männer herangetreten tft, durch ihn felbft nicht beftätigt ift. Sollte 


546 Neuter 


alfo das Farolingifche Zeitalter die Gefchichte der Aufklärung im 
Mittelalter eröffnen, fo kam es wol vielmehr darauf an, auf das 
ungebrocdhene Gleichgewicht zwifchen Ueberlieferung und methodiſcher 
Erfenntnis Hinzumeifen, in welchem die fporadifch auftretenden 
Denker jener Epoche fich noch behaupten, obgleich in ber Weberlie- 
ferung felbft die verfchiedenartigen Fäden angelegt find, welche unter 
anderen Umſtänden ſich trennen und in Spannung gegen einander 
treten Tonnten. 

Auf dem ferneren Wege durch das 10. Jahrhundert begegnet 
ung nur Gerbert (Papft Sylveſter I.) als ein Dann von 
hervorragendem wiffenfchaftlichen Charakter. Aber wiederum recht⸗ 
fertigt der Bericht des Verfaſſers über denjelben keinesweges die 
ihm beigelegten Titel als „Aufklärer erſten Ranges“, als „Heros 
der Aufklärung“ (S. 79. 84), man müßte denn bierunter eine 
geiftige Wirkung verftehen, welde von unbeftimmterer Art, aber 
eben durchaus nicht von renolutionärer Bedeutung für das pofitive 
Ehriftentum wäre. Der enchflopädifche Wiffenstrieb, welcher Ger- 
bert in feiner Zeit fo auszeichnet, ift ihm ſelbſt nicht hinderlich 
geweien, eine fupranaturaliftiiche Theologie zu pflegen. Alſo hat 
er „die Antinomien zwifchen Wiffenfchaft und Glauben“, welde 
nad unſeren Erfahrungen „unausweichlich“ zu fein fcheinen 
(I, 82), eben nichtin fich erfahren. Die erfte Bedingung für eine 
Veränderung diefer Sachlage, nämlich die Verbreitung von philofe 
phiſch⸗theologiſchen Schulen in Stalien, Frankreich und Deutfchland 
feit der Mitte des 11. Jahrhunderts ift vielleicht ald Nachwirkung 
Gerberts zu betradhten; aber daß die gejchichtlich ficher fei, wird 
von dem Berfaffer ſelbſt geleugnet. 

Unter den Führern diefes Bildungsfreifes ift nun Berengar 
von Tours durch den Kampf berühmt, welchen er gegen die 
jeit Paſchaſius Radbert aufgelommene Lehre vom Abendmahle 
geführt hat. Der DVerfaffer erkennt in gewiſſen Gedanfenreihen, 
welche Berengar gegen jene Lehrweife eingejegt hat, die Tendenz 
der negativen Aufklärung im unmittelbaren Gegenfage mit bem auto 
ritativen Kirchentum, im mittelbaren mit dem Chriftentum der pofis 
tiven Offenbarung (S. 97). Aus feinem eigenen Berichte aber 
Ihöpfe ich einen anderen Eindrud von ber Nichtung des Mannes. 








Geſchichte der religiöfen Aufflärung im Mittelalter. 547 


Im ganzen bewegte ſich der von ihm unternommene Streit auf 
dem Boden der Schriftauslegung und der Prüfung der Tirchlichen 
Ueberlieferung. Berief er fih in diefem Zuſammenhange auch 
auf die Vernunft oder auf die Evidenz ber Wahrheit, welche durch 
fein Wunder widerlegt wird, fo ift diefe Inſtanz fichtlih nur von 
formalem Werthe, und hat Feine andere Bedeutung, als wenn 
Luther durch die heilige Schrift und vernünftige Gründe widerlegt 
zu werden verlangte. Der Verfafjer ermäßigt auch demgemäß fein 
Urtheil richtig dahin, daß der Gegenfat zwifchen Berengar und 
feinen Gegnern im Gottesbegriff wurzele. Für jenen ift eine bes 
ftimmte erfennbare Ordnung der Welt in dem Gedanken von Gott 
eingefchloffen, für dieje gilt Gott als die Feiner Schranken fühige 
Willkür (S. 110). Wenn ich zugeben foll, daß jene Pofition 
„rationaliſtiſch“ ſei, fo ift die entgegengefegte meines Erachtens 
nur nicht driftlih. Der Verfaſſer ſelbſt Hat diefe letztere im 
Deittelalter vorherrfhende Theorie in ihrer folgerechten Ausprägung 
durch Duns Scotus auf einen Naturalismus beurtheilt, welcher 
gegen alles religiöfe Bebürfen gleichgültig fei (II, ©. 91); wäre 
es nicht hienach gerecht gewefen, der geichloffenen Weltanfchauung 
Berengars eine günftigere Beleuchtung zu verleihen als die, daß 
fein Princip von den Gegnern richtig als rationaliftifh erfannt 
worden fei? Aber der Verfaſſer läßt fogar den Berengar noch 
weitere Ungunft erfahren. ALS die Anficht desfelben kirchlich ver- 
urtbeilt worben war, hat er fi mit „der Apologie der Unver⸗ 
binblichkeit erzwungener Eide, mit Mentalrefervationen * aufrecht 
zu erhalten verſucht, diefe „Leiftungen einer fpinofen Dialektik 
waren fittlich entwürdigende Niederlagen zu gleicher Zeit“ (S. 125). 
Ich würde dem Verfaſſer das Recht zu ſolchem Urtheil unbedenklich 
einräumen, wenn er das Verhalten Gregor8 VII. in der Sadıe 
einer gleich fcharfen Beleuchtung unterwürfe. Derfelbe galt feinem 
Schützling dafür, mit ihm einverftanden zu fein. Dennoch hat er ihn 
und feine eigene Anficht preisgegeben, als das Eoncil zu Nom 
1079 gegen Berengar entfchied. Iſt die Aufopferung der eigenen 
Meinung durch Hildebrand, jefuitifch gefprochen, das sacrificium 
intellectus, darum weniger einer Rüge unterworfen, al8 Berengars 
Meentaltefervationen, weil jenem „bie Wahrheit nit zuhöchft ein 
Theol. Stub. Jahrg. 1878. 





548 Reuter 


theologifches Dogma oder eine religiöſe Weberzeugung, ſondern das 
göttlihe Recht der römischen Weltherrfhaft war“ (S. 121)? 
Ift nicht diefer Anſpruch ein viel weiter greifendes8 Princip don 
Unwahrheit und Unrecht, als die vom Verfaffer betonte Ruhmfudt 
und Ueberhebung des unterliegenden Beftreiterd einer jungen aljo 
in der Kirche nicht berechtigten Lehrtradition? Wenn man biefen 


moralifch verurtheilt, fo darf die Entfcheibung des weltherrſchenden 


Papites nicht nah „dem Bedürfnis der Zeit“ für Recht erklärt 
werden; oder es entfteht ein unrichtiges Bild. Wenn es aber ba 
ranf ankam, Aufklärung im eigentlichen Sinne in jenem Zeitalter 
nachzuweifen, fo ift e8 merfwürdigermweife Gregor felbft, welcher 
diefen Ton angefchlagen hat, freilich nicht aus Weberzeugung, aber 
aus Diplomatie. Er hat 1076 an einen nordafrifanifchen Sara- 
zenenfürften Anzir, welcher fih feinen chriftlichen Unterthanen ge 
fällig erwiefen hatte, folgendes geſchrieben: „Ehriften und Sara 
zenen glauben beide an einen Gott, obgleich fie ihn auf verfchiebene 
Weiſe verehren; was den Menſchen vor Gott am wohlgefälligiten 


madt, tft die Liebe. Denn er tft unfer Friede, der aus beiben 


(Shriften und Nichthriften) eins gemacht hat und jeden erleuchtet, 
der in biefe Welt kommt.“ Wenn, fagt Steig (, Nordafrikaniſche 
Kirche“, bei Herzog, Real⸗Enc. X, ©. 434), zum Schluffe Gregor 
erfläre, er bete täglich, daß Gott den Anzir nach langem Leben in 
den Schoß des Erzvaters Abraham einführe, fo heißt dies nichts 
anderes, al8 daß jeder nad feiner Facon felig werbe 
”gl. Epistolae Gregori VU, lib. IH, ep. 21 bei Mansi, 
Tom. XX. 

Es ift aber eben diefe Epoche des 11. Jahrhunderts, in welcher 
die theologische Schulbildung Kirchenglauben und Vernunftertenntnis 
in Eins zu fegen beftrebt war und zugleich einen Conflict biefer 
beiden Intereſſen in's Leben zu führen verfprad. Den Ausgangs 
punkt diefer Entwicklung, in welcher jett erft theologifcher Zweifel 
und religiöfe Aufllärung zu erwarten. find, bezeichnet der erfte Scho⸗ 
faftifer Anfelm von Canterbury, Der Verfaffer Hat natürlich 
nicht unterlaffen, denfelben am Schluffe des zweiten Buches zu 
charakteriſiren und zugleich die Anfpräche an bie theologifche Wiſſen⸗ 
haft unter den Beitgenofjen zu bezeichnen, denen er genugzuthun 





32* 2* - 
ir a 77 W 


Geſchichte der religtöfen Aufffärung im Mittelalter. 549 


ſuchte. Er hat ferner in einem ausführlichen Exeurfe in den Noten 
erwiejen, wie wenig beffen berühmter Grundfag: credo ut intelligam, 
im Stande gewefen ift, eine fihere Beitimmung bed Berbältniffes 
zwifchen Slauben und Wiffen für ihn felbft abzugeben. Allein ich 
meine, daß die Schilderung der wiffenfchaftlichen Art biefes erften 
Scholaftiters mehr in den Vorbergrund hätte gerückt werben follen, 
und daß die rationaliftifche Methode besfelben ftärfer betont 
und anfchaulicher gemacht werden durfte, um zu erflären, baß feine 
Abfiht, da8 Dogma zu conferviren, kein zuverläßiger Schuß gegen 
den drohenden Zwieſpalt zwifchen Glauben und Willen fein konnte. 
Die Traditionaliften der Gegenwart, weldhe für ben Beſtand des 
Chriftentums fchon fürchten, wenn man Anfelms Genugthuungs⸗ 
lehre für verfehlt erklärt, durften einmal wiebererfahren, baß 
diefe® ganz moderne Gedanlengeflige rein aus der Vernunft gefponnen 
ift. Findet num die theologiſche Auflflärung ihre Anregung ftete 
aus den dein Ehriftentum fremdartigen wiflenfchaftlichen Zuthaten der 
confervativen Theologen, jo bedurfte die Gegenwart einen ausflihr- 
lichen Nachweis, daß gerade die methodiſch mangelhafte und uns 
fihere Apologetit Anfelme für das Auftreten aufflärerifcher Auf- 
Tehnung gegen das pofitive Dogma zum Schlüffel dient. Seit 
jenem Anfang der Scholaftit hat auch dns Ringen um bie Einigung 
von Glauben und Wiffen neben dem Streite des einen gegen das 
andere im Abendlande kein Ende gefunden. Diefer Kampf gehört 
zum geiftigen Dafein der abendländifchen Völker. Wer dieſes be- 
dauern oder die aufflärerifchen Priedensftörer von vorn herein als 
unberechtigt betrachten follte, würbe hiemit bezeugen, daß bie orien- 
talifche Kirche, in welcher die unveränderliche Anhänglichkeit aller 
igrer Angehörigen an das fertige Dogma unter ben Schug ber 
grundfäglichen Unwiſſenheit geftelit ift, dem Ideal entfpricht. 

Den Hebergang von Anfelm zu Abälard (drittes Buch) bildet 
eine Schilderung allgemeiner Bildungerichtungen im 12. Jahr⸗ 
hundert. In diefem Abfchnitt, wie in den gleichartigen anderen, 
gibt der Verfaſſer die Meifterfchaft Biftorifcher Forſchung kund, die 
ihm zu Gebote ſteht. Die mühfam aufgefunbenen vereinzelten 
Angaben der Quellen verfteht er zu lebendigen Bildern allgemeiner 
Beftrebungen zufammenzufügen, welche bie Entfernung des Zeit- 

36 * 


550 Reuter 


alter8 vergefjen laſſen. Beſonders lehrreich find in bem vorliegen- 
den Zufammenhang die ‘Data Über die apologetiichen Auseinander: 
fegungen mit den Juden und über die „nihiliſtiſche“ Ausartung 
der philofophifhen Schulbildung der Zeit. Der Zug zu bdispute- 
torifcher Negation gegen die anerlannten Vorausfegungen bes dog⸗ 
matifhen Glaubens war damals weit verbreitet, als Beter Abü- 
lards wilfenfhaftlihe Wirkſamkeit ihren glänzenden Lauf nahm. 
Er hat num nicht die Abficht gehabt, diefem Zuge zu folgen, fondern 
vielmehr bie, ihn zu befümpfen. Indem er feine philoſophiſche 
Erfenntnis in den Dienft des kirchlichen Dogma ftellte, Hat er 
freilich derfelben zugetraut, daß fie alle Zweifel heben und die 
Vebereinftimmung des Ehriftentums mit der Vernunft nachweijen 
werde. Iſt das formaler Nationalismus, und kommt feine Con 
ftruetton der Trinitätslehre zu Abweichungen von der dogmatiſchen 
Vorlage, fo ift dies eine durchgehende Erfcheinung in der Scholaftif, 
und bezeichnet einen befondern Charakterzug an ibm. Hat er aber 
wirklich auffläreriiche Gedankenreihen gebildet, jo würde dieſes zu 
nächſt nur als Folge davon zu achten fein, daß die überlieferten 
Mittel der Erkenntnis, mit denen er arbeitete, dem Zweck nicht 
angemeffen waren, zu bem fie verwendet wurden. Abälard hat 
nun im Mittelalter al® der erfte die mit Auguftin verftummte 
allgemeine Apologetit wieder aufgenommen. Der Grundgebanfe 
derfelben, daß das Ehriftentum das allen Neligionen und Bhilojo- 
pbieen gemeinfame natürliche Sittengefeg von Zufägen gereinigt 
und in der ganzen Menſchheit wirkſam gemacht habe, klingt, wie 
der Verfaſſer an verfchtedenen Stellen notirt hat, auch bei früheren 
Theologen des Mittelalters an. Allein erſt Abälarb Hat über 
haupt die Aufgabe wieder geftellt, unter Vergleichung der anderen 
Religionen aus einem allgemeinen Begriff der Religion ben Bor: 
zug des Chriftentums zu beweifen. Es leuchtet unfchwer ein, daß 
derfelbe fo nur als quantitativer und nicht als qualitativer feftgeftelit 
werden Tann. Und diefer Mangel der überlieferten Grundfäge muß 
auch Abälard zu Gunften gerechnet werben, wenn es, wie ber 
Berfaffer in ausführlicher beredter Darftellung feftftelit, ihm nicht 
gelang, mit dem obigen Grundfag 'und der verwandten Annahme 
über göttliche Inſpiration der helleniſchen Denker und Dichter die 


Geſchichte der religiöfen Aufflärung im Mittelalter. 551 


Aufgabe zu löſen. Außer der Introductio in theologiam kommt 
nun für diefe Seite der Erkenntnis Abälards noch fein unvollen⸗ 
beter Dialogus inter philosophum, Judaeum et Christianum in 
Betracht. In der legteren Schrift aber führt Mbälard noch einen 
anderen Stoff zur Begründung des Vorzuges des Chriftentums ein. 
Das Ehriftentum verbürgt die Seligkeit in der Anſchauung von 
Gott, welche die Liebe Gottes durch die Erregung der Liebe des 
Menschen zu ihm felbft möglich macht, und zwar fo, daß die ber 
Philofophie zugängliche Proportion zwifchen Verdienſt und Lohn 
der Seligleit aufgehoben wird (S. 204. 205). Hier jest nun 
aber der Berfaffer mit einer Kritik ein, ber ich um ber Gerechtig⸗ 
feit willen nicht beiftimmen Tann, da fie bie Bedeutung des gefchicht- 
fihen Reſultates, welches eben feftgeftellt tft, nur verbunfelt. Er 
fagt: „An den Stellen, wo bie göttliche Liebe als die alle menſch⸗ 
tiche bedingende gefelert wird, zeigen ſich die Umriffe der Abälar- 
difchen Verſöhnungslehre fo unverkennbar, daß man meinen Tann, 
ber 2efer folle an Jeſum als den Vermittler diefer Umftimmung 
erinnert werden. &leichwol wird feiner in diefem Zufammenhange 
nicht gedacht; der Begriff der Offenbarung geftreift aber nicht er- 
Örtert; in ſchwankender Weiſe anerkannt aber nicht erkannt; fcheint 
vorausgeſetzt zu fein und wird doch in einem eigentümlichen Helldunkel 
gehalten. " Zrogdem kommt demnächſt die Rede auf die beiden 
Schlußthatſachen des Lebens Jeſu, welche doch den Glauben bes 
Redners an die irdiſche Offenbarung vorausſetzen.“ (S. 206.) Gegen 
diefe Beurtheilung wende ich folgendes ein. Daß das Chriftentum das 
ewige Leben ober die Seligfeit verbürgt, und zwar als Gnabengabe 
Gottes an das Menjchengefchlecht, ift das Nefultat der griechifchen 
Kirchenlehrer des A. Jahrhunderts. Diefelben haben in jener Form 
die Erlöfung der Menfchheit von der Vergänglichkeit begriffen als die 
directe und unmittelbare Folge der Menſchwerdung Gottes in Ehriftus, 
aber fo, daß deſſen Auferftehung prattiich um fo mehr hervorgehoben 
wird, als erft fie die Vergänglichkeit an Ehriftus felbft aufgehoben 
bat. Diefen dogmatifchen Gedanken fchlägt Abälard an; aber 
indem er die Seligkeit des Einzelnen in der wechfelfeitigen Liebe 
zwiichen Gott und dem Menſchen aufzeigt, bat er bie überlieferte 
Heilsordnung der Griechen von der Bebingung gereinigt, daß die 


552 ‚ Reuter 


Bergottung ober bie Verewigung der menfchlihen Geſamtnatur 
durch bie Incarnation des göttlichen Xogos dem Einzelnen wegen 
bes Berdienftes feiner Gefeerfüllung zu Theil werde. Nun bat 
er freilich ben leitenden Grund diefer Gedanfenreihe, nämlich die 
Bedeutung ber Incarnation des Logos hier nicht ausgefprochen. 
Allein man muß ihm dabei zugute halten, daß der philoſophiſche 
Collocutor von ſich aus die Seligfeit mit Gott als das höchſte 
Gut anerkannt hatte; der Chrift war alſo aud nur dazu veranlaft, 
die Bedingungen des Inhaltes diefer Vorftellung zu bezeichnen, 
durch welche der chriftlihe Sinn berfelben von dem philofophifchen 
unterfchieden würde. Er Eonnte an diefem Orte von der Ehrijto- 
(ogie völlig abjehen. Der Verfaffer führt fort: „ES beginnt ein 
apologetifcher Verſuch in Bezug auf die Himmelfahrt und die Er- 
bebung zur Rechten Gottes ..... . Aber weshalb die Auferftehung 
geſchehen ſei, wozu überhaupt der ohne alle Vorbereitung auftretende 
Gedanke der Weltherrfchaft Chrifti diene, wird nicht Mar ausge 
führt... . Es blieb nichts übrig, ale der Offenbarung die 
harakteriftiich fchwebende Stellung zu geben; fie wird von der Erde 
in den Himmel entrüdt." (S. 207. 208.) Der Berfafler muß 
mir geftatten, diefen Bericht als nicht richtig in Anfpruch zu 
nehmen. Die Data, welche er in obigen Sägen berührt, fommen 
vor in einer an bie Beftimmung des chriftlichen Begriffs der An- 
Ihanung Gottes angefnüpften Erörterung darüber, daß diefelbe nicht 
der Bedingung durch die Verhältniſſe des Raumes unterworfen ift. 
Abälerd beruft fich bHiefür auf ein Zeugnis Auguftins: Deo, 
qui ubique est, non locis sed moribus aut propinqui aut 
remoti sumus. ‘Dagegen wendet der Philofoph die chriftlice 
Vorftelung vom Kaum de8 Himmels, von der Törperlichen Him⸗ 
melfahrt Ehrifti und von feinem Plag zur Rechten Gottes ein. 
Abälard gibt unter bem Namen des Chriften Hierauf die Antwort, 
daß quae de deo sub specie corporali dicuntur, non corpora- 
liter ad literam sed mystice per allegoriam zu verftehen jei. 
Demgemäß bedeute der Himmel Gottes die guten Seelen, in denen 
er durch die Gnade wohnt; die Himmelfahrt Chriſti bedeute die 
Fähigkeit der von ihm erlöften Seelen, überall wohin fie wollen, 
hindurchzudringen oder fein Auffteigen in den Seelen felbjt; die 











Geſchichte der veligiöfen Aufklärung im Mittelalter. 553 


Rechte Gottes bedeute die Theilnahme an ber Würde und Herr» 
ſchaft Gottes, welcher die Anerkennung der Gläubigen wirkſam ent» 
fpridt. Diefe Ausführungen aljo Haben gar feine Beziehung auf 
den Begriff der Offenbarung. Und deshalb verftehe ich durchaus 
nicht, mit welchem Recht der Verfaffer ausfpricht, diefe gequälte, uns 
fichere, widerjpruchsvolle und überdies lückenhafte Darftelung mache 
die Noth anfchaulich, welche dem Abälard die Idee der Offen: 
barung bereitet Habe (S. 208). Aber eben fein Bericht ift nicht 
treu, indem er erft nach feinen oben beurtheilten Angaben über die 
Himmelfahrt Jeſu dazu übergeht, die Ausführung über die Illocalität 
Gottes zu befprechen, welche doc jene Punkte umfaßt. Natürlich 
contraftiet diefelbe mit der populären Auffaffung, und in fo fern 
mag fie ja aufgeklärt heißen. Allein ich beftreite es, baß ber 
Berfaffer hierin mit Grund eine Preisgebung der Autorität der 
Dibel fieht (S. 213). Endlich kann ich aus den von ihm felbft 
(S. 322) angeführten Sätzen des Dialogs nichts weniger heraus⸗ 
lejen, als daß die Berufung auf die höchſte Autorität der Bibel für 
Abälard ein überwundener Standpunft ſei (S. 213). Und hie 
nah kann ich nur meinen Widerſpruch dagegen einlegen, daß ber 
Dialog „negativ in einem Grade fei, wie feine andere Schrift 
diefes Autors“ (S. 221). Er ift von Tendenz, wie feiner Aus» 
führung nad) durchaus pofitiv, und im Einklang mit den Mitteln 
der Theologie, welche von den alten Apologeten und Dogmatitern 
her bis auf jene Zeit vererbt waren. Ich vermag die folgende 
Darftellung ber Theologie Abälards nicht fo zu controliren wie 
bie bisherige. - Aber fie ift mir auch nicht deutlich geworden. In⸗ 
deſſen gibt Abälards bekannte Aufftellung der Verſöhnungslehre 
dem Verfaſſer den Anlaß, mit Bernhard von Tlairvaux in 
ihr die geheime auf Zerfegung des ganzen Dogmas abzielende 
Richtung zu erkennen. „Und wäre man berechtigt, diefelbe als die 
mit Bewußtjein und Confequenz verfolgte zu betrachten, fo läge 
es nahe, auch die Übrigen Conftructionen in ähnlicher Weije zu ber 
urtheilen. Diefelben würden demgemäß nicht fowol die Beftimmung 
haben, die legten dem Willen genügenden Auffchlüffe zu geben, als 
die Einfiht in die Unhaltbarkeit alles dogmatifchen Verſtändniſſes 
anzubahnen.* (S. 244.) Indeſſen erklärt der Verfaffer doch diefes 


⸗ 


554 Reuter 


Verfahren für untriftig, da Abälard die fichere Folgerichtigkeit 
des Denkens nicht zugefchrieben werden dürfe, vielmehr die Mo—⸗ 
tive der kirchlichen Weberlieferung für ihn eine Geltung gehabt 
haben, welche feine Tendenz compenfirt habe (S. 256). Daß 
fettere glaube ich gern; denn der Scholaftiler fand fih an bie 
Veberfieferung de8 Dogma gebunden; und aus bdiefem Rahmen ift 
er nie herausgetreten. Aber die erftere Behauptung erprobt fi 
an der Verfühnungslehre Abälards meines Erachtens nicht. Es 
war doch der Erwähnung werth, daß Bernhard als herge⸗ 
brachte Lehre gegen Abälard das unbiblifche, gnoftifche Gefüge 
bes Rechts⸗ und Kaufhandels zwifchen Bott und dem Teufel ver- 
trat, der durch den Tod Chrifti ausgeglichen fein follte. Die Dar: 
ftellung des Verfaffere (S. 243) verläuft jedoch in foldden Wen⸗ 
dungen, als ob damals die Lutherifche Lehre von der Umftimmung 
Gottes durch das Leiden Chrifti herrfchend gemweien wäre. Aber 
nicht einmal die davon noch fehr abweichende Theorie Anfelme 
bildete damals die öffentliche Meinung! Sollen wir uns alfo 
für die Theorie vom Handel mit dem Teufel intereffiren, weil, 
wie der Verfaffer mit einem gewiffen Gewicht angibt, Bernhard 
gegen Abälarb einmwenbete, daß derſelbe die Erlöfung aus dem 
Kreife des Geheimniffes herausfege und für Juden und Heiden ver: 
ftändlih made? Mindeftens trifft diefer Einwand auch die zwar 
hochgelobte, aber gerade den Vernunftanfprücen von Juden umd 
Heiden angepaßte Theorie Anſelms. Und der alte Mythus, 
den Bernhard ale göttliches Geheimnis gehütet wiffen wollte, 
ift doch wol nur einer gnoftifch=heibnifchen Phantafie entfprungen! 
Kurz Abälards Verſöhnungslehre findet ihre richtige Beleuchtung 
nit, wenn fie nicht mit diefer alten und jener neuen Rechts⸗ 
theorie confrontirt wird. Diefes aber Hat der Verfaſſer unter: 
laſſen. 

Folge ich nun demſelben in den zweiten Band ſeines Werkes, 
ſo mag es ja ſein, daß die Oppoſitionsſtellung, welche Abälard 
nicht minder abſichtlich eingenommen hat, als ſie ihm durch die 
Feindſchaft Bernhards aufgezwungen war, unter den Nachkommen 
jo aufgefaßt wurde, daß allerlei negative Geiſter ſich zu ihm rech⸗ 
neten, obgleih er fie bekämpft Hat. Aehnliches hat fich mit 








Geſchichte der religiöfen Aufklärung im Mittelalter. 655 


Schleiermacher auch ereignet. ebenfalls ift die von jenem vor» 
bereitete, nachher Hauptfählih von Peter dem Lombarden ver« 
breitete Ehrijtologie, in welcher die Einigung der beiden Naturen 
auf eine dem Adoptianismus ähnliche Formel gebracht ift, nur 
als ein Act der Aufklärung des geringften Grades zu beurtheilen. 
Umbentungen unverftänblich gewordener Dogmen traten überall in 
den entfcheidenden Epochen der Kirchengefchichte auf. Hingegen führt 
ung der Verfaſſer endlich (S. 21) in diejenigen Bedingungen ein, 
welche das 13. Sahrhundert als den Schauplatz aufflärerifcher 
Beftrebungen im volleren Sinne erkennen laffen. In diefem Zeit- 
alter erft finden fich reichliche Erfcheinungen davon, was man 
eigentlich Aufklärung zu nennen hat. Und ba bezeichnet der Ver⸗ 
faffer unter den Gründen diefes Verlaufes die ben religiöfen pofl- 
tiven Glauben nothwendig zerrüttende Einwirkung der zur Welt 
macht aufgeftiegenen Kirche, ferner die Enttäufchung durch die Er⸗ 
folglofigkeit der Kreuzzüge, welche die Unmacht des Chriftengottes 
zu verrathen ſchien, dann den durd die Kreuzzüge herbeigeführten 
Verkehr zwifchen Chriften und Moslems, welcher jene zum Indif⸗ 
ferentismus ftimmte, dann die politifche und fociale Stellung der 
Katharer in Säöfranfreich, welche mehrere Jahrzehnte hindurch die 
öffentliche Geltung der Kirche einſchränkte, endlich die Einwirkung 
der arabifchen Philoſophie, namentlich der des Averroes, welcher 
die Gleichgültigkeit aller pofitiven Religionen auf Grund bes natür- 
lichen Sittengeſetzes als Geheimlehre mit der Anmweifung zur Accom- 
modation an den öffentlichen Gottesdienft vertritt. Nimmt man 
hinzu, daß die Kreuzzüge mit dem gefteigerten materiellen Austausch 
der Güter auch den geiftigen Verkehr der Culturvöller jener Zeit 
gehoben hatten, fo haben wir zu erwarten, daß aus jenen Anre⸗ 
gungen eine Saat auffprießt, welche die Sage von der geiftigen 
Berfinfterung des Mittelalters durchaus widerlegt. Die Proben 
provencafifcher und deutfcher Dichtung, welche der Verfaſſer dem⸗ 
nächft vorlegt (S. 56), haben allerdings einen entweder total oder 
itberwiegenden Zug des Zweifel an der göttlichen Weltregierung 
und an der Erkenntnis der religiöfen Wahrheit aus der Betrach⸗ 
tung der Zeitereigniffe geſchöpft; die Neutralität gegen den Unter- 
ſchied der Meligionen tft auch hier nur angedeutet. Man wird 


656 Keuter 


nun aber dadurch überrafcht, daB an diefe Gruppe des allgemeinen 
Religionszweifels fih ein Bericht über die philofophifchen oder 
apologetifchen Theologen bed 13. Jahrhunderts aufchliegt, welcher 
ih auf Hoger Bacon, Thomas, Duns, Raymundus Lulfus, 
Wilhelm von Auvergne erftredt (©. 67— 123). Ihrer Abficht 
nach teilen ja dieſe Scholaftifer die natürliche Theologie oder die 
praftifche Apologetif mit den Dlitteln jener in den Dienft des über- 
natürlichen Syſtems; find alſo eben feine Aufklärer. Indem ich 
‚ aber dem DVerfaffer den Gefichtspunft zugebe, daß es fein Recht 
war, die Dispofition jenes fcholaftifchen Lehrelementes zum Bruch 
- mit der Kirchenlehre und zur Entwidlung aufflärerifher Tendenzen 
zu beleuchten, fo babe ich bei feiner Darftellung doch folgende Be⸗ 
denfen. Einmal reichen die genannten Männer mit ihrem Leben 
bis gegen das Ende des 13., theilmeife in da8 14. Jahrhundert hinein; 
Sie dienen alfo nicht zum Verſtändnis der Epoche des Kaifers 
Sriedrih IL, auf welche e8 ihm ankommt. Was ihre Wirfung 
betrifft, fo ift diefelbe theils überhaupt nicht erfennbar, wie bei 
Roger Bacon, theil® nicht aufflärerifch, wie bei Thomas, theile, 
wie bei Duns, tritt eine folche erft im 16. Jahrhundert in dem 
Soeinianisinus an den Tag. In der Epoche, welcher diefe Männer 
angehören, haben fie nur den Eindrud conjervativer Theologen 
machen können. Aber wenn fie nun trogdem nad ihrer aufkläre⸗ 
riſchen Dispofition beleuchtet werden joliten, fo möchte wohl eine 
andere Reihenfolge als die ſich empfehlen, welche ber Berfafler 
ihren angewiefen bat. Die beiden Franciskaner, fo unähnlich fie 
fi) in der Methode find, verfprechen directer eine Weränderung 
des Verhältniſſes zwifchen Wiffen und Glauben, al8 der vorzugs- 
weise Firchliche Thomas und der apelogetiiche Praktiker Raymund. 
Wilhelm von Auvergne aber (Bifhof von Paris feit 1228), Ver⸗ 
faffer einer hieher gehörigen Schrift de fide et legibus, melde 
den Streit der Religionen ſchlichten will, war von jenen jüngeren 
Theologen durchaus zu trennen. Deffen Verfahren nun, das na- 
türliche Sittengefeg als gemeinfamen Beſtand der Religionen 
zuzugeitehen, zugleich aber für das chriftliche Dogmenfyftem als das 
Merkmal der vollfommenen Religion einen über alle Demonftration 
erhabenen Glauben zu fordern, erweift ſich nicht als jehr geeignet 











\ 
Geſchichte der religiöfen Aufffärung im Mittelalter. 557 


die in feiner Zeit auftretenden Spuren von eig Indifferen⸗ 
tismus zu zügeln. 

Zu deren Nachweiſung kehrt der Verfaſſer im (hen Buche 
zurüd. Zuerſt folgt er bier den Zeugniffen über verfahiedene 
Erfcheinungen von Indifferentismus, welche dem eben erwährgten 
Buche Wilhelms von Auvergne entlehnt werden. Bemerkenswergh 
ift unter diefen der mit Gregor VII. fachlich übereinftimmende 
error quorumdam, ut credant, unumquemque in sua fide vel 
lege seu secta salvari, dummodo credat eam esse bonam et 
a deo, ipsique placere quod facit (©. 337). Dann entfaltet 
der Verfaſſer eine ausführliche Gefchichte der Bewegungen auf der 
Parijer Univerfität, welche durch die wiederholten Verbote gegen 
averroiftifche Süße (1240 — 1277) angezeigt find. Hier handelt 
es jich wirklich um Aufllärung durch das philofophifche Erkennen, 
welches die Süße des pofitiven Ehriftentums über das Verhältnis 
zwifchen Gott und Welt verneint. Diefes ift endlich ein greif- 
barer Stoff der Art; während bisher nur unfichere Umriſſe für 
die Nachweifung aufllärerifcher Stimmungen genügen mußten. Bei 
diefen auerroiftifchen Streitigkeiten zieht fich num die negative Partei 
hinter den Schuß bed Satzes von der doppelten Wahrheit zurüd. 
Der Berfaffer hebt mit Recht hervor, daß diefe Unterfrheidung 
auf die Unterſchätzung der pofitiven Religion hinauskommen konnte, 
und für manche eben nur als ein diplomatifcher Ausdrud für 
diefelbe galt. Indeſſen Hat die nominaliftifche Schule in den fol 
genden Jahrhunderten fich gerade durch diefen Grundſatz als die 
Hüterin des confervativstheologifchen Intereſſes dem „rationafiftifchen“ 
Thomismus gegenüber behaupten können. 

Ich würde nicht erwartet haben, daß in einer Gefchichte der 
Aufflärung die Prophetie des Abtes Joachim von Floris und 
ihre Fortfegung in dem „ewigen Evangelium“ der Francislaner- 
Spiritualen zur Sprache lüme. Denn wenn diefe Entwürfe einer 
zufünftigen Entwidlung des Chriftentums ſich mit der Aufklärung 
in jo fern berühren, als fie den pofitiven gefchichtlichen Beftand des 
kirchlichen Chriftentums geringichägen ehren, fo ift doch die Ver⸗ 
fohiedenartigfeit der Conception zwifchen beiden Richtungen augen - 
fällig. Nicht die „Vernunft“, ſondern die apofalyptifche Inſpi⸗ 


/ 

558 S Reuter 

ration iſt das Vehikel dieſes Gedankenkreiſes; nicht auf eine gegen⸗ 

wärtige praftäfche Welt- und Lebensanſchauung iſt derſelbe bezogen; 

und weren“ für die Zukunft auch die jetzt beſtehende Spannung 

zwiſchen Lateinern und Griechen, zwiſchen Chriſten und Juden 

a mehr gültig fein joll, fo ift darin doch feine Anleitung für 

deis Verhalten in der Gegenwart gegeben. Nichtsdeſtoweniger 
„ft diefe Darftellung des fiebenten Buches überaus Iehrreich nicht 
‘ bloß an fich, fondern auch für den Sinn, in welchem es gerathen 
: war, Aufklärung al eine Erſcheinung des Mittelalters zu behaupten. 
s  Durfte aber eben diefer Stoff unter diefem Gefichtspunfte beleuchtet 
“ werden, dann beftätigt fich mein oben ausgeſprochenes Urtheil, daß 
der Verfaffer durch feine von vorn herein aufgeftellte Definition 
von Aufklärung feine Unternehmung in ein fchiefe® Licht geftellt 
hat. Wie fie ihn dazu veranlaßt bat, fehon die fcholaftifche Syn⸗ 
thefe zwiſchen Glauben und Wiffen, namentlih in Anwendung auf 
Abälard, mit dem nicht durchaus gerechten Verdachte einer nega- 
tiven Abficht in Bezug auf das Dogma zu begleiten, jo erweift fie 
fih als zu eng, wenn ber apofalyptifche Spiritualismus, wie id 
glaube, mit Recht berüdfichtigt werden ſollte. Dasfelbe findet Ans 
wendung auf die Anhänger Amalrihs von Bena, welche nicht die 
Vernunft, fondern den „Geift* in pantheiftifchem Sinne als ihre 
Anftanz verfündigten. 

Das achte Buch dreht fih um den Kaiſer Friedrich II. und 
um die ihm fchuldgegebene Rebe von den drei Betrügern. Wie 
viele Anläffe in feinem ficilianifchen Reiche ſich demfelben dar: 
boten, ſich in eine Neutralität gegen die Sarazenen einzuleben, wie 
weit der Kaiſer in feinem gefellfchaftlihen und wiffenjchaftlichen 
Verkehr mit ſolchen Nachgiebigkeit und auch bedenkliche Toleranz 
geübt Hat, wie farkaftifch er auch gegen das Transfubftantiations- 
dogma fich geäußert haben möge, das alles reicht weit nicht heran 
an die Glaubwürdigkeit des Vorwurfes, welchen &regor IX. (1239) 
gegen ihn gefchleudert hat: „Diefer König der Peftilenz hat erklärt, 
die Welt fei von drei Betrügern getäuscht worden, von Jeſu, Moſes 
und Muhamed. Die beiden legten find wenigftens in Ehren, ber 
erftgenannte aber ift am Schandpfahl des Kreuzes geftorben.“ 
(S. 276.) Der Verfaſſer weift in aller Ausführlichkeit nach, daß 


Geſchichte der refigiöfen Aufflärung im Mittelalter. 559 


die Authentie dieſes vorgeblichen Ausfpruches Friedrichs nicht feft- 
geftellt, daB auch der Vorwurf vom Papfte felbft nicht wiederholt 
und nicht aufrecht erhalten worden fei. Nichtsdeftoweniger findet - 
er ſich als Hiftorifer durch den Totaleindrud, den Friedrich auf 
ihn macht, berechtigt zu behaupten: „Er bat alle pofitive Offen⸗ 
barung geleugnet, das Wort von ben drei Betrügern gejprochen. 
Selbſt wenn e8 feine Lippen nicht geredet haben foll- 
ten, würden wir doh den Inhalt feiner geheimften 
Gedanken darin erkennen. Wahrheit ımd Dichtung wären 
bier auf ungertrennliche Weije verknüpft, bie höhere Hiftorifche 
Wahrheit bliebe unverfümmert.“ (S. 297.) Das ift ein 
Urtheil, in welchem der Verfaſſer feine Perfönlichleit gegen eine 
andere Berfönlichkeit einfetst, welche noch dazu fich gegen fein herz⸗ 
erforfchende8 Urtheil nicht verwahren Tann. Ich habe die Ueber⸗ 
zeugung, daß hiedurch die Competenz bes Hiftorifers überjchritten . 
wird. Ich finde aber, daß, indem ber Verfaſſer ſich zutraute, ein 
ſolches Urtheil über Friedrich zu fällen, er in den von ihm ange- 
ftellten Erörterungen immer nur die Rebe von ben drei Betrügern 
ventilirt, daß er aber die in der Angabe bes Papftes mit ihr ver- 
bundene fpecielle Blasphemie gegen Chriſtus nicht in Betracht zieht. 
Ich kann mir diefes nur fo erflären, daß er deren Beftätigung 
wahrfcheinlich zu machen fich fchent; dann aber wird er um fo 
weniger darauf rechnen dürfen, dag man fi) von der Nichtigkeit 
feines individuellen Eindrudes von der Herzensmeinung des Kaiſers 
überzeugt. 


Göttingen. . X. Rifſchl. 


Drud von Friebr. Anbr. Perthes in Gotha. 


Im Berlage von Friedrich Audreas Perthes in Gotha erfchienen 
foeben nachfolgende, duch alle Buchhandlungen zu beziehende Bücher: 
Claudius, Matthins, Werke. 2 Bünde. 9. Auflage der 

Original-Ausgabe 


Droyfen, 3. G., Geſchichte des Hellenismus. 3 Die. 
2. Auflage. 





I. Band: Geſch. Aleranders des Großen. — 1. Halbband 
2. Halbband . . oo. 
II. Band: Gefchichte der Diadochen. — 1. Salbband . 





2. Halbband. . . 

II. Band: Geſchichte der Epigonen. wit einem Anhang Über 
die hellen. Städtegründung. Regiſt er zum gegen 

Werte. — 1. Halbband . . . 

2. Halbband (Schluß) unter ber Breffe 


Erinnerungen an Amalie von Lajaulg, Schweiter Au- 
guftine, Oberin der Barmherzigen Schweſtern im St. 
Johannishoſpital zu Bonn 


Handtmann, E., Der Slavismus im ae der a 
.(ſ. Beilage) . 

Heimathlos. Zei Geſchichten fir Rinder und auch für 
Solche, welche die Kinder lieb Haben. Bon der Ber- 
fafferin von „Ein Blatt auf Brony's Grad“ . 

Daffelbe gebunden . 


Herbſt, Wilh., Matthias Claudius, der Wandebeder Bote 
Ein deutfches Stillleben. 4. Auflage, mit Negifter . 


Hillebrand, K., Geſchichte Frankreichs von der Thron⸗ 
beſteigung Louis Philipp's bis zum Falle Napoleons II. 
1. 8.: Die Sturm- und Drangperiobe | des Julilonig⸗ 
thums, 1830 -37. . . 


Jannſen, H., Montesquieu's Theorie von der Dre 
ung der Gewalten im Staate . . . 


Kaufmann, Dasid, Gejchichte der Attributenlehre in der 
jüdiſchen Peligienephiloſophie des Miteelalters von 
Saadja bis Maimüni. . 


Literaturblatt, Deutſches, Herausgegeben von Wilhelm 
Herbit. pro Quartal . . 

Alle 14 Tage erfcheint ein halber Bogen gr. 45 N 8 Spalten, 
alle Vierteljahre ein gleich ſtarkes Beiblatt; bringt Referate 
über alle bedeutenden Erjcheinungen der baterfäntitchen Literatur 
und die hervorragendften des Auslandes und will ein Wegweiſer 
für die deutſche Familie fein dur das Labyrinth der zeitge 
nöffifchen Erſcheinungen. (S. Beilage.) 








er 0 


m 


15 


. 16 


1111 


40 
60 


60 


50 


Bur gefäligen Beachtung! 


Die für die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einfendungen 
“ind an Profeffor D. Riehm oder Conſiſtorialrath D. Köftlin in 
Jalle als. zu richten; dagegen find die übrigen auf dem Xitel 
enannten, aber bei dem Redactionsgefchäft nicht betheiligten Herren 
it Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Ne- 
zetion bittet ergebenft, alle an fie zu fendenden Briefe und Padete 
ı franfiren. Innerhalb des Voftbezirks des Deutjchen Reiches, ſowie 
18 Oeſte rreich Ungarn, werden Manuferipte, falls fie nicht allzu 
nfangreich find, db. h. das Gewicht von 250 Gramm nicht 
berfteigen, am beiten als Doppelbrief verfendet. 


Friedrich Andreas Perthes. 





JIuhalt. 


Abhandlungen. 


.Schmidt, Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Iefu . 
.Goergens, Das altteftamentlihe Ophir . 2.2. 


Gedanken und Bemerkungen. 


. Kawerau, Luther und feine Beziehungen zu Servet . . .». . . 
. Diegel, Bergleihung der heutigen evangelifchen Predigtweile mit der 
vor fünfzig Jahrennn. 
. Röſch, Die drei Säulenapoftel in der Geheimfprache des Thalmud. 


Necenfionen. 


. Wiefeler, Die deutiche Nationalität der Heinafiatiichen Gafater; 
rec. von Hertberg. . ne 
. Reuter, Gefdjichte der veligiöfen Aufflärung im Mittelalter vom 
Ende des achten Iahrhunderts bis zum Anfange bes vierzehnten; rec. 
von KitiHl . 


541 






Par 
* 


ERTEILT 





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m 278 | 
Theologiſche 


Studien und Kritiken. 


Fine Zeitſchrift 


für 


das gefamte Gebiet der Theologie, ! 


Re 
N 
5 
begründet von . 4 
D. €. Ullmann und D. F. W. C. Umbreit 
uud in Verbindung mit J 
D. 3. Müller, D. W. Beyfdlag, D. Guſt. Baur 





herausgegeben 


DB. E. Richm um D. J. Köflin. 





Bahrgang 1878, vierfes Heft. 


Gotha. 
Iriedrih Andreas Perthes. 





— — —— 





CTheologiſche 
Studien und Kritiken. 


Fine Zeitſchriſt 
für 
das gefamte Gebiet der Theologie, 


begründet von 
D. €. Ulinaun und D. F. W. 6. Umbreit 
amb in Verbindung mit 


D. 3. Miller, D. W. Beyfhlag, D. Guſt. Baur 
herausgegeben 


D. €. Riehm um D, 3. Köſtlin. 





Dahrgang 1878, viertes Heft. 


Gotha. 
Sriedrih Andreas Perthes. 
1878. 


Abhandlungen. 











1. 


Das Gleichnis Marl. 4, 26—29. 


Bon 


Siegfried Goebel, 


Sofprebiger in Halberflabt. 





In dem Jahrgang 1874 diefer Zeitfchrift habe ich mich über 
die Methode ausgefprocdhen, welche meines Erachtens allein eine 
fihere Deutung der Gtleichniffe Jeſu ermöglicht, fo zwar, daß 
einerfeit8 ber jede Parabel beherrfchende Grundgedanke rein heraus- 
geftelit, anderfeits aber auch alle Einzelheiten ber bildlichen Dar- 
ftellung und Ausführung ohne willfürliches Allegorifiren doch in 
der Deutung zu ihrem Rechte fommen. Als Probe für die An⸗ 
wendung der vorgefchlagenen Methode habe ich damals eine Aus⸗ 
legung der Gleichnisgruppe Luk. 15 u. 16 Hinzugefügt). Als 
eine neue Probe berfelben Methode möge hier die Auslegung eines 
Gleichniſſes folgen, welches, obgleich nur wenige Säte umfaſſend, 
doch wie nur irgend eine andere der PBarabeln Jeſu ein in fich 
geichlofjenes Ganzes bildet und in ebenfo großartigen al8 Inappen 
Zügen ein ſehr bebeutungsvolles Geſetz der neuteftamentlichen Reiche» 
entwicklung zur bildlichen Darftellung bringt. Es ift die Parabel 
Marl. 4, 26—29, gewöhnlich, aber mit Außeradhtlaffung ihrer 


1) Vgl. Jahrgang 1874, Heft 3, S. 506 ff. und Yahrgang 1875, Heft 4, 
©. 656 ff. 








566 Goebel 


wahren Pointe, die von dem (allmählihen) Wacfen des Sa- 
mens genannt, während fie, wenn in der nachfolgenden Unterfuchung 
nicht alles fehlgeht, vielmehr die von dem (jelbftthätigen) Frucht⸗ 
bringen der Erde heißen müßte. 

Mit Kap. 4, 1 beginnt Markus den Bericht von jener aus⸗ 
Schließlich in Gleichniſſen fich bewegenden Rebe, welche Jeſus vom 
Schiffe aus am Ufer des See's Genezareth bei Kapernaum vor 
einer verfammelten Volksmenge gehalten hat. Diefer Bericht läuft 
zunächft dem des Matthäus in Kap. 13 genau paralid. Ganz 
wie Matthäus, hat auch Markus zuerft die Situation der Rede 
Jeſu gezeichnet (B. 1 u. 2), dann als erſtes Gleichnis das vom 
vielerlei Adler gebracht (®. 3—9), hierauf aber den Bericht von 
der por dem Volke gehaltenen Rede abgebroden, um aus 
einer nachträglich mit den Jüngern allein gepflogenen Unterredung 
die Erklärung Jeſu über den Zwed feiner auffallenden Lehrweife 
und feine Deutung des erften Gleichniſſes einzufchalten (VB. 10—20), 
worauf er, hierin von Matthäus abweichend, noch zwei Ausfprüche 
Jeſu diefer Einſchaltung beifügt, von welchen der erfte ihnen die 
Weiterverbreitung der ihnen enthüllten Wahrheiten zur Pflicht macht 
(8. 21—23), und der andere fie zur Achtſamleit auf das Gehörte 
auffordert, indem je nah bem Maße ihrer Achtfamleit auf das 
SGehörte ihnen da8 Maß weiterer Belchrungen werbe zugemefien 
werben (DB. 24 u. 25). Bei beiden Ausfprüchen war durch das 
xal Zleysv avroig bemerflid gemacht, daß fie ebenfo wie das 
vorangegangene Redeſtück V. 11—20 als an bie Jünger im be» 
fonberen gerichtet genommen fein wollen. Hiemit ift nun aber 
die Einſchaltung aud bei Markus als beendigt anzufehen. Denn 
wenn er num (V. 26) mit xad Asyer, ohne adross, wieder ein 
Gleichnis, und mit einem zweiten xal Zdeysv (B. 80) ohne weitere 
Verbindung noch ein Gleichnis bringt und darauf (V. 33 u. 34) 
den ganzen Abjchnitt, entfprehend Matth. 13, 34 u. 35, mit der 
Ausfage abſchließt, daß Jeſus in vielen berartigen Gleichniſſen ihnen 
(dem Volke) das Wort verfündigt, ohne Gleichnis aber nicht zu 
ihnen geredet, fondern nur ben eigenen Jüngern im befonderen 
alles aufgelöft habe, fo iſt Har, daß au er mit V. 26, wie 
Matthäus mit V. 24, den unterbrochenen Bericht von ber auf dem 











Das Gleichnis Mark. 4, 26—29. 567 


Schiffe gehaltenen paraboliſchen Vollsrede Jeſu wieder aufge 


nommen bat. 

Aber nicht, wie Matthäus mit dem Gleichnis vom Unkraut 
im Weizen, fondern mit einem anderen Gleichnis nimmt Markus 
die unterbrochene Rede wieder auf, und erft barin kommen beibe 
Evangeliften wieber überein, daß fie als drittes Gleichnis das von dem 
Senflorn bringen. Das Gleichnis Marl. 4, 26—29 fteht alfo 
bei dieſem Evangeliften alferdings genau an derſelben Stelle, wie bei 
Matthäus das von dem Unkraut. Daß e8 aber in der Geftalt wenig- 


ſtens, in welcher es uns vorliegt, mit dem Tletteren keineswegs 


identifch, fonbern eine von bemfelben ganz verfchiedene Parabel ift, 
darüber laͤßt ſchon der erfte Blick keinen Zweifel. Zwar wird auch 
hier wieder ein befäetes Ackerfeld vor Augen geftellt, aber wäh⸗ 
rend es fich in dem Matthäusgleichniffe von Anfang bis zu Ende 
nur um die Erfcheinung des Unkrautes handelte, kommt in diefem 
Steichniffe auch nur etwas dem ühnliches überhaupt nicht vor, 
und es erfordert demnach jedenfall für fich eine beſondere und 
felbftändige Unterfuchung. 

Eingeleitet wird auch dieſes Gleichnis, wie bie in bemfelben 
Anfammenhang bei Matthäus berichteten, durch Voranſtellung 
des Himmelreiches als des BVerglichenen, nur daß hier an Stelle 
bes dem Matthäus geläufigen Ausdrudes 7 Baoılsla Toy ovpavov 
der jonft gebräuchliche 7 Bao. zou 9600 eintritt. Eigentümlich 
aber ift die Art, in welcher die nachftehende Schilderung als zur 
Bergleichung des Gottesreiches dienend eingeführt wird. Es heißt 
B. 26f.: Oũõroc doriv 7 Baoılela zoV Iso ws Kydgwros 
Baln vov onogov En wis yis, al nadsidn x. v. A., d. i.: 
So verhält es fih mit dem Reich Gottes, wie wenn ein Menſch 
mit dem Samen das und das gethan hätte, und dann fo und fo 
thun würde. Das ws, oder nach anderer Lesart ws day (dav 
ift aber nicht nothwendig, vgl. 3.8. Homer, Ilias 5,161; 9,323 
u. d.) mit dem Conj. Aoristi fett behufs Vergleihung ber Ver- 
hältniffe des Neiches Gottes einen Fall, der von den Hörern ale 
bereit8 eingetreten, — mit den nachfolgenden präfentifchen Con⸗ 
junctiven einen all, der von ihnen als demnächft eintretend vor⸗ 
geftellt werden fol. Der Ball, der ſchon als eingetreten gedacht 





568 Goebel 


werben ſoll, ift der, dag „ein Menſch den Samen bingeworfen 
hätte auf das Land”. Zrsogos hat gleich im Anfang den Artikel, 
weil die bildliche Verwendung des Samens ſchon die Grundlage 
des erften Gleihniffes der Volksrede war. Indem auch dieſes 
zweite Gleihnis von Samen Handelt, bleibt es nur in dem fchon 
verwendeten und den Hörern befannten Bilde ftehen. Der Aus⸗ 
drud AaAdsıv ftatt oresigeıv läßt das, was der Menſch mit dem 
Samen gethan hat, in feiner verhältnismäßigen Geringfügigfeit 
hervortreten, e8 war ein bloße8 „Hinwerfen“ des Samend. — 
Und der Fall, ber als demnächft eintretend vergegenwärtigt wird, 
ift der, daß der Menfh nun: xaFsvdn xai Eyslonraı vixıa 
xai nusgeav, zu 0 0nOgos Piroık xal uNxKUImTa Ws Oux 
oldev adros (B. 27). Die Stellung, welche der Menſch, nach⸗ 
bem er den Samen Hingeworfen hat, nunmehr zu deſſen Entwid« 
lung einnimmt, wird in diefen Worten gekennzeichnet, und zwar 
jo, daß der erfte Sat fein Verhalten bezüglich der Entwicklung 
des hingeworfenen Samens fhildert, während der zweite fein Ber- 
hältnis zu diefer Entwicdlung aufdedt, ala welchem jenes Ber: 
halten angemeffen if. „Und [wie wenn er] fchliefe und aufftände 
Naht und Tag (je nachdem es Schlafens⸗ oder Wachenszeit ift)“, 
jo wird zuerft geſagt. Es wird damit feine Lebensweife ald eine 
nur dur den natürlichen Wechfel der Zeit beftimmte, in diefem 
ihrem naturgemäßen Verlauf aljo durch feine etwa noch an den 
Fortgang feines Säemannswerkes gewendete Mühe und Arbeit ge- 
ftörte charakteriſirt. Dabei ſteht xaFeddn dem eyslonsas, und 
entfprechend vuxra bem vuserv voraus, weil vor allem in dem 
Umftande, daß er ſich der Ruhe des Schlafes Hingibt, wann 
immer es nad dem natürlichen Lauf der Dinge angezeigt ift, bie 
Muge hervortritt, die er fich bezüglich bes angefangenen Werkes 
geftattet. Und daß diefe Muße, der er fich Hingibt, feine willfürs 
liche, fondern jeinem wirklichen Verhältnis zu dem naturgejeglichen 
Fortgang feines Werkes durchaus angemeſſen ift, fagt der zweite 
Sag: „und [wie wenn] der Same ſproßte und länger würbe @s 
oſox oldsv aurds“ d. i. wörtlich — „auf welche Weife“ oder 
„auf eine Weife, welche er felbit nicht weiß“, alſo nit: So, daß 
der Süemann von dem Factum des Wachstums, — ſondern: So, 








Das Gleichnis Mark. 4, 26—29. 569 


daß er von dem Wie, von ber Art und Weile des Wachſens feine 
Kenntnis Hat, fo, daß er felbft (adros), ber Menfch, ber ihn 
doch gejäet Hat, nicht einmal weiß, wie es mit diefem Sproſſen 
und Längerwerden bed Samens zugeht. Schon in der Wahl des 
ungewöhnlichen unzuvsodas (nicht Med., fondern Pass.) = „in 
die Länge gezogen werden, an Länge zunehmen“ Tiegt eine Heraus⸗ 
ftellung des Näthfelhaften an dem Vorgang des Wachſens, ein 
Beweis, daß es von vorn herein bei dem ganzen Sage auf bie 
mit Nachdrud an ben Schluß geftellten Worte ws ovx older av- 
cos abgefehen iſt. Daß das Sproffen und Wachſen des Samens 
fih auf eine Art und Welfe vollzieht, von welcher der Säemann 
jelbft feine Kenntnis hat, und fomit died Sproffen und Wachfen 
des von ihm felbft Geſäeten ganz außerhalb feiner Wirkungsfphäre 
liegt, da er nicht einmal um das Wie dieſes Vorganges weiß, ge⸗ 
ſchweige denn, daß es feine Sache wäre, ihn zu bewirken, das und 
nur das ift der ausgefprochene Gedanke. Nicht aber ift 0 oro- 
eos dem avFowrrog betont gegenübergeftellt, um zu fagen, was 
der Same feinerjeits, während der Menſch mäßig ift, ganz von 
felbft thue (Weiß). Denn einmal fteht das „ganz von ſelbſt“, 
auf welchem dann body ber Nachdruck des Gedankens Täge, bier 
noch gar nicht da, und zum andern zeigt der Kinfchnitt, welcher 
nun mit V. 28 in den Sabbau gemadt ift, indem die bis zum 
Schluffe von V. 27 in einem Redefluſſe fortgehende, von ws ab» 
hängige Eonjtruction der Süße hier abgebrochen, und mit einem 
felbftändigen Indicativſatze fortgefahren wird, — daß bier und erft 
bier die Schilderung umbiegt zu der Ausfage, durd welchen Fac⸗ 
tor denn num die Entwichung des Samens, die fo ganz außerhalb 
der Wirkungefphäre des Säemanns liegt, zu Stande kommt. 

Der Sat lautet nad richtiger Pesart VB. 28: adrouden 
(ydo ift mit Lachmann und Tifchendorf nad fehr gewichtigen 
Zeugen zu tigen) 7 77 xaonoyogel, rromrov xoprov, elta 
orayvy, sira nAnons oisos (da8 rrÄjen oisov der Recept. 
ift augenfcheinliche Eorrectur) Ev zö orayvi. Die Unverbunden- 
heit mit dem DBorangegangenen, welche dem Sate nad Tilgung 
des yagp eignet, ift ein neuer Beweis, daß derfelbe keineswegs 
etwa nur eine Begründung oder eine ausführende Erläuterung 


570 Goebel 


bon ſolchem iſt, was implicite ſchon in ®. 27 geſagt wäre, ſon⸗ 
dern daß er eine ſelbſtändige und neue Ausſage bringt. Stark 
betont ſteht aurogeen voran: „Selbſtthätig bringt die Erde 
Frucht.” Das xaorroyogeiv, von bem Aderlande oder der Erde 
ausgefagt, ift im allgemeinften Sinne zu nehmen. Wo die Sant 
Subject des Fruchtbringens ift, kann freilich die Frucht nur der 
Weizen fein. Wo aber bie Erde Subject ift, da fommt aud ſchon 
der fproffende Halm als Product derfelben, als ihre Frucht zu 
ftehen. Daß aber hier der Erbe das Fruchtbringen als felbitän 
dige Thätigfeit zugejchrieben wird, bedarf zu feiner Erklärung nid 
erft der Erinnerung, daß bie Erde die Zriebfraft des Samens br: 
dinge (Meyer), als 0b das Gefagte eigentlich nicht von der Erbe, 
fondern nur von dem Samen gelte. Denn ber Same bat ohne 
Erde ebenfo wenig Triebkraft, wie die Erde ohne Samen; ımd 
ebenjo gut, wie e8 von dem Samen würde gejagt werden Tönnen, 
was aber Hier nicht gefagt ift, — daß er felbftthätig Frucht bringe, 
während er es doc) nicht kann ohne die Erbe, in die er gefäet wird, — 
ebenfo gut kann von der Erde unter ber Vorausſetzung, daß fie be 
jäet ift, daS Gleiche gejagt werden, wozu noch fommt, daß das Beſäet⸗ 
jein hier nicht einmal ftillfchmeigend vorausgefekt, fondern ſchon V. 26 
ausdrücklich erwähnt worden iſt. Wenn nun aber hier nicht das 
erftere, fonbern das Tettere gefagt ift, fo barf man barüber nit 
unter dem Vorwande hinweggehen, daß diefer Zug mit V. 27 in 
Widerfpruch ftehe (Weiß), während dod dort von dem bewirkenden 
Tactor des Wachstums pofitiv noch gar nichts, fondern nur Rege 
tives gefagt war, — fondern man wird im Auge behalten müſſen, 
daß in dieſem Gleichnis im Gegenſatz zu der Unthätigleit de 
Menschen nicht die Selbſtthätigkeit des Samens, fondern die ber Erde 
hervorgehoben ift. — Diefe Selbftthätigkeit der Erde wird num weiter 
anseinandergelegt nad) drei Stufen ihres Erfolges. Sie bringt 
„zuerft das Gras, dann die Aehre, dann — voller Weizen (zu 
ihrem vollen Umfang entwidelte Weizenförner) in ber Aehre!“ 
Die beiden erften Aecufative find abhängig von dem in xagro- 
popeiv liegenden yegsıv ; bei der dritten Stufe aber, auf welcher das 
edle Ziel des ganzen Proceſſes ſich als erreicht darftellt, Führt der 
Standpunkt lebendiger Anfchanung den Erzähler des Gleichniſſes 








Das Gleichnis Marl. 4, 26—29, 571 


zu dem Ausruf bewundernder Freude: „Voller Weizen in der Aehre!“ 
Dieſe Worte ſollen nun aber nicht das Geſetz der Allmählichkeit 
hervorheben, welchem die fruchtbringende Selbſtthätigkeit der Erde 
unterworfen fei, indem ſie vor der Aehre erſt das Gras, und vor 
der vollreifen Weizenfrucht erft die Aehre hervorbringen müffe, 
gefchweige denn, daß in diefer Allmählichkeit die eigentliche Pointe 
des Glelchniſſes gefucht werden dürfte (Weiß). Fu diefem Sinne 
aufgefaßt würden fie ja geradezu eine einlenkende Wiederabſchwächung 
der der Erde mit ſolchem Nachdruck zugeſchriebenen Selbftthätigfeit 
nachbringen, was mindeftens durch ein Hinter rowro» eingefügte® 
ds ausgedrlict fein müßte. In Wahrheit aber dienen fie vielmehr 
dazu, das von der fruchtbringenden Selbftthätigkeit ber Erde Ge⸗ 
fagte noch zu fteigern, indem fie den Umfang aufzeigen, in welchem 
das aurouaen xaprropogsiv von der Erde gilt. Daß eine Ent» 
twiiungeftufe der Saat nach der andern, zuerft das Gras, dann bie 
Aehre, bis Hin zu der Vollendungsftufe des vollen Weizens, felbftthätig 
von der Erde hervorgebracht werde, daß alfo der ganze Wachstums» 
proceß der Saat nach Anfang, Mitte und Ende das ununterbrochen 
felbfteigene Wert der Erde fei, das iſt's, was die Worte fageıt. 

Alles aber, was wir an biefem Sate beobachtet haben, ſowol 
die Art, wie gerade hier die bisher fortlaufende von ws abhängig 
gewefene Conftruction der Sätze aufgegeben wird, als auch ſeine 
Unverbunbenheit mit dem vorangegangenen Sabe, als auch die kräf⸗ 
tige Betonung, mit welcher er anhebt, als auch die fteigernde Aus⸗ 
einanderlegung des xaorroyopeiv von einer Stufe zur anderen, ale 
auch endlich die fchließliche Hervorhebung des felbjtthätig erreichten 
Ziels durch einen Ausruf freudiger Bewunderung, alles das gibt 
der in dieſem Satze gemachten Ausfage einen folhen Nachdrud 
und ein ſolches Gewicht, daß wir in ihr, die äußerlich in ber 
Mitte der Schilderung fteht, auch deren inhaltlichen Mittelpunkt 
werben zu fuchen haben, für welchen das Bisherige nur vorbes 
reitend war, und das Folgende nur den Abſchluß bringt. 

Der Ausfage nämlich, daß die Erde es felbjtthätig bis zur 
Bollreife des Weizens bringt, tritt nun (V. 29) mit de als Ab» 
Ihluß des Ganzen die Ausſage gegenüber, was dann, wann dies 
Ziel erreicht ift, feitens bes Säemanns gefchieht: Orav da nua- 


572 Goebel 


oados!) ú xconoç, cobP anocrdiisı TO doenavor, On 
rrapsoınxev 0 Fegiouds. Bei Ueberſetzung bes ftreitigen ra- 
eados hat man an der gewöhnlichen und im N. X. ausfchließlichen 
Bedeutung von nagadıdavas — „hingeben, darreichen, überliefern” 
feftzuhalten, nur daß man e8 an unferer Stelle intranfitiv faßt = 
„Fi barreichen“. Die Gegenbemerfung, daß fich für diefen ins 
 tranfitiven Gebrauh von rrapadıdovas fein „ganz ſicheres“ Bei⸗ 
fpiel finde (Meyer), kann, felbft wenn fie überall zutreffen follte ?), 
doc) gegenüber ber Thatjache, daß im Griechifchen viele Verba, be 
fonders häufig aber die Compofita von dıdovas tranfitive und in- 
tranfitive Bedeutung vereinigen (vgl. Krüger, Griechiſche Sprad- 
Ichre, $ 52, 2, 8; Buttmann, Griedifche Grammatik, $ 130, 
5, 2; Winer, Gr. des N. T., S. 225) nicht entjcheidend fein. 
Hienach erfcheint es doch noch Leichter, die intranfitive Bedeutung 
anzunehmen, als mit Kloftermann das Wort an unferer Stelle 
als einen fonft unbefannten term. technicus — „hergeben, 10% 
laſſen“, scil. die Loder werdenden Körner. Gegen die andere Be 
deutung „geſtatten“ aber (nad Vorgang Meyers von Bleek, 
Weiß, Lange, Grimm acceptirt) entfcheidet, wenn man auch darüber 
binwegficht, daß fie felten und nur außerhalb des N. T. nachweis⸗ 
bar ift, jo wie, baß dann das Object des Verbums erit aus dem 
Folgenden ergünzt werden muß, der innere Gebanlenzufammen 
bang des ganzen Sates, indem bei der entjprechenden Fafſung des 
Borderfages: „Wenn aber die Frucht les (das Senden ber Sichel) 
geftattet Haben wirb“ der begründende Zuſatz drs nagsorızer 
o Jegronos nicht zu feinem echte kommt. Die Angabe nämlid, 
was den Menfchen dazu berechtigt, bei dem eingetretenen ragadı- 
dovas der Frucht nun auch fofort die Sichel zu fenden, bringt je 
erft diefer Zufag als Togifches Meittelglied zwifchen dem order 
und dem Nachſatze. Darum — fo ift gejagt — fett er bei dem 
eingetretenen zragadıdovas ber Frucht fofort die Sichel an, weil 
mit diefem zragadıdovas ber Frucht die Ernte, d. i. die Zeit zum 


1) Diefer ungewöhnliche, nad) Analogie der Verba auf ow gebildete Com 

junectiv wird für urfpränglid, zreeando für Korrectur zu halten fein. 

3) In der Stelle 1 Petr. 2, 23 wird allerdings nagadıddyaı nicht mit 
Winer intranfitiv, fondern tranfitiv zu nehmen fein, vgl. Huther 3. d. Et. 














Das Gleichnis Mark. 4, 26—29. 575 


Einernten der Saat gelommen if. Ueberſetzt man nun aber: 
„Wenn die Frucht [es] geitattet, fo endet er fogleich die Sichel“, 
fo läßt man den Act des Sicheljendens feine Berechtigung fchon 
jo unmittelbar in bem nragadıddvas ſelbſt finden, daß der Zujak 
„weil die Ernte da ift“, welcher doch die Zeitgemäßheit des Sichel» 
fendens erft begründen will, finnlos wird. Demnach ift vielmehr 
fo zu überſetzen: „Wenn aber die Frucht fich darreicht (scil. dem 
ihrer harrenden Säemann), fo fendet er fofort die Sichel, weil bie 
Ernte da ift.“ Daran alfo, daß die Frucht ſich ihm bdarreicht, 
erkennt er, daß es Zeit fit die Saat einzuernten, und weil bie 
Erntezeit geflommen ift, fo thut er num das Erntewert, er fenbet 
die Sihel. Nur bei dieſer Faſſung erklärt ſich dann auch ber 
doch auffallende Umftand, daß, nachdem eben mit fo gewichtiger 
Betonung von dem Thun ber Erde gehandelt worben ift, doch bie 
Rückkehr der Schilderung zu dem Thun des Säemannes gar nicht 
bemerklich gemacht, fondern ohne weiteres von einem drzoozsidsıv 
ohne Benennung ded Subiectes gefagt wird, glei als wäre immer 
nur von dem Säemann bie Rede geweien. Der Säemann ift 
eben fchon in dem Vorderſatze „wann aber bie Frucht fich darreicht“ 
ſtillſchweigend wieder mit in die Vorſtellung eingetreten, indem 
diefe Ausfage auf der Vorausfegung ruht, daß berfelbe, wenn auch 
unthätig, doch bie Entwicklung der Saat mit Spannung verfolgt, 
und mit Sehnſucht auf die Frucht gewartet bat, die fih nun ihm 
darreiht. — Mit 0 xaoros ift ber Begriff wArjens oĩcocç Ev 
To orayvi aufgenommen, bie Frucht ift in ihrer Vollreife gedacht. 
Der Ausdrud drroassilsı vo dgsnavov ift dem Hebr. bio nop 
nachgebilbet (Joel 4, 13, LXX: ZEanoorellare To dosmavor, 
vgl. Offenb. 14, 15: nduwyov vo dogen.), und ift darum nicht 
als der Act des Ausſendens der Schnitter (Matth. 13, 30. 41) 
zu nehmen, fondern nach der weiteren Bebeutung von nby = 
„ausftreden, anlegen“, welche vermöge eined Hebraismus auf das 
griechiſche anoassidsıy Übertragen tft, als das perfönliche Aus» 
ftreden und Anfchlagen der Sihell. Der Zug aber, daß ber 
Menſch fofort, wann die Frucht fih ihm darreicht, nun aud) bie 
Sichel anfchlägt, zeigt auf's neue, daß feine bioherige Unthätigkeit 
nicht mangelnde Zürforge für die Saat war, fondern daß fie ihm 


ee 


574 . Bocbel 


durch die Natur der Sache vorgefchrieben war. Da, we es an 
ihm ift einzugreifen, läßt er auf fich nicht warten. 

Ein Rüdblid auf Gang und Inhalt ber Schilderung läßt nun 
fofort ihren einheitlichen Gedanken mit Sicherheit erkennen. Das 
Moment des Wachstumsproceſſes der Saat, auf welches die vor- 
liegende Naturſchilderung aufmerkſam macht, ift bieß, daß die ein⸗ 
mal bejücte Erbe, von dem Landmann, der fie befliet hat, fih 
felbft überlaffen, indem ja bie Bewirtung des Wachstums des Gr 
füeten ganz außerhalb feines Bereiches Liegt, — nunmehr felbf 
thätig fruchtbringend wirkt, und zwar andauernd und ununtecbrocen 
durch alle Stufen des Wachstums hindurch, bis befien Ziel erreiät, 
bis der Weizen in ber Aehre zur vollreifen Entwidlung gebiehen 
ift, fo daß alfo erſt wieder hei der Ernte die Thätigleit des Sie 
mannes einzugreifen hat. Oder mit anderen Worten: Nach dem 
Sien ift des Süemanns Sache nur noch bad Ernten. Waos aber 
in ber Mitte Liegt zwilchen dem Sen des Samens und bem 
Ernten der Frucht, nämlich den Samen zu entfalten und durch alk 
Stufen des Wachstums hindurch Bis zur veifen Frucht zu ent 
wideln, das ijt die Sache des Bodens, welchen er anvertraut if 
(ugl. auch Klöpper, Sahrb. f. d. Theol. 1864, ©. 141ff.). 
Dieter einfache und doch fo eigentümliche Gedaunke fcheint mir in 
dem Wortlaut der Schilderung jo Far und fücher ausgeſprochen zu 
fein, daß nur ber Umftand, daß man fich Hei ber Auslegung des 
Wortlautes vor⸗ und unzeitigerweife entweder von dem Intereſſe 
für Die zu gewinnende Deutung, oder von dem Intereſſe für de 
Eritifche Frage nach dem Verhältnis diefes Gleichniſſes zu dem von dem 
Unkraut beeinfluſſen ließ, ein abweichendes Reſultat begveiflich mocht. 
Das Urtheil von Strauß vollends, ber das Gleichnis „ein Ding 
ohne Hand und Fuß“ nennt, muß ald ein ganz unbedachtes erfcheinen. 

Behufs Beantwortung der Frage aber, welches Myfterium dei 
Gottesreiches (V. 11), d. i. welche bis dahin verborgene, anf da& 
Weſen und Werden bes Gottesreiches bezligliche Wahrheit in der 
Schilderung diefer Seite bed Wachstumsproceſſes der Saat zu 
Darftelfung fomme, hat man ebenfo, mie bei dem zweiten Matthäub 
gleichnifie von dem Unkraut, vor allem auf das erfte Gleichnis 
her Volksrede vom vielerlei Acer zuriczugreifen. ‘Denn was von 








Das Gleichnis Mark. 4, 26—29. 575 


jenem zweiten Matthäusgleichniffe gilt, daß es fich durch das Ver⸗ 
weilen ber Rebe bei dem ſchon im erften Gleichnis bildlich ver- 
wendeten Naturproceß der Saatentwicklung als ein dem erjten ver- 
wandtes und mutatis mutandis ihm gleichartig zu beutendes kenn⸗ 
zeichnet, das gilt noch mehr von diefem zweiten Markusgleichniffe, 
noch mehr darum, weil jenes zweite Matthäusgleichnis fich von 
dem erſten feiner paraboliſchen Anlage nach doch darin wefentlich 
unterfcheidet, daß es nicht wieder eine bloße Schilderung naturs 
geſetzlicher Vorgänge bringt, fondern die Erzählung von einem bes 
ftimmten @ingelfalle, in welchem die Entwidlung der Saat burd) 
menſchliches Eingreifen eine beftinimte Geftalt annahın, — während 
biefe® zweite Markusgleichnis, ganz wie das erfte, bei dem natur⸗ 
gemäßen Berlauf der Saatentwiclung jtehen bleibt. Nur fo unter⸗ 
scheiden fich jenes erfie Gleichnis der Vollsrede und dieſes zweite 
Markusgleichnis in ihrer parabolifchen Anlage, daß fie in der 
Schilderung eines und desſelben Naturproceffes verjchiedene Seiten 
hervorheben, nämlich jenes erite Gleichnis die Thatſache, daß ber 
jedesmalige Erfolg des Säens naturgeſetzlich abhängig ift von ber 
jedeswaligen Beſchaffenheit bes bejüct werdenden Bodens, und das 
zweite Gleichnis die andere, daß — die gute Meichaffenheit des 
Bodens vorausgeſetzt — der von dem Säemann ausgeftreute 
Same nit durch eine von dieſem ansgehende Machtwirkung, fon- 
dern durch die Selbftthätigleit der beſäeten Adererde bis zur Frucht 
Hin entwickelt wird, alfo zwei in ihrer Verfchiedenheit doc wieder 
verwandte Momente, indem fie beide gleicherweiſe die Bedingtheit 
der Entwidlung des Samens burch den Aderboden, dem er ander- 
traut wird, betreffen. Wenn aber das mit der Hervorhebung jenes 
erften Momentes bildlich dargeſtellte Reichögeheimnis uad) der ei⸗ 
genen Deutung Jeſu (vgl. B. 13—20) dieſes war, baß ber Er- 
folg des reichsgründenden Wirkens Jeſu feiner Natur nach, indem 
es eine Verkündigung des Wortes vom Reich ift, abhängig fei von 
der Herzensbeſchaffenheit derer, an welche die Verkündigung ergebt, 
fo faun mit der Hervorhebung dieſes zweiten und anderen Mo⸗ 
mentes in den Naturproceß ber Saatentwicklung nichts anderes dat» 
geftellt fein follen, als dies, daß die Entwicklung des durch das 
reichsgrimdende, in der Verkündigung des Wortes vom Weiche Der 


676 Goebel 


ftehende Wirken Jeſu in den gläubigen Hörern dieſes Wortes ge 
pflanzten neuen Lebensprincipes und feine fortfchreitende Auswirkung 
bis hin zu einer dem Weſen des Gottesreiches völlig entjprechenden 
Lebensgeftalt nicht von einer Machtwirkung Jeſu felbt zu erwarten, 
fondern Aufgabe der felbjteigenen, fittlichen Thätigkeit ber gläubigen 
Hörer des Wortes fei. Und e8 erhellt nun auch, daß diefe zweite 
Enthüllung demfelben Irrtum der herrſchenden Reichserwartung 
entgegentritt, wie jene erfte, nur nach einer anderen Seite hin. 
Gleichwie nämlih im Gegenſatz zu der Erwartung, daß der kom⸗ 
mende Meſſias das Gottesreich auf dem Wege Außerer Mad: 
übung in Herrlichleit aufrichten werde, das erfte Gleichnis gezeigt 
bat, daß dem mefftanifchen Wirken Jeſu feiner Natur nach fein 
den Menſchen äußerlich zwingende Kraft eigne, daß es vielmehr in 
feinem Erfolge von vorn herein bedingt fei durch die Empfänglid- 
feit der Menjchenherzen, fo zeigt nun das zweite Gleichnis im 
Gegenſatz zu derfelben Erwartung, daß auch dba, wo diefe Em 
pfänglichkeit vorhanden, wo alfo das Werk der Reichsverwirklichung 
nicht durch arge Herzensbefchaffenheit von vorn herein behindert if, 
doch die Zortjegung und Durchführung des von Jeſu grundlegend 
begonnenen Werkes nicht von einer von ihm ausgehenden mefſfia⸗ 
nischen Machtübung zu gemwärtigen, jondern ber Natur ber Sadk 
nad) Aufgabe der felbfteigenen Thätigkeit derer fei, in welchen das 
GSottesreih einen Anfang genommen bat. Das Gleichnis tritt 
alfo nicht fowol einer irrigen Erwartung in Bezug auf die Zeit 
der herrlichen Reichserrichtung entgegen (Weizfäder, Klöpper a. a.D.), 
als vielmehr einer folchen in Bezug auf die Art und Weife, wie 
es dazu kommen werde, nämlich nicht auf dem Wege meſſianiſcher 
Mahtübung, fondern durch die felbfteigene. fittliche Arbeit der von 
dem Meſſias zum Gottesreiche Berufenen, und erft mittelbar 
liegt darin allerdings auch dies, daß die ſchließliche Errichtung dee 
Sottesreiches in Herrlichkeit, zu der es nur auf biefem Wege 
fommen ann, noch auf fich warten laffen wird. 

Bon bier aus will nun bie Bedeutung der einzelnen Züge des 
Bleichnifjes gewürdigt werden. Die Ausfage von der Selbftthätig- 
feit der Erde, welche den Mittelpunkt des Gleichniffes bildete, war 
vorbereitet durch die Schilderung der nad) Hinwerfung des Sa- 





Das Gleichnis Mark. 4, 26—29. 677 


mens durch, feine fernere Mühwaltung um bie Saatentwiclung ges 
ftörten Lebensweile des Säemanns. Dem entipricht auf dem Ges 
biete des Gottesreiches, daß Jeſus, nachdem er durch die Verkün⸗ 
digung des Wortes vom Reihe das Princip eines neuen, bem 
Königswillen Gottes frei unterworfenen Lebens in bie Herzen der 
für fein Wort empfünglichen Hörer gepflanzt bat, hiemit fein ge⸗ 
Schichtlich meſſianiſches Berufswerk erfüllt haben, und fernerhin in 
feiner Criftenzweife durch keine etwa noch darüber Hinaus ihm ob» 
liegende gefchichtliche Aufgabe beftimmt fein wird. Nur diefer all⸗ 
gemeine Gedanke ift ausgefproden mit bem „Schlafen und Auf: 
ftehen bei Nacht und Tag* (V. 27), nur mittelbar alfo eine Hin- 
deutung auf fein demnächft eintretendes Berlaffen der Welt. Eine 
beftimmte und Hare Vorausfagung diefer Thatſache der Zukunft, 
wie fie in anderen und fpäteren Gleichniſſen gegeben ift (Matth. 
25, 15. Luk. 19, 12) liegt in diefem Gleichniffe noch nicht vor, 
wie denn auch V. 29 von einem Wiederlommen nichts gejagt ift, 
daher auch dort Feine bejtimmte Binweifung auf die Parufle ale 
folche (gegen Weizſäcker). Das aber das gefchichtliche Berufswerk 
Jeſu über jene Einpflanzung des neuen Lebensprincipes in die 
Menfchenherzen nicht Hinausreiche, zeigt V. 27° als in der Natur 
der Sache liegend auf. Denn gleichwie der Proceß der Saatent- 
wicklung feiner Natur nach jeder Einwirkung des Säemannes fo 
fehr entzogen ift, daß er nicht einmal weiß um das Wie biefes 
Procefies, jo ift auch der Proceß der fortichreitenden Entfaltung 
des mit dem Worte Gottes in die Menfchenherzen gepflanzten 
Lebensprincipes feiner Innerlichen Natur nad) jeder Einwirkung von 
augen ber, aljo auch der Einwirkung Jeſu, fofern ſie eine menſch⸗ 
lich vermittelte ft, entzogen. Mit Bedacht haben wir jo das Nicht» 
wiffen des Säemannes um die Art und Weife, wie der Same 
wächft, nicht felbft mit in die Vergleichung gezogen. Denn das 
es ovx oldsev avsos ift ja in der Parabel nicht darum fo ftarf 
betont, weil das Nichtwiſſen im Zufammenhang der Schilderung 
eine felbftändige Bedeutung für fih Hätte, fondern nur darum, 
weil auf dem Gebiete des Naturvorganges fich diefer Umftand als 
derjenige darbot, der die Gebundenheit des Säemannes rückſichtlich 
der Einwirkung auf das Wachſen am ſchlagend tten illuſtrirte, 
Theol. Stud. Yahrg. 1878. 


578 Goebel 


daher er auch in der Deutung nur nach dieſer Seite Bin zu ver- 
wenden ift. Der dogmatifche Einwand aber, welcher fich etwa hier 
noch aufdrängen mag, daB doch dem Herrn vermöge des göttlichen 
Charakters feiner Perjon eine Einwirkung auch auf den inneren 
Fortgang feines Werkes in den Menjchenherzen in der That zuzu⸗ 
ſchreiben fei, ift darum nicht zutreffend, weil es fidh bier nicht um 
eine Beitimmung des Maßes der göttlichen Gnadenwirkungen auf 
da8 innere Xeben des Menſchen Handelt, fondern nur um eine Ab 
grenzung der Aufgabe, welche Jeſus innerhalb feines gefchichtlid: 
menfchlichen Auftretens an den für fein Wort empfänglichen Hö⸗ 
rern zu erfüllen babe, und die Grenze diefer Aufgabe fällt der 
Natur der Sache nad zufammen mit der Grenze der Möglichkeit, 
als Menſch auf dem Wege menfchlicher Rebe auf fie zu wirken. 
Nicht im Gegenfag zu den göttlichen Gnadenwirkungen über⸗ 
banpt, fondern im Gegenfat zu den Wirkungen, welche gegenwärtig 
bon ber perfönlihen Erfcheinung Jeſu durh das Wort feines 
Mundes auf die Jünger ausgehen, ift es denn auch gemeint, wenn 
Jeſus ihnen nun (V. 28) bie durch das Bisherige vorbereitete 
Enthällung macht, daß fie felbft, gleich der felbftthätig frucht⸗ 
bringenden Erde den durch fein Wort in ihnen gewirften neuen 
Lebensanfang durch eigene fittliche Arbeit werden zu entfalten Haben, 
und zwar nicht fo, daß fie auf halbem Wege ftehen bleiben Tönnten, 
fondern durch alle Stufen inneren Wachstums hindurch bis zu einer 
dem heiligen Gotteswillen allfeitig entfprechenden und fomit für 
dag Gottesreich der zufünftigen Welt gereiften Ausgeftaltung ihres 
gefamten inneren und äußeren Lebens (Änons oiros dv 1# 
orayvi). Dabei ift aber nicht nur an die Auswirkung der Prin⸗ 
cipien des Gottesreiches in dem Leben deö einzelnen üngers ge 
dacht, fondern für die Darftellung des Gfleichniffes fällt diefe, ger 
mäß der Natur des gebrauchten Bildes, in weldem die Entwid- 
fung bes einzelnen Saathalmes eins ift mit ber des ganzen Saat 
feldes, zufammen mit der fortfchreitenden Auswirkung der Principien 
des Gottesreiches in der Jüngergeſamtheit, in der Reichsgemeinde. 
Diefes Verhältnis muß man in's Auge faffen, um dem zeit 
tihen Zufammenhang zu verftehen, in welchem das, was nun 
V. 29 Schließlich in Ausficht geftellt wird, mit dem Bisherigen 


Das Gleichnis Mark. 4, 26-29. 579 


ftegt. Mit einer Verheißung nämlich, welche an das Erreichtfein 
jenes Entwidlungszield gefnüpft ift, die alfo die Jünger zur Er- 
fülung der ihrer Selbſtthätigkeit zufallenden Aufgabe ermuntern 
und ftärken foll, fchließt nun das -Ganze ab. Gleichwie der bie 
Entwicklung feiner Saat mit Spannung verfolgende Säemann, 
wann die Frucht fih ihm darreicht, nicht auf ſich warten Täßt, 
fondern alsbald die Sichel anſchlägt, jo wird auch der die Ent. 
wicklung feiner Gemeinde überwadhende Menſchenſohn, ſobald die⸗ 
jelbe ſich ihm darſtellen wird als am Ziele ihrer Enwicklung 
ſtehend und reif geworden für das Gottesreich der zukünftigen Welt, 
nicht auf ſich warten laſſen mit dem, was nun wieder Sache ſeines 
meſſianiſchen Berufes iſt, vielmehr wird er, weil nun die Zeit der 
Einholung gekommen ift, alsbald dieſelbe vollziehen, d. i. er wird 
die Gerechten ſammeln in das Reich ſeines Vaters (vgl. das Gleich⸗ 
nis vom Unkraut, Matth. 13, 30 u. 43). — Die Ylnger Jeſu, 
welche ale Hörer des Wortes bisher in dem Gleichniffe unter 
dem Bilde des befäcten Aderlandes vorgeftellt waren, kommen alfo 
bier am Schluffe zugleich als das Gegenbild des lebendigen, hier des 
gereiften und eingeerntet werdenden Saatgewächſes zu ftehen, in fo 
fern ja die Hörer des. Wortes deſſen Wirkung nicht, wie die Erde 
die Wirkung des Samens, ans fich heraus feken, als etwas von 
ihnen felbft unterfchiedene®, fondern fie in ihrem eigenen Berfon- 
feben vollziehen und zur Erſcheinung bringen. Es ift derfelbe un⸗ 
willfürliche Wechſel der bildlihen Vorſtellung, der in dem voran⸗ 
ftehenden Gleichnis vom vielerfei Ader und in feiner Deutung - 
(B. 4—8 u. 1520) noch auffallender hervortritt. 

Der jo bdargeftellte urſprüngliche Sinn bes Gleichniſſes weicht 
freilich weſentlich ab von feiner tm kirchlichen Gebrauch geläufigen 
Auslegung, nach welcher in demfelben Jeſus feinen Jungern mit 
Bezug auf ihren zukünftigen Beruf als Prediger des Evangeliums 
die Weifung geben fol, auf die Frucht ihrer Verkündigung geduldig 
zu warten, im Vertrauen auf die dem Worte Gottes einwohnende 
febendige Triebkraft, welche zwar verborgen und langſam, aber 
darum nicht minder fichee in dem Menſchenherzen wirle, und zu 
feiner Zeit die Frucht an das Tageslicht bringen werde, — ftatt 
an der Frucht ihrer Predigt zu verzweifeln, weil fie nicht ſogleich 

38 * 


RM 
5850 Goebel 


fihtbar wird, oder dem verborgenen Wirken des Wortes mit vor⸗ 
eilendem Eifer durch Fünftliche Mittel nachhelfen zu wollen. Diefer 
Deutung des Gleichniſſes fteht aber entgegen einmal, daß Jeſus 
fowohl in dem vorhergehenden Gleichnis vom vielerlei Ader, als 
auch in dem nachfolgenden vom Senflorn, als aud in dem be 
Matthäus an der Stelle des unferen zwifchen jenen beiden ftehenden 
von dem Unkraut, überall mit dem Säen fi) auf feine eigene reichs⸗ 
gründende Xchätigkeit bezieht, daher es auch hier nicht anders, aljo 
nicht auf die zukünftige Xhätigleit der Jünger bezogen werben darf; 
zum andern, daß das Anfchlagen der Sichel an die zum vollen 
Weizen gereifte Saat, weil die Erntezeit da ift, in ber Zhätigfeit 
des Predigers des Wortes überhaupt Feine Unalogie hat, dafür 
aber um jo deutlicher auf das Thun des Menfchenfohnes am Ende 
des Weltlaufes Hinweift, — endlich, daB in dem Gleichniffe weber, 
wie 68 3. B. Jak. 5, 7 geichieht, die Geduld, mit welcher der 
Adersmann auf die Frucht wartet, mit Betonung hervorgehoben 
wird, noch auch die dem Samen als ſolchem einwohnende Lebendige 
Zriebfraft, fondern nur gegenüber der Unthätigleit des Säemanns 
das felbftthätige Yruchtbringen der Erde. Das einzige Moment 
aber, welches in dem Texte für jene Deutung zu fprechen fcheint, 
dag nämlich dad ws ovx oldsv adzög auf ben Herrn feine Ans 
wendung leide, hat fi uns ſchon im Zufommenhang der Deutung 
erledigt. Dagegen muß zugeitanden werden, daß die oben ausge 
Iprochenen Gedanken, wenn fie auch nicht den urfprünglichen Sinn 
des Gleichniſſes ausmachen, doch ihm nahe genug liegen, um ver 
möge einer fachlich berechtigten und zutreffenden Webertragung 
defien, was von den Grenzen der Berufsthätigleit Jeſu gefagt iſt, 
auf die gleichartige Berufsthätigleit der Jünger als DVerkündiger 
feines Wortes aus demſelben abgeleitet zu werden, wie fie denn 
auch zur praltiichen Verwerthung vorzüglich geeignet find. 

Darf man demnach allerdings den Zufammenbang nicht außer 
Acht laſſen, in welchem unfer Gleichnis mit dem vorangegangenen 
erſten Gleichniſſe der Volksrede fteht, und mittelbar auch mit bem 
bei Matthäus die zweite Stelle einnehmenden Unkrautgleichniſſe, 
fo entbehren doch anderjeits die Vermuthungen, durch welche ihm 
überhaupt die Selbftändigfeit und die Urfprünglichleit abgefproden 

















Das Gleichnis Mark. 4, 26—29. 581 


wird, indem es erſt aus dem Unkrautgleichniſſe fol entftanden fein, 
entweder als eine matte Abſchwächung (Hilgenfeld) oder ale eine 
Umbildung desfelben (Weiß), durchaus der zureichenden Begrün⸗ 
dung. Denn was zunächſt die inhaltliche Tendenz angeht, fo zeigt 
diefe gerade mit dem Unkrautgleichniffe, ausgenommen den allge- 
meinen Umſtand, daß es fih in beiden Parabeln um die Ent- 
wicklung bes Gottesreiches handelt, gar keine Berwandtfchaft. Dort 
eine Belehrung über das Erſcheinen von Kindern der Bosheit mitten 
in der Jüngerſchaft (Matth. 13, 38), bier. eine Belehrung über 
die ber felbfteigenen Thätigkeit der Jünger bei der Verwirklichung 
des Gottesreiches zufallende Aufgabe! Daß ein Gleichnis des letz⸗ 
teren aus einem des erfteren Inhaltes auf dem Wege der Ab» 
Schwächung oder auch auf dem ber Umbildung foll entitanden fein, 
muß doch für mehr als unwahrscheinlich gehalten werden. Und 
was die äußere Form anlangt, fo bleibt nad) Abzug des allgemeinen 
Umftandes, daß in beiden Gleichniſſen, wie aud) fhon in dem erften 
Gleichnis der Volksrede, die Saatentwicdlung zur bildlihen Dar- 
itellung der Reichsentwichlung verwendet wird, und der baraus von 
jelbft fich ergebenden Wiederkehr von Worten, wie BAaoravsır 
x0orTos, xuonoc, Yepionds, ober von gleichbedeutenden Be⸗ 
griffen wie orrdeos hier und onsone dort, yñ hier und ayods 
dort, mit theilweife ähnlicher, theilweife aber auch, befonders in 
dem letzten Falle ganz verfchiedener parabolifcher Beziehung, — 
nur das Eine noch übrig, daß in beiden Gleichniſſen an einer 
Stelle von einem zaFsddsıv gefagt wirb (vgl. V. 27 mit Matth. 
13, 25), aber auch in ganz verfchtedener Beziehung, was fomit 
für eine reine Zufälligkeit gehalten werden muß. Es berechtigt . 
alfo nichts, von der Vermuthung abzugeben, welche dur das Ver⸗ 
hältnis des Miatthäusberichtes zu dem des Markus von vorn herein 
angezeigt ift, daß beide Gleichniſſe ein Beftandtheil jener am See 
vor dem Volke gehaltenen Rede Jeſu (Matth. 18, 2. Mark. 4, 1) 
gewefen feien, die ausfchlieglih in Parabeln fich bewegte (Mark. 
4, 33. 34. Matth. 13, 34) und mit dem Gleichnis vom vielerlei 
Ader begann, und will man ſich auf dem unficheren Gebiete der 
Vermuthungen noch weiter wagen, jo würde ber oben bargelegte 
beſonders enge Zufammenhang, in welchem unfer Gleichnis als das 


682 Spitta 


von der Selbftthätigkeit zu dem erften der Dede als dem von 
der Berfchiedenartigfeit de8 Aderlandes fteht, es nahelegen, 
zu fagen, daß jenes feine urfprüngliche Stelle gleich nach dieſem 
und vor dem Unkrautgleichniſſe gehabt habe. 


2. 


Weber die perfänlichen Notizen im zweiten Briefe an 
Timothens. 


Bon 
Friedrich Hpiffa. 


— — — 


Die perſönlichen Notizen der Paſtoralbriefe zu beſprechen, wird 
manchem angeſichts der Sicherheit, welche das kritiſche Urtheil über 
dieſelben als Erzeugniſſe des zweiten chriſtlichen Jahrhunderts er: 
reicht haben will, als überflüßig erſcheinen. Denn wenn man ſich 
veranlaßt ſieht, z. B. Hilgenfeld !) beizuſtimmen, welcher meint, 
die geſchichtlichen Vorausſetzungen dieſer Briefe machen ganz den 
Eindruck, der wirklichen Geſchichte des Paulus erſt nachgebildet zu 
ſein, ſo bleibt nichts übrig, als ſich darüber zu verwundern, wie 
doch die Uppig wuchernde Sage das Leben des gefeierten Apoſtels, 
anſtatt es mit bunten Wunderberichten auszuſchmücken, trotz des 
vorliegenden Berichtes der Apoſtelgeſchichte zum Theil völlig um- 
geftalten konnte. Aber e8 fehlt auch nicht an Gelehrten, die über 
die Hiftorifche Bedeutung der perfünlichen Notizen diefer Briefe ein 
günftigeres Urtheil fällen und fich, wenn fie auch diefelben im ihrer 
jegigen Geftalt nicht als Erzeugniffe des Apofteld anfehen wollen, 
der Empfindung nicht entziehen künnen, daB gerade in den perſön⸗ 
lichen Notizen diefer Briefe, zumal in denen bes zweiten an Tis 
motheus, echte Bruchſtücke paulinifcher Sendfchreiben enthalten feien *), 
die es dann aber auch werth find, für die Gefchichte des apofte- 
Tischen Zeitalters ausgebentet zu werben. Diefe werben über die 


1) Einleitung in das N. T., S. 759. 
2) Bol. Beet, Einleitung in das N. T., 8. Aufl., S. 578. 











Lieber die perfünlichen Notizen im zweiten Briefe au Timotheus. 588 


Berechtigung meines Verfuches günftiger und deshalb auch über die 
Ausführung desfelben fchärfer urtheilen, was ich für die Sache, 
um die allein es mir zu thun ift, wünſche. 

Aus äußeren Rückſichten befchränfe ich mich für diefes Mal 
auf die perfünlichen Notizen des zweiten Timotheus-Briefes, erhebe 
indes nicht den Anſpruch, dDiefelben erfchöpfend zu behandeln. Was ſich 
aus ben eregetifchen Handbüchern entnehmen Täßt, fee ich voraus. 
Nur das, was eine befondere Unterfuhung nöthig macht und worüber 
ich zu einem beftimmten Urtheile gekommen bin, kann ich bier erörtern. 

Noch ein zweites Wort zur vorläufigen Verftändigung. Be⸗ 
fanntlich ift der zweite Timotheus⸗Brief bei der Frage über eine 
zweite Gefangenfchaft Pauli befonders interefjirt. Aber die Sache 
Tiegt nicht fo, wie man noch in der jüngften Abhandlung „Weber 
den Brief des römifchen Klemens an bie Korinther“ 7) Tieft, eine 
zweite Gefangenfchaft werde im Intereſſe der Baftoralbriefe poftu- 
lirt. Ich berufe mid) hiergegen der Kürze wegen auf A. Har- 
nad ®), der von Wiefeler in der Faſſung von zo Tspue vg 
ddcews (1&lem. 5, 7) befämpft wird und anderſeits Bahnſen?) 
beiſtimmt, daß diefer in feiner Erklärung der Baftoralbriefe die- 
felben als unecht vorausgeſetzt habe). Man ift bei bem gegen- 
wärtigen Stande der Unterfuchungen berechtigt, die Anficht von der 
zweiten Gefangenschaft des Paulus als eine Möglichkeit neben der 
Anſicht von einer bloß einmaligen Gefangegfchaft anzuerkennen ©). 
Deshalb werde ich weder veranlaßt fein, die gefchichtlichen Anden» 
tungen des zweiten Timotheus⸗Briefes in die von der Apoftelgefchichte 
gegebene Lebensgefchichte Pauli Hineinzuguälen, noch diefelben, wenn fie 
nicht zur Apoftelgefchichte ftimmen, deshalb für unecht zu erklären. 

Nachdem Paulus in immer neuen Wendungen ben Timotheus 
angefeuert bat, den Tiegengelaffenen Beruf mit alter Begeiſterung 
und befjerer Treue wiederaufzunehmen, fteigert fi) die Empfindung 
der Sehnſucht nad dem geliebten Sohne zu der beftimmten Bitte: 


1) Wiejeler, Jahrbücher f. d. Theol. 1877 S. 370. 

2) Patrum apostolicorum opera, ed. 2; I, 1. p. l6sq. 

5) Die fogenannten Paftoralbriefe erklärt, I. 

4) Bol. Zeitfchrift fir Kicchengefchichte II, 1, S. 65, Anm. 2. 
5) Vgl. Stivm in den Jahrb. f. d. Theol. 1876 I, ©. 812. 


581 Spitta 


onoddacov EAdEiv rroog us raxsos (4, 9). Er begründet die⸗ 
felbe mit dem Berichte von feiner Einſamkeit. Lulas ift freilid 
noch bei ihm (V. 11), aud kann er von mehreren römifchen 
Chriften Grüße beftellen (VB. 21); aber Demas, Crescens, Titus, 
Tychikus, welche Timotheus bei Paulus vermuthen mochte, find 
nicht mehr in Rom. Demas ift in der Arbeit für das Evange- 
lium ermitdet und Bat ſich felbftwillig nach Theffalonich begeben. 
Tychikus dagegen ift von Paulus nah Ephefus gefandt.e Sollte 
diefe Sendung nicht identisch fein mit der Kol. 4, 7. Eph. 6, 21 
berichteten? Dieſe Vermuthung ſcheint in der That nicht grund: 
[08 zu fein. Allein es fteht nicht feft, daß bie Briefe an die Ko 
foffer und Philemon, ihre Echtheit vorausgefett, in Nom gefchrieben 
find. Ferner ift es mißlich, bei der Unficherheit über die Adreflaten 
des fogenannten Epheſer⸗Briefes, ganz abgefehen von fonftigen fri- 
tischen Bedenken gegen denfelben, eine Combination von Eph. 6, 21 
und 2 Tim. 4, 12 vorzunehmen. Uber vorausgejeht, jene Briefe 
feten von Paulus in Rom gefchrieben und das €» Eyeon (Eph. 
1, 1) edit, fo würde Paulus den Tychikus doch nur für kurze Zeit 
fortgeſchickt Haben; al8 Zwed der Sendung bezeichnet er: va yrare 
va nrepl Nucv xal nrapaxalson vas xagpdlas vucv (Rol. 4, 8). 
Wie ftimmt damit, daß Paulus dem Timotheus aufträgt, den 
Markus an Thchikus' Stelle mitzubringen, alfo vorausfekt, letzterer 
werde längere Zeit in Ephejus bleiben ? 

So wenig die Binerkung über die Sendung des Tychikus zu 
dem Berichte des Koloffer- und Epheſer⸗Briefes ftimmen will, fo 
wenig fcheint fie auch zu ben Vorausfegungen der Paſtoralbriefe 
über des Timotheus Aufenthalt in Ephefus zu paſſen. Schon 
Theodoret bat richtig bemerkt, daß aus 2Tim. 4, 12 folge, Ti⸗ 
motheus ſei zur Zeit der Abfafjung diefes Briefes nicht in Ephefus 
gewefen 1); man müßte andern Falls ugos oe ftatt eis "Egyeoov 
erwarten 3). Diefe Anficht hat man in nenefter Zeit, ohne ftid- 


— 





1) Theodoreti opera ed. Nocesselt, T. III, p. 694sq.: „Tuyıxow di 
dntoreiie Eis "Epeoov.““ Andov ivreüder ds ovx Ev Eypkap dılyer 
aM ErigwIl mov xare Tovrovi Toy xap0vy 6 uaxagıog Tıuodeog. 

2) Man wird behaupten, mit demfelben Rechte könne ınan aus 1 Kor. 15, 32. 
16, 8 folgern, ber erſte Korintherbrief fei nicht in Epheſus geſchrieben. Die 





Ueber die perfünfichen Notizen im zweiten Briefe an Timotheus. 585 


baltige Gründe dagegen anzuführen, meiftens verworfen. Man 
hält derfelben die Stellen 1, 18. 4, 14f. 19 entgegen; aber mit 
welchem Rechte? Seit wann ift e8 ausgemacht, daß das vielums 
bergewanderte Ehepaar, Aquila und Priscilla, in Ephefus eine Zeit 
lang anfäßig, immer dort geblieben ſei? Wer Hat bis jett be- 
wiefen, daß ber 4, 14 genannte "AlsEardgos 0 yara-ı'z mit dein 
ephefinifchen Juden gleichen Namens (Apg. 19) identii.h fi? End— 
ih woraus kann man mit Sicherheit Schließen, daß Oneſiphorus 
(1, 16. 4, 19) in Ephefus gewohnt habe? Paulus berichtet 1, 18 
von Dienjten des Onefiphorus, über welche Timotheus unterrichtet 
fei. Hofmann ?) meint, die Worte 1, 18: za öoa €: 'Eysoo 
dinxormasv, Bsirıov au yırdazsıs feien Fortfegung des mir 
dur den Gebetswunſch din au 6 xUosog svpsiv Een; mage 
xvolov Ev Exelrn 7) uog unterbrochenen Sates, und Y.itekt 
daraus, daß fich diejelben auf Dienfte des Onefiphorus «..:'cıt, 
welche diefer nah) feiner Rückkehr von Rom für Paula a:- 
than babe, und von denen Timotheus eben deshalb genan hilie 
unterrichtet fein können, weil er damals in Ephefus gewefen ſei. 
Die Unmöglichkeit diefer Auffaffung läßt ſich ebenfo wenig wie die 
des Gegentheils aus der Gedankenfolge in 1, 15—18 nachweiſen, 
und Somit ift e8 unberechtigt, diefe mehrdentige Stelle gegen andere ' 
unmisderftändliche zu feen. Die natürlide Deutung von 4, 12 
wird nämlich geftügt durh V. 20: Toogımov d& anelınov Ev 
Murto aodevovvrea, Mag nun areekınov erfte Perfon Sins 
gularis oder letzte Pluralis fein, mag man hier einen Beweis das 
für finden, daß Paulus, aus der erften Gefangenschaft freigekommen, 
eine Reife gemacht bat, von der die Apoftelgefchichte nichts berichtet, 
oder fi bei der Deutung diefer Worte beruhigen, nad) welcher 
biejelben von zwei Gefährten de8 Onefiphorus auf feiner Reiſe 
nad Rom hin erzählen, die, der eine in Milet, der andere in Ko⸗ 

Berechtigung dieſes Schluffes erkenne ich in jeder Beziehung an. Daß 

Pauli Aufenthalt in Ephefus (Act. 19) fich nicht auf die Stadt be- 

ſchränkt habe, zeigt Apg. 19, 10. 22. Aus den Grüßen von YAquila und 

Briscila (1Ror. 16, 19) kann aber um fo weniger etwas beftimintes ge⸗ 

fchloffen werben, als ſich damit die Notiz verbindet: aanalovsu vuas 


ai &xxinolaı vis "Aolas. 
1) Die Heilige Schrift N. T. VI, ©. 240. 


298 Spitta 


rent, zT ffteben feien )), — das ift fiher, war Zimotheus 
in Ecyheſns, fo wußte er auch um den in Milet erkrankten Tre 
phimus. Ber. dt fih V. 20 auf die Reife des Onefiphorus, fo 
war Tim ud nicht mehr in Ephefus, als Paulus feinen zweiten 
Arlef an, fehrieb; beziehen fich die Worte auf des Paulus Ab⸗ 
zuge don Aflen ?), fo war fehon damals Timotheus nicht mehr in 
Spheng ), — Ferner, wenn dem zweiten Briefe an Qtmotheus 
etwas wahres zu Grunde Liegt, fo ift e8 das, daß fich Timotheus 
welnftg und verzagt vom Evangeliftenberufe zurückgezogen hat‘). 
Wird er in dieſem Falle an dem Plate geblieben fein, an den ihn 
Panlus geftellt hatte; oder liegt nicht vielmehr ber Gedanke nahe, 
daz er fich im feine Heimat, Lylaonien, nach Derbe °) zurüdge- 
‚gen habe? Diefe Vermuthungen werden durch einen außerbib: 
liſchen Bericht geftügt. In den Acten des Baulus und der Thefla ©) 
wird als Wohnort des Dnefiphorus Ikonium bezeichnet ”). Mag 


— —— —— 





1) Bgl. Reuß, Geſchichte der heiligen Schriften N. T., 8 125 Aum. — 
Wiefeler in Herzogs Real-Enc., 1. Aufl., Bd. XXI, S. 304f.; u.a. 

3) Wenn nah Hofmann a. a. D., S. 306 Paulus den Trophimus in 
Milet zurückläßt, wo er fid) auf den Weg nad) Makedonien begibt, fo 
erhebt fich gegen dieſe Faſſung mit Recht der Einwand, dag Paulus dem 
Timothens etwas bekanntes mittheile. Ob fi Hofmanı dagegen gr 
fichert habe, wird fpäter beurtheilt werben. 

3) Kicht einmal der erfte Brief an Zimothens veranlaßt die Bermuthung, 
daß fich der Adreffat damals in Ephefus befunden habe. 

4) An diefer Behanptung Tann mi auch Mangolds Bedauern über bat 
fhöne Bild, das damit aus der Gefchichte der Stiftung der chriftlicen 
Kirche ausgeftrihen werde (vgl. Bleel a. a. O., ©. 569 Anm.), nid 
irre machen. Es ift freilich dem pſeudonymen Verfaſſer des zweiten Ti- 
motheus-Briefes nicht zuzutrauen, daß er uns ein Bild des zuaxagıos 
Tıuoseos gezeichnet haben follte, deſſen Zeichnung fo unvortheilhaft non 
den Originale abweicht. 

5) Vgl. Wiefeler, Chronologie des apoftolifchen Zeitalters, S. 26. 

6) Grabe, Spicilegium SS. Patrum etc. I; Tischendorf, Acta 
apostolorum apocrypha; vgl. Schlau, Die Acten des Panlus un 
der Thefla u. |. w. 

T) Kal ric dvne Oynaipogos, uadalv röy Iladdov napayerousvor £i; 
Txovıov, napavra deoualus E£ijAIsv av vi ddig yuraıı Adzıpr 
xal Tois aurov Texvoss Znuuig za Zivwve Eis dndyınaw artei, 
Iva avıov dekwrrai, 











Ueber die perfönlichen Notizen im zweiten Briefe an Timotheus. 587 


nun diefe apokryphiſche Schrift zu Anfang des zweiten Jaͤhrhun⸗ 
derts abgefaßt fein 1) oder die älteften apokryphiſchen Berichte ale 
Quellen benugt haben 2), fo lange man nicht nad; veiſen kann, daß 
die betaillirte Erzählung von dem olxos Ovruiegue in Ilkonrem 
aus der Luft gegriffen ift — und vor folcher Beheuptung möchte 
doch viefleicht die als Hiftorifch unauf, «ru frmitiene Notiz uber 
die Tryphaena ?) etwas vorfihtr ı° 1 —-, 19 Large wird „tan 
armehmen dürfen, daß Onefiphpn 1. a Wol ſitz in Ikonium, 
der Nahbarftadt von Derbe, gehu ' je 9. Wie konnte ur 
Paulus dem in Ephefus ſich aufhaltenden Timo hene Grufte an cr 
Dnefiphorus Haus auftragen, zumal da er ihn aufjerderte,. mög— 
lichſt Schnell nah Nom zu kommen? War 3 nerheie — in 
Derbe oder überhaupt irgendwie in ſeinem Pi he V Fronien, 
fo konnte er, ohne viel Zeit zu verlieren, die angeln n nen GBrüßhe 
in Ikoninm ausrichten. So wird alſo Theodoret in der Erllarinig 
bon 4, 12 doch wohl Recht behalten und damit auf "ıs Kin 
dernis hinweggeräumt fein, 1, 15 fo zu faffen, wie e8 d'e wor 
jenes Ausſpruchs und die Stimmung ded ganzen Abſchnittes vun, 
1, 6 an fordert, nämlih als Frageſatz. 

In einen ganz beftimmten Abſchnitt des Lebens Pauli wird 
man durch die kurze Bemerkung über den Aufenthalt des Cres⸗ 
cens und Titus gewiefen (4, 10). Ich halte TaAAlav, nicht Te- 
Aaziav, für die richtige Lesart, die auch Tiſchendorf (cd. VII) 
und Hofmann befolgt haben al8 von Handſchriften und Kirchen- 
pätern völlig beglaubigt, und deren Gorrectur in Tadarlav zu 
leicht begreiflich ift, al8 daß man fie verwerfen dürfte. Alfo die 
beiden Gefährten des Apojtel8 Hatten fich, „der eine in die zwiſchen 
Makedonien und Stalien, der andere in die zwijchen Italien und 


1) Bol. Zahn in den Göttinger Gelehrten Anzeigen 1876, Stüd 4l, ©. 
1292 —1308. 

2) Hilgenfeld, Zeitfchrift für wiffenfchaftliche Theologie 1 1877 1,8. 134 ff. 

3) Bgl. v. Gutſchmid im Rhein. Muferm 1864, ©. 178. 

4) Daß der in der Apoftelgefchichte genannte Onefiphorus für ben im zweiten 
Tim.⸗Brief genannten gehalten fein wolle, dafür zeugt die reichliche Be⸗ 
nutzung diefes Briefes, befonders auch was die Perſonalien anlangt. 


588 Spitta 


Spanten aeicare Provinz“ (Hofmann) begeben !). Iſt es nun 
de ar, daß Pauins, wenn fein lebhafter Wunſch, nah Spanien 
u komanen (Men 15, 22ff.), nicht erfüllt war, zwei feiner Ge⸗ 
noſſen in der Den ihm allerdings noch nicht bereiften, aber aud, 
fo viel wir wiſſen und wie es an ſich wahrjcheinlich ift, von ihm 
in eiſter Linie richt in's Auge gefaßten Gegenden Gallien und 
Dalmatied bie wirten laſſen? Entweder bat er feine früheren 
entjyläffe zotul geändert, oder er ift, als er diefe Worte fchrieh, 
“on in vzpu.nien gewefen. 

Diet: Vermuthung wirb unterftügt dur) die Bemerkung über 
den Nufenthaltsort des Eraftus und Trophimus (4, 20). Die 
Arficht, daß Paulus bier von einem Greignis berichte, das dem 
‚Zitarjchnitt vor feiner Gefangenfchaft in Cäfaren angehört, bedarf 
1 den Gegenbemerfungen Huthers?) und Hofmanns feiner 
"oiderlegung mehr. Es kann ſich nur fragen, ob Paulus bier von 
der Reife einiger Freunde zu ihm nah Rom erzähle, oder von 
einer eigenen Reiſe, bie dann in die Zeit nach feiner erften Ge 
fangenfchaft gefet werden muß. Zu einem ficheren Reſultate wird 
man fommen, wenn man wie Neuß?) auf den Zufammenhong 
achtet, in welchem ſich diefe Notiz befindet). Neuß bemerkt: 
„Des Duefiphorus Verwandte grüßend, erwähnt Paulus nachträg⸗ 


1) Daß TaAadte ohne eine Näherbeftimmung wie 7 Ewa, EwAos and) Br 
zeichnung von TeAAoyoaszte fein könnte, ift mir unmahrfcheinfich. Wenig 
ſtens ift e8 mir nicht gelungen, einen Beleg für diefen Sprachgebraud; zu 
entdeden. Webrigens macht das über des Timotheus Aufenthalt zu Br 
merkende die Annahıne unmöglich, daß, felbft bei Beibehaltung der Lesart 
Tedarie, darunter das afiatifche Gallien verflanden werden könnte. 

3) Kritifch-eregetifches Handbuch über die Briefe an Timotheus und Tine 
4. Aufl. 

I) a. a. O., 8 125. 

4) Hofmann (S. 304) findet in dieſer Notiz eine Antwort auf eine An 
frage des Timotheus. Diefes Urtheil würde berechtigt fein Lönnen, wenn 
der zweite Tim.Brief ein Antwortfchreiben wäre. Das glaubt Hofmann 
aus 1, 4b fchliefen zu müffen, aber — wie ich hier freilich nicht nach 
weiſen kann — mit Unrecht. Im übrigen dürfte man wünſchen, dab 
bie, welche über die „brieflichen Thränen“ fpötteln, die Hofmann den 
Zimotheus (1, 4) weinen Täßt, zuerſt die große exegetifche Schwierigfet 
dieſer Stelle Löften ober doch empfänden. 








Ueber die perfönlichen Notizen im zweiten Briefe an Timotheus. 589 


lich, daß felbiger in feiner Gefellfchaft noch andere Freunde nad 
Nom Hat mitbringen wollen, von biefen fei Eraftus in Korinth 
zurücigeblieben, Trophimus gar ſchon in Milet wegen Krankheit.“ 
Allein nirgends ift zu Iefen, daß Dnefiphorus noch mit anderen 
nah Rom gelommen ſei; wäre diefes der Fall gemwefen, jo würde 
Baulus feine innige Danfesäußerung (1, 16) ganz entſchieden nicht 
auf Onefiphorus beſchränken. Nun läßt fich jedoch denken, daß 
al8 Subject von ardisrov Dnefiphorus und Craftus gemeint 
feien. Aber im Hinweis auf arreiınov in V. 13 und mehr noch 
darauf, daß Paulus, während er fonft überall vorausſetzt, Timo⸗ 
theus fet über die Einzelheiten feiner Erlebniffe, ja fogar iiber die 
Vorgänge in der Provinz Afien nicht unterrichtet, hier vorausfegen 
würde, Timotheus wife um die Reiſe, auf welche er anfpielt, muß 
gegen Reuß' Deutung Bedenken erregen. Aus dem Verhältnis 
von V. 19 u. 20 Täßt fich nichts ficheres fchliegen. Denn wenn 
man es auch für wahrjcheinlid Halten mag, daß die Erinnerung 
an die dem Paulus befonders naheftehenden Berfonen in V. 19 
diefen veranlaffe anderer zu gedenken, die, wenn fie fi noch da 
befinden, wo der Apoſtel einft von ihnen Abfchied genommen hat, 
Timotheus, deſſen Reiferoute durch den Auftrag 4, 13 näher be 
ftimmt war, wahrfcheinlich nicht wird grüßen können, fo ift doch 
die von Reuß bevorzugte Gedankenverbindung ebenfo wahrſcheinlich. 
Bon weſentlichem Belang dagegen für die Feſtſtellung des Sinnes 
von arssAsscov iſt die Unterfuchung über den ®. 20 u. 21 ver- 
bindenden Gedanken. Mit Recht hat Hofmann die Anficht zu- 
rücgewiefen, daß V. 20 zu 21 in demfelben Verhältniſſe ftche, 
wie V. 10 zu 9. Denn in B. 21* liegt der Ton auf neo xar- 
novos. Je auffallender aber die Mahnung B. 21° mitten zwifchen 
den Grüßen fteht, um fo weniger genügt es, diefelbe nur als etwas 
zu bezeichnen, was noch gefagt werden wolle, bevor der Brief 
fchließe. Die Frage muß beantwortet werden: Wie kommt Paulus 
dazu, im Anfchluß an die Bemerkung, daß Trophimus krank in 
Milet zurückgeblieben jei, die Mahnung, welche er ſchon B. 9 in 
aller Dringlichkeit ausgefprochen hatte, mit der Näherbeftimmung 
700 xeıuwvos zu wiederholen? Doch wahrſcheinlich jo, daß ihn 
eben jene Reife des Zrophimus an den Winter erinnert. “Den 


690 Spitta 


kranken Trophimus hat fchon Wiefeler in feiner hypothefenreichen 
Deutung diefer Stelle mit den Winterftürmen in Zufammenhang 
gebradjt !), und e8 Liegt in der That nichts näher als die Ver⸗ 
muthung, man babe den Erkrankten in Milet zurüdgelaffen, um 
nicht, durch feine Pflege aufgehalten, die letzte Gelegenheit, zu 
Schiffe fortzulommen, zu verpaffen. Diefe unausgefprochene Be 
gründung von V. 20° fonnte fehr Leicht zu der Aufforderung 
V. 21 überleiten, wenn Paulus felbft einft den Trophimus in 
Milet zurücgelaffen Hatte, ſehr viel weniger leicht, wenn Paulus 
nur durch Hörenfagen von dem Grunde des Zurückbleibens jenes 
erkrankten Freundes wußte. Dazu kommt, daß Tit. 3, 12 Baulus 
dem Titus fchreibt: Orav neupm ’Agreuav rrooc 08 7) Toxıxor, 
onovdaocov EAdsiv nroös me eig Nixomolv ' Exst yap xExgixa 
rrapaxsınaocos. Dieje Bemerkung macht, mag man Über die Entftehung 
des Titus⸗Briefes feine vieleicht gerechten Bedenken haben, durchaus 
einen zuverläßigen Eindrud. Wie follte man auch, zumal da von 
einem Weberwintern des Baulus in Epirus fonft nirgends die Rede 
ift, darauf gelommen fein, einem Falſificate diefe Bemerkung beizu- 
fügen, ohne daß ſich diefelbe auf eine bejtimmte Tradition ftüßen 
könnte? Die Zuftimmung diefer Notiz zu der verfuchten Erklärung 
des Zufammenhanges zwiſchen V. 20 u. 21 verhilft feßterer zu 
einem ziemlich hohen Grade von Wahrjcheinlichkeit. Baulus konnte 
ih alfo in Milet deshalb nicht aufhalten, weil der Winter vor 
der Thüre war und er vor Anbruch besfelben noch im Nikopolis, 
wohin ihn fein Weg über Korinth führte, fein mußte ®). 

In die Reiferonte de8 Paulus, welche fid) aus den bisherigen 
Unterfuchungen ergeben dat — Milet, Korinth, Nikopolis —, über 
deren Verhältnis zu den Reiſen in der Mpoftelgefchichte aber offen 
bar nichts zu fagen iſt, kann nun als neue Station Troas (8. 13) 
aufgenommen werden. Dort bat Paulus einft feinen Mantel’) 
und Bücher bei einem gewiſſen Karpus zurüdgelaffen; Paulus 


1) In Herzogs Real⸗Enc. XXI, ©. 840. 

2) Es ift zu beachten, daß von Titus, den Paulus nah Tit. 8, 12 ned) 
dem epirotifchen Nikopolis eitirt, 2 Tim. 4, 10 berichtet wird, er fi 
nach dem nördlicheren Dalmatien gegarigen. 

3) Daß row ꝙt Movnv fo zu verftehen ei, hat ſchon Beng et vollgilltig begrünkt. 








Ueber die perfönlichen Notizen im zweiten Briefe an Timothens. 591 


bittet den Timotheus, ihm diefe Sachen mitzubringen. Weshalb 
Paulus um den Mantel bittet, erklärt ſich völlig aus V. 21; 
weniger deutlich ift, wozu ihm die Papiere nöthig find. Man Hat 
diefe Bitte überhaupt feltfam gefunden. Konnten ihn feine Freunde 
in Rom (V. 21) für den Winter nicht mit einem wärmenben 
Mantel verjehen und ihm Bücher verfchaffen, wie er fie gebrauchen 
wollte? Erſteres gewiß; aber um den zuerft genannten Mantel 
ift e& ihm nicht zumeift zu thun, fondern um die Pergamente, die 
ihm in Rom am Ende doch wol nicht erſetzt werden konnten. Den 
Grund Hiefür kann ich aus dem Zufammenhange der Verſe nicht 
erkennen, ohne deshalb Bahnſens wunderliche Frage: „Was follen 
überhaupt die Asßile= und usußoavas für einen Inhalt gehabt 
haben, wenn fie in Panli Beſitze waren?“ nicht beantworten zu 
fünnen. 

Über weshalb nahın Paulus bei feiner Abreife von Troas jene 
Saden nit mit? Man bat auch bier wieder an den. Bericht 
der Apoftelgefchichte erinnert und gemeint, daß Paulus, der Apg. 
20, 13 Troas zu Fuße verläßt, deshalb wohl feine Saden zu⸗ 
rückgelaſſen babe. Aber wie ftimmt es mit dem Werthe, den er 
denfelben beimißt, daß er fie in Zrons läßt, wohin er nicht wieder 
zurüctehren will, anftatt fie feinen zu Schiffe abreifenden Ge⸗ 
führten anzupertrauen? Und während ber ganzen Zeit feiner Ges 
fangenſchaft in Cäfaren folite er nicht daran gedacht haben, fich 
das Zurückgelaffene wieder zu erbitten, jet aber im Angefichte des 
Todes auf einmal an das längſt Vergeffene zurückdenken? — Aber 
auch Hofmanns Erklärung ift zu verwerfen, daß Paulus (auf 
feiner Rundreife in den alten Gemeinden nad der erften Gefangen⸗ 
haft) die Sachen in Troas gelaffen habe, damit fie ihm nicht bei 
der fommerlichen Reife in Malebonien befchwerlich wären, zumal 
da er fie auf feiner Rüdfahrt nach Epheſus (1 Tim. 3, 14) wieder 
zu fi) nehmen konnte. Diefe Rückreiſe fei jpäter von ihm aufs 
gegeben und deshalb fein Gepäd in Troas geblieben. Allein durch 
nichts wird man zu der Annahme veranlaßt, daß Paulus feinen 
Reiſeplan geändert habe. Die Frage bleibt alfo beftehen: Weshalb 
läßt der Apoftel feine Sachen in Troas, wohin er doch nicht wieder 
zurüdzufehren gedachte? Daß er diefelben nur vergeffen habe, er⸗ 


592 Spitta 


fcheint mehr als unmahrjcheinlich, da er gerade kurz vor Winter: 
beginn feinen Mantel nicht entbehren konnte, und da ihm bie 
Bücher fo werthvoll waren, daB er fie ſich fpäter noch im Ange⸗ 
fihte des Todes ausbat. Mean muß vielmehr vermutbhen, daß es 
ihm unmöglich gemacht war, bei feiner Reife von Troas nad) Mi- 
let die bei Karpus deponirten Sachen mitzunehmen. Aber was 
fann ihn daran gehindert haben? 

Diefe Fragen und Vermuthungen führen mid) zu der Unter: 
ſuchung des fchwierigen Abjchnittes 4, 14—18. — Baulus be 
merkt, daß ihm ein Erzarbeiter Alexander viel Uebles zugefügt 
habe. Wer biefer Menſch fei, ob mit einem Manne gleichen Na⸗ 
mens, der 1Xim. 1, 20 mit einem gewifjen Hymenäus zufemmen 
als excommunicirt bezeichnet wird, identifch, oder mit dem bei 
Gelegenheit de8 Aufruhrs in Epheſus (Apg. 19, 33) genannten 
Juden Alexander, deffen Nennung in jenem Berichte vielleicht dar⸗ 
auf Hindeutet, daß er eine für die alte Kirche nicht gleichgültige 
Perſon gewefen !), ift im voraus ganz unmöglich zu entfcheiden. Aber 
darauf ift gleich zu achten, daß es faljch ift, mit Huther*) als 
Inhalt von B. 14 f. anzugeben: „Warnung vor einem gewiſſen Alexan⸗ 
dros.“ Denn fo kommt V. 14 zu kurz, an den fih dod jene 
Warnung erjt anfchliegt. Uber auch das wird man nicht fagen 
können, in V. 14 ftatte der Apoſtel Bericht ab über des Alerander 
Vebelthaten. Denn der Inhalt diefes Verſes ift fo allgemein ges 
halten, daß Paulus, da die Perfönlichkeit des Alexander dem Ti⸗ 
motheus befannt fein mußte, und zwar als Feind des Evange⸗ 
ums — andernfalls würde Paulus berichten, wie es gekommen 
fei, daß Alexander ihm widerftanden babe — den Sab nicht nieder 
geſchrieben haben kann, um dem Timotheus etwas neues zu berichten. 
Das betonte zzoAde läßt erlennen, daß Paulus jene Worte auf 
das Bapier warf, weil fein Herz zu voll war von der fchmerz- 
lichen Empfindung, deren Stärke fih in den Worten anodasası 
aurh 0 xügiog xara ra EZoya adrod einen für viele anftößigen 
Ausdrucd gegeben hat?). An diefe Gerihisanfündigung ſchließt 

1) Bol. Hofmann a. a. O., ©. 299. 

2) a. a. D., ©. 328. 

8) Nicht das gering bezeugte anoden ift zu Iefen, obwol es auf dem erſten 





Ueber die perfönlichen Notizen im zweiten Briefe an Timothens. 598 


fih eine Warnung vor dem frevelhaften Menfchen. Bei diefem 
Charakter der Süße in V. 14f. drängt fich, trogdem daß V. 14 
neben V. 13 aſyndetiſch fteht, vor allem die Frage nad) dem 
inneren Zufammenhange zwifchen V. 13 und V. 14 auf. Man 
bat indes das Berhältnis von V. 14 zu ®. 15 mehr im Auge 
gehabt, in der Meinung, daß mit V. 14 ein neuer Abfchnitt be⸗ 
ginne. So ganz befonders Hofmann ?): „Mit V. 14 kommt der 
Apoftel auf die Gerichtsverhandlung zu fprechen, der er unterfteht; 
denn auf fie bezieht fi, was er von einem Meetallarbeiter Alexander 
fagt.” Allein wenn der Apoftel mit V. 14 einen ganz neuen 
Gegenftand zu befprechen beginnt, fo dürfte man doch wol er- 
warten, daß er gleich beftimmt fagte, um was es ſich Handle, an- 
ftatt ganz allgemeine Gedanken auszuſprechen, um dann den Lefer 
aus dem Verhältnis der Worte Alav yap avdsaınze Tols jue- 
zegoss Aoyoıs zu DB. 16 hinterher fchließen zu Laffen, daß fich alles 
von V. 14 an Gefagte auf bie Gerichtsverhandlung beziehe. Wie 
ſtimmt ferner zueinander, daß Paulus V. 14 von der Gegner- 
ſchaft des Alerander vor Gericht aoriftisch ſpricht (Svsdeitaro), 
während das von Hofmann gelefene avdsoenxs die Feindfchaft 
als eine dauernde bezeichnet 2). Vor allem aber, wie kommt Hof- 
mann nah Ephefus! Daß Ankflagen gegen Paulus fi gerade 
auf den Apg. 19 berichteten Aufruhr beziehen mußten, Tann doc 
von born herein nicht feftftehen; daß aus 69 xal od yuldacov 
folge, Alexander und Timotheus feien an bdemfelben Orte, kann 
man nicht behaupten, und daß Timotheus fich in der That Tängft 
nicht mehr in Ephefus befindet, ift oben zu beweifen verfucht. — 


Blick nicht begreiflich exrfcheint, aus welchem Grunde man es mit ano- 
dwaesı vertaufcht haben Könnte; benn die Behauptung Bahnfens, dro- 
In fei gerade deshalb, weil „es die Rachſucht noch Harer hinſtellen 
würde”, Eorrectne, wird wenigen verftändlic fein. Die Veranlaffung zu 
der Eorrectur ift vielmehr der Optativ des parallelen Satzes un avrois 
Aoyıo9eln (B. 16); vielleicht auch die Erinnerung an das dan 1,16, 18. 

1) a... O. S. 297. 

2) Bol. Hofmann a. a. O., ©. 299: „Bon Epheſus aus wird Alexander 
durch feine Ausfagen dem Apoftel fo viel böfes erwiefen haben, indem er 
den feinen (uo ®. 14 — aber „juereooss B. 15?1) fort und fort 
wiberftritt.” 

Theol. Stud. Jahrg. 1978, 39 


594 Spitta 


Bon den Gründen, melde Hofmann gegen die, welche in V. 14f. 
nichts als einen Bericht Über gewiſſe dev Vergangenheit angehörige 
Erlebniſſe mit Alexander finden, alſo gegen eine Faſſung von Aiar 
yag avdeoınge Tolis Tjusregoss Aöyoıs, nach welcher dieie 
Worte von einem Widerſpruch des Alerander gegen die Berkün- 
digung der hriftlichen Lehre durch Paulus und feine Genoffen han- 
deln, ift einer fehr beachtengwerth. Hofmann meint, nur bei feine 
Faſſung dieſer Worte böten dieſelben eine Begründung des 65 zai 
av yulacoov; denn: „Aleganders Gegnerſchaft gegen pie drijt: 
liche Lehre könnte do für Timotheus nimmermehr ein Grund jein 
jollen, fi vor ihm anders inacht zu nehmen, als wie ſich jeder 
Chrift vor den Gegnern des Chriftentums inacht nehmen muß, 
nämlich feinen Anlaß zur Läfterung zu geben, was aber gvAaooe- 
oral viva auch nicht heißen künnte.“ Die Richtigkeit dieſer De 
hauptung und die Zweckwidrigkeit der allgemeinen Ermahnung: „Hüte 
dich vor den Gegnern des Chriſtentums“, einem Timotheus gegenüber, 
erhellt aus 2, 11f. 4, 2—5. Aber Hofmanns Erklärung wird 
hiedurch wicht geſichert, da, abgeſehen von den oben gemachten Ein⸗ 
wänden ſtatt avIsoznxs das überwiegend beglaubigte arsdor; 
zu leſen iſt, was auch Tiſchendorf (ed. VIII), Huther u. a. 
bevorzugen. Dadurd tritt nun V. 15° in ein Verhältnis zu 
V. 15 *, deſſen Schwierigkeit man vielleicht bie Lesart av Isarnze 
zu verdanken hat. Timotheus ſoll fich deshalb vor Alerander 
hüten, weil diefer einftmald Pauli und feiner Genoſſen Predigt 
heftig wiberftanden bat. Wenn aber der Apoftel feine Warnung 
vor Alerander nicht durch die fortdauernd feindliche Geſinnung und 
Handlungsweife desjelben begründet, jondern durch ein beftimmtes, 
der Vergangenheit angehöriges Ereignis, jo bat folche Begründung 
den Sinn, daß Paulus vorausfegt, Timotheus werde in dieſelbe 
Lage kommen, in welcher er fich befand, als er unerfreulicherweile 
mit Alerander zuſammenſtieß. Es ift deutlich, wie bei dieſer Auf⸗ 
faffung das or za av YvAaccov nicht mit der Ermahnung, 
ohne Furcht unter allen Verhältniffen das Evangelium zu prebigen, 
in Widerfpruch geräth. Denn nicht dazu ermahnt Paulus, dab 
Timotheus Überhaupt die Begegnung mit einem Menfchen ver 
meiden folle, ber feiner Predigt doch nur widerſprechen werde; er 


⸗ 








Ueber die perfönlichen Notizen im zweiten Briefe an Timotheus. 595 


warnt ihn vielmehr vor einem Zufammenftoß mit Alerander, wie 
er ihm einst erlebt Hat. Diefer Zufammenftoß wird fi) dann aber 
nicht auf einen einfahen Widerfpruch befchränft Haben, ſondern 
für Baulus, wie die Verknüpfung von B. 14 u. 15 beftimmt 
vermuthen läßt, von übeln Folgen begleitet geweſen fein. Aber wie 
fann der Apoftel vorausfehen, daß Timotheus in biefelbe Lage ge= 
rathen werde, in welcher er einft mit Alerander aneinandergerieth? 
Natürlich) nur dann, wern er beftimmt vorauswußte, daß Timo⸗ 
theus auf feiner Reife gewiffe Orte berühren werde. Daß er ba- 
bei nit an Rom denken Tonnte, hat Hofmann (S. 299) richtig 
erkannt. Bon anderen Städten aber, welche Zimotheus paffiren 
werbe, konnte Paulus, abgejehen von den lykaoniſchen (ogl. zu 
V. 19), mit Sicherheit nur Troas als Station vorausbe- 
zeichnen. Es ſcheint aljo, als ob er es für möglich achte, Bier 
fönne dem Timotheus etwas von Alexander geſchehen. Dies führt 
zu der Unterſuchung des Verhältniſſes zwiſchen V. 13 u. 14 
zurück, welche man verfäumt bat, obwol doc eine Bandgreifliche 
Schwierigkeit barin liegt, daß Paulus von der Bitte um Mantel 
und Bücher nicht zu einem neuen Berichte Übergeht, fondern zu 
einem Ausrufe über ded Alexander Uebelthaten. ‘Diefer muß noth- 
wendig in einem Zuſammenhange ftehen mit dem Creigniffe, das 
Baulus gezwungen hat, feine Sachen in Troas zurückzulaſſen. 
Damit wären bann allerdings dem Beftreben, in dem Alexander 
bes zweiten Tim.» Briefes den ephefinifchen Yuden (Apg. 19) wieder 
zu erkennen, bedenkliche Hinderniffe im den Weg gelegt. Um fo 
mehr tft e8 an ber Zeit, einen Blid auf den 1Xim. 1, 20 ge 
nannten Alexander zu werfen. 

Die Bedenken gegen den erften Tim.⸗Brief beziehen fich auch auf 
das Verhältnis zwiſchen den in beiden Briefen genannten Alexander '). 
Man ift unfiher, ob die 1 Tim. 1, 20 berichtete Exrcommunication 
von Paulus über Alerander und feinen Senoffen fchon in Ephefus 
mündlich oder erft fpäter ſchriftlich ausgeſprochen ſei, und nennt 
in beiden Fällen den Ausdruck unnatürlich. Und mit Recht — 
d. h., wenn man vorausſetzt, was noch keiner bewieſen hat und 


1) Bleek a. a. O. ©. 572f. 
89* 


596 Spitta 


was fehr leicht zu widerlegen iſt, daß jene beiden Apoftaten bei 
Zimotheus in Ephefus feien, reſp. gewefen fein. Wenn Paulus 
dem Timotheus eigens über jene Ercommunication berichtet, fo 
darf man wol vorausjegen, daB er noch nichts davon gewußt hat; 
dann aber, daß die Exrcommunication nicht in der Gemeinde vor 
fich gegangen ift, deren Berhältniffe zu regeln Timotheus thätig 
war. Nur der ephefiniihe Jude Hat es bewirkt, bag man bie 
Darftellung im erften Zim.-Brief hat unnatürlich finden wollen, 
denn bie Worte oös rragsdoxa laſſen doch wohl an Klarheit 
nicht8 zu wünfchen übrig. Der Alexander im erften Tim. + Brief 
fieht nun dem im zweiten Briefe fo ühnlich, abgefehen von dem 
Titel 6 xXcAxsoc, daß auch die meiften in beiden dieſelbe Perfon 
gefunden haben, freilich nicht ohne ein Misverftäindnis des mög⸗ 
licherweife fogar ein Falfificat nachbildenden Berfaflers des erften 
Briefes zu conftatiren, — Alerander avancirt aus dem Nähr⸗ 
ftand in den Lehrſtand. Diefe Anfiht wird unten gewürdigt 
werden; jett ift noch auf einen Zug im Berichte über Alerander 
(1Xim. 1, 20) aufmerkſam zu maden, neben dem fich allerdings 
jener vermeintliche Misverftand befonders gut ausnimmt. Paulus 
berichtet dem Zimotheus die Excommunication des Alerander, nach⸗ 
dem er ihn vör geraumer Zeit in Ephejus gelaffen hat und nad 
Makedonien gereift war (1Xim. 1, 3). Die Ercommunication wird 
deıngemäß an einem der auf der Neiferoute von Ephefus nad Ma⸗ 
fedonten gelegenen Orte ober in Makedonien ſelbſt gefchehen jein. 
Iſt es nun ein bloßer Zufall, daß eine der Hauptftationen bdiejer 
Monte Troas war (vgl. Apg. 20) und daß, wenn nicht alles trügt, 
der Alerander des zweiten Briefe in Troas zu fuchen ift? 

Man verzeihe mir biefen nothwendigen Abftecher in den erften 
Brief; er wird vielleicht dazu dienen, meine Behauptung, daß 
Alexander der Schmied es bewirkt habe, daß Paulus Mantel und 
Bücher in Troad zurüclaffen mußte, als annehmbar zu erweifen. 
Erboft auf Paulus wegen feiner Exrcommunication, fonnte es dem 
Alerander nicht Schwer werben, durch feinen heftigen Widerfpruch gegn 
die Predigt des aus Makedonien zurücgelehrten Apoftele (1 Zi. 
3, 14) eine von den Scenen zumege zu bringen, die ſich in dee 
Apoftels Leben fo oft abgejpielt haben und die nur deshalb Tür 


Ueber bie perfönlichen Notizen im zweiten Briefe an Timotheus. 597 


ihn nicht tödlich außliefen, weil er fich feinen Verfolgern durch 
die Flucht entzog (vgl. 2 Tim. 3, 11f.). In der Eile einer Flucht 
aus Troas blieben Mantel und Bücher bei Karpus. Nur fo kann 
ih mir B. 13, den auffallenden Uebergang zu ®. 14 und ®. 15 
jelbft erflären '). 

Aber macht nicht eine folche Deutung diefer Stelle eine Ge- 
danfenverbindung zwifhen V. 14f. und V. 16 ganz unmöglich? 
Was hat jene That des Alerander mit der Teigheit der Freunde 
Pauli bei Gelegenheit ber erften ihn betreffenden Gerichtsverhand⸗ 
fung zu thun? Es ift zu beachten, daß V. 14f. und B. 16 aſyn⸗ 
detiſch nebeneinanderftehen, aber je mit einer Bemerkung ab» 
fchliegen 2), welche anzeigt, daß die Erinnerung an Alexander wie 
an die feigen Freunde das Gemüth des Apoftels ſchmerzlich bewegt. 
3u ©. 14 wurde bereits bemerkt, daß Paulus dem Zimotheus 
feine befonderen Neuigkeiten mittheilen wolle, wenn er an Aleranders 
Uebeltbaten erinnert, fondern daß vielmehr, wie jett deutlich ift, 
die durch ein befonderes Erlebnis mit Alexander veranlaßte Bitte 
in V. 13 dem Apoftel die Greigniffe in das Gedächtnis zurückrufe, 
deren verſtimmende Gewalt fich in dem Ausruf: „Viel hat mir 
Alexander zuleide gethan; der Herr wird ihm vergelten nach feinen 
Werfen!” offenbart. Wenn fih nun an biefen Sat ein anderer 
mit ähnlichem Auslaut anreiht, fo ift Har, die Gleichheit ober Aehn⸗ 
fichfeit der niederdrücenden Erfahrungen, welche der Apoftel bei 
Alerander und bei feinen Freunden in Rom gemadt Hatte, ver- 
knüpft diefe zwei an ſich vielleicht gegeneinander völlig gleichgüftigen 
Ereigniſſe. Die fchmerzlich bewegte Rede verfchmäht aber bie 
logiſchen Bindewörter. Erkennt man dieſes Verhältnis der BVerfe 
14—16 zu einander nicht, jo wird man, wenn man ſich überhaupt 


1) Nach Hebr. 13, 23 ift Timotheus eben erft aus einer Gefangenfchaft frei- 
gelommen und beabfichtigt, wenn der Brief wirklich nach Rom gerichtet 
ift, eben dorthin zu kommen. Der Brief kann nicht lange nach Pauli 
Tode gefchrieben fein. Sollte Timotheus trotz des Apofteld Warnung 
zu Troas in Haft gefommen fein und Paulus den geliebten Sohn ver- 
geblich erwartet haben ? 

2) B. 14: anodwas avrö 6 xugiog xare rd Eoya adtoü; V. 16: un 
avrois Aoyıadeln. 


598 Spitta 


fragt 1), ob denn fein Gedanke die verbindungslos nebeneinander: 
geftellten Säte verfnüpfe, die unberechtigte Forderung ftellen, die 
in B. 14f. und V. 16 berichteten Ereigniffe müffen in einem ob» 
jectiven Berhältniffe zu einander ftehen. Habe id; das Berhältnis 
dieſer Verſe zu einander richtig beftimmt, fo erhebt fich die Frage: 
Sind die Empfindungen, welche jene beiden Erlebniffe bei Paulus 
hervorgerufen haben, fo gleichartig, daß die Erinnerung an das eine 
die an das andere zur Folge haben konnte? Der Wortlaut der 
Berfe läßt es vermuthen, die Erklärung, welche man ihnen zu 
Theil werden läßt, nicht. Man glaubt, B. 17 ſchließe ſich eng 
an ®. 16, fo daß man beide etwa umfchreiben könnte: „Dei meiner 
eriten Apologie hat mid) zwar feiner meiner Freunde unterftügt, 
aber durch Gottes Beiftand bin ich doch errettet.” Allein gegen 
jene Erffärung habe ich fchon im voraus ein pfychologifches Be⸗ 
denken. Hatte fih das Geſchick Pauli tro der Feigheit feiner 
Freunde zum guten gewandt, fo mußte fich die gerechte Entrüftung, 
die ihn ergriffen Haben wird, als er fih in der Gerichtsverfamm- 
lung von allen verlaffen fah, gelegt oder doch gemäßigt haben; ber 
Dank gegen Gott mußte den Tadel über die verzeihlihe Schwäche 
der Freunde lindern. Das iſt aber nicht der Wall, da Ddiefer 
Tadel nicht etwa gegen die Schuldigen, fondern gegen einen Un⸗ 
betheiligten, nicht mündlich, fondern brieflih, nicht mild und ent: 
Ichuldigend, fondern in unabdgeftumpfter Erregung herausbricht. 
Wer nicht aus dem emphatijch wiederholten Gedanken: „Keiner 
hat mir beigeftanden, alle haben mich verlaſſen“, den ungebrochenen 
Schmerz des Apoſtels Herausfühlt, dem könnte es das un avrois 
koyıodsin jagen — Worte, aus denen nicht bloß vergebende Liebe, 
jondern auch frifchefte Entrüftung fpricht; und wer aus allen dieſen 
Worten nicht diefelbe Refignation herausfühlt, die ſich bereits in 
V. 6 ausſprach, dem follte billig aus ®. 18 Mar werben, daß die 
lebensmuthige Stimmung, welche nach ber gängigen Erffärung ber 
Ausfprud xc EgvoInV Ex oronarog Asorros (B. 17) athmet, 
ebenfo widerfinnig ift, als das an verjchiedenen Stellen des Briefes 
entdeckte Beftreben des Paulus, Entlaftungszengen zu gewinnen, 


1) Bei Huther vermißt man ſolche Fragen nur zu fehr. 





Ueber die perfünfichen Notizen im zweiten Briefe an Timotheus. 599 


eine noch nicht bis zu bloßer Wahrfcheinlichkeit erhobene Vermu⸗ 
thung. — Nur wenn man V. 16 nicht durch ein unbewieſenes 
Verhältnis zu V. 17 abfhwäht und umbeutet, Tiegt fein Inhalt 
für Paulus auf der gleichen Empfindungshöhe wie der mit der 
Drohung anodwosı auro 6 xUglos xara va Eoya adrov ab» 
Ichliegende Sat. Es fragt fid) aber noch, ob jene durch die Er- 
eigniffe mit Alexander und den Freunden in Rom hervorgerufenen 
Empfindungen einander fo ähnlich find, daß das Wuftauchen ber 
einen das der anderen nad; fich ziehen Tonnte. Wäre der Alerander 
des zweiten Tim.⸗Briefes Fein Mitglied der chriftlichen Gemeinde 
gewefen !), fo würden für Paulus feine Webelthaten in die Reihe 
der vielen anderen zurücgefunfen fein, die er Zeit feines Lebens 
erfahren und mit Gottes Hülfe überftanden Hatte (vgl. 3, 11). 
War dagegen Alexander ein früheres Glied der chriftlichen Ge⸗ 
meinde, das, vom Glauben abgefallen, den Apoftel bitter befeindete, 
jo hat der Schmerz hierüber allerdings eine gewiſſe Verwandtſchaft 
mit den durch die Treulofigkeit der Freunde in Nom bervorgeru- 
fenen Empfindungen. Allein auch das genügt noch nicht, um den 
Mebergang zu V. 16 verftändlich zu machen. 1, 15—18 finden 
fih Worte, die von ganz ähnlicher Empfindung getragen find als 
die vorliegenden. Dem treuen Onefiphorus, dem ber Apoftel 
Sotted Erbarımen erfleht, treten gegenüber zzavres ol Ev vi) Ace, 
av Eoriv Diyslos xal Eowoysvns, die fih von Paulus abge- 
wandt haben. Beachtet man nun, daß des Alexander Genoffe aus 
1Tim. 1, 20, Hymenäus, 2Tim. 2, 17 mit einem gewiffen 
Philetns aus einer größeren Anzahl ſolcher nambaft gemacht wird, 
die im Anfturm gegen die chriftliche Wahrheit immer mehr Boden 
gewinnen, fo kann man faum zweifeln, daß auch Alexander unter 
den nicht genannten Häretifern einen Pla gehabt habe. Daß er 
nicht mit Hymenäus zufammen genannt wird, dürfte wol darin 
feinen Grund haben, daß dem Paulus die Nachricht von der Leug⸗ 
nung der Zodtenauferftehung in den Gemeinden Afiens mit den 
Namen des Hymenäus und Philetus als Prediger diefer neuen 
Lehre Üüberbracht war. Damit hätte ich allerdings zum Theil bie 


1) Bleel a. ca D., ©. 573. 


600 Spitta 


Reflerionen wiederholt, welche den unbelannten Verfaffer des erjten 
Tim.⸗Briefes dazu veranlaßt haben follen, den Schmied in einen 
Irrlehrer zu verwandeln. Aber wenn der Balfator ein paar Irr⸗ 
lehrer in feinem Briefe haben wollte, jo ift e8 doch rein unver: 
ftändlih, weshalb er nicht zu Hymenäus und Philetus griff, ans 
ftatt zu erfterem den Alexander Hinzuzufuchen. Und wenn ein Mis—⸗ 
verftändnie von 4, 14f. begreiflih ift, fo ift e8 doch am Leichteften 
das, daß der Widerftand des Schmiedes gegen die Worte Bauli 
in Form eines „ſchlagenden“ Beweiſes ftattgefunden habe. Daß übri- 
gens der Beruf des Schmiedes den Alexander nicht daran gehindert 
hat, auch als Irrlehrer aufzutreten, beweifen die Worte Kav arr- 
gaın Tols nueregoss Aoyoss ſo unzweifelhaft, dag man ale 
Grund für die Annahme jenes Misverftändniffes, wenn diefelbe 
nicht durch Bleeks verehrungswürdigen Namen gefhügt wäre, die 
Sucht nad) Widerfprüchen zwijchen den beiden Timotheusbriefen 
bezeichnen müßte. Alexander gehört auch im zweiten Brief unter 
die Häretifer. Wenn nun 1, 15 davon die Rede ift, daß fich viele von 
Paulus, d. h. dem Zufammenhange gemäß von feiner Lehre abger 
wandt haben, jo ift Hiefür der Grund in dem Zreiben der aſia— 
tiſchen Häretifer zu fuchen, deren Erftling nah 1Tim. 1, 20 
Alerander nebjt Hymenäus war. Wie Baulus unter jenem Abfalle 
fitt, zeigt der in feiner Frageform tief ergreifende Sat 2 Tim. 
1, 15. Was wunder, daß Paulus, an den Alexander erinnert, 
in einen Klageruf ausbricht und dem Verftörer der chriftlichen Ge⸗ 
meinde Gottes Gericht ankündigt (vgl. Sal. 5, 10. 12); daß er 
von der Zreulofigkeit feiner ehemaligen Anhänger in Aſien zu der 
Feigheit feiner Freunde in Nom, die nichts gethan haben, ihm zu 
retten, die trüben Gedanken fchmweifen Täßt. 

Diefe Erklärung des Zufammenhanges von V. 14—16 mird 
das Urtheil derer gegen ſich haben, die in diefen Verſen nach Feinem 
Zufammenhange fragen und fich erſt durch das de in V. 17 au 
merffam machen laffen, daß dod) wenigitens V. 16 und B. 17 in 
einem Verhältnig zu einander ftehen, deffen Bedeutung für den 
Gedankencomplex B. 14—16 ihnen natürlich unflar bleiben muß. 
Ebenſo werden die, welche zwifchen den V. 14f. u. 16 berichteten 
Thatfachen einen obfectiven Zuſammenhang glauben nachweifen zu 








Ueber die perfönlichen Notizen im zweiten Briefe an Timotheus. 601 


können, V. 17 auf das zulett berichtete Ereignis beziehen. Es iſt 
nun zu unterfuchen, ob fih V. 17 wirklih zu einer Ergänzung 
von V. 16 eigne oder nidt. Der Entjcheid Hierüber wird das 
Urtheil über meine Auffaffung des Zufammenhanges in V. 14—16 
fein. — Huther u. a. erflären ®. 17 dahin, dag fi) Gott des 
verlaffen vor Gericht ftehenden Apoftels angenommen habe, fo daß 
diefer, von freudiger Zuverficht erfüllt, vor der corona populi ein 
Zeugnis von Chrifto ablegen konnte, das eine derartige Wirkung 
hatte, daß Paulus, wenngleich nicht aus der Haft befreit, fo doch 
bom Tode errettet wurde. Daß bei biefer Erklärung der ganze 
V. 17, mit Ausnahme des erjten Gliedes, umgedeutet, reſp. ab» 
gefhwächt werden muß, Tiegt auf ber Hand; die Worte ira di’ 
EHOÖ TO xYgvyua TrÄNGOYOENIT xal AxoVowoıy Travıe Ta 
EIvn werden mit einem Leichtfinn gedeutet, der aus allem alles 
machen kann. Theodoret, der in feiner unrichtigen Deutung diefer 
Stelle an Otto einen halben Nachahmer gefunden hat, gibt der 
Empfindung, dag fi jene Worte nicht durch Annahme einer Ver—⸗ 
teidigungsrede vor Gericht erklären laſſen, einen deutlichen Aus⸗ 
drud, indem er biejelben auf des Apoſtels Reife nah Spanien 
deutet 2), nachdem bereits Eufebius die Stelle ähnlich erflärt hatte 3); 
und der unbeftechlihe de Wette gefteht: „Den vollen und natürs 
fihen Sinn faffen allein Theodoret u. a., welche dabei an bie Ver: 
breitung des Evangeliums durch den Apoftel in Spanien und ander» 


1) Die gefchichtlichen Verhältniſſe ber Paftoralbriefe. 

2) Hrlxa ij Epeası yonaduevos sis rıv 'Polunv Uno Tod Diorov nap- 
entupsn, anoAoyıcdusvos (lege dnnoAoygodusvos) ws aIüos apeldy 
xal ras Znavias xareiaßs xal sic Erepa 59yn doaumv Tnv rijç di- 
daoxallas Anundda nposhveyxe. nooenw volvuv anokoylav rim &v 
&xslvg tij &xdnulg yeyernukunv Exaisos, 

8) Bgl. Hist. eccl. I, 22. — Eufebius findet in V. 16f. bie Befreiung 
bes Apoſtels aus der erften römiſchen Gefangenihaft und eine Wieber- 
aufnahme feines Eoangeliftenberufes, wie die Kunde davon geht, beftätigt. 
Er fomol wie Theodoret deuten B. 17 auf feine Errettung aus dem 
Rachen des Löwen Nero. Diefe Erklärung von ®. 16 u. 17 wird von 
einer noch größeren pfychologiichen Schwierigkeit gedrüdt, als die, welche 
ich bei der gewöhnlichen Deutung biefer Berfe aufgezeigt habe. Daß ſich 
B. 16 anf eine erfte Gerichtsverhandlung des jetst noch ſchwebenden 
Proceffes beziehen müſſe, behaupten die neueren Ausleger mit Grund. 


602 Spitta 


wärts denken.” Und doc deutet er die Worte auf Pauli Predigt 
in Rom, anftatt eine ungelöfte Schwierigleit anzuerkennen. Hu: 
ther erhebt mit Recht Widerfprud) gegen de Wette's Abſchwächung 
des rÄNPOYogElV To xijgvyua zu einem einfachen edayyekite- 
03as 1), meint aber, obwol er eine zweite Gefangenfhaft annimmt, 
Baufus habe das 'xnovyua von Chrifto bereits durch die Predigt 
in Rom erfüllt, und ſcheut fich nicht mavra« va EI9n durch „alled 
Bolt“ zu überfegen und von der corona populi in der Geridt® 
verhandlung zu verftehen. Gegen eine ſolche Eregefe hat Hoi: 
mann mit Recht Einfpradhe erhoben, aber leider eine Anficht vor: 
getragen, welcher Huther nur widerfprechen konnte. Gr meint 
nämlich, e8 handle fid) in V. 17 um eine Vollendung des xrovyua 
nicht direct, fondern indirect duch Paulus, der, wenn ihm vor 
Gericht der freudige Glaubensmuth gefehlt Hätte, feinem eigenen 
Werke den Todesſtoß gegeben haben würde und deshalb die Er- 
rettung aus jener Gefahr eine Errettung aus Löwenrachen nennt. 
Allein chon die Wahl des Bildes Egvodnv Ex orouazog Asor- 
ros hätte Hofmann veranlajfen können, die Richtigkeit feiner Er- 
flärung zu bezweifeln. Mir erfcheint bei Annahme der Hof 
mann'ſchen Deutung dasfelbe al8 wenig paffend gewählt. Nir: 
gends wird, foviel ih weiß, die verfuchende Macht, wenn fie mie 
bier als ein innerer Vorgang gedadht ift, unter ſolchem Bilde vor: 
geftellt. In der naheliegenden Parallele 1 Betr. 5, Sf. wird ale 
das die Ehriften erſchreckende Brüllen bes Teufel-Röwen das Leiden 
bezeichnet, welches ihnen droht und fie zum Abfall bewegen kann. 
Anders ift es Hier, wo nicht die Befreiung aus ber Rage, welde 
die Verſuchung veranlagt, fondern die Befreiung von der Ber: 
ſuchung in jener Lage mit dodgodnv 8x ordumrog Asowroc be 
zeichnet würde. Es kann mit diefen Worten nur auf Errettung 


I) In feiner dev von de Wette angezogenen Stellen hat nAngopogei», reir. 
zAngoö» die von ihm geforderte Bedeutung. Röm. 15, 19 beweift das 
directe Gegentheil, da e8 eine unmisverſtändliche Erflärung an B. 25: 
yur) unzeıs ıonov Eywv Ey Tois xAluccıy rovrois, hat. Es folgt 
aus diefem Eitate, daß der durch Feine Tocale Näherbeftimmung einge 
ſchränkte Sat ira di’ Euoü To xyeuyua nAngopopndg feine Ergänzum 
findet an dem uneingejchräuften navre va E3vn des Parallelſatzes. 











Ueber die perfönlichen Notizen im zweiten Briefe an Timothens. 6083 


and Lebensgefahr hingewieſen fein !). me zwifchen beiden Auf⸗ 
faffungen vermittelnde Deutung, wie fie Huther feit der 3. Auf- 
lage feines Commentars vertritt, ſtellt nicht bloß fein erträglicheres 
Verhältnis zwifchen 8. 17 und ®. 18 ber, fondern läßt auch ebenfo 
wie die Hofmanns auf den Apoftel ein bedenkliches Licht 
fallen. Er, der dem Tode fchon fo oft ins Angeficht gefehen, ber 
e8 gewohnt war in der Volksverſammlung wie vor den Herrjchern 
zu reden, der nach der Negel ei aovnodusde, xaxeivog agvnoe- 
var nuäs, ftreng gegen fich felbft wandelte und deshalb ſchließlich 
auf ein Leben zurückblicken konnte, das für die Verwirklichung feiner 
fühnen Pläne ansgereicht hatte ?), — ein folcher hätte in die Lage 
fommen fünnen, Tebiglih aus Furcht vor äußerer Gefahr feinen 
Glauben zu verleugnen ®) oder doch durch Muthlofigkeit der Zuver⸗ 
ficht, daß die Völferwelt berufen fei, Gemeinde Chrifti zu werden, 
den Nero zu durchfchneiden? Mir erjcheint foldhe Annahme, bie 
nicht durch die leifefte Andeutung im Texte veranlaßt ift, ganz uns 
möglid. Wenn nur ein folcher Paulus der eregetifchen Noth über 
B. 17 ein Ende maden Tann, damı ift e8 entweder mit der Echtheit 
des zweiten Tim.Briefes oder mit der Erflärung von 4, 17 ſchlecht 
beftellt. Der Brief giebt indes ein ganz anderes Bild vom Apoftel. 
Wenn mir der Beweis gelungen ift, daß V. 16 mit V. 14f. 
durch die in beiden gleiche fchmerzliche Stimmung verknüpft ift; 
wenn ich ferner nachgewiefen habe, daß eine Beziehung von 
B. 17f. auf die erfte Geridhtsverhandlung unmöglich ift, fo kann 
man über die richtige Beurthellung von V. 17f. nicht mehr zweifel- 
haft fein. V. 17 fteht ebenfo wenig in objectivem Zuſammen⸗ 
hange mit ®. 16, mie B. 16 mit V. 14f., fondern ftellt fich dem 
von gleicher Stimmung getragenen Abfchnitte V. 14—16 als von 
entgegengefegter Stimmung beherricht mit de gegenüber. Nachdem 
Paulus in V. 14—16 feinen fchmerzlichen Gefühlen über den 
Abfall feiner Anhänger in Afien, dem er nicht entgegentreten, und 
iiber die Feigheit feiner Freunde in Rom, deren Folgen er nicht 


1) Bol. 1Macc. 2, 60 (Dan. 6, 21); LXX Bf. 7, 2f. LKor. 15, 32. 
Ignatius ad Rom. V, 1. 

2) Hofmann und Huther urtheilen wenigftens fo. 

3) So Bahnen a. a. O., ©. 107. 


604 Spitta 


wieder gutimachen konnte, Ausdruc gegeben hat, gewinnt er als vno- 
uoviç usyıoros Urroypaumos wieder den vertrauenspollen Auf 
bli zu dem Herrn, dem fein Herz gehört (vgl. 4, 8). Ein Rück⸗ 
blick auf das unter der Leitung dieſes Herrn geführte Leben macht 
ihn getroft. Nur bie Thatfache, baß der Herr dem Apoftel beige: 
ftanden und Kraft verliehen Hat, betont V. 17, nit, daß er dies 
bei einer befonderen ©elegenheit gethan. Welchem ein: 
zelnen Ereigniſſe hätte Paulus auch wol die Bedeutung zufchreiben 
können, daß Gott ihm durch dasfelbe die Möglichkeit gefchaffen Habe, 
aller Welt das Evangelium zu verfündigen? Drohte nicht jede 
Lebensgefahr, in welcher er ſich befand, diefe Möglichkeit zu ver- 
nichten? Ein göttlicher Beiftand zum Zwede der Vollendung der 
Predigt unter allen Völkern war ihm beftändig vonnöthen (vgl. 
3, 11); und nicht minder eine Begabung mit der für eine glüd- 
fihe Durdführung feines Berufes nöthigen Kraft. Sollte der 
Apoftel mit Evsduvauwoev me auf eine andere Kraftmittheilung 
hinweifen, al® auf die, für welche er 1Xim. 1, 12 dem Geber 
danft und an welche er 2Tim. 1, 7. 8. 2, 1 den tn feinem Be 
rufe Täßig gewordenen Timothens erinnert?!) Nur bei dieſer 
Faſſung von V. 17* erklärt ſich auch der Webergang von den ac 
tivifchen Verben in das Paffiv Eodadnv. Während die Worte 
0 dd xUpidg Mor napsoın xal Evsdvvanmosv ns von ber 
Unterftügung berichten, welche der Herr dem Apoftel hat zu Theil 
werden laſſen, fo Egvodnv Ex orouaros Asovros von einer 
höchſt wunderbaren Errettung. Dort liegt der Ton auf dem Sub: 
jecte de8 Satzes, hier auf ber präpofitionalen Näherbeftimmung des 
Verbs. Es entjteht nun die Frage, ob die Worte Egdadnv Ex 
orönarog Asovros auf ein befondered Ereignis hinweiſen, worin 
fi dem Apoftel der Beiftand des Herrn geoffenbart Habe. Der 
Ausdrud ift fo allgemein, daß er auf jede Lebensgefahr paßt, die 
der Apoftel erfahren hat; außerdem erfcheint er als Folge einer 
ebeufall® ganz allgemeinen Ausfage. Wenn aber der Apoftel, nad 
dem er des göttlichen Beiftandes gedacht hat, der ihm Zeit feine 
Lebens nicht gefehlt, ausruft: „Und aus Löwenrachen bin ich geriffen“, 








1) Bgl. auch Tit. 1, 9. Apg. 9, 22. 





Ueber die perfönlichen Notizen im zweiten Briefe an Timotheus. 605 


fo gibt er damit der durch feine Lebenserfahrungen geweckten 
Stimmung von ber Wunderbarkeit des göttlichen Beiſtandes, der 
ſich felbit da bewährt hat, wo jede Möglichkeit einer Errettung ger 
ſchwunden zu fein ſchien, wie bet einem, der im Löwenrachen fteckt, 
einen ebenfo kurzen wie lebhaften Ausdrud. Alſo niht auf ein 
befonderes Ereignis zielen jene Worte, wie man allerdings allge 
mein annimmt; fie bieten vielmehr das ganz allgemeine Urtheil, daß 
fi) Gottes Hülfreicher Beiſtand dem Apoftel felbft in dem denkbar 
ſchwierigſten Falle bewährt habe. Erft bei diefer Auffafjung wird 
der Anfchluß von V. 18 an V. 17 deutlih. Denn nicht Nefig- 
nation ift e8, wie es die gängige Erklärung dieſes Verſes troß 
aller ausweichenden Behauptungen auffaffen muß, wenn der Apoftel 
fortfährt: EVossal us 0 xUgios Anno navros Eoyov TOovng0Ö, 
fondern ungebrochene Glaubenszuverſicht, wie fie der haben kann, 
der die rettende Nähe des Herrn allewege erfahren Hat. Wie 
fonnte der Apoftel aus einer Errettung and Lebensgefahr, der er 
fih nur mit der fiheren Ausficht auf den nahen Tod freuen konnte, 
jene Slaubenszuverfiht ſchöpfen? 

Nicht als Folge, fondern als Abficht des göttlichen Beiftandes 
bezeichnet Paulus die Vollendung des xnevyua von Chriftus, das 
Lautwerben besfelben unter allen Völkern. Aber diefe Abficht kann 
von dem Apoftel nur als ausgeführt gedacht fein. Wie würde er 
fonft in einem Sage, mit dem er fchmerzlichen Reflexionen ent- 
gegentritt, auf einen von Gott nicht erreichten Zweck eingehend hin⸗ 
weifen. Wären nicht mit ber Erinnerung hieran dem Apoftel 
wieder jchmerzlihe Empfindungen aufgetaucht? Um hervorzuheben, 
dag Gott ſich ihm beftändig als Helfer bewiefen babe, bedurfte es 
jenes Abjichtsfages nicht. Seine Anwendung an biefer Stelle zeigt 
deshalb nicht bloß, dag jener Zwed Gottes erreicht, fondern aud) 
daß mit der Erreichung desfelben dem Apoftel ein großes Glück zu 
Theil geworden iſt. Weshalb will man nun nicht die Worte va 
di’ End TO xmovyua TÄNEOYPOENIT zul axovowoıw navıa 
ra &3vn jagen lafjen, was fie jagen? Als der Apoftel einft an 
die Gemeinde fchrieb, bie ihn fterben ſehen follte, konnte er berichten, 
daß er den Orient mit feiner Predigt erfüllt Habe, immer denen 
das Evangelium bringend, zu denen andere Sendboten Chrifti noch 


606 Spitta 


nit gelommen waren, nun aber in den Dccident nad Spanien 
reifen wolle ?) und bei diefer Gelegenheit auch Nom ale Durd- 
gangspunkt berügren 2). Hätte er vom Deceident nur Rom und 
diefes nur als Gefangener gefehen, er hätte fo gewiß nicht von einer 
Bollendung des znevyue ſprechen können, als er ja nur an einem 
Orte des Abendlandes das Evangelium verkündigt hätte, wo bereits 
eine chriftliche Gemeinde gegründet war, ben er alſo in feinen 
Miffionsplan nicht einmal mit aufgenommen hatte. Er kann nur 
dann don einer Vollendung des angvyua fprechen, wenn feine 
Miffionspredigt auch an folhen Stätten des Abendlandes Taut ge 
worden ift, wo bisher noch Feine chriftlichen Gemeinden waren, und 
wenn diefelbe wirklich fo weit gebrungen ift, baß gegen den Aus⸗ 
drud navsa va E37 axovowow, natürlich unter gebürender 
DBerüdfichtigung der geographifchen Anfchauungen jener Zeit, nicht 
ber Vorwurf ſtarker Webertreibung erhoben werden kann. Das ift 
aber dann der Fall, wenn er felbit feinen Plan, nad Spanien zu 
reifen, ausgeführt und feine Genoſſen Crescens und Zitus nad) 
Gallien und Dalmatien gefchict Kat. 

Was konnte den Apoftel im Angefichte des Todes und im bem 
tiefen Weh, das ihn, dem Selbitlojen, Feindſchaft und Eigenſucht 
ſolcher, die ihm einft nahegeftanden, bereitet Hatten, beſſer tröften 
als ein Rückblick auf die Onadenerweifungen des Deren, deilen 
Wort; axsvog Exloyis dariv mos oVrog sod Pacradas 10 
Ovauc nov Evanıav EIvmv ve xal Bacılsov viov vs Taganı 
&yo yap anodsiko aura, Hoa dei ausov Undo vo Ovopasdc 
pov nadsiv (Upg. 9, 15f.), fich in jeder Beziehung vollftändig 
erfüllt Hatte? Derjelbe Herr, der einft fein Beiftand war, ift ihm 
auch jet nah; und fo weiß er, daß der fichere Tod ihm nur eine 
Errettung in das himmliſche Königreich Ehrifti ift. Deshalb kann 
der Abfchnitt V. 14—18, der mit einem Klageruf über die fchmerz- 
lihen Erfahrungen dieſes vergänglichen Lebens begounen hatte, mit 


1) Röm. 15, 19 ff. 

2) Hienach ift die Anficht derer zu beurtheifen, die kühn genug find zur be⸗ 
banpten, die Ausdrüde in V. 17 kämen zu ihrem Rechte, wenn man fie 
auf Pauli Predigt in Rom beute. 














Ueber die perfönfichen Notizen im zweiten Briefe an Zimothene. 607 


einem Lobpreis auf den zu ewiger Herrlichkeit erhöhten Herrn ber 
Gemeinde ) fchließen, mit deffen Pefite dem Apoftel ungerftörbares 
Leben verbürgt ift (vgl. 1, 1). 

Damit bin ib gu Ende meiner Grörterungen apgelommen. 
Denn über die Namen in 1, 5. 15. 2, 17. 4, 21 weiß ic) nichts 
zu fangen, ala daß der etwaige Falſator klüger gethan hätte, mehr 
als einen auch fonft bekannten Namen für feine fingirten Geſchichts⸗ 
verhältniffe zu benugen. Aber er ahnte wol nicht, daß fpätere 
Lejer feines Briefes darin feinen bejonderen Beruf zum Falfator 
erkennen würden. 

Meine Hoffnung, bei denen, melde den ganzen Brief ober 
wenigſtens die perfönlichen Notizen in bemfelben für echt Halten, 
ein gemeigte® Ohr zu finden, ift mir im Laufe der Unterfuchung 
mehr und mehr geſchwunden. Denn diefe Hat mich zu der bes 
ſtimmten Behauptung geführt, eine Reife Paufi nah Spanien 
zwifchen feinen beiden Gefangenjchaften werbe durch feinen eigenen 
Bericht verbürgt. ‘Diefg bereits vom römiſchen Clemens, wie mir 
Icheint, dentlich ausgeſprochene Anſicht ift aber noch immer für viele, 
Kritifer wie Apologeten, ein oxAngos Aoyos. 

1) Es darf bei dieſer Gelegenheit auf die Nichtigkeit der Behauptung auf- 
merffam gemacht werben, im 2. Tim.-Briefe trete an die Stelle ber pau⸗ 
linifchen zagovale der Begriff Erıipavsıe. 1,10 kann ſich felbftverftändlich. 
nur auf die erfte Erſcheinung Ehrifti beziehen. 4, 1 u. 8 hat dagegen 
Errupevesa den Sinn, der ihm 3. B. Josephus, Ant. VI, 12, 7; IX, 
4, 4. 2 Macc. 12, 22. 15, 27 zulommt und nicht minder in ber durch⸗ 
gängig falſch erklärten Stelle 2Theſſ. 2, 8. Nur fo hebt fih 4, 8 die 
in 7yanrnxooıv Tiegende Schwierigkeit (vgl. zum Ausdrud 2 Betr. 1, 17: 
Uno ris ueyakongsnoüs dofns; zum Gedanken Jak. 1, 12), und nur 
fo erflärt fi in 4, 1 die unverfländliche Reihenfolge ber Begriffe xoloıs, 
Enupdvan, Baordele. Zu letzterer Stelle bieten die leider nur noch äthio- 
piſch erhaltenen Worte Henod 103, 1: „Und nun ſchwöre ich euch, ben 
Gerechten, bei feiner großen Herrlichleit und Ehre und bei jeigem ruhm⸗ 
würdigen Reiche und bei feiner Größe ſchwöre uh euch“ (Dillmann), eine 
vortrefflihe Parallele. 


608 Schürer 


8. ’ 
Der Verſammlungsort des großen Synedrinms. 


Ein Beitrag zur Topographie des berodianifchen 
Tempels. Ä 


Bon 


Dr. $. Schũrer, 


Profefior in Leipzig. 





Ueber den Ort, an welchem das große Synedrium zu Jeru⸗ 
falem in der letzten Zeit des Tempelbeſtandes fi zu verfammeln 
pflegte, haben wir aus vier verfchiedenen Quellen: dem N. T. Jo⸗ 
fephus, ber Mifchna und der Gemara, eine Reihe detaillirter 
Angaben, die gerade durch die bunte Manigfaltigkeit, die fe zunächft 
darbieten, zu dem Verſuch reizen, womöglid Ordnung in diefes 
Chaos zu bringen und durch Feſtſtellung des Sicheren, Ausſcheidung 
des Unglaubwürdigen und Vereinigung des Zuſammenſtimmenden 
eine einheitliche Anſchauung zu gewinnen. Bon den bisherigen Lö⸗ 
fungsverfuchen wird man nicht gerade jagen können, daß fie be 
friedigend ausgefallen fein ). Sie konnten e8 aber auch nicht, 
weil man zu wenig auf die fehr verfchiedene Zuverläffigfeit der 
einzelnen Quellen geachtet Hat. Die folgende Erörterung fucht 
daher hauptfächlih auf Grund einer ſolchen Scheidung zu einem 
fiheren Reſultate zu gelangen. 








1) ®gl. Selden, Desynedrüs L. II, cap. 15, $ 4sqq. (P. II, p. 373 sqg. 
ed. Amstelaed. 1679). — Lightfoot, Descr. templi, cap. IX n. 
XXI (Opp. ed. Roterod. 1686, T. I, p. 565. 608). — Serzfeld, 
Sei. des Volkes Jisrael II, 393—395. — Leyrer in Herzogs Real.- 
Enec. (1. Aufl.) XV, 318f. — Derenbourg, Histoire de la Pa- 
lestine d’aprös les Thalmuds etc., p. 465—468. — Wiefeler, Bei- 
träge zur richtigen Würdigung der Evangelien, S. 209—213. — Hane- 
berg, Die religiöfen. Atertiiner ber Bibel, S. 820-328. 381ff. — 
Meine Neuteftamentliche Zeitgefchichte, S. 416f. 








Der Berfammlungsort des großen Synedriums,. 609 


Das N, X. würde neben Joſephus als Quelle erften Ranges 
,„ in Betradht kommen, wenn es fi in dem Proceß Jeſu überhaupt 
um reguläre Spynedrialfigungen handelte. Dies ift aber, ſoviel 
wir beurtheilen Lönmen, nicht der Fall. Denn wenn auch bie 
Sitzung, in welcher Jeſus verurtheilt wurde, in fo fern eine regel- 
mäßige war, als darin von dem verfammelten Synedrium ein for- 
melles Urtheil gefprochen wurde, fo wurde doch die ganze Sache 
von den Machthabern mit folder Haft betrieben, dag wir mins 
beitens feine Gewähr dafür haben, daß hiebei auch die gewöhnlichen 
Tormen beobachtet wurden. Wenn wir alfo bier hören, daß fich 
das Synedrium in dem Palaſt (der aid) des Hohenprieftere 
verfammelte (Matth. 26, 3. 57 ff. Mark. 14, 53ff. Luk. 22, 54 ff. 
%oh. 18, 13fF.), jo werden wir daraus höchſtens folgern, daß es 
fih auch bier verfammeln konnte; nicht aber, daß dies das Ge⸗ 
wöhnliche war. Ueberdies ſchwinden die feheinbar wiederholten 
Berfammlungen in dem Palaft bes Hohenpriefters bei 
näherer Betrachtung auf eine, und zwar eine nächtliche, zufammen. 
Denn in Betreff der Vorberathung, welche Matthäus (26, 3) in 
der avi) des Hohenpriefters ftattfinden Täßt, ift die Localangabe 
lediglich Zuſatz diefes Evangeliften, wie fich aus VBergleichung von 
Mark. 14,1. Luk. 22, 2 ergiebt (f. Wei, Das Markusevangelium, 
S. 438). Bei Zul. 22, baff. handelt es ſich aber, wie bei Joh. 
18, 13ff. nidt um eine Synedrialfigung, fondern nur um ein 
Berhör vor dem Hohenpriefter, welches Lukas in wejentlicher Ueber- 
einftimmung mit Johannes ber eigentlichen Synedrialfigung (Luk. 
22, 66) vorausgehen Läßt (vgl. Beyſchlag, Stud. u. Krit. 1874, 
©. 707 ff.). Es bleibt fomit nur die eine nächtliche Synebrial- 
figung, die allerdings im Balafte des regierenden Hobenpriefters 
ftattgefunden hat (Mark. 14, 53ff. Matth. 26, 57ff.). Aber 
diefe fand zu jo ungewöhnlicher Stunde — noch vor ber Zeit des 
erften Hahnenſchrei's — ftatt, dag wir bei ihr gewiß feine Be⸗ 
obachtung der gewöhnlichen Sitte vorausfegen dürfen), Handelt 


1) Nach Keim (Gefchichte Jeſu LIT, 345ff.; dritte Bearbeitung S. 818 ff.) 
würde auf Grumd von Marl. 15, 1. Matth. 27, 1 noch eine zweite 
Berfammlung, ein „Morgeniynebrium”, anzunehmen fein. Mir fcheint 
aber Wei (Markusevangelium, S. 484—486; Matthäusen., S. 562) 

Theol. Stub. Jahrg. 1878. 40 


610 Edäter 


es fi alfo darum, den gewöhnlichen VBerjammlungsert zu er- 
mitteln, fo haben wir vom R. 7. überhaupt abzujchen. 

Eine fichere Bafis bietet uns Joſephus, der zweimal (Bell. 
Jud. V, 4, 2 und VI, 6, 3) die Boris) ober das Boslerıngior 
erwähnt; und zwar das erfte Mal in einem Zufammenbang, welder 
uns in den Stand feht, ihre Lage ziemlich genau zu beftimmen. 
Bon hier ift alfo auszugehen, und darnach bie Ueberliefernngen in 
Mifchna und Gemara zu beurteilen. Denn darüber follte man 
fih doch Har fein, daß jeden Falld dem Joſephus, auch wenn 
man feine Glaubwürdigkeit gering anfchlägt, vor allen rabbinifdhen 
Ueberlieferungen in folden Dingen der Vorrang gebürt. Nach 
jener Stelle (B. J. V, 4, 2) lag aber bie Bovin in der Nähe 
des fogenannten Kyftos (Svoroc). Died war eine, wahrjchein- 
(ih von Säulengängen umgebene, offene Terrafſe genau an der 
Stelle, wo die Oberftadt durch eine Brüde, welche über dad Ty- 
ropdon führte, mit dem Tempelberge verbamden war. So befchreibt 
Joſephus zu wieberholten Malen ihre Lage. ©. kei. B. J. IL, 
16, 3: ydpvga zo Avorö 16 isgov ovrinsen, überhanpt: 
Antt. XX, 8, 11. Bell. Jud. IV, 9, 12; V, 4, 2; VL 3, 2; 
6, 2; 8, 1. Wir haben uns alfo die Situation fo zu denken, 
daß zwiſchen bem Xyſtos und ber weftlichen Mauer des Tempel 
berges weiter nichts Ing als bie Brüde. Daher nennt Joſephus 
dasjenige Thor des Tempelberges, welches über die Brücke nad 
der Oberjtabt führte, bie vis undg zov Avarov dEe- 
y.odcas (B. J. VI, 3, 2; 6, 2). Unb von einem Thurme, 
den Johannes von Gischala über jenem Thore bed QTempelberges 
erbaute,. fagt er, er fei gebaut gewejen sov Zuorod zadurzegder 
(B. d. IV, 9, 12). Dies muß feſt im. Auge behalten werben, 


im Reihe zu fein, wenn er Matth. 27, 1 nur von einer Schlußberathung 
in derfelben Sitzung, und Dark. 15, 1 nicht einmal von einer folchen, 
fondern nur von einem „Rathſchlag“ verſteht, den. bie Synebriften für 
den Proeurator „in Bereitſchaft hatten“. — Wo übrigens ber Palaſt des 
Kaiphas war, wiſſen wir nit. Sicher ift nur foviel, daß er nicht 
auf der Tempel⸗Area lag, wohin Wiefeler (Beitr. a. a. DO.) mit Be 
vnfimg auf die völlig misverſtandene Stelle Joseph. B. J. VI, 5, 2 ihn 
verlegt. Hier lagen überhaupt keine Brivatpaläfe, auch nicht bie ber 
Hohenprieſter. 








Der Berfammlungsort des großen Synebriums. 611 


um es richtig zu verftehen, wenn Joſephus von der nördlichen 
Stadtmauer B. J. V, 4, 2 fagt, daß fie, beim Hippifusthurme be⸗ 
ginnend und nah dem Xyſtos hin fich erftredend, barauf 
an das Rathhaus fih anfchliegend, an der weftlichen 
Stoa des Tempelberges geenbigt habe (diarsivov drmi 
zov Evorov Asyonevov Eneisa vi Bovin ovvanvov Ent ınv 
sorssgror Tod Isood oroav anmnoritero).. Da nah dem Bis⸗ 
berigen zwifchen dem Xyſtos und der weftlichen Stoa bes Tempel⸗ 
berges nur das tiefe Thal. des Tyropbon ſich befand, und da es 
höchſt unmahrfcheinlih ift, daß ein öffentliches Gebäude wie bie 
BovAn dort unten verfteclt im Thale gelegen habe, fo haben wir 
nur die Wahl, die BovAn; entweder auf den Xyſtos oder auf ben 
Tempelberg zu verlegen. Letzteres verdient aber ohne Frage 
den Vorzug. Denn Joſephus unterfcheibet durch das Erresza den 
Ryſtos und die Bovdr; beutlih als zwei nicht unmittelbar zur 
fammengehörige Localitäten, während das Particip ovvarırov fehr 
wohl fo aufgefaßt werden kann, daß es nur eine nähere Beftimmung. 
zu danmorlLero bildet. Wir werden alfo bie FovAn7 auf dem 
Zempelberge zu fuchen baben, und die Worte des Joſephus 
dahin zu verftehen haben, daß die Stadtmauer, eben indem fie an 
die BovAn ſich anfchloß, an der weſtlichen Stoa des Tempelberges 
endigte. Die Bovin gehörte mit zu der Stoa bed QTempelberges, 
und die Stadtmauer endigte eben an derjenigen Stelle der Stoa, 
wo bie BovAr fich befand. 

Eine genauere Vorftellung von der Situation Täßt ſich bei der 
Dürftigleit des Materials nicht mit Sicherheit gewirmen. Jeden 
Balls wird man bie PovArz nicht ſüdlich, fondern nördlich von ber 
Brücke fih zu denken haben. Denn die Stadtmauer lief doch 
fiher nördlih vom Xyſtos und ber Brücke. Auf derſelben Seite 
möüffen wir daher auch die mit der Stadtmauer zufammenhängende 
Bovin ſuchen. Aber ſchwankend kann man darüber fein, ob die 
Bovin) in die Stoa des Tempelberges hineingebaut war, fo daß 
fie einen integrirenden Beſtandtheil berjelben bildete, ober ob fie 
etwas feitwärts nach der Thalſeite zu an die Stoa angebaut war. 
Tür letzteres könnten zwei Argumente geltend gemacht werben: 
1) Die Worte des Joſephus =) Povij ovvarrov, welche noch 

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612 Schürer 


beſſer motivirt erfcheinen, wenn die Stadtmauer nicht nur mit 
ihrem Ende an die Bovdr; anftieß, fondern längs der Bovir, hin 
Tief. Die letztere Vorftelung gewinnen wir aber nur, wenn wir 
die BovAn als einen Ausbau neben der Mauer der ZTempel-Ston 
uns denfen, fo daß dann die Stadtmauer nördlich von der Bovin 
hinlief. 2) Bei der Belagerung des Teımpelberges durch die Römer 
brannte — noch vor der Einnahme des Tempelberges — gerade 
die weftliche Stoa von Norden her bis zu dem nad) dem Xyjftos 
führenden Shore nieder (B. J. VI, 3, 2)'). Es müßte alfo auf 
das Rathhaus von der Zerftörung mitbetroffen worden fein, da 
die ja, wie wir gefehen haben, nörbli vom Xyſtosthore gelegen 
haben muß. Trotzdem hören wir, daß das Bovdevrriosov erſt 
fpäter, nach der Einnahme des Tempelberges durch die Römer, 
von diefen zerftört wurde (B. J. VI, 6, 3). Diefe Schwierigkeit 
wäre am einfachften durch die Annahme gehoben, daß die Bovin 
nicht in der Ston, fondern feitwärts von derfelben lag. Wan 
hätte ſich dann die Sache jo zu denken, daß die Stadtmauer nörd⸗ 
lich von ber BovAn und die Brücke ſüdlich von derfelben hinlief. 
Entſcheidend find freilich beide Argumente nicht; am wenigften das 
ovvÄarırov bed Joſephus. Und auch die zweite Schwierigkeit läßt 
fih dur die Annahme heben, daß Joſephus das Xyſtos⸗Thor als 
Grenze des Brandes nennt, weil das als bekannte Localität zur 
Ortsbeftimmung geeigneter war. Es könnte immerhin die maſſiv⸗ 
gebaute BovAn noch nördblih vom Thore vom Brande verfchont 
geblieben fein. Gegen die Vermuthung einer feitwärtigen Lage der 
BovAn fpricht aber dies, daß die Annahme eines ſolchen Ausbaues 
architektonische Schwierigkeiten hat. Es ift nicht wahrfcheinlich, daß 
man an die große Mauer des Xempelberges folche einzelne Ge⸗ 
bäude follte angeflickt haben. 

Auf eine Entſcheidung diefer Detailfragen wäre nur dann zu 
hoffen, wenn die genauere Erforfchung der noch vorhandenen Mauer- 
refte Anhaltspunkte hiefür böte. Dies ift bis jett nicht der Fall. 
Im allgemeinen zwar läßt fi mit ziemlicher Sicherheit be 

1) Die Dächer diefer Säulenhallen, welche auf dem Tempelberg innerhalb 


der Umfaffungs-Mauern auf allen vier Seiten berumliefen, waren von 
Holzwert, konnten aljo leicht niebergebrannt werben. 








Der Berfammlungsort des großen Synedriums. 613 


ftimmen, an welcher Stelle ber jegigen Tempel⸗Area wir die Bovir 
zu fuchen haben. Denn e8 fcheint mir kaum fraglich, daß der erft 
feit dem Jahre 1865 näher befannte fogenannte Wilfon» Bogen 
ein Stüd der von uns voransgefegten Xyſtos⸗Brücke ift!). Er 
fiegt unmittelbar an dem heutigen Bab es Sinsleh, unter der jet 
zu biefem Thore führenden Straße; d. 5. gerade an der Stelle, 
wo nad) der Beſchreibung des Joſephus und der ganzen Terrain. 
befchaffenheit der Anſchluß ber Stadtmauer an den Tempelplatz 
ohnehin angenommen werben muß und aud) von jeher faft von 
allen Topographen angenommen worden ift 2). Er hat daher jeden 
Falls weit mehr Anfpruch darauf, mit der Xyſtos⸗Brücke identi⸗ 
fleirt zu werben, als der weiter füdlih, beinahe an der ſüdweſt⸗ 
lihen Ede des Tempelplatzes gelegene fogenannte Robinfon«- Bogen, 
mit dem er an Bauart und Größe faft genau übereinftimmt. Die 
neueren Nachgrabungen von Warren haben Über die Umgebungen 
des Wilſon⸗Bogens manches intereffante Reſultat zu Tage geför- 
dert ®), aber leider gerade über die uns intereffirende Hauptfrage, 
nämlich wie die Diauer bes Tempelberges nördlih vom Wilſon⸗ 
Bogen verläuft, leisen Auffchluß ergeben. Wir müſſen alfo darauf 
verzichten, eine ganz genaue Beichreibung der Tage der AovAn mit 
Beftimmtbeit geben zu wollen. Es kann uns im allgemeinen das 
Reſultat genügen, bag die BovAn an der Weftgrenze des 
Tempelplages unmittelbar an der nah dem Xyftos 
führenden Drüde lag. 


1) Er iſt ſchon im 3. 1845 von Tobler bemerkt, aber erſt jeit feiner 
Wiederentdedung durch Wilfon im Januar 1865 allgemein befannt und 
richtig gewürdigt worden. Vgl. bie genaue Beichreibung bei Rofen, 
Das Haram von Ferufalem (1866), S. 9 — 12, und dazu ben beigegebenen Blau 
der Unterbauten des Gerichtshanfes zu Ferufalem und bes Teiches Obrak. 

3) Bol. die „Reftaurirten Stabtpläne des alten Ierufalem” in Zimmer- 
manns Karten und Pläne zur Topographie des Alten Jeruſalem (Ba- 
fel 1876). Der befte Blan des heutigen Serufalem ift der von Wilfon 
(Southampton 1866). 

I) ©. Wilfon n. Warren, The Recovery of Jerusalem (ed. by 
Morrison, London 1871), p. 76—94. — Bäbelers PBaläftina (1875), 
S. 192. — Zimmermanns Karten und Pläne (1876), Xaf. III, 
Profil E—E. 


614 Schürer 


Dies Reſultat wird wenigſtens in einer Beziehung noch beftä- 
tigt durch die Stelle B. J. VI, 6, 3. Hier wird berichtet, daß 
die Nömer nach Eroberung des Tempelberges, aber vor Einnahme 
ber Oberftabt einen Theil der Unterftadt, den Stadttheil Ophla, 
das apxsiov und das Bovisvsngsov in Brand ftedten. Lelteret 
lag alfo jeden Falls außerhalb der Oberſtadt, wahrfchein 
lich aber nicht in der Akra oder Unterjtadt, da es von Joſephus 
neben diefer noch bejonders erwähnt wird. Auch dies ſpricht alſo 
dafür, da8 Bovisvrr/gsov, das mit der BovAn ficher identisch if, 
auf dem Tempelberge zu fuchen. 

Ehe wir zur Mifchna übergeben, ift nur noch mit ein Paar 
Worten zu conftatiren, daß unter der BovAr, oder den Bovlevanesor 
jeden Falls der gewöhnliche Verſammlungsort de8 Synedriums 
zu verftehen iſt. Joſephus kennt für letzteres zwar aud) die Ber 
zeichnung ovvsdgsov (Antt. XIV, 9, 3—5; XV, 6, 2 fin; 
XX, 9, 1. Vita 12). Ebenfo häufig gebraucht er aber and 
den Ausdrud 7 BovAr; (B. J. II, 15, 6; 16, 2; V, 13, 1, und 
vgl. bei. das Edict bes Claudius Antt. XX, 1, 2: Tspocolvm- 
Toy apxovoı, BovAn, dnuw, Tovdalov nravri Edve). Wie e6 
nun feinem Zweifel unterliegen kann, daß unter ber BovAn ſchlecht⸗ 
bin der oberfte Rath, d. h. das große Synedrium zu verjichen 
ift, jo läßt fich auch nicht bezweifeln, daß die BovAn oder das Por- 
Asvurn)g1ov fchlechthin der Verſammlungsort diefer oberften Behorde 
ift, was nur deshalb hier ausdrüdlich betont wird, weil man es 
jeltfjamerweife nicht immer anerlannt Hat. 

In der Mifhna wird als Berfammlungsort bed oberjten 
Gerichtshofes viermal die na nay5 genannt (Pea II, 6. Edu- 
joth VI, 4. Sanhedrin XI, 2. Middoth V, 4). An den 
beiden erjteren Stellen gejchieht die® nur in der Weile, daß eine 
in der nıy37 nayb getroffene Entfcheidung als gefegliche Norm hin⸗ 
geftellt wird, woraus wenigftens indirect erhellt, daß ber bier 
tagende Gerichtshof die oberfte Autorität war !). Un den beiden 


1) Pea IH, 6: R. Simon aus Mizpa fäete einft [zwei Arten Weizen auf 
fein Feld] vor R. Samaliel. Sie gingen beide Binanf nad) der lisch- 
kath hagasith und fragten an. Da ſprach Nahum der Schreiber zc. — 
Edujoth YII, 4: R. Zabof bezeugt, daß, wenn man fließendes Waſſer 





Der Berfammlungsort des großen Synedriums. 615 


anderen Stellen wird aber direct gejagt, daß in der lischkath ha- 
gasith da8 oberfte Geriht (Hy jyn na, Sanhedrin XI, 2) oder 
das große Spnedrium (ma 7770, Middoth V, 4) feine 
Sieungen hielt. Bon irgend einem anderen Situngslocale weiß 
bie Mifchna nichts. Es iſt vielmehr aus den genannten Stellen 
deutlich, daß die Mifchna für die Zeit, aus welcher fie Überhaupt 
Kımde hat, alfjo gerade für die legten Zeiten vor dem 
Untergange $erufalems, auf welche auch bie Angaben des 
Jofephus fich beziehen, bie lischkath hagasith als das gewöhn⸗ 
liche Verfammlungslocal des großen Synedriums betrachtet. Wollen 
wir alfo ihre Ueberlieferung nicht als gänzlich unge» 
ſchichtlich verwerfen — was bei der Eonftanz, mit welcher 
fie auftritt, immerhin mißlih wäre —, fo müffen wir noth- 
wendig die na nad mitder BovAndbes Foſephus iden— 
tifieiren. Dies Reſultat erhält nun, wie mir fcheint, eine über- 
raſchende Betätigung, wenn wir uns den Namen der nı37) nayb 
etwas näher anfehen. Gewöhnlich erklärt man ihn nach Analogie 
von NY) 3 „Häufer aus Duaderfteinen” (Amos 5, 11); alfo: 
nn nayb „die Quaderhalle“, fei e8 nun, weil fie aus Quader⸗ 
fteinen erbaut, oder weil ihr Boden mit Quaderfteinen belegt war. 
Aber weder die eine noch die andere Erflärung erfcheint mir be- 
friedigend. Denn beides war in damaliger Zeit fo gewöhnlich, 
baß es fein charafteriftifches Merkmal bitdete, auch nicht unter den 
nioyb des inneren Tempelvorhofes, in welchen man die nı3a nayh 
gemöhnfich verlegt. Der ganze ZTempelplag, und fo gewiß auch 
der innere Vorhof, war mit Steinplatten belegt (B. J. V, 5, 2; 
VI 1, 8). Und «8 ift fiher nicht anzunehmen, daß von allen 
Gemächern im Inneren Vorhof gerade nur eines aus maffiven 
Stein erbaut war‘). Dies bildete alfo nichts charakteriftifches, 


durch die Äußere grüne Schale einer Wallnuß fprudeln läßt, es doch als 
fließend geeignet fei [zum Tauchbad]. Der Fall kam in Oholja vor; und 
die Sache fam vor bie lischkath hagasith ; und fle erflärten es für geeiguet. 

1) Das RIEN N 3. B., welches Tamid I, 1. 8. III, 8. Middoth I, 
1. 5—9 neben der lischkath hagasith (Tamid LI fin. IV fin. Mid- 
doth V, 4) erwähnt wird, war gemölbt, ſ. Tamid I, 1, Middoth I, 8 
und dazu die Commentare; aljo doch wohl and) aus Quadern. 


616 Schürer 


wornach die lischkath hagasith hätte genannt ſein können. Eine 
viel beſſere Erklärung ergibt ſich, wenn wir uns deſſen erinnern, 
daß die lischkath hagasith nad unſeren Reſultaten in ber 
Nähe des Xyftos lag. Sollte nı73 nicht der Hebräifche Name 
für Zvorog und die lischkath hagasith alfo „die Halle am 
Xyſtos“ fen? Allerdings wurden in PBaläftina vielfach auch die 
griechifchen Kunftausbrüde beibehalten, wen man feine genau ent- 
fprechenden hebräifchen oder aramäifchen hatte. So 3. B. wÄTDan 
2Esdga 1), Nauyın orod 9), pbıo2 Baaudm) ®), Dan osddıon 9). 
Dion wird aber die Möglichkeit nicht beftreiten Tönnen, daß and 
für einen griechifchen Kunftausprud — was Avoros allerbinge 
iſt — in Paläftina eine entfprechende femitifche Bezeichnung ge- 
wählt wurbe, wenn es eine folche wirklich gab. Dies ift aber bei 
Zvoröc, dem das hebräifche nY73 genau entipricht, in der That 
der Sal. An zwei Stellen des U. T.: IChron. 22, 2 umd 
Amos 5, 11 geben die LXX n13 geradezu durd) Evosos wieder 5). 
Auch wird my, das von Haufe aus allerdings abstractum ift 
(Bebauung, fo in der Verbindung: nu nan), aud im U. T. 
ganz gewöhnlich pro concreto gebraudt in der Bedeutung: „Be 
bauenes, behauene Steine" (Exod. 20, 25. 1 Rn. 6, 36. Hei. 
9, 9. Amos 5, 11. Kagel. 3, 9). Es konnte aljo 0 Zvaros 
jehr paffend durch mry47 wiedergegeben werben ®). Endlich hat auch 
die Genetiv-Verbindbung nun naw5 in der Bedeutung „die Halle 
am Xyſtos“ ihre Analogie in Ortsbezeihnungen wie: pyn Ay 
„das Thor bei ber Quelle” (Neh. 2, 14), oO veixos roũõ er 
Aippov „die Mauer am Bade“ (1 Makk. 12, 37). So fcheint 


1) Tamid I, 3. Middoth L b. 

2) Schekalim VIII, 4. Sukka IV, 4. 

8) Aboda sara I, 7. Tohoroth VI, 8. 

4) Baba kamma IV, 4. Aboda sara I, 7. 

5) In der Amos⸗Stelle hat allerdings der codex Vaticanus (nach der neuen 
vömifhen Ausgabe Bd. IV, 1872), und nad) ihm die firtinifche Ausgabe 
und ber Vulgär⸗Text Esorös. Uber andere und zum Theil gewichtige 
Autoritäten bieten auch bier £voros.. So cod. Alex., cod. Marchalia- 
nus (1. Sanb), Cyrill. Alex., 10 Minusfeln, ed. Aldina. 

6) Als Analogon vgl. bei. Joh. 19, 13: 70 Aıdodorgwrovr = TaßßaIa, wo 
es ſich auch um zwei wirklich neben einander gebrauchte Nanıen handelt. 





Der Berfammlungsort des großen Synedriums. 617 


man aljo jene Halle im Unterfchiede von den zahlreichen anderen 
Hallen des Tempelplatzes die XKyſtos⸗Halle genannt zu haben, 
weil fie in der unmittelbarften Nähe des Xyftos lag. Die Bezeich- 
nung derſelben als einer nayb ift in fo fern fehr treffend, als dies 
gerade die gewöhnliche Bezeichnung für die zum Tempel gehörigen 
Gemächer war. Und man darf nicht einwenden, daß ber Ausdruck 
nn nur für eine Näumlichkeit des inneren Vorhofes zu er- 
warten fei, während die BovAn nach unferer Annahme an ber 
Srenze bes äußeren Tempelplatzes Tiegen würde. Daß nämlich 
and) hier, in ber äußeren Umgebung des Qempelplates, fi) Ge- 
mächer befanden, welche als nisyb bezeichnet wurden, fann mit 
Sicherheit aus Joſeph. B. J. IV, 9, 12 gefchloffen werden. Denn 
die hier erwähnten rraozopodıe müſſen nach dem ganzen Zu⸗ 
fammenhang der Stelle an der äußeren Grenze des Tempel⸗ 
platzes gelegen haben. Der entjprechende hebräifche Ausdrud hiefür 
kann aber fein anderer als pe) (nisyb) geweſen fein, da bei den 
LXX naoropoogsov faft nur, ja — von zwei fcheinbaren Aus» 
nahmen abgefehen — ausschließlich als Ueberfegung von agb vor- 
fommt (Jerem. 35, 4. Ezech. 40, 17. 38. 1Chron. 9, 26. 
23, 28. 28, 12. 2 Chron. 31, 11). So unfiher auch Be⸗ 
ftimmung und Bedeutung diefer rraozopdge ift !), und fo weit 
wir davon entfernt find, die BovAr/ mit ihnen zu ibentifizieren, fo 
beweift ihre &riftenz doch jeden Balls, daß auch an der äußeren 
Grenze des Tempelplates ſich Räumlichkeiten befanden, welche ale 
zum Tempel gehörig betrachtet, für deſſen Zwecke verwendet und 
als niogb bezeichnet wurden. Auch Hinfichtlicd der BovAn tft ja 
die Möglichkeit keineswegs ausgefchloffen, daß fie nicht nur ale 


1) Hieronymus ad Jesaj. 22, 1dsqq. (Opp. ed. Vallarsi IV, 318) er» 
Märt: pastophorion, hoc est thalamus, in quo habitat praepositus 
templi. Auch nad) Clemens Alexandr. Paedag. III, 2, 4 fcheinen bie 
naozopspos in Aegypten die Tempelaufſeher geweſen zu fein (vgl. auch 
Stephanus, Thes. s. v.). Die LXX gebrauden raoropogiıov aber 
offenbar in einem weiteren Sinne, nämlich nicht nur von den Gemächern 
zum Aufenthalt für die bienftthuenden Briefter, fondern auch von ben 
Vorrathskammern und von fonftigen zu Cultuszwecken bienenden Räumen 
(2&hron. 31, 11f. Ezech. 40, 38). 


618 Schürer 


Verſammlungsort des Gerichtes, ſondern auch noch zu anderen 
Zwecken, etwa als Verſammlungsort der Prieſter benützt wurde, — 
eine Verwendung, die, wie wir ſogleich ſehen werden, der Ueber⸗ 
lieferung zufolge in der That ſtattgefunden haben ſoll. 

Mit dieſem Reſultate, wornach die lischkath hagasith an der 
Grenze des Tempelberges lag, ftimmt nun freilich ‚die. Ueberlieferung 
der Mifchna nicht ganz überein. Zwar jene beiden zuerft genannten 
Stellen (Pea II, 6. Edujoth VII, 4) jagen über ihre Lage über⸗ 
haupt nichts aus. Aber die beiden anderen (Sanhedrin XI, 2. 
Middoth V, 4) verlegen fie beftimmt in den eigentlichen Tempel⸗ 
borhof, die my. Und an zwei anderen Stellen, an welchen fie 
auch erwähnt wird (Tamid II fin, und IV fin.), bat es wenig» 
ſtens den Anſchein, ale ob dasjelbe gefhähe.. Kine Vereinigung 
diefer Weberlieferung mit unferen bisherigen Reſultaten ift nicht 
möglih. Denn der eigentliche Vorhof, die may, bildete einen, 
auf allen vier Seiten von ſtarken Mauern umgebenen, vollftändig 
in fich abgefchlofienen Pla innerhalb der großen Tempel⸗Area, 
jo daß alfo zwifchen den Säulenhallen des äußeren Tempelplatzes 
und der Mauer des Vorhofes auf allen vier Seiten ein freier 
Raum war (Middoth II, 1). Lag alfo die lischkath hagasith 
im Vorhof, fo lag fie nicht, wie wir annehmen zu müffen glaubten, 
an der Außerften Grenze des QTempelberges. Man könnte etwa zu 
der Annahme verſucht fein, daß der Vorhof auf der Weftfeite un» 
mittelbar an die Mauer des Tempelberges grenzte, fo daß auf 
diefer Seite die Stoa des Tempelberges zugleich die weſtliche Grenze 
des Vorhofes bifdete. Dann würde auch nad unferen Boraus- 
fegungen die lischkath hagasith mit zu den Räumen des Vorhofes 
gehört haben. Diefe Annahme wird aber, abgefehen von Middoth 
IL, 1, aud durch Joseph. B. J. V, 1, 5 fin. als unricdtig er- 
wiefen. Denn hienach errichtete Johannes von Gischala, um feine 
im inneren Vorhof eingefchloffenen Gegner erfolgreich befämpfen zu 
fönnen, gerade gegenüber der weftlichen Vorhofsmauer auf dem 
Tempelplatz vier hölzerne Thürme.. Es maß alfo auch auf 
diefer Seite ein Zwiſchenraum zwifchen der weſtlichen Stoa des 
Zempelberges und der weftlichen Mauer des Vorhofes geweſen fein. 
Wir Haben demnach nur die Wahl, entweder unſere früheren Re 











Der Berfammlungsort des großen Synebriums. ‚619 


fultate zu verlaffen ober die Ueberlieferung der Mifchna als unge- 
ſchichtlich zu verwerfen. Ehe wir ums entfcheiden, ift die Süherheit 
der letzteren noch zu prüfen. 

Zunächſt Löft fih) an den beiden Stellen ded Zractated Tamid 
(H, 5 fin. und IV, 3 fin.) die vermeintliche Weberlieferung in 
bloßen Schein auf. Indem hier nämlich die Formalitäten bei Dar» 
bringung bes täglichen Opfers bejchrieben werden, wird zweimal 
bemerkt, daß fich die BPriefter in den Zwiſchenpauſen zwifchen den 
einzelnen Abfchnitten ihres Dienftes in der schkath hagasith zu 
verſammeln pflegten; jo namentlich auch nach der Schladhtung (aber 
vor der Darbringung) des Morgenopfers zum gemeinfamen Beten 
des Schma (Tamid IV fin). Da alles, was fonft berichtet 
wird, im Vorhof verläuft, wird hiedurch der Schein erwedt, als 
ob aud) die lischkath hagasith im Vorhof gelegen habe. Es ift 
die8 aber dem Zuſammenhange nad durchaus nicht mothwendig; 
und ſobald irgend ein Moment dagegen Spricht, find wir nicht nur 
berechtigt, ſondern verpflichtet, jene zunächft erweckte Vorftellung ale 
irrtümlich wieder aufzugeben. Vielleicht darf man ein folches Mo⸗ 
ment fogar aus dem Wortlaute der Mifchna felbft entnehmen. Es 
heißt nümlich in beiden Fällen: „und fie gingen hinab und 
tamen in bie lischkath hagasith“ (num nawbb onb nn 1799). 
Wenn darunter — was wenigſtens möglich ift — ein Hinabgehen 
aus dem Inneren Vorhof nach dem äußeren Tempelplatze zu ver- 
ftehen tft, fo wäre hiemit beiwiefen, baß die lischkath hagasith 
außerhalb des eigentlichen Vorhofes gelegen: bat. Doch ift mir 
allerdings felbft wahrfcheinlicher, daß in beiden Fällen an das Herab⸗ 
fteigen vom Altar zu denken ift (vgl. 3. B. Tamid V, 5. Joma 
IV, 5). Jedoch auch in diefem für uns ungänftigeren Falle bleibt 
es eben Tediglich dabei, daß die beiden Stellen für unfere Frage 
inbifferent find, weder für noch gegen unfere Anficht fprechend. Die 
Benütung eines Raumes des äußeren Tempelplatzes von Seite der 
dienfttäuenden Briefter hat an und für ſich nichts befrembliches, 
da wir bereitS aus der Erwähnung ber sraozoyogın hei Joseph. 
B. J. IV, 9, 12 entnommen haben, daß auch auf dem äußeren 
Zempelplage fih Räumlichkeiten befanden, welche für die Zwecke 
des Eultus verwendet wurden. 


6% j Sähäürer 


Am Tractat Sanhedrin XI, 2 wirb behauptet, daß es in Je⸗ 
rufalem drei Gerichtähöfe gegeben habe: einen am Eingang des 
äußeren Tempelplages (na m nnp by), einen am Eingang dee 
Borhofes (1yn mnp by), und einen in der nm nawb. Letzterer 
war der höchſte. Und die Meinung ift augenfcheinlih, bag fein 
Berfommlungslocal innerhalb des Vorhofes fi) befunden Babe. 
Denn die ganze Notiz Ift nach) dem Schema angelegt, daß der nie 
drigfte Gerichtshof zwar auch auf dem Heiligen Berg, aber doch 
am weiteften vom Heiligtum entfernt, ber höchſte aber in der 
nächſten Nähe besfelben feine Sigungen gehalten habe. Eben dieſer 
Schematismus genügt aber auch, wie mir fcheint, um die Stelle 
jedes Anſpruchs auf Glaubwürdigkeit zu berauben. Oder ſollen 
wir es glaubhauft finden, daß wirklich die drei Gerichtshöfe, felbft 
wenn wir deren &riftenz gelten ließen, ihre Situngslocale in diefer 
Weite nach dem Schema ihrer Rangordnung wählten? Offenbar 
haben wir es hier nicht mit biftorifcher Weberlieferung zu thun, 
fondern mit der Kombination eines gelehrten Kopfes, der einzelne 
Fragmente Hiftorifcher Ueberlieferung zu einer Theorie über die rich» 
tige Organifation des Rechtsweſens in Israel geftaltet hat. Damit 
fchwindet aber jede Gewähr für die Zuverläßigkeit des Einzelnen. 

Scheinbar auf fehr genauer Kunde beruht, was im Xractat 
Middoth, der fich fpeciell mit der Beſchreibung des herodianifchen 
Tempels befchäftigt, c. V, 3—4 über die Lage der lischkath ha- 
gasith mitgetheilt wird. Hier hören wir: „Sechs Hallen (oder 
Gemächer, mawb) waren im Vorhof, drei im Norden und drei im 
Süden. Im Norden (nach anderer Lesart: im Süden): bie nawb 
nbon, bie myen nawb und bie oımaao nawb; im Süden (andere 
Lesart: im Norden): die py nowd, bie nbran naw> und bie naw5 
n27. In letzterer hielt das große Synedrium feine Sigungen.“ — 
Um zu entfcheiden, ob wir auch diefen genauen Details gegenüber 
unfere Zweifel aufrecht erhalten dürfen, ift es unerläßlich, die 
Glaubwürdigkeit des ganzen Tractates Middoth wenigftens in der 
Kürze zu unterfuchen. In demfelben wird fünfmal R. Eliefer 
ben Jakob als Gewährsmann für einzelne Angaben citirt (I, 2.9. 
II, 5. 6. V, 4). Da er erwähnt, daß fein Oheim als Levit im 
Zempel Dienfte geleiftet habe (I, 2), Tonnte er über deffen Ein- 














Der Berfanunlungsort bes großen Synedriums. 621 


rihtung immerhin gut unterrichtet fein, wenn er auch nicht, wie 
Derenbourg (Histoire de la Palestine, p. 374) ohne Grund 
annimmt, ben Tempel felbft gefehen hat. Außer ihm wird zwei⸗ 
mal Abba Saul citirt (DL, 5; V, 4), ber ebenfalls noch der 
zweiten Generation nad der Zerftörung des QTempels angehörte ?). 
Nächſt diefen treten aber nur fpätere Autoritäten auf. Mit biefem 
Beftand der äußeren Zeugniffe ftimmt es überein, baß die Angaben 
zum Theil auf guter Kunde ruhen, wie jchon der Umftand beweift, 
daß das Gefamtbild, welches fie ergeben, fait vollftändig mit dem 
Referate des Joſephus (B. J. V, 5. Antt. XV, 11) überein» 
ftimmt und auch manche Details mit den feinigen zufammentreffen. 
Aber neben einer Weihe guter Notizen hat der Tractat auch eine 
Reihe nachweistich falfcher, oder mangelhafter. Ya es fommt vor, 
daß über einen und denjelben Punkt zwei einander widerfprechende 
Angaben gemacht werden, woraus man fieht, wie hier eben alles 
zufammengetragen wird, was an Notizen und Meinungen über 
ben Tempel erreichbar war, gleichviel ob es auf guter Weberlieferung 
ober auf müßiger Speculation beruhte. So wird Middoth I, 
4—5 richtig angegeben, daß der Vorhof fieben Thore Hatte, drei 
im Norden, drei im Süden und eins im Often 2). Daneben aber 
wird ganz unbefangen Middoth II, 6 eine Notiz wiedergegeben, ° 
wornach es im ganzen 13 geweſen fein follen, darunter auch zwei 
im Weiten, während Joſephus ausdrüdlich bemerkt, daß bier feines 
ward). Ohne Zweifel ift diefe Notiz aus Schekalim VI, 3 
herübergenommen, wo in einem größeren Zufammenbang (VI, 1—5) 
ausgeführt wird, daß im Zempel 13 gewundene Kaſten (mmEıw) 


1) ©. über ihn: Lewy, Leber einige Fragmente aus der Miſchna des Abba 
Saul (Beigabe zum zweiten Bericht ber Berliner Hochſchule für die 
Wiſſenſchaft des Fubentums), Berlin 1876. Hiezu die Anzeige Im Ma- 
gazin für die Wiflenfchaft bes Judentums, herausgeg. v. Berliner n. 
Hoffmann, 4. Yahrg., 2. Heit (1877) ©. 114—120. 

2) Ganz ebenfo Jos. Antt. XV, 11, 5. Auch B. J. V, 5, 2 flimmt da⸗ 
mit überein, in jo fern bier mit Einfchluß ber drei Thore des Weiber- 
vorbofes zehn gezählt werden. 

s) B. J. V, 5, 2: zö dd nods doc ueoos oux eye nöAnm, did dın- 
vexis Edsdounmso Tavım To Teiyos. 


62 Schürer 


und 13 Tiſche ſich befanden und 13 Verbeugungen ftattfanden gegen 
die 13 Thore des Vorhofes. Man fieht bier recht deutlich, wie 
im Tractat Middoth gutes und ſchlechtes zufammtengetragen ift. 
Falſch ift auch feine Angabe über die äußeren Thore des Tempel⸗ 
plates, unter welchen er nur ein weftliches nennt (Middoth I, 3), 
während es nad Joseph. Antt. XV, 11, 5 vier waren. End 
(ich ift gerade auch die obige Notiz über die angeblichen jechs nrogf> 
des Vorhofes nachweislich mangelhaft. Denn es werden an anderen 
Orten noch eine ganze Reihe folder mıwb genannt. So die nawb 
jegn und die nyinga nawb (Middoth I, 1) und in der nord» 
weftlichen Ecke des VBorhofes allein 4 mımwb, von denen keine mit 
ben obigen 6 identifch ift (Tamid III, 3; vgf. Middoth I, 6). 
Wie mangelbaft die Angabe ift, erhellt im allgemeinen auch ſchon 
daraus, daß nad den von der Miſchna felbft gegebenen Erläuterungen 
feine der ſechs mımwb zur Aufbewahrung der mancherlei Schäge 
des Tempels beftimmt war, während bies doch gerade die Haupt. 
beftimmung der Räume bes inneren Vorhofes war !). Wenn aber 
die Aufzählung fo mangelhaft ift, jo können wir anderfeits auch 
die Möglichkeit nicht in Abrede ftellen, daß fi) ungehörige® dabei 
mit eingejchlichen. babe. Zwar wird gerade aud in jenem Zufammen- 
“Bang R. Eliefer ben Jakob citirt, aber nur, um von ihm das 
Geftändnis mitzutheilen, daß er „vergefien habe“, wozu bie nawb 
yyn beftimmt war (Middoth V, 4). So mag er wol auch ans 
dereö vergefien oder verwirrt haben, was von ber Älteren Generation 
ihm überliefert worden war. Und es werden alfo dieſe unficheren 
Notizen kein Grund fein können, und in unferem wohlbegründeten 
früheren Nefultate irre zu machen. Wir werden troß ihrer die 
nun nowb nicht im Vorhof, fondern an der Grenze bes Tempel 
berges zu fuchen Haben. Auch das Zufammentreffen von Mid- 
doth V, 4 mit Sanhedrin XI, 2 dient der in beiden Stellen 
enthaltenen falfchen Notiz nicht zur Stüge, da wir eben an dem 
Beifpiel von den Thoren des Vorhofes gejehen haben, daß aud 
nachweislich falfche Angaben an verfchtedenen Orten ſich wieberhofen. 


1) Joſephus nennt fie einfach za yaoyvadsız (B. J. V, 5, 2). Bel. 
auch B. J. VI, 5, 2. 








Der Berfammlungsort bes großen Synebriume. 623 


Wenn nun Schon die Angaben der Mifchna nicht verbürgt genug 
find, um ein ausreichendes Gegengewicht gegen unfer urfprüngliches 
Resultat zu bilden, fo find es natürlich diejenigen der [päteren 
tafmudifchen Literatur (ver Gemara) noch viel meniger. Es 
werden hier nur die Angaben der Miſchna durch neue Kombinationen 
weiter ausgefponnen. Namentlich kommt hier in Betracht die Stelle 
Joma 25* (mitgeteilt bet Burtorf, Lex. Chald. s. v. nm), 
wornach die Gafith:Halle zur Hälfte auf heiligem und zur Hälfte 
auf profanem Boden lag (dia mem wnp2 men), d. h. zur 
Hälfte innerhalb, zur Hälfte außerhalb des Vorhofes, mit Thoren 
nach beiden Seiten bin. Vermuthlich beruht diefe Annahme nur 
auf der Reflexion, daß das Gerichthalten ein weltliches Gefchäft 
ift, das nicht in den Heiligen Vorhof gehört, und diefe Reflexion 
wird nun mit der Weberlieferung der Miſchna durch jenen Com⸗ 
promiß in Einklang gebracht. eben Falls können diefe nachge- 
borenen Traditionen nicht mehr auf ernſtliche Beachtung Anfprud) 
machen. — &8 geichieht darum auch nur im Intereſſe der Vollſtändig⸗ 
feit, wenn wir noch erwähnen,. daß nach dem jogenannten zweiten 
Targum zu Eſther 4, 1 bereitö die Propheten Haggai, Sacharja 
und Maleachi in der lischkath hagasith geweißagt haben follen. 
Daraus würde freilich folgen, daß die letztere nicht nach dem erft 
in der griechifchen oder römischen Zeit erbauten Xyſtos ihren Namen 
haben kann — wenn nämlich auf dergleichen fpätrabbinifche Ein- 
fälfe überhaupt etwas zu geben wäre). 

Schließlich find noch zwei Punkte hervorzuheben, die, ohne 
gerade beweifend zu fein, doch fehr zu Gunften unferer Annahme, 
baß die lischkath hagasith nicht im inneren Vorhofe lag, ſprechen. 
Der eine ift die eben ſchon berührte Erwägung, daß das Gericht. 
halten an fi mit dem Cultus, für welchen doch der Vorhof be- 
ftimmt ift, nichts zu thun hat. Nah allen, was wir wiflen, 
dienten die Räume des Vorhofes Lediglich den Zwecken des Cultus. 
Es wäre daher mindeftens fehr befremdlich, wenn in diefen Räumen 


1) Die Stelle lautet: „Es ſchickte der ſhimmliſche] König nad feinem Pa⸗ 
fafte (oder feinem Tempel, may) durch die Hand feiner Knechte, ber 
gerechten, zu Haggai, Sacharja und Maleadji, welche ſaßen 73 nawby 
und dort weißagten über die große Dauer Jeruſalems“. 


624 Schürer 


auch ein Gericht ſeinen Sitz aufgeſchlagen hätte, das fich oft mit 
ſehr unheiligen Angelegenheiten zu befchäftigen hatte. Sehr be⸗ 
achtenswerth iſt es in dieſer Beziehung, daß es in der Hauptftelle 
Middoth V, 4 von der Gafith-Halle Heißt: „Dafelbft hielt das 
große Synedrium feine Sigungen und richtete die Priefter- 
ſchaft.“ Es bat darnach den Anjchein, als ob das große Syne⸗ 
drium lediglich diefe Aufgabe gehabt hätte. Aber nach den anderen 
Stellen war freilich das in der Gaſith⸗Halle tagende Gericht das 
oberfte Gericht überhaupt für alle Angelegenheiten. Und fo ift jem 
Notiz nur in fo fern von Belang, als fid darin das Bewußtfſein 
verräth, daß ein Raum des Vorhofes auch den Zwecken bes Eultus 
dienen muß. — Der andere Punkt, der unferer Anficht zur De 
ftätigung dient, ift die Erwähnung einer Yyyabp nawb JomaL 1, 
die ebenfall® nach dem Zufammenhang außerhalb des Worhofes 
gelegen zu haben ſcheint. Es wird nämlich erzäßlt, daß ber Hohe⸗ 
priefter fieben Tage vor dem Verfühnungstag nad) der Yaınbo naeb 
gebracht wurde, wo fi) „die Helteften des Gerichte“ (17 na Yan) 
mit ihm befchäftigten (Joma I, 1—4). Bon biefen wurbe er 
dann den „Welteften der Priefterfhaft* (Mar> upı) übergeben, die 
ihn nach dem Obergemach des Dyuax nY> bradten (Joma I, 5). 
Es ift hier wenigftend das Nächftliegende, die yarnbp mowb als 
einen Ort zu denken, der außerhalb des fpeciellen Wirkungsfreifes 
der BPriefterfchaft, d. 5. außerhalb des Vorbofes, lag. Und da nun 
yarbp jeden Falls Corruption von wagedgos ift, da ferner in 
der mn nawb die „Aelteften des Gerichtes“ fich mit dem Ho 
benpriefter befchäftigen, jo unterliegt e8 wol feinem Zweifel, daf 
unter derfelben der Verfammlungsort des höchſten Gerichtes zu 
verftehen ift, d. h., daß fie mit der nm nowb und der Bovir 
des Joſephus identisch ift. Auch dies alſo fpricht zu Gunften un 
feres Rejultates. 

Gegen basfelbe tritt nun freilich noch die Behauptung auf, die 
in ber Gemara öfters wiederholt wird, daß das große Synedrium 
vierzig Jahre vor der Zerftörung des Tempels aus ber Gaſith⸗ 
Halle in die Kaufhallen (min) ausgewandert fei (Schabbath 15°, 
Rosch haschana 31°; f. die Stellen bei Levy, Neuhebräifces 
und chaldäiſches Wörterbuch II, 80; auch .bei Burtorf, Lex. 





Der Berfammlungsort des großen Synebriums. 625 


Chald. col. 793, Lightfoot. Deser. templi hierosolymit: 
c. 9, Opp. ed. Roterod. I, 565sq.). Da über die Lage ber 
chanujoth nicht‘ bemerkt wird, könnte man verfucht fein, die 
widerfprechenden Angaben fo zu vereinigen, daß man die’ lischkath 
hagasith wirflih, wie e8 die Miſchna will, in den Vorhof ver- 
legte, und nicht dieje, fondern nur die chanujoth mit der Bovdn 
des Joſephus identificirte. Diefer Ausweg, den ich ſelbſt früher 
eingefchlagen habe (Zeitgeſch, S. 416), ift aber deshalb ungangbar, 
weil die Miſchna von diefer Auswanderung in die chanujoth nichts 
weiß, ſondern zwrifelos! die. lischkath hagasith für die ganze 
Zeit, von der fie Kunde hat, aljo gerade für die letzten Jahrzehnte 
vor der Zerftörung des Tempels, als VBerfammlungsort des Sy⸗ 
nebriums betrachtet. Auch fpricht ja gerade ihr Name für Identi⸗ 
fieirung mit der Bovin des Joſephus. Es ift deshalb die ganze, 
ohnehin erft ſehr ſpät auftretende Sage von einer Auswanderung 
in die chanujoth einfach als ungefchichtlic) zu verwerfen. Ueber 
ihre Entjtehung aber läßt fih noch eine Vermuthung aufftellen. 
Das Wort nun ift das gewöhnliche Wort für „Kaufhalle, Kaufe 
laden“ 2). Solche Kaufladen waren aber, wie wir aus dem N. T. 
(Mark. 11, 15 und Parallelen) wiffen, auch auf dem Zempelberge, 
vielleicht gerade ai Eingange desjelben unmittelbar an der Bovdr. 
Es ift nun wol denkbar, daß die Ueberlieferung eriftirte, das Ver⸗ 
fammilungslocal des großen Synebriums habe fich bei den chanu- 
joth befunden. Dieſe Ueberlieferung wußte man mit der anderen, 
daß e8 in der lischkath hagasith jeine Sigungen gehalten habe, 
nicht anders zu vereinigen, als durd die Annahme, daß beide ſich 
auf verfchiedene Zeiten bezögen. So etwa mochte jene Sage von 
einer „Auswanderung“ entjtanden fein, während fich in Wahrheit 
beide Angaben auf dasfelbe Local bezogen. 

Wenn nun, wie wir nad allem Bisherigen wohl aunehmen 
dürfen, das gewöhnliche Sigungslocal des Synedriums an der 
Grenze des Ternpelberges, aber doc noch innerhalb feines Bereiches‘ 

1) So 3. B. Baba kamma II, 2; VI, 6. Baba mezia II, 4; IV, 11. 


Baba bathra I, 3. Der Blur. nyyyn Taanith I, 6. Baba mezia 
VIll;6. Aboda sara I, 4: Tohoroth VI, 8. Der Krämer beißt 


Ur 
Theol. Stub. Jahrg. 1878. 41 


626 Trümpelmann 


fid) befand, fo erflärt ſich aud, weshalb man bei der nachtlichen 


Berurtheilung Jeſu fi) wicht dort verfanmelte. Denn die Thore 
des Tempelberges waren bei Nacht geſchloſſen und von Leviten be 


wacht (Middoth I, 1); daher jenes Local, ohne großes Aufſehen 
zu erregen, nicht zugänglich. 


4. 
Sotialismus und Socialreform). 


Erſter Artikel. 


Bon 


X. Vrüimpelmann, 
Ouperintenbent is Uelleben bei Gotha. 





„, Socialiemus, Communismus! Gefpenftergleih ſehen fie 
die meilten der Zeitgenoffen an, dieje kaum erft laut gewordenen 
und ſchon fo gefürchteten Namen! In der That, die Art und 
Weife, wie die große Maſſe, nicht bloß der Ungebildeten, nicht 
blog in Deutſchland, fondern in England, in Frankreich zu ihnen 
fich verhält, trug bisher den Charakter des Geifterglauben®, der 
Geifterfurht Halb Aufgeflärter. Man ſchämt fi, zu glauben, 
was man doch fürchtet; man ſchämt fi, zu fürdten, was man 
doch nicht recht glauben kann; man ift gläubig und ungläubig, 
forglo8 und ängſtlich zugleih, und fc kommt man weder zu 
ernftlicher Anerkennung, noch zu ernſtlicher Verneinung, nod 
weniger zur Befinnung über verfühnende Mittel und Wege zur 
Hülfe. ... Uns Deutſche berührt im Leben die Frage, um die 
es ſich handelt, noch wenig, aber wir wären aus der Art gefchlagen, 
wenn mir fie nicht berührten, ehe fie uns berührt.... So fehr 
auch die focialen Geifter, wie die Kerner’schen Bewohner des Dkittel- 
reiches, durch Uncultur und allerlei unvernünftigen Spuk bem 


1) Die vorliegende Arbeit wurde Ausgangs des vorigen und Anfangs dieje® 
Jahres gefchrieben, und kommt vielleicht im Augenblid gerade recht. 








Socialismus und Socialreform. 627 


Spotte, der fid) an's Aenßerliche hält, Gelegenheit zu verächtlichem 
Lächeln geben, fo wird es dod bald feinem Marne von ernfter 
und unbefangener Gefinnung mehr entgehen, daß hier eine Seite 
bes gefellfchaftlichen Lebens in die Wirklichkeit tritt, die ihre Wahr⸗ 
heit und Berechtigung troß aller Auswüchſe in ihrem innern Wejen 
bat.‘ Treffende Worte eines deutſchen Staatögelehrten !) an das 
deutſche Publikum, zunächſt vielleicht an feine Fachgenoſſen. Ob 
aber dieſe Worte auch uns angehen, die Prediger des Evangeliums, 
die Männer der Kirche, die Theologen? Belanntermaßen wird es 
nicht gerne gefehen, wenn die Kirche und ihre Diener politische 
Fragen in ihren Bereich ziehen. Die Abweiſung unberufener Ein- 
mifhung läßt in der Regel nicht lange auf fih warten. In den 
Kreifen frommer Chriften aber gilt es vielfältig als Axiom: je 
ferner dem politifchen Intereſſe der Gegenwart, defto näher dem 
Reihe Gottes! Doch laſſen wir dies bahingeftellt fein. Hier 
handelt es fich wenigftens nicht mehr um gemeinhin fogenannte 
Fragen der Tagespolitik, e8 Handelt fih um geſellſchaftliche 
tagen, um Auffafjung und Beurtheilung von Erfcheinungen, deren 
Erzeugung nicht bloß der Staat, fondern die Geftaltung aller 
unferer heutigen öffentlichen und Privat-Verhältnifje verfchuldet haben 
fol, die fih zu allen diefen Verhältniſſen im einem mehr oder 
minder unverdedten Widerſpruch fegen. Aus einer befonderen 
Weltanfhauung geboren, foll eine neue Weltordnung zur Geltung 
gebracht werden. Mit der alten Weltordnung wird auch die alte 
Weltanfchauung von den Begründern des neuen Principe perhor- 
rescirt. War nun bie Kirche bisher die Trägerin einer beftimmten 
Weltanfchaunng, fo ift fie bei dem Auflommen einer neuen natür- 
lich weſentlich betheiligt. Und wirklich tritt die neue MWeltreform, 
wie fie muß, zugleich als neue Religion auf, wenn nicht gar ale 
die wahre Auslegung der bisher unverftanden gebliebenen alten. 
Dazu kommt, daß die im Werke Tiegende Reform zunächft und 
vor allem dem Proletariate zugute kommen foll, jener ärmiten, 
niedrigften, unbeachtetften Claſſe der Gefellichaft, deren treue Für- 
1) Brofeffor Fal lati in Tübingen in den Jahrbüchern der Geger- 
wart 1843, Nr. 1 bei der Anzeige von: Stein, Socialismus und 


Communismue des heutigen Frankreichs. 
41* 


628 Trümpelmann 


forgerin im Leiblichen, wie im Geiſtlichen zu fein die Kirche nad 
dem Borbilde des Herrn zu ihren ernfteften, beiligften Aufgaben 
zu rechnen hat, deren Vernadjläßigung ein ſchweres „Wehe!“ auf fie 
berabrufen müßte. Liegt aber. nicht in dem Auflommen ſolcher 
Reformgedanten an fi) ſchon eime Anklage gegen die Kirche? Und 
wie, wenn wir vielleicht entdedien müßten, daß an der Solidarität, 
in welcher ſelbſt von Befonnenen der alte Weltzuftand fir den 
Gedanken eines neuen verantwortlich gemacht wird, auch die Kirche 
ihren wirklichen Antheil habe? wenn fie fich geitehen müßte, in 
Ausrichtung ihres Amtes in Beziehung auf die. Armen, Elenden 
und Verwahrloften nicht treu, gewiſſenhaft, eifrig und unerſchrocken 
genug gemefen zu fein? Gewiß Gründe genug, um auch von kirch⸗ 
licher Seite dem Communismus und der Socialreform Aufmerb 
famfeit und Nachdenken zn widmen.“ 

Es ift ein Menſchenalter vergangen, feitdem dieje Worte für 
diefe Zeitfchrift gefchrieben murden. Hundeshagen ſchrieb fie 
im Jahre 1845, und doch wie. harakteriftiich für die Gegenwart! 
Faſt jeden Say kann man mit gleichlantenden aus jüngfter Zeit 
belegen. Wie Pilze ſchießen Brofchüren und Zeitfchriften im Dienfte 
der brennenden Tagesfrage, für und wider den: Socialismus auf, 
und doch gelten die Worte Fallati's: „Man ſchämt fich, zu glauben, 
was man doch fürdtet; man ſchämt fi, zu fürdten, was man 
doch nicht recht glauben faun; man ift gläubig und ungläubig, 
forglo8 und ängftlich zugleich“, für weite Kreife unferes Volles noch 
heute. — Der Streit, ob die Kirche fih an den politischen Tages 
fragen betheiligen dürfe oder nicht, ift zu neuem Leben erwacht, die 
einen jagen. Nein und feheinen mit einem frommen laisser faire das 
Mancheſtertum unterjtügen zu wollen; die.anberen jagen Ya, und 
zwar mit ſolcher Entjchiedenheit, daß; fie weit über das erwilnfdhte 
Intereſſe an gefellfchaftliher Reform hinaus gerade in der 
politiihen Parteibildung em gutes. Mittel fehen zur Hebnang 
des Anfehens der Kirche und zur Wiederberftellung. des Einflufes 
ihrer Seiftlihen. In der Anklage. der Kirche reichen fich. Con⸗ 
jerpative und Liberale, Wohlwollende und Uebelwollende, Geiftliche 
und Laien die. Hand. „Wenngleich bier nicht der Ort iſt, auf die 
religidjen und kirchlichen Zuftände. und Streitfragen: der Gegenwart 








Socialismns und Socialreform. 629 


näher einzugehen“ — jchreibt der Kritiker von Schäffle's „Ouinteffenz 
bes Socialismus“, der praftiiche Staatsmann aus Berlin —, „fo darf 
doch nicht verschwiegen werden, daß an der heutigen Verwirrung 
der Köpfe und Herzen nicht allein die moberne Wiſſenſchaft, fondern 
auch die Kirche felbft und deren Organe einen nicht geringen Theil 
der Schuld tragen, und daB indbefondere Herr Ehalmers durch⸗ 
ans Recht hat, wenn er die Haltung und das Auftreten der unteren 
Doltsclaffen als die Quittung bezeichnet, welche dieſe der Kirche 
Aber ihre Seefforge ausſtellen“ (S. 23). 

&ines aber tft, feit Fallati und Hundeshagen die angeführten 
Worte fchrieben, ganz anders geworden. War's vor einem Men⸗ 
fihenalter noch Wahrheit, daß „und Deutfche die Frage, um bie es 
ſich hanbelt, im Leben nur wenig berührt”, fo tft jegt das Gegen 
theil der Fall. Die focialiftifchen Zdeen haben in Deutſchland 
die weitefte Verbreitung gefunden, und ihre Anhänger find nicht 
bloß in den Reihen der Socialdemolraten zu ſuchen. Hundes» 
hagen konnte fich veranlaßt fühlen, einen Rüdbli in die Ver⸗ 
gangenheit zu hun und einen gefchichtlichen Abriß über Communis⸗ 
mus und Socialreform zu bieten, wir müſſen, den veränderten 
Berhäitniffen entfprechend, der Gegenwart in's Angeficht Schauen. — 

1. Einer ftatiftifchen Weberficht über die Ausbreitung des Socia- 
lismus auf deutſchem Boden, jomweit derfelbe von der Socialdemo⸗ 
fratie repräfentirt wird, bedarf es nicht. Jedermann fennt die 
Sahln. — Zur reiten Zeit Hatten fi) die beiden Fractionen 
„Laffalle* und „Marr“, die nationale und internationale Nichtung 
ber deutfchen Socialdemofratte, geeinigt, oder richtiger, waren die Laſſal⸗ 
leaner zu den Eifenachern übergegangen, um gemeinfchaftlid mit ver- 
ftärftem Druck bei der bevorftehenden Reichsſstagswahl zu arbeiten 
und das bekannte Reſultat zu erzielen. — Weil die Sieger, die 
Eifenacher, gegen die Lafjalleaner in erheblicher Minderheit waren, 
9000:15000, fo ſchließt Mehring?!) daraus, daß „Lafſalle's 
Agitation nur eine geiftvolle Caprice war, die, ohne realen Boden, 
im Sumpfe des abfoluten Nihilismus verfinken mußte“. Biekmehr 
wurden die ftärferen Laffalleaner von den ſchwächeren Eifenachern 


1) Mehring, Die dentiche Socialdemokratie, S. 124. 


650 TZrümpelmann 


aufgefogen, weil biefe die confequenteren waren. Der Laſſalle'ſche 
Socialismus mußte dem Marr’fhen, d. 5. der Madt der 
Confequenz, weihen. Denn Genoffenfchaftsproduction im ſo⸗ 
cialiftifchen Sinne läßt fih im Rahmen des nationalen Staates 
eben nicht verwirklichen. Die Internationalität ift conditio 
sine qua non. Im Verlauf unferer Abhandlung werden fi die 
Gründe von felbft ergeben. — Ober follte die Internationa⸗ 
tät an dem MWiderftand der Nationen fcheitern? Auf dem lebten 
internationalen Congreſſe zu Gent bat der Deutfche Liebknecht 
fih der Abſtimmung enthalten, als die Romanen forderten, das 
Wort „Anarchie“ als Ausdrucd ihrer Beftrebungen führen zu 
dürfen. Die Deutfchen reden fpottend von den „Anarchiſten“, und 
diefe nennen die Deutfchen „Autoritarier“. Die Anardiften oder 
Söderaliften behaupten nah Proudhon, durch die wirthfchaft- 
liche Organifation im Sinne des Socialismus werde die geſellſchaft⸗ 
lihe Ordnung unmittelbar fo volllommen gefhaffen und er- 
halten, daß eine bejondere Regierungsgewalt gar nicht nothwendig 
werde. Die gefellichaftliche Drdnung jet eben die Regierung, und 
an bie Stelle des Geſetzes trete der Vertrag. Die Deutfchen 
wollen Centralifation ftatt Föderalismus der einzelnen wirtbfchaft- 
fihen Gruppen oder Communen und fordern ftramme Oberleitung 
für das Ganze. — Bon felbft verftändlid — mit der jeßigen 
Regierungsgewalt machen fie auch) tabula rasa, aber im focialiftijchen 
Gemeinmejen: Centralifation und ftramme SOberleitung! — Ob 
die „Poſt“ Recht Hat, wenn fie fchreibt: „Bei den Socialdemotraten 
ift ſchon eine Ariftofratie fir und fertig, die an jenem Tage in 
den vollen Genuß ihrer Rechte eintritt, wo die Socialdemofratie 
die Erbfchaft der heutigen Gefellichaft antreten wird"? Unſeres 
Erachtens trifft fie den Nagel auf den Kopf. 

2. Im Winter 1869 ſah ich die weibliche Linie der Sa 
cialdemofratie, die Gräfin Hatzfeld, (fie Hat jegt ausgefpielt) 
mit ihrem damaligen Adlatus Mende auf dem Bahnhofe zu 
Langenſalza. Es wurde dort noch gebaut, unb viele Bauarbeiter 
waren beſchäftigt. Da fragten Mende und die Gräfin nach bem 
Lohne, fanden ihn natürlih völlig unzureihend und warfen den 
Zunder der Unzufriedenheit in die Seele der Gefragten. Und bie 














Socialismus und Socialreform. 631 


Tragenden? Herr Mende, ein vollendeter Stuger in Glanzſtiefeln 
und Glackhandichuhen, und die Frau Gräfin im Hermelinpelz! 
Dies Genrebild ift bezeichnend. So find fie alle — die Mader! 
diefer Laſſalle zumal! Gerade zur rechten Zeit erfcheint das Buch: 
„Eine Liebesepifode aus dem Leben Laſſalle's.“ Hätte man noch 
gezweifelt, was für ein Menſch diefer Agitator geweien, — jet 
tritt er in das rechte Licht. Und diefen zügellofen Genugmenfchen 
voll halb irrfinniger Selbftüberhebung erfrecht man fich dem armen 
Volke als Gegenftand religidjer Verehrung zu bieten! — Aus den 
Herzen folder Genußmenſchen kommt fein fchmerzliches „mid 
jammert des Volkes“, wol aber benugen fie jchamlos feine Noth 
zum Piedeſtal ihres Ehrgeizes. Achtung und Freiheit dem Arbeiter, 
der ſich geiftig Über das Niveau der Seinen erhebt, die foctalen 
Schäden erfennt und zu beffern jucht, aber Verachtung und Feſſeln 
ſolchen Heuchlern! — 

Doch gerathen wir nit auf Irrwege, wenn wir von „Machern“ 
reden? „Die Tächerlichfte und gedankenloſeſte Anfchauung iſt's“, 
fagt Adolf Held), und Karl Bücher?) nennt's „unverant« 
wortlichen Leichtfinn, wenn man fi damit begnügt, die ganze 
moderne Bewegung als eine ‚künftlich gemachte‘ zu erklären“. — 
Prüfen wir die Sadlage sine ira et studio. Recht unterrichtend 
ift eine DVergleihung des Socialprogrammed des „Centralvereins 
für das Wohl der arbeitenden Klaffen in Preußen” vom 14. April 
1848 mit ben Programmen der deutfchen Socialdemofraten 
(j. Congen a.a. DO. ©. 146 f.). Mitten im Nevolutionsjahr 
ein Socialprogramm, dad wie eine Friedenstaube- ift gegen die 
Sturmpvögel, die unjere Sorialiften ausfenden. Jenes Programm 
ift ein befonnenes Vorgehen zur Beſeitigung focialer Meisftände, 
dieſe athmen den Geift des Socialismus, und eben das, 
was hHinzulommen muß, um ein Socialprogramm zur 
Deförderung des Wohles der arbeitenden Klaffen zu 
einem focialiftifhen zu madhen, eben das ift das 
„künſtlich Gemachte“, es ift importirte Waare. O wenn 


1) 4. Held, Socialismus, Socialdemokratie und Socialpolitil, ©. 35. 
s) H. Contzen, Gefchichte der focialen Frage, S. 111. 


f82 Trümpelmann 


man dody in den fünfziger Jahren auf der Bahn jenes Programmes 
vom 14. April 1848 feft und treu vorwärtd gegangen ‚wäre! 
In jenem Programm heißt e8 unter anderem: „Habt Ber 
trauen zu dem neuen Geift, der durch die Welt geht: feine Macht 
ift die Macht ber Wahrheit und des Guten, feine gewaltige Kraft 
wendet die Herzen der Befigenden mehr und mehr eurem 
Lofe zu, wir vertrauen ihm, wir vertrauen Euch.“ Die Ber 
faffer des Programms dachten zu ideal. Hätte ber Geift des 
Jahres 1848 diefen Erfolg gehabt, die Herzen der Befigenden dem 
Loofe der Arbeiter wirklich ganz und gar zugewandt zu haben, fo 
könnten wir das Revolutionsjahr in diefer Beziehung ſegnen; aber 
leider war das nicht der Fall, jedenfall nicht jo weit, als nöthig 
war, die Wandlung der foctalen Frage zum Socialismus oder richtiger 
die Importation desfelben zu verhindern. Im nächften Abfchnitt 
wird der Unterfchied zwifchen beiden noch näher firirt werden. 
Große Nothftände der arbeitenden Bevölkerung waren aller 
dings zu beflagen. Ueberzeitige Alltags- und Sonntagsarbeit; 
unzureichender Lohn des Familienhauptes und darum Frauen⸗ und 
Kinderarbeit, durch diefe wieder Herabminderung des Lohnes und 
Beſchränkung der Münnerarbeit; Auflöjung oder doch Verkümme 
zung des Familienlebens; zu Haufe Wohnungen, die nicht beifer 
find als Ställe, die mechanische Thätigleit des Arbeiters an der 
Maſchine; im Unglüd und im Alter die totale Verarmung: war- 
lid ein freudlofes Dafein, ein Leben der Hoffnungslofigkeit! — 
Wie befreiend aus der Haft wirkte das Gefeg über die Aſſocia⸗ 
tionsfreiheit, und da der capitaliftiiche Großbetrieb die Arbeiter in 
Maſſen nad einzelnen mduftriecentren gezogen und dort für 
die Genoffenfohaft unmittelbar dreffirt Hatte, jo war diefe auf 
mit dem Erjcheinen des Geſetzes fertig. — Die Arbeiter hatte 
nın das Mittel, gegen Ausfaugung jich zu wehren. Socialiften 
aber brauchten fie deshalb nicht zu werden. ALS Laffalle von 
dem Leipziger Komite zur Berufung eines „allgemeinen deutſchen 
Arbeitercongreſſes“ in Anfpruch genommen wurde, hatte er bereite 
feine Agitationsrede „über den befonderen Zujammenhang der gegen 
wärtigen Gefchichtsperiode mit der Idee (!) des Arbeiterftandes’ 
gehalten, d. h. die focialiftiiche Agitation war bereit eingeleitet. 








Socialismus und Socialreform. 638 


Die Lage der arbeitenden Glaffen war in England wol trau: 
tiger als bei und, wie bie Mitteilungen von Mare in feinem 
„Capital“ bemweifen. Die Gefetgebung nimmt fich endlich nach 
‚lange geübter rückſichtsloſer Härte im freundlichen Sinne ber Arbeiter 
an, und e8 fommen die Trades’ Unions zu Gedeihen und Macht, 
jene freien Vereinigungen mit dem Zmede, das Intereſſe der Ar- 
beiter der Uebermacht des Großcapitals gegenüber zu wahren, 
Einfluß vor allem auf die Lohnfrage zu gewinnen. Sie erreighen 
dies dadurch, daß fie den Arbeitsmarkt bis zu einem gewiſſen 
Grade felbft reguliren, durch Ueberführung von Arbeitermaffen in 
andere Diftricte, ja über den Ocean ein zu großes Arbeitsange- 
bot verhindern, und fo die Arbeitsnackhfrage in Spannung er» 
halten; der anderen, von diefer Vereinigung gefchaffenen groß- 
artigen Einrichtungen zum Wohle und Behagen des Wrbeiters 
gar nicht zu gedenken! ?) Es iſt das eine Bereinigung ad hoc; 
fie leiftet für ihren Zwed das Größte und ift doch nicht Socialiftiich, 
denn fie hat. feine politifche Tendenz, ja jie verbietet daS Verhandeln 
über politifhe Dinge bei hoher Geldftrafe ?). — Uns in Deutſch⸗ 
land dagegen fcheint es beſchieden zu jein, daß jedem Streben nad 
Socialreform ein politifher Beigeſchmack gegeben werden muß, 
damit es gleich für weite Kreife der Bevölkerung gründlich die- 
ereditirt fei. So marſchiren die „Chriſtlich⸗Socialen“ der katholischen 
Kirhe im Dienfte des Ultramontanismus, die Gewerfvereine 
„Dunder und Hirſch“ im Solde der Fortſchrittspartei. Diejen 
Sehler hat auch die neugegründete chriftlich-fociale Arbeiterpartei in 
Berlin begangen; vielleicht freilih war er, wie die Dinge num 
einmal liegen, nicht zu vermeiden. Immer bleibt’8 ein trauriges 
Zeichen unferer Zeit, daß dies fo fein mußte. Es hätte ſich jonft 
ein Reformprogramm entwerfen laffen, welches der Zuftimmung 
aller gewiß fein fonnte, während das jegige mit jeiner immerhin 
tocialiftiichen Färbung die Befürchtung mahelegt, daß es fid) doch 
wol erit im Socialiftenftante realtfiren laſſen dürftel — 
Die fociale Frage iſt alt, uralt; auch in unferem Volke drängte 
fie fih jeit lange lebhaft zur Beantwortung in den Vordergrund. 
1) Mehring a. a. O., ©. 186. 

2) Bgl. Contzen, Geichichte der ſocialen Frage. 





634 Trümpelmann 


Die angeführten Uebel und die focialen Verſchiebungen, namentlich 
die theilweife Auflöfung des Handwerkerftandes und das Eropfähns 
liche Anfchwellen von Capital in den Händen einzelner mußte 
Beſorgnis erweden und eruftlih zu Reformgedanken auffordern; 
aber das, was unferen Socialismus zu dem macht, was er ilt, 
zum politifchen und wirthichaftlichen Radicalismus, das ift das 
„Künftlih Gemadte‘. Wenn gelehrte Nationalölonomen auch den 
Socialismus als irgend eine Seite irgend eines wirthichaftlichen 
Princips irgend einer Nationalölononomie früherer Zeit begreifen 
und darin die biftorifche Begründung desfelben finden wollen, fo 
ift das eine andere Sache: aus der Noth unferes Volkes heraus 
aber ift er nicht geboren; er weiß diefe Noth nur geſchickt zu benugen. 
Mean nehme doc nur das „Capital von Marr zur Hand, dieſes 
Bud) der Sophismen. Das ift der wiſſenſchaftliche Unterbau des 
Sorialismus. Nun? ift diefer wirthfchnftliche Radicalismus 
wirflih die nothbwendige Conſequenz unfeser gefell- 
ſchaftlichen Verhältniſſe? Nein, er ift ihnen künſtlich aufge: 
ziwungen worden und fließt jelbft aus anderer Quelle (f. 3). Alter 
dings gibt es jet auch Conſervativ⸗Sociale, welche die wirthfchaft- 
fihen Behauptungen diefes Buches für abjolute Wahrheit Halten. 
Wir Deutfche find eben wunderliche Leute. Wenn das Syftem nur 
Schluß Hat, der Begriffsjhematismus in Ordnung ift, dann 
iſt's Wahrheit und — Wirklichkeit! Dann geht die Sache, d. h. im 
Kopfe; das Leben aber fpottet ber Begriffe. — 

Die Gabe des allgemeinen, directen Wahlrechtes kam der Agi⸗ 
tation natürlich fehr zuftatten. Der vierte Stand Ternte fi in 
feiner Stärke kennen. Das theoretiihe „Der Staat find die 
Arbeiter“ fchien jih in der Praxis zu bewähren. — Der Socia⸗ 
lismus verlangt die weitere Ausdehnung dieſes Nechtes auch auf 
Landtages und Bommunalwahlen, und die „chriftlich- focialen 
Blätter“ (Kath.) reden biefer Yorderung das Wort. Das Vers 
fangen der Socialiften dagegen, daß das active Wahlrecht noch 
einem jüngeren Lebensalter zugeftanden werden müffe, als es bis 
jegt geſchehen, jcheint Treitfchle Recht zu geben, der die Ber» 
leihung des allgemeinen directen Wahlrechtes überhaupt einen poli⸗ 
tiſchen Fehler nennt. — Bon verſchiedenen Seiten taucht jegt im 








Socialismus und Socialreform. j 635 


Gegenfag jener extremen Forderung der Socialiften der Wunſch 
auf, man möchte den Muth Haben, mit diefem Rechte, welches ben 
Menfchen nur in feiner Vereinzelung berüdfichtige, aufräumen, und 
es ausichlieplich auf die Häupter der Familien, diefer Grundlage bes 
Staates übertragen, ficherlich ein recht wirffames und vor der Ver» 
nunft unmittelbar fich vechtfertigendes Mittel gegen den Socialismus. 

3. Aus dem vorigen Abfchnitt geht hervor, daß ich zwifchen 
„locialer Frage" und „Socialismus“ ſcheide. Diefe Scheidung 
Teint mir nothwendig. Bereit vor mehr als einem Jahre ſprach 
ich mich darüber in einem Artikel der „Deutfchsevangelifchen Blätter“ 
aus. Die „fortale Frage” ift die Frage nad der Hebung der 
arbeitenden Claſſen, um dadurch das gefellichaftliche Gefüge gefund zu 
erhalten; der „Socialismus“ ift ein politifch-philofophifches Syſtem. 
Es könnte dem Arbeiter vollkommen binreichender Lohn, vielleicht 
Theilnahme am NReinertrage gewährt werden, er könnte für das 
arbeitsunfähige Alter durch Invalidencaſſen fichergeftellt fein, er 
könnte mit Weib und Kind, welche das Haus nicht mehr im Dienfte 
der Fabrik zu verlaffen brauchen, in freundlicher, gartenumgebener 
Wohnung ein durchaus menfchenwürdiges Dafein führen: — der 
Socialis mus würde damit nicht zufrieden und alfo auch nicht über» 
wunden fein. — 4. Held fagt): „Aus dem Gefagten geht das 
eine hervor, daß das innerfte Wefen der Socialdemofraten die 
leidenfchaftliche Abficht und der bewußte Wille, radicalen Umfturz 
herbeizuführen, if. Wegen diefer vorwiegenden Tendenz in&befons 
dere ift e8 durchaus nöthig, zwifchen Socialismus und Socialdemo- 
fratie ſcharf zu unterfcheiden.” Gefällt diefe Unterfcheidung beſſer 
als die von mir beliebte, jo ſoll's mir recht fein, nur dünkt mid, 
dag das Wort „Socialismus“ ſchon zu jehr in deteriorem partem 
ausgeprägt worden ift, als dag man es noch in dem indifferenten 
Sinne, wie Held will, gebrauchen Tann. lan verbinde und unter« 
fheide doch Lieber fo: „fociale Frage und Socialreform (Social 
politif)“, unterfchieden von: „Socialismns und Socialdemofratie". 
Soriale Frage als Subftrat der Socalreform, Socialismus als 
Subftrat der Sorialdemofratie. — 


1) a. a. O., ©. 28 u. 29. 


686 Trümpelmann 


Wir begegnen fehr häufig der Meinung, als ftehe der polttiide 
und religiöfe Radicalismus der Sorialdemofratie in feiner organi« 
schen Verbindung mit ihren wirthichaftlihen Forderungen, er fe 
nur Accidenz, und fo glauben ‚die einen ohne Gefahr mit den wirt 
Ichaftlichen Forderungen des Socialismus fympathifiven , ja ihnen 
das Wort reden zu dürfen, 3. B. Scäffle, Todt, während bie 
anderen, die Verwirklichung diefer Forderungen fiir unmöglich haltend, 
die Barole ausgeben, der Kampf gegen den Socialismus fei vor 
allem und ausſchließlich auf wirthſchaftlichem Gebiete zu 
führen, 3. B. Geffken, beide im fchmerer Tänſchung befangen. 
Die mirtbfchaftlicde Grundforkerung des Socialismus ift ebenio 
ſehr aus dem politiſch⸗ religiöfen Radicalismus erwachſen, mie fir 
mieder al8 Mittel zu deſſen Verwirklichung dient. 

Das bereit erwähnte Schriftchen „eines praftiihen Staat 
mannes“: „Kritik von Schäffle's Duinteffenz des Socialismus' 
gipfelt darin, daß es Schüffle zum Vorwurf gemadt wird, nur 
das Wirthſchaftliche berüdjidhtigt und den „Haupt und faft aus⸗ 
ſchließlichen Inhalt der gegenwärtigen Agitation mit Stilifchweigen 
Übergangen zu haben“. Und Seite 17 Heißt ed: „Der Socialis— 
mus ift feineswegs ein auf die bloße volkéewirth— 
Ihaftlide Production beſchränktes, einfeitiges, fon 
dern ein allgemeines, das geſamte menjhlihe Wefen 
und Neben umfafjendes Syſtem, deffen einzelne Be— 
ftandtheile um deswillen auch nidt ifolirt, fondern 
nur in ihrem Verhältnis zur Gefamtheit behandelt 
werden dürfen.“ Aber fchon im nächſten Sage, fo viele Wahr: 
heit er auch enthält, jehen wir die richtige Erkenntnis durch falick 
Beimiihung fih trüben, und auf S. 20 Iefen wir dann einen 
Ausſpruch, der mit dem eben angeführten im Widerſpruch fteht. 
Die Säge lauten: „Nicht minder refultirt daraus, daß alle dir 
jenigen bewußte oder unbewußte Mitarbeiter der fociafiftifchen Agi⸗ 
tatoren find, welche den Zerftörungstrieb des Socialiemus im der 
einen oder -anderen Richtung fördern und pflegen und damit indirect 
die Hand dazu bieten, für die immerhin noch unklare ſocialiftijche 
Neubildung tabula rasa zu maden. Wir glauben dies um fe 
mehr betonen zu follen, als nach unferer Ueberzeugung die eigent- 





Socialismus und Sociafreform. 637: 


lihe Gefahr des Socialismus und insbefondere feine umftürzende 
Kraft weniger in feinen ſpeciellen volfewirthichaftlichen Beftrebungen (?) 
als in feinen darüber hinausgehenden Tendenzen befchlofien ift. Denn 
‚nicht allein, dag durdy diefen Zuſammenhang auch feine volfswirth- 
ſchaftlichen Beſtrebungen ihre eigentümlihe Färbung und ihren 
jpecififhen Charakter (I) erhalten, jo wird. auch die weitere 
Entwidlung dadurch bedingt, daß mit der Befeitigung alles befien, 
was der Socialismus auf anderen Gebieten als des. Untergarnges 
wertb bezeichnet, diejenigen Correcturen verloren gehen, durch welche 
die vollswirthichaftlichen Projecte fich allein erträglich und Heilfam 
geftalten könnten.“ So kommt es fchließlich dahin, daß der Kritiker 
Herrn Schäffle in abstracto Recht gibt, wenn diejer behauptet, mit 
der Umgeftaltung ımferer volfswirthichaftlichen Berhältniffe jet jede 
andermweite radicale focialiftifche Ummwälzung keineswegs von felbft 
gegeben oder auch nur gefordert und es „erheifchten die volkswirth⸗ 
Ihaftlihen Boftulate der focialen Partei an ſich keineswegs Atheis⸗ 
mus, Religions. und Kirchenfeindfchaft“, und daß er nur in concreto 
bervorhebt, es wären doc immerhin diefelben Leute, welche: jene 
volfswirthfchaftlichen Wandlungen und diefen radicafen Umfturz 
verlangten, fo daß fchlieklih — das foctaliftiiche Syſtem, deffen 
Umfang und Gefcdjloffenheit S. 17 hervorgehoden wurde, ſich in 
feiner Einheitlichleit auflöft und die beiden Seiten des Socialismus, 
die volkswirthſchaftliche und die politifche und religiös» radicale nur 
zufällig in denfelben Leuten verbunden erfcheinen; eine Auffaffung, 
die einem praftifhen Staatsmanne genügen mag, die fidh aber 
thatfächlich. von der Schäffle'ſchen kaum unterfcheidet. 

Um Klarheit in die Sache zu bringen, ift vor allem feitzuftellen, 
was unter den „ſpeciellen volkswirthſchaftlichen Beftrebungen des So⸗ 
cialismus“ zu verſtehen iſt. Sind's jene Forderungen, deren Ver⸗ 
wirklichung man ſchon vom Staate der Gegenwart heiſcht, 
fo iſt obige Behauptung richtig; iſt's aber jene vollswirthſchaftliche 
Forderung, deren Realifirung vom Zukunftoſtaate erwartet wird, 
oder, was dasſelbe ift, mit Hülfe deren man den Zukunfts⸗ 
ftant realifiren will, fo- ftegt fie zu dem politiſch⸗religiöſen 
Radicalismus im engfter und organifcher Beziehung, und vers 
bindet fich mit ihm nicht bloß zufälligermeife in gewiſſen Perfonen: 


638 Trüämpelmann 


Marx und Engels find wirklich confequente Denker, und fie willen 
ganz genau, welche Tragweite ihre volfswirthichaftliche Grund⸗ 
forberung hat. — Es ift mir volllommen erflärlih, warum Scäffle 
mit dem Socialismus und feinen wirtbfchaftlichen Forderungen fo 
vielfah ſympathiſirt. Ich möchte diefe Sympathie nicht, wie 
A. Held, von Schäffle's „Föderalismus” herleiten, ſondern aus 
feinem Naturalismus, feinem bdarminiftifchen Aufbau der Geſell⸗ 
ſchaft, ihre fittlihen und Nechts - Begriffe eingeichloffen. 

Auh Pfarrer Todt, mit deilen Buch: „Der radicale deutſche 
Socialismus u. f. w.“ wir uns noch mehrfach auseinander 
fegen haben werden, erklärt den religiöfen Radicalismus der focialen 
Partei nur für ein Accidenz. Ihren vollswirtbichaftlichen Forde⸗ 
rungen redet er das Wort und zerrt das neue Zeftament zu feiner 
Unterftügung heran. Er hält den ſocialiſtiſchen Vollsftant vom 
wirthihaftlihden Standpunkt für möglid (S. 226) und 
nicht mit den liberalen Vollswirthen für unmöglid. Sollte das 
legte „und“ vielleicht nicht bloß verbindend, fondern auch begründend 
fein? Auch der politifhe Radicaliemus macht ihm weniger Bein. 
Er ahnt, dag der fociafiftifche Genoſſenſchaftsſtaat die monarchiſche 
Spige nicht verträgt, allein die Republik entſpricht ja aud am 
meiften dem Geifte des Ehrijtentums, und wenn diefer Geift 
exit die Volker mehr durchdrungen haben wird, fo wird ſich die 
Republik als das Ziel ihrer politiihen Beſtrebungen herausſtellen. 
Für jest freilid — nein, noch nit — und für uns Deutfche? — 
Herr Todt hat Gründe, anzunehmen, daß für und Deutſche die Re 
publik nicht paßt. Er erhofft die Hülfe darum „von oben“, d. 5. vom 
Haufe der Hohenzollern. — Aber, und darauf kommt es une hier ja 
zunächſt an, der „religiöfe Radicalismus, der Atheismus“ ift nad 
ihm nur Accidenz. „Aus Nützlichkeitsrückſichten wendet ſich der Socialift 
dem Atheismus zu, und weil es die materialiftifche Zeitftrömung 
fo mit ſich bringt. In der Sache felbft Liegt es durchaus nicht.’ 
(S.78.372.) Was will nun aber Pfarrer Zodt damit fagen, wenn 
er ſchreibt: „Unfere radicalen deutfchen Socialiften find Atheiften 
geworden, weil fie eben zuerft Socialiften waren; nicht aber find 
ſie Socialiften geworden, weil fie vorher ſchon Materialiften 
waren?" „Weil fie Socialiften waren“, Tiegt darin nicht eine 





Soctalismus und Socialreform. 639 


Begründung? oder gebrauchte Herr Pfarrer Todt das Wort „weil“ 
etwa für „obgleih"? „Obgleih“ Hätte er fchreiben müffen, aber 
unwillfürlih jchrieb er „weil“; er empfand eben, daß zwifchen 
Socialismus und Atheismus verwandtfchaftliche Bande ſich fchlingen. 
Die atheiftifh-materialiftifhe Weltanfhauung hat 
für die Praxis zwei Ausläufer: rüdfichtslofen, extremen 
Yndividualismus und rüdfihtslofen, ertremen So— 
ctalismus, beide mit der Depvife: „Kampf ums Das 
fein“. Sr. Mehring madt (a. a. O., ©. 155) die Bemerkung, 
„daß die Socialdemokratie, die heute den reinen Communismus 
vertrete, feinen tödlicheren und unverföhnlicheren Feind babe, als 
den Darwinismus, und daß, wenn fie gelegentlich mit demfelben 
eoquettire, es felbjt in unferer an Nonjens eben nicht armen Zeit 
feinen hößeren Gipfelpunkt des Widerfinns gebe. Denn der Dar 
winismus in feinen beiden Hauptjägen, dem Kampfe um's Dafein, 
welcher ber größeren Kraft das größere Recht verleiht, und der 
natürlihen Zuchtwahl, die unabläßig auf eine ariftofratifche Glie⸗ 
derung der Geſellſchaft drängen, fchlage den Communismus pur 
et simple todt.“ Herr Mehring ſpricht das fo beftimmt und in 
fo ſtarken Worten aus, daß es faft verwegen erjcheint, dagegen 
etwas einzuwenden, und dod muß es wol gefchehen, zumal wenn 
man der Ueberzeugung ift, daß fih Herr Mehring pur et simple 
irrt. Wenn man über die DVerwandtfchaftlichfeit zweier Geiftes- 
ftrömungen ein Urtheil gewinnen will, muß man fie nicht in ihren 
Ausläufern zufammenhalten, fondern nad ihrer Wurzel ſuchen. 
Die Wurzel beider nun, de8 Darwinismus und des Socialismus, 
ift der pure und fimple Naturalismus. Die Gefhichtsanfchauung 
ber Socialijten, die nur einen Kampf der materiellen Intereſſen 
kennt, ift durch und dur darwiniftifh; nur gehen fie darin weiter, 
als die Naturforfcher mit ihrer Sadgafjentheorie für beftimmte 
Thier- und Menſchenelaſſen, daß fie jagen: „was mechaniſch ge» 
worden, läßt fid) auch mechanisch d. H. durch Wandlung der äußeren 
Verhältniſſe wandeln”. Sie find alfo die eigentlich Conſequenten 
in der Anwendung des naturaliftiichen Erflärungsprinceips. Und dann 
muß dod Herr Mehring wilfen, dag nad) Darwin auch das Her- 
denleben der Thiere ein Schugmittel im Kampfe um's Dafein ift 





6“ Trümpelmonn 


und zwar ein jehr erfolgreiches. Darum iſt für das Gefellichafte- 
thier Menſch die Genoifenichaftsarbeit mit Gelellichaftebefig viel⸗ 
leicht das Mittel aller Mittel, um im Kampfe um's Dafein fiegreich 
zu beftehen. Endlich aber füme «8 danach für die Socialiften nur 
darauf an, die größere Macht zu erwerben, um damit das 
größere Recht gewonnen zu haben. Der Darwinismus fchlügt 
den Socialismus nicht tobt, fondern unterftüßt ihn durchaus. — 
Pfarrer Todt weift auf äftere Socialiften hin, die nicht re 
(igiößsradical gewefen feien. Ich bemerfe: das waren dann eben 
feine correcten, radicalen Socialiften; es waren fociale Reformer. 
In dem Grade jedoch, als ihre Reformen dem wirtbichaftlichen 
Radicalismus fib näherten, fprangen auch ihre Schüler 
feihter zum religiöfen Radicalismus über. Pfarrer Todt ift 
offenbar nur um deswillen jo viel daran gefegen, den Atheis⸗ 
mus al& nicht zum Weſen des Socialismusd gehörig erfcheinen zu 
laffen, weil er nur fo hoffen darf, die volkswirthſchaftlichen Forde⸗ 
rungen des Socialismus chriſtlich etiquettiren zu fönnen. Ich 
betone da8 Wort etiquettiren, denn über die Etiquette, die 
Affihe, geht's thatfählih nicht hinaus. Ich wieberhofe: der 
Socialismus ift ein zufammenhängendes, in fi ge 
fhloffenes politifch »philofophifhes Syſtem, aus 
einer beftimmten Weltanfhauung hervorgemadjfen 
und fih nur in wirthfchaftliden Forderungen den 
nädhften Ausdrud gebend. — Ye mehr der Leute auftauchen, 
die da jagen: der Socialismus fei in wirthfchaftlider Beziehung 
eigentlich unverfänglih, und fein Radicalismus fei nur Necidenz, 
defto mehr werden die Sociafiften fi) in’s Fäuftchen lachen , denn 
fie wiffen beffer, was die Confequenz ihrer wirthſchaftlichen Grund» 
forderung ift. 

Unfere Confervativ » Socialen zollen den focialen Reformbe⸗ 
ftrebungen der katholiſchen Kirche ungetheilten Beifall. So möge 
denn ein Urtheil der „Chtiſtlich⸗ſoelalen Blätter“ diefe Herren ber 
lehren. Auf die Frage: „ob der Haß, den der radicale Socialis⸗ 
mus der Religion entgegenbringt, zum Weſen desſelben gehöre oder 
nur Wceidenz fei”, geben fie die Antwort: „Soviel ift gewiß, jo 
lange der radicale Socialismus mit der allgemeinen, eventuell 





Socialiemus und Socialreform. 641 


zwangsweiſe durdyguführenden Beſeitigung des Privatcapitals 
ſich trägt, ſo lange er radical bleibt, iſt er mit der chriſtlichen 
Religion, mit ben chriſtlichen Anſchauungen von Eigen— 
tum und ftaatliher Autorität durdaus unvereinbar. ‘Das 
fühlen die Vertreter des radicalen Socialismus wohl, und darin 
fiegt der tiefere Grund ihres Hafjes gegen Religion und Chriften- 
tum, welcher nidt etwas bloß zufälliges ift.“ Die 
„Ehriftlich-focialen Blätter” jehen alfo den Radicaliemus nicht bloß 
in der „zwangsweilen“ Einführung der wirthichaftlihen Umgeſtal⸗ 
tung wie Pfarrer Todt, fondern in der Art diefer Wandlung, und 
finden in diefer den tieferen Grund für den Atheismus der focialen 
Bartei. Die Socialiften felbft aber faffen den Socialismus als 
ein Syſtem und verwahren fi) dagegen, daß man ihre wirth⸗ 
schaftlichen Grundſätze als indifferent berauszunehmen und für fich 
zu behandeln verſuche. „Es muß offen ausgejprochen werden“, 
Schreiben fie in die Welt hinaus, „daß nur die materialiftifche, 
vielleicht beſſer moniftifhe Weltanfhauung, wie fie durd bie 
moderne Wilfenjchaft von Tag zu Tag fefter begründet wird, den 
Grundjägen des Socialismus entfpricht und ihnen die 
breite Basis gibt, auf welder fie fih zu einem abge» 
Thloffenen Bau erheben können.“ Und die Zeitfchrift „Neue 
Geſellſchaft“ ruft dem von Pfarrer Todt und Genoffen gegrüns- 
deten „Staatsfocialift“ höhnend zu: „So fehr es ihn (den Staats⸗ 
focialift) auch härmen mag, bei den von der neuen Weltan» 
Ihauung des materialiftifch-atheiftifhen Socialismus 
durchdrungenen Arbeitermafjen wird er wenig Glück haben.“ So 
wollen wir uns denn von Socialiften über ihr Denken und 
Wollen belehren Laffen, und drei» und viermal überlegen, ehe wir 
ihren wirthſchaftlichen Grundforderungen vorfchnell das Wort reden 
und diefelben für fehr wohl realifirbar erklären. 

4. Die wirthfchaftlihe Grundforderung des Socialismus (am 
tiebjten fchriebe ich gleich: das Wejen des Socialismus) ift diefe: 
„jtaatlihe Organifation der Gefamtarbeit unter Ueberführung 
alfer Arbeitsmittel aus dem Einzelbeſitz in Gefellichaftsbefig und 
unter Normirung des gejellichaftlichen Durchfchnittsarbeitstages als 
Werthmefjers für die (gleiche? vernunftgemäße?) Theilnahme der 

Zheol. Etub. Sahrg. 1878. 





642 Trümpelmann 


Arbeiter, d. h. aller Bürger an den Arbeitserzeugniſſen als Ge⸗ 
mußmitteln“. Das iſt's alſo? und das ſoll fo bedenllich jein? 
„Organiſation der Geſamtwirthſchaft'? alſo Beſeitigung der 
jetzigen Wirthſchaftsanarchie mit ihrer Ueber⸗ und Unterproduction, 
ihren Krachen und Krifen! „Staatliche Organiſation“? alſo ein 
ſtarkes Staatsweſen an Stelle des liberaliftiſchen Nachtwächter⸗ 
ftantes! Ueberführung der Arbeitsmittel” — alſo nad und 
nach, hübſch langſam! — „aus dem Einzelbefit in Gejamtbefig”, 
allerdings, nun ja, man muß fi erit daran gewöhnen, aber t6 
fol doch nicht gefchehen ohne Entfchädigung, und es Hat ja früher 
auch manigfachen Gemeinbeſitz gegeben, mobei ſich die Geſellſchaft 
wohl befunden; eben jet tilgt die Separation die legten Erinne 
rungen an diefen Gemeinbeſitz aus, umd es fcheint gerade die rechte 
Zeit zu fein, diefen Weberführungsprocek einzuleiten, denn die 
Heinen Eriftenzen find bereits, die mittleren werden immer mehr 
aufgefogen von dem Großcapital, das zuleßt allein auf dem Plan 
bleiben wird; beffer doch die Productionsmittel zum Geſellſchafts⸗ 
eigentum macen, als fie immer mehr aus dem Cheilbefig der 
großen Menge in den Einheitsbejit des Großcapitaliften übergehen 
zu laffen. „Der gejellfchaftlihe Durchſchnittsarbeitstag ale Werth 
meſſer“, iſt das nicht die Nobilitirung der Arbeit und der Schuk 
des Arbeiters, daß er feine Arbeit d. h. fich felbft nicht mehr auf den 
Markt zu bringen braucht? daß das willfürlihe Ausraubunge 
und Auspreffungsiyften der menfchlichen Kraft, das Lohnfyſtem, 
mit allen feinen Härten ein Ende findet? Und endlich „vernunft- 
gemäße Theilnahme aller Arbeiter an den erzeugten Genußmitteln’ — 
das heißt der Arbeit ihren vollen Ertrag gewähren, und es wird 
dies zu einem Siege der Gerechtigkeit. — Alfo, was ift jo 
entjegliches an diefer Grundforderung der Socialiften? Es ſcheint, 
als müßte jeder, der ein warmes, chriftliches Herz in der Brufl 
bat, ſich fofort in die Neihen der Vorkämpfer für jene Forderungen 
einjtellen. Und die organifche Verbindung biefer wirthſchaftlichen 
Forderung mit dem politifch=religiöfen Radicalismus der Social: 
demofratie nachzuweifen, dürfte, fo ſcheint's, denn doch feine beſon⸗ 
deren Schwierigkeiten haben. — — 

Ede ich auf die Sache felbft eingehe, fei mir zuvor die kurze 














Socialiemns und Socialreform. 645 


Bemerkung geftattet, daß ich in meiner Formel für die focialiftifche 
©rundforderung die beiden Wörter „gleiche und „vernunftgemäße” 
um beswillen in Klammer gefdloffen und mit Fragezeichen ver» 
jehen habe, weil fich jet im deutichen Socialismus über die Löh⸗ 
nung oder Vergätung der im Zukunftsſtaate geleifteten Arbeit zwei 
ſehr verjchiedene Anfichten bekümpfen. Die einen fordern eine 
Löhnung nach Leiftung, die anderen gleichen Lohn ohne Rückſicht 
anf die verſchiedene Leiſtung. Man verzeihe uns die Wörter „Lohn 
und Löhnung”, die ja allerdings von den Politikern des Zukunfts⸗ 
fiaates verächtlich zurücdgewiefen und durch das Wort „Arbeits- 
entihädigung“ erjet werden. Wir werden bald Gelegenheit haben, 
diefe ſocialiftiſche Streitfrage noch näher zu erwägen. — 

Um die vollswirthfchaftliche Grundforderung des Socialismus 
richtig zu verfiehen, gilt es, nad ihrem treibenden Gedanken zu 
ſuchen. Die Soclafiften laffen und nicht in Verlegenheit. Marz 
fagt: „Die Gefamtheit der Productionsverhältniffe bildet die 
öfonomifche Structur der Geſellſchaft, die reale Baſis, worauf ſich 
ein juriftifher und politifcher Weberbau erhebt, und welcher bes 
ftimmte gefellfchaftliche Bewußtſeinsformen entfprechen. Die Produc- 
tionsweife des materiellen Lebens bedingt den foctalen, politifchen 
unb geiftigen Lebensproceg überhaupt.” Dr. U. Mühlberger 
erzäplt (N. Geſellſchaft, S. 299), Mare halte fi fir den Ent- 
decker diefes Geſetzes, und fein Freund Engels habe ihn als folchen 
proclamirt. Proudhon aber fagt fon: „Die Gejchichte bes Eigen» 
tums eines Volkes fchreiben, heißt jagen, wie diefes Volk die Krifen 
feiner politifchen Formation durchgemacht, wie es feine Öffentlichen 
Gewalten, feine Organe’ gefehaffen, wie feine Kräfte in’s Gleich⸗ 
gewicht geſetzt, feine Interefſen geregelt, feine Bürger ausgeftattet 
hat; wie e8 gelebt hat, wie es geftorben ift. Das Eigentum ift 
das fundamentalfte Princip, mit Hülfe defjen man die Revolutionen 
der Geſchichte erklären kann.” Y) Dr. Mühlberger formulirt denſelben 
Gedanken folgendermaßen: „Die Eulturgefhichte der Menjchheit 
ift identifh mit der Entwicdlung ihrer Productionsverhältniffe 
oder mit der Gefchichte des Eigentums. So lange diefe öfono- 


2) N. Geſellſchaft, S. 298. 
42* 


644 Trümpelmann 


miſche Entwicklung des Gleichgewichtes der Harmonie entbehrte, 
ſo lange ſie einen kleineren oder größeren Theil der Menſchheit 
unterjochte, ſo lange war ein äußeres Gegengewicht, mit einem 
Worte eine öffentliche Gewalt, eine Autorität udthig: Staat, 
Religion, und Kirche, Recht und Juſtiz. Nun aber ftellt ſich die 
Geſellſchaft dem Staate gegenüber auf eigene Füße, jucht ihre 
Lebensgeſetze zu erforjchen: Arbeit, Capital, Lohn, Werth, Zaufd, 
Girculation, Kauf und Verlauf, Geld, Eredit, Steuer, Bevölle⸗ 
rungstheorien, Verſicherungen, Affociationen u. ſ. w., und ſchafft 
die politifhe Delonomie" — „Werden die ölonomifchen 
Grundbedingungen ber Geſellſchaft im foctaliftifchen Sinne umge 
wälzt, fo muß fih auch der juriftifche, politifche, moralijche, äjthe 
tiihe u. f. w. Ueberbau änderen, beziehungsweife fallen“, fagt 
die Redaction der „Neuen Gefellihaft" (S. 130). 

Nur in etwas anderer Zonart, aber um fo deutlicher drücken 
dasfelbe die Worte aus !): „Die Tendenzen der Socialdemokratie 
enthalten den Stoff zu einer neuen Religion. — Die griechiide 
Eultur, das Chriftentum, die Reformation, die Revolution von 
1789, die PHilofophie und moderne Naturwiſſenſchaft find Hand- 
langer, die Induſtrie ift der große Baumeifter, ımb die 
Socialdemofratie ift der Tempel, ben die Nationen bes 19. Jahr⸗ 
bunderts errichten wollen. — Arbeit heißt der Heiland der neuen 
Zeit. — Die Erlöfung ift nur möglich durch planmäßige Organi- 
fation der Arbeit. — Der Reichtum ift das Rejultat der gemein 
ichaftlichen Arbeit, er muß feinem Erzeuger, dem Volke, wieberge 
geben werden. Er foll nicht getheilt, ſondern als Arbeitsinftrument 
„benutzt werden. — Die Producte follen getheilt und verzehrt werden. — 
Aller Menſchen Geift ift das höchſte Weſen. — Die Arbeiter 
claffe muß fi der Wiffenfchaft bemächtigen; ſchon die Erkenntnis, 
wie Gedanken fabricirt werden, macht den Arbeiter unabhängig. — 
Damit fchwindet der Autoritätsglaube, der Glaube an Götter und 
Halbgötter, an den Papft, an die Bibel, an bie Kaifer ‚und Bi 
marcke.“ — 

Die Sociafiften lehren alſo, ihre Häupter, wie ihre kleineren 


2) Contzen a. a. DO, S. 172. 








Socialismus und Socialreform. 645 


Bannerträger,, daß die wirthichaftlihe Entwicklung der Mienfchheit 
die Entwidlung xar eEoxnv fei (da8 gerade Gegentheil des be= 
fannten Goethe'ſchen Wortes), dag Staat, Net und Yuftiz, Reli 
gion und Kirche, kurz der ganze fcheinbar rein geiftige Ueberbau 
des wirthichaftlichen Unterbaues, gar nicht von jelbftändiger, fondern 
nur von fecundärer Bedeutung fei, daß-er fich wandle mit der 
Wandlung des Eigentums, der Wirthichaftsentwidlung, und daß 
er bei radicaler Ummühlung des wirthichaftlichen Fundamentes zu⸗ 
fammenbrechen müffe, fo gewiß als „der neue Genoſſenſchaftsſtaat 
der äußeren Stüßen nicht mehr bedürfe, da er das Gleichgewicht 
in fich felbft trage“. Eine „innere Politik“, die ſich darauf richte, 
die verjchiedenen Standesclaffen und Wirthfchaftsintereifen auszu⸗ 
gleichen, werde es dann nicht mehr geben. — Daß die wirthichaft- 
tihen Fragen einen integrirenden Einfluß auf Bildung und Ent» 
widlung der Geſellſchaft und des Staates geübt haben, noch üben 
und immer Üben werden, unterliegt feinem Zweifel; aber daß es außer 
biejem überhaupt feinen anderen Einfluß, fein anderes trei- 
bendes Moment in der Menfchheitsentwiclung geben foll, das 
ift eine jener Einfeitigfeiten und Webertreibungen, durch) welche die 
Herren Soeialiften zu imponiren wilfen. Ganz abgejehen von der 
Religion zeigt fchon die Nechts- und Verfafjungebildung, daß bei 
durchgängig gleichen Eigentumsverhältniffen verjchiedene Völker fehr 
wohl verjchiedene Verfaffungsordnungen und Rechtsnormen haben 
fönnen. Indes — um diefen Einwurf iſt's mir hier nicht zu thun, 
und ih will auch nicht verfchweigen, daß die Socialiften darauf 
antworten: „Die erwähnten Unterfchiede find nur nebenfädhlicher 
Art; immer bejteht bei gleichen Eigentumsverhältniffen da8 Gleiche: 
ftatt des Volksſtaates nämlih ein Claffenftaat, ftatt des gleich- 
mäßigen Erwerbens und Genießens aller die Ausbeutung der 
Menge durch eine Meine Schar Bevorzugter, Begünftigter”. 
Diefe Controverfe alfo ganz beifeite geſetzt, heißt es jedenfalls 
die Menichheitögefhichte von jeder höheren Idee entleeren, wenn 
man fie nur als die Entwidlung der verjchiedenen Formen des 
Eigentums anjieht. Das ift Naturalismus, purer ſimpler Materia- 
lismus, und der Atheismus Tiegt ihm nicht unbewußt, jondern be- 
wußt zu Grunde. Der Gottesgedante hat von felbit keinen Plag 


646 Trümpelmann 


in einer Gefchichtsanfchauung, der fich die Gefchichte nur im Dies⸗ 
fett und nur für dasfelbe abipielt, der Die gefchichtlihe Be⸗ 
wegung nur ein Kampf der materiellen ntereffen if. Staats⸗ 
und Kirchenautorität, felbft nur Product einer falfch eingeleiteten 
und fchief gelaufenen wirthichaftlihen Entwiclung, haben die ganze 
Verachtung der Zufunftspolitiler. Krebsſchäden find fie am Leibe 
ber Völker, aber feine Mächte von höherem Urfprung und mit 
einem ihnen innewohnenden Nechte. Daher denn fo banale Aus 
fprüdhe, wie: „Mord, Raub, Gewalt find die Quellen der 
Staatsautorität" und: „die Religion ift ein Machwerk der Priefter”, 
felbft im Munde der unterrichteten Socialiften an der Tagesord⸗ 
nung find. Uebrigens accompagniren, was ben Staat anlangt, den 
Socialiften der Jeſuitismus, was die Religion betrifft, der fort 
fohrittliche Liberalismus. — So zeigt ſich uns die wirtbfchaftliche 
- Grundforderung der Socinldemofratie mit ihrem politifch-religiöfen 
Radicalismus eng und organifch verbunden. Nicht Nützlichkeits⸗ 
rücfichten, nicht die materialijtiiche Strömung unferer Zeit find es, 
welche eine „zufällige" Verbindung bes Atheismus mit der wirth⸗ 
ſchaftlichen Grundforderung der Socialiften bewirkt haben (Todt). 
fondern diefe Forderung, felbit durch und durch radical und aus 
einer materialiftifchratheiftifhden Gefhihtsanfhaunung 
geboren, tjt mit Bewußtſein aufgeftellt, um dem 
Nadicaliemus in feinem ganzen Umfange zu dienen 
und feine politifhen und antireligiöfen Boftulate zu 
verwirflihen. Kann man's dem gegenüber noch für unver 
fünglih Halten, diefer Forderung weitgehende Zugeftändniffe zu 
machen, ihre Realifirung für möglih zu erflären und nur etwe 
die „zwangsweiſe“ Nealifirung abzumeifen? (Todt, ©. 113.) Se 
lange bieje Forderung im Syftem des Sorialismus die eben gefenn- 
zeichnete Bedeutung hat, ift fie Teineswegs unverfänglid; 
fie ift nicht die lodernde Flamme, aber dag Herdfeuer der 
Revolution! „Nein, nein”, fagt man vielleit, „im Syſtem des 
Sorialismus hat fie ja wol diefe Bedeutung, aber an ſich doch 
nicht.“ „An ſich doch nicht!" Das Liebe An ſich! Arſenik if 
an fi auch fein Gift, aber wenn wir ihn effen, für une. Der 
Derfolg diefes Artifeld wird's beweifen, auch hab’ ich's fchon be 


Socialismus und Socialreform. 647 


wiefen, ich brauche nur auf meine Schrift: „Die Verhältniffe der 
Ländlichen Ürbeiterbevöllerung Thüringens’ Hinzumeifen, daß ich 
mir nicht in lieblofem Abfprechen über die Arbeiterbewegung gefalle; 
aber um fo mehr Halte ich's auch für meine Pflicht, die ſocia⸗ 
fiftifhen Forderungen mit forgfamftem Ernfte zu prüfen, um 
mich nicht durch ihren unverfänglichen Wortlaut irreführen zu 
Laffen. — 

Wie erfcheint nun im Lichte der eben gewonnenen Erkenntnis 
die oben gegebene focialiftiichde Grundforderung: Staatlihe Or- 
ganifation der Gefamtarbeit? — Der Staat wird zum 
Werkhaus! Ob mit diefer Organifation wirffid alle Anarchie be- 
feitigt fein wird, d. 5. ob Ueber» und Unterprobuction ‚nicht mehr 
vorfommen werden, nie? das ift fehr die Frage, doch mögen ſich 
barüber die Fachleute auseinanderfegen. — Beichränfung der Or- 
gantfation auf einen Staat aber madt die Sache illuforifch, 
darum ift diefe ftaatlihe Drganifation eigentlich die Aufhebung des 
Staates, d. 5. des nationalen Staates. Die Errichtung des 
deutſchen Volksſtaates im Sinne der deutfchen Socialdemofratie ift 
der Untergang des Stantes des deutſchen Volkes. (Au Pfr. Todt 
findet „die dauernde Verwirklichung des Volksſtaates nur unter 
Borausfegung der Internationalität denkbar”; nur ift ihm diefe 
Internationalitüt freilich ein fehr nebenfächlicher Grund, den Volks⸗ 
ftaat für unhaltbar zu erflären. Er kann faum oft genug verfichern, 
bag die focialiftifhen Principien, foweit fie wirth- 
ſchaftliche ſind, ſehr wohl ausführbar feien, aud durd 
die Hände der Socialiften“, „unhaltbar” feien fie bloß und 
zu befämpfen, „jo Lange” die böfen Socialiften „ihre Feindſchaft 
gegen das Chriftentum nicht aufgeben“ [a. a. DO. ©. 380 u. 377].) 
Meberführung aller Arbeitsmittel aus dem Privat» 
eigentum in Gefellfhaftteigentum? d. 5. negativ bie 
Ausfchliefung jeder Art von ariſtokratiſchem Aufbau der Geſell⸗ 
ſchaft und damit zugleich die Verwerfung der Monardie, pofitiv 
aber die Einführung von Arbeitsgenofjenfchaften!, Gin Genoffen- 
ſchaftsſtaat fann die monarchiſche Spige nicht tragen, „ſchon um 
deswillen nicht", jagt ein Socialift,, „weil der capitaliftifche Fabril« 
befiger das Abbild des Monarchen im Heinen iſt“. Möglichit rafcher 


648 Trümpelmann 


Wechfel der oberjten Leiter wird ein Borzug (!) des Volksſtaates 
fein, jener Staatsmänner der Zukunft, deren Thätigkeit fich etwa mit 
der eines Commis de ronde in der Seidenweberei Lyons vergleichen 
faffen wird. — Sollte man fich wirklich einbilden, mit diefem Genoffen- 
ſchaftsſtaate die Monarchie verbinden zu können, fo müßte man dod 
wenigitens begreifen, daß es ſich dann höchſtens um eine Wiederholung 
peruanifcher Zuftände auf deutfchem Boden handeln fann, und daß 
man dem Haufe Hohenzollern eine Inka⸗Rolle zumuthet. Indeſſen, 
was reden wir überhaupt noch vom deutfchen Staat? Die Organi⸗ 
fation der Arbeit und das Genofjenjchaftsweien fordern die Inter⸗ 
nationalität. Es foll doch dadurd nad Meinung der Sociatijten 
die Speculation mit ihrer anarchifchen Gütererzeugung befeitigt und 
nur nad dem ftatiftifch feitgeftellten Bedarf producirt werden; 
das Wort Eoncurrenz foll aus dem Leriton verfchwinden. Das ift 
eben das Unfociale an den Laffalle'ihen Productivgenoffenschaften 
mit Stantshülfe, daß jie die Concurrenz nicht ausfchliegen, daß 
vielmehr eigentlih nur die Genoſſenſchaft an die Stelle des einzelnen 
Capitaliften tritt, und darum mußte Laffalle dem confequenteren 
Marx weichen. — Um feiner felbjt willen fann ein focialiftijcher 
Volksſtaat einen Staat mit jegigen Eigentumsverhältniſſen, mit 
capitaliftifcher Productionsweife und ihrer wirtbfchaftliden Span 
nung an feinen Grenzen nicht auf die Dauer dulden. Und weiter 
ift’8 noch ein anderer Grund, welcher zur Internationalität treibt. 
Die Ländermaffe, die ein folcher Genoſſenſchaftsſtaat umfaffen muß, 
fann gar nicht groß genug fein! Es iſt Bedingung feiner Eriftenz, 
ihr eine ſolche Größe zu geben, daß fie alles an Naturproducten 
reihlid genug bietet, was zum gefamten Bedarf der Gefellfchaft 
erforderlih ift, damit fi nicht etwa der Handel, diefe „Schein 
arbeit, die feine neuen Werthe den Dingen zufegt", im irgend 
einer Gejtalt im Meufterftante vor neuem einnifte. Der Socialijten- 
itaat hat fein Geld, dieſe glückliche Vermittlung des Qaufches bei 
Einfuhr und Ausfuhr, alfo muß er ein Land umfalfen, welches 
innerhalb feiner Grenzen den Ausgleich für die einzelnen Gegenden, 
die am einen Naturerzeuguis überreih, am andern arm find, ihm 
ermögliht. Das aber erreisht er durch die Internationalität. 
Es ift mit Händen zu greifen, wie aud die Bater- 





Socialismus und Socialreform. 649 


landslofigleit des Socialismus ein Ergebnis feiner 
wirtbfhaftliden Grundforderung iſt. — Aber wo bleiben 
denn die enormen Maffen Gold, die jegt curfiren, namentlich auch 
die Millionen unferer Börſen⸗Barone, jener „Expropriateurs“ 
nah Mare, die erpropriirt werden und durch Efjen und Trinken 
und Faullenzen auf ein WDienfchenalter Hin entjchädigt werden 
follen? !) Keine Sorgel Es werden damit die Wände des 
Sonnentempels überfleidet werden, der danı nach peruanifchem 
Mufter in Berlin errichtet werden wird. — Seltjam, daß troß 
der großen nationalen Kämpfe in den legten Jahren doc) wieder 
weite Schichten unjeres Volkes ebenfo, wie Ausgangs des vorigen 
Jahrhunderts, an einem ungefunden Kosmopolitismus franten! 
Auh Herr Mar Hirfh unterläßt es nicht, jeinen Gewerfvereinen 
einen internationalen Wunfchzettel anzubeften, und nit minder 
coquettirt die chriftlich-fociale Arbeiterpartei in Berlin mit der Inter⸗ 
nationalität.. Das ift ein böfes Zugeftändnis an den Socialiß» 
mus. — Der nationale Staat und nur innerhalb feines 
Rahmens Socialreformen, das fei die Lofung! 
DieNormirung endlich des geſellſchaftlichen Durd> 
ihnittsarbeitstages als Werthmeſſers für die Theil» 
nahme aller Arbeiter an den Arbeitserzeuguiffen als 
Genußmitteln? — ift das wirffid die Nobilitirung der Arbeit? 
Wenn dies der Fall ift, fo iſt's anderjeitd Die Herabſetzung des 
Menſchen zu Gunften der Arbeit; aber der Menſch ift mehr 
als feine Arbeit. Wir werden auf diefen jo wichtigen Punkt 
noch zurückzukommen haben. Und was wird der Arbeit als Lohn 
geboten? Genußmittel. Entjagung und Sparen mit dem Zweck, 
feine wirthſchaftliche Exiſtenz zu erweitern, ift an ſich unmöglid. 
Auch der geringere Verbrauch an Genußmitteln und die dadurch 
mögliche Anfammlung von Cheds über die geleiftete Tagesarbeit 
hat feinen Zwed, da für das invalide Alter ohnehin gejorgt werden 
muß. Es bliebe alfo nur ein Sparen möglid, um fich Yeiertage 
zu verjchaffen, d. h. alfo wieder zum Genuß. — So wiederholt 


1) S. Schäffle, Quinteffenz zc., über die Entfhädigung von Rothſchild, 
©. 20. 





60  Zröämpelmaun 


fih die Frage: ift das Nobilitirung der Arbeit, wenn man ben 
rechten Lohn berfelben nur in Genußmitteln zu finden vermag? 
Man beraubt fie damit ihres idealen Werthee. Das Heißt: jenen 
Eynismus, dem alle Geiftes- und Leibesthättgleit nur dazu dient, 
Genußmittel zu fchaffen, aus dem engeren Kreife verächtlicher 
Diammonsdiener, in dem er. jet heimiſch ift, auf das geſamte 
Bolt übertragen. Man lerne, fie nur fennen jene in unferem Volke 
glücklicherweife noch fo zahlreiche Elaffe von Arbeitern, bie nicht 
Beiig genug haben, um fi von feinem Ertrag nähren zu können, 
aber doch wieder genug daran haben, um nicht ganz Lohnarbeiter 
werden zu müſſen, wie die reine rende am Schaffen diefe Leute 
durchdringt ohne Rüdficht auf die durd) den Lohn zu erlangenden 
Genüffe. Etwas gefhaffen zu haben an Garten und Land, dat 
vor aller Augen liegt, wenn aud am fremden Beſitz — es iſt 
ihnen Ehre und freude. Ich fpreche Hier ans perſönlicher Erfah 
rung. Bon neuem wird’8 Mar, wie eng die wirthichaftlichen For⸗ 
derungen mit jenem Materialismus verwachien find, ben die So 
cialiften felbft die Grundlage ihres Syſtems nennen. Bfarrer 
Todt fohreibt ?): „Die erfte Reformaufgabe für die Beſitzloſen 
fehen wir darin, daß fie ihr Glück, ihr höchſtes Glück nicht allein 
im irdifchen Beſitz und Genuß fehen, wie die Socialiften lehren. .... 
Diefe Lehre bafirt auf praltifhem und theoretifchem 
Materialismus. Es kann aud ein armer, einfacher Arbeiter 
begreifen, daß die Anficht, welche das höchſte Gut nur im irdiſchen 
Beſitz und Genuß ſucht, den Mienfchen fofort zum Thier, wenn 
auch mit der Bezeichnung ,Gefellfchaftsthier‘ herabſetzt.“ Dieft 
Worte unterfohreibe ich, knüpfe aber auch daran die Frage: fieht 
die wirthichaftliche Korderung noch immer in keiner Beziehung dazu? 
zum „praftiihen und theoretifchen Materialismus?“ Hat man ein 
Recht, fie aus dem Syitem herauszureißen, und kann man fie 
ohne Gefahr in ihren einzelnen Punkten gutheißen oder gar als 
mit dem Geifte des Chriſtentums harmonirend hinſtellen? 
Iſt der Atheismus immer noch bloß Accidenz? Das kann man dod 
nur thun, jo fann man nur urtheilen, wenn man das Ganze nidt 


1) a. a. O. ©. 406. 








Soeialismus und Socialreform. 651 


ald Ganzes, das Syſtem nicht fo erfaßt, wie's eben erfaßt fein 
will. Nein, der focialiftifhe Radicalismus ift ein ein» 
heitliher, wirtbfhaftlih, politifh und religiös — 
immer derſelbe. 

5. Der Haupthälfsfag der Soctaliften, mit dem fie ihre Grund⸗ 
forderung wirthſchaftlich und auch ethiſch zu begründen fuchen, ift 
der Sag: „Die Arbeit ift ausfchließlih Wertherzeugerin.“ 
„Der Werth der Dinge beftimmt fid) nach der in ihnen gallert- 
artig .geronnenen menfchlichen Arbeit." „Natur- und Gebrauchs» 
werth find Fictionen." Es ift neuerdings vielfah in Schriften, 
die fi) mit unferem Thema befchäftigen, hervorgehoben worden, daß 
diefer Sag den Socialiften nicht urjprünglich eigen if. Schon 
bi Adam Smith findet er fih, nur nicht fcharf genug 
formulirt: „Die Urbeit ift Duelle alles Wohlſtandes“, — vor 
allem aber und zwar fir und fertig, wie er von den Socialiften 
verwerthet wird, bei Ricardo‘). Die Laffalle'fchen Schriften 
haben übrigens jeden, der fie kennt, mit diefer Thatſache Tängft 
vertraut gemacht, und die Lehre Ricardo's ift in jedem Handbuche des 
näheren zu finden. Die Arbeit alfo ift alleiniger Wertbfactor, bie 
Waare wird nad) der in ihr enthaltenen Arbeit abgejchägt. So 
fommt in der Waare die Arbeit felbft auf den Markt; der Preis 
der Waare ift eben das, was ihre erneute Herporbringung ermög- 
licht, und darum die Erhaltung der Hervorbringungsarbeit jelbft. 
Wird num die Arbeit, nicht in einer Waare vergegenftändlicht, 
fondern rein, als Kraft, auf den Markt gebracht, fo kann eben 
nur der Preis (Lohn) für fie ald Waare gezahlt werden, der zur 
Erhaltung und Wiedererzeugung ihrer Kraft nöthig iſt. Es folgt 
daraus, daß derjenige Arbeitslohn den wirklichen Werth der Arbeit als 
Waare vollftändig ausdrüct, welcher dem Arbeiter feinen gewohn⸗ 
heitsmäßigen Unterhalt und die Möglichkeit der Fortpflanzung gewährt. 
Mit dem Sage: „die Arbeit fchafft alle Werthe“, beginnt man, und 
mit dem „ehernen Lohngeſetze“, dem, Hungerlohn“, als dem conftanten 
Subſtrat aller Wertherzeugung endigt man. Das directe Gegen⸗ 
theil nun folgern die Socialiſten aus dem Oberſatz: „Die Arbeit 


1) Bgl. Mehring a. a. O. S. 194ff. Held a. a. O., S. 49ff. 


652 Trümpelmann 


erzeugt alle Werthe.“ „Eine Waare hat alfo nicht mehr und 
nicht weniger Werth, als eben Arbeit in ihr vergegenftändlicht iſt. 
So ift die Arbeit, die Erzeugerin, naturgemäß auc die (Eigen: 
tümerin der Gefantwertfe. In der Gejamtarbeit ftedt die 
Arbeit der Einzelnen, alfo diefe find, wie Erzeuger, fo Eigentümer 
der Gefamtwerthe. Was von dieſen Werthen Productionsmitte 
ift (Capital), wird Gefelljchaftöbefig, was Genußmittel, wird 
jedem Arbeiter nad) dem Maße der gefeifteten geſellſchaftlichen 
Durchſchnittsarbeit, alfo gleichmäßig zugetheilt“. Aus demfelben 
Sage werden, wie man fieht, contradictorifche Gegenſätze abgeleitet. 
Einmal dient er der Eigentumsficherung, dann wieder der Eigen 
tumsverneinung. Er wird dem Kapitalismus für den Arbeits 
ſchacher dienftbar, alfo für die Spaltung der Gefellfchaft im die 
ſchroffen Gegenfäge „Arm und Reich“, und dem Socialismus für 
die der Wirklichkeit widerfprechende, fchablonenmäßige Egalifirung der 
Geſellſchaft — dort unterftügt er den wirthihaftlid Starken, der 
die Waare „Arbeit“ kaufen fan, auf Koften des Schwachen, der 
eben nur diefe Waare feil hat, hier zieht er den individuell Be 
gabten auf das Niveau der Maſſe herab. „Der Arbeit ihr voller 
Lohn“ fagen beide — in welchem Sinne jeder, was bedarf’s der 
Ausführung? — Ein Princip nun, welches contradictorifche Gegen 
ſätze aus fich heraustreibt, das ebenfo ſehr dem ertremen Indi⸗ 
vidualismus, wie dem Socialismus zur Stüße zu dienen vermag, 
ein folches Princip muß felbft ein unrichtiges, fehlerhaftes jein. 
Und dies ift in der That der Tal. Der Sat: „die Arbeit iſt 
alleinige Erzeugerin alled Wertes“ ift einfeitig, durchaus nicht 
genügend, die Entftehung der Werthe zu erklären, und darum if 
auch das ſocialiſtiſche: „der Arbeit ihr voller Kohn, der volle Er 
trag!” — fcheinbar ein Sat ſimpelſter Gerechtigkeit — der forgfamiten 
Erwägung zu unterziehen. Jedenfalls Haben wir feine Beran- 
faffung, ihm ohne weitere® als richtig Hinzunehmen und als richtig 
zu verbreiten oder gar als „Hriftlich“ zu colportiren. Welde 
Sophijtit der Capitalismus mit dem Sake: „Die Arbeit ill 
die Quelle aller Werthe und darum auch das Werthmaß“ getrieben, 
und wie er es möglich machte, feine Herrichaftsperiode mit diefem 
Sage einzuleiten, haben wir hier nicht zu unterfuchen, wol aber, 





Socialismus und Socialreform. 653 


welche Sophiſtik der Socialismus mit ihm treibt. Wiederholt tft 
ſchon vom „gefellichaftlihen Durchſchnittsarbeitstage“ die Rede ge- 
weien. Gehen wir daran, die fophiftiiche Art und Weife aufzu- 
decken, wie die Socialiften mit obigem Sage erperimentiren, fo 
erfordert e8 bie Gerechtigkeit, zuvor zu bemerken, daß die Sorialiften 
nicht jede beliebige Privatarbeit, alfo nicht die Arbeit in der Form 
der BVereinzelung, als Werthmaß anfehen. Ebenſo wie man oft, 
und natürlich) aus dem Munde ftudirter Leute, wenn es etwa gilt, 
dem Materialismus zu Leibe zu gehen, die findliche Behauptung 
triumphirend ausfprechen hört: „Die Diaterialiften leugnen den Geift, 
aber wie fommt’s, daß fie denken und ſchreiben?“ — ebenfo hört 
man wol, unter Begleitung eines vornehmen Lächelns, die Aeuße⸗ 
rung: „Die Arbeit foll das Werthmaß der Dinge fein? Wie 
aber, wenn der eine zur Herftellung deefelben Dinges acht Tage 
nöthig Hat, das der andere in drei Tagen fertigt?" So ift’e 
freilich nicht gemeint, und fo leicht find die Socialiften nicht zu 
ſchlagen. Nicht die zufällige Schnelligkeit oder Langjamfeit der 
Hand des Einzelnen kommt in Betracht, fondern man hat an jene 
Durchſchnittsarbeitszeit zu denken, welche zu einer beftimmten Zeit, 
auf einer beftimmten Stufe gefellichaftliher (wirtbfchaftlicher) Ent» 
widlung, unter Anwendung aller, diefer Stufe und Zeit ange- 
börigen, techniſchen Hülfsmittel erforderlich ift, um irgend einen 
Gebrauchsgegenftand fertig zu ftellen. — Werner bemerke ich noch, 
daß der Sag: „Die Arbeit ift allein Werthmaß“ natürlich unan⸗ 
greifbar ift, jobald es ein- für allemal feitfteht, daß fie die 
„Duelle aller Werthe* iſt. Gibt es überhaupt eine Werthbildung 
außer dur Arbeit, fo kann auch nur die Arbeit das Maß des 
Werthes bieten. Das ift ftreng Togifh. Aber darin fehe ich nun 
die Sophiftit, dag die Socialiften die anderen Werthquellen, von 
denen in der Vollswirthfchaft geſprochen wird, vor allem Natur 
und Bedarf, wie Quftfpiegelungen behandeln, welche den Vollks⸗ 
wirthen Augentäuſchungen bervorgerufen haben; daß fie Natur 
und Gebrauhsmwertb mit Hülfe der dialeftifhen 
Methode in Arbeitswertbe auflöfen. Man lee 3. B. 
folgendes ): „Die Werthgröße einer Waare würde conjtant 
bleiben, wäre die zu ihrer Production erheifchte Arbeitskraft con⸗ 


654 Trümpelmann 


ſtant. Letztere wechfelt aber mit jedem Wechſel in der Productiv⸗ 
fraft der Arbeit. Die Productiofreft der Arbeit ift durch manig⸗ 
fache Umftänbe beftimmt, unter anderen durch den Durdgichuitts- 
grad des Geſchickes der Arbeiter, die Entwidlimgeftufe der Wiſſen⸗ 
fchaft und ihrer technologischen Anwendbarkeit, die gefellfichaftfiche 
Combination des Productionsprocejjes, den Umfang und die Wir- 
fungsfähigkeit der Productionsmittel und — dur Naturverhält⸗ 
niſſe. Dasſelbe Quantum Arbeit ftellt fi 3. B. mit gämftiger 
Jahreszeit in acht Buſhel Weizen dar, mit unglinftiger in vier. 
Dasfelbe Onantum Arbeit Liefert mehr Metalle in reichhaltigen, 
als in armen Minen u. f. w. Diamanten fommen felten in ber 
Erdrinde vor, und ihre Findung koftet daher im Durchſchnitt viel 
Arbeitszeit. Folglich ftellen fie in wenig Volumen viel Arbeit bar. 
Jacob bezweifelt, daß Gold jemals feinen vollen Werth bezahlt 
hat. Noch mehr gilt dies vom Diamant. Nah Ejchwege Hatte 
1828 die adhtzigjährige Geſamtausbeute der braftlianifgen Dia 
mantengruben noch nicht den Preis des 14 jährigen Durchſchnitts⸗ 
productes der brafilifchen Zuder- oder Kaffeepflanzungen erreicht, 
obgleich fie viel mehr Arbeit darjtellte, aljo mehr Werth. Mit 
reichhaltigeren Gruben würbe dasjelbe Arbeitsquantum ſich in mehr 
Diamanten bdarftellen und ihr Werth finfen. Gelingt es mit 
wenig Arbeit Kohle in Diamant zu verwandeln, jo kann fein Werth 
unter den von Siegelfteinen fallen. Allgemein: Ye größer bie 
Productivfraft der Arbeit, defto Kleiner die zur Herftellung eines 
Artikels erheifchte Arbeitszeit, defto Keiner die in ihm kryſtallifirte 
Arbeitsmaffe, defto Fleiner fein Werth. Umgekehrt, je kleiner die 
Productivfraft der Arbeit, defto größer die zur Heritellung eines 
Artikels nothwendige Arbeitszeit, deito größer fein Werth. Die 
Werthgröße einer Waare wechfelt alfo direct, wie dag Quantum 
und umgelehrt, wie die Broductiofraft der fi) in ihr verwirklichen 
den Arbeit.“ Wie hübſch Marx gleich alle abweift, die etwa mit 
der „Seltenheit der Diamanten“ feinen Say, daß die Arbeit 
alleiniger Werthfactor fei, angreifen wollten. Ya fie find felten, 
die Diamanten, und haben deshalb Hohen Werth, denn — «8 


1) Marr, Das Eapital, S. 14. 15. 








Socialismus und Socialreform. (65 


foftet eben jehr viel Mühe, fie zu finden, darum ift der hohe 
Preis der Diamanten nur der Ausdrud für das mühbfelige Finden. 
Das fcheint fo Har. Indes — warum fucht man denn überhaupt 
diefen feltenen Stein? Warum wendet man fo viel Mühe auf? 
Es gibt bekanntlich recht jeltene Minerale, um die der Menſch fich 
nicht kümmert. Es muß ihm diefer Stein beim erften Finden als 
weiteren Suchens werth erjchienen jein. Seltenheit eines Dinges 
aber einfach in Gemwinnungsfchwierigfeit umzuwandeln, ift Begriffs⸗ 
edcamotage. „Dasfelbe Quantum Arbeit”, hieß es vorhin, „ſtellt 
fih) mit günftiger Jahreszeit in acht Bufhel Weizen dar, mit 
ungünftiger in nur vier.“ Wirklich? Die Beitellungsarbeit ift 
allerdings beide Male die gleiche, die Erntearbeit aber jehr ver- 
ihieden. Abgeſehen von ungünftiger und günftiger Witterung, 
verlängert und verkürzt fich die Erntearbeit je nach der zu erntenden 
Menge, weniger, wern der Ausfall im Körnermangel, mehr, wenn 
er im Garbenmangel feinen Grund hat. Gerade dies Beifpiel 
zeigt und, wie Mare die Wirklichkeit abjtract behandelt. Biel 
richtiger ift es, zu fagen, daß zwei gleichartige und gleichgroße 
landwirthichaftlihe Erzeugniffe fat niemals eine ganz gleiche 
Arbeitömenge vergegenftändlichen. Und ferner: bdiefelbe Arbeite« 
menge ift auf Darftellung des einen wie des anderen Malters 
Roggen, das zum Verlauf geboten wird, aufgemandt worden, und es 
fteltt fich doch ein nach Qualität fehr verfchiedenes Product dar. 
Wie verfchiedenartig in feinem Mehlgehalt ift das Korn! Und das 
joll den Werth nicht beftimmen, den realen Werth? Ich jage abfichtlich 
nicht „Preis“. — Espe und Buche Toften, wenn fie im Stamme 
gleich, ftark find, denfelben Arbeitsaufwand, bis fie zu Brennholz 
zugerichtet find, ja das harte Buchenholz fpaltet fich leichter und 
ſchneller, und doch Hat das Buchenholz wefentlich höheren Werth, 
eben feinen Heizungswerth, ald das Espenholz. ch ſehe wieder 
bom Breife ganz ab. Es ift das ein Werth, der völlig 
außerhalb des Gebietes der Arbeit Liegt, der aber 
tbatfählih bei Beftimmung des Gefamtwerthes 
eines Dinges mächtig mit ins Gewicht fällt. Auf 
S. 29 Iefen wir: „Der Werth der Leinwand wechjele (Marx hat 
zuvor 20 Ellen Leinwand — 1 Rod geſetzt), während der Node 


656 Trümpelmann 


werth conftant bleibt. Verdoppelt fi) die zur Production der 
Leinwand nothwendige Arbeitszeit, etwa in Folge zunehmender Un» 
frudjtbarfeit des Flachs tragenden Bodens, jo verdoppelt ſich ihr 
Werth. Statt 20 Ellen Leinwand — 1 Rod, hätten wir 20 
Ellen Leinwand — 2 Röde, da 1 Rod jegt nur halb fo viel 
Arbeitszeit enthält als 20 lien Leinwand. Nimmt dagegen bie 
zur Production der Leinwand nothwendige Arbeitszeit um die Häffte 
ab, etwa in Folge verbefierter Webftühle, jo finft der Leinwand 
werth um die Hälfte Demgemäß jest: 20 Ellen Leinwand — 
13 Rock.“ — Wie überzeugend und von felbjt verftändfih! — 
Indes — der Werth der Leinwand foll alfo wechſeln und zwar 
deshalb, weil ſich die zur Production der Leinwand nothmendige 
Arbeitszeit verdoppelt, und es wird dann eingefchoben: „etwa in 
Folge zunehmender Unfrudjtbarkeit des Flache tragenden Bodens“. 
Wie hätte man ſich das zu denfen? Wie verdoppelt fich die Arbeit? 
„Sehr einfah“, wird man fagen, „wenn ber Boden nur nod bie 
Häffte trägt, fo ift das die Herabfegung der früheren Productions⸗ 
fraft der Arbeit auf die Hälfte, d. 5. in der That eine Verdoppe⸗ 
fung der Arbeit”. So ſcheint's, und es iſt doch nicht fo. Ya, die 
Deftellungsarbeit bleibt diefelbe, aber die Erntearbeit, ..und 
zwar gerade beim Flachsbau in auffallender Weife wird felbft eine 
geringere Alſo mit der Verdoppelung der Arbeit ift es ein 
für allemal nichts. — Allein ich will annehmen, daß Marx die 
Sade ſich nod anders ‚gedacht hat. Er möge Verdoppelung der 
Arbeit angenommen haben, entweder dadurch, daß man die zu 
befteliende Landfläche verdoppelt, oder dadurch, daß man den er 
mattenden Boden ftimulirt, ihn durch intenfivere Bewirthſchaftung, 
Zufatz künſtlichen Düngers, in welchem ja felbft Schon ein Arbeitd 
quantum enthalten fein würde, auf der Höhe früherer Ertrags⸗ 
fühigfeit zu Halten ſucht, — trogdem bleibt etwas irrationalee 
zurüd. Die Natur fpottet eben des Schematismus. Marr fügt 
in feine Gleichung offenbar ftilifchweigend die Vorausſetzung ein, 
daß mit der verdboppelten Arbeit nun auch wirklich das alte 
Quantum an Leinwand gemonnen werde. Wenn nun aber 
nicht? wenn troß der boppelten Fläche oder ber intenfiveren Bewirth⸗ 
(Haftung nur die Hälfte gegen früher geerntet wird? Der Werth 





Socialismus und Socialteform. 657 


der Xeinwand wird enorm fteigen, obgleich er wegen der doch nur 
doppelt aufgewandten Arbeit auch nur die doppelte Höhe gegen 
früher haben ſollte. — Bezeichnend ift übrigens das Wort: „Pro- 
ductiofraft” der Arbeit. Diefe PBroductivfraft ruht nit in ihr 
jelbit; fie hängt von Wirthichafte- und Naturverhältniffen ab. 
Sollte nun das, was die Arbeit erſt zu einer productiven mad, 
bei der Frage nad der Werthbildung ganz bei Seite gefchoben 
werden können? Gewiß nicht, und wenn's gefchieht, fo ift das eben 
Sophiſtik. 

Pfr. Todt acceptirt die Werththeorie der Socialiſten und 
ſagt: „Dieſe Theorie iſt, ſo viele Angriffe wir auch gegen dieſelbe 
geleſen, bis heute noch nicht widerlegt“ *). Er weiſt Geffken ſcharf 
ab, der behauptet, „daß gerade dies der rvadicale Irrtum ber 
jocialiftifchen Theorie jei, daß fie den Werth eines Dinges bloß 
nad feinen Herftellungsfoften bemeſſe und nicht auch danach, was 
8 dem, der ed brauche, Teifte. Der Werth eines Gutes fei 
alfo beftimmt durch die Herftellungsfoften einerjeits, den Gebrauchs⸗ 
werth anderfeits, und das Verhältnis beider brüde fi aus im 
Breife”; und Pfr. Todt jet Hinzu: „Diefe Sätze erjcheinen dem 
national» ölonomifchen Laien jehr einleuchtend, beruhen in Wirk⸗ 
lichkeit aber auf einer beftändigen Vermengung von Werth und 
Marktpreis”; an anderer Stelle aber fagt er: „Marz redet vom 
normalen Waarenpreife. Diefer kann felbjtverftändlih, wenn 
man den Producenten nur als einfachen Zaufcher im Verhältnis 
zum Confumenten betrachtet, fein anderer fein, als die Erzeugungs- 
foften der Waare, d. h. die zur Herftellung des Productes noth⸗ 
wenbigen Quanta von Arbeitszeit“. Endlich S. 280 Heißt «8: 
„Wer kann es leugnen, daß zur Werthbeitimmmng der Dinge 
zu einander nothwendig ein in ihmen zur Erfcheinung kommendes 
gemeinfames Drittes erforderlih ift? Und es gibt eben fein anderes 
Drittes, als die gefellichaftlich nothwendige Arbeitszeit. Nützlichkeit, 
Geſchmack, Berfchiedenheit der natürlichen Qualität find fubjective 
und unbrauchbare Werthmeſſer.“ Tagt es nun vor unferem Geifte? 
Wir Thoren denfen an Preis, Angebot und Nachfrage und fegen 





1) Todt a. a. O., ©. 280. 
Theol. Stud. Yabrg. 1878. 43 


658 Trämpelmaunn 


nun fo lächerfiche Dinge, wie Nüslichkeit, Geſchmack, Verfchiedenheit 
der natürfihen Qualität mit als Werthe bildend ein, aber «8 
handelt fih um Werth, nidt um Preis, und wenn um Preis, 
dann um den Normalpreis, d. h. den, in welchem der Werth 
(und wertäbildend ift nur die aufgewandte Arbeitszeit [!]) zum Aus 
drud fommt. Wir hielten wol aud) bis jetzt die „natürliche Qua⸗ 
fität für einen obfectiven Werthfactor, werden aber nun belehrt, da 
fie nur ein „ſubjectiver“ ift. Sieht Pfr. Todt nicht, oder will er’s 
nicht fehen, daß er fich derjelben häßlichen Sophiftit jchuldig macht, 
die das ganze Marx'ſche Buch durchzieht ? Hier ijt fie: Im Sociafiften- 
ftaat find Grund und Boden und alle anderen Probuctionsmittel, 
Gefellichaftseigentum. Es wird producirt nad) dem zuvor ſtatiſtiſch 
feftgeftellten Bedarf. Einen Markt mit Ungebot und Nachfrage, 
mit Preisfteigerung und Minderung fann es nicht geben. In 
diefem Staate kann aljo fein anderes Werthmaß gelten, als 
die zur Herftellung der Dinge erforderliche gejellfchaftliche Durd- 
ſchnittsarbeit. Gewiß, in diefem Staate fann es nidt 
anders fein. Der Winzer befommt den fchlechten Wein ebenfo 
hoch angerechnet, als den beften, weil er ja überhaupt nur für fein 
Arbeitsquantum, das er in beiden Fällen in gleihem Grade auf 
wenden mußte, entjchädigt werden kann. Die ftille Vorausfegung 
alfo ift: Der Socialiftenftaat eriftirt, in ihm wird es 
und muß es fo fein, und weil es dann fo ift und fein 
muß, fo muß es aud ſchon jetzt die abfolute Wahrheit 
fein. Marr gibt fih gar nicht die Mühe, feinen Haupt» und 
Tundamentalfag zu beweiſen. Er kann e8 auch nicht. An Stelle 
des Beweiſes tritt die manigfaltigſte, fophiftifch zugeftugte Anwen: 
dung des Satzes. So leitet man eben zum Socialiftenftaate über. 
Der Sag ift eine Agitationshypothefe, michts weiter. 
Da wir nun vorläufig den Soctaliftenftaat noch nicht Haben, 
fo fteht die Sache auch bei une ganz andere. Eine ehrliche 
Volfewirthichaftslehre, dächte ih, gibt fi) nicht damit, ab, zu 
zeigen, was fein wird, unter einer befttimmten aber „verſchwie— 
genen“ Borausjegung, fondern fie fucht das, was tft und wie 
es geworden ijt, zu erklären. Joh. Moft ift naiv und ehrlich 
genug, in einem Artikel: „Die Arbeit al8 Duelle des National 


Socialismus und Gocialteform. 659 


reichtums“ 2) deutlich durchblicken zu Laffen, daß bei der focialiftifchen 
Beweisführung die ftillfchweigende Grundvorausfegung lautet: „Der 
Socialiftenftaat exiftirt.” — Er betrachtet die Thatſache, dag „in 
zwei verjchiedenen Diftricten auf einer gleich großen Bodenfläche 
und unter Anwendung der nämlichen Arbeiterzahl und derſelben 
Werkzeuge ganz verfchiedene Erträgniffe bei der Landwirthſchaft erzielt 
werden, und begegnet num der allein richtigen Folgerung, daß alfo 
„nicht die Arbeit allein Werthe Schafft“, mit folgender 
amüſanten Diatribe: „Jedenfalls find ohne Arbeit in gutem, 
wie im ſchlechtem Boden feine Producte einzuheimfen; der Unter 
fchied befteht Lediglich darin, dag es die Natur der Arbeit bier 
leicht, und dort ſchwer macht, fich zu bethätigen“. In der That — 
ohne Arbeit — keine Producte! — aber warum find bei gleicher 
Arbeit die Erträgniffe, aljo in letter Inſtanz bie erzeugten 
Werthe verfhieden? Herr Joh. Moft antwortet: „Eriftirt 
nun in einem Gemeinmwejen binfihtlih des Grund 
und Bodens Collectiveigentum, jo kann es ſich nicht 
fragen, wie viel da und dort geerntet werden kann, 
jondern nur, wie groß der Ertrag des ganzen Landes 
ift, da hieran und nidt an den Erträgniffen der ein- 
zelnen Bodentheilden die Arbeitenden zu participiren 
hätten.“ Alfo: Wenn nur erft der Socialiftenftaat da ift, fo 
ergibt fich die Nichtigkeit der focialiftifchen Werththeorie von ſelbſt, 
und damit ift fie überhaupt bewiefen! — 

Der Sag: „Die Arbeit ift die Quelle des Neichtums und 
der Cultur“, ift eine Wahrheit, der Sat dagegen: „Der Werth 
der Woaren wird dur die Hervorbringungsarbeit beitimmt und 
zwar nur durch diefe“, iſt eine Einſeitigkeit, ja unter den gegen- 
wärtigen Wirthfchaftsverhältnifien eine Unmahrheit. Im Munde 
des Mannes, von dem die Socialiften ihn in obiger Form über- 
kommen haben, im Munde Ricardo's, war der Sat auch nichts 
weiter als ein Agitationsfag. „Seine Zendenz“, fagt Held von 
Ricardo 1), „war Feindichaft gegen die Grundariftolratie und Ber . 


1) Nee Geſellſchaft, S. 282. 
2) a. a. O., ©. 50. 
45? 





660 Frümpelmann 


gründung ber Herrichaft des Capitals. Daher der Kampf gegen 
die Kornzölle, daher die Grundrentenlehre, die man als eine Ent- 
deckung von gleihem Werthe, wie die Entdedung des Geſetzes der 
Schwere feierte, und die doch nur den Sinn hat, daß der Grund» 
befiger unverdient auf Koften der ganzen Gejellichaft gewinne, alfo 
verdiente, gehaßt und jedenfalls nicht begünftigt zu werden.” — 
Raum gibt e8 meines Erachtens eine Stelle in dem Buche von 
Marz, die fo bezeichnend dafür ift, wie zu Gunften der Arbeit jeder 
andere Anſpruch auf die gefchaffenen Werthe, etiwa der Capitafiften- 
anſpruch, befeitigt, und wie neben dem Arbeitöwerth jeder andere, vor 
allem auch der Gebrauchswerth, elidirt wird, als S. 188 und 189, 
wo wir folgendes lefen: „Die verjchiedenen Factoren des Arbeits 
proceifes nehmen. verfchtedenen Antheil an der Bildung ded Pros 
ductenwerthed. — Der Arbeiter ſetzt dem Arbeitögegenftande 
neuen Werth zu, durch Zujag eines beftimmten Quantums von 
Arbeit, abgejehen vom beftimmten Anhalt, Zweck und technifchen 
Charakter feiner Arbeit. Anderſeits finden wir bie Werthe der 
verzehrten Productionsmittel wieder als DBeftandtheile des Bro» 
duetiond-Werthes, 3. B. die Werthe von Baummolle und Spindel 
im Garnwerth. Der Werth der Productionsmittel wird alfo er- 
halten durch feine Uebertragung auf das Product. Dies Uebertragen 
geihieht während der Verwandlung der Productionsmittel in Pros 
duct, im Arbeitsproch. Es iſt vermittelt durch die Arbeit. Aber 
wie? — Der Arbeiter arbeitet nicht doppelt in derfelben Zeit, 
nit einmal, um ber Baumwolle durd feine Arbeit einen Werth 
zuzufegen, und das andere Mal, um ihren Werth zu erhalten, 
oder, was dasſelbe ift, um den Werth der Baummolle, die er ver» 
arbeitet, und der Spindel, womit er arbeitet, auf das Product, das 
Garn, zu übertragen, fondern durch bloßes Zufegen von neuem 
Werthe erhält er den alten Werth. Da aber der Zuſatz von 
neuem Werth zum Arbeitögegenftand und die Erhaltung der alten 
Werthe im Product zwei ganz verfchiedene Nefultate find, die ber 
Arbeiter in derjelben Zeit hervorbringt, obgleich er nur einmal in 
berjelben Zeit arbeitet, kann dieſe Doppelfeitigleit des Reſultats 
offenbar nur aus Doppelfeitigleit feiner Arbeit felbft erflärt werben. 
In demfelben Zeitpuntte muß fie in einer Gigenfchaft Werth 








Socialismus und Socialreform. 668 


ſchaffen und in einer anderen Eigenfchaft Werth erhalten oder 
übertragen. — | 

Wie fett jeder Arbeiter Arbeitszeit und daher Werth zu? 
Immer nur in der Form feiner eigentümlic) productiven Arbeits- 
weile. Der Spinner ſetzt nur Arbeitszeit zu, indem er fpinnt, 
der Weber, indem er webt, der Schmied, indem er ſchmiedet. Durch 
die zwedbeitimmte Form aber, worin fie Arbeit überhaupt zufegen 
und daher Neuwerth, durch das Spinnen, Weben, Schmieden 
werden die Productionsmittel, Baumwolle und Spindel, Garn und 
Webſtuhl, Eifen und. Ambos, zu Bildungselementen eines Broductes, 
eines neuen Gebrauchswerthes. Die alte Form ihres Gebrauchd- 
werthes vergeht, aber nur um in einer neuen Form von Gebrauche- 
werth aufzugeben. Bei Betrachtung des Wertäbildungsproceiies 
ergab ſich aber, daß, jo weit ein Gebrauchswerth zweckgemäß ver: 
nugt wird zur Production eines neuen Gebrauchswerthes, die zur 
Herftellung des vernußten Gebrauchswerthes nothwendige Arbeitszeit 
einen Theil der zur Herftellung des neuen Gebrauchswerthes noth- 
wendigen Arbeitszeit bildet, aljo Arbeitszeit ift, die vom vernußten 
Productionsmittel auf das neue Product übertragen wird. Der 
Arbeiter erhält alfo die Werthe der vernutten Productionsmittel, 
oder überträgt fie als Werthbeftandtheile auf das neue Product, 
micht durd) fein Zujegen von Arbeit überhaupt, fondern durch den 
befonderen nütlichen Charakter, durch die fpecifiich productive Form 
dieſer zufäglichen Arbeit. Als folche zmedmäßige productive Thätig- 
keit, Spimen, Weben, Schmieden, erwedt die Arbeit durch ihren 
bloßen Contact die PBroductionsmittel von den Todten, begeiftet ſie 
zu Yactoren des Arbeitsproceſſes und verbindet ſich mit ihnen zu 
Producten. — 

Wäre die ſpecifiſche productive Arbeit des Arbeiters nicht 
Spinnen, fo würde er die Baummolle nidht in Garn verwandeln, 
aljo auch die Werthe von Baumwolle und Spindel nit auf das 
Garn übertragen. Wechjelt dagegen derjelbe Arbeiter das Metier 
und wird Xifchler, fo wird er nad) wie vor durch einen Arbeits⸗ 
tag jeinem Material Werth zufegen. Er fest ihn alfo zu, nit 
durch feine Arbeit, ſoweit fie Spinn» ober Tijchlerarbeit, fondern 
foweit fie abjtracte, gefellichaftliche Arbeit überhaupt, und er fett eine 


62 Trümpelmenn 


beftinmte Werthgröße zu, nicht ‘weil feine Arbeit einen befonderen 
nüslihen Inhalt Hat, fondern weil fie eine beftimmte Zeit dauert. 
In ihrer abftracten allgemeinen Eigenfchaft alfo, als Verausgabung 
menschlicher Arbeitskraft, fett die Arbeit des Spinners den Werthen 
von Baumwolle und Spindel Neuwerth zu, und in ihrer concreten, 
befonderen, nütlichen Eigenſchaft als Spinnproceß, überträgt fie 
den Werth dieſer Productionsmittel auf das Product und erhält fo 
ihren Werth im Product. Daher die Doppelfeitigfeit ihres Reſul⸗ 
tats in demfelben Zeitpunkt. — 

Durch das bloß quantitative Zuſetzen von Arbeit wird neuer 
Werth zugefegt, durch die Qualität der zugefegten Arbeit werden 
die alten Werthe der Productionsmittel im Product erhalten.” — 

Der gefellichaftliche Arbeitstag alfo jchafft die Neumwerthe; die 
Specialarbeit erhält den im Productionsmittel enthaltenen Arbeits 
werth. Der Rohftoff ſelbſt enthält nur Werth durch die an ibm 
gethane Arbeit, aber wol wird ihm Gebrauchewerth beigelegt. 
Für Marx gibt e8 Gebrauchöwerthe, die nicht Werthe find, weil 
ihr Nugen für die Gefellfchaft nicht durch Arbeit vermittelt iſt. 
So ijt die Arbeit unb wieder die Arbeit die alleinige Werthbildnerin, 
und Gebrauchswerth ift alfo bei Mare vielmehr der dem Dinge 
anhaftende Nützlichkeits werth, als der ihm durch die Nachfrage 
beigelegte.. Marx ibentificirt wiederholt, und natürlich abfichtlich, 
„Gebrauchsgegenſtand'“ und „Gebrauhsmwertf*. Damit wird „Ge 
brauchswerth“ im gewöhnlichen Sinne des Wortes einfach befeitigt, 
denn Gebrauchsgegenftände find die Dinge, ohne daß damit über 
ihren Tpeciellen Werth das Geringfte ausgefagt wird. ‘Der Werth⸗ 
beftimmer ift aljo erft zu fuchen: es ift die Arbeit. — 

Eine weitere Folge aus dem Mitgetheilten ift diefe: Da bie 
Productionsmittel im neuen Gebrauchswerth vollftändig aufgehen, 
alfo nichts im Neumwerthe verloren gegangen ift, fo ergibt fi, 
dag der Eapitalift (Befiger ber Productionsmittel, Käufer der Roh—⸗ 
ftoffe) nur dadurd einen Reingewinn einfteden kann, daß er ihn 
der Arbeit abzieht, der Arbeit, welche den Neuwerth gefchaffen Hat, 
der gefellichaftlihen, und der Urbeit, welche den Werth des Roh—⸗ 
ftoffe®, jelbft Arbeitswerth, erhalten hat, ber Specialarbeit. Der 
Capitaliſt füllt eigentlich aus dem ganzen Arbeitsproceß heraus. 











Socialismus und Socialreform. 668 


Er hat gar nichts darin zu thun, ift ein freibenterifcher Eindring- 
ing. Der Geſellſchaft gehören die Productionsmittel, weil fie felbft 
fhon Arbeitswerthe repräfentiren. Hätte die Arbeit immer ihren 
vollen Ertrag erhalten, fo würde „der Capitalift“ nie erfchienen 
fein. Es Tiegt dem Ganzen wieder die ftille Vorausfegung zu 
Grunde: die Geſellſchaft und nur fie ift die Beſitzerin aller von 
der Natur gebotenen Gebrauchsgegenftände, und fchon bie erjte, zur 
Nutzung vollbrachte Arbeit an benfelben ift Gefellfchaftsarbeit, fo 
daß das Erzeugte, in fo weit e8 wieder Productionsmittel ift, auch 
geſellſchaftliches Eigentum bleibt, eine Vorausſetzung, der die That⸗ 
fachen der Gedichte direct widerſprechen. — Res nullius cedit 
occupanti, heißt es da, und der, welcher den Gebrauchsgegenftand 
der Natur ergreift und für fich verwerthet, ift der Befitzer, er, 
da8 concretum Menſch, und nicht das abstractum Geſellſchaft, 
welche fich durch jene Befitergreifung des Einzelnen erſt zu bilden 
beginnt. — Indes fei der biftoriiche Verlauf, wie er wolle, immer 
ift der „Socialiftenftaat” die eigentliche Baſis der ganzen Beweis⸗ 
führung von Mare. Auf unfere Verhältniffe, in der wir num 
einmal Privatbefiger und Brivatunternehmer haben, paſſen diefe 
Deductionen ganz und gar nicht. — 

Ja die Privatbefiger und Unternehmer, denen Erhöhung des 
Reinertrage und die Rentabilität der einzige Zweck iſt !)! Dieſe 
Blutfauger! Sie verlängern den Arbeitstag, verringern den Lohn, 
preflen aus, halten den Arbeiter unter dem ‘Drud des ehernen 
Lohngejeßes, marften um menſchliche Arbeitöfraft, wie um Waare. 
„Die menſchliche Arbeit eine Waare! Diefer unbejtreitbare Sat 
ift das fchmerzliche Reſultat einer faft 1900jährigen Entwidelung 
des Chriftentums“, ruft Pfr. Todt aus. it es wirklich for 
durchgängig fo? abfolut jo? Haben unfere Unternehmer ſämt lich 
nur „Erhöhung des Reinertrags“ als einzigen Zweck? Oder 
folite e8 nicht das Gewöhnliche fein, daß fie mit dem Mehrermwerb 
ihre Anlagen immer mehr ausdehnen, fo daß eine der Geſamt⸗ 
heit günstige Vermehrung der wirklichen Productionsmittel gejchaffen, 
nicht bloß mobile® Capital aufgefpeichert wird? Aber hören wir 


— — — — — 


1) Todt a. a. DO. ©. 228. 229. 256. 267. 





664 Trümpelmann 


Marr: „Man weiß, die Transaction zwifchen Capitaliſt und r- 
beiter ift folgende: Einen Theil jeines Capitals, das variable 
Capital, taufcht der Kapitalift aus gegen Arbeitöfraft, die er ale 
lebendige Verwerthungstraft feinen todten Productionsmitteln ein» 
verleibt. Eben dadurch wirb der Arbeitsproceß zugleich capitafifti- 
cher Verwerthungsproch. Anderſeits verausgabt der Arbeiter 
das für feine Arbeitskraft eingetaufchte Geld in Tebensmitteln, 
durch bie er fich erhält und reproducirt. Es ift dies feine indi⸗ 
piduelle Confumtion, während der Arbeitsproceß, worin er Pro- 
ductionsmittel confumirt und dadurch in Produkte verwandelt, feine 
productive Eonfumtion und zugleih Conſumtion feiner Arbeitstraft 
durch den Kapitaliften bildet. Die individuelle und productive 
Conſumtion des Arbeiter find weſentlich verjchieden. In der 
einen gehört er als Arbeitsfraft dem Capital und ift dem Bro 
ductionsproceß einverleibt; in der anderen gehört er fich ſelbſt und 
verrichtet individuelle Lebensacte außerhalb des Productionsproceffes.” 
Aber auch diefe „individuelle Confumtion des Arbeiter ift nur ein 
Moment der Production und Meproduction des Capitals“». „Durd 
den Umfat eines Capitaltheils in Arbeitskraft fchlägt der Capitaliſt 
zwei liegen mit einer Klappe. Er verwandelt einen Theil feines 
Capital® in variable® Capital und verwerthet jo jein Geſamt⸗ 
capital. Er einverleibt die Arbeitsfraft feinen Productionsmitteln. 
Er verzehrt die Arbeitskraft productiv, indem er den Arbeiter bie 
Produetionsmittel durch feine Arbeit verzehren läßt. Anderſeits 
verwandeln fich die Lebensmittel oder der an den Arbeiter veräußerte 
Theil des Capitals in Muskel, Nerven, Knochen, Hirn u. f. w. 
von Arbeitern. Innerhalb ihrer mothwendigen Grenzen iſt daher 
die indididuelle Conſumtion der Arbeiterclaffe Rückverwandlung der 
vom Gapital gegen Urbeitsfraft veräußerten Lebensmittel in vom 
Capital neu exploitirbare Arbeitskraft, Broduction und Reproduction 
feines nothwendigjten Productionsmittels, des Arbeiters felbft, die 
individuelle Confumtion des Arbeiters bildet daher ein Moment 
des Reproductionsproceſſes des Gapital8 im großen und ganzen.” 
So ift alfo der Arbeiter mit Haut und Haaren Eigentum des 
Capitaliften, wie ein Majchinentheil, der zum Gange in der Schmiere 
erhalten werden muß. Lächerlich! und wenn es wahr ift, nun 








Socialismus und Socialreform. 665 


dann gilt dies von uns allen! Es drängen fich diefer Ausführung 
gegenüber und zwei Erwägungen auf, die eine allgemeinerer, bie 
andere fpecieller Art. Zieht man zunächſt die Specifica „Eapital, 
Gapitalift”“ und jeden davon bedingten anderen Ausdruck aus dem 
dialektiſchen Wortgeflige heraus, fo ſchildert Marx nichts weiter, 
als das allgemeine Los jedes thätigen Menſchenlebens, wie e8 ber 
Gefelifchaft verhaftet ift und ihr fih opfert. Wir geben ftets 
mehr Arbeitskraft aus, als uns zuerfegen überhaupt 
möglich iſt; könnten wir fie immer wieder vollftändig erſetzen, 
jo würden wir nicht ſterben. Wir leben uns, arbeitend und zeugend, 
zu Tode. Auch der Socialiftenftaat mit dem „vollen Arbeitser» 
trage“ wird daran nichts ändern. Diefe dem Einzelnen fich immer» 
fort mehr und mehr erziehende Arbeitskraft geht nun aber der 
Geſellſchaft nicht verloren. Es iſt jene Abgabe des Einzelnen an 
die Gejamtheit, die ihm das Bewußtſein gibt, nicht vergeblich 
gelebt zu haben. Steigerung bes materiellen und geijtigen Capitals 
ift die Bedingung des Qulturfortfchrittes. Beſchaffung immer 
reicherer Productionsmittel — auch die Gedanken der Gegenwart 
werden zum PBroductionsmittel für das Denken der Zukunft — 
das ift die Aufgabe der Gejamtarbeit der Menfchheit. Stellt 
man fih die in specie als eine Füllung des Geldbeuteld etwa 
bes Fabrikanten vor, fo vergißt man, daß der Fabrikant genau 
demjelben Geſchick unterliegt, wie fein Arbeiter; daß auch er ftets 
mehr Urbeitsfraft abgibt, al8 er für ſich perfünlich zu erfegen im 
Stande ift, und daß er, auch wenn er ein plus an der Kraft 
feiner Arbeiter gewonnen bat, dies durdfchnittlih in einer Form 
hat (Erweiterung feiner Anlagen), welche neue Arbeitskräfte fordert 
und dadurd die Arbeitsnachfrage zu Gunften der Arbeiter fteigert, 
jo daß die Mehrabgabe ihrer Kraft den Ihrigen zugute fommt. — 
Zweitens aber und im bejonderen denke ich gar nicht daran, das 
Auspreifungsigftem mancher Capitaliften gegen ihre Arbeiter leugnen 
oder gar gutheißen zu wollen. Im Gegentheil, e8 müfjen dem 
gegenüber ernftlichfte Maßregeln ergriffen werden. Uber das be» 
haupte ich troßdem, daß diefe beflagenswerthen Ueber» 
griffe felbftfühtiger Capitaliften feineswegs die noth- 
wendige Folge der capitaliftifhen Broductionsmweife 


666 Trümpelmann 


als folder find. So aber erjcheinen fie nach der Deduction 
von Marr, und da gibt's dann freilich nur ein Mittel der Beſſe⸗ 
rung: radicale Ummandlung der bisherigen Productionsart, d. 6. 
Errichtung des Sociafiftenftaates. — Dean, thut jet ſchon viel für 
den jogenannten vierten Stand und wird immer mehr durch die 
Gefeßgebung thun müſſen. Meines Erachtens könnte man den 
eben angebenteten Webelftänden unter ftrenger Wahrung unferer 
Eigentumsperhältniffe dennoch radical durch eine alle Volksſchichten 
umfpannende QTantiemegejeßgebung abhelfen !). Unjere Socialiften 
würden natürlich damit nicht befriedigt fein. Sie fordern ja den 
vollen Arbeitsertrag au in dem Sinne, daß bie zur Erhaftung 
und Vermehrung der Productionsmittel immer, alfo auch im Sor 
ctafiftenftaate, nothmendige Abgabe von der Arbeitsentfchädigung der 
Einzelnen nit an einen Privatunternehmer, fondern an die Ge» 
fellihaft abgegeben werde. Der Effcet iſt übrigens für die 
Einzelperfönlichkeit ziemlich derſelbe. 

„Die Arbeit ift alleinige Wertherzeugerin, folglich gebürt dem 
Arbeiter der volle Ertrag feiner Arbeit”, das ift der Kern ber 
Sache. Das Feilfchen um die Arbeit, wie um eine Waare, foll auf- 
hören, das Lohnfyftem mit. feinem „ehernen Lohngeſetze“ befeitigt 
werden! Der Gapitalismus erjann dies Gejek und proclamirte es 
als Naturgefeß, dem man fich zu beugen habe, der Socialismus 
acceptirt e8, aber folgert: „Dies Geſetz ändert fih, wenn bie 
Grundlage, auf der es ruht, fich wandelt, — wandeln wir fie 
alſo!“ — Der Ricardo’ihe Kapitalismus fagt: „Arbeit ift 
Waare und man zahlt in der Waare nur die Hervorbringunge- 
arbeit; alfo gebürt ber Wrbeit jo viel Lohn, als zu ihrer Er- 
haltung und Neproducirung unbedingt nöthig ift, mehr nicht.“ — 
Lafjalle führt dann näher aus, wie der Lohn immer um ben 
Gleichgewichtspunkt, d. H. um „den zur Briftung der Eriftenz und 
ber Fortpflanzung nothmendigen Lebensunterhalt“ gramitire, 
bald ein wenig aufſchnellend, bald wieder fich fenfend. Iſt ber 
Lohn gut, find die Lebensmittel auch noch billig, jo nährt fidh der 
Arbeiter befjer und zeugt mehr. Die Kinder fterben nicht, fondern 


1) Wir werden bei Befprechung ber Reformen näher baranf eingehen. 








Socialiemus und Socialreform. 667 


gedeihen. So entfteht ſtarker Nachwuchs und das Arbeitsangebot 
wählt. Sofort finkt der Lohn. Die. Ernährung wird geringer, 
die Zeugung läßt nach. Der Nachwuchs ift geringer, die Arbeit» 
nachfrage alſo ftärfer; die Löhne fteigen und der Kreislauf beginnt 
von neuem. Mir ift diefe Ausführung immer wiberwärtig geweien, 
eine Beleidigung unferes Arbeiterftandee. Mag fie hierhin und 
dorthin paſſen, auf einzelne bereits tief gefunfene Fabrikbevölke⸗ 
rungen, im großen und ganzen paßt fie nicht, auf bie länd⸗ 
fihe Arbeiterbevöllerung jedenfalls durchaus nidt. 
Ueber diejen freiheitslofen Naturalismus bat fi) unjere Arbeiter» 
bevölterung längft erhoben. — Die Bevölkerung in unferem Vater: 
ande hat ftetig zugenommen, ohne daß das Elend der arbeitenden 
Claſſen in gleihem ®rade gewachſen wäre. Wo's noch ſchlecht 
ſteht und noch viel zu beſſern iſt, da find das mehr Reſte aus 
alter, als Erzeugniffe aus jüngfter Zeit. — Es gibt in unferer 
Arbeiterbevölferung, es ift wahr, ftrichweife noch namenloje Armut, 
und der Rath „Sparen“ Tann dort nur als Hohn aufgefaßt werden, 
aber im großen bat ſich die Lage der arbeitenden Claſſen gebeffert. 
Das beweifen und am beften die Soclaliftenvereine. Im heutigen 
Arbeiterhaufe find Luxusgegenſtände, welche der Kleine Handwerfer 
ſich früher nicht geftattete, weil er's nicht konnte; aber freilich 
werden wir von den Socialiften fofort mit dem Worte zurüdiges 
wiefen: „Mag das fein, mögen die jegigen Arbeiter günftiger 
fituirt fein, al® ihre Vorfahren, — fte haben nur feine Empfin- 
dung davon; ihre jeßige Lage ift die ihnen gewohnheitsgemäße, 
und dieſe ift im Verhältnis zu der Lage der anderen Claſſen immer 
eine gedrüdte. Es ift ihre jegige Nothdurft, und der Kohn 
dient eben nur dazu, fie zu befriedigen. Es ijt alfo im Grunde 
beim alten geblieben.” Und wenn nun bie Arbeiter unter jebiger 
BVroductionsweife am Reingewinn betheiligt würden? So würde 
dann die befjere Lage nach 10 Jahren auch wieder die „gewohn⸗ 
heitögemäße“ fein, und das Einkommen eben nur zur Dedung der 
Nothdurft ausreichen! Danach darf man den Menfchen wol erft 
fatt nennen, wenn er fi übergibt? — Und im Zulunftsitaat? 
Wenn alle nun den „vollen Ertrag ihrer Arbeit“ erhalten? Sollte 
da nicht auch das an Genußmitteln Gewährte — nad) Schäffle’s 


668 Trümpelmann 


„Duintefjenz“ etwa dem Genußlreife des Kleinbürgertums ent⸗ 
fprechend! — bald zum „Gewohnheitsgemäßen“ werden, jo daß der 
volle Arbeitsertrag dann eben auch nur die Nothdurft deckt? Sicher⸗ 
fih, und da dann die Spannung fehlt, welche jett die Vergleichung 
mit anderen hervorruft, fo wird fich bald gähnende Langeweile auf 
das Arbeitervolk mit dem vollen Wrbeitsertrag niederfenfen. — 
Wenn Herr Mehring !) die Phrafe, der Socialismus erftrebe unter 
Abfchaffung des Lohnſyſtems den vollen Arbeitsertrag für jeden 
Arbeiter, completen Nonſens, aud von ihrem eigenen Standpuntte 
ans, nennt, und wenn er behauptet, principiell gefaßt, proclamire 
diefe Forderung für jeden Arbeiter die Armut, den Berfall, bie 
Barbarei, fo dürfte er doch wol zu viel gefagt haben. Die So 
cialiſten willen fehr wohl, daß „in jeder denkbaren, auch der com⸗ 
muniftifchen Gejellichaft, jeder Arbeiter einen Theil feiner Arbeit 
der Verbeſſerung, Erjegung, Vermehrung der gejellfchaftlichen Pro» 
ductionsmittel, opfern muß“ ?) und fprechen es wiederholt aus, dag 
dies dem Einzelnen vom Wrbeitsertrag abgezogen werden muß, 
aber — es geht diejer Abzug dem Einzelnen doch wieder in fo fern 
nit verloren, als er ja nicht zu Gunften eines Privateigentümers, 
jondern vielmehr zu Gunften der Gefellfchaft gefchieht. Die Barbarei 
des Volksſtaates wird weniger aus dem „vollen Arbeitsertrage“ 
als aus dem Mangel an fittlicher, religiöfer Grundlage fliehen, 
einem Mangel, der ſich meines Erachtens namentlich auch darin 
geltend macht, daß die Arbeit zu Ungunften des Menſchen über: 
hätt, daß „Arbeiter“ und „Menſch“ völlig identificirt wird. Ich 
fagte ſchon früher: der Menſch ift mehr als feine Arbeit. Man 
fann deshalb auch in der Indignation darüber, daß die menfchlicye 
Arbeit als Waare behandelt und jo genannt wird, zu weit gehen. 
Wenn nur die Waare „Arbeit“ genügend bezahlt wird, fo daß der 
Verkäufer fih und feiner Familie mit dem erhaltenen Preife eine 
menſchenwürdige Eriftenz fchaffen kann, fo möchte es mit diefer 
Auffaffung fein Bewenden haben. Darin Liegt feine Herab- 
würdigung des Menjchen, die Herabwürdigung beginnt erft, wenn 
man den Menfchen fo jehr mit jeiner Arbeit identificirt, daß die 
i) a. a. O, S. 188, 
2) Ebendaſelbſt. 





Socialismus und Socialteform. 669 


niedere, geringere Arbeit ihn ſelber werthlos macht. Das war bie 
Anſchauung des vorcdriftlichen Altertums. Das Ehriftentum adelte 
ben Menſchen als foldhen, ohne Rückſicht auf Nationalität, Stand 
und Thätigleit. Der Werth ded Menfchen hängt nun eben nicht 
mehr von feiner Arbeit ab, weder von feiner Einzel» noch feiner 
Gefamtarbeit. Er Hat von vorn herein einen alle Leiftungen 
überragenden Werth erhalten. Legt er nun, in feine Leiſtung 
feinen fittlichen Werth Hinein, feine Gewilfenhaftigkeit und Treue, 
feine Freudigfeit und Geduld, feine Liebe und feinen Glauben, fo 
werden die verjchiedenen Arbeitsleiftungen nah ihrem ſittlichen 
Gehalt gleihwerthig, und in diefem Sinne nennt Quther das 
Stubenfehren der Magd und das Windelmafhen ber Mutter 
Gottesdienſt. So nimmt nad) und nad alle menſchliche Thätigfeit 
an dem Adel theil, welcher der menfchlihen Perſönlichkeit als 
folder eigen if. Es ann nun auf feiner Arbeit mehr um der 
Niedrigkeit ihrer äußeren Erfcheinung willen die Verachtung ruhen. — 
Aber nicht eine Silbe fagt die Schrift über den wirthſchaft⸗ 
lichen Werth ber verfchiedenen menfchlichen Leiftungen, nicht eine 
Sterbengfilbe über den vollen „Arbeitsertrag*, nicht ein Wort 
über die „Arbeit als Waare“, and noch nicht einmal andeutungs- 
meife. Es heißt die Schrift malträtiren, fie jet zum Compendium 
einer Bollswirthfchaftslehre zu machen, ebenfo wie früher zum 
Compendium der Naturwiffenfchaft. Pfr. Todt, fagt 3. B. um 
nur eins unter vielem ähnlichen herauszugreifen, über das Gleichnis 
von den Arbeitern im Weinberge !); „Das Gleichnis gibt uns 
feinen Anhalt, um Schlüffe auf eine Wirthichaftstheorie des Herrn 
zu machen.“ (Richtig!) „ES ftellt uns einen Grundbeſitzer vor, 
dem befitloje Arbeiter gegenlbergeftellt werben. Aber obmwol die 
bier gejchilderten Eigentums» und Productionsverhältniffe diejelben 
find, wie die heutigen, fo hieße es doch der Parabel Gewalt an⸗ 
thun, wollten wir aus derfelben eine Sanction dieſer Verhältniſſe 
durch den Herrn herausleſen.“ Sicherlich! Und wenn dod nur 
"Pfr. Todt diefen jchönen Grundfag immer feftgehalten und nicht 
fo oft aus den Worten ber Schrift die Sanction foctaliftifcher Ver⸗ 


1) a. a. O., ©. 174. 


6:0 Trümpelmann 


haltniſſe herausgelefen hätte! Dasjelbe Gleichnis von den Arbeitern 
im Weinberge dient nun folgendem Experiment !): „Der Herr bat 
dies Gleichnis gegeben, um eine höhere Wahrheit im Weiche der 
Gnade zu iluftriren. Zu dem Zwede führt er feine Hörer auf 
bas wirthichaftlihe Gebiet, und wir haben alfo Gelegenheit, zu 
conftatiren, daß es aud damals einen Arbeitsmarkt gab, auf dem 
die meufchliche Arbeit wie eine Waare gelauft, ver- und erhandelt 
wurde. Mit den erften Arbeitern wurde der Capitalift in Folge 
eined Handels eins um einen Groſchen. Aber faft in demjelben 
Athemzuge erhebt Jeſus diefen damals herrjchenden Ufus auf eine 
fittlih höhere Stufe, auf die chriftliche, indem er den Capitaliſten 
in feiner weiteren Schilderung aus einem gewöhnlichen, hartherzigen 
Käufer menfchlicher Arbeitewaare, der das viele Angebot ven Hän- 
den zum Herabdrüden des Lohnes zu beuugen jchien, zu einem vom 
neuteftamentlichen Geift der Liebe und Gütigkeit durchbrungenen, 
als Haushalter Gottes ſich gebarenden Capitaliften und zugleich 
Menſchenfreunde umbildet.... Kurz Jeſus kennt den Grundfag: 
‚Arbeit ift eine Waare‘ — er acceptirt ihn nicht.“ Preßt man die 
Worte, wie Pfr. Todt, fo kann man mit ganz gleichem Rechte 
fagen: „ja, Chriſtus acceptirt ben Grundfag; Arbeit ift Waare“, 
denn er läßt doch den Gapitaliften mit den eriten Arbeitern han⸗ 
delseins werden, ohne ein Wort des Tadels diefem Verfahren hin⸗ 
zuzufügen. 

Aber es wird dem Gleichnis von vorn herein Gewalt angethan, 
wenn man die Frage aufwirft, ob Ehriftus diefen Grundſatz accep- 
tive oder nicht. Chriftus geht von einem Brauche feiner Zeit aus 
und läßt es völlig dahingeftellt fein, ob derjelbe recht oder nicht 
recht it. Er läßt dann feinen Eapitaliften zu einer Handlungs- 
weife übergehen, die feinen Hörern fremd genug erfcheinen mußte. 
Sicherlich Hatten fie Erfahrungen diefer Art in ihrem Leben nicht oft 
oder gar nicht gemacht. Um jo eher konnte Ehriftus erwarten, daß fie 
das Gleihnis von jeder wirthſchaftlichen Beziehung 
loslöfen und nad feiner eigentlichen Bedeutung for- 
ſchen würden. So liegt die Sade. Auch Pfr. Todt wird zugeben, 


1) a. a. O. ©. 288. 











Socialismus und Socialveform. | 671 


daß die Handlungsmweife des Kapitaliften nur als eine That der 
Barmherzigkeit, nur als Ausnahmefall im Wirthſchaftsleben 
geduldet werden kann, daß fie als Regel aber verwerflid 
jein würde. Als Regel — das hieße ja die Sociafiften nod 
überbieten und den gleichen Lohn für jede Leiftung und jede Zeit» 
dauer proclamiren. Und dies könnte man ebenjo gut aus den 
orten des Herrn herauslefen, namentlich nad) der Paraphrafe 
Zodts, als das andere: „Jeſus kennt den Grundſatz: ‚Arbeit ift 
eine Waare‘ — er acceptirt ihm nicht.“ Pfr. Todt definirt die 
Arbeit folgendermaßen !): „Arbeit ift felbftbewußte, mit Mühe 
verbundene körperliche und geiftige Thätigkeit zum Zwecke der Her- 
borbringung irgend eines Gutes“, und er ſetzt hinzu: „So beftnirt 
läßt ſich die Arbeit von dem Menfchen ſelbſt gar nicht ablöfen. 
Die menfhliche Arbeit ift vielmehr die Auswirkung des 
ganzen Menfchen, der Menſch felbft." Pfr. Todt ftürmt mit 
Siebenmeilenftiefeln vorwärts. Er folgert viel mehr aus feiner 
Definition, als diefe geftattet. Logiſch iſt der Fortfchritt nicht. 
Zur Roth ließe fih der Sag: „So beftnirt läßt fich die Arbeit 
von dem Menſchen felbft gar nicht trennen“ mit der Definition 
deden; aber die „menschliche Arbeit ijt die Auswirkung des ganzen 
Menſchen, der Menſch felbft”, wie Tann das folgen aus einer 
Definition, welche die Arbeit nur in ihrer Einzelart, als einzelnes 
Thun „zum Zwecke der Hervorbringung irgend eines Gutes“ vor 
Augen hat, und nicht als die Gefamtthätigfeit ded ganzen Men⸗ 
fchenlebens? Aber auch in diefer erweiterten Faſſung würde fie 
niht im Stande fein, bad andere: „die menfchliche Arbeit ift die 
Auswirkung des ganzen Menfchen, der Menſch jelbft“ zu tragen. 
Seht die Bedeutung des Menſchen in feinen Leiftungen auf? Pfarrer 
Todt will die Arbeit nobilitiven, aber wie alle falfche Begriffsbe⸗ 
jftimmung, fo ift auch die feinige doppelfinnig, und es könnte mög⸗ 
ficherweife diefe überfchwengliche Nobilitirung der Arbeit die Ent» 
adlung des Menfchen zur Folge haben. „Der Menſch ift nichts 
werth, er Teiftet nichts", diefer Satz wird bald genug im Socia- 
tiftenftaate an Stelle bes einfachen Erwerbstriebes bei heutiger 


1) a. a. O., ©. 269. 





672 Zrümpelmann 


Broductionsart da8 Genoſſenſchaftsweſen als Regulator beherrſchen 
und die Arbeit in Spannung erhalten müſſen, wenn der Staat 
nicht an allgemeiner Indolenz zu Grunde gehen fol. Damit aber 
iſt nicht nur nichts gewonnen, fondern ein Ideal verloren worden. 
Der Sat des Pfr. Todt: „die menſchliche Arbeit ift die Aus 
wirkung des ganzen Deenfchen, der Menſch felbft", würde, praktiſch 
3. B. auf einen Schuhmacher angewandt, lauten (natürlich unter 
Boransfegung, daß der Schuhmacher eben nur Schuhmacher geweſen 
ift): „die ſämtlichen von ibm gefertigten Schuhwaaren find feine 
Auswirkung und zwar feine totale Auswirkung als Menſch, find 
er felbft*. Zugleich kann uns aber dies Beifpiel auch darüber 
belehren, daR es unendlich fchwer, ja unmöglich ift, der menſch⸗ 
lichen Arbeit den Woarencdarakter ganz zu nehmen. Der Schuß 
macher bietet feine Stiefel und läßt foviel als Preis zahlen, daß 
er 1) feine Auslagen (Leder, Handwerközeug u. ſ. w.) deden Tann, 
2) feine perfönliche Arbeit entfhädigt erhält. Er trennt das beibes 
nicht, fondern er fordert im ganzen für die Waare „Stiefel“. 
In dieſer ſteckt feine perfönliche Arbeit drin und nimmt fomit am 
Charakter der Waare felbft theil. Man muß nicht immer an die 
Arbeit des Fabrikakbeiters denken! — Pfr. Todt fügt feiner 
Beweisführung fpäter die Gottebenbilblichkeit des Menſchen an, 
nit ein, um e8 doppelt verwerflich erfcheinen zu laffen, wenn bie 
„Wrbeit“, oder wie es num nad) der zuvor decretirten Identificirung 
heißt, „der Menſch jelbft ale Waare behandelt wird“. Gerade bie 
Gottebenbildlichkeit des Menſchen hätte ihn doch beftimmen follen, 
einen Gedanken, wie den: „die menfchliche Arbeit ift der Menſch 
jelbft” weit vom ſich abzuweifen, einen Gedanken, der, wie ich bereits 
bemerkt, die vorchriftliche Zeit beherrfchte und der dem fchamlofen 
Capitaliftenegoismus mindeſtens ebenfo vortreffliche Dienfte leiften 
kann als der Sag: „die Arbeit ift Waare“. Es verhält fich mit 
diefem Sage, wie mit bem über die Arbeit als alleinige Werther- 
zeugerin — er dient dem extremen Capitalismus ebenfo gut, wie dem 
Sorialismus, und darum ift er falfch. Nein, wir wollen die Bes 
deutung des Menſchen nicht in feiner Leiftung aufgehen lafien! Und 
was würde daraus unter Wahrung unferer jetigen wirtbichaftlichen 
Derhältniffe etwa zu folgern fein? Auf den Socialiftenftaat haben 











Socialismus und Socjalrefoum. 673 


wir nit Rückſicht zu nehmen, weil wir ihn nicht wollen. Alfo, 
was wäre daraus zu falgern? Einfach dies: Auf einem beftimmten 
Betriebögebiet kann anf Grund der jeweiligen Gefchäftsconjuncturen 
für die Waare Arbeit immer.nur ein beftimmter Preis gegeben werben ; 
find die Conjuncturen günftig, fo-werden die Löhne eine Höhe haben, 
daß die Rage des Arbeiters, eine Zantiemengefeßgehung außerdem voraus⸗ 
gejeßt, eine angemefjene genannt merden muß; find die. &onjuncturen 
Dagegen ungünftig, und wird dies Nothleiden bes betreffenden Betriebes 
von den Geſchworenen, den Fabrikinſpeetoren, beftätigt, fo hat die 
Geſellſchaft iu ihrer Gefamtheit dem leidenden Gliede zu Helfen und den 
Arbeitern in jedem Falle fo viel Zuſchuß zu ihrem zeitweiligen Lohne 
zu gewähren, daß fie den Durchſchnittslohn der letzten 10 Syahre, der 
in ihrem Geſchäfte gezahlt worden üft, empfangen. Es ift darauf 
Hei Beiprehung der Speialreformen noch näher einzugehen. — 
Recht bezeichnend dafür, ‚wie ein an fich falfches Princip in 
feiner Welterentwiclung immer mehr auf Abmege führt, ift der 
bereitö erwähnte Streit im Socialiftenlager, ob die Arbeitsent⸗ 
Schädigung im Zufunftsftante nach den Leiftungen oder für alle 
ganz gleich bemeſſen werden ſolle ). Die Mehrzahl fordert — fie 
ftedt noch in den Empfindungen des Augenblicks —, daß im 
Zufunftsftant jeder nur nach feiner Leiftung belohnt werben folle, 
weil, wenn die gleiche Arbeitsentfehädigung für alle eingeführt 
werde, das „Streben“ aufhören würde. Die Weinderbeit, fich 
ftügend auf die Verheißung de8 Programme, daß im Zukunfts⸗ 
ftante „alle und jede politifche und fociale Ungleichheit bejeitigt fein 
fofle“ behanptet, „daß eine ungleiche Entſchädigung für geleitete 
Arbeit im Zufunftäftaate nicht vorherrfchend fein wird“. Während 
man früher wol von Socialiften hören und leſen konnte, daß es 
eine Verfchiedenheit der Begabung non Natur gar nicht gebe, daß 
afle Menſchen, der eine wie der andere, ganz gleich beanlagt ſeien, 
und daß die fpüter fich zeigende fogenannte verfchiedene Begabung 
nur .ein Product der fo fehr verfchiedenen äußeren Verhältniſſe jet, 
unter denen bie Mienfchen geboren würden und aufwüchſen, fo 
ſcheint man jest im focialiftifchen Lager naligemein zuzugeben, daß 


1) ©. Neue Gefellichaft, S. 284. 
Theol. Stud. Jahrg. 1878. 44 


674 Trümpelmann, Socialismus und Socialteform. 


die Menfchen verfchieden veranlagt zur Welt fommen, und daß diefe 
Berfchiedengeit mit der Egalifirung der äußeren Verhältniffe fich 
nicht vollſtändig heben laſſen werde. (Bielleiht find fie morgen 
wieder anderer Meinung, in ſolchen Dingen wecjeln bie Herren 
ſchnell) Majorität und Minorität, von denen wir bier reden, 
nehmen diefen Unterjchied beide an, und beide pochen auf die Ge⸗ 
vechtigfeit ihrer Forderung. Die einen fagen, gleihe Löhnung bei 
verfchiedener Leiftung wäre ungerecht; die anderen, fie wäre geredjt, 
und fie begründen bies, wie folgt: „Die Leiftungen hingen doch von 
der natürlichen Befähigung des Einzelnen ab. Derjenige, welcher 
von Natur befähigter wäre als ein anderer, würde auch im Stande 
fein, mehr zu leiften, als der Minderbefähigte. Er hätte fich dieſe 
natürliche Befähigung nicht felbft gegeben, alfo könnte er auch nicht 
für etwas belohnt werden, an deffen Hervorbringung er an umd 
für fi total ‚unfchuldig‘ wäre. Wollte man ferner annehmen, 
daß von zwei gleich befähigten Individuen der eine öfters troß- 
dem mehr leiften würde, als der andere, weil er fleißiger wäre, 
fo wäre zu bemerfen, daß diefer ‚Fleiß‘ ja gleihfalis nur ein 
Product der Befähigung vefp. des ‚Triebes‘ jei, ber bei dem einen 
mehr, bei dem anderen weniger ftart ausgeprägt ſei.“ Nun es ift 
gewiß: „Edel fei der Menſch, hülfreich und gut!" und ich fann 
nicht umhin, dem fentimentalen Gerechtigkeitsgefühl der Minderheit 
vom focialiftifchen Standpunkte aus die größere Conſequenz zuzu« 
geftehen. Indeſſen freilich — daß die Minderheit durchdringt, ift 
faum zu glauben. Es gibt der „Starken“ unter den Socialiften 
eine hübſche Zahl, und fie werben fi bei der Neuordnung der 
Dinge einzurichten wiffen. Endlich aber jei bemerkt, daß in diefer 
Forderung der Meinderheit nicht ſowol eine höhere Gerechtigkeit, 
fondern einfach der Naturalismus und Materialismus des Syſtems 
feinen letzten Trumpf ausſpielt. Was kann der. Menfch für feine 
Gefühle, fein Wollen, fein Thun? Er ift, wie er ift, denn er üft 
Naturproduct, wie da8 Blatt am Baum. Die „Starten“ werden 
ſich diefe Ethik in ihrer Weife zunuge machen. Mein nächjter 
Artikel foll enthalten: die Grunde und Bodenfrage, die perjönliche 
Dreiheit im Socialiftenftaat, die fogenannten „berechtigten Forde⸗ 
zungen“, Liberalismus und Socialismus und endlich die Reform. 











Gedanken nnd Bemerkungen. 








1. 


Robert Maher, 
ber große Förderer unferer heutigen wifſenſchaftlichen Welt⸗ 
erfenntnis, feine wifjenfchaftliche Entdedung und fein religiöſer 
Standpunkt. 


Bon 


Rudolf Schmid, 


Dekan in Schwabiſch⸗Hall. 





Am 20. März 1878 verfchieb in feiner Vaterftadt Heilbronn 
am Nedar in einem Alter von 63 Zahren Julius Robertvon 
Mayer, der große Naturforfcher, welcher mit feiner Entdeckung 
von der Erhaltung der Kraft und von‘ dem „mechanifchen Aequi⸗ 
palent der Wärme” der theoretifchen Phyfit und damit der Er- 
fermtnis des Weltall ganz neue Bahnen gewieſen hat, und dem‘ 
der academifche Senat der Univerfität Tübingen durch den Mund 
ihres Kanzlers Rumelin an feinem Grabe das volfberkchtigte Zeuge 
nis ausgeftellt hat, „daß mit Robert Mayer einer der geiſtvollſten 
Naturforscher aller Zeiten, eine der erſten Zierden deutfcher Wiſſen⸗ 
ſchaft zu Grabe getragen wird“. Derfelbe Redner ſagte an Mayers 
Grabe noch weiter: „Ya, ich darf es wol ohne irgend ein’ Mans’ 
dat und ohne befonderen Beruf‘ zu einem felbftändigen Urtheil im 
naturwiffenschaftlihen Dingen im Sinne aller Hochſchulen und 
wiſſenſchaftlichen Inſtitute unferes Vaterlandes als etwas allgemein 
anerkanntes ausſprechen, daß dieſer Mann zu den ſeltenen bahn⸗ 





678 Schmid 


brechenden Geiftern zu rechnen iſt, welche ihre Lichtfunken und be» 
fruchtenden Keime Über weit entlegene Gebiete und in ferne Yahr- 
hunderte auöftreuen. Der Name Robert Mayer wird in der Ger 
ſchichte der Wiffenfchaften für alle Zukunft in ungetrübtem Glanze 
ſtrahlen.“ — Das Andenken diefes Mannes verdient aber auch einen 
vollen Ehrenplag in einer theologifchen Zeitfchrift, welche es als 
eine ihrer Aufgaben erkennt, die Religion in ihren Beziehungen zum 
gefamten Culturfeben der Gegenwart ind Auge zu falfen. Denn 
Mayers perfünliche Stellung zu Religion und Chriftentum war 
der Art, daß er wie alle die großen Geifterfürften auf dem Ge 
biete der Naturerfenntnis die Behauptung aller derer Lügen ftraft, 
welche die vielgehörte, aber fehr turzfichtige und oberflächliche Mei⸗ 
nung ausſprechen, daß eine tiefere Einficht in die Natur des 
Seienden vom religiöfen Glauben hinwegführe. 

Gerade in der Gegenwart, wo ja bie Unverjöhnlichkeit von 
Glauben und Wiffen von zahllofen Stimmführern laut verfündigt 
wird, wo ein großer Theil nicht bloß unferer Halbgebildeten, fon 
dern auch folder, welche die Ansprüche auf das Prädicat Hoher 
und höchſter geiftiger Bildung erheben, es geradezu für eine aus 
gemachte Sache erklärt, daß man ſich in dem Grade, als man bie 
Höhen der Wilfenfchaft erfteige, von den Weberzeugungen bes Glan 
bens entferne, und wo es die Naturwifjenfchaften vor allem fein 
follen, welche dem Glauben an einen Gott und Erlöfer nirgends 
mehr einen Raum geftatten, — gerade in einer folchen Zeit liegt 
e8 doch überaus nahe, auch einmal zu fragen, welche Stellung zu 
Religion und Chriftentum denn nun diejenigen einnehmen , melden 
die ganze heutige Erweiterung unferer Welterfenntnis ihre willen 
fhaftlihe Begründung verdankt. ine einzige derartige Stimme 
wird? — noch abgefehen von unferer etwaigen Einficht in bie 
Gründe, auf welchen die religiöfe Weberzeugung eines foldhen Mannes 
beruht — ſchon als bloßes Votum mehr wiegen‘ al8 die Stimmen 
aller derer zufammengenommen, welche aus den Entdeckungen und 
Forſchungen des Meifters atheiftifches und matertaliftifches Capital 
ſchlagen. 

Unter allen den großartigen Förderungen nun, deren ſich unſere 
heutige wiſſenſchaftliche Welterkenntnis erfreut, ſtellen wir ohne 











Robert Mayer. 679 


Bedenken die Entdedung Robert Mayers in erfte Reihe. Wir 
überjehen nicht, welchen großen Einfluß auch andere Entdeckungen 
und Theorien auf die Erweiterung unferes Forſchens und Wiffens 
geübt haben, Theorien, welche ſich zum Theil einer noch viel all- 
gemeineren Popularität erfreuen als Robert Mayers Entdedung. 
Wir denfen hiebei an die Entdedungen der Spectralanalyfe, 
welche vor allem an Fraunhofers, Bunfens und Kirch— 
hoffs Namen gefnüpft find, und an die Theorien Darmins und 
feiner Anhänger von der Entjtehung der Arten dur Abſtammung 
auf dem Wege natürlicher Zuchtwahl. 

Die erftgenannte Entdedung, die Spectralanalyfe, ijt und 
bleibt wol eine der ſinnreichſten, ſchönſten und großartigften Ent- 
deckungen, mit welchen je menjchlicher Scharfjinn und Fleiß belohnt 
worden if. Sie theilt mit der: Deayer’ichen Entdedung ſowol 
den Charakter des Wohlerwiejenen al8 die Ausdehnung ihrer Trag⸗ 
weite anf alle nächſten und fernfien Räume des Weltalls. Indem 
fie die jtoffliche Sleichartigfeit und Zufammengehörigfeit aller Körper 
des Weltall& experimentell nachweiſt und damit manche Lieblings» 
vorjtellungen zunichte machen hilft, welche ſich veligiöfe Gemüther 
schon von dem Weltall gemacht Haben, fo gibt fie auch den Geg⸗ 
nern einer theiftifchen Weltanichauung ungefähr diejelben fcheinbaren 
Waffen in die Hand wie diejenige Entdedung, deren erfte Urheber- 
Schaft fih auf Mayers Namen zurüdführt. Allein da dem Ber- 
fafjer diefer Zeilen nicht befannt ift, ob und wie fi) die Entdeder 
amd Erfinder der Spectralanalyfe ſelbſt über die religiöje Frage 
geäußert haben, jo Liegt ein weiteres Eingehen auf die Beziehungen 
diejer Entdeckung zur Religion und religiöfen Weltanfchauung außer- 
Halb der Aufgabe diejer Zeilen, die zunächſt nur dem Andenken 
Mayers gewidmet fein follen und überhaupt nur die perjönliche 
Stellungnahme der großen naturwilfenfchaftlihen Entdecker zur Mes 
ligion in's Auge faſſen. 

Die Theorien Darwins aber find vor allem vorerft noch 
hypothetifcher Natur. Ein Theil derjelben, der Gedanke an eine 
Entjtehung der höheren Arten organifcher Wejen nicht auf dem 
Wege einer primitiven Zeugung aus dem Wnorganijchen heraus, 
fondern auf dem Wege der Abjtammung von näcjtverwandten nie⸗ 


0 Schmid 


dereren Arten, ſcheint zwar auf vollem Wege begriffen zu ſein, den 
Werth einer bloßen Hypotheſe zu überfteigen und die Rangfiufe 
einer wohlbegründeten Theorie einzunehmen; alleit gerade Diejenige 
Theorie, welche das fpecifiih Neue an Darwins Aufftellungen bil 
det und welche der Abftammungstheorie ihre wiſſenſchaftliche Ber 
gründung geben foll, nämlich die Theorie von einer. allmählichen 
Fortentwicklung der Arten zu höheren Arten auf dem Wege ber 
natürlihen Zuchtwahl im Kampf um's Daſein, fcheint ihte 
wilfenfchaftliche Begründung und Bedeutung mehr und mehr zu 
verlieren. Zudem beſchränkt fih die ganze Theorie Darwins une 
auf ein kleines Theilgebiet der Welt, auf die Organismen , welde 
den Erdball bevölfern, und faßt auch diefe erft von da an in’ 
Auge, wo ihre erſten Bertreter jchon vorhanden find. Denn es 
find ja erſt die metaphufifchen Theoretiker, welche die naturwiſſen⸗ 
ſchaftlich noch unlösbare Frage nad) der erften Entftehung der Or- 
ganismen und des Lebens mit ihren naturphilofophifchen Hypotheſen 
beantworten und auf diefe Grundlage von Hhpothefen ihre materia 
tiftifhen Weltfyfteme bauen, während Darwin felbft die Frage nad 
der Entftehung des Lebens weber ftellt noch zu beantworten ſucht. 
Was endlich die religiöfe Trage betrifft, fo fordert allerdings bie 
Darmwin’fche Theorie vor allem dadurch, daß fie aud) die natur- 
wiffenschaftliche Trage nach der Entftehung des Menfchen in ihrer 
Weiſe beantwortet, auf’8 allerentfchiedenfte zur Stellungnahme zu 
Religion und criftliher Anſchauungsweiſe heraus, allein eben des⸗ 
wegen conftatiren wir bier im VBorübergehen um jo lieber, daß 
Darwin felbft eine ganz freundliche Stellung zu den religiöfen 
Ueberzeugungen einnimmt. Einen näheren Nachweis hievon zu geben, 
hat der Verfaſſer diefer Zeilen in einer befonderen Schrift Anlaß 
gehabt: „Die Darwin'ſchen Theorien und ihre Stellung zur Philo⸗ 
jophie, Religion und Moral" (Stuttgart, Paul Mofer, 1876), 
S. 201—205. 

Ganz anders ift num freilich die Begründung und die Trag⸗ 
weite von Robert Mayers Entdeckung. Fürs erfte ift fie feine 
Hypotheſe, fondern drängt fi dem Geift mit allen vereinten Be 
ee räften bes Experiments und der Beobachtung, der logiſchen 

nd mathematischen Schlußfolgerung und der philofopifchen Intuition 








Robert Mayer. ost 


als Wahrheit auf und fteht troß: der. verhältnismäßigen Kürze ihres 
Daseins (ihre erſte Veröffentlichung datirt erft vom Mat 1842) 
wol für immer fo feft als irgend eine der gefichertften Errungen⸗ 
haften menfchlihen Wiſſens. Fürs andere erftredt fie fih in 
ihrer Tragweite über alle Räume, Zeiten und Dafeinsformen des 
Weltalls, jo daß es wol Fein Gebiet bes Naturerfennens gibt, über 
welches fie nicht ihr neues und überrafchendes Licht verbreitet hütte 
und immer noch weiter zu verbreiten verjpräde. Sie ift in ihren 
Grundelementen wie alle Wahrheit überaus einfach und erinnert 
iegt, nachdem fte gemacht und allgemein anerfannt tft, wie Mayer 
irgendwo felbit jagt, an das Ei des Columbus. Sie bejteht im 
wefentlichen in dem Nachrveis, dag nicht bloß die Materie, wie die 
Chemie ſchon feit 100 Jahren unter Lavoiſiers Vorgang nad» 
gewiefen hat, fondern aud) die Kraft ein unzerftörbares Ob— 
ject it, das nie und nirgends wieder zw nichts wird, und daß zwei 
diefer Kräfte, die Wärme umd die Bewegung (wahrfcheinlich aber 
alle phyjifalifhen Kräfte d. h. auch die früher fogenannten Im⸗ 
ponderabilien, Licht, Electricität, Magnetismus, bie Kräfte der cher 
mischen Verbindungsproceffe), wechfelfeitig fi) in einander verwans 
dein nad) einem conftanten, meßbaren und in- Zahlen und Formeln 
nennbaren Verhältnis. Dieſes Verhältnis ijt nach der Zahl, wie 
er fte in jeinen jüngften Veröffentlihungen fejthält, folgendes. Die 
Erwärmung von einem gegebenen Gewicht Waſſer um 1° der 
hunderttheiligen Scala ift genau diefelbe Leiftung, wie die Erhebung 
von einem gleichen Gewicht von irgend welcher materiellen DBe- 
fchaffenheit auf eine verticale Höhe von 424 Meter. Oder umger 
fehrt, was aber ganz dasſelbe ift: ein Gewicht, das von einer ver⸗ 
ticalen Höhe von 424” ſchnell oder langſam, ſenkrecht oder fchtef 
herunterfülit, herunterrollt oder herunterrutfcht, erzeugt auf mecha⸗ 
nischem Wege, ſei es durch Stoß oder durch Reibung oder durch 
beides zufammen, foviel Wärme, als erforderlich ift, um: dasſelbe 
Gewicht Waffer um 19 C. zu erwärmen. Im Jahre 1842 hatte 
er durch Experimente und Rechnungen noch die Zahl 365”, int 
Jahre 1845 die Zahl 367 gefunden, Tpäter die von dem Engländer 
Joule durch felbftändige Experimente gefundene Zahl 423, zuletzt 
die Zahl 424” angenommen. Dieſe correlate Leiſtung beider 


682 Schmid 


Kräfte und die für diefelbe gefundene conftante Zahl nennt er das 
mechaniſche Aerquivalent der Wärme, und diejes ift ihm 
nun der archimediiche Punkt, von dem aus er über die Bewegungen 
ber Himmelslörper, über die Sonnenwärme und ihre Urfacen 
und Leiftungen, über die anorganijhen Bewegungen und Borgänge 
wie Fluth und Erdbeben, Wafjer- und Luftftrömungen, über das 
Leben der Pflanzen, der Thiere und des Menſchen, über das Ber- 
hältnis zwifchen körperlichem Lebensproceg und mechanischer Arbeit 
die überrajchendften und zugleich überzeugendften Folgerungen zieht. 
Der Grundjag, den er dabei anwendet, ift derfelbe, der der welt- 
berühmt gewordenen Erzählung von Newtons Apfel zu Grunde liegt. 
„Dieje Erzählung hat nichts unmwahrjcheinliches; denn wenn man 
fih darüber Kar geworden ift, daß zwiſchen Klein und Groß nur 
ein quantitativer, kein qualitativer Unterfchied befteht, wenn man, 
nicht Gehör gebend den Einflüfterungen einer immer regen Bhans 
tafie, in den Kleinften wie in den größten Naturproceljen dieſelben 
Gejege aufjucht, dann ift man auf dem rechten Wege zur Erkennt⸗ 
nis der Wahrheit. Gerade diefe allgemeine Gültigkeit Tiegt im 
Weſen der Naturgefege und ijt ein Probirftein für die Nichtigkeit 
menſchlicher Theorien. Wir beobachten den Wall eines Apfels, er 
forfchen das dieſer Erfcheinung zu Grunde liegende Geſetz; an die 
Stelle der Erde fegen wir die Sonne, an die des Apfels einen 
Planeten und — wir haben den Schlüffel zur Mechanik des Himmels 
in den Händen.“ (Med. d. Wärme, ©. 174.) 

Wir haben abfichtlic, einen kurzen Grundriß von Mahers Ent- 
deckung und Forfchungsmethode zu geben verſucht. Denn gerade 
beöwegen, weil feine Entdedung von fo großer Tragweite und zu⸗ 
gleich jo wohl begründet ift, weil er mit jo unbeugfamer Energie 
und fo weit blickender Klarheit die ausnahmsloje Geltung aller 
Naturgejege betont und dasſelbe Gejeß, dem das Stäublein im Luft⸗ 
raum gehorcht, auch auf alle Weltkörper und Welträume anwendet, 
weil er jo die Tüdenloje Conſequenz des naturmwifjenjchaftlichen 
Forſchens in einem Grade durchführt, wie es ihm fein anderer 
Naturforscher zuvorthut, gerade deswegen iſt es fo überaus interefjant, 
zu fragen, ob denn in einem fo hellen und hahnbrechenden Geifte 
auch die religiöjen Weberzeugungen des Chriftentums noch einen 








Robert Mayer. 683 


Pla oder gar den centralen Pla finden, den fie in einem religiös 
geftimmten Gemüth haben. ‘Denn das fehen wir beim erften Blick 
in feine Schriften: Robert Mayers kundige Haud führt und geraden 
Wegs mitten in die Rüſtkammer Hinein, welcher die atheiftifchen, 
materialiftifhen und pantheiftifchen Gegner des driftlichen Glaubens 
ihre beiten Waffen entnehmen. Unzerſtörbarkeit der Materie, Un⸗ 
zeritörbarfeit der Kraft, allgemeine und ausnahmsloje Gültigkeit der 
Naturgefege durch alle Räume und Zeiten hindurch: — das find 
ja die großen Grundfäge, welche in jedem atheiftifchen Syſteme 
ihre Rolle fpielen und die naturwifjenfchaftlichen Grundlagen für 
feinen Materialismus abgeben müſſen. Sind fie berechtigt zu diefer 
Rolle? Führen fie zu folchen materialiftiihen Confequenzen ? 
Hören wir darüber den Meiſter, den wir vor allen anderen ben 
Meifter zu nennen das volle Necht haben, obwol auch andere in 
mehr oder weniger Unabhängigkeit von ihm diejelben Entdeckungen 
gemacht oder jelbitändig weiter verfolgt haben, wie denn er felbft 
in feinem Innsbrucker Vortrag nicht weniger al8 5 Männer nennt, 
weiche das mechanische Wärme-Aequivalent feiner Zeit felbjtändig 
entdect haben, den Franzoſen Adolf Hirn, die Engländer Joule 
und Colding, die Deutfchen Holgmann und Helmholg. Wir heißen 
ihn den Meiſter, nicht nur, weil er ber erfte iſt, der jenes Geſetz 
entdeckt und ausgeſprochen hat, fondern auch, weil er an Geninlität 
des Blicks, an philofophifcher Klarheit und an kühner Sicherheit 
in der umfaljenditen Anwendung des gefundenen Princips einzig 
und unerreicht dafteht. 

Nun müſſen wir freilich im voraus darauf aufmerkfam machen, 
daß der Anläffe, fih über die veligiöfe Frage auszufprechen, in 
folhen Schriften nit eben jehr viele fein können, welche lauter 
Fragen der eracten Naturwiſſenſchaft behandeln, und melde dies in 
derjenigen natürlichen Ungezwungenheit thun, wie fie Mayers Ar- 
beiten durchaus eigentümlich iſt. Zumal die erjte Sammlung feiner 
Arbeiten, welche 1867 in Stuttgart bei Cotta unter dem Titel 
„Mechanik der Wärme* in erfter Auflage erfchien, enthält Tauter 
für ein wiflenfchaftliches Publikum beftimmte Abhandlungen, und 
in ihnen fann der Leer im voraus nur beiläufige Andeutungen des 
allgemeinen Standpunttes erwarten, auf weldem layer fteht. 


084 Schmid 


Diefe findet er auch, zwar nicht hünfig, aber in’ einer Deutlichkeit, 
die nichts zu wünſchen übrig läßt, und fie find Mayer felbft ſo 
wichtig, daß er fogar in feiner furzen Vorrede auf eine derjelben 
binmeift. Er fagt dort S. Vf.: „In der Schlußſchrift „über das 
mechanische WärmesAequivalent‘ ift zugleich die metaphyfiſche Seite 
des neuen Gegenftandes berührt, welche den Brincipien und Con⸗ 
Sequenzen der materialiftiichen Anſchauungsweiſe geradezu entgegen 
geſetzt iſt. Zwei Stellen jener Abhandlung ſcheint er mit‘ dieſen 
Morten vor allem im’ Auge zu haben. Die eine fteht S. 273, 
wo er nach Klarſtellung des Begriffes einer Kraft und nad Zur 
rückweiſung diefes Namens für bie bloße Schwere: fortfährt: „Man 
wende mir nicht ein, die Drud,;kaft‘, Schwer, kraft, CoHäftons 
‚kraft‘ u. f. w. fei die höhere Urſache des Druds, der Schwert 
u. f. w. Im: den eracten Wiffenfchaften hat man es mit den Er» 
fcheinungen felbft, mit meßbaren Größen zu thun; der Urgrund 
der Dinge aber ift ein dem Menfchenverftande ewig unerforfchlides 
Weſen — die Gottheit, wohingegen ‚höhere Urfachen‘, ‚überfinn- 
liche Kräfte‘ u. dgl. mit all ihren Confequenzen in das illuſoriſche 
Mittelreih der Naturphilofophie und des Myſticismus gehören.” 
Die andere Stelle fteht S. 274 und lautet: „Kraft und Materie 
find unzerftörliche Objerte. Dies Geſetz, auf das ſich die einzelnen 
Thatfahen am einfachften zurückführen laſſen und das ich deshalb 
bildlich den heliocentrifchen Standpunkt nennen möchte, ift eine na⸗ 
turgemäße Grundlage fir die Phyſik, Chemie, Phyftologie und — 
Philoſophie.“ In diefen beiden Stellen finden wir den ganzen 
metaphuftfchen Standpunkt Mayers dargelegt. Fürs erfte zieht er 
in feinem wiffenfchaftlichen Erfennen aus den Geſetzen, welche der 
forfchende Menfchengeift in der Erſcheinungswelt findet, alle Con 
ſequenzen bis zu ihrem legten erreichbaren Ziel. Fürs andere will 
er nur erklären, was wirklich auch erflärt werden kann, und ge 
ftattet dabei der fpeculirenden oder dichtenden Phantafle nicht den 
mindeften Spielraum. So fagt er fchon im Jahre 1845 (Died). 
d. W., S. 24 Anm.): „Wenn bier eine Verwandlung der Wärme 
in mechaniſchen Effect ftatuirt wird, fo foll damit nur eine That⸗ 
ſache ausgefprochen, die Verwandlung felbft aber keineswegs erffärt 
werden..... Die echte Wiffenfchaft begnügt ſich mit pofitiver Er 








Robert Mayer. 685 


kenntnis und überläßt es willig dem Poeten und Naturphilofophen, 
die Auflöjung ewiger Räthſel mit Hülfe der Phantafteizu verfuchen.“ 
Fürs dritte erlennt er.über diefer ganzen Ericheinungswelt als Urs 
geund aller Dinge die Gottheit: um diefe zu erfaſſen, bedarf 
aber der Menfc eines anderen Organes als des biscurfiven Vers 
ftandes. Daß Mayer mit feinem Ausfprucd über die Unerforjch- 
lichkeit Gottes nicht etwa auch eine Behauptung von feiner religiöfen 
Unnahbarkeit oder gar ‚einen Zweifel an feiner Exiſtenz ausfprechen 
will, das geht ſchon aus gelegentlichen Heußerungen in der erften Samm- 
fung feiner Schriften, noch viel deutlicher aber aus her zweiten 
Sammlung hervor. So ftellt er (Med. d. W., ©. 52) die Größe 
und Herrlichkeit der Natur in ihrer einfachen Wahrheit jedem Gebilde 
von Menjchenhand ‚und allen Illuſionen des erſchaffenen Geiſtes 
gegenüber, und fpricht (S. 240) von ber „göttlichen“ Weltordnung, 
wornad der Menfch zum Arbeiten erfchaffen fei. 

Diefe wenigen Aeußerungen find ‚nun freilich fo ziemlich ‚alles, 
was wir in der erfin Sammlung von Mayers Schriften, in feinen 
Abhandlungen, zur Beantwortung der Frage nach feinem res 
ligiöſen Standpunkt finden; aber es ift auch alles, was wir billiger» 
weife von einer Sammlung naturwifjenichaftlicher Abhandlungen er⸗ 
warten können. Viel reicher wird dagegen unjere Ausbeute, wenn 
wir an die zweite Sammlung »herantreten, an die „Naturwiflen- 
ſchaftlichen Vorträge“, weldhe er 1871 bei Cotta herausgegeben, 
im ſelben Jahr aber auch der 2. Ausgabe feiner Mechanik der 
Wärme einverleibt hat. Das urfprünglich gefprochene und gehörte 
Wort geftattet und verlangt ja jeden Falls auch bei naturwifjene 
fchaftlichen Gegenftänden mehr als die gefrhriebene Abhandlung eine 
Bezugnahme auf die gejamten „geiftigen Intereſſen des Menſchen 
und fo insbefondere auch auf feinen religiöfen Glauben und Stand- 
puntt. Dazu mag vieleicht auch noch der doppelte Umſtand ger 
fommen fein, daß fi) Wayers religidfe Ueberzeugungen im Laufe 
der Jahre ohnehin mehr befeftigten und ausgeftalteten, und daß der 
Misbrauch, der nachgerade mit feinen Entdeckungen in materias 
liſtiſchem und atheiftiichem Sinn gemacht wurde, den Urheber der 
Entdedungen ſelbſt zn recht deutlicher Zurückweiſung eines folchen 
Miobrauchs herausforderte. 


686 Schmid 


So ift denn gleih ber erfte Vortrag überaus charafteriftifch 
nicht nur für feine eigene religiöfe Weberzeugung, fondern ganz be 
fonders auch für den offenen Muth, mit dem er fich unaufgefor- 
dert zu bderfelben befannte. Es ift der Vortrag, den er auf der 
allgemeinen Verſammlung der Naturforjher zu Innsbruck am 
18. September 1869 „über nothwendige Confequenzen und In⸗ 
conjequenzen der Wärmemechanik“ gehalten bat. Man vergegen- 
wärtige ſich, welche Wichtigkeit e8 für ihm, den bejcheidenen und 
lange verfannten Dann haben mußte, von einem Naturforfcher- 
Eongreß zum Vortrag aufgefordert zu werden; man verfeße fid 
im Geiſt in die allen chriftlichen Aeußerungen Häufig jo kühl und 
mehr als kühl gegenüberftehende Atmofphäre der meiften derartigen 
Congreſſe, und erwäge dabei, daß Mayer vollauf berechtigt geweien 
wäre, ſich auf lauter wilfenfchaftliche Mittheilungen zu befchränfen: 
und es wird jedes Wort von Belenntnid eines Glaubens an bie 
Wirklichkeit einer überfinnlichen Welt und an einen Schöpfer und 
Herrn der Welt mit dem verboppelten Gewicht einer vollbewußten 
heiligen Weberzeugung und vines wohl überlegten Belenntniffes zu 
ihr in die Wagſchale fallen. 

In diefem Vortrag nun bildet e8 einen ganz befonderen Theil 
feiner Mittheilungen, eben den, der die „Inconfequenz“ der Wärme 
mechanik darlegen fol und die Charakterifirung feines Stand 
punttes als eines antimaterialiftifchen ergänzt, daß er jet feine 
Unterfuchungen über die Gebiete des Anorganifchen und des Ors 
ganifchen, die er fchon im feiner Mechanik dev Wärme durchmeffen 
hat, hinausführt und auch auf das Pſychiſche ausdehnt. Und bier 
ftatuirt er mit derfelben Klarheit und Weberzeugungsfraft, mit 
welcher er einft zu der Erkenntnis von der Ungerftörbarfeit der 
Materie die bahnbrechende Entdeckung von der Ungerftörbarkeit der 
Kraft hinzugefügt Hatte, die felbftändige Erxiftenz der Seele und 
des geiftigen Princips als etwas von der Materie und phyſikaliſchen 
Kraft qualitativ Verſchiedenen. „Iſt man einmal zu der Cinficht 
gelangt, daß es nicht blog materielle Objecte, daß es aud Kräfte 
gibt, Kräfte im engeren Sinne der neueren Wijlenfchaft, ebenfo 
unzerftörlih wie die Stoffe des Chemifers, fo hat man zur An» 
nahme und Anerkennung geiftiger Exiftenzen nur noch einen folges 














Robert Maper. 687 


richtigen Schritt zu thun.... Weder die Materie noch die Kraft 
vermag zu benfen, zu fühlen und zu wollen. Der Menfch denkt.“ 
(S. 15.) Den Zuſammenhang und den Unterfchied zwifchen dem 
denkenden Geift und dem Gehirn veranfchaulicht er durch das Ver⸗ 
hältnis zwifchen dem telegraphifchen Apparat und der Depeſche, 
welche bdiejer befördert. „Das Gehirn ift nur das Werkzeug, es 
ift nicht der Geift ſelbſt. Der Geift aber, der nicht mehr bem 
Bereiche des ſinnlich Wahrnehmbaren angehört, ift fein Unterſu⸗ 
hungsobject für den Phyfiter und Anatomen.“ (S. 16.) 

Zu biefer direct antimaterialiftifchen Zendenz des Innsbrucker 
Vortrages kommt noch die weitere, einem Leſer von religiöfer Ueber» 
zeugung jo überaus wohlthuende Eigentümlichkeit desfelben Vor⸗ 
trages, daß er von Anfang bis zu Ende von ausdrüdlichen Bes 
ztehungen auf Gott al8 den Schöpfer und Erhalter der Welt förm⸗ 
lich durchwoben ift und gelegentlich auch Worte der heiligen Schrift 
im Sinne der ehrfurdhtsvollen Aneignung citirt. So leitet er 
©. 7 den willenfchaftlichen Nachweis, daß und warum er die Ans 
fiht von einem endlichen Stillftand der Welt nicht theile, mit den 
Worten ein: „Um die Grenzen der phufilalifchen Aftronomie nicht 
zu überfchreiten, will ich bier nicht weiter an ben Schöpfer und 
Erhalter der Welt erinnern.” So illuftrirt er ©. 13 die Pro» 
ductivität, die auf dem Gebiet ber lebenden Welt im Gegenfat zu 
der ftarren Nothwendigkeit auf dem Gebiet des Anorganifchen zur 
Herrfchaft fommt, mit dem biblifchen Wort: Gott ſprach: es werde, 
und ed ward. S. 14 jagt er: „Das Erhaltungsprincip oder der 
zweite Sag nil fit ad nihilum gilt in Gottes lebender 
Schöpfung nod in erhöhten Grade, fo fern er nicht mehr, wie 
in der todten Natur, durch den fterilen Sat ex nihilo nil fit be» 
fchränft if. S. 16 lefen wir da8 Wort, welches aud für die 
Kennzeichnung von Mayers metaphyſiſchem und erkenntnis⸗theoretiſchem 
Standpunkt intereffant ift: „Was fubjectiv richtig gedacht ift, ift 
auch objectiv wahr. Ohne diefe von Gott zwiſchen der fubjec« 
tiven und objectiven Welt präftabilirte ewige Harmonie wäre all 
unjer Denken unfrudtbar.“ Der Schlußſatz des Vortrags endlich) 
wird vollauf beftätigen, was wir vorhin über Mayer Muth 
und die Tiefe feiner religiöfen Weberzeugung gejagt haben. Er 


688 Schmid 


lautet: „Laſſen Sie mich hier ſchließen. Aus vollem ganzen Herzen 
rufe ich es aus: eine richtige Philoſophie darf und kann nichts 
anderes fein als eine Propädentik für die chriftliche Religion.“ 
Der zweite Vortrag, den er 1870 „über Erbheben“ gehalten 
bat, ift ung für unferen gegenwärtigen Zweck bejonder® deswegen 
intereffant, weil er und in feinem Schluß (S. 80 u. 31) übe 
Mayers Stellung zur heiligen Schrift und zu der Behauptung von 
einem Widerftreit zwifchen Glauben und Wiffen den deutlichſten 
Aufſchluß gibt. Er jagt: „In der Bibel finden ſich zur Erklärung 
der ‚heute beiprochenen Gegenftände Seine Anhaltspunkte nor, und 
e3 ift dies ganz dem heiligen Charakter der Schrift entfprechens, 
welche uns nur erft da Auskunft zn ertheilen pflegt, wo uns, was 
aber freilih nur gar zu oft geichieht, unter eigenes wmenfchliches 
ingenium atque judicium im Stiche läßt..... Damit find wir 
an einer Tagesfrage angelangt, das Verhältnis von Glauben up 
Wiffen betreffend. Man gibt fi) von gewiffer Seite aus alle 
Deühe, dieſes Verhältnis geradezu als ein feindfeliges zu bezeichnen, 
eine Anficht, zu der ich mich durchaus nicht bekennen kann. Aller⸗ 
dings hat der Materiaglismus bis zu einem gemiffen Grade fein 
Berechtigung. Die Materie exiftirt, und in ihrer Exiſtenz liegt 
auch das Recht ihrer Exiftenz. Wenn der Königsberger Philoſoph 
die Welt in eine Centripetal» und eine Eentrifugaltraft auflöjen 
wollte, jo hat er fich ‚bier einer ungefchicten und verwirrenden 
Terminologie bedient, die fchon im Prineipe verfehlt und nidt 
lebensfähig ift. Diefelbe ift auch von der Wiffenfchaft Längft auf 
gegeben worden. Man mörhte bei Kant anzufragen verfucht fein: 
was it Vernunft? Vernunft ift die fubjective Religion, und Re 
Tigton ift die objective Vernunft. Die ewige Vernunft möchte id 
mir aber nicht getrauen mit Eritifchem Maßſtabe ausmeffen zu 
wollen. Die Naturwiffenfchaften haben fi) zum Glück von phile 
ſophiſchen Syſtemen emancipirt und gehen an der Hand der Er 
fohrung mit gutem Erfolge ihren eigenen Leg. Wenn aber ober- 
flächliche Köpfe, die ſich gerue als die Helden des Tags geriren, 
außer der materiellen, ſinnlich wahrnehmbaren Welt überhaupt nichts 
weiteres und höheres auerlennen wollen, fo kann ſolch lächerliche 
Anmaßung einzelner der Wiſſenſchaft nicht zur Laſt gelegt werder, 





Robert Mayer. 689 


noch viel weniger aber kann fie derjelben zu Nut und Ehre ges 
reichen.“ 

Der dritte Vortrag gibt und für umfere Frage feine weitere 
Ausbeute, um fo mehr aber wiederum ber vierte und letzte, 1871 
„uber die Ernährung“ gehaltene. Dort führt er zunächft in feinen 
allgemeineren Grörterungen die Ideen, die wir ſchon im feinem 
Innsbrucker Vortrag kennen gelernt haben, weiter aus, indem er 
das Mineralreich das Reich der Nothwendigkeit, das Pflanzenreich 
das Reich der Zweckmäßigkeit und das animalifche Reich das Reich 
der Freiheit heißt und bei dem letteren (S. 67) hinzufügt: „Doc 
ft es Sache der Philoſophie und Theologie, diefes Thema in Bes 
ztehung auf ben Menſchen weiter zu erörtern.“ Gleich darauf 
(S. 68) Heißt er den Menſchen „den Herrn der Schöpfumg, Gottes 
Ebenbild fowol, wie das ewige Räthſel der Sphiux.“ Hier machen 
wir wieder auf den wiſſenſchaftlichen Freimuth und die Ueberzeu⸗ 
gungsfeſtigkeit aufmerkſam, womit er von einem Reich der Zweck⸗ 
möäßigfeit, von einem Reich der Freiheit und von der fpecififchen 
Würde des Menſchen als von lauter felbftverftändlichen Dingen 
redet. Weber die modernen, fo überaus populär gewordenen Ans 
griffe anf die Ideen der Zweckmäßigkeit, der Freiheit und auf die 
ſpecifiſche Würde und die Gottesebenbildlichleit des Menfchen, — 
Angriffe, die er fo gut kennt, wie irgend einer, geht er in feinem 
genialen Blick und in der Sicherheit feiner Auffafjung einfach bins 
weg, als ob fie gar nicht eriftirten, weil er ihnen feine wiflen- 
fhaftlihe Berechtigung zuerfennt. 

Sodann begegnen wir auch in diefem Vortrag mieber ähnlich 
wie in dem Innsbrucker einigen lebhaften Hinweifungen auf Gottes 
Shöpferherrlichkeit. So nennt er (S. 56) bie Nothwendigkeit, die 
in dem Reiche des Anorganifchen herrſcht, eine göttliche und 
fagt von ihr: „Diefe göttliche Nothwendigkeit kann aber nur folchen 
misfallen, die fie nicht recht verftehen.“ Und ebendafelbft fagt er: 
„Wir können, um mit Plato zu reden, nicht aufhören, ſchon im 
Gebiete der unbelebten Welt die Weisheit deffen zu bewundern, der 
die Himmel und unfere Erde gefchaffen bat.“ 

Endlich gibt uns der Schluß dieſes Vortrags Gelegenheit, auch 
in bie charakteriftifche Stellung, die Mayer zu den Darwin'ſchen 

Theol. Stud. Jahrg. 1878. 45 


x Schmid 


Fragen einnimmt, einen Blick zu thun. Er jagt S. 76: „Zum 
Schluſſe geftatten Sie mir noch eine allgemeine Bemerfung. Dan 
wollte das Rahrungsbedürfnis, wie Sie wiffen werden, neuerdings 
unter der Benennung ‚Der Kampf um dad Dajein‘ zu einem 
Principe erheben, und man ift dadurd offenbar zu ganz ein⸗ 
feitigen Sonfequenzen gelangt. Ein folder ‚Kampf um das Dafein‘ 
findet allerdings ftatt. Wer möchte e8 leugnen? Hat uns dod 
erft vor kurzem des bfutigen Kampfes frohe Beiper endlich ge 
fhlagn! Dem Himmel ſei e8 Tank und der Zapferfeit unferer 
Heere, daß unfere gute friedliche Stadt diefem Kriege von der 
Ferne aus Hat zufehen dürfen! Aber nicht ber Hunger ift es, es 
ift nicht der Krieg, nicht der Haß ift es, was die Welt erhält, — 
e8 iſt die Liebe.“ 

Sonſt liegen uns in Mayers Schriften feine Aeußerungen über 
Darwin und feine Schule vor. Sympathiſch war ihm diejer ganze 
Gang der modernen Naturforihung nicht: fie arbeitete ihm, dem 
Manne ded eracten Forjchens und Wiffene, viel zu viel mit Hypo⸗ 
thejen und Hielt ihm viel zu viel Brüderfchaft mit unfruchtbaren 
und irreführenden Speculationen. Die Schriften Darwins jelbit 
ſcheint er gar nicht eingehender gelefen zu haben, wol aber madıte 
er fih mit den Schriften derjenigen feiner deutichen Schüler be 
kannt, welche über die Forſchungen ihres Meiſters zu Theorien 
über die Entjtehung des Lebens überhaupt und zu der jogenannten 
mechanischen Weltanfhauung Hinausfchritten.. Weber diefe ganze 
Richtung liegt dem Verfaſſer diefer Zeilen eine intereffante brief 
lihe Aeußerung Mayer8 vom 22. Dechr. 1874 vor. Er heift 
jte dort einfach die moderne Irrlehre und fährt fort: „Was ih 
von meinem Standpunft aus gegen jenes Syftem vor allem 
einzumenden habe, ift dad: vor unferen Augen entitehen fortwährend 
unzählig viele neue pflanzliche und thierische Individuen durch Zeus 
gung und Befruchtung. Wie diefes aber zugeht, dieſes ift dem 
Phyſiologen ein völlig unbegreifliches Räthſel, wo fo recht ber be- 
rühmte Spruch Haller8 feine Anwendung findet: , In's Innere der 
Natur dringt kein gejchaffner Geiſt. So wir num genöthigt find, 
in diefen fo ganz naheliegenden und gegenwärtigen Dingen unfert 
völlige Unwiſſenheit einzugeftehen, will uns auf einmal bie neue 








Robert Mayer. 698 


Theorie . . . ganz gründliche Auskunft darüber geben, wie die Or- 
ganismen überhaupt auf unferem Planeten entftanden find! Dies 
geht aber nach meiner Anficht fo lächerlich weit über das Menjchen- 
mögliche hinaus, daß ich bier den pauliniſchen Spruch anmwenden 
möchte: ‚da fie fih für weife hielten‘ u. f. w. Gewiß find aber 
die Darwinianer eifrige Kämpen, und die Sache hat ohne Zweifel 
nur deshalb fo viele Anhänger in Deutfchland, weil fi daraus 
Capital für den Atheismus machen läßt.“ 

Wir jind mit unferen Citaten zu Ende. Wenn der eine oder 
andere Lefer vielleicht noch mehr Aeußerungen über das fpecififch 
Chriftlihe erwartet hätte, fo möge er bedenken, dag die Natur der 
Gegenftände, die Mayer literarifch behandelte, bodh nur zur Ber 
handlung und Betonung der allgemeinen theiſtiſchen Grundlage des 
Chriftentums Anlaß geben konnte. Wie jehr aber Mayers heller 
Geiſt erfannte, daß Oppofition gegen den Materialismus an und 
für fih Schon ein integrirender Theil pofitiv chriftlicher Lebensbe⸗ 
thätigung ift, und wie er feinen eigenen Kampf gegen den Ma⸗ 
terialismus zugleich als eine Erfüllung feiner Chriſtenpflicht anjah, 
möge aus den Worten erjehen werden, mit welchen er feiner Zeit 
dem Verfaſſer dieſes Referats jeine naturwifjenfchaftlihen Vorträge 
überfandte: „Eine eben erfchienene Brofchüre erlaube ich mir Ihnen 
zu wohlwollender Aufnahme zu empfehlen. Der antimaterialiftifche 
Standpunkt, auf dem ih mich nun einmal befinde, und den ich 
(nad) Matth. 10, 32) nie verleugnen werde, iſt natürlich auch hier 
feftgehalten.“ Die Stelle Matth. 10, 32 aber ift nichts Ge⸗ 
ringeres als das Wort Jeſu: „Wer mich befennet vor den Menfchen, 
den will ich befennen vor meinem himmlischen Water.“ 

Lange Zeit blieb Mayer vergeffen, angegriffen, verlannt, bis 
er e8 noch eine Reihe von Jahren vor feinem Ende erleben durfte, 
dag die ganze wiſſenſchaftliche Welt die Gaben, mit denen fein 
Geift unfer Erkennen bejchenfen durfte, in ehrerbietigem Danfe zu 
erfennen und zu verwerthen anfing. Wir nehmen diejes fein Schick⸗ 
fal als gute Vorbedeutung auch für das Scidfal der religiöfen 
Veberzeugung, die er in feinen Schriften befannte und vertrat. ‘Die 
heutige Strömung in der wiffenfchaftlihen Welt ift vor der Hand 
noch dem jpecififchen Chriſtentum gegenüber vielfach gleichgültig, 

46 * ' 


2 Seppe 


kritiſch, häufig ihm und allem Gottesglauben feindſelig geſtimmt. 
Aber wenn es mit der Menſchheit und den chriſtlichen Völlkern 
nicht rüdwärts gehen fol, fo wird auch die Zeit wieder kommen, 
wo es nicht mehr für unwiflenfchaftliche Geiſtesſchwäche und Be⸗ 
fchränftgeit gilt, in Ehrfurdt und Freimuth an einen Gott und 
Erföfer zu glauben, und wo auch die Wiffenfgaft wieder, wenn 
fie von ihren höchſten Ausfihtspunften aus Umſchau Hält, vor 
Gott fi) beugen lernt. Unter den gewaltigften und erfolgreichften 
Borlämpfern, welche die Wiſſenſchaft diefem Ziele zuführen, wird 
ftet8 Robert Mayer genannt werden. 


3. 
Der Pietiſt Gisbertus Boetins zu Utrecht. 


Bon 
Dr. $. Seppe, 


Profeflor In Marburg. 





Es iſt üblich geworden, in Voetius (der 1607 — 1617 
Pfarrer von Vlymen und Engeln, hernach Baftor in feiner Vater: 
ftabt Heusden und feit 1634 Profeſſor der Theologie zu Utrecht 
war, wo er 1676 ftarb) nichts anderes al8 den ftarren fcholafti- 
ſchen Syſtematiker der reformirten Kirche zu fehen, der nur bie 
dürrfte, unfruchtbarfte Orthodorie zu erfaſſen und zu verfechten, 
der nur in den Formen des ariftotelifchen Pedantismus damaliger 
Zeit zu benfen, der nur in dem barbarifchen Latein des Mittel: 
alters zu reden und der auch nicht die geringfte Abweichung von 
dem Dogma ber Kirche zu dulden vermodte!). — Nun haben 
allerdings Arminius, Coccejus, Carteftus, Mareſius u. a. in ihm 


1) Dieſes letztere Urtheil fällt 3. B. auch Dofterzee über Voetius (in 
Herzogd Realenc. XVII, &. 241); und doch ift Ooſterzee's Beurtheilung 
‚bes Boetius noch immer die gerechtefte und erfreulichſte zu nennen. 











Der Pietift Gisbertus Voetius zu Utrecht. 698 


alfezeit einen Gegner gefunden, der fich in feiner Weife auf irgend 
welche Transactionen mit ihnen einließ; allein das Latein Voets 
ift ganz dasfelbe, welches feine Breunde und feine Gegner fprachen 
und jchrieben, — nur daß er der Scholajtif fundiger war als diefe, 
weshalb ihm auch die technijchen Ausdrücke derfelben geläufiger 
waren als anderen. Neben ber Scholaftif kannte er aber nod 
ein Gebiet des theologifchen und religiöfen Lebens, um das ſich die 
anderen nie gefümmert hatten, nämlich die Myſtik des Mittelalters 
und der folgenden Zeit; und gerade die Stellung, welche Voet 
zur Myſtik einnahm, hatte feinem eigenen religiöfen Leben unb 
feinem kirchlichen Wirken den Charakter aufgeprägt, welcher dasjelbe 
auszeichnete und welcher bisher ganz verfannt worden ift. 

Das empfängliche, tiefe Gemüth Voets war zunächſt durch den 
Eindrud der Perfönlichkeit und mehr noch der Schriften des gott⸗ 
feligen Predigere Wilhelm Tellind zu Middelburg (} 1629) 
mächtig erfaßt und zur Pflege und Bertretung der „praftiichen“, 
der „ascetiſchen Theologie”, der „wahren Gottfeligkeit“, der „Praxis 
bed Glaubens”, des „innern Chriſtentums“ angeregt worden. In 
Folge deſſen Hatte fich feine Aufmerkſamkeit auf die ihm zunächſt 
liegenden Müitifer, Thomas a Kempis und Ruysbroek gelenkt, in 
deren Schriften er fich vertiefte, und von denen aus er auch den 
in der Myſtik der fatholifchen Kirche liegenden Schägen religiöfen 
Lebens nachging. Doch waren es ſchließlich die Schriften des 
Thomas a Kempis und ber feit dem Ende des 16. Jahrhunderts 
zahlreich hHervorgetretenen Pietiften Englands und Hollands, an 
die er fich hielt, und deren Lectüre er in feinen reifen heimiſch 
machte. 

Voet war ſchon als Prediger zu Heusden dieſer, practyke 
der religio“ (wie man dieſelbe im Gegenfage zu dem um das 
nnere Leben unbefümmerten Orthoborismus nannte) eifrigft ergeben 
geweſen, — nit nur durch ununterbrodhene Hinweifung auf die 
felbe und unermüdliche Anweifung und Anleitung zur ascetifchen 
„Hebung der Gottjeligfeit" und dur Verbreitung bdahingehöriger 
Schriften in feiner Gemeinde, fondern auch ſchriftſtelleriſch. — 
Schon zu Heusden veröffentlichte Voet gegen einen zu den Armi⸗ 
nianern libergetretenen Prediger Daniel Tilenus (welcher behauptet 


64 Heppe 


hatte, dag die Dordrechter Orthodoxie eine für das Leben ganz 
unfruchtbare Doctrin ſei), eine Schrift „Prüfung der Kraft der 
Gottfeliglet* (Proeve van der Kracht der godzaligheid), 
worin er auszuführen fuchte, daß die zu Dordrecht gegen die Ar 
minianer aufgeftellten Artikel die beftimmtefte Tendenz auf Er⸗ 
wedung eines praftifchen, inneren und lebendigen Chriftentums hätten. 

Nicht lange nachher fchrieb er, nachdem er mit Tellind in Ber 
bindung getreten war, zu einer Ausgabe der Schriften desfelben 
ein vom 18. October 1631 datirtes Vorwort. In demfelben er- 
Härt Voet, daß die auf die „Praxis des Glaubens" bezüglichen 
Schriften mit Recht ganz beſonders Hodhgehalten würden. Er 
rühmt Hier die Werke von Bernhard, Bonaventura, Ruysbroel, 
Tauler, in&befondere aber de Thomas a Kempis Imitatio Jesu 
und die im 16. und 17. Jahrhundert in England und Holland 
bervorgetretenen pietiftifchen Schriftfteller. ALS den bedeutendften 
unter denfelben ftellt er jedoch Tellinck Hin, den er hier ale den 
zweiten, „jedoch reformirten“ Thomas a Kempis bezeichnet. 

Drei Fahre fpäter trat Voet fein academifches Lehramt zu 
Utredt an. In welhem Sinne er aber diefes Amt übernommen 
hatte, und was er als feine eigentliche DBerufsaufgabe anfah, dar 
über ſprach fich derfelbe in feiner Antrittsrede aus, in welcher er 
fi} de pietate cum scientia coniungenda erpectorirte. 
Staunend und tief bewegt hörte die Verfammlung, in&befondere 
die anweſende academifche Jugend, die wunderbare Sprache dee 
ernften Redners, ber nicht über Streitfragen der Theologie redete, 
fondern den Gedanken entwidelte, daß nur derjenige Theologie-Stu- 
dirende wirklich dem Studium ber Theologie obliege, der dasſelbe 
mit Frömmigkeit betreibe und die Förderung wahrer Frömmigkeit 
als feinen wahren Lebensberuf anſehe. Darum ermahnte er die 
Studenten, jeden Tag mit Gott zu beginnen und mit Gott zu 
beichließen, fih täglih am Studium der heiligen Schrift im Gebet 
und in anderen Erercitien ber Frömmigkeit zu üben, fich täglich in 
ernster Buße auf’s neue zu Gott zu belehren und den Sonntag 
mit Einftellung aller Studien ganz und gar dem Dienfte Gottes 
und der Contemplation zu weihen, indem die fleißigfte Uebung der 
Sottjeligfeit das eigentliche Vehikel des Studiums fein müſſe. 








Der Pietift Gishertus Voetius zu Utrecht. 695 


Um nun das Seinige dazu beizutragen, daß die Studenten der 
an fie gerichteten Mahnung auch folgten, begann Voet alsbald 
Vorlefungen über ascetiſche Theologie zu halten, worin er zeigte, 
wie die Zuhörer in recht erfprieglicher Weiſe ihre exercitia pietatis 
einzurichten hätten. Und diefe Vorträge Voets fanden ſolchen Bei⸗ 
fall, daR fich derfelbe durch drängendes Bitten vieler 1636 genöthigt 
ſah, einen Abfchnitt feines Eollegienheftes, welcher von den geift« 
fihen Beranlafjungen handelte, unter dem Titel ,„, Selectarum dis- 
putationum ex prosteriori parte theologiae quinta, de de- 
sertionibus spiritualibus‘ zu veröffentlihen. — Diefe 
Schrift Tas nun alsbald faft jeder, ber der lateiniſchen Sprache 
mädtig war. Aber auch Ungelehrte wurden auf diefelbe aufmerf- 
ſam und wünſchten, dag ihnen das vielgerühmte Büchlein durch 
eine Ueberfegung zugänglich gemacht würde, weshalb Voets College, 
der Profeffor der Theologie Joh. Hoornbeet endlich (1646) 
eine folche veranftaftete. 

Inzwiſchen fuchte Voet fein Manufeript immer mehr zu er» 
gänzen und zu vervollftändigen. Die katholiſchen Myſtiker des 
Mittelalters umd des 16. Jahrhunderts, ſowie die pietiſtiſch⸗myſtiſche 
Literatur der reformirten Kirche Englands und Niederlande wurden 
von ihm ausgenutzt, bis er emdlich einen vollftändigen und aus⸗ 
führlihen Codex evangelifcher Ascetif hergeftellt Hatte, den er 1664 
unter dem Titel: „Ta Aoxnrıxa@ s. Exercitia pietatis‘‘ ver- 
öffentlichte. 

Der Stoff des fehr weitläufigen Werkes ift in 25 Hauptab- 
Schnitte vertheilt, und zwar fo, daß die Myſtiker und Pietiften 
— ber katholifhen wie der evangelifchen Kirche —, welche fich über 
den betreffenden Punkt ausgefprochen haben, nambaft gemacht und 
deren Anfichten verglichen werben. 

Voet befinirt (S. 1) die Ascetik als diejenige pars theologiae, 
quae continet methodum ac descriptionem exercitiorum pie- 
tatis. Sie kann daher auch (S. 12 —13) ale praxis pietatis, 
als ars colendi Deum, als theologia practica oder aflectiva 
oder contemplativa oder mystica, aud) als imitatio Christi bes 
zeichnet werden. Nachdem nun (S. 30 ff.) die Begriffe ber devotio, 
der compunctio, der excitatio, der vigilia spiritualis, der adhaesio 


686 Deppe 


Dei oder der familiaritas cum Deo. der imtroversio ber 
contemplatio eutwidelt find, wird (S_92 ff.) bejenders eingeben) 
vom Gebet gehandelt. Die precatio wird (S. 115) emerjeits es 
precatio formalis (eigentlidje® Gebet) und ejaculatoria (Steige 
bet), anderſeits als oratio vocalis nnd mentalis unterfchieden. 
Nachdem Hierauf die Acte der Nefipiscenz (umd dabei auch das 
Laden und Beinen), die „Praris des Glaubens“, die „Prerie des 
Sabbath8* beſprochen find, wird (5.416 ff-) von den Mortificarisnen 
und anßerordentlichen Grereitien (Fajten, Baden, Schweigen, Ein- 
ſamleit), und fodann (S.446 ff.) von der militia Spiritualis ge 
handelt, woranj der Berfaſſer (S. 451) zu den Berjudpungen (des 
Zeujeld, der Welt und des eigenen Fleiſches), umb (S. 524 ff.) zu 
den geiftlichen Berlajjungen übergeht, wobei natürlich ganz im Simne 
des reformirten Syftems zwijchen den Erwählten und Ric 
unterjchieden wird. — Die folgenden Kapitel baudeln (S. 524 ff.) 
von der sudaracie 3. ars moriendi, 5.610 vom Märtprertum, 
S. 615 von gemeinjchaftlien Uebungen der Andacht (im Gottes- 
hand und Familienfreis), und ©. 621 von der criftlichen Beiuchung 
(zur Belehhruug, Warnung, Züchtigung, Zröftung :c. anderer). 
Den Schluß des Ganzen bildet (S. 829 ff.) eme Abhandlung über 
die ascetica specialis, worin allerlei Winke über die Einrichtung 
der exercitia pietatis in den verjchiedenen Ständen, Lebensverhãli⸗ 
niſſen, Berufsarten x. gegeben werden. — 

Dieſes iſt Voets „Praktiſche Theologie“, für die derjelbe die 
agcetiihe Myftik der gefamten Kirche, ohne die confeifionellen 
Trennungen zu beachten, als Unterlage benutzt hat. Daher begreift 
es jih wol, daß Voet, der felbft die Myftiker des Sejuitenordeng 
als beachtenswerthe Borgänger anerkennt, bei aller Treue gegen 
feine Kirche und deren Belenntnis doch von confefjioneller Eng- 
herzigfeit frei war. Daher klagt Boet in feinem Bormort zu 
Tellinds Schriften vom 18. October 1631 über die Bornirtheit 
derer, welche Tellinck wegen einzelner Lchreigentümfichfeiten tadelten. 
Würden doc, jagt er hier, die Schriften eines Piscator (zu der» 
born) und anderer „non Yen Hochdeutjchen und den Schotten mit 
Recht gebraucht und geprieſen“, obſchon fie über die iustitia activa 
Christi eine abweichende Tehre enthielten! Derartiger Aeußerungen 








Der Pietift Giebertus Voetius zu Utrecht. 6 


finden ſich in Voets Schriften gar viele vor. Doch möge es ge⸗ 
nügen zur Berichtigung des Zerrbildes, welches die kirchengeſchicht⸗ 
liche Tradition von Voet entworfen hat, hier hervorzuheben, daß 
Voet unter der conversio oder resipiscentia, auch die Bekehrung 
bes Menſchen von der todten Rechtgläubigkeit zum inneren, leben⸗ 
digen Glauben, zur wahren inneren Frömmigkeit verſteht. Voet 
fpricht fich hierüber am klarſten eben in feinen Exercitia pietatis 
aus, wo er (S.180) den Gedanken ausführt, daß die Conversio 
um allgemeinften Sinne des Wortes als Belehrung vom Judentum. 
Heidentum oder Muhammedanismus zum Chriftentum, im engeren 
Sinne ald Belehrung vom falfchen zum wahren Chriftentum auf» 
gefaßt werden könne, daß fie aber genauer al8 Belehrung a for- 
malitate s. uogpwcsı pietatis in christianismo orthodoxo ad 
genuinam pietatem et fidem salvificam aufzufaffen fe. — 
Allerdings kennt Voet eine noch höhere Stufe der Belehrung, 
melche der Chrift durch ascetiihe Myſtik zu erreichen hat, — 
nämlich die Belehrung ab infentili, rudi et languida actuali 
conversione ad strictiorem, accuratiorem, perfectiorem, inte- 
rioris et exterioris hominis formationem; allein hierdurch wird 
nur auch von diefer Seite her bewielen, dag Boet die Chriftlichkeit 
nicht im Orthodoxismus jah. 


2. 
Le ein Brief von Amsdorf, EA und Luther. 


Bon 


D. th. 9. K. Heidemann, 
Baftor em. 





J. 
Ueber den Bildungsgang, durch welchen fih Amsdorf zum 
treuen Gehülfen Luthers am Werfe der Reformation emporarbeitete, 
wiffen wir nichts. Daher jagt E. %. Meier in Amsdorfs Leben: 


698 Seidemann 


„auf welchen befonderen Wegen aber Gott ihm zur Erfenntnis der 
Wahrheit geholfen Habe, ift uns verborgen“ ?). Der nachftehende 
Brief Amsdorfs an Spalatin vom 17. Januar 1518 wirft 
einiges Licht auf fein Lernen. 

„Epistola quaedam Nicolai Amsdorfiij ad Spalatinum in 
qua de infelicitate sui studij conqueritur. 

Consilium de perdiscendis sacre Theologiae libris, quod 
a me petis, si vir consilij essem, quam libens tibi communi- 
carem. Ego ipse enim veros Theologiae libros vix legere 
incoepi, nec hodie incoepissem, nisi Martinus Augustinum 
suis pecunijs pro me emptum et ligatum ad aedes meas 
misisset. Huius consilio, illius praecibus et summa persua- 
sione adductus studium reliqui, quod mihi placuit, reliqui 
logicam, reliqui logicos theologos, reliqui philosophiam, sed 
cum summa tristicia, adeo displicuit Augustinus, Jeronimus 
et reliqui id genus Doctores, quos Grammaticos tantum pu- 
tabam, quoniam mihi ignoti erant provt et adhuc sunt; 
credebam certe summam sapientiam in Scoto et Gabriele et 
his similibus esse reconditam, cum sola Metaphysica logica 
ibi permixta reperiebatur; quid igitur in hac re dare possum, 
tibi ipsi iudicandum relinquo, quesiui enim hucvsque solam 
Metaphysicam et eos, qui eam tradunt, colui et dilexi, re- 
liquos nee vidi nec legi. Sed penitet facti, et ita poenitet, 
vt displiceant studia praeterita, quod nunquam nisi exper- 
tus eredidissem, et plus displicent quam antea placuerunt, 
qui nondum 20 septimanis Augustinum cum Paulo legi. 
Vtinam citius ad haec venissem studia, vtinam hac opera 
Augustinum legissem, et forte alium agerem virum, sed se- 
ductus sum et hodie seducitur iuuentus, non tantum Ger- 
manorum, sed et Italiae et Franciae et hic totius Romanae 
ecclesiae. Nonne mira res, immo mirabili mirabilior, quod 
totus orbis terrarum adeo miserabiliter est seductus. Dic 
mihi quaeso, quid didicit tempore tuo Magister 30 annorum? 


1) Bei Meurer (F 10. Mai 1877), Das Leben der Altväter der lutheriſchen 
Kirche, II. Band (1863), ©. 128. 





Ze ein Brief von Amsdorf, Ed und Luther. 6% 


Petrum Hispanum et non bene parua logicalia et non recte 
et per longa tempora. Ago gratias domino Ihesu Christo, 
quod ab hac opinione aut suspicione imo falsa liberatus 
sum. Nihil deest, tantum libri mihi desunt. Tu deum pro 
me ora, vt et sensum et intellectum nostrum aperire et 
illuminare, affectum sua charitate inflammare dignetur, vt 
ad veram sapientiam, que est Christus Ihesus, venire valea- 
mus. Vale, mi amantissime Spalatine. ex Wittemberga 1518 
die 17 Ianua. 
Nicolaus Amsdorfi 
us Theologiae licenciatus “ 


I. 

In Theobald Billicans Leben zeigt fich noch immer ein uns 
aufgeklärter Vorgang. Er that am 13. October 1530 in Augs- 
burg vor dem PVicar des Biſchofs feinen befannten Widerruf, durch 
den er fi von dem Verdachte Iutherifcher Ketzerei reinigte ?). 
Diefer Widerruf muß, in’s Deutfche überfeßt, dem Nathe zu Nörd⸗ 
fingen irgendwie zugefommen fein, der nun den Billican durch ben 
Stadtſchreiber Georg Mayer befragen Ließ, ob fih die Sache wirk⸗ 
lich fo verhalte. Billican behauptete jetst in feiner Antwort an 
Mayer: ber deutſche Widerruf fei muthwillig und unverftändig vers 
dolmeticht in Eingang und Mitte, denn in feiner lateinifchen Er» 


I) Die reiche Literatur hiegu ift: Daniel Eberhbart Dolp, Gründl. Be 
richt Bon dem alten Zuftand, und erfolgter Reformation Der Kirchen, 
Clöfter und Schule in des H. Reichs Stadt Nördlingen. Nördlingen, 
1738. 8°. ©. 57ff. XLIf. Haußdorff, Lebens» Beichreibung Lazari 
Spenglers. Nürnberg, 1741. 8°. ©. 230ff. Joh. Friedr. Weng und 
Joh. Balth. Guth, Das Nies, wie e8 war, und wie e8 ift. Nördlingen 
(1836f.). 8°. Heft 4, S. 3—50: Theobald Gerlacher, genannt 
Billicanus und die Reformation in Nördlingen, von Weng. I. Döl⸗ 
finger, Die Reformation. I. Bd. Regensburg, 1851. ©. 149—158. 
Wiedemann's Eckh, S. 46f. Job. Friedr. Hautz, Geſchichte der Uni⸗ 
verfität Heidelberg. Bd. I. Mannheim, 1862. ©. 392 - 397. 448. Her⸗ 
zogs Real⸗Enc. II, ©. 238—240. de Wette VI, 646. CR. U, 482; 
I, 1002; XHI, 1128. F. Samml. 1744, ©. 467. 7%. Heumann, 
Docc. Lit. 81. 121—124. Menck. I, 655. Scult. Ann. 50. 134, 
Kahnis' Zeitichr. 1872, S. 408f. 


700 Seidemann 


Härung ftehe nicht, daß er um der lutheriſchen Ketzerei willen 
etwas beim Kardinal Campegius zu jchaffen gehabt Babe, aud 
thue er nirgend feiner Iutheriichen Kirche Meldung, welches Wert 
der Dolmetfcher, vermuthlich das gelehnte Faß Dr. Ed, entweder 
in der lateinifhen Sprache oder aus Neid jo gejekt habe, wie er in 
dem Lateinischen, daS Mayer ihm auch zumwege bringen: möge, wol 
feben wolle. — Weng jagt ©. 44: „Das lateiniiche echte Exem⸗ 
plar ift niemals zum Vorſchein gekommen.“ Ich theile es Bier 
mit und bemerke für das Verſtändnis des Briefes Eds, daß 
Billican ſchon i. J. 1529 mit Barbara, der Tochter Hans Scheu⸗ 
feline, Bürgers und Kramers in Nördlingen, verheirathet war. 

Clarissimo viro d. Georgio Gundelfinger 

artium et Medicinae doctori phisico 

Nordliacen domino et amico suo optimo 

Nordlingae 
ad manus 

S. P. clarissime Doctor quae narrauit Billicanus de vxore 
primo ducta ante ordines susceptos, intelligo tibi esse nota, 
et quae in contrarium publica fama Haidelburga, at haec 
Augustae non fuerunt discussa, venit Augustam, Vehe or- 
dinis praedicatorum et Cochleo pro eo sollicitantibus, non 
tamen sine meo consensu. At primo non est absolutus ab 
ordine, vt scribis. 

A Lutheranismo est absolutus post reuocationem, quam 
coram vicario Episcopi fecit, neque ei fuit iniuncta publica 
reuocatio Nordlinge: quod ego deliberassem, si fidem iura- 
tam non seruauerit, ipse viderit, mitissime est tractatus. 

Si coram Senatu Billicanus negauit, se quippiam reuo- 
casse, male fecit. Nam et coram testibus et Notario et 
Vicario reuocauit et heresim abiurauit etiam propria syn- 
grapha. 

De vxore nuper ducta mouit quoddam dubium, sed re- 
spondendum, quod legatus in nullo absoluit, neque enim 
matrimonium iudicauit legittimum, neque per nos Doctores 
confirmatum fuit, sed iudicatum quo ad nos, esse illegittime, 
quia constituta in sacris ordinibus non possit contrahere. 











Ye ein Brief von Amsdorf, Eck und Luther. 701 


Si id cerdonibus suis dixit, se nihil aliud egisse Augustae 
etc., non constanter dixit. At vti certior sis, mitto copiam 
reuocationis et abiurationis suae.. Occupatissimus ista con- 
signaui nuntio, vt Doctor Kreczius!) mihi retulit, tuo ca- 
tbolico; nam in pluribus tibi complacere paratus sum. Vale. 
Augustae Martini (11. November) 1530 

Tuae d. ad votum Eckius 
Haec ex ipsius chirographo scripta est epistola. 


Abiurationis exemplar. 

Ego Theobaldus Gerlachius Billicanus, concionator oppidi 
Nordlingiacensis, super certis causis et quaestionibus coram 
Reuerendissimo in christo patre ac domino Laurentio Cam- 
pegio, Sanctae Rhomanae Ecclesiae presbitero Cardinale 
Summi pontificis Clementis VII. ad Germaniam legato agen- 
dis comparens fui infamatus de haeresi eorum, quos vulgo 
Lutheranos vocant, audiuique infanda, quae de me a quibus- 
dam non sine ecclesiae scandalo ac famae meae iactura di- 
cebantur sparsa.. Cum igitur essem de sincera doctrina et 
fideli obsequio catholicae ecclesiae constans, atque adeo su- 
periore anno etc. XXIX Heidelbergae publicam meae fidei 
rationem reddens, detestatus essem omnem heresim omneque 
schisma et Lutheranum et Zbinglianum et Anabaptistum, 
praetereaque omnes retro hereses ab ecclesia damnatas, op- 
posui me detractatoribus, sponte confessus, quod et tibi 
Reuerendo patri Michaeli veho, nunc heretice prauitatis fidei- 
que meae ex mandato dicti cardinalis inquisitori, confiteor, 
me damnare damnasseque omnes hereses ab ecclesia catho- 

3) Ueber Matthias Kret vgl. Seckend. II, (18.) 369. UN. 1717, 

©. 551—554. Burſchers Spicileg. XXI, p. IV und IX und p. 
XUf. Shirrmader, Briefe und Acten, S©.561. Schelhorn, Beyträge 
zur Crläuterung der Geſchichte, Stüd 4, S. 159—177. Literarifches 
Muſeum L S. 617 ff. Beeſenmeyer, Kleine Beiträge, S. 76ff. Veit 
Dietrichs Eollecta, Blatt 74 b: „Munzerus Cretze & Campanus sunt 
ipsissimi incarnati diaboli. non enim alio vertunt cogitationes suag 
quam ad nocendum. & sese vleiscendum.“ Hier hat Obenanders 
Thesaurus Theologiae, Msc. Dresd. A 180 d, Blatt 278 b Karl- 
ftadt für Erege. 


702 Seidemann 


lica damnatas, damnare damnasseque ecclesiam lutheranam, 
Zwinglianam et Anabaptisticam heresim vt grauissimas et 
vastatrices ecclesiae pestes, Nec ego coactus, sed sponte 
heidelberge et nunc coram te Reuerendo patre, fidei meae 
inquisitore, confessus sim. (Quapropter volo hac mea con- 
fessione libera coram te facta conscientiam meam omni su- 
spitione exoneratam. Neque enim iam nunc id facio pri- 
mum, sed iam olimque primum id potui prespicere diuini 
spiritus dono, priusquam in heresim prolaberer, abiuraui, 
damnaui Sequentesque ea dogmata abieci. Integrum hono- 
rem seruaturus ecclesiasticae potestati, diuinis sacrificijs 
misse vniuerseque veritatj catholice, Hoc idem tibi notario 
Andreae Michaelis Moguntini Archipresulis à sacris promitto 
adeoque cuilibet Christiano inuiolabiliter obseruaturum. Non 
solum in hijs huius temporis heresibus, sed etiam futuris, 
Neque vnquam scientem prudentemque aduersum catholicam 
et sanctam Rhomanam ecclesiam aut docturum aut facturum, 
sed doctrina pro viribus et pro publica contione et priuatim 
expugnaturum, 

Hec ita promitto et iuro, ita me deus adiuuet et sancta 
dei Euangelia, acta sunt haec Augustae Anno christi XXX, 
XIII octobris * 

Diefe lateinische Abfchwörungsformel ift ihrem Inhalte nach 
leider gleichlautend mit der ins Deutjche überfegten bei Dolp XLI. 
Sie erinnert an ein im October 1531 bei Zifche gefprochenes 
Wort Luthers: „Cuidam doctori voyt scribenti ad eum 
Ego tecum mi Luthere ibo ad ignem vsque, exclusive tamen, 
modo fortiter perge Respondit Tales martyres perducit 
Christus ad coelum, exclusiue tamen.‘‘ !) Beit Dietrich Col- 
lecta Blatt 113 ®. 

DI. 

Der nachſtehende, bis jegt unbefannte Brief Zuthers vom 2. 
November 1537 betrifft eine Ehefahe. Zur Sache vgl. de Wette, 
IV, 565f. 

1) Rabelais, Prolog zum Pantagruel: „jusques au feu exclusive.“ ed. 
Regis. Leipzig 1832. ©. 181. Briegers Zeitichrift II, S. 465. 








Je ein Brief von Amsdorf, Ed und Luther. 108 


Dem Wirdigenn Err Johan Widmann pffarherr zeu priſick 
meinem gunftigen guten freund, 

Genad vnnd Fried in Ehrifto Lieber Err pffarhere In der che 
fache fo ir habt mir jchrifftlich angezeigt ift dis mein jchrifftlich 
anthwort wo es alſo ift wie ir fehreibt, da& der witwin man nun 
fiben iar vorlauffen ift, das Nimand weys wo er üt zc. fo folt 
ir zuuor die nachparn fragenn ader die gemein des Fleckens ob 
ſie wiffenn darumb haben, welch teyl dem andern vrjach gegeben, 
Wo als dann die Frau befundenn durch der nadhtpaur zeugnis das 
es ir ſchult nicht ift, jo laft den pffarherr zcu Eyjjenberg eine 
Citacionn offenntlih an die kirche, anjchlahenn, onnd In euerm 
fledenn auch darin der man citirt werde In vier wochen zcuer- 
fheynenn ader wer fich fein annemen wil, wo er darauff nicht 
erjcheinet fo rufft e8 aus auff der Canczel, das der vorlauffen 
man nicht erfchinnen vnd derhalb die frau ledig fein ſolle Darauff 
gebt fie dann zeufamen Inn namen gottes aljo thun wir albie 
Inn vnnſer kirchen wiewol ich lieber wolt der ſachen vberhabenn 
feinn, Das die Furſten ſolchs zeu thun vorfchafftenn, Bitt Derhalbenn 
wollett anndern Pffarhern darnebenn fagenn das fie mein vorjchonen 
denn ich werde zuuil vberfchuttett Das ich fchier Fein buch leſenn 
nad ſchreybenn kann, 

Schreyber kann ich nicht haltten, Dan da wurde ein Bapjtum ' 
wider aus fo ift mirs allein auch nicht muglich Himit gott beuolenn 
Amen altera Nouembris 1537 

Marthinus Luther 
Doctor, 

Vermuthlich ijt unter „priſick“ das jachjen-meiningenfche Dorf 
Priesnig bei Camburg zu verjtehen; ich Habe dort über Wick⸗ 
mann angefragt, bin aber ohne alle Antwort geblieben. Zu 
meiner Vermuthung bewog mid) das im Briefe genannte Eijen- 
berg. — Ich will hier noch Zweierlei bemerken: 1) Luthers 
Brief vom 29. September 1528 (de Wette VI, 95f.) ift an Xeon» 
hard Beier in Guben; der darin genannte Xicentiat hieß 
Peithen und der „gute Gefel, Paulus N.” ift der befannte 
Heinze: de Wette V, 72; VI, 589. Bindfeil, Coll. lat. II, 89; 
IH, 3. Apologia Simonis Lemnii Bfatt C und D 7P. Que- 


704 Seidbemann 


rela, lib. III, Blatt K 2. Leffings Vermiſchte Schriften. Ber⸗ 
lin 1784. Th. 3, ©. 44. — 2) Der Brief an Eafpar Aquila 
(de Wette III, 391 ff.; VI, 465) foll nach alter Abſchrift bei Oben⸗ 
ander an Caſpar Lindemann fein; vgl. de Wette IV, 54, 
Zeile 4 von unten und en. V, 39. 41: „Unfer Wirth, Wil⸗ 
helm Arzt.“ (?) Uebrigens find die 3 oben mitgetheilten Briefe 
m Abichriften vorhanden und nad ihnen von mir entnommen 
aus Msc. Dresd. A. 180%: Thesavrvs Theologiae 1543. 
Christophorus Obenander Studio: Wittemb. 44. 4%; Bott 
55. A9bf. und Y6df. Diefe werthuolle Handfchrift war Eigen- 
tum de8 am 26. November 1876 verftorbenen Profeſſore Dr. 
H. E. Bindfeil in Halle a. d. S. — Chriftoph Euander alias 
Obenander war im Wunfiedel geboren und wurde in Wittenberg 
immatricnlirt: ‚„Januario. 8. Christophorus Obemander [fo'] 
ex Wonsidel.‘ 1543. Album p. 201. Am 7. $ebr. 1548, 
Dienftag, wurde er mit noch 12 anderen unter Melanchthons Der 
canate Magifter und im Juni besfelben Jahres, unter ben Su⸗ 
perintendenten Wolfgang Rupert und Yuftus Bloch, Prediger zu 
Hof, aber fchon im October 1549 Prediger zu Wunfiedel; 
am 27. Juli 1558 zog er als Pfarrer zu Kirchenlamitz an 
der Yamig au. J. J. 1550 hatte er Hochzeit in Braunfchweig 
mit D. Nicolaus Medlers Tochter Judith (Eberi Calendarium 
ed. 1573, p. 141. 413 feine Tochter Efther, T 8. November 
1554 al8 M. Johann Sturio's, Diaconi in Wittenberg, Gattin, 
Script. publice propos. II Blatt L 4. V Blatt C 6? sagq.), 
die ihm drei Söhne, Nicolaus, Johann, Chriftoph, und eine Tochter 
Elijabeth gebar und am 29. April 1557 ftarb. Schon am 27. 
Juli 1557 ward er wieder getraut mit Marie, der Tochter des 
Diafonus Lorenz Winther in Wunfiedel, die ihm zwei Söhne ger 
bar, Lorenz 2. Mai 1558 und Georg 18. Februar 1560, geftorben 
den 26. December 1560. Diefe Nachrichten über ſich und feine Fa⸗ 
milie hat er felbft auf dem legten Blatte feines Thefaurus einge 
fhrieben. (Vgl. Theol. Stud. u. Krit. 1871, ©. 13.) 

Ich will mir nicht verfagen, bier nocd eine Niederfährift Oben⸗ 
andere mitzutheilen, die für Luthers Erlebniffe in Augsburg 
1518 wichtig ift. Blatt 215*f. heißt e8: „Historia Lutheri, 





Fe ein Brief von Amsborf, Ed und Luther. 709 


Cum Augustam abijsset ad Caietanum et nollet renocare, 
illic solus relictus est ab omnibus praesidijs humanis, Oae- 
sare, papa, a legato cardinali, a principe suo Friderico duce 
‚Saxonise, ab ordine, ab Staupitio familierissimo amico t). 
Princeps Fridericus non vidit eum libenter Augusta redire, 
sicnt quoque non suaserat, ut illic proficisceretur. Nonnihil 
perculsus hac desertione secum disputauit, quonam abire 
weilet. In Germania spes non erat, in Gallia tutum non 
erat commorari propter papae minas. In summis igitur 
tum erat angustijs, redit igiter in Saxoniam. Primo die ab 
Augusta profectus est Monheim, hat ein hart drabenden Klopper 
gehabt, fein Hofen angehabt, nur kni hofen, fein meſſer noch werh, 
fein fporn, et tamen sic Witembergam vsque profectus est. 
Eo cum venisset, adfuit Carelus Milticius ?), Curtisanus no- 
bilis, is habuit 70 Breuia a papa ad principes et episcopos 
scripta, vt comprehensum Lutherum Romam ad papam mit- 
teret. Princeps Friderieus veritus, ne cogeretur a papa 
eum capere, significauit ei, vt alio se conferret, vbi tuto 
Iatere posset. Parere cogebatur principi. Ideo instituens 
:cum fratribus suis conuiuium, vt eis valediceret, incertus 


1) Daher fagt Staupig in jeinem Briefe vom 1. April 1524 aus Salz⸗ 
burg, bei 8. Krafft, Briefe und Documiente, Elberfeld (Januar 1876), 
©. 54: „Salutem et Se. (d. i. ipsum, de Wette I, 116 ober totum, 
Knaake, Scheurls Briefbuch II, 51. 84).... In te constantissimus 
mihi amor est, eciam supra amorem mulierum, semper infractus‘“ 
in Anfpielung auf 2Sam. 1, 26: „Doleo super te, frater mi Ionatha, 
decore nimis, et amabilis super amorem mulierum. Sieut mater 
unicum amat filium suum, ita ego te diligebam.“ Auch möchte dort 
(S. 55) zu leſen fein: et rari sunt qui fide metantur omnia, sunt 
nihilominus aliqui u. f. w. nad) Röm. 12, 3. — Uebrigens erzählte 
Luther im December 1532: „Staupicij verba fuerant absoluo te ab 
obedieneia mea & commendo te domino Deo." Beit Dietrich Col- 
lecta Blatt 158 b. 

3) Snferibirt in Köln „1508. Julius 5. Karolus de myltytz, mysen. 
dioc.“ K. Krafft, Mittheilungen in Haſſels Zeitfchrift für preußifche 
Gefchichte 1868, S. 18f. — Am 7. Juli 1517 unterſchrieb er fih in 
Rom als „seriptor apostolicus“. Seln Bildniß in: Die Männer der 
Reformation. Hildburghaufen 1860. Stahlſtich. 

Theol. Stud. Dahrg. 1878. 46 


706 Seidemann 


erat, quo abiret. In ipsa coenae hora literae a Spalatino 
veniunt, quibus significabatur illi, mirari principem, quod 
nondum abierit, maturet igitur profectionem. Ex hoc nunctio 
mirabiliter aflectus fuit, cogitans se desertum ab omnibus. 
Interim tamen spe concepta dixit: pater et mater dereli- 
querunt me, dominus autem assumpsit me. Non longe post 
superuenerunt aliae literae in eadem Üoena, quibus signifi- 
cabat Spalatinus, si nondum abijsset, vt remaneret, Milticium 
enim egisse cum principe, rem posse componi colloquio aut 
disputacione. Princeps aequiore sententia audita rTetinet 
Doctorem, qui in hunc vsque diem mansit Witembergae, 
12. die Augusti anni 1536. 

Nicht vorenthalten ferner will ich zulegt eine andere merkwür⸗ 
dige und zum Theil unbekannte Stelle, welche fih in den „Ex- 
cerpta haec omnia in Mensa ex ore D. Ma.: Lutherj. Anno 
Dni. 1. 5. 4. 0° des germaniichen Mufeume Nr. 20996 
findet, jedocdy bei Dbenander fehlt. Dort Heißt es fol. 117PF.: 
„De uxoribus et concubinis Salomonis. Cum qui- 
dam diceret, Lipsiae editum esse librum, qui approbaret 
bigamiam, sedit aliquando cogitabundus nihil respondens; 
postea dixit: Ego miror, quomodo rex Arabiae habuerit 600 
vxores. Tum alius obiecit: quid uobis uidetur de uxoribus 
et concubinis Salomonis? Tum D.: Salomon habuit reginas 
300, concubinas 700 et puellarum non fuit numerus, inquit 
textus, sed non obseruant, non addi particulam ipsius, uult 
igitur tantum significare textus, quod generis sexus foemi- 
nini aluerit Salomon Reginas 300, Das fein die Armen von 
dem Geſchlecht David. Die haben fi) alle zu ihm funden, die 
bat er müſſen ernähren, exceptis concubinis et reliquis famulis. 
Er Hat alle Zag 24000 Dann müffen fpeifen, da fein die Weiber 
eingezählt. Alfo mag man aud fagen von dem Churfürften zu 
Sadien. Der hat erftlic ein Eheweib, darnach etliche Fürjtin am 
Hofe, darnach viel Jungfrauen. Wenn man nun fagt, der Her- 
zog von Sachſen Hat aljo viel Weiber, folget nicht, daß es feine 
Eheweiber fein. Wie kaun es aud) möglich fein? Die Vernunft 
lehrt es, daß es nicht fein kann, daß fie alle feine Eheweiber fein 





Je ein Brief von Amsborf, Ed und Luther. 707 


follten, dabei er gejchlafen. Er Hat ein Fräulein gehabt, quam 
duxit, da er 18 Jahr alt war, denn er hat fehr jung gefreiet. 
Denn fie fein ſehr ftarfe Lent gewefen. Sch glaub, er Hab im 
18. Jahr fchon eines Mannes von 80 Jahren Stärf gehabt. 
Darnach freiet er des Pharaonis Tochter, die ift die ander. Da 
er nun alt wird, nimmt er drei Ammonitas. Alſo möcht man 
fagen: D. Luther Hat drei Frauen; Eine ift Ketha, die an- 
der Magdalena, die dritte Pfarnerin!), darnad ein Bei 
fchläferin, ibi ridebat, die Jungfrau Els, darnad viel pu- 
ellas. Si habuit Salomon 300 reginas et tunc singulis no- 
ctibus unam habuit, fo ift da8 Jahr ſchon um, fo Kat er feinen 
Tag geruhet. Hoc non potest esse. Denn er hat zu regieren 
gehabt. Das Regiment leidet nicht, viel mit rauen umgehen. 
In summa: wenn man jagt, Salomon hat viel Frauen gehabt, fo 
will man fagen, er habe ein Frauenzimmer gehabt. Tum qui- 
dam: D. doctor, bat er 24000 Mann gefpeift in vno loco? 
Non, sed in uarijs locis. Es ift gleih wenn ich fage: der 
Ehurfürft fpeifet alle Tage 12000 Mann, non in sua aula, sed 
in diuersis locis. Tum alius: nihil legitur de resipiscentia 
Salomonis in Biblijs. — D.: Non, sed haec sententia: ob- 
dormiuit cum patribus suis, bad Wort nimmts mit 
fih. Von Abfalon, Joab ftehet nichts, quod obdormiuerint in 
Domino. Sed Scotus Salomonem simpliciter damnat.‘‘ 
Bol. Erl. Exeg. Opp. Lat. Vol. XXI. 343 zu Cantic. Cant. 
6, 7. Bergleiht man dies mit Zifchreden 43, 8 49, ed. Förfte- 
mannsBindfeil 4, ©. 6dff., jo ergiebt fi), was Aurifaber auszu⸗ 
merzen für gut befunden hat, und in diefer Weife ift er vielfältig 
verfahren. 


1) Dies ift vermuthlich i. I. 1542 geiprocdhen, als Bugenhagen zwei⸗ 
mal von Wittenberg abweſend und jene Frau wol oft in Luthers viel- 
beſuchtem und gaftfreien Haufe zugegen war. Auch die feit November 
1538 mit Ambrofius Berndt, der ein Meines Gut in Wartenberg bei 
Kemberg Hatte, verheirathete Nichte Luthers Magdalene Kaufmann 
kehrte alfo oft in Luthers Haus zuriid. Lauterbach 8 Tagebuch, S. 2. 164 f. 
176. Bindſeil, Colloquia lat. II, 165. Nene Mittheilungen, Bb. IX, 
Heft 3 u. 4. Halle 1867. S. 100. 

46* 





708 Seidemanm, Arhang. 


Anhang. 
1537 den 21 Oktober. 
Den Erbarn Ahbarn vumd Weißen Dem Rat zur Nammburgt, 
vnfern befondern Lieben hern vund freundenn. 

Gnad vund Friede Gottes in Ehriſto, Erbarn Achbarn vmd 
weiſen beſondern Lieben hevemm vomd frenmie, Nachdem Ihr bie 
Achbarn, wirdigen vnnd hochgelarren Ern Nicolaum Medler, der 
heiligen ſchrifſft Dortorn, vnnd den hern Licenciatum vnnd Phy- 
sieum euer Stadt Burgermeifter, zu vnns abpeferttigeit, vus euet 
Kichenorbwang fo in Schriefft mitt vorgehender Delperation wanh 
fonderm vpieiß vorfaft zu zeigem, vnnd Derhalb vnſer bevenden 
vmd Naht Darinne anzubörenn, Haben wir gemeditte ordnung mit 
vleiß vorlefenn, Wuntſchen euch zu folchem nutzlichem Chriftlichen 
gottlichem vorgenommenem Werde, Gottes guade, Laßen vnus auch 
allos, fo durch euch, trewlich, vleißig, gantz Chriſtlich berathfchlagekt, 
annd bedacht, Vnnd in ſelbigen Schriefften vorfafſett, auch be⸗ 
ſchloßenn, wolgefallenn, Vnnd vnſer weitter bedencken werben euch 
gemeltte euere geſchickten mundtlich autzeigenn. Wollen Gott bitten, 
das or in der Kirchen Neunburg weiter Tehlich fein gottlich gnad 
vnnd reichen Segen vorleye. Wißen auch Das vnfer gerebigfier 
Herr euch in ſolche Kirchen vnnd Religion ſachen gottes heilig 
wordt vmnd ehre belangendt vf vnderthenig anjuchenn, gnedige für 
derung zuerzeigen nicht vnderlaßen wirdt. Vnnd worinne wir alle 
ſamptlich, und Itzlicher in ſonderheitt gemeiner Stadt vnnd Kirchen 
Nennburgk freundliche vnnd forderliche Dinft zuerzeigenn wißenn, 
ſeind wir geolißenn, vnnd gang willig. Datum Sontags nad) 
Burdhardi Anno xxxvij. Martinus Luther D. 

Justus Jonas D. 
Philippus Melanchton. 

Diefer Brief befindet fich in einer von dem faiferlichen Notar 
Nicolaus Munnich verglichenen und beglaubigten Abfchrift wor einer 
Abfchrift der durch Medler verfaßten Kicchenordnung der Stadt 
Naumburg vem 1. Mai 1537, Msc. Dresd. K 50 in Folie. 
Dieſelbe Kirchenordnung ift auch zu Hof in Bayern abjchriftfid 
vorhanden. — Vgl. %. O. Opel, Neue Minheilungen u. ſ. m, 
Bd. XIV, 2. Halle 1878. ©. 292. 














Recenſionen. 








1. 


CGommentaire sur l’evangile de Saint Jean. Par 
F. Godet, docteur en th&ologie, professeur à la fa- 
cult& de l’öglise ind&pendante de Neuchätel. 3 be. 
Paris und Neucjätel 1876 und 1877. VIII & 367, 
XI & 578 und 637 Seiten 8°. 





Dies Godet'ſche Werk, deffen erfte Ausgabe in den Jahren 
1863 und 1864 in zwei Bänden erfchien, Tiegt gegenwärtig in 
einer neuen Bearbeitung, die faft für eine völlige Umarbeitung 
gelten kann, vor. Die hiſtoriſch⸗kritiſchen Einleitungsfragen finden 
jegt in erwünfchter Weife ihre wefentlich vollftändige und zufammen- 
bängende Erörterung in dem erften Bande, wenn auch das Ver⸗ 
fahren des Verfaſſers infofern unverändert geblieben ift, als er in 
den Ercurjen, die er nach Auslegung größerer und kleinerer Text⸗ 
abſchnitte einfchiebt, nicht nur apologetifche, dogmatiſche und ethifche 
Erläuterungen, fondern auch fpeciellere Crörterungen hiſtoriſch⸗ 
frttifcher Art, 3. B. wegen des Verhältniſſes zwifchen Johannes 
und den Synoptikern, eintreten läßt. Vielleicht hätte der Verfaifer 
wohlgethan, in den gegenwärtigen erften Theil noch vollftändiger 
alles zur Einleitung Gehörende zufammenzuarbeiten; mir wenigftens 
fehlte beim Studium des erften Bandes 3. B. die Aufzeigung der 
religionsphilofophifchen Vorausſetzungen für die hiſtoriſch⸗kritiſchen 
Dperationen der Baurſchen Schule und nicht minder bei der 
Erörterung über den Todestag des Herrn die eingehende Beurthei⸗ 
fung der altkirchlichen Ofterjtreitigleiten, beides bedeutungsvolle 
Sadhen, welche fpäter im Commentar an geeigneten Stellen zur 
Sprache kommen. 


112 Godet 


Wenn man aber die jetzt vorliegende Neugeſtaltung des Werkes 
im ganzen überblidt, jo muß man vor allen Dingen den treuen 
Fleiß und die gewiſſenhafte, bis in’s Kleinjte reichende Arbeit bes 
Derfaffers rühmend anerkennen, welcher nicht nur die bezügliche 
reiche Literatur aus den legten anderthalb Jahrzehnten forgfan: 
berücfichtigt, fondern auch an feiner eigenen Arbeit in ftrenger 
Selbſtkritik unabläßig gebeffert und von neuem ein Wert dargeboten 
bat, für welches dem ehrwürdigen Verfaffer der freudigite Dank 
gebürt. Mit gutem Grunde hat die Godet' ſche Bearbeitung des 
Johannes⸗Evangelinmes eine ungewöhnliche Anerkennung gefunden. 
Durch eine deutſche, eine engliſche and eine holländiſche Ueberſetzung 
iſt dies Buch in ſehr weite Kreiſe gedrungen und Bat viele Freunde 
quch unter ſolchen Leſerm gefunden, welche nicht deu wiffenſchaft⸗ 
lichen Standpunkt im engeren Sinne einnehmen. Es gerricht dem 
Werke nur zu hohem Ruhme, daß es, unbeſchadet der wahren 
Wiſſenſchaftlichkeit, einem Leſer von tieferer allgemeiner Bildung 
zu wahrhaft geſunder Erbauung dienen kann. Dies liegt zunächſt 
in der überaus anſprechenden, feinen Form der Rede und der ge⸗ 
famten Darſtellung. Das ganze zur Verarbeitung kommende 
Material, namentlich auch die Auseinanderfegung mit anderen An⸗ 
fihten, fteht fo völlig unter der Herridaft des Scriftitellere, daß 
auch die Form der Darfiellung eine abgerundete, in wohlthuendfter 
Weife anfprechende ift. Das fpröbefte Material, die varia lectio, 
wird wejentlid in die Noten verwieien, welche fich an dem Fuße 
der Seiten befinden; auch die bier und ba eingefügten Excurſe 
nehmen ſolche Erörterungen auf, weiche der ſchlanken Darftellung 
im eigentlichen Texte widerftreben möchten. Fremdwörter, wiſſen⸗ 
ſchaftliche Ausdrüde, welde in weiteren Kreiſen weniger geläufig 
jein fönnten, werden von dem Verfaſſer ausdrücklich erklärt (II, 48. 
285. 421; III, 300). Seine Darftellungsweife ift immer am 
Ihaulih, Har und warm; mit erniter Eindringlichleit, wie mit 
gewinnender Milde weiß er den Lefer anzufprechen und mit der 
frommen Liebe zur Sade, die ihn felbjt bewegt, zu erfüllen. Es 
finden fi zumeilen polemifche Worte von fcharfem lange (IL, 219. 
292. 427; III, 464. 565 u. a. ©t.), aber fie find immer in 
der Sache wohl begründet, haben in der vorangehenden Beweis⸗ 





Commentaire sur P’&vangile de Saint Jean. 15 


führung ihr echt und gehen niemals über die Grenze hinaus, 
weiche durd die Würde chriftlicher Willenfchaft gezogen wird. 
Wer bie edle Form allein würde dem Werke feinen bedeutenden 
Erfolg nit verschaffen, fie würde fo, wie fie fich darſtellt, faum 
vorhanden fein können, wenn nicht der edle Gehalt vorhanden wäre, 
welchem bie Form entipridt. Die ganze Arbeit tft ein wahrhaft 
erquickliches Probnet evongelifcher Frömmigkeit und theologiſcher 
Gelehrſamkeit. Ueberall bezeugt ſich in der wohlthuendſten Weife 
die glänbige Hingebung des Verfaſſers an die heiligen Sachen, die 
er behandelt. Sein tiefer Reſpect vor dem Schriftworte ift nicht 
ohme EHare Beſonnenheit; die Hiftorifchen, piychologifchen, ethifchen 
Momente in der Abfaffung der Offenbarungsurkunden weiß er 
wohl zu würdigen; anf Biftorifchekritifche Bedenken und Zweifel get 
er ehrlih ein und jegt den norgebrachten Gründen feine Gründe, 
die allerdings zum großen Theil aus einer weſentlich verfchiedenen 
Gnttes- und Weltanfchauung ſich ergeben und mit Recht nicht 
felten einen religiöfen Gehalt und eine ethiſche Kraft Haben, ent« 
gegen. Es ift aber feine dogmatiſche Befangenheit, wenn er 3.8. 
zu beweilen ſucht, daß die, Synoptiker in den Ungaben über den 
Todestag Fein mit Johannes weſentlich übereinftimmen und da 
die Apofalypfe gleich dem Evangelium von dem Apoftel Yaharınes 
geichrieben ſei; denn er ift umbefangen genug, um nicht felten her⸗ 
vorzuheben, wie der johanneifche Bericht darauf angelegt fei, den. 
fpnoptiiden vor Misverftändnis zu bevahren und zurechizuftellen 
(I, 152 u. 5.), und er bezeichnet unbedenklich den zweiten Petrus« 
brief als wmecht (L 347). Auch darin darf man ein Anzeichen 
von der evangelifchen Freimüthigkeit des Verfaſſers erfennen, daß 
er mehr als einmal Gelegenheit findet, kirchlich⸗ dogmatiſche Beſtim⸗ 
mungen an dem einfacheren Schriftworte zu mefjen und hinter 
diefem zureiichzuftellen (IL, 115. 408; IH, 377). Die wahrhaft 
evaugelifche Art der dem Verfafſer eigenen und feine ganze wiſſen⸗ 
ſchaftliche Leiftung befeelenden Frömmigkeit zeigt ſich vor allen 
Dingen darin, daß er — mas bei einem Ausleger eines enanges 
liſchen Gefchichtäbuches einer befonderen Anerkennung nicht bebürfen 
wärde, wenn nicht zahfeeiche und anſpruchsvolle Irrungen entgegen» 
gefeter Art umS vor Augen ftänden — den göttlich geordneten 


714 Godet 


Thatfahen der Heiligen Geſchichte, als den realen Grundlagen und 
Urquellen der idealen Güter, die wir im Glauben zu unferem Heile 
befigen, ihr volles Recht und ihre eigentümliche, unerfegliche Be⸗ 
deutung vindichtt. Die tieffinnige, den echten Realismus und den 
nicht minder weſentlichen Idealismus unferer evangelifhen Fröm⸗ 
migfeit und Theologie ausfprechende Beitimmung der C. Augu- 
stana, art. XX von der fides, quae credit non tantum histo- 
riam, sed etiam effectum historiae, hat der Verfaſſer ausdrüd- 
fih in Erinnerung zu bringen allerdings keinen Anlaß genommen; 
aber er hat jene goldene Pegel, mit deren Umſturz unfere evange⸗ 
tische Theologie Hinfallen müßte, beftändig zur Richtſchnur gehabt. 
Die feine Weife, wie er in den Thatſachen der Heilsgeichichte, in 
ihrem wunderbaren Gehalte, ihrer göttlihen Ordnung und Zweck⸗ 
beftimmung, die Begründung und Offenbarung der heiffamen Wahr» 
beit, die Garantie für die religiöfen Ideen, die nie verfiegende 
Quelle heiligender Mächte aufweiſt, ift einer der wefentlichften 
Vorzüge des Godet'ſchen Werkes. Hiemit fteht in Verbindung, 
daß der Verfaſſer vermöge feiner Tiebevoflen Hingabe an feinen 
Gegenftand und feines feinfinnigen Eingehens in die johanneifche 
Anſchauungs⸗ und Darftelungsweife vorzüglich geſchickt erfcheint, 
das Tertmaterial in feiner eigentümlichen Dispofttion und Grup- 
pierung darzulegen und die innere Bewegung der im Texte vor. 
fiegenden Gedanken anfchaulih zu machen. An manden Stellen 
mag man dem Verfaſſer zuzuftimmern Bedenken tragen — wie denn 
auch unten wiederholt Widerfpruch gegen ihn zu erheben fein wird —, 
aber im ganzen und großen wird man feiner Weite, den evange- 
liſchen Text zu behandeln, das Rob nicht nur gediegener Gründlich⸗ 
feit, jondern auch eines geſchmackvollen Verftändniffes umd eines 
zartfühlenden Tactes gern zuerfennen. 

Treten wir num aber an die Leiftung des Verfaſſers näher 
heran, jo jehen wir drei Haupttheile feiner Arbeit: eine eigene, von 
den kirchlich üblichen Verfionen nicht felten abweichende, accurate 
und dabei anfprechende Weberfegung, ſodann die Hiftorifch » Eritifche 
Erörterung über bie evangelifhe Schrift und endlich den Tritifch- 
exegetiichen Kommentar, welder in Bd. II die erften 6 Kapitel 
und in Bd. III den übrigen Theil des Evangeliums behandelt, 








Commentaire sur l’&vangile de Saint Jean. 715 


und zwar in der Art, daß an allen widhtigern Stellen zunächft der 
Zert kritiſch feftgeftellt wird, mobei jegt namentlich die Tifchen- 
dorf’fche Recenfion von 1872/73 forgfältig verglichen wird. 

Die von dem Berfaffer gegebene, nach ben angenommenen 
Tertgruppen dur das ganze Werk ſich Hinziehende Weberfegung 
befonder8 zu beurtheilen, Tiegt fein Anlaß vor; doc) darf das Zeug⸗ 
nis nicht fehlen, daß der Verfaſſer der größten Treue fich befleißigt. 
Wo die franzöfifche Form eine gewiſſe Abweichung von der Text⸗ 
geftalt" nöthig macht, wird dies bejonders marlirt. An einzelnen 
unten in Betracht des Philologifchen zur Sprache zu dringenden 
Stellen gibt die Weberfegung die eigentümliche Nüancirung der 
griechifchen Redeweiſe nicht völlig wieder (vgl. 3. B. 6, 67); ich 
muß es aber dahin geftelft fein laffen, ob die franzöftiche Sprache 
eine volllommen entfprechende Form immer darbieten könne. 

Die hiſtoriſch⸗kritiſche Einleitung, welcher der erſte Theil des 
Werkes gewidmet ift, deren Erörterungen aber überall in dem 
eigentlichen Commentare wieder aufgenommen, im einzelnen weiter 
begründet, gegen Einreden verwahrt und in ihren Ergebniffen 
geltend gemacht werden, bat folgenden Grundplan. ‘Die beiden 
erften Kapitel (S.1— 34) führen uns auf den Standpunft, von 
welchem aus wir nad des Verfaſſers Wunſch das johanneifche 
Evangelium und die dasjelbe betreffenden Fragen anfchauen follen, 
und geben uns ſodann eine Weberficht über den bisherigen Gang 
und den gegenwärtigen Stand ber Verhandlungen wegen der Au⸗ 
thentie der edangelifchen Schrift. Die fodann folgenden Unter⸗ 
fuchungen, welche in drei Bücher geordnet find, betreffen den 
Apoftel Fohannes, insbefondere den Tängeren Aufenthalt desjelben 
in Kleinaſien (S. 35 — 80), die Analyje und Charakterijtit unferes 
vierten Evangeliums (S. 81 — 236) und den Urfprung diefes Evan» 
geliumd (S.237— 360), genauer die Zeit der Abfafjung, den 
Berfaffer, den Ort der Abfafjung und den Anlaß wie den Zwed 
der Schrift. Nachdem im letzten, dem fünften Kapitel des dritten 
Buches das Gefamtergebnis der ganzen Verhandlung kurz zur 
fammengefaßt ift, bringt das Schlußlapitel (S. 364 ff.) ein warmes 
Wort über die für das ganze Ehriftentum entjcheidende Bedeutung 
der von dem Apoftel in feinem Evangelium als fundamental geltend 


116 Godet 


gemachten wunderbaren SHeilsthatfache, daß der ewige Sohn Gottes 
Fleiſch geworden ift, und leitet fo zur Einzelausfegung ber evanges 
liſchen Schrift hinüber. 

Das in dem erften Theile des Godet' ſchen Werkes verarbeitete 
Material ift ein fo reichhaltiges und die Erörterung ift überall, 
namentlich auch in den hiltorifchen Partien — ber Darftelluug 
des bisherigen Verlaufs der Kritit und dem Zengenverhör — eine 
fo forgfältig in das Detail eingehende, dag ich bei meiner Beur⸗ 
theilung möglichit enge Schranken ſuchen muß. Zunädft werde ich 
mit einigen Worten an allem demjenigen vorbeigehen dürfen, was 
ber Verfaſſer Über die Apokalypſe an verfchiedenen Stellen jagt; 
aber auch ihm gegenüber möchte ich doc ausfprechen, daß mir die 
Zuverficht, mit weicher ich glei ihm je Länger befto mehr an ber 
apoftolifchen Authentie unſeres Yohanned-Evangeliums feithakte, in 
dem Maße getrüibt wird, in weldhem mir zugemuthet wird, in dem 
Apokalyptiker denjelben Schriftfteller wie den Evangeliften, und 
obendrein die ziemlich gleichzeitige Abfaffung jener beiden Schriften 
anzuerkennen. Godet fett — mit Recht — die Abfaffung des 
Evangeliums in die beiden legten Decennien des erften Jahrhun⸗ 
derts, und die Abfaſſung der Apofalypfe etwa: in das Jahr 95 
(I, 297). Dies lettere halte ich für durchans unrichtig und mit 
. dem in fo weit wenigftens zweifellofen Selbftzeugnis der Apokalypſe 
völlig unverträgli. Aber auch wenn man einen Zeitraum vor 
etwa 25 Jahren zwijchen den beiden Schriften liegen läßt, bleibt 
die Abfaffung derfelben von einer Hand durchaus unverftändfich. 
Es ift entichieden unrecht, wenn auch Godet 3. B. darauf Ge 
wicht legt, baß ber Ausdrud aovlov dem Gvangelium unb der 
Apokalypſe eigentümlich fei; denn man ſoll hiebei nicht verfchweigen, 
daß der in beiden Schriften vorkommende Ausdrud in der einen 
(305.21, 15) eine ganz andere Beziehung habe ald in der andern 
(Apol. 5, 6). Ich möchte aud) noch folgendes Hervorheben, was 
vielleicht gerade wegen der feinen &odet’fchen Eharafteriftil der 
johanneifhen Darftellungsweife am Plate fein wird. Mit Recht 
hebt Godet hervor, wie die johanneifche Darftellung nicht fomel 
den geradeaus ftrebenden Fortfchritt der dinlektifchen Bewegung, wie 
er etwa bei Paulus fich zeigt, zu erkennen gebe, fondern gern ver» 





Commentafre sur P’&vangile de Saint Jean. 117 


weilend, wie in beihaulihem Sinnen, um gewiſſe Mittel 
puntte ſich bewege, fleinere und weitere Kreife und Gruppen bilbe 
und an einem inmig erfaßten Gegenftande hafte. Mit befonderer 
Sreude habe ich eine folche Beurtheilung der johanneifchen Weiſe 
auch bei Godet gelefen, welder fomit eine willfommene Bes 
ftätigung deſſen bringt, was ich in meinem Commentar zu den 
johanneiſchen Briefen (Bd. I, S. xxx) gefagt babe. Die 
Charakterifiit gilt dem Evangelium, inäbefondere auch den Neben 
in bdemfelben (I, 170), nicht weniger als den Briefen. Daß fie 
aber bei der Apolalypfe durchaus nicht zutrifft, fcheint mir auf der 
Dand zu liegen. Hier ift der ganze Plan geradlinig, der Gang 
drängt geradeaus zum Ziele, das jchon von vorn herein marfirt 
wird und welchem hier and da fogar proleptiihe Ausfagen zueilen. 
Wol gibt es Zögerungen und Hemmungen in dem apolalpptifchen 
Berlaufe, aber die auf das feite Ziel gerichtete Bewegung wird 
dadurd nicht beirrt; Schon zum voraus wird wiederhoft über alles 
Zwifcheneintrotende binweggewiefen; felbft die Gliederung der Ge⸗ 
fihyte nach Siegein u. |. w. ift wie eine Stufenfolge, in welder 
ein Abſatz aus dem anderen fich erhebt, alle aber in gerader Linie 
fo angelegt find, daß die Bewegung, ohne feitwärt® abzuirren, ohne 
in finnender Beſchaulichkeit zu verweilen, zu dem hohen Ziele vor» 
wärtseilen kann. Diefe Kunſt des Apokalyptikers ift jo weſentlich 
von der des Evangeliften verjchieden, daß die Identität der beiden 
Berfonen undenkbar erſcheint. Noch ein anderes charafteriftiiches 
Moment, welches ich in meinem Commentar zur Apolalypje nicht 
hervorgehoben habe, möchte ich hier geltend machen, Wenn man 
in der alten Kirche den Apoſtel Johannes den jungfräulichen ges 
nannt hat, fo ift diefer Ehrentitel auch dadurch gerechtfertigt, daß 
im Evangelium und in den Briefen foldye Worte, welche gejchlecht- 
liche Sünden bezeichnen, nicht vorkommen (vgl. 4, 18); nur aus 
fremdem Munde vernehmen wir bei dem Evangeliſten ein⸗ oder 
zweimal ein Wort, welches den Schmuß jener Sünden bezeichnet 
(8, 41; vgf. die unechte Stelle 8, 3). Wie fticht Hingegen bie 
Derdheit der apofalyptifchen Rede ab! Iſt doch die ganze Eharafte- 
riftit der antichriftlihen Weltitadt in einem Bilde zufammeugefaßt, 
welches der Apoftel nicht einmal zu nennen über jich vermocht hat. 


718 Godet 


Unberüdfichtigt darf ich laſſen, was ber Verfaſſer gelegentlich 
über die johanneiſchen Briefe, namentlich den erſten (I, 200), 
beigebracht hat. Ich zweifele nicht, dag er diefen Brief im Ber- 
gleich zum Evangelium unterfchägt, und bin insbejondere der An⸗ 
fiht, daß wir in dem Briefe einen wefentlihen Anhalt haben, 
um die im Evangelium dargebotenen Reden zutreffend zu würdigen. 

Halte ich mich bei meiner Berichterftattung an die unjer Evan⸗ 
gelium unmittelbar angehenden ifagogifchen Erörterungen, fo muß 
ih aud bier eine Auswahl treffen, wenn ich mit meiner Beurthei- 
lung des Gobdet’fchen Werkes der gediegenen Gründlichkeit desfelben 
einigermaßen gerecht werden will. Im einzelnen möchte ich weſent⸗ 
lich nur ſolche Punkte Herausheben, gegen welche ein Widerſpruch 
berechtigt zu fein fcheint, während zugleich der vorliegende evange⸗ 
liche Text die ficherfte Grundlage zur Verftändigung darbieten 
mag; hiebei ergibt ſich auch der Vortheil, daß wir- in den Haupt- 
theil der Godet'ſchen Arbeit, in feine Auslegung des Evangeliums, 
binübergeführt werden. Die Bedenken, welche ich meinerfeitS gegen 
die ebenfo Tenntnisreichen wie flaren und umfichtigen Erörterungen 
des Verfaſſers vorzubringen weiß, liegen fo gut wie ausfchließlich 
nach der Seite der inneren Kritif hin. Die von dem Verfaffer ge- 
gebene Darftellung von dem weitfchichtigen und vielfach verwickelten 
Gange der Verhandlungen über die altlirchliche Tradition in Betreff 
der Authentie ded Evangeliums und des Lebens und Wirlens des 
Apoftels erfcheint mir jo anfhaulih und gründli und die von 
ihm felbft vorgenommene Beurtheilung diefer Sachen fcheint mir 
in allem Wefentlichen jo zutreffend, daß ich nur meine freudige 
Zuftimmung ausfpredhen kann. Die überzeugende Macht der 
Gründe, welde der Verfaſſer von dem Gebiete der äußeren Kritif 
entnimmt, wird aber wejentli dadurch gehoben, daß er in fein- 
finniger Würdigung alles deſſen, was zu dem Selbftzeugnid des 
Evangeliften gehört, zugleich die innere Seite der Sache geltend zu 
machen verftebt. In diefer Beziehung gibt er, manchmal ben 
Spuren von Luthardt u. a. folgend, eine Fülle von wahrhaft 
tiefgreifenden Momenten. Wie er mit Necht, die ganze Geftalt 
unferes vierten Evangeliums anfchauend, wiederholt geltend macht, 
daß die patriftifche Literatur des zweiten Jahrhunderts fein Er» 








Commentaire sur l’&vangile de Saint Jean. 7119 


zeugni® darbietet, welches in Gedankentiefe, in origineller Eigenart 
und in nachwirkender Macht mit unferem Evangelium verglichen 
werden könne, wie er, unter Üüberzeugender Abweiſung entgegen- 
gejegter Darftellungen, den Einfluß unferes Evangeliums auf die 
Entwichung des Tirchlichen und des häretifchen Geiſtes nachweift, 
fo verfteht er es in meilterhafter Weife, diejenigen zarten Züge 
des Evangeliums hervorzuheben, welche den Verfaffer desfelben als 
Augen» und Ohrenzeugen der berichteten Thatfachen, nicht aber als 
einen tendenzids erfindenden oder umgeftaltenden Schriftiteller, zu 
erfennen geben. Die innere Wahrheit, die fittliche Dignität, die 
nach allen Seiten Hin fich ergebende Angemefjenheit (das & propos, 
wie es fo oft heißt) der berichteten Thatſachen und Reden und die 
im wirklich Wefentlichen ?), namentlid) in der chriftologifhen Grund» 
anfchauung, vorhandene Harmonie zwifchen “Johannes und den Syn» 
optifern, wie zwifchen jenem und dem Apoftel Paulus, wird mit 
einem feinen Tacte, der in langjährigem, liebevollem Schriftitudium 
gebildet ift, dargelegt. 

Dies Lob wird, denke ich, jeder Lefer des Godet' ſchen Werkes 
gerechtfertigt finden, welcher nur nicht von einem wejentlich ver⸗ 
fchiedenen theologifchen und kritiſchen Standpunfte aus urtheilt, 
wenn auch immerhin im einzelnen weit mehr Anlaß zum Widers 
Spruch genommen werden mag, als ich zu finden vermag. Vielleicht 
ift die Godet' ſche Bearbeitung des Johannes wegen ihrer wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Züchtigkeit und wegen des milden Ernftes ihrer ganzen 
Haltung befonders dazu angethan, einen verfühnenden Einfluß bei 
den bunten Streitverhandlungen über bie johanneifche Trage zu 
üben. Eine gute Hoffnung ergibt fich dieferhalb doc auch aus 
dem Umſtande, daß Godet gerade bei der Beurtheilung der auf 


1) Den nach meiner Ueberzgeugung an dem Terte der Synoptifer fcheiternden 
Berfuh Godets, die fynoptifchen Angaben Uüber den Todestag des 
Herrn mit dem johanneifchen Berichte in Uebereinſtimmung zu bringen, 
möchte ich auf fich beruhen laſſen. Was Godet I, 150f. an archäo⸗ 
logiſchen Momenten beibringt, um zu bemeifen, daß die Kreuzigung und 
vorher die Verhandlung vor dem SHohenpriefter nicht wirflih am 15. 
Nifan vorgelommen fein könne, beweift doch nur die Irrtümlichkeit des 
ſynoptiſchen Berichts, nicht aber, daß diefer mit Sohannes ſtimmen müſſe 
und wirklich ſtimme. 


72 Godet 


Seiten der inneren Kritik liegenden Momente ſehr oft Gelegenfeit 
findet, auf Ausfprüde von Weizfäder, Keim und Renan ji 
zu berufen. Die negativiſche Kritik hat jich feit den Baur’ ſchen 
Aufftellungen zu bedeutenden Ermäßigungen, welche durch die Ertre- 
vaganzen eines Volkmar und Schalten wicht bejeitigt, jenbern 
vielmehr nur gerechtfertigt find, verftehen müljen. In den weiteren 
Verlauf der Verhandlungen über Johannes bringt jeden Falls das 
Godet' ſche Werk von neuem den wohlbegründeten, kräftigen Nach⸗ 
weis, daß, wenn ed überhaupt eine von wirklichen DOffenbarungen 
Gottes erfüllte Heilsgeſchichte gibt, unfer Evangelium alien Anfor⸗ 
derungen entfpricht, die au eine unmittelbare Bezengung folder 
Thatjachen za machen find. — 

Ein hervorragendes Intereſſe nehmen diejenigen Partien bed 
Godet'ſchen Werkes in Anſpruch, in weichen die dharakteriftifchen 
Eigentiimlichkeiten der johammeifchen Schrift dargelegt werden; dieſe 
Unterfucgungen über den Zweck ded Evangeliums, über die Aus—⸗ 
wahl und die Anordnung des Stoffes, fowol der Thatſachen wie 
der Meden, über den einheitlihen, planvellen Organismus der 
Schrift und über das Verhältnis des Prologs zu der nachfolgenden 
Hauptmaffe des Evangeliums dürfen auch wol als das vorguge- 
weile unferem Verfaſſer Eigentümliche angejehen werden. Aber io 
fehrreih und anregend diefe Ausführungen alle find, fcheinen fie 
mir doch auch zu manden Ginreden Anlaß zu bieten und mehr 
ald eine bedeutungsvolle Frage nicht befriedigend zu Löfen. Einige 
Grundbeftimmungen, welche ſich durch die ganze Erörterung des 
Verfaſſers Hinziehen und auch in dem eregetifchen Theile des Wertes 
immer wieder an einzelnen Beiſpielen gerechtfertigt werden, erfcheinen 
auch mir im allgemeinen und wejentlichen durchaus zutreffend, daß 
die Abſicht des Evangeliften (vgl. 20, 31. 1, 12 ff.) dahin geht, 
denjenigen Glauben zu begründen, welcher in dem geſchichtlichen 
Herrn den fleifchgewordenen ewigen Sohn Gottes erfenut, Daß der 
Evangelift zur Erreichung dtefes maßgebenden Zweckes ſeine Aus⸗ 
mahl und Anordnung bes geithichtfichen Stoffes trifft, daß er hiebei 
die in den fynoptifchen Evangelien firirte Tradition voraußfegt, fie 
erläutert, genauer feftftelit, gegen Misverftändnis verwahrt, und 
ergänzt und corrigirt, daß er fich felbft als nertrauten Augen» und 





Commentaire sur l’&vangile de Saint J ean. 721 


Ohrenzeugen barftelit, daß er bei feiner Schilderung des Lebens 
und Wirken des Herrn beides zur Anſchauung bringen will (vgl. 
1, 10ff.), wie angefidhts der Offenbarung der eigentümlichen Herr» 
lichkeit des Fleifchgewordenen fowol der Glaube als aud der Un» 
glaube sich entwicelt und ausgeftaltet. Diefen an fich felbft durch» 
aus richtig erfcheinenden Grundbeftimmungen gibt aber der Ver⸗ 
faffer gewiffe Modificationen — zum Theile wie wir fehen werden, 
von weitgreifender Bedeutung —, welche ich nicht gutzuheißen 
vermag. Wenn er unferem vierten Evangelium einen „autobiogra» 
phifchen“ Charakter beilegt (I, 110ff.), fo iſt das, glaube ich, eine 
für die Würdigung der ganzen johanneifhen Schrift hinderfiche 
Uebertreibung oder vielmehr Verſchiebung deffen, was mit Recht 
wegen der unmittelbaren Zeugenfchaft des vertrauteften Herrnjüngers 
auszufagen if. Der Anfangs⸗ und der Endpunkt des johanneifchen 
Evangeliums, meint Godet, ſei nach Maßgabe der eigenen Er- 
lebniſſe des Apoſtels gewählt; nicht mit dem Öffentlichen Wirken 
de8 Täufer, als des Vorläufers des Herrn, beginne Johannes, 
fondern mit dem Tage, an welchem er felbft den Herrn gefunden 
babe und fein eigener Glaube geboren fei; nicht mit der Himmel⸗ 
fahrt des Herrn fchließe Johannes, auf welche doch in feinem 
Evangelium bingebeutet ſei (3, 13), fondern mit dem Belenntnie 
des Thomas (20, 28), in welchem Johannes felbft die Vollendung 
feines eigenen Glaubens erkenne. Auch die Auswahl und Anord- 
nung bes in unferem Evangelium verarbeiteten Materials ſtellt 
Godet unter diefen Geſichtspunkt des Autobiographiſchen: „La 
naissance et le d&veloppement de la foi de l’auteur, tel est 
l’angle sous lequel est pr&sent& dans cet &vangile le ministere 
de Jesus. C’est de l’autobiographie, non de l’histoire pro- 
prement dite.“ (I, 113.) Die von Godet angeführten Stellen, 
zu welchen aud noch 1, 14. 19, 35 und 20, 8f. hinzugenommen 
werden, zeigen allerdings unverkennbar, daß der Evangelift eigene 
Erlebnifje berichtet, Thatſachen, welche in ihm, gleichwie in den 
übrigen apoftolifhen Augenzeugen (vgl. befonders 1, 14. 20, 9) 
den Glauben begründet und entwicelt haben, zu welchem er durch 
fein fchriftliches Zeugnis auch feine Lefer bringen will; allein etwas 
ganz anderes ift es, was Godet im Sinne Hat und was ich in 
Theol. Stud. Iabrg. 1878. 47 


122 Godet 


Anſpruch nehme. Ich würde ihm auch nicht widerſprechen, wenn 
er fagen wollte, daß das johanneifche Evangelinm das am meiften 
fubjectivifche fei; denn ich bin der Anficht, dag in leinem anderen 
Evangelium die Berjönlichleit des Schriftftellers in ber Weife umd 
in dem Maße fühlbar ift, wie in dem johanneijchen, und zwar 
in der ganzen planvollen Compoſition und in der ganzen Ans 
ſchauungs⸗ und Darftellungsweije, wie fie namentlich bei den Reben 
erfihtfih if. Aber Godet fagt ein Michreres und ein Anderes 
aus, als dies jubjectivifche Gepräge unferes Evangeliums; er meint, 
daß der Apoftel aus der Entwichungsgeichichte feines eigenen per- 
fönlichen Glaubenslebens die Norm für feine Darftellung des Le 
bene und Wirlens des Herrn entnehme; dies ift es, was mir 
verfehlt erſcheint. Kin der Art fubjectivifches Verfahren möchte 
kaum mit derjenigen Objectivität der MBerichterftattung verträglid 
fein, die ‚erforderlich ift, wenn der vorfchwebende Zwed (20, 31) 
erreicht werden foll (vgl. Luk. 1, 1f.); noch weniger ift ein ſolches 
Verfahren einem Schriftfteller zuzutrauen, welcher — wie aud 
Godet keineswegs verfennt — im übrigen feine eigene Perfön- 
lichkeit in zarter Zurückhaltung (I, 316) eher verhüflt, als in den 
Vordergrund treten läßt. Was aber insbefondere den Ausgangs 
und den Endpunkt des johanneifchen Berichtes anlangt, fo ift doc 
nidgt zu überfehen — was unten wegen des Verhältniſſes zwiſchen 
dem Prolog und dem übrigen Evangelium weiter zur Spradhe 
fommen folk —, daß bie volle Objectivität der Geſchichtserzählung 
auch bei Johannes in dem Ausgange von dem vorbereitenden Zeug. 
niffe des Zänfers Liegt, einem Zeugniffe (1, 19ff.; vgl. 3, 2255.), 
deffen Bedeutung für das gefamte Volt und deffen Beziehung auf 
d08 ganze Werk des Herrn felbft viel zu enge gefaßt wird, wenn 
Godet dies alles unter den fubjectivifchen Gefichtspunft des Evan- 
geliften und feiner perſönlichen Erfahrung (1, 35ff.) ftellen will. 
Auch angefichts des Schluffes des Evangeliums erweift ſich der 
Sodet’fche Canon als ſchief. Die volle Objertivität bes Ab— 
ſchluſſes der enangelifchen Gefchichtserzählung Liegt in dem ganzen 
Berichte von der Thatſache der Auferftehung. Der eigene Glaube 
des Evangeliften ift fchon (20, 8. 19ff.) zur vollen Kraft und 
Sicherheit entwidelt, che Thomas zu feinem Beleuntnis (20, 28) 





Commentaire sur l’&vangile de Saint Jean. 728 


geführt wird; und der Evangelift bejchreibt dies letztere Ereignis 
nicht, als wenn erft in dem Bekenntnis des bis dahin ungläubigen 
Thomas nun auch fein eigener Glaube zur vollen Entwicklung ges 
diehen fei, und demgemäß nun auch die evangelifche Schrift zum 
Abſchluſſe gelangen müſſe, fondern deshalb, weil die auch einem be» 
harrlichen Unglauben gegenüber erwieſene Wahrheit der Auferftehung 
und fomit die ganze offenbar gewordene Herrlichkeit des Menfchge- 
worbenen dem Glauben aller Welt dargeboten werden kann 
(20, 29ff.). — 

Wenn ih vorhin von dem fubjectivifchen Charakter unferes 
Evangeliums geredet habe, jo Hatte ich insbefondere auch bie in 
demſelben berichteten Reden im Sinne. Auch dieferbalb fcheint 
mir ein MWiderfpruch gegen die Godet'ſchen Aufftellungen berech⸗ 
tigt. Mit ihm halte ich das Meyer’fche Urtbeil, daß die Neben 
des Heren treu, aber nicht buchftäblich, wiedergegeben feten (I, 165), 
für durchaus zutreffend. Und wenn Godet ſelbſt abjchließend 
(1, 363) hierüber fich jo äußert: „En exposant les discours, il 
en reproduisit la substance, telle qu’elle s’&tait condensée 
lentement dans son esprit et du mieux qu’il pouvait le faire 
dans la langue nouvelle qui s’imposait & lui, cherchant à 
dire les mömes choses, comme Christ lui-m&me les eüt dites 
s’il eüt parl& dans ce milieu-la‘“, fo Babe ich auch hiegegen we⸗ 
fentliches nicht zu erinnern. Uber mit biefem allgemeinen Urtheil 
ſtimmt nicht recht, was er an vielen Stellen zu den einzelnen 
Reden anmerkt, indem er die Gefchichtlichkeit der berichteten Reden 
in einer Weife geltend macht, daß für die Subjectivität des Evan 
geliften ber erforderliche Raum fehlt. Allerdings erkennt Godet 
an, daß die Reden des -Herrn, fowol die Streitreden als auch die 
Reden mit den Jüngern oder mit Berfonen wie Nilodenms, nicht 
in wörtlicher VBollfiändigkeit wiedergegeben ſeien; was ich aber vers 
miſſe, iſt die Anerkennung, daß die Nedeberichte durchweg dem eigen- 
tümlich johanneifchen Stempel tragen. Auf die Thatjache kommt 
es mir bei meiner Abweihung von Godet an, daß der Herr 
ebenjo redet wie der Täufer und daß beide gleichermweife den jo⸗ 
banneifchen Dialekt fprechen, welcher in ben erzählenden Partien 


unſeres Evangeliums und namentlich auch, was zur Bergleichung 
47 


724 Godet 


noch leichter ſich darbietet und noch ſicherer zutrifft, in unſerem 
erſten Briefe vorliegt. Ich räume hienach der Subjectivität des 
Evangeliften in Betreff der Geſtaltung der uns berichteten Reben 
in der That mehr ein, ale Godet; und wenn biefer 5. B. die 
eigentümlihe Conformität zwifchen dem Zeugnis des Taufers 
(3, 31f.) und der Rede des Herrn zu Nilodemus (3, 11f.) daraus 
erklärt, daß die Jünger, welche das Geſpräch mit Nilodemus an- 
gehört, frappante Worte aus demfelben dem Täufer mitgetheilt 
haben möchten und daß nun der Täufer wiederum feinerfeits ab- 
fichtlich weientlich die gleichen Worte gewählt haben werde, fo er- 
Scheint eine ſolche Kombination an fich zu fünftli und obendrein 
unzureichend, da es fich nicht um die Gleichförmigkeit einzelner frap- 
panter Worte, fondern um den charafteriftiichen Gefamttypus der 
Reden überhaupt Handelt. Je inniger gerade Johannes dem über: 
wältigenden Eindrude ſeitens des Herrn ſich Hingegeben bat und 
je reiner und tiefer er von demſelben beftimmt worden ift, defto 
mehr muß aud) in der johamneiichen Anſchauungs⸗ und Redeweiſe 
der volle und Klare Wiederhall der Herrnworte wahrzunehmen fein; 
und wir bürfen — da wir ja Nedeberichte von jtenographifcher 
Art nicht begehren werden — uns nicht ſcheuen, das fubjectivifche 
Gepräge der von Johannes berichteten Reden anzuerkennen, in 
welchem ich ein werthvolles Anzeichen der wahren Geichichtlichkeit 
derfelben finde. — 

Die Prüfung der Godet'ſchen Anficht von dem unferem 
Evangelium zu Grunde Tiegenden Plane, insbefondere auch von 
dem Verhältniffe des Prolog zu dem nachfolgenden Haupttheile 
der Schrift, führt uns zu den beiden den Commentar enthaltenden 
Bänden. Vorab ift zu bemerken, daß dA8 21. Kapitel bei der 
Beichreibung des Grundriffes außer Betracht bleibt. Mit Recht 
erfennt auh Godet in 20, 30f. den fürmlichen Abſchluß der 
evangelifchen Schrift. Das 21. Kapitel ift ein von bem literarifchen 
Plane des Evangeliums ganz unabhängiger Anhang. Dem Evan- 
geliften felbft vindicirtt Godet den Abfchnitt V. 1—23, indem er 
die gewöhnlichen Gründe bdarlegt, welche mir allerdings die volle 
Zuverficht nicht geben; denn jo gern ich auch anerfenne, daß der 
Apoftel Anlaß gehabt haben könne, einen folchen Nachtrag zu feinem 








Commentaire sur l’&vangile de Saint Jean. 725 


Evangelium abzufaffen und zu veröffentlichen, und daß in biefem 
Anhange pofitiv unjohanmeifches ſich nicht findet, fo wiberftrebt 
mein Fritifches Gefühl doc immer der Annahme, daß ein Schrift- 
fteller wie Johannes, weicher in wahrhaft fünftlerifcher Anlage den 
fein durchdachten Blan feines Evangeliums entworfen und in durch⸗ 
aus abgerundeter Ausführung erledigt bat, nun doch noch, als 
wenn er nicht recht fertig geworden wäre, zu einem foldhen, mit 
dem allereinfachften uer« Tvadra angehängten Nachtrage gelangen 
ſollte. Böllig ftimme ich aber darin mit Godet überein, daß 
nicht nur V. 25 — welcher vielleiht mit Tiſchendorf vom 
Texte zu entfernen ift —, fondern auch V. 24, wo aud id) bie 
Meyer’fche Erklärung des oidansr für verfehlt Halte, von einer 
anderen Hand als der des BVerfaflers von V. 1—23 herrührt. 
Was Godet über die Dispofition des Prologs und des nach⸗ 
folgenden Evangeliums, wie über die innere planvolle Verbindung 
der beiden Schrifttheile fagt, das ergibt fich nicht ohne die forg- 
famfte Prüfung der bisherigen Aufftellungen der Ausleger, fo daß 
die Godet’fche Darlegung im Wefentlihen als der befriedigende 
Abſchluß diefer Unterfuchungen erfcheint. Ich meine, daß der Ver- 
fafer mit feinfinnigem Verftändnis den Gedanken des Evangeliften 
gelaufcht und den beabfichtigten Organismus der apoftolifchen Schrift, 
von verhältulsmäßig untergeordneten Punkten abgefehen, treffend 
befchrieben und durch die Einzelauslegung genauer in's Licht ges 
ſtellt hat. Eine bebeutungspolle Probe für die weſentliche Nichtig- 
feit der von Godet aufgemwiefenen Anlage unferes Evangeliums 
Scheint mir namentlich auch darin zu liegen, daß ber fir dasſelbe 
überall maßgebende zwiefache Gefichtspunft des Hiftorifchen und 
des Chriſtologiſchen bei der Godet'ſchen Auffafjung zu feinem 
Rechte kommt. Die gefchichtliche Offenbarung der Herrlichkeit des 
Dienfchgeworbenen ift body der unverlennbare Kern diefes Evange⸗ 
liums; und wie dieſe einzigartige Offenbarung fowol dem Glauben 
als dem Unglauben der Menſchen begegnet, das darzuftellen, ift 
ohne Zweifel die Abficht des Evangeliften, der nad ſolchen Ge⸗ 
ſichtspunkten den eigentümfichen Plan feiner Schrift entworfen 


bat. 
Nach Godet's Anficht ift die Anlage des Prologs eine drei« 


726 Godet 


theilige: der erſte Abſchnitt (WB. 14) handelt von dem göttlichen 
Subjecte der evangeliichen Geſchichte, vom Logos, und zwar in 
feinem Sein und feiner Wirkſamkeit vor ber Menfchwerbung; der 
zweite Abſchnitt (B. 5—11), zu welhen V. 5b ben Uebergang 
bildet, handelt vom Unglauben, welcher dem ſich offenbarenden Lo⸗ 
908 entgegengefet wird, und zwar genauer bon der außerordent- 
lihen Veranftaltung Gottes, den Unglauben abzumehren, nämlich 
von der Sendung ded Vorläufers, ſodann von der Thatſache des 
Unglaubene felbft; der dritte Abjchnitt endlih (WB. 12—18) handelt 
vom Glauben, von der Annahme der Logosoffenbarung, indem 
zuerft, der Thatfache des Unglaubens fogar in Israel gegenüber, 
darauf bingewiefen wird, daß doch durch die Wirkfamleit des Loge 
eine neue Menfchheit erwirkt ſei (B. 12. 13), ſodann das concrete 
Object des Glaubens, nämlich die Menſchwerdung des Logos 
(B. 14*), Hingeftellt und endlich die Gewißheit diefer wunderbaren 
Thatjache durch das dreifache Zeugnis der Sylinger, als der un: 
mittelbaren Augenzeugen (V. 14°), des Täufers, als des getige- 
fandten Vorläufers (B. 15), und der ganzen Kirche (V. 16—18), 
welde die Wahrheit jener Thatſache erfahren, erfebt hat, beftätigt 
wird. Wollen wir diefe Anfiht Godet's ridtig würdigen, fo 
müffen wir ſogleich hinzunehmen, was er über den Plan des durch 
diefen Prolog eingeleiteten Evangeliums und über die innere Be⸗ 
ziehung, in welchem der Prolog zu demjelben fteht, ausführt. Wie 
in dem Prolog wird auch in dem nachfolgenden Evangelium ber 
Gang der Eutwidlung durch die drei Hauptmomente: Offenbarung 
des mienfchgeworbenen Logos, Unglaube und Glaube, beftimmt. In 
dem erjten Hauptabſchnitt (1,19 — 4,54) finden wir die erften 
Dffenbarungen des Logos und den Beginn des Glaubens, aber 
auch fchon die erften Anzeichen des Unglaubens. Der zweite Ab» 
ſchnitt (5, 1 — 12,50) ift, wie insbefondere der rüdblidende Ab⸗ 
ſchluß (12, 37f.) zeigt, dazu beftimmt, die Entwiclung des Un- 
glaubens zu fchildern. Der dritte Theil (13,1 — 17,26) fielft 
dagegen die Entwidlung des Glaubens in den Jüngern dar, welche 
durch die Thatjachen (Kap. 13), durch die Reden (14,1 — 16,33) 
und durch das Gebet (Kap. 17) erfolgt. Der vierte Theil 
(Rapp. 18. 19) ſchildert die Paſſion und fomit die Vollendung 











Commentaire sur l’evangile de Saint Jean. 72a 


de8 Unglaubens; der fünfte (Kap. 20) endlich berichtet Die Auf: 
erftehfung und ftellt den nun zu feiner vollen Höhe gelangten 
Glauben (20, 28) vor Augen. Aus der damit wejentlich gleich" 
artigen Anlage des Prologs und des gefchichtlichen Haupttheils un. 
ſeres Evangeliums ergibt fi) auch der Zwed des Prologs. Diefer 
fol, gleichwie etwa (II, 103) vor einer mufilalifhen Compofition 
Beftimmungen über das Tempo und die ganze Vortragsmeile fich 
finden, den Lefer von vorn herein auf das Wefentliche in der 
evangelifchen Geſchichte Hinleiten, darauf daß es ſich bier um ben 
wundervollen Grund des menfchlihen Heils, nämlich die Offen- 
barung des ewigen Gottesfohnes im Tleifche, handelt, und daß 
diefe einzigartige Offenbarung nicht nur im Glauben aufgenommen, 
fondern auch im Unglauben verworfen wird. 

So.richtig auch die drei Hauptmomente, nämlich die Offenbarung 
de8 Logos, der Glaube und der Unglaube diefer Offenbarung gegen» 
über, erfcheinen, würde doch die von Godet gegebene Dispofition - 
zunächft dann in Anfpruch zu nehmen fein, wenn er einerjeits ver⸗ 
fennte, daß die Schilderung der fich offenbarenden Herrlichkeit des 
Meufchgeworbenen während des gefamten Verlaufs des evangelifchen 
Berichtes hervortritt und auch die Partien beberrfcht, welche im 
übrigen vorzugsweife der Darftellung des Glaubens und bes Un⸗ 
glaubens dienen, und wenn er anderfeits überfähe, daß in den Ab⸗ 
Schnitten, welche ben Fortgang des Glaubens fchildern, doch auch 
die Geſchichte des Unglaubens weitergeht, und umgelehrt. Während 
aber der Verfaſſer in diefen beiden Beziehungen dem evangelifchen 
Texte in ber That gerecht wird, läßt er einen anderen, gerade in 
der johanneifchen Anſchauungs⸗ und Darftellungsweije fehr bes 
deutungspollen Gefichtöpunft, welcher auch jchon für die Anlage 
des Prologs maßgebend ift, viel zu wenig bervortreten, nämlich 
den der xodass, welche mit ethifcher Nothwendigleit aus dem Offen- 
barwerden der Herrlichkeit des Menfchgewordenen fich ergibt, fo 
daß die Erfiheinungen des Glaubens und des Unglaubens nicht ſo⸗ 
wol eine nad) der anderen und unabhängig von einander, fondern 
vielmehr neben und mit einander, als gleihmäßig durch die Offen- 
barung des Herrn Hervorgerufene und an derjelben zur Auswirkung 
gelangende fittliche Mächte zu verftehen find; man vergleiche, wenn 





728 Godet 


es überhaupt eines Beweiſes bedarf, z. B. Joh. 2, 17ff. 3, 18f. 
6, 66. 7, 12. 31. 40ff. 9, 9. 16. 39. 10, 19. 12, 31. 46ff. 
Auch bei Godet fehlt die gelegentliche Hinweiſung auf diefe kri⸗ 
tifche Natur der Offenbarung des Herrn nit (II, 291. 373; 
II, 36. 581); aber er macht biefelbe auch an folden Stellen 
nicht geltend, wo der Contert darauf führt (III, 193), und er 
verfennt, wie insbejondere die Darftellung an der zuletzt ausge⸗ 
hobenen Stelfe (II, 193) zeigt, wie von diefem eigentümlich jo- 
hanneifchen Gefichtepunfte des Kritifchen in der Offenbarung des 
Herren beide Entwidlungsreihen, die de8 Glaubens und des Un⸗ 
glaubens, angefchaut fein wollen und wie hiedurch die Anlage des 
Evangeliums, aud) des Prologs, mitbedingt wird. Was an der 
Godet'ſchen Dispofition im einzelnen zu beanftanden ift, das 
hängt unverlennbar mit dem bezeichneten Mangel zufammen. Nur 
dem irrtümlichen Separiren der Geſchichte des Unglaubens don ber 
des Glaubens ift es beizumefjen, wenn Godet in den zufammen- 
genommenen V. 5—11 jenes erftere finden und bier auch das 
Zeugnis des Täufers, nämlich als gottgewollte Abwehr des Uns 
glaubens, einordnen will. Died letztere heißt doch, worauf fchon 
oben wegen des Beginns der evangelifchen Geichichtserzählung hin⸗ 
zumeifen war, die volle gefchichtliche Bedeutung des Täufers unter: 
ſchätzen. Gegen die Godet'ſche Aufftellung ift um ihrer Einfeitig- 
feit willen zunächſt die pofitive, auf die Glaubensgründung gerich- 
tete Aufgabe des Täufers geltend zu machen. In gleicher Weite 
ift die Zufammenfaffung von V. 12—18 in Anspruch zu nehmen, 
nämlich einerfeits die unnatürliche Scheidung zwifchen V. 11 und 
V. 12, melde fi) do im Conterte (®. 11 09 nragslaßor; 
V. 12 öcoı da EAaßov) als unzertrennliche Glieder eines gegen» 
ſätzlichen Parallelismus darftellen, und anderjeit3 das den Glauben 
beftätigende Zeugnis der ganzen Kirche, welches in V. 16—18 vor- 
fiegen fol. Was dies letztere Moment anlangt, fo wird man das 
V. 16 (nueis navres) Geſagte als Zeugnis der „ganzen Kirde” 
bezeichnen dürfen; ich geftehe aber, daß mir dieſer Ausdrud eine 
ſchärfere dogmatifche Präcifion zu haben jcheint, als rein exegetifch 
fih darbietet; mir genügt die finnvolle und (mavres) über das 
V. 14 Ausgefagte hinausgehende Bezengung, daß die Fülle der 





Commentaire sur l’&vangile de Saint Jean. 729 


offenbar gewordenen Herrlichkeit jo reich an Gnade geweſen ift, 
daß fie für alle, fo viele (vgl. V. 12) fie im Glauben gefchaut 
haben, ausgereicht hat. Jeden Falls finde ih alfo gleih Godet 
in V. 16 das auf ber eigenen feligen Erfahrung beruhende Zeug⸗ 
nis des Apoftel® und aller derer, welche wie er an der Offen⸗ 
barung des Menfchgewordenen theilgenommen haben. Wozu aber 
dient bier die Beziehung auf Mofes? Was hat der Evangelift im 
Sinne, indem er in den abfchliegenden Worten des Prologs dem 
Mofes mit feinem Gefege den gerade hier zuerft genannten Jeſum 
Ehriftum ‚mit feiner Gnade und Wahrheit gegenüberftellt? Godet 
beantwortet die Frage nicht; er kann es auch nicht, nachdem er die 
Berfe 16—18 als Zeugnis der ganzen Kirche zufammengefaßt und 
fo unter den Gefihtspunft geftellt bat, von welchem aus ber Ab» 
Schnitt B. 12—18 als die prologifche Skizzirung der Entwicklung 
des Glaubens erfcheint. 

Meine Anfiht in Betreff des zuletzt bezeichneten Punktes möchte 
ih nicht ohne Verbindung mit einigen anderen Bemerkungen über 
die Anlage und den Zwed bes Brologs vorlegen; meine bisherigen 
Bedenken gegen die Godet'ſche Auffaffung werden erft hiemit 
recht ar werden. Laſſen wir die formale Anlage des Prologs 
vorläufig dabingeftellt fein, fo werden wir den materiellen Inhalt 
desfelben in folgenden wefentlichen Momenten finden dürfen. Zur 
vörderſt kommt e8 auf die Berfon des Herrn an, von welchem 
das Evangelium handeln foll; es wird alfo einerſeits das ewige, 
göttliche Sein und Wirken des Logos, anderfeits die Offenbarung 
besfelben im Fleiſche ausgefagt. Das Zweite ift der Erfolg diefer 
Offenbarung, und zwar, vermöge der Fritifchen Natur derfelben, 
der zwiefache Erfolg, bes Glaubens und des Unglaubens. Das 
Dritte ift das zweimal erwähnte (V. 6. 15) Zeugnis des Täufers, 
welches ſowol den Kommenden anfündigt, als auch den Gelommenen 
beglaubigt. Das Vierte ift das Verhältnis der neuteftamentlichen 
Offenbarung des Herrn zu der altteftamentlichen Gottesordnung; 
dies iſt der Gefichtspunkt, unter welchen nicht nur die Hinweifung 
auf Moſes und fein Geſetz (B. 17), fondern auch die Ausfage 
(8. 11) fällt, daß der im Fleiſche erfcheinende Herr tn fein Tängft 
zuvor bereitetes Eigentum gekommen und von den Seinigen gleich» 


730 Gobet 


wol nicht angenommen fei. Neben biefen vier, zu dem evangelifchen 
Material gehörenden Hauptſtücken find dann noch zwei wichtige 
Beziehungen, welche diefen ftofflichen Elementen ſchon im Prologe 
gegeben werben, nicht zu überfehen, nämlich einestheil® die auf den 
Glauben (vgl. 20, 31) abzielende Zweckbeſtimmung, anberntheils der 
Univerfalismus der Heilsoffenbarung (8.7.9. 12.16). Es treten 
alfo, wenn ich nicht irre, die beiden gefchichtlichen Momente, nam⸗ 
ih das Amt des Täufers und die altteftamentliche Vorbereitung, 
ungleich bedeuitfamer und felbftändiger hervor, als bei der Go⸗ 
det' ſchen Darftellung. In diejen beiden Momenten finde ich wer 
fentlihe Züge der Hiftorifhen Haltung auch des Prologs und, 
wenn ich fo fagen darf, das richtige Gegengewicht, durch welches 
das fpeculative Element des Prologs vor jeder Abirrung von dem 
feften rund und Boden der gottgeordneten Thatfachen bewahrt 
wird, die wahre Objectivität, welche die unentbehrliche Kehrſeite der 
iohanneifchen Subjectipität if. Wenn ich num darauf noch Hin- 
deuten darf, wie biefe vier den weſentlichen Gehalt de Prologs 
bildenden Hauptftüde durch das ganze nadfolgende Evangelium 
fich Hindurchziehen und in demjelben ihre vollere Ausführung er- 
halten, fo möchte ich von vorn berein fagen, wie ich demgemäß 
das innere Verhältnis des Prologs zu dem Evangelium felbft auf- 
faffe. Meine Mebereinftimmung mit Godet und meine Abweihung 
von ihm Tann ich am beften darlegen, wenn ich fein mufilalifches 
Gleichnis einigermaßen umgeftalte, ‘Der Prolog gleicht nicht dem 
Angaben über Tempo u. dgl., die vor einem Mufitftüd ſich 
finden, fondern der Ouvertüre zu einem Drama Wie in ber 
Ouvertüre der Charakter des Drama's vorbezeichnet wird, wie bie 
in bemfelben thematifch herrfchenden Melodien vorklingen, fo zeigt 
uns der Prolog die Themata der evangeliihen Gefchichtserzählung. 
Die Töne bes Prologd Elingen durch das Evangelium Hin immer 
voller und Elarer wieder; die Örundlinien, welche im Prolog ge⸗ 
zogen find, treten in den weiter ausgeführten Gemälden des Evan 
gelium® immer wieder hervor, wie benn der Evangelift feinen 
Prolog in der bejtimmteften und deutlich marlirten Erinnerung an 
das Gejchichtliche, an das Seibfterlebte (vgl. bei. B. 14 Edenae- 
neda; DB. 18 EEnynoazso, Xorifte), gefchrieben hat. In Be» 











Commentaire sur l'érangile de Saint Jean. 731 


treff der Beiden erfien Hauptpunkte, nämlich der Darftellung der 
Herrlichkeit des Herrn vor und nad feiner Menſchwerdung und 
des zwiefachen Erfolgs, welchen die Offenbarung bei den Gläubigen 
und bei ben Ungläubigen findet, bebarf es eines bejonderen Nach⸗ 
weifes nicht; ‚nur in Betreff ber beiden anderen Grundzüge des 
Prologs, nümlicd, des über den Täufer und des über die altteita- 
mentliche Vorbereitung Angedenteten, mag das Folgende bemerkt 
werden. ° 

Die gottgeordnete Bedeutung des Täufers für das gefhichtliche 
Leben des Herrn wird im Evangelium nicht allein an ben ſchon 
oben hervorgehobenen Stellen (1, 19ff. 3, 23ff.) geltend gemacht, 
Sondern auch im weiteren Verlaufe der Entwidtung in Bezug ge⸗ 
nommen (5, 33. 10, 41). Die wahrhaft geſchichtliche Art der 
johanneischen Darftellung (vgl. Apg. 1, 22) erkenne ich aber eben 
darin, dag der Bericht über die Wirkfamleit des Herrn feinen Aus» 
gang von dein Zengnis bes Täufers nimmt. | 

Breiter und wiederholt tritt naturgemäß im Evangelium bie 
Bezugnahme auf Moſes, auf die Weißagung, auf die altteftament- 
liche Vorſtufe überhaupt hervor. Das Heil kommt, unbefchadet 
feiner Univerjalität (vgl. 3. B. 3, 16f. 4, 23. 6, 33. 51), von 
den Yuden (4, 22); die Thatfachen der heiligen Gefchichte erfolgen, 
damit die Schrift erfüllt werde (12, 38. 15, 25. 17,12. 19, 24. 36); 
duch Moſes foll der Glaube an den Herrn erwedt werden und 
Mofes muß die Ungläubigen verflagen (5, 45); über Mofes und 
feinem Geſetze fteht der Herr mit feinem Seile (6, 32 ff. 7, 19 ff. 
vgl. noch 1, 46. 2, 22. 5, 39. 6, 45. 8, 56. 12, 14ff.). So 
entfprechen die durch das Evangelium fih hinziehenden Verweiſungen 
anf Moſes und den ganzen alten Bund dem fchon im Prolog an⸗ 
geichlagenen Grundton. 

Don dem nun gewonnenen Standpunkte aus wird und auch 
die Gruppirung ber Verſe des Prologs etwas anders als bei 
Godet erfcheinen. Den V. 5 werden wir mit V. 14, zu 
welchen er innerlich gehört, verbinden und, indem wir die zweite 
Gruppe mit V. 6 beginnen laffen, dem Zeugnis des Täufers die 
dem Sinne des Evangeliſten entjprechende Stellung richtiger ans» 
weifen. Die Berfe 11 und 12 werden wir nicht von einander 


182 Gobet 


ſcheiden, ſondern die mit V. 6 beginnende Gruppe bie B. 13 
ausdehnen. Die dritte Gruppe, deren Anfang dazu dient, mn 
mehr die große Thatſache, um welche ſich alles dreht, machtvoll 
einzufegen (®. 14), reicht bi B. 18. Die eingehende Begrim⸗ 
dung diefer Dispofition durch die Auslegung des Einzeluen Tann 
ih hier nicht geben; doch möchte ich wenigſtens noch einige Worte 
hinzufügen. Die beiden legten Gruppen von Gedanken ftehen gleicher: 
weife auf dem in V. 1—5 gelegten Grunde, indem der jenen 
erften Abfchnitt abfchließende B. 5 in das Geſchichtliche hinüber⸗ 
weil. Die Abſchnitte B. 6—13 und B. 14—18 haben, gan 
nad johanneifcher Art, eine gewiſſe Gleichmäßigleit unter einander. 
Ungleid ift der Gang der Entwicklung; gleich aber find wefentlid 
die dargelegten Sachen. Dort (B. 6—13) geht die Darftellung, 
nachdem zunächſt der Vorläufer mit feinem vorbereitenben Zeug: 
niffe feinen richtigen Play gefunden hat, von dem göttlichen Sein 
des Logos aus und gelangt, daß ich fo fage, fiufenweife (nv — 
doxönerov V. 9, 7v B. 10, 749er V. 11) zu der geſchichtlichen 
Erfcheinung und der Wirkung berfelben (B. 11. 12f.); hier 
(8. 14ff.) geht die Darftellung umgelehrt von ber wundervollen 
Thatſache felbft (VB. 14) aus und gelangt, nachdem auch bier des 
Zäufers und feines beglaubigenden Zeugniffes gedacht ift, zu bem 
Erfolge ber Offenbarung. Dies ift die echt johanneifche Weife, 
bei einem centralen Gedanken zu verweilen und denfelben von ver: 
ſchledenen Seiten anzufhauen. Den Parallelismus ber beiden 
Chelen finde ih aud) darin, daß wie in V. 11 (ra idıe, oi Icio) 
die Hinweifung auf die altteftamentliche Vorbereitung (vgl. V. 17) 
vorliegt, jo anderfeits in dem letzten Abfchnitt die Hindeutung auf 
den Unglauben nicht fehlt; denn die mit Unrecht an dem miever⸗ 
ftandenen und gemisbrauchten Geſetze Moſis Hangenden (8. 17; 
vgl. 5, 45 u. ä. St.) find eben die idsor, welche den Herrn nidt 
angenommen, die Tovdasos des Evangeliums, welche ihn verworfen 
baben. 

Meine etwas abweichende Anficht von dem Organismus des 
Prologs Hindert mich aber nicht, der oben mitgetheilten Godet'⸗ 
ſchen Dispofition des Evangeliums felbft zuzuftimmen. Ich glaube, 
daß ber Verfafjer unter forgfältiger Vermeidung der Mängel, welde 





Commentaire sur P’&vangile de Saint Jean. 138 


den bis dahin verfuchten Beftimmungen anhaften und in tactvoller 
Wlirdigung der von dem Evangeliften ſelbſt gegebenen Fingerzeige 
(vgl. insbefondere 12, 37 ff.) den johanneifchen Srundplan, welcher 
aber auch in der That ebenjo einfach wie Far und beftimmt her⸗ 
vorzutreten fcheint, zutreffend nachgewiefen hat. Was ich etwa ver- 
miffe, liegt einestheils, in Betreff des Meateriellen, in der nicht 
genügenden Hervorhebung des Kritifchen in der Offenbarung bes 
Menfchgeworbenen und in der gleichfalls mich nicht befriedigenden 
Nachweiſung der Bedeutung, welche der Evangelift der altteftament- 
lichen Vorſtufe zuſchreibt; ſodann anderſeits, in Betreff der eigen- 
tümlich johanneifchen Gefichtspunfte, unter welche das Materielle 
der Geſchichte geftellt wird, vermiffe ich die ausreichende Marfirung 
der beiden, durch das Evangelium wie durch den Prolog fich hin⸗ 
ziehenden Ideen von der Univerfalität des Heils, welches für ben 
x00nos beftimmt ift, und von der maßgebenden Zweckbeziehung, 
daß die ganze Offenbarung des Herrn auf bie Erwirkung des 
Staubens abzielt (vgl. 3. B. 2, 11. 22f. 3, 15. 4, 48ff. 5, 24. 
6, 47. 10, 37. 17, 21. 19, 35. 20, 8. 29). Ich fage nicht, | 
daß der Verfaſſer an den einzelnen Stellen diefe Momente ver« 
kenne ober unterjchäßge, fondern daß er diefelben nicht genügend in 
ihrer für die johanneifche Art der evangeliichen Geſchichtſchreibung 
charakteriftifchen Bedeutung geltend made. — 

Wenn ich zum Schluffe in Betreff der von Bodet gegebenen 
Auslegung des Einzelnen mich auf einige Bemerkungen befchränfen 
muß, obwol es an Anlaß zu Zweifeln und mitunter (3. B. zu 
Joh. 10, 1ff.) zu ziemlich weit veichendem Widerfpruch nicht fehlen 
würde, fo fcheint es mir gerathen, ſolche Sachen zur Sprade zu 
bringen, die entweder unter einen allgemeineren Gefichtspuntt ges 
faßt werben können ober die etwa im Vergleich mit dem in der 
erften Auflage Gefagten befonders ſich darbieten, Im allgemeinen 
verdient die Godet'ſche Exegeſe das Lob philologifcher Sorgfalt 
und Gründlichkeit. Godet ift durchans bereit, die Gefeke der 
Sprache anzuerkennen und ihnen die gebürende Folge zu geben; 
und er wird in&befondere dieſe Grundlage aller gefunden Exegefe 
vor Augen zu haben, wenn er ben überall verglichenen Meyer’ chen 
Commentar einmal. al® unentbehrlich bezeichnet. Dem Refpecte vor 


754 Godet 


‚der philologifchen Akribie Meyers ift es auch auzufchreiben, wenn 
wir wiederholt auf die Worte „quoi qu’en dise Meyer‘ ſtoßen; 
unfer Verfaſſer will dann jagen, daß bie grundfäglih aud von 
ihm anerlannten Sprachgefeße unbillig angewandt, nicht ohne Ueber⸗ 
fpannung geltend gemacht werden, daß es fi) um eine pedanterie 
grammaticale (II, 523) Handelt. Dieſerhalb zuerft möchte id 
einige Beifpiele ausheben. 

An der Stelle, zu welcher Godet den eben bezeichneten Vor⸗ 
wurf wider Meyer erhebt (Joh. 6, 67), hat der letztere nach 
meiner Ueberzeugung entſchieden Recht. Godet ſelbſt bemerkt, in 
vollſter Webereinftimmung mit Meyer, daß die mit gun) eingeleitete 
Trage des Herrn eine verneinende Antwort erwarten laſſe. Dies 
wollen wir vor allen Dingen fefthalten; wenn es auf weitere Be⸗ 
lege anlommen könnte, fo würden fie ganz nahe (7, 35. 47 ff. 
9, 40) in einiger Fülle zur Hand fein. ‘Dann aber kann die 
Trage des Herrn nur den von Meyer befchriebenen Sinn haben 
(„doch nicht auch ihr wollet weggehen ?“), und es ift nicht wohl 
möglich, mit Godet zu erläutern; „Cette question respire une 
mäle energie — il leur ouvre la porte toute grande — Si 
cependant vous voulez, vous pouvez aller.“ Der Vorzug der 
Meyer’fchen Accurateſſe liegt darin, daß die feine Nuancirung der 
Frage richtig gewürdigt wird, während auch Godet die wefentliche 
Borausfegung, daß die Jünger nicht weggehen wollen, natürlich 
anerkennt. — Ein anderes Beifpiel in Betreff der philologifchen 
Accurateſſe ift die Würdigung aoriftifcher Formen. Mehr als ein- 
mal macht Godet geltend, dag der Aorift nicht im Sinne eines 
Plusguamperfectums zu verftehen fei (I, 393. 400); mit Unrecht 
aber will er feloft (II, 365) — quoi qu’en dise Meyer — den 
Aorift Euxgrvonoev (Joh. A, 44) als Plusquamperfectum auffafjen. 
Unmöglih! Nur in gewiffen nebenfäglihen Stellungen (vgl. 
Winer, S. 258) kann der Xorift eine ſolche Modification ge: 
winnen, nicht aber in einem Hauptſatze, der — wie 4, 44 ber 
Fall ift — eine gefchichtlihe Angabe felbftändig einbringt. _ 

Um einer anderen philologifchen Raiſon willen muß ich die in 
der gegenwärtigen Ausgabe verfuchte Auslegung von 3, 34 nod 
zuperfichtlicher für irrig halten, al8 die frühere Erklärung. Gleich 





Commentaire sur l’&vangile de Saint Jean. 738 


bleibt ſich Godet darin, daß er ein auso fupplirt; neu ift aber 
der Verſuch, in so nvevua das Subject zu ddeosv eriennen zu 
laſſen. &r überfegt: „car l’Esprit ne [Jui] donne pas avec 
mesure “; der Text foll jagen, daß der Geiſt die Worte voll Offen- 
barung nicht, wie bei den Propheten, in beſchränkter Weife, ſondern 
ohne Maß dem Herrn verleißt. Dreierlei fcheint mir diefer Aus⸗ 
fegung entgegenzuftehen: das Fehlen des adro im Texte, die 
Wortftellung, welche ganz unnatürlich wäre, wenn zo rweöne 
Subject fein follte, und das Präſens ddwasv, welches in derjelben 
Weife wie das Fehlen des adrw die directe Beziehung der Aus⸗ 
fage auf Chriftum verwehrt, denn von einer fortlaufenden Mit» 
theilung des Geiſtes an Chriftum weiß Johannes fonft nichts. 
Ich halte alfo auch Hier an Meyer feit. Derjenige, heißt es im 
Texte, welchen Gott gefandt hat, redet die Worte Gottes; und er 
vermag dies, weil Gott den Geift, d. 5. die Bedingung der Fähig- 
feit, offenbarungsvolle Worte Gottes zu reden, nicht nach irgend 
einem Maße gibt, fondern bei feiner Geiftesmittheilung unbefchränft 
ift, fo daß er alfo, wie V. 35 auch gefagt ift, dem geliebten Sohne 
Ichlechthin alles, auch bie unbegrenzte Fülle des Geiftes, geben 
fann, und fomit der Sohn als das Licht und Leben ber Melt, 
als die Wahrheit felbft, als die volllommene Offenbarung Gottes 
dafteht. 

Ein philologifches Bedenken habe ich auch gegen die Godet'ſche 
Auffeffung der Stelle 17, 25. Hier follen die beiden xad einander 
entfprechenb zwei Glieder eines Gegenſatzes einführen: die Welt 
einerfeits, die Jünger anderfeits. Mit Unrecht beruft ſich Godet 
biebei auf Stellen wie 6, 36. 15, 24; denn während im allge 
meinen ein berartiger Gebrauch des doppelten xufF eines Beleges 
nicht bedarf, erfcheint derjelbe 17, 25 deshalb nicht ftattnehmig, 
weil das erſte Sakglied (za a xdopos xz4.) dur den fofort 
eintretenden, mit da marlirten Gegenfag von dem nun erit fol« 
genden Satzgliede (xcèà odros xwA.) gefchieden wird. Hienad iſt 
der Bau des ganzen Satzes vielmehr diefer. Zuerſt wird nad 
drücklich (xaf, und doch), wie mit fchmerzlicher Verwunberung, der 
Unglaube ber Welt ausgefagt; dem tritt fofort gegenüber das zu⸗ 
verfichtliche Selbftzeugnis des Herrn (ich aber Babe dich erkannt), 


156 Godet 


und hieran ſchließt fi) (xaF) das Zeugnis über die Jünger, welche 
den Herrn erlannt haben, und die weitere, wiederum mit xad an- 
gefügte Ausſage, daß der Herr, feiner Sendung feitens des Vaters 
gemäß, ihnen den Namen des Vaters kund gemacht hat und ferner 
fund machen will. Diefe Anfügungen mit xa/, obne Markirung 
des inneren Verhältnifjes, in welche nur einmal der leicht ſich dar- 
bietende Gegenfag (yo da xra.) eintritt, ift echt. johanneiſch. 
Die Godet'ſche Ordnung erfcheint mir zu künſtlich. — 

Eine wejentliche Verbeſſerung hat der Verfaſſer feiner Aus⸗ 
fegung von “oh. 1, 5 gegeben. Während er das padsves früher 
auf die in der Welt fortwährende, im Gewiffen der Menſchen 
(Röm. 2, 14f.) fich bezeugende Wirkfamleit des Logos vor feiner 
Dienfchwerdung bezog, verfteht er jetzt das Präſens (vgl. 10h. 2, 8) 
von der dem Evangeliften gegenwärtigen Wirklichleit der Logos⸗ 
offenbarung. In diefer Auffaffung, welche auch durch die im 
Texte fofort angefchloffene gefchichtliche Bezeichnung des der vor- 
bandenen Offenbarung entgegengetretenen Unglaubens beftätigt wird 
(8. 5), ftimme ich dem Verfaſſer volifommen bei, aljo auch in 
der entjchiedenen Polemik gegen Meyer, welder an die fort« 
währende Offenbarung des Logos, vor und nad) der Menfchwerbung 
denft. Dagegen muß ih als der johanneifhen Anſchauungsweiſe 
nicht entfprehend die Soderfche Erklärung von Joh. 5, 27 in 
Anſpruch nehmen. Deshalb, erläutert er, fei dem Menſchenſohne 
da8 Gericht übergeben, weil „le jugement de I’humanite doit 
etre un hommage rendu & la saintet& de Dieu, un vrai acte 
d’adoration, un culte. Pour cela, il faut que cet acte parte 
du sein de l'humanité elle-m&me. La r&paration doit &tre 
offerte par l’&tre qui a commis l’outrage. — Le jugement 
est, pour toute la portion pecheresse de l'humanité, la re&- 
paration forcee due par celui qui n’a pas voulu s’appröpier 
par la foi la libre r&paration de l'expiation.“ — Uber in diefem 
Sinne könnte doch nur das menfchlihe Gerichtetwerden, nicht das 
menschliche, d. 5. von dem Menſchenſohne auszuführende, Richten 
angefchaut werden, falls überhaupt bei Johannes ein Anhalt für 
eine derartige Vorſtellung fih fünde. — Indem ich von einer 
weiteren Erörterung des Einzelnen abfehe, kann id nur mit ber 





“  Commentaire sur l'érangile de Saint Jean. 187 


wiederholten Bezeugung fehließen, dag das Studium des Gobet’- 
fchen Werkes mid mit der freudigften Dankbarkeit erfüllt bat. 
Hannover. 


D. Fr. Düfterdiek. 


2. 


Gerichte Aegyptens unter den Pharaonen. Nach ven 
Dentmälern bearbeitet von Dr. Heinrich Brugſch⸗Bey. 
Leipzig, 3. C. Hinrichs'ſche Buchhandlung, 1877. 
XI & 818 ©. 

6. Mafpero’s Gefchichte der morgenländifchen Völker im 
Altertum. Nach der zweiten Auflage des Originals 
und unter Mitwirkung des Verfaffers überfett von 
Dr. Richard Pietſchmaun. Leipzig, Wilhelm Enger 
mann, 1877. VIII & 644 ©. 





Diufterarbeiten der Reconftruction des morgenlänbifchen Alter» 
tums aus den glüclichen Forſchungen und Entdedlungen der Gegen- 
wart auf den Zrümmerfeldern vom Nil bis zum Tigris treten 
uns in den genannten Werken entgegen. Das eine ift bie Frucht 
der langjährigen Autopfie eines weltberühmten Aegpptologen in den 
Urkunden, Dentmälern und Dertlichleiten des Landes feines Stu⸗ 
diums. Das andere ift eine Sammlung und Sichtung nicht ſowol 
der eigenen als der fremden Unterjuchungsrefultate der Neuzeit auf 
fämtlihen Gebieten der morgenländifchen Altertumsfunde zu einem 
Moſaikbilde der Univerfalgefchichte des weitlichen Orients von dem 
jugendlichen, aber nicht&deftoweniger grundgelehrten Nachfolger eines 
Jean François Ehampollion und Bicomte Emmanuel de 
Rougeauf dem ägyptologiſchen Lehrftuhl am College de France, 
für die deutfchen Leferkreife unter Mitwirkung des Verfaffers herge⸗ 
rihtet und mit den Literarifchen Stoff ergänzenden Anmerkungen 
bereichert von Dr. Rihard Pietfhmann, der feine Befähigung 
zu einem felbjtändigen Urtheil in Sachen der orientalischen Archäo⸗ 

Theol. Stud. Jahrg. 1878. 48 








138 Brugfch, Geſchichte Aegyptens unter den Pharaonen. 


logie durch feinen „Herme® Trismegiſtos“ vor zwei “Jahren er- 
wieſen bat. Beide Werke find mit dem Segen de® „nonum pre- 
matur in annum“ gejalbt, denn dem von Brugſch ift eine 
frangöfifeje „‚ Histoire d'Egypte“ erftmals vor bald zwanzig, und 
wieder vor zwei Fahren vorausgegangen, und dem von Mafpero 
eine „Histoire ancienne des peuples de l’Orient‘ in eben- 
fall® zwei Ausgaben. Sie allfeitig zu würdigen liegt außer den 
Zielen diefer theologifchen Zeitfchrift und außer dem wiſſenſchaft⸗ 
lichen Bereiche ihres unterzeichneten Mitarbeiters; aber ihre Be- 
ziehungen zu der Geographie, Oeſchichte und Religion des 
A. T. darzulegen ifl beider Pflicht. 

Beginnen wir mit der Geographie, fo zieht Mafpero, 
defien Eomtbinationen felbftverjtändlih Böker hinauf und weiter 
hinausreichen, als die des Speciafiften Brugſch, fon bie bib- 
liſche Wiege der Menſchheit, das Paradies, in den Kreis feiner 
Betrachtuhg herein. Er fieht in deffen Topographie eine in ihrem 
Kern Hiftorifche, aber in ihrer Ausgeſtaltung durch den geograpfifchen 
Horizont der fpäteren Helmat des Votkes Istael alterirte Er- 
innerung an die einftige den Völkern auf der ungeheuren Länder⸗ 
ftrede vom Kaukaſus bis zum erythrätfcheri und vom Indus bie 
zum mittelländifchen leere gemeinfame Urheimat auf der Hed- 
ebene Bamir, ber Verbindungsfette des Belurdaghs mit dem 
Himalaja und dem Ouellgebiete de8 Drud und Jarartes, 
die nach Notbdoften, und ded Elymandrus (Helmend) und 
Indus, die nah Süden abfließen. Was uns Bier als Ergebnis 
ber mobernen Forfchung geboten wird, iſt wejentlih deutfches 
Gut, ſignirt mit den Namen Ewald, Laſſen, Windiſchmann 
md Spiegel und nad ihnen von Renan abeptirt. — Wenden 
wir uns vom Baradies der Bölkertafel zu, fo gewährt ums 
Maſpero für deren Würdigung und Erflärung nur eine bürftige 
Ausbente. In Betreff des erfteren Punktes verdächtigt er nämlich 
ihten Werth durch eine gelegentliche Hinweiſung anf den ih ihr ba 
und dort zu Tage treteitden Widerjpruch zwifchen Sprache und 
Raſſe, aber ift denn die Unmöglichkeit eines Spracentaufches mit 
Wiſemann gegen einen Max Müller fchon bewiefen? Sm 
Betreff des letzteren Punktes befpricht er unter den Rindern Ja⸗ 

















Maſpero, Gefchichte der morgenländ. Bäfter im Altertum. 789 


phets nur Thubal und Meſech, in denen er mit Eberhard 
Schrader die Tybarener und Mofcher ber Griechen und bie 
„Tublai“ md „Muskai“ („Zabali* und „Must“ fchreibt 
E. Schradernod in K. m. AT.) wiederfindet, deren erftere er an 
den norbweftlichen Abhang der armenifchen Berge und in das Strom« 
gebiet de3 Iris bis an das Schwarze Meer verſetzt, wührend er 
die letzteren an den beiden Ufern des oberen Euphrats haufen 
und „bis an ben Halya“ (mas jedoch wegen ihrer Gründungen 
Mazala und Eomana „bis füblich über den Oberlauf des Ha⸗ 
[y8 hinaus“. heißen follte) reichen läßt. So kommt der alte 
Bochart wieder zu Ehren! Wer find nun aber bie den Mojchern 
angefchloffenen Thiras? ine directe Antwort finden wir hier⸗ 
auf weder bei Mafpero, noch bei dem hier erſtmals eine bib- 
liſche Frage ftreifenden Brugſch, wol aber eine indirecte in den 
„Zurfha”, wie der erftere fchreibt, oder „Zurfha”, „Tuirſcha“ 
und „Tuliſcha“, wie der legtere will, den mit Libyern ver- 
bundenen Angreifern Menephtahs II. und Ramfes’ III. auf deu 
ägpptifchen Denkmälern. Maſpero deutet den Namen auf bie 
Tyrſener oder Tyrrhener an der Weſtküſte Sleinafiens, 
Brugfh auf „Kaurer" und „Tauros“. Beide Deutungen 
laſſen fich fprachli trog der Rüdfiht auf by und ayım einer- 
und wm = ara = an anderfelts mit Doym nicht combinirem, 
fondern nur die Maſpero's, weil die Endfilbe an Tauros nur 
griechiſche Bildungsſilbe if. Unter den Enten Japhets übergehen 
beide Autoren die Kinder Gomers ganz und von deu Rindern Ja⸗ 
vans Eliſa; Tharfis aber deutet Mafpero auf die phönicifche 
Kolonie Tarteffus in Spanien, wobei er jedoch dieſem Namen 
mit Kithim d. i. Kittion auf Cypern, da8 Brugſch In den 
„Kitti* der Agpptiichen Monnmente wiederfindet, ben Collectivbe⸗ 
griff „eines fern und an der See gelegenen Landes” beilegt. Die 
Dodanim nehmen wir mit Knobel gegen Dillmanns Rhodus 
für die Darbaner im Nordweſten Kleinaftens. Sie treten als 
„Darbani* oder „Dandani“ in den Kriegsberichten des Ramſes⸗ 
Sejoftris auf, werden aber von Brugſch im Unterfchled ven 
Mafpero fonderbarerweife mit ben Dardanern in Kurdiſtan bei 


Serobot I, 189 zufammengeftellt. Die vier Kinder Hams finden 
48* 


140 Brugſch, Geſchichte Aegyptens unter den Pharaonen. 


bei beiden Autoren alle eingehende Berücfichtigung, wir können aber 
nur die zwei intereffanteften in da8 Auge faſſen: Mizraim mit 
feinen Descendenten und Put. Den eriteren mit wenig Ber 
änderung den Aſſyrern, Berfern, Arabern und Kurden mit den 
Hebräern gemeinfamen Namen leitet Brugfch von dem ägpptifchen, 
übrigens nicht Häufig vorfommenden, Wechfelnamen des Gaues von 
Zanis „Ta mazor“ ab. Diefer foll „das befeftigte Land“ be 
deuten und ift alſo Har und deutlih mit dem hebräifchen Arsy 
identifch, von welchem Knobel und Ebers Mizraim ableiten. 
Bon ben Descendenten Mizraims find die Ludim nah Ma— 
jpero mit-Ebers die „Rutu“ oder „Lutu“, wie die ägyptiſchen 
Autochthonen auf den ägyptischen Monumenten heißen; die Ana: 
nim nah Mafpero und Brugfch mit Ebers bie „Anama“ 
oder „Einwanderer“ vom großen femitifchen Wolle der „Amu“ 
(d. 5. bei femitifcher Etymologie „Voll“, bei ägyptifcher „Hirten“) 
in den Marſchländern am bufolifhen Niların; die Lehabim, die 
Libyer; die Naphtuhim nah Mafpero mit Knobel und 
Ebers „bie Bewohner bes Ptahgebiets“, deſſen Mittelpunkt Mem⸗ 
phis war, nah Brugſch aber die „Na⸗Pa⸗Thuhi“, d. 5. „die 
vom Lande Thuhi“, die weftlichen Nachbarn ber Aegyhpter an der 
Norblüfte des afritanifchen Seftlandes; die Pathrufim, ägyptifch 
entweder nah Mafpero und Brugſch „Pastosres“, „das Süd- 
land“ (von Memphis bis zum erften Katarakt), oder nad) Ebers 
„Pa⸗Hathor“, „die Hathorlandjchaft“ oder die Thebais, bei Na- 
hum No-Amon. Ueber die Kasluchim lafien ung Mafpero 
und Brugfch ohne Auffchluß, wir werden in ihnen eben bis auf 
weiteres mit Ebers nah Knobel und Dillmann bie Ein 
wohner von Kaftotis zwifchen Aegypten und Philiſtäa zu fuchen 
haben. Die Caphthorim will auh Mafpero mit den meiften 
Auslegern dem Zwifchenfag von der Abftammung der Philifter 
gegen die Mafora hier und 1Chron. 1, 12 vorangeftellt wiffen. 
Diefe Verſchiebung wird aber unnöthig, wenn man bie Caphthorim 
“über Kaſiotis in das fpätere Philiftän einwandern läßt. Wer find 
nun die Saphthorim? Auch nah Mafpero noch die Kreter, 
indem er zwar Caphtor mit Cypern etymologifch identificirt, aber 
den Namen für einen infularen Collectionamen von beliebiger Ueber⸗ 











Maſpero, Gefchichte der morgenländ. Bölfer im Altertum. 741 


tragbarkeit erflärt. Wahrfcheinlicher muthet einen freilich die An- 
fiht von Ebers an, ber die Caphthorim auf Grund des Hiero- 
glyphennamens „Kaf, Kaft” und „Seft”zu phöniciſchen Anfieblern 
des nordöftlihen Delta und alfo zu weitlihen Nachbarn ber Cas⸗ 
luhim madt. Denſelben Wohnſitz weift ihnen Dietrich an, der 
ihrem Namen das imaginäre Etymon „Kah-Pet-Hor*, d. i. „Land⸗ 
ftrih der des Hor“ unterfchtebt. Wenden wir uns zu But, fo 
erfennen Mafpero und Brugfc mit fämtlichen Aegyptologen 
gegen Dillmann, welder noch an Knobels Libyern fefthält, in 
ihm die „Punt“ der ägpptifchen Monumente, welche Arabien und 
das Somaliland repräfentiren. Von ben Kindern Sems fcheint 
den Arphachſad audi Mafpero mit Arrapaditis — Albaq zu 
identificiren, für die Erklärung des Namens aber acceptirt er die 
auf das Arabifche gebante Weberfegung Schlözers mit „Chal- 
düergrenze”. Bei Lud Hält er die Kombination mit den Lydiern 
nicht für ficher, jedoch ohne ihr eine andere Plaufibilität zu fub- 
ftitutren. Darf man an die alten, in ber Gefchichte der achtzehnten 
äghptifchen Dynaftie eine Rolle fpielenden Bewohner Paläftina’s 
und Syriens, die „Rutennu“ oder „Rutennu“ der Monumente 
erinnern? Wenn fie auch fchon vor der Einwanderung ber 
Israeliten in Paläftina von ben „Chita“ oder Hethitern vers 
drängt worden fein mögen, ihr Name wird doch noch Tange in der‘ 
biftorifchen Erinnerung gelebt haben. — Unter den entfernteren Des⸗ 
cendenten Sems darf das vielbefprochene Ophir unferer Beach⸗ 
“tung nicht entgehen. Man bat es in Aſien, und zwar in Arabien, 
Perfien, Indien und Java, in Afrika, und zwar auf beffen Oſt⸗ 
feite, ja fogar in Amerika, nämlich in Peru, geſucht; für die 
afrifanifche Küfte ſprechen fi Mafpero und fein Redactor 
Bietfhmann aus. Weber die Städte in der Epijode vom Neid) 
Nimrods liefert und Maſpero nur magere, über das bis jekt 
Bekannte und Erfannte nicht Hinausreichende Notizen: Ninive 
und Calah find allbefannt, Erech macht er zu Warka, feinen 
keilinſchriftlichen Namen fchreibt er „Uruh*, E. Schrader „Ar- 
fu“; Akkad weiß er fo wenig als bdiefer zu recognoßciren; 
Chalneh, keilinſchriftlich ‚„Kalanneh“, combinirt auch er mit 
Nopher⸗Niffer und Rechoboth⸗Ir und Reſen erwähnt er gar 


712 Srugſch, Geſchichte Yeggptens unter den Phnraomen. 


weht. — Die Heimat Abrahams, Ur⸗Chasdim, ift für Ma- 
fpero mit allen Affgriologen Mugheir auf dem rechten Ufer des 
unteren Eupbrat. Eine Localifirung, welche zuerſt Eupolemus 
mit feiner babylonifchen Heimatftadt Abrahams, Kamarine, gegeben 


hat. Der Zufammenhang dieſes Städtenamens mit pe „Mond*, 


den men früber irrtümlich für bie Sdentität Urs mit Warka 
durch deſſen ummögliche Kombination mit rn verwerigen wollte, 
läßt ihn Lediglich als die arabiſch⸗griechiſche Ueberſetzung von Ur 
ericheiuen, da uru im Affpriichen „Mod“ bedeutet. Gegen biefe 
füblihe Ortobeſtimmung hat zuerft Dillmasn und nad ihm 
Nuss! Einfpradge erhoben. Iſt aber die Differenz der Zuſammen⸗ 
ſetzung und der Einfachheit zwifchen dem hebräifchen unb affyrijchen 
Namen eine wirkliche Juftanz gegen die Ydentität von Ur⸗Chaedim 
und Ur? Wird das Stillfegweigen bed - Buche der Urfprünge von 
einer Arphachfadwanderung nad) Babylenien nicht vielleicht, wie 
3. B. Dunder will, durch Arphachſads Sohn, Selah, wenig 
ſtens andeutungsweife gebrochen? Warum jollte ferner ein Hirten» 
zug, der vom unteren Euphrat nad Paläſtina wollte, nicht den 
Weg über den Enphrat hinüber und an beiten Linfem Ufer hinauf 
bis ungefähr zur Furth von Thapſakus und von da nad 
Thadmor („Zur Mede*) und Damaéëkus, oder bis zur Furth 
von Karchemis, db. i. nah Mafpero nidt Circefium, fondern 
Mabug oder Hier-apotis, und von da nach Hamath und Damaskus, 
gewählt haben können, um fo viel als möglich die Wüfte zu ver- 
meiden? Muß fodaın Haran ftatt bes nur eine bis zwei Tag⸗ 
reifen von Thapſakus entfernten Karrhä gerade das armenifche 
Arran oder Aranieh Ewalds fein? Dillmann zieht ja 
das ſelbſt in Zweifel! Wo ift endlich der Beweis dafür, daß Ur: 
Chasdim eine Landſchaft und Leine Stabt war, und daß, wenn 
e8 eine Stadt war, diefe von dem fübbabylonifhen Ur ver: 
Thieden war? Soll doch auch Fein anderer von den Ur Tau 
tenden Ortsnamen auf das Ur Abrahams paſſen! Neueſtens bat 
es nun Halevy in die Gegend von Damaskus verlegen wollen, 
aber doch wol nicht wegen des basmascenifhen Königtume 
Abrahams bei Nilolaus von Damaskus und Yuftin? Diefe 





Mafpero, Geſchichte der miorgenfänd. Völler im Altertum. 148 


Tradition ift wol nicht mehr als der mythifche Reflex der Ber» 
bindung des Erbſohnes Eliefer mit Damaskus durch Wortfpiel 
oder Gloſſe in Gen. 15, 2, welche wenn fie einen Biftorischen 
Gehalt hat, direct gegen einen Connex ber abrahamifdhen Familie 
mit Damaskus fpriht. — Gehen wir mit Abraham über bie 
Grenze des gelobten Landes, fo iſt Mafpero mit der Mittheilung 
von Keilfehrift » und Hieroglyphennamen aus der Geographie 
Paläftina’s fehr fparfam und bedient fich meift der biblifchen. 
Für die erfteren find wir eben au &. Schrader, für die leßteren 
an Brugfch gewieſen, der und vom, Hermon bis zum Bache Acgyp- 
tens mit einer Reihe geographifcher Hieroglypheunamen verforgt, 
deren Fdentification mit biblijchen freilich mehr als eines Frage⸗ 
zeichen® bedarf. Heben wir die wichtigften aus, fo begegnen uns 
im oberften Norden rechts und links vom „Jardanu“ oder Jor— 
dan „Luis“ d. i. Laiſch, „Hazor“ d. i. Hazor, „Akſep“ d. i. 
Achſaph; weiter füdlih „Maroma“ und „Kinnarut“, die alten 
Täuferinnen ber Seen Meromund Öenezareth, dann „Dapur im 
Lande der Amoriter“, d. i. die Fefte auf dem Berg Thabor, zu 
der vom Welten her der Carmel vielleicht als „Keriman“, wie 
Brugſch fchreibt, oder als „Karmana“, wie Mafpero will, herüber: 
ſieht; tiefer, ſüdweſtlich liegt das jchlachtenberühmte Megiddo ale 
„Maletha“ oder „Makethu“, um vieles füdlicher das alte Gibeon 
als „Debeana”; und dann Jeruſalem? Nein, Jeruſalem findet 
fich nirgends! Ein „Schalama“ kommt wol vor, allein es ſoll 
Salem oder Saleim füblih von Schthopolis fein. Doc, wir 
eilen der Grenze zu an „Alan“ d. i. Eglon und „Gazatu“ d. i. 
das philiftäifche Gaza vorüber nah „Harkaro“ oder „Harinkola“ 
oder „Abſakabu“, drei angebliche Namen für Rhinoforura — 
Jenſeits der Grenze intereffiren uns vor allen Dingen die Locali- 
täten der Geſchichte Joſephs und des Auszugs aus Aegyp— 
ten. Zu den erfteren gehört mit ihrem Obelisfen bei dem Dorf 
Matarieh als ihrem einzigen noch fichtbaren Dentzeichen bie 
Heimatftabt feiner ägyptifchen Gattin, das alte „Anu“, On oder 
Heliopolis, um einen ganzen Breitegrad nördlicher gelegen, als 
der nachmalige Wohnplag feines Vaters Jakob zwiichen dem ſe⸗ 
bennytifchen Nilarm und der Wüfte; ferner das Land Goſen, hierogly- 


141 Brugſch, Geſchichte Aegyptens unter den Pharaonen. 


phifch „Kefem“, welchem On von den Septuaginta und der fop- 
tischen Bibelüberfegung einverleibt wird. Zu den letteren gehören 
bie Arbeits- und Lagerftationen der Israeliten bis zum 
Schilfmeer. Die einen find die are miskenoth, die „Schak- 
häuſer“ nach Luther oder „Vorratheftädte* nach der Tandläufigen 
interpretation, welde jedoh Brugfh nah dem Vorgang ©. 
Birds mit Nüdfiht auf das ägyptifhe mesket, meskeneth, 
„zempel, Heiligtum“, in „Zempeljtäbte“ verwandeln möchte, Pi- 
thbom und Ramſes. Das erftere hieß äghptiſch „Pistum“, „die 
Stadt des [Sonnengottes] Tum“, und lag nah Brugſch im Nomos 
Sethroites, nah Ebers aber fühöftlih von Bubaſtis auf der 
Trümmerftätte Tel e8-Soliman, nad der gewöhnlichen Meinung 
jeboh auf der von Telsel-Kebir. Das Tettere hieß äguptifh „Bi: 
ramſes“, „die Stadt des Ramſes“, weil fie Ramfes IL. aus ihren 
Ruinen wieder aufgebaut hatte, und war nah Brugſch, Ebers 
und Mafpero mit Zoan, ägyptiſch „Ze' an“ und Zo’an, grie- 
chiſch Tanis, identiſch. Die anderen bilden gegenwärtig eine 
Streitfrage zwifhen Brugfch und Ebers. Brugſch bat näm- 
(ih geftügt auf den Papyrusbericht eines Beamten in Ramſes aus 
dem mofaifchen Zeitalter, welcher auf der Verfolgung zweier ent- 
laufenen Sklaven feine erjte Tagreife bis Suchoth machte, von 
da in zwei Tagen nah Chetam fam, wo er erfuhr, dab bie 
Flüchtlinge fchon die „Schanzmaner, nördlih von Migdol des 
Königs Seti⸗Menephtha“ überftiegen hätten, für den Auszug der 
Yeraeliten die Marfchroute von Ramſes über Daphnä zu ber 
ägpptifchen Heerſtraße nach Paläjtina zwifchen dem Sirbonisfee 
und Mittelmeer bis zu dem Berg Kaſios oder Baal-Zephon 
und über deſſen Ruͤcken durch den See gegen Süden zuerft auf 
der internationalen Drientaliftenverfammlung zu London 1874 vor: 
gefchlagen und in feinem neueften Werke beibehalten, wogegen 
Ebers die fraglichen Ortslagen mehr gegen Süden verfdiebt, 
fo daß er Suchoth in dem Landftrih zwifchen Birket-Balah 
und Timſah ſucht und den Zug hinter Suchoth fon vor Etham, 
das er dftlih vom Südende des Birket-Balah an die Grenzmauer 
verlegt, gegen Süden ablenken und dann weftlich an den Bitter: 
jeen vorüber dur den Golf von Suez gehen läßt, wobei er 








Mafpero, Geſchichte der morgenländ. Völker im Altertum. 745 


Pihahiroth, ftatt e8 mit Brugfch für den „Eingang zu ben 
Abgründen“ oder „Barathra” des Sirbonisfer’8 zu erflären, her- 
kömmlichermaßen mit dem Kaftell Adſchrud identifichrt, Baal» 
Zephon auf dem Atälagebirge und Migdol ftatt bei Be- 
Iufiumam Südendeder Bitterfeen fucht, — Eonjecturen, für 
die er freilich den Beweis fchuldig bleibt und den Vorwurf des 
Widerfpruchs mit fich felbft fich gefallen Laffen muß, daß er 
einerſeits ausdrüdlich das biblifche Namfes mit Zoan-Tanie-San 
identificire und anderfeits bei feiner Wuszugsrichtung doch 
deſſen Verſchiedenheit von Zoan und Einerleiheit mit dem 
viel füdlicheren Ramſes⸗Maſchuta vorausfege, wozu ihn freis 
Lich eigentlich fchon feine Localifirung von Pithom zwingt. Jeden 
Falls hat aber auch die Brugſch'ſche Zugrichtung ſchwere Bedenken 
gegen fi, welche Riehm im Artikel , Hahiroth“ in feinem „Hand⸗ 
wörterbuch des biblischen Altertums für gebildete Leſer“ aufgezeigt 
hat. Die ſchwerſten find die biblifche Einfchränkung des Namens 
„Schilfmeer“ auf den älanitifchen Meerbufen und den Golf von 
Suez, die Wendung des Zuges nicht Hinter, fondern vor Etham, 
alſo nicht erft am Berg Kaſios, und die Unerflärbarteit ber 
Meinung des Pharao, die Israeliten hätten fich im Lande verirrt 
und feien in der Wüfte eingefchloffen, bei ihrem Verbleiben auf der 
Heerftraße bis an die Landesgrenze. Einwendungen, denen ber Re⸗ 
ferent noch zwei Fragen beifügen möchte. Die eine lautet mit 
Rüdficht auf den Mebergang bei Daphnä über den Waſſerarm zwifchen 
dem Menzahleh-See und dem Birket-Balah: ift denn das Volt 
Israel zweimal durch das Waffer gegangen? Die andere mit 
Ruckſicht auf die ägyptifchen Feftungen zur Deckung der Heerftraße: 
warum fchweigt die Bibel von den unvermeidlichen Zufammenftößen 
mit deren Befagungen, wenn die Ssraeliten auf der gewöhnlichen 
Heerftraße vorüberzogen ? 

Gehen wir von der Geographie zu der Gefchichte über, fo 
beginnen nah Mafpero die Berührungspunlte des A. T.'s mit 
den profanen Traditionen ſchon in dem Schöpfungsberidt. 
Diefer foll nämlich nur der Abklatſch der „turanifchen“ Priefter- 
fage von der Ausgeburt aller göttlichen und irdifchen Rebensgeftalten 
aus dem Urwaſſer „MummusTiamat“ (zu deutſch „Meer-" ober 


146 Brugfe, Geſchichte Hegyptens unter den Pharaouen 


„Abgrundmutter“) unter Weglaffung ber Borgänge und Kämpfe 
im &ötterleben jein, deren legte Schatten übrigens Bietfhmann 
noch im Behemoth und Keviathau des Buches Hiob uud des Thal⸗ 
mud erfennen will. Dasfelbe fol bei der Sintflut und Sprach— 
verwirrung der Fall fein. Hier findet der Referent zu allererft 
das Prädicat „turaniſch“ der chaldäiſchen Urfagen unter dem Ni: 
vean der neneften Forſchungsſtufe, da dasfelbe nad) dem competenten 
Urtheil A. v. Gutſchmids miwdeftene den Spott Mephiſto's anf 
den prächtigen Erfag des Begriffs duch das Wort eremplificirt 
und nad den Unterfuchungen Sachau's und Halevy's fogar in 
das Gegentheil feiner Bedeutung bei den Affgriologen umfchlägt, 
indem e8 ftatt einer uralifch-altaifchen vielmehr eine ſemitiſche 
Volks⸗ und Sprachqualität anzuzeigen feheint, da das Turha“ bes 
Zendaveſta wahrſcheinlich Syrien bedeutet. Sodann vermag er 
ein Recht der Verwerthung dieſer Sagen zu weit reichenden Schlüſſen 
in fo lange nicht anzuerkennen, al® die Lefung und Deutung der fie 
enthaktenden Keilfchriftdocumente noch fo unficher ift, wie heute. 
Aber auh im Fall der unmiderfprechlichen Zuperläßigleit ihrer 
interpretation könnte er um der Details willen in der gegenfeitigen 
Webereinftimmung und Abweichung die Teilinfhriftlide Tradition 
nicht ald Quelle und bie biblifche nicht al8 deren Abwaſſer 
gelten Laffen, fondern beide nur als Parallelen von ungleicher Rein 
heit. — Die erfte biblifhe Perfon, weldhe bei Mafpero das 
geſchichtliche Intereſſe in Anſpruch nimmt, it Nimrod. Er 
macht ihn zum Doppelgänger Izdubars, einer Heraklesgeſtalt 
ber chaldäifchen Urfage, bei deren Namen Pietſchmann vorſichtig 
bie Unficherheit der Lefung vormerkt. Diefe Smith’sche Fdenti- 
fication ift von Oppert in den „Göttinger gelehrten Anzeigen“ 
1876, ©. 875 ff. mit beachtensmerthen Einwendungen angegriffen 
worden. Ausgehend von der Vielſeitigkeit IPubars, die dem 
FJäger und Städtebauer Nimrod lediglich abgeht, durch welchen 
Mangel Letzterer wefentlich ale eine hiftorifche und nicht mytho⸗ 
logifhe Figur charakterifirt wird, verwirft Oppert zunächſt 
das Smith'ſche tertium comparationis des Zuges Nimrods nad) 
Aſſur und feiner dortigen Gründung Ninive's, indem er in Gen. 
10, 11 Aſſur als Subjectsnominativmit den Sceptuaginte, 














Maſpero, Geſchichte der morgeländ. Bälle: im Altertum. 747 


Vulgata, Luther, Perizonius, Michgelis, Schumann 
und dv. Bohlen gegen die es als Objectsaccuſativ nehmenden 
Onkelos, Bodhart, Elericus, Rojenmüller, Tuch und 
E. Schrader auffaßt. Soedann premirt er bie chronologifche 
Differenz zwifchen dem Auftreten Nimrods nad, und Izdnbars, 
der keineswegs als ein Nachlomme des „Adrahaſis“ oder Xi- 
ſuthros bei Beroſus erfeine, vor der Sintflut. Endlich glaubt 
er den erfteren, geftügt auf Mid. 5, 5 in eine Berjonification 
eines alten erobernden Sügervolles im unteren Euphratgebiet ein» 
ſchließlich Elams und den feteren in Alorus, ben erften Menfchen 
bei Berofus, verwandeln zu dürfen. Ohne Oppert in diefer Cha- 
rafterifirnng Nimrods beizuftimmen, bält es der Referent aber 
gleihwol für bedenklich, daß Mafpero denfelben trog feiner Ber- 
gleihung mit Izdubar doch für eine Hiftorifege, freilich ganz 
alfein aus ber allgemeinen Vergeſſenheit feiner Umgebung gerettete 
Figur anſieht. Das gänzlihe Fehlen des Namens in der alt- 
aſſyriſchen Sage und Geſchichte erweckt nämlich in Verbindung mit 
der Merkwürdigleit, daß der Name „Nimrod“ erft um 1000 v. Ehr. 
in einer Hieroglypheninfchrift bei Brugſch als der des afiy- 
riſchen Großkönigs und Vaters des Gründers der XXI. entſchie⸗ 
den aſſyriſche Namen enthaltenden Dynaſtie „Naromath“ 
auftaucht, einen böjen Argwohn gegen das Alter und damit gegen 
die Gefchichtlichkeit des bibliſchen Nimrod der Urzeit. — Abra⸗ 
ham fieht er ebeufo für den wirklichen Führer desjenigen heile 
der unter dem ſagenhaften Thara aus dem füdlichen Chaldän fluß- 
aufwärts nah Haran gezogenen Semitenftämme an, weldher über 
den Euphrat gieng, Syrien durchzog und bei Hebron ſich feſtſetzte. 
Die Gefchichtlichleit der Epifode Gen. 14 läßt er durd die keil⸗ 
ihriftlihen Kuduriden in Elam bezeugt fein. — Bei Jakob⸗ 
Israel reihen fih endlich Mafpero und Brugfch die Hänte. 
Letzterer erkennt fogar in deffen Gefhichte den Punkt, wo die-ägyp- 
tiſchen Monumente zum erſten Male biblische Perfonen und Bacten 
hronologifch firiren. Auf einem in Tanis gefundenen Dent- 
ftein aus der Zeit des Pharao Ramjes LI. ift nämlich ale Datum 
der Abfaffung der Inſchrift das Jahr 400 des Hykſoskönigs Nub 
angegeben. Nun fegt Brugſch, welcher nach dem Vorgang des 


748 Brugſch, Gefchichte Aegyptens unter deu Pharaonen. 


Schweden Lieblein in der chronologifchen Verwerthung überlieferter 
Gefchlechterreihen die Stammtafel eines ägyptiſchen Hofbaumeifters 
auf den Felswänden von Hammamat, Namens „Ehnumsabsra “, 
der nah ©. 37 im 27., nad ©. 665 aber im 28. und 29. Regie: 
rungsjahr des Darius Hyftaspis, alfo in den Jahren 493 bis 
490 vd. Chr., gelebt hat, zum Edftein feiner Königsrechnung macht 
und nun bie Regierungszeiten der Pharaonen der Tafel von Abydos 
nach der Generationenrechnung Herodots von 490 v. Chr. an rück⸗ 
wärts je zu 33 fahren berechnet, als wahrfcheinlichite mittlere 
Durchſchnittszahl für die Regierung Ramſes' II. 1350 v. Chr. an 
und bringt fo die Herrfchaft Nubs, und zwar wahrſcheinlich deren 
Anfang, auf 1350 +400 = 1750 v. Ehr., — eine Jahrszahl, 
welche zum Datum der Einwanderung Jakobs in’ Aegypten und 
der dortigen Amtsthätigleit Yofephs wird, wenn man mit 
Rückſicht auf die heutzutage faft allgemeine Annahme de Aus: 
zugs aus Aegypten nad dem Tode Ramfes’ II. unter feinem 
Nachfolger Menephtha II. von ungefähr 1300 v. Chr. nad 
2Mof. 12, 40 um 430 Jahre zurückrechnet. Beifall vermag 
jedoch der Referent, der die Sache der biblifhen Zahlen fo lange 
ein Lauth und Oppert ebenfalls auf Grund der Denkmäler an 
1490 und 1493 v. Chr. für den Auszug fefthalten, nicht 
verloren geben kann, diefem Calcul keinen zu zollen, da er nur 
den Schein monumentaler Objectivität bat, in der That aber auf 
dem immerhin fubjectiven, der gefchichtlihen Sicherheit er- 
mangelnden Anja ber Regierungszeit Ramſes' II!) ruht und 
zu der Verwerfung des von Oppert anerfannten Datums des Tem: 
pelbaus in 1Kön. 6, 1 zwingt, das doch an und für ſich ebenjo 
viel Glauben verdient, als die 430 Jahre des Aufenthalts der Is⸗ 
raeliten in Aegypten. Mag e8 fich übrigens mit der Zeitrechnungs: 
frage bier verhalten, wie es will, barin find jeden Falls Brugſch 


1) Brugſch bemerkt ſelbſt, „daß die hundertjährige Dauer von drei auf- 
einander folgenden Regierungen vielmehr unter al® über ber Wahrheit 
fteht”, was ganz mit dem Umftande übereinftimmt, daß fein Anſat des 
Begins dev XVII. Dynaftie auf 1558 v. Chr. um ducchichnittlich 100 
Jahre fpäter ift, als der der neueren Bearbeiter Manetho's, Bunfen, 
Böckh und Lepfiue. 





Mafpero, Geichichte der morgenländ. Böller im Altertum. 149 


und Mafpero mit Recht einig, dag Jakob und Joſeph in die 
Hyffoszeit und an einen Hykſoshof gehören. Was die Einzelheiten 
des Schickſals Joſephs in Aegypten betrifft, jo bringt Brugſch 
eine von ihm und Ebers auch ſchon früher benügte Parallele zu 
deffen Scene mit dem Weibe Potiphars und eine zweite neue zu 
den fieben Hungerjahren unter defjen Bezirat aus einer Grab- 
infchrift von el⸗Kab bei, in welcher ein gewiſſer Baba, ein angeb- 
licher Zeitgenoffe des thebanifchen Könige RasSefenen Taa I. 
unmittelbar vor dem Beginne der XVII. Dynaſtie, feiner Ge- 
treidefpenden während einer vieljährigen Theurung fich rühmt. 
Doch beruht die von Brugſch diefem Baba angewiefene Zeit- 
ftellung Lediglich nur auf den indirecten chronologifchen Anzeichen 
des Charakters der Malerei in dem Grab, der möglichen Iden⸗ 

tität diefes Baba mit dem gleichnamigen Inhaber eines benach⸗ 
barten Grabes aus der angegebenen Zeit und des im ganzen frei« 
lich feltenen, aber eben doc; durch ein Monument der XII. Dynaftie 
bezeugten Vorkommens jahrelanger Hungersnoth, fo daß man 
fhwerlih mit Brugſch deifen Gleichzeitigkeit mit Joſeph wird 
annehmen dürfen. Intereſſant ift die Erflärung der in der Ge⸗ 
ſchichte Joſephs fi findenden ägyptifchen Wörter. Die Aus- 
rufung abrek Heißt „beuget die Kniee“; die Würde eines Zaph⸗ 
natpaneac ift die des „Landpflegers des Bezirks von der Stätte 
des Lebens“ d. h. des Hauptorts des jethroitifchen Nomos, Asnat 
ift der ägyptiſche Frauenname „Sant“ oder „Snat“; der Priefter 
Potiphern heißt das „Geſchenk der Sonne“, nah Ebers „hin⸗ 
gegeben dem Phra“ d. i. dem Sonnengott; der anders gefchriebene 
und deswegen von Brugſch gegen Ebers u. a. von diefem 
unterfchiedene Name des Kämmerers Potiphar „das Gefchent 
des Erjchienenen“. — Die Bedrüdung der Jsraeliten in Aegypten 
glaubte man jeit Chabas dur die „Aperiu, welde Steine zu 
der großen Feftung Rameſſu's zu fchleppen haben“, in einem Pa⸗ 
pyrusbericht aus der Zeit Ramſes' II. iluftrirt zu jehen. Brugſch 
leugnet aber deren Verwandtihaft mit den Hebräern auf das 
entfchiedenfte und verwandelt fie in die midianitifhen Beduinen in 
der Wüfte vom Golf von Suez bis zum Nil füdlih von Helio⸗ 
polis, — eine Auffafjung, der jedoh Ebers im leuten Jahr⸗ 


150 Brugid, Geſchichte Aegyptens unter den Pharaoneı. 


gang der „Zeitichrift der Deutfchen Morgenländiſchen Geſelſſchaft 

‚zu Gunften von Ehabas mit Gründen entgegentreten zu wollen 
erflärt. — Ueber ben Pharao des Auszugs find Brugſch und 
Mafpero uneins. Der erftere fegt den Auszug, wie ſchon 
oben bemerkt, in die Zeit Menepbtha’s IL. von 1300 bis 1266 
v. Ehr.; der letztere findet dagegen bie Zuſtände Acpyptens unter 
diefem König noch zu confelidirt, als dag die Empörung und Flucht 
ber Israeliten unter ihm hätte gelingen tännen, und verlegt des⸗ 
wegen den Auszug in die unrubigen Jahre vor oder nach dem 
Tode feines Sohnes und Nachfolger Seti’s II., der ebenfalls 
nebenbei den Namen Menephtha führte und nah Brugſch von 
1266 bis 1233 regierte. Moſe felbft weiß feiner der beiden 
Gelehrten in einer äghptiſchen Perfönlichleit zu recognosciren, wie 
das feiner Zeit Lauth in einem gewiffen „Mefu, dem Hörer bes 
Phtha“, Freilich unter allfeitigem Widerfpruch verſucht Hat. Doch 
glanbt Brugſch, fein Andenken fei in dem Namen einer hundert 
Jahre nad) dem Tode Ramfes’ II. erwähnten Dextlichkeit in Mittel⸗ 
äghpten „een: Mofche“, „die Inſel oder das Ufer des Moſche“, 
erhalten gewefen. — Für die vierzig Jahre In der Wäüſte 
ift Mafpero’s Rechtfertigung eines Iangjährigen Aufenthalts der 
Israeliten dafelbft mit ber Hinweiſung auf die großen Sriege 
Ramfes’ III, welche das ſüdliche Syrien zu ihrem Schauplaß Hatten 
und dem Führer der Israeliten ein geduldiges Ausharren in ber 
Wuüſte zu der Eingewöhnung des Volles in die ftaatlichen und 
friegerifchen Bebingungen der Selbftündigkeit räthlich machen mußten, 
gegen den zum Dogma gewordenen Zweifel an ihrer Geſchichtlich⸗ 
feit von Werth. — Einen neuen Conflict mit den Aegyptern führte 
der Einzug der Israeliten in Kanaan nidt herbei, da die 
Rameſſiden nach dem Urthell Mafpero’s fi mit dem Beſitz et- 
licher Feſtungen an der großen Keerftraße nach Syrien begnägten 
und fih um den Herrſchaftswechſel im übrigen Lande nicht be- 
fümmerten. So hörte denn die politifche Berührung mit der ſud⸗ 
weftlichen Weltmadt bis in die Zeit Salomo’6 auf. Aber 
auch mit dev Öftlichen ergab ſich Jahrhunderte lang feine, da bie 
aſſyriſchen Eroberer noch allzuviel und lang im Oſten und Norden 
befchäftigt waren, als daB fie fo weit über der Eupbrat Hütten 








Matvers, Gefchichte der morgenländ. Völfer im Altertum. 751 


herkibergreifen können. Erft in der Geſchichte Samaria's machen 
fih deren Eingriffe bemerfih. Was nun die Berührung Salo- 
mo's mit Aegypten betrifft, fo befteht fie bekanntlich in deſſen 
Heirat mit einer ägyptifchen Königstochter. Unſere beiden His 
ftorifer geben über deren Vater Leine Auskunft. Gr kann aber 
kaum ein anderer gewefen ſein, als der letzte Pharao der XXI. 
temitifchen Dynaftte, Bfufennes II. bei Manetho, welchen Brugſch 
die Jahte 1000 bis 967 v. Chr. anmeift, während Maſpero 
den Tod Salomo’s auf 929, alfo feinen Negierungsantrit auf 
929-440 = 969 v. Chr. feßt. Auf den chronologifhen Cardinal⸗ 
punft des Negierungsantritts Salomo's wirft jedoch die Möglich: 
fett der annähernden Beftimmung des Datums des paläftinifchen 
Kriegszugs Siſals, „Schaſchanq I.” nah Brugſch und „She 
fhong L“ bei Mafpero, im 5. Yahre Rehabeams durch zwei 
ägyptifhe Steinurfunden ein Licht, das uns die eigene Entfcheidung 
über denfelben erlaubt. Die eine ift die oben erwähnte Stamm: 
tafel des Hofbanmeiftere „Chnum⸗ab⸗ra“ auf den Felowänden von 
Hammamat, welcher din Hofbanmeifter „Horsem-faf“ als feinen 
14. Borgänger aufzählt. Die andere ift bie Gedächtnisinſchrift 
diefes „Hor⸗em⸗ſaf“ über den ihm im 21. Jahre „Schafchang I.“ 
vor diefem zugelommenen Befehl zum Bau der Nuhmeshalle der 
Bubaftiden am Amonstempel von Karnak in den Steinbrüchen von 
Silfilis. Rechnet man nun mit Herodot 334 Jahre auf eine 
Generation, fo bat „Hor⸗em⸗ſaf“ feine Laufbahn ſputeſtens 
(135%X334) + 490 = 924 v. Chr. gefchloffen, die Ausführung des 
Hallenbaues Hatte alfo fpäteftens 925, der in einer Wandinfchrift 
diefer Halle befchriebene paläftinifche Kriegszug Siſaks aber minde- 
ftend 1 Jahr früher, alfo 926, mithin der Tod Salomo's fpäteftens 
926-+5==931 und fein Regierungsantritt 931 -+-40== 9711. Chr. 
ftatt. Nimmt man an der runden Zahl 40 für die Regierungs⸗ 
zeit Salomo’8 Anſtoß, jo beweift dafür das 41 jährige Alter Re⸗ 
habeams bei feiner Thronbeſteigung, daß fein Water eher Tänger 
als kürzer regiert hat. Genau dasfelbe Antrittspatum Salomo’s 
bringt auf den Grund biblifcher, freilich durch die fatale Cor⸗ 
rectur der 480 Yahre in 1Kön. 6, 1 in 580 verbäctiger Zahlen: 
combination Röderath heraus, ein ganz ähnliches Movers und 


152 Brugſch, Geſchichte Aegyptens unter den Pharaonen. 


A. v. Sutfhmid, wenn fie auf den Grund phöniciſcher 
Epocdenzahlen ben Anfang des Tempelbaus auf 969 oder 967 
v. Chr. ſetzten. Hiftorifch richtig kann jedoch diefes Datum 
nicht fein, da einerjeitE 971 das fpätefte mögliche Antrittsdatum 
Salomo’8 nach dem obigen ägyptischen Ealcul iſt, und anderſeits 
das Generationsalter Herodots „eher unter, als über ber Wahr: 
heit fteht“, um eine oben angeführte Bemerkung Brugſch' zu 
wiederholen. Man wird demnach mit dem NRegierungsantritt Sa 
lomo's bis zum Jahr 1000 v. Ehr. in runder Zahl hinaufzugehen 
haben. In feindliche Berührung mit den ſüdweſtlichen Nachbarn 
fam zuerft vielleiht Salomo’8 Enkel Aſſa durch den Einfall Se⸗ 
rahs des Kufchiten in 2Chron. 14, 9—13. Brugfch erwähnt 
ihn zwar in dem vorliegenden Werke gar nicht, erflärt ihm aber 
nach einer Anmerkung bei Mafpero in feiner neuen Ausgabe der 
Histoire d’Egypte, ®b. I, ©. 228, für das Unternehmen eines, 
freifih viel jpäteren Aethiopenktönigs Aterk⸗Amen, welche Ar 
fiht Ir. Lenormant teilt. Mafpero dagegen verweilt den 
felben in da8 Gebiet der Sage, worin ihm Movers, hier übrigen? 
allzu fühn, mit ber Metamorphofe Serahs in Memnon-Abonis 
voransgegangen iſt. Unter den äthiopifchen Eindringlingen jener 
Zeit in Aegypten, welche Brugich aufzählt, findet fich keiner, dejjen 
Narhe fi mit Serah combiniren Liege, und Manetho’s Oſor— 
hon, der Sohn Siſaks, mit dem man Serah von Des Vignoles 
bis auf Unger und Ebers identiflciet, war ein Semite um 
fein Kuſchite. Mit Zuverläßigkeit laſſen fich dagegen So und 
Thirhaka in den kuſchitiſchen Herrſchern der XXV. Dynaflit 
Sabako, hieroglyphiſch „Schabak“, keilinſchriftlich „Shabe“), 
und Tearkon oder Tarakon, bierogipphifch „Zaharaga“ oder 


1) Der Schlußconfonant k in der ägyptiichen Namensform ift nad Oppert 
der Ausdrud eines der Geezſprache eigentiimlichen, den anderen ſemitiſchen 
Sprachen fremden Kebllautes, den die aſſyriſche Form mit einem dem 
Ain ähnlichen Zeichen wiedergegeben, die bebräifche aber einfach abgeſtoßen 
hat. Nach Brugſch ift das fchließende k der nachgefetste Artikel im der 
Sprache der nubiſchen Barabra, fo daß der Name „der Kater“ bedeuttl. 
Sei dem, wie ihm wolle, jeden Falls ift So mit Brugſch und Maſpero 
ale „Seve“ zu vocalifiren, was ſchon Winer vorgefchlagen hat. 














Mafpero, Gefchichte der morgenländ. Bölfer im Altertum. 158 


„Taharqa“, keilinſchriftlich ‚ Tarquu“ oder „Tarqu“, recognosciren. 
In Conflict bringen dieſe beiden die aͤgyptiſche Chronologie mit der 
bibliſchen nicht, da wir nur über ihre ägyptiſche, nicht aber über 
ihre äthiopiſche Regierungszeit Zahlenangaben beſitzen. Es iſt 
deswegen für die Chronologie Hiskia's gleichgültig, ob man die 
ägyptiſche Regierung Thirhaka's mit Brugſch und Maſpero 
auf den Grund einer Apisgrabinſchrift, welche den Geburtstag des 
betreffenden Apis in das 26. Regierungsjahr Thirhaka's, ſeinen 
Todestag in das 20. Regierungsjahr Pſametichs J. und ſeine ganze 
Lebensdauer auf 21 Jahre ſetzt, auf 693 oder 692 bis 666 v. Chr. 
berechnet oder nicht, wenn man nur mit M.v. Niebuhr, Duncker, 
und Mafpero feinen Zug gegen Sanberib in feine worägyptifche 
äthiopifche Regierungszeit verlegt. Ya die Gefamtregie- 
rungszeit Thirhaka's kommt fogar in fhöne Harmonie mit der 
Bibel, wenn es ſich in der Angabe Röckeraths nicht um einen 
Irrtum oder einen Drudfehler Handelt, daß die Apisgrabinfchrift 
Nr. 2035 im Louvre das 46. Jahr diefes Königs erwähne. Sekt 
man nämlidh mit Brugſch und Mafpero das erfte Regierungs⸗ 
jahr Pſammetichs auf 666 oder mit Herodot auf 670 v. Ehr., fo 
fommt das erjte Fahr Thirhaka's in Aethiopien auf 66646 
— 712, oder 670X46 = 716 v. Chr. Die letztere Zahl aber 
reicht über das 14. Negierungsjahr Hiskia's nah Petavb, Ufcher 
und Scaliger um 3, nah Des Vignoles um 7 Yahre hinaus. 
Rechnen wir nun no bis zu Sabako um bie 12 ober 14 Re 
gierungsjahre feined Sohnes und Nachfolgers Sevehus bei Ma⸗ 
netho, alſo bis zu 724, beziehungsweife 726, oder 728, beziehungs- 
weife 730 v. Chr. zurüd, fo haben wir feine biblifche Gleichzeitig. 
feit mit dem ihn gegen Salmanafjar zu Hülfe rufenden Hofea. Bon 
ben Königen der XXVI. Dynaſtie verflicht die Bibel den Pharao 
Necho, Nechao II. bei Manetho, „Neku“ oder „Nelo* bei Brugfch 
und Mafpero, als Sieger von Megiddo 608 und als Befiegten 
von Karchemis 605 dv. Chr. nah Mafpero, und den Pharao 
Hophra, Apries bei Herodot, Uaphris bei Manetho, Wahabra 
oder Uhabra bei Brugſch und Mafpero in den Todeskampf 
des unglüclichen Juda, beide ohne Wiberfpruch gegen die monu⸗ 
mentale Chronologie, feitdem durch Apisgrabinfchriften erwieſen Ift, 
Theol. Etnb. Yahrg. 1878. 49 


154 Brugſch, Geſchichte Aegyptens unter ben Pharaonen, 


dag Herodat mit feinen 16 Regierungsjahren Nacho's gegen die 
Manetho's Recht Hat. 

Wenden wir uns von Welten nad) Dften und geben wir 
Berührungen des getheilten Reiches Israel mit Aſſyrien nad, f 
jehen wir hier die biblifche Chronologie durch die Keilfehriftberichte 
weit bedenklicher compremittirt, als durch die Hieroglyphen, wenn 
wir nämlich unfere Vernunft gefangen nehmen unter ben Glauben 
an die Unfehlbarkeit der chronologifchen Projection eines Keilfchrift- 
forjchers, der Mafpero fich unbedingt unterworfen bat. So vie 
aber auch die deutſche Wiflenfchaft Urfache zum Stolz auf biefe 
Huldigung des Franzoſen vor dem deutjchen Meifter Eberhard 


Schrader hat, fo darf dies doch feinen Grund zur Zurüdhaltung | 





von Bedenken gegen deſſen Correctur ber biblifchen Gefchichte und 
Zeitrechnung des neunten und achten Jahrhunderts nah Maßgabe 
feiner Deutung und Verwerthung ber afiprifchen Keilfchriften ab: 
geben. Zunächſt follte nun aus dem affyrifchen Contact Fsraels die 
Bundesgenoffenfchaft Ahabs mit Benhadad (trog des keilfchriftlichen, 


neuerdings in „Rammanidri“ corrigirten „Binidri“, nit „Ben- 
hadar“, wie Mafpero fchreibt, da A. v. Gutſchmid und 
Ed. Meyer die Exiftenz eines Gottes Hadad bewieſen und W. Graf 
von Baubdiffin feine Zweifel an ihm zurüdigenommen haben) gegen 
Salmanaſſar IL trog Schraders Appellation an den Friedens⸗ 
bund zu Aphek nah Wellbaufens Darlegung ihrer geſchicht⸗ 
lichen Unwahrfcheintichkeit verſchwinden und Opperts ud Schra— 
ders „Ahabu Sirlai“ nah U. v. Gutſchmids Nachweis ber 
Unzuverläßigleit diefer Leſung niemand mehr für „Abab von 8: 
rael“ imponiren. Ebenſo wenig aber erlaubt bie bibliſche Chrono: 
logie, ihn mit Wellhaufens verwegener Abbreviatur in einen 
„Joram ben Abab“ umzudeuten. Auch in Jorams Nachfolger 
Jehu vermag der Weferent den Adrefjaten der Quittung Sals 
manaffar’8 II. für den „Tribut Jahua's des Sohnes Humri’s“ 
“mit dem zufett genannten Gelehrten nicht zu ertennen, weil er 
zwifcgen den zweihöderigen Kameelen des Landes Kirzana und Musri 
aufgeführt if. Zu den von Wellhaufen und U. vd. Gut— 
Schmid abgethanen Identlficationen keilinſchriftlicher Königsnamen 
mit bibliſchen gehört weiter die des „Azriyahu“ oder „Acnriyabu“ 


Mafpero, Gefchichte der morgenfänd. Völker im Altertum. 755 


mit Afarja-Ufia von Juda. Man muß wahrhaftig mit Ma» 
[pero von der Unver meidlichkeit diefer auf vier verftümmelten 
Inſchriften beruhenden Ydentification überzeugt fein, um es glaub» 
lich zu finden, daß einem fyrifchen Dynaftenbund gegen „Tuklat⸗ 
babalafar“ II. jelbft Perjonen beitreten, welche dem Schauplak 
der Begebenheiten fo fern ftanden, wie Azariah von Juda. Schwerer 
fällt die Tributzahlung eines „Minihimmi Samirinai” an Tuklat⸗ 
habalaſar IL in das Gewicht, wenn der erftere einer und derfelbe 
mit Menahem von Israel ift, da fie zu der vielbeliebten Ver⸗ 
ſchmelzung Phuls und Tiglath-Pilefers in Eine Perſon geführt bat. 
Diefe Unification ftebt jeboch auf ſchwachen Füßen, nachdem 9. v. 
Gutſchmid aus der aſſyriſchen Verwaltungstifte fcharffinnig des 
ducirt bat, daß Tiglath- Pilefer außer den Kriegsziigen nad) Phi- 
fiftäa und Damaskus, welche mit den aus den Zeiten der Könige 
Pekah und Ahas in 2 Kön. 15, 29 und 16, 7—9 erzählten zu- 
fammenfallen, keinen weiteren nad Samaria unternommen habe, 
da die Züge nah Arpad bei der viel größeren Entfernung biefer 
Stadt von Samaria ald von Ninive unmöglih mit Schrader 
als Züge gegen Samaria aufgefaßt werden könnten. Gemonnen 
ift übrigens mit A. v. Gutfhmids Aufrechterhaltung der Selb- 
ſtändigkeit Phuls, den er in dem Porus bes ptofemäifchen Kanons 
wieberfindet und auf Grund der von ihm gemeinfhaftlich und 
nicht fſueceſſiv aufgefaßten Wegführung ven Ruben, Gab und 
halb Manafje dur Phul und Tiglath⸗Pileſer in 1Chron. 5, 26 
und des Hülferufs des Ahas an die Könige von Affyrien in 
2Chron. 28, 16 zum Mitregenten und möglichen Bruder Tig⸗ 
laty- Pilefere mit dem Sig in Sepharvaim macht, für die Aus 
torität der biblischen Chronologie nichts, da er den Einfall Phuls 
in Israel gleichzeitig mit dem Unternehmen Ziglath-Pilefers gegen 
Arpad 742— 740 erfolgt fein läßt und alfo unter die Zeiten Me⸗ 
nahems herunterſetzt. Muß denn aber ber Xributzahfer „Mini⸗ 
himmi Samirinai“ nothiwendig der König Menahem von Sa» 
maria fein, deſſen Könige doch ſonſt in den Keilfchriften nur als 
ſolche des „Landes und des Haufe Humri“ bezeichnet werben, und 
erinnert fein Schickſalsgenoſſe „Rafunnn Dimaskai“ nicht weniger 
an den König Rezin, als an einen untergeorbneten Edlen aus 
49* 


756 Brugſch, Geſchichte Aegyptens unter den Pheraonen. 


dem Geſchlechte der Reſon von Damaskus, fo daß die beiden 
Bundesgenoſſen Pekah und Reziu ihren Zribut an Tiglath-Pi⸗ 
fefer dur zwei Stellvertreter, einen nicht näher befannten 
Menahem aus der Stadt Samaria und einen begleichen Refon 
aus der Stadt Damaskus, abgeliefert hätten, wodurd die Stellver⸗ 
treter anftatt ihrer Herren zu der Ehre der Aufführung ihrer 
Namen im königlich aſſyriſchen Siegesbericht gelommen fein könnten? 
Könnte ferner der afiyrifhde Gegner des Königs Menahem in ber 
Bibel, „Phul“, nit der Eponyme von 769, „Bilmalil”, als 
Feldhanptmann des damaligen affyrifhen Königs geweſen fein, 
wenngleich die Berwaltungslifte für das Fahr 769 nur einen 
Feldzug in das unbelannte Land, Ituh“ verzeichnet? (Vermuthungen, 
welche der Referent Schon in den Jahrgängen 1874, ©. 780 und 
1876, ©. 135 und 142 diefer Zeitfehrift ausgefproden hat.) Einen 
Lichtſtrahl wirft jedoch in dieſe dunkeln Schatten die Ueberein- 
ftimmung der Keilfchrifturfunden mit der Bibel im Datum der 
Eroberung Samaria's durch Sargon oder „Saryulin” 722 oder 
721, wie A. v. Gutſchmid will, mit dem wegen der Differenz 
eines Jahres niemand wird ftreiten wollen. Dieſen Lichtftrahl 
droht aber der Widerjpruch des Feilfchriftlichen Datums des Ein- 
falls Sanheribs, ber nah Mafpero 704 auf den Thron kam, 
702 oder 701, mit dem biblifchen, dem 14 Jahre Hiskia's in der 
in 2Rön. 18 uns vorliegenden Faſſung der Erzählung alsbald 
wieder zu verfchlingen. Nah 2 Kön. 18, 1. 9. 10 regierte näm- 
lich Hiskia gleichzeitig mit Hoſea, wie auh Mafpero annimmt, 
wenn er den erfteren 727 und den letteren 729 den Thron bes 
fteigen läßt; alfo kann Hiskia's 14. Jahr unmöglich das des Ein- 
falls Sanheribs gewefen fein, außer man wirft mit Wellhauſen 
die Gleichzeitigkeit Hiskia⸗Hoſea beifeite und verlegt den Regierungs⸗ 
antritt Hiskia’s in das Jahr 715. Glücklicher al8 Wellhaufen 
ift nun aber in ber Löſung diefes Problems Kleinert durch den 
Nachweis der Eonfufion zweier affyrifcher Einfälle, des von 
Sargon in der Nimrudinfchrift in den Sahren 713—711 und 
bes von Sanherib im Jahre 702 oder 701 in den einzigen bee 
legtgenannten Königs, von dem Redactor von 2Kön. 18 unter 
Mebertragung des Datums des erfteren auf den letzteren geweſen. 








Mafpero, Geichichte der morgenländ. Völker im Altertum. 157 


Hienach dürften die biblifchen Gefchichtszahlen des achten Yahr- 
bunderts immer noch nicht gegen die Yündlein der Affyriologie 
preiszugeben fein, und fogar auch dann nicht, wenn man fie mit der 
bibfifchen Inſtanz gegen die Aufrechterhaltung der betreffenden Kö⸗ 
nigszahlen verftärkt, nämlid mit dem aus ihnen fi ergebenden 
Uralter des Propheten Jeſaja. Allerdings müßte diefer, ba 
er im legten Fahre des Königs Uſia, d. i. nach der Bibel 758 
etwa 30 Jahre alt aufgetreten ift und erft mit der Sataftrophe 
Sanheribs aus der Gefchichte verfchwindet, das ungewöhnliche Alter 
von fait 90 Jahren bei voller Geiſteskraft erreicht Haben, allein 
die Ungewöhnlichkeit fehließt die Möglichkeit nicht aus. — Blicken 
wir in die Gefchichte des ſiebenten Jahrhunderts hinein, jo über- 
rafchen uns affyrifche Synchronismen für die biblifche Zeitrechnung 
auch bier. Ueber Hiskia's Nachfolger Manaffe Haben wir zwei 
Inſchriften aus den letzten Zeiten des Bruders und Nachfolgere 
Sanheribs, des Eſarhaddon oder „Aſſur⸗achn⸗iddin“ und den 
erften des letzte Sarbanapal oder „Aſſur⸗ban⸗habal“, welche 
ihn beide unter den tributpflichtigen Fürften aufführen und deren 
zweite in Berbindung mit einer Inſchrift über die Gefangennahme 
Necho's I. Schrader eine Handhabe zur Verteidigung ber Ge⸗ 
Schichtfichkeit der aſſyriſchen Gefangenfchaft Manafje's in Babel 
gibt, während Mafpero hier emancipationsfüchtig diefe aus Mis- 
trauen gegen die Bücher der Chronik leugnet. Keilinfchriftliche 
Beziehungen auf Spätere Könige und Schickſale Juda's haben wir 
bis jett Feine mehr, namentlich hat Nebuladnezar oder „Nabu⸗ 
kudur⸗uſſur“ keinerlei Inſchriften gefchichtlichen Inhalts Hinterlaffen. 
Dagegen lafjen die affgrijchen Keilfchriften auch noch auf bie in der 
Bibel ignorirte Geftaltung Israels nad) dem Fall Samaria’s 
ein intereffantes, von Mafpero aber in die fchale Bhrafe: „im 
israelitifchen Königsſchloß Herrfchte ein affyriicher Statthalter”, ein» 
gefangenes Streifliht fallen, indem fie einen Menahem von 
Samarien, der im Jahr 701 an Sanherib, und einen Abi- 
baal, König von Samarien, ber mit Manaffe in den Jahren 
681— 673 an Eſarhaddon Tribut zahlte, erwähnen. Da nun im 
Jahre 646 unter Sardanapal ein afjyriicher Präfect von Samaria 
Eponym war, fo muß in der Zwifchenzeit das bisher von den 





158 Brugſch, Geſchichte Aeghyptens unter ben Pharaonen. 


Aſſyrern tolerirte Reich eingezogen worden ſein, und werden dabei, 
wie A. v. Gutſchmid meint, die 65 Jahre bis zum Untergang 
Ephraims in Jeſ. 7, 8 ihr Ende erreicht haben. Dieſe zweite 
Kataſtrophe Samaria's wäre dann identiſch mit der zweiten Weg⸗ 
führung der Einwohner unter Ejarhaddon in Esra 4, 2, welche 
vermuthlich von deifen Sohn und jpäterem Mitregenten „Affurs 
ban⸗habal“ oder Aſnaphar in Era 4, 10, audgeführt werden 
if. Die fpütere Geſchichte der Juden zeichnet Maſpero nach Maf- 
gabe der herkömmlichen Hülfsmittel in den herlbmmlichen Conturen. 
Werfen wir ſchließlich noch einen Blick auf das Verhältnis 
beider Werke zu der altteftamentlichen Religion, fo behandeln fie 
dieſelbe als gänzliche Nebenfaihe und berühren fie deöwegen nur 
flüchtig und oberflählih. Brugſch ftreift nur die Bedeutung 
Moſe's für fie mit den wenigen Worten: „Bei dem Leſen alt⸗ 
aͤgyptiſcher Inſchriften über Sitte und Gottesfurdht wird man ver: 
ſucht zu glauben, daß der jüdifche Geſetzgeber Moſes feine Lehren nad 
den Vorbildern der ägpptijchen Weifen zuſammengeſtellt habe.“ Diefe 
Anficht über den Urſprung des Mofaismus ift nicht ohne Freunde 
geblieben. Mar Büdinger 3. B. Hat in den Sigungeberichten 
ber Wiener Academie (Bd. 72 und 75) eine denfelben Gedanken im 
den einschlägigen Einzelheiten durchführende langathınige Abhandlung 
über „Aegyptifche Einwirkungen auf hebrätfähe Culte“ veröffentlicht. 
Getheilt wird fie gemiffermaßen auch von Mafpero, wenn bdiefer 
die Bundeslade, „etliche Ritualvorſchriften und Geremonien“ auf 
Ögyptifche Muſter zurückführt. Sein Urteil über die hebräifdhe 
Religion im ganzen aber geht dahin, daß fie troß einiger unflaren 
Spuren von urſprünglichem Heidentum im „auffälligften Gegenfag* 
zu den Fananäifchen, ägyptiſchen und chaldäiſchen Religionen, und 
zwar in dem de8 metaphyſiſchen Theismus zu dem natura» 
tiftifhen Bantheismus jtehe. Diefer Theismus mit Jahve, 
ber ‘aber Alter fei als Mose, fei anfänglich ein nationaler Mono- 
theismus gewefen und erſt allmäblih (durch dic Propheten?) 
zum univerfalen geworden. Moſe's religiöje Organifetion Habe 
in einer theofratifchen Conſtitution, beziehungsweiſe in ber Ber⸗ 
einigung der zwölf Stämme zu einem Bolt des unſichtbaren Kö⸗ 
nigs Jahve, beftanden. Uebrigens veducire ſich das, was man von 








Mafpero, Geſchichte der morgenländ. Völker im Altertum. 1759 


der urfprünglichen Gefegebung der Hebräer wiffe und Habe, faft 
auf nichts, Mofe felbit könne man, wenn nicht der Form jo doch 
dern Inhalt nad), höchſtens die zehn Gebote umd etwa eine Kleine 
Zahl mitten unter fpäteren Geſetzen zerftreuter Vorſchriften in den 
unter feinem Namen gefchriebenen Büchern zufchreiben. Die Cha- 
rafteriftit der Propheten tut Mafpero Bier unfelbftändig ab mit 
einem Citat aus Nöldeke's „Altteftamentliher Literatur”, deffen 
Kern und Stern der Satz ift: „Nur der ift ein Prophet, welcher 
von fittlichereligiöfen Gedanken und Empfindungen bewegt ift und 
im Dienfte der Religion Israels ſteht.“ Man fteht: der fleigige 
Gelehrte Hat fich die Mühe der Durchficht der neueften Aufftellungen 
der Linken unter ben jüdifchen und proteftantifchen Theologen nicht 
erfpart, um auch nicht in einem Punkte feiner Aufgabe der Re⸗ 
conftruction des morgenländifchen Altertums Hinter den Forſchungen 
des Tages zurückzubleiben. Daß er fidh dabei die Selbftändigfeit 
des Urtheils im ganzen gewaßrt Hat, beweift feine Iſolirung der 
hebrälfchen Glaubensrichtung von den Nachbarreligionen und ihre 
Erhebung aus der Immanenz des Paganismus in die Transſcen⸗ 
denz ſchon in vormofaifcher Zeit, was trog aller Leugnung ber 
Offenbarung einen ftarten Zug nad rechts verräth. Ob er ſich 
mit diefer fpecififhen Differenzirung den Beifall feiner Rath- 
geber erwerben werde, ift dem Referenten nicht außer Frage, da 
diefe zwifchen der hebräifchen Religion und denen der verwandten 
Völker nur einen relativen oder auch gar keinen Unterfchieb, 
wie 3. B. Goldziher, zugeben. Aber auch die Theologen der 
Rechten ftimmen ihm vielleicht in dem Punkte nicht zu, daß Jahve 
ihon vor Mofe Volksgott geweſen fei, freilich vorerft fo ziem⸗ 
fh auf einer Linie mit den andern Göttern, fo daß Mofe’s 
ganzes Verdienſt um ihn in feiner Umwandlung in „einen eifer: 
füchtigen, exclufiven Gott“ beftände, da das Tyx in Exod. 3, 6 
u. a. St., deſſen collective Auffaffung ſchwerlich durch Jeſ. 
43, 27 gerechtfertigt wird, nah Neftle’s anfprechender Darlegung 
Jahve zuerft nur als mofaifhen Familien⸗ oder lepitifchen 
Stammgott erjheinen läßt, was Ewald vielleicht allzu kühn 
schon aus dem Namen Jochebed gefchloffen Hat. 

Beiden Werken find Karten beigegeben. Die zwei von 


760 Brugſch, Aegypten; Maſpero, Morgenl. Völler. 


von Unter- und Oberägypten bei Brugſch laſſen in ihrer 
technischen Ausführung nichts, in ihrer feientififchen aber eine 
größere Fülle von alten und neuen Namen zu wünſchen übrig. 
Die eine bei Mafpero über den ganzen alten Orient ift zu 
Hein, um mehr als Scülerbedürfniffe zu befriedigen. 


Langenbrand, 10. Sehr. 1878. 
[im wärttembg. Schwarzwalbd 


Hufen Are. 








Inhalt des Jahrganges 1878. 


Erftes Heft. 
Borwort. . . . a 
Abhandlungen. 


DD 1 


. Kleinert, Amos Komenius . -. . . » 
. Kawerau, Die Trauung. . . 
.Kattenbuſch, Kritifche Studien ur Symbolit. "(Echter Artikel) 


Gedanken und Bemerkungen. 


. Köflin, Ein Beitrag zur Efchatologie der Reformatoren . 
. Kolbe, Auslegung der Stelle Eph. 2, 19—22 . 


Recenſionen. 


.Budde, Beiträge zur Kritik des Buches Hiob; rec. von Smend . 


Zweites Heft. 


Abhandlungen. 


. Kattenbufd, Kritiſche Studien zur Symbolik. (Zweiter Artikel). 
- Braun, Die veligiöfen und fittlichen Anſchauungen von Adam Smith 


Gedanken und Bemerkungen. 


- Doedes, Ein Mandat Jeſu Chriſti von Nikolaus Hermann . 
- Seidemann, Aus Spenglers Briefwechfel . 
. König, Die Regeln des Pachomius 


Recenfionen. 


Mezger, Geſchichte der deutfchen Bibelüberfeungen in der ſchwei⸗ 


zerifch -reformirten Kirche von der Reformation bis zur Gegenwart; 
rec. von Schröder. 


. Srensbdorff, Die Massora Magna; Tec. "bon Strad. 


Miscellen. 


. Programm der Haager Gefellfchaft zur Berteibigung ber chriflfichen 


Religion für das Jahr 1877 . 


. Programm der Teyer ſchen Dlegiſaen Self zu Sanen L 


das Jahr. 1878 


179 
254 


803 
314 
323 


341 
354 


373 


883 


762 Juhalt. 


tea 


Drittes Heft. 


Abhandlungen. 





. Schmidt, Ueber bie Grenzen ber Aufgabe eines Lebens Jeſu 


3. Goergens, Das altteftlamentliche Ophir . 


tea 


Gedanken und Bemerkungen. 


. Kamerau, Luther und feine Beziehungen zu Servet 


3. Diegel, Bergleihung der kentigen evangeliſchen Prebigtweiſe mit der 


—8 


vor fünfzig Jahren 


. Röſch, Die drei Saulenapoſtel in de eheimſprath⸗ des Thalmud. 


Recenſionen. 


.Wieſeler, Die deutſche Nationafität ber Reinafiatiigen Galater; 


rec. von Hertzberg. 


. Reuter, Geſchichte ber religidſen Anſtlarung im Mittelalier vorm 


Ende des achten Sohrhunbenie | bie zum m Autenge des vieraehmten; ve : 
von Ritfhl . . . .. 


Biertes Heft. 


Abhandlungen. 


. Goebel, Das Gleichnie Marl. 4, 26—29 . . . 
2. Spitta, Ueber die perfönlicden Noten im zweiten Briefe. an 


Timothens . 


. Sähürer, Der Berfammlungeort bes großen. Ehnereinm 0 
. Trümpelmann, Socialismus und Socialreform. (Exfer Artikel) 


Gedanken und Bemerkungen. 


. Schmid, Robert Mayer, der große Förderer umferer heutigen wiſſeu⸗ 


ſchaftlichen Welterkenntnis, feine wifſeuſchaſmiche Entdeanng und fein 
religiöjer Standpuntt . . 


. Deppe, Der Bietift Giebertus Voetius zu uccect 
.Seidemann, Je ein Brief von Amsdorf, Ed und Luther. 


Recenſionen. 


. Godet, Commentaire sur Pérangile de Saint Jean; rec. ven 


Düferdied . 


.Brugſch, Geſchichte Aeghptenẽ unter den Pharaouen, uud Mai- 


pero, Sefchichte der morgenländifchen Böller im Altertum; vec. von 
Röſch .. .. 


—> a — 


Drud von Friedr. Audr. Perthes in Gotha. 


525 


626 


677 
692 
697 


711 


Zur gefäligen Beachtung! 


Die für die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einjendungen 
find an Brofejfor D. Riehm oder Eonfijtorialrath D. Köftlin in 
Halle ae. zu richten, dagegen jind die Übrigen auf dem Titel 
genannten, aber bei dem Nedactionsgefchäft nicht betheiligten Herren 
mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re- 
daction bittet ergebenft, alle an fie zu fendenden Briefe und Padete 
zu franfiren. Innerhalb des Boftbezirts des Deutſchen Reiches, fowie 
ans Defterreih:Ungarıı, werden Manufcripte, falls fie nicht allzu 
umfangreih find, d. 5. das Gewicht von 250 Gramm nidt 
überfteigen, am beften als ‘Doppelbrief verfendet. 


Friedrich Audreas Perthes. 


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Inhalt. 





Abhandlungen. 
Goebel, Das Gleichnis Mark. 4, 26—29 


. Spitta, Ueber die perſönlichen Notizen im zweiten Briefe ı an Ti 


mothu8 . -. ... 22. 
Schürer, Der Berfammlungsort des großen Spnebriume 


. Trümpelmann, Socialismus nnd GSocialreform (erfter Artikel) . 


Gedanken und Bemerkungen. 


. Schmid, Robert Mayer, der große Förderer unferer heutigen wiſſen⸗ 


ſchaftlichen Welterfenntnis, feine wiſſeuſchaftiche Eutdecung und ſein 
religiöſer Staudpunkt. .. nn 
Heppe, Der Pietift Gisbertus Voetius au utrecht 


.Seidemann, Je ein Brief von Amsdorf, Ed und Luther... 


Recenfionen. 


. Godet, Commentaire sur "erangile de Saint Jean; rec. von 


Düfterdied . 
Brugſch, Geſchichte Aeghptens unter den Pharaonen, und Maf p ero, 
Geſchichte der morgenländifchen Völker im Altertum; rec. von Röſch. 


. 
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