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FTIR
HARVARD COLLEGE
LIBRARY
FROM THE BEQUEST OF
JAMES WALKER
(Class of 1814)
President of Harvard College
“Preference being given to worka in the Intellectual
and Moral Sciences’
Theologiſche
Studien und Kritiken.
— 72" u
Fine Zeitſchrift
für
das geſamte Gebiet der Theologie
begründet von
D. 6. ulmann und D. F. W. €. Umbreit
und in Verbindung mit
D. 3. Müller, D. W. Beyſchlag, D. Guſt. Baur
herausgegeben
von
D. E. Riehm um D. J. Köſtlin.
— — — —
1878.
Sinundfunfzigfier Jahrgang.
Erſter Band.
Gotha.
Friedrich Andreas Perthes.
1878.
„KT, Au /E7E Gery 23
//
Halter CC.
&heologifche
Studien und Kritike
Fine Sekte
begründet von
D. 6. Ullmann um D. F. ®. €. Hmbreit
und in Verbindung mit
D. 3. Müller, D. W. Beyfolag, D. Guf. 3
RT herausgegeben
D. E. Richn am D. J. öſlin.
Yafırgang 1878, erſtes Heft.
3 Gotha,
Sriedrich Andreas Berthes.
ce P/fLÖL 2
Thrologiſche
Studien und Kritilen.
Fine Zeitſchrift
für
Das geſſauite Gebiet der Theologie,
begründet von
D. 6. Ullmann uns D. 3. W. €. Umbreit
und in Verbindung mit
D. 3. Miäler, D. W. Beyfchlag, D. Guf. Baur
herausgegeben
von
D. E. Riehm um D. 3. Köſtlin.
Dahrgang 1878, erſtes Heft.
Gotha.
Friedrich Andreas Perthes.
1878.
Poxwort.
Die „Theologiſchen Studien und Kritiken“ beginne
mit dem vorliegenden Hefte ihren 51. Jahrgang. Dart
liegt Die Aufforderung zu einem kurzen Rüdblid auf ihre
50 jährigen Zauf. Wir felbft, die gegenwärtigen Heraus
geber, Fönnen uns nicht als Verdienſt anrechnen, daß fi
noch lebensfähig in das zweite Halbjahrhundert ihres Be
ſtehens eintreten; wir ſind nur in die Arbeit anderer ge
fonnen. Hu fo mehr ziemt uns, bei biefem Anlaß da
mis ihrer verewigten Begründer zu erneuern, bene
fie ir An ſehen, ihre Lebensfähigleit und ihre Erfolge, näch
Gottes Sega und Hilfe, in erfter Linie verdanken.
Die Sründung der Zeitjhrift war bekanntlich das g
meinfanıe Werk der beiden durch freundfchaftliche und coll
gialifche Bae ziehungen eng verbundenen Heidelberger Theologe
D. Earl Mllmann md D. Friedrih Wilhelm Enı
ıtmabreäit, fowie bes hochſinnigen Friedrich Perthes
dem jerre Üffentlid) das ehrennolle Zeugnis gegeben haben, de
er daB Yinternehmen nicht bloß als Verleger, fondern au
„ls MeitBexather und Mitarbeiter mit hoher Einſicht geförbe
habe. Die einmüthige Abſicht ber Betheiligten gieng nis
dahin, muam einen weiteren Stapelplatz theologiſcher Geleh
famfeit canzulegen; fondern vor allem wollten fie der neue:
>
vi Borwort.
teils fchon vorhandenen, theils in ber Geftaltung begriffenen
Theologie, deren Bahnbrecher Schleiermacher war, ein
eigenes Organ jchaffen, der Theologie nämlich, die „im
Gegenfag ſowol gegen ben Rationalismus, als gegen den
älteren Supranaturalisnus das Chriftentum als neue Lebens
ſchöpfung und göttlide Offenbarung im vollen Sim des
Wortes, zugleich aber als etwas in der Gefchichte der
Menjchheit organisch fich entwicelndes auffaßt, und bie
darum den chriftlichen Glaubensinhalt, ohne deſſen Beftand
an Zeitflrönmmgen preiszugeben, doch mit ben gefunden und
echten Bildungselementen der Zeit zu vermitteln, alfo den⸗
felben nicht bloß autoritätsmäßig Hinzuftellen, fondern vor
allem auch innerlich zu begründen ftrebt.”’) Daß ein
diefer Xheologie dienendes Organ bei aller ftreng wifjen-
Ichaftlichen Haltung auch auf die Anregung, Kräftigung nnd
Bertiefung des chriftlichen und Tirchlichen Lebens, zunächſt
in der evangelifchen Geiftlichfeit, abzuzielen habe, und daß
andrerfeits in ihm „die beutjch-evangelifche Kirche ebenſowol
der lebensvollen Manigfaltigfeit, wie der wefentlichen Einheit
ihrer Theologie jich bewußt werden” müſſe, und darum für
die Mitarbeit Feine zu engen Grenzen gezogen werden
dürften, vielmehr der wifjenfchaftlichen Verhandlung alle mit
dem Grundcharakter der Zeitfchrift irgend verträgliche Freiheit
zu laſſen fei, darin waren die Betheiligten ebenfalls einig. —
Auf Grund diefer Gemeinfamkeit der Abfichten und Ueber⸗
zeugungen hat jeber berfelben nach feinen befonderen Gaben
und vorwiegenden Intereſſen das Seine zum guten Anfang
und erfolgreichen Fortgang des Unternehmens beigetragen.
Selbftverftändlich ließ fich jeder der beiden Theologen Die
1) Worte Ullmanns in den „Studien und Kritilen“ 1862, ©. 458.
Vorwort. vo
Förderung der vorn ihm vertretenen Fächer befonders ange
legen fein. Der Geſamtcharalter der Zeitfchrift aber war
wegngsweife durch den maßgebenden Einfluß Ullmanns
beſtimmt, der. ihre Aufgabe am Harften und vollſtändigſten
ejakt Hatte, fie fort und fort feharf im Auge behielt und
Ve ganze Umficht, die bis in's Kleinfte gehende Sorgfalt
und die unermübliche zähe Energie, bie ihm eigen waren,
am ihre Erfüllung wendete. Befonders verfolgte er mit ber
größten Aufmerkfamkeit den allgemeinen Entwicklungsgang
de8 theologischen und religiös -Tirchlichen LXebens, um feine
Gelegenheit unbenngt zu laſſen, wo ſich durch gründliche,
principielle und hiſtoriſche Beleuchtung bremnender Tages⸗
Ragen oder aud durch ein kurzes Iebenswarmes Wort ein
beilfam fördernder Einfluß auf denfelben üben ließ. Auch
an bedeutendere Borlommmnifje des öffentlichen, befonders bes
firhlichen Lebens, an wichtige Gebenktage u. dgl. knüpfte
er gerne wiſſenſchaftliche Ausführungen von allgemeinerem
Interefie und bleibendem Werthe an. So mar er ftets
darauf bedacht, durch eigene oder von ihm veranlaßte fremde
Beiträge den Inhalt der Zeitfchrift zu den Mittelpunkten,
um welde fich die theologischen und Tirchlichen Intereffen ber
jeesmaligen Gegenwart drehten, in möglichft vielfache und
innige Beziehung zu ſetzen. — Aber auch die treue Pflege,
weile Umbreit den „Studien und Kritiken”, wie einem
Lieblingskinde, zuwandte, trug denfelben reiche Frucht. Der
warme Lebenshauch einer fich religiös immer mehr vertiefen-
den Begeifterung für die Herrlichkeit des Alten Teſtamentes,
welcher den Leſern aus feinen eigenen Beiträgen entgegen-
wehte, übte nicht geringe Anziehungskraft; feine milde Weit-
herzigkeit führte der Zeitfchrift manche tüchtige Mlitarbeiter
zu; und wie er felbft als Theologe nie ein Fertigſein ge-
viu Borwort.
fannt bat, fo war es ihm ein ftetes Anliegen, daß fich die
„Studien und Kritifen” „einen jugendlichen Charakter be-
wahrten, indem fie, ftets in der Entwidlung begriffen, das
Enbziel der neuen Xheologie reblih und aufrichtig fuchen
helfen” follten. — Friedrich Berthes endlich, getreu feiner
Abficht, in dem Unternehmen „die Wahrheit und die Ehre
Gottes fördern zu Helfen”, ließ es eine feiner Hauptforgen fein,
daß die „Studien und Kritiken“ nicht in die Bahnen bloßer
Schultheologie und todter Gelehrſamkeit gerathen, und über
der Freiheit wifjenfchaftlicher Forſchung die Aufgabe tieferer
Begründung des chriftlichen Glaubens nicht verfäumen möchten.
Dankbar muß bier aber auch der zahlreichen Mitarbeiter
gebacht werden, deren treuer Hilfe ein guter Xheil des er:
dienftes um den gebeihlichen Fortgang des Unternehmens
zuzufchreiben iſt. Beſonders in den erften Iahrzehnten, in
welchen die „Studien und Kritiken“ noch das einzige wiſſen⸗
Ichaftlihe Organ jener „nenen” Theologie waren, Haben
faft ohne Ausnahme alle nanıhafteren Vertreter derjelben,
wie verjchieden ihre Wege fonft auch fein mochten, mehr
oder minder zahlreiche Beiträge für dieſelben geliefert, und
einige von ihnen haben mehrere ihrer werthvollſten wiſſen⸗
ſchaftlichen Arbeiten darin veröffentlicht. Wir begnügen
uns bier Giefeler, Lüde und Nitzſch zu nennen als
die ftändigen Mitarbeiter, welche das Unternehmen mit ges
plaut Haben und fort und fort mit der Redaction näher
verbunden blieben, ferner D.R. Rothe und D. J. Müller,
die — jener vom Jahrgang 1855, diefer von Jahrgang
1856 an — nad dem Heimgange Giefelers und Lücke's
in deren Stellen eintraten. Neben ihnen zählten aber nod)
viele andere mehr oder weniger hervorragende Xheologen zu
den regelmäßigen Mitarbeitern: von den ungefähr 120
Borwort. IX
Berfaffern, deren Beiträge den Inhalt der erften 10 Jahr⸗
gänge bilden, Haben 45 auch im 2. Jahrzehnt an der
Zeitfchrift wmitgearbeitet; und in den folgenden Jahrzehnten
waren unter den etwa 150 Berfaffern, auf welche fich
die Artikel der betreffenden 10 Sahrgänge vertheilen, durch⸗
Ichnittfich immer gegen 60, welche ſchon im vorhergehenden
Jahrzehnt oder noch länger Mitarbeiter geweſen waren.
Dies Berhältnis hat ſich auch nicht geändert, fett durch die
im Sabre 1856 erfolgte Gründung der auf bemfelben Boden
ftehenden und in gleichem Sinn und Geift geleiteten „Jahr⸗
bücher für deutſche Theologie“, die fich (wenigſtens nad
dem urſprünglichen Plan) vorzugsmweife die Förderung Der
Igftematifchen Theologie zur Aufgabe machten, eine Arbeits-
theilung eingetreten war, und ein Theil der bisherigen Mit-
arbeiter nuferer Zeitſchrift fich diefer jüngeren Bundesgenoffin
zuwandten. — Neben den dadurch entſtandenen Lücken
hat freilich auch der Tod im Laufe der Zeit eine reiche
Ernte unter den Mitarbeitern gehalten. Nur 6 Verfafſer,
deren Namen fchon im Regifter des erften Jahrzehntes
verzeichnet find, Haben noch im legten Jahrzehnt Beiträge
geliefert; und auch fie find unterdeffen theilweiſe fchon aus
diefer Welt gefchieden; unter ihnen zulest (am 10. Juni
dieſes Jahres) der theure Dann, der ſich um die Vertiefung
jener „neuen“ Theologie vor andern verdient gemacht, und
von bem anregende Geiftesfunfen und befruchtende Lebens-
waſſer in wunderbar reicher Menge nad) allen Seiten weit⸗
Ku ausgegangen find, wie von keinem andern zeitgenöffifchen
Zheologen, D. Auguft Tholud. — Alle Rüden aber
in den Reihen der Mitarbeiter, wie fie auch entftanden fein
mögen, find immer wieder dadurch ausgefüllt worden, daß
die nachwachſenden, von der Bereinbarfeit pofitiv chriftlichen
x Borwort.
Glaubens und freier wiſſenſchaftlicher Forſchung überzeugten
Theologen fi) mit Vorliebe den „Studien und Kritiken“
zutvandten, und nicht wenige von ihnen, nachdem fie durch
diefelben in die wiſſenſchaftliche Welt eingeführt worden
waren, ihre treuen Mitarbeiter geblieben find.
Bis zum Jahre 1860 Haben die beiden Begründer der
Zeitfchrift die Leitung derjelben gemeinfam fortgeführt, feit
1843 in Berbindung mit dem diefes Berlagsunternehmen,
wie fo viele andere, im Sinn und Geift feines verewigten
Baters (F den 18. Mai 1843) mit liebevollem Eifer fort-
ſetzendn Herrn Andreas Perthes. Nach Umbreits
Heimgange aber (F den 26. April 1860) ließ fich- der den
„Studien und Kritifen” und deren Herausgebern fchon Lange
Jahre naheftchende D. Rihard Rothe willig finden,
vom Jahrgang 1861 an „interimiftiich”, wie er felbft öfter
betonte, als Mitherausgeber Ulmanı zur Seite zu treten,
während an feiner Statt D. Carl Bernhard Hundes-
hagen in die Reihe der befonders namhaft gemachten Mit-
arbeiter eintrat. Die nad) Bollendung des Iahrganges
1864 dur den Rücktritt Rothe's nöthig gewordene Neu-
geftaltung der Redaction vollzog Ullmann ſchon im Borge-
fühl feines baldigen Scheidens, indem er in feinem dem
Anſchein nah noch in männlicher Kraft ftehenden Freunde
und vormaligen Collegn Hundeshagen und in dem mit-
unterzeichneten, zu feinen Schülern gehörigen D. E. Riehm
Gehilfen Herbeizog, in deren Hände er die Fortführung des
ihm noch immer warm am Herzen liegenden Werkes als
Vermächtnis feines Vertrauens glaubte legen zu können.
Zugleich trat, dem Wunſche Ullmanns entſprechend, Herr
D. Willibald Beyſchlag in die Reihe der fländigen
Mitarbeiter ein. Nur bie beiden erften Hefte des Jahr⸗
Borwort. xt
gangs 1865 find noch unter Mllmanns SOberleitung zu⸗
fammengeftellt worden. Dann gieng aud er (am 12. -
Jannar 1865) zur ewigen Ruhe ein, und ihm folgte drei
Jahre fpäter (den 21. Auguft 1868) in dem ehrwürdigen
Carl Immanuel Nitzſch der lebte der Männer, die
einft an der Wiege der „Studien und Kritiken” geftanden
hatten und denfelben ihre Liebevolle Theilnahme noch weit
über die Zeit, in denen ihnen thätige Mitwirkung möglich
war, unverfünmert beivahrt hatten. Vom 2. Heft des
Jahrgangs 1869 an trat an feine Stelle der unterzeichnete
jegige Mitherausgeber D. Julius Köftlin. Aber auch
Dundeshagens bewährte Treue, Erfahrung und Umficht jollte
der Leitung der Zeitfchrift nur kurze Zeit zugute kommen.
Seit feinem Heimgange (am 2. Juni 1872) und vom Yahr-
gang 1873 an erfcheinen die „Studien und Kritifen“ unter
der gegenwärtigen Redaction, der neben den früheren ftän-
digen Mitarbeitern, unfern verehrten Herren Eollegen D. J.
Müller md D. W. Beyſchlag, auf unfere Bitte Herr
D. Guftav Baur in Leipzig feine befondere Mithilfe
zugejagt hat.
Fe vorwiegender e8 fi bei dem Rückblick auf die
Leiftungen der „Studien und Kritilen” um das handelt,
was unſere Borgänger gethan haben, um fo unbedenklicher
dürfen wir mit Dank gegen Gott aussprechen, daß biefelben
ihre Aufgabe an der Erneuerung und religiöfen und wifjen-
ſchaftlichen Bertiefung der deutfch-evangelifchen Theologie mit-
zuarbeiten, erfüllt haben, zwar nicht immer in einem bem
Wunſche und der Abficht ihrer verewigten Begründer ganz
enifprechenden Maße, aber doch mit fichtlichem Erfolg und
reicher Frucht. Man wird ihnen da8 Zeugnis nicht ver-
jagen Tönnen, daß fie am ihrem Xheile mitgehoffen haben,
xI ı Vorwort.
die deutfch-evangelifche Theologie wieder fefter auf den un-
wandelbaren Grund des Evangeliums zu gründen und mit
den Mitteln ebenfo ernfter und gründlicher,, als geiftesfreier
Forſchung in der evangelifchen Geiftlichkeit, auch über die
Grenzen Deutſchlands hinaus, tiefer gegründete chriftliche
Ueberzeugungen zu meden, zu befeftigen und zu wiſſen⸗
Schaftlicher Klarheit zu erheben. Man wird ihnen das
Zeugnis geben müſſen, daß fie je und je in der Berwirrung
und dem Widerftreit der theologifchen Meinungen und ber
kirchlichen Beftrebungen durch Zurüdführung der Gegenfäte
anf ihre Principien und durch Beleuchtung der QTagesfragen
von höheren Gefichtspunften aus zur Klärung der Anfichten
beigetxagen, die Berftändigung, foweit fie möglich) war, er-
leichtert und auf die dem inneren Weſen und der gefchicht-
lichen Entwicklung der evangelifchen Kirche entſprechenden
Ziele und Aufgaben der jedesmaligen Gegenwart hingewieſen
haben. Und endlich wird ihnen allgemein zugeftanden werden,
daß durch die zahlreichen darin veröffentlichten gelehrten
Monographien aus allen Gebieten der theologischen Wiſſen⸗
Schaft vieles, was dunkel war, aufgehellt, manche Streit-
frage gelöft und noch öfter menigftens der feite Boden ge-
women worden ift, von dem jede gründliche weitere Er-
forfchung derfelben Gegenftände ausgehen muß’).
Getreu unferem Verſprechen, die Zeitfchrift als ein auf
der breiteren Baſis gemeinfamen Zuſammenwirkens und
1) Zur Nutzbarmachung des reichen wiſſenſchaftlichen Materials, welches in
den bisherigen 50 Sahrgängen enthalten ift, empfehlen wir bie zu je 10
Jahrgängen erfchienenen Regifterhefte.e Dem in einigen Monaten zur
Ausgabe lommenden 5. Regifterheft zu den Jahrgängen 1867 — 1877
gedentt der Herr Berleger ein nach ben Fächern georönetes Verzeichnis
aller Abhandlungen und Bemerkungen, ſowie der bedeutenderen Recenfionen
als Inbilaͤumsgabe beizufligen.
Borwort. zu
öffentlicher Theilnahme ruhendes Unternehmen fo lange fort»
zuführen, al8 wir die Weberzeugung haben dürfen, daß fie
noch einem Bedürfniffe entgegenkommt, werden wir dieſelbe
in bisheriger Weife nach beftem Bermögen auch im neuen
Jahrzehnt ihres Beſtehens herausgeben. Denn wenn die
Stellung und Bedeutung der „Studien und Kritiken“ heut-
zutage auch nicht mehr diejenige fein kann, welche fie in
den erften Iahrzehnten hatten, wo e8 galt einer lebendigen
und freien evangelifch-gläubigen Theologie Bahn zu machen,
und wen fie auch mande Seite ihrer urſprünglichen
Aufgabe mehr ober weniger anderen, in verwandtem Geifte
wirtenden Zeitjchriften haben überlaffen können, fo bleibt
ihnen doch — deſſen find wir gewig — immer noch ihre
befondere Aufgabe, die groß und wichtig genug iſt, um zur
Aufwendung aller dazu erforderlichen Zeit und Kraft und
zur Bewährung gewifjenhafter Treue aufzuforden. Einer
neuen Darlegung der Grumbfäge, nach welchen fie diefer
Aufgabe nachkommen follen, bedarf e8 nicht. Die altbewährten
unverändert feithaltend, können wir Hinfichtlich ihrer Anwen⸗
ding auf die theologifchen und Tirchlichen Berhältniffe der
Gegenwart auf das Vorwort zum Jahrgang 1873 zurüd-
weifen. Im Hinblid auf die über die Haltung der „Studien
und Kritiken” feit dem Jahre 1865 neuerdings laut ge=
wordenen, freilich jehr entgegengefegten Urtheile fügen wir
dem dort Gefagten nur das eine Hinzu: daß die „Studien“
allerdings weder einem fpeculativen Idealismus, welcher die
Bedeutung der geſchichtlichen Heilsthatfacden im Chriſtentum
verfennt, noch einem Skepticismus, der es verleugnet, daß
der Glaube ein wirklicher Ereyxos unfichtbarer Realitäten
ift, und damit den Boden chriftlich-theologifcher Wiffenfchaft
verläßt, dienftbar fein wollen, daß wir aber zwilchen Kritik
zıv Vorwort
und ſolcher Skepſas wohl zu mnderfcheiben wifſen und nicht
gewillt find, jener willkürliche Feſſann anzulegen, auch über⸗
zengt find, damit german denſelben Standpunkt einzuhalten,
welchen unſere Zeitſchrift von je Ber eingenommen bat.
Schließlich richten wir an unfere geehrten Mitarbeiter
die Bitte, ums auch ferner durch ihm xhätige Theilnahme
zu unterftägen ’), laden andexe gleichgeſinnte Theologen zur
Mitarbeit ein und empfehlen die Zeitſchrift auch für das
nächte Jahrzehnt der Theilnahme wohlwollender Leſer.
3) Nach dem Wunſche des Herrn Berlegers theilen wir bier noch mit, da
ſich derjelbe mit Rüdficht auf die jetst üblichen Honorarſätze bereit erflärt hat,
‘fortan das Honorar von 24 Mark pro Druckbogen anf 80 Marl zu erhöhen.
Auch will deuiekbe, mehrfach ausgeſprochenen Wünſchen der Hexren Berfafler
Rechnung tragend, denjelben Lünftig 10 Separatabzůge ihrer Beiträge koſtenfrei
zukommen lafſen.
Halle a / S. im September 1877.
D. Ed. Riehm. D. J. Köſtlin.
Abhandlungen.
1.
Amos Somenins.
Bon
Dr. $. Kleinert,
Profeſſor in Berlin.
Namentlich Bayle Hat in dem betreffenden Artikel feines
Dictionnaire das Gefamturtheil über Amos Comenius auf lange
Zeit Hin beftimmt. Und doch Täßt fchon ber Artikel felbft den
aufmerkſamen Lefer darüber kaum in Zweifel, daß es ihm um ein
gerechte8 und erfchöpfendes Urtheil nicht zu thun ift; fofern er die
Hauptverdienfte des Mannes nur beiläufig, mit einigen theils an⸗
erfennenden, theils abfprechenden, überall aber inhaltlofen Urthetlen
abthut, mit defto größerer Ausführlichkeit aber eine Seite im Wirken
desfelben (vgl. unten Anm. 21) behandelt, welche für die Würdigung
des Comenius nur mebenfächliche Bedeutung hat; und feine Details
faft ausschließlich aus den perfönlichen Streitichriften des Arnold
und Marefius fchöpft, ohne von der Abwehr des Komenius auch
nur Notiz zu nehmen. Adelung Hat die Darftellung bes Bayle
mit der felbftgefälligen Breite eines Pebanten des 18. Jahrhunderts
vergröbert, und das immerhin gewagte Unternehmen, einen Mann,
deifen eminente Begabung ihm auch aus dem Wenigen, was er
von ihm Fannte, hätte einleuchten müſſen, feinen Platz in der Ges
ſchichte der menschlichen Narrheit anzumweifen, mit fo wenig Bedacht
durchgeführt, daß er die Berechtigung zu demfelben u. a. auf ein
Bug: „Theatrum divinum “ (Pragae 1616) gründet, von dem
8 Kleinert
er, wenn er 8 gelejen, hätte wiſſen müſſen, daß es nicht von N.
Comenius, fondern von Mathias Konecny verfaßt war. Nach
den vereinzelten Andeutungen einer befjern Würdigung des Mannes,
weiche bei Herder (Briefe zur Beförderung der Humanität,
V. Sammlung, Riga 1795, S. 31 ff.) und Niemeyer (Grundfüge
der Erziehung I, 473; IV, 333) begegnen, und den mehr im
Dunkeln gebliebenen Bindicien ber Brüderbiftorifer Cranz und Elsner
waren es namentlich die biographijchen Auffüäge von Palady (in
der Böhmiſchen Zeitiehrift und ber Deutfchen Monatsfchrift bes
vaterländifchen Mufeums zu. Prag, Jahrgang 1829) und die ein⸗
gehende und liebevolle Behandlung bei K. v. Raumer (im 2. Bande
feiner „Sefchichte der Pädagogik“), welche ein billigeres Urtheil über
den fchnell berühmt gewordenen und ebenfo jchnell vergefjenen
Mann angebahnt haben. Wie denn dies Urtheil feither jowol in
dem Artikel „Somenius“ von Guſtav Baur in Shmids Ench-
Hopädie des gefamten Erziehungs» und Unterrichtsweſens, als auch
in den populär gehaltenen Biographieen von Seyffarth (,Joh.
A. Comenius nach feinem Leben und feiner pädagogiſchen Beden⸗
tung“, Leipzig 1871; als zweite Auflage bezeichneter Separatabdruck
eines Aufſatzes aus dem Preußischen Schulblatt) und Zoubel
(in 3. Bande der von 8. Richter herausgegebenen Püdagogiſchen
Bibliothek) zur Geltung gekommen ift. Vgl. auch Bappenheim,
4. Comenius, der Begründer ber neuern Pädagogik, Berlin 1871.
Ammerbin Elingt Bayle's Auffaffung nit bloß in Hormayrs
Defterreihtihen Plutarch (5. Bänden), fondern auch in dem
bezüglichen Artikel der Erſch⸗ und Gruber'ſchen Enchklopädie (von
Zipfer) und felbft in dem der Herzog’schen Realenchklopädie (von
Dieckhoff) noch ſehr deutlich durch; und eine erneute, theils berich«
tigende,, theils ergänzende Beichäftigung mit dem Gegenftawd er-
ſcheint um fo weniger überflüßig, als fich jene gerechteren Beur⸗
theiler faft ausschließlich auf die pädagogiſche Seite desſelben ber
ſchränken. Indem ich das biographiſche Material, ſoweit es die
Genannten außer Zweifel geftellt haben, im folgenden Aufſatze
einfach vorausfege, werden ſich die angefligten Bemerkungen it
biographifcher Beziehung auf die Aufklärung einiger noch fireitigen
Buntte, im Übrigen aber darauf beichränfen, weniger benchtete oder
Amos Comenius. 9
bislang ganz überfehene, namentlich theologijch interefjante Momente
im Wirken det Mannes in's Licht zu rüden. Wie denn itbers
haupt von Erfchöpfung des Gegenftandes auf fo wenigen Blättern
nicht die Rede jein kann, und wie ich felbft mir bie weitere Aus⸗
führung einiger Punkte für gelegenere Zeit vorbehalten möchte, fo
mein angelegentlichfter Wunfch der wäre, durch das Folgende Kirchen⸗
und Eufturhiftorifer von Beruf auf einen Gegenſtand hinzumeijen,
deiien monographijche Behandlung wie wenige geeignet fein möchte,
die Sonteuren für ein Geſamtbild des geiftigen Lebens eines noch
inmer nicht hinlänglich gelannten Zeitalters zu geben.
Der Schauplag, in dein Umrahmung das Lebensbild des
Comenius betrachtet fein will, ijt der der böhmischen Brüderkirche;
jener älteren, nad Art und Gaben nicht unebenbürtigen ſlaviſchen
Echweiter der evangeliihen Reformationsfirchen, deren ehrwürdige
Geftalt für evangelifhe Semüther dadurch an Anziehungstraft nichts
verliert, daß wir ihrer als einer lebenden nicht mehr gedenken
fönnen, fondern daß fie in das Grab hinabgeſtiegen ift, welches
die Blut⸗ und Afchenhaufen des dreißigjährigen Krieges deden.
Rad den Gewitterftürmen und Erdbeben der huffitiichen Bewegung
war es das friedevolle Wehen bes Gotteögeiftes, welches die ver»
iprengten Trümmer der echten Huffiten in Böhmen, Mähren
und Schleſien in diefer Kirchengemeinihaft zu fchnell aufblühenden
Gemeinden vereinigte. Leicht prägen fich ihre herporitechenden
Sharakterzüge ein: ein tiefer Sinn der Brüderlichleit, der vom
Höchſten bis zum Niedrigiten alle Glieder zujammenbindet; ein
mächtiger fittlicher Ernft, der es auf Darjtellung der Nachfolge
Chriſti in einer geheiligten Gemeinde anlegt und nicht bloß das
Streben der Einzelnen, fondern auch die Organifatiou des Ganzen
darauf anlegt, der Heiligung aller lieder zu dienen. ‘Dem ent-
iprechend eine eindringende Sorgfalt, die Jugend lernend und
übend in die lebendige Erfenntnis der chriftlihen Wahrheit einzur
führen, und ein reger Wiffenstrieb, welcher eine über Verhältnis
große Zahl lerubegieriger Jünglinge auf die Univerfitäten Deutſch⸗
lands hinaustrieb. Endlich eine nicht aus Gleichgäftigkeit, fondern
10 Kleinert
aus der tiefen Innerlichkeit des frommen Sinnes geborene chrift-
liche Weitherzigkeit; ein ökumeniſcher Sinn, der andern Belennt-
niffen gegenüber nicht das Trennende, fondern das Gemeinfame zu
betonen feine Freude Hatte, und dem es daher befchieben war, daß
die deutjchen wie die fchweizerifchen Neformatoren, Luther wie
Calvin, eins waren in der herzlihen Schägung und Anerkennung
und in der Pflege des Gemeinfchaftsbandes mit der böhmifchen
Brüberfirdhe ?).
Aus einer anfehnlichen Familie diefer Kirche, welche von ihrer
Herkunft aus dem Orte Komna den Namen Komensky, Tatinifirt
Comenius, führte, wurde unjer Johann Amos am 28. Yuli 1592
zu Niwnitz bei Ungariſch⸗Brod im füböftlihen Mähren geboren.
Frühzeitig ftarben ihm Vater und Mutter, und obgleich fie einiges
Vermögen hinterlaffen, war es doch nicht die Abjicht der Vor⸗
münder, dem Snaben eine eigentlich wilfenfchaftlihe Ausbildung
geben zu laffen. Erft in feinem fechszehnten Lebensjahre fette es
feine Lernbegierde durch, einer Lateinfchule zugeführt zu werden,
und zwar mit folhem Erfolg, daß bereits drei Jahre fpäter, im
Sahre 16112), wir ihn unter der Schar der jungen Glaubens⸗
genofjen fanden, welche ſich den weftdeutfchen Univerjitäten Herborn
und Heidelberg zuwenden. Es war eine geiftig hochbewegte Welt,
in welche der wiffensdurftige Jüngling Hier eintrat. Wenn in der
Gegenwart die möglichſt eindringende Durhforfhung und Beherr⸗
ſchung eines einzelnen Wilfensgebietes als das eigenjte Zeichen
wiffenfchaftlichen Geiftes angefehen zu werden pflegt, fo iſt es ums
gekehrt eine Richtung auf Ausdehnung des Willens auf möglichft
weite Gebiete des Wiſſenswürdigen, von der wir die beften Kräfte
jenes Zeitalter8 getragen fehn. Mit großer Begier, zugleich aber
mit dem feften Halt eines in früher Verwaiſung gereiften, in
inniger Frömmigkeit und Seelenreinheit fich felbit bewahrenden
Charakters tritt Amos in diefe enchflopädiichen Bejtrebungen, die
ihm namentlich, durch den Herborner Profeſſor Alfted nahe gebracht
werden. Die manigfaltigften Bildungselemente werden feinem
Geiſte zur Nahrung; und mo die ungemeine Biegſamkeit deöfelben
und die Schnelligkeit feiner Auffaffungsgabe hätte erlahmen mögen,
da ftählte den Willen die heiße Liebe zum Vaterlande und zur
Amos Comenius. 11
Mutterlirche, deren Dienft er fein Leben geweiht. Schon ale
Student begann er jenes Rieſenwerk einer gelehrten Bearbeitung
des geſamten tichedhifchen Sprachſchatzes, das vierundvierzig Fahre
bindurch ihn begleiten follte. Je drüdender feinem lebendigen Sinn
die geifttödtende Methode des felbftgenoffenen lateinifchen Unterrichts
gemefen war, um jo begieriger ſuchte er den Geiſt der neuen
Unterrichtslunft zu ergründen, mit welcher zu diefer Zeit Wolfgang
Ratich alle bisherige Pädagogik der PVergefjenheit zu überliefern
ih anheifhig machte. Ye weniger fein durchaus auf das Wirk⸗
liche und Wirkfame gerichteter Geift an der leeren und ſpitzfindigen
Methode, über religiöfe und philofophifche Gegenſtände zu denken
und zu reden, Gefallen finden konnte, die nach der wohlthuenden
Suftreinigung der Reformation nur zu fchnell wieder den Weg
anf die Lehrftühle gefunden Hatte, um fo mehr feilelten feinen Blick
die Strahlen des neuen Lichtes, welches mit Campanella in Italien,
mit Diontaigne in Frankreich, mit Baco von Berulam in Eng⸗
(and aufzuleuchten begonnen hatte; das mit Macht das Gebiet der
Ratur in die Sehweite rüdte und hier ein Feld unmittelbaren
Anſchauens, Beobadhtens und Erfennens aufwies, auf welches faum
zu achten man fi gewöhnt Hatte; und das damit zugleich die
Möglichkeit eines Weges ahnen ließ, auc in der Betrachtung der
geiftigen und fittlihen Welt zu der verfchüitteten Einfachheit des
geraden Sinnes zurüdzufehren ®).
Mit einer Studienreife beſchloß Comenius 1614 feine Lern⸗
jahre. Ihr Hauptziel war die ftolze Burg, welche wenige Jahr⸗
zehnte zuvor die Niederlande bem Evangelium und der bürgerlichen
Freiheit gegründet hatten, und in ber mit dem Weltverfehr zugleich
jegliche Blüte geiftigen Lebens zur Höhe trieb. Ueberall öffnete
dem über feine Jahre wiffensreichen und willensreifen Jüngling fein
beſcheidenes, frifches Wefen jchnellen Zugang: und als der Zwei⸗
undzwanzigjährige das legte Stüd feines Heimmegs, von Heidelberg
bis Prag, zu Fuße zurücegte, brachte er in zahlreichen Verbin⸗
dungen mit den bejten Namen des Zeitalters die Anfänge einer
Weltcorrefpondenz mit ſich. Schon jet ward in der Heimat
fo groß von ihm gehalten, daß der Edle von Zierotin, einer der
Erften unter den Häuptern der Brüderkirche, ihn ſofort mit der
12 Kleinert.
Leitung der höhern Schule von Prerau betraute, welche Comenius
in Vermwerthung feiner frifchen Eindrüde al8bald in ein Realgym-
nafium überbildete. Auch dann bfieben jeine Gedanfen nod mit
Liebe dem Schulwejen zugewandt, ald er 1616 für den BPrediger-
dient der Brüderkirche ordinirt wurde. Aber nur zu ſchnell follten
feinen Lehrjahren die Jahre der Prüfung folgen. Rings umher
hatten jich die jchweren Gewitterwolken zufammengezogen , deren
dreißigjährige Entladung über Böhmen begann, um mit der Ver⸗
beerung von ganz Deutichland zu enden. Die fcharfe Luft cal-
viniſchen Geiſtes war vom Welten ber in's Land gelommen und
gab ungeftümen KRathichlägen die Obmacht über die maßvolle Erb-
weisheit der Leiter der Brüderkirche; und auch wenn es nicht jo ge⸗
wefen wäre, wären die finjteren Geſchicke, welche mächtige und liftige
Gewalten dem Protejtantismus in Böhmen planten, nicht mehr ab⸗
zumehren gewejen. Bald nad) der unglücklichen Schlaht am weißen
Berge legte fich, wie fehon vorbem mehrmals, die kalte Hand von
Wien her an den Hals der Brüderlirche, und jest, um nicht mehr
loszulaſſen, bis die Märtyrerin ausgeathmet haben würde. Schon
1621 drangen ſpaniſche Scharen ſengend und brennend in Fulneck,
dem Pfarrort des Comenius, ein und verbrannten es. Comenius
ſah Haus und Habe in Flammen aufgehen, und die den Fremd⸗
lingen auf dem Fuße folgende Seuche raffte ſein junges Weib und
ſeinen Erſtgeborenen von ſeiner Seite. Drei Jahre fpäter wurden
die Prediger aller evangeliſchen Bekenntniſſe geächtet, und die Ge⸗
ſcheuchten, welche das Vaterland noch nicht verlaſſen wollten, mußten
auf den einſamen Bergſchlöſſern der Edlen in Mähren und Böhmen
ihre Zuflucht fuchen. Auch unjern Comenius finden wir mit zahl»
reichen Genoffen erft unter dem Schuge Zierotins zu Kraliz in
Mähren, wo der greife Biſchof Lanetius, der als die Säule der
Brüderficche galt, feinen Tod fand; dann zu Branna in der Nähe
der Elbquellen um böhmischen NRiejengebirge, wo der Edle von
Sadowski die Flüchtigen verbarg. Schwer gingen die Wogen des
Elends über das weiche Herz, das an ben Seinen, an ber Kirche
feiner Bäter, am Evangelium mit der feurigen Zärtlichkeit des
ſlaviſchen Naturels, mit der innigen Kraft ber deutfchen Bildung
Bing. ALS ein Siebziger auf diefe Zeiten zurückſchauend, ſchildert
Amos Comenius. 18
er und, wie er Nacht für Nacht in fchlaflofem Kummer die Schmerz
geſchicke bewegend nicht anders gekonnt habe, al® vom Lager aufs
fpringend die heilige Schrift zu ergreifen und dem unter ihrer
Leſung empfangenen Troſt mit bebender Hand niederzufchreiben.
Seo entftanden, eine nad) der andern, jene Reihe von Troſt⸗ und
Lehrſchriften, die zu dem Beſten gehören, was für die Gemeine
geichrieben ift, und die mit Windeseile fih unter den Leidensge⸗
nojjen verbreiteten; hentzutage überaus felten geworden in den
Biblisthefen, aber in mander Familie der Stillen im Lande in ben
ſjchleſiſchen Gebirgögegenden ein von den Altuorbern her hochgehaltenes
Erbtheil. Es zeichnet den geborenen Schriftiteller, in dem die
bößmifche Literatur noch heut ihren erften Claffiler ehrt, wie dem
Amss jegt und fpäter jede tiefere Erregung des Lebens alsbald
zur Schrift wird. Es zeichnet das edle Gemüth und den wahren
Epriften, daß der tiefe Klageton diefer Schriften ohne jegliche
Bitterkeit ift, vielmehr getragen von dem Hauch des Friedens und
von männlicher Faſſung. Sm den Leiden, die über die Gemeinde
geben, zeigt Comenius den Weg zur Selbftprüfung und Beſſerung;
in dem unfteten Elend den Eingang in das unantaftbare Paradies
des Herzens, das in Gott als dem unbeweglichen Ruhepunft die
Tiefe der Sicherheit gefunden hat. Ein katholiſcher Beurtheiler
(&indely) jagt unter dem Eindrud diefer Schriften, daß fie auch
ein Heiliger nicht anders gefchrieben haben könnte 9.
Den Harten Schlägen folgte 1627 der härtere. Mit ihren
Beſchützern wurden fämtlihe Evangelifche des Landes verwieſen.
An 30,000 Familien, darunter allein 500 Adelsgeſchlechter, auch
die Zierotin und Sadowefi, verließen die heimischen Gefilde. Wäh-
rend die Zutheraner und Reformirten unter ihnen fih, wie fie in
verfchiedenen Ländern freundlicher Aufnahme bei ihren Glaubens»
genofjen gewiß fein durften, nach verjchiedenen Nichtungen zerftreuten,
Schingen die böhmiſchen Brüder nur zwei Wege ein, den einen
mad) Ungarn, den andern nah Bolen; und dieſen letztern nahm
auch Comenind. Da, wo ditlih von Glogau die unergründlichen
Meoräfte des Landgrabens und daran gelehnte Sanddünen Schlefien
und Poſen von einander fcheiden, alſo damals die öſtereichiſch⸗pol⸗
nifche Grenze bildeten, erſtreckten fich weithin die Beflgungen des
14 Kleinert
edlen Grafenhaufes ber Leszezynski, das, felbft dem Evangelium
zugethan, es ſich zur Ehrenpflidt machte, die aus Defterreich ver»
triebenen &laubensgenoffen auf feinem Gebiete aufzunehmen, und
auch nachher, ale es durch böfe Ränke in den Schoß der römischen
Kirche zurücgenöthigt war, nicht aufgehört hat, ihr treuer Be⸗
ihüger zu fein. Noch 1500 war der Ort Polniſch⸗Liſſa hart
an der Grenze ein Fleines DBauerndorf gewefen; durch den Zu⸗
zug der ftillen und fleißigen, Gott und ihrem Beruf getreuen
Bürger war es nunmehr eine anfehnlide Stadt mit 20 Straßen,
vier Kirchen, einem Gymnasium illustre, 1600 Wohngebäuden ge=
worden, von deren 2000 Familienhäuptern nur vier dem römifchen
Belenntnis angehörten. Hier zog Comenius am 8. Februar 1628
ein. Hier war es, wo er, fern vom Vaterlande, die hervorſtechendſten
Seiten feiner eigentümlichen Begabung entfaltet und den Grund
zu dem Weltruhm des großen Pädagogen gelegt hat, der ihm fchon
bei Lebzeiten zu Theil ward und den einzigen irdifchen Glanz eines
in allen übrigen Beziehungen gramerfüllten Lebens bilden follte.
Schon vorher war Lehren feine Luft gewefen, und in den Jahren
der Verbergung Hatte ber raftlofe Geift fi mit been zu einer
Neform des Unterrichts getragen, die künftigen Geſchlechtern zu
gute fommen jollten. Und als er mit feiner Schar die Heimat
verließ, und auf der Höhe de8 Sceidegebirged angelommen , fie
alle fih ummandten und mit dem legten Abjchied auf das ver⸗
lorene Vaterland niederblichten ; als fie von gemeinjamer Bewegung
ergriffen auf die Kniee fielen und unter vielen Thränen zu Gott
beteten, daß er doch mit feinem Worte nicht gar aus Böhmen und
Mähren weichen, fondern ſich einen Samen dafelbft behalten wolle,
da war ihm der Gedanke feft geworden, der die folgenden Jahrzehnte
hindurch feine Kraft in mächtigem Schaffen aufrecht erhalten hat:
wenn einft Gott ihm und feinen Glaubensgenofjen die Rückkehr
in’s Vaterland eröffnen würde, da follte der Grund eines neuen
blühenden Lebens für feine Kirche und fein Vaterland bei der
Jugend gelegt werden; und ‚wennfchon der Baum zu Falle ges
fommen fei, folle aus dem Wurzelftumpf das arme verlorene Volk
erneuert wieder aufgrünen. Es ift die Nachfolge Jeſu, des Kinder-
freundes, deren ftille Kraft, die doch die größte, beiligfte und ſegens⸗
Amos Comenius. 15
reichfte der Erde ift, wir zu allen ſchweren Zeiten der Chriftenheit
in den beften Männern aufleuchten fehen. Den Jammer des Volkes
ſehend, erbittet fie nicht Gerichte, fondern legt Hand an die Er»
ziehung, und beugt ſich zu den Kleinen herab, damit dem Volke
Heil were. So entitand unferm Amos, nit aus der Willkür
eines phantaftiichen Weltreformers, fondern aus der heißen Liebe
und Treue des der Herde beitellten Hirten der große Umriß eines
allgemeinen Unterrichts 5), der, auf feinen unterften Stufen das
ganze Bolf umfafjend, nicht zuläßt, daß durch PVerfchiedenheit der
Anfänge eine Kluft verjchiedener Grundbildung zwifchen den Glie⸗
dern und Ständen des Volkes geriffen werde; und deffen Zeichnung er
mit der feiten Hand reicher Kenntnis des bereits Geleifteten, mit
der prumklofen Klarheit durchdringenden Verftändniffes und mit
der herzlichen Sprache der Liebe und der jittlichen Geiftesfülfe
durchführt. In vier Stufen fei das Unterrichtswefen zu gliedern.
Die eriten ſechs Jahre der Kindheit gehören dem Haufe; fie find
das Gebiet der Mutterfchule. ‘Die zweiten ſechs Jahre gehören
der Bolksfchule. Innerhalb diefer Zeit könne und müfje gelernt
werden, was alle Glieder des Volles an Wiffen für Erde und
Himmel unumgänglich nöthig haben. Für die weiter Strebenden
aber öffnet fi in dem folgenden jechsjährigen Zeitraum die Latein⸗
fäule, in dem vierten vom 19. bis zum 24. Jahre die Hochſchule.
In jedem Haufe müffe eine Mutterfchule, in jeder Gemeinde eine
Volksſchnle, in jedem Bezirk eine Lateinfchule, in jeder Provinz
eine Afademie fein. Das Ziel aber des Unterrichts fei nicht bloß
Wiſſen, jondern Erziehung, Charakterbildung. So treten fchon
bei ihm die Stichworte, die für die feitherige Geiſtesentwicklung
von fo großer Bedeutung geworden find: Bildung und Menfch-
lihfet, cultura und humanitas, überall als die großen Ziele des
Wertes entgegen ©), aber nicht als leere Worte, die Losgeriffen vorn
ihrer lebendigen Wurzel durch die Zuft ſchwirren und jeglihem Winde
der Begriffsverwirrung zum Spiel dienen, jondern mie fie in
edler Klarheit aus dem Fundamentaljag abfolgen, den er mit Baco
von Berulam überall in die Mitte ftellt: daß der Menfch nad und
m dem Bilde Gottes gejchaffen ſei. Es iſt ihm unverborgen,
daß fein auch noch fo ftolzes Rühmen menfchlicher Entwicklungs⸗
16 Kleinert
fühigleit es begreiflihd machen wird, wie aus der menschlichen
Natur etwas herausgebildet werden könne, was nicht wurzelhaft
in ihr angelegt wäre; wie einer Natur, die bloß thierifch veranlagt
wäre, der höhere Charakter der Menfchlichkeit angebildet werben
könnte. Ebenſo aber erkennt er in jenem Yundamentaljag von
dem göttlichen Ebenbild in der Dienfchennatur auch das einfache
uud fchlagende Argument gegen diejenigen, melde die Möglichkeit
des von ihm Hingeftellten Zield harmonifcher Menfchenbildung durch
den Hinweis auf die fündige Verberbnis des Menjchenherzens be⸗
ftreiten: wie gewiß dieſe Verderbnis da fei, und wie groß fie fet,
fo fei doch auch das gewiß, daß jedes Ding Luft habe, zu feiner
Natur zurüczufehren. Gott erfennen, die Welt erfennen und
fih jelber leiten Tönnen, da8 müſſe Erziehung geben. Fromme
Einfachheit des Charakters und milde Sitten feien die Zeichen,
daß Erziehung ihre Aufgabe erfannt habe und dem Biel zuitrebe;
die Noheit aber und Zuchtloſigkeit des Uinterrichteten gebe Zeugnis,
daß der Erzieher ein Miethling geweien fei. Der Lehrer, der
wegen Trägheit und Unwiſſenheit ftrafe, klage fich felbft an; denn
zum Ausgleichen fei er da, und nach dem Grade der Unwiffenheit
und Trägheit müſſe feine Liebe und Mühe wachſen; der Lehrer
aber oder Vater, der wegen Zuchtlofigfeit, Lüge, Yrivolität zu ftrafen
unterlaffe, ber fei der Seele des Kindes ein Feind. Habe Gott
der Seele des Menſchen den Leib zur Wohnung und zum Werkzeug
gegeben, fo fei von frühfter Kindheit auf durch die forgfamfte
Pflege der Leib für diefe Beftimmung fräftig und gefchidt zu machen;
es fei nicht Harmonie der Erziehung, die Seele kräftigen wollen
auf Koften des Körpers. Und wenn für den erwachfenen Menfchen
acht Stunden angeftrengter Arbeit am Tage das richtige Maß
bilden, jo muſſe das Biel der Schule bei tägli vierftündigem
Unterricht erreicht werden Tönnen. Dazu freilich gehöre eine richtige
Methode des Unterrichts, auf die überhaupt alles anfomme, und
die dem Wirken Gottes in der Natur abzulernen fi. Omnia
sponte fluant; absit violentia rebus. Vom Leitern zum
Schwereren, vom Belannten zum Unbekannten fortfchreiten, nicht
mit Sprüngen, nicht mit unzufammenhängenden Stoffmafjen den
Geift verwirren, den Unterrichteten in fortwährender Selbftthätigkeit
Amos Eomenius. 17
erhalten: das fei Lehrweisheit; und nur durch die volle Xiebe werde
der Lehrer die Weisheit lernen. So aber werde die erjte Schatten-
ieite de8 dermalig gewohnten Unterrichts verfehwinden, daß die
Schule und ihr Name den Kindern ein Schreden fei. Der Unter»
richt, der nicht eine Luft fei, fei ohne Frucht. Der andre Schatten
aber der dermaligen Methode trete greli hervor, wenn man die
Unfitte der Zeit ind Auge fafje, leere Worte zu machen. Plan
tehe, fagt Amos, die Praxis des großen Haufens an und die Art
der halbgebildeten Stimmflührer desfelben, jo werde man merken:
die Menſchen reden nicht, fondern fie ſchwatzen; fie haben nirgend
mit Sachen, Begriffen und Erkenntnis, fondern überall mit leeren
Vorten zu tun”). Ein Hauptgrund diefes Misftandes fei un-
ſchwer zu erkennen. Aller Nachdruck fei auf den Sprachunter⸗
richt gelegt. Aber fo werde derfelbe betrieben, daß mit bloßen
Vorten, ja bloßen Wortformen der fremden Sprade, ohne daf
der Schüler eine klare Vorftellung mit denfelben verbinde, der Geift
ansgedörrt werde. Vielmehr müſſe das Kind zuerft feine Mutter⸗
ſprache fprechen lernen, dann auch andere; immer aber jo, daß ihm
überall mit dem Wort die Sache vor Augen geführt werde. Wie
in der fittlihen Erziehung nichts geleistet fei ohne das perfönliche
Vorbild, das das Kind am Erzieher fchaue; wie das Chrijtentum
ion dadurch als die wahrhafte Erziehungsreligion fich ausweiſe,
daß es allein das Ewige und Göttliche in der Geftalt Ehrifti
nahe bringe, in einer Geftalt, in der auch Kinderherzen im An⸗
Idauen es liebend zu erfafjen vermögen; fo fei auch im Unterricht
kein Berftändnis ohne die Sinne. Der Sprachunterricht müſſe
ergänzt werden durch Anfchauungsunterricht in den Realien Wie
wolle man Gott erfennen lernen, wenn man an feinen Werfen in
der Welt vorbeigehe? So geht dem Comenius ſchließlich alle Lehr⸗
weisheit in dem tiefen Spruch des großen Meifters auf: der Vater
liebet den Sohn und zeiget ihm alles.
Und diefer Aufriß der Lehrfunft, von deffen Größe und Bedeu-
tung, Feinheit und Reichtum diefe Züge freilich nur ein dürftiges Bild
geben konnten, war unjerem Amos nicht bloß Theorie. Während
vor ihm Ratich, nach ihm Peſtalozzi ihr Lebelang in dem kümmer-
lihen Zwieſpalt der großen Principien und des prattiſchen Unge⸗
TZheol. Stud. Jahrg. 1878.
18 Kleinert
ſchicks hangen geblieben find, war er eine von den feltenen Naturen,
denen es gegeben ift, mit der Kraft und Weite der zum Ziel drin»
genden Anſchauung zugleich die völlige Klarheit Über die Mittel und
ihren Gebrauch und die Virtuofität in der Ausführung zu verbinden.
Fortwährend an dem Liffnifchen Gymnafium ſelbſt thätig, deſſen
Directorat er neben feinen kirchlichen und fchriftftellerifchen Arbeiten
bie zum Jahre 1641 ‚geführt hat, entwarf er die durch feine
Methode geforderten Lehrbücher für alle einzelnen Stufen des
Unterrihts, auch für die unterften; und bis auf den Heutigen Tag
ift die kindliche Schönheit unvermwelft, mit der fein Buch über die
Mutterſchnle chriſtliche Mütter unterweiit, wie fie in den Jahren der
Kindheit mit Teibliher und geiftiger Pflege allen Grund der zu—⸗
fünftigen Lebensgeftalt in den Herzen ihrer Kinder zu legen haben.
Denn die befte und edelfte unter allen Gaben Gottes fei das Kind;
die edelfte auch darum, weil von allen andern Gütern der Erde
der Menſch fich löſen könne, aber vom Kinde nicht: auch wenn
Eltern e8 über ſich gewinnen könnten, ihres Kindes ſich zu entäußern,
vor Gott und ihrem Gewiſſen bleibe es eben doc, ihr Sind.
Wie er in allen diefen Arbeiten nicht gelehrten Ruhm gefucht,
fondern dem mächtigen Antriebe feines Innerſten gefolgt war und
die Zukunft feiner Kirche ımd feines Vaterlands im Auge gehabt
Batte, jo blieben für's erfte diefe großen Werke ungedrudt. An
dein Tage feiner Sehnſucht foliten fie bervortreten. Nur ein einzel-
med Stüd veröffentlichte er: „Die geöffnete Spradenthär“,;
ein praktiſches Mufter, wie nad feiner Methode die Spracden,
zunächſt die Tateinifche, zu erlernen feien. Und dies eine Buch
genügte, den Ramen des Comenins in aller Mund zu bringen
und — es iſt nicht zuviel gefagt — die Augen der gebildeten Wert
auf ihn zu richten. Weberrafchend fam dem befcheidenen Mann die
Wahrnehmung, wie das Werkchen, für das er felber nur den Werth
eines Kinderbuchs in Anfpruh nahm, feinen Weg von Land zu
Lande fand und in nicht langer Zeit in fünfzehn Sprachen, darunter
auch ins Türkiſche, Perfiiche, Arabifche, überfegt war. Mit den
Gelehrten, mit dem polnifchen Adel, deffen edelfte Spigen wie der
Graf Opalinsti v. Bnin fid) durch Comenius begeiftern Tießen,
auf ihren Gütern Lateinfchulen nad feiner Methode einzurichten,
Amos Comenius. 19
wurden auch weitblidlende Regierungen auf ihn aufmerffam. Wenn
Schweden fi ſchon vordem als ein treues Kind der Wittenberger
Reformation durch den auf die SYugenderziehung gerichteten Eifer
bewährt hatte, wenn gerade zu diefer Zeit Guftan Adolf diefen Eifer
emerjeit3 durch die Stiftung der Univerfität Dorpat, anderfeits
Dadurch bewies, daß er fogar in feinem Kriegslager regelmäßigen
Schulunterricht einrichtete, fo erging nicht lange nach dem Tode des
großen Könige die Aufforderung von Schweden an unfern Come⸗
nins, als Organifator des gefamten Voll» und Schulweſens über
die Dftfee zu kommen. Er lehnte fie vorerft ab. Schon war fein
raftlofer Geift zu anderen und höheren Plänen fortgefchritten. Auch
der fetten ımd höchſten Stufe feines Erziehungsaufbaues wandte er
feine Aufmerkſamkeit zu, und mit den Nachwirkungen feiner Uni-
verfitätseindräde traf die innerfte Herzensrichtung des Menſchen⸗
freundes zufammen, in ihm den großen Gedanken einer Banfophie,
einer allumfafjenden Wiffenfchaftsichre Hervorzurufen, in welder
alles, was des Wiffens werth wäre, unter Abthun alles unndöthigen
Kleintrams eigenliebiger Hypotheſen nach feften und Klaren Grund-
begriffen zufammengeordnet werden ſollte. Dazu follten fich die
beſten Geifter aller Nationen vereinigen, und mit Dahintenlaffen
der perfönlichen Eitelkeit zum Heil der Menfchheit ihr Beſtes zu-
fammenthun. So, hoffte er, würbe die unfelige Zerfahrenbeit
aller öffentlichen Verhältniſſe zu heilen fein; denn was fie ver-
wirre, fei zulegt immer die Verworrenheit der Begriffe, und die
Zuſammenhangsloſigkeit und Auseinanderreißung der verſchiedenen
Wiſſensgebiete, deren jebes feinen eigenen Geift und Sinn für ſich
and im Gegenfaß zu den andern entwickle. Durch ihre klärende
Zufammenfaffung aber würde die Menfchheit auch davor bewahrt
bfeiben, immer wieder in die Labyrinthe Tängft Überwunbener Irrtümer
bineinzugerathen, und der große Tempel Gottes, den der Prophet
Ezechiel im Geiſt gefchaut, werde aus dem einmüthigen Zuſammen⸗
Hang aller Zungen und Nationen gebaut werden. “Denn wenn
doch Feine Verftimmelung duch menjchliche Zuthaten die Gottes⸗
wahrheit verdeden köͤnne, daß Chriftus der Welt gegeben jei, um
im eine ſolche Einheit die Herzen und die Gedanken der Menſchheit
zufammenzufaflen; wenn doc unter allen Religionen diefe allein
29%
2 Kleinert
al8 der urfprünglichen Menfchennatur entfprechend die Kraft, die
Weite und die Tiefe habe, aller Menjchen Herzen und Gedanken
zu umfpannen; wenn doch Gottes Werk überall Harmonie fei:
wen, ber zum Heil der Menſcheit wirken wolle, müſſe nicht diefe
Harmonie als eine nicht blog in der Natur, fondern auch im
geiftigen und jittlihen Leben der Menſchheit zu vollziehende vor
Augen ftehen? Oder wolle man Gott, der die allmädhtige Liebe
ift, nicht zutrauen, daß er das unglückliche Schaufpicl der Welt
mit einer glüdlichen Wendung fchliegen werde? ) — Ein Aufrig
diefer und ähnlicher Gedanken, den Amos an Freunde in England
jendete, wo der Boden für derartige Ideen wohl vorbereitet war,
und der dort ohne fein Vorwiſſen zum Druck gebracht wurde,
erregte folches Auffehn, daß auf Parlamentsbeſchluß Comenius nad)
England berufen ward, auf Staatskoſten eine Verwirklihung diefer
panfophifchen Pläne anzubahnen. Durch die verheerten Geftlde
Deutfchlands, deren legte Halme dur die noch immer lodernde
Kriegsfackel verfengt wurden, z30g Comenius 1642 hinüber. Aber
auch die glänzenden Ausfichten, die fich ihm Hier eröffneten, jollten
nur eine kurze Epifode feines Lebens bilden. Das mächtige Land
lag in fchweren Wehen. Das Parlament, welches ihn berufen,
ift das nämliche, welches in der Gejchichte unter dem Namen des
(langen Parlaments befannt worden if. Die politiiche Entwidlung
ftrebte der. Enthauptung Karls I. zu. Und auch auf Firchlichem
Gebiete konnte dem harmonischen Geift des Comenius, dem Maß
und Ordnung die Grundbedingung alles Gedeihend war, das anar—
hifche Ungeftüm der SIndependenten nur wenig Freude erweden 9).
Als nun zur felben Zeit der irifche Ausbruch ausbrad und das
Intereſſe des Parlaments ſich dringenderen äußeren Angelegenheiten
zumenden mußte, als den friedevollen Plänen der Panfophie, und
als gleichzeitig von Frankreih und Schweden her die dringlichiten
Einladungen an ihn gelangten, war fein Plan bald gefaßt. Für
Schweden ſich zu entfcheiden beſtimmte ihu namentlich die gewichtige
Stimme feines Gönnerd Ludwig de Geer, eines reichen nieder»
ländifchen Batriciers, der ſich in dem ſchwediſchen Norköping
niedergelaffen, und der mit fürftlicher Xiberalität überall die ver-
folgten Belenner des Evangeliums und namentlich die Studien
Amos Comenins. 21
derfelben nnterftügte: den Großalmofenier von Europa nennt ihn
Comenius, mit dem der mohlthätige Mann aus jenem Intereſſe
Ihon Tängft in Verbindung getreten war. Man jpürt dem Bericht
unjers® Amos über die viertägige Unterredung, die er mit dem
Kanzler Drenftjerna Hatte, den mächtigen Eindrud an, den ihm das
außerordentliche Wiffen und Urtheil diefes gewaltigen Staatsmannes
gemacht hat. Niemals habe einer fo fenntnisreich und durchdringend
über die Dinge, deren Ergründung die Arbeit feines Lebens gebildet,
mit ihm verhandelt, als diefer Adler des Nordens. Zugleich aber
seugt es von dem nüchternen Blick des Staatsmannes, daß er den
plänereichen Geift des liebenswürdigen Sanguinifer® aus den
ätherijchen Gefilden der Panſophie zu den nächſten Aufgaben und
der nüchternen Wirklichkeit des eigentlichen volksmäßigen Unterrichts-
weſens zurüdleitete. Acht Jahre wandte Comenius auf die Ausarbei-
tung der großen Unterrichtömwerfe, welche jchwedijcherfeits von ihm ver⸗
langt wurden 9). Nicht in Schweden, fondern in Elbing und dann
in Liſſa führte er fie aus, um feinen Gemeinden in Polen nidt
fern zu fein. Denn wie bereit8 im Jahre 1632 zum Senior,
fo wählten ihn dieje 1648 zum Bifchof (senior praeses) ihrer
Kirche. Das war nicht bloß eine Huldigung für die wifjenfchaft«
liche Bedeutung, fondern auch für den johanneifchen Geift des pa⸗
triarchalifhen Mannes, von dem Näher: und Fernerftehende zu fagen
pflegten, man könne ihn nicht kennen lernen, ohne ihn lieb zu
gewinnen; nicht bloß eine Beugung vor dem tiefen fittlichen Ernft,
mit dem er durch Wandel und Wort, durd) Anwendung und Selbft-
untermwerfung die altehrwürdige kirchliche Zucht der Brüderkirche
als ihr beſtes Palladium hochhielt 11), fondern auch fchuldiger Dank
für einen Mann, der ſchon Tängft auch in äußern Dingen der
Gemeinde nicht bloß ein Glied, fondern ein Vater geworden war.
So viele Verbindungen ihm felbft fein Wirken in allen Ländern
öffnete, fo viele Kanäle der Verforgung wurden es für feine noth-
feidenden Brüder. Große Geldſummen aus England, aus Holland,
aus Schweden floſſen durch die ärmliche Studirftube des Comenius
zu den verftreuten Gemeinden; auf den Schlöffern der Könige
und Edlen aller Länder, an ihren Schulen, Archiven und Biblio⸗
thefen arbeiteten junge Gelehrte, die Amos dahin entjendet, die er
22 Kleinert
großentheils felbft gebildet, an denen er fortmährend die Seeljorge
eines zärtlichen und doch nichts überfehenden Vaters übte; aller
Ertrag feiner Titerarifchen Unternehmungen kam denen zu gute, die
er hülfsweife dabei befchäftigte *2).
Die Jahre feiner Arbeit für Schweden follten mit einer fchmerz-
lihen Enttäufchung enden. Denn auch dieje entfagungs» und mühfal-
reiche, Laft hatte er ja nicht ohne Abjehen auf das große Ziel ge=
nommen, dem fein Herz entgegenglühte. Mit ängftliher Spannung
verfolgte er den Gang ber Friedensverhandlungen von Münſter
und Osnabrück, von denen er für feine Gemeinde die Heimkehr
ind Vaterland, für feine Kirche Wiederherftellung und neues Auf-
blühen erhoffte. Bon vier Millionen Einwohnern, die Böhmen
dreißig Jahre zuvor gehabt Habe, waren noch fiebenhunderttaufend im
Sande übrig. Sollte e& bei dem harten Spruch, mit dem Ferdinand
in den Krieg gegangen war, daß das Land lieber eine Wüfte fein,
als Proteftanten ernähren folle, fein Bewenden behalten? Der
Friede ward gejchloffen, aber die Brüderlicche war vergeffen, war
bon Schweden preißgegeben. Kin berber Schmerz durchklingt die
Briefe, die er in diefer Veranlaffung am den fchwedifchen Kanzler
geichrieben Hat; und in allen Schriften der Folgezeit ift es eim
Wort, das er nicht nennen kann, ohne daß die Redeweiſe die
Erneuerung diefe® Schmerzes anzeigte: das Wort Staatsraifon.
Das fei ein Wort, an ſich leer und bedeutungslos, aber erfunden,
um Unrecht zu verhüllen, da8 feiner Natur nach öffentlich gejchehen,
und doc) fi) vor der Deffentlichkeit und vor Gott ſchämen müffe 1°).
Als um die nämliche Zeit die Gemeinde zu Liffe gezwungen wurde,
ihre Kirche den Katholiken auszuantworten, fchrieb er jene ergreifende
Schrift: „Das Teftament der fterbeuden Mutter“, der böh-
mifchen Brüderkirche; gemweihte Worte einer bis zum Tode betrübten
Seele, die noch Heut niemand ohne Bewegung lefen wird 14).
Comenius war gebeugt, aber nicht gebrochen. Seine Augen
wandten fi) nad) dem Süden, wo das aufflimmende Fürftenhaus
der Rakoczy in Siebenbürgen, den in Ungarn verftreuten Ge»
meinden wohlgefinnt, ein Schild des Evangeliums gegen feine Feinde
in Wien zu werden verſprach. Die Kürftinmutter Sufanna Lorendfi,
eine warme Freundin des evangelifchen Bekenntniſſes wie des
Amos Comenius. 2
Schulweſens und daher ſchon längſt auf Comenins aufmerffam
geworden, bedurfte nur einer Andeutung, daß er zu kommen willig
ji, um ihn mit fürſtlichen Anerbietungen und Vollmachten zur
Organifation des Schulwefens in den Staaten ihres Sohnes Sigie-
mund Rakoczy zu berufen. Bald erbfühte (1650 — 1654) unter
feiner Leitung das ganz nach feinen Plänen hergeftellte Realgym⸗
nafium von Saros Patak. Hier entitand fein Orbis pictus;
eigentlich eine mit Ylluftrationen verjehene Umarbeitung jener
‚Sprachenthür“ , die feinen Ruhm begründet Hatte. Auch feinen
Lieblingsgedanken, den Abſchluß des Gymnaſiums durch panfophifche
Curſe, verfuchte er ins Leben zu führen, mußte aber dieje Krönung
des Werkes daran jcheitern jehen, dag das Fleiſch des jungen un⸗
garifchen Adels zu ſchwach war, um der erften Willigfeit des Geiftes
dauernd zu folgen, und fein Dünkel zu groß, um fich mit den
PBürgerfühnen unter einerlei Zucht zu beugen. Und wieder blitzte
ein Wetterleuchten am nördlichen Himmel auf. Der kühne Karl X.
Guſtav beftieg den jchwedifchen Thron; die Kundigen wußten, wie er
gejounen fei, zunächſt im Kampf gegen das Fatholifche Polen, den
Ruhm Guſtav Adolfs zu beerben. In diefer entjcheidungsreichen
Zeitlage glaubte Comenius feinen Gemeinden nicht fern bleiben zu
dürfen; er fehrte nad, Liſſa zurüd. Aber der Grimm der auge
griffenen Polen warf ſich zunächft auf die Belenner des Evangeliums
im eigenen Lande. Eine wilde Kriegsſchar rüdte (April 1656)
gegen Liſſa heran und verbrannte die Stadt von Grund aus. Zum
jweitenmal war Comenius feined Heims und feiner Habe beraubt;
und was ihn am tiefften betrübte, auch feine Bibliothek und den
größten Theil feiner ungedrudten Arbeiten fah er in Flammen
aufgehen; unter ihnen das Werk beinah eines halben Jahrhunderts:
jenen böhmiſchen Sprachſchatz, den er bereit in Herborn begonnen.
Seine Gemeinde war zur irvenden Bettlerin geworden. Es war der
härtefte Schlag feines Lebens. Mühſam und fiech fchleppte er fich
duch Schlefien und die Mark der holländiichen Grenze zu. Wol
bleibt er auch in diefen Tagen derfelbe, der feines Lebens Weis-
heit in die kurze Regel zufammengefaßt Hat: „Haft du Fülle, fo
preife Gott; fehlt fie, fo lerne dich begnügen mit dem Nothwendigen ;
fehlt auch dies, jo fiehe zu, daß du dich felber retteſt; fiche zu,
24 Kleinert
daß du Gott nicht verliereft." Wol tritt auch auf feinen Bildern
aus der nächjtfolgenden Zeit und immer noch die hohe ftattliche
Geftalt mit der hochgewölbten Stirn, den feurigen großen dunfeln
Augen, den ftarken Wangen, dem vollen Haar und dem wallen-
Patriarchenbart unverfalfen entgegen. Aber es war doch ein müder
Mann, der im Herbjt des Jahres 1656 im Amfterdam einzog.
Hier, wo die Königin der Meere, der zu diefer Zeit die Hälfte
aller Schiffe Europa’ gehörte, den Vertriebenen aller Lande ihre
gaftlihen Thore öffnete; Hier, wo ſchon feine Jugend an dem
Dilde eines im Evangelium freigewordenen Volkes fich gehoben
hatte; hier in Holland, wo jedes Haus eine Mutterfchule, jedes
Dorf eine Volksſchule, jede Stadt Lateinſchulen hatte, wo auf kleinem
Raum fünf der erften Alademieen Europa’8 zufammengedrängt
waren: bier wollte der Greis den Friedenshafen feines Alters
finden. Die Edelmögenden der reihen Stadt, deren Händler
Fürften waren, ließen ſich's nicht nehmen, den irrenden Flüchtling
mit feierliher ‘Deputation willfommen zu heißen. Sie ehrten in
ihm den Märtyrer des Evangeliums und gleichzeitig den großen
Pädagogen, von dem fie aud für die Bildung ihrer Kinder Er⸗
jprießliche8 erwarten durften 75).
Und Arbeiten diefer Art, Unterricht, Abfchluß der Literarifchen
Pläne, überhaupt Werke des Friedens find es denn auch, die diefen
legten Abjchnitt feiner Wallfahrt erfüllt haben. Won jeher hatte
feine Seele nach Frieden gedürftet. Nicht feigen Sinn, fondern
den Menfchen nach dem Herzen Gottes kennzeichnet es, wenn felbft
der Eatholifchen Kirche gegenüber Amos in feinen Schriften fi) fo
verhielt, daß der Jeſuit Balbin ihn als einen Schriftfteller charak⸗
terifirt, der allen Chriften zulicbe gefchrieben habe; menn die
reformirten Klopffechter Arnold und Mareſius, die auch ihm gegen-
über ihre Streitluft nicht bändigen fonnten, e8 ihm zum Vorwurf
machten, daß er nicht genug literarifche Mitterfchaft gegen Rom
geübt habe; wenn die einzige Schrift proteftantifcher Polemik, die
wir aus feinen Händen befigen, ein für jenes Zeitalter faft einzig
dajtehendes Muſter fittliher Würde und feiner Ueberlegenheit ift,
einer Streitart, die nicht ficht um zu verlegen, fondern um zu über⸗
zeugen und zu gewinnen: die niemals die Hand mwegzieht 16). Er
Amos Comenius. B
unterſchied zwiſchen der Kirche Roms als einem lebendigen Aſt am
Baum der Chriſtenheit, und zwiſchen ber römischen Weltmacht als
einem der Welt verderblichen politiſchen Syſtem. Und war dies
ſeine Stellung gegenüber der katholiſchen Kirche, wie vielmehr mußte
ihm der Hader der evangeliſchen Kirchen unter einander ein Greuel
ſein. Sah er's doch vor Augen und wird nicht müde darauf hin⸗
zuweiſen, wie dieſer bittre Streit unter denen, die doc ſelbſt von
den römischen Gegnern in Anerkenntnis ihres gemeinfamen Glaubens⸗
rundes mit dem Einen Namen der Bibliften zufammengefaßt
würden, lediglich dazu diene, auf den oberften Thron über alle
Religion eine kalte Politik zu erheben, welche mit den umftrittenen
Nebendingen auch die lebenzeugenden Grundlehren das Chriſtentums
für Theologengezänk achte und ſich je Tänger, defto offener zu dem
atheiſtiſchen Grundſatz befenne, daß nicht Gott, fondern Menſchen⸗
fünfte die Welt regieren. Wie fchon der Mann troß ſchwerer
Amtslaſt fich jenem Neligionsgefprädd von Thorn nicht entzog,
welches der Friedenskönig Wladislam IV. von Polen zur Schlichtung
der kirchlichen Streitigkeiten berufen, fo erklingt jett des Greifen
Stimme überall, wo er zwifchen Bekennern des &vangeliums den
Srieden gefährdet fieht; in Geftalt von Flugſchriften, Vorreden,
Briefen ſchickt er feine Friebensboten in ben Convent der zu Breda
verfammmelten Sefandten, wie an die Hoflager der Könige. Und
mit den Beften feiner Zeit, einem Calirtus, Duräus u. a., hält er
die Kojung hoch, welche ſchon in den Anfängen des großen Krieges
der fromme Lutheraner Melden in das Gemwühl der ftreitenden
Parteien, wiewol vergeblich, hineingerufen: „Am Nothwendigen
Einigkeit, im Nichtnothtwendigen Freiheit, in allem Liebe!“ 17) Nur
einmal erhebt auch feine Stimme fich erregter, als der Soci⸗
nianer Zwider im Vertrauen auf die Friedensgefinnung des ange-
ſehenen Greifes ſich erdreiftet, denfelben öffentlich al8 Begünſtiger
feines Unternehmens anzurufen, den Frieden zwifchen allen Barteien
der Ehriftenheit über dem Grabe der chriftlichen Grundwahrheiten
zu fchließen. Aber auch die Neihenfolge der tapfern Schriften, in
welchen Amos auf diefe Provocation die Abwehr fir den Glauben
der Bäter führte 28), war nur ein kurzer Wellenfchlag auf ber
ruhigen Tiefe des Stromes, der zu münden eilte. Immer fehn-
“
28 Kleinert
liher wurde das Verlangen des innerlich regen Geiftes nach völ-
liger äußerer Stille. Und wenn duch jenes ganze Jahrhundert
ein tiefer Zug des Sehnens aus verrotieten, verworrenen, über⸗
fünftlichen Verhältniffen nah der Einfalt der Natur bindurchgeht ;
ein Zug, der ſich auf dem Gebiet der weltlichen Literatur in dem
Strom der Robinſonſchriften eine breite Bahn gebroden; jo trägt
dasſelbe Gepräge, aber in verflärter Geftalt, jenes Werk, in welchem
der 77jährige Greis die Summe feiner chriftlichen Rebensweisheit
niedergelegt: da8 Buch vom Einen Nothwendigen, unum necessarium.
In jener tiefen Einfalt, die allen Bildungsftufen gerecht zu werden
vermag, weil fie von einer innern Höhe aus alle überfieht und
ins Wefen der Dinge fchaut, zeigt er den Weg aus den Wirr-
falen und Labyrinthen der Welt: die Schlichtheit des Sinne und
Willens, die in Gott beruhend nad der Regel Chrifti überall
Icheidet zwifchen dem Unnöthigen, welches immerdar das Vielfache
und DVerwirrende ift, und zwijchen dem Nothwendigen, das immer
ein Einfaches ift!). Das Büchlein follte fein Xeftament fein.
dern vom DBaterlande, wie Jakob, ftill und fanft, wie er gelebt,
entichlief 78 Jahr alt Amos Comenius, der zwanzigfte und letzte
Biſchof der böhmischen Brüderfirche, und ward am 22. Noveniber
1670 zu Naarben bei Amjterdam begraben 29).
Comenius war eine Prophetengeftalt in feiner Zeit. Nicht
freilich im Hinblid auf jenes einzelne Moment, welches den oft be-
mäfelten Schatten an biefem lichten Lebensgange bildet. Daß in
einer Zeit, wo Schwert, Hunger und Peft allenthalben die granfigen
Gerichtsbilder der Offenbarung Johannis vor Augen jtellten, daß
in folcher Zeit das furchtbare Geſchick einer ganzen um blutigen
Staube zertretenen Kirche unter ben Bekennern derfelben Erfchei-
nungen fchwärmerifcher Begeifterung hervortrieb, die das Heil, das
die Erde nicht gab, dem Himmel durch ftürmifche Weiffagungen hätten
entreigen mögen, Tann nicht befremden: es ift eine gemeinſame
Erſcheinung aller Nothzeiten der Kirche; und unbegreiflich ift auch
das nicht, daß unfer Comenius, je herzlicher er jelbft aller Feind⸗
feligfeit abgeneigt war, um fo leichter dem Glauben ſich zuneigte,
daß Gott von ſich aus die Mächte der Welt erregen werde, dem
zu Boden getretenen Evangelium aufzuhelfen. Wenn num freilich
Amos Comenius. 27
er durch diefen Glauben ſich beftimmen ließ, dem übermächtigen
Andringen jener Schwarmgeifter, namentlich des Mähren Drabic,
nachzugeben, nnd ihre Weiffagungen in Tateinifcher Ueberſetzung der
Belt mitzutheilen 2?), fo war das keineswegs prophetiich, fondern
unmeife; obwol e8 am Urtheil über den Geſamtwerth des Mannes
nichts ändern kann. Gott Hat ihm gnädig erfpart, den trüben
Ausgang diefer Sache zu erleben. Erit ein Jahr nad feinem
Tode ward jener Drabic von der Rache des durch feine Weiffagungen
tödtlich gereizten Hauſes Oeſterreich ereilt und ſamt feinem Weil»
ſagungsbuch, ohne Schonung feines S3jührigen Alters, zu Peſth
auf ofjenem Markte verbrannt.
Eher vielleicht möchte man etwas weifjugendes darin finden,
wie Comenius von Amfterdam aus, „von den Enden der Erde
her“ ,„ an die verfireuten Herden das rührende Abjchiedsfchreiben
des fcheidenden Hirten erläßt, wie er aber gleichzeitig in unent-
wegter Hoffnung die Bijchofsweihe feinem Schwiegerjohn ertheilt.
So Hatte Jeremias unter dem Zufammenbrud Judas den Aders
fauf von Anathoth unterfiegelt, zum Zeichen vor Gott, daß Israel
doch wieder zu feinen Heiligtümern fommen werde. Und gerne
fäßt man fid) daran erinnern, daß der zweite Erbe jener Weihe,
Comenius' Enkel, jener preußiiche Hofprediger Jablonsky gemefen
ift, der mit fo tiefem Ernft an der Bereinigung der evangelifchen
Kirchen in Preußen gearbeitet, der der Krönung des erjten
preußiſchen Königs affiftirt hat; der endlich im Jahre 1737 den
Grafen Zinzendorf zum Biſchof der Herrnhutifchen Brüdergemeinde
geweiht Hat, jener Enkelin der böhmifchen Brüderkirche, deren
Miniaturbild einige der Tiebenswertheften Züge der Ahnin wieder-
jpiegelt.
Aber überhaupt nicht um folcher Einzelheiten willen nannte id)
den Amos eine Prophetengeftalt in feinem Jahrhundert; ſondern
im Hinblick auf den Gefamteindrud feines Wirkene. Wenn ung
Nachgeborenen im Bilde der Propheten des Alten ZTeftaments
naturgemäß die auögeftredte Hand am meiften in die Augen fällt,
mit der fie auf den Meſſias des Neuen Teſtaments weijen, fo
tritt doch faft noch mächtiger eine andere Seite ihres Bildes ent»
gegen, wenn wir im Alten Teſtament Iefend unfere Augen darauf
28 Kleinert
rihten, was fie in ihrer Gegenwart, was fie ihrer Zeit ge-
weſen find. Der unbeftechlihe Diannesmuth, der dem Volk vom
König bis zum Bettler feine Sünden und das Gericht Gottes
anzeigt, und die unzerbrechliche Manneshoffnung, die an der Zukunft
ihre® Volkes nicht verzagen kann noch will; beide geboren aus dem
Glauben, der in tiefer Finfternis die Hand Gottes ohne Wanfen
fefthält und daher immerdar durch die Finfternis hindurch das
Morgenroth fchaut, und aus der heißen Liebe, die nicht ftraft um
zu erbittern, fondern um zu retten, ja die felber verbannet zu, fein
wänfchte für das Heil ihres Volkes: das find die Züge, mit denen
ehernen und doch lebendigen Geiftes voll die Angefichter ber Propheten
ans den Blättern des Alter Teſtaments und anſchauen. Und
wenn nun unfer Amos felber fi am liebften al den Mann der
Sehnfucht bezeichnet; wenn wir dies edle Leben, voll herrlicher
Gaben Gottes, klaglos fid) hinopfern fehen in der Arbeit für ein
Baterland, das ihm ausgeftoßen hat, filr eine Kirche, die vor feinen
Augen untergeht, für eine Zufunft, die er nicht fieht, wenn wir
wahrnehmen, mie er in den finfterften Scidfalen und im Tode
feiner Gemeinde nie die Sade der Murrenden wider Gott nimmt:
Herr, warum zürneft du? — fondern immer die Sache Gottes wider
das Volk, daß Er gerecht fei in feinen Gerichten und unfträflich
in feinen Werfen; wenn wir gewahren, wie an diefem umverzagten
Glanben ſich Taufende aufrichten, die fonft verſchmachtet wären ;
wie diefe heiße Liebe, die den Kleinſten mit der völligften Hingebung
zum Dienfte wird, in unermüdlicher Hoffnung eine Saat fät, von
deren Früchten Völker Leben, ohne den Süemann auch nur zu
fennen, ja deren Ertrag bis auf diefen Tag noch nicht ganz abge-
erndtet ift — gewiß, wir fünnen uns dem Eindrud nicht entziehen:
es ift der tiefere Glanz eines prophetifchen Wirkens, mit dem diefe
Leidens» und Richtgeitalt über die Todtengefilde des nächtlichen
Jahrhunderts fchreitet, um Leben zu fäen.
Amos Eomenins. 2
Bemerkungen nnd Exenrie
zum vorfiehenden Auſſatz.
1. [3u ©. 10.] Daß die böhmifche Brüderkirche viele Glieder auch
in Mähren hatte, berechtigt, wenigſtens nach ben unmisverflänblichen
Aenßernugen des Comenius, keineswegs zu der herkömmlichen Gleichſetzung
ber Ramen „böhmiſche“ und „mähriſche Brüder“; wenigftend nicht
für die Zeit ber Griftenz der Brüberfirde Comenius unterfcheidet dieſe
als fratres Bohemi, unitas fratrum, feltener auch (ſynekdochiſch) ecelesia
Bohemica fehr genau von ben fratres Moravi; fowol burd bie Hervor⸗
bebung des Zufammenhanges ber letzteren mit den Mennoniten, während er
die fratres Bohemi überall mit den Walbenfern in bie nächſte Verbindung
fest, als auch durch die ausbrüdliche technifche Definition ber fratres
Moravi mit den beiden Merkmalen, daß fie anabaptistae und commu-
nionem bonorum professi feier. Cf. Admonitio titerata de iterato So-
antano irensco (Amstelod. 1661, 12; vgl. u. Aum. 18), p. 36. 468q. —
Bon ſchleſiſchen Berzweiguugen der Kirche wird bie und ba berichtet.
Tal. B. die Notiz über die Aufnahme des I. Menzel in Sprottau in
Eomenins’ Schrift Luc in tenebris (f. u. Anm. 21) II, p. 19. — Eine
Sammlung von Zeugnifien fir die lebhafte Anerfeunung ber böhmifchen
Brüder burch Luther, Calvin, Bergerius, Beza, Zandi, Urfinus, Olevianus
giebt Eomenius in feiner Vindicatio famae et conscientiae a colummiis
Nie. Arnoldi (Lugd. Bat. 1659, 4), p. 20sqg.
2. [3u ©. 10.] Das Datum 1611 (nicht wie gewöhnlich angegeben 1612)
für den Eintritt des Comenius in Herborn giebt ex ſelbſt Lau in tenebris
I, p. 15. — Ueber feine Ausbildung in den Jahren zwifchen 1602 (Tod
feines Baters) und 1608 finde ich bei den Biographen nichts; in feinen
Schriften nur die Notiz (Lux in tenebris IV, p. 8), baß er in ben Jahren
1604 und 1605 die Volksſchule zu Strasnig befucht bat, wo er auf ein
halbes Jahr bei einer Vaterſchweſter untergebracht war. Sie wirb alfo eine
ſehr wechielnde und zerflüdelte gewefen fein. — Was feinen Geburtsort
anlangt, jo ſchwanken die Biograpben noch immer zwiſchen Niwnitz (Baur
u. a.) und Ungarifh-Brob (Zoubel u. a). Doch wird man Baur Recht
geben müflen, daß durch die Eintragung des Comenius als Nivanus in
ben Heidelberger Matrifeln von 1613 die auf Nimnig lautende Angabe
Riegers, auf welche fih Palachy beruft, eine entſcheidende Betätigung erhält.
Wenu fih Comenius coram publico einigemal als Hunnobrodensis bezeichnet,
ſo erllärt fich dies hinreichend daraus, daß der Beranlaffung gemäß ftatt
des unbelannten Fleckens die anfehnlichere Bezirksftabt zu nennen war.
Sicherlich beweift der Umſiand, daß feine Eltern auf dem Kirchhof zu Un-
garifch-Brob begraben Tagen (Zoubet), nichts für fein Geborenfein an biefem
Orte.
3 [Zu ©. 11.] Die nächſte Beſtimmung ber vorſtehenden Skizze für
30 Kleinert
einen öffentliden Vortrag bat an dieſer Stelle (mo es darauf ankam bie
maßgebenben Einflüffe ſummariſch zufammenzufafien, welde in ber Lebens-
arbeit bes Comenius bervortreten), ben Anachronismus mit fich gebracht, für
ben ih um Verzeihung bitte, daß fchon Hier Baco von Berulam mit
genannt iſt, obwol befien einflußreichfte Schriften, auf welche auch Eomenius
überall reflectirt, dba8 Organon unb das Buch De augmentis scientiarum,
erſt 1623 und 1626 erfchienen find. Immerhin ift e8 nicht auszufchließen,
ba bem regen Geifte durch den lebendigen Verlehr zwifchen ben Gelehrten
ber reformirten Länber auch fchon bie 1605 und 1612 erfchienenen vorläufigen
Entwürfe dieſer Schriften zugelommen find. — Zmeifelßaft ift mir, ob er
ſchon jetzt ben Scholaftiler leunen gelernt bat, ber als Borläufer biefer ganzen
Richtung angefehen werben kann, und ber fpäter gerabezu als fein Lichlings-
foriftfteller erfcheint: den Raimundbus von Sabunde. Er konnte ihn
fennen, ba bereit8 Diontaigne die Aufmerkſamlkeit auf ihn gelenkt hatte. Die
von Comenius veranftaltete caftigirte Ausgabe ber Theologia naturalis des
Raimundus (Amfterd. 1661, 12) legt bie VBenetinmerausgabe von 1531
zu Orunde. — Neben den im Text Genaunten ift namentlid Joh. Balentin
Andbreae von großem Einfluß auf Comenius geweſen; „virum fervidi spiri-
tus et defaecatae mentis“ nennt Comenius ibn Opp. didd. 1, p. 442; und
überall auch fonftl, wo er auf ihn zu reden kommt, fplirt man ihm bie &e-
nugthuung an, fi) mit dieſem reformatorifchen Geiſte in fortwährender Ver⸗
bindung und inniger Geiſtesgemeinſchaft zu wiſſen.
4. [3u ©. 13.] Der im Tert angezogene Bericht Über bie Art, wie
Comenius zu diefer fchriftftellerifchen Thätigkeit gekommen fei, findet ſich in
feiner Erpistola ad Montanum. Diefer vom 10. December 1661 batirte,
für die Kenntnis und Beurtbeilung de8 Schriftftellers Comenius mich-
tige Brief, den Palacky als ſehr felten und ibm ſelbſt unzugänglich geblieben
bezeichnet, findet ſich abgebrudt als Anhang zu dem Schriftchen unferes
Autors: Faber fortunae, s. ars consultandi sibi spsi (Amstelod. 1661, 12),
p. 7389q. Der diefer Periode der Verfolgung angebörige Kreis von Er-
baunngsichriften umfaßt namentlich folgende: 1) Das Centrum secwritalis,
geichrieben 1622, erft fpäter zu Liſſa gedrudt. Die mir vorliegende bentfche
Ueberfegung, unter dem lateiniſchen Zitel ohne Iahreszahl herausgegeben,
dem Könige Friedrich Wilden I. und feiner Gemahlin gewibmet, ift nach
der Unterfchrift diefer Widmung von dem Prediger an der böhmifchen Kirche
zu Berlin, Mader, angefertigt. 2) Der Tractat Arz inempugnabilis
nomen Dei. 3) Der Tractat De orbitate. 4) Die Dialogi (tebende
Berfonen Ratio, Fides, Chriſtus). 5) Der Tractat De tristibus. 6) Die
Schrift Labyrinthus mundi et palatium cordis, geſchrieben 1623, gebrudt
zu Liffa 1631; die berühmteſte von allen; ein Penbant zu der [jüngeren]
Pilgerreife des Iohn Bunyan, und diefem von Macaulay fo hoch erhobenen
Bude in Tiefe des religiöfen Inhalts kaum nachſtehend, in Anmut und
ſchriftſtelleriſchem Schwunge bebeutenb überlegen. (Die in Berlin 1787 bei
Amos Eomenins. 3
Hordath erfähienene bentiche Ueberfetzung ift feineöwegs, wie man aus Baurs
Anführung fließen möchte, die einzige bes vielgeleſenen Buches; die hieſige
Königliche Bibliothek befitst noch zmei, allerdings unvollftänbige, von 1738 und
1781; eine volfländige und bedeutend ältere fand ich 1868 in den Händen
eines Schäfer and der Gegend bes ſchleſiſchen Streblen, dem fie leider nicht
kil war.) — Alle biefe Schriften find von Eomenins urfprünglich in böh-
miſcher Sprache abgefaßt, nur einzelne lateiniſch; bie meiften aber von ihm
alsbald ins Lateiniſche und Polnifche überfetst worben. Eine beutfche Ueber⸗
fesung von feiner Sand befiken mir nicht. Dieß kann auffallen, da er fonft
ebenſo gern Deutſchland als Böhmen fein Baterland nennt (‚Germania
nostra‘“, fagt er dicium duplex [vgl. u. Anm. 16] u. ð.), und in feinen
didaktiſchen Werten mit sermo vernaculus ebenfo oft die böhmifche wie bie
dentſche Sprache bezeichnet, und faſt ausfchlieglih mit der letzteren erem-
plificirt. Das Urtheil über die Elaffteität feiner böhmiſchen Proſa findet
fh in der ©. 2 citirten Abhandlung des Sachlenners Palady. — Charak⸗
teriftifch für den Mann und noch mehr für die Zeit ifl, daß er in all biefen
acetifchen Schriften, and noch in ben fpäteren und fpäteften, am liebſten
an das Buch Eoheletb antnüpft; im Neuen Teſtament an die Korinther-
brief. In feinen didaktiſchen Werten find am bäufigften angezogen Pro⸗
verbia und Johannes. — Sehr bebeutfame und großentheil® unverwerthete
Rahrichten Über die Gelchide des Comenius ziwifchen 1624 und 1627,
namentlidy über feine in biefe Zeit fallenden Reifen nah Sprottau und
Bolen, Berlin und Frankfurt a. d. O., finden fi} passim in der II. und
III. Abteilung ded Buches Lux in tenebris (Anm. 21); intereflantes Ma⸗
tertal über die Perjönlichleit Zierotins in Gindely's Gefchichte ber boh⸗
milden Brüber von 1450-1609 (Brag 1857f.), Bd. IL, S. 350 ff.
6. [3u ©. 15—20.] Comenius bat in fpäteren Lebensjahren eine
Sefammtausgabe feiner didaktiſchen Werte in vier Foliobänden ver-
anftaltet und der Stabt Amfterbam gewibmet: J. A. Comenii opera di-
dactica onmia (Amstelod. 1657). (Doch enthält diefelbe einiges nicht, was
man darin fuchen follte, 3. B. den Orbis pietus und bie Elementarbücher für
die Boltsſchule; andererfeit8 bagegen einige der panfophifchen Schriften. [Bal.
n. Anm. 8.) Beim Gebrauch der Ausgabe iſt zu bemerken, daß in Bd. III
die Seiten 451 — 592 doppelt vorlommen.) Die grundlegenden Schriften,
welche der Zeit von 1627—1642, dem erften Aufenthalt zu Liffa, angehören,
und nırter denen die Didactica magna ben oberfien Rang einnimmt, find
im erfien Bande vereinigt. Eine gefchidtte Ueberfekung dieſes Hauptwerkes,
ſowie ber „Mutterfchule“ und einiger anderer Stüde ift von Beeger, Leut⸗
beider und Zonbel veranftaltet und in ber Pädagogifchen Bibliothek von
8. Richter, Bd. IT und XI berausgegeben worden. — Unter feinen
pldagogifhen Borftubien und deren Beranlaffung, namentlich in ben
Zeiten der böhmiſchen Berfolgung, giebt Comenins felbft Opp. didd. I, 3ega.
Austunfl. Dort wie an anderen Stellen (vgl. 3. B. Opp. didd. I, 442)
32 Kleinert
zeigt die große Reihe von Namen ber Autoren, mit benen er fich befchäftigt ben
Eifer der Zeit auf päbagogiichen Gebiet. Beſonderes Interefie erregt unter
benfelben der Gießener Helvicus, deſſen Selbfibericht über feine didaltiſchen
Reformverfuche man in Theoph. Spizels Templum honoris reseratum (Aug. Vind.
1673 p.) 50 nadjlefen kann. Vgl. auh B. Schupp, Schriften, Anh. S. 121.
Die Vorrede zu Eomenius’ Janua linguarum reserata (Opp. didd. I, 252)
zeigt, daß für die eigentiimliche Anlage dieſes Buches zu den in ber Didaktik
genannten Einflüffen auch der der Lehrmittel ber fpanifchen Jeſuiten (des iriſchen
Collegiums zu Salamanca) Hinzugetreten ift. Es zeichnet den Comenius als
Reformator der Pädagogik vor allen feinen Vorgängern und namentlich feinen
Nachfolgern die reiche Kenutnis und gründliche Durdarbeitung alles bereits
Geleifteten und die bewußte Anerlennung desſelben aus. Ihm felbft ift die
gleiche Gerechtigkeit erſt feit einigen Iahrzehnten zu Theil geworben. — Bon
Wichtigkeit ift e8, bie innere, pfychologifch= pragmatifhe Beranlaffung
feft in's Auge zu faflen, welche Comenius jelbft a. a. DO. und wiederholt für
die fehriftftellerifche Berwirflihung feiner bidaktifchen Intentionen darlegt und
welche demgemäß im Xerte vorgetragen if. Dan verfehlt das Berfländnis
des Mannes, wenn man fein Wert als das eines Reformers aus eigener
Willkür auffaßt, der ſich etwa die Aufgabe geftellt, „vie unvollendet gebliebene
Reformation zu vollenden” (Beeger im IU. Bd. der Päd. Bibl. S. ıvıı
der Borrebe), sc. biefelbe, fofern fie eine religidfe war, in ihre Negation zu
verwanbeln. „Ego“ — fagt Comenius Opp. didd. IV, p. 28 — „quae pro
juventute scripsi, non ut paedagogus scripsi sed ut theologus, hoc pro
scopo habens, ut gregis Christi agnelli juventus christiana externae
literaturae beneficio ad majora et solidiora promoveretur.“ Rod im Jahre
1650 notirt er fih: „Erbarmet ſich einmal Gott und eröffnet wieder bie Pforte
zum Baterlande und die Freiheit zur Gründung von Schulen, fo ift in ber
Widmung ber Didaktik auch diefes geltend zu machen: al8 man früher ſchlechte
Schulen Batte, half man fih mit Wanderungen, in der Hoffnung durch diefe
einen Erfat zu finden. Nun ſchwand aber auch diefer Troſt nach der gänz-
lihen Berarmung aller. Daher ift unter dem Himmel der befte Rath: man
errichte ji) zu Haufe tüchtige Schulen zu glüdlicher Ausbildung der Jugend.”
Es ift das Kennzeichen aller wirklichen umd erfolgreichen Heformatoren, daß
fie nicht proprio impetu, fondern durch etbifche Erfaſſung der Leitung ihrer
perfönlichen und der Gejcdhide ihres Volles, durch Berufstreue fi auch zu
ihren größten Werten leiten laſſen. (gl. au den Schluß von Anın. 8.)
Der Begriff einer „unvollenbeten Reformation” ift dem Comenius allerdings
nicht fremd. Aber wie er ihn in ben didaktiſchen Schriften nirgend gebraucht,
fo verbindet er eine weit andere Borftellung mit biefem Gebanten, als etwa
das moderne Ideal der Bildung ohne pofitive Religion. linvollendet könne,
meint er, feiten® der Katholiten bie Reformation mit Grund namentlich des⸗
wegen genannt werden, weil in ben großen evangeliſchen Kircheukörpern,
namentlich ben beutjchen, es mit der chriftlichen Sittenzucht noch immer ſehr
Amos Comenius. 35
nangeſhaft beſtellt ſei. Judicium duplex, p. 51. 589.: — Man möchte
augeficht8 ber Betriebſamleit bes Comenius in Anfertigung von Lehrbüchern
für jebe einzelne Abftufung des Unterrichtes zu bem Borwurf geneigt fein,
daß fein didaltiſcher Blan zu wenig fir bie freie perfänliche Bethätigung bes
tehrer$ übrig laſſe Doch wirb diefer Vorwurf zu befchränten fein, wenn
man erwägt, daß dem Comenius Har fein mußte, wie bei Berwirffichung
feiner Pläne er das Lehrermaterial werbe nehmen müſſen, wo ex es finde:
uud daß auch umter unendlich günfligeren Berbältniffen nicht immer bie
freie Probuctivität der Lehrer der Art ift, daß fie die Selbſtzucht durch das
Lehrbuch eines durchgebildeten Geiſtes als etwas entbehrliches erlennen ließe.
Schwerer wiegt der Vorwurf, den auch Comenius ſpäter ſich ſelbſt gemacht:
daß er das Princip der Voranſtellung der Mutterſprache nicht noch energiſcher
durchgeführt. Im der That liegt bier, in ber Vermiſchung des erſten An-
ſchanungsunterrichtes mit ben lateiniſchem Sprachunterricht die Wurzel für
die barbaries sermonis Latini, welde an feinen Schulbüchern mit Recht
getabelt worben if. — Die corollariihe Berweifung auf Joh. 5, 20 findet
fh am Schluß der Opp. didd. IV, 121. — lieber bie äußeren Berbältniffe
uud den Wirkungstreis des Comenius zu Liſſa findet ſich eine gute Dar-
Rellung mit trefflichem Onellenmaterial bei X. Ziegler, Beiträge zur älter
Geſchichte des Liſſaer Gymnaſiums, in dem 300 jährigen Jubelprogramm
des letzteren 1855, ©. Iff.
6. [3u ©. 15.) Zur Erörterung dieſer Begriffe hat dem Comenius
zamentlich feine nachherige Wirkſamkeit in Saros⸗Patak, die in mehrfacher
Beziehung eine Aulturmiffion war, Beranlafiung gegeben. Die Haupt-
erzengniſſe berfelben bilben ven Inhalt des 3. Bandes der Opp. didd. Zu
eultura vgl namentlih die Erörterung der Fragen: quid sit cultura
ingenü, quid sit homo cultus, quid sit populum esse cultum, quid
eulti ab incultis differant? in ber 1650 gehaltenen Rebe De cultura in-
geniorum in Opp. didd. III, 74sgq.; vgl. auch p. 3sq. unb ſchon I, 406:
„lterarum studia animorum culturam esse debere ad sapientiam, extra
quem scopum non nisi vana vanitas esse queat‘“. Zur humanitas
rechnet er an den Stellen, wo er fie mit der justitia nnb benignitas auf
die Brineipien des focialen Lebens (laedere neminem, tribuere suum cuique,
prodesse insuper cuicui datur) bezieht, fieben Stiüde: modestia, affabilitas,
candor, veracitas, urbanitas, concordia, mansuetudo. Opp. didd. III, 547.
Ueber bie Herleitung ans bem Grundſatz von ber imago Dei im Menfchen
tgl Opp. didd. I, 262qq. n. 3. — Das Hervortreten vieler Stichworte ber
neneren Geiftegentwidelung des Eomenins fällt bei ihm mehr als bei andern
Schriftftellern dieſe Wendezeit namentlich deßwegen in bie Augen, weil fein
jententidfer und prunkloſer Stil bas einmal für den Begriff gebrauchte Wort
fo leicht nicht wieder losläßt, und im Interefie pädagogiſcher Klarheit nor
vielfacher Selbfiwieberholung nicht die mindeſte Scheu bat. Der Terminus
tolerantia mit dem durchaus modernen Begrifi findet Au Judicrum
Ipesl. Stud. Vahro. 1878.
3 Kleinert
duplex, p. 145; unb fiir Theologen wirb auch bie® von Intereſſe fein, daß
bie Grundweſenheit der Religion von Comenius am liebſten als depen-
dentia bezeichnet wirb (vgl. 3. B. Unum necessarium, p. 172); aud daß
fchon er ein Buch De perfectione christiana geſchrieben hat, vgl. über das⸗
ſelbe Ep. ad Montan., p. 76. Er befinirt aber bie chriftliche Volllommen⸗
beit fo, baß fie tota consistat in facienda et patienda omni Dei voluntate.
Wie Überhaupt die Brundbprincipien feiner Imbioibualethit viel weniger von
den Principien ber beutichen Reformation beftimmt find, als vielmehr ein
Mittelglied zwiſchen der Myſtik des Thomas a Kempis und dem Duielisums
bilden. Sein Lieblingsjchriftfieller ift Senela.
7. Bu ©. 17.] „Philologiea cam realibus studia tractanti tot
annos mihi observare dedit Deus, homines vulgo non loqui, sed garrire:
hoc est non res et rerum sensum exprimere, sed verba non intellecta aut
parum vel prave intellecta inter se permutare. Idque non plebem tantum,
sed et semsliteratorum vulgus: et quod magis dolendum, ipsos bene
literatos multa ex parte propter infinitas in verbis quidem homonymias,
in rebus autem (quod ad interiorem atque essentialem earum constitutionem)
ignorantiam vel perpetuam.“ Ep. ad Montan., p. 97 gg.
83 [Zu © W.] Zu den Arbeiten des Amos zur Banfophie if
eine doppelte Bhafe zu unterſcheiden: bie erfte bie floffliche, en eyklopädiſche,
bei welcher es ihm mehr auf Organifation bes Wiſſensſtoffes als ſolchen
aubommt; bie zweite bie ethische, bei der e8 ibm auf bie durch die Wiſſen⸗
Ichaftslchre zu erreichende fociale Harmonie ankommt („scripts s. consul-
tatio catholica de rerum humanarım emendstione‘“). Als Scheibejahr
zwiichen beiden Phafen wirb 1645 angefeben werben können, wo er brieflich
berichtet, dieſe letztere Art von Schriftfiellerei in Angriff genommen zu Haben.
Zu der erfien Serie gehören der zuerft in Euglaud gebrudte Prodromus
pansophiae (Opp. didd. I, 404sqq.) und bie Diluadatio conatuum pan-
sophicorum (ibid. I, Abbsqq.), fowie die Schriften Via lucis (gedruckt erſt
zu Amfterbam 1668) und Pansophiae diatyposis (Dantisc. 1648), üßer
weile er in der Einleitung zum 2. Bande ber Opp. didd. Bericht erflattet.
Zur zweiten Serie gehört die Panegersia und Panaugia, beide erft 1666
zu Amſterdam gebvudt, während bie weiteren Pampaedia, Panglottis,
Panorthosia wugebrudt geblieben find. (Bon ber Panegersia finbet fi eine
gute Ueberſetzung in 8. Richters Päbagogifiher Bibliothet XI, ©. 308 ff.)
In der Slkizze des Tertes babe ich beibe Phaſen zuſammengefaßt, wie fie
denn thatfüchlich im Berhältuis zu der Entfaltung bes Comenins als
literariſcher Berföntichleit eine untreunbare Einheit bilden. Bol. mit ber
Dorlegung über bie Geueſis diefer panſophiſchen Beſtrebungen, welche er be-
reiss in die erfien Zwanzigeriabre des Jahrhunderts zurlidverlegt, Opp. didd.
I, 442 den abſchließenden Rüdblid im Unum necessarıum, p. 817: „Quae
Christianorum adversus invicem obstinatio irritumque hactenus variorum
eos reeonciliandi studium cogitare me fecit: facilius curari posse totum
Amos Comenins. 85
qaam partem; coepique extendere desideria ad totum humanum genus
reconeiliandum mediague et modos quibus id fieri possit circumspec-
tandum ‘“; und zwar fei, wie er binzufügt, von biefer Intention ſchon ber
Prodromus getragen geweſen. Cine Mittelpbafe zwiſchen jenen beiben bildet
ſachlich die Verbindung ber panſophiſchen Geſichtspunkte mit den bibaktifchen,
wie fie in den Schulſchriften von Saros-Batal (Opp. didd. III) Kerbor-
tritt. — Schon oben ift (S. 10) darauf Bingewiefen, wie bie encytlopä-
bifche Geifteßrihtumg des Comenius im gewiſſer Beziehung einen Gegenſatz
zu ber gegenwärtig vorwiegenden Auffaffung ber wiflenfchaftlichen Aufgabe
darfiellt. Auch in anderen Beziehungen zeigt fich diefer Gegenſatz. Erſtlich
in dem Comenius der Gedanke eines Wiſſens um bes Wiflens willen ein
fernfiegender. Der Begriff. der scientia tritt ihm durchweg zuräd hinter
den ber sapientia. Woburd er fralih auch, unb mit Bewußtfein, vor
mander Ginfeitigleit bewahrt geblieben if. Dem Zwicker (ſ. oben S. 25),
welcher im Berlauf bes Streiteß es für gut befunden, gegenüber bem greifen
Braktiens die Miene wiſſenſchaftlicher Bornehmbeit anzunehmen, ſchreibt er
lterata admonitio, p. 206): („Quomodo alios tus seripta afficiant nescio;
mihi tua legenti non potest non toties illud Senecae oceurrere: ‚quo-
rundam scripts clarım habent tantum nomen aut argumentum, cetera
eısanguis sunt: instituunt, disputant, cavillantur; non tamen faciunt
auimum, quia non habent. Cum legeris Sextium dioes: vivit, viget,
liber est, supra hominem est, dimittit me plenum fiduciae.‘ De te autem
verissime illud Senecae diei potest: ‚Graecorum morbus fuit, circa
misutias sapere.‘ Quicquid enim tam vasto conatu agis, Zwickere, ex
omni antiquitate scrupulos colligendo, revera nil nisi minutiae sunt,
æruta, titivillitia; ut totum tuum librum ex rei veritate et absque
omni convicio forum serutarium appellare liceat.“ Zweitens fehlt ihm
die Gabe der hiſtoriſchen Kritil. Nicht bloß in feinen eigentlich kirchen⸗
hiſtoriſchen Schriften (aufgezählt in ber Ep. ad Mont. p. 92) fonbern auch
ſeuft läßt ihn bie Sophroſyne, bie alle feine bibaktifchen Sachen auszeichnet,
namentlich da im Stih, wo er feinen Liehlingsgebanten, ben durch bie alt»
ſioveniſchen Milfionäre und Waldenjer vermittelten birecten Zufammenbang
ber bohmiſchen Brüberliche wit den Apofteln berührt. Beide Momente
wirken zufanmmen, zu exflären, baß eigentliche Kortfchritte des eracten Wiſſens
auf Comenins nicht zurädzuführen find. Wie er nicht übel Luft zeigt, das
copernicanifche Weltſyſtem nicht wegen entgegengefeiter Beobachtungen ober
bibliſcher Ausfagen, ſondern aus PBrincipien der Panfopbie zu den Acten zu
legen (Opp. didd. 1, 416), fo bleiben feine Schriften zur Phyſik und Aftro-
nomie (Ep. ad Mont., p. 91) befler in der Bergefienheit, ber fie verfallen
ſind. Mit um fo größerem Nachdruck iſt er dem zugewandt, mas ihm bie
Sanytfache ift, der iwifienfchaftlichen Organifation. So hoch er den Baco
Reit, fo laun er dad Syſtem desſelben, das für Metaphyſik und Ethil feinen
Raum Habe, hoch nur für ein keineswegs befriebigenbes Theilſtück der Pau⸗
5 *
86 Kleinert
ſophie Halten (vgl. 3. 8. Opp. didd. I, 432); und als ber von ihm hoch⸗
gehaltene Ritſchel ihm bie Metaphyſik, welche ben Grundpfeiler bilden fol,
nieht zu Dank barftellen kann, vertieft er fich felbft mit größten Ernft in
biefe Studien, und fchreibt 1649 ſelbſt einen leider verlorengegangenen Abriß
der Metapbufll. (Bol. Sinbely in der meift auf handſchriftlichen Quellen
berubenden Abhandlung über des J. 9. Comenius Lehen und Wirkſamleit
in der Fremde, melde in den Situngsberichten der Wiener Alabemie der
Wiſſenſchaften, philofophifch-hiftor. Klaffe, von 1855 abgebrudt ift, &.505.) —
Das theoretiihe Ideal der Panfjopbie entfteht dem Eomenius wie das ber
Didaktik aus dem Fundamentalfag vom Ebenbild Gottes im Menſchen.
Deun gemäß dem Weſen Gottes muß bie Herausbilbung dieſes Ebenhildes
es auch auf Alliviffenbeit nah dem Maß der Gaben anlegen. Opp. didd.
1, 4065q. Ausgangspnintt ift die Metapbufil, in welcher die Adern ber
Dinge liegen, beberrfchenber Zielpuntt die Harmonie der Dinge, Princip der
gensus communis; überall fei in breitheiliger Glieberung als bem in Gottes
Wert überall zu Grunde liegenden Schema vorzugehen. Opp. didd. I, 446.
435. Die formelle Gruppirung des Ganzen ſcheide eine Wiflenfchaft bes
Seienden (Pansophia im engeren Sinne), des Gefchehenen (Panhistoria) und
ber von der Menſchheit aufgeftellten, miberlegten ober beflätigten Meinungen
(Pandogmatica). Bgl. den Brief des Comenins au 2. be Geer bei Gindely
a. a. D., ©. 489. Dem fhließe ſich daun ber Ueberblid der menfchlichen
Künfte an, das triertium catholicum. Ep. ad Mont., p. 92. — Die große
etbifche Abſicht tritt namentlih in der Panegerfie in ihrer veifften
Klarheit hervor, aus welcher auch der ſchöne Schluffat der Skizze im Tert
entnommen if. (Diefer Schrift vornehmlich gilt das Lob Herders au bem
©. 2 angeführten Orte; und es if befannt, daß biefelbe von Kraufe [Die
drei älteftlen Urkunden als Yreimaurerbrübderfchaft 1820] und nad ihm von
andern auch mit ber Gedichte der Berfolgung humaner Principien durch
diefen Orden in Berbinbung geſetzt worden if.) Die menfchlichen- Dinge,
um deren emendatio catholica es ſich handle, feien biejenigen, weldye zur
fpecififhen Erhabenheit der menfchlichen Natur gehören, woburd wir über
ben Tbieren fliehen und Gott ähnlich find: Philoſophie, Neligion, Staats-
tunft. Nicht untbätiges Zuwarten werde ihrem Siechthum abbelfen, fondern
ein rüftiger Wille, der fidh nach den brei Srunbprineipien ber Einheit, Ein-
fachheit und Freiwilligkeit regulire. Zu folcher Berathung feien alle Philo⸗
fopben, Theologen und Staatsmänner aller Nationen zufammenzulaben. Den
fanguinifhen Optimismus, der diefen Plänen des Comenius zu Grunde lag,
der dem Manne keine Unehre macht und das Berdienſt feiner Schriften nicht
ihmälert, charakterifirt fignificant feine ins Wert gefebte, aber unvollenbet
gebliebene Abficht, die Bibel ins Türkiſche Überfegen zu laſſen und mit einer
panfophifchen Präfation dem Sultan zu überfenden. Bgl. au Judiesum
duplex, p. 527. Bon bier ans aber ergiebt fi auch bie einfache Wider⸗
legung ber oft aufgeſtellten Behauptung, daß Comenius je länger deſto mehr
Amos Comenius. 87
die Idee ber Humanität in Loslöfung vom chriftlihen Boden gefaßt und be-
Rinmt babe. (So 3. B. Berger, Päbag. Bibl. XI, S. m.) Aus ben
Schriften des Comenius läßt fi diefe Behauptung nicht begründen, am
allerwenigften aus bem Hinweis auf 8 58 des Prodromus; wohl aber durch
den Hinweis auf die großen Ausführungen itber den panfopbifchen Tempelbau
im ber Dilucidatio Opp. didd. II, 463 qq. mit leichter Mübe befeitigen. Die
Beitrebungen, den Comenius im inneren Zwiefpalt mit feinem kirchlichen
Beruf uud der Stellungnahme feiner religisfen Schriften anfzufaflen, ruhen
auf einer fchiefen Betrachtung des Mannes und einer verkümmerten Auf-
faffung bes Chriſtenthums. Die fittliy-religidfe Idee, die Comenius überall
verficht, ift keine andere, als ber chriftliche Begriff des Reiches Gottes.
9. [Zu S. 20.] Die Verbindung des 4. Comenius mit England
wurbe namentlich durch einen ausgewanberten Breußen Sam. Hartlieb, ben
Freund Miltons, unterhalten. Das Mißbehagen bed Comenius über die inbe-
pendeutiftifchen Bewegungen in England machte ſich ſpäter in zwei Schriften
enft: De independentia confusionum ortigine, Lem. 1650 und Paraenesis
ecelesiae Bohemicae ruinas passae ad Anglicanum ruinas praevenire
quaerentem de bono unitatis et ordinis disciplinaeque atque obedientiae,
Amst. 1660. Wie wenig Übrigens, troß feines kurzen Aufenthaltes in Eng-
land, feine Einwirkungen dort ſpurlos vorübergegangen find, davon zeugt
fowol Die dem Hartlieb gewidmete Schrift Miltons of education 1644, als
auch noch fpäter Locke’s Thoughts on education, Lond. 1693.
10. [3u ©. 21.] Die von 1643 — 1650 für Schweden verfaßten
didaktiſchen Schriften find im 2. Bande der Opp. didd. vereinigt. Port
aud im Vorbericht feine Erzählung von der Unterrebung mit Oxenſtjerna.
And verdient das begeifterte Urtheil des fchwäbifchen Theologen Weinheimer
über dieſen Schrifteneyelus nachgelefen zu werben, welches Opp. didd. IV,
p. 7 abgedrudt ift: .... [Comenius] vir, .de quo dubito an ex ipse tota
didactica, vel ipse totus ex didactica sit confectus... . lieber Lud. de Geer
vergleiche man namentlich das dem SHeimgegangenen von Comenius ge⸗
weibte Encomium Opp. didd. III, p. 1051 gg.
11. [3u ©. 21.] „Quantum ad me, non optem vivere in ecclesia
ubi sine disciplina vivitur“, ſchreibt er noch 1659 in ber Vindicatio
famae ei conscientiae, p. 56, in dem er zugleidh, der Bifchof, das evan⸗
gelifche Princip der Disciplin als einer alle umfaflenden Eompetenz ber Ge⸗
meinjchaft mit großer Klarheit barfiellt: „Neo enim ordinis veri aliter sibi
constat ratio, quam ut qui attendit omnibus, illi rursum attendant
omnes, et cujus disciplinae subjacent singuli, ille se rursum disciplinae
subjieiat omnium.“ In häufiger Wiederkehr erfcheint, ver Gebante bei ihm,
daß die Misgefchide feiner Kirche göttliche Züchtigungen für den Verfall der
Dikeiplin feien, vgl. 3. B. die oben angeführte Schrift, p. 26sqg. ES war
ans beimfelben Gedauken hervorgegangen, baß er von ber Historia de origine
et moribus fratrum Bohenorum de3 Joh. Lafltius zu Liſſa 1649 eine neue
38 Kleinert
Ausgabe cum praemissa de prolapsu disciplinae dissertatione et subjuncta
ad redeundum in viam exhortatione veranftaltet. (Ibid., p. 29. 12.) —
Im übrigen vergleihe man betrefis ber Bedeutung des Comenius für bie
Geſchichte ver Kirhenverfaffung namentlich in Bezug auf Das Weſensver⸗
hältnis desfelben zur Disciplin, welche nur im Zuſammenhang mit der Ver—
faffungsgefchichte der Brüderkirche überhaupt erfchöpfenb gewürdigt werben
kann und eine befonbere Monographie erfordern möchte, vorläufig ®. 8.
Lechler, Gefchichte der Presbyterial- und Synobalverfaffung felt ver Refor⸗
mation, Leiden 1854, ©. 2321. 146. 289.
12. [Zu S. 22.] Ueber biefen Zweig der Xhätigteit des Comeniuß
findet ſich das werthvollſte Ouellenmaterial in Gindely’8 Anm. 8 angeführter
Abhandlung. Bgl. namentlih S. 495 ff. 530 ff. nnd die Ratio collectarum,
p. 53780q. Eine interefjante Illuſtration zu der Art feiner feelforgerifchen
Behandlung der jungen Leute bietet der ebendaſelbſt &. 548 f. abgedruckte
Brief an den P. Securius von Staliß.
18. [Zn ©. 22.] Bol. 3. B. Unum necessarium, p. 163: „Ex hac
umbras rebus praeferendi pessima consuetudine nata est alia humanam
societatem premens et perimens pestis divina jura pro arbitrio infringendi
dummodo statum queın sibi quis proposuerit consolidandi spes sit. Vocant
rationem status intelliguntque licentiam quidvis agendi quod propriis
commodis serviat nullis in contrarium obstantibus pactis aut promissis ...
non jus regnabit, sed vis aut dolus.“ Daß die Beobachtung der Politik der
Generalftaaten aus unmittelbarer Nähe in diefer Anfchauung des Comenius
vom fittlichen Werth ber Staatsraifon nichts hatte ändern. tönen, begreift
ſich leicht, wenn man etwa 3. B. Treitfchle'8 Erörterungen über jene
Bolitit (im 2. Bande der Hiftorifhen und politifchen Auffäge, 4. Aufl. 1871;
vgl. namentlih S. 528. 463) nachlieſt. — Die im Tert angezogenen Briefe
de® Eomenius an Oreuftjerna find abgebrudt bei Gindely in ber mehrfach
angeführten Abhandlung S. 541ff. — Zu den Zahlenangaben lber-die Be⸗
völlerung Böhmens bein Beginn und am Schluß bes breißigjährigen Krieges
vgl. Häuffers Geſchichte des Zeitalter® der Reformation, herausgegeben von
Onden 1868, S. 304.
14. [Bu ©. 22.] Das „Teftament der Herbenden Mutter”
— „vernacule scriptum et typis descriptum anno 1650, post exclusos a reli-
giosa paoe in aeternum Bohemos‘‘, Lux in tenebris, p. 238 — ift beutfch
in einer guten Weberfegung in Leipzig 1866 mit einem kurzen Lebensabrif;
des Comenius herausgegeben. Unter den an bie Brüder feldft gerichteten
Willensbeftimmungen tritt bie Weifung hervor, fi den beflehenden evan⸗
gelifchen Kirchliche Gerneinfchaften mit milligem Dienft anzufchließen „und
das Beſte der Stadt zu ſuchen“. So bilden bie Ueberrefte der böhntifchen
Kirche in Poſen, die fogenannten Unitätsgemeinden einen, Theil ber preußifchen
Lanbestirhe. Jacobſon, Preußifches Kirchenrecht, S. 313. — Bemerkens⸗
werth find aber auch bie prophetifchen Baränefen, die Comenius ber Ster-
Amos Comenius. 80
benden gegenüber ihren enangelifchen Schwefterixchen in ben Mund legt: an
die bentiche, daß fie in Gefahr fiehe, am Mangel chriftlicher Zucht zu Grunde
n geben; an bie beivetifche, daß fie iu Gefahr fei, iiber dem Schein bie Ein-
falt, unb in der Freude an den Schalen der Berfaflung den Kern zu ver-
teren, uud durch Geburt unzähliger Spaltungen fich felb zu vernichten.
Unſchwer erfennt man namentlich an ber Art, wie ber Borbalt an die luthe⸗
rifge Kirche Dentichlands ausgeführt wird, ben Vorläufer ber pietiftifchen
Bewegung, die in fo vielfacher Beziehung (auch im bidaktifcher) an Comenius
direct angefchloffen bat. Eben dahin flellt ihn auch ber Umſtand, baß bei
ihm, einem ber erften innerhalb ber ewangelifchen Kirche, die Erkenntnis be-
geguet, wie Die Miffjiou eine wefentliche Lebensäußerung ber lebendigen
Kirdge ſei. Judicium duplex, p. 199.
35. [Zu ©. 24] ,„Dudum afflictorum portus hbabita Hollandia
urbiumque ocelle Amsterdamum!“ Opp. didd. IH, in der ®idmung vor
p. 831. — Es wäre eine nicht undankbare Aufgabe, bie myſtiſche Seite
an der damaligen Geſammtphyſiognomie des geiftigen Lebens der mächtigen
Reopublit herauszuheben und in einem Gefammtbilde zur Darfielung zu
bringen, wie fie namentlich durch biefe Flüchtlinge, wenn auch nicht aus⸗
ſchließlich durch fie, conftitnirt if. Um nur die Belannteften zu nennen, fo
zigen Namen wie Comenius und Lobenftein, Labbabie und Felgenhauer, bie
CS härmanu und die Bouriguon, Kuhlmann, Gichtel, Spinoza eine fo manig«
faltige Ausgeflaltung der Myftit durch alle Schattirungen hindurch von ber
einfach prattifchen, Firchlich-ascetifchen bis zur quietifiifchen und erotiſchen und
wiederum biß zur tbeofophifchen und pantheiftifchen, wie fie felten auf einem
zeitlich und räumlich jo eng bemeſſenen Gebiete wieberbegegnet. — Wunder
tann e8 nehmen, daß Comenius feine nächfte Zuflucht nicht bei bem großen
Ehurfärften, dem Bertreter der Evangelifchen, fuchte und fand, durch befien
Laube ihn doch fein Weg führte. Um fo mehr, al8 nicht unbelannt if, wie
der große Churfürſt in fpäterer Zeit ben Meflen der Böhmen in Polen fich
ſehr freundlich und Hillfreich bewiefen und namhafte Beneficien für fie beim
Joachimsthal'ſchen Gymnaſium in Berlin unb bei der theologiſchen Facultät
zu Frankfurt a. d. O. geftiftet hat. Bol. Ziegler a. a. O. ©. xxxvu.
Mau könnte zu vermuthen geneigt fein, daß die anfängliche Begeifterung bes
Comenius für Karl X. Sufav von Schweden den Ehurfürflen verftimmt
habe, deſſen nüchterner Sinu von dem nordiſchen Abenteurer ſich bald genug
abwandte Dies würde für da® Jahr 1657 eine zuläßige Annahme fein;
der in dieſem Jahr gefchriebene Brief des großen Churfürſten an Richard
Cromwell, welcher in ben Epistolae praestantium et eruditorum virorum
ed. II (Amst. 1684, p. 897) abgebrudt ift, brüdt feine Enträflung über
die rüdfihtslofe und nur dem erflen Prätert nach ewangelifche Politik
des Schweden fehr unverholen aus. Aber fürs Jahr 1656 und gerade
für die Fluchtmonate des Comenius begünftigen bie Zeitverhältnifie jene
Annahme nicht. Ich gebe bie Hoffnung nit auf, daß die Archive noch
4 Kleinert
Thatſachen zur Erklärung biefes auffallenden Phänomens ans Licht geben
werben.
16. [3u ©. 24.] Die polemifhe Schrift des Comenius gegen Rom
bat den Titel: Judieium duplex de regula fidei, qualiter a Valeriano
Magno constructa fuit, et qualiter ex intentione Dei et ecclesiae usu
construenda venit; Amflerdam 1658, 12. Sie befleht, wie ihr Name anzeigt,
aus zwei kleinern Schriften, welche bereitö in ben Jahren 1644 und 1645
von ihm abgefaßt und unter dem Pſeudonym Ulrich Neufeld ebirt waren ;
bie erſte (Jud. dupl., p. 7i—351) unter dem Titel Absurditatum echo, die
zweite (p. 353—546) unter dem Titel Judicium de fidei catholicae regula
catholica ejusque catholico usu. Beranlafjung zur Abfafjung berfelben
gab dem Comenius der Kapuziner Balerianus Magni, ein kenntnisreicher
und nicht ungefchidter Apologet der tribentinifchen Lehre, welcher beim welt⸗
lihen Belehrungseifer der Ferbinande mit einer Doppelichrift affiftirte, deren
erfter Theil in ſechs Büchern bie proteftantiiche Glaubensregel durch deductio
ad absurdum zu widerlegen unternabn, während ber zweite in acht Büchern
die tatbolifche wider allen Zweifel klar⸗ und feſiſtellen follte. Daran anſchließend
gebt die erſte Schrift des Comenius darauf aus, die abjurden Confequenzen,
welche Balerianus Magui den PBroteftanten zufchob, als entweder nicht con⸗
fequent, oder nicht abſurd aufzuzeigen und die Abfurbitäten in ben Aufftel-
ungen des Geguers nachzumeifen, bie zweite aber darauf, die proteftantifche
Slaubensregel in ihrem Gegenfat gegen die katholiſche Har und unanfechtbar
binzuftelen. Während viefe zweite durch ben weitfchichtigen fcholaftifchen
Apparat von Diftinctionen, Axiomatis und Porismatis einigermaßen ermilbet,
ift die erfte, daS absurditatumn echo, durch bie fhöne Bereinigung erasınifcher
Grazie und evangelifher Mannhaftigkeit eine überaus anziebende Lectüre.
Geht dies, wie das im Tert gegebene Urtbeil, zunächſt die Form der Schrift
an, fo ift doch aud ber ſachliche Inhalt von ber Art, daß die gänzliche Nicht-
beachtung biefer comeniſchen Polemik bei den Hiftorifern der Theologie nicht
gerechtiertigt erjcheint. Es genüge, einige Hauptpuutte hervorzuheben. In=-
dem Balerianus Magni fein Abfehn auf alle Alatholilen, bie noch Kirche
wollen, richtet und fie unter dem Namen Bibliften zufammenfaßt, ift es
ausſchließlich das formale Princip der Reformation, auf defien Belämpfung
er fein Abſehen richtet. Und zwar fei, betreffend die dogmatifche Dignität
der heiligen Schrift, eine Reihe von gemeinfamen Eäten zwilchen Katboliten
und Bibliften vorhanden, und ber status controversiae unter Ausfchluß ber-
jelben dahin zu beſtimmen, baß es fih darum handle: quibusnam certo et
infallibiliter assistst Spiritus Sanctus ne errent in exponendo vero sensu
sacrarum scripturarum ? Die Katholiten geben die Antwort: das fei bie
Kirche, d. h. der Papſt mit dem allgemeinen Eoncil; die Bibliſten damit, es
feien bie Einzelnen, welchen auf ihr Gebet der heilige Geift ein derartiges Ber-
ſtändnis der Bibel exöffne (p. 1048q.). Comenius nimmt den gegebenen
Kampfplag ohne weiteres an, indem er aber replicirt, baß der von Valerianus
»
Amos Comenius. 4
angegeberte consensus zwifchen Tatholifcher und evangelifcher Lehre von ber
heil. Schrift nicht richtig Angegeben, bemgemäß auch ber status controversiae
talfch formulirt ſei. Es fei nicht, wie Valerianus Magni angebe, gemein-
ſame Lehre der Katholiten und Bibliſten, daß bie heilige Schrift an fich certa
und infallibilis fei, und daß niemandem, ſelbſt einem Npoftel ober Engel
nicht, zu glauben fei, wenn fie etwas wider bie Schrift Ichren. Es laſſe fich
vielmehr ans den officiellen Dogmatitern ber katholiſchen Kirche nachweiſen,
daß fie bie Kirche über bie Schrift flellen (p. 107). Es fei wieberum nicht
richtig als gemeinfame Lehre beider Theile bingeftellt, daß das, was ben
Elauben regulire, nicht fowol in der Schrift felbft, als vielmehr in ber, das
Vernäudnis berfelben bebingenden Affiftenz bes heiligen Geiſtes, alfo in ber
Auslegung liege; daß beim Außleger, wofern er nicht von der Schrift abweiche,
geglanbt werben müſſe, und daß, ba er die Erleuchtung bes heiligen Geiſtes
babe, er von ber Schrift nicht abweichen künne. Vielmehr liege für bie Bibliften
die Glaubensnorm ſchlechterdings nicht in der Auslegung, ſondern in der Schrift
jelb, und bafire auf dem Satze, daß bie heilige Schrift in ben nothwendigen
Stanbenswahrbeiten perspicua und clara fei. Nicht dem Ausleger werde ge-
glaubt, jondern dem durch ihn evident bingeftellten Schriftfinn als ſolchem; —
baber denn audh, ob die Auslegung eine offtcielle ober private fei, für die Norma-
tiwitãt jenes Siunes gar nicht in Betracht kommen, und felbft zwilchen einem
Rabbiner, der den Schriftfinn mit unzweifelhafter Klarheit an's Licht geftellt,
nud zwiſchen einen Koncil, das an bemfelben vorbeigegangen, bie Entfcheibung
des Bibliftien keinen Augenblid ſchwanken werde; — Infallibilität könne
immer nur Gott ſelbſt, niemals irgend einem Außleger zugefchrieben werben;
auch der höchſten Erleuchtung des heiligen Geiftes, fofern fie im Menſchen
iR, lann fich Finſternis beimifchen ; if} credere — testimonio alicujus propter
suam ipsius autoritatem acquiescere, fo gebe es für den Chriſten überhaupt
nur einen Zeugen, ber ſchlechthin Glauben forderu könne, nämlih Chriſtum
(p- 1085q. 145. 157. 110 q. 508). So fei denn auch ber status controversiae
vielmehr bergeftalt zu formuliren: „Illud, in quod se nostra fides ultimo
resolvrit quidnam sit? alienuamne testimonium (puta ecelesise con-
gregatae) sufficit? an ad judicium usque personale veniendum sit,
at fidei quisque domi testem habeat, seipsum ?‘“ (p. 113; cf. 216: „mihi
satisfiat necesse est“.) Die Valerianiſche Formulirung verhülle lediglich die
Schneide der Frage, daß nämlich der Stanbpunft des Gegners immer auf
eine fides imperativa hinanswolle (die doch, als eine larva fidei, weder bie
Apofel noch Chriſtus ſelbſt gewollt haben) nnd den Glauben immer anf
Zenguis und Autorität ber Menſchen gründe; wie verſchieden müßte ein
Chriſtus im Sinne der Balerianifhen Aufflelungen von dem biftorifchen
Chriſtus in Erſcheinung und Rede geweſen fein! (p. 114sq. 328. 515.) Wolle
Valerianus Ernſt machen mit dem von ibm aufgeflellten Grundſatz von ber
keiberfeitig anerlannten Bedeutung ber heiligen Schrift, warum mit fo un⸗
endlichen Umfchweif von Concilien n. f. w. zu ben Duellen gelangen, zu
7 Kleinert
denen ber Biblift unmittelbar hinweiſe? wielmehr wozu burd jene Umſchweife
bie Onelle verjperren ? (p. 217. 518.) Die Abfurbitäten, welche Valerianus auf
Grund feiner Yormulirumg bes status controv. den Proteſtanten zufchiebe
(p. 117sqq.), fallen bei genauerem Zufehen bin. Daß mit der Autorität
ber heiligen Schrift Ungläubige nicht zu betehren fein werben, fei richtig be=-
merlt, gehöre aber nicht in bie zwiſchen Gläubigen vwerbanbdelte Erörterung
einer bogmatifchen Frage; oder meine Valerianus etwa, die Ungläubigen mit
der Autorität der Kirche belehren zn können? Schon bie Mifflonspraris ber
Jeſuiten, bie gar anders verfabre, könne ihn eines befferen belehren. Es
handle fich bei der Frage nicht um hervorzurnfende Slaubensanfänge, fonderu
um Ölaubensgewißheit, bie fih eben nur auf Gott felber gründen könne
(p. 128sqq. 140. 153). Was aber bie pofitive Glaubensregel des Valerianus
umb ihre Begründung felbft angehe, baf nämlich der Glaube durch die wahre
Kirche, dargeftellt im Papft und .allgemeinen Eoncil8 normirt werbe, daß bie
Wahrheit der Kirche durch die Wiebergeborenen in ihr, bie Wiebergeborenen
aber durch fortgebende Wunder beglaubigt werben, fo fei zwar bie hohe Stel-
lung fehr zu billigen, melde in diefer Regel ber Wiedergeburt zugemwielen fei
(p. 181—201); um fo mehr fei die Art zu beklagen, wie biefelbe beflnirt
und bie Berbinbungen in bie fie verfettet fei. Unaufgeklärt fei die Darfiellung
ber Kirche durch Concilien, welche doch gegen Apſtgeſch. 15 keine Laien ent-
bielten und auch abgefehn hiervon nur misbränchlich allgemein genannt werben
tönnten; unaufgeflärt das Verhältnis von Papſt und Eoncilien zu- und neben-
einander, wo doch die eigene Eonfequenz ben Gegner dazu treiben müſſe zu
fagen: concilium errare potest, papa non potest (p. 272-284). Halte man
die Bielheit als Garantie bes Richtirrens feht, To fei das lediglich Vorurtheil;
lege man den Nachdruck darauf, daß diefe Vielheit, weil fie in bonitate von
Gott denke, von dieſem bem Irrtum nicht werbe preißgegeben werben, jo heiße
es nicht in bonitate von Gott benfen, wenn man buch Auffudhung und
Aufftellung von Fürfpreddern Menſchen barınherziger darftelle, als ibn (p. 335.
345). Die Definition aber der Wiedergeburt bei Valerianus Magni ſei
pharifäifch (ultra legem nil sapiens), in jevem Betracht unbillig und natu-
raliſtiſch: fie könne vom platonifhen oder eyniſchen Standpunft ans ganz
ebenfo gegebeg werben (p. 205. 308— 313. 3385q). Vollends der Erweis
ber Wiebergeborenen durch fortgehende phyſiſche Wunder, die doch auf Gott
bezogen immer nur feine Allmacht beweifen können, die nach der Schrift
ben inneren Werth bes Menſchen an fih nicht beurtunden, von denen Balc-
rianus nad eigenem Geſtändnis keins weder gethan noch geſehen babe, fei das
Gegentheil aller überzeugenden Beweisführung, und feine Abfurbität mit
leichter Mühe auch aus katholiſchen Schriitfiellern ſelbſt darzuthun (p. 227.
235. 2485qqg. 2608q. 319sqg. 840). Alle drei Syllogismen, in bie bei
näberem Zufehen bie Slaubensregel des Valeriauus fich auflöſe, ſeien in ber
major falſch, in der minor bebentlih (p. 2403qq.). Die Glaubensregel, weldye
Comenius als die biblifiiche der des Valerianus Magni gegenüberfiellt
Amos Comenius. 48
and berem tatholtfchen Gebrauch er darein fest, baß fie von allen Kirchen-
gfiebern und im allen kirchlichen Beziehungen der Lehre, Prüfung und Re
ionmation zu gebrauchen if, p. 476. 490), Yegt ſich im der genetiſch fort-
fhreitenden Entwidlung dar, baß bie Autorität ber heiligen Schrift, welche
allen Ehriften facrofanct fein muß, dem Gläubigen durch eine breifache In⸗
Banz feftmerbe; zunädft in äufierer Weife durch bie Kirche, melde ihm ben
Kanon der Schrift Übergebe, dann innerlicher und feſter durch bie Schrift
ſelbſt, weldje ihn revelationum sublimitate, praeceptorum sanctitate, pro-
missoram amplitudine, majestati styli summa cum summa simplicitate
ceonjuncta von ihrer inneren Höhe überführe; enblih am fefteften und
vollformmen durch das testimonium Spiritus Sancti in ipso corde fidelis
(p. 4T3saqq.). Wenn Eomenins auch Hier der Abficht feiner Schrift entfpre-
hend im mefentliden anf die richtige Kormulirung des formalen Princip®
Ah einfchräntt, fo zengt doch die Formulirung felbſt von der tieferen Erfaſ⸗
Inng besfelben in feiner wachſtümlichen Berbindung mit bem materialen,
wie diefe auch ſchon oben in der Forninlirung des status controversiae her-
vortrat, und auch fonft 3.8. darin begennet, daß er an$brüdtich beruorbebt,
wie unter ben fieben dogmatiſch und biblifch möglichen WBebenturigen bes
Wortes fides die Aufftelungen des Valerianus, die er befämpft, es eigentlich
anr mit ber wierten und fünften zu thun haben (fides historica, unb fides —
abjecta eredita), während bie höchſte ſchriftgemãße bie fiducia aeternae mi-
sericordiae in Christo nobis oblatae fei (p. 403). Auch fonft zeigt fi, daß
die einfeitige Ueberfpannung des Schriftprincips, wie fie ber reformirten wie
der Intherifchen Ortboborie dieſes Zeitalter8 eignet, ihm fremb ift, ſowol
darin, daß er in feinen paftoralen Schriften von den Apokryphen (ſelbſt
IV Esrae, vgl. 3.8. das Teftament der flerbenden Mutter) ſehr ausgiebigen
Gebrauch macht, als auch barin, daß er in dem Streit Über bie Authenticität des
maforetbifchen Textes teinesmegs fir die Burtorfe Partei nimmt. Bgl. 3.8.
Unum necessarium, p. 189. Zn beachten ift auch bie hohe Stellung, bie
er in Slaubensſachen der ratio zuweiſt, fofern biefelbe Inx mentis if. Bale-
rianus babe Recht, die ratio Koch zu erheben: „denn fides Christiana, quia
sla solida undique vera et undique harmonica est, irrationale nil admittit“
(Judie. dupl., p. 185). Darum fei auch die Einfchräntung derſelben bei
Lalerianus auf die ariftotelifche Syllogiſtik und auf diejenigen bogmatifchen
Atagen, welche jenfeit der Autorität der Kirche Itegen, nicht zuläßig. ‚, Hoc
sublimitatis datum est menti humanae, ut in rerum scrutiniis nullo ac-
quieseat teste nisi se ipsa. Autoritas nunquam rationi praeferenda;; rati-
onum vero harmonia semper speetanda.“ (p. 198. 401. cf. 215. 265.)
17. [Bu ©. 25.] Der Melden'ſche Spruch (Über welchen Lücke's Mono-
graphie vom Jahre 1850 und' die Anzeige berfelben von 9. Müller in
der deutfchen Zeitfchrift desfelben Jahrgangs zu vergleichen) findet ſich bei
Comenins im Unum necessarium, p. 178. In berfelben Schrift auch viele
Klogen über den durch den Confeſſionsſtreit mitverſchuldeten Atheismus ber
44 Kleinert
Bolitit, die aber auch fonft bei Eomenius häufig begegnen. Die vornehmfien
feiner auf das collegium Thorunense bezügligen Schriften find dem in ber
vorigen Anmerkung befprocdenen Judicium duplex, p. 604sqq. al® Anhang
beigegeben. Ebenbafelbft auch als Einleitung eine Abhandlung de dissidentium
in rebus fidei Christianorum reconciliatione. Der Angelus pacis ad
legatos pacis Bredam missus indeque ad omnes populos mittendus erfchien
zu Amſterdam 1667.
18. [Zu ©. 25.] Die bebeutenbfie unter den polemifchen Schriften des
Comenius gegen den Socinianismus if das Speculum Socinismi uno
intuitu quicquid ibi ereditur exhibens (Amstelod. 1662, 12). Sie ift ein
Eramen des Rakower Katechismus, demſelben von frage zu Frage folgend ad
demonstrandum, hodiernos aeternae Christi Divinitatis abnegatores, Soci-
nianos, in reliquis etiam religionis capitibus ebionizare, i. e. (secundum
Eusebium) in tradendis de Christo dogmatibus pauperes et abjectos esse et
prae aliis a veritatis et pietatis via aberrare (p. 5). Nach der Art bes
Mannes, den Blid immer auf durchſchlagende Hauptgefichtöpuntte gerichtet
zu balten, find e8 auch bier wenige Brennpunkte bes kirchlichen Gegenſatzes,
auf die er immer wieber zurüdfommt und alle Differenz bezieht, während
er den Streit über Minutien mit ausgefprochener Abficht beiſeite läßt und
ganzen großen Abfchnitten bes Katechismus, welche von jenen Grunbfägen nicht
berührt worden, warme Anerlennung zolt. Der erfie Orundmangel ber
Socinianer ift nach Comenius ber, daß der Unterſchied von Geſetz und Evan-
gelinm, Gebot und Glaube nicht erfannt fei und baber das perfönliche Ver-
hältnis der Slaubenden zu Chriſto als Eentralpuntt der Religion nicht zur
Geltung fomme Christus ubique fidlem in se, Sociniani ubique prae-
cepta et opera inculcant. (p. 7. 19. 45.) Bon den Grundbegriffen Evan-
gelium und Glauben gebe der Katechismus nicht einmal eine klare Borftel-
Inng, fondern nur beiläufige Hiftorifche Erwähnungen (p. 78q.). Chriftus
fei lediglich als volllommenſter Gefeggeber bargeftellt, aber darin Liege fein’ Heil,
denn lex nunquam non erit lex, peccatum non tollens sed augens, quanto
perfectior tanto magis (p. 37); und man müßte bei genauer Verfolgung
dieſes Stanbpunftes, der die Gebote und Werte zählt, eher fagen, daß das
Geſetz des neuen Bundes unvolllommener fei, als das bes alten (p. 42.
41. 37. 36). So weiß denn auch ber Socinianismus nichts von einem Werte
Chriſti in uns (p. 59); kennt keinen Heilswillen, ſondern nur einen Gebots⸗
willen Gottes (p. 63); macht Chriſtus zu einem Verhänger auch zeitlicher
Strafen (p. 79); und fett, ein Iohnflichtiger Phariſäismus, als begrifflich
erfüllendes Ziel der Religion bie individuelle Seligteit, und zwar eine folche,
für welche nicht einmal die Gemeinſchaft mit Ehrifto integrirend fei (p. 6.
30. 62); während bie heiligen Männer Gottes in ber Schrift deutlich bezeugen,
daß das höchſte Gut in ihrem Sinne nicht bloß inviduelle Seligleit fei, Sondern
ein allgemeines Heil, das zu verwirklichen fie fogar anf ihre inbivibuelle
Seligteit verzichten wiärben (p. 6). Mit biefem erfien Grundmangel bed So-
Amos Comenius. 45
chianismn® hängt der zweite eng zuſammen: es fehlt die Erkenntnis von
der grunblegenben Bebentung des hobenpriefterlichen Amtes Iefu Chriſti
(p. 8. 24 sgq.); bie Frage cur tali servatore opus fuerit liege außer bem
Geſichtstreis des Sociniauiſsnius (p. 23); wobei denn freilich, Hei fchlechtge-
legtem Grunde, alles confus werben müfle, umb weder die Lehre vom Heil
ſelbſt noch die von den Sacramenten zu ihrer richtigen Geſtalt und Ordnung
gelangen tönne (p. 57. 51. 55. 65—68. 72). Ebenfo bauge am erſten der
dritte Grundbmangel: die mangelhafte Darftellung der Lehre von der Ber-
fon Jeſu Chriſti. Unbekümmert barım, daß er zu einem gefchaffenen Gott,
alfo einem Gößen, gelange, und das logisch unmogliche Kunfiftäd einer
Uebertragung von Weienseigenfcheften ohne Gleichheit des Weſens vornehmen
mäfle (p. 10. 77), reiße der Socinianiemus Sohn und Bater auseinander
(p. 12. 26); berufe fih für das Gottwerben des Geſchaffenen auf Stellen
wie Kol. 1, 18. Rom. 1, 4, ohne zu ertennen, daß im Kolofierbrief die Rebe
von eiuer boppelten Erfigeburt ei, wie dieſe durch die Grundanſchauung von
der boppelten Schöpfung gefordert werbe: von Ehrifto ald dem Exrfigeborenen
der Welt, und dem Exrfigeborenen ber Gemeinde; und dag Röm. 1, 4 ohne
Sinn fe, wenn es fi) bloß um eine Auferwedung Ehrifti durch Gott, und
uicht vielmehr um Wievernehmen bed Lebens durch bie eigene göttliche Seraft
handle (p. 20 2gq.). (Dielen legten eregetilchen Bebanten hatte Comenius ſchon
1638 zu Liffa, bei feinem erften Zufammentreffen mit den Soeinianern in
Polen, im Auftrag feiner Synode, in einer befondern Monographie ausge»
führt.) Aber freilich, es kommt eben zuletzt beim Socinianismus alles nicht
anf Erkenntnis eines Seins hinaus, fondern eined Genanntwerbens. Nicht
wer Chriſtus if, darum handelt es ſich für ihn, ſondern wiefo er fo ober
anders bezeichnet werben lönne, und barin werde bie Morfchheit des ganzen
Syflems in feinem tiefften Grunde offenbar (p. 16. 24. 46). — Die übrigen
gegen Zwider und fein Irenicum direct gerichteten Schriften des Comenius
(De ixentco irenicorum h. e. conditionibus pacis a Socini secta oblatis
si Christianose admonitio, Amst. 1660; Iterata admonitio de interato
Sociniano irenico, Amst. 1661; Admonitio tertia ad D. Zwickerum et
ad Christianos, Anıst. 1662) find der eben beſprochenen an Durchſichtigkeit
wicht gleich; aud) nicht frei von einer gewiſſen Gereiztheit. Zwider hatte ihn
über feinen Staubpuntt unb feine Intentionen getäufcht.
19. [Bu ©. 26] Der volle, nad Comenius' und des Jahr⸗
hunderts Art recht umfangreiche Titel ber Schrift, die neben dem Orbis
pietus feine befanntefte if, ifl: Unum necessarsum scire, quid sibi
sit necessarium in vita et morte et post mortem, quod non neces-
sariis mundi fatigatus et ad unum necessarium se Tecipiens senex J. A.
Comenius anno aetatis suae LXXVLI mundo expendendum offert (Amstel.
1668). Die mir vorliegende Ausgabe in Sedez, auf welche auch ſchon in ben
vorigen Anmerkungen mehrfach verwielen ift, ift zu Leipzig 1724 gebrudt.
Bon fpeciell theologiſchem Jutereſſe ift in dieſem überaus inhaltreichen und
4% Kleinert
is vieler Beziehung unuübertroffenen Weisheitsbuch einmal ber Abſchnitt Über bie
praktiſche als bie einzig augemefjene Lefung ber heiligen Schrift, p. 133sqq.;
dann der de praxi regulae Christi in ecclesiasticis, cap. VIII: quomodo
theologi, ecelesiarum pastores et episcopi accurata regulae Christi (de
uno necessario) observatione totius ecclesiae saluti et conscientiarum quieti
consulere ita poseint ut melius nequeat. Die nervoſe Diction madt einen
Auszug unmöglih; ich begnüge mich mit Mittheilung bed bedeutſamen
$ 16, p. 191: „A tot magistris nascuntur tot sectae inter christianos,
ut nomina fere nos jam deficiant. Et quaelibet seota se aut solam ec-
clesiam, aut purissimam ecclesiae partem credit; odiis inter se infinitis
implicatae omnes eheu! Nec reconciliandi spem alii aliis relinquunt,
irreconciliabilitatis scutum aliis alii perpetuo opponentes: confessiones
quasdam peculiares, quas sibi post scripturas sacras ipsimet cudunt, iis-
que se tanquam castellis aut propugnaculis includentes sese propugnant
et alios oppugnant. Non dico confessiones pias (quales esse concedamus
plerasque) malum quid esse per se; per accidens tamen, quatenus irrecon-
ciliabiliter distrahunt, omnino malum sunt, tollendum in universum, si
quando ecelesiae vulnera curanda sunt; aut semper christiana plebs quo
se vertat nesciet.“ — Merkwurdig ift auch auf dieſem Gebiet feiner literarifchen
Thätigkeit die Identität der Grundſtellung des Jünglings und Greiſes Co—
menius, welche beim Bergleich dieſer letzten mit feinen erſten ascetifchen
Schriften (Anm. 4) eutgegentritt. Er bietet bier wie in feinen bibaktifchen
und panfophifchen Arbeiten bie ſeltene Erfcyeinung eines überaus beweglichen
und empfängliden Naturels, eine® fortwährend ber Belehruug ſich offen-
haltenden und an fich ſelbſt bildenden Charakters, der body mit feinem erften
Hervortreten ſchon in allen weientlihen Beziehungen jo rund und fertig ent-
gegentritt, baß feine Wandlungen und Yortfchritte far überall nur auf bie
Form, nirgenb auf bie Subftanz feines geiftigen Befiges und Seins ſich erſtreden.
2. [Zu ©. 26.) Das im Tert angegebene Todesjahr 1670- kaun
gegenüber ver herkbmmlichen Datirung (1671) durch die von Hart mitgetheilten
urtundlidden Notizen bei Baur als feftgeftellt gelten. — Weber bie bäustichen
VBerbältuifie uud die Familie des Comenius findet fih ausführliches bei Ziegler
(a. a. O., p. xxxv) und Binbely (in der ang. Abb. ©. 5335 ff.). Beiden
gegenüber ift zu conflatiren, daß Comenius nicht einmal (Binbely) oder zwei⸗
mal (Ziegler) verheirathet war, ſondern breimal. Da feine erſte Gattin mit
ihrem Erſtgeborenen 1622 farb (Ep. ad Mont., p. 77), muß er ſich niet
lauge nach feinem Amtsantritt 1616 mit ihr verheirathet haben. Aus dem
Labyrinthus mundi et palatium cordis (beutiche Ausgabe 1787, ©. 47)
fchließe ich, daß fie ihm zwei Kinder geborem bat, und daß auch das zweite
ihm in ber BVerfolgungszeit durch den Tod entrifien wurde. Die Xochter
des Senior Cyrillus, über deren Kinder und Tod Gindely a. a. O. berichtet,
war erſt feine zweite Gattin. Ueber die britte Verheirathung mit Johanna
Bajusousta in Thom (1649) vgl. das Urkunbliche bei Ziegler a. a. O.
Amos Comenius. 4
21. [Zu ©. 27.7 Dies Weiſſagungsbuch if in mehveren Auflagen
erſchienen, von denen die reichhaltigfte und feltenfte ben Titel führt: Law
in tenebris novis radiis aucta h. e. solemnissimae divinae revelationes
in usum saeculi nostri factae (1665, 4). Der Dradort und der Name bes
Herausgebers find auf dem Titel nicht genannt; boch fegt Comenius in feinen
Vorberichten und Anmerkungen überall voraus, daß er als ſolcher belannt
jei; wie er beun die fchärfften Angriffe über bie Herausgabe ſchon 1659 zu
erieiden gehabt Hatte. Tas Buch umfaßt 7 befonbers paginirte Abtheilungen,
namlih: I. Eine Einleitung des Herausgebers, beſtehend aus dedicatoriis
und informationibus, in welden namentlich die Quinteſſenz bes Inhalts der
Prophetieen p. 40 zu beachten. II. Die Gefichte des Gerbers Chriſt. Kot-
ter zu Sprottaw, aus den Yahren 1616 — 1624. III. Die Gefichte ber
Chriſt. Boniatovia, der Tochter eines zur Briberlicche übergetretenen polni⸗
hen Emigranten aus bem berühmten Adelsgeſchlecht dieſes Namens; aus
ben Jahren 16271629. IV. Die Gsfichte und Weiflagungen bed Mähren
Ricolaus Drabic von Strasnitz nen 1638—1664. V. u. VI. Anhänge des
Herausgebers; darunter bie vom Jahr 1667 datirte voluminis dimissio mit
Aomonitionen an die Großen und Gemwaltigen der Erde VII. Ein ſehr
reihhaltiger Inder über die Details, weldhe in den Sammlungen II—IV,
betreffs der einzelnen Berfonen, Dynaſtieen und Reiche geweiſſagt find. — Bon
ſechszehn zu feiner Zeit im den deutſchen umb öflerreichifchen Landen aufge
tretenen Weiffagern, welche Comenius I, 37 aufzäplt, bat er nur bie drei
Semannten berüdfidhtigt, nicht weil diefelben „ber böhmifchen Kirche angehörten”
— das gilt einerſeits auch von einigen der Uebergaugenen, anbererfeits gilt
es von Kotter nicht —, fondern weil ihre, als ber Hervorragendſten, Ge⸗
fihte totam ecclesiam totumqne mundum spectent. Kotter bat im
Sahre 1616 die unmittelbar bevorfiehenden Kriegskataſtrophen, bie Boniatovia
in Jahre 1628 das gewaltfame Ende Wallenfteins angekündigt; baf im
Uebrigen bie Oralel, foweit fie nicht ermweiternde Reprobuctionen bibliſcher
Borfleliungstreife find, mehr unrichtige als richtige Prädictionen enthalten,
wird nicht befremden. Schon eine Bergleihung ber den Weiffagungen voran-
geſtellten Bildniſſe ber Propheten läßt al8 den Gewaltigften unter ihnen ben
Drabic ertennen. Die Gefichte Kotterd, mit vielfältiger Thierfumbolif,
zeigen die Bindung aller Seelenkräfte unter eine eftatifche Phantafte; die der
Bonistovia find zum großen Theile der manchmal rührende Ausdruck einer
erstifchen, aber kinblich reinen Diyftil; bei Drabic dagegen erfcheint bie Phan⸗
tafie deutlich als die nicht felten zurldtretende Begleiterin eines ſehr flarlen
Selöfbewußtfeind und eines mit glühendem Haß gegen das Haus Oeſter⸗
reich gefräntten Willens. An ihm Tag es nicht, wenn die gegen dies Haus
geführten Etöße Ludwigs XIV., den er gern zum Cyrus ber böhmifchen
Kirche gemacht hätte, nicht noch zertrümmernder wirkten. Es ftreitet nicht
damit, daß über bie Lauterleit gerabe dieſes Fanatikers man nach feinen von
Comenius ſelbſi (IV, p. 7) berichteten Antecebentien und namentlich nad
48 Kawerau
ben von Gindely a. a. O., ©. 519ff. mitgetheilten Auſzeichnungen bes
unparteiifhen Zeugen Felinus die bebenflichften Zweifel hegen barf. Wie-
wol, baß er an ſich ſelbſt glaubte, fowol durch feinen Tod bezeugt wir,
ale auch durch den mächtigen Einbrud, den er perfönli auf fo bebentende
Zeitgenoffen gemacht hat.
2.
Die Trauung.
Ihre Gefchichte, Bedeutung uud Geflaltung mit Rückſicht auf
die nenerdings darüber geführten Lontroverfen.
Bon
Kaweran,
Pfarrer in Mlamzig bei Züllian.
Die Einführung der obligatorifchen Civilehe in Preußen und
bald darauf im gefamten Deutjchen Reich hat der wiſſenſchaft—
lichen Forſchung einen fräftigen Antrieb zu neuen Unterfuchungen
über das Recht der Ehejchließung und über das Verhältnis von
Staat und Kirche betreffs derjelben gegeben. Beſonders als bie
Kirchenbehörden der Frage näher traten, in wie weit eine Abände-
rung und Neugejtaltung der bisherigen Trauliturgie durch die Eivilehe-
Geſetzgebung geboten fcheine, durfte es nicht wundernehmen, daß
Bedeutung und Form der kirchlichen Trauung zum Gegenftande
nicht nur lebhafter Parteidebatten, fondern auch ernftlider For-
ſchungen und erneuter mifjenfchaftlicher Verhandlungen gemacht
wurden. Das gefchichtliche Material, deifen man zur Beurtheilung
aller der Fragen bedurfte, die jegt auf einmal da8 Intereſſe wei-
tefter kirchlicher Kreife erxegten: wie fi in deutfchen Landen das
Recht der Eheſchließung geſchichtlich entwickelt habe, feit welcher
Zeit mit der kirchlichen Einſegnung der Ehen ein eigentlicher
Trauact verfnüpft geweſen fei, in welcher Beziehung diefer Trau-
Die Trauung. 4
oct zur Eheſchließung geftanden u. dgl. m., ift ein außerordentlich
weitſchichtiges; es war, wie wir wol behaupten dürfen, in theo-
logiſchen Kreifen im allgemeinen wenig gekannt und durchforfcht.
Zwar beſaßen wir eine vortrefflihe Materialienfammlung in dem
Berfevon&mil Friedberg: „Das Recht der Eheſchließung, (1865),
einer Arbeit, die von einem feltenen Sammlerfleiße Zeugnis ablegt.
Allein es find in diefem Werke die einzelnen Rechtsgebiete fehr ungleich)
bearbeitet; fowol das deutſche wie das fanonifche Recht des Mittel-
alters hatte durchaus nicht die eingehende Behandlung gefunden,
wie etwa das proteftantiiche Eheichließungsrecht des 16. und 17.
Fahrhunderts; die Nejultate waren daher auch weniger präcis und
durchfichtig. Dazu kam ferner, daß feine Arbeit von dem Charakter
einer Tendenzſchrift nicht ganz freizufprechen war. Es war offen-
bar des Berfaffers Abficht gewefen, durch fie der Einführung der
Bivilehe Terrain zu gewinnen. Die gefamte moderne Rechtsent⸗
widlung, fo fuchte der Verfaffer zu zeigen, dränge auf die Ein-
führung derfelben hin; die bis dahin geübte Kirchliche Trauung fei
eine Function gewejen, die aus einem Auftrage des Stantes her,
zileiten fei._ Der Staat könne diefen Auftrag um fo leichter
zurückziehen und bürgerlichen Organen übertragen, als die kirchliche
Trauung durchaus nicht Forderung eines kirchlichen Dogma fei.
Die Kirche felbft habe ihre Trauung niemals für eine abfolut
nöthige Sagung erflärt (vgl. befonders a. a. D©., ©. 302. 303).
Sriedberg ift fich deffen volllommen bewußt, daß feine Arbeit auf
die neuere Geſetzgebung „einigen Einfluß“ ausgeübt Hat (vgl. feine
Särift: „Verlobung und Trauung“ [1876], Vorwort S. v). Eine
befondere Bedeutung erhielt feine Arbeit auch dadurch, daß ber
Elaß des Evangelifchen Ober-Kirchenrath8 vom 21. September 1874
in einer unverfennbaren Beziehung zu den Nefultaten ftand, die
Friedberg ausgeſprochen Hatte. Die Behörde nahm den Standpunft
än, den er kurz dahin bezeichnet hat: „Früher war der Firchliche
At Tranung und Segnung; die Trauung ift ihm genommen, es
bleibt die Segnung“ (a. a. O., ©. 75).
Über eben jener Erlaß und die in ihm verordnete fegnende
dormel, worin diefer von Friedberg bezeichnete Standpunkt zur
Geltung gebracht wurde, rief einen lebhaften Widerſpruch her⸗
Vesl. Etud. Iahrg. 1878.
5) Kaweran
vor !). Die liturgiſche Abänderung der alten Trauformel ſtieß nicht
nsr in praxi auf einen energifchen Widerwillen, fondern fie rief
auch einen weitverbreiteten principiellen Widerfpruch hervor. In
confeifionellen Kreifen war diefer Widerfpruch fait einmüthig, aber
auch aus andern kirchlichen Kreifen wurden Bedenken laut. Frei⸗
lich war bie Begründung diefes Widerſpruchs durchaus nit ein-
hellig. Zum Theil wurden Anſchauungen über die Eheſchließung
entwickelt, die man kurzer Hand als ebenfo unüberlegte wie un»
evatgelifche abweifen muß. Zwar drüdten fi) wol nur wenige
jo derb aus, wie es einft Ludwig Harms gethan Hatte ?), aber es
war doch im wefentlichen derjelbe Standpunkt, wenn man fdhrieb
und äußerte, der Civilact ohne kirchliche Trauung fei nur als Be⸗
gründer eines „Legitimirten Concubinats“ zu betrachten, oder wenn
man lehrte (wie 3. DB. das Volksblatt für Stadt und Land 1877,
©. 139), Gottes Wort allein mache die Ehe und Tönne nım,
da die preußischen Geſetze nicht mit Gottes Wort ftimmten, fondern
mer von einer Che wüßten, die „tief unter ber Gottesordnung ber
Ehe“ finde, and) der Cwilact für die kirchliche Trauung gar nicht
maßgebend fein. Sehr weiter Berbreitung erfreute fi die An⸗
nahme, dag man nuterfcheiden müſſe zwifchen bürgerlicher ober ge-
- jeglicher Ehe und chriftliher Ehe. Erftere werde durch den Civilact
begritwdet, letztere durch die Firchliche Trauung. Von diefem Stand-
puntt aus gab man denn auch zu, daß das „ich ſpreche euch ehelich
zuſammen“ nidt pure beizubehalten fei, fondern ftatt „ehelich“
fortan zu ſagen fei „zw einer chriftlichen Ehe* oder „als chriftliche
Eheleute”. — Einen ernſilichen wiſſenſchaftlichen Charakter befam
1) Wir machen darauf aufmerkſam, daß bereite vor jenem Erlaß und che
von den barauf bezügfichen Abfichten des Kirchenregiments überhaupt
etwas fund geworden war, vom Berfafler der gegenwärtigen Abhand-
fung der Aufſatz „Luther und die Eheſchließung“ (Stud. u.
Kt. 1874, ©. 723ff.), in welchen fehon biefelben Grundſätze, wie in
dem vorliegenden vertreten find und eine ihnen entfprechende Feſtſtellung
der Trauungsformulars gefordert wird, uns übergeben unb von uns im
diefe Zeitichrift aufgenommen worden ift. Die Redaction.
2) Derſelbe lehrt im feinen „Evangelien⸗Predigten“ (5. Aufl., S. 163), das
Zuſammenleben der Männer und Weiber ohne kirchliche Trauung fe
„erel diehiſche Hrrerei“.
Die Trauung. 51
dieſer Wiberfpruch gegen den Erlaß des Oberkirchenraths jedoch
erft, als im jahre 1875 bald nach einander zwei größere Mono-
graphien über die Trauungsfrage erfchienen, beide übereinſtimmend
in der Polemik wie gegen den Oberkirchenrath fo gegen Friedberg,
beide aber auch übereinftimmend in der Ablehnung des foeben be⸗
zeichneten Standpunftes, beide darin gleich, daß fie für die unver-
änderte Beibehaltung der alten Trauformel In die
Schranken traten — und doch beide grumdverfchieden in der Art
und den Grundlagen ihrer Beweisführungen. Die eine durch und
durch rechtsgefchichtlih, aus der Feder des auf dem Gebiete des
deutfchen Rechts hervorragenden Juriſten Prof. Sohm in Straßburg,
die andere durchaus theologischen Inhalts, von dem Greifswalder
Prof. Cremer verfaßt. (Sohm: „Das Recht der Ehefchließung”,
Weimar 1875, und als Ergänzung dazu die Replik gegen Friedberg:
Tranung und Verlobung“, Weimar 1876. Cremer: „Die kirchliche
Tranung“, Berlin 1875, und al8 Ergänzung ber Artikel: „Bürger-
liche Eheſchließung und kirchliche Trauung“, Evangel. Kirchenzeitung
1876, Nr. 32f.) Letzterer fucht, wie fhon der Titel feines Buches
andentet, nicht die Recht s entwicklung, fondern nur die Betheiligung
der Kirche an der Ehefchließung ihrer Glieder zur Darftellung zu
bringen. Er geht bis auf Ignatius zurück und fucht nun von jenem
älteften Zeugnis an bis Hin zu dem vielftiimmigen Chorus der evan⸗
gelifhen Kirchenordnungen ben Erweis zu erbringen, daß die Kirche
jederzeit in ihrem Firchlichen Act — ganz abgefehen von dem je-
weiligen juriftiichen Inhalt, der dem Handeln der Kirche als eine
Nebenbedeutung beigelegt worden fe — mehr habe ausbrüden
wollen, als nur ein Segnen; daß es ihr zu allen Zeiten um Er⸗
teilung der göttlihen Sanction, um Eheſchließung (nit in
jutiſtiſchem, fondern in ethiſchem Sinn) zu thun geweſen fe. Es
ſei mithin ein berechtigtes Verlangen der Chriftengemeinde, auch
unter den jest gefchaffenen Verhältniſſen diefen Charakter der kirch⸗
(hen Trauung voll und intact bewahrt zu wiffen und diefein Inhalt
alſo auch die entfprechende Titurgifähe Ausprägung gegeben zu ſehen.
Gegen diefe von Eremer eingefdjlagene Methode ift ficherlich im
ptincip nithts ‚einzuwenden. Wie weit wir uns bie begrifflichen
und praktifch-Titurgifchen Reſultate feiner Arbeit werden aneignen
4*
b2 Kameran
fünnen, werden wir hernady am gehörigen Orte zu befprechen haben.
Ganz anders verfährt Sohm. Diefer nimmt feinen Ausgangspunft im
deutfhen Recht des Mittelalters und gelangt bei einer Betradh-
tung bdesfelben zu dem Nejultate, dasfelbe habe bie Begriffe Ehe-
ſchließung und Ehevollziehung fcharf unterfchieden; erftere
fei die Verlobung, legtere die Trauung gewefen, jene habe die Ehe
als Rechtsverhältnis, diefe die Ehe als thatſächliche Lebensgemein⸗
Schaft begründet. Er fucht dann weiter nachzumeifen, wie dieſe
deutjch rechtliche Unterſcheidung von Eheſchließung und Ehevollzug
auh das kanoniſche und das altproteftantifhe Eherecht bis zum
Ende des 17. Jahrhunderts beherrfcht Habe. Erſt das vorige
Jahrhundert Habe zuerft in der Theorie, dann auch in der Geſetz⸗
gebung diefe echt deutfche Anfchauung verdrängt. Jetzt aber fei
durch die Civilehe diefer deutfchen Idee wieder der Boden bereitet.
Deutfche Verlobung und deutſche Trauung feien jegt wieder, freilich
modernifirt, aufgelebt als Civilact und kirchliche Trauung. „Der
Civilact repräfentirt die Verlobung des deutfchen Nechts in moderner
Form. Die kirchliche Trauung hat ihre urfprüngliche Bedeutung
zurüdempfangen. Sie ift die alte „traditio puellae‘“ (Recht der
Eheihliegung, S. 286. 289). Wir müfjen befennen, bag wir die
Brüde, die Sohm vom alten deutſchen Rechte aus zu unfern
modernen Berhältniffen hat hinüberjchlagen wollen, für ein völlig
verunglüctes Unternehmen halten. Er hat auch felber fich genöthigt
gejeben, in feiner zweiten Schrift viel klarer als in der erften
einzuräumen, daß allerdings weder die alte deutjche Verlobung das
gewefen fei, was wir jett Ehefchließung nennen, noch aud die
firchliche Trauung gleichen Inhalts fei mit der traditio des deutfchen
Rechts. Es Haben fih ihm felbft ſchließlich überall „wefentliche
Unterfchiede” Herausgeftellt, wo nur immer er die modernen Acte als
Fortfegung rejp. Erneuerung der deutſchrechtlichen Eheſchließungs⸗
acte darftellen wollte. Mit dem einen Sage, das deutſche Recht
habe eine Chefchliegung in unferm Sinn gar nicht gelannt,
denn an Stelle befien, was wir fo nennen, ftänden dort zwei
Vorgänge, Verlobung und Trauung (Trauung und Berlobung,
©. 139. 140) — hat er eigentlih, unſers Erachtens, felber die
von ihm trogdem verfuchte Parallelifirung des modernen Rechtes‘
Die Trauung. 53
mit dem beutfchen des Mittelalters als eine völlig verfehlte an«
erkanut. Während wir alfo nad diefer Seite hin, in der An⸗
wendung feiner rechtsgeichichtlichen Unterfuchung der Verhältniffe
des Mittelalters auf unfern gegenwärtigen Nechtszuftand, fein
Unternehmen für einen bedauerlihen Misgriff erklären müfjen-, fo
werben wir doch auf der andern Seite durd feine reichhaltigen und
iharffinnigen rechtsgeſchichtlichen Unterfuchungen zu dem Urtheil
getrieben, daß die Arbeit felbft als Förderung unfrer Kenntnis des
Eheſchließungsrechts ernftlicher Beachtung werth fei. ‘Der von Sohm
ſcharf angegriffene und in recht gereister Stimmung replicirende
Brof. Friedberg Hat nicht umhin gekonnt, diefer Arbeit das Zeug-
ms auszuftellen, daß fie „eine wiffenjchaftliche Leiſtung im eigent-
ihen Sinne des Worts“ fei; und wir meinen, er hätte auch mit
gleichem Rechte anerkennen follen, daß Sohm eine recht anſehn⸗
(iche Fülle neuen Apparates herbeigefchafft und keineswegs vorwiegend
mit „&xcerpten“ aus Friedberge Buch gearbeitet Habe. Diefe Publi-
cation mit ihren überrafhenden, dem bisher Angenommenen vielfach
diametral entgegenftehenden Wefultaten ift es daher auch in erfter
Linie gewefen, an welche die wiffenfchaftliche Controverfe angeknüpft
hat. Friedberg felbft Hat es für nöthig eradhtet, mit einer eigenen
Begenfchrift darauf zu antworten („Verlobung und Trauung”, Leipzig
1876). Zu einem Abſchluß ift die wilfenjchaftliche Erörterung noch
nit gefommen. Die Theorien, welche Sohm befondere über die
Eheſchließung nach deutſchem und kanoniſchem Recht aufgeftellt hat,
werden ficherfich noch für längere Zeit feinen fpeciellen Fachgenoſſen
Anlaß zu neuer Prüfung und Durdforfchung des Duellenmaterials
bieten. Gleichwol ift die Controverſe jett doch fo weit gefördert,
daß es wol angehen möchte, die einzelnen Streitpunfte Revue pajfiren
zu laſſen und die Ergebniffe der Verhandlungen zu vegiftriren.
1. Die Eheſchließung nad deutſchem Rechte.
Wie wir fchon andeuteten, war in dem grundlegenden Werke
von Friedberg diefes Nechtögebiet im Vergleich zu andern Partien
einer Arbeit etwas ftiefmütterlich behandelt worden. Nur wenige Seiten
waren der Darftellung desfelben gewidmet worden (S. 17—30).
Wenn aud einige wichtige Eigentümlichkeiten des deutjchen echtes
54 Sawerau
hervorgehoben waren, fo blieben doch wefentliche Fragen unbeant-
wortet, oder es konnte die gegebene Ausfunft nur wenig befriedigen.
Wir lernen von Friedberg, wie ſich die Ehefdjließung der Deutfchen
urfprünglih al® Erwerb der Vormundſchaft, Mundkauf geftaltet
hatte, fo daß die Vormundſchaft über die Braut dem Vormunde
abgefauft werden mußte; wir erfahren, wie fi) dies fpäter dahin
ummandelte, daß die von dem Ehemann zu zahlende Summe der
Frau als Witwenverjorgung beftellt wurde, fo daß die Beitellung
der dos umerläßliche Bedingung einer vollgültigen Ehe wurde.
Aber ſehr unklar lautete Friedbergs Antwort auf die Frage, durd)
welden Act denn eigentlich die Ehe gejchloffen worden fe. Die
Antwort ſchwankt eigentümfih hin und ber. „Durch die Ueber-
gabe de8 mundium, die fi durch Tradition der Frau und ihres
Vermögens in der Geridhtöftätte vollzog, war die Ehe gefchloffen.... .
zwifchen Verlöbnis und Vermählung beftand Fein rechtlicher Unter:
jchied. Auch ſpäter erfolgte die Eheſchließung gewöhnlich mit der
Verlobung zuſammen . . . das Beilager war zur Vollziehung der
Ehe nöthig.. . . das Wefen der deutfchen Eheſchließung liegt
allein in der Confenserklärung der Brautleute.“ Es möchte
in der That ſchwierig fein, aus dieſen Sägen ein klares Bild
über die deutſche Ehefchliegung und das juriftifche Verhältnis der
einzelnen Acte zu einander zu gewinnen. Und aud die „präcifere“
Faſſung, welche Friedberg feiner Anficht jegt in der Schrift „Ver-
lobung und Trauung“, ©. 21 gegeben bat, gewährt nicht viel
befjeren Auffchlug: „Verlöbnis und Trauung find zeitlich gewöhnlich
und fpäter faſt immer zufammengefallen, in einen Act zuſammen⸗
gezogen worden und Baben ſomit zufammen ehejchließende Wir:
fung geäußert. Fielen fie auseinander, fo wurde die Che nur durch
die traditio der Braut begründet, aber die traditio begründete
eine Ehe nur, wenn die dotatio der Braut vorangegangen war,
d. h. alfo im gewöhnlichen Falle ein Verlöbnis.“ — Es darf als
ein allſeitiges Zugeſtändnis bezeichnet werden, daß diefe deutfch-recht-
lichen Berhältniffe durch Sohms umfangreiche Unterfuhhungen unferm
Verftändnis um ein Weſentliches näher gebracht worden find. Er
bat zunächſt behauptet — und wie wir meinen, befonders durch
die in feiner zweiten Schrift erbrachten Duellenmaterialien auch
Die Tranıumg. 85
erwieſen —, daß Verlobung und Trauung durchaus zwei zeitlich
und inhaltlich getrennte Vorgäuge geweſen find )). Die Meinung
Friedbergs, beide Acte feien fait immer zufammengefallen, wirb
als ein irrtümlicher Schluß aus den uns erhalten gebliebenen Trau⸗
formeln erwiefen, in denen freilich die Trauhandlung regelmäßig
durch die Berlöbnisformeln und Verlöbnisgebräuche eingeleitet wird;
sber da8 war dann nicht die Verlobung jelber, die vielmehr als
getrennter Act vorangegangen war, fondern nur eine folenne
Recapitulation des bereits gejchehenen Verlöbniffes ?). Ebeufo
glauben wir, dag Sohm die Anficht, Verlobung und Trauung feien
gemeiniglich an der Gerichtsftätte vollzogen worden, mit Erfolg
zurüdgewiefen hat. Es erweift fich diefe Meinung als ein unftatt-
bafter Schluß aus dem ſprachlichen Zufammenhang von Gemahl
und mallus. Ferner kann gar nicht in Abrede geftellt werden,
dag Sohm unfre Kenntnis der gefchichtlichen Entwicklung des deutſchen
Eheſchließungsverfahrens wefentlich gefördert hat. Er zeigt, wie
die Verlobung aus einem Raufgefhäft in einen Act zur Begründung
eines Zreuverhältniffes und die Form derjelben aus einem Real⸗
contract in einen Formalcontract ſich umgebildet habe. Dur
Heranziehung des deutſchen Sachenrechts gewinnt er für das Ver⸗
ftändnis von Verlobung und Trauung den lehrreichen Vergleich mit
Kauf und Tradition. Gm einer ganz neuen Weiſe entwickelt er,
wie mit dem Erlöfchen der alten Gefchlechtänuormundichaft, die Ver-
(obung der Braut durd den Vormund fi in Selbftverlobung,
1) Bgl. die zuftimmenden Bemerlungen Bierlings in einem trefflichen
Aufjat über die Bedeutung der Trauung, Deutichrevangelifche Blätter 1876,
©. 119.
2) In ganz analoger Weife hat Sohm unferes Wiffens zuerfl darauf auf-
merffam gemacht, daß die Frage nach dem Conſens in umjern Tirchlichen
Trauformeln urfprüngfich gleichfalls ale Recapitulation der bereits zuvor
erfolgten Eonfenserttärung aufzufaffen fe. Die Spuren davon find noch
in einer Anzahl von Tranformularen enthalten. „Fateris ... . quod
accepisti et jam etiam nunc &accipias in uxorem N.?“
8.-D. der ausländiichen Gemeinde zu Frankfurt a. M. 1554. Richter,
8.-D. U, ©. 157; ebenfo pfälziſche 8.-O. 1568 II, ©. 271. 272.
Straßburger 8.-D. 1598 bei Sohm, Recht der Eheichliehung, ©. 216.
217.
56 Rawerau
und demgemäß aud) die Trauung durch den „geborenen Vormund“
ſich begrifflih in eine „Selbfttrauung“ umgefeßt habe, die dann
aber naturgemäß in der Weife vollzogen fei, daß die Braut (jpäter
da8 Brautpaar) einen beliebig erwählten Dritten, den „gelorenen
Vormund“, damit betraut habe, die Tradition zu vollziehen. Durch
diefe Conjtruction bahnt filh Sohm in überrafchender Weife den
Weg nicht nur zum VBerftändnis der im fpäteren Mittelalter fo
häufigen „Laientrauung“ , d. 5. der Zufammengebung des Braut-
paars durch einen beliebigen Dritten, fondern auch zum Verſtändnis
des um diefelbe Zeit gefchehenen Weberganges der Trauung in die
Hand der Geiftlichkeit. Diefe Sohm'ſche „Selbfttrauung“ ift nun
freilich von ihm nicht pofitiv durch Duellenzeugniffe erwiejen, fte
ift eben nur eine begriffliche Subftruction, um die von den Quellen
bezeugten Thatbeſtände verftehen zu laſſen. Jedenfalls erklärt fie
die Laientrauung und das erfte Auftreten der Firchlichen Trauung
genügender, als die von Friedberg zum Verſtändnis herangezogenen
„Fürſprecher“ des Iombardifchen Rechts. Aber all’ diefe höchſt ver-
dienftlihen Unterfuhungen Sohms find ihm felber die Nebenfache.
Den Hauptnachdrud legt er darauf, daß er zuerft das juriſtiſche
Verhältnis von Verlobung und Trauung zu einander richtig erkannt
habe. Nämlich Verlobung jei Ehefhliefung, Trauung Che:
vollzug. Die erftere begründe das ehelihe vinculum, das
ZTreuverhältnis, die negativen Wirkungen der Ehe, die lebtere
dagegen das eheliche Semeinfchaftsleben, die pofitiven Ehewir-
fungen. Wir fünnen bei diefer Deduction Sohms nur bedauern,
daß er den Sag, den er im Schlußfapitel feiner zweiten Schrift
aufgeftellt Hat, nicht von Anfang an als Richtſchnur und als eine
Art Warnungszeichen, nicht über's Ziel hinauszuſchießen, vorangeftellt
bat, nämlich den ſchon oben von uns erwähnten Sag: „Das deutjche
Recht kennt feine Eheſchließung in unferem Sinne, d. h. feinen
Rechtsact, welcher die rechtlich vollfommene Ehe durch fich und
durch ſich allein Hervorbringt. An Stelle defien, was wir Ebe-
ichließung nennen, ftehen zwei Vorgänge, Verlobung und Trauung.“
Es war daher ein zum mindeiten misverjtändliches Verfahren, wenn
nun trogdem Sohm der Verlobung für fid) allein und zwar der-
jelben im Gegenfag zur Trauung den Namen Ehefchließung vindicirte.
Die Trauung. 67
Biel annehmbarer ift es, wenn er fie in feiner zweiten Schrift „den
Pegitimationsgrund“ für die Ehe, oder „da8 rechtliche Fundament, auf
weihem die rechtlich vollfommene Ehe erſt ſpäterhin fich aufbaut“
(Tramıng und Verlobung, S. 140. 141) genannt bat. Was er
bewiefen hat, ift num diefes, daß die Berlobungen wirkliche Rechts-
gefhäfte waren, durch weiche alfo auch eine rechtögültige Gebunden»
heit des Willens der Brautleute erfolgte. Das Erheblichſte, was
er in diefer Richtung aus den Quellen nachgewiefen hat, ift wol
dieſes, daß derjenige, welcher die Verlobte eines andern als fein
Beib heimgeführt hatte, gezwungen werden fonnte, fie ihrem erften
Bräutigam zurückzugeben (vgl. a. a. O. S. 25ff.); daß aljo eine
bereit8 confummirte Ehe einem boraufgegangenen Verlöbnis weichen
mußte. Diefer Nachweis ift daher z. 8. für v. Scheurl entſchei⸗
dend, in der Bezeichnung der deutſchen Verlobung als Eheſchließung
uf Sohms Seite zu treten (Erlanger Zeitfchr. f. Brot. u. Kirche,
Rovember 1876, S. 247). Umgelehrt ift für Bierling der Um-
and, daß die Verlobung an fich den Bräutigam nicht berechtigte,
tinfeitig von dem mundium Beſitz zu ergreifen, fondern er vielmehr
als Entführer gegolten baben würde, wenn er wider Willen des
Sormundes die Braut hätte beimführen wollen, hinreichend gegen
die Bezeichnung der Berlobung als Chefchliegung zu proteftiren
(Dentfch-evang. Blätter 1876, ©. 121). Der Name Epefchliegung
will eben auf das durch die Verlobung begründete Verhältnis nur
mit ſehr erheblichen Limitationen zutreffen. Sie ift allerdings viel
mehr als die moderne Verlobung und die Verlobung des römifchen
Rechtes; fie ift nicht nur ein Ehevorbereitungsact, fondern die
erſte Stufe der Eheſchließung felbft. Dan mag fie mit eben fo
bie Recht als ein matrimonium imperfectum bezeichnen, als man
etwa das Fundament eined neu zu bauenden Haufes als eine domus
imperfecta bezeichnen möchte. So viel darf al8 Ergebnis der bisher
geführten Verhandlungen bezeichnet werden, daß gegen Sohm ſich
erwieſen hat, daß die deutſche Verlobung den fanonifchen sponsalia
de praesenti nit gleihwerthig war — freilich auch nicht den
sponsalia de futuro. Aber, fügen wir hinzu, die Rechtsentwicklung
lonnte gar wohl dahin führen, fie als den erfteren gleichwerthig zu
behandeln.
88 Kawerau
2. Die Nereption der kirchlichen Trauung in Deutſchland.
Das Urtheil Friedbergs, die kirchliche Feier bei Anlaß neu
geichloffener Ehen fei Bis in's 12. Jahrhundert hinein niemals ein
Act der Eheeingehung, fondern immer nur der Ebeheiligung,
des Ehebefenntniffes und der Ehebeftätigung gemeien, fo
daß alfo die Ehe ftets ſchon vorher vorhanden geweſen ſei (und
zwar, wie wir binzufegen können, nicht nur de jure vorhanden,
fondern ſehr Häufig auch fhon de facto durch hinzugetretene copula
carnalis) ift von Sohm durdaus acceptirt und beftätigt worden.
„Es gab (in der älteſten chriftlichen Kirche) keine Mirchliche Trauung,
noch überhaupt eine kirchliche Form der Ehefchließung, fondern
nur den Kirchgang des neuvermählten Ehepaare... Die
ganze kirchliche Handlung enthielt nichts, was auf die juriftifche
Seite der Ehe ſich bezogen hätte. Sie war nur Gottesdienft, und
die gefchloffene Ehe nur ein Anlaß gleich anderen Vorgängen bes
Familienlebens, zum Gottesdienft zu fommen und dort vor Gott
und feiner Gemeinde bdanfend, betend -und um Segen bittend zu
erfcheinen. Der Gang zur Brautmeffe wer nur ein Gang zur
Kirche, nicht ein Gang zur Schließung noch zur Vellziehung der
Ehe.“ (Recht d. Eheſchl, S. 157.) — Wefentlich anders urtheilt
dagegen Cremer über die kirchliche Feier. Nach feiner Meinung
hat es fi von Anfang an um kirchliche Eheſchließung gehandelt.
Ehriftliche Nupturienten wollen eben nicht felber ihre Ehe fchließen,
fondern Gott foll durch deu Dienft des Amtes ihre Ehe ſchließen.
So fehe fhon Tertullian ganz deutlih die Sache an, wie fein
„ecclesia conciliat, pater rato habet‘‘ ausweiſe. Wenn die
Alten von Denedictton reden, jo iſt das in Eremers Augen wefent-
lih ein Copulationsact, da für die Nupturienten wie für die Kirche
erſt durch die priefterliche Benediction das Eheband zwar nicht recht:
lich, aber doc, fittlich abichliegend geknüpft worden fe. Er rebet
daher auch in Bezug auf die ältejten Ritualien (die wir nicht mehr
fennen) von einem „Spruch“ der Kirche, einer „im Namen Gottes
ertheilten Antwort an die Nupturienten“, durch welche der kirchliche
Eheſchluß erfolgt jet (Trauung, S. 14—17). Bon einer Recep⸗
tion der Firchlichen Trauung im Mittelalter kann alfo auch für
Die Trauung. 2)
iga gar nicht die Mede fein, ſondern nur von einem Zeitpunkte,
von welchem an der ſtets geübten Firchlichen Trauung die Neben»
bedeutung zugefallen fei, auch zugleich rechtliche und nicht nur
kirchliche Eheichließung zu fein a. a. DO., ©. 33. Aus ber deutfchen
Trauung fei zwar die noch gegenwärtig üblihe Form der kirch⸗
lichen Trauung erwachſen, aber nicht die Trauung jelbft. Denn
von Anfang an fei das die Bedeutung der kirchlichen Feier geweſen,
daß in ihr die Ehe als Gottesftiftung und Gottesgabe erbeten und
gegeben worden fei (Evang. 8.-3. 1876, ©. 357. 358). Es
Ideint uns ein Fehler in den Deductiouen Cremers zu fein, daß
der von ihm zu Grunde gelegte Begriff der Trauung, der fi
dur fein Buch von Anfang bis zu Ende hindurchzieht, in den
allerverschiedenften Dscillationen des Ausdruckes und des Gedankens
vorgetragen wird, fo daß es fchwer wird zu formuliren, was er
eigentlich ausdrücken will. Bald fagt er: die Kirche ift es, bie
durch den Dienft des Amtes die Ehe fließt; die kirchliche
Zrauung begründet die Che als Gottesſtiftung; in der firchlichen
Feier wird die Ehe als Gottesgabe gegeben. Bald definirt er:
die Trauung fei nicht Chefchließung, fondern Heiligung der Ehe-
ihliegung; die Kirche mache die Ehe nicht, fie Habe nichts weiter
zu geben als das Zeugnis von der &he. Dann definirt er bied
Zeugnis von der Ehe wieder als ein „die Ehe Zuſprechen“ und
als ein „die göttlich geftiftete Ehe Zuerktennen“. Er betont
auf's ftärkfte, in der Firdlichen Trauung werde realiter etwas
gegeben, mitgetheilt; aber dag, was gegeben werde, ijt igm das eine
Mal das Wort Gottes von der Ehe, das andere Dial die Ehe felbit;
bald ift es ihm die Vergewiſſerung der göttlichen Zuſammen⸗
fügung, bald diefe Zufammenfügung felbft. Aus diefer Unklarheit
lommen wir in all feinen Ausführungen nicht heraus. Wir fommen
abfofut nicht zur Entjcheidung darüber, ob wir die eine oder die
andere Reihe von Ausdrücken als feine eigentlicde Meinung faſſen
ſollen; ob wir als Duinteffenz feiner Meinung fagen dürfen, bie
Trauung fei der Act, kraft deffen Gott ben einzelnen Ehebund ftifte,
oder der Act, in welchem die Kirche Zeugnis gebe von der Stiftung
Gottes, die auch dem einzelnen Ehebündniſſe gelte. Er fagt eben
Beides und wird fich doch wicht verbehlen, daß das zwei ganz ver-
60 Kaweran
ſchiedene Auffaſſungen der Trauung wären. Jedenfalls ſehen wir,
daß Cremer dem Worte Eheſchließung eine ganz neue Bedeu⸗
tung gegeben hat. Sonſt verſteht man darunter einen Act, der die
Ehe begründet, der den Beſtand der Ehe erzeugt. Aber dagegen
verwahrt er fich nachdrücklich. Chriſtliche Eheſchließung iſt ihm ein
rein ethiſcher Begriff. Es iſt ihm von Seiten des Menſchen das
Bedürfnis, ſich von Gott. zufammengeben zu laſſen, bie Ehe aus
Gotted Hand zu empfangen, und von Gottes Seite diefe Ehegabe
ſelbſt. Allein abgejeben von dem Bedenken, das wir gegen diefen
Sprachgebrauch äußern müffen (man denke an die ähnlichen Nede-
wendungen: Frieden fchließen, ein Bündnis fchliegen), müſſen wir
dagegen proteftiren, daß diefer „ethifhe” Begriff nun von ihm
felbft beftändig auf den Liturgifchen Act der Trauung übertragen wird.
So wenig fid der ethifhe Begriff „chriftlihe Eheführung“ mit
irgend einem liturgifchen Acte decken kann, ebenfo wenig der einer
„chriſtlichen Eheſchließung“. Er fagt ja ausdrückich, chriftliche
Eheſchließung heiße nicht Schließung einer chriftlihen Ehe, fondern
Hriftlihe Schließung der Ehe. Aber, fragen wir wieder, find das
identifche Begriffe: chriftliche Schließung der Ehe und Trauung?
Kehren wir nach diefer Abfchweifung zu dem Bilde zurüd, das
Cremer von ber kirchlichen Feier in ber alten chriftlichen Kirche
entworfen Hat, fo müffen wir urtheilen, daß er aus den rhetorifch
überfhmwänglichen Worten des Tertullian viel zuviel in die Bene⸗
dietionsfeier der alten Kirche hineingetragen. hat. Wir ftellen feinem
Bemühen, der alten Kirche eine „Trauung“ zu imputiren, Die
nüchternen Worte von Scheurls entgegen: „Die chriftliche Kirche
führte in ihrer erften und beften Zeit für die Eingehung der Che
eine firchenamtliche Handlung nicht ein, was fie deshalb ungehindert
hätte thun können, weil die weltliche Rechtsordnung die Art und
Weife der Eingehung der Ehe ganz dem Belieben der Einzelnen
überließ. Sie befchränfte fi darauf, Einholung des Rathé des
Biſchofs für die Verlobung (daraus wird bei Cremer eine, Sanction
des Vorhabens, welche die Betreffenden der göttlichen Sanction gewiß
madt‘), Verkündigung des Vorhabens der Ehefchliefung an die
Gemeinde und einen Kirchgang der neuen Eheleute nad) der Ein-
gehung der Ehe zu fordern, und bei biefem durch den Biſchof dem
Die Tranung. 61
Ehepaar den Segen ertheilen zu lafſen. Einen Zrauact kannte
jie überhaupt nicht, am wenigften aljo einen ehefchließenden,
Denn die conciliatio matrimonü, von welcher die befannte
Stelle Tertullians ſpricht, kann bei unbefangener Auslegung gewiß
mr von der berathenden Mitwirkung des Biſchofs bei der Berlo-
bang verjtanden werden.” (a.a.D., S.249,) Bon einem „Sprud
der Kirche”, der die göttliche Sanction ertheilte, wifjen wir abfolut
nichts. Wir wiffen von einer evAoyix oder benedictio, aber
das ift nicht eine Ehefchließung, fondern der Segen über eine ger
Ihloffene Ehe. Die göttlihe Stiftung Hat fie zu ihrer Voraus⸗
ſetzung, aber fie ftiftet die Ehe nicht. —
Es muß ferner Cremer Unrecht gegeben werden, wenn er fi
\o energifch dagegen wehrt, anzuerfennen, daß die Trauung durd)
den Geiftlichen, als fie im 13. Jahrhundert auftauchte, zunächft ein
völlig augerfirhlicher Act war (Trauung, ©. 42. 113). Sohm
hat den urfprünglich außerfirchlihen Charakter der Trauung durd)
den Briefter vor der Kirchthür außer allen Zweifel geitellt. Es
ift eine der trefflichften Partien, für den Theologen - ohne Zweifel
die intereffantefte, in feiner Arbeit, Abjchnitt V, in welchem er nach⸗
weift, wie die Kirche in einem allmählichen Fortſchritt die weltliche
Zrauung ihrer Benediction immer mehr genähert hat; wie es ihr
in 10.—12. Yahrhundert gelungen ijt, die LYaientrauung vor bie
Kirchthür zu ziehen, jo daß diefe zwar noch nach wie vor durch
den Laien, den Gefchledhtsvormund der Braut, vollzogen wurde,
aber doch bereitd zu einer Zrauung coram parocho geworden
war; wie dann die Kirche im 13. Jahrhundert, entfprechend der
Umwandlung, welde dem weltlichen Traurecht wiberfahren war,
indem die Uebertragung des mundium aufgehört hatte, Rechtsinhalt
der Zrauung zu fein, und indem die Vollziehung des Trauacts
micht mehr an die Berfon des „geborenen Vormunds“ gelnüpft war,
ſondern von einem beliebigen Dritten vorgenommen werden konnte, —
die Zrauung zu einer Function des parochus- felbft hat machen
Ennen. So wurde die kirdliche Feier aus einer juriftifch gleich-
gültigen durch den ante portas ecclesiae vollzogenen Trauact eine
furiftifh relevante. Die kirchliche Feier ift nun eine zweitheilige.
Der Act vor der Kirchthür ift eine nichtkirchliche Handlung,
64 Kawerau
zuvor vollzogene eheſchließende Verlobung wurde. Die Trauung
wurde alſo Ehebeſtätigung, weshalb auch in den Ritualien das
ego conjungo mehrfach mit einem ego confirmo vertauſcht wurde.
Und diefe Ehebeftätigung galt dann, firchlich betrachtet, als eine
auch kirchliche Anerlennung des Ehebündnifjes, als ein Zeugnis, daß
die eheliche Verbindung nach göttlichen Rechte zu Recht beftehe,
daß fie von Gott zufammengefügt fei.
3. Die Eheſchließung nah kausniſchem Recht.
Bis zu dem Erfcheinen der Sohm'ſchen Schrift über bas
Recht der Eheichließung war über die Bedeutung der kanoniſchen
Sponfalienlehre eine Meinungsverfchiedenheit kaum vorhanden ge-
wefen. Die Definition, welche z. B. v. Strampff in feiner Arbeit
(„Luther über die Ehe“, Berlin 1857, S. 287) gegeben hatte:
„Die gegenfeitige Zufage, die Ehe künftig fchließen zu wollen,
heißt sponsalia de futuro. Den Gegenfaß derfelben bilden bie
sponsalia de praesenti, die wechfelfeitige Erklärung, die Ehe
gegenwärtig eingehen zu wollen, wodurd die Ehe wirklich, ob-
schon formlos, gefchlofjen wurde“ — mar bie allgemein anerkannte.
Ebenfo allgemein galt als ausgemacht, was Friedberg gelehrt hatte,
daß diefe kanoniſche Sponfalienlehre in den Gedanken des römifchen
Rechtes ihren Urfprung habe. Sponsalia de futuro wurden all-
gemein dem römijchen Consensus sponsalitius, der eine spes nup-
tiarum futurarum ift, gleichgeftellt, und ebenfo sponsalia de
praesenti dem consensus nuptialis; von diefem letzteren allein
follte dann der Sat gelten consensus facit nuptias. Genauer bat
fich Friedberg in feiner Replit gegen Sohm über feine Auffaffung der
Sponfalienlehre geäußert. Sponsalia de futuro feien lediglich
Berlöbniffe von einem ganz andern rechtlichen Inhalt ale die Ehe⸗
fchließung, sponsalia de praesenti dagegen der vollgültige Ehe⸗
abſchluß, in keiner Weife das, was wir unter Berlobungen verftehen.
Sie feien gewöhnlich im Trauact zum Bollzug gelommen, fo daß
es wefentlich dasfelbe fei, ob man fage, Ehen feien durd; sponsalia
de praesenti oder feien durch kirchliche Trauung gefchlofjen worden.
„Die Trauung begründet regelmäßig die Ehe“ (a. a. O., ©. 35).
Auf S. 43 fagt er dann freilicd wieder, sponsalia de praesenti
Die Tranung. 65
hätten für gewöhnlich) noch nicht das eheliche Zufammenleben her⸗
beigeführt, fondern erft die firchliche Trauung. Er denft alfo dod)
mol beides als zwei fiir gewöhnlich zeitlich getrennte Vorgänge.
Betreffs der Anwendung diefer kanonifchen Lehre auf die beutfchen
Verhältniſſe urtheilt er ferner, eine bdeutfche Verlobung habe, wo
fie überhaupt getrennt von der Trauung vorgelommen fei, als
sponsalia de futuro, dagegen die deutjche Trauung als sponsalia
de praesenti behandelt werden müjjen. Ganz anders Sohm. Nach
ihm wurzelt bie fanonifche Sponfalienlehre durchaus in den An⸗
Ihauungen des deutſchen Rechts. Das fanonifche Recht habe
urjprüngli nur eine Verlobung gekannt, und das fei die Ver⸗
lobung⸗Eheſchließung des deutfchen Rechts. Die durch Alexander II.
in das Recht eingeführte Diftinction zweier Sponfalien habe nicht
zwei verjchiedene Borgänge und Nechtsverhältniffe zur Grundlage,
jondern fei nur eine künftlic) eingetragene diverfe Behandlungsweife
ein und desfelben Rechtsvorganges. Beide Sponfalien feien wefent-
fh identifch: fie feien beide Berlobungen, in jo fern das
eheliche Gemeinſchaftsleben mit ihnen (ordnungsmäßig) nicht feinen
Anfang nahm; fie feien beide Eheſchließungen in Anbetracht
ihrer Bedeutung für das Recht. Der Unterſchied zwifchen beiden
fei nur der, daß, wenn zufällig in dem einen Verlöbnis verba de
futuro (accipiam te), in einem andern verba de praesenti
(accipio te) gebraudht waren, das kanoniſche Recht das erftere
als ein leichter lösliches Verhältnis behandelt habe, als das letztere.
Die Diftinction fei eine durchaus künjtlihe, dem Nechtsbewußtfein
des Volks fremde gewefen; treffend habe fie daher Luther als „Lauter
Narrenfpiel” gegeißelt. Sponsalia de futuro feien aljo gleichfalls
Ehejchließungen gewefen, die aber bis zu dem Moment ihrer Eon»
jummation durdy copula carnalis in einer gewiffen Rechtsunficher-
beit, fo zu fagen in ber Schwebe geblieben feien. Ich darf es
nicht wagen, in einer Frage entjcheiden zu wollen, zu deren Bes
urtgeilung ein umfängliches Studium des fanonifchen Rechts und
feiner Entwicdlungsgefchichte gehört. Die Erörterung über die Vor»
fragen, in welchem Verhältniffe das decretum Gratiani zu der
Summa bes magister Rolandus ftehe, und was hiebei weiter in
die Discuffion gezogen ift, das müſſen wir durdaus der Unter-
Feol. Etub. Jahrg. 1878. 5
‘66 Kuweran
ſuchung ıntfrer Kanoniſten anheimgeben. Ueber ben Streit ſelbft
über, was sponsalia de futuro und de praesenti geweſen ſeien,
glauben wir folgendes Ergebnis conftatiren zu dürfen: Die Sohm’fche
Faſſung der sponsalia de futuro als identifch mit den sponsalia
de praesenti ift als allgemein zurüdgewiefen zu bezeichnen.
Daß die erfteren mit der deutſchen Verlobung nichts zu thun haben,
sondern die getrene Wiedergabe des römiſchen Verlbbniſſes find,
erhellt nitht nur aus der beftändigen Berufung des corpus juris
canonici auf die Definitionen des römischen Rechts, ſowie aus
rer Bezeichnung als tractatus de matrimonio contrahendo,
fondern auch aus der Thatſache, daß, wo sponsalia per verba
de futuro vorangegangen waren, hernach eine zweite despon-
satio per verba de praesenti nadfolgen Tonnte. Das wäre ja
aber gar nicht möglich, wenn jene bereits Eheſchließung geweſen
wäten, dgl. Corpus juris canonici (ed. Richter) II, p. 642.
643: „quidam nobilis cuidam mulieri nobili de contra-
hendo matrimonio fidem dedit quibusdam praesentibus et
se cum ea infra biennium per verbade praesenticon-
tracturum .. . firmavit“; nun will derſelbe in's Kloſter
gehen und weiß nicht, wie er ſich verhalten ſoll. Darauf wird
entſchieden: tutius est ei prius contrahere et postea ad reli-
gionem imigtare si tamen post primam desponsationem
copula non dignoseitur intervenisse carnalis.“ Hier haben
wir alfo deutlich zuerft sponsalia de futuro (fides de con-
trahendo matrimonio data), darauf folgen sponsalia per verba
de praesenti, und das durch diefe letzteren geknüpfte Eheband wird
dann kraft des impedimentum voti solennis wieder aufgelöft.
Nur wenn Anf die prima desponsatio die copula carnalis gefolgt
wäre, würde — aber nicht durch die desponsatio, fondern durch
letztere — eine conſummirte Ehe erzeugt worden fein. Denn copula
carnalis wird ‘in diefem Falle als die Realerklärung von spon-
%alia de praesenti angejehen. Ebenjo muß die Sohm’fche Gleich⸗
ftelfung des fanomifchen und des deutfchen Rechts nad) dem im
1. Abſchnitt Bemerkten ale unzutreffend bezeicynet werden. Da-
gegen fann man ihm darin beipflihten, daß er die sponsalia de
praesenti als ®Berlobungen bezeichnet bat. Denn wir haben fie
Die Tranung. 67
me, wie v. Scheurl treffend bemerkt, als „ein ſolches Ehever⸗
ſprechen zu denken, wobei die SHerftellung wirklicher Lebensge-
meinfchaft der Zukunft vorbehalten ift, oder es wenigftens fein
kann, fo daß alfo auch nad) fanonifchem Rechte die Trauung bloßer
Bollzug der ſchon gefchloffenen ehelichen Verbindung it, ober es
do fein kann; denn die sponsalia de praesenti find Ehefchliegung,
nen aber unftreitig vor der Trauung oder Heimführung der Frau
Hattgefunden Haben“ (a. a. O., S. 247. 248). In diefem be-
Ihränften Sinn können fie als Verlobung bezeichnet werden, wenn
wir dabei nur dem rechtlichen Unterfchied zwifchen ihnen und den
deutihen Berlobungen nicht ans dem Auge verlieren.
Unfer Hauptinterefje bei diefer ganzen Frage ift num offenbar,
zu ermitteln, wie fid) die Anwendung bes fanoniihen Spon-
lafienrehts auf die deutſchen Verhältniffe geftaltet Bat;
d. b. ob die deutſche Verlobung kirchenrechtlich als sponsalia de
ſuturo ober al8 sponsalia de praesenti behandelt worden ift.
Run war ja die beutfche Verlobung nicht ein Vertrag über eine
fünftig zm fließende Ehe, fondern galt als Fundament der Ehe-
ſchlißung ſelbſt. Sie ift wol auch, mit feltenen Ausnahmen, zeitlich
der Horhzeitsfeier fehr nahe gerückt geweſen. Man fihritt zur
feierlichen Verlobung erft dann, wenn man auch thatfächlid) willens
war, den Eheftand zu beginnen. Das Chevorbereitungsverhäftnis
des römischen Rechtes war unbekannt und ungebräuhlid. Daher
war es — einzelne befondere Verhältniffe abgerechnet — ganz natur⸗
gemäß, die Verlobung den sponsalia de praesenti gleichzuftellen.
Berlöbniffe, welche ala sponsalia de futuro gemeint waren, kamen
ſehr felten vor. Im allgemeinen galten daher Verlobungen in
Deutfchland fomol in der Anficht des Volkes wie in der Behand»
Img durch die Offizialen als sponsalia de praesenti. Dan
vergleiche dafür das intereffante Zeugnis Luthers, Verlöbniffe per
verba de futuro feien „eitel feltfame Fälle und ungewöhn—
lihe Gefchichten, denn nach gewöhnlicher Weife muß ein
Öffentliches Verlöbnis durch verba de praesenti geſchehen“ („Von
Eheſachen“ 1530, bei v. Strampffa.a.D., ©. 319). Und eben
dahin deutet wol auch die Bemerkung Schneideweins, des Witten-
berger Juriften aus Luthers Zeit, sponsalia de futuro, b. h.
5*
68 Kaweran
tractatus et consilia de ineundo matrimonio ſeien in dieſer
Weife „apud nos“ gar nicht in Gebrauch (ſ. Allg. luth. K.⸗Z.
1876, ©. 731). „Uxorem duxi“, ſchreibt Melanchthon von feiner
Berlobung, und ebenfo meldet er von Agricola’8 Berlobung :
„Noster Isleben uxorem duxit FElsam“ 1). Die Hochzeit
fand in beiden Fällen etliche Wochen danach ftatt, aber die von
der Verlobung gebrauchten Ausdrüde lehren, daß dieſe als spon-
salia de praesenti gedacht if. Das Kriterium, welches das
fanonifche Necht zur Unterfcheidung aufgeftellt hatte, ob nämlich
verba de futuro oder verba de praesenti gebraudyt worden feien,
paßte in feiner Anmendung auf die deutfchen Verhältniſſe gar
nicht; denn das Deutfhe „willft du mid zur Ehe haben?“
lautet futurifch und ift doch präfentifch gemeint. So wurde alfo
die Anwendung diefes Kriteriums auf bie Berlobungen unter
den Deutfchen zu einer materiellen Ungerechtigkeit. Somit hatte
Luther völlig Recht mit feiner zornigen Bezeichnung dieſer Diſtinc⸗
tionen als eines lauteren Narrenfpiels, — aber er war damit nur
im Recht angefichtS der Lage der VBerlobungsverhäftniffe in Deutſch⸗
land. Dem eigentlihen Sinn des kanoniſchen Rechts iſt
er damit nicht gerecht geworden. Und daher war es ein verfehlter
Verſuch Sohms, von diefen Worten Luthers aus eine gänzliche
Umgeftaltung der Sponfalienlehre zu verfuchen.
4. Luthers Stellung zu Eheſchließung und Tranıng.
Hier tritt uns eine ganze Anzahl von Controverfen entgegen.
Zunädft kommt die Stellung Luthers zum lanonifden
Recht in Betracht. Friedberg bat in diefer Beziehung ſehr ab-
fällig über Luther geurtheilt. Er habe auf der einen Seite bie
kanoniſche Doctrin verworfen, und fie anderfeitS doch wieder in
praxi vollftändig reprobucirt; der einzige Punkt, wo er eine Aen⸗
derung vorgenommen habe, habe das immer ſchon unpraktifche Recht
zu einem unpraftifchen und unbilligen gemacht (Recht der Eher
fhließung, S. 210). Und auch neuerdings hat er wieder Luthers
Stellung zum kanoniſchen Recht als eine Mifchung von Misver⸗
1) Corp. Ref. I, p. 209. 265.
Die Trauung. 69
fändniffen und blindem Eifer wider dasfelbe charakterifirt (Ver⸗
(bung u. Trauuug, S. 58. 59).
Wir werden Sohm darin beipflichten müfjen, daß es gewiß
geſchichtlich unbegreiflich jei, daß Luther mit feiner Heinen Schrift
von Eheſachen mit einem Schlage nicht nur das Eherecht in den
Gebieten der Tutherifchen Reformation, fondern auch in denen ber
reformirten Kirche, ohne Widerfpruch zu finden, ganz neu geftaltet
haben follte (Trauung und Verlobung, S. 110—114). Wir geben
griedberg darin Recht, dag Luther die Bedeutung der fanonifchen
sponsalia de futuro verfannt bat, daß alfo fein Say: „jedes
öffentliche Verlöbnis ftiftet eine rechte, redliche Ehe“, allerdings nicht
dem fanonifchen Rechte gemäß ift — aber zu diefem Deisverftänd-
nis des Rechtes konnte er nur um deswillen fommen, weil thatfächlich
derartige präparatorifche Berlöbniffe nicht in Brauch waren; Luther
trat daher mit diefem Sag auch nit mit der Anfchauung des
ganzen Volles in Kampf, fondern fprad einfach die Anficht aus,
die man allgemein von der Berbindlichleit und Wirkung des Ver⸗
lobniſſes Hatte. Somit war Luthers Misverftändnis des kano⸗
nifhen Rechtes in diefem einen Punkt ein für feine Zeit burdh-
aus unvderfänglicdes. “Der Fehler zeigte fih erft dann, als mit
einer Beränderung der focialen Verhältniffe das Bedürfnis fich
herausstellte, eine präparatorifhe Berlobung zu fchaffen. “Der
eigentliche Begriff der sponsalia de futuro ift alſo allerdings bei
ihm verloren gegangen, er läßt nur zwei Fälle ftehen, in denen er
sponsalia de futuro (die dann auch nicht ehejchließende Kraft
haben) geften läßt: desponsationes impuberum und desponsationes
cum conditione. Jedes andere Verlöbnis ift Eheſchließung. Zum
Berftändnis dieſer feiner Theſis (deren bibliſche Begründung
befonders aus Matth. 1, 20 er lediglich dem Tanonifhen Recht
felbft entnommen hat) ift es unferes Erachtens von Wichtigkeit,
deranf zu achten, wie entfchieden er ſich das Verlöbnis als zeitlich
dem Beginn des ehelichen Lebens ganz nahe voraufgehend dent.
Ich rathe, wenn's Verlöbnis gejchehen ift, daß man aufs aller-
erite das Beilager und öffentlihen Kirchgang halte. Denn die
Hochzeit lang aufziehen und auffchieben, ift fehr fährlih .... darum
ſoll man's nicht verziehen, fondern nur flugs zufammenhelfen.“
70 Kamwerau
„Nach dem Berlöbnis ſoll man nicht lang verziehen mit der Hoch⸗
zeit... man muß Gott um Rath fragen und beten, und dar nach
bald fortfahren.* (Tiſchr. IV, ©. 41. 55. 56 [Ausg. Förſt.⸗
Bindf.]) Melanchthons und Agricola’s Hochzeiten find feiner Meinung
nach viel zu lange nad dem Berlöbnis hinausgeſchoben worden,
und doch verjtrich bei der des Erfteren nur ein Vierteljahr, bei der
des leßteren waren nur 6 Wochen dazwifchen. Ebenſo erjcheint
es bei den alt=evangelifchen Kirchenordnungen — nicht als Ber-
ordnung, wol aber al8 die thatjächliche Vorausſetzung, — daß Ver⸗
lobung, Anmeldung beim Pfarrer, Aufgebot, Hochzeit uno tenore
als eine in fi zufammenhängende und zufammengehörige Handlung
vorgenommen werden. So hebt beijpielöweife in der Cölner Re⸗
formation der Abſchnitt „Vom Einfegnen der Eheleute” mit den
Worten an: „So fich die Leute mit einander vermählt haben, die
folfen fi} beide zumal, der Bräutigam und die Draut ... . dem
Baftor . . . anzeigen“ (Richter, Bd.Il, S. 47); oder in einer
anderen heißt es: wenn Gott Leute zum ehelichen Leben berufen
hätte, die follten postquam inter ipsos aut parentes eorum
ita constitutum et ratum fuerit dataque fide firmatum, —
alfo nahdem das Verlöbnis in gültiger Weiſe gefchloffen ſei, den
Baftor davon benachrichtigen, damit die Gemeinde für fie Fürbitte
thäte, jo daß nach Ablauf von 3 Wochen dad coeptum conjugium
solenni ritu absolvatur coram tota ecclesia (a. a. DO. Bd. II,
©. 157). Die thatfächliche Grundlage für die Lehre der Refor-
mation von der ehefchließenden Kraft des Verlöbnifjes Tiegt affo
ganz wejentlic in diefer engen Berfnüpfung von Verlobung und
Trauung.
Wo Luther des weiteren das kanoniſche Recht abgeändert hat,
da werden wir ihm im vollften Maße beiftimmen müffen: es ift
das feine Reclamirung der Deffentlichleit und der Nothwendig⸗
keit des elterlichen Conſenſes für ein gültiges Verlöbnis.
Aber freilich dürfen wir nit mit Sohm bei diefem Vorgehen
Luthers ein Wiederanfnüpfen an das deutſche Recht erbliden.
Dies fpielt überhaupt bei ihm — fo weit wir bliden- fönnen —
gar keine Rolle. Eine Rolle neben dem fanonifchen Recht fpielt bei
ihm fonft nur kaiſerliches d. 5. römifches Recht. Vgl. für die
Die Trayung 71
Bedeutung, die er dieſem gerade in causis matrimonialibus beilegt,
„Bon Eheſachen“ 1530, bei v. Strampff, S. 314; Tifchr., Vd. IV,
©. 57. 99. Ferner die Vorrede zu der Schrift des Joh. Brenz
„Don Ehejachen“ , die Luther dazu gefchrieben bat. Und dieſe
Brenz'ſche Schrift ſelbſt (Wittenberg, Georg Rhaw, 1531) führt
farz und bündig aus, für die Juden fei Mofls Geſetz, für bie
Papiften tanonifches, für die Chriften in deutfchen Landen dagegen
fniferlicheg Hecht in Eheſachen gültig. In der Lehre von der che-
Ihließenden Kraft der Verlobung lafjen die Reformatoren fich frei.
ii von den Anfchauungen des römischen Rechtes nicht beeinfluffen.
Es ift intereffant — und eine Betätigung für das vorhin über
die in Deutfchland üblichen Berlobungen Bemerkte —, daß Brenz in
der angeführten Schrift gar Feine Clafjification der Verlöbniſſe
aufſtellt. Er kennt nur eine Art, und diefe („Handftreich“
oder „bie (Ehe verheißen“) ift ihm gleichbedeutend mit „ein Ehe⸗
weib nehmen“ 1).
Sriedberg und Sohm find ferner über Luthers Traubüchlein
mit einander in Streit gerathen. Die Worte in der Vorrede:
„Solches alles lafje ih) Herrn und Rath fchaffen und machen, wie
fie wollen; es gehet mich nichte an. Aber fo man uns begehret,
für der Kirchen oder in der Kirchen, fie zu fegnen, über fie zu
beten, oder fie auch zu trauen, find wir fchuldig, dasfelbige
zu thun“ — haben zu den allerverfcjhiedenften Deutungen Anlaß
gegeben. Friedberg deutet dad „man“, von welchem das Begehren
I) Auffallend ift allerdings die Lehre Brenz’, was zu thun fei, wenn ein
Berlobter nach dem Berlöbnis feinen Sinn ändert und die gefchloffene
Ehe nit vollziehen will. Das altproteftantische Eherecht mußte conſe⸗
quenterieife in folchen alle den Ehevollzug durch Trauung und Heim-
führung zwangsweiſe herbeizuführen fuchen. Ganz anders Brenz: „So
eine Tochter Einem vertrauet ift und er im felben Lande wohnt, führt
fie jedoch nicht zur Kirchen, jo ſoll die Bertranete 2 Jahre fill ſtehen
und hinzwiſchen den Kirchgang und Veftätigung dev Ehe erfordern; —
will er aber nicht, foll es ihr unfträflich fein, fo fie ſich anderswo ver-
heirathet.” Alfo flatt eines Zwanges zur Trauung, Auflöfung des Ber-
hältniffes, wenn der eine Theil es Töfen will. Das if ein durchaus
moderner Sat und im Syſtem jener Zeit eine Inconfequenz.
72 Kaweran
J
ausgeht, aus den vorangehenden Worten auf den Staat oder die
Obrigkeit. Er folgert ferner aus den Worten die juriſtiſche
Unweſentlichkeit der Trauung (Verlobung und Trauung, ©. 61.
62). Andere haben den Worten entnehmen wollen, Luther unter-
ſcheide hier deutlich die Trauung als eine rein civile, in obrigfeit«
lichem Auftrage zu vollziehende Chefchliefungshandlung von dem
rein kirchlichen Segnen und Beten. Sohm wiederum hält die
Brautleute felbft für die Begehrenden und meint hier den Beweis
zu haben, daß die deutfche Trauung dem Bewußtſein jener Zeit
noch Kar vorſchwebe. Die Brautleute begehren vom Geiſtlichen
die Trauung, damit tritt diefer in die Holle des Vormundes ein,
und als „gelorener Vormund“ giebt er die Braut dem Bräutigam
auf Treue — und eben diefe Trauhandlung fei das juriftifch
Wefentliche an der gefamten kirchlichen Handlung. In einem Stüde
hat dann Sohm feine Anfiht mobificirt: der lateinifche Text des
Traubüchleins hat nämlich nichts von der im deutjchen Texte an⸗
fcheinend indicirten Loslöfung des Wortes „trauen“ von „fegnen
und beten“; die Worte find ganz forglo® wiedergegeben durch
copulemus, benedicamus aut oremus; trauen und fegnen find
alfo nicht gegenfäglich, fondern als verfchiedene Ausdrüde für dies
felbe Sache verjtanden. Als Wechfelbegriff will nun freilich Sohm
keineswegs die Ausdrüde veritanden wilfen, fondern er will nur das
daraus entnehmen, daß für Luther das Trauen felbftverftändlich zur
firhlihen Handlung mitgehöre. — Wer ift denn nun aber als Sub⸗
jeet zu dem „man begehret* gedaht? Das ift unzweifelhaft, daß
Luther Hernach in derfelben Vorrede mehrfach von dem Begehren
der Brautleute redet und alfo die Eirchlihe Handlung von
diefem Begehren abhängig madıt, und wenn Sohm etwa meint,
diefen Gedanken zuerft bei Yuther entdeckt zu haben, fo wäre das
freilich eine Zäufhung (vgl. 3. B. Jacoby, Liturgit Luthers,
S. 329). Ob aber aud in dem in Frage ftehenden Sake bie
Beziehung des „man“ auf die Brautleute richtig fei, ift uns troß
der erneuten Bemweisführung und der Berufung auf den lateinifchen
Text fraglich geblieben. Er müßte dann confequenterweife in dem
nachfolgenden Sate: „die es geftiftet haben, dag man Braut
und Bräutigam zur Kirche führen foll”, die Brautleute felber für
Die Trauung. 13
die erffären, die ſolches geftiftet haben. Richtiger fcheint es ung,
da in den borangehenden Worten die mancherlei Hochzeitsfitten und
Volksbräuche beichrieben find, zu dem „man begehrt“ das ganz
allgemein gefaßte Subject „die gute fromme Volksſitte“, die von
den Bätern „geftiftete” Löbliche Gewohnheit, zu fuppliren.
Was verfteht denn nun Luther unter „trauen“? Das darf
als ein feites Ergebnis der in den lebten Jahren geführten Contro⸗
verje bezeichnet werden, daß e& ein Irrtum war, werm man früher»
hin öfter Trauung und Segnung in der Weife entgegengeftellt
hat, daB erftere, als eine wejentlich civile Handlung, der Act der
Eheſchließung fei, letztere dagegen die Firchliche Weihe der Ehe
bedeute. Das haben Friedberg und Sohm übereinftimmend klar⸗
geftellt, daß für Luther wie für die altproteftantiiche Kirche der
Chefhließungsact in dem öffentlichen, durch elterlichen Conſens
befräftigten Verlöbnis Liegt, daß es ſtets bereits gefchloffene Ehen
find, für welche die firhliche Trauung begehrt wird, daß e8 — recht⸗
lich betrachtet — ftetS neue Eheleute find, die zur Trauung kommen.
Auch darin treffen no beide Juriſten zufammen, daß fie bie
Zrauung als Ghebeftätigung bezeichnen. Treffend entwidelt
Sohn diefen Begriff (Recht der Eheichliegung, S. 226 — 228).
In der Trauhandlung gefchehe zunächft die Betätigung der in der
Verlobung geichloffenen Ehe durch die Brautleute felbft, indem bieje
igre Eheverbindung öffentlich befennen. Aber es finde zugleich aud)
vonſeiten des Geiftlichen eine Beftätigung ftatt, nicht nur ale
amtliche Sonftatirung; er übe nicht nur paffive, fondern auch active
Afiftenz. Seine Beftätigung bedeute zugleich eine kirchliche Zus
timmung oder Approbation, auf Grund deren dann der göttliche
Segen ertheilt werde. Aber damit, meint Sohm, ſei der Begriff
der Trauung keineswegs erfchöpft, — und darin fchlägt er nun
einen ihm völlig eigentümlichen Weg ein: die Trauung fei bei
Luther außerdem noch die alte deutſche Trauung; „in unge
brochenem Zujammenhange mit den Weberlieferungen des altdeutjchen
Rechtes tritt der Geiftliche, in der Rolle des alten Bormundes, als
geforener Trauungsvormund auf, welcher, das Eheverfprechen er»
füllend, die verlobte Braut thatjächlih der Gewalt und der Lebens⸗
führung des Bräutigamd auf Treue übergibt. Die Trauung
24 Kaweram
Luthers ift eine Tronungsdandlung mit Trauungsform“ (a. a.O.,
©. 229). Wenn Sohm uns darauf aufmerffane macht, in welch
ungebrochenem Zufammenhange die Formen ber alten deutichen
Trauung fid von Jahrhundert zu Jahrhundert fortgeerbt haben, fo
nehmen wir ſolchen Nachweis dankbar an; aber wenn er behaupten
will, die Trauung Luthers fei aud inhaltlich noch durchaus die
alte deutſche Trauung, fo fragen wir verwunders nach den Beweiſen
dafür. Sein Beweis ift weſentlich uur der eine, dag nicht nur
Luther, fondern auch eine große Reihe lutheriſcher Kirchenorduungen
die kirchliche „Einſegnung“ oder „Einleitung“ der neuen Eheleute
auch mit dem Namen „zufammengeben“, „tho hope geben“,
benennen. Aber was beweift das, nachdem wir (durch Sohm felbjt)
erfahren haben, daß bereits im Mittelalter die alte deutiche Trauung
ihre urfprüngliche Bedeutung immer mehr abgeftreift und verloren
hat (a. a. O., ©. 174—176)? Es iſt das alſo ein ähnlicher
Beweis, ald wenn wir aus dem Umſtande, daß bis zum Eude des
Mrittelalterd die Verlobung vielfach den Namen „Kauf“ behalten
hatte, folgern wollten, fie fei wirklich auch zu jener Zeit noch das
alte Kaufgefchäft vergangener Jahrhunderte gewefen. Die alten
Trauformen haben ſich vererbt, der alte Name ift in allgemeinem
Gebrauch geblieben, aber fein Meunſch denkt in Luthers Tagen bei
dem trauenden Geiftlichen noch an den „gelorenen Bormund“, Tein
Menſch definirt die Trauung noch als traditio puellae, fondern
wer ihren Inhalt ausdrüden will, der nennt fie Ehebeftättgung.
Über wie Sohm fi mit dem Begriff einer Tirchlichen Ehe⸗
beftätigung oder Approbation nicht begnügen mag und daher Rechts⸗
anfchauungen einer entfchwundenen Zeit in die Trauung hineinzu⸗
legen fucht, fo fühlt fi) auch Cremer von dem bezeichneten Trau⸗
ungebegriff nicht befriedigt... Er meint, gerade Luther habe mit
Schlagendem Wort den eigentlichen Inhalt und in ihm die Bedeu⸗
tung des kirchlichen Actes hervorgehoben, daß derjelbe nämlich chrift-
liche Ehefchließung fei, alfo daß dur den Dienft des
Amtes die Ehe gefchlojjen, das Band zwifchen den Ehe—
leuten gebunden werde. Den Quther fchreibe: „Wer ein ehelich
Gemahl nimmt nach folchen [laiferlichen) Rechten, dem kann ein
Pfarrherr mit fröhlichem Herzen fagen ober urtheilen, daß er es
Die Trauung. 78
mit gutem Gewiſſen, mit Gott und mit Ehren habe” (a. a. O.,
©. 68. 89). Aber wie? Das ift doch etwas ganz anderes, je
mandem urtheilen, bezengen, daß er, weil er jein Weib ordnungs⸗
mäßig, im Webereinftimmung mit göttlihem und weltlichem Recht,
m dem Berlobungsact fi) genommen bat, nun aud mit guteme
Gewiffen, mit Bott und mit Ehren haben und fein eigen nennen
lönne, als die Ehe jemandes in Gottes Namen ſchließen! Luthers
Worte fegen die in Gottes Namen geſchloſſene Ehe voraus und
Rellen dem Geiftlihen die Aufgabe, Zeugnis zu geben, das Urtheil zu
fälen, daß die Betreffenden in gotigeftiftetenm Stande ſich befinden,
niet aber, das Band zwifchen dem Ehelenten erft zu binden. Kremer
bt m Evang. 8.3. 1876, ©. 362 biefe Worte Luthers noch
weiter zu Gunften ſeines Eheſchließungsbegriffes auszudeuten ver-
ſucht. Das kaiferliche Recht, ſagt er, komme bier nur in Betracht
bezüglich der Möglichkeit der Ehe, ihrer Zuläſſigkeit oder etwaiger
Hinderniſſe dawider; dagegen die „Herftellung ber Ehe“ geſchehe
nach deutschem Recht d. h. durch kirchliche Trauung. Das ift aber
der Meinung Luthers durchans zumidergeredet. Kaiferliches Recht
gefällt Luthern um deswillen fo gut, weil ed auf bie elterliche
Einwilligung dringt und daher den heimlichen Berföbniffen wider-
ſtrebt. Nun fagt Luther: „Was burch Gottes Wort zufammen-
gefügt wird, das hat Gott zufammengefügt, und fonft nichts“,
aber dabei denkt er nicht entfernt an das Wort Gottes in ber
Trauung, fondern Gottes Wort heißt hier „den Eltern und der
Obrigkeit gehorfam fein“. Wer „wider der Eltern Gehorfam“
Berlöbmis Hält, der hat „fich felbit zufanımengefüget“, wer dagegen
mit Willen der Eltern fidh verbunden hat, den Hat auch Gott zu⸗
ſammengefügt. So fteht Mar und deutlich in ber Schrift „Bon
Eheſachen“ (bei v. Strampff, S. 319—321) und ebenfo Tiſchr. IV,
S. 100 Luthers Meinung bezeugt. So handelt «8 fi) aud in
der Borrede zu der Schrift von Joh. Brenz nicht um die „Mög-
lichleit* der Ehe, fondern um ein Mares Priterium darüber, ob
Einer jein Weib mit Gott oder wider Gott habe; und dies Kriterium
liegt ihm nicht in der kirchlichen Trauung, fondern in der gemäß
taijerlihem Rechte erfolgten Berlobung. Cremer würde ohne Zweifel
Luthers Worte zutreffender gedeutet haben, wenn er die Schrift
76 Kaweran
des Joh. Brenz felbft verglichen hätte. Nicht nur, daß diefe Schrift
die Trauung confequent als „Beftätigung vor der Kirchen“ oder
als „einjegnen oder für beftätigt erkennen“ definirt, fondern wir
leſen dafelbft auch folgendes: „ALS unfer Herr Chriftus (Matth. 19)
von dem ehelichen Stande predigt, jagt er unter andern Worten
alfo: Was Gott zufammengefüget . . . Aus welden Worten
öffentlich zu verftehen wird gegeben, daß in eheliher Zufammen-
fügung nicht allein die bloße Verpflichtung, fondern auch, ob die
Verpflichtung durch Gott und göttlich gefchehen fei, angefehen werden
fol. (Man follte nad) Cremer meinen, er werde mad) diefer
Einleitung nothiwendig auf die Zrauung zu fprechen fommen, aber
wie fährt er fort?) ... alſo wird diefe eheliche Pflicht für göttlich
gehalten und al8 von Gott zufammengefügt geurtheilt, fo mit gött-
lichen billigen Mitteln ohne Zerrüttelung göttlichen Geſetzes vor-
genommen wird”, — alfo, 'wie er dann weiter lehrt, Verlöbnis
mit elterliher Kinwilligung, von der Zrauung aber redet er in
diefem ganzen Zuſammenhange mit keiner Sitbe! Wir dürfen nad)
forgfältiger Prüfung des Duellenbefundes fagen: den Eremer’fchen
ZTrauungsbegriff kennt weder Luther, noch kennen ihn die andern
Neformatoren oder die altenangelifchen Kirchenordnungen. Sie
wiffen und lehren wol, daß die Trauung durch den Geiftlicdyen
eine „Qergewifjferung göttliher Zufammenfügung“ fei, aber daß
die Zufammengebung durd den Geiftlichen, die deutfche reſp. kirch⸗
(he Trauung die Ehe „herftelle”, „das Eheband binde* — das
ift eine ihnen ganz fremde Vorftellung. Was die Trauformel „ich
Ipreche ehelich zufammen“ in ihren Augen bedeutet, das lehrt une
die Weberfegung berjelben in der Iateinifchen Ausgabe des Trau⸗
büchleins in den fombolifchen Büchern: „ego pronmuntio vos
conjuges“ (nidit, wie man erwarten möchte: ego Conjungo
vos), fie ift alfo nicht copulativ, fondern declaratorifch aufgefaßt,
das lehrt uns die Umwandlung derfelben in Ehebeftätigungs-
formeln faft in der ganzen füddentfchen Kirche. Cremer fagt: „die
Bedeutung der kirchlichen Trauung ift, daß bie chriftliche Ehefchlie-
ßung in Analogie der göttlichen Stiftung der Ehe im Paradiefe
erfolgt” (S. 67); aber aud mit dieſem Sage hat er Luthers
Meinung gegen fi. „Quod addit Moses ‚et adduxit eam ad
Die Tranumg. 77
Adam‘ est descriptio quaedam sponsalium imprimis digna
observatione. Nam Adam conditam Evam non rapit ad se
ex suo arbitrio, sed expectat adducentem Deum.‘“ (Comment.
in Genes.) Nach Cremer hätte Luther offenbar fchreiben müffen
descriptio copulationis, aber nicht sponsalium. In dem ohne
alle Betheiligung der Kirche erfolgten Verlobungs⸗Eheſchließungsact,
wenn er nur in Gehorjam gegen Eltern und Obrigkeit, in legitimer
Weiſe „ohne Zerrüttlung göttlichen Geſetzo“ vorgenommen ift,
erblidt Luther „adducentem Deum“. Bgl. da® Citat bei
Sohm, S. 200: „Regula Christi ‚quod Deus conjunxit, homo
non separet‘, ad sponsalia quoque pertinet‘‘; und bei Fried»
berg, ©.290: „Des HErrn Auſpruch ift Hell und Kar Matth.
am 19. Was Bott zufammengefüget hat, ſoll fein Menſch nicht
iheiden. Nun aber, wo Bräutigam und Braut find, welche ſich
mit einander verlobt und in Beifein ehrlicher Leute die Ehe einau-
der verfprochen haben, die hat Bott zufammengefüget, fie
find in Gottes Augen Eheleute, darum ſoll fie kein Mensch fcheiden“.
Eremer hält es für eine gefährlihe Entleerung und Verflachung
der firchlichen eier, wenn man an Stelle „einer chriſtlichen Ehe⸗
ihliegung“ nur ein „gehaltlofes" Segnen einjegen wolle. Ja
freilih, wenn man es fo inhaltlos auffaffen wollte, daß es eines
„ientimentalen” Aufpuges bedürfte, um einige „Rührung“ hervor»
wbringen (vgl. a. a. O., ©. 88. 89)I Aber man kann den
Begriff des Segnens aud jo voll und fo ernit auffallen, daß man
jener „Herftellung“ der Ehe durch die Trauung füglich entrathen
fann. Und fo ernft und gehaltvoli hat es Luther gefaßt, wenn er
in feiner Predigt über Hebr. 13, 4 von den Brautleuten fagt:
„ne befennen öffentlih, dag fie in den Eheſtand treten“ und
dann zur Charafterifirung deffen, was die Kirche ihnen giebt, hin-
zufügt: „fie werden gefegnet“. Darunter verfteht Luther freilich
nicht, wie Cremer mit Recht bemerkt, nur eine gefegnete Eheführung,
jondern den Segen über eine in Gott gefchloffene Ehe; aber daß
die Kirche fegnet, hat eben zur Vorausſetzung, dag Gott die Ehe
geihloffen Hat, nicht daß die Kirche die Ehe fchließe. Luther
nimmt nicht Anftand, den Trauact vor der Kirche felbft als ein
„Segenwünfchen “ zu bezeichnen. „Es ift eine fehr feine umd
TB Kaweran
hriftlihe Orbmung, daß man dem neuen Ehevolk vor der
Kirche Bottes Segen wünfcht und eine gemeine Fürbitte für fie
thut.* Und wenn er im Traubüchlein erft von trauen, fegnen
und beten, hernach jedody immer nur noch von fegnen und beten
redet, das „trauen“ affo übergeht, fo wird fi das am matür-
lichſten fo deuten laffen, daß ihm das Trauen in dem Segnen und
Beten mitbeichloffen Liegt. Trefflich iſt der Begriff, den Luther
und die alte proteftantifche Kirche mit der Trauung verbindet,
durch v. Scheurl audgebrüdt worden, dba ex fdhreibt: „Die
Trauung war feierliche Betätigung der erfolgten Cingehung der
Ehe, auf Grund wiederholter Eheconfenserflärung, im Namen
des dreieinigen Gottes, in fo fern aber folgeweife auch Tirchen-
amtliche Bezeugung und PVergewifferung, daß die fchon gefchehene
Eingehung der Ehe eine göttlihe Zufammenfügung des Ehepaares
ſei, und daß daher nun in getrofter Zuverficht hierauf die Heim⸗
führung der Braut und der Antritt der Tebensgemeinfchaft erfolgen
tönne und folle" (a. a. O., ©. 240) 1).
Uebrigens kat Cremer mit vollem Rechte gegen Friedberg Broteft
erhoben, daß dieſer in Luthers Behauptung, daß der Eheftand ein
„weltlich Geſchaft“ und doch „der allergeiftlichite Stand“ fei, einen
fo unvereinbaren Widerfpruch gejehen, daß er gemeint hat, ihn
damit Löfen zu follen, daß er al& Luthers wahre Herzensmeinung
nur das Erftere „ein weltlich Geſchäft“ ftehen laſſen wollte, da⸗
gegen bie Betonung ber Ehe als einer Gottesftiftung lediglich als
ein bequemes und nöthiges Kampfmittel gegen die römifche Cölibats-
Iehre amd gegen die Sittenlofigkeit des Volles angefehen wiffen
wellte (Friedberg a. a.D., S. 158—169). Da hat Friedberg
Luthern recht gründlich misverftanden. Vgl. Cremer ©. 39. 40.
— — — — —
1) Durch vorſtehenden Abſchnitt iſt die von mir (Studien und Keritiken 1874)
verſuchte Darſtellung der Anſichten Luthers über die Eheichließung in
mebrfacher Beziehung corrigirt worden. Es ift mir eine Pflicht der
Dankbarkeit, es dabei auszufprechen, daß ich die Anregung zu erneuter
Prüfung der Stellung Luthers und zu einer tieferen Auffaffung des
Trauungsbegriffes der Arbeit Eremers, verdanke, obgleich ich auch
jetzt noch derfelben in fo vielen Punkten entgegentreten muß.
Die Vrauung. Ä 79
Schleßlich finde hier noch Erwähnung, daß die Frage, ob
&athers Ehe Firchlich gefegnet worden ſei, auch wieder in Disput
selommen if. Sohm hat fih an Friedberg angefchloffen, der die
Frage vermeinte. Cremer dagegen (S. 37) ftimmt in feinem Urtheil
mit dem zufammen, welches Köſtlin (Luther, 8b. I, S. 809) in
bejahendem Sinne abgegeben hat. Luthers Ehe Hit offenbar durch die
fanenifchen sponsalia de praesenti gefchloffen, „peregit consueta
sponsalia “, diefe-aber find coram parocho (WBugenhagen) gefeiert
worden, fo baß bei ihm sponsalia ımd copula sacerdotalis in
einen Act zuſammenfielen (mas ſonft gewöhnlich nicht geſchah).
& fand aljo bei feinem Ehebeginn diefelbe Aufeinanderfolge ftatt,
wie er fie Tifchr. IV, 41 angegeben hat: Verlöbnis (welches aber,
wie bemerkt, em Ticchlich geſegnetes war), Bellager, Keirchgang.
5. Die Auflsfung Des altproteſtantiſchen Eheſchließungbrechtes.
& muß als das große Verdienft Frledbergs anerfemmt werben,
daß er zuerft die ehefchliehenide Kraft der Verlobung im Eherecht
des 16. und 17. Jahrhunderts mit aller Goidenz nachgewieien,
gleich aber auch durch ferne überaus ſchätzbare Möaterialfamm-
tung aus Thevlogifchen und juriftifchen Schriften gezeigt hat, wie
mannigfachen Shwanlungen in Thesrie und Praris das Ehe-
ihließungsrecht bereits im 17. Jahrhundert ausgeſetzt gewefen ift.
Da nım Friedberg :dben von Quther eingenommenen Standpunft von
vorn herein als einen ebenfo umpraktiichen mie unbilligen bezeichnet
bet, jo ift effenbar, daR in ſeinen Augen die Weiterentwicklung durch
Mämer wie Thomafins umd Böhmer, alfo die Beſeitigung der
Heichließenden Wirkjamteit des Verlobniſſes und die Berfchiebung
der Ehefchliegung von der Berlobimg anf den in obrigkeitlichem
Auftrage zu voflziehenden Trauact, Ach als ein heilſamer und
dringend erforderlicher Fortſchritt darftellt. Sohm Hat diefe
rehtögefchiehtlichen Unterfudmmugen Friedbergs im ganzen voltftändig
ald richtig anerkannt, im einzelnen hie und da das Material be-
teihert (befonders durch eine ſehr eingehende Darftellimg der von
Vöhmer entwickelten Chefchließungsboctrin). Der Gegenfat gegen
Friedberg Liegt in dieſem heile ber Sohm' ſchen Arbeit vorwiegend
im der Beleuchtung, in der fubjectiven Beurtheilung, :die dem be-
80 Kamweran
fonder8 durch Böhmers Autorität Kervorgerufenen limgeftaltungs-
proceß des Eherechts zu Theil wird. Was bei jenem ald wefent-
fiher Fortſchritt erfcheint, das gilt diefem als der beffagenswerthe
Niedergang deutſchen Rechts, als eine traurige Unterjocdhung
Deutfchlands ufter das Scepter des römiſchen refp. Natur-NRechte.
Dagegen ift nun zunächſt einzuwenden, baß der ununterbrochene
Zufammenhang deutfchen Rechtes in der Ehefchließung bis auf Böhmer
gar nicht in dem Maße, wie Sohm behauptet hat, vorhanden ge-
weien if. Weder ift das kanoniſche Recht die Wiedergabe des
deutfchen Rechtes geweſen, noch auc darf zu Luthers Zeit von einer
Continuität des deutfchen Rechtes in der Weife geredet werden, wie
Sohm auszuführen verſucht hat. Sodann glauben wir, dag man
noch viel entjchiedener, als es von feiten Sohms gefchehen ift, herpor-
heben muß, wie bereits bei den Theologen de8 17. Jahrhunderts
die Definition der Verlobung im römifchen Recht Einfluß gewonnen
hat, wie fchon bei ihnen die Verlobung aus einem conjugium
inchoatum s. initiatum fih mehr uud mehr umjegt zu einer
spes nuptiarum futurarum, wie die Trauung immer mehr der
Bedeutung fich nähert, die fie noch unlängft für uns gehabt hatte,
die von der Obrigkeit erforderte und Iandeögefetzlich vorgefchriebene
Form der Ehejchliegung zu fein. Luthers Sponfalienlehre tritt in
eine unklare Verquickung mit der des römifhen Rechtes. Da iſt
es Böhmers Verdienſt weſentlich gewejen, diefer unhaltbaren Ver⸗
quickung ein Ende zu machen und die in weſentlichen Stüden bereits
de facto acceptirte Anjchauung des römischen Rechtes Har und frei
herauszuentwideln und in der Doctrin zur Herrſchaft zu bringen.
Dan ftelle nur einmal Johann Gerhard mit Böhmer in Vergleich.
Erfterer redet zwar noch hergebrachterweife von den sponsalia
als conjugium inchoatum, bringt die Xuther’fche Erklärung der
sponsalia de futuro al8 sponsalia impuberum und sponsalia
conditionata u. dgl. traditionelle Claffificationen, aber ebenfo
Iehrt er mit dem römischen Recht die Unterfcheidung de8 consensus
sponsalitius und consensus nuptialis, definirt die Sponfalien |
als pactiones de futuro conjugio. Er bejaht zwar die Frage an
sponsalia sint coram Deo matrimonium ? — aber limitirt zugleich
feine bejahende Antwort fo energiſch, daß eigentlich nichts davon
Die Trauung. 81
ftehen bleibt „„dictum Christi: Quod Deus conjunxit, homo non
separet — non de nudis sponsalibus, sed de consummato
matrimonio proprie est accipiendum “. Bor jeder Confequenz
der altproteftantifchen Sponfalienlehre, namentlih vor dem Zwang
zur Confummirung durch Kirchgang und Heimführung der Braut,
ihredt er zurüd und ſucht ausweichend und abfhwächend zu ant-
worten. Factiſch ift für ihm nicht die Verlobung, fondern die
Zrauımg der Eheſchließungsact; die benedictio sacerdotalis ijt
im necessaria ad conjugium riteineundum (nit consum-
mandum), und zwar nicht nur ob constitutionem ecclesiasticam,
iondern auch ob constitutionem civilem (vgl. Loci theol. ed,
Cotta XV, 129. 150. 159—161). Es muß unſers Erachtens
ferner in Betracht gezogen werden, daß derartige neue Rechtsbil-
dungen, wie fie bei Gerhard bereits vorhanden, aber noch mit den
überlieferten Terminologien in eigentümlicher Durcheinandermifchung
m Rampfe find, wie fie bei Böhmer dann Mar und frei hervor«
treten, der Miederfchlag veränderter Geſtaltungen des
jocialen Lebens zu jein pflegen. Wir Haben vorhin darauf
hingewiefen, daß Luthers Sponfalienlehre nicht recht gewürdigt werde,
wenn man fie nicht auf der Grundlage der thatjächlichen Tocialen
Terhältnifje betrachte. Berlobungen als präparatorifche Verhältniffe
waren nicht üblich. Dagegen zeigt uns der im 17. Jahrhundert jo
oft erforderlich werdende Zwang zur Trauung, daß die focialen Vers
hältuiffe andere geworden waren. „Das Ehevorbereitungsver-
haltnis“ — fo lefen wir in einem beachtenswerthen Artikel der Allge⸗
meinen Intherifchen Kirchenzeitung 1876, ©. 732 — „ift namentlich)
für jreiere fociale Geftaltungen ein unentbehrliches Inſtitut. Es
hat weniger rechtliche als eine hochfittliche Bedeutung. Da, wo
ungezwungene gejellfchaftliche Beziehungen zwischen beiden Gejchlechtern
ich entwickelt haben, ift e8 vom höchften Werth, daß die zukünftigen
Ehegatten in gejellfchaftlich anerkanntem züchtigem Verbundenſein
&inander näher kennen lernen, um zu erfahren, ob fie für die Ehe
zuſammenpaſſen, und um, wenn fie entgegengejegte Ueberzeugung
gewinnen, das Band noch vor dem Eheſchluß Töfen zu künnen....
Während Schneivewein noch fagt: fol ein präparatorifches Ver⸗
haltnis ift bei uns nicht in Gebraud), fing es, hervorgerufen durch
Test. Etub. Jahrg. 1878.
82 Kawerau
bie Kenntnis des römifchen Rechtes, doc) allmählich an ſich Bahn zu
beedhen .. . Wenn infolge der großen Autorität Böhmers das
Ehevorbereitungsverhäftnis als römische Sponfalten in Deutſchland
zur vollen Anerkennung durchgedrungen ift, jo haben wir darin
einen Fortſchritt guter Rechtsentwicklung zu conftattren.“
So fieht ſich Sohm in diefem für ihn fo wichtigen Punkte gerade
von dem Blatte verlaffen, das fonft feinen Rechtsausführungen
unbeichränften Beifall gezolit hatte (vgl. Allg. Iuth. 8.3. 1876,
©. 56-61). Auch v. Scheurl hat fi) neuerdings zu dem Be⸗
fenntnis veranlaßt gefehen, er müſſe ſich jet den Gegnern Sohms
darin völlig anfcliegen, daß bie ſcharfe Unterſcheidung zwifchen
Verlöbnis und Ehefchließung, melde durch Böhmer zur Geltung
gekommen und dazu geführt habe, die firchliche Trauung als den
Eheichließungsact zu behandeln, ein wirklicher Kortfhritt
geweſen fei (a. a. D., S. 248), — Jetzt, als Verlobungen als
Ehevorbereitungsverhäftniffe gebräuchlich wurden, ba erwies es ſich
als ein Mangel in der durch Luther vertretenen Sponfalienlehre,
daß der urfprüngliche Begriff ber kanonifchen sponsalia de futuro
in ihr in Folge jenes Misverftändniffes Luthers gar feinen Plag
gefunden hatte. Darum war es erforderlich, den römifchen Begriff
de8 Cconsensus sponsalitius nun in Oppofition gegen die alt⸗
proteftantifche Lehre geltend zu machen und ins Rechtsleben einzu⸗
führen. Und das war allerdings ein Verdienſt Böhmers.
6. Die gegenwärtigen Verhältnifie.
Ueber die Bedeutung und die principielle Auffaffung bes
Civilactes find? Sohm und Friedberg in jcharfe Controverfe mit
einander gerathen. Letzterer redet confequent und in bewußter Ab⸗
fihtlichfeit von dem Civilacte al8 von einer Civiltraunng;
erfterer fieht dagegen in demmfelben die in moderner Form wieber-
erftandene Verlobung » Ehefhliegung.. In gewiſſem Sinne ift das
eine Aoyouaxle beider ohne allgemeines ntereffe: denn wenn
Friedberg jagt, er wolle den Act, durch welchen juriftiich die Ehe⸗
fchließung vor fi) gehe, Trauung nennen, — fo hat er unbeftritten
Recht, daß in diefem Sinne der Civilact eine Trauung ift.
Und wenn Sohm wieder fagt, den Act, dem die copula carnalis
Die Trauung. 85
noch nicht unmittelbar folge, wolle er Verlobung nennen, — fo
hat auch er in diefem Sinne Recht, ba unzweifelhaft unter Ehriften-
leuten als ansgemacht gilt, dag man die copula carnalis erſt
nach dem firchlichen Trauacte eintreten laffen will. Allein näher
Betrachtet ift der Streit viel mehr als ein Wortgefeht. Bekannt⸗
fih hat Friedberg feinen Standpunkt jeit 1865 total umgewandelt:
befannte er fich früher zum Confenfusprincipe, jo jegt ebenſo unbe-
dingt zum Qrauungsprincipe. Und diefelbe Umwandlung ift feiner
Meinung nach mit der Eivilehe in Deutfchland vor fich gegangen.
Das preußifche Civilftandsgeſetz ftand rein auf dem Conſenſus⸗
prineipe. Die eheſchließende Wirkung lag in der Confenjuserffärung
der Brautleute vor dem Standesbeamten, die Alfiftenz desfelben
beichräntte fich darauf, daß er die Urkunde über die erfolgte Ehe-
ichliefung durch Unterſchrift vollzog, umd biefe Unterfchrift wer
natürlich nicht eine Trauungsfunction, fondern diente nur dazu,
den Moment der erfolgten Ehefchließung zu firiren, fie gehörte zu
den Beweismitteln, die das Geje erforderte. Die Eheſchließung
erfolgte affo unzweifelhaft vor dem Standesbeamten, niht durch
den Standesbenmten. Ganz anders, meint Friedberg, ftehe bie
Sache jegt feit Einführung der Reichscivilehe. Dieſe erfolge nicht
vor, fondern durch den Standesbeamten, nicht durch Conſensab⸗
gabe allein, fondern das Zufammenfprechen de8 Beamten jei ein
integrirender Theil der Eheihliehungshandlung jelbit: fie ſei alfo im
vollen Sinne Trauung. Sohm hat diefe Behauptung Lebhaft beftritten.
Kur eine praftifche, nicht eine principielle Abänderung habe ftatt«
gefinden. Der Wortlaut des Reichsgeſetzes ſcheint auf den erften
Bid für Friedberg zu Sprechen, denn biejes fordert in 8 52 einen
‚Ansipruh des Standesbenmten, daß er die Nuptnrienten nunmehr
fraft des Geſetzes für rechtmäßig verbundene Eheleute erkläre“.
Das Hingt wie eine Zramung dur den Standesbeamten. Allein
wenn wir in diefer Frage ein Urtheil abgeben wollen, ob dieſe
Anderung nur eine formelle aus praßtifchen Rüdfichten, oder eine
principielie fein wolle, jo gilt e8 zuzuſehen, was für Erklärungen
der Geſetzgeber ſelbſt darüber abgegeben hat. Die Entſcheidung
fenn nicht dem Wortlaut des Gefeges, fondern nur ben Reichstags⸗
verhandlumgen und den dabei von Seiten der Regierung abgegebenen
6*
54 Kamwerau
Erklärungen entnommen werden, und darauf einzugehen haben merk⸗
würdigerweife beide Streitführer unterlafien. Es iſt gewiß von
Intereſſe, über diefe Principienfrage eine fichere® Urtheil zu gewinnen,
und daher verfuchen wir das von jenen Berfäumte hier nachzuholen.
Zunächſt muß daran erinnert werben, daß in dem von den
Abgeordneten Völk nnd Hinſchius im Reichstag eingebrachten und
im März 1874 berathenen Gefegentwurfe die Beftimmungen des
preußifchen Geſetzes unverändert beibehalten waren. $ 29
jenes Entwurfes lautete: „Die Ehe wird dadurch gefchloffen, daß...
diefe Erklärung [der Verlobten] vom Standesbeamten in das Hei⸗
ratöregifter eingetragen, und daß die Eintragung von den Verlobten
und von dem Standesbeamten vollzogen wird.“ Und diefen Para⸗
graph nahın der Reichsſtag damals unverändert an. Nun wurde
im Januar 1875 der Gefegentwurf, den die Reichsregierung hatte
ausarbeiten Laffen, zur Berathung geftellt. Sn den von der Per
gierung beigefügten Motiven war zu 8 51 (da8 ift der jeßige
8 52) über die Einfchiebung eines „Ausfpruches des Standesbe⸗
amten“ nur bemerkt, man habe gern diefelbe Form wählen wollen,
die durch Bundesgeſetz vom 4. Mai 1870, $ 7 für bie Eheichlie-
Bungen der Deutfchen im Auslande verorbnet worden fi. Nur
biefer eine praftifche Gefichtspunft wird geltend gemacht; dag
ein neues PBrincip damit eingeführt werden folle, wird mit feiner
Silbe angedeutet (f. Anlagen zu den Stenograph. Berichten 1875,
S. 1063). Als es zur Debatte um 8 51 kam, wurden zwei
gleichlautende Amendements, eins von Seiten ber Conferpativen
(v. Seydewig), eins vom Centrum aus (Dioufang) geftelit, welche
die Wiederherftellung der im preußifchen Civilftandsgefege gegebenen
Faſſung begehrten. Darauf gab der Commiſſar der Regierung,
Geheimer Juſtizrath Stölzel, am 16. Yanuar 1875 die Erklärung
ab, es handle fich dabei um „Fixirung des Momentes der beginnen-
den Ehe“. Syn der Breife fei die Meinung aufgetaucht, als fei
die preußifche Civilehe nur eine Verlöbnieform, da fie von den
Drautleuten nur eine Erklärung fordere über den Willen, eine
Ehe eingehen zu wollen. Daher fei es nöthig, erklären zu laſſen,
daß die Eheleute jetzt wirklich rechtmäßig verbundene Eheleute feien.
Die Regierung wünfche den Gedanken zu klarem Ausdrud zu bringen,
Die Trauung. 85
dag die einzige Form, in welcher die Ehe gejchlojfen werden könne,
die vor (sic) dem Stundesbeamten fe. Es beruhte auf einem
Misverftändnis diefer Worte, wenn der Abgeordnete Lieber am
23. Januar 1875 den Regierungs⸗Commiſſar anflagte, er Habe
von einer „&hejchließung durch die Erflärung des Standesbeamten”
geredet, denn er hatte wörtli nur gejagt, „daß die Firirung
bes Momentes des Eheabſchluſſes bezeichnet werden könnte
durd die mündliche Erklärung des Standesbeamten“. Nach diefer
Erflärung dürfen wir aljo urtheilen, daß es in der That nicht
die Meinung der Reicheregierung war, aus dem Civilacte einen
Zrauact durch den Standesbeamten zu machen, fie kennt nad)
wie vor nur einen Eheſchließungsact vor dem Standesbeamten.
Die Erklärung des Standesbeamten joll dem Zwecke dienen, ben
Moment des Eheabſchluſſes zu firiren. Sie dient als Beglaus
Digungsmittel, fie hat inhaltlich diejelbe Bedeutung, wie früher die
Unterſchrift unter die Heiratsurfunde. Und ebenfo erflärte fich
die Majorität des Neichstages. Als Sprecher diefer für den Para-
graph ftimmenden Mlajorität trat der Abgeordnete Wehrenpfennig
auf. Derjelbe ſagte am 16. Januar: „Diejenige Formel ift die
befte, welche am Harften fagt, daß das Wefen der Eheſchlie—
Bung in dem Conſens der Beiden Liegt, welche die Ehe ein-
gehen. Diejenige Formel, welche am allerflariten diefe Thatſache
hinſtellt, iſt die befte.” Und am 23. Sanuar: „Unfer ganzer
Diffens beruht darauf: foll es zur Gültigkeit des Vertrages gehören,
denſelben ſchriftlich zu ſtipuliren, ober foll die mündliche Er-
Märung [der Nupturienten] vor Zeugen für die Vollendung des Actes
genügen ?* (gl. Stenograph. Ber. 1874/75, ©. 1063ff. 1245 ff.)
Somit ſcheint uns die Meinung Friedbergs allerdings unzutreffend
zu fein. Sie ift zwar ſprachlich möglich, aber fie entjpricht nicht
dem unzweideutig Tundgegebenen Willen des Geſetzgebers. Aud)
die Reichscivilehe ruht auf dem Confenfusprincipe, nicht auf dem
Zrauungsprincipe. Bon einer Civiltrauung können alfo nur die-
jenigen reden, welche Trauung und Ehefchließung ohne weiteres als
Wechſelbegriffe faſſen. Wie wenig diefe Namen fich aber deden,
lehrt das kanoniſche Recht und ebenſo das altproteftantifche Ehe⸗
ſchließungsrecht. Wir können gegen Friedbergs Behauptung, die
86 Kawerau
Reichscivilehe ſei Trauung, des Weiteren auch das noch geltend
machen, daß ja dieſe „Erklärung des Standesbeamten“ wörtlich
dem franzöſiſchen Geſetze von 1792 entlehnt iſt. Dort heißt es:
„aussitöt après cette déclaration faite par les parties l’officier
public... prononcera au nom de la loi, qu’elles sont unies
en mariage‘“ (Friedberg, S. 560); und doc hat gerade Fried»
berg uns darüber belehrt, wie diefe franzöfifche Gefeßgebung gänz-
lih aus der dee des Kontractes entitamme und in dem Conſen⸗
fusprineipe ihre Grundlage Habe. Ya er führt felbft an, wie dieſe
Eheſchließung geſetzlich bezeichnet wurde als avoir contracte mariage
devant l'officier de l’&tat public (S. 566).
Somit fünnen wir zu der eigentlich) brennenden Tagesfrage
übergehen, was für eine Bedeutung die firchliche Trauung gegen«
wärtig babe, und welde Form daher für fie angemeſſen fei.
Den Sohm'ſchen Verſuch, das alte deutſche Hecht in uufere
modernen Verhältniſſe Hineinzutragen, Hatten wir fchon oben als
einen mislungenen bezeichnen mülfen. Was ift die Trauung denn
nun, nachdem fie jeder rechtlichen Bedeutung entlleidet worden ift?
Cremer hatte fie. ald chriftliche Eheſchließung definiren wollen; welche
Bedenken aber dagegen ſich erhoben, haben wir im 2. und 4. Ab⸗
Schnitt diefes Aufjages bereits auszuſprechen Veranlaffung gehabt.
Eine ganze Reihe feiner Formulirungen des Trauungsbegriffes (vgl.
Abſchnitt 2) können wir uns ganz unbedenklich aneignen, aber eben
jo energifch müffen wir gegen die andere Reihe proteftiren. Wir
fünnten bier einfah an das in Abjchnitt 4 von dem Trauungs⸗
begriff Luthers Bemerkte anknüpfen und kurzweg fagen: dasfelbe,
was die kirchliche Handlung jenem bedeutete, dasjelbe bedeutet fie
auch und. Wir fommen aber auch zu demſelben Refultate, wenn
wir von dem Begriff de8 Segnens ausgehen, alfo von eben dem
Begriffe, den Cremer als einen fo gehaltlofen weit abgemiejen
hatte. Und wenn wir davon auögehen, jo haben wir nicht nur
das ganze kirchliche Altertum auf unjerer Seite, fondern aud
Xuther und den conftanten Spracgebraud der [utherifchen Theo-
logie ). Es ſollen einzelne Individuen aus Anlaß eines bejon-
1) Mit Recht hat Friedberg darauf aufmerffam gemacht, daß, wo die lu⸗
Die Trauung. &
deren Schrittes in ihrem Leben den Segen der Kirche empfangen.
Das kann nur gefchehen unter einer zwiefachen Borausjekung.
Cinmal unter der Borausfegung, daR diefer Schritt an und für
ich göttlichen Worte gemäß, Gott wohlgefällig fein muß: alſo in
dieſem concreten Falle unter der Vorausfegung, daß nicht nur der
Eheitand im allgemeinen ein mandatum divinum für fich habe,
jondern daB auch in dem beftimmt vorliegenden Falle das Eheband
göttlichem Worte entjpredhe. Und das wäre die objective Voraus⸗
ſetzuug. Zum andern unter der Vorausjegung, dag die betreffen»
den Individuen bei ihrem Schritt der göttlichen Ordnung ſich be⸗
wußt jeien, diejelbe anerkennen, und auf Grund dieſes Bewußtſeins
den Segen begehren: alſo bier, daß fie ihrer Che als eier
Sottesgabe und Gottesitiftung fi) bewußt find, der göttlichen
Ordnung im Cheitande fi willig unterftellen wollen, und auf
Grund diefes Willens und dieſes Entfchluffes deu Segen Gottes
für ihren Eheſtand begehren. Das wäre die jubjective Voraus»
ſetzug. In welhdem Umfange nun diejen Vorausfegungen,
anf denen das Segnen naturgemäß bafirt, in ber liturgiichen Aus⸗
geftaltung des kirchlichen Actes Ausdruc gegeben wird oder werden
toll, das hängt von der gejchichtlichen Entwiclung der Zrauformen,
jowie von dem jeweiligen Bedürfnis ab. Sollen die objectiven
Borausjeungen liturgifch ausgeitaltet werden, fo ergiebt fi) daraus
1) ein Zeugnis der Kirche, daß der Eheftand göttliher Stiftung
jet (welches außer in der Traurede vor Allem in den Xectionen
feinen Ausdrud findet), 2) eine kirchliche Beſtätigung und Aner-
kennung des vorliegenden Ehebündniſſes und 3) das „Urtheil, daß
fie fi mit Gott haben“, die „Vergewiſſerung göttlicher Zuſammen⸗
fügung”“ , die ja die VBorausfegung der kirchlichen Anerkennung
it. Die fubjectiven Borausfegungen dagegen werden ihren natur⸗
gemäßen Ausdruck in ber den Traufragen zu gebenden Geitalt finden.
Der nadte Eonjens, den Luthers Traubüchlein bietet, kann bier
nicht genügen. Wir begehren in den Traufragen vielmehr ein
theriſchen Theologen de8 17. Jahrhundert® von der benedictio sacer-
dotalis reden, fie ftets den Trauact darunter mitbegriffen haben
(a. 0.9. ©. 245).
88 Kawerau
hriftliches Ehebefenntnid, eine Anerkennung, eine Bejahung der
Ehe als einer Gottesordnung, und ein darauf bafirteds Gelöb⸗
nis zu hören. Uud diefem Bekenntnis und diefem Gelöbnie
antwortet dann die Kirche mit dem Segen, der Zuſicherung des
Gnadenbeijtandes des Herrn, und mit der Fürbitte der Gemeinde.
So kann ſich die kirchliche Feier, eben weil fie Benediction fein
will, zu einer jehr reichen und gehaltvollen geftalten. Einzelne
diefer aufgezählten Beftandtheile können fehlen, wie fie Jahrhunderte
hindurch in der alten und mittelaflterlichen Kirche, wie aud) in vielen
reformirten Formularen gefehlt haben, ohne dag die Ehen dadurch ihren
hriftlihen Charakter eingebüßt hätten, und ohne daß das chriftliche
Gefühl einen Mangel verjpürt hätte. Es war eben doch eine voll-
werthige Benediction: die Stüde, welche nicht ausdrücklich liturgiſch
ausgeprägt waren, waren doch ala naturgemäße VBorausjegung des
zu jpendenden Segens ftilljchweigend vorhanden. Wo aber die chriſt⸗
liche Gemeinde an eine voller ausgejtaftete Form gewöhnt ift, wird
es nicht wohlgethan jein, dieſelbe ohne dringende Veranlafjung zu
verfürzen. Wir tragen daher auch Fein Bedenken, bie kirchliche
Feier als Trauung zu bezeichnen, da uns dies eben der Ausdruck
für eine in ihren Formen volljtändig ausgeftaltete Benedictions⸗
handlung geworden iſt. Will man ein Mehreres, eine Ehefchlie-
Bung, eine Herjtellung der Ehe, eine Ehegabe mit dem
Kamen Trauung bezeichnen, jo müſſen wir gegen den Namen
Proteſt erheben. Und zwar fünnen wir es thun mit den fchönen
Bekenntnisworten, zu melden fih v. Scheurl getrieben gefühlt
hat, nachdem er jelber früher in mißsverjtändlicherweife über die
Thätigfeit der Kirche im Zrauacte geredet Hatte: „Der Kirche ift
von Gott keine jolhe Macht über ihre Glieder gegeben, kraft deren
fie eine ihr ald Glied angehörende Aungfrau einem Manne zur
Ehefrau geben könnte. So wenig bie Kirche einem Könige bei
der Krönung fein Reich geben kann, ebenfo wenig kann fie einem
Berlobten feine Braut bei der Trauung zur Ehe geben; nur
über ewige Güter, nicht über Zeitliches hat fie eine göttliche Voll-
macht. Sie kann nur, das entjprechende Gotteswort auf die ber
jtimmte Chejchließung anwendend, den Verlobten bezeugen, daß
fie, nachdem jie der Gottesordnung gemäß ihre Ehe mit einander
Die Trauung. 89
eingegangen haben, einander kraft göttlicher Zuſammenfüguug
angehören. In dieſem Sinne nimmt der Ehemann bei der
Zranımg jeine Frau im Namen Gottes aus der Hand der Kirche
eatgegen.“ (a. a. O., ©. 250.)
Wie nun aber mit der Zrauformel? Die Erörterungen über
diejelbe haben glücklicherweife aufgehört als Parteifache betrieben
zu werden, jeitdem einerjeits ein Blatt wie die Evangelische Kirchen»
zeitung ihre Spalten einem Botum geöffnet hat, weldyes mit aller
Entichiedenheit die alte Form „Ich fpreche zufammen“, als unange-
meilen verwarf (1876, Nr. 18— 23), feitdem anderſeits ein
Mann wie Heppe fich für Beibehaltung der Formel erklärt hat,
feitdem der preußiihe ultusminifter felbjt nicht nur das hanno⸗
verihe Trauformular mit derjelben Formel beftätigt, fondern auch
laut Zeitungsnachrichten in der Sigung des Abgeordnetenhaufes
vom 19. Februar d. %. das „vielleicht anftögige Bekenntnis“ ab»
gelegt Hat, daß „wir in eine Art von Wortklauberei hineingerathen
feien“. Wir meinen, die Trage liege hier für den Staat ganz
anders als für die Kirche. Für den Staat handelt es fi nur
darum, daß die von der Kirche gewählte Trauformel ben Charakter
des Civilactes als rechtögültiger Eheſchließung in feiner Weife an«
taftet. Er kann fi daher offenbar mit dem von Sohm geführten
Nachweis begnügen, daß dieſe Formel factifch in Gebrauch geweſen
ift zu einer Zeit, da die Trauung der Kirche nicht die Bedeutung
der Eheichließung Hatte, jondern letztere als bereits rechtsgültig
geihehen vorausſetzte. Es könnte aber freilih auch, wie Bierling
mit Recht gegen Sohm bemerkt, der Staat ſich veranlaßt fühlen,
um der in der Gegenwart fi) vollziehenden Auseinanderfegung von
Staat und Kirche willen, eine deutlichere und unzweideutigere Formel
zu fordern, um Mar zu ftellen und jedes Misverftändnis darliber
abzujchneiden, dag die kirchliche Trauung jet Lediglich eine reli-
giöſe Handlung jei und mit den Nechtswirkungen der Ehe nichts
zu jchaffen Habe. Wir könnten es daher wohl begreifen, wenn die
Stellung der Staatsbehörden nicht aller Orten bie gleiche in
Beurtheilung der Zuläßigkeit oder Unzuläßigkeit diefer Formel
wäre.
Weit ſchwieriger frelft fich die Trage für die Kirche jelbft. Denn
90 Kawerau
dieſe iſt durch Einführung der Civilehe natürlicherweiſe in die Lage
verſetzt, ihr Trauformular überhaupt zu revidiren, d. h. nicht nur
daraufhin zu prüfen, ob es juriſtiſch ſtatthaft ſei, ſondern ob es
in kirchlich angemeſſener und verſtändlicher Form das ausſpreche,
was die Kirche als Bedeutung der Trauung ausgeſprochen haben
will. Es könnte alſo der Fall wohl denkbar ſein, daß der Staat
von feinem Standpunkte aus nichts einzuwenden fände, und dennoch
die Kirche eine Aenderung für angemefjen hielte. Wenn bei- einer
Formel conjtatirt werden müßte, daß fie notoriih Misdeutungen
ber kirchlichen Trauung provocirte, oder daß fie in weiteren Streifen
als Scibolet eined unevangelifhen oder dem Staate gegenüber
frondirenden Zrauungsbegriffed ausgenutt würde, dann könnte fein
Zweifel darüber obwalten, ob fie beizubehalten oder mit einer un⸗
zweibeutigen zu vertaufchen wäre. Wir werden aud) hier dem
Urtheil v. Scheurls beipflichten fünnen, der über die Trauformel⸗
Frage folgendermaßen urtheilt: „Wenn Luther, der gewiß ein ab⸗
gejagter Feind aller Zweideutigkeit war, fein Bedenken hatte, im
feinem Traubüchlein anzurathen . . . daß man fpreche ‚fo fpreche
ich fie ehelich zufammen‘ . . . obgleich er wiederholt mit allem
Nachdruck gejagt Hatte, wo ein öffentliches unbedingtes Verlöbnis
vorfliege, beitehe bereit8 eine Ehe vor Gott und der Welt, und
während er offenbar im Traubüchlein vorausjegen mußte, daf
regelmäßig Paare zu trauen fein, welde fid zuvor öffentlich und
unbedingt verlobt hatten, wie jolite da jeßt Bedenken dagegen zu
tragen fein, daß man Eheleute, welche die bürgerliche Eheſchließung
vollzogen haben, in diefer Form traue, wenn man nur anneh—⸗
men darf, es werde die Form wieder ebenſo verſtanden,
wie Luther ſie verſtanden hatte?“ (a. a. O., ©. 244.) Ya frei
lih, wenn man das annehmen darf. Aber wir dürfen nicht ver-
geilen, wie fehr ein ſolches Verftändnis erichwert wird nicht nur
dur die juriftifhe Bedeutung, welche in den leßten 100
Jahren der Trauformel thatjächlic beigelegt geweſen ift, fondern
aud durch die von fo vielen Seiten behauptete Bedeutung derfelben
als einer chriftlichen Eheſchließung !). Wie die Verhältniffe einmal
1) Außerdem darf mol daran erinnert werden, daß gerade Luther fich mit
Die Trauung. 1
liegen, wird es ſchwer, die Frage getroft zu verneinen, welde
griedberg aufgeworfen hat, ob denn das Bolt nicht durch die alte
Zrauformef in Irrtum verſetzt werde, ob es denn nicht glauben
müffe, dag die „Civiltrauung“ keine Ehe begründe, daß wenigftens
die Kirche dieſe nicht anerkenne, da fie noch einmal diejenigen zu-
ſammenſpreche, welche bereits zufammengefprochden worden jeien?
(Berlobung und Trauung, S. 77). Das vom Evangelifchen Ober-
Kirhenrath interimiftifch verordnete Formular ift von Cremer einer
ſehr abfälligen Kritit unterworfen worden. Für basfelbe fcheint
allerdings auch und eine Ergänzung und Erweiterung zwar nicht noth⸗
wendig, aber doch wiünfchenswerth zu fein. Die Traufragen
fünnten unferd Erachtens noch beftimmter und vreichhaltiger als
Hriftliches Ehebekenntnis umnd Gelöbnis ausgeftaltet werden, wozu
ja ältere $ormulare ein treffliches Material bieten. Und auch die
Trauformel Tieße fich Füglih im Sinne einer Chebeftätigung
md Vergewiſſerung göttliher Zufammenfügung noch weiter aus⸗
geftalten, al& es gefchehen ift. Uber die an diefem Formulare ger
übte Kritit müflen wir als ganz ungerechtfertigt abweijen. ‘Die
Fermel: „So fegne ic) als einzverordneter Diener der Kirche hiemit
ihren ehelichen Bund“, ift als ein Liturgifches Novum von Cremer
perhorrescirt worden. Er bat gegen ihre Zuläßigfeit ganz bejondere
den Umftand geltend gemacht, daß fie das Segnen dem Geiſtlichen
in den Mund lege, während die Liturgifche und biblifche Sprade
nur Gott ale den Segenfpender kenne. Dabei ift nur ganz ver-
geilen, daß das von ihm bevorzugte „Ich fpreche zufammen“ oder
„Ih verbinde“ auf derfelben Verwandlung des biblifchen quod
Deus conjunxit in ein ego conjungo beruht! Und mas für
eine abfonderliche Webertreibung liegt gar darin, daß Cremer von
diefer Formel (S. 143) urtheilt, jie überbiete alles, was je die
römische Kirche in Ueberfpannung und Verkehrung bed Amtsbe-
griffes geleiftet habe! Wo Liegt wol die höhere Anfpannung des
Amtsbegriffes, da, wo man auf Grund eines vorangegangenen Ge⸗
dem Gedanken einer Umgeftaktung des Trauformulars getragen hat; in
welchem Umfange ihm eine folche wünſchenswerth erſchien, hat ex leider
nicht näher ausgejprocdhen (vgl. Tiſchr. IV, ©. 76).
92 Kawerau
löbniffes in Gottes Namen Segen verkündet, oder wo man den
Geiftlihen im Namen Gottes Ehen jchliegen läßt und fi zu dem
ecclesia conciliat matrimonium des ZTertullian befennt? *) Ebenfo
verwunderlich ift e8 uns, dag Cremer (5. 142) aus den Worten
„Sch ſegne ihren ehelichen Bund“ eine „Segnung des bloßen Vor⸗
ſatzes oder Entſchluſſes chriftlicher Eheführung“ herausgelejen hat. —
Es haben feit dem Vorangang des Evangelifchen Ober-Slirchenrathes
fämtliche Kirchenbehörden und ſchon eine Anzahl von Synoden ſich
mit der Neugejtaltung des Trauformulars befchäftigt, eine ganze
Heihe von Vorjchlägen ift zu Tage gefördert und ein reichhaltiges
Material zur Prüfung und Auswahl angefammelt. &8 fieht freilich
fo aus, al& werde jede Xandesfirche jet ihre eigenartige Trau⸗
formel ſich Ichaffen, und werde eine gemeinfame, alljeitig befrie-
digende Form nicht zu finden fein. Uebrigens hat Bierling mit
Recht hervorgehoben, daB e8 für die preußische Landeskirche fich
jet nicht mehr um die Frage handle, ob die alte Trauformel bei»
zubehalten jei, jondern nur noch, ob fie eventuell wiederher-
zujtellen jei. ‘Diefer Umſtand möchte wol nicht unerheblich zu
Ungunften derjelben in's Gewicht fallen. Die von vielen Seiten
befürwortete Form eines Zujammenjprechens „zur hriftlihen Ehe“
oder „als chriftliche Eheleute“ ift in feltener Webereinftiimmung von
Sohm und Cremer und Bierling ald ganz unzuläßig nachgewieſen
worden und darf daher wol aud als abgethan bezeichnet werden.
Schlieglich fei noch erwähnt, daß von verſchiedenen Seiten dar»
auf Hingewiefen worden it, daB wir jegt einer Mehrheit von
ZTrauformularen bedürftig feien. Außer dem gewöhnlichen Formular,
welches für den Ball berechnet iſt, dag die firchlihe Trauung une
mittelbar nach dem Civilacte begehrt wird, bedürfen wir — fo er⸗
1) Es mag Übrigens auch daran erinnert werden, daß die Formel „Sch
ſegne“ in Begräbnisliturgien jchon mehrfach gebräuchlich gemweien iſt,
3. B. in der Liturgie im Herzogtum Naffau 1843, in der bairifchen
Agende 1852. Und die damit auf gleicher Linie ftehende Formel „Wir
jegnen ... im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geiftes”
haben auch Liturgiker von der ſtrengſten Obſervanz, wie Löhe und Betri,
unbedenklich recipirt (vgl. Kliefoth, Liturgiiche Abhandlungen, Bd. 1 [1854]
&. 319—322).
Die Tranumg. 98
imert ein beachtenswerther Artikel in der Erfanger Zeitichrift für
Proteftantismus und Kirche, Mai 1876, S. 256 — für die
Fülle eines abweichenden Formulars, in denen der Segen der Kirche
erft einige Zeit nachher begehrt wird. Es ſei, jo wird treffend
bemerkt, in dem hiefür zu mählenden Formular ganz befonder® ber
Schein zu meiden, als ob die Kirche die inzwiſchen geführte Che
jegt erft wahrhaft zu einer Ehe machen, und berfelben in ihrer
bisherigen Geftalt den Makel eines Concubinats anheften wollte.
Anderfeits fei aber auch die Kirche es ſich fhuldig, in einer wenn
euch noch fo milden und fchonenden Weife ihre Meisbilligung dars
über zum Ausdrud zu bringen, daß die Che längere Zeit ohne
kitchſichen Segen geführt worden fei. — Noch viel ſchwieriger wird
fih ein kirchlihes Formular für die Fälle aufftellen laſſen, in
welhen es ſich um eine Wiedertrauung ſolcher Gejchiebener handelt,
denen die Kirche von ihrem Standpunkte aus die Trauung vers
fügen mußte, die aber dur die Civilehe ein neues Cheband er⸗
halten haben. Wenn bei folchen Leuten das ernftliche Begehren
erwacht, zur Kirche und ihren Gnadenmitteln zurüczufehren, fo
entfteht für die Kirche naturgemäß auh die Nöthigung, nicht nur
zu den Leuten qua einzelnen Perfonen, fondern auch zu der zwifchen
ihnen beftehenden Ehe Stellung zu nehmen. Cremer bat diefe
ſchwierige Materie in dem legten Abfchnitt feiner Arbeit „über die
Anwendung der firhlichen Trauung“ *) mit einigen Worten berührt.
I) Auf die Ausführungen des Verfaſſers in diefem Abſchnit Über die Che-
Iheidungsfrage können wir bier nicht näher eingehen. Nur foviel fet
bemerft, daß wir bei dem gegenmärtigen Stande der Exegeſe es nicht für
zuläßig halten, den Grund der böslichen Berlafjung unter Berufung
auf das einmlithige Zeugnis der evangg. K.OO. ohne nähere eregetifche
Beweisführung als einen „biblifchen” in Anfpruch zu nehmen; ebenfo,
daß es doch nicht angeht, die vom Evangelischen Ober⸗Kirchenrath vertre-
tene Faffung der Worte Chrifti als eines Brincips einfach als eine
gar nicht in Frage kommende zu übergehen. Thatfählich find in
der evangelifchen Kirche die bibliſchen Erklärungen über Eheſcheidung
ſtets als Princip, nicht ale Gefet gefaßt worden. Man hielt fich be
treff8 des Scheidegrundes bes Ehebruchs ängftli an den Wortlaut, und
machte dafür bei der böslichen Berlaffung die Thore fo weit auf, daß
man jeden Fall, wo man eine Scheidung fir nothwendig eradjtete, in
9 Kattenbuſch
Er räth in ben Fällen, wo man bie Ueberzeugung von einer wahr⸗
baftigen Belehrung gewonnen habe, zu einer Trauung „in einfachfter
und ftillfter Form“. In wie weit aber unfere Zrauformulare
in folhem Falle anwendbar feien, darüber Hat er fih nicht näher
ausgeiprochen (S. 185). Es Liegen hier fchwierige praftifcheliturgifche
und zugleich firchendisciplinarifche Fragen vor, an deren ausreichen
der und befriedigender Löſung wol noch längere Zeit zu arbeiten
fein wird. |
3,
Kritifche Studien zur Symbolik
im Anſchluß an einige neuere Werte?).
Bon
Lic. Ferdinand Kattenbuſch,
Privatdocenten an ber Univerfität Göttingen.
Erfter Artikel.
Die Symbolik foll die Polemik erfegen. In biefem Sinne
bat Marheinede im Jahre 1810 fie in den Kreis ber theo-
1Kor. 7 unterzubringen verftand. Und daß diefer Scheidegrund nicht
aus eregetiichen Gründen in's Kirchenrecht gelommen, fondern umgekehrt
um der realen Berhältniffe des Lebens willen, angefichts derer man mit
dem als Geſetz gefaßten Scheibungsgrund des Ehebruchs nicht auskam,
aljo aus der Praris in die Exegefe eingedrungen ift, Tiegt doch wol hand⸗
greiflih vor Augen. Die Behauptung auf S. 182, daß Luther nur zwei
Eheſcheidungsgründe zulaffe, entipricht den vorliegenden Zengniffen (vgl.
dv. Strampff, S. 394—896) nur ungenau.
1) 8. Gaß, Symbolik der griechiſchen Kirche. 1872.
J. Delitzich, Das Lehrſyſtem der römifchen Kirche, 1. Theil 1875.
5. Reiff, Der Glaube der Kirchen und Kirchenparteien nad) feinem Geift
und inneren Zuſammenhang. 1875.
G. 8. Oehler, Lehrbuch der Symbolik; heransgeg. von J. Delitzſch. 1876.
Kritiſche Studien zur Symbolil. 9
logiſchen Wiſſenſchaften eingeführt, nahdem J. ©. PBland ſchon
vor ihm, ohne den Namen anzuwenden, die dee diefer neuen
Viffenfchaft ausgefprochen Hatte). Es iſt nicht gleichgültig, dies
jeſtzuftellen. Denn bamit haben wir den Gefichtspunkt gewonnen,
um die Aufgabe ber Symbolik zu beftimmen. Marheinecke felbft
hat diefen Gefichtspunkt ignorirt. Er ift es bejonders, welcher
den rein bejchreibenden Charakter der Symbolik eingeführt Bat.
Aber fo gewiß es fehr noththut, daranf hinzuweiſen, daß die
einfahe quellenmäßige Beſchreibung des Linterfchiedes ber Confef-
fionen noch viel zu wünſchen übrig läßt, fo wenig iſt dieſe Beſchrei⸗
bung an fich ſchon die vollftändige Aufgabe, welche der Symbolik
nach gefhichtlicher Kontinuität zufält. Denn der fpecififche Zweck
der Polemik ift dabei einfach aufgegeben. Aber die Polemik ift eine
für die Theologie umnerläßliche Dieciplin. So lange Schleier-
machers allgemeine Definition der Theologie zu echt befteht, fo
lange die Theologie der Jubegriff derjenigen Wiffenfchaften ift, welche
nothwendig find als Anleitung zu zweckentſprechender Leitung der
Kirche, fo Lange die Kirche nur in Particularfirhen befteht, jo daß
man fi) auf den Boden einer derjelben ftellen muß, wenn man
nicht ſich löſen will von allen praftiichen Bedingungen der Leitung.
der „Kirche“, jo lange ift die Polemik eine nothwendige theologifche
Disciplin. Der Theologie einer beftimmten Kirche fällt naturgemäß
ie Aufgabe zu, eben diefe Kirche gegenüber allen anderen als die
obäquatere Darftellung der Gemeinde Chriſti nachzuweiſen. Findet
fie fi dazu unvermögend, überzeugt fie fi etwa, daß die Parti⸗
aularfirche, welcher fie dient, mit einer anderen von gleicher religiöfer
Art ift, fo ergiebt fich die praktiſche Aufgabe der Union diefer
beiden Kirchen, eine Aufgabe, die nach den geſchichtlichen Umftänden
in der verfchiedenften Weife vollzogen werden kann und deren Ziel
nicht nothwendig die äußere Vereinigung in Cultus und Xehrmethode,
Regiment und Sitte, zu fein braucht. Die Methode der alten
Polemik war wenigftens für den Proteftantismus nad) feinen eigenen
1) Marheinede, Chriſtliche Symbolik, 1. Theil, 3 Bände 1810—1813.
Pland, Abriß einer hiſtoriſchen und vergleichenden Darftellung ber
dogmatiſchen Syſteme unferer verjchiedenen chriftfichen Sauptparteien, 1796.
% Kattenbuſch
Grundſätzen unberechtigt. Man ging von der Anſchauung aus,
dag nur die eigene Kirche chriſtliche Kirche jet, daß alle anderen
Kirchen und Richtungen undhriftlich feien. Aber der Proteftantise
mus ift durch die Neformatoren gehalten, zu glauben, daß die
hriftliche Kirche allezeit beftanden hat und Überall beiteht, ſo⸗
weit in irgendwelcher Form das „Wort Gottes“ verfünbet wird.
Damit ift er nicht verpflichtet, gleichgültig zu fein gegen die Dif-
ferenzen ber Kirchen und etwa zu lehren, die verfchiedenen kirchlichen
Genoſſenſchaften fein nur in der äußern Erſcheinung verfchieden-
artig, in ihrem Wefen aber gleichwerthig. Aber weil er weiß, dag
das Wort Gottes und das correcte theologifche Lehriyftem nicht
identifch find, weil er weiß, daß die Kraft Gottes, welche bezeichnet
iſt durch das Wort Gottes, wirkfam fein kann auch in den mangel-
bafteften Formen, fo weiß der Proteſtantismus, daß fi hriftliches
Leben anfchließen kann an fo viele Momente als verfchiedene Formen
der Verkündigung von Chrifto möglich find (Phil. 1, 15—18).
Und es giebt doch thatſächlich felbft in den directen Mitteln, das
Chriftentum zu pflegen, eine breite Gemeinfchaftsbafis zwiſchen
alfen Kirchen. Somit ift die Aufgabe unferer Polemik ebenfo
ſehr, das Chriftliche der übrigen Kirchen feftzuftellen, al& den Vor⸗
zug unferer Kirche vor ben anderen darzutfun. Der Werthunters
ſchied der Kirchen ergibt fi) bei der Beachtung der directen
Tendenzen derfelben, der Vorftellungen berjelben vom Wefen
des Chriftentums. Es findet nun unter den Kirchen eine
Stufenfolge der Reinheit der Erkenntnis desfelben ftatt. Die
richtige würdige Polemik wird fi damit begnügen, diefe Stufenfolge
in großen Zügen aufzumeifen, ohne in ‘Detailpolemit einzutreten.
Die Einzelheiten ber verjchiedenen kirchlichen Syfteme find von
gewiffen Grundgedanken beftimmt. Es fohnt fi nur um die
Grundgedanken zu ftreiten. Zum Austrage wird die Polemif nur
in der Praxis kommen: die Kirchen müffen mit einander ringen
und der Erfolg wird das Gottesurtheil fein. Wie man nun die
Wiſſenſchaft vom Werthunterfchiede der Confeſſionen
nenne, iſt gleichgültig. Iſt der Name Polemik anſtößig, ſo be⸗
halte man den Namen Symbolik bei. Nur daß man ſich dann
klar machen muß, daß nicht zum voraus garantirt iſt, daß die
Kritiſche Studien zur Symbolik. 97
Shmbole genügen als Duellen der Erkenntnis des Wejens der
Confeffionen. Und auch wenn fie genügen, fo ift fein Grund
einzufehen, warum man fich auf fie befchränfen ſollte. Auch noch
in anderer Hinficht darf man fid) nicht durch den Namen Sym⸗
bofit beirren laffen. Es ift gar fein Grund vorhanden, nur dies
jenigen kirchlichen Genoffenfchaften auf ihren Werthunterfchied zu
vergleichen, die e8 zu formulirten und firirten Symbolen gebracht
haben. Der Umfang der Symbolif kann nur durch die Ueber⸗
legung beftimmt werden, welche Genofjenjchaften für die Gegenwart
praftifh genügend wichtig find, um berücichtigt Ju werden. Syn
den Hanptfachen werden da alle Theologen übereinfommen. In
Bezug auf die Secten wird in einzelnen Fällen ein Schwanlen
Hattfinden, welches niemandem bedenklich erfcheinen wird. Ich
möchte aber noch auf folgendes aufmerffam machen. Jede Kirche
hat wieder verfchiedene Richtungen. Soweit diefelben wirklich Ein-
fluß auf das kirchliche Leben Haben, müſſen fie gefennzeichnet und
beurtheilt werden. 3. B. muß in der Darftellung ber proteftan-
tiſchen Kirche nit nur angegeben werden, was Intention der
Reformatoren war, fondern aud), wie die Orthodorie den Brote
fantismus verftand und was der Pietismus will. Denn diefe beiden
Rihtungen find in der Gegenwart noch fehr lebhaft bemerklich.
In Bezug auf die nachitehenden Blätter bemerfe ich folgendes.
Diejelben bitten um die Nachficht, welche man einem Effay zu
Theil werden läßt. Das ift vor allem die, dag man nicht für
jede Behauptung den ausgeführten Beweis verlangt. Ich mache
nicht den Verſuch, das ganze Gebiet der Symbolik kurz zu um-
ihreiben, ſondern befchränfe mich auf die drei großen Kirchen und
hier auch nur auf die legitimen Formen derjelben. Diejenigen
teligiöfen Lebenserfcheinungen alſo, welche möglich find von den
Principien diefer Kirchen aus, verfuche ich zu flizziven, indem
ih für die griechifche Kirche die Darftellung von Gaß, für die
römiſſche diejenige von Delitzſch und Oehler, für die proteftan-
tifche diejenige von Keiff zum Ausgangspunkt nehme. Beim Pro-
teftantismu8 begnüge ich mich mit ber Intherifchen Form. Der
Grund für diefe Beſchränkung ift der Mangel an Raum. Dod)
meine ih auch, daß zwifchen der Iutherifchen und der reformirten
Teol. Gtub. Jahra. 1878. 7
os Kattenbuſch
Kirche kein wirklicher Werthunterſchied zu ſtatuiren iſt. Ich möchte
die Gelegenheit ergreifen, um auf die vorzüglichen Ausführungen
Hunbeshagens !) über den Gegenſatz des lutheriſchen und refor⸗
mirten Typus, welche viel zu wenig befannt find, wenigſtens hin⸗
zumeifen ?).
1.
In Gaß' Werk über die griechiſche Kirche Hat endlich auch
berienige Zweig ber Symbolik, der wie fein anderer vernachläßigt
war, die umfaffende, eindringende Bearbeitung, welche ihm gebürte,
erfahren und, fügen wir gleich Hinzu, eine Bearbeitung, die qualitativ
fih den beften Arbeiten über die anderen chriſtlichen Confeffionen
ebenbürtig zur Seite ftellt. Es ift ein wirklicher Genuß, Gap’
Wert zu ftudiren. Dasfelbe bietet eine feltene Fülle neuer umd
feiner Beobachtuugen. Man kann allerorten interejlantes und
bedeutendes finden. Gaß' bekannte, wahrhaft gelft- und geſchmack⸗
volle Schreibweife tritt uns auch bier entgegen, und ift man auch
zum voraus auf fie gefaßt, fo erfreut fie doch immer wieder von
neuem.
Es iſt nicht möglih, Hier ein jo eingehendes Referat zu
bieten, wie es nöthig wäre, wollten wir alle Vorzüge des Werkes
zur Anjhauung bringen. Raturgemäß find die Nachweiſe über
da8 Detail der Lehre vielfach beſonders werthvoll. Eben Hier
konnte Gaß eine Menge neuer Mittheilungen bringen. Halten wir
1) In den „Beitsägen zur SKirchenverfaffungsgefchichte und Kirchenpolitik,
insbefoudere des Proteſtantismus“, 1. Bd., 1864.
2) Ich habe für das Weitere das Heft der BVorlefungen, welche Ritſchl
im Winter 1874—1875 über Symbolif gehalten hat und welche ich felbft
hörte, benutzen bilrfen. Gerne und dankbar bemerke ich, daß ich diefen
Borkeiungen vor allem ein auſchauliches, tebendiges Bild der verfchtebenen
Kirchen verdanle. Da die Elemente der Symbolik in Ritſchls verjchiedenen
größeren und Hleineren Arbeiten faft vollfändig gegeben find, fo konnte ich
übrigens für alles Erhebliche und Eigentümliche, welches ich von ihm entlehute,
Belege aus feinen gebrudten Arbeiten beibringen. Es ift dadurch auch
ermögficht, feſtzuſtellen, in wie fern ich eigene Wege gehe und die
Anregungen und Geſichtspunkte, die ic; Ritſchl verdante, felbfländig ver-
folge.
Kritiſche Studien zur Symbol. 9
und an die allgemeine Auffaffung der griechifhen Kirche, welche
Gaß darbietet, und beſchränken wir uns in unferem Referate auf
diejenigen Punkte, welche prineipielle Bedeutung haben.
Gaß faßt zum Schluſſe fein Urtheil über die griechijche Kirche
als Gefamterfcheinung in der Kürze zufammen. Er findet Bier,
dag diefe Kirche „in ihren allgemeinen Beftrebungen jeder anderen
firhlihen Darftellung der chriftlichen Religion ebenbürtig* fei.
Allerdings ift diefelbe auch nur im ihren Idealen den anderen
Emnfeffionen zu vergleichen. -enes günftige Urtheil gilt nur mit
Bezug auf das Grundzügliche. Sehen wir auf die praftifche
Seftaltung und das thatfächlihe Verhalten der Gemeinde, fo ift
mcht zu verfennen, daß „die Seele der griechifchen Kirchlichkeit in
einem beichränften Leibe wohnt“. Wir jehen dann eine Religion,
„die ich im ihrem eigenen hohen Fluge hemmt, welche beginnt mit
dem Aufſchwung zum Ewigen und Unfichtbaren und endigt mit
finnlicher Beichränttheit, ohne ben Ruückweg zu der Heimat ihrer
Ideen zu finden“.
Diefes Doppelgeficht der griechifchen Kirche bringt nun Gaß’
geſamte Dearftellung zur Anſchauung. Weberali ift Gaß bemüht,
m zeigen, welche wahren, echt religiöfen und echt fittlichen Ge⸗
danken dem griechifchen Lehrſyſtem in ber Tiefe zum Grunde Liegen,
um dann allerdings zugleich zu zeigen, wie unzulänglich dieſe
hohen Gedanken im einzelnen ausgeführt und praktiſch dargeftellt
erden.
Als Quellen benugt Gaß in erfter Linie die Belenntnisjchriften,
weiche Simmel?) zufammmengeftellt hat. Unter diefen erweiſt ſich
die fogenannte confessio orthodoxa von 1643, welche Petrus
Mogilas verfaſſen Tieß, als die eingehendfte und nmfaffendfte.e So
get denn dieſes Wert gewöhnlich den Vortritt. Ihm zumächft
fteht nach Gaß' Schätung die dans oedodokses, die Decrete
der jernfalemifchen Synode von 1672, in welche bie energifche
econfessio Dosithei inferirt iſt. Doc benutzt Gaß daneben zur
Aluſtrirung und geſchichtlichen Bewährung in reichhaltiger Weiſe
auch die Privatſchriften alter und neuerer Theologen, eben Bier
I) Monumenta fidei ecclesiae orientalis ed. E. Kimmel (2 Zhle.).
7*
100 Kattenbuſch
uns beſonders zu Dank verpflichtend durch Nachweiſe, die man ver⸗
geblich in den anderen Symboliken ſuchen würde.
Die confessio orthodoxa bemerft zum Eingange, ein ortho⸗
dorer Chriſt müfje den rechten Glauben und gute Werfe haben.
Dem entfprechend gliedert Gaß feine Darftellung in die Lehre vom
Glauben und die Lehre von den Werlen, in erjterer Hinficht
fih anfchließend an den eriten Theil der genannten Confeifion,
der eine Erläuterung des nicänifch-conftantinopolitanischen Symbols
darbietet, in leßterer den zweiten und dritten Theil des Belennt-
niſſes reproducirend, die von der Hoffnung und von der Liebe
handeln mit Anfnüpfung an das Vaterunſer, bie Seligpreifungen
und den Dekalog. Gemäß diefen Grundlagen jenes griechifchen
Belenntniffes muthen uns die griehifchen Lehren, welche Gaß vor⸗
führt, zunächſt in der That faft heimiſch an: es find bie alten,
wohlbekannten kirchlichen Formeln, werthe biblifche Forderungen, die
uns entgegentreten. Erſt in den näheren Ausführungen empfinden
wir doch den eigenartigen, fremden Geift der griechifchen Fröm⸗
migfeit.
Sogleih zum Beginne begegnen wir dem eigentümlich ftarren
griechiſchen Traditionalismus und Formalismus. Jeder vEenzepss-
nos iſt als ſolcher Ketzerei. Das nicäniſch-conſtantinopolitaniſche
Symbol ift der Inbegriff aller heilſamen und nothwendigen Lehre.
So zerfällt der Glaube in zwölf Artikel, und nicht mehr und nicht
weniger hat der Grieche feftzuhalten und auch diejes nur im Sinne
der Väter. Indem er die altgriechifche Unterfcheidung der arAr
und olxovoman Feokoyıa benugt, führt uns nun Gaß ziemlich
in der hergebrachten Reihenfolge durch die loci der Dogmatif.
In der Lehre von Gott, der fichtbaren und unfichtbaren Welt, be-
gegnen wir den neoplatonischen Formen, wie fie die alte Kirche
ſich angeeignet hatte. In der Gotteslehre fällt auf, daß die meta-
phufiichen Beitimmungen bejonder8 in den Vordergrund treten.
Jedoch gefchieht das mehr wie von ſelbſt, nit mit abjichtlicher
Betonung; es fehlt nicht die religiös» praftifche Betrachtung, vor
allem nicht der Hinweis auf Gottes fittlihes Weſen. In der
Lehre vom Menſchen vernehmen wir ebenfalls den Nachhall der
antifen Ideen, bejonder8 in der Betonung der fittlichen Freiheit,
Kritifche Studien zur Symbolik. 101
die troß aller fündigen Verderbtheit geblieben. Freilich ſoll damit
der Gedanke der göttlichen Leitung, wie er religiös nothwendig
it, keineswegs ausgefchloffen fein. Bei der Lehre von Gott ver-
fehlt Gaß nicht, die griechiſche Zrinitätsformel einer genauen Be⸗
fmdtung zu unterwerfen und ein intereffantes, auch in der Kürze
reichlich belehrendes Referat über den endloſen Streit mit dem
Abendlande wegen des Ausganges des Heiligen Geiftes zu bieten.
Er macht mit Recht darauf aufmerkfam, daß dogmatifch auf grie-
chiſcher Seite der gleiche Geſichtspunkt für die Verwerfung des
flioque geltend gemacht werde, wie von abenbländifcher für bie
Rechtfertigung diefes Zuſatzes. Aber welches ift dann der Schlüffel
za einem Berftändnifje der Erregung der Griechen? Gaß verweilt,
meines &rachtens zu fehr nebenbei, auf die griechifche Anhänglich⸗
kit an dem alten Symboltert als folhem, eine Anhänglichkeit,
welhe er auch nicht eigentlich erklärt.
Sn der ölonomiſchen Zheologie treffen wir zuerft auf die
Shriftologie, die ganz merkwürdig Zahl if. Die Darftellung der
confessio orthodoxa wird von Gaß mit Recht als „Latechetifch
aufzählend und erläuternd, nicht entwidelnd“ charakterifirt. „Der
Igmbolifche Ausdrud wird biblifh begründet und in das Dogma
von der perfönlichen Einheit zweier Naturen und zweier Willen
hineingezogen. Das Wert Chrifti erfährt nur eine gelegentliche,
feine jelbftändige Erwägung.” Sofern jedoch über die Bedeutung
Chrifti für uns Auffchluß geboten wird, erhalten wir in farblofer
Beife feine anderen als die abendlänbifchen Gedanken: Chriftus ift
das Opfer gewefen für unfere Sünden. Genauer erörtert wird
in den Hauptbefenntnisfchriften die Brage, wie wir und das Heil
aneignen. Hier ift die Situation, in der diefe Schriften entjtanden
find, zu berüdfichtigen. Bekanntlich zielen diefelben befonders ab
auf Befeitigung der proteftantifchen Gedanken, wie fie namentlich
der Patriarch von Conftantinopel, Cyrillus Lucaris, eingebürgert
hatte. Hatte derfelbe die Rechtfertigung allein aus dem Glauben
gelehrt, fo wird das mit Heftigfeit zurückgewieſen. Die Griechen
ſchen in dem proteftantifchen Gedanken ein Attentat auf die Heiligkeit
Gottes. Gerecht werden wir mur durch Glauben und Werke.
Bislang wäre ald auffallend und ſpecifiſch griechifch eigentlich
104 Kattenbufd
daß menfchliches Denken den in der Darftellung der Liturgie ver-
borgenen und rituell eingefleideten Geiftesreichtum völlig wiedergebe.
Gaß ergänzt die Detailmittheilungen, bie er früher in feiner Schrift
über Nikolaus Cabaſilas aus den Werfen jener Theologen gegeben
hatte, befonder& durch eine Darftellung der Ausführungen der gewich⸗
tigften Autorität des Mittelalters, de8 Symeon von Theſſalonich.
Es ift ja nicht zu leugnen, daß in den myſtagogiſchen Schriften mand)
finniger, anfprechender Gedanke vorgetragen wird. Doc treffen wir
des Geſchmackloſen faft noch mehr. Und vor allem, wie muß es
in einer Kirche ausſehen, deren theologifches Intereſſe fih nun ſchon
feit mehr als einem Jahrtauſend im wefentlihen erſchöpft in ſolchen
myſtiſchen Contemplationen! Fürwahr, Gag hat Recht, wenn er
im Rücbli auf jene Punkte des griechifchen Syſtems meint, die
griechifche Frömmigkeit fei praftiich nur zu fehr zu abergläubifchem
Staunen und ungeiftigem Genießen heruntergeſunken.
Kurz gegennüber dem erften fällt der zweite, die Ethik behandelnde
Theil des Gaß'ſchen Werkes aus. Es fei daraus nur erwähnt,
dag wieder der Ausgangspunkt genommen wird von ben höchiten
biblifchen orderungen. Fromm wird das ganze fittlihe Leben
unter die Leitung des Geiſtes geftellt, deſſen Charismata alle
Tugenden find. Aber dann ift man doch nicht fähig, die Hohen
biblischen Ideen im einzelnen richtig auszudeuten. Es wird alles
asketiſch, conventionell =Firchlich zugefpigt. Das Möndtum ergibt
fih al8 Ideal, weldes in concreto in der griechifchen Kirche an⸗
gewiejen wird. Gegenüber den abendländifchen Kirchen aber erhellt
im großen bie Energielofigkeit der griechiſchen gegenüber den fitt-
lichen Aufgaben. Sclaffheit ift ihr fchlimmftes Gebredhen. So
ift fie denn im großen, immer wieder gegenüber den weitlichen Kirchen
als die zurückgebliebene zu bezeichnen.
— — —
Indem ich mich zu einer Kritik des Gaß'ſchen Werkes wende,
will ich es nur gleich zum Eingange ausſprechen, daß ich mit Gaß’
Auffafjung der griechischen Kirche in mefentlichen Beziehungen nicht
barmonire. Wenn ich meinen Widerfpruch nicht unterdrüde, fo
thue ich e8 aber in dem Gedanken, daß im mifjenfchaftlichen Ver⸗
Kritifche Studien zur Symbolit. 106
kehre e8 doch auch eine Form des Dankes ift, wenn wir nicht,
ſchwören auf die Worte des Meifters, fondern und dadurch anregen
laflen, weiter nachzudenken und auffteigende Zweifel zu verfolgen.
Mein Widerfpruch trifft die Grundidee der Gaß'ſchen Darftellung
der griechifchen Kirche. Leider muß es mit Rückſicht auf den
Kaum, den ich in Anfpruch nehmen darf, genügen, wenn ich ohne
eigentliche Auseinanderfegumg mit Gaß nur pofitio meine Anfchanung
md ihre Gründe vorlege.
Der Gegenfaß gegen Gaß, in dem ich mich befinde, datirt
daher, daß ich die Quellen, aus denen derfelbe zuoberjt jchöpft,
nicht für authentifh halten kann. Ich Halte es nicht für richtig,
dag die griechiihe Symbolik weſentlich und im erfter Linie auf
Grund der Eonfefjionsfchriften, die Kimmel herausgegeben hat,
entworfen wird. Die Confeſſion des Gennadius, melde nach der
Eroberung von Conftantinopel dem Sultan Muhammeb II. über»
geben fein ſoll, ift jo kurz, dag aus ihr nicht viel zu erfahren ift.
Die orthodoren und von Synoden gebilligten Confeffionsfchriften
des 17. Jahrhunderts aber find erft recht nicht geeignet, die Grund»
lage der Symbolif abzugeben. Es ift nämlich leicht zu erfennen,
daß dieſe Schriften nicht die Gewähr befigen, uns wirklich mit
allen oder doch den wejentlichen Eigentümlichkeiten der griechiſchen
Lirhe befannt zu machen. Gaß felbft zeigt an einer Reihe Stellen,
daß fie durchzogen find von Spuren Tateinifcher Einwirkungen.
Die Deerete der jerufalemifchen Synode, die ſich durch ihre Leiden⸗
ihaftlichleit gegen die proteftantifchen Ideen, die Cyrillus Qucaris
anzubürgern verfucht hatte, al® gut griechiſch auszuweiſen fcheinen,
find gegenüber der fatholifchen Kirche nicht ebenfo ablehnend, fondern
zum Theil fogar entgegenfommend. Beſonders aber zeigt die con-
fessio orthodoxa, welche Gaß fpeciell bevorzugt, Abhängigkeit von
lateiniſchen Einflüffen. Wenn dies direct, hinſichtlich der Aufnahme
beftimmter einzelner abendländifcher Lehren und hinſichtlich der be-
wußten Unterdrüdung griechifcher Gedanken aus Rückſicht auf die
abendländifchen Kirchen, immerhin nur von wenigen Punkten gilt,
ſo mdireet von dem gefamten Tenor des Schriftftüdes. Ich denke
Bier an die unbeftimmt biblifche Haltung und die Farblofigfeit der
meiften Lehrbeftimmungen, Die genuin griechifchen Lehren wollen
166 Kattenbuſch
nicht zum Vorſchein kommen, weil der Eindruck der abendländifchen
nicht überwunden iſt. Zum voraus ift es auch nicht waährſcheinlich,
daß Schriften des 17. Jahrhunderts uns auf den richtigen Weg leiten
ſollten, um das Weſen der griechiſchen Kirche deutlich zu erfaſſen.
Die Confeſſionsſchriften dieſer Kirche find ganz anders entſtanden,
ald die der anderen chriftlichen Kirchen. Sie find hervorgegangen
aus den Irrungen, welche katholiſche und proteftantiihe Eiuflüſſe
hervorgerufen hatten; aber diefe Einwirkungen haben die griechifche
Kirche bei weitem nicht fo aufgemählt, wie die reformatorifchen
Ideen die oecidentalifche Kirche. Bis zur tiefften Beſimung auf
ihre Eigentümlichkeiten fonnte die griechifche Kirche nicht gebracht
werden durch die relativ doch wenig tiefgreifenden Umtriebe der
Jeſuiten in Litthauen und ben weftlichen Provinzen Rußlands und
duch die Ketzereien des Cyrill. Es wird im weiteren Verlaufe
unferes Aufſatzes von felbft erhellen, warum die katholiſch⸗proteftan⸗
tiichen Gontroverfen für die griechiſche Kirche eigentlih gar fein
Intereſſe haben. Diefelben find hier feine naturwüchfigen Probleme.
So konnten fie denn auch nur momentane Zudungen hervorrufen.
Uebrigens aber war die griechifche Kirche des 17. Yahrhunderts
des theologischen Dentens viel zu ſehr entwöhnt, um alles zum
Ausdrude zu bringen, was fie etwa gegenüber den fremden Ans
ſchauungen, die bei ihr importirt wurden, inftinctiv als ihre afte
Eigentümlichleit empfand. Die Confefftonsfchriften zeigen, wie be-
merkt, daß man dem Abendlande zum heil, wenn auch wol meift
nur im momentanen Ausdrud, unterlegen war, und ferner fonnte
man in anderen Bunkten die griechiichen Formeln nur reproduciren,
ohne vermögend zu fein, anzudeuten, welden Sinn und Werth
diefe Formeln für die griechische Frömmigkeit haben.
Im allgemeinen wird gelten, daß wir, um das Weſen einer
Kirche richtig zu verftehen, in die Gründungsepodhe hinauf
jteigen müffen. Die fumbolifhen Bücher des Proteſtantismus
haben deshalb zum voraus das gute Vorurtheil, das Wefen des»
jelben deutlich, erfennen zu laffen, weil fie aus der Gründungszeit
ftammen. Die ſymboliſchen Schriften des Katholicismus ftammen
wenigſtens aus der Zeit, wo ſich die römifche Kirche in einen Kampf
auf Leben und Tod mit einem vollbewußten Gegner geftellt fand.
Kritiſche Studien zur Symbolit. 107
Freilich iſt es niemandem zu rathen, das Weſen des Katholicismus
feſtzuſtellen ohne Rückſicht auf Thomas von Aquino und — Auguſtin.
Die Gründungsepoche der griechiſchen Kirche als Particular—
firde ift nun die Zeit der großen chriftologifchen Streitigleiten.
Die damals erzielten bogmatifchen Enticheidungen bilden ja den
cigentlichen Beftand der dogmatifchen Tradition in der griechijchen
Kirche. Jene Streitigkeiten beginnen auch zugleich mit dem Eintreten
der politifchen Umftände, die bei der Sonderung des Orients vom
Dreident mitgewirkt haben. ALS die eigentlichen Säulen der grie-
chiſchen Kirche find alſo zunächſt Männer wie Athanafius und Gregor
von Nyfſa anzufehen. Doch wird man, um die griedijche Auf-
faſſung des Chriftentums in ihrer Eigenart zu verftehen, überhaupt
die gefamte theologifche Literatur jenes Zeitraumes zu Rathe ziehen
mäfjen. So wird man befonders die Bedeutung des Pſeudo⸗Areo⸗
pagiten nicht leicht zu hoch veranjchlagen können.
Wenden wir und nun zu einer kurzen Charakteriftit des grie-
chiſchen Lehrſyſtemes gemäß den Quellen, welde jene Epoche uns
darbietet, ſo denken wir zum voraus an ein Deſiderat formeller
Art, welches die Gaß'ſche Symbolik hinterläßt. Gaß unterläßt es,
die griechiſche Lehre von ihrer organiſirenden Ceutralidee aus zu
erfaſſen. Das ift veranlaßt dadurch, daß er die confessio ortho-
doxa als Leitfaden benutzt. Diefelbe ift ein Compendium mit
ſcholaſtiſchem Zufchnitt, worin eine organifirende‘ Idee eben nicht
zum Borfchein kommt, fondern nur ein Haufe einzelner, oft fchlecht
genng nebeneinander beſtehender Ideen. Wir können uns num auf die
geftalt: und Tebengebende Anſchauung führen laſſen, indem wir uns
an die beliebte Behauptung erinnern, die Gag aber nicht unterftügt,
wenn er fie auch nicht ausdrücklich zurückweiſt, daß der morgen-
lindiſchen Kirche eine „intellectualiftifche Richtung“ im Gegenfatze
zu der „praftifchen Richtung“ des Abendlandes eigen fei. Wie diefe
Rede entftanden ift, ift fehr wohl zu begreifen. Nämlich die
Chriſtologie und Trinitätslehre, „die objectiven Dogmen“, um welde
die alte Kirche fich fo vorwiegend bemühte, fcheinen uns feinen
unmittelbaren praktifchen Werth zu beſitzeu. Diefelben rufen bei
und in der näheren Form, die fie erhielten, unwiderſtehlich zunächft
tin intellectuafiftifches SInterefie hervor. Wir fommen nun einmal
108 Kattenbuſch
nicht daran vorbei, fie zunächſt als anziehende oder ärgerliche cruces
für unfern PVerftand zu empfinden. Aber das follte uns doch
nur darauf aufmerkſam machen dürfen, daß wir diefe Kormeln nicht
mehr unmittelbar verftehen, daß wir andere religiöfe Intereſſen
haben, wie die alte Rirhe. Denn daß dieſe Kirche auf jene Lehren
nicht geführt fein kann durch intellectuelle Intereſſen, daß e8 nicht
jpeculative Bedürfniſſe gewefen fein künnen, welche fie durch Die
Ausarbeitung der trinitarifchen und chriftologifchen Formeln befriedigte,
ift doch offenbar. Wären e8 nicht religiöfe Bedürfniffe, die ſich
in jenen Lehrftreitigkeiten geltend machten, fo wäre die alte Kirche
gar nicht Kirche, fondern philofophifche Schule. Indes bisher ift
noch nicht viel gewonnen. Man darf darauf rechnen, daß jeder-
mann bie Rede von der „intellectualiftifchen” Richtung der grie-
Hifchen Kirche ſchließlich Für brachylogifch erklären und zugeben
wird, daß es religidje Bedingungen gewefen, unter denen die Dogmen
damal8 wie immer zu Stande gelommen. Aber man bringt fich
num nicht deutlich zum Bewußtfein, was unter foldyen Bedingungen
zu verftehen fei. In der Dogmengefchichtfchreibung wird es noch
lange dauern, ehe die Einwirkungen der dee, daR die Entwidlung
der Dogmengefchichte die allmähliche firchliche Bearbeitung der Reihe
der als nothmendig gedachten loci theologiei darftelfe, völlig ab⸗
gethan find. Die neuefte Dogmengefchichte *) Legt diefe Vorjtellung
noch einmal bewußt und conjequent zu Grunde. Thomafiug
ftellt die Sache fo hin, was übrigens aud) in diefer näheren Form
nicht neu ift, daß die alte morgenländifche Kirche die Zrinitätslehre
und die Chriftologie, die alte abendländifche die Anthropologie und
Hamartologie, das Mittelalter die Lehren von der Verſöhnung und
den Heildmitteln, die Reformation die Lehre von der Heilsaneignung
bearbeitet habe. Jeder diefer Dogmenkreiſe ift religiös bedingt ge»
weien und fie zufammen find die nothwendige kirchliche Erplication
der chriftlichen Wahrheit. Denkt man biernah zunädit, daß in
den Epochen vor der Reformatign die chriftliche Wahrheit nur
1) Thomaſius, Die riftliche Dogmengeichichte, 1. Bd., 1874. Nach
den Tode des DVerfaffers ift der 2. Band von Plitt herausgegeben
worden (1876).
Kritische Stubien zur Symbolik. 109
ſtückweiſe in der Kirche vorhanden gewefen, fo hat Thomaſius Vor-
fchr getroffen, um aud) den älteren Stadien das ganze Ehriftentum
vindiciren zu können. Es ift in der Form „unmittelbaren Wiffens“,
nur ohne die volljtändig ausgebildete Form, die wir befiten, in der
gläubigen Gemeinde damals vorhanden gewefen. Aber die ganze
Borftellung ift unhaltbar. Sollte es richtig fein, daß die alte
griechiſche Kirche die Lehre von ber Trinität und der Perjon Ehrifti
al8 die relativ felbjtändigen Kapitel der Dogmatit ausgebildet Hat,
jo wäre jene Kirche, wenn Teine philofophifche, fo doch eine theo-
logiſche Schule gewejen. Denn das ift der Unterſchied der Kirche
und der theologiichen Schule, daß erftere immer fih um die To⸗
talität der religiöfen Erkenntniſſe bemüht, während legtere ſich mit
einem Ausſchnitt begnügen mag, den fie möglichſt forgfältig bes
handelt. Wenn es richtig hergeht, fo befiten ja die einzelnen
Glieder einer theologischen Schule auch, während fie fich ihr Leben
lang vielleiht nur um ein einzelnes beſchränktes Gebiet der chrift-
lihen Lehrwifjenfhaft bemühen, das ganze Chriftentum „im
Gemüthe*. Indem Thomafius der alten Kirche den Befig des
ganzen Chriftentums in diefer Form zufchreibt, Hat er alſo auch
noch nicht gezeigt, daR diejelbe nicht eine Schule gewefen. Das
Richtige ift, das bie griechifche Kirche in und mit ber Theo—
logie und Ehriftologie das ganze Chriftentum in ihrer
Weiſe behandelt Hat‘). Nur wenn wir dies fejthalten, fichern
wir ihr den Charafter der Kirche. Jede religiös bewegte Zeit
hat ihr Schlagwort, fo gut wie jede politifch bewegte Zeit. In
der Zeit der Reformation war da8 Schlagwort: Rechtfertigung
aus dem Glauben oder aus den Werfen; in der alten griechifchen
Kirche war es die correcte hriftologifche Formel. In einer folchen
Behauptung concentrirt eine Zeit all’ ihr Beftreben, vergegenwärtigt
fe fih al’ ihre Güter, Natürlich Hat fie auch andere Fragen
und Behauptungen, die ihr ebenfalls von integrivender Wichtig-
keit find. Die Reformation hat Kontroverfen über fait alle Punkte
des ſcholaſtiſchen Lehrſyſtems Hervorgerufen. Und die alte Kirche
1) Bel. Ritſchl: „Ueber die Methode der Älteren Dogmengefchichte“, Jahr⸗
bũcher für deutfche Theologie 1871.
110 Kattenbuſch
hat ebenfalls neben der Lehre von Chriſto noch genug andere The⸗
mata gehabt. Aber das Thema von Chriſto war ihr der Inbegriff
aller Themata, in der richtigen Lehre von Chriſto rettete ſie über⸗
haupt das richtige Chriſtentum, ſo wie ſie es verſtand. Aber
wie verſtand fie e8 denn? Darauf gewinnen wir die Antwort
durch die Frage: wie befchaffen war das Heildgut, welches die
griechifche Kirche im Chriftentum ſuchte? Hier kommen wir zu
der organifirenden Grundidee des griechifchen Lehrſyſtems.
Ich beziehe mich Hier zunächſt auf die Schrift von Herr-
mann über die Heilslchre des Gregor von Nyffa !). Es wird |
dort des mäheren gezeigt, daß diefer Theologe unter dem chrift-
lichen Heife nichts anderes denkt, als die adavanız und
aydagoıe, die Lem aiwvıos im äußeren Sinne. Die Selig:
feit wird von Gregor lediglich befchrieben als Befreiung von der
Sinnlichkeit und Endlichkeit und den Uebeln, welche diefe beiden Be⸗
ftimmtheiten unferes irdiſchen Lebens mit fich führen. Das höchfte
Gut, welches uns im Chriftentume geboten wird, die Gemein-
ſchaft mit Gott, ift wicht gemeint als immer volllommener wer-
dende Einigung unſeres Willend mit dem göttlichen, fondern als
die Ablegung deſſen, was fterblih und endlih an uns tft, als Die
Verſetzung unferes Lebens in Gottes unfterbliches, dem Leide ent-
zogenes Leben. Es find alfo Lediglih phyfifhe Kategorien,
in denen das Heil befchrieben wird. Und das Heil ift eine rein
transfcendente, nur für die Hoffnung vorhandene
Größe ES wird fih nun fragen, ob der Nyffener mit biefer
Auffaffung des chriftlichen Heiles allein fteht. Aber derfelbe ift
befanntlich fein abfeits der großen gefchichtlichen Entwicklung ber
Kirche ftehender, fondern ein hochgeehrter, für feine Zeitgenofien
und fir die Folgezeit höchſt autoritativer Dann. Und ber Be-
weis ijt in ber That zu erbringen, daß er mit feiner Anſchanung
von dem höchſten Gute nur die herrfchende Anficht feines Zeit⸗
alter8 vertritt. Doc kann es natürlich nicht hier meine Aufgabe
fein, diefen Beweis anzutreten. In den vorhandenen Dogmenge-
1) Herrmann, Gregorü Nysseni sententiae de salute adispiscenda,
Halis 1875.
Kritiſche Studien zur Symbolik. 111
ſchichten findet man hin und her Belege; eine abſichtliche Unter⸗
fuchung über den Charakter des Heiles, welches die alte Kirche
im Chriftentume fuchte, wiewol diefe Frage offenbar die Cardi⸗
nalfrage ift für das Berftändnis ihrer Lehrbildungen, trifft
man nirgends. Am meijten Material ift zu finden in den Kapi⸗
ten, welde die Anfchaumngen vom Werke Ebrifti und von der
Bedeutung der Sacramente behandeln *). Um wenigftens an Eines
zu erinnern, erwähne ich, daß der Zwed ber Erjcheinung Chriiti
im Fleifche gern dahin beftimmt wird, daß wir „vergottet“ werden
ſollten. Es unterliegt feinem Zweifel, daß dieſes Yeorossıodaı
als eine fubftantielie Aenderung unferer Natur, ale eine phnfifche
Mittheilung des göttlichen Lebens an uns gedacht if. Athanafius
bemerft ausdrüdlih, der Zwed der Sendung Chrifti könne nicht
die Sündenvergebung und die vollfommene, vorbildlihe Erfüllung
des göttlichen Geſetzes ſein. Daß dies wicht die Hauptſache fei,
zeige der Umftand, daß es ſchon vor Chriftus fündlofe Menſchen
gegeben habe. Die Hauptſache, die Ehriftus allein ſchaffen konnte,
ift die Vermittlung des ewigen Lebens. Denn das ift das Ver⸗
hängnis der natürlichen Menjchheit, daß fie dem Tode verfallen ift,
und dem fann bie Menſchheit fih nicht durch fich ſelbft ent-
ziehen 2). Aehnliche Ausführungen finden wir bei allen Vätern.
Immer ift das höchfte Gut ein phyſiſches umd jenſeitiges, nicht
em fittliches umd in der Gegenwart zugänglided. Das Gute,
die Erfüllung des göttlichen Willens, kömmt nur in Betradt
als Bedingung für die Theilnahme an dem durch Chriftus
wiedergebracdhten göttlichen Leben. Der Sacramente hödfte Wir:
tang und Bebentung ift, daß fie yrdaxınoa sis avantacıy
fun; alovıov, yagıazı un; adavanıazs find.
Iſt das richtig, fo begreifen wir nunmehr die Chriftologie.
Athanafius gibt direct an, melches Intereſſe ihn an die Behaup⸗
1) Bol. beſonders Nitz ſch, Dogmengeichichte, $ 58. 63. 64; Baur, Die hrifl-
Giche Lehre von ber Berföhnung, S. 67 ff.; Steitz: „Die Abendmahls-
lehre der griechischen Kirche in ihrer geichichtlichen Entwicklung“, Jahrbücher
für deutſche Theologie 1864—1868 (ſechs Aufiäte).
2) Herrmann, Die Metaphyfil in der Theologie, ©. Diff. -
112 Kattenbuſch
tung der phyſiſchen Homouſie des Logos mit dem Vater feſſelt. Kein
anderer als Gott ſelbſt konnte uns mit dem göttlichen Leben durch⸗
dringen, kein anderer uns wahrhaſt vergöttlichen, als der Gott in
ſich ſelbſt iſt, kein anderer uns die Sohnſchaft Gottes geben, als
der, der von Natur Gottes Sohn iſt. Hatte der Sohn einen
Anfang, ſo kann er auch wieder aufhören, und wir ſind unſeres
eigenen ewigen Lebens nicht gewiß ). Begreifen wir hier die Lehre,
daß der Logos Yvoss Gott geweſen, fo begreifen wir anderfeits
auh, daß er Yvossı Menſch geweien fein muß. Wieder gibt
Athanafius ſelbſt ausdrüdlih an, daß, wenn der Logos nicht
wahrer Menfch geworden wäre, uns feine Gottheit nichts nüßen
würde. Denn mit einer uns fremden Natur Haben wir nichts
gemein. Es fam darauf an, daß der Logos mit uns in Natur-
verbindung trat. Wir fehen deutlih, daß die Chriftologie des
Athanaſius in der That ein Zeugnis confequenten Denkens
ift, und begreifen die Streitigkeiten, die fich erhoben, jo oft
die wahre Gottheit oder die wahre Menſchheit oder die reafe,
phyſiſche Verbindung zwifchen beiden in ber Perfon Chrifti be-
droht war. |
Könnte e8 nun auf den erften Blick feheinen, als ob die grie-
chiſche Kirche vermöge diefer Anfhauung vom Weſen des Heiles auf
den fittlichen Charakter der chriftlichen Religion verzichte, fo fteht
die Sache doch nicht ganz fo ſchlimm. Es iſt nämlih nun zu
betonen, daß die Zulaffung zum ewigen Leben, zu dem von
Chriſto erworbenen Gute, durchaus abhängig gemacht wird von der
Erfüllung des göttlihen Geſetzes. Die griedifche Kirche Hat nicht
vergefjen, daß die fatholifche Chriftenheit im Kampfe mit dem
Judenchriſtentume feftgeftellt hatte, daß das Chriftentum das neue
Gefet fei. Der von diefem Streite her datirende Nomismus
ift alfo der andere, allerdings immer mehr zurüdtretende Bol der
griechifchen Frömmigkeit. Derjelbe fteht in fchwebendem Gleichge⸗
wicht mit der finnfihen Auffaffung des Heiles und corrigirt den
Fehler berfelben, fo weit das angeht. Die Forderungen aı Lebens»
reinheit, welche die alten Väter ftellen, find nun in thesi äußerft
— — — — — — —
1) Baur a. a. O., ©. 106.
Kritifche Studien zur Symbolik. 118
hochgeſpannt. Doch werden fie felten concret ausgeführt und dann
meiſt ascetiſch. Das paralyfirt denn für die Menge die eigentliche
Wirkung diefer Strenge. Es bleibt im allgemeinen das Bild
der Heiligkeit Gottes, welder nur mit den Neinen und Makel⸗
loſen in Gemeinſchaft treten kann. Gharakteriftiih ift für bie
griechische Kirche, daß fie es bei der Forderung fittlichen Lebens
als bloßer Bedingung des Heiles beläßt. Die Erkenntnis, daß
das Gottes eigentliches Werk ift, daß er heiliges Leben fchafft,
daß die Gnade ihr eigentliches Ziel an der Berfühnung ber
Menſchen mit Gott hat, ift ihr nicht beſchieden — wenigftens nicht
für die Theorie.
Indes die griechiſche Kirche ift nun auch fo noch keineswegs
erihöpfend charakterifirt. Denn das Heil, welches fie erftrebt, der
Werth der Perfon Ehrifti, welchen fie conftatirt, ift nicht in ber
Gegenwart und unmittelbar von den Einzelnen erfahrbar. Dar»
auf aber fteht alle Religion, daß man bes Heiles perfünlid und
gegenwärtig gewahr wird. Von ber Verheifung allein Iebt eine
Lirche nicht. Kann die griechische Kirche ihren Gläubigen das
Heil nicht ummittelbar nahebringen, fo werben die Gläubigen zu
Surrogaten greifen. Iſt aber dag Heil der griechifchen Kirche
in der Gegenwart nur in der Phantafie erlebbar, fo ift
begreiflih, daß das praltifche Intereſſe der Mafje ſich immer
mehr der jacramentlichen, Liturgifhen Seite der Religion zu⸗
wandte und fchlieglih im Cultus überhaupt den Inbegriff aller
Heilsgäter ſah. Im Eultus, da trat man in unmittelbaren Con⸗
tact mit der Gottheit, mit dem Logos, Hier erlebte man eine Er»
hebung über die Alltäglichkeit, über das Profane, über das Nichtige.
Die Erfahrung, die jeder religiöfe Menſch in der Theilnahme am
Cultus macht, die undefinirbare Steigerung des religiöfen Lebens⸗
gefühls, welche die Theilnahme an demfelben gewährt, mußte in ber
griechifchen Kirche je länger je mehr als das werthvollſte Gut des
Ehriften in der Gegenwart erjcheinen. Denn fie war die einzige
Form, in der man des Heiles im gegenwärtigen Genuffe froh
werden konnte. Man kann duch Steig in den angeführten Ab-
handlungen erfahren, wie lebhaft von altersher in der Kirche das
Tpest. Stud. Jahrg. 1878.
114 Kattenbuſch
liturgiſche, ſacramentliche Intereſſe geweſen, aber es iſt eine
immer ſteigende Zunahme desſelben bemerkbar. Schon ein Cyrill
von Jeruſalem, ein Chryſoſtomus ergehen ſich in für uns nicht
nachzuempfindenden Ueberſchwenglichkeite. An ſich macht es da⸗
bei keinen Unterſchied, ob einer die Vergegenwärtigung des Heils⸗
gutes durch den Cultus, in specie die Sacramente, ſymboliſch oder
realijtifch auffaßt. Aber an die letztere Auffaffung, welche feit der
Mitte des 4. Jahrhunderts, befonders durch den Einfluß des Gre⸗
gor von Nyſſa, aufgelommen ift und übrigens auf die Dauer und
für das Volt unvermeidlich war, fchliegt fi) allerdings leichter
der Aberglaube und überhaupt der Untergang geiftiger Religio—⸗
fität an. Worauf fih nun das facramentliche, cultiih-rituelle
Intereſſe im einzelnen wirft, ift, weil es wejentlich mit ein äjthe-
tifches, von der Phantafie und dem Gefühle ausgehendes ift, nicht
controlirbar. Es ift begreiflich, daß fchließlich jeder Einzelheit des
GSottesdienfteß ein höherer Sinn, ein aparter, unveräußerlicher,
religiöjer Werth beigelegt wurde. Eine Grenze ift nur gegeben
mit der Leiftungsfähigleit der menschlichen Einbildungetraft und
des menſchlichen Spürfinnes 9).
Hier muß nun hinzugefügt werden, daß in naturgemußer Ent⸗
wicklung das dogmatiſche Intereſſe, welches urſprünglich den
Anlaß für das liturgiſche geboten, hernach je länger je mehr von
dem liturgifehen mit umfaßt und eigentümlich umgeftaltet wurde. Es
ift offenbar fchr bald gelommen, daß das Dogma von dem Bolfe
nur in feiner Darftellung durd Riten und Symbole und in feiner
Aufpigung zum liturgifchen Bekenntnis vergegenwärtigt und hoch⸗
geichätt wurde. In den alten chriftologifchen Streitigkeiten ſchon
hören wir immer wieder, daß es Liturgifche Ausprägungen der einen
oder anderen Theorie gewefen feien, an welche der Streit anknüpfte.
Bollends ift fpäter im Volke, in der Kirche als folder, die An⸗
1) Bol. neben den Gaß'ſchen Nachweiſen befonders Steig’ Mittheilungen
aus der müftagogifchen Fiteratur jeit dem Pfeudo - Areopagiten, welcher
der Kirche zuerfi eine zufammenhängende Deutung aller Einzelheiten ihres
Cultus gegeben bat, a. a. O., 1866.
Kritifhe Studien zur Symbol. 115
hänglichkeit an beftimmmten Formeln bedingt durch die Liturgifche
Berwendung derſelben. Das nicänifcheconftantinopolitanifche Symbol
it besiegen fo werthvoll, weil e8 in der Liturgie eine wefentliche
Stelle einnimmt. Im Anfchluß ar feine Aufnahme in die Liturgie
als kurze Summe des driftlihen Glaubens gilt es je länger je
mehr für Heilig und unveräußerlich. Es ift offenbar, daß ber
ewige ausſichtsloſe Streit mit dem Abendlande über das filioque
auh von hier aus erſt jein Licht empfängt. So verfchwindet all-
mählih das Verftändnis für den urfprünglichen Sinn ber Formeln.
Das abgeleitete Intereſſe fichert ihnen ihre Geltung. Wenn die
alten Väter deutlich fich der Relation ihrer dogmatiſchen Behaup⸗
tungen mit der Borjtellung vom Heile bewußt waren, fo weiß die
Ipätere Zeit e8 nicht mehr. Auch jegt kennt die griechische Kirche
wol fein anderes Ziel des Chriftentums als die wunderbare Erhe⸗
bung des creatürlichen Lebens zu göttlicher äußerer Herrlichkeit im
Jenſeits. Aber der Grieche felbft vermag über die urfprüngliche
Rormirung feiner Formeln gemäß diefer bee nicht mehr zu orien«
tiven. So fehen wir es in der confessio orthodoxa des Mogi-
las. Dian läßt ſich abendländifche Ideen, die in ihrer technifchen
Bezeichnung durch bibliſche Ausdrüde fih dem Wortlaute nad
auch für das Griechentum ſchicken, unterfchieben, indem man fie
nur halb verjteht. Indes es ift eben nicht ernft gemeint. Immer
wieder jchlägt es durch, daB es der Weligiofität auf die Formeln
als ſolche ankommt. Der Sinn derfelben im einzelnen ift gleich-
gültig: das Ganze berjelben, das Glaubensbelenntnis, bewährt fich
ala Heilsnothiwendig, weil es ein Stüd der Liturgie, in der
alles geijterfüllt und nothwendig ift, darftellt, und in diefem Zu⸗
jammenhange gewährt es eine praftifche veligiöfe Befriedigung, die
Selbitzwed ift. — Was fpeciell den Werth der rituellen ober
Iymbolifhen Darftellung der Dogmen anlangt, fo gewinnen
bier z. B. die merfwürdigen Anhängfel, welche verjchiedene Lehr-
ausführungen bei Mogilas erhalten Haben, erft ihr richtiges
Licht. Gag madht darauf aufmerfjam, daß in der Lehre von
Chriſtus plötzlich Cultusvorſchriften eintreten (vgl. oben S. 102).
Derartiges findet fich noch öfter. Gap nennt das „Nebeninterefjen
der griechifchen Frömmigkeit“. Wichtiger urtHeilt Ritfchl, wenn
8*
116 Kattenbuſch
er meint, bie Lehre erſcheine dem Mogilas erſt wichtig und bedeut⸗
ſam in ber rituellen Darſtellung ?).
Neben derjenigen Conſequenz aus der griechiſchen Anſchauung
vom Heile, die wir ſoeben verfolgt haben, ergibt ſich aber noch
eine andere. Auch davon kann die griechiſche Kirche nicht allein
leben, daß ſie im Cultus wenigſtens für die Phantaſie ſich das
Heilsgut, welches das Chriſtentum bietet, vergegenwärtigt und un⸗
mittelbar nahebringt. Denn in dieſer Lebensfunction bethätigt
fie nur erft die ihr ermöglichte Verbindung mit Gott. Aber
im CEhriftentume gewinnen wir nicht nur eine Beziehung zu Gott,
fondern ebenfo fehr zur Welt. In der Beachtung der Stellung,
welhe eine Kirche dem bürgerlichen Leben und den weltlichen
Gütern im Verhältnis zum Heile anmweift, vollenden wir erft die
Erkenntnis des eigentümlichen Charakters derfelben. Iſt nun bas
Heil begrifflih ein durchaus jenjeitiges, befteht dasfelbe, wie es
nach griehifcher Anfchauung der Fall ift, in der Befreiung von
den creatürlichen, endlichen Lebensbedingungen und ber Verjegung
des Menfchen in das überweltliche göttliche Leben, fo ift klar, daß
das Heil und die Welt Tediglih Gegenſätze find. Hier begreifen
wir dann aber, daß in ber griechifchen Kirche für die vollkommene,
eigentlich gottgemäße Form des Lebens in der Welt das Möndy-
tum gilt, die ascetifhe Belämpfung der Triebe, die Sernhaltung
von den weltlichen Intereſſen und Gefchäften, die ftetige Verfen-
tung in myftifche Andacht, mit einem Worte die Entfernung aus
der Welt. Im Oriente ift das Mönchtum entftanden und dort
bat es auch feine correctefte Geftalt gefunden. ‘Denn nirgends tft
das eigentlihe Eremitentum fo verbreitet gemefen, wie dort, und
wenn man fi zu Tlöfterlichen Vereinigungen zufammengefunden,
fo ift auch diefe Form die correctefte, fofern man dem griechifchen
Möndtume am wenigften nachjagen kann, daß es durd Hinter:
pforten das bürgerliche, geichäftliche, culturfördernde Leben der
Welt bei fich eingelaffen. Die griechiſchen Klöfter find wirklich
1) Ritſchl: „Der Gegenjat der morgenländifchen und abendlänbifchen Kirche
und die Unionshoffnungen Gagarins und Harthaufens”, Gelzers Prot.
Monatsblätter, 11. Bd., S. 838 ff.
Kritifche Studien zur Symbolik. 117
vorwiegend Stätten der Andacht und der myſtiſchen Contemplation
gewejn. Im Abendlande hat die Kirche die Myſtik immer für
verdächtig angefehen, im Morgenlande ift fie ein naturwüchfiges
und darum auch kirchlich fanctionirtes und gehegtes Product. —
Indes es Liegt nun in der Natur der Dinge, daß das mönchifche
Lehen auch für die Kirchen, die es als das eigentlich vollkommene,
eigentlich zu empfehlende Hinftellen, immer die Ausnahme: ift.
Wie geftaltet ſich denn in der griechifchen Kirche das allgemeine
Volksleben in fittlicher Beziehung? Auch Hier treffen wir feine
andere Form, als welche wir nad) dem Bisherigen zum voraus
vermuthen dürfen. Zunächſt nämlich begegnen wir natürlich einer
Menge kirchlich rituelfer und asketiſcher Sagungen. Daneben aber
begegnen wir für das Uebrige einer Hochſchätzung der nationalen
Sitte, die faft einer Identificirung berfelben und des Sittengefegee
gleiht 1). Gerade dies kann nicht überrafhen. Denn es ift die
natürliche Folge, wenn eine Kirche Feine pofitive Stellung zu den
irdiſchen Eriftenzbedingungen nehmen lehrt, wenn fie diejelben nicht
direct oder inbdirect zu verwerthen weiß für ihre Zwede. Denn
dort ift die Menge, welche die negative Stellung zum bürgerlichen,
weltlichen Leben, die als deal von der Religion Hingeftellt wirb,
vum einmal nicht einnehmen lan, für ihr fittliches Verhalten in
den Beziehungen des Familien» und Staatslebens im wefentlichen
unberatben. Es werden ja auch in der griehifchen Kirche gewiſſe
fittliche Vorſchriften der Bibel eingejchärft, etwa die zehn Gebote.
Aber wie weit kann ber von hier ausgehende Impuls zur fittlichen
Hebung des Volles reihen? Und vor allem, wie weit fann fol
eine compendiarifche Unterweifung zur Geftaltung eines eigen-
artigen chriſtlichen Eulturlebens führen? ‘Dabei fonnte
die Menge im allgemeinen feinen Antrieb empfinden die hergebrach⸗
ten Formen ihres Gemeinſchaftslebens einer Kritik zu unterwerfen.
Dabei mußte in praxi alles bei dem gefchichtlichen Vollstum fein
Dewenden haben. Es ift nicht zu verwundern, daß dann fchließ-
fi unter dem Schwergewicht der Tradition die. Kirche felbft dazu
tommt, in ber Weife Anleitung zu pofitiver Stellungnahme in der
2) Ritſcht, Prot. Monatsblätter a. a. O.
118 Kattenbufd
Welt zu geben, daß fie die unbedingte Anhänglichkeit an der Volks⸗
fitte den Gläubigen einfchärft, wie es in der confessio orthodoxa
des Mogilas gefhieht (I, 95; Kimmel, S. 168). Wiederum ift
begreiflih, daß aud die Kirchliche Sitte in der Liturgie fo ftabil
wird, daß jede Abweichung von dem Hergebradhten als Kegerei gilt.
An ih ift durch das liturgiſche Intereſſe der Stabilität ober
Variabilität der Eultusformen nicht präjudicirt. Allerdings Tann
das äſthetiſche Intereſſe an gemilfen Formen fo ftark fein, daß
es für ſich felbft die Dauerhaftigleit derfelben verbürgt. Aber es
können doch auch gerade aus dem äfthetifchen Intereſſe Neubildun-
gen des Eultus hervorwachſen. Mindeſtens ift Fleineren fpontanen
Sectenbildungen Thür und Thor geöffnet. An letzteren Bat es
denn auch befonders in der rufflfchen Kirche nicht gefehlt. Das
große Schisma, welches in ber vuffifchen Kirche feit der Mitte des
17. Jahrhunderts befteht, ift aber bekanntlich durch die gedanten-
lofe Anhänglicleit des Volles an dem Hergebrachten auch im
Cultus bedingt.
Zum Abfchluffe unferer Skizze des eigentümlichen Weſens der
griechiſchen Kirche müfjen wir nun aber noc einen Blick werfen
auf ihre directe Lehre von der Kirche. Bisher haben wir mehr
nur geachtet auf bie Form der privaten Frömmigkeit, zu welcher
fie Anleitung gibt. Aber es kommt auch darauf an, zu erfennen,
welchen Zwed und Charakter fie ſich als Corporation und Orga—
nismus zufchreibt. Hier zeigt fi mun die epochemacdende Bes
deutung bes Pfeudo-Areopagiten für das Morgenland, auf melde
Ritſchl beſonders nachdrücklich Hingewiefen Hat). Ich verlaffe
mich dabei auf die ausgezeichnet klare und eingehende Darſtellung
des Syſtems des Areopagiten, welche Steitz?) uns bietet.
Das Ziel der Religion ift für jenen chriftlichen Neoplatonifer
die myſtiſche Einigung mit Gott, die Erhebung des creatürlichen
Lebens zum göttlihen, eigentlich wahren Sein. „Wie alles zu
Gott Hinftrebt, fo kann auch nur die Einigung mit ihm das
1) „Ueber die Methode der älteren Dogmengeſchichte“, a. a. O., S. 200.
212.
2) a. a. O. 1866, ©. 197—229,
Kritifche Studien zur Symbolik. 119
Ziel diefes Streben fein. Dieſes Streben geht durch alle Kreife
des Seienden, Lebendigen und DVernünftigen; es iſt alſo au ſich
ein kosmiſcher Zug, der erft in der vernünftigen Ereatur zu einem
bemußten und gewollten, zu einem perfönlichen wird und einen
ethiſchen Charakter gewinnt“. Die myſtiſche Einigung mit Gott
vollzieht Fich durch „die drei Stufen der Reinigung, der Erleuch⸗
tung ımd der Vollendung, in denen fi) ebenfo viele Kräfte und
Birkungen des alles zu ſich ziehenden Gottes eutfalten.“ Aber
die Wirkungen, durch welche die myſtiſche Einigung zu Stande
fommt, find weder auf Seiten des Gebenden, noch des Empfangen-
den durch einen Act des Denkens oder des Wollens vermittelt, es
ft die ummittelbare Wirkung des Seins auf das Sein; „ba
Göttliche will nicht bloß ſymboliſch erlernt, Sondern vor allem er⸗
litten (naoxsıv), d. h. in paffiver Hingebung erfahren und ge⸗
ioftet fein, damit die Seele in der myſtiſchen Einigung vollendet
werde”.
As Mittel der reinigenden, erleuchtenden und vollendenden
Birfungen Gottes auf die Ereatur gelten nun für den Areopa⸗
giten beftimmte Weihen, die fi im manigfadher Weife abjtufen.
„Auf der Abftufung diefer Wirkungen beruht der Begriff der
Hierarchie, die wieder in eine himmlische und eine irdifche aus⸗
einandergeht“. Die irdifhe Hierarchie wiederum zerfällt in die ger
jegliche, altteftamentliche und die nenteftamentlihe, kirchliche.
Die legtere aljo vermittelt gegenwärtig den Menſchen das göttliche
Sein, ihr Zwed ift, die geheimnisvollen Weihen an die Menge
zu ertheilen. „Die Wirkung der Weihen ftellt ſich nad) der ‘Drei-
teilung, welche das Syftem der Hierardhien durchweg beherrfcht,
auch hier als dreifache dar, als reinigende, erleuchtende und voll:
endende. Demgemäß trennen fi drei Orbnungen: die reinigenden
titurgen (Dialonen), die erleuchtenden Priefter, die voll-
endenden Hierarchen; doc haben die höheren Drönungen zugleich
die Kräfte der niederen, fo daß die Priefter zugleich erleuchten und
reinigen, die Hierarchen aber alle drei Wirkungen üben Fönnen.
Den Hierarchen, die al8 durchfichtigere Geifter zur Aufnahme und
Beiterleitung des Lichtes geeigneter find, bleiben als fpecififch hie⸗
rarchiſche Handlungen die Priefterweihe, die Weihe des Salböls und
129 Rattenbuid
des Altare vorbehalten.“ Ich verjage mir, genauer anf bie
areopagitiihe Sacramentenlehre einzugehen. Die Sacramente
find die myſtiſchen Weihen, durch welde die kirchliche
Hierardie ihren Zwed erfülft.
Haben wir nicht bier da6 Programm der ganzen jeitherigen
griechiſchen Kirche, foweit fie ji als Ganzes und als Anftalt
darfielit, vor uns? Natürlich ift der Areopagite nicht ohne Bor»
gänger in feinen einzelnen Beitimmungen über die Fire. Über
er hat alle Strebungen ber Bergangenheit zu einem einheitlichen,
zufammenhängenden Spufteme ausgebildet und eben damit das
löfende Wort für die Anſchanung der griechifchen Kirche von ſich
felbft geſprochen. Angefichts „der Lehre des Areopagiten begreifen
wir die Erelufivität des griedhifchen Bewußtſeins hinfichtlid des
Wertes der anftaltlichen, fpeciell der morgenländifchen Kirche.
Hier begreifen wir die feither unerſchütterte Anſchauung von der
Kirche als Somplement der perfönliden Bedeutung Chrifti. Es
ift nur eine befondere Anwendung diefer Anſchauung, wenn die
kirchliche Lehrtradition auch für eine Ergänzung der Bibel anerkannt
wird. Hier fehen wir auch die feither maßgebende Ausführung
über die Nothwendigfeit des Prieftertums als des Inſtitutes zur
Vermittlung des Heiled an die Laien, fpeciell weiter die Noth⸗
wenbigfeit der Gliederung der Priefterfchaft nad hierarchiſchen
Rangftufen vor und. Noch einmal erkennen wir den Werth der
Liturgie und der Sacramente für den griechifchen Gläubigen. Und
indem ausdrüdtih die Wirkung der Weihen als eine phyſiſche,
paffio Hinzunehmende dargeftellt wird, erfennen wir noch einmal
die Gründe des blöden Müfterienftaunens, welches die wesentliche
populäre Form des griechiſchen Bottesdienftes if. Indem aber
fchliepfih von dem Berufe der Kirche in jedem Betracht alle ethi-
fchen, ſei es auch nur politiichen, Beftimmungen ferngehalten
find, fo begreifen wir hier die Abhängigkeit, im welche die Kirche
auf griechifchem Gebiete vom Staate gerathen iſt. Ein Conflict
zwifchen beiden Größen ift dort nicht möglich, fo lange der Staat
nicht den Eultus und das Dogma, weldes weſentlich ein Stüd
des Eultus ift, antaftet. Und das ift ja bisher nicht einmal im
Gebiete der türkifchen Herrfchaft gefchehen. Unter bdiefer Bedin⸗
Kritifche Studien zur Symbolif. 121
gung läßt die Kirche fich willig vom Staate leiten und überläßt
ihm, refp. dem Volksgeifte, die Pflege aller fonftigen, auch der
kitfichen Jutereſſen wenigftens der Menge.
Das Refultat meiner ganzen Erörterung möchte fein, daß bie
griechiſche Kirche als geichichtlihe Totalerſcheinung nicht zwie⸗
Ipältigen Charakters ift, wie Gaß meint. &8 fteht nicht fo, daß
nur die Wirklichkeit Hinter dem Ideal zurücbleibt, refp. daß
auf echt chriftlichen Grundideen unechte andere Ideen aufgefchichtet
find. Bielmehr ift das griechifhe Lehr und Kirchenſyſtem ein
einbeitfiches und in feiner Totalität den andern Kirchen nicht eben-
bürtiges, in feinen Idealen degenerirtes.
Es ift dabei zuzugeben, daß einzelne authentifche chriſtliche Ideen
fi) bewahrt haben: hat doc die Verkündigung des Bibelwortes
mie ceffirt. Daran darf ber Glaube conftatiren, daß auch in
der griechischen Kirche die „Gemeinde der Heiligen“ ihre Glieder
beſitzt. ALS Gefamterfcheinung hat die griehifhe Kirche aller-
dings nur noch chriftlihe Form. Aber wo der Name Chrifti
noch anerfannt wird, wo er noch der Grund alles Heiles ift, da
iſt au für ‚die Zukunft noch gutes zu hoffen. Und die abend»
fandifchen Kirchen haben ja auch jchon Einfluß auf die griechiiche
Kirche gewwonnnen. Allerdings nur ſporadiſch. Als Syftem ift
das alte Griechentum noch unerſchüttert. Das belegen fchließlich
auh die Eonfeffionsichriften de8 17. Jahrhunderts. Im Lichte
der gefchichtlichen Entwicklung der griechifchen Kirche erkennt man,
wie ich glaube, daß fie umgekehrt interpretirt werden müſſen, als
Gaß wil. Die biblifhen und Halb und Halb abendländifchen
Feen find nit das Grundftreben der Theologie ihrer Ver⸗
faffer, fondern nur der Auftrag auf den antiken Anfchauungen und
der übel genug eingewebte Einfchlag in den liturgiſch⸗formelmäßi⸗
gen, ascetiſch⸗ rituellen Intereſſen derjelben. Indeſſen wenn ich
hier in das Detail eingehen wollte, ſo führte mich das zu weit.
Gedanken nnd Bemerinngen.
1.
Ein Beltrag zur Eſchatologie der Reformatoren.
Bon
D. 9. Köfllın.
Man hat öfters von den deutfchen Meformatoren gefagt, es
fehle ihnen an Intereſſe für die „Lettten Dinge“. Indem fie das
Heilsgut als ein gegenwärtige erfaffen und in der Nechtfertigung
de® Heiles fchon gewiß feien, treten Hingegen für fie die großen
Dbjecte der chriftlichen Hoffnung zurüd. Das ift nur in fo weit
richtig, als fie es nicht für nöthig halten und nicht wagen, über die
Art wie die künftige große Offenbarung Chrifti und Herftellung
feines Reiches fich vollziehen werde, dogmatifhe Säge aufzuftellen
oder concrete Schilderungen zu entwerfen. Es ift vollkommen falſch
in fo fern, als gerade fie, und zwar fpeciell Luther, nicht bloß von
diejer Gegenwart aus mit fehnlihem Wünfcen und Hoffen auf
das große Ende fich Hinrichteten, fondern es gern auch fchon mög⸗
Gicht nahe ſich dachten, ja bdiefe Erwartung wol auch — nad
der Weife ihrer Zeit — auf biblifhe und andere Berechnungen
zu ftägen verfuchten. Die Verbindung folcher fehnfüchtiger Hoffnung
mit jener Gewißheit des ſchon gegenwärtigen Heiles entfpricht ja
auch ganz der Glaubensweiſe desjenigen Apoftels, aus deſſen Brie-
jen fie ihre Heilslehre zumeift geſchöpft haben.
Bekannt ift von Melanchthon, wie er die gegenwärtige Welt
als eine zu charakterifiren pflegte, bie bereits im Greifenalter ſtehe.
16 Köftlin
In Betreff Luthers wird man 3. B. aus Mittheilungen in meiner
Biographie des Reformators erfehen, wie er nicht nur fortwährend
den „lieben jüngften Tag“ herbeimünfchte, ſondern wirklich ſchon
feit dem Beginn feines eigenen Kampfes mit dem „Antidhrift”
einen nahen Sturz desfelben durch den wiederkehrenden Chriftus
hoffte, — wie er 1521 dachte, jene „Bewegung der Kräfte des
Himmels”, weldhe der Parufte vorangehe, möge fchon i. J. 1524
eintreten, nicht minder i. J. 1540, die Zahl der diefer Welt be-
jtimmten Jahre fei jeßt am Ende, — wie er auch fein Bedenken
trug, dergleichen in einer Predigt und Drudichrift auszusprechen,
während er freilih weit davon entfernt war, den eigenen Wer:
muthungen und Berechnungen Sicherheit beizulegen oder praktiſch
auf fie zu bauen: denn, fagte er, als fein Freund Stiefel den
jüngften Tag auf den 19. October 1533 angekündigt hatte, „jolcher
Glaube ift lauter Lügen, denn es ift fein Wort Gottes dabei“ ?).
Ich konnte, indem ich diefe Seite bei Quther immer und immer
wieder jo mächtig hervortreten ſah, nur ftaunen darüber, daß fie
bisher von den neueren Theologen jo wenig beadjtet worden war.
Jene Erwartung Luther aus d. J. 1540 ift ausgeſprochen
und begründet in feiner Schrift Supputatio annorum mundi,
welche 1540 abgefaßt und 1541 in erfter, 1545 in zweiter, theil-
weis veränderter Auflage erjchienen it. Ich habe von ihr in der
Biographie Bd. OD, ©. 577 ff. geredet und ermähnt, daß Quther
dort von einer alten, auch font verbreiteten Annahıne ausgehe,
wonach die Dauer der Welt ſechs Yahrtaufende hätte betragen
ſollen. Es bat wohl gefchichtlichen Werth, auf diefe, wie fie bei
unferen Reformatoren auftritt, näher einzugehen, und ich kann Hie-
bei zugleich eine Kleine handjchriftliche Reliquie Melanchthons mitteilen.
Jener Schrift ſchickt Luther die Worte voran:
„Elia propheta.
Sex millibus annorum stabit mundus.
Duobus millibus inane.
Duobus millibus lex.
Duobus millibus Messiah.
1) Bol. in meinem „Martin Luther” namentlih Bd. I, ©. 512; Bd. II,
©. 577 f. 326,
Ein Beitrag zur Eſchatologie der Reformatoren. 1
Isti sunt sex dies bebdomadae eorum Deo, septimus
dies sabbatum aeternum est. Psalm 90. Et 2Petr. 2.“
Statt Elia proph. fagt die 2. Auflage: „Dietum eorum
qui dicebantur de domo Eliae prophetae, Burgen. parte
prima, distinct. 3 Cap. 4 srutinii.“ Gemeint ift Paulus von
Burgos, den wir auch ſonſt bei Quther citirt finden, und feine
Schrift „„Serutinium Scripturarum in duos libros divisum “,
welhe Quther auch in feiner supputatio felbjt der Erwähnung
würdigt, indem er ihre Abfaffung etwa ind Jahr 1432 fest.
Ehendiefelben Eliasworte hatte ſchon vorher die Chronif
Carions, auf die auch Luther für feine gefhichtlihen Beftimmun-
gen fi berief, aufgenommen und ihnen gemäß jeine Weltgejchichte
in drei Perioden zerlegt. Die Chronik (vgl. darüber Corp. Re-
form., Vol. XIL., p. 707sqgq.) erfchien zuerft deutſch in Witten-
berg 1532, und zwar in einer Geftalt, welche Melanchthon dem
vom Mathematiker Carion beigebraditen Material nach defjen
Wunſch gegeben Hatte, wie fie denn von Luther geradezu ale
Chronicon Charionis Philippicum bezeichnet wird. So
wurde fie von Hermann Bonnus 1537 in’ Latein übertragen.
Mir fteht bloß diefe Lateintfche Ausgabe zu Gebot. Schon hier
aljo Haben wir die 3X2 Yahrtaujende, als dictum domus Eliae,
wobei ftatt „inane‘ daS deutende „sine lege“ fteht. An jenen
ctften Sag aber, wornach die Welt 6000 Jahre beſtehen fol,
ihfiegen fich nody die Worte an: et postea collabetur. ferner
folgt auf die Angabe der drei Perioden der Sag, daß, wenn bie
Jahre nicht voll fein werden, dies eine Folge unferer vielen und
zogen Simden fei.
Neu und viel weitläufiger hat Melanchthon die Chronik nach⸗
ber bearbeitet. Der erjte Theil, bis auf Augufts Regierungsan-
tritt reichend, erjchien 1558 (ein zweiter, bis auf Karl M., 1560,
das Weitere erft nach Melanchthons Tod durch Beucer).
Dort lautet unjere Weißagung (als „dietum quod recitatur
n Judaeorum commentaris “) aljo:
Traditio domus Eliae.
Sex millia annorum mundus, et deinde con-
flagratio.
128 Köflin
Duo millis inane.
Duo millia lex,
Duo millia dies Messiae. Et propter peccata
nostra, quae multa et magna sunt, deerunt
anni, qui deerunt.
Daran reihen wir das oben erwähnte Heine Schriftftüd an
Melanchthon an. In einer Wittenberger Bibel nämlih v. %.
1556, welche der Kirche zu Priklow bei Stettin gehört und
über welche Näheres in den „Baltiihen Studien” (herausgeg.
v. d. Geſellſch. f. pommer. Geſchichte und Altertumsfunde, Jahrg.
XX, Heft 2) berichtet wird, ift ein von Melanchthon befchrie-
benes Blatt eingelegt, von welchem Herr Baftor E. Wetzel mir
ein Facſimile gütigft mitgetheilt hat. Es bietet uns den hebräi⸗
ſchen Text dar, welcher jenen Worten des Chronikon zu Grunde
Tiegt.
’ Hier nämlich fteht (auf Einer Folio⸗Seite):
ION IT NN
dby vn a SIDE NM
an m
sin DIDbN NW
min DIDIN SW
nwaa Mo dopbdt SW
ae MPN
BD 1n39
NW
Darunter folgen als Vieberfegung ganz diejenigen Worte, welche
oben aus dem Chronilton v. J. 1558 wiedergegeben find. Ende
(ih die Unterſchrift: Scriptum Anno 1559 postquam Christus
ex virgine Maria natus est. Anno a mundi initio 5521.
Scriptum manu Philippi Melanthonis.
Die bebräifchen Buchſtaben find mit fehr kräftigen Zügen aus⸗
geführt. Doc) ift nach der unmotivirten Art, wie Melanchthon ein-
zelne Bocalzeichen angebracht hat, und nad dem Schreibfehler ba
für o= auf der 2. Zeile, auch (Zeile 1) san für nun oder an
und (Zeile 2) doy für woby nicht anzunehmen, daß er im Schreiben
biefer Sprache geübt war.
Ein Beitrag zur Eichatologie der Reformatoren. 129
Hier aljo find wir direct anf eine jüdifche Duelle hingewieſen,
ans welcher Melanchthon die Weißagung hatte. Sie ftammt, fo weit
wir fie zurüchverfolgen können, aus dem Talmud. Fabricius, wel⸗
Ger in feinem Codex Pseudepigraphus Vet. Test. (pag.
1079 qq.) von ihr handelt, führt zwei Stellen an, und ebendie-
jelben hatte Hr. Prof. Dr. Franz Delisfh mir zu bezeichnen die
Güte: Sanhedrin 97a und Aboda Sara 9a. Beide enthalten
gleichbedeutend bie von Melanchthon niedergefchriebenen und ſchon
in der erften Ausgabe des Chronikon benüßten Worte mit Aus«
nahme der zwei Worte sn m auf unferer britten Zeile, die
au der Burgensis bei Luther nicht hat. Wie es mit ihnen fi
verhält, erfehen wir aus dem meiteren Zufammenhang jener
Sauhedrinftelle, welche Delitzſch im Anhang feines Commentars
zum Hebräerbrief (S. 763) überfegt Hat und über deren Grund-
tert ich ihm noch weitere Erklärungen zu verdanken habe. “Dort
nämlich jteht furz vor der Klinsweißagung ein Wort des Rab
Retina: „Sechs Jahrtauſende befteht die Welt und in Einem
(Zahrtaufend) wird fie zerftöärt (oder öde) nah Jeſ. 2, 11*,
— bebräifh: aan m Gm bei Melandhthon ift nur andere
Lesart mit gleicher Bedeutung). Wehnlich Heißt es in der Aus-
führung des Midraſch Elijahu Rabba Eap. 31 (nad Delitzſch):
das fiebente Jahrtauſend fei das, in welchem die gegenwärtige
Beltgeftalt abgethan werben und ein Tag, der ganz Sabbath fei,
eintreten werde. Jenes Wort alfo ift im Chronikon und bei Me-
lanchthon mit der Eliasweißagung verbunden und er hat ohne Zwei⸗
jel die Verbindung ſchon in jüdifchen Schriften vorgefunden. Die
gleichen Ausſprüche wurden Längft zuvor, wie ja auch der Elias⸗
ſpruch beim. Burgenfis, geradezu von Chriften benützt. So hat
(vgl. Fabricius a. a. D.) der getaufte Jude Joſua von Lorka oder
Hieronymus a Sancta Fide in Spanien auf einer Disputation mit
Nabbinen, 1413 (Herzogs Real⸗Enc., Bd. 17, ©. 353) die
Eliasweiſung beigezogen und zugleich erklärt, nach ihr werde die
Belt im fiebenten Jahrtauſend zerftört werden.
Betrachten wir den Inhalt der Stelle bei Melanchthon, jo ift
die Ueberſchrift richtig überſetzt; ) = mı2 fteht für Schule. Unter
dem Elias war nah dem Sinn bes Talmud fer der große
Test. Gtub. Dahra. 1878.
130 Köflin
Thisbite zu verftehen und nicht etwa, wie mittelalterliche Juden
(ogl. bei Fabricius) vorgaben, ein Elias aus dem 3. oder 4. vor⸗
hriftlichen Fahrhundert, der wohl gar nur wegen des Gewichtes,
welches hriftliche Polemik auf die Weißagung legten, von jenen er»
funden worden if. An den Thisbiten haben auch unfere Refor-
matoren bei ihr gedacht. Ob fie wirklich von ihm herrühre, laſſen
fie dahingeftellt. Sie fcheinen es wenigitens nicht für unmöglich
gehalten zu haben. Jedenfalls erfchien fie dem Melanchthon fehr
bedeutfam; ja er fagt geradezu: „Hoc modo Elias vaticinatus
est“ (Corp. Ref. I. c., p. 717). „Sechstaufend Fahre“ alfo
„befteht die Welt“ (soby): fo analog ihrer Schöpfung in ſechs
Tagen und demgemäß, daß 1000 Jahre vor Gott wie Ein Tag
find, — und fo auch ſchon nad der chriſtlichen Vorftellung des
Barnabasbriefes (Kap. 15).
Wefentlich aber weicht nun Melandthon und die Erwartung
der Reformatoren überhaupt von dem ab, was, wie wir oben
fahen, die Worte am rn befagen wollten. Sie bezogen fich auf
jenen den ſechs Welttagen folgenden und gleichfall® 1000 Jahre
ansfüllenden Sabbathtag, an welchem bie irdifche Welt gleihfam
zum Brachliegen gebracht fein joll wie die Weder im Sabathjahr ;
dabei ift ihnen im Unterjchied von andern jübifchen Ausfprüchen
das eigentlimlich, daß fie diefen Zuftand nur nad) feiner negativen
Seite bezeichnen. Melanchthon Hingegen kennt keine foldye Periode,
fonbern nur einfach einen auf die ſechs Jahrtauſende folgenden
Act des MWeltunterganges (vgl. ſchon in der 1. Ausgabe bes
Chronikon) und zwar, wie er dann beftimmter noch es ausdrückt,
der Weltverbrennung; über das ım („und in Einem“) hat er mit
der ganz ungenanen Webertragung „et deinde“ ſich weggefeßt.
Richt minder ijt hiemit die chriſtlich chiliaſtiſche Vorftellung von
demjenigen 1000jährigen Reiche Ehrifti, das wir nad) der johannei⸗
ſchen Apokalypſe vor der legten Vollendung noch zu erwarten
hätten, oder von dem fünftigen Sabbathjahrtaufend der Herrichaft
Chriſti, von dem der Barnabasbrief redet, zurückgewieſen. Ebenſo
bet Luther, indem er an der oben angeführten Stelle auf bie ſechs
Welttage einen Sabbath folgen läßt, aber nicht ‚mehr eine einzelne
Periode, fondern „Sabbatum aeternum“, d. 5. eben die Teste
Sin Beitrag zur Eſchatologie der Reformatoren. 181
Vollendung, zu welcher bet Act des Unterganges ber gegentürtigen
Belt Hinäberführen fol. Auf Luthers Anmendung des Apokalyſe
Immmen wir nachher.
Es folgen im Eliasworte die Säke von ben drei Welt«
perioben.
Was die Juden mit dem Thohu der erften Periode gemeint
haben, ift one Zweifel mit dem „sine lege“ der erften Ausgabe
v6 Chronikon richtig gedeutet, während Melanchthon fpäter, in
feiner Umarbeitung desſelben, die Beziehung darauf, daß die ent-
feruteren Theile der Erde noch unbewohnt gewefen feien, meinte
vorziehen zus müfjen (Corp. Ref. 1. c.).
Hinſichtlich der zweiten Periode bHerrfcht allgemeine Ueberein⸗
ſtimmung darüber, daß fie mit dem abrahamiſchen Bunde und der
Einfegung der Beſchneidung beginne. Aus ben Bahlenangaben des
Alten Teſtaments nach dem hebräiſchen Text ift zu berechnen, daß
Abraham i. J. 1948 der Welt geboren und 2023 (Gen. 12)
berufett worden jel, während bie Sintflut ins Jahr 1656 fällt
(gl. Herzogs Neal-Enc., Bb. 18, S. 425. 431ff.): fo nad)
der rabbinifchen Zählung, nach dem Chronikon und nad) Luthers
Supputatio.
Bei ben Mefflastagen, welche den dritten Zeitraum bilden,
dachten die Juden natürlich ar das Meffiasreich in derjenigen Ge⸗
alt, mit derjenigen äußeren Herrſchaft und Herrlichkeit, mit der
fie auch fonft immer es fi) vorzuftellen pflegten: dieſem aljo wird
regt die Tängfte Zeitdauer gegeben, die es unjeres Wiſſens über-
haupt in jüdischen Weisfagungen oder Erwartungen erhalten bat,
während belanntlih darüber, von verfchiedenen Borausfegungen
ansgehend, verfchiedene Maße im Umlauf waren (in der Esra⸗
Apolalyſe find es nur 400 Jahre). Für die Ehriften und Re⸗
formatoren ift die Periode die des gegenwärtigen Chriftentums
ser, wie die Heformatoren es ausdrückten, bes geiftlichen Reiches
Chriſti anf Erden.
Da ftimmten denn fir den Beginn dieſer Meffiasperiode die
altteftamentlichen Zeitangaben recht gut. Denn fehr leicht Laßt fich
aus ihaen für die Zeit von Abraham bie Chriftus die Zeit von
2000 Fahren gewinnen. Nad) der, erftien Bearbeitung des Ehro-
9%
132 Köflin
niton ift Jeſus im Jahre der Welt 3944 geboren, wozu dasſelbe
bemerft, Gott habe die Jahresſumme der zweiten Periode um der
Sünden willen ein wenig verfürzt, wie dies nod viel mehr bei
denen der dritten gejchehen werde. Die zweite Bearbeitung fett
dafür erſt das Jahr 3963 und findet dazu Teine erflärende Be⸗
merlung mehr nöthig. Nach Luthers Supputatio ift Ehriftus 3960
geboren, 3993 geftorben. Dazu fügt Quther in eigentümlicher Weife
die Wochenrechnung Daniele (Dan. 9, 25—27): die 7462 = 69
Wochen, nad deren Ablauf Chriftus getödtet fein follte, feien vers
ftrichen zwifchen dem — an Haggai und Sacharja im Jahre 3510
ergangenen — Gottesbefehl (Dan. 9, 25) und dem Jahre 3993,
in 69X 7 — 483 Yahren; hiezu fomme die eine Woche (Dan. 9, 27)
in den 7 Jahren bis 4000, womit dann aljo das 5. Yahrtaufend
beginne; und wie nach Daniel „mitten in der Woche das Opfer
aufhören wird“, jo falle mitten in diefe letzte Jahreswoche des
4. Jahrtauſends und hiemit an den Abfchluß der Gefegesperiode
das Apoftelconcil (Ap.⸗Geſch. 15), auf welchen die Freiheit vom
Geſetz angelündigt worden fei. — Eben die Leichtigkeit, mit welcher
bie Zeit der Menſchwerdung Chrifti mit jener Elinsweißagung fich
vereinigen ließ, erklärt uns genügend die Geneigtheit der Chriſten,
von berfelben Gebrauch zu machen.
Wie hat aber wol den Juden diefer Theil der Weißagung in feinem
Verhältnis zum wirklichen Berlauf der Gefchichte ſich dargeftellt ?
Sicher ftammt die Weißagung aus einer Zeit, wo nad) damaliger
jüdifcher Zeitrehnung noch nicht über 2000 Jahre feit Abraham
abgelaufen waren, man vielmehr noch auf ein Kommen des Meifias
beim Webergang in’® 5. Weltjahrtaufend hoffen konnte und keiner
ertlärenden Beifäte dafür, daß die geweißagten Zahlen nicht zutrafen,
bedurfte. Nun wird in der rabbinifchen, noch jebt bei den Inden
herrſchenden Zeitrechnung der Zwiſchenraum zwifchen der Sintflut
oder Abraham und zwiſchen dem Jahr, in welchem wir Jeſus
geboren fein lafjen, um ein Beträchtliches kürzer als in jener chriſt⸗
lichen Berechnung angefeßt: das 1. Jahr unferer Aera wird zum
3761. Jahre der Welt. Das 4. Weltjahrtaufend oder die Periode
des Geſetzes wäre hienach erft etwa im Jahre 240 unferer Aera
abgelaufen geweſen. Eine jüdifche Berechnung, welche jenen Zwifchen-
Ein Beitrag zur Eſchatologie der Reformatoren. 133
raum noch mehr verkürzt hätte, ift uns nicht bekannt; früher (vgl.
bei Joſephus) scheinen ihn vielmehr auch die Juden für länger
gusmmen zu haben. Demnad können wir auch mit Beſtimmtheit
anehmen, daß die Klinsweißagung mindeftens vor dem zuletzt ges
nannten Jahr eniftanden und zu Anfehen gelommen war. Was
aber ſollte man denn nachher zu ihr fagen, als der Lauf des 5.
Weltjahrtauſends fort und fort vergebens auf den Anbruch der
Meifiastage warten Tieß und man auch mit feiner verfürzenden
Berehnung der verfloffenen Zeitläufe mehr ſich helfen Tonnte ?
Hiemit fommen wir auf den Beifaß, den jene wirklich erhalten
hat in den Worten 1Jmnnyd u. f. w. Sie find, wie wir fahen,
Ihon in der Sanhedrinftelle mit jener verbunden.
Der Sinn, weldyen die Worte bei den Juden haben, und der,
melden Melanchthon in fie legt, find einander geradezu entgegen-
geſetzt. 13? ift das Berfectum, während Melanchthon es für's
duturum nimmt. Während aber hHiebei immer noch bie gleiche
Deutung möglich blieb, wollten nun die Worte urſprünglich befagen:
um der vielen Sünden des Volkes willen jei ausgefallen oder ab»
gelaufen von dem für den Meſfias beftimmten Zeitraume, mas ab»
gelaufen fei, ohne daß er wirklich erfihienen wäre. So beriefen
ih denn Hierauf 3. B. die Rabbinen in jener Disputation mit
Hieronymus a Sancta Fide ; fie zogen die Worte noch zur Weißagung
jelbft, während Hieronymus gewiß mit Recht erwiederte, dag dies
jelben erft eine Ausflucht fpäterer Zeit ſeien !).
Mit den ausgefalfenen Jahren find Hier alfo folche gemeint,
weihe zum Beginne der Mefjtasperiode gehören follten, während
diefe jegt um fo viel fich verfpätet. Dagegen ift diefe nad) Mes
lanchthon ganz zur rechten Zeit, ja faft fchon zu früh eingetreten,
aber fie jolf verkürzt werden in ihrem Abſchluß. Weil die Gott-
Infigfeit zunimmt, bricht der Weltuntergang und das jüngfte Gericht
ſchon weit früher herein. In beiden Bearbeitungen des Chronikon
1) Wie chriftliche Polemiler den Juden mit jener Weißagung zuſetzten, bat
neuerdings au A. Kuenen in einer Abhandlung über den maforethifchen
Text beſprochen — nad einem Referat von Delitfch im Literarifchen
Gentrafblatt 1875, Nr. 84.
134 Köſtlin
beruft er fih dafür auch auf das Wort Ehrifti, daB die Tage
werben verkürzt werden um der Auserwählten willen (Matt. 24,23).
In der zweiten Bearbeitung tft, wie wie bemerkten, das Chroniken
von Melanchthon nicht bis auf die neueren Zeiten fortgeführt
worden. In der erften fchließt es ab mit der Ausficht: das Ende
der Dinge fei, wie man aus Elias Wort fehe, nicht mehr fern;
das deutfch-römifche Reich, die letzte Weltmonarchte, werde wel ſchon
nach Kaifer Karla Tod zerriffen werden, aud das türkifche Reich
nicht mehr lange beftchen u. f. w.; es fei Tein Zweifel daran, daß
die ganze Weltzeit fchon beinahe abgelaufen jei.
Luther Hat bei feinem Citat aus Paul von Burgos nichts von
jenem Beifat. Uber die Verkürzung der gegenwärtigen Weltperiobe
weiß er in feiner Supputatio auf andere, ganz eigentümliche Weiſe
zu begründen und beftimmter zu bemeſſen. Er kommt darauf am
Schluß feiner hronologifchen Tabellen. Aus den vorangegangenen
Beitimmungen über die chriftliche Periode Haben wir noch her⸗
vorzubeben, daß er zum Jahr 1000 nad) Ehrifti Geburt anmerft:
„Finito isto millenario solvitur nunc Satan et fit episcopus
Romanus Antichristus etiam vi gladii, Apoc. 20.“ Schon
unter Raifer Maximilian find dann ihm zu Folge große Zeichen am
Himmel, auf Erden und im Waſſer erjchienen, wie fie nad) Ebhrifti
Wort feiner Zuhmft vorangehen follen (auch den Ausbruch des
„novus morbus Gallicus, alias Hispanicus‘“ redjuet er dazu):
„quae spem certam faciunt diem illum beatum instare brevi“.
Am Scluffe alfo erflärt er: da8 6. Jahrtauſend werde ebenfo nicht
voll werden, mie die Dreizahl der Zage, welche für Chriſti Tod
beftimmt geweſen ſei. Er rechnet dann biefe drei Tage künſtlich
vom Abend des Donnerstags bis zum Sonntag und foment fo
biufichtlich des dritten Tages, der ihm mit dem Abend des Sabbathe
beginnt, zu dem Refultate: indem Jeſus fchon in der erften Frühe
des Sonntags auferjtanden fei, fei er ſchou in der Mitte jenes
dritten Tages auferftanden !). So, fagt Luther, fei gerade jett des
6. Yahrtaufends Mitte da: das Jahr 1540, in welchem er fchreibe,
1) In meinem „Luther“ (Bd. IL ©. 577), iſt dies nicht ganz geuan wieder⸗
gegeben.
Ein’ Beitrag zur Eſchatologie der Reformatoren. 135
ji gerade das Jahr 5500 ber Welt. Ganz unmittelbar alfo
hätte damals der jüngfte Tag vor der Thüre ftehen müffen. Luther
hat diefe Erflärung und Berechnung aud in der 2. Ausgabe feines
Buches , worin er fonft einzelnes änderte, wiederholt. Sie zeigt
gerade in ihrer Künftlichkeit, wie jehr ihm an jener Nähe bes Tages
gelegen war.
Diefe Mittheilungen werden genügen, um. bie ihnen vorange⸗
Midte Bemerkung über das Intereſſe unferer Reformatoren für
die Efchatologie zu rechtfertigen. Gewiß aber gibt es auch für
die echt enangelifche Befonnenheit, mit der fle die Heilslehre dar⸗
geſtellt und praktiſch gewirkt haben, kaum einen ftärferen Beweis
als den Umftand, dag all biefes ihr Sehnen und all ihr Berechnen
doh dort nirgends einen ftörenden Einfluß geübt, nirgends eine
Spur von Schwärmerei und Phantafterei hinterlaffen Hat.
2.
Anslegung der Stelle Eph. 2, 19—22.
Bon
Lic. Dr. Xlexzander Kolbe,
Vrofeffor und Oberlehrer am Lönigl. Marienſtifts⸗Gynmafium zu Stettin.
Mag aud die wifjenfchaftliche Forſchung in Betreff des Briefes
in die Ephefer keineswegs in dem Grade ohme rechtes Ergebnis
geblieben fein, wie es Dr. Holgmann in feiner trog aller Auf-
bietung kritiſchen Scharffinnes allzu fubjectiven !) „Kritik der Ephefer-
1) Wenn der Herr Berfafler 3. B. S. 303 von einer „vorzugsweiſe ſchrift⸗
fellerifhen Wirkſamkeit“ des Paulus fpricht, fo entfernt er fich in
moderner Anſchanung durchaus von dem Boden der Weberlieferung, um
geiftreiche Hypotheſen anzufpinnen, deren Verhältnis zur Wirklichkeit eine
unbefangene Prüfung ſchwerlich aushalten wird.
136 Kolbe
und Kolofferbriefe* (Leipzig, Engelmann, 1872) vermeint, zu der
die eingehende Beſprechung diefes Buches von Dr. B. Weiß in den
Sahrbüchern für deutfche Theologie XVII, S. 748—759 ein höchſt
wohlthätiges Gegengewicht bildet: jo muß doch gerade der Verfaſſer
diefer Zeilen, der dem zuerft genannten Briefe feit Jahren 1) be»
fondere Aufmerkfamfeit gewidmet hat, unummunden zugeben, aller=
dings herriche in den gangbaren, zum Theil recht anerfennenswerthen
Schriften über diefe Epiftel noch nicht die Sicherheit und Klarheit,
welche durchaus erwünſcht und wol auch erreichbar if. Zur Be⸗
gründung diefer Behauptung und womöglid zur Anbahnung ge»
ſunden Fortſchritts erlaubt fich derfelbe im Folgenden die vielbe»
jprochene Stelle II, 19—22 einer erneueten Betradhtung zu unter⸗
werfen.
Wir erinnern und hiebei des Gedanlenganges in dem vorher⸗
gehenden Theile des Sendſchreibens. Nah der Grußüberfchrift
beginnt fofort ein Lobpreis Gottes, welcher den Gnadenſtand der
Ehriften unbedingt auf Gottes machtvollen, In Ehrifto vermittelten
Rath zurückeitet (1, 3—14), woran fich die Fürbitte für die Leſer
knüpft, Gott möge ihnen die Fähigkeit verleihen, die Erfenntnis
der Größe feiner Macht aus ihren Wirkungen an Ehriftus zu
ermeſſen (1, 15—23). Dem gegenüber wird in der Entwidlung
von der Rettung der in Zod verfunfenen Sünder zum Leben in
EHrifto, deffen Gnade der einzige Grund ihres Heifes fei (2, 1—10),
alles auf Gottes überſchwengliche Machterweifung an den Egriften
bezogen, um bieran (2, 11—18) eine Mahnung an bie beiden-
chriſtlichen Leſer zu fchliegen, fie mögen wohl beachten, welche hoch⸗
erfreuliche, durchgreifende Veränderung ihres früheren Zuftandes
fie der Gnade Gottes in Christo verdanken, eine Veränderung,
deren nunmehr vorhandenes Ergebnis wir 2, 19—22 gezeichnet
jehen.
„So feidb ihr denn niht mehr Fremde und Bei-
fafjen, fondern feid Mitbürger der Heiligen und
1) Vgl. namentlich deſſen theologifchen Kommentar zu Epheſer I im Bro-
gramm des Stettiner Gymnaſiums 1869, eine Probe eine® noch nicht
abgejchloffenen Kommentars über die ganze Epiftel,
Anslegung der Stelle Eph. 2, 19-22. 137
Hausgenoffen Gottes (20), auferbauet auf dem Grunde
der Apoftel und Propheten, da Edftein Ehriftus (Jeſuse
ſelbſt)) ift (21), in dem ein ganzes Bauwerk fi zu—
femmenfügend wächſt zu einem Tempel heilig im Herrn
(22), in bem auch ihr miterbanet werbet zu einer Be-
baufung Gottes im Geifte.“
Unfer von den biöherigen Erklärern abweichendes Verſtändnis
ft in dieſer Ueberfegung natürlich nur Teicht angebeutet und bes
darf daher einer eingehenderen Erörterung, welche, wie dem Kenner
zicht entgehen Tann, vor allem die Möglichkeit einer angemefjenen
Erflärung ber durch die Weberlieferung fo wohl geſchätzten Lesart
zaca olxodonun ohne Artikel zum Gegenftande haben und fomit
anf fprachliche Auseinanderfegungen eingehen muß, wie fie, in
tgeologifchen Büchern zumal, nicht immer mit winfchens-
werther Grundlichkeit und zugleich mit der unentbehrlichen Leichtig-
keit der Auffaffung vorkommen. Verſuchen wir es, dem gegen»
wärtigen Stande der Sprachwiffenfchaft zu genügen. Doch führen
wir diefe Unterfuhung nicht für fi, fondern ftellen fie nad) ber
von uns vertretenen ?) Methode der Exegefe mitten in den Fluß
der Reproduction der ganzen Stelle.
Wie B. 12 das Bild des Staatsweſens dem Apoſtel dazu
diente, den früheren Vorzug des heilßgefchichtlichen Volkes vor
feinen Lefern als Vertretern der heidnifchen Völkerwelt auszudrüden,
fo gebraucht er auch Hier das nämliche Bild, um die nun einge
tretene Gleichheit ihrer Stellung anſchaulich zu machen; zuvörderſt
im negativem Ausdruck, indem er die Heiden, die er oben als
annAlorpgıwusvos ıng nolsseias Tod Iogami?) xas
!iyoı cov dadnx@v vis Ernayysilas bezeichnete, jet zuruft:
ouxssı dor Esvos zal nragosxos. Vergangen ift der
bisherige Zuftand, in dem fie ohne Antheil an dem Bürgerrechte
des Gottesreiches waren, fo daß man fie angefiebelten Schutzge⸗
1) zou Xgsorod ohne aörou ımd ohne ’Inoou die Lesart des Sinaiticue.
2) Bol. Kolbe: Qua fere via atque ratione interpretatio
Novi Testamenti instituenda. . . Programm bes Stettiner
Gynmaſtums 1872,
188 Kolbe
nofjen (agosxos) oder gar außerhalb des Staates lebenden
Fremden (Esros) vergleichen durfte. „Vielmehr“, fährt nun das
pofitive Glied fort „habt ihr jetzt eine neue Eriftenz (wir
bedienen ums diefer Umfehreibung, um die durch überwiegende Be⸗
glaubigung geficherte Lesart nach ihrer rhetorifchen Bedeutung zur
Geltung zu bringen: die repetitio des dass ift nicht umfonft)
als vollberechtigte Mitbürger der Heiligen“, d. 5. derer, die
zum Gottesreiche gehören, wie ja diefe Bedeutung von- &ysog, fo
daß od &yıos (vgl. 3. DB. Eph. 1, Anfg.) in Briefeingängen = 7
exxAnola ftehen kann, ohne Rüdfiht auf daB jittlide Verhalten
der einzelnen, vollfommen feitfteht, was um fo natürlicher ift, wenn
&ysos als Ueberfegung des hebräifhen wrrp Eingang fand, biefes
aber die Grundbedeutung nicht der Reinheit hat, wie nah) Dehler
(auch Theologie des Alten Teftaments I. 1873, ©. 160) nod
Cremer (Biblifchetheologifches Wörterbuch der neuteftamentlichen Grä⸗
cität, 2. Aufl. 1872, S. 40) behauptet ?), fondern der „Geſchieden⸗
heit“ (daher Gegenfag von 5m, nicht von pp ift, dem Amy gegen-
überfteht Levit. 10, 10 2)), wie wir mit Fleiſcher bei Delitzſch,
Commentar zu dem Pjalter, gr. Ausg. I, S. 588f. Anm., auf
Grund arabifher Erklärung, mit Delitzſch zu Se. 1, 4
(2. Aufl.) und Bold, Segen Mofes, S. 35 behaupten (von
der Wurzel 1p). ovetp find demgemäß im Alten Bunde nicht etwa
nur Engel, fondern die Ysraeliten als Volt (vgl. Dan. 8, 24);
im Neuen Teftament, der gegenwärtigen Offenbarungsftufe gemäß,
1) So unter andern auch Keil zn Exod. 19, 6. — Delitzſch' frübere
(Jeſurun, S. 155) Verbindung mit fr. dhüsch = glänzen leidet
an dem fehler übereilter Bergleihung indogermanifcher und femitifcher
Wurzeln, da eine genaue Beſtimmung einer etwaigen Berwanbtichaft
beider betreffenden Sprachſtämme nicht gefunden tft. Auch R. v. Rau-
mers neue Hypotheſe ift nicht ducchgedrungen. Dieftels Beziehung
(f. deffen Abhandlung über „die Heiligkeit Gottes“, Jahrbücher für deutiche
Theologie IV, ©. 3ff.) auf WIN, das nen erglänzende Mondlicht, hat
ebenfall® nur den Werth einer Lünftlichen Hypotheſe. v. Zezſchwitz
(„PBrofangräcität und biblifcher Sprachgeift” [Leipzig, Hinrichs 1859], S. 16)
wagt feine Entjcheidung.
2) Das erite Paar Begriffe weiteren Unfanges, Bgl. Keil z. d. St.
Auslegung der Stelle Eph. 2, 19—22. 189
wo ds’ auUE0U Exousy nv nO0Sayayıjv ol dumyossgos Ev &vi
nvsvpası 77005 s09 nrarsoa (Gph. 2, 18), d’ysos die Ehriften,
jedech, fofern es hier gilt bemerklich zu machen, wie die Heiden»
Sriften andern Chriften völlig gleichgeflommen find, an unferer
Stelle infonberheit die Judench riſten. Der Grund, befler noch
die innere Seite dieſes neuen Zuftandes der Heidenchriften iſt ihr
nenes Verhältnis zu dem wahren (Tod Isod) Gotte, in defien
Haufe fie als Hansgenefien, felbftverftänblich nicht ala Knechte,
jondern als Kinder des Haufes (win 72 92) daftehen. Das
der gegenwärtige Zuftand der Lejer, welcher fich auf eine gefchicht-
Ihe Thatfache ber Vergangenheit (Errossodoundsrrss, Bart. Aor.)
gründet, daß fie nämlich (B. 20) auferbauet wurden (nach diefer
Seite Hin wandelt fi jet in der mit orientalifcher Beweglichkeit
geftaltenden Anſchaunng des Verfafers das Bild vom Haufe) auf
dem ?) Fundamente der Apoftel und Propheten, in dem Chriftus
Eckſtein if. Wol nemt anderswo derjelbe Paulus den Herrn
den einzigen Srundftein, der gelegt werben könne (1 Kor. 3, 11).
Aber follte wirklich diefe Bezeichnung es ausschließen ?), daß bier,
bei fo ganz andersartiger Ausführung des Gefamtbildes, auch der
Ansdruck Hepsksos eine andere Beziehung erhält? Auf die Gleich»
beit des Ausdruckes Tann e8 unmöglich ankommen; bleibt doch die
Einzigartigkeit der Stellung Chrifti in feinem Neiche durchaus ger
wehrt. Erreicht wird dies in jchönfter Weife durch das hier wie
Apg. 4, 11 (vgl. 1Petr. 2, Bf.) geſetzte axpoywurıatov. Wir
erfennen demnach in den „Apofteln und Propheten“ die Grundfteine
des Haufes Gottes, der Kirche Chrifti. Aber darf man denn bloße
Menfchen als ſolche Grundfteine bezeichnen? fo hören wir fragen.
1) al® auf welchen fie ruhen, daher Ent c. dat.
2) Gegen Meyers hierauf bezilgliches Bedenken wenden wir feine eigenen
Worte zu Eph. 6, 14—17 (S. 306, Aufl. 4): „Die bildliche Betrach⸗
tungsweife kann am wenigfien bei einem fo vielleitigen, veichen und
lebhaften Beifte wie Baulus fo ftereotyp fein, daß fi ihm das Nämliche
auch gerade ein anderes Mal unter dieſem felbigen Bilde hätte darftellen
müffen. So ericheint ihm 3. B. als Gott wohlgefälliges Opfer einmal
Chriſtus (Eph. 5,2), ein anderes Mal eınpfangene Liebesgaben (Phil. 4, 18),
ein anderes Mal der Ehriften Leiber (Röm. 12, 1).“
149 Kolbe
Welch’ übertrieben ängftlide Scheu vor Mienfchenverherrlihung !
Oder will man auch Matth. 5, 14 antaften, wo der Herr feine
Jünger (vgl. 5, 1. 2, nit einmal bloß die Apoftel) als das
Licht der Welt bezeichnet, welches Prädicat doch fo oft (ſ. Joh.
1, 9. 8, 12. 9, 5. 12, 35) von ihm felbft vorlommt?! Und
heißt nicht umgefehrt Jeſus felbft Hebr. 7, 1 amooroloc? Yeden-
falls Haben alle jene Erflärer, welche bis auf Braune (in Lange’ 8
Bibelwerk, Neues Teftament IX. 2. Aufl. 1875) den von ben
Apofteln gelegten Grund, das Zeugnis von Chriſto, verftehen, den
ganzen Zufammenhang der Stelle gegen fi. ft hier der Heiland
Edftein, das Ganze der Kirche ein Baumerf, find ferner die einzelnen
Chriften wie 1 Betr. 2, 5 als Tebendige Baufteine gedacht; fo kann
doch nur abergläubifches Vorurtheil die Gleichmäßigkeit des Bildes
jo zerftören, daß es ein unperſönliches Fundament zuläffig findet.
Ueberdies ftügen gewichtige Analogien unfere Anfiht. Vergeſſen
wir zunächſt nicht, daß nach Apok. 21, 14 die Grunbdfteine der
Dauer des neuen Jeruſalem die Namen ber 12 Apoftel des
Lammes tragen, welches felbft als Tempel der Stadt (V. 22) und
als ihre Leuchte (V. 23) gefchauet wird. Vor allem aber er»
innern wir und des Wortes des Heren Jeſu, womit er den Petrus
den Felſen nannte, auf den er feine Gemeinde erbauen werde
(Matth. 16, 18), eines Wortes, das gar wohl (wenn auch natür-
lich nicht als Beftandtheil des eriten Evangeliums, fondern als ein
Stüd der mündlichen Weberlieferung, aus der auch Apg. 20, 35
Paulus ein Wort Jeſu anführt) beim Niederfchreiben unferer Stelle
dem Berfaffer vorfchmeben konnte, wie Thierſch (Vorleſungen
über Katholicismus und Proteftantismus, 1. Aufl. J. S. 118) _
urtheilt. Oder jollten wir hier weniger unpartetifch al® 3.8. Meyer
auslegen, der. unbedenklich den jpäter auch in der That behaupteten
Primat des Petrus?!) an diefem Orte anerkennt? Denn, baß
errd Tavın ın ro unmittelbar auf ZZeroos zurüdweift, kann
nur dogmatifche Befangenheit in Abrede ftellen. Will man aber,
um etwa sro allgemeiner zu fafjen („die Belenntnistreue“),
den Wechfel der Formen IZeroos und rıerox betonen, wie Wie-
1) Nicht etwa des Biſchofs von Rom.
Auslegung der Stelle Eph. 2, 19—22. 141
feler (Chronologie des apoftolifchen Zeitalters, S. 585) oder
Sange (3. d. St.), fo Hberficht man, daB ja der Herr aramäiſch
geiprochen hat und in bdiefer dem Griechifchen an Reichtum und
Beweglichkeit weit nachjtehenden Sprache beidemale ya = = np}
ſagte, wie auch die Peſchito beidemale a bietet, wo dann die
Kraft des Eigennamens neben der Bezeichnung der in Petri Per-
jon conceret vorhandenen Teljennatur weniger fcharf hervortrat.
„Aber wie Betrus nicht feinen Glauben im Unterjchiede von dem
der andern ausgeſprochen, fondern nur die an die Zwölf gerichtete
Frage in ihrem Sinne beantwortet hat; fo meint ihn aud des
dern Berheißung nicht mit Ausfchluß der andern oder im Gegen»
jage zu ihnen, fondern fpricht ihm nur ſonderlich zu, was der
Fwölfe Beftimmung überhaupt iſt. ... Aber allerdings wird es fi
ihm fonderlich verwirklichen, glei wie es ihm fonderlich zuge»
Iprochen ift“ (v. Hofmann, Scriftbew., 2. Aufl. I, 2. ©. 270).
Mit diefem Verftändnis der Stelle Matth. 16, 18, wie es treffend
ſchen Bengel im Gnomon dargelegt hat, und mit dem Blick auf
die vorher angezogene Stelle Apof. 21, 14 treten wir von neuem
an Eph. 2, 20 heran und können nunmehr in Feiner Weife ein
Bedenlen darüber hegen, hier die Bedeutſamkeit der Männer, durch
deren Glauben und Dienft in ewig grundleglicher Weife die irdifche
Stätte der wahren Gotteögemeinjchaft bereitet ift, auf denen in
der That die Kirche beruht, in dem Bilde des Fundamentes aus»
gedrückt zu ſehen. Doc, fragt es fich weiter, paßt dies auch auf
Propheten? Sicherlich, wenn letztere den Apofteln jo nahe ftehen,
daß fie durch die Unterftellung unter Einen Artikel (Tor anovzro-
lay za noogmsov) als der nämlichen Kategorie angehörig ?)
eriheinen. Freilich dürfen wir die no von Harleß und Hof-
mann vertretene Meinung nicht anerkennen, neoynrov fei hier
(und 3, 5) nur eine zweite Benennung der Apoftel felbft: in dem
Zerte iſt diefelbe durch nichts veranlaßt und läuft überdies der
Eph. A, 11 folgenden klaren Scheidung von aroorolos und
npoynzar, mit der 1Ror. 12, 28 im Einklang fteht, gänzlich
zuwider. Diefe Parallelen beweifen weiter, daß wir auch nicht
1) Bgl. ol orgarnyoi zei Aoyayol, Xen. Anab. II, 2, 5.
142 Kolbe
etwa an bie Propheten des Alten Bundes denken follen, wie nach
vielen Vorgängern noch Ewald (Sieben Sendfchreiben des Neuen
Bundes, 1870) ©. 184, unter eiteler Berweifung auf die V. 12
erwähnten meffianifchen Verheißungen für erforderlich erachtet. Mit
naturgemäßer Rüdfiht auf die Zeitfolge hätte Paulus wol jene
Propheten voranzgeftellt. Aber, da es fich um ben Nenen Bund
handelt, möchte es fchwerlich nahe liegen ihrer hier zu gedenken.
immerhin wollen wir einräumen, diefen beiben Gründen komme kein
entfcheidendes Gewicht Hinzu: müſſen aber nicht die vorher
erwähnten analogen Stellen an Männer wie Barnabas erinnern,
welche mit einer der apoftolifchen Würde verwandten Autorität und
in ähnlicher Thätigkeit an der Gründung der Kirche arbeiteten? Man
vergegenwärtige fich nıır einmal, wie anerfennend die von einem Pau-
liner berrührende Apoftelgefchichte von der hervorragenden Thätigfeit
des Barnabas neben der des Paulus, ja vor berfelden zu erzählen
weiß; fie fteht fogar nicht an 16, 4. 14 von beiden Männern gerabe-
zu ben Ausdrud os anoovodos anzuwenden. Es war nicht eine
Zeit modernen „Amtsbemußtjeins” und juriftiichen Verfaſſungsbaues,
fondern des Glaubens und bes Geiftes. Hütten aber trogbem
in Folge der fo ftarfen Betonung des apoftoliichen Anſehens die
Lefer dazu neigen mögen, menfchliche Individualität zu überſchätzen
und die Beziehung auf den Einen Meifter zurücktreten zu Taffen,
wie bergleichen ja in dem von Eitelleit und Parteifucht erregten
und zerriffenen Korinth wirklich der Fall geweſen ift: nun fo folgte
bier gleichfam eine Warnungstafel övros daxpoyamınlov [adrov]
tod Xgsorod [’Inoov]. Die Kraft der Warnung hat man bereits
in der Voranftellung von övros gefucht, jo Bengel: Partici-
pium övrogs initio commatis huius valde demon-
strat in praesenti tempore, was Braune beifällig
wiederholt. Ya Stier madt in feiner wortreichen Art daraus:
verfteht ſich, Chriftus ift ein und alles; ift und bleibt. Aber wie oft
ftehen bei Elaffilern und im Neuen Teftamente Formen gerade von
elvas an der Spite, ohne daß irgendwie ein Nachdruck barin ges
furcht werden dürfte!) Man denke nur an vois ovasw in ben .
1) Bol. auch Meyer, Commentar zu dem Briefe an die Ephefer, ©. 7
Auslegung der Stelle Eph. 2, 19—22. 145
Irugüberfchriften, 3. B. Röm. 1, 7, wo wir ftatt vers ovow
à Poun ayarıızois Isoö cher vois dv Pıdun ovoıw ayanınzois
eos ader sols Ev Pam dyanızsois Isod ovaıw erwarten möchten.
Der welchen Nachbrud hätte 69 Joh. 1, 18: 0 wv eis Toy
z0inev roũ Tsarpos oder Lut. 3, 23 @v vioc, ws Eyouilero,
roõ Ioonip, wo ja gerade der Zuſatz ws Evonsilsso eine jtärkere
Deeutung des 65 aufhebt? Aehnlich eitirt K. W. Krüger
Griechiſche Sprachlehre I, $ 56, 13, 1) aus Euripides ZoAkoi
nv Övssg süyevsic " siaıv aaxol, wo nad jener Regel wenipftens
evyeveis umgeftellt werden müßte. Auch in guter Brofa begegnet
dergleichen oft genug; jo Hv de vis dnnolloyarns (Xen,
H. G. 4, 1, 29), eder ibid. 3, 10: övros d’ adsod Ent
7 &ußoin 0 Yuos unvosdis Bdofs yarımas, eine Stelle,
weihe Bengel® Behauptung fofort auf's fchlagendfte als völlig
begründet erweiſt. Vergleiche @v da als 0 Ereovızos Ev
u ASivivn, ibid. 5, 1. Das Gewicht der genitiviabsoluti liegt
in dxgoymvswlov, welches als Eefftein, al den dem ganzen Gehäube
Halt und Richtung gebenden Stein, den Meſſtas benennt, wonach
mter Erinnerung an die allbefannten, ſchon damals geläufigen (vgl.
Math. 21, 42. Apg. 4, 11. 1Petr. 2, 6f.) Weißagungen
as Jeſaja und dem Pfalter fofort die Majeftät Ehrifti dem Be⸗
wußtſein der Empfänger aufleuchten mußte. Ward ja felbft das bloße
m „den“ in dem Sinne von Fürſten verwandt (Richt. 20, 2.
lSam. 14, 38. Jeſ. 19. 13); dxeoymrındos entfpricht aber
änem volleren ap win? (Pf. 118, 22) oder (mp6) m 78 (Hiob
38, 6. Jeſ. 28, 16. Jer. 51, 26), wo überall (vgl. die Erffärer
zu diefen Stellen) der dem Fundamente angehörige, zwei Wände
zuſammenklammernde Edftein gemeint ift, wie auh Keil zu
Sch. 4, 7 mit Recht bemerkt prob a3 (Ser. 51, 26), fteht
mit michten im Gegenfag dazu: an „den bindenden Schluß und
Reren Halt des gegründeten Baues“ (Stier) ift keineswegs
zu denlken. Es wird fein Bewenden haben müſſen bei den Worten
Rofenmüllers: nie Igw estinter eos lapides quibus
—
(4. Auflage und ſchon 1. Auflage), Anm. 1, der andere Belegftellen an⸗
fükt.
144 Kolbe
tanquam fundamento innicitur domus is potis-
simum qui inextremo angulo fundamenti positus
duos parietes sibi innixos sustinet et coniungit.
In angulis praecipua vis qua aedificia sustinen-
tur. Des Tundamentes weſentlichſter, gleihjam herrſcherlicher
Beitandtheil ift mithin Chriftus, und fo ift auch hier der Ehriften-
ftand der Lejer mit al’ feinen Segnungen auf Chriftus und deffen
centrale Bedeutung für die Kirche nachdrücklich zurückgeführt.
Diefelbe wird aber nod weiterhin durch den an Xososov ange-
Inüpften Nelativfag (V. 21) erfichtlih, welcher mit Fortführung
des Bildes vom Hausbau das fortdauernde Werben der Gemeinde,
ihre felige Gegenwart nicht als gewonnenen Befig, fondern als
triebfräftig in die Zufunft hineinwirkende Tchätigfeit darjtellt und
dabei Ehriftus als das Bindeglied bezeichnet, in dem der har⸗
monifhe Zuſammenſchluß der Gefamtheit feiner Gläubigen ftetig
beruht und weiter fchreitet. Denn ouvapuoloyovusen avksı wird
man nicht voneinanderreißen dürfen, vielmehr den ganzen Aus⸗
drud, der faft einem Verbum compositum („zufammenwädft“)
gleihlommt, mit &v @ verbinden, während &v xvplp, wie es fchon
unfere Ueberjeßung ausdrüdte, der Stellung gemäß zu @ysov ge-
hören wird: wogegen eine Verknüpfung von dv ® ovvaguoloyon-
usvn einerjeits und av&es &v xuolo amderjeits unnatürlih, ja
gewaltfam erjcheint. So ift e8 beidemale derfelbe Ehriftus, welcher
das vorhandene Gut feiner Gemeinde erworben hat und ihr fort⸗
fchreitendes Wachstum bedingt, das in organifcher Weile nad Art
eines menſchlichen Xeibes, an den jchon die in avvapguoloyovasen
angedeuteten @onol erinnern, vor allem aber das für einen Bau nein
uneigentlich anwendbare av&sı, zu herrlichem Ziele hinſtrebt. Ein
„um Herrn Heiliger“, nicht etwa durch fich felbit koſtbarer, wie
den Schmud feiner Heifigfeit Chrifto verdanfender Tempel ift es,
der entfteht, indem diefer Bau emporwächſt. — Iſt jo der Vers
im allgemeinen ar, fo bietet doch das Subject der Kritit und
Erxegefe eine ſchwierige Frage dar: tft wirklich ohne Artikel na@oa
olxodoun mit Kirchenvätern und vielen Handfdriften, auch den
beften wie x, B, D zu lefen, und wie ift dann grammatifch richtig
und zugleich finngemäß zu erklären? Die überwiegende Autorität
Auslegung der Stelle Eph. 2, 19—22. 145
der Ueberlieferung gegen den Sinn enticheiden zu laffen, wäre
freilich abergläubifh; „denn nicht bis dahin können wir fie gelten
laſſen, daß der Schriftfteller etwas fage, was er, wie wir ihn
fennen, nicht fagen kann“ (Rüdert). Aber wollen wir nun wirk⸗
fi Hier die Weglafjung des Artifels bei fo vielen alten Zeugen
als einen, etwa durch den Itacismus erflärbaren, Fehler anfehen
md nace 7) olxodoum leſen, um gleichgeitig unfere Luther'ſche
Ueberfegung „der ganze Bau“ feitzuhalten? Wozu da8? fagen
manche 1) mit Berufung auf bie fpätere Gräcität, welche nicht
felten, 3. B. in den ignatianifhen Briefen, aud ohne Artikel
as — ganz gebraucdhe. Wirklich?“ Gerade as hat eine befonbere
Neigung, fich mit dem Artikel zu verbinden: während bei Homer
öde und odrog fehr felten fi) mit demfelben finden, fo ift das
bei zes und feinen Compositis fchon öfter der Fall (K. W. Krüger,
Sriehifche Spradlehre II, 8 50; 10, 2. 4), und wenn Herodot
einige Male (I, 21; II, 113. 115) zravra Aoyov fchreibt, fo wird
mar bier „jede Auskunft* mit demfelben Krüger (zu Hdt. I, 21)
eflären dürfen. Auch Mullach (Grammatik der griechifchen
Bulgarfprache in biftorifcher Entwidlung, Berlin 1856) verzeichnet
feine Abweichung in diefer Richtung; wohl aber fchreibt er S. 308
von ÖAos, das im gewöhnlichen Griehifch nah Analogie vom
franzöſiſchen tout, vom lateinifhen totus an bie Stelle von
rag getreten zu fein fcheint, dies Adjectiv habe den Artikel nad
id, fo ÖAoc 0 x0onos die ganze Welt, 5Aos od avgogwros alle
Menfchen (vgl. franzöfifh tout le monde, tousles hommes).
"Wenn man aber Ignat. ad Eph. 12 &v naon enıoroin uvn-
porsves vᷣucov überfegen wollte „inbem ganzen Briefe”, wie
Harleß, fo Haben dagegen ſchon Rüdert (Commentar zu dem
Briefe an die Ephefer, 1834, S. 276f.), Meyer (Eph., ſchon
1. Aufl. 1843, ©. 5, vgl. 4. Aufl., S. 6) und Wiefeler (Chro-
nologie des apoftolifchen Zeitaltere, S. 436f.) mit Recht Einſpruch
erhoben und übertragen: in jedem Briefe. Wir verlangen aljo
mit Grund einen wirfliden Beweis aus dem fpäteren Sprach⸗
gebrauche. Zugegeben aber, derfelbe wäre etwa für Ignatius er-
1) So noch jet Braune,
Theol. Stub. Yasrg. 1878. 10
146 Kolbe
bracht, jo bleibt, da da6 ganze Reue Teftament in biefem Punkte
correct ift, „diefer bei Paulus vereinzelte Gebranch auffallend“
(Harleß). Darum mögen wir num auch nicht mit biefem Ges
Iehrten fortfahren. „Die Annahme deöfelben dürfte nur da ge
billigt werden, wo der Gontert fie mit folder Evidenz verlangt
wie bier.” Die Evidenz ift mwenigfiend von neueren und zıbar
von hervorragenden Auslegern in Frage geftelit. Der Artifel fei
gar nit erforderlich, indem eine andere Bedentung von as
(jeder) hier ftatthabe, bemerkt ein befonders in philologifcher Hin-
ficht mit Recht hochangefehener Erklürer, der verewigte Meyer.
Aber wie könnte man fich entfchließen, den Apoftel Hier von jedem
Bauwerke ſprechen zu laffen, fo dag an die einzelnen Gemeinden
zu denken wäre, deren jede in Ehrifto zu einem Tempel erwachſe!
Ein ganz frembartiger Gedanke füme fo in den Zuſammenhang, ber
eben von einem Ganzen handelt, zu dem jebt auch die Leſer ge
hören, nicht von individuellen Größen !). Um diefem Bedenken zu
entgehen, Hat der um die Aufhellung des Gebaufenzufammenhanges
jo vielfady verdiente und durch feinen bis zur Spitzfindigkeit feinen
Scharffinn ausgezeichnete Schriftforfher v. Hofmann (bereits
tm Schriftbeweife I, 156f.; II, 2, 123; vgl. auch Erlanger Zeit
schrift für Proteftantismus und Kirche 1860, Dec., ©. 336 „alles
Gebän“ und wieder im Commentar 1870) aus Matth. 24, 1 =
Mark. 13, 1 für edxodoun eine neue Bedeutung hervorzufoden ge
fucht, als Heiße das Wort auch Baubeftandtheil, ähnlich wie
er für SEovad« die Bedeutung „Machtgebiet“ erfonnen ?), aber
nicht erwiejen und gar grammatifche Regeln der griechiſchen Sprade
aufgezwungen Hat, die diefer fremd jind. Bgl. dagegen die treff⸗
liche Erörterung des Bhilologen Dr. Hermann Müller,
(Grammatiſche Studien zur Exegefe des Neuen Teftamentes II,
Zeitfihr. f. luth. TH. u. K. 1872, S. 631). „Incidit
in Scyllam qui vult vitare Charybdim‘“, muß man
1) „Da von der Kirche Chrifti im ganzen bie Rede, muß ‚der ganze Bau‘
überjett werden.” Winer, Gramm.des Neuen Teftaments, 6. Aufl., S.101.
2) So 3. B. mit auffälliger Selbfigewifgheit trog Meyers Widerſpruch
zu Epb. 2, 2, Commentar, ©. 68.
Auslegung der Stelle Eph. 2, 19—22. 147
bei dieſer Operation Hofmanns ſagen. oixodoun bleibt ber
Etymologie zu Folge Hausbau (die Thätigkeit — elxodaunass)
oder Gebäude (= oixodounue, das Ergebnis des olxodousiv) 1).
Und bei dem prächtigen Tempel zu Jeruſalem, deſſen Herrlich.
keit zu fchildern Claffiker wie Tacitns oder jüdlfche Schriftfieller
wie Joſephus und Philo nicht müde werden (denn „wer Herodes’
Tempel nicht gefehen, hat nie ein prächtiges Gebäude gefehen“, heißt
sim Talmud, vgl. Lightfoot zu Meatth. 24, 1), ber „nicht
fowof ein Einzelgebäude, als vielmehr eine Feine Welt mit Vor-
böfen, Terraſſen, Hallen und endlich dem Tempelhauſe felbft“ ?)
daritellte — bei jolchem Prachtbau iſt es äußerft angemeffen von
„Sebäuden“ oder „Bauten“ zu fprechen, welche die Jünger voll
Bewunderung anfchaueten. Dover follte an nnferer Stelle, wie
hen Chryſoſtomus wollte, von dem Dade, der Mauer und
dergleichen die Rede fein? Wie machen denn biefe einzelnen
Beitandtheile zu einem Tempel? Es wird wie 4, 16 von der
evfncss Tod owueros aud hier von einem ſich entwickelnden
Hausbaue unter dem Bilde eines ftetig wachjenden Organismus
die Rede jein. Eben deöwegen wird Paulus auch bei Kor. 3, 9
(Scoß yanpyıov, Jeoü oixodonn) dors) das Wort oixodeur,
wiht ofxos gebraucht haben ?), um der PBhantafie feiner Leſer die
Beziehung auf die Thätigfeit des oixodensiv zu erleichtern, was
auch bei und der Fall ift, wenn wir ftatt Haus mit Quther
Bau“ im der Weberjegung anwenden. Ewald überträgt „alles
Schände“ und bemerft dazu: „alles was man nur auf jenem Grunbe
aufbanet”. Wir vermögen dabei nicht einen anderen oder bejjeren
Sinn zu ermitteln als bei den Meinungen von Meyer oder Hof⸗
mann, und jo fehen wir uns darauf bingewiefen, die in raca«
oixodonn liegende Allgemeinheit der Bezeichnung auf andere Weife
auszudrücken und zu verbeutfichen. Wir willen ja (8. W. Krüger],
$ 50; 11, 9), daß in der Bedentung „ganz, all“ bei räc ber
1) Bgl. auch Cremer, Bibl.-theol. Wörterb. zum Neuen Teftamente.
9) Braun zu Mattb. 24, 1 (Bibelmerk f. d. Gemeinde, N. €. 1).
9) So bei Ulfilas gatimrjo don gatimrjan = Jufammenzimmern,
nicht das gewöhnliche Wort für Hans „gardi“.
10*
148 Kolbe
Artikel fehlt, wenn das Subftantiv auch ohne was ihn nicht haben
würde: naoa ndkss, eine ganze Stadt, 5. B. Hdn nors
Evvanaoa rolss Epvysv (Plot. bei Krüger a. a. DO) Wir
vergleichen neh Soph. Bhil. 385 ff.: xoVx airıwuar xelrov wc
vous Ev reis, olis yap Eorı TT&0a TWv Nyovusuv OTERTOG
re ovanas. (Und nicht Hage ich jenen fo fehr an wie die Feld-
herren; denn ein Staat folgt ganz feinen Führern und ein Heer
ganz und gar!).) Angefichts diefer Thatfachen erwägen wir im
Bezug auf Eph. 2, 21 einmal, daß hier gar nicht eigentlih von
einer beftimmten oixodowf etwas zur Ausfage kommen foll,
vielmehr ein Bild in unferem Verſe fortgefeßt wird, welches das
Verhältnis Chriſti zu feiner Kirche veranfhauligt. Anderſeits er⸗
innern wir und, auch &@xgoywrsaiov ftand ohne Artikel: Chriftus
ift nit der Edftein genannt; eines Edfteines Eigenſchaft tft
ihm beigelegt. Können wir nun ganz wohl einen Eckſtein als einen
Stein bezeichnen, in dem ein Bauwerk fih zufammenfdhliche (vgl.
oben), feinen Halt finde: fo wird es nicht minder ftatthaft fein,
wo die Gefamtheit des Vereinigten al8 abhängig von einem
folden Haltpunfte dargeftellt werden fol, von einem Eckſteine zu
fpreden, in dem ein ganzer Bau oder ein Bau ganz und
gar fich zufammenfüge und zu einem Tempel erwachſe. Auf diefem
Wege, den die Grammatif ung gezeigt, können wir die vorzüglichere
Lesart ohne Bedenken beibehalten und fehen zugleih den Bers
ſich beftens in den Zuſammenhang einfügen: Mitbürger der
Heiligen und Hausgenoffen Gottes feid jegt ihr
Heidendriften dur eueren Aufbau auf den apofto=
lifhen Grund, dba ja deffen alles tragender und Hals
tender Edftein Chriſtus ift, in dem ebenfo aud ihr (V. 22)
eneren Halt habt. Dieſen Relativfag fchließen wir grammatifch
nit an &v xvolo, was an ſich berechtigt wäre und zunächſt zu
Tiegen fcheinen könnte, fondern, zumal wir Ev xvolw zu &yıov ges
zogen haben und in dem ganzen ayıov &v xvolo bloß ein nad»
1) Nicht ungefchickt überfegt Biehoff: Denu, wie ein Staat ganz (micht
etwa: „der ganze Staat” oder „jeder Staat”) um die hödhften Lenker kreift,
fo aud) im Kriegsheer.
Auslegung der Stelle Eph. 2, 19—22. 149
gefügte Attribut zu vd» fehen, dem Barallelismus mit dv &
(8. 21) gemäß an Xosorov, fo daß neben ®. 21, der das Allge⸗
meine darftellte und jo Chrifti Eigenart als Eckſtein zu befchreiben
diente, da8 Befondere tritt, worauf e8 im vorliegenden Falle fchließ-
ih anlommt: In Chrifto feid auch ihr Heidendriften Beſtand⸗
theile einer entftehenden geiftigen Behaufung Gottes, des Gegen«
bildes des altteftamentlichen Tempels, wie er die Vollendung der
göttlihen Offenbarung erheifcht: denn Gott will nunmehr nicht an
Einem Orte nur fi erfchliegen, fondern allenthalben, wo man in
Geift und Wahrheit ihn anruft (Joh. 4, 23f.), fo zwar, daß
nit lediglich der einzelne Gläubige des Herrn Tempel üft,
jondern, independentiftischem und mönchiſch⸗pietiſtiſchem Gelüfte zum
Troge, die Gefamtheit, der Gemeinfchaft der Gläubigen Gott in
fh jhließt, ein Organismus der Gottesgemeinihaft vorhanden
it, vermittelt ‘durch Gottes Geift als Werkmeifter für den Bau
der Kirche. Mir denken freilich hiebei nie meift (vgl. Rocholl,
Die Realpräfenz [1875], ©. 325) nicht an den perfönlichen heiligen
Geift, fondern einfach an den Geift als göttliche Kraft im Gegen-
fag zu der Deaterie, aus welcher Israels Tempel im Alten Bunde
hervorgegangen war. So fügt fih dr rvsdnarı, weldes zu avv-
xodousto$e, das ſchon durch Ev @ beftimmt ift, überflüßig, wenn
niht ftörend fein würde, in paffender Weife zu xarosznerjgsov
1. vV. und ergibt eine angemefjene Parallele zu vaov Ayıov Ev
wole. Wenn 1 Petr. 2, 5 einfacher olxos rsveuuarızos gejeßt
it, fo entfpricht der gewähltere Ausdrud xarosnengsov Ev nvev-
narı dem eigentümlihen Schwunge unferer Epiftel.
So begegnen wir, wenn wir auf den audgelegten Abfchnitt
mrüdbliden, einem mit dem Ende von Kap. 1 ſich berührenben
Gedanken, der wieder die Hoheit der Kirche hervorhebt. Dort
war diefelbe als Erfüllung *) und Leib Chrifti bezeichnet: bier er⸗
Iheint fie unter dem Bilde einer wahrhaften Wohnung Gottes,
um die Lefer deffen recht inne werden zu laffen, was fie an der
Zugehörigkeit zu der Kirche haben, bei welcher der Herr wohl auf
I, Bgl. darüber unfer Programm von 1869, &. 25f.
150 Kolbe, Auslegung ber Stelle Eph. 2, 19—22.
dem Plan ift mit feinem Geift und Gaben, und wie viel fie darum
Chriſto verdanken, durch deſſen Gnadenmacht allein es bewirkt ift
und wird, daß fie im diefer erhabenen Gemeinfchaft fich befinden
und, wiewol auf Erden, doch bereits Himmelsbürger find (vgl.
Phil. 3, Schu).
RKRecenfionen.
1.
lic. C. Budde, Beiträge zur Aritik des Buches Hiob.
Bonn, bei A. Markus, 1876. 160 SC.
Daß die Reden Elihu’s fein urfprünglicher Beſtandtheil bes
Buches Hiob feien, gilt faft allen unbefangenen Auslegern für
ausgemacht. Auch theilen wir nicht die Meinung des Verfaſſers
vorliegender Schrift, daß die biblische Wiffenfchaft fchließlich noch
ein anderes Urtheil über diejelben fällen werde. Nichtsdeſtoweniger
entipricht eine erneute Behandlung der beiden für die Beantwortung
jener Frage entfcheidenden Punkte, der dee des Buches Hiob
und des ſprachlichen Charakters der Elihureden, jedenfalls einem
wirklich vorhandenen Bedürfnis und muß auf alle Fälle das Ver⸗
ftändnis dieſes fchmwierigen biblifhen Buches fördern. Don dem
reichen Material, das der Verfaffer in feiner Abhandlung über
die fprachlichen Gigentümlichleiten der Elihureden mit großem
Fleiße zufammengeftellt hat, wird mancher Ausleger Nuten ziehen,
ah wenn er das Gefühl, daß Elihu eine andere Sprache ale
das übrige. Buch rede, nicht los wird. Dasjelbe erwarten wir
aber auch von der erjten Abhandlung, in welcher der Beweis
unternommen wird, daß die fraglichen Reden nicht nur aus der
Idee und Anlage des Buches Hiob als ein urfprünglicher Beftand-
theil desfelben begriffen werden können, fondern daß das Buch ohne
diejelben überhaupt unverftändlih fe. Allein ſchon die große
Meinungsverfchiedenheit, die unter den Gegnern der Echtheit der
154 Budde
Elihureden über den Grundgedanken des übrigen Buches beftehe,
legte dem Verfaſſer die Trage nahe, ob nicht das in der neueren
Kritik faſt axiomatiſch feftftehende Urtheil über jene Neben einer
Nevifion bedürftig fei. Beſtärkt wurde er hierin durch einen Auf⸗
fat Studers (Jahrb. f. prot. Theol. 1875), der von der herr-
fchenden Meinung ausgehend die Einheit des übrigen Buches Leugnete,
das er auf wenigftend 6 verfchiedene Verfafjer zurädführen wollte.
Die Unhaltbarkeit diefes Nefultates Liegt auf der Hand; dennoch
behalten nad) Budde's Anjicht die Gründe, auf denen es beruht,
zum großen Theile ihr volles Recht, fo lange man eben die Elihu-
reden von der Betrachtung nusfchließe, die allein im Stande feien,
die Abrigen fonft disparaten Theile des Buches zu einem harmo-
nifchen Ganzen zu verbinden.
Dem Faden jenes Aufſatzes Studers folgend, fucht der Vers
faffer uns zunächſt, abgefehen von der dee des Buches, die Un⸗
möglichkeit der urjprünglichen Aufeinanderfolge von Kap. 27—31.
38— 42 fühlbar zu maden. Die frage nad) der Urſache von
Hiobs Leiden bleibt Kap. 27—31 unbeantwortet. Mit Recht weift
Budde aud) die Meinung zuräd, daß Hiob ſich Kap. 28 bei dem
Gedanken an die unergründliche Weisheit Gottes über das ihn
quälende Räthſel beruhigt habe. Die energifche Erneuerung der
Brageftellung an Gott, die unmittelbar darauf Kap. 29—31 folgt,
wäre dann ſchwer zu begreifen; vor allem aber würde der Inhalt
ber Jahvereden vorweggenommen. Nun gibt Budde aber eine Er-
Härung des ganzen Zufammenhanges von Rap. 27—31, wie fie
in diefer Ausprägung bisher wol noch nicht vertreteu ift, die,
wenn fie fi) als richtig bewähren follte, allerdings die gewöhnliche
Auffaffung des Buches Hiob völlig umftogen würde. Nach feiner
Meinung ift Kap. 28 weiter nichts als eine Banlerotterflärung
Hiobs: Gott allen befigt die Weisheit und hat dem Menfchen,
ftatt ihm als feinem edeljten Geſchöpfe von ihr mitzutheilen, unter
den Namen der Weisheit nur fchwere Forderungen, nämlich ihn
zu fürchten und das Böfe zu meiden gegeben. Es liege darin
eine fchwere Anklage gegen Gott, ben eigennüßigen und Lieblojen
Schöpfer der Welt, der fich felbft das Beſte vorbehalten habe.
Bon hier aus falle erft das rechte Licht auf Kap. 27. Hat Hiob
Beiträge zur Kritil des Buches Hiob. 15
früher (Kaß. 21. 24) aufs ftärffte das erfahrungsmäßige Glück
ver Frevler betont, fo muß dagegen fein Sottesbemußtjein reagiren
(27, 115). Er behauptet allen Ernſtes a priori die Nothwendig⸗
kit des Unterganges der Sottlofen, die er als ſolche ja auch früher
nicht geleugnet, und gefteht damit offen den Widerfpruch in feinem
Innern ein. Es fehlt nur noc die offene Erklärung des Ban⸗
keretts, die Kap. 28 folgt, wo er zugleich die Schuld feiner Kath»
lofigfeit auf Gott fchiebt. Damit befommt dann auch die Frage»
ſtelling Kap. 29— 31 einen ganz anderen Hintergrund. — Mit
biefer Auffafjung des Schluffes der Neben Hiobs, auf die Ver⸗
feffer mehrmals an entfcheidender Stelle recurrirt, ift allerdings
die Echtheit der Elihureden entichieden. Zu einem fjolden Hiob
farm Jahve ſich unmöglich herablaifen; er muß zuvor von Elihu
zum Schweigen gebracht und gedemütigt fein. Wir bezweifeln
aber, daß diefe Auffaffung Beifall finden werde. Ob fie auf
Grund der früheren Reden Hiobs ſowol nach dem Plane des
Dichters als auch nur pſychologiſch möglich fei, wollen wir nicht
unterjuchen, da fchon der nächte Zufammenhang fie ausjchlieft.
Statt in den an fich vieldentigen Schlußmworten des 28. Kapitels
auf der Sclüffel zum Verftändnis de8 Ganzen doch wol im
Ausgangspunkt der Nede Kap. 27, 2—10 geſucht werden. Hier
Kigt aber der ganze Ton der Rede, ja die Conftruction der Säge,
daß Hiobs Ruhe und Beſonnenheit wiederlehrt, jobald die Freunde
von ihm ablaffen. Bon entfcheidender Bedeutung iſt das Bild, daß
er 8. 8S—10 von feinem jegigen Gemüthszuſtand entwirft. “Die
Art, in der er dort von feiner unzerftörbaren Gottfreudigkeit fpricht,
ft unmöglich aus einer momentanen Erhebung des Glaubens,
jondern nur aus einer Stimmung zu begreifen, die in ihm jegt
adgliltig die Oberhand gewormen bat und die ihn in der Xhat
dis zum Ende feiner Reden nicht verläßt. Wie er von da aus
ohne einen ganz bejonderen Zwifchenfall zu dem bitteren Sarkas⸗
mus, den Budde in Rap. 28, 28 findet, gelangen könnte, ift rein
muerfindfih. Auch kann er Kap. 27 feineswegs eine Erklärung
feines inneren Widerfpruches beabfichtigen. Denn dann müßte hier
doch irgendwie neben dem V. 11—23 Gefagten die gegentheilige
Datſache der Erfahrung ausgefprochen, oder, wenn das nicht, durch
156 Budde
die Art, in der der Gedanke von V. 11—23 eingeführt wird, ein
Gegenfag angedeutet jein. Statt defjen fommt aber Hiob ganz
unwilltürlic zu jener Behauptung. Halten die Freunde ihn jeiner
äußeren Lage wegen für einen Frevler, fo beruft er ſich dagegen
auf feine Gemüthsverfaffung, auf fein unzerftörbares Gottvertrauen
und feine innere Seligkeit, die ihn mitten im hoffnungsloſeſten
Leiden noch auf Gott hoffen läßt, während die innere Unjeligfeit
der Gottlojen fchlieplih mit Nothwendigkeit aud ihren äußeren
Untergang herbeiführen muß. Hierzu muß Kap. 28 die Begrün⸗
dung geben. Denn die Ankündigung Kap. 27, 11 muß fi zunädhft
freilich auf V. 12ff. beziehen. Das, was Hiob die Freunde
lehren, womit er nicht zurüdhalten will, kann nicht die Weisheit jein,
die nach Kap. 28 Gott allein bejigt und die außerdem unmöglich
durch In m und Wi ny "win bezeichnet fein fann. Anderſeits wird
die B. 12ff. ausgefprocdene Behauptung erjt durch ihre Begrün⸗
dung in Kup. 28 eine Belehrung für die Freunde. Der Gott»
loſe muß fo enden. Denn der Menſch, der alle Schäße der Erde
erwerben fann, ift nicht im Stande, das einzige Gut zu erwerben,
deſſen Befig allein fein Lebensglück fichern könnte. Er kann nit
alle feine Handlungen jo einrichten, daß dauerndes Lebensglück
da8 nothwendige Reſultat wäre. Vielmehr ift die Weisheit als
die Kunft des zweckentſprechenden Handelns nur Gott befannt und
deshalb kann der Menſch nur dadurch zur Glückſeligkeit gelangen,
daß er Gott fürdtet und feinem Willen gemäß Iebt. Das ift
aljo die dem Menfchen von Gott verordnete Weisheit, der einzige
Weg zum Heil. Mit diefer Auseinanderfegung über die Noth-
wendigfeit einer Vergeltung belehrt Hiob in der That die Freunde,
indem er ihrer äußerlihen Auffaffung der göttlichen Vergeltung
gegenüber dieje aus der inneren Beziehung des Menſchen zu Gott
und jeiner Weltregierung begründet. Bon da aus fann er dann
auf Grund feiner inneren Stellung zu Gott die Frage nach der
Urſache jeines Leidens erneuern (Kap. 29—31). — Bei der ent«
ſcheidenden Wichtigkeit, die Kap. 27. 28 für das Verftändnid des
ganzen Buches haben, wäre e3 unſeres Erachtens um fo nothwendiger
gewejen, daß der Verfaſſer fih mit diefer von Deligfch und Dill:
mann (welchen legteren er übrigens S. 6 völlig misverfteht) ver-
Beiträge zur Kritik des Buches Hiob. 157
tretenen Auffaifung *) auseinandergefett hätte. Denn jo lange ber
Standpunft und die Stimmung Hiobs am Ende feiner Reden nicht
genau firirt find, fann über die Frage, ob die Elihureden Hinter
Rap. 31 nothwendig find (fo ftellt der Verfaſſer die Frage) und
welche Rolle ihnen zufommt, überhaupt nicht entjchieden werden.
Uehrigens fommt der Verfaifer auch dur das Urtheil Jahve's
Rap. 42, 7. 8 hart in's Gedränge (S. 55f.).
Hiob weiß aljo für das Räthſel feines Leidens feine Löſung.
Man findet eine ſolche vielfach in den Reden Jahve's Kap. 38ff.
Budde juht nun in Zufammenfaffung der Einwände Hengiten«
bergs und Studers zu zeigen, wie wenig die Reden Jahve's
das leiten, was man ihnen zumutbet, und zieht daraus den Schluß
auf die Echtheit der Elihureden. Wir erlauben uns hier nur einige
Gegenbemerkungen. Hiob fonnte von ber Meinung, dag alles
Leiden Strafe für begangene Sünde fei, ebenfo wenig losfommen,
wie die Freunde. Wo cr die vergeltende Gerechtigkeit Gottes
nicht jah, blieb ihm nur die Willfür Gottes als Erflärungsgrund.
Bon dieſem letzteren Hat er fih nun immer mehr losgemacht und
suleßt die innere Nothwendigkeit der Vergeltung auf's ſtärkſte be—
tont, Dadurch ift freilich die Frage nad) der Urſache feines Leidens
um fo viel brennender geworden umd er fließt deshalb mit der
Aufforderung an Gott, ihm feine Sünden zu zeigen. Diefer Aufs
forderung fommt Jahve freilich nicht nach, ebenfo wenig beantwortet
er die Frage, weshalb er ihn beftreite. Ueberhaupt war nach den
früheren trogigen Herausforderungen Hiobs eine ausdrüdliche Dar«
fegung der Urjache feines Leidens mit der Würde Gottes unvereinbar.
Aber allen jenen Fragen wird fofort jede Grundlage genommen,
indem Hiob Kap. 38, 2 bedeutet wird, daß fein Leiden weder in
der Willkür Gottes noch in der Sünde Hiobs, fondern in einem
göttlichen Rathſchlag feinen Grund habe. Damit ijt Hiobs frühere
Unſchuld anerfannt, und jetzt ift’8 an ihm, feine troßigen Reden
gegen Gott zu bereuen. Es handelt fih um einen weilen Plan
Gottes bei Hiobs Leiden und es fragt jih nur, ob Hiob diefer
1) Sie findet fich übrigens fhon bei v. Hofmann, Schriftb. I, 96 an⸗
gedeutet.
160 Budde
aber deshalb den Schlüſſel zum Verſtändnis des folgenden Buches
nicht bieten, weil es ſich in demſelben um mehr als um eine bloße
Bewährung handelt. Mit Rap. 3, 1 (vgl. 1, 22. 2, 10) tritt
ein Wendepunkt ein; Hiob verfündigt fich gegen Gott, und mehr
als einmal ſcheint fich der Sieg fogar "definitiv auf Satans Seite
zu neigen. Mit vollem Rechte betont der Verfaſſer die Thatfache
der Verfündigung Hiob8 den Berfuchen gegenüber, diefelbe als etwas
acceſſoriſches aufzufaffen. Der energifhe Tadel, der aus den
langen Reden Jahve's immer wieder heraueklingt, fowie die tiefe
Neue Hiobs machen das unmöglid. Es muß alfo im Buche jelbft
eine höhere Löſung gefucht werden, der ji) ſowol Perfündigung
wie Bewährung unterordnen. Die Nothwendigfeit diefer Confequenz
wird freilich von vielen geleugnet, die die dee des Buches dahin
beftimmen, daß das Leiden des Gerechten eine Schickung der Ichlecht-
hin unbegreiflidhen Weisheit Gottes fei. Dann Hätte der Dichter
aber den großen Fehler begangen, daß er dem Leſer im Prologe
ja dennoch eine Aufklärung über den Zweck von Hiobs Leiden gäbe,
den nur der Meiftbetheiligte nicht erführe. Gehäjjig, wie Budde
meint, würde darum einem ifraelitifchen LXefer jene „Wette“ mol
faum erfeienen fein; denn Hinter Jahve ftehen alle Frommen und
hinter Satan die Gottlofen, deren Todfeindſchaft gegen die erfteren
im Buche Hiob klar genug durchſchimmert (17, 8. 22, 19f.).
Auf feinen Fall erregte die Entfheidung nur ein Verftandesintereffe.
Aber gerade deshalb würde jener Fehler des Dichter8 um fo fchwerer
wiegen, wenn er uns über diefen (wenn fein anderer denkbar ift)
hohen Zwed des Leidens Hiobs aufffärte, den Dulder ſelbſt aber
nur auf die unergründliche Weisheit Gotted verwmieſe. Es muß
deshalb im Buche felbit eine höhere Löſung gegeben fein, die die
Mittheilung jenes himmlifchen Vorganges an Hiob, der doch hinter
dem Lefer nicht zurüditehen darf, unnöthig machte.
Wie jene Löſung zu finden fei, fann feinem Zweifel unterliegen.
Der göttliche Rathſchluß, der Hiob fein Leiden fandte, muß fi
in der ganzen Gefchichte Hiobs, wie fie ſich an fein Leiden anfnüpft,
entfalten. Alle Thatfachen derfelben treten fo aus ihrem caufalen
Verhältnis in ein teleologifches über. Es Handelt fi alfo nur
darum, die Grundthatfahen richtig zu beftimmen. Der Verfaſſer
Beiträge zur Kritik des Buches Hiob. 161
ählt als folhe auf: Hiobs urſprüngliche Unfchuld, feine Verſün⸗
digung im Leiben und feine Reue, und gewinnt fo folgende Formel:
Gott fandte Hiob, dem gerechten, (defien Sünde nur im tiefften
Grunde des Herzens fchlummerte) das Leiden, um daburd die
Sünde an die Oberfläche zu rufen und als Thatjünde zu Hiobs
Bewußtſein zu bringen, damit er bie erfannte Sünde bereue und
von fi thue und fo geläutert und gefördert aus dem Kampfe her⸗
vorgehe. — Gewiß muß die Verfündigung Hiobs in dem gött-
lichen Rathſchluß ihren Platz finden. Der Dichter kann fie un⸗
möglich nur deshalb fo ſtark hervorheben, um uns zu zeigen, wie
ihwer e8 aud dem Beiten und Frommſten falle, im unverſchul⸗
deten Beiden Gott treu zu fein, wenn er daraus nicht die Folgerung
zog, daß das Leiden auch für den Beten nothwendig fei und den
Zweck habe, ihn von den ihm anklebenden Schwächen zu befreien.
Rothiwendigerweife mußte er das Wahrheitsmoment, das in den
Borten des Eliphas 5, 17 ff. lag, irgendwie berüdfichtigen. Nichts⸗
deftoweniger leidet die vom Verfaſſer gebotene Auffaffung, fo fehr
fie auch anderen gegenüber berechtigt ift, an dem Mangel, daß fie
der Bewährung Hiobs nicht gereht wird. Diefe findet er nur
darin, daß der Satan nah dem „strengen Wortlaut“ der Wette
Unrecht behalte, indem Hiob Gott nicht geradezu mit dürren Worten
den Abſchied gebe. Iſt das aber neben ber Verfündigung Hiobs
dad einzige Refultat von Kap. 3—31, jo muß es uns ſehr zweifel-
haft erfcheinen, ob der Satan wirklich unterlegen ſei. Mit Necht
würde er jich darüber befchweren, daß Gott reſp. Elihn durch ihr
unbefugtes infchreiten feinen Sieg vereitelt hätten. So gelingt
es dem Berfaffer nicht, den Prolog mit dem übrigen Buche in
Uebereinftimmung zu bringen, und der Vorwurf, daß die „kritiſche
Tradition“ dazu nicht im Stande fet, fällt auf ihn zurüd !). Er
tut aber Hiob Unrecht, wenn er in defjen Angriffen gegen Gott
die Grundrichtung feiner Neben fieht, die er, wenn auch mit „er
1) Schließlich neigt er fich deshalb zu ber Anficht, dag der Dichter Kap. 1, 2
bereits in der Volksſage vorgefunden habe. Diefe Meinung ift Übrigens
wicht nen; vol. Wellhauſen in den „Jahrbüchern für deutiche Theo⸗
logie“ 1871, der diefelbe freilich viel tiefer begründet.
Theol. Stab. Jahrg. 1878. 11
16% Budde
heblichen Schwankungen“, bis zu Ende hin einhalte. Wehen ber
Berfündigung Hiebs wird vom Dichter auf's ſtärkſte ſeine Be⸗
währung hervorgehohen. Aeußerungen wie Kap. 14, 13ff. 16, 8f.
17, 9. 19, 25ff. 27, 8ff. ſollen auf keinen Fall nur „Schwau⸗
tungen“ in feiner Stimmung bezeichnen ober feinen vermeſſenen
Reden den Hintergrund geben, daB er bei all feiner Verſchuldung
nicht definitiv ven Gott abgefallen frei. Vielmehr erhebt fich der
Dulder troß der unausgefegten Angriffe der Freunde, die ige
immer wieder in den Unglauben Binabzuftürzen drohen, ſtets zu
größerer Glaubensgewißheit. Er mat ſich nicht nur von dem
Wahn eines ihn verfolgenden Gottes immer mehr los, ſondern
mitten unter dem Drud des Leidens, das ihn vor den Augen der
Welt zum Gottlofen ſtempelt, erftarkt feine Frömpiigfeit, wie er
ſelbft Kap. 17, 9 fagt, mehr als zunor ), Die Zuverfiht, bag,
wie er von Gott nicht Kaffe, auch diefer zuletzt ſich zu ihm be⸗
kennen müſſe, bridt Kap. 27 fiegreich duch; er gewinnt von da
aus ſogar eine tiefere Erkenntnis der Wege Gottes. Es Handelt
ſich olfo Hier Schon um eine wahre Förderung Hiobs im Kampfe
mit dem Ynglauben, und damit ift exit der Sieg Gottes. über
Satan entfchieden. Deshalb läßt ſich die Idee des Buches nicht
auf eine fo einfache formel, wie der Verfaſſer meint, bringen.
Wäre die Verfündigung Hiohs allein der nädjte Zweck der gätt-
Uchen Leidensſchickung, fo wäre rein unverjtändlid), weshalb der
Dishter im Verlauf von Hiobs Neben diefelbe immer mehr zurüch
tzeten Tieße und feinen Sieg über dieſelbe in immer jtärferen
Farben malte. Man wendet freilich ein, daß Hiob am Schluſſe
feiner Reden immer noch nicht zuc Erkenntnis feiner Berfchuldung
gekommen fei und uoh Map. 31, 35—37 indirect wenigſtens die
Anklage gegen Bott vorliege. Dagegen muß man ſich bier gerade
a den AZufammenhang erinnern, in dem Hiobs Verfündigung mit
feinem unverfchuldeten Yrrtum ftcht. Das Dogma, daß jedes
Leiden Strafe für begangene Sünden fei, fteht bis dahin als un
umftößliche Wahrheit da, und eben erft (Rap. 28) hat Hiob, und
zwar offenbar im Sinne des Dichters, die innere Nothwendigkeit
1) Hoͤchſt intereffant iſt an dieſer Stelle das YHN.
Beiträge zur Kritik des Buches Hiob. 168
iner Bergeftung tiefer begründet. Wenn er von da aus fein
furchtbares Leiden mit feinem fleckenloſen Gewiſſen zufammenpält,
ſo muß er ſein Leiden als ein mit Unrecht über ihn verhängtes
betrachten. Den Grund dafür ſucht er nun aber nicht wie früßer
im einer wiſſentlichen Ungerechtigkeit Gottes; vielmehr Hat Die
ganze Darlegung feines vergangenen Lebens (Rap. 31) den Zwech,
Gott, der feine Unfchuld noch gar nicht zu kennen ſcheint, vom
derfelben zu überzengen (B. 6. 37). Ein anderer Ausweg blich
ihm nid übrig und er ift Bier in der That der Berſuchung ſoweit
Herr geworden, als das möglich war. Das wird denn auch vor
Gott jefhft dadurch anerfannt, daß er ſich zu dem bewährten Dulber
berabläßt- und ihm bedeutet, daß fein. Leiden nichts mit der Strafe
m thun Habe, und der- Dichter laßt Hiob fogar feine Reue damit
motiviren, daß ihm ein Einblick in das göttliche Weſen und Walten
gegeben jet, mie er ihn früher nie gehabt. Die Yörberung Hiobs
iſt alſo großentheils ſchon ver ver Erfcheinung Gottes erreicht.
Freilich ift fie da noch nicht vollendet. Denn Hieb ift Rap. 31
noch nicht zue Erkenntnis und Reue über feine wirkliche Verſchul⸗
dung gekommen und das [üßt fich nicht durch feinen unverfchuldeten
Irrtum rechtfertigen. Aber man hat deshalb fein Recht, die That⸗
jadhe, daß er im Kampfe mit dem Unglauben zu höheren Glauben
fortichreitet, zu ignoriren. Wir glauben fomit, dag bie Einwände
gegen die Elihureden, welche fich auf das von. Hiob felbſtündig
erreichte Refultat ftügen, mit vollem Rechte beitehen bleiben, Der
Berjaffer ſchneidet dieſelben freilich durch feine oben: berührte Er⸗
Mrımg von Rap. 27 — 831 ab und meint umgekehrt, daß bie
Reden Ekihu’6 gerade deshalb echt fein müßten, weil fie allein die
ung, die fih aus den Grundthatſachen des Buches mit: Noth⸗
wendigfeit ergebe, wirklich enthieften. Nach jener: Anſicht muß
Lap. 42, 6 die Röfung bereits gefunden fein (S. 51). Dean Hieb:
Önne weder zur Reue kommen, noch könne diefelbe ihm vom Dichter
Kr von Gott in beffen Sinne zugemuthet werben, wenn: er nicht
derher in Beantwortung. feiner Fragen Über: das Ziel feines Leidens:
migelärt fei. Da num die Reden Gottes jene Aufllärung nicht:
enthielten, müffe fie in- den Reden Elihu's gefucht werden: Damit
wird alfo die Thatſache der Verfündigung. Hiobo, die der Virfaſſer
' 11*
164 Budde
früher fo ſtark betont Hat, wiederum geftrihden. Kann Hiob erft,
nachdem er durch Elihu ben ganzen Inhalt des göttlihen Rath⸗
Schluffes erfahren Hat, Reue zugemuthet werden, fo kann vorher
überhaupt von einer Verfündigung nicht die Rede fein. Oder be⸗
zieht fi) der Tadel Jahve's etwa nur darauf, daß Hiob nicht
fofort nach Elihu's Reden fein früheres (und damals berechtigtes)
Hadern mit Gott widerruft?. Nein, die Verfündigung Hiobs be⸗
fteht darin, daß er die Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes angetaftet
bat. Freilich wird feine Schuld daburch gemindert, daß er jene
Wahrheit, die an ihm zulegt offenbar wurde, nod nicht kannte,
und deshalb kommt Gott ihm auf halbem Wege entgegen und gibt
ihm zu verftehen, daß fein Leiden feine Strafe fein follte; aber
nichtsdeftoweniger bleibt Hiob8 Schuld beftehen. Im lUnglauben
hatte er Gott Ungerechtigkeit, ja fogar Teindfeligfeit vorgeworfen,
und dem gegenüber muß Gott unbedingten Glauben und rüdhalt«
Iofe Ergebung in feine Fügung verlangen. Bevor Hiob dem nicht
nachkam, konnte und durfte eine wirflihe Aufflärung über den
Zwed feines Leidens nicht erfolgen. Aber auch abgefehen davon
würde der Dichter fih in einen argen Widerſpruch verwideln,
wenn er von einem Elihu das Problem löfen ließe. Weiß ein
Hiob feine Antwort auf die Trage, weshalb der Gerechte leide, fo
darf überhaupt kein Menſch eine folche wiffen, fie muß durd) Gott
geoffenbart werden.
Dieſelbe kann aljo erit im Epilog gegeben fein. Nachdem die
Gemeinschaft Hiobs mit Gott in ungetrübter Reinheit wiederher⸗
geftellt oder vielmehr noch inniger geknüpft ift, kehrt fein früheres
Glück in doppeltem Maße wieder, und der Dichter überläßt e8 ihm
wie dem Lefer, das legte Facit zu ziehen. Es fragt ſich, ob er
damit an die Yafjungsfraft beider übergroße Anforderungen geftelft
babe. Für Hiob war wol kaum ein Zweifel möglich. Schon
vor der Erſcheinung Jahve's hatte er die fürdernde Kraft des
Leidens an ſich erfahren (was er einmal fogar felbft ausſprach
Kap. 17, 9). Nachdem ihm dann auf feinen Ruf ein Einblid
in das innerfte Weſen des fi) zu ihm herablaffenden Gottes zu
Theil geworden, er dadurch zugleich zur Erkenntnis und Reue über
feine Berfchuldung gelommen und von Gott in Gnaden angenommen
Beiträge zur Kritik des Buches Hiob. 166
und fein früheres Glück verdoppelt wiederhergeftellt war, konnte er
über die Abficht Gottes nicht im unklaren fein. Etwas anders
lag die Sache für den Lefer in fo fern, als ihm anfangs im Prolog
eine Bewährung des Dulders in Ausficht geftellt war, während ber
Dichter daneben im folgenden Buche die Verfündigung Hiobs einführte.
Unjerer Meinung nad gehörte nun nicht allzuviel Wig dazu ein«
zujehen, daß, wenn Hiob fi auch verfündigte, der Satan doch
völlig unterlegen fein mußte und anderjeit8 auch einem Hiob bei
aller Bolltommenheit noch etwas fehlte, was er erft in feinem
Leiden erwerben follte, der göttliche Rathſchluß alfo über die Be⸗
ſchämung des Satans hinaus die Förderung Hiobs bezwedte. Nach
des Berfafjers eigener Behauptung bedarf es ja nur „eines une
befangenen Blickes auf die elementarften Thatſachen des Buches“,
um die Löfung zu finden (S. 43). Dennoch ftellt er die For⸗
derung auf, daß lestere im Buche felbjt Iehrhaft ausgeſprochen
fein müſſe, und ftügt fi dabei mit Riehm (Zeitfehrift für Lu-
theriiche Theologie 1866) namentlih darauf, daß ja Eliphas
Rap. 5, 17ff. die erziehende Wirkung des Leidens behaupte und
damit Fiasko made. Es entziehe fih nun Leicht auch dem fcharfer
Dlide, daß das dort nur in der falfchen Fundamentirung den
Lehre feinen Grund habe, und wenn diefelbe nicht ausdrücklich auf
rühtigem Fundament erneuert fei, fo entftehe der Schein, als ob
der Dichter felbft diefe Töjung zurückweiſe. Wir behaupten ums
gekehrt, dag diefer Schein geradezu vom Dichter beabfichtigt jet.
Richt nur Kap. 5, 17ff., fondern durch den ganzen Dialog hin
fügt er die Freunde immer wieder an die Wahrheit ftreifen; immer
wieder kommen diefe auf den Gedanken zurüd, daß Gott Hiob
durch Leiden läutern wolle, um ihn, wenn er ſich demüthig unter-
werfe, zu um fo größerer Herrlichkeit zu führen. In der That
wird Hiob auch geläutert ?), er muß ſich unterwerfen und der Aus⸗
gang feiner Geſchichte fpiegelt fogar in einzelnen Zügen das Zur
V Es bedarf übrigens wohl keiner längeren Auseinanberfeßung barüber,
daß der Zweck des Leidens Hiobs nicht ſowol Läuterung, fondern
Förderung ifl. Diejen Gedanken konnte der Dichter nur dadurch aus⸗
drüden, daß er Hiob anfangs in Unglauben fallen ließ.
166 Budde
kunftsbild wieder, das ſie ihm vorhalten (Rap. 8, 7. 22, 30). Aber
gerade deshalb muß es dem Leſer überlaffen fein, den wahren
Grund des Leidens Hiobs zu finden. Die große Kunft, mit der
der Dichter die Verwidlung des Dialoges von Rap. 3. 4 an ans
gefnüpft bat, mo der Lejer in der That für den Augenblid nicht
weiß, ob er fih zu Eliphas oder zu Hiob ftellen foll, würde voll
fommen zerjtört, wenn ihm nachher durch lehrhaft correcte Darlegung
der Wahrheit die Fehler Hiobs fowol wie die der Freunde auf»
gededt würden. Wenn Budde dagegen meint, daß der Dichter auf
diefe Weife „fein Gut dem Misverftändnis Unzähliger preisgegeben
bätte“, fo verräth fich darin eine Vorftellung von dem erften Xefer-
treife unferes Buches, die unbedingt falfch iſt. Auf jeden Yall if
das Buch Hiob nicht für die Mafje des Volkes, fondern für einen
Heinen Kreis gefchrieben, von deſſen Bildungsgrad und Geihmad
wir uns feine geringe Vorftellung machen dürfen, und als Kunſt⸗
wert theilt es das Schickſal fo mancher anderen, daß feine dee zu
allen Zeiten vielfach unrichtig aufgefaßt ift. Anderſeits fragt es
fich aber, ob es denkbar fei, daß der Dichter durch Hinzufügung
der Elihureden dem „Mieverftändnis Unzähliger“ habe vorbeugen
wollen. Denn entbielten diefe Reden wirklich die Löſung des
Problems, wie Budde fie beftimmt, fo Liegt diefelbe dort doch jeden
Falls nicht Mar am Tage. Der Berfaffer nimmt das jedoch für
diesmal als zugeftanden an und verfpricht den Beweis dafür fpäter
zu liefern. Gelänge nun diefer Nachweis, fo würden wir darin
nur einen neuen Beweis für die Unechtheit der Elihureden ſehen.
Denn daß die vom Verfaſſer aufgeftellte Idee des Buches nicht
die vom Dichter beabfichtigte fein kann, haben mir oben gezeigt.
Aber jener Nachweis wird wohl kaum gelingen. Ein Läuterungs-
feiden im Sinne Budde's wird von Elihu nicht gelehrt, fondern
ein Züchtigungsleiden, das in einer Verſchuldung Hiobs feinen
Grund hat, und es kann fi nur darum handeln, ob Elihu diefe
Verſchuldung nur in den trögigen Neben Hiobs oder auch in feinem
früheren Leben ſucht. Nur im erfteren Falle kann die Unechtheit
noch fraglih jein. ebenfalls Härte Elihu uns dann aber nicht
über die legte Urſache von Hiobs Leiden auf.
In einer zweiten Abhandlung unterfucht ber Verfaſſer ben
Beiträge zur Kritik des Buches Hiob. it
fpradligen Sharakter der Elihureden auf felne Verwandtſchaft mit
km des Übrigen Buches. Während bie Gegner ber Echthelt in
den leuten Jahrzehnten immer wieder durch neues Material die
Aweihungen beider in's Licht ftellten, begnügten die Verteidiger
ſich meiftens damit auf Stideld Sammlungen hinzuweiſen, defjen
Bewesführung fie nur durch einzelne gelegentliche Bemerkungen zu
serftärfen fuchten. @ine Arbeit A. W. Krahmers blieb mit echt
anberücfihtigt. Eine erneute Unterfuchung diefes Punktes ift jeden
Falls nicht nur für das Verftänbnis der Elihureben, ſondern auch
für die Entſcheidung für ober wider die Echtheit von einer Ber
deutung, die man häufig unterfhägt. Die vorliegend Abhandlung,
in ber der Verfaſſer alles bisher beigebrachte Material zuſammen⸗
geſtellt und auf Grund eier volfftändigen Concorbanz des Buches
Hiob vervolfftändigt Bat, wird gewiß zur Klärung der Sachlage
dienen. Mit Mecht geht es dabei von dem Grundſatze aus, daß
in allen Punkten nicht nur die Elihureden mit dem übrigen Buche,
fondern auch die einzelnen Theile des Ieteren unter einander vers
gihen werden müſſen, weil nur fo das Maß der nöthigen
ebereinftimmung wie der möglichen Abweichung beftimmt werden
lann.
Die nächfte Frage iſt die, wie ſich der Wortſchatz Elihu's feinem
Umfange nach zu dem des übrigen Buches verhalte. Indem ber
Verfafſer grüppenweife die Reden Elihu's, Jahve's, Hiobs (in 3
Gruppen) und der freunde (diefe ſowol einzeln wie in ihrer Ges
ſamtheit) zufammenfaßt, ftellt er die Zahl der jedem biefer Abs
Ihnitte eigentümlichen Wörter, fodann bie der ihm mit einem anderen
Theile des Buches gemeinfamen und endlih durch Summirung
beider den Wortfchat jedes einzelnen Abjchnittes feit: Durch “Die
vifion der Verszahlen in jene erhält es die WBergleichungszahlen.
Das Reſultat ift, daß Elihu die wenigſten ihm eigentümlichen
Wörter, zugleich aber auch die wenigfter mit dem übrigen Buche
gemänfattten hat. Doc, entfernt er fich im beiden nicht alfzumeit
vem Durchſchnitt und erklärt fich der größere oder geringere Worte
ſchatz der einzelnen Abſchnitte hinreichend aus ihrer Verſchiedenheit
nach äußerer Form und Inhalt. Dies Ergebnis hätte nun frei⸗
lich auch auf kürzerem Wege gewonnen werden können und wird Die
168 Budde
große Mühe des Verfaſſers hierin nicht entſprechend belohnt. Wichtiger
ift fchon, daß die Orthographie der Elihureden im wefentlichen mit
der des übrigen Buches übereinftimmt. Treilih bat auch dies
Refultat nur negativen Werth, da jelbjt die auffallendfte Ueber⸗
einftimmung auf Rechnung eines Abfchreibers gefegt werden könnte. —
Die Vergleihung der grammatifhen Yormenbildung bietet eine
geringe Ausbeute. Auffallend bleibt aber immerhin, daß die im
übrigen Buche fo häufigen dichterifchen Suffirformen (vgl. außer
Rap. 24, 23. 25, 3. 27, 23. 39, 2 das ınb Imal und wohy
Smal, außerdem no = von mir Amal u. f. w.) bei Efihu
nicht vorlommen, wenn auch dieje Präpofitionen mit Suffigen über-
haupt bei ihm felten find. Webrigens iſt es und nicht verftändfid,
weshalb jenes 30 eigentlih Paufalform fein fol. Es findet ſich
überhaupt nur 7 mal, darunter Amal nicht in pausa. Im anderen
Falle fprechen die Punktatoren fogar 139. — Bei der Vergleichung
der ſyntaktiſchen und lexikaliſchen Eigentümlichkeiten macht der Ver⸗
faffer vor allem den Fehler, daß er zuviel jelbftverjtändliche
Dinge herbeizieht. Es wird das auch dadurch nicht entfchuldigt,
daß man den Elihureden oft genug die gewöhnlichften Redeweiſen
al8 Eigentümlichkeiten angerechnet bat. Denn über feinem Streben
nad möglichſter Vollftändigfeit wird der Verfaſſer den wirklichen
Abweichungen der Elihureden nicht gerecht; auch laufen viele Un⸗
richtigfeiten dabei unter. Wenn z. B. Hitzig jenes nınboy 37, 5
und m»on 37, 12 als bezeichnend für Elihu's Stil anmerft,
jo ift dem gegenüber mit al’ den Beiſpielen, die der Verfaſſer
für den adverbialen Gebraudh des Accuſativs im Buche Hiob
anführt, nichts anzufangen. Soldye Accufative wie 37, 5. 12,
die man wol Uccufative des Reſultates nennen Könnte, finden
fih nicht darunter; mar20 41, 6 ift obendrein noch st. constr. —
Dei Elihu findet ſich befanntlih an einzelnen Stellen ein auf-
fallender Gebraud der Präpofitionen, der entweder aus befonders
prägnanter Conftruction oder aus ungewöhnlicher Bedeutung der
Präpofition zu erklären iſt. Der meitläufige Beweis, daß im
übrigen Buche oft diefelben Verba mit verfchiedenen Präpofitionen
verbunden werden, war aber überflüßig. Daß von einem Dichter
ya mit 3, dx, 5, ıy und wT mit bu, 5, mn verbunden wird, ift
Beiträge zur Kritik des Buches Hiob. 169
keineswegs „auffallend“. Denn bei al’ diefen Verbindungen leuchtet
de zu Grunde Tiegende Vorftellung fofort ein; vergleiche auch das
man mit 3 30, 20, mit by 30, 1 und mit y 38, 18 (womit
32, 12 nichts gemein hat). Ein yon mit ny 22, 21 ift leicht
verftändfich; höchſt prägnant dagegen jenes "n Dy ınya2 = Ger
fallen haben (an der Gemeinfchaft) mit Gott 34, 9. Noch ftärler
ft Kap. 34, 36: yım wann nisein by, das der Verfaffer durch
ml) ui erffärt. Die zu Grunde Itegende Bedeutung von >
kennt freilich auch der echte Hiob (24, 13); aber eine foldhe Härte
ft da unerhört. So weiß der Verfaffer auch für jenes by na
36, 21 und dy yır 37, 16 aus dem übrigen Buche keine be-
friedigenden Analogien beizubringen. Weshalb ıD 12, 14 (vgl.
, 8. Sad. 9, 11) prrn 18, 9 und Wan 31, 15 mit by ver⸗
bimden werden, ift Har. Aucd bei bar 24, 9 (mo freilich der
Text unficher ift) und 9 6, 27 iſt das by fofort deutlich.
Nur by oo 22, 2 könnte in Frage kommen. Aber da ift diefe
Verbindung im 1. Veröglied durch b 750 vorbereitet und offenbar
ebfihtlih gewählt um das Zurüdfallen der gerechten Handlung
auf den Gerechten zu malen. — Auffallend ift ferner jene uam
nm ab 32, 22 und völlig verfchieden von der 6, 28. 10, 16.
19, 3 angewandten Conftruction; vgl. Ewald $ 285 b. c.
Wenn ber Berfaffer aber (mit NRödiger -Gefenius 8 142, 3 c)
meint, daß von den bei Ewald unter b aufgeführten Beifpielen
engerer Beiorbnung die mit ad, wor, mann „entjchieden“ zu denen
der Unterordnung (unter c) gerechnet werden müßten, jo möchte ihm
der Beweis dafür doch fchwer fallen. Ewald zählt mit vollem
Recht jene Beifpiele zur erften Claſſe, denn der Unterfchied ift der,
daß im 2. Fall das 1. Verbum den Nachdruck bat und ſich das
2. wie einen Objectfag unterordnet, während im 1. Fall das 2.
Berbum zum 1. im Verhältnis des Zuftandsfages fteht, aber
nichtöbeftoweniger als Hauptverbum gilt. Ob ein Fall zur 1.
Claſſe gehöre, Tann man mit Sicherheit daran erkennen, ob fid
das 1. Verbum durch einen adverbialen Ausdrud wiedergeben Täßt.
Des iſt nun an allen jenen Stellen der Fall (und es ift deshalb
vollfommen gleichgültig, ob wh> fi nur 19, 3 in diefer Verbin⸗
dung findet), während man Kap. 32, 22 fo auf den entgegen«
Im | Budde
gefegten Sinn käme. Die hier befolgte Conftruction bat nur
an ef. 42, 21 eine fihere Parallele und ijt urfprünglich nicht
hebräiſch 1). — Mit Recht nrgirt Ewald 34, 8 das nobbı, das
nicht dem AÄand esordinirt iſt, ſondern das mim fortfegt. Dafür
bieten Stellen wit 31, 33 überhaupt feine Analogie; eben auf
jenes 1 kommt alle® an; vgl. Ewald $ 351 c. — Eigentümlich
ift auch der Gebrauch von Am 36, 16, auf den Ewald aufmerk⸗
ſam madt. Sonft ordnet diefe Partikel ſcharf hervorhebend ſich
immer ein einzelned Wort oder einen ganzen Sat unter. Hier
fheint aber nm in der That nur ein ftärleres „und“ zu fein.
Der Berfaffer Hätte alfo nur gegen die Ewald'ſche Deutung jenes
Verſes polemifiren können. Ob fih im übrigen Bude 1 und nn
finder, ift gleichgültig. — Genau fo verhält es fi mit mnyı
85, 15. 37, 21. Ewald notirt die beiden Stellen deshalb, weil
hier das an die Spike geftellte nny durch einen Sat näher be-
ftimmt wird. — Dillmann madt zu 36, 33 auf die Hänfigkelt
don Bildungen mie 298, madpo. WAbD, D5ED, yoxD in ben
Reden Elihu's aufmerkſam. Es ift ihm dabei natürlich nicht ımm
Bildungen mit v überhaupt zu thun und es ift werthlos zu wiſſen,
daß der echte Hiob 42 und Elihu 19 Wörter der Bildung ber
hat, vielmehr kommt es darauf an, ob der echte Hiob diefe in ber
älteren Sprache felteneren Abftractbildungen, deren » eben kein
„echtes ) instrumenti* (jo Budde, S. 144) ift, in demfelben
Maße kennt. — Gerade ſolche Puntte wie die bier bezeichneten
find von größter Bedeutung. Für den Derfaffer verwandeln fich
diefe Abweichungen freilich meift in überrafchende Uebereinftimmungen.
Doch macht er fih den Beweis dafür oft recht feiht. So ift
3. B. auch eine DVergleihung des Gebrauches der längeren Präpos
fitionsformen für die Echtheit nicht eben gimftig. Freilich Hat
Elihu mit dem übrigen Buch die auch fonft häufigen wy, vo,
fowie das feltenere ın3 gemein, dagegen fehlt bei ihm das im echten
Hiob und fonjt häufige 109 ebenfo wie die felteneren bzw. mir
im Hiob vorkommenden ıy, don und ınb. Zu bemerken ift auch,
1) Man beachte doc) nur den Tempuswechſel Jeſ. 42, 21 und Hiob 82, 22,
der Klag. 4, 14 nicht durchſichtig iſt.
Beiträge zur Kritik des Buches Hiob. 11
daß der echte Hiob neben dem einfachen 53 6 mal bzo (ohne)
bet, wogegen Elihu nur lennt; ba 35, 16. 36, 12 und
Sb 38, 41. 41, 25 find nicht eben eine „faum merkliche Nuance*
jenes ba, fondern grundverfchieden. — In anderen Füllen ifi
wirtfige, aber gleichgliltige Uebereinſtimmung falfch begründet. So
Bätte der Berfaſſer fih für das Nachwirfen einer Bräpofition in
rw 34, 10 nicht auf 12, 3 u. ſ. w. berufen jollen, we die
Auslafjung der Präpofition nach > felbftverftändfich iſt; vgl. viel-
mehr 15, 3. — Unnöthig war das Bemühek, für 33, 19 if
5, 4 u. a. St. Belege für den Gebrauch eines „Subftantivs zur
Ausiage in der Weile eined Adjectivs oder Adverbs“ zu fuchen,
da oe belanntlich nichts als eine Elativform iſt. — In langer
alpbabetifcher Reihe führt der Verfaſſer fodann die Berührungen
m Wortfhat und Wortbedeutung auf. Im Vordergrund ftehett
dabei natürlich folche Auedrucksweiſen, die fich außer dem echten
Bude Hisb mehr oder weniger nur bei Elihu finden. Freilich
wäflen wir auch hier in manchen Punkten vom Verfaſſer abweichen.
Auf alle Fälle irrt er, werm er 30, 18 dasfelbe wo wie 33, 6
finden will. Seine Einwände gegen die gewöhnliche Erklärung
jener Stelle find haltlos. Er vergißt, Daß das Oberfleid überhaupt
micht genäht war, wenigſtens von „guter Aupaſſung“ und „kunſt⸗
sollen Schnitt“ bei ihm nicht die Rede fein und es deshalb freis
lich auch nicht „enger werden“ konnte. Anderſeits verbindet fi
mit m nothwendig der Begriff des engen Anſchließens, was zu
nm nicht paßt. — Die Unterfcheidung eines tranfitiven und
intranfttiven Syn ift völlig illuſoriſch und die Bemerkung, daß
das letztere fih nur 21, 105 und 35, 3 finde, obendrein uns
richtig; dgl. ei. 47, 12. 48, 17. — Unbegründet ift ebenfo die
Bemerkung, dag nur Hiob 24, 17 und 34, 25 die Bedeu⸗
bmg „vertraut fern mit etwas“ habe. — Aus demfelben Grunde
legen wir wenig Werth darauf, daB Dun nur im Bude Hiob
ohne Obejct fteht; vgf. übrigens &;. 21, 18. Bi. 89, 39. —
Falſch ift die Behanptung, daß Py fi nur im echten Hiob und
bei Elihn mit „idealem“ Objecte finde. Sagt Hiob wewm 'y, fo
ift dies Object doch um fein Haar „idealer“ als das landfäufige
zordn; vgl. außerdem 2 Sam. 23, 5. Anders ift es fchon, wenn
172 Budde
Elihu dedp y oder gar ’y allein ſagt, was ſich übrigens fonft
häufig genug findet, 3. B. Pf. 5, 4. 40, 6. 50, 21. — Der
Raum verbietet uns, auf andere Unrichtigfeiten der Art einzugeben.
Schwer verjtändlich ift aber, wie der Verfaſſer 31, 30 mit 33, 2
und 15, 21 mit 33, 8 zufammenftellen kann. — Freilich ift
auch nach Abzug der gleichgültigen und nur fcheinbaren Berührungen
die Zahl der wirklichen nicht. unbebeutend. So 3.8. der Gebrauch
von nu 23, 7. 35, 12; m 4, 17. 32, 2. 35, 2; 5 13, 7. 8.
36, 2. 12, 23. 37, 18; aud) der in der fpäteren Literatur freilich
nicht feltene Gebraud) von dy 9, 26. 37, 18 gehört hieher.
Intereſſant tit 3. B., dag aud Elihu wie der echte Hiob wieder»
holt von der maws Gottes redet. Auch 4, 19. 10, 9 und 33, 6
berühren fi auffallend. Freilich ſcheint Elihu die Schöpfung des
Menſchen aus Thon mehr dogmatiſch zu fallen. Sodann findet
fih bei Elihu eine ganze Reihe von Wörtern, die entweder über-
haupt oder doc in diejer befonderen Bedeutung nur noch im echten
Hiob vorkommen. Aber eine ſolche Uebereinftimmung war noth-
wendig, großentheils beruht fie geradezu auf Anfpielungen und
füllt deshalb der vorliegenden Abweichung gegenüber wenig im’s
Gewiht. Zwar hat man auch bier vielfach an manchen Erfchei-
nungen unnöthigen Anftoß genommen. So z. B. an dem nıym
32, 3. 5, das vom Berfaffer gut erflärt wird, Auch die Zahl
der aramätifchen oder doch aramäifch Elingenden Wörter im Elihu
entfcheidet wenig, wenn wir auch gewünjcht hätten, baß ber Ver⸗
faffer denfelben nicht nur die bei Eliphas, fondern die im ganzen
übrigen Buche vorkommenden gegenübergeftellt hätte. Dagegen
bleibt feine Erklärung der wirklich auffallenden Abweichungen un⸗
befriedigend. Wenn z. B. Elihu ftatt Ir, das der echte Hiob
conſtant 6 mal gebraucht, Sırım und gar dbırı hat, fo iſt mit der
Verweiſung auf yyr 38, 12 neben 6 mal yıaın nichts gewonnen,
da dort der Grund der Abweihung Har iſt. Ebenſo conftant bat
der echte Hiob bıy, dagegen Elihu 2 mal Sy, was ſich doch wohl
nit aus rhythmifchen oder euphonifchen Rücfichten begreifen läßt.
Höchſt auffallend ift namentlich msn 34, 13. 87, 12 für yon,
das der echte Hiob gegen 4Omal gebraucht. Wenn der Verfaffer
daran erinnert, daß überhaupt im Buche Hiob eine ganze Reihe
Beiträge zur Kritik des Buches Hiob. 178
von eigentümlichen Yemininformen neben Masculinen vorkommen
(og. Dillmann zu 3, 4), fo ift mbır neben dn doch wol
etwas anderes als ısın neben yan und ınn27 5, 8 feineswegs
= nr. Nur etwa fehs Wörter erkennt der Verfaſſer jchlieglich
als Elihu eigentümlih an und diefe foll der Dichter abfichtlich
gewählt Haben, um den Elihu durch diefe „termini technici‘ als
den Vertreter der richtigen Theorie den Freunden gegenüber zu
fennzeichnen. Als Stüge dafür dient freilich nur das 3 malige
um des Eliphas 4, 6. 15,4. 22,4. So ift feiner Anficht nach
37 Eſihu's überlegenes Wiſſen, das in einer Reihe von fignificanten
Ausdräden fcharf gekennzeichnet fe. So die Offenbarung Gottes
inne mb1; die Seele (?), um deren (?) Heil es fich handle, in
0; das normale gottgewollte Ziel in ys (woflir das echte
Bud om hat) u. ſ. w. Diefe Erklärung kann natürlich nicht
befriedigen. Ebenſo unbegreiflich bleibt die ftiliftiiche Unvollkommen⸗
heit der Elihureden. Wie unvortheilhaft namentlich die ungefchickte
Einführung Kap. 32 bis 33, 7 gegen das Übrige Buch abfticht,
fühlt der Verfaſſer ſelbſt. Sie ift namentlid) dann unerflärfich,
wenn man in den Reden Elihu's den Mittelpunkt des ganzen Buches
ſucht. Jedenfalls brauchte fih der Dichter dann bier nicht „in
eine fremde Situation hineinzuverfegen“, und die Bemerkung, daß
der Drientale überhaupt „derartige perjünliche Verhältniſſe mit
großer Breite auseinanderzufegen pflege“, hätten wir gern aus
dem Alten Teftamente wenigftens belegt gefehen. Schließlich bleibt
dem Verfaſſer denn auch nur die fchlimme Auskunft, dag der
Dichter auf irgend eine Art verhindert geweſen fei, an dies Stüd
die Iette Teile zu legen. Wir tbeilen durchaus die Meinung, daß
der ſprachliche Charakter der Elihureden für fi allein ihre Un-
ehtheit nicht beweiſen könne; aber baß berjelbe immerhin ein
weſentliches Argument für diefe bleiben werde, davon hat uns
gerade vorliegende Arbeit auf's neue überzeugt.
Halle a/S. Rudolf Imend.
Druck von Friedr. Audr. Perthes in Gotha.
— Neuigkeiten —
aus dem
Verlage von Friedr. Andr. Perthes in Gotha
ſ. angehängten Katalog.
Inhalt der Theologiſchen Studien und Kritiken.
Hafrgang 1877. Viertes Heft.
Abhandlungen.
Hering, Luthers erſte Vorleſungen als Lehr» und Lebenszeugnis.
Schmidt, lieber Sal. 2, 14-21.
Gedanken und Bemerkungen.
1. Baur, Chriſtenum und Schule.
Recenfionen.
Baubiffin, Studieq zur ſemitiſchen Religionsgeihichte; rec. von R üf.dy.
Zihimmer, Henfe's nachgelaſſene Borlefungen; rec. von Jacohi.
u Inhalt der Zeitschrift für Kirchengeschichte.
Jahrgang 1877. 2, Heft.
Untersuchungen und Essays.
K. F. Nösgen, Der kirchliche Standpunkt Hegesippes.
P. Mehlhorn, Die Lehre von der menschlichen Freiheit nach
Origenes’ repl dpyüv.
& W. Gass, Zur Frage vom Ursprung des Mönchtums.
4, G. Hertzberg, Einige Bemerkungen über die Erhaltung der grie-
chischen Nationalität durch dje griechische Kirche.
Analekten.
1. Th. Zahn, Der griechische Irenäus und der ganze Hegesippus im
16. Jahrhundert.
2: A. Harnack, Zu Eusebius H. e. IV, 15, 37.
38: O. Waltz, Vorläufige Mitteilung über zwei wertvolle Handschriften
der Stadtbibliothek zu Riga.
4, OÖ. Waltz, Epiptalae Reformatorum I.
5. Chr. Meyer, Aus dem Briefwechsel Melanchthons und des Mark-
grafen Johann von Brandenburg.
aa
Im- Berlage von Wiegandt & Grieben in Berlin iR foeben erfehienen
und durch jede Buchhandlung zu beziehen:
Sicher, P., Veſchäſtigung mit der Offenbarung St. Johannis. 75 4
Kreibig, P., Bie Verſohnungslehre auf Grund des chriſtlichen Lewußtſeins.
6A
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⸗
2.
DM
Berlag von Rudolf Befler in Gotha.
dabrhüder für deulſche Theologie
Berausgegeben von
Dr. DSilmann und Dr. Dorner in Berlin, Dr. Eprenfendhter und
Dr. Wagenmann in Göttingen, Dr. Landerer und Dr. Weizfäder
in Tubingen.
1877. Wo. IXH, Soft 3.
Ichalt: Wiefeler, Ueber deu Brief des röm. Clemens an die Korinther. —
Bellhauſen. Die Tompofttion des Herateuche. II, — Wendt, Ueber
die richtige Merhode der Aumanduyg der Kailigen Schrift in der theo-
ee Ethik. — Krenkel, Zur Erklärung des Namens Mephifto-
pheles.
Auzeige neuer Schriften.
2
Verlag von Ferdinand Buke in Stuttgart.
Soeben erschien und ist durch alle Buchhandlungen zu beziehen:
Die
Geschichte der Quellen und Literatur
des Capnonischen Rochts
von Gratian bis auf die Gegenwart.
Von
Dr. JoM. Friesdn, von Schulte,
Geheimem Justizraih und Professor der Rechte in Bonn.
Brei Bände.
Zweiter Band.
Die Geschichte der Quellen und Literatur von Papst Gregor IX,
bia zum Concil von Trient.
or. 8. Preis 20 Mark.
Neuer Verlag von Dreitlepf und Hãriel in Leipzig.
Kirchengeſchichte.
ehrbuch.
zunächſt für akademiſche Vorleſungen
von Dr. Karl Ang. haſe.
Zehnte verhefierte Anflage. gr. 8.n. A 10.
Verlag von F. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erschien:
ASCENSIO ISAIAE
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CUM
PROLEGOMENIS, ADNOTATIONIBUS CRITICIS ET EXEGETICIS
ADDITIS VERSIONUM LATINARUM RELIQUIIS
EDITA AB
AUGUSTO DILLMANN,
8. Geh. 3 M. 50 Pf.
Auf der Vergleichung neuer Handschriften beruhend, welche
während des abessynischen Feldzuges aus Magdala nach Europa
gelangten, stellt diese Ausgabe den äthiopischen Text der „Himmel-
fahrt des Propheten Jesaias“ in endgültiger Weise fest. Der be-
rühmte Herausgeber hat die Schrift als Festgabe zum 400jährigen
Jubiläum der Universität Tübingen dargebracht. |
Neuefter Verlag von Hermann Goftenoble in Jena.
Entwickelungsgeſchichte
der
Vorſtellungen vom Zuftande nad) dem Tode,
auf Grund vergleidendber NReligionsforfhung
dargeftellt von
Dr. Edmund Spiek,
Licentiat unb Privatbocent an ber tät Jena.
Ein ftarker Band gr. 8%. — brod. 13 A
Bei Wilgelm Violet in Leipzig ift erjhienen unb durch alle
Buchhandlungen zu beziehen:
Kluge, 8. Chr., Epiflelpredigten zum Borlefen in Land
irchen, fowie zur inslehen Erbauung aufalle Sonn-
und Feſttage des chriſtlichen Kirchenjahres. Vierte Auflage.
Eleg. geh. 6 AM — Eleg. Halbfrzbd. 7 A
‚, Evangelienpredigten. Zweite Auflage. leg. geh.
6A — Eleg. Halbfrzbd. 7 A
‚, Saflenpredigten, Begräbnißpredigten, kurze erbauliche
DBetrahtungen. Zweite Auflage. leg. geh. 3. A — Eleg.
Hulbfrzbd. 4 M 25 5.
Alle drei Bände, deren jeder auch einzeln zu erhalten ifl,
wurden in den angefebentten Zeitſchriften ſehr günftig
beurtheilt. Proſpecte gratis.
— — —
Zur gefälligen Beachtung!
Die für die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einfendungen
find an Brofeffor D. Riehm oder Conſiſtorialrath D. Köftlin in
Halle yes. zu richten; dagegen jind die übrigen auf dem Titel
genannten, aber bei dem Redactionsgefchäft nicht betheiligten Herren
mit Zuſendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re-
daction bittet ergebenft, alle an fie zu fendenden Briefe und Packete
zu franfiren. Innerhalb des Poſtbezirks des Deutfchen Reiches, ſowie
aus Defterreich- Ungarn, werden Manuferipte, falls fie nicht allzu
umfangreich find, d. h. das Gewicht von 250 Gramm nidt
überfteigen, am beiten als Doppelbrief verfendet.
Sriebrih Audreas Perthes.
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Suhalt.
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Vorwort
Abhandlungen.
1. Kleinert, Amos Comenius.
2. Kamwerau, Die Trauung . .
3. Kattenbuſch, Kritifche Studien zur Sumbolif. (ei Krtitel).
Gedanken und Bemerkungen.
1. Köflin, Ein Beitrag zur Ejchatologie der Neformatoren .
2. Kolbe, Auslegung der Stelle Eph. 2, 19—22 .
Recenjionen.
1. Budde, Beiträge zur Kritik des Buches Hiob; rec. von Smend .
125
135
153
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Theologiſche
Studien und Kritiken.
Fine Seifert
dus gefamte Gebiet der Theologie,
begründet von
D. ©. Illmana um D. F. W. 6. Umbreit
und in Verbindung mit
D. 3. Müller, D. W. Beyſchlag, D. Guf. Baur
herausgegeben
D. E. Rich mn D. J. Röflin.
Hafırgang 1878, zweites Heft.
Di een
J
"Gotha.
Sriedrig Andreas Verthes.
1878.
ger BR PRER OUPAUR OBER =) R > ν* OEEIE HUN SIR3
|
SET Feet
Theologifche
Studien und Kritiken.
cFine Zeitſchrift
für
das gefamte Gebiet Der Theologie,
Begrändet von
D. 6. Ullmann um D. J. W. €. Umbreit
und in Berbindung mit
D. 3. Müller, D. W. Beyſchlag, D. Guſt. Baur
herausgegeben
D. E. Riehm D. 3. Köſtlin.
Dahrgang 1878, zweites Heft.
a
Gotha.
Triedrih Andreas Perthes.
1878.
Abhaudlungen.
121
l.
Aritiſche Studien zur Symbolik
im Anſchluß an einige neuere Werte!)
Bon
Lic. Ferdinand Kaffenbuſch,
Privatbocenten an ber Uiniverfität Göttingen.
LI SEO IeE Tr 22790
Zweiter Artikel.
2. Gehen wir nunmehr zu den abendländifchen Kirchen iiber, fo
betreten wir ein Gebiet, welches uns zum voraus befannter umd
beimifcher ift, als das foeben verluffene. Kine Anbeutung wird
daher oft genügen, um minbeftens die äußere Geftalt ber einzelnen
Lehren und vorzuführen. Allerdings die Gründe der einzelnen
Lehren, ihr Zufammenhang als Ganzes, find noch ziemlich ebenfo
wenig geläufig, wie bei der griechischen Kirche.
Zeider ift das eigens der römischen Kirche gewidmete Wert
von Joh. Deligfch, von dem wir zunächft ausgehen, nicht über
den erften Theil, welcher das „Orunddogma des Romanismus“,
feine Lehre von der Kirche, behandelt, Hinausgelommen. Der noch
in ingenbfihen After ftehende Verfaſſer ift ſchon ein Jahr nad
Vollendung dieſes Bandes, nachdem er noch die Symbolif feines
dehrers Dehler druckfertig geftellt hatte, aus biefem Leben abbe⸗
1) Bol. Heft I, S. 94 diefes Jahrganges.
180 Kattenbuſch
rufen worden. Er ſtarb am 3. Februar 1876 in Rapallo bei
Genua, wohin er kurz vorher, vergeblich im Süden Geneſung
hoffend, geeilt war. Möge denn fein Werk, an welches er, wie
er jelbft im Vorworte berichtet, feine ganze Kraft und Begeiſterung
gefegt bat, auch in feiner unfertigen Geftalt feinen Namen unter
uns bewahren. Denn nächſt dem Hafe’fchen „Handbuch der
proteftantifchen Polemik gegen. die römiſch⸗katholiſche Kirche“, mit
dem er fich freilich in einer Weiſe meſſen fann, bietet es aller-
dings die werthvollſte Darftellung des Katholicismus, welche die
neuere proteftantifche ‘Theologie geleiftet hat.
Delitzſch hat fein Werk nicht eine Polemik gegen die römische
Kirche nennen mögen. Denn feine nächſte Tendenz war die, das
römifche Lehrſyſtem gründlicher, als bisher gefchehen, darzuftelfen.
Aber die directe (Leider nicht felten zu wenig maßvolle) Polemit
nimmt doch einen breiten Raum in diefem Werke ein. Freilich
tritt fie immer erft ein auf Grund einer eingehenden gefdichtlichen
Erörterung über den Sinn und die Herkunft der römischen Dogmen.
Doch fehlt dem Verfaffer der eigentlich Hiftorifche Blick. Es ift
ungerecht, die römische Kirche immer nur mit der proteftantifchen
zu vergleichen. Auch darf die gefchichtliche Ableitung der Tatholifchen
Anschauungen nicht jo äußerlich gefchehen, wie es bei Delisfch doch
mehr oder minder ber Fall if. Das ſchließt nicht aus, daß wir
das Werk als ein höchſt inftructives, vielfach intereffantes bezeichnen.
Die Quellen, aus welchen da8 Werk die normative Geftalt der
römischen Lehre erhebt, find in erfter Linie die officiellen kirchlichen
Lehrentfcheidungen. In zweiter Linie werden aber aud) ausgiebig
benugt die orthodoren dogmatiſchen Werfe des Mittelalters (bes
fonders bes Thomas von Aquino) und der neueren Zeit (befonderg
Bellarmins, aber auch neuefter Theologen, 3. B. Klees, Conr.
Martins, Perrones).
Eine zufammenfafjende Charafteriftit des Romanismus hatte
ſich Delisfch für den Schluß feines Werkes vorbehalten. So werben
wir denn nach der Quellenfchau kurzerhand in die Einzelheiten des
Syitems felbft eingeführt. Und zwar gilt alfo der ganze vor⸗
liegende Band ber Lehre von der Kirche. Das erfte Lehrſtück
handelt vom „Wejen und von den Eigenfchaften der Kirche“. Die
Kritifche Studien zur Symbol. 181
Idee der Kirche deckt ſich nach römischer Anfchauung mit der Außern
Kirche. Das nächjte Merkmal derjelben ift, daß fie einen Nechts-
oerganismms darftellt. Sie ift ihrem Weſen nah „jo fichtbar und
greifbar wie das Königreich Frankreich oder die Republik Venedig“.
Ihre Mitgliebfchaft ift in erfter Linie von äußeren Bedingungen
abhängig: von dem äußeren Belennen des römischen Glaubens und
von der Theilnahme an den Sacramenten. Delitzſch zeigt nun,
wie im römifchen Kirchenbegriff alle die Kigenfchaften, die ber
Kirhe nach dem Glaubensbelenntnis zukommen, materialifirt find.
Die Einheit der Kirche befteht in der äußerlichen Einheit der Lehre,
des Cultus, der DVerfaffung, fpeciell der Einheit des Oberhauptes,
dem Bapfte als dem Vicar Ehrifti. Die Heiligkeit ift eine objective,
jahliche, beftchend mefentlidh in den Vorzügen der äußeren Heils⸗
anftalt: in dem Beſitze der wahren Glaubensformeln, der echten
Sacramente. Die Katholicität, welche empirisch aufgezeigt werden
ſoll, ift natürlich fchwer im Gedränge mit den Thatfachen. Die
Apoftolicität wieder befteht in dem mechanifchen Zufammenhange
der gegenwärtigen Hierarchie mit den Apofteln vermöge ununter-
brohener Handauflegung. Delitzſch jchließt mit der Darlegung der
Lehre von der Infallibilität und der Erelufivität der Kirche.
Das zweite Lehrſtück Handelt von der „Nepräfentation der Kirche
oder der Hierarchie”. Jedoch was bier römiſche Lehre ift, braucht
in feinen Grundzügen, die jedermann befannt find, nicht recapitulirt
zu werden. Delisfch Hat diejes Lehrſtück größtentheils, nämlich
die zweite Abtheilung: über die Gegenſätze des Episkopal- und des
Curialſyſtems, mit befonderem Fleiße ausgeführt. Das mag ber-
vorgehoben werden, wenn ich Hinzufüge, daß eine andere Parthie
jemlich ungenügend ausgefallen ift. Zum Schluffe dieſes Lehr-
ſtücks nämlich) fommt Deligfch auf „die Kirche der Hierarchie im
Verhältnis zum Staate“. Aber gerade diefer Kehre Hätte ein eigenes
behrftück gebürt. Daß Delitzſch diefelbe im Gegentheil einiger-
maßen anhangsweife behandelt, zeigt, daß er ihre Bedeutſamkeit im
Zufammenhange des fatholifchen Syſtems nicht voll erfannt Bat.
Auch ift die gefchichtliche Drientirung hier nicht zulänglid. Dean
erfährt nur das mehr oder minder Geläufige. Die Fülle von
iteratur über die Lehre vom Verhältniffe der Kirche zum Staate,
2 Rattenbufh
welche das Mittelalter hervergebradht hat, kommt durchaus wicht
zu ihrem Rechte und doch lagen hier bereits vorzügliche Vorarbeiten
vor). Es wäre hier auch am Orte geweien, da ja die Beur-
theilung der röwiſchen Lehre von Delitzſch im allgemeinen reichlich
eingeflochten wird, bie römifche Uufchauung eingehender auf ihren
Werth zu prüfen und zwar fowol nachſeiten ihrer wiſſenſchaftlichen
Zulänglichkeit, als nachjeiten ihrer geſchichtlichen Wirkjamteit.
Das britte Rehrftücd, womit der Band fchließt, gilt der „Lehre
von den Erkenntnisquellen der Tirchlichen Wahrheit“. Der Inhalt
desſelben ift kurz und genügend zu charakterifiren mit des Verfaſſers
eigenen Schlußworten: „Apoſtoliſche Schrift und apoftolifde Tra⸗
dition — ſo lautete im Anfange dieſes Lehrftide das Feldgeſchrei
bed Romanismus gegenüber dem proteftantiichen Schriftprincip.
Im Berlauf unferer Unterfudung trat an die Stelle der apofto-
liſchen Zradition die Machtfülle der Kirche des Papftes. Aber
alsbald fahen wir auch die Autorität der Schrift von der Macht:
fülle der Kirche verichlungen werden; denn zu diefer Machtfülle
gehörte auch die Vollmacht, der Schrift nicht nur eine neue authen⸗
tiſche Form zu geben, fondern aud) die in ihr enthaltenen Anord⸗
nungen und Lehren Chrifti und der Apoftel abznändern und um⸗
zugeftalten. So fteht die römifche Kirche der evangeliichen Schrift-
firche in Wahrheit nicht als die Traditionsfirche, fondern als bie
Bapftlicche gegenüber.” —
Ueber Oehlers Darftellung des römischen Lehrfuftens kann
nun fo referiert werden, dag wir auf diefe Weife eine Ergänzung
des Bisherigen erhalten, ohne Wiederholungen zu machen. Nämlich
Dehler und Delitzſch haben bie allgemeine Vertheilung des römischen
Lehrftoffes gemein. Beide beginnen mit der „Lehre von der Kirche“,
um alsdann überzufeiten zu den „Lehren der Kirche“. So weit
1) Bielleicht kam Riezler, Die literariichen Widerfacher der Päpfte zur
Zeit Ludwigs des Baier (1874) zu fpät, um noch von Delitzſch benutzt
zu werden. Aber wenigſtens die Nachweile in Friedbergs Aufſatz:
„Die mittelalterlichen Lehren über das Verhältnis von Staat und Kirche“,
Zeitſchrift für Kirchenrecht 1869, S. 69ff. waren zu beridfichtigen.
Bol. jet auch Tſchackert, Peter von Ailli, beſonders S. 16— 46
(1877).
Kritiſche Studien zur Symbolik. 183
bie Gemeinſamkeit des Stoffes reicht, ift aber auh im wefentlichen
Grmeinfamteit der Auffaffung vorhanden und, fo wird eine Er-
gänzung der Delitzſch'ſchen Darjtellung durch die Dehler’fche nicht
Disparate® verknüpfen. Dehlers Werk als Ganzes ijt jo angelegt,
dag die alte Methode der Vergleichung ver verfchiebenen kirchlichen
Sufteme nach der Reihenfolge der einzelnen loci innegehalten wird.
Das römische Lehrfyften fommt dabei am eheften zu feinem Rechte,
indem Dehler „aus mehreren Gründen“ es für das Angemefjenfte
hielt, da8 Schema dieſes Syftems dem Ganzen zu Grunde zu legen.
In fo fern ift es auch am zweckmäßigſten, Oehlers Werf ge-
tade beim Katholicismus zur Charakteriftil heranzuziehen.
Die „Lehren der Kirche“ beginnen bei Dehler mit der „Theo⸗
lsgie“. Aber hier begegnen wir merfwürdigerweije im eriten Kapitel
den Anweifungen über „die Anbetung Gottes und den Heiligen,
Reliquien » und Bildercultus“. Im zweiten kommt Oehler dann
auf die „ökumeniſche Zrinitätslehre und ihre Gegenjäte“, wobei
er jedoch hinfichtlich des Katholicismus in specie nur feine Dif-
ferenz mit der griechiichen Kirche in der Formel conftatirt. Oehlers
Art iſt es durchweg, die einzelnen Lehren nur zu beſchreiben
und aneinanderzureihen. Dabei entwickelt er gewöhnlich eine
hohe Akribie, und für jeden, auch denjenigen, welcher die allgemeine
Methode Oehlers durchaus misbilligt, wird auf dieſe Weiſe ſein
Verf bleibenden Werth als Repertorium haben. Aber zum Ver⸗
Händnis der einzelnen Lehren, zur Erfenntnis ihrer Entſtehung
und ihres Zuſammenhanges unter einander, vor allem zur Ein»
fiht in ihren Werth verhilft er ung jelten und nirgends genügend.
Ochler ftellt an die Spige feiner ganzen Ausführungen (nad) der
Einleitung, welche die methodologiihen Fragen behandelt) eine Er⸗
Örterung über den „ökumeniſchen Katholicismus und feine Sym-
bofe“ und bemerkt da zur richtigen Beurtheilung der Uebereinſtim⸗
mung aller Confejfionen über die Symbole der erften fünf Jahr⸗
hunderte: si duo profitentur idem non est idem. Aber er hat
diejen warlich richtigen Gedanken im einzelnen nicht praftiich zu
machen gewußt. In wie fern bat die nicänifche Trinitätslehre für
das Abendland, auch für den Katholicismus, einen andern Werth
wie für das Morgenland ?
184 Kattenbufd
Im weiteren treffen wir zunächſt al8 zweite Abtheilung die
„Anthropologie“ , die Lehre vom Urftande, von der Sünde. Die
Darftellung ift Hier durchweg richtig. Freilich der Gegenſatz, der
zwifchen Ratholicismus und Proteftantiemus bier obwaltet, ift feinem
Grunde nad nicht erfannt und demgemäß nicht präcis formulirt.
Er ift der, daß fatholifcherjeits die Betrachtung eine empirifche,
proteftantifcherfeit8 eine religiöfe if. Daraus find die Ab-
weichungen im einzelnen fofort begreifiih. Doc darauf will ich
nicht näher eingehen.
Die dritte Abtheilung ift der „Soteriologie” gewidmet. Die
„Lehre von der Perfon und den Ständen Chrifti” kann übergangen
werden, da als fpecififch fatholifch e& Hier nichts zu beſchreiben
gibt. Sofort führt Debler uns zur „Lehre vom Werke Chrifti“,
welche nad) dem Schema des dreifachen Amtes abgehandelt wird.
Erwähnen wir nur das über das „hohepriefterliche Amt Chriſti“
Beigebrachte. Nach Darlegung der Anfelm’fchen Satisfactionetheorie
erwähnt Dehler die thomiftifche und fkotiftifche Auffaffung. Wenn
Thomas die satisfactio nicht für simpliciter necessaria erffärte,
fondern nur für den jchilichiten und zwedimäßigften Weg zur Er⸗
löſung der Menſchheit, übrigens aber die vollkommene Zulänglichfeit
der Genugthuung Chrifti annahm, fo bildete Duns Stotus vollends
die fogenannte Acceptationstheorie aus. Das Tridentinum ums
ging die Frage nach der Nothwendigfeit und begrifflihen Zuläng⸗
lichkeit des Werkes Ehrifti zum Zwecke der satisfactio thunlichft.
Aber in wie fern ift die ganze Lehre vom Werke Chrijti für den
Katholicismus charakteriſtiſch? Und welchen Werth Hat ein fo
kurzes Referat, wie Debler hier bietet? Auf diefem Punkte machen
Oehlers Deittheilungen bejonders lebhaft den Eindruck von No—⸗
tizen.
Kommen wir auf die Lehre „von der Aneignung bed Heils“,
fo treten wir in die Fragen ein, die und Proteftanten gewöhnlich
am meiften intereffiren in dem fatholifchen Syſtem. Es handelt
ſich zunächſt um die Frage nad) der „göttlichen Vorherbeftimmung
und dem Verhältnis der göttlichen Gnade zur menschlichen Freiheit“.
Das Tridentinum befand fich Hier im Verlegenheit. Einerſeits
folite die den Augujtinismus erneuernde proteftantifche Lehre ver»
Kritiſche Studien zur Symbolik. 185
urtheilt, anderfeits der Widerfpruh, in den man fid) dadurch mit
mit dem „heiligen“ Auguftin fette, verhüllt werden. Zugleich galt
18 hindurchzuſteuern zwifchen der ftrengeren Theorie ber thomiftifchen
Dominicaner und der laxeren der flotiftifchen Franziscaner. Thomas
von Aquino Hatte gelehrt: ohne Gnade gibt es in feiner Weife
eine Erkenntnis, ein Wollen oder Thun des Guten, eine Liebe zu
Gott; auch ſchon die Vorbereitung zum Empfange des Gejchentes
der gratia habitualis ift ein auxilium gratuitum Dei interius
animum moventis. Der Sfotismus aber lehrte, daß der Wille
des Menschen ſich ohne Gnade zur justificatio di®poniren fünne.
Dos Tridentinum trifft die Entſcheidung, daß der Menfch aller»
dings nicht ohne die Gnade zur justificatio gelangt, betont aber
daueben, daß die Gnade den Willen nur anzuregen und zu unters
fügen brauche, daß alfo der Wille die justificatio mitbegründender
dactor fei. Zu diefem Kapitel ift fatholifcherfeit8 monirt worden,
daß auch die fkotiftiichen Theologen nur von einer fpontanen Prä-
paration auf die gratia prima oder fidei, nicht die gratia secunda
eder justificationis reden ?).
Aber was ift denn die Nechtfertigung? Das Tridentinum
erläutert diefelbe als translatio ab eo statu, in quo nascitur
flius primi Adae iu statum gratiae et adoptionis filiorum
Dei per secundum Adam. Sn fo fern aber ift fie non sola
peccatorum remissio sed et sanctificatio et renovatio inte-
roris hominis per voluntariam susceptionem gratiae et do-
ıorum, unde homo ex injusto fit justus. „Hierin concentrirt
Ad der Gegenfag gegen die evangelifche Lehre. Die Rechtfertigung
I) Bol. Knittel: „Studien über die Grundfragen der Symbolik“, Theologifche
Quartalſchrift 1876, S. 643. Freilich Hat jene Schulunterfcheidung
ſachlich nicht viel auf fi. Oehler berichtet nur zu ſummariſch. In dem
Beſtreben, möglihft viel Detail zu bieten, kommt er gelegentlich ins
Gedränge mit dem Raume und der Zeit. Dan bebenfe, daß wir feine
Borlefungen vor uns haben. Vielleicht hätte er gut getban, einiges
gar nicht zus berühren, wenn es zu weitläufig war, es ganz Har darzu⸗
legen. — Auf Rnittels ſehr vefpectable, in mancher Beziehung beherzigens⸗
werthe Arbeit mache ich gerne aufmerffam. Da fie jedody die Methode
der Vergfeichung befolgt, die, wie ich fogleich zeigen werde, unbrauchbar
iM, gehe ich diesmal nicht näher auf fie ein.
1856 Kattenbuſch
ift hienach allerdings aud Sündenvergebung, aber dieſe iſt nur
ein nebenhergehendes Moment. Der Vorgang, der nach evangeliſcher
Anfchauung über Leben und Seligkeit entſcheidet, wird in der rö⸗
mijchen Kirche in den Hintergrund gedrängt. Wejentlich üft die
Rechtfertigung nicht ein losſprechender und zurechnender, jondern
ein mittheilender Act, nämlidy die Heiligung und Erneuerung des
Menſchen ſelbſt.“ |
Nach der allgemeinen Methode, welche Oehler befolgt, ift diefe
Bergleihung der römijchen Yuftificationslehre mit der proteftau-
tischen ſelbſtverftändlich. Da uns nun bier am geläufigften iſt,
uns mit den Katholifen zu meilen, und da es bier nadh alter
Tradition am berechtigtften erjcheint, die fatholifhe und pro
teftantifche Lehre Direct zu confrontiren, fo mag dieſer Fall
ftatt aller benugt werden, um zu zeigen, wie unzulänglich diefe
Localmethode für das Gefchäft der VBergleihung in der Sym
bolit ift. |
Wenn zwei gleichnamige Lehren in zwei Confeffionen unmittel
bar mit einander verglichen werden follen, jo muß doch voraus
gefegt werden, daß beiderſeits dasjelbe Problem gelöft werden ſoll.
Denn Mittel können nur im Vergleich mit dem Zwede, dem ſie
dienen, richtig beurtheilt werden und nur wenn beidemale berfelbe
Zwed erreicht werden fol, fann man verfchiedenartige Mittel an
einander mefjen und mit einander vergleichen. Nun aber ift unter
dem Titel der justificatio auf proteftantifcher und auf fathofifcher
Seite ein ganz anderes Problem vorhanden. Die Beachtung der
proftifchen Verwendung der Lehre von der justificatio ergibt, daB
diefe Lehre bei den Reformatoren zunächft Antwort gibt auf bie
Frage, wie ber in der Kirche ftehende und alfo durch dem heiligen
Geiſt zu guten Werfen befähigte und auf die Hervorbringung guter
Werke thatfächlich gerichtete Gläubige im Stande jei, die Un-
vollfommenheit feiner irdifchen Leiftungen nicht al8 Bedrohung feines
Heils empfinden zu müffen. Die Lehre von der Rechtfertigung
aus dem Glanben ober von der Vergebung der Sünde hat alſo den
Sinn, dem Belehrten feine Heilsfreudigkeit gegenüber der fich noch
vegenden Sünde zu jichern, dem Gläubigen klar zu machen, wie er
als Sünder dennoch Gemeinſchaft mit Gott baben könne. Hin⸗
Kritifche Stubien zur Symbolik. 187
gegen belegen ſchon die oben nach Oehler ausgehobenen Stellen des
Ttidentinums, dag die katholiſche Lehre das ganz andere Problem
bezeichnet, wie der Sünder zu einem factifch Gerechten merbe,
wie die Wiedergeburt des Sunders, die renovatio, zu Stande
fomme. Ratürlich ift diefe Frage auch ein Problem für den Pro
teſtantiemus. Aber eben unter einem andern Zitel und neben
der Lehre von der Rechtfertigung, nämlich unter dem Titel der
Heiligung. Und auch der Katholiciomus kennt irgend mie das
Problem, welches für den Proteftantismus durch die Lehre von
der Rechtfertigung aus dem Glauben gelöft ift, nämlich unter dem
Titel des Bußſacraments, welches in der Abfolation fein Ziel hat.
Alto erhielten wir für die Vergleichmg des römiſchen unb des
evangelischen Lehrbegriffes nach der Localmethode als Correlata zu⸗
nachft die römiſche Lehre non der Rechtfertigung und die proteftan-
tiſche Lehre von der Heiligung (refp. der Buße im Sinne ber
eriten der 95 Thefen), wiederum die proteftantifche Rechtfertigungs⸗
lehre und die römiſche Vehre von der Buße ?).
Indes ich habe nun folgendem Einwande zu begegrien. In
io fern proteftantifcherfeits die Neihtfertigungslehre nicht nur Aut»
wort bietet auf die oben bezeichnete ſpecielle Frage, fondern überhaupt
auf die Frage, auf welchen Grund Hin der Menſch Geltung vor
Gott erlange, fo tritt fie allerdings doch in eine relative Analogie
mit der katholischen Juſtificationscheorie. Nämlich katholiſch ift «8,
zu behanpten, daß die guten Werke als „Berdienfte* der Grund
der göttlichen Gnade und unſerer Gemeinfchaft mit Gott feien.
Dagegen ift es proteftantifche Lehre, daß die guten Werke, unbe-
ſchadet ihrer Nothwendigkeit, niemals dieſe Bedeutung haben.
Borausgefett, daß einer vollkommen alles erfüllt, was göttlicher
Wille in Bezug anf ihn ift, fo würde feine Sündlofigkeit dad
mt der Grund feiner Geltung vor Gott fein. Vielmehr würde
der Grund derfelben auch für ihn nur die Gnade und Liebe Gottes
jem, die in Chriſto offenbar ift und welche unter der Voraus—
ſetzung von Sünde fich als Bergebungewille darftellt. Es find
1) Daß dieſes die richtige Zuſammenordnung ſei, hat Ritfchl bereits feſt⸗
geſtellt (Rechtfertigung und Verſöhnung 1, 126ff. T44ff.)
188 Kattenbuſch
ſchon im Reformationszeitalter Zweifel über dieſen allgemeinen
Sinn der Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben (an die
Liebe Gottes) entſtanden, und Luther ſelbſt iſt daran nicht unſchuldig.
Es ſind Stimmen laut geworden, welche meinten, der letzte Grund
der Gemeinſchaft des Menſchen mit Gott ſei die ſittliche Lebens⸗
leiſtung des Menſchen, nur daß proteſtantiſcherſeits, wie billig, die
Fähigkeit zu guten Werfen allein von ber Gnade Gottes, welche
dem Glauben den heiligen Geiſt verleihe, hergeleitet werde. Melanch⸗
thon hat Anlaß .gehabt, dem gegenüber ſelbſt Brenz erft richtig
über den Sinn der Lehre der Rechtfertigung aus dem Glauben
zu inftruiren )). Der Sinn diefer Pehre ift eben, daß das ganze
Verhältnis des Menſchen zu Gott gegründet fei nicht in feinen
Leiftungen, fondern in Gottes ewiger Liebe. Hier aljo tritt (bei ſach⸗
lichem Gegenſatze) eine formale Analogie zwiſchen der proteftantifchen
und der fatholiihen Auftificationslehre zu Tage. Indes aud fo
bürfen dieſe beiden Lehren doch nicht einfach nebeneinandergeftelt
und mit einander verglichen werden. Nämlich es ift num daran zu
erinnern, daß die katholiſche Lehre von der Möglichkeit und Noth-
wendigfeit von VBerdienften immer ein Gegengewicht hat an der
Lehre von der DBermittlung alles Heiles durch die Sacramente
(og. Trid. sessio VII), weldye Gottes Liebe, Hülfe, Vergebungs⸗
willen als Anfang, Begleitung und Ende des Juſtificationsproceſſes
erfcheinen laſſen. Alſo müßte nunmehr die proteftantifche Recht⸗
fertigungsfehre in Vergleich gebracht werden mit der römiſchen Recht⸗
fertigungs- und Sacramentenlehre. Alſo auch hier zeigt fich die
ehlerhaftigkeit der gewöhnlichen Rocalmethode.
Sollte nun einer meinen, diefe Methode jet doch in fo fern
brauchbar, als man ja in ben zu vergleichenden Spftemen nicht
auf die gleichen Zitel zu fahnden braucde, um die gleihnamigen
Lehren nebeneinanberzuftellen, man brauche nur auf bie gleide
artigen Probleme achtzuhaben, um ihre verfchiedene Löfung in
Vergleich zu bringen — nun, fo ift fein Streiten mehr möglid,
wenn berfelbe es in den Kauf nehmen will, daß bei der ſachlich
I) Bgl. Köftlin, Luthers Theologie II, 455; Ritſchl, Rechtfertigung und
Berföhnung I, 180 ff.
Kritiſche Studien zur Symbolik. 189
angezeigten Zuſammenordnung der Einzelheiten der verſchiedenen
Syſteme immer das eine oder das andere Syſtem in disjecta
membra zerjdjlagen werden muß. Als lebendige Größen lernte
mar dann jedenfall8 die Kirhen nicht mehr kennen und im Ver⸗
gleich mit einander beurtheilen.
Den Schluß der Oehler'ſchen Symbolik bildet die Vergleihung
der Lehren „von den Gnadenmitteln“, wobei für den Katholicismus
natürlich der Hauptantheil auf die Lehre von den Sacramenten fällt.
Fedoch ich bemerke hier nichts Charafteriftiiches und von der land⸗
läufigen Auffaffung abweichendes und darf vorausfegen, daß die
wejentlicheren äußeren Beitimmungen (mit denen Dehler ſich be-
grügt) allgemein befannt find.
Dehlers Werk wird ohne Zweifel ein beliebtes Handbuch, bes
fonders ein Nachfchlagebuch, werden. Und es würde diefe Gunft
des theologischen Publicums auch vollauf verdienen. Der Heraus-
geber, 3. Delitzſch, iſt felbft mit der Methode des Buches nicht
ganz einverftanden. Er deutet an, daß fie allerdings vielleicht die
„ehrhaftefte” ſei. Unter der Vorausfegung, daß die kirchlichen
Lehrſyfteme alle diefelben Probleme und allemal in derfelben Reihen-
folge und allemal unter demfelben Zitel darbieten, ift dies fo richtig,
daß ich feine andere Methode billigen würde. Aber nachdem ich diefe
Borausfegung wenigftend an einem fignificanten Punkte glaube
widerlegt zu haben (das Weitere wird noch, ohne daß ich ausdrücklich
darauf hinweiſe, genug andere Belege bringen), und indem ich dem⸗
zufolge auch beanftanden muß, daß die Localmethode überhaupt für
den allgemeinen Zwed der Symbolif „lehrhaft“ jei, eigne ich mir gerne
da8 weitere Wort des Herausgebers an, dag der Werth eines willen»
ihaftlichen Werkes nicht ausschließlich durch die Methode bedingt fei.
Dehlers ruhiges, relativ meitherziges Urtheil über alle Eonfeffionen
bei warmem Einftehen fiir feine confeffionell lutheriſche Ueberzeugung,
jeine Mühwaltung und Sorgfalt in der Auswahl ber Duellenbes
lege, feine überaus reichhaltige Materialfammlung für die Einzel
heiten, feine lichtvolle Darſtellung — das alles foll unvergeffen
jen. Um fo mehr wünſchte ih allerdings, dag dies die lebte
Symbolik im alten Stile wäre. Denn wenn fich diefer Wunſch
zealificen follte, fo dürften wir der alten Methode im Hinblick
1% Kattenbuſch
auf Oehlers Werk mit einer gewiſſen Verſöhnung gedenken. Es
ſollte ihr dann, weil ſie dann zum Schluſſe noch einmal redlich
geleiſtet, wozu ſie fähig iſt, vergeſſen ſein, daß ſie ſo wenig bei⸗
getragen zur Löſung der höchſten Aufgabe der Symbolik, das Ver⸗
ſtändnis der Confeſſionen und die Erkenntnis des Werthunter⸗
ſchiedes derſelben zu vermitteln.
Es liegt mir nun ob, in der Kürze poſitiv anzudeuten, wie
das Bild des Katholicismus fich geftaltet, wenn wir verfuchen,
feine Lehren in ihrem genetifchen Zufammenhange zu erfaften. Auch
bier, wie bei der griechifchen Kirche, ift e8 die Quellenfrage, von
weicher guten Theils meine Differenz mit Deligfh und Oehler
ihren Ausgang nimmt. Freilich glaube ich aud) mit zweckmäßigeren
Fragſtellungen, wie diefe beiden Theologen, an den Stoff heranzu⸗
tveten und dadurch eine vichtigere Vorftellung von der römifchen
Kirche zu gewinnen.
Ich Habe (Hft. I, S.107) bereits gelegentlich bemerft, daß es zum
Verſtändnis des Katholicismus nothwendig fei, auch über die Beriode
der Scholaftit noch Hinauszugehen und zwar bis auf Auguftin.
Es iſt merfmürdig, wie zäh die traditionelle Auffaſſung dieſes
Mannes ſich behauptet, wiewol alles Detail, weldes über feine
Ideen bekannt wird, nicht zu der landläufigen Annahme, dag er
der Ahnherr der Reformation jei, jtimmen will und wiewol man
im einzelnen überall die Conceffion findet, daß er doch eigentlid)
recht weit entfernt geweſen fet von den Erkenntniſſen der Refor⸗
matoren. Man muß fich aber entfchließen, das Urtheil Aber feine
geſchichtliche Stellung viel radicaler dahin umzuändern, daß man
anerkennt, daß er im mefentlichen, nämlich vermöge feiner formu⸗
lirten Lehren und feiner abfichtlichen kirchlichen Beſtrebungen, der
Bater des römiſchen Katholicismus ift und daß bie Anknüpfungs⸗
punkte, welche die Reformatoren bei ihm fanden, nur der Zuſatz
in feiner Gedanfenbildung find. Wer auch nur ein wenig in den
Werten der Scholaftiker fich umgefehen hat, weiß, welche Rolle
Auguftin für diefe Theologen ſpielt. Es fteht durchaus nicht 16,
ale ob bloß gewiſſe oppofitionelle Theologen des Mittelalters feine
Kritifche Studien zur Symbolil. 191
Autorität angerufen und hochgehalten hätten. Vielmehr beziehen
äh alle Barteien auf ihu, und überall gilt er für eine Größe,
von der man füglich nicht appelliren könne, die man für fich ge-
winmen müſſe, wenn man nicht gerichtet erjcheinen wolle. Auch
Theologen, bie fich fo weit von feinen Anfchauungen über Sünde
und Gnade, Freiheit de8 Willens und Prädeftination entfernen,
wie die Nominaliften, halten doch ſtets darauf, mit ihm im Con⸗
tact zu bleiben, fi) auf ihn zu beziehen, zu behaupten, baß fie
jeine Ideen fortfegten. Jede Richtung fühlt das Bedürfnis, ihre
Feen in Auguftin wenigſtens bineinzulefen. Schon dies dürfte uns
daranf aufmerkſam machen, daß das katholiſch⸗kirchliche Lehrſyſtem
wohl feine Wurzeln und feinen eigentlihen Boden in Auguftins
Theorien babe. Aber es läßt fi auch der urkundliche Beweis er⸗
bringen, daß die katholiſche Theologie fich nicht täufcht, wenn fie
in Anguftin das geiftige Haupt ihrer Kirche erblidt. Der Katho-
licismus verwendet in der That im wefentlihen nur religiöje
Motive, die von Auguftin herſtammen. Er ift bie weltgefchichtliche
Durdführung des Programme, welches biefer Kirchenvater formulirt
bat. Geht man von Auguftin aus, wo man bie katholifchen Ge⸗
danfen in ihrer primitiven Geftalt und in ihrer Geneſis beobachten
fann, fo wird man am eheften das Tatholifche Syftem als Einheit
begreifen Lernen ').
Zunäãchſt nun ift Auguftin derjenige, welcher ben noch jet gültigen
römischen Kirchenbegriff durchgefegt hat. Eine Parallele mit dem
Bfendo-Areopagiten, welcher, wie wir fahen, die analoge Bedeutung
für die morgenländifche Kirche hat, wirb uns alfo am Tleichteften
dahin führen, die Eigentümlichkeiten Auguftins und den Abſtand
der römischen Kirche von ber griechiſchen zu erkennen 2).
1) Ich verfuche im weiteren eine Ausführung und mehrfach eine Ergänzung
der Andeutungen, welche Ritſchl befonders in feinem ſchon öfter citirten
Anfiage „Zur Methode der älteren Dogmengeſchichte“, aber auch in feinem
Werke über die „Rechtfertigung und Berſöhnung“ an verichiedenen Orten
über Auguftins gejchichtliche Stellung gemacht hat.
2) Bol. für Auguftins Lehre von der Kirche H. Schmidt: „Des Auguftinus
Lehre von ber Kirche“ (Jahrbücher für deutiche Theologie 1861), — ein Aufſatz,
der freilich nur zum hell richtig orientirt. Ferner Nitzſch, Dogmen-
Theol. Etub. Iahrg. 1878. 13
1% Kattenbuſch
In die Augen füllt, daß zunächſt darin eine Uebereinſtimmung
zwiſchen Auguftin und dem Wreopagiten ftattfindet, daß beide in
der Zugehörigkeit zu der Außeren Kirche die unerläßliche Bedingung
alles Heiles fehen. Auch für Auguftin gilt das extra ecclesiam
nulla salus für die anftaltfiche, bifchöflich verfaßte Kirche, ja dieſer
Sat ift geradezu der Mittelpunkt feiner ganzen Theologie. Indes
tritt nun ber fundamentale Gegenfat beider Kirchenväter zu Tage,
wenn wir auf die Anſchauung von dem Zwecke der Kirche acht⸗
haben. Iſt nämlich für Dionys die „irdifche Hierarchie“ nichts
anderes als der Organismus derjenigen myſtiſchen, göttlich phy⸗
ſiſchen Kräfte, die geeignet find, die Menſchen mit immer höherem,
wahrerem Sein bis zur Einigung mit Gott zu erfüllen, Haben
für ihn bie kirchlichen Myſterien eben den Sinn, das effentielle
göttliche Leben durch die mit reinerem, höherem Sein erfüllten
Hierarchen überzuleiten in bie niedrige Dienge, — fo ift hingegen
die Kirche für Auguftin der Organismus der göttlich ſittlichen
Kräfte, jo Hat für ihn bie Kirche die ganz andere Anfgabe, unferen
Willen mit göttlicher Kraft zu erfüllen und ihn mit Quft zum
Guten auszuräften. Ich brauche wich für biefe Anſchauung
Auguftind nur auf fen Hauptwerk De civitate Dei zu beziehen.
Schmidt hat diefes Wert, welches doch das wefentlichfte Document
der Theologie unferes Sirchenvaters ift, merkoürbigerweife faft
gar nicht berückſichtigt. Eben barum wol bat er fein Auge dafür
gehabt, daß in der Beſtimmung des Zweckes der Kirche die ber
deutfamfte Eigentümlichkeit des Auguftin’fchen SKicchenbegriffes zu
fehen ift. In jenem Werke ift e6 ja unverkennbar, daß die Kirche
derin ihr unterfchiebliches Weſen bat, baf fie der Organisınus des
Guten if. Was anders ift der Gegenfag des Gottesreiches und
des Weltreiches als ber des Gehorſams gegen Gott und fein Geſetz
und der Sünde, der Auflehnung gegen bie göttliche Weltorbuung?
Es bedarf nun bloß einer kurzen Ueberlegung, um zu ertennen,
daß die römiſche Kirche in der That die Häterin der Auguftin’schen
Anſchauung von dem Zwecke der Kirche ift und eben damit eine
— —
geſchichte 8 26, 8 (S. 239 ff.). Bei letzterem vergleiche andy das Nötbige
über die Borläufer der Anguftin’ichen Ideen.
Kritifche Studien zur Symbolilk. 198
höhere Stufe darfiellt, als die griechifche. Das Weitere wird yeigen,
me der gefamte Zufchnitt des römiſchen Lehrfyftems bemefien
iſt nach dieſer Grundauffaſſung. Hier will ih nur daran erinnern,
wie die geſchichtliche Wirkſamkeit diefer Kirche unter ben Vollkern,
in denen fie Wurzel gefaßt Hat, ein ftetiger Beleg dafür ift, daß
fie die Erbin und Pflegerin des Auguſtin'ſchen Geiftes geworden.
Bean die griechiſche Kirche kaum etwas beigetragen bat zur ſitt⸗
lichen Entwicklung ber Bölker, die ihr anhängen, fo ift im Gegentheil
die römische in ihrer Art eine treue Lehrmeifterin der ihr ergebenen
Böller in dieſer Hinficht geweſen. Die griechifche Kirche hat ſich
cinfach gefügt und angefchmiegt an die überlommenen Formen des
Staats⸗ und Boltslebens. Schließlich Hat fie biefelben gar direct
geheiligt und damit am ihrem Theile noch eigens verhindert, daß
die Bälker des Drients neue Ideale aufnehmen, neue Aufgaben
ergreifen. &in ganz anderes, erhebenberes Bild zeigt ba bie römifche
Kirhe. Mit kühner Entſchlofſenheit Hat fie neue Maßſtäbe, nene
Peale aufgeftellt und durchgeführt. Welch weitgreifenden Einfluß
bat fie — nicht zufällig, fondern in bewußtem Streben und Ringen —
gewonnen auf die Geftaltung der Rechteverhältuiffe, auf bie Ent-
widlung ber Sitten, auf bie Berftellungen von ben focialen uud poli-
tiihen Aufgaben der Völker! In der That ift fie es geweſen, welche
eine nene Cultur heraufgeführt bat, als bie antife in den Stürmen
der Bölterwanderung zuſammengeſunken war. Wenn fie auch im
einzelnen fich oft genug bat bereit finden laſſen, die hergebradhten
Lecbentformen zu fanctioniren, — im großen hat fie ftet6 aufrecht
erhalten, daß das Ghriftentum ein neues Leben fordere, daß bie
Geistlichen Ideen das gefamte Leben der Völker durchdringen und
umgeftnften follten. So ift denn auch die Eulter ber unter ihrer
Erziehung gebildeten Völler eine eigenartige, eben eine chriftlice. Wir
dürfen bier davon abfehen, daß ihre been über das Weien ber
chriſtlichen Sittlichkeit nicht die correcten, vollfommenen waren. Es
waren doch Fittliche Gedanken, die fie den Völkern eingepflanzt het.
Die Forderung ber Kiebe als des höchften Gebotes bat fie doch un⸗
verlöfchlich eingefchrieben in das Bewußtſein ver chriſtlichen Nationen.
Richt als ob Diefer Gedanke den orientalifchen chriftlichen Voöllern un-
belaunt wäre; aber lebengeſtaltend ift er erft im Wbenblande geworben.
13 *
194 Kattenbuſch
Es iſt bezeichnend für die römiſche Kirche, daß ihre Geſchichte eine
ununterbrochene Reihe von Reformationsverſuchen aufweiſt. Das
ſtetige Verlangen nach einer Reformation, welches durch das Mittel⸗
alter hindurchgeht, es iſt ja gewiß einerſeits ein Zeichen, wie wenig
ideal die Zuſtände in der Kirche waren; — aber iſt es nicht zu—⸗
gleich ein Zeichen des Sinnes, den die Kirche den Böllern einge-
pflanzt Hatte? Es ift doch nicht der jchlimmfte Zuftand, wenn die
Völker noch die Unzulänglichkeit ihrer fittlichen Verfaſſung erkennen.
Die Zuftände der griechiichen Kirche waren befanntlich nicht beifer,
als die der abendländifchen. Doc) gebt die Unzufriedenheit und das
Verlangen nach einer Beſſerung nur durch bie Tegtere! Iſt das
Möndtum das Ideal der römifchen Kirche, fo ift es doch fehr zu
beachten, daß es immer wieder nach neuen Grundjägen geregelt
und erneuert wird. Das griehifhe Mönchtum bat immer nod)
die gleiche alte Regel des Bafllius! Und ift nicht auch das ein
Zeichen der verfchiedenen Art der römischen und der griechifchen
Kirche, dag in letzterer das Mönchtum einfach neben dem bürger-
fihen Chriftentum fteht, während in erfterer ſeit Franciscus von
Affift in der Ymftitution der Zertiorier der Verſuch gemacht wird,
das Leben der Chriftenheit im möglichft weiten Umfange dem
Ideal anzunähern? Auch Heute no will die römische Kirche in
ihrer Art nichts anderes fein, als die Stifterin und Leiterin des
fittlichen Lebens. Daß fie, feit der Proteftantismus vorhanden ijt,
der vollfommenen chriftlichen Sittlichleit zum Theil nur hemmend
entgegentritt, daß fie im einzelnen vielfach) fogar im directen Gegen-
fat fteht zu den wahrhaft chriftlichen Forderungen, da8 werden wir
nicht leugnen. Doch darf uns das auch nicht den Blick dafür
trüben, daß fie ihrer Abficht nach doch das chriftliche Sittengefeg
hochhält und durchzuſetzen ſtrebt. Das ift noch immer ber Geift
Anguftins, der in ihr wirkſam it!
Wenn nun fchon gefagt tft, daß Auguftin als die Kirche, außer-
halb deren alle Tugenden nur glänzende Lafter find, nichts anderes
denkt, als die hierarchiſch verfaßte, anftaltliche Kirche, jo ift ja fein
Wort darüber zu verlieren, baß der Katholicismus dieſe Idee ale
eine unveränßerliche immerdar feitgehalten hat. Auch der Katho⸗
licismus bezeichnet die Kirche als communio sanctorum. Indes
Kritische Studien zur Symbolit. 1%
igen doch die Beitimmungen des römischen Katechismus über die
Stellung der Böfen in ber Kirche und noch deutlicher Bellarmins
berühmte Ausführungen, daß jene Bezeichnung im Ratholicismus
ander8 gemeint ift, ald im Proteftantismus. Wir können in der
Kürze vielleicht fagen, für den Katholicismus fei der Ausdrud
communio sanctorum die Bezeichnung des deals, für den
Proteftantismus hingegen die Bezeichnung des Begriffes der Kirche.
Der Begriff der Kirche ift im Katholicismus der, daß fie der
hierarchiſche Rechtsverband iſt. Diefer Nechtöverband ift nach
proteftantifcher Anfchauung nur eine und nicht die mwejentlichite Form
der Kirche. Wollen wir nun aber die römiſche Anfchauung von
der Kirche im Unterſchiede von ber griedhifchen angeben, jo haben
wir die römifche Kirche als einen Staat, fpeciell als den theo-
kratiſchen Univerfalftaat zu bezeichnen. Auguftins Bezeichnung
der Kirche ald civitas Dei iſt alfo eine jehr glückliche und ſigni⸗
fcante. Es entjpricht nun bdiefer Anfchauung, daß als das Mittel,
wodurd) die Kirche ihren Zwed an den Menſchen zu erreichen dentt,
nicht blos, wie in der griechischen Kirche, die Sacramente genannt
werden, fondern vor allem audh da8 Regiment. Ya auf dieſes
letztere, welches in der griechiſchen Kirche ganz zurüdtritt, fällt nach
fatholifcher Anſchauung ein folches Gewicht, daß Auguftin als die
eigentliche Kegerei die Trennung von dem legitimum regimen
pastorum anjieht. Wie fehr feither der Katholicismus das Regi⸗
ment der Kirche jtets als conftitutives Merkmal derfelben hochge⸗
halten hat, bedarf nicht erft des Nachweifes. Es ſei nur dies eine
bemerft, daß, wenn als die Bedingung der Zugehörigkeit zur
Kirhe 3. B. von Bellarmin die professio fidei und die communio
sacramentorum genannt wird, Hinfichtlich der erfteren nur nöthig
it, auf .die überall anzutreffenden Erläuterungen des Begriffes der
fides zu adten, um zu erkennen, daß diefelbe nichts anderes be-
deutet als den Gehorſam gegen die Kirche, mögen nun ihre
Satungen theoretifcher oder praftifcher,, veligiöfer oder moralijcher
Ratur fein.
Indem bie römische Kirche fich ſelbſt als einen Staat erfaßt,
jo iſt es felbftverftändlich, daß fie ihre Kräfte ald in den Händen
des Klerus, der Beamtenfchaft, ruhend anfieht. Es brauchte daher
%
1% Kattenbufd
an ſich kaum notirt zu werden ,. daß in der That auch diefe Vor⸗
- ftellung von Auguftin deutlich Hineingezeichnet worden in das Bild
von der Kirche, welches er entworfen. Indes ift die Lehre vom
Klerus, wie fie bes näheren im Katholicismus ausgebildet ift, Doch
nicht nothwendig gegeben gewefen mit der VBorftellung von der
Kirche als einem Staate, und darüber wird ein Furzes Wort zu
fagen fein. Nämlich diefe VBorftellung läßt zunächft noch die doppelte
Möglichkeit offen, daß man die Beamtenfchaft als Ausſchuß des
Volkes betrachtet, fo daß ber begrifflichde Befiter der Kräfte und
Mittel des Staates doch das Volt bleibt — oder anderſeits, Daß
man jenen Stand als den felbftändigen Befitzer der ſtaatbildenden
Mittel und fomit als ben producirenden Grund des Staates ans
ſieht. Es iſt offenbar, daß dieſe letztere Borftellung die in der
katholiſchen Kirche je Tänger je mehr herrfchend gewordene ift. Der
Klerus fteht über der Gemeinde, aus der er nicht hervorgewachſen
ift, fondern welche er durch feine Thätigkeit erft erzeugt und allein
erhält. So verleiht der ordo einen eigentümlichen geiftlihen Cha⸗
rofter, der ben Prieſter fpecififch über den Laien erhebt und un-
möglich macht, daß er je wieder zum Laien werde. Iſt nun bier
ein Punkt im römijchen Lehrſyſtem zu conftatiren, deſſen Noth-
wendigkeit al8 eine Begriffliche nicht erkannt werden kann, jo gilt
dasſelbe weiter von den Borftellungen über die hierarchifche Gliederung
des Klerus. Und zwar gilt es fpeciell Hinfichtlich des Papſttums.
Es ift in der That nicht einzufehen, warum unter allen Staaten
bei der Kirche allein das Regiment fich nothwendig zufpigen follte
in der Einheit eines oberften Machthabere. Auguſtin Hat nicht
anders gedacht, als dag der Klerus feine höchſte Stufe habe in
dem Collegium der Biſchöfe, welche alle an Dignität glei find.
Dog ift nun hier zu bemerken, daß die Entftehung des Papfttums
gerade fo wie es in unferer Zeit erft durch das vaticanifche Con⸗
cil fanctionirt ift, wie e8 aber Leo der Große bereits gedacht hat
und wie es fich im Laufe der Jahrhunderte immer mehr im Volte-
bemußtfein durchzufegen vermocht hatte, wenn feine theoretifche, fo
doch eine praktiſche Nothwendigkeit war. Es ift ja Fein abfoluter
Beweis dafür zu erbringen, leuchtet indes wie von feldft ein, daf
die römische Kirche als diefer immenfe Staat fih nimmer in ihrer
Kritiſche Studien zur Symbolil. 197
Eigenart hätte behaupten können, wenn nicht ein einziger, energiſcher
Bille die Oberleitung übernommen hätte. Daß der Herricer der
Lirche gerade der Biſchof von Rom geworden, iſt bedingt durd
die gefchichtliche Stellung diefer Stadt, daß überhaupt ein Monarch
der Sirche entfland, der allen andern Regenten derfelben an Würde
ud Macht jo überlegen ift, daß fie erft von ihm ihre Befugniffe
herleiten fönnen, war umnvermeidlih, wenn die Kirche fich ale
eine und als ein Staat behaupten wollte. In jo fern ift doch
Auguftin der Bater auch des Papſfttums !).
Die Mittel der Kirche find aljo das Regiment und die Sacra»
mente. Es wird zwedimäßig fein, wenn wir die Frage nach dem
agentlihen Inhalt der Vorfchriften, des Geſetzes, welches bie
römische Kirche ihren Gläubigen auferlegt, für einen fpäteren Ort
aufbewahren. Hier ift aber der Drt, in der Kürze auf die Lehre
von der Tradition einzugehen. Die Xradition nämlich iſt neben
der Schrift und in praxi über der Schrift die Quelle und der
Rechtstitel für die kirchlichen Satzungen ). Die Entwidlung des
Traditionsdogmas ftellt nun einen ftetigen Kampf zweier Richtungen
dar. Während nämlich die einen feithalten, daß die echte Tradition
bemeffen werben müfje nach dem Kanon des Vincentius von Leri⸗
num, wonach als katholiſch nur gelten kann, quod ubique, quod
semper, quod ab omnibus creditum est, fo verfechten die andern
die Anfchauung, daß auch Neues, bisher Unbekanntes von der Kirche
um Dogmn erhoben werden könne, fo fern anzunehmen jei, daß
eine fih als nothwendig aufdrängende Erkenntnis, die nicht als
bewußte Tradition nachzuweifen fei, eine unbewußte gewejen, deren
ih die Kirche in dem Augenblick entfinne, wo diejelbe für fie von
Wichtigkeit werde. Diefe legtere Richtung hat offenbar gegenwärtig
den Sieg in der FTatholifchen Kirche davongetragen. Wir werden
I) Ueber die SImfallibilität des Papſtes (an Stelle der Eoncilien) eigens zu
reden, ift nicht nothwendig. Sie ift nur eine Specialanwendung und
ſelbſtverſtändliche Confequenz der allgemeinen Aufchauung vom Papfttum.
Bol. über die geichichtliche Entwidlung der Lehre vom Papfttum Langen,
Das Baticanifche Dogma von dem Univerfalepislopat und der Unfehl-
barkeit des Papſtes.
2) Bel. Holtzmann, Kanon und Tradition.
1%8 Kattenbuſch
dies nicht zufällig finden, denn wie die andere mit ihr auch mehr
in abstracto und um Specialitäten in dem factiſchen Befſtande
der von Rom fanctionirten Lehre ftreitet ald mit vollem praftifchen
Ernfte — denn warum hütet auch fie fi, die Codification der
Tradition ein» für allemal zu verſuchen? —, fo ift jene kühnere
Richtung ohne Zweifel diejenige, welche die richtigere Empfindung für
die Intereſſen des Katholicismus hat. Ein lebensträftiges Staats:
weſen hat eben mit dem Wechfel der Zeiten neue Bebürfniffe, muß
befähigt fein, neuen Combinationen der Weltgefchichte gegenüber
neue, zeitgemäße Mittel zu ergreifen. Es ijt ein Zeichen der
Superiorität der römischen Kirche gegenüber der griechifchen, daß
fie e8 unmöglich findet, auszuruhen auf dem ftets Gleichen, von
alteröher bereit8 Beftandenen. Die griechifche Kirche, welche Feine
ethijchpolitifchen Aufgaben kennt, für welche die Glaubensformeln
nur als liturgiſches Material in Betracht kommen, bat kein Be⸗
dürfnis, neue Erkenntniſſe an's Licht zu fördern. Die römifche,
welche auf's directefte berührt wird durch den Wandel der allge
meinen geſchichtlichen VBerhältniffe, wird immer wieder dazu gedrängt,
neue Formeln, neue Saßungen aufzuftellen, um den Sturm der
Zeiten zu beſchwören. &8 ift dies freilich auch ein Zeichen ihrer
Inferiorität gegenüber ber proteftantifchen Kirche. Was die grie-
chiſche Kirche noch nicht nöthig hat, das hat unſere Kirche nicht
mehr nöthig. Denn wenn dem BProteftantismus die Kirche die
societas fidei et spiritus sancti in cordibus ift, jo it ihm
das Evangelium ein einheitlicher Gedanke, weldyer als folcher den
„Heiligen“ zu jeder Zeit im gleicher Weiſe offenbar geweſen ift,
der in feiner ganzen Fülle ſtets gleich nothwendig, aber in feiner
Einfachheit auch ftets gleich ausreichend ift, welcher ein» für allemal
eingetreten ift in unfer Geſchlecht in dem geschichtlichen Chriftus.
Ueber die Sacramente im einzelnen zu handeln ift der Raum
nicht vorhanden und ift auch nicht nothwendig, weil nur die all:
gemeinen Gedanken von prineipielem Intereſſe find. Das Wich—
tigfte ift, daß fie für ben SKatholicismus die fpecififchen Mittel
find, um die göttliche Gnade an die Menſchen heranzubringen. In
dieſem Sinne gilt das Anathema des Tridentinums gegen jeden,
welcher behaupten würde, sacramenta novae legis non esse ad
Kritifche Studien zur Symbolik. 19
sslutem necessaria. Bezeichnet das Regiment der Kirche mit
jeinen tbeoretifchen und praftifchen Vorfchriften und Forderungen
die Summe desjenigen, was als fittliches Ideal durch bie Kirche
zn realifiven iſt, und iſt es alfo in fo fern unter die Mittel der
Lirde zu zählen, als es der ftets wirkfame Regulator ber Vor⸗
tellungen ift, nach denen die Gemeinde ihre fittlichen Aufgaben zu
bemeſſen hat, fo find die Sacramente die Mittel, durch welche die
Kirche ihre Glieder befähigt, diefen Aufgaben wirklich obzuliegen
md fie zu vollführen. Es ift hier an den Sag des Tridenti⸗
amd (sess. VII prooemium) zu erinnern, daß bie Sacramente
es find, per quae omnis vera justitia vel incipit, vel coepta
augetur, vel amissa reparatur. Das eigentümliche Weſen der
Sarramente ift nun, daß fie finnliche Dinge find, welche die Gnade
enthalten, die fie bezeichnen, und denen, „welche feinen Riegel
vorſchieben“, unfehlbar conferiren. Hier würde num der Ort fein,
auf die Lehre, daß die Sacramente ex opere operato wirkten,
anzugehen. Es mag jedoch nur daran erinnert werden, daß die
traditionelle proteftantifche Vorftellung hier, wie fo manigfach, dem
latholiſchen Lehrſyſtem wenigftens in fo fern Unrecht thut, als fie,
mad von einer Schule gilt, der ganzen Kirche und der officiellen
<chte imputirt. Nämlich die Meinung, daß jene Lehre behaupte,
die Sacramente wirkten auch bei vollfommener Gleichgültigkeit
und Baffivität die Vermittlung der Gnade, ift zwar richtig Hin»
iihtlih beftimmter, auch fehr einflußreicher Theologen des fpäteren
Mittelalters (Duns Scotus und Gabriel Biel), desgleichen wieder
hinſichtlich der neueren jefwitifchen Theologie, indes ift fie nicht
oder doch nur unter allerhand Einfchränkungen zutreffend hinfichtlich
der eigentkich offlciellen Theologen, eines Thomas von Aquino und
dellarmin. Darauf hat Steig mit Recht aufmerkſam gemadt !).
Gegenüber einer gewiffen Art proteftantifcher Bolemit mag auch
noch eigens erwähnt werden, daß es doch eher ein Zeichen echten
teligiöfen Sinnes als des Gegentheils iſt, wenn der Katholicismus
ſeine Saeramente zu ſolcher Zahl vermehrt Hat, daß er mit ihnen
1) Act. „Saeramente” bei Herzog; vgl. auch ©. 8. Hahn, Die Lehre von
den Sacramenten, S. 396 fi.
200 Kattenbuſch
das ganze Leben von der Wiege bis zum Grabe zu begleiten und
zu geftalten befähigt iſt. Die Fixirung gerade der Siebenzahl und
die Auswahl im einzelnen iſt, wie Steitz in intereſſanter Weiſe
gezeigt Hat, allerdings nur willkürlich und zufällig zu Stande ge-
fommen. Indes bie Ermeiterung des Cyclus der Sacramente zu
einem irgend wie das ganze Leben berüdfichtigenden war nicht zu⸗
fällig, fondern indicirt durch ein Intereſſe des Katholicismus,
welches auch wir Broteftanten nur ehren können. In wie fern
immerhin eine eigentümliche Unzulänglichkeit aud der reichſten
Sacrramentenreihe für die religiöfe Orientirung des Lebens übrig
bleibt, kann ich erſt fpäter aufmeifen. Sicher gehört nun noch
die Bemerkung, daß die Meſſe als ein eigentümliches Eomplement
der Sacramente in Betracht kommt. Berlaufen nämlid die Wir:
fungen dee Sacramente in der Richtung auf die Dienfchen, fo die:
jenigen der Meſſe in der Richtung auf Gott. Steik zeigt in
feinem vorzüglichen Auffate liber die Meſſe !), wie umfider abge
grenzt und wie unftet biefe Lehre im einzelnen tft. Indes jener
alfgemeine Charakter ift doch der fid) immer wieder Bahn brechende
Grundgedanke bderfelben. In dem unblutigen Meßopfer erneuert
die Kirche für die concreten Beblrfniffe der Gegenwart das auf
Golgatha von dem Herrn in Berfon dargebrachte Opfer. Iſt num
die Verſöhnung Gottes die Grundlage aller Kräfte der Kirche und
alles Heiles, fo ift begreiflih, dag die Bevollmädtigung zur Boll-
ziehung des Meßopfers das Grundattribut des Prieftertums in der
katholiſchen Kirche ift.
Es wäre für die zulegt berührten Lehren nur möglich geweien,
zu zeigen, baß Auguftin in fo fern für fie mit haftbar gemacht
werden kann, als er fie in unbeitimmter und mehr oder minder
ſchwankender Form, die aber zur fchärferen Ausprägung nothwendig
drängte, bereitd präformirt hatte. Wir kommen nunmehr aber
noch zu einem ber wefentlichiten Züge ber römifchen Lehre von
der Kirche, wobei wir Auguftin wieder in bdirectefter Weiſe ala den
Bater der katholifchen Gedantenwelt erkennen. In dem Auguftin’schen
Kirchenbegriff wird gewöhnlich ein Gedanke überfehen, der aber dod)
— — —
1) In Herzogs Realeucyelopädie.
Kritifche Studien zur Symbolik. 1
von der höchften Zragmeite if. Das ift der, daß die Kirche das
tanfendjährige Reich und in fo fern bereits das Reich Gottes dar»
ſtellt (ugl. De civitate Dei XX, 6sqq.) ?). Die Zeit der chiliaſtiſchen
Hoffunngen, der fehnfüchtigen Ausfchau nach dem verborgenen, aber
demnächft zu erwartenden Gottesreich war allerdings fchon ange
dahin. Seit durch Eonftantin die chriftliche Kirche zur Staatskirche
erheben war, hatte fie fich vollends heimisch eingerichtet in diefer
Belt. Über doc ift erft Auguftin derjenige, welcher den folgen»
ſchweren Gedanken ausſprach, daß die Kirche, die in eben diefem
Anfammenhange noch eigens als die rechtlich verfaßte, von den
Biihöfen regierte, ftantsmäßige Gemeinfchaft hingeſtellt wird (a. a. O.
Rap. 9), das Meich Gottes in der gegenwärtigen Weltzeit darftelle.
Das bat nämlich praktifch keine geringere Bedeutung, als daß die
Kirhe keine Macht in der Welt neben fi dulden kann. Denn
das Reich Gottes ift der letzte Endzweck Gottes, der fich immer
mehr realifiren muß in der Welt, dem gegenüber alle fonftigen
Zwecke unberechtigt find, dem von Getteswegen alle Mächte und
Kräfte der Welt fich unterordnen und als Mittel dienftbar machen
müßten. Es iſt alfo mit jenem Gedanken Auguftins der von ihm
abhängigen Kirche ber Trieb nad allgemeiner Herrſchaft über
die Welt eingepflanzt, eine Herrſchaft, die nach dem begleitenden
Gedanken von der Kirche felbft, keine geiftige, ideale fein will und
kann, fondern eine äußere, politifche. Wir haben in jenem Gedanken
Auguftins den eigentlichen Mechtstitel und das leitende Motiv für
Ye Politik, welche die Päpſte bis auf die Gegenwart fefthalten.
Diefe Bolitit ift eben nichts anderes, als die rüdfichtslofe, Kühne,
wenn man will, großartige und impofante Durchführung der Idee,
daß die Kirche ald das Neid Gottes die berufene Herrin aller
Verhältniſſe ſei. Die Kirche wäre auh ohne jene Kombination
Auqguſtins zwiſchen dem Gedanken von ihr felbft und von dem
1) Es if ein befonderes Verdienſt R tfchle, daß er die Gebantenreihe
Auguftins, der ich Hier nachgehe, in ihrer Bedeutſamkeit erlannt und her⸗
vorgehoben hat („Leber die Methode der alten Dogmengeſchichte“ a. a. O.,
©. 201ff.; „Rechtfertigung und Verſöhnung“ IL, 246 ff.); vgl. aber auch
Nitzſch in der zufammenfafenden Charakteriftil des Auguftin’fhen Ey-
ms a. a. O. S. 174—77.
202 Kattenbuſch
Reiche Gottes nothwendig in ſtetige Confliete mit den übrigen
Mächten des Weltlebens, beſonders mit den Staaten, geführt worden.
Indem fie als ihre Aufgabe die Pflicht erkannte, die Welt fitt-
fi zu erneuern, fo mußte fie verfuchen, ihre Hand auf möglichft
alle Beziehungen des Lebens zu legen. Und weil fie fich jelbft
nur kennt als den hierarchiſchen NRechtsorganismus, fo konnte jeder
Verſuch ihrerfeits, die Welt fittlich zu heben und zu verflären, nur
zu Stande fommen mit dem Verſuche, die Hierarchie zum oberften
Tribunal und zur eigentlichen Lenkerin der Bölfer zu erheben. Aber
das eigentliche Pathos und die wunderbare Sicherheit und Feſtig⸗
feit für ihre Politit hat fie doch nur gewinnen können in dem be:
rauſchenden Gedanken, da8 Reich Gottes fchon felbft zu fein. In
diefem Gedanken gewinnen auch ihre Beſtrebungen erft diejenige
populäre Faßlichkeit und Beliebtheit, ohne bie fie doc immer er
folglos bleiben mußten. Es ift nun noch ein Gedanke Auguftins
in Betracht zu ziehen. Wie befannt, bat Auguftin die weltliden
Staaten, überhaupt die civitas terrena im Unterfchiede von der ci-
vitas Dei, aus der Sünde hergeleitet (vgl. befondere De civitate
Dei XV, dsqq.). Diefer Gedanfe war nicht unbedenklich für die
allgemeine Tendenz, die er der Kirche verliehen hatte, nämlich) nah
alfgemeiner poſitiver Herrfchaft zu ftreben. Derfelbe kann näm:
ih zu einem zweifachen Verhalten gegenüber dem Staate den An
lag bieten. Er kann es motiviren, daß man fi von allem Ber:
fehre mit ihm überhaupt zurückzieht. Er kann auch motiviren,
daß man fich erft vecht um ihn kümmert, indem man ihn in feiner
Eigenart aufzuheben ſtrebt. Beide Gedanken haben im Verlaufe
der Geſchichte der römischen. Kirche ihre Vertreter gehabt. “Der
erftere taucht immer wieder auf im Zuſammenhange mit den
möndifchen Ydealen und hat im Mittelalter eine Menge fchlimmer
Streitigkeiten erzeugt. Der lettere ift derjenige, den die officielle
Kirche, die Hierardie, Rom ohne Schwanken vertreten hat. Es
ift intereffant, daß Gregor VII. ihn mit befonderer Rückfichtslofig-
feit wieder aufgenommen hat, indem er ſich direct an Auguftins
Formeln angejchloffen hat. In der That bat Auguftin felbft im
directer Weife es ausgeſprochen, daß der Staat, eben weil er aus
der Sünde ftamme, fih der Kirche unterwerfen müſſe, daß bie
Kritiſche Studien zur Symbolit. 208
Kirche aus jenem Umftande nicht etwa Anlaß nehmen dürfe, den
Staat feiner Wege gehen zu Laffen, fondern erſt recht fich feiner
annehmen müſſe. Indem ber Staat mit feinen Machtmitteln unter
den empirifchen Verhältniſſen jehr wohl in der Lage ift, der Kirche
vofitiv zu nützen — Auguſtin denkt befonders daran, daB er die
Schismatiker zwingen könnte, fich ber katholiſchen Kirche zu fügen —,
io hat Auguftin ibm durchaus auch eine pofitive Beziehung zur
Kirche gegeben. Es ift eben die, daß er ihr Trabant fein foll,
der ihr und ihren Zwecken überall zur Verfügung ijt, der keine
Selbſtãndigkeit erftrebt, fondern feine Normen und Geſetze von der
Sirche bezieht. So hat Auguftin ſelbſt feiner zweiichneidigen Formel
über den Staat die Gefährlichkeit benommen, indem er feinen
Zweifel gelafjen, wie er fie praftifch angewendet fehen wolle. Es
it Auguftins Geift, wenn die offlcielle romiſche Kirche nie gezweifelt
hat, wie fie fich gegen die fpiritualen, unpraftifchen Parteien, die
Rh von dem Einfluffe auf die Staaten zurückziehen möchten, ver-
halten müffe. Indem Auguftin Gier noch ganz eigens der Kirche
ihre Wege gezeigt, ift es bier vielleicht am deutlichften zu erkennen,
daß er der Stifter des Katholicismus gewefen ift. —
Es war die eine Seite des Tatholifchen Lebens, welche wir
bitlang im Ange gehabt haben, die katholifche Anfchauung von der
Organifatton und dem Zwecke der religiöfen Gemeinfchaft als
jolcher. Dabei ift es indes nur möglich gewefen, im allgemeinen
den Charakter des Katholicismus und feine, reſp. der Hierarchie
vedentung als großen gefchichtlichen Factors zu beleuchten. Wie
geftaltet ich denn in ber römischen Kirche die individuelle Frömmig⸗
keit? Welches ift für die einzelnen Gläubigen das Ziel, das fie
kit? Wie harakterifiren wir die religiöfe Art ber in der fatholifchen
Kirche Tebenden und webenden, von ihren Seen getragenen Per⸗
Ionen? Die Antwort, welde wir bier erlangen, wird das Bild
des katholischen Ehriftentums vervolfftändigen und erft ein Gefamt-
urtheil über feinen Werth zulaffen.
Es ift nöthig, am diefer Stelle auf den Begriff des höchften
Gutes, welcher im Katholicismus gilt, zu fprechen zu kommen.
Auguftin ift mum auf dieſem Punkte nicht fo völfig von den grie-
Gen, zu feiner Zeit noch gemeingüftigen Anſchauungen abgegangen,
201 Kattenbuſch
als man angeſichts feiner Anſchanung von ber Kirche denken ſollte.
Leſen wir z. B. was er De civitate Dei XIX, 4 über das
höchſte Gut der Chriften ſchreibt, was feine näßere Ausführung
durh die ganze Schlußausführung des Wertes über bie zmeite
Anferftehung findet, oder mas er IX, 15 über Ehrifti Bedeutung
anseinanderjegt, fo könnte man denken, Athanafius ober Gregor
reden zu hören. Da iſt das Heil ebenfo mit phyſiſchen Kategerien
befchrieben, und ebenfo als ein transfcendentes hingeftelit, wie mer bei
jenen griechiſchen Vätern ). Die Kirche iſt doch nur das Weich
Gottes in der Fremde. Die civitas Dei in hoc temporum carsu
bleibt untermifcht mit Ungläubigen. Erft im letzten Gerichte wirb
der Weizen von ber Spreu gefchieden und die reine communio
praedestinatorum bergeftellt werden. Die Seligleit des Jenſeitls
aber erfcheint ebenfo wie Bei den Griechen zunächft als die Wurs-
rüftung mit den Kräften des phyſiſchen Lebens Bette, und Ehriftus
ift der Träger und Vermittler ſolchen Lebens file die Menſchheit.
Wer freilich diefe Anfhaumg Hat bei Muguftin ein Gegengewicht
an der Anfchauung von Sünde und Gnade, welde ihn den Me⸗—
formatoren fo verwandt Hat erfgeinen Iaffen, und an der Erkennt⸗
nis Ehriftt als des Vermittlers ber Gerechtigleit und Helligkeit.
Und von bier aus erfcheint das im Chriftentume gewährleiftete höchfte
Gut ber Menfchheit als die immer völligere Ablegung ber Sünde
und die immer völligere Durchdringung unjeres Willens mit bem
göttlichen Willen. Don bier aus auch ergibt ſich die Anfchaunng
von dem gegenwärtigen Chriſtenſtande ald der erften Aufer⸗
ftehung und ale des verheifumgsvollen Anfanges der Selig-
feit und Herrfhaft mit Chriſto (XX, 9).
Diele doppelte Ideenreihe Auguftins charakterifirt nun in fo
fern auch die Scholaſtik und überhaupt die im der römiſchen Kirche
heimiſche Anſchauung von dem Werthe des Ehriftentums, als einer-
feits das höchſte Gut, die fruitio Dei, darchaus dem Jenſeits vor⸗
behalten ift, anderjeit8 aber doch der Werth der Perſon Chriſti nach
ſittlichen Maßftäben beftimmt wird. Dan wird fagen müffen, baß die
latholiſche Kirche einerfeits Auguſtin in gewiſſer Weife überwunden
1) Nachweiſe über Auguftins Anfhauung vom Werke Ehrifti bi. Dorner,
Auguftiinus, S. 170ff.
Kritifche Studien zur Symbolil. 2306
hebe, auderſeits and wieder hinter ihn zurückgegangen fei. Nämlich in
io fern ftellt fie einen Fortſchritt über ihn hinaus dar, ale fie in
der Theorie beisußter die Bebeutung der Berfon Ehrifti als eine
ütliche verftanden Hat. Was in biefer Hinficht Auguftin ausge
iprochen, war bocd noch mehr religiäje Intnition geweſen, als be⸗
wahte Formel. Hingegen vollzieht ſich in der Scholaftif theoretifch
md dauernd der Umſchwung von der Auffaffung Chriſti als des
Krlöfers von der Endlichleit und Bergünglichkeit, als des Herftellers
der allgemeinen phyſiſchen Bedingungen eines ewigen Lebens ber
Nenſchheit mit Gott, zu der Auffaffung bdeöfelben als des Ber-
ſthaers Gottes und der Menfchen, als des Mittlers, durch welchen
die fittlihe Gemeinschaft des Menſchen mit Gott wieberhergeftellt
iſ. Es wäre bier der Ort, wenn «8 nicht zu weit führte, zu
zigen, dag Die alte nicäniſche Zormel der Ehriftologie für den
Rulolicismus im der That nicht die nüämliche Bedeutung hat, wie
für die geiechifche Kirche. Anderfeits aber hat die Tatholifche Kirche
u fo fern einen Rückſchritt Hinter Anguftin gethan, als fie deſſen
rligtöfe Conception von der gegenwärtigen unmittelbaren Zugänglich-
kit des höchften Gutes, der Gemeinjchaft mit Gott ale Seligfeit,
nicht feftzuihalten vermocht hat. Hat fie die finnliche Anſchauung
vom Wefen des höchften Gutes bewußter zurüdzuftellen gemußt
als Anguftin, fo bat fie fich dach verfangen in einem letzten Reſte
er aktlirchlichen Borftellung. Als Seligleit gilt ihr das An-
Idauen Gottes, welches erft unter der Bedingung des Eintrittes
in den Himmel, alfo nad) bem Tode mögli it. So bat fie denn
die Trausſcendenz des höchſten Gastes um fo mehr fetgehalten.
Das ergibt aber für bie Frömmigkeit in jener Kirche diefelben
Eonfequenzen, wie in der griechifchen. Das Bedurfnis des reli-
gieſen Menfchen, in der Gegenwart jhen die Seligkeit in Gott zu
erfahren, das Heil wenigftens irgend wie ſchon Hier zu keiten und
a erieben, ift unausrotibar. Und fo greift benn bie gläubige Ge⸗
meinde auch im Natholicisius nothwendig und mit ſtets wachſen⸗
ver Leidenfchaft zu demjenigen kirchlichen Gute, welches erfahrungs-
wißig unmittelbar eine Erhebung des Gemüthes über bie Eonflicte
des Lebens verfchafft, nach dem Cultus in feiner die Phantafie
mrtifenden Macht. Ausdrücklich lehrt ja auch der Katholicismns
206 Kattenbuſch
in ben Sacramenten eine Berührung des Menſchen mit Gott er-
kennen. Stürzt fi aber die Menge mit ihrem ganzen Bedürfnis
an unmittelbarer Heilserfahrung auf dieſe Myfterien, ift fie nur
befähigt, in dieſen cultifchen Formen Gott direct zu finden, fo ift
dem Aberglauben Thür und Thor geöffnet und es ift dann ſchwer
den Geiftern einen Halt zu gebieten. Das bloße, abergläubifche
Genießen des Eultus, in specie ber Sacramente, welches fo oft
die katholiſche Weligiofität cdharakterifirt, ift nicht im Sinne der
Ideale des Katholicismus. Aber diefe Form der Frömmigkeit
macht fich fehließlih von felbft, wenn das Ziel der Frömmigkeit
al8 ein in der Gegenwart unerreihbares, in der Ferne fhimmern-
des, allein der Phantafie zugängliches Hingeftellt wird. Es ift dann
fein Wunder, wenn fchließlid die Menge im Katholicemus den
Eultus nicht viel ander anfieht und aufnimmt, als in der grie-
chifchen Kirche, und in den gottesdienftlichen Gebräuchen überall bie
Hauptſache erblidt. Aber auch wo man bes eingebent bleibt, daß
es katholisch fei, die Sacramente und die cultifchen Darbietungen
überhaupt, nicht zu trägem, bloßem Genuffe zu misbraudhen, fondern
als Stärkung zu fittlidem Handeln, zur Ausrichtung guter Werke
zu gebrauchen, aud da ift in ebleren Formen und Empfindungen
doch die Religioſität als ſolche jo ſpecifiſch eultifch gerichtet, daß
es uns BProteftanten immer krankhaft erfcheint. Unterſcheiden wir
die Neligiofität von der Sittlichleit und anerkennen wir das Recht
der erſteren als unmittelbaren Genuſſes der Verbindung mit Gott,
fo kann fie eben im Katholicismus nur cultifch fein.
Es ift num eine Betätigung dafür, daß das Heil im Katho⸗
ficiemus für die Theorie ein jenfeitige® tft, daß in den directen
Beziehungen ber bdogmatifchen Lehre von den Sacramenten Keine
religiöfen Functionen vorgefehen find. Der Zwed der Sacramente
ift die justificatio d. h. die renovatio; diefelben vermitteln die
Gnabe Gottes, aber die Gnade Gottes kommt fofort in Betracht
als die Ausräftung mit Kräften zu guten Werfen. Gott ift durch
die Sacramente ber Grund des Chriftenftandes, Bott und die Selig⸗
feit in ihm iſt auch das letzte Ziel desfelben in dem zukünftigen
Leben. Über für die Gegenwart zielt in der Theorie von den
Wirkungen der Kirche auf bie einzelnen Gläubigen alles ab auf
Kritiſche Studien zur Symbolik. 207
die Befähigung derfelben zum guten Handeln. Es iſt darin bie
von der alten Kirche übernommene Anfchauung vom Chriftentume
als dem „neuen Geſetze“ wirkſam. Bekanntlich ift ja auch der
Ausdrud nova lex die bevorzugte Bezeichnung bes Chriftentums
m der fatholifchen Dogmatil. Der Katholicidmus hat vermöge
der Auguftin’schen Auffaffung von der Aufgabe der Kirche diefe
Anfhauung wirklich durchgeführt und im Leben praftifch gemacht.
Aber es ift gewilfermaßen die Rache für dieſe Einfeitigkeit ber Auf-
faſſung des Chriftentums als Sittlichkeit, die, wie gefagt, auf’s
tefflichfte ſtimmt mit der Behauptung der Transſcendenz des
höhften (religiöjen) Gutes, daß das Titurgifche Intereſſe gerade
ach in der Form der Richtung auf den bloßen Genuß praktifch
m Katholicismus jo rege ift.
Freilich gibt es in der katholischen Art, EChriftentum zu hegen,
der Regel nad) doc auch fehr lebhaft eine Seite, welche jener
theoretifchen Anfchauung vom Weſen des Chriftentums fpecifiich
gerecht wird. Ja auf diefe Seite find wir Proteftanten fogar
gewöhnlich aufmerkjamer und mehr zum voraus gefaßt, als auf
die religiöfe, welche carakterifirt if. Was ih im Sinne habe,
ift jenes gefchäftige, auf Werke gerichtete Wefen, welches man an
normalen Katholiken beobachtet, und welches auch bie bloße, cultifche
Religiofität im Katholicismus gewöhnlich fo eigentümlich tingirt.
Auch die Theilnahme am Gottesdienfte wird als Werk betrachtet.
Diefe Stimmung wird offenbar in der Ausübung des Gottesdienftes
jelbft dev Regel nach zu Gunften rein receptiven Verhaltens ſus⸗
pendirt, aber fie geht diefer Theilnahme voran und folgt ihr nad).
Und neben dem cultifchen Intereſſe zeichnet fich allerdings der
fromme Katholik gewöhnlich aus durch einen hohen Eifer in den
Berfen, die er für vorgefchrieben hält. Ja felbft die rohe Menge
ft durchaus nicht abgeneigt, gewiſſe durch die Sitte bevorzugte
oder durch den Briefter geforderte Werke ausdrücklich in ihre Re⸗
ligionsübung aufzunehmen.
Im wie fern der Charakter diefes Werk⸗ und Pflichteifers aud)
in den reſpectabelſten Fällen ein innerlich befchränfter zu fein pflegt,
[ll fogfeih aufgezeigt werden. Doch kommt es nun zumächft
darauf an, daran zu erinnern, daß dieſer fittlihe Trieb im Katho⸗
Tyrol. Stub. Jahrg. 1878. 14
208 LKattenbuſch
licismus begleitet ift von dem Gedanken der Möglichkeit und Noth⸗
wendigleit von Verdienſten. Das iſt der eigentümlich Tatho-
liſche Gedanke, dag die Seligkeit als Lohn erworben werden könne
und ſolle, daß die Geltung, welche der fromme Menſch vor Gott
beſitzt, wenigſtens mit abhängig fein ſolle von ſeinen Verdienſten.
Hier alſo finden wir jenes Intermittiren der religiöſen Beurtheilung
der ſelbſtthätigen Leiſtungen des Menſchen, welches uns Proteftanten
an deu Katholiken jo anftößig und unerträglich ift. Es wäre falfch,
den Katholiken ohne weiteres Selbfigerechtigfeit zuzutrauen. Ohne
Zweifel ift diefe Stimmung bei ihnen nicht felten und zumal für
die Menge charakteriftifch, welche ihre Proceffionen u. ſ. w. fich
fehr zum Verdienſte anrechnet. Aber anderjeits wird man gerade
bet den Katholiken auch fehr häufig das beſcheidenſte Urtheil über
die thatfächlich geleifteten Werte finden. Aber diefe Beſcheidenheit
ift die Wirkung eines hohen Ideals, welches man fich gefteckt Hat.
Diefe ſchätzbare Tugend ift alfo nicht zu verwechjeln mit der reli-
giöfen Selbftbeurtheilung, die überhaupt die Möglichleit von
Berbienften leugnet. Nun fehlt ja auch die religiöfe Beurtheilung
bes fittlihen Handelns im Katholicismus nicht durchaus. Die Fähig⸗
keit zu diefem Handeln wird ja augelnüpft an die Sacramente, durch
welche Gottes Gnade den Menjchen zu Theil wird und die gratia
cooperans ift der dauernde eine Factor des verdienftlichen Handelns.
Dft genug auch im einzelnen vermag der Katholik fich zu der Stim-
mung zu erheben, daß er alles, was er ift und bat, auf Gottes
Gnade zurücführt. Des find der heilige Bernhard und der heilige
Franz und fo mancher andere katholiſche Bannerführer leuchtende
Zeugen. Man lefe au die Biographien moderner frommer Ka⸗
tholifen und habe ein Auge auf die Tatholifchen Gebetbücher! Aber
biefe Stimmung ift eben nicht der Grundton und nicht die dauernde
Grundlage des Tatholifchen Werkeifers und fie ift vor allem nicht
gefichert durch die officielle Theorie von der justificatio.e. Und
das ift fchlieglich auch Fein Wunder. Hier vor allem glaube ich
die unheilvolle Conſequenz der faft ausschließlichen VBergegenwärtigung
der göttlichen Gnadenwirkungen an den Sacramenten zu erfennen.
Mag das Leben noch fo fehr durchzogen werden mit facramentalen
Weihen und Spendungen, die Sarramente find doch immer einzelne
Aritiſche Studien zur Symbolik. 299
Acte, welche vorübergehen.. Wird gar gelehrt, daß die Gnade ge
siffermaßen in die Elemente gebannt ift, daß die Sacramente ala
Saden zu denken find, in denen die Gnade mehr oder minder
äußerlich befchloffen ift, fo wirb erft recht bie Entrückung der facre-
mentlichen Zeichen einer Entrückung der göttlichen Gegenwart gleichen.
So ift es kaum möglih, daß eine das ganze LXeben begleitende
Selbfibeurtheilung aus dem Gedanken an Gott und feine Gnade
auffommt. Dabei muß ja unwillkürlich ein Abwechſeln zwifchen
dem Gedanken an die Liebe Gottes und demjenigen an die eigenen
teiftungen eintreten, bei welchem es durch die individuelle Dispofition
bedingt ift, welche Stimmung bie hänfigere und gewohntere ift.
Eine Art Gleichgewicht zwifchen jenen Stimmungen wirb num aud
indicirt durch die offlcielle katholifche Lehre von der justificatio,
Ich kann e8 aber unterlaffen, diefe Lehre im einzelnen darzulegen
md dadurch meiner Auseinanderfegung bie quelienmäßige Subftruc-
tion zu geben, weil ich Keinen Anlaß babe zu bezweifeln, dag
Kitſchls Darftellung der katholiſchen Theorie correct ift, fo dag
ih mich auf diefelbe beziehen darf ?).
Es wäre bis Hieher auch im einzelnen ber Nachweis möglich
geweſen, daß bie fatholifche Theologie von Auguftin’fchem Gute
zehrt, — bezeugt doch Ritfchl?), daß das ganze Material der
mittelalterlichen Lehren von Freiheit und Gnade, Yuftiftcation und
derdienft von Auguftin herſtammt — ; aber es mag bier genligen,
daß auch meine Kurze Deductton fchon zeigt, wie die Motive der
ganzen Lehrentwicklung des Katholiciemus offenbar auf Auguftin
zutrũckgehen. Für das Weitere würde ich auch keineswegs baranf
verzichten, nachzumeifen, daß die Tatholifche Lehre felbit in den
Details zurückgeht auf die abfichtlichen Lehrausführungen jenes
großen Kirchenvaters. Indes es muß an diefem Orte genligen,
wenn ich darauf hinweiſe, daß es wieder Impulſe bdesfelben find,
in deren Confequenz die römifchen Lehren ftehen.
Das ift aber offenbar der Fall Hinfichtlich der Lehre vom Ge⸗
I, anf die ih nunmehr zu fprehen fommen muß. Die guten
1) „Rechtfertigung und Verſchnung I, 8. Kap.
an O. S. 83
14 *
210 Kattenbuſch
Werke werden bemeſſen nach den göttlichen Forderungen, welche die
Kirche definirt. Da iſt num aber charakteriſtiſch, dag als göttliche
Forderungen eine Summe ftatutarifcher Gebote gelten, wie es eben
ganz natürlich ift in einer Kirche, die nach ihrer Anfchauung von
ſich ſelbſt fi) als eine Art Staat erfaßt. Daher die Gebunden:
heit der fittlichen Auffaffung in der Ffatholifchen Kirche. Eine
wefentliche Rolle fpielt die Kirchlichkeit. Die Kirche ſchaut fid
jelbit an in ihrem Regimente und ihren cuftifchen Mirakeln. Ge:
borfam gegen die theoretischen und praktiſchen Satzungen der Hier
archie, Thellnahme am Eultus, das find daher die beiden allgemeinen
Forderungen der Kirche. Kein Wunder, daß das Volk oft genug
befriedigt ift, wenn: es fich den politifchen u. f. w. Intentionen bee
Klerus willig zeigt und die Sacramente und fonftigen Bräuche
mitmacht. Freilich fehlt es an Anleitung zu idealerer fittlicher
Haltung keineswegs. Doch hat auch das edeljte Tugendftreben im
Katholicismus etwas conventionelles, „geſetzliches“ an fih. Nicht
als Tegte nicht aud die Fatholifche Kirche durchaus Gewicht auf
die Gefinnung, aber der Einzelne wird in ihr nicht angeleitet, frei
von fich und feinem Gewiſſen aus zu beftimmen, was feine Pflicht
ſei. Gewiſſe Handlungen gelten als idenle Pflichten für den einen
fo gut, wie den anderen. Das Coder derfelben ift zwar nie fixirt
worben, wie der Coder der Glaubensſätze. Aber die Kirche fichert doch
einer Summe von Vorfchriften ihre ftets gleiche Geltung. Man
muß die Heiligenlegenden Iefen, um ein Bild zu gewinnen von dem,
was als Ideal eines „erbaulichen* Lebens gilt. Immer find es
beftimmte, durch die kirchliche Sitte ausgezeichnete Verrichtungen,
die wir darin gepriefen finden. Gin frommer Katholik wird im
bürgerlichen Leben feine Berufspflichten jo treu und ehrlich erfüllen,
wie ein Broteftant. Aber feine Obliegenheiten fchweben ibm vor
als eine Reihe einzelner bejtimmter Borderungen. Und er wird
darüber hinaus mit Vorliebe ſich eine Anzahl bejonderer Tugend⸗
übungen auferlegen. Vielleicht nirgends als bei frommen Katho⸗
(ifen wird man fo viel Bereitwilligleit zu Liebeswerken im engern
Sinne des Wortes finden. Armen⸗ und Krankenpflege gelten unter
allen Umftänden als ideale Aufgabe, eine Aufgabe, ber fich unter
den Umftänden des praftifchen Lebens keineswegs jeder Katholil,
Kritiſche Studien zur Symbolik. 211
der ernftliches und hohes fittliches Streben hat, wirklich widmet,
die ihm aber befonders chriftlich erſcheint. Demutsübung in der
Berrichtung niedriger Dienfte ift ein anderes deal. In all der⸗
artigem zeigt ſich die äußerliche Auffaffung des Sittengefeges und
bes Vorbildes Chrifti. Einen ähnlichen Charakter, wie die Ans
fdauung vom Sittengefeg trägt die Anfchauung vom Glaubensge⸗
feg. Auch bier eine Summe einzelner Beftimmungen, die als
ſolche gelten, die jeder feithalten muß. Das ift die Vorftellung
von ber Kirche als Rechtsorganismus, der kirchlichen Anleitungen
als Rechtsvorſchriften! Es fei Hier nur bemerkt, daß bie Ent-
fagung, mit welcher intelligente Katholiken fo oft ihr Urtheil und
igre &infiht dem Roma locuta est opfern, für fie feine Unfitt-
lichkeit ift, es tft die Conſequenz des ganzen Principe für den
Ginzelnen, der ein treues Glied feiner Kirche fein will. Damit
soll nicht gejagt fein, daB diejenigen, welche wie die heutigen Alt⸗
katholiken der Conſequenz des Princips ſich entziehen, weniger
ehrenwerth jeien.
Hier muß nun au ein kurzes Wort über das Möndtum, das
eigentlich vollfommene Leben, feine Stelle finden. Es find mander-
fei Gründe, weshalb es auch in der Tatholifchen Kirche für natur»
wüchſig gelten muß. Zunächſt ift es durch diefelbe Rückſicht nahe
gelegt, wie in ber griechifchen Kirche. Das Ziel des Menſchen
fiegt Lediglich im Jenſeits, es kann im Umkreiſe des Weltlebens
nicht irgend wie conftatirt werden. So flieht man ſchon im Dies-
feits fo weit aus der Welt, wie das nur-angeht. Aber die römijche
Kirche läßt doch da8 Diesfeits für das praftifche Verhalten nicht ohne
Aufgaben? Und fie weiß doch dem Welt- und Staatsleben felbft
pofitiven Nuten abzugewinnen? Das ift in der That ihre Vorzug
vor der orientalifchen Kirche. Indes behaftet fie das gewöhnliche
bürgerliche Thun und Zreiben doch anderfeits mit dem Makel der
Unvofffommenheit. Weil es nicht unmittelbar der Kirche gilt, weil
es doch nur theilweife fich ihrem Dienfte fügen kann und nur zu oft
in der Praxis ſich als gefährlichen Gegner erweift, fo kann fie ſich
nicht entfchließen, e8 als die maßgebende Baſis der DBethätigung
der chriftlichen Sittlichleit anzuerkennen. Mindeſtens erſcheint es
ihr als eine befondere und die höchſte Begnadigung, wenn einer
212 Kattenbuſch
ſich entſchließen kann, auf Eigentum und Familie und Selbſtändig⸗
feit zu verzichten. Der dritte Grund ift mit der ftatutarifchen
Auffaffung des Sittengeſetzes gegeben. Derſelben entipricht es,
wenn Thomas den timor filialis, die Furcht vor Verſchuldung
gegen Gott, als ftetige, eigentlich correcte Stimmung bed Chriſten
empfiehlt. Wie aber das Mönchtum in feiner werthvollſten Ge⸗
ftalt der praktifche Ausdrud dieſer höchſten Stimmung ift, zu
welcher der Katholicismus Anleitung gibt, Hat Ritſchl ſchon nad)»
gewiefen ), Es ift fehr begreiflih, daß ernfte Gemüther das
alltägliche bürgerliche Leben mit feinen vielen Anläffen, die Gebote
der Kirche zu vergeffen und zu übertreten, ſcheuen und fliehen, um
geleitet von einem bejtimmten Willen, nicht beſchwert durch
Rückſichten auf die Mittel der Eriftenz, aber auch ohne die Ver⸗
ſuchung mehr zu erwerben, als zur Erxiftenz gehört, frei von der
Sorge für andere, allein dem „Guten“ zu eben. Das occiden⸗
talifhe Möndtum bat in concreto eine ganz andere Geftalt als
das orientalifhe. Es gibt nur wenige Orden, welche der reinen
Beichaulichleit und dem bloßen Cultus leben. Die meiften ftehen
im Tebendigften, fruchtbarften Dienfte der politifchen und focialen
Intereſſen der Kirche. An ihnen kann man im Heinen ben Unter:
ichied der griechiſchen und römijchen Kirche in intereffanter Weiſe
conftatiren.
In den bisherigen Ausführungen Hat num manches Stück der
katholiſchen Lehre Feine Unterkunft gefunden. Aber es fehlt doch
hauptſachlich nur noch eine Anjchauung von eigenartigem und praf»
tifhem Belang: das ift die Anſchauung von dem Verhäftniffe
des Sittengefees zu Gottes Macht und Weſen. Indem nämlich
der Gottesbegriff in der katholiſchen Theologie ?) beherrfcht bleibt von
der neoplatonifchen (auguftinifchen) Zradition, wird die abfolute
Transſcendenz Gottes über der Welt in rein negativer Weiſe feft-
gehalten. Nun bildet zwar Thomas in der Anlehnung an Arifto-
tele8 die Vorftellung von Gott ale bloßer Subftanz zu der Vor:
1) aa. ©. II, 576ff.
2) Bol. Ritſchl: „Geſchichtliche Studien zur chriftlichen Lehre von Gott“ I,
Sahrbücher für deutfche Theologie 1868.
Kritiſche Studien zur Symbolik. 218
ftelfuung desſelben als Geift und Wille um, aber in der Confequenz
jenes zuerft berübrten Moments der Gottesibee fteht es, daß er
und deutlicher noch Duns Scotus das Verhältnis Gottes zur
Belt als ein zufälliges denken. Der Beſtand der Welt ift nichts
für Gott nothwendiges. Ebenſo wenig find die Einzelheiten
deifen, was Gott in der Welt anordnet, etwas im Willen Gottes
nothwendiges. Dieſe Anſchauung von dem Verhältnis der Welt
und der Ordnungen in ihr zu Gottes allgemeiner Macht ift
nun wirkſam zunächſt in den Zweifeln an der Nothwendigkeit
bes Dpfertobes Chrifti. Dans aber auch in der fubjectiven Stim-
mung der Gläubigen. Es ift zwar nirgends als in der nomina⸗
Gftifhen Schule am Ausgange des Mittelalters in ber Theorie
formulirt, daß der Inhalt des Sittengefeges ein zufälliger, will-
türficher fei, der aud) anders, ja gar entgegengefeßt jein könnte.
Aber indireet hat fich diefe Anfchauung auch officiell in eine gewiſſe
Geltung zu feßen gewußt. Nämlich diejelbe ergibt für das praftifche
Urtheil leicht die Confequenz, daß der Wille Gottes in feiner con⸗
creten Form wohl nicht fo hoch zu veranfchlagen jei und dann wieder
Die Conſequenz, dag derfelbe vielleicht auch über Erfordern erfüllt
werben fönne. Und nun find eben diefe Vorftellungen durch offi⸗
cielle katholiſche Theorien fanctionirt. So ſcheint mir die Unter⸗
ſcheidung von peccata venialia und mortalia ein Symptom zu
jein, daß jene erftere Conſequenz wirklich gezogen und anerkannt
ift: nur gewiffe fchwere Sünden find eigentliche, volle Sünden.
In der letteren Confequenz aber erfcheint die Herunterfeßung der
Bedeutung des göttlichen Willens in der Lehre von der Möglichkeit
bon opera supererogatoria und in der Lehre von den „evangelifchen
Rüthen”. Sn beiden Formen fpiegelt ſich die unwilllürliche Ent-
wertäung des göttlichen Willens für das praktifche Urtheil. Jene
beiden Eonfequenzen aus der Lehre von ber Zufälligfeit des con»
creten Inhalts des göttlichen Willens find ja nicht logiſch noth-
wendig, aber praktiſch um fo unausbleiblicher, wenigſtens bei der
Menge. Wir refpectiven nun einmal durchfchnittlich eine zufällige
BWillensäußerung nicht befonders. Sie erfcheint uns zunächft nicht
wichtig. Dann aber kommt es leicht dahin, daß ein Verftoß gegen
diefelbe, der nicht allzu flagrant ift, als nichts fchlimmes gilt.
214 Kattenbuſch
Wiederum kommen wir einem Willen gegenüber, der fein noth⸗
wendiged Maß im fich felbft und feinem Zwecke befitt, leicht dazu,
unfere Leiftungen nad dem Wechſel der Stimmung verjchieden zu
beurtheilen. Warum follte dem Herru, dem wir gehorchen, nicht
ſchon eine unvollfommene Leiftung genügen? Seine Schägung ift
ja an keine Norm gebunden. Freilich dann kann man auch viel-
leicht über Erfordern foldhes thun, was ihm lieb und recht ift.
Für den Einzelnen kann die Entwerthung des göttlichen Willene
natürlich compenftrt werden durch die Wucht, die dem Statutarifchen
als thatfählihem beimohnt. Ein ernftes religiöjes Gemüth
wird den willkürlichen Willen Gottes vielleiht um fo fchwerer
empfinden. Aber ein leichtes Gemüth, welches die Majeftät Gottes
nicht mit unmittelbarem religiöjem Blick vor fi Hat, vor allem
die Menge, wird auf den angedeuteten Wegen Anlaß zur fittlicher
Laxheit nehmen.
Aft nach jener Anfhauung vom göttlihen Willen das Ber-
hältnis Gottes zum Menſchen das eines Willkürherrichers, fo läßt
fih die unmwillfürliche praftifche Wirkung diefer Vorftellung auf
die Fatholifche Frömmigkeit auch nod) in anderen Spuren conftatiren,
3. B. im Heiligencult. Iſt nicht ein Wille, der in ſich felbft
feine nothwendige Norm Hat, vielleicht Einflüffen von außen zu:
gänglich? Die Menge ift offenbar von diefem Gedanken fehr
lebhaft durchdrungen. Sonft wäre folches Unweſen des Marien:
und fonftigen Heiligencultus, wie es die Gegenwart wieder an den
Tag gebracht, gar nicht denkbar.
Doc id) berühre Punkte, die in dem Leben des frommen
Katholiken fi nur als gelegentliche Nüancen der Stimmung gel-
tend machen. Dean kann in der That nicht behaupten, baß Be⸗
quemlichkeit in fittlicher oder religiöfer Beziehung einem correcten
Katholiten befonders naheliege. Jene Theorien über die Sünde
und über den Umfang des göttlichen Gefees oder über die Madıt
der Fürbitte der Heiligen, die derartiges begünftigen, ftehen ja in
directem Widerfpruch mit der Grundtendenz des Katholicismus auf
Einprägung und Realijirung des Chriftentums als Sittlichkeit,
Wo diefe Tendenz Iebhaft empfunden wird, werden fie daher für
da8 Handeln mehr oder minder unfchädlich fein. Sie bieten ja
Kritiſche Studien zur Symbolif. 215
auch als Kehrfeite fogar die Möglichkeit quälerifchen, weil end⸗ und
ziellofen fittlihen Bemühens.
Indes wirft die berührte Anjchauung von Gott auch bei nor»
malen Berbältnifien nad in dem Mangel an unmittelbarer Sicher:
heit und Unbefangenheit der fittlichen und religiöfen Empfindung,
welcher die Stimmung des Katholiken charakteriſirt. Diefe Uns»
jiherheit muß ja aud da entftehen, wo man fich nicht einem in
fich gefchloffenen, notwendigen, cdharaktermäßigen Willen Gottes
gegenüber weiß. Als Gemüthsberuhigung bleibt da nur die Aus
terität der Kirche übrig. Wir kommen bier zu unferem Ausgangs-
punfte zurüd. Zum Ermeife, daß auch der Katholicismus ein
einheitfiches, zufammenhängendes Syſtem ift, jei hier nur noch con»
ftatirt, wie e8 nunmehr auch klar ift, warum bie Kirche im Katho-
licismus gerade fo vorgeftellt wird, wie es der Ball if. Nur
wenn die Kirche als eine Außerliche Anftalt, die auch für das
empirifche Urtheil unverkennbar ift, gedacht wird, kann fie dem
Einzelnen denjenigen Halt gewähren, deſſen er bedarf, um in der
Unficherheit, die der Gottesgedanke felbft über Gottes Weſen und
Ziele übrig läßt, dennoch des rechten Weges und des Heiled gewiß
zu fein.
3. Kir kommen fhließlich zum Brotejtantismus. Das Wert,
welches uns bier zur Anknüpfung dienen fol, ift dasjenige von
Keiff. Dasfelbe ift ja auch eine Darftellung der gefamten Sym⸗
bolit, wie das Dehler’fche, Tann aber ebenfo wie dieſes füglich
nah einem Bruchtheile charakterifirt und beurtheilt werden.
Das Werk ift leicht gefchrieben; nicht felten ift die Darftellung
vielleicht zu ungezwungen und formlos. Offenbar ift es in der
Form ſchnell concipirt. Es enthält die Vorträge, welche der nun⸗
mehr nad Stuttgart übergefiedelte Verfaſſer als Lehrer an der
Miffionsanftalt zu Baſel über unfere Disciplin zu halten Hatte.
Diefem Urfprunge entfprechend ift e8 mehr oder minder populär
gehalten. Doc wendet es fi) auch an wiffenfchaftliche Theologen
und hofft ihnen fogar recht viel bieten zu können. Der Verfaſſer
„erlaubt fi, dem Gange der Idee etwas voller und freier fi
hinzugeben und namentlih durch Analyfe und Würdigung der
216 Kattenbufd
wichtigften Punkte, wie auch durch Skizzirung bebeutenderer kirchen⸗
geichichtlicher Proceſſe und durch allgemeine Charakteriftiten ber
kirchlichen Eigentümlichkeiten mehr zu orientiren, als dies in ben
Handbüchern der Symbolik gewöhnlich üblich ift.“
Wenn an dem Buche von andern gerügt ift, daß es fi) mande
Flüchtigkeitsfehler im einzelnen zu Schulden kommen laſſe *), io
wage ich nit, es in Schuß. zu nehmen. Der Verfaſſer hätte
wohl die Treue im Heinen höher veranfchlagen dürfen. Indes
dad Hauptgemwicht legt er nun einmal auf die Orientirung über
da® Ganze, über die rumbeigentlimlichkeiten der verſchiedenen
Kirchen. Hier erwähne ich nun, daß die griechifche Kirche wohl
nur pro forma Berüdfichtigung findet. Denn wenn Reiff ihr
17 Seiten widmet von 600, fo ift offenbar, daß er fie unver:
hältniemäßig zurückſtellt. Doch ich will ja nicht von dem Werke
im allgemeinen handeln, fondern nur von feiner Darftellung des
Luthertums. Diefelbe fcheint bie Glanzpartie des Werkes fein
zu jollen. Wenigftens hat der Verfaffer hier Quellenbelege beige⸗
bracht, die im übrigen fehlen.
Ich kann nun nicht verhehlen, daß ich mit der Darſtellung des
Luthertums, wie wir ſie bei Reiff finden, nur ſehr zum Theil
einverſtanden bin. Reiffs Auffaſſung iſt meiſt pietiſtiſch gefärbt.
Der Pietismus hat ganz beſondere Schwierigkeiten, die Reformation
richtig zu verſtehen, und Reiff verlennt auch in der That die werth⸗
vollſten Gedanken Luthers.
Es ift ziemlich felbftverftändlich, dag Reiff für die Beſtim⸗
mung des Weſens des Proteftantismus fi) an da8 Schema des
Material» und Formalprincips in der befannten Formulirung an:
ſchließt. Diefes Schema Hat die Eigentümlichkeit, dag eigentlid
niemand an feine Zulänglichkeit glaubt ®), faft jeder aber es an⸗
wendet. Vielleicht wirkt Ritſchls Nachweis, daB es ganz zufällig
1) Bol. z. B. Plitts Recenfion, Theologiſche Literaturzeitung 1876,
©. 514ff.
2) Vgl. die Ueberficht über die neueren Verſuche das Princip des Proteſtau⸗
tismus zu formuliven bei Sieffert: „Der reformatorifche Kirchenbegriff
unter den Principien des Proteftantismus”, Theologifche Arbeiten aus dem
theinifchen Bredigerverein, herausgegeben von Evertsbufd, 3. Bd. 1877.
Kritifche Studien zur Symbolik. 217
zu Stande gekommen und noch ganz junger Herkunft ift >), keines»
wegs geheiligt ift durch die Tradition von der Urzeit des Pro»
teftantismu® her (wie &. Bed?) ganz richtig die allgemeine Em⸗
pfindung fchildert), am eheften dahin, daß man endlid von ihm
abfieht.
Die Dispofitton des Stoffes, welche Reiff auf Grund eines
angeblichen Gedantenganges der Auguſtana vornimmt, ift folgende:
„1) die Glaubensgerechtigkeit, wobei zugleich die Voraus⸗
iegungen und Folgen derfelben zur Sprache kommen; 2) die
Gnadenmittel als die Quelle und Bürgfchaft ber Glaubens⸗
gereihtigleit (wie überhaupt als die Gegenwart des Heiles auf
Erden); 3) die Kirche als die Gemeinſchaft des Glaubenslebens,
das die Gerechtigkeit hat und der Önadenmittel, die diefelbe bringen,
gleihfam der Grund und Boden, auf dem beide eriftiren und ſich
bewegen“.
Zreten wir in die Einzelheiten ein, fo handelt es ſich alfo
zunächſt um die Glaubensgerechtigkeit. Die Vorausſetzungen derjelben
iind theologifche, anthropologiſche, foteriologifche. Die theologifchen
find weſentlich Gottes Heiligkeit und Zorn Über die Sünde, die durch
das Geſetz offenbart werden, und feine Liebe und Barmherzigkeit, die
durch dad Evangelium offenbart werden. Die Aufgabe der Recht-
fertigung ift die Stillung des durch das Geſetz über die Sünde
bis zur Berzweiflung geängfteten Gewiſſens. Indem die Ruhe
des Gewiffens allein durch den Glauben an das Evangelium er⸗
reicht werden fol, wirb Gott die Ehre gegeben. Um Gottes Ehre
md Majeftät aber handelt es fi überall im Broteftantismus.
Gegen biefe Darftellung ift zu bemerken, daß fie zu mechanifch ift.
Es iſt durchaus nicht an dem, daß nur ein durch die terrores
conscientiae hindurchgegangenes Gemüth Iutherifchen Sinn gegen
Sott Haben könne. Luther felbft fett zwar feiner perjünlichen
Erfahrung entſprechend durchweg folche Aengftigung durch die Sünde
bei den Gläubigen voraus. Aber fein Nechtfertigungsgedante an
1) „Ueber die beiden Principien des Proteftantismus”, Zeitfchr. f. Kirchengeſch.,
1. öft. 1877.
3) Bol. Stubien und Kritifen 1852, ©. 408.
218 Kattenbuſch
ſich iſt derart, daß er, um praktiſch erprobt zu werden, nicht in
jedem Falle jene Gewiſſensnoth als Grundlage fordert; vgl. meine
weiter unten folgenden poſitiven Ausführungen. — In der An:
thropologie ift die Darftellung der Lehre von der Sünde und vom
Urftande richtig, wenngleich) mir zweifelhaft ift, ob der Verfaſſer
den methodologifchen Unterfchied der Iutherifchen und der katholiſchen
Anthropologie erfannt hat (vgl. oben S. 183). Merfwürbigermeife
wird diefer Abfchnitt befchloffen mit Ausführungen über das „gött⸗
liche Recht der Natur und der natürlichen Ordnungen“, die nad)
der richtigen Ordnung der Dinge keineswegs hieher gehören. Leider
hat der Verfaſſer nur zu wenig Erfenmtnis von dem Werthe der
reformatorifchen Bofitionen. Die Vermuthung, die reformatorijche
Hochſchätzung der natürlichen Ordnungen, d. 5. in specie des
bürgerlichen Berufs, des Familien» und Staatslebens, könne als
Ueberſchätzung bderfelben erfcheinen und die Bemerkung, daß die
„geiftlichen Dinge“ doch für Luther immer die Hauptſache ge-
blieben, laſſen auch Leinen Zweifel, warum der Verfaſſer den
Reformator fo wenig verfteht. Der Pietismus ift in der That
eine übele Brille für die Betrachtung der Reformation. — Die
joteriofogifchen Vorausfegungen behandeln die Lehre von der Ber:
jon Chriſti, vom Werke Ehrifti, von der Heileordnung weſentlich
nach dem Schema der Theologie des 17. Jahrhunderts. Als ob
dieſes Schema nicht die eigenartigen Erfenntniffe des Proteftantie-
mus mehr verhüllte als deutlich machte!
Bei der Frage nach dem „Wefen der Glaubensgerechtigfeit“
begegnen wir zunächſt einer Erörterung, warum der Glaube, beffen
Weſen Vertrauen ift, rechtfertige — er kommt dafür nicht als
Quelle der Liebe und Brincip des neuen Lebens in Betracht, fon-
dern lediglich als opyavov Annzixov —, dann einer Erörterung
über den. „Begriff, die Momente und Merkmale der Hechtfer-
tigung“ — fie ift negativ Sündenvergebung, pofitiv Annahme zur
Gotteskindſchaft —, ſchließlich der Frage nach „Hergang, Zeitpuntt
und Verſicherung der Rechtfertigung“. Auf letzterem Punkte
find eigenartige, nicht zu unterſchätzende Schwierigkeiten durch die
Quellen felbft geſchaffen. Aber Reiff ift ihrer nicht Herr ge
worden. Er polemijirt dagegen, dag die Rechtfertigung ein „Unis
Kritische Studien zur Symbolik. 219
verfalbegnadigungsact, ein Generalpardon für die Mienfchheit fet,
den Gott etwa bei der Faſſung des Erlöfungsrathfchluffes ober
bei der Opferung Chrifti hätte ergehen laſſen“. Es ſei darauf
zu beftehen, daß das Nechtfertigungsurtheil über jeden einzelnen
Menfchen als folchen ergebe, fonft könne das Gewiffen fich feiner
mt tröften. Nun findet der Verfaſſer durch die ſymboliſchen
Vñcher indirect angezeigt, daß man denken müfje, die Rechtfertigung
ſei „förmlich abgeſchloſſen“ erft in dem beftimmten Wtomente,
in welchem das Subject zum Glauben fommt. Die Taufe leitet fie
ur ein, dann muß die Buße fommen, fchließlich vollendet fich der
ganze Proceß im Glauben. Indes damit ift erſt der himmlische
Act der Rechtfertigung abgeichlofien. Der irdiihe „ber Verkün⸗
digung des göttlichen Urtheild in das Herz hinein“ ift davon zu
unterfcheiden.. Die Verſicherung und bemußte Empfindung des
Heiles ift nicht immer unmittelbar mit der „objectiven Rechtfertigung“
für das Subject gegeben. Allerdings ganz ausbleiben kann fie
nicht. Ihre Bermittlungen find das Wort und die Sacramente,
auch die guten Werke, die man nach geſchehener Rechtfertigung in
Kraft des Heiligen Geiſtes wirkt. Es iſt nicht zu Teugnen, baf
Reiffs Darftellung Anhaltspunkte bei Luther und in den ſymboliſchen
Schriften beſitzt. Dennoch teifft fie nicht den Sinn Luthers, wie
das in unferer pofitiven Ausführung über den Lutherifchen Pro⸗
teftantismus erhellen wird, Obige Darftellung ift praktiſch erprobt
worden im WMethodismus und Frande’fchen Pietismus. Indes
deutet der Verfaſſer an diefer Stelle durch nichts darauf Hin, daß
in jenen beiden fectenhaften Kreifen die eigentliche Vollendung der
Reformation zu fehen fei.
Unter dem Zitel der „Folgen der Rechtfertigung” finden wir
lediglich Erörterungen über das neue Leben, bie guten Werke in
Kraft des heiligen Geiftes, das Geſetz, fofern es für den Wieder⸗
geborenen gift. Der Verfaſſer ift bier nicht ganz zufrieden mit
der Lutherifchen Lehre. Der „Bedentung der guten Werke“ gefchieht
nicht volles Genüge. Sie find mehr als bloße Anbängfel der
Rechtfertigung, fie find ein für fich felbft gewollter göttlicher
Zweck. Der Pietismus, „auch hier eine Fortbildung der Iutherifchen
Lehre“, wurde der Bedeutung derjelben mehr, aber auch noch nicht
29 Kattenbuſch
vollſtändig gerecht. Unzufrieden iſt der Verfaſſer auch mit der
lutheriſchen Lehre von den Sünden der Wiedergeborenen. Man
macht die Rückkehr zur Gnade zu leicht; das Richtige iſt, daß der
Gnadenſtand unwicderbringlich verloren gehen kann. „Er geht jedoch
nicht fo ſchnell verloren.“
Es folgt die Lehre von den „Snadenmitteln als Mitteln der
Rechtfertigung und als Gegenwart des Heiles auf Erden“. In
diefem Kapitel wäre zunächt zu wünſchen, daß nicht zum voraus
angenommen wäre, daß die mechanische Auffaffung von der Gegen-
wart des Geiftes in den „Gnadenmitteln“, wie fie die orthodoxe
lutheriſche Theologie firirte, fo weientlich Luthers Ideen gerecht
werde. Dann fehlt völlig eine Unterfuchung über ben Begriff
des „Wortes Gottes“ ; denn die Notizen S. 379 verrathen nicht,
einmal, daß ber Verfaſſer weiß, daß bier eine Frage vorliegt.
Jedoch wird der Begriff des Sacramentes in fo fern richtig ange
geben, als betont wird (beſ. 8 77), daß das Wort auch im Sa
cramente die Hauptfache fe. Die Orientirung über die einzelnen
Sacramente iſt nicht faljch, aber zu wenig eingehend. Es hätte
ſich verlohnt, vor allem Luthers Wandlungen in der Abendmahls⸗
(ehre genauer darzulegen. Auch vermiffe ich die Erkenntnis, daß
Luther in feiner fpäteren Zeit in der Lehre von beiden Sacramen-
ten feinen allgemeinen Saeramentesbegriff mehr oder minder aus
dem Auge verlor. Dagegen ift e8 erfreulich, daß Reiff nicht Luthers
befannte Yeußerung über die Bedeutung des Abendmahles für die |
Berklärung des Leibes als Spige der Lehre des NReformatore
binftellen mag, wie Blitt!) das über fih gewonnen hat.
Schließlih kommt Neiff auf die Lehre von ber Kirche. Die
Kirche ift ein Doppeltes: Gemeinſchaft der Heiligen, Anftalt zur
Verwaltung von Wort und Sacrament. In beiden Beziehungen
ift fie nothwendig. 1) Sie ift nothwendig als Gemeinjchaft der
Heiligen. „Denn das Glaubensleben jelbft treibt zur Gemeinfchaft.“
Indes eine folche Vorftellung von der Kirche, wonach fie zu Stande
fommt als die Summe der einzelnen Gläubigen, ift wohl pietiftiich,
aber nimmermehr Iutherifh. 2) Sie ift nothwendig als Snaden-
1) Einleitung in die Auguftana II, 363 ff.
Kritiſche Studien zur Symbolik. 221
mittelanftalt.. „Denn der Glaube kommt nur aus den Gnaden⸗
mitteln; die Gmadenmittel aber find nur in der Kirche, in welcher
allein ihre fortgehende Verwaltung und ihre Yortpflanzung von
Geſchlecht zu Geſchlecht garantirt if.” Aus dem Begriffe ber
Gemeinde der Heiligen ergibt ſich das allgemeine Prieftertum der
Gläubigen, aus dem Begriffe der Onadenmittelanftalt die Noth⸗
wendigfeit des Amtes. Indes Reiffs Vorjtellung, wonach die
Gemeinde durch die amtliche Predigt und die amtliche Darreichung
der Sarramente als ſpecifiſche Mittel erzeugt wirb ober fidh
ſelbſt erzeugt, ft zwar nicht ohne Anhalt in beitimmten Stellen
jelbft Luther'ſcher Schriften, dennoch aber nicht „lutheriſch“, fondern
katholiſch — In $ 82 erörtert Reiff „Verhältnis und Zuſammen⸗
faſſung der beiden Seiten im Kirchenbegriff“ und bier erhält das
tatholifche Moment feiner Vorftellung von dem proteftantifchen
Kirhenbegriff das Uebergewicht. Urfprünglich wurde in der luthe⸗
rien Kirche das Hauptgewicht auf die „fubjective Seite“ gelegt.
„Später aber, als die Intherifche Reformationsidee unabhängiger
von dem katholiſchen Gegenjat fi in fich ſelbſt auszugeftalten
und im eigenen Lager ſich fchwärmerifcher Verirrungen zu erwehren
hatte, auch die leidige: Erfahrung des Erfaltend ber erften Liebe
und der Rohheit der großen Mafje zu machen war, ging es ähnlich,
wie einft in der Tatholifchen Kirche.“ Da fing man an, „auf das
Objetive , allein Standhaltende, mehr Gewicht zu legen“. Über
die beiden Seiten bes Kirchenbegriffes ſchließen ſich doch einheitlich
ufammen — nämlid in Chriftus. „Von ihm geht der Geift
md als Kanal bes Geiltes das Wort und Sacrament aus. Und
mt ihm, dem Haupte, hängt wiederum die Gefamtheit derer zu⸗
ſammen, welche in dem Evangelium zufammenftimmen, denfelben
EHriftus, denfelben heiligen Geift und dieſelben Sacramente haben.
Tag Eigentümliche in dieſem Verhältnis ift aber, daß nicht nur
die Gemeinschaft der Gläubigen durch die Gnadenmittel fortwährend
erhalten wird, jondern daß jene auch wiederum diefe in ihrem
Gange erhält, indem fie ihre regelmäßige Betreibung in’s Wert
iekt, und überwacht. Ergibt fi uns ſonach das eine Mal die
Reihenfolge: Chriftus, die Gnadenmittel (und das Amt), die Ger
meinde — das andere Mal die Reihenfolge: Chriftus, die Gemeinde,
222 Kattenbuſch
die Gnadenmittel (und das Amt), ſo haben beide Betrachtungsweiſen
doch nichts widerfprechendes." Nämlich das eine Mal kommt die
Gemeinde als werdende, das zweite Mal als gewordene in Betracht.
Alfo die Gemeinde befigt an ben Önabdenmitteln, fofern fie
als bejtimmte, amtlih verwaltete Dinge vorgeftellt
find, die fpecififchen Inſtrumente, ſich zu erhalten und ſtets neu
zu erzeugen. Das ift eben katholifch !
Reiffs Werk ift inhaltlich nad) meinem Urtheil meift verfehlt.
Dennod hat es Vorzüge, die es räthlich erfcheinen laſſen, es nicht
zu ignoriren. Nämlich e8 ift nicht zu leugnen, daß der Verfaſſer
feinen Stoff bis zu einem gewiffen Grade geſchickt verarbeitet Hat.
Das Berbienft, in feiner Weife zu den Theilen das geiftige Band
gefucht zu haben, darf ihm nicht abgefprocdhen werden. So kann
die Lebendigkeit der Auffaffung vielleicht anregend wirken.
Es ift oben bemerkt worden, die ſymboliſchen Schriften dee
Proteitantismus hätten, weil fie aus ber Gründungszeit desfelben
ftammen, das gute Vorurtheil für fi, das Weſen des Proteftan-
tismus deutlich erkennen zu laffen. Dieſes Vorurtheil beftätigt ih
— in der Hauptſache —, wenn wir von jenen Schriften Kenntnis
nehmen. Indes iſt es doch nicht zu empfehlen, fich für die Sym
bolit auf diefelben al8 Quellen zu befchränfen! Denn die Sade
fteht fo, daß man nur bei ftetiger Achtſamkeit auf die gefchichtliche
Entwidlung der Anfchauungen der Reformatoren die fombolifchen
Bücher wirklich verfteht. Die Erfahrung hat gezeigt, daß diejenigen,
die mit Vorliebe diefe Bücher für fich allein al8 zulängliche Duelle
zur Erkenntnis des Wefens der Reformation Hinftellen, die meijten
Misverftändniffe begangen haben. Aber es ift auch zu unterfcheiden
zwifchen den verfchiedenen Symbolen. Ich rede nur von ben
Iutherifchen. Es ift Feine neue Erkenntnis, daß die Concordien-
formel einen anderen Charakter Hat, als die Auguſtana. Der
Unterfchied ift freilich oft fehlerhaft angegeben. Er Liegt nicht fo
fehr in ben einzelnen Beitimmungen — die find denen der Au⸗
guftana conformer, als mande es Wort haben wollen —, ale
vielmehr in dem Totalcharalter, in der Tendenz. Die Anguftana
Keitifche Studien zur Symbolik. 228
bringt die religiöfe Differenz des Katholicismus und Proteftantis-
mus zum Ausdrud, die Koncordienformel fchlichtet theologijche
Streitigfeiten in der neuen Kirche, fo zwar, daß die VBorausfegung
ift, diefe Streitigkeiten bedrohten den Beſtand der Kirche und müßten
daher durch ein „Belenntnis” entjchieden werden. Daß der Ab-
ftand ber Zeit der Concordienformel von derjenigen des Anfanges
entf heidend gekennzeichnet wird durch den Abftand des fpäteren
Kirchenbegriffes von dem früheren, durch den LUnterfchieb der Auf-
faſſing der „Predigt des Evangeliums nad reinem Berftande“
als Merkmals der Kirche in der Zeit, wo Luthers Genius noch
ungebrochen war, und in der Zeit, wo Melanchthons Geift ihn
überwunden Hatte, hat Ritſchl an mehreren Stellen, zulett und
am durchichlagenbditen in feiner „Entftehung der Tutherifchen Kirche“ *)
dargethan. Aus jener Zeit ftammt noch die Auguftana, die Con⸗
cordienformel ift das nach den Umftänden meift ſehr glücklich for⸗
mulirte Programm ber zweiten. Aber auch in der Auguftana gibt
es Punkte, die nicht mehr der urjprünglichen, eigentlich veforma-
torischen Conception Luthers entfprechen. Auch um deswillen alfo
ift e8 nöthig, bis im die Anfänge der Reformation zurückzugehen,
wenn man das Weſen des BProteftantismus völlig und in feiner
Idealität erfaften will. Kine vellftändige Symbolit müßte die
Entwidlung des Werkes Luthers zur Iutherifchen Kirche des 17.
Jahrhunderts, wie fie in unferem Yahrhundert von den „Luther
ranern“ wieber belebt hat werben follen, verfolgen. Ste müßte
auch den Pietismus in Betracht ziehen. Denn das iſt die zweite
Hauptform, wie und in der Gegenwart ber Proteftantismus bes
fonders bemerflich wird. Ich beſchränke mich darauf, das Wefen
des Proteftantismus nach den höchſten Intentionen Luthers zu
harakterifiren. Denn e8 kann mir in diefem Auffage nur darauf
anlommen, die legitime Gejtalt bes Proteftantismus barzuftellen,
ebenfo wie ich bemüht gewefen bin, die Iegitimen Formen des grie⸗
chiſchen und römischen Chriftentums bdarzuftellen, ohne mic .auf
Formen, die zufällig oder im Widerfpruch mit dem Principe jener
Kirchen find, einzulaffen. Es Tann nichts ſchaden, wenn auch
1) Zeitſchrift für Kirchengeſchichte, I. Jahrgang (1876), 1. Pl
Aeol. Stud. Iabıg. 1878.
m Kattenbuſch
einmal die urſprünglichen Ideen und Abfichten Luthers ausſchließ⸗
fih zur Darftellung kommen, nachdem man in den vorhandenen
Symboliten überall nur die fpäteren, fo manigfach verfümmerten
been für den eigentlichen Proteſtantismus ausgegeben bat !).
Der Artikel von der Nechtfertigung ift derjenige, „von dem
man nichts weichen oder nachgeben kann, e8 falle Hinunel und
Erde oder was nicht bleiben will”. Aber was befagt diefer Artifel?
Die allgemeine Antwort lautet, daß durch ihn der Weg zum Trofte
für die Herzen gewiefen wird. Nun wird bei Luther und in ben
ſymboliſchen Schriften diefer Troſt durchweg für den concreten
Fall der Aengftigung des Gewiſſens durch die Sünde geltend ge-
macht. Es ift aber nicht gleichgültig, ſich Har zu machen, dag der
Gedanke der „Rechtfertigung aus dem Glauben“ an fi weiter
reicht und auch noch Gültigkeit hätte unter PVorausfegung der
Sindlofigkeit. Die Frage nach dem Grunde der Redtfertigung
ift die Brage nah dem Grunde der Geltung des Menſchen
vor Gott. Ich will Hier nicht wiederholen, was ih oben (S.187 ff.)
bereits ausgeführt habe. Ob Luther mol daran gedacht hat, daß
es möglich fei, anzunehmen, Adams urfprüngliche Reinheit und
Gerechtigkeit habe Gottes Gnade erft begründet und „verdient“?
Aber das würde Selbjtgerechtigleit in feinem Sinne geweſen fein.
Ja als ſolche gilt ihm nicht nur das Bemühen, aus eigener Kraft
den Willen Gottes zu erfüllen und fo das Heil zu verdienen,
fondern auch der Gedanke, daß wir auf Grund des von Gott ge
wirkten Guten in uns Gottes Gnade gewiß fein dürften. Es iſt
auch nur ein anderer Ausdrud für den Gedanken, daß Gott die
Liebe ift, wenn wir feithalten, daß in jeder Verfaffung die Geltung
des Menfchen vor ihm ruht in feiner ewigen Liebe, die nicht verdient
zu werden braucht, die nicht verdient werden fann, die immer
ſchon da ift, ehe der Menſch überhaupt etwas thut und fchafft.
Diefe Erkenntnis von der Tragweite des Intherifchen Rechtfer⸗
1) Im weitern werde ich befonders Ritſchls Werk über „Rechtfertigung
und Verſöhnung“ (1. n. 3. Bd.) und Köſtlins Werk über „Lurthere
Theologie” (2 Bde.) als befannt vorauefegen, ohne fie im einzelnen zu
eitiven.
Kritifche Studien zur Symbol. 226
tigungögebanfens ift feftzuhalten, wenn man nicht beirrt werben ſoll
durch die verbreitete mechanische Auffaffung der Lehre Luthers, daß
die Rechtfertigimg identisch mit „Sündenvergebung“ fe. Unter
den tbntfächlichen Umftänden, wo wir alle des Ruhmes ermangeln,
den wir vor Gott haben follten, wäre es ein Verkennen ber
Virklichkeit und eine gefährliche Tauſchung, zu Teugnen, baß in der
That die Rechtfertigung ein Wechfelbegriff für Sündenvergebung
iſt. Indeß es ift darum doch irrig, wenn man, mie Reiff, die
proteftantifche Lehre von der Rechtfertigung fo darftellt, als rechne
fie überall auf die Erfahrung der Gewifjensnoth und auf die ftetige
acute Sündenempfindung, welche Luther perfünlich eigen war. Luther
it umter abnormen Umftänden zu der Erfenntuis ber alleinigen
Gültigkeit der Gnade Gottes zum Zwecke unferes Helles gelangt.
Er hat ben Weg der „Selbftgerechtigfeit" im eigentlichften Sime
des Wortes verſucht. Er bat ihn verſucht, umgeleitet durch bie
aomimaliftische Theologie feiner Zeit. Die nominaliftifche Schule,
welche an die Spitze des ganzen Heilsproceſſes merita (wenn aud)
nur de congruo) ftellte, war auch auf katholiſchem Boden ein
Abweg. Die officielle, thomiftifche Lehre ftellt befanntlih an den
Anfang die gratia praeveniens. Der Nominalismus praktiſch
erprobt muß zur Verzweiflung bringen oder zur Laxheit. Indem
das erftere regelmäßig für ein religiös ernſtes Gemüth der Fall
fein wirb, ift Luthers Sündenangft begreiflih. Wir werden in
Luthers Lebensführung die Fügung Gottes erfennen müffen, wodurd)
er die Energie des Reformators gewann, nachdem ihm bie
richtige Erkenntnis über den Heildweg durch Staupitz und durd)
die Bibel erjchlofien war. An der Hand der officiellen Theorie
wäre er vielleicht Jeichter zu bewegen geweien, auf merita zu ver-
jihten. Daun aber wäre er vielleicht nur ein Mann geworden
wie Staupitz felbft und Bernhard von Clairvaur, Leute die per»
ſön lich vielleicht durchweg ſich nur auf die Gnade verlaſſen haben,
aber nicht das Bedürfnis der Reformation der öffentlichen officiellen
Lehre, die ihre Frömmigkeit nur ermöglichte, nicht direct
forderte, erfaunten und ver allem nicht den Beruf des prak⸗
tiſchen Reformators der chriftlihen Gemeinde in fi fanden.
Zu letzterem war Luther geeignet, indem er auf's tiefite die Un-
15*
226 Kattenbuſch
ſeligkeit desjenigen Heilsweges, der die Erwerbung von Verdienſten
fordert, erfahren hatte. Sobald ſich die officielle Lehre gegen ihn
aufwarf, mußte er auch in ſeinen Erfahrungen die Kraft haben,
fie in ihrer Halbheit ebenſo wie die nominaliſtiſche Theorie abzu⸗
werfen. Es ift bemerlenswerth, daß Luther in feinen erſten Jahren
in Wittenberg, wo er feine Rechtfertigungslehre pofitiv durchaus
ar vertritt, noch nicht weiß, daß er damit die offictelle Lehre in-
direct abrogire.. Er hat feinen Zwieſpalt mit derfelben erft fpäter
erkannt, dann aber auch in feinen religiöfen Erfahrungen die Ener:
gie beſeſſen, fie und die Kirche, welche fie vertrat, für unchriſtlich
zu erflären. Wenn nun Luther auf Grund der Anleitung zum
Ehriftentume, die er fand, nur durch die tieffte Empfindung der
Sündennoth, der Unzulänglichkeit unferer natürlichen Kraft Gottes
Willen zu erfüllen, bindurchdrang zum Xrofte des Glaubens an
die ewige Liebe und Gnade Gottes, die Sünden vergibt, wenn er
dabei fein Leben lang die Lebendigfte ftetige Vorftellung von der Un-
vollfommenheit aller menfchlidhen Leiflungen behielt, follen wir
jedermann anleiten, es ihm nachzuerproben, follen wir jedermann
auch ermuntern, den Weg der „DVerdienjte” einmal zu verfuchen,
um ihn erft hernach durch den Hinweis auf die Gnade zu tröſten?
Es wäre das eine gefährliche Pädagogik. Iſt aber die richtige
Erziehung darauf zu richten, die Kinder von vornherein nur auf
Gottes Gnade aufmerkſam zu machen, fo ift es fehr wol möglich,
daß einer fein Leben lang ſich demütig der Gnade Gottes getröftet,
ohne je die terrores conscientiae erlebt zu haben. Auh iſt es
dann eine individuelle Sahe, ob man lebhafter und ftetiger der
Unvollkommenheit, die auf Erden an uns bleibt, bewußt ift oder
lebhafter der begonnenen Erneuerung, der von Gott gegebenen ſitt⸗
lichen Kraft, alfo auch des Vollbringens, welches uns neben dem
Straucheln geſchenkt wird. Luther kennt auch die Freude des
Ehriften, gute Werke vollbringen zu können. Und es ift nicht
- abzufehen, warum der Gedanke der Rechtfertigung aus bem Glauben,
der Geltung dor Gott nicht Kraft unferer Leiftungen, fondern
kraft feiner ewigen Liebe, das Bewußtſein fittlich werthvoller
Leiftungen ausschließen follte. Man ignorire doch nicht, daß jeit
Luther die evangelifche Kirche nicht erft erzengt zu werden braucht,
Kritiſche Studien zur Symbolil. 227
ſendern da ift, daß die Gemeinden, zu denen wir heute reden, in
der Borftellung leben, daß Gottes Liebe erft zu verdienen nicht
nöthig und nicht möglich ift. So fee man doch auch nicht mecha⸗
nich die Form, in der Luther zu feiner Zeit feinen Nechtfer-
tigungsgebanten ausfprechen mußte, fort, fondern ftelle ihn in der
vorm dar, in der er jede individnelle, chriftlich legitime Stimmung
zu begleiten geeignet ift!
Hanptfächlich geftütt wird die mechanifche Auffaffung der Aus-
jagen Luthers über die Rechtfertigung durch die Lehre von dem
Zaftandefommen berfelben, fo wie Quther diejelbe in unzweckmäßiger
Rachgiebigkeit gegen Melanchthons Rüdfiht auf den „gemeinen
groben Mann“ in feiner fpäteren Zeit formulirte. ‘Diefe Lehre
geht dahin, daß die Rechtfertigung zu Stande komme durch die
Predigt des Geſetzes und des Evangeliums, fo zwar, daß eritere
zunächſt die contritio zu bewirken habe, worauf die fides den Troſt
des Evangeliums ergreifen dürfe. Melanchthon hatte Gefe und
Svangelium, Zerknirſchung und Glaube, in diefer zeitlichen Auf-
enanderfolge al8 die Faktoren der Rechtfertigung bingeftellt, weil
er nur fo der fittlichen Verwilderung der Gemeinden glaubte ftenern
zu können. Aber die urfprüngliche Lehre Luthers ging dahin, daß
au die contritio Schon aus dem Glauben ftamme, daß die Predigt
des Evangeliums den Anfang machen müſſe. Es bedurfte nur der
nöthigen paftoralen Weisheit, um bem „gemeinen Mann“ ben Ges
danfen abzugewöhnen, dab die Predigt von ber Vergebung der
Sünde fittliche Laxheit legitimire. Auch tft es unfchwer zu zeigen,
warum die Melanchthon'ſche Methode, die Übrigens von ihrem
Ureber felbft für theologiſch incorreet erklärt wird, erſt recht
mzweckmäßig ift!). Das „Geſetz“ hat nur Macht über die Ge⸗
müther um bed „Evangeliums“ willen. Es Teuchtet nun ein, daß
die urfprüngliche Lehre Luthers das Dringen auf Erfahrung der
Angft um die Sünde, die Beſorgnis, daß man auf den Gedanken
gerathen könne, durch eigenes Verdienft Gottes Gnade erwerben
1) Mit diefer fehlerhaften paftoralen Methode wird ohne Zweifel der Mangel
an fittficher Energie, der in der fpäteren, zumal der „orthodoren” Zeit,
in der Tutherifchen Kirche fo befremdend auffällt, zuſammenhängen.
28 Kattenubuſch
zu wollen, die Gewöhnung, alsbald an die Unvollkommenheit aller
menfchlihen Sittlichkeit zu erinnern, welches alles im individuellen
Falle ebenfo fehr lähmend und beirrend als fürbernd wirken kann,
al8 eben nur relativ berechtigt erfcheinen läßt, während allerdings
die Spätere Lehre des Reformators die mechanische ufuelle Aus⸗
führung feines Nechtfertigungsgedantens nahe legt.
Es ift nun hier der Ort, darauf aufmerffam zu machen, welchen
Werth der reformatorifche Rechtfertigungsgedanke für das praf:
tiiche Leben bat. Das fcheint fo felbjtverftändlich, daB die meiften
Symboliter diefe Frage gar nicht aufwerfen. Wenn nur nicht
dieſes Vertrauen auf das unmittelbare Verftändnis der Errungen-
ſchaft der Reformation überall eine fchiefe Bezeichnung des Gegen:
ſatzes des Katholicismus und Proteftantisemus zur Folge hätte!
Aber diefer Gegenfag kann gar nicht auf eine richtige Formel ge:
bracht werden ohne Achtſamkeit auf die Zweckbeziehung des pro-
teftantifchen Nechtfertigungsgedantene. Nun bat ja Quther diefelbe
nur zu bald — nit zwar für fein praktiſches Verhalten, aber
für die öffentliche Belehrung — aus dem Auge verloren. Aber
einmal hat er fie doch fo bewußt und lebendig zum Ausdruck
gebracht, daß man ein Recht Hat, die Schrift, worin das gefchieht,
troß ihm ſelbſt, als das Programm feiner Reformation binzuftellen.
Es iſt Ritſchls größtes Verdienft um das Verſtändnis des Pro:
teftantismus, daß er Luthers Schrift de libertate christiana m
ihrer Bedeutfamkeit wieder entdect hat. Nur im Hinblid auf fie
fanıı man erkennen, welch' eine That die Reformation gewejen ift,
und dag zwiſchen Katholicismus und Proteftantismus ein wirklicher
Stufenunterfchted befteht: Iſt der Katholicismus darauf gerichtet,
das Chriftentum als Sittlichleit einzuprägen, fo der Proteftan:
tismus darauf, den Charakter des Chriftentums als Religion
vor allem zu wahren. Das gejchieht in dem Gedanken der „Frei⸗
heit eines Chriſtenmenſchen“, wie ihn Luthers liebliche Schrift
ausführt. Es ift der Sinn aller Religion, ben Eonfliet zwiſchen
der überweltlichen Beftimmung des Menfchen und feiner natürlichen
Einordnung in die Welt zu löfen. Das Chriftentum verheißt dieſe
Löfung in abfchliegender Weife (Matth. 11, 28ff.). Während aber
die griehifge Kirche im Rückfall in phyſiſche Maßſtäbe diele
Kritifhe Studien zur Symbolik. 28
Löfung darin fah, daß das Chriftentum die fchließliche Erhebung
unfered Lebens über feine creatürlihen Bedingungen hinaus zu
gättlicdyer Seinsform gemwähre, während die römifche Kirche, dent⸗
liher zwar den eigenartigen, fittlichen Charakter des Chriftentums
ertennend und die Seligfeit als geiftigeg Gut (fruitio Dei im
Auſchauen feines Weſens) begreifend, dennoch gebannt blieb in dem
Gedanken, daß das höchſte Gut des Ehriftentums erft im Jenſeits
zugänglich werden folle, fo daß für die Gegenwart der Theorie
nach nur das fittlihe Handeln als der Selbſtzweck des Chriſten⸗
ums übrig blieb, fo hat der Broteftantismus es bemußtermweife er»
faft, daß das religiöfe Gut des Chriftentums, welches er zugleich
erit volllommen als ein geiftiges, fittlich bedingtes erkennt, Schon in
der Gegenwart zugänglich jei, daß die Seligleit im Chriftentume
bier ſchon nicht bloß verheißen, fondern auch gewährt fei. “Die
„Königeherrfchaft“ über die Welt in dem Bemußtjein, daß denen,
die Gott lieben, alles zum beiten dienen müſſe, die „Freiheit über
md von der Belt“ in dem Bewußtſein der Nechtfertigung im
Glauben, der Geltung vor Gott kraft feiner ewigen, unvergäng-
fihen Liebe — das ift der Werth, welchen der Broteftantismus
den Ehriftentume beifegt, das iſt das Gut, weldhes er im Chriſten⸗
tume finden ehrt und womit das Bedürfnis des menschlichen
Herzend nad) Seligkeit in Gott geftillt wird. Der proteftantifche
Glaube kennt auch das Jenſeits als die Vollendung der Gegen
wart und hält mit Paulus feit, daß es beſſer ift abzufcheiden
und bei Ehrifto zu fein. Aber er lehrt auch die Gegenwart als
der Seligkeit voll erlennen. Wo Vergebung der Sünden ift, fagt
Luther, da ift auch Leben und Seligkeit. Damit erft ift die Ge-
müthöbefteiung und die Gemüthsbefriedigung in der Gegenwart
geboten, welche zu fröhlicher Arbeit in der Welt nothwendig ift.
Welche Berlümmerungen der Proteftantiemus dadurd erfuhr,
wie viele Rüdbildungen in katholiſches Weſen in ihm dadurch er-
zugt wurden, daR die Reformatoren die urfprünglice Zweckbezie⸗
hung ihres Rechtfertigungsgedantens für die Belehrung in der Theo⸗
logie und in der Predigt aus der Sicht verloren, ſoll nicht Bier
erörtert werden. Ich erwähne hier aber, daß, wie die Chriftologie
in der griechifchen und in der römiſchen Kirche erſt verftändlich
20 \ Kattenbuſch
wird im Zuſammenhange mit der Idee des Gutes, welches jene
Kirchen in Chriſto garantirt ſehen, daß ſo auch die religiöſe Ver⸗
gegenwärtigung Chriſti, welche Luther eignet, erſt klar wird im
Zuſammenhange mit der Idee der „Königsherrſchaft des Chriſten“.
Luthers Bedürfnis iſt dieſer Idee entſprechend darauf gerichtet, in
Chriſto als geſchichtlicher, uns menſchlich naher, menſchlich anſchau⸗
licher Perſon Gott anzuſchauen. Die griechiſche Kirche hatte dies
Bedürfnis nicht. Es genügte für ihren Standpunkt, wenn ihre Vor⸗
ſtellung von Chriſtus genügend äußerlich als authentiſch bezeugt er-
ſchien. Denn da8 Gut, welches ihr in Chrifto gewährleiftet fein
folfte, war ja fein für die Gegenwart zugängliches, war feines, welches
man jich hätte vorftellen müffen, um es in Kraft des Willens fich
anzueignen, e8 fam unter der Bedingung der Zugehörigkeit zur Kirche
und der Erfüllung des Geſetzes von felbit, mit Naturnothwendigfeit
in wunderbarer unbegreiflicher Verwandlung der Lebengbedingungen
im Tode. Anders ſchon ift der Standpunkt des Katholicismus.
Chriftus ift unſer Verföhner, er ift die Kraft neuen, Verdienſte
ermöglichenden Lebens. Die Zweinaturenlehre wird der Tradition
balber feftgehalten. Aber die Scholaftif hat nit mehr das Ver⸗
ftändnis der griechijchen Ortbodorie für die Bedeutung der beiden
Factoren. Was die Macht des griechifchen religiöfen Bedürfniſſes
vermocht hatte, daß man hinwegſchaute über die begrifflichen Un⸗—
möglichkeiten der Zweinaturenlehre, das vermag das wefentlich
anders geartete fatholifche religiöfe Bedürfnis nicht mehr zu Stande
zu bringen. Der Takt und die Sicherheit der Aufrechterhaltung
beider Factoren in ihrer Eigenart geht verloren. Aber das Bes
dürfnis, ein geſchichtliches, menfchlih anſprechendes Bild der Perfon
Chrifti zu gewinnen, hatte man doch auch nicht. Die Kraft feines
Lebens in der doppelten Beziehung auf Gott, welder verföhnt
worden, und auf und, die wir ſittlich umgeftaltet werden follen,
ift ja an die hierarchiſche Sacramentslirche übergegangen. So
genügt die Vergegenwärtigung des Willens Chrifti in dem Gefege
der Kirche und feiner Kraft in den Sacramenten. Hingegen
im Proteftantismus fol durch Chriftus die Freiheit über die
Belt und zwar fchon in der Gegenwart ermöglicht fein, und fie
joll erlebt werben im Vertrauen auf Gott in feiner Offenbarung
N
Kritifche Studien zur Symbolik. 21
m Chriſto. Hier kommt es darauf an, daß Gottes Offenbarung,
jene Liebe, in der wir geborgen fein follen, uns wirklich vertrauen-
und glaubenerwedend d. i. in einem Berfonleben entgegentritt.
Darım kann Luthern die Zweinaturenlehre, welche die nothwendige
Bergegenwärtigung Chrifti als Berfon nicht gewährt, immer nur
in einer unmwillfürlichen Umbdentung genügen !). Warum fie ihm
überhaupt werthooll geweſen, kann ich diesmal nicht erörtern. Daß
Suther leine neue Theorie über Chriſtus aufgebracht, iſt im dem
Katurgrenzen feiner Fähigkeiten begründet. Es ift aber werthvoll,
zu beobadyten, wohin fein religiöfe® Bedürfnis in der Chriftologie
ih wendet. Wir werden auch hier nicht bazufommen, Luthers
religiöfen Gefichtsfreis zu überbieten.
Wenn bisfang hervorgehoben wurde, daß der Proteftantismus
darin feinen wejentlichen Vorzug vor dem Katholicismus Habe, daß
er dem Wefen des Chriftentums als Religion gerecht werde, jo
müffen wir hinzuſetzen, daß er darüber das Weſen desfelben ale
Sittfihfeit nicht vergißt ober vernachläßigt. Iſt das Chriftentum
in feiner Gejamtheit nur erfaßt als bie fittliche Religion, fo voll»
endet fih darin die Weberwindung des Katholicsmus dur den
Proteftantismus, daß der letztere auch Hinfichtlich des Weſens der
Sittlichfeit erft die vollftändige und richtig biblifche Anſchauung
darbietet.. Die Bedingung der Rechtfertigung ift die Buße. Buße
aber ift nach der erften der 95 Thefen und überhaupt nach Luthers
Fee in der erften Zeit nicht eine im beftimmter Zeit abfolvirbare,
nah Bedürfnis wiederholbare Leiftung, wie im Katholicismus,
jondern die Anderung ber gefamten Richtung des Willens. Es
iſt hiemit das denkbar lebhaftefte fittliche Intereſſe des Reformators
dorumentirt. „Die Rechtfertigung befreit nicht von den Werfen,
jondern von dem Wahne ber Werke.“ ALS Luther fpäter ſich Hin-
fichtlich des Ausdruckes poenitentia wieder auf die katholiſche Tra-
dition zurückzog und als „Buße“ einen beftimmten einzelnen Act
definirte (ogl. Auguftana, Art. 12), hat er darum feine geringere
Borftellung gehabt von der umfafjenden Aufgabe des neuen Lebens,
des Ehriften. Es muß nun zunächſt darauf Hingewiejen werden,
1) Acynfid Herrmann, Die Metaphufit in der Theologie, &. 63ff.
282 Ratienbufid
daß Luther, indem er alles Gute ans der Kraft Gottes Herleitete,
noch befondere Borkehr traf, daß der Artikel von der Rechtfertigung
ans dem Glauben allein durch diefe Betonung der Nothwendigkeit
der guten Werke nicht alterirt werde. Ja es darf nicht verfchwiegen
werden, baß er in feinem Bemühen in biefer Hinficht eine Theorie
von ber Abhängigkeit des Menſchen von Gott ausgebildet hat, bie
in beftimmten Beziehungen entfchieden zu weit geht). Welches
ift aber der Inhalt des Sittengefege8? Darin muß fich der
Vorzug des Proteftantismus vor dem Katholicismus entjcheiden.
Denn mit dem allgemeinen Intereſſe, daß der Glaube nid
ohne Werke fei, hat ja der Proteftantismus nichts vor dem Ka⸗
tholicismus voraus, und ift erft bezeugt, daß der Proteſtautismus
die katholiſche Auffafjung des Chriſtentums nicht abweift, ohne das
berechtigte Moment derjelben auch feinerfeits feftzubalten. Nun
wird man vergeblich bei Luther die correcten theologischen For—
meln zur fittlihen Normirung bes chriftlichen Lebens fuchen.
Aber in mandherlei Weife Hat er die Elemente zu der richtigen
Theorie dargeboten, fo daß wir wieder feinen praftiichen Gefichts-
freis nicht zu erweitern haben, um die maßgebende Formel für
dad Weſen des Sittengeſetzes aufzuftellen. Welche Vorftellung
Quther von der fittlichen Verpflichtung des Chriften Habe, erkennt
man vielleicht am ficherften ans feiner Schrift de votis mona-
sticis 1521. Ich fann bier diefe Schrift nicht analyfiren. Aber
es ift offenbar, daß für Luther hier das Geſetz ber guten Werk,
welches dem Ehriften obliegt, Tein irgendwie ftatutarifches ift, nichts
irgendwie mit einer Summe einzelner Vorſchriften, welche für
jebermann gleicherweife gelten, gemein hat. ‘Der göttliche Wille
ift ein Geſetz der Treibeit, welches jeder Ehrift nah Maßgabe
feines Gewilfens und unter felbftändiger Beurtheilung feiner natür-
fihen Organifation und der Umftände feines Lebens felbft auf
feine Perſon anwenden und für fich concret machen muß. Ce ift
die Idealität des göttlichen Geſetzes, welche Luther hier geltend
macht und welche er nicht nur gegen den römischen Mechanismus,
1) Bgl. meine Schrift: „Luthers Lehre vom unfreien Willen und von der
Pradeſtination nach ihren Entftefungsgründen unterfucht.“
Kritifche Studien zur Symbolik. 238
jmbern auch gegen ben Mechanismus ber Neformer, mit denen
er bald nachher in Wittenberg zu fümpfen hatte, aufrecht erhalten
hat. Die Summa des göttlichen Geſetzes aber, die Idee, welche
des ſittliche Verhalten des Chriften regeln fol, ift flir Luther die
Yiebe, wie fie in Chriſtus anfhaulid ift. Diefem Ges
danken gilt bekanntlich befünders ber zweite Theil der Schrift de
ibertate christiana. Und bier bietet Luther auch die Vorftellung
ven einem großen Organismus des fittlichen Lebens der Chriften-
hat, da „die Güter, die wir ans Bott haben, aus einem in den
andern fließen”, wo Chriftus das Haupt und wir die Glieder
fand, die ſich wechfelfeitig tragen und fördern in der Liebe. Diefem
Gedanken ift es nım conform, wenn Luther auch die fittlihe Auf-
gebe des einzelnen Chriften fo anfieht, daß er eine einheit-
liche Geftaltung des ganzen Lebens durch bie Liebe im Sinne hat.
Yuther denft über die Verpflichtung des Chriften zu „guten Werken“
nicht jo, daß er und alle möglichen Liebesleiftungen, zu denen wir
in abstracto befähigt wären, zumuthet. Vielmehr Hat er die
deutliche Borftellung einer einheitlichen Lebensaufgabe, gemäß welcher
wir Ordnung ftiften können unter der Menge guter Werte, bie
ſich im allgemeinen als möglih für uns bdarftelfen, und gemäß
weicher wir entfcheiden können, was in concreto unſere Pflicht fei.
Die fittlichen Aufgaben des Ehriften find flir Luther zufammen»
akt in der Borftellung des von Gott zugewiefenen Berufes.
Luther beurtheilt die Beziehungen, in welche wir durch Geburt und
Erziehung Hineingeftellt werden, als göttliche Fügungen und will
demgemäß nicht, daß wir uns von biefen losſagen, um uns ein
millfürliches Gebiet fittlicher Arbeit zu fchaffen. Diefen Gedanken
barürt er in der manigfachften Weiſe; vergleiche befonders die Schrift
de votis monastics. Alle jene Beziehungen zu geftalten und
zu vereinen nach dem freien Geſetze der Liebe, die aus ihnen eitt-
Ipringenden Aufgaben, die eben nur für uns in diefer Verknüpfung
und ſich wechfelfeitig bedingenden Art vorhanden find, zu ergreifen,
um in ihnen den chriftlichen Liebesfinn zu bewähren, in diejer
Beife einer einheitlichen, individuellen Lebensarbeit mit ftetigem
Sime nachzugehen — das ift für Luther die Forderung, die Gott
an uns ergeben läßt. In unferem Kreife mit unferen Gaben zu
234 | Kattenbufch
wirken, wozu uns die Liebe anhält, das iſt der kleine oder große
Beitrag zum Wohle der Geſamtheit, den Gott von uns in An⸗
ſpruch nimmt. Die Predigten Luthers find voll von concreten,
anſchaulichen Ausführungen über den individuellen einheitlichen
Charakter der fittlihen Verpflichtung des Chriſten. SDiefelben
weifen dem Familienvater, der Mutter, den Kindern, ben Dienſt⸗
boten, den verfchiebenen Ständen ihre eigentümlichen Pflichten nad.
In diefer PVorftellung von dem individuellen, von Gott gewiefenen
Berufe und von der zufammenbängenden Lebensleiſtung,
die uns obliegt, hat Quther dem fittlichen Streben die Orientirung
wiebergeboten, die nur zu Tange der Chriftenheit abhanden gelommen
war und gemäß welcher allein Freudigkeit und Sicherheit in der
Arbeit möglich if. Es ift die Frucht diefer Erkenntnis von dem
Weſen der „guten Werke“, daß Luther auch die Tatholifche Unter:
Iheidung von Geboten und Räthen, die Unterfcheidung bes „voll:
fommenen“ Möndyftandes und des minder werthvollen bürgerlichen
Standes zu caffiren vermochte. Die allgemeinen Ordnungen bes
menjchlichen Xebens, die natürlichen Ordnungen, die Rechtsordnungen,
beftehen kraft göttlicher Stiftung, und es hat jeder es mit fich und
feinem: Gotte abzumadjen, in welchem Stande und Berufe er ihm
dienen fol. So befteht zwar ber Unterfchied des volllommenen
und unvollfommenen chriftlichen Lebens, aber nicht als der zweier
Schichten der chriſtlichen Geſellſchaft, ſondern als der Gradunter-
Ichied des fittlichen Ernftes der Individuen in ihrer Pflicht). —
Es ift nun nicht gleichgültig für die gefchichtliche Entwidlung der
von Luther reformirten Kirche geweſen, daß Luther in der Gefamt-
bezeichnung der fittlichen Aufgabe des Chriften Feine andere Formel
aufgeftellt Hat, als die hergebradhte, daB wir zu „guten Werten“
verpflichtet fein. Um zu jehen, wie weit er fich in feiner Auf:
faffung des Geſetzes vom Katholicismus entfernte, müſſen wir
auf feine Specialausführungen achthaben. Dann ift es evident,
dag unter dem gleichen Titel bei ihm eine ganz andere Vorftellung
fih birgt. Indes Konnte feine rveformatorifche Erneuerung der
fittlichen Vorftellungen, da fie eben nicht gefichert war durch eine
1) Bol. Ritſchl, Die Hriftliche Belllommenheit; dazu Anguftana DI, 6, 49.
Kritifhe Studien zur Symbol. RE
mtjprechende Formel, welche in die öffentliche Belehrung hätte .über-
schen Können, fich nicht fo im Vollsbewußtfein durchjegen und ein-
Bürgern, daß nicht bedenkliche Schwankungen zu erwarten gemwefen
wären, fobald die Erinnerung an feine pajtorale PBraris und an
fein geniales perfünliches Vorbild verblihen war. Es ift nicht zu
verwundern, daß da aud) in feinem Reformationsgebiet fi Nich-
tmgen angefiedelt haben, welche die Katholifchen Anſchauungen vom
volffonumenen und unvolllommenen Chriftentume, wenn auch unter
amderer Beſtimmung der concreten Geftalt des volllommenen Weſens,
weder in Gang geſetzt haben. Ich denke an die befannten Vel⸗
leitäten der pietiftifchen Kreife Hinfichtlich der „geiftlichen Dinge“.
68 find bald fo, bald fo beftimmte befondere Leiftungen, die in
diejen Kreifen für die eigentlich erft wahrhaften geiftlichen Dinge
ausgegeben werden. Wer darin nicht mitmacht, gilt als lau, als
jurüdgeblieben in ber Heiligung, mag er auch übrigens in Treue
md Demut in feinem Tagewerke dahingehen. Die evangelifche
Kirche befitzt Hiegegen nicht den genügenden Schuß, fo lange die
mzulängliche Formel, daß der Glaube „gute Werke“ erfordere, in
Curs bleibt. „Gute Werke“, das ift eine unendliche Fülle von
Möglichkeiten, die beirrt und unſicher macht. Wir müſſen einen
Maßſtab haben, wonach wir aus der Fülle abftracter Möglichkeiten
zu gutem Handeln einen überjehbaren Kreis nächfter Pflichten aus-
(beiden können. War Luthers praktifche Anweifung vergeffen, fo
war es nicht anders möglich, als dag wieder ein ftatutarifcher
Maßſtab irgendwelcher Art in Geltung kam, und es war dann von
jelbft gegeben, daß beftimmte Webungen der Heiligung vor andern
den Borzug erhielten. So ift die Formel Luthers der Hoden,
anf dem auch die pietiftiiche Praxis gedeihen konnte. Doch ift es
aun unfer Recht, ober vielmehr nach den Grundfägen gefchichtlicher
Forſchung unfere Pflicht, darauf Hinzumeifen, daß Luthers praftifche
Eonception größer war, als feine Formel. Die fittliche Verpflich-
tung des Einzelnen ift für ihn durchaus individuell bemefien. ‘Das
mit ift nicht die fittliche Willkür Tegitimirt. Die fittliche Arbeit
empfängt ihre Begrenzung und Definirung durch die religiöfe
Drientirung, kraft welcher wir wifjen, dag wir nicht von ohngefähr
in den Beziehungen ftehen, in die wir durch unfere natürliche
236 Aattenbuſch
Art geſtellt find. So Hat das Geſetz der Liebe, welches ber
Chriftenheit obliegt, Luther vorgeftanden als der Zweckgedanke einer
einheitlichen Drganifation des gemeinidhaftlichen Lebens in der
Form, daß jeder Einzelne an feiner Stelle, in den durch feine
nächſten Beziehungen gegebenen Anläffen Handelt nad) bem Maf-
ftabe nicht des egoiſtiſchen Wohles, fondern bes fittlichen Beſten
ber Gefamtheit. Demgemäß hat er mit unmittelbarem Takte die
naturgemäßen Lebensformen der Menſchheit auch als die normalen
Bedingungen chriſtlicher Sittlichleit wieberhergeftellt, Familie,
Staat, bürgerlichen Beruf, wie ſich benn eben diefe Formen ale
die Bafis der chriftlichen Liebesübung ermweifen, fobald man das
„Reih Gottes“ als die fttliche Aufgabe der Menſchheit er-
kannt hat. |
Zu der Sicherheit ber religiöfen und fittlidhen Empfindung num,
die Luther durchweg charakteriſirt, ift der Schlüffel feine Vorſtellung
von dem Verhältnis ber Welt zu Gottes Selbftzwed. Für feine
praftifche Intuition ift Gott gar nicht vorhanden, ohne wie er in
Chriſto offenbar ift, als heilige Liebe, als der immerbar die Welt
ſchafft und trägt und mit feiner Liebe und Gerechtigkeit füllt.
Luther Hat ja freilich den Gedanken oft genug ausgefprochen, daß
Gott der Welt nicht bedürfe, und er hat unter Umständen felbft
mit viel Pathos (vgl. die Schrift de servo arbitrio 1525) alle
Nothwendigleit der thatfächlihen Beziehungen Gpttes zur Welt
abgelehnt: „Deus est, cujus voluntatisg nulla est ratio.“ ber
er bat auch faft mit demfelben Athemzuge biefe Gedanken als
mäßige, beirrende Speculationen bezeichnet. Die Statuirung des
„verborgenen Gottes“, welche die Rationalität und Zuverläßigkeit
der Gefinnung, mit welcher fih Gott in der Offenbarung an und
wenbet, in Trage ftellt, ift ihm doch nur unter beſtimmten Um⸗
jtänden homogen und im Gedächtnis gewefen. Und es läßt fh
zeigen, wie er in diefen Momenten unter der NRachwirkung feiner
fotholifchen, fpeciell feiner nominaliftiihen Epoche fteft ). Im
allgemeinen bat er gar nicht daran gedacht, .über Chriſtus und
über die Offenbarung hinauszugrübeln. Dieſe durchgängige ſichere
1) Bel. meine Schrift: „Luthers Lehre vom ımfreien Willen" n. f. w.
Kritiſche Studien zur Symbol. 2317
teligiöfe Orientirung unterfcheibet in von den Scholaftifern, melde
die Unterfcheibung bes offenbaren und des verborgenen Gottes niel
erufthafter aufgeftellt haben. So ift ihm denn die Liebe Gottes
‚„Ratur“. Gottes Gefinnung gegen die Welt, Gottes Verhalten
zur Welt, ift ihn ein charaltermäßiges. Darum kann er auch
geradezu definiren: „Ein Gott ift, dazu man ſich verjehen ſoll alles
Guten und Zuflucht haben in allen Nöthen“. Wie fehr das Ge-
eg nach) Luthers Anfchauung ein für Gott felbjt nothmwendiges,
um jemer willen aufrecht zu erhaltendes ift, zeigt die Lehre von
km Verſöhnungswerke Chrifti. Luther Hat nie Zweifeln über die
Nothwendigkeit besfelben zum Zwecke der GSündenvergebung
Raum gegeben. &8 ift dies ſpeciell freilich wieder ein Punkt, wo
fine Theorie als ſolche gegründeten theologischen Bedenken unter⸗
liegt. Indes ift fie ein Beleg für feine Gewißheit, daß die fitt-
liche Weltordnung in Gottes Wejen begründet fei. Auf diefem
wie auf andern Punkten macht es fich zum Nachtheile der Theorie
geltend, daß Luther es unterlaflen bat, die Gorrefpondenz ber
ſittlichen und religiöfen Ideen nachzuweiſen, zu zeigen, daß fie fid
gegenfeitig bedingen umd nur in ihrer Wechfelwirfung Beftand und
Gültigkeit Haben. Er behauptet nur das ftetige Beieinanderfein
der gnädigen Gefinnung Gottes und feiner fittlichen SHeiligfeit,
die fh in feinem Geſetze darſtellt. In beiden Beziehungen
weiß er fih in Bottes Weſen gegründeten Orbnungen gegenüber.
Es find ja Verſuche bei ihm vorhanden, alles zu begreifen als
Ausdruck der Liebe Gotted. Aber weil ihm der Gedanke bes
Reiches Gottes als des Correlates des Gedankens Gottes felbft
ut Har geworben, behalten jene Berfuhe immer einen apho-
riſtiſchen Charakter. Daß das eigentümlich nadhtheilige Folgen
haben mußte für eine Zeit, welche nicht mehr unmittelbar unter
dem Eindrucke feiner einheitlichen, ficheren Perfönlichkeit ſtand, ift
offenbar.
Wir treffen auf bdenjelben Webelftand, wenn wir die Trage
aufwerfen, wie fi) Rechtfertigung und fittlide Erneuerung d. 5.
Diedergeburt zu einander verhalten. Wir berühren bier ohne
Zweifel einen der difficilften Punkte der Luther’fchen Theologie.
Gewöhnlich wird man hier an das oben ſchon beiläufig erwähnte
238 Kattenbuſch
Schema der Entwicklung des Chriſtenſtandes erinnert, welches Luther
ſeit den Erfahrungen der ſächſiſchen Kirchenvifitation in der An⸗
lehnung an Melanchthon fich aneignete. Danach aljo ift die con-
tritio gewirkt durch das Geſetz das Nächſte, welches vorangehen
muß, wenn der Glaube ein Recht Haben foll, fich die Vergebung
der Sünde gemäß dem Evangelium anzueignen, worauf daun die
Wiedergeburt als Frucht der Rechtfertigung folgen muß. Indes
diefes Schema ift doch nicht das überall von Luther dargebotene,
und anderfeits hat es feine eigentümfichen Schwierigkeiten. Nämlich
es ift unſchwer zu zeigen, daß es fogar geradezu den reforma-
torischen Intereſſen Luthers entgegen if. Man fieht nicht ein, in
wie fern die contritio nicht bereits Zeichen ber Wiedergeburt ift.
Muß fie zu Stande gelommen fein, ehe die Rechtfertigung in Kraft
tritt, fo wäre alfo doch die Wiedergeburt, wenn auch nur der An-
fag derſelben, der Rechtfertigung übergeordnet. Nun aber Iehrt
Luther, daß alles Gute erft in Kraft der Rechtfertigung möglich
ſei. Es fcheint hier ein Widerſpruch vorzuliegen. Die einfache
Lehre, daß die Wiedergeburt der Rechtfertigung nachfolge, war
dahin gemisbraudht, dag die Menge fi die Nechtfertigung zum
voraus aneignete und dann auf die Erneuerung des Lebens ver-
zichtete.. Um dem vorzubeugen, legten Luther und Melanchthon
vor die Rechtfertigung die contritio, die es garantiren ſollte, daß
der Rechtfertigung die Wiedergeburt folgen werde. Aber Hier ers |
gibt fich zunächſt die ſchon erwähnte Schwierigkeit. Es kommt
folgendes dazu; offenbar verdeckte es ſich den Reformatoren auch,
daß, indem die contritio vor die Rechtfertigung geſtellt wurde, den
Zweifeln am Heile wieder Thür und Thor geöffnet war. Ander-
ſeits war damit auch die Möglichkeit katholiſcher Anſchauungen über
unſere fittliche Haltung, als ob dieſelbe der Grund unſerer Geltung
vor Gott ſein ſolle, wieder dargeboten. Luther nun begnügt ſich,
einerſeits immer wieder zu betonen, daß die contritio nicht der Grund,
ſondern nur die conditio sine qua non ber Rechtfertigung ſei. Andere
feit8 macht er darauf aufmerffam, daß man nicht über die Vollſtän⸗
digfeit der Neue zu grübeln habe. Indes zur vollen begrifflichen
Klarheit bringt er es eben nicht. Seine concrete Anfchauung tft jo
zu bezeichnen, daß ihm die Rechtfertigung umd die Wiedergeburt in
Kritische Studien zur Symbolik. 239
untrenubarer Wechfelbeziehung vorfchweben. Sein Intereſſe
war darauf gerichtet, die fittliche Thätigkeit in das richtige refigiöfe
Kcht zu ftellen, aljo abzuwehren, daß fie für den Realgrund unferer
Geltung vor Gott gehalten werde, zugleich aber aud darauf, ihre
Unerläßfichleit im Chriftentume feftzuftellen. Indem er beide In⸗
terefien ausgleichen wollte, kam er zunächft auf die Formel, daß
die guten Werke auf die Rechtfertigung nothiwendig folgten. Aber
den dies, daß fie zeitlich folgen follten, erwies ſich als eine
praktiſch bedenkliche Formel. Luther verbeiferte die Sache nicht,
ſendern zeigte nur feine theoretische Unficherheit, indem er nun bie
Viedergeburt zum Theil ſchon vor die Rechtfertigung ftellte..
Seine nicht durch theoretifche Abficht beftimmten Ausführungen über
den Berlauf des Chriftenftandes zeigen unverfennbar, daß berfelbe
für ihn eine ftetige Wechfelbeziehung barftellt zwifchen dem
Gedanken an die Rechtfertigung und dem an die Wiedergeburt, fo
dag in concreto feiner der erfte und feiner ber zweite, fondern
beide fich wechſelſeitig bedingende Gedanken find. Diele An⸗
ſchauung erflärt fih nun auch, wenn wir an den Zweck der Recht⸗
fertigung zurückdenken. Indem wir denfelben noch einer befonderen
Crläuterung unterziehen, vollenden wir aljo die Darlegung der bee
Luthers. Wenn wir das Bewußtſein der Rechtfertigung, unferer
Geltung vor Gott, hegen, jo haben wir darin deshalb die Selig-
kit, weil wir uns jegt in Gottes Liebe geborgen willen. Was
keit denn das? Offenbar, daß wir in unjerem wahren Zwecke,
m defien Erreichung unfere Seligleit gegeben ift, nunmehr gefichert
find. Unjern wahren Zwed, unfer eigentliched Weſen haben wir
aum aber nach Luther zu denken als unjere Beftimmung zur Sitt-
fihfeit, um es mit dem Ausdrude zu bezeichnen, den Luther nicht
bietet, aber der feinen Sinn trifft, als unjere Beftunmung für
das Reich Gottes. Als fittlihe Größe willen wir uns in
der Gewißheit der Rechtfertigung geborgen. Verzichten wir auf
ſittliche Haltung, jo tft unfer Zwed, wie immer er beichaffen fei,
der Art, daß er nicht von Gottes Liebe garantirt ift, nicht unter
den Schub der Rechtfertigung füllt. So ftehen „Rechtfertigung“
und „Wiedergeburt“ in unlöslicher Correſpondenz. Es ift an fidh
ein Ungedanfe, ſich die Rechtfertigung aneignen zu wollen, ohne
TiesL Stab. Ialeg. 1878. 16
240 Kattenbuſch
ſich ſelbſt als ſittliche Größe zu erfaſſen. Die Möglichkeit, daß
dies verkannt wurde, hat Luther allerdings ſelbſt verſchuldet. Sie
lag darin, daß er den Gedanken der „Seligkeit“ nicht immer deut⸗
lich ausprägte und eigentlich nirgends abſichtlich erläuterte. Sein
Gedanke von der Freiheit über die Welt als der Seligkeit des
Ehriften ift ja unverlennbar fittlic) normirt. Frei von der Welt
find wir nur, in fo fern wir aller Welt Knecht in der Liebe
find. Nur in fo fern wir darin unfern Zwed erfennen, fir die
anderen „wie Chriftus“ zu fein, Haben wir Theil an Chrifti
Herrfchaft über die Welt, fo daß uns alles dienen und fördern
muß. Aber wo fpricht Luther diefe Gedanken fonft noch deutlich
und mit Abficht aus? Und felbft in De libertate christiana
bietet er keine abfichtliche Ausführung über da8 wechfeljeitige Ver⸗
bältnis der „Freiheit“ und der „Gebundenheit” eines Chrijten. Doch
ift es die Pflicht des Interpreten feines Gedanfens, aus den
Elementen feiner praftifchen Belehrung die theoretifche Yormel zu
erheben. Wir fagen alfo in feinem Sinne, daß in concreto die
Gnade und die Seligkeit des Chriftenglaubend von uns nur erlebt
werden fann zugleich mit der Erkenntnis unferes fittlidhen Weſens
und mit bem Entfchluß, dem Reiche Gottes nachzutrachten. Doch
ift nun noch dies hinzuzufegen. Sofern der Gedanke der Recht-
fertigung bdefagt, daß wir mit unferm Zwecke aufgenommen find
in den göttlichen Zweck, fo wiſſen wir ja, daß der göttliche Liebes⸗
zwed ewig if. Wir willen, daß wir in ihm erjchaffen find und
daß unfer Leben von Anbeginn gemäß demjelben regiert war. Iſt
darin eins für allemal der Gedanke verwehrt, ale könnten und
follten wir Gottes Liebe „verdienen“, die doch immer fchon da ift,
jo Liegt darin zugleich die Erkenntnis, daß Gott es ift, der auch
das Wollen gegeben bat. Haben wir gefehen, daß die Rechtfer⸗
tigung nicht befteht ohne die Wiedergeburt, jo fehen wir bier, daß
auch die Wiedergeburt nicht befteht ohne die Rechtfertigung. Ya
wir erfennen bier, daß von Gott her die Rechtfertigung die
Grundlage unferer fittlihen Kraft iſt. Die Rechtfertigung
würde das fein auch im Falle der Sündlofigfeit. Sie würbe dann
wirkſam fein in der Providenz, in der wir gehegt und geborgen
waren von Anbeginn. Indes ift ja der Fall der Sündfofigkeit
Kritiſche Stubien zur Symbolik. 241
km wirllicher. Um fo gewiffer ift für und die Rechtfertigung,
die fi nun als Vergebung der Sünde und Erldjung barftellt, der
Anfang und der Grund unferer Wiedergeburt. Sofern wir nın
nilfen, daß Gottes Gnade uns ergriffen hat, ſo dürfen wir aud
gewiß jein gegenüber aller Schwarhbeit und Sünde, die auf Erden
em uns bfeibt, daß der in uns angefangen bat das gute Werk, daß
der es auch vollenden wird.
Bisher haben wir die allgemeine Auffaffung vom Wefen, Werthe
md Zuſammenhange der chriftlichen een im Auge gehabt. Es fragt
id zum Schluffe: wie gefangen wir in ben Befig diefer Ideen?
Hier muß ih nun vor allem auf einen Punkt aufmerkfam
machen, ben bie Meiſten nicht beachten, wenn fie die proteftantifche
Anſchauung vom Weien und Zuftandelommen des Chriftentums
darftellen. Doch darf ich mich wenigftens auf Köftlin und Ritſchl
bejiehen als ſolche, welche die richtige Anficht bereits nachdrücklich
vorgetragen haben. Es ift nämlid nunmehr darauf hinzuweifen,
daß für Luther alle Heilsgüter nur in dee Gemeinde vorhanden
im. So befrembend es für manches Ohr klingt, fo ift es doc
Luthers Lehre, daß „die Kirche der Vergebung der Sünde voll
ft", daß der Einzelne, um deſſen Rechtfertigung es fich handelt,
am in Betracht kommt ald Glied der Gemeinde. Mehrfach
hat Luther es ausdrücklich und lehrhaft hervorgehoben, daß ber
Einzelne nur durch die „Mutter“ Kirche zum Heile gelange '). Es
it aber unverkennbar, daß indirect diefe Anfchauuug ale feine An«
weijungen über die Heilsorduung beberricht. Die riftlihe Ger
meinfhaft ift für ihn nicht das nachträgliche Product der Recht⸗
fertigung, die Summe der Einzelnen, die gerechtfertigt find, fondern
der Grund und die Bafis der Erfahrung ber Rechtfertigung für
den Einzelnen. Und wie die Gemeinde allein der Sündenvergebung
vell ift, Fo Äft fie auch die Trägerin der fittlichen Kraft, fo ift ber
Einzelne auch nur in ihr fähig, feinen Willen fittlich zu bethätigen.
Bir haben Luthers Anſchauung dahin zu formuliven, daß aller
religidſe Troft und alle fittliche Kraft nur gemeinfames Be
ſiztum der Chriften ift, daß wir nur im wechſelſeitigen Verbande
nn
3) Dal. Köflin, Luthers Lehre von der Kirche, heſonders $ 8 u. 5.
16 *
242 Rattenbufd
fähig find, den Nechtfertigungsglauben zu hegen und die Erneuerung
unferes Lebens auszurichten. Es wird alfo hier die Frage dringend:
was ift im Sinne Luthers die Kirche? Und wenn wir fragen,
wie wir zum Chriftentume gelangen, fo ift die Frage dahin zu
präcifiren: wie werden wir Glieder der Kirche?
Was nun zunächſt Luthers Lehre vom Weſen der Kirche betrifft,
fo ift diefelbe befonders zu. entnehmen aus ber Schrift „Vom
Papfttum zu Rom“, 15201). Wenn e8 überall erhellt, daß Luther
genau ebenfo intereffirt ift für die Kirche, wie der Katholicismus,
jo ift freilich für ihn die Kirche etwas anderes als für den Katho-
licismus. Zur äußeren, rechtlich verfaßten, äußerlih die Sacra⸗
mente fpendenden, amtlich da8 Wort Gottes predigenden Kirche
rechtlich und äußerlich zu gehören, gilt ihm nicht für heilsnothwendig
(ogl. auch) den „Sermon vom Bann“, 1519). Aber darum ift
ihm die Kirche, welche die wahre ift, die Gemeinde der Heiligen,
doch nicht bloß die geiftige Verbindung der Gläubigen. Bei Luther
treten zwei Betrachtungsreihen auf. Einmal erflärt er die Kirche
al8 die Gemeinde der Heiligen für unfichtbar, „eine geiftliche, nicht
leibliche Verſammlung“. Anderfeits ift ihm die Gemeinde der
Heiligen doc) aber äußerlich erfennbar: fie ift immer thätig im der
Verwaltung der Gnadenmittel, und wo diefe, welche zufammenge:
fagt find in dem Begriffe des „Wortes Gottes”, vorhanden find,
da ijt immer Gemeinde der Heiligen, „follten’® auch nur Kinder
in der Wiege fein“. Diefe letstere Bemerkung zeigt zugleich, daB
Luther den Umfang des Geltungsbereiches der Gnadenmittel durd-
aus nicht mechaniſch identiftert mit der Gemeinde der Heiligen,
jo daß ihm jeder ein „Heiliger“ wäre, ber unter die Wirkfamteit
der Gnadenmittel tritt. Seine Anfchauung ift folgendermaßen zu
interpretiren. Es ift zu unterfcheiden zwifchen dem religiöfen und
dem empirifchen Begriffe der Kirche. Religiös ift die Kirche die
1) Zu dem Weiteren vgl. ſpeciell Köftlin, Luthers Lehre von der Kirche:
Ritſchl, Ueber die Begriffe „fichtbare” und „unfichtbare” Kirche (Stud.
u. Krit. 1859), ferner: „Die Begründung bes Kirchenrechtes im evan-
geliichen Begriffe von ber Kirche”, Zeitfchrift für Kirchenrecht 1808:
Krauß, Das proteftantiiche Dogma von ber unfichtbaren Kirche, S. 281-;
Jacoby, Die Liturgik der Reformatoren (1. Bd.: Luther).
Kritische Studien zur Symbolik. 243
Gemeinde der Heiligen, empirisch die eigentiimliche gefchichtliche
Genofſenſchaft, deren fignificanteftes Merkmal beftimmte Inſtitute
nud Rechtsformen zur Verwaltung der Gnadenmittel find. Die
Gemeinde der Heiligen und diefe gejchichtliche Genoffenfchaft haben
num zunächft nah dem Spracgebrauh den Namen „Kirche“
gemein. Aber ihre Verwandtichaft reicht weiter, fie gehören auch
jahlich zu einander. Die äußere Kirche Hat den Werth, Gemeinde
der Heiligen zu fein, und die Gemeinde der Heiligen ftellt fi)
nothwendigerweiſe al8 äußere Kirche dar. Das will befagen, die
Chriftenheit exiſtirt nur fo, daß fie ſich äußerlich bethätigt und
zwar in der manigfachften Weife. Sie ſchafft auch amtliche In⸗
ititnte und verfaßt fi in Rechtsformen, um das „Wort Gottes“
zu verfünden. Wo nun in irgend welcher Weife das unverfälfchte
Wort Gottes gepredigt wird, ba ift immer zugleich Gemeinde der
Heiligen, da ift nie nur der Schein, fondern ftet8 auch das Weſen
der Ehriftenheit. Denn „das Wort Gottes kann nicht wieder leer
m Gott zurückkommen“. Aber nun ift zu beachten, dieſes Urtheil
über die äußere Kirche ift, wie eben die angegebene Motivirung
gt, fein empirifches, ſondern ein religiöfee. Empiriſch ift es
nicht zu conftatiren, daß die äußere Kirche zugleich die Gemeinde
der Heiligen if. Würde Luther behaupten, daß das der Fall fein
müffe, fo würde er fich auf die Bahn der Sectenftiftung begeben
haben. Denn das ift das Charafterifticum der Secte, daß fie die
communio sancetorum empirifch in ihrem Kreife darzuftellen unter-
nimmt. Aber für den Glauben, in unfichtbarer Weiſe, ift die
geihichtliche äußere Kirche, fo weit in ihr das „Wort Gottes“
erhalten ift, die Gemeinde der Heiligen. Luther lehrt alfo nicht
eine „unfichtbare” und eine „ſichtbare“ Kirche, fondern die Sicht-
barkeit und die Unfichtbarfeit der einen Kirche. Unter verfchiedenem
Gefichtspunkte ift diefelbe Größe fihtbar: als fich eigentümlich
bethätigende Gemeinfhaft, in specie als befonderes Rechtsweſen,
md unſichtbar: als Glaubensgegenftand. Luther unterläßt den
Nachweis, warum das Glaubensobjeet „Kirche“ nothwendig aud)
äußere Merkmale producitt. Das rührt wieder daher, daß er
umnterläßt, innerhalb der Lehre von der Gemeinde der Heiligen
die dogmatifche und die ethifche Betrachtung ausdrücklich zu unter⸗
ur — ——— — —— ——2—
24 Kattenbuſch
ſcheiden. Das hat die Unſicherheit über ſeinen Kirchenbegriff, die
nur zu lange geherrſcht Hat, bedingt. — Der Gegenſatz ver
proteftantifchen und der fatholifhen Auffafjung von der Kirche ift
fein folder, der mit einem Worte zu bezeichnen wäre. Iſt es
für den kathofifchen Kirchenbegriff charakteriftiich, daB einer aliquo
modo Glied der vera ecclesia fein kann, ohne alle interna
virtus (Bellarmin), fo ift e8 für den Proteftantismus charakteriftiich,
daß einer Glied der vera ecclesia in feiner Weife fein fann
ohne eine interna virtus. Das Hauptmerfmal der Kirche im
katholiſchen Sinne ift, daß fie Rechtsanftalt ift, die Kirche im
proteftantiihen Sinne Hat auch Rechtsformen, aber fie ift erft in
abgeleiteter Weife NRechtsanftalt. Dean kann ſagen, fatholifch jei
es, daß die Kirche als Rechtsweſen die Kirche ale Glaubensobject,
als Gemeinde der Heiligen, producire, proteftantifch, daß die Kirche
als Gemeinde der Heiligen die Kirche als befonderes Rechtsweſen
hervorbringe. Nur ift die Verfaſſung in aparte Rechtsformen zum
Zwede der Verwaltung der Gnadenmittel nah protejtantifher
Anfchauung nicht die ganze Thätigleit der Gemeinde der Beiligen,
wodurch diefelbe fich Außerlich darſtellt. Wir kommen theologiſch
nicht aus ohne den Begriff des Reiches Gottes ale Yubegriff
der Bethätigung der chriftlichen Gemeinde einzuführen. Das „Red
Gottes" als der ſittliche Organismus ber religiöfen Gemeinde
bat als eine Unterart die Kirche als Rechtsweſen in fih. Eine
Gemeinfehaft der Menfchen im Handeln ift eben in Feiner Weile
denkbar, ohne dag Rechtsformen gefchaffen werden. Kommt jo einer
jeits der Staat als eine nothwendige Form der Realifirung dee
Reiches Gottes in Betracht, fo anderfeits die Kirche im politifd-
jmiftifchen Sinne als die öffentliche Cultusgemeinſchaft. Es ift
and im Proteftantismus normal, daß ein Gläubiger zur politiihen
Kirche gehört. Indes ift e8 für den Proteftantismus denkbar, dab
einer durch befondere Umftände von der Kirche im legteren Sinne
fi trennte oder getrennt würde, ohne darum feine Qualität ale
Chriſt zu verlieren. Denn als politiſches Inſtitut Hat die Kirche
einen Charakter angenommen, der fi) auch als rein weltlicher be
merklich machen kann.
Das Merkmal der Kirche, d. 5. alfo der Chriftenpeit
Kritiſche Studien zur Symbolik. 245
als Gemeinde ber Heiligen, ift „die Predigt des Wortes
Gottes". Luther nennt mancherlei andere Merkmale; indes gehen
diejefben immer für ihn begrifflich zufammen mit dem bezeichneten.
Die „Predigt des Wortes“ iſt aber darum das Merkmal der Kirche,
weil fie das unmöglich verjagende Mittel ift, wodurch Gott die
Kirche erhält und ſchafft. Hier aljo werden wir auch Antwort
erhalten auf die Frage, wie wir zum Chriftentume gelangen. Es
wird fi fragen, wie wir jenes Merkmal der Kirche zn verftchen
haben. Daß die Interpretation desfelben nicht fo ganz einfach ift,
zeigen die vielfachen Verhandlungen darüber, welche die letten
ahrzehnte gebracht haben. Die Frage zerfällt offenbar im zwei
Unterfragen: was ift das „Wort Gottes“, was ift die „Predigt“
des Wortes Gottes?
Bas zunächſt die erfte Frage angeht, fo hat Ritſchl in
feinen verjchiedenen Arbeiten über den Iutherifchen Kirchenbegriff
den Nachweis angetreten, daß das „Wort“, dns „Evangelium“,
nicht zu indentificiren jei mit der „reinen Lehre“, mit den cor»
tecten „Slaubensartifeln“. Diejer Nachweis fcheint mir durchaus
geglückt, wenn feine ernfteren Argumente dagegen vorgebradht werben
können, als neuerlich ſeitens eines anonymen Vertreters der Erlanger
Theologie der Fall geweien !). Wenn es doc Luthers ganzer
Anihauung entfpricht, daß der Glaube nicht Menſchenwerk ift, daß
die Gemeinde ihren Urfprung und Beftand nur in Gott hat, fo
it e8 ja völlig felbftverftändlich, daß die Lehre nicht ber Grund,
daß das Bekenntnis nicht das Fundament ber Kirche ift. Denn
die Lehre und das Bekenntnis find die menfchlichen Formen für
dm göttlichen Inhalt und dürfen mit dem Evangelium, welches
fie umjchreiben und erklären und als perfünliches Erlebnis bezeugen,
nicht identifteirt werden, wie eben bie Sache felbft und der Bericht
über die Sache nicht gleichgeftellt werden bürfen. Das Evangelium
als Gotteskraft zum Trofte der Gemüther ift die Thatfache des
Gnadenwillene Gottes, der ſich uns zu erfahren gibt. Indes mit
diefer Bemerkung treffen wir den Streitpunft noch nicht. Denn
1) Bgl. „Aus der neueren Dogmatik“, Zeiticheift für Proteſtantismus und
Kirche 1876, Augufiheft.
246 Kattenbuſch
wenn dieſer Gnadenwille Gottes uns doch nicht anders offenbar
wird, als indem er ſich zu einer Vorſtellung für uns objectivirt,
ſo fragt es ſich, ob er ſich uns nicht nothwendigerweiſe darſtellt
als die Summe der Vorſtellungen, welche die „Glaubensartikel“
ausdrücken. Ich will nun gegen diejenigen, welche das „Evan⸗
gelium“ und das „Bekenntnis“ in dieſer Weiſe gleichſetzen, nicht
erinnern an Luthers Proteſt gegen die fides implicita, welche für
den gemeinen Mann genüge !), — offenbar müßte fie genügen,
indem der „gemeine Dann“ die Glaubensartifel nun einmal durch⸗
weg herzlich fchlecht Tennt und trogdem es oft leidlich verftcht,
Demut und Gottvertrauen und im täglichen Leben Freue in feiner
Arbeit, d. H. Ehriftentum, zu üben. Aber wenn Luther felbft
die Summe der Vorjtellungen ausdrücklich bezeichnet, welche ihm
das Evangelium darftellen, fo lautet feine Anweijung anders.
Dann ift ſtets die Interpretation, welche Art. V der Augujtana
von dem Begriffe des Evangeliums gibt, diejenige, welche auch er
darbietet 2). Diefer Interpretation entfpricht es, wenn die Apologie
(IV, 20 und 21) als die Lehre, welche allein nothwendigerweiſe
einträdhtiglih in der Kirche gewahrt werden müſſe als das
Tundament, auf dem die Kirche ruhe, die Verfündigung von
Chriſto als demjenigen, in dem wir ohne Verdienſt gerecht würden,
binftellt. Diefe Ausführung ift um fo bedeutfamer, als fie fid
mit der ausdrüdlihen Erklärung verbindet, daß auf diefem Grunde
verfchiedene theologische Lehrgebäude von fo verfchiedenem Werthe,
wie Heu, Stoppeln, Stroh und edele Steine (1Ror. 3, 12) fid
erbauen Fönnten, ohne daß dadurch der Beſtand der Gemeinde der
Heiligen bedroht würde (vgl. auch „Won Conciliis und Kirchen“,
E. 4. 25, 359). Es ift aber nun Binzuzufegen, daß auch die
Lehre von der Rechtfertigung aus reiner Gnade nicht als Lehre
1) Bal. Köftlin, Luthers Theologie I, 436.
2) Aug., Art. V: evangelium scilicet quod Deus non prop-
ter nostra merita, sed propter Christum justificet
hos, qui credunt se propter Christum in gratiamre-
cipi; vgl. 3. ®. De libertate christiana im Eingange und Art. Torg.
F, (C. R. XXVI, 193).
Kritiſche Studien zur Symbolik. 217
für Luther der Grund ift, auf dem die Kirche ruht. Denn als
Lehre ift diefe Erkenntnis vor der Reformation nicht vorhanden
gwefen. Dann aber müßte es vor Luther feine chriftliche Ge⸗
meinde gegeben haben. Indes das ift eben für ihn der fchlimmfte
Unglaube. Gemeinde der Heiligen ift allezeit vorhanden ge
weſen, wie Luther oft genug betont (vgl. auch Aug., Art. VID.
Der Reformator wußte eben befier, als manche feiner Schüler,
daß der Gedanke und die Erfahrung der Redtfertigung
ans dem Glauben fi anfchließt an unzählige Umftände neben
der eigentlichen lehrhaften Hinmweifung darauf. Wenn er fi ver-
gegenwärtigen will, daß in der römifchen Kirche auch allezeit „die
Kirhe und etliche Heilige blieben“, fo weiß er auch die bloße
Lorhaltung des Erucifired als Mittel zur Ermedung des rechten
Glaubens zu begreifen !). — Ich will an diefer Stelle für Luthers
Anfhauung vom „Worte Gottes” nur noch darauf hinweifen, daß
8 für ihn keine menfchliche, untrügliche Autorität für die Inter⸗
pretation der Bibel d. i. der Offenbarung Gottes in Chrifto gibt.
Feder Ehrift Hat das Recht, ein felbftändiges Verſtändnis diefer
Offenbarung zu fuhen und je nad) dem Reſultate feiner Arbeit
eine Reformation der Kirche zu verfuchen (vgl. die Schrift an den
Adel). Diefes Freigeben der SYnterpretation des „Evangeliums“
tangiet natürlich nicht die Ueberzeugung des Reformators, daß
jeme Interpretation desfelben die vichtige fei. Aber es ift ein
wilfommenes Eingeftändnis, dag die lehrhafte Form, in der er
den Schatz ber chriſtlichen Offenbarung gehoben, einer Aenderung
mterworfen werden könne, ohne daß das „Evangelium“ unter:
ginge. Melanchthon hat fpäterhin daran gedacht, die Kirche, die
ihrerfeit8 an die „Glaubensartikel“ gebunden ſei (vgl. feine Lehre
von der Kirche in der dritten Ausgabe der Loci), in ihren amt-
lichen Organen zur einzig berufenen Interpretin der Schrift zu
trflären %). Dagegen hat der Proteftantismus In der (Erinnerung
an Luther feftgehaften, daß nur die Schrift die Schrift auslegen
dürfe. Diefes Paradoron legittmirt die Schriftforfchung eines jeden
1) Stellen bei Plitt, Die Apologie der Auguftana, S. 141.
2) Bgl. Ritſchl, Die Entflehung der Iutherifchen Kirche a. a. O., ©. 79ff.
248 Kattenbuſch
Chriſten nach ſeinem Maße. Es ſpricht ſich darin zugleich die
Ueberzeugung aus, daß das richtige Verſtändnis des Evangeliums
unter Gottes Leitung ſich ſchon immer wieder Bahn brechen werde.
Dieſe Ablehnung der Gleichſetzung des Evangeliums und der
reinen Lehre hat natürlich nicht den Sinn, den Werth der letzteren
irgend wie herunterzuſetzen. Es iſt ein großer Uebelftand, wenn nur
trotz der Theologie Chriſtentum möglich iſt, nicht gemäß derſelben.
Die Glaubensartikel und die Bekenntniſſe ſollen alſo nicht überhaupt
verurtheilt ſein, wenn wir ſie nicht der Offenbarung gleichſetzen.
Bewähren fie ſich theologiſch, fo wollen wir fie in allen Ehren
balten. Aber fie müffen fich eben jedem Einzelnen wieder bewähren
und fie dürfen nicht die mechanisch zum voraus ein⸗ für allemal
feitgeftellte Lehrform fein wollen. Es ift Har, daß der Eifer, den
Luther gerade auh um die reine Lehre, fo wie er fie verftand,
bethätigte, keineswegs eine Sinconfequenz war. Nur im einzelnen
ift er darin vermöge feiner heftigen Geiftesart zu weit gegangen
und feinem Grundgedanken über das Evangelium untreu geworden.
Wir haben in feinem Sinne feftzuhalten, daß aller theologiſche
Streit darin bie Ruhe des Gemüths geftattet, daß er eben den
Beſtand der Kirche fo gewiß nie bedroht, als eben die Kirche nicht
ruht auf Menſchenwerk, fondern auf Gott. Zugleich fordert «6
Luthers Sinn, daß alle theologischen Parteien, fofern fie über>
haupt in Ehrifto die Erkenntnis Gottes nnd unfere®
Hetles ſuchen, in der gemeinfamen Erkenntnis, daß feiner das
Vorreht der Aufallibilität in der Ausdeutung der Offenbarung
eignet, fich innerhalb der Kirche dulden und ehren.
Es bleibt uns die Frage, wie die „ Predigt“ des Worte
im Sinne als Mittel zur Erhaltung der Gemeinde zu deuten jei.
Ich bin gezwungen, mich Hier kurz zu fallen, wiewol ich mich auf
keine Schrift berufen kann, in der ich völlig die Auffafjung ver
treten finde, die fi) mir als die richtige bewährt hat. Ein Ber
juh, meine Anfhauung aus Luthers Schriften zu belegen,
müßte mich zur fehr in Einzeleregefe führen, da faft alles com
trovers ift !).
1) Direet und indivect if dieſer Punkt in ben letzten zwei Jahrzehnien
Kritiiche Studien zur Symbolik. 249
Ich glaube folgendes als Luthers Anſchauung vertreten zu
Kumen, Zunuchſt ift die Predigt als Gnadenmittel nicht identifch
mit der amtlichen, Öffentlichen Predigt. So gewiß bie letztere ein
verzügliches Mittel zur Erweckung des Glaubens, zur &rbauung
ud Stärkung ift, jo gewiß foll fie die Nothmwendigkeit und Wirk⸗
jamfeit der privaten Predigt nicht verdeden. Jeder Chrift hat
dem anderen Troſt und Ermahnung zuzufprechen das Recht und
fe Pflicht. Feder Chriſt ift jeder Zelt in ber Lage, dem anderen
ale Güter der Chriftenheit mitzutheilen und zuzufprechen. Daß
dies nun in feinem Bollfinne verftanden werde, ift dies hinzuzu⸗
ſetzen. Die Predigt des Wortes, wodurch die Chriftenheit erzeugt
wird, der Glaube entfteht, das Heil conferirt wird, iſt nicht iden⸗
th mit der ausdrücklichen Verkündigung der Botſchaft von
Chriſto. Natürlich nimmt diefe eine wefentliche Stelle ein, aber
re üt nicht daB ſpecifiſche Mittel zur Erzeugung des Glaubens,
welhes den anderen Mitteln begrifflih an Werth übergeordnet
wäre. Vielmehr fteht der directen die indirecte Verkündigung des
Wortes gleichwerthig zur Seite. Es ift hier auf Luthers Anficht
vom Werthe der Erziehung hinzuweiſen. Erziehung gefchteht
aber, wie Luther auch hervorhebt, nicht bloß durch directe Weis
jung, jondern noch viel mehr durch Beifpiel und praftifches
Borbild. Der Hausvater hat den Seinen das „Wort* zu
verfünden. Das thut er aber nicht bloß, indem er aus ber
Bibel vorlieft, den Kindern den Katechismus einprägt ꝛc., fondern
ebenſo Fehr, indem er in feinem Haufe auf Zucht und Ord⸗
zung hält, in feinem öffentlichen Berufe tadellos ift, in feinem
genen Leben Gottvertrauen übt, furz, fi) als Ehrift darlebt.
Ben wir 3. B. den zweiten Theil der Schrift De libertate
christiana lefen, wo Luther ausführt, wie jeder Ehrift durch fein
jeher Häufig zur Sprache gebracht durch die Unterſuchungen über den
Werth des „Amtes“ nach Intherifchen Grundfägen. Die neuefte Arbeit if:
8. Köhler, „Die Lehre der Iutherifchen VBelenntnisichriften über Kirche,
Kirchenamt und Kirchenregiment”, Jahrbücher für deutfche Theologie 1871.
So vielfach ich mit dieſem Auffate, der in den Bahnen des trefflichen
Höfling gebt, übereinſtimme, fo vermiffe ich doch die enticheibende Er⸗
leuntnis über den Begriff ber „Prebigt“.
0 Zattenbuſch
ganzes Leben den Nächſten fördern fol in dem, was ihm „nütz⸗
Gh“, d. b. in dem, was für ihn „ſeliglich“ ift, wie jeder für den
anderen „wie Chriftus“ werden, ihn für Gott gewinnen foll durd)
fein gefamtes Verhalten, fo fehen wir auch, welche Vorftellung
ihm eignet über das Wefen der „Predigt“, der „Verkündigung“
des Evangeliums, der Form der Darbietung des Evangeliums von
einer Generation an die andere. Es ift Luthers Erkenntnis,
wenn wir die Predigt des Wortes als Gnadenmittel definiren ale
das Xeben der chriftlihen Gemeinde, in allen Formen, in
denen es fi Eundgibt. An diefer Anfchauung von ben
Gnabdenmitteln der Kirche ift der Gegenfag gegen den Katholicismus
offenbar. Katholiich find die Mittel, woburd die Kirche uns das
Heil nahebringt, beftimmte einzelne. Nach der gewöhnlichen Auf:
faffung des Weſens der „Predigt des Wortes“ als Gnadenmittel,
wonach diefelbe mindeſtens gleichgejeßt wird der directen Hin
weifung auf die Gnade Gottes in Chrijto, erfchiene die lutheriſche
Anſchauung als keine qualitativ verjchiedene. Indes entfpricht erft
meine Ausführung der evangelifchen Anjchauung, daß das Heil
in der Gemeinde empfangen und erlebt werde. Es iſt erft hier
Mar, daß wir uns in unferem religiöfen Bewußtfein nicht ifoliren
fünnen und bürfen von der Gemeinfchaft des Geiftes mit allen
Chriften, mit weldhen unfer gejamtes religiöfes Leben in ftetiger,
im einzelnen uncontrollirbarer Wechjelwirkung ſteht. Es iſt hier
auch Mar, daß es ziello8 wäre, wollten wir der Entftehung unferes
Chriftentums Im einzelnen nahforihen. Wir find in der chriſt⸗
lichen Gemeinde geboren und erwachſen. Die chriftlichen Lebends
motive find uns alſo nicht anders zugeführt, wie uns auch die
familiären und nationalen Lebensmotive zugeflommen find. Das
unmittelbare, unerfchütterliche Gefühl der Zugehörigkeit, weldes
wir in den Beziehungen des Yamilien» und Volkslebens befigen,
es darf uns auch eignen gegenüber der Chriftenheit und es wird
uns am eheiten befähigen, ein wahres, echtes Chriftentum auszu-
üben,
Daß die Predigt des Wortes immer wieder wirkſam iſt zur
Erzeugung chriftlichen Lebens, daß die Chriftenheit nicht untergedt,
fondern von einer Generation zur anderen fich erhält und immer
Kritifche Studien zur Symbolik. 51
weiter verbreitet, ift Glaubensgewißheit. Empirifch Können wir
ed ja nicht conftatiren, daß die Offenbarung Gottes in Chrifto
gemäß dem religiöjen Troſte und den fittlichen Impulſen, welche
fie darbietet, wirklich noch lebendig unter uns ift. Aber wir
glauben es, weil wir glauben, daß Gott, der in der Prebigt
wirffam ift, fich nicht vergeblih an den Menfchenherzen bezeugen
hm. Die Bermittlung der Offenbarung ift deshalb an bie
menschliche Form der „Predigt“ geknüpft, weil ohne dies die Ge⸗
meinichaftlichfeit der Religion nicht möglich wäre. Warum nun
das Chriftentum nur gemeinfchaftlich ausgeibt werden könne, das
bat Luther nicht ausdrücklich gezeigt, fondern einfach vorausgefekt.
Es farm auch nicht diefes Ortes fein, Luthers praftifche Eonception
tgeoretifch theologifch zu bewähren. Wenn ich nicht irre, fo Liegt
hier eine Frage der fyftematifchen Theologie vor, die noch auf
lange hinaus die Geifter fpalten wird.
Wir dürfen nicht verhehlen, daß Luther felbit den Misver-
jtändniffen über feine Anfchauung vom Weſen der Gnadenmittel,
wie fie nur zu tief eingewurzelt find, Vorſchub geleiftet hat durch
die undvorfichtige Weife, wie er feit dem Kampfe mit den „Schmär-
mern“ die Mittel des öffentlichen Cultus, die amtliche Predigt
und die Sacramente, ald die unumgänglichen Vehikel des Geiftes
bingeftelft hat. Um ihm Hier ganz gerecht zu werden, feine Auf-
ttellungen in ihrer polemifchen Bebingtheit völlig klar zu legen,
müßten wir genauer auf die Art der Gegner eingehen, als es ge⸗
ftattet if. Es fei nur dies bemerkt. Indem die Schwärmer
jede äußere Vermittlung des Heiles verwarfen, machten fie bie
Gemeinfchaftlichkeit des Chriftentums unmöglid. Als Menfchen
fönnen wir nun einmal nur in der Weife Gemeinfamteit auch in
der Religion haben, daß wir uns gegenfeitig unfere Güter vers
mitteln. Mit der Theorie der Schwärmer war der Beftand der
Chriftenheit al8 Gemeinde bedroht. Es kommt folgendes dazu
in Betracht. Die öffentliche expreſſe Verkündigung von Chrifto,
wie fie fich darftelft in der amtlichen Predigt, hat die befondere
Bedeutung, daß fie eben als öffentliche am leichteften und ficherften
der Eontrolfe unterliegt. Hier kann die Chriftenheit am eheften
die Aufficht üben, ob ihr ihre Ideale auch bewahrt bleiben und
2 Kattenbuſch
ob dieſelben ftetS wieder für die Erinnerung belebt und außen
Stehenden zur Gewinnung vermittelt werden. Indem die Schwärmer
die Entftehung des Chriftentums als eine unmittelbare Illumination
anfahen und in specie die üffentlihe Predigt als Gnadenmittel
verwarfen, erjchwerten fie die Controlle des Geiftes, den fie pflegten,
tegten fie den Verdacht an, daß in ihrem Sreife gar nicht Des
Ehriftentum als ſolches erhalten werden folle. Luthers Mistrauen
war um fo mehr gerechtfertigt, als die Schwärmer fi in ber
That zum Theil „neuer Dffenbarungen“ rühmten. Damit aber
bedrohten fie direct den Beftanb der Gemeinde Chriſti. Diefe
Gemeinde hat ihre Norm ein» für allemal an ber Offenbarung
Gottes in Ehrifto und fofern diefelbe in der Bibel allein ur⸗
kundlich bezeugt ift, an der Bibel,
Luther fehlte darin, daß er die öffentliche Predigt als
Mittel der Erhaltung der Chriftenheit zu ausfchließlih betente.
Er hätte fie betonen umd die private, directe und indirecte, baneben
anerkennen Tönnen. Seine Gedanken über den Werth der [egteren
verfehwinden ja nicht überhaupt, aber fie treten ungebürlich zurück.
Es ift hier der Ort, ein kurzes Wort über bie Sacramente ein-
zufügen. Die Sacramente find neben ber amtlichen Predigt Die
wichtigfte Form der Öffentlichen Darbietung der Gnadenoffenbarung
Gottes. Die Sacramente find für Luther da8 verbum visibile,
wie die Predigt die Hörbare Darftellung der Gnabe Gottes ift —
eine Anfchaunng, die er im einzelnen allerdings oft genug aus der
Sicht verloren, um gut Fatholifch die Dinge des Sacramentes
als ſolche für die Vehikel der Gnade zu erflären. Es war nur
berechtigt, wenn Ruther feithielt, daß die Sacramente Vehilel des
Geiftes und als folche Mittel der Erhaltung der Chriftenheit feien.
Indes fehlte er, wenn er fie als die ftatutarifchen, für jeden Ein⸗
zelnen vorgejchriebenen Mittel zur Erlangung des Heiles hinftellte.
Die Ehriftenheit als ſolche Tann fie nie aufgeben. Sie find am
gewiffeften auch in der Form die Darbietung der Offenbarung
Gottes in Chriſto, welche diefer ſelbſt für feine Gemeinde zweck⸗
mäßig erachtet hat. Aber fie find darum doch nicht für jedes
einzelne Individuum der unumgängliche Weg, um in den Beſitz des
Heiles, der Eingliederung in die chriftliche Gemeinde im @eifte und
Kritiſche Stublen zur Symbolil. 28
in ber Kraft, zu gelangen. Es ift in abstracto denkbar, daß
einer, ber in der Ehriftenheit aufwächft, ein tabellofer Ehrift würde,
eine je dazu zu kommen, die Sacramente zu empfangen. Luther
anerkennt felbft dieſen Gefichtspuntt hinfichtlich des Abendmahles,
wenn er, vor ber Gefahr ftehend, excommmunicirt zu werden, den
Grundſatz aufftellt: Glaube nur, fo Haft du fehon genofjen. Aber
allerdings, es überwiegt die Vorftellung, daß der Empfang wenigftend
der Taufe der ftatutarifche, umerläßliche Weg zur Erlangung des
Heiles ſei. Und doc ift Luther in legter Inſtanz immer wieder
idwanfend, ob er einem ungetauft fterbendeun Kinde die Selig-
fit abfprechen müffe.
Begenüber der Einfeitigleit Luthers in der Betonung ber amt»
lichen Predigt und der Sacramente ald der Vehikel des Geiftes
ft zurückzufehren zu derjenigen Auffaffung der Gnadenmittel, die
wir oben gekennzeichnet haben und wonach jene Gnabdenmittel nur
einzelne umter unzähligen find. Gerade in ihr Tiegt die eigentliche
Kraft des Broteflantismus. Wenn alle Mittel, wodurch die chrift-
liche Gemeinde den Geift, der in ihr lebt und dem fie dient, dar⸗
ftellt, die Öffentlichen und die privaten, die abfichtlichen und die
ubewußten, die Kraft haben, göttliches Leben in und zu erzeugen,
ms zu Chrifto zu führen, fo ift es offenbar, daß wir leben und
weben unter der Wirkfamkeit des Geiſtes. Iſt damit biefelbe
der empirifchen Ausmeffung entrüdt, kann fie alfo nur im Glauben
md in Willenskraft erfaßt und erfahren werben, fo kann der Ge⸗
danke an fie fo zugleich erft eintreten in unfer Gemüth als ein
einheitlicher, der alle unjere Empfindungen zu beherrfchen geeignet
it. Darin aber haben wir den Grund unjerer Vorzüge vor dem
Latholicismus.
A Braun
2,
Die religiöjen und fittlihen Auſchauuugen von Adam
Smith.
Bon
Dr. Friedrich Braun,
Repetent zu Tübingen.
1776 erfchien die „Unterfuchung über die Urfachen des Wohl:
ftandes der Völker“ von Adam Smith. Der Hulturbiftorifer
Buckle nennt es „vielleicht das wichtigfte Buch, das je gefchrieben
worden“. Jedenfalls bat nicht Leicht ein anderes fo unmittelbar
praftifch gewirkt. Was Smith in der ftillen Studirftube zu Kir⸗
kaldy niederfchrieb, ift von den Männern des Handel und ber
Induſtrie, ift von den Staatslenkern und Vollsvertretungen ale
löſendes Wort erfaßt und realifirt worden. Die Frucht davon
fehen wir in der wirtbichaftlichen Entwicklung der letzten 100 Jahre,
in den mirtbfchaftlidhen und focinlen Zuftänden der Gegenwart
mit ihren Licht» und Schattenfeiten. Gewiß fordern dieſe Zuftände
ernfte Beachtung gerade vom Theologen, der alle Rebensgebiete vom
fittlihen und chriſtlichen Standpunkte prüfen und verftehen lernen
fol. Und ift denn nicht das wirthichaftliche Leben eines Volles
mit deſſen fittlich«veligiöfem Zuftande eng. verfnüpft? Nehmen
wir beifpielsweife das capitaliftifde Gründertum und den Socia-
lismus unferer Tage. In diejen zwei frappanteften und abnormften
wirthſchaftlichen Erfcheinungn — die fih zum Smith'ſchen Sy-
fteme als nothwendige Conjequenzen verhalten — offenbart fich
ein fchauerficher Schiffbruch fittlichen und religiöfen Lebens. Sit
etwa dafür Adam Smith mit verantwortlich zu machen? Jeden⸗
falls mag es nicht ohne Intereſſe fein, feine ſittlichen und religiöfen
Anfchauungen in's Auge zu faſſen und ihren eventuellen Zufammen-
bang mit feinen wirtbfchaftlichen Theorien zu unterfuchen. Das ift
der Zweck diefer Slizze.
Mam Smiths religidſe und fittliche Anfchauungen. 255
Zunähft wird es nicht unpaffend fein, in einem 1. Abfchnitte
Smwmiths wichtigfte nationalölonomifche Grundfäge kurz zu recapitu-
liren und die dagegen vom fittlihen und religiöfen Standpuntt
erhobenen Bedenken zu präzifiren. So verhält fich diefer 1. Ab⸗
ſchnitt zu den folgenden, die Smith religiöfe und moralifche An⸗
ſchauung ſchildern, wie die Frage zur Antwort.
1. Gegenüber dem Kolbert’fchen Merkantilſyſtem, das im Handel,
mb der Phyfiofratie, die in den Bodenproducten eines Landes das
Fundament von beifen Wohlftand erblidte, gieng Adam Smith
von dem einfahen Sate aus: Die Arbeit ift die Quelle
de8 Wohlſtandes. Es gilt daher, um den Volkswohlftand zu
ſteigern, die Arbeit möglichit zu vervollkommnen. Das gefchieht
einmal durch die Arbeitstheilung Wer fih auf einen pe
tiefen Arbeitszweig concentrirt, leiſtet darin mehr und beſſeres,
als wer verfchiedenartige Zweige cultivirt. Smith gibt das Bei-
ſpiel: ein Nagelſchmied verfertigt täglich 2300 Nägel, ein Schmied,
der nur bisweilen Nägel macht, 800 — 1000, Schmiede, die noch
nie Nägel gemacht haben, 200— 300. — Gewiß ift der Durchführung
dieſes Smith’fchen Principes bie heutige Volltommenheit, ja Raf-
finerie in vielen induftriellen Branchen zu danken. Im heutigen
England gibt es 102 Zweige bes Uhrmachergewerbes, die befon-
der gelernt werden; in Birmingham gibt es eigene Etabliſſements
für Gold», für Silber», für Metall» und für Berlemutterfnöpfe.
(diefe Beifpiele nah Rofcher, Nationalök. I, 110. 111).
Das zweite Smith'ſche Hauptprincip ift die freie Concur—
tenz, die Handels» und Gewerbefreiheit. Sol die Arbeit
reht gedeihen, jo muß jeder die ihm zufagende Branche frei wählen
und üben dürfen; der daraus entftehende Wettftreit kann die Güte
der Producte nur fteigern. Der Staat darf darum nicht durd
Monopole, Zunftprivilegien u. f. w. in die Freiheit und
keiftungsfähigkeit der Einzelnen eingreifen; er bat nur die Aufgabe,
diefe Zreiheit zu ſchützen durch Landesverteidigung, Rechtspflege
md Erhaltung derjenigen gemeinnüßigen [Verkehrs- und Unter-
richts⸗) Anftalten, die von ben Einzelnen nicht unterhalten werden
fönnen.
Zheol. Gtub. Sahrg. 1878. 17
26 Braun
Auch dies Smith’fche Princip ift heute fo ziemlich überali
Wahrheit: wir haben die abjolute wirthichaftliche Freiheit des In⸗
dividuums, in die der Staat ſich nicht durch Gewerbeordnungen,
Zunftprüfungen u. ſ. w. miſcht.
Nur eine Ausdehnung der freien Concurrenz auf's internationale
Gebiet ift die Smith’fche Forderung de8 Freihandels, wonach
weder die Einfuhr fremder noch die Ausfuhr einheimifcher Waaren
befchräntt werden und fo ein Verhältnis des Wettſtreites und der
Ergänzung zwifchen den Völkern fi) bilden foll, das ihrem Wohl-
ftand nur förderlich if. — Auch diefes Princip ift, zwar nicht jo
vollftändig wie die Arbeitstheilung und die freie Concurrenz der
Individuen, aber doch zu einem guten Stüd realifirt, bejonders
auch vom deutichen Reich.
Bei diefen zwei oder drei Orundfägen Smiths bleiben wir ftehen,
von feinen vielen rein technischen Detailunterfuchungen abſehend. Was
den eriten von der Arbeitstheilung betrifft, jo iſt er techniſch,
wirthſchaftlich für jeden eimleuchtend und unanfechtbar. Anders
vom fittlichen, ja ſchon vom geiftig-pädagogiihen Stan»
punkte. Da ericheint e8 bedenklich, daß der Menfch durch feine
Arbeit auf einen engen und engften Kreis befchränft wird, in dem
er ſich zwar mit mechanischer ertigkeit bewegt, aber Leine Ge—
legenheit zu vielfeitiger und felbftändiger Bethätigung
von Verſtand und Willen findet. Wie dumpf und bornirt muß
faft ein Menſch werden, der Jahr und Tag nur Stecknadellöpfe
fabricirt oder Schwefelhölzchen verpadt. Gewiß liegt in diefer Enge
des Geſichtskreiſes ein Hauptgrund, warum die Arbeiter einfeitigen
Ideen und Beftrebungen, bie an fie herantreten, fo leicht zum Opfer
fallen, warum Socialismus und Sectirerei fo viele Projelyten
finden: es fehlt die geiftige Nefiftenztraft, die nur vielfeitigem und
felbftändigen Denken und Wirken eigen ift; dem halb zur Maſchine
‚gewordenen Menſchen erjcheint auch die einfeitigfte und verwegenite
fociale und religiöfe Idee, eben weil's doch eine dee ift, als eine
erlöfende Offenbarung, der er num mit blindem Fanatismus an
hängt. — Diefe Gefahr hat Smith nicht verfannt; er faßt fie Har
in's Auge (V. Buch, 3. Abtheilung, 2. Artikel „von den Ausgaben
für Erziehungsanftalten“), und will ihr begegnen durch obligatoriſche
Mam Smiths refigiök umd fittliche Anſchauungen. u
volksſchulen, in denen Leſen, Schreiben und Rechnen, fo
wie die „Klemente der Geometrie und Mechanik“ gelehrt werden
(wozu nach Art. 3 die religiöfe Unterweifung kommt), und durch
Prüfungen „über bie wichtigften Gegenftände des Unterrichtes“,
die der Staat zwangsweife mit allen abhält, che fie in die Be⸗
rufßarbeit eintreten. Dadurch ſoll alfo jedem eine Mitgift an
geiftigem Leben und ein Präfervativ gegen den verdumpfenden Ein.
Aug mancher Specialarbeit mitgegeben werden. Nun, was Smith
m feinem Schottland mit Stolz vorfand und den übrigen Rändern
empfahl, das haben wir in faft allen civilifirten Staaten, feit
1870 auch in England: obligatorifcdye Volksschulen mit Prüfungen.
Abet dadurch wird der ungünftige Einfluß majchinenmäßiger Arbeit
auf die niederen Volksſchichten nicht durchfchlagend paralyfirt.
Was man von der Schule mitnimmt, das verliert man eben wieder
in der Fabrik. Wenn and die technischen Fertigkeiten des Leſens,
Schreibens, Rechnens — oft freilich nothhürftig! — fi erhalten,
jo wird doch die in der Schule begonnene Erweiterung und Klärung
des geiftigen Horizontes bei fehr vielen fiftirt, und macht der un-
vermeidfichen Enge und Dunkelheit Pla, die nur durch das phan-
taftifche Irrlicht unverftandener und unverjtändlicher Ideen erhellt
wird. Bon manchen freilich wird der Mangel bitter empfunden,
und feine Hervorhebung gehört zu den bereditigten Klagen dee
keutigen Socialismus. Diefem Mangel fann in erfter Linte
nur dadurch begegnet werden, dag dem Arbeiter freie Zeit und
Anleitung zur Fortbildung gegeben wird. Darin liegt das
befte Mittel gegen bie verdbumpfenden Bolgen der Arbeitstheilung
nur des Maſchinenbetriebes. Es iſt auffallend, daß Smith diefe
Bortfegung der Schule gar nidt ins Auge faßt.
Ya, er widmet allerdings einen ganzen Abfchnitt (V, 3, 3) den
‚Unterrihtsanftalten für alle Alterstlaffen“; «ber
unter diefen „Unterrichtsanftalten“ verſteht er die Kitchen, er
weiß von feinem anderen Unterricht für Erwachſene als von refi-
gisſer Lehre und Seelſorge. Gewiß macht es feiner Frönmig—⸗
keit as Einficht alle Ehre, daß er der Religion ſolche Bedeutung
vindicizdt. In der That iſt und bleibt fie ja das Bildungsmittel
erften Ranges für alle Altersflaffen, das erft wirflih human
17%
28 Braun
und weit macht. Aber daß er in ben weltlichen Fächern,
hinaus über die Vollsſchule und jene Prüfung, von der man nicht
recht erfieht, ob es eine Schul⸗ oder Fachprüfung fein foll,
an eine weitere Ausbildung gar nicht denkt, bleibt ein entſchiedener
Mangel.
In zweiter Linie werden wir, um bie ſchlimmen Folgen
der Arbeitstheilung zu vermeiden, fordern, daß das Princip felbft
nicht in übertriebenem Maße angewandt, fondern die Arbeit im einer
Weife vertheilt werde, die doch noch jedem Arbeiter eine gewiile
Abwechslung gewährt, ihn intereffirt, ibm Gelegenheit zu
jelbftändigen, bis zu einem gewilfen Grade abgerumdeten
Leiftungen bietet und ihn fo innerlich befriedigt und hebt. Mag
vielleicht die rein mechanifche, mafchinenmäßige Fertigkeit darunter
ein wenig leiden, wir ſchlagen das geiftig und ſittlich bil-
dende Moment höher an, das wir fo auch der materiellen Arbeit
wahren und durch das allein wir fie zu einer menfchenwürdigen
Beſchäftigung machen. Es ift ein fataler Mangel, daß Smith
diefe geiftige Werthung der materiellen Arbeit nidt
vollzieht. |
Daß Smith fo in doppelter Weife die geiftigen Intereſſen der
arbeitenden Bevölkerung verkürzt, kann um fo auffallender fcheinen,
da er felbft fein Leben lang von den vielfeitigften geiftigen Jutereſſen
beherricht war. Dabei ift freilich von einer egoiftifchen Tendenz
auf Verdummung und dadurch erleichterte Knechtung und Ausnitgung
des Volkes nicht entfernt die Rede; wir werden Smiths Humanität
fennen lernen! Vielmehr ift fein Optimismus im Spiel, der ihn
einmal fagen läßt: „Was fehlt zum Glück eines Menfchen, der
gefund ift, feine Schulden und ein gutes Gewiſſen befigt! Diefe
Lage darf die natürlihe und gewöhnliche der Menſchen genannt
werden.“ Daß durch Unbildung eine Lücke im Glüd eines Menfchen
oder einer ganzen Klaſſe gejchaffen wird, das Liegt ihm hienach
ferne. Er ſcheint als jelbftverftändlich anzunehmen, daß die geiftigen
Güter, die er ſelbſt fo hoch fhäßt und in dem von ihm aufgeftellten
Ziel der „allgemeinen Wohlfahrt” in vollfter Entfaltung mitdenkt,
auf einen Theil der Menjchheit bejchräntt bleiben, ohne von ben
anderen vermißt zu werden — eine Annahme, die fi) wol durch
Aam Smiths veligiöfe und fittliche Anſchaunngen. 29
bie geiftige Stumpfheit ber niederen Klaffen in feinem Vaterland
nabelegte. Freilich Tiegt in diefer Auffaffung eine gefährliche Iſo⸗
firung des materiellen Arbeitsgebietes, eine Loslöſung desſelben von
geiftigen und damit theilweife auch von fittlichen Geſichtspunkten;
indireet fogar eine Herabwürdigung der phyſiſchen Arbeit und ein
Unrecht gegen die Arbeiter, jo wenig die von Smith erkannt und
gewollt war.
Soviel über das Smith’fhe Princip ber Arbeitstheilung, das
ms in der folgenden Unterfuhung kaum noch begegnen wird und
deshalb hier gleich abjchliegend behandelt wurde. Centraler und in
engerem Zufammenhang mit feinen fittlichen Anfchauungen erfcheint
das zweite Smith’ihe Princip, das der freien Concur-
renz, mit feiner Confequenz, dem Freihandel.
As Haupteinwand wird hier, zunächſt vom wirthfchaftlichen
Geſichtspunkt, geltend gemacht, daß die Individuen, besiehungsweife
bie Bölfer eben nicht mit gleichem Vermögen und gleicher Kraft
ausgeftattet in den Wettlampf eintreten, daß diefer vielmehr dem
„Kampf ums Dafein“ gleicht, worin der Stärfere den Schwächeren
nieberwirft, und daß durch den Untergang des letzteren ein Ausfall im
wirthfchaftlichen Gefamtleben entfteht. Mit diefem wirthfchaftlichen
combinirt ſich fofort ein fittliher Geſichtspunkt. Menſchen
mit verfchiedenem Bermögen, verfchiedener Kraft fi
entgegenzuftellen, die Schwachen unrettbar der Ueberflügelung
der gar Aufreibung preiszugeben, erfcheint ungerecht, inhu>
man. Im Smith’fhen Concurrenzigftem, das ja gewifjfermaßen
die wirthfchaftliche Revolution einleitete, fehlt zwar nicht bie
übertE, wohl aber die 6galit& und die fraternité! Daher
wird die Forderung an den Staat, den Schwachen unter die Arme
zu greifen, die mächtigen Kapttaliften und Arbeitgeber vor Ueber⸗
vortheilung abzuhalten, nicht nur im Namen des Volkswohl⸗
fandes, fondern auch in dem der Sittlichkeit zu ftellen fein. So»
tialdemotraten, Kathederfocialiften, Conſervative
ftellen heute diefe Forderung; dasfelbe fordern für's internationale
Gebiet, entgegen dem radikalen Freihandel, die Schußzöllner.
Ein zweiter, vorwiegend fittliher Einwand gegen die freie
Concurrenz gründet ſich darauf, daß die Menfchen, die fich voller
260 Braun
wirthichaftlicger Freiheit erfreuen, nicht bloß an materiellen Mitteln,
an leiblicher oder geiftiger Kraft, fondern auch an moraliſchem
Sinn und Fleiß differiren; daß fie diefe Freiheit — was
gegen das Intereſſe der Gejamtheit, wie ihr eigenes fittlicdhes und
wirtbfchaftliches Intereſſe verſtößt — zu ſchlechten Leiftungen,
Taulheit und Indolenz misbrauchen können; daß des⸗
halb eine Zucht, wie ſie das alte Zunftweſen übte, nöthig
iſt, um die Güte der Arbeit und beſonders auch die ſittliche
Normalität der Arbeitenden zu controliren und zu fördern.
Derartige Gedanken find gegenwärtig beim conſumirenden Publikum
wie bei Arbeitgebern, bejonders kleinen Handwerksmeiftern, fehr
verbreitet, provocirt durch üble Erfahrungen.
Aber von diefen Mängeln abgejehen, die ſich aus der wirth-
ſchaftlichen und fittlihen Ungleichheit der Eoncurrenten
ergeben, fann und muß faft die geiftig-fittliche Betrachtungs⸗
weiſe jchon gegen den Gedanten ed Concurrenzlampfes
jelbft als einen egoiftifhen und materialiftifchen opponiren.
Jener Kampf ſetzt ja allerdings voraus, daß ber einzelne
jeinen VBortheil, und zwar einen in äußeren Gütern be-
jtehenden, erjtrebt. Daher wirft Dtto (Arbeit und Ehriftentum,
©. 31) Smith geradezu Senfualismus vor; im Pathos fittlicher
Entrüftung fagt Robert von Mohl (Staatswirthſch. III, 304)
über das Smith'ſche Syitem, „daß es rückſichtslos, faſt unmenſch⸗
lich iſt, indem es ganz außer acht läßt, daß der Menſch kein
fühlloſes, todtes Werkzeug zur Reichtumgewinnung, ſondern ein
mit Gefühl für Schmerz und Luſt, für Hoffnung und Verzweif⸗
ung begabtes Geſchöpf iſt“.
Dieſe Vorwürfe ſteigern ſich, wenn wir in den chriſtlichen
Anſchauungskreis eintreten:
Die Selbſtſucht, die auf der einen Seite den Nächſten mit allen
Mitteln zu überflügeln ſucht, auf der anderen Seite ſeine Trägheit
oder ſeinen Leichtſinn ohne Zucht, vielleicht gleichgültig und ſchaden⸗
froh, gewähren läßt — iſt fie nicht das directe Widerſpiel der
chriſtlichen Liebe, die „nicht das Ihre jucht, fondern das was
des Nächten ift“ ?
Das raftlofe Jagen nah irdifhem Gut, ftimmt «
Ham Smith religidfe und fittliche Anfchauungen. 261
nicht ſchlecht zu dem „Himmlifhen Sinn“, der nad dem
Reich Gottes und feiner Gerechtigkeit trachtet, zu dem Glauben,
daß uns alsdann „alles zufallen“, dag der himmliſche Vater feinen
Rindern auch im Srdifchen das Nothwendige befcheeren werbe?
Egoismus und Materialismus, das fheint die undhrift-
liche Signatur diefer Xehre und Praxis. Gewiß, es ift vielfach
de Signatur der Praris im heutigen wirthichaftlichen Leben.
Benn naive Apofalyptiter in dem Draden der Offenbarung ben
Mammonsgeift der Gegenwart, oder gar in der „großen Hure“
de Stadt London als Repräfentantin von Handel und Induſtrie
erblicen wollen, fo Tiegt in dem eregetiichen Wahn ein großes
KLörnlein bitterer Wahrheit. Aber fälſchlich werden jene Vor⸗
würfe der Smith’fchen Lehre gemadt. Das ergibt fi, wenn
wir ihre religiöfen und fittlichen Vorausſetzungen, wenn wir die ganze
Weltanſchauung des Mannes kennen lernen, in die feine wirth⸗
ſchaftlichen Theorien nur als ein Glied neben und unter anderen ein⸗
reißen if. Otto (Arbeit und Ehriftentum) redet S. 31 von
Smith, „ber ja freilich das Verhältnis der Volkswirthſchaft zur
Sittlichkeit ganz umerörtert ließ“. Das ift allerdings wörtlich
richtig. Das Verhältnis beider zu einander hat Smith in feinen
Schriften nirgends ex professo erörtert. Wenn er aber doch beide
Bebiete als akademischer Lehrer in zufammenhängenden Vorlefungen
befprah; wenn er beide in großen milfenfchaftlichen Werfen bes
handelte, und wenn er zur Moral, ber fein erftes Werl gewidmet
war, in hohem Alter, nad Abſchluß feiner volfswirthfchaftlichen
Thätigfeit, noch einmal zurückkehrte und fich ausdrücklich zu feinen
alten Anfchauungen, die ihn durch's Xeben begleitet und fich ihm
ſtets beftätigt hätten, befannte: — fo fordert fehon die Biftorifche
Gerechtigkeit, einen Zufammenhang zwifchen beiden Werfen,
änen Zufammenhang der fittlichen mit den wirthichaft-
lien Ideen bei Smith anzunehmen und ihn, wo er nicht aus»
gefprochen zu Tage liegt, zu fuhen Das ift bisher von den
nationaldfonomifchen Darftellern zu wenig gejchehen. Roſcher
, B. (Gefchichte der Nationalölonomit, S. 595) nennt wol
unter den „melthiftorifchen Richtungen, die ſich in feiner Berfon
vereinigen“, bie „neuere Bhilofophie“, aber ohne weiteres Eingehen.
262 Braun
Ebenfo wenig gehen die philofophifchen und theologifhen
Ethifer, die fih mit feiner religiöfen Moral auseinanderfegen
(Zeuerlein, J. ©. Fichte, Wuttle I, 241ff.), auf jenen
Zufammenhang ein). Und doch wäre es von diefer Seite faft
nöthiger: denn feine Nationalöfonomie ift und bleibt ein standard-
work, e8 bat gewirkt und wirft fort, Iosgelöst von feiner Ethik;
die Ethik Smiths dagegen hat in der philofophiichen Wiffen-
ſchaft feine befonders bedeutende, nicht einmal eine fehr felbjtändige
Stelle; ihr Werth befteht darin, daß wir durch fie die „Unter-
fuhung” ergänzen und verftehen lernen, welchen Zie-
len Smith aud mit feinen wirthfchaftlihen Grundfägen
zuftrebte.. Wir werden ihn vom Verdachte des principiellen
Materialismus und Egoismus losſprechen, aber auch zeigen können,
wie der materialiftifch-egoijtifche Zug der „Unterfudung“
mit gewiffen ſchwachen und inconfequenten Partien
feiner ethifchreligiöfen Weltanfhauung zufammenhängt.
Sehen wir uns nun Smith, ben Moralphilofophen, zu—
nächſt nach feiner gefchichtlihen Stellung und wilfenfchaftlichen
Genefis an.
2. Das 17. und 18. Jahrhundert ift für England das klaſ⸗
fifche Zeitalter der Moral. Aber diefe Moral ift meijt empirifch
deferiptiv, ift eigentlich Pſychologie. Sie fucht nicht objective
Güter al8 Ziel, objective Pflichten als Ausgangspunkt fittlichen
Handelns; fie betrachtet und bejchreibt einfach das menfchliche
Geiftesleben mit der Lupe genauer Analyſe. Was fie da als
beherrſchendes Streben vorfindet, das erjcheint ihr als normal, als
legitim, in biefem Sinn können wir fie Tugendlehre nennen. reis
lich ſtimmen die Moraliſten in der Declarirung des pſychologiſchen
Zhatbeftandes nicht zufammen. Doch tritt mehr und mehr der
Egoismus als pſychiſcher Grundfactor in Vordergrund, bald im
feinern Gewande des Strebens nad) harmoniſchem Lebensgenuß
1) Auszunehmen iſt Lange (Geſchichte des Materialismus) und Vorländer
(Philoſophie der Franzoſen md Engländer), bie einiges Treffende darüber
bieten. — Ueber das neue Werk von Oncken ſ. Schluß.
am Smithe refigiöfe und fittfiche Anſchaunngen. 283
(Shaftesbury, Bolingbrofe), bald im gröbern Kleide des rückſichts⸗
loſen Gewinn- und Beherrſchungstriebes (Mandeville). Halten
wir ms zur Erklärung ben reißend gefttegenen Wohlftand Groß«
britanniens vor Augen. Dem materialiſtiſch eudämoniftiichen Zug,
der mit folhen Blütezeiten untrennbar verbunden ift, entjpricht
ftets und entfprad in England die DVerweltlihung und Discredi-
tirung der Kirche, das Sinfen des ibealen und ſpeciell des religtöfen
Geiſtes. So fehen wir auch bei ben englifchen Deoraliften die
Religion theils ironifch beifeite gefett, theil® doch nur fehr loſe an
die Lebensanfchauung angeknüpft.
Es würde uns wol nicht wundern, wenn Smiths volle-
wirthſchaftliches Syftem auf diefem lax moraliichen Boden erwachſen,
in ber beiftifchen Luft gereift wäre. Wir find vielleicht vorn herein
geneigt, ihn anch ale Moralphilofophen in diefen Reihen zu fuchen.
Veit gefehlt! er gehört der Oppofition gegen fie an! “Die
Deafiftifch = veligiöfe Oppofttion war ſchon im 17. Jahrhundert
md zu Beginn des 18. durch einige theologische und theologifirende
Moraliften (Cudworth, Clarke, Woollafton) vertreten; im 18.
Jahrhundert übernehmen die Schotten biefe Rolle!). Obſchon
Mitglieder des brittifchen Neiches und an deſſen Wohlftand betheiligt,
find fie doch im induftriellen Betrieb und Erfolg hinter den Eng-
lindern zurüd, ſchon in Folge der Beſchaffenheit ihres Landes.
Es fehlt ihnen darum das Aufgehen in den materiellen Intereſſen
und die Selbftgefälligkeit des Engländer. Sie find viel tiefer
als die Engländer, die folche Dinge eben als Momente der Eigen«
fümlichkeit und des Glanzes ihres Landes gleihfam mit In den
Lauf nehmen, den religidfen Intereſſen zugefehrt; ihre pres⸗
byterianiſche Kirche ift nie verweltlicht. Eine ftrenge, religiös
gefärbte Moral ift Herrfchend; zugleich aber ein Humaner
8osmopolitismus, der fe fehr vortheilhaft von den Eng⸗
lindern umterfcheidet. Diefe Züge fallen gewiß jedem fremben
Beſucher Schottlands in's Auge; fie fptegeln fich in jener ſchot⸗
tichen Moralphilofophie, befonders treu in ihrem Vater und Führer,
duthefon, dem Lehrer Smiths. In religiöſer Beziehung iſt er
1) von denen nur ber anglifirte Hume eine freilich wichtige Ausnahme macht.
264 Braun
ftrenger Theiſt. Seine Moral ift wie die der Engländer empirifch,
jo fern er im Menſchen verſchiedenartige Strebungen conftatirt ;
aber über allen proclamirt er einen „moralifhen Sinn“, ber
nur eine Reihe jener Strebungen, die wohlmwollenden, voll»
ftändig billigt und unterftügt, und darin ben Willen der
Gottheit repräfentirt. Wir finden bei ihm die hübſche Aeußerung,
Wohlwollen fei im geiftigen Leben, was die Gravitation im phy⸗
fifchen. - Dem Wohlwollen will er einen möglihit weiten Um-
fang gegeben wiffen, er dehnt e8 aus zum Kosmopolitigmus. Das
find nur ein paar Züge feines „Tiebenswürdigen* Syftems, wie
Smith es nennt. In langer, ftilfer Lehrthätigkeit zu Glasgow
bildete er es aus. Ein fchroffer Gegenfag zu den englifchen Welt⸗
männern Bolingbrofe und Mandeville (der freilich ein anglifirter
Tranzofe war) ftellt fih uns dar in diefem Hutcdhefon mit feinem
religiöfen und fittlichen Ernft und dem harmlofen Gelehrten - Op-
timismus, der ihn mwähnen läßt, „bei den Menfchen verfließe die
größte Zeit des Lebens im Dienfte natürlicher Neigung und
Freundſchaft, unfchuldiger Selbftliebe und Liebe des Landes“ (vgl.
Borländer ©. 454).
Diefem feinem Lehrer ſteht nun Smith fehr nahe,
wie er auch gleich ihm den moralischen Lehrftuhl in Glasgow inne
hatte (1752 — 1764). Mit ihm theilt er die ftrenge Religio-
jttät, den fhon an Kant erinnernden Pflihtbegriff, den
wohlmwollenden kosmopolitiſchen Sinn, und den Optimismus;
Daneben zeigt fich indes bei Smith von Anfang an neben den
idealen Intereſſen eine praftifche Ader, die ihn der englifchen Reihe
annähert. Un Hutchefons Syſtem tadelt er, daß es „nicht gehörig
erklärt, warum auch die untergeordneten QTugenden der Klugheit,
Wachſamkeit, Umficht, Mäßigung, Beharrlichkeit, Feftigkeit unfere
Billigung finden“.
Als Profeffor der Moral in Glasgow theilte Smith feine
Borlefungen in vier zufammenhängende Kurfe ein, wie und fein
Freund Dugald Stewart berichtet. Im erften behandelte er die
„natürliche Theologie, d. h. die Lehre von Gottes Dafein und
Wefen und von der religiöfen Anlage des Menjchen“ ; im zweiten
die Moral — daraus entftand die 1759 erfchienene „Theorie der
Ham Smiths refigiöfe und ſittliche Anſchauungen. 285
moralifhen Empfindungen“; im dritten bie Rechtslehre —
auch ihre fchriftliche Bearbeitung war projectirt, kam jedoch nicht
jur Ausführung; im vierten Theil gab er einen Weberblid „über
die commerciellen,, financiellen, kirchlichen und militärischen Ein⸗
rihtungen ber Völker“. Diefer Theil gab den Grundftod ab für
die viel Später (1776) erfchienene „Unterfuchung über die Urfachen
des Wohlſtandes der Völter“ 1).
So zeigte fih fchon in jener Zeit des alademifch philoſophiſchen
Schramtes bei Smith eine Intereſſe für’s wirthichaftliche Leben.
Sefteigert wurbe es durch die Kontinentreife 1764—1766, deren
Höhepunft der Winter in Paris bildete, 1765/6. Vorher war
doch bie Hauptſache für Smith, fein eigentliches Fach, die piycho-
logiſch⸗ethiſche Analyfe des Menfchen gemwefen, wobei fih ihm wie
Hutchefon das Wohlwollen ale „Iympathiicher Trieb“ in den Vorder:
grund der Betrachtung ftellte. Jetzt, im Getriebe von Paris und
im Berfehr mit den empirifch gerichteten Denkern und Staats⸗
männern Frankreichs konnte Smith nicht mehr umhin, feinen Blick
immer ausfchließliher auf das wirthfchaftlihe Leben und feine
Ordnungen zu firiren; hier fah er freilich einen anberen Factor
als das Wohlwollen im Bordergrunde wirkſam, einen Factor,
den er fchon in der „Theorie“ behandelt und moralisch gewerthet,
doh aber in feinen ungeheueren Wirkungen nicht fo voliftändig
gelannt Hatte, den Egoismus. Der Analyje der Wirkungen,
die der Egoismus auf materiellem Gebiet bervorbringt, war nun
das große Werk gewidmet, an dem er noch 10 Jahre im Still.
leben von Kirkaldy arbeitete: die „Unterfuhung“. Sie ift in erſter
Linie eine Naturgefchichte des wirthfchaftlichen Lebens, oder aud des
materiell gerichteten Egoismus (wenn wir die wenigen, der Pflege
geiftiger Sintereffen gewidmeten Abfchnitte des 5. Buches ausnehmen).
Die fittlihe Tarirung bes Egoismus, die ganze Welt-
anfhaunng blieb aber bei Smith die alte. Dafür ift neben
manchen Stellen der „Unterfuchung” der befte Beweis, daß er in
hohem Alter, lange nachdem ihm die „Unterfuchung“ Weltruhm und
1) Nur als Zeichen fir Smiths reichen Geift mag augeführt werden, daß
wir außerdem vom ihm eine Reihe Eſſays ans bem Gebiete der Natur-
wiffenfchaft, Geſchichte, Philofophie und ſchönen Literatur Beftten.
266 Braun
eine bedeutende Stellung (als fehottifcher Zollinfpector) eingetragen
hatte, zum Werk feiner Jugend zurückkehrte und mit dem lebten
Aufwand geiftiger Kraft eine neue, ſtark bereicherte, aber principiell
von der früheren nicht im mindeſten verfchiedene Ausgabe feiner
moralifchen „Theorie“ ausarbeitete ?), Wie gering er im Grunde
von den materiellen Gütern immer noch dachte, zeigt 3. B. fol-
gende, aud in diefer fpäteren Auflage ſich findende Stelle: „Ju
dem, was das wahre Glück des Lebens ausmacht, ftehen die Armen
keineswegs unter benen, die fo hoch über ihnen fcheinen. Was
Körpergefundheit und Seelenfrieden betrifft, befinden fich alle die
verfchiedenen Lebensordnungen fo ziemlich auf einer Stufe, und der
Bettler, der fih an der Straße fonnt, befigt eine behagliche Sicher»
heit, um die Könige ſich ftreiten“ (I, 310). Charafteriftifch ift auch,
was Stewart mittheilt, daß Smith für feine Perfon ein unprafs
tifcher, auf die Tiebende Auffiht einer Baſe angemwiefener Haus
halter war und blieb — wozu freilich feine Beobachtungsgabe für
wirtäfchaftliche Verhältniffe ſeltſam contraftirt.
Daß die Welt jene in der „Unterfuchung“ gegebene Natur:
gefchichte des Egoismus als Rechtfertigung . desfelben hinnehmen
und benugen werde, ohne fih um die ganze Weltanfchauung des
Verfaffers zu fümmern, das bat Smith gewiß nicht gewollt und
in feinem Optimismus "nicht geahnt. Um fo nötbiger ift es für
feine fcheinbaren Nachfolger wie feine ihn misverſtehenden Gegner,
den ganzen Smith fennen zu lernen. Dazu wollen wir beitragen,
indem wir nun zunächſt von feinen religiöfen Anfichten, dann von
feiner Moral einen Abriß geben.
3. Obwol ber erfte Theil des Smith'ſchen Vorlefungscuries,
bie „natürliche Theologie”, uns nicht in fchriftlicher Bearbeitung
vorliegt, können wir doch aus den zahlreichen Excurſen ber „Theorie“
1) Diefe Ausgabe: The Theory of Moral Sentiments, New Edition,
Vol. I& II, Basil. 1798, ift den folgenden Eitaten zu Grunde gelegt. —
Die Inquiry on the Causes of the Wealth of Nations babe ich theil®
in der englifchen Aırögabe vom M’Culloch (New Edition, Edinburgh &
London 1888), theil® in der deutſchen ucherſetung von Aſcher (Stutt⸗
gart, Engelhorn) benutzt.
Ham Smiths refigidfe und fittliche Anfchauungen. 267
an ziemlich vollftändiges Bild feiner religtöfen Anfchauungen ges
binnen.
Diefelben concentriren fi in einen ungemein warmen, man
möchte jagen begeifterten Theismus und BProvidenzglauben.
Beweiſe fürs Daſein Gottes gibt Smith nicht (fie batten
wohl in jenem 1. Theil ihre Stelle); dagegen erweift er das
Befeu Gottes aus bem zwedmäßigen Weltzuftand: „Das Glüd
der Menfchen, wie aller andern Creaturen, fcheint der urfprüngliche
Plan des Schöpfers geweſen zu fein, als er fie in's Dafein rief.
Diefe Erwägung, zu der die abftracte Betrachtung feiner unend⸗
lichen Vollkommenheit führt, wird noch mehr befräftigt durch die
Erforfhung der Werke der Natur, die alle darauf angelegt er»
ſcheinen, das Glück der Ereaturen zu fördern und ihnen gegen Unglück
Schuß zu bieten.“ (I, 275.) — „Alle Bewohner des Univerfums,
die geringften fo gut wie die größten, ftehen unter ber befonderen
(dügenden Fürforge jenes großen, gütigen und allweifen Wefens,
da8 alle Bewegungen der Natur Teitet, und das durch feine eigenen
unwandelbaren Vollkommenheiten beftimmt wird, in der Welt jeder»
zeit das größtmöglihe Quantum von Glück aufrecht zu halten“
(U, 79). Die Wohlfahrt aller Ereaturen ift aljo Gottes Zweck bei
Schöpfung, Erhaltung und Regierung der Welt; feine Grund-
eigenfchaft ift bie Liebe, der die Weisheit dient.
Wenn Smith in der eben citirten Stelle von dem „größt⸗
möglihen” Quantum von Glüuck redet, fo gibt er damit zu, daß
das Glück der Creaturen feine Lüden bat. Dieſe Lüden faßt
Smith freilich höchſt optimiftifch; fie find für ihn faft vers
ſchwindend, kaum ein paar dunkle Schatten, die über fein Tichtes
Weltbild Hufchen. Bezeichnend ift 3. B. folgendes faft naiv zu
nennende Dietum: „Nimm die ganze Erde im Durchſchnitt, fo
findeft din auf einen Menſchen, der Schmerz oder Elend zu tragen
bat, zwanzig in Glück und Freude oder wenigftens in erträglichen
Umftänden. Es ift fein Grund, warum wir eher mit bem einen
weinen, als mit den zwanzig und freuen follten.“ (I, 227.)
Bon der furdtbaren Macht der Sünde, die nach der chrifts
hen Anſchauung den göttlichen Liebesplan zwar nicht zerftört,
aber hemmt und die Welt zu einer Stätte des Uebels macht, hat
208 Braun
Smith feine entſprechende Vorſtelling. Soweit er Uebel
in der Welt zugibt, faßt er es allerdings meift ) als eine Folge
der menſchlichen Freiheit, die der göttlichen LXiehestendenz an
einzelnen Punkten entgegenwirken fann, aber von Gott gleichjam
wieder umgebogen und indirect für’ allgemeine Wohl ver-
wendet wird, fo daß das partielle Uebel in Hegel'ſcher Weile
als Moment des Gefamtfortfchrittes erfcheint. Diefer Gedanke
an's Ganze ift der Troft des Einzelnen, der vom Uebel be
troffen wird; ein Zroft, der mit dem Providenzglanben
aufs engfte zufammenhängt. Daß der Glaube durch's
Unglück erfcgüttert werden könne, das Liegt Smith ganz fern; im
Gegentheil, hier bewährt er feine Kraft: „Wenn ein Menfch einen
tiefen Eindrud davon hat, daß diefed gütige und alfweife Weſen
in das Syſtem feiner Regierung kein partielles Webel einlaffen
fann, das nicht nothwendig ift flir das allgemeine Wohl, fo muß
er alle Misgeſchicke, die ihn, feine Freunde, feinen Stand oder jein
Land treffen, betrachten al nothwendig für das Glück bes Univer⸗
1) I, 276 ff. fcheint er das Uebel ganz in die fubjective menfchliche Betrach
tungsieife verlegen zu mollen. Alles in der Welt, fagt er dort, ficht
wohlbegrändet im Eaufalnerus der Dinge da und kann in fo fern nicht
„Uebel“ genannt werben. &o if 3. B. der Reichtum bes Schurken die
normale Folge feiner Rübrigleit und Verfchlagenheit in pekuniären Dingen,
während der fromme und redliche Mann als normale Folge diejer
Tugenden nur ideale Güter, Achtung und Ehre, aber nicht Reichtum er
warten kann. Gegen biefe Bertheilung nun rebellirt unſer more‘
liſchee Gefühl, das einen anderen Maßſtab anlegt und dem letzteren
Mann Wohlftand, dem erſten Strafe wünſcht. Das normale Gefühl
empfindet alfo den berrfchenden Cauſalnexus öfters als Uebel“, uud
fucht ſolches Uebel zu überwinden durch Geſetze, Belohnungen, Strafen,
die den Guten fördern, den Schlechten niederhalten. Doch erreicht «6
damit feinen Zwed nicht völlig: „ber Strom des Natmelanfes ift fo
ſtark und veißend, daß der Mensch ihn nicht aufhalten kann“. Aber weil
dieſes moraltiche Gefühl ebenfo eine gottgefehte, piuchologiiche Potem iR
wie jener natürliche Caufalnegus eine gottgeſetzte Natur⸗ und Weltorduung,
weil beide auf die „allgemeine Wohlfahrt“ angelegt find und und fie auf
verſchiedenen Wegen erftreben, fo ift ein endlihes Zuſammentreffen,
ein Ausgleich beider im Jenſeits, eine moralijche Regulirung des Eamfıl
negns ımd damit Ueberwindung des Uebels (Boftulat I, 281). |
Adam Smiths fittliche und veligidfe Artichaunngen. 269
uns, und darum ald etwas, bem er fich nicht nur in Ergebung
zu unterwerfen Bat, fondern als etwas, das er felbft hätte auf-
richtig und andächtig (devoutly) wünfchen müfjen, wären ihm bie
Zufammenhänge und Folgenreihen aller Dinge bekannt gemwefen.“
(IV. 80. 81.) Und ebendafelbft die prächtige Stelle, die zugleich
eine Brobe davon gibt, zu welcher Kraft und welchem Schwunge
Smiths Sprache ſich erhebt: „Kein General Tann unbebingteres
Zutrauen, eifrigere und feurigere Liebe verdienen, als ber große
keiter des Alle. In den größten Öffentlichen und privaten Un⸗
fällen follte ein weifer Mann bedenfen, daß er, feine Freunde und
dandolente, nur auf den verlorenen Boften des Weltall® comman-
dirt find; dag fie, wäre es fo nicht gut für's Ganze, nicht dahin
commandirt fein würden, und daß es ihre Pflicht ift, nicht nur
mit demütiger Ergebung fich diefem Los zu fügen, fondern fich zu
bemüßen, es mit frifchem Muth (alacrity) und Heiterleit zu er-
jaſſen.“ Ganz befondere ſchön tritt in diefen Stellen die enge
Berihlingung des religiöfen Elementes mit den humanen koſsmo⸗
politiihen Anfichten Smiths hervor, den individuellen Egoismus
in großartiger Weife ausſchließend. Webrigens wird das Glüd
des Individuums doch nicht preisgegeben, fondern auf den
Bollendungszuftand im Jenſeits verfchoben, in dem Gott
einem jeglichen „geben wird nad feinen Werfen“ (I, 281), und
mr diejenigen endgiltig beglüdt, die auf Erden im Sinne feines
tiebesplanes gewirkt haben.
Das ift nämlih an der Stellung des Menfchen das
Große und Centrale, daß er, im Unterſchied von Naturelemen⸗
tm und Geſchöpfen, die ohne Wiſſen und Willen dem göttlichen
Beltplan dienen, dazu berufen ift, fich frei und bewußt an
diefen Blan anzufchliegen, und fo durch fein Wirken ein „Mit-
arbeiter Gottes“ zu werden (I, 276). Dem göttlichen
Ebenbild der hriftlihen Lehre entſpricht bei Smith
diefer Beruf des Menſchen, gleih Gott Liebe zu Kben.
Selbſt die Zulaffung partieller Uebel ftellt Smith einmal (I, 281)
unter den Gefichtspunft, daß fie „nüßlich und geeignet ift, den Eifer
und die Aufmerkfamfeit des Menſchen zu fteigern“, ihm Gelegenheit
gibt, feinen Beruf zu üben, fein gottähnlichee Weſen volllommen
270 Braun
darzuftellen durch Belümpfung und Ueberwindung jener Uebel. Wer
dagegen feine Freiheit misbraucht, im Gegenfat zur göttlichen Tendenz
der allgemeinen Wohlfahrt wirkt, ift „ein Feind Gottes“ (I, 276);
und kann er auch nicht fchaden, weil fein Wirken durch göttliche
Providenz zu ihren Zweden umgebogen wird, fo harrt body feiner im
Jenſeits die vergeltende Strafe, wie dem „Mitarbeiter Gottes“
der Lohn winkt. „Daß e8 eine zufünftige Welt gibt, in der
vollfommene Gerechtigkeit an jedem geübt wird, . . . das iſt
eine Lehre, fo ehrwürdig, fo tröftlih für die Schwäde, fo
ſchmeichelhaft für die Größe der menſchlichen Natur, daß der
tugendhafte Menſch, der das Unglüd Hat fie zu bezweifeln,
nicht umbin Tann, fih den Glauben an fie ernftlih und
dringend zu wänfden.“ (IL 216. 217.) |
Durch diefe Lehre tritt zu der göttlichen Liebe und Weisheit
die Gerechtigkeit Hinzu; und es verfteht ſich, daß nach Smith,
wie der Glaube an den liebevollen und weifen Gott uns im Uns
glüd ergeben macht, das Leiden uns erleichtert, fo der Glaube
an den gerehten Gott und die jenfeitige Vergeltung unfer
Handeln in der entfcheidendften Weife beftimmen, uns dad
ftärffte Motiv zum Wirken für die allgemeine Wohlfahrt werden
muß. Das ftärkfte, nit das einzige; dagegen proteftirt
Smith fehr Iebhaft I, 285ff. Es gibt noch andere Motive für
jene correcte Handeln als den Glauben; fie Liegen in ber pfy-
hologifhen Ausrüftung des Menfchen, in den „Xrieben“,
die ihm Gott eingepflanzt hat mit Rückſicht auf feinen Beruf, und
die ihn von felbft ein Stüd vorwärts auf diefer Bahn führen.
Wir lernen fie im nächſten Abfchnitt kennen. Hier haben wir nur
zu conftatiren, daß Smith fie filr unzulänglich Hält, um den
Menſchen zur vollftändigen Erfüllung feines Berufes zu befähigen;
daß nah Smith befonders für fchwierige Anforderungen dieſes
Berufes ber Glaube unentbehrlich ift, in allen Fällen aber belebend
und fräftigend wirft. Bei normalen Menfchen und im großen und
ganzen denkt fich Smith das Handeln fo gut wie das Leiden vom
Glauben beherrfcht; der ungläubige und doch tugendhafte Menſch
ift ihm abnorm, „unglücklich“, wie bie oben citirte Stelle jagt.
Freilich fteht diefe Baſirung der Sittlichkeit auf die Religion und
Adam Smiths religiöfe und fittliche Anſchauungen. 271
jene pfychologifch autonome Begründung derſelben nicht recht ver-
mittelt neben einander. Wir haben da eine Probe jener im 18.
Jahrhunderte herrfchenden human rationaliftifchen Auffaffung, wo⸗
nah die Sittlichleit rein natürlih und pſychologiſch begründet
wird, anderjeitö der Religion ihre hohe Würde gewahrt bleiben
jll und darum auch auf's fittliche Gebiet hinüber eine weihende
md verflärende Einwirkung derjelben übertragen wird. Eine gewiffe
dermittlung werden wir in dem Smith’fhen Begriff des Gewiſ⸗
ſens finden, das als eine natürliche, autonome Potenz erfcheint, aber
am Inhalt die teleologijche Verpflichtung des Dienfchen, d. h. eben
de praftiiche Conſequenz des Smith’fchen Gottglaubend hat. Es
fegt fomit ein religiöfes Bewußtjein im Menfchen voraus.
Das hohe Gewicht, das Smith dem Glauben beilegt, fteht
fft. Um fo mehr Liegt ihm an der Reinhaltung desfelben; denn
lo viel ein reiner Glaube nüsgt, fo viel fhadet ein
unreiner. „Falſche Neligionsbegriffe find faft die einzigen Urs
jahen, die eine fehr große Verwirrung unferer natürliden Ems
pfindungen anrichten können; und dasfelbe Princip, das den Pflicht-
regeln die größte Autorität verleiht, ift das einzige, das unfere
Bflichtbegriffe beträchtlich zu verwirren im Stande ift“ (I, 296).
Immerhin fordert nach Smith jelbft eine moralifche Verirrung,
die aus „falſchen Religionsbegriffen“ hervorgeht, milde Beurtheilung ;
er macht dies am Beifpiel von Seid und Balmira flar, den zwei
Lebenden in Voltaires Mahomet, die einen väterlichen Freund
ttog inneren Widerjtrebens morden, weil ihnen diefer Mord des
gremdgläubigen als Opfer zu Gottes Ehre auferlegt wird. Um⸗
gekehrt ift unfere Anerkennung keine ungetheilte, wo ein an fich
moralifches Verhalten mit dem Glauben des Betreffenden im Wider-
much fteht: als Beiſpiel nennt Smith einen Barifer Katholiken,
der in der Bartholomäusnacht nicht mitmordete, und einen Quäder,
der feinem Beleidiger den Schlag zurüdgibt (I, 297—299). Der
Awiefpalt zwifhen Moral und Religion behält eben ftets
etwas Bellemmendes; dad Normale ift, daB an eine reine
Religion die reine Moral fih anrankt. Diefe reine
Religion ift fichtlih für Smith, ohne daß er es zufammenfaffend
thetiſch ausfpricht, fein oben gefchilderter Gott-, Providenz—
Vesol. Stud. DSahrg. 1878. 18
272 Braun
und DBergeltungsglaube. Das Supranaturale, das
geſchichtlich Chriftliche, das Konfeffionelle bat für ihn wenig
Werth. „Unferen Erlöjer” nennt er einmal (I, 299) in einem
Citat, ohne dogmatifche Tendenz. Was die einzelnen Kirchen und
Secten betrifft, fo wäre nad der Unterfudhung V, 3, 3 (Ueber-
fegung von Aſcher II, 311) fein Wunſch, „die Zugeftändniffe, zu
denen fie fih aus Zwedmäßigfeit und Friedensliebe gegenfeitig ver-
ftehen, würden mit der Zeit dahin führen, die Glaubenslehren bei
ben Meiften zu jener reinen und vernunftgemäßen Reli—
giom zu führen, die frei von jeder Beimiſchung der Thorheit,
ber Unmöglichkeit oder bes Fanatismus ift und bie die Weijen
aller Zeiten berrichend zu ſehen gewünſcht Haben“. Wenn «8
Bier fast ſcheinen will, er betrachte alles Dogmatifche außer feinen
theiftifchen Grundlinien als unnügen, abzumwerfenden Ballaft, fo
tft er doch noch viel fchärfer gegen die Verkehrung dieſer Grund-
linien felber, wie fie befonders in der katholiſch möuchiſchen
Ascefe zu Tage tritt, die für die göttliche Vergeltung einen ganz
folſſhen Maßſtab aufftellt, nämlich ftatt der thätigen Mitarbeit am
göttlichen Liebesplan Außerliche, au fich religiös fein follende Au⸗
dachtsübungen, opera operata. Er citirt Thl. I, ©. 217 als Bei
ſpiel diefer Fäljchung eine Rede Maſſillons an die in's Feld ziehen
den franzöfiichen Dfficere, worin der Prediger ſich zu den Worten
verfteigt: „Ad der einfame Mönd in feiner Zelle, verpflichtet,
das Fleiſch zu Freuzigen und dem Geifte dienftbar zu machen, darf
fih trößten mit ber Hoffnung des verheißenen Lohnes . . . aber
Sie, Lünnen Sie es anf dem Zodtenbette wagen, Ihre An
ftrengungen und täglichen Entbehrungen Gott als Opfer darzu⸗
bieten?“ Hierauf antwortet Smith: „Das ift der Geift, der den
Himmel bloß für Mönche und Einfiedler, oder ſolche, die ihuen
im Leben und Reden gleichen, reſervirt und alle Helden, Staats
männer uud Geſetzgeher, alle Dichter und Philofophen früherer
Zeiten, alle, hie fich Hernprthaten in den zum Unterhalt, zur Ber
quemlichkeit und Zier des menfchlihen Lebens dienenden Künften,
ale die großen Beichäger, Lehrer und Wohlthäter der Menfchheit,
benen unſer natürlicher Sinn das höchste Verdienft zufchreibt, in dit
Hölle verdammt Hat“ (I, 210). Und ſehr richtig fügt er hinzu:
——
Adam Smiths religidſe und ſittliche Anſchauungen. RB
„Köunen wir uns wundern, daß eine ſolche Fälſchung ber ehr⸗
würdigften Lehre fie oft der Verachtung und dem Spotte preisge⸗
geben bat?“ Die Caricatur des Glaubens erwect den Unglauben.
Bern übrigens Smith jene einfeittige Tarirung der mn»
chiſthen Ascefe für eine Caricatur der Meligion hält, fo liegt
& ihm doch durchaus fern, die contemplative Verſenkung
m den Glauben, auch wo fie ein ganzes Leben ausfüllt und für
praktiſches Wirten wenig Raum läßt, gering zu fchägen. Er
findet vielmehr in der Verehrung, die wir ſolchen Männern wibnten,
en einen Tribut der Hochachtung, die der Religion felbft erwiejen
Bi. Aber — das muß auch für foldhe Ausnahmsmenſchen
gelten — wenigftens im engften Kreis haben fie ihre praßtiichen
Pflichten treulic zu erfüllen: „Die feinfte Speculation des bes
wachtenden Werfen kann ihn micht entjchuldigen, wenn er ſein
‚niedrigere® Departement‘ (die Sorge für fi, feine Familie,
Iteunde und Vaterland) vernadhläffigt“ (II, 83).
Bea diefer durchaus praftifchen Religioſität faßt er auch die
Stellung und das Amt der Religtonsdiener ımd Anſtalten prattif:
die Beiftlihen find religiöfe Lehrer, die Kirchen, im Unter
ſſchied von den für die Jugend beftimmten Schulen, „Unter:
tigtsanftalten für alle Altersclaſſen“. Unter dieſem
Zitel, der zumüächſt anderes vermuthen läßt, gibt Smith in der
Unterfuhung V, 3, 3 eine Belenching des kirchlichen
Lebens.
Er geht aus von der Frage, wie die Koſten jener „Unterrichtö-
anftalten“ zu beftreiten fein — und zwar behandelt er weiterhin
als ſolche Koften nur die Beſoldung der Geiftlichen. Er erflärt
(V, Schluß), die Koften dürfen fo gut wie die für Landesver-
teidigung, Würde des Staatsoberhauptes, Rechtspflege und Ber-
khr vom Staat übernommen werben, da fie gleich dieſen
dem Ganzen zum Nuten gereichen; uber mit gleichem Recht
„und vielleiht mit einigem Vortheil“ könne man ihre
Beitreitung deren überlaffen, die von dem Unterricht unmittelbaren
Bortheil haben, d. h. alfo den Öliedern ber Kirche. Er be-
gründet dies damit, der Eifer der Gelftlihen je ein viel
größerer, wenn fie durch die Amtsführung ihr Ein-
18*
274 Braun
fommen fich erft verdienen müjfen, als wenn fie durch
ftaatliche Pfründen gefichert jeien Y.
Es will uns freilich ärmlich und faſt beleidigend dünfen, bag
Smith in ſolcher Weife auf den Egoismus der Geiſtlichen reflec-
tirt. Indes ergeht es ihnen damit bei Smith nicht fchlimmer
als allen Menſchen, wie der nächfte Abfchnitt zeigen wird; und es
ift im Auge zu behalten, daß nah Smith diefer — wie jeder —
Egoismus eben als Mittel für die allgemeine Wohlfahrt, bier
fpeciell für die tüchtige religiöfe Berforgung bes Volkes
dient. Ein von ber Gemeinde abhängiger Geiftlidher,
argumentirt Smith näher, ift erftens zu einem fireng moras
lifhen Wandel genöthigt, da gerade in den niederen Schichten,
die das gros der Gemeinden bilden, eine ftrenge Moral berrfcht 2);
es wird bei foldhen Geiftlihen ein die Berufswirkſamkeit zer-
ftörendes ſittliches Aergernis viel jeltener vorlommen als bei Staats
pfründnern. Sodann wird ein joldher Geiftliher der religiöfen
Belehrung und Seelforge fi ausfchlieglicher widmen und
fo viel mehr Gutes ftiften, als die Staatsgeiſtlichen, die
häufig Gelehrte, Hofmänner, Lebemänner, kurz alles cher find als
Seelenhirten.
Wie Smith die Befoldung der Geiftlichen durch die Gemeinden.
empfiehlt, fo aud) eine annäherend gleiche, mäßige Beſoldung
derfelben im Gegenſatz zu dem Pfründenfyften mit feinen hoben,
reichbezahlten Stellen. Nur im erjten Ball bleiben die Geiftlichen.
in der Einfadhheit und dadurd in der für jie nothwendigen
Fühlung mit dem Bolt. |
Dagegen misbilligt Smith die Wahl der Geiftlichen durch
1) Ganz diefelben Gefihtspunfte madjt Smith V, 8, 2 bei Beſprechung des
Jugendunterrichtes gegen die öffentlichen Anftalten, befonder® Univerfitäten
und für das Syſtem des Privatunterrichtes geltend. Jener ganze Ar
Schnitt mit einer Fülle feiner Bemerkungen aus ber Pädagogif und.
ihrer Gejchichte würde eine eigene Darftellung verdienen. |
2) Warum? „Die Lafter der Leichtfertigfeit find für den gemeinen Mann
immer verderblich, und ber Leichtſinn und die Vergeudung einer einzigen
Woche reichen oft Hin, einen armen Arbeiter auf immer zu Grunde zu
richten umb in feiner Verzweiflung zu den größten Verbrechen zur treiben.”
Adam Smiths refigiöfe und fittliche Anſchauungen. 275
die Gemeinde wegen ber dabei unvermeiblichen Beigabe von Partets
auf und Fanatismus. Er Täßt den Wahlmodus offen. Das
ſchottiſche Patronatſyſtem verwirft er nicht, und nimmt die fchot-
tijche Seiftlichleit gegen den etwaigen Angriff in Schuß, als werde
dedurch „miedrige Kriecherei“ gepflegt. „ES find beffere und edlere
Mittel, wodurch in allen presbyterianifchen Kirchen (?) mit
äiner feftbegründeten Batronage die Geiftlichleit ſich die Gunſt
ihter Borgefeßten zu erwerben gefucht: es find Gelehrſamkeit, ein
tadellofer Lebenswandel, eine treue und unermüdliche Pflichterfüllung.*
Smith fcheint Hier nicht ganz confequent. Zum presbpteria-
mihen Syitem gehört entfchieden die Anftelung fowie die Beſol⸗
dung durch die Gemeinden. Dur die von Smith eben dem
preöbyterianifchen Klerus zugefchriebenen Zugenden muß fich doc
diefer beim Volke fo gut wie den bei Batronen empfehlen !).
Schr bemerfenswerth bleibt bei der ftrengen Wagjchale bes
Proftifch -Nüglichen, anf die Smith alle religiöfe Thätigkeit Tegt,
kin ungemein günftiges Urtheil über den fchottifchen,
weiterhin den ganzen presbyterianifchhen Klerus: „Nirgende
m Europa gibt es vielleicht eine Claffe von Männern, bie an
Gelehrſamkeit, Sittenreinheit, Unabhängigkeit und Achtbarkeit die
Mehrzahl der presbyterianifchen Geiftlichen in Holland, Genf, ber
Schweiz und Schottland überträfe.“
Eine befonders feine Bemerkung macht Smith über die Pflege
der Gelehrſamkeit in reichen Pfründlirhen und in einfachen Kirchen»
gemeinfchaften nad feinem Sinn. m den letteren werben bie
wiſſenſchaftlich fähigften Köpfe die Kirchenämter verlafjen und bie
beffer botirten Brofeffuren ſuͤchen, wo fie nun ftubirend und
lehrend am fruchtbarften wirken. So ſtehe es, fagt Smith, in
den meiften proteftantiichen Ländern. Im anderen alle, wo bie
Kirche fette Pfründen bietet, werden bie Gelehrten ben Univerfi-
täten entzogen und in Kirchenämter geſetzt: das gibt die gelehrten
Domberren und Biſchöfe der anglifanifchen und der römischen Kirche,
1) In der That ift feit 1874 die PBatronatsernennung auch in ber fchot-
tiſchen Staatskirche abgefchafft, nachdem fie zu einer Reihe von Seceſ⸗
fionen geführt Hatte und allgemein als Uebelſtand anerlannt war.
276 Braun
leßtere befonders in Frankreich. „Selten findet man ba bebeutenbe
Gelehrte unter den Profefforen, außer etwa in den juridifchen und
medicinifchen Facultäten, aus denen die Kirche fie nicht Leicht wegzieht.“
Es ift das — fo ſcheint Smith die Sache anzufehen — nicht günftig
für die Kirche, da folche bloß gelehrte Kleriker das warme Herz
für. die praktischen Aufgaben nicht befigen; und ebenfo ungünſtig
für die Wiffenfchaft, da die das Studium belebenden und befruc-
tenden &femente der Docententhätigkeit fehlen. Beſſer ift die
Scheidung profeffioneller Gelehrter und praktiſcher Geiftlicher, die
im proteftantifchpresbpterianifchen Gebiete herrfcht. Freilich nennt
Smith in den oben citirten Stellen die presbpterianifchen Geijt-
lichen felbft im Durdfchnitt „gelehrt“; doch iſt dieſe „Gelehr⸗
famfeit“ ſicher cum grano salis zu verftehen, die Hauptſache iſt
für Smith bei ifnen die Fühlung mit dem Volke, der
praktiſche Eifer. |
Diefer Eifer fann freilich, jagt Smith, zu Fanatismus
und Intoleranz führen und dadurch die Ruhe des Staates
und der Geſellſchaft ftören. Das ift aber nur da möglich, wo
eine Kirche im Staate geduldet wird, ſo daß dann die ganze
Bevoölkerung fich verhegen läßt, oder da, wo 2—3 ſtarke Kirchen
in ein Staatsweſen ſich theilen, fo daß ſich die Bürger in reli⸗
giöfen Parteien gegemüberjtchen. Als befter Zuftand erfcheint
daher Smith das Mebeneinander vieler kleinen Secten,
200-—300 : meint er oder ebenfo viele 1000, „beren feine groß
genug ift, die öffentliche Ruhe zu ftören“. „Die Lehrer diefer
Secten würben, da fie fi mehr von Gegnern als von Freunden
umgeben jehen, bie Nothmendigfeit der Ehrlichkeit und Mäßigug
lernen“ ; und am Ende würde die Annäherung gar zur Ginheit
auf Grund: der „reinen, vernunftmäßigen Religion”, d. b. dee
Smith’fchen Theismus, führen. |
Es ift fo natürlich, daß Smith den Jndependentigmus
der englifhen Revolution und die Zuftände in Peunſyl⸗
vanten hoch belobt. Aber ift auch die Zerfplitterung in. Heine
Secten fein Ideal, fo wirb er doch dadurch nicht blind gegen dad
Gute, das. er auch, in nicht independentiftifchen Kirchen, wie in
feiner fchottifchen Mutterkirche findet, |. o.
Adam Smiths religiöfe und fittfiche Anfchannngen. 77
Neben dem Vorzug der Toleranz nach außen, durch den die
Meinen Secten ſich meift von den großen Kirchen unterſchieden, bes
fiken fie nach Smith ben weiteren, daß bet ihnen durch den geringen
Umfang die Controllirung ber Mitglieder fich fchärft und eine
trengere Moral fih durchführen läßt. „Bei diefen Secten
hat man in der Regel bei dem gemeinen Mann ein fehr anftän-
diges und fittliches DBetragen bemerkt, und zwar in weit höherem
Grade als bei den Mitgliedern der herrfchenden Kirche.“ Mit
dieſem Vorzuge verbindet fi) aber der Webelftand, daß bie
ſtrenge Moral leiht „unangenehm ſchroff und abftoßend"
wird. Diefer Gefahr muß der Staat vorbeugen, indem er theils
die wiffenfhaftlihe Bildung befördert, theils öffentliche
Euftbarleiten begünftigt. „Wenn der Staat nur einige Auf»
munterung, d. h. völlige Freiheit denen gewährt, die in ihrem
eigenen Intereſſe es unternehmen, das Volt fern von Wergernis
md Unanftändigkeit durch Gemälde, Dichtlunft, Muſik, Tanz,
pramatifche Borftellungen und Scauftellungen aller Art zu be
Injtigen, fo würde er Leicht bei der großen Waffe die melancholifche,
düftere Stimmung verfcheuchen, die faft immer die Mutter des
Bofksaberglaubens und Fanatismus ift. Deffentliche Luftbarkeiten
find ſtets von allen zelotiſchen Volksführern auf's äußerſte gefürchtet
und gehaßt worden.“ Sicherlich hat Smith dabei beſonders den
Puritanismus bes 17. und den Methodismus des 18.
Jahrhunderts im Auge; fie befämpft er ebenfo ſcharf wie [die
katholiſch-mönchiſche Acseje.
Blicken wir auf diefe etwas bunten praktiſch⸗kirchlichen Be⸗
merfungen Smith zurück, fo ift zuzugeben, daß er bie volk s—
bildende Miffion der Kirche und ihrer Diener pietät-
voll und dankbar anertennt, als echter Proteftant und
Presbyterianer für Rechte und Pflichten der Gemeinde
tintritt und alles Hierarhifche wie Ascetifche und Aber»
glänbifche energifch bekämpft.
Allein einmal ift die Aufgabe, die er der Kirche ftellt, religiös⸗
moralifche „Unterrihtsanftalt“ zu fein, viel zu eng; es
fehlt die Betrachtung der Kirche als Gemeinschaft, als „Leib Chrifti” ;
daher die Gleichgültigkeit, ja der Widerwille gegen große organi»
278 Braun
firte Verbände, die Vorliebe für atomiſtiſch independente Genoffen-
haften. Jene Rechte und Pflichten der Gemeinde, die er wahrt,
find ja auch religiös betrachtet nicht centraler Natur: es ift das
Recht, den Pfarrer zu controlliren und zu befolden, die Pflicht, ſich
gegenfeitig zu controlliren. Von einem tieferen, myftifchen Gehalt
des Gemeindelebens Feine Spur. Diefer Mangel hängt freilich
mit dem zweiten zufammen, daß die Lehre, die nah Smith die
Kirche verfündigen fol, eben wejentlid feinen Theismus und
defjen moralifche Conjequenz, die philanthropifhen Pflichten,
zum Inhalt hat. Die Übrigen Elemente, alles Supranaturale,
Myftifhe und Gefhichtliche faht Smith — da es zu feinem
Glauben nicht gehört — auch für die Kirchenlehre und für bie
Kirche als unnügen, mit der Zeit abzuwerfenden Ballaft.
Das find Mängel und Lücken, die in feiner prattifch nüch—
ternen Betracdhtungsart ihren Grund haben, die aber durch das
ernfte Pathos, mit dem er bie Religion als fittlide
Lebenspotenz geltend macht, wohl aufgewogen werden.
4. In Smiths religiöfes Weltbild fügt fich feine Pſychologie
und Ethik leicht ein. Wie oben bemerkt, ift ja die pſychologiſche
Ausrüftung des Menſchen ein gottgeordnetes Mittel zur Förderung
der allgemeinen Wohlfahrt. Diefe Ausrüftung befteht in zwei
Trieben, dem egoiftifhen und ſympathiſchen. Ihre Dar
ftellung macht den defcriptiven, pfychologifchen Theil der „Moral
theorie“ aus; den eigentlich ethifchen Theil bilden die Erörterungen
darüber, wie beide Zriebe in's richtige Verhältnis zu einander zu
ftellen und zu bethätigen find ?).
Dee egoiftifche Trieb geht zunächſt auf die individuelle
Wohlfahrt. Er hat — wenn wir das I, 77ff. und II, 36ff.
Gefagte zufammenfaffen — drei Formen: als finnlider Selbft-
erbaltungstrieb, Befig- und Autoritätstrieb. Aber
1) Im Folgenden kaun und foll natürlich nicht die ganze Moraltheorie mit
ihren vielen Detailunterfuchungen und Abichweifungen reproducirt werden.
Auch wäre es nicht erſprießlich, dem oft ziemlich willlürlichen und un
ſyſtematiſchen Gange bei Smith zu folgen. Mein Streben iſt mur, aus
der bunten Fülle die weientlichiten Züge herauszuheben.
Mam Smiths religiöfe und fittfiche Anſchauungen. 279
gerade bie mittlere Form, die wir bei Smith im Vordergrunde
erwarten, nimmt eine durchaus unfelbftändige Stellung ein; fie
dient theils der erften, theils der legten, die nah Smith im ent«
widelten Menfchen dominirt: „Das Streben, Object der
Achtung unferer Mitmenfchen zu fein... ., ift vielleicht ber
tärffte aller unjerer Wünfche; und unfere Beforgtheit, ma»
teriellen Wohlftand zu erwerben, ift demgemäß vielmehr
durch jenes Streben erregt und befördert, als durch das,
die nothwendigen leiblichen Bedürfniſſe zu befriedigen, benen raſch
ogeholfen wird“ (IE, 37). Der Selbfterhaltungstrieb jpielt aller-
dings, in raffinirter Geftalt, auch noch herein, fofern es dem
Mmfchen begehrenswerth erfcheint, die Mittel zur Befriedigung der
kifihen und überhaupt perfünlichen Bebürfniffe in Fülle, Be⸗
quemfichfeit und Eleganz bei der Hand zu haben (I, 300ff.). Von
der eigentliden Habſucht, ber der Beſitz Selbftzwed ift,
weiß Smith wenigftens in der „Theorie“ fo gut wie nicht®.
Meint er doch, der Reiche freue fich feines Beſitzes weſentlich,
weil er damit imponire, der Arme härme fich weſentlich darüber,
daß er fo unbeachtet, fo obfeur daſtehe! Wir ftaunen über diefe
Rher unrichtige pſychologiſche Analyfe, und werden durch fie an
Dngald Stewarts Mittheilung erinnert, wonach Smith fih in
der Menfchenbeurtbeilung in praxi häufig ftarf getäufcht hat.
Wenn Smith freilih die Autorität ausfchließlihd auf Beſitz
gegründet denken würde, fo wäre fein Autoritätsbegriff wiederum
ein ſehr Änßerlicher, und fein Autoritätstrieb würde fi) dann mit
km Befitstrieb weſentlich decken. Aber dem ift nit fo. Er
kant eine Höhere Art von Autorität, die durch tugendhafte,
beſonders philanthropifhe Handlungen erworben wird;
demgemäß wirkt meift aud bei foldhen Handlungen das egoiftifche
Autoritätsmotin — wenn auch nicht al& einziges oder Hauptmotiv —
mt), Soweit gibt er II, 220ff. Mandeville Recht, deffen über-
N) Das Autoritätsmotiv ift es auch, das nad) der Unterfuhung V, 3, 3
fo viele Arme und nicht Angefehene in die Heinen veligiöfen Secten treibt,
wo fie nun durch fivengen Wandel und propaganbiftiiche Ruhrigkeit Leicht
eine hervorragende Stelle gewirmen.
280 Braun
triebene Behauptung,.der Egoismus fei bei allen’ Handlungen einzige
ZTriebfeder, er übrigens lebhaft befämpft, wie auch die egeiftifchen
Theorien Epikurs und anderer (II, 185 ff.).
Obwohl ber Egoismus zunäcft das individuelle Glück fördern
will und fördert, jo wird doc durch fo viele Anfäge an einzelnen
Punkten dad Geſamtwohl wefentlich gefteigert. „Diefer Trieb
erhält den Eifer eines jeden in beftändiger Spannung. Er führte
die Menfchen zuerft zur Bearbeitung des Bodens, zum Bau von
Hänfern, zur Gründung von Städten und Gemeinweſen und zur
Erfindung der Künſte und Wiffenfchaften, die- den Erdboden total
verändert, den Deean zum Verfehröweg und zur Erwerbsquelle
gemacht haben u. f. w.“ (I, 309).
Das Normale und Correcte ift nun nad Smith, daß jeder
auch in feinem egeiftiichen Handeln dieſes allgemeine Intereſſe mit
berüciichtigt, den egoiftiichen Trieb mit dem fympathifchen in Ein⸗
Hang bringt (ja ihn unter diefen unterordnet). Der ſchranken—
lofe Egoismus, ber diefe Rüdficht nicht nimmt und fich um
bie göttliche Weltordnung der Liebe nichte kümmert, wird von
Smith entſchieden verurtheilt, und micht nur in der „Theorie“,
fondern auch in der Unterfuchung, z. B. ©. 183 „gemeine Maxime“,
S. 154 „gemeine, felbftifche Gefinnung“, ©. 185 „Krämergeifl”.
Während er aber in der Theorie noch in Hutcheſon'ſcher
Weife von der Anfhauung auszugehen [cheint, der cor—
recte, gemäßigte Egoismus fei in der That der herr:
IShende, muß er in der Unterfuhung, auf Grund
reiherer Erfahrung und Weltbeobadhtung, die Herr:
Ihaft des maßlofen Egoismus gerade bei den herrſchenden
Claſſen conftatiren; ©. 183; „alles für uns felbft, nichts für
andere, das ſcheint jederzeit der leitende Grundfag der Herren
der Menfchheit geweſen zu fein“.
Freilich — jo kommt er fhon in der Theorie auch über den
rüdfichtslofeften Egoismus mittelft feiner teleologifch - optimiftifchen
Gebankenreihen leicht Hinweg — auch bie ausfchreitendfte Selbft-
judht wird von Bott zum Glüd des Ganzen umgebogen.
Ge mehr der Egoift feinen Befig fteigert und feinen
Genuß raffinirt, defto mehr und in deſto manigfaltigerer Weile
Adam Smiths religiöfe: und fittliche Anfchauungen. 231
braucht er vie Arbeit anderer, bieihnen Lohn und Wohl-
tand bringt. "„Umjonft überblickt der hochmüthige und herzlofe Land»
befiger feine ausgedehnten Felder, und verzehrt in der Eimbildung
die ganze Ernte, ohne einen Gedanken an die Bebürfniffe feiner Brüder.
Hier beitätigt fich das Sprüchwort: „Das Auge ift größer als der
Magen.“ Die Aufnahmefühigkeit feines Magens jteht in feinem
Verhältnis zu der außerorbentlichen Ausbehming feiner Wünfche und
lam nicht mehr fafjen als der des ärmften Bauern. Alles übrige
muß er unter diejenigen vertheilen, die in der eleganteften Art
das Wenige zubereiten, das er felbft benußt; fie empfangen fo von
jener Ueppigkeit und Laume den Antheil an den nothwendigen
Drdürfniffen des Lebens, ben fie umſonſt von feiner Humanität
erwartet hätten. — So werden die Reichen durch eine unſicht⸗
bare Hand dazu geführt, nahezu diefelbe Vertheilung
vr notwendigen Lebensgüter zu vollziehen, die fich bei
einer Bertheilung der Erbe unter alle Bewohner nad)
gleihen Bortionen ergeben Hätte u. f. w.“ (I, 309).
Wir können diefe Smitſch'ſche Theodicee nicht billigen. Wird
auch, das miüffen wir- zugeben, durch den Egoismus Cinzelner oft
für den Fortfchritt im ganzen und das Wohl fpäterer Generationen
das Größte gewirkt, fo bleibt doch manches individuelle Glück zer-
treten; jene „gleiche Vertheilung der nothwendigen Lebensgüter“
läßt fih doch nur behaupten, wenn unter diefen Lebensgätern ein
verihwindendes Minimum von Eriftenzmitteln gedacht wird. Mit
diefem Minimum kann doch aber Smith die Armen nicht beruhigen,
da er zugleich den egoiftifchen Trieb als normalen mit weiten
Horizont der Objecte allen zufpriht. Smith irrt hier, aber freis
li aus edein Motiven: aus feiner perfünlichen Genügfamteit, bie
nichts mehr will als „Geſundheit, gutes Gewiffen und feine Schul»
dm“ 1), und aus dem feften religiöjen Glauben, daß Gott alles
Böſe fofort zum Guten lenken müſſe. Böſe, ſittlich verwerffich
bleibt ihm ja das Verhalten jenes Egoiften unter allen Umſtänden.
Falſch wäre es, ihn hier der ſittlichen Laxheit bezichtigen zu wollen.
Das über den Egoismus bei Smith Geſagte wird nun auch fein
ı) ZU. 1, ©: 69.
282 Braun
Brincip der individuellen wirthſchaftlichen Freiheit ver-
ftändfih machen. Er will damit allerdings dem egoiftifchen Triebe
einen möglichft weiten Spielraum geben, reiheit der Bethätigung
bindieiren; aber mit der Intention, daß ein jeder dieſe Freiheit
nicht erclufiv egoijtifch, fondern zugleich im Dienfte anderer |
verwenden folle; freilich zugleich mit der Gemißheit, daß aud
der Ichrofffte und verworfenfte Egoismus, der jenes :
Princip für ſich misbrauche, nichts fchaden, fondern in der Hand :;
der Weltregierung nüßen werde Mit jener an *
und dieſer Gewißheit zeigt er ſich wol als Optimiſten, den din:
Erfahrung widerlegt, aber wahrlich zugleich al8 ebenfo weit Huma-; .,
nen wie tief refigiöfen Mann, dem nichts ferner Tiegt als bi
Rechtfertigung des radikalen, atomijtifchen Egoismus. e lin
Dem egoiſtiſchen Triebe geht der ſympathiſche zur Sei: iii
„Als die Natur den Menfchen für die Gemeinſchaft ſchuf, bega: hey
fie ihn mit einem natürlichen Streben, Die Brüder zu erfreur, en
und mit einer Abneigung davor, fie zu verlegen. Sie lehrte : eine
über den günftigen Zuftand der Brüder Vergnügn,
über den ungünftigen Schmerz empfinden“ (I, 193).
Diefer Trieb ift „keineswegs bloß den tugendhaften.
humanen Menſchen eigen, obwohl fie ihn vielleicht mit der
gefuchteften Zartheit empfinden. Der roheſte Kerl,
verhärtetfte Feind der öffentlichen Ordnung ift nit ganz oM
ihn“ (I, 2). Wenn die „Tugendhaften“ dieſen Trieb befont
intenfiv in ſich finden und walten laſſen, fo liegt darin fchon et
moralifhe Werthung desfelben enthalten: er erjcheint
der in specie fittlidhe, die Idealſeite des Menſchen bilde
Und das ift ja natürlich, wenn wir an das oben flizzirte Welt
Smiths denken: durch diefen Trieb arbeiten wir ja direct d
der allgemeinen Wohlfahrt, erfüllen wir unferen centralp® d
Beruf in der Welt. „Viel für andere und wenig für uns ſelSwod
zu fühlen, die felbjtifchen Affecte zu befchränten und die mtuate
wollenden zu befriedigen, bildet die Vollkommenheit menſchlid
Natur“ (1, 30). „Wie Tiebenswerth ſcheint derjenige zu fein, Defferun
Iympathifhes Herz alle Gefühle feiner Lebensgesn
führten wiederzutönen ſcheint: der über ihr Unglück weint,
x
W
Ad
—_ |
Ham Gmiths religidſe und ſittliche Anfhanungen. 233
ber ihnen angethane Unbill zürnt und über ihr Gluck fich freut“
1,29). Gilt 8, den egoiftifchen Trieb einzubämmen, fo gilt «6,
ieſen in weitem Umfang wirken zu laffen.
Der fympathifche Trieb betätigt fih auf zwei Stufen. Auf |
ser erften ift er Mitgefühl. Wir haben das Bebürfnis, uns
in die Lage des Nächſten hineinzudenken und wo möglich
ji Stimmung nadhzufühlen. Dies Iegtere gelingt nicht
immer. Denn da wir bei der Verfegung in die Lage des Nächften
dd ſtets umfer individuelles Ich mitbringen, fo macht
itme Lage eventuell auf und einen andern Eindrud als auf
3 febft; wir fühlen manchmal feinen Schmerz, wo er Schmerz,
Xer Scham, mo er feine Scham empfunden Hat. Diefer Fall \
ter Diserepanz ſchließt nun ein misbilligendes U
zietmehr ſtets feine Gefutegdi. 88). en
Secnftiunmen zu Fönnen. Pe ten tann, 8 RAN
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282 Braun
Prineip der individuellen wirthſchaftlichen Freiheit ver
ftändfich machen. Er will damit allerdings dem egoiſtiſchen Triebe
einen möglichft weiten Spielraum geben, Freiheit der Bethätigung
vindieiren; aber mit der Intention, daß ein jeder diefe Freiheit
nicht excluſiv egoiftifch, fondern zugleich im Dienfte anderer
verwenden folle; freilich zugleih mit der Gewißheit, daß aud
der Tchrofffte und vermworfenfte Egoismus, der jenes
Princip für fih misbrauche, nichts fchaden, fondern in der Hand
der Weltregierung nügen werde Mit jener Intention
und diefer Gewißheit zeigt er fi wol als Optimiften, den bie
Erfahrung widerlegt, aber wahrlich zugleich al8 ebenjo weit huma⸗
nen wie tief religiöien Mann, dem nichts ferner Tiegt als bie
Rechtfertigung bes radifalen, atomijtischen Egoismus.
Dem egoiftifchen Triebe geht der fympathifche zur Seite.
„Als die Natur den Dienfchen für die Gemeinſchaft ſchuf, begabte
fie ihn mit einem natürlichen Streben, die Brüder zu erfreuen,
und mit einer Abneigung davor, fie zu verlegen. Sie lehrte ihn
über den günftigen Zuftand der Brüder Vergnügen,
über ben ungünftigen Schmerz empfinden“ (I, 193).
Diefer Trieb ift „feineswegs bloß den tugendhaften und
humanen Menfchen eigen, obwohl fie ihn vielleicht mit der aus⸗
gejudhteften Zartheit empfinden. Der rohefte Kerl, der
verhärtetfte Feind der öffentlichen Ordnung ift nicht ganz ohne
ihn“ (I, 2). Wenn die „Zugendhaften“ diefen Trieb befonderse
intenfiv in fi finden und walten lafjen, fo liegt darin ſchon eine ;;
moralifhe Werthung desfelben enthalten: er erjcheint als ae
der in specie fittliche, die Idealſeite des Menfchen bildende. .
Und das ift ja natürlich, wenn wir an das oben flizzirte Weltbild ;,,
Smiths denken: durch dieſen Trieb arbeiten wir ja direct aumſ
der allgemeinen Wohlfahrt, erfüllen wir unferen centralenen .
Beruf in der Welt. „Viel für andere und wenig für und ſelber N
zu fühlen, die felbftifchen Affecte zu befchränfen und bie —*
wollenden zu befriedigen, bildet die Vollkommenheit menſchlichptgefi
Natur“ (1, 30). „Wie liebenswerth ſcheint derjenige zu fein, deſſ rin
fympathifhes Herz alle Gefühle feiner —
fährten wiederzutönen ſcheint: der über ihr Unglück wei
I
\
Adam Smiths vefigiäfe und fittliche Anfchanungen. 288
über ihnen angetbane Unbili zürnt und über ihr Glück fich freut“
(I, 29). Gilt es, den egoiftiichen Trieb einzudämmen, fo gilt «6,
diefen in weiten Umfang wirken zu laſſen.
Der fympathifche Trieb bethätigt fi) auf zwei Stufen. Auf
der erften ift ee Mitgefühl. Wir haben das Bedürfnis, uns
in die Lage des Nächſten hineinzudenken und mo möglid
fine Stimmung nachzufühlen. Dies Teßtere gelingt nicht
immer. Denn da wir bei der Verfeßung in die Lage des Nächften
doch ftetd umfer individuelles Ich mitbringen, fo madt
ine Lage eventuell auf und einen andern Eindrud als auf
ihn felbft; wir fühlen manchmal feinen Schmerz, wo er Schmerz,
wer Scham, wo er feine Scham empfunden hat. Diefer Fall
der Discrepanz ſchließt nun ein misbilligendes Urtheil
ein, das wir über die Stimmung und das Benehmen bes Nächften
fällen müſſen — zu unferem eigenen Bedauern, denn wir wünſchten
vielmehr ftets feine Gefühle bifligen und mit ihnen
übereinftinmmen zu können. Ebenſo ift es unſer Wunſch, daß der
Nächſte unfere Stimmungen theile. Der ſympathiſche Trieb ift ein
Begehren nad wichfeljeitiger Sympathie“ (I, 1—14).
Man kann yerfucht fein, gegen biefe erfte Stufe des fympa-
thiſchen Triebgf bei Smith geltend zu machen, baß ja durch dieſe
Berpflanzumg in die age des Nächſten eben ftets das eigene Ich
afficirt, Au die Theilnahme im Grund ber eigenen Perfon, in
gemiſſt Situationen hineingebacht, erwiefen wird und jo unter
der Haste der Sympathie ein verfeinerter Egoismus
hertſch Dieſer Vorwurf ift ungerecht. Allerdings muß
nach Smith das ſympathiſche Deitgefühl erft durch jenen Kanal
erfeßung der eigenen Perfon in die Lage des Nächſten durch»
en: aber daß ih nah Smith nicht nur ein Bedürfnis nad)
vr Verſebung, ſondern nach wirklichem Mitgefühl in allen
Fr habe; daß jener Ball, in dem die Verſetzung nicht zum
tgefüpl führen kann, mich betrübt, das zeigt doch deutlich die
Reinheit und urſprüngliche Kraft des ſympathiſchen
Ferne Allerdings erfcheint jene Verfegung als ein ganz
1
nnöthiger Umweg zur Bethätigung des Triebes; gewiß gehen in
Wirklichkeit nur ſehr wenige Menſchen dieſen Umweg. Die Er»
281 Braun
fahrung ‘zeigt uns viele Egoiften, die ‚nit entfernt ſich in die
Lage und Stimmung ihrer Mitmenſchen verfegen, und daneben
Philanthropen, bei denen die Sympathie nicht erft durch jenen
Kanal Täuft, fondern unmittelbar hervorquillt und ſich bethätigt.
ragen wir, wie Smith zu diefem feltfamen Ummeg |
tam, fo Eiegt wol die Antwort zum Theil darin, daß er den
ſympathiſchen Trieb zwar vom egoiftifchen nicht abhängig |
machen, aber doc im Intereſſe der Einheit in innigen Zu: |
ſammenhang mit diefem fegen wollte, zum Theil darin, def
jenes billigende oder misbilligende Urtheil über den Nächten,
da8 ald Begleiter des Mitgefühles reſp. Nichtmitgefühlee as
der DVerfegung hervorgeht, für ihn einen befonderen Werth hat.
Dieſes Urtheil bildet für ihn, wie wir fpäter fehen werden, das
Fundament wichtiger fittliher Beftimmungen.
Bon der erſten Stufe des Mitgefühls erhebt ſich nun der ſym⸗
pathiſche Trieb auf feı eiten Stufe zu dem Streben, für
andere zu handeln, ihr Glü
Potenz ift er jo zu fagen der un
des göttlichen Liebesplanes, und b
Hilden Beſtand des Menſchen. „Die ftärkſten Bethütigungen der
keit“ (I, 133). Den Trieb der Förderung nnd Hürfekt
pfinden wir nun freilich nicht gleihmäßig gegenüber and Reben—
menſchen; er bethätigt fi) nad) IL, 47 ff. indrei concent iſchen
Kreiſen. Den erſten bilden die Perſonen, die durch natir⸗
liche oder gewohnheitsmäßige nahe Beziehungen, durch ung e fer
Wohlthaten, durch ihre Trefflichkeit oder durch das Auff ende
Erponirte ihrer Stellung (in Freud ober Leid) 1) unfere Som
1) Es ift nah Smith unſer natürlicher Zug zu Gllick und Freude *
ung an auffallendem Glück anderer freudigen Antheil nehmen, ja e8 hd
ſteigern Heißt (daher leitet Smith auch unfer Intereffe und unfere Bo
eingenommenheit für die Sohen ber Erde, Fürften u. ſ. w. ab, im den
wir gleichſam das concentrirte Glück ſehen), und der uns —
Armuth, Elend u. ſ. w., wo wir es ſehen, unerträglich macht und zı
Beſeitigung desſelben treibt.
Adam Smiths vefigiöfe und ſittliche Anfchauungen. 3835
erregen; den ‚zweiten Kreis :bilden die Gemeinſchaften, die fih
aus denfelben Gründen uns empfehlen; oft combiniren fich diefe
Gründe, fo bei dem Staate, ja auch dem Stande, dem wir ange-
hören, weshalb es Smith einen thörichten und hinfälligen Verſuch,
ia ein Bergehen nennt, die Stände zu nivelliren und ihnen ihre
Privilegien und Immunitäten zu nehmen (IL, 76ff.).
Scheint in der Beftimmung dieſer zwei reife ober eigentlich
der Gründe, durch die fie unfer ſympathiſches Intereſſe provociren,
das egoiſtiſche Element, die Bemeſſung nach den nahen Beziehungen
zum Ich etwas ftark hereinzufpielen, jo kommt nun in dem dritten
| Kreisder fympathifche Trieb zur reinften und vollften
' Entfaltung. Diefen Kreis bildet das ganze Univerfum.
uunjer guter Wille ift durch keine Schraufen gebunden, fondern
ann die Unendlichkeit des Univerfums umfaſſen“ (IL, 79). Freilich,
pm That kann unfer Streben in diefem untiverfalen Maß
niht werden. „Die Leitung de Univerfums ift die Sache
Gottes und nicht des Menſchen“ (II, 88). ber fo wenig der
Menſch direct für's Ganze wirken fann, mit feinem Herzen, feinem
Willen foll er es umfaffen und durch dieſe Gefinnung fich in feiner
engeren Sphäre zu Thaten der Hiugabe, Selbſtverleugnung n. |. w.
begeiftern laſſen. Diefe Gefinnung Aft indes ohne den religiöjen
Hintergrund und Abſchluß des Gottes- und Providenzglaubens nicht
denkbar. Den religiöfen Hintergrund braucht unfere uni—
verfale Sympathie, weil bie bloße Vermuthung einer „vater⸗
lojen Belt“ uns, möchten wir felbft auch in ben glüdlichften Ver⸗
haͤltniſſen fein, im Intereſſe der vielen unglüdlihen Brüber tief
beprimiren, unjere Bemühungen für fie lähmen müßte. Weil wir
der Grenzen unferer Kraft uns bewußt find und unfere Sympathie
dennoch Teine Grenzen Tennt, müfjen wir eine Ergänzung unferes
" Handelns fordern. Wir finden fie im göttlichen Liebesplan.
Auf diefe Weile wird vou Smith aus der Analyfje bes
Ifompathiſchen Triebes heraus der Gottes- und Pro—
guidenzglaube pſychologiſch debucirt, während wir oben
diefem Glauben heraus das ſympathiſche Handeln als Pflicht
eleitet fanden. Wieder ein Beweis für die Unauflöslichkeit und
echſelwirkung des voligidfen und moralifchen Efementes bei Smith.
236 Braun ”
Die Analyfe der beiden Triebe foll zunächſt freilich nur
den piyhifhen Beſtand Fildern und im feiner Ange:
meſſenheit an den göttlichen Weltplan erweifen; aber im letzteren
Ermweis liegt Schon die moralifche Werthung, fofern der Trieb,
der am directeften und energifchiten den göttlichen Plan fördert,
eben dadurch Über dem anderen fteht und darum eine befondere
lebhafte Eultivirung fordert. Indeſſen leitet Smith die Sitt-
lichkeit noch genauer aus dem fympathifchen Triebe ab,
und zwar fo, daß den beiden Stufen desfelben zwei Reihen
fittlider Grundbeftimmungen entfprecden.
Auf feiner erfien Stufe producirt der fympathifche Trieb,
wie wir fahen, als erfte Folge der Verſetzung in die Qage bes
Nächten ein Urtheil über diefen. Diefes Urtheil beftimmt, ob
die Stimmung und Handlungsweife des Nächften ihrem Motiv,
d. 5. der Lage, woraus fie bervorgieng, angemeffen ift oder nidt.
Im erften Fall Heißt fie „ſchicklich“, im zweiten „unſchic—
lich“ (I, 15—28). Das fohickliche Verhalten, unter beſonders
Ihwierigen Berhältnijfen oder beſonders intenſiv ge
übt, heißt „Tugend“ (I, 31. 32).
Bir haben hier ein ganz Heteronomes Princip firtlider
Deurtheilung. Der Nächte beurtheilt!, ob mein Verhalten
mwohlbegründet, vernünftig, fittlih if. Er bat dazu ein wichtigee
Hilfsmittel: er verſetzt fich in meine Lage, lernt alfo mein Motiv
fennen. Aber bringt er nicht dazu eben fein individuelles Ich
mit? Tann nicht auf ihn meine Lage einen ganz anderen Eindruck
machen al8 auf mih? Soll dann diefer Eindrud maßgebend fein?
fol das, was für ihn nach feinem Temperament unbegründet
wäre, bei mir auch grundlos, „unſchicklich“ fein? Diefe Er
wägungen konnten Smith nicht verborgen bleiben. Er juchte daher
die Willkür des beteronomen Urtheils dadurch zu corrigiren, daB
er einen „unparteiifchen Zuſchauer“ poftulirt, und, ba
wir fehr oft in der Lage fein werden unferen Beurtheilern dieſes
Attribut ftreitig zu machen, uns die Berechtigung, ja die
Pflicht zufprit, felbft diefe Function an uns zu üben,
uns „in zwei Berfonen, den Richter und den zu Rid-
tenden, zu ſcheiden“ und je nach dem Erfund dieſes Richters
0. ug u
Eu mug — EEE ©
Adam Smiths religiöfe und fittliche Anfchauungen. 27
das Urtheil anderer über und zu berichtigen und zu ignoriren. Damit
ift neben das heternonome ein ebenjo fohroff autonomes Prin-
cip geftellt. Denn was gibt mir die Garantie, daß ich affectlofer,
correcter und objectiver, als andere über mich, urtheile? Smith
gibt zwar dem Factor diefes Selbfturtheiles, dem unparteiifchen
Zuſchauer in uns, die höchſten Namen: „Bernunft, Brincip,
Gewiffen, großer Richter unſeres Thuns, Mann in der
Bruft“ (1,224 ff.), und fpricht von ihm öfters mit einem heiligen
Pathos, das uns wie ein Vorbote Kant’fher Gewiffens-
lehre erjcheint und felbjt die Frage, ob Kant nicht Smith etwa
gefannt babe und von ihm berührt worden fei, nahelegt; aber doch
muß er zugeftehen, daß auch diefes eigene Gewiſſen fein abfolut
unpartetifcher und zuverläffiger Zuſchauer ei, vielmehr
vom Triebleben oft theils übertäubt, theils verunreinigt werde,
(ogl. I, 261ff.). Es muß daher das Gewiffen fi wiederum
eontrolliren und reinigen laffen zwar nit vom Einzelurtheil
andererer, das ja unter ihm oder höchftens neben ihm fteht, aber
von den „allgemeinen Regeln“ (I, 263ff.), unter denen Smith
gleihfam das gemeinfame Gewiſſen, bie in ganzen Völkern
und Generationen herrfchend gewordenen Urtheile über Schicklichkeit
md Zugend verfieht.
Wir fehen in diefen drei Stufen des „unpartetifchen Urtheiles“
(dem des Nächten, dem eigenen, dem ber Gejamtheit) wieder bie oben
berührte Wechſelwirkung fympathifcher und egoifticher Momente.
Die fympathifche Unterordnung unter des Nächften Urtheil corrigirt
ih durch's Gewiſſen, das eigene ibeale „ch“, dieſes wieder hat
fd durch die allgemeinen Regeln zu normiren. Aber auch damit
lann ja ein befriedigender Abſchluß nicht gegeben fein: auch dieſe
Regeln können befonder8 durch den maßgebenden Einfluß einzelner
Berfonen (Mode u. ſ. w. II, 1ff.) parteiifh, unrein werden
und weifen darum auf ein noh höheres Tribunal zurück
(1, 216ff.), auf das Urtheil Gottes. Auf diefe Iekte Inftanz
deuten alle die drei befprodenen Formen („die Stell-
bertreter Gottes, die aber auch ihre fterblidhe Seite
haben“) des Einzel» und Gefamtgewiffens hin, theils durch ihre
Unvolftommenpeit, die eine ſolche Correctur erfordert, theils
Tpesl. Stud. Yahrg. 1878.
28 Braun
durch ihre relative Bolltommenheit, ihren vom göttliden
UrtHeil entlehnten Maßſtab.
Welches ift diefer Mafftab? Die Beftimmung der „Schicklich—
Leit“ als ber Angemefjenheit einer Handlung an ihr Motiv war
rein formell. Smith fügt dazu I, 34ff. die Material:
beftimmung, daß jede Handlung, um „angemefjen“ zu fein, „eine
gewijfe mittlere Stärke“ (a certain mediocrity) wahren
müffe, weil fie nur fo auf die Billigung des affectfreien, un
parteiifhen Zuſchauers rechnen könne. Aber diefe Stärke ift
eine andere auf dem egoiftifchen, eine andere auf dem ſympathiſchen
Gebiete. Die egoiftifchen Gefühle, Strebungen, Handlungen,
und zwar je mehr fie excluſiv, rein individuell find,
fönnen auf die Theilnahme des Zuſchauers, der fich in fie
nur ſchwer und unvollſtändig Bineinverjegt, Teinen hoben An-
ſpruch maden (I, 35ff.). Bei ihnen ift daher bald das Maß
überfchritten, das er billigt. Sie gilt es zu befhränfen. Um:
gekehrt ift e8 bei fympathifchen Gefühlen, Strebungen,
Handlungen. Ihnen bringt der Zufchauer fein eigenes ſympathiſches
Herz entgegen und freut fich ihrer möglichften Entfaltung.
Wohl können auch fie das normale Stärkemaß überfchreiten, ;. B.
wenn Wohlthaten an Unwürdige verfeäwenbet werden. Aber die
Mishilfigung, die ihnen dann vom Zuſchauer widerfährt, ift
doch eine viel Teichtere, al8 das Verwerfungsurtheil über extra
vaganten Egoismus. Sie ift in jenem Fall mehr nur Bedauern
(1, 56ff.) |
Sp ift denn der wichtigfte Maßſtab, nach dem Gefühle,
Handlungen, Strebungen gemeſſen werden, ihr ſympathiſcher
Charakter. Gott legt dieſen Maßſtab an, weil der fympa
thifche Charakter einer Handlung zugleih ihren teleologifchen
Werth für's Gefamtwohl beftiimm. Der menihlide Zu:
ſchauer und Richter greift zu diefem Maßſtab, theils unwille
türlich vom eigenen fympathifchen Triebe dazu geführt, theild
— und das ift die höhere ethiſche Stufe — in bewußter
Uebereinftimmung mit ber göttlich teleologifdhen Br
trachtungsweiſe. Es ift eigentlich nah Smith nichts anderes als
der teleologifche Gebante, der den Inhalt des Gewiſ⸗—
Adam Smiths veligiöfe und fittliche Anfchauungen. 23
jen® bildet, hier zwingend für den einzelnen auftritt und unfer
fittlihes Thun wie Urtheilen leiten foll. Am diefer
Richtung jagt Smith von dem „Mann in der Bruft" (I, 224):
‚Er iftes, der uns, wenn wir duch unfer Handeln in das Glück
anderer eingreifen wollen, mit einer die aufdringlichen Leidenfchaften
nieerbonnernden Stimme zuruft, baß wir nur Einer find in der
Menge, in feiner Beziehung befjer als ein anderer in ihr, und
dag, wenn wir und fchamlos und blind anderen voranftellen, wir
mt Recht Objecte der Rachſucht und des Fluches werden. Er
len Tehrt uns die thatjächliche Kleinheit unferer Perfon und
Sphäre erfennen und die natürlichen Verirrungen des Egoismus
Üönmen nur durch da8 Auge diefes unparteitichen Zuſchauers be-
fihtigt werden. Er zeigt uns die Schicklichkeit des Edelfinnes und
die Häßlichkeit der Ungerechtigkeit; die Schicklichkeit, die darin bes
. ſicht, den größten perſönlichen Intereſſen zu entſagen für die noch
größeren anderer, und die Häßlichkeit, die darin Liegt, dem anderen
das Heinfte Unrecht zu thun um den größten Erfolg für uns zu
. jewinnen.“
Hienach ergeben fid) für Smith die zwei großen Claſſen der
‚ahtungsmwerthen“ (awful, respectable) Tugenden, db. 5.
detjenigen, die den Egoismus in feine Grenzen bannen:
i Selbſtbeherrſchung, Mäßigung, Ausdauer n.f.w. (I, 28ff.)
und der „liebenswürdigen“ (amiable) Tugenden, welche
da ſympathiſchen Trieb energiſch realiſiren: Güte,
Vohlthätigkeit u. ſ. w. (I, 28ff.).
Indeſſen iſt mit dieſen Hauptelaſſen nicht das ganze pſfychiſche
Leben moraliſch gewerthet. Smith ſelbſt füllt die Lücken (wiewohl
i anderem Zuſammenhange) aus. Einmal muß es im Gebiet des
- tgoiftifchen Triebes auch eine berechtigte Bethätigung des—⸗
ſelben neben ber Beſchränkung geben: fie erzeugt die Tugend ber
me ur
„chicklicher“ Bethätigung der Triebe:
Klugheit“ (II, 36ff.). Sodann muß der fympathijche
Zrieb, ehe er den Nächſten direct fördert, ihn in feiner Sphäre
anerfenuen und vor Eingriffen und Schädigungen ſchützen:
das thut die „Gerechtigkeit“ (I, 127 ff.).
Somit haben wir folgende Tugendelaſſen oder Arten
19*
290 Braun
J. auf ſympathiſchem Gebiete:
1. fiebenswürdige Tugenden (Woplthätigkeit:c.),
2. Geredtigfeit;
D. auf egoiftifcdem Gebiete;
3. Klugheit,
4. ahtungswerthe Tugenden (Mäßigung:c.).
An fittlihem Werth jcheint, nad dem bisher Ausgeführten,
bie erfte Gruppe der zweiten unbedingt übergeordnet. Das bleibt
auch im Grunde die Meinung von Smith. Aber nun frappirt
er uns und verwirrt wohl fich felbjt durch einen neuen Gefichts⸗
punkt, der ihn dazu führt, unter Umftänden der egoiftifchen Klug:
beit, ja fogar dem maßlofen Egoismus ben höchften fittlichen Werth
zuzuschreiben.
Neben den Begriffen der Schidlichleit (Tugend) und Un
ſchicklichkeit ftellt er nämlich no ein zweites Paar auf, die Be
griffe „Wohlthat“ und Uebeltbat“ (jo wird merit und de-
merit wohl am angemefjenften überſetzt). Wie jenes erfte Paar
an die erjte Function des ſympathiſchen Zriebes, die Verſetzung
in die Lage (Motiv) des anderen ſich anknüpft, fo diefes zweite
direct an bie zweite Stufe, dad Streben, Glüd beim Nächften zu
"realifiren. Wir können uns auf diefer Stufe nicht mehr
mit der Beurtheilung der Handlungen nad ihren Motiven,
nach ihrer fympathifchen Tendenz zufrieden ftellen; mir wollen:
das Glück der Nebenmenfchen wirklich gefördert fehen und beur:
theilen daher auch die Handlungen anderer nad ihrer Wirkung
in diefer Beziehung: eine Handlung, die Glüd ftiftet, iſt
„Wohlthat“, eine Handlung, die fhadet, „Webelthat‘
(I, 104ff.). So erhält denn eine Beftrebung ihren höchften Werth
noch nicht durch's Motiv, fondern erft durch den Erfolg: die
„Liebenswürbige Tugend“ vollendet fi zur „Wohlthat“.
Zunädft ift nun dabei die Reinheit des Motives
vorauszufegen. Das Normale ift nah Smith, daß „Wohl
thaten“ aus philanthropifher Geſinnung heraus geübt werden.
Aber — und hier beginnt das Bedenkliche, ber einfeitige Cultud
des Erfolges bei Smith — es gibt Fälle, wo mir Aus⸗—
nahmen maden. Wir fchreiben oft einer Handlung dem
Adam Smiths religiöfe und fittliche Anfchauungen. 291
Gharalter der „Wohlthat“ zu, auh wo wir fie ihrem
Motiv nach nicht oder kaum ſchicklich finden, wenn nur ihre
Wirkung eine offenbar für die Mitmenfchen günftige ift. Umge⸗
lehrt erregt und eine an fi) gut gemeinte, rein motivirte Hand»
lung, die ungünftige Folgen für andere hat, Misfallen, fie kann
jelbft als „Uebelthat“ prädicirt werden.
Smith nennt diefe Beurtheilung nad) dem Erfolge felbft eine
‚Inregelmäßigteit“ (I, 175 ff.), die ihren pfychologifchen Grund
cen in den Wunſch, möglichft viel Glück realifirt zu fehen, findet.
Es wird num nicht recht klar, wie weit Smith die Fälle aus»
dehnt, in denen diefe „unregelmäßige“ Betrachtungsmweife eintritt.
Da ja nach früher gefagtem auch die exchuſivſt egoiftifchen
Handlungen von Gott zum Glüd der Menfhen umge:
bogen werben fünnen, fo ergibt fich jedenfalls die Möglichkeit,
daß Smith — obwohl er es nicht ausfpridt — auch ſolche
Handlungen um des Erfolges willen als „Wohlthat“ be-
trachtet. Die Moral, die fo rein idealiftifch damit begann,
eine Handlung nach ihren innerften Motiven zu prüfen, Hört fehr
empirifch-realiftifch damitauf, fih bei dem Erfolg, den doch
nicht der Handelnde felbft, fondern Gott gewollt und durchgeſetzt
hat, zu beruhigen. Aber fo unvermittelt, fo „unregelmäßig“ dieſer.
Grfolgmaßftab neben dem Motivmaßſtab bei Smith fteht, fo ge-
gefährliche Conſequenzen ſich daraus ziehen laſſen, fo gilt es doch
für ung zweierlei zu beachten. Einmal, biefer Beurtheilungs-
maßſtab ift nah Smith dem Menſchen als der energifchfte
Antrieb zu kräftigem philantbropifhem Handeln einges
plant. „ALS die Natur die Wurzeln biefer Unregelmägigkeit
der menſchlichen Bruft einpflanzte, ſcheint fie wie fonft ftets das
Glück und bie Vervollkommnung der Menjchheit geplant zu haben“
1, 175). „Der Meunſch ift gejhaffen zum Handeln und
um durch Ausübung feiner Fähigkeiten ſolche Veränderungen in feiner
und anderer Lage herbeizuführen, die für das Glück aller günftig
ind. Er darf fih nicht zufrieden geben mit ſchlaffem
Bohlmollen,: oder ſich einbilden, er fei ein Freund der Menſch⸗
beit, wenn er im Herzen ihr wohlwill. Er foll die ganze Kraft
jeiner Seele anwenden und jeden Nerv anfpannen, um bie Ziele
22 Braun
zu fördern, deren Verwirklichung der Zweck feiner Exiſtenz iſt“
(I, 177). Es ift aljo derfelbe praktiſch-philanthropiſche
Zug, der früher, wie wir fahen, Smith vor einfeitig fpeculativen
und theoretifchen Befhäftigungen warnen Meß, und der ihn nun
dazu führt, den Erfolg als Höchften Maßftab bes fittlichen Urtheils
zu proflamiren. Dieſer Maßftab kann freilich fittlich fehr ver:
wirrend wirken. Nicht nur der thätige Bhilanthrop, auch der
ichamlojefte Egoiſt kann mit ihm fein Handeln deden, und ba, wo
Gott aus dem Egoismus Früchte für's Geſamtwohl reifen ließ,
die Anerkennung einer „Wohltbat“ fordern. Dieſe Shlimme
Conſequenz hat Smith in feinem großen, faft naiven mora-
lifchen Optimismus nicht beachtet und darum nicht ge-
hörig abgewehrt, was durch eine genauere Beſtimmung der
Fälle, in denen jener „unregelmäßige" Maßſtab allein zuläßig ift,
hätte gefchehen können und follen. Nur ein Gedanke findet ſich
bei Smith, der als Abwehr gegen jene Conſequenz gelten fan
(obmohl er von ihm nicht fo verwendet wird), und das iſt dat
Zweite, was wir zur Erklärung oder Entfchuldigung feines „Wohl:
tbatbegriffes“ beachten müffen: es ift die Abrehnung der Emig:
feit; vor dem Tribunal Gottes wird doch wohl nicht ein:
feitig der Erfolg gewürdigt, fondern nur der Erfolg im Zu
jammenhang mit dem Motiv. Den Lohn eines „Mitarbeiters
Gottes“ empfängt doch nur der philanthropifch Geſiunte;
natürlich inum fo reiherem Maß, je kräftiger er feine Ge—
finnung realifirt bat. Der Egoift — wenn auch fein Wirken
von Gott umgebogen wird zum Glück der Mitmenfchen, wenn fo
feine Feindfeligkeit gegen die Brüder wider feinen Willen zur „Wohl:
that“ wird — fteht doch vor Bott als „Feind Gottes“ da. Somit
bleibt es in letter Inſtanz doch bei dem reinen Motivmaßftab.
Der andere gilt nur interimiftifch, dient als wichtiges Vehikel, zu
fräftigem Handeln anzufpornen, und fällt weg, wenn der Zwed der
allgemeinen Wohlfahrt erreicht ift.
5. Bliden wir num auf den Gang unferer Darftellung zurüd,
und beleuchten wir mit ihren Reſultaten die im erften Abſchnitt
gegen Smiths nationalökonomiſches Syftem erhobenen Bedenken.
}
}
Adam Smiths religiöfe und fittliche Anfchauungen. 298
8 gänzlich ungerechtfertigt hat fi) uns ber Vorwurf
des irreligiöfen Matertalismus oder Senfualismus gezeigt.
Bir fanden in Smith einen Denker, deffen Neligiofität, auch wenn
fe uns dem Inhalt nad etwas dürftig fcheinen mag, doch durch
Gruft und Begeifterung hervorragt. Wenn er die Kirche als
„Unterridtsanftalt für alle Altersclaffen“ betrachtet
md hochſchätzt, fo foll uns das als ein Wink an die Kirche und
ihre Diener gelten, jener Bunction auch heute wahrzunehmen und
ein wichtiges Stüd ihrer Pflichten in den focialen Kämpfen der
Gegenwart zu erfüllen durch religiöfe Belehrung, Befeitigung
von Misverftändniffen, Meberwindung des vermworrenen Atheismus
und Materialismus, der in fo viel Köpfen und Herzen Grund
und Stütze des Socialismus bildet.
BU es nun auffallend fcheinen, daß ein jo ideal und
religiös angelegter Geift wie Smith gerade die materielle
Sphäre, das Handels- und Gewerböleben, fich zum Hauptgegen-
ftand feiner Erwägung, ja zum eigentlichen Object feiner geiftigen
%hensarbeit gemacht bat, fo ift zunächſt daran zu erinnern, daß
jeine Religiofitüt durchaus feinen ascetiſchen oder einfeitig
transcenbenten Charakter trägt. Wenn er auch erft für's
Jenſeits die volle Verwirklichung des göttlichen Liebesplanes Hofft,
lo fieht er doch eine Anbahnung und relative Realifirung desfelben
ihon in diefer Welt. Er nimmt in diefen Liebesplan die mate⸗
tiefe wie die geiftige Wohlfahrt der Geſchöpfe, um kantiſch zu
reden, die Glückſeligkeit wie die Vollkommenheit auf, und betrachtet
mn alle Bactoren des Lebens: die Naturfräfte, ⸗-Geſetze und
Producte, bie geiftige Organifation des Menjchen, feine Leiſtungen
auf materiellem wie geiftigem Gebiete als Mittel zur Realifirung
der allgemeinen Wohlfahrt nad ihren verfchledenen Seiten. Die
materielle Wohlfahrt und die materielle Arbeit befonders in's Auge
zu faflen, ihre Naturs oder Entwictungsgefchichte zu fchreiben, das
legte fich Smith Hauptfächlich durch die Eindrücde und Erfahrungen
ſeiner Sontinentreife nahe; daß ihm trotzdem die geiftigen Güter
im Bordergrund feines Wohlfahrtbildes ftehen blieben,
darüber kann fein Zweifel fein, wie er denn perfünfich den Lodungen
des Reichtums unzugänglih, und bis zum Tode geiftiger Arbeit
294 Braun
ergeben blieb. Wie Smith freilih den Zufammenhang
ber geiftigen und materiellen Wohlfahrt, fowie das
Berhältnis der Arbeit auf beiden Gebieten dadte,
das hat er nicht erörtert, und dies bleibt eine empfindliche
Lücke. Beſonders bei feiner Theorie der Arbeitstheilung Haben
wir die geiftige Werthung und Geftaltung auch der phh-
ſiſchen Arbeit vermißt. Es wird für uns nöthig fein, Smith
hierin zu ergänzen und jenes Verhältnis ausdrücklich jo feftzu:
ftellen, daß die materiellen Güter nur die Bedingung und Unter:
lage für die Entfaltung und Bereicherung des geiftigen Lebens
bilden, und daß anderfeitS die materielle Arbeit felbft in einer
das geiftige Leben anregenden Weiſe geitbt werden kann und muß.
Das von Smith feftgehaltene Ziel der allgemeinen Wohlfahrt
hat uns gezeigt, wie fälſchlich der Vorwurf des atomiftifchen
Egoismus ihm gemadht wird. Wohl will er durch fein Princip
der wirthbfchaftlihen Freiheit dem Egoismus des Einzelnen
möglichft weiten Spielraum geben, aber wie wir fahen, eben damit
von fo von vielen einzelnen Punkten aus die allgemeine
Wohlfahrt gefördert werde. Freilih wird diefer Zweck
in Wirklichkeit nicht erreicht, fondern eher das Gegentheil, die Zer-
rättung der allgemeinen Wohlfahrt, der Krieg aller gegen alle.
Daß Smith dies nicht erfannte, Liegt an feinen optimiftiid
irertümlihen Vorausfegungen. Er hat einmal die Borand-
fegung, daß ja im Menfchen felbft ſchon der egoiftifche Trieb durd
den fympathifchen gehörig bejchränft und von excluſiver Bethätigung
zurüdgehalten werde. Wir können ihm das Nebeneinander beider
Triebe zugeben, müffen aber conftatiren, daß bei ben meijten
Menschen der egoiftiiche Trieb einfeitig dominirt, und darin finden
wir eben das Abnorme des jetigen piychifchen Beitandes, die
Grundfünde der Selbſtſucht. Smith beachtet diefen thatfächlichen
Zuftand, menigftens in der „Theorie“, zu wenig, er zeigt fid Hier
mit den englifchen und deutfchen Rationaliften auf demfelben Boden
des pfychologifhr-ethifhen Optimismus, der die Sünde
in ihrer furhtbaren Macht nicht fennt und einen natür
lichen, gutberzigen Menfchen fih erträumt.
Allerdings gibt num Smith ſchon in der „Theorie“ als Aus⸗
Ham Smithe religiöfe und fittliche Anſchauungen. 295
nahme da8 Vorkommen eines erclufiven Egoismus zu, und in der
„Unterfuhung“ ſcheint er ihm in weiterem Umfange, bei ganzen
Ständen, wo ihn die Erfahrung ihm indeffen gezeigt hatte, voraus⸗
wiegen; aber er meint — und das ift die. zweite optimiftifche
vorausſetzung —, auch der exclufiofte Egoismus werde durch Gottes
Leitung ftetS zum allgemeinen Wohl umgebogen, und zeigt damit,
dab er die Folgen der Selbftfuchtfünde, die furdhtbare
Ausdehnung bes Uebels in der Welt, ebenfalls nidt
fennt ober fie zu vertufhen ſucht. Wir mögen hier an-
erlennen, daß Smith dur feinen fiarfen Gottes» und Vor⸗
hungsgfauben über das factifche Uebel fich erhebt, aber diefer
Haube ift eben auch der optimiftifch-rationaliftifche, der die Sünde
nicht erfennt als das ftörende Element, das fich nicht nur in der
Menſchheit als Erzeuger des Uebels eingebürgert, ſondern fich, ale
Enpörung wider die göttliche Ordnung der Demut und Liebe,
wiſchen Menſch und Gott eingedrängt hat, fo dag nun Gott
in gerechtem Zorne die Sünde nicht fofort wieder paralyfirt,
jondern fie ihre Früchte reifen läßt und damit die Menfchheit
fraft, wenn auch zugleih in der Liebestendenz, die Menjchheit
durch Strafe zur Umkehr und alsdann zur Befreiung vom
Uebel zu führen. Das ift die religiöfe, die chriftliche Anſchau⸗
ung bom Uebel, bie der Erfahrung befjer entipricht als die
optimiftiich » Smith’f he. Daß freilich Gott feine zürnende Zu—
rückhaltung manigfah durchbricht, daß er oft durch rajche oder
almählihe Paralyfirung des Uebels, Wendung des Böſen zum
Guten, dem Menſchen die Fortdauer feiner Liebe bezeugt (und ihn
fo ermuntert, durch Ueberwindung der Sünde in Vollgenuß feiner
Liebe einzutreten), wollen wir nicht leugnen; aber wir werden darin
ftet8 nur eine Wohlthat Gottes fehen und nicht, wie Smith thut,
auch dem Menſchen, deſſen an fich egoiſtiſches Thun von Gott in
dieſer Weiſe verwendet ift, dankbar die Wohlthat als fein Product
vindiciren. Smith will freilich, wie wir fahen, mit diefem Wohl-
tgatebegriff nur feiner Freude über das wirklich realiſirte Gute
Ausdruck geben und zu Eräftigem Handeln anfpornen; fo kommt
auh bier feine Humane Tendenz herein. Aber in der That ver:
wifht erdurd feinen Wohlthat- Begriff alle ſittliche
2336 Braun
Beurtbeilung, hebt den von ihm felbft poftulirten
Gegenſatz des fympathifchen und egoiftifhen Handelns
auf und gibt jedem Egoiften die Erlaubnis, fi aud
noch, mit Berufung auf feinen Boften im Ganzen ber
göttlihen Weltordnung, als Wohlthäter der Menfchheit
zu proclamiren. An diefe Eonfequenz, wie fie fo oder ähnlid
von raffinirtem, heuchlerifchem Egoismus vielfach gezogen wird,
bat Smith eben wieder in feinem Optimismus nicht gedacht.
So coneentrirt ſich denn fchließlich unfer Eindruck dahin: Der
Fehler Tiegt bei Smith nicht im irreligiöfen Materialiemus oder
atomiftifchen Egotsmus, die ihm fälfchlich imputirt werden, fondern
in feinem moralifden und wirtbfchaftlihden Optimig-
mud. Er kennt nicht die Sünbe, das radicale Böſe
im Menschen, und nicht das radicale Hebel inder Welt.
Es fehlt ihm das, was bei Kant eminent praftifchen Wahrheits-
gehalt bildet, daher die Irrtümer und gefährlichen Eonfequenzen
feines Syſtems; darum konnten fi) unter der Fahne feines Syftems
Beftrebungen gruppiren, die er, fo wenig er fie gutheißen würde,
doch auch nicht widerlegen und bekämpfen könnte.
Gegen das Hebel in der Welt und zur annähernden Reali⸗
firung allgemeiner Wohlfahrt gibt es — das ift und bleibt da®
große Vademecum hHriftliher Weltanfhauung — kan
anderes Mittel, als die Belämpfung der Selbftfu htfünde,
die deren Erfenntnis vorausjegt. Die Sünde gilt e& zu be
fümpfen in den Herzen, durch religiöfe Untermweifung und geiftige
Anregung, die ja im Bunde mit jener das Herz auch meit und
groß und jelbftlos macht; durch Erziehung in Haus, Schule und
Kirche. Die Sünde gilt es aber auch zu befämpfen in ihren
Aeußerungen und Folgen. Es kann, wofern dem Staate
noch fittliche Pflichten vindicirt werden, gar fein Zweifel fein,
daß er das Necht und bie Aufgabe hat, den fündfichen Egoismus
der Einzelnen zu Gunſten der andern und zu ihrem eigenen fill:
lichen Heil niederzubalten, und es müßte dies zunächſt geſchehen
dur Gefege, die die abfolute wirthfchaftliche Freiheit
befhränten und damit deren Misbrauch unmöglich
machen. So lange aber und foweit der Staat dieſe Pflicht eben
N
Adam Smiths religiöſe und fittliche Anfchauungen. 297
mt erfillt, gilt es, in freier Weile, durch Genofjenfhafts-
md Bereinsthätigkeit dem Egoismus entgegenzutreten und das
vorhandene Elend möglichft zu reduciren 1). Da wir freilich mit
aller Anftrengung die Sünde und ihre Folgen nur zu bejchränfen,
nicht aufzuheben vermögen, fo müfjen wir auch einen ungelösten
Reit von Uebel im der Welt ums ſtets gefallen Laffen, und bier
mit Smith auf die Verwirklichung des göttlichen Liebesplanes im
Jenjeits hoffen. Mag der atheiftiiche Socialismus diefen Hinweis
als werthlofen , nie einlösbaren Wechfel verfpotten, derjelbe wird
doch ftetö feine tröftende und beruhigende Kraft gegenüber der Armut
and den Unglüd da bewähren, wo er mit kräftigen, praktiſchem
Birken, mit der Belämpfung des Egoismus und mit der felbft-
verleugnenden Liebeshingabe als ihr idealer Abfchluß ſich verbindet.
Die vorliegende Arbeit war ſchon geraume Zeit vollendet und an bie
Redaction diefer Zeitfchrift übergeben, als das neu erfhienene Wert von
2. Onden mir zu Gefiht kam: „Adam Smith und Immanuel Kant, der
Einllang und das MWechfelverhältnis ihrer Lehren über Sitte, Staat und
Wirthſchaft, Leipzig 1877, 1. Abtheilung: Ethik uud Politik.“ Dieſes Buch
ft anziehend, in reihem, bie und da faft pompöfem Stile gejchrieben, und
enthält über Smith viele werthvolle Gefichtspuntte. Böllig einverftanden
bin ih mit Onden, wie bie vorliegende Arbeit zeigt, in der Verteidigung
Smiths gegen ben Borwurf des materialiftifhen Egoismus, in dem Nad-
drad, ber auf den Zuſammenhang der „Unterfuhung” mit ber „Theorie“
gelegt wird, in ber Conftatirung von Smiths fittlich-religiöfer Grundanſchau⸗
ung. Aber in feiner Barallelifirtung ſcheint mir Onden weit über's Ziel
hinanszuſchießen. Wohl ift in den religiöſen Anfichten beider Denker die
Aehnlichkeit nicht zu verlennen; und im ethifhen Gebiet gibt e8, worauf auch
ih oben hinwies, einen Punkt, wo die Parallele frappant und die Frage,
ob Kant durch Smith angeregt worden, unabweislich wirb: es ift Die Au-
torität des Gewiſſens. Mit dem, was Onden darüber jagt S. I1ff.,
bin ich einverftanden. Aber viel zu weit geht er nun, wenn er bei Smith
gerade wie Kant die Sittlichteit ausfchließlih aufs Gewiſſen zurüdführen
will, ohne Mitwirkung der Triebe, ja im Kampfe mit diefen. Die ganze Ein-
tbeilung des Oncken'ſchen Buches beruht auf diefem Misverftänbnig. Gr will
I) Einen großartigen Beweis für das, mas durch Vereinsthätigkeit geleiftet
werden kann, gibt die von Profeffor von Miaskometi verfaßte Feſt⸗
ſchrift zum 100 jährigen Beftehen der Basler Gefellfchaft zur Beför⸗
derung des Guten und Gemeinmütigen, 1877.
298 Braun
nämlich die Parallele in 3 Gebieten durchführen, in der Ethil, Delonomil
und Politik. Gegenitand der Ethik (bei Smith aus ber „Theorie“ zu fhöpfen)
let bei beiden Denkern das Reich des Gewiſſens mit dem transcendenten
Biele der Volllommenbeit ; Gegenitanb der Delonomil (die Smith in ber
„Unterfuhung” behandelt) da8 Reich der Triebe mit dem ſinnlichen Glüd-
feligfeitögiel; Gegenftanb ber Politik (bei Smith im 5. Buch der „Unter
ſuchung“ erörtert) dag Mittelgebiet zwiſchen jenen beiben, das Staats⸗ und
Rechtsleben mit bem Ziele ber Sicherheit.
Die Berechtigung diefer Eintheilung muß ich entfhieden beftreiten. Der
Gegenfag des Glückſeligkeits- und Volllommenheitsibeals ift bei Smith gar
nicht vorhanden. Sein Wohlfahrtsziel ſchließt, worauf ich öfters hinwies,
das ideale und materielle Element ungejchieden in fh, ohne daß, was id)
als Lüde rügte, das Verhältnis beider näher erörtert wurde. Ebenſo un-
richtig wie dieſer aus Kant in Smith hineingetragene Gegenfag iſt ber andere,
den Onden auf dem fubjectiven Gebiete bei Smith finden will, zwiſchen Ge-
willen und Trieben. Das Gemwillen ift freilich bei Smith etwas Selbftän-
diges, aber e3 fteht den Trieben nicht feindlich gegenüber, zu einem berfelben,
dem ſympathiſchen, fteht es in einem natürliden Berwandichaftäverhältnis.
Das Gewiffen ift ja — damit glaube ich gerade den von Onden vermißten
Inhalt des Gewiſſens bei Smith aufgezeigt zu haben — das teleologiſche
Bewußtſein, die Erkenntnis der Stellung uud ber theils egoiſtiſchen, theils
und bauptjählih philanthropiſchen Verpflichtung des Menſchen im Ganzen
ber göttlihen Weltorbnung. So dient e3 beiden Trieben ald freundlicher
Gontroleur und Dirigent, den egoiftifchen beſchraͤnkend, ben ſympathiſchen
ermunternd und fteigernd, aud ihm Object und Maß anmweilend, beide
Triebe in's correcte Verhältnis ftellend. Ganz chief it e8 daher, wenn
Onden ©. 74ff. 99ff. die Znitiative zu den tugendbhaften Handlungen
bei Smith ftet3 vom Gewiſſen abgeleitet findet. In einem eigenen Abſchnitt
der „Theorie“ (I, 286ff.) leugnet Smith dies ausprüdlic für Die Acte des
„liebenswürdigen" Tugendgebietes, die vielmehr in den meilten Fällen un
mittelbar dem ſympathiſchen Triebe entgtiellen und vom Gewiſſen nur Beifall,
ſowie Bezeihnung bes Maßes und Objectes empfangen. Für ſich, ohne
diefe Unterftügung durch's Gewiſſen, wäre allerdings ber ſympathiſche
Trieb nicht ftark genug, den egoiftiihen zu überwinden. Nur das jagt ja
das von Onden S. 74 gegebene Citat aus. Den erften, wenn aud) nidt
genügenden Impuls zum fittlihen Handeln gibt der ſympathiſche Trieb.
Gerade das leugnet freilih Onden S. 74 ff. 99 ff. 102. Er läßt ihn
bloß als „pafliven Zuſtand“, ala „Leitdraht”, ala „Organ, welches die Em:
pfindungen weiter vermittelt” gelten. Dagegen kann ich auf bie Ausführungen
in meiner Arbeit verweifen. Onden findet eben für den ſympathiſchen Trieb
feine rechte Stelle übrig, da, wie er meint, die tugendbaften, d. h. weientlih
ſympathiſchen Handlungen rein vom Gewiſſen ausgehen, und ba3 andere
Gebiet, in dem die Triebe wirken follen, das ber finnlichen Glüdfeligfeit, doch
Adam Smiths religiöfe umd fittliche Anſchauungen. 299
meientfih vom egoiftiichen Triebe beherrſcht erjcheint. Freilich verlennt er
aud den egoiſtiſchen Trieb, wenn er ihn S. 99 für bloß auf bie „finnliche
Güterwelt” gerichtet hält. Iſt Doch, wie ich gezeigt babe, der Egoismus bei
Emith in erfter Linie Autoritätstrieb, und richtet er ſich als folder auf das
tein geiftige Gut der Ehre und Anerlennung. — Uebrigens ift auch das
Verhältnis des egoiftiichen Triebes (in feiner idealen wie materiellen Ten⸗
denz) zum Gewiſſen keineswegs das einer feindlihen Spannung, ſondern
da, wo der Trieb fi) normalerweile vom Gewiſſen beſchränken und dirigiren
laßt und fo eine eigene QTugenbgattung erzeugt, ein ganz freundliches. Onden
ml ©. 87. 88 die Kantiihe Spannung zwiſchen Gewiſſen und Trieben
durch ein Citat nachweiſen, dasjelbe jagt aber davon nichts; es ift in ihm
nit von Befiegung der Triebe durch's Gewiſſen, ſondern von Zurück⸗
drängung ber jelbfifüchtigen Hinter die wohlwollenden Regungen die Rede.
dieſe correcte Berhältnisftellung beider Triebe herbeizuführen ijt allerdings
die Function des Gewiſſens, es erzeugt durch fie im Menden innere Har-
monie, Befriedigung, während die Action des Gewifleng bei Kant doch ſtets
einen für's Triebleben peinlihen Zwang involoirt.
Bon Kant'ſchem Dualismus ift aljo bei Smith feine Rebe. In der
fteundſchaftlichen Zufammenorbnung von Gewifien und Trieben, die Smith
ala das Normale voraußjegt, ift er völliger Moniſt; freilich liegt eben darin
die oben von mir aufgezeigte optimiftijch - pelagianifche Schwäche. (Eher als
mit Kant möchten ſich Berührungspuntte mit einem anderen, fpäteren beutjchen
Denker, Herbart, aufzeigen laſſen.)
Soviel über das Principielle bei Onden. Nun noch wenige Einzelbe-
merlungen. Die religidös- metaphyſiſchen und moraliiden Anfichten Smiths
find, von jenem verhängnisvollen Misverſtand abgefehen, richtig, doch faft
zu kurz und allgemein dargeftellt. Aus ber „Politit” hebe ich die Darftel-
lung der kirchlichen Grundfäge Smiths hervor. Hier läßt Onden zwar die
antiklerifale Bolemit Smiths zu Worte kommen (S. 186.187), verfäumt es
aber, die Hohe Wertbihägung auch nur anzudeuten, die Smith dem geiftlichen
Beruf als religiöfem Lehr- und Erziehungäberuf fpendet und die fich beſonders in
feinen panegyriſchen Aeußerungen über ben presbyterianiſchen Klerus kundgibt.
Wenn Onden ©. 108 jagt: „— weil eine deutſche Ueberjegung ber
Theory nicht vorliegt”, jo ift fie wohl ihm nicht vorgelegen; es gibt aber
eine ſolche (Braunſchweig 1773), die freilich ungenügend ift, ſchon weil fie
der legten, jo vielfach bereicherten engliihen Ausgabe voranging.
Im 2. Bande gedenlt Onden bie Oekonomik zu behandeln, in der freilich
bei Kant wenig zu holen fein wird. Vom vorliegenden 1. Band (ber neben
der Ethik Die Politik enthält) ift noch zu bemerken, daß er neben feinem Haupt-
inbalte, der Vergleichung beider Tenker, viele intereflante, auch für ben Theo-
Iogen inftructive gejchichtliche Berfpectiven allgemeinerer Art gibt. Dahin rechne
ih 5.8. das S. 175 ff. Über die wirthichaftliche Bebeutung der mittelalter-
lien Kirche Gejagte.
—
— — r—
Gedanken und Bemerkungen.
3
| 1.
| Ein Diandat Jeſu Chrifi von Nikolaus Herman,
in vierzehn Ausgaben.
| (1524—1613.)
| Bon
Dr. Doedes,
Profefior der Theologie in Utrecht.
Am 3. Mai 1561 entjchlief in feligem Frieden ein Mann,
deſſen Andenken und ſtets Lieb und theuer fein wird, der fromme
Ritolaus Herman, der Kantor von Joachimsthal, der Freund des
altbefannten Rectors Johannes Mathefius. Wer hat nicht dann
md wann eins feiner geiftlichen Lieder gefungen, nicht oft fie ges
leſen? Wenn auch vielleicht weniger allgemein befannt, jo find
doch auch feine „Sonntags⸗Evangelia“ nicht vergeffen. Nikolaus
Herman und Johannes Matheftus, der Cantor wie der Rector
von Joachimsthal, find und bfeiben uns fo liebliche Geftalten
aus der Reformationgzeit, dag wir fie niemals der Vergefjenhei
anheimfallen Lafjen können.
Will man etwas genaueres über Nikolaus Hermans Leben er-
fahren, fo müſſen wir befennen, daß davon nur wenig auf uns
gelommen if. Dem Urtheil von Lebderhofe: „Daß des Tieben
Cantors Leben wie ein ftilfes, fegensreiches Büchlein dahinfließt,
ohne daß man fein Rauſchen vernimmt, thut manchem leid; man
möchte gerne mehr von ihm willen“, ftimmen wir von ganzem
Theol. Stud. Jahrg. 1878. 20
504 Doedes
Herzen bei !). Aber auch die Frage iſt erlaubt: Wiſſen wir denn
alles, was man von ihm wiſſen kann, oder haben wir vielleicht
bis jeßt bei der Beſchreibung feines Lebens oder feiner Werke
etwas außeracht gelafjen ?
Schwerlich könnten wir diefe Frage verneinend beantworten.
Allerdings muß es uns befremden, daß Nikolaus Hermans Bio:
graphen einen Auffag von feiner Hand gar nicht erwähnen, deifen
Titel feit längerer Zeit in den Annalen der Bibliographie und in
den antiquarifchen Katalogen feine Stelle gefunden hat). „Man
möchte gerne mehr von ihm willen”? Nun, es gibt noch einigee
von ihm zu erzählen. Iſt nur wenig von ihm bekannt, fo ift es
doppelte Pflicht, von diefem Wenigem nichts zu ignoriven. Den
Bibliographen ift „Ein Mandat Jeſu Chriſti“ von Nilolaus
Herman fein unbelannter Titel. So kann denn auch hier einmal
die Bibliographie der Biographie zur Seite gehen und ihr Hülfe
leiften.. Um fo weniger aber dürfen Tünftig die Biographen es
fih erlauben, von diefem Auffage zu fchweigen, als ſchon zwei
deutſche Gelehrte in ihren bibliographiichen oder Titerar-hiftorifchen
Werken diefes Mandat Jeſu Chriſti da anführen, wo vom Dichter
Nikolaus Herman die Rede ift, wir meinen Karl Goedele und
Emil Weller °).
„Ein Mandat Jeſu Ehrifti“ von Nikolaus Herman ift ein
Auffag, der, wenn auch feine weltgefchichtliche, doch immerhin eine
Rolle in Deutichland gefpielt hat, und das will fchon etwas fagen.
Ebenfo hat das Schriftchen eine eigene Gefchichte, deſſen fich doch
1) 8. 5. Ledderhoſe, Nikolaus Hermans und Johannes Mathefins geif-
liche Lieder, mit einer Einleitung (Halle 1855), ©. xxv. Vgl. and
E. Pfeifer, Nikolaus Herman. (Berlin 1857), und den Artikel von
3. Bagenmann m Hergogs Real-Enchclopädie V, S. 770.
3) Den Titel findet man in Banzers Anmalen, in Gräffe’e Trösor de
livres rares, in Emil Wellers Repert. typogr. (1864), in
A. Kuczynsti’s Thesaurus libellorum hist. reform. illustrantium
(1870), u. |. w.
3) Bgl. 8. Goedeke, Grundriß zur Geſchichte der deutichen Dichtung, Bdu J
(2. Ausg. 1862), ©. 165. Emil Weller, Annalen der poetiſchen
Nationalliteratur der Deutſchen im 16. u. 17. Jahrhundert, Bd. II (1864),
©. 329.
Ein Mandat Jeſu Ehrifi von Rikolans Herman. 506
auch nicht alle Aufſätze rühmen können. Daß es wirklich eine
eigene Gefchichte Kat, wird uns Har werben durch eine Veberficht
der verfchiedenen Ausgaben, deren es fich erfreut bat. Nachdem
das Mandat im Jahre 1524 zum erften Mal herausgegeben war,
erihien e8 in demfelben Jahre noch fiebenmal, darauf einmal in
1525, zweimal in 1546, einmal in 1547, einmal in 1556 und nod)
einmal in 1613. Alſo find uns bis jegt vierzehn Ausgaben
bekannt 2). Vielleicht Laffen ſich noch mehrere nachweifen.
Vie Schon ber Titel andeutet, ift es ein Ausfchreiben, vom
Berfaffer auf unferes Herrn Jeſu Namen geftellt; ein Außfchreiben
aa die Ehrijten. Wie in einem Vorwort wird der Inhalt kurz
alſo zufammengefaßt ?): „Argument. Inn dieſer Epiftel odder
Mandat wird kurtzlich angezeygt, aus was Urſache das chriſtlich
vold fo yemerlich gehrret, den Glawben verloren hab, und wie es
widderumb darzu fommen müge. Daneben wird auch eyn chrift«
licher Krieg widder den Teuffel und feyn Hoffgefinde mit chrift
lichen Waffen auffs furkfte abgemalet und geleret, allen ſchwachen
Gewiſſen tröftlih und Tieblich zu Iefen.” Das Mandat felbft
fängt aljo an: „Ich Jeſus Chriftus, der Tebendig Sohn Got-
teö, geporn ans dem fönigliden Stame David, eyn König ber
Ehren, eyn Heyland der gangen Welt, eyn Verſöhner des Zorns
Gottes, eyn Mitler zwifchen Gotte und dem Menſchen, eyn
Sündentrager und wares Lamp Gottes, fo hynweg nympt bie
Sünde der Welt, empiet allen meynen Lieben getrewen Chriften und
Brüdern meyn Gnad, Fride und Barmhersicdent, Amen.“ Dann
mahnt der Herr feine „Lieben Getreuen“ daran, wie er vor 1524
Jahren in die Welt gekommen, damit Er fie von allem Elend
—
I) E. Weller kannte in 1864 acht Ausgaben. Die von Kuczyuͤski be
jhriebene Sammlung enthielt Exemplare von jieben Ausgaben, unter
denen drei, die Weller (Repert. typogr.) ebenfallg nennt. Bon neun
der vierzehn mir befannten Ausgaben ift ein Exemplar in meiner Samm-
Inng; von drei andern fah ich ein Exemplar. Bon der erſten Ausgabe
NM mir nur ein Eremplar befammt, in Deutichland gar nicht bekannt, in
Leiden aufbewahrt.
2) Ich behalte die Orthographie der erften Ausgabe bei; die ber fpäteren
Ansgaben ift hie und da von ber früheren verſchieden.
14*
806 Doedes
erlöſete; wie Er fie „zu eynem erblichen Volck erfaufft“ babe;
wie fie fich gegen Ihm „mit Eydes Gelübde ynn der Taufe ver-
pflicht“ und Ihm „als ihren Erbherren gehuldet und geſchworen“
haben. Aber Er ift „von ihrer Abfallung und Nachleffiglent
jeyner Gepot zupilmalen underridht“. „Es ift audh für mid
fommen, wie durch ewer Unachtſamkeyt und Nachlafjung meyner
Gepot die ſterckfte Vehſt, jo ich zu Verwarung des ganten Lande
mit großer Arbeit erbawet, euch trewlich zu verwaren und ynne
zu balden befohlen Hat, von dem Zeuffel durch feyn Heer des
geuftlojen Hauffens eyugenommen und bemweldiget ſey, nemlich der
Glaub an meyn Wort, das heylig Euangelion, mit welcher Vehſt
ih da8 gan Land der chriftlichen Kirchen verwaret, ficher und
unüberwindfich vor den Feynden gemacht hat.“ Seinerfeits habe
Er fie warnen lafjen; es ihnen aud möglich gemacht, dem Feinde
zu widerftehen und „diefe Burg und edles Schloß“ gegen den
Feind zu verteidigen. Er babe ihnen ihren Feind Mar und deut:
lich befchreiben lafjen, unter andern durch „feinen getremen Kantzler
Mattheus“, und durch fein „auserwelts Bas Paulus... *. Es
jei aber alles umfonft gewefen, und da habe Er fich zurückgezogen.
„Da ergrymmet ich und feret meyn Augen von euch. Aber“, jo
fährt der Herr fort, „Ich wil meyn Angefiht und Barmhertzig⸗
feyt nicht von dyr wenden . . Neygt alleyn ewer Oren und kompt
zu myr.“ Es kommt alle® an auf „das eyngenommene Schlos,
den Glauben an mic und mein Wort, . . denn es ift bes ganten
riftlichen Königreychs Verluft und Gewyn an dem eynigen Schlos
gelegen“ . . „Derbalben ſamlet euch, meyn allerliebften Getrewen,
und eylet zu dem Tenlein, laufft nach dem Klang und Gedön ber
Heerbauden, welche meyn Diener igund und Propheten bey fünff
Haren!) lang Haben auffgejchlagen.” Darauf werden jehr aus
führlih die Waffen befchrieben, mit denen fie kämpfen follen
1) „Bei fünf Iaren lang ...“ jo heißt es in 1624. Der terminus 8
quo ift alſo entweder etwas jpäter als 1517 angegeben, ober der Ber-
faffer Hat feinen Aufjag vor 1524 gefchrieben. Im einigen fpäteren
Ausgaben ift die Zahl fünf, in Uebereinflimmung mit dem fpäteren Drud
des Mandates, umgeändert.
Ein Mandat Jeſu Chriſti von Nikolaus Herman. 307
(„weldhe meyn getrewer Hauptman Paulus angezeygt und beichrieben
bat, zu ben Ephefern am 6.*), und verheißt ihnen der Herr bie
Erlöfung von allen ihren Feinden, „Verfurern und faljchen Härten,
dem genftlichen Geſchworme, Bapft, Bifchoffen, Cardinelen, Eur-
tfanen, Grtprieftern, Dechant, Officinlen, Notarien, Mond und
Bioffen*. ... Schließlich Heißt e8: „Geben zu der Rechten meynes
hymliſchen Vaters, nach meiner Geburt ym 1524 Jahr !). Iheſus
Chriftus der Tebendige Sohn Gottis und Heyland der gangen
Belt.“
Diefes Mandat ift alfo ein Aufruf zum Kampf, zum Kampf
wider Rom, als den Feind des Glaubens an Jeſum Ehriftum;
eme Ermunterung zur Rückkehr zum Glauben an den Herrn
Feſum Chriftum und fomit zur Unterwerfung an ben ewigen
König des Gottesreiches, welchem die Chriften fi in der Taufe
feterlichft zum treulichen Gehorfam verpflichtet Hatten.
Gleich anfangs hat diefes Mandat großen Beifall gefunden und
Ipäter wurrbe e8 oft angewendet, um neues Leben unter den Gläubigen
zu erwecken. Einer Bofaune gleich hat e& die Ehriften mehrmals
zum heiligen Kampf für den Glauben des Evangeliums aufgefordert.
Bill man feine Gefchichte kennen lernen, jo hat man die vierzehn
Ausgaben zu überblicken, welche uns bis jetzt befannt geworben
md). Wir laſſen bier die Titel der einzelnen Ausgaben folgen,
damit fich die Geſchichte dieſes zwar Fleinen, aber keineswegs un-
bedeutenden, und bisher felbft in Deutfchland nicht genug gewür⸗
digten Monumentes aus der Neformationgzeit vor unferen Augen
entfalte.
1. Eyn Man: | dat hen | Ehrifti an | alle ſeyne getrewen
Chriften. | 1524. | O. O. 8%. 12 Bl. (Letzte Seite leer.) Mit
I) So mie im Anfang des Mandates ift auch Hier in den fpäteren Aus-
gaben die Jahreszahl 1524 nad) der Zahl des Jahres geändert, in welchem
e8 herausgelommen if.
3) Die verjchiedenen Ausgaben gleichen einander nicht in jeber Hinficht.
Der Titel ift in ben früheren fehr kurz, in dem fpäteren fehr ausführlich.
Die am Rande verzeichneten Stellen aus ber heiligen Schrift, beren es
in der erfien Ausgabe nur wenige gibt, find fpäter vermehrt worden.
Die Ortbographie, wie auch die Mundart, variirt.
308 Doedes
breiter Titelbordüre. (Die Jahreszahl 1524 auch auf dem Säulen-
fuß links in der Zitelbordüre.)
In Leiden, Bibliothef der „ Maatsſchappy van Nederlandſche
Letterkunde“. Vgl. Catal. II, S. 334.
2. Ein Mädat Iheſu Chriſti an alle ſeyne getrewẽ Chriſten.
Im 1.5.2.4. Jar. O. O. 40. 12 Blätter (letztes leer). Mit Titel⸗
einfaſſung.
Bei Weller, 2913.
3. Eyn Mandat Ihe⸗ſu Chriſti, an alle fegne | getrewen
Chriften. | Im 1.5.2.4. Yar. | DO. ©. 4%. 10 Blätter (legtes
leer). Mit breiter Titelbordüre, worin die Buchſtaben M. L.
und das Wappen Luthers, von 2 Engeln gehalten.
Kuczynski, 1010. (Stimmt nit mit Weller, 2914.) Auch in
meiner Sammlung.
4. Ein Mandat Ihe⸗ſu Ehriftt: an alle feine getrewen |
Chrifte. In welchem er vffgebewt | allen fo im in der tauff ge:
boldet vnd ge= | fchworn haben, das fy, das verlorne | Schloß
(Den glaubt an fein wort) | DE teuffel widerumb abgewinne | follen.
Gezogen auſſ Heiliger | jchrifft von Nicolao | Herman. | Am Ende:
Straßburg, Joh. Schwan. (1524.) 4%. 8 Blätter (letzte Seite
leer).
Weller, 2909. Kuczyuski, 1008. Auch in meiner Samm-
lung.
5. Ein Mandat Ye | ſu Chrifti, an alle feine getrewen Chri- |
ften, In welchem er auffgebewt al» | len... . | fchrifft, vo Ni⸗
colao Her: | man. | DO. O. (1524). 4%. 8 Blätter (letztes leer).
Mit Titeleinfaffung.
Dei Weller, 2912. "
6. EIn Mandat Hhefu | Ehrifti, an alle ſeyne getremen
Gris | ften. In welche er auffgebewt allen... .. | gen aus Hey:
liger Schrifftl. Von Nie | colao Herman. Anno ꝛc. XXiij. |
D. D. 4%. 8 Blätter (letzte Seite leer). Mit Titelholzſchuitt.
Weller, 2911. Auch in Amfterdam (Bibl. des Evang. Luth.
Semin.).
Ein Mandat Jeſu Chriſti von Nilolaıs Herman. 309
7. EIn mandat Jeſu Ehrifti, an | alle feine getrewenn Chriftenn,
Yun | welchem er auffgebewt allen jo imin |... . . | jchrift, von
Nicolao Herman. | DO. O. (1524). 4%. 8 Blätter (fettes leer).
Mit Ziteleinfaffung, worin Ehriftus als Lamm mit der Yahne;
Agnus.. Dei. Tollens . Peccata . Mundi . Hunc . Audite., als
Umſchrift.
Weller, 2910. Kuczyüski, 1009. Auch in meiner Sammlung.
8. Ain Mandat Iheſu Chirfti, an alle feyne | getrewen Ehriften,
In welchem er auff | gebewt . .. . | der Hayligen gefchrifft, Vo |
Nicolao Herman. MDXXIII. | DO. O. 4°. 8 Blätter (Tette Leer).
Mit ſchmaler Randleifte und dem Lamm Gottes als Titelholzfchnitt;
Amus.Dei. Qui. Tollis. Peccata . Mundi., als Umſchrift.
Banzer II, 2349. Kuczyuski, 1006. (Stimmt nit mit
Gräffe III, S. 249.) Aud in meiner Sammlung.
9. Eyn Mandat Jeſu Ehri | fti, an alle ſeyne getrelwen
Chriſten, Fa | welchem er vffgebeüt allen jo jm in der |.
d heyligen gejchrifft, V5 Ni | colao Herman. | D. ©. (1 525) ,
8 Blätter (leiste Seite leer). Mit Titeleinfaffung, worin Chriſtus
als Lamm mit der Sahne; Agnus Dei | Qui Tollis | Peccata |
Mundi, | als Umſchrift.
W. von Maltzahn, Deutſcher Bücherſchatz, 1. Abth., ©. 36,
Ar. 227. Auch im Befig des Herrn Prof. Dr. A. Wolters in
Halle.
10. Ein new Mandat Yes | fu Ehriftt, an alle feine getreue
Chri | ften in welchem er auffgebeut, alien]... ... | Gezogen
auff heyliger ſchrifft. DO. O. (1546). 4%. 8 Blätter (letztes Leer).
Mit Titelholzfchnitt, ein anderer auf der Rückſeite des Titels.
Kuczyüski, 1011. In meiner Sammlung.
11. Agn neüw Mandat | Yeju Ehrifti, an alle jeine getreliwe |
Ehriften, in welchem er auffgebeüt allen, fo im|..... | follend,
Örzogen anfj der hayligen Schrifft, | und bey difen Kriegfsleiiffen,
ms | ih und troftlich zulefen. | Weitter | Win geſprech deſſ
Zeitihen Landes, |... . . | tag gegeben. |M.D.XLVI. | Am
Ende; Augspurg, Bal. Othmar. 4%. 16 Blätter (fettes leer). Mit
zwei Holzfchnitten.
310 Doedes
Panzer II, 2349. Kuczynski, 1007. W. v. Maltzahn, Nr. 228.
Auch in meiner Sammlung.
12. Ein new Mandat Yes | fu Chrifti, an alle feine getrewe
Chrift- | en, in welchem er vffgebeüt, allen fo ym in der | ....|
zogen vſſ heyliger fchrifft. | (1547). Am Ende: Straffzburg, Hans
Grymmen. (Die Worheyt bleibt ewig befton, | So die lügen
müſſen vndergon.) 4%. 8 Blätter (legte Seite Teer). Mit Titelholz⸗
Schnitt, ein anderer auf der Rückſeite des Titels.
Kuczyüski, 1012. In meiner Sammlung.
13. Ein new Mandat Ihe⸗ſu Ehrifti, an alle feine gtreie |
Chriften, in welchem er auffgebeut, allen fo im|. . . . | follen,
Gegeben inn diefem 56. Jar, | Am Newen Yard Xage. | Am
Ende: Schleufingen, Herman Hamfing. (1556.) 4°. 12 Blätter
(letzte Seite leer). Mit Titelholzfchnitt, ein zweiter auf der Rüd-
feite des Titels, ein dritter auf der lebten Seite.
In meiner Sammlung.
14. Ein Mandat | Yelu Ehrifti, an]|..... | abgewinnen
follen, | Gezogen aus Heiliger Schrifft, | Von | Nicolao Herman,
Anno M. D. XXI. | Allen ond jeden der recht Coangelifchen,
Luthe= | rifchen Lehre, Liebhabenden . . . . | Aus dem Originali,
mit vorgefaßter Braefation, | jego bona fide, wider an tag gegeben |
Durh | M. Casparum Pamlern, Pfarrern auffm Schnee- | berge
.... | Gedrudt zu Freybergk in Meiſſen, bey Georg Hoffmann,
1613. 4°, 16 Blätter (letztes leer).
In meiner Sammlung aus dem Antiquarifchen Bücherlager
von Kirchhoff und Wigand in Leipzig, Katalog Febr. 1877, ©. 28,
Nr. 889.
Die Gefchichte diefes Mandates läßt ſich nach diefen Notizen
ohne Schwierigkeit befchreiben. Der Zmed des Schriftftellers ift
uns befannt. Er gab es (Nr. 1) 1524 (in 89) Heraus, ohne
feinen Namen auf dem Zitel zu nennen, wahrſcheinlich damit nidt
etwa der Eindrud, den das Schreiben zu machen beftimmt war,
geſchwächt oder gar verwifcht würde. Sehr bald glaubte man eine
Schrift Luthers vor fi zu Haben, und wurde das Mandat aud)
Ein Mandat Jeſn Chriſti von Nikolaus Herman. 311
wirflih (Nr. 3) mit den Buchftaben M. L. auf dem Titel nad)
görudt. Dies machte eine Hinwelfung auf den Autor durchaus
nothwendig, und fo erfchten das Mandat mit dem Namen des
Derfaffers, welcher überdies auch noch mit wenigen Worten auf
dem Titel anzeigen ließ, was man vom Briefe zu erwarten habe
md dog fein Inhalt der Heiligen Schrift entnommen fei. Alſo
mit dem Namen des Nikolaus Herman verfehen, erjchien das
Mandat noch fünfmal in 1524 (Nr. 4—8). Es wurde alfo
viel gelefen. Im Jahre 1525 kam es noch einmal heraus (Nr. 9),
wobei jedoch die Zeitangabe „be fünff jaren lang“ unverändert
beibehalten wurde. Bald gerieth es aber ganz in den Hintergrund,
bis man in 1546 ſich fagte, man könnte doch noch wohl etwas Gutes
damit wirken. Auf's neue wurde es herausgegeben und erfchien
8 (Nr. 10) al8 „Ein neues Mandat Jeſu Chriſti“. Die
Zahl fünf („bey fünff Jaren lang“) ift verändert in 29, weil
von 1517 bis 1546 neunundzwanzig Jahre verfloffen waren.
Ter Name des Verfaſſers wird .nicht genannt, obgleich) man, wie
aus dem ausführlichen Titel zu erfehen ijt, bei der damaligen neuen
Angabe ein Eremplar benubte, worauf der Name des Nikolaus
Herman zu lefen war. Giner anderen Ausgabe (Nr. 11), eben-
tale in 1546 erjchienen, in Augsburg gedruckt, ift „Ain Geſprech
des Teutſchen Landes“ beigefügt. In 1547 wurde es nochmals
old ein „neues“ Mandat, ohne des Verfaſſers Name (Nr. 12),
md zwar in Straßburg gebrudt. Anftatt der Zahl „fünf“ iſt
nn aber nicht die Zahl 30, fondern 29 gefchrieben. Zu Ende
des Jahres 1555 glaubte man es noch einmal anwenden zu können,
nun aber als ein „Neujahröfchreiben“ bes verklärten Herrn der
Kirhe. Mit diefem Titel erfcheint e8 dann (Nr. 13), ala ob es
am 1. Sanuar 1556 zum erften Dale herausgegeben würde, ohne
den Namen des Verfaſſers, gedruckt in Schleufingen, als „gegeben
im diefem 56. Jar, am Newen Yars Tage“. Es follte damals
ganz das Gepräge von etwas neuem an fich tragen. Für die
Zahl 5 (Jahre) ift, muthmaßlich durch einen Druckfehler, 20 ge
ſchrieben. Die Zahl der Ausgaben hat ſich alfo bereits bis auf
13 gefteigert, als eine Ruhezeit von ungefähr einem halben Jahr⸗
Hundert eintritt. Darauf kommt es abermals ans Licht (Nr. 14),
812 Doedes
diesmal jedoch nicht nur um wider Rom, ſondern zugleich um
wider die Calviniſten zu dienen. Schon ber Titel beſagt es.
„Ein Mandat Jeſu Chrifti ... . Allen und jeden der redt
Evangeliſchen Lutherifchen Lehre Liebhabenden Chriftlichen Herzen,
fonderfich aber denjenigen, fo vielleicht von den Bäpftlern, Jeſuitern,
Calvinianern, und andern Ketzern, möchten eingenommen, ober viels
leicht nur etlicher Maßen irre gemacht worden feyn, bey der einmal
erfanndten und befandten Warheit Jeſu Chrifti, beftendiglich bif
ans Ende zu verharren ... .. wider an Tag gegeben.“ in jehr
ausführliches, elf Seiten langes Vorwort, dadirt Schneeberg, den
21. Sanuar 1613, unterfchrieben von M. Casparus Pamler,
ibidem Baftor, beſpricht das Mandat, famt dem Zwecke dieſer
neuen Ausgabe. In der „Vorrede“ fagt Herr PBamler, daß ihm
„in kurtz verfchienen Wochen gar ein fein alt, in Gottes Wort recht
wol fundirt, und nunmehr vor Acht und achtzig Jahren in öffent:
lichen Drud publicirt und ertheiltes Qractetlein von einem gar
guten Freunde zu Banden kommen, aus deijen Verlefunge ich denn
nicht allein für meine Perfon, aus und durch mitfolgende Gnade
meines lieben Gottes, höchlichen bin erfrewet und gefterdet, fondern
auch tacite von Gott dem heiligen Geift erinnert und angemahnet
worden, folch recht ſchön und Liebreiche Tractetlein (weyl ſonderlich
daffelbe innerhalb fo viel verfloffenen Yahren nunmehr Distrahirt
und vielleicht an jetzo nicht fo bald mag zu befommen feyn) aud
andern Gott und feinem Wort ergebenen himmelßjehenden Hergen
in öffentlihem ‘Drud auffs neue widerumb zu ertheilen”. Hin
fichtlich der Erwartungen, mit denen er das Zractätlein aufs neue
herausgibt, ift er „der gant ungezweiffelten Hoffnung und Zuver⸗ |
ficht, e8 werden ihr viel durd; Gottes Gnad und Segen, unter
denjenigen, fo vielleicht in verjchiener Zeit von unfern Widerjacdern,
den Bapiften, Jeſuitern, oder Galviniften etliher Maßen mögen
irre gemacht worden feyn, nad Verlefung und Anhörunge foldee
Tractetleins ſich eines befferen bedenden und widerumb zu der
Uralten, Chriftgleubigen, vecht Catholifche und Apoftolifchen Lu
therifchen Kirchen begeben und bequemen ... .“ Scheint aljo das
Mandat im Anfang des 17. Jahrhunderts ſchon zu den Rariffima
gehört zu Haben, fo ift auch Herrn Pamlers Ausgabe im legten
Ein Mandat Jeſu Chriſti von Nikolaus Herman. 315
Biertel de8 19. Jahrhunderts gewiß zu den bibliographifchen Selten»
beiten zu zählen.
Das Mandat ift aber auch mit einer Weberfegung beehrt
worden, nämlich in's Niederfächiiihe. Sechs Jahre, nachdem es
zum erften Male erfchienen, kam es heraus als: Eyn Mandat -
Fheſu Ehrifti an alle ſyne getrumen Chriften Inn wellerem be
apbüt alle de em hm der Döpe gehüldet unde gejwaren hebben ...
getagen uth Hilfiger Schrifft von Nicolao Herman. MDXXX“
(Magdeburg). 8%.1) Ein neuer Beweis dafür, daß es dem da-
maligen Geſchmack entſprach und in vielen Kreifen Anklang fand!
Es redete in paſſender Sprache ganz für die Zeit, in welder es
id hören ließ ?). Zweifelsohne war es ein vom Herrn gejegnetes
Mittel um viele Schlafende aufzurütteln, und Schade wäre «8,
wenn man nicht künftig überall, wo über den Dichter Nikolaus
Herman verhandelt wird, auch feines Mandates nach Gebür gedächte!
Wer nach Leiden kommt, unterlaffe e8 nicht, wenn die Zeit
es irgendwie erlaubt, das einzig befannte Exemplar der erjten
dentichen Ausgabe zur Hand zu nehmen.
In feinem „Nikolaus Herman, Lebensbild eines evangelifchen
Lehrers aus der Reformationszeit“ (S. 9) redet E. Pfeifer von
„Slugfchriften, die zur Zeit der Reformation der Taube Noahs
gleich über das fintende Deutfchland flogen und die Delzweige der
neuen Lehre den heildwärtigen Seelen zutrugen“. Eine jener Flug:
ſchriften war ohne Zweifel auch das „Mandat Jeſu Ehrifti“.
1) Sal. 8. 5. 9. Scheller, Bücherkunde der Saffiich » Riederdeutfchen
Sprache, S. 195. (Goedeke, a. a. O. ©. 165.) Die Zahl 5 [Yahre]
iR in diefer Meberfegung in „9" umgeändert.
2) Scheller fagt a. a. O.: „Ein etwas feltfamer Einfall von NR. Her-
man, Chriftus an feine Getreuen ein förmliches Aufgebot ergehen zu
lafſen... Man könnte beinahe da8 Ganze für Ironie nehmen, wenn
nicht der herzliche Ton den Ernſt des Verfaſſers an ben Xag legte.“
Ber ſich aber in die Zuftände von 1524, wie der barauf folgenden
Jahre, verfeßt, wird gar nichts Außerordentliches in dem Mandat Jeſu
Chriſti finden.
314 Seidewmann
2.
Anz Spenglers Briefwechfel.
Mitgetheilt
von
Dr. theol. 9. K. Heidemanı,
Pastor emeritus.
— — — um
Zu denjenigen, welche mit Melanchthons zaghaftem Verhalten auf
dent Reichſstage zu Augsburg im Jahre 1530, dem zu Folge
„Melanchthon den Tatholifchen Anfchauungen weit mehr enigegen-
kam, als Luther“ — (vgl. v. Druffels Vortrag: „Die Mes
lanchthon-Handfchriften der Chigi- Bibliothel* in Rom, Sitzungs⸗
bericht der königl. bayerischen Alademie der Wiffenfchaften, Hiftorifche
Claffe, vom 1. Yuli 1876, ©. 14 des Separatabdrudes) —
jehr unzufrieden waren, gehörte vor allen, troß frübefter, herz
lichſter Freundſchaft, Hieronymus Baumgartner, der fh
bei Spengler ernftlih über Melanchthon beklagte. Spengler
faßte diefe Klagen, ohne Baumgartner als Gewährsmann zu
nennen, in einem Schreiben an Luther zufammen, um bdiefen zum
Einfchreiten wider Melanchthon zu bewegen, fendete den Brief durd
eigenen Boten an Quther, damit biejer fogleich an Melanchthon
fchreiben und der Bote die Mahnung, die Spengler umgehend
nad) Augsburg befördern wollte, alsbald mitnehmen möchte, und
veranlaßte den Wenceslaus Link, ebenfalls klagend am Luther
fi zu wenden. Auch an Veit Dietrich fchrieb er, den Doctor
Luther anzubalten, und an den Kanzler Georg Bogler. Die
ift der eigentliche und genaue Hergang diefer Dinge, ber ſich aus
folgender Mittheilung deutlich ergiebt.
I.
1530 den 19. September.
Hern Hieronimo Baumgartner deß Rats zu Nurmberg Meinem !
In fonnders gonftigen Kern vnd gepieter | — — Darunter
—e—— ß —ññ— — —
Aus Spenglers Briefwechſel. 315
mit blaſer Dinte: 1530 | Auguftae | 21 ſeptembris per Vere⸗
darium
Dominus dabit fortitudinem
plebi sue Benedictus Deus
Mein ganntz Willig Dienft Zunor Gonnftiger lieber Herr Baum⸗
gertner. Ich Hab euer annderwait fchreiben und anzaigen. Wie
unbeftenndig onnjere Theologi handeln Mit Daran gehefftem euerm
ermanen vernomen. vnd verftee ed von euch gewißlih annders
nt. Dann ganntz getreuer mainung und auß ainem Chriftenlichen
eier beichehen. Sr follt mir auc glauben. ‘Das auch mein
lebenlang kain hanndel fo hoch alle Diſes Wandelmutig vunbeftenn-
dig Weſen, Zunoraber. Das man In deß glaubens ſachen, ſo
Ineptirn, vnd mit ſolchen verzickten Sophiſtiſchen gloſen, Diſpu⸗
tation, vnd vnſchicklikaiten, Die man doch vor In vil außgangen
puchlen, ſo maiſterlich hat reprehendirn konnen, vmbgeen ſoll, be⸗
kummert hat, Zum hochſten beſchwert mich aber Das. Das dieſelben
onnſer Theologi, [bered auögeftrihen] vnns alle bereden vnd das
mit gewallt vnd gantzer Importunitet verfechten wollen, Alls ob
es gar holtſelig gut Ding. nit Wider die gewiſſen, auch der ſchrifft
und vnnſer vbergeben Confeſſion, gar nit entgegen, und Zu Zeit⸗
lichem frid (Den fie ſchon gewiß Inn bennden Haben) furderlich
ſey. Das fie auch offenlih Im dife Statt vnd anndere ort
Ihreiben borffen, Das Lutherus alle folche Jr hanndlung approbirt
und Inen Zugefchriben hab. noch vil mer nachzulaſſen, und fompt
mir Deßhalben Zugedehtnus Was Cicero fagt. Omnis Iniustitie
nulla capitalior. quam eorum qui cum maxime fallunt, etiam
id agunt. vt viri boni esse videantur. Ich hab es bißhere
gejehen, vnd finnd es In Der thatt das Philippus Zway augen-
tuhlin vor Den beden augen bangen hat, Das ain Iſt Weltliche
Weißhait vernunfft und fehidlilait, Der er vil vertraut vnd Ine
jo hoch verplenndt, Das auch kains anndern Ratſchlag, anzaigen und
perſuaſfion. Wie gut vnd Chriftenlich auch die feien, bey Ime
gellten, Fa er heilt von niemand annderd, dann feinem aintgen
verftannd, Eben alle ftee Chriſtianiſmus nofter In MWeltlicher
Weißhait vnd hochfarender philofophei. und nit vil mer In ainem
Diemutigen gaift, Der gottes Wort vertraut. Das annder ft
316 Seidemaun
Zeitlicher frib, den Hat er allſo fur die augen gefpannt, das er
nichts Hort und fiht, Dann Wie man eufferlichen frid, auch mit
ergernus aller Chriften, mit nachtail Deß Enangeliong und verur-
ſachung vil Zappelter onbeftendiger gewiffen, fauffen mocht, vnd
fagt mir Ofiander frey. Das Ime philippus Zu Augfpurg auff
ain zeit gefagt hab, Das es nit unrecht ſey, Zeitlichen friden, auch
mit vnrecht Zuerhallten, Dem gemeß wie paulus fagt, facia-
mus mala vt eueniant bona. Difen zeitlichen friven. Wie
Ich gewißlich Waiß. und Was guts demſelben anhengt, herwi⸗
derumb Den groſſen nachtail Der Dem vnfriden nachuolgt hat er
auß feinen hiſtorien vnd vil leſens. allſo Inn fi gefaſſt. Das
er Dagegen. Den vortail Deß Euangelions, auch Das Demſelben
Das Creutz auß not volgen muß nit ſehen fan, Es were vernunfftig
und Weißlich gehanndelt, Zeitlihen friden, auch mit groffem Zeit-
lichem fchaden Zufauffen, Aber Zeitlihen friden. mit verlefiterung
Deß Euangelions. mit nachtail gemainer Ehriftenhait, mit verletzung
Der gewiffen Zuerlangen, fan ye nymmermer gut fein, vnd ver-
flucht fey Der frid. Der mit vnfrid der gewilfen, aintweder er-
langt oder erhallten Wurdet,
Es Were gar ain fein Ding. ond füß Chriftentyumb. Dat
Euangelion on alles Ereug Zuhaben, Vnd bey Der Wellt kainer
veruolgung vnd wiberwertilait. Wie philippus Durch fein nad)
geben zuerlangen verhofft, Zugewarten. Die hennd unnbdterzufchlagen,
und In Zeitlihem friden Zufigen, Aber. Wie es vil armer
gewifſen gieng, Da Wer nit angelegen. und Iſt mir von Diien
leuten nichts Wunnderlich zuhorn, Dann Das Ir ainer ober Zwen,
vnnſer aller Die Wir vnns Chriften bekennen, gemifjen regirn,
und mit gewallt Dahin tringen Wollen. vnnſer gewiffen, nad
rem Srrigen gewiffen [Zuregirn ausgeſtrichen, bafür am Rande
lints:) Zuregnlirn, Das Doch allfo Wandt Das fie heut aine
An Zren locis comunibus ond anndern Irn puchlin fchreiben,
vnd morgen ainannders Raten, jagen und hanndeln eben, alle
muffen Wir auß not, vnns alle auff Difen baculum arundineum
egipti fteuern, In Summa. Ich Waiß mich nit Zubereben. Das
ſſich ausgeſtrichen) Ich Dife vunbeftendige Wandelmütige handlung,
Zuuor aber difes kruppeln Der fchrifft, Diſes Silogifirn Dil
Aus Spenglers Briefwechſel. 817
patira vnd captioß glofiru In gottes Wort und vnnſerm glauben,
Weder loben ober bilfichen kann. vil weniger ain gefallen Daran
haben, vnd fihe aigentlih Das es war ft wie paulus fagt
Comprehendam sapientes in astutia eorum, et prudentiam
prudentum reprobabo. Ich fund auh Das dife leut Die Topf
geitredt Haben. Iren felbs adinuentionibus zuuolgen, nyemand
Zuhorn, vnd allain Die Weiſſen gelertften, Chriſtenlichſten Zufein
Aber got Wurdet men fagen Wie er Durch Dauidem thut
Consilium Inopis confudistis, sed Dominus est spes eius.
vnd Wiewol Zh Wider Diſe Ieut, alles Widerwertigs per:
ſuadirn, fchreiben vnd ermanen fur vnfruchtpar acht, Yedoch Da⸗
mit Ich meinem ampt alls ain Chriſt auch guug thue fo hab YA auff
euer ſtattlich ermaunen (Das mir Warlich Das gewiſſen nit Wenig
gerurt hat). D. Martino geftern frue ain aigen poten gejchidet.
ainen außzug auß euern fchrifften. mit allerlay Zu fegen vud
befferungen gemacht, mit anzaig Das mir ſolch fchreiben, Der Ich
nm von mer dann ainer perfon, vil empfangen Hab, von ainer
tapfern perfon, hochs ftands Die taglich bey den Handlungen jey, und
Die ſach gegen philippo und dem Euangelio Chriftenlich und hertzlich
main, Auß Augfpurg ſey Zugeſchickt Worden. und Ine Darauff
ermant philippo bey meinem poten Zufchreiben. Woll Ich Ime
Den briefe Zufchiden. hab Daneben Doctor Wengeln auch ain
fattfiche fchrifft an D. Martinum thun laffen, Deßgleichen Ich
auch an Bitum Dietrich. gejchriben, Den Doctor anzuhallten.
Dabey Hab Ich auch Georgen Vogler Dem Die fachen beſchwerlich
obligen, Den man aud, Wie Ich In vertrauen aigentlic erfaren
hab, In ainen ſchein groffer fare. Droe vnd forg Dep kaifers
ond der anndern Margrafen, allain von Deß Euangeliond Wegen.
vom hof beredt und gefertigt hat, gefchriben vnd ain unuermerdten
auſſzug euers fchreibens In vertrauen Zugeſchickt vnd allfo alle
ſporn, Die möglich ſein geſucht, Diſem mittag teufel ain Wenig
Widerſtannds ſouil möglich Zuthun, Damit Ye an vnns. Die es
Chriſtenlich vnd getreulich mainen, nichts erwynnd. Ir aber bitt Ich,
Wollet Zu friden, keck und guter Ding fein, vnd Die fach got haim-
itelfen ond Dem Vertrauen, Der Wirdet. Wie Ir fehen Werdet,
ain aunder mittel vnd ennde verordnen. Dann Wir vnns alle vers
818 Seidemann
muten. Dann fein wort, von deßwegen yo Zu Augfpurg gehannbelt
wurdt, Iſt der ganngen Welt Zu hoch und mechtig. vnd menſchlicher
Weißhait oder Hugkhait nit vunndterworffen. So Iſt Dife fad
fein aigen Die wurdt er wol binaußfurn ungeachtet. Was Ihener
oder vnnſer taile furnemen, So verſihe Ih mid auch ES ſoll
* ainer oder zwen aigenfunnig kopf, nit alle Chriften regirn, furen
oder layten, dohin fie Wöllen. Vnnſere Herrn, find. got Lob nit
Hainmutig. laffen ſich auch Herr Georgen Truchſeſſen oder annber,
alls erfarner geſchickter Hofleut. practica und bedroungen. nit fo
hoch erfchredlen. und find der mainung noch Das fie fefft hallten
Wollen, Darinn Wolf fie got fterden. Constantes estote et
videbitis auxilium Domini super vos. Viriliter agite [Am
Rande links: et confortetur cor vestrum] omnes qui speratis
in Domino. Wollet, bitt Ich, Dem Schnepfen mein willig
Dienft fagen, Deßgleichen herr Element voldamer Der mir aud)
geſchriben Hat !) vnd vunnferm leto. Damit gotes huld beuolhen
[Datl ausgeftrihen.] Ir mufft mit meinem ehlenden krupelten
Tchreiben vergut nemen Datl 19. Septembris 1530
Lazarus Spr R’fIr
Diefer eigenhändige Brief, den M. M. Mahers Spengleriana,
Nürnberg 1830, S. 75. 128f. nit kennen, befindet fich, gleich
den beiden folgenden, feit 1872 im Befige der Töniglichen öffent: .
lichen Bibliothef zu Dresden, Msc. Dresd. C 107f, Nro. 52.
Er ift die Antwort auf Baumgartnerd Briefe vom 13. und 15.
September 1530, die in J. Fr. Mayer's Disp. de Lenitate
Ph. Melanchthonis, Gryphiswald. 1707, p. 17sqq. und daraus
in der Yortgefegten Sammlung 1730 S. 390—397 abgedrudt
find, -und worin er S. 392 fagt: „Philippus ift Kindifcher denn
ein Kind worden.“ Walch XVI. 1839. Zur Sache vgl. de Wette
IV, 166f. 158 gKöftlin, Martin Luther II, 239. 241.
v. Druffels am 1. Juli 1876 gehaltenen Vortrag: „Die
Melanchthon-Handſchriften der Chigi- Bibliothel.‘
1) Corpus Ref. I. 395. 415. — Ueber Laetus, Fröhlich, vgl. Nopitſchs
Fortſetzung von Wille Gelehrtenlerilon, Th. V, S. 867—369. 8. Gut:
tom, Hohenfhwangau, Bd. I, ©. 5. 367; Bd. IV, ©. 848. 873.
mu
ü —
Aus Spenglers Briefmechfel. 819
Sigungsberichte der Münchner Akademie, Hiftorifche Claſſe, S. 14
de8 Separatabdrudes. Aus Msc. Dresd. B 193. 4to. Abra-
hami Bucholzeri Libellus Arcanorum, u. f. w. Blatt 6 füge
id bei: „Anno 15 30. omnes cum esset ibi ®. clamauerunt,
eum esse abiecto animo & nihil contra posse efficere. In
summa er richte e8 gar vbel auf. Postea reuerso ®. ex Co-
mitiis dixit Baumgartnerus Noribergae statim cum videret
eum. D. Philippe Tebeftu noch. Ey da Du mufts gewohnen,
Du wirft ſolchs vndt noch ergers offte muſſen hören. [Um Rande
tehts: Haec ipse ®. mihi narrauit etc. Item in ipso con-
uentu hatt niemandt wollen noch können ettwas thun. finxerunt
bi mirabilia quaedam portenta ex Canone.] Et ®. fagte
mihr einmal vald& irato & commoto animo. Als ich ihn kaum
zuvor iemals gefehen Hatte: Etiam Lutherus ipse non voluit
:cribere talem aliquam confessionem, cuius tamen erat
scripere.* — Vgl. Shirrmader, Briefe und Acten, S.489. 575
I.
1531 den 20. October,
An Georgen voglern | Eantlern
Anndere Neuezeittung Das Modon
Widerumb durch den Zurden eingenomen
8
Wir haben aus venedig vnnd anndern orttenn ſchrifften Das
Die Feſt Statt Modon, Durch Die vnnſernn widerumb verlorn,
und vom Turckenn eingenomen ſey, mitt ‘Dem hatt vns gott,
alls Ich acht, ein apffel gezaigt, und wider genomen, wie wir
auch, als Die jo Die Zeitt Irer haimſuchung, nitt erkennen
wollen, wol wirdig fein, und geet hie nad) Dem allttenn gereimpten
ſprichwortt, Niemand laß ſich Das gluck betriegen, Dann e8 Tan
malgenn ſchwymmen und fliegen, Darumb haben Die alltien Das
ziuck alls ain kugel Die Im waſſer ſchwimbdt zwen flugel haben
gewalltt (sic), Das es an allenn orttenn vnſtett vnd nitt zuhaltten
iſt Datum freittags 20 Octobris 15 31
Laſarus Spengler.
Theol. Stud. Jahrg. 1878. 21
38 Steidemann
Ein halber Foliobogen. Scheint Schreiberhand. — Ueber
Bogker vgl.: ©. Veeſenmehers Literargefchichte S. 63. Neu
deckers Urkunden ©. 143. Strobeld Leben Veit Dietrichs ©. 62.
121. 126. UN. 1705 ©. 811, 1713 ©. 736, 1730 ©. 392.
Meuſels Hiftor. literar. Magazin 1802 I, S. 207. Seckend. U,
121. 141. 8. Gutzkow, Hohenſchwaugau, Bd. I, S. 326;
Bd. IV, ©. 369f. Th. Prefiel, Anecdota Brentiana, ©. 565. —
Ueber Modon: CR. XXV. 299. Emil Weller, Die erften
deutichen Zeitungen, Zübingen 1872. Bibliothek des literarijchen
Bereins in Stuttgart. CXI, S. 104.
II.
Nachträgliche Einlage, ein kurzer halber Bogen, au
Baumgartner.
1533 den 28. Auguft.
Sleih alle Ich difen briefe Zumachen Wolle. kamen mir
fchrifften von Wittenberg Aine von luthero und aine von M. vito
dietrich. dartnnen fie ſich der Altercatis mit vnnſern predicanten
vber die maß hoch beichwern, ond Zaigt luther ainen wege an,
Wie er mainet wit Oflandro (der wie fein fchreiben meldet Zu
ainem kynnd Worden) Zuhaundeln fein follt, So ſchreibt M. Vitus.
alls mein jchreiben, fo Ich auß benelhe gein Wittenberg gethan.
vnd gelegenhait Oftanders haundlung mit dem befchaidenlichften an-
gezaigt on Iuthern gelangt fey. Hab Luther geſagt. Homo ille
ruine proximus est. hab auch dabey gemeldet. Wann he diſer
man fur den mir berglich layd Iſt. [Ye ausgeſtrichen] fo unge:
ſchickt hanndeln, und mer ſich ſelbs. dann das Hayl feiner kirchen
ſuchen wollt, Were vil beſſer. Ime das [Bu ausgeſtrichen] predigen
Zuuerpieten vnd von Nürmberg Zuweiſen, Dann Zuzuſehen. das
er durch ſein pracht. Rempub. turbiret, Daneben ſchreibt M, vitus,
Das der vorſter von dem er vorgeſchriben vnd Ine Comendirt
hab die predicatur und Brobſtampt In ainer [Um Rande lints:]
ſolchen groſſen pfarr alls Zu Nürmberg), feiner kainen lſtymm
vnd ainfeltigen Wanndels vnd Weſens halb beſchwerlich verwallten
Werd, und ſchlagen die Zu Wittenberg, DE Chriftoffern Ering jo
Aus Spenglers Briefwechſel. 321
ettwo hertzog Georgen Caplan geweſt [Iſt ausgeſtrichen), vnd ytzo
Zu Zwickan Iſt. fur, den. hab Ich vff dem Reichstage zu
Vorms jchier ain halb Jar hörn predigen, bin vil vmb Ine
geweſt und bedunckt mich Warlich meine herrn ſollten nit vbel mit
Ime verſorgt fen. Ich Will In ſölchem euer Juditium auch
dernemen, Sie ſchlagen Brentzium fur Wo der möcht Zuwegen
gebracht Werden. Aber Ich hab kain troſſt darzu. Dann Ich
ein mal fafft vertreulich mit Ime Dauon gehanndelt Aber er ſchlug
wir das mit ainem groſſer verdruß vnd vnlufft ab, Zu dem. das
Ich auch [ar ausgeſtrichen]) nit waiß. Ob es gut Were. Sue
hzo. Zuuor In diſem Zwiſpalt gein Nurmberg Zubringen. hab
deß vil vrſach vnd ſonnderlich, das er derſelben altercation ettwas
anbengig vnd ain parthei Iſt, vnd dem Ofiandro, Wie auch Georg
Vogler vor diſer Zeit bericht bat. Zum hochſten fauirt !), So
Waiß Ich Was er ber annbern vunfer predicanten halb ainer
jonndern perfon (Die ſich deßhalb wider Iren Willen gegen mir
verſchoß) hieher gejchriben hat, In Summa dife Gohe gelerte leut,
And auch mennſchen, und Wann fie allfo an ainem geringen ort
latitiin vnd nyemand anndbers vmb fi Haben. fo find fie Allſo
das fie billih fur hohe gelerte vnd heilige leut Zu achten fein.
Die auch Warlich Breutzius. ain vbertrefflicher aber befchaibner
man Iſt. Aber Warn anndere neben Ine fen. So Wilft Ir
vor mir Wie es ye Zuzeiten Zugeet, Das hab Ich euch dannocht
In eyl auch mit vnangezaigt laſſen können
Geftern hat men den Juden der ain kriegéknecht geweſt vnd
Im loch gelegen Iſt, Zu S. Sebald In ber kirchen getaufft find
herr C kreß vnd herr L. tucher gefatter Worden
Dieſe Einlage muß vom 28. Auguft 1533, Donnerstag, und an
Hieronymus Baumgartner gerichtet fein, der am 7. Auguft der
Sterbensläufte wegen nach Nördlingen verritten war und erft im
Januar 1534 nad) Nürnberg zurückkehrte. Der Jude hieß Joachim
amd war aus Prag; er wurde am 27. Auguft 1533 getauft, die
ı) Zu. Preſſel, Aueedota Brentiana, Tübingen 1868, &. 339.
21*
822 Seidemann
Pathen find Ehriftoph Kreß und Leonhard Tucher; vgl.
Andr. Würfel, Juden⸗Gemeinde (Nürnberg 1755, 49), ©. 108.
Ueber Chriſtoph Ering vgl. v. Langenn, Morit I, 293; meinen
Dr. Zacob Schenk; ©. 92. Ueber die Propfteiverhältniffe jchreibt
mir Herr Recor Dr. W. Lochner, Stadtardivar in Nürnberg,
unterm 27. April 1876: „Mit Georg Pepler ſchließt die Reihe
der Pröpfte. Er refignirte am 5. Mai 1533, und übergab die
Propftei mit allen Einkünften dem Rath, gegen 250 fi. jührlider
Penfion, 20 fl. Hanszinsentfchädigung und den lebenslänglicden
Genuß des propjteilichen Gartens an der Bucherftraße, ehedem
mit Nr. 106 bezeichnet, jet durch fortfchrittliche Neubauten kaum
mehr auffindbar. Er ftarb bekanntlich oder wurde wenigftens be-
graben am 22. Auguft 1536 zu Poppenreut (Sieben. Mater. 2,454).
Daß man fih eine Zeit lang mit Wiederbefegung der Stelle in
Gedanken befhäftigt haben mag, tft möglich, aber es kam nidt
dazu. Es ift auffallend, daß Spengler in feinen Briefen an Beit
Dietrih, die Mayer in den Spenglerianis Hat druden laſſen,
biefen Fall gar nicht berührt. Erft im Briefe vom 9. Auguft
1533 erwähnt er, Dr: Froſch, Propfteiverwefer und Prediger zu
St. Sebald, ſei geftorben, und man denke daran, feine Stelle zu
bejegen. Sein Vorgänger war feit 1524 Dominikus Schleupner,
den man aber 1533, weil er wegen feines Organes unlieblich zu
hören war, nad St. Katharina fegte und Froſch, der vorher bei
St. Yacob gewefen war, an feine Stelle treten ließ. Schlenpner
hatte gegen den ſchwachen und unbedeutenden Pepler, der nie eine
persona grata gewefen war, intriguirt und ſich mit der Hoffnung
geſchmeichelt, jelbit an feine Stelle zu kommen, aber Nürnberg
war bei aller Frömmigkeit doch zu ariftokratifch, um diefe Stelle,
die, wie auch die von St. Lorenzen, immer nur von Nürnbergern,
aus ben beften, meiftens rathsfähigen Gefchlechtern, befetst gemefen
war, an einen advena gelangen zu laffen. Es traten daher nad)
Froſchens Tod Verwefungen ein, bis 1536 Veit Dietrich Prediger
wurde. Daß Spengler den Dr. Froſch Propfteiverwefer nennt, be
weift nur, daß man durch ihn wahrfcheinlid noch einige Functionen
des Propftes beforgen Tieß, obgleich ich nicht zu fagen wüßte, worin
dieſe beftanden haben könnten, da der ältefte Gaplan ale Scaffer
Aus Spenglers Briefwechſel. 823
oder dispositor alle zu beforgen Hatte. ALS Verweſer zwiſchen
droih und Dietrih Hinein nennen die Diptycha Sebaldina den
Baplan Stephan Waldeder. ..... . Paumgartnerifhe Familien-
Papiere wurden vor 20 oder 30 Yahren in Mafjen verkauft.“
Radıtrag
zu 3. 566 des Jahrgangs 1876 diefer Beitfcrift.
In Auguft Stöbers Alſatia 1875— 1876, Colmar 1876,
&. 289— 293 weift Johann Georg Stoffel in feinem Auffate:
Sanet Anftet der Batron der Beſeſſenen ©. 292 nad), :
daß S. Anftet — S. Anastasius, Acta Sanctorum 17. Auguft,
die Stätte feiner Verehrung in Wittersdorf bei Altkirch im
Elſaß Hatte. — Ueber Alberus vgl. den Auffag von W. Ere-
eins: Erasmus Alberus in Dr. Schnorrs von Carolsfeld Archiv
für Literaturgefchichte, VI. Bd., 1. Hft., S. 1—20. !
3.
Die Regeln des Pachomins).
Aus dem Aethiopiſchen überfegt und mit Anmerkungen verfehen
bon
Dr. Ad. König,
Oberlehrer an der Thomasſchule zu Leipzig.
Erſter Theil.
Im Namen der heiligen Dreieinigkeit! Die Anordnung, welche
der Engel Gottes des Herrn dem Abba Pachomius gebot.
1) Ich habe es mir nicht zur Aufgabe gemacht, dieſe Regeln, welche als
ſolche des Pachomius überliefert worden ſind, hinſichtlich ihrer Authentie
kritiſch zu bearbeiten, ſondern wollte nur dem Kirchengeſchichtsſchreiber,
welcher das äthiopiſche Original nicht benutzen kann, durch Uebertragung
324 König
In einem Orte, Namens Tabennefis !), im Gebiete der Thebais,
war ein Mann, Namens Pahomins, weldher zu denen gehörte,
welche ein reines Leben führten, und ihm wurde Erkenntnis und
Anblick anch der Engel gegeben, und diefer Mann war ein großer
Liebhaber Gottes und ein Liebhaber der Brüder. Und während
er in ber Höhle ?) faß, erfchien ihm ein Engel Gottes des Herrn
und fagte zu ibm: „Was dich anlangt, fo haft du es vollbradit,
und überflüßtgerwete figeft du nunmehr in der Höhle; and wohlan
nun, geh Heraus und laß die geringeren (weniger volifonnmnen)
Jumglinge ih verfammeln und laß dich nieder und fei mit ihnen,
und wie id) dir die Anordnung neben werbe, jo Tehre fie! Und
er reichte ihm eine Tafel von Erz, auf welcher geſchrieben war,
was lautete:
Laß jeden effen und trinken und nad Verhältnis ihres Eſſens
gib ihren ihren Dienft; und weber Faſten noch Eſſen verhindere,
allein, wie die Speife für die Starken kräftig und für die
desfelben die Möglichkeit gewähren, auch die äthiopiſche Form diefer Regeln
zu vermwertben. Ich babe deshalb zwar für den erften Xheil wegen
einiger Duntelheiten des Aethiopifchen die Kapitel 89 und 40 von der
Historia Lausiaca des Pallabius, und für dat Gange den Codex re-
gularum von Holſtein, wo ®b. I, S. 63 — 95 aud) eine Regula S.
Pachomii abgedrudt ift, verglichen; füge aber nur Hinzu, daß ber Hol-
ftein’fche Tert, eine Ueberſetzung des Hieronymus, ſich mir am weiteften
von der Duelle zn entfernen fcheint, während Palladbius, weil er 368
geboren, 388 nad Aegypten gekommen iſt, wohl Anordnungen des Pa⸗
homius felbft, welcher Beiunntlich 348 geſtorben ift, überliefert haben
Tann.
1) Balladius ſchreibt ausbrüdlich „ Taßevunals darı ranos &v Tj Onpaidı.“
Man unterichied alfo diefen Ort von der Nilinfel Tabenna (zwiſchen
Theben und Tentyra), auf weißer er lag. Ob man, wie in der Aus
gabe des Palladius von Meurfins gefordert wird, Taßeyun zis Earı
zönos Ev Onßaidı fchreiben muß, weil Sozomenus „er vemweilte auf
ber Infel Tapevon“ (Nicephorns lateiniſch: Tabenna) fchrefbt, iſt zmweifel-
haft, da der äthiopifche Ueberſetzer, indem er Tarbenſes ſchrieb, bereits
bie verwnthete faliche Schreib⸗ und Lebart Tapkvuıwis vor ſich hätte
2) „In der Höhle“ fliegt auch im Griechiſchen ohue näßere Beſtimmung,
weil jedermaun bie des Pachomins verſteht.
we tg RE u —⸗2—
Die Regeln des Pachomius. 325
Schwachen ſchwach ift, fo gib ihnen die Speife ihres Dienftes! ")
Und made eine Wohnung in einem eingefriedigten Raum, und
drei jolfen in einem Haufe wohnen! Und das Effen von ihnen
allen [gefchehe) in einem! Und fie mögen fchlafen, ohne dabei
zu fiegen, ſondern gleichwie einen Stuhl von Bauwerk (Maner-
wert) mögen fie fich eine Lehne machen und auf fie mögen fie
ire Aeider als Unterlage breiten und ſollen figend ſchlafen! —
Und fie follen eim Unterkleid von Zunder (ganz dünnem Stoffe)
md als Gürtel Leder anlegen! [Aus dem griehiihen Texte: Und
jeder von ihnen ſoll eine Haardecke, and weißen Ziegenhaaren ges
arbeitet, Haben) und ohne fie follen fie micht effent Und wann
fie am Ruhetage der Ehriften zum Opfer gehen, follen fie ihre
Gürtel Löfen ımd Ihre Haardeden ablegen [und folfen] mit ihren
Ropflappen Laflein hineingehen]! Und verordne ihnen Kopflappen
ohne zottige® Haar, wie die der Kinder, und befiehl das Zeichen
des Krenzes von Purpur darauf! — Und aus je 24 Gemeinden
tollen fie beftehen, und die einzelnen Gemeinden benenne mit den
Lauten des Alphabetes der Griechen von Alpha und Beta und
Gamma und Delta an der Reihe nah! Und jo oft im emer
Gemeinde der Erfte den Zweiten nächſt ihm?) fragt, fo wird er
fagen: „Wie fteht es mit der Gemeinde des Gamma und wie
mit der Gemeinde bes Beta? Grüße das Rõ!“ Und jeder ſoll
je in feiner Reihe und an feinen Zeichen bemerkt werden. Und bie
Zahmen nenne Jota und die Wilden nenne Xi, und fo nenne je
nad der Reihe und nach der Art und der Berorönung und nad
1) Man erwartet „den Dienft ihrer Speiſe“ d. 5. den Dienſt, welcher ber
Kraft ihres Effens, dem Maße ihrer Rahrung entipricht. Daß dies ber
Sinn der Stelle ift, erficht man aus dem deutlicheren Werten des grie⸗
chiſchen Textes: „Erlaube jedem nad; Kräften (mach feiner Kraft) zu efien
and zu trinken, und ben Kräften der Efienden entfprechende Werte
handige ifmen ein,‘ d. h. übertrage ihnen, und weder zu eſſen noch zu
faften verhindere!l So um fürwahr übertrage die arten Werke dem
Stärteren und [deshalb wiel] Eſſenden, die nicht auftrengenben unb leichten
deu Umgelbten und Schwächeren!“
2) Im Griechischen flieht: 6 Kozsuandeiıns zov devrsgov devrod,. Die
äthiopifche Lesart „und wenn in der Gemeinde eines zweiten fragt“ iſt
unverfländlich.
326 König
dem Leben ber einzelnen Gemeinden ihre Buchſtaben! Nur die
Geiftigen wiffen, was die Schrift auf der Tafel befagt. — Und
wenn ein Fremder aus einem anderen Klofter anfommt, weldes
nicht eine folche Ordnung bat, fo foll er weder mit ihnen efjen
noch trinken, noch ſoll er in ihr Klofter eintreten, außer wenn fie
fih auf der Straße getroffen haben. Aber wer zu ihnen kommt,
um zu bfeiben, Lauch) den follen fie nicht in ihre Gemeinde auf:
nehmen, ehe er 3 Jahre vollendet hat, fondern fie follen ihn in
der Arbeit ald Knecht verwenden, und dann, wenn er 3 Jahre
volfendet hat, foll er eintreten. — Und während jie effen, follen
fie ihren Kopf mit ihren Kopftappen bedecken, damit nicht ein
Bruder den anderen die Speife zum Munde führen ſieht. Und
nicht ſoll Unterhaltung fein, während fie effen. Und nicht außen
herum und nicht auf einen anderen fol ihr Auge vom Tiſche und
von der Schüffel bliden. — Und befiehl: jeden Tag follen jie
12 Gebete verrichten, in der Abendbdämmerung 12, und in der
Naht 12 und um 9 Uhr (früh um 3 Uhr) 3. Und fo oft die
Gemeinden effen, foll vor dem Gebete ein Pſalm geſprochen werden,
das befiehl!
Und Pachomius erwiederte dem Engel: Wenig Gebete ſind dies;
und der Engel ſagte zu ihm: Dieſe habe ich befohlen, damit auch
die Unvollkommeneren dieſer Anordnung nachkommen und fie aus:
führen können, ohne daß fie fi) grämen; aber die Vollfommenen
brauchen feine Anordnung für fi, denn fie felbft Haben in ihren
Wohnungen ihr ganzes Leben Gott dem Herrn überlaffen, welder
fieht; Diefes aber habe ich denen verordnet, welche keinen Ermunterer
haben, damit fie wenigftens als Dienft thun können, was ihnen
befohlen ift, und zur Heiligen Handlung offen mit ftrahlendem Ge⸗
ſichte kommen. |
Und zahlreich find die Klöfter diefer Regel, und fie erreichen .
[die Zahl] 5000 Mann. Das erfte große Klofter, wo Pachomius
jelbft wohnt und weldyes auch andere Klöfter erzeugte, bat 300
Menſchen. Und unter ihnen Tebt Aphthonius, der mir!) früherhin
1) Balladius fpricht von fi.
vg — —
Die Regeln des Pachomius. 327
in Freund geworden ift (der ein alter Freund von mir ift) und
er ift jet der Zweite nad Pachomius im Klofter; und fein
"ben ift ohne Anftoß und Anftößiges; und fie pflegen ihn in
die Gegend von Alerandrien zu ſchicken, damit er ihnen etwas
verfaufe, und er kauft ihnen, was fie brauchen. Und es gibt
auch andere Klöfter diejes Verbandes von 200 und 300. Und
in den Ort Panos !), welcher zu ihnen gehört, gelangte ich und
ich öfter und fand 300 Menfchen des Verbandes.
Und fie pflegen jede Runftarbeit, und mit der Arbeit ihrer
Hände arbeiten fie für die Frauenklöſter und für das Gefangenen-
haus, Und an denen die Reihe ift, die jtehen fehr früh auf: die
einen find in der Küche beim Kochen, die anderen beim Anrichten
des Tiſches, und fie bereiten und legen, bis feine Zeit fommt ?),
eben auf den Tiſch Brod, Gemüſe, Eingemachtes von Delbäumen
und Käſe von der Kuh und Abgezupftes vom Garten. Und welche
treten mittag& 12 Uhr ein [und] effen, und welche treten um 1 Uhr
ein, und welche treten auch um 2 Uhr ein, und welche treten auch
um 3 Ubr ein, und weldhe um 5 Uhr, und melde am fpäten
Abend, und welche in der zweiten Nachtwache, ihre einzelnen Buch⸗
ftabenzeichen Kernen jedes feine Stunde. Ebenſo ift e8 mit ihrem
Dienfte: der eine bebaut das Land und ackert, und ein anderer den
Garten, und ein anderer den Gemüfegarten und ein anderer ge-
hört in die Bädkerwerfftatt 9); und ein anderer zimmert und ein
!) Damit ıft Panopolis gemeint, das auch in der Thebais, aber weiter ab-
wärts als Tentyra am vechten Ufer des Nils Tag.
3) Nämlich: des Brotes, des Tiſches, des Effene. Im Griechifchen: „bie
anderen find um die Tiiche beichäftigt; fie follen fie alfo bie früh 9 Uhr
anfftellen (anrichten), nachdem fie bereitet und auf den Tiſch geftellt
baben Brote, Gemüfe u. ſ. w.“ Kür anaprnouvres „aufgehängt, ab⸗
gehängt, getrennt habend“, voelches feiner Unverſtändlichkeit halber bei
Meurfius in der Tateinifchen Weberfegung übergangen ift, empftehlt uns
alſo das Äthiopifche jästadalewu „fie bereiten; werden, follen bereiten“ die
&esart anaprloayrs; „bereitet habend“ (Jotacismus).
3) Diefe letzten Worte fliehen im Aethiopiſchen Hinter „und einer zimmert“,
gehören aber vor dieſes. Auch die Worte „und einer ſchreibt“ würde
man gern am Ende der Aufzählung leſen. Allerdings ftehen im Grie-
328 König
anderer ſchnitzt, und einer macht große Körbe und ein anderer
macht Nege mid einer mäht Leder und einer jchreibt und einer
flicht Fruchtkörbchen, welches Heine Körbe find, und alle jagen die
Schrift aus dem Gedächtniffe her.
Und zu diefen gehört ein ſFrauen⸗Kloſter im Umfange von
400, die diefe Regeln befolgen, ohne die Schaffelle (Haardeden)
zu tragen. Und die weibliden Mönche unter ihnen wohnen am
jenfeitigen Ufer des Fluffes, und die Männer unter ihmen gegen
über, diesſeits 1). Und wenn eine Nonne ftirbt, wideln ihre
Schweftern, die Nonnen, fie in Leinen, und nachdem fie fie ein-
gewidelt haben, bringen fie fie an das Ufer des Fluſſes, und
es jegen Brüder auf einem Floſſe mit PBalmzmeigen und Del:
baumzweigen über und bringen diefelbe bei Pjalmengefang zu fid
und begraben diejelbe in ihrem Grabmal. Außer Priefter und
Diacon nur allein geht Teiner hinüber in das Frauenklofter, und
auch [fie thun] dies nur an jedem Sonntage.
Zweiter Theil.
Im Namen de Vaters und des Sohnes und des Heiligen
Geiſtes! Die Regel und der Befehl des heiligen Abba Pad
mius. |
Diefes ift die erfte Negel, welche als Grundlage dient: Wenn
du hörſt, daB fie dich zum Pjalmenfingen rufen, fo fteh fchnell
auf, und während du gehft, lies, bis du zur Thüre der Kirde
gelangft, oder bete! Und feiner foll fi ummenden oder umher:
bſlicken, während die Brüder beten! Wenn einer unter dem Pfalmen⸗
fingen fi unterhalten oder gelacht Hat, jo werde er vor dem
Altare gezüchtigt! Und wenn einer ein Gebet des Tages unter:
laſſen hat, fo werde er gezlichtigt, und wenn einer drei Gebete
der Nacht unterlaffen hat, jo werde er gerichtet! Und feiner fol
aus der Kirche gehen, während die Brüder beten, ohme daß eı
hifchen die umgefteliten Worte vom Bäder wie im Aeihiopiſchen, dit
vom „Briffelführer” aber noch mehr in ber Mitte der Reihe.
1) Im Griechiſchen: Und zwar find die Frauen jenfeite des Rilufere, die |
Mäuner aber dieſen gegenüber.
“|
Die Regeln des Pachomins. 329
fragt. Und nachdem das Pfalmenfingen aufgehört Hat, left, wäh-
rend ihr in eure Wohnungen heimgeht, was Ihr vorgetragen habt,
58 ihr nach eurem Haufe gelangt! Und keiner ſoll fi verhüffen,
während er lieft.
Und feiner biide umher, während bie Brüder eifen, und feiner
toll feine Hand zum Zifhe vor dem niederlaffen, welcher älter
ds er iſt. Umd feiner ftreite ſich und unterhalte fich; wenn er
aber lacht, fo werde er gerichtet! Wenn einer nicht zum Tiſch⸗
gebete formmt, wann die Brüder effen, jo werbe er gerichtet, oder
er gehe faſtend Heim und effe nicht! Und wenn du bei Tifche
twas wimſcheſt, fo Sprich nicht, murmele! Und nachdem du von
da hinausgegangen bift, wo du ifjeft, mache nidht viele Worte!
Und niemand drehe, während er ißt, feinen Kopf zum Tiſche ber
Brüder, um zu fehen, wie fie die Speife bereiten! ?) Dem Bruder,
welcher krunf ift, thue der Abt feinen Willen, indem er fragt, was
gewünſcht (gebraucht) wird! Und am Orte franfer Brüder effe
feiner einen Biſſen und trinte Wein, außer wer Trank ift! Seiner
bringe Speife der Kranken in die Küche der Brüder, mo fie für
ſich kochen, Tondern man richte für fie, die Kranken, allein vor!
Und nicht ſoll man es reichlich machen, wenn man benen gibt,
weiche krank jind.
Und werm einer aus der Welt tommt, um Mönch zu werden,
jo mag man ihn zuvörderſt das Gebet des Evangeliums lehren,
md ſodam mag man ihn den PBfalmengefang lehren, und er
bleibe affo in der Vorhalle, mährend er in der Ordnung und
Setfeßimg der Brüder belehrt umd erprobt wird, und fodann aljo
mag man ihn feine Weltkleider ausziehen und ihn die Kleider des
Moͤnches anziehen laffen!
Und ſeine Weltkleider, welche er ausgezogen hat, und wenn er
1) So hat Dillmann die fchwierige Lesart des Aethiopifchen nach dem
Lateinifchen verändert. Da aber dies nicht Kar ift, denn das Efien wurde
nit an den Tiſchen bereitet, fo möchte ich die äthiopiſche Lesart be⸗
richtigend überfegen: „Zum Tiſche der Brüder, deren Amt es ift, daß
fie Sie Speiſe bereiten.” Diefe konuten ſich allerdings eine andere, beffere
Speife auftragen.
330 König.
anderes hat, was es [auch] fei, gebe man dem Verwalter der Frucht,
die unter dem Baume ift! Und diefer Befehl ift ihm (diefem)
gleich: Keiner laſſe wohnen in feinem Haufe und zwar gar nice,
und feiner erwerbe und zwar ganz und gar nichts, ausgenommen
was ihm von feiten feiner Vorgefeßten gegeben wird, außer was
er anzieht, und dieſes iſt Zweies: Unterkleid und eine Dede und
ein rauhes Fell (hier allgemein: Ueberwurf) vou Leder und Schuhe
und zwei Kopflappen und Gürtel und Stod.
Und feiner gehe irgend wohin, ohne daß es der Abt wiſſe!
Und keiner fchlafe außerhalb feiner Lagerftätte! Und feiner gebe
aus dem Klofter hinaus, ohne daß es der Abt wiffel Und keiner
unterhalte ſich mit einem andern an dem Orte, wo er fhläft!
Keiner ftreue auf feine Lagerftätte irgend etwas außer Lagerdede
allein! Und feiner falbe oder waſche ſich feinen Körper ganz
außer in feiner Krankheit! Keiner unterhafte ſich mit dem andern
im Sinftern! Und feiner erfafje die Hand des anderen, ober wo
es aud) fei feinen Körper! Sei es während fie ftehen, oder ſei
es während fie lange Liegen, fo follen fie zwifchen fi den Raum
von einer Elle Lafjen, und ebenfo follen fie thun, während fie
figen? Keiner Lafje fich fcheeren, ohne daß es ber Abt wiſſe, und
feiner irgend etwa fcheere, ohne daß es ihm befohlen wird! Und
feiner nehme, was es auch fei, von einem anderen, ohne daß cö
der Abt wifje! Keiner reite auf einem Efel bloß mit einem anderen!
Keiner gehe an die Kunftarbeit, um feinen Dienft zu thun, ehe es
ber Abt wifje! Keiner nehme ein Geräth, welches es fei, wie
etwas was er ihm zum Aufbewahren übergab, bis er es ale dus
feinige empfüngt! Und feiner unterbalte fih in der Bäckerwerl⸗
ftatt, während die Brüder Brot bereiten, fondern fie follen leſen,
bis fie es fertig Haben; feiner unterhalte fi, fondern fie follen
murmeln! Keiner werde vonfeiten der Brüder verlaffen, zur
Zeit warn ein Bruder ftirht, damit fie ihm bie zum Berge ')
1) Mit dem „Berge“, welcher im Anfang des 3. Theiles „heiliger“ Berg
beißt, fcheint der Berg Nitria, weftlic vom Delta, gemeint zu fein, wo
Ammon das Kiofterleben einführte, vgl. Mangold, De monachatus |
origg. et causis, 1852, p. 66.
Die Regeln des Pachomins. 881
geleiten! Keiner gehe vor dem Abt! Keiner knete Thon ?), ohne
dag es der Abt weiß; und alles, was darauf folgt, möge gethan
werden; nichts möge gethan werden, che es der Abt wiſſe! Seiner
gebe in ein Frauenklofter, um eine Schwefter unter ihnen zu be-
jnden, e8 fei denn kurze Zeit mit dem, der zum Priefter beftelit
ft, und die, welche ihn dienen ?). Sei es, daß über einem Kleide,
während es zum Trocknen aufgehängt ift, die Sonne dreimal
aufgeht, fo werde der Beſitzer des Kleides deswegen gerichtet, und
er werfe fi in der Küche nieder und ftehe, wo die Brüder eſſen;
oder ſei es Über Haardecken oder Schuhen oder einem Gürtel ober
etwas was es fei, fo foll man auch ihm thun, wie das erfte Gericht
ft! Wer diefes ſGeſetz)] befeitigt und nicht beobachtet, werde ge⸗
rihtet ohne irgend welchen Streit darüber, damit fie ein ewiges
Reich ausmachen (bilden) !
[Das ift] die andere Rede des Heiligen Bachomius. Und feine
leibliche Schweiter liebte das Mönchstum und er befchor fie und
mmgürtete fie und machte ihr eine Wohnung für fie allein am
gegenüberliegenden Ufer des Fluſſes eine Meile entfernt. Und auf
ihte Beranlaffung verfammelten ſich Jungfrauen und Witwen und.
wurden überaus gut. Und feiner ging dorthin hinüber außer
denen, welche von feiten des Abba Pahomius als Verordnete und
Qute an den beftimmten Feiertagen unferes Herren dazu verordnet
wurden. Und wenn eine von ihnen zur Ruhe einging, hielten fie
Pialmengejang und ſchmückten fie in Heiligkeit und wickelten fie
in Leinen; und bie Brüder nahmen fie auf einem Floffe in Em-
fang und begruben fie an ihrer Stätte; und weder fahen bie
Männer das Gefiht der Frauen noch die Frauen das Geficht ber
Männer. Und die Frauen erreichten die Anzahl 180 und die
Männer 340, und er befahl ihnen, daß fie ſich überaus hüteten
I) Schon Dillmann bemerkte, daß der äthiopifche Weberfeger undonomon
für das urfprüngliche Griechiſche rAnporzoınon gelefen babe; aber ich
weiß auch micht, welche Bedeutung diejes in diefem Zuſammenhange
haben foll.
2) Statt deffen könnte auch Üiberfegt werben „und mit denen, welche ihm
dienen”, aber da hätte die Zahl der Begleitenden eine noch weniger fefte
Grenze.
König
vor dem Anblid des Gefichtes der Frauen umd dem Hören ihrer
Stimme.
Dritter Theil.
Zuvörderft von allem ift e8 micht angemefien, daß auf em
heiligen Berge Zank und Schreien und lautes Rufen fei, und wenn
einer dieſes thut, jo dauere feine Buße bis zum 8. Tage, und er
werfe fih je 300mal des Tages nieder! Wenn einer von der
Berfommlung, während fie auf dem Berge ift und aus dem Haufe
der Berfammlung berausgeht, ißt ohne Kraukheit und ohne Er
mächtigung feines Lehrers, fo dauere feine Buße bei Waffer und
Brod bis zum 10. Zage, und er werfe fi 200mal an jedem
Tage nieder! Und wer nicht zur Zeit der Mitternacht aufwacht
und ohne beftimmte Krankheit nicht mit den Brüdern zur Kirde
fommt, werfe fih 1000mal nieder, und an diefem Abend Tofte,
noch trinke er eine Brühe außer bloß Waſſer. Und wer auch am
Tage von denen, welche auf dem Berge find, nit um drei Uhr
nachmittags zur Kirche kommt, mit dem foll man ebenfo handeln.
Und wenn einer Webelnehmerei und Spigigkeit, Wortwechſel und
Streit nad) einem Eſſen oder nad) einem Feſtmahle fich zu Schulden
fommen läßt, jo danere feine Buße 10 Tage, und auch vom
Abendmahle halte man ihn zurüd! Und wenn einer wider einen
andern ſchmäht, indem er ihn mit der Verwandtſchaft feiner Ab-
ftammung, mit wen es auch fei?), nennt — weil e8 eine groß
Verirrung im Haufe der Heiligen ift, weil mir Gott der Herr in
Betreff diefer Sache gezeigt bat, daß fie mit Feuer und Schwefel
gerichtet werden —, fo foll er dieſertwegen, fage ih, 40 Tage falten
und fol fih an jedem Tage 500mal nieberwerfen, und jein
Faſten fol bei Waffer und Brod fein, und das Abendmahl em
pfange er nicht, und man foll es ihm ganz und gar nicht leidt
machen, denn er bat die Schafe der Kirche Ehrifti getrennt und
zeritreut. —
Und wenn einer von den Brüdern zur Ruhe eingeht, fo fol
1) Diefes iſt zwar nicht ganz Mar, aber der Wortlaut ſcheint bieje Ueber⸗
ſetzung zu fordern.
Die Regeln des Pachomins.
man ihn an jedem Tage zur Zeit des Räucherns von der Sünde
losſprechen; und am 40. Tage follen fich alle Heiligen zur Zeit
des Schlafes in der Kirche verfammeln, und die BPriefter und
Diaconen und alle heiligen Väter follen den Weihrauch unter ſich
tbeilen und follen fich vor ihn, welcher geftorben ift, niederwerfen,
joweit ihre Kraft reiht, und fodann follen fie ihre Thräne über
den Weihrauch gießen und follen räuchern, indem fie die ganze
Racht wachen; denn ich habe gefunden, wo es heißt: Er wird
jin wie ein Kind, wenn er vor feinem Schöpfer fteht, und denen,
welche beten, wird es zu einem großen Lohne gereihen. —
Und wenn einer ji im Haufe der Gemeinde ein Befſitztum
jogar bis auf eine Nadel herab erwirbt, ohne daß es fein Lehrer
wife, To fol feine Buße 50 Lage mit Baften bei Waffer und
Drod dauern, und auch das Befigtum ſoll man ber Gemeinde
überlajfen, und zwar ſoll ihm fein Sichniederwerfen auf 200 ge-
fteigert werden.
Und in Betreff diefer Sade, daß mir Gott der Herr im
Himmel das Thun der Verlorenen und der anderen, welche ihnen
gleichen, gezeigt hat, fo ſah ih fünf Gemeinden von Schled-
ten: eine Gemeinde von Hyänen und eine andere Gemeinde von
Hunden und eine dritte Gemeinde von Wölfen und eine vierte
Gemeinde von Schafalen und eine fünfte Gemeinde von Ziegen.
Und wiederum zeigte er mir fünf andere Gemeinden von
Guten: eine Gemeinde von Schafen und eine andere Gemeinde
von Zauben und eine dritte Gemeinde von Qurteltauben und eine
vierte Gemeinde von Bienen und eine fünfte Gemeinde von Neben.
Umd ich fagte zu ihm: Deute mir die erften! Und er fagte zu
mit: Höre mit dem Ohre deines Herzens!
Welche den Hyänen gleichen, die du gefehen haft, dies find
die Mönche, welche ihrem Namen nad bei den Brüdern bderfelben
Gemeinde figen, allein deren Thun dem der Hyäne gleich ift. Den
Zag bringen fie hin, indem fie mit den heiligen Brüdern faften,
und wenn es Abend ift, zur Zeit des Schlafens geben fie anftatt
des Wachens der Nacht im Finftern hinaus wie bie Hyäne. Und
fie gehen in ein Klofter der Nonnen zur Luſt ihres Bauches, und
indem fie fich fättigen, zerreißen fie die Schafe Chrifti, obgleich
334 König
fie die Armen fennen, indem fie mit einem Weibe huren, welches
ebenjo wie fie Mönch ift, und fie verftriden fi in ihr das Schiff
ihrer ewigen Seele, und ber Flügel ihres Mönchstums wird zer-
brochen. Wehe ihnen, menn fie fich nicht zur Buße befehren!
Gelobt fei Chriftus, welcher Buße zur Vergebung der Sünde ge:
geben hat!
Und ferner die Gemeinde der Hunde, welche du gefehen haft,
dies find die Mönche, welche, während fie in der Gemeinde fißen,
für fi felbft Beſitztum erwerben, fei e8 groß fei es Klein, ſeien
e8 Saiten oder eine Schuhahle oder eine Nadel, ohne Ermächtigung
ihres Lehrers. Sie find wie die Hunde, denn ein Hund läßt
nichts, was er findet, fei es Miſt oder eine Maus, oder eine
Heufchrede und irgend welde Würmer, und es gibt nichts, was
er verwirft. Und auch diefe Mönche gleichen deswegen in ihrem
Thun den Hunden.
Und ferner die du als Gemeinde von Wölfen gefehen Halt,
das find die Mönde, welche den Tag mit Hafchen nad Worten
hinbringen, indem fie mit dem Meſſer ihrer Zunge den Körper
ihres Nüächften zerfleiichen gleihwie Wölfe, indem fie [nämlid]
Worte gegen ihren Lehrer oder gegen ihren Nächten verbinden;
wie der Wolf Laute ausftößt und feine Genoffen ruft, um There
zu tödten, ebenfo demnach diefe Mörder, [um] die Seele einee
Menfchen mit ihrer Zunge [zu tödten]. Und deswegen gleichen fie
in ihrer Erfcheinung den Wölfen, und felig ift der Menſch, welder
ji diefem Gericht entziehen kann, deſſen wir gedachten |
Und die Gemeinde der Schafale, dies find die Mönche, melde
al8 Gemeindeglieder in ihrem Innern und in ihrem Aeußern den
Schakalen gleichen. Und fie ejjen für fi allein, und die Scafale
haben ja die Gewohnheit, daß fie für ſich allein freſſen, was ſie
finden, und nicht in Gemeinschaft find beim Freſſen, denn fie find
im Freſſen fehr unerfättlih. Und ebenfo diefe Mönche; cs gibt
welche, die beim Austritt aus dem Haufe der Verfammlung effen,
und es gibt welche, die, bevor fie in da® Haus der Verfammlung
eintreten, für fic allein ein jeder mit feinem geliebten Teufel ejjen.
Und diefertwegen gleichen fie ganz den unreinen Schafalen. Und
ich fagte zu dem, welcher mir erfchien: „Bis wohin zulegt führt
en Zee
Die Regeln des Pachomius. B
dieſe unerſättliche Gier des Fleiſches? Und er ſagte zu mir:
Wahrlich, ichEfage dir, überaus ſchwer iſt ihr Gericht. Wehe dem
Mönde, welder in dieſem böfen Nege gefangen ift, wenn er ohne
Buße ftirbt!
Und die Gemeinde der Ziegen find Mönche und Gemeinde
glieder, welche andere Mönche freveln fegen und ihrer Spur folgen,
wie Ziegen, wenn ein Panther Tommt und eine erfaßt, fodann alle
zu dem reißenden Panther gehen und er alle Ziegen erwürgt. Ind
chenſo, wie gejagt, hüten ſich diefe Monche nicht, indem fie die
Ermordung eines anderen von feiten bed Satans, Ihres Tyeindes,
ſehen; und wenn fie einen Hurer jehen, fo huren fie wie er, und
wenn einen Verleumder, fo machen fie fi) zu Genoſſen feines
ſchlechten Thuns, und wenn fie bei Abichaffung (Verſäumung) des
Faſtens oder bei irgend etwas, was es ſei, dabei find. Und
deswegen gleichen fie Ziegen; gleih Sindern find fi. Und als
ih es hörte, verwunderte ich mich darüber; und ich fagte zu
isn: Deute mir diefe fünf anderen Gemeinden !
Und er fagte zu mir: Höre mit dem Ohre der Weisheit und
freue dich über fiel Und dieſe erſten, welde den Schafen
gleichen, dieſe find die zur Gemeinde gehörigen Mönche, welche
zuſanmnen eifen, ohne fidh zu trennen, voll Liebe wie von einer
Seele beieht; und auch beim Gebet und Abendmahl und der Taufe
und kei jeber guten Handlung find fie beifammen ohne Abjonderung
wie Schafe. Und ebenfo haben einerſeits Schafe die Gewohnheit,
daß fie zufammen freien, und aud fo oft fie Hinabfteigen, um
Baffer zu trinken oder um falzige Pflanzen zu freien, jo fondern
fie fich nicht jedes für Sich, ſondern fie find in ihrem ganzen
Wandel verbunden; und biefe Mönche gleichen anderſeits den Schafen
in der Bemeinfamleit ihres Wandels. Und ferner haben Schafe
eine andere Gewohnheit: Wenn fie jehen, daß ein Panther eines von
ihnen erfaßt, fo zertreuen fie fich jedes für fih, und der Mörder
findet fie nicht; und ebenfo, wenn diefe Heiligen jehen, daß ein
Mönch in ihrer Nüge ſei es in Hurerei oder in Prahlerei oder
in Uebermut oder in Verleumdung gefunfen ift, fo hüten fie fich,
dab fie wicht der Mörder der Seele erfaßt. Und ſe ſehſt du dieſe
Aeol. Sud. Sahes. 1818.
886 | König
heiligen, weißen Schafe ded Evangeliums; felig find die, welchen
diefes Theil zugemefjen ift!
Und ferner gleich Tauben — dies find die zur Gemeinde
gehörigen Mönche, fanftmüthig wie eine Taube mit Wiffen und
Weisheit und Liebe zu ihrem Nächten; die fie fchimpfen und
fhmähen, lieben fie wie ihre Seele. Denn die Tauben find fehr
feichtfliegend, und diefe Heiligen machen ihre Flügel Leicht durch
bie Schönheit ihres möndifchen Thuns. Denn e8 wird von den
Tauben gefagt: Wenn man ihre Jungen nimmt, fo zürnen fie
nicht, und ebenſo rächen ſich biefe, obgleich fie alles wiſſen, nicht
an den Menſchen. Und deswegen fiehft du fie leichtfliegenden
Tauben gleich, und während fie im Körper find, fliegen fie mit
weißen Flügeln des Geiftes.
Und diefe wiederum, welche du gleich einer Zurteltaube
gefehen haft, und diefe find eine Gemeinde von Mönchen: Prieſter
und Dialonen und Heilige und Sänger, welche mit wohlffingenber
Stimme und mit liebliher Gefangsweife ohne Ueberhebung und
Prahlerei fingen; in geiftlicher Demut mit Furcht und Zittern
und Herabfließen der Thräne figen fie, indem fie in der Kirche
zur Ehre des Schöpfere Pfalmen fingen, bis fie fchwigen. Und
deöwegen gleichen fie der Zurteltaube, denn die Stimme ber
Zurteltaube ift wohlflingend; und deswegen jagt die Braut durd
den Mund Salomo’s, des Propheten: die Stimme einer Turtel⸗
taube wird in unjerem Lande gehört. Und um des willen gleichen
diefe diejem Bilde. Selig find die Priefter, welchen diefes Theil
zugemeſſen ift! |
Und diefe wiederum, welche den Bienen gleich find, find die
zur Gemeinde gehörenden Mönche, weiſe wie die Bienen. Und
wie die Biene Honig aus allen Blüten ſammelt, fo figen dieſe,
indem fie Werke der Gerechtigkeit aus dem Ringkampfe der Heiligen
fammeln. Und deswegen gleichen fie den Bienen. |
Und ferner die den Rehen gleich find, find die zur Gemeinde
gehörenden Mönche, welche fortwährend im Laufe dienen gleichwie
ein Reh ohne Ermattung, fei e8 der Kirche, fei e8 dem Haufe der
Gemeinde, denn es ift ein Haus Gottes des Herren und nicht ein
Haus der Menfhen. Denn er felbft, unfer Herr, fagt im Evan
Die Regeln des Pachomins. 887
slim: Wo zwei und drei in meinem Namen verfammelt find,
da Din ich in ihrer Mitte. Nicht wird demnad) alfo bie Stimme
Ehrifti Rügen geftraft, denn der Retter wird ja nicht aus ber
Hitte der Gemeinde gefondert. Sehr ſchön fei e8 euch, o Brüber,
ki dem Schöpfer alle Tage eures Lebens zu bleiben! Und wer
8 ik, der im Haufe und draußen dient, nicht dem Menſchen,
jmdern Gotte dient er; und wer zur Zeit bes Tiſches den Heiligen
zur Seite fteht, fteht nicht ihnen, fondern dem Sohne des Vaters,
dem Aelteften der Gemeinde, zur Seite, welcher in ihrer Mitte
ft. Seinem Andenken gebührt Ehre und Verherrlihung und
Kiederwerfung. Selig feid ihr, meine Kinder! Wenn ihr bies
beobachtet und thut, fo werdet ihr meine Stimme an jenem
Zoge an ber engen Pforte im erfchreclichen Gerichte finden. Und
et, Gott der Herr, wird euch Helfen, diefe Befehle auszuführen,
welcher in alle Ewigkleit gelobt feil. Amen.
22*
KRecenfionen.
——m mm ur un — ⏑ü⏑
Sul
1
Gefchichte der deutschen VBibelüberfeßungen in der fchwei-
zerifch-reformirten Kirche von der Reformation bis Zur
Gegenwart. Ein Beitrag zur Geſchichte der reformirten
Kirhe von 3. J. Mezger, Antiftes und Profefior in
Schaffhaufen. Bafel, Bahnmaiers Berlag (C. Detloff),
1876.
In diefem Buche, das von großem Fleiße, reicher Belefenheit
und geſundem Urtheile des Herrn Verfaſſers zeugt, wird die Ge⸗
Ihichte der deutſchen Bibelüberſetzungen, ſoweit fie bie Schweiz
betrifft, im weiteften Sinne aufgefaßt und durchgeführt, es wird
theils die Stellung, welche die fchweizerifche Kirche zur Iutherifchen
Dibelüberfegung von Anfang an bis auf unfere Zeit herab eins
nahm, angegeben, theild die Entftehung und vielfache Umbildung
der befonderen fchweizerifchen Weberfegungen gefchildert und von
fegteren eine eingehende Charakteriftit gegeben, e8 werden fodann
auh die verfchiedenen in der Schweiz gedrudten Bibelausgaben
bibſiographiſch, felbft nach den beigegebenen Bildern, befchrieben,
und ebenfo wird auch die Gefchichte der Bibelverbreitung in den
einzelnen Cantonen ausführlich behandelt. Gewiß läßt es fich vor
allem nicht verfennen, daß das Werk einen bedeutenden Werth als
Beitrag zur Gefchichte der reformirten Kirche hat; denn wie es
fih von felbft verfteht, daß das Verhalten einer Kirche zur heiligen
Schrift zu allen Zeiten für die Beftimmung ihres ganzen Charakters
von grimdwefentlicher Bedeutung ift, fo unterläßt es auch ber
Berfaffer nicht, auf den Gefamtzuftand der fchweizerifchreformirten
342 Mezger
Kirche an den gehörigen Orten ein deutliches Licht fallen zu laſſen.
Es werden aber auch die Mittheilungen namentlich über die Züricher
Bibelüberſetzung an ſich ſelbſt viele Leſer in Deutſchland intereſſiren,
um ſo mehr als dieſe Ueberſetzung in Deutſchland ziemlich unbe⸗
kannt iſt, eine Unbekanntſchaft, worüber auch der Verfaſſer klagt
S. 283 und 399, indem er jedoch verſichert, daß die Züricher
Bibel in der ſogenannten Berlenburger Bibel vielfach benützt
worden ſei, fo daß manches, was in ber Polyglottenbibel von
Stier und Theile der Berlenburger Bibel zugefchrieben fei, fid
als arſprungliches Gigentum der Ziwicher bet ausweife. Duaps
kommt, daß die Mezger' ſche Schrift in der gegenwärtigen für
die Revifion der Bibelüberſetzungen günftigen Zeit: einem bedeu⸗
tenden praftifchen Bebürfnis begegnet; ob fie den Erfolg haben
wird, die fehmeizerifchen Theologen und fonftigen Liebhaber des
göttlichen Wortes zur Wiederaufnahme der im Jahre 1859 ange
fangenen, in den legten Jahren aber wieder in's Stoden gerathenen
Arbeiten zu Herftellung einer für die Schweiz gemeinjamen
Bibelüberfegiing aufzumuntern, wird die Zeit lehren, fie euthält
aber auf jeden Yall mandjes Lehrreihe auch für die im Auftrag
der deutſchen Kirchenregierungen unternommene Revifion der lu⸗
theriſchen Bibelüberſetzung.
Um nun auf das Buch näher einzugehen, ſo ſchickt der Ver⸗
faſſer ſeinem Thema eine intereſſante Einleitimg voraus, welche
von der Kenntnis und dem Studium der heiligen Schrift in der
Schweiz vor der Refotmation handelt; der erſte Abſchnitt betrifft
die Zeit vor Erfindung der Buchdruckerkunſt, der zweite die Zeit
von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zur Reformation; im
erjten Abfchnitte bildet der Natur der Sache nach das Klofter
St. Ballen, im zweiten die Univerfität Baſel den Mittelpuntt der
Betrachtung. Aufgefallen ift mir Hier bloß, dab S. 6 in der
Anmerkung gefagt wird, es ſei in der Schrift Notlers „Liber de
interpretibus divinarum scripturarum‘“ unter den Apokryphen
mt von dem Ecclesiasticus und dem Bude Strah die Rede,
während doch der Name ecclesiasticus (nicht zu verwechſeln mit
ecelesiastes == Prediger) der jeit der Mitte bes 4. Jahrhunderts
in der lateiniſchen Kirche üblich gewordene Name für das Bud
a u rn EEE“ —p.
Gefchichte der deutschen Bibelüberjegungen. 818
Sirach jelbft ift, nachdem er urfprünglicd eine Bezeichnung der
Apofryphen überhaupt geweſen war. Vgl. hierüber Fritzſche's
Commentar über die Weisheit Jeſu⸗Sirachs, Einleitung 8 3.
Das Thema felbft wird nach drei Berioben durchgeführt: erſte
Periode vom Beginn der Reformation bis um die Mitte des 17. Jahr⸗
handerts, zweite Periode von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis
am Ende des 18. Jahrhunderts, dritte Periode vom Anfang bes
19. Jahrhunderts big zur Gegenwart. Im erften Abſchnitt der erften
Periode werden bie Anfünge der jchweizerifchen Reformation unb
das Auftreten der lutheriſchen Bibelüberſetzung in der Schweiz ber
handelt, wie nümli in Bafel und dann auch im Zürich bald nach
dem Ericheinen des Imtherifchen Nenen Teitamentes im Jahre 1522
dasjelbe in mehreren Ausgaben nachgedrudt wurde, woranf fpäter
in Bafel auch der Abdruck des Alten Teftamentes folgte. In den
im Jahre 1524 herausgelommenen Züricher Ausgaben ift bie Sprache
bereits vielfach dem fchmeizerifchen Dialekt näher gebracht, wie das
durch Aufährung von einer größeren Anzahl einzelner Proben bewiefen
wird, . D. „huß“ ftatt „Haus“, „zyt“ flatt „Zeit“, ferner, was
die Erfegung einzelner hochdeutſcher Ausbrücke durch fchmeizerifche
betrifft, Matth. 5 „Wo nun das falz fin rägı verlürt“ ſtatt
„summ wird", Matth. 6 „glychjner“ ftatt „Heuchler“, Röm. 13
„Kür“ Statt „ſchoß“. Beſonderes Intereſſe erregt die Beiprechung
der in den Basler Abdrücken enthaktenen Holzſchnitte, und es wird
als vollftändig ficher bezeichnet, dag die zum Neuen Zeftament von
keinem Geringeren herrühren, al8 von Hans Holbein bem jüngeren. —
Im zweiten Abfchnitt wird die Züricher Bibelüberſetzung befprocden,
nachdem zuerft die Veranlaffung zu berjelben dargelegt worden
ft, welche nicht bloß in der Verſchiedenheit des beutfchen vom
ſchwetzeriſchen Sprachidiom Tag, fondern auch im der durch den
Abendmahlsfſtreit entitandenen Trennung zwiſchen ber Imtherifchen
amd reformirten Kirche. Indem der Verfaffer auf eine Darftel⸗
lung der Abendmahlejtreitigleten ſich einläßt, Hätte er doch die
bervorgetretenen Differenzen etwas tiefer auffaſſen dürfen, ale daß
fie nur auf einer verfchiedenen Erklärung der Einfegungsworte bes
ruhen. Denn man kann bie reformirte Erflärumg derjelben wenigftens
noch der Weife Defolampads: „Das ift das Zeichen meines Leibes“
344 Mezger
vollkommen annehmen, ohne darum das Abendmahl in eine bloße
Erinnerungsfeier zu verwandeln. Freilich wird der Verfaſſer fagen,
eine genauere Darlegung des Abendmahleftreites habe nicht zu
feiner Aufgabe gehört; allein das Gleiche gilt auch von der Er-
Härung der Einjegungsworte, da die Verfchiedenheit hierin feinen
Einfluß auf die Ueberjegung der Worte felbit Hatte; nur au der
Ueberfegung bes edloyrfoas Marc. 14, 22 mit „fprad den Segen“,
wie Luther 1522—1525 überjegt hat, nahm Zwingli als papiſtiſch
Anftoß, indem er, wie der Verfafjer anführt, fagt: „Segnen
reden bie Päpftler, von denen entlehnets Luther... . . es dient
mal zur fach, fegnen; es foll vermögen, daß man mit den worten
einer materie fraft geb, und den Luther vermögen den lychnam
Chrifti ins brot bringen“. |
Die Züricher VBibelüberfegung felbft ging aus von der von
Zwingli fo genannten Prophezey, d. 5. einer im Jahre 1524 ge
ftifteten Vereinigung von Gelehrten zu DBibellectionen, und Leo
Judä wurde bald die Seele der Züricher Ueberfegungsarkeit.
Während aber die übrigen Theile der Züricher Bibel großentheils
eine Wiedergabe der Qutherbibel waren, einen im Jahre 1529
die Propheten und die Apokryphen felbftändig überſetzt, noch ehe
Luther diefe Theile der Bibel ganz herausgegeben hatte. Die in
ben Propheten öfters erfichtliche Zufammenftimmung mit Luthers
Ueberfegung erflärt der BVBerfafler aus dem Umijtand, daß ſowohl
ben Zürichern als Quther die im Jahre 1527 im Worms erfchienene
Ueberfegung der beiden Wiedertäufer Ludwig Hüter und Hans
Den? vorgelegen habe. Aus den mitgetheilten längeren Proben
ber Züricher Weberfegung heben wir nur hervor Jeſ. 9, 2:
„Wirftu aber das Volk vilen und die fröud nit ouch groß machen?“
Rückſichtlich der Apokryphen unterfcheidet ſich die Züricher Leber
fegung von der Luther'ſchen auch dadurch, daß die Züricher unter
Weglaffung einiger Heineren apokryphiſchen Schriften auch das
dritte Buch der Makkabäer und das dritte und vierte Buch Esra
aufgenommen Haben. Was nun aber das Verhältnis der übrigen
biblifchen Bücher in der Züricher Bibel zu der Ueberfegung Luthers
betrifft, fo ift Referent, wie er offen gefteht, an der Darjtellung
des Verfaſſers irre geworden. Denn indem derſelbe die auch hier
ee
u — —
Geſchichte der dentſchen Bibelüberſetzungen. 345
neben den ſprachlichen Verſchiedenheiten vorhandenen materiellen
Ahweihungen angeben. will, begegnet es ihm, daß er viele Stellen
al eine Eigentümlichfeit der Züricher Ueberfegung betrachtet, welche
doch nichts anderes find, als ein Abdrud der älteren Qutherüber-
fegung ſelbſt. So gibt er fhon S. 72 an, Gen. 2, 7 babe bie
Züriher Bibel „uff ftonb von der erden“ ftatt des Luther’schen
„ms einem Erdenkloß“, aber das lettere ift erft 1534 im den
Luthertert gelommen, vorher hatte derſelbe „aus ftanb von der
erden“. ©. 81f. werden wohl theilweife wirkliche Verfchiedenheiten
angeführt, 3. B. Sen. 3, 16 „und zu dinem man din gelüft oder
begird“. Aber viele angegebene Varianten find einfach aus der
Latherbibel abgedrudt, 3. B.: Gen. 27, 40 „Und es wirt ge
ſchehen, daß du fin joch ablegeft und von dinem hals reyßeſt.“
Hiob 39, 13 „des ftrußen“ (Luther „des ftraufjen* und erſt ſpäter
„8 Bauen“). Pf. 39, 10 „Ich bin verftummet und tue min
mmd mit uff, denn du Haft e& gemacht.“ Prediger 1, 18 „Wer
vil erfart“ (Luther: „wer vil erfert”, erft von 1541 an: „wer
vl leren mus“). Luc. 3, 23 „war by odryßig jaren“ (Luther:
‚war bey dreyſſig jaren“, und erft von 1541 an: „gieng in das
dreiffigft jar“) u. ſ. w. Joh. 1, 6 wird fogar „Es ward ein
| menſch“ als Variante der Züricher Ueberſetzung angeführt, während
Luther felbjt immer fo gejchrieben Hat, und nur einige neuere
Ausgaben dafür gefebt haben „Es war ein. Menſch“. && fcheint,
Herr . Antiftes Mezger habe die fritifche Bearbeitung von Luthers
Bibefüberfegung durch Bindſeil, welde freilich S. 317 als
„kitifche Bibelüberfetzung von Dr. Bindfeil“ angeführt wird,
nicht verglichen, fonft wäre er davor bewahrt worden, in jeder
Abweichung der Züricher Ueberfeßung von den fpäteren Ausgaben
der Rutherbibel eine Eigentümlichkeit der erjteren zu finden. Be⸗
merft mag übrigens noch werden, daß der Herr Verfaffer bei
Beiprechung von Pi. 23, 5, wo bie Züricher Ueberfegung hat:
„Du macheft myn houpt feißt mit Sl“ (Luther in den früheren
Ausgaben: „du machſt mein heubt fett mit Öle“) die viel verbreitete
Angabe zu widerlegen für gut findet, die Züricher Weberfegung
habe an diefer Stelle: „Du fchmiereft min grind mit Schmeer”.
Die folgende Ausgabe von 1531 enthält eine neue Weberjegung
346 Mezger
der poetiſchen Schriften des Alten Teſtamentes, z. B. Pf. 8, 4.5:
„So ih die himmel, die du mit deinem fingeren gemacht haft,
betrachten: den mon vnd fternen bie. du gejchaffen Haft, fo dent
ich, wie groß vnd wärd ift doch der menſch das du ſein gedacht
baft: das: du. fein rechnung Haft“, und bie Ausgabe von 1540
zeigt: ach mwirffiche. Verbefferungen des Luther'ſchen Textes im
Neuen Teftament, z. B. Luc. 24, 1 „an hem erften tag nach dem
fabbath“, Apg. 17, 11 „edler und artiger denn bie zu SChefle
lonich“. Ich muß nun aber in Beziehung auf die weitere Angabe
und Charalterifieung. der vielen aufeinanderfolgenden Ausgaben
der Züricher Ueberfeßung. und der darin ſtets wieder vorgenommenen
Aenderungen lediglich auf das Buch felbft verweifen, da ein Aus
zug aus dem reichhaltigen Material nicht wohl gegeben werben
far. — Noch wird über die Berbreitung der dentſchen Bibel⸗
überjegung in der Schweiz bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts
geſprochen, wobei interefjante Nachweijungen gegeben werden über
das Verhalten der einzelnen Cautone zu der Züricher und zu ber
Luther» Biel in Verbindung mit den Kämpfe gegen kutheranifirende
Beitrebungen in einzelnen Gantonen; auch unterläßt es der Ber
fafjer. nicht, über die Frage, in wie weit die Züricher Ueberſetzung
is Deutjchland Eingang gefunden habe, ſowie über die umgünftigen
Urtheile Luthers; und feiner Anhänger über die ſchweizeriſchen Be
fteebungen zu. berichten. ‘Dem, was über Qekolampad gefagt ill,
daß er nämlich bei den Pſalmen der Züricher Weberfegung folge,
liegt wieder das oben angegebene Verſehen zu Grunde, indem bie
uchprünglichen Lesarten des Luther'ſchen Pfalters als Variauten
der Züricher Ueberſetzung gefaßt find; denn die S. 193. mitge
theilten Proben aus Pf. 51 md 86 erweiſen fich füntlich ale
Wiedergabe des Luthertextes vom Jahre 1524.
Die Geſchichte der zweiten Periobe von der Mitte dea 17. Jahr
hunderte bis Eube des 18. Jahrhunderts wird eröffnet burd eine
Einleitung, in der die allgemeinen Verhältniſſe in der ſchweizeriſchen
Kirche behandelt werben, namentlich bie allmühliche Durchbrechung
der Orthodoxie und die Wieberanfnüpfung der Verbindung der
reformirten Kirche der Schweiz mit der enangelifchen Kirche Deutſch
lands, vermittelt durch den Pietismus, Herrnhutismus md die
Geſchichte der deutſchen Bibelüberſetzungen. 347
deutſche Literatur. Damı wird im erften Abfchnitt die Gefchichte
der Züricher Bibelüberjegung ‘behandelt, zunächft die nach mehreren
Borarbeiten erfolgte neu revidirte Ueberfetzung von 1667. Bon
den vielen Anderungen wollen wir nur herausheben Hiob 19, 25:
„Ich weiß, daß mein Erlöſer lebet unb daß er zuletzt liber den
ftaub ftehen wird“, was 1542 gelautet hat: „Dann ich weiß, daß
mein retter und fchirmer läbt, und daß er der legt Über den kaut
fton wirt“, noch früher, 1539: „das ich ber tag eins aus dem faat
wider anffton wird“. Die Weberfegung von 2 or. 4, 17 wird
som Berfafier felbft als ſehr fchwerfällig bezeichnet: „denn bie
fünelle Leichtigkeit unferer Trübfal würket uns ein allerflirtreffe
lihite ewige Wichtigkeit der Herrlichkeit‘. Ziemlich häufig da»
gegen findet eine Rückkehr zu Luther ftatt, amd bamit fteht im
Zufammenhang, daß die Sprache jegt der hochdeutithen näher ge⸗
bracht wird, wobei der Verfaſſer auch eine pedantifch durchgeführte
ſyntaltiſche Eigentümlichkeit anführt, daß in Nebenfägen das Verb
anmer an's Ende geitellt wird, 3. B. Exod. 16, 23: „daß es
bis an den morgen behalten werde“, früher: „daß es behalten werde
58 morn“. Auf die Reviſion von 1667 folgte ein ‚mehr als
hundertjähriger Stillftand in der Ueberſetzungsthätigkeit der Züricher
Kirche, und man begnügte ſich während diefes Zeitraumes mit dem
Wiederabdruck der bisherigen Ausgaben; auch ſpütere Privatver-
juhe neuer Ueberfegungen gingen nicht in den kirchlichen Gebrauch
über. — Der zweite Abfchnitt des zweiten Theiles Handelt von
einer dritten Bibel, welche außer der Luther’fchen und der Züricher
Ueberſetzung in der Schweiz in Gebrauch kam, nemlich der Lieber»
ſetzung von Zohann Piscator in Herborn vom Sahre 1602 .urd
1603, welche, wie ber Berfaffer vermuthet, durch Berner Theo⸗
bogen, die in Herborn ftubirt Hatten, in ihre Heimat gebracht
wurde und da nach und nad) Eingang fand, bis im Jahre 1684
eine offictelle Ausgabe diefer Bibelüberfegung in ‚Bern erfchien,
der fpäter noch andere, mehrfach veränderte, nachfolgten. Der
Berfofier ift übrigens auf diefe Pisentorbibel nicht ‚gut zu fprechen
wegen ihres Beftrebens, die Ausbrüde der Grundſprachen möglichft
wörtlich wiederzugeben, woburd fie undeutlich und undeutſch wird.
Bon den gegebenen Proben feien folgende erwähnt: Jeſ. 9, 3
348 Mezger
nad der Ausgabe von 1684: „du haft [zwar] diß volf groß ger
macht, [aber] du Haft die freude nicht [fo] groß gemacht“, nad
ber Ausgabe von 1719: „du Haft des volks vil gemadt, du halt
ihm die freud groß gemacht“. Matth. 12, 34 nach der Ausgabe
von 1684: „Weß das herz voll ift u. f. w. (wie Luther), 1719:
„Aus dem Ueberfluß des Herzens vedet der mund!" Schon in der !
erften Ausgabe bemerkte ein Bericht an den chriftlichen Leer, €
fei da, wo Piscator göttlihe Eidſchwüre in einer etwas harten
Sorm ausgelegt Habe, eine etwas gelindere Redensart gewählt
worden, und es wurde darum 3. B. Num. 14, 23ff. der Aut
drud „fo will ich nicht Gott fein“ in den „fo wahr ich Lebe“
verwandelt. Doch iſt Mark. 8, 12 ftehen geblieben: „Wann
biefem gefchlecht ein zeichen wird gegeben, fo jtraffe mich Gott“,
und erſt 1784 wurde dafür gejegt: „Wahrlih ich fage euch, es
wird diefem gejchleht fein Zeichen gegeben.” In Beziehung auf
Drud und Papier wird die Berner Bibel von 1684 ale ein
Mufter ſchöner Ausstattung bezeichnet, und ein auf der Stadt:
bibliothek in Bern befindlihes Exemplar von 1736 wird die ſchönſte
Schweizer Bibel genannt, nit nur wegen des Einbandes, fondern
auch wegen der 216 ihr einverleibten Kupferftihe in Folio und
Doppelfolio, welche aber einem niederländifchen Werke entnommen
waren. — Der britte Abfchnitt des zweiten Theiles behandelt den
fortgeſetzten Gebrauch der Lutherifhen Bibel in Baſel und die
Umftände, unter welchen diefelbe auch in Schaffhaujen, St. Gallen,
Appenzell und Graubünden den vollftändigen Sieg erhielt. Mit⸗
getheilt werden hier auch einige Broben aus einer originellen im Fahre
1776 berausgelommenen Bibelüberfegung von Grynäus, Pfarrer zu
St. Peter in Bafel, 3. B. Spr. 1, 8. 9: „Mein Sohn, fiehe
ben Unterricht deines Vaters und aud) was dir deine Mutter ein
geprägt hat, als ein Geſetz an; fie leiten dich zu Tugenden, dieſem
alle äußerlichen Verzierungen übertreffenden Schmude ber Seele.“
Der dritte Theil, die Zeit vom Anfang des 19. Jahrhunderts
bis zur Gegenwart oder die Zeit der Bibelgefellfchaften umfafjend,
betrachtet ähnlich wie der zweite zuerft kurz die allgemeinen kirch⸗
lichen Verhältniffe der reformirten Schweiz während biefer Zeit,
die durch die Nevolutionsftürme eingetretene Verwirrung, die Re
Geſchichte der deutſchen Bibelüberfegungen. 319
fauration und den durch den Anſchluß an Schleiermader und
die übrige deutſche Theologie erfolgten Umſchwung, die gegenwärtig
in der Schweiz einander gegemüberjtehenden theologifchen Richtungen,
wie aud) die in Deutfchland Hervorgetretenen Beftrebungen zur Reviſion
der Lutherbibel. Der zweite Abfchnitt enthält eine Geſchichte der
ſchweizeriſchen Bibelgeſellſchaften, mobei aus den Acten derfelben
über die einzelnen in Betracht kommenden Punkte, namentlich über
die Beziehungen zu der britifchen und ausländischen Bibelgefellfchaft
und über den Wpofryphenftreit Mittheilungen gemacht werden.
Zuerft fommt an die Reihe die Basler Bibelgefellfchaft und die
an diefelbe fich anfchliegenden WBibelgefellfchaften anderer Kantone,
weile den Luthertert und zwar im Anjchluß an die Canjtein’ichen
Ausgaben verbreiten. Bemerkenswerth find beſonders bie wegen
einer Revifion des Bibeltextes von Baſel aus mit Stier geführten
Unterhandlungen, fowie die innerhalb der Schaffhaufer Bibelgeſell⸗
haft und zugleich der dortigen Synode über eine etwaige Ein»
führung der Stier’fchen Weberjegung von 1856 mit vieler Sadj-
fenntnis gepflogenen Berathungen. Auh eine in St. Gallen
herausgekommenen revidirten Ausgabe des Neuen Teftamentes wird
erwähnt, welche zulegt da8 Schidjal hatte, in die Papiermühle zu
wandern. Sehr eingehend wird fodann über bie Thätigkeit der
Züriher Bibelgeſellſchaft und namentlich über die auch in dieſem
Zeitraum zu wiederholten Malen erfolgte Revifion der Züricher
Bibelüberjegung berichtet. Von den gegebenen Proben führen wir
an: Joh. 1, 16 wurde im Jahre 1814 geſetzt: „Gnade über
Gnade“, während e8 1772 geheißen hatte: „eine Gnade vor die
andere”, 1724 aber und auch 1809 mie Luther: „Gnade um
Gnade ; 1Kor. 10, 16 im Jahre 1814: „der Kelch der Dank⸗
ſagung, welchen wir fegnen“, dagegen 1772: „der kelch der bene»
deyung, welchen wir benebegen“, 1724 und 1809: „das trinfge
fdirr der benedeyung*. Umfafjendere Reviſionen wurden in den
Jahren 1860 und 1868 vorgenommen. Bon der Revifion von
1860 fagt der Berfafler, es fei zum erften Mal bier Rückſicht
genommen worden . auf die neueren kritiſchen Arbeiten über den
Orundtert bes Alten und Neuen Teftamentes; ferner, es fei die 1772
bis zur Pedanterie getriebene Setzung des Verbs an das Ende
sc Mezger
der Nebenſätze aufgegeben worden, es ſei auch der letzte Weit der
ſchweizeriſchen Sprachform, das erzählende Perfectum, völlig ver-
fchwunden, und von fchweizerifchen Idiotismen fei vielleicht in der
ganzen Bibel nur das Wort „Räße“ Matth. 5, 13 übrig ges
blieben (S. 275 ijt jedoch erwähnt, daß 1772 in diejer Stelle
gefegt worden fei: „Wenn aber das falz feine fraft verliert“, und
in der Ausgabe von 1868 heißt es ſodann: „eine Schärfe ver-
tiert”). Als einzelne Probe der Ausgabe von 1860 möge hier
erwähnt werden Hiob 19, 25f.: „Aber ich weiß, dag mein Er⸗
{djer lebt und daß er zulegt über dem Staub ftehen wird. Und
nachdem diefe meine Haut zerichlagen ift, alsdann werde ich, ven
meinem Fleiſche los, Gott fehen“, während 1816 der letzte Verb
gelautet Hatte: „Und nachdem meine Haut wieder wird überzogen
fein, alsdann werde ich in meinem Fleiſche Gott ſehen.“ Zu be
richtigen ift die S. 380 und dann weiter unten S. 405 jid
findende Angabe, es fei dem Buche Sirach das früher wie bei Luther
weggefallene Vorwort vorangeſtellt. Vielmehr Hat Luther dieje
Vorrede in jeine Meberfegung aufgenommen, und erft in fpäteren
Ausgaben iſt biejelbe zugleih mit den Vorreden Luthers zu den
bibliſchen Büchern aus der beutfchen Bibel verfchwunden; fiehe
das Nähere hierüber bei Mönckeberg, Vorfchläge zu Nenifton von
Luthers Bibelüberjegung (1861), ©. 23f. Aus der Ausgabe von
1868 führen wir an: Exod. 12, 35 „forderten von den Aegyptern”,
während 1860 geftanden hatte „entlehnten von den Weghyptern“ ;
Bi. 22, 17 wird im Jahre 1868 zu der Ueberfegung „fie haben
mir meine Hände und Füße durcdhgraben“ unten die Anmerkung
beigefügt: oder „bat fi um mich gelagert wie ein Löwe um meine
Hände und Füße“; oh. 2, 24 ift ſtatt des früheren „am gelte
bes Ueberſchrittes“ geſetzt „am Paſſahfeſte“, wie auch die Aus
gabe von 1860 an anderen Stellen ſchon geändert hatte. Im
allgemeinen fagt der Verfafſer von der Ausgabe von 1868, es
ſchließe mit derjelben vorderhand die beinahe dreiundeinhalb Jahr⸗
hundert fortgehenbe unermübliche Ueberfegungsthätigfeit zum Beſten
der Züricher Bibel, und er beklagt fi, daß diefe Bibel von den
deutſchen Gelehrten zu wenig gefannt und gewitrdigt fei. Auch
die Berner Wibelgefellichaft hat im Jahre 1823 eine nene Aus⸗
ug, rer | En
Geſchichte der deutichen Bibelüberfeungen. 851
gabe der Piscatorbibel veranftaltet, jedoch mit der ausdrücklichen
Erklärung, fie habe keineswegs hiebei die Abfiht, Luthers herr-
liche Ueberſetzung, die fi) nun fchon ſeit 15 Jahren im ganzen
Canton verbreitet habe, zu verdrängen. Der Verfaſſer rühmt von
diejer Ausgabe, fie babe wirklich das Beſtreben Elarer und aud)
bie und da geſchmackvoller zu überfegen (3. B. Röm. 4, 19 „ber
eritorbene Leib der Sara“ ftatt früher „die erftorbene Bärmutter
der Sara), das unerträgliche „belangend“, das im Alten Teſta⸗
ment belaffen wurde, 3. B. Pi. 2, 7 „Mich belangend, fo babe
ih dich heute gezeuget“ fei im Neuen Teſtament meiftens befeitigt
worden, 3. DB. Röm. 8, 10 „wegen der Sünde . . . wegen der
Gerechtigkeit“ ftatt des früheren „belangend die Sünde... . be
langend die Gerechtigkeit” ; Matth. 28, 1 wurde gefegt: „Am
Ende aber der Woche, beim Anbruch des eriten Worhentages“
fatt des früheren: „Am Ende der Woche aber, an dem age,
welcher anbrach, daß es der erfte Zag der Woche wurde‘. —
Im dritten und letzten Abfchnitt werden noch die in der Schweiz
vom Jahre 1835 und befonders vom “Jahre 1859 an unter-
nommenen Verſuche zur Aufftellung einer einheitlichen Bibelüber⸗
jung für die dentfch-reformirte Kirche befprochen, welche aber
nach hoffnungsvollen Vorarbeiten daran jcheiterten, daß der Canton
Zürich, feine eigene Bibelüberſetzung nicht aufgeben wollte, während
die niedergeſetzte Commiſſion nur eine durchweg in der Sprache
Luthers gehaltene Reviſion der Luther’fchen Bibelüberjegung beab-
jihtigte, durch diefen Widerftreit geriethen die Arbeiten der Come
miffion in's Stoden, um fo mehr, als auch einige Mitglieder der-
jelben ftarben.
Zum ganzen Bud ift endlich ein ſprachlicher Anhang Hinzu-
gefügt, der den Zweck Hat, die des Schweizerdialektes weniger
Kundigen beim Leſen ber aus den älteren Bibeln gewählten Stellen
zu unterftügen und zugleich zu weiteren Forſchungen anzuregen,
indem der Verfaffer auch darüber klagt, dag der Ziüricher Bibel
vonfeiten der deutſchen Sprachforſchung nicht die verdiente Auf»
merkjamkeit gefchenkt worden fei.
Fragen wir nım, indem wir dem Herrn Verfaffer für feine
werthoollen Unterſuchunden und die daraus gewonnene Belehrung
Theol. Stud. Jahrg. 1878. 23
2 Mezger
aufrichtig danken, noch zum Schluß, was wir in Deutſchland, be⸗
ſonders für die bei uns gegenwärtig in Ausführung begriffene
Reviſion der Luther'ſchen Bibelüberſetzung aus ſeinem Werke lernen
können, ſo könnte die Geſchichte der Züricher Bibelüberſetzung uns
faſt ein abſchreckendes Beiſpiel zu bieten ſcheinen. Denn es hat
in der That etwas tragiſches, dag dieſe Ueberſetzung, auf welche
von Anfang an und fortwährend fo viel Mühe und Gelehr⸗
famfeit verwendet wurde, in der Schweiz felbft immer mehr an
Boben verlor und fogar Mühe bat, fich gegen die unrevidirte
Luther’fche Bibelüberjegung zu’ behaupten. Bei näherer Erwägung
der Gründe jedoch, auf welchen diefe Erſcheinung berußt, wird man
fich weniger an berjelben ftoßen und nur eine Mahnung zu mög-
(ichfter Vorfiht bei dem Werke der Reviſion der Luther’fchen
Bibelüberfeßung daraus entnehmen. Neben dem Umftand nämlid,
dag eine in einem größeren Gebiete verbreitete Bibelüberfegung
von felbft eine Anziehungskraft auf das daneben befindliche Fleinere
Gebiet ausüben wird, liegt ein Hauptgrund der ungünftiger ge:
worbenen Situation der Züricher Bibel gegenüber von der Luther⸗
bibel in den ſprachlichen Verhältniſſen der Schweiz zu Deutfchland.
Zur Reformationgzeit mag es zwedimäßig, ja nothiwendig geweſen
fein, die Qutherbibel im ſchweizeriſches Deutſch umzugießen; feit
aber die Schweiz in die Entwicklung der deutſchen Literatur herein:
gezogen wurde und die Kenntnis der deutihen Schriftſprache ſich
mehr und mehr auch unter dem Wolfe verbreitete, mußten bie
befonberen fehweizerifen Sprachformen und Ausdrücke für den
Gebrauch der Bibel im Gegentheil ftörend ericheinen, umd die
fchweizeriichen WBibelüberfegungen verloren durch ihren fofort er
fotgten Anſchluß an das Hochdeutfche einen großen Theil ihrer
früheren Berechtigung. Sodann kann nicht geleugnet werden, daß
die Züricher Ueberfegung viel zu oft und immer wieder nach anderen
Grumdfägen geändert wurde, fo daß fie fchon um diefes fort
währenden Schwankens willen fih nicht fo im Volle einbürgern
konnte, wie die Lutherbibel. Endlich weicht auch die neuefte Aus
gabe von 1868, die mir allein vorliegt, überhaupt zu weit ab von
der durch ihre ganze Ausdrucksweiſe eben doch maßgebenden Lu⸗ |
ther’fchen Weberfegung. Zwar begegnet man überall Stellen, in
Geſchichte ber deutfchen Bibelüberſetzungen. 358
denen der Sinn nicht nur richtiger als bei Luther, fondern aud)
wirffih auf gelungene Weife wiedergegeben ift (wir verweifen
beiſpielsweiſe nur auf Röm. 2, 15 „indem auch ihr Gewiſſen
joihes bezeugt“ ftatt des Luther'ſchen „fie bezeugt”); aber auf ber
andern Seite find theils viele Abweichungen von Luther vorhanden,
melde durchaus feinen Vorzug vor der entſprechenden Luther'ſchen
Faſſing haben (warum 3. B. Joh. 20, 22 „Empfanget ben
heiligen Geiſt“ beffer fein ſoll als das Luther’iche „Nehmet Hin
den heiligen Geift“, wird nicht wohl gefagt werden können), theils
haben fh die Züricher duch ihr Streben nad) größerer Ange-
meſſenheit an den Grundtert nicht felten zu Weberfegungen ver-
leiten laſſen, welche abgejehen von der Frage nach der eregetifchen
Richtigkeit Thon durch die Faſſung des Ausdrudes weit Hinter
den Luther'ſchen Weberfegungen zurüditehen. Oben wurde bie
ſchwerfällige Ueberjegung von 2KRor. 4, 17 nad der Ausgabe
von 1667 angeführt; auch die Faſſung von 1868 „denn die
\hnell vorübergehende leichte Laft unfrer Trübſal ſchafft uns
immer überfchwenglicher ein ewiges Gewicht der Herrlichkeit“,
taın unmöglich mit der bekannten Quther’fchen Faffung concur-
riren. Pred. 7, 15, wo Luther überfegt „daß der Menfch nicht
wiſſen ſoll, was fünftig ift“, Haben die Züricher: „meil der
Menſch nichts finden ſoll nach ihm“. Allein wer fann das ver-
ſtehen? Es foll das wohl die Hitzig'ſche Erflärung der Stelle
ansdrüden; da müßte aber nothwendig gefettt fein „nach feinem
Tode”, wenn irgend eine Dentlichfeit für den deutſchen Lefer er-
reiht werden fol. Faſt fünnte man auf den Gedanken kommen,
das „ihm“ in der Züricher Ueberfegung auf Gott zu beziehen,
wie Luther früher die Stelle erklärt und deshalb überfeßt Hat:
Dorum auf daß der Menſch nicht finde etwas anderes“, mit ber
Stoffe: „nichts anderes dem was Gott ihm zufügt“. Doch genug
an diefen Ausführungen! Mein Zwed ift nur, baranf Hinzu-
weiien, daß die Züricher Bibelüberjeger bei allem Vorbildlichen,
das ihre Arbeiten für uns haben, doc auch zugleich uns zeigen,
wovor wir bei der Revifion der Lutherbibel uns zu hüten Haben,
damit nicht über kurz oder lang in der deutſchen evangelifchen
Kirche eine Reaction entftehe, welche die vorgenommenen Aenderungen
23*
34 Mezger, Geſchichte der deutichen Bibelüberjeßungen.
wieder abwirft, um im einzelnen oder im ganzen lieber zum un⸗
revidirten Texte zurückzukehren.
— K. 3. Schröder.
2.
Die Massora Magna. Erſter Theil: AMMaſſoretiſches
Wörterbuch oder die Maſſora in alphabetifcher Ord
nung. Don Prof. Dr. S. Frensdorf. Hannover und
Leipzig (Cohen & Rich) 1876. Xu. 20 u. 389 ©. 4.
21 Mark.
— — e—
Bei vielen Völkern des Altertums ) zeigt ſich das Streben,
den Text ihrer heiligen Urkunden durch befondere Maßnahmen un-
verfehrt zu erhalten, namentlich durch Vorſchriften über das Ab-
ſchreiben, durch Zählen der Zeilen, Verſe, Wörter und Buchſtaben
u. f. w. Bei feinem Volke aber find diefe Vorfichtsmaßregeln jo
fehr entmwidelt worden, wie bei den Juden 2), zuerjt in Bezug auf
das Gefeg, dann auch hHinfichtlich der anderen Theile der Bibel.
Da die Juden feit der Zerftörung Jeruſalems zahlreihen Be
ihränfungen und Unterbrüdungen unterworfen waren, concentrirt
1) Nicht nur bei den Chineſen, Indern, Syrern, Arabern (vgl. 3. 2.
Ewald, Abhandlungen zur orientalifchen und biblifchen Literatur, Bd. 1.
S. 57; Nöldeke, Gedichte des Dorans), fondern auch in griechiſchen
Sandfchriften (vgl. 3. B. Ritſchl, Die alerandrinifchen Bibliotheken, S. 92
bis 136; Vömel, £ codicis Demosth. descriptio, Progranım vom
Jahre 1858).
2) Die, mit der Maffora zum Bibeltexte ſich nicht begnügend, eine ähnliche
Arbeit auch für die bei ihnen im höchften Anfehen ſtehende chaldäiſche
Ueberfegung anfertigten, |. Luzzatto im der Wiener Zeitfchrift Oyar
Nehmad IV (1868), S. 156ff.,; A. Berliner, Die Mafforah zum
Zargum Ontelos (Leipzig 1877), XXXII u. 143 ©. (eine fehr fleißige
Arbeit).
Die Massora Magna. 355
fich faft ihre gefamte Literarifche Thätigkeit um das ihnen gelaffene
Notionalheiligtum , die „vierundzwanzig Bücher”. Alles wurde
aus der Bibel, infonderheit aus dem Geſetze abgeleitet oder doc)
dazu in Beziehung gefett. So gewann natürlich der Wortlaut,
der Buchſtabe der heiligen Schrift eine ganz befonbere Bedeutung,
und erflärt fich daraus die ungemeine Sorgfalt, welche die Juden
feit den erften nachchriſtlichen Jahrhunderten auf die unveränderte
Dewahrung auch der geringfügigften damals durch Weberlieferung
feftitehenden Eigentümlichleiten des Heiligen Codex verwendeten.
Die Maffora, welche fih anfangs natürlich nur auf den Con⸗
fonantentert erftreckte, wurde nad) Erfindung der Punktation auch
auf die Vocale und Accente ausgedehnt. Die mafforetiichen No-
ten waren doppelter Art: erftens Meittheilungen über das Vor:
kommen einzelner Wörter, Wortverbindungen und Wortformen,
zweitens Reihen (befonders in alphabetifcher Ordnung) von Wör-
tern, die eine gewiſſe Eigenfchaft gemeinfam haben, und Regeln
allgemeineren Inhalts. Erftere wurden faft immer!) auf Die
Ränder von Bibelcodices gefchrieben (längere Bemerkungen auf
den oberen und den unteren Rand, Türzere auf bie fchmalen
Seitenränder), lettere 2) finden fi meift am Ende von Bibel»
manuferipten. |
1) Bon der Sammlung folder Bemerkungen in befonderen Büchern weiß
ih nur zwei Beifpiele: den codex Massoreticus, No. 19 in Tichufut-
fale (ſ. Zeitjchrift für Tutherifche Theologie 1875, ©. 615. 616) und
codex de-Rossi, No. 810, weldyen der Befier (MSS. Codices biblio-
thecae J. B. de-Rossi [Parmae 1803] II, p. 183) alſo befchreibt:
„Liber masorae seu commentarius masoreticus ac criticus in
Pentateuchum, membr., rabb. 4°, sec. XIV... Masorae libri seor-
sim exarati sunt rarissimi.‘“
2) Elias Levita kannte nur ein derartiges Manufcript, |. ſein Maſſoreth ha⸗
mafloretb ed. Ginsburg (London 1867), p. 94. 138. (Im der von
J. S. Semler herausgegebenen deutſchen UWeberfekung [Halle 1772],
©. 38 der zweiten, S. 85 der dritten Borrede.) Die von Elias be-
nußte Recenfion der Ochlah⸗W'ochlah⸗Maſſora galt lange für verloren:
bor etwas mehr als einem Jahrzehnt wurde fie in der Halle'ſchen Uni-
verfitätsbibfiothet aufgefunden. Hupfeld hat fie im XXI. Bande der
ZOMS (1867, &. 201ff.) eingehend befchrieben. — Cine kürzere, in
856 Frensdorff
Da der für Bemerkungen freie Raum bei Feſthaltung einer
beſtimmten Zeilenzahl für den Text auf jeder Seite gleich war
und die Schreiber je länger in defto höherem Grade auf ein ge:
fälliges Ausfehen der Manuferipte achteten, begann die Maſſora
mehr und mehr zur Verzierung der Codices zu dienen: zuerft hielt
man darauf, daß die fogenannte Massora magna auf jeder Seite
denfelben Raum ceinnehme (3. B. auf dem oberen ande ſtets
zwei, auf dem unteren ftetd drei Zeilen); dann fchrieb man die
Bemerkungen in fünftlichen Figuren, als da find Dreiede, Kreile
u. f. w. Am wmeiteften giengen hierin die deutfchen Schreiber,
welche aus den mafforetifhen Notizen Blumen, Thiere und aller
hand Karrifaturen bildeten. Der Umfang der Massora finalis,
welche ſchon im Coder Petersb. B 198 vom “Jahre 1009 theil:
weife in Lünftlich verfchlungenen Linien gefchrieben ift, wurde oft
durch die Zahl der noch leeren Blätter, fowie durch den größeren
oder geringeren Fleiß des Schreibers beeinflußt. Daß alle diefe
Umftände während ihres mehr als 60Ojährigen Wirkens Y) ſowohl
die Nichtigkeit wie auch die Ordnung der mafforetifhen Anmer:
fungen weſentlich jchädigen mußten, ift einleuchtend.
Das große Verdienft, die in zahlreihen Handfchriften zeritrente
rudis indigestaque moles gefammelt, einigermaßen geordnet und
publicirt zu haben, gebürt Jakob ben Chajim ben Iſaak ibn
Aonijah ?). Bon den YVebensumftänden dieſes für die jüdiſche
Literaturgeſchichte ſehr wichtigen Mannes ift nur wenig befannt.
Baris befindliche Recenſion edirte und verfah mit trefflichen Anmerhnugen,
leider noch ohne Kunde von der Halle’fchen Handſchrift, ſ. Fren sdorff,
Das Buch Ochlah W'ochlah (Hannover 1864). Ueber die von de Wette |
(Einleitung [8. Auft.], $ 1214) erwähnte Maäfforahandichrift (cod. Palat.
in Rom; vgl. Annal. litt. Ilclmstad. an. 1784, p. 97) habe id
näheres noch nicht erfahren können.
1) Schon im Codex Babylonicus vom Jahre 916 (Petereb. B 3) zeigt
die Maffora ein Streben nad) Symmetrie, jchon damals enthielt die
Maffora manche charakteriſtiſche Fehler der fpäteren Handſchriften und
Drude.
2) Bpl. Ch. D. Ginsburg, Jacob ben Chajim ibn Adonijah’s intro-
duction to the Rabbinic Bible, Hebrew and English; with explana-
tory notes, II. ed., London 1867, VIII u. 91 ©.
Die Massora Magna. 867
Er mar in Zunis (feiner Baterftabt?) mit wiffenfchaftlichen
Studien!) befchäftigt, ale Kardinal Ximenes mit einem Heere
unter Führung des Pedro Navarro in Afrifa erichien, um die An-
hänger des Islam gewaltfam zu befehren. Bald nach dem Falle
von Bugiah (31. Januar 1510) capitulirte aud Tunis. Mehr
als jieben Jahre irrte Jakob ben Chajim heimatlos umher. Endlich
lam er nad) Benedig, wo Daniel Bomberg aus Antwerpen im
Jahre 1516 eine hebräifche Druckerei errichtet hatte. Im Verein
mit biefem berühmten Drucker entfaltete er eine wahrhaft ſtaunens⸗
werthe Thätigkeit: der babylonifche Talmud (1520 — 1523), der
jerufalemifche Talmud (1522 — 1523, editio princeps), die
ebräifche Concordanz des Iſaak Nathan ben Kalonymus (1523,
ed. pr.), der große Gefeg- und Ritual» Coder Miſchneh Thorah
oder Jad ba-chafagah des Moſe ben Maimon (1524). Sein
Hauptwerf aber ift die rabbinifche Bibel (1524 — 1525, tu vier
Holianten). Dieſelbe enthält nach einer fchr intereffanten von Ybn
Abonijah felbit herrührenden Einleitung ?) außer dem VBibeltert die
haldäischen Paraphraien, Kommentare von Raſchi, Ibn Efra,
David Kimchi, Moſe Kimchi und Levi ben Gerfon, fowie die
Maſſora.
Bon ben ſpäteren Schickſalen Jakobs wiſſen wir nur, daß er
zum Chriftentum übertrat ®) — wahrfcheinlid nur wenige Jahre
nah Vollendung der eben genannten großen Arbeiten, denn nur
durch diefe Annahme wird der Umftand erflärlich, daB fein Name
1) Daſ. &. 88: mon Dinoa mpb by Tpw nm.
2) Die Einleitung enthält: 1) eine Unterſuchung über Keri und Kethib, An⸗
fihten Ephodis, Kimchis, Abravaneld; 2) Abweichungen des Talmuds
von der Maflora bei den Bibelcitaten; 3) Widerlegung dev Behauptung,
daß die Juden den Bibeltert gefälicht Hätten; 4) Darlegung der Ber-
dienfte Jakobs um die Bearbeitung der Maflora.
3) Dies lange Zeit unbelammt gebliebene oder bezweifelte Factum ergibt fidh
zur Evidenz aus den Worten der Venediger Mifchnah- Ausgabe, 1546
Ginftiniani, am Schluffe des Tractates Taharoth: 13997 3737 on ba
SD maw bum 92 pp Dune BRpb ıoW min wann
—X mo 30 wıma Dy 8. Luzzatto in Ozar Nechmad
Il, 112; Ginsburg, Introd., p. 12.
868 Srensborff
auf keinem fpäteren Drude Bombergs genannt wird. Daniel
Bomberg war zwar felbft Ehrift, er durfte es aber mit feinen
Hauptkunden, den Juden, nicht verderben — und diefe hätten ihm
gewiß fein Buch abgelauft, in dem ein Abtrünniger als Mitarbeiter
genaunt geweſen wäre. Daß er im Jahre 1538 bereits geftorben
war, ergibt fih aus ber Art, wie Levita im feinem im genannten
Yahre gedruckten Maſſoreth ha-maſſ. (S. 94 ed. Ginsb.) feiner
gedenft: win apy> xp bnumw2 BNEb DW mm DSDS me
pP) 33 many nom )).
Dei der Anordnung der Maffora verfuhr Ibn Adonijah fo,
daß er die Bemerkungen möglichit gleihmäßig über das ganze Alte
Teftament zu vertheilen fuchte, alles aber, was über und unter
dem Schriftterte nicht Platz fand, in alphabetifcher Reihenfolge ale
Massora finalis fammelte. Die vollftändige Stellenangabe für
ein mehrmal® vorfommendes Wort follte nur einmal abgedrudt,
bei den anderen Verſen nur eine Vermweifung gegeben werden. Da
jedoch auch eine regelmäßige genaue Verweiſung bei häufigen Wör:
tern zu viel Raum erfordert und dem Herausgeber zu viel Zeit
gefoftet Haben würde, ift den Wörtern, für welche ausführliche
Angaben vorhanden find, oft nur ein Zahlbuchſtabe beigefett. Da:
mit nun auch im folchen Fällen die bezügfiche Massora mägna
leicht zu finden fei, nahm Jakob die Vermeifungen auch in die
alphabetifche Schlußmaffora auf. Ein Beiſpiel möge fein Ber:
fahren erläutern. Die Bemerkung „wx nm ſechs Mal“ jteht
mit Augabe der Steffen nur in der Massora magna zu Ser. 21, 14.
Auf die Stelle verwiefen wird zu Ser. 49, 27. Amos 1, 14,
Mass. fin. s». Zu er. 17, 27. 50, 32 ift „ı“ (ſechs Mat),
zu 43, 12 ift „ won 1“ (ſechs Dal kommt diefe Verbindung vor)
notirt.
Trotz des bewunderungswürdigen Fleißes, welchen Jakob ben
Chajim auf die Sammlung und Ordnung der Maſſora verwen:
m — — —
1) Verwandlung der bekaunten (f. Zunz, Zur Geſchichte und Literatur
1845, ©. 351) ans 1Sam. 25, 29 entlehnten Enlogie in ihr Gegen⸗
theil. Ganz falſch ift alfo in der Semlerſchen Ausgabe (zweite Borrede,
S. 39) überfeßt: sit anima eius addita fasciculo celebri.
A ge —————— ⏑ —
u Er DE
Die Massora Magna. 869
dete, konnte es doch nicht fehlen, daß feiner Arbeit manigfache Ge⸗
brechen anhafteten. Das vorliegende Material war zu umfang»
reich, al8 daß eine Mienfchenfraft, felbit wenn durch nichts anderes
in Anfpruch genommen, es hätte im Laufe weniger Fahre bewäl-
tigen fönnen; die zur Verfügung ftehenden Hülfsmittel — vor»
wiegend Bibelcodices mit mafforetiiden Anmerkungen, doch auch
efbftändige Mafforabliher ) — Tiefen an BVollftändigfeit wie an
Correetheit viel zu wünſchen übrig. Die fchon in den Hand⸗
ihriften enthaltenen Unrichtigkeiten und Widerfprüche find keines⸗
wegs immer verbeffert worden; neue Irrtümer kamen hinzu durch
Mieverftändniffe des Bearbeiters und durch Druckfehler. Nichts»
deſtoweniger ift die von Jakob bearbeitete Maffora noch heute für
die Textkritik des Alten Teftamentes von außerordentlihem Werthe.
Der Originafdrud ift fehr felten geworben (erft nach mehrjährigen
Bemühungen gelang e8 mir ein Exemplar zu erwerben), ebenfo
die fpäteren Venediger Drude: II, 1547 — 1549 (Bomberg);
II, 1568 (Bomberg); IV, 1617—1619 (Bragabini). Johann
Burtorf hat in feiner rabbinifchen Bibel zwar nicht weniges richtig
verbeffert, aber auch manches misverftanden, willfürlich verän-
dert und verbalihornt; nod weniger brauchbar find die fpäteren
Drucke.
Zuſtimmung und Anerkennung von Seiten auch der chriſtlichen
Theologen verdient daher der von Herrn Profeſſor S. Frensdorff
gefaßte Plan eines getreten Wiederabdrud® der 1524 — 1525
publicirten Maſſora, welcher 2), treu nad der Neihenfolge der
Bibel, doch ohne den Text der letzteren enthalten foll:
„Y die Bemerfungen der Majfora nach der Folge der biblifchen
Bücher mit den bezüglichen Kapiteln und Verſen;
2) die Schlagwörter vollftändig punftirt, weil ohne dies, wie
bieher, allerlei Irrungen durch unrichtige® Leſen entftehen;
!) Zu diefen gehörte, nach den ausdrüdfichen Zeugnis des Elias Levita
(Maffor. ha⸗maſſ., S. 188 ed. Ginsb., S. 85 ed. Semler) auch [die
jetzt in Halle befindliche Recenfion des] Ochlah W’ochlah.
9) Wahrſcheinlich in 5 Bänden: Bentateud); Hiftorifche Bücher; Propheten;
Sagiographen; Schlußmaffora.
860 Frensdorff
3) die Belegſtellen mit Bezeichnungen der BB., Kapitel und
Verſe, wo ſie zu finden ſind;
4) die ſchwerverſtändlichen Angaben mit Ueberſetzung.“
Ein bei der Benutzung der gedruckten Maſſora ſehr ſtörender
Uebelſtand ift die Unrichtigkeit, bzw. Unvollſtändigkeit vieler Ber:
weifungen. Gen. 5, 24 und Jeſ. 19, 7 wird bezüglich der Be
merfung „am zwölf Mal“ auf die Massora finalis verwieſen,
ftatt auf Hiob 27, 19; ebenfo Gen. 21, 17 „nwna fünfzehn
Mal“ auf Massora finalis ftatt auf Richt. 5, 27; ferner
Gen. 25, 7. „bon febzehn Mal am Bersanfang im Pentateud“
auf Massora finalis ftatt auf Exod. 1, 1; ferner Gen. 40, 14
und Exod. 12, 48 „am fiebzehn Mal im Pentateuch“ auf Mas-
sora finalis ftatt auf 2ev. 10, 15, u. bgl. m. Auch in der
Schlußmaffora find manche unrichtige und nicht wenige unvellftän-
dige Verweiſungen. In der Rubrik 7 3. B. fehlt bei amymnb
die Verweiſung auf Dan. 5, 15; bei nyım die auf Exod. 35, 31,
bei yn mb (lies &by) die auf Ser. 14, 18. Dazu kommt noch,
daß in der Massora finalis feineswegs alle über und unter dem
DBibelterte abgedructen Angaben berlickfichtigt find (fo fehlt z. D.
„non ftets mit a, nur ein Mal mit x“, vgl. Maſſora zu
Dan. 2, 5. Eſr. 6, 4).
Da e8 nun nothwendig ift, daß man alle auf denfelben Gegen-
ftand bezüglichen Angaben raſch auffinde, hat Herr Profeſſor Frens—
dorff den jett vorliegenden Index zur Maffora ausgearbeitet,
welcher „zu jedem Worte und zu jeder Wortform bie Bemerkungen
der Maffora angibt und zugleich nachweift, wo fie in der gedrudten
Maſſora zu finden find. Damit ferner anderjeits die vielen zur
Erklärung und Berichtigung der Maffora erforderlichen Anmer
tungen mehr concentrirt würden, fo daß man fie ohne vieles Suchen
leicht an beftimmter Stelle finden könne, empfahl es fidh, dieſt
Anmerkungen mit bem Wörterbuche zu verbinden und diejes ale
erften Band dem eigentlichen Texte der Maſſora voranszufciden.
Das jo geftaltete Wörterbuch bietet außerdem ben Vortheil, daß
e8 als felbftändiges, von den folgenden Bänden unabhängiges Werl
zu jeder Ausgabe oder Handfchrift der Maſſora beugt werden
kann.“
u
Die Massora Magna. 561
Zur Herftellung eines Index zur Maffora war Herr rend»
dorff jedenfalls der DBerufenften einer. Seit einem halben Jahr⸗
hundert den größten Theil feiner von Berufsgefchäften freien Zeit
dem Studium der Maſſora widmend, hat er von jeiner tüchtigen
Kenntnis derfelben fchon zwei fchägenswerthe Proben gegeben:
1) Fragmente aus der Bunctationd» und Accentlehre der hebräifchen
Sprache, angeblich von R. Moſes, PBunctator (Hannover [Hel-
win] 1847), X u. L u. 30 ©., aud mit dem hebräifchen
Titel MIT PT 99975 2) das Buch Ochlah W'ochlah (Han-
nover 1864). Auch feine nenefte Arbeit ift, trog mancher hernach
bersorzuhebenden Müngel, als ein von großem Fleiße zeugendes
und recht brauchbares Nachſchlagebuch zu bezeichnen. Ich bedauere
ſehr, daß das „Meafforetiihe Wörterbuch“ erft erfchien, als meine
Anmerkungen zur Ausgabe des Coder Babylonicus im Manufeript
bereits faft vollendet waren. Hätte ich e& früher gehabt, jo wäre
mir manche Woche mühfamen Nachſuchens erfpart worden.
Die Einrichtung des Werkes ift folgende: In vier Abfchnitten
werden behandelt: 1) Zeit: und Nennwörter ©. 1—208; 2) Par»
tifeln S. 209260; 3) Eigennamen S. 261—326; 4) allge
meme Süße S. 327 — 387. Ym erjten Abfchnitt ift auf die
etgmologijche Zugehörigkeit Rücficht genommen (es fteht alfo po
unter Dip u. |. w.). Die Sonderung der Partikeln ift nicht mit
offer Conſequenz durchgeführt: bon 64° und 239°, 7533 121°,
und 255®, oyp> 155° und 260°, np) 170% und 253*, {31P2
171* und 260* ftehen im erften und im zweiten Abfchnitt; 2120
129, mn 171° (143°), nn2 206 find im erften, 3Ip> 260°,
"ons, nasına 260, fowie ob, nen im zweiten.
Die Abtdeilung „Eigennamen“ ift auch nach der unlängft er-
folgten Bublicirung der Brecherſchen Eoncordanz (Frankfurt a. DM.)
Ihr dankenswerth, da letztgenanntes Wert an vielen Mängeln leidet
(+ B. die Stellen, an welden ein Name mit einer PBräpofition
zuſammengeſetzt ift, nicht von den andern Stellen fondert).
Die „allgemeinen Zufammenftellungen* (or55>, 327 — 387)
ind in zehn Rubriken getheilt: a) Alphabete, d. h. alphabetifch
geordnete Verzeichniife von ein bis höchitens vier Mal vorkom-
menden Wörtern, welche eine gewiffe Eigentümlichkeit gemeinfam
562 Frensborff
haben, 3. B. alle die auf Mem endigen ; b) Bemerkungen der Maſſora
zu dem vierbuchftabigen Namen Gottes, zuerft mm allein mit
Präfiren, dann in feinen Verbindungen und zwar fo, daß zuerſt
die angeführt werden, in welchen mm vorangeht (3. B. ind mm),
darauf die, in denen es die zweite (3. B. onb mm on), dritte
u. ſ. f. Stelle einnimmt; c) yını d. i. Verzeichniſſe von zwei bie
höchſtens vier Mal vorkommenden Wörtern mit einer gemeinfamen
Eigenfchaft; d) oyo b. i. die Wörter, über deren Accentuation die
Mafjora etwas bemerkt; e) yamımy d. i. Wörter, die nur ein
Mat in einer beftimmten Form (Verbindung) vorkommen (3. B.
16 WW., die nur ein Mal mit yanı verbunden werden); f) >,
Wörter, von denen eine gewiffe Eigentümlichkeit angegeben wird;
g) rad, Wörter, bei denen man eine andere Form erwarten
möchte (3. B. vier Mat fteht oa „in ihnen“, wo man 2 „in
ihr“ erwarten follte); h) oımoB (3. B. Verſe, in benen jedes
Wort mit Mem endet); i) gs Reihen; k) die Buchſtaben und
ihre Vocale.
Diefe Eintheilung geht nad) des Referenten Meinung etwas zu
weit, da man leicht in Zweifel fein kann, unter welcher Rubril
eine mafjoretifche Notiz zu fuchen fei. Wer fih 3. B. nur erin
nert, daß eine Angabe die Wörter aufzählt, welche nur ein Mal
(außer bei Athnach und Silluk) Kamez haben, wird biefelbe in
Frensdorffs Buch unter now, yo u. f. w. vergeblich fuchen, bie
er auf den Gedanken kommt, die Bemerkung fei vielleicht in alpha-
betifcher Form gefchrieben, und dann S. 330° die gewünfchte Aut:
funft erhält. In der gedruckten Massora finalis braudt man nur
unter op (Kamez) nachzuſehen. Herr Profeſſor Frensdorff Hätte
alfo entweder mehrere Rubriken vereinigen oder feinem Buche noch
einen Realindex beigeben müffen. ALS befonders hinderlich ermeilt
fi feine compficirte Eintheilung, wenn man bandfchriftlide
Mafforaangaben mit den gedrudten vergleichen will: denn jene
bringen (wie 3. B. im Codex Babylonicus) nicht felten Alpha
bete, wo der Drud einfache Reihen hat, und umgekehrt, oder
haben bei ihren Angaben andere Titelmörter (mw 3. B. wechſelt
mit yo).
„Findet ſich die vollftändige mit Anführung der Belege ver’
Die Massora Magna. 863
jehene Angabe an. mehreren Stellen, jo werden außer der erjten
die folgenden durch ein Sternchen (*) bezeichnet, fo dag man die
ausführlichen Angaben von denen, wo nur auf fchon dagewefene
oder folgende Stellen hingewiefen wird, leicht unterfcheiden Tann.“
Ber 3. B. zu wiſſen wilnfcht, wo bie Maffora über das Vor⸗
lommen des Wortes wir berichtet, erfieht aus S. 111%:
Am. 2,15. Job 20,20. 22*, 30. Koh. 8, 8. Mf. do 23 —'n ubos
daß die vollftändige Angabe der acht (m) Stellen fih in der Mas-
sora magna zu Am. und Job 22 findet, die Noten zu Job 20,
Koh. 8 aber und die Massora finalis nur PVerweifungen ent-
halten. |
Unferer Anfiht nad) hätte Herr Frensdorff aud der eriten
vollftändigen Angabe ein Sternen beifegen müſſen; denn diefelbe
it jet, wenn fie nicht zugleich überhaupt die erfte Stelle, durch nichts
kenntlich. Ein Beifpiel: zu „sy bat elf Mal den Zon auf der
legten Silbe“ wird ©. 28° notirt: „Gen. 29, 6. Ser. 10, 22.
47, 5. Mf. na 4." Die ausführliche Angabe fteht nur in der
Mf.,. die anderen Stellen geben nur Verweiſungen (Gen. wird
af Mf., er. 10 und 47 irrig auf Sadar. 14 verwiefen).
Da diefer Mangel beim Gebrauch des Buches fehr ftörend ift,
glaubt Referent dur Mittheilung der von ihm bemerften Bei-
Ipiele allen denen, welche fich mit der Maſſora bereits befchäftigen
oder noch bejchäftigen werden, einen Dienft zu erweifen. S. 5
„un 134 Mal“ volftändig nur Mf. — ©. 25% ann by, bu
volfftändig nur Mf., zu Ez. 14 nur für das Buch Ez.; Deut. 12
und 23 nur DVermeifungen. — 53° an nur 1Sam. 18 vollftän-
dig; van nicht zu Erod. 7, 20, fondern zu 26, 24. — 55° bu
nur zu Gef. 56, 7 (of. 57,7 ift doppelter Druckfehler). —
72° „un nur Job 18, 6. — 77° ya nicht zu Gen. 19. —
880 any nur zu Ser. 17. — 110° wann mur zu Lev. 11. —
113° oym vollftändig nur zu 2Sam. 12 und Hag. 1. — 128
mn, m nur zu 2Chron. 34. — 138° Sy by nur zu Ser.
32. — 139* dyn nicht zu Exod. 10. — 139% mbyp Deut. 14
auf Mf. verwiefen; 1 Sam. 7 und Mf. chaldäifche, Jer. 50 und
Nah. 3 chaldäiſche und hebräifche Stellenangabe. — 190° „an
25 Mal“ nit zu Gen. 40. — 211° „Sechszehn Verſe mit m
364 Frensdorff
pw“, vollſtändig nur zu Se. 40 und Ser. 8. — 211° am
nur zu Job 27. — 2140 omba nur Mf. — 215° bu nur zu
Gen. 26; Abm nur zu Exod. 1. — 219° x m nur zu Ser.
23. — 220* nit zu Deut. 10. — 220° wma nur zu Nicht. 5. —
224° mn nidt zu 1Sam. 12. — 225° am nur zu Ben. 10. —
226* znın nur Mf.; pin „fechzehn Mal plene“ nur Mf. — 248” 75
nicht zu Gen. und Exod. — 260° pydd nicht zu Richt. 20. — 334°
mm 973 nur zu Ser. 8. — 337° mm by nur zu Bf. 2 und
2 Ehron. 13. — 340° „fünf Baare*, nicht zu Deut. 7, fondern zu
Prov. 19, wo aber ſechs Paare (mas Herr Frensdorff nicht er:
wähnt). — 369° „25 Wörter“ nur in Mf. — 374P „act am
Versanfange“ nicht zu Lev. 7. — 381? „25 Verſe“ nur Mf.
Auch abgefehen von der erjten Stelle, find nicht alle vollftän-
digen Angaben durd ein Sternchen Tenntlih gemadt. S. 47° 21
auch zu 1 Kön. 6. — 76* pay auch zu Ger. 33 und Mf. —
76° ayaı nd auch Mf.; nam aud) Ser. 13. — 77° u auf
zu Koh. 9; pyan auch Job 19; ym auch 2Chron. 6; am
auch 1Kön. 8 und Brov. 10. — 77° umyamb auch Dar.
5, 15. — 79% wu m aud Ser. 1.— 91 m auch Pf. 34. —
95° sum auch 2Sam. 13. — 128° nn auch Ser. 37. —
214° un dn aud) zu Num. 33 und &.1. — 216 bad auch
1Kön. 22. — 219 sun 98 auch 1Chron. 17. — 220 by
[on au Bag. 1. — 221° wma auch Jeſ. 66, 4. — 255,
Anm. 3, Zeile 3 v. u. fehlt die Notiz, dag die gedruckte Maſſora
zu Nicht. 11, 34 fünf Sebirin aufzählt und Joſ. 1, 7 wegläßt.
In der Maffora zu Yof. 1, 7 (ſechs Sebirin) wird auf Xev. 6
verwiefen. — 269° auch 2Kön. 19. — 292" aıpyı auch
Ser. 30.
Die Zahl der von Herru Frensdorff ganz überſehenen majjo-
retifchen Bemerkungen ſcheint nicht erheblich zu fein. Referent hat
nur Folgendes notirt: &. 170° nanp5 ift hinzuzufügen „2 Kön.*
5, 26%. — 171° amp lies, Joſ.* 9, 16. Yer.* 9, 7... —
77° yam fehlt „Mf. 41“. — 77 ummnb fehlt „Bf. 7
41°. — 155° oyes. Diefe Angabe auch zu Richt. 20, 30,
wo auf Mf. verwiefen wird. — 253*, Zeile 12 fehlt außer de
Berweifung auf Mf. noch „Num.* 20, 18*.
an. w-
Die Massora Magna. B6h
Die Titel der mafforetifchen Angaben find mehrfach nicht genau
angeführt, jo daR man dem Inhalt der Tekteren nicht Klar erkennt.
S. 29° fchreibt Herr Frensdorff einfach „ni2 fieben Mal plene.
Gen. 32, 8. Lev. 14, 8. 16*, 28. Num.* 8, 24. Mf. a 66.“
ẽs mußte heißen „fieben Dial plene im Pentateuh“. Gen. 32 und
de. 14 wird nur auf Lev. 16 vermwiefen. Lev. 16 zählt die
feben Stellen aus dem Geſetze auf, Mf. die aus den andern
biblischen Büchern; die Maſſora zu Num. 8 umfaßt das ganze
Alte Teftament. — 172? „raö viermal, zwei mit Vav, zwei mit
He am Schluffe”. Zu Gen. 26 ift nad der ausführlichen Ans
gabe Hinzugefügt: „und ein Mal in Roh. 9, 11°. — 77° „yp
neunzehnmal“. Zu Pfalm 92 und zu Koh. 9 werden auch bie
sormen mit Pathach in der zweiten Silbe aufgezählt. y) und
m fommen zuſammen neunzehn Dal vor.
Sehr danfenswerth find die zur Erläuterung und Berichtigung
der maiforetifchen Angaben binzugefügten Anmerkungen. Herr
Brofeffor Frensdorff benutte bei denfelben außer den Schriften der
hebräiſchen Nationalgrammatifer die der Tachmänner !) Meir ha⸗
Levi ben Todros (13. Jahrhundert, Mn) vo non, Florenz 17 50),
Elias Levita, Menachem ben Jehuda di Lonfano (main in in
mv nw, DBenedig 1618), Eliah ben Ariel Wilna (monD an,
Hamburg 1738 zufammen mit Ör thorah gedrudt), Salomo
Rorzi (ww nrun in der Mantwaner Bibel 1742—1744), Joſeph
ben David Eſchwege (nm yo, Amfterdam 1765), Anfchel
Borms (nd 290, Frankfurt a. M. 1766), Salomo Dubno
(anaıd ppn in der Miendelsfohn’fchen Pentateuchausgabe Nethi-
both ha-schalom, #erlin 1783). Ganz befondere Förderung
aber gewährten die Arbeiten des größten Maſſorakenners im
19. Zahrhundert, Wolf Heidenheim, und zwar ftanden Herrn
örensdorff nicht nur deffen gedruckte Werke zu Gebote, fondern er
war in der glücklichen Lage auch die Handichriftlichen Bemerkungen
dieſes verdienten Mannes zu Burtorfs Concordbanz und zur
Maſſora, fowie fein unvollendet gebliebenes Onomafticon zu bee
I) Referent hat bei jedem Autor in Klammern die editio princeps der ge-
memten Schrift (angegeben.
366 Srensdorff
nugen und fo viele verderbte Mafforaangaben zweifellos zu emen-
diren. Endlich konnte Herr Frensdorff mande Handſchriften be-
nugen: „Mpt. Hamb.“ ift ein Bibelcoder der Hamburger Stadt:
bibliothef, Kennicott 612, ſ. Ochlah W'ochlah, ed. Frensdorff,
S. XIV; mit „Mpt. Hal.“ ift wol die Halle’fche Recenfion des
Ochlah W'ochlah gemeint.
Die von Heidenheim und Frensdorff aufgeſtellten Verbeſſerungen
der Maſſora werden mehrfach durch den Codex Babylonicus be:
ſtätigt. S. 77° yany „dreimal“. Auch in Coder Babylonicus
fehlt der falfche Zufag „mit Sageph*. — 90, Anm. 3.4. Daß
Jeſ. 6, 5 um mit Vav zu fohreiben fei, ergibt fi) auch aus
Soder Petersburg B. 19° und Coder Babylonicus (f. meine Anm.
zu Jeſ. 10, 24). — 153, Anm. 1. In oder Babylonicus zu
Her. 34, 3 fteht Job 3, 1 [fo lies ftatt 2, 14]. — 190, Anm. 3.
Der fehlende [25.] Vers 2Chr. 34, 16 fteht auch in Coder
Babylonicus zu Ez. 44, 1. — 226, Anm. 1. Coder Babylonicus
zu &. 3, 27 läßt, wie da8 von Heidenheim angeführte Manu—
ſeript Ez. 38, 17 weg, fügt 2, 4 hinzu. — 252, Anm. 3. Co
der Babylonicns zu Mid. 2, 11 hat wie Mpt. Hal. — 253,
Anm. 3. Mit Heidenheims Mpt. ftimmt Coder Babylonicus zu
Ser. 11, 15 (f. meine Arm. dafelbft) im wejentlichen überein. — —
294, Anm. 3. Vgl. zu Coder Babylonicus er. 27, 1. — 332,
Anm. 7. Coder Babylonicus zu Am. 5, 8 Hat richtig 7 4. —
340, Anm. 5. Vgl. Eoder Babylonicus zu Ser. 1, 18 u. meine
Anm. dafelbft. — 374, Anm. 5. Die fehlende Stelle (Er. 26, 13)
fteht aud) in Codex Babylonicus zu Ey. 48, 22.
Bei weiten nicht alle faljchen Angaben find von Herrn Fren®
dorff berichtigt oder aud) nur erwähnt worden. S. 21° yo.
In Massora magna zu Gen. 32, 5 und 2 Kön. 18 ift ftatt
377 = Chronik zu lefen 'yarı = Hei. (fiehe zu Codex Babyloni-
cus ef. 37, 6). — 105* andy. Ueber die Maffora zu Richt. 9
vgl. zu Eoder Babylonicus Jeſ. 30, 32. — 212, Anm. 7. Auch
die Angaben der Bomberg’fchen Bibel über die BVerbalformen,
welche nur ein Mal dan, fonft I vor fich Haben, find nicht richtig;
dern 1) kommen awın dx und amum In nicht vor, 2) fehlen
aayn ben Pfalm 27,9 (nd Pi. 38, 22 u. f. f.) und num Im |
Die Massora Magna. 867
Richt. 13, 4 (nd B. 7), vgl. Coder Babylonicus zu Ser.
14, 17. — 254, Anm. 4. Nicht 14 Wörter find ein Mal mit
jr verbunden, fondern 16, nämlich außer ann m noch nwan 01
Er. 10, 11, vgl. Codex Babylonicus zu Yer. 44, 18. — 259.
ny 25 Mal am Bersanfange*. Die gedrudte Maffora zu
ehr. 6 gibt ftatt 2Chr. 30, 8 irrig Pi. 95, 8; richtig Coder
Babylonicus zu Ezech. 26, 18. — 330°, 3. 7. Zwei Fehler
in diefer Angabe hat Referent zu Eoder Babylonicus ef. 28, 6
orrigirt. — 330, Anm. 2, f. 3. Coder Babylonicus Jeſ. 57, 6. —
377, Anm. 1. Die beiden Stellen won find zu ftreichen, da
jedes Wort nur einmal in dieſer Eigentümlichkeit vorfommen fol.
Auh die Angabe (13) in Codex Babylonicus Ser. 20, 6 ift un-
oolftändig, da j'm Gen. 14, 8 und Sam Neh. 12, 39 fehlen.
Die richtige Zahl möchte „15“ fein, denn 8S+-15-+9==32. —
382%, 3. 5. VBol. z. B. Jeſ. 52, 11.
Nicht wenige in der gedruckten Maffora vorhandene Widerfprüche
werden fih durch die Vermiſchung orientalifcher und oceidentalifcher
Angaben erklären laſſen. S. 47, Anm. 1. Zu ana bemerkt
die Mp. bald „12“, bald „13”; die Mm. zählt nur 12. Die
jung diefer Schwierigkeit bietet. die Maflora bes jehr alten Per⸗
pamentcoder Tſchufutkale Nr. 1 zu Ez. 29, 5: „amaman kommt
bei den Madinchaëk 13 Mal vor: Er. 4, 27. Lev. 16, 10. 21.
Num. 21, 23. 33, 8. Deut. 1, 40. 2,1. Richt. 20, 42. 45. 47.
1Sam. 13, 18. 26, 3. Ez. 29, 5.“ ober Petersburg B 19°
. md Koder maſſ. Tſchuf. 7 jagen ausdrüdlich, daß Nicht. 20, 42
die Manrbad sen, die Madinhad nsmn leſen (wonach das
gedruckte DBariantenverzeichnis zu berichtigen tft. — S. 251,
Anm. 7. Bei mon lautet im Pentateud) die Mp. meift „12 Mal
mit Vav“, mehrfach aber auch „13 Mal mit Vav“. Jenes ift
die occidentaliſche Lesart; die Drientalen haben auch Deut. 32, 34
won (nach Cod. Peters. F 132 35. St., Cod. Tſchuf. 30 zu
Gen. 42, 22 und Cod. Tſchuf. 81 zu Gen. 31, 15). — Ein
drittes Beiſpiel hat Heidenheim erkannt (S. 90, Anm. 4), ein
viertes Herr Frensdorff felbft (S. 82, Anm. 5).
Die von Burtorf in feiner Rabbinifchen Bibel vorgenommenen
Deränderungen der Mafjora find von Herrn Brensbnrt, joweit
Theol. Stud. DSahrg. 1878.
568 Frensborff
Referent bemerkt bat, forgfältig angegeben (doch ber S. 330,
Anm. 2 gerügte Fehler 1 7 fteht Schon in der Ausgabe des Jakob
ben Chajim): fomit ift da8 hier angezeigte Werf auch für den
Befiger der Burtorf’fhen Bibel verwendbar.
Dem mit der Maſſora noch nicht Vertrauten wird der 20 be:
fonders paginirte Selten umfaffende Abfchnitt „Eigentümlicde Aus:
drücke und Abkürzungen, deren fich die Maſſora bedient“ ſehr will-
fommen fein. Hauptquelle für Herrn Frensdorff war hier wohl
die Einleitung zu Mebin chidoth, dem bereit oben erwähn-
ten vorzüglihen Commentar zur Pentatenchmalforı. Zu ©. 2
fonnte bemerkt werden, daß ſchon Elias Levita, Maſſoreth ha⸗maſſ.
©. 261 (Ginsb.) den Urfprung des Wortes anobwn nicht mehr
fennt. Eine neue Deutung von D. Oppenheim ſ. in Geigerd
jüdifcher Zeitfchrift XI, 85. — ©. 4. Zu ſypa dgl. Maſſoreth
ha⸗maſſ. S. 211. 213; zu un daſelbſt ©. 233; zu rin
(welches nicht bloß „aufeinanderfolgend“ bedeutet) dafelbft ©. 218;
zu 30 dafelbit S. 225 — 227. — Die Bemerkungen über die |
Codices don (S. 4) und wo (©. 9) find ungenügend. Warum
fehlen Pory und ınm? — ©. 7 wird zu nano nur be
merkt „Bezeichnung eines beftimmten Bibelmanufcriptes“. no kam
jedes Sammelwerk heißen, welches eine beftimmte Ordnung befolgt.
Der Name des alten fchen von Ben Naphtali als Autorität an:
geführten Muſtereoder, an welchen Herr Frensdorff (dem Ber
faffer des Meb. chid. folgend) gedacht Hat, ift Machasors
rubba. — ©. 10°. Das Wort nn wird zwar in Meb,
chid. ımd in Maſſ. ha⸗maſſ. angeführt, ift aber in der Maſſora
vom Neferenten vergeblich gefucht worden. — S. 12. pn vum
heißt „acht Arten“, nicht „acht Alphabete*.
Die Ausftattung des Buches ift trefflich. Bei haushälterifcherer
Druckoinvichtung hätte, auch ohne Anwendung anderer Typen viel
Raum gefpart und der Preis niedriger geftellt werden können.
Außer den S. 388. 389 aufgezählten Druckfehlern verdienen
folgende hier erwähnt zu werden: S.45°, 3.8 lies „oa 12* fiaft
„pa 2%. — 46%, 3. 12 nah 31, 29 add.: „Exod.“ — 7,
3.7 fies „m 60° ftatt „7° 66%. — 88®, 3. 13 lies „21, 24°
ftatt „21, 19°. — 91°, 3.12 lies „2 ©. 22° ftatt „26.21. —-
ED u nme «m Geil " — nd HERE ⏑⏑⸗⏑·⏑ —— —, BEE —0O ee er
Die Massora Magna. 269
116%, 3.5 lies „31, 22“ ftatt „31, 32°. — 168, 3. 7 v. u.
lies Geh. „7, 12°. — 189, Anm. 6, 3. 3 lies „35, 10°. —
0, 3.3 fies „23, 18°. — 21le, 3, 5 v. m. „2b, 28%. —
293, An. 1 lies „orbunan“. — 294° ſteht neun Mab nom. —
391%, Anm. 1 fies „Dan. 3, 15* ftatt „&ft. 3, 12“. — 75°,
kegte Zeile ift „Dan.* 5, 15* zu ftreihen. — 321, 3. 3. Weber
onde fteht zu Hag. 1, 12 nur eine Mp., feine ausführliche
Angabe
Ale vorftehend gemashten Ausftellungen, denen. ſich noch andere
hinzufügen ließen, halten den Neferenten nicht ab, das maſſoretiſche
Wörterbuch des Herrn Brof. Frensborff nochmals ausdrücklich für
ein mit felbftlofem Fleiße ausgearbeitetes und ſehr nützliches Nach⸗
ſchlagebuch zu erflären. Möge es dem fchon betagten Herrn Ver⸗
faffer vergönnt jein, die Arbeit feines Lebens zum Abſchluß zu
bringen, ihm zur Ehre und der Willenfchaft zum Nuten!
Zum Schluſſe fei e8 geftattet, den Nuten der Maffora für
die Textkritik des Alten Teſtaments durch einige Beifpiele zu be⸗
weifen.
Sem. 11, 29 Hooght ip. Die ridtige Lesart ift ip ſ.
Ochlah W’ochlah Abſchn. 21, Cod. Bab. zu Ger. 22, 14. Joel
4, 4. Sachar. 7, 13.
Gen. 18, 6 Hooght may; richtig ohne Dageſch, |. Maſſora zu
Gr. 12, 39, Norzi zu Gen. 18. Auch God. Pet. B 19* Hat
kin Dageſch. Ebenfo ift ad, auD u. f. w. ohne Dageſch zu
ihreiben, |. Bär zu ef. 1, 22 und Dip. in Cod. B 19.
gef. 10,16. Daß mm, nidt aan [Hooght] zu lefen, ergibt
fih aus Mf. 8 (mo ef. 10, 16 nicht unter den 134 Stellen,
an welchen Adonai gelefen und gefchrieben wird) und aus Mm.
zu Jeſ. 3, 1, wo 10, 16 unter den fünf msas mm pen. Gef.
38, 14 ift Hooghts mm in a8 zu corrigiren.
Ye. 30, 14 man [Hooght nma], ſ. Mf. > 5, Ochlah W'och⸗
(ch Abſchn. 1, Cod. Bab. Mp. 3. St.
ef. 39, 1 Tino darf fein otiirendes Aleph nad) Reich haben,
denn es gehört nicht zu den 48 Ausnahmen, welde Ochlah W'och⸗
Inh Abfchnitt 103 aufzählt. Auf Grund derfelben Maffora ift
das Schwa unter Kaph in wanaım SYob 19, 2 zu ftreichen.
24*
30 Frensdorff, Die Massora Magna.
Jeſ. 42, 18 army, He mit Pathach (Hooght Kamez) ebenfo
Hiob 29, 15 yb Lamed mit Pathach; nad) der wigig formulirten
Regel purp Pay JMD NOD.
Jeſ. 60, 5 wm mit einfahem Schwa, alfo von mn. Bol.
Mi. x 20, Ochlah W'ochlah Abſchnitt 56.
gef. 63, 11 mit Jod, denn diefe Stelle gehört nicht zu
den vier ıyn, Massora magna zu Pjalm 80, 2.
An allen diefen Stellen hat der Petersburger Eoder vom
Jahre 1009 (B 19") die von der Maſſora geforderte Lesart.
Berlin, Januar 1877. Hermann S. Stra.
Miscellen.
1.
Programm
der
HZaager Geſellſchaft zur Verteidigung der chrifllichen Religion
für das Jahr 1877.
— — — —
Die Directoren haben in ihrer Herbſtverſammlung am 10. Sep⸗
tember 1877 und folgenden Tagen zehn vor dem 15. December
1876 eingegangene Abhandlungen ihrem Urtheil unterzogen, deren
neun zur Löſung dienten der Preisaufgabe:
„In weldem Verhältnis zur Religion und
Sittlidhleit ftehen die neueren Theorien Dar»
wins und anderer mit Hinfidt auf die Ab-
ftammung des Menſchen?“
Eine diefer Abhandlungen von einem deutfchen Verfaſſer, ge-
zeichnet mit dem Sprucde: „Absit ut ideo credamus, ne
rationem“ etc., ift zur Mitbewerbung um den Preis nicht zuge.
lofjen worden. Nach dem einftimmigen Urtheil der Directoren war
die Schrift äußerſt ſchwer zu lefen; die meiften von ihnen erflärten
logar, daß fie diefelbe nicht oder nur mit Mühe hätten entziffern
können und folglic) außer Stande waren, über den Inhalt der Arbeit
ein auf guten Gründen ruhendes Urtheil zu äußern. War die Preis-
zutheilung ſchon dadurch unmöglich, fo fchien außerdem von ihr feine
Rede fein zu können nach dem Eindrude, welchen die Arbeit auf
diejenigen gemacht hatte, denen eine zufammenhängende Lefung am
beften gelungen war. Bei weitem die größte Hälfte enthielt näm«
874 Programm
lich eine Beurtheilung des Darmintsmus aus dem Gefichtöpuntte
des Naturftudiums, welche offenbar von vieler Kenntnis zeugte.
Aber zur gehörigen Würdigung diefes Lrtheiles mußten die Direc-
toren fih für unbefugt erflären, wie fie denn durch die Preisauf⸗
gabe dasfelbe nicht hervorgelocdt hatten. Unabhängig von dieſer
Kritit wurde im zweiten Theil der Abhandlung die Frage behandelt,
ob Religion und Sittlichleit fih mit dem Darwinismus felbft und
den damit verbundenen naturphilofophiichen Theorien vereinigen
ließen? Die Anfichten und Betrachtungen des Verfaſſers darüber
waren nicht glücklich geordnet, aber jedenfalls Tejenswerth und,
wenn fie aud) bisweilen Bedenken erregten, oft fehr richtig und
treffend. Jedoch gaben diejenigen, welche das günftigfte Urtheil
darüber äußerten, ohne weiteres zu, daß das Bedenken gegen den
erften Theil der Abhandlung dadurd nicht aufgehoben und jeden
falls die Schwierigkeit nicht aus dem Wege geräumt wurde, welche
oben, den Bedingungen des Preisfampfes gemäß, der undentlichen
Schrift entnommen wurbe.
In Betreff der acht übrigen Arbeiten führten die WBerath-
ſchlagungen zu den folgenden Refultaten.
Eine franzöfifche Abhandlung mit dem Sprude: „Le mate6-
rialisme est un syst&me a priori“, wurde, als ein uns
bedeutender Auffag ohne irgend einen wiffenfchaftlichen Werth, gleich
beifeite gelegt. ‘Die Form, namentlich die Zertheilung in fehr kleine
Kapitel und die Hinzufügung breiter Noten zu einem kurzen Texte,
war äußerft mangelhaft. Bon den drei Theilen konnte im Grunde
nur ber zweite fir eine Antwort auf die geftellte Frage angefehen
werden, da der erfte naturhiftorifche Einwürfe gegen den Dar:
winismus enthielt und der dritte, der Verteidigung der Einheit
des menschlichen Geſchlechtes gewidmet, wicht die Frage felbft be
traf. Aber die Kleine Seitenzahl dieſes zweiten Theiles enthielt
nur eine Misbilfigung der von Darwin angegebenen Gefeke auf
Grund eines willkürlich vorangeftellten ‚monisme relatif ou
théiste““, welcher daher durchaus fein Werth zuerkannt werden
konnte, und welche außerdem oft auf Misverftändnis beruhte.
Ebeuſo ungünftig war das Urteil über eine zweite franzöſiſche
Abhandlung, gezeichnet mit den Worten Newtons: „Deus sine
ber Haager Geſellſchaft 3. Verteid. d. chriſtl. Religion. 875
dominio, providentia“ etc. Da bie drei erften Kapitel
(Exposition et critique du systöme de Darwin, principale-
ment au point de vue de la Providence; Exposition et cri-
tique du systöme de Vogt; Les th6ories de Darwin et de
Vogt etc. devant les savants) ſich großentheils auf einem anderen
Gebiete bewegten, als in der Preisaufgabe deutlich genug vorges
zeichnet und feftgefeßt war , und überdies, wern fie gleich einzelne
richtige Bemerkungen enthielten, feine unparteiifche Auseinander-
jegung und Würdigung des Darwinismus lieferten, fo mußte das
208 ber Abhandlung abhängig gemacht werden von dem Wefultat,
za welhem die Prüfung des vierten Kapitels (Les theories de
Darwin, de Vogt etc. et la morale et la religion) führen
würde. Aber da ergab fich gleich, daß der Verfaffer fich beſchränkt
hatte auf die — eigentlich ganz überflüßige — Beweisführung der
Unvereinbarfeit der Descendenzlehre mit der mofaifhen Schöpfunge-
geihichte und mit der kirchlichen Lehre von der Schöpfung, Bor»
fchung, Erbfünde, Fleifchwerdung und Erlöfung. Glaubte der
Berfaifer auf feinem dogmatischen Standbpunfte verpflichtet zu fein,
dieien Maßftab anzumenden, fo erwies er fich gerade hiedurch nicht
m Stande, dem Zwed der Geſellſchaft beim Stellen ihrer Preie-
aufgabe zu entfprechen.
Bon ganz entgegengefegter Richtung war eine dritte, nieder»
lindifhe Abhandlung, mit dem Motto: „Natura non facit
saltum“. Der Berfaffer zeigte fi als einen warmen Verteidiger
des Darwinismus, von dem er im zweiten Kapitel des erften Theiles
fein unverbienftliches Schema lieferte. Weniger befriedigte, wegen
des Mangels an Objectivität und Unparteilichkeit, die Beſchreibung
„der Schöpfungshypotheſe“ im erften Kapitel des nämlichen Theiles.
Beſonders aber trugen die Directoren Bedenken gegen den zweiten
Theil der Abhandlung, welche das Verhältnis zwifchen Religion
und Sittlichkeit und dem Darwinismus darlegen mußte. Er zeugte,
ihres Erachtens, von Mangel an Nachdenken und philofophifchem
Sinn. Fanden ſie ſchon wenig Logik in den Weberfchriften ber
Theile und Unterabtheilungen der Abhandlung, wie auch in mancher
Argumentation in Bezug auf Einzelheiten, fo erfchien ihnen das Ur»
theil des Verfaffers im ganzen über das oben genannte Verhältnis mehr
876 Programm
als ein pſychologiſches Räthſel denn als ‚eine befriedigende Löſung
des Probleme. Der Dualismus von Glauben und Wiſſen wurde
vom Verfaſſer nicht gehörig erflärt, viel weniger gerechtfertigt.
Es zeigte fich nicht, wie feine Auffaffung der Methode und der
Ergebniffe der wifjenjchaftlihen Naturforfchung fich möglicherweiie
vereinigen ließ mit derjenigen Anficht der Natur im ganzen und
de8 Menschen insbefondere, welche er als die feinige vortrug.
Dem zu Bolge konnte feinen been über den Werth des Darwi-
nismus für das religtöfe und fittliche Leben auch nur wenig Ge
wicht zuerfannt werden, indem darin überdies infeitigfeit und
Vebertreibung bemerkt wurden. Von Krönung konnte daher feine
Rede fein.
Auch der vierten, einer franzöfifchen Abhandlung, gezeichnet mit
den Worten: „Leschoses nouvelles‘“ etc., fonnte der Preis
nicht zu Theil werden. Der Verfaffer war unftreitig ein gefchidter
und tüchtiger Mann, in der Materie zu Haufe, erfüllt mit warmer
Theilnahme an Religion und Sittlichleit und überdies ein geübter
Schrififteller. Seine Schrift war aber in hohem Maße unbe:
jriedigend. Er war überzeugt, daß der Darwinismus im Grunde
materialiftiich jei und daher am Ende zur Vernichtung der Keligion
und wahren Sittlichfeit führen müſſe. Dieſen Erfolg bedauerte
er nicht nur, ſondern derjelbe diente ihm auch zum entfcheidenden
Beweis für die Unwahrheit einer Theorie, welche ſolche verderb:
liche Folgen nach fich ziehe. Er ließ denn auch die Hoffnung nicht
fahren, daß die drohende Gefahr abgewandt werden und eine Aus—
föhnung der Naturwiffenfhaft mit den Forderungen des Gemüthe
und des Lebens zu Stande fommen würde. Aber er unterfieß, zu
zeigen, wie dies würde gefchehen können, und fchien fogar, dur
feine Darftellung und Beurtheilung de8 ,„Darwinisme mitige“
im 2. und 3. Paragraph, den Weg zur erwünjchten Ausföhnung
abgefchnitten zu haben. Dem zu Folge machte die Abhandlung
einen ganz andern Eindrud, als vom Verfaſſer beabfichtigt war,
und mußte fie für untauglich gehalten werden zum Zwed, welden
die Geſellſchaft jich vorgefeßt Hatte.
Eine fünfte, deutfche Abhandlung, mit dem Spruche: „Es find
manderlei Kräfte“ u. ſ. w. (1Gor. 12, 6), fonnte cbenif
der Haager Geſellſchaft 3. Verteid. d. chrift. Religion. 877
wenig den Preis bavontragen. Zwar bewunderten die Directoren
den Scharffinn und das Talent des Verfaſſers und ſchien ihnen
manche Unterabtheilung feiner Arbeit bem Inhalt und der Form
nach ſehr verdienftfich zu fein. Aber, abgefehen davon, daß auch
die beften Stücke durch Weberladung und bisweilen auch durch
falſchen Wig verunftaltet wurden, waren fie der Meinung, daß der
derfaffer den Anforderungen der Breisaufgabe keine Genüge geleitet
habe. Es fehlte in der ausführlichen Abhandlung eine volljtändige
md deutliche Charakterifirung der neueren Theorien betreffend die
Abſtammung des Menfchen. Sie enthielt mehr Auslaffungen,
Ergüffe und Abjchweifungen nach Anleitung der Schriften Darwins
ud einzelner Darwiniften — welche mit Unrecht dem Meiſter
dielmehr entgegengeftellt als von ihm unterfchieden wurden — ale
eine ruhige und unparteiifche Würdigung ihrer Ideen aus dem
Geſichtspunkte der Neligion und Sittlichkeit. Beſonders richtete
der Berfaffer feine Angriffe gegen den materialiftiichen Monismus,
den er zumeilen empfindliche Schläge verſetzte. Aber eine vor-
fägliche Widerlegung diefer Meinung war von der Gefellfchaft nicht
verlangt. Ungeachtet einer aufrichtigen Werthacdhtung fowol ber
Tendenz als auch der vielen Vorzüge diefer Abhandlung, mußten
die Directoren ihr den Preis verweigern.
Die dentfche Abhandlung, gezeichnet mit den Worten: „Ber
wahre mih vor meinen Freunden“ u. f. mw., zeichnete jich
vor der vorhergehenden aus durch Bündigkeit nnd ruhige Beweis⸗
führung. Der Abriß des Darwinismus, im erften Kapitel, war
deutlich, Tieß aber, was die Vollftändigkeit betrifft, zu wünfchen
übrig; die Nachweifung der auseinanderlaufenden Urtheile über
dad Verhältnis des Darwinismus zur Religion und Sittlichkeit im
zweiten Kapitel, war fehr Iehrreich, aber fchon von anderen, deren
Schriften dem Berfaffer zu Dienften ftanden, umftändlicher gegeben;
die Behandlung des eigentlichen Gegenftandes der Preisfrage, im
dritten und vierten Kapitel, fand bei den Divertoren im allgemeinen
Beifall und Zuftimmung, fchien ihnen jedoch hie und da nicht
frei von Oberfläclichkeit und im ganzen nicht fo vorzüglich, daß
fie als befondere Hervorragend anerfannt werben konnte. Diefe
Mittheilung des über die einzelnen Theile der Abhandlung gefällten
378 Programm
Urtheiles ftellt zugleich in’S Licht, warum das Ganze, ungeachtet
feiner nicht gering zu fchägenden guten Eigenſchaften, den auöge-
fetten Ehrenpreis nicht davontragen konnte.
Auch dem niederländifchen DVerfaffer der Abhandlung, gezeichnet
mit einem Citat aus R. Sted: „Nur daran muß man feit-
halten“ u. f. w., konnte der Preis nicht zugetheilt werden. Die
Direetoren meinten, daß auf die Form mehr Sorgfalt hätte ver-
wendet werden können, und daß die Tendenz der Abhandlung nicht
überall Hell und flar genug hervortrat. Auch gegen den Inhalt
einzelner Stüde hatten fie Bedenfen. Die Unterfuchung nach dem
Ursprung und der Entwiclung der Religion in Verbindung mit
dem Darwinismus, im erften und zweiten Kapitel des erften
Theiles, ſchien ihnen nicht gleicher Art mit der nach dem echte
der Religion im dritten Kapitel, und eigentlich nicht zum Gegenftand
der Preisaufgabe zu gehören ; überdies wurden darin, namentlid
in Bezug auf die Entwidlung der Religion, ſehr anfechtbare Theſen
vorgetragen. Das fchon genannte dritte Kapitel und der ganze
zweite Theil der Abhandlung waren, ihrer Meinung nach, zwar
viel Höher zu fchägen, hätten aber, um den weniger günftigen
Eindrud, welchen das Vorhergehende hinterließ, ganz auszulöfchen,
vollftändiger, dentlicher und fchlagender fein müfjen. Zur Krönung
konnten die Directoren ſich daher nicht entfchließen. Die Abhand:
(ung zeugte jedodh von fo viel Studium und Nachdenken und ent
hielt ſo viel vortreffliches, daß fie es für ihre Pflicht Hielten, dem
verdienftlichen Berfaffer einen Beweis ihrer Werthichäßung feiner
Arbeit anzubieten, und dem zu Folge ihm eine Summe von
200 Gulden zuzuerfennen, wenn er erlaubte, das feinen Namen
und Wohnort enthaltende Billet zu eröffnen. Nachdem, in Folge
einer Bekanntmachung in den Zeitungen, die Erlaubnis eingetroffen
war, ergab ſich, daß die Abhandlung eingefandt war vom Herrn
2. 9. Sietemaler,
Dr. theol. und Prediger in Arnheim.
Die legte der eingegangenen Abhandlungen über den Darwinis⸗
mus war von einem deutfchen Verfaffer und gezeichnet mit dem
Motto: „Zn zweifelhafte Lage fommend, aber nidt der’
der Haager Gefellichaft 3. Verteid. d. chriſtl. Religion. 879
zweifelnd" (2Cor. 4, 3). Cinftimmig waren bie Directoren
im ihrem Urtheil, daß dieſe Arbeit alle die anderen übertraf. Sie
zihnete fih aus duch Friſche und Urfprünglichkeit, bildete ein
Ihönes Ganze und enthielt eine kurz gefaßte und vollftändige Ant-
wort auf die geftellte Frage. Scien die Beurtheilung der Ab⸗
Nammungslehre und bes Darwinismus anfangs zu fehr einen
naturwiſſenſchaftlichen Charakter an fi) zu tragen, fo ergab ſich
ipäter, daß fie für den Zweck, welchen der Berfaffer zu erreichen
itrebte, unentbehrlich war und daher bei feiner Löfung ber Preis-
aufgabe nicht fehlen durfte. Die Directoren befchloffen dern auch,
ihm den ausgeſetzten Preis zuzuerfennen und feine Abhandlung in
die Werfe der Gefellfchaft aufzunehmen. Sie ließen ſich davon
nicht zurückhalten durch die Bedenken oder Zweifel, welche die Be-
weisführung des DVerfaffers hie und da erregte. Einige Directoren
trugen fogar ſchweres Bedenken gegen feine Anficht vom Wefen
der Religion und gegen fein Urtheil über das kirchliche Chriften-
tum. Sie waren aber mit ben Webrigen der Meinung, daß bie
Krönung einer Preisabhandlung, wenigſtens einer fo individuellen
Arbeit als die von diefem Verfaſſer, keineswegs als eine Bilfigung
einer befonderen Anfichten, fondern vielmehr als eine Anerkennung
jeiner Berdienfte und der allgemeinen Tendenz feiner Arbeit, der
Berteidigung der Religion und Sittlichkeit und ihrer Grundlagen,
betrachtet werden müßte. Das verfiegelte Billet wurde nun er
öffnet und enthielt den Namen des Herrn
Dr. ©. 9. Weygoldt,
großh. bad. Kreisfchulrath in Lörrach (Baden).
— — — —
Auf die Preisfrage:
„Zn welchem Berhältniffe ftegt, der Geſchichte
nah, der religidöfe Slaube der Völker zur Be-
handlung ihrer Todten?“
war nur eine Antwort eingegangen, eine deutſche und gezeichnet
mit den Worten: „'O Javaros undev rrgös nuäs. Epicurus.“
Die Directoren ertheilten dem Verfaſſer diefer ausführlichen Arbeit
380 Programm
gerne das Lob, daß er fih viele Mühe gegeben und in Betreff
der Leichenbegängniffe und Gebräuche der alten umd heutigen
Völker und Stämme wijjenswerthe Einzelheiten und &igentümlid:
feiten zufammengetragen hatte. Auch nahmen fie mit Intereſſe
und Sympathie Kenntnis vom fetten Kapitel, „der Trage der
Gegenwart gewidmet“. Aber diefes Kapitel, welches ihnen bei
weiten das Befte der Abhandlung zu. fein däuchte, betraf, einem
großen Theile nah, in fo fern es ſich auf hygieniſchem Gebiete
bemegte, die geftellte Frage nicht und durfte daher am allerwenigiten
das Urtheil über da8 Ganze beftimmen.. Dies mußte abhängig
bleiben von der Frage, ob der Berfalfer in Kap. 1—9 der Auf⸗
gabe der Gefellfchaft Genüge geleiftet und das Verhältnis, in
welchem der religiöfe Glaube der Völker zur Behandlung ihrer
Todten fteht, Mar und deutlich in's Xicht geftellt Hatte? Diele
Frage wurde verneint. Das genannte Verhältnis ſchien oft gan;
aus den Augen verloren zu fein: Gebräuche, welche mit der Re
ligton faum oder gar nicht verbunden waren, wurden ausführlid
beichrieben ; religiöfe Vorjtellungen,, deren Zufammenbang mit den
Leichenbegängniffen zweifelhaft war, breit erzählt; auch da, wo ber
religidfe Glaube offenbar feinen Einflug ausgeübt hatte auf die
Behandlung ber Todten, fehlte oft die Nachweifung dieſes Einfluffer
md die Beftimmung feiner Grenzen. Die Abhandlung Tonnte
dem zu Folge nicht fiir eine Löſung ber Breisaufgabe gehalten
werden. Dazu kam nod ein anderes Bedenken. Die Anorbnung
der Völfer und Stämme in den obengenannten Kapiteln der Ab-
handlung war höchſt unglücklich. Der Berfaſſer Hatte ſich vorge:
jeßt, die verfchiedenen Welttheile hintereinander weg zu behandeln,
und diefen Plan, obwol nicht ohne bedeutende Abweichungen auch
ausgeführt. Dadurch hatte er oft das Ungleichartigfte zufammen:
gefügt und fich den Weg verfperrt, um die äfteften Gebräuche aus:
findig zu machen, deren fpätere Abänderungen pragmatifch zu er
ffären und ihre Verbindung mit der Entwicklung ber religiöjen
Begriffe, mo diefe Verbindung fich wirklich vorfand, in's Licht
zu Stellen. Die Abhandlung glich deshalb mehr einer Samm
fung merhvürdiger oder feltfamer Thatſachen als einer willen
ſchaftlichen Sichtung und Bearbeitung der reichen Baumaterialien
dee Haager Geſellſchaft 3. Berteid. d. chriſtl. Religion. 881
welche Gefchichte und Ethnographie darbieten. Wäre der Verfaſſer
cbhenſo vertraut geweſen mit den neueren Unterfuchungen über die
Afmologie und die Gefchichte der Religion, als er fich durch aus⸗
gebreitete Beleſenheit auszeichnete, er würde diefen Fehler wohl
vermieden haben. Yet konnte ihm, troß den guten Kigenjchaften,
welche ſeine Abhandlung Ternzeichneten, der Preis nicht zuertheilt
werden.
Die beiden folgenden Preisfragen wurden zum zweiten Male
außgeichrieben :
l. In welchem Berhpältniffe fteht, der Geſchichte
sah, der religiöfe Glauben der Bölfer zur Behand—
lung ihrer Todten?
H. Die Gefſellſchaft verlangt:
Eine Geſchichte und Kritik der kirchlichen Lehre
vom Stande der urfprünglihen Bollftommenheit und
vom Sündenfall.
Ferner wurde biefe neue Preisaufgabe Hinzugefügt:
DI. Die Geſellſchaft verlangt, nachgewiefen zu fehen,
In wie fern die vergleichende Religionsgeſchichte,
wiejiejegt getrieben wird, beiträgt zur Kenntnis und
Verthſchätzung des Chriftentums?
Vor dem 15. December 1878 fieht man den Antworten auf
diefe Fragen entgegen. Was fpäter eingeht, wird beifeite gelegt
und der Beurtheilung nicht unterzogen.
Vor dem 15. December 1877 erwarten die Directoren Ant»
worten auf die 1876 ausgejchriebenen Preisaufgaber, über die
altfatHolifhe Bewegung diefer Tage, die chriſtliche
Pädagogik, und den Einfluß des Islamismus auf das
häusliche, foctale und politifche Leben feiner Bekenner.
Auf die „zweite der genannten Fragen ift fchon jett eine deutfche
Antwort eingegangen (Motto: La felicidad del cuerpo etc.
Cadalſo). |
Für die genügende Beantwortung jeder Preisaufgabe wird bie
Summe von 400 Gulden auögefet, melde die Verfaſſer ganz
382 Programm ber Haager Gefellichaft 3. Verteid. d. chriſtl. Religion.
in baarem Gelde empfangen, es fei denn, baß fie vorziehen, die
goldene Medaille der Gefellihaft von 250 Gulden an Werth nebjt
150 Gulden in baarem Geld, oder die filberne Medaille nebft
355 Gulden in baarem Gelde zu erhalten. Ferner werden die
gefrönten Abhandlungen von der Gefellichaft in ihre Merle auf:
genommen und herausgegeben. Kine Krönung, wobei nur ein Theil
des ausgeſetzten Preijes zuerfannt wird, es fei die Aufnahme in
die Werke der Gefellfchaft damit verbunden oder nicht, findet nicht
ftatt ohne die Einwilligung des Verfaſſers. M
Die Abhandlungen, welche zur Mitbewerbung um den Preis in
Betracht kommen follen, müfjen in holländifcher, Iateinifcher, fran⸗
zöfifcher oder beutfcher Sprache abgefaßt, aber mit Tateinijchen
Buchſtaben deutlich lesbar gejchrieben fein. Wenn fie mit
deutfhen Buchſtaben oder, nad dem Urtheil der Directoren
undeutlich geſchrieben find, werden fie der Beurtheilung nidt
unterzogen. Gedbrängtheit, wenn fie der Sache nicht fchadet,
gereicht zur Empfehlung.
Die Preisbewerber unterzeichnen die Abhandlung nicht mit
ihrem Namen, fondern mit einem Motto, und jchiden diejelbe mit
einem verfiegelten, Namen und Wohnort enthaltenden Billet,
worauf dad nämliche Motto gefchrieben fteht, portofrei dem
Mitdirector und Secretär der Gefellfchaft A. Kuemen, Dr. theol.
Profeſſor zu Leiden.
Die Verfaſſer verpflichten fi) durch Einlieferung ihrer Arbeit,
von einer in die Werke der Gefellfchaft aufgenommenen Abhand-
[ung weder eine neue oder verbefjerte Ausgabe zu veranftalten noch
eine Ueberfegung herauszugeben, ohne dazu die Bewilligung der
Directoren erhalten zu haben.
Jede Abhandlung, welche nicht von der Gefellfchaft herausge
geben wird, kann von dem Verfaſſer felbft veröffentlicht werben.
Die eingereichte Handfchrift bleibt jedoch das Eigentum der Geſell⸗
Schaft, es fei denn, daß fie diefelbe auf Wunſch und zu Nugen des
Verfaſſers cedire.
Programm der Teyler ſchen Theologiſchen Geſellſchaft zc. 338
2.
Programm
der
Teyler ſchen Theologiſchen Gefellfchaft zu Haarlem
für das Jahr 1878.
Die Directoren der Teyler'ſchen Stiftung und die Mitglieder
br Teyler'ſchen theofogifchen Geſellſchaft Haben in ihrer Sitzung
m 9. November 1877 ihr Urtheil abgegeben über die drei,
kıtfh verfaßten, Abhandfungen, welche eingefanbt wurden zur
Beantwortung der Frage:
„Wie foll man, mit Rüdfiht anf den Heu»
' tigen Streit unter den Staatsdlonomen, über
das gegenfeitige Verhältnis des Staates und
der Gefeltfchaft nad den Grundſätzen der dhrift-
liden Sittenlehre urtheilen?“
Die eine Abhandlung, mit dem Motto: „Prüfet aber alles
m das Gute behaftet, 1 Theſſ. 5, 21”, wurde flr ungenügend
Mlärt, hauptſächlich weil fie keine Antwort auf die Preisfrage
abet. Der Verfaſſer Hatte viel mehr eine Kritik der bedeutend»
im finatsöfonomifchen: Syfteme gegeben als, mit Nüdficht auf
ken Unterfchied, das gegenfeitige Verhältnis des Staates und der
deiellichoft gezeigt. Die Grundfäge der chriftlihen Sittenlehre,
relche ihn bei feinem Urtheil hätten beftimmen follen, waren dabei
übt oder kaum hervorgehoben.
Ein günftigeres Urtheil erhielten die zwei anderen Abhandlungen,
fe eine mit dem Spruch: „Die Erde ift u. ſ. w., Pf. 24, 1°,
t andere mit: „„Rusticus expectat dum defluat amnis. Ho-
Rus“, Der Berfaffer der zuerſt genannten follte den Plan
kiner Arbeit nicht erft am Ende angegeben ımd nicht fo häufig
Üitete in den Text aufgenommen haben. Uebrigens zeigte er fich
AB einen talentvollen Mann und wurden mehrere Unterabtheilungen
Veol. Et. Jahrs. 1878. 25
384 Programm
feiner Arbeit nach Verdienft geſchätzt. Er Hatte aber feinen 2
griff von den Grundſätzen der chriftlichen Sittenlehre nicht gen
gend motivirt; feine Anfichten über den Staat waren unvolljtä
dig, befonder8 weil eine genaue Andeutung der Grenze der Staat
jorge fehlte; dem fogenannten SKathederfocialismus hatte er je
Studium nicht zugewendet. Aus diefen Gründen fonnte die A
handlung nicht für preiswürdig erflärt werden.
Der Berfafjer der foeben in zweiter Linie genannten Schri
war offenbar mit den Syſtemen der bedeutenditen Staatsölonom
gut bekannt; feine Behandlung der Grundfäge der chriſtlich
Sittenlehre bewies Studium und felbftändige® Urtheil; der pre
tifche Theil der Abhandlung enthielt beachtungswertge Winfe; d
gegen Hatte man einzuwenden, daß die Form nichts weniger a
anziebend war; daß auch bei dieſer Arbeit den Kathederſocialiſt
nicht die gehörige Aufmerkjamfeit gewidmet war; daß der Verfall
feine Methode beim Aufftellen der Grundfäge der chriſtlich
Sittenlehre zwar umftändlich erläutert, jie aber nicht gegen di
Bedenken der Willkür gefidert Hatte, endlich dag die praftijct
Vorſchläge nicht direct aus jenen Grundfägen, wie fie der Ve
fajfer beftimmte, folgten. Auch ihm konnte daher der ausgeſetz
Preis nicht zuerfannt werben. |
Die Trage wird aljo für's folgende Fahr wiederholt:
„Wie foll man, mit Rüdfiht auf den heu
tigen Streit unter den Staatsölonomen, übe
das gegenfeitige Verhältnis des Staates un
der Geſellſchaft nad den Grundfägen der chriſt
lihen Sittenlehre urtheilen?“ |
ALS neue Breisfrage wird angeboten:
„Die Sefellfhaft verlangt: eine Abhandlun
über die Anwendung der Conjecturaftritif
Bezug auf den Tert der neuteftamentlidel
Schriften, worin ihre Geſchichte erzäpft, ih!
Nothwendigkeit beurtgeilt und eine mögliäl
vollftändige Ueberſicht ihrer vichtigſten Reſul⸗
tate gegeben wird.”
der Teyler'ſchen Theologifchen Geſellſchaft ꝛc. 385
Der Preis befteht in einer goldenen Medaille von 400 Gulden
a innerem Werth.
Man Tann fich bei der Beantwortung des Holländifchen, Latei-
| ‚ Mihen, Tranzöfifhen, Englifchen oder Deutjchen (nur mit Tatei-
"sicher Schrift) bedienen. Auch müfjen die Antworten mit einer
deren Hand als der des Verfaffers gefchrieben, vollftändig
| : mgefandt werben, da feine unvollftändigen zur Preisbewerbung zu»
gelaffen werden. Die Frift der Einfendung ift auf 1. Januar 1879
anberammt. Alle eingefchickten Antworten fallen der Geſellſchaft als
Eigentum anheim, welche die gefrönte, mit oder ohne Weberfegung
in ihre Werke aufnimmt, fodaß die Verfaſſer fie nicht ohne Er»
lauhnis der Stiftung herausgeben dürfen. Auch behält bie Ge-
ſcelſchaft fi) vor, von den nicht gefrönten Antworten nach Gut»
Anden Gebrauch zu machen, mit Verfchweigung oder Meldung des
Namens der Verfaſſer, doch im legten Falle nicht ohne ihre Bes
milligung. Auch können die Einfender nicht anders Abjchriften
* ter Antworten bekommen ‚ale auf ihre Koften. Die Ant»
worten müſſen nebft einem verfiegelten Namenszettel mit einem
Denlſpruch verfehen, eingefandt werden an die Adreſſe: Funda-
tiehnis van wijlen den Heer P. TEYLER VAN DER
AULST, te Haarlem.
Drnd von Friebr. Andr. Perthes in Gotha.
Im Berlage von Sriedrich Andreas Perthes in Gotha erichienen
foeben nachfolgende, durch alle Buchhandlungen zu beziehende Bücher:
Baur, Guflan, Die Berechtigung der Theologie als eines
nothwendigen Gliedes im Gejammtorganismus der
Wiſſenſchaft. Vortrag auf der Conferenz au Meißen
am 10. Juni 1874 . .
Chriſtenthum und Schule
Beyſchlag, Willib. Zur johanneiſchen Frage. Beiträge
zur Würdigung des vierten Evangeliums, gegenliber
den Angriffen der kritifchen Schule. . . .
Broich, Moritz, Papft Zulius IL. und bie vrinding des
Kirchenſtaates
Die „Neue freie Preſſe“ ſagt darüber:
„Es war und vergönnt, diefe ausgezeichnete hiftorische Mono⸗
grapbie ſchon mährend des Berlaufs ihrer Drudlegung kennen
zu lernen. Der Berfaffer, ein Wiener von Geburt, Iebt, mit
geichichtlichen Forſchungen beihäftigt, in Venedig, und‘ dort, aus
den reichen archivaliſchen Schäten der Dogenftabt, hat er das
Material geihöpft, um die Geſtalt des Triegeriicheften Papſtes und
eines der gewaltigflen überhaupt ‚auf ein beinahe völlig neues
Poſtament zu ftellen. Es war eine ſchwierige Aufgabe, dem
eigentlichen Begründer bes Kirchenſtaates gerecht zu werden.
Sultan della Hovere war eine von jeuen Figuren, vor denen ber
Pſycholog bisweilen rathlos ftehen bleibt, um den Faden dee
Berftändniffes, der feinen Händen entgfitten, dem Hiftorifer zu
überlafjen. In diejen fiebrig Lebensjahren ift fein einziger Ruhe⸗
punkt; raſtloſe diplomatiſche und militäriſche Arbeit wechſelt mit
genialem Kunſtſtreben, aus welchem die Förderung Michel Angelo's
unvergeßlich hervorſticht. Wer heute der Frennd des Papſtes iſt,
wird morgen fein Feind; die Staaten find ihm nichts als Karten,
welche er gegen einander ausfpielt. Dazwiſchen Täuft eine Moral,
welche an den Zmeden, nicht an den Mitteln haftet und vor
Gemwaltthätigfeiten nicht zurüdichredt, wenn bie Klugheit fie ap-
probirt. Diefen Charakter sine ira et studio zu jdildern, war
eine lohnende, aber auch eine dornenvolle Aufgabe. Broſch Hat
fie vortrefflich gelöft, und es ift ein wahres Vergnügen, feiner
Schilderung zu folgen, welder weder die rechte Bertheilung
von ruht, und Schatten, noch eine hohe Kunft der Darftellung
mangelt.“
Buſch, R., Die Innere Miffton in Deutſchland. Dit
Bereinslalender. 2. Ausgae . . . .
Droyien, % G., Geſchichte des Hellenismus. 3 Bye.
2. Auflage.
I. Band: Geſch. Alexanders des Großen. — 1. Daran
2. Sl rn oo.
40
40
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Zur gefäligen Beachtung!
Die fir die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einfendungen
find an PBrofeffor D. Riehm oder Eonflitorialrath D. Köftlin in
Halle as. zu richten, dagegen find die übrigen auf. dem Titel
genannten, aber bei dem Nedactionsgefchäft nicht betheiligten Herren
mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re-
daction bittet ergebenft, alle an fie zu fendenden Briefe und Badete
zu frankiren. Innerhalb des Poftbezirfs des Deutfchen Reiches, fowie
aus Defterreich- Ungarn, werden Manuferipte, falls fie nicht allzu
umfangreich find, db. 5. das Gewicht von 250 Gramm nicht
überfteigen, am beiten als Doppelbrief verfenbet.
Friedrich Andreas Perthes.
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Inhalt
Abhandlungen.
Kattenbufh, Kritifche Studien zur Symbolik (zweiter Artikel)
Braun, Die religiöfen und fittlichen Anſchauungen von Adam
Smith
Gedanken und Bemerkungen.
Docdes, Ein Mandat Jeſu Ehrifti von Nikolaus Herman
Seidemann, Aus Spengler Briefmechfel
. König, Die Regeln de8 Pachomius
Necenfionen.
rec. von Schröder .
. Frensdorff, Die Massora Magna; rec. von Strad.
Miscellen.
. Mezger, Gelchichte der deutichen WBibelüberfetsungen in der ſchwei⸗
zerijch » reformirten Kicche von der Reformation bis zur Gegenwart;
. Brogramm der Haager Gejellichaft zur Verteidigung der chriſtlichen
Religion für das Jahr 1877 .
. Programm der Teyfer’ichen Eneogien Sera zu Heart [>
das Jahr 1878
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Theologiſche
Studien und Kritiken.
Fine Zeilſchrift
für
dag geſamte Gebiet der Theologie,
begründet von
D. 6. Ulmann und D. F. W. C. Umbreit
und in Verbindung mit
D. 3. Müller, D. W. BVeyſchlag, D. Guſt. Baur
herausgegeben
D. €. Riehm um D. J. Köftlin.
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1878. |
Sinundfunfzigfier Zahrgang.
Zweiter Band.
Gotha,
driedrih Andreas Perthes,.
1878.
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* für
das gefamte Gebiet der Theologie,
3 begründet von
5 D. C. Ullmann un D. F. W. 6. Umbreit
& und in Verbindung mit
D. 3. Müller, D. %. Beyfhlag, D. Suf. Baur
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3 herausgegeben
4 D. E. Riehm am D. 3. Köflin.
3 Dahrgang 1878, driftes Heft.
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Fi Gotha,
& Triedrih Andreas Perthes.
ö 1878.
RETTET TRETEN
Theologiſche
Studien und Kritiken.
ine Zeitſchrift
für
das gefamte Gebiet der Theologie,
begründet von
D. 6. Ulmen und D. F. W. 6. Nmbreit
und in Verbindung mit
D. 3. Müller, D. W. Beyfdhlag, D. Guſt. Baur
Herausgegeben
D. E. Riehm m, 3. Köflin
Jahrgang 1878, drittes Heft.
Gotha.
Sriedrid Andreas Perthes.
1878.
Abhandlungen.
N
- 1.
Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Zein
mit bejonderer Rüdficht auf
den gottmenſchlichen Charakter feiner Berfon.
Bon
H. Schmidt,
Dialonus in Stuttgart.
Raum eine der theologischen Disciplinen hat fi in dem lebten
Jahrzehnt eines ſolch reichlichen Anbaues zu erfreuen gehabt als
das Leben Jeſu. Seit Renan mit feinem belannten Werfe fo
weite Verbreitung gefunden, hat die deutfche Theologie mit einem
Eifer, als gälte e8, den Franzoſen auf diefem Gebiete die äußerfte
Concurrenz zu machen, ſich auf die Aufgabe geworfen, die Strauß
3 Decennien zuvor in Angriff genommen und die damals das
deutfche Publikum in fo weiten reifen aufgeregt, ohne doch blei-
bende Früchte zu bringen. Die Baur’fche Schule hatte damals
von der weiteren Verfolgung der Aufgabe abgemahnt, obgleich ja
aus ihren Reihen felbft die Bewegung den Anfang genommen hatte.
Kritifche und dogmatifche Fragen befchäftigten die Theologte. Aber -
allerdings Hatte Baur in feinem legten Eirchengefchichtlichen Werke,
in dem Buche: „Das Chriftentum und die chriftliche Kirche der
erften 3 Jahrhunderte”, feine Arbeit bis an den Ausgangspunft
zurücgeführt. „Unterfuchung der Quellen” war fein Xojungswort
geweien, mit dem er dem kühnen Sturm bed Schülers Einhalt
gebot. Diefe Arbeit war nun in feinem Sinne: getan, und bei
feinem Berfuch, einen gefchichtlihen Ausgangspunkt für die chrift-
394 Schmidt
fihe Kirche zu gewinnen, ftand er felbft doch wieder vor der Frage
nach der Perfon des Stifters, einer Frage, deren gründliche Löſung
doc wohl nur von einer Bearbeitung des Lebens Jeſu erwartet
werden konnte. Nun lag e8 eigentlich in der Natur der Sache,
daß der alte, einft zur Ruhe verwiefene Arbeiter auf diefem Ge⸗
biete über dem Grabe des Lehrers mit dem ungeduldigen Rufe,
daß die Kritik allzu fehr in's Kraut gefchoffen fei, fih auf's neue
erhob, um noch einntal für Deutfchland den Anftog zu einer Reihe
von Arbeiten zu geben, unter denen wir ja nur die Werfe von
Schenkel, Weizfäder, Krüger, vor allem aber Keime
große Monographie, neuerdings die Schrift von Wittichen nennen
dürfen, um an die Bedeutung zu erinnern, welche da8 „Leben Jeſu“
in der neueſten theologifchen Wiffenfchaft fpielt. Die Frage über
das Eriftenzredht und die Möglichkeit einer Disciplin fcheint ange»
ſichts aller diefer Leiftungen eine fehr verfpätete zu fein. Und doch
hat ein Mann, in dem die hiftorische Theologie gewiß einen Kory-
phäen verehrt, noch neuerdings allen Ernjtes e8 als einen Mis⸗
griff rügen können, daß die deutjche Theologie pofitiver Richtung
fih von ihrem Gegner die Aufgabe der Herftellung eines Lebens
Jeſu habe ftellen Laffen, eine Aufgabe, die allerdings um fo mehr
ftugig machen konnte, al8 der, welcher fie ftellte, die Bemerkung
dabei nicht unterdrüdt hatte, daß das Leben Jeſu der Tod des
orthodoxen Ehrijtus fe. Und man wird vielleicht fagen können,
gerade jest erft ift die Beantwortung der Frage nach der Mög—⸗
lichleit eine® Lebens Jeſu an der Zeit, da eine genügende Anzahl
Berfuhe gemacht find. Es gilt am Ende aud) hier das Sprüch⸗
wort: Probiren ift über Studiren. Die thatſächlichen Ergebniffe
der angeftellten Verſuche find vielleicht erft im Stande, apriorifche
Bedenken gegen die Aufgabe zu erledigen oder zu beftätigen.
Wollen wir e8 freilich verfuchen, diefe Bedenken näher zu
würdigen, fo ift die erfte Aufgabe wol die, daß wir uns über
den Begriff eines Lebens Jeſu überhaupt verftändigen. Nachdem
einmal jedenfalli® der, den die Chriftenheit als ihren Herrn ver⸗
ehrt und anbetet, in den Grenzen einer irdifchen, in Gleichheit mit
jeden anderen Menfchenleben verlaufenden Berufsarbeit, in einem
nad) den allgemein anerkannten Bedingungen fich geftaltenden Ver⸗
Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſn. 395
fehr mit anderen Menſchen, in offenbarer Bedingtheit von den
natürlichen gefchichtlichen Verhältniffen und von den Zeugen feines
Lebens vor Augen geftellt ift, fann es keinem Zweifel unterliegen,
daß die Wiffenichaft ein undiscutirbares Recht bzw. die ent-
Schiedene Aufgabe hat, den äußeren Pragmatismus diefes Lebens,
fomeit e8 nach den vorliegenden Quellen möglich ift, ‚herzuftellen,
über die Anknüpfungspunfte feiner Wirkſamkeit im Volke Klarheit
zu fuchen, den Plan und Gang diefer Wirkfamfeit ſelbſt ſoviel wie
möglich im Zuſammenhang darzuſtellen, über den zeitlichen wie
räumlichen Umfang ſeiner Wirkſamkeit ein ſicheres Reſultat aus
den Quellen zu gewinnen, über die Eindrücke, welche feine Wirk—⸗
famteit auf die verfchiedenen Volkskreiſe machte, und über die
Gegenwirkungen derſelben fich zu verftändigen. Aber es ift Far,
daß ſchon die Vollziehung diefer Aufgaben kaum durchführbar ift,
wenn nicht alfererft der Mann felbft, der im Mittelpunfte fteht,
in feinen perfönfihen Anknüpfungspunkten und Beziehungen Kar
vor Augen geftellt if. Allein wo follen die nöthigen Notizen
in diefer Hinficht hergeholt werden? Mutter und Brüder treten
wol ab und zu einmal auf; aber im ganzen erfcheint doch der
Herr offenbar in Aechnlichkeit jenes Melchifedet, den der Hebräer-
brief andewe, dunzwg, Ayevsahöynros nennt. Man kann ſich
mit einiger Phantafie die wenigen Notizen ja wohl fo oder fo
weiter ausmalen, aber wer wird es verfuchen wollen, ein „exactes“
Reſultat über die Yamilienbeziehungen des Herrn zu gewinnen,
eine Anfchauung von allen den Punkten, die wir jegt zum perfüns
lichen Leben im engeren Sinne rechnen. Wenn es aud in ganz
anderem Sinne gemeint ift, e& bat doch ein gewiffes Recht, was
Strauß gefagt hat, daß wir von faum einer anderen gefchichtlich
bedeutjamen Perfönlichleit fo wenig zuverläffiges willen als von
dem Herrn, wenn wir nämlich die Anforderungen an die Quellen
machen, welche ein Leben Jeſu im gewöhnlichen Sinne allerdings
zu ftellen hätte. So reih und anfhauli manche Theile des
öffentlichen Lebens gefchildert find, über Jeſu außerberufliches Leben,
über jene Beziehungen, die auch bei dem Größten fonft eine
Holle fpielen, aus denen heraus das Berufsleben felbft wieder
Anregung und Stärkung oder auch Hemmung und Hinderniffe er-
896 Schmidt
führt, herrſcht ein abſolutes Schweigen, ſelbſt wo wir Jeſum im
fcheinbar ungeziwungenen perjönlichen Verkehr finden, wie z. B. in
Betbanien, tritt und doch alsbald wieder der Prophet, ja der
Meffiag entgegen. Aber wenn wir in diefe Lücke uns auch finden
wollten, die Hauptfache wäre doch immer für eim Leben Jeſu:
das Bild feiner inneren Entwicklung, feines geiftigen Werdens, ein
Mares Bild der zwifchen den äußeren Verbältniffen und mehr noch
zwischen anderen Perjönlicgkeiten und feinem innerften Wefen ſtatt⸗
findenden Wechſelwirkung zu geben, und mo es wirklich verfucht
wurde, ein Leben Jeſu zu fchreiben, da bat man auch verfucht,
eben diefen innerften Tiefen des Selbſtbewußtſeins des Herrn und
jemem Werden auf den Grund zu kommen. Erheben wir die
Trage nach der Möglichkeit eines Lebens Jeſu, fo kann diefe Frage
nur dahin verftanden werden, ob es möglich jet, das geiftige Werden
des Herrn, die Bildung feines Selbitbewußtfeins zu bejchreiben ?
Wenn man zunächit die Quellen anfteht, fo ift auf dem erſten
Blick Mar, dag diefelben nad einer Seite Hin ganz entjdhiedene
Lücken: haben. Bei jedem Menfcheuleben ift doch für die ganze
Bildung des Charakters und der Gefinnung, wie der Gaben und
Fertigkeiten das Kindheitd- und Yugendleben von der eingreifendften
Bedeutung. Was bieten uns hierüher die Quellen? Auch wenn
ein confervativer Standpunkt. in der Kritik die hieher bezäglichen
Theile des erften und dritten Evangeliums mit Erfolg. gegen die
Angriffe der modernen Theologie in ihrer Echtheit zu behaupten:
im Stande fein mag, für eine nad) den gewöhnlichen biographifchen
Maßſtäben eingerichtete Darftellung find auch diefe Theile entfchieden
zu. wenig qußgiebig. Daß in dem Haufe, darinnen er aufgewachlen,
die altteftamentliche Frömmigkeit in ihrer edelften Blüthe geherrſcht
habe, daß die Mutter insbefondere, genährt an ben großen Ver⸗
heigungen des Alten Bundes, die feinsten und edeljten Züge ifraeli-
tiichen Weſens in ſich ausgeprägt getragen habe, das könnte uns
innerlich wahrſcheinlich erfcheinen, auch wem es nicht aus den oben
genannten, fritiich fo befonder® angefochtenen Theilen unferer Evan»
gelienliteratur herporginge.- ‘Daß auch eine von dem Parteiweſen
im Bolfe ganz unabhängige Verbindung der religiös bejonders
tief angeregten. Geifter un Volle vorhanden war, ein. Kreis von
Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 897
Stillen im Lande, die, ohme fich fonderlich bemerklich zu machen,
die altteftamentlichen Gedanken über Iſrael bei ſich pflegten in
einem von der Schultradition mehr oder weniger unabhängigen
Sinne, das ift eine Erkenntnis, die uns immerhin als Element
bei der Bildung des inneren Lebens des Herren von Wichtigkeit
fein muß, — eine Erkenntnis, die wir ungerne verloren geben
möchten, die und aber allerdings fehr zweifelhaft werden müßte,
wenn die Echtheit diefer Abſchnitte nicht haltbar fein follte, denn
andere fichere Spuren eines ſolchen Thatbeſtandes fehlen. Aber
mern wir die durchaus altteftamentliche theofratifche Haltung in
den Aeußerungen des religiöfen Lebens und der religiöfen Hoff-
nungen in Betracht ziehen, wie fie aus jenen Abfchnitten uns ent
gegentritt, fo dürfte doc immerhin noch viel fehlen, um daraus
die Entitehuug der Anfchauungen des Herrn dom Reiche Gottes
und vollends, von feiner eigenen Perjon zu erflären. Es kann ja
auch feinen Zweifel unterliegen, daß wir beim erften Auftreten des
Herrn feinegwegs jchon gewiſſe SKreife bereit finden zu näheren
Anflug an ihn, am wenigften die ihm von früher her naheftehenden.
Selbjt wer die Geſchichte Luk. 4, 16ff. anzweifeln wollte, würde
überall auf Spuren davon ftoßen, daß der Herr von Anfang an
fich nicht eines mit feinen Ideen auch nur bis zu einem gemiffen
Grade Schon einverftandenen Kreifes von Genoffen erfreute, die in
ihm etwa den, Dolmetfcher ihrer eigenen Anfchaunngen und Be-
ftrebungen fahen (Mark. 3, 31ff. Matth. 12, 46ff. 13, 53 ff.
Luft. 8, 19. Yon. 2, 4. 7, 5) Es würde fi als Refultat
jener Einwirkungen der religiös tiefer angeregten Kreife nur die
Thatſache erflären, daß der Herr in der Auffalfung der altteftament-
lichen Offenbarung fo. vollſtändig von der Schultradition frei war
und fi) mit den großen religiöfen Zeitfragen in einer von allem
Barteitreiben völlig unabhängigen Weife frühe befchäftigen Ternte.
Oder will man gar die Entftehung des meifianifchen Bewußtſeins
des Herrn aus den directen Weittheilungen. erklären, die ihm aus
dem, Kreife feiner Familie über die wunderbaren Vorgänge bei
jeiner Geburt: zugefommen fein? Wer dag verſuchen wollte, würde
ja zum vorqus auf die eigentlich pſychologiſche Vermittlung verzichten,
mürde zum. voraus den Boden verlaffen, von dem aus mon mit
%
398 Schmidt
ganz befonderem Intereſſe e8 verſucht, dem inneren Werben des
Herrn nachzugehen. Solche directe Mittheilungen würden aber
gewiß vorausjegen, daß auch feine Umgebung mit den Anſprüchen
de8 heranmwachfenden Knaben und Jünglings nicht unbefannt geweſen
wäre, daß fein Auftreten fofort auch die divecte Trage, ob er der
Meſſias fet oder nicht, angeregt hätte. Für diejenigen, welche bie
Borgefchichte des Herrn im erften und dritten Evangelium un⸗
gerne den Fritifchen Zweifeln preiszugeben gemeint find, gehört
e8 wohl zu den fchwierigften Aufgaben, zu erklären, wie angeficht®
diefer aufßerordentfichen Vorgänge bei der Geburt Jeſu nicht wenige
ſtens in gewiffen Kreifen die Frage Über feine Meffianität zum.
voraus entfchieden gewefen fein ſollte. Wenn diefe Schwierigkeit
ihre Löfung doch nur wird fuchen fönnen dur die Annahme einer
göttlich geordneten außerordentlichen Zurückhaltung der Mutter ins⸗
befondere, jo werden auch etwaige Vortheile, die man fi) von jenen
befonderen Vorgängen für die Erklärung des inneren Lebens des
Herrn verfprechen könnte, wieder verloren gehen. Vollends be-
züglih der Schule find wir völlig von Andeutungen verlaffen.
Man fann ein langes und breites über die Art des damaligen
Unterrichtes aus Joſephus oder fonft woher zuſammenſchreiben, aber
für die Frage nad den befonderen Einflüffen, welche die Jugend
des Herren erfahren, ift damit lediglich nichtE gewonnen. ALS ein
toftbares Kleinod aus der Vorgefchichte des Herrn tritt uns jene
Erzählung Luk. 2, 41ff. entgegen, — eine Erzählung, über welche
jelbft eine fonft refolute Kritit den Stab ohne weiteres zu brechen
Bedenken trägt. Aber diefe Erzählung, auch wenn wir dazu nehmen,
was fi) ohne allzugroße Mühe nad) rüdwärts und nad) vor⸗
wärts daraus ſchließen läßt, dürfte doch kaum im Stande fein,
den fonftigen Mangel an Nachrichten ganz auszugleichen. Es ift
uns hier offenbar ein Entwiclungsfnoten im Leben des Herrn
geſchildert — das Erwachen der kindlichen Seele zum Bewußtſein
eines einzigartigen Verhältniffes zu dem Gotte Israels und einer
einzigartigen Berufsaufgabe. Aber wie ift dieſes Erwachen ver»
mittelt ?_ Sind e8 die Eindrüde des tsraelitifchen Cultus gemefen,
welche dies Erwachen hervorbrachten, und in wie fern Tonnten die:
jelben eine ſolche Selbfterfenntnis zur Reife bringen? oder war bie
Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 5%
Beichäftigung mit der altteftamentlihen Offenbarung die Beranlafjung,
näher noch find e8 die Lehrer gewefen, die vielleicht unbewußt den
unten In feine Seele warfen? Uber er erjcheint ja offenbar als
der jelbftändige, originelle Yüngling, der mit Gefeg und Propheten
Shon Bekanntſchaft gemacht hat und mit genialem Ahnen — um
zunächft rein menfchlich zu reden — eingedrungen ift in dieje Tiefen.
Man kanıı höchftens etwa fchließen, daß in der Dialektit mit der
Eregefe der Schriftgelehrten die letzte Hülle, welche über feinem
Ahnen noch lag, vollends Hinweggenommen fein wird. Aber nicht
einmal ein Name ift und aus dem Kreiſe jener Schriftgelehrten er-
halten, noch weniger eine Notiz über das, was geredet und gefragt
wurde. Liegt in dem oUx Tjdsırs, Örı 8v Tols Tod narpds mov
dei eival us; nur eine naive kindliche Vermunderung darüber, daß,
was dem eigenen Bewußtjein fo Kar war, nicht auch den Eitern
jofort offenbar und verftändlich ward, oder ift das religiöfe Ahnen
des Sohnes doc) ſchon vorher ein Gegenjtand der Mittheilung zwifchen
Sohn und Eltern gewejen, konnte der Herr vorausfegen, daß nad
dem, was eiwa die Mutter ihm ſchon angedeutet über das Außer-
ordentliche feines eigenen Weſens, dieje auch ein Verjtändnis haben
müßte für die befonderen Beziehungen zu Gott, welche bei Gelegen-
heit des Tempelbeſuches ihm offenbar werden mußten? Wir fehen,
dag in „eracter Weife“ doch fehwerlich aus diefer Erzählung für die
Einficht in das innere Werden des Herrn genügendes Material fich
gewinnen lafjen dürfte, jo werthooll für die Erkenntnis des Cha»
rakters des Elternhauſes die Erzählung auch ift, jo werthvoll nament-
lich die aus dem Schluffe derfelben fich ergebende Einſicht in die
von der Mutter geübte keuſche Zurückhaltung ift, dem wunderbar
geheimnisvollen Leben des Sohnes gegenüber. Das, was ein
„Leben Jeſu“ in dem gewöhnlichen Sinne fordern müßte, Täßt fich
aus diefen Angaben nicht herauslefen. Es kann fich alfo nur fragen,
ob man diefen Mangel etwa aus Angaben über das fpütere Auf-
treten des Herrn ergänzen kann. |
In diefer Hinficht ift nun ſchon das eine wichtig, daß ſich
noch im fpäteren Leben des Herrn durchaus Feine Beziehungen auf
fein früheres Leben finden. Man follte dod in der That denken,
ein Dann fo zarten fittlihen Sinnes hätte müſſen gelegentlich auch
260 Schmidt
ein Wort des Dankes ſagen für „Anregungen“, die ihm bon dieſer
oder jener Seite zu Theil getvorden find. Wir Ttehen in der That
bier fon vor einem Dilemma, das uns im Kaufe unferer Be-
trachtung noch öfter begegnen wird, vor dem Dilemma, entweder
eine Originalität bei dem Herrn bezüglich feines inneren Lebens
anzuerkennen, die weit Hinausgeht über irgend ein fonftiges menjch-
liches Muß, ober eitien tiefen fittlihen Schatten an ihm ju finden.
Wenn der Mutter Wort und Art ihm auch für feinen Beruf
irgendwie von Bedeutung wurde, wie darf er fie jo völlig von
allen Beziehungen zu dieſem Beruf ausfchließen? wenn es ein
Schriftgelehrter war, unter deſſen Einfluß fein Geiſtesleben auf-
wachte, wie konnte ei ſo ohne Ausnahme die befannten Urtheile
über die Schriftgelehrten fällen? auch wenn er als Schüler nod)
fo weit hinauswuchs über irgend einen Meifter, etwas von Pietät
mußte doch noch übrig fein. Wit werden auf. das Verhältnis des
Herrn zu dem Täufer Hoch weiter zu fprechen kommen, aber
möchten an biefer Stelle ſchon bemerken, wie die Aeußerungen bes
Herrn über diefen Mann doch aud feine Spur eines äuch nur
vorübergehenden AbBängigkeitsverhäftniffes verrathen. Vielleicht daß
irgend ein „exactes“ Auge noch etwas durchſchinimern ſieht. Wir
können uns nicht rühmen, ein ſolches Auge zu beſitzen. Wir fragen,
wenn der Herr dutch die Tuufe des Fohanries erft duf die Idee
bed Reiches Gottes gefiihrt wurde, wenn ihm felbjt erft unter dem
Wehen biefer Bewegung. ber Gedanke an die eigene Meifianität
kam, wie waren die Aeußerungen möglich, wie Matth. 11, 11 oder
Matth. 11, 6? Wohl ruft der Herr (Matth. 21, 25) den Täufer
zum Zeugen für ſich auf, aber der Sinn diefes Zeugniſſes kann
doch nun ein doppelter fein. Theils will der Herr feitftellen, daß
bie Frageſteller, wenn fle eine unmittelbat göttliche Bevollmächtigung
überhuupt leugnen, eine folhe auch dem Täufer nicht zugeftehen
föntiten, theils will er, wie überall fonjt, auf das göttlich geordnete
Zufammentreffen der Johannistaufe miit feiner Himmelreihöpredigt
hitimelfen, aber eben indem er indirect für ſich felbft eine unntittel-
bare göttliche eFovace in Anſpruch nimmt, ftellt er fi) auch von
den QTäufer wieder unabhängig. Man fage nit, daß daß die
Eigentümlichleit ded prophetiichen Bewußtjeins überhaupt gewejen
Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 491
fet, die Vermittlung ber eigenen Ideen zu üiberfehen über dem Be⸗
waßtfein der göttlichen Offenbarung. Beides ſchloß fi) doc) gegen⸗
feittg nicht aus. Daß wir im A. T. eine Diadoche und Tradition
der Prophetie vor uns habeıt, tritt doch deutlich hervor, und wenn
wir don den Propheten oder auch nur von einzelnen derfelben in
ähnlichem Umfange wie von dem Herrn eine Lebensgeſchichte hätten,
würde dies ohne Zweifel noch viel deutlicher fich zeigen: Weberbies
handelt es fich ja bei dem Herrn nicht nur um das „Woher“ ger
wifier Ideen. Hiefür fehlt es ja bei ihn an Anfnüpfungspunften
allerdings nicht, ſondern um die Entitehung ſeines fpecififchen
Meſſiasbewußtſeins und feines Geiſteslebens überhaupt. Und in
diefer Beziehung werden wir jagen muſſen, daß die neuteftäment-
lichen Quellen auch in dem, was fie von Aeußerungen des Herrn
aus fpäterer Zeit berichten, keinerlei Winfe Über die allmähliche
Seftaltung desfelben in der Kindheit. und Jugend geben. Und wie
er jelbit, der Herr, in dieſer Hinſicht ſich nicht äußert, fo find
uns auch feine Aeugerungen anderer überliefert, die darüber Licht
geben Tönnten. Mac den bereitd angeführten Stellen vermundern
fih die Belannten von früher her einfach: rrdYer rodrw n cople
odın al ab duvansıs (Matth. 13, 54 parall.). Sie wiffen von
feiner Schule, feinen Einflüffen irgend welcher Art, aus denen fie
fein Auftreten erklären ließe. Wenn wir mit diefer Notiz Matth.
3, 14 in Einklang bringen wollen, fo wird «8 doch nur fo ge
fchehen können, daß wir annehmen, es fei dem Herrn nicht etwa
fhon ein Ruf aus Galiläa vorangegangen, fondern nur in Folge
einer Offenbarung habe der Täufer diefen befonderen Eindruck ges
habt von der Bedeutung der fich ihm nahenden Perſönlichkeit. Es
gehört in Wahrheit zu den wunderbarften Thatſachen, daß eine fo
emineute Perfönlichkeit auf den Schauplag der Geſchichte tritt, ohne
dag fie im engen Kreife des Haufes oder der Gemeinde irgend
welche außerordentliche Eindrüde zuvor gemacht — mit Ausnahme
jenes einzigen Ereigniffes Luk. 2, 41ff.
Halten wir hier einen Augenblick ftilfe, um zu fehen, wie bie
neueften Erſcheinungen auf dem Gebiete der Literatur über das Leben
Jeſu ſich, über die offenbaren Dlängel der Quellen hinweghelfen.
Seiner ganzen Tendenz nad) konnte das erfte Beben Jeſu von Strauß
402 Schmidt
auf die Frage, fo wie wir fie geftellt, gar nicht antworten. Dem
Berfaffer war es ja nicht darum zu thun, dem wirklichen Hergang
auf die Spur zu kommen, fondern nur das Nichtwirkliche kritiſch
zu vernichten. Nach Ausführung der letteren Aufgabe blieb dann
freier Raum genug übrig, um fich den Hergang der Dinge nad) eigener
Phantafie zu conftruiren. So ift denn der 8 58 des erften Lebens
Jeſu (1. Auflage) eine auf dem Standpunkte der heutigen Evan-
geliumforfchung doch ziemlich flüchtige Ausführung über die erft
im Laufe feiner eigentlichen Lehrthätigkeit fallende Entftehung des
mejjianifchen Bewußtſeins. Bei folder Auffaffung kann dann frei
lich) ohne große Mühe die Zeit des Dunkels ausgefüllt werben mit
dem Beibringen von Analogien in Bildung anderer Zeitgenoffen
und man fann ſich den Luxus erlauben, auch die Geſchichte vom
zwölfjährigen Jeſus in die mythiſche Rumpelkammer zu werfen.
Auch in dem zweiten Leben Jeſu finden wir im wejentlichen feine
anderen Ergebniffe. Auch hier geht Strauß von der Annahme
aus, dag Jeſus erft im Laufe feines Lehramtes den Meſſiasgedanken
fi) angeeignet habe; den Einfluß des Täufers auf den Herrn ift
er dagegen nicht abgeneigt etwas höher anzufchlagen (S. 195 ff.),
ohne daß er fich freilih die Mühe nähme, die Punkte näher zu
präcifiren, in welchen ein foldher Einfluß ſich geltend mache oder
gar mit den Angaben der Evangelien fi) näher auseinanderzujegen.
Diefer Auffaffung haben fih Renan und Schenkel angefchloffen,
bis zu einem gewilfen Grade aud) Keim, indem die beiden erfteren
den Herru erft im Laufe feiner öffentlichen Wirkſamkeit eine bes
ftimmte Stellung zu ben mejfianifhen Erwartungen des Volkes
gewinnen lafjen, während Keim den Meifias- „Entfchluß*“ jchon unter
der Bewegung durd die Taufe des Johannes zu Stande fonımen
läßt. Weizſäcker, welcher den Gedanken eines Meſſias⸗, Entſchluſſes“
beanftandet, hat nach der ganzen Anlage feines Werkes zu einem
Eingehen auf die vorliegende Frage feine Veranlafjung gehabt, wie
auch Wittichen bei dem Gang, welchen er einjchlägt, nicht auf dies
Problem geführt wird. In älterer Zeit hat ed wol am ausführ⸗
fichften Range verfucht, vom orthodoren Standpunkte aus die Ent-
Faltung des inneren Lebens Jeſu zur Anfchauung zu bringen. Allein
es ift Mar, daß die Ausführungen bdesfelben im fünften Abſchnitt
leder die Grenzen der Aufgabe eine Lebens Jeſu. 408
Des zweiten Buches ein Stüd Chriftologie, nicht ein Stüd Ge
fhidhte find. Man wird, wenn man einmal zu der Weberzeugung
von der gottmenfchlichen Natur des Herrn gelommen ift, immerhin
verfuchen dürfen, das Problem de Zuſammenſeins eines under»
änderlichen göttlichen Bewußtſeins mit der dem Menfchengeifte noth⸗
wendigen Form des gefchichtlihen Werdens zu Löfen; aber geſchicht⸗
liche Anhaltspunkte, die uns die Löſung gewiſſermaßen als Reſul⸗
tat der Forſchung von ſelbſt in die Hand geben würden, liegen
nicht vor. Was Lange (Buch I, 2. Abth., 12. Abſchnitt) über
die Entwidlung Jeſu beibringt, tft ebenfo Phantafie, wie die Aus⸗
führungen Renans, mit dem fich Lange in Hervorhebung des Ein⸗
fluffes der äußeren Natur auf die Entwidlung des inneren Lebens
des Herrn berührt. Am ausführlichiten ift e8 von Haſe verſucht
worden, die Entftehung des mefftanischen Bewußtſeins aus der Ent.
widlung feiner Kindheit heraus begreiflih zu machen. Freilich
gerade die einzige Notiz aus dem Entwidlungsgange des Herrn, die
Geſchichte vom zwölffährigen Jeſus, benutzt Hafe in diefer Rück⸗
fiht niht. Wohl verteidigt er den gefchichtlichen Charakter der
Erzählung, aber die Offenbarung eines eigentümfichen Bewußtſeins
des Herrn will er nicht darin ſehen. Er polemifirt (S. 222) in
biefer Beziehung gegen Reinhard und Heubner, welde in der Ant⸗
wort des Zwölfjährigen das Hare Zeugnis finden, dag er fich für
ben großen Religionsverbefjerer gehalten habe. ‘Der Nachweis, da
dies nicht der Fall geweſen fei, ift nun in fo. fern leicht zu führen,
als ja allerdings von einer Bezugnahme auf feinen künftigen Les
bensberuf direct durchaus nicht angedeutet ift. Aber daß jeder
andere Knabe in Israel, wenn er anders religiös angeregt und
foweit gereift war, derfelben Worte fich hätte bedienen können, dürfte
doch mehr als fraglich fein. Wir dürfen doch nicht vergeffen, daß
bie Anwendung de8 Vaternamens auf Gott feitend des einzelnen
Israeliten jeden Falls etwas ganz außerordentliches war. Ober
hat nicht gerade ber Nationalismus, aud) der moderne, die weient«
Tichfte Bedeutung des Herren daranf eingefchränft, daß er etliche
neue Ideen und vorab die Bateridee in Eurs gebradht Habe? Man
müßte alfo jeden Falls geftehen, daß, wenn er fich nicht felbft als
den Meſfias erfannt, er doch wenigftens das ſchon ausgeſprochen
Theol. Stud. Iahrg. 1878. 27
404 Schmidt
babe, was ſpäter ber eigentliche Kern feiner meſſianiſchen Wirkſamkeit
war. Dazu fommt, daß er eben nicht nur zod szargos fagte, ſondern
Tod naroög mov, wie er ja auch fpäter niemals fein Verhältnis
zu Gott mit dem feiner Jünger gleichjegt. Und endlich wäre doch
wol darauf Binzumeifen, daß die ganze Entfchuldigung einen rechten
Sinn nur hat, wenn der Herr ein ganz einzigartiges Verhältnis
zu Gott hat. Wenn er in feiner näheren Beziehung zu Gott fteht,
al® jeder andere religiöfe Menſch auch, fo Hat er auch fein beſon⸗
beres Hecht gehabt im Tempel zu bleiben, während andere doch
auch fromme Leute den Heimweg angetreten haben. Wer die Er-
zählung für Hiftorifch Hält, kann fi wol kaum dem Zugeftändnis
entziehen, daß ein für das meſſianiſche Bewußtſein Jeſu bedeut-
famer Entwidlungsfnoten Hier aufgezeigt werden foll und dag nur
fraglich fein kann, wie weit diefe Beziehung reicht, welchen Einfluß
die Reife nach Jeruſalem, der Aufenthalt im Tempel jelbft auf
die Geftaltung dieſes Bewußtſeins übte oder welche Schlüffe ſich
etwa nahelegen auf die vorgängige Kindheitögeſchichte. Wenn wir
felbft im Obigen «8 als problematifch Hinftellten, ob man einen
ſolchen Rückſchluß machen und in der Verwunderung über bas
Nichtwiſſen der Eltern ein Zeichen dafür fehen dürfe, daß doch ir⸗
gendwie über fein einzigartiges Verhältnis zu Gott vonfelten der
Mutter fchon Andeutungen ftattgefunden haben, daran, glauben wir,
follte man nicht zweifeln, daß die Erzählung für das Bewußtfein
feines einzigartigen Verhältniffes zu Gott zeugt und ohne Zweifel
den Moment fchildern will, da diefed Bewußtſein eritmald zum
Haren Durchbruch kam. Was es eigentlid war, das diefen Durch»
Bruch vermittelte — ob die Unterredungen, die er bier pflog, ob
die Rocalität des Tempels, ob die Eindrüde des Feſtes, wird fich
ſicher mit „Exactheit“ nicht ausmachen laſſen. Sicher dürfte nur
eines fein, daß es fih um eine Erzeugung des meſſianiſchen Bes
wußtfeins nicht handeln Tann, fondern nur um eine Vermittlung
des völligen Hervorbrechens.
Die Entftehung dieſes Bewußtſeins fucht nun Hafe auf zweierlei
Art vorftellig zu machen. Entweder will er annehmen, fein
Meifiasbewußtfein fei mehr als eigentlicher Entſchluß aus Hoff⸗
nungen und Zweifeln hervorgegangen (S. 285) ober es fei kurz
Ueber die Grenzen ber Aufgabe eines Lebens Jeſu. 406
gejagt, if der Form genialer Ahnung von Anfang in ihm vorhan⸗
den geweſen. Allein die erftere Annahme mwürbe uns vor allein
über die Tape ber Kindheit Hinausführen. Wie follte das Kind,
wie ber Yüngling fchon einen ſolch tiefen, Haren Einblid in das
Verderben, in die Noth det Zeit gehabt Haben in der nazaretanifchen
Adgefchloffenheit, um zu diefem dringenden Begehren eines Meſſias
geführt zu werden und noch mehr, wenn wir auc annehmen woll-
ten, daß in den Kreifen feiner Umgebung die Zeit fich in fo dunkeln
Farben gejpiegelt Habe, um ihm dad Herz mit biefer ringenden
Sehnſucht zu erfüllen; aber wie follte er auf ben Gedanken kom⸗
men, daß er gerade es fein konnte — gab es denn nicht andere
Männer in Jeruſalem und in der Wäfte, die vor ihm berufen
fein konnten? Eine ſolche Weberlegung konnte ihm kommen in
einem Eritifchen Augenblid. Wenn er in jenen Stunden am Jor⸗
dan, da Israel gefpannt auf den Meſſias Harrte, der Täufer felbft
aber fich dem Verlangen des Vollkes entzog und fein größerer ſich
zeigen wollte, wenn er da etwa die Frage an ſich felbft und an
feinen Gott richtete, ob er ſelbſt es nicht fei, fo Liege ſich das
piychologisch verftehen. Wreilih müßte dann auch fofort erwartet
werben, baß er fich offen zu dieſem Berufe befannt Hätte, und «8
ließe ſich kaum verjtehen, wie er eigentlich nur durd die Erwat⸗
tungen des Volkes gedrängt, nur durch augenblickliche Nöthe ver-
anlaßt zur Ergreifung diefes Berufs, doch auf die nähere Geftal-
tung deöfelben den Mejftaserwartunger des Volkes fo wenig Einfluß
geftattet haben follte. Wenn eine Jungfrau bon Orleans, atif
welche Hafe fi beruft, im Angeficht ber Außerfter Gefahr Ihre
Landes den Beruf zur Rettung in ſich verfpürt, fo kann fie fit
biefen Beruf doch nur als den zu einer augenblicklichen, fichtbaren
benlen. Aber dad Meſſiastum im Sinne des Herrn war den
Erwartungen und Hoffnungen Israels in feiner Weiſe gan; adü⸗
quat, jo dag wir und auch nicht denken können, fein Bewußtfein,
der Meſſias zu fein, fei aus ben Einbrüden von der Noth und
ben Hoffnungen der Zelt heraus geboren. Ueberdies kann bie Ein-
wendung, die Haſe ſelbſt macht, daß bei einer ſolchen Entftehttig
des melfianifchen Berwußtfeind das Schwanken und der Zweifel
eigentlich integritende Momente dieſes Bewußtſeins geweſen fein
27*
406 Schmidt
müßten, daß mindeftend bei den eintretenden Miserfolgen dieſe
Zweifel fich wieder geregt haben müßten — dieſe Einwendung kann
nicht leicht befeitigt werden. Man vergeffe nur eines nicht. In
dem meiftanifchen Bewußtjein lag doc eines ganz unfraglich ein«
gefchloffen, die Ueberzeugung, daß an feine Perfon, nicht nur an
die von ihm verkündigte Wahrheit das Heil der Welt gebunden
ſei. Wie foll dies Bewußtſein ohne den Halt einer objectiv ver»
fiegelten Gottesoffenbarung gegen das Gewicht des in ben That»
Sachen ſcheinbar ſich vollziehenden Gottesgerichtes ſich feitgehalten
haben? Ein Hus mag die Ueberzengung gehabt haben, daß feine
Lehre Wahrheit fei, er mag den Scheiterhaufen beftiegen haben in
der Zuverfiht, daß bie von ihm verkündigte Wahrheit ſich Bahn
machen müfje und ihren Triumph feiern werde; aber daß diefe Wahr-
heit von feiner Perfon unablöslid fe, dag fie felbjt auf immer
nur mit der Anerkennung feiner Berfon auf Anerkennung zu rechnen
babe, das konnte er fich ohne äußerſte Schwärmerei dody nicht ein⸗
bilden. Aber das, müſſen wir doc fagen, liegt mindeftens in dem
meſſianiſchen Bewußtſein, daß er fich felbft diefe abfolute Bedeu⸗
tung zugefchrieben, auch ohne dag wir, wozu hernach Gelegen-
heit geboten fein wird, dies Bewußtſein noch näher unterfucht
haben.
Können wir alfo in feiner Weife in dem Verjuche Haſe's, die
Entftehung des meffianischen Bewußtſeins denkbar zu machen, aus
den Analogien fonftiger Erfahrungen von der Uebernahme ober,
eigentümlicher Berufsaufgaben heraus, eine gelungene Löſung des
Problems erblicen, jo will auch die Analogie der genialen Ahnung
nicht binreichen, eben aus dem Grunde, weil ber Meſſiasberuf ein
ganz eigenartiger iſt. Wenn es fih etwa nur um Schriftaus-
legung und Volkspredigt gehandelt hätte, da mochte ja in allewege
eine Ahnung früher in ihm aufdämmern, daß er berufen fei, eine
neue Schriftauslegung, neue religiöje Erkenntniffe zu bringen, aber
zugleih mit dem Triebe, in die Schrift ſich zu verſenken, in reli⸗
giöfer Contemplatton mit Gott zu verkehren. Im kindiſchen Spiel
Ihon mochte er den Volfslehrer machen und ein Bewußtfein davon
gewinnen, daß er berufen fein Lönne, die hohen Meiſter feines
Volkes, die Hillel u. a., zu überbieten; aber von bier bis zum
Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 407
Demußtfein der einzigartigen Bedeutung feiner Perfon ift doch noch
ein weiter Schritt. Wenn ein Alexander die Ahnung gehabt haben
foll, dag er der erfte Feldherr, ein Raphael, daß er ber erfte Maler
fein werde, fo konnte diefes Bewußtfein an der Erfahrung von
anderen Feldherren und anderen Malern fich bilden; aber ohne daß
Raphael ein Bild gefhaut, von einem Maler gehört, Alexander
ben Homer gelefen, Soldaten gefehen, von Schlachten vernommen,
wäre ihm doc immer eine folche Ahnung gefommen. Es wäre ein
Großes, ein ſchon außer der Analogie Liegendes, wenn der Herr
etwa da8 Bewußtſein gehabt hätte, auf dem Wege der Ahnung
mehr zu fein als Menſch — denn ein Prophet iſt man ja nicht
fraft des Gefühls befonderer Leiftungsfähigkeit, fondern nur kraft
ded Bewußtfeins, beftimmte Aufträge von Gott fchon empfangen zu
haben, aber ber Meſſias ift dann doch noch etwas ganz anderes.
Dazu kommt, dag alle Genialität, das Lernen, die allmähliche Uebung
nicht ausfchließt. Auch der genialfte Dichter oder Maler hat nicht
mit feinem Meifterwert angefangen. Wäre das Mefftasbewußt-
fein nad) Analogie des genialen Selbftbewußtfeins zu erflären, fo
müßte man annehmen, daß auch in den Tagen der Kindheit fchon
die erften Schritte von ihm zu dem Ziele Hin erfolgten, das fein
Geiſt ahnungsvoll in's Auge faßte. Der tiefe, aus dem „Un
bewußten“ ftammende Drang würde fich irgendwie geäußert haben.
Aber das Wunderbare ift, daß mit dem Aufleuchten des Meſfias⸗
bewußtfeins fofort auch die Mare Einficht gegeben war, es fei
diefe Erkenntnis mit dem Schleier eines heiligen Geheimniffes zu
verhüllen, daß der Meſſias nicht dem Drange genialer Anlage
folgend fich frühe auf feinen nachfolgenden Beruf einübte, fondern
unerkannt, ungeehrt von der Welt die Tage der Kindheit und des
Sünglingsalters zubrachte. Je concreter man ſich die Sache vor»
zuftellen fucht, deito weniger wird man mit den von Hafe ange:
führten Analogien fich zufrieden geben künnen. Wer die Entftehung
diefes Bewußtſeins wirklich erflären will, wird wol es verjuchen
müffen, die Gefchichte des Lehramts auch dazu zu nehmen, wird es
verſuchen müſſen, mindeften® die Taufe des Johannes als Voraus»
fegung dazu zu nehmen.
Treten wir nun damit an die Hauptfrage unjerer Unterfuchung
408 Schmidt
näher heran, ob innerhalb des Rahmens feines öffentlichen Lebens
Spuren einer allmählihen Bildung feines Selbſtbewußtſeins ſich
finden, fo dürfte für die Beantwortung diefer Frage eine Ver⸗
ftändigung darüber nöthig fein, was denn fchließlich die Elemente
dieſes Bewußtſeins find. Erſt wenn wir damit in's Reine ge»
fommen find, wird ſich darüber urtheilen laſſen, ob unfere Quellen
Schlüffe auf das anfängliche Fehlen eines diefer Elemente enthalten
oder ob überhaupt denkbar ift, daß dieſes Bewußtſein ſich fo zu
Sagen ſtückweis gebildet habe, fo daß man aljo ein Element des⸗
jelben als vorhanden, das andere erit als ſich entwidelnd vor»
jtellen Tönnte. Wenn der Berfaffer bei diefer Unterfuchung fich
zunächft an die Synoptifer hält und das 4. Evangelium mehr nur
als Parallele herbeizieht, jo thut er das nicht allein weil er gerne
ex concessis argmentiren möchte, fondern auc weil er glaubt,
daß eine unbefangene theologische Anfchauung fi nicht der Er⸗
fenntnis verfchließen darf von der eigentümlich theologifchen Fär⸗
bung diefes Evangeliums, kraft deren e8 die Geſchichte sub specie
aeternitatis betrachtet, womit der Authentie natürlich in feiner
Weiſe präjudicirt fein fol.
Es ift wol allgemein zugeftanden, daß zur Erfeuntnis des
Selbftbewußtjeins ded Herrn wir zunächſt an die Namen gewiejen
find, mit denen er fich felbft bezeichnet, daR deshalb fein anderes
Wort wichtiger ift für diefen Zweck als das Wort vioc vav av-
Jeonov. Um fein Wort bat darum aud) die Exegeſe fo fehr fidh
bemüht als um dieſes. Vielleicht gelingt es ung, ohne Eingehen
auf die verfchiedenen Vorſchläge der Eregefe doch etliche Haupt⸗
punkte hervorzuheben, die fchließlich unbeftreitbar fein dürften und
für unferen Zwed genügen können. Wichtig erfcheint ſchon der
Umjtand, daß er fid) überhaupt einen eigentümlichen Namen gibt
und zwar nicht nur auf ergangene Bitte um Auskunft feine Berfon
jo bezeichnet, fondern auch ohne ſolche Veranlaffung ſich auf dieſe
Weiſe gewiffermaßen von der übrigen Deenfchheit untevfcheidet.
Wozu dieje Umfchreibung des einfachen pron. personale, wenn er nicht
glaubte, zum voraus auf ein in ihm vorhandenes eigentümliches
Weſen aufmerffam machen zu müffen? (Vgl. Keim II, 70.)
Daß mindeftens jchließlih der Name meiftanifche Bedeutung Baben
Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 409
will, ift wol im allgemeinen auch zugeftanden. Strauß (In
feinem zweiten Leben Jeſu), Hafe, Keim, Wittichen findin diefer
Hinfiht einftimmig. Aber ebenjo unbeftreitbar dürfte auch das
andere fein, daß der Herr in ganz beftimmter Abficht diefen Namen
benorzugt und einen befondern Sinn demſelben zu geben fucht.
Schon der altteftamentliche Gebrauch bei Daniel, wie im 8. Pſalm
weit auf die ideale Seite des menjchlihen Weſens hin. Die
Gegeneinanderftellung der Thiere und des Menfchenfohnes kann doc)
nur den Sinn haben, daß die Weltreihe, fofern ſie von Gott ges
Ihieden und ihren natürlichen Xrieben hingegeben find, thierifchen
Charakter haben, im Meſſiasreiche aber die Meenfchheit in ihrem
wahren, vollflommenen Wejen erjcheint. Trägt nun das ganze
Meſſiasreich einen folchen im vollften und wahrften Sinne huma⸗
nen Charakter, ſoll in demfelben das menschliche Weſen überhaupt
zu feiner Vollendung kommen, fo muß das von bem Haupt
und Urheber diefes Neiches in befonderem Maße gelten, er
muß im Unterfehiede von den übrigen Menfchen darauf Anſpruch
machen, der Menih im vollflommenen Sinne zu fein. Ober
iſt dieſer Schluß zu rafh? wird man fidh vielleicht mit einer
gewiflen Unklarheit in diefer Beziehung helfen wollen, mit
der Behauptung, daB Jeſus vielleicht mehr zufällig auf dieſen
Namen gelommen fei, feinen Inhalt nicht fo ernftlich gemeint
babe? Aber wie? Die Wahl einer fo conftant feitgehaltenen
Bezeichnung jollte etwas zufälliges an fih haben — und der
Herr ſollte nit ſchon durch den Gedanken, dag der Daniel’sche
Menjchenfohn auf des Himmels Wolfen zu dem Alten der Tage
fommt, zur Frage nad den Eonfequenzen diefer Bezeichnung ſich
veranlaßt gefehen haben? Und wenn er ausdrüdlid das Kommen
auf den Wolfen des Himmels für fih in Anſpruch nimmt, ſollte
ihm dann eine Anfchauung, wie fie der Apoftel Baulus (1 Kor. 15)
geltend macht, wirklich ferne gelegen haben? Wenn die Bezeichnung
Menfchenſohn ohne Zweifel vor der Deffentlichkeit die meſſianiſchen
Ansprüche mehr verdecte ald der Name Davids Sohn, wenn dad
Bolt über die Tragweite de8 Namens Menfchenfohn im unklaren
bfeiben konnte, für ihn felbft, den Herrn, Lagen doch ſchon in diefem
Namen Aufprüche, welche weit bimnusliegen über den bloßen
410 Schmidt
Davidsfohn. Will man nicht den Tächerlichen Verſuch machen, den
Namen auf das Niveau des Menſchenkindes überhaupt zu redu«
ciren, fo wird man fchon bier zugeitehen müfjen, daß in dem
Selbftbewußtfein des Herrn ein Element lag, das jchwer in ein
nicht krankhaft geftörtes Bewußtſein des empirischen Menfchen ſich
fügen will. Wenn Keim (Leben Jeſu, Bd. U, ©. 64 ff.) in
der ihm eigentümlichen Redeweiſe einen - Doppelfinn in dem
Namen findet, wenn er darin einerfeits die Bezeichnung des menjch-
lihen Meſſias findet, wenn er fagt, biefe Erkenntnis, „biefer Wille
(der ſich nämlich in dem Gebraud des Wortes ausſpreche) ber
leuchtet neu und zauberhaft den echtmenjchlichen Charakter und den
geijtigen wie fittlichen Grundgedanken de8 Himmelreichs“ — wenn
aber anderfeit8 auch die Hoheit darin Liegen foll, wenn Keim
jagt, „sie läßt die Immer noch übrige, fcheinbar fo entjcheidend wich⸗
tige Berjpeftive auf Thronherrlichkeiten wie ein duftiges Ahnungs⸗
bild erfcheinen“ — fo ift damit doch feineswegs die Möglichkeit, diefe
Bezeichnung mit einem empirischen Dienfchheitsbewußtfein zuſammen⸗
zubringen, erflärt. Auch die Stellung eines dıexovog der ganzen
Menſchheit ift eine fo einzigartige, daß fie auch aus der Parallele
mit dem Vorgefühl genialer Naturen von der Bedeutung ihres
künftigen Wirkens nicht kann verglichen werden, fehon darum nicht,
weil es ſich in der That doch nicht um eine Leiftung handelt,
welche nur durch ein außerordentliches Maß von Begabung bedingt
dt, fondern zu welcher auch eine einzigartige fittlich-veligiöfe Stel
fung erfordert wird. Mag der Name immerhin den Rahmen ber
Menfchheit überhaupt noch nicht überfchreiten, wir werden vergeb-
lich nad genügenden Analogien uns umfehen im greife aller der
Menden, die nicht in befonderem Maße an Selbjtüberhebung leiden.
Wenigſtens wird man biefe ganz eigentlimliche Bedeutung, die der
Herr fih dur den Gebrauch diefes Namens zufchreibt, zugeftehen
müffen, wofern man nicht etwa mit Strauß darin den Ausdruck
eines vagen, aufgeflärten Kosmopolitismus gegenüber den angeb⸗
lien nationalen Beſchränktheit des gewöhnlichen Meſſiasglaubens
fehen will.
Leichter ald der Name Menfchenfohn ſcheint fich der Gottes⸗
john mit dem empirischen menfchlichen Bewußtfein zu vertragen.
Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 411
Strauß findet diefe Betrachtungsweife feiner als des Gottesfohnes
auf eine breite, rationelle Bafis geftellt (8. J. f. D. V., ©. 202).
Denn feiner Meinung nad) theilt der Herr bie Gottesfohnfchaft
mit allen feinen Jüngern, fie beruht nur auf dem Glauben an
die unterfchiebslofe, alle Menſchen umfaffende Güte Gottes, ber in
diefer Güte als Vater erkannt wird. Aber in der That gibt es feine
oberflächlihere Anficht als diefe, obwohl man ihr immer wieder
begegnet. Es Tanıı doch nicht geleugnet werben, daß der Herr fid)
felbft niemals zufommengefaßt hat mit den übrigen Menſchen, wo
er die leßteren als Kinder Gottes bezeichnet, und es ift die Der
merkung Keime (Bd. II, S. 308) daß im fpäteren Theil feiner
Wirkſamkeit an die Stelle des „euer Vater“ bei dem Herrn der
Ausdruck „mein Vater“ trete, eben dahin zu ergänzen, daß auch in
dem „euer Vater“ das „mein Vater“ eigentlich impficite fchon Liegt.
Wenn er principiell auf dem gleichen Boden ftand mit deu übrigen
Menſchen — mit den Jüngern, warum denn diefe abfichtliche Vermei⸗
dung des „unfer Vater“. Legt er den Seinen dieſe letztere Formel
in den Mund, warum jchließt er fich felbft von diefer Formel aus,
indem er eben ansdrüdlich den Jüngern fagt, jo jollen fie beten?
Vergeblich wird man nad) irgend einer Spur fuchen von einer Gleich⸗
ftellung des Herrn mit den übrigen Menjchen, auch mit den höchften
und beften. Thatſächlich erfcheint auch der Gottesfohn der Synoptifer
als Wovoysrnis, wenn auch nur das 4. Evangelium wirklich diefen
Ausdrud anwendet. Wie foll man biefes fpecififche Sohnesbewußt-
jein erflären? Die theofratifche Bedeutung wird durch alles, was
der Herr zur Erklärung feines PVerhältniffes zu Gott anführt,
nicht unterftügt. Ya, man wird jagen bürfen: wenn der Herr
jein Sohnesbewußtfein auf die Erwählung zum Meſſias begründete,
jo würde allerdings die Anwendung des Sohnesnamens auf die
übrigens Reichsgenoſſen unverftändlich fein. Wäre die Gottesfohn-
Ihaft die Prärogative de8 Meffinsthrones, fo könnte aud nicht
in abgeleiteten Weife der Sohnesname auf die Unterthanen überges
tragen werden. Nur wenn mit dem Namen ein Wejensverhältnie
zwifchen dem Herrn und Gott bezeichnet werden foll, erklärt fich
beides, die Webertragung des Namens auf bie XTheilhaber am
Reich und der fpecififche Vorbehalt, welchen ber Herr für fich felbft
412 Schmidt
macht. Daß damit die Annahme des Titels auch im theokratiſchen
Sinne nicht ausgeſchloſſen ift, verſteht ſich non ſelbſt — nur ruht
für den Herrn dieſe theokratiſche Bedeutung des Namens auf dem
Grunde eines Weſensverhältniſſes.
Freilich hat man nun verſucht, doch wieder den ſpecifiſchen
Unterſchied auf einen graduellen zu reduciren. Nah Wittichen
(L. J., S. 125) iſt der Name Gottesſohn „ber Ausdruck für die
freie perſonliche Hingebung an Gott, welche zuerſt und in eminenter
Weiſe in ihm ſelbſt realifirt, feiner. Gemeinde durch feine Wirk
ſamkeit als Lebensprincip mitgetheilt wird, und für die entfpredjende
Selbftmittheilung Gotted an bie Menſchen“. Bezeichnend ift in
diefer Erffärung fchon die VBoranitellung der Selbfthingabe an Gott.
Es entfpricht ganz dem pantheiftiichen Zuge des modernen Rationa«
(mus, daß Gott als ein Naturding gefaßt wird, das, in immer
gleicher Güte und Vollkommenheit auf die Meenfchen ftrömend, diefen
ganz nach dem Maßſtab ihrer Capacität, ihrer Hingabe fich mit-
teilt. Aber davon abgefehen ijt der Herr jo nicht eben doch nur
der primus inter pares? Wenn auch er erft andere zur Selbft-
hingabe anregt, gibt ihm das ein Recht, fein eigenes Verhältnis zu
Gott als ein von dem ber übrigen weſentlich verſchiedenes zu denken ?
Wie kann er darauf kommen, zum voraus gemiffermaßen die Mög⸗
lichleit auszufchließen, daß es zwiſchen Gott und einem anderen
Menſchen zu dem VBerbältuis, ich will nicht fagen innigerer, aber
doch gleicher Selbftwittheilung und Selbitbingabe komme? Bedeu
Falls wird man gut thun, mit Keim von dem großen Sohnesbe⸗
fenntnis (Matth. 11) auszugehen. Hier erſcheint das Sohnesver-
hältnis ats ein Verhältnis ausschließlichen Erfennens. Auch wenn
wir nur zunächft beim einen Gliede ftehen bfeiben, bei der Er⸗
fenntnis des Vaters durch den Sohn, wird man fofort zu der
Trage weitergeführt, woher fommt es, daß der Sohn allein den
Bater erkannte? Wenn man freilih mit Reim den Text auf
Grund der nachapoftolifchen Literatur ändert und den Vater zum
Subject der Offenbarung macht, jo kann man fagen, der Herr
wolle damit nur thatfächlich aussprechen, daß er zuerſt den Vater
erkannt habe, ohne daß er darum die Möglichkeit ausfchliegen wollte,
daß auch andere, mun, nachdem er den Weg gexeigt, 34 dieſer Er⸗
Ueber die Grenzen ber Aufgabe eines Lebens Jeſu. 413
fenntnis gelangen. Allein dieſe Tertesänderung iſt doch zu gewalt⸗
fam und ob man nun mit Matthäus das devrs moos we u. f. w.
folgen oder mit Lufas das uaxagıoı od oysakuol ſich anjchließen
(äßt, immer wird man doch einen inneren Zuſammenhang zwiſchen
feiner Erkenntnis des Vaters und feiner Bedeutung für die Menſch⸗
heit finden und zugeftehen müfjen, daß der Herr das Verhältnis
aller Menjchen zu Gott — zunädhft einmal bezüglich der Erkennt
nis — dur ihn vermittelt benft!). Seine Erkenntnis Gottes
als des Vaters ift aljo nicht das Ei des Columbus, dag nun jeder
unabhängig von der Perfon des Herrn zu ihm gelangen könnte,
londern jeder Ginzelne ift an feine.Bermittlung für immer gewielen.
Dann aber muß er ein jedem anderen Menfchengeift fehlendes Er»
fenntnisorgan gehabt haben — er muß Jich bewußt geweien fein
eines fpecififchen Wefensunterfchiedes von den übrigen Menfchen,
wodurd er wie fein anderer zur Erlangung dieſer Erkenntnis be=
fühigt war. Wie darf man dann aber fo vornehm jede phyfifche
oder metaphufifche Bedeutung bes Sohnesnamens zum voraus ab-
lehnen? Die jpeciftfche religiöfe oder ethifche Dignität des Herrn
ift ohne einen metaphufiichen Hintergrund nicht denkbar. Je gewiljer
der Herr jeine meffianifche Würde nicht auf eine von feiner Perfon
ablögbare Amtsbefugnis gründet, fein Königtum nicht al8 ein ihm,
abgefehen von feinem perfönlichen Werth, lübertragenes Amt anfieht,
wie es nah Haſe (S. 413) den Anfchein gewinnen könnte, deſto
jicherer muß auch feine Prärogative auf einem perfünlichen Weſens⸗
vorzug beruhen. Noch mehr aber tritt diefe ſpecifiſche Unterfchetdung
bernor in dem, nad dem kanoniſchen Text, erjten Gliede: Niemand
fennt den Sohn. Mit Recht Hat dies Wort der Tübinger Schule
folhen Anftoß bereitet, bag Baur es einfach eliminirt, Strauß
fopffchüttelnd davor ſteht. Warum foll niemand ihn fennen, wenn
in feinem Wefen nicht ein Etwas fich findet, das eben mindeftene
über alles empirische Menſchenweſen hinausgeht? Es iſt obers
flählih, wenn Haſe fagt, den göttlichen Menſchenſohn zu erfennen,
jei Schwer, denn es iſt nicht nur Schwer, fondern unmöglih. Trium⸗
phivend zwar fragt Reim am Schluß feiner Deductionen: Bleibt
1) Bgl. gegen die Aeuderung der Recepta auch Weizjäder, ©. 438.
414 Schmidt
bier auch noch ein eigentlich dunkles Geheimnis, wenn man ben
Spuren der geſchichtlichen Thatſachen folgt? (a. a. D. ©. 386).
Wir unferfeits beftreiten aber auch Keim das Recht, das Wort
ovdeis Erriywooxes Toy viov Lügen zu ftrafen. ft weiter nichts
nöthig, als dag man den Spuren der gefchichtlihen Thatjachen
nachgeht, um alles Geheimnis zu Tüften, jo ift eine fpecififche
Offenbarung Gottes in Betreff des Sohnes überflüßig, Keim
beruft ji auf ein Wort A. Schweizers, daß große Aussprüche
begreiflich feien bei centraler Einzigleit. Aber eben darum handelt
ſich's: wie ift die centrale Einzigkeit und das Bewußtfein davon
auf dem Boden des empirischen menjchlihen Weſens möglich? wie
joll ein gewöhnliches, auch das höchſte Menſchenkind zu ber Ueber⸗
zeugung kommen, daß ihm ein Wefen eigne, „welches Gott felbft
ein Intereſſe bietet, ein Problem öffnet, eine Verwandtſchaft zeigt“ ?
fofern nämlich dies Weſen ihm eignen fol im Unterfchied von
allen anderen. Man fei doch ehrlich! Man mag der orthodoren
Dogmatik gegenüber mit folchen Erklärungen den Schein der Nüch⸗
ternheit fi) geben, al8 habe man nun alles begreiflich gemacht;
aber wenn man fich die Sache concret vorftellig machen will, fo find
ſolche Sohnesbelenntnijfe doch eben ftark genug, um uns zu dem
Geftändnis zu zwingen, daß wir von irgend einem anderen Menfchen,
auch wenn er die wnnderbarften Entdeckungen auf dem refigiöfen
Gebiete gemacht, ähnliche Belenntniffe uns nicht gefallen ließen,
weil wir fie mit einem auf der Köhenlage des uns bekannten
Menſchenweſens, fo lange dasfelbe normal ift, ftehenden Bewußt⸗
fein nicht zu reimen vermögen. Auch wenn man das ravra wos
scegedosn auf bie rein religiöfe Bedeutung reduciren will, als
bfoß Hyperbolifchen Ausdrud der Ahnung von der Weltbedeutung
der neuen Religion wird man das Wort doc) nicht leicht zurecht-
legen künnen. Daß feine Perfon, nicht nur feine Entdedung, feine
Religion in eine ſolch' weltgebietende Stellung gerüct werde,
dürfte doch kaum zu beftreiten fein, — wie ift das aber möglich,
wenn die Berfon, wie bei allen Menjchen fonjt, ihre Bedeutung für
die Welt doch nur durch ihre Leiftung empfängt? In der That,
man bat, angefichts folcher Aeußerungen vom „rein hiſtoriſchen“
Standpunkte aus, alle Urfadhe die Frage zu erheben, wie weit bei
Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 415
bem Herrn die Tugend der Demut ihre volle Vertretung gefunden
babe; aber man wird fi faum mit der Antwort begnügen können,
daß es eben das Amt geweſen fei, welches der Herr habe in Ehren
halten müfjen, da doch im Gegentheil der Herr überall gerade feine
Perſon als folche, ohne Rüdfiht auf fein melfianifhes Amt, mit
biefen hohen Prädikaten umfleidet. Wenn die DVerfiherung, daß
er zarreıwos fei, 5 xagdie feinen widerwärtigen Eindrud auf
uns machen fol, jo muß fie zum Hintergrund eine thatjächliche
Hoheit haben, die über dag Maß aller fonftigen menfchlichen Würde
hinausgeht. Mag diefe Hoheit auch zunächſt eine religiöfe und
fittliche fein, die Vorausfegung, daß er in einzigartiger Weiſe Gegen-
itand des Wohlgefallens Gottes fei, fo dag auch kunftighin fein
anderer Menſch dieſelbe Stellung gewinnen fünne, ftreitet nur dann
nicht mit der Demut, wenn fie auf dem Bemußtfein eined einzig«
artigen Weſens ruht. Ohne metaphyſiſchen Hintergrund wiſſen
wir uns das Bewußtſein ber religiöfen Einzigkeit nicht denkbar zu
machen, fo wenig als die thatfächliche fittliche Einzigartigkeit.
Daß auch auf folche der Herr einen Anfpruch erhebt, wird faum
zu leugnen fein. Daß der Herr davon durchdrungen ift, daß alle
Menfchen fündig feien, ergibt fi) aus einer ganzen Fülle von
Aeußerungen, auch wenn nicht jchon der Bußruf, mit dem er auftritt
und den er an alle Menjchen richtet, es beweifen würde. Er lehrt
feine Jünger um Vergebung ihrer Sünden bitten, mahnt diefelben
ganz allgemein zur Verſöhnlichkeit mit der Begründung, daß fie fonft
auch Feine Vergebung erlangen bei Gott, er ſetzt in dem Gleichnis
vom großen Schuldner voraus, daß die Menfchen allgemein eine
unendlich große Summe von Verfchuldungen Gott gegenüber haben,
jein Tod dient zur Vergebung der Sünden für die Jünger und
für viele, er nennt die Menfchen allgemein novngol Ovreg
(Matth. 7, 11. Zul. 11, 13), er leugnet, daß jemand gut ſei außer
dem einigen Gott. Und das Wort Joh. 3, 6 findet in diefen
fynoptifhen Ausdrücden feine Corollarien. Rechnet fi nun ber
Herr zu den aljo dharakterifirten Menfhen? Wir können uns
natürlich nicht anmaßen, die Frage nad der Sündlofigleit des
Herrn hier eingehend zu erörtern, haben e8 auch jeden Falle nur
mit dem Bewußtfein des Herrn in diefer Beziehung zu thun.
416 Schmidt
Da wird man nun vorab zugeftehen müffen, daß ber Hert nirgends
auch nur den Schatten des Bewußtſeins von einer concreten Sünde
zeigt. Kein Wort nimmt er zurück, feinem bittet er ab wegen ir⸗
gend einer Uebereilung. Wenn Keim (a. a. DO. IH, 648) 3.8. in
dem Auftreten gegen Petrus (Matth. 16, 8. 23), noch mehr in der
Tempelreinigung eine nicht zu rechtfertigende Leidenſchaftlichkeit fieht —
ber Herr ſelbſt hat fich nicht bewogen gefunden, dafür Abbitte zu
thun, er hat auch fein Bedauern über fein Auftreten bei der Tem:
pelreinigung ausgefprochen, weder den Oberften noch den Süngern
gegenüber. Er weiß wohl von einem Gegenfag zwifchen bein Ich⸗
willen und dem Gotteswillen, aber er empfindet diefen Gegenſatz
mindeftens nicht al8 Sünde. So tief er fich in Gethfemane beugt,
ein Wort der Buße und Neue kommt nicht aus feinem Munde.
Selbft das Kreuz erpreft ihm fein Bekenntnis auch der geringfteh
Schuld. Was Keim eigentlich damit beweifen will, daß er fid,
wo er die Ohnmacht des Menfchen, die phufifche und geiftige, die
Schwachheit des Denkens und ſittlichen Könnens u. f. w. betont,
unter dieſe thatfächlihen Menjchen täglicher Erfahrung eingerechnet
habe (a. a. O., ©. 643), ift ſchwer verftändlih. Einmal ift von
einer expreffen Einrechnung des Herrn in allen von Keim geltend
gemachten Stellen gar nicht die Rede, im Gegentheil, wenn mat
die Worte preffen wollte, könnte man bei den melfter berfelben auf
das vusis und vv hinweiſen. Aber felbft wenn wir darauf
fein Gewicht legen wollen, fo kann man mit diefen Stellen nut
beweifen, daß der Herr ſich unter Gott geftellt hat, was auch ber
orthodoxeſte Dogmatiker nie in Abrede ziehen wird, bezüglich det
menfchlichen Seite an dem Herrn. Wie gänzlich nichtsfagend biefe
Argumentation ift, beweift wol am beften bie Behauptung, daß
aus dem Worte Matth. 19, 26 gefolgert werben will, der Herr
babe damit auf die Fähigkeit, das Gute in anderen Menſchen zu
ichaffen, verzichtet, ja auch auf die durchſchlagende Kraft der eigenen
guten Natur und fittlihen Tüchtigkeit — als ob der Herr nicht
im Kapitel vorher (18, 11) gerade von ſich felbft gefagt hätte, daß
er gelommen fet oo ro danoAwmios, und als ob jemals der
Herr von einer religionslofen Sittlichfeit modernen Stils eineh
Gedanken gehabt hätte. Daß alles fittlich Gute immer nur in der
Ueber bie Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 417
Gemeiuſchaft mit Gott gefchehen könnte, ift ihm fo zu fagen feldft-
verftändliche Vorausſetzung; aber was foll das in aller Welt mit
der Frage nach der thatfächlichen Sündlofigleit zu thun haben?
Dagegen ift unbeftreitbar, daß der Herr die Vergebung ber
Sünden ausübt und zwar nicht nur in declaratoriihem Sinne,
fondern daß er diefe Macht als eine feiner Berfon anbaftende
Prärogative hat und fie feinerfeits feinen Wpofteln überträgt; es
ift unbeftreitbar, daß er ſich für den Weltrichter erklärt, alſo offen-
bar fi von dem Gericht erimirt, dem alle anderen Menſchenkinder
unterftellt werden follen; es ift unbeftreitbar, daß er fich felbft als
das Opfer für fremde Sünden bezeichnete. Wie kann er dieſe
Unfprüche alle erheben, wenn er felbft ſich als Sünder weiß, wenn
er felbit ſich als dem. Gerichte Gottes verfallen anfehen muß? Der
nach Luk. 15, Uff. in den außerordentlichen Unglüdsfällen göttliche
Bußrufe fieht, hätte in dem über ihn felbft hereinbrechenden Gericht
nicht auch eine Aufforderung zur Buße jehen follen, wenn über»
haupt au nur ein leifes Bewußtſein von Schuld in ihm vors
handen war? Gegen alle biefe fchwerwiegenden Beweiſe für das
Bewußtſein de8 Herrn von feiner Schuldlojigkeit hat man nun
neben der Laufe durch Johannes hauptfählih die Stelle Matth.
19, 17 geltend gemacht. ‘Die Taufe des Herrn durch Yohannes -
werden wir an einem amberen Drte nocd ausführlicher befprechen,
ihre Deutung ift mindeftens fo beftritten, daß man nimmermehr -
einen ftringenten Beweis daraus wird führen fünnen. Was aber
die Matthäusftelle betrifft, fo muß doch ver allem feitgehalten
werben, daß der Herr über feine Perfon dort nicht dogmatifiren
will. Er bat die Abficht, den jungen Dann ſchon bei jenem erften
Schritte jo zu fagen auf den Punkt hinzuweiſen, der gewiſſermaßen
die Entſcheidung über feine weiteren ragen in fich trägt. Es muß
daran erinnert werben, daß der Gedanke volllommener Gefegeser-
füllung mit dem empirifchen Zuſtand der Menfchen in Widerſpruch
ſteht. Um ihm diefe Mangelhaftigkeit menſchlicher Gerechtigkeit
zum Bewußtjein zu bringen, verweift er ihn auf den höchiten Maß-
ftab derfelben, den einigen Gott. Hätte er ihn ftatt defien auf
ſich felbft verweifen follen, hätte er fagen follen: niemand ift gut
außer mir, und bamit fofort die Gebanfen auf einen ganz anderen
418 Schmidt
Punkte lenken, als er eigentlich beabſichtigte, und in dieſem Augenblick
eine Controverſe über ſeine eigene Perſon veranlaſſen? oder hätte er
in dogmatiſch correcter Weiſe zu Nutz und Frommen für die fünf-
tige exacte Forſchung fagen follen: „niemand ift gut außer dem
einigen Gott und mir, dem Sohne Gottes“, und mit feiner Ant⸗
wort die fchlagende Beweiskraft ſchwächen? Für das Bewußtſein
feiner Zuhörer zunächft, die ihn felbft ja doch nur xasa oapxa«
fannten, follte e8 außer dem einigen Gott keinen Guten geben und
will man weiter die Antwort dogmatifch preffen, fo wird man ja
immerhin fagen können, der Herr will darauf binweifen, daß, wenn
er felbft gut ift, er es nit ift al8 Wulog aydowrsos, fondern
nur in feiner außerordentlichen Gemeinfchaft mit diefem Gotte.
Allen den eben geltend gemachten Momenten gegenüber Tann in der
That ein auf andere Weife unfchmwer zu erklärender Ausdrud nicht
in’8 Gewicht fallen. Die moderne Kritik mag ja das thatfächliche
Verhalten des Herrn meiftern — wir können's ihr nicht wehren,
fie mag es fehwierig finden, die thatfächlihde Sündloſigkeit des
Herrn zu erweifen, aber darüber, glauben wir, kann fein Zweifel
fein, daß der Herr felbft von feiner Sünde wußte Wir willen
darum auch den neuerdings vielfach angefochtenen Ausdrud Suͤnd⸗
Tofigkeit nicht zu tadeln. Denn gerade diefe® Negative, bie Freiheit
des Bewußtſeins des Herrn von aller Schuld, läßt fi am fchla-
gendften beweifen, und wir haben auch gar nicht zu fürdten, daß
damit wirklich zu wenig gejagt ſei, denn bei der Höhe der fittlichen
Anforderungen des Herrn läßt fi eine Freiheit vom Schuldbewußt-
fein nicht denken ohne das Bewußtſein, dem Geſetz auch nach feiner
pofitiven Seite vollſtes Genüge gethan zu haben. — Wenn nun -
aber der Herr auf ber einen Seite an der allgemeinen Sündhaftig⸗
feit der Menfchen fefthält, auf der anderen fich felbft davon aus»
nimmt, werden wir nicht damit auch auf eine metaphyſiſche Eigen-
tümlichfeit des Herren Hingewiefen? So gewiß bie Sünde nidt
zum Wefen der Menfchheit gehört, fo gewiß hebt allerdings bie
Sünblofigfeit des Herrn ihn nicht. hinaus über die Reihe der
Menfchen überhaupt. Aber wenn wir darauf, daß jeder vom Weibe
Geborene auch fündigen wird, mit folcher mathematischen Sicher:
heit rechnen, als wir darauf rechnen, daß ber Apfellern, wenn er
Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 419
aus ber Erbe emporfeimt, wieder zum Apfelbaum werden wird,
wofern wir nicht etwa im Lauf der Zeiten dazwiſchen greifen, fo
müfjen wir fragen: wie fommt mitten in dieſen Zufammenhang
fündiger Menfchen der ideale Menfch herein ohne eine göttliche
Wundertbat? wie fann ein Menfch, wenn er nicht eben in der
gröblichften Selbfttäufchung fich befindet, beides in feinem Bewußt-
fein vereinigen — die volle Ueberzeugung von der Sündhaftigkeit
aller Menfchen und die Gewißheit eigener Sündlofigfeit, ohne die
Legitimation einer irgendwie, metaphufifch gearteten Einzigkeit?
Wenn das meſſianiſche Bewußtſein des Herrn von dem gewöhnlichen
Meifinsglauben feines Volkes ſich dadurch unterfchied, daß es
auf dem Bewußtfein feiner, wie wir gezeigt zu haben glauben, ohne
eigentümlichen metaphufifchen Hintergrund nicht vorftellbaren reli⸗
giöfen und fittlichen Einzigkeit beruhte, fo ſchloß es doch ander»
ſeits auch die Beziehungen zu dem in den Hoffnungen Israels gegebenen
Meffiasbilde nicht in dem Grade aus, wie es gewöhnlich vorges
ftellt wird. Wenn er in der befannten Stelle (Matih. 22, 41ff.)
der gewöhnlichen Auffafjung gegenüber jenes höhere Bewußtſein
bervorhebt, dem bloßen Davidefohn den gegenüberftellt, welchen
auch David einen Herrn nennt, jo hat er doch eben an das Siten
zur Rechten Gottes angeknüpft. Es ift ein vergebliches Bemühen
die efchatologifchen Neben des Herrn auf urchriftliche Misverftänd-
niffe fehr einfacher Meden Aber die eigne Unfterblichleit rebuciven
zu wollen. Wir rechten auch bier zunächft nicht mit denen, welche,
in bie Wahl geftelit, der religiöfen Autorität des Herrn eine Schranfe
zu ziehen oder dem Glauben auch an ein äußerlich in großartigen
Wunderthaten fich vollendendes Reich Gottes ſich zu unterwerfen,
eher die erfte Alternative wählen; wir fordern nur von ihnen, daß
fie anerfennen, daß der Herr ſelbſt folhen Glauben bezeugt hat.
Nicht gelegentlich, nicht in einigen dunkeln Andeutungen ift biejer
Glaube als ein unüberwundener jüdifcher Reſt in feinem Bewußt⸗
fein mit untergelaufen, fondern da8 meſſianiſche Gericht, er felber
al8 der Herr der Engel, der in fihtbarer Herrlichkeit das Himmel-
reich zum Ziele führt — das find Züge von dem Zulunftsbild
des Himmelreichs, ohne die geradezu die ganze Predigt des Herrn
bei den Synoptifern unverftändlich werden müßte. Von der DBerg-
Theol. Stud. Jahrg. 1878. 28
420 Schmidt
predigt an finden wir diefen Hinweis auf Gericht und Errettung,
die owsnete ift fo wenig etwas rein innerliches als die Bacıksla
Toy ovoavav, die als Lohn für äußere Leiden verheißen wird.
Schon in der Bergpredigt fteht er felbit als der Richter da, der
die Herr-Herr-Sager von ſich hinwegweiſt (Matth. 7, 21ff.). Das
dem Samen ähnlich) wachfende Gottesreich weiſt auf eine wirkliche
Bollendungszeit, das feite Land, an weldies das Ne mit den
Fischen gezogen wird, auf eine neue Welt Hin, in welcher das Gute und
Böſe fihtbar gefchieden fein wird. Ja um kurz zu fein, wäre der
„Menſchenſohn“ möglich gewefen, ohne den Gedanken der Wieder
funft? Die Trage, wann der Herr den Dieffiasgedanfen ſich an⸗
geeignet babe, wird uns fpäter noch bejchäftigen, jeden Falls muß
daran feitgehalten werden, daß der Gedanke feiner Wiederfunft für
das Bewußtfein des Herrn eine fehr eingreifende Bedeutung hatte.
Diefer Gebanfe war nicht nur ein Außenwerk, das fich fo Leicht
abtrennen ließe, ein ihm felbft vielleicht problematifcher Zug an
dem Meffinsbilde, das er fich entworfen und das auszufüllen er
den Anfpruc erhob, jondern es wirkte in die Tiefe. Es war nicht
nur eine leife Schwärmerei, die man einem fonft nüchternen Manne
zugute halten muß, fondern ein ernfter Glaube, ber uns in Be
urtheilung des Herrn zu einem ernften Gntweder-Dder führt. So
gewiß- ber Meffinsglaube des Volles vom Herrn die eingreifemdfte
Umbildung erfuhr, wir können uns doch hicht denken, daß ein fo ernfter
Mann zu irgend einer Zeit diefem Meffiasglauben die Richtung
auf fich jelbft zu geben gewagt hätte, wenn für ihm ſelbſt die Her-
ftellung einer auch äußerlich vollendeten Theofratie gar feinen Sinn
gehabt Hätte. Nun muß man aber doch fragen, wie eine folde
Erwartung ohne die Bafis des Bewußtſeins einer einzigartigen
Wefensbefchaffenheit möglich geweſen fein ſollte. Mit Recht jagt
Weizfäder (S. 479f.): Es ift nur eines dabei zu erklären, nämlich
die Möglichkeit, daß ein Iebender Menſch das Bild biefes von
Himmel kommenden Erwählten Gottes auf fich angewendet habe.
Weit entfernt, daß durch jene Vorftellung erflärt würde, wie er
fih eine himmliſche Natur habe zufchreiben können, ift biefelbe
gerade in ihrer Anwendung das Unerklärlichſte. Das ſchwärmeriſche,
bhantaftifche Weſen, welches biefür zu denken wäre, fteht in einem
Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 421
unauflösbaren Widerfpruh mit dem Prediger der Entjagung und
des geiftigen Gottesdienſtes. — Es gibt nur ein denkbares
Band, welches diefe fo verfchiedenen Elemente feiner Selbftbezeugung
zu verbinden im Stande ift: die allen Ausfichten der Zukunft,
allen Vorjtellungen feiner Berufswege vorausgebende innere Ges
wißheit der Erwählung von Gott, der Glaube an jein Sohnesver-
hältnis.“ Wenn Wittihen (S. 340) fid) begnügt, ohne den Ver⸗
ſuch einer pfychologifchen Vermittlung den „Irrtum“ einfach für
ein Ziehen ftarker religiöfer Energie zu betrachten und als durch⸗
aus nothwendig für die Weiterführung feiner Sache, fo hat dagegen
Keim ben Gedanken an „Träftige Schwärmereien“ dadurch abzumweifen
gefucht, daß er ben Glauben an die Wiederkunft für einen „Noth-
behelf“ ertlärt, nicht für eine Xiebhaberei (Bd. IL, ©. 571). Es fei
dem Herrn nicht zuzumuthen gewejen, weder auf feine Perſon zu
Gunften der „ewigen Sache“ zu verzichten, noch auch einfach re⸗
fignirt und blind die verhüllte Zukunft Gottes zu acceptiren. War
rum freilich feine diefer beiden Zumuthungen zu ftellen geweſen
wäre, das hat Keim nicht erklärt. Iſt thatjächlich feine Sache
nur zum Stege gelommen, ohne fein ferneres, perfönliches Wirken
und Eingreifen, ift feine Berfon in feiner anderen Weiſe gerecht-
fertigt worden, als jo wie jede welthiftorifche Perſönlichkeit am
Ende in dem Sieg ihrer Sache auch den eignen feiert, warum
folfte dem Herrn nicht die Unterfcheidung zwilchen fi und feiner
Sache auch zuzumuthen geweien fein? Der „Nothbehelf“, als
welchen Reim den Gedanken der Wiederkunft im Munde des Herrn
zu rechtfertigen fucht, dürfte ein Nothbehelf im Munde des Ger
ſchichtſchreibers felbft fein. Auch daß es fih nur um einen Irr⸗
tum des Berftandes um das unbewußte Gedicht einer hochfliegenden
religiöfen Phantafie gehandelt habe, wie Hafe will (S. 543), kann
nicht zugegeben werden. Außer dem bereitö oben Bemerkten muß
noch beſonders hervorgehoben werben, daß auf diefem Punkte zwei
Grunddifferenzen hervortreten, welche zwifchen dem modernen Natio-
naltisums und der Anfchanung des Herrn unferes Erachtens ob»
walten. Trotz aller Berfuche, der Berfon des Herrn eine würbigere
Stellung zu fihern, als die des Landrabbiners oder des jüdiſchen
Weifen, welche der ältere Nationalismus dem Herrn zutheilte, ver»
28*
422 Schmidt
mag doch auch der neuere nicht, die „Sache“ des Herrn in dauernder
Abhängigkeit von feiner Berfon zu Halten. Und im Zufammenhang
damit fteht der Verſuch, die äußerliche Geftaltung des Gottesreiches
zu etwas gleichgältigem zu machen. In beiden Beziehungen jeden
Falls ift der Herr, wie ihn Keim aus anderem Anlaß nennt, ein
Realiſt. Nirgends finden wir, daß ber Herr feine Sache ſich ale
von feiner perfünlichen Ein- und Mitwirkung unabhängig gedacht
hat. Bezüglich des zweiten Punktes find gerade die Synoptiker
zufammen mit der ganzen apoftolifchen Literatur Zeugen für das
Bewußtfein des Herrn von feiner mejfianifchen, theokratiſchen Herr-
lichkeit, die man ſchwer befeitigen und abſchwächen wird. Jeden
Falls könnte man es höchſtens mit Hülfe des johanneiſchen Evan⸗
geliums. — Es iſt ja nicht zu leugnen, daß im vierten Evangelium
der Gedanke der ſichtbaren Wiederkunft zurücktritt — obgleich der⸗
ſelbe durchaus nicht fehlt, ſofern doch unfraglich die Lehre von der
Auferſtehung und der meſſianiſchen Krifis ſich findet und der erſte
. Brief in diefer Beziehung ergänzend eintritt und zeigt, bag min =
deftens dem Verfaſſer des vierten Evangeliums die allgemeine
Erwartung der älteften chriftlihen Kirche geläufig war. Aber wir
wiffen, warum gerade die neueften Biographen des Herrn lieber
auf den Vortheil, ber ihnen aus dem Yohannes - Evangelium er-
wachfen könnte, verzichten. Für die perfünliche Pofteriftenz müßten
fie die perfünliche Präexiftenz eintaufchen und dieſe ift allerdings
für die „rein hiſtoriſche“ Betrachtung noch tödlicher als die erftere.
Ihre Befeitigung aus dem vierten Evangelium, wie fie Beyſchlag
verfucht Hat, dürfte kaum leichter möglich fein als die der perfün-
lichen Parufle aus den Synoptikern. Es kann freilich nicht ge-
feugnet werden, daß auch das johanneifche Evangelium auf keinem
Punkte die Conſequenz aus diefem Bewußtjein der Präeziftenz zieht,
daß dem Herrn in derfelben concreten Form auch bie himmliſche
Bergangenheit, wenn wir menſchlich davon reden follen, wäre vor
Augen geftanden, wie die irdifche: die Kenotif hat ohne Zweifel
bier noch vielen Spielraum. Aber mag auch dieſes Bewußtſein
der Präexiſtenz einen ziemlich allgemeinen Charakter gehabt Haben,
mag es nur einen Tichten Hintergrund gebildet haben zu feinem
Weltbewußtjein, immerhin ift bies im johanneifhen Evangelium
Ueber die Grenzen ber Aufgabe eined Lebens Jeſu. 423
niebergelegte Zeugnis von einem Bewußtſein ber Präeriftenz ber
fchärffte Ausdruck der eigentüimlichen Natur feines Selbftbewußt-
feins überhaupt, verbietet uns am allerbeftimmteften, den Verſuch
von der Baſis eines empirifch-menfchlichen Wefend aus bie Ent-
ftehung des meſſianiſchen Bewußtſeins des Herrn begreiflich zu
machen.
Im übrigen dürfte alles, was im vierten Evangelium über
die Zeugniffe der Synoptiker Hinausgehendes. von der Perfon des
Herrn gejagt wird, doch nur als Epexegeſe zu den erfteren Zeug-
nifjen angefehen werden, und der Linterfchied zwifchen beiden Dar»
ftellungen erfcheint mehr nur der zu fein, daß, was die ſynoptiſche
Darftellung andentungsweife oder als Vorausfegung angibt, die des
vierten Evangeliums ausdrücklich hervorhebt und ausführt. Iſt
einmal zugeftanden, daß auch nach den ſynoptiſchen Quellen ein
ſpecifiſches Sohnesbewußtfein fich findet — und zwar ein Sohnes-
bewußtfein nicht als Eonfequenz, fondern als Baſis des mefftanifchen,
jo kann die Hinzuflügung des „Movoysyns“ zum Sohnesbegriff
nichts auffallendes mehr haben. Iſt das Verhältnis des Sohnes
zum Vater als das einzigartiger gegenfeitiger Erkenntnis feftgeftellt,
fo ift e8 doch nur eine nähere Beftimmung dieſes ausfchlieglichen
Verhältniffes, wenn der Herr fein Thun und fein Reden als ein
Thun und Reden bes Vaters bezeichnet (oh. 5, 19 ff. 7, 16 ff.
9, 25 ff. 14, 10 u. f. w.). Liegt der Gedanke, daß der Vater
im Sohn und der Sohn im Pater ift, der fih dann endlich)
zufpigt in dem Worte (10, 30); 400 xai 0 nano Ev dauer,
nicht ganz in der Linie des großen Sohneebelenntniffes (Matth. 11),
eines Belenntniffes, das wir felbft wieder als bie Auslegung von
Aeußerungen erfannten, die regelmäßig fein eigenes Bewußtjein
über fich bezeugten? Wenn ber Herr in den verfchiedenften Wen-
dungen im johanneifchen Evangelium fih als ausfchlieglichen
Mittler der Offenbarung hinſtellt, fo blieben, felbft wern man mit
Keim das o dav Povimas 6 vios anoxaldıyar (Matt. 11, 27)
anzweifeln wollte, in den Synoptilern immer noch genug Parallelen
übrig.” Denn wenn ber Herr fich dem “Johannes und allen Pro»
pheten, wenn er fich dem Gefete felbft gegemüberftellt, fo Tiegt
darin doch der deutliche Anfpruch auf eine Stellung als Mittler
424 Schmidt
abſchließender Offenbarung. Damit iſt dem auch fein Aufprud
auf völlige Irrtumsloſigkeit im religiöſen Gebiet ſchon gegeben,
wie derſelbe in dem Ausdruck 7 aAnIeıe (Joh. 14, 6) begrifflich
fixirt iſt. Die Sündloſigkeit iſt, wie wir ſahen, auch auf ſynopti⸗
ſchem Boden fo ſehr Vorausſetzung, dag Joh. 8, 46 nichts neues
ſagt, auch wenn wir das Wort im Vollſinn nehmen und nicht,
wie Keim will, die @ueoria nur auf bie ſpecielle Sünde der Un⸗
wahrbeit einfchränfen. Endlich, wenn der Herr fi die Con) zai
avacraoss nennt im vierten Evangelium und ausdrüdlich die Macht
der Todtenerweckung zufchreibt, jo dürfte die ganze Barufieerwar-
tung, wie wir fie aus den fynoptifchen Neben kennen lernen, hin
reichend biefen Anſpruch begründen.
Mit den eben gemachten Bemerkungen founten wir nicht gemeint
fein, zur Löoſung der Frage über das Verhältnis des fynoptifchen
und johanneifchen Chriſtus etwas weſentliches beibringen zu wollen.
Das Thema diefer Abhandlung erfordert ja nicht eine durchaus
vollftändige Darftellung deſſen, was als Zeugnis für den eigen
tümlichen Gehalt des Selbftbewußtfeins de8 Heren gelten kann,
nicht eine ſyſtematiſche Darftellung der Perfon des Herrn ift ja
der Zwed diefer Abhandlung, — und genügt, die wichtigften und
bervorragendften Punkte geltend gemacht zu haben, in denen fi
da8 Bewußtfein bed Herrn von feiner eigenen Perſon in ihrer
Eigen» und Einzigartigkeit geltend macht, und da war es und nur
darum zu thun, nachzumeifen, daß, wenn man auch bie ſynoptiſche
Darftellung als diejenige zu Grunde legt, von welcher aus am
eheften eine rein menfchliche Erklärung diefer Perfünlichkeit möglich
erfcheint, doch immer noch fo viel eigentümfliches übrig bleibt, daß
auch die Hauptpunfte der johanneifchen Selbftbezeugung des Herrn
nur wie weitere Ausführungen und Erklärungen erjcheinen. Dies
letztere wenigſtens in furzen Andeutungen durch das eben Bemerkte
gezeigt zu haben, darauf erheben wir allerdings Anſpruch, und von
diefer Prämiffe aus verfuchen wir nun den weiteren Gang zu
unternehmen und zu fragen: ift irgend welche Ausjicht vorhanden,
der Entjtehung dieſes fo gearteten Selbſtbewußtſeins auf geſchicht⸗
lihem Wege, d. h. durch Betrachtung und Unterfuchung der von den
Duellen berichteten Rebensumftände des Herrn näher zu fommen?
Ueber bie Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 425
Da die Quellen diefe Umftände weſentlich nur aus ber Zeit
feiner öffentlichen Wirkſamkeit näher ſchildern, und wir bereits
gefehen haben, daß die wenigen Berichte aus dem Vorleben bes
Herrn bie gewünfchte Erklärung zu bieten in feiner Weiſe aus-
reichend find, fo ftellt fich bie Frage näher fo: finden fih in den
Berichten über, des Herrn öffentliches Leben feit der Taufe Johan⸗
nis genügende Andeutungen, daß er von augen her durch Erfah:
rungen und Eindrüde in der Dialektik mit Freund und Feind erft
darauf geführt wurde, feiner eigenen Perſon gewiffe auszeichnende
Präbilate zuzufchreiben, die er ihr von Anfang an nicht zueignete, —
ift e8 uns vergönnt, in die Motive und Vermittlungen Hineinzus
ichauen, durch welche er dahin geführt wurde, fich ein einzigartiges
Verhältnis zu Gott zuzufchreiben und für jeine Perfon eine ewige
und fehlechterdings allgemeine Bedeutung zu erwarten ?
Da fümtliche Evangelien darin übereinftimmen, daß die Wirk:
ſamkeit des Herrn fi an die des Täufers angefchloffen, fo wird
ſich zunächft fragen, ob aus biefer Verbindung etwa ſich Anhalts⸗
punkte in diefer Richtung ergeben. Nun kann auch eine An-
Ichauung, welche davon ausgeht, daß das Selbftbewußtfein des
Herrn nur auf einer ganz eigentümlichen Wefensbeichaffenheit des
Herrn beruht Haben künne, nicht gemeint fein, eine nach und nad
erft fich vollziehende Entfaltung dieſes Weſens für das Bewußt-
fein des Herrn irgendwie anzuzweifeln. Wie hoch man dad Wefen
des Herrn ftellen möge; es wäre boch der bare Doketismus,
wollte man bie Allmählichkeit in der Entwidlung bes Selbftbewußt-
feins leugnen. Die Darftellung der Quellen weift ja auch ent«
fchieden darauf hin, daß es gerade die Jordantaufe des Herrn war,
die ihn zur vollen Klarheit über fein Wefen und feinen Beruf
brachte. Zwar das johanneifche Evangelium fcheint die Bedeutung
des außerordentlihen Vorganges, den auch die drei erften Evange⸗
lien berichten, auf eine dem Täufer zu Theil werdende Belehrung
einzufchränfen; aber die johanneifche Darftellung fließt damit doch
nicht aus, daß auch für den Herrn felbft das Ereignis eine Bedeu⸗
tung hatte. Der Geift, den Johannes herabfommen fieht und
bleiben auf dem Herrn (30h. 1, 33), muß doch wol aud) auf
den Herrn felbft eine Wirkung gehabt haben. Schon Weizſäcker
426 Schmidt
hat in dem Worte des Täufers (Joh. 3, 34): OU yap dx uergov
didwoıw 0 Seos vo nrvevue, einen Aug gejehen, der an bie
gewöhnliche Meiftasdarftellung anflinge, einen Zug, der jeden Falle
beweift, daß die fynoptifche Auffaffung in den Augen des Verfaffers
des johanneifchen Evangeliums die Beziehung der Viſion auf den
Täufer nicht ausſchloß. Diefer Zug aber beweift anderfeite
auch, daß die in der Taufe gefchehende Geiftesmittheilung nicht im
Widerſpruch fteht mit der außerordentlichen Wejensbefchaffenheit des
Herrn, die ihm von Anfang an eignet. Die Schrift ift ferne
von ber geiftlofen Auffaſſung, als ob der Geift Gottes ein ding⸗
licher, todter Befi für den Menfchen fein Tönnte — im Gegen-
teil, die Geiftesmittheilung ift ein fortgehender, nur an einzelnen
Punkten fi befonders fühlbar machender Alt (vgl. Joh. 1, 52.
Matth. 16, 19f. parali. Apg. 4, 8. 315 vgl. 2, 4 un. f. w.).
Darum kann auch für die eben geſchilderte Anfchanungsweife die
Annahme nichts gegen fi) haben, daß in ber Laufe des Johannes,
vermittelt durch eine Bifton, das Selbſtbewußtſein des Herm
von feinem Weſen und feiner Aufgabe zu einem gewiſſen Ab⸗
ſchluß kam.
Wie ift nun aber diefe Jordantaufe felbft zu denten? Iſt der
Herr, wie wir zu fagen pflegen, rein zufällig mit den Anderen
zu Sohannes gelommen — Hat er auch die Bußtaufe auf fich
genommen und ift dann erft durch das Verlangen nad einem
Meſſias dazu veranlagt worden, in großartigem Entſchluß fich
jelbft der Erwartung des Volles darzubieten? Oder wie weit ift
er zum voraus fchon in feinem Bewußtſein und feinen Entfchlüffen
gefommen geweſen? Einer rein Hiftorifchen Betrachtung bieten
fih Hier, auf welde Seite man treten mag, nicht unerhebliche
Schwierigkeiten dar. Suchen wir ohne Rüdficht auf die evanges
lifchen Berichte Über dns Ereignis, das an ſich Wahrjcheinliche zu
eruiren, fo fünnte man ja allerdings zu der Annahme fich neigen,
daß der Herr von der Taufbewegung, wie andere Israeliten auch
ergriffen, an ben Jordan gefommen fei, ſich dort mit den Ideen
des Zäufers in längerem Verkehr vertraut gemacht babe, um end»
lich doch feine eigenen Wege zu fuchen, und nah und nach zum
Slauben an die eigene Meffianität zu kommen. Daß aber ein
Leber die Grenzen ber Aufgabe eines Lebens Jeſu. 427
folcher Gang doch wieder kaum fi annehmen läßt, haben wir
oben fihon hervorgehoben. Die Art, wie der Herr von dem Täu⸗
fer redet, fchließt überall ein auch nur zeitweiliges Schülerverhält-
nis aus. Wir müßten doch irgendwie auh Symptome davon
haben, daß der Herr nad und nad) etwas Johanneiſches abgeftreift
babe, während das Umgefehrte, daß der Herr gegen das Ende
feines Wirkens auf die Art des Johannes zurückgegriffen Habe,
immerhin leichter fich wahrſcheinlich machen ließe. Wäre Jeſus
aus der Schule des Johannes hervorgegangen, jo wäre auch fein
felbftändiges Auftreten faum ohne Bruch möglich gewefen. Können
mir und überhaupt denken, daß Johannes auf ber Höhe feiner
Arbeit, inmitten einer gewaltigen Volksbewegung ftehend, Zeit zum
Schulhalten, dag ich fo fage, follte gefunden haben? Man wird
aljo den Verkehr des Herrn mit Johannes auf eine verhältnis:
mäßig kurze Zeit befchränten müffen, auf eine Zeit, zu kurz, als
daß innerhalb derfelben die Entftehung der Meffiasgedanfen bei
den Herrn zu denken wäre. Oder foll der Entſchluß ein raſcher,
augenbliclicher geweſen fein, foll er, fortgeriffen von der Bewe⸗
gung, ſich plöglich von der Ueberzeugung feiner Meffianität ergriffen
gefühlt Haben? Aber dann wäre es auch kaum zu benfen, wie
diefer plögliche Entſchluß nicht follte hervorgetreten fein vor dem
Bolke, wie der Meſſias, der unter dem Wehen ber Taufbewegung
zum Mefſfias wurde, boch ein fo ganz anderer follte geworden
fein, als ein folcher, wie ihn diefe Bewegung zu fordern jchien.
Man wird alfo nicht auskommen ohne die Annahme, daß der Herr
ſchon vorher Meſſiasgedanken in fi trug. Die Behauptung
Renans aber, daß der Herr ſchon vorher eine Art Schule gefam-
melt gehabt und erft von Johannes den Gedanken bes Himmel⸗
reich8 aufgenommen habe, bewegt fih fo jehr auf dem Gebiet
willfürficher Hypotheſe, daß ſich fchwer dagegen ftreiten Täßt.
Ueberdies aber ließe fi dann, wenn der Herr ſelbſt ſchon einen
Kreis von Jüngern hatte, eine Unterordnung unter Johannes, wie
fie in der Mebernahme feiner Taufe lag, pfychologifch kaum erklären.
Man wird alfo noihwendig zu der Annahme gedrängt, daß in dem
Heren in fpontaner Weiſe das Meſſiasbewußtſein fi zu bilden
anfteng, daß die Grundlage besfelben, das Bewußtſein feiner Sohn»
423 Schmidt
Schaft, im weſentlichen fertig war, und nun erft bei der Jordan⸗
taufe fich dieſes Sohnesbewußtfein zu der Karen Erkenntnis feines
meiftanifchen Berufes fortbildete. ‘Diefe Taufe war für ihn das
Signal zum Eintritt in diefen Beruf. Wie ift nun aber, muß
man weiter fragen, unter diefer Vorausſetzung die Webernahme
der Taufe zu denken?
Sie kann feine Bußtaufe für ihm perfünlich geweſen fein, nicht
nur darum, weil, wie Keim (I, 531 ff.) hervorhebt, nad} den Quellen
der Herr abgefondert vom Volt getauft wurde, ohne daR ihm ein
Sündenbefenntni® abverlangt, eine befondere Verpflichtung auferlegt
worden wäre, fondern auch darum, weil irgend wie in feinem
fpäteren Leben die Erinnerung an und die Auseinanderfegung mit
diefer Bußverpflichtung müßte zum Ausdrud gefommen fein. &8
fann alfo die Taufe nur die allgemeine Bedeutung der Weihe zum
Reich Gottes, der Verpflichtung, für dasſelbe die ganze Kraft ein-
zufeßen, gehabt haben. In fo fern ift der Gebanfe auch der Leidens⸗
bingabe zum mindeften nicht auszuschließen — um ſo weniger,
wenn wir bedenfen, daß das der Taufvifion ähnliche Erlebnis auf
dem Berge der Verklärung mit dem Leidensentichluß zuſammen⸗
hängt. Es Liegt alfo in der Zaufe fofort eine Klare Andentung,
daß der neue Meſſias nicht nad) johanneifher Erwartung ohne
weiteres den Königsthron auffchlagen und die MWerfichaufel in
die Hand nehmen werde, fondern daß aud fir den Meſſias bie
Herbeiführung des Gottesreiches eine fittlihe Aufgabe fei, eine
Aufgabe, zu deren Erreihung e8 eben des Einſatzes der eigenen
Perfönlichkett bedürfe. Eben darum’ verfteht der Täufer das Tauf-
begehren 'de8 Herrn nicht. So ferne er in Jeſu den Fünftigen
Meſſias fieht oder ahnt, kann er fich deffen Unterorbnung, die in
der Uebernahme der Taufe zu liegen fchien, nicht denken. Ein
Grund zum Zweifel aber an ber Anerkennung des mefftanifchen
Berufes Jeſu durch den Täufer liegt nicht vor. Jeden Falls kann
als ein Zeugnis gegen diefelbe der Umſtand nicht angeführt werben,
daß er nicht fofort ihn auch als Meſſias proclamirt Habe. Denn
mit der Anerkennung war da® Andere doc nothwendig auch gegeben,
daß er die Gedanken bes Herrn nicht kreuzte, jondern ihm die
Wahl des geeigneten Zeitpunftes überließ. Für die Anerkennung
Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 429
aber fpricht, von dem johannelfchen Bericht ganz abgejehen, außer
den ſynoptiſchen Taufberichten, die Erzählung Matthät 11 parall., —
ja man möchte fagen da8 ganze Verhältnis Jeſu zu dem Täufer
und feiner Schule, wie e8 uns im Neuen Teſtament entgegentritt.
Die Anerfennung des Herrn als Mefftas bürfte aber ohne bie
Taufviſion allerdings ſchwer piychologifch denkbar fein. Hält man
alfo die Thatfache der Taufe des Herrn überhaupt für hiſtoriſch,
wie man muß, wenn man nicht unferen Evangelien fchlechterdings
jede gefchichtliche Autorität nehmen will, fo wird man von felbit
zu einer Borftellung von dem wirklichen Hergang der Sache
gedrängt, die der evangelifchen Darftellung entſpricht. Alles deutet
darauf Hin: Jeſus kann nie ein Schüler des Yohannes geweſen
fein, er kann ben Gedanken des Himmelreiches und des Meſſias
nicht von Johannes entlehnt und nur weitergebildet haben, er
muß vielmehr von Anfang an über fein Verhältnis zur Predigt
de8 Täufers fich Mar gewefen fein. Er kann aber aud vorher
noch feine Schule gefammelt gehabt haben, er muß vor dem Volfe
unbekannt gewefen fein. Eben darum kann auch nicht irgend
welcher Erfolg erft ihn auf den Gedanken gebracht haben, daß er
der Meſſias fei; anderſeits weift alles darauf hin, daß er nicht
nur von der Taufe an ſich al8 den Meſſias angefehen hat, fondern
daß auch ber Zäufer felbft in ihm den Meffias erkannt und ges
ahnt Hat, wenn er auch freilich damit noch weit entfernt war, den
Weg des Herren wirklich zu verftehen, das Weſen des Reiches,
wie es der Herr verfündigte, wirklich zu begreifen, fo daß es und
wohl verftändlich ift, wie der Herr den Johannes als noch außer»
halb des Gottesreiches ftehend bezeichnen fanı. Bat er fich aber
wirflih in diefem Zeitpunkte ſchon als den Meſſias erlannt, fo
kann es nur gefehehen fein auf Grund eines Wiffens von feinem
eigentümlichen Wefen, das fich ihm in ber Taufe vollendete.
Machen wir nun von bier aus die Probe auf das Amtsleben
ded Herrn und fragen uns, ob hier vielleicht eine Correctur unferer
Anschauung fich darbiete, ob die Quellen nicht doch nod) die Entwick⸗
lungsknoten erkennen laſſen, welche erft von dem allmählichen Reifen
des Selbftbewußtjeins Jeſu Kunde geben. Bekanntlich hat nament⸗
ih Schenkel verfucht, den Renan'ſchen Roman deutſch zuzuftugen.
450 Schmidt
Die Vorbedingung für dieſes Unternehmen ift die Leugnung der
Bezugnahme der Johannespredigt auf das kommende Meffiasreich.
Wenn fih Scentel in diefer Beziehung auf das Schweigen bes
Joſephus von einer ſolchen Tendenz bed Täufers beruft, fo zeigt
fi) darin die ganze Einfeitigfeit moderner Duellenbehandlung.
Wenn wir von irgend einer Beriode der mobernen Gefchichte nur
eine einzige Gefchichtsdarftellung hätten, jo würde e8 wohl niemand
einfallen, daß ein folcher Gefchichtfchreiber a priori tu allen feinen
Angaben im Recht fei gegen anderweitige Darftellungen, bie einen
jpeciellen Theil der Zeitgefchichte behandelnd auf einzelnen Punkten
im Wiberfpruche ftehen mit jenem Gefchichtfchreiber. Wer bürgt
uns felbft bei pofitifhen Angaben für das abfolute Recht des
Joſephus unferen Evangelien gegenüber? Aber wenn wir auf biefem
Gebiete auch dem Joſephus einen Vorzug einräumen wollen, ift es
nicht gegen alle Vernunft, ohne weiteres vorauszufeken, daß auch
für religiöfe Bewegungen, bie Joſephus felbft nicht einmal als Zeit
genoffe mit erlebt, er ein beſſeres Verftändnie gehabt haben follte als
unfere Evangelien? Wenn jemand die religidfe Bewegung ber
Gegenwart etwa nad) Ablauf eines halben Jahrhunderts fchildern
wollte und er würde etwa bei Beſprechung der Pearſall Smith’fchen
Bewegung fi auf etliche Notizen einer fortfchrittlichen Berliner
Zeitung zum Beweis dafür ftügen, daß bie Angaben unferer
Kirchenzeitungen über biefen Mann nicht richtig fein können, fo
würbe ein ſolcher Mann nicht weſentlich unvernünftiger handeln,
als wer in diefer frage den Joſephus gegen bie Evangelien fekt.
Schenkel felbft mobifleirt zwar feine Berufung auf Joſephus
dur das Zugeſtändnis, daß allerdings eine Nüdfichtnahme auf
das Gottesreich möge ftattgefunden haben, aber es foll diejelbe doch
nur accefforifch gewefen fein, mährend nad unferen Evangelien offen
bar die ganze Bewegung ihren Mittelpunkt in den Bezugnahme
auf das Gottesreich hatte, die ganze Bußpredigt nur motivirt war
durch die Nähe des Gottesreiches. Darum ſchloß auch die Taufe
offenbar die Verpflichtung ein, fih für das Meſſiasreich bereitzu⸗
halten, war ein Slaubensbelenntnis an das Kommen dieſes Reiche.
Darum ift auch der Gedanke, daß der Herr fich mit den übrigen Sins
bern gleichgeftellt habe, aus demütiger Accommodation ein keineswens
lieber die Grenzen bee Aufgabe eines Lebens Jeſu. 431
nothwendiger, ſondern ein mit der fonftigen Praxis des Herrn durch⸗
aus nicht übereinftimmenderr. Es ift einfah unrichtig, wenn
Schentet behaupet, der Herr habe ja auch gebetet: erlaß uns
unfere Schulden, denn er gibt das Gebet feinen Jüngern; daß er es
ſelbſt gebetet Habe, davon findet fidh keine Andeutung. infeitiger
aber, als es Schenkel thut, kann man wol das Verhältnis des
Herrn zu Johannes nicht verzeichnen. Wenn Johannes fich direct
an Jeſum mit der Frage wendet: „Biſt du der da kommen joll?“
fo foll das mehr Zweifel als Glauben beweiſen, als ob nicht min»
deſtens die Frage eine unbebingte Anmerkung des prophetifchen
Charakters des Herrn in ſich ſchlöſſe und angefichts der Aeuße⸗
rungen Matt. 11, 16 ff., aus denen jeder Unbefangene gewiffermaßen
eine Parallelifirung des Täufers durch den Herrn mit fich felbit
herausleſen wird, behauptet Schenkel, der Herr habe Johannes
für einen Thoren erklärt. Gefangen in dem unglückeligen Banı
der Tendenz wider Satung und Formelkram, ift Schenkel nidt
im Stande, da8 Verhältnis wirklich Hiftorifch zu faſſen; freilich ganz
„rein hiſtoriſch“ gebt eben hier die Gejchichte nicht ab. Aber wer
„rein biftorifch * diefe Geſchichte erzählen will, mag einen Roman
Schreiben, nur foll er fih nicht auf die Quellen berufen. Für
ganz unmöglich erflärt Schenkel die Anerkennung der mejfianifchen
Würde Jeſu durch Johannes, da er fonft fi) nothwendig hätte an den
Herrn anjchliegen müffen. Es ift dagegen ſchon oben bemerkt worden,
daß mit diefer Anerkennung Jeſu bei Johannes noch lange Fein
Berftändnis für ben Gang des Himmelreiches verbunden war, wie
ihn der Herr einſchlug. Johannes konnte nach wie vor erwarten,
dag in feierlicher Proclamation Jeſus das Reichsſcepter ergreifen
werde. So lange das Reich Gottes nicht proclamirt war, hörte
auch fein Beruf, auf diefed Weich Gottes vorzubereiten, nicht auf.
Auch die von den Jungern Jeſu nah dem vierten Evangelium be-
triebene Taufe wie ihre pätere Predigt hatte ja wefentlich noch diefen
vorbereitenben Charakter. So lange Jeſus fich nicht felbft ale Meffine
proclamirt hatte, war auch das Reich immer noch nicht im Kommen
und ber Täufer auch noch nicht darin.
Für feine Behauptung, daß auch der Herr felbft nad der
Fordantanfe noch unentſchieden geweſen ſei, ob er Überhaupt nur
432 Schmidt
auftreten ſoll, beruft fich Schenkel auf die Verſuchungsgeſchichte,
von der er natürlich nichts für geſchichtlich anerkennen will, als die
Zurüdziehung in die Wüſte. Wer fieht aber nicht, daß diefe ganze
Gedichte nur Sinn Bat unter der Vorausfegung, daß Jeſus fi
als den Meſſias erfannte. Plagten den Herrn nur Zweifel, ob
der von Johannes eingefhlagene Weg zur Volksverbeſſerung wirklich
Erfolg habe, fo wäre es dod) am nächften gelegen, wenn er mit Jo⸗
hannes felbft fich in’ Benehmen geſetzt Hütte, oder ſah er ſchon, daß
auf ganz anderem Wege geholfen werden müſſe, warum wartet er,
bis Johannes gefangen genommen tft. Warum trägt er nicht vor⸗
her fchon feine moralifhen Grundfäge vor?
Nichts ift gewiffer, als daß der Herr feine Predigt nnmittel-
bar an die des Täufers anjchloß und mit der Verkündigung des
Himmelreiches begann. Das ſoll nun nah Schenkel heißen, der
Herr habe verfündigt: es beginne jegt eine neue Zeit, mit der
alten Theofratie ſei es aus, jetzt fange erft das rechte Himmelreich
an, das Reich des Geifted, denn unter Buße verftcehe der Herr
etwas ganz anderes als der Täufer! Es genügt wol dieſe Aus-
legung anzuführen. Was find gegen ſolche Meifterftücde ber Exegeſe
die Künfte des alten Rationalismus? Und das fol Hiftorifch fein!
Hat der Herr das Reich Gottes verfündigt im Anſchluß an die
Zaufbewegung, jo muß er das entweder gethan haben rein im
Sinne des ZTäufers, alfo fo, daß er die Herftellung desfelben von
einer anderen Perfünlichkeit erwartete. Dann wäre e8 aber wol
nicht anders denkbar, als daß er die theofratiiche Vorftellung des⸗
jelben in den Vordergrund geftellt und erft nah und nad die
mehr ethifche Seite hervorgehoben haben würde, während in ber
That vielmehr eher der umgekehrte Gang zu beobachten ift. Sat er
aber beim Beginn feiner Predigt ſchon den troß alles innerlichen An⸗
Schluffes an die Reichserwartung der Beſten in Israel doch wefent-
lich felbftändigen Begriff vom Reiche Gottes gehabt, fo muß er auch
innerlich fi) über feine perſönliche Stellung zu diefem Reiche Har
gewefen fein. Für diejenigen Xheologen, die den fpectfifchen
Dffenbarungsbegriff verwerfen, ift e8 ſchon ſchwer genug, den Täufer
gegen ben Verdacht Schwürmerifchen Weſens zu ſchützen, da es doch
eine Vermeſſenheit war, die Erfüllung aller Hoffnungen Israels
Ueber die Grenzen ber Aufgabe eines Lebens Jeſu. 458
nur anf Grund etlicher Geiſtesblitze als in unmittelbarer Nähe be-
findfih zu verfündigen, aber wie follte erft der Herr gegen foldhen
Borwurf geſchützt werden, wenn er es wagt, dad Vorhandenſein
dieſes Reiches zu verfündigen, ohne über bie Perfon des Meſſias
und die Mittel, welche ihm zu Gebote ftehen, im Haren zu fein.
Ja wenn ber Herr am Jordan, ergriffen von der Bewegung,
in ber Einfiht, daß die Vollöbegeifterung nicht über dem Fehlen
einer Perſon des Meſſias verraucen dürfe, ſich dem harrenden
Bolt als folchen dargeboten hätte, dann möchten wir’s verfuchen,
da® piychologifch uns denkbar zu machen als den genialen Entfchluß
einer großen Seele, die e8 auf fih nahm, im Drang der Umftänbe
das Höchfte zu wagen. Aber nicht dem bdrängenden Volle ftellt er
fih als Meſfias dar, nicht die Wogen der Begeiſterung, nicht das
unmittelbare Zeugnis des Täufers benugt er, fondern alle dieſe
Chancen, die rein menfchlicher Ueberlegung den Entſchluß erleichtern,
einen genialen Griff erklären fünnten, gibt er daran, um fo zu fagen
von neuem anzufangen, und nicht allmähliche Erfolge feiner Predigt,
nicht der Anhänger, nicht eines ganzen Volles ftaunende Bewunderung
wartet er ab, um über fich jelbft gewiß zu werden, fondern er affein
predigt dad Neid als erfülltes und macht fih damit Tediglich
auf Grund feiner inneren Welbſtgewißheit anheifchig, alle Hoffnungen
eines Volles und der Jahrhunderte zu erfüllen. Man wird zuge
ftehen müſſen, daß ohne die Einzigartigkeit eines Selbftbewußtfeins,
wie und basfelbe am Ende feines Ganges ficher entgegengetreten ift,
der Anfang feines Werkes ein gottverfucherifches Spiel geweſen
wäre. Daß er feine meſſianiſche Würde nicht felbft alsbald ver-
fündigte, im Gegentheil forgfältig darauf bedacht war, eine birecte
Verkündigung Bintanzuhalten, kann für eine allmähliche Entftehung
des Glaubens an feine eigene Mejflanttät nichts beweifen. Denn
das ift doch Kar, daß die laute Geltendmachung derartiger Anfprüche
alles fofort auf eine entfcheidende Spitze getrieben haben würde.
Entzog er fich dem Drängen derer, die in dem Meifias den Mann
ihrer Gedanken und Wünfche fahen, jo war er auch als Meſſias ber
Einfältigen und Armen nicht mehr möglich. Er mußte zu allererft
doch zeigen, wie er das Reich Gottes verftanden wiflen wolle, in
welchen Sinn er der Meſſias jei, ehe er fich als ben letzteren pro⸗
134 Schmidt
clamiren konnte. Aber Hat num nicht eben bie Predigt vom Neid
Gottes ihre Geſchichte — zeigen fih nicht Spuren in unjeren
Duellen, welche uns daranf hinführen, daß erft nach und nach der
Herr felbft zu einer gewiſſen Klarheit über bdiefen Bunkt gelommen
it? Es dürftedoch das Verdienft Renans jein, diefe Frage angeregt, dar⸗
auf aufmerkfam gemacht zu haben, daß eine Lebensentwichlung des Herrn
nad gemeinen pfychologifchen Maßftäben nur vorftellig zu machen ift,
wenn die Grundidee feiner Predigt, das Reich Gottes, keine von An-
fang an fefte ift. Und fo wenig im einzelnen die beutfche Forfchung
den Wegen des Franzofen gefolgt ift, fo Hat fie doch im allgemeinen
den Gedanken desſelben in ihrer Weiſe weiter auszuführen verfucht.
Renan behauptet belanntlid, dag der Herr von dem Gedanken
ausgegangen fei, mit einer Reihe von Deoralfprüchen eine idyllische,
parabiefifche Gemeinfchaft zu gründen, beren Mitglieder ohne beftimmte
cultliche oder gefetliche Bande als Brüder und Schweitern zufammen-
leben. Um nun freilich diefe Ideen zu realifiren, mußte er aus
der ſchönen Naivetät, in der er fie zuerft verfünbigt Hatte, heraus⸗
treten. Das Reich Gottes in diefem ibealften Sinne mußte bei
dem Verſuch, es in's Leben einzuführen, Meodiftlationen annehmen.
Erft die Berührung mit dem Täufer leitet ihn dann fort zn einer
mehr theokratifchen Auffaffung. Das Hlınmelreich tritt erft von
jet ab in den Vordergrund für ihn. Nicht um eine ideale Ge⸗
ſellſchaft tft ihm mehr zu thun, fondern eine gründliche evolution
erwartet er. Dieſe will er freilich nicht mit äußerer Gewalt herbei-
führen, vielmehr fol fein Gott ihm den Königsſtuhl mit Wunder.
thaten zurichten. Er felbft indeffen will dies Reich doch burch feine
Predigt zubereiten. Aber die ſchönen Tage von Galiläa, in denen
er leicht eine große Menge glücklicher, einfacher Galilüer fammelt,
mit denen er in einem paradiefifchen Zuftand ber Unbefangenheit,
ibealen Genuffes dahinlebt, hören auf bei der Berührung mit dem Geifte
Serufalems, dem engherzigen der Tempelariftolratie und der Ariftolra-
tie der Schriftgelehrten.. Jeſus wird zum Kampfe wider das Gefek
gedrängt, auf Heiden und Samariter richtet er fein Augenmerk. Cr
wird zum revolutionären Fanatiker, der fi nun auf bedenkliche
Wege ziehen läßt, feine eigene Dieffianität immer beftimmter hervor⸗
hebt, Immer einfeitiger verteidigt, um das Reich Gottes mit Ger
Ueber die Grenzen ber Aufgabe eines Lebens Jeſu. 435
walt in's Werk zu feßen. Bekannt ift die zweideutige Rolle, welche
Renan den Herren auf feinem legten Lebenswege fpielen läßt, frei-
lic) nicht erft da. Im wejentlichen ift der Herr ja von Anfang
an nad der Darjtellung des Franzoſen ein zweideutiger Charafter.
Es find doc) eigentlich jehr zufällige, rein äußerliche Umftände, welche
diefe Entwicklung zumege gebracht haben. Wenn der Gedanke des
Himmelreiches ihm überhaupt erft durch den Täufer nahegelegt wurde,
wenn er erft dadurch auf den Einfall fam, ſich als Reformator und
Meffias vorzujtellen, jo waren e8 die Illuſionen, die ihm fein Mangel
an Welterfahrung und der offene Sinn der Galiläer erregten, durch
welche er fich verleiten ließ zu dem Glauben, ein ideales Gottesreich
zu fchaffen, und wieder war es die Verehrung feiner Umgebung
gegen ihn, welche neben dem unerwarteten Widerftand gegen feine
Seen zu der düfteren, apolalyptifchen Auffafjung des Himmelreiches
führte, wonach er felbit als der Daniel'ſche Menfchenfohn erfcheinen
follte. Wer diefes Bild, wie es Renan zeichnet, für das richtige
halten Tann, muß einmal das Verfahren, die einzelnen Theile unferer
fanonifchen Evangelien nad Belieben aus ihrem Zufammenhange
zu reißen und wieder zufammenzufegen, ald das der Geſchichtſchrei⸗
bung entſprechende vorausfeten und ebenjo es über's Herz bringen,
den, welcher im Mittelpunft der Weltgefchichte fteht, zu dem auch die
fittlich gefördertften Männer mit Ehrfurcht Hinaufbliden, nach den
Mapftäben eines genial angelegten, aber etwas unflaren und unge⸗
bildeten Autodidakten und eines anf dem Niveau moderner Alltäg⸗
lichkeit ftehenden, fittlichen Durchſchnittsmenſchen piychologifch zu beur-
theilen. So wenig die deutfche Theologie dieſe beiden Vorausſetzungen
zu erfüllen im Stande war, fo läßt ſich doch nicht leugnen, daß
diefelbe in ihrer Art die Renan’fchen Gedanken zwar mit wefent«
lichen Modifikationen fich aneignete.
Am unmittelbarften in Abhängigkeit von Renan fteht das
Schenkel'ſche Charakterbild. Auch nach Schenkel joll aufänglich
der Gedanke des Gottesreiches, wie wir jahen, für den Herrn eigent-
fih nur nebenfächliche Bedeutung gehabt haben, auch nah Schenkel
erfcheint das Reich Gottes zunächſt in ganz idealer, aber auch
vager Allgemeinheit. Der Herr tritt auf als Stifter einer neuen,
von den theofratifchen Bedingungen unabhängigen Gemeinſchaft
Theol. Stub. Iabrg. 1878. 29
456 Schmidt
frommer Joraeliten mit Gott (Charakterbild, S. 60). Das Neid
Gottes ift zumächit ein Reich allgemeiner Humanität, follte Ver⸗
wirklichung moderner Zoleranzideen fein. Cine weitere Beſtimmung
erhält diefer Gedanke dadurch, daB der Herr eine Ausdehnung
biefer Gemeinſchaft über die Heiden, ja Über die ganze Welt in
Ausfiht nimmt und ſich felbft als den geiftigen Schöpfer und
Herrn diefes Weltreiches anfleht. Endlich ift der Herr genöthigt,
fih auch über den weiteren Gang feines Meiches zu erklären im
Angefichte feines Leidens und Sterbens, und da tritt in den eſcha⸗
tologifchen Reben die Aaoslslx Toy odpavoy umleugbar in einer
den jüdifchen Erwartungen viel mehr zufagenden Form auf. Nur
will Schenkel nicht mit Renan diefe apofalyptifchen Erwartungen in
das Bewußtſein des Herrn verlegen, vielmehr haben wir es hier
nun mit Accommodationen zu thun, er Tann nur feine Ideen in
feiner anderen Form feinen Jüngern darbieten. Das ift freilich
ein Ausweg, der die Achtung des Verfaffers vor dem fittlichen Charakter
bes Herrn beweift, nicht aber deifen pfychologifcges Verſtändnis,
denn wenn wirklich der Herr den Seinigen, die in ſolchen apofalypti-
chen Ideen befangen waren, etwas anderes fagen wollte, ale was er
dem Buchftaben nad) fagte, fo war das doch ein gemwagtes Spiel
und Konnte nur zur Verſtärkung der falfchen dee dienen. Weber-
haupt wie viel Harer hätte man, wenn der Herr wirflid die Be⸗
fämpfung theofratifcher Ideen zu feiner Hauptaufgabe machte, feine
Reden wünfchen müſſen. Da die Hörer doch wol in Heidelberg
nicht Hermenentit gehört hatten, kann man ihnen nicht übel nehmen,
daß fie zum Theil in fo geringem Maße von ihren alten Vorur⸗
theilen fich abbringen ließen.
Auh durch Keims geiftuolle Ausführungen Klingt doch wo
etwas von dem Nenan’fchen Schema Hindurd. Schon ber Titel
der Abfchnitte: galiläifcher Frühling, galiläifche Stürme, jerufale
mifches Zobesoftern, erinnern einigermaßen an die Ausbrudsweile
des Franzoſen. Freilich läßt Keim gerade im Gegenfat zu Renan
und Schenkel ben Herrn mit einem realiftifchen Begriff des Gottes⸗
reiches beginnen, das er dann freilich auch im Anfange nicht als bes
reit8 gefommen, ſondern als nur im Kommen begriffen verfündigt haben
ſoll. Dagegen ſoll er in einer zweiten Periode gerade im Unger
Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 457
gefichte des beginnenden Widerftandes, mancher Miserfolge und Ent»
täufchungen zu der beftimmten Ausfage fortgefchritten fein, daß dae
Gottesreich bereits da ſei, womit eben von ſelbſt der Verzicht auf
eine äußerliche Geftaltung desjelben durch göttliche Machtthat ge-
geben geweſen ſei. Schließlich aber im Angefichte der Tettten ernfte-
ften Wendung zum Tode habe er dennoch wieder zum Glauben an
ein äußerlich, finnlich kommendes Meeffiasreich gegriffen. Gerade
bei diefer dritten Stufe alſo machen fich doch bedenkliche Aehnlich⸗
feiten mit Renan geltend.
Bor Keim Schon Hat Weizjäder den Unterfchieb geltend ges
macht, der darin liege, daß der Herr zunädft nur die Nähe, nicht
ſchon das Dafein des Reiches verlündige — nur macht er bezüg-
fih der erften Geftalt, in der das Reich Gottes vor feinem Auge
ftand, weniger den Einfchlag nationaler Hoffnungsbilder geltend, in
der Schilderung defien, was nad dem erjten Entwurf als wefent-
ih zum Neid) Gottes gehörig angefehen worden fein foll, berührt
er fih freilich in einem weniger an die Tagespreſſe erinnernden
Zon mit Schenkel. Mit ber Erkenntnis, daß in der Erfüllung
der wefentlichen Bedingungen ber Theilnahme am Gotttesreich auch
der Beſitz desfelben eigentlich gegeben fei, mit der Einficht in die
Erfolge feines Thuns und Lehren gieng ihm auch die Erkenntnis
von ber wejentlichen Gegenwart des Neiches und die volle Klarheit
über feine eigene Meffianität auf, während die Vorausficht feines
Leidensweges ihm gerade die Weltbedeutung des Meffiasreiches in
ben Borbergrund treten ließ und ben Gedanken perjünlicher Wieber-
kunft zur Reife brachte. Die Wetzfäder’ ſche Darftellung macht nicht
nur die doch peinliche Annahme Keims eines letztlichen Schwankens
zwijchen Brophetentum und Meffiastum, einer gewiffen Unklarheit über
feine Aufgabe und feines Reiches Schickſal überflüßig, fondern fie
tät möglichft organifch eine Form aus der anderen entftehen, ohne
die Modifikationen in diefem Begriffe des Reiches Gottes allzu
ſehr von den Eindrücken, die ihm von außen her nahegebracht würden,
abhängig zu machen. Dennod können wir uns nicht überzengen,
daß die Quellen oder die pfychologiſche Empirie es wahrjcheinlich
machen bürfte, daß in dem Bewußtſein des Herrn felbft fich der
Sebante des Himmelreiches in diefer Weife mobifleirt Habe. Wir
29*
438 | Schmidt
könnten e8 verftehen, wie bereit8 gejagt, wenn die Idee des Himmel-
reiches im Sinne der Bedürfniffe moderner Theologie einen allmäh-
fihen Reinigungsproceß durchgemacht hätte, wenn bie nationale
die apofalyptifche Form des Meffinsreiches, wie er fie im Anſchluß
an bie Predigt des Johannes urſprünglich im Sinne gehabt, ſich
erweicht hätte, wenn der rein ethiſche, veligiöfe Kern jich immer
mehr abgeklärt Hätte, wenn etwa ber Herr in zweiter Linie auf
eine nur fittlichereligiöfe Erneuerung bes Volkes hinzuarbeiten ſich
begnügt hätte. Wir könnten es verftehen, wenn er, vom Volfe ab-
gemwiefen, endlich fi) damit zufriedengegeben hätte, daß doch ein
enger Kreis von Jüngern feine Ideen aufgenommen und daß diele
Ideen, an fi unfterbli, auferftehen und fortleben werden. Aber
daß der Herr gerade gegen das Ende feines Lehrens mehr die apo-
falyptifchen Ideen gepflegt, die nad moderner Anichauung mit den
befchräntt jüdifchen Hoffnungen zufammenhängen, geben, dem Thatbe⸗
ftand der Quellen folgend, alle diefe Darftellungen zu. Die Betonung
dieſer apofaluptifchen Ideen ſoll ja eben die Folge des Widerftandes
gewejen fein, dem der Herr begegnete. Aber wie, wenn ihm jelbit
das Reich Gottes zuvor etwas rein innerliches war, wenn ihm
felbft die Erkenntnis aufgegangen war, daß das Neich Gottes nur
im Bewußtfein der Gotteskindichaft beitehe und in der freien Sitt-
fichleit, was fonnte ihn dann veranlaffen, die alten Schläuche einer
engherzigen nationalen Hoffnung mit jolcher Zähigkeit feftzuhalten,
daß er ſich felbft in eine für dies Geiftesreich ganz werthlofe ſchwärme⸗
rifhe Erwartung Hinein fteigerte und über derjelben untergieng ?
Man könnte doc) höchftens diefen ganzen legten Theil als einen Ab-
fall von feinem befjeren Ich anfehen, man mußte darauf beftehen,
was auch die Biographen mehr oder weniger deutlich zugeben, daß
er nie zur vollen Slarheit über fein eigen Neich gelommen fei. Man
wird in diefer Hinficht dem Franzoſen wenigftens den Ruhm der Eonfe-
quenz nicht beftreiten können, wenn dieſer den Gedanken des Himmel:
reiches von Anfang an ſchon als eine Trübung der reinen Moral
auffaßt, dann ift eigentlich die ganze Geſchichte feines Lehramtes
nur eine fortgehende Beftätigung de8 Hegel'ſchen Axioms,
daß jede Idee in ihrer Berührung mit ber Wirklichkeit den Erd⸗
gefchmac annehmen muß. Aber wie fehon gezeigt, fett diefe Auf⸗
Ueber die Grenzen ber Aufgabe eines Lebens Jeſu. 459
faffung aud eine völlig fouveräne Behandlung der Quellen und
. eine Anfhauung von der Perfon des Herrn voraus, die felbft
wieder neue pfychologiſche Räthſel ſchafft. Nach der durch die
Quellen am eheſten zu belegenden Auffaſſung wäre die mittlere Pe⸗
riode des Herrn bie reinfte. Aber dann ift eben nicht zu verftehen,
warum der Herr nicht aud den Testen Schritt gethan und den
Gedanken feiner Meffianität im Sinne äußerer Herrlichkeit vollends
ganz abgetban Haben jollte.
Die Uebereinftimmung , mit der bie Biographen eine dreifache
Modifikation des Gedankens des Meffiasreiches unterfcheiden, weift
allerdings darauf hin, dag in den Quellen jelbft eine VBeranlaffung dazu
gegeben fein muß. Und man wird ja nicht leugnen können, daß in den
Spnoptitern ein dreifacher Kreis von Reden beutlich abgegrenzt ift.
Es ift zuerft das Weſen des Reiches Gottes als eines Reiches ber Selig-
feit und Gerechtigkeit der Inhalt feiner Predigt; es wird ung in zweiter
Linie in den Gleichniffen die Entwiclung des Gottesreiches ge⸗
ſchildert, und endlich richtet fi das Augenwerk vorzüglich auf die
Bollendung und Geftaltung diefes Reiches. Aber es fragt ſich: ge-
hören diefe drei Gruppen nicht innerlich zufammen, verhält fich nicht
der eine Theil nur als Ergänzung bes anderen und lag es nicht
in der Natur ber Sache, daß in der Predigt des Herrn, eben bie
eine Seite nach ber anderen hervortrat, eine um die andere mehr
Intereſſe gewann ?
Wir verfuchen das zunächſt aus inneren Gründen wahrſchein⸗
ih zu machen und fobann zu zeigen, daß auch die Quellen einer
ſolchen Auffaffung günftig find. Das Himmelreich ift doch zunächft
ein Reich, wie es in der Welt der Vollendung, in den Himmeln,
ſchon vorhanden ift, als ein Reich unbefchränfter Gemeinfchaft mit
Gott, in der alle die Gottesfinder, die dem Vater im Himmel
fittlich ähnlich find, feined Segens und Schutzes auch alljeitig ſich
freuen. Das Himmelreih ift das Reich Gottes, die Vollendung
der Idee der altteftamentlichen Theokratie, es ift das Neih, in
welchen das Verhältnis Gottes zur Menfchheit fi) dahin beftimmt,
daß dem freien, willigen Gehorfam ber Unterthanen der wahrhaft
fittlichen und vollfommenen Gefeßeserfüllung der Genuß des inneren .
und Äußeren Segens Gottes entſpricht. Dies Reich verfündigt
440 Schmidt
der Herr als nahe. Er kann das Himmelreich darum nicht ale
etwas an ſich transfcendentes aufgefaßt Haben, fondern, um mit
Keim zu reden, das Himmelreih follte Erdreich werden ober
richtiger die Erde foll zum Himmel werden. Daß das nur dur
göttliche Thaten und Gnaden, durch Mittheilung himmliſcher Güter
und Kräfte gefehehen kann, ift die Vorausfegung bed Herrn und der
Grund, warum aud die irdiiche Geſtalt dieſes Reiches Himmelreich
ift und heißt. Wenn nun Werth darauf gelegt wird von Weizfäder
und Keim, daß der Herr dies Himmelreich erſt nur als zufünftiges
verfündigt habe und erft fpäter zur larheit darüber gelommen fei,
daß es Schon vorhanden jei, jo muß vorab daran erinnert werden,
dag mit Ausnahme der Stelle Luk. 17, 21 bei ben Spnoptifern ein
ausdrüdlicher Ausſpruch darüber, daß das Weich Gottes da ſei,
nicht vorliegt. Dem nyyıxev 7 Baoılsla vou Jsov bei Mart. 1, 15
jteht nicht eine entiprechende, bad Vorhandenfein des Reiches betonende
jpätere Formel entgegen, während umgelehrt in den vorangeftellten
zrenAnpwras 6 xargos doch die Erklärung liegt, daß das Heid)
Gottes eigentlich fchon vorhanden ſei. Es liegt das aber auch in
ber Natur der Sade, daß zwijchen Zukunft und Gegenwart gar
nit fo ftreng geichieden werden kann. Wenn von Anfang an zum
vollen Wefen des Gottesreiches auch eine äußere Herrlichkeit, der
Befit des Erdreiches, die Freiheit vom Uebel, die Abjcheidung der
Gerechten von den andern gehörte, jo war natürlich, daß das
Reich Gottes erft ale im Kommen begriffen dargeftellt wurde. Wenn
doch minbeftens eine veränderte Stellung der Menſchen zu Bott
eine innere Umwandlung zur Nealifirung bes Reiches gehört, fo
ift natürlich, daß der Herr, der diefe Ummandlung erſt hervorbringen
will, nit mit der Verkündigung des Daſeins, fondern nur der
Nähe des Meiches beginnen konnte. Sofern er aber fich felbft ale
der Mittel zur Herftellung diefer Umwandlung mächtig weiß, fie
anbieten kann, fo fern er der ift, durch den das Reich Gottes aud
feine letzte Vollendung erhält, kann er auch das Borhandenfein bee
Reiches behaupten, und er kann ed in um jo höherem Maße, went
fein Wort fchon Eingaug gefunden, wenn jchon Kinder des Keiches
da find, ja die Anfänge einer Reichsgemeinde ſich ſchon regen.
Zu der Folgerung aber, daß der Herr am Anfang erwartet
Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſn. 441
babe, dad Weich Gottes werde etwa durch einen anderen Mann
oder durch directe Wunderthat hergeftellt werden, und er felbjt fei
nur der Vorbereiter — liegt fein Grund vor. Wenn der Herr
denen, bie hungern und dürften nad) ber Gerechtigkeit, die Sätti⸗
gung als eine zukünftige in Ausficht ftellt, ſoll das nothiwendig
beweifen, dag er felbft nicht daran gedacht habe, diefe Sättigung
Bieten zu können? Will man die Aeußerungen des Herrn, in denen
fih deutlih das Bewußtſein über fein Verhältnis zum Reiche
Gottes ausgefprochen (vgl. das Evexsv duoo Matth. 5, 11, fowie
das gewaltige 6y0 da im zweiten Theil desjelben Kapitels, zu
gefchweigen von Kap. 7, 21—23), nicht aus der DBergrede elimi-
niren, jo wird man zugeben müffen, daß er von Anfang an über
fein Verhältnis zum Reiche Gottes im reinen war, alfo nicht der
Meinung fein konnte, das, was er zu bringen und zu bieten babe,
jei zunächft nur Vorbedingung feines Reiches. Daß er nicht direct
mit der Verkündigung feiner Würde angefangen, erklärt fi, wie
bereit8 an anderer Stelle bemerkt, zur Genüge daraus, daß er
doch erjt dem Wolfe den richtigen Begriff des Reiches Gottes Klar
maden mußte, ehe er in der Lage war, fich dem Volke anzuver-
trauen. Das Volt mußte erft zu der Erkenntnis geführt werden,
daß das Reich Gottes in erfter Linie als inneres Gut kommen
müffe, daß keine vorhandene Gerechtigkeit für dies Reich genüge,
auch die der Frömmften nicht, dag darum aud) nicht ein Gericht,
in welchem eben diefe Frömmſten nicht zu beitehen vermöchten, die
Einleitung zur Rettung fein könne.
Diefe Auffaffung allein empfiehlt ſich auch aus piychologifchen
Gründen. Wäre des Heren Predigt die einfache Fortſetzung der
des Täufers gewefen, fo würde man nicht begreifen, daß er fi
von bemfelben getrennt, nicht wenigftens mit feinen Jüngern eine
innigere Fühlung behalten. Trat er aber in felbftändiger Weife
auf als Berfüudiger eines Reiches in einem neuen Sinne, fo
konnte der Fortſchritt doch nur darin beftehen, daß er das ange
fündigte Reich als thatſächlich gekommen predigte. Die Zuverficht
zu folcher Predigt konnte er aber nicht aus den Zeichen der Zeit
allein ſchöpfen: ſolche zuverfichtliche Predigt war doch nur möglich,
wenn er auch Über die Meffinsfrage im reinen war. Man mag
442 Schmidt
es verfuchen, verftändlich zu maden, wie ein Mann nad großen
Anfängen fpäteren Enttäufchungen durch Illuſionen Trotz bietet,
daß ein nüchterner Mann die Verantwortung folder Predigt auf
fih genommen habe, fo Lange er noch ſchwankte bezüglich des
Weſens diefes Reiches und der Perfon des Herftellers, das dürfte
ſchwerlich fih wahrjcheinlih machen Lafien.
Wie weit der Herr die weitere Geftaltung dieſes Gottesreiches
im einzelnen vorausgefehen, wird fich gefchichtlich nicht mehr er-
weiſen laſſen. Daß er auf eine Gemeinfhaftebildung ber Kinder
des Neiches, auf Kämpfe und Anfechtungen, durch melde fie Hin-
durchzugehen habe, auf eine endliche Gerichtsfataftrophe gerechnet,
das können wir doch fchon aus der Bergrede bes Matthäus ent-
nehmen, und wenn man auch die unmittelbare Zufammengehörigfeit
der Mebetheile mit Grund bezweifeln mag, fo wirb man doch ohne
beftimmte bogmatifche VBorausfegung aus lediglich, kritiſchen Gründen
nicht behaupten fünnen, daß diefe Medetheile nicht dem erften Ab»
Ichnitt der Wirkfamkeit des Herrn angehören. Ob aber bei diefer
zunächſt innerlichen Scheidung der Gemeinde nicht ein folder Theil
der Nation mit diefem neuen Leben erfüllt werden könnte, daß
diefe neue Gemeinschaft in die Form des nationalen Lebens geklei⸗
det werden könnte, das mochte noch zweifelhaft bleiben. Wer
möchte auch behaupten, daß eine folhe Benützung der vorhandenen
Form mit dem Weſen des Gottesreiches wäre unverträglich
gewefen? Die Weltbeftimmung des Reiches, die der Herr ja von
Anfang an in's Auge faßte (vgl. Matt. 5, 14), fchloß die
zunächft nationale Geftaltung der Gemeinfhaft nit aus. Wem
eine fpeciell offenbarende und erziehende Wirkſamkeit Gottes an
Israel kein Unding ift, wird ſich immer auch wieder fragen müſſen,
ob denn nicht der normale Gang der gewejen wäre, daß die Nation
in ihren Häuptern, in ihrem Kern fich aufgejchloffen Hätte den
Gaben, die der Herr brachte.
Darum ift es natürlich, daß der Herr auch erft unter dem
Eindrud der thatfächlichen Abkehr des Volkes und feiner Häupter,
zunächft in den Gleichniffen, die innere Scheidung ber Reichsge⸗
meinſchaft von dem nationalen Leben Israels ausfpridt. Was er
ale Wefen des Reiches von Anfang an ausgeiprochen, wird damit
Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 443
nicht modificirt. Das Reich Gottes ift jet wie auch fchon früher
zunächft ein inneres Gut, es ſoll endlich durch eine Gerichtelata-
ftrophe hindurch zu einem auch in äußerer Herrlichkeit erfcheinenden
Reich werden, das ift Hier wie in der erften Redegruppe audge-
fprochen. Nur das tritt eben deutlicher hervor, daß es zunädhft
die Geftalt einer ganz neuen Gemeinde annehmen, im übrigen
als eine alle Welt umfafjende und alle Weltverhältniffe durch-
dringende Geiſtesmacht fich geltend machen foll. Die beiden Pole,
der Aufang des Reiches im Herzen und das Ende unfichtbarer
Herrlichkeit, treten ebenfo deutlich, wie die Weltbedeutung des
Neiches hervor !). Und es heißt, Widerfprüche mit Gewalt fuchen,
1) Es mag an diefem Orte am eheften Gelegenheit genommen werden zu
einer kurzen Auseinanderfegung mit bee Schrift von Weiffenbach: „Der
Wiederkunftsgedanke Jeſu“, Leipzig 1873. Der Kern des Buches ift be»
fanntlic) der, daß Jeſus in dunkeln, für die Jünger unverfländlichen
Worten zugleich mit dem Giege feines Reiches fein perfönliches Wieder⸗
erfcheinen vorausgefagt habe. Diefe Vorausſagung habe ihre Erfüllung
gefunden in den Ericheinungen, die den Süngern nad) ber Auferftehung
zu Theil geworden. Diefe letzteren aber, befangen in ihren groben, ſinn⸗
Iichen Meffiaserwartungen, haben nun die Borausfagungen des Herrn
gewiflermaßen in zwei Theile zerlegt, indem fie einerfeits die bereits er⸗
füllte Auferſtehungsweißagung, anderjeits die Verheißung der ihres Be⸗
dũnkens noch nicht erfüllten Aufrichtung des Meffiasreiches daraus heraus⸗
gelefen. Wenn der Berf. (S. 376) vorfichtig fi die Ruckzugslinie offen
erhalten will von der Pofition aus, welche er zu gewinnen unternimmt,
jo ift das freilich fir da8 Heer der Lejer, die fich feiner Führung anver-
trauen möchten, nicht fehr ermuthigend. Aber wir könuen in dieſem all
die Borficht, dies befiere Theil der Tapferkeit, doch nur billigen. Denn
in der That muß der Verſuch als jehr gewagt ericheinen, wenn man
auch nur oberflächlich die große Menge von Zukunftsreden mit ber viel
befcheideneren Anzahl von Auferftehungsweiffagungen vergleicht. Aber
auch & priori muß es doch gerade auf dem Standpunkt, den der Verf.
einnimmt, für pfychologifch viel natürlicher angejehen werden, daß ber
Herr den Endfleg feiner Sache nur unter feiner eigenen perfünlichen Be⸗
theifigung für moͤglich hielt, als daß er auf ben, weder von einer fonfligen
Analogie noch von einer Schriftfielle ihm dargebotenen Gebanfen einer
flüchtigen, perfönlichen Bezeugung an bie Jünger nad) der Auferflehung
gerieth. Oder will der Berf. in diefem Fall ein dem Herren rein auf
übernatürlichen Wege vermitteltes Borherwiſſen einer zulünftigen That⸗
444 Schmidt
wenn man behauptet, daß fich die perfönliche Beſchraänkung des
Herrn auf Israel, die nationalen Züge in feinem Hoffnungebild
ſache vindiciren? Dann möchten wir fagen, eine foldye verbännte Auf-
erflehung, wie fie W. von Keim entiehnt bat, ift zu arımfelig, als daß
ſich eine fie betreffende Ertraoffenbarung verlohut hätte Die Einwen⸗
dungen, die von mir f. 3. gegen das der einer Auferfiehung im Keim’ chen
Sinne erhoben wurde (Jahrb. f. D. Theol., Bd. XVII, &. 90—101)
find meines Erachtens bis jetzt noch nicht in zureichender Weiſe widerlegt
worden. Wenn bie Auferfiehung des Herrn nichts weiteres den Süngern
verbärgte als fein Fortleben — und weiteres kann eine Auferfiehung im
Keim'ſchen Sinne nicht verbärgen —, daun finkt fie zu einem „zufälligen“
Geichichtsereignis herab, und man kann die Ermuthigung der Jünger als
ebenfo gut auf einem anderen Wege bewirkt anfehen und es ift dann auch
eine Weiffagung dieſes zufälligen Ereigniffes nicht mehr recht begreiflid.
Doch wir möchten hier nicht lediglich a priori argumentiren, einem Buche
gegenüber, das ſich veblich bemüht, auf kritiſchem und eregetiichen Wege
jeine Behauptungen zu begründen. Da es indes viel zu weit abführen
märde, wenn eim Eingehen auf die kritiſchen und eregetiichen Voraus⸗
ſetzungen des Verf. bezüglich des in erſter Linie in Betracht kommenden
Beroeismateriald verſucht werben wollte, jo möge es Bier genügen an
einer Beleuchtung der Art, wie W. gerabe eines ber im Terxt berüßrten
Gleichniſſe behandelt. S. 314 beipricht der Verf. Die Parabel Matth.
13, 24—80. Im fi freiere Hand zu jchaffen, fucht derjelbe die Aus⸗
legung (B. 37—43) auf kritiſchem Wege zu befeitigen, während bie Echt-
heit der Parabel ſelbſt nicht bezweifelt werben kann (5. 815). Nun
wollen wir über biefe kritiſche Frage nicht rechten, wollen auch nicht mit
ber Erklärung des d anelgwwv beginnen. Wir verlangen nur ein Zu-
geftänbnis, das uns W., fomeit wir fehen, nicht verweigern wird, das
Augeftändnis, daß die Parabel ein Eudgericht lehrt, durch welches das
Himmelreich erſt zur rechten Bollendung und zwar zu einer auch äußer⸗
lich hervortretenden Vollendung kommen fol. Nun wirb uns mit bdiejem
Augeftänduis aber verfichert, daß ber Herr weit entfernt fei, fich ſelbſt
als den Richter darzuflellen, er habe vielmehr in feiner Demut niemals
jemand anders als Bott für ben Weltrichter gehalten. Das ift denn
nun freilich eine Behauptung, die gerechten Bedenken unterliegen muß.
Was war denn die ganze Vorausſetzung der Meifinshoffaung? Doch
wohl vor allem die, daß der Meſſias auch das meſſianiſche Gericht halten
werde? So redet zum voraus ber Täufer (Ruf. 3, 17), oder wenn dieſe
Stelle kritiſchen Anftänden unterliegt — man ift vor ſolchen bei dieſer
modernen Behandlung der Synoptiler ja nirgends ſicher — fo ift doch
die einfache Frage übrig, was iſt deun ber Meifies überhaupt, if er
Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 445
mit der Weltbedentung des Weiches nicht reimen. Das eich
Gottes widerftrebt nationaler Ausgeftaltung nicht, und es wäre
denn wicht der König des Gottesreiches? Ober wird une W. auch
darüber noch beiehren, daß der Herr das Königtum ausſchließlich Gott
borbehalten habe und weit davon entfernt geweſen jet, fich ſelbſt für den
König zu halten? Wir würden, redlich geftanben, durch eine ſolche Be⸗
hauptung nicht mehr überraſcht fein, als durch diefe Entdedung, daß der
Herr ſich felbft ein Gericht anzumafßen weit entfernt geweſen fei. Denn
wer anders als der König fol doch überhaupt richten? Daß damit an⸗
dere Stellen, in denen auch Gott wieder als Richter erfcheint, fo wenig
firelten ale Röm. 2, 6ff. mit 2 Kor. 5, 10 oder Matth. 19, 28 mit
ſich ſelbſt im Widerſpruche ift, wenn neben ben Richtftuhl Chriſti auch bie
zwölf Thronftühle für die Mpoftel aufgeichlagen werden, follte doch einem
ſcharffinnigen Theologen nicht entgehen. Wahrlih, wenn W. die Demut
des Heren nad) folchen Kriterien beurtbeilen will, dann mirb er noch
vieles aufzuräumen haben, dann muß er auch Matth. 7, 21—23 aus-
merzen, wo doc wol ber Herr dr dxeivp Ti nusor auch ale Richter
auftritt und Kap. 11, 20—27, wo die Gerichtsdrohungen in einem be
denklichen Zuſammenhang mit dem raüure wos napedosn ſtehen. Alſo
ohne ung eine Rückzugsbrücke offen zu halten, find wir erbötig, die Thefis
aufrecht zu erhalten: wenn ber Herr fich fiberhaupt für den Meifins ge-
halten hat und ein meſſianiſches Endgericht erwartet bat, jo Bat er aud)
ſich felbft als den Richter angefehen, und jo gewiß im dem beiprochenen
Gleichnis die Saat auf dem Ader nur das Reich Gottes fein kann und
er fich felbft für den Gründer desfelben hält, fo gewiß ift 0 onelgwv
niemand als der Meſſias. Iſt er aber der Richter, foll er dann auch
wie die anderen zum Behuf des Gerichtes erſt auferweckt werben, ober iſt
er nur ebenfo unſichtbar dabei betheiligt, wie jett an der Entwidlung
feines Reiches? Wir brauchen kaum zu jagen, daß eines fo unmöglid)
ericheint ale das andere unb das tertium, das übrig bleibt, ift doch uur
die perfönliche Wieberfunft in Herrlichkeit und die Auferftehung hat weient-
lich ihre Bedeutung auch (natürlich nicht in erfter Linie und ausſchließlich)
darin, daß fie diefe Wiederkunft verbürgt. (Vgl. Apg. 1, 11.) Wenn
aber diefe Barabel nur in dem ausgeführten Sinne gedeutet werben Tann,
wenn die nambaft gemachten Stellen aus Matt. 7 m. 11, Stellen,
deren Zahl ſich noch vermehren ließe — nur als Hindeutungen auf ein
von ihm perfönlich zu vollziehendes Endgericht gedeutet werben können,
fo ſcheint uns auch das Hanptbemeismittel, mit dem W. argumentirt, wefeutlich
erfäyättert zu fein, nämlich die Behauptung, daß die Wiederlunfsmweißagung
erſt gleichzeitig mit der Ankündigung feines Leidens und feiner Aufer⸗
ftehung auftrete — und nicht bie Vorausfegung für die ganze Reichs⸗
446 Schmidt
traurig, wenn da8 allgemein Gültige und Wahre nicht in geſchicht⸗
liher Form, in concreten Typen erjcheinen könnte.
Wieder mag ed dahingeftellt bleiben, wie weit der Herr die
concrete Geftaltung feines eigenen Leidens und der ihn erwartenden
Kämpfe vorausgefhaut. Daß er von Anfang an bes Leibene
gewärtig war, dafür zeugen — wenn man aud an die Zaufe
nicht erinnern will — bie Haren Ausſprüche der Bergpredigt.
Naturgemäß aber konnte er von feinem Leiden doch erft weiter
reden, als die Verhältniffe fein Kreuz in Sicht gebracht Hatten.
Die er den Seinen gegenüber eine Erklärung binfichtlich feiner
Meifianität zu geben immer mehr fi) gedrängt fah, je mehr
die Reichöpredigt die Frage nad) dem Meſſias auf aller Lippen
brachte, fo geftaltete ſich auch die Verachtung der Predigt vom
Reiche immer mehr zu einer pofitiven Feindfchaft wider feine
Perfon. Dies nöthigte den Herren in feiner Predigt, einerfeite,
feine Perfon in den Vordergrund zu ftellen, bis er fchlieglich mit
feinem Einzug in Serufalem die Tange verjchobene, indirect oft
genug erhobene Entfcheidungsfrage unverblümt ftellen konnte, ander:
ſeits aber auf die gerichtliche Entwidlung feines Reiches mehr ſich
einzulaffen. Wollen wir den dem dritten Evangeliſten eigentüm-
Iihen Theil (Kap. 10—18) hier hereinnehmen, fo werden wir
fagen dürfen, daß diefe gerichtliche Seite fih ausſpricht zunächſt
in ber Ankündigung, daß die Heiden an Stelle Israels gefekt
werden — bis endlich die Kataftrophe über Israel, die Wieber-
kunft des Herrn u. f. w., beitimmt ausgefprodhen wird. In ben.
hierher gehörigen Reden in der ganzen Auffaffung des Reiches als
eines auch in äußerlicher Herrlichkeit erjcheinenden, in Neben, die
doch nur die concretere Ausgeftaltung der ſchon in der Bergrede
und den Gleichniffen gemachten Andeutungen find, dürfte fich dod)
keinerlei Widerfpruh wider das Wejen des Reiches, wie es nad)
feinem inneren Gehalt urfprünglich charakterifirt wurde, finden.
Dber follte e8 ein Widerfpruch fein, daß das Kindfchaftsverhält-
prebigt fe. Durch diefe Auseinanberfegung dürfte es als gerechtfertigt
erfcheinen, wenn auf die Weiffenbach' ſche Darftellung im Eontert nicht
öfter Rüdficht genommen ift.
lieber bie Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 447
nis zu Gott auch in dem ungetrübten äußeren Genuß deſſen,
womit die Gnade des Vaters die Kinder erfreut, fich fpiegeln ſoll!
Sollte e8 ein Widerfprud fein, daß die innere Scheidung von dem
Weltweſen fih auch endlih in einer äußeren Abfchetdung fpiegeln
fol? Mit all? den eſchatologiſchen Reden nimmt der Herr doch
fein Jota von dem zurück, was er liber die geiftlichen Güter, über
den Demutögang feines Reiches gejagt. Höchſtens könnte man
fragen, ob denn die Zufammenfaffung von Weltende und Gericht
über Israel mit den Gleichniſſen, welche von einem langfamen
Gang des Neiches in der Welt reden, verträglich ſei. Aber es
darf zur Begründung der Anſchauung, daß doch Bier eine Unflar-
beit feitens der Redaction diefer Neden bei Matthäus vorliegt,
darauf bingewiefen werden, daß eben in diefem efchatologifchen
Theil der Reichspredigt doch wieber für den Weltgang des Reiches
Raum gelaffen ift (vgl. Matth. 22, 10. 26, 47) Wir
glauben, daß eine Auffaffung des Ganges der Neichepredigt, wie
wir fie im Obigen geltend zu machen fuchten, am ungezwungenften
ohne kritiſche Gewaltthätigleiten fih an das vorliegende Quellen⸗
material anfchließt, und daß, wenn man nicht Tünftlich erft Wider⸗
ſprüche fchafft, die Vorausfegung, daß die drei, freilich fich Teicht
erfennbar madenden Theile der Reichspredigt ohne Schwierigkeit
als organische Theile eines Ganzen erfannt werden, das von An-
fang an in dem Bewußtſein des Herrn fertig daftand.
War dem aber alfo, dann kann auch der Herr über feine
eigene Perſon, über feine eigene Würde nicht im unflaren gemejen
fein, wie wir glauben gezeigt zu haben. Und indirect bat ja der
Herr von Anfang an deutlih genug auch dem Volle es nahe-
gelegt, daß fte feines andern zu warten haben.
Matthäus ftellt die Bergpredigt voran, und es Tann ja nicht
dem geringften Zweifel unterliegen, daß, der fi) dem Mofe als
ebenbürtig gegenüberftellt, nur der Meſſias fein Tann. Bei Marfus
leſen wir ſchon im erften Kapitel, daß wenigftens ein unfauberer
Geift ihn als den Heiligen ausruft (Mark. 24, 25); im zweiten
Kapitel übt der Herr bie Prärogative der Siündenvergebung, nennt
ih den Bräutigam u. f. w. Lukas ftellt befanntlih den Auftritt
in Näzaret voran, jenen Auftritt, zu dem er den erften Anlaß
448 Schmidt
gegeben durch die Predigt von der Erzählung einer meifianifchen
Stelle des Alten Teftaments. In Betreff des johanneiſchen Evange-
liums bedarf es nicht einmal einer Erinnerung, daß hier das
Meffiasbemußtfein von Anfang an fertig if. Welcher Relation
man folgen will, immer wird man zugeftehen müſſen, daß indirect
wenigftens der Herr von Anfang an meiftanifche Anſprüche machte.
Oder hält man dafür, daß die eigentliche Antrittsprebigt uns über⸗
haupt nicht erhalten fei, fo wird man doch immerhin fein Recht
haben, aus eigener Phantafie herans fid) eine von den eigenen
Meſſiasanſprüchen abfehende Probepredigt zu conftruiren. Dazu
erfcheint der Menſchenſohn fon von Anfang an, dazu der Vater-
name Gottes nicht al8 ein ihm und allen andern gleich geltender,
fondern von Anfang an in feiner fpeciflihen Geltung für ihn.
Wir behaupten alfo, daß ber Herr von dem Angenblid an,
da er das Reich Gottes zu verfündigen begann, fi) auch über den
wefentlihen Gang besjelben und damit über feine eigene Stellung
zu demfelben Har geweſen ift; dann kann ſich aber auch fein meffia-
niſches Selbftbewußtfein nicht erft Im Laufe feines Berufslebens
entwicelt haben. Er Tann nicht gemeint geweſen fein, durch
Hineinwerfimg etliher neuer Ideen in das Volt Thon feinem
meffianifchen Beruf genuggethan zu haben, fo daß er erit fpäter
feine Berfon zum Mittelpunkt für eine Gemeinde gemadt und erft
noch fpäter zu dem Glauben gelommen wäre, daB er in theofratifcher
Herrlichkeit wieder tommen werde. Man mag über die Verfnu⸗
Hımgsgeichichte denfen, wie man will, die Erinnerung, baß der
Herr vor Antritt feines Amtes fchon ſich innerlich auseinanderge-
fett habe mit den Anfprüchen und Erwartungen des Volkes von
einem Meifias, mit ben Mögfichfeiten zur Realifirung feiner eigenen
Aufgabe, wird als eine Hiftorifch richtige fih immer bewähren.
Damit ift ja nicht ausgeſchloſſen, daR auch die klarſte Einficht des
Herren ji unter den Eindrüden des wirklichen Lebens, unter ben
Erfahrungen, die er zu machen Hatte, immer wieder neu bewähren,
fagen wir noch mehr, immer wieder neu errungen werden mußte.
Mit diefem letzteren Zugeſtändnis aber ftreitet e8 nicht, werm wir
leugnen, daß erft von außen her ihm ber Meſſiasgedanke entgegen-
getragen worden, daß erft unter dem Eindrud der Erfolge und
Ueber die Grenzen ber Anfgabe eines Lebens Jeſu. 449
Miserfolge er felbft fich zu feiner hohen Meinung von fich felbft
gedrängt gefehen Habe. ine ſolche Sicherheit über den Gang
jeine® Reiches und Über feine eigene Zukunft macht auch die Ge⸗
ſchichte felbft noch nicht dofetifh. Die concrete Ausfüllung des
gegebenen Rahmens war ja dadurch nicht überflüßig.
Dies gilt insbefondere auch bezüglich des Punktes in dem
meſſianiſchen Bewußtfein des Herrn, der am eheiten als ein erſt
unter den Eindrücken von außen entftandener gelten konnte — in
Bezug auf den Gedanken bes Leidens und Sterbens. Die
beftimmte Firirung des Zettpunftes, von dem an der Herr feinen
Füngern von dem bevorftehenden Leidendgang geredet habe, weift
ja darauf hin, daB ihm felbft erft angefichts des Wiberftandes,
ben er fand, dies Ende Kar geworden fe. Und gewiß wird man
zugeben müfjen, daß die Meifiasfrage des Herrn ebenfo gut, wie
bie Leidensverfündigung in einer beftimmten, im einzelnen nicht
gerade jo vorhergefehenen Wendung feines Lebensganges ihren
Grund Hatte. Aber ſchließt das die allgemeine, von Anfang an
feftftehende Erkenntnis aus, daß zu feinem Berufe das Leiden
gehöre? Wenn er in der VBergpredigt von ben Verfolgungen um
feinetwillen redet, fett das nicht voraus, daß er fich bewußt war,
felbft auch ein Gegenftand der Verfolgung fein zu müffen, mern
er in der Antwort an bie Johannesjünger von der Hinwegnahme
de8 Bräutigams vedet, weift das nicht auf ein Bewußtſein von
dem Ausgang feines Berufslebens hin? Noch beftimmter als
die Bergpredigt weiſt die Inſtructionsrede (Matth. 10) auf die
Berfolgungen hin, und die Erzählung von feinen Erfahrungen in
Nazaret (Luk. 4) ift ja fo zu fagen die Vorausbarftellung feines
ganzen Berufsganges. Es dürfte darum die Anficht kaum durch⸗
führbar ſein, daß wenigſtens in dieſer Beziehung eine weſentliche
Beränderung in feinen Anſchauungen vom Kommen des Himmel⸗
reiches vorgegangen ſei. Sollte er in der That erwartet haben,
daß feine Himmelreichspredigt widerſtandsloſen Anklang finden,
und im kampflos ein Thron zufallen werde? Sekte nicht der
Nmne vos sod avdomrsov eigentlich von Anfang an den Gedanken
eines Durciganges durch den Tod vorans, ober folite der Herr
angenommen haben, daß er geradezu mur von der Erde zum
\
450 Schmidt
Himmel erhoben werde, um von oben wieberzufommen? Gewiß
ſchloß die Erkenntnis der Nothwendigleit des Leidens und Sterbens
nicht aus, daß er ben Entfchluß dazu immer wieder neu fallen
und behaupten mußte, aber jo wenig die Scene in Gethjemane an
der Sicherheit des Ergebnifjes etwas zu ändern vermag, daß der
Herr die Nothwendigfeit des Todes ſchon lange vorher ausgeſprochen,
fo wenig ftehen die Andeutungen von früheren Kämpfen gegen die
Schwachheit der Menfchennatur im Widerſpruch mit der von An
fang an feftftehenden Weberzeugung, daß fein Beruf ihn dem Tode
entgegenführe. Daß mit der Einfiht in die Nothwendigkeit des
Sterben noch feineswegs auch das Vorauswiſſen der Einzelheiten
gegeben fein mußte, liegt auf der Hand. In welchem Umfang
fih der Widerftand gegen ihn entwicdeln werbe, welche Theile bes
Volkes fih ihm am eheften zuwenden, in welchen Gegenden er am
meijten Anklang finden werde, wie lange die Frift feiner Wirkſam⸗
feit dauern werde — das und noch manches andere konnte ihm
allerdingd erft in der Erfahrung Far werden. Ein Schwanten
dagegen in dem Maße, wie e8 Keim vorausfeßt, wenn er ben
Rückzug des Herrn nah Cäſarea Philippi geradezu als einen
Fluchtweg bezeichnet, würbe mit der fonft fo einmüthig bezeugten
Klarheit und Entfchiedenheit des Herrn ftreiten. Es dürfte über⸗
haupt nicht ganz leicht fein, aus den vorliegenden Quellen heraus
im einzelnen zu beftimmen, wie weit die Anjchauungen des Herrn
und die Wege, welche er einfchlug, von außen her beeinflußt waren.
So jehr auf der einen Seite die echt menjchliche Art des Herrn,
in der er diefe Eindrücke wiedergibt, zu dem Verſuche reizt, aud)
die inneren Vorgänge im Seelenleben des Herren ſich ganz nad
den Maßen unferes empirischen Bewußtſeins auszumalen, fo tritt
do auf der anderen Seite immer wieder diefe abjolute Sicher⸗
heit und Selbftgewißheit, diefer ohne alle Fünftliche Geſchraubtheit
doch felbftverftändliche Anſpruch auf unbedingte Autorität fo unge
fucht hervor, daß man ohne Gewaltthat an den Quellen immer
wieder an ber Durchführung eines „rein gefchichtlichen“ Verfahrens
irre werden muß, wenn man nämlich als unbebingte Voransfegung
für ein folh „rein gefchichtliches" Verfahren fefthält, dag alle
Ausfagen des Herrn fi auf ein, wenn auch noch fo ideal gerich⸗
Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 451
tetes, doch im keinerlei wefentlicher Differenz von dem unfrigen
ftehendes Geiftesleben reduciren laſſen müſſen: Iſt man entfchloffen,
das letztere um jeden Preis zu verſuchen, jo follte man auch nicht
mehr fo ängſtlich davor zurüdjchreden, ihn auf das Niveau empi-
rifher Sittlichkeit herabzudrücken. Muß man mit Hafe alle
Augenblide den Herrn mit Sofrates zufammenftelien, ift zwifchen
beiten Männern kein Wefens-, fondern nur ein Stufenunterfchied,
fo ſei man auch nicht unbillig und wage e8, dem Sokrates ben
Preis in der Beicheidenheit zu geben. Wenn uns die zahlreichen
Stellen auch in den Synoptifern, in welchen ber Herr direct und
Indirect an feine Perfon und das Verhältnis zu ihr das Heil
bindet, nicht widerlich erjcheinen, fo gefchieht dies nur, weil auch
den kritiſchen Geiftern noch der Reſpect vor der inzigfeit des
Herrn in metaphufifdem Sinne innemohnt. Streicht - man die
letztere bis auf die legte Spur hinweg, jo wird man denen, welche,
um mit Strauß zu reden, nicht in der Illuſion aufgewachfen
find, auch nicht wehren können, daß fie diefe Zufammenfaifung
von Perfon und Sache bedenflih finden und den Wunfch Hegen,
der Herr möchte lieber felbit beides getrennt und fich zufrieden
gegeben Haben, wenn nur feine Ideen auferftehen. Wir halten es
für unmöglih, die Entftehung diefes hohen Selbftbewußtjeins auf
rein menfchlicher Grundlage zu erklären, ohne den Schatten fittlicher
Schwäche auf den Herrn zu werfen. Wir können aber auch nicht
zugeftehen, daß, ſelbſt wer folche nicht abweiſen wollte, pſychologiſch
damit ganz zu Stande käme.
Ja, wenn der Herr überrafchende Erfolge erzielt, menſchlich
ftart in die Augen fallende Leiftungen aufzumeifen gehabt hätte, —
dann ließe fich einigermaßen eine folche Selbftüberhebung erklären ;
aber während er von Anfang an mit feinem für wie fittlichen
Mängel feines Volkes und feiner Zeit fo feharfen Auge auch die
Unlauterkeit der vielen erkennt, die fi um ihn drängen, während
er von Anfang an nur von wenigen weiß, die in's Himmelreich
eingehen, von Anfang an fieht, welche innerlichen Hinderniffe der
Aufnahme feines Wortes fich entgegenftellen, foll er dennoch zu
immer höheren Ausjagen über feine Berfon fortgefchritten fein,
ohne daß uns halbwegs Spuren des Schwanfens, des Verzagens
Theol. Stub. Jahrg. 1878. 80
452 Schmidt
an feiner eigenen PBerfon wären aufbehalten worden. Oder will
man in dem großen Sohnesbekenntnis eine folche Spur finden, jo
bat man auch unmittelbar daneben die gewaltigfte Erhebung aus
einer augenbliclichen Verdunkelung. Will man die Scene in Geh:
femane zum Beweiſe aufführen, jo darf man nicht vergeffen,
dag unter allem Zagen doch immer das Bewußtſein des Berufes
feſt bleibt. |
Nimmt man zu den unmittelbaren Aeußerungen feines Selbit-
bewußtfeins noch die Thaten Hinzu, fo Tann diefer Eindrud, daß
wir es bier mit einer Perjönlichkeit zu thun haben, deren inneres
Leben binausragt über die Schranken des gewöhnlichen menschlichen,
nur verftärkt werden. Wllfeitig tft wohl heutzutage die Verrichtung
von Wundern durch den Herren zugegeben. Sucht die „rein ger
ſchichtliche“ Forſchung auch das Gebiet der Wunder jehr einzus
ichränfen und auf pſychiſche Mittelglieder zu redneiren, fo därfte
doch nicht zur leugnen fein, daß der Herr felbft von ſolchen pſycho⸗
logischen Wundern nichts wußte. Wo er Wunder thut, ba thnt
er’s im Bewußtfein abfoluter Sicherheit des Erfolges. Er mag
es ablehnen, ein Wunder zu thun; aber wo er wirklich eine Bitte
gewährt, da wird fie auch von dem Heren in unbedingter Weiſe
gewährt. Nun verfuche man zu erklären, wie der Herr, ohne mit
diefer feiner Gewißhelt zu Schanben zu werden, in allen folchen
Fällen zu Stande fam. Soll bier der Zufall gewaltet Baben,
oder find uns eben die Bälle des Mislingens nicht aufgezäglt und
bat er, wie ein Wunderdoctor neuerer Zeit, für ſolches Mislingen
immer wieder gute Ausreden gefunden? Man ftelle ſich vor die
Confequenzen, die für umnfere ganze Anſchauung von dem Herrn
eine ſolche Selbfttäufchung gehabt haben müßte. Er flieht in ben
Wandern ein Zeichen feiner meſſianiſchen Werke (Matth. 11, 5.
12, 28), und feine ganze Heilfunft bejteht in dem gewaltigen Ein-
druck, den er auf Kranke madt, ein Eindrud, der doch der Natur
dee Sache nad in vielen Fällen feine Wirkung verfagen müßte.
Mir können uns ganz wohl denken, daß das Voll über einzelnen
Erfolgen viele Nichterfolge vergaß; aber daß er felbft burdh bie
fegteren nicht irre wurde, das ift ebenfo wenig zu erklären, wie
das Wunder an dem Ausfägigen, dad Keim, Wittihen u. a.
Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. ABB
einfah für eine Erklärung der ftattgefundenen Heilung erklären.
Auf die Gefahr Hin, darüber für einen Mann von grobem Ber-
ftändnis erklärt zu werden, behaupten wir, daß eine ſolche Hand-
lungsweiſe des Herrn, wie fie diefe Auslegung ihm zufchreibt, von
einem gemeinen Humbug nicht mehr zu unterjcheiden iſt. Hatte
der Herr da8 DBewußtfein, daß der Menſch ſchon vorher rein
geworden, fo durfte er nicht eine Antwort geben, die immer noch
die Anficht offen ließ, als fei er durch feine That rein geworben.
Da die Wunderfrage nicht in den Kreis unferer Unterfuchung
gehört, fo mag e8 genügen, daran zu erinnern, daß Wunder, wie
die von dem Gichtbrücdhigen und die Speifung, wol hinmwegdecretirt,
aber nimmermehr auf rein Tritifchem Wege befeitigt werben können.
Wer aus dogmatifchen Gründen folche Wunder nicht zugeben kann,
wird uatürlid) auch durch den ftricteften Nachweis, daß die früheften
Quellen eine folhe Erzählung ſchon haben, zu feiner anderen An-
fiht gebracht werden, — nur gebe man ſich dann nicht den Anfchein,
als hätte man nur Fritifche Bedenken, als wäre e8 nur die exacte
Forſchung, welche zu negativen Nefultaten führe. Daß auf einem
Punkte die eracte Forſchung ohne dogmatischen Machtſpruch nichte
auszurichten vermag, nämlich bezüglich der Auferftehung des Herrn,
dürfte auch vonfeiten der Leugner diefer Thatſache im ganzen
zugeftanden fein. Auch Holften begehrt ja nur das Zugeſtänd⸗
nis vonfeiten der pofitiven Xheologie, daß die Vifionshypothefe
im Stande fei, die unlengbaren Thatſachen zu erklären, nicht daß
die Geſchichte felbft auf diefe Hypotheſe führe. Ich habe gewagt,
ben erfteren Sag in meiner Abhandlung über die Auferftehung
(Jahrb. f. d. Theol., Bd. XVII, ©. 412ff.) in Zweifel zu
ziehen, und glaube noch, daß bie Schwierigkeiten, welche fih vom
geſchichtlichen Standpunkte aus der Vifionshypothefe entgegenftellen,
zu groß find, als daß diefelbe behaupten könnte, eine genligende
Erflärung darzubieten; ich habe insbefondere aber auch in dem
zweiten Theil diefer Abhandlung ausgeführt, wie die Thatfache der
Auferftehung felbft in der Geftalt, bie ihr Keim gibt, in der fie
der Bifionshypothefe möglichſt angenähert ift, bezüglich des Selbft-
bewußtjeins des Herren, die wichtigften Schlüffe fordert (a. a. O.,
Bd. XVII, ©. 98ff.). Auch wenn man die Tetjefte metaphyſiſche
80 *
5° Schmidt
Grundlage des Auferftehungsglaubens zuläßt, wird man nicht mehr
im Stande fein, gegen jede eigentümfliche metaphyſiſche Grundlage
des Selbftbewußtfeins des Herrn zu proteftiren. Muß man aber
in diefer Beziehung Zugeftändnijfe machen, fo wird man aud nicht
mehr in der Lage fein, aus dem Gange feines Lebens das Werden
feines mefjlanifchen Bewußtſeins zu erflären. So ſehr die 'ſynop⸗
tiſchen Berichte nicht nur, ſondern ſelbſt die johanneifchen uns
darüber Gewißheit gegeben, daß die Analogieen empiriſch⸗menſchlichen
Gemüthölebens ſich aud) bei dem Herrn finden, daß die Erfahrungen
des Lebens fein Willen bereicherten, feinem Willen Aufgaben ftellten,
die er im Ernfte fittlicher Entfcheidung löfen mußte, die Grund»
züge feines fittlichen Weſens erjcheinen ebenfo fertig, wie das eigen»
tümliche Bewußtſein über fein eigenes Weſen — und bie Offen
barungen biejes Selbftbewußtfeins und dieſes fittlichen Lebens weifen
auf eine Baſis Hin, die mit den Grundlagen unferes geiftigen
Lebens incommenfurabel ift.
Ein Leben Jeſu hat gewiß immer nod eine ſchöne und Lohnende
Aufgabe, wenn es fich darauf bejchräntt, den äußeren Gang dieſer
Geſchichte ohmegleihen zu ordnen, den Fortfchritt in feiner Selbft-
offenbarung und in der Entwidlung der Lehre darzuftellen, die
Verhältniſſe der Anziehung und Abftoßung, in welchen wir die Par-
teien und Gruppen feines Volles zu ihm befangen fehen, zu unters
juhen. Es bietet einen eigenen Heiz, den Andeutungen nachzu⸗
gehen, die und über das Maß von Sympathie oder Feindſchaft
Auffchluß geben, das wir bei Saliläern und Judäern, Samaritern
und Zöllnern, bei Pharifäern und Sadducdern nad und nad fi
bilden fehen. Die Fragen über den Grund und Anlaß ber Feind
Ihaft, die einen fo blutigen Ausgang berbeiführte, über bie Art,
wie der Herr dagegen reagirte, wie über mande noch mehr äußer⸗
liche Lebensumftände, Über die Zeit des Wirken u. ſ. w. werden
immer einen bedeutfamen Vorwurf für das Leben Yefıı abgeben;
. aber die Aufgabe, die fonft einem biographifchen Werke geftelit ift,
muß für ein Leben unlösbar bleiben angefichts des „ Niemand
fennt den Sohn“; damit ift dann freilich ausgeſprochen, daß auch
jene andern Aufgaben, welche einem Leben Jeſu noch bleiben müſſen,
wol kaum ganz reinlich zu löfen find, da ihre Erledigung vielfach
Ueber die, Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 455
eben bavon abhängen würbe, daß uns bie Maßftäbe für das in-
wendige Leben des Herrn in unferem eigenen Bewußtfein mit ge⸗
nügender Sicherheit gegeben wären. Wir Haben verfucht zu er-
weifen, daß eine Behandlung des Lebens Jeſu, die nicht ihre dog⸗
matifchen Vorausfegungen den Quellen um jeden Preis aufdrängen
will, nothwendig auf verfchiebene non liquet ftoßen muß. Es ift
noch nicht an dem, daß das Leben Jeſu die Ehriftologie erjegen
fünnte oder daß wir mit H. Schult in feiner befannten Abhand⸗
fung (Jahrb. f. d. Theol. XIX, 1) zu einem gewifjen Neftoria-
nismus ‚bezüglich des Verhältniffes des dogmatifchen Chriftus zu
dem Jeſus der „exacten“ Forfchung uns bequemen müßten. Mit
vollftem Recht Hat Dorner in der Kritik, welche er der Schulz’fchen
Abhandlung zu Theil werden Tieß, gegen den Gebraud des Wortes
„exact“ proteftirt.- Die Gefchichtswiffenfchaft Tann Höchftens für
einen ihrer Theile auf den Namen einer „exacten“ Anſpruch er-
heben. Am wenigften aber kann auf dem Boden der Religion, bei
Darftellung der religiöfen Perfünlichkeit je von Eractheit die Rede
fein. Wie es mit diefer Exactheit beftellt ift, das zeigt ein Blick
in die Literatur diefer Disciplin. Auch unfere übrigen Eröterungen
werden wenigftens jo viel gezeigt haben, daß gar feine Ausficht vor-
handen ift, jemalen auf Grund einer unbefangenen Quellentritif
ein Lebensbild des Herrn zu entwerfen, das in feinen wefentlichen
Zügen auf unbedingte Zuftimmung aller derer Anſpruch machen könnte,
die überhaupt hiftorifches Urtheil und Hiftorische Gewiſſenhaftigkeit haben.
Wer zum voraus durch den Begriff der Gefchichte jeden übermenſch⸗
lichen Factor für ausgefchloffen erachtet, fieht fich bei diefer Ge⸗
fhichte zu Combinationen genöthigt, für die er in den von der gegen-
theiligen Vorausſetzung ausgehenden Quellen auf Feine ficheren An⸗
haltspunkte mehr rechnen kann. Wie follen denn berlei Combina⸗
tionen je den Charakter wirklich zwingender, überzeugender Geſchichts⸗
darftellung annehmen? Wem diefe Vorausfekung mindeftend noch
problematifch iſt, wer wirklich erſt aus den gefchichtlichen Zeugniffen
felbft über das eigentliche Wefen des Herren Aufflärung zu gewinnen
fucht, wird von ſelbſt ſich zu der Erkenntnis getrieben finden, daß
das Leben Jeſu an der Chriftologie eine Ergänzung finden muß,
daß ein Berjtändnis des Weſens des Herrn, fo weit e8 überhaupt
456 Schmidt
möglich ift, erft aus dem Ganzen der von feiner Offenbarung ausgeben»
den Weltanfchauung zu gewinnen if. Wenn Schulz; die beiden
Wilfenfchaften Dogmatif und Leben Jeſu ihre Arbeit gefondert will
thun laſſen, um, wenn jede fertig ift, an ihrem Theil Verbindungs-
füden zu fuchen, behaupten wir dagegen auf Grund der biöherigen
Leiftungen ber Tetteren Disciplin, daß diefelbe mit ihrer Aufgabe
gar nie zum Abſchluß kommen kann, fondern von felbft der Dogmatil
da8 Gebiet zur Arbeit frei laffen, ja fie zur Hülfe rufen muß.
Umgelehrt Hat die Dogmatif ihr Maß an der Geſchichte. Wie
die Chriftologie nirgends apriorifch entftanden ift und man ganz
fiher Jagen kann, daß die zahlreichen philofophifchen Chriftologien,
welche irgendwie den Gedanken eines menjchgewordenen Gottesfohnes
als an fih für unfer Denken nothwendig zu erreichen ſuchen von
der alten Gnojis an biß auf die modernfte Philojophie, doch indirect
iedenfall® der Erfahrung entitammen, jo ift umgekehrt jedenfalls
jede Chriftologie chriftliher Dogmatik zum voraus verurtbeilt,
welche mit dem Bild des Menfchenfohns in der Schrift nicht ftimmt.
An diefer gefchichtlichen Bezeugung muß fie ihr Maß und ihre
Controle finden.
Sreilih läge e8 nun nahe, beide Disciplinen wieder fo zu com⸗
biniren, daß man, nachdem nun der dogmatifche Chriftus confiruirt
iſt, verſuchte, mit Hülfe diefer Conftruction das Leben Jeſu zu
vollenden, die Lüden, welce die bloße Geſchichtsdarſtellung laffen
mußte, zu ergänzen und fo zu fagen progreijiv zu verfahren, mit
anderen Worten nach johanneifchem Typus, aber dod) den modernen
Anforderungen an eine biographifche Darftellung gerecht werdend,
das Leben des Herrn zu erzählen. Wir haben das hic Rhodus
hic salta in dieſer Beziehung ſchon öfters an die pofitive Seite
der Theologie richten hören. Seid ihr unzufrieden — jcheint mit
Necht gefagt werden zu können — mit den Darjtellungen, welche von
der DVorausfegung eines ausſchließlich menschlichen Weſens des
Herrn auögehen, fo verſuchet doch mit eurem dogmatischen Chriſtus
die Probleme zu löfen und vom Rogosbewußtjein aus die ganze evange⸗
liſche Geſchichte darzuftellen. Diefe Aufforderung wäre gewiß billig,
wenn es überhaupt die Aufgabe der Dogmatik fein könnte, das Weſen
des Herrn zu einer wirklich anſchaulichen Erfenutnis zu bringen.
Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jeſu. 487
Aber fo wenig alle Offenbarung Gottes uns eine wirklich anſchau⸗
liche Erkenntnis des Weſens Gottes geben kann, fo gewiß wir nad)
des Apojteld Wort eben nur Kinder find, bie kindiſch von den
himmlischen Dingen reden, fo gewiß ſoll fi) aud) feine Dogmatik
anmaßen, das Selbftbewußtfein des Herrn ganz klar zu machen.
Ihre Aufgabe wird die mehr negative fein, folche Vorftellungen
‚ amd Confequenzen abzuwehren. Sie muß froh fein, wenn es ihr
gelingt, etliche Grundlinien zu ziehen, im übrigen gilt auch fir den,
welcher den Geift Ehrifti hat, das „Niemaub kennet den Sohn“ noch
in gewilfem Maße. Ihn fehen, wie er ift, das ift nach der Schrift
die Hoffnung zukünftiger Vollendung. Darum Halten wir zum
voraus alle Verfuche, das Selbſtbewußtſein des dogmatischen Chriſtus
in concreter Weiſe in bie Gefchichte einzuführen, für ebenfo unbe»
friedigend als die entgegengefeßten Verſuche, das chriftologifche Dogma
auf dem Wege der Gefchichte überhaupt zu eliminiren. Es würde
eigentlich zur Erledigung unſeres Themas eine Kritit der Dar⸗
ftellungen de Leben Jeſu auch gehören, welche es verfucht Haben,
vom Boden pofitiver Dogmatit aus die Entfaltung des Selbſtbe⸗
wußtjeins des Herrn uns zu ſchildern. Wenn wir auf eine Kritik
verzichten, jo geſchieht es nicht aus principiellen Gründen, fondern
weil Zeit und Raum diesmal nicht reichen. Wir fürchten, daß bie
Behauptung, dieſe Darftellungen entbehren ber Friſche der An⸗
fhauung und ftellen ſich als künftliche Combinationen dar, nur zuviel
Zuftimmung finden wird. Wir glauben, daß die pofitive Theologie
alles geleiftet hat, was man von ihr verlangen kann, wenn es ihr
gelingt, unter dem ausdrücdlichen Zugeitändnie, daß ein Leben Jeſu
ein Zorfo bleiben müſſe, die Gejchichte aus den vorhandenen Quellen
in anſchaulicher Weife darzuftellen und überall die Punkte zu be»
zeichnen, wo die Dogmatik ihre Arbeit beginnen darf und muß.
458 j Goergens
2.
Das altteftamentlie Ophir ').
Bon
Dr. Hoergens,
Profeflor in Bern.
Die Ophirfrage Hat das eigentümliche Schidfal, daß, wiewol
die verjchiedenften Hypotheſen aufgeftellt worden, um eine den bibli-
ihen Daten möglichſt Rechnung tragende Löſung herbeizuführen,
doch ein jeder neuer derartiger Verfuch keineswegs alljeitig befriedigt
bat, er vielmehr neue Zweifel und Bedenken in dem Lefer anregt.
Bon den älteren Vermuthungen abgefehen, die meiltens ohne Rück⸗
fiht auf die wirkliche Sachlage nur entfernte Orte in's Auge faßten,
jo daß Columbus fogar in Haiti das altteftamentlihe Goldland ent»
deckt zu haben glaubte, laſſen fich die Mehrzahl der neueren An⸗
jichten hauptſächlich nach drei verfchiedenen Geftchtspunften zuſammen⸗
faſſen. Von den Angaben der Königsbücher und der Chronik aus⸗
gehend, finden wir, daß 1Kön. 9, 26—28 und 2Chron. 8, 17—18,
ſowie 1Kön. 10, 11 vgl. 2Chron. 9, 10. 9, 22 fih inhaltlich
im allgemeinen decken, wobei die eingefchlichene Zifferdifferenz ſchon
von Keil als eine Verwechslung von 3 und > erflärt worden.
Die 2Chron. 8, 18 erwähnte Abfendung der Schiffe Hirams gibt
einer mehrfachen Deutung Raum, indem biefelben von anderen
phöniziichen Handelsftationen in den füdlichen Gewäſſern, 3. B. dem
perfiihen Buſen aus, nad) Eziongeber beorbdert oder in zerlegten
Zheilen aus dem Weitmeer über die Tandenge nad) dem roten
Meere transportirt werden fonnten, wie ja ſchon Alerander Schiffs:
1) In Folge eines Misverftändniffes wurde ein kürzerer Auszug diejet
Artilele in der Revue de Thöologie et de Philosophie von
MM. Dandiran u. Astie, Lausanne 1878 (Janvier) ſchon abgebrudt,
bevor der Originalauffag in den Studien und Kritifen veröffentlicht
war. Der Berfaffer.
Das altteftamentliche Ophir. 459
bauholz zur Belämpfung der Gerrhäer von Phönizien nad) Tapſacus
hatte bringen laffen. (Bol. Keil's Biblifchen Commentar, Bücher
der Kön., S. 111 Anmerkung.) Eine größere Berfchiedenheit tritt
ſchon zwifchen 1 Kön.10, 22 und 2 Chron. 9, 21 hervor, indem neben
dem Zarfisihiff letztere Stelle noch Tarſis als Ziel der Fahrt
angibt. Der Ausdrud Tarftsichiff, eigentlich ein turbitanifches
Fahrzeug, wurde fpäter als technifche Bezeichnung nur Schiffen
größeren Tonnengehaltes beigelegt (Jeſ. 2, 16. Pf. 48, 8. 1 Kön.
22, 24, wo die Zarfisfchiffe ald nach Ophir fegelnd gemeldet
werden; Movers, Phönizifhe Alter. III, S. 164). Der
Ehronift Hat diefen Ausdrud, den die griechifche Ueberjegung mit
rrAoiov Iakaoans umjchrieb, mit dem Zufage wunn mob er-
fäutert und neben Ophir das befannte Tarſis oder Tarteſſus in
Spanien ald Neifeziel aufgebracht, ein Irrtum — eines ähnlichen
machte fich der arabifche Ueberfeger durch die Note el hind ſchuldig —,
der wol dem fpäten Urfprung der Paralip. feine Entftehung ver⸗
dankt. Die Annahme eines” europäifchen Tarteſſus als Ziel der
Ophirfahrer mußte den gefchichtlichen Charakter des biblischen Be⸗
richtes in zweifelhaften Lichte erfcheinen Taffen; daher an gleichnamige
Drte in den füdlichen Gewäſſern, 3. B. das PVorgebirge Tarſis
im perfifchen Bufen, gedacht wurde, indes Quatremère dem Worte
Tarſis die Bedeutung eines lieu éloigné unterzufchieben fuchte.
Seiner Anfiht nad) Hätten die Phönizier in den Anfüngen der
Schiffahrt zuerft gegen das bekannte Zarfis in Eificten, dann mit
der Entwiclung der Nautif weitere Rreife bis Tunis in Afrika
ziehend, zulett gegen Tarteſſus Hin die Grenzlinien ihrer Seefahrten
gehabt (Quatremire, Inscript. de l’ac., T. XV, P. II, p.373).
Die dee eines Goldlandes iſt keineswegs dem Altertume fremd;
merfwürdigerweife verlegen die Schriftfteller es übereinſtimmend
an die äußerſte Grenze bes Oſtens. Chryſe und Argyre, die beiden
Gold⸗ und Silberinfeln, liegen über die Indusmündung hinaus
(Plin. H.n. VI, 23; Solin. LXV). Mela (lib. III) verlegt erftere
gegenüber dem Vorgebirge Tamos, Ießtere in der Richtung der
Gangesmündung. Btolemäos Tennt Chryfe vom Feitland füdlich
und citirt fonft noch die goldene Cherfonnefos (Malakka). Die
1Kön. 10, 11 und 2Chron. 9, 10 gemachte Angabe, derzufolge
460 - Goergens
die Seereiſe drei Jahre dauerte, trug, neben dem, daß man gerne
das Goldland in unnahbare Ferne rückte, um jede Controle unmög⸗
lich zu machen, dazu bei, Ophir an die äußerſte Grenze der damals
belannten Länder zu verlegen. Will man gerne den drei Jahren
die elaſtiſche Deutung innerhalb drei Jahren geben, ſo erübrigt den⸗
noch eine Menge Zeit, weil ein von dem idumäiſchen Hafen
auslaufendes Schiff, einen nicht zu langen Aufenthalt mit einge⸗
rechnet, kein volles Jahr bedurfte zur Hin⸗ und Rückfahrt nach
einem beliebigen Hafen der perſiſchen oder indiſchen Küſte.
Prüfen wir nun die aufgeſtellten Verſuche näher, ſo gilt die
von Quatremere und Movers namentlich vertretene Hypotheſe
(ſonſt noch Bruce, d'Anville, Robertſon, Guillain, Mauch), die
das Ophir der Alexandriner in Sofala Ki am der oſtafrikaniſchen
Küfte fucht, jegt al aufgegeben. Für Indien ſprach die dreijährige
Fahrt, die indifchen Bezeichnungen der importirten Sandelsartifel,
endlich die Auffaffung der LXX, die anftatt Ophir (nur Gen. 10, 29
Ovgsip) fonft Suysipa’, Zovpie, Zovgeip, Zugipa’ u. ſ. f. jegen,
das als Foptifche Benennung für Indien gilt; gleihjam unterftütt
wird diefe Meinung noch durch einen von Ptolemäus (7, 1—6)
eitirten an der Küfte gelegenen gleihnamigen Ort Zovrrage, den
der Peripl. mar. erythr. Arr., p. 30 in Ovrnaga wieber
gibt, während Edrifi 5lizw Sofara las. Die arabifchen Ueber:
jeter find durch einfache Zufäge zu Ophir in ef. 13, 12. 1 Kön.
9, 28. 10, 11 el hind, fowie durch ermeiterte Beifügungen
„Ophir Dahlak, das zu Indien gehört“, der gleichen Unfchauung
der Siebenzig beigetreten. Auch Flav. Joſephus (Ant. VIII, 6) läßt
die Leute Salomo’8 verblindet mit den jeefundigen Phöniziern
„nah dem ehemaligen Sophira und dem heutigen fogenannten
Goldlande in Indien Schiffen, um Gold zu holen“, freilich im
Widerfpruche mit einer andern Stelle, wie wir fehen werden. Mit
Recht wendet man dagegen ein, baß das Altertum von einer Golds
ausfuhr aus Indien nichts weiß, daß die Küſte nicht metallreich
it, da die Goldfelder erft gegen Kaſchmir beginnen, und daß Die
Berufung auf die weit landeinwärts wohnenden Abhira nur ale
ein nothdürftiger Behelf erfcheint, der mit nichts bewiefen if. Zus
dem läßt fich nicht errathen, welche Rimefjen außer Sclaven Salomon
Das altteſtamentliche Ophir. 461
hätte den Indiern gegen ihren Goldftaub in die Wagſchale legen
können. Was konnte Paläjtina von Naturprobucten in den Handel
bringen, was Indien, das Gewürzland, nicht in reichliherem Maße
erzeugte. Unmöglich Tonnten die phöniziichen Fabriten und Manu⸗
facturen mit indischen Stoffen concurriren, den feinen baumwollenen
Gewändern und den billigen feidenen Geweben. Die Haupteinfuhr
nad) Indien waren auch noch in fpäterer Zeit Pferde, die von Ormuzd
Kiſch, Aden ober zu Lande über die Keyberpäffe hinbefördert: wurden.
In den Sahrhunderten nach der Hegira, als bie Araber zum zweiten
Male den Welthandel in die Hand nahmen, kauften fie Indiens
Spezereien und Koftbarfeiten mit Gold und Silber.
Dagegen ftimmen die alten Schriftfteller darin überein, dag
der indifche Gewürzbandel den weftlichen Geldmarkt bedeutend er-
leichtere. Strabo (XVII, p. 545), ber in Alerandrien ſich ein
eingehendes Urtheil über den mit Indien betriebenen Handel vers
Ichaffte, gelangte zu dem Wefultate, daß der Export von dort nad)
Aegypten die Einfuhr um ein Bedeutendes überſteige. Plinius
(Hist. nat. VI, 26, 33) beffagt die Abnahme der edleren Metalle,
die vom Handel Indiens abforbirt würden, ein Umſtand, der nad
Zacitu6 (Annal. III, 53) ſchon den Senat zu ernftem Nachdenken
veranlaßt Hatte.
Wenn Herodot (III, 94) die Perſerkönige aus Indien ihre Gold⸗
ſchätze beziehen läßt, fo find feine weiteren Mittheilungen betreffend
die Ameifen, die in der Größe von Hunden Hügel von Goldftaub
aufwerfen, als Fabeln auf die gleiche Quelle zurücdzuführen. Diefe
indiihen Myr meken erleiden eine eigentümliche Metamorphoſe unter
der VBergrößerungsbrille mancher Berichterftatter. Plinius (Hist. nat.
XI, 36) verwies fie in's Kabengefchlecht, die im Winter das Metall
fchlürfen, das fie im Sommer von fid geben. Near (Arr.
Ind. 15) hatte ſich einige Felle zeigen laſſen. Mela (lib. II)
weiß von ihnen als von Hunden über mittlerer Größe zu erzählen,
die nad) Solin (cap. XLIII) Löwentatzen hatten.
Iſt fo Indien, das allgemein für das goldreichſte Land ger
halten wird, in der That aber metalların ift und nur dem Handel
feine Einnahme zuzufchreiben hat, als ein keineswegs glücklich ges
wähltes Ziel der Hiram- Salomonifchen Schiffahrt zu betrachten,
462 Goergens
ſo wird dieſer Löſungsverſuch geradezu als geſcheitert angeſehen
werden müſſen, wenn man bie einer ſolchen Seefahrt entgegenſtehen⸗
den Schwierigkeiten näher in’8 Auge faßt. Mögen auch die Phönizier
bis gegen Ende des zweiten Jahrtauſends v. Chr. eine Reihe von
Stationen im perfifchen Bufen befeffen und badurch vielleicht Fühlung
mit Indien gehabt haben, fo folgt doch daraus noch keineswegs
ein Schluß auf die zweite weftliche Wafferftraße, das rothe Meer.
Leider ift ber ſabäiſche Welthandel, der den Tranfit ber oftafri-
fanifchen, indifchen und arabischen Producte vermittelte, noch zu fehr in
Dunfel gehüllt; nur ſoviel fteht feit, baß fie über das Geheimnis
ihres Monopoles, worin die ganze Schwerkraft des Handels ruhte,
ebenfo eiferfüchtig wachten, wie die Pöner ihre Beziehungen zu den
Cajftteriden, die Portugiefen ihre Colonialausfuhr oder die Holländer
ihren Gewürzkram zu verfchleiern fuchten.
Die verfchrobene geographiſche Vorftellung, die noch Claudius
Ptolemäus von den füdli von Bab el mandeb gelegenen Meeres»
teilen und Ländern Hatte, die Verlängerung des oftafrilanifchen
promontorium gegen Often Hin, die feltfame Configuration, die
er der vorderindiichen Halbinfel gab, die unnatürliche Vergrößerung
von Zaprobane (Eeylon), fowie die.aus feiner Zeichnung hervor-
gehende Geftalt eines mittelländiſchen Binnenmeeres, die er von
dem indiſchen Dcean entwarf, beweifen zur Genüge, wie dürftig zu
feiner Zeit noch die Kenntnis Indiens war: Aleranders Admirale
bezweifelten anfangs no, ob es zu Waffer möglich -fein werde,
Andiens Küfte zu erreichen, indem bei ihnen auch die Anficht eines
vom Lande ringsum eingejchloffenen Meeres obwaltete. Die Fabeln
der Alten über jene Meere, wie die Araber fie Nearch erzählten
und Agathardides fie ruhig hinnahm, die in einigen Schredene-
namen Bab ef mandeb, Meta, Gardafır 2c. einen concreten Aus⸗
drud erhalten; die vollftändige Unmwiffenheit über die Heimat der
in den Handel gebrachten Güter, das relativ fpäte Bekanntwerden
der Manfune, der atmosphärischen Vehikel im erpthräifchen Meere,
die die Nömer nach dem angeblichen Entdecker ventus Hippalus
nannten (Plin. Hist. nat. VI, 26), obgleich die Yemeniten ſchon
viele Jahrhunderte lang ihre Schiffahrt nah ihm einrichteten
— bie Himjaren hatten Jogar einen eigenen Monat, Charik ihm zu
Das altteftamentliche Ophir. 468
Ehren benannt —, erhärten die ausdrüdliche Verficherung, daß noch
zu Eratofthened’ Zeit niemanb über die Weihrauch: und Myrrhen⸗
gegend hinausgefommen fei. (Strabo XVI, p. 529; II, b. p. 118;
XV, 4. p. 666.)
Eine Kenntnis von Indien konnte den Juden erft nach dem
Zuge des Darius Hyſtaspis geworden fein; Hodü, arab. Hind,
wird erſt im Buche Efther erwähnt. Das ptolemäifhe Apaple
sddaiuov, wahrſcheinlich Aden, bildete die Grensftation, wo bie
indischen Segler ihre Waaren Löfchten, die dann unter ſabäiſcher
Flagge nah) Qoçayr (Aegypten) giengen. Seit mit Benußung
der Jahreswinde (April — October Sübweitmanfun; October —
April Nordoftmanfun) die directe Verbindung mit Indien ange«
fnüpft wurde, verlor Aden feine Bedeutung, um fo mehr als die
jabäifhe Stämmeliga fich aufgelöjt hatte. Plinius (VI, 23) gibt
die Dauer der Fahrt von Berenike bis Okelis auf 30 Tage, von
da bis zur malabarifchen Küfte Mufiris oder Barace auf 40 Tage
an; rechnet man dazu von Elath bis Berenife 15 Tage, fo brauchte
ein Schiff 85 Tage, fo daß es nad) Austauſch der Güter mit dem
im Spätjahr wehenden Nordoftmanfun bequem die Rüdfahrt antreten
fonnte. Die jährlich von Myoshormos oder DBerenife abfahrende
Handelsflottille nahm regelmäßig einige Cohorten Bogenfchügen
an Bord, wegen ber zahlreichen im jüdlihen Meere ſchwärmenden
Piraten. Die der Schiffahrt wenig günftige Küftenbefchaffenheit
Arabiens ſchränkte die directe Fahrt nad Indien immer auf ein
gewiffes Maß ein, da genauefte Kenntnid der Gewäſſer für die
bis Nas el Fartak oder el hadd in Sicht des Landes fegelnden
Schiffe die unerläßlichite Bedingung war. Die angeführten Daten
nöthigen zu dem Schlufje, daß die Hiram-Salomonijchen Schiffe nicht
nad) Indien als ihrem Ophir gefahren find. Ein Theil der Erklärer,
Niebuhr, Öefenius, Rofenmüller, Seeßen, Hikig ꝛc.,
hat denn auch diefen Ausweg als verfehlt zurückgewieſen und den fonftigen
Angaben der Bibel entfprechend an Arabien als dem Goldlande
feftgehalten, ohne daß jedoch geſchichtlich oder thatſächlich jetzt noch
die von ihnen in Vorjchlag gebrachten Gegenden als goldreich hätten
erwiejen werden können; aus diefem Grunde muß auch Seetzens
Vermuthung, ber das Edriſiſche gie wieder aufnahm, das freilich,
464 ©oergens
mit unferem Ophir nichts zu thun bat, aufgegeben werden, wiewol
frühere Beziehungen der Thrier mit der Küſte Omans nicht zu
beftreiten find. De auch feiner der über die Lage des aliteftamentli-
chen Californien in Arabien gemachten Vorfchläge allgemeine Billi-
gung erhalten, jo Hat Rofcher nad) dem VBorgange Heerens, Tychſens,
der die Wurzel auf l, abundantia zurüdführt und mit H. eine
Handelszone für Ophir annimmt, darin eine von ber oftafrilanifchen
quer durch Arabien bis an die indiſche Küfte fich binziehende Ver⸗
kehrsſtraße erblid. Das von den chelonidiihen Sümpfen des
Btolemäos über Meroe bis Adulis (Mafſaua) führende Itinerar
berührte in der Verlängerung durch Arabien die Hauptftädte Yemens
Sabota und Tzafar, Anklänge an die Bezeichnung ber LXX, bie
er auch unweit der Indusmündung in Suppara oder Uppara
wieder erfennt. Diefe ununterbrochene Handelslinie vom Niger
bis Indus bildet nah R. das altteftamentlihe Ophir. Die ur
ſprünglich am perfifhen Bufen angefeffenen, fpäter durch die Naba⸗
töer verdrängten PBhönizier fuchten, von Salomon unterftüßt, jene
Meere zu beherrichen, und „mit dem Golde Weſtafrika's nad) Indien
zum Zaufche fegelnd Tehrte man nach 3 Yahren mit Gold umd
indifchen Producten bereichert zurid*" (Rofcher, Ptolemäns und
die Handelsftraßen in Central⸗Afrika, S. 58 ff.).
R. hat namentlich der breijährigen Fahrt Rechnung getragen,
ohne dabei die mancherlei im Wege ftehenden Schwierigkeiten befeitigt
zu haben.
Hier fei noch einer jüngeren Anficht gedacht, die unter feinen
der vorher berührten Rahmen gebracht werden kann. Road (Bon
Eden nach Golgatha, Bd. I, S. 47ff.; Bd. II, Anm. ©. 41ff.),
Chavila in Huilah wiedererfennend, verlegt Ophir nad Syrien
in die von Antiochien gegen die füdliche Tauruskette fich erftredende
Ebene; ber Metallreichtum diefes Gebirgszuges hatte fchon früher
einzelne Gelehrte veranlaßt, das Goldland unweit aufzuſuchen,
fo v. d. Hardt in Phrygien, Calmet in Armenien. N. nimmt
den von ben kurdiſchen Bergen in den Antiochener See fließenden
Bergftrom Afrin für den bei Hiob 22, 24 erwähnten Goldfluß.
Durch den bis Antiochia ſchiffbaren Drontes und den gleichnamigen
See fegelnd, fuhren bie Ophirfahrer den Afrin Hinauf nach dem
Das altteftamentliche Ophir. 465
Ziele ihrer Expedition, das dem Verfaſſer als die Aia des Argo-
nautenzuges erjcheint. Eine Stelle der von Tiſchendorf in der
vatikaniſchen Bibliothek entdeckten Handſchrift 1 Kön. 16, 28 im hebr.
und 22, 48 im griechiſch-alex. Texte: „und ein König war nicht
in Syria Nafib und der König Joſaphat machte ein Schiff, nad
Tarfis zu gehen, nad) Söftr zu dem Golde“, benimmt N. jeden
Zweifel gegen diefe Anfiht. Da aber damit auch fonftige topo⸗
graphifche Veränderungen vor fich gehen mußten, fo werben bie
Indikk des Joſephus, die Debebai- Araber des Agathardhides,
da8 Reid) von Saba mit feinem Weihraud nördlih von Paläftina
aufgefucht, daS rothe Meer foll das phönikische Meer oder die rothe
Marſchwieſe, als Binnenmeer gefaßt, fein. Wir hätten alfo, außer
den 2 bibliihen Saba, dazu ein durch die Seilinfchriften entbecktes
im Stromland, noch ein viertes am Libanon. Für Pfauen und
Affen, die heimwärts gebracht wurden, iſt der Verfaſſer ebenfalls
nicht verlegen. Das Zeugnis des Flav. Joſephus in der Opbirfrage
ift wol das zweifelbaftefte des ganzen Altertums, weil er fi in
mehrfachen Widerfpruch mit fich ſelbſt vermwidelt; zufolge Ant. jud.
VIH, 6 baut Salomo „viele Fahrzeuge theils im ägpptifchen Meere,
theils in einer Bucht am rothen Meere, die Aftongabaros heißt,
nicht weit von Aelane, das jegt den Namen Berenike führt“ eine
Stelle, die doch nach N. unmöglich auf das Weſtmeer bezogen
werden kann; dagegen befigt der König (Jos. VIII, 7) „im foge-
nannten tarfifchen Meerbufen viele Schiffe, welche zu den fernften
Bölfern die Landesprodufte bringen mußten, um baflir Gold, Silber,
fchwarze Sclaven und Affen einzutaufchen“. Mit Bezug auf 2 Kön.
10, 22 meldet Joſephus ein Bündnis Joſaphats mit dem Sohne
Achabs, um Schiffe auszurüften, die nah Pontus und Thracien
fegeln follten, aber durch ihre Größe zu Grunde giengen; Tegtere
Stelle hätte als die geeignetere für des Verfaſſers Hypotheſe
mehr berücdfichtigt werden müfjen; freilih macht die ganze Dar»
ftellung N.s, die das mühfam zujammengejudte Material gefchickt
für den Zweck verwendet und zu einem Ganzen verwebt, meiften-
theils den Eindrud von Schlußfolgerungen, die mit den Haaren
herbeigezogen find, und gegen die fich überdies noch ſchwerwiegende
Bedenlen geltend machen.
466 Goergens
Ritter, der ſich für Indien entſchied, konnte noch behaupten:
„die Ophirfrage wird wol ſtets eine unermittelte bleiben, welche die
unauflösbarſten Räthſel darbieten würde, wenn man bei Ophir als
dem Lande der joktanidiſchen Erzväter am Südende Arabiens ſtehen
bleiben wollte”, denn der Reihe nach waren Theile der Weſt⸗, Süd⸗
und Oftküfte Arabiens für das falomonifche Golbland ausgegeben
und die verfchiedenen Anfichten mit Gründen belegt worden, bie
von vorn herein dem Anfehen einer jeden abweichenden Vermuthung
Eintrag thun mußten, ohne daß jedoch jede einzelne ober nur eine
überhaupt die Goldausbeute Ophirs in feinem Wejen genligend er:
fannt und auseinandergelegt hätte. Anders Liegt die Trage jekt,
wo wir über einen feinen Strid) Yemens fo weit unterrichtet find,
daß dadurch berjelben jich ganz neue Perfpectiven eröffnen. Die
Mehrzahl der aufgejtellten Vermuthungen verloren von vorn herein
Ihon jede Wahrjcheinlichkeit, als ſie ausfchließlich die merkantile
Thätigkeit der Ophirerpedition in den Vordergrund ftellten; denn
jämtlihe Glas- und Purpurmwaaren der thrifchen und fidonifchen
Bazars hätten nicht ausgereicht, um im Tauſchhandel mehr denn
400 Talente Goldes in ben Häfen des fernen Landes dagegen
einnehmen zu können; als ein fernerer Verſtoß ift es anzufehen,
wenn die Ophirfrage ſtets allein, ohne Rückſicht auf die andern in
der Bibel erwähnten Goldländer behandelt wurde, wodurch freilich
der Willkür des Einzelnen ein größerer Spielraum blieb, feine
eigenen Ideen zu entwideln, ohne daß jedoch dadurch mehr Klarheit
in die an fich dunfele Frage hineingetragen worden wäre.
Außer Ophir werden noch Chavila und Saba, Parwaim und
Uphaz als goldreiche Gegenden angeführt; letzteres (Jer. 10, 9. Dan.
10, 5) wirb von manchen, wie®ejenins, als eine andere Bezeichnung
Ophirs angefehen, da 1 und A im Arabifchen verwandt find, während
Higig es mit Ufal in Yemen identificirt. Mit Parwaim (2 Chron.
3, 6) wußte man vollends nichts anzufangen, bis Gef., es mit der
Sanscritwurzel pürva „vorne, öſtlich“ in Zuſammenhang bringend,
ihm die Bedeutung „Land des Oſtens“ unterlegte; feine Rage näher
zu beftimmen, wurde nicht verfucht. Chavila und Saba wird mit
Ophir (Gen. 10, 28. 29) als joftanidisch nad) Südarabien verlegt,
Chavila, in erweiterter Bedeutung als Collectiobezeichnung der
Das alttetamentfiche Ophir. 467
füdlichen Länder gleichwie Indien gebraucht, zu welchen letteren noch
Dahlak und Adulis gerechnet werben, wird in engerem Sinn zwei
Diftricten Arabiens beigelegt: bem Gebiete der am perfiichen Bufen
angefeffenen, von Strabo zugleich mit den Nabatäern (Strabo XVI, 4)
angeführten Chaulotäer und einem Xheil der Weftküfte Yemens,
Chaulan genannt, den Niebuhr fchon für das bibliihe Chavila
anfah. Der unmittelbar nördlich gelegene Küftenftrich ift das von
Agatharchides, Plinins, Strabo, Diodor u. a. erwähnte Goldland.
Ein das Land der Debai durchfchneidender Fluß führte nad) Agatharchi⸗
bes ($ 95) foviel Goldftanb mit fih, daß der Sand dem Waffer ein
röthlich fchillerndes Ausjehen gab. Die dort gegrabenen Goldſtück⸗
chen von verfchiedener Größe, vom einfachen Nußkern bis zur Dicke
eines Mispels oder einer Wallnuß werben mit Glasſtücken abwech⸗
felnd in Fäden gleich PBerlichnüren aufgereiht und als Schmud um
Hals und Handfnöchel getragen. Strabo (XVI, 777) meldet weiter,
wie jene Bewohner für Kupfer das Dreifahe und Eifen das Doppelte
geben, da diefe Metalle für ihre Bedürfniſſe unerläßlicher find;
die plinianifchen Goldfelder (Plin. VI, 28) — litus Hammaeum
auri metalla —, im ganzen mit den vorhergehenden übereinftimmenb,
lagen an ber Küfte Hamidha, von Athr bis Sirrayn fich erftredend.
Arabien Goldreihtum war im Altertum ſprüchwörtlich; nament-
lich jedoch wird die Küfte von Dzahaban als die an Fluß⸗ und
Minengold reichfte gefchildert (vgl. noch Diod. Sic. II, 50; I, 93;
Il, 44. 45. 47). Die Felſeninſchriften von Hammamät nennen
die arabijche Wüfte und die dazu gehörige Küfte am rothen Meere
das Götterland. Brugfch ift geneigt, die gleiche Bezeichnung „das
heilige Land” auf den füdlichen Theil Arabiend auszudehnen, was
nur im Sinne feines Bodenreichtums eine Bedeutung hätte. Wenn
fpätere Schriftfteller, wie Beriplus, von der Goldküſte nichts wiffen,
fo fpricht diefer Umftand nicht gegen die Angaben der übrigen, da
der durch Wäschereien gewonnene Goldftaub, ſowie die Ausbeute der
Bergwerke fich nothiwendigerweife einmal erfhöpfen mußte. An Stelle
des Austaufches war im Anfang unferer Zeitrechnung ſchon eine
geregelte Metallwährung getreten, gegen bie die römifchen und per-
ſiſchen Kaufleute die arabifhen Hanbelögüter erwarben. Sprengers
großes Verdienſt ift e8, eine Anzahl bisher unbelannter arabljcher
Theol. Etub. Jahrg. 1878. al
468 Goergens
Handſchriften erſchloſſen und durch Auszüge aus denſelben jene alten
Mittheilungen in ein neues Licht geſtellt zu haben (A. Sprenger,
Die alte Geographie Arabiens als Grundlage der Entwicklungsge⸗
ſchichte des Semitismus, S. 52). Sprenger conſtatirt landeinwärts
gegen die rechte Yemenſtraße zu eine Anzahl reicher Goldminen;
die eine, wegen ihres Reichtums Ma din-al-Ahfan genannt, gehörte
dem Kiläbftamme Abu Bekr; andere Goldbergwerke find die von
al Hofayr, von Tiyas, von Aqhq, den Oqayl gehörig, deren Land
nad dem Propheten Gold regnet. Die erftere lag auf bem Wege
der vom perfifchen Golfe nad den fyrifhen Märkten ziehenden
Dafilas, und fo erflärt Sprenger Ezech. 27,29, daß die Raemiten
das auf dem Durchmarſche im Negd eingehandelte Rohmetali ben
Tyriern verfauften. Andere Minen find die der Thanyya; ſechs
weitere ohne fpecielle Angabe des geförderten Metalle (von einigen
vermuthet man mit Necht, dag es wie die vorhergehenden Goldminen
geweſen feien) werden noch angeführt, von denen mehrere, dazu bie
ergiebige Mine der Oqayl in Dyahabän, den günftigften Ausfuhrhafen
hatten. Ohne auf bie weiteren durch die Handfchriften befannt ge
wordenen Fundſtellen des Goldes einzugehen, fei hier nur kurz
derer gedacht, die in unmittelbarer Nähe der Hamidhafüfte Liegen.
Unter den Diftricten der Provinz Mekkla wird der erfte Aſaf mit
dem Zunamen einer Goldmine aufgeführt. Faſt in der Mitte zwifchen
Diahabän und Hamidha, alfo genau an der von Plinius beftimmten
Stelle, wird die Mine Dhankaͤn mit „vortrefflihem Golde“ (tibr)
erwähnt. Hier vermuthet Sprenger ben Goldfluß bes Agatharchi⸗
des. Folgen wir dem Verfaſſer weiter über die Grenze Chauläns, fo
tritt Sprenger nunmehr den Beweis an, daß dieſes mit dem bibl.
Chavila identifch ift und daß die (Gen. 3, 11) an Chavila gerühmten
Roftbarkeiten, Gold, Bdolach und der Schohamftein in der That hier
gefunden werden. Bei der Aufzählung der chaulanitiſchen Goldberg-
werfe gelingt e8 Sprenger den Fundort des 2 Chron. 3, 6 erwähn-
ten Goldes von Parwaim in dem Orte Farwa wiederzuerfennen,
dag, auf der öftlihen Abdachung der Linie Chacuf-Gada gelegen,
mit Brunnen und einem Wildbache verfehen, etwa eine Stunde ent-
fernt, die Mine al-Qofäa befaß, fo daß deren Gold als das von Farwa
oder Parwaim bezeichnet werden konnte. Durch diefe Entdedimg gewinnt
Das altteſtamentliche Ophir. 469
die ganze von Sprenger aufgeftellte Anficht über die Ophirfahrt
einen hohen Grad von Wahrfcheinfichkeit, da fie zum erjten Male die
biblifchen Goldländer alle in unmittelbarer Nähe von einander nachweijt
und den wirklichen Goldreihtum jener Gebiete außer allen Zweifel
jeßt; ein Umftand, der bei den meiften bis jett verfochtenen Ophir⸗
hypotheſen fich in der Regel auf einige vage VBermuthungen reducirt.
Die Chaulän widmeten ſich meiftens dem Aderbau, während
der Stamm Balyy ein Ableger der weit verzweigten, urfprünglich
in der Weihrauchgegend anfäßigen Dobdhäa, genannt Bandı lqayn,
Söhne des Dietallarbeiters, die Goldminen ausbeutete. Ihr Ans
benfen Lebt noch in al Dayn (offenbar ein Hinweis auf ihre Be⸗
Ihäftigung), einer Stadt. unweit abu Toräb, nördlich von Aththar
fort; die ſtraboniſchen Chaulotäer am perfifchen Bufen find wahr
fcheinlich eine von hier ausgegangene Kolonie, da auch bort ein gleich«
namiger Ort al Dayn (der Metallarbeiter) angeführt wird.
Außer der Madin Solaym in Chaulän, trieben fie fpäter bei
ihrer Auswanderung nah dem Miſchlaf Cada die Goldwäfcereien
von Cirwah, wo noch Metall gewonnen wird (Sprenger, ©. 56).
Die Nachricht griehifcher Autoren von dem Auffinden von
Goldklumpen in der Gegend von Dzahaban wird durch arabifche
Quellen glänzend beſtätigt. Solches Gold \usd oder Br To
6) rothes oder Gräbergold genannt, weil man in den Ruinen
zwiſchen Gauf und Muͤrib viel ſolches Gold entdeckte — einer zu
Dhahr aufgefundenen Frauenleiche wurden 100 Mithgäl rothes
Gold an Knöchelringen abgezogen — wird als beſonders fein ge⸗
rühmt (Sprenger, ©. 57).
Außer Gold werden Chavila noch zwei Toftbare Erzeugniffe zu⸗
geichrieben, Bdolach und der Schohamitein. Erfteres arabiſch moql,
aus dem Plinius durch Umftellung der zwei letzten Confonanten
malacum gemadt zu haben fcheint, wächſt in verfchiedenen Gegen-
den Arabiend. Dieſes wird das arabifche oder melfanifche genannt,
im Gegenfage zu dem aus andern Lündern, Perjien, Bactrien, Indien
:c. eingeführten, welches die Bagdader Pharmalologen zum Unter«
fchtede Judenmogl heißen. Wrede fand Daumpalmen in Hadhra-
maut; vier Zagereifen von Medina gegen Dru Marwa wächſt die
vorzüglichite Moqlart. Nah Sprengers Anficht ift die in ber Bibel
31*
470 Goergens
citirte Sorte unweit Dzahabaͤn in dem Wady al Daum, ſo genannt
wegen ber Menge ber Palmenbäume, aufzuſuchen (Sprenger, S.59).
Der Onprftein, vorausgefegt, dag dieſes die richtige Deutung
für den Stein von Schoham ift, da die Etymologie zu dunkel iſt,
um darauf einen jtihhaltigen Schluß zu bauen, wurde in verſchie⸗
denen Gegenden Oberchauläns gefunden; der von Nogm galt als
der befte. Die Induſtrie Hatte fich dieſes Steines bemächtigt, um
allerlei Zieraten, Schmuckgegenftände, wie Mefferhefte, Schwertgrifie
zc., daraus zu verfertigen und in den Handel zu bringen. Da die
in Oberchaulän gefundenen Onyrforten nad) dem Fundorte Scha’wary
Dharh ꝛc. genannt werben, fo Schlägt Sprenger vor, Schoham in
gleichem Sinne als Rocalbezeichnung des Fundorte zu faſſen, fei es,
dag man Sohaym als einen zwifchen Hakam und Dhankaͤn gelegenen
Seehafen oder das zwei Tagereifen füdlih von Dyahabän befindliche
Dzu Sohayın für da8 Onyremporium annimmt, oder aber Sochaym
Vliest, was ald Bezeichnung des Diftrictes, in dem der noqo⸗
mifche Onyr gefunden wird, glei) dem Golde von Parwaim Farwa,
auf eine bejtimmte Sorte hinweiſt (Sprenger, ©. 62 u. 63).
An diefer Küfte Arabiend von Dyahabän bis Oberchaulaͤn
haben wir unzweifelhaft das Ziel der Hiram-Salomonifchen Expedition
zu ſuchen. Nur ein auf bergmännifchen Erwerb des edlen Me:
talles gerichtetes Unternehmen läßt eine fo ungewöhnliche Maſſe
Goldes begreifen, wie fie als Ausbeute nach Jeruſalem abgeliefert
wurde. So begreift fich der hohe Werth, in dem das Ophirgold bei
den Hebräern ftand, das ähnlich wie das rothe oder Gräbergold der
Araber aus einer Quelle gefloffen war. Daß bis jett Feine nur
halbwegs genügende Etymologie von Ophir eriftirt, oder daß an jenem
Küftenftriche feine topographifchen Anklänge an die Wurzelermittelt wor-
den find, thut der Hypothefe nicht den mindeften Eintrag. Sprenger
beflagt es fchon, daß Hamdäny’s Gazyrat al-Arab Beichreibung von
Arabien leider feinen Abfchnitt über die Goldminen Yemens enthält,
und vermuthet, daß Hamdäny fidh vielleicht anderweitig etwa
im Iklyl darüber ausgelaffen hat. Es bleibt alfo abzuwarten, ob
nicht arabifche Handfchriften Auffchlüffe darüber geben, ob der Name
Ophir den Goldbergmerfen ober deren Diftrict im allgemeinen oder
aber einem Ausfuhrhafen angehört. Im letzteren Falle fonnte das
Das altteftamentliche Ophir. 471
Iandeinwärts durch Bohrungen geförderte Gold nach feinem Emporium
noch immerhin opbiritifches heißen, ſowie der yemenitiſche Kaffee
nad dem Stapelplag als Miola- Kaffee in den Handel gelangt,
wenngleih im Umkreiſe von 20 Stunden ringe um Mofa feine
Raffeeftaude wählt. Da die Völkertafel (Gert. 10, 28) die drei
Joqtaniden Saba, Dphir und Chavila nad) einander aufzählt, jo
würde mit Nücficht darauf, daß Saba, als ein mächtiger Stämme-
bund mit der Hauptftadt Mariaba, deren Trümmer Botta 1842
befuchte, das füdlicher gelegene Gebiet inne hat, an den nordweſt⸗
fih die Chaulaͤn grenzten, für Ophir die zwifchen beiden gelegene
Wafferfcheide, wo zudem die ergiebigften Bergwerke liegen, oder der
nörblihe Strich von Chaulän übrigbleiben, im letzteren Falle
fiele fie mit der Goldküſte der griechifchen und römischen Schrift:
fteller zufammen. Intereſſant jedenfalls ift die Thatſache, daß
eine Station unweit Cana‘ nod) in ihrem Namen das Andenken an
den bibliſchen Stammvater verewigt hat; „glei Ka, das Byſcha
der Jaktan Tiegt in fruchtbarem Gefilde und ift mit guten Brunnen
verfehen. Dabei würde eine Schwierigkeit leicht befeitigt werden;
nämlich das gänzliche Stilifchweigen ber Königsbücher und der
Chronif über die Quellen, aus denen Salomon Kenntnis von ben
fuölich gelegenen Goldfeldern erhielt; die aus der Weihrauchgegend
nah ben ſyriſchen Märkten ziehenden Karawanen verriethen die
Heimatdes Goldeg und weckten bamit bie Begierde der Judäer. Der
gänzliche Mangel weiterer Meittheilungen in dem Kapitel, wo die
Dibel die Ophirfahrt erwähnt; der Umftand, daß das Übrige Alter»
tum feine Notiz von dem hebräifchen Californien nahm, während
doch die Bergwerke, aus denen bie Phönizier die Metalle gewannen,
fih überliefert haben, fpricht für unfere Vermuthung, daß nur vor»
übergehende Verfuche, jene von der Weſtküſte Arabiens landeinwärts
gelegenen Goldfelder auszubeuten, gemacht worden find; die Felſen⸗
infohrift in Hammamät gedenft der ägyptifchen Opbhirfahrten nach
Punt und dem heiligen Lande, ſchon unter der Regierung Sand»
kara's 25 Jahrhunderte vor unferer Zeitrehnung (Brugſch, Ges
ſchichte Aeg, S. 111). Die topographifch ſchwer beftinnmmbaren
Bohrungen erklären hinreichend das die. Ophirfrage einhüllende
Dunkel; auch der längere Zeitraum von drei Jahren, den eine
472 Goergens
Fahrt beanſprucht, erhält eine genügende Erklärung, wenn man an
bergmänniſch gefördertes Metall denkt; möglicherweiſe hat auch
die ſabäiſche Liga, die, damals in der Blüte ſtehend, jeden Verſuch
einer Concurrenz unterdrückte, weiteren Unternehmungen ähnlicher
Art eine Schranke zu ſetzen gedroht. Bisher war noch keine
Rede von in Paläſtina zur Zeit Salomons in Betrieb befind⸗
lichen Bergwerken, woraus ſich der Schluß nahelegen würde, daß
die Judäer dieſen Zweig cultivirten. Die Angaben der Bibel be»
ſchränken ſich mehr auf leiſe Andeutungen mit Bezug auf diefen
Punkt. Die Schilderungen Hiobs (XXVIII), fei e8 dag Bergwerke
der oftjordanifhen Landfchaft oder des eigentlichen Arabiens ihm
borjchwebten, der noch aus älterer Zeit datirende Hinweis Moſe's
auf den Metallreihtum des Landes, wie fein Segen an After ihn
ausdrüclich bezeugt (Deut. 33, 35), fowie der große Bedarf me-
talfener Geräthe und Werkzeuge für ein aderbautreibendes und
friegführendes Volk beredhtigen, unterftügt von einer Anzahl Bilder,
die die Läuterung der Metalle behandeln, zur VBermuthung, daß die
Ausbeute der Bergwerke den Yudiern befannt war. Schon Uſur⸗
tafen I. betrieb Bohrungen in’ den Mafkatgruben der Sinaihalbinfel.
Der Minifter feines Nachfolgers Amenemhat erzählt, wie er Berg⸗
bau angelegt durch die Jungen und die Alten gezwungen habe, Gold
zu waſchen (Brugſch, Geſchichte Aegyptens, S. 136). Will
man auch fein zu großes Gewicht auf die mitfahrenden Phönizier
legen, denen Erfahrung und Verſtändnis in dieſem Punlte nicht ab⸗
zuſprechen iſt, ſo verdient eine leider vereinzelte traditionelle Notiz
des Euſebius doch immerhin Beachtung. Eupolemus und Theo
philus melden (Praep. 9, 30): „David der König ſchickte Berglente
nach Ourphe, einer Inſel im rothen Meere, auf welcher ſich Gold⸗
bergwerke befinden; von dort brachten die Bergleute das Gold nach
Judäa.“ Emald ift geneigt, dieſes Oroyn als die urfprüngliche
Form für das fpätere Ophir anzufehen (Geſch. Isr., Bd. ILL,
S. 317 Anmerkung).
Die fragliche Inſel ift da8 von dem arabifchen Ueberfeger
(1Kön. 9, 28) zu Indien gerechnete Dahlaf, das die Araber fpäter
Dibus (Gold) nannten, worin Rofcher (S. 59) eine Verwandt⸗
ihaft mit den Debai der Goldküfte vermuthet.
Das altteflamentfiche Ophir. 473
Eines Einwurfes fei Hier noch gedacht, auf den geftütt manche
fih für Indien als Ophir erflärt haben; es find die Indischen Be⸗
nennungen der fonftigen importirten Handelsartikel; eine genaue
Prüfung der im erften Königsbuche gemachten Mittheilungen (1 Kün.
9, 28. 10, 11. 10, 23) erheifcht, daß nothwendiges von zufälligem
auseinandergehalten werde; an erfter Stelle ift Ophir das uns
erfhöpfliche Kalifornien, aus dem Hirams und Salomons Knechte
auf einer Fahrt 420 Talente ausführen. An der zweiten Stelle
werben außerbem noch Sandelholz und Edelfteine angeführt; Arabien
galt immer als ein Fundort von Edelfteinen, die dann durch Qafilas
als Taufchartikel in ben Handel kamen. Die Almuggimhölzer hielt
man bisher für nicht arabifchen Urfprunges, wiewol die Form ficher
arabifirt durch den Artikel al, wenn nicht arabifch if. Auf dem
Berge Hanum im Gebiete der Chaulän wurde eine dem weißen
Sandelholz ähnliche Pflanze angetroffen, die bezüglich des Geruches
tm nahelommt und das indiſche Sandelholz vertritt (Arabifche Hand»
Schrift Nr. 333 bei Sprenger, ©. 58). Bon den übrigen Ophir-
waaren: Elfenbein, Affen und Pfauen, find die beiden erften wahr⸗
ſcheinlich oftafrifanifchen Urjprungese. Die Elfenbeinausfuhr aus
Oſtafrika war zu allen Zeiten bedeutend und die merfantilen Be⸗
ziehungen Yemens zu Wethiopien find ficher älter, als die mit dem
Induslande. Añroç bedeutet nach Ariftoteles '(Hist. an. U, 8)
eine geſchwänzte Affenart, die er unter der allgemeinen Bezeichnung
rInxos fubjumirt. Strabo und Plinius kennen als ihr Vaterland
Aethiopien; letterer fchildert fie ald an Händen und Füßen den
Menſchen ähnlich (Plin. H. n. VIH, 9). Niebuhr traf in ben
Waldungen Südarabiens die Affen in der Zahl von über 100 zu⸗
fammenlebend an (Befchreibung Arabiend, ©. 167). Bon dort
her werben fie nach den ägyptifchen Märkten zum Verlaufe gebradit.
Uebrigens wird ſchon einer Ausfuhr von Hundelopf-Affen aus Ae⸗
thiopien nach Aegypten neben anderen Produkten unter der Regierung
der Gattin von Thutmes IT. gedacht (Brugſch, S. 284).
Silber wurde außer von den Nabatäern auch in Yemen in dem durch
feinen Silberreihtum berühmten Bergwerke al Radhrädh, zwei Tage
öftlih vou Cüna, gegraben. Grenzitreitigleiten zwifchen Stämmen
ftörten den Betrieb der Silberminen. Somit ift von ben ophiri-
474 Goergens
tiſchen Waaren eigentlich nur der Pfau indiſchen Urſprunges, während
mehrere Produkte aus Oſtafrika ftammten, die Metalle und Edel
fteine jedoch ganz fiher aus Arabien famen. Die Handelsbeziehungen
Indiens und Arabiend, die durch die Ägyptifchen Inſchriften für
eine weit frühere Epoche al8 die Zeit Salomons erwiejen find, die
zahlreichen indifchen Kolonien im yemenitifchen Arabien u. f. w., 3.2.
Nogara und Socotra, erflären zur Genüge die om; unter den
verjchtedenen Etymologien über Ophir kann die von Sprenger nod
befonder8 angeführt werden, bie in dem plinianifchen arzvgos (H.n.
XXI, 11) centralarabifch afıra = splendidum clarumque effi-
cere, yemenitiſch anders ausgeſprochen in der Bedeutung von roth,
wofür noch einige Belege citirt werden, eine Ableitung von Ophir im
Sinne rothes Gold, arabiſch tibr, ungejchmolzenes Gold im Gegenſatz
zu Dzahab, Gold im allgemeinen erfennen will (Sprenger, ©.57).
Die Ophirfrage nach den von uns vertretenen Gefichtöpunften hat in
neueſter Zeit eine erhöhte Bebeutung gewonnen, durch die Aufmerkſam⸗
. keit, die die ägyptifche Regierung der Weftfüfte Arabiens bezitglich der
Metaliförderung zugewendet hat. Ein Theil der ehemals ſchwung⸗
haft betriebenen Bohrungen, die feit langer Zeit gänzlich verfallen
und in Vergeffenheit gerathen waren, konnte durch genaue Angaben
der arabifchen Manuſcripte wieder aufgefunden und näher unterſucht
werben. Der duch feine Reiſe nah Medina und Mekka bekannte
engliiche Capitain Burton fungirte unter anderen als Mitglied der
mit der Prüfung der örtlichen Verhältniffe betrauten Commiſſion,
deren Gefamtrefultat fi für die Wiederaufnahme der fo lange
außer Betrieb befindlichen Minen fehr günftig ausgefprochen Bat.
Die Regierung des SKChedive hat eine mittlere Summe für Erploi⸗
tation einzelner Bergwerke ausgeworfen, in bem Gedanken, das
Unternehmen fo lange in engerem Rahmen zu betreiben, als bie
eine wirkliche Rentabilität in größerem Maßſtabe erwiefen ift. Wir
dürfen daher mit Spannung den von dort eingehenden Berichten
entgegenfehen, die zweifelsohne manche Lücke in der Kenntnis jener
fandeinwärts gelegenen, bis jet fo gut wie unbelannten Diftricte
ausfüllen werben.
Die Bibel bezeichnet Chavila näher durch die Angabe, daß der
Piſchon es umfließe. Da die Araber auch den Nil als einen pa
Das altteftamentliche Ophir. 475
radiefifhen Strom auffaffen, ferner den Chärid ald den wieder her»
vorbrechenden Euphrat anfehen (Plin. VI, 28: Euphratem emergere
putant), fo vermuthet Sprenger, daß der Einfall von der Wieder»
geburt der Flüffe arabifchen Urfprunges fe. Die vom Aridh flie⸗
enden Bäche ergießen nad) Hamdäny von ihrem Sammelplage aus
fih durch einen unterirdifhen Durchgang, bevor fie in’ Meer
münden. Alexander fcheint in ähnlicher Weife im Indus die Ver-
längerung bes Niles erblictt zu haben (Arr. VI, 1. 3).
Der von der Grenzſcheide zwifchen Gabanitis und Chaulän in’s
rothe Meer fich ergießende Baitios des Ptolemäos reichte höchſtens
einige Meilen in’8 Gebirg hinein, erhält auf feinen Karten jedoch
ein Flußgebiet von nahezu 100 deutfchen Meilen; aus diefem Mis⸗
verhältniffe legt fi die Vermuthung nahe, daß Ptolemäos das
jenfeit8 der Wafjerfcheide gelegene Wady Bayſch, das allerdings
mehrere Stationen der Weihraudftraße noch enthält, mit Hinzuges
vechnet Habe. Diefe Vorftellung Scheint durch die Handeldcaramanen
nad Syrien und Aegypten gefommen zu fein. Möglich ift es da⸗
ber immerhin, dag man in dem das arabifche Goldland Chavila
begrenzenden Wady Bayſch, wo noch der Name des Stammpvaters
Joktan nachweisbar ift, einen Anklang an ben parabiefifchen, faft
gleihnamigen Strom Pifhon gefunden Hat und daß die in Arabien
mehrfach beobachteten Erjcheinungen von wieder auftauchenden Flüffen
dem einheitlihen Gemälde der parabdiefifchen Ströme keinen Ab-
bruch gethan haben.
Gedanten und Bemerkungen.
l.
Luther und feine Beziehungen zn Servet.
Bon
Kawerau,
Pfarrer zu Klemzig.
Jahr für Yahr wird unfere Kenntnis der Reformatoren und
ihrer Zeit durch werthvolle Einzelforfchungen und Bublicationen
bereichert, und oftmals genug gefchieht e8, daß durch neu erfchloffene
Quellen bisher gültige Urtheile berichtigt werden, daß das Bild
jener großen Zeit nicht nur um charafteriftifhe Züge vermehrt,
ſondern aud) in einzelnen Strichen umgezeichnet und modificirt wird.
Dennod find wir über die Hauptträger der Reformationsbewegung
fo weit orientirt, ihre äußere und innere Gejchichte Liegt in ſolchem
Umfange bereit8 vor uns aufgefchloffen, dag wir uns eines gewiffen
Befremdens nicht erwehren können, wenn jemand mit Yorfchungen
hervortritt, welche das uns wohlbefannte Bild eines der Mefor«
matoren in wichtigen Punkten umgeftalten, und wenn er ganz neue
Aufichlüffe über denjelben zu geben fich anheiſchig macht. In be⸗
fonders hohem Maße gilt dies von dem Bilde Luthers: feine
äußere Lebensgefchichte und ebenfo feine theologische Entwicklung,
beides ift mit minutiöſem Fleiße durchforſcht, fo daß fein Bild
in Haren und beftimmten Zügen vor uns erfchloffen fteht. Wer
da ein Neues zu bringen unternimmt, muß fi auf eine fleptiiche
Aufnahme und auf ein ftark kritisches Verhalten vonfeiten des theo⸗
480 Kawerau
logiſchen Publikums von vorn herein gefaßt machen. Mit ſolcher
Empfindung ſtehen wir der Arbeit des Lic. Tollin über „Luther
und Servet“ (Berlin 1875) gegenüber. Die Zufammenftellung -
beider Namen hätte nichts befremdliches, fo lange es fich etwa
nur um eine gefchichtliche Parallele beider handelte, — und in ber
That verſucht Tollin auch eine folhe, indem er Luthern, als dem
Nepräfentanten der „augsburgifchen Reformation“ Servet als den
geiftig bedeutendften Vertreter der „Reformation des freien Ge-
wiſſens“ gegenüberftellt ). Aber wir finden viel mehr in bdiefer
Duellenftudie al8 nur eine derartige Parallele, wir leſen von Ser-
vets perfönliher Bekanntſchaft mit Luther und einem darauf
erfolgten tiefgreifenden Einfluß des Spanier auf den MWitten-
berger — und da beginnt unfere Ueberrafhung. Denn von Bes
ziehungen dieſer beiden Männer zu einander hatte man bisher
ſchlechterdings nichts gewußt. Meder die biöherigen Bearbeiter des
Lebens und der Lehre Servets wie Mosheim, Trechſel (in
feinen „Antitrinttariern“ und in feinem Artikel „Servet” in Herzogs
Real⸗Enc.) und neueſtens Pünjer (De M. Serveti doctrina,
Jena 1876, S. 100) Hatten davon etwas entdect, noch Hatten
anderjeit8 die DBiographen Luthers Anlaß gefunden, von irgend
welchen Beziehungen Luthers zu Servet zu berichten; man vgl. 3. B.
die kurze und nur beiläufige Erwähnung, die Servet bei Köftlin
(M. Luther, Thl. II, ©. 325) gefunden hat. Nun erhalten wir
dagegen von Tollin folgende neue und überrafchende Auffchlüffe
über das Verhältnis beider zu einander. 1) Eine perſönliche Be⸗
gegnung beider babe während des Reichstages zu Augsburg im
September 1530 ftattgefunden, indem nämlich) Servet Butzern
am 18. Septbr. auf feinem Ritt nach Koburg zur Beſprechung
mit Luther begleitet habe 2). 2) Und dieſe Begegnung ſei auch für
1) Wie weit letztere Bezeichnung zutreffend fei zu unterfuchen, liegt nicht in
unferer Abficht bei diefen Zeilen. Wir vermeifen hiefür auf bie treffenbe
Kritit, welde Bünjer (Theolog. Literaturzeitung 1876, ©. 294) ge
geben bat.
3) Das Datum bes 18. Septbr. für die Abreife von Augsburg hat Tollin
wol dem Berichte Bau ms (Capito und Butzer, S. 473. 474) entuonmten;
Köſtlin Hat mit Recht daran erinnert, daß basjelbe corrigirt werden
Luther und feine Beziehungen zu Servet. 481
Luther von großer Bedeutung gewejen, denn er behandle Servet
ftetS mit einer feltenen Rüdjiht, der Aragonier habe e8 ihm an⸗
gethan, fo dag er viel gelinder mit ihm verfahre, als mit feinen
Sefinnungsgenoffen Campanus und Wigel und ebenfo viel milder
über ihn urtheile, als die ſüddeutſchen und Schweizer Theologen.
3) Auch in Luthers nächſter Umgebung ſeien Servets Schriften
eifrig gelefen und auffallend gelinde beurtheilt worden. 4) Aber —
bei aller Milde gegen die Perfon des Antitrinitarierg — hätte
doch fein Auftreten Luthern zu einer wichtigen und folgenfchmweren
Srontveränderung getrieben. Er, ber einft jelbft ernfte trinitarifche
Anfechtungen durchgemacht, werfe fih nun der Tradition in bie
Arme; die kirchliche Continuität, die Autorität der Kirchenväter,
ein katholiſch gedachter Begriff von Kirche und Priefterftand: das
feien die Stüßen, mit denen er fortan in fehneidigem Widerfpruch
gegen feine ganze Vergangenheit, die durch Servet vertretene, auf
Bibel und hriftliches Gewiſſen geftütte Aeformationsbewegung
niederzubalten ſuche. 5) Und aus der größeren Schrift Tollins
(Lehrſyſtem Servets, 1876, Thl. I, S. 216) nehmen wir noch als
ein in ähnlicher Weife uns überrafchendes Novum ben Sat hinzu:
Servet ſei e8 gewefen, von dem Luther und feine Kampfgenoſſen
in ihrer Chriftologie entſchiedenes Auftreten gegen den Dofetiemus
gelernt hätten.
Halten diefe neuen Auffchlüffe Tollins die Probe aus, dann
wäre allerdings der Einfluß Servets auf Luther recht beträchtlich
und eine wejentfiche Lücke in den biöherigen Arbeiten über Luthers
Entwidlungsgang vorhanden gemefen. Prüfen wir denn feine Be⸗
hauptungen auf die Solidität ihrer Duellenbegründung, und zwar
in derfelben Reihenfolge, in der wir fie foeben dem Leſer vorge-
führt haben.
möäffe; denn bat na Baum die Beiprehung mit Luther fchon am
19. und 20. Septbr. flattgefunden, jo hätte Butzer ja bereit am
Abend des 18. in Koburg eintreffen müſſen (a. a. O., ©. 245. 631).
Anders Seidemanns Angabe, Butzer fei erfi am 19. von Augsburg
abgereift (vgl. Luthers Briefe, Thl. VI, ©. 710), da biefer das Collo⸗
quium in Koburg felbft offenbar auf ein fpäteree Datum legt, als
Banm und Köflin gethan haben.
482 Kaweran
1. Daß Servet, was bisher unbeachtet geblieben, mit Luther in
perſönliche Berührung gekommen ſei, folgert Tollin aus einer
Aeußerung, die ſich in Servets Brief an Oecolampad (bei Mos⸗
heim, Anderweit. Verſuch, 1748, S. 393) befindet. Die Worte
„aliter enim propriis auribus a te declarari audivi
(scil. fidem) et aliter a doctore Paulo et aliter a Luthero“
geben allerdings einer folchen Deutung Raum. Wann und imo
dies ftattgefunden haben follte, bleibt freilich ungefagt. Die und
bisher von den DBiographen Servets gemachten Mittheilungen über
den Lebensgang des Spaniers liegen uns faum eine Stelle erfennen,
wo eine Begegnung mit Luther hätte ftattfinden können. Tollin,
der auch in verfchiedenen anderen Servetftudien ſchon verfucht Hat,
in das Dunkel der äußeren Lebensmege Servets Licht zu bringen,
glaubt nun auch hier mit Sicherheit die vorhandene Lücke ausfüllen
zu fönnen. Es ift ihm zunächſt ganz unzweifelhaft, dag Servet
als Amanuenfis des faiferlichen Beichtvaterd Duintana den Ver⸗
bandlungen des Augsburger Reichstages beigemohnt habe. In dieler
Stellung fei er der „Pförtner“ der Neformatoren geweſen, fo viele
ihrer beim Kaifer Zutritt gefucht hätten. Hier habe er ihre De
fanntfchaft gemacht, hier auch Gelegenheit gefunden, ſich M. Butzer
auf feinem Ritt nach Koburg zu Luther anzufchließen. Trechſel
hat es noch (Herzog, Bd. XIV) für fehr zweifelhaft erklärt, ob
Servet überhaupt beim Neichstage zu Augsburg zugegen gemejen
fei: Directe Zeugniffe dafür fehlen. Tollin meint nun freilid,
ein folches in dem Luthers Werken beigefügten Berichte über bie
Begebenheiten auf dem Reichstag zu haben. Es heißt dort: „Bei
des Kaifers Beichtvater Tiegt ein fpanifher Hauptmann, bei
dem hat ein Spanier zu Melanchthon gejagt, ob der Luther fommen
würde?“ 1) Tollin nimmt es als felbftuerftändlic) an, daß diejer
„Hauptmann“ eben der damals neunzehnjährige Amanuenfis Ser-
vet gewesen jei; allein einen Beweis für diefe Identität vermiffen
wir durchaus. Das ift, ſoviel wir erfennen, der einzige pofi-
tive Anhalt für feine Behauptung, Servet habe dem Reichstage
1) Luthers Werke, Leipz. Ausgabe, Bb. XX, ©. 208.
Luther und feine Beziehungen zu Servet. 483
beigewohnt, und der ift freilich recht ſchwach )). Allein die Mög⸗
Tichkeit, daß Servet damals in Augsburg gemefen fei, wollen wir
gern einräumen. Wir fragen dann nur weiter nach irgend einem
Zeugnis dafür, daß Servet Butzers Begleiter nach Koburg geweſen
ji. Er citirt Sleidan, allein diefer berichtet eben nur: „Bu-
cerus Augusta proficiscitur ad Lutherum conciliationis cau-
sa“), — einen Begleiter erwähnt er nit. Auch Aurifaber
erzählt nur von Butzers Perſon*). Wir fchlagen in Luthers
Briefen nach; aber die beiden Stellen, an welchen er von Butzers
Beſuch redet, laſſen die Mitanweſenheit eines andern fchlechterbings
nicht vermuthen: „Bucerus mecum familiari colloquio Coburgi
de hac re ut ageret missus fuit“; und an Butzer felbit: „si-
cut et Coburgi tibi dixi .... sperabam post colloquium no-
strum Coburgense magnifice‘“ 4%). Ober wir lefen, wie Bußer felbft
über feine Reife berichtet: „Da Hat mich Quther zum Imbis ge-
laden“, „den andern Tag bin ich wiederum zum Imbis kommen,
wie er befohlen“ 5), — auch Hier kommt uns feine Vermuthung
ein, es fei noch ein Frember dabei gewejen. Ya, je näher wir die
Sache beleuchten, um fo unmahrfcheinlicher wird uns die Ver—⸗
muthung Tollins. Butzer reift ale Abgefandter zu einer durch
aus vertraulichen Verhandlung — mas foll da des kaiſerlichen
Beichtvatere Famulus als Begleiter? Seine Miffton wird in
Augsburg fo im geheimen betrieben, daß im Kreife der übrigen
Evangelifchen feine Reife noch am 21. Septbr. (aljo als fein Collo⸗
1) Au in dem Aufſatz Tollins „Servet und Butzer“ (Mag. f. d. Lit.
des Auslandes 1876, ©. 338—336) wird Servets Anweſenheit beim
Reichstage, fein Beſuch in Koburg, feine intime Beziehung zu Butzer,
daß er in Augsburg Kapito „ſchätzen und lieben“ gelernt u. dgl. m. Te
diglih behauptet, nach quellenmäßigen Beweiſe jehen wir uns ver-
geblih um. Baum fdheint die Belanntichaft Butzers mit Servet erft
1531 ihren Anfang nehmen zu laffen (a. a. O., ©. 478).
3) Ausg. v. 1561, 119».
8) Leipz. Ausg, Bd. XX, ©. 200b-
4) Briefe von de Wette, Bd. IV, ©. 191. 217; auch die Erwähnung des
Koburger Geſprächs, Tiſchreden, Bd. II, S. 350 ifl für Tollins
Bermuthung unergiebig.
5) Bei Baum a. a. O., 68.473. ⸗
Theol. Stud. Jahrg. 1878. 82
484 Kawerau
quium in Koburg bereits vorüber war) nur als ein Gerücht laute
bar wird, vgl. den Brief des Brenz v. 21. Septbr. 1530; „Bu-
cerum apud nos dicunt ad Lutherum equitasse“ !). Nun
redet ferner Servet in jenem Briefe von Ausfprüchen Luthers über
das Verhältnis von Glauben und guten Werfen zu einander, bie er
vernommen hätte; wie wäre Luther damals in Koburg gerade auf
diefe8 Thema gelommen, wo einmal die Abendmahlslehre zur Ver»
handlung ftand und anderjeits die Berichte über den bedroßlichen
Charakter der fchwebenden Reichstagsverhandlungen Luthers Seele
in furchtbarer Weife aufregten? Vgl. die Heußerung im Briefe
vb. 20. Septbr. 1530 an Yuftus Jonas: Ego paene rumpor
ira et indignatione| ?)
Wir müffen daher, fo lange Tollin nicht pofitive Zeugniſſe
für Servets Beſuch bei Luther in Koburg erbringt, diefen Theil
feiner neuen Aufſchlüſſe als eine verunglüdte Combination und
Conjectur bezeichnen, die aller Wahrfcheinlichkeit entbehrt. Freilich
tritt dann für uns die Nöthigung ein, den auf Luther bezüglichen
Paſſus in jenem Briefe Servets an Decolampad anderweitig genügend
zu erflären. Behauptet denn Servet wirklich dort, Luthern perſönlich
gehört zu Haben? Er fchreibt an Decolampad über die Differenz,
die unter den Qutheranern felbft bezüglich der Definition des Glau⸗
bens zu finden fei. Und zwar bezieht er ſich dabei offenbar auf
ein Geſpräch, das er darüber im Haufe des Decolampad mit dieſem
gehabt hat „ex ore tuo audierim‘, „te in domo tua monui“.
Decolampad habe ihm felbft mitgetheilt, wie ‚„crude‘ Luther bie
Liebe (die guten Werke) behandle, denn er fage ja, solum se ea
facere ne sit otiosus“ — alfo offenbar eine Beziehung auf
Luthers Schrift De libertate christiana, in der fich diefe präg-
nante Aeußerung befindet. Ebenfo gering achte Melanchthon den
Werth der guten Werke vor Gott. Es Handelt fich alfo um Mit
theilungen, die Decolampad bem Servet im vertraufichen Geſpräch
über die Lehre der Wittenberger gemacht hatte. Wenn nun Ser-
vet fortfährt: „Aliter enim propriis auribus a te decla-
1) Corp. Reform., ®b. I, ©. 385.
2) De Wette, Bd. IV, ©. 171.e
Luther und feine Beziehungen zu Servet. 485
rari (fidem) audivi et aliter a doctore Paulo (dod wohl Fa-
gius?) et aliter & Luthero et aliter a Melänchthone, teque
in domo tua monui, sed audire noluisti‘‘, fo ſcheint mir
diefer Zuſammenhang zu fordern, daß man das a te nicht nur zu
declarari, fondern auch zu audivi zieht, und alfo überfegt: ich
habe es ja mit eignen Ohren (von dir in deinem Kaufe bei jener
Unterredung) gehört, daß der Glaube anders von dir als von
Fagins, anders von Luther und wieder anders von Melandthon
erflärt werde. Sinb wir zu diefer Faſſung der Worte berechtigt,
dann redet alfo Servet überhaupt nicht von einer perfönlichen Be⸗
kanntſchaft mit Luther, fondern nur von Mittheilungen, die er durd)
Decolampadb über Einzelheiten feiner Lehre erhalten habe. Damit
wäre natürlich der Eonjectur Tollins jeder Anhaltspunkt genommen.
2. Beſteht diefe, unjere Faſſung der Briefftelle zu Recht, dann
erflärt fi uns natürlich die don Tollin bervorgehobene „feltene
Rückſichtnahme“ Luthers der Perſon des Antitrinitarierd gegenilber
ganz amders, aber unfered Erachtens viel einfacher und richtiger.
Richtig ift es, dag Luther ben Namen Servets nur ein einziges Mal
erwähnt, nämlich Im Briefe an Caspar Gitrtel (Güttel) 1539 1); die
beiden andern Antitrinitarier Campanus und Witel werben viel öfter
erwähnt und befümpft. Aber weit entfernt, darin eine „feltene
Rückſicht“ zu erkennen, mit welcher Luther den Spanier um bes
Eindruds willen, den feine Perſönlichkeit angeblich auf ihn gemacht
hätte, follte behandelt haben, fehen wir darin nur den natürlichen
Reflex der Thatfache, daß jene beiden andern in dem Luther nahe
liegenden SKirchengebiete mit ihren Lehren hervortraten, ihm alfo fo
zu fagen in den Wurf gekommen waren, während Servet mit feiner
Petfon wie mit feinen Schriften dem Kreife, den Luther zunächſt
überfchaute, fern geblieben war. Luther, der befanntfich fogar gegen
ihn direct gerichtete Schriften nicht vollftändig zu leſen pflegte, hat
von den Erzeugniffen Servets höchft wahrſcheinlich gar nicht felber
1) de Wette V, 155. Die Stelle in ben Tifchreben (I, 297): „Die Theologie
fol Kaiferin fein, die Philoſophie und andere gute Künſte follen derſelben
Dienerin ſein, nicht fle regieren und meiftern, wie Serbetus, Campanus
und ardere Schwärmer thun“ — fcheint ganz der Beachtung Tollins
entgangen zu fein. i
82*
486 Kawerau
Notiz genommen; ſeine Keuntnis darüber beruhte nur auf dem,
was die Freunde ihm gelegentlich mittheilten ). Nicht eine be⸗
fondere Rüdfiht nimmt er auf ihn, fondern er läßt ihn einfach
unbeachtet. Wie er über Servet Kenntnis erhielt, zeigen die Tiſch⸗
reden. Das eine Mal wird bei Tiſche von dem „gräulich böſen
Buch) wider die Heilige Dreifaltigkeit“ geredet 2), ein anderes Dial
erzählt Melanchthon von dem großen Zufall, den Servets Lehre
in Stalien finde ®). Aber gerade Luthers Erwiderungen auf Diele
Geſpräche der freunde bemweifen, daß er weder von Servets Schriften
eigene Kenntnis hatte, noch zu feiner Perjon in irgend welcher Ber
ztehung ftand. Seine Bemerkungen find ganz allgemein gehalten;
das eine Mal giebt er eine ganz allgemein gehaltene Charafteriftif
„ber Schwärmer“ al8 Antwort, das andere Mal redet er ebenjo
allgemein über Italien als ein für fchädliche Irrtümer ergiebiges
Land. Man vergleiche nur feine fonftige Weife, bei Erwähnung
eines der Schwärmer, mit denen er perjünli in Berührung ge
fommen war, fofort in concrete Mittheilungen auf Charakter, Leben
oder Lehre des betr. Schwärmers einzugehen %). Tollin fieht eine
bejondere Lindigfeit gegen Servet darin, daß Luther zwar feine Lehre
als gemeingefährlichen Irrtum bezeichne, aber nirgends zu einer
Verfolgung feiner Perfon antreibe, wogegen er doch einen Mann
wie Campanus auf Schritt und Tritt verfolgt habe (S. 29).
Allein der Unterfchied tft doch wol fehr einfach erklärt: diefer dringt
in Luthers Gemeinden ein, jener dagegen fommt ihm nie in feinen
Geſichtskreis. Das ganze Räfonnement Tollins (S. 30 und 31)
iſt daher ein reines Phantaſieſtück ohne gejchichtliche Grundlage.
1) Vgl. Punjer a. a. O. ©. 100: „Lutherus quem res Germanicae
omnino occupabant Servetum ejusque errores non impugnavit nec
per literas nec per orationes.“
3) Tiſchreden (Ausg. Förſtemann⸗Bindſeil) I, 308. Ich ſtimme Tollin in
der Beziehung dieſes Gefprähs auf Servets Dialogi de trinitate bei,
Förftemann hält die Beziehung auf eine Schrift des Campanus für
wahrſcheinlich.
8) Tiſchreden IV, 679.
4) Eben um der allgemeinen Haltung feines Geſprächs (Tiſchreden I, 303)
willen möchte ich dasſelbe nicht auf Campanus, fondern auf Servet
beuten. Denn von jenem vebet ex ſtets ganz concret und draſtiſch.
Luther und feine Beziehungen zu Servet. 487
Nun glaubt Zollin die Stellen, in denen Luther aus befon-
derer Rüdficht gegen Servet auf feine Perſon und Lehre nur fo
zu fagen durch die Blume angefpielt Habe, gegen bie gewöhnliche
Annahme um etlihe vermehren zu können. Zunächſt trägt er eine
nene interpretation der Stelle in Luthers Brief an die Erfurter
Prediger vom 1. Yuli 1532 vor, wo Luther von Witzel fchreibt:
„qui nobis cras Campanum Mauro obstetricans ostendet‘ (de
Wette, Bd. IV, ©. 386). Maurus fei niemand anders als ber
Spanier Servet, denn Maurus fei ja im 16. Jahrhundert häufig
Bezeichnung hriftlicher Spanier gewefen; in obstetricans hätten
wir zugleich eine deutliche Anspielung auf Servet als Arzt. Die
Worte Zollins über diefe Briefftelle find ein Tehrreiches Beiſpiel
um zu zeigen, was für Verwirrung bei einer flüchtigen Quellens
benutung entftehen Tann. Sehen wir davon ab, daß er fidh für
feine überrafchende Bemerkung, fpantfche Chriften feien häufig ale
Mauren bezeichnet worden, der Mühe eines Beweiſes entzieht, —
es ift auch fonft faft jedes Wort irrig, das er zu diefer Stelle
bemerkt. Er lieft Mauro obstetricante, wie de Wette allerdings
im Texte gefchrieben hat, allein ſchon die Anmerkung Bd. IV,
S. 386, noch mehr aber was Seidemann (Bd. VI, ©. 494)
bemerft bat, hätte ihm zeigen Tönnen, daß fein Grund vorliege,
vom Text bes Originals, das obstetrieans (alfo auf Witel be-
zogen) hat, abzuweichen. Ferner führt Tollin unfern Brief als
Zeugnis dafür an, wie Luther den armen Campanus auf Schritt
und Tritt verfolgt Habe: ber Brief ift aber lediglich gegen Wigel
gerichtet, zu verhindern, daß dieſer nicht Profefjor des Hebräifchen
in Erfurt werde. Ebenſo irrig ift Tollins Annahme, der Brief
ſei gejchrieben, fowie Luther erfahren, dag Witel den Campanus
in Nimegk beherbergt habe: denn der Brief ift vom 1. Juli 1532,
jener Beſuch des Campanus dagegen fand 1529 ftatt, fteht aljo
zu unferem Briefe in gar keinem birecten Zufammenhange ). In
den dazwiſchen liegenden Jahren waren Witel und Campanus fo
weit auseinander gekommen, daß erfterer am SYohannistage 1532
1) Bgl. Witzzels Brief v. 24. Febr. 1530 in Epistolis G. Wicelii, Lips.
1537, 81. Eij und Luthers Brief vom 1. April 1580 (de W. III, 566).
488 Rawerau
von Erfurt aus fchreiben konnte: Superest Campanus, qui si
coram adstaret, in faciem illi expuerem (si vera sunt quae
de portento isto narrantur) adeo odi quotquot sunt haereses
adversus sacrosanctam Trinitatem !)., Daß man in Luthers
Driefe an die Erfurter bei dem Worte Mäurus nicht an Servet
denken könne, vielmehr eine Berfönlichkeit juchen müffe, die unter
diefer Bezeichnung den Erfurtern felbjt bekaunt und verftändlic
war, Tiegt doc wohl auf der Hand. Meltere, wie Schelhorn,
haben auf den befannten Buchhändler Mauritius Golze Hingewiefen,
diefer war ja, laut des Zeugniſſes der Briefe Witzels der Ver⸗
mittler der Bekanntſchaft des Campanus und Wigel ?),; auch findet
fih der Name eined Johannes Morus unter den Belaunten
Witzels ). Seidemann hat in feiner vorfichtigen Weife unferen
Maurus, ohne eine beftimmte Entſcheidung zu treffen, mit einem
Tragezeichen verfehen (de Wette, Bd. VI, ©. 679) — und daran
werden auch wir wol uns genügen laffen müffen. Aber Tollins
Ausdeutung wird wol nur wenigen plaufibel erfcheinen,
Ferner nimmt er an, daß Luther in ber Vorrede zu Bugen⸗
hagens Athanafius 1532 mit feiner Klage über einige „welſch⸗deutſche
Schlangen und Ottern, welche in ihren Schriften und Colloquiis
bin und wieder Samen ausftreuen, der um ſich frilfet wie. der
Krebs“ ©), neben andern auch Servet gemeint habe. Doch bfeibt
uns auch hier die Beziehung fehr zweifelhaft, wenn wir bedenfen,
wie beftimmt Luther fonft unter einem, Italo Germano einen.
Deutfchen verfteht, der nach Stalien gefommen ift (ogl. Zijchreden,
Bd. IV, ©. 674. 675), Daß Luther mit dem Wort serpentes
gar auf ben Namen Servet. und mit dem Ausdruck Colloquiis auf
die Dialogi de trinitate habe anfpiglen wollen, will ung durdaus
nicht einleuchten. Wäre übrigens in diefer Vorrede, wie Tollin
beftimmt glaubt, Servet bezeichnet, fo wäre gewiß die „Lindigfeit“
gegen feine Perfon bei Luther nicht fonderlich groß geweſen!
Tür völlig verfehlt halten wir aber Tollins DVerfucd,, aus
1) a. a. O., Bl. düj.
2) a. a. O., Bl. Eij. Hiijb-
8) a. a. O., Bl. Niij b.
4) Leipz. Ausg. XXI, 106.
Luther und feine Beziehungen zu Servet. 459
Luthers „Warnungsichrift an bie zu Frankfurt“ 1533 eine fort»
währende, aber aus den befannten Rückſichten verfteckt gehaltene
Polemik gegen Servet berauszulefen. Diefe Schrift fagt ja deut»
lich genug, gegen wen fie gerichtet jei, nämlich gegen die unter
Zwingli’fchen Einfluß gerathene Geiftlichleit Franffurts, gegen die
„Zropiften und Figuriften“ mit ihrer Abendmahlslehre. Das
Treiben dieſer Männer ſucht er als ein doppelzlingiges zu brand»
marfen, fie predigten mit dem Munde vor dem Volke, Ehrifti Leib
und Blut fei im Sacrament wahrhaftig gegenwärtig, aber für fi
im geheimen hätten fie ihre heimliche Gloffe, mit der fie ihre
öffentliche Lehre umdeuteten und entwertheten. Um nun dies ihre
„Gaukel“⸗Weſen, dies ihr „unter dem Hütlein fpielen“ zu charakteri=
firen, führt er zwei Analoga an, einmal das Gaufelfpiel ber
Arianer in alter Zeit, die es ja auch geliebt, ihren chriftologifchen
Standpunft unter zweideutigen Ausdrücken zu verfteden, und dann
als Beifpiel aus gegenwärtiger Zeit das täufchende Spiel feiner ka⸗
thofifchen Gegner, die nun wol auch von ber Glaubensgerechtigkeit
in einer Weiſe vebeten, daß man fich dadurch fchier möchte täufchen
Loffen und glauben, fie hätten den alten Greuel der Werfgerechtigkeit
Fahren lafjen. Wo liegt num hier eine Veranlaffung vor, Quthern zu
imputiren, er meine, wenn er von den Arianern zu Hleronymi Zeiten
rede, nicht dieje, fondern den Antitrinitarier Servet? und wenn er
von den Bapiften rede, jo meine er wiederum nur Servet um
feiner pelagianifchen Nechtfertigungslehre willen? Xollin fucht
fogar ganz fpecielle Beziehungen auf Servet herauszufpüren; die
Worte Luthers, betreffs der Arianer „fie Hatten den Karren zu
weit geführt, da wijchten fie das Maul, fchwiegen ftill von der
Kreatur und nannten Chriftum einen Gott, ja einen wahrhaftigen
Gott“, feien ein verjteckter Hieb auf den Widerruf, mit welchem
Servet feine Dialogi de trinitate eröffnet hatte; und die Worte
betreffs der Papiften „fie pugen fich herfür“ follen gar eine An-
Ipielung auf Butzer fein, darum daß diefer eine Zeit lang ſich zu
Servet gehalten (!). Zu diefem Spüren nach verftedten Beziehungen
fehlt unferes Erachtens jede Veranlaffung. Nach Tollins Inter⸗
pretation wäre diefer geheime Angriff auf Servet die eigentliche
Haupttendenz des Schreibens. Er Hat dabei aber außeracht ges
4% Kameran
loffen, wie tief Luther durch die aus Yrankfurt ihm gewordenen
Mittheilungen über die Abendmahlsfrage erregt worden war.
Das ganze Schreiben ift ein wuchtiger Hieb gegen das Vorbringen
Zwingliicher oder genauer Straßburgiſcher Abendinahlsanfchauungen
in Deutfchland. Luther ift ingrimmig, weil er hier wieder ein
täufchendes Spiel mit zweidentigen Worten und Formeln zu ers
fennen glaubt. Dies Gewebe will er mit wuchtigen Hieben durch⸗
hauen. Es ift daher unferes Erachtens ganz unmöglich, in dies
Schreiben, das fo ganz in tieffter Indignation über verſtecktes Spiel
der Gegner gejchrieben tft, irgend welche künſtlich verftedte Hinter⸗
gedanken Luthers Hineinzulegen. Es ift ein unglücklicher Gedanke,
Luthern gerade in der Schrift, die mit fo grimmiger Rede das
„unterm Hütlein ſpielen“ geifelt, jelber ein verftectes, hinterm
Berge Haltendes Kampfſpiel führen zu laffen. Hier ift ficher jedes
Wort fo gemeint, wie e8 lautet, und bedürfen wir zum Verſtändnis
diefer künſtlichen Interpretation Tollins ganz und gar nicht.
Wenn man fi übrige wundert, warum doch Quther den Sacra-
mentirern gerade die Arianer als warnendes Bild vorhält, fo
wolle man fi erinnern, daß er ja von Anfang an Zwingli und
feinen Genoffen mit dem Argwohn gegenübergeftanden, als ob es
wol mit ihrem ZTrinitätsbelenntnis nicht richtig beftellt fein möchte.
Es fei daran erinnert, wie er fhon 1529 in Marburg — mo
alfo noch fein Servet durch feine Beziehungen zu Decolampab oder
zu Butzer die „Sacramentirer“ verdächtig gemacht hatte — Zwingli
befonders auch über feine Zrinitätslehre befragte 9).
3. Tollin bat fich weiter bemüht, in dem Kreiſe der Luther
naheftehenden Freunde fowol ein lebhaftes Intereſſe für die Schriften
des Servet, wie ein auffallend mildes Urtheil über ihn nachzu⸗
weifen. Er erzählt, Joh. Aurifaber, Luthers intimfter Schüler
und Zifchgenofje, habe 1532 ServetS Dialoge bald nad ihrem
Erſcheinen gelefen; während nun die oberländifchen Theologen
Gottesläfterung, Frevel u. dgl. darin gefunden, bediene fich der
1) Vgl. Köftlin, Luther IL, 181; vgl. auch die Verbächtigung Butzers
bei Luther durch Gerbel im April 1527 bei Baum a. a. D., ©. 388;
ſ. auch Zollins eigene Bemerkungen im Magaz. f. d. Kit. d. Ausibe.,
1876, ©. 334.
Luther und feine Beziehungen zu Gervet. 491
Famulus Luthers der milden Bezeichnung „Irrtum“, und Luther
verweiſe ihm diefe Lindigfeit des Urtheils nicht. Woher weiß Tollin
all' diefe Einzelheiten? Seine Quelle ift Aurifabers „Erzählung
derer Begebenheiten mit Luther”, in welcher diefer unter vielen an⸗
dern kurzen Notizen auch beim Jahre 1532 das Erfcheinen der
Schriften des Spaniers notirt ?), Aus ber kurzen Notiz geht ab»
ſolut nicht hervor, ob Aurifaber felbft jemals diefe Schriften gelefen
und ein felbftändiges Urtheil fich über fie habe bilden können.
Bedenkt man nun ferner, daß Aurifaber im Jahre 1532, wo ihn
Zollin mit Eifer Servets Dialoge ftubiren läßt, ein Burſche
von 13 Yahren war, daß er erjt 1537 in Wittenberg Student
wurde 3), fo fällt Tollins ganze Erzählung rettungslos zufammen.
Was aber die „Lindigkeit“ angeht, bie angeblid) in dem Gebraud)
des Wortes „Irrtum“ fich zeigen foll, jo hat Tollin ganz ver»
geffen, dag ja eben derſelbe Aurifaber jene Tiſchrede veröffentlicht,
in welcher Servets Dialoge als ein „gräulich bös Buch“ betitelt
iwerden. „Und diefe Lindigkeit verweift ihm Quther nicht“, — meint
Zollin etwa, Luther babe jene Aurifaberfche „Erzählung derer
Begebenheiten mit Luther” durchgefehen und mit feinem placet
verfehen? Auf ebenfo unficherem Grunde erbaut Zollin eine
genaue Belanntfhaft Veit Dietrich mit Servets Schriften. An
ber ſchon erwähnten Stelle der Tifchreden (I, 303), two Luther vors
her geäußert, es ſei der Schwärmer Art eigene Gedanken bem Worte
Gottes entgegenzufegen, und Dietrih dann erwidert: „es follte
einer ſchier bitten, daß er in der 5. Schrift nicht gelehrt würde“,
glaubt er nämlih als zum Verſtändnis nothwendig einfchieben zu
mäüffen, dag Dietrich aus Servet® Schriften erfehen, daß der
Spanier nichts weniger beabfichtigte, al8 dem Worte Gottes eigene
Gedanken entgegenzufegen, er babe alfo den rein biblifchen Charakter
feiner Arbeiten wohl erkannt. Aber dabei ift überfehen, daß ja
Luther dem Geſpräch eine ganz allgemeine Wendung gegeben, daß
er gar nit von Servet in specie, fondern von der Art ber
Schwärmer im allgemeinen redet. Dietrichs Bemerkung erflärt fi
1) Leipz. Ausg. XX, 858.
3) S. Herzogs Real-Enc., 2. Aufl. D, 2.
.492 Kamwerau
alſo auch völlig aus. der Erinnerung an die gewöhnliche Erfahrung,
daß fi die Schwärmer allerdings mit Vorliebe auf einzelne Schrift⸗
ftellen berufen. Eine fpecielle Beichäftigung mit Servets Schriften
ift durchaus nicht mit irgend welcher Gewißheit inbieirt.
4. Am ſchärfſten muß ich nun aber dem Verfaffer in dem ent»
gegentreten, was er über die Ummandlung redet, die mit Luther
feit dem Auftreten der Antitrinitarier vorgegangen fei. Seine Vor:
eingenommenheit für Servet Hat ihn Hier verleitet, das Bild des
Wittenberger Reformatord arg zu verzeichnen. Weber vieles, was
bier hervorzuheben ift, ſoweit es namentlich Servets Standpunft
betrifft, verweifen wir auf die treffenden Bemerkungen Pünjers
(Theol. Lit.-Bl. 1876, ©. 294. 295; vgl. auch in der Differtation
de M. S. doctrina den Abſchnitt ©. 11—13). Ein Sat, wie
wir ihn beijpielsweife S. 45 leſen: „Luther bat eben noch feine
Ahnung von der Dogmengeſchichte“, ift von Tol lin ſicherlich nicht
fo hochfahrend gemeint, wie er Elingt; es lautet in feinen Arbeiten
manches Wort provoeirender und abfprechender, als der Verfaſſer
wol jelbft beabfichtigt hat. Beleuchten wir bier zunächft die Ans
Inge gegen Luther, daß er im Kampf gegen die Antitrinitarier
nach der Firchlihen Tradition als nad) der ficheren Stüße und
Fundament für die firchliche Lehre gegriffen habe. „Die Heiligen
Kirchenväter wurden die Fahnenträger des Proteftantismus, und
Continuität die Inſchrift der evangelifchen Reichsfahne. An den
Fahnen ift fortan Luthers Heer nicht mehr zu unterjcheiden von
den Legionen der fcholaftifchen Sophiftif und den Raubritterrotten
der römischen Inquiſition.“ „Luthers Sprade, aber des Papftes
Geiſt.“ Diefer Frontwechjel ſoll in den Sthriften des J. 1532
for vor Augen liegen. Es ift alfo im weſentlichen der Vorwurf,
Luther habe das Formalprincip zu unten der Tradition fallen
laſſen, und zwar zunächſt in Bezug auf die Trinitätslehre. Allein
die Sache fteht dod) hier nad) Ausweis aller Selbftzeugniffe Luthers
fo, daß er fich nicht um des Athanafins oder um irgend welcher
Concilbeſchlüſſe willen an die Trinitätslehre gebunden weiß, fondern
allein durch die Macht des Schriftzeugniffes, vgl. Zrinitatisprebigt
1535: „Hier jollen wir Chriften wiederum Gott von Herzen danken,
daß wir von folchen Hohen Artifein fo herrliche, klare, fchüne,
Luther und feine Beziehungen zu Servet. 493
unleugbare Zeugniffe in der heiligen Schrift Haben, da wir
unfere Herzen auf gründen können. “Denn wir dürfen bier nicht
den Menſchen glauben; Chriftus, unjere Seligfeit, felbft zeuget und
prediget und auf das allerfeinſte.“ „Diefer Artikel ift der höchfte
in der Kirche, der nicht von Menjchen erdacht, noch je in eines
Menſchen Herz kommen, fondern allein durch das Wort uns
offenbart ift.” I) Es gilt hier wefentlich dasfelbe wie von feiner
Abendmahlslehre: gebunden fühlt er fich durch das Schriftwort;
daneben jucht er nach Kräften Zeugniffe der patres für feine
Auffaffung des Schriftwortes beizubringen (man denke z. B. an
die Sammlung von testimoniis patrum, die er unmittelbar nach
dem Marburger Geſpräch auffegt, Köſtlin II, 139), So ift
ed auch feine volle exregetifche Ueberzeugung, daß die Schrift Alten
und Neuen Teſtaments die Trinität lehre; nicht der Continuität
zu Liebe hält er fie feit, fondern. weil er „von der Schrift nicht
weichen“ will. „Die hohen Schulen haben. mancherlei distinctiones,
Träume und Erdichtung erfunden, bamit fie haben wollen anzeigen
die heilige Dreifaltigkeit, und find darüber zu Narren geworben.
Darum wollen wir aus der Schrift eitell Sprüde nehmen.“
(Kirchenpoſtille, Erl. Ausg., 1. Aufl. XIL, 378.) Ob er zu feiner
Exegefe der Schriftftellen gelommen wäre, wenn er nicht in ber
1) Wir erinnern daran, wie Luther 1525 de servo arbitrio gegen Eras-
mus die perspicuitas ber 5. Schrift gerade in Bezug auf bie Trinität
nerfiht: „von den 8 Perfonen der Gottheit, von der Bereinigung der
Menfchheit und Gottheit Chriſti . . welche Artifel- du fageft, daß fie
auch noch dunkel ftehen. Denn fo bu damit willft gemeint haben der
Sophiften vergeblich Gezänt, die fie bei diefen Stücden aufgebraddt, was
hat dir das Wort Gottes gethan und die reine heilige Schrift: daß bu
ber willſt der heilloſen Sophiften Misbrauch Schuld geben? Die Schrift
redet Har genug davon und faget, daß 3 Perſonen ein Gott fein, daß
Chriſtus wahrer Menſch und Gott je. Da ift nichts dunkels oder finfters.
Wie aber das alles zugehe, das drüdet die Schrift nicht aus, iſt auch
nicht noth zu wiffen. Die Sophiften magft du fchelten, die h. Schrift ift
freilich unfchuldig . . die Arianer u. dgl. magſt du ſchelten, daß fie die
Maren Sprüche von ber Dreieinigleit, von der Menſchheit und Gott⸗
heit Ehrifti nicht gejehen haben.” "(Walch XVII, 2071.) Dieſen Stand-
punkt hat Luther unſeres Wiſſens ganz unverändert beibehalten.
494 Kamweran
kirchlichen Zrinitätslehre aufgewachfen wäre, ob er bei einem völlig
„vorausſetzungsloſen“ Scriftforfchen fie in der Schrift gefunden
hätte, — das ift ja eine ganz andere Frage; aber das muß con⸗
ftatirt werden, daß er aud) Bier mit vollem Bewußtſein fih auf
die Schrift allein ftellt. Hat er nun in ber Bibel die Zri-
nitätslehre des Athanaſius bezeugt gefunden, fo ift ja ganz natür⸗
ih, daß er in den altlirdhlidien Kämpfen um Chriftologie und
Zrinität, in dem Unterliegen der Arianer, Neftorianer u. f. w.
ein Gericht Gottes über die gegen Gottes Wort anlaufende. Ver⸗
nunft erblict, daß er alfo auch diejenigen, welche die von Gott in
der kirchengeſchichtlichen Entwidlung bereits gerichteten Irrlehren
erneuern wollen, num nicht nur mit dem Hinweiſe auf die Schrift,
fondern aud mit dem Zeugnis der Geſchichte befämpft. Aber die
Schrift ift ihm auch jet noch die eigentliche Waffe der erneuerten
Irrlehre gegenüber; er gibt 3. B. den Rath, das Evangelium Jo⸗
hannis und die Briefe Pauli fonderlich gegen die neuen Arianer
zu treiben ?), oder ermahnt im Kampf gegen diefelben Irrlehrer
fleißig Schrift gegen Schrift zu halten, um nicht durch ein verein-
zeltes aus dem ganzen der Schrift gelöftes Schriftwort verwirrt
zu werden 3). Er bat fich aljo keineswegs jett der Tradition völlig
untergeben, er vertaufcht keineswegs das Schriftprineip mit Rome
Fahnen. Man lefe nur in eben der Schrift, in welder er nad
Tollin feine „Umwandlung“ vollzogen hat, feinen Spott über
die Leute, die da fagen: ich glaube, was bie Kirche glaubt. „Wie
fönnte ein befjerer Glaube fein, der weniger Mühe und Sorge
hätte benn diefer ?*°) Man leſe ferner die Schrift „Wider bas
Concil. Obftantienfe” 1535 und das gewaltige Zeugnis in „Von
den Conciliis und Kirchen“ 1539 — da fieht man, wie wenig er
der Continuität oder Firchlichen Autorität fich zu untergeben ge⸗
fonnen ift.
- Ebenfo nichtig ift die Behauptung einer Frontveränderung in
Bezug auf „den eigenen Priefterftand und bie zwifchen Gott und
dem Einzelnen als Verſöhnerin eintretende Kirche“ (S. 45). ALS
1) Werke, Jenenſ. Ausg. VI, 193. 201b (1534),
3) Ebendaſ. VI, 513b (1537).
3) Ebendaf. VI, 112b.
Luther und feine Beziehungen zu GServet. 4%
„Bapftes Geiſt“ offenbarende Worte citirt Tollin die Stelle in
der „Warnungsihrift an die zu Frankfurt“: „ih wollt, daß man
die Jugend und den Böbel nicht allein gemöhnet zu fagen: wür-
diger Herr, fondern auch Heiliger Herr, heiliger Vater“. Das
klingt ja freilich nad) einem ftramm römischen Amtsbegriff. Allen
man fehe doc nur auf den Zufammenhang. Luther ift erzürnt,
daß die Frankfurter Sacramentirer fi über feinen Heinen Sate-
. Hismus Iuftig gemacht haben, weil er daſelbſt den Beichtvater mit
„wärdiger Herr“ anreden läßt. Dieſem Spott gegenüber betont
er nun, ſchon „weltliche Zucht“ erfordere, daß Jugend und Pöbel
den Wlten und den Lehrern mit Ehrerbietung begegnen follten.
Ein Stücklein Pädagogik hält er ihnen vor, denkt aber nicht daran,
einen neuen Amtöbegriff aufrichten zu. wollen. Einen PBriefter-
ftand als Klerus den Laien gegenüber kennt er jet jo wenig wie
früher, man vergleihe nur feine Auslegung von Palm 110
(Zenenj. Ausg. VII, 326) vom Jahre 1539.
5. Mit wenigen Worten fei bier auch noch eine Behauptung
Zollins in feinem „Lehrigftem Servets“ zurüdgemwiefen. Er
eitirt bort (S. 215) die entjchiedenen Worte Luthers gegen Mel⸗
chior Hofmann, in melden er dem Dofetismus entgegen»
tritt und die reale Menjchheit Chrifti betont. Servet habe, ſetzt
Zollin hinzu, ſolche markige Sprache ſchon vier Jahre früher dem’
Doketismus gegenüber geführt. „Servet ift e8, der jene fächftfche
Männer diefe antidoletiiche Sprache gelehrt hat.“
Auch bier zeigt fich die Neigung des Verfaſſers, den Spanier
einen Einfluß auf Luthers Lehrentwiclung üben zu laffen, den ber»
felbe doc) entfchieden gar nicht gehabt Hat. Es möchte ja genügen,
auf Luthers Auslegung bes zweiten Artikels im kleinen Katechis⸗
mus zu verweilen, die doch ohne Beeinfluffung Servets gejchrieben
worden if. Doch können wir ja auch fonft noch in Luthers
Schriften aus den zwanziger Jahren antiboletiiche dieta in Menge
anführen. Er beruft ſich 3. B. 1522 in der „Antwort auf König
Heinrich von England“ zur Widerlegung der römischen Wandlungs⸗
Iehre anf die Analogie der beiden Naturen in Chrifto; wie man
fage, da8 Brot fei Chrifti Leib, und doch höre das Brot nicht
auf, Brot zu fein, fo könne man auch fagen, dieſer Menſch ift
496 Kaweran
Gott, und body verfchwinde dadurch die Menſchheit nit X). Ober er
predigt 1525 von Chrifto al8 einem „rechten, natürlichen, pur
lautern Menſchen“, der „ein recht natürliches Kind und lauter
Menſch fei, der Abrahams Fleiſch und Blut an fi Habe“ 2).
Wäre bas etwa nicht eine marfige antidofetifche Sprache? End⸗
fi fet mir no eine Bemerkung Über Luthers „trinitarifche An-
fechtungen“ geftattet. Die mehrfach erwähnte Stelle in den Tiſch⸗
reden (I, 303) redet davon. Tollin ftellt num die Sade jo bar,
daß Luther in feiner vorreformatoriſchen Zeit ernftlich verfucht
babe, trinitarifch einen eigenen Weg zu betreten, auf fpeculativem
Wege eine eigene. Trinitätslehre, feitab von der Zweinaturenlehre
ih zu Schaffen. Hernach habe er je Länger je mehr an Wort und
Weſen der Trinität im Sinn der traditionellen Kirchenlehre fich
gewöhnt, bis ihn die Tradition völlig in ihre erftarrende, ein
engende Gewalt befommen babe. Zum Beweis dafür erinnert er
an Luthers Weihnachtöpredigt 1515, dann wieder an jene Stellen,
in denen er das omoovasos abgewiefen und ſeine Abneigung gegen
den terminus Trinität zu erkennen gegeben. Aber auch bier er-
jcheint mir Tollins Auffaffung des Sachverhaltes nicht zutreffend
zu fein. Wenn Quther befennt, trinitarifche Anfechtungen verfpärt
zu haben, jo meint er damit gewiß nicht jenen einzelnen fpeculativen
Verſuch im %. 1515, denn da hat er wol nichts weniger im Sinne
gehabt, als jeitab von ber Kirchenlchre eine eigene Trinitätsfehre zu
conftruiren, es war vielmehr nur ein Verfuch, die von ihm gläubig
acceptirte Kirchenfehre mit den Mitteln philofophifcher Schulweisheit
vorzutragen. Ich möchte bei feinen „trinttarifchen Anfechtungen”
viel Lieber Ausſprüche Luthers In Vergleich ftellen, wie etwa fein
Belenntnis (1538): „Das hat mich die Erfahrung allzu oft ge
lehrt, wenn mich der Teufel außer der Schrift ergreift, da ich an-
fange mit meinen Gedanken zu fpazieren, und auch gen Himmel zu
flattern, fo bringt er mich dazu, daß ich nicht weiß, wo Gott
1) Senenf. Ausg. DI, 141.
2) Erl. Ausg. XIX, 3. 17. Rgl. aud) 1519 im Sermon vom hochw.
Sacrament den Ausdrud „natürlich wahrhaftiget Leib Chriſti“ (Ienenf.
Ausg. 1, 208), und für die frühefte Lehrpertobe Luthers 1515—1816,
vgl. bie Bemerkungen Herings in dieſer Beitfchrift 1877, &. 619.
Luther umd feine Beziehungen zu Seroet. 497
oder ich bleibe.“ !) Oder was er vom Bekenntnis der Gott:
heit Ehrifti (1539) fchreibt: „Dies ift der fpigigen Vernunft hohe
Klugheit wider diefen Artikel, welche wir Gottlob auch fehr
wohl wiffen und verjtehen und gleich fowohl ald andere bei
uns finden fünnen“ 2). Er redet damit nicht von einer bes
ftimmten Periode feiner Lehrentwicklung, fondern von den Anfech⸗
tungen des Zweifels, die dem nicht erjpart bleiben, der eben nicht
den bequemen Weg „ich glaube was die Kirche glaubt”, gehen,
jondern feinen Glauben in viel Kämpfen und Ringen fich erarbeiten
muß. Das find Gewiſſensnöthe geweſen, bie aber auf feine öffent-
liche Lehre nie einen Einfluß gelibt haben. Auch wo er dad opoov-
csog preisgibt, ift 'er nicht etwa in der Sache felbft ſchwankend
geworden, fondern will nur im Intereſſe einer rein biblifchen Ter⸗
minologie den in der dogmatifchen Entwicklung der Kirche erft
fpäter geprägten terminus fallen laſſen. „Wer will mich zwingen,
des Wortes mich zu bedienen, wenn ich nur an ber Sache Halte,
welde nah der Schrift auf einem Concil feftgefegt worben
11?“ 2) Ebenſo wenn er zu wiederholten Malen fein Meisfallen
an dem Wort Trinität und den Verdeutichungen desfelben zu er-
kennen gibt, fo jind das rein formelle Bedenken, bie für feine
Zrinitätslehre felber nicht mehr Bedeutung haben, als fein Ber»
druß über das „undeutſche“ Wort Kirche ) für feine Lehre von der
Kirche. Wir können Hier nur mit Köftlin fagen: „Anfangs ift
er einer nicht aus dem Scriftwort geichöpften Terminologie viel«
mehr abgeneigt; dann fühlt doch aud er da8 Bedürfnis einer
ſolchen zur Feftftellung des fchriftgemäßen Glaubensinhaltes bejon-
ders gegenüber den Kebern, welche diefen verkehren, und fchließt
fih dann an die Firchlich herkömmliche an.“ ©) Er hat ja felbft
biefen Fortfchritt in der Schrift von Eoncil und Kirchen zu recht⸗
1) Aust. v. Joh. XVI, Ienenf. Ausg. VE, 204».
2) Pſalm 110, Ienenf. Ausg. VII, 801.
8) Walch XVIII, 1455 und in der Einleitung zu diefem Theile S. 78—81.
Uebrigens erſchien die Refutatio rationis Latomianae 1521, nicht 1522,
wie Tollin angibt.
4) Bol. Zenenf. Ausg. VI, 279.
5) Luthers Theologie II, 292.
498 Kawerau, Luther und feine Beziehungen zu Servet.
fertigen gefucht: „Daß man nicht follte brauchen mehrere oder andere
Worte, als in der Schrift ftehen, das kann man nicht halten,
fonderlih im Zank und wenn die Ketzer die Sachen mit blinden
Griffen wollen faljh machen und der Schrift Worte verkehren.
Da war von nöthen, daß man bie Meinung der Schrift, fo in
vielen Sprüchen gejeget, in ein kurz und fummarien Wort faffet.” ')
Wollen wir diefe Yortentwidlung Luthers nicht als eine ganz na
türliche und fachgemäße anerkennen ?
Wir ftehen am Ende unferer Prüfung der neuen Auffchlüffe,
die und über die Beziehungen Luthers zu Servet haben gegeben
werden follen. Das Ergebnis ift, das wir dad Neue, womit
Zollin bie Kenntnis und Beurtheilung ber Reformationsgejchichte
glaubte fördern zu können, als auf unfolidem Fundament ruhend
ablehnen mußten. Der DVerfaffer befigt bie gefährliche Gabe, un
icheinbare und in der That unergiebige Quellenmittheilungen ver-
möge feiner ingenidfen und erfindungsreichen Phantafie ergiebig zu
machen, und trägt dann die Gebilde feiner Inventions⸗ und Com⸗
binationsgabe mit einer fo zweifellofen Sicherheit und einer fo über
zeugungsvollen Berufung auf feine Quellen vor, daß der Xefer, der
fi nicht die Mühe nimmt, die einzelnen Quellen zu prüfen, von
der zuverfichtlichen Sprache bes für feinen Servet begeifterten Ver⸗
foffers vollftändig captivirt wird. Die zahlreichen Servetftudien,
mit denen der rührige und mit voller Begeifterung arbeitende Ver⸗
faffer fich befchäftigt, werdet — das hat uns die Prüfung biefer
einen Studie gezeigt — erft dann der nüchternen und ungejchminkten
Gefchichtsforfchung den Gewinn bringen, den man von fo viel
Mühe und Fleiß erwarten darf, wenn der Verfaffer ftrenger ſcheiden
wird zwifchen dem, was die Quellen wirklich fagen, und dem, was
fein lebhaftes Intereſſe an Servet aus ihnen herauszulefen weiß.
1) Ienenf. Ausg. VII, 267.
Diegel, Bergleichung der heutigen evangelifchen Predigtweiſe. 499
2.
Bergleihung der heutigen evaungeliſchen Predigtweiſe
mit der vor fünfzig Jahren.
Bon
Dr. 9. ©. Diegel,
Profeſſor in Briebberg.
Auf Grund der beiden Predigt-Sammlungen ;
1) Bredigten über fämtlihe Sonn- und Belttags - Evangelien
des Jahres. Kine Gabe chriftlicher Liebe, der neuen
evangelifchen Gemeinde in Mühlhaufen dargebracht von
jest Tebenden deutſchen Predigern. Herausgegeben von
Dr. €. Zimmermann. ‘Darmftadt, bei Lesle. 1. Band,
1825; 2. Band, 1827.
2) Die Hriftliche Predigt in der evangeliſchen Kirche Deutfch-
lands. Sammlung geiftliher Reden über die Evangelien
des Sirchenjahres. Herausgegeben von W. Stödigt.
Wiesbaden, J. Niebner, 1876.
————
Im dritten Heft des erſten Bandes dieſer Zeitſchrift für 1828,
©. 669 ff. hat de Wette die oben zuerſtgenannte Predigtſammlung
angezeigt und dabei feine Unficht über den damaligen Stand ber
deutjch »evangelifchen Kanzelberedfamleit ausgefprocdhen. Das Er-
fcheinen des zweitgenannten ähnlichen Werkes, gerade 50 Jahre
fpäter, legt die Frage nahe, in wie fern fich feit jener Zeit die evan⸗
geliſche Predigt verändert hat, insbefondere In wie weit die von
de Wette damals gerügten Fehler überwunden find. Gewiß wird
man billigen, daß fich nachfolgendes möglichft genau an die einfti-
gen Urtheile de Wette's anſchließt. Demfelben eigneten ja in jel-
tener Vereinigung ebenſowol wiffenjchaftliche Tüchtigleit als feines
religiöfes DVerftändnis und warmer praftifher Sinn. Wenn
Referent nad) einem folchen Vorgänger das Wort nimmt, fo glaubt
Theol. Stub. Sarg. 1878. 33
N Diegel
er den Beruf dazu dem Umſtande entnehmen zu dürfen, daß nidt
nur Überhaupt Homiletik und insbefondere Geſchichte der Predigt
fette Hauptledensaufgabe bilden, fondern daß er and mamentlid
feit einem Jadhrzehnte Predigten über bie Perikopen zu fiudiren
pfleut. Er bat dabei je 20 bie 30 Predigten über diefefbe Peri⸗
tepe unuritteldar dinter einander genau vorgensmmen Wie made
nach Derurtigert Ardeiten eine ſolche Bergleichung, wie die hier ver⸗
radın, geloyen dat, veritehe ſich ohne weitere Erörterung.
Ieder Predigt ae deeaderes Wort zu women, mie de Wer
aut UL dc m gerutii Es miste Aus, ER IDZT Eiger
wur RI TETIOE zu Meeteer, reitet But Raum or Br
Sad Kuumgnt wine Un mie zryinde Aeiuhlımg zu
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Bergleihung der heutigen evangelifchen Predigtweiſe. 501
wort als Duelle der Heilserkenntnis und als Lebensrichtſchnur an⸗
erkennen und befähigt ſind, dasſelbe — man ſtöre ſich nicht an
dem Ausdruck — in die Sprache unſerer Zeit zu überſetzen, d. h.
es für die Zeitbedürfniſſe geltend zu machen und ſolcherweiſe
denjenigen zu genügen, welche in den Zeitbeſtrebungen nicht ver⸗
fernt haben, da8 Emige zu fuhen und fih daran zu halten.“
Diefe Worte Haben wir um fo lieber angeführt, da fie einige
treffliche Anhaltspunkte für unfere fpäteren Darlegungen bieten.
Borerft werde nur noch erwähnt, dag weit mehr nad) der
rechten, als nad der linken Seite hin über die fogenannte Mittel-
partei im engeren Sinne hinausgegangen wird. ‘Demnad) erleidet
die Vollftändigkeit der überjichtlichen Bemerkungen über die neueite
evangeliiche Predigt von vorn herein die Bejchränfung, daß die Art
und Weife, wie die vorwiegend kritiſche Schule ihre theologifchen
Anfchanungen auf der Kanzel darlegt ober auch zurücktreten läßt,
bier nicht zur Sprache fommt. Uebrigens darf man annehmen,
daß mehr als auf andern Gebieten auf dem homiletijchen viele
Wahrnehmungen mehr oder minder für jede theologifche Richtung
gelten, alſo die hier mitgetheilten auch großentheils für ftreng con«
fejfionelle und für weitgehend Tiberale Predigten. Sie alle ent-
ftehen ja vielfach unter den Kinflüffen derfelben geiftigen Luft⸗
ftrömungen. Doch findet fich diefe Gleichheit natürlich weit mehr
in der homiletifchen Geftaltung als im theologifchen Inhalte.
Jedenfalls darf es als ein großer Vorzug der Wiesbadner
Sammlung vor der Darmftädter bezeichnet werden, daß erftere weit
mehr aus einem Geifte hervorgegangen iſt. Auf benfelben
Grundüberzeugungen wird benjelben Zielen zugeitrebt. Das ift für
ein Undachtsbuch eine fait umerläßliche Forderung. Nur unter
diefer Bedingung wirken Predigtjammlungen von ganz verfchiebenen
Verfaſſern heilfam. Andernfalls zerftört der eine, was ber andere
aufgebaut bat. Dieſes Gegeneinander wirkt bei denen, bie fich
besjelben nicht Har bewußt werden, vielleicht am meiften verwirrend
und abjtumpfend. ntfalten dagegen auf denfelben Grundan⸗
ſchauungen verfchiedene Individualitäten ihre Gaben, dann regt
beren Manigfaltigleit an und ihre Wirkungen verftärlen einander.
Dieſen der Wiesbadner Sammlung eigrienden Vorzug werden na»
93*
502 Diegel
mentlich diejenigen würdigen, welche an der neueren Predigtweiſe
eine gewiſſe Eintönigfeit beflagen.
Während wir demnach bei der Wiesbadner Sammlung feine
Schwierigkeit haben, Gemeinſames aufzufinden, miffen wir bei der
Darmitädter Sammlung, um einen einheitlichen Unterfchied gegen
die Neuzeit feftzuftellen, eine Anzahl Prediger ausſcheiden.
Schleiermader, Theremin, Dräſeke, El. Harms,
Nitzſch, vielleicht auch de Wette felber gehören eigentlich weit
weniger in die Darmftädterr Sammlung al8 in die Wiesbadner.
Sie find gleihjam die Väter der Verfaffer von letzterer; aber in
der Darmftädter Sammlung fallen fie jegt auf als Vorkämpfer
eines ganz anderen Geſchlechts. Wir faſſen daher bei nachfolgenden
Vergleihungen nur die große Mehrzahl der Predigten jener älteren
Sammlung in dad Auge.
Beiläufig fei erwähnt, daß bie Wiesbadner Sammlung keines⸗
wegs den Anfpruch erhebt, von dem großen Kreife der in ihrem
Geiſte wirkenden Prediger auch nur die tüchtigften alle aufge:
nommen zu haben. Die beabfidhtigten weiteren Predigtbiicher über
die altficchlichen Epifteln und über freie Texte werden noch viele
andere zum Worte kommen lafjen. —
Es fcheint am förderlichften, wenn wir zuerft kurz einige weniger
wichtige Punkte erledigen, um dann eingehender von der Stellung
zum Texte und der ‘Dispofltionsweije, von dem Hauptinhalte, von
der Darftellung und Ausführung zu ſprechen.
1) Einige kurz zu erledigende Puntte.
Die Wiesbadner Sammlung enthält nicht mehr wie die Darm-
ftädter Bredigten über die Apoſtel- und Marienfefte
Wir tadeln ba8 keineswegs, merken es aber an als ein Zeichen,
daß die Feier diefer Tage wol in unferer evangelifchen Kirche jegt
meift nicht mehr ftattfindet. —
de Wette tabelt, dag in der Darmftädter Sammlung die meiften
Predigten eine doppelte Einleitung haben, eine allgemeine
vor dem Texte, eine befondere nad demſelben. Namentlich die
erfte Einleitung ergieng fih Häufig in zu allgemeinen, weit herge⸗
holten Reflexionen. In der Wiesbadner Sammlung dagegen fteht
der Text faft immer voran, fo daß bie Kinleitung- fogleich von
Bergleihung der heutigen evangelifchen Predigtweife. 508
ihm aus zur Feſtſtellung des Thema's übergehen kann. Bei den
alten Peritopen, alfo bei gegebenen und wohlbelannten Texten, bei
welchen bie Texteswahl Feiner Begründung und bie Textesverleſung
feiner Vorbereitung für das Verſtändnis bedarf, ift diefes Voran⸗
ftellen de8 Textes ficher das Beſte. Nur an hohen Feiten und
bei fonftigen befonderen Anläffen kann ein kurzes, kräftiges Wort,
ein fogenannter Auftritt vor dem Texte empfehlenswerth fcheinen.
Insbeſondere fpricht fich de Wette gegen die auf bie Predigt
Bezug habenden Gebete am Anfange vieler Predigten ber Darm-
ftädter Sammlung aus. Solche Gebete erfcheinen ihm nidt
natürlich herbeigeführt. Er hätte Hinzufegen können, daß diefelben
Häufig ein fehr docirendes oder doch reflectivendes Gepräge tragen
und zu den ſchlechteſten Leiftungen des Nationalismus oder auch
Supranaturaliemus gehörten. Indem man Reflexionen in das
Gebetsgewand Eleidete und Gott vortrug, was man doc eigentlich
den Menjchen jagen wollte, ‚erreichte man anftatt des Aufſchwunges
der Rede meift nur eine kalt laſſende Gefpreiztheit der Form. Be⸗
fanntlich erklärte ſich auch Schleiermacher ganz entſchieden gegen
Gebete an diefer Stelle. In der Wiesbadner Sammlung finden fie
ſich dafelbft nirgends. —
Seit dem Erſcheinen der Necenfion über die Darmftädter
Sammlung bat man fi, namentlih nad Lisco's Vorgang, viel
mit der Beftimmung und Stellung der einzelnen Be»
rifopen im Kirhenjahre und mit ihrem Zuſammen—
ange untereinander befchäftigt.. Man wußte darüber öfter
zu’ viel herauszufinden. Auch berüdfichtigte man nicht genug, daß
man jeßt in der Iutherifchen Kirche nicht das urfprüngliche, ſondern
ein mannigfach verändertes und verfürztes Pertlopenfyftem vor fich
hat. Jedenfalls gehören die oft fcharffinnigen, aber auch manchmal
ſehr willfürlihen Vermuthungen einzelner über die Auswahl der
verjchtedenen Perikopen nicht als kirchlich feftftehende Wahrheit auf
die Kanzel. Da fie jedoch nicht ganz felten dafelbft erfcheinen,
fonnte man fürchten, daß in einem Predigtbuche Über die alten
Perikopen, in welchem jeber Text von einem andern behandelt
wird, Schon allein da8 Streben nah Heritellung eined Zu⸗
fammenhanges zu viele und deshalb einander widerfpredhende Er⸗
504 Diegel
Örterungen über die Stellung der einzelnen Texte und Predigten
im Kirchenjahre bringen möchte. Wir freuen uns, dag man mit
ganz geringen Ausnahmen diefer Verſuchung widerftanden hat.
Zwar nehmen die Einleitungen mit Recht öfter von der kirchlichen
Zeit und dem Verhältuiffe des Textes zu derfelben ihren Ausgang ;
aber fie verbleiben foft immer bei dem wirklich Geficherten "und
zur Sache Gehörigen. —
Ebenfo Hat man bei einem andern, womit fett dem Erſcheinen
der Darmftädter Sammlung fid die Predigten mehr als früher
bereichert und belebt Haben, das rechte Maß eingehalten. Wir
denfen an Verſe und Kirchenlieder, fowie an Erzählungen
aus Geſchichte und Leben der Kirche. Auch fonft fehr tüchtige
Predigtbücher bieten der Form nach zu unedle Liederverje und etwas
zu viele Anekdötchen. ‘Derartige Verirrungen finden fich in der
Wiesbadener Sammlung nit. Natürlich zeigen ihre einzelnen
Predigten bezüglich des Genannten große Verſchiedenheit. Im
ganzen wird mannigfacher Gebrauch von Liederverſen und ge⸗
ſchichtlichen Zügen gemacht; das Gebotene erſcheint gut und nicht
zu ſehr gehäuft. —
Ein Fehler endlich, an dem leider auch ſonſt ausgezeichnete
Predigtbücher in Folge der Arbeitsüberladung ihrer Verfaſſer häufig
leiden, tritt in der Wiesbadner Sammlung gar nicht hervor. Wir
meinen die ungebürlihde Verkürzung und offenbar flüd»
tigere Bearbeitung des legten Theiles oder der letzten Theile,
während auf die Ginleitung und überhaupt die erjte Hälfte weit
mehr Zeit und Kraft verwendet wird, Gleichmäßig forgfältige
Durcarbeitung läßt ſich übrigens aud von einer Sammlung er-
warten, deren Verfaffer immer nur je eine Predigt für diefelbe
liefern.
2) Stellung zum Terte und Dispofitionsweife.
Wir bejprechen beide zufammen, weil erftere großentheild von
letzterer abhängt.
de Wette klagt S. 673: „Der ganz tertmäßigen Predigten
find fehr wenige. Nur drei oder vier Homilten - und wenige
homilienartige finden ſich darunter; unter den übrigen ſynthetiſchen
machen die tertmäßigen und die gefchichtlich -Firchlichen noch lange
Bergleichung der heutigen evangelifchen Predigtweiſe. 505
nicht die Hälfte aus, und die meiften Ichnen fi nur an den Text
oder gehen ‚neben ihm Hin; in mancden fogar ift der Text ganz
ſchielend aufgefaßt, und einige wenige ftehen mit ihm im Gegenſatz.
Bon diefer unmwillfommenen Erfdheinung mag wohl ein Grund
darin liegen, daß die meiſten Predigten bis auf ſechs die gewöhn-
lichen Sonn und Feittags-Peritopen behandeln, welche wegen ihrer
häufigen Wiederkehr fo ausgefhöpft find, daß die Prediger ſich in
der Nothwendigkeit befinden, den Text beifeite liegen zu laffen, oder
ſich Höchftens an einen Theil oder Umftand desfelben zu balten....
Dean findet in diefer Sammlung von Perilopenpredigten meiſtens
alles andere, nur nicht die praftifche Auslegung der Berikopen
jelbft. Vielleicht aber muß man auch Hier ein fchlimmes Zeichen
des homiletifch-theologifchen Geiftes finden, wie denn felbft die frei-
gewählten Texte zum Theil ungenau behandelt find. ‘Der Peri⸗
fopenzwang hat die Prediger gehindert, fich im der homiletifchen
Behandlung der Bibel zu üben, um fo mehr, da fie durd die
dürftige grammatifch-hiftorifche Exegefe, welche bisher im Durch⸗
ſchnitt auf den LUniverfitäten betrieben worden, nicht dazu vorge⸗
bildet waren.“
de Wette erwartet von ber damals fchon vielfach eingetretenen
Aufhebung des Perilopenzwanges einen neuen Aufjchwung der
Kanzelberedſamkeit. Seine hier angeführten Anfichten geben zu vielen
Bemerkungen Anlaß.
Ueber die Nachtheile und Über den Segen des Feſthaltens an
den alten Berifopen find auch fonft vielfach Übereinftimmende, eben»
ſowol wiſſenſchaftlich wie praftifch tüchtige Theologen ganz ver-
Schtedener Meinung, 3. B. Nigih und Palmer. Zu genauerer
Unterfuhung darüber fehlt bier der Raum. Diejenigen Landes»
firchen fcheinen das Rechte getroffen zu haben, welcde die alten
Beritopen alle zwei bis drei Jahre wiederfehren Laffen und für die
Zwifchenjahre andere Berilopenreihen anordnen oder freilaffen, auch
im Bedürfnisfalle die Wahl eines ganz freien Textes geftatten.
de Wette hat den Perikopen jedenfalls zu viele Schuld an der
untertmäßigen Haltung der Darmftädter Sammlung zugejchrieben.
Der Hauptgrund lag anderswo. Ein Beleg dafür ift die Wies-
badner Sammlung: fie behandelt durchweg die alten Perikopen,
506 Diegel
und Zertgemäßheit iſt durchweg eim Haupworzug ihrer
Bredigten.
Die von de Wette erwähnte Berjucdhung, bei jo oft behandelten
Zerten die Hauptſache und die natürlichite Themabildung beifeite
zu laſſen, dagegen etwas nenes, nebenſächſiches und abſonderliches
auszufinnen, kann nicht geleugnet werben. Aber die Berfaſſer der
Wiesbadrer Sammlung haben mit ganz feltenen Ausnahmen biefe
Berfuhung nicht an jich herankommen laſſen. Sie behaudeln faft
immer die Haupthemata. Allerdings find die Themata einigemal
recht funitooll ansgeſonnen. Doch aud in diefem Falle ftellt fid
bei genauerer Betradhtung in der Regel heraus, dag nur der Ge
fihtspunft, unter welchem der Text betrachtet wird, ein neuer if,
dag er aber zu einer Beiprechung des ganzen Textes Anlaß gibt.
Muß andy zugegeben werden, daß diefe an die Spike geftellten
neuen Gefichtepuntte zuweilen der urfprünglichen Tertesabficht ſchwer⸗
(ich entfprechen, fo erwächſt doch die Ausführung ganz oder zum
großen Theil aus dem Terte.
Dies führt auf die Dispofitionsweife.
Bei der großen Berfchiedenheit und Verwirrung, welche auf
dieſem Gebiete bezüglich) der Ansdrücke herricht, werde folgendes
sur Berftändigung vorausgefhidt. Was de Wette bomilienartige
Bredigt nennt, bezeichnet man jett gewöhnlich als analytiſche Pre
dig. Hauptunterſchied der fegteren von der Homilie ift das be
ftimmtere Thema und die Partition. Der Unterfchied zwiſchen
fonthetiicher und analytifher Predigt läßt jih am leichteften fo
feitftellen: bei erfterer erwachſen Zheile und Ausführung aus dem
Thema, je nad deifen Maßgabe das Nöthige von überall her zus
jammengeitellt wird, bei legterer erwachfen fie unmittelbar aus dem
zerte. Man kaun noch einen Unterjchied zwifchen fireng analy-
tiihen und zwiſchen anafytifch = fynthetifchen Predigten machen.
Durdaus nöthig ift diefer Unterfchied nicht, und manche verwerfen
ihn gänzlih. Die Theorie wird auch wirklich durch denfelben ver:
widelter, aber für die Geſchichte der Predigt, und um überhaupt
die Dienge der vorhandenen Predigten ihrer Methode nach genan
auseinander zu halten, wird er ſchwer entbehrt werden können.
Macht man ihn, fo kann man die ſtreng analytiſche Methode nad
Bergleichung der heutigen evangeliſchen Predigtweiſe. 507
den befannten Schriften von Heubner und Lisco bie Henbnerifch-
Liscotfche nennen und fo beftimmen: der ganze Text, womöglich
nach der Reihenfolge feiner Beftandtheile, und nur der Text bildet
die Wurzeln, aus welcher Theile und Ausführung der Predigt er-
wachſen. Sobald da8 Thema in der Weife auf Theile und Aus⸗
führung einwirkt, daß um feinetwillen manches vom Texte hin»
weggelaffen und mandjes Wejentliche von außerhalb des Textes
hinzugefügt wird, hat man die analytifch=fynthetifche Methode.
Leicht begreift fih, daß bei der ftreng analytifchen Methode die
Themata viel weiter fein müffen, al8 bei der analytifch = funthe-
tifchen, um den zwanglofen Anfchluß an den Text nicht zu hindern.
Der Unterfchted überhaupt ift natürlich ein fließender, die Bes
zeichnungen genügen wenig; aber es wäre ein großer Gewinn, wenn
man fih die Sadje Har zum Bewußtſein brächte.
Die analptifhe Methode, die analptifchsfynthetifche hier mit
eingefchlofjen, fam gewiß gemäß der ganzen neneren theologifchen
Entwidlung mit vollem Rechte zur Herrſchaft. Sie Hat die Bre-
digt nicht nur zum Worte, fondern auch in den Geift der Schrift
zurüdgeführt. Aber diefe Methode Tegt doch auch große Gefahren
nahe, die man am fürzeften fo bezeichnen kann: um des Themas
willen wird dem Texte Gewalt angethban, und um des Textes
willen fommt da8 Thema nicht zur Maren, befriedigenden Durch»
führung. Das gefchieht namentlid dann, wenn man fich die Auf-
gabe ftellt, da8 Thema immer ftreng analytifh durchzuführen,
auch dann, wenn dasjelbe weder den ganzen Text beberrfcht, noch
genügend durch den Tert ausgeführt wird. In diefem Falle zerren
oft Zert und Thema, fo zır fagen, einander zu wechjeljeitigem Schaden
hin und ber. Man verfährt thatfächlich analytifch = funthetifch,
während man rein analytifch zu verfahren vorgibt und meint.
Eine bewußte Scheidung des Verfahrens würde diefem Gebrechen
abhelfen. Im glücklichen Salle, wenn Text und Thema ganz zu-
fammenfallen, wird der Unterjchied beider Methoden verfchwinden.
Andernfalls gebe man, je nah) Maßgabe des Zertes und des
Themas, entweder um ber ftreng analytifchen Behandlung des Textes
wilfen mit vollem Bewußtſein und mit Harer Wahrung gegen bie
möglichen Misverftändniffe eine einfeitige Faſſung des Themas;
498 Kaweran, Luther und feine Beziehungen zu Servet.
fertigen geſucht: „Daß man nicht ſollte brauchen mehrere oder andere
Worte, als in der Schrift ſtehen, das kann man nicht halten,
ſonderlich im Zank und wenn die Ketzer die Sachen mit blinden
Griffen wollen falſch machen und der Schrift Worte verkehren.
Da war von nöthen, daß man die Meinung der Schrift, fo in
vielen Sprüchen gefeget, in ein kurz und ſummarien Wort faſſet.“ ')
Wollen wir dieje Fortentwicklung Luthers nicht als eine ganz na⸗
türliche und fachgemäße anerkennen?
Wir ftehen am Ende unjerer Prüfung der neuen Auffchläffe,
die uns über die Beziehungen Luthers zu Servet haben gegeben
werden follen. Das Ergebnis ift, das wir das Neue, womit
Tollin die Kenntnis und Beurtheilung der Reformationsgefchichte
glaubte fördern zu können, als auf unfolidem Fundament ruhend
ablehnen mußten. Der Verfaſſer beſitzt die gefährliche Gabe, un-
Scheinbare und in bee That unergiebige Duellenmittheilungen ver-
möge feiner ingeniöfen und erfindungsreichen Phantafte ergiebig zu
machen, und trägt dann die Gebilde feiner Inventions- und Com⸗
binationsgabe mit einer fo zweifellofen Sicherheit und einer fo über:
zeugungsvollen Berufung auf feine Quellen vor, daß der Lefer, der
fi nicht die Mühe nimmt, die einzelnen Quellen zu prüfen, von
der zuderfichtlichen Sprache des für feinen Servet begeifterten Ber-
faſſers vollftändig captivirt wird. Die zahlreichen Serpetftudien,
mit denen der rührige und mit voller Begeifterung arbeitende Ver⸗
faffer fich befchäftigt, werdet — das hat uns die Prüfung dieſer
einen Studie gezeigt — erſt dann der nüchternen und ungeſchminkten
Geihichtsforfchung den Gewinn bringen, den man von fo viel
Mühe und Fleiß erwarten darf, wenn der Verfaſſer ftrenger ſcheiden
wird zwifchen dem, was die Quellen wirklich jagen, und dem, was
fein lebhaftes Intereſſe an Servet aus ihnen heranszulefen weiß.
1) Jenenſ. Ausg. VII, 267.
Diegel, Bergleichung der heutigen evangelifchen Predigtweiſe. 499
2.7
Sergleichung der heutigen enaugelifchen Predigtweiſe
mit der vor fünfzig Jahren.
Bon
Dr. 8. ©. Diegel,
Profeflor in Wriebberg.
Auf Grund der beiden Predigt-Sammlungen:
1) Predigten Über ſämtliche Sonn» und Fefttags » Evangelien
des Jahres. Eine Gabe dhriftlicher Liebe, der neuen
evangeliichen Gemeinde in Mühlhaufen bargebracht von
jet lebenden deutſchen Predigern. Herausgegeben von
Dr. €. Zimmermann. Darmitadt, bei Leske. 1. Band,
1825; 2. Band, 1827.
2) Die KHriftliche Predigt in der evangelifchen Kirche Deutfch-
lands. Sammlung geiftliher Reden über die Evangelien
des Kirchenjahres. Herausgegeben von W. Stödigt.
Wiesbaden, J. Niedner, 1876.
Im dritten Heft des erften Bandes diejer Zeitichrift für 1828,
©. 669 ff. Hat de Wette die oben zuerftgenannte Predigtfammlung
angezeigt und dabei feine Anficht über den damaligen Stand der
deutjch »evangelifchen Kanzelberedfamkeit ausgefprodien. Das Er-
fcheinen des zweitgenannten ähnlichen Werkes, gerade 50 Jahre
fpäter, legt die Trage nahe, in wie fern fich feit jener Zeit die evan-
geliiche Predigt verändert Hat, insbejondere in wie weit die von
de Wette damals gerügten Fehler überwunden find. Gewiß wird
man billigen, daß fich nachfolgendes möglichft genau an die einfti-
gen Urtheile de Wette's anjchließt. Demfelben eigneten ja in fel-
tener Vereinigung ebenfowol wifjenfchaftlihe Tüchtigkeit als feines
religiöfe® Verſtändnis und warmer praftifcher Sinn. Wenn
Referent nach einem ſolchen Vorgänger das Wort nimmt, fo glaubt
Theol. Stud. Jahrs. 1878. 33
500 Diegel
er den Beruf dazu dem Umftande entnehmen zu dürfen, daß nidt
nur überhaupt Homiletit und insbefondere Gefchichte der Predigt
feine Hauptlebensaufgabe bilden, fondern daß er auch namentlich
feit einem Jahrzehnte Predigten Über die Perikopen zu ftubiren
pflegt. Er hat dabei je 20 bis 30 Predigten über diefelbe Peri⸗
kope unmittelbar binter einander genau vorgenommen. Wie nahe
nach derartigen Arbeiten eine folche Vergleihung, wie die bier ver:
fuchte, gelegen bat, verfteht fih ohne weitere Erörterung.
Geber Predigt ein befonderes Wort zu widmen, wie de Wette
gethan hat, fcheint nicht gerathen. Es müßte dazu, um nur einiger
maßen befriedigende® zu bieten, ungebürend viel Raum in Ans
Spruch genommen werden. Auch wäre ungleiche Behandlung zu
fürchten, indem mande ber Prediger dem Referenten längft wohl
bekannt und ſchon vielfach von ihm bearbeitet worden find, während
er andere zuerft aus der vorliegenden Sammlung fennen lernte.
Ans einer Predigt Täßt ſich aber nur höchſt felten ein ficheres in-
dividuelles Bild des DVerfaffers entwerfen; denn das „ex ungue
leonem“ paßt aus mehr als einem Grunde nicht durchgängig
hieher. Es Handelt ſich ja auch gar nicht um eine Befprechung
und Kennzeichnung der einzelnen Prediger, fondern um eine Dar-
ftellung und Beurtheilung des den evangelifchen Predigten jet Ge
meinfamen.
Freilich tritt uns Hier fogleich zwifchen der Darmftädter und
zwifchen der Wiesbadner Sammlung, wie wir obengenannte Pre⸗
digtbücher kurzweg nennen wollen, ein jehr bemerfenswerther Unter-
fchied entgegen. Zu eriterer lieferten Theologen aller Richtungen
igre Beiträge. Schuderoff erjcheint da z. B. neben El. Harme.
Die Wiesbadner Sammlung dagegen enthält vorzugsweife Predigten
der fogenannten gläubigen Mittelpartei, der pofitiven Union, ober
doch jolcher confelfioneller Theologen, die keinen Anftand nehmen,
mit andern evangelifchen Theologen zufammen in einer Erbauung
Schrift zu erfcheinen. Der Herausgeber fagt Vorrede S. 4: „Zur
Mitarbeit wurden folche Kanzelredner eingeladen, welche, entjchieden
auf dem ein» für allemal gelegten Heilsgrunde ftehend und der
Kirche der Reformation von ganzem Herzen und mit perfünlichem
Glauben ergeben, das in der heiligen Schrift überlieferte Gottes⸗
Bergleihung der heutigen evangeliſchen Prebigtmeife. 501
wort als Duelle der Heilserkenntnis und ald Lebensrichtfchnur an⸗
erfennen und befähigt find, dasſelbe — man ftöre fih nicht an
dem Ausdrud — in die Sprache unferer Zeit zu überjeten, d. 5.
es für die Zeitbedürfniffe geltend zu machen und folcherweife
denjenigen zu genügen, welche in den Zeitbeftrebungen nicht ver-
fernt haben, da8 Emige zu fuchen und fi daran zu halten.“
Diefe Worte haben wir um fo Lieber angeführt, da fie einige
treffliche Anhaltspunkte für unfere fpäteren Darlegungen bieten.
Vorerſt werde nur noch erwähnt, dag weit mehr nach der
rechten, als nach der linken Seite hin über die fogenannte Mittel-
partei im engeren Sinne hinausgegangen wird. Demnach erleidet
die Bollftändigfeit der überfichtlichen Bemerkungen über die neueſte
evangelifche Predigt von vorn herein die Beichränfung, daß die Art
und Weife, wie die vorwiegend kritiſche Schule ihre theologischen
Anfchauungen auf der Kanzel darlegt oder auch zurücktreten läßt,
hier nicht zur Sprache kommt. Uebrigens darf man annehmen,
daß mehr als auf andern Gebieten auf dem bomiletifchen viele
Wahrnehmungen mehr oder minder für jede theologifche Richtung
gelten, alſo die bier mitgetheilten auch großentheils für ftreng con⸗
feiftonelle und für weitgehend Tiberale Predigten. Sie alle ent-
fteben ja vielfach unter den Ginflüffen derjelben geiftigen Luft⸗
ftrömungen. Doc findet fich diefe Gleichheit natürlich weit mehr
in der homiletifchen Geftaltung als im theologifchen Inhalte.
Jedenfalls darf es als ein großer Vorzug der Wiesbadner
Sammlung vor der Darmftädter bezeichnet werben, daß erftere weit
mehr aus einem Geiſte Hervorgegangen iſt. Auf bdenfelben
Grundbüberzeugungen wird denfelben Zielen zugeftrebt. Das ift für
ein Andachtsbuch eine faft unerläßliche Forderung. Nur unter
diefer Bedingung wirken Predigtſammlungen von ganz verjchiedenen
Verfaſſern heilfam. Andernfalls zeritört der eine, was der andere
aufgebaut hat. Diefes Gegeneinander wirkt bei denen, die ſich
desſelben nicht Kar bewußt werden, vielleicht am meiften verwirrend
und abitumpfend. Entfalten dagegen auf denſelben Grundan⸗
Ichauungen verfchiedene Individualitäten ihre Gaben, dann regt
deren Moanigfaltigkeit an und ihre Wirkungen verjtärken einander.
Dieſen der Wiesbadner Sammlung eigrienden Vorzug werden na⸗
—*
602 Diegel
mentlicd) diejenigen würdigen, welche an ber neueren Bredigtweile
eine gewille Eintönigfeit beflagen.
Während wir demnach bei der Wiesbadner Sammlung teine
Schwierigkeit haben, Gemeinſames aufzufinden, müffen wir bei der
Darmftädter Sammlung, um einen einheitlichen Unterfchied gegen
die Neuzeit feftzujtellen, eine Anzahl Prediger ausscheiden.
Schleiermadher, Theremin, Dräfele, El. Harms,
Nitzſch, vielleicht auch de Wette felber gehören eigentlich meit
weniger in die Darmftädterr Sammlung als in die Wiesbadner.
Sie find gleihfam die Väter der Verfaſſer von leßterer; aber in
der Darmftäbter Sammlung fallen fie jest auf als Vorkümpfer
eines ganz anderen Geſchlechts. Wir faffen daher bei nachfolgenden
Vergleihungen nur die große Mehrzahl der Predigten jener älteren
Sammlung in das Auge.
Beiläufig fei erwähnt, daß bie Wiesbadner Sammlung keines⸗
wegs den Anfpruch erhebt, von dem großen Kreife der in ihrem
Geiſte wirkenden Prediger auch nur die tüchtigften alle aufge:
nommen zu baben. Die beabfichtigten weiteren Predigtbiicher über
die altkirchlichen Epiſteln und über freie Texte werden noch viele
andere zum Worte kommen laſſen. —
Es fcheint am fürderlichften, wenn wir zuerſt kurz einige weniger
wichtige Punkte erledigen, um dann eingehender von der Stellung
zum Texte und der Dispofitionsweife, von dem Hauptinhalte, von
der Darftellung und Ausführung zu fprechen.
1) Einige kurz zu erledigende Punkte.
Die Wiesbabner Sammlung enthält nicht mehr wie die Darm-
ftädter Predigten über die Apoftel- und Marienfefte.
Wir tadeln das keineswegs, merken es aber an als ein Zeichen,
daß die Feier diefer Lage wol in unferer evangelifchen Kirche jetzt
meift nicht mehr ftattfindet. —
be Wette tadelt, daß in der Darmftädter Sammlung die meiften
Predigten eine doppelte Einleitung haben, eine allgemeine
vor dem Xerte, eine befondere nad demjelben. Namentlich die
erſte Einleitung ergieng fi häufig in zu allgemeinen, weit berger
holten Reflexionen. In der Wiesbadner Sammlung dagegen fteht
der Text faft immer voran, fo daß die Einleitung- fogleich von
Bergleihung ber heutigen evangelifchen Predigtweiſe. 503
ihm aus zur Teftftellung des Thema’s übergehen kann. Bet den
alten Perikopen, alfo bei gegebenen und wohlbelannten Texten, bei
welchen die Texteswahl Feiner Begründung und die Tertesverlefung
feiner Vorbereitung für das Verſtändnis bedarf, ift diefes Voran⸗
ftellen des Textes ficher das Befte. Nur an hohen Feften und
bei fonftigen befonderen Anläffen Tann ein kurzes, Träftiges Wort,
ein fogenannter Auftritt vor dem Texte empfehlenswerth fcheinen.
Insbeſondere ſpricht fich de Wette gegen die auf die Predigt
Bezug habenden Gebete am Anfange vieler Predigten der Darm⸗
jtädter Sammlung aus. Solche Gebete erfcheinen ihm nicht
natürlich herbeigeführt. Er hätte hinzufegen können, daß dieſelben
* Häufig ein fehr docirendes oder doch reflectirendes Gepräge tragen
und zu den fchlechteften Leiftungen des Nationalismus oder aud)
Supranaturalismus gehörten. Indem man Reflexionen in das
Sebetsgewand Feidete und Gott vortrug, was man doch eigentlich
den Menfchen jagen mollte, ‚erreichte man anftatt bes Auffchwunges
der Rebe meift nur eine kalt Laffende Gefpreiztheit der Form. Be⸗
kanntlich erklärte ſich auch Schleiermacher ganz entfchieden gegen
Gebete an diefer Stelle. In der Wiesbabner Sammlung finden fie
ſich dafelbft nirgends. —
- Seit dem Erfcheinen der Necenfton über die Darmſtädter
Sammlung bat man fich, namentlich nach Lisco's Vorgang, viel
mit ber Beftimmung und Stellung der einzelnen Pe—
rifopen im Kirhenjahre und mit ihrem Zufammen»
Hange untereinander befhäftigt.. Man wußte darüber öfter
zu’ viel heranszufinden. Auch berücfichtigte man nicht genug, daß
man jett in der Tutherifchen Kirche nicht das urfprüngliche, fondern
ein mannigfach verändertes und verfürztes Perikopenſyſtem vor ſich
bat. Jedenfalls gehören die oft fcharffinnigen, aber aud) manchmal
ſehr willkürlichen Vermuthungen einzelner über die Auswahl der
verfchiedenen Perifopen nicht als kirchlich Feftftehende Wahrheit auf
die Kanzel. Da fie jedoch nicht ganz felten dafelbft erfcheinen,
fonnte man fürchten, daß in einem Predigtbuche über die alten
Perikopen, in welchem jeder Text von einem andern behandelt
wird, Schon allein da8 Streben nad Herftellung eines Zus
ſammenhanges zu viele und deshalb einander widerfprechende Er»
504 Diegel
örterungen über bie Stellung der einzelnen Texte und Predigten
im Sirchenjahre bringen möchte. Wir freuen uns, dag man mit
ganz geringen Ausnahmen diefer Verſuchung widerftanden bat.
Zwar nehmen die Einleitungen mit Recht öfter von der kirchlichen
Zeit und dem BVerhältuiffe des Textes zu derfelben ihren Ausgang;
aber fie verbleiben faft immer bei dem wirklich Geficherten "und
zur Sache Gehörigen. —
Ebenfo Hat man bei einem andern, womit fett dem Erfcheinen
der Darmftädter Sammlung fi) die Predigten mehr als früher
bereichert und belebt haben, das rechte Maß eingehalten. Wir
benfen an Berfe und Kirchenlieder, fowie an Erzählungen
aus Gefchichte und Leben der Kirche. Auch fonft fehr tüchtige
Predigtbücher bieten der Form nach zu unedle Tiederverje und etwas
zu viele Anekdötchen. ‘Derartige Verirrungen finden fich in der
Wiesbadener Sammlung nicht. Natürlich) zeigen ihre einzelnen
Predigten bezüglich” des Genannten große DVerfchiedenheit. Im
ganzen wird mannigfacher Gebraudh von Lieberverfen und ge
Schichtlihen Zügen gemacht; das Gebotene erfcheint gut und nicht
zu jehr gehäuft. —
Ein Fehler endlih, an dem leider auch fonjt ausgezeichnete
Predigtbücher in Folge der Arbeitsüberladung ihrer Verfaſſer Häufig
leiden, tritt in der Wiesbadner Sammlung gar nicht hervor. Wir
meinen die ungebürlihe Verkürzung und offenbar flüdr
tigere Bearbeitung des legten Theiles oder der Tegten Theile,
während auf die Einleitung und überhaupt die erjte Hälfte weit
mehr Zeit und Kraft verwendet wird. Gleichmäßig forgfältige
Durdarbeitung läßt fih übrigens auh von einer Sammlung er
warten, deren Verfaſſer immer nur je eine Predigt für dieſelbe
liefern.
2) Stellung zum Terte und Dispofitionsmeife.
Wir beiprechen beide zufammen, weil erftere großentheils von
letzterer abhängt.
de Wette klagt S. 673: „Der ganz textmäßigen Predigten
find jehr wenige. Nur drei oder vier Homilien und wenige
homilienartige finden fi) darunter; unter den übrigen fynthetifchen
machen die tertmäßigen und die gefchichtlich -Firchlichen noch Lange
Bergleihung ber heutigen evangelifchen Predigtweife. 505
nicht die Hälfte aus, und die meiften Ichnen fi nur an den Text
oder gehen .neben ihm Hin; in manchen fogar ift der Text ganz
Schielend aufgefaßt, und einige wenige ftehen mit ihm im Gegenſatz.
Bon diefer unwillfommenen Erfcheinung mag wohl ein Grund
darin Tiegen, daß die meijten Predigten bis auf fechs die gewöhn⸗
lichen Sonn und Feſttags⸗Perikopen behandeln, welche wegen ihrer
häufigen Wiederkehr fo ausgefchöpft find, daß die Prediger ſich in
der Nothwendigkeit befinden, den Text beifeite Liegen zu laffen, oder
ih höchftens an einen Theil oder Umftand desfelben zu balten....
Dean findet in diefer Sammlung von Berilopenpredigten meiftene
alles andere, nur nicht die praftifche Auslegung der Berilopen
ſelbſt. Vielleicht aber muß man auch hier ein jchlimmes - Zeichen
des homiletifch-theologifchen Geiſtes finden, wie denn felbft bie frei
gewählten Texte zum Theil ungenau behandelt find. ‘Der Beri-
fopenzwang hat die Prediger gehindert, fich in der homiletifchen
Behandlung der Bibel zu üben, um jo mehr, da fie durd die
dürftige grammatifchshiftorifche Exegefe, welche bisher im Durd-
fhnitt auf den LUniverfitäten betrieben worden, nicht dazu vorge-
bildet waren.“
de Wette erwartet von der damals ſchon vielfach eingetretenen
Aufpebung des Perikopenzwanges einen neuen Aufſchwung der
Kanzelberedfamteit. Seine hier angeführten Anftchten geben zu vielen
Bemerkungen Anlaß.
Ueber die Rachtheile und Über den Segen des Feſthaltens an
den alten Perikopen find auch fonft vielfach übereinftimmende, eben»
ſowol wiffenfchaftlih wie praftifch tüchtige Theologen ganz ver-
ſchiedener Meinung, 3. B. Nitzſch und Palmer. Zu genauerer
Unterfuchung darüber fehlt hier der Raum. Diejenigen Landes»
firchen fcheinen das Mechte getroffen zu haben, welche bie alten
Beritopen alle zwei bis drei Jahre wiederkehren laſſen und für die
Zwiſchenjahre andere Berilopenreihen anordnen oder freilaffen, auch
im Bebürfnisfalle die Wahl eines ganz freien Textes geftatten.
de Wette hat den Perifopen jedenfalls zu viele Schuld an der
untertmäßigen Haltung der Darmftädter Sammlung zugejchrieben.
Der Hauptgrund lag anderswo. Ein Beleg dafür ift die Wies—
badner Sammlung: fie behandelt durchweg die alten Perikopen,
506 Diegel
und Tertgemäßheit ift durchweg ein Hauptvorzug ihrer
Predigten.
Die von de Wette erwähnte Verſuchung, bei fo oft behandelten
Texten die Hauptfadhe und die natürlichfte Themabildung beifeite
zu laffen, dagegen etwas neues, nebenfächliches und abjonderliches
auszufinnen, kann nicht geleugnet werden. Aber die Verfaffer der
Wiesbadner Sammlung haben mit ganz feltenen Ausnahmen diefe
Berfuhung nicht an fich Heranfommen laſſen. Sie behandeln faft
immer die Haupthemata. Allerdings find die Themata einigemal
recht funftvoll ansgefonnen. Doch aud) in diefem Falle ftellt fich
bei genauerer Betrachtung in der Regel heraus, dag nur der Ge⸗
ſichtspunkt, unter welchem der Text betrachtet wird, ein neuer ift,
dag er aber zu einer Beſprechung des ganzen Textes Anlaß gibt.
Muß auch zugegeben werden, daß dieſe an die Spige gefteliten
neuen Geſichtspunkte zumeilen der urfprünglichen Textesabſicht ſchwer⸗
fih entfpredhen, fo erwächlt doch die Ausführung ganz oder zum
großen Theil aus dem Texte.
Dies führt auf die Dispofitionsmweife.
Bei der großen Verfchiedenheit und Verwirrung, welche auf
diefem Gebiete bezüglich der Ausdrücke herricht, werde folgendes
zur Verftändigung vorausgefchict. Was de Wette homilienartige
Predigt nennt, bezeichnet man jett gewöhnlich als analytifche Pre-
digt. Hauptunterfchied der letteren von der Homilte ift das bes
ftimmtere Thema und die Partition. Der Unterſchied zwiſchen
ſynthetiſcher und analytifcher Predigt läßt ſich am leichteften fo
feitftellen: bei erfterer erwachjen Theile und Ausführung aus dem
Thema, je nad) deſſen Maßgabe das Nöthige von Überalf ber zu-
. fammengeftellt wird, bei Teßterer erwachfen fie unmittelbar au® dem
Zerte. Man kann noch einen Unterfchied zwifchen ftreng analy⸗
tifchen und zwiſchen analytifch » fynthetiichen Predigten machen.
Durchaus nöthig ift diefer Unterfchted nicht, und manche verwerfen
ihn gänzlih. Die Theorie wird auch wirklich durch denfelben ver:
widelter, aber für die Gefchichte der Predigt, und um überhaupt
die Menge der vorhandenen Predigten ihrer Methode nach genau
auseinander zu Halten, wird er ſchwer entbehrt werben fünnen.
Macht man ihn, fo kann man die ftreng anafytifche Methode nad
Bergleichung der heutigen evangeliſchen Prebigtmeife. 507
den befannten Schriften von Heubner und Lisco die Henbnerifch-
Liscotfche nennen und fo beftimmen: der ganze Text, womöglich
nach der Reihenfolge feiner Beftandtheile, und nur der Text bildet
die Wurzeln, aus welcher Theile und Ausführung der Predigt er-
wachfen. Sobald das Thema in der Weife auf Theile und Aus»
führung einwirkt, daß um feinetwillen mandes vom Texte Hin»
weggelaffen und manches Wefentliche von außerhalb des Textes
hinzugefügt wird, hat man die analytifch=fynthetifche Methode.
Leicht begreift fih, daß bei der ftreng analytifchen Methode die
Themata viel weiter fein müſſen, als bei der analytiſch-ſynthe⸗
tifchen, um den zwanglofen Anfchluß an den Text nicht zu hindern.
Der Unterfchted überhaupt ift natürlich ein fließender, die Be⸗
zeichnungen genügen wenig; aber e8 wäre ein großer Gewinn, wenn
man fi die Sache Har zum Bewußtfein brächte.
Die analytiiche Methode, die analytifch-fynthetifche hier mit
eingefchloffen, Fam gewiß gemäß der ganzen neueren theologifchen
Entwidlung mit vollem Rechte zur Herrſchaft. Sie hat die Pre⸗
digt nicht nur zum Worte, fondern auch in den Geift der Schrift
zurüdigeführt. Aber diefe Methode legt doch auch große Gefahren
nabe, die man am fürzeften fo bezeichnen Tann: um des Themas
willen wird dem Texte Gewalt angethan, und um des Tertes
willen fommt das Thema nicht zur Haren, befriedigenben Durch⸗
führung. Das gefrhieht namentlich dann, wenn man fich die Auf»
gabe ftellt, da8 Thema immer ftreng analytifh durchzuführen,
auch dann, wenn dasfelbe weder den ganzen Text beherricht, noch
genügend durch den Tert ausgeführt wird. In diefem Falle zerren
oft Text und Thema, fo zu jagen, einander zu wechfelfeitigem Schaden
hin und ber. Dan verführt thatfächlich analytiſch⸗-ſynthetiſch,
während man rein analytifch zu verfahren vorgibt und meint.
Eine bewußte Scheidung des Verfahrens würde diefem Gebrechen
abhelfen. Im glüclichen Falle, wenn Text und Thema ganz zu-
fammenfalfen, wirb der Unterjchied beider Methoden verjchwinden.
Andernfalls gebe man, je nah Maßgabe des Textes und dee
Themas, entweder um ber ftreng analytifchen Behandlung des Textes
willen mit vollem Bewußtſein und mit Harer Wahrung gegen die
möglichen Misverftändniffe eine einfeitige Faſſung des Themas;
508 Diegel
oder man nehme zu völliger Durdführung des Themas das
Nöthige offen und ohne Gewaltthaten oder Künfteleien am Texte
von außerhalb desjelben, d. h. man verfahre analhtiſch⸗ſynthetiſch.
Diefe Bemerkungen fcheinen bier am Plate, weil gerade in ber
Dispofitionsweife ein großer Unterfchied und Fortichritt der Wies⸗
badner Sammlung im Verhältnis zur Darmftädter vorliegt. Jene
zeigt in hohem Grade die Vorzüge und in fehr geringem Grade die
Schattenfeiten der neueren ‘Dispofitionsweife. Auch diefe Schatten»
jeiten ſcharf heranszuftellen, fchien .unerläßlihe Pflicht, wenn vor⸗
liegende Arbeit wirklich fördern foll.
Während die Darmftädter Sammlung meiſt ſynthetiſch ver-
fährt, und zwar öfter in der falfchsfynthetifchen Weife, welche das
Thema nur an einen Nebenpunkt dee Textes anfchließt, fo daR
Theilüberfchriften und Theilausführung dann ganz neben dem Texte
berlaufen: finden wir in der Wiesbadner Sammlung fait nur
das analytifche und das analytiſch-ſynthetiſche Ber-
fahren. Dabei ift eine gewiffe Mannigfaltigkeit zu rühmen. Faſt
immer find die Theile fo gefaßt, daß der Text in ihnen zwanglos
dargelegt werden fanı. Manchmal gefchieht das ftreng analptiich
Wort für Wort; mandmal auch ftellen die Theile den Text
überhaupt unter verfchiedene Gefichtspunttee Allerdings find
die Themata, um bdiefe völlige Behandlung der Texte zu er-
möglichen, zuweilen ſehr weit, eigentlich nur Weberfchriften; aber
da8 darf bei ftreng analytiſchem Verfahren nicht anders erwartet
werden. j
Ganz befonders verdient die Form der Dispofitionen An-
erfennung und Lob. Die Darmftädter Sammlung hat noch öfter
die alte Zheilung in Erflärung und Anwendung; fie bringt gern
längere Hauptjäge und Theilanfündigungen in breiten, abftracten,
reflectirend umftändlichen und matten Ausdrüden. In der Wies⸗
badner Sammlung find diefe Ankündigungen kräftiger, anfchaulicher,
namentlich aber weit bündiger geworden. ine ziemliche Anzahl
von Disppfitionen verbindet mit Tertgemäßheit und Einfachheit den
feltneren Vorzug eigentümlicher, überraſchend neuer, ſchöner und
ebenmäßiger Faſſung. Hierdurd wird nicht blos Ueberſichtlichkeit
und Behaltbarkeit erzielt, fondern folche treffliche Dispofitionen
—
Bergleichung der heutigen evangeliſchen Predigtweiſe. 509
weiſen auch überhaupt auf ähnliche Vorzüge des Inhaltes, deſſen
Zuſammenfaſſung in ihnen vorliegt. —
Homilien im engeren Sinne, die einen Text Vers für
Vers ohne Theilbildung auslegen und anwenden, finden ſich in der
Wiesbadner Sammlung nicht häufiger als in der Darmſtädter.
Etwas häufiger als letztere bietet erſtere ſolche Predigten, welche,
wie 3. B. die Becks, der Partition entbehren, ohne Vers für
Vers den Text vorzunehmen. Das kann in völlig ſynthetiſcher
Weiſe, d. h. mit völligem Abſehen von den Einzelheiten der Texte
gefchehen, wie 3.38. von Shuderoff in der Darmftädter Samm-
fung; man fann aber auch, wie in der Wiesbadner Sammlung,
die Erörterungen bem Geifte und an dem geeigneten Stellen dem
Worte nach ans dem Texrte hervorgehen laffen. Man vermag fich
bei diefer Methode mehr nur an die Hauptgedanken der Texte zu
haften, al8 bei der eigentlichen Homilie, und man geminnt durch
die Befeitigung der Partition eine freiere Bewegung. Doch fcheinen
mir die Gefahren diefer Methode größer als ihre Vortheile. Zus
weilen nur wünfchte ich fie angewendet, wie überhaupt eine größere
Manigfaltigkeit des homiletifchen Verfahrens. Daß die Wies-
badner Sammlung einer ſolchen Manigfaltigleit, daß fle insbes
fondere auch Homilien und partitionslofe Predigten, und
zwar beide recht geſchickt abgefaßt, vorführt, das muß jedenfalls als
ein Borzug derfelben bezeichnet werden, den namentlich auch der
auf homiletiſche Studien bedachte Prediger willlommen heißen muß.
In fo kurzen Predigten, wie die vom 12. nah Trin., wird fein
Dernünftiger eine Partition verlangen.
Die Wiesbadner Sammlung ift aljo fehon ihrer Dispofitions-
weife nad) ungleich mehr auf Xertbehandlung angelegt, als die
Darmftädter. Diefe Textbehandlung iſt faft immer eine
exegetifch und erbaulich ‚fruchtbare, öfter jelbft eine fehr fruchtbare,
auch meiſt eine exegetiich richtige. Der großen Gefahr, daß der
Prediger um ber praftifchen Anwendung willen, die er gern machen
möchte, ſchon allerlei in die Auslegung des Tertes hineinjchaut,
was gar nicht in der Xertesabficht Liegt, unterliegen die Berfafler
nur felten. Einigemal freilich ftößt man auf derartige Künfteleien.
Auh das bei amalytifchen Predigten jo nahegelegte zu ftarfe
510 Diegel
Ausdeuten einzelner Züge des Textes, fo daß deſſen Hauptpumfte
nicht genug hervor und deffen Nebenpunkte nicht entjprechend zurück⸗
treten, wurde meift vermieden. Weberhaupt werben, auch abge
fehen vom Xerte, zum öftern, jedoch nicht im Uebermaße und in
der Regel treffend Schriftftellen angeführt.
Die Wiesbadner Sammlung ermeift ſich alfo als eine [hrift-
mäßige und bezeihnetdurd ihre Tertbehandlung und
mehr noch durch ihre oft geradezu vorzüglide Dis—
pofitionsweife erfreuliche Fortſchritte der Predigt.
Da die Epifteln bezüglich der Dispofitionsweife noch ganz bes
fonbdere, eigentümliche Schwierigkeiten darbieten, fo darf man barauf
gefpannt fein, wie die von bemfelben Verleger und Herausgeber zu
erwartende Sammlung von Epiftelpredigten dieſe Schwierigkeiten
anfaßt und bewältigt.
3) Der Hauptinhalt.
Zum großen Theile hat darüber fchon bie vorige Nummer
Ausfunft gegeben. Doc Halten wir eine kurze Zufammenftellung
für zweckdienlich. Wird gut analytifch disponirt, erwächſt demnach
die Ausführung aus dem Texte, werben deren Hauptthemata bes
handelt: dann wird der Inhalt der Predigten mit Nothwendigkeit
ein biblifcher und bei neuteftamentlihen Texten, wie unfere alten
Perikopen, ein fpecififch chriftlicher. de Wette klagt bezüglich ber
Darmftädter Sammlung: „Verhältnismäßig wentge Predigten gehen
in die Tiefe der chriftlichen Ideen ein. Die meiften Halten fid
am Umkreiſe derfelben auf oder gehören dem allgemeineren, fittlich*
religiöfen Gebiete an, und befchäftigen fi mit Erfahrung und An-
wendung.“ Indem wir eine Auselnanderfegung mit de Wette
bezüglich feiner Anfichten über die chriftlichen Ideen bier für nicht
erfprießlich erachten, brauchen wir Tieber den Ausdrud: das
Specifiſch- oder Eigentümlid-Chriftlihde. Dieſes
herrfcht in ber Wiesbabner Sammlung durchaus vor, in der Darm-
ftädter dagegen das Allgemein - Religiöfe und Sittlihe. Namentlich
wird in erfterer mit Kntfchiedenheit und Herzenswärme Jeſus
Chriftus als der Heiland und Gottesfohn verkündigt.
Diefe eigentümlich « hriftlihen Grundwahrheiten treten ganz felten
in fteif »dogmatifcher, etwas öfter ſchon in theologifch-bocirender,
Bergleichung der heutigen evangelifchen Predigtweife. 611
meift aber in religiös⸗erbaulicher Haltung entgegen. Man findet
feine unnatürliche Trennung zwifchen Dogmatik und Moral. Bloße
Moralreben, die ja auch gar feine Predigten wären, find gar nicht
vorhanden. Meift werden Hanptthemata des Chriftentums und
des religiöfen Lebens beiprochen. Findet man zuweilen feinere und
einzelne Punkte, die mehr nach der Peripherie zu liegen, in das
Auge gefaßt: fo darf man das keineswegs tadeln; denn es foll ja
nicht immer bloß Grund gelegt, fondern auch ausgebaut werden.
Man muß nur in biefem alle immer ben tieferen Hintergrund
ber großen Heilswahrheiten hindurchfühlen. Man kann letztere
nennen und doch weit von ihnen entfernt ſein; man kann, ohne ſie
zu nennen, die Gedanken völlig von ihnen durchdrungen fein laſſen.
Der Wiesbadner Sammlung kann nicht nur letzteres nachgerühmt
werden, fondern auch ein fharfes Hervorheben der großen
Heilewahrheiten mit ausdrüdlichen Worten. Vielleicht fogar
geſchieht dieſes gefliffentlichen Hervorhebens manchmal etwas
3u viel.
In der DVorrede der Wiesbadner Sammlung wird bemerkt,
es jei, um die Erbauung nicht zu ftören, aller polemiſch—
tendenzidfe Inhalt ausgefchieden worden. Damit ftimmt ber
Inhalt vollfommen. Auch die Iutherifche Lehre wird zum öftern
dargelegt, aber ohne ſcharfes Heransftellen der von der reformirten
Kirche oder von andern evangelifchen Richtungen fcheidenden Lehr-
ftüde und Auffaffungen. So erinnere ih mich z. B. nicht, eine
Erörterung über das Amt gefunden zu haben, während Wort und
Sacrament öfter entjchieden hervorgehoben werden. Auf bie
Unton fommt meines Erinnern® nur einmal die Rede. Die po-
fitio-aufbauende Art überwiegt durchaus, fo daß auch dem Un⸗
Hriftentum gegenüber nicht zu viele Apologetik im engeren .
Sinne vorfommt. Allerdings aber haben, und gewiß dringenden
Zeitbebürfniffen entfprechend, einige Predigten eine vecht gute vor⸗
wiegend-apologetifche Haltung. Den einzigen wichtigeren Wunſch,
den wir bezüglich des Inhaltes auszufprechen hätten, verfparen wir
auf die Bemerkungen über die Ausführung, die er weit mehr be-
trifft, ale den Hauptinhalt an fid.
Bezüglich dieſes Tegteren dürfen wir unfer Urtheil in die Ber
512 - Diegel
hauptung zufammenfafien, daß derjelbe in der Wiesbabner Samm⸗
lung verglichen mit der Darmftädter nit nur weit mehr ein
biblifher und eigentümlih Kriftlider geworben ift,
fondern daß er auch abgefehen davon an Gediegenheit
und Werth gewonnen hat.
4) Sprade und Ausführung,
Bezüglid der Darmftädter Sammlung : fagt de Wette:
„Recenfent unterjcheidet in Hinficht der Ausführung und Vortrags-
weife zwei Hauptarten, die didaktifche ober verftündige, und bie
thetorifche oder gefühlemäßige. . . . Recenſent wagt in diefer Hin-
fiht im allgemeinen das Urtheil, daß die verftändige und empirifche
Behandlungsart überwiegt, und die dadurch herbeigeführte Kälte
häufig duch erfünftelte Rhetorik, Blümelei und dergleichen ver:
deckt wird, ein Zeichen, daß unjere Theologie noch) unter der er-
faltenden Herrichaft des Begriffes fteht, fie mag num rationaliftifch
oder fupernaturaliftifch fein.“
Die Predigten der Wiesbadner Sammlung tragen ein merklich
anderes ſprachliches Gepräge. Die kalte, abftracte oder reflec-
tirende Haltung hat einer lebendigeren, abwechslungsvolleren, ans
ſchauungsreicheren Plag gemadt. Die Art des Satzbaues
ift eine andere geworden. Der in langen Sätzen allzu
regelrecht und gleihmäßig einherfchreitende claffischefteife Periodenbau
hat einer viel lebendigeren, manigfaltigeren, fich öfter auch in kürzeren
Sätzen ergebenden Schreibweife weichen müſſen. Auch bezüglich
des Stiles fühlt man ſich weit. öfter an Claus Harms und
Drüfele erinnert ald an Reinhard und Zollikofer. Natür-
lich wollen wir nicht jagen, alles fei bei legteren vom Uebel, bei
erjteren dagegen muftergültig für jedermann. Auch die kurzen
Süße können zur Manier werden, und einigemal ift die Wies—
badner Sammlung wirklich von bderartigem nicht ganz frei geblieben.
Im allgemeinen aber darf ihre Sprache, die fih auch mit fehr
geringen Ausnahmen von vermeibbaren Fremdworten erfreulich rein
hält, als eine natürliche, Klare und edle bezeichnet werden. Sie
jteht dadurdy auf der Höhe unferer formalen Bildung, und zwar
ohne, die der Kanzel gebürende Würde und Kraft aufzugeben.
Doß im übrigen die Doarftellung viele Abwechslung zeigt, baß
Bergleichung ber heutigen evangelifchen Prebigtweife. 518
geiftreich-fchöne und rhetorifch-blühende Predigten mit einfach bar:
legenden wechſeln, darf bei einem ſolchen Sammelwerke nicht bes
fremden und noch weniger al8 ein Schaden betrachtet werden.
Die Eindrücke werden einander vielmehr ergänzen und fteigern.
Nur in einer Beziehung glaubt Referent hier auf einen Mangel
hinweifen und einen Wunfch für die Lünftige homiletifche Ent:
wicklung ausſprechen zu follen. Er thut das um fo ungefcheuter,
da er ja felbft zu ben Mitarbeitern diefer Sammlung gehört, und
da er aufrichtig an fich felber beflagt, was er jetzt als allgemeine
Schattenfeite bezeichnet. Unfere Predigtfprade ift noch
vielfah zu hoch und doctrinär; fie ſchleift noch zu
viel von der theologifhen Schule nad, und zwar von
einer Schule, die durch manigfache kunſtvolle Ver—
mittlungen hindurchgegangen iſt; unſere Gedanken—
bildung trägt demnach oft ein zu feines, vornehmes
Gepräge; wir malen nicht genug mit den vollen Far-
ben der Wirflichlett, ſondern unſere Darftellung tft
von der Bläſſe der Abftraction angelränfelt; wir
jollten einfaher und volkstümlicher reden, klarer
und fhärfer in das gefamte Leben ber Gegenwart
hereingreifen. Mit Recht bat ber Herr Herausgeber bas
Ueberjegen in die Sprache unferer Zeit al8 Forderung aufgeftellt,
und wir zweifeln nit, daß es die redliche Abficht der Verfaſſer
gewejen if. Wir müffen auch in Anfchlag bringen, daß die Vor⸗
rede erklärt bat, das auf Tocalsfirchliche Verhältniffe Bezügliche fei
ausgefchteden worden. Solches Ausſcheiden war gewiß ganz zived-
entfprecdend. Aber obige Ausftellung bleibt trogdem eine im all⸗
gemeinen wohlbegründete.
Die Sache hat große Wichtigkeit und greift fehr tief. Man
muß befennen, daß die Darmftädter Sammlung in dem fraglichen
Punkte einen großen Vorzug vor der Wiesbadner hatte. Ihre
Anfihten, fo abftract und reflectivend fie uns oft ammutben,
ftimmten weit mehr mit den Durchichnittsanfchauungen der das
maligen ®ebildeten überein, als die an’jich fo viel werthoolieren
und beffer dargeitellten Ausführungen der Wiesbadner Sammlung
mit den Durdichnittsanfchauungen der jegigen Bildung. Ein
514 Diegel
ftarker Theil unferer Bildung und unferer Vollgmeinungen einer»
feit8 und ein großer Theil unferer theologifchen Entwicklung ander
feitS geriethen auf ihren Wegen weit auseinander. Wir unterfucdhen
nicht, was alles daran fehuldig war. Es gilt, Hare Fühlung und
fräftige Wechſelwirkung herzuftellen. Man wird unferer wiffen-
ſchaftlichen Theologie nicht Unrecht thun, wenn man beklagt, dag
dem außerordentlichen Aufwande von Eifer und Kraft, mit dem fie
fi) der Erforfchung alter Zeiten und ihrer Schriften zumendete,
nicht gleiche Leiftungen bezüglich des Lebens und geiftigen Be⸗
dürfens ber Gegenwart zur Seite ftehen. Sonft fehr tüchtige
theologifche Brofefjoren fcheinen manchmal zu vergefien, baß fie
nicht zur Ausbildung kritiſcher Gelehrter bezüglihd der Vergangen⸗
heit, fondern zur Ausbildung von Predigern des Heils für Kinder
unferer Zeit berufen find. Aber nicht bloß insbeſondere Dogmatik,
Ethik und Apologetit haben für die Ueberbrüdung der angedeuteten
unglückſeligen Kluft große Aufgaben zu Löfen, fondern es muß noch
vieles andere und namentlich die Predigt friich von ſich felbit aus
in vorderfter Reihe mitarbeiten. Nicht fo, daß fie ihren tieferen
riftlichen Gehalt, ihre Textgemäßheit, ihre edle, gemüthsinnige, ge⸗
danfenreihe Sprache aufgibt, wol aber fo, daß fie fi auf Grund
von dem allem zu noch größerer Einfachheit, Deutlichkeit und
Volkstümlichkeit erhebt. Unſere ganze bisherige geiftige Entwid-
fung, insbejondere auch die theologifche, hat letztere Vorzüge über-
aus erſchwert. Die homiletifche Theorie kann auf den Schaden
aufmerkfam machen, und Zanfende werden ihr beiftimmen; aber
wirklich geheilt wird berfelbe nur, indem mächtige Entwicklungen
die Anstrengungen ber Einzelnen fteigern und leiten. &8 gilt bier
das Schriftwort: „Ein Menſch Tann nichts nehmen, es werde
ihm denn gegeben vom Himmel.“ Unfere kirchlichen Kämpfe, das
Segeneinander- und Miteinanderarbeiten von Geiftlichen und Laien
dabei, die wachſenden Notbhftände der Kirche und des Volles, die
zugleich wachjende Liebe zum Heilande und zum Volle, überhaupt
nicht die Verflachung, fondern die Vertiefung unferer Frömmigkeit:
diefes und anderes, mehr Wird uns Prediger durch Vergeſſen des
einen und durch Auffinden des andern zur echten Volkstümlichkeit
binführen.
Bergleihung ber heutigen evangeliſchen Predigtweiſe. 515
Als die vorzüglichften Predigten der Wiesbadner Sammlung
erweifen fich die fehr geiftreichen, durch theils mehr Gemüthstiefe,
theil8 mehr feine und hohe Gedanken, überhaupt durd edle, hoch⸗
gebildete Form ausgezeichneten Arbeiten einiger Männer, die zu⸗
meiſt in hervorragenden Stellungen oder doch vor gebildeten Ger
meinden reden. Eine beträchtliche Anzahl anderer Predigten kommt
ihnen mit ähnlichen Vorzügen wenigftens nahe. Andern darf eine
einfache, Hare, oder auch eine recht lebendige Sprache nachgerühmt
werden. Aber eigentlich volfstümlich » Fräftige Predigten von etwa
gleichem Werthe treten jenen vorzüglidhften nicht zur Seite.
Für den erbaulichen Zwed der Sammlung fchadet das freilich
nicht allzu viel. Der ganzen Art und namentlich auch der ausge.
zeichnet Schönen Ausftattung des Buches gemäß wird dasfelbe vor»
zugsweiſe von Gebildeten benügt werden. Bei dem Lefen wird
diefen die mehr hohe und feine Art der Darftellung fehr gut
zufogen. Man bat ja mit treffenden Gründen behauptet, daß ge-
druckte Predigten fich einer höheren und vollftändigeren Darftellung
befleißigen follten, al8 die auf der Kanzel. Gewiß hat auch wirt
ih die Rüdfiht auf den Drud den vorliegenden Predigten mehr
Gelehrſamkeit und kunſtvolle Sorgfalt zu Theil werden laſſen,
während fi) mancher ihrer Verfaſſer für gewöhnlich einfacher hal⸗
ten wird. Im ganzen jedoch glauben wir bie Seite, nad
welcher Hin der homiletiſche Fortſchritt zumächit noththut, mit
unferer Forderung größerer Volkstümlichkeit richtig bezeichnet zu
haben.
Man wird indefien der Wiesbadner Sammlung nicht anrechnen
bürfen, daß fie eines Vorzuges entbehrt, der den Predigten unferer
Zeit überhaupt abgeht. Die wenigen Prediger, die ihn wirklich
befiten, haben ihn zum heile durch Preisgeben anderer For⸗
berungen fo theuer erfauft, daß man ihnen nicht mit gutem Ges
wiffen folgen würde, felbft wenn das fonft möglich wäre.
Dagegen hoffen wir mit Recht behauptet zu haben, daß fidh
die manigfachen Vorzüge der gegenwärtigen evangelifchen Predigten
vor den 50 Jahre älteren in der Wiesbadner Sammlung reichlich
finden, insbefondere: weit größere TZertgemäßheit, warmes
Hervorheben des Eigentümlich-Chriſtlichen, treff-
Theol. Stub, Salıyg. 1878. 54 »
516 Röſch
liche, theilweiſe geradezu muſtergültige analytiſche
Dispoſionen, eine manigfaltige, wohlgebildete, oft
ſchöne und edle Sprache, ein wahrer Reichtum an er—
bauliden, an feinen und guten Gedanlten Wir
glauben fie niht nur zur Erbauung, fondern aud
den Theologen zum Studium beſtens empfehlen zu
können.
u;
Die drei Sänlennpoftel in der Geheimſprache des
Thalmud.
Von
Guſtay VRöſch.
Vier altteſtamentliche Perſonen ſind es, die in der Gemara
des Thalmud von dem ewigen Leben ausgeſchloſſen werden: Bi⸗
leam, Doeg, Ahitophel und Gehaſi. Der erſte iſt nach
Joſt, A. Geiger, Perles, J. Levy u. a. der Geheimname
FJeſu im Thalmud, alſo werben die drei andern mit ihm zu⸗
fammengenannten Männer in ber Umgebung Jeſu, beziehungsweife
unter den Apofteln zu fuchen fein. Natürlich verfällt man um
der Dreizahl willen zunächft auf die-doxoövres orülos sivas, Ya:
tobus, Kephas und Yohannes, in Gal. 2. Und im ber
That haben auch zwei Shyuagogengelehrte, der verftorbene Rabbiner
Jakob Ezechiel Löwy in Beuthen in Oberjchleften und der Water
meines verehrten Freundes D. Marcus Brann in Breslau, der
Nabbiner Brann in Schneidbemühl in Pofen, ganz unabhängig
von einander ans Doeg durch die ſcharffinnige Combination ber
Lesart aha mit 7 „Bilder“, den Petrus herausgebracht. Wer
ift danm aber Ahitophel? Jakobus oder Johannes? Ye
nachdem ergibt fi) dann die wahrſcheinliche Bebentung Gehaſi'é
von felbft.
Die drei Sänlenapoftel in der Geheimſprache bes Thalmud. 517
Nach dem mir von D. M. Brann mitgetheilten und, weil ich
der hebräiſchen Umgangsſprache des heutigen JIudentums allzu
wenig kundig bin, wörtlich deutſch überfegten Artikel Spming in
dem „ Sepher bikkoreth hathalmud “, oder „Kritifchethalmudifches
Lexikon“ des vorgenannten J. E. Löwh ift Abitophel „Jakob
der Bruder Jeſu, oder ein anderer Apoſtel, vielleicht auch Saulus
oder Paulus“. Unbedingt richtig iſt nun in dieſer Interpretation
die Deutung der erſten Hälfte des Namens auf den status con-
structus von ng = Bruder, Freund und Genoffe, aber (hie
haeret aqua!) die zweite Hälfte pm foll der Eigenname
Theophilus in der Debication der Apoftelgefhichte fein, und
„diefe® Wort bedeutet ſowol im Griechifchen als im Lateintfchen
Theo filius — Gotte8 Sohn“. Halten wir dem wärdigen Todten
dieſes kindiſche Spiel mangelhafter Schulbildung zu gut, und prüfen
wir den Vorſchlag Löwy' s, Ahitopkel mit Jakobus, dem Bruder
des Herren, zufammenzuftellen, mit unferen wiſſenſchaftlichen
Mitteln, denn „hoher Sinn liegt oft im kindiſchen Spiel“.
Forſchen wir zunüchſt nach dem thalmudiſchen Motiv, gerabe
Ahitophel, den Rathgeber Abjaloms, mit Bileam-Yejus in
Verbindung zu bringen, fo werben wir den Schlüffel hiezu in bem
Umftand zu fuchen haben, daß die Kombination Bileam⸗Jeſus auf
ber altteftamentlihen Brandmarkung der Apoftafie als Hurerei,
ja fogar ale Ehebruch, beruft. War es doch Bileam, ber
nah Num. 31, 16 Balak den ärgerlichen Rath gab, die Kinder
Israel durch die Töchter der Moabiter zu dem unglichtigen Cultus
bes Baal-Beor verführen zu laſſen! Einen gleich ärgerlichen Rath
bat aber Ahitophel dem Abſalom gegeben, warnm fell alfo ber
Thalmud in feiner Geheimfpradhe ihn nicht zum Jünger Bileams
mahen? Souft kommt er freilih unter den Püngernamen der
jüdifchen Sage nicht vor, vgl. „die Jeſusmythen des Judentums“
in den Theologiſchen Studien und Kritiken von 1873, &. 98 - 100.
Iſt nun Abitophel in der Geheimſprache des Thalmud mit
Hecht ein Jünger von Bileam⸗Jeſus, fo haben wir jet die thal-
mudiſche Tradition über ihn zu Rathe zu ziehen, um an ihr die
Berechtigung feiner Eombination mit Jakobus, dem Bruder des
Heren, zu prüfen. Dieſe erzählt nach ber Mittheilung D. Branns
34 *
518 Röſch
an mich folgende zwei Züge von ihm: „Ahitophel hat täglich
drei neue Gebete verrichtet“, und: „Drei Dinge befahl
Ahitophel ſeinen Söhnen: ſeid nicht im Streit, und
empöret euch nicht gegen das Königtum des Hauſes
David, und wenn das Wochenfeſt (nysy) klar (oder: au
erwählt, Ip) ift, ſäet Weizen“. Eine Variante diefer lept-
willigen Verordnung Abitophels läßt das erſte Gebot weg und
fchaltet zwifchen da8 zweite und dritte folgendes ein: „und ver»
fehret niht mit dem, weldhem die Stunde lat”. Es
ift auf den erften Bli Mar, dag diefe beiden Züge unmöglich den
hiftorifchen Ahitophel, fondern nur den fyombolifchen angehen
können; wie verhalten fie fich nun zu dem cdhrijtlichen Bilde Ya-
kobus', bes Bruders des Herrn?
Um mit den tägliden drei neuen Gebeten zu beginnen,
fo erblickt D. M. Brann einerfeits ein Fefthalten an der jüdifchen
Sitte dreier Tagesgebete und anderfeits eine Reform diefer Sitte
entweder durch Umänderung ber ftatarifchen Gebetöformeln im
Sinne bes erfchienenen Meſſias oder durch deren Erſetzung mit
jedesmal freien Herzensergüffen. Diefe Auffaffung dürfte ebenjo
richtig, ald dem Bilde des Jakobus angemefjen fein. Denn daß
Jakobus einerfeits den väterlichen Neligionsgebräuchen treu blieb,
beweift feine langjährige Vorſtandſchaft in der jerufalemifchen Ur
gemeinde, welche nach der uns in ber Apoftelgefchichte aufbehaltenen
Ueberlieferung ihre Gebetsverfammlungen im Tempel hielt und dabei
die jüdiſchen Gebetsftunden beobachtete (vgl. Weizjäder: „Die
Berfammlungen der älteften Chriftengemeinden“, in den Jahrbüchern
für Deutfche Theologie von 1876, ©. 474—530), fodann fein
Vorbehalt der Predigt unter der Beſchneidung im Galaterbrief,
feine bei aller Liberafität doch judaiftifche Haltung in der Apoſtel⸗
gefhichte und feine, wenn auch mythiſch gefärbte, doch nicht unde-
dingt vermwerflihe Charakteriftit von Hegefippus bei Euſebius.
Daß er aber anderfeits bei allem Confervatismus der Maun de
Fortfchrittes und namentlid in Sachen des Gebets für eine .freic
Bewegung war, läßt fi) aus der Betonung bes Segens des Or
bets in dem feinen Namen tragenden und wahrſcheinlich trog der
Zweifel Weizfäders wenigſtens feine Richtung rvepräfentirenden
Die drei Sänlenapoftel in der Geheimfprache des Thalmud. 519
Brief und aus der Erhebung des Brotbrechens und der Ge-
bete zu umnterfcheidenden Merkmalen bes jerufalemifchen Gemeindes
lebens in Apg. 2, 42 vermuthen, in fo fern bie roogsuyai al8
fpecififche Ausflüffe des neuen Glaubens nothwendig die Formeln
bes Herkommens verändert oder neben diefen fich wenigftens ihre
eigenen Ausdrüde gefchaffen Haben müſſen, deren anfänglich wie
bei der paulinifchen Gebetsweife freier Fluß vielleicht frühe fchon
in die Kanüle der Stabilität geleitet worden iſt. Welchen Geift
diefe roogsvgas athmeten und in welche Formen fie fich ergoffen,
(ehren und nah Weizſäckers feiner Bemerkung die Oben ber
Apofalypfe.
Nicht weniger glücklich als die täglichen drei neuen Gebete har⸗
moniren bie drei Gebote Ahitophel® mit ber Geiftesrichtung
des Jakobus. „Seid nihtim Streit”, das ift die Quinteffenz
der Warnungen vor den Sünden der Zunge, vor Neid und Zank
im Jakobusbrief und das Motiv bes Hegefippifchen Beters im
Tempel zu feinem unabläſſigen Gebet um Vergebung für das Volt,
Bon biefer Fürbitte des Jakobus fällt zugleich das rechte Licht auf
das zweite Gebot: „Empöret euch nicht gegen das König—
tum des Haufes David“. Wir können nämlich mit Lechler
(Das apoftolifche und nachapoftolifche Zeitalter, 2. Autg., S. 297)
die Schuld Israels In den Augen des Jakobus nur in der Verwerfung
Jeſu als Meffias ſuchen; alfo ift das zweite Gebot eine Ermahnung
an die Widerchriften unter den Juden zum Glauben an Jeſus als
den Meſſias unter der Berufung auf feine der Weißagung ent»
fprechende Abkunft von dem Haufe David gleich der: Antwort des
Jakobus auf die Frage nad) dem Werthe Jeſu: rovzov elvas
zov owrnoa. Aehnliches Hat fi wohl Löwy bei feiner Erfläs
rung des zweiten Gebots gebadht: „Führt immer die Genealogie
des Meſſias auf König David zurück“, ih Tann fie wenigfteng
nicht anders verftehen. Biel fchwieriger ift die Deutung, des
dritten Gebotes: „Wenn das MWochenfeft Har (oder: auserwählt)
ift, füet Weizen.” Um eine Bauernregel Tann e8 fi bier uns
möglich handeln, denn was hätte ber Name Ahitophel mit einer
folchen zu fchaffen, und feit wann ſät man in Paläftina im Mai
oder Juni Weizen? Das Gebot muß eine ſymboliſche und in Ahi⸗
520 Röſch
tophels Mund eine chriſtliche Bedeutung haben. Löwyh ſucht dieſe
in der angeblich chriſtlichen Sitte der Taufe der Neubekehrten am
Pfingſtfeſt, das er mit Quaſimodogeniti, dem ſogenannten weißen
Sonntag, dem Tauftag der alten Kirche, verwirrt, und erklärt da⸗
raufhin das Gebot ſo: „Nehmet neue Genoſſen auf an dem
Wochenfeſt, welches dazu auserwählt worden war, daß ihr an
ihm den heiligen Geiſt empfanget.“ Die Beziehung von nouy
auf da8 Wochen⸗ ober Pfingftfeft ift unanfechtbar, denn ſchon %0s
jephus nennt (Antigg. III, 10, 6) als deſſen hebräifchen Namen
Acagdd, aber die Beziehung der Weizenſaat auf die Taufe ift
unrichtig, denn diefe Tann nach den Sleichniffen Jeſu nur die Pre⸗
digt des Evangeliums bedeuten. Hienach kann im dritten Gebot
der Sinn liegen, wenn Pfingften Far oder Beiter fei, d. h. durch
den ftarfen Zufammenfluß von Fremden in Jeruſalem eine güun⸗
ftige Gelegenheit darbiete, folle man in der Erinnerung an ben
gefegneten Pfingiterfolg des Apoſtels Betrus an dieſem Feſt das
Evangelium predigen. Die Beziehung von nyyx, auf Pfingften
wird jedoch nicht nothwendig fein, fondern man wird mit dem Alten
Zeftament auch an den Schlußtag des Paſſah⸗ oder Laubhütten«
fefte® denken dürfen; dann läßt ſich das dritte Gebot mit Nückficht
auf Joh. 12, 24 auch als eine Reminiscenz an den Märtyrertod
des Jakobus in den Paffahtagen auffafien. Ohne alle Schwierig»
feit erklärt fi) dagegen der Einfchub der Variante: „Verkehrt
nicht mit dem, welchem die Stunde lacht”, aus der Bo-
lemik des Jakobusbriefes gegen den verdienftlofen Reichtum.
Erhebt die Gefchichte Feine Einwendung gegen die Identifikation
Ahitophels mit Jakobus, dem Bruder des Herrn, fo gilt es end»
lich, aud) die Etymologie glüdlicher als Löwy mit ihr auszu⸗
föhnen. Seine Deutung ber erften Hälfte des Namens auf
„Bruder“ ift zwar, wie ſchon oben bemerkt worden ift, zweifellos
richtig, aber was hat ben mit Jeſus gemein? Das Wort bedeutet
im Altpebräifchen nah Maßgabe von Spa und mbun ſicher
„ſündlich Thörichtes“, oder „fündlihe Thorheit“; dann
heißt Ahitophel „der Bruder der Thorheit“. „Der Narr“ aber
wird Jeſu mehr als einmal, wenn auch mit anderem Wort, im
Thalmud geſcholten. Sucht man jedoch für dum ein Homonym
Die drei Säulenapoftel in der Geheimſprache des Thalmud. 521
im Thalmudiſchen, fo begegnet und hier wopm oder mopn als
„Unzucht“; dann ift Abitophel „der Bruder der Unzucht.“ „Der
Sohn der Buhlerin“ ift aber Jeſus im Thalmud ebenfalls
nad) Benennung und Sage.
Wer iſt dann aber fchließlih Gehaſi? Natürlih niemand
anders als der Apoftel Johannes. Eine etymologiiche Barallele
Tägt fih zwar zwiſchen diefen beiden nicht ziehen, wol aber eine
fachliche. Wie Gehaſi der Erzähler der Thaten Elifa’s vor König
Joram war, fo ift Johannes als Evangelift der Erzähler ber
Thaten Jeſu; wie Gehaft ein Lügner vor feinem Meifter war,
fo war nad jüdiſchem Urtheil Johannes ein Lügner über feinen
Meifter. Das Evangelium Johannes aber fcheint in den thal-
mubifchen Kreifen befannt geweien zu fein, wenigftens kannte Rabbi
Chanina die von Ihm vorausgefegte drei» bis vierjährige Dauer des
Lehramtes Jeſu, wenn anders auf die Erzählung bed Thalmud
von einem Gefpräcde eines Sadducüers (d. ı. in fpäterer Zeit ges
wöhnlich Judenchriſt) mit Rabbi Chanina etwas zu geben ift. Der
Sadducäer fragte den Rabbi: „Weißt du vielleicht, wie alt Bileam
wurde?‘ Die Antwort lautete: „Geſchrieben ift hierüber nichts,
aber er wurde vielleiht 33 oder 34 Jahre alt.“ Jener erwiderte:
„Du haft Recht, denn ich Habe felbft ein Buch (eine Chronik) des
Bileam gejehen, worin e8 heißt: 33 Jahre alt war Bileam, der
Lahme (d. i. nah 1 Kön. 18, 21 der Abgöttifche), als ihn Pine
has der Räuber (Geheimname des Pilatus, weil Pinehas den
Israeliten mit ber Moabiterin im Hurenwinkel erftach) tödtete.‘‘
Bol. 3. Levy, Wörterbuh über die Zargumim, s. v. DM.
Necenfionen.
1.
Die dentfche Nationalität der kleinafintifchen Galater.
Ein Beitrag zur Gefchichte der Germanen, Kelten und
Galater und ihrer Namen. Bon Dr. Karl Wiefeler.
Gütersloh, Drud und Verlag von €. Bertelsmann.
1877.
Die Hoffnung, welche die Rebaction des Riehmſchen „Hand⸗
wörterbuches des biblischen Altertums* in einer Anmerkung zu
dem Artikel „Salater” (5. Lieferung, &. 456) ausfpricht, daß nämlich
ber ältere, feiner Zeit weitverbreitete „Irrtum, bie Heinafiatifchen
Salater feien Germanen geweſen“, durch Willibald Grimme gedie⸗
gene Unterſuchung in diefem Blatte „für immer abgethan fein werde“,
ift nicht in Erfüllung gegangen. Der ausdanerndfte Verteidiger
des vorausgeſetzten Deutfchtums jenes merkwürdigen, nach der
Mitte von Kleinafien verjprengten, nordifchen Volles, Dr. Kart
Wiefeler, bat jüngft die Discuffion in höchſt umfaffender Weife
wieder aufgenommen und ſucht in einer felbftändigen Schrift nod)
einmal mit höchſter Entfchtebenheit diefen Volkerſplitter für die
deutfche Nationalität zu reiten. Verſuchen wir es, der Frage näher
zu treten.
Die Zeit ift innerhalb bes Kreiſes der deutfchen Philologen
und Hiftorifer vorüber, wo man mit Vorliebe darauf ausgieng, in
der halbdunkeln Vorwelt immer neue ethnographifche Eroberungen
zu Gunften unferer dentſchen Nation zu mahen. Was fpeciell die
Salater in Kleinafien angeht, fo bietet deren ältere, dramatiſch
belebte Geſchichte, wenigftens unjerer Anfiht nach, freilich nur
526 Wiefeler
wenig Veranlaffung, die Entdeckung, daß auch diefes Volt Deutſche
gewefen, als beſonders wünſchenswerth und erfreulich anzufehen.
Die entfeglichen Greuelthaten der Galater in den Ländern ber
Balkanhalbinſel vor ihrer Weberfchreitung der Meerengen zwiſchen
Aften und Europa; bie fürchterliche Verwüftung von Kleinaſien;
ihr Soldbienft; endlich ihre Tocale Geſchichte bis zur Ausgeftaltung
des galatifchen Landes zu einer römifchen Provinz, bieten nur fehr
wenige lichtere Momente. Wir haben durchaus nichts dagegen, wenn
franzöfifcher Chauvinismus mit wiffenfchaftlicher Berechtigung die Gar
later für fi in Anfpruch nimmt; die „souvenirs imperissables “,
welche die Galater in Kleinaſien zurückgelaſſen haben, find nicht der
Art, da fie gerade dem deutfchen Namen zu befonderer Ehre gereichen
könnten, bis herab zu dem König Dejotarus. Es ift wol nur, oder
doch weit überwiegend, das gemüthliche Intereſſe an der Beziehung
des Apoftels Paulus und der chriftlihen Miffton ſchon in der Urzeit
des Chriftentums zu einem möglicherweife deutfchen Wolfe, was
namentlich ſeitens der theologifchen Gelehrten wiederholt dahin ge
führt Hat, das Deutfchtum der Galater zu verfechten. Bis jetzt
allerdings ohne wirklichen Erfolg.
Das wiffenfhaftliche Material, mit welchem wir es bei
diefer galatifchen Frage zu thun haben, leidet an erheblichen Mängeln.
So oft auch das Volk der Heinaftatifchen Galater In der Geſchichte
genannt wird; fo beftimmt es auch al8 ein abgefplitterter Reſt der
wilden, blutgierigen Raubfcharen bekannt ift, welche feit 280 v. Chr.
die Länder zwifchen dem See von Skodra und dem Heiligtum des
belphifchen Apollo verheerten; fo wenig hat ſich doch ein Zeugnis
aus dem Altertum erhalten, welches rund und nett, umd jeden
Zweifel ausfchließend, uns über ihre Nationalität unterrichtet. Wir
find alfo immer wieder hingewiefen auf die leidige Frage über den
oft fehr wenig präcifen Gebraud der Namen Kelten und Galater
bei den Alten. Und auf der anderen Seite ift das Material ziem-
lich dünn, aus welchem wir uns über das innere Leben bes ſchließ⸗
ih in Kleinaſien feft angefiedelten galatifchen Volkes unterrichten
können. Und doch ift die vorliegende ethnographifche Streitfrage
nur von diefen beiden Punkten her zu entjcheiden: 1) „Welcher
Nationalität theilten die Alten die kleinaſiatiſchen Galater zu?"
Die deutiche Nationalität der Heinafiatiichen Galater. 527
und 2) „Was willen wir von Sitten, Verfaffung, Lebensweife und
Sprache der Galater, um unabhängig auch von falihen Auffaffungen
oder Ungenauigkeiten der alten Schriftjteller die nationale Zuge:
bhörigfeit der Galater beftimmen zu können?“
Bei den Philologen und Hiftorifern der Gegenwart ift zur
Zeit die Anficht fo gut wie allgemein angenommen, daß die klein⸗
aſiatiſchen Galater anzufehen find als das in Hiftorifcher Zeit am
weiteften und zwar völlig ifolirt nach Oſten vorgefchobene Glied
der großen keltiſchen Volkergruppe; daß der Name der Galater
identifch fei mit jenem der Kelten, und daß endlich diefer Name
„Salater* im engften provinciellen Sinne den drei großen ver:
brüderten Teltifchen Stämmen in bem Heinafiatifchen Galaterlande zu
eigen geblieben. Gegen diefe Annahme iſt da8 Buch des Dr.
Karl Wiefeler gerichtet. Der Verfaſſer fucht namentlich nach⸗
zuweilen, daß der Galatername nicht für, fondern eher gegen die
feltifche Zugehörigkeit der Tektoſagen, Zrofmer und Zoliftoboger in
Kleinaſien ſpreche; daß ferner auch andere Motive antiker ethno⸗
graphifcher Anfchauung die germanifche Abkuuft diefe Stämme
unterftügen,; daß endlih das uns von diefen Stämmen befannte
Detail nicht für Feltifches, fondern für germanifches nationales
Weſen zeuge. Wir verfuchen es im Verfolg, die Unhaltbarkeit
diejer Beweisführung zu erhärten.
Was den erften Punkt der Wiejeler’fchen Darlegung an⸗
geht, jo jtügt fich diefelbe eigentlih nur auf die noch nad Cäſar
und deſſen großartigen Entdedungen in Nordeuropa fortdauernde
Unflarbeit und Unficherheit antiter Schriftfteller über die wirkliche
Verſchiedenheit zwiſchen keltiſchen und germanischen Völkern, be-
ziehentlich über die territoriale Vertheilung der Stämme dieſer
beiden Völkergruppen nordiſcher „Varbaren“. Und doch kann uns
dieſe Erſcheinung nicht ſehr überraſchen. Alle hochgeſteigerte Cultur
der römiſch⸗griechiſchen Welt hinderte doch nicht, daß nicht neben
der richtigen, ſichern Erkenntnis einiger weniger ſcharf beobachtender
römiſcher Heerführer und Verwaltungsbeamten die Mehrzahl auch
der gebildeten Bewohner des ſubalpinen Südens doch immer in einer
gewiſſen Unklarheit über die Ethnographie des überrheiniſchen
Landes verharren blieb; noch weniger, daß nicht neben einer Reihe
528 Wiefeler
bedeutender geographifcher und ethnographiicher Entdeckungen die
älteren, auch durch beliebte ‘Dichter getragenen, oft wiederholten
Anſchauungen von den nordifchen Verhältniſſen die Phantafie der
meijten beherrfchten. Wir dürfen enblich gerade in unferer Zeit,
wo Geographie und Ethnographie zu den Lieblingswifienfchaften
namentlich der beutfchen Welt gehören, nicht vergeffen, daß wenig-
ftens die wiſſenſchaftliche Ethnographie die ftarle Seite der Alten
nicht gerade geweſen ift, einige bevorzugte Männer ber Praris
und ber Wilfenfchaft felbftverftändlich ausgenommen. An fi ift es
nicht überrafchend, wenn in der älteren Zeit, ehe man in dem grie=
chiſch⸗romaniſchen gebildeten Süden von einer tieferen Verſchiedenheit
zwifchen den Völkern weftlich und öftlich des Rheins etwas mußte, —
oder mehr noch, ehe die deutſchen Völker den Rhein und Main
auch nur erreicht und überfchritten, zugleich auch die keltifchen Stämme
aus den Örenzen des jpäteren weftlichen und füdlichen Deutſchlands
verdrängt Hatten, die gejamten Länder von Spanien bis nad
Stythien als das Gebiet der Kelten oder Galater bezeichnet werden.
Aber die Unficherheit und Unbeftimmtheit namentlich bei den Grie-
chen gieng doch fo weit, daß man anfieng, die urfprünglich völlig
gleichbedentenden Namen Kelten und Galater zur Bezeichnung für
verſchiedene Böflermaffen zu gebrauchen. Nur daß dabei damals
noch keineswegs an beutjche Stämme gedacht wurde. ALS feit Cä⸗
far und Auguftus bei den Römern die Scheidung zwiſchen keltiſchen
und germanischen Völkern mehr oder minder officiell zur Geltung
kam, folgten doc keineswegs alle griechiſchen Schriftfteller dem
neum Sprachgebrauhe. Es iſt befannt, daß einer der intelligen-
teften Schriftjteller ber fpäteren Taiferlichen Zeit, Caſſius Dio, arge
Confuſion angerichtet hat, indem er angibt, in alten Zeiten habe
man die Volker auf beiden Seiten des Rheines Kelten genannt,
fpäter nur die dftlihen, und nun die Germanen als Kelten,
die Gallier als Galater bezeichnet. Wie nun Dr. Wiefeler bie
Ausdehnung des galatifchen Namens auf die Völker im Often
und Nordoften von Gallien benugen will (S. 10 f.), um für
das Deutſchtum der Galater zu plädiren, fo dünkt uns das unhalt⸗
bar. Denn in älterer Zeit, noch bis tief hinein in das letzte Jahr⸗
hundert der römifchen Republik, war in der That von deutſchen
Die deutfche Nationalität der Heinafiatifchen Galater. 529
Stämmen dftlih vom Rhein, wenigftens bis zur Mainlinie, noch
feine Rede, und felbft zur Zeit der Cäfaren, nad Einrichtung
des fogenannten Zehntlandes, Tonnte der Rhein von feinem Ur-
jprunge bis zum Nedar noch immer, auch im Sinne richtiger
Ethnographie, als ein Feltiiher Strom gelten. Aber felbft ber
fharf beobadtende und mohlunterrichtete Strabo wird von
Dr. Wieſeler al8 Zeuge für die germanifche Abkunft der Ga-
later in Kleinaſien angerufen. Wir meinen — nicht mit Red.
Dr. Wieſeler findet e8 befremblih, daß (S. 12) Strabo das afia-
tische Keltenland niemald Kcarixij, fondern immer nur Galatia
oder Gallogräcia, die Einwohner niemals Kelten, jondern nur
„Galater* nenne. Da liegt doch der Einwand auf ber Hand:
er that das, weil feit alter Zeit in feiner Heinafistifchen Heimat
für da8 fremde Volt und fein Land inmitten der alten Stämme
der anatolifchen Halbinſel diefe Namen „Galatia“ und „Galater“,
völlig gäng und gebe geworden waren, während in feiner Zeit
unter den wirflih Sachkundigen der Ausdrud „, Kcarixij“ immer
beftimmter als geographiiche Bezeichnung für das galliihe Ge-
biet diesſeits und jenfeits der Alpen techniſch geworben war.
Die Unhaltbarkeit enblih der Holgmannfchen Auffaffung in
Sachen der Germanen als „yajosı Takasaı“ bei Strabo, bie
auch Dr. Wiefeler fich aneignet (S. 14), Hat ſchon Contzen
in feiner Schrift über „die Wanderungen der Kelten“ (S. 11 f.)
nachgewieſen.
In zweiter Reihe ſucht Dr. Wieſeler das Deutſch⸗
tum der kleinafiatiſchen Galater durch eine Reihe anderer ethno⸗
graphiſcher Hypotheſen zu ſtützen, die allerdings nach unſerer An⸗
ſicht den Charakter bedenklicher Kühnheit tragen, und trotz des
unleugbaren Scharfſinnes und des Aufgebotes einer großen Gelehr⸗
ſamkeit für den Referenten wenig Überzeugendes enthalten. Es
kommt dem Verfaſſer vor allem darauf an, das Deutſchtum des
bekannteſten der galatiſchen Stämme, nämlich der Tektoſagen, zu
erweilen. Da die Berfuhe (S. 18 f.), aus den wenigen Notizen
bet Cäfar und Tacitus über eine angebliche Kolonie von Tekto⸗
fagen am hercyniſchen Walde gegen Cäfars ansdrückliche Ans
gabe, daß fie Gallier geweien, dennoch den deutjchen Charafter
530 Wiejeler
der Teltofagen zu erweifen, dem Berfaffer wol felbft nicht genügend
erfcheinen können, jo wird nun ein ftärkeres, nach unferer Anfict
freilich fehr bedenkliches Rüſtzeug aufgeboten. Die folgenden Aus
führungen nämlich (S. 19 ff.) zeigen und das gefährliche Experi-
ment, aus weit zeritreuten Volksnamen von oft zweifelhafter Schreib:
art, aus weit zerftreuten Stellen der alten Schriftfteller verſchie⸗
dener Zeiten, und auf Grund rafcher Umbiegung irgend brauchbar
erfcheinender Namen, auf ungeheure räumliche Linien Hin uralte
Volkswanderungen zu verfolgen. Bon der an ſich richtigen Annahme
ausgehend, daß auch die Tektoſagen in dunkler Vorzeit zuerft aus
dem fernen Often nah Europa gelommen, glaubt Wiejeler in
den „age 70 "Iuaov Texvooaxes“ bei Btolemäos (VI, 14.
p. 426) einen Reft von Xeltofagen noch im zweiten Jahrhundert
n. Chr. am Ural zu entdeden. Mehr aber, er macht die Tekto⸗
fagen umbedentlih zu einem Zweige bes großen Volles ber
Safen, und vindiert — im Unfhlug an Jakob Grimme
höchſt bedenkliche Hppothefe einer Fdentität von Saken und Sad
fen — die Tektofagen unbedenklich als reine Deutfche, ohne auf
nur, wie J. Grimm es getban, in ihnen eine alte Meifchung
keltifcher und deutfcher Stämme zu ftatuiren. Damit nicht genug,
fo fol auh aus dem Namen der Bolcä, den die Xektofagen
mit ben Arelomilern theilten, ihr bdeutfcher Stammbaum erhellen.
Der Verfaſſer ſtellt nämlich unbedenklich Wolch und Belcä ale
identifch Hin. Belcä find ihm natürlich die DBelgen. Da nun
nad Pomponius Mela (II, 36) feythifche Völker an den Rhipäi⸗
ſchen Bergen oder am weitlihen Ural Belch biegen; da ferner
die biftorifchen Belgier oder doch ein Theil derjelben ſich mit Vor⸗
liebe als halbe Germanen bezeichneten, jo find nach bes Verfaffers
Anfiht auch die Volcä, alfo die Tektoſagen, als Germanen an
zuſehen. Es iſt alfo nicht nöthig, bier noch näher auf die ger»
maniſchen Elemente in Belgien und das ficher gejtellte Keltentum
der Belgier einzugehen. Es genügt wol, auf die luftige und
Iprunghafte Beweisführung in Sachen ber Tektoſagen binzuweifen,
um ihr eine wirkliche Beweiskraft abzuſprechen.
Noch fchattenhafter ift aber das Folgende (S. 21— 23), was
fih unmittelbar auf die Galater in Kleinafien bezieht. Der
Die deutfche Nationalität der Meinaftatifchen Balater. 631
Verfaſſer fchenkt wirklich den Berichten jener alten Schriftfteller Glau⸗
ben, welche — wie namentlih Plutarch und Diodor, einerjeits
die uralten Kimmerier der Krim, die vom 8. bis zum 6. Jahr⸗
hundert v. Chr., namentlich zur Zeit der Indifchen Mermnaden, zuerft
von der Krim aus, Kleinafien verheerten und endlich in Kappabofien
fefte Site gewannen, mit den deutfihen Kimbrern zufammen«
bringen, anderſeits dieſen legteren alle möglichen älteren Raub»
fahrten, mit Einfchluß der galliſchen Eroberung Roms und (mie
auch Appian) namentlich des Brennuszuges gegen Delphi, zu⸗
Schreiben: natürlich ein neuer fogenannter Beweis für bie deutſche
Abkunft der Gallogriehen. Mehr aber, auf S. 25—29 foll
das noch eine ftärkere Unterftüßung erhalten. Es ift befannt, daß
die wilden alten Kimmerier der Krim und Kleinaftens von den
Semiten ald Gomer bezeichnet wurden, und nah Dunders befon-
nener Forſchung (Geſchichte des Altertums, 4. Aufl., Bd. I, ©.
396 — 401; Bd. I, ©. 433 ff.) wird man nicht irregehen,
wenn man diefes Triegerifche Volt fo gut wie die ihm ſtets zur
Seite gehenden Treren für einen thrakiſchen Stamm oder body für
den Thrakern unmittelbar verwandt hält. Die Gefchichte diefer
Rimmerier ſchließt aber mit ihrer Zurückdrängung durch die lydi⸗
fhen Mermnaden zu Anfang des 6. Yahrhunderts v. Chr. für
Immer ab. Und es ift Lediglich die in der alten Welt, wie bei
manchen modernen Schriftitellern beliebte, unglüdliche und gefähr-
fiche Neigung, den Irrlichtern zufälliger Namensanklänge zu folgen,
was eine Verbindung zwifchen ben burch König Alyattes zufammen-
gehauenen Kimmeriern und den nahezu fünfhundert Jahre fpäter
auftretenden kimbriſchen Weltftürmern hat ans Licht treten laſſen.
Nichtsdeftomweniger folgt Dr. Wiefeler unbedenklich diefen antiken
Hrrlichtern; noch mehr, indem er fich zugleich unmittelbar anlehnt
an Joſephus, der (Ant. 1, 6, 1) nad alter unbeftimmter Manier
die „Salater“ von der Mäotis und Kleinaſien bis nad) Spanien
reichen Täßt und diefelben als „Gomerier“ bezeichnet, nimmt er
Gomer und die alten Kimmerier einfach ald Germanen der Ur-
zeit in Anſpruch (S. 27).
Nicht damit zufrieden, auf Grund der angeblichen Führung ber
Kimmerier oder Kimbrer bei dem Zuge nad) der Baltanhalbinſ el
Theol. Stud. Sahra. 1873.
382 Biefeler
feit 280 v. Ehr., die ein fo gering wiegender, fo oft alles confun-
birender Zenge wie Diodor (V, 32) ihm berichtet, die kimbriſche,
alſo deutfche Zugehörigkeit namentlih der Teltofagen gegen bie
fonftigen Angaben bafirt zu haben, foll durch den Verfaſſer nun
weiter nachgewiefen werben, dab Germanen, die damals natürlich
diefen Namen noch nicht führten, einen Hauptfactor bildeten bei den
fiegreihen Brennuszügen nad Rom und Delphi. Auch hier ift
die Deweisführung wieder überaus bedenklich. Bei dem gallifchen
Zuge nach Rom kommt e8 dem Verfaffer namentlich darauf an,
die mehrfach genannten keltiſchen Gäſaten ebenfalls als Deutſche
zu erweilen (SG. 36— 40). Da diefer Punkt für uns Hier nur
eine fecundäre Bedeutung hat — freilih Hält Dr. Wiefeler die
Säfaten für „eine Sippe verwandter Völker”, zu denen nach feiner
Anficht auch die nordifchen Tektoſagen gehört hätten —, fo ſei nur
Kurz erwähnt, daß er einerfeits ein großes Gewicht legt auf den
Name ,„Germaneis‘ in den Tapitolinifchen Faſten, mo von ben
Kämpfen des Marcellus bei Claftibium gegen Inſubrer und Gä⸗
faten unter Biribemarus berichtet wird. Doc hat fhon Momm-
fen (Röm. Geſch. Bd. I, 4. Aufl, S. 561) das fehr Zweifel⸗
bafte des germanifchen Namens an biefer Stelle der Faften erhärtet
und rund und nett gezeigt, daß hier an eine Mitwirkung deut»
[cher Krieger nicht gedacht werben darf. Aber fehr ſchlimm it
das Wagnis Wiefelers, die Sigynnen des alten Herodot, an
denen fich fchon viele Forſcher vergeblich bemüht haben, ohne wei-
teres für Germanen und als wahrfcheinfich für identisch mit den
Säfaten zu erflären, und zwar: für Germanen (S. 40), weil die
Siginen bei Strabo am kaspiſchen Meere in der Nähe der deutfchen
Saken wohnten, weil ferner nad) Strabo ein Volk der Sibynen
(nah Wiefelers Meinung — Sigynnen) fi an Marbods Neid
anſchloß, und für Gäfaten, weil beide Völker kurze Speere führten
und namentlich Hofen trugen. Abgeſehen davon, daß ber Teßtere
Punkt bei den Gäſaten fofort an ben bekannten Brauch und bie
Tracht der transalpinen Kelten erinnert, genügt wol auch bier
die einfache Darlegung zur Erkenntnis der höchſt zweifelhaften
Natur diefee Argumentation.
Die Erörterung ferner über bie Raubfahrten der Kelten,
Die deutiche Nationalität der kleinafiatiſchen Galater. 588
namentlich auch der Tektoſagen, nach der Balkanhalbinſel ſeit 280
dv. Chr. (S. 41 ff.) führt und nun wieder ganz nahe zu den
Heinaflatifchen Salatern heran. Die Raubfahrer dieſes Zeitalters
find es ja, als deren wichtigfter Reſt die Galater in Kleinaſien
übrigblieben; alſo kommt es für Dr. Wiefeler darauf an,
das Mienfchenmaterial gerade diefer nach der Griechenwelt gelelteten
Züge als weſentlich dentfch Hinzuftellen. Beweiſe follen num fein:
1) die Angaben bei Diodor (V. 32) und Appian (Ilyr. 4 ımd 5),
daß die (unbezweifelt deutſchen) Kimbrer den Zug nach Delphi
unternommen hätten. (Vgl. ſchon oben.) Aber diefe Phantafien
oder DVermuthungen zweier als ethnographiſche Beobachter nichts
wertiger als gerade klaſſiſcher Zeugen und diefe Einführung der
Kimbrer in die alte Gefchichte mehrere Meenfchenalter vor ihrem
wirklich beglaubigten. Auftreten Tann doch gegen die ganze wohl-
beglaubigte Weberlieferung des Übrigen Altertums nicht ernithaft
ing Gewicht fallen. Und ebenfo wenig berechtigt die Angabe des
Paufanias (1, 3, 6), die betreffenden Galater feiern von dem äußerften
Meere, wo der Bernftein gefunden wird, gefommen, zu der An-
nahme von deren Ankunft aus dem heute als das wirkfiche Bernſtein⸗
gebiet befannten Lande, nämlich „aus dem nordöſtlichen Germanien“.
Bei diefer vaſchen Entfchloffenheit des Verfaſſers, altüberalt ſchon
in einem Zeitafter, wo die wirklich als deutſch nachzuweiſenden
Völker, wie die Teutonen des Nordens und die Baftarnen des
Sädens, nur erſt ganz von ferne am Horizont der alten Welt
momentan auftauchen, deutfche Völker zu entdecken, tft es and
nicht überrafchend, wenn fofort (S. 42) aud) die Skordisker,
deren Theilnahme an diefen Raubzügen Wiefeler für wahrfchen-
fich Halt, als Deutfche im Anfprud; genommen werden. Gegen
die einmüthige Angabe der Alten, welche die Stordister als Kelten
fennen, kann Livius (40, 57) nicht in Betracht kommen, der fie in
Sitte und Sprade allerdings deu Baftarnen gleihgeftellt; jet es
nun daß bier ein Irrtum des Livius vorkiegt, ſei ed daß die
Baftarnen ſelbſt erft als germanifirte Kelten oder als mit Kelten
gemifcht anzujehen find.
Wefentliches Gewicht legt Dr. Wiefeler endlich auf mehrere
Namen galatifcher Führer bei diefem Zuge. Brennus wird
85*
634 Biejeler
natürlich (S. 36) aus dem Deutjchen erklärt und dem bei Tacitus
(Hist. 4, 15) vorfommenden Namen eines Caninefaten, Brinno,
gleichgeftellt.. Bei der Unficherheit der Ableitung dieſes Wortes
aus dem Keltifchen muß diefes allerdings dahingeftelit bleiben. Da⸗
gegen find erhebliche Bedenken zu erheben gegen die Ableitung ber
Namen Alihorios, Leonnorios, Rutarios und des jpäteren
Dejotarus aus dem Deutfchen. Referent bat ftets nur mit
höchftem Bedenken das Erperiment beobachtet, Namen, die uns
nur in römischer ober griechifcher, oft genug durch „Volksetymo⸗
logie” erft noch beftimmtere Umſchmelzung aus fehr alter Zeit
überliefert find, durch Heranziehung ganz junger deutfcher, ähnlich
fautender Eigennamen erflärt zu fehen. Die Jugendzeit unferer
germaniftifchen und deutfchhiftorischen Studien gleich nad) den Be
freiungsfriegen bietet uns ber warnenden Beiſpiele genug, zu wel
hen jeltfamen Nefultaten man auf dieſem Wege gelangen kann.
Wie ift e8 nur möglich, in dem alibefannten Namen bes Könige
Dejotarus (S. 43) das beutfche Dietrich wiederfinden zu wollen?
Was in aller Welt berechtigt den Verfaſſer, aus dem bei Strabo,
alfo auch erft wieder nahezu 300 Jahre nad) der aflatifchen Ein.
wanderung ber Galater, vorkommenden Namen des Sigambrerd
Deudorix, der natürlich auch für Diederich erflärt wird, zu fchließen,
dag „neben ber alten vollen Form“ des Namens Theodorich
deffen fpätere Abwandlungen bereits in alter Zeit gebraucht worden
feien? 1) Noch bedenklicher iſt bie Erklärung (S. 42) des Na—⸗
mens Leonnorios durch das deutfche Leonhard, Leonard (wel
cher deutfche Name übrigend auf den urdeutſchen Stamm lewon
zurückgeht, auch die Nebenform Levinnard hat und zuerit als
fräntifcher Name im fechften Jahrhundert n. Ehr. vorkommt).
Lutarios wird natürlich durch Lothar erklärt; auch Hier foll man
1) Völlig unmögfich ift ein Zufammenhang zwiſchen Theodoricus (Thiuda⸗
reiks) oder einer Form wie Deotaricus freilich nicht. Allerdings finden
fi im Deutfchen „Kofeformen“, die den zmeiten Theil des Compoſitums
nicht ganz wegwerfen, fonbern nur ablürzen, 3. B. Ercambius für Gr
cambertus, Ratpo für Ratpoto, Abalbo für Adalbero ; fo Könnte allenfalle
auch Deotaro für Deotarits fiehen, — aber nur erft auf einer jehr vor
gefchrittenen Stufe der Lautverichiebung.
Die deutfche Nationalität der Meinafiatifchen Galater. 585
alfo das ifolirte Auftauchen eines deutihen Namens für wahr-
fcheinlich Halten, der (die Abwandlung ans der härteren Urform
bier außeracht gelalfen) erſt nad nahezu acht Jahrhunderten
unter den fpäteren Biftorifchen Stämmen der Deutjchen wirklich im
Gebrauche erſcheint. Ungleich berechtigter bleibt doch die Erffärung
des Namens aus dem Keltifhen. Wenn alfo, wie W. Grimm
in d. DI. bereit8 (1876, ©. 214) mittheilt, Lutarios auf Loth
(Sumpf) mit der in keltiſchen Berfonennamen üblichen Endung
sario zurückgeführt werden kann, jo mag man dabei an einen Führer
denfen, der aus einer Moorlandihaft fam. Ebenfo fcheint es un⸗
nöthig, Alichorios aus dem Althochdeutfchen zu erklären, da dieſer
Name doch offenbar, wie auch Leonnorios, zu den nicht feltenen
£eltifchen Perfonennamen mit der Teltifchen Endung -orio zu rech⸗
nen ift.
Alles zufammengefaßt, fo müſſen wir dabei beharren, daß die
Anficht der urtheilsfähigen Berichterftatter der alten Welt alle Zeit
dahin gieng, daß die Galater Kleinaſiens ein Glied der großen
Leltifhen Bölfergruppe geweſen find. Nur moderne Specu-
latiou bat ernitlih den Verſuch gemacht, die Teltifche Eroberung
Roms im Zeitalter des Camillus deutfchen Völkern vor dem Auf-
fommen des germanifchen Namens und vor dem beglaubigten Ein-
treten der Deutſchen in die Gefchichte zuzutheilen. Die Römer
ihrerſeits wußten fehr gut, und haben e8 niemals vergeffen, aus
welcher Gemitterwolfe biefer VBlitz auf ihre Stadt herabgefahren
war. Sollte nachher der grimme Conſul Manlius Vulſo ſich
wirklich geirrt Haben, als er 189 v. Chr. bei dem Angriff
anf Galatien feinen Soldaten diefe Galater als unmittelbare
Stammesverwandte der Kelten von der Allia Hinftellte? (Liv.
38, 17.) Auch König Mithradates VI. von Pontus, der große
aflatifche Feind der Aömer in Sulla’8 Zeit, der bet feiner ausge:
breiteten Kenntnis aller möglichen Völker und Sprachen fehr wohl
als „MHaffifcher Zeuge“ für uns fungiren kann, wußte jehr gut,
daß die Galater am Sangarios und Halys die nächften Stammes»
vettern der alten keltiſchen Conguiftadoren in Italien waren
(Justin. 38, 4). Mehr aber: das galatifche Weſen in Klein⸗
afien war noch im vierten Jahrhundert ber römiſchen Kaiſerzeit
556 Wiefeler
nicht ganz erlofchen. Und während diefer langen Zeit, wo Römer
und Griechen nur zu viel Gelegenheit gefunden Hatten, deutſche
Menſchen aller möglichen germanifchen Stämme ſehr genau kennen
zu lernen, findet ſich durchaus Feine Ungabe, aus welcher mit
einigem Scheine des Richtigen auf bie germanifche Art diefer
Galater gejchloffen werden Tönnte.
Wenn wir nun drittens die Momente noch zufammenftellen,
aus denen, auch abgefehen von den allgemeinen Angaben der Alten,
das Keltentum diefer Galater ſich zu ergeben jcheint, fo fei zuvor
noch eine Bemerkung erlaubt. ine Vergleichung der Galater mit
den unbezweifelt als deutfche geltenden Völkern hat ihr fehr Miß⸗
fies. Die Deutſchen erfcheinen in ber Geſchichte ſicher zuerft
als Kimbrer und Teutonen; damals nur im Zuftande der Bewer
gung, des wildeften Kriegsjturmes; aber auch die Germanen in
Cäfars Zeit treten uns noch in fehr primitiven Verhältniſſen ent⸗
gegen, während uns die angefiedelten Galater Kleinafiens bereits
als mehrfach überzogen mit griechifcher Eivilifation und von afia-
tischen Einflüffen berührt begegnen, fo daß es jehr ſchwer wird,
die Trage und die Vergleihung immer richtig zu ftellen.
Dr. Wiefeler nun geht begreiflicherweife auch bei dieſem
Stadium der Unterfuchung confequent weiter in derfelben Aichtung,
in der wir ibm bisher folgten, ohne in ber Hauptſache ihm jemals
zuftimmen zu Fönnen. Aber auch gegen alle weiteren Aufjtellungen,
die er jetzt erhebt, müfjen wir unferjeitö Einfpruch erheben. Bei
einer eingehenden Betrachtung des galatifchen Volkes kommt zunächſt
die Berfajfung feiner Stämme in Betradt. Da iſt e8 nun
unleugbar, daß bei diefen Galatern von dem Inſtitut der Druis
den feine Rede ift; und es wird diejes für den Verfaſſer ein
wefentlicher Grund, das Keltentum der Galater als Hinfälfig zu
bezeichnen. Und doch vergikt Dr. Wiefeler dabei gänzlich, daß
bis jet, nach Angabe aller neueren Forſcher auf diefem Gebiet,
das Inſtitut der Druiden jenſeits der Grenzen Britanniens und
Galliens überhaupt noch nit Hat nachgewiefen werden können.
Will er darum etwa auch fämtlichen keltiſchen Völkern zwifchen
dem Genfer See und ber mafedonifchen Nordgrenze die Zugehörig-
keit zur keltiſchen Nationalität abſprechen? Ebenſo gut könnten
Die deutſche Nationalität der Meinaftatifchen Galater. 587
künftige Forſcher einft die englifche Abkunft der Eoloniften in Ca⸗
nada, am Cap und in Auftralien in Zweifel ftellen, weil deren junge
Berfafjungen fein Haus der Lords entwidelt Haben und fchmerfich
je entwideln werden. Es bleibt immer das Wahrfcheinlichfte, daß
das Inſtitut der Druiden in Britannien und Gallien feine eigen-
tümfiche kunſtvolle Ausbildung erft dann erhalten hat, nachdem
die großen Keltenzüge nach dem italienischen, pannonifchen und
illyriſchen Often erfolgt waren, — nicht etwa erft feit 280 v. Chr.,
wie Dr, Wiefeler auf S. 45 feinen Gegnern zu imputiren
Scheint. Ram aber die Maffe der Kelten, welche die Balkanhalbinſel
überfhwenmten, theils (damal8 vor den Römern weichend) aus
Ktalien, theils (wie namentlich die Tektofagen felbft und ihre be»
gleitenden Stämme) aus den pannonifchen SKeltenländern, gleichviel
wie früh ober wie fpät immer die aus Gallien ausgewanderten
Tektoſagen und beren Begleiter auch nah PBannonien gekommen
waren: jo ift es nicht weiter befremdlih, wenn nachmals in dem
fernen Kleinaſien, von aller Beziehung zu den Keltenländern bes
atlantifchen Oceans abgefchnitten, unter den Nachlommen der wüften
Lanzknechte des Leonnorios und Lutarios von einer Entwicklung
des Druidentums Überhaupt Feine Rede geweſen ift.
Die Berfafjung der Galater, behauptet Dr. Wiefeler ferner,
fei demoflratifch geweſen; dieſes und ihr ftarkes Freiheits⸗
gefühl charakterifiren fie, jagt er (S. 47), abermals als Germanen,
Nah diefer Richtung muß nun von vorn herein gefagt werden,
daß folche Allgemeinheiten an fi) nur fehr wenig Beweiskraft be⸗
figen; wie denn dasjelbe auch von den Schlüffen aus den bekann⸗
ten Geſchichten von der ftolzen Keufchheit und ehelichen Treue
zweier galatifcher Edeldamen gelten wird. Energiſche Freiheits⸗
liebe gegenüber fremden Eroberern charakterifirt ſehr viele Völker
auf den erften Stadien ihres Hiftorifchen Lebens; wir wollen hier
nur noch an die Rhätier und Vindelicier und an bie alte Geſchichte
fehr zahlreicher ſlaviſcher Stämme erinnern. Daraus allein laffen
ſich keinerlei ethnographiſche Schlüffe ziehen. Und wenn nad) der
befannten Erzählung der Alten die ftolze galatifche Fürftin Chio⸗
mara (189 v. Chr.) ihre gewaltfame Entehrung durch einen auch
ſonſt nieberträchtigen römischen Offizier mit Blut rächt; wenn ferner
588 Wieſeler
die fürſtliche Prieſterin Kamma die Ermordung ihres Gatten durch
einen liebeswüthigen galatiſchen Ritter an dieſem Frevler bei paſ⸗
ſender Gelegenheit durch Gift rächt und dabei zugleich ſich ſelber
den Tod gibt: ſo ſind ſolche Züge eines wilden weiblichen Herois⸗
mus ſo wenig ſpecifiſch national, laſſen ſie vielmehr ſehr zahlreiche
Analogien ans der Frevelgeſchichte aller Völker der Welt zu (gleich⸗
viel ob jedesmal Sitte und Zucht vorberrfchende Tugenden waren
oder nicht) derart, daß aus folchen Motiven allein unferer Ans
ficht nach weder fittengefchichtliche no ethnographiſche Schlüffe ge
zogen werden follten, noch überhaupt können.
Was endlich die Berfaffung der Galater im engeren Sinne
angeht, fo ift wohl Dr. Wiefeler der erfte Forſcher, der diefelbe
(S. 47) für demokratisch, der ferner die Verſammlung der Drei⸗
hundert, die doc nur den hohen Rath der galatifchen Edlen ober
Ritter ausmachte, für eine demofratifche gehalten hat. Ganz im Ge-
gentheil, wie auch Mommſen und Contzen ſchon es nachwiefen,
war die Verfaffung der Galater einfach die keltiſche Gauverfaffung,
die hier ebenjo ftreng ariftolratifch ausgearbeitet erfcheint, wie
nachmals zu Cäſars Zeit bei den großen Stämmen besjelben Volkes
jenfeitö der Alpen.
Schließlich kommt Dr. Wiefeler nod) einmal auf die Sprache
der Galater zurüd. Einerfeits gilt e8 nod einmal, mehrere
galatifche Eigennamen aus dem Deutjchen zu erklären. Weil
Strabo (S. 187) bemerkt, daß die Zoliftoboger und Trokmer
nach ihren Führern genannt feien, werden wieder fühne Etymologien
verſucht, unter anderen (unferer Meinung nad ohne Noth und unbe:
rechtigt) die Trofmer (S. 45) einfach als die „Mannen des Trogo
oder Drogo“ erklärt, alfo wieder auf einen beutfchen Namen zu»
rüdgeführt, der erft neun bis zehn Jahrhunderte fpäter öfter in
der wirklich deutjchen, beziehentlich fränkifchen Gefchichte auftritt. Der
Name des Kleinen Stammes der Zeutobodiaci bei Plinius (V, 32)
klingt allerdings teutonifh an; und doc) find wahrfcheinlich die im
Recht, welche aud hier (vgl. Congen, S. 83) an feltifche Ab⸗
feitungen von dem Götternamen Teutätes, beziehentlich von teu,
denken, und an Namen wie Teutomatus bei ben Keltifchen Nittobrigern
erinnern. Ganz wilffürfih werden Ortsnamen wie Germia und
Die deutiche Nationalität der Heinaftatiichen Galater. 539
Tyskon, wie auch der Frauenname Chiomara und ber ihres Gatten
Ortiagon (S. 82 und 83) auf deutfche Wurzeln zurüdgeführt.
Dem gegenüber ftehen doch nun bie höchft zahlreichen galatifchen
Namen unzweifelhaft Teltifchen Gepräges; wie (Außer den auf
sorio auslautenden) die vielen Perfonennamen mit der Endung ⸗orix,
alſo Adiatorir, Aeorix, Sinorir, Toredorix, Albiorix, Ateporix,
Gezatorix; wie andere mit der Endung ⸗gnatus, alſo die Häupt⸗
lingsnamen Karſignatus uñd Epoſſognatus; und ferner Localnamen,
unter denen das von W. Grimm in d. B. (S. 217) genannte
Eccobriga im norböftliden Galatien, namentlich) aber der Name
des heiligen Eichenwaldes, ber heiligen Stätte, wo der adelige Senat
der Galater zufammentrat, Drunemetum oder Drynemetum,
bejonders wichtig find. (Vgl. Contzen a. a. O. S. 83. Grimm
a. a. O. S. 216. Mommfen, Bd. I, ©. 698.)
Entſcheidendes Gewicht endlich legt Dr. Wieſeler auf eine in
der That in hohem Grade intereſſante Bemerkung des heiligen
Hieronymos. Dieſer berühmte Kirchenſchriftſteller des vierten
chriftlichen Jahrhunderts, der ſowol Gallien und das römiſche
Rheinland, wie anderſeits Galatien perſönlich kennen gelernt hatte,
beſchäftigt ſich im Proömium feines lib. II in epist. ad Galatas
mit der Nationalität und Sprache der Galater. Wer die betref⸗
fende Stelle unbefangen in Angriff nimmt, der kann (unſeres Bes
dünkens) über die Meinung bes gelehrten Dalmatiners kaum in
Zweifel fein. Wenn derjelbe auch für die ältefte Zeit fich die Ans
fiht des Joſephus (j. 0.) aneignet und die Gomerier für &a-
later im weiteſten Sinne nimmt, fo iſt e8 doch kaum möglich, ihn
miszuverftehn, wenn er die zu feiner Zeit erheblich griechiſch civili-
firten Galater Kleinaſiens de ferocioribus Gallis, von den wilden
Galliern des Weftens, abftammen läßt. Und wie er dann bemerkt,
daß (ed. Vallars. VII, 1. p. 430) die Galater ihre alte Sprache,
neben dem Griehifchen, von einigen Korruptionen abgefehen noch
immer fi) bewahrt hätten und etwa diefelbe Sprache redeten, wie
die Trevirer: fo ziehen die Philologen und Hiftorifer jegt jo gut
wie einmüthig daraus nur den Schluß, daß die Galater in Afien
neben dem Griechiſchen und die Trevirer an ber obern Mofel neben
dem Lateiniſchen ihren einander ziemlich gleichlautenden keltiſchen
540 Wieſeler
Dialekt noch im vierten Jahrhundert der Kaiſerzeit feſtgehalten
haben.
Dr. Wieſeler kommt zu einem ganz anderen Ergebnis. Wir
erinnern daran, daß er (ſ. oben) ſchon S. 23 ff. auf Joſephus
und Hieronymos geftügt bie unglüdliche Idee verfochten hatte, daß
die Rimmerier des fernen Oſtens Germanen geweſen. Jetzt muß
(S. 48 ff.) die Angabe des Hieronymos über die Sprachverhält-
niffe dazu dienen, das Deutſchtum ber Galater noch ficherer zu
erweilen. Wie fi) von felbft verfteht, weil er dad Volk der
Trepirer unbedingt für Deutſche erkennt. Die Sache dürfte ſich
aber doc anders verhalten. Allerdings ift es vollkommen waht,
daß namentlich nad) Zacitus’ Angabe (Germ. 28) die Trevirer
zu jenen Helgifhen Stämmen gehörten, welche mit befonberem
Nahdrud ihre germanifche Abkunft betonten und nicht als Gallier
angefehen fein wollten. Man kann nun immerhin zugeben, daß
möglicherweife ein erheblicher Theil deutfcher Elemente in dem
Volle der Trevirer lebte, und daß diejer Fräftige Stamm ſich deijen
mit Stolz gegenüber den mehr verweichlichten Galliern des innern
Landes bewußt war. Uber ebenſo wahrjcheinlich ift e8, daß das
durchaus nicht gehindert hat, daß nicht da8 Volk ber Trevirer die
feltifche Sprade nad Maßgabe des belgifchen Dialektes ſprach.
Es Tiegt doch auf der Hand: ſprachen die Trevirer einen deut:
hen Dialett, fo konnten weder Kelten noch Römer an ihrer
deutfchen Abfunft zweifeln, und wenn fie mit Heftigkeit auf dieſt
germanische Abkunft pochten, fo muß eben das ficherfte äußere Kenn
zeichen, nämlich die deutfche Sprache, den etwa in dem Moſelgebiet
von Trier vor Alters unter belgischen Kelten angefiedelten Deutjchen
ihon zu Cäſars Zeit Tängft abhanden gefommen fein. Mochte
alfo immerhin das Volt der Trevirer fi feinem Blute nach den
Germanen bes rechten Rheinufers nicht fremd fühlen: die Sprache,
die Hieronymos feiner Zeit in dem nicht romanifirten Dörfern bei
Trier gehört hat, ift ficher die keltiſche geweſen *).
m —
1) Die ganze Letzte Discuffion würde freilich fiberflüffig fein, wenn wirklich
die Ausfage des Hieronymus Über die lange Erxiftenz ber feltiichen Spradk
in Oalatien überhaupt ivrig wäre. Aus Kieperts Lehrbnd der
Die deutſche Nationalität der Heinafiatifchen Galater. 541
Schließlich fei nur noch binzugefügt, daß es auch noch einige
andere Momente gibt, die uns die Galater Aftens als unmittelbare
Stammesbrüder der Kelten des Weftens erfcheinen laſſen. Die
Angaben der Alten über die Größe, Weiße und Blondheit der Gas
later ftimmen im ganzen mit den Schilderungen überein, wie wir
fie von den übrigen Kelten haben (Pausan. X, 20; Liv. 88,
17, 21); dasfelbe gilt in Bezug auf ihre Waffen; nod in den
Kämpfen gegen Manlius Vulſo zogen ihre fchmalen Schilde und
nationalen langen Schwerter gegen die Maſſe der römischen Schuß»
waffen den Kürzeren. Auch die Art ihrer Verfchanzungen im
Kriege (Liv. 38, 19) war in Sleinafien diefelbe, wie in den
Hauptfigen der Teltifchen Nation (Congen, ©. 79 u. 244).
Endlich aber theilen fie vollftändig die Neigung ihrer abendländischen
Stammesbrüder zur Anfiedlung in Städten und Dörfern, und
zeigen feine Spur von der den Germanen fo lange charakteriftifch
gebliebenen Abneigung gegen das Wohnen in gefchloffenen Plägen.
G. Herkherg.
Geſchichte der religiöfen Aufklärung im Mittelalter vom
Ende des acdten_Inhrhunderts bis zum Anfange des
vierzehnten von Hermann enter. 2 Bände, Berlin
1875 u. 1877. Xu. 335 ©, X u. 391 ©. 8°.
Diefes jetst vollendet vorliegende Wert ift ausgezeichnet durch
den Reichtum und die Selbftändigfeit de8 Quellenſtudiums und
durch eine jeltene Sorgfalt Fünftlerifcher Gruppirung und Darftellung.
Es maht auf den Leſer einen faft blendenden Eindrud und hat
alten Geographie (S. 102), erfehen wir, daß ©. Perrot in ber Ab-
handlung „De la disparition de la langue Gauloise en Galatie“,
die und unbekannt geblieben, dieſe Anficht vertritt.
542 Reuter
in dem Berichterftatter wer weiß wie oft den Wunſch hervorgerufen,
ſich ſogleich in die Quellenfchriften einzulaffen, aus benen die Er⸗
zählung gefchöpft ift. ALS die Gründe biefer Anziehung glaube id)
bezeichnen zu dürfen, daß der Gegenftand die Bedeutung der Ges
Schichte als Xehrmeifterin für die Gegenwart in der Tebhafteften
Weife einprägt, und dag der individuelle Geſichtspunkt des Verfaffers
dem Verlauf feines Berichtes eine überaus fcharfe Beleuchtung zu-
wendet. Durch beides wird der an der Sache intereffirte Leſer zu
einer entjprechenden Spannung feines Urtheil® über die Dinge und
über den vom VBerfaffer gedeuteten Zuſammenhang bderfelben herausge
fordert. Dazu wirft der Umftand mit, dag man erft am Schlufie
de8 Ganzen da8 Motiv durchfchaut, welches in dem Verfaffer ben Plan
feines Werkes hervorgerufen bat. Er bat bdasfelbe zwar in der
Vorrede zum erften Bande angegeben, nämlidy daß er eine Vorbe⸗
reitung der „ghibellinifchen Bildung“ in der Epoche des Hohen-
ftaufen Friedrich II. durch analoge Elemente des 12. Jahrhunderts
wahrgenommen babe. Durch diefe Notiz ift man aber nicht ge
nügend darauf vorbereitet, daß das Buch mit dem Farolingifchen
Zeitalter beginnt, mit welchem, wie I, 85 zugeftanden wird, die
Entwicklung feit der Mitte bes 11. Jahrhunderts in keiner nach⸗
weisbaren birecten Kontinuität fteht. Schon durch dieſes Verfahren
wird der Lefer, welchem eine allgemeine Kenntnis diefer Gefchichte
beimohnt, in eine Theilnahme verfett, welche etwas aufregenbes
an fih hat. Dazu kommt noch folgendes. Der Berfafler be
zeichnet in ber Vorrede feine Aufgabe als ein ergänzendes Kapitel
zur theologifhen Dogmengefchichte. Allein indem er zugleich es
ablehnt, die in der chriftlichen Theologie von Anfang angelegten
Elemente der religiöfen Aufflärung als die Unterlage feiner Dar-
ſtellung aud nur anzudeuten, indem er vielmehr den Leſer im
farolingifchen Zeitalter in medias res hineinftellt, fo bedient er
fi eines Rechtes des Kirchenhiftorikers, welches ich mir nicht ge
trauen würde im Zuſammenhange der Dogmengefchichte auszuüben.
Und, mie ich meine, darf der Verf. auf nicht zu zahlreiche Leſer rechnen,
welche die durch feine Darftellung vielfach hervorgerufenen Leber
raſchungen von vornherein durch die Erinnerung ausgleichen, daß die
ſcheinbar originellen Gedankenreihen, welche er vorführt, aus ber alt-
Geſchichte der refigiöien Aufflärung im Mittelalter. 548
kirchlichen Apologetit und von Auguftin herftammen, der als ber
elaffifche Vertreter des abendländifchen katholiſchen Chriftentums zu-
gleich nicht bloß das Element bes Protejtantismus, fondern auch das
der Aufflärung in jenem Scoße trägt. Zu nicht geringer Er»
ſchwerung de Verſtändniſſes dient aber endlich der Umftand, daß
der Verfaſſer feine Vorrede mit einer Definition von „Aufklärung“
eröffnet, deren Wichtigkeit er dadurch betont, daß er ihre Mittheilung
als „Sewifjensbedürfnis“ bezeichnet. Er fügt freilich Hinzu, daß mit
Formeln der Art, wie feine Definition ift, ſich die Fülle des gefchicht-
lihen Lebens nicht umfpannen läßt. Aber indem er ferner auch
darin Recht Hat, daß er eines Begriffes der Aufllärung bedurft
habe, um die entfprechenden geſchichtlichen Erjcheinungen finden zu
fünnen, jo bezweifle ich, ob es für die Lefer zweckmäßiger war, fie
von vornherein zur Disputation über den Begriff der Sache aufzu-
fordern, als fie durch die Vorgefchichte derjelben dazu anzuleiten,
in bie allmählich vorfchreitende Darftellung der mittelaltrigen Aufklä⸗
rung einzumwilligen. Der Titel „ Aufllärung “ hat ja feinen anerkannten
- Drt in der Epoche der neueren Kirchengefchichte, welche durch die
manigfadye Spaltung ber abendländifchen Kirche und durch die
Erfahrung bedingt ift, daß der wilfenfchaftliche und politifche Kampf
diefelbe nicht rücgängig zu machen vermochte. Unter diefen Um⸗
ftänden befann man fi auf die von allen Eonfeffionen anerkannte
fogenannte natürliche Religion, um in ihr ben Grund identifcher
Meberzeugung und Verpflichtung zu gewinnen, ohne den rechtlichen
Beſtand der getrennten Kirchen anzutaften, oder fih ihm zu ent⸗
ziehen. Das legtere Merkmal halte ich für weſentlich. Nun leuch⸗
tet e8 ein, daß die abendländifche Ehriftenheit Schon im 12. und
13. Jahrhundert in eine ähnliche Lage gelommen war. Die Er-
fahrung, dag man den Islam aus feiner Machtftelung an den
äußerften Spigen der damaligen europäifchen Welt nicht verdrängen
fonnte, traf zufammen mit einem gefteigerten wifjenfchaftlichen Aus»
taufche zwijchen Juden, Ehriften und Moslems; und beides diente
dazu, daß man aus der Vergleichung ber drei Neligtonen in mannig-
facher Abftufung zu Weberzeugungen gelangte, welche der Auf»
Härung im 17. und 18. Jahrhundert gleichartig find, ohne daß
man an dem Beſtande der kirchlichen Einrichtungen rüttelte. Es
544 Reuter
ift vielmehr an fi wahrſcheinlich, daß deren ungebrochene einheitliche
Macht von vornherein der damaligen Aufflärung Schranken jebte
und Ruckſichten gegen die geltende Tirchliche Lehre auferlegte, welde
in ber fpäteren Epoche nicht mehr wirkfam waren. ‘Deshalb wird
man im Mittelalter nicht auf diejenige Präcifion und Neife der
aufllärerifchen Gedanken rechnen dürfen, wie in der nachfolgenden
Zeit. Es würde alfo aus diefen Beziehungen rathſam geweſen
fein, nicht durch einen möglichft präcifen und den modernen Er
fheinungen angepaßten Begriff von Aufflärung Erwartungen von
den entfprechenden Erfcheinungen im Mittelalter zu erwecken, hinter
welchen diefelben zurückbleiben.
Der Berfaffer unterfcheidet allerdings in der Aufklärung drei
Stufen, nämlich die Tendenz auf die Reinigung des Chriftentums
durch Vernunftkritik, ferner die Erfegung desfelben durdy die natür-
liche Religion, endlich die Auflöfung aller Religion. Er nimmt
das Recht in Anſpruch, auch die Erfcheinungen der erften Art, die
im Mittelalter fich zeigen, zur Darftellung zu bringen. Und diefes
ift gewiß nicht zu beftreiten. Dennoch vermag ich nicht zu ver
Schweigen, daß das vom Verfaſſer vorangeftellte gemeinfame Mert-
mal ber drei Stufen, nämlich „die Oppofition der als jelbftändigee
Licht fich wiffenden Vernunft gegen den als Tichtfchen vorgeftellten
Dogmatismus“, an den Erfcheinungen der erften Stufe, welde er
ſchon im karolingiſchen Zeitalter nachweift, nicht wahrgenommen
wird. Der Proteft gegen die Bilderverehrung, welchen nach ein
ander die fogenannten farolingifhen Bücher, weiter Claudius
von Turin und Agobard von Lyon erheben, wird zwar vom
Verfaſſer mit einer etwas peinlichen Inquifition darauf Hin unter⸗
fucht, ob nicht der im voraus aufgeftellte Begriff der Aufflärung
auf fie paßt. Aber er entfcheidet ftets felbft, daß diefes nicht der
Fall ift, daß theils die pofitive Autorität des Chriftentums aus⸗
drüclich vorbehalten, theil® gerade die Ynftanz des Glaubens dem
Aberglauben entgegengejett wird, theils die Abhängigkeit von Auguftins
theologifcher Weberlieferung ſich als maßgebend zeigt, wo ber Zug
eines abftracten Spiritualismus fi) momentan von der Rüdfiht
auf die gefchichtliche Bedingtheit der chriftlichen Weltanfchauung zu
löſen droht. Ich möchte aber noch auf folgendes hinweiſen. Nad
Geſchichte der religiöfen Aufklärung im Mittelalter. 545
ben für jenes Zeitalter feftftehenden Maßſtäben ber kirchlichen Ueber⸗
lieferung ift weder die Bilderverehrung nod) die Geltung des Wunders
der Gottesurtheile, gegen welche die genannten Männer auftreten,
zum hriftlichen Dogma zu rechnen; deren Widerfpruch dagegen fällt
aljo auch nicht unter den aufgeftellten Begriff der Aufllärung. Endlich
finde ich die zugleich ausgejprochene Borausfegung einer zufammen-
hängenden Weltorduung und das Mistrauen gegen Täufchung durd)
eingebildete Wunder um fo weniger aufflärerifch, als jener Anſpruch
gerade durch die chriftliche Deutung der Welt als eines Gefüges
bon Zweden auf den Endzwed Chrifti hin berechtigt wird. Des⸗
halb nimmt- insbefondere Agobard, indem er die abergläubifche
Wunderſucht feiner Zeitgenoffen als Verſtoß fowol gegen die Ver:
nunft wie gegen die Anforderungen des Glauben beurtheilt Hat,
eine vollkommen correcte Haltung ein, welde ihm aud von dem
Verfaſſer zugeftanden wird. Es ift nur fchade, daß der Verfaffer
die Spuren der mistrauifchen Unterfuchung, welcher er diefes Zus
geftändnis erſt abgewonnen bat, in der Daritellung nicht getilgt
hat. Ebenjo hätte nach der eigenen Entjcheidung des Verfaſſers
der Auguftinianer Gottſchalk ausfallen müfjen, da er nichts
weiter gethan Hat, als die eine Reihe der Heilslehre feines Meifters
gegen die andere kirchlich üblich gewordene zu betonen. Endlich
möchte ich vermuthen, daß, wenn die erfenntnisstheoretiichen Ges
danken des Neuplatonikers“ Scotus Erigena an den Vorbildern
Auguftins, des Areopagiten und des Marimus Confeſſor ge
prüft würden, jeder Schein des aufllärerifchen Tendenz, die im
ihnen gefucht wird, fich auflöjen würde. Auch die Anficht von dem
Sittengefege ald dem Wefen der wahren Religion, die Erigena nur
non den alten Apologeten entlehnt, ift von ihm noch nicht zur Hers
abſetzung des Chriftentumd verwendet worden. Und daß bei der
Deutung der Erlöfung das trdifche Leben Jeſu Hinter die Aufer-
ftehung zurüchgeftellt wird, ift nichts neues, ſondern nur der Ueber-
Lieferung derjenigen Kirchenlehrer gemäß, welchen die nicänische
Glaubensregel ihren Urfprung verdankt. Es ergibt fih m. E. aus
der vorliegeuden Darftellung felbit, daß die Vermuthung auffläre-
rifcher Beftrebungen, mit welcher der Verfaffer an die befprochenen
Männer herangetreten tft, durch ihn felbft nicht beftätigt ift. Sollte
546 Neuter
alfo das Farolingifche Zeitalter die Gefchichte der Aufklärung im
Mittelalter eröffnen, fo kam es wol vielmehr darauf an, auf das
ungebrocdhene Gleichgewicht zwifchen Ueberlieferung und methodiſcher
Erfenntnis Hinzumeifen, in welchem die fporadifch auftretenden
Denker jener Epoche fich noch behaupten, obgleich in ber Weberlie-
ferung felbft die verfchiedenartigen Fäden angelegt find, welche unter
anderen Umſtänden ſich trennen und in Spannung gegen einander
treten Tonnten.
Auf dem ferneren Wege durch das 10. Jahrhundert begegnet
ung nur Gerbert (Papft Sylveſter I.) als ein Dann von
hervorragendem wiffenfchaftlichen Charakter. Aber wiederum recht⸗
fertigt der Bericht des Verfaſſers über denjelben keinesweges die
ihm beigelegten Titel als „Aufklärer erſten Ranges“, als „Heros
der Aufklärung“ (S. 79. 84), man müßte denn bierunter eine
geiftige Wirkung verftehen, welde von unbeftimmterer Art, aber
eben durchaus nicht von renolutionärer Bedeutung für das pofitive
Ehriftentum wäre. Der enchflopädifche Wiffenstrieb, welcher Ger-
bert in feiner Zeit fo auszeichnet, ift ihm ſelbſt nicht hinderlich
geweien, eine fupranaturaliftiiche Theologie zu pflegen. Alſo hat
er „die Antinomien zwifchen Wiffenfchaft und Glauben“, welde
nad unſeren Erfahrungen „unausweichlich“ zu fein fcheinen
(I, 82), eben nichtin fich erfahren. Die erfte Bedingung für eine
Veränderung diefer Sachlage, nämlich die Verbreitung von philofe
phiſch⸗theologiſchen Schulen in Stalien, Frankreich und Deutfchland
feit der Mitte des 11. Jahrhunderts ift vielleicht ald Nachwirkung
Gerberts zu betradhten; aber daß die gejchichtlich ficher fei, wird
von dem Berfaffer ſelbſt geleugnet.
Unter den Führern diefes Bildungsfreifes ift nun Berengar
von Tours durch den Kampf berühmt, welchen er gegen die
jeit Paſchaſius Radbert aufgelommene Lehre vom Abendmahle
geführt hat. Der DVerfaffer erkennt in gewiſſen Gedanfenreihen,
welche Berengar gegen jene Lehrweife eingejegt hat, die Tendenz
der negativen Aufklärung im unmittelbaren Gegenfage mit bem auto
ritativen Kirchentum, im mittelbaren mit dem Chriftentum der pofis
tiven Offenbarung (S. 97). Aus feinem eigenen Berichte aber
Ihöpfe ich einen anderen Eindrud von ber Nichtung des Mannes.
Geſchichte der religiöfen Aufflärung im Mittelalter. 547
Im ganzen bewegte ſich der von ihm unternommene Streit auf
dem Boden der Schriftauslegung und der Prüfung der Tirchlichen
Ueberlieferung. Berief er fih in diefem Zuſammenhange auch
auf die Vernunft oder auf die Evidenz ber Wahrheit, welche durch
fein Wunder widerlegt wird, fo ift diefe Inſtanz fichtlih nur von
formalem Werthe, und hat Feine andere Bedeutung, als wenn
Luther durch die heilige Schrift und vernünftige Gründe widerlegt
zu werden verlangte. Der Verfafjer ermäßigt auch demgemäß fein
Urtheil richtig dahin, daß der Gegenfat zwifchen Berengar und
feinen Gegnern im Gottesbegriff wurzele. Für jenen ift eine bes
ftimmte erfennbare Ordnung der Welt in dem Gedanken von Gott
eingefchloffen, für dieje gilt Gott als die Feiner Schranken fühige
Willkür (S. 110). Wenn ich zugeben foll, daß jene Pofition
„rationaliſtiſch“ ſei, fo ift die entgegengefegte meines Erachtens
nur nicht driftlih. Der Verfaſſer ſelbſt Hat diefe letztere im
Deittelalter vorherrfhende Theorie in ihrer folgerechten Ausprägung
durch Duns Scotus auf einen Naturalismus beurtheilt, welcher
gegen alles religiöfe Bebürfen gleichgültig fei (II, ©. 91); wäre
es nicht hienach gerecht gewefen, der geichloffenen Weltanfchauung
Berengars eine günftigere Beleuchtung zu verleihen als die, daß
fein Princip von den Gegnern richtig als rationaliftifh erfannt
worden fei? Aber der Verfaſſer läßt fogar den Berengar noch
weitere Ungunft erfahren. ALS die Anficht desfelben kirchlich ver-
urtbeilt worben war, hat er fi mit „der Apologie der Unver⸗
binblichkeit erzwungener Eide, mit Mentalrefervationen * aufrecht
zu erhalten verſucht, diefe „Leiftungen einer fpinofen Dialektik
waren fittlich entwürdigende Niederlagen zu gleicher Zeit“ (S. 125).
Ich würde dem Verfaſſer das Recht zu ſolchem Urtheil unbedenklich
einräumen, wenn er das Verhalten Gregor8 VII. in der Sadıe
einer gleich fcharfen Beleuchtung unterwürfe. Derfelbe galt feinem
Schützling dafür, mit ihm einverftanden zu fein. Dennoch hat er ihn
und feine eigene Anficht preisgegeben, als das Eoncil zu Nom
1079 gegen Berengar entfchied. Iſt die Aufopferung der eigenen
Meinung durch Hildebrand, jefuitifch gefprochen, das sacrificium
intellectus, darum weniger einer Rüge unterworfen, al8 Berengars
Meentaltefervationen, weil jenem „bie Wahrheit nit zuhöchft ein
Theol. Stub. Jahrg. 1878.
548 Reuter
theologifches Dogma oder eine religiöſe Weberzeugung, ſondern das
göttlihe Recht der römischen Weltherrfhaft war“ (S. 121)?
Ift nicht diefer Anſpruch ein viel weiter greifendes8 Princip don
Unwahrheit und Unrecht, als die vom Verfaffer betonte Ruhmfudt
und Ueberhebung des unterliegenden Beftreiterd einer jungen aljo
in der Kirche nicht berechtigten Lehrtradition? Wenn man biefen
moralifch verurtheilt, fo darf die Entfcheibung des weltherrſchenden
Papites nicht nah „dem Bedürfnis der Zeit“ für Recht erklärt
werden; oder es entfteht ein unrichtiges Bild. Wenn es aber ba
ranf ankam, Aufklärung im eigentlichen Sinne in jenem Zeitalter
nachzuweifen, fo ift e8 merfwürdigermweife Gregor felbft, welcher
diefen Ton angefchlagen hat, freilich nicht aus Weberzeugung, aber
aus Diplomatie. Er hat 1076 an einen nordafrifanifchen Sara-
zenenfürften Anzir, welcher fih feinen chriftlichen Unterthanen ge
fällig erwiefen hatte, folgendes geſchrieben: „Ehriften und Sara
zenen glauben beide an einen Gott, obgleich fie ihn auf verfchiebene
Weiſe verehren; was den Menſchen vor Gott am wohlgefälligiten
madt, tft die Liebe. Denn er tft unfer Friede, der aus beiben
(Shriften und Nichthriften) eins gemacht hat und jeden erleuchtet,
der in biefe Welt kommt.“ Wenn, fagt Steig (, Nordafrikaniſche
Kirche“, bei Herzog, Real⸗Enc. X, ©. 434), zum Schluffe Gregor
erfläre, er bete täglich, daß Gott den Anzir nach langem Leben in
den Schoß des Erzvaters Abraham einführe, fo heißt dies nichts
anderes, al8 daß jeder nad feiner Facon felig werbe
”gl. Epistolae Gregori VU, lib. IH, ep. 21 bei Mansi,
Tom. XX.
Es ift aber eben diefe Epoche des 11. Jahrhunderts, in welcher
die theologische Schulbildung Kirchenglauben und Vernunftertenntnis
in Eins zu fegen beftrebt war und zugleich einen Conflict biefer
beiden Intereſſen in's Leben zu führen verfprad. Den Ausgangs
punkt diefer Entwicklung, in welcher jett erft theologifcher Zweifel
und religiöfe Aufllärung zu erwarten. find, bezeichnet der erfte Scho⸗
faftifer Anfelm von Canterbury, Der Verfaffer Hat natürlich
nicht unterlaffen, denfelben am Schluffe des zweiten Buches zu
charakteriſiren und zugleich die Anfpräche an bie theologifche Wiſſen⸗
haft unter den Beitgenofjen zu bezeichnen, denen er genugzuthun
32* 2* -
ir a 77 W
Geſchichte der religtöfen Aufffärung im Mittelalter. 549
ſuchte. Er hat ferner in einem ausführlichen Exeurfe in den Noten
erwiejen, wie wenig beffen berühmter Grundfag: credo ut intelligam,
im Stande gewefen ift, eine fihere Beitimmung bed Berbältniffes
zwifchen Slauben und Wiffen für ihn felbft abzugeben. Allein ich
meine, daß die Schilderung der wiffenfchaftlichen Art biefes erften
Scholaftiters mehr in den Vorbergrund hätte gerückt werben follen,
und daß die rationaliftifche Methode besfelben ftärfer betont
und anfchaulicher gemacht werden durfte, um zu erflären, baß feine
Abfiht, da8 Dogma zu conferviren, kein zuverläßiger Schuß gegen
den drohenden Zwieſpalt zwifchen Glauben und Willen fein konnte.
Die Traditionaliften der Gegenwart, weldhe für ben Beſtand des
Chriftentums fchon fürchten, wenn man Anfelms Genugthuungs⸗
lehre für verfehlt erklärt, durften einmal wiebererfahren, baß
diefe® ganz moderne Gedanlengeflige rein aus der Vernunft gefponnen
ift. Findet num die theologiſche Auflflärung ihre Anregung ftete
aus den dein Ehriftentum fremdartigen wiflenfchaftlichen Zuthaten der
confervativen Theologen, jo bedurfte die Gegenwart einen ausflihr-
lichen Nachweis, daß gerade die methodiſch mangelhafte und uns
fihere Apologetit Anfelme für das Auftreten aufflärerifcher Auf-
Tehnung gegen das pofitive Dogma zum Schlüffel dient. Seit
jenem Anfang der Scholaftit hat auch dns Ringen um bie Einigung
von Glauben und Wiffen neben dem Streite des einen gegen das
andere im Abendlande kein Ende gefunden. Diefer Kampf gehört
zum geiftigen Dafein der abendländifchen Völker. Wer dieſes be-
dauern oder die aufflärerifchen Priedensftörer von vorn herein als
unberechtigt betrachten follte, würbe hiemit bezeugen, daß bie orien-
talifche Kirche, in welcher die unveränderliche Anhänglichkeit aller
igrer Angehörigen an das fertige Dogma unter ben Schug ber
grundfäglichen Unwiſſenheit geftelit ift, dem Ideal entfpricht.
Den Hebergang von Anfelm zu Abälard (drittes Buch) bildet
eine Schilderung allgemeiner Bildungerichtungen im 12. Jahr⸗
hundert. In diefem Abfchnitt, wie in den gleichartigen anderen,
gibt der Verfaſſer die Meifterfchaft Biftorifcher Forſchung kund, die
ihm zu Gebote ſteht. Die mühfam aufgefunbenen vereinzelten
Angaben der Quellen verfteht er zu lebendigen Bildern allgemeiner
Beftrebungen zufammenzufügen, welche bie Entfernung des Zeit-
36 *
550 Reuter
alter8 vergefjen laſſen. Beſonders lehrreich find in bem vorliegen-
den Zufammenhang die ‘Data Über die apologetiichen Auseinander:
fegungen mit den Juden und über die „nihiliſtiſche“ Ausartung
der philofophifhen Schulbildung der Zeit. Der Zug zu bdispute-
torifcher Negation gegen die anerlannten Vorausfegungen bes dog⸗
matifhen Glaubens war damals weit verbreitet, als Beter Abü-
lards wilfenfhaftlihe Wirkſamkeit ihren glänzenden Lauf nahm.
Er hat num nicht die Abficht gehabt, diefem Zuge zu folgen, fondern
vielmehr bie, ihn zu befümpfen. Indem er feine philoſophiſche
Erfenntnis in den Dienft des kirchlichen Dogma ftellte, Hat er
freilich derfelben zugetraut, daß fie alle Zweifel heben und die
Vebereinftimmung des Ehriftentums mit der Vernunft nachweijen
werde. Iſt das formaler Nationalismus, und kommt feine Con
ftruetton der Trinitätslehre zu Abweichungen von der dogmatiſchen
Vorlage, fo ift dies eine durchgehende Erfcheinung in der Scholaftif,
und bezeichnet einen befondern Charakterzug an ibm. Hat er aber
wirklich auffläreriiche Gedankenreihen gebildet, jo würde dieſes zu
nächſt nur als Folge davon zu achten fein, daß die überlieferten
Mittel der Erkenntnis, mit denen er arbeitete, dem Zweck nicht
angemeffen waren, zu bem fie verwendet wurden. Abälard hat
nun im Mittelalter al® der erfte die mit Auguftin verftummte
allgemeine Apologetit wieder aufgenommen. Der Grundgebanfe
derfelben, daß das Ehriftentum das allen Neligionen und Bhilojo-
pbieen gemeinfame natürliche Sittengefeg von Zufägen gereinigt
und in der ganzen Menſchheit wirkſam gemacht habe, klingt, wie
der Verfaſſer an verfchtedenen Stellen notirt hat, auch bei früheren
Theologen des Mittelalters an. Allein erſt Abälarb Hat über
haupt die Aufgabe wieder geftellt, unter Vergleichung der anderen
Religionen aus einem allgemeinen Begriff der Religion ben Bor:
zug des Chriftentums zu beweifen. Es leuchtet unfchwer ein, daß
derfelbe fo nur als quantitativer und nicht als qualitativer feftgeftelit
werden Tann. Und diefer Mangel der überlieferten Grundfäge muß
auch Abälard zu Gunften gerechnet werben, wenn es, wie ber
Berfaffer in ausführlicher beredter Darftellung feftftelit, ihm nicht
gelang, mit dem obigen Grundfag 'und der verwandten Annahme
über göttliche Inſpiration der helleniſchen Denker und Dichter die
Geſchichte der religiöfen Aufflärung im Mittelalter. 551
Aufgabe zu löſen. Außer der Introductio in theologiam kommt
nun für diefe Seite der Erkenntnis Abälards noch fein unvollen⸗
beter Dialogus inter philosophum, Judaeum et Christianum in
Betracht. In der legteren Schrift aber führt Mbälard noch einen
anderen Stoff zur Begründung des Vorzuges des Chriftentums ein.
Das Ehriftentum verbürgt die Seligkeit in der Anſchauung von
Gott, welche die Liebe Gottes durch die Erregung der Liebe des
Menschen zu ihm felbft möglich macht, und zwar fo, daß die ber
Philofophie zugängliche Proportion zwifchen Verdienſt und Lohn
der Seligleit aufgehoben wird (S. 204. 205). Hier jest nun
aber der Berfaffer mit einer Kritik ein, ber ich um ber Gerechtig⸗
feit willen nicht beiftimmen Tann, da fie bie Bedeutung des gefchicht-
fihen Reſultates, welches eben feftgeftellt tft, nur verbunfelt. Er
fagt: „An den Stellen, wo bie göttliche Liebe als die alle menſch⸗
tiche bedingende gefelert wird, zeigen ſich die Umriffe der Abälar-
difchen Verſöhnungslehre fo unverkennbar, daß man meinen Tann,
ber 2efer folle an Jeſum als den Vermittler diefer Umftimmung
erinnert werden. &leichwol wird feiner in diefem Zufammenhange
nicht gedacht; der Begriff der Offenbarung geftreift aber nicht er-
Örtert; in ſchwankender Weiſe anerkannt aber nicht erkannt; fcheint
vorausgeſetzt zu fein und wird doch in einem eigentümlichen Helldunkel
gehalten. " Zrogdem kommt demnächſt die Rede auf die beiden
Schlußthatſachen des Lebens Jeſu, welche doch den Glauben bes
Redners an die irdiſche Offenbarung vorausſetzen.“ (S. 206.) Gegen
diefe Beurtheilung wende ich folgendes ein. Daß das Chriftentum das
ewige Leben ober die Seligfeit verbürgt, und zwar als Gnabengabe
Gottes an das Menjchengefchlecht, ift das Nefultat der griechifchen
Kirchenlehrer des A. Jahrhunderts. Diefelben haben in jener Form
die Erlöfung der Menfchheit von der Vergänglichkeit begriffen als die
directe und unmittelbare Folge der Menſchwerdung Gottes in Ehriftus,
aber fo, daß deſſen Auferftehung prattiich um fo mehr hervorgehoben
wird, als erft fie die Vergänglichkeit an Ehriftus felbft aufgehoben
bat. Diefen dogmatifchen Gedanken fchlägt Abälard an; aber
indem er die Seligkeit des Einzelnen in der wechfelfeitigen Liebe
zwiichen Gott und dem Menſchen aufzeigt, bat er bie überlieferte
Heilsordnung der Griechen von der Bebingung gereinigt, daß die
552 ‚ Reuter
Bergottung ober bie Verewigung der menfchlihen Geſamtnatur
durch bie Incarnation des göttlichen Xogos dem Einzelnen wegen
bes Berdienftes feiner Gefeerfüllung zu Theil werde. Nun bat
er freilich ben leitenden Grund diefer Gedanfenreihe, nämlich die
Bedeutung ber Incarnation des Logos hier nicht ausgefprochen.
Allein man muß ihm dabei zugute halten, daß der philoſophiſche
Collocutor von ſich aus die Seligfeit mit Gott als das höchſte
Gut anerkannt hatte; der Chrift war alſo aud nur dazu veranlaft,
die Bedingungen des Inhaltes diefer Vorftellung zu bezeichnen,
durch welche der chriftlihe Sinn berfelben von dem philofophifchen
unterfchieden würde. Er Eonnte an diefem Orte von der Ehrijto-
(ogie völlig abjehen. Der Verfaffer führt fort: „ES beginnt ein
apologetifcher Verſuch in Bezug auf die Himmelfahrt und die Er-
bebung zur Rechten Gottes ..... . Aber weshalb die Auferftehung
geſchehen ſei, wozu überhaupt der ohne alle Vorbereitung auftretende
Gedanke der Weltherrfchaft Chrifti diene, wird nicht Mar ausge
führt... . Es blieb nichts übrig, ale der Offenbarung die
harakteriftiich fchwebende Stellung zu geben; fie wird von der Erde
in den Himmel entrüdt." (S. 207. 208.) Der Berfafler muß
mir geftatten, diefen Bericht als nicht richtig in Anfpruch zu
nehmen. Die Data, welche er in obigen Sägen berührt, fommen
vor in einer an bie Beftimmung des chriftlichen Begriffs der An-
Ihanung Gottes angefnüpften Erörterung darüber, daß diefelbe nicht
der Bedingung durch die Verhältniſſe des Raumes unterworfen ift.
Abälerd beruft fich bHiefür auf ein Zeugnis Auguftins: Deo,
qui ubique est, non locis sed moribus aut propinqui aut
remoti sumus. ‘Dagegen wendet der Philofoph die chriftlice
Vorftelung vom Kaum de8 Himmels, von der Törperlichen Him⸗
melfahrt Ehrifti und von feinem Plag zur Rechten Gottes ein.
Abälard gibt unter bem Namen des Chriften Hierauf die Antwort,
daß quae de deo sub specie corporali dicuntur, non corpora-
liter ad literam sed mystice per allegoriam zu verftehen jei.
Demgemäß bedeute der Himmel Gottes die guten Seelen, in denen
er durch die Gnade wohnt; die Himmelfahrt Chriſti bedeute die
Fähigkeit der von ihm erlöften Seelen, überall wohin fie wollen,
hindurchzudringen oder fein Auffteigen in den Seelen felbjt; die
Geſchichte der veligiöfen Aufklärung im Mittelalter. 553
Rechte Gottes bedeute die Theilnahme an ber Würde und Herr»
ſchaft Gottes, welcher die Anerkennung der Gläubigen wirkſam ent»
fpridt. Diefe Ausführungen aljo Haben gar feine Beziehung auf
den Begriff der Offenbarung. Und deshalb verftehe ich durchaus
nicht, mit welchem Recht der Verfaffer ausfpricht, diefe gequälte, uns
fichere, widerjpruchsvolle und überdies lückenhafte Darftelung mache
die Noth anfchaulich, welche dem Abälard die Idee der Offen:
barung bereitet Habe (S. 208). Aber eben fein Bericht ift nicht
treu, indem er erft nach feinen oben beurtheilten Angaben über die
Himmelfahrt Jeſu dazu übergeht, die Ausführung über die Illocalität
Gottes zu befprechen, welche doc jene Punkte umfaßt. Natürlich
contraftiet diefelbe mit der populären Auffaffung, und in fo fern
mag fie ja aufgeklärt heißen. Allein ich beftreite es, baß ber
Berfaffer hierin mit Grund eine Preisgebung der Autorität der
Dibel fieht (S. 213). Endlich kann ich aus den von ihm felbft
(S. 322) angeführten Sätzen des Dialogs nichts weniger heraus⸗
lejen, als daß die Berufung auf die höchſte Autorität der Bibel für
Abälard ein überwundener Standpunft ſei (S. 213). Und hie
nah kann ich nur meinen Widerſpruch dagegen einlegen, daß ber
Dialog „negativ in einem Grade fei, wie feine andere Schrift
diefes Autors“ (S. 221). Er ift von Tendenz, wie feiner Aus»
führung nad) durchaus pofitiv, und im Einklang mit den Mitteln
der Theologie, welche von den alten Apologeten und Dogmatitern
her bis auf jene Zeit vererbt waren. Ich vermag die folgende
Darftellung ber Theologie Abälards nicht fo zu controliren wie
bie bisherige. - Aber fie ift mir auch nicht deutlich geworden. In⸗
deſſen gibt Abälards bekannte Aufftellung der Verſöhnungslehre
dem Verfaſſer den Anlaß, mit Bernhard von Tlairvaux in
ihr die geheime auf Zerfegung des ganzen Dogmas abzielende
Richtung zu erkennen. „Und wäre man berechtigt, diefelbe als die
mit Bewußtjein und Confequenz verfolgte zu betrachten, fo läge
es nahe, auch die Übrigen Conftructionen in ähnlicher Weije zu ber
urtheilen. Diefelben würden demgemäß nicht fowol die Beftimmung
haben, die legten dem Willen genügenden Auffchlüffe zu geben, als
die Einfiht in die Unhaltbarkeit alles dogmatifchen Verſtändniſſes
anzubahnen.* (S. 244.) Indeſſen erklärt der Verfaffer doch diefes
⸗
554 Reuter
Verfahren für untriftig, da Abälard die fichere Folgerichtigkeit
des Denkens nicht zugefchrieben werden dürfe, vielmehr die Mo—⸗
tive der kirchlichen Weberlieferung für ihn eine Geltung gehabt
haben, welche feine Tendenz compenfirt habe (S. 256). Daß
fettere glaube ich gern; denn der Scholaftiler fand fih an bie
Veberfieferung de8 Dogma gebunden; und aus bdiefem Rahmen ift
er nie herausgetreten. Aber die erftere Behauptung erprobt fi
an der Verfühnungslehre Abälards meines Erachtens nicht. Es
war doch der Erwähnung werth, daß Bernhard als herge⸗
brachte Lehre gegen Abälard das unbiblifche, gnoftifche Gefüge
bes Rechts⸗ und Kaufhandels zwifchen Bott und dem Teufel ver-
trat, der durch den Tod Chrifti ausgeglichen fein follte. Die Dar:
ftellung des Verfaffere (S. 243) verläuft jedoch in foldden Wen⸗
dungen, als ob damals die Lutherifche Lehre von der Umftimmung
Gottes durch das Leiden Chrifti herrfchend gemweien wäre. Aber
nicht einmal die davon noch fehr abweichende Theorie Anfelme
bildete damals die öffentliche Meinung! Sollen wir uns alfo
für die Theorie vom Handel mit dem Teufel intereffiren, weil,
wie der Verfaffer mit einem gewiffen Gewicht angibt, Bernhard
gegen Abälarb einmwenbete, daß derſelbe die Erlöfung aus dem
Kreife des Geheimniffes herausfege und für Juden und Heiden ver:
ftändlih made? Mindeftens trifft diefer Einwand auch die zwar
hochgelobte, aber gerade den Vernunftanfprücen von Juden umd
Heiden angepaßte Theorie Anſelms. Und der alte Mythus,
den Bernhard ale göttliches Geheimnis gehütet wiffen wollte,
ift doch wol nur einer gnoftifch=heibnifchen Phantafie entfprungen!
Kurz Abälards Verſöhnungslehre findet ihre richtige Beleuchtung
nit, wenn fie nicht mit diefer alten und jener neuen Rechts⸗
theorie confrontirt wird. Diefes aber Hat der Verfaſſer unter:
laſſen.
Folge ich nun demſelben in den zweiten Band ſeines Werkes,
ſo mag es ja ſein, daß die Oppoſitionsſtellung, welche Abälard
nicht minder abſichtlich eingenommen hat, als ſie ihm durch die
Feindſchaft Bernhards aufgezwungen war, unter den Nachkommen
jo aufgefaßt wurde, daß allerlei negative Geiſter ſich zu ihm rech⸗
neten, obgleih er fie bekämpft Hat. Aehnliches hat fich mit
Geſchichte der religiöfen Aufklärung im Mittelalter. 655
Schleiermacher auch ereignet. ebenfalls ift die von jenem vor»
bereitete, nachher Hauptfählih von Peter dem Lombarden ver«
breitete Ehrijtologie, in welcher die Einigung der beiden Naturen
auf eine dem Adoptianismus ähnliche Formel gebracht ift, nur
als ein Act der Aufklärung des geringften Grades zu beurtheilen.
Umbentungen unverftänblich gewordener Dogmen traten überall in
den entfcheidenden Epochen der Kirchengefchichte auf. Hingegen führt
ung der Verfaſſer endlich (S. 21) in diejenigen Bedingungen ein,
welche das 13. Sahrhundert als den Schauplatz aufflärerifcher
Beftrebungen im volleren Sinne erkennen laffen. In diefem Zeit-
alter erft finden fich reichliche Erfcheinungen davon, was man
eigentlich Aufklärung zu nennen hat. Und ba bezeichnet der Ver⸗
faffer unter den Gründen diefes Verlaufes die ben religiöfen pofl-
tiven Glauben nothwendig zerrüttende Einwirkung der zur Welt
macht aufgeftiegenen Kirche, ferner die Enttäufchung durch die Er⸗
folglofigkeit der Kreuzzüge, welche die Unmacht des Chriftengottes
zu verrathen ſchien, dann den durd die Kreuzzüge herbeigeführten
Verkehr zwifchen Chriften und Moslems, welcher jene zum Indif⸗
ferentismus ftimmte, dann die politifche und fociale Stellung der
Katharer in Säöfranfreich, welche mehrere Jahrzehnte hindurch die
öffentliche Geltung der Kirche einſchränkte, endlich die Einwirkung
der arabifchen Philoſophie, namentlich der des Averroes, welcher
die Gleichgültigkeit aller pofitiven Religionen auf Grund bes natür-
lichen Sittengeſetzes als Geheimlehre mit der Anmweifung zur Accom-
modation an den öffentlichen Gottesdienft vertritt. Nimmt man
hinzu, daß die Kreuzzüge mit dem gefteigerten materiellen Austausch
der Güter auch den geiftigen Verkehr der Culturvöller jener Zeit
gehoben hatten, fo haben wir zu erwarten, daß aus jenen Anre⸗
gungen eine Saat auffprießt, welche die Sage von der geiftigen
Berfinfterung des Mittelalters durchaus widerlegt. Die Proben
provencafifcher und deutfcher Dichtung, welche der Verfaſſer dem⸗
nächft vorlegt (S. 56), haben allerdings einen entweder total oder
itberwiegenden Zug des Zweifel an der göttlichen Weltregierung
und an der Erkenntnis der religiöfen Wahrheit aus der Betrach⸗
tung der Zeitereigniffe geſchöpft; die Neutralität gegen den Unter-
ſchied der Meligionen tft auch hier nur angedeutet. Man wird
656 Keuter
nun aber dadurch überrafcht, daB an diefe Gruppe des allgemeinen
Religionszweifels fih ein Bericht über die philofophifchen oder
apologetifchen Theologen bed 13. Jahrhunderts aufchliegt, welcher
ih auf Hoger Bacon, Thomas, Duns, Raymundus Lulfus,
Wilhelm von Auvergne erftredt (©. 67— 123). Ihrer Abficht
nach teilen ja dieſe Scholaftifer die natürliche Theologie oder die
praftifche Apologetif mit den Dlitteln jener in den Dienft des über-
natürlichen Syſtems; find alſo eben feine Aufklärer. Indem ich
‚ aber dem DVerfaffer den Gefichtspunft zugebe, daß es fein Recht
war, die Dispofition jenes fcholaftifchen Lehrelementes zum Bruch
- mit der Kirchenlehre und zur Entwidlung aufflärerifher Tendenzen
zu beleuchten, fo babe ich bei feiner Darftellung doch folgende Be⸗
denfen. Einmal reichen die genannten Männer mit ihrem Leben
bis gegen das Ende des 13., theilmeife in da8 14. Jahrhundert hinein;
Sie dienen alfo nicht zum Verſtändnis der Epoche des Kaifers
Sriedrih IL, auf welche e8 ihm ankommt. Was ihre Wirfung
betrifft, fo ift diefelbe theils überhaupt nicht erfennbar, wie bei
Roger Bacon, theil® nicht aufflärerifch, wie bei Thomas, theile,
wie bei Duns, tritt eine folche erft im 16. Jahrhundert in dem
Soeinianisinus an den Tag. In der Epoche, welcher diefe Männer
angehören, haben fie nur den Eindrud conjervativer Theologen
machen können. Aber wenn fie nun trogdem nad ihrer aufkläre⸗
riſchen Dispofition beleuchtet werden joliten, fo möchte wohl eine
andere Reihenfolge als die ſich empfehlen, welche ber Berfafler
ihren angewiefen bat. Die beiden Franciskaner, fo unähnlich fie
fi) in der Methode find, verfprechen directer eine Weränderung
des Verhältniſſes zwifchen Wiffen und Glauben, al8 der vorzugs-
weise Firchliche Thomas und der apelogetiiche Praktiker Raymund.
Wilhelm von Auvergne aber (Bifhof von Paris feit 1228), Ver⸗
faffer einer hieher gehörigen Schrift de fide et legibus, melde
den Streit der Religionen ſchlichten will, war von jenen jüngeren
Theologen durchaus zu trennen. Deffen Verfahren nun, das na-
türliche Sittengefeg als gemeinfamen Beſtand der Religionen
zuzugeitehen, zugleich aber für das chriftliche Dogmenfyftem als das
Merkmal der vollfommenen Religion einen über alle Demonftration
erhabenen Glauben zu fordern, erweift ſich nicht als jehr geeignet
\
Geſchichte der religiöfen Aufffärung im Mittelalter. 557
die in feiner Zeit auftretenden Spuren von eig Indifferen⸗
tismus zu zügeln.
Zu deren Nachweiſung kehrt der Verfaſſer im (hen Buche
zurüd. Zuerſt folgt er bier den Zeugniffen über verfahiedene
Erfcheinungen von Indifferentismus, welche dem eben erwährgten
Buche Wilhelms von Auvergne entlehnt werden. Bemerkenswergh
ift unter diefen der mit Gregor VII. fachlich übereinftimmende
error quorumdam, ut credant, unumquemque in sua fide vel
lege seu secta salvari, dummodo credat eam esse bonam et
a deo, ipsique placere quod facit (©. 337). Dann entfaltet
der Verfaſſer eine ausführliche Gefchichte der Bewegungen auf der
Parijer Univerfität, welche durch die wiederholten Verbote gegen
averroiftifche Süße (1240 — 1277) angezeigt find. Hier handelt
es jich wirklich um Aufllärung durch das philofophifche Erkennen,
welches die Süße des pofitiven Ehriftentums über das Verhältnis
zwifchen Gott und Welt verneint. Diefes ift endlich ein greif-
barer Stoff der Art; während bisher nur unfichere Umriſſe für
die Nachweifung aufllärerifcher Stimmungen genügen mußten. Bei
diefen auerroiftifchen Streitigkeiten zieht fich num die negative Partei
hinter den Schuß bed Satzes von der doppelten Wahrheit zurüd.
Der Berfaffer hebt mit Recht hervor, daß diefe Unterfrheidung
auf die Unterſchätzung der pofitiven Religion hinauskommen konnte,
und für manche eben nur als ein diplomatifcher Ausdrud für
diefelbe galt. Indeſſen Hat die nominaliftifche Schule in den fol
genden Jahrhunderten fich gerade durch diefen Grundſatz als die
Hüterin des confervativstheologifchen Intereſſes dem „rationafiftifchen“
Thomismus gegenüber behaupten können.
Ich würde nicht erwartet haben, daß in einer Gefchichte der
Aufflärung die Prophetie des Abtes Joachim von Floris und
ihre Fortfegung in dem „ewigen Evangelium“ der Francislaner-
Spiritualen zur Sprache lüme. Denn wenn diefe Entwürfe einer
zufünftigen Entwidlung des Chriftentums ſich mit der Aufklärung
in jo fern berühren, als fie den pofitiven gefchichtlichen Beftand des
kirchlichen Chriftentums geringichägen ehren, fo ift doch die Ver⸗
fohiedenartigfeit der Conception zwifchen beiden Richtungen augen -
fällig. Nicht die „Vernunft“, ſondern die apofalyptifche Inſpi⸗
/
558 S Reuter
ration iſt das Vehikel dieſes Gedankenkreiſes; nicht auf eine gegen⸗
wärtige praftäfche Welt- und Lebensanſchauung iſt derſelbe bezogen;
und weren“ für die Zukunft auch die jetzt beſtehende Spannung
zwiſchen Lateinern und Griechen, zwiſchen Chriſten und Juden
a mehr gültig fein joll, fo ift darin doch feine Anleitung für
deis Verhalten in der Gegenwart gegeben. Nichtsdeſtoweniger
„ft diefe Darftellung des fiebenten Buches überaus Iehrreich nicht
‘ bloß an fich, fondern auch für den Sinn, in welchem es gerathen
: war, Aufklärung al eine Erſcheinung des Mittelalters zu behaupten.
s Durfte aber eben diefer Stoff unter diefem Gefichtspunfte beleuchtet
“ werden, dann beftätigt fich mein oben ausgeſprochenes Urtheil, daß
der Verfaffer durch feine von vorn herein aufgeftellte Definition
von Aufklärung feine Unternehmung in ein fchiefe® Licht geftellt
hat. Wie fie ihn dazu veranlaßt bat, fehon die fcholaftifche Syn⸗
thefe zwiſchen Glauben und Wiffen, namentlih in Anwendung auf
Abälard, mit dem nicht durchaus gerechten Verdachte einer nega-
tiven Abficht in Bezug auf das Dogma zu begleiten, jo erweift fie
fih als zu eng, wenn ber apofalyptifche Spiritualismus, wie id
glaube, mit Recht berüdfichtigt werden ſollte. Dasfelbe findet Ans
wendung auf die Anhänger Amalrihs von Bena, welche nicht die
Vernunft, fondern den „Geift* in pantheiftifchem Sinne als ihre
Anftanz verfündigten.
Das achte Buch dreht fih um den Kaiſer Friedrich II. und
um die ihm fchuldgegebene Rebe von den drei Betrügern. Wie
viele Anläffe in feinem ficilianifchen Reiche ſich demfelben dar:
boten, ſich in eine Neutralität gegen die Sarazenen einzuleben, wie
weit der Kaiſer in feinem gefellfchaftlihen und wiffenjchaftlichen
Verkehr mit ſolchen Nachgiebigkeit und auch bedenkliche Toleranz
geübt Hat, wie farkaftifch er auch gegen das Transfubftantiations-
dogma fich geäußert haben möge, das alles reicht weit nicht heran
an die Glaubwürdigkeit des Vorwurfes, welchen ®or IX. (1239)
gegen ihn gefchleudert hat: „Diefer König der Peftilenz hat erklärt,
die Welt fei von drei Betrügern getäuscht worden, von Jeſu, Moſes
und Muhamed. Die beiden legten find wenigftens in Ehren, ber
erftgenannte aber ift am Schandpfahl des Kreuzes geftorben.“
(S. 276.) Der Verfaſſer weift in aller Ausführlichkeit nach, daß
Geſchichte der refigiöfen Aufflärung im Mittelalter. 559
die Authentie dieſes vorgeblichen Ausfpruches Friedrichs nicht feft-
geftellt, daB auch der Vorwurf vom Papfte felbft nicht wiederholt
und nicht aufrecht erhalten worden fei. Nichtsdeftoweniger findet -
er ſich als Hiftorifer durch den Totaleindrud, den Friedrich auf
ihn macht, berechtigt zu behaupten: „Er bat alle pofitive Offen⸗
barung geleugnet, das Wort von ben drei Betrügern gejprochen.
Selbſt wenn e8 feine Lippen nicht geredet haben foll-
ten, würden wir doh den Inhalt feiner geheimften
Gedanken darin erkennen. Wahrheit ımd Dichtung wären
bier auf ungertrennliche Weije verknüpft, bie höhere Hiftorifche
Wahrheit bliebe unverfümmert.“ (S. 297.) Das ift ein
Urtheil, in welchem der Verfaſſer feine Perfönlichleit gegen eine
andere Berfönlichkeit einfetst, welche noch dazu fich gegen fein herz⸗
erforfchende8 Urtheil nicht verwahren Tann. Ich habe die Ueber⸗
zeugung, daß hiedurch die Competenz bes Hiftorifers überjchritten .
wird. Ich finde aber, daß, indem ber Verfaſſer ſich zutraute, ein
ſolches Urtheil über Friedrich zu fällen, er in den von ihm ange-
ftellten Erörterungen immer nur die Rebe von ben drei Betrügern
ventilirt, daß er aber die in der Angabe bes Papftes mit ihr ver-
bundene fpecielle Blasphemie gegen Chriſtus nicht in Betracht zieht.
Ich kann mir diefes nur fo erflären, daß er deren Beftätigung
wahrfcheinlich zu machen fich fchent; dann aber wird er um fo
weniger darauf rechnen dürfen, dag man fi) von der Nichtigkeit
feines individuellen Eindrudes von der Herzensmeinung des Kaiſers
überzeugt.
Göttingen. . X. Rifſchl.
Drud von Friebr. Anbr. Perthes in Gotha.
Im Berlage von Friedrich Audreas Perthes in Gotha erfchienen
foeben nachfolgende, duch alle Buchhandlungen zu beziehende Bücher:
Claudius, Matthins, Werke. 2 Bünde. 9. Auflage der
Original-Ausgabe
Droyfen, 3. G., Geſchichte des Hellenismus. 3 Die.
2. Auflage.
I. Band: Geſch. Aleranders des Großen. — 1. Halbband
2. Halbband . . oo.
II. Band: Gefchichte der Diadochen. — 1. Salbband .
2. Halbband. . .
II. Band: Geſchichte der Epigonen. wit einem Anhang Über
die hellen. Städtegründung. Regiſt er zum gegen
Werte. — 1. Halbband . . .
2. Halbband (Schluß) unter ber Breffe
Erinnerungen an Amalie von Lajaulg, Schweiter Au-
guftine, Oberin der Barmherzigen Schweſtern im St.
Johannishoſpital zu Bonn
Handtmann, E., Der Slavismus im ae der a
.(ſ. Beilage) .
Heimathlos. Zei Geſchichten fir Rinder und auch für
Solche, welche die Kinder lieb Haben. Bon der Ber-
fafferin von „Ein Blatt auf Brony's Grad“ .
Daffelbe gebunden .
Herbſt, Wilh., Matthias Claudius, der Wandebeder Bote
Ein deutfches Stillleben. 4. Auflage, mit Negifter .
Hillebrand, K., Geſchichte Frankreichs von der Thron⸗
beſteigung Louis Philipp's bis zum Falle Napoleons II.
1. 8.: Die Sturm- und Drangperiobe | des Julilonig⸗
thums, 1830 -37. . .
Jannſen, H., Montesquieu's Theorie von der Dre
ung der Gewalten im Staate . . .
Kaufmann, Dasid, Gejchichte der Attributenlehre in der
jüdiſchen Peligienephiloſophie des Miteelalters von
Saadja bis Maimüni. .
Literaturblatt, Deutſches, Herausgegeben von Wilhelm
Herbit. pro Quartal . .
Alle 14 Tage erfcheint ein halber Bogen gr. 45 N 8 Spalten,
alle Vierteljahre ein gleich ſtarkes Beiblatt; bringt Referate
über alle bedeutenden Erjcheinungen der baterfäntitchen Literatur
und die hervorragendften des Auslandes und will ein Wegweiſer
für die deutſche Familie fein dur das Labyrinth der zeitge
nöffifchen Erſcheinungen. (S. Beilage.)
er 0
m
15
. 16
1111
40
60
60
50
Bur gefäligen Beachtung!
Die für die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einfendungen
“ind an Profeffor D. Riehm oder Conſiſtorialrath D. Köftlin in
Jalle als. zu richten; dagegen find die übrigen auf dem Xitel
enannten, aber bei dem Redactionsgefchäft nicht betheiligten Herren
it Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Ne-
zetion bittet ergebenft, alle an fie zu fendenden Briefe und Padete
ı franfiren. Innerhalb des Voftbezirks des Deutjchen Reiches, ſowie
18 Oeſte rreich Ungarn, werden Manuferipte, falls fie nicht allzu
nfangreich find, db. h. das Gewicht von 250 Gramm nicht
berfteigen, am beiten als Doppelbrief verfendet.
Friedrich Andreas Perthes.
JIuhalt.
Abhandlungen.
.Schmidt, Ueber die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Iefu .
.Goergens, Das altteftamentlihe Ophir . 2.2.
Gedanken und Bemerkungen.
. Kawerau, Luther und feine Beziehungen zu Servet . . .». . .
. Diegel, Bergleihung der heutigen evangelifchen Predigtweile mit der
vor fünfzig Jahrennn.
. Röſch, Die drei Säulenapoftel in der Geheimfprache des Thalmud.
Necenfionen.
. Wiefeler, Die deutiche Nationalität der Heinafiatiichen Gafater;
rec. von Hertberg. . ne
. Reuter, Gefdjichte der veligiöfen Aufflärung im Mittelalter vom
Ende des achten Iahrhunderts bis zum Anfange bes vierzehnten; rec.
von KitiHl .
541
Par
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Theologiſche
Studien und Kritiken.
Fine Zeitſchrift
für
das gefamte Gebiet der Theologie, !
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begründet von . 4
D. €. Ullmann und D. F. W. C. Umbreit
uud in Verbindung mit J
D. 3. Müller, D. W. Beyfdlag, D. Guſt. Baur
herausgegeben
DB. E. Richm um D. J. Köflin.
Bahrgang 1878, vierfes Heft.
Gotha.
Iriedrih Andreas Perthes.
— — ——
CTheologiſche
Studien und Kritiken.
Fine Zeitſchriſt
für
das gefamte Gebiet der Theologie,
begründet von
D. €. Ulinaun und D. F. W. 6. Umbreit
amb in Verbindung mit
D. 3. Miller, D. W. Beyfhlag, D. Guſt. Baur
herausgegeben
D. €. Riehm um D, 3. Köſtlin.
Dahrgang 1878, viertes Heft.
Gotha.
Sriedrih Andreas Perthes.
1878.
Abhandlungen.
1.
Das Gleichnis Marl. 4, 26—29.
Bon
Siegfried Goebel,
Sofprebiger in Halberflabt.
In dem Jahrgang 1874 diefer Zeitfchrift habe ich mich über
die Methode ausgefprocdhen, welche meines Erachtens allein eine
fihere Deutung der Gtleichniffe Jeſu ermöglicht, fo zwar, daß
einerfeit8 ber jede Parabel beherrfchende Grundgedanke rein heraus-
geftelit, anderfeits aber auch alle Einzelheiten ber bildlichen Dar-
ftellung und Ausführung ohne willfürliches Allegorifiren doch in
der Deutung zu ihrem Rechte fommen. Als Probe für die An⸗
wendung der vorgefchlagenen Methode habe ich damals eine Aus⸗
legung der Gleichnisgruppe Luk. 15 u. 16 Hinzugefügt). Als
eine neue Probe berfelben Methode möge hier die Auslegung eines
Gleichniſſes folgen, welches, obgleich nur wenige Säte umfaſſend,
doch wie nur irgend eine andere der PBarabeln Jeſu ein in fich
geichlofjenes Ganzes bildet und in ebenfo großartigen al8 Inappen
Zügen ein ſehr bebeutungsvolles Geſetz der neuteftamentlichen Reiche»
entwicklung zur bildlichen Darftellung bringt. Es ift die Parabel
Marl. 4, 26—29, gewöhnlich, aber mit Außeradhtlaffung ihrer
1) Vgl. Jahrgang 1874, Heft 3, S. 506 ff. und Yahrgang 1875, Heft 4,
©. 656 ff.
566 Goebel
wahren Pointe, die von dem (allmählihen) Wacfen des Sa-
mens genannt, während fie, wenn in der nachfolgenden Unterfuchung
nicht alles fehlgeht, vielmehr die von dem (jelbftthätigen) Frucht⸗
bringen der Erde heißen müßte.
Mit Kap. 4, 1 beginnt Markus den Bericht von jener aus⸗
Schließlich in Gleichniſſen fich bewegenden Rebe, welche Jeſus vom
Schiffe aus am Ufer des See's Genezareth bei Kapernaum vor
einer verfammelten Volksmenge gehalten hat. Diefer Bericht läuft
zunächft dem des Matthäus in Kap. 13 genau paralid. Ganz
wie Matthäus, hat auch Markus zuerft die Situation der Rede
Jeſu gezeichnet (B. 1 u. 2), dann als erſtes Gleichnis das vom
vielerlei Adler gebracht (®. 3—9), hierauf aber den Bericht von
der por dem Volke gehaltenen Rede abgebroden, um aus
einer nachträglich mit den Jüngern allein gepflogenen Unterredung
die Erklärung Jeſu über den Zwed feiner auffallenden Lehrweife
und feine Deutung des erften Gleichniſſes einzufchalten (VB. 10—20),
worauf er, hierin von Matthäus abweichend, noch zwei Ausfprüche
Jeſu diefer Einſchaltung beifügt, von welchen der erfte ihnen die
Weiterverbreitung der ihnen enthüllten Wahrheiten zur Pflicht macht
(8. 21—23), und der andere fie zur Achtſamleit auf das Gehörte
auffordert, indem je nah bem Maße ihrer Achtfamleit auf das
SGehörte ihnen da8 Maß weiterer Belchrungen werbe zugemefien
werben (DB. 24 u. 25). Bei beiden Ausfprüchen war durch das
xal Zleysv avroig bemerflid gemacht, daß fie ebenfo wie das
vorangegangene Redeſtück V. 11—20 als an bie Jünger im be»
fonberen gerichtet genommen fein wollen. Hiemit ift nun aber
die Einſchaltung aud bei Markus als beendigt anzufehen. Denn
wenn er num (V. 26) mit xad Asyer, ohne adross, wieder ein
Gleichnis, und mit einem zweiten xal Zdeysv (B. 80) ohne weitere
Verbindung noch ein Gleichnis bringt und darauf (V. 33 u. 34)
den ganzen Abjchnitt, entfprehend Matth. 13, 34 u. 35, mit der
Ausfage abſchließt, daß Jeſus in vielen berartigen Gleichniſſen ihnen
(dem Volke) das Wort verfündigt, ohne Gleichnis aber nicht zu
ihnen geredet, fondern nur ben eigenen Jüngern im befonderen
alles aufgelöft habe, fo iſt Har, daß au er mit V. 26, wie
Matthäus mit V. 24, den unterbrochenen Bericht von ber auf dem
Das Gleichnis Mark. 4, 26—29. 567
Schiffe gehaltenen paraboliſchen Vollsrede Jeſu wieder aufge
nommen bat.
Aber nicht, wie Matthäus mit dem Gleichnis vom Unkraut
im Weizen, fondern mit einem anderen Gleichnis nimmt Markus
die unterbrochene Rede wieder auf, und erft barin kommen beibe
Evangeliften wieber überein, daß fie als drittes Gleichnis das von dem
Senflorn bringen. Das Gleichnis Marl. 4, 26—29 fteht alfo
bei dieſem Evangeliften alferdings genau an derſelben Stelle, wie bei
Matthäus das von dem Unkraut. Daß e8 aber in der Geftalt wenig-
ſtens, in welcher es uns vorliegt, mit dem Tletteren keineswegs
identifch, fonbern eine von bemfelben ganz verfchiedene Parabel ift,
darüber laͤßt ſchon der erfte Blick keinen Zweifel. Zwar wird auch
hier wieder ein befäetes Ackerfeld vor Augen geftellt, aber wäh⸗
rend es fich in dem Matthäusgleichniffe von Anfang bis zu Ende
nur um die Erfcheinung des Unkrautes handelte, kommt in diefem
Steichniffe auch nur etwas dem ühnliches überhaupt nicht vor,
und es erfordert demnach jedenfall für fich eine beſondere und
felbftändige Unterfuchung.
Eingeleitet wird auch dieſes Gleichnis, wie bie in bemfelben
Anfammenhang bei Matthäus berichteten, durch Voranſtellung
des Himmelreiches als des BVerglichenen, nur daß hier an Stelle
bes dem Matthäus geläufigen Ausdrudes 7 Baoılsla Toy ovpavov
der jonft gebräuchliche 7 Bao. zou 9600 eintritt. Eigentümlich
aber ift die Art, in welcher die nachftehende Schilderung als zur
Bergleichung des Gottesreiches dienend eingeführt wird. Es heißt
B. 26f.: Oũõroc doriv 7 Baoılela zoV Iso ws Kydgwros
Baln vov onogov En wis yis, al nadsidn x. v. A., d. i.:
So verhält es fih mit dem Reich Gottes, wie wenn ein Menſch
mit dem Samen das und das gethan hätte, und dann fo und fo
thun würde. Das ws, oder nach anderer Lesart ws day (dav
ift aber nicht nothwendig, vgl. 3.8. Homer, Ilias 5,161; 9,323
u. d.) mit dem Conj. Aoristi fett behufs Vergleihung ber Ver-
hältniffe des Neiches Gottes einen Fall, der von den Hörern ale
bereit8 eingetreten, — mit den nachfolgenden präfentifchen Con⸗
junctiven einen all, der von ihnen als demnächft eintretend vor⸗
geftellt werden fol. Der Ball, der ſchon als eingetreten gedacht
568 Goebel
werben ſoll, ift der, dag „ein Menſch den Samen bingeworfen
hätte auf das Land”. Zrsogos hat gleich im Anfang den Artikel,
weil die bildliche Verwendung des Samens ſchon die Grundlage
des erften Gleihniffes der Volksrede war. Indem auch dieſes
zweite Gleihnis von Samen Handelt, bleibt es nur in dem fchon
verwendeten und den Hörern befannten Bilde ftehen. Der Aus⸗
drud AaAdsıv ftatt oresigeıv läßt das, was der Menſch mit dem
Samen gethan hat, in feiner verhältnismäßigen Geringfügigfeit
hervortreten, e8 war ein bloße8 „Hinwerfen“ des Samend. —
Und der Fall, ber als demnächft eintretend vergegenwärtigt wird,
ift der, daß der Menfh nun: xaFsvdn xai Eyslonraı vixıa
xai nusgeav, zu 0 0nOgos Piroık xal uNxKUImTa Ws Oux
oldev adros (B. 27). Die Stellung, welche der Menſch, nach⸗
bem er den Samen Hingeworfen hat, nunmehr zu deſſen Entwid«
lung einnimmt, wird in diefen Worten gekennzeichnet, und zwar
jo, daß der erfte Sat fein Verhalten bezüglich der Entwicklung
des hingeworfenen Samens fhildert, während der zweite fein Ber-
hältnis zu diefer Entwicdlung aufdedt, ala welchem jenes Ber:
halten angemeffen if. „Und [wie wenn er] fchliefe und aufftände
Naht und Tag (je nachdem es Schlafens⸗ oder Wachenszeit ift)“,
jo wird zuerft geſagt. Es wird damit feine Lebensweife ald eine
nur dur den natürlichen Wechfel der Zeit beftimmte, in diefem
ihrem naturgemäßen Verlauf aljo durch feine etwa noch an den
Fortgang feines Säemannswerkes gewendete Mühe und Arbeit ge-
ftörte charakteriſirt. Dabei ſteht xaFeddn dem eyslonsas, und
entfprechend vuxra bem vuserv voraus, weil vor allem in dem
Umftande, daß er ſich der Ruhe des Schlafes Hingibt, wann
immer es nad dem natürlichen Lauf der Dinge angezeigt ift, bie
Muge hervortritt, die er fich bezüglich bes angefangenen Werkes
geftattet. Und daß diefe Muße, der er fich Hingibt, feine willfürs
liche, fondern jeinem wirklichen Verhältnis zu dem naturgejeglichen
Fortgang feines Werkes durchaus angemeſſen ift, fagt der zweite
Sag: „und [wie wenn] der Same ſproßte und länger würbe @s
oſox oldsv aurds“ d. i. wörtlich — „auf welche Weife“ oder
„auf eine Weife, welche er felbit nicht weiß“, alſo nit: So, daß
der Süemann von dem Factum des Wachstums, — ſondern: So,
Das Gleichnis Mark. 4, 26—29. 569
daß er von dem Wie, von ber Art und Weile des Wachſens feine
Kenntnis Hat, fo, daß er felbft (adros), ber Menfch, ber ihn
doch gejäet Hat, nicht einmal weiß, wie es mit diefem Sproſſen
und Längerwerden bed Samens zugeht. Schon in der Wahl des
ungewöhnlichen unzuvsodas (nicht Med., fondern Pass.) = „in
die Länge gezogen werden, an Länge zunehmen“ Tiegt eine Heraus⸗
ftellung des Näthfelhaften an dem Vorgang des Wachſens, ein
Beweis, daß es von vorn herein bei dem ganzen Sage auf bie
mit Nachdrud an ben Schluß geftellten Worte ws ovx older av-
cos abgefehen iſt. Daß das Sproffen und Wachſen des Samens
fih auf eine Art und Welfe vollzieht, von welcher der Säemann
jelbft feine Kenntnis hat, und fomit died Sproffen und Wachfen
des von ihm felbft Geſäeten ganz außerhalb feiner Wirkungsfphäre
liegt, da er nicht einmal um das Wie dieſes Vorganges weiß, ge⸗
ſchweige denn, daß es feine Sache wäre, ihn zu bewirken, das und
nur das ift der ausgefprochene Gedanke. Nicht aber ift 0 oro-
eos dem avFowrrog betont gegenübergeftellt, um zu fagen, was
der Same feinerjeits, während der Menſch mäßig ift, ganz von
felbft thue (Weiß). Denn einmal fteht das „ganz von ſelbſt“,
auf welchem dann body ber Nachdruck des Gedankens Täge, bier
noch gar nicht da, und zum andern zeigt der Kinfchnitt, welcher
nun mit V. 28 in den Sabbau gemadt ift, indem die bis zum
Schluffe von V. 27 in einem Redefluſſe fortgehende, von ws ab»
hängige Eonjtruction der Süße hier abgebrochen, und mit einem
felbftändigen Indicativſatze fortgefahren wird, — daß bier und erft
bier die Schilderung umbiegt zu der Ausfage, durd welchen Fac⸗
tor denn num die Entwichung des Samens, die fo ganz außerhalb
der Wirkungefphäre des Säemanns liegt, zu Stande kommt.
Der Sat lautet nad richtiger Pesart VB. 28: adrouden
(ydo ift mit Lachmann und Tifchendorf nad fehr gewichtigen
Zeugen zu tigen) 7 77 xaonoyogel, rromrov xoprov, elta
orayvy, sira nAnons oisos (da8 rrÄjen oisov der Recept.
ift augenfcheinliche Eorrectur) Ev zö orayvi. Die Unverbunden-
heit mit dem DBorangegangenen, welche dem Sate nad Tilgung
des yagp eignet, ift ein neuer Beweis, daß derfelbe keineswegs
etwa nur eine Begründung oder eine ausführende Erläuterung
570 Goebel
bon ſolchem iſt, was implicite ſchon in ®. 27 geſagt wäre, ſon⸗
dern daß er eine ſelbſtändige und neue Ausſage bringt. Stark
betont ſteht aurogeen voran: „Selbſtthätig bringt die Erde
Frucht.” Das xaorroyogeiv, von bem Aderlande oder der Erde
ausgefagt, ift im allgemeinften Sinne zu nehmen. Wo die Sant
Subject des Fruchtbringens ift, kann freilich die Frucht nur der
Weizen fein. Wo aber bie Erde Subject ift, da fommt aud ſchon
der fproffende Halm als Product derfelben, als ihre Frucht zu
ftehen. Daß aber hier der Erbe das Fruchtbringen als felbitän
dige Thätigfeit zugejchrieben wird, bedarf zu feiner Erklärung nid
erft der Erinnerung, daß bie Erde die Zriebfraft des Samens br:
dinge (Meyer), als 0b das Gefagte eigentlich nicht von der Erbe,
fondern nur von dem Samen gelte. Denn ber Same bat ohne
Erde ebenfo wenig Triebkraft, wie die Erde ohne Samen; ımd
ebenjo gut, wie e8 von dem Samen würde gejagt werden Tönnen,
was aber Hier nicht gefagt ift, — daß er felbftthätig Frucht bringe,
während er es doc) nicht kann ohne die Erbe, in die er gefäet wird, —
ebenfo gut kann von der Erde unter ber Vorausſetzung, daß fie be
jäet ift, daS Gleiche gejagt werden, wozu noch fommt, daß das Beſäet⸗
jein hier nicht einmal ftillfchmeigend vorausgefekt, fondern ſchon V. 26
ausdrücklich erwähnt worden iſt. Wenn nun aber hier nicht das
erftere, fonbern das Tettere gefagt ift, fo barf man barüber nit
unter dem Vorwande hinweggehen, daß diefer Zug mit V. 27 in
Widerfpruch ftehe (Weiß), während dod dort von dem bewirkenden
Tactor des Wachstums pofitiv noch gar nichts, fondern nur Rege
tives gefagt war, — fondern man wird im Auge behalten müſſen,
daß in dieſem Gleichnis im Gegenſatz zu der Unthätigleit de
Menschen nicht die Selbſtthätigkeit des Samens, fondern die ber Erde
hervorgehoben ift. — Diefe Selbftthätigkeit der Erde wird num weiter
anseinandergelegt nad) drei Stufen ihres Erfolges. Sie bringt
„zuerft das Gras, dann die Aehre, dann — voller Weizen (zu
ihrem vollen Umfang entwidelte Weizenförner) in ber Aehre!“
Die beiden erften Aecufative find abhängig von dem in xagro-
popeiv liegenden yegsıv ; bei der dritten Stufe aber, auf welcher das
edle Ziel des ganzen Proceſſes ſich als erreicht darftellt, Führt der
Standpunkt lebendiger Anfchanung den Erzähler des Gleichniſſes
Das Gleichnis Marl. 4, 26—29, 571
zu dem Ausruf bewundernder Freude: „Voller Weizen in der Aehre!“
Dieſe Worte ſollen nun aber nicht das Geſetz der Allmählichkeit
hervorheben, welchem die fruchtbringende Selbſtthätigkeit der Erde
unterworfen fei, indem ſie vor der Aehre erſt das Gras, und vor
der vollreifen Weizenfrucht erft die Aehre hervorbringen müffe,
gefchweige denn, daß in diefer Allmählichkeit die eigentliche Pointe
des Glelchniſſes gefucht werden dürfte (Weiß). Fu diefem Sinne
aufgefaßt würden fie ja geradezu eine einlenkende Wiederabſchwächung
der der Erde mit ſolchem Nachdruck zugeſchriebenen Selbftthätigfeit
nachbringen, was mindeftens durch ein Hinter rowro» eingefügte®
ds ausgedrlict fein müßte. In Wahrheit aber dienen fie vielmehr
dazu, das von der fruchtbringenden Selbftthätigkeit ber Erde Ge⸗
fagte noch zu fteigern, indem fie den Umfang aufzeigen, in welchem
das aurouaen xaprropogsiv von der Erde gilt. Daß eine Ent»
twiiungeftufe der Saat nach der andern, zuerft das Gras, dann bie
Aehre, bis Hin zu der Vollendungsftufe des vollen Weizens, felbftthätig
von der Erde hervorgebracht werde, daß alfo der ganze Wachstums»
proceß der Saat nach Anfang, Mitte und Ende das ununterbrochen
felbfteigene Wert der Erde fei, das iſt's, was die Worte fageıt.
Alles aber, was wir an biefem Sate beobachtet haben, ſowol
die Art, wie gerade hier die bisher fortlaufende von ws abhängig
gewefene Conftruction der Sätze aufgegeben wird, als auch ſeine
Unverbunbenheit mit dem vorangegangenen Sabe, als auch die kräf⸗
tige Betonung, mit welcher er anhebt, als auch die fteigernde Aus⸗
einanderlegung des xaorroyopeiv von einer Stufe zur anderen, ale
auch endlich die fchließliche Hervorhebung des felbjtthätig erreichten
Ziels durch einen Ausruf freudiger Bewunderung, alles das gibt
der in dieſem Satze gemachten Ausfage einen folhen Nachdrud
und ein ſolches Gewicht, daß wir in ihr, die äußerlich in ber
Mitte der Schilderung fteht, auch deren inhaltlichen Mittelpunkt
werben zu fuchen haben, für welchen das Bisherige nur vorbes
reitend war, und das Folgende nur den Abſchluß bringt.
Der Ausfage nämlich, daß die Erde es felbjtthätig bis zur
Bollreife des Weizens bringt, tritt nun (V. 29) mit de als Ab»
Ihluß des Ganzen die Ausſage gegenüber, was dann, wann dies
Ziel erreicht ift, feitens bes Säemanns gefchieht: Orav da nua-
572 Goebel
oados!) ú xconoç, cobP anocrdiisı TO doenavor, On
rrapsoınxev 0 Fegiouds. Bei Ueberſetzung bes ftreitigen ra-
eados hat man an der gewöhnlichen und im N. X. ausfchließlichen
Bedeutung von nagadıdavas — „hingeben, darreichen, überliefern”
feftzuhalten, nur daß man e8 an unferer Stelle intranfitiv faßt =
„Fi barreichen“. Die Gegenbemerfung, daß fich für diefen ins
tranfitiven Gebrauh von rrapadıdovas fein „ganz ſicheres“ Bei⸗
fpiel finde (Meyer), kann, felbft wenn fie überall zutreffen follte ?),
doc) gegenüber ber Thatjache, daß im Griechifchen viele Verba, be
fonders häufig aber die Compofita von dıdovas tranfitive und in-
tranfitive Bedeutung vereinigen (vgl. Krüger, Griechiſche Sprad-
Ichre, $ 52, 2, 8; Buttmann, Griedifche Grammatik, $ 130,
5, 2; Winer, Gr. des N. T., S. 225) nicht entjcheidend fein.
Hienach erfcheint es doch noch Leichter, die intranfitive Bedeutung
anzunehmen, als mit Kloftermann das Wort an unferer Stelle
als einen fonft unbefannten term. technicus — „hergeben, 10%
laſſen“, scil. die Loder werdenden Körner. Gegen die andere Be
deutung „geſtatten“ aber (nad Vorgang Meyers von Bleek,
Weiß, Lange, Grimm acceptirt) entfcheidet, wenn man auch darüber
binwegficht, daß fie felten und nur außerhalb des N. T. nachweis⸗
bar ift, jo wie, baß dann das Object des Verbums erit aus dem
Folgenden ergünzt werden muß, der innere Gebanlenzufammen
bang des ganzen Sates, indem bei der entjprechenden Fafſung des
Borderfages: „Wenn aber die Frucht les (das Senden ber Sichel)
geftattet Haben wirb“ der begründende Zuſatz drs nagsorızer
o Jegronos nicht zu feinem echte kommt. Die Angabe nämlid,
was den Menfchen dazu berechtigt, bei dem eingetretenen ragadı-
dovas der Frucht nun auch fofort die Sichel zu fenden, bringt je
erft diefer Zufag als Togifches Meittelglied zwifchen dem order
und dem Nachſatze. Darum — fo ift gejagt — fett er bei dem
eingetretenen zragadıdovas ber Frucht fofort die Sichel an, weil
mit diefem zragadıdovas ber Frucht die Ernte, d. i. die Zeit zum
1) Diefer ungewöhnliche, nad) Analogie der Verba auf ow gebildete Com
junectiv wird für urfpränglid, zreeando für Korrectur zu halten fein.
3) In der Stelle 1 Petr. 2, 23 wird allerdings nagadıddyaı nicht mit
Winer intranfitiv, fondern tranfitiv zu nehmen fein, vgl. Huther 3. d. Et.
Das Gleichnis Mark. 4, 26—29. 575
Einernten der Saat gelommen if. Ueberſetzt man nun aber:
„Wenn die Frucht [es] geitattet, fo endet er fogleich die Sichel“,
fo läßt man den Act des Sicheljendens feine Berechtigung fchon
jo unmittelbar in bem nragadıddvas ſelbſt finden, daß der Zujak
„weil die Ernte da ift“, welcher doch die Zeitgemäßheit des Sichel»
fendens erft begründen will, finnlos wird. Demnach ift vielmehr
fo zu überſetzen: „Wenn aber die Frucht fich darreicht (scil. dem
ihrer harrenden Säemann), fo fendet er fofort die Sichel, weil bie
Ernte da ift.“ Daran alfo, daß die Frucht ſich ihm bdarreicht,
erkennt er, daß es Zeit fit die Saat einzuernten, und weil bie
Erntezeit geflommen ift, fo thut er num das Erntewert, er fenbet
die Sihel. Nur bei dieſer Faſſung erklärt ſich dann auch ber
doch auffallende Umftand, daß, nachdem eben mit fo gewichtiger
Betonung von dem Thun ber Erde gehandelt worben ift, doch bie
Rückkehr der Schilderung zu dem Thun des Säemannes gar nicht
bemerklich gemacht, fondern ohne weiteres von einem drzoozsidsıv
ohne Benennung ded Subiectes gefagt wird, glei als wäre immer
nur von dem Säemann bie Rede geweien. Der Säemann ift
eben fchon in dem Vorderſatze „wann aber bie Frucht fich darreicht“
ſtillſchweigend wieder mit in die Vorſtellung eingetreten, indem
diefe Ausfage auf der Vorausfegung ruht, daß berfelbe, wenn auch
unthätig, doch bie Entwicklung der Saat mit Spannung verfolgt,
und mit Sehnſucht auf die Frucht gewartet bat, die fih nun ihm
darreiht. — Mit 0 xaoros ift ber Begriff wArjens oĩcocç Ev
To orayvi aufgenommen, bie Frucht ift in ihrer Vollreife gedacht.
Der Ausdrud drroassilsı vo dgsnavov ift dem Hebr. bio nop
nachgebilbet (Joel 4, 13, LXX: ZEanoorellare To dosmavor,
vgl. Offenb. 14, 15: nduwyov vo dogen.), und ift darum nicht
als der Act des Ausſendens der Schnitter (Matth. 13, 30. 41)
zu nehmen, fondern nach der weiteren Bebeutung von nby =
„ausftreden, anlegen“, welche vermöge eined Hebraismus auf das
griechiſche anoassidsıy Übertragen tft, als das perfönliche Aus»
ftreden und Anfchlagen der Sihell. Der Zug aber, daß ber
Menſch fofort, wann die Frucht fih ihm darreicht, nun aud) bie
Sichel anfchlägt, zeigt auf's neue, daß feine bioherige Unthätigkeit
nicht mangelnde Zürforge für die Saat war, fondern daß fie ihm
ee
574 . Bocbel
durch die Natur der Sache vorgefchrieben war. Da, we es an
ihm ift einzugreifen, läßt er auf fich nicht warten.
Ein Rüdblid auf Gang und Inhalt ber Schilderung läßt nun
fofort ihren einheitlichen Gedanken mit Sicherheit erkennen. Das
Moment des Wachstumsproceſſes der Saat, auf welches die vor-
liegende Naturſchilderung aufmerkſam macht, ift bieß, daß die ein⸗
mal bejücte Erbe, von dem Landmann, der fie befliet hat, fih
felbft überlaffen, indem ja bie Bewirtung des Wachstums des Gr
füeten ganz außerhalb feines Bereiches Liegt, — nunmehr felbf
thätig fruchtbringend wirkt, und zwar andauernd und ununtecbrocen
durch alle Stufen des Wachstums hindurch, bis befien Ziel erreiät,
bis der Weizen in ber Aehre zur vollreifen Entwidlung gebiehen
ift, fo daß alfo erſt wieder hei der Ernte die Thätigleit des Sie
mannes einzugreifen hat. Oder mit anderen Worten: Nach dem
Sien ift des Süemanns Sache nur noch bad Ernten. Waos aber
in ber Mitte Liegt zwilchen dem Sen des Samens und bem
Ernten der Frucht, nämlich den Samen zu entfalten und durch alk
Stufen des Wachstums hindurch Bis zur veifen Frucht zu ent
wideln, das ijt die Sache des Bodens, welchen er anvertraut if
(ugl. auch Klöpper, Sahrb. f. d. Theol. 1864, ©. 141ff.).
Dieter einfache und doch fo eigentümliche Gedaunke fcheint mir in
dem Wortlaut der Schilderung jo Far und fücher ausgeſprochen zu
fein, daß nur ber Umftand, daß man fich Hei ber Auslegung des
Wortlautes vor⸗ und unzeitigerweife entweder von dem Intereſſe
für Die zu gewinnende Deutung, oder von dem Intereſſe für de
Eritifche Frage nach dem Verhältnis diefes Gleichniſſes zu dem von dem
Unkraut beeinfluſſen ließ, ein abweichendes Reſultat begveiflich mocht.
Das Urtheil von Strauß vollends, ber das Gleichnis „ein Ding
ohne Hand und Fuß“ nennt, muß ald ein ganz unbedachtes erfcheinen.
Behufs Beantwortung der Frage aber, welches Myfterium dei
Gottesreiches (V. 11), d. i. welche bis dahin verborgene, anf da&
Weſen und Werden bes Gottesreiches bezligliche Wahrheit in der
Schilderung diefer Seite bed Wachstumsproceſſes der Saat zu
Darftelfung fomme, hat man ebenfo, mie bei dem zweiten Matthäub
gleichnifie von dem Unkraut, vor allem auf das erfte Gleichnis
her Volksrede vom vielerlei Acer zuriczugreifen. ‘Denn was von
Das Gleichnis Mark. 4, 26—29. 575
jenem zweiten Matthäusgleichniffe gilt, daß es fich durch das Ver⸗
weilen ber Rebe bei dem ſchon im erften Gleichnis bildlich ver-
wendeten Naturproceß der Saatentwicklung als ein dem erjten ver-
wandtes und mutatis mutandis ihm gleichartig zu beutendes kenn⸗
zeichnet, das gilt noch mehr von diefem zweiten Markusgleichniffe,
noch mehr darum, weil jenes zweite Matthäusgleichnis fich von
dem erſten feiner paraboliſchen Anlage nach doch darin wefentlich
unterfcheidet, daß es nicht wieder eine bloße Schilderung naturs
geſetzlicher Vorgänge bringt, fondern die Erzählung von einem bes
ftimmten @ingelfalle, in welchem die Entwidlung der Saat burd)
menſchliches Eingreifen eine beftinimte Geftalt annahın, — während
biefe® zweite Markusgleichnis, ganz wie das erfte, bei dem natur⸗
gemäßen Berlauf der Saatentwiclung jtehen bleibt. Nur fo unter⸗
scheiden fich jenes erfie Gleichnis der Vollsrede und dieſes zweite
Markusgleichnis in ihrer parabolifchen Anlage, daß fie in der
Schilderung eines und desſelben Naturproceffes verjchiedene Seiten
hervorheben, nämlich jenes erite Gleichnis die Thatſache, daß ber
jedesmalige Erfolg des Säens naturgeſetzlich abhängig ift von ber
jedeswaligen Beſchaffenheit bes bejüct werdenden Bodens, und das
zweite Gleichnis die andere, daß — die gute Meichaffenheit des
Bodens vorausgeſetzt — der von dem Säemann ausgeftreute
Same nit durch eine von dieſem ansgehende Machtwirkung, fon-
dern durch die Selbftthätigleit der beſäeten Adererde bis zur Frucht
Hin entwickelt wird, alfo zwei in ihrer Verfchiedenheit doc wieder
verwandte Momente, indem fie beide gleicherweiſe die Bedingtheit
der Entwidlung des Samens burch den Aderboden, dem er ander-
traut wird, betreffen. Wenn aber das mit der Hervorhebung jenes
erften Momentes bildlich dargeſtellte Reichögeheimnis uad) der ei⸗
genen Deutung Jeſu (vgl. B. 13—20) dieſes war, baß ber Er-
folg des reichsgründenden Wirkens Jeſu feiner Natur nach, indem
es eine Verkündigung des Wortes vom Reich ift, abhängig fei von
der Herzensbeſchaffenheit derer, an welche die Verkündigung ergebt,
fo faun mit der Hervorhebung dieſes zweiten und anderen Mo⸗
mentes in den Naturproceß ber Saatentwicklung nichts anderes dat»
geftellt fein follen, als dies, daß die Entwicklung des durch das
reichsgrimdende, in der Verkündigung des Wortes vom Weiche Der
676 Goebel
ftehende Wirken Jeſu in den gläubigen Hörern dieſes Wortes ge
pflanzten neuen Lebensprincipes und feine fortfchreitende Auswirkung
bis hin zu einer dem Weſen des Gottesreiches völlig entjprechenden
Lebensgeftalt nicht von einer Machtwirkung Jeſu felbt zu erwarten,
fondern Aufgabe der felbjteigenen, fittlichen Thätigkeit ber gläubigen
Hörer des Wortes fei. Und e8 erhellt nun auch, daß diefe zweite
Enthüllung demfelben Irrtum der herrſchenden Reichserwartung
entgegentritt, wie jene erfte, nur nach einer anderen Seite hin.
Gleichwie nämlih im Gegenſatz zu der Erwartung, daß der kom⸗
mende Meſſias das Gottesreich auf dem Wege Außerer Mad:
übung in Herrlichleit aufrichten werde, das erfte Gleichnis gezeigt
bat, daß dem mefftanifchen Wirken Jeſu feiner Natur nach fein
den Menſchen äußerlich zwingende Kraft eigne, daß es vielmehr in
feinem Erfolge von vorn herein bedingt fei durch die Empfänglid-
feit der Menjchenherzen, fo zeigt nun das zweite Gleichnis im
Gegenſatz zu derfelben Erwartung, daß auch dba, wo diefe Em
pfänglichkeit vorhanden, wo alfo das Werk der Reichsverwirklichung
nicht durch arge Herzensbefchaffenheit von vorn herein behindert if,
doch die Zortjegung und Durchführung des von Jeſu grundlegend
begonnenen Werkes nicht von einer von ihm ausgehenden mefſfia⸗
nischen Machtübung zu gemwärtigen, jondern ber Natur ber Sadk
nad) Aufgabe der felbfteigenen Thätigkeit derer fei, in welchen das
GSottesreih einen Anfang genommen bat. Das Gleichnis tritt
alfo nicht fowol einer irrigen Erwartung in Bezug auf die Zeit
der herrlichen Reichserrichtung entgegen (Weizfäder, Klöpper a. a.D.),
als vielmehr einer folchen in Bezug auf die Art und Weife, wie
es dazu kommen werde, nämlich nicht auf dem Wege meſſianiſcher
Mahtübung, fondern durch die felbfteigene. fittliche Arbeit der von
dem Meſſias zum Gottesreiche Berufenen, und erft mittelbar
liegt darin allerdings auch dies, daß die ſchließliche Errichtung dee
Sottesreiches in Herrlichkeit, zu der es nur auf biefem Wege
fommen ann, noch auf fich warten laffen wird.
Bon bier aus will nun bie Bedeutung der einzelnen Züge des
Bleichnifjes gewürdigt werden. Die Ausfage von der Selbftthätig-
feit der Erde, welche den Mittelpunkt des Gleichniffes bildete, war
vorbereitet durch die Schilderung der nad) Hinwerfung des Sa-
Das Gleichnis Mark. 4, 26—29. 677
mens durch, feine fernere Mühwaltung um bie Saatentwiclung ges
ftörten Lebensweile des Säemanns. Dem entipricht auf dem Ges
biete des Gottesreiches, daß Jeſus, nachdem er durch die Verkün⸗
digung des Wortes vom Reihe das Princip eines neuen, bem
Königswillen Gottes frei unterworfenen Lebens in bie Herzen der
für fein Wort empfünglichen Hörer gepflanzt bat, hiemit fein ge⸗
Schichtlich meſſianiſches Berufswerk erfüllt haben, und fernerhin in
feiner Criftenzweife durch keine etwa noch darüber Hinaus ihm ob»
liegende gefchichtliche Aufgabe beftimmt fein wird. Nur diefer all⸗
gemeine Gedanke ift ausgefproden mit bem „Schlafen und Auf:
ftehen bei Nacht und Tag* (V. 27), nur mittelbar alfo eine Hin-
deutung auf fein demnächft eintretendes Berlaffen der Welt. Eine
beftimmte und Hare Vorausfagung diefer Thatſache der Zukunft,
wie fie in anderen und fpäteren Gleichniſſen gegeben ift (Matth.
25, 15. Luk. 19, 12) liegt in diefem Gleichniffe noch nicht vor,
wie denn auch V. 29 von einem Wiederlommen nichts gejagt ift,
daher auch dort Feine bejtimmte Binweifung auf die Parufle ale
folche (gegen Weizſäcker). Das aber das gefchichtliche Berufswerk
Jeſu über jene Einpflanzung des neuen Lebensprincipes in die
Menfchenherzen nicht Hinausreiche, zeigt V. 27° als in der Natur
der Sache liegend auf. Denn gleichwie der Proceß der Saatent-
wicklung feiner Natur nach jeder Einwirkung des Säemannes fo
fehr entzogen ift, daß er nicht einmal weiß um das Wie biefes
Procefies, jo ift auch der Proceß der fortichreitenden Entfaltung
des mit dem Worte Gottes in die Menfchenherzen gepflanzten
Lebensprincipes feiner Innerlichen Natur nad) jeder Einwirkung von
augen ber, aljo auch der Einwirkung Jeſu, fofern ſie eine menſch⸗
lich vermittelte ft, entzogen. Mit Bedacht haben wir jo das Nicht»
wiffen des Säemannes um die Art und Weife, wie der Same
wächft, nicht felbft mit in die Vergleichung gezogen. Denn das
es ovx oldsev avsos ift ja in der Parabel nicht darum fo ftarf
betont, weil das Nichtwiſſen im Zufammenhang der Schilderung
eine felbftändige Bedeutung für fih Hätte, fondern nur darum,
weil auf dem Gebiete des Naturvorganges fich diefer Umftand als
derjenige darbot, der die Gebundenheit des Säemannes rückſichtlich
der Einwirkung auf das Wachſen am ſchlagend tten illuſtrirte,
Theol. Stud. Yahrg. 1878.
578 Goebel
daher er auch in der Deutung nur nach dieſer Seite Bin zu ver-
wenden ift. Der dogmatifche Einwand aber, welcher fich etwa hier
noch aufdrängen mag, daB doch dem Herrn vermöge des göttlichen
Charakters feiner Perjon eine Einwirkung auch auf den inneren
Fortgang feines Werkes in den Menjchenherzen in der That zuzu⸗
ſchreiben fei, ift darum nicht zutreffend, weil es fidh bier nicht um
eine Beitimmung des Maßes der göttlichen Gnadenwirkungen auf
da8 innere Xeben des Menſchen Handelt, fondern nur um eine Ab
grenzung der Aufgabe, welche Jeſus innerhalb feines gefchichtlid:
menfchlichen Auftretens an den für fein Wort empfänglichen Hö⸗
rern zu erfüllen babe, und die Grenze diefer Aufgabe fällt der
Natur der Sache nad zufammen mit der Grenze der Möglichkeit,
als Menſch auf dem Wege menfchlicher Rebe auf fie zu wirken.
Nicht im Gegenfag zu den göttlichen Gnadenwirkungen über⸗
banpt, fondern im Gegenfat zu den Wirkungen, welche gegenwärtig
bon ber perfönlihen Erfcheinung Jeſu durh das Wort feines
Mundes auf die Jünger ausgehen, ift es denn auch gemeint, wenn
Jeſus ihnen nun (V. 28) bie durch das Bisherige vorbereitete
Enthällung macht, daß fie felbft, gleich der felbftthätig frucht⸗
bringenden Erde den durch fein Wort in ihnen gewirften neuen
Lebensanfang durch eigene fittliche Arbeit werden zu entfalten Haben,
und zwar nicht fo, daß fie auf halbem Wege ftehen bleiben Tönnten,
fondern durch alle Stufen inneren Wachstums hindurch bis zu einer
dem heiligen Gotteswillen allfeitig entfprechenden und fomit für
dag Gottesreich der zufünftigen Welt gereiften Ausgeftaltung ihres
gefamten inneren und äußeren Lebens (Änons oiros dv 1#
orayvi). Dabei ift aber nicht nur an die Auswirkung der Prin⸗
cipien des Gottesreiches in dem Leben deö einzelnen üngers ge
dacht, fondern für die Darftellung des Gfleichniffes fällt diefe, ger
mäß der Natur des gebrauchten Bildes, in weldem die Entwid-
fung bes einzelnen Saathalmes eins ift mit ber des ganzen Saat
feldes, zufammen mit der fortfchreitenden Auswirkung der Principien
des Gottesreiches in der Jüngergeſamtheit, in der Reichsgemeinde.
Diefes Verhältnis muß man in's Auge faffen, um dem zeit
tihen Zufammenhang zu verftehen, in welchem das, was nun
V. 29 Schließlich in Ausficht geftellt wird, mit dem Bisherigen
Das Gleichnis Mark. 4, 26-29. 579
ftegt. Mit einer Verheißung nämlich, welche an das Erreichtfein
jenes Entwidlungszield gefnüpft ift, die alfo die Jünger zur Er-
fülung der ihrer Selbſtthätigkeit zufallenden Aufgabe ermuntern
und ftärken foll, fchließt nun das -Ganze ab. Gleichwie der bie
Entwicklung feiner Saat mit Spannung verfolgende Säemann,
wann die Frucht fih ihm darreicht, nicht auf ſich warten Täßt,
fondern alsbald die Sichel anſchlägt, jo wird auch der die Ent.
wicklung feiner Gemeinde überwadhende Menſchenſohn, ſobald die⸗
jelbe ſich ihm darſtellen wird als am Ziele ihrer Enwicklung
ſtehend und reif geworden für das Gottesreich der zukünftigen Welt,
nicht auf ſich warten laſſen mit dem, was nun wieder Sache ſeines
meſſianiſchen Berufes iſt, vielmehr wird er, weil nun die Zeit der
Einholung gekommen ift, alsbald dieſelbe vollziehen, d. i. er wird
die Gerechten ſammeln in das Reich ſeines Vaters (vgl. das Gleich⸗
nis vom Unkraut, Matth. 13, 30 u. 43). — Die Ylnger Jeſu,
welche ale Hörer des Wortes bisher in dem Gleichniffe unter
dem Bilde des befäcten Aderlandes vorgeftellt waren, kommen alfo
bier am Schluffe zugleich als das Gegenbild des lebendigen, hier des
gereiften und eingeerntet werdenden Saatgewächſes zu ftehen, in fo
fern ja die Hörer des. Wortes deſſen Wirkung nicht, wie die Erde
die Wirkung des Samens, ans fich heraus feken, als etwas von
ihnen felbft unterfchiedene®, fondern fie in ihrem eigenen Berfon-
feben vollziehen und zur Erſcheinung bringen. Es ift derfelbe un⸗
willfürliche Wechſel der bildlihen Vorſtellung, der in dem voran⸗
ftehenden Gleichnis vom vielerfei Ader und in feiner Deutung -
(B. 4—8 u. 1520) noch auffallender hervortritt.
Der jo bdargeftellte urſprüngliche Sinn bes Gleichniſſes weicht
freilich weſentlich ab von feiner tm kirchlichen Gebrauch geläufigen
Auslegung, nach welcher in demfelben Jeſus feinen Jungern mit
Bezug auf ihren zukünftigen Beruf als Prediger des Evangeliums
die Weifung geben fol, auf die Frucht ihrer Verkündigung geduldig
zu warten, im Vertrauen auf die dem Worte Gottes einwohnende
febendige Triebkraft, welche zwar verborgen und langſam, aber
darum nicht minder fichee in dem Menſchenherzen wirle, und zu
feiner Zeit die Frucht an das Tageslicht bringen werde, — ftatt
an der Frucht ihrer Predigt zu verzweifeln, weil fie nicht ſogleich
38 *
RM
5850 Goebel
fihtbar wird, oder dem verborgenen Wirken des Wortes mit vor⸗
eilendem Eifer durch Fünftliche Mittel nachhelfen zu wollen. Diefer
Deutung des Gleichniſſes fteht aber entgegen einmal, daß Jeſus
fowohl in dem vorhergehenden Gleichnis vom vielerlei Ader, als
auch in dem nachfolgenden vom Senflorn, als aud in dem be
Matthäus an der Stelle des unferen zwifchen jenen beiden ftehenden
von dem Unkraut, überall mit dem Säen fi) auf feine eigene reichs⸗
gründende Xchätigkeit bezieht, daher es auch hier nicht anders, aljo
nicht auf die zukünftige Xhätigleit der Jünger bezogen werben darf;
zum andern, daß das Anfchlagen der Sichel an die zum vollen
Weizen gereifte Saat, weil die Erntezeit da ift, in ber Zhätigfeit
des Predigers des Wortes überhaupt Feine Unalogie hat, dafür
aber um jo deutlicher auf das Thun des Menfchenfohnes am Ende
des Weltlaufes Hinweift, — endlich, daB in dem Gleichniffe weber,
wie 68 3. B. Jak. 5, 7 geichieht, die Geduld, mit welcher der
Adersmann auf die Frucht wartet, mit Betonung hervorgehoben
wird, noch auch die dem Samen als ſolchem einwohnende Lebendige
Zriebfraft, fondern nur gegenüber der Unthätigleit des Säemanns
das felbftthätige Yruchtbringen der Erde. Das einzige Moment
aber, welches in dem Texte für jene Deutung zu fprechen fcheint,
dag nämlich dad ws ovx oldsv adzög auf ben Herrn feine Ans
wendung leide, hat fi uns ſchon im Zufommenhang der Deutung
erledigt. Dagegen muß zugeitanden werden, daß die oben ausge
Iprochenen Gedanken, wenn fie auch nicht den urfprünglichen Sinn
des Gleichniſſes ausmachen, doch ihm nahe genug liegen, um ver
möge einer fachlich berechtigten und zutreffenden Webertragung
defien, was von den Grenzen der Berufsthätigleit Jeſu gefagt iſt,
auf die gleichartige Berufsthätigleit der Jünger als DVerkündiger
feines Wortes aus demſelben abgeleitet zu werden, wie fie denn
auch zur praltiichen Verwerthung vorzüglich geeignet find.
Darf man demnach allerdings den Zufammenbang nicht außer
Acht laſſen, in welchem unfer Gleichnis mit dem vorangegangenen
erſten Gleichniſſe der Volksrede fteht, und mittelbar auch mit bem
bei Matthäus die zweite Stelle einnehmenden Unkrautgleichniſſe,
fo entbehren doch anderjeits die Vermuthungen, durch welche ihm
überhaupt die Selbftändigfeit und die Urfprünglichleit abgefproden
Das Gleichnis Mark. 4, 26—29. 581
wird, indem es erſt aus dem Unkrautgleichniſſe fol entftanden fein,
entweder als eine matte Abſchwächung (Hilgenfeld) oder ale eine
Umbildung desfelben (Weiß), durchaus der zureichenden Begrün⸗
dung. Denn was zunächſt die inhaltliche Tendenz angeht, fo zeigt
diefe gerade mit dem Unkrautgleichniffe, ausgenommen den allge-
meinen Umſtand, daß es fih in beiden Parabeln um die Ent-
wicklung bes Gottesreiches handelt, gar keine Berwandtfchaft. Dort
eine Belehrung über das Erſcheinen von Kindern der Bosheit mitten
in der Jüngerſchaft (Matth. 13, 38), bier. eine Belehrung über
die ber felbfteigenen Thätigkeit der Jünger bei der Verwirklichung
des Gottesreiches zufallende Aufgabe! Daß ein Gleichnis des letz⸗
teren aus einem des erfteren Inhaltes auf dem Wege der Ab»
Schwächung oder auch auf dem ber Umbildung foll entitanden fein,
muß doch für mehr als unwahrscheinlich gehalten werden. Und
was die äußere Form anlangt, fo bleibt nad) Abzug des allgemeinen
Umftandes, daß in beiden Gleichniſſen, wie aud) fhon in dem erften
Gleichnis der Volksrede, die Saatentwicdlung zur bildlihen Dar-
itellung der Reichsentwichlung verwendet wird, und der baraus von
jelbft fich ergebenden Wiederkehr von Worten, wie BAaoravsır
x0orTos, xuonoc, Yepionds, ober von gleichbedeutenden Be⸗
griffen wie orrdeos hier und onsone dort, yñ hier und ayods
dort, mit theilweife ähnlicher, theilweife aber auch, befonders in
dem letzten Falle ganz verfchiedener parabolifcher Beziehung, —
nur das Eine noch übrig, daß in beiden Gleichniſſen an einer
Stelle von einem zaFsddsıv gefagt wirb (vgl. V. 27 mit Matth.
13, 25), aber auch in ganz verfchtedener Beziehung, was fomit
für eine reine Zufälligkeit gehalten werden muß. Es berechtigt .
alfo nichts, von der Vermuthung abzugeben, welche dur das Ver⸗
hältnis des Miatthäusberichtes zu dem des Markus von vorn herein
angezeigt ift, daß beide Gleichniſſe ein Beftandtheil jener am See
vor dem Volke gehaltenen Rede Jeſu (Matth. 18, 2. Mark. 4, 1)
gewefen feien, die ausfchlieglih in Parabeln fich bewegte (Mark.
4, 33. 34. Matth. 13, 34) und mit dem Gleichnis vom vielerlei
Ader begann, und will man ſich auf dem unficheren Gebiete der
Vermuthungen noch weiter wagen, jo würde ber oben bargelegte
beſonders enge Zufammenhang, in welchem unfer Gleichnis als das
682 Spitta
von der Selbftthätigkeit zu dem erften der Dede als dem von
der Berfchiedenartigfeit de8 Aderlandes fteht, es nahelegen,
zu fagen, daß jenes feine urfprüngliche Stelle gleich nach dieſem
und vor dem Unkrautgleichniſſe gehabt habe.
2.
Weber die perfänlichen Notizen im zweiten Briefe an
Timothens.
Bon
Friedrich Hpiffa.
— — —
Die perſönlichen Notizen der Paſtoralbriefe zu beſprechen, wird
manchem angeſichts der Sicherheit, welche das kritiſche Urtheil über
dieſelben als Erzeugniſſe des zweiten chriſtlichen Jahrhunderts er:
reicht haben will, als überflüßig erſcheinen. Denn wenn man ſich
veranlaßt ſieht, z. B. Hilgenfeld !) beizuſtimmen, welcher meint,
die geſchichtlichen Vorausſetzungen dieſer Briefe machen ganz den
Eindruck, der wirklichen Geſchichte des Paulus erſt nachgebildet zu
ſein, ſo bleibt nichts übrig, als ſich darüber zu verwundern, wie
doch die Uppig wuchernde Sage das Leben des gefeierten Apoſtels,
anſtatt es mit bunten Wunderberichten auszuſchmücken, trotz des
vorliegenden Berichtes der Apoſtelgeſchichte zum Theil völlig um-
geftalten konnte. Aber e8 fehlt auch nicht an Gelehrten, die über
die Hiftorifche Bedeutung der perfünlichen Notizen diefer Briefe ein
günftigeres Urtheil fällen und fich, wenn fie auch diefelben im ihrer
jegigen Geftalt nicht als Erzeugniffe des Apofteld anfehen wollen,
der Empfindung nicht entziehen künnen, daB gerade in den perſön⸗
lichen Notizen diefer Briefe, zumal in denen bes zweiten an Tis
motheus, echte Bruchſtücke paulinifcher Sendfchreiben enthalten feien *),
die es dann aber auch werth find, für die Gefchichte des apofte-
Tischen Zeitalters ausgebentet zu werben. Diefe werben über die
1) Einleitung in das N. T., S. 759.
2) Bol. Beet, Einleitung in das N. T., 8. Aufl., S. 578.
Lieber die perfünlichen Notizen im zweiten Briefe au Timotheus. 588
Berechtigung meines Verfuches günftiger und deshalb auch über die
Ausführung desfelben fchärfer urtheilen, was ich für die Sache,
um die allein es mir zu thun ift, wünſche.
Aus äußeren Rückſichten befchränfe ich mich für diefes Mal
auf die perfünlichen Notizen des zweiten Timotheus-Briefes, erhebe
indes nicht den Anſpruch, dDiefelben erfchöpfend zu behandeln. Was ſich
aus ben eregetifchen Handbüchern entnehmen Täßt, fee ich voraus.
Nur das, was eine befondere Unterfuhung nöthig macht und worüber
ich zu einem beftimmten Urtheile gekommen bin, kann ich bier erörtern.
Noch ein zweites Wort zur vorläufigen Verftändigung. Be⸗
fanntlich ift der zweite Timotheus⸗Brief bei der Frage über eine
zweite Gefangenfchaft Pauli befonders interefjirt. Aber die Sache
Tiegt nicht fo, wie man noch in der jüngften Abhandlung „Weber
den Brief des römifchen Klemens an bie Korinther“ 7) Tieft, eine
zweite Gefangenfchaft werde im Intereſſe der Baftoralbriefe poftu-
lirt. Ich berufe mid) hiergegen der Kürze wegen auf A. Har-
nad ®), der von Wiefeler in der Faſſung von zo Tspue vg
ddcews (1&lem. 5, 7) befämpft wird und anderſeits Bahnſen?)
beiſtimmt, daß diefer in feiner Erklärung der Baftoralbriefe die-
felben als unecht vorausgeſetzt habe). Man ift bei bem gegen-
wärtigen Stande der Unterfuchungen berechtigt, die Anficht von der
zweiten Gefangenschaft des Paulus als eine Möglichkeit neben der
Anſicht von einer bloß einmaligen Gefangegfchaft anzuerkennen ©).
Deshalb werde ich weder veranlaßt fein, die gefchichtlichen Anden»
tungen des zweiten Timotheus⸗Briefes in die von der Apoftelgefchichte
gegebene Lebensgefchichte Pauli Hineinzuguälen, noch diefelben, wenn fie
nicht zur Apoftelgefchichte ftimmen, deshalb für unecht zu erklären.
Nachdem Paulus in immer neuen Wendungen ben Timotheus
angefeuert bat, den Tiegengelaffenen Beruf mit alter Begeiſterung
und befjerer Treue wiederaufzunehmen, fteigert fi) die Empfindung
der Sehnſucht nad dem geliebten Sohne zu der beftimmten Bitte:
1) Wiejeler, Jahrbücher f. d. Theol. 1877 S. 370.
2) Patrum apostolicorum opera, ed. 2; I, 1. p. l6sq.
5) Die fogenannten Paftoralbriefe erklärt, I.
4) Bol. Zeitfchrift fir Kicchengefchichte II, 1, S. 65, Anm. 2.
5) Vgl. Stivm in den Jahrb. f. d. Theol. 1876 I, ©. 812.
581 Spitta
onoddacov EAdEiv rroog us raxsos (4, 9). Er begründet die⸗
felbe mit dem Berichte von feiner Einſamkeit. Lulas ift freilid
noch bei ihm (V. 11), aud kann er von mehreren römifchen
Chriften Grüße beftellen (VB. 21); aber Demas, Crescens, Titus,
Tychikus, welche Timotheus bei Paulus vermuthen mochte, find
nicht mehr in Rom. Demas ift in der Arbeit für das Evange-
lium ermitdet und Bat ſich felbftwillig nach Theffalonich begeben.
Tychikus dagegen ift von Paulus nah Ephefus gefandt.e Sollte
diefe Sendung nicht identisch fein mit der Kol. 4, 7. Eph. 6, 21
berichteten? Dieſe Vermuthung ſcheint in der That nicht grund:
[08 zu fein. Allein es fteht nicht feft, daß bie Briefe an die Ko
foffer und Philemon, ihre Echtheit vorausgefett, in Nom gefchrieben
find. Ferner ift es mißlich, bei der Unficherheit über die Adreflaten
des fogenannten Epheſer⸗Briefes, ganz abgefehen von fonftigen fri-
tischen Bedenken gegen denfelben, eine Combination von Eph. 6, 21
und 2 Tim. 4, 12 vorzunehmen. Uber vorausgejeht, jene Briefe
feten von Paulus in Rom gefchrieben und das €» Eyeon (Eph.
1, 1) edit, fo würde Paulus den Tychikus doch nur für kurze Zeit
fortgeſchickt Haben; al8 Zwed der Sendung bezeichnet er: va yrare
va nrepl Nucv xal nrapaxalson vas xagpdlas vucv (Rol. 4, 8).
Wie ftimmt damit, daß Paulus dem Timotheus aufträgt, den
Markus an Thchikus' Stelle mitzubringen, alfo vorausfekt, letzterer
werde längere Zeit in Ephejus bleiben ?
So wenig die Binerkung über die Sendung des Tychikus zu
dem Berichte des Koloffer- und Epheſer⸗Briefes ftimmen will, fo
wenig fcheint fie auch zu ben Vorausfegungen der Paſtoralbriefe
über des Timotheus Aufenthalt in Ephefus zu paſſen. Schon
Theodoret bat richtig bemerkt, daß aus 2Tim. 4, 12 folge, Ti⸗
motheus ſei zur Zeit der Abfafjung diefes Briefes nicht in Ephefus
gewefen 1); man müßte andern Falls ugos oe ftatt eis "Egyeoov
erwarten 3). Diefe Anficht hat man in nenefter Zeit, ohne ftid-
—
1) Theodoreti opera ed. Nocesselt, T. III, p. 694sq.: „Tuyıxow di
dntoreiie Eis "Epeoov.““ Andov ivreüder ds ovx Ev Eypkap dılyer
aM ErigwIl mov xare Tovrovi Toy xap0vy 6 uaxagıog Tıuodeog.
2) Man wird behaupten, mit demfelben Rechte könne ınan aus 1 Kor. 15, 32.
16, 8 folgern, ber erſte Korintherbrief fei nicht in Epheſus geſchrieben. Die
Ueber die perfünfichen Notizen im zweiten Briefe an Timotheus. 585
baltige Gründe dagegen anzuführen, meiftens verworfen. Man
hält derfelben die Stellen 1, 18. 4, 14f. 19 entgegen; aber mit
welchem Rechte? Seit wann ift e8 ausgemacht, daß das vielums
bergewanderte Ehepaar, Aquila und Priscilla, in Ephefus eine Zeit
lang anfäßig, immer dort geblieben ſei? Wer Hat bis jett be-
wiefen, daß ber 4, 14 genannte "AlsEardgos 0 yara-ı'z mit dein
ephefinifchen Juden gleichen Namens (Apg. 19) identii.h fi? End—
ih woraus kann man mit Sicherheit Schließen, daß Oneſiphorus
(1, 16. 4, 19) in Ephefus gewohnt habe? Paulus berichtet 1, 18
von Dienjten des Onefiphorus, über welche Timotheus unterrichtet
fei. Hofmann ?) meint, die Worte 1, 18: za öoa €: 'Eysoo
dinxormasv, Bsirıov au yırdazsıs feien Fortfegung des mir
dur den Gebetswunſch din au 6 xUosog svpsiv Een; mage
xvolov Ev Exelrn 7) uog unterbrochenen Sates, und Y.itekt
daraus, daß fich diejelben auf Dienfte des Onefiphorus «..:'cıt,
welche diefer nah) feiner Rückkehr von Rom für Paula a:-
than babe, und von denen Timotheus eben deshalb genan hilie
unterrichtet fein können, weil er damals in Ephefus gewefen ſei.
Die Unmöglichkeit diefer Auffaffung läßt ſich ebenfo wenig wie die
des Gegentheils aus der Gedankenfolge in 1, 15—18 nachweiſen,
und Somit ift e8 unberechtigt, diefe mehrdentige Stelle gegen andere '
unmisderftändliche zu feen. Die natürlide Deutung von 4, 12
wird nämlich geftügt durh V. 20: Toogımov d& anelınov Ev
Murto aodevovvrea, Mag nun areekınov erfte Perfon Sins
gularis oder letzte Pluralis fein, mag man hier einen Beweis das
für finden, daß Paulus, aus der erften Gefangenschaft freigekommen,
eine Reife gemacht bat, von der die Apoftelgefchichte nichts berichtet,
oder fi bei der Deutung diefer Worte beruhigen, nad) welcher
biejelben von zwei Gefährten de8 Onefiphorus auf feiner Reiſe
nad Rom hin erzählen, die, der eine in Milet, der andere in Ko⸗
Berechtigung dieſes Schluffes erkenne ich in jeder Beziehung an. Daß
Pauli Aufenthalt in Ephefus (Act. 19) fich nicht auf die Stadt be-
ſchränkt habe, zeigt Apg. 19, 10. 22. Aus den Grüßen von YAquila und
Briscila (1Ror. 16, 19) kann aber um fo weniger etwas beftimintes ge⸗
fchloffen werben, als ſich damit die Notiz verbindet: aanalovsu vuas
ai &xxinolaı vis "Aolas.
1) Die Heilige Schrift N. T. VI, ©. 240.
298 Spitta
rent, zT ffteben feien )), — das ift fiher, war Zimotheus
in Ecyheſns, fo wußte er auch um den in Milet erkrankten Tre
phimus. Ber. dt fih V. 20 auf die Reife des Onefiphorus, fo
war Tim ud nicht mehr in Ephefus, als Paulus feinen zweiten
Arlef an, fehrieb; beziehen fich die Worte auf des Paulus Ab⸗
zuge don Aflen ?), fo war fehon damals Timotheus nicht mehr in
Spheng ), — Ferner, wenn dem zweiten Briefe an Qtmotheus
etwas wahres zu Grunde Liegt, fo ift e8 das, daß fich Timotheus
welnftg und verzagt vom Evangeliftenberufe zurückgezogen hat‘).
Wird er in dieſem Falle an dem Plate geblieben fein, an den ihn
Panlus geftellt hatte; oder liegt nicht vielmehr ber Gedanke nahe,
daz er fich im feine Heimat, Lylaonien, nach Derbe °) zurüdge-
‚gen habe? Diefe Vermuthungen werden durch einen außerbib:
liſchen Bericht geftügt. In den Acten des Baulus und der Thefla ©)
wird als Wohnort des Dnefiphorus Ikonium bezeichnet ”). Mag
— —— ——
1) Bgl. Reuß, Geſchichte der heiligen Schriften N. T., 8 125 Aum. —
Wiefeler in Herzogs Real-Enc., 1. Aufl., Bd. XXI, S. 304f.; u.a.
3) Wenn nah Hofmann a. a. D., S. 306 Paulus den Trophimus in
Milet zurückläßt, wo er fid) auf den Weg nad) Makedonien begibt, fo
erhebt fich gegen dieſe Faſſung mit Recht der Einwand, dag Paulus dem
Timothens etwas bekanntes mittheile. Ob fi Hofmanı dagegen gr
fichert habe, wird fpäter beurtheilt werben.
3) Kicht einmal der erfte Brief an Zimothens veranlaßt die Bermuthung,
daß fich der Adreffat damals in Ephefus befunden habe.
4) An diefer Behanptung Tann mi auch Mangolds Bedauern über bat
fhöne Bild, das damit aus der Gefchichte der Stiftung der chriftlicen
Kirche ausgeftrihen werde (vgl. Bleel a. a. O., ©. 569 Anm.), nid
irre machen. Es ift freilich dem pſeudonymen Verfaſſer des zweiten Ti-
motheus-Briefes nicht zuzutrauen, daß er uns ein Bild des zuaxagıos
Tıuoseos gezeichnet haben follte, deſſen Zeichnung fo unvortheilhaft non
den Originale abweicht.
5) Vgl. Wiefeler, Chronologie des apoftolifchen Zeitalters, S. 26.
6) Grabe, Spicilegium SS. Patrum etc. I; Tischendorf, Acta
apostolorum apocrypha; vgl. Schlau, Die Acten des Panlus un
der Thefla u. |. w.
T) Kal ric dvne Oynaipogos, uadalv röy Iladdov napayerousvor £i;
Txovıov, napavra deoualus E£ijAIsv av vi ddig yuraıı Adzıpr
xal Tois aurov Texvoss Znuuig za Zivwve Eis dndyınaw artei,
Iva avıov dekwrrai,
Ueber die perfönlichen Notizen im zweiten Briefe an Timotheus. 587
nun diefe apokryphiſche Schrift zu Anfang des zweiten Jaͤhrhun⸗
derts abgefaßt fein 1) oder die älteften apokryphiſchen Berichte ale
Quellen benugt haben 2), fo lange man nicht nad; veiſen kann, daß
die betaillirte Erzählung von dem olxos Ovruiegue in Ilkonrem
aus der Luft gegriffen ift — und vor folcher Beheuptung möchte
doch viefleicht die als Hiftorifch unauf, «ru frmitiene Notiz uber
die Tryphaena ?) etwas vorfihtr ı° 1 —-, 19 Large wird „tan
armehmen dürfen, daß Onefiphpn 1. a Wol ſitz in Ikonium,
der Nahbarftadt von Derbe, gehu ' je 9. Wie konnte ur
Paulus dem in Ephefus ſich aufhaltenden Timo hene Grufte an cr
Dnefiphorus Haus auftragen, zumal da er ihn aufjerderte,. mög—
lichſt Schnell nah Nom zu kommen? War 3 nerheie — in
Derbe oder überhaupt irgendwie in ſeinem Pi he V Fronien,
fo konnte er, ohne viel Zeit zu verlieren, die angeln n nen GBrüßhe
in Ikoninm ausrichten. So wird alſo Theodoret in der Erllarinig
bon 4, 12 doch wohl Recht behalten und damit auf "ıs Kin
dernis hinweggeräumt fein, 1, 15 fo zu faffen, wie e8 d'e wor
jenes Ausſpruchs und die Stimmung ded ganzen Abſchnittes vun,
1, 6 an fordert, nämlih als Frageſatz.
In einen ganz beftimmten Abſchnitt des Lebens Pauli wird
man durch die kurze Bemerkung über den Aufenthalt des Cres⸗
cens und Titus gewiefen (4, 10). Ich halte TaAAlav, nicht Te-
Aaziav, für die richtige Lesart, die auch Tiſchendorf (cd. VII)
und Hofmann befolgt haben al8 von Handſchriften und Kirchen-
pätern völlig beglaubigt, und deren Gorrectur in Tadarlav zu
leicht begreiflich ift, al8 daß man fie verwerfen dürfte. Alfo die
beiden Gefährten des Apojtel8 Hatten fich, „der eine in die zwiſchen
Makedonien und Stalien, der andere in die zwijchen Italien und
1) Bol. Zahn in den Göttinger Gelehrten Anzeigen 1876, Stüd 4l, ©.
1292 —1308.
2) Hilgenfeld, Zeitfchrift für wiffenfchaftliche Theologie 1 1877 1,8. 134 ff.
3) Bgl. v. Gutſchmid im Rhein. Muferm 1864, ©. 178.
4) Daß der in der Apoftelgefchichte genannte Onefiphorus für ben im zweiten
Tim.⸗Brief genannten gehalten fein wolle, dafür zeugt die reichliche Be⸗
nutzung diefes Briefes, befonders auch was die Perſonalien anlangt.
588 Spitta
Spanten aeicare Provinz“ (Hofmann) begeben !). Iſt es nun
de ar, daß Pauins, wenn fein lebhafter Wunſch, nah Spanien
u komanen (Men 15, 22ff.), nicht erfüllt war, zwei feiner Ge⸗
noſſen in der Den ihm allerdings noch nicht bereiften, aber aud,
fo viel wir wiſſen und wie es an ſich wahrjcheinlich ift, von ihm
in eiſter Linie richt in's Auge gefaßten Gegenden Gallien und
Dalmatied bie wirten laſſen? Entweder bat er feine früheren
entjyläffe zotul geändert, oder er ift, als er diefe Worte fchrieh,
“on in vzpu.nien gewefen.
Diet: Vermuthung wirb unterftügt dur) die Bemerkung über
den Nufenthaltsort des Eraftus und Trophimus (4, 20). Die
Arficht, daß Paulus bier von einem Greignis berichte, das dem
‚Zitarjchnitt vor feiner Gefangenfchaft in Cäfaren angehört, bedarf
1 den Gegenbemerfungen Huthers?) und Hofmanns feiner
"oiderlegung mehr. Es kann ſich nur fragen, ob Paulus bier von
der Reife einiger Freunde zu ihm nah Rom erzähle, oder von
einer eigenen Reiſe, bie dann in die Zeit nach feiner erften Ge
fangenfchaft gefet werden muß. Zu einem ficheren Reſultate wird
man fommen, wenn man wie Neuß?) auf den Zufammenhong
achtet, in welchem ſich diefe Notiz befindet). Neuß bemerkt:
„Des Duefiphorus Verwandte grüßend, erwähnt Paulus nachträg⸗
1) Daß TaAadte ohne eine Näherbeftimmung wie 7 Ewa, EwAos and) Br
zeichnung von TeAAoyoaszte fein könnte, ift mir unmahrfcheinfich. Wenig
ſtens ift e8 mir nicht gelungen, einen Beleg für diefen Sprachgebraud; zu
entdeden. Webrigens macht das über des Timotheus Aufenthalt zu Br
merkende die Annahıne unmöglich, daß, felbft bei Beibehaltung der Lesart
Tedarie, darunter das afiatifche Gallien verflanden werden könnte.
3) Kritifch-eregetifches Handbuch über die Briefe an Timotheus und Tine
4. Aufl.
I) a. a. O., 8 125.
4) Hofmann (S. 304) findet in dieſer Notiz eine Antwort auf eine An
frage des Timotheus. Diefes Urtheil würde berechtigt fein Lönnen, wenn
der zweite Tim.Brief ein Antwortfchreiben wäre. Das glaubt Hofmann
aus 1, 4b fchliefen zu müffen, aber — wie ich hier freilich nicht nach
weiſen kann — mit Unrecht. Im übrigen dürfte man wünſchen, dab
bie, welche über die „brieflichen Thränen“ fpötteln, die Hofmann den
Zimotheus (1, 4) weinen Täßt, zuerſt die große exegetifche Schwierigfet
dieſer Stelle Löften ober doch empfänden.
Ueber die perfönlichen Notizen im zweiten Briefe an Timotheus. 589
lich, daß felbiger in feiner Gefellfchaft noch andere Freunde nad
Nom Hat mitbringen wollen, von biefen fei Eraftus in Korinth
zurücigeblieben, Trophimus gar ſchon in Milet wegen Krankheit.“
Allein nirgends ift zu Iefen, daß Dnefiphorus noch mit anderen
nah Rom gelommen ſei; wäre diefes der Fall gemwefen, jo würde
Baulus feine innige Danfesäußerung (1, 16) ganz entſchieden nicht
auf Onefiphorus beſchränken. Nun läßt fich jedoch denken, daß
al8 Subject von ardisrov Dnefiphorus und Craftus gemeint
feien. Aber im Hinweis auf arreiınov in V. 13 und mehr noch
darauf, daß Paulus, während er fonft überall vorausſetzt, Timo⸗
theus fet über die Einzelheiten feiner Erlebniffe, ja fogar iiber die
Vorgänge in der Provinz Afien nicht unterrichtet, hier vorausfegen
würde, Timotheus wife um die Reiſe, auf welche er anfpielt, muß
gegen Reuß' Deutung Bedenken erregen. Aus dem Verhältnis
von V. 19 u. 20 Täßt fich nichts ficheres fchliegen. Denn wenn
man es auch für wahrjcheinlid Halten mag, daß die Erinnerung
an die dem Paulus befonders naheftehenden Berfonen in V. 19
diefen veranlaffe anderer zu gedenken, die, wenn fie fi noch da
befinden, wo der Apoſtel einft von ihnen Abfchied genommen hat,
Timotheus, deſſen Reiferoute durch den Auftrag 4, 13 näher be
ftimmt war, wahrfcheinlich nicht wird grüßen können, fo ift doch
die von Reuß bevorzugte Gedankenverbindung ebenfo wahrſcheinlich.
Bon weſentlichem Belang dagegen für die Feſtſtellung des Sinnes
von arssAsscov iſt die Unterfuchung über den ®. 20 u. 21 ver-
bindenden Gedanken. Mit Recht hat Hofmann die Anficht zu-
rücgewiefen, daß V. 20 zu 21 in demfelben Verhältniſſe ftche,
wie V. 10 zu 9. Denn in B. 21* liegt der Ton auf neo xar-
novos. Je auffallender aber die Mahnung B. 21° mitten zwifchen
den Grüßen fteht, um fo weniger genügt es, diefelbe nur als etwas
zu bezeichnen, was noch gefagt werden wolle, bevor der Brief
fchließe. Die Frage muß beantwortet werden: Wie kommt Paulus
dazu, im Anfchluß an die Bemerkung, daß Trophimus krank in
Milet zurückgeblieben jei, die Mahnung, welche er ſchon B. 9 in
aller Dringlichkeit ausgefprochen hatte, mit der Näherbeftimmung
700 xeıuwvos zu wiederholen? Doch wahrſcheinlich jo, daß ihn
eben jene Reife des Zrophimus an den Winter erinnert. “Den
690 Spitta
kranken Trophimus hat fchon Wiefeler in feiner hypothefenreichen
Deutung diefer Stelle mit den Winterftürmen in Zufammenhang
gebradjt !), und e8 Liegt in der That nichts näher als die Ver⸗
muthung, man babe den Erkrankten in Milet zurüdgelaffen, um
nicht, durch feine Pflege aufgehalten, die letzte Gelegenheit, zu
Schiffe fortzulommen, zu verpaffen. Diefe unausgefprochene Be
gründung von V. 20° fonnte fehr Leicht zu der Aufforderung
V. 21 überleiten, wenn Paulus felbft einft den Trophimus in
Milet zurücgelaffen Hatte, ſehr viel weniger leicht, wenn Paulus
nur durch Hörenfagen von dem Grunde des Zurückbleibens jenes
erkrankten Freundes wußte. Dazu kommt, daß Tit. 3, 12 Baulus
dem Titus fchreibt: Orav neupm ’Agreuav rrooc 08 7) Toxıxor,
onovdaocov EAdsiv nroös me eig Nixomolv ' Exst yap xExgixa
rrapaxsınaocos. Dieje Bemerkung macht, mag man Über die Entftehung
des Titus⸗Briefes feine vieleicht gerechten Bedenken haben, durchaus
einen zuverläßigen Eindrud. Wie follte man auch, zumal da von
einem Weberwintern des Baulus in Epirus fonft nirgends die Rede
ift, darauf gelommen fein, einem Falſificate diefe Bemerkung beizu-
fügen, ohne daß ſich diefelbe auf eine bejtimmte Tradition ftüßen
könnte? Die Zuftimmung diefer Notiz zu der verfuchten Erklärung
des Zufammenhanges zwiſchen V. 20 u. 21 verhilft feßterer zu
einem ziemlich hohen Grade von Wahrjcheinlichkeit. Baulus konnte
ih alfo in Milet deshalb nicht aufhalten, weil der Winter vor
der Thüre war und er vor Anbruch besfelben noch im Nikopolis,
wohin ihn fein Weg über Korinth führte, fein mußte ®).
In die Reiferonte de8 Paulus, welche fid) aus den bisherigen
Unterfuchungen ergeben dat — Milet, Korinth, Nikopolis —, über
deren Verhältnis zu den Reiſen in der Mpoftelgefchichte aber offen
bar nichts zu fagen iſt, kann nun als neue Station Troas (8. 13)
aufgenommen werden. Dort bat Paulus einft feinen Mantel’)
und Bücher bei einem gewiſſen Karpus zurüdgelaffen; Paulus
1) In Herzogs Real⸗Enc. XXI, ©. 840.
2) Es ift zu beachten, daß von Titus, den Paulus nah Tit. 8, 12 ned)
dem epirotifchen Nikopolis eitirt, 2 Tim. 4, 10 berichtet wird, er fi
nach dem nördlicheren Dalmatien gegarigen.
3) Daß row ꝙt Movnv fo zu verftehen ei, hat ſchon Beng et vollgilltig begrünkt.
Ueber die perfönlichen Notizen im zweiten Briefe an Timothens. 591
bittet den Timotheus, ihm diefe Sachen mitzubringen. Weshalb
Paulus um den Mantel bittet, erklärt ſich völlig aus V. 21;
weniger deutlich ift, wozu ihm die Papiere nöthig find. Man Hat
diefe Bitte überhaupt feltfam gefunden. Konnten ihn feine Freunde
in Rom (V. 21) für den Winter nicht mit einem wärmenben
Mantel verjehen und ihm Bücher verfchaffen, wie er fie gebrauchen
wollte? Erſteres gewiß; aber um den zuerft genannten Mantel
ift e& ihm nicht zumeift zu thun, fondern um die Pergamente, die
ihm in Rom am Ende doch wol nicht erſetzt werden konnten. Den
Grund Hiefür kann ich aus dem Zufammenhange der Verſe nicht
erkennen, ohne deshalb Bahnſens wunderliche Frage: „Was follen
überhaupt die Asßile= und usußoavas für einen Inhalt gehabt
haben, wenn fie in Panli Beſitze waren?“ nicht beantworten zu
fünnen.
Über weshalb nahın Paulus bei feiner Abreife von Troas jene
Saden nit mit? Man bat auch bier wieder an den. Bericht
der Apoftelgefchichte erinnert und gemeint, daß Paulus, der Apg.
20, 13 Troas zu Fuße verläßt, deshalb wohl feine Saden zu⸗
rückgelaſſen babe. Aber wie ftimmt es mit dem Werthe, den er
denfelben beimißt, daß er fie in Zrons läßt, wohin er nicht wieder
zurüctehren will, anftatt fie feinen zu Schiffe abreifenden Ge⸗
führten anzupertrauen? Und während ber ganzen Zeit feiner Ges
fangenſchaft in Cäfaren folite er nicht daran gedacht haben, fich
das Zurückgelaffene wieder zu erbitten, jet aber im Angefichte des
Todes auf einmal an das längſt Vergeffene zurückdenken? — Aber
auch Hofmanns Erklärung ift zu verwerfen, daß Paulus (auf
feiner Rundreife in den alten Gemeinden nad der erften Gefangen⸗
haft) die Sachen in Troas gelaffen habe, damit fie ihm nicht bei
der fommerlichen Reife in Malebonien befchwerlich wären, zumal
da er fie auf feiner Rüdfahrt nach Epheſus (1 Tim. 3, 14) wieder
zu fi) nehmen konnte. Diefe Rückreiſe fei jpäter von ihm aufs
gegeben und deshalb fein Gepäd in Troas geblieben. Allein durch
nichts wird man zu der Annahme veranlaßt, daß Paulus feinen
Reiſeplan geändert habe. Die Frage bleibt alfo beftehen: Weshalb
läßt der Apoftel feine Sachen in Troas, wohin er doch nicht wieder
zurüdzufehren gedachte? Daß er diefelben nur vergeffen habe, er⸗
592 Spitta
fcheint mehr als unmahrjcheinlich, da er gerade kurz vor Winter:
beginn feinen Mantel nicht entbehren konnte, und da ihm bie
Bücher fo werthvoll waren, daB er fie ſich fpäter noch im Ange⸗
fihte des Todes ausbat. Mean muß vielmehr vermutbhen, daß es
ihm unmöglich gemacht war, bei feiner Reife von Troas nad) Mi-
let die bei Karpus deponirten Sachen mitzunehmen. Aber was
fann ihn daran gehindert haben?
Diefe Fragen und Vermuthungen führen mid) zu der Unter:
ſuchung des fchwierigen Abjchnittes 4, 14—18. — Baulus be
merkt, daß ihm ein Erzarbeiter Alexander viel Uebles zugefügt
habe. Wer biefer Menſch fei, ob mit einem Manne gleichen Na⸗
mens, der 1Xim. 1, 20 mit einem gewifjen Hymenäus zufemmen
als excommunicirt bezeichnet wird, identifch, oder mit dem bei
Gelegenheit de8 Aufruhrs in Epheſus (Apg. 19, 33) genannten
Juden Alexander, deffen Nennung in jenem Berichte vielleicht dar⸗
auf Hindeutet, daß er eine für die alte Kirche nicht gleichgültige
Perſon gewefen !), ift im voraus ganz unmöglich zu entfcheiden. Aber
darauf ift gleich zu achten, daß es faljch ift, mit Huther*) als
Inhalt von B. 14 f. anzugeben: „Warnung vor einem gewiſſen Alexan⸗
dros.“ Denn fo kommt V. 14 zu kurz, an den fih dod jene
Warnung erjt anfchliegt. Uber auch das wird man nicht fagen
können, in V. 14 ftatte der Apoſtel Bericht ab über des Alerander
Vebelthaten. Denn der Inhalt diefes Verſes ift fo allgemein ges
halten, daß Paulus, da die Perfönlichkeit des Alexander dem Ti⸗
motheus befannt fein mußte, und zwar als Feind des Evange⸗
ums — andernfalls würde Paulus berichten, wie es gekommen
fei, daß Alexander ihm widerftanden babe — den Sab nicht nieder
geſchrieben haben kann, um dem Timotheus etwas neues zu berichten.
Das betonte zzoAde läßt erlennen, daß Paulus jene Worte auf
das Bapier warf, weil fein Herz zu voll war von der fchmerz-
lichen Empfindung, deren Stärke fih in den Worten anodasası
aurh 0 xügiog xara ra EZoya adrod einen für viele anftößigen
Ausdrucd gegeben hat?). An diefe Gerihisanfündigung ſchließt
1) Bol. Hofmann a. a. O., ©. 299.
2) a. a. D., ©. 328.
8) Nicht das gering bezeugte anoden ift zu Iefen, obwol es auf dem erſten
Ueber die perfönlichen Notizen im zweiten Briefe an Timothens. 598
fih eine Warnung vor dem frevelhaften Menfchen. Bei diefem
Charakter der Süße in V. 14f. drängt fich, trogdem daß V. 14
neben V. 13 aſyndetiſch fteht, vor allem die Frage nad) dem
inneren Zufammenhange zwifchen V. 13 und V. 14 auf. Man
bat indes das Berhältnis von V. 14 zu ®. 15 mehr im Auge
gehabt, in der Meinung, daß mit V. 14 ein neuer Abfchnitt be⸗
ginne. So ganz befonders Hofmann ?): „Mit V. 14 kommt der
Apoftel auf die Gerichtsverhandlung zu fprechen, der er unterfteht;
denn auf fie bezieht fi, was er von einem Meetallarbeiter Alexander
fagt.” Allein wenn der Apoftel mit V. 14 einen ganz neuen
Gegenftand zu befprechen beginnt, fo dürfte man doch wol er-
warten, daß er gleich beftimmt fagte, um was es ſich Handle, an-
ftatt ganz allgemeine Gedanken auszuſprechen, um dann den Lefer
aus dem Verhältnis der Worte Alav yap avdsaınze Tols jue-
zegoss Aoyoıs zu DB. 16 hinterher fchließen zu Laffen, daß fich alles
von V. 14 an Gefagte auf bie Gerichtsverhandlung beziehe. Wie
ſtimmt ferner zueinander, daß Paulus V. 14 von der Gegner-
ſchaft des Alerander vor Gericht aoriftisch ſpricht (Svsdeitaro),
während das von Hofmann gelefene avdsoenxs die Feindfchaft
als eine dauernde bezeichnet 2). Vor allem aber, wie kommt Hof-
mann nah Ephefus! Daß Ankflagen gegen Paulus fi gerade
auf den Apg. 19 berichteten Aufruhr beziehen mußten, Tann doc
von born herein nicht feftftehen; daß aus 69 xal od yuldacov
folge, Alexander und Timotheus feien an bdemfelben Orte, kann
man nicht behaupten, und daß Timotheus fich in der That Tängft
nicht mehr in Ephefus befindet, ift oben zu beweifen verfucht. —
Blick nicht begreiflich exrfcheint, aus welchem Grunde man es mit ano-
dwaesı vertaufcht haben Könnte; benn die Behauptung Bahnfens, dro-
In fei gerade deshalb, weil „es die Rachſucht noch Harer hinſtellen
würde”, Eorrectne, wird wenigen verftändlic fein. Die Veranlaffung zu
der Eorrectur ift vielmehr der Optativ des parallelen Satzes un avrois
Aoyıo9eln (B. 16); vielleicht auch die Erinnerung an das dan 1,16, 18.
1) a... O. S. 297.
2) Bol. Hofmann a. a. O., ©. 299: „Bon Epheſus aus wird Alexander
durch feine Ausfagen dem Apoftel fo viel böfes erwiefen haben, indem er
den feinen (uo ®. 14 — aber „juereooss B. 15?1) fort und fort
wiberftritt.”
Theol. Stud. Jahrg. 1978, 39
594 Spitta
Bon den Gründen, melde Hofmann gegen die, welche in V. 14f.
nichts als einen Bericht Über gewiſſe dev Vergangenheit angehörige
Erlebniſſe mit Alexander finden, alſo gegen eine Faſſung von Aiar
yag avdeoınge Tolis Tjusregoss Aöyoıs, nach welcher dieie
Worte von einem Widerſpruch des Alerander gegen die Berkün-
digung der hriftlichen Lehre durch Paulus und feine Genoffen han-
deln, ift einer fehr beachtengwerth. Hofmann meint, nur bei feine
Faſſung dieſer Worte böten dieſelben eine Begründung des 65 zai
av yulacoov; denn: „Aleganders Gegnerſchaft gegen pie drijt:
liche Lehre könnte do für Timotheus nimmermehr ein Grund jein
jollen, fi vor ihm anders inacht zu nehmen, als wie ſich jeder
Chrift vor den Gegnern des Chriftentums inacht nehmen muß,
nämlich feinen Anlaß zur Läfterung zu geben, was aber gvAaooe-
oral viva auch nicht heißen künnte.“ Die Richtigkeit dieſer De
hauptung und die Zweckwidrigkeit der allgemeinen Ermahnung: „Hüte
dich vor den Gegnern des Chriſtentums“, einem Timotheus gegenüber,
erhellt aus 2, 11f. 4, 2—5. Aber Hofmanns Erklärung wird
hiedurch wicht geſichert, da, abgeſehen von den oben gemachten Ein⸗
wänden ſtatt avIsoznxs das überwiegend beglaubigte arsdor;
zu leſen iſt, was auch Tiſchendorf (ed. VIII), Huther u. a.
bevorzugen. Dadurd tritt nun V. 15° in ein Verhältnis zu
V. 15 *, deſſen Schwierigkeit man vielleicht bie Lesart av Isarnze
zu verdanken hat. Timotheus ſoll fich deshalb vor Alerander
hüten, weil diefer einftmald Pauli und feiner Genoſſen Predigt
heftig wiberftanden bat. Wenn aber der Apoftel feine Warnung
vor Alerander nicht durch die fortdauernd feindliche Geſinnung und
Handlungsweife desjelben begründet, jondern durch ein beftimmtes,
der Vergangenheit angehöriges Ereignis, jo bat folche Begründung
den Sinn, daß Paulus vorausfegt, Timotheus werde in dieſelbe
Lage kommen, in welcher er fich befand, als er unerfreulicherweile
mit Alerander zuſammenſtieß. Es ift deutlich, wie bei dieſer Auf⸗
faffung das or za av YvAaccov nicht mit der Ermahnung,
ohne Furcht unter allen Verhältniffen das Evangelium zu prebigen,
in Widerfpruch geräth. Denn nicht dazu ermahnt Paulus, dab
Timotheus Überhaupt die Begegnung mit einem Menfchen ver
meiden folle, ber feiner Predigt doch nur widerſprechen werde; er
⸗
Ueber die perfönlichen Notizen im zweiten Briefe an Timotheus. 595
warnt ihn vielmehr vor einem Zufammenftoß mit Alerander, wie
er ihm einst erlebt Hat. Diefer Zufammenftoß wird fi) dann aber
nicht auf einen einfahen Widerfpruch befchränft Haben, ſondern
für Baulus, wie die Verknüpfung von B. 14 u. 15 beftimmt
vermuthen läßt, von übeln Folgen begleitet geweſen fein. Aber wie
fann der Apoftel vorausfehen, daß Timotheus in biefelbe Lage ge=
rathen werde, in welcher er einft mit Alerander aneinandergerieth?
Natürlich) nur dann, wern er beftimmt vorauswußte, daß Timo⸗
theus auf feiner Reife gewiffe Orte berühren werde. Daß er ba-
bei nit an Rom denken Tonnte, hat Hofmann (S. 299) richtig
erkannt. Bon anderen Städten aber, welche Zimotheus paffiren
werbe, konnte Paulus, abgejehen von den lykaoniſchen (ogl. zu
V. 19), mit Sicherheit nur Troas als Station vorausbe-
zeichnen. Es ſcheint aljo, als ob er es für möglich achte, Bier
fönne dem Timotheus etwas von Alexander geſchehen. Dies führt
zu der Unterſuchung des Verhältniſſes zwiſchen V. 13 u. 14
zurück, welche man verfäumt bat, obwol doc eine Bandgreifliche
Schwierigkeit barin liegt, daß Paulus von der Bitte um Mantel
und Bücher nicht zu einem neuen Berichte Übergeht, fondern zu
einem Ausrufe über ded Alexander Uebelthaten. ‘Diefer muß noth-
wendig in einem Zuſammenhange ftehen mit dem Creigniffe, das
Baulus gezwungen hat, feine Sachen in Troas zurückzulaſſen.
Damit wären bann allerdings dem Beftreben, in dem Alexander
bes zweiten Tim.» Briefes den ephefinifchen Yuden (Apg. 19) wieder
zu erkennen, bedenkliche Hinderniffe im den Weg gelegt. Um fo
mehr tft e8 an ber Zeit, einen Blid auf den 1Xim. 1, 20 ge
nannten Alexander zu werfen.
Die Bedenken gegen den erften Tim.⸗Brief beziehen fich auch auf
das Verhältnis zwiſchen den in beiden Briefen genannten Alexander ').
Man ift unfiher, ob die 1 Tim. 1, 20 berichtete Exrcommunication
von Paulus über Alerander und feinen Senoffen fchon in Ephefus
mündlich oder erft fpäter ſchriftlich ausgeſprochen ſei, und nennt
in beiden Fällen den Ausdruck unnatürlich. Und mit Recht —
d. h., wenn man vorausſetzt, was noch keiner bewieſen hat und
1) Bleek a. a. O. ©. 572f.
89*
596 Spitta
was fehr leicht zu widerlegen iſt, daß jene beiden Apoftaten bei
Zimotheus in Ephefus feien, reſp. gewefen fein. Wenn Paulus
dem Timotheus eigens über jene Ercommunication berichtet, fo
darf man wol vorausjegen, daB er noch nichts davon gewußt hat;
dann aber, daß die Exrcommunication nicht in der Gemeinde vor
fich gegangen ift, deren Berhältniffe zu regeln Timotheus thätig
war. Nur der ephefiniihe Jude Hat es bewirkt, bag man bie
Darftellung im erften Zim.-Brief hat unnatürlich finden wollen,
denn bie Worte oös rragsdoxa laſſen doch wohl an Klarheit
nicht8 zu wünfchen übrig. Der Alexander im erften Tim. + Brief
fieht nun dem im zweiten Briefe fo ühnlich, abgefehen von dem
Titel 6 xXcAxsoc, daß auch die meiften in beiden dieſelbe Perfon
gefunden haben, freilich nicht ohne ein Misverftäindnis des mög⸗
licherweife fogar ein Falfificat nachbildenden Berfaflers des erften
Briefes zu conftatiren, — Alerander avancirt aus dem Nähr⸗
ftand in den Lehrſtand. Diefe Anfiht wird unten gewürdigt
werden; jett ift noch auf einen Zug im Berichte über Alerander
(1Xim. 1, 20) aufmerkſam zu maden, neben dem fich allerdings
jener vermeintliche Misverftand befonders gut ausnimmt. Paulus
berichtet dem Zimotheus die Excommunication des Alerander, nach⸗
dem er ihn vör geraumer Zeit in Ephejus gelaffen hat und nad
Makedonien gereift war (1Xim. 1, 3). Die Ercommunication wird
deıngemäß an einem der auf der Neiferoute von Ephefus nad Ma⸗
fedonten gelegenen Orte ober in Makedonien ſelbſt gefchehen jein.
Iſt es nun ein bloßer Zufall, daß eine der Hauptftationen bdiejer
Monte Troas war (vgl. Apg. 20) und daß, wenn nicht alles trügt,
der Alerander des zweiten Briefe in Troas zu fuchen ift?
Man verzeihe mir biefen nothwendigen Abftecher in den erften
Brief; er wird vielleicht dazu dienen, meine Behauptung, daß
Alexander der Schmied es bewirkt habe, daß Paulus Mantel und
Bücher in Troad zurüclaffen mußte, als annehmbar zu erweifen.
Erboft auf Paulus wegen feiner Exrcommunication, fonnte es dem
Alerander nicht Schwer werben, durch feinen heftigen Widerfpruch gegn
die Predigt des aus Makedonien zurücgelehrten Apoftele (1 Zi.
3, 14) eine von den Scenen zumege zu bringen, die ſich in dee
Apoftels Leben fo oft abgejpielt haben und die nur deshalb Tür
Ueber bie perfönlichen Notizen im zweiten Briefe an Timotheus. 597
ihn nicht tödlich außliefen, weil er fich feinen Verfolgern durch
die Flucht entzog (vgl. 2 Tim. 3, 11f.). In der Eile einer Flucht
aus Troas blieben Mantel und Bücher bei Karpus. Nur fo kann
ih mir B. 13, den auffallenden Uebergang zu ®. 14 und ®. 15
jelbft erflären ').
Aber macht nicht eine folche Deutung diefer Stelle eine Ge-
danfenverbindung zwifhen V. 14f. und V. 16 ganz unmöglich?
Was hat jene That des Alerander mit der Teigheit der Freunde
Pauli bei Gelegenheit ber erften ihn betreffenden Gerichtsverhand⸗
fung zu thun? Es ift zu beachten, daß V. 14f. und B. 16 aſyn⸗
detiſch nebeneinanderftehen, aber je mit einer Bemerkung ab»
fchliegen 2), welche anzeigt, daß die Erinnerung an Alexander wie
an die feigen Freunde das Gemüth des Apoftels ſchmerzlich bewegt.
3u ©. 14 wurde bereits bemerkt, daß Paulus dem Zimotheus
feine befonderen Neuigkeiten mittheilen wolle, wenn er an Aleranders
Uebeltbaten erinnert, fondern daß vielmehr, wie jett deutlich ift,
die durch ein befonderes Erlebnis mit Alexander veranlaßte Bitte
in V. 13 dem Apoftel die Greigniffe in das Gedächtnis zurückrufe,
deren verſtimmende Gewalt fich in dem Ausruf: „Viel hat mir
Alexander zuleide gethan; der Herr wird ihm vergelten nach feinen
Werfen!” offenbart. Wenn fih nun an biefen Sat ein anderer
mit ähnlichem Auslaut anreiht, fo ift Har, die Gleichheit ober Aehn⸗
fichfeit der niederdrücenden Erfahrungen, welche der Apoftel bei
Alerander und bei feinen Freunden in Rom gemadt Hatte, ver-
knüpft diefe zwei an ſich vielleicht gegeneinander völlig gleichgüftigen
Ereigniſſe. Die fchmerzlich bewegte Rede verfchmäht aber bie
logiſchen Bindewörter. Erkennt man dieſes Verhältnis der BVerfe
14—16 zu einander nicht, jo wird man, wenn man ſich überhaupt
1) Nach Hebr. 13, 23 ift Timotheus eben erft aus einer Gefangenfchaft frei-
gelommen und beabfichtigt, wenn der Brief wirklich nach Rom gerichtet
ift, eben dorthin zu kommen. Der Brief kann nicht lange nach Pauli
Tode gefchrieben fein. Sollte Timotheus trotz des Apofteld Warnung
zu Troas in Haft gefommen fein und Paulus den geliebten Sohn ver-
geblich erwartet haben ?
2) B. 14: anodwas avrö 6 xugiog xare rd Eoya adtoü; V. 16: un
avrois Aoyıadeln.
598 Spitta
fragt 1), ob denn fein Gedanke die verbindungslos nebeneinander:
geftellten Säte verfnüpfe, die unberechtigte Forderung ftellen, die
in B. 14f. und V. 16 berichteten Ereigniffe müffen in einem ob»
jectiven Berhältniffe zu einander ftehen. Habe id; das Berhältnis
dieſer Verſe zu einander richtig beftimmt, fo erhebt fich die Frage:
Sind die Empfindungen, welche jene beiden Erlebniffe bei Paulus
hervorgerufen haben, fo gleichartig, daß die Erinnerung an das eine
die an das andere zur Folge haben konnte? Der Wortlaut der
Berfe läßt es vermuthen, die Erklärung, welche man ihnen zu
Theil werden läßt, nicht. Man glaubt, B. 17 ſchließe ſich eng
an ®. 16, fo daß man beide etwa umfchreiben könnte: „Dei meiner
eriten Apologie hat mid) zwar feiner meiner Freunde unterftügt,
aber durch Gottes Beiftand bin ich doch errettet.” Allein gegen
jene Erffärung habe ich fchon im voraus ein pfychologifches Be⸗
denken. Hatte fih das Geſchick Pauli tro der Feigheit feiner
Freunde zum guten gewandt, fo mußte fich die gerechte Entrüftung,
die ihn ergriffen Haben wird, als er fih in der Gerichtsverfamm-
lung von allen verlaffen fah, gelegt oder doch gemäßigt haben; ber
Dank gegen Gott mußte den Tadel über die verzeihlihe Schwäche
der Freunde lindern. Das iſt aber nicht der Wall, da Ddiefer
Tadel nicht etwa gegen die Schuldigen, fondern gegen einen Un⸗
betheiligten, nicht mündlich, fondern brieflih, nicht mild und ent:
Ichuldigend, fondern in unabdgeftumpfter Erregung herausbricht.
Wer nicht aus dem emphatijch wiederholten Gedanken: „Keiner
hat mir beigeftanden, alle haben mich verlaſſen“, den ungebrochenen
Schmerz des Apoſtels Herausfühlt, dem könnte es das un avrois
koyıodsin jagen — Worte, aus denen nicht bloß vergebende Liebe,
jondern auch frifchefte Entrüftung fpricht; und wer aus allen dieſen
Worten nicht diefelbe Refignation herausfühlt, die ſich bereits in
V. 6 ausſprach, dem follte billig aus ®. 18 Mar werben, daß die
lebensmuthige Stimmung, welche nach ber gängigen Erffärung ber
Ausfprud xc EgvoInV Ex oronarog Asorros (B. 17) athmet,
ebenfo widerfinnig ift, als das an verjchiedenen Stellen des Briefes
entdeckte Beftreben des Paulus, Entlaftungszengen zu gewinnen,
1) Bei Huther vermißt man ſolche Fragen nur zu fehr.
Ueber die perfünfichen Notizen im zweiten Briefe an Timotheus. 599
eine noch nicht bis zu bloßer Wahrfcheinlichkeit erhobene Vermu⸗
thung. — Nur wenn man V. 16 nicht durch ein unbewieſenes
Verhältnis zu V. 17 abfhwäht und umbeutet, Tiegt fein Inhalt
für Paulus auf der gleichen Empfindungshöhe wie der mit der
Drohung anodwosı auro 6 xUglos xara va Eoya adrov ab»
Ichliegende Sat. Es fragt fid) aber noch, ob jene durch die Er-
eigniffe mit Alexander und den Freunden in Rom hervorgerufenen
Empfindungen einander fo ähnlich find, daß das Wuftauchen ber
einen das der anderen nad; fich ziehen Tonnte. Wäre der Alerander
des zweiten Tim.⸗Briefes Fein Mitglied der chriftlichen Gemeinde
gewefen !), fo würden für Paulus feine Webelthaten in die Reihe
der vielen anderen zurücgefunfen fein, die er Zeit feines Lebens
erfahren und mit Gottes Hülfe überftanden Hatte (vgl. 3, 11).
War dagegen Alexander ein früheres Glied der chriftlichen Ge⸗
meinde, das, vom Glauben abgefallen, den Apoftel bitter befeindete,
jo hat der Schmerz hierüber allerdings eine gewiſſe Verwandtſchaft
mit den durch die Treulofigkeit der Freunde in Nom bervorgeru-
fenen Empfindungen. Allein auch das genügt noch nicht, um den
Mebergang zu V. 16 verftändlich zu machen. 1, 15—18 finden
fih Worte, die von ganz ähnlicher Empfindung getragen find als
die vorliegenden. Dem treuen Onefiphorus, dem ber Apoftel
Sotted Erbarımen erfleht, treten gegenüber zzavres ol Ev vi) Ace,
av Eoriv Diyslos xal Eowoysvns, die fih von Paulus abge-
wandt haben. Beachtet man nun, daß des Alexander Genoffe aus
1Tim. 1, 20, Hymenäus, 2Tim. 2, 17 mit einem gewiffen
Philetns aus einer größeren Anzahl ſolcher nambaft gemacht wird,
die im Anfturm gegen die chriftliche Wahrheit immer mehr Boden
gewinnen, fo kann man faum zweifeln, daß auch Alexander unter
den nicht genannten Häretifern einen Pla gehabt habe. Daß er
nicht mit Hymenäus zufammen genannt wird, dürfte wol darin
feinen Grund haben, daß dem Paulus die Nachricht von der Leug⸗
nung der Zodtenauferftehung in den Gemeinden Afiens mit den
Namen des Hymenäus und Philetus als Prediger diefer neuen
Lehre Üüberbracht war. Damit hätte ich allerdings zum Theil bie
1) Bleel a. ca D., ©. 573.
600 Spitta
Reflerionen wiederholt, welche den unbelannten Verfaffer des erjten
Tim.⸗Briefes dazu veranlaßt haben follen, den Schmied in einen
Irrlehrer zu verwandeln. Aber wenn der Balfator ein paar Irr⸗
lehrer in feinem Briefe haben wollte, jo ift e8 doch rein unver:
ftändlih, weshalb er nicht zu Hymenäus und Philetus griff, ans
ftatt zu erfterem den Alexander Hinzuzufuchen. Und wenn ein Mis—⸗
verftändnie von 4, 14f. begreiflih ift, fo ift e8 doch am Leichteften
das, daß der Widerftand des Schmiedes gegen die Worte Bauli
in Form eines „ſchlagenden“ Beweiſes ftattgefunden habe. Daß übri-
gens der Beruf des Schmiedes den Alexander nicht daran gehindert
hat, auch als Irrlehrer aufzutreten, beweifen die Worte Kav arr-
gaın Tols nueregoss Aoyoss ſo unzweifelhaft, dag man ale
Grund für die Annahme jenes Misverftändniffes, wenn diefelbe
nicht durch Bleeks verehrungswürdigen Namen gefhügt wäre, die
Sucht nad) Widerfprüchen zwijchen den beiden Timotheusbriefen
bezeichnen müßte. Alexander gehört auch im zweiten Brief unter
die Häretifer. Wenn nun 1, 15 davon die Rede ift, daß fich viele von
Paulus, d. h. dem Zufammenhange gemäß von feiner Lehre abger
wandt haben, jo ift Hiefür der Grund in dem Zreiben der aſia—
tiſchen Häretifer zu fuchen, deren Erftling nah 1Tim. 1, 20
Alerander nebjt Hymenäus war. Wie Baulus unter jenem Abfalle
fitt, zeigt der in feiner Frageform tief ergreifende Sat 2 Tim.
1, 15. Was wunder, daß Paulus, an den Alexander erinnert,
in einen Klageruf ausbricht und dem Verftörer der chriftlichen Ge⸗
meinde Gottes Gericht ankündigt (vgl. Sal. 5, 10. 12); daß er
von der Zreulofigkeit feiner ehemaligen Anhänger in Aſien zu der
Feigheit feiner Freunde in Nom, die nichts gethan haben, ihm zu
retten, die trüben Gedanken fchmweifen Täßt.
Diefe Erklärung des Zufammenhanges von V. 14—16 mird
das Urtheil derer gegen ſich haben, die in diefen Verſen nach Feinem
Zufammenhange fragen und fich erſt durch das de in V. 17 au
merffam machen laffen, daß dod) wenigitens V. 16 und B. 17 in
einem Verhältnig zu einander ftehen, deffen Bedeutung für den
Gedankencomplex B. 14—16 ihnen natürlich unflar bleiben muß.
Ebenſo werden die, welche zwifchen den V. 14f. u. 16 berichteten
Thatfachen einen obfectiven Zuſammenhang glauben nachweifen zu
Ueber die perfönlichen Notizen im zweiten Briefe an Timotheus. 601
können, V. 17 auf das zulett berichtete Ereignis beziehen. Es iſt
nun zu unterfuchen, ob fih V. 17 wirklih zu einer Ergänzung
von V. 16 eigne oder nidt. Der Entjcheid Hierüber wird das
Urtheil über meine Auffaffung des Zufammenhanges in V. 14—16
fein. — Huther u. a. erflären ®. 17 dahin, dag fi) Gott des
verlaffen vor Gericht ftehenden Apoftels angenommen habe, fo daß
diefer, von freudiger Zuverficht erfüllt, vor der corona populi ein
Zeugnis von Chrifto ablegen konnte, das eine derartige Wirkung
hatte, daß Paulus, wenngleich nicht aus der Haft befreit, fo doch
bom Tode errettet wurde. Daß bei biefer Erklärung der ganze
V. 17, mit Ausnahme des erjten Gliedes, umgedeutet, reſp. ab»
gefhwächt werden muß, Tiegt auf ber Hand; die Worte ira di’
EHOÖ TO xYgvyua TrÄNGOYOENIT xal AxoVowoıy Travıe Ta
EIvn werden mit einem Leichtfinn gedeutet, der aus allem alles
machen kann. Theodoret, der in feiner unrichtigen Deutung diefer
Stelle an Otto einen halben Nachahmer gefunden hat, gibt der
Empfindung, dag fi jene Worte nicht durch Annahme einer Ver—⸗
teidigungsrede vor Gericht erklären laſſen, einen deutlichen Aus⸗
drud, indem er biejelben auf des Apoſtels Reife nah Spanien
deutet 2), nachdem bereits Eufebius die Stelle ähnlich erflärt hatte 3);
und der unbeftechlihe de Wette gefteht: „Den vollen und natürs
fihen Sinn faffen allein Theodoret u. a., welche dabei an bie Ver:
breitung des Evangeliums durch den Apoftel in Spanien und ander»
1) Die gefchichtlichen Verhältniſſe ber Paftoralbriefe.
2) Hrlxa ij Epeası yonaduevos sis rıv 'Polunv Uno Tod Diorov nap-
entupsn, anoAoyıcdusvos (lege dnnoAoygodusvos) ws aIüos apeldy
xal ras Znavias xareiaßs xal sic Erepa 59yn doaumv Tnv rijç di-
daoxallas Anundda nposhveyxe. nooenw volvuv anokoylav rim &v
&xslvg tij &xdnulg yeyernukunv Exaisos,
8) Bgl. Hist. eccl. I, 22. — Eufebius findet in V. 16f. bie Befreiung
bes Apoſtels aus der erften römiſchen Gefangenihaft und eine Wieber-
aufnahme feines Eoangeliftenberufes, wie die Kunde davon geht, beftätigt.
Er fomol wie Theodoret deuten B. 17 auf feine Errettung aus dem
Rachen des Löwen Nero. Diefe Erklärung von ®. 16 u. 17 wird von
einer noch größeren pfychologiichen Schwierigkeit gedrüdt, als die, welche
ich bei der gewöhnlichen Deutung biefer Berfe aufgezeigt habe. Daß ſich
B. 16 anf eine erfte Gerichtsverhandlung des jetst noch ſchwebenden
Proceffes beziehen müſſe, behaupten die neueren Ausleger mit Grund.
602 Spitta
wärts denken.” Und doc deutet er die Worte auf Pauli Predigt
in Rom, anftatt eine ungelöfte Schwierigleit anzuerkennen. Hu:
ther erhebt mit Recht Widerfprud) gegen de Wette's Abſchwächung
des rÄNPOYogElV To xijgvyua zu einem einfachen edayyekite-
03as 1), meint aber, obwol er eine zweite Gefangenfhaft annimmt,
Baufus habe das 'xnovyua von Chrifto bereits durch die Predigt
in Rom erfüllt, und ſcheut fich nicht mavra« va EI9n durch „alled
Bolt“ zu überfegen und von der corona populi in der Geridt®
verhandlung zu verftehen. Gegen eine ſolche Eregefe hat Hoi:
mann mit Recht Einfpradhe erhoben, aber leider eine Anficht vor:
getragen, welcher Huther nur widerfprechen konnte. Gr meint
nämlich, e8 handle fid) in V. 17 um eine Vollendung des xrovyua
nicht direct, fondern indirect duch Paulus, der, wenn ihm vor
Gericht der freudige Glaubensmuth gefehlt Hätte, feinem eigenen
Werke den Todesſtoß gegeben haben würde und deshalb die Er-
rettung aus jener Gefahr eine Errettung aus Löwenrachen nennt.
Allein chon die Wahl des Bildes Egvodnv Ex orouazog Asor-
ros hätte Hofmann veranlajfen können, die Richtigkeit feiner Er-
flärung zu bezweifeln. Mir erfcheint bei Annahme der Hof
mann'ſchen Deutung dasfelbe al8 wenig paffend gewählt. Nir:
gends wird, foviel ih weiß, die verfuchende Macht, wenn fie mie
bier als ein innerer Vorgang gedadht ift, unter ſolchem Bilde vor:
geftellt. In der naheliegenden Parallele 1 Betr. 5, Sf. wird ale
das die Ehriften erſchreckende Brüllen bes Teufel-Röwen das Leiden
bezeichnet, welches ihnen droht und fie zum Abfall bewegen kann.
Anders ift es Hier, wo nicht die Befreiung aus ber Rage, welde
die Verſuchung veranlagt, fondern die Befreiung von der Ber:
ſuchung in jener Lage mit dodgodnv 8x ordumrog Asowroc be
zeichnet würde. Es kann mit diefen Worten nur auf Errettung
I) In feiner dev von de Wette angezogenen Stellen hat nAngopogei», reir.
zAngoö» die von ihm geforderte Bedeutung. Röm. 15, 19 beweift das
directe Gegentheil, da e8 eine unmisverſtändliche Erflärung an B. 25:
yur) unzeıs ıonov Eywv Ey Tois xAluccıy rovrois, hat. Es folgt
aus diefem Eitate, daß der durch Feine Tocale Näherbeftimmung einge
ſchränkte Sat ira di’ Euoü To xyeuyua nAngopopndg feine Ergänzum
findet an dem uneingejchräuften navre va E3vn des Parallelſatzes.
Ueber die perfönlichen Notizen im zweiten Briefe an Timothens. 6083
and Lebensgefahr hingewieſen fein !). me zwifchen beiden Auf⸗
faffungen vermittelnde Deutung, wie fie Huther feit der 3. Auf-
lage feines Commentars vertritt, ſtellt nicht bloß fein erträglicheres
Verhältnis zwifchen 8. 17 und ®. 18 ber, fondern läßt auch ebenfo
wie die Hofmanns auf den Apoftel ein bedenkliches Licht
fallen. Er, der dem Tode fchon fo oft ins Angeficht gefehen, ber
e8 gewohnt war in der Volksverſammlung wie vor den Herrjchern
zu reden, der nach der Negel ei aovnodusde, xaxeivog agvnoe-
var nuäs, ftreng gegen fich felbft wandelte und deshalb ſchließlich
auf ein Leben zurückblicken konnte, das für die Verwirklichung feiner
fühnen Pläne ansgereicht hatte ?), — ein folcher hätte in die Lage
fommen fünnen, Tebiglih aus Furcht vor äußerer Gefahr feinen
Glauben zu verleugnen ®) oder doch durch Muthlofigkeit der Zuver⸗
ficht, daß die Völferwelt berufen fei, Gemeinde Chrifti zu werden,
den Nero zu durchfchneiden? Mir erjcheint foldhe Annahme, bie
nicht durch die leifefte Andeutung im Texte veranlaßt ift, ganz uns
möglid. Wenn nur ein folcher Paulus der eregetifchen Noth über
B. 17 ein Ende maden Tann, damı ift e8 entweder mit der Echtheit
des zweiten Tim.Briefes oder mit der Erflärung von 4, 17 ſchlecht
beftellt. Der Brief giebt indes ein ganz anderes Bild vom Apoftel.
Wenn mir der Beweis gelungen ift, daß V. 16 mit V. 14f.
durch die in beiden gleiche fchmerzliche Stimmung verknüpft ift;
wenn ich ferner nachgewiefen habe, daß eine Beziehung von
B. 17f. auf die erfte Geridhtsverhandlung unmöglich ift, fo kann
man über die richtige Beurthellung von V. 17f. nicht mehr zweifel-
haft fein. V. 17 fteht ebenfo wenig in objectivem Zuſammen⸗
hange mit ®. 16, mie B. 16 mit V. 14f., fondern ftellt fich dem
von gleicher Stimmung getragenen Abfchnitte V. 14—16 als von
entgegengefegter Stimmung beherricht mit de gegenüber. Nachdem
Paulus in V. 14—16 feinen fchmerzlichen Gefühlen über den
Abfall feiner Anhänger in Afien, dem er nicht entgegentreten, und
iiber die Feigheit feiner Freunde in Rom, deren Folgen er nicht
1) Bol. 1Macc. 2, 60 (Dan. 6, 21); LXX Bf. 7, 2f. LKor. 15, 32.
Ignatius ad Rom. V, 1.
2) Hofmann und Huther urtheilen wenigftens fo.
3) So Bahnen a. a. O., ©. 107.
604 Spitta
wieder gutimachen konnte, Ausdruc gegeben hat, gewinnt er als vno-
uoviç usyıoros Urroypaumos wieder den vertrauenspollen Auf
bli zu dem Herrn, dem fein Herz gehört (vgl. 4, 8). Ein Rück⸗
blick auf das unter der Leitung dieſes Herrn geführte Leben macht
ihn getroft. Nur bie Thatfache, baß der Herr dem Apoftel beige:
ftanden und Kraft verliehen Hat, betont V. 17, nit, daß er dies
bei einer befonderen ©elegenheit gethan. Welchem ein:
zelnen Ereigniſſe hätte Paulus auch wol die Bedeutung zufchreiben
können, daß Gott ihm durch dasfelbe die Möglichkeit gefchaffen Habe,
aller Welt das Evangelium zu verfündigen? Drohte nicht jede
Lebensgefahr, in welcher er ſich befand, diefe Möglichkeit zu ver-
nichten? Ein göttlicher Beiftand zum Zwede der Vollendung der
Predigt unter allen Völkern war ihm beftändig vonnöthen (vgl.
3, 11); und nicht minder eine Begabung mit der für eine glüd-
fihe Durdführung feines Berufes nöthigen Kraft. Sollte der
Apoftel mit Evsduvauwoev me auf eine andere Kraftmittheilung
hinweifen, al® auf die, für welche er 1Xim. 1, 12 dem Geber
danft und an welche er 2Tim. 1, 7. 8. 2, 1 den tn feinem Be
rufe Täßig gewordenen Timothens erinnert?!) Nur bei dieſer
Faſſung von V. 17* erklärt ſich auch der Webergang von den ac
tivifchen Verben in das Paffiv Eodadnv. Während die Worte
0 dd xUpidg Mor napsoın xal Evsdvvanmosv ns von ber
Unterftügung berichten, welche der Herr dem Apoftel hat zu Theil
werden laſſen, fo Egvodnv Ex orouaros Asovros von einer
höchſt wunderbaren Errettung. Dort liegt der Ton auf dem Sub:
jecte de8 Satzes, hier auf ber präpofitionalen Näherbeftimmung des
Verbs. Es entjteht nun die Frage, ob die Worte Egdadnv Ex
orönarog Asovros auf ein befondered Ereignis hinweiſen, worin
fi dem Apoftel der Beiftand des Herrn geoffenbart Habe. Der
Ausdrud ift fo allgemein, daß er auf jede Lebensgefahr paßt, die
der Apoftel erfahren hat; außerdem erfcheint er als Folge einer
ebeufall® ganz allgemeinen Ausfage. Wenn aber der Apoftel, nad
dem er des göttlichen Beiftandes gedacht hat, der ihm Zeit feine
Lebens nicht gefehlt, ausruft: „Und aus Löwenrachen bin ich geriffen“,
1) Bgl. auch Tit. 1, 9. Apg. 9, 22.
Ueber die perfönlichen Notizen im zweiten Briefe an Timotheus. 605
fo gibt er damit der durch feine Lebenserfahrungen geweckten
Stimmung von ber Wunderbarkeit des göttlichen Beiſtandes, der
ſich felbit da bewährt hat, wo jede Möglichkeit einer Errettung ger
ſchwunden zu fein ſchien, wie bet einem, der im Löwenrachen fteckt,
einen ebenfo kurzen wie lebhaften Ausdrud. Alſo niht auf ein
befonderes Ereignis zielen jene Worte, wie man allerdings allge
mein annimmt; fie bieten vielmehr das ganz allgemeine Urtheil, daß
fi) Gottes Hülfreicher Beiſtand dem Apoftel felbft in dem denkbar
ſchwierigſten Falle bewährt habe. Erft bei diefer Auffafjung wird
der Anfchluß von V. 18 an V. 17 deutlih. Denn nicht Nefig-
nation ift e8, wie es die gängige Erklärung dieſes Verſes troß
aller ausweichenden Behauptungen auffaffen muß, wenn der Apoftel
fortfährt: EVossal us 0 xUgios Anno navros Eoyov TOovng0Ö,
fondern ungebrochene Glaubenszuverſicht, wie fie der haben kann,
der die rettende Nähe des Herrn allewege erfahren Hat. Wie
fonnte der Apoftel aus einer Errettung and Lebensgefahr, der er
fih nur mit der fiheren Ausficht auf den nahen Tod freuen konnte,
jene Slaubenszuverfiht ſchöpfen?
Nicht als Folge, fondern als Abficht des göttlichen Beiftandes
bezeichnet Paulus die Vollendung des xnevyua von Chriftus, das
Lautwerben besfelben unter allen Völkern. Aber diefe Abficht kann
von dem Apoftel nur als ausgeführt gedacht fein. Wie würde er
fonft in einem Sage, mit dem er fchmerzlichen Reflexionen ent-
gegentritt, auf einen von Gott nicht erreichten Zweck eingehend hin⸗
weifen. Wären nicht mit ber Erinnerung hieran dem Apoftel
wieder jchmerzlihe Empfindungen aufgetaucht? Um hervorzuheben,
dag Gott ſich ihm beftändig als Helfer bewiefen babe, bedurfte es
jenes Abjichtsfages nicht. Seine Anwendung an biefer Stelle zeigt
deshalb nicht bloß, dag jener Zwed Gottes erreicht, fondern aud)
daß mit der Erreichung desfelben dem Apoftel ein großes Glück zu
Theil geworden iſt. Weshalb will man nun nicht die Worte va
di’ End TO xmovyua TÄNEOYPOENIT zul axovowoıw navıa
ra &3vn jagen lafjen, was fie jagen? Als der Apoftel einft an
die Gemeinde fchrieb, bie ihn fterben ſehen follte, konnte er berichten,
daß er den Orient mit feiner Predigt erfüllt Habe, immer denen
das Evangelium bringend, zu denen andere Sendboten Chrifti noch
606 Spitta
nit gelommen waren, nun aber in den Dccident nad Spanien
reifen wolle ?) und bei diefer Gelegenheit auch Nom ale Durd-
gangspunkt berügren 2). Hätte er vom Deceident nur Rom und
diefes nur als Gefangener gefehen, er hätte fo gewiß nicht von einer
Bollendung des znevyue ſprechen können, als er ja nur an einem
Orte des Abendlandes das Evangelium verkündigt hätte, wo bereits
eine chriftliche Gemeinde gegründet war, ben er alſo in feinen
Miffionsplan nicht einmal mit aufgenommen hatte. Er kann nur
dann don einer Vollendung des angvyua fprechen, wenn feine
Miffionspredigt auch an folhen Stätten des Abendlandes Taut ge
worden ift, wo bisher noch Feine chriftlichen Gemeinden waren, und
wenn diefelbe wirklich fo weit gebrungen ift, baß gegen den Aus⸗
drud navsa va E37 axovowow, natürlich unter gebürender
DBerüdfichtigung der geographifchen Anfchauungen jener Zeit, nicht
ber Vorwurf ſtarker Webertreibung erhoben werden kann. Das ift
aber dann der Fall, wenn er felbit feinen Plan, nad Spanien zu
reifen, ausgeführt und feine Genoſſen Crescens und Zitus nad)
Gallien und Dalmatien gefchict Kat.
Was konnte den Apoftel im Angefichte des Todes und im bem
tiefen Weh, das ihn, dem Selbitlojen, Feindſchaft und Eigenſucht
ſolcher, die ihm einft nahegeftanden, bereitet Hatten, beſſer tröften
als ein Rückblick auf die Onadenerweifungen des Deren, deilen
Wort; axsvog Exloyis dariv mos oVrog sod Pacradas 10
Ovauc nov Evanıav EIvmv ve xal Bacılsov viov vs Taganı
&yo yap anodsiko aura, Hoa dei ausov Undo vo Ovopasdc
pov nadsiv (Upg. 9, 15f.), fich in jeder Beziehung vollftändig
erfüllt Hatte? Derjelbe Herr, der einft fein Beiftand war, ift ihm
auch jet nah; und fo weiß er, daß der fichere Tod ihm nur eine
Errettung in das himmliſche Königreich Ehrifti ift. Deshalb kann
der Abfchnitt V. 14—18, der mit einem Klageruf über die fchmerz-
lihen Erfahrungen dieſes vergänglichen Lebens begounen hatte, mit
1) Röm. 15, 19 ff.
2) Hienach ift die Anficht derer zu beurtheifen, die kühn genug find zur be⸗
banpten, die Ausdrüde in V. 17 kämen zu ihrem Rechte, wenn man fie
auf Pauli Predigt in Rom beute.
Ueber die perfönfichen Notizen im zweiten Briefe an Zimothene. 607
einem Lobpreis auf den zu ewiger Herrlichkeit erhöhten Herrn ber
Gemeinde ) fchließen, mit deffen Pefite dem Apoftel ungerftörbares
Leben verbürgt ift (vgl. 1, 1).
Damit bin ib gu Ende meiner Grörterungen apgelommen.
Denn über die Namen in 1, 5. 15. 2, 17. 4, 21 weiß ic) nichts
zu fangen, ala daß der etwaige Falſator klüger gethan hätte, mehr
als einen auch fonft bekannten Namen für feine fingirten Geſchichts⸗
verhältniffe zu benugen. Aber er ahnte wol nicht, daß fpätere
Lejer feines Briefes darin feinen bejonderen Beruf zum Falfator
erkennen würden.
Meine Hoffnung, bei denen, melde den ganzen Brief ober
wenigſtens die perfönlichen Notizen in bemfelben für echt Halten,
ein gemeigte® Ohr zu finden, ift mir im Laufe der Unterfuchung
mehr und mehr geſchwunden. Denn diefe Hat mich zu der bes
ſtimmten Behauptung geführt, eine Reife Paufi nah Spanien
zwifchen feinen beiden Gefangenjchaften werbe durch feinen eigenen
Bericht verbürgt. ‘Diefg bereits vom römiſchen Clemens, wie mir
Icheint, dentlich ausgeſprochene Anſicht ift aber noch immer für viele,
Kritifer wie Apologeten, ein oxAngos Aoyos.
1) Es darf bei dieſer Gelegenheit auf die Nichtigkeit der Behauptung auf-
merffam gemacht werben, im 2. Tim.-Briefe trete an die Stelle ber pau⸗
linifchen zagovale der Begriff Erıipavsıe. 1,10 kann ſich felbftverftändlich.
nur auf die erfte Erſcheinung Ehrifti beziehen. 4, 1 u. 8 hat dagegen
Errupevesa den Sinn, der ihm 3. B. Josephus, Ant. VI, 12, 7; IX,
4, 4. 2 Macc. 12, 22. 15, 27 zulommt und nicht minder in ber durch⸗
gängig falſch erklärten Stelle 2Theſſ. 2, 8. Nur fo hebt fih 4, 8 die
in 7yanrnxooıv Tiegende Schwierigkeit (vgl. zum Ausdrud 2 Betr. 1, 17:
Uno ris ueyakongsnoüs dofns; zum Gedanken Jak. 1, 12), und nur
fo erflärt fi in 4, 1 die unverfländliche Reihenfolge ber Begriffe xoloıs,
Enupdvan, Baordele. Zu letzterer Stelle bieten die leider nur noch äthio-
piſch erhaltenen Worte Henod 103, 1: „Und nun ſchwöre ich euch, ben
Gerechten, bei feiner großen Herrlichleit und Ehre und bei jeigem ruhm⸗
würdigen Reiche und bei feiner Größe ſchwöre uh euch“ (Dillmann), eine
vortrefflihe Parallele.
608 Schürer
8. ’
Der Verſammlungsort des großen Synedrinms.
Ein Beitrag zur Topographie des berodianifchen
Tempels. Ä
Bon
Dr. $. Schũrer,
Profefior in Leipzig.
Ueber den Ort, an welchem das große Synedrium zu Jeru⸗
falem in der letzten Zeit des Tempelbeſtandes fi zu verfammeln
pflegte, haben wir aus vier verfchiedenen Quellen: dem N. T. Jo⸗
fephus, ber Mifchna und der Gemara, eine Reihe detaillirter
Angaben, die gerade durch die bunte Manigfaltigkeit, die fe zunächft
darbieten, zu dem Verſuch reizen, womöglid Ordnung in diefes
Chaos zu bringen und durch Feſtſtellung des Sicheren, Ausſcheidung
des Unglaubwürdigen und Vereinigung des Zuſammenſtimmenden
eine einheitliche Anſchauung zu gewinnen. Bon den bisherigen Lö⸗
fungsverfuchen wird man nicht gerade jagen können, daß fie be
friedigend ausgefallen fein ). Sie konnten e8 aber auch nicht,
weil man zu wenig auf die fehr verfchiedene Zuverläffigfeit der
einzelnen Quellen geachtet Hat. Die folgende Erörterung fucht
daher hauptfächlih auf Grund einer ſolchen Scheidung zu einem
fiheren Reſultate zu gelangen.
1) ®gl. Selden, Desynedrüs L. II, cap. 15, $ 4sqq. (P. II, p. 373 sqg.
ed. Amstelaed. 1679). — Lightfoot, Descr. templi, cap. IX n.
XXI (Opp. ed. Roterod. 1686, T. I, p. 565. 608). — Serzfeld,
Sei. des Volkes Jisrael II, 393—395. — Leyrer in Herzogs Real.-
Enec. (1. Aufl.) XV, 318f. — Derenbourg, Histoire de la Pa-
lestine d’aprös les Thalmuds etc., p. 465—468. — Wiefeler, Bei-
träge zur richtigen Würdigung der Evangelien, S. 209—213. — Hane-
berg, Die religiöfen. Atertiiner ber Bibel, S. 820-328. 381ff. —
Meine Neuteftamentliche Zeitgefchichte, S. 416f.
Der Berfammlungsort des großen Synedriums,. 609
Das N, X. würde neben Joſephus als Quelle erften Ranges
,„ in Betradht kommen, wenn es fi in dem Proceß Jeſu überhaupt
um reguläre Spynedrialfigungen handelte. Dies ift aber, ſoviel
wir beurtheilen Lönmen, nicht der Fall. Denn wenn auch bie
Sitzung, in welcher Jeſus verurtheilt wurde, in fo fern eine regel-
mäßige war, als darin von dem verfammelten Synedrium ein for-
melles Urtheil gefprochen wurde, fo wurde doch die ganze Sache
von den Machthabern mit folder Haft betrieben, dag wir mins
beitens feine Gewähr dafür haben, daß hiebei auch die gewöhnlichen
Tormen beobachtet wurden. Wenn wir alfo bier hören, daß fich
das Synedrium in dem Palaſt (der aid) des Hohenprieftere
verfammelte (Matth. 26, 3. 57 ff. Mark. 14, 53ff. Luk. 22, 54 ff.
%oh. 18, 13fF.), jo werden wir daraus höchſtens folgern, daß es
fih auch bier verfammeln konnte; nicht aber, daß dies das Ge⸗
wöhnliche war. Ueberdies ſchwinden die feheinbar wiederholten
Berfammlungen in dem Palaft bes Hohenpriefters bei
näherer Betrachtung auf eine, und zwar eine nächtliche, zufammen.
Denn in Betreff der Vorberathung, welche Matthäus (26, 3) in
der avi) des Hohenpriefters ftattfinden Täßt, ift die Localangabe
lediglich Zuſatz diefes Evangeliften, wie fich aus VBergleichung von
Mark. 14,1. Luk. 22, 2 ergiebt (f. Wei, Das Markusevangelium,
S. 438). Bei Zul. 22, baff. handelt es ſich aber, wie bei Joh.
18, 13ff. nidt um eine Synedrialfigung, fondern nur um ein
Berhör vor dem Hohenpriefter, welches Lukas in wejentlicher Ueber-
einftimmung mit Johannes ber eigentlichen Synedrialfigung (Luk.
22, 66) vorausgehen Läßt (vgl. Beyſchlag, Stud. u. Krit. 1874,
©. 707 ff.). Es bleibt fomit nur die eine nächtliche Synebrial-
figung, die allerdings im Balafte des regierenden Hobenpriefters
ftattgefunden hat (Mark. 14, 53ff. Matth. 26, 57ff.). Aber
diefe fand zu jo ungewöhnlicher Stunde — noch vor ber Zeit des
erften Hahnenſchrei's — ftatt, dag wir bei ihr gewiß feine Be⸗
obachtung der gewöhnlichen Sitte vorausfegen dürfen), Handelt
1) Nach Keim (Gefchichte Jeſu LIT, 345ff.; dritte Bearbeitung S. 818 ff.)
würde auf Grumd von Marl. 15, 1. Matth. 27, 1 noch eine zweite
Berfammlung, ein „Morgeniynebrium”, anzunehmen fein. Mir fcheint
aber Wei (Markusevangelium, S. 484—486; Matthäusen., S. 562)
Theol. Stub. Jahrg. 1878. 40
610 Edäter
es fi alfo darum, den gewöhnlichen VBerjammlungsert zu er-
mitteln, fo haben wir vom R. 7. überhaupt abzujchen.
Eine fichere Bafis bietet uns Joſephus, der zweimal (Bell.
Jud. V, 4, 2 und VI, 6, 3) die Boris) ober das Boslerıngior
erwähnt; und zwar das erfte Mal in einem Zufammenbang, welder
uns in den Stand feht, ihre Lage ziemlich genau zu beftimmen.
Bon hier ift alfo auszugehen, und darnach bie Ueberliefernngen in
Mifchna und Gemara zu beurteilen. Denn darüber follte man
fih doch Har fein, daß jeden Falld dem Joſephus, auch wenn
man feine Glaubwürdigkeit gering anfchlägt, vor allen rabbinifdhen
Ueberlieferungen in folden Dingen der Vorrang gebürt. Nach
jener Stelle (B. J. V, 4, 2) lag aber bie Bovin in der Nähe
des fogenannten Kyftos (Svoroc). Died war eine, wahrjchein-
(ih von Säulengängen umgebene, offene Terrafſe genau an der
Stelle, wo die Oberftadt durch eine Brüde, welche über dad Ty-
ropdon führte, mit dem Tempelberge verbamden war. So befchreibt
Joſephus zu wieberholten Malen ihre Lage. ©. kei. B. J. IL,
16, 3: ydpvga zo Avorö 16 isgov ovrinsen, überhanpt:
Antt. XX, 8, 11. Bell. Jud. IV, 9, 12; V, 4, 2; VL 3, 2;
6, 2; 8, 1. Wir haben uns alfo die Situation fo zu denken,
daß zwiſchen bem Xyſtos und ber weftlichen Mauer des Tempel
berges weiter nichts Ing als bie Brüde. Daher nennt Joſephus
dasjenige Thor des Tempelberges, welches über die Brücke nad
der Oberjtabt führte, bie vis undg zov Avarov dEe-
y.odcas (B. J. VI, 3, 2; 6, 2). Unb von einem Thurme,
den Johannes von Gischala über jenem Thore bed QTempelberges
erbaute,. fagt er, er fei gebaut gewejen sov Zuorod zadurzegder
(B. d. IV, 9, 12). Dies muß feſt im. Auge behalten werben,
im Reihe zu fein, wenn er Matth. 27, 1 nur von einer Schlußberathung
in derfelben Sitzung, und Dark. 15, 1 nicht einmal von einer folchen,
fondern nur von einem „Rathſchlag“ verſteht, den. bie Synebriften für
den Proeurator „in Bereitſchaft hatten“. — Wo übrigens ber Palaſt des
Kaiphas war, wiſſen wir nit. Sicher ift nur foviel, daß er nicht
auf der Tempel⸗Area lag, wohin Wiefeler (Beitr. a. a. DO.) mit Be
vnfimg auf die völlig misverſtandene Stelle Joseph. B. J. VI, 5, 2 ihn
verlegt. Hier lagen überhaupt keine Brivatpaläfe, auch nicht bie ber
Hohenprieſter.
Der Berfammlungsort des großen Synebriums. 611
um es richtig zu verftehen, wenn Joſephus von der nördlichen
Stadtmauer B. J. V, 4, 2 fagt, daß fie, beim Hippifusthurme be⸗
ginnend und nah dem Xyſtos hin fich erftredend, barauf
an das Rathhaus fih anfchliegend, an der weftlichen
Stoa des Tempelberges geenbigt habe (diarsivov drmi
zov Evorov Asyonevov Eneisa vi Bovin ovvanvov Ent ınv
sorssgror Tod Isood oroav anmnoritero).. Da nah dem Bis⸗
berigen zwifchen dem Xyſtos und der weftlichen Stoa bes Tempel⸗
berges nur das tiefe Thal. des Tyropbon ſich befand, und da es
höchſt unmahrfcheinlih ift, daß ein öffentliches Gebäude wie bie
BovAn dort unten verfteclt im Thale gelegen habe, fo haben wir
nur die Wahl, die BovAn; entweder auf den Xyſtos oder auf ben
Tempelberg zu verlegen. Letzteres verdient aber ohne Frage
den Vorzug. Denn Joſephus unterfcheibet durch das Erresza den
Ryſtos und die Bovdr; beutlih als zwei nicht unmittelbar zur
fammengehörige Localitäten, während das Particip ovvarırov fehr
wohl fo aufgefaßt werden kann, daß es nur eine nähere Beftimmung.
zu danmorlLero bildet. Wir werden alfo bie FovAn7 auf dem
Zempelberge zu fuchen baben, und die Worte des Joſephus
dahin zu verftehen haben, daß die Stadtmauer, eben indem fie an
die BovAn ſich anfchloß, an der weſtlichen Stoa des Tempelberges
endigte. Die Bovin gehörte mit zu der Stoa bed QTempelberges,
und die Stadtmauer endigte eben an derjenigen Stelle der Stoa,
wo bie BovAr fich befand.
Eine genauere Vorftellung von der Situation Täßt ſich bei der
Dürftigleit des Materials nicht mit Sicherheit gewirmen. Jeden
Balls wird man bie PovArz nicht ſüdlich, fondern nördlich von ber
Brücke fih zu denken haben. Denn die Stadtmauer lief doch
fiher nördlih vom Xyſtos und ber Brücke. Auf derſelben Seite
möüffen wir daher auch die mit der Stadtmauer zufammenhängende
Bovin ſuchen. Aber ſchwankend kann man darüber fein, ob die
Bovin) in die Stoa des Tempelberges hineingebaut war, fo daß
fie einen integrirenden Beſtandtheil berjelben bildete, ober ob fie
etwas feitwärts nach der Thalſeite zu an die Stoa angebaut war.
Tür letzteres könnten zwei Argumente geltend gemacht werben:
1) Die Worte des Joſephus =) Povij ovvarrov, welche noch
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612 Schürer
beſſer motivirt erfcheinen, wenn die Stadtmauer nicht nur mit
ihrem Ende an die Bovdr; anftieß, fondern längs der Bovir, hin
Tief. Die letztere Vorftelung gewinnen wir aber nur, wenn wir
die BovAn als einen Ausbau neben der Mauer der ZTempel-Ston
uns denfen, fo daß dann die Stadtmauer nördlich von der Bovin
hinlief. 2) Bei der Belagerung des Teımpelberges durch die Römer
brannte — noch vor der Einnahme des Tempelberges — gerade
die weftliche Stoa von Norden her bis zu dem nad) dem Xyjftos
führenden Shore nieder (B. J. VI, 3, 2)'). Es müßte alfo auf
das Rathhaus von der Zerftörung mitbetroffen worden fein, da
die ja, wie wir gefehen haben, nörbli vom Xyſtosthore gelegen
haben muß. Trotzdem hören wir, daß das Bovdevrriosov erſt
fpäter, nach der Einnahme des Tempelberges durch die Römer,
von diefen zerftört wurde (B. J. VI, 6, 3). Diefe Schwierigkeit
wäre am einfachften durch die Annahme gehoben, daß die Bovin
nicht in der Ston, fondern feitwärts von derfelben lag. Wan
hätte ſich dann die Sache jo zu denken, daß die Stadtmauer nörd⸗
lich von ber BovAn und die Brücke ſüdlich von derfelben hinlief.
Entſcheidend find freilich beide Argumente nicht; am wenigften das
ovvÄarırov bed Joſephus. Und auch die zweite Schwierigkeit läßt
fih dur die Annahme heben, daß Joſephus das Xyſtos⸗Thor als
Grenze des Brandes nennt, weil das als bekannte Localität zur
Ortsbeftimmung geeigneter war. Es könnte immerhin die maſſiv⸗
gebaute BovAn noch nördblih vom Thore vom Brande verfchont
geblieben fein. Gegen die Vermuthung einer feitwärtigen Lage der
BovAn fpricht aber dies, daß die Annahme eines ſolchen Ausbaues
architektonische Schwierigkeiten hat. Es ift nicht wahrfcheinlich, daß
man an die große Mauer des Xempelberges folche einzelne Ge⸗
bäude follte angeflickt haben.
Auf eine Entſcheidung diefer Detailfragen wäre nur dann zu
hoffen, wenn die genauere Erforfchung der noch vorhandenen Mauer-
refte Anhaltspunkte hiefür böte. Dies ift bis jett nicht der Fall.
Im allgemeinen zwar läßt fi mit ziemlicher Sicherheit be
1) Die Dächer diefer Säulenhallen, welche auf dem Tempelberg innerhalb
der Umfaffungs-Mauern auf allen vier Seiten berumliefen, waren von
Holzwert, konnten aljo leicht niebergebrannt werben.
Der Berfammlungsort des großen Synedriums. 613
ftimmen, an welcher Stelle ber jegigen Tempel⸗Area wir die Bovir
zu fuchen haben. Denn e8 fcheint mir kaum fraglich, daß der erft
feit dem Jahre 1865 näher befannte fogenannte Wilfon» Bogen
ein Stüd der von uns voransgefegten Xyſtos⸗Brücke ift!). Er
fiegt unmittelbar an dem heutigen Bab es Sinsleh, unter der jet
zu biefem Thore führenden Straße; d. 5. gerade an der Stelle,
wo nad) der Beſchreibung des Joſephus und der ganzen Terrain.
befchaffenheit der Anſchluß ber Stadtmauer an den Tempelplatz
ohnehin angenommen werben muß und aud) von jeher faft von
allen Topographen angenommen worden ift 2). Er hat daher jeden
Falls weit mehr Anfpruch darauf, mit der Xyſtos⸗Brücke identi⸗
fleirt zu werben, als der weiter füdlih, beinahe an der ſüdweſt⸗
lihen Ede des Tempelplatzes gelegene fogenannte Robinfon«- Bogen,
mit dem er an Bauart und Größe faft genau übereinftimmt. Die
neueren Nachgrabungen von Warren haben Über die Umgebungen
des Wilſon⸗Bogens manches intereffante Reſultat zu Tage geför-
dert ®), aber leider gerade über die uns intereffirende Hauptfrage,
nämlich wie die Diauer bes Tempelberges nördlih vom Wilſon⸗
Bogen verläuft, leisen Auffchluß ergeben. Wir müſſen alfo darauf
verzichten, eine ganz genaue Beichreibung der Tage der AovAn mit
Beftimmtbeit geben zu wollen. Es kann uns im allgemeinen das
Reſultat genügen, bag die BovAn an der Weftgrenze des
Tempelplages unmittelbar an der nah dem Xyftos
führenden Drüde lag.
1) Er iſt ſchon im 3. 1845 von Tobler bemerkt, aber erſt jeit feiner
Wiederentdedung durch Wilfon im Januar 1865 allgemein befannt und
richtig gewürdigt worden. Vgl. bie genaue Beichreibung bei Rofen,
Das Haram von Ferufalem (1866), S. 9 — 12, und dazu ben beigegebenen Blau
der Unterbauten des Gerichtshanfes zu Ferufalem und bes Teiches Obrak.
3) Bol. die „Reftaurirten Stabtpläne des alten Ierufalem” in Zimmer-
manns Karten und Pläne zur Topographie des Alten Jeruſalem (Ba-
fel 1876). Der befte Blan des heutigen Serufalem ift der von Wilfon
(Southampton 1866).
I) ©. Wilfon n. Warren, The Recovery of Jerusalem (ed. by
Morrison, London 1871), p. 76—94. — Bäbelers PBaläftina (1875),
S. 192. — Zimmermanns Karten und Pläne (1876), Xaf. III,
Profil E—E.
614 Schürer
Dies Reſultat wird wenigſtens in einer Beziehung noch beftä-
tigt durch die Stelle B. J. VI, 6, 3. Hier wird berichtet, daß
die Nömer nach Eroberung des Tempelberges, aber vor Einnahme
ber Oberftabt einen Theil der Unterftadt, den Stadttheil Ophla,
das apxsiov und das Bovisvsngsov in Brand ftedten. Lelteret
lag alfo jeden Falls außerhalb der Oberſtadt, wahrfchein
lich aber nicht in der Akra oder Unterjtadt, da es von Joſephus
neben diefer noch bejonders erwähnt wird. Auch dies ſpricht alſo
dafür, da8 Bovisvrr/gsov, das mit der BovAn ficher identisch if,
auf dem Tempelberge zu fuchen.
Ehe wir zur Mifchna übergeben, ift nur noch mit ein Paar
Worten zu conftatiren, daß unter der BovAr, oder den Bovlevanesor
jeden Falls der gewöhnliche Verſammlungsort de8 Synedriums
zu verftehen iſt. Joſephus kennt für letzteres zwar aud) die Ber
zeichnung ovvsdgsov (Antt. XIV, 9, 3—5; XV, 6, 2 fin;
XX, 9, 1. Vita 12). Ebenfo häufig gebraucht er aber and
den Ausdrud 7 BovAr; (B. J. II, 15, 6; 16, 2; V, 13, 1, und
vgl. bei. das Edict bes Claudius Antt. XX, 1, 2: Tspocolvm-
Toy apxovoı, BovAn, dnuw, Tovdalov nravri Edve). Wie e6
nun feinem Zweifel unterliegen kann, daß unter ber BovAn ſchlecht⸗
bin der oberfte Rath, d. h. das große Synedrium zu verjichen
ift, jo läßt fich auch nicht bezweifeln, daß die BovAn oder das Por-
Asvurn)g1ov fchlechthin der Verſammlungsort diefer oberften Behorde
ift, was nur deshalb hier ausdrüdlich betont wird, weil man es
jeltfjamerweife nicht immer anerlannt Hat.
In der Mifhna wird als Berfammlungsort bed oberjten
Gerichtshofes viermal die na nay5 genannt (Pea II, 6. Edu-
joth VI, 4. Sanhedrin XI, 2. Middoth V, 4). An den
beiden erjteren Stellen gejchieht die® nur in der Weile, daß eine
in der nıy37 nayb getroffene Entfcheidung als gefegliche Norm hin⸗
geftellt wird, woraus wenigftens indirect erhellt, daß ber bier
tagende Gerichtshof die oberfte Autorität war !). Un den beiden
1) Pea IH, 6: R. Simon aus Mizpa fäete einft [zwei Arten Weizen auf
fein Feld] vor R. Samaliel. Sie gingen beide Binanf nad) der lisch-
kath hagasith und fragten an. Da ſprach Nahum der Schreiber zc. —
Edujoth YII, 4: R. Zabof bezeugt, daß, wenn man fließendes Waſſer
Der Berfammlungsort des großen Synedriums. 615
anderen Stellen wird aber direct gejagt, daß in der lischkath ha-
gasith da8 oberfte Geriht (Hy jyn na, Sanhedrin XI, 2) oder
das große Spnedrium (ma 7770, Middoth V, 4) feine
Sieungen hielt. Bon irgend einem anderen Situngslocale weiß
bie Mifchna nichts. Es iſt vielmehr aus den genannten Stellen
deutlich, daß die Mifchna für die Zeit, aus welcher fie Überhaupt
Kımde hat, alfjo gerade für die legten Zeiten vor dem
Untergange $erufalems, auf welche auch bie Angaben des
Jofephus fich beziehen, bie lischkath hagasith als das gewöhn⸗
liche Verfammlungslocal des großen Synedriums betrachtet. Wollen
wir alfo ihre Ueberlieferung nicht als gänzlich unge»
ſchichtlich verwerfen — was bei der Eonftanz, mit welcher
fie auftritt, immerhin mißlih wäre —, fo müffen wir noth-
wendig die na nad mitder BovAndbes Foſephus iden—
tifieiren. Dies Reſultat erhält nun, wie mir fcheint, eine über-
raſchende Betätigung, wenn wir uns den Namen der nı37) nayb
etwas näher anfehen. Gewöhnlich erklärt man ihn nach Analogie
von NY) 3 „Häufer aus Duaderfteinen” (Amos 5, 11); alfo:
nn nayb „die Quaderhalle“, fei e8 nun, weil fie aus Quader⸗
fteinen erbaut, oder weil ihr Boden mit Quaderfteinen belegt war.
Aber weder die eine noch die andere Erflärung erfcheint mir be-
friedigend. Denn beides war in damaliger Zeit fo gewöhnlich,
baß es fein charafteriftifches Merkmal bitdete, auch nicht unter den
nioyb des inneren Tempelvorhofes, in welchen man die nı3a nayh
gemöhnfich verlegt. Der ganze ZTempelplag, und fo gewiß auch
der innere Vorhof, war mit Steinplatten belegt (B. J. V, 5, 2;
VI 1, 8). Und «8 ift fiher nicht anzunehmen, daß von allen
Gemächern im Inneren Vorhof gerade nur eines aus maffiven
Stein erbaut war‘). Dies bildete alfo nichts charakteriftifches,
durch die Äußere grüne Schale einer Wallnuß fprudeln läßt, es doch als
fließend geeignet fei [zum Tauchbad]. Der Fall kam in Oholja vor; und
die Sache fam vor bie lischkath hagasith ; und fle erflärten es für geeiguet.
1) Das RIEN N 3. B., welches Tamid I, 1. 8. III, 8. Middoth I,
1. 5—9 neben der lischkath hagasith (Tamid LI fin. IV fin. Mid-
doth V, 4) erwähnt wird, war gemölbt, ſ. Tamid I, 1, Middoth I, 8
und dazu die Commentare; aljo doch wohl and) aus Quadern.
616 Schürer
wornach die lischkath hagasith hätte genannt ſein können. Eine
viel beſſere Erklärung ergibt ſich, wenn wir uns deſſen erinnern,
daß die lischkath hagasith nad unſeren Reſultaten in ber
Nähe des Xyftos lag. Sollte nı73 nicht der Hebräifche Name
für Zvorog und die lischkath hagasith alfo „die Halle am
Xyſtos“ fen? Allerdings wurden in PBaläftina vielfach auch die
griechifchen Kunftausbrüde beibehalten, wen man feine genau ent-
fprechenden hebräifchen oder aramäifchen hatte. So 3. B. wÄTDan
2Esdga 1), Nauyın orod 9), pbıo2 Baaudm) ®), Dan osddıon 9).
Dion wird aber die Möglichkeit nicht beftreiten Tönnen, daß and
für einen griechifchen Kunftausprud — was Avoros allerbinge
iſt — in Paläftina eine entfprechende femitifche Bezeichnung ge-
wählt wurbe, wenn es eine folche wirklich gab. Dies ift aber bei
Zvoröc, dem das hebräifche nY73 genau entipricht, in der That
der Sal. An zwei Stellen des U. T.: IChron. 22, 2 umd
Amos 5, 11 geben die LXX n13 geradezu durd) Evosos wieder 5).
Auch wird my, das von Haufe aus allerdings abstractum ift
(Bebauung, fo in der Verbindung: nu nan), aud im U. T.
ganz gewöhnlich pro concreto gebraudt in der Bedeutung: „Be
bauenes, behauene Steine" (Exod. 20, 25. 1 Rn. 6, 36. Hei.
9, 9. Amos 5, 11. Kagel. 3, 9). Es konnte aljo 0 Zvaros
jehr paffend durch mry47 wiedergegeben werben ®). Endlich hat auch
die Genetiv-Verbindbung nun naw5 in der Bedeutung „die Halle
am Xyſtos“ ihre Analogie in Ortsbezeihnungen wie: pyn Ay
„das Thor bei ber Quelle” (Neh. 2, 14), oO veixos roũõ er
Aippov „die Mauer am Bade“ (1 Makk. 12, 37). So fcheint
1) Tamid I, 3. Middoth L b.
2) Schekalim VIII, 4. Sukka IV, 4.
8) Aboda sara I, 7. Tohoroth VI, 8.
4) Baba kamma IV, 4. Aboda sara I, 7.
5) In der Amos⸗Stelle hat allerdings der codex Vaticanus (nach der neuen
vömifhen Ausgabe Bd. IV, 1872), und nad) ihm die firtinifche Ausgabe
und ber Vulgär⸗Text Esorös. Uber andere und zum Theil gewichtige
Autoritäten bieten auch bier £voros.. So cod. Alex., cod. Marchalia-
nus (1. Sanb), Cyrill. Alex., 10 Minusfeln, ed. Aldina.
6) Als Analogon vgl. bei. Joh. 19, 13: 70 Aıdodorgwrovr = TaßßaIa, wo
es ſich auch um zwei wirklich neben einander gebrauchte Nanıen handelt.
Der Berfammlungsort des großen Synedriums. 617
man aljo jene Halle im Unterfchiede von den zahlreichen anderen
Hallen des Tempelplatzes die XKyſtos⸗Halle genannt zu haben,
weil fie in der unmittelbarften Nähe des Xyftos lag. Die Bezeich-
nung derſelben als einer nayb ift in fo fern fehr treffend, als dies
gerade die gewöhnliche Bezeichnung für die zum Tempel gehörigen
Gemächer war. Und man darf nicht einwenden, daß ber Ausdruck
nn nur für eine Näumlichkeit des inneren Vorhofes zu er-
warten fei, während die BovAn nach unferer Annahme an ber
Srenze bes äußeren Tempelplatzes Tiegen würde. Daß nämlich
and) hier, in ber äußeren Umgebung des Qempelplates, fi) Ge-
mächer befanden, welche als nisyb bezeichnet wurden, fann mit
Sicherheit aus Joſeph. B. J. IV, 9, 12 gefchloffen werden. Denn
die hier erwähnten rraozopodıe müſſen nach dem ganzen Zu⸗
fammenhang der Stelle an der äußeren Grenze des Tempel⸗
platzes gelegen haben. Der entjprechende hebräifche Ausdrud hiefür
kann aber fein anderer als pe) (nisyb) geweſen fein, da bei den
LXX naoropoogsov faft nur, ja — von zwei fcheinbaren Aus»
nahmen abgefehen — ausschließlich als Ueberfegung von agb vor-
fommt (Jerem. 35, 4. Ezech. 40, 17. 38. 1Chron. 9, 26.
23, 28. 28, 12. 2 Chron. 31, 11). So unfiher auch Be⸗
ftimmung und Bedeutung diefer rraozopdge ift !), und fo weit
wir davon entfernt find, die BovAr/ mit ihnen zu ibentifizieren, fo
beweift ihre &riftenz doch jeden Balls, daß auch an der äußeren
Grenze des Tempelplates ſich Räumlichkeiten befanden, welche ale
zum Tempel gehörig betrachtet, für deſſen Zwecke verwendet und
als niogb bezeichnet wurden. Auch Hinfichtlicd der BovAn tft ja
die Möglichkeit keineswegs ausgefchloffen, daß fie nicht nur ale
1) Hieronymus ad Jesaj. 22, 1dsqq. (Opp. ed. Vallarsi IV, 318) er»
Märt: pastophorion, hoc est thalamus, in quo habitat praepositus
templi. Auch nad) Clemens Alexandr. Paedag. III, 2, 4 fcheinen bie
naozopspos in Aegypten die Tempelaufſeher geweſen zu fein (vgl. auch
Stephanus, Thes. s. v.). Die LXX gebrauden raoropogiıov aber
offenbar in einem weiteren Sinne, nämlich nicht nur von den Gemächern
zum Aufenthalt für die bienftthuenden Briefter, fondern auch von ben
Vorrathskammern und von fonftigen zu Cultuszwecken bienenden Räumen
(2&hron. 31, 11f. Ezech. 40, 38).
618 Schürer
Verſammlungsort des Gerichtes, ſondern auch noch zu anderen
Zwecken, etwa als Verſammlungsort der Prieſter benützt wurde, —
eine Verwendung, die, wie wir ſogleich ſehen werden, der Ueber⸗
lieferung zufolge in der That ſtattgefunden haben ſoll.
Mit dieſem Reſultate, wornach die lischkath hagasith an der
Grenze des Tempelberges lag, ftimmt nun freilich ‚die. Ueberlieferung
der Mifchna nicht ganz überein. Zwar jene beiden zuerft genannten
Stellen (Pea II, 6. Edujoth VII, 4) jagen über ihre Lage über⸗
haupt nichts aus. Aber die beiden anderen (Sanhedrin XI, 2.
Middoth V, 4) verlegen fie beftimmt in den eigentlichen Tempel⸗
borhof, die my. Und an zwei anderen Stellen, an welchen fie
auch erwähnt wird (Tamid II fin, und IV fin.), bat es wenig»
ſtens den Anſchein, ale ob dasjelbe gefhähe.. Kine Vereinigung
diefer Weberlieferung mit unferen bisherigen Reſultaten ift nicht
möglih. Denn der eigentliche Vorhof, die may, bildete einen,
auf allen vier Seiten von ſtarken Mauern umgebenen, vollftändig
in fich abgefchlofienen Pla innerhalb der großen Tempel⸗Area,
jo daß alfo zwifchen den Säulenhallen des äußeren Tempelplatzes
und der Mauer des Vorhofes auf allen vier Seiten ein freier
Raum war (Middoth II, 1). Lag alfo die lischkath hagasith
im Vorhof, fo lag fie nicht, wie wir annehmen zu müffen glaubten,
an der Außerften Grenze des QTempelberges. Man könnte etwa zu
der Annahme verſucht fein, daß der Vorhof auf der Weftfeite un»
mittelbar an die Mauer des Tempelberges grenzte, fo daß auf
diefer Seite die Stoa des Tempelberges zugleich die weſtliche Grenze
des Vorhofes bifdete. Dann würde auch nad unferen Boraus-
fegungen die lischkath hagasith mit zu den Räumen des Vorhofes
gehört haben. Diefe Annahme wird aber, abgefehen von Middoth
IL, 1, aud durch Joseph. B. J. V, 1, 5 fin. als unricdtig er-
wiefen. Denn hienach errichtete Johannes von Gischala, um feine
im inneren Vorhof eingefchloffenen Gegner erfolgreich befämpfen zu
fönnen, gerade gegenüber der weftlichen Vorhofsmauer auf dem
Tempelplatz vier hölzerne Thürme.. Es maß alfo auch auf
diefer Seite ein Zwiſchenraum zwifchen der weſtlichen Stoa des
Zempelberges und der weftlichen Mauer des Vorhofes geweſen fein.
Wir Haben demnach nur die Wahl, entweder unſere früheren Re
Der Berfammlungsort des großen Synebriums. ‚619
fultate zu verlaffen ober die Ueberlieferung der Mifchna als unge-
ſchichtlich zu verwerfen. Ehe wir ums entfcheiden, ift die Süherheit
der letzteren noch zu prüfen.
Zunächſt Löft fih) an den beiden Stellen ded Zractated Tamid
(H, 5 fin. und IV, 3 fin.) die vermeintliche Weberlieferung in
bloßen Schein auf. Indem hier nämlich die Formalitäten bei Dar»
bringung bes täglichen Opfers bejchrieben werden, wird zweimal
bemerkt, daß fich die BPriefter in den Zwiſchenpauſen zwifchen den
einzelnen Abfchnitten ihres Dienftes in der schkath hagasith zu
verſammeln pflegten; jo namentlich auch nach der Schladhtung (aber
vor der Darbringung) des Morgenopfers zum gemeinfamen Beten
des Schma (Tamid IV fin). Da alles, was fonft berichtet
wird, im Vorhof verläuft, wird hiedurch der Schein erwedt, als
ob aud) die lischkath hagasith im Vorhof gelegen habe. Es ift
die8 aber dem Zuſammenhange nad durchaus nicht mothwendig;
und ſobald irgend ein Moment dagegen Spricht, find wir nicht nur
berechtigt, ſondern verpflichtet, jene zunächft erweckte Vorftellung ale
irrtümlich wieder aufzugeben. Vielleicht darf man ein folches Mo⸗
ment fogar aus dem Wortlaute der Mifchna felbft entnehmen. Es
heißt nümlich in beiden Fällen: „und fie gingen hinab und
tamen in bie lischkath hagasith“ (num nawbb onb nn 1799).
Wenn darunter — was wenigſtens möglich ift — ein Hinabgehen
aus dem Inneren Vorhof nach dem äußeren Tempelplatze zu ver-
ftehen tft, fo wäre hiemit beiwiefen, baß die lischkath hagasith
außerhalb des eigentlichen Vorhofes gelegen: bat. Doch ift mir
allerdings felbft wahrfcheinlicher, daß in beiden Fällen an das Herab⸗
fteigen vom Altar zu denken ift (vgl. 3. B. Tamid V, 5. Joma
IV, 5). Jedoch auch in diefem für uns ungänftigeren Falle bleibt
es eben Tediglich dabei, daß die beiden Stellen für unfere Frage
inbifferent find, weder für noch gegen unfere Anficht fprechend. Die
Benütung eines Raumes des äußeren Tempelplatzes von Seite der
dienfttäuenden Briefter hat an und für ſich nichts befrembliches,
da wir bereitS aus der Erwähnung ber sraozoyogın hei Joseph.
B. J. IV, 9, 12 entnommen haben, daß auch auf dem äußeren
Zempelplage fih Räumlichkeiten befanden, welche für die Zwecke
des Eultus verwendet wurden.
6% j Sähäürer
Am Tractat Sanhedrin XI, 2 wirb behauptet, daß es in Je⸗
rufalem drei Gerichtähöfe gegeben habe: einen am Eingang des
äußeren Tempelplages (na m nnp by), einen am Eingang dee
Borhofes (1yn mnp by), und einen in der nm nawb. Letzterer
war der höchſte. Und die Meinung ift augenfcheinlih, bag fein
Berfommlungslocal innerhalb des Vorhofes fi) befunden Babe.
Denn die ganze Notiz Ift nach) dem Schema angelegt, daß der nie
drigfte Gerichtshof zwar auch auf dem Heiligen Berg, aber doch
am weiteften vom Heiligtum entfernt, ber höchſte aber in der
nächſten Nähe besfelben feine Sigungen gehalten habe. Eben dieſer
Schematismus genügt aber auch, wie mir fcheint, um die Stelle
jedes Anſpruchs auf Glaubwürdigkeit zu berauben. Oder ſollen
wir es glaubhauft finden, daß wirklich die drei Gerichtshöfe, felbft
wenn wir deren &riftenz gelten ließen, ihre Situngslocale in diefer
Weite nach dem Schema ihrer Rangordnung wählten? Offenbar
haben wir es hier nicht mit biftorifcher Weberlieferung zu thun,
fondern mit der Kombination eines gelehrten Kopfes, der einzelne
Fragmente Hiftorifcher Ueberlieferung zu einer Theorie über die rich»
tige Organifation des Rechtsweſens in Israel geftaltet hat. Damit
fchwindet aber jede Gewähr für die Zuverläßigkeit des Einzelnen.
Scheinbar auf fehr genauer Kunde beruht, was im Xractat
Middoth, der fich fpeciell mit der Beſchreibung des herodianifchen
Tempels befchäftigt, c. V, 3—4 über die Lage der lischkath ha-
gasith mitgetheilt wird. Hier hören wir: „Sechs Hallen (oder
Gemächer, mawb) waren im Vorhof, drei im Norden und drei im
Süden. Im Norden (nach anderer Lesart: im Süden): bie nawb
nbon, bie myen nawb und bie oımaao nawb; im Süden (andere
Lesart: im Norden): die py nowd, bie nbran naw> und bie naw5
n27. In letzterer hielt das große Synedrium feine Sigungen.“ —
Um zu entfcheiden, ob wir auch diefen genauen Details gegenüber
unfere Zweifel aufrecht erhalten dürfen, ift es unerläßlich, die
Glaubwürdigkeit des ganzen Tractates Middoth wenigftens in der
Kürze zu unterfuchen. In demfelben wird fünfmal R. Eliefer
ben Jakob als Gewährsmann für einzelne Angaben citirt (I, 2.9.
II, 5. 6. V, 4). Da er erwähnt, daß fein Oheim als Levit im
Zempel Dienfte geleiftet habe (I, 2), Tonnte er über deffen Ein-
Der Berfanunlungsort bes großen Synedriums. 621
rihtung immerhin gut unterrichtet fein, wenn er auch nicht, wie
Derenbourg (Histoire de la Palestine, p. 374) ohne Grund
annimmt, ben Tempel felbft gefehen hat. Außer ihm wird zwei⸗
mal Abba Saul citirt (DL, 5; V, 4), ber ebenfalls noch der
zweiten Generation nad der Zerftörung des QTempels angehörte ?).
Nächſt diefen treten aber nur fpätere Autoritäten auf. Mit biefem
Beftand der äußeren Zeugniffe ftimmt es überein, baß die Angaben
zum Theil auf guter Kunde ruhen, wie jchon der Umftand beweift,
daß das Gefamtbild, welches fie ergeben, fait vollftändig mit dem
Referate des Joſephus (B. J. V, 5. Antt. XV, 11) überein»
ftimmt und auch manche Details mit den feinigen zufammentreffen.
Aber neben einer Weihe guter Notizen hat der Tractat auch eine
Reihe nachweistich falfcher, oder mangelhafter. Ya es fommt vor,
daß über einen und denjelben Punkt zwei einander widerfprechende
Angaben gemacht werden, woraus man fieht, wie hier eben alles
zufammengetragen wird, was an Notizen und Meinungen über
ben Tempel erreichbar war, gleichviel ob es auf guter Weberlieferung
ober auf müßiger Speculation beruhte. So wird Middoth I,
4—5 richtig angegeben, daß der Vorhof fieben Thore Hatte, drei
im Norden, drei im Süden und eins im Often 2). Daneben aber
wird ganz unbefangen Middoth II, 6 eine Notiz wiedergegeben, °
wornach es im ganzen 13 geweſen fein follen, darunter auch zwei
im Weiten, während Joſephus ausdrüdlich bemerkt, daß bier feines
ward). Ohne Zweifel ift diefe Notiz aus Schekalim VI, 3
herübergenommen, wo in einem größeren Zufammenbang (VI, 1—5)
ausgeführt wird, daß im Zempel 13 gewundene Kaſten (mmEıw)
1) ©. über ihn: Lewy, Leber einige Fragmente aus der Miſchna des Abba
Saul (Beigabe zum zweiten Bericht ber Berliner Hochſchule für die
Wiſſenſchaft des Fubentums), Berlin 1876. Hiezu die Anzeige Im Ma-
gazin für die Wiflenfchaft bes Judentums, herausgeg. v. Berliner n.
Hoffmann, 4. Yahrg., 2. Heit (1877) ©. 114—120.
2) Ganz ebenfo Jos. Antt. XV, 11, 5. Auch B. J. V, 5, 2 flimmt da⸗
mit überein, in jo fern bier mit Einfchluß ber drei Thore des Weiber-
vorbofes zehn gezählt werden.
s) B. J. V, 5, 2: zö dd nods doc ueoos oux eye nöAnm, did dın-
vexis Edsdounmso Tavım To Teiyos.
62 Schürer
und 13 Tiſche ſich befanden und 13 Verbeugungen ftattfanden gegen
die 13 Thore des Vorhofes. Man fieht bier recht deutlich, wie
im Tractat Middoth gutes und ſchlechtes zufammtengetragen ift.
Falſch ift auch feine Angabe über die äußeren Thore des Tempel⸗
plates, unter welchen er nur ein weftliches nennt (Middoth I, 3),
während es nad Joseph. Antt. XV, 11, 5 vier waren. End
(ich ift gerade auch die obige Notiz über die angeblichen jechs nrogf>
des Vorhofes nachweislich mangelhaft. Denn es werden an anderen
Orten noch eine ganze Reihe folder mıwb genannt. So die nawb
jegn und die nyinga nawb (Middoth I, 1) und in der nord»
weftlichen Ecke des VBorhofes allein 4 mımwb, von denen keine mit
ben obigen 6 identifch ift (Tamid III, 3; vgf. Middoth I, 6).
Wie mangelbaft die Angabe ift, erhellt im allgemeinen auch ſchon
daraus, daß nad den von der Miſchna felbft gegebenen Erläuterungen
feine der ſechs mımwb zur Aufbewahrung der mancherlei Schäge
des Tempels beftimmt war, während bies doch gerade die Haupt.
beftimmung der Räume bes inneren Vorhofes war !). Wenn aber
die Aufzählung fo mangelhaft ift, jo können wir anderfeits auch
die Möglichkeit nicht in Abrede ftellen, daß fi) ungehörige® dabei
mit eingejchlichen. babe. Zwar wird gerade aud in jenem Zufammen-
“Bang R. Eliefer ben Jakob citirt, aber nur, um von ihm das
Geftändnis mitzutheilen, daß er „vergefien habe“, wozu bie nawb
yyn beftimmt war (Middoth V, 4). So mag er wol auch ans
dereö vergefien oder verwirrt haben, was von ber Älteren Generation
ihm überliefert worden war. Und es werden alfo dieſe unficheren
Notizen kein Grund fein können, und in unferem wohlbegründeten
früheren Nefultate irre zu machen. Wir werden troß ihrer die
nun nowb nicht im Vorhof, fondern an der Grenze bes Tempel
berges zu fuchen Haben. Auch das Zufammentreffen von Mid-
doth V, 4 mit Sanhedrin XI, 2 dient der in beiden Stellen
enthaltenen falfchen Notiz nicht zur Stüge, da wir eben an dem
Beifpiel von den Thoren des Vorhofes gejehen haben, daß aud
nachweislich falfche Angaben an verfchtedenen Orten ſich wieberhofen.
1) Joſephus nennt fie einfach za yaoyvadsız (B. J. V, 5, 2). Bel.
auch B. J. VI, 5, 2.
Der Berfammlungsort bes großen Synebriume. 623
Wenn nun Schon die Angaben der Mifchna nicht verbürgt genug
find, um ein ausreichendes Gegengewicht gegen unfer urfprüngliches
Resultat zu bilden, fo find es natürlich diejenigen der [päteren
tafmudifchen Literatur (ver Gemara) noch viel meniger. Es
werden hier nur die Angaben der Miſchna durch neue Kombinationen
weiter ausgefponnen. Namentlich kommt hier in Betracht die Stelle
Joma 25* (mitgeteilt bet Burtorf, Lex. Chald. s. v. nm),
wornach die Gafith:Halle zur Hälfte auf heiligem und zur Hälfte
auf profanem Boden lag (dia mem wnp2 men), d. h. zur
Hälfte innerhalb, zur Hälfte außerhalb des Vorhofes, mit Thoren
nach beiden Seiten bin. Vermuthlich beruht diefe Annahme nur
auf der Reflexion, daß das Gerichthalten ein weltliches Gefchäft
ift, das nicht in den Heiligen Vorhof gehört, und diefe Reflexion
wird nun mit der Weberlieferung der Miſchna durch jenen Com⸗
promiß in Einklang gebracht. eben Falls können diefe nachge-
borenen Traditionen nicht mehr auf ernſtliche Beachtung Anfprud)
machen. — &8 geichieht darum auch nur im Intereſſe der Vollſtändig⸗
feit, wenn wir noch erwähnen,. daß nach dem jogenannten zweiten
Targum zu Eſther 4, 1 bereitö die Propheten Haggai, Sacharja
und Maleachi in der lischkath hagasith geweißagt haben follen.
Daraus würde freilich folgen, daß die letztere nicht nach dem erft
in der griechifchen oder römischen Zeit erbauten Xyſtos ihren Namen
haben kann — wenn nämlich auf dergleichen fpätrabbinifche Ein-
fälfe überhaupt etwas zu geben wäre).
Schließlich find noch zwei Punkte hervorzuheben, die, ohne
gerade beweifend zu fein, doch fehr zu Gunften unferer Annahme,
baß die lischkath hagasith nicht im inneren Vorhofe lag, ſprechen.
Der eine ift die eben ſchon berührte Erwägung, daß das Gericht.
halten an fi mit dem Cultus, für welchen doch der Vorhof be-
ftimmt ift, nichts zu thun hat. Nah allen, was wir wiflen,
dienten die Räume des Vorhofes Lediglich den Zwecken des Cultus.
Es wäre daher mindeftens fehr befremdlich, wenn in diefen Räumen
1) Die Stelle lautet: „Es ſchickte der ſhimmliſche] König nad feinem Pa⸗
fafte (oder feinem Tempel, may) durch die Hand feiner Knechte, ber
gerechten, zu Haggai, Sacharja und Maleadji, welche ſaßen 73 nawby
und dort weißagten über die große Dauer Jeruſalems“.
624 Schürer
auch ein Gericht ſeinen Sitz aufgeſchlagen hätte, das fich oft mit
ſehr unheiligen Angelegenheiten zu befchäftigen hatte. Sehr be⸗
achtenswerth iſt es in dieſer Beziehung, daß es in der Hauptftelle
Middoth V, 4 von der Gafith-Halle Heißt: „Dafelbft hielt das
große Synedrium feine Sigungen und richtete die Priefter-
ſchaft.“ Es bat darnach den Anjchein, als ob das große Syne⸗
drium lediglich diefe Aufgabe gehabt hätte. Aber nach den anderen
Stellen war freilich das in der Gaſith⸗Halle tagende Gericht das
oberfte Gericht überhaupt für alle Angelegenheiten. Und fo ift jem
Notiz nur in fo fern von Belang, als fid darin das Bewußtfſein
verräth, daß ein Raum des Vorhofes auch den Zwecken bes Eultus
dienen muß. — Der andere Punkt, der unferer Anficht zur De
ftätigung dient, ift die Erwähnung einer Yyyabp nawb JomaL 1,
die ebenfall® nach dem Zufammenhang außerhalb des Worhofes
gelegen zu haben ſcheint. Es wird nämlich erzäßlt, daß ber Hohe⸗
priefter fieben Tage vor dem Verfühnungstag nad) der Yaınbo naeb
gebracht wurde, wo fi) „die Helteften des Gerichte“ (17 na Yan)
mit ihm befchäftigten (Joma I, 1—4). Bon biefen wurbe er
dann den „Welteften der Priefterfhaft* (Mar> upı) übergeben, die
ihn nach dem Obergemach des Dyuax nY> bradten (Joma I, 5).
Es ift hier wenigftend das Nächftliegende, die yarnbp mowb als
einen Ort zu denken, der außerhalb des fpeciellen Wirkungsfreifes
der BPriefterfchaft, d. 5. außerhalb des Vorbofes, lag. Und da nun
yarbp jeden Falls Corruption von wagedgos ift, da ferner in
der mn nawb die „Aelteften des Gerichtes“ fich mit dem Ho
benpriefter befchäftigen, jo unterliegt e8 wol feinem Zweifel, daf
unter derfelben der Verfammlungsort des höchſten Gerichtes zu
verftehen ift, d. h., daß fie mit der nm nowb und der Bovir
des Joſephus identisch ift. Auch dies alſo fpricht zu Gunften un
feres Rejultates.
Gegen basfelbe tritt nun freilich noch die Behauptung auf, die
in ber Gemara öfters wiederholt wird, daß das große Synedrium
vierzig Jahre vor der Zerftörung des Tempels aus ber Gaſith⸗
Halle in die Kaufhallen (min) ausgewandert fei (Schabbath 15°,
Rosch haschana 31°; f. die Stellen bei Levy, Neuhebräifces
und chaldäiſches Wörterbuch II, 80; auch .bei Burtorf, Lex.
Der Berfammlungsort des großen Synebriums. 625
Chald. col. 793, Lightfoot. Deser. templi hierosolymit:
c. 9, Opp. ed. Roterod. I, 565sq.). Da über die Lage ber
chanujoth nicht‘ bemerkt wird, könnte man verfucht fein, die
widerfprechenden Angaben fo zu vereinigen, daß man die’ lischkath
hagasith wirflih, wie e8 die Miſchna will, in den Vorhof ver-
legte, und nicht dieje, fondern nur die chanujoth mit der Bovdn
des Joſephus identificirte. Diefer Ausweg, den ich ſelbſt früher
eingefchlagen habe (Zeitgeſch, S. 416), ift aber deshalb ungangbar,
weil die Miſchna von diefer Auswanderung in die chanujoth nichts
weiß, ſondern zwrifelos! die. lischkath hagasith für die ganze
Zeit, von der fie Kunde hat, aljo gerade für die letzten Jahrzehnte
vor der Zerftörung des Tempels, als VBerfammlungsort des Sy⸗
nebriums betrachtet. Auch fpricht ja gerade ihr Name für Identi⸗
fieirung mit der Bovin des Joſephus. Es ift deshalb die ganze,
ohnehin erft ſehr ſpät auftretende Sage von einer Auswanderung
in die chanujoth einfach als ungefchichtlic) zu verwerfen. Ueber
ihre Entjtehung aber läßt fih noch eine Vermuthung aufftellen.
Das Wort nun ift das gewöhnliche Wort für „Kaufhalle, Kaufe
laden“ 2). Solche Kaufladen waren aber, wie wir aus dem N. T.
(Mark. 11, 15 und Parallelen) wiffen, auch auf dem Zempelberge,
vielleicht gerade ai Eingange desjelben unmittelbar an der Bovdr.
Es ift nun wol denkbar, daß die Ueberlieferung eriftirte, das Ver⸗
fammilungslocal des großen Synebriums habe fich bei den chanu-
joth befunden. Dieſe Ueberlieferung wußte man mit der anderen,
daß e8 in der lischkath hagasith jeine Sigungen gehalten habe,
nicht anders zu vereinigen, als durd die Annahme, daß beide ſich
auf verfchiedene Zeiten bezögen. So etwa mochte jene Sage von
einer „Auswanderung“ entjtanden fein, während fich in Wahrheit
beide Angaben auf dasfelbe Local bezogen.
Wenn nun, wie wir nad allem Bisherigen wohl aunehmen
dürfen, das gewöhnliche Sigungslocal des Synedriums an der
Grenze des Ternpelberges, aber doc noch innerhalb feines Bereiches‘
1) So 3. B. Baba kamma II, 2; VI, 6. Baba mezia II, 4; IV, 11.
Baba bathra I, 3. Der Blur. nyyyn Taanith I, 6. Baba mezia
VIll;6. Aboda sara I, 4: Tohoroth VI, 8. Der Krämer beißt
Ur
Theol. Stub. Jahrg. 1878. 41
626 Trümpelmann
fid) befand, fo erflärt ſich aud, weshalb man bei der nachtlichen
Berurtheilung Jeſu fi) wicht dort verfanmelte. Denn die Thore
des Tempelberges waren bei Nacht geſchloſſen und von Leviten be
wacht (Middoth I, 1); daher jenes Local, ohne großes Aufſehen
zu erregen, nicht zugänglich.
4.
Sotialismus und Socialreform).
Erſter Artikel.
Bon
X. Vrüimpelmann,
Ouperintenbent is Uelleben bei Gotha.
„, Socialiemus, Communismus! Gefpenftergleih ſehen fie
die meilten der Zeitgenoffen an, dieje kaum erft laut gewordenen
und ſchon fo gefürchteten Namen! In der That, die Art und
Weife, wie die große Maſſe, nicht bloß der Ungebildeten, nicht
blog in Deutſchland, fondern in England, in Frankreich zu ihnen
fich verhält, trug bisher den Charakter des Geifterglauben®, der
Geifterfurht Halb Aufgeflärter. Man ſchämt fi, zu glauben,
was man doch fürchtet; man ſchämt fi, zu fürdten, was man
doch nicht recht glauben kann; man ift gläubig und ungläubig,
forglo8 und ängſtlich zugleih, und fc kommt man weder zu
ernftlicher Anerkennung, noch zu ernſtlicher Verneinung, nod
weniger zur Befinnung über verfühnende Mittel und Wege zur
Hülfe. ... Uns Deutſche berührt im Leben die Frage, um die
es ſich handelt, noch wenig, aber wir wären aus der Art gefchlagen,
wenn mir fie nicht berührten, ehe fie uns berührt.... So fehr
auch die focialen Geifter, wie die Kerner’schen Bewohner des Dkittel-
reiches, durch Uncultur und allerlei unvernünftigen Spuk bem
1) Die vorliegende Arbeit wurde Ausgangs des vorigen und Anfangs dieje®
Jahres gefchrieben, und kommt vielleicht im Augenblid gerade recht.
Socialismus und Socialreform. 627
Spotte, der fid) an's Aenßerliche hält, Gelegenheit zu verächtlichem
Lächeln geben, fo wird es dod bald feinem Marne von ernfter
und unbefangener Gefinnung mehr entgehen, daß hier eine Seite
bes gefellfchaftlichen Lebens in die Wirklichkeit tritt, die ihre Wahr⸗
heit und Berechtigung troß aller Auswüchſe in ihrem innern Wejen
bat.‘ Treffende Worte eines deutſchen Staatögelehrten !) an das
deutſche Publikum, zunächſt vielleicht an feine Fachgenoſſen. Ob
aber dieſe Worte auch uns angehen, die Prediger des Evangeliums,
die Männer der Kirche, die Theologen? Belanntermaßen wird es
nicht gerne gefehen, wenn die Kirche und ihre Diener politische
Fragen in ihren Bereich ziehen. Die Abweiſung unberufener Ein-
mifhung läßt in der Regel nicht lange auf fih warten. In den
Kreifen frommer Chriften aber gilt es vielfältig als Axiom: je
ferner dem politifchen Intereſſe der Gegenwart, defto näher dem
Reihe Gottes! Doch laſſen wir dies bahingeftellt fein. Hier
handelt es fich wenigftens nicht mehr um gemeinhin fogenannte
Fragen der Tagespolitik, e8 Handelt fih um geſellſchaftliche
tagen, um Auffafjung und Beurtheilung von Erfcheinungen, deren
Erzeugung nicht bloß der Staat, fondern die Geftaltung aller
unferer heutigen öffentlichen und Privat-Verhältnifje verfchuldet haben
fol, die fih zu allen diefen Verhältniſſen im einem mehr oder
minder unverdedten Widerſpruch fegen. Aus einer befonderen
Weltanfhauung geboren, foll eine neue Weltordnung zur Geltung
gebracht werden. Mit der alten Weltordnung wird auch die alte
Weltanfchauung von den Begründern des neuen Principe perhor-
rescirt. War nun bie Kirche bisher die Trägerin einer beftimmten
Weltanfchaunng, fo ift fie bei dem Auflommen einer neuen natür-
lich weſentlich betheiligt. Und wirklich tritt die neue MWeltreform,
wie fie muß, zugleich als neue Religion auf, wenn nicht gar ale
die wahre Auslegung der bisher unverftanden gebliebenen alten.
Dazu kommt, daß die im Werke Tiegende Reform zunächft und
vor allem dem Proletariate zugute kommen foll, jener ärmiten,
niedrigften, unbeachtetften Claſſe der Gefellichaft, deren treue Für-
1) Brofeffor Fal lati in Tübingen in den Jahrbüchern der Geger-
wart 1843, Nr. 1 bei der Anzeige von: Stein, Socialismus und
Communismue des heutigen Frankreichs.
41*
628 Trümpelmann
forgerin im Leiblichen, wie im Geiſtlichen zu fein die Kirche nad
dem Borbilde des Herrn zu ihren ernfteften, beiligften Aufgaben
zu rechnen hat, deren Vernadjläßigung ein ſchweres „Wehe!“ auf fie
berabrufen müßte. Liegt aber. nicht in dem Auflommen ſolcher
Reformgedanten an fi) ſchon eime Anklage gegen die Kirche? Und
wie, wenn wir vielleicht entdedien müßten, daß an der Solidarität,
in welcher ſelbſt von Befonnenen der alte Weltzuftand fir den
Gedanken eines neuen verantwortlich gemacht wird, auch die Kirche
ihren wirklichen Antheil habe? wenn fie fich geitehen müßte, in
Ausrichtung ihres Amtes in Beziehung auf die. Armen, Elenden
und Verwahrloften nicht treu, gewiſſenhaft, eifrig und unerſchrocken
genug gemefen zu fein? Gewiß Gründe genug, um auch von kirch⸗
licher Seite dem Communismus und der Socialreform Aufmerb
famfeit und Nachdenken zn widmen.“
Es ift ein Menſchenalter vergangen, feitdem dieje Worte für
diefe Zeitfchrift gefchrieben murden. Hundeshagen ſchrieb fie
im Jahre 1845, und doch wie. harakteriftiich für die Gegenwart!
Faſt jeden Say kann man mit gleichlantenden aus jüngfter Zeit
belegen. Wie Pilze ſchießen Brofchüren und Zeitfchriften im Dienfte
der brennenden Tagesfrage, für und wider den: Socialismus auf,
und doch gelten die Worte Fallati's: „Man ſchämt fich, zu glauben,
was man doch fürdtet; man ſchämt fi, zu fürdten, was man
doch nicht recht glauben faun; man ift gläubig und ungläubig,
forglo8 und ängftlich zugleich“, für weite Kreife unferes Volles noch
heute. — Der Streit, ob die Kirche fih an den politischen Tages
fragen betheiligen dürfe oder nicht, ift zu neuem Leben erwacht, die
einen jagen. Nein und feheinen mit einem frommen laisser faire das
Mancheſtertum unterjtügen zu wollen; die.anberen jagen Ya, und
zwar mit ſolcher Entjchiedenheit, daß; fie weit über das erwilnfdhte
Intereſſe an gefellfchaftliher Reform hinaus gerade in der
politiihen Parteibildung em gutes. Mittel fehen zur Hebnang
des Anfehens der Kirche und zur Wiederberftellung. des Einflufes
ihrer Seiftlihen. In der Anklage. der Kirche reichen fich. Con⸗
jerpative und Liberale, Wohlwollende und Uebelwollende, Geiftliche
und Laien die. Hand. „Wenngleich bier nicht der Ort iſt, auf die
religidjen und kirchlichen Zuftände. und Streitfragen: der Gegenwart
Socialismns und Socialreform. 629
näher einzugehen“ — jchreibt der Kritiker von Schäffle's „Ouinteffenz
bes Socialismus“, der praftiiche Staatsmann aus Berlin —, „fo darf
doch nicht verschwiegen werden, daß an der heutigen Verwirrung
der Köpfe und Herzen nicht allein die moberne Wiſſenſchaft, fondern
auch die Kirche felbft und deren Organe einen nicht geringen Theil
der Schuld tragen, und daB indbefondere Herr Ehalmers durch⸗
ans Recht hat, wenn er die Haltung und das Auftreten der unteren
Doltsclaffen als die Quittung bezeichnet, welche dieſe der Kirche
Aber ihre Seefforge ausſtellen“ (S. 23).
&ines aber tft, feit Fallati und Hundeshagen die angeführten
Worte fchrieben, ganz anders geworden. War's vor einem Men⸗
fihenalter noch Wahrheit, daß „und Deutfche die Frage, um bie es
ſich hanbelt, im Leben nur wenig berührt”, fo tft jegt das Gegen
theil der Fall. Die focialiftifchen Zdeen haben in Deutſchland
die weitefte Verbreitung gefunden, und ihre Anhänger find nicht
bloß in den Reihen der Socialdemolraten zu ſuchen. Hundes»
hagen konnte fich veranlaßt fühlen, einen Rüdbli in die Ver⸗
gangenheit zu hun und einen gefchichtlichen Abriß über Communis⸗
mus und Socialreform zu bieten, wir müſſen, den veränderten
Berhäitniffen entfprechend, der Gegenwart in's Angeficht Schauen. —
1. Einer ftatiftifchen Weberficht über die Ausbreitung des Socia-
lismus auf deutſchem Boden, jomweit derfelbe von der Socialdemo⸗
fratie repräfentirt wird, bedarf es nicht. Jedermann fennt die
Sahln. — Zur reiten Zeit Hatten fi) die beiden Fractionen
„Laffalle* und „Marr“, die nationale und internationale Nichtung
ber deutfchen Socialdemofratte, geeinigt, oder richtiger, waren die Laſſal⸗
leaner zu den Eifenachern übergegangen, um gemeinfchaftlid mit ver-
ftärftem Druck bei der bevorftehenden Reichsſstagswahl zu arbeiten
und das bekannte Reſultat zu erzielen. — Weil die Sieger, die
Eifenacher, gegen die Lafjalleaner in erheblicher Minderheit waren,
9000:15000, fo ſchließt Mehring?!) daraus, daß „Lafſalle's
Agitation nur eine geiftvolle Caprice war, die, ohne realen Boden,
im Sumpfe des abfoluten Nihilismus verfinken mußte“. Biekmehr
wurden die ftärferen Laffalleaner von den ſchwächeren Eifenachern
1) Mehring, Die dentiche Socialdemokratie, S. 124.
650 TZrümpelmann
aufgefogen, weil biefe die confequenteren waren. Der Laſſalle'ſche
Socialismus mußte dem Marr’fhen, d. 5. der Madt der
Confequenz, weihen. Denn Genoffenfchaftsproduction im ſo⸗
cialiftifchen Sinne läßt fih im Rahmen des nationalen Staates
eben nicht verwirklichen. Die Internationalität ift conditio
sine qua non. Im Verlauf unferer Abhandlung werden fi die
Gründe von felbft ergeben. — Ober follte die Internationa⸗
tät an dem MWiderftand der Nationen fcheitern? Auf dem lebten
internationalen Congreſſe zu Gent bat der Deutfche Liebknecht
fih der Abſtimmung enthalten, als die Romanen forderten, das
Wort „Anarchie“ als Ausdrucd ihrer Beftrebungen führen zu
dürfen. Die Deutfchen reden fpottend von den „Anarchiſten“, und
diefe nennen die Deutfchen „Autoritarier“. Die Anardiften oder
Söderaliften behaupten nah Proudhon, durch die wirthfchaft-
liche Organifation im Sinne des Socialismus werde die geſellſchaft⸗
lihe Ordnung unmittelbar fo volllommen gefhaffen und er-
halten, daß eine bejondere Regierungsgewalt gar nicht nothwendig
werde. Die gefellichaftliche Drdnung jet eben die Regierung, und
an bie Stelle des Geſetzes trete der Vertrag. Die Deutfchen
wollen Centralifation ftatt Föderalismus der einzelnen wirtbfchaft-
fihen Gruppen oder Communen und fordern ftramme Oberleitung
für das Ganze. — Bon felbft verftändlid — mit der jeßigen
Regierungsgewalt machen fie auch) tabula rasa, aber im focialiftijchen
Gemeinmejen: Centralifation und ftramme SOberleitung! — Ob
die „Poſt“ Recht Hat, wenn fie fchreibt: „Bei den Socialdemotraten
ift ſchon eine Ariftofratie fir und fertig, die an jenem Tage in
den vollen Genuß ihrer Rechte eintritt, wo die Socialdemofratie
die Erbfchaft der heutigen Gefellichaft antreten wird"? Unſeres
Erachtens trifft fie den Nagel auf den Kopf.
2. Im Winter 1869 ſah ich die weibliche Linie der Sa
cialdemofratie, die Gräfin Hatzfeld, (fie Hat jegt ausgefpielt)
mit ihrem damaligen Adlatus Mende auf dem Bahnhofe zu
Langenſalza. Es wurde dort noch gebaut, unb viele Bauarbeiter
waren beſchäftigt. Da fragten Mende und die Gräfin nach bem
Lohne, fanden ihn natürlih völlig unzureihend und warfen den
Zunder der Unzufriedenheit in die Seele der Gefragten. Und bie
Socialismus und Socialreform. 631
Tragenden? Herr Mende, ein vollendeter Stuger in Glanzſtiefeln
und Glackhandichuhen, und die Frau Gräfin im Hermelinpelz!
Dies Genrebild ift bezeichnend. So find fie alle — die Mader!
diefer Laſſalle zumal! Gerade zur rechten Zeit erfcheint das Buch:
„Eine Liebesepifode aus dem Leben Laſſalle's.“ Hätte man noch
gezweifelt, was für ein Menſch diefer Agitator geweien, — jet
tritt er in das rechte Licht. Und diefen zügellofen Genugmenfchen
voll halb irrfinniger Selbftüberhebung erfrecht man fich dem armen
Volke als Gegenftand religidjer Verehrung zu bieten! — Aus den
Herzen folder Genußmenſchen kommt fein fchmerzliches „mid
jammert des Volkes“, wol aber benugen fie jchamlos feine Noth
zum Piedeſtal ihres Ehrgeizes. Achtung und Freiheit dem Arbeiter,
der ſich geiftig Über das Niveau der Seinen erhebt, die foctalen
Schäden erfennt und zu beffern jucht, aber Verachtung und Feſſeln
ſolchen Heuchlern! —
Doch gerathen wir nit auf Irrwege, wenn wir von „Machern“
reden? „Die Tächerlichfte und gedankenloſeſte Anfchauung iſt's“,
fagt Adolf Held), und Karl Bücher?) nennt's „unverant«
wortlichen Leichtfinn, wenn man fi damit begnügt, die ganze
moderne Bewegung als eine ‚künftlich gemachte‘ zu erklären“. —
Prüfen wir die Sadlage sine ira et studio. Recht unterrichtend
ift eine DVergleihung des Socialprogrammed des „Centralvereins
für das Wohl der arbeitenden Klaffen in Preußen” vom 14. April
1848 mit ben Programmen der deutfchen Socialdemofraten
(j. Congen a.a. DO. ©. 146 f.). Mitten im Nevolutionsjahr
ein Socialprogramm, dad wie eine Friedenstaube- ift gegen die
Sturmpvögel, die unjere Sorialiften ausfenden. Jenes Programm
ift ein befonnenes Vorgehen zur Beſeitigung focialer Meisftände,
dieſe athmen den Geift des Socialismus, und eben das,
was hHinzulommen muß, um ein Socialprogramm zur
Deförderung des Wohles der arbeitenden Klaffen zu
einem focialiftifhen zu madhen, eben das ift das
„künſtlich Gemachte“, es ift importirte Waare. O wenn
1) 4. Held, Socialismus, Socialdemokratie und Socialpolitil, ©. 35.
s) H. Contzen, Gefchichte der focialen Frage, S. 111.
f82 Trümpelmann
man dody in den fünfziger Jahren auf der Bahn jenes Programmes
vom 14. April 1848 feft und treu vorwärtd gegangen ‚wäre!
In jenem Programm heißt e8 unter anderem: „Habt Ber
trauen zu dem neuen Geift, der durch die Welt geht: feine Macht
ift die Macht ber Wahrheit und des Guten, feine gewaltige Kraft
wendet die Herzen der Befigenden mehr und mehr eurem
Lofe zu, wir vertrauen ihm, wir vertrauen Euch.“ Die Ber
faffer des Programms dachten zu ideal. Hätte ber Geift des
Jahres 1848 diefen Erfolg gehabt, die Herzen der Befigenden dem
Loofe der Arbeiter wirklich ganz und gar zugewandt zu haben, fo
könnten wir das Revolutionsjahr in diefer Beziehung ſegnen; aber
leider war das nicht der Fall, jedenfall nicht jo weit, als nöthig
war, die Wandlung der foctalen Frage zum Socialismus oder richtiger
die Importation desfelben zu verhindern. Im nächften Abfchnitt
wird der Unterfchied zwifchen beiden noch näher firirt werden.
Große Nothftände der arbeitenden Bevölkerung waren aller
dings zu beflagen. Ueberzeitige Alltags- und Sonntagsarbeit;
unzureichender Lohn des Familienhauptes und darum Frauen⸗ und
Kinderarbeit, durch diefe wieder Herabminderung des Lohnes und
Beſchränkung der Münnerarbeit; Auflöjung oder doch Verkümme
zung des Familienlebens; zu Haufe Wohnungen, die nicht beifer
find als Ställe, die mechanische Thätigleit des Arbeiters an der
Maſchine; im Unglüd und im Alter die totale Verarmung: war-
lid ein freudlofes Dafein, ein Leben der Hoffnungslofigkeit! —
Wie befreiend aus der Haft wirkte das Gefeg über die Aſſocia⸗
tionsfreiheit, und da der capitaliftiiche Großbetrieb die Arbeiter in
Maſſen nad einzelnen mduftriecentren gezogen und dort für
die Genoffenfohaft unmittelbar dreffirt Hatte, jo war diefe auf
mit dem Erjcheinen des Geſetzes fertig. — Die Arbeiter hatte
nın das Mittel, gegen Ausfaugung jich zu wehren. Socialiften
aber brauchten fie deshalb nicht zu werden. ALS Laffalle von
dem Leipziger Komite zur Berufung eines „allgemeinen deutſchen
Arbeitercongreſſes“ in Anfpruch genommen wurde, hatte er bereite
feine Agitationsrede „über den befonderen Zujammenhang der gegen
wärtigen Gefchichtsperiode mit der Idee (!) des Arbeiterftandes’
gehalten, d. h. die focialiftiiche Agitation war bereit eingeleitet.
Socialismus und Socialreform. 638
Die Lage der arbeitenden Glaffen war in England wol trau:
tiger als bei und, wie bie Mitteilungen von Mare in feinem
„Capital“ bemweifen. Die Gefetgebung nimmt fich endlich nach
‚lange geübter rückſichtsloſer Härte im freundlichen Sinne ber Arbeiter
an, und e8 fommen die Trades’ Unions zu Gedeihen und Macht,
jene freien Vereinigungen mit dem Zmede, das Intereſſe der Ar-
beiter der Uebermacht des Großcapitals gegenüber zu wahren,
Einfluß vor allem auf die Lohnfrage zu gewinnen. Sie erreighen
dies dadurch, daß fie den Arbeitsmarkt bis zu einem gewiſſen
Grade felbft reguliren, durch Ueberführung von Arbeitermaffen in
andere Diftricte, ja über den Ocean ein zu großes Arbeitsange-
bot verhindern, und fo die Arbeitsnackhfrage in Spannung er»
halten; der anderen, von diefer Vereinigung gefchaffenen groß-
artigen Einrichtungen zum Wohle und Behagen des Wrbeiters
gar nicht zu gedenken! ?) Es iſt das eine Bereinigung ad hoc;
fie leiftet für ihren Zwed das Größte und ift doch nicht Socialiftiich,
denn fie hat. feine politifche Tendenz, ja jie verbietet daS Verhandeln
über politifhe Dinge bei hoher Geldftrafe ?). — Uns in Deutſch⸗
land dagegen fcheint es beſchieden zu jein, daß jedem Streben nad
Socialreform ein politifher Beigeſchmack gegeben werden muß,
damit es gleich für weite Kreife der Bevölkerung gründlich die-
ereditirt fei. So marſchiren die „Chriſtlich⸗Socialen“ der katholischen
Kirhe im Dienfte des Ultramontanismus, die Gewerfvereine
„Dunder und Hirſch“ im Solde der Fortſchrittspartei. Diejen
Sehler hat auch die neugegründete chriftlich-fociale Arbeiterpartei in
Berlin begangen; vielleicht freilih war er, wie die Dinge num
einmal liegen, nicht zu vermeiden. Immer bleibt’8 ein trauriges
Zeichen unferer Zeit, daß dies fo fein mußte. Es hätte ſich jonft
ein Reformprogramm entwerfen laffen, welches der Zuftimmung
aller gewiß fein fonnte, während das jegige mit jeiner immerhin
tocialiftiichen Färbung die Befürchtung mahelegt, daß es fid) doch
wol erit im Socialiftenftante realtfiren laſſen dürftel —
Die fociale Frage iſt alt, uralt; auch in unferem Volke drängte
fie fih jeit lange lebhaft zur Beantwortung in den Vordergrund.
1) Mehring a. a. O., ©. 186.
2) Bgl. Contzen, Geichichte der ſocialen Frage.
634 Trümpelmann
Die angeführten Uebel und die focialen Verſchiebungen, namentlich
die theilweife Auflöfung des Handwerkerftandes und das Eropfähns
liche Anfchwellen von Capital in den Händen einzelner mußte
Beſorgnis erweden und eruftlih zu Reformgedanken auffordern;
aber das, was unferen Socialismus zu dem macht, was er ilt,
zum politifchen und wirthichaftlichen Radicalismus, das ift das
„Künftlih Gemadte‘. Wenn gelehrte Nationalölonomen auch den
Socialismus als irgend eine Seite irgend eines wirthichaftlichen
Princips irgend einer Nationalölononomie früherer Zeit begreifen
und darin die biftorifche Begründung desfelben finden wollen, fo
ift das eine andere Sache: aus der Noth unferes Volkes heraus
aber ift er nicht geboren; er weiß diefe Noth nur geſchickt zu benugen.
Mean nehme doc nur das „Capital von Marr zur Hand, dieſes
Bud) der Sophismen. Das ift der wiſſenſchaftliche Unterbau des
Sorialismus. Nun? ift diefer wirthfchnftliche Radicalismus
wirflih die nothbwendige Conſequenz unfeser gefell-
ſchaftlichen Verhältniſſe? Nein, er ift ihnen künſtlich aufge:
ziwungen worden und fließt jelbft aus anderer Quelle (f. 3). Alter
dings gibt es jet auch Conſervativ⸗Sociale, welche die wirthfchaft-
fihen Behauptungen diefes Buches für abjolute Wahrheit Halten.
Wir Deutfche find eben wunderliche Leute. Wenn das Syftem nur
Schluß Hat, der Begriffsjhematismus in Ordnung ift, dann
iſt's Wahrheit und — Wirklichkeit! Dann geht die Sache, d. h. im
Kopfe; das Leben aber fpottet ber Begriffe. —
Die Gabe des allgemeinen, directen Wahlrechtes kam der Agi⸗
tation natürlich fehr zuftatten. Der vierte Stand Ternte fi in
feiner Stärke kennen. Das theoretiihe „Der Staat find die
Arbeiter“ fchien jih in der Praxis zu bewähren. — Der Socia⸗
lismus verlangt die weitere Ausdehnung dieſes Nechtes auch auf
Landtages und Bommunalwahlen, und die „chriftlich- focialen
Blätter“ (Kath.) reden biefer Yorderung das Wort. Das Vers
fangen der Socialiften dagegen, daß das active Wahlrecht noch
einem jüngeren Lebensalter zugeftanden werden müffe, als es bis
jegt geſchehen, jcheint Treitfchle Recht zu geben, der die Ber»
leihung des allgemeinen directen Wahlrechtes überhaupt einen poli⸗
tiſchen Fehler nennt. — Bon verſchiedenen Seiten taucht jegt im
Socialismus und Socialreform. j 635
Gegenfag jener extremen Forderung der Socialiften der Wunſch
auf, man möchte den Muth Haben, mit diefem Rechte, welches ben
Menfchen nur in feiner Vereinzelung berüdfichtige, aufräumen, und
es ausichlieplich auf die Häupter der Familien, diefer Grundlage bes
Staates übertragen, ficherlich ein recht wirffames und vor der Ver»
nunft unmittelbar fich vechtfertigendes Mittel gegen den Socialismus.
3. Aus dem vorigen Abfchnitt geht hervor, daß ich zwifchen
„locialer Frage" und „Socialismus“ ſcheide. Diefe Scheidung
Teint mir nothwendig. Bereit vor mehr als einem Jahre ſprach
ich mich darüber in einem Artikel der „Deutfchsevangelifchen Blätter“
aus. Die „fortale Frage” ift die Frage nad der Hebung der
arbeitenden Claſſen, um dadurch das gefellichaftliche Gefüge gefund zu
erhalten; der „Socialismus“ ift ein politifch-philofophifches Syſtem.
Es könnte dem Arbeiter vollkommen binreichender Lohn, vielleicht
Theilnahme am NReinertrage gewährt werden, er könnte für das
arbeitsunfähige Alter durch Invalidencaſſen fichergeftellt fein, er
könnte mit Weib und Kind, welche das Haus nicht mehr im Dienfte
der Fabrik zu verlaffen brauchen, in freundlicher, gartenumgebener
Wohnung ein durchaus menfchenwürdiges Dafein führen: — der
Socialis mus würde damit nicht zufrieden und alfo auch nicht über»
wunden fein. — 4. Held fagt): „Aus dem Gefagten geht das
eine hervor, daß das innerfte Wefen der Socialdemofraten die
leidenfchaftliche Abficht und der bewußte Wille, radicalen Umfturz
herbeizuführen, if. Wegen diefer vorwiegenden Tendenz in&befons
dere ift e8 durchaus nöthig, zwifchen Socialismus und Socialdemo-
fratie ſcharf zu unterfcheiden.” Gefällt diefe Unterfcheidung beſſer
als die von mir beliebte, jo ſoll's mir recht fein, nur dünkt mid,
dag das Wort „Socialismus“ ſchon zu jehr in deteriorem partem
ausgeprägt worden ift, als dag man es noch in dem indifferenten
Sinne, wie Held will, gebrauchen Tann. lan verbinde und unter«
fheide doch Lieber fo: „fociale Frage und Socialreform (Social
politif)“, unterfchieden von: „Socialismns und Socialdemofratie".
Soriale Frage als Subftrat der Socalreform, Socialismus als
Subftrat der Sorialdemofratie. —
1) a. a. O., ©. 28 u. 29.
686 Trümpelmann
Wir begegnen fehr häufig der Meinung, als ftehe der polttiide
und religiöfe Radicalismus der Sorialdemofratie in feiner organi«
schen Verbindung mit ihren wirthichaftlihen Forderungen, er fe
nur Accidenz, und fo glauben ‚die einen ohne Gefahr mit den wirt
Ichaftlichen Forderungen des Socialismus fympathifiven , ja ihnen
das Wort reden zu dürfen, 3. B. Scäffle, Todt, während bie
anderen, die Verwirklichung diefer Forderungen fiir unmöglich haltend,
die Barole ausgeben, der Kampf gegen den Socialismus fei vor
allem und ausſchließlich auf wirthſchaftlichem Gebiete zu
führen, 3. B. Geffken, beide im fchmerer Tänſchung befangen.
Die mirtbfchaftlicde Grundforkerung des Socialismus ift ebenio
ſehr aus dem politiſch⸗ religiöfen Radicalismus erwachſen, mie fir
mieder al8 Mittel zu deſſen Verwirklichung dient.
Das bereit erwähnte Schriftchen „eines praftiihen Staat
mannes“: „Kritik von Schäffle's Duinteffenz des Socialismus'
gipfelt darin, daß es Schüffle zum Vorwurf gemadt wird, nur
das Wirthſchaftliche berüdjidhtigt und den „Haupt und faft aus⸗
ſchließlichen Inhalt der gegenwärtigen Agitation mit Stilifchweigen
Übergangen zu haben“. Und Seite 17 Heißt ed: „Der Socialis—
mus ift feineswegs ein auf die bloße volkéewirth—
Ihaftlide Production beſchränktes, einfeitiges, fon
dern ein allgemeines, das geſamte menjhlihe Wefen
und Neben umfafjendes Syſtem, deffen einzelne Be—
ftandtheile um deswillen auch nidt ifolirt, fondern
nur in ihrem Verhältnis zur Gefamtheit behandelt
werden dürfen.“ Aber fchon im nächſten Sage, fo viele Wahr:
heit er auch enthält, jehen wir die richtige Erkenntnis durch falick
Beimiihung fih trüben, und auf S. 20 Iefen wir dann einen
Ausſpruch, der mit dem eben angeführten im Widerſpruch fteht.
Die Säge lauten: „Nicht minder refultirt daraus, daß alle dir
jenigen bewußte oder unbewußte Mitarbeiter der fociafiftifchen Agi⸗
tatoren find, welche den Zerftörungstrieb des Socialiemus im der
einen oder -anderen Richtung fördern und pflegen und damit indirect
die Hand dazu bieten, für die immerhin noch unklare ſocialiftijche
Neubildung tabula rasa zu maden. Wir glauben dies um fe
mehr betonen zu follen, als nach unferer Ueberzeugung die eigent-
Socialismus und Sociafreform. 637:
lihe Gefahr des Socialismus und insbefondere feine umftürzende
Kraft weniger in feinen ſpeciellen volfewirthichaftlichen Beftrebungen (?)
als in feinen darüber hinausgehenden Tendenzen befchlofien ift. Denn
‚nicht allein, dag durdy diefen Zuſammenhang auch feine volfswirth-
ſchaftlichen Beſtrebungen ihre eigentümlihe Färbung und ihren
jpecififhen Charakter (I) erhalten, jo wird. auch die weitere
Entwidlung dadurch bedingt, daß mit der Befeitigung alles befien,
was der Socialismus auf anderen Gebieten als des. Untergarnges
wertb bezeichnet, diejenigen Correcturen verloren gehen, durch welche
die vollswirthichaftlichen Projecte fich allein erträglich und Heilfam
geftalten könnten.“ So kommt es fchließlich dahin, daß der Kritiker
Herrn Schäffle in abstracto Recht gibt, wenn diejer behauptet, mit
der Umgeftaltung ımferer volfswirthichaftlichen Berhältniffe jet jede
andermweite radicale focialiftifche Ummwälzung keineswegs von felbft
gegeben oder auch nur gefordert und es „erheifchten die volkswirth⸗
Ihaftlihen Boftulate der focialen Partei an ſich keineswegs Atheis⸗
mus, Religions. und Kirchenfeindfchaft“, und daß er nur in concreto
bervorhebt, es wären doc immerhin diefelben Leute, welche: jene
volfswirthfchaftlichen Wandlungen und diefen radicafen Umfturz
verlangten, fo daß fchlieklih — das foctaliftiiche Syſtem, deffen
Umfang und Gefcdjloffenheit S. 17 hervorgehoden wurde, ſich in
feiner Einheitlichleit auflöft und die beiden Seiten des Socialismus,
die volkswirthſchaftliche und die politifche und religiös» radicale nur
zufällig in denfelben Leuten verbunden erfcheinen; eine Auffaffung,
die einem praftifhen Staatsmanne genügen mag, die fidh aber
thatfächlich. von der Schäffle'ſchen kaum unterfcheidet.
Um Klarheit in die Sache zu bringen, ift vor allem feitzuftellen,
was unter den „ſpeciellen volkswirthſchaftlichen Beftrebungen des So⸗
cialismus“ zu verſtehen iſt. Sind's jene Forderungen, deren Ver⸗
wirklichung man ſchon vom Staate der Gegenwart heiſcht,
fo iſt obige Behauptung richtig; iſt's aber jene vollswirthſchaftliche
Forderung, deren Realifirung vom Zukunftoſtaate erwartet wird,
oder, was dasſelbe ift, mit Hülfe deren man den Zukunfts⸗
ftant realifiren will, fo- ftegt fie zu dem politiſch⸗religiöſen
Radicalismus im engfter und organifcher Beziehung, und vers
bindet fich mit ihm nicht bloß zufälligermeife in gewiſſen Perfonen:
638 Trüämpelmann
Marx und Engels find wirklich confequente Denker, und fie willen
ganz genau, welche Tragweite ihre volfswirthichaftliche Grund⸗
forberung hat. — Es ift mir volllommen erflärlih, warum Scäffle
mit dem Socialismus und feinen wirtbfchaftlichen Forderungen fo
vielfah ſympathiſirt. Ich möchte diefe Sympathie nicht, wie
A. Held, von Schäffle's „Föderalismus” herleiten, ſondern aus
feinem Naturalismus, feinem bdarminiftifchen Aufbau der Geſell⸗
ſchaft, ihre fittlihen und Nechts - Begriffe eingeichloffen.
Auh Pfarrer Todt, mit deilen Buch: „Der radicale deutſche
Socialismus u. f. w.“ wir uns noch mehrfach auseinander
fegen haben werden, erklärt den religiöfen Radicalismus der focialen
Partei nur für ein Accidenz. Ihren vollswirtbichaftlichen Forde⸗
rungen redet er das Wort und zerrt das neue Zeftament zu feiner
Unterftügung heran. Er hält den ſocialiſtiſchen Vollsftant vom
wirthihaftlihden Standpunkt für möglid (S. 226) und
nicht mit den liberalen Vollswirthen für unmöglid. Sollte das
legte „und“ vielleicht nicht bloß verbindend, fondern auch begründend
fein? Auch der politifhe Radicaliemus macht ihm weniger Bein.
Er ahnt, dag der fociafiftifche Genoſſenſchaftsſtaat die monarchiſche
Spige nicht verträgt, allein die Republik entſpricht ja aud am
meiften dem Geifte des Ehrijtentums, und wenn diefer Geift
exit die Volker mehr durchdrungen haben wird, fo wird ſich die
Republik als das Ziel ihrer politiihen Beſtrebungen herausſtellen.
Für jest freilid — nein, noch nit — und für uns Deutfche? —
Herr Todt hat Gründe, anzunehmen, daß für und Deutſche die Re
publik nicht paßt. Er erhofft die Hülfe darum „von oben“, d. 5. vom
Haufe der Hohenzollern. — Aber, und darauf kommt es une hier ja
zunächſt an, der „religiöfe Radicalismus, der Atheismus“ ift nad
ihm nur Accidenz. „Aus Nützlichkeitsrückſichten wendet ſich der Socialift
dem Atheismus zu, und weil es die materialiftifche Zeitftrömung
fo mit ſich bringt. In der Sache felbft Liegt es durchaus nicht.’
(S.78.372.) Was will nun aber Pfarrer Zodt damit fagen, wenn
er ſchreibt: „Unfere radicalen deutfchen Socialiften find Atheiften
geworden, weil fie eben zuerft Socialiften waren; nicht aber find
ſie Socialiften geworden, weil fie vorher ſchon Materialiften
waren?" „Weil fie Socialiften waren“, Tiegt darin nicht eine
Soctalismus und Socialreform. 639
Begründung? oder gebrauchte Herr Pfarrer Todt das Wort „weil“
etwa für „obgleih"? „Obgleih“ Hätte er fchreiben müffen, aber
unwillfürlih jchrieb er „weil“; er empfand eben, daß zwifchen
Socialismus und Atheismus verwandtfchaftliche Bande ſich fchlingen.
Die atheiftifh-materialiftifhe Weltanfhauung hat
für die Praxis zwei Ausläufer: rüdfichtslofen, extremen
Yndividualismus und rüdfihtslofen, ertremen So—
ctalismus, beide mit der Depvife: „Kampf ums Das
fein“. Sr. Mehring madt (a. a. O., ©. 155) die Bemerkung,
„daß die Socialdemokratie, die heute den reinen Communismus
vertrete, feinen tödlicheren und unverföhnlicheren Feind babe, als
den Darwinismus, und daß, wenn fie gelegentlich mit demfelben
eoquettire, es felbjt in unferer an Nonjens eben nicht armen Zeit
feinen hößeren Gipfelpunkt des Widerfinns gebe. Denn der Dar
winismus in feinen beiden Hauptjägen, dem Kampfe um's Dafein,
welcher ber größeren Kraft das größere Recht verleiht, und der
natürlihen Zuchtwahl, die unabläßig auf eine ariftofratifche Glie⸗
derung der Geſellſchaft drängen, fchlage den Communismus pur
et simple todt.“ Herr Mehring ſpricht das fo beftimmt und in
fo ſtarken Worten aus, daß es faft verwegen erjcheint, dagegen
etwas einzuwenden, und dod muß es wol gefchehen, zumal wenn
man der Ueberzeugung ift, daß fih Herr Mehring pur et simple
irrt. Wenn man über die DVerwandtfchaftlichfeit zweier Geiftes-
ftrömungen ein Urtheil gewinnen will, muß man fie nicht in ihren
Ausläufern zufammenhalten, fondern nad ihrer Wurzel ſuchen.
Die Wurzel beider nun, de8 Darwinismus und des Socialismus,
ift der pure und fimple Naturalismus. Die Gefhichtsanfchauung
ber Socialijten, die nur einen Kampf der materiellen Intereſſen
kennt, ift durch und dur darwiniftifh; nur gehen fie darin weiter,
als die Naturforfcher mit ihrer Sadgafjentheorie für beftimmte
Thier- und Menſchenelaſſen, daß fie jagen: „was mechaniſch ge»
worden, läßt fid) auch mechanisch d. H. durch Wandlung der äußeren
Verhältniſſe wandeln”. Sie find alfo die eigentlich Conſequenten
in der Anwendung des naturaliftiichen Erflärungsprinceips. Und dann
muß dod Herr Mehring wilfen, dag nad) Darwin auch das Her-
denleben der Thiere ein Schugmittel im Kampfe um's Dafein ift
6“ Trümpelmonn
und zwar ein jehr erfolgreiches. Darum iſt für das Gefellichafte-
thier Menſch die Genoifenichaftsarbeit mit Gelellichaftebefig viel⸗
leicht das Mittel aller Mittel, um im Kampfe um's Dafein fiegreich
zu beftehen. Endlich aber füme «8 danach für die Socialiften nur
darauf an, die größere Macht zu erwerben, um damit das
größere Recht gewonnen zu haben. Der Darwinismus fchlügt
den Socialismus nicht tobt, fondern unterftüßt ihn durchaus. —
Pfarrer Todt weift auf äftere Socialiften hin, die nicht re
(igiößsradical gewefen feien. Ich bemerfe: das waren dann eben
feine correcten, radicalen Socialiften; es waren fociale Reformer.
In dem Grade jedoch, als ihre Reformen dem wirtbichaftlichen
Radicalismus fib näherten, fprangen auch ihre Schüler
feihter zum religiöfen Radicalismus über. Pfarrer Todt ift
offenbar nur um deswillen jo viel daran gefegen, den Atheis⸗
mus al& nicht zum Weſen des Socialismusd gehörig erfcheinen zu
laffen, weil er nur fo hoffen darf, die volkswirthſchaftlichen Forde⸗
rungen des Socialismus chriſtlich etiquettiren zu fönnen. Ich
betone da8 Wort etiquettiren, denn über die Etiquette, die
Affihe, geht's thatfählih nicht hinaus. Ich wieberhofe: der
Socialismus ift ein zufammenhängendes, in fi ge
fhloffenes politifch »philofophifhes Syſtem, aus
einer beftimmten Weltanfhauung hervorgemadjfen
und fih nur in wirthfchaftliden Forderungen den
nädhften Ausdrud gebend. — Ye mehr der Leute auftauchen,
die da jagen: der Socialismus fei in wirthfchaftlider Beziehung
eigentlich unverfänglih, und fein Radicalismus fei nur Necidenz,
defto mehr werden die Sociafiften fi) in’s Fäuftchen lachen , denn
fie wiffen beffer, was die Confequenz ihrer wirthſchaftlichen Grund»
forderung ift.
Unfere Confervativ » Socialen zollen den focialen Reformbe⸗
ftrebungen der katholiſchen Kirche ungetheilten Beifall. So möge
denn ein Urtheil der „Chtiſtlich⸗ſoelalen Blätter“ diefe Herren ber
lehren. Auf die Frage: „ob der Haß, den der radicale Socialis⸗
mus der Religion entgegenbringt, zum Weſen desſelben gehöre oder
nur Wceidenz fei”, geben fie die Antwort: „Soviel ift gewiß, jo
lange der radicale Socialismus mit der allgemeinen, eventuell
Socialiemus und Socialreform. 641
zwangsweiſe durdyguführenden Beſeitigung des Privatcapitals
ſich trägt, ſo lange er radical bleibt, iſt er mit der chriſtlichen
Religion, mit ben chriſtlichen Anſchauungen von Eigen—
tum und ftaatliher Autorität durdaus unvereinbar. ‘Das
fühlen die Vertreter des radicalen Socialismus wohl, und darin
fiegt der tiefere Grund ihres Hafjes gegen Religion und Chriften-
tum, welcher nidt etwas bloß zufälliges ift.“ Die
„Ehriftlich-focialen Blätter” jehen alfo den Radicaliemus nicht bloß
in der „zwangsweilen“ Einführung der wirthichaftlihen Umgeſtal⸗
tung wie Pfarrer Todt, fondern in der Art diefer Wandlung, und
finden in diefer den tieferen Grund für den Atheismus der focialen
Bartei. Die Socialiften felbft aber faffen den Socialismus als
ein Syſtem und verwahren fi) dagegen, daß man ihre wirth⸗
schaftlichen Grundſätze als indifferent berauszunehmen und für fich
zu behandeln verſuche. „Es muß offen ausgejprochen werden“,
Schreiben fie in die Welt hinaus, „daß nur die materialiftifche,
vielleicht beſſer moniftifhe Weltanfhauung, wie fie durd bie
moderne Wilfenjchaft von Tag zu Tag fefter begründet wird, den
Grundjägen des Socialismus entfpricht und ihnen die
breite Basis gibt, auf welder fie fih zu einem abge»
Thloffenen Bau erheben können.“ Und die Zeitfchrift „Neue
Geſellſchaft“ ruft dem von Pfarrer Todt und Genoffen gegrüns-
deten „Staatsfocialift“ höhnend zu: „So fehr es ihn (den Staats⸗
focialift) auch härmen mag, bei den von der neuen Weltan»
Ihauung des materialiftifch-atheiftifhen Socialismus
durchdrungenen Arbeitermafjen wird er wenig Glück haben.“ So
wollen wir uns denn von Socialiften über ihr Denken und
Wollen belehren Laffen, und drei» und viermal überlegen, ehe wir
ihren wirthſchaftlichen Grundforderungen vorfchnell das Wort reden
und diefelben für fehr wohl realifirbar erklären.
4. Die wirthfchaftlihe Grundforderung des Socialismus (am
tiebjten fchriebe ich gleich: das Wejen des Socialismus) ift diefe:
„jtaatlihe Organifation der Gefamtarbeit unter Ueberführung
alfer Arbeitsmittel aus dem Einzelbeſitz in Gefellichaftsbefig und
unter Normirung des gejellichaftlichen Durchfchnittsarbeitstages als
Werthmefjers für die (gleiche? vernunftgemäße?) Theilnahme der
Zheol. Etub. Sahrg. 1878.
642 Trümpelmann
Arbeiter, d. h. aller Bürger an den Arbeitserzeugniſſen als Ge⸗
mußmitteln“. Das iſt's alſo? und das ſoll fo bedenllich jein?
„Organiſation der Geſamtwirthſchaft'? alſo Beſeitigung der
jetzigen Wirthſchaftsanarchie mit ihrer Ueber⸗ und Unterproduction,
ihren Krachen und Krifen! „Staatliche Organiſation“? alſo ein
ſtarkes Staatsweſen an Stelle des liberaliftiſchen Nachtwächter⸗
ftantes! Ueberführung der Arbeitsmittel” — alſo nad und
nach, hübſch langſam! — „aus dem Einzelbefit in Gejamtbefig”,
allerdings, nun ja, man muß fi erit daran gewöhnen, aber t6
fol doch nicht gefchehen ohne Entfchädigung, und es Hat ja früher
auch manigfachen Gemeinbeſitz gegeben, mobei ſich die Geſellſchaft
wohl befunden; eben jet tilgt die Separation die legten Erinne
rungen an diefen Gemeinbeſitz aus, umd es fcheint gerade die rechte
Zeit zu fein, diefen Weberführungsprocek einzuleiten, denn die
Heinen Eriftenzen find bereits, die mittleren werden immer mehr
aufgefogen von dem Großcapital, das zuleßt allein auf dem Plan
bleiben wird; beffer doch die Productionsmittel zum Geſellſchafts⸗
eigentum macen, als fie immer mehr aus dem Cheilbefig der
großen Menge in den Einheitsbejit des Großcapitaliften übergehen
zu laffen. „Der gejellfchaftlihe Durchſchnittsarbeitstag ale Werth
meſſer“, iſt das nicht die Nobilitirung der Arbeit und der Schuk
des Arbeiters, daß er feine Arbeit d. h. fich felbft nicht mehr auf den
Markt zu bringen braucht? daß das willfürlihe Ausraubunge
und Auspreffungsiyften der menfchlichen Kraft, das Lohnfyſtem,
mit allen feinen Härten ein Ende findet? Und endlich „vernunft-
gemäße Theilnahme aller Arbeiter an den erzeugten Genußmitteln’ —
das heißt der Arbeit ihren vollen Ertrag gewähren, und es wird
dies zu einem Siege der Gerechtigkeit. — Alfo, was ift jo
entjegliches an diefer Grundforderung der Socialiften? Es ſcheint,
als müßte jeder, der ein warmes, chriftliches Herz in der Brufl
bat, ſich fofort in die Neihen der Vorkämpfer für jene Forderungen
einjtellen. Und die organifche Verbindung biefer wirthſchaftlichen
Forderung mit dem politifch=religiöfen Radicalismus der Social:
demofratie nachzuweifen, dürfte, fo ſcheint's, denn doch feine beſon⸗
deren Schwierigkeiten haben. — —
Ede ich auf die Sache felbft eingehe, fei mir zuvor die kurze
Socialiemns und Socialreform. 645
Bemerkung geftattet, daß ich in meiner Formel für die focialiftifche
©rundforderung die beiden Wörter „gleiche und „vernunftgemäße”
um beswillen in Klammer gefdloffen und mit Fragezeichen ver»
jehen habe, weil fich jet im deutichen Socialismus über die Löh⸗
nung oder Vergätung der im Zukunftsſtaate geleifteten Arbeit zwei
ſehr verjchiedene Anfichten bekümpfen. Die einen fordern eine
Löhnung nach Leiftung, die anderen gleichen Lohn ohne Rückſicht
anf die verſchiedene Leiſtung. Man verzeihe uns die Wörter „Lohn
und Löhnung”, die ja allerdings von den Politikern des Zukunfts⸗
fiaates verächtlich zurücdgewiefen und durch das Wort „Arbeits-
entihädigung“ erjet werden. Wir werden bald Gelegenheit haben,
diefe ſocialiftiſche Streitfrage noch näher zu erwägen. —
Um die vollswirthfchaftliche Grundforderung des Socialismus
richtig zu verfiehen, gilt es, nad ihrem treibenden Gedanken zu
ſuchen. Die Soclafiften laffen und nicht in Verlegenheit. Marz
fagt: „Die Gefamtheit der Productionsverhältniffe bildet die
öfonomifche Structur der Geſellſchaft, die reale Baſis, worauf ſich
ein juriftifher und politifcher Weberbau erhebt, und welcher bes
ftimmte gefellfchaftliche Bewußtſeinsformen entfprechen. Die Produc-
tionsweife des materiellen Lebens bedingt den foctalen, politifchen
unb geiftigen Lebensproceg überhaupt.” Dr. U. Mühlberger
erzäplt (N. Geſellſchaft, S. 299), Mare halte fi fir den Ent-
decker diefes Geſetzes, und fein Freund Engels habe ihn als folchen
proclamirt. Proudhon aber fagt fon: „Die Gejchichte bes Eigen»
tums eines Volkes fchreiben, heißt jagen, wie diefes Volk die Krifen
feiner politifchen Formation durchgemacht, wie es feine Öffentlichen
Gewalten, feine Organe’ gefehaffen, wie feine Kräfte in’s Gleich⸗
gewicht geſetzt, feine Interefſen geregelt, feine Bürger ausgeftattet
hat; wie e8 gelebt hat, wie es geftorben ift. Das Eigentum ift
das fundamentalfte Princip, mit Hülfe defjen man die Revolutionen
der Geſchichte erklären kann.” Y) Dr. Mühlberger formulirt denſelben
Gedanken folgendermaßen: „Die Eulturgefhichte der Menjchheit
ift identifh mit der Entwicdlung ihrer Productionsverhältniffe
oder mit der Gefchichte des Eigentums. So lange diefe öfono-
2) N. Geſellſchaft, S. 298.
42*
644 Trümpelmann
miſche Entwicklung des Gleichgewichtes der Harmonie entbehrte,
ſo lange ſie einen kleineren oder größeren Theil der Menſchheit
unterjochte, ſo lange war ein äußeres Gegengewicht, mit einem
Worte eine öffentliche Gewalt, eine Autorität udthig: Staat,
Religion, und Kirche, Recht und Juſtiz. Nun aber ftellt ſich die
Geſellſchaft dem Staate gegenüber auf eigene Füße, jucht ihre
Lebensgeſetze zu erforjchen: Arbeit, Capital, Lohn, Werth, Zaufd,
Girculation, Kauf und Verlauf, Geld, Eredit, Steuer, Bevölle⸗
rungstheorien, Verſicherungen, Affociationen u. ſ. w., und ſchafft
die politifhe Delonomie" — „Werden die ölonomifchen
Grundbedingungen ber Geſellſchaft im foctaliftifchen Sinne umge
wälzt, fo muß fih auch der juriftifche, politifche, moralijche, äjthe
tiihe u. f. w. Ueberbau änderen, beziehungsweife fallen“, fagt
die Redaction der „Neuen Gefellihaft" (S. 130).
Nur in etwas anderer Zonart, aber um fo deutlicher drücken
dasfelbe die Worte aus !): „Die Tendenzen der Socialdemokratie
enthalten den Stoff zu einer neuen Religion. — Die griechiide
Eultur, das Chriftentum, die Reformation, die Revolution von
1789, die PHilofophie und moderne Naturwiſſenſchaft find Hand-
langer, die Induſtrie ift der große Baumeifter, ımb die
Socialdemofratie ift der Tempel, ben die Nationen bes 19. Jahr⸗
bunderts errichten wollen. — Arbeit heißt der Heiland der neuen
Zeit. — Die Erlöfung ift nur möglich durch planmäßige Organi-
fation der Arbeit. — Der Reichtum ift das Rejultat der gemein
ichaftlichen Arbeit, er muß feinem Erzeuger, dem Volke, wieberge
geben werden. Er foll nicht getheilt, ſondern als Arbeitsinftrument
„benutzt werden. — Die Producte follen getheilt und verzehrt werden. —
Aller Menſchen Geift ift das höchſte Weſen. — Die Arbeiter
claffe muß fi der Wiffenfchaft bemächtigen; ſchon die Erkenntnis,
wie Gedanken fabricirt werden, macht den Arbeiter unabhängig. —
Damit fchwindet der Autoritätsglaube, der Glaube an Götter und
Halbgötter, an den Papft, an die Bibel, an bie Kaifer ‚und Bi
marcke.“ —
Die Sociafiften lehren alſo, ihre Häupter, wie ihre kleineren
2) Contzen a. a. DO, S. 172.
Socialismus und Socialreform. 645
Bannerträger,, daß die wirthichaftlihe Entwicklung der Mienfchheit
die Entwidlung xar eEoxnv fei (da8 gerade Gegentheil des be=
fannten Goethe'ſchen Wortes), dag Staat, Net und Yuftiz, Reli
gion und Kirche, kurz der ganze fcheinbar rein geiftige Ueberbau
des wirthichaftlichen Unterbaues, gar nicht von jelbftändiger, fondern
nur von fecundärer Bedeutung fei, daß-er fich wandle mit der
Wandlung des Eigentums, der Wirthichaftsentwidlung, und daß
er bei radicaler Ummühlung des wirthichaftlichen Fundamentes zu⸗
fammenbrechen müffe, fo gewiß als „der neue Genoſſenſchaftsſtaat
der äußeren Stüßen nicht mehr bedürfe, da er das Gleichgewicht
in fich felbft trage“. Eine „innere Politik“, die ſich darauf richte,
die verjchiedenen Standesclaffen und Wirthfchaftsintereifen auszu⸗
gleichen, werde es dann nicht mehr geben. — Daß die wirthichaft-
tihen Fragen einen integrirenden Einfluß auf Bildung und Ent»
widlung der Geſellſchaft und des Staates geübt haben, noch üben
und immer Üben werden, unterliegt feinem Zweifel; aber daß es außer
biejem überhaupt feinen anderen Einfluß, fein anderes trei-
bendes Moment in der Menfchheitsentwiclung geben foll, das
ift eine jener Einfeitigfeiten und Webertreibungen, durch) welche die
Herren Soeialiften zu imponiren wilfen. Ganz abgejehen von der
Religion zeigt fchon die Nechts- und Verfafjungebildung, daß bei
durchgängig gleichen Eigentumsverhältniffen verjchiedene Völker fehr
wohl verjchiedene Verfaffungsordnungen und Rechtsnormen haben
fönnen. Indes — um diefen Einwurf iſt's mir hier nicht zu thun,
und ih will auch nicht verfchweigen, daß die Socialiften darauf
antworten: „Die erwähnten Unterfchiede find nur nebenfädhlicher
Art; immer bejteht bei gleichen Eigentumsverhältniffen da8 Gleiche:
ftatt des Volksſtaates nämlih ein Claffenftaat, ftatt des gleich-
mäßigen Erwerbens und Genießens aller die Ausbeutung der
Menge durch eine Meine Schar Bevorzugter, Begünftigter”.
Diefe Controverfe alfo ganz beifeite geſetzt, heißt es jedenfalls
die Menichheitögefhichte von jeder höheren Idee entleeren, wenn
man fie nur als die Entwidlung der verjchiedenen Formen des
Eigentums anjieht. Das ift Naturalismus, purer ſimpler Materia-
lismus, und der Atheismus Tiegt ihm nicht unbewußt, jondern be-
wußt zu Grunde. Der Gottesgedante hat von felbit keinen Plag
646 Trümpelmann
in einer Gefchichtsanfchauung, der fich die Gefchichte nur im Dies⸗
fett und nur für dasfelbe abipielt, der Die gefchichtlihe Be⸗
wegung nur ein Kampf der materiellen ntereffen if. Staats⸗
und Kirchenautorität, felbft nur Product einer falfch eingeleiteten
und fchief gelaufenen wirthichaftlihen Entwiclung, haben die ganze
Verachtung der Zufunftspolitiler. Krebsſchäden find fie am Leibe
ber Völker, aber feine Mächte von höherem Urfprung und mit
einem ihnen innewohnenden Nechte. Daher denn fo banale Aus
fprüdhe, wie: „Mord, Raub, Gewalt find die Quellen der
Staatsautorität" und: „die Religion ift ein Machwerk der Priefter”,
felbft im Munde der unterrichteten Socialiften an der Tagesord⸗
nung find. Uebrigens accompagniren, was ben Staat anlangt, den
Socialiften der Jeſuitismus, was die Religion betrifft, der fort
fohrittliche Liberalismus. — So zeigt ſich uns die wirtbfchaftliche
- Grundforderung der Socinldemofratie mit ihrem politifch-religiöfen
Radicalismus eng und organifch verbunden. Nicht Nützlichkeits⸗
rücfichten, nicht die materialijtiiche Strömung unferer Zeit find es,
welche eine „zufällige" Verbindung bes Atheismus mit der wirth⸗
ſchaftlichen Grundforderung der Socialiften bewirkt haben (Todt).
fondern diefe Forderung, felbit durch und durch radical und aus
einer materialiftifchratheiftifhden Gefhihtsanfhaunung
geboren, tjt mit Bewußtſein aufgeftellt, um dem
Nadicaliemus in feinem ganzen Umfange zu dienen
und feine politifhen und antireligiöfen Boftulate zu
verwirflihen. Kann man's dem gegenüber noch für unver
fünglih Halten, diefer Forderung weitgehende Zugeftändniffe zu
machen, ihre Realifirung für möglih zu erflären und nur etwe
die „zwangsweiſe“ Nealifirung abzumeifen? (Todt, ©. 113.) Se
lange bieje Forderung im Syftem des Sorialismus die eben gefenn-
zeichnete Bedeutung hat, ift fie Teineswegs unverfänglid;
fie ift nicht die lodernde Flamme, aber dag Herdfeuer der
Revolution! „Nein, nein”, fagt man vielleit, „im Syſtem des
Sorialismus hat fie ja wol diefe Bedeutung, aber an ſich doch
nicht.“ „An ſich doch nicht!" Das Liebe An ſich! Arſenik if
an fi auch fein Gift, aber wenn wir ihn effen, für une. Der
Derfolg diefes Artifeld wird's beweifen, auch hab’ ich's fchon be
Socialismus und Socialreform. 647
wiefen, ich brauche nur auf meine Schrift: „Die Verhältniffe der
Ländlichen Ürbeiterbevöllerung Thüringens’ Hinzumeifen, daß ich
mir nicht in lieblofem Abfprechen über die Arbeiterbewegung gefalle;
aber um fo mehr Halte ich's auch für meine Pflicht, die ſocia⸗
fiftifhen Forderungen mit forgfamftem Ernfte zu prüfen, um
mich nicht durch ihren unverfänglichen Wortlaut irreführen zu
Laffen. —
Wie erfcheint nun im Lichte der eben gewonnenen Erkenntnis
die oben gegebene focialiftiichde Grundforderung: Staatlihe Or-
ganifation der Gefamtarbeit? — Der Staat wird zum
Werkhaus! Ob mit diefer Organifation wirffid alle Anarchie be-
feitigt fein wird, d. 5. ob Ueber» und Unterprobuction ‚nicht mehr
vorfommen werden, nie? das ift fehr die Frage, doch mögen ſich
barüber die Fachleute auseinanderfegen. — Beichränfung der Or-
gantfation auf einen Staat aber madt die Sache illuforifch,
darum ift diefe ftaatlihe Drganifation eigentlich die Aufhebung des
Staates, d. 5. des nationalen Staates. Die Errichtung des
deutſchen Volksſtaates im Sinne der deutfchen Socialdemofratie ift
der Untergang des Stantes des deutſchen Volkes. (Au Pfr. Todt
findet „die dauernde Verwirklichung des Volksſtaates nur unter
Borausfegung der Internationalität denkbar”; nur ift ihm diefe
Internationalitüt freilich ein fehr nebenfächlicher Grund, den Volks⸗
ftaat für unhaltbar zu erflären. Er kann faum oft genug verfichern,
bag die focialiftifhen Principien, foweit fie wirth-
ſchaftliche ſind, ſehr wohl ausführbar feien, aud durd
die Hände der Socialiften“, „unhaltbar” feien fie bloß und
zu befämpfen, „jo Lange” die böfen Socialiften „ihre Feindſchaft
gegen das Chriftentum nicht aufgeben“ [a. a. DO. ©. 380 u. 377].)
Meberführung aller Arbeitsmittel aus dem Privat»
eigentum in Gefellfhaftteigentum? d. 5. negativ bie
Ausfchliefung jeder Art von ariſtokratiſchem Aufbau der Geſell⸗
ſchaft und damit zugleich die Verwerfung der Monardie, pofitiv
aber die Einführung von Arbeitsgenofjenfchaften!, Gin Genoffen-
ſchaftsſtaat fann die monarchiſche Spige nicht tragen, „ſchon um
deswillen nicht", jagt ein Socialift,, „weil der capitaliftifche Fabril«
befiger das Abbild des Monarchen im Heinen iſt“. Möglichit rafcher
648 Trümpelmann
Wechfel der oberjten Leiter wird ein Borzug (!) des Volksſtaates
fein, jener Staatsmänner der Zukunft, deren Thätigkeit fich etwa mit
der eines Commis de ronde in der Seidenweberei Lyons vergleichen
faffen wird. — Sollte man fich wirklich einbilden, mit diefem Genoffen-
ſchaftsſtaate die Monarchie verbinden zu können, fo müßte man dod
wenigitens begreifen, daß es ſich dann höchſtens um eine Wiederholung
peruanifcher Zuftände auf deutfchem Boden handeln fann, und daß
man dem Haufe Hohenzollern eine Inka⸗Rolle zumuthet. Indeſſen,
was reden wir überhaupt noch vom deutfchen Staat? Die Organi⸗
fation der Arbeit und das Genofjenjchaftsweien fordern die Inter⸗
nationalität. Es foll doch dadurd nad Meinung der Sociatijten
die Speculation mit ihrer anarchifchen Gütererzeugung befeitigt und
nur nad dem ftatiftifch feitgeftellten Bedarf producirt werden;
das Wort Eoncurrenz foll aus dem Leriton verfchwinden. Das ift
eben das Unfociale an den Laffalle'ihen Productivgenoffenschaften
mit Stantshülfe, daß jie die Concurrenz nicht ausfchliegen, daß
vielmehr eigentlih nur die Genoſſenſchaft an die Stelle des einzelnen
Capitaliften tritt, und darum mußte Laffalle dem confequenteren
Marx weichen. — Um feiner felbjt willen fann ein focialiftijcher
Volksſtaat einen Staat mit jegigen Eigentumsverhältniſſen, mit
capitaliftifcher Productionsweife und ihrer wirtbfchaftliden Span
nung an feinen Grenzen nicht auf die Dauer dulden. Und weiter
ift’8 noch ein anderer Grund, welcher zur Internationalität treibt.
Die Ländermaffe, die ein folcher Genoſſenſchaftsſtaat umfaffen muß,
fann gar nicht groß genug fein! Es iſt Bedingung feiner Eriftenz,
ihr eine ſolche Größe zu geben, daß fie alles an Naturproducten
reihlid genug bietet, was zum gefamten Bedarf der Gefellfchaft
erforderlih ift, damit fi nicht etwa der Handel, diefe „Schein
arbeit, die feine neuen Werthe den Dingen zufegt", im irgend
einer Gejtalt im Meufterftante vor neuem einnifte. Der Socialijten-
itaat hat fein Geld, dieſe glückliche Vermittlung des Qaufches bei
Einfuhr und Ausfuhr, alfo muß er ein Land umfalfen, welches
innerhalb feiner Grenzen den Ausgleich für die einzelnen Gegenden,
die am einen Naturerzeuguis überreih, am andern arm find, ihm
ermögliht. Das aber erreisht er durch die Internationalität.
Es ift mit Händen zu greifen, wie aud die Bater-
Socialismus und Socialreform. 649
landslofigleit des Socialismus ein Ergebnis feiner
wirtbfhaftliden Grundforderung iſt. — Aber wo bleiben
denn die enormen Maffen Gold, die jegt curfiren, namentlich auch
die Millionen unferer Börſen⸗Barone, jener „Expropriateurs“
nah Mare, die erpropriirt werden und durch Efjen und Trinken
und Faullenzen auf ein WDienfchenalter Hin entjchädigt werden
follen? !) Keine Sorgel Es werden damit die Wände des
Sonnentempels überfleidet werden, der danı nach peruanifchem
Mufter in Berlin errichtet werden wird. — Seltjam, daß troß
der großen nationalen Kämpfe in den legten Jahren doc) wieder
weite Schichten unjeres Volkes ebenfo, wie Ausgangs des vorigen
Jahrhunderts, an einem ungefunden Kosmopolitismus franten!
Auh Herr Mar Hirfh unterläßt es nicht, jeinen Gewerfvereinen
einen internationalen Wunfchzettel anzubeften, und nit minder
coquettirt die chriftlich-fociale Arbeiterpartei in Berlin mit der Inter⸗
nationalität.. Das ift ein böfes Zugeftändnis an den Socialiß»
mus. — Der nationale Staat und nur innerhalb feines
Rahmens Socialreformen, das fei die Lofung!
DieNormirung endlich des geſellſchaftlichen Durd>
ihnittsarbeitstages als Werthmeſſers für die Theil»
nahme aller Arbeiter an den Arbeitserzeuguiffen als
Genußmitteln? — ift das wirffid die Nobilitirung der Arbeit?
Wenn dies der Fall ift, fo iſt's anderjeitd Die Herabſetzung des
Menſchen zu Gunften der Arbeit; aber der Menſch ift mehr
als feine Arbeit. Wir werden auf diefen jo wichtigen Punkt
noch zurückzukommen haben. Und was wird der Arbeit als Lohn
geboten? Genußmittel. Entjagung und Sparen mit dem Zweck,
feine wirthſchaftliche Exiſtenz zu erweitern, ift an ſich unmöglid.
Auch der geringere Verbrauch an Genußmitteln und die dadurch
mögliche Anfammlung von Cheds über die geleiftete Tagesarbeit
hat feinen Zwed, da für das invalide Alter ohnehin gejorgt werden
muß. Es bliebe alfo nur ein Sparen möglid, um fich Yeiertage
zu verjchaffen, d. h. alfo wieder zum Genuß. — So wiederholt
1) S. Schäffle, Quinteffenz zc., über die Entfhädigung von Rothſchild,
©. 20.
60 Zröämpelmaun
fih die Frage: ift das Nobilitirung der Arbeit, wenn man ben
rechten Lohn berfelben nur in Genußmitteln zu finden vermag?
Man beraubt fie damit ihres idealen Werthee. Das Heißt: jenen
Eynismus, dem alle Geiftes- und Leibesthättgleit nur dazu dient,
Genußmittel zu fchaffen, aus dem engeren Kreife verächtlicher
Diammonsdiener, in dem er. jet heimiſch ift, auf das geſamte
Bolt übertragen. Man lerne, fie nur fennen jene in unferem Volke
glücklicherweife noch fo zahlreiche Elaffe von Arbeitern, bie nicht
Beiig genug haben, um fi von feinem Ertrag nähren zu können,
aber doch wieder genug daran haben, um nicht ganz Lohnarbeiter
werden zu müſſen, wie die reine rende am Schaffen diefe Leute
durchdringt ohne Rüdficht auf die durd) den Lohn zu erlangenden
Genüffe. Etwas gefhaffen zu haben an Garten und Land, dat
vor aller Augen liegt, wenn aud am fremden Beſitz — es iſt
ihnen Ehre und freude. Ich fpreche Hier ans perſönlicher Erfah
rung. Bon neuem wird’8 Mar, wie eng die wirthichaftlichen For⸗
derungen mit jenem Materialismus verwachien find, ben die So
cialiften felbft die Grundlage ihres Syſtems nennen. Bfarrer
Todt fohreibt ?): „Die erfte Reformaufgabe für die Beſitzloſen
fehen wir darin, daß fie ihr Glück, ihr höchſtes Glück nicht allein
im irdifchen Beſitz und Genuß fehen, wie die Socialiften lehren. ....
Diefe Lehre bafirt auf praltifhem und theoretifchem
Materialismus. Es kann aud ein armer, einfacher Arbeiter
begreifen, daß die Anficht, welche das höchſte Gut nur im irdiſchen
Beſitz und Genuß ſucht, den Mienfchen fofort zum Thier, wenn
auch mit der Bezeichnung ,Gefellfchaftsthier‘ herabſetzt.“ Dieft
Worte unterfohreibe ich, knüpfe aber auch daran die Frage: fieht
die wirthichaftliche Korderung noch immer in keiner Beziehung dazu?
zum „praftiihen und theoretifchen Materialismus?“ Hat man ein
Recht, fie aus dem Syitem herauszureißen, und kann man fie
ohne Gefahr in ihren einzelnen Punkten gutheißen oder gar als
mit dem Geifte des Chriſtentums harmonirend hinſtellen?
Iſt der Atheismus immer noch bloß Accidenz? Das kann man dod
nur thun, jo fann man nur urtheilen, wenn man das Ganze nidt
1) a. a. O. ©. 406.
Soeialismus und Socialreform. 651
ald Ganzes, das Syſtem nicht fo erfaßt, wie's eben erfaßt fein
will. Nein, der focialiftifhe Radicalismus ift ein ein»
heitliher, wirtbfhaftlih, politifh und religiös —
immer derſelbe.
5. Der Haupthälfsfag der Soctaliften, mit dem fie ihre Grund⸗
forderung wirthſchaftlich und auch ethiſch zu begründen fuchen, ift
der Sag: „Die Arbeit ift ausfchließlih Wertherzeugerin.“
„Der Werth der Dinge beftimmt fid) nach der in ihnen gallert-
artig .geronnenen menfchlichen Arbeit." „Natur- und Gebrauchs»
werth find Fictionen." Es ift neuerdings vielfah in Schriften,
die fi) mit unferem Thema befchäftigen, hervorgehoben worden, daß
diefer Sag den Socialiften nicht urjprünglich eigen if. Schon
bi Adam Smith findet er fih, nur nicht fcharf genug
formulirt: „Die Urbeit ift Duelle alles Wohlſtandes“, — vor
allem aber und zwar fir und fertig, wie er von den Socialiften
verwerthet wird, bei Ricardo‘). Die Laffalle'fchen Schriften
haben übrigens jeden, der fie kennt, mit diefer Thatſache Tängft
vertraut gemacht, und die Lehre Ricardo's ift in jedem Handbuche des
näheren zu finden. Die Arbeit alfo ift alleiniger Wertbfactor, bie
Waare wird nad) der in ihr enthaltenen Arbeit abgejchägt. So
fommt in der Waare die Arbeit felbft auf den Markt; der Preis
der Waare ift eben das, was ihre erneute Herporbringung ermög-
licht, und darum die Erhaltung der Hervorbringungsarbeit jelbft.
Wird num die Arbeit, nicht in einer Waare vergegenftändlicht,
fondern rein, als Kraft, auf den Markt gebracht, fo kann eben
nur der Preis (Lohn) für fie ald Waare gezahlt werden, der zur
Erhaltung und Wiedererzeugung ihrer Kraft nöthig iſt. Es folgt
daraus, daß derjenige Arbeitslohn den wirklichen Werth der Arbeit als
Waare vollftändig ausdrüct, welcher dem Arbeiter feinen gewohn⸗
heitsmäßigen Unterhalt und die Möglichkeit der Fortpflanzung gewährt.
Mit dem Sage: „die Arbeit fchafft alle Werthe“, beginnt man, und
mit dem „ehernen Lohngeſetze“, dem, Hungerlohn“, als dem conftanten
Subſtrat aller Wertherzeugung endigt man. Das directe Gegen⸗
theil nun folgern die Socialiſten aus dem Oberſatz: „Die Arbeit
1) Bgl. Mehring a. a. O. S. 194ff. Held a. a. O., S. 49ff.
652 Trümpelmann
erzeugt alle Werthe.“ „Eine Waare hat alfo nicht mehr und
nicht weniger Werth, als eben Arbeit in ihr vergegenftändlicht iſt.
So ift die Arbeit, die Erzeugerin, naturgemäß auc die (Eigen:
tümerin der Gefantwertfe. In der Gejamtarbeit ftedt die
Arbeit der Einzelnen, alfo diefe find, wie Erzeuger, fo Eigentümer
der Gefamtwerthe. Was von dieſen Werthen Productionsmitte
ift (Capital), wird Gefelljchaftöbefig, was Genußmittel, wird
jedem Arbeiter nad) dem Maße der gefeifteten geſellſchaftlichen
Durchſchnittsarbeit, alfo gleichmäßig zugetheilt“. Aus demfelben
Sage werden, wie man fieht, contradictorifche Gegenſätze abgeleitet.
Einmal dient er der Eigentumsficherung, dann wieder der Eigen
tumsverneinung. Er wird dem Kapitalismus für den Arbeits
ſchacher dienftbar, alfo für die Spaltung der Gefellfchaft im die
ſchroffen Gegenfäge „Arm und Reich“, und dem Socialismus für
die der Wirklichkeit widerfprechende, fchablonenmäßige Egalifirung der
Geſellſchaft — dort unterftügt er den wirthihaftlid Starken, der
die Waare „Arbeit“ kaufen fan, auf Koften des Schwachen, der
eben nur diefe Waare feil hat, hier zieht er den individuell Be
gabten auf das Niveau der Maſſe herab. „Der Arbeit ihr voller
Lohn“ fagen beide — in welchem Sinne jeder, was bedarf’s der
Ausführung? — Ein Princip nun, welches contradictorifche Gegen
ſätze aus fich heraustreibt, das ebenfo ſehr dem ertremen Indi⸗
vidualismus, wie dem Socialismus zur Stüße zu dienen vermag,
ein folches Princip muß felbft ein unrichtiges, fehlerhaftes jein.
Und dies ift in der That der Tal. Der Sat: „die Arbeit iſt
alleinige Erzeugerin alled Wertes“ ift einfeitig, durchaus nicht
genügend, die Entftehung der Werthe zu erklären, und darum if
auch das ſocialiſtiſche: „der Arbeit ihr voller Kohn, der volle Er
trag!” — fcheinbar ein Sat ſimpelſter Gerechtigkeit — der forgfamiten
Erwägung zu unterziehen. Jedenfalls Haben wir feine Beran-
faffung, ihm ohne weitere® als richtig Hinzunehmen und als richtig
zu verbreiten oder gar als „Hriftlich“ zu colportiren. Welde
Sophijtit der Capitalismus mit dem Sake: „Die Arbeit ill
die Quelle aller Werthe und darum auch das Werthmaß“ getrieben,
und wie er es möglich machte, feine Herrichaftsperiode mit diefem
Sage einzuleiten, haben wir hier nicht zu unterfuchen, wol aber,
Socialismus und Socialreform. 653
welche Sophiſtik der Socialismus mit ihm treibt. Wiederholt tft
ſchon vom „gefellichaftlihen Durchſchnittsarbeitstage“ die Rede ge-
weien. Gehen wir daran, die fophiftiiche Art und Weife aufzu-
decken, wie die Socialiften mit obigem Sage erperimentiren, fo
erfordert e8 bie Gerechtigkeit, zuvor zu bemerken, daß die Sorialiften
nicht jede beliebige Privatarbeit, alfo nicht die Arbeit in der Form
der BVereinzelung, als Werthmaß anfehen. Ebenſo wie man oft,
und natürlich) aus dem Munde ftudirter Leute, wenn es etwa gilt,
dem Materialismus zu Leibe zu gehen, die findliche Behauptung
triumphirend ausfprechen hört: „Die Diaterialiften leugnen den Geift,
aber wie fommt’s, daß fie denken und ſchreiben?“ — ebenfo hört
man wol, unter Begleitung eines vornehmen Lächelns, die Aeuße⸗
rung: „Die Arbeit foll das Werthmaß der Dinge fein? Wie
aber, wenn der eine zur Herftellung deefelben Dinges acht Tage
nöthig Hat, das der andere in drei Tagen fertigt?" So ift’e
freilich nicht gemeint, und fo leicht find die Socialiften nicht zu
ſchlagen. Nicht die zufällige Schnelligkeit oder Langjamfeit der
Hand des Einzelnen kommt in Betracht, fondern man hat an jene
Durchſchnittsarbeitszeit zu denken, welche zu einer beftimmten Zeit,
auf einer beftimmten Stufe gefellichaftliher (wirtbfchaftlicher) Ent»
widlung, unter Anwendung aller, diefer Stufe und Zeit ange-
börigen, techniſchen Hülfsmittel erforderlich ift, um irgend einen
Gebrauchsgegenftand fertig zu ftellen. — Werner bemerke ich noch,
daß der Sag: „Die Arbeit ift allein Werthmaß“ natürlich unan⸗
greifbar ift, jobald es ein- für allemal feitfteht, daß fie die
„Duelle aller Werthe* iſt. Gibt es überhaupt eine Werthbildung
außer dur Arbeit, fo kann auch nur die Arbeit das Maß des
Werthes bieten. Das ift ftreng Togifh. Aber darin fehe ich nun
die Sophiftit, dag die Socialiften die anderen Werthquellen, von
denen in der Vollswirthfchaft geſprochen wird, vor allem Natur
und Bedarf, wie Quftfpiegelungen behandeln, welche den Vollks⸗
wirthen Augentäuſchungen bervorgerufen haben; daß fie Natur
und Gebrauhsmwertb mit Hülfe der dialeftifhen
Methode in Arbeitswertbe auflöfen. Man lee 3. B.
folgendes ): „Die Werthgröße einer Waare würde conjtant
bleiben, wäre die zu ihrer Production erheifchte Arbeitskraft con⸗
654 Trümpelmann
ſtant. Letztere wechfelt aber mit jedem Wechſel in der Productiv⸗
fraft der Arbeit. Die Productiofreft der Arbeit ift durch manig⸗
fache Umftänbe beftimmt, unter anderen durch den Durdgichuitts-
grad des Geſchickes der Arbeiter, die Entwidlimgeftufe der Wiſſen⸗
fchaft und ihrer technologischen Anwendbarkeit, die gefellfichaftfiche
Combination des Productionsprocejjes, den Umfang und die Wir-
fungsfähigkeit der Productionsmittel und — dur Naturverhält⸗
niſſe. Dasſelbe Quantum Arbeit ftellt fi 3. B. mit gämftiger
Jahreszeit in acht Buſhel Weizen dar, mit unglinftiger in vier.
Dasfelbe Onantum Arbeit Liefert mehr Metalle in reichhaltigen,
als in armen Minen u. f. w. Diamanten fommen felten in ber
Erdrinde vor, und ihre Findung koftet daher im Durchſchnitt viel
Arbeitszeit. Folglich ftellen fie in wenig Volumen viel Arbeit bar.
Jacob bezweifelt, daß Gold jemals feinen vollen Werth bezahlt
hat. Noch mehr gilt dies vom Diamant. Nah Ejchwege Hatte
1828 die adhtzigjährige Geſamtausbeute der braftlianifgen Dia
mantengruben noch nicht den Preis des 14 jährigen Durchſchnitts⸗
productes der brafilifchen Zuder- oder Kaffeepflanzungen erreicht,
obgleich fie viel mehr Arbeit darjtellte, aljo mehr Werth. Mit
reichhaltigeren Gruben würbe dasjelbe Arbeitsquantum ſich in mehr
Diamanten bdarftellen und ihr Werth finfen. Gelingt es mit
wenig Arbeit Kohle in Diamant zu verwandeln, jo kann fein Werth
unter den von Siegelfteinen fallen. Allgemein: Ye größer bie
Productivfraft der Arbeit, defto Kleiner die zur Herftellung eines
Artikels erheifchte Arbeitszeit, defto Keiner die in ihm kryſtallifirte
Arbeitsmaffe, defto Fleiner fein Werth. Umgekehrt, je kleiner die
Productivfraft der Arbeit, defto größer die zur Heritellung eines
Artikels nothwendige Arbeitszeit, deito größer fein Werth. Die
Werthgröße einer Waare wechfelt alfo direct, wie dag Quantum
und umgelehrt, wie die Broductiofraft der fi) in ihr verwirklichen
den Arbeit.“ Wie hübſch Marx gleich alle abweift, die etwa mit
der „Seltenheit der Diamanten“ feinen Say, daß die Arbeit
alleiniger Werthfactor fei, angreifen wollten. Ya fie find felten,
die Diamanten, und haben deshalb Hohen Werth, denn — «8
1) Marr, Das Eapital, S. 14. 15.
Socialismus und Socialreform. (65
foftet eben jehr viel Mühe, fie zu finden, darum ift der hohe
Preis der Diamanten nur der Ausdrud für das mühbfelige Finden.
Das fcheint fo Har. Indes — warum fucht man denn überhaupt
diefen feltenen Stein? Warum wendet man fo viel Mühe auf?
Es gibt bekanntlich recht jeltene Minerale, um die der Menſch fich
nicht kümmert. Es muß ihm diefer Stein beim erften Finden als
weiteren Suchens werth erjchienen jein. Seltenheit eines Dinges
aber einfach in Gemwinnungsfchwierigfeit umzuwandeln, ift Begriffs⸗
edcamotage. „Dasfelbe Quantum Arbeit”, hieß es vorhin, „ſtellt
fih) mit günftiger Jahreszeit in acht Bufhel Weizen dar, mit
ungünftiger in nur vier.“ Wirklich? Die Beitellungsarbeit ift
allerdings beide Male die gleiche, die Erntearbeit aber jehr ver-
ihieden. Abgeſehen von ungünftiger und günftiger Witterung,
verlängert und verkürzt fich die Erntearbeit je nach der zu erntenden
Menge, weniger, wern der Ausfall im Körnermangel, mehr, wenn
er im Garbenmangel feinen Grund hat. Gerade dies Beifpiel
zeigt und, wie Mare die Wirklichkeit abjtract behandelt. Biel
richtiger ift es, zu fagen, daß zwei gleichartige und gleichgroße
landwirthichaftlihe Erzeugniffe fat niemals eine ganz gleiche
Arbeitömenge vergegenftändlichen. Und ferner: bdiefelbe Arbeite«
menge ift auf Darftellung des einen wie des anderen Malters
Roggen, das zum Verlauf geboten wird, aufgemandt worden, und es
fteltt fich doch ein nach Qualität fehr verfchiedenes Product dar.
Wie verfchiedenartig in feinem Mehlgehalt ift das Korn! Und das
joll den Werth nicht beftimmen, den realen Werth? Ich jage abfichtlich
nicht „Preis“. — Espe und Buche Toften, wenn fie im Stamme
gleich, ftark find, denfelben Arbeitsaufwand, bis fie zu Brennholz
zugerichtet find, ja das harte Buchenholz fpaltet fich leichter und
ſchneller, und doch Hat das Buchenholz wefentlich höheren Werth,
eben feinen Heizungswerth, ald das Espenholz. ch ſehe wieder
bom Breife ganz ab. Es ift das ein Werth, der völlig
außerhalb des Gebietes der Arbeit Liegt, der aber
tbatfählih bei Beftimmung des Gefamtwerthes
eines Dinges mächtig mit ins Gewicht fällt. Auf
S. 29 Iefen wir: „Der Werth der Leinwand wechjele (Marx hat
zuvor 20 Ellen Leinwand — 1 Rod geſetzt), während der Node
656 Trümpelmann
werth conftant bleibt. Verdoppelt fi) die zur Production der
Leinwand nothwendige Arbeitszeit, etwa in Folge zunehmender Un»
frudjtbarfeit des Flachs tragenden Bodens, jo verdoppelt ſich ihr
Werth. Statt 20 Ellen Leinwand — 1 Rod, hätten wir 20
Ellen Leinwand — 2 Röde, da 1 Rod jegt nur halb fo viel
Arbeitszeit enthält als 20 lien Leinwand. Nimmt dagegen bie
zur Production der Leinwand nothwendige Arbeitszeit um die Häffte
ab, etwa in Folge verbefierter Webftühle, jo finft der Leinwand
werth um die Hälfte Demgemäß jest: 20 Ellen Leinwand —
13 Rock.“ — Wie überzeugend und von felbjt verftändfih! —
Indes — der Werth der Leinwand foll alfo wechſeln und zwar
deshalb, weil ſich die zur Production der Leinwand nothmendige
Arbeitszeit verdoppelt, und es wird dann eingefchoben: „etwa in
Folge zunehmender Unfrudjtbarkeit des Flache tragenden Bodens“.
Wie hätte man ſich das zu denfen? Wie verdoppelt fich die Arbeit?
„Sehr einfah“, wird man fagen, „wenn ber Boden nur nod bie
Häffte trägt, fo ift das die Herabfegung der früheren Productions⸗
fraft der Arbeit auf die Hälfte, d. 5. in der That eine Verdoppe⸗
fung der Arbeit”. So ſcheint's, und es iſt doch nicht fo. Ya, die
Deftellungsarbeit bleibt diefelbe, aber die Erntearbeit, ..und
zwar gerade beim Flachsbau in auffallender Weife wird felbft eine
geringere Alſo mit der Verdoppelung der Arbeit ift es ein
für allemal nichts. — Allein ich will annehmen, daß Marx die
Sade ſich nod anders ‚gedacht hat. Er möge Verdoppelung der
Arbeit angenommen haben, entweder dadurch, daß man die zu
befteliende Landfläche verdoppelt, oder dadurch, daß man den er
mattenden Boden ftimulirt, ihn durch intenfivere Bewirthſchaftung,
Zufatz künſtlichen Düngers, in welchem ja felbft Schon ein Arbeitd
quantum enthalten fein würde, auf der Höhe früherer Ertrags⸗
fühigfeit zu Halten ſucht, — trogdem bleibt etwas irrationalee
zurüd. Die Natur fpottet eben des Schematismus. Marr fügt
in feine Gleichung offenbar ftilifchweigend die Vorausſetzung ein,
daß mit der verdboppelten Arbeit nun auch wirklich das alte
Quantum an Leinwand gemonnen werde. Wenn nun aber
nicht? wenn troß der boppelten Fläche oder ber intenfiveren Bewirth⸗
(Haftung nur die Hälfte gegen früher geerntet wird? Der Werth
Socialismus und Socialteform. 657
der Xeinwand wird enorm fteigen, obgleich er wegen der doch nur
doppelt aufgewandten Arbeit auch nur die doppelte Höhe gegen
früher haben ſollte. — Bezeichnend ift übrigens das Wort: „Pro-
ductiofraft” der Arbeit. Diefe PBroductivfraft ruht nit in ihr
jelbit; fie hängt von Wirthichafte- und Naturverhältniffen ab.
Sollte nun das, was die Arbeit erſt zu einer productiven mad,
bei der Frage nad der Werthbildung ganz bei Seite gefchoben
werden können? Gewiß nicht, und wenn's gefchieht, fo ift das eben
Sophiſtik.
Pfr. Todt acceptirt die Werththeorie der Socialiſten und
ſagt: „Dieſe Theorie iſt, ſo viele Angriffe wir auch gegen dieſelbe
geleſen, bis heute noch nicht widerlegt“ *). Er weiſt Geffken ſcharf
ab, der behauptet, „daß gerade dies der rvadicale Irrtum ber
jocialiftifchen Theorie jei, daß fie den Werth eines Dinges bloß
nad feinen Herftellungsfoften bemeſſe und nicht auch danach, was
8 dem, der ed brauche, Teifte. Der Werth eines Gutes fei
alfo beftimmt durch die Herftellungsfoften einerjeits, den Gebrauchs⸗
werth anderfeits, und das Verhältnis beider brüde fi aus im
Breife”; und Pfr. Todt jet Hinzu: „Diefe Sätze erjcheinen dem
national» ölonomifchen Laien jehr einleuchtend, beruhen in Wirk⸗
lichkeit aber auf einer beftändigen Vermengung von Werth und
Marktpreis”; an anderer Stelle aber fagt er: „Marz redet vom
normalen Waarenpreife. Diefer kann felbjtverftändlih, wenn
man den Producenten nur als einfachen Zaufcher im Verhältnis
zum Confumenten betrachtet, fein anderer fein, als die Erzeugungs-
foften der Waare, d. h. die zur Herftellung des Productes noth⸗
wenbigen Quanta von Arbeitszeit“. Endlich S. 280 Heißt «8:
„Wer kann es leugnen, daß zur Werthbeitimmmng der Dinge
zu einander nothwendig ein in ihmen zur Erfcheinung kommendes
gemeinfames Drittes erforderlih ift? Und es gibt eben fein anderes
Drittes, als die gefellichaftlich nothwendige Arbeitszeit. Nützlichkeit,
Geſchmack, Berfchiedenheit der natürlichen Qualität find fubjective
und unbrauchbare Werthmeſſer.“ Tagt es nun vor unferem Geifte?
Wir Thoren denfen an Preis, Angebot und Nachfrage und fegen
1) Todt a. a. O., ©. 280.
Theol. Stud. Yabrg. 1878. 43
658 Trämpelmaunn
nun fo lächerfiche Dinge, wie Nüslichkeit, Geſchmack, Verfchiedenheit
der natürfihen Qualität mit als Werthe bildend ein, aber «8
handelt fih um Werth, nidt um Preis, und wenn um Preis,
dann um den Normalpreis, d. h. den, in welchem der Werth
(und wertäbildend ift nur die aufgewandte Arbeitszeit [!]) zum Aus
drud fommt. Wir hielten wol aud) bis jetzt die „natürliche Qua⸗
fität für einen obfectiven Werthfactor, werden aber nun belehrt, da
fie nur ein „ſubjectiver“ ift. Sieht Pfr. Todt nicht, oder will er’s
nicht fehen, daß er fich derjelben häßlichen Sophiftit jchuldig macht,
die das ganze Marx'ſche Buch durchzieht ? Hier ijt fie: Im Sociafiften-
ftaat find Grund und Boden und alle anderen Probuctionsmittel,
Gefellichaftseigentum. Es wird producirt nad) dem zuvor ſtatiſtiſch
feftgeftellten Bedarf. Einen Markt mit Ungebot und Nachfrage,
mit Preisfteigerung und Minderung fann es nicht geben. In
diefem Staate kann aljo fein anderes Werthmaß gelten, als
die zur Herftellung der Dinge erforderliche gejellfchaftliche Durd-
ſchnittsarbeit. Gewiß, in diefem Staate fann es nidt
anders fein. Der Winzer befommt den fchlechten Wein ebenfo
hoch angerechnet, als den beften, weil er ja überhaupt nur für fein
Arbeitsquantum, das er in beiden Fällen in gleihem Grade auf
wenden mußte, entjchädigt werden kann. Die ftille Vorausfegung
alfo ift: Der Socialiftenftaat eriftirt, in ihm wird es
und muß es fo fein, und weil es dann fo ift und fein
muß, fo muß es aud ſchon jetzt die abfolute Wahrheit
fein. Marr gibt fih gar nicht die Mühe, feinen Haupt» und
Tundamentalfag zu beweiſen. Er kann e8 auch nicht. An Stelle
des Beweiſes tritt die manigfaltigſte, fophiftifch zugeftugte Anwen:
dung des Satzes. So leitet man eben zum Socialiftenftaate über.
Der Sag ift eine Agitationshypothefe, michts weiter.
Da wir nun vorläufig den Soctaliftenftaat noch nicht Haben,
fo fteht die Sache auch bei une ganz andere. Eine ehrliche
Volfewirthichaftslehre, dächte ih, gibt fi) nicht damit, ab, zu
zeigen, was fein wird, unter einer befttimmten aber „verſchwie—
genen“ Borausjegung, fondern fie fucht das, was tft und wie
es geworden ijt, zu erklären. Joh. Moft ift naiv und ehrlich
genug, in einem Artikel: „Die Arbeit al8 Duelle des National
Socialismus und Gocialteform. 659
reichtums“ 2) deutlich durchblicken zu Laffen, daß bei der focialiftifchen
Beweisführung die ftillfchweigende Grundvorausfegung lautet: „Der
Socialiftenftaat exiftirt.” — Er betrachtet die Thatſache, dag „in
zwei verjchiedenen Diftricten auf einer gleich großen Bodenfläche
und unter Anwendung der nämlichen Arbeiterzahl und derſelben
Werkzeuge ganz verfchiedene Erträgniffe bei der Landwirthſchaft erzielt
werden, und begegnet num der allein richtigen Folgerung, daß alfo
„nicht die Arbeit allein Werthe Schafft“, mit folgender
amüſanten Diatribe: „Jedenfalls find ohne Arbeit in gutem,
wie im ſchlechtem Boden feine Producte einzuheimfen; der Unter
fchied befteht Lediglich darin, dag es die Natur der Arbeit bier
leicht, und dort ſchwer macht, fich zu bethätigen“. In der That —
ohne Arbeit — keine Producte! — aber warum find bei gleicher
Arbeit die Erträgniffe, aljo in letter Inſtanz bie erzeugten
Werthe verfhieden? Herr Joh. Moft antwortet: „Eriftirt
nun in einem Gemeinmwejen binfihtlih des Grund
und Bodens Collectiveigentum, jo kann es ſich nicht
fragen, wie viel da und dort geerntet werden kann,
jondern nur, wie groß der Ertrag des ganzen Landes
ift, da hieran und nidt an den Erträgniffen der ein-
zelnen Bodentheilden die Arbeitenden zu participiren
hätten.“ Alfo: Wenn nur erft der Socialiftenftaat da ift, fo
ergibt fich die Nichtigkeit der focialiftifchen Werththeorie von ſelbſt,
und damit ift fie überhaupt bewiefen! —
Der Sag: „Die Arbeit ift die Quelle des Neichtums und
der Cultur“, ift eine Wahrheit, der Sat dagegen: „Der Werth
der Woaren wird dur die Hervorbringungsarbeit beitimmt und
zwar nur durch diefe“, iſt eine Einſeitigkeit, ja unter den gegen-
wärtigen Wirthfchaftsverhältnifien eine Unmahrheit. Im Munde
des Mannes, von dem die Socialiften ihn in obiger Form über-
kommen haben, im Munde Ricardo's, war der Sat auch nichts
weiter als ein Agitationsfag. „Seine Zendenz“, fagt Held von
Ricardo 1), „war Feindichaft gegen die Grundariftolratie und Ber .
1) Nee Geſellſchaft, S. 282.
2) a. a. O., ©. 50.
45?
660 Frümpelmann
gründung ber Herrichaft des Capitals. Daher der Kampf gegen
die Kornzölle, daher die Grundrentenlehre, die man als eine Ent-
deckung von gleihem Werthe, wie die Entdedung des Geſetzes der
Schwere feierte, und die doch nur den Sinn hat, daß der Grund»
befiger unverdient auf Koften der ganzen Gejellichaft gewinne, alfo
verdiente, gehaßt und jedenfalls nicht begünftigt zu werden.” —
Raum gibt e8 meines Erachtens eine Stelle in dem Buche von
Marz, die fo bezeichnend dafür ift, wie zu Gunften der Arbeit jeder
andere Anſpruch auf die gefchaffenen Werthe, etiwa der Capitafiften-
anſpruch, befeitigt, und wie neben dem Arbeitöwerth jeder andere, vor
allem auch der Gebrauchswerth, elidirt wird, als S. 188 und 189,
wo wir folgendes lefen: „Die verjchiedenen Factoren des Arbeits
proceifes nehmen. verfchtedenen Antheil an der Bildung ded Pros
ductenwerthed. — Der Arbeiter ſetzt dem Arbeitögegenftande
neuen Werth zu, durch Zujag eines beftimmten Quantums von
Arbeit, abgejehen vom beftimmten Anhalt, Zweck und technifchen
Charakter feiner Arbeit. Anderſeits finden wir bie Werthe der
verzehrten Productionsmittel wieder als DBeftandtheile des Bro»
duetiond-Werthes, 3. B. die Werthe von Baummolle und Spindel
im Garnwerth. Der Werth der Productionsmittel wird alfo er-
halten durch feine Uebertragung auf das Product. Dies Uebertragen
geihieht während der Verwandlung der Productionsmittel in Pros
duct, im Arbeitsproch. Es iſt vermittelt durch die Arbeit. Aber
wie? — Der Arbeiter arbeitet nicht doppelt in derfelben Zeit,
nit einmal, um ber Baumwolle durd feine Arbeit einen Werth
zuzufegen, und das andere Mal, um ihren Werth zu erhalten,
oder, was dasſelbe ift, um den Werth der Baummolle, die er ver»
arbeitet, und der Spindel, womit er arbeitet, auf das Product, das
Garn, zu übertragen, fondern durch bloßes Zufegen von neuem
Werthe erhält er den alten Werth. Da aber der Zuſatz von
neuem Werth zum Arbeitögegenftand und die Erhaltung der alten
Werthe im Product zwei ganz verfchiedene Nefultate find, die ber
Arbeiter in derjelben Zeit hervorbringt, obgleich er nur einmal in
berjelben Zeit arbeitet, kann dieſe Doppelfeitigleit des Reſultats
offenbar nur aus Doppelfeitigleit feiner Arbeit felbft erflärt werben.
In demfelben Zeitpuntte muß fie in einer Gigenfchaft Werth
Socialismus und Socialreform. 668
ſchaffen und in einer anderen Eigenfchaft Werth erhalten oder
übertragen. — |
Wie fett jeder Arbeiter Arbeitszeit und daher Werth zu?
Immer nur in der Form feiner eigentümlic) productiven Arbeits-
weile. Der Spinner ſetzt nur Arbeitszeit zu, indem er fpinnt,
der Weber, indem er webt, der Schmied, indem er ſchmiedet. Durch
die zwedbeitimmte Form aber, worin fie Arbeit überhaupt zufegen
und daher Neuwerth, durch das Spinnen, Weben, Schmieden
werden die Productionsmittel, Baumwolle und Spindel, Garn und
Webſtuhl, Eifen und. Ambos, zu Bildungselementen eines Broductes,
eines neuen Gebrauchswerthes. Die alte Form ihres Gebrauchd-
werthes vergeht, aber nur um in einer neuen Form von Gebrauche-
werth aufzugeben. Bei Betrachtung des Wertäbildungsproceiies
ergab ſich aber, daß, jo weit ein Gebrauchswerth zweckgemäß ver:
nugt wird zur Production eines neuen Gebrauchswerthes, die zur
Herftellung des vernußten Gebrauchswerthes nothwendige Arbeitszeit
einen Theil der zur Herftellung des neuen Gebrauchswerthes noth-
wendigen Arbeitszeit bildet, aljo Arbeitszeit ift, die vom vernußten
Productionsmittel auf das neue Product übertragen wird. Der
Arbeiter erhält alfo die Werthe der vernutten Productionsmittel,
oder überträgt fie als Werthbeftandtheile auf das neue Product,
micht durd) fein Zujegen von Arbeit überhaupt, fondern durch den
befonderen nütlichen Charakter, durch die fpecifiich productive Form
dieſer zufäglichen Arbeit. Als folche zmedmäßige productive Thätig-
keit, Spimen, Weben, Schmieden, erwedt die Arbeit durch ihren
bloßen Contact die PBroductionsmittel von den Todten, begeiftet ſie
zu Yactoren des Arbeitsproceſſes und verbindet ſich mit ihnen zu
Producten. —
Wäre die ſpecifiſche productive Arbeit des Arbeiters nicht
Spinnen, fo würde er die Baummolle nidht in Garn verwandeln,
aljo auch die Werthe von Baumwolle und Spindel nit auf das
Garn übertragen. Wechjelt dagegen derjelbe Arbeiter das Metier
und wird Xifchler, fo wird er nad) wie vor durch einen Arbeits⸗
tag jeinem Material Werth zufegen. Er fest ihn alfo zu, nit
durch feine Arbeit, ſoweit fie Spinn» ober Tijchlerarbeit, fondern
foweit fie abjtracte, gefellichaftliche Arbeit überhaupt, und er fett eine
62 Trümpelmenn
beftinmte Werthgröße zu, nicht ‘weil feine Arbeit einen befonderen
nüslihen Inhalt Hat, fondern weil fie eine beftimmte Zeit dauert.
In ihrer abftracten allgemeinen Eigenfchaft alfo, als Verausgabung
menschlicher Arbeitskraft, fett die Arbeit des Spinners den Werthen
von Baumwolle und Spindel Neuwerth zu, und in ihrer concreten,
befonderen, nütlichen Eigenſchaft als Spinnproceß, überträgt fie
den Werth dieſer Productionsmittel auf das Product und erhält fo
ihren Werth im Product. Daher die Doppelfeitigfeit ihres Reſul⸗
tats in demfelben Zeitpunkt. —
Durch das bloß quantitative Zuſetzen von Arbeit wird neuer
Werth zugefegt, durch die Qualität der zugefegten Arbeit werden
die alten Werthe der Productionsmittel im Product erhalten.” —
Der gefellichaftliche Arbeitstag alfo jchafft die Neumwerthe; die
Specialarbeit erhält den im Productionsmittel enthaltenen Arbeits
werth. Der Rohftoff ſelbſt enthält nur Werth durch die an ibm
gethane Arbeit, aber wol wird ihm Gebrauchewerth beigelegt.
Für Marx gibt e8 Gebrauchöwerthe, die nicht Werthe find, weil
ihr Nugen für die Gefellfchaft nicht durch Arbeit vermittelt iſt.
So ijt die Arbeit unb wieder die Arbeit die alleinige Werthbildnerin,
und Gebrauchswerth ift alfo bei Mare vielmehr der dem Dinge
anhaftende Nützlichkeits werth, als der ihm durch die Nachfrage
beigelegte.. Marx ibentificirt wiederholt, und natürlich abfichtlich,
„Gebrauchsgegenſtand'“ und „Gebrauhsmwertf*. Damit wird „Ge
brauchswerth“ im gewöhnlichen Sinne des Wortes einfach befeitigt,
denn Gebrauchsgegenftände find die Dinge, ohne daß damit über
ihren Tpeciellen Werth das Geringfte ausgefagt wird. ‘Der Werth⸗
beftimmer ift aljo erft zu fuchen: es ift die Arbeit. —
Eine weitere Folge aus dem Mitgetheilten ift diefe: Da bie
Productionsmittel im neuen Gebrauchswerth vollftändig aufgehen,
alfo nichts im Neumwerthe verloren gegangen ift, fo ergibt fi,
dag der Eapitalift (Befiger ber Productionsmittel, Käufer der Roh—⸗
ftoffe) nur dadurd einen Reingewinn einfteden kann, daß er ihn
der Arbeit abzieht, der Arbeit, welche den Neuwerth gefchaffen Hat,
der gefellichaftlihen, und der Urbeit, welche den Werth des Roh—⸗
ftoffe®, jelbft Arbeitswerth, erhalten hat, ber Specialarbeit. Der
Capitaliſt füllt eigentlich aus dem ganzen Arbeitsproceß heraus.
Socialismus und Socialreform. 668
Er hat gar nichts darin zu thun, ift ein freibenterifcher Eindring-
ing. Der Geſellſchaft gehören die Productionsmittel, weil fie felbft
fhon Arbeitswerthe repräfentiren. Hätte die Arbeit immer ihren
vollen Ertrag erhalten, fo würde „der Capitalift“ nie erfchienen
fein. Es Tiegt dem Ganzen wieder die ftille Vorausfegung zu
Grunde: die Geſellſchaft und nur fie ift die Beſitzerin aller von
der Natur gebotenen Gebrauchsgegenftände, und fchon bie erjte, zur
Nutzung vollbrachte Arbeit an benfelben ift Gefellfchaftsarbeit, fo
daß das Erzeugte, in fo weit e8 wieder Productionsmittel ift, auch
geſellſchaftliches Eigentum bleibt, eine Vorausſetzung, der die That⸗
fachen der Gedichte direct widerſprechen. — Res nullius cedit
occupanti, heißt es da, und der, welcher den Gebrauchsgegenftand
der Natur ergreift und für fich verwerthet, ift der Befitzer, er,
da8 concretum Menſch, und nicht das abstractum Geſellſchaft,
welche fich durch jene Befitergreifung des Einzelnen erſt zu bilden
beginnt. — Indes fei der biftoriiche Verlauf, wie er wolle, immer
ift der „Socialiftenftaat” die eigentliche Baſis der ganzen Beweis⸗
führung von Mare. Auf unfere Verhältniffe, in der wir num
einmal Privatbefiger und Brivatunternehmer haben, paſſen diefe
Deductionen ganz und gar nicht. —
Ja die Privatbefiger und Unternehmer, denen Erhöhung des
Reinertrage und die Rentabilität der einzige Zweck iſt !)! Dieſe
Blutfauger! Sie verlängern den Arbeitstag, verringern den Lohn,
preflen aus, halten den Arbeiter unter dem ‘Drud des ehernen
Lohngejeßes, marften um menſchliche Arbeitöfraft, wie um Waare.
„Die menſchliche Arbeit eine Waare! Diefer unbejtreitbare Sat
ift das fchmerzliche Reſultat einer faft 1900jährigen Entwidelung
des Chriftentums“, ruft Pfr. Todt aus. it es wirklich for
durchgängig fo? abfolut jo? Haben unfere Unternehmer ſämt lich
nur „Erhöhung des Reinertrags“ als einzigen Zweck? Oder
folite e8 nicht das Gewöhnliche fein, daß fie mit dem Mehrermwerb
ihre Anlagen immer mehr ausdehnen, fo daß eine der Geſamt⸗
heit günstige Vermehrung der wirklichen Productionsmittel gejchaffen,
nicht bloß mobile® Capital aufgefpeichert wird? Aber hören wir
— — — — —
1) Todt a. a. DO. ©. 228. 229. 256. 267.
664 Trümpelmann
Marr: „Man weiß, die Transaction zwifchen Capitaliſt und r-
beiter ift folgende: Einen Theil jeines Capitals, das variable
Capital, taufcht der Kapitalift aus gegen Arbeitöfraft, die er ale
lebendige Verwerthungstraft feinen todten Productionsmitteln ein»
verleibt. Eben dadurch wirb der Arbeitsproceß zugleich capitafifti-
cher Verwerthungsproch. Anderſeits verausgabt der Arbeiter
das für feine Arbeitskraft eingetaufchte Geld in Tebensmitteln,
durch bie er fich erhält und reproducirt. Es ift dies feine indi⸗
piduelle Confumtion, während der Arbeitsproceß, worin er Pro-
ductionsmittel confumirt und dadurch in Produkte verwandelt, feine
productive Eonfumtion und zugleih Conſumtion feiner Arbeitstraft
durch den Kapitaliften bildet. Die individuelle und productive
Conſumtion des Arbeiter find weſentlich verjchieden. In der
einen gehört er als Arbeitsfraft dem Capital und ift dem Bro
ductionsproceß einverleibt; in der anderen gehört er fich ſelbſt und
verrichtet individuelle Lebensacte außerhalb des Productionsproceffes.”
Aber auch diefe „individuelle Confumtion des Arbeiter ift nur ein
Moment der Production und Meproduction des Capitals“». „Durd
den Umfat eines Capitaltheils in Arbeitskraft fchlägt der Capitaliſt
zwei liegen mit einer Klappe. Er verwandelt einen Theil feines
Capital® in variable® Capital und verwerthet jo jein Geſamt⸗
capital. Er einverleibt die Arbeitsfraft feinen Productionsmitteln.
Er verzehrt die Arbeitskraft productiv, indem er den Arbeiter bie
Produetionsmittel durch feine Arbeit verzehren läßt. Anderſeits
verwandeln fich die Lebensmittel oder der an den Arbeiter veräußerte
Theil des Capitals in Muskel, Nerven, Knochen, Hirn u. f. w.
von Arbeitern. Innerhalb ihrer mothwendigen Grenzen iſt daher
die indididuelle Conſumtion der Arbeiterclaffe Rückverwandlung der
vom Gapital gegen Urbeitsfraft veräußerten Lebensmittel in vom
Capital neu exploitirbare Arbeitskraft, Broduction und Reproduction
feines nothwendigjten Productionsmittels, des Arbeiters felbft, die
individuelle Confumtion des Arbeiters bildet daher ein Moment
des Reproductionsproceſſes des Gapital8 im großen und ganzen.”
So ift alfo der Arbeiter mit Haut und Haaren Eigentum des
Capitaliften, wie ein Majchinentheil, der zum Gange in der Schmiere
erhalten werden muß. Lächerlich! und wenn es wahr ift, nun
Socialismus und Socialreform. 665
dann gilt dies von uns allen! Es drängen fich diefer Ausführung
gegenüber und zwei Erwägungen auf, die eine allgemeinerer, bie
andere fpecieller Art. Zieht man zunächſt die Specifica „Eapital,
Gapitalift”“ und jeden davon bedingten anderen Ausdruck aus dem
dialektiſchen Wortgeflige heraus, fo ſchildert Marx nichts weiter,
als das allgemeine Los jedes thätigen Menſchenlebens, wie e8 ber
Gefelifchaft verhaftet ift und ihr fih opfert. Wir geben ftets
mehr Arbeitskraft aus, als uns zuerfegen überhaupt
möglich iſt; könnten wir fie immer wieder vollftändig erſetzen,
jo würden wir nicht ſterben. Wir leben uns, arbeitend und zeugend,
zu Tode. Auch der Socialiftenftaat mit dem „vollen Arbeitser»
trage“ wird daran nichts ändern. Diefe dem Einzelnen fich immer»
fort mehr und mehr erziehende Arbeitskraft geht nun aber der
Geſellſchaft nicht verloren. Es iſt jene Abgabe des Einzelnen an
die Gejamtheit, die ihm das Bewußtſein gibt, nicht vergeblich
gelebt zu haben. Steigerung bes materiellen und geijtigen Capitals
ift die Bedingung des Qulturfortfchrittes. Beſchaffung immer
reicherer Productionsmittel — auch die Gedanken der Gegenwart
werden zum PBroductionsmittel für das Denken der Zukunft —
das ift die Aufgabe der Gejamtarbeit der Menfchheit. Stellt
man fih die in specie als eine Füllung des Geldbeuteld etwa
bes Fabrikanten vor, fo vergißt man, daß der Fabrikant genau
demjelben Geſchick unterliegt, wie fein Arbeiter; daß auch er ftets
mehr Urbeitsfraft abgibt, al8 er für ſich perfünlich zu erfegen im
Stande ift, und daß er, auch wenn er ein plus an der Kraft
feiner Arbeiter gewonnen bat, dies durdfchnittlih in einer Form
hat (Erweiterung feiner Anlagen), welche neue Arbeitskräfte fordert
und dadurd die Arbeitsnachfrage zu Gunften der Arbeiter fteigert,
jo daß die Mehrabgabe ihrer Kraft den Ihrigen zugute fommt. —
Zweitens aber und im bejonderen denke ich gar nicht daran, das
Auspreifungsigftem mancher Capitaliften gegen ihre Arbeiter leugnen
oder gar gutheißen zu wollen. Im Gegentheil, e8 müfjen dem
gegenüber ernftlichfte Maßregeln ergriffen werden. Uber das be»
haupte ich troßdem, daß diefe beflagenswerthen Ueber»
griffe felbftfühtiger Capitaliften feineswegs die noth-
wendige Folge der capitaliftifhen Broductionsmweife
666 Trümpelmann
als folder find. So aber erjcheinen fie nach der Deduction
von Marr, und da gibt's dann freilich nur ein Mittel der Beſſe⸗
rung: radicale Ummandlung der bisherigen Productionsart, d. 6.
Errichtung des Sociafiftenftaates. — Dean, thut jet ſchon viel für
den jogenannten vierten Stand und wird immer mehr durch die
Gefeßgebung thun müſſen. Meines Erachtens könnte man den
eben angebenteten Webelftänden unter ftrenger Wahrung unferer
Eigentumsperhältniffe dennoch radical durch eine alle Volksſchichten
umfpannende QTantiemegejeßgebung abhelfen !). Unjere Socialiften
würden natürlich damit nicht befriedigt fein. Sie fordern ja den
vollen Arbeitsertrag au in dem Sinne, daß bie zur Erhaftung
und Vermehrung der Productionsmittel immer, alfo auch im Sor
ctafiftenftaate, nothmendige Abgabe von der Arbeitsentfchädigung der
Einzelnen nit an einen Privatunternehmer, fondern an die Ge»
fellihaft abgegeben werde. Der Effcet iſt übrigens für die
Einzelperfönlichkeit ziemlich derſelbe.
„Die Arbeit ift alleinige Wertherzeugerin, folglich gebürt dem
Arbeiter der volle Ertrag feiner Arbeit”, das ift der Kern ber
Sache. Das Feilfchen um die Arbeit, wie um eine Waare, foll auf-
hören, das Lohnfyftem mit. feinem „ehernen Lohngeſetze“ befeitigt
werden! Der Gapitalismus erjann dies Gejek und proclamirte es
als Naturgefeß, dem man fich zu beugen habe, der Socialismus
acceptirt e8, aber folgert: „Dies Geſetz ändert fih, wenn bie
Grundlage, auf der es ruht, fich wandelt, — wandeln wir fie
alſo!“ — Der Ricardo’ihe Kapitalismus fagt: „Arbeit ift
Waare und man zahlt in der Waare nur die Hervorbringunge-
arbeit; alfo gebürt ber Wrbeit jo viel Lohn, als zu ihrer Er-
haltung und Neproducirung unbedingt nöthig ift, mehr nicht.“ —
Lafjalle führt dann näher aus, wie der Lohn immer um ben
Gleichgewichtspunkt, d. H. um „den zur Briftung der Eriftenz und
ber Fortpflanzung nothmendigen Lebensunterhalt“ gramitire,
bald ein wenig aufſchnellend, bald wieder fich fenfend. Iſt ber
Lohn gut, find die Lebensmittel auch noch billig, jo nährt fidh der
Arbeiter befjer und zeugt mehr. Die Kinder fterben nicht, fondern
1) Wir werden bei Befprechung ber Reformen näher baranf eingehen.
Socialiemus und Socialreform. 667
gedeihen. So entfteht ſtarker Nachwuchs und das Arbeitsangebot
wählt. Sofort finkt der Lohn. Die. Ernährung wird geringer,
die Zeugung läßt nach. Der Nachwuchs ift geringer, die Arbeit»
nachfrage alſo ftärfer; die Löhne fteigen und der Kreislauf beginnt
von neuem. Mir ift diefe Ausführung immer wiberwärtig geweien,
eine Beleidigung unferes Arbeiterftandee. Mag fie hierhin und
dorthin paſſen, auf einzelne bereits tief gefunfene Fabrikbevölke⸗
rungen, im großen und ganzen paßt fie nicht, auf bie länd⸗
fihe Arbeiterbevöllerung jedenfalls durchaus nidt.
Ueber diejen freiheitslofen Naturalismus bat fi) unjere Arbeiter»
bevölterung längft erhoben. — Die Bevölkerung in unferem Vater:
ande hat ftetig zugenommen, ohne daß das Elend der arbeitenden
Claſſen in gleihem ®rade gewachſen wäre. Wo's noch ſchlecht
ſteht und noch viel zu beſſern iſt, da find das mehr Reſte aus
alter, als Erzeugniffe aus jüngfter Zeit. — Es gibt in unferer
Arbeiterbevölferung, es ift wahr, ftrichweife noch namenloje Armut,
und der Rath „Sparen“ Tann dort nur als Hohn aufgefaßt werden,
aber im großen bat ſich die Lage der arbeitenden Claſſen gebeffert.
Das beweifen und am beften die Soclaliftenvereine. Im heutigen
Arbeiterhaufe find Luxusgegenſtände, welche der Kleine Handwerfer
ſich früher nicht geftattete, weil er's nicht konnte; aber freilich
werden wir von den Socialiften fofort mit dem Worte zurüdiges
wiefen: „Mag das fein, mögen die jegigen Arbeiter günftiger
fituirt fein, al® ihre Vorfahren, — fte haben nur feine Empfin-
dung davon; ihre jeßige Lage ift die ihnen gewohnheitsgemäße,
und dieſe ift im Verhältnis zu der Lage der anderen Claſſen immer
eine gedrüdte. Es ift ihre jegige Nothdurft, und der Kohn
dient eben nur dazu, fie zu befriedigen. Es ijt alfo im Grunde
beim alten geblieben.” Und wenn nun bie Arbeiter unter jebiger
BVroductionsweife am Reingewinn betheiligt würden? So würde
dann die befjere Lage nach 10 Jahren auch wieder die „gewohn⸗
heitögemäße“ fein, und das Einkommen eben nur zur Dedung der
Nothdurft ausreichen! Danach darf man den Menfchen wol erft
fatt nennen, wenn er fi übergibt? — Und im Zulunftsitaat?
Wenn alle nun den „vollen Ertrag ihrer Arbeit“ erhalten? Sollte
da nicht auch das an Genußmitteln Gewährte — nad) Schäffle’s
668 Trümpelmann
„Duintefjenz“ etwa dem Genußlreife des Kleinbürgertums ent⸗
fprechend! — bald zum „Gewohnheitsgemäßen“ werden, jo daß der
volle Arbeitsertrag dann eben auch nur die Nothdurft deckt? Sicher⸗
fih, und da dann die Spannung fehlt, welche jett die Vergleichung
mit anderen hervorruft, fo wird fich bald gähnende Langeweile auf
das Arbeitervolk mit dem vollen Wrbeitsertrag niederfenfen. —
Wenn Herr Mehring !) die Phrafe, der Socialismus erftrebe unter
Abfchaffung des Lohnſyſtems den vollen Arbeitsertrag für jeden
Arbeiter, completen Nonſens, aud von ihrem eigenen Standpuntte
ans, nennt, und wenn er behauptet, principiell gefaßt, proclamire
diefe Forderung für jeden Arbeiter die Armut, den Berfall, bie
Barbarei, fo dürfte er doch wol zu viel gefagt haben. Die So
cialiſten willen fehr wohl, daß „in jeder denkbaren, auch der com⸗
muniftifchen Gejellichaft, jeder Arbeiter einen Theil feiner Arbeit
der Verbeſſerung, Erjegung, Vermehrung der gejellfchaftlichen Pro»
ductionsmittel, opfern muß“ ?) und fprechen es wiederholt aus, dag
dies dem Einzelnen vom Wrbeitsertrag abgezogen werden muß,
aber — es geht diejer Abzug dem Einzelnen doch wieder in fo fern
nit verloren, als er ja nicht zu Gunften eines Privateigentümers,
jondern vielmehr zu Gunften der Gefellfchaft gefchieht. Die Barbarei
des Volksſtaates wird weniger aus dem „vollen Arbeitsertrage“
als aus dem Mangel an fittlicher, religiöfer Grundlage fliehen,
einem Mangel, der ſich meines Erachtens namentlich auch darin
geltend macht, daß die Arbeit zu Ungunften des Menſchen über:
hätt, daß „Arbeiter“ und „Menſch“ völlig identificirt wird. Ich
fagte ſchon früher: der Menſch ift mehr als feine Arbeit. Man
fann deshalb auch in der Indignation darüber, daß die menfchlicye
Arbeit als Waare behandelt und jo genannt wird, zu weit gehen.
Wenn nur die Waare „Arbeit“ genügend bezahlt wird, fo daß der
Verkäufer fih und feiner Familie mit dem erhaltenen Preife eine
menſchenwürdige Eriftenz fchaffen kann, fo möchte es mit diefer
Auffaffung fein Bewenden haben. Darin Liegt feine Herab-
würdigung des Menjchen, die Herabwürdigung beginnt erft, wenn
man den Menfchen fo jehr mit jeiner Arbeit identificirt, daß die
i) a. a. O, S. 188,
2) Ebendaſelbſt.
Socialismus und Socialteform. 669
niedere, geringere Arbeit ihn ſelber werthlos macht. Das war bie
Anſchauung des vorcdriftlichen Altertums. Das Ehriftentum adelte
ben Menſchen als foldhen, ohne Rückſicht auf Nationalität, Stand
und Thätigleit. Der Werth ded Menfchen hängt nun eben nicht
mehr von feiner Arbeit ab, weder von feiner Einzel» noch feiner
Gefamtarbeit. Er Hat von vorn herein einen alle Leiftungen
überragenden Werth erhalten. Legt er nun, in feine Leiſtung
feinen fittlichen Werth Hinein, feine Gewilfenhaftigkeit und Treue,
feine Freudigfeit und Geduld, feine Liebe und feinen Glauben, fo
werden die verjchiedenen Arbeitsleiftungen nah ihrem ſittlichen
Gehalt gleihwerthig, und in diefem Sinne nennt Quther das
Stubenfehren der Magd und das Windelmafhen ber Mutter
Gottesdienſt. So nimmt nad) und nad alle menſchliche Thätigfeit
an dem Adel theil, welcher der menfchlihen Perſönlichkeit als
folder eigen if. Es ann nun auf feiner Arbeit mehr um der
Niedrigkeit ihrer äußeren Erfcheinung willen die Verachtung ruhen. —
Aber nicht eine Silbe fagt die Schrift über den wirthſchaft⸗
lichen Werth ber verfchiedenen menfchlichen Leiftungen, nicht eine
Sterbengfilbe über den vollen „Arbeitsertrag*, nicht ein Wort
über die „Arbeit als Waare“, and noch nicht einmal andeutungs-
meife. Es heißt die Schrift malträtiren, fie jet zum Compendium
einer Bollswirthfchaftslehre zu machen, ebenfo wie früher zum
Compendium der Naturwiffenfchaft. Pfr. Todt, fagt 3. B. um
nur eins unter vielem ähnlichen herauszugreifen, über das Gleichnis
von den Arbeitern im Weinberge !); „Das Gleichnis gibt uns
feinen Anhalt, um Schlüffe auf eine Wirthichaftstheorie des Herrn
zu machen.“ (Richtig!) „ES ftellt uns einen Grundbeſitzer vor,
dem befitloje Arbeiter gegenlbergeftellt werben. Aber obmwol die
bier gejchilderten Eigentums» und Productionsverhältniffe diejelben
find, wie die heutigen, fo hieße es doch der Parabel Gewalt an⸗
thun, wollten wir aus derfelben eine Sanction dieſer Verhältniſſe
durch den Herrn herausleſen.“ Sicherlich! Und wenn dod nur
"Pfr. Todt diefen jchönen Grundfag immer feftgehalten und nicht
fo oft aus den Worten ber Schrift die Sanction foctaliftifcher Ver⸗
1) a. a. O., ©. 174.
6:0 Trümpelmann
haltniſſe herausgelefen hätte! Dasjelbe Gleichnis von den Arbeitern
im Weinberge dient nun folgendem Experiment !): „Der Herr bat
dies Gleichnis gegeben, um eine höhere Wahrheit im Weiche der
Gnade zu iluftriren. Zu dem Zwede führt er feine Hörer auf
bas wirthichaftlihe Gebiet, und wir haben alfo Gelegenheit, zu
conftatiren, daß es aud damals einen Arbeitsmarkt gab, auf dem
die meufchliche Arbeit wie eine Waare gelauft, ver- und erhandelt
wurde. Mit den erften Arbeitern wurde der Capitalift in Folge
eined Handels eins um einen Groſchen. Aber faft in demjelben
Athemzuge erhebt Jeſus diefen damals herrjchenden Ufus auf eine
fittlih höhere Stufe, auf die chriftliche, indem er den Capitaliſten
in feiner weiteren Schilderung aus einem gewöhnlichen, hartherzigen
Käufer menfchlicher Arbeitewaare, der das viele Angebot ven Hän-
den zum Herabdrüden des Lohnes zu beuugen jchien, zu einem vom
neuteftamentlichen Geift der Liebe und Gütigkeit durchbrungenen,
als Haushalter Gottes ſich gebarenden Capitaliften und zugleich
Menſchenfreunde umbildet.... Kurz Jeſus kennt den Grundfag:
‚Arbeit ift eine Waare‘ — er acceptirt ihn nicht.“ Preßt man die
Worte, wie Pfr. Todt, fo kann man mit ganz gleichem Rechte
fagen: „ja, Chriſtus acceptirt ben Grundfag; Arbeit ift Waare“,
denn er läßt doch den Gapitaliften mit den eriten Arbeitern han⸗
delseins werden, ohne ein Wort des Tadels diefem Verfahren hin⸗
zuzufügen.
Aber es wird dem Gleichnis von vorn herein Gewalt angethan,
wenn man die Frage aufwirft, ob Ehriftus diefen Grundſatz accep-
tive oder nicht. Chriftus geht von einem Brauche feiner Zeit aus
und läßt es völlig dahingeftellt fein, ob derjelbe recht oder nicht
recht it. Er läßt dann feinen Eapitaliften zu einer Handlungs-
weife übergehen, die feinen Hörern fremd genug erfcheinen mußte.
Sicherlich Hatten fie Erfahrungen diefer Art in ihrem Leben nicht oft
oder gar nicht gemacht. Um jo eher konnte Ehriftus erwarten, daß fie
das Gleihnis von jeder wirthſchaftlichen Beziehung
loslöfen und nad feiner eigentlichen Bedeutung for-
ſchen würden. So liegt die Sade. Auch Pfr. Todt wird zugeben,
1) a. a. O. ©. 288.
Socialismus und Socialveform. | 671
daß die Handlungsmweife des Kapitaliften nur als eine That der
Barmherzigkeit, nur als Ausnahmefall im Wirthſchaftsleben
geduldet werden kann, daß fie als Regel aber verwerflid
jein würde. Als Regel — das hieße ja die Sociafiften nod
überbieten und den gleichen Lohn für jede Leiftung und jede Zeit»
dauer proclamiren. Und dies könnte man ebenjo gut aus den
orten des Herrn herauslefen, namentlich nad) der Paraphrafe
Zodts, als das andere: „Jeſus kennt den Grundſatz: ‚Arbeit ift
eine Waare‘ — er acceptirt ihm nicht.“ Pfr. Todt definirt die
Arbeit folgendermaßen !): „Arbeit ift felbftbewußte, mit Mühe
verbundene körperliche und geiftige Thätigkeit zum Zwecke der Her-
borbringung irgend eines Gutes“, und er ſetzt hinzu: „So beftnirt
läßt ſich die Arbeit von dem Menfchen ſelbſt gar nicht ablöfen.
Die menfhliche Arbeit ift vielmehr die Auswirkung des
ganzen Menfchen, der Menſch felbft." Pfr. Todt ftürmt mit
Siebenmeilenftiefeln vorwärts. Er folgert viel mehr aus feiner
Definition, als diefe geftattet. Logiſch iſt der Fortfchritt nicht.
Zur Roth ließe fih der Sag: „So beftnirt läßt fich die Arbeit
von dem Menſchen felbft gar nicht trennen“ mit der Definition
deden; aber die „menschliche Arbeit ijt die Auswirkung des ganzen
Menſchen, der Menſch felbft”, wie Tann das folgen aus einer
Definition, welche die Arbeit nur in ihrer Einzelart, als einzelnes
Thun „zum Zwecke der Hervorbringung irgend eines Gutes“ vor
Augen hat, und nicht als die Gefamtthätigfeit ded ganzen Men⸗
fchenlebens? Aber auch in diefer erweiterten Faſſung würde fie
niht im Stande fein, bad andere: „die menfchliche Arbeit ift die
Auswirkung des ganzen Menfchen, der Menſch jelbft“ zu tragen.
Seht die Bedeutung des Menſchen in feinen Leiftungen auf? Pfarrer
Todt will die Arbeit nobilitiven, aber wie alle falfche Begriffsbe⸗
jftimmung, fo ift auch die feinige doppelfinnig, und es könnte mög⸗
ficherweife diefe überfchwengliche Nobilitirung der Arbeit die Ent»
adlung des Menfchen zur Folge haben. „Der Menſch ift nichts
werth, er Teiftet nichts", diefer Satz wird bald genug im Socia-
tiftenftaate an Stelle bes einfachen Erwerbstriebes bei heutiger
1) a. a. O., ©. 269.
672 Zrümpelmann
Broductionsart da8 Genoſſenſchaftsweſen als Regulator beherrſchen
und die Arbeit in Spannung erhalten müſſen, wenn der Staat
nicht an allgemeiner Indolenz zu Grunde gehen fol. Damit aber
iſt nicht nur nichts gewonnen, fondern ein Ideal verloren worden.
Der Sat des Pfr. Todt: „die menſchliche Arbeit ift die Aus
wirkung des ganzen Deenfchen, der Menſch felbft", würde, praktiſch
3. B. auf einen Schuhmacher angewandt, lauten (natürlich unter
Boransfegung, daß der Schuhmacher eben nur Schuhmacher geweſen
ift): „die ſämtlichen von ibm gefertigten Schuhwaaren find feine
Auswirkung und zwar feine totale Auswirkung als Menſch, find
er felbft*. Zugleich kann uns aber dies Beifpiel auch darüber
belehren, daR es unendlich fchwer, ja unmöglich ift, der menſch⸗
lichen Arbeit den Woarencdarakter ganz zu nehmen. Der Schuß
macher bietet feine Stiefel und läßt foviel als Preis zahlen, daß
er 1) feine Auslagen (Leder, Handwerközeug u. ſ. w.) deden Tann,
2) feine perfönliche Arbeit entfhädigt erhält. Er trennt das beibes
nicht, fondern er fordert im ganzen für die Waare „Stiefel“.
In dieſer ſteckt feine perfönliche Arbeit drin und nimmt fomit am
Charakter der Waare felbft theil. Man muß nicht immer an die
Arbeit des Fabrikakbeiters denken! — Pfr. Todt fügt feiner
Beweisführung fpäter die Gottebenbilblichkeit des Menſchen an,
nit ein, um e8 doppelt verwerflich erfcheinen zu laffen, wenn bie
„Wrbeit“, oder wie es num nad) der zuvor decretirten Identificirung
heißt, „der Menſch jelbft ale Waare behandelt wird“. Gerade bie
Gottebenbildlichkeit des Menſchen hätte ihn doch beftimmen follen,
einen Gedanken, wie den: „die menfchliche Arbeit ift der Menſch
jelbft” weit vom ſich abzuweifen, einen Gedanken, der, wie ich bereits
bemerkt, die vorchriftliche Zeit beherrfchte und der dem fchamlofen
Capitaliftenegoismus mindeſtens ebenfo vortreffliche Dienfte leiften
kann als der Sag: „die Arbeit ift Waare“. Es verhält fich mit
diefem Sage, wie mit bem über die Arbeit als alleinige Werther-
zeugerin — er dient dem extremen Capitalismus ebenfo gut, wie dem
Sorialismus, und darum ift er falfch. Nein, wir wollen die Bes
deutung des Menſchen nicht in feiner Leiftung aufgehen lafien! Und
was würde daraus unter Wahrung unferer jetigen wirtbichaftlichen
Derhältniffe etwa zu folgern fein? Auf den Socialiftenftaat haben
Socialismus und Socjalrefoum. 673
wir nit Rückſicht zu nehmen, weil wir ihn nicht wollen. Alfo,
was wäre daraus zu falgern? Einfach dies: Auf einem beftimmten
Betriebögebiet kann anf Grund der jeweiligen Gefchäftsconjuncturen
für die Waare Arbeit immer.nur ein beftimmter Preis gegeben werben ;
find die Conjuncturen günftig, fo-werden die Löhne eine Höhe haben,
daß die Rage des Arbeiters, eine Zantiemengefeßgehung außerdem voraus⸗
gejeßt, eine angemefjene genannt merden muß; find die. &onjuncturen
Dagegen ungünftig, und wird dies Nothleiden bes betreffenden Betriebes
von den Geſchworenen, den Fabrikinſpeetoren, beftätigt, fo hat die
Geſellſchaft iu ihrer Gefamtheit dem leidenden Gliede zu Helfen und den
Arbeitern in jedem Falle fo viel Zuſchuß zu ihrem zeitweiligen Lohne
zu gewähren, daß fie den Durchſchnittslohn der letzten 10 Syahre, der
in ihrem Geſchäfte gezahlt worden üft, empfangen. Es ift darauf
Hei Beiprehung der Speialreformen noch näher einzugehen. —
Recht bezeichnend dafür, ‚wie ein an fich falfches Princip in
feiner Welterentwiclung immer mehr auf Abmege führt, ift der
bereitö erwähnte Streit im Socialiftenlager, ob die Arbeitsent⸗
Schädigung im Zufunftsftante nach den Leiftungen oder für alle
ganz gleich bemeſſen werden ſolle ). Die Mehrzahl fordert — fie
ftedt noch in den Empfindungen des Augenblicks —, daß im
Zufunftsftant jeder nur nach feiner Leiftung belohnt werben folle,
weil, wenn die gleiche Arbeitsentfehädigung für alle eingeführt
werde, das „Streben“ aufhören würde. Die Weinderbeit, fich
ftügend auf die Verheißung de8 Programme, daß im Zukunfts⸗
ftante „alle und jede politifche und fociale Ungleichheit bejeitigt fein
fofle“ behanptet, „daß eine ungleiche Entſchädigung für geleitete
Arbeit im Zufunftäftaate nicht vorherrfchend fein wird“. Während
man früher wol von Socialiften hören und leſen konnte, daß es
eine Verfchiedenheit der Begabung non Natur gar nicht gebe, daß
afle Menſchen, der eine wie der andere, ganz gleich beanlagt ſeien,
und daß die fpüter fich zeigende fogenannte verfchiedene Begabung
nur .ein Product der fo fehr verfchiedenen äußeren Verhältniſſe jet,
unter denen bie Mienfchen geboren würden und aufwüchſen, fo
ſcheint man jest im focialiftifchen Lager naligemein zuzugeben, daß
1) ©. Neue Gefellichaft, S. 284.
Theol. Stud. Jahrg. 1878. 44
674 Trümpelmann, Socialismus und Socialteform.
die Menfchen verfchieden veranlagt zur Welt fommen, und daß diefe
Berfchiedengeit mit der Egalifirung der äußeren Verhältniffe fich
nicht vollſtändig heben laſſen werde. (Bielleiht find fie morgen
wieder anderer Meinung, in ſolchen Dingen wecjeln bie Herren
ſchnell) Majorität und Minorität, von denen wir bier reden,
nehmen diefen Unterjchied beide an, und beide pochen auf die Ge⸗
vechtigfeit ihrer Forderung. Die einen fagen, gleihe Löhnung bei
verfchiedener Leiftung wäre ungerecht; die anderen, fie wäre geredjt,
und fie begründen bies, wie folgt: „Die Leiftungen hingen doch von
der natürlichen Befähigung des Einzelnen ab. Derjenige, welcher
von Natur befähigter wäre als ein anderer, würde auch im Stande
fein, mehr zu leiften, als der Minderbefähigte. Er hätte fich dieſe
natürliche Befähigung nicht felbft gegeben, alfo könnte er auch nicht
für etwas belohnt werden, an deffen Hervorbringung er an umd
für fi total ‚unfchuldig‘ wäre. Wollte man ferner annehmen,
daß von zwei gleich befähigten Individuen der eine öfters troß-
dem mehr leiften würde, als der andere, weil er fleißiger wäre,
fo wäre zu bemerfen, daß diefer ‚Fleiß‘ ja gleihfalis nur ein
Product der Befähigung vefp. des ‚Triebes‘ jei, ber bei dem einen
mehr, bei dem anderen weniger ftart ausgeprägt ſei.“ Nun es ift
gewiß: „Edel fei der Menſch, hülfreich und gut!" und ich fann
nicht umhin, dem fentimentalen Gerechtigkeitsgefühl der Minderheit
vom focialiftifchen Standpunkte aus die größere Conſequenz zuzu«
geftehen. Indeſſen freilich — daß die Minderheit durchdringt, ift
faum zu glauben. Es gibt der „Starken“ unter den Socialiften
eine hübſche Zahl, und fie werben fi bei der Neuordnung der
Dinge einzurichten wiffen. Endlich aber jei bemerkt, daß in diefer
Forderung der Meinderheit nicht ſowol eine höhere Gerechtigkeit,
fondern einfach der Naturalismus und Materialismus des Syſtems
feinen letzten Trumpf ausſpielt. Was kann der. Menfch für feine
Gefühle, fein Wollen, fein Thun? Er ift, wie er ift, denn er üft
Naturproduct, wie da8 Blatt am Baum. Die „Starten“ werden
ſich diefe Ethik in ihrer Weife zunuge machen. Mein nächjter
Artikel foll enthalten: die Grunde und Bodenfrage, die perjönliche
Dreiheit im Socialiftenftaat, die fogenannten „berechtigten Forde⸗
zungen“, Liberalismus und Socialismus und endlich die Reform.
Gedanken nnd Bemerkungen.
1.
Robert Maher,
ber große Förderer unferer heutigen wifſenſchaftlichen Welt⸗
erfenntnis, feine wifjenfchaftliche Entdedung und fein religiöſer
Standpunkt.
Bon
Rudolf Schmid,
Dekan in Schwabiſch⸗Hall.
Am 20. März 1878 verfchieb in feiner Vaterftadt Heilbronn
am Nedar in einem Alter von 63 Zahren Julius Robertvon
Mayer, der große Naturforfcher, welcher mit feiner Entdeckung
von der Erhaltung der Kraft und von‘ dem „mechanifchen Aequi⸗
palent der Wärme” der theoretifchen Phyfit und damit der Er-
fermtnis des Weltall ganz neue Bahnen gewieſen hat, und dem‘
der academifche Senat der Univerfität Tübingen durch den Mund
ihres Kanzlers Rumelin an feinem Grabe das volfberkchtigte Zeuge
nis ausgeftellt hat, „daß mit Robert Mayer einer der geiſtvollſten
Naturforscher aller Zeiten, eine der erſten Zierden deutfcher Wiſſen⸗
ſchaft zu Grabe getragen wird“. Derfelbe Redner ſagte an Mayers
Grabe noch weiter: „Ya, ich darf es wol ohne irgend ein’ Mans’
dat und ohne befonderen Beruf‘ zu einem felbftändigen Urtheil im
naturwiffenschaftlihen Dingen im Sinne aller Hochſchulen und
wiſſenſchaftlichen Inſtitute unferes Vaterlandes als etwas allgemein
anerkanntes ausſprechen, daß dieſer Mann zu den ſeltenen bahn⸗
678 Schmid
brechenden Geiftern zu rechnen iſt, welche ihre Lichtfunken und be»
fruchtenden Keime Über weit entlegene Gebiete und in ferne Yahr-
hunderte auöftreuen. Der Name Robert Mayer wird in der Ger
ſchichte der Wiffenfchaften für alle Zukunft in ungetrübtem Glanze
ſtrahlen.“ — Das Andenken diefes Mannes verdient aber auch einen
vollen Ehrenplag in einer theologifchen Zeitfchrift, welche es als
eine ihrer Aufgaben erkennt, die Religion in ihren Beziehungen zum
gefamten Culturfeben der Gegenwart ind Auge zu falfen. Denn
Mayers perfünliche Stellung zu Religion und Chriftentum war
der Art, daß er wie alle die großen Geifterfürften auf dem Ge
biete der Naturerfenntnis die Behauptung aller derer Lügen ftraft,
welche die vielgehörte, aber fehr turzfichtige und oberflächliche Mei⸗
nung ausſprechen, daß eine tiefere Einficht in die Natur des
Seienden vom religiöfen Glauben hinwegführe.
Gerade in der Gegenwart, wo ja bie Unverjöhnlichkeit von
Glauben und Wiffen von zahllofen Stimmführern laut verfündigt
wird, wo ein großer Theil nicht bloß unferer Halbgebildeten, fon
dern auch folder, welche die Ansprüche auf das Prädicat Hoher
und höchſter geiftiger Bildung erheben, es geradezu für eine aus
gemachte Sache erklärt, daß man ſich in dem Grade, als man bie
Höhen der Wilfenfchaft erfteige, von den Weberzeugungen bes Glan
bens entferne, und wo es die Naturwifjenfchaften vor allem fein
follen, welche dem Glauben an einen Gott und Erlöfer nirgends
mehr einen Raum geftatten, — gerade in einer folchen Zeit liegt
e8 doch überaus nahe, auch einmal zu fragen, welche Stellung zu
Religion und Chriftentum denn nun diejenigen einnehmen , melden
die ganze heutige Erweiterung unferer Welterfenntnis ihre willen
fhaftlihe Begründung verdankt. ine einzige derartige Stimme
wird? — noch abgefehen von unferer etwaigen Einficht in bie
Gründe, auf welchen die religiöfe Weberzeugung eines foldhen Mannes
beruht — ſchon als bloßes Votum mehr wiegen‘ al8 die Stimmen
aller derer zufammengenommen, welche aus den Entdeckungen und
Forſchungen des Meifters atheiftifches und matertaliftifches Capital
ſchlagen.
Unter allen den großartigen Förderungen nun, deren ſich unſere
heutige wiſſenſchaftliche Welterkenntnis erfreut, ſtellen wir ohne
Robert Mayer. 679
Bedenken die Entdedung Robert Mayers in erfte Reihe. Wir
überjehen nicht, welchen großen Einfluß auch andere Entdeckungen
und Theorien auf die Erweiterung unferes Forſchens und Wiffens
geübt haben, Theorien, welche ſich zum Theil einer noch viel all-
gemeineren Popularität erfreuen als Robert Mayers Entdedung.
Wir denfen hiebei an die Entdedungen der Spectralanalyfe,
welche vor allem an Fraunhofers, Bunfens und Kirch—
hoffs Namen gefnüpft find, und an die Theorien Darmins und
feiner Anhänger von der Entjtehung der Arten dur Abſtammung
auf dem Wege natürlicher Zuchtwahl.
Die erftgenannte Entdedung, die Spectralanalyfe, ijt und
bleibt wol eine der ſinnreichſten, ſchönſten und großartigften Ent-
deckungen, mit welchen je menjchlicher Scharfjinn und Fleiß belohnt
worden if. Sie theilt mit der: Deayer’ichen Entdedung ſowol
den Charakter des Wohlerwiejenen al8 die Ausdehnung ihrer Trag⸗
weite anf alle nächſten und fernfien Räume des Weltalls. Indem
fie die jtoffliche Sleichartigfeit und Zufammengehörigfeit aller Körper
des Weltall& experimentell nachweiſt und damit manche Lieblings»
vorjtellungen zunichte machen hilft, welche ſich veligiöfe Gemüther
schon von dem Weltall gemacht Haben, fo gibt fie auch den Geg⸗
nern einer theiftifchen Weltanichauung ungefähr diejelben fcheinbaren
Waffen in die Hand wie diejenige Entdedung, deren erfte Urheber-
Schaft fih auf Mayers Namen zurüdführt. Allein da dem Ber-
fafjer diefer Zeilen nicht befannt ift, ob und wie fi) die Entdeder
amd Erfinder der Spectralanalyfe ſelbſt über die religiöje Frage
geäußert haben, jo Liegt ein weiteres Eingehen auf die Beziehungen
diejer Entdeckung zur Religion und religiöfen Weltanfchauung außer-
Halb der Aufgabe diejer Zeilen, die zunächſt nur dem Andenken
Mayers gewidmet fein follen und überhaupt nur die perjönliche
Stellungnahme der großen naturwilfenfchaftlihen Entdecker zur Mes
ligion in's Auge faſſen.
Die Theorien Darwins aber find vor allem vorerft noch
hypothetifcher Natur. Ein Theil derjelben, der Gedanke an eine
Entjtehung der höheren Arten organifcher Wejen nicht auf dem
Wege einer primitiven Zeugung aus dem Wnorganijchen heraus,
fondern auf dem Wege der Abjtammung von näcjtverwandten nie⸗
0 Schmid
dereren Arten, ſcheint zwar auf vollem Wege begriffen zu ſein, den
Werth einer bloßen Hypotheſe zu überfteigen und die Rangfiufe
einer wohlbegründeten Theorie einzunehmen; alleit gerade Diejenige
Theorie, welche das fpecifiih Neue an Darwins Aufftellungen bil
det und welche der Abftammungstheorie ihre wiſſenſchaftliche Ber
gründung geben foll, nämlich die Theorie von einer. allmählichen
Fortentwicklung der Arten zu höheren Arten auf dem Wege ber
natürlihen Zuchtwahl im Kampf um's Daſein, fcheint ihte
wilfenfchaftliche Begründung und Bedeutung mehr und mehr zu
verlieren. Zudem beſchränkt fih die ganze Theorie Darwins une
auf ein kleines Theilgebiet der Welt, auf die Organismen , welde
den Erdball bevölfern, und faßt auch diefe erft von da an in’
Auge, wo ihre erſten Bertreter jchon vorhanden find. Denn es
find ja erſt die metaphufifchen Theoretiker, welche die naturwiſſen⸗
ſchaftlich noch unlösbare Frage nad) der erften Entftehung der Or-
ganismen und des Lebens mit ihren naturphilofophifchen Hypotheſen
beantworten und auf diefe Grundlage von Hhpothefen ihre materia
tiftifhen Weltfyfteme bauen, während Darwin felbft die Frage nad
der Entftehung des Lebens weber ftellt noch zu beantworten ſucht.
Was endlich die religiöfe Trage betrifft, fo fordert allerdings bie
Darmwin’fche Theorie vor allem dadurch, daß fie aud) die natur-
wiffenschaftliche Trage nach der Entftehung des Menfchen in ihrer
Weiſe beantwortet, auf’8 allerentfchiedenfte zur Stellungnahme zu
Religion und criftliher Anſchauungsweiſe heraus, allein eben des⸗
wegen conftatiren wir bier im VBorübergehen um jo lieber, daß
Darwin felbft eine ganz freundliche Stellung zu den religiöfen
Ueberzeugungen einnimmt. Einen näheren Nachweis hievon zu geben,
hat der Verfaſſer diefer Zeilen in einer befonderen Schrift Anlaß
gehabt: „Die Darwin'ſchen Theorien und ihre Stellung zur Philo⸗
jophie, Religion und Moral" (Stuttgart, Paul Mofer, 1876),
S. 201—205.
Ganz anders ift num freilich die Begründung und die Trag⸗
weite von Robert Mayers Entdeckung. Fürs erfte ift fie feine
Hypotheſe, fondern drängt fi dem Geift mit allen vereinten Be
ee räften bes Experiments und der Beobachtung, der logiſchen
nd mathematischen Schlußfolgerung und der philofopifchen Intuition
Robert Mayer. ost
als Wahrheit auf und fteht troß: der. verhältnismäßigen Kürze ihres
Daseins (ihre erſte Veröffentlichung datirt erft vom Mat 1842)
wol für immer fo feft als irgend eine der gefichertften Errungen⸗
haften menfchlihen Wiſſens. Fürs andere erftredt fie fih in
ihrer Tragweite über alle Räume, Zeiten und Dafeinsformen des
Weltalls, jo daß es wol Fein Gebiet bes Naturerfennens gibt, über
welches fie nicht ihr neues und überrafchendes Licht verbreitet hütte
und immer noch weiter zu verbreiten verjpräde. Sie ift in ihren
Grundelementen wie alle Wahrheit überaus einfach und erinnert
iegt, nachdem fte gemacht und allgemein anerfannt tft, wie Mayer
irgendwo felbit jagt, an das Ei des Columbus. Sie bejteht im
wefentlichen in dem Nachrveis, dag nicht bloß die Materie, wie die
Chemie ſchon feit 100 Jahren unter Lavoiſiers Vorgang nad»
gewiefen hat, fondern aud) die Kraft ein unzerftörbares Ob—
ject it, das nie und nirgends wieder zw nichts wird, und daß zwei
diefer Kräfte, die Wärme umd die Bewegung (wahrfcheinlich aber
alle phyjifalifhen Kräfte d. h. auch die früher fogenannten Im⸗
ponderabilien, Licht, Electricität, Magnetismus, bie Kräfte der cher
mischen Verbindungsproceffe), wechfelfeitig fi) in einander verwans
dein nad) einem conftanten, meßbaren und in- Zahlen und Formeln
nennbaren Verhältnis. Dieſes Verhältnis ijt nach der Zahl, wie
er fte in jeinen jüngften Veröffentlihungen fejthält, folgendes. Die
Erwärmung von einem gegebenen Gewicht Waſſer um 1° der
hunderttheiligen Scala ift genau diefelbe Leiftung, wie die Erhebung
von einem gleichen Gewicht von irgend welcher materiellen DBe-
fchaffenheit auf eine verticale Höhe von 424 Meter. Oder umger
fehrt, was aber ganz dasſelbe ift: ein Gewicht, das von einer ver⸗
ticalen Höhe von 424” ſchnell oder langſam, ſenkrecht oder fchtef
herunterfülit, herunterrollt oder herunterrutfcht, erzeugt auf mecha⸗
nischem Wege, ſei es durch Stoß oder durch Reibung oder durch
beides zufammen, foviel Wärme, als erforderlich ift, um: dasſelbe
Gewicht Waffer um 19 C. zu erwärmen. Im Jahre 1842 hatte
er durch Experimente und Rechnungen noch die Zahl 365”, int
Jahre 1845 die Zahl 367 gefunden, Tpäter die von dem Engländer
Joule durch felbftändige Experimente gefundene Zahl 423, zuletzt
die Zahl 424” angenommen. Dieſe correlate Leiſtung beider
682 Schmid
Kräfte und die für diefelbe gefundene conftante Zahl nennt er das
mechaniſche Aerquivalent der Wärme, und diejes ift ihm
nun der archimediiche Punkt, von dem aus er über die Bewegungen
ber Himmelslörper, über die Sonnenwärme und ihre Urfacen
und Leiftungen, über die anorganijhen Bewegungen und Borgänge
wie Fluth und Erdbeben, Wafjer- und Luftftrömungen, über das
Leben der Pflanzen, der Thiere und des Menſchen, über das Ber-
hältnis zwifchen körperlichem Lebensproceg und mechanischer Arbeit
die überrajchendften und zugleich überzeugendften Folgerungen zieht.
Der Grundjag, den er dabei anwendet, ift derfelbe, der der welt-
berühmt gewordenen Erzählung von Newtons Apfel zu Grunde liegt.
„Dieje Erzählung hat nichts unmwahrjcheinliches; denn wenn man
fih darüber Kar geworden ift, daß zwiſchen Klein und Groß nur
ein quantitativer, kein qualitativer Unterfchied befteht, wenn man,
nicht Gehör gebend den Einflüfterungen einer immer regen Bhans
tafie, in den Kleinften wie in den größten Naturproceljen dieſelben
Gejege aufjucht, dann ift man auf dem rechten Wege zur Erkennt⸗
nis der Wahrheit. Gerade diefe allgemeine Gültigkeit Tiegt im
Weſen der Naturgefege und ijt ein Probirftein für die Nichtigkeit
menſchlicher Theorien. Wir beobachten den Wall eines Apfels, er
forfchen das dieſer Erfcheinung zu Grunde liegende Geſetz; an die
Stelle der Erde fegen wir die Sonne, an die des Apfels einen
Planeten und — wir haben den Schlüffel zur Mechanik des Himmels
in den Händen.“ (Med. d. Wärme, ©. 174.)
Wir haben abfichtlic, einen kurzen Grundriß von Mahers Ent-
deckung und Forfchungsmethode zu geben verſucht. Denn gerade
beöwegen, weil feine Entdedung von fo großer Tragweite und zu⸗
gleich jo wohl begründet ift, weil er mit jo unbeugfamer Energie
und fo weit blickender Klarheit die ausnahmsloje Geltung aller
Naturgejege betont und dasſelbe Gejeß, dem das Stäublein im Luft⸗
raum gehorcht, auch auf alle Weltkörper und Welträume anwendet,
weil er jo die Tüdenloje Conſequenz des naturmwifjenjchaftlichen
Forſchens in einem Grade durchführt, wie es ihm fein anderer
Naturforscher zuvorthut, gerade deswegen iſt es fo überaus interefjant,
zu fragen, ob denn in einem fo hellen und hahnbrechenden Geifte
auch die religiöjen Weberzeugungen des Chriftentums noch einen
Robert Mayer. 683
Pla oder gar den centralen Pla finden, den fie in einem religiös
geftimmten Gemüth haben. ‘Denn das fehen wir beim erften Blick
in feine Schriften: Robert Mayers kundige Haud führt und geraden
Wegs mitten in die Rüſtkammer Hinein, welcher die atheiftifchen,
materialiftifhen und pantheiftifchen Gegner des driftlichen Glaubens
ihre beiten Waffen entnehmen. Unzerſtörbarkeit der Materie, Un⸗
zeritörbarfeit der Kraft, allgemeine und ausnahmsloje Gültigkeit der
Naturgefege durch alle Räume und Zeiten hindurch: — das find
ja die großen Grundfäge, welche in jedem atheiftifchen Syſteme
ihre Rolle fpielen und die naturwifjenfchaftlichen Grundlagen für
feinen Materialismus abgeben müſſen. Sind fie berechtigt zu diefer
Rolle? Führen fie zu folchen materialiftiihen Confequenzen ?
Hören wir darüber den Meiſter, den wir vor allen anderen ben
Meifter zu nennen das volle Necht haben, obwol auch andere in
mehr oder weniger Unabhängigkeit von ihm diejelben Entdeckungen
gemacht oder jelbitändig weiter verfolgt haben, wie denn er felbft
in feinem Innsbrucker Vortrag nicht weniger al8 5 Männer nennt,
weiche das mechanische Wärme-Aequivalent feiner Zeit felbjtändig
entdect haben, den Franzoſen Adolf Hirn, die Engländer Joule
und Colding, die Deutfchen Holgmann und Helmholg. Wir heißen
ihn den Meiſter, nicht nur, weil er ber erfte iſt, der jenes Geſetz
entdeckt und ausgeſprochen hat, fondern auch, weil er an Geninlität
des Blicks, an philofophifcher Klarheit und an kühner Sicherheit
in der umfaljenditen Anwendung des gefundenen Princips einzig
und unerreicht dafteht.
Nun müſſen wir freilich im voraus darauf aufmerkfam machen,
daß der Anläffe, fih über die veligiöfe Frage auszufprechen, in
folhen Schriften nit eben jehr viele fein können, welche lauter
Fragen der eracten Naturwiſſenſchaft behandeln, und melde dies in
derjenigen natürlichen Ungezwungenheit thun, wie fie Mayers Ar-
beiten durchaus eigentümlich iſt. Zumal die erjte Sammlung feiner
Arbeiten, welche 1867 in Stuttgart bei Cotta unter dem Titel
„Mechanik der Wärme* in erfter Auflage erfchien, enthält Tauter
für ein wiflenfchaftliches Publikum beftimmte Abhandlungen, und
in ihnen fann der Leer im voraus nur beiläufige Andeutungen des
allgemeinen Standpunttes erwarten, auf weldem layer fteht.
084 Schmid
Diefe findet er auch, zwar nicht hünfig, aber in’ einer Deutlichkeit,
die nichts zu wünſchen übrig läßt, und fie find Mayer felbft ſo
wichtig, daß er fogar in feiner furzen Vorrede auf eine derjelben
binmeift. Er fagt dort S. Vf.: „In der Schlußſchrift „über das
mechanische WärmesAequivalent‘ ift zugleich die metaphyfiſche Seite
des neuen Gegenftandes berührt, welche den Brincipien und Con⸗
Sequenzen der materialiftiichen Anſchauungsweiſe geradezu entgegen
geſetzt iſt. Zwei Stellen jener Abhandlung ſcheint er mit‘ dieſen
Morten vor allem im’ Auge zu haben. Die eine fteht S. 273,
wo er nach Klarſtellung des Begriffes einer Kraft und nad Zur
rückweiſung diefes Namens für bie bloße Schwere: fortfährt: „Man
wende mir nicht ein, die Drud,;kaft‘, Schwer, kraft, CoHäftons
‚kraft‘ u. f. w. fei die höhere Urſache des Druds, der Schwert
u. f. w. Im: den eracten Wiffenfchaften hat man es mit den Er»
fcheinungen felbft, mit meßbaren Größen zu thun; der Urgrund
der Dinge aber ift ein dem Menfchenverftande ewig unerforfchlides
Weſen — die Gottheit, wohingegen ‚höhere Urfachen‘, ‚überfinn-
liche Kräfte‘ u. dgl. mit all ihren Confequenzen in das illuſoriſche
Mittelreih der Naturphilofophie und des Myſticismus gehören.”
Die andere Stelle fteht S. 274 und lautet: „Kraft und Materie
find unzerftörliche Objerte. Dies Geſetz, auf das ſich die einzelnen
Thatfahen am einfachften zurückführen laſſen und das ich deshalb
bildlich den heliocentrifchen Standpunkt nennen möchte, ift eine na⸗
turgemäße Grundlage fir die Phyſik, Chemie, Phyftologie und —
Philoſophie.“ In diefen beiden Stellen finden wir den ganzen
metaphuftfchen Standpunkt Mayers dargelegt. Fürs erfte zieht er
in feinem wiffenfchaftlichen Erfennen aus den Geſetzen, welche der
forfchende Menfchengeift in der Erſcheinungswelt findet, alle Con
ſequenzen bis zu ihrem legten erreichbaren Ziel. Fürs andere will
er nur erklären, was wirklich auch erflärt werden kann, und ge
ftattet dabei der fpeculirenden oder dichtenden Phantafle nicht den
mindeften Spielraum. So fagt er fchon im Jahre 1845 (Died).
d. W., S. 24 Anm.): „Wenn bier eine Verwandlung der Wärme
in mechaniſchen Effect ftatuirt wird, fo foll damit nur eine That⸗
ſache ausgefprochen, die Verwandlung felbft aber keineswegs erffärt
werden..... Die echte Wiffenfchaft begnügt ſich mit pofitiver Er
Robert Mayer. 685
kenntnis und überläßt es willig dem Poeten und Naturphilofophen,
die Auflöjung ewiger Räthſel mit Hülfe der Phantafteizu verfuchen.“
Fürs dritte erlennt er.über diefer ganzen Ericheinungswelt als Urs
geund aller Dinge die Gottheit: um diefe zu erfaſſen, bedarf
aber der Menfc eines anderen Organes als des biscurfiven Vers
ftandes. Daß Mayer mit feinem Ausfprucd über die Unerforjch-
lichkeit Gottes nicht etwa auch eine Behauptung von feiner religiöfen
Unnahbarkeit oder gar ‚einen Zweifel an feiner Exiſtenz ausfprechen
will, das geht ſchon aus gelegentlichen Heußerungen in der erften Samm-
fung feiner Schriften, noch viel deutlicher aber aus her zweiten
Sammlung hervor. So ftellt er (Med. d. W., ©. 52) die Größe
und Herrlichkeit der Natur in ihrer einfachen Wahrheit jedem Gebilde
von Menjchenhand ‚und allen Illuſionen des erſchaffenen Geiſtes
gegenüber, und fpricht (S. 240) von ber „göttlichen“ Weltordnung,
wornad der Menfch zum Arbeiten erfchaffen fei.
Diefe wenigen Aeußerungen find ‚nun freilich fo ziemlich ‚alles,
was wir in der erfin Sammlung von Mayers Schriften, in feinen
Abhandlungen, zur Beantwortung der Frage nach feinem res
ligiöſen Standpunkt finden; aber es ift auch alles, was wir billiger»
weife von einer Sammlung naturwifjenichaftlicher Abhandlungen er⸗
warten können. Viel reicher wird dagegen unjere Ausbeute, wenn
wir an die zweite Sammlung »herantreten, an die „Naturwiflen-
ſchaftlichen Vorträge“, weldhe er 1871 bei Cotta herausgegeben,
im ſelben Jahr aber auch der 2. Ausgabe feiner Mechanik der
Wärme einverleibt hat. Das urfprünglich gefprochene und gehörte
Wort geftattet und verlangt ja jeden Falls auch bei naturwifjene
fchaftlichen Gegenftänden mehr als die gefrhriebene Abhandlung eine
Bezugnahme auf die gejamten „geiftigen Intereſſen des Menſchen
und fo insbefondere auch auf feinen religiöfen Glauben und Stand-
puntt. Dazu mag vieleicht auch noch der doppelte Umſtand ger
fommen fein, daß fi) Wayers religidfe Ueberzeugungen im Laufe
der Jahre ohnehin mehr befeftigten und ausgeftalteten, und daß der
Misbrauch, der nachgerade mit feinen Entdeckungen in materias
liſtiſchem und atheiftiichem Sinn gemacht wurde, den Urheber der
Entdedungen ſelbſt zn recht deutlicher Zurückweiſung eines folchen
Miobrauchs herausforderte.
686 Schmid
So ift denn gleih ber erfte Vortrag überaus charafteriftifch
nicht nur für feine eigene religiöfe Weberzeugung, fondern ganz be
fonders auch für den offenen Muth, mit dem er fich unaufgefor-
dert zu bderfelben befannte. Es ift der Vortrag, den er auf der
allgemeinen Verſammlung der Naturforjher zu Innsbruck am
18. September 1869 „über nothwendige Confequenzen und In⸗
conjequenzen der Wärmemechanik“ gehalten bat. Man vergegen-
wärtige ſich, welche Wichtigkeit e8 für ihm, den bejcheidenen und
lange verfannten Dann haben mußte, von einem Naturforfcher-
Eongreß zum Vortrag aufgefordert zu werden; man verfeße fid
im Geiſt in die allen chriftlichen Aeußerungen Häufig jo kühl und
mehr als kühl gegenüberftehende Atmofphäre der meiften derartigen
Congreſſe, und erwäge dabei, daß Mayer vollauf berechtigt geweien
wäre, ſich auf lauter wilfenfchaftliche Mittheilungen zu befchränfen:
und es wird jedes Wort von Belenntnid eines Glaubens an bie
Wirklichkeit einer überfinnlichen Welt und an einen Schöpfer und
Herrn der Welt mit dem verboppelten Gewicht einer vollbewußten
heiligen Weberzeugung und vines wohl überlegten Belenntniffes zu
ihr in die Wagſchale fallen.
In diefem Vortrag nun bildet e8 einen ganz befonderen Theil
feiner Mittheilungen, eben den, der die „Inconfequenz“ der Wärme
mechanik darlegen fol und die Charakterifirung feines Stand
punttes als eines antimaterialiftifchen ergänzt, daß er jet feine
Unterfuchungen über die Gebiete des Anorganifchen und des Ors
ganifchen, die er fchon im feiner Mechanik dev Wärme durchmeffen
hat, hinausführt und auch auf das Pſychiſche ausdehnt. Und bier
ftatuirt er mit derfelben Klarheit und Weberzeugungsfraft, mit
welcher er einft zu der Erkenntnis von der Ungerftörbarfeit der
Materie die bahnbrechende Entdeckung von der Ungerftörbarkeit der
Kraft hinzugefügt Hatte, die felbftändige Erxiftenz der Seele und
des geiftigen Princips als etwas von der Materie und phyſikaliſchen
Kraft qualitativ Verſchiedenen. „Iſt man einmal zu der Cinficht
gelangt, daß es nicht blog materielle Objecte, daß es aud Kräfte
gibt, Kräfte im engeren Sinne der neueren Wijlenfchaft, ebenfo
unzerftörlih wie die Stoffe des Chemifers, fo hat man zur An»
nahme und Anerkennung geiftiger Exiftenzen nur noch einen folges
Robert Maper. 687
richtigen Schritt zu thun.... Weder die Materie noch die Kraft
vermag zu benfen, zu fühlen und zu wollen. Der Menfch denkt.“
(S. 15.) Den Zuſammenhang und den Unterfchied zwifchen dem
denkenden Geift und dem Gehirn veranfchaulicht er durch das Ver⸗
hältnis zwifchen dem telegraphifchen Apparat und der Depeſche,
welche bdiejer befördert. „Das Gehirn ift nur das Werkzeug, es
ift nicht der Geift ſelbſt. Der Geift aber, der nicht mehr bem
Bereiche des ſinnlich Wahrnehmbaren angehört, ift fein Unterſu⸗
hungsobject für den Phyfiter und Anatomen.“ (S. 16.)
Zu biefer direct antimaterialiftifchen Zendenz des Innsbrucker
Vortrages kommt noch die weitere, einem Leſer von religiöfer Ueber»
zeugung jo überaus wohlthuende Eigentümlichkeit desfelben Vor⸗
trages, daß er von Anfang bis zu Ende von ausdrüdlichen Bes
ztehungen auf Gott al8 den Schöpfer und Erhalter der Welt förm⸗
lich durchwoben ift und gelegentlich auch Worte der heiligen Schrift
im Sinne der ehrfurdhtsvollen Aneignung citirt. So leitet er
©. 7 den willenfchaftlichen Nachweis, daß und warum er die Ans
fiht von einem endlichen Stillftand der Welt nicht theile, mit den
Worten ein: „Um die Grenzen der phufilalifchen Aftronomie nicht
zu überfchreiten, will ich bier nicht weiter an ben Schöpfer und
Erhalter der Welt erinnern.” So illuftrirt er ©. 13 die Pro»
ductivität, die auf dem Gebiet ber lebenden Welt im Gegenfat zu
der ftarren Nothwendigkeit auf dem Gebiet des Anorganifchen zur
Herrfchaft fommt, mit dem biblifchen Wort: Gott ſprach: es werde,
und ed ward. S. 14 jagt er: „Das Erhaltungsprincip oder der
zweite Sag nil fit ad nihilum gilt in Gottes lebender
Schöpfung nod in erhöhten Grade, fo fern er nicht mehr, wie
in der todten Natur, durch den fterilen Sat ex nihilo nil fit be»
fchränft if. S. 16 lefen wir da8 Wort, welches aud für die
Kennzeichnung von Mayers metaphyſiſchem und erkenntnis⸗theoretiſchem
Standpunkt intereffant ift: „Was fubjectiv richtig gedacht ift, ift
auch objectiv wahr. Ohne diefe von Gott zwiſchen der fubjec«
tiven und objectiven Welt präftabilirte ewige Harmonie wäre all
unjer Denken unfrudtbar.“ Der Schlußſatz des Vortrags endlich)
wird vollauf beftätigen, was wir vorhin über Mayer Muth
und die Tiefe feiner religiöfen Weberzeugung gejagt haben. Er
688 Schmid
lautet: „Laſſen Sie mich hier ſchließen. Aus vollem ganzen Herzen
rufe ich es aus: eine richtige Philoſophie darf und kann nichts
anderes fein als eine Propädentik für die chriftliche Religion.“
Der zweite Vortrag, den er 1870 „über Erbheben“ gehalten
bat, ift ung für unferen gegenwärtigen Zweck bejonder® deswegen
intereffant, weil er und in feinem Schluß (S. 80 u. 31) übe
Mayers Stellung zur heiligen Schrift und zu der Behauptung von
einem Widerftreit zwifchen Glauben und Wiffen den deutlichſten
Aufſchluß gibt. Er jagt: „In der Bibel finden ſich zur Erklärung
der ‚heute beiprochenen Gegenftände Seine Anhaltspunkte nor, und
e3 ift dies ganz dem heiligen Charakter der Schrift entfprechens,
welche uns nur erft da Auskunft zn ertheilen pflegt, wo uns, was
aber freilih nur gar zu oft geichieht, unter eigenes wmenfchliches
ingenium atque judicium im Stiche läßt..... Damit find wir
an einer Tagesfrage angelangt, das Verhältnis von Glauben up
Wiffen betreffend. Man gibt fi) von gewiffer Seite aus alle
Deühe, dieſes Verhältnis geradezu als ein feindfeliges zu bezeichnen,
eine Anficht, zu der ich mich durchaus nicht bekennen kann. Aller⸗
dings hat der Materiaglismus bis zu einem gemiffen Grade fein
Berechtigung. Die Materie exiftirt, und in ihrer Exiſtenz liegt
auch das Recht ihrer Exiftenz. Wenn der Königsberger Philoſoph
die Welt in eine Centripetal» und eine Eentrifugaltraft auflöjen
wollte, jo hat er fich ‚bier einer ungefchicten und verwirrenden
Terminologie bedient, die fchon im Prineipe verfehlt und nidt
lebensfähig ift. Diefelbe ift auch von der Wiffenfchaft Längft auf
gegeben worden. Man mörhte bei Kant anzufragen verfucht fein:
was it Vernunft? Vernunft ift die fubjective Religion, und Re
Tigton ift die objective Vernunft. Die ewige Vernunft möchte id
mir aber nicht getrauen mit Eritifchem Maßſtabe ausmeffen zu
wollen. Die Naturwiffenfchaften haben fi) zum Glück von phile
ſophiſchen Syſtemen emancipirt und gehen an der Hand der Er
fohrung mit gutem Erfolge ihren eigenen Leg. Wenn aber ober-
flächliche Köpfe, die ſich gerue als die Helden des Tags geriren,
außer der materiellen, ſinnlich wahrnehmbaren Welt überhaupt nichts
weiteres und höheres auerlennen wollen, fo kann ſolch lächerliche
Anmaßung einzelner der Wiſſenſchaft nicht zur Laſt gelegt werder,
Robert Mayer. 689
noch viel weniger aber kann fie derjelben zu Nut und Ehre ges
reichen.“
Der dritte Vortrag gibt und für umfere Frage feine weitere
Ausbeute, um fo mehr aber wiederum ber vierte und letzte, 1871
„uber die Ernährung“ gehaltene. Dort führt er zunächft in feinen
allgemeineren Grörterungen die Ideen, die wir ſchon im feinem
Innsbrucker Vortrag kennen gelernt haben, weiter aus, indem er
das Mineralreich das Reich der Nothwendigkeit, das Pflanzenreich
das Reich der Zweckmäßigkeit und das animalifche Reich das Reich
der Freiheit heißt und bei dem letteren (S. 67) hinzufügt: „Doc
ft es Sache der Philoſophie und Theologie, diefes Thema in Bes
ztehung auf ben Menſchen weiter zu erörtern.“ Gleich darauf
(S. 68) Heißt er den Menſchen „den Herrn der Schöpfumg, Gottes
Ebenbild fowol, wie das ewige Räthſel der Sphiux.“ Hier machen
wir wieder auf den wiſſenſchaftlichen Freimuth und die Ueberzeu⸗
gungsfeſtigkeit aufmerkſam, womit er von einem Reich der Zweck⸗
möäßigfeit, von einem Reich der Freiheit und von der fpecififchen
Würde des Menſchen als von lauter felbftverftändlichen Dingen
redet. Weber die modernen, fo überaus populär gewordenen Ans
griffe anf die Ideen der Zweckmäßigkeit, der Freiheit und auf die
ſpecifiſche Würde und die Gottesebenbildlichleit des Menfchen, —
Angriffe, die er fo gut kennt, wie irgend einer, geht er in feinem
genialen Blick und in der Sicherheit feiner Auffafjung einfach bins
weg, als ob fie gar nicht eriftirten, weil er ihnen feine wiflen-
fhaftlihe Berechtigung zuerfennt.
Sodann begegnen wir auch in diefem Vortrag mieber ähnlich
wie in dem Innsbrucker einigen lebhaften Hinweifungen auf Gottes
Shöpferherrlichkeit. So nennt er (S. 56) bie Nothwendigkeit, die
in dem Reiche des Anorganifchen herrſcht, eine göttliche und
fagt von ihr: „Diefe göttliche Nothwendigkeit kann aber nur folchen
misfallen, die fie nicht recht verftehen.“ Und ebendafelbft fagt er:
„Wir können, um mit Plato zu reden, nicht aufhören, ſchon im
Gebiete der unbelebten Welt die Weisheit deffen zu bewundern, der
die Himmel und unfere Erde gefchaffen bat.“
Endlich gibt uns der Schluß dieſes Vortrags Gelegenheit, auch
in bie charakteriftifche Stellung, die Mayer zu den Darwin'ſchen
Theol. Stud. Jahrg. 1878. 45
x Schmid
Fragen einnimmt, einen Blick zu thun. Er jagt S. 76: „Zum
Schluſſe geftatten Sie mir noch eine allgemeine Bemerfung. Dan
wollte das Rahrungsbedürfnis, wie Sie wiffen werden, neuerdings
unter der Benennung ‚Der Kampf um dad Dajein‘ zu einem
Principe erheben, und man ift dadurd offenbar zu ganz ein⸗
feitigen Sonfequenzen gelangt. Ein folder ‚Kampf um das Dafein‘
findet allerdings ftatt. Wer möchte e8 leugnen? Hat uns dod
erft vor kurzem des bfutigen Kampfes frohe Beiper endlich ge
fhlagn! Dem Himmel ſei e8 Tank und der Zapferfeit unferer
Heere, daß unfere gute friedliche Stadt diefem Kriege von der
Ferne aus Hat zufehen dürfen! Aber nicht ber Hunger ift es, es
ift nicht der Krieg, nicht der Haß ift es, was die Welt erhält, —
e8 iſt die Liebe.“
Sonſt liegen uns in Mayers Schriften feine Aeußerungen über
Darwin und feine Schule vor. Sympathiſch war ihm diejer ganze
Gang der modernen Naturforihung nicht: fie arbeitete ihm, dem
Manne ded eracten Forjchens und Wiffene, viel zu viel mit Hypo⸗
thejen und Hielt ihm viel zu viel Brüderfchaft mit unfruchtbaren
und irreführenden Speculationen. Die Schriften Darwins jelbit
ſcheint er gar nicht eingehender gelefen zu haben, wol aber madıte
er fih mit den Schriften derjenigen feiner deutichen Schüler be
kannt, welche über die Forſchungen ihres Meiſters zu Theorien
über die Entjtehung des Lebens überhaupt und zu der jogenannten
mechanischen Weltanfhauung Hinausfchritten.. Weber diefe ganze
Richtung liegt dem Verfaſſer diefer Zeilen eine intereffante brief
lihe Aeußerung Mayer8 vom 22. Dechr. 1874 vor. Er heift
jte dort einfach die moderne Irrlehre und fährt fort: „Was ih
von meinem Standpunft aus gegen jenes Syftem vor allem
einzumenden habe, ift dad: vor unferen Augen entitehen fortwährend
unzählig viele neue pflanzliche und thierische Individuen durch Zeus
gung und Befruchtung. Wie diefes aber zugeht, dieſes ift dem
Phyſiologen ein völlig unbegreifliches Räthſel, wo fo recht ber be-
rühmte Spruch Haller8 feine Anwendung findet: , In's Innere der
Natur dringt kein gejchaffner Geiſt. So wir num genöthigt find,
in diefen fo ganz naheliegenden und gegenwärtigen Dingen unfert
völlige Unwiſſenheit einzugeftehen, will uns auf einmal bie neue
Robert Mayer. 698
Theorie . . . ganz gründliche Auskunft darüber geben, wie die Or-
ganismen überhaupt auf unferem Planeten entftanden find! Dies
geht aber nach meiner Anficht fo lächerlich weit über das Menjchen-
mögliche hinaus, daß ich bier den pauliniſchen Spruch anmwenden
möchte: ‚da fie fih für weife hielten‘ u. f. w. Gewiß find aber
die Darwinianer eifrige Kämpen, und die Sache hat ohne Zweifel
nur deshalb fo viele Anhänger in Deutfchland, weil fi daraus
Capital für den Atheismus machen läßt.“
Wir jind mit unferen Citaten zu Ende. Wenn der eine oder
andere Lefer vielleicht noch mehr Aeußerungen über das fpecififch
Chriftlihe erwartet hätte, fo möge er bedenken, dag die Natur der
Gegenftände, die Mayer literarifch behandelte, bodh nur zur Ber
handlung und Betonung der allgemeinen theiſtiſchen Grundlage des
Chriftentums Anlaß geben konnte. Wie jehr aber Mayers heller
Geiſt erfannte, daß Oppofition gegen den Materialismus an und
für fih Schon ein integrirender Theil pofitiv chriftlicher Lebensbe⸗
thätigung ift, und wie er feinen eigenen Kampf gegen den Ma⸗
terialismus zugleich als eine Erfüllung feiner Chriſtenpflicht anjah,
möge aus den Worten erjehen werden, mit welchen er feiner Zeit
dem Verfaſſer dieſes Referats jeine naturwifjenfchaftlihen Vorträge
überfandte: „Eine eben erfchienene Brofchüre erlaube ich mir Ihnen
zu wohlwollender Aufnahme zu empfehlen. Der antimaterialiftifche
Standpunkt, auf dem ih mich nun einmal befinde, und den ich
(nad) Matth. 10, 32) nie verleugnen werde, iſt natürlich auch hier
feftgehalten.“ Die Stelle Matth. 10, 32 aber ift nichts Ge⸗
ringeres als das Wort Jeſu: „Wer mich befennet vor den Menfchen,
den will ich befennen vor meinem himmlischen Water.“
Lange Zeit blieb Mayer vergeffen, angegriffen, verlannt, bis
er e8 noch eine Reihe von Jahren vor feinem Ende erleben durfte,
dag die ganze wiſſenſchaftliche Welt die Gaben, mit denen fein
Geift unfer Erkennen bejchenfen durfte, in ehrerbietigem Danfe zu
erfennen und zu verwerthen anfing. Wir nehmen diejes fein Schick⸗
fal als gute Vorbedeutung auch für das Scidfal der religiöfen
Veberzeugung, die er in feinen Schriften befannte und vertrat. ‘Die
heutige Strömung in der wiffenfchaftlihen Welt ift vor der Hand
noch dem jpecififchen Chriſtentum gegenüber vielfach gleichgültig,
46 * '
2 Seppe
kritiſch, häufig ihm und allem Gottesglauben feindſelig geſtimmt.
Aber wenn es mit der Menſchheit und den chriſtlichen Völlkern
nicht rüdwärts gehen fol, fo wird auch die Zeit wieder kommen,
wo es nicht mehr für unwiflenfchaftliche Geiſtesſchwäche und Be⸗
fchränftgeit gilt, in Ehrfurdt und Freimuth an einen Gott und
Erföfer zu glauben, und wo auch die Wiffenfgaft wieder, wenn
fie von ihren höchſten Ausfihtspunften aus Umſchau Hält, vor
Gott fi) beugen lernt. Unter den gewaltigften und erfolgreichften
Borlämpfern, welche die Wiſſenſchaft diefem Ziele zuführen, wird
ftet8 Robert Mayer genannt werden.
3.
Der Pietiſt Gisbertus Boetins zu Utrecht.
Bon
Dr. $. Seppe,
Profeflor In Marburg.
Es iſt üblich geworden, in Voetius (der 1607 — 1617
Pfarrer von Vlymen und Engeln, hernach Baftor in feiner Vater:
ftabt Heusden und feit 1634 Profeſſor der Theologie zu Utrecht
war, wo er 1676 ftarb) nichts anderes al8 den ftarren fcholafti-
ſchen Syſtematiker der reformirten Kirche zu fehen, der nur bie
dürrfte, unfruchtbarfte Orthodorie zu erfaſſen und zu verfechten,
der nur in den Formen des ariftotelifchen Pedantismus damaliger
Zeit zu benfen, der nur in dem barbarifchen Latein des Mittel:
alters zu reden und der auch nicht die geringfte Abweichung von
dem Dogma ber Kirche zu dulden vermodte!). — Nun haben
allerdings Arminius, Coccejus, Carteftus, Mareſius u. a. in ihm
1) Dieſes letztere Urtheil fällt 3. B. auch Dofterzee über Voetius (in
Herzogd Realenc. XVII, &. 241); und doch ift Ooſterzee's Beurtheilung
‚bes Boetius noch immer die gerechtefte und erfreulichſte zu nennen.
Der Pietift Gisbertus Voetius zu Utrecht. 698
alfezeit einen Gegner gefunden, der fich in feiner Weife auf irgend
welche Transactionen mit ihnen einließ; allein das Latein Voets
ift ganz dasfelbe, welches feine Breunde und feine Gegner fprachen
und jchrieben, — nur daß er der Scholajtif fundiger war als diefe,
weshalb ihm auch die technijchen Ausdrücke derfelben geläufiger
waren als anderen. Neben ber Scholaftif kannte er aber nod
ein Gebiet des theologifchen und religiöfen Lebens, um das ſich die
anderen nie gefümmert hatten, nämlich die Myſtik des Mittelalters
und der folgenden Zeit; und gerade die Stellung, welche Voet
zur Myſtik einnahm, hatte feinem eigenen religiöfen Leben unb
feinem kirchlichen Wirken den Charakter aufgeprägt, welcher dasjelbe
auszeichnete und welcher bisher ganz verfannt worden ift.
Das empfängliche, tiefe Gemüth Voets war zunächſt durch den
Eindrud der Perfönlichkeit und mehr noch der Schriften des gott⸗
feligen Predigere Wilhelm Tellind zu Middelburg (} 1629)
mächtig erfaßt und zur Pflege und Bertretung der „praftiichen“,
der „ascetiſchen Theologie”, der „wahren Gottfeligkeit“, der „Praxis
bed Glaubens”, des „innern Chriſtentums“ angeregt worden. In
Folge deſſen Hatte fich feine Aufmerkſamkeit auf die ihm zunächſt
liegenden Müitifer, Thomas a Kempis und Ruysbroek gelenkt, in
deren Schriften er fich vertiefte, und von denen aus er auch den
in der Myſtik der fatholifchen Kirche liegenden Schägen religiöfen
Lebens nachging. Doch waren es ſchließlich die Schriften des
Thomas a Kempis und ber feit dem Ende des 16. Jahrhunderts
zahlreich hHervorgetretenen Pietiften Englands und Hollands, an
die er fich hielt, und deren Lectüre er in feinen reifen heimiſch
machte.
Voet war ſchon als Prediger zu Heusden dieſer, practyke
der religio“ (wie man dieſelbe im Gegenfage zu dem um das
nnere Leben unbefümmerten Orthoborismus nannte) eifrigft ergeben
geweſen, — nit nur durch ununterbrodhene Hinweifung auf die
felbe und unermüdliche Anweifung und Anleitung zur ascetifchen
„Hebung der Gottjeligfeit" und dur Verbreitung bdahingehöriger
Schriften in feiner Gemeinde, fondern auch ſchriftſtelleriſch. —
Schon zu Heusden veröffentlichte Voet gegen einen zu den Armi⸗
nianern libergetretenen Prediger Daniel Tilenus (welcher behauptet
64 Heppe
hatte, dag die Dordrechter Orthodoxie eine für das Leben ganz
unfruchtbare Doctrin ſei), eine Schrift „Prüfung der Kraft der
Gottfeliglet* (Proeve van der Kracht der godzaligheid),
worin er auszuführen fuchte, daß die zu Dordrecht gegen die Ar
minianer aufgeftellten Artikel die beftimmtefte Tendenz auf Er⸗
wedung eines praftifchen, inneren und lebendigen Chriftentums hätten.
Nicht lange nachher fchrieb er, nachdem er mit Tellind in Ber
bindung getreten war, zu einer Ausgabe der Schriften desfelben
ein vom 18. October 1631 datirtes Vorwort. In demfelben er-
Härt Voet, daß die auf die „Praxis des Glaubens" bezüglichen
Schriften mit Recht ganz beſonders Hodhgehalten würden. Er
rühmt Hier die Werke von Bernhard, Bonaventura, Ruysbroel,
Tauler, in&befondere aber de Thomas a Kempis Imitatio Jesu
und die im 16. und 17. Jahrhundert in England und Holland
bervorgetretenen pietiftifchen Schriftfteller. ALS den bedeutendften
unter denfelben ftellt er jedoch Tellinck Hin, den er hier ale den
zweiten, „jedoch reformirten“ Thomas a Kempis bezeichnet.
Drei Fahre fpäter trat Voet fein academifches Lehramt zu
Utredt an. In welhem Sinne er aber diefes Amt übernommen
hatte, und was er als feine eigentliche DBerufsaufgabe anfah, dar
über ſprach fich derfelbe in feiner Antrittsrede aus, in welcher er
fi} de pietate cum scientia coniungenda erpectorirte.
Staunend und tief bewegt hörte die Verfammlung, in&befondere
die anweſende academifche Jugend, die wunderbare Sprache dee
ernften Redners, ber nicht über Streitfragen der Theologie redete,
fondern den Gedanken entwidelte, daß nur derjenige Theologie-Stu-
dirende wirklich dem Studium ber Theologie obliege, der dasſelbe
mit Frömmigkeit betreibe und die Förderung wahrer Frömmigkeit
als feinen wahren Lebensberuf anſehe. Darum ermahnte er die
Studenten, jeden Tag mit Gott zu beginnen und mit Gott zu
beichließen, fih täglih am Studium der heiligen Schrift im Gebet
und in anderen Erercitien ber Frömmigkeit zu üben, fich täglich in
ernster Buße auf’s neue zu Gott zu belehren und den Sonntag
mit Einftellung aller Studien ganz und gar dem Dienfte Gottes
und der Contemplation zu weihen, indem die fleißigfte Uebung der
Sottjeligfeit das eigentliche Vehikel des Studiums fein müſſe.
Der Pietift Gishertus Voetius zu Utrecht. 695
Um nun das Seinige dazu beizutragen, daß die Studenten der
an fie gerichteten Mahnung auch folgten, begann Voet alsbald
Vorlefungen über ascetiſche Theologie zu halten, worin er zeigte,
wie die Zuhörer in recht erfprieglicher Weiſe ihre exercitia pietatis
einzurichten hätten. Und diefe Vorträge Voets fanden ſolchen Bei⸗
fall, daR fich derfelbe durch drängendes Bitten vieler 1636 genöthigt
ſah, einen Abfchnitt feines Eollegienheftes, welcher von den geift«
fihen Beranlafjungen handelte, unter dem Titel ,„, Selectarum dis-
putationum ex prosteriori parte theologiae quinta, de de-
sertionibus spiritualibus‘ zu veröffentlihen. — Diefe
Schrift Tas nun alsbald faft jeder, ber der lateiniſchen Sprache
mädtig war. Aber auch Ungelehrte wurden auf diefelbe aufmerf-
ſam und wünſchten, dag ihnen das vielgerühmte Büchlein durch
eine Ueberfegung zugänglich gemacht würde, weshalb Voets College,
der Profeffor der Theologie Joh. Hoornbeet endlich (1646)
eine folche veranftaftete.
Inzwiſchen fuchte Voet fein Manufeript immer mehr zu er»
gänzen und zu vervollftändigen. Die katholiſchen Myſtiker des
Mittelalters umd des 16. Jahrhunderts, ſowie die pietiſtiſch⸗myſtiſche
Literatur der reformirten Kirche Englands und Niederlande wurden
von ihm ausgenutzt, bis er emdlich einen vollftändigen und aus⸗
führlihen Codex evangelifcher Ascetif hergeftellt Hatte, den er 1664
unter dem Titel: „Ta Aoxnrıxa@ s. Exercitia pietatis‘‘ ver-
öffentlichte.
Der Stoff des fehr weitläufigen Werkes ift in 25 Hauptab-
Schnitte vertheilt, und zwar fo, daß die Myſtiker und Pietiften
— ber katholifhen wie der evangelifchen Kirche —, welche fich über
den betreffenden Punkt ausgefprochen haben, nambaft gemacht und
deren Anfichten verglichen werben.
Voet befinirt (S. 1) die Ascetik als diejenige pars theologiae,
quae continet methodum ac descriptionem exercitiorum pie-
tatis. Sie kann daher auch (S. 12 —13) ale praxis pietatis,
als ars colendi Deum, als theologia practica oder aflectiva
oder contemplativa oder mystica, aud) als imitatio Christi bes
zeichnet werden. Nachdem nun (S. 30 ff.) die Begriffe ber devotio,
der compunctio, der excitatio, der vigilia spiritualis, der adhaesio
686 Deppe
Dei oder der familiaritas cum Deo. der imtroversio ber
contemplatio eutwidelt find, wird (S_92 ff.) bejenders eingeben)
vom Gebet gehandelt. Die precatio wird (S. 115) emerjeits es
precatio formalis (eigentlidje® Gebet) und ejaculatoria (Steige
bet), anderſeits als oratio vocalis nnd mentalis unterfchieden.
Nachdem Hierauf die Acte der Nefipiscenz (umd dabei auch das
Laden und Beinen), die „Praris des Glaubens“, die „Prerie des
Sabbath8* beſprochen find, wird (5.416 ff-) von den Mortificarisnen
und anßerordentlichen Grereitien (Fajten, Baden, Schweigen, Ein-
ſamleit), und fodann (S.446 ff.) von der militia Spiritualis ge
handelt, woranj der Berfaſſer (S. 451) zu den Berjudpungen (des
Zeujeld, der Welt und des eigenen Fleiſches), umb (S. 524 ff.) zu
den geiftlichen Berlajjungen übergeht, wobei natürlich ganz im Simne
des reformirten Syftems zwijchen den Erwählten und Ric
unterjchieden wird. — Die folgenden Kapitel baudeln (S. 524 ff.)
von der sudaracie 3. ars moriendi, 5.610 vom Märtprertum,
S. 615 von gemeinjchaftlien Uebungen der Andacht (im Gottes-
hand und Familienfreis), und ©. 621 von der criftlichen Beiuchung
(zur Belehhruug, Warnung, Züchtigung, Zröftung :c. anderer).
Den Schluß des Ganzen bildet (S. 829 ff.) eme Abhandlung über
die ascetica specialis, worin allerlei Winke über die Einrichtung
der exercitia pietatis in den verjchiedenen Ständen, Lebensverhãli⸗
niſſen, Berufsarten x. gegeben werden. —
Dieſes iſt Voets „Praktiſche Theologie“, für die derjelbe die
agcetiihe Myftik der gefamten Kirche, ohne die confeifionellen
Trennungen zu beachten, als Unterlage benutzt hat. Daher begreift
es jih wol, daß Voet, der felbft die Myftiker des Sejuitenordeng
als beachtenswerthe Borgänger anerkennt, bei aller Treue gegen
feine Kirche und deren Belenntnis doch von confefjioneller Eng-
herzigfeit frei war. Daher klagt Boet in feinem Bormort zu
Tellinds Schriften vom 18. October 1631 über die Bornirtheit
derer, welche Tellinck wegen einzelner Lchreigentümfichfeiten tadelten.
Würden doc, jagt er hier, die Schriften eines Piscator (zu der»
born) und anderer „non Yen Hochdeutjchen und den Schotten mit
Recht gebraucht und geprieſen“, obſchon fie über die iustitia activa
Christi eine abweichende Tehre enthielten! Derartiger Aeußerungen
Der Pietift Giebertus Voetius zu Utrecht. 6
finden ſich in Voets Schriften gar viele vor. Doch möge es ge⸗
nügen zur Berichtigung des Zerrbildes, welches die kirchengeſchicht⸗
liche Tradition von Voet entworfen hat, hier hervorzuheben, daß
Voet unter der conversio oder resipiscentia, auch die Bekehrung
bes Menſchen von der todten Rechtgläubigkeit zum inneren, leben⸗
digen Glauben, zur wahren inneren Frömmigkeit verſteht. Voet
fpricht fich hierüber am klarſten eben in feinen Exercitia pietatis
aus, wo er (S.180) den Gedanken ausführt, daß die Conversio
um allgemeinften Sinne des Wortes als Belehrung vom Judentum.
Heidentum oder Muhammedanismus zum Chriftentum, im engeren
Sinne ald Belehrung vom falfchen zum wahren Chriftentum auf»
gefaßt werden könne, daß fie aber genauer al8 Belehrung a for-
malitate s. uogpwcsı pietatis in christianismo orthodoxo ad
genuinam pietatem et fidem salvificam aufzufaffen fe. —
Allerdings kennt Voet eine noch höhere Stufe der Belehrung,
melche der Chrift durch ascetiihe Myſtik zu erreichen hat, —
nämlich die Belehrung ab infentili, rudi et languida actuali
conversione ad strictiorem, accuratiorem, perfectiorem, inte-
rioris et exterioris hominis formationem; allein hierdurch wird
nur auch von diefer Seite her bewielen, dag Boet die Chriftlichkeit
nicht im Orthodoxismus jah.
2.
Le ein Brief von Amsdorf, EA und Luther.
Bon
D. th. 9. K. Heidemann,
Baftor em.
J.
Ueber den Bildungsgang, durch welchen fih Amsdorf zum
treuen Gehülfen Luthers am Werfe der Reformation emporarbeitete,
wiffen wir nichts. Daher jagt E. %. Meier in Amsdorfs Leben:
698 Seidemann
„auf welchen befonderen Wegen aber Gott ihm zur Erfenntnis der
Wahrheit geholfen Habe, ift uns verborgen“ ?). Der nachftehende
Brief Amsdorfs an Spalatin vom 17. Januar 1518 wirft
einiges Licht auf fein Lernen.
„Epistola quaedam Nicolai Amsdorfiij ad Spalatinum in
qua de infelicitate sui studij conqueritur.
Consilium de perdiscendis sacre Theologiae libris, quod
a me petis, si vir consilij essem, quam libens tibi communi-
carem. Ego ipse enim veros Theologiae libros vix legere
incoepi, nec hodie incoepissem, nisi Martinus Augustinum
suis pecunijs pro me emptum et ligatum ad aedes meas
misisset. Huius consilio, illius praecibus et summa persua-
sione adductus studium reliqui, quod mihi placuit, reliqui
logicam, reliqui logicos theologos, reliqui philosophiam, sed
cum summa tristicia, adeo displicuit Augustinus, Jeronimus
et reliqui id genus Doctores, quos Grammaticos tantum pu-
tabam, quoniam mihi ignoti erant provt et adhuc sunt;
credebam certe summam sapientiam in Scoto et Gabriele et
his similibus esse reconditam, cum sola Metaphysica logica
ibi permixta reperiebatur; quid igitur in hac re dare possum,
tibi ipsi iudicandum relinquo, quesiui enim hucvsque solam
Metaphysicam et eos, qui eam tradunt, colui et dilexi, re-
liquos nee vidi nec legi. Sed penitet facti, et ita poenitet,
vt displiceant studia praeterita, quod nunquam nisi exper-
tus eredidissem, et plus displicent quam antea placuerunt,
qui nondum 20 septimanis Augustinum cum Paulo legi.
Vtinam citius ad haec venissem studia, vtinam hac opera
Augustinum legissem, et forte alium agerem virum, sed se-
ductus sum et hodie seducitur iuuentus, non tantum Ger-
manorum, sed et Italiae et Franciae et hic totius Romanae
ecclesiae. Nonne mira res, immo mirabili mirabilior, quod
totus orbis terrarum adeo miserabiliter est seductus. Dic
mihi quaeso, quid didicit tempore tuo Magister 30 annorum?
1) Bei Meurer (F 10. Mai 1877), Das Leben der Altväter der lutheriſchen
Kirche, II. Band (1863), ©. 128.
Ze ein Brief von Amsdorf, Ed und Luther. 6%
Petrum Hispanum et non bene parua logicalia et non recte
et per longa tempora. Ago gratias domino Ihesu Christo,
quod ab hac opinione aut suspicione imo falsa liberatus
sum. Nihil deest, tantum libri mihi desunt. Tu deum pro
me ora, vt et sensum et intellectum nostrum aperire et
illuminare, affectum sua charitate inflammare dignetur, vt
ad veram sapientiam, que est Christus Ihesus, venire valea-
mus. Vale, mi amantissime Spalatine. ex Wittemberga 1518
die 17 Ianua.
Nicolaus Amsdorfi
us Theologiae licenciatus “
I.
In Theobald Billicans Leben zeigt fich noch immer ein uns
aufgeklärter Vorgang. Er that am 13. October 1530 in Augs-
burg vor dem PVicar des Biſchofs feinen befannten Widerruf, durch
den er fi von dem Verdachte Iutherifcher Ketzerei reinigte ?).
Diefer Widerruf muß, in’s Deutfche überfeßt, dem Nathe zu Nörd⸗
fingen irgendwie zugefommen fein, der nun den Billican durch ben
Stadtſchreiber Georg Mayer befragen Ließ, ob fih die Sache wirk⸗
lich fo verhalte. Billican behauptete jetst in feiner Antwort an
Mayer: ber deutſche Widerruf fei muthwillig und unverftändig vers
dolmeticht in Eingang und Mitte, denn in feiner lateinifchen Er»
I) Die reiche Literatur hiegu ift: Daniel Eberhbart Dolp, Gründl. Be
richt Bon dem alten Zuftand, und erfolgter Reformation Der Kirchen,
Clöfter und Schule in des H. Reichs Stadt Nördlingen. Nördlingen,
1738. 8°. ©. 57ff. XLIf. Haußdorff, Lebens» Beichreibung Lazari
Spenglers. Nürnberg, 1741. 8°. ©. 230ff. Joh. Friedr. Weng und
Joh. Balth. Guth, Das Nies, wie e8 war, und wie e8 ift. Nördlingen
(1836f.). 8°. Heft 4, S. 3—50: Theobald Gerlacher, genannt
Billicanus und die Reformation in Nördlingen, von Weng. I. Döl⸗
finger, Die Reformation. I. Bd. Regensburg, 1851. ©. 149—158.
Wiedemann's Eckh, S. 46f. Job. Friedr. Hautz, Geſchichte der Uni⸗
verfität Heidelberg. Bd. I. Mannheim, 1862. ©. 392 - 397. 448. Her⸗
zogs Real⸗Enc. II, ©. 238—240. de Wette VI, 646. CR. U, 482;
I, 1002; XHI, 1128. F. Samml. 1744, ©. 467. 7%. Heumann,
Docc. Lit. 81. 121—124. Menck. I, 655. Scult. Ann. 50. 134,
Kahnis' Zeitichr. 1872, S. 408f.
700 Seidemann
Härung ftehe nicht, daß er um der lutheriſchen Ketzerei willen
etwas beim Kardinal Campegius zu jchaffen gehabt Babe, aud
thue er nirgend feiner Iutheriichen Kirche Meldung, welches Wert
der Dolmetfcher, vermuthlich das gelehnte Faß Dr. Ed, entweder
in der lateinifhen Sprache oder aus Neid jo gejekt habe, wie er in
dem Lateinischen, daS Mayer ihm auch zumwege bringen: möge, wol
feben wolle. — Weng jagt ©. 44: „Das lateiniiche echte Exem⸗
plar ift niemals zum Vorſchein gekommen.“ Ich theile es Bier
mit und bemerke für das Verſtändnis des Briefes Eds, daß
Billican ſchon i. J. 1529 mit Barbara, der Tochter Hans Scheu⸗
feline, Bürgers und Kramers in Nördlingen, verheirathet war.
Clarissimo viro d. Georgio Gundelfinger
artium et Medicinae doctori phisico
Nordliacen domino et amico suo optimo
Nordlingae
ad manus
S. P. clarissime Doctor quae narrauit Billicanus de vxore
primo ducta ante ordines susceptos, intelligo tibi esse nota,
et quae in contrarium publica fama Haidelburga, at haec
Augustae non fuerunt discussa, venit Augustam, Vehe or-
dinis praedicatorum et Cochleo pro eo sollicitantibus, non
tamen sine meo consensu. At primo non est absolutus ab
ordine, vt scribis.
A Lutheranismo est absolutus post reuocationem, quam
coram vicario Episcopi fecit, neque ei fuit iniuncta publica
reuocatio Nordlinge: quod ego deliberassem, si fidem iura-
tam non seruauerit, ipse viderit, mitissime est tractatus.
Si coram Senatu Billicanus negauit, se quippiam reuo-
casse, male fecit. Nam et coram testibus et Notario et
Vicario reuocauit et heresim abiurauit etiam propria syn-
grapha.
De vxore nuper ducta mouit quoddam dubium, sed re-
spondendum, quod legatus in nullo absoluit, neque enim
matrimonium iudicauit legittimum, neque per nos Doctores
confirmatum fuit, sed iudicatum quo ad nos, esse illegittime,
quia constituta in sacris ordinibus non possit contrahere.
Ye ein Brief von Amsdorf, Eck und Luther. 701
Si id cerdonibus suis dixit, se nihil aliud egisse Augustae
etc., non constanter dixit. At vti certior sis, mitto copiam
reuocationis et abiurationis suae.. Occupatissimus ista con-
signaui nuntio, vt Doctor Kreczius!) mihi retulit, tuo ca-
tbolico; nam in pluribus tibi complacere paratus sum. Vale.
Augustae Martini (11. November) 1530
Tuae d. ad votum Eckius
Haec ex ipsius chirographo scripta est epistola.
Abiurationis exemplar.
Ego Theobaldus Gerlachius Billicanus, concionator oppidi
Nordlingiacensis, super certis causis et quaestionibus coram
Reuerendissimo in christo patre ac domino Laurentio Cam-
pegio, Sanctae Rhomanae Ecclesiae presbitero Cardinale
Summi pontificis Clementis VII. ad Germaniam legato agen-
dis comparens fui infamatus de haeresi eorum, quos vulgo
Lutheranos vocant, audiuique infanda, quae de me a quibus-
dam non sine ecclesiae scandalo ac famae meae iactura di-
cebantur sparsa.. Cum igitur essem de sincera doctrina et
fideli obsequio catholicae ecclesiae constans, atque adeo su-
periore anno etc. XXIX Heidelbergae publicam meae fidei
rationem reddens, detestatus essem omnem heresim omneque
schisma et Lutheranum et Zbinglianum et Anabaptistum,
praetereaque omnes retro hereses ab ecclesia damnatas, op-
posui me detractatoribus, sponte confessus, quod et tibi
Reuerendo patri Michaeli veho, nunc heretice prauitatis fidei-
que meae ex mandato dicti cardinalis inquisitori, confiteor,
me damnare damnasseque omnes hereses ab ecclesia catho-
3) Ueber Matthias Kret vgl. Seckend. II, (18.) 369. UN. 1717,
©. 551—554. Burſchers Spicileg. XXI, p. IV und IX und p.
XUf. Shirrmader, Briefe und Acten, S©.561. Schelhorn, Beyträge
zur Crläuterung der Geſchichte, Stüd 4, S. 159—177. Literarifches
Muſeum L S. 617 ff. Beeſenmeyer, Kleine Beiträge, S. 76ff. Veit
Dietrichs Eollecta, Blatt 74 b: „Munzerus Cretze & Campanus sunt
ipsissimi incarnati diaboli. non enim alio vertunt cogitationes suag
quam ad nocendum. & sese vleiscendum.“ Hier hat Obenanders
Thesaurus Theologiae, Msc. Dresd. A 180 d, Blatt 278 b Karl-
ftadt für Erege.
702 Seidemann
lica damnatas, damnare damnasseque ecclesiam lutheranam,
Zwinglianam et Anabaptisticam heresim vt grauissimas et
vastatrices ecclesiae pestes, Nec ego coactus, sed sponte
heidelberge et nunc coram te Reuerendo patre, fidei meae
inquisitore, confessus sim. (Quapropter volo hac mea con-
fessione libera coram te facta conscientiam meam omni su-
spitione exoneratam. Neque enim iam nunc id facio pri-
mum, sed iam olimque primum id potui prespicere diuini
spiritus dono, priusquam in heresim prolaberer, abiuraui,
damnaui Sequentesque ea dogmata abieci. Integrum hono-
rem seruaturus ecclesiasticae potestati, diuinis sacrificijs
misse vniuerseque veritatj catholice, Hoc idem tibi notario
Andreae Michaelis Moguntini Archipresulis à sacris promitto
adeoque cuilibet Christiano inuiolabiliter obseruaturum. Non
solum in hijs huius temporis heresibus, sed etiam futuris,
Neque vnquam scientem prudentemque aduersum catholicam
et sanctam Rhomanam ecclesiam aut docturum aut facturum,
sed doctrina pro viribus et pro publica contione et priuatim
expugnaturum,
Hec ita promitto et iuro, ita me deus adiuuet et sancta
dei Euangelia, acta sunt haec Augustae Anno christi XXX,
XIII octobris *
Diefe lateinische Abfchwörungsformel ift ihrem Inhalte nach
leider gleichlautend mit der ins Deutjche überfegten bei Dolp XLI.
Sie erinnert an ein im October 1531 bei Zifche gefprochenes
Wort Luthers: „Cuidam doctori voyt scribenti ad eum
Ego tecum mi Luthere ibo ad ignem vsque, exclusive tamen,
modo fortiter perge Respondit Tales martyres perducit
Christus ad coelum, exclusiue tamen.‘‘ !) Beit Dietrich Col-
lecta Blatt 113 ®.
DI.
Der nachſtehende, bis jegt unbefannte Brief Zuthers vom 2.
November 1537 betrifft eine Ehefahe. Zur Sache vgl. de Wette,
IV, 565f.
1) Rabelais, Prolog zum Pantagruel: „jusques au feu exclusive.“ ed.
Regis. Leipzig 1832. ©. 181. Briegers Zeitichrift II, S. 465.
Je ein Brief von Amsdorf, Ed und Luther. 108
Dem Wirdigenn Err Johan Widmann pffarherr zeu priſick
meinem gunftigen guten freund,
Genad vnnd Fried in Ehrifto Lieber Err pffarhere In der che
fache fo ir habt mir jchrifftlich angezeigt ift dis mein jchrifftlich
anthwort wo es alſo ift wie ir fehreibt, da& der witwin man nun
fiben iar vorlauffen ift, das Nimand weys wo er üt zc. fo folt
ir zuuor die nachparn fragenn ader die gemein des Fleckens ob
ſie wiffenn darumb haben, welch teyl dem andern vrjach gegeben,
Wo als dann die Frau befundenn durch der nadhtpaur zeugnis das
es ir ſchult nicht ift, jo laft den pffarherr zcu Eyjjenberg eine
Citacionn offenntlih an die kirche, anjchlahenn, onnd In euerm
fledenn auch darin der man citirt werde In vier wochen zcuer-
fheynenn ader wer fich fein annemen wil, wo er darauff nicht
erjcheinet fo rufft e8 aus auff der Canczel, das der vorlauffen
man nicht erfchinnen vnd derhalb die frau ledig fein ſolle Darauff
gebt fie dann zeufamen Inn namen gottes aljo thun wir albie
Inn vnnſer kirchen wiewol ich lieber wolt der ſachen vberhabenn
feinn, Das die Furſten ſolchs zeu thun vorfchafftenn, Bitt Derhalbenn
wollett anndern Pffarhern darnebenn fagenn das fie mein vorjchonen
denn ich werde zuuil vberfchuttett Das ich fchier Fein buch leſenn
nad ſchreybenn kann,
Schreyber kann ich nicht haltten, Dan da wurde ein Bapjtum '
wider aus fo ift mirs allein auch nicht muglich Himit gott beuolenn
Amen altera Nouembris 1537
Marthinus Luther
Doctor,
Vermuthlich ijt unter „priſick“ das jachjen-meiningenfche Dorf
Priesnig bei Camburg zu verjtehen; ich Habe dort über Wick⸗
mann angefragt, bin aber ohne alle Antwort geblieben. Zu
meiner Vermuthung bewog mid) das im Briefe genannte Eijen-
berg. — Ich will hier noch Zweierlei bemerken: 1) Luthers
Brief vom 29. September 1528 (de Wette VI, 95f.) ift an Xeon»
hard Beier in Guben; der darin genannte Xicentiat hieß
Peithen und der „gute Gefel, Paulus N.” ift der befannte
Heinze: de Wette V, 72; VI, 589. Bindfeil, Coll. lat. II, 89;
IH, 3. Apologia Simonis Lemnii Bfatt C und D 7P. Que-
704 Seidbemann
rela, lib. III, Blatt K 2. Leffings Vermiſchte Schriften. Ber⸗
lin 1784. Th. 3, ©. 44. — 2) Der Brief an Eafpar Aquila
(de Wette III, 391 ff.; VI, 465) foll nach alter Abſchrift bei Oben⸗
ander an Caſpar Lindemann fein; vgl. de Wette IV, 54,
Zeile 4 von unten und en. V, 39. 41: „Unfer Wirth, Wil⸗
helm Arzt.“ (?) Uebrigens find die 3 oben mitgetheilten Briefe
m Abichriften vorhanden und nad ihnen von mir entnommen
aus Msc. Dresd. A. 180%: Thesavrvs Theologiae 1543.
Christophorus Obenander Studio: Wittemb. 44. 4%; Bott
55. A9bf. und Y6df. Diefe werthuolle Handfchrift war Eigen-
tum de8 am 26. November 1876 verftorbenen Profeſſore Dr.
H. E. Bindfeil in Halle a. d. S. — Chriftoph Euander alias
Obenander war im Wunfiedel geboren und wurde in Wittenberg
immatricnlirt: ‚„Januario. 8. Christophorus Obemander [fo']
ex Wonsidel.‘ 1543. Album p. 201. Am 7. $ebr. 1548,
Dienftag, wurde er mit noch 12 anderen unter Melanchthons Der
canate Magifter und im Juni besfelben Jahres, unter ben Su⸗
perintendenten Wolfgang Rupert und Yuftus Bloch, Prediger zu
Hof, aber fchon im October 1549 Prediger zu Wunfiedel;
am 27. Juli 1558 zog er als Pfarrer zu Kirchenlamitz an
der Yamig au. J. J. 1550 hatte er Hochzeit in Braunfchweig
mit D. Nicolaus Medlers Tochter Judith (Eberi Calendarium
ed. 1573, p. 141. 413 feine Tochter Efther, T 8. November
1554 al8 M. Johann Sturio's, Diaconi in Wittenberg, Gattin,
Script. publice propos. II Blatt L 4. V Blatt C 6? sagq.),
die ihm drei Söhne, Nicolaus, Johann, Chriftoph, und eine Tochter
Elijabeth gebar und am 29. April 1557 ftarb. Schon am 27.
Juli 1557 ward er wieder getraut mit Marie, der Tochter des
Diafonus Lorenz Winther in Wunfiedel, die ihm zwei Söhne ger
bar, Lorenz 2. Mai 1558 und Georg 18. Februar 1560, geftorben
den 26. December 1560. Diefe Nachrichten über ſich und feine Fa⸗
milie hat er felbft auf dem legten Blatte feines Thefaurus einge
fhrieben. (Vgl. Theol. Stud. u. Krit. 1871, ©. 13.)
Ich will mir nicht verfagen, bier nocd eine Niederfährift Oben⸗
andere mitzutheilen, die für Luthers Erlebniffe in Augsburg
1518 wichtig ift. Blatt 215*f. heißt e8: „Historia Lutheri,
Fe ein Brief von Amsborf, Ed und Luther. 709
Cum Augustam abijsset ad Caietanum et nollet renocare,
illic solus relictus est ab omnibus praesidijs humanis, Oae-
sare, papa, a legato cardinali, a principe suo Friderico duce
‚Saxonise, ab ordine, ab Staupitio familierissimo amico t).
Princeps Fridericus non vidit eum libenter Augusta redire,
sicnt quoque non suaserat, ut illic proficisceretur. Nonnihil
perculsus hac desertione secum disputauit, quonam abire
weilet. In Germania spes non erat, in Gallia tutum non
erat commorari propter papae minas. In summis igitur
tum erat angustijs, redit igiter in Saxoniam. Primo die ab
Augusta profectus est Monheim, hat ein hart drabenden Klopper
gehabt, fein Hofen angehabt, nur kni hofen, fein meſſer noch werh,
fein fporn, et tamen sic Witembergam vsque profectus est.
Eo cum venisset, adfuit Carelus Milticius ?), Curtisanus no-
bilis, is habuit 70 Breuia a papa ad principes et episcopos
scripta, vt comprehensum Lutherum Romam ad papam mit-
teret. Princeps Friderieus veritus, ne cogeretur a papa
eum capere, significauit ei, vt alio se conferret, vbi tuto
Iatere posset. Parere cogebatur principi. Ideo instituens
:cum fratribus suis conuiuium, vt eis valediceret, incertus
1) Daher fagt Staupig in jeinem Briefe vom 1. April 1524 aus Salz⸗
burg, bei 8. Krafft, Briefe und Documiente, Elberfeld (Januar 1876),
©. 54: „Salutem et Se. (d. i. ipsum, de Wette I, 116 ober totum,
Knaake, Scheurls Briefbuch II, 51. 84).... In te constantissimus
mihi amor est, eciam supra amorem mulierum, semper infractus‘“
in Anfpielung auf 2Sam. 1, 26: „Doleo super te, frater mi Ionatha,
decore nimis, et amabilis super amorem mulierum. Sieut mater
unicum amat filium suum, ita ego te diligebam.“ Auch möchte dort
(S. 55) zu leſen fein: et rari sunt qui fide metantur omnia, sunt
nihilominus aliqui u. f. w. nad) Röm. 12, 3. — Uebrigens erzählte
Luther im December 1532: „Staupicij verba fuerant absoluo te ab
obedieneia mea & commendo te domino Deo." Beit Dietrich Col-
lecta Blatt 158 b.
3) Snferibirt in Köln „1508. Julius 5. Karolus de myltytz, mysen.
dioc.“ K. Krafft, Mittheilungen in Haſſels Zeitfchrift für preußifche
Gefchichte 1868, S. 18f. — Am 7. Juli 1517 unterſchrieb er fih in
Rom als „seriptor apostolicus“. Seln Bildniß in: Die Männer der
Reformation. Hildburghaufen 1860. Stahlſtich.
Theol. Stud. Dahrg. 1878. 46
706 Seidemann
erat, quo abiret. In ipsa coenae hora literae a Spalatino
veniunt, quibus significabatur illi, mirari principem, quod
nondum abierit, maturet igitur profectionem. Ex hoc nunctio
mirabiliter aflectus fuit, cogitans se desertum ab omnibus.
Interim tamen spe concepta dixit: pater et mater dereli-
querunt me, dominus autem assumpsit me. Non longe post
superuenerunt aliae literae in eadem Üoena, quibus signifi-
cabat Spalatinus, si nondum abijsset, vt remaneret, Milticium
enim egisse cum principe, rem posse componi colloquio aut
disputacione. Princeps aequiore sententia audita rTetinet
Doctorem, qui in hunc vsque diem mansit Witembergae,
12. die Augusti anni 1536.
Nicht vorenthalten ferner will ich zulegt eine andere merkwür⸗
dige und zum Theil unbekannte Stelle, welche fih in den „Ex-
cerpta haec omnia in Mensa ex ore D. Ma.: Lutherj. Anno
Dni. 1. 5. 4. 0° des germaniichen Mufeume Nr. 20996
findet, jedocdy bei Dbenander fehlt. Dort Heißt es fol. 117PF.:
„De uxoribus et concubinis Salomonis. Cum qui-
dam diceret, Lipsiae editum esse librum, qui approbaret
bigamiam, sedit aliquando cogitabundus nihil respondens;
postea dixit: Ego miror, quomodo rex Arabiae habuerit 600
vxores. Tum alius obiecit: quid uobis uidetur de uxoribus
et concubinis Salomonis? Tum D.: Salomon habuit reginas
300, concubinas 700 et puellarum non fuit numerus, inquit
textus, sed non obseruant, non addi particulam ipsius, uult
igitur tantum significare textus, quod generis sexus foemi-
nini aluerit Salomon Reginas 300, Das fein die Armen von
dem Geſchlecht David. Die haben fi) alle zu ihm funden, die
bat er müſſen ernähren, exceptis concubinis et reliquis famulis.
Er Hat alle Zag 24000 Dann müffen fpeifen, da fein die Weiber
eingezählt. Alfo mag man aud fagen von dem Churfürften zu
Sadien. Der hat erftlic ein Eheweib, darnach etliche Fürjtin am
Hofe, darnach viel Jungfrauen. Wenn man nun fagt, der Her-
zog von Sachſen Hat aljo viel Weiber, folget nicht, daß es feine
Eheweiber fein. Wie kaun es aud) möglich fein? Die Vernunft
lehrt es, daß es nicht fein kann, daß fie alle feine Eheweiber fein
Je ein Brief von Amsborf, Ed und Luther. 707
follten, dabei er gejchlafen. Er Hat ein Fräulein gehabt, quam
duxit, da er 18 Jahr alt war, denn er hat fehr jung gefreiet.
Denn fie fein ſehr ftarfe Lent gewefen. Sch glaub, er Hab im
18. Jahr fchon eines Mannes von 80 Jahren Stärf gehabt.
Darnach freiet er des Pharaonis Tochter, die ift die ander. Da
er nun alt wird, nimmt er drei Ammonitas. Alſo möcht man
fagen: D. Luther Hat drei Frauen; Eine ift Ketha, die an-
der Magdalena, die dritte Pfarnerin!), darnad ein Bei
fchläferin, ibi ridebat, die Jungfrau Els, darnad viel pu-
ellas. Si habuit Salomon 300 reginas et tunc singulis no-
ctibus unam habuit, fo ift da8 Jahr ſchon um, fo Kat er feinen
Tag geruhet. Hoc non potest esse. Denn er hat zu regieren
gehabt. Das Regiment leidet nicht, viel mit rauen umgehen.
In summa: wenn man jagt, Salomon hat viel Frauen gehabt, fo
will man fagen, er habe ein Frauenzimmer gehabt. Tum qui-
dam: D. doctor, bat er 24000 Mann gefpeift in vno loco?
Non, sed in uarijs locis. Es ift gleih wenn ich fage: der
Ehurfürft fpeifet alle Tage 12000 Mann, non in sua aula, sed
in diuersis locis. Tum alius: nihil legitur de resipiscentia
Salomonis in Biblijs. — D.: Non, sed haec sententia: ob-
dormiuit cum patribus suis, bad Wort nimmts mit
fih. Von Abfalon, Joab ftehet nichts, quod obdormiuerint in
Domino. Sed Scotus Salomonem simpliciter damnat.‘‘
Bol. Erl. Exeg. Opp. Lat. Vol. XXI. 343 zu Cantic. Cant.
6, 7. Bergleiht man dies mit Zifchreden 43, 8 49, ed. Förfte-
mannsBindfeil 4, ©. 6dff., jo ergiebt fi), was Aurifaber auszu⸗
merzen für gut befunden hat, und in diefer Weife ift er vielfältig
verfahren.
1) Dies ift vermuthlich i. I. 1542 geiprocdhen, als Bugenhagen zwei⸗
mal von Wittenberg abweſend und jene Frau wol oft in Luthers viel-
beſuchtem und gaftfreien Haufe zugegen war. Auch die feit November
1538 mit Ambrofius Berndt, der ein Meines Gut in Wartenberg bei
Kemberg Hatte, verheirathete Nichte Luthers Magdalene Kaufmann
kehrte alfo oft in Luthers Haus zuriid. Lauterbach 8 Tagebuch, S. 2. 164 f.
176. Bindſeil, Colloquia lat. II, 165. Nene Mittheilungen, Bb. IX,
Heft 3 u. 4. Halle 1867. S. 100.
46*
708 Seidemanm, Arhang.
Anhang.
1537 den 21 Oktober.
Den Erbarn Ahbarn vumd Weißen Dem Rat zur Nammburgt,
vnfern befondern Lieben hern vund freundenn.
Gnad vund Friede Gottes in Ehriſto, Erbarn Achbarn vmd
weiſen beſondern Lieben hevemm vomd frenmie, Nachdem Ihr bie
Achbarn, wirdigen vnnd hochgelarren Ern Nicolaum Medler, der
heiligen ſchrifſft Dortorn, vnnd den hern Licenciatum vnnd Phy-
sieum euer Stadt Burgermeifter, zu vnns abpeferttigeit, vus euet
Kichenorbwang fo in Schriefft mitt vorgehender Delperation wanh
fonderm vpieiß vorfaft zu zeigem, vnnd Derhalb vnſer bevenden
vmd Naht Darinne anzubörenn, Haben wir gemeditte ordnung mit
vleiß vorlefenn, Wuntſchen euch zu folchem nutzlichem Chriftlichen
gottlichem vorgenommenem Werde, Gottes guade, Laßen vnus auch
allos, fo durch euch, trewlich, vleißig, gantz Chriſtlich berathfchlagekt,
annd bedacht, Vnnd in ſelbigen Schriefften vorfafſett, auch be⸗
ſchloßenn, wolgefallenn, Vnnd vnſer weitter bedencken werben euch
gemeltte euere geſchickten mundtlich autzeigenn. Wollen Gott bitten,
das or in der Kirchen Neunburg weiter Tehlich fein gottlich gnad
vnnd reichen Segen vorleye. Wißen auch Das vnfer gerebigfier
Herr euch in ſolche Kirchen vnnd Religion ſachen gottes heilig
wordt vmnd ehre belangendt vf vnderthenig anjuchenn, gnedige für
derung zuerzeigen nicht vnderlaßen wirdt. Vnnd worinne wir alle
ſamptlich, und Itzlicher in ſonderheitt gemeiner Stadt vnnd Kirchen
Nennburgk freundliche vnnd forderliche Dinft zuerzeigenn wißenn,
ſeind wir geolißenn, vnnd gang willig. Datum Sontags nad)
Burdhardi Anno xxxvij. Martinus Luther D.
Justus Jonas D.
Philippus Melanchton.
Diefer Brief befindet fich in einer von dem faiferlichen Notar
Nicolaus Munnich verglichenen und beglaubigten Abfchrift wor einer
Abfchrift der durch Medler verfaßten Kicchenordnung der Stadt
Naumburg vem 1. Mai 1537, Msc. Dresd. K 50 in Folie.
Dieſelbe Kirchenordnung ift auch zu Hof in Bayern abjchriftfid
vorhanden. — Vgl. %. O. Opel, Neue Minheilungen u. ſ. m,
Bd. XIV, 2. Halle 1878. ©. 292.
Recenſionen.
1.
CGommentaire sur l’evangile de Saint Jean. Par
F. Godet, docteur en th&ologie, professeur à la fa-
cult& de l’öglise ind&pendante de Neuchätel. 3 be.
Paris und Neucjätel 1876 und 1877. VIII & 367,
XI & 578 und 637 Seiten 8°.
Dies Godet'ſche Werk, deffen erfte Ausgabe in den Jahren
1863 und 1864 in zwei Bänden erfchien, Tiegt gegenwärtig in
einer neuen Bearbeitung, die faft für eine völlige Umarbeitung
gelten kann, vor. Die hiſtoriſch⸗kritiſchen Einleitungsfragen finden
jegt in erwünfchter Weife ihre wefentlich vollftändige und zufammen-
bängende Erörterung in dem erften Bande, wenn auch das Ver⸗
fahren des Verfaſſers infofern unverändert geblieben ift, als er in
den Ercurjen, die er nach Auslegung größerer und kleinerer Text⸗
abſchnitte einfchiebt, nicht nur apologetifche, dogmatiſche und ethifche
Erläuterungen, fondern auch fpeciellere Crörterungen hiſtoriſch⸗
frttifcher Art, 3. B. wegen des Verhältniſſes zwifchen Johannes
und den Synoptikern, eintreten läßt. Vielleicht hätte der Verfaifer
wohlgethan, in den gegenwärtigen erften Theil noch vollftändiger
alles zur Einleitung Gehörende zufammenzuarbeiten; mir wenigftens
fehlte beim Studium des erften Bandes 3. B. die Aufzeigung der
religionsphilofophifchen Vorausſetzungen für die hiſtoriſch⸗kritiſchen
Dperationen der Baurſchen Schule und nicht minder bei der
Erörterung über den Todestag des Herrn die eingehende Beurthei⸗
fung der altkirchlichen Ofterjtreitigleiten, beides bedeutungsvolle
Sadhen, welche fpäter im Commentar an geeigneten Stellen zur
Sprache kommen.
112 Godet
Wenn man aber die jetzt vorliegende Neugeſtaltung des Werkes
im ganzen überblidt, jo muß man vor allen Dingen den treuen
Fleiß und die gewiſſenhafte, bis in’s Kleinjte reichende Arbeit bes
Derfaffers rühmend anerkennen, welcher nicht nur die bezügliche
reiche Literatur aus den legten anderthalb Jahrzehnten forgfan:
berücfichtigt, fondern auch an feiner eigenen Arbeit in ftrenger
Selbſtkritik unabläßig gebeffert und von neuem ein Wert dargeboten
bat, für welches dem ehrwürdigen Verfaffer der freudigite Dank
gebürt. Mit gutem Grunde hat die Godet' ſche Bearbeitung des
Johannes⸗Evangelinmes eine ungewöhnliche Anerkennung gefunden.
Durch eine deutſche, eine engliſche and eine holländiſche Ueberſetzung
iſt dies Buch in ſehr weite Kreiſe gedrungen und Bat viele Freunde
quch unter ſolchen Leſerm gefunden, welche nicht deu wiffenſchaft⸗
lichen Standpunkt im engeren Sinne einnehmen. Es gerricht dem
Werke nur zu hohem Ruhme, daß es, unbeſchadet der wahren
Wiſſenſchaftlichkeit, einem Leſer von tieferer allgemeiner Bildung
zu wahrhaft geſunder Erbauung dienen kann. Dies liegt zunächſt
in der überaus anſprechenden, feinen Form der Rede und der ge⸗
famten Darſtellung. Das ganze zur Verarbeitung kommende
Material, namentlich auch die Auseinanderfegung mit anderen An⸗
fihten, fteht fo völlig unter der Herridaft des Scriftitellere, daß
auch die Form der Darfiellung eine abgerundete, in wohlthuendfter
Weife anfprechende ift. Das fpröbefte Material, die varia lectio,
wird wejentlid in die Noten verwieien, welche fich an dem Fuße
der Seiten befinden; auch die bier und ba eingefügten Excurſe
nehmen ſolche Erörterungen auf, weiche der ſchlanken Darftellung
im eigentlichen Texte widerftreben möchten. Fremdwörter, wiſſen⸗
ſchaftliche Ausdrüde, welde in weiteren Kreiſen weniger geläufig
jein fönnten, werden von dem Verfaſſer ausdrücklich erklärt (II, 48.
285. 421; III, 300). Seine Darftellungsweife ift immer am
Ihaulih, Har und warm; mit erniter Eindringlichleit, wie mit
gewinnender Milde weiß er den Lefer anzufprechen und mit der
frommen Liebe zur Sade, die ihn felbjt bewegt, zu erfüllen. Es
finden fi zumeilen polemifche Worte von fcharfem lange (IL, 219.
292. 427; III, 464. 565 u. a. ©t.), aber fie find immer in
der Sache wohl begründet, haben in der vorangehenden Beweis⸗
Commentaire sur P’&vangile de Saint Jean. 15
führung ihr echt und gehen niemals über die Grenze hinaus,
weiche durd die Würde chriftlicher Willenfchaft gezogen wird.
Wer bie edle Form allein würde dem Werke feinen bedeutenden
Erfolg nit verschaffen, fie würde fo, wie fie fich darſtellt, faum
vorhanden fein können, wenn nicht der edle Gehalt vorhanden wäre,
welchem bie Form entipridt. Die ganze Arbeit tft ein wahrhaft
erquickliches Probnet evongelifcher Frömmigkeit und theologiſcher
Gelehrſamkeit. Ueberall bezeugt ſich in der wohlthuendſten Weife
die glänbige Hingebung des Verfaſſers an die heiligen Sachen, die
er behandelt. Sein tiefer Reſpect vor dem Schriftworte ift nicht
ohme EHare Beſonnenheit; die Hiftorifchen, piychologifchen, ethifchen
Momente in der Abfaffung der Offenbarungsurkunden weiß er
wohl zu würdigen; anf Biftorifchekritifche Bedenken und Zweifel get
er ehrlih ein und jegt den norgebrachten Gründen feine Gründe,
die allerdings zum großen Theil aus einer weſentlich verfchiedenen
Gnttes- und Weltanfchauung ſich ergeben und mit Recht nicht
felten einen religiöfen Gehalt und eine ethiſche Kraft Haben, ent«
gegen. Es ift aber feine dogmatiſche Befangenheit, wenn er 3.8.
zu beweilen ſucht, daß die, Synoptiker in den Ungaben über den
Todestag Fein mit Johannes weſentlich übereinftimmen und da
die Apofalypfe gleich dem Evangelium von dem Apoftel Yaharınes
geichrieben ſei; denn er ift umbefangen genug, um nicht felten her⸗
vorzuheben, wie der johanneifche Bericht darauf angelegt fei, den.
fpnoptiiden vor Misverftändnis zu bevahren und zurechizuftellen
(I, 152 u. 5.), und er bezeichnet unbedenklich den zweiten Petrus«
brief als wmecht (L 347). Auch darin darf man ein Anzeichen
von der evangelifchen Freimüthigkeit des Verfaſſers erfennen, daß
er mehr als einmal Gelegenheit findet, kirchlich⸗ dogmatiſche Beſtim⸗
mungen an dem einfacheren Schriftworte zu mefjen und hinter
diefem zureiichzuftellen (IL, 115. 408; IH, 377). Die wahrhaft
evaugelifche Art der dem Verfafſer eigenen und feine ganze wiſſen⸗
ſchaftliche Leiftung befeelenden Frömmigkeit zeigt ſich vor allen
Dingen darin, daß er — mas bei einem Ausleger eines enanges
liſchen Gefchichtäbuches einer befonderen Anerkennung nicht bebürfen
wärde, wenn nicht zahfeeiche und anſpruchsvolle Irrungen entgegen»
gefeter Art umS vor Augen ftänden — den göttlich geordneten
714 Godet
Thatfahen der Heiligen Geſchichte, als den realen Grundlagen und
Urquellen der idealen Güter, die wir im Glauben zu unferem Heile
befigen, ihr volles Recht und ihre eigentümliche, unerfegliche Be⸗
deutung vindichtt. Die tieffinnige, den echten Realismus und den
nicht minder weſentlichen Idealismus unferer evangelifhen Fröm⸗
migfeit und Theologie ausfprechende Beitimmung der C. Augu-
stana, art. XX von der fides, quae credit non tantum histo-
riam, sed etiam effectum historiae, hat der Verfaſſer ausdrüd-
fih in Erinnerung zu bringen allerdings keinen Anlaß genommen;
aber er hat jene goldene Pegel, mit deren Umſturz unfere evange⸗
tische Theologie Hinfallen müßte, beftändig zur Richtſchnur gehabt.
Die feine Weife, wie er in den Thatſachen der Heilsgeichichte, in
ihrem wunderbaren Gehalte, ihrer göttlihen Ordnung und Zweck⸗
beftimmung, die Begründung und Offenbarung der heiffamen Wahr»
beit, die Garantie für die religiöfen Ideen, die nie verfiegende
Quelle heiligender Mächte aufweiſt, ift einer der wefentlichften
Vorzüge des Godet'ſchen Werkes. Hiemit fteht in Verbindung,
daß der Verfaſſer vermöge feiner Tiebevoflen Hingabe an feinen
Gegenftand und feines feinfinnigen Eingehens in die johanneifche
Anſchauungs⸗ und Darftelungsweife vorzüglich geſchickt erfcheint,
das Tertmaterial in feiner eigentümlichen Dispofttion und Grup-
pierung darzulegen und die innere Bewegung der im Texte vor.
fiegenden Gedanken anfchaulih zu machen. An manden Stellen
mag man dem Verfaſſer zuzuftimmern Bedenken tragen — wie denn
auch unten wiederholt Widerfpruch gegen ihn zu erheben fein wird —,
aber im ganzen und großen wird man feiner Weite, den evange-
liſchen Text zu behandeln, das Rob nicht nur gediegener Gründlich⸗
feit, jondern auch eines geſchmackvollen Verftändniffes umd eines
zartfühlenden Tactes gern zuerfennen.
Treten wir num aber an die Leiftung des Verfaſſers näher
heran, jo jehen wir drei Haupttheile feiner Arbeit: eine eigene, von
den kirchlich üblichen Verfionen nicht felten abweichende, accurate
und dabei anfprechende Weberfegung, ſodann die Hiftorifch » Eritifche
Erörterung über bie evangelifhe Schrift und endlich den Tritifch-
exegetiichen Kommentar, welder in Bd. II die erften 6 Kapitel
und in Bd. III den übrigen Theil des Evangeliums behandelt,
Commentaire sur l’&vangile de Saint Jean. 715
und zwar in der Art, daß an allen widhtigern Stellen zunächft der
Zert kritiſch feftgeftellt wird, mobei jegt namentlich die Tifchen-
dorf’fche Recenfion von 1872/73 forgfältig verglichen wird.
Die von dem Berfaffer gegebene, nach ben angenommenen
Tertgruppen dur das ganze Werk ſich Hinziehende Weberfegung
befonder8 zu beurtheilen, Tiegt fein Anlaß vor; doc) darf das Zeug⸗
nis nicht fehlen, daß der Verfaſſer der größten Treue fich befleißigt.
Wo die franzöfifche Form eine gewiſſe Abweichung von der Text⸗
geftalt" nöthig macht, wird dies bejonders marlirt. An einzelnen
unten in Betracht des Philologifchen zur Sprache zu dringenden
Stellen gibt die Weberfegung die eigentümliche Nüancirung der
griechifchen Redeweiſe nicht völlig wieder (vgl. 3. B. 6, 67); ich
muß es aber dahin geftelft fein laffen, ob die franzöftiche Sprache
eine volllommen entfprechende Form immer darbieten könne.
Die hiſtoriſch⸗kritiſche Einleitung, welcher der erſte Theil des
Werkes gewidmet ift, deren Erörterungen aber überall in dem
eigentlichen Commentare wieder aufgenommen, im einzelnen weiter
begründet, gegen Einreden verwahrt und in ihren Ergebniffen
geltend gemacht werden, bat folgenden Grundplan. ‘Die beiden
erften Kapitel (S.1— 34) führen uns auf den Standpunft, von
welchem aus wir nad des Verfaſſers Wunſch das johanneifche
Evangelium und die dasjelbe betreffenden Fragen anfchauen follen,
und geben uns ſodann eine Weberficht über den bisherigen Gang
und den gegenwärtigen Stand ber Verhandlungen wegen der Au⸗
thentie der edangelifchen Schrift. Die fodann folgenden Unter⸗
fuchungen, welche in drei Bücher geordnet find, betreffen den
Apoftel Fohannes, insbefondere den Tängeren Aufenthalt desjelben
in Kleinaſien (S. 35 — 80), die Analyje und Charakterijtit unferes
vierten Evangeliums (S. 81 — 236) und den Urfprung diefes Evan»
geliumd (S.237— 360), genauer die Zeit der Abfafjung, den
Berfaffer, den Ort der Abfafjung und den Anlaß wie den Zwed
der Schrift. Nachdem im letzten, dem fünften Kapitel des dritten
Buches das Gefamtergebnis der ganzen Verhandlung kurz zur
fammengefaßt ift, bringt das Schlußlapitel (S. 364 ff.) ein warmes
Wort über die für das ganze Ehriftentum entjcheidende Bedeutung
der von dem Apoftel in feinem Evangelium als fundamental geltend
116 Godet
gemachten wunderbaren SHeilsthatfache, daß der ewige Sohn Gottes
Fleiſch geworden ift, und leitet fo zur Einzelausfegung ber evanges
liſchen Schrift hinüber.
Das in dem erften Theile des Godet' ſchen Werkes verarbeitete
Material ift ein fo reichhaltiges und die Erörterung ift überall,
namentlich auch in den hiltorifchen Partien — ber Darftelluug
des bisherigen Verlaufs der Kritit und dem Zengenverhör — eine
fo forgfältig in das Detail eingehende, dag ich bei meiner Beur⸗
theilung möglichit enge Schranken ſuchen muß. Zunädft werde ich
mit einigen Worten an allem demjenigen vorbeigehen dürfen, was
ber Verfaſſer Über die Apokalypſe an verfchiedenen Stellen jagt;
aber auch ihm gegenüber möchte ich doc ausfprechen, daß mir die
Zuverficht, mit weicher ich glei ihm je Länger befto mehr an ber
apoftolifchen Authentie unſeres Yohanned-Evangeliums feithakte, in
dem Maße getrüibt wird, in weldhem mir zugemuthet wird, in dem
Apokalyptiker denjelben Schriftfteller wie den Evangeliften, und
obendrein die ziemlich gleichzeitige Abfaffung jener beiden Schriften
anzuerkennen. Godet fett — mit Recht — die Abfaffung des
Evangeliums in die beiden legten Decennien des erften Jahrhun⸗
derts, und die Abfaſſung der Apofalypfe etwa: in das Jahr 95
(I, 297). Dies lettere halte ich für durchans unrichtig und mit
. dem in fo weit wenigftens zweifellofen Selbftzeugnis der Apokalypſe
völlig unverträgli. Aber auch wenn man einen Zeitraum vor
etwa 25 Jahren zwijchen den beiden Schriften liegen läßt, bleibt
die Abfaffung derfelben von einer Hand durchaus unverftändfich.
Es ift entichieden unrecht, wenn auch Godet 3. B. darauf Ge
wicht legt, baß ber Ausdrud aovlov dem Gvangelium unb der
Apokalypſe eigentümlich fei; denn man ſoll hiebei nicht verfchweigen,
daß der in beiden Schriften vorkommende Ausdrud in der einen
(305.21, 15) eine ganz andere Beziehung habe ald in der andern
(Apol. 5, 6). Ich möchte aud) noch folgendes Hervorheben, was
vielleicht gerade wegen der feinen &odet’fchen Eharafteriftil der
johanneifhen Darftellungsweife am Plate fein wird. Mit Recht
hebt Godet hervor, wie die johanneifche Darftellung nicht fomel
den geradeaus ftrebenden Fortfchritt der dinlektifchen Bewegung, wie
er etwa bei Paulus fich zeigt, zu erkennen gebe, fondern gern ver»
Commentafre sur P’&vangile de Saint Jean. 117
weilend, wie in beihaulihem Sinnen, um gewiſſe Mittel
puntte ſich bewege, fleinere und weitere Kreife und Gruppen bilbe
und an einem inmig erfaßten Gegenftande hafte. Mit befonderer
Sreude habe ich eine folche Beurtheilung der johanneifchen Weiſe
auch bei Godet gelefen, welder fomit eine willfommene Bes
ftätigung deſſen bringt, was ich in meinem Commentar zu den
johanneiſchen Briefen (Bd. I, S. xxx) gefagt babe. Die
Charakterifiit gilt dem Evangelium, inäbefondere auch den Neben
in bdemfelben (I, 170), nicht weniger als den Briefen. Daß fie
aber bei der Apolalypfe durchaus nicht zutrifft, fcheint mir auf der
Dand zu liegen. Hier ift der ganze Plan geradlinig, der Gang
drängt geradeaus zum Ziele, das jchon von vorn herein marfirt
wird und welchem hier and da fogar proleptiihe Ausfagen zueilen.
Wol gibt es Zögerungen und Hemmungen in dem apolalpptifchen
Berlaufe, aber die auf das feite Ziel gerichtete Bewegung wird
dadurd nicht beirrt; Schon zum voraus wird wiederhoft über alles
Zwifcheneintrotende binweggewiefen; felbft die Gliederung der Ge⸗
fihyte nach Siegein u. |. w. ift wie eine Stufenfolge, in welder
ein Abſatz aus dem anderen fich erhebt, alle aber in gerader Linie
fo angelegt find, daß die Bewegung, ohne feitwärt® abzuirren, ohne
in finnender Beſchaulichkeit zu verweilen, zu dem hohen Ziele vor»
wärtseilen kann. Diefe Kunſt des Apokalyptikers ift jo weſentlich
von der des Evangeliften verjchieden, daß die Identität der beiden
Berfonen undenkbar erſcheint. Noch ein anderes charafteriftiiches
Moment, welches ich in meinem Commentar zur Apolalypje nicht
hervorgehoben habe, möchte ich hier geltend machen, Wenn man
in der alten Kirche den Apoſtel Johannes den jungfräulichen ges
nannt hat, fo ift diefer Ehrentitel auch dadurch gerechtfertigt, daß
im Evangelium und in den Briefen foldye Worte, welche gejchlecht-
liche Sünden bezeichnen, nicht vorkommen (vgl. 4, 18); nur aus
fremdem Munde vernehmen wir bei dem Evangeliſten ein⸗ oder
zweimal ein Wort, welches den Schmuß jener Sünden bezeichnet
(8, 41; vgf. die unechte Stelle 8, 3). Wie fticht Hingegen bie
Derdheit der apofalyptifchen Rede ab! Iſt doch die ganze Eharafte-
riftit der antichriftlihen Weltitadt in einem Bilde zufammeugefaßt,
welches der Apoftel nicht einmal zu nennen über jich vermocht hat.
718 Godet
Unberüdfichtigt darf ich laſſen, was ber Verfaſſer gelegentlich
über die johanneiſchen Briefe, namentlich den erſten (I, 200),
beigebracht hat. Ich zweifele nicht, dag er diefen Brief im Ber-
gleich zum Evangelium unterfchägt, und bin insbejondere der An⸗
fiht, daß wir in dem Briefe einen wefentlihen Anhalt haben,
um die im Evangelium dargebotenen Reden zutreffend zu würdigen.
Halte ich mich bei meiner Berichterftattung an die unjer Evan⸗
gelium unmittelbar angehenden ifagogifchen Erörterungen, fo muß
ih aud bier eine Auswahl treffen, wenn ich mit meiner Beurthei-
lung des Gobdet’fchen Werkes der gediegenen Gründlichkeit desfelben
einigermaßen gerecht werden will. Im einzelnen möchte ich weſent⸗
lich nur ſolche Punkte Herausheben, gegen welche ein Widerſpruch
berechtigt zu fein fcheint, während zugleich der vorliegende evange⸗
liche Text die ficherfte Grundlage zur Verftändigung darbieten
mag; hiebei ergibt ſich auch der Vortheil, daß wir- in den Haupt-
theil der Godet'ſchen Arbeit, in feine Auslegung des Evangeliums,
binübergeführt werden. Die Bedenken, welche ich meinerfeitS gegen
die ebenfo Tenntnisreichen wie flaren und umfichtigen Erörterungen
des Verfaſſers vorzubringen weiß, liegen fo gut wie ausfchließlich
nach der Seite der inneren Kritif hin. Die von dem Verfaffer ge-
gebene Darftellung von dem weitfchichtigen und vielfach verwickelten
Gange der Verhandlungen über die altlirchliche Tradition in Betreff
der Authentie ded Evangeliums und des Lebens und Wirlens des
Apoftels erfcheint mir jo anfhaulih und gründli und die von
ihm felbft vorgenommene Beurtheilung diefer Sachen fcheint mir
in allem Wefentlichen jo zutreffend, daß ich nur meine freudige
Zuftimmung ausfpredhen kann. Die überzeugende Macht der
Gründe, welde der Verfaſſer von dem Gebiete der äußeren Kritif
entnimmt, wird aber wejentli dadurch gehoben, daß er in fein-
finniger Würdigung alles deſſen, was zu dem Selbftzeugnid des
Evangeliften gehört, zugleich die innere Seite der Sache geltend zu
machen verftebt. In diefer Beziehung gibt er, manchmal ben
Spuren von Luthardt u. a. folgend, eine Fülle von wahrhaft
tiefgreifenden Momenten. Wie er mit Necht, die ganze Geftalt
unferes vierten Evangeliums anfchauend, wiederholt geltend macht,
daß die patriftifche Literatur des zweiten Jahrhunderts fein Er»
Commentaire sur l’&vangile de Saint Jean. 7119
zeugni® darbietet, welches in Gedankentiefe, in origineller Eigenart
und in nachwirkender Macht mit unferem Evangelium verglichen
werden könne, wie er, unter Üüberzeugender Abweiſung entgegen-
gejegter Darftellungen, den Einfluß unferes Evangeliums auf die
Entwichung des Tirchlichen und des häretifchen Geiſtes nachweift,
fo verfteht er es in meilterhafter Weife, diejenigen zarten Züge
des Evangeliums hervorzuheben, welche den Verfaffer desfelben als
Augen» und Ohrenzeugen der berichteten Thatfachen, nicht aber als
einen tendenzids erfindenden oder umgeftaltenden Schriftiteller, zu
erfennen geben. Die innere Wahrheit, die fittliche Dignität, die
nach allen Seiten Hin fich ergebende Angemefjenheit (das & propos,
wie es fo oft heißt) der berichteten Thatſachen und Reden und die
im wirklich Wefentlichen ?), namentlid) in der chriftologifhen Grund»
anfchauung, vorhandene Harmonie zwifchen “Johannes und den Syn»
optifern, wie zwifchen jenem und dem Apoftel Paulus, wird mit
einem feinen Tacte, der in langjährigem, liebevollem Schriftitudium
gebildet ift, dargelegt.
Dies Lob wird, denke ich, jeder Lefer des Godet' ſchen Werkes
gerechtfertigt finden, welcher nur nicht von einem wejentlich ver⸗
fchiedenen theologifchen und kritiſchen Standpunfte aus urtheilt,
wenn auch immerhin im einzelnen weit mehr Anlaß zum Widers
Spruch genommen werden mag, als ich zu finden vermag. Vielleicht
ift die Godet' ſche Bearbeitung des Johannes wegen ihrer wiſſen⸗
ſchaftlichen Züchtigkeit und wegen des milden Ernftes ihrer ganzen
Haltung befonders dazu angethan, einen verfühnenden Einfluß bei
den bunten Streitverhandlungen über bie johanneifche Trage zu
üben. Eine gute Hoffnung ergibt fich dieferhalb doc auch aus
dem Umſtande, daß Godet gerade bei der Beurtheilung der auf
1) Den nach meiner Ueberzgeugung an dem Terte der Synoptifer fcheiternden
Berfuh Godets, die fynoptifchen Angaben Uüber den Todestag des
Herrn mit dem johanneifchen Berichte in Uebereinſtimmung zu bringen,
möchte ich auf fich beruhen laſſen. Was Godet I, 150f. an archäo⸗
logiſchen Momenten beibringt, um zu bemeifen, daß die Kreuzigung und
vorher die Verhandlung vor dem SHohenpriefter nicht wirflih am 15.
Nifan vorgelommen fein könne, beweift doch nur die Irrtümlichkeit des
ſynoptiſchen Berichts, nicht aber, daß diefer mit Sohannes ſtimmen müſſe
und wirklich ſtimme.
72 Godet
Seiten der inneren Kritik liegenden Momente ſehr oft Gelegenfeit
findet, auf Ausfprüde von Weizfäder, Keim und Renan ji
zu berufen. Die negativiſche Kritik hat jich feit den Baur’ ſchen
Aufftellungen zu bedeutenden Ermäßigungen, welche durch die Ertre-
vaganzen eines Volkmar und Schalten wicht bejeitigt, jenbern
vielmehr nur gerechtfertigt find, verftehen müljen. In den weiteren
Verlauf der Verhandlungen über Johannes bringt jeden Falls das
Godet' ſche Werk von neuem den wohlbegründeten, kräftigen Nach⸗
weis, daß, wenn ed überhaupt eine von wirklichen DOffenbarungen
Gottes erfüllte Heilsgeſchichte gibt, unfer Evangelium alien Anfor⸗
derungen entfpricht, die au eine unmittelbare Bezengung folder
Thatjachen za machen find. —
Ein hervorragendes Intereſſe nehmen diejenigen Partien bed
Godet'ſchen Werkes in Anſpruch, in weichen die dharakteriftifchen
Eigentiimlichkeiten der johammeifchen Schrift dargelegt werden; dieſe
Unterfucgungen über den Zweck ded Evangeliums, über die Aus—⸗
wahl und die Anordnung des Stoffes, fowol der Thatſachen wie
der Meden, über den einheitlihen, planvellen Organismus der
Schrift und über das Verhältnis des Prologs zu der nachfolgenden
Hauptmaffe des Evangeliums dürfen auch wol als das vorguge-
weile unferem Verfaſſer Eigentümliche angejehen werden. Aber io
fehrreih und anregend diefe Ausführungen alle find, fcheinen fie
mir doch auch zu manden Ginreden Anlaß zu bieten und mehr
ald eine bedeutungsvolle Frage nicht befriedigend zu Löfen. Einige
Grundbeftimmungen, welche ſich durch die ganze Erörterung des
Verfaſſers Hinziehen und auch in dem eregetifchen Theile des Wertes
immer wieder an einzelnen Beiſpielen gerechtfertigt werden, erfcheinen
auch mir im allgemeinen und wejentlichen durchaus zutreffend, daß
die Abſicht des Evangeliften (vgl. 20, 31. 1, 12 ff.) dahin geht,
denjenigen Glauben zu begründen, welcher in dem geſchichtlichen
Herrn den fleifchgewordenen ewigen Sohn Gottes erfenut, Daß der
Evangelift zur Erreichung dtefes maßgebenden Zweckes ſeine Aus⸗
mahl und Anordnung bes geithichtfichen Stoffes trifft, daß er hiebei
die in den fynoptifchen Evangelien firirte Tradition voraußfegt, fie
erläutert, genauer feftftelit, gegen Misverftändnis verwahrt, und
ergänzt und corrigirt, daß er fich felbft als nertrauten Augen» und
Commentaire sur l’&vangile de Saint J ean. 721
Ohrenzeugen barftelit, daß er bei feiner Schilderung des Lebens
und Wirken des Herrn beides zur Anſchauung bringen will (vgl.
1, 10ff.), wie angefidhts der Offenbarung der eigentümlichen Herr»
lichkeit des Fleifchgewordenen fowol der Glaube als aud der Un»
glaube sich entwicelt und ausgeftaltet. Diefen an fich felbft durch»
aus richtig erfcheinenden Grundbeftimmungen gibt aber der Ver⸗
faffer gewiffe Modificationen — zum Theile wie wir fehen werden,
von weitgreifender Bedeutung —, welche ich nicht gutzuheißen
vermag. Wenn er unferem vierten Evangelium einen „autobiogra»
phifchen“ Charakter beilegt (I, 110ff.), fo iſt das, glaube ich, eine
für die Würdigung der ganzen johanneifhen Schrift hinderfiche
Uebertreibung oder vielmehr Verſchiebung deffen, was mit Recht
wegen der unmittelbaren Zeugenfchaft des vertrauteften Herrnjüngers
auszufagen if. Der Anfangs⸗ und der Endpunkt des johanneifchen
Evangeliums, meint Godet, ſei nach Maßgabe der eigenen Er-
lebniſſe des Apoſtels gewählt; nicht mit dem Öffentlichen Wirken
de8 Täufer, als des Vorläufers des Herrn, beginne Johannes,
fondern mit dem Tage, an welchem er felbft den Herrn gefunden
babe und fein eigener Glaube geboren fei; nicht mit der Himmel⸗
fahrt des Herrn fchließe Johannes, auf welche doch in feinem
Evangelium bingebeutet ſei (3, 13), fondern mit dem Belenntnie
des Thomas (20, 28), in welchem Johannes felbft die Vollendung
feines eigenen Glaubens erkenne. Auch die Auswahl und Anord-
nung bes in unferem Evangelium verarbeiteten Materials ſtellt
Godet unter diefen Geſichtspunkt des Autobiographiſchen: „La
naissance et le d&veloppement de la foi de l’auteur, tel est
l’angle sous lequel est pr&sent& dans cet &vangile le ministere
de Jesus. C’est de l’autobiographie, non de l’histoire pro-
prement dite.“ (I, 113.) Die von Godet angeführten Stellen,
zu welchen aud noch 1, 14. 19, 35 und 20, 8f. hinzugenommen
werden, zeigen allerdings unverkennbar, daß der Evangelift eigene
Erlebnifje berichtet, Thatſachen, welche in ihm, gleichwie in den
übrigen apoftolifhen Augenzeugen (vgl. befonders 1, 14. 20, 9)
den Glauben begründet und entwicelt haben, zu welchem er durch
fein fchriftliches Zeugnis auch feine Lefer bringen will; allein etwas
ganz anderes ift es, was Godet im Sinne Hat und was ich in
Theol. Stud. Iabrg. 1878. 47
122 Godet
Anſpruch nehme. Ich würde ihm auch nicht widerſprechen, wenn
er fagen wollte, daß das johanneifche Evangelinm das am meiften
fubjectivifche fei; denn ich bin der Anficht, dag in leinem anderen
Evangelium die Berjönlichleit des Schriftftellers in ber Weife umd
in dem Maße fühlbar ift, wie in dem johanneijchen, und zwar
in der ganzen planvollen Compoſition und in der ganzen Ans
ſchauungs⸗ und Darftellungsweije, wie fie namentlich bei den Reben
erfihtfih if. Aber Godet fagt ein Michreres und ein Anderes
aus, als dies jubjectivifche Gepräge unferes Evangeliums; er meint,
daß der Apoftel aus der Entwichungsgeichichte feines eigenen per-
fönlichen Glaubenslebens die Norm für feine Darftellung des Le
bene und Wirlens des Herrn entnehme; dies ift es, was mir
verfehlt erſcheint. Kin der Art fubjectivifches Verfahren möchte
kaum mit derjenigen Objectivität der MBerichterftattung verträglid
fein, die ‚erforderlich ift, wenn der vorfchwebende Zwed (20, 31)
erreicht werden foll (vgl. Luk. 1, 1f.); noch weniger ift ein ſolches
Verfahren einem Schriftfteller zuzutrauen, welcher — wie aud
Godet keineswegs verfennt — im übrigen feine eigene Perfön-
lichkeit in zarter Zurückhaltung (I, 316) eher verhüflt, als in den
Vordergrund treten läßt. Was aber insbefondere den Ausgangs
und den Endpunkt des johanneifchen Berichtes anlangt, fo ift doc
nidgt zu überfehen — was unten wegen des Verhältniſſes zwiſchen
dem Prolog und dem übrigen Evangelium weiter zur Spradhe
fommen folk —, daß bie volle Objectivität der Geſchichtserzählung
auch bei Johannes in dem Ausgange von dem vorbereitenden Zeug.
niffe des Zänfers Liegt, einem Zeugniffe (1, 19ff.; vgl. 3, 2255.),
deffen Bedeutung für das gefamte Volt und deffen Beziehung auf
d08 ganze Werk des Herrn felbft viel zu enge gefaßt wird, wenn
Godet dies alles unter den fubjectivifchen Gefichtspunft des Evan-
geliften und feiner perſönlichen Erfahrung (1, 35ff.) ftellen will.
Auch angefichts des Schluffes des Evangeliums erweift ſich der
Sodet’fche Canon als ſchief. Die volle Objertivität bes Ab—
ſchluſſes der enangelifchen Gefchichtserzählung Liegt in dem ganzen
Berichte von der Thatſache der Auferftehung. Der eigene Glaube
des Evangeliften ift fchon (20, 8. 19ff.) zur vollen Kraft und
Sicherheit entwidelt, che Thomas zu feinem Beleuntnis (20, 28)
Commentaire sur l’&vangile de Saint Jean. 728
geführt wird; und der Evangelift bejchreibt dies letztere Ereignis
nicht, als wenn erft in dem Bekenntnis des bis dahin ungläubigen
Thomas nun auch fein eigener Glaube zur vollen Entwicklung ges
diehen fei, und demgemäß nun auch die evangelifche Schrift zum
Abſchluſſe gelangen müſſe, fondern deshalb, weil die auch einem be»
harrlichen Unglauben gegenüber erwieſene Wahrheit der Auferftehung
und fomit die ganze offenbar gewordene Herrlichkeit des Menfchge-
worbenen dem Glauben aller Welt dargeboten werden kann
(20, 29ff.). —
Wenn ih vorhin von dem fubjectivifchen Charakter unferes
Evangeliums geredet habe, jo Hatte ich insbefondere auch bie in
demſelben berichteten Reden im Sinne. Auch dieferbalb fcheint
mir ein MWiderfpruch gegen die Godet'ſchen Aufftellungen berech⸗
tigt. Mit ihm halte ich das Meyer’fche Urtbeil, daß die Neben
des Heren treu, aber nicht buchftäblich, wiedergegeben feten (I, 165),
für durchaus zutreffend. Und wenn Godet ſelbſt abjchließend
(1, 363) hierüber fich jo äußert: „En exposant les discours, il
en reproduisit la substance, telle qu’elle s’&tait condensée
lentement dans son esprit et du mieux qu’il pouvait le faire
dans la langue nouvelle qui s’imposait & lui, cherchant à
dire les mömes choses, comme Christ lui-m&me les eüt dites
s’il eüt parl& dans ce milieu-la‘“, fo Babe ich auch hiegegen we⸗
fentliches nicht zu erinnern. Uber mit biefem allgemeinen Urtheil
ſtimmt nicht recht, was er an vielen Stellen zu den einzelnen
Reden anmerkt, indem er die Gefchichtlichkeit der berichteten Reden
in einer Weife geltend macht, daß für die Subjectivität des Evan
geliften ber erforderliche Raum fehlt. Allerdings erkennt Godet
an, daß die Reden des -Herrn, fowol die Streitreden als auch die
Reden mit den Jüngern oder mit Berfonen wie Nilodenms, nicht
in wörtlicher VBollfiändigkeit wiedergegeben ſeien; was ich aber vers
miſſe, iſt die Anerkennung, daß die Nedeberichte durchweg dem eigen-
tümlich johanneifchen Stempel tragen. Auf die Thatjache kommt
es mir bei meiner Abweihung von Godet an, daß der Herr
ebenjo redet wie der Täufer und daß beide gleichermweife den jo⸗
banneifchen Dialekt fprechen, welcher in ben erzählenden Partien
unſeres Evangeliums und namentlich auch, was zur Bergleichung
47
724 Godet
noch leichter ſich darbietet und noch ſicherer zutrifft, in unſerem
erſten Briefe vorliegt. Ich räume hienach der Subjectivität des
Evangeliften in Betreff der Geſtaltung der uns berichteten Reben
in der That mehr ein, ale Godet; und wenn biefer 5. B. die
eigentümlihe Conformität zwifchen dem Zeugnis des Taufers
(3, 31f.) und der Rede des Herrn zu Nilodemus (3, 11f.) daraus
erklärt, daß die Jünger, welche das Geſpräch mit Nilodemus an-
gehört, frappante Worte aus demfelben dem Täufer mitgetheilt
haben möchten und daß nun der Täufer wiederum feinerfeits ab-
fichtlich weientlich die gleichen Worte gewählt haben werde, fo er-
Scheint eine ſolche Kombination an fich zu fünftli und obendrein
unzureichend, da es fich nicht um die Gleichförmigkeit einzelner frap-
panter Worte, fondern um den charafteriftiichen Gefamttypus der
Reden überhaupt Handelt. Je inniger gerade Johannes dem über:
wältigenden Eindrude ſeitens des Herrn ſich Hingegeben bat und
je reiner und tiefer er von demſelben beftimmt worden ift, defto
mehr muß aud) in der johamneiichen Anſchauungs⸗ und Redeweiſe
der volle und Klare Wiederhall der Herrnworte wahrzunehmen fein;
und wir bürfen — da wir ja Nedeberichte von jtenographifcher
Art nicht begehren werden — uns nicht ſcheuen, das fubjectivifche
Gepräge der von Johannes berichteten Reden anzuerkennen, in
welchem ich ein werthvolles Anzeichen der wahren Geichichtlichkeit
derfelben finde. —
Die Prüfung der Godet'ſchen Anficht von dem unferem
Evangelium zu Grunde Tiegenden Plane, insbefondere auch von
dem Verhältniffe des Prolog zu dem nachfolgenden Haupttheile
der Schrift, führt uns zu den beiden den Commentar enthaltenden
Bänden. Vorab ift zu bemerken, daß dA8 21. Kapitel bei der
Beichreibung des Grundriffes außer Betracht bleibt. Mit Recht
erfennt auh Godet in 20, 30f. den fürmlichen Abſchluß der
evangelifchen Schrift. Das 21. Kapitel ift ein von bem literarifchen
Plane des Evangeliums ganz unabhängiger Anhang. Dem Evan-
geliften felbft vindicirtt Godet den Abfchnitt V. 1—23, indem er
die gewöhnlichen Gründe bdarlegt, welche mir allerdings die volle
Zuverficht nicht geben; denn jo gern ich auch anerfenne, daß der
Apoftel Anlaß gehabt haben könne, einen folchen Nachtrag zu feinem
Commentaire sur l’&vangile de Saint Jean. 725
Evangelium abzufaffen und zu veröffentlichen, und daß in biefem
Anhange pofitiv unjohanmeifches ſich nicht findet, fo wiberftrebt
mein Fritifches Gefühl doc immer der Annahme, daß ein Schrift-
fteller wie Johannes, weicher in wahrhaft fünftlerifcher Anlage den
fein durchdachten Blan feines Evangeliums entworfen und in durch⸗
aus abgerundeter Ausführung erledigt bat, nun doch noch, als
wenn er nicht recht fertig geworden wäre, zu einem foldhen, mit
dem allereinfachften uer« Tvadra angehängten Nachtrage gelangen
ſollte. Böllig ftimme ich aber darin mit Godet überein, daß
nicht nur V. 25 — welcher vielleiht mit Tiſchendorf vom
Texte zu entfernen ift —, fondern auch V. 24, wo aud id) bie
Meyer’fche Erklärung des oidansr für verfehlt Halte, von einer
anderen Hand als der des BVerfaflers von V. 1—23 herrührt.
Was Godet über die Dispofition des Prologs und des nach⸗
folgenden Evangeliums, wie über die innere planvolle Verbindung
der beiden Schrifttheile fagt, das ergibt fich nicht ohne die forg-
famfte Prüfung der bisherigen Aufftellungen der Ausleger, fo daß
die Godet’fche Darlegung im Wefentlihen als der befriedigende
Abſchluß diefer Unterfuchungen erfcheint. Ich meine, daß der Ver-
fafer mit feinfinnigem Verftändnis den Gedanken des Evangeliften
gelaufcht und den beabfichtigten Organismus der apoftolifchen Schrift,
von verhältulsmäßig untergeordneten Punkten abgefehen, treffend
befchrieben und durch die Einzelauslegung genauer in's Licht ges
ſtellt hat. Eine bebeutungspolle Probe für die weſentliche Nichtig-
feit der von Godet aufgemwiefenen Anlage unferes Evangeliums
Scheint mir namentlich auch darin zu liegen, daß ber fir dasſelbe
überall maßgebende zwiefache Gefichtspunft des Hiftorifchen und
des Chriſtologiſchen bei der Godet'ſchen Auffafjung zu feinem
Rechte kommt. Die gefchichtliche Offenbarung der Herrlichkeit des
Dienfchgeworbenen ift body der unverlennbare Kern diefes Evange⸗
liums; und wie dieſe einzigartige Offenbarung fowol dem Glauben
als dem Unglauben der Menſchen begegnet, das darzuftellen, ift
ohne Zweifel die Abficht des Evangeliften, der nad ſolchen Ge⸗
ſichtspunkten den eigentümfichen Plan feiner Schrift entworfen
bat.
Nach Godet's Anficht ift die Anlage des Prologs eine drei«
726 Godet
theilige: der erſte Abſchnitt (WB. 14) handelt von dem göttlichen
Subjecte der evangeliichen Geſchichte, vom Logos, und zwar in
feinem Sein und feiner Wirkſamkeit vor ber Menfchwerbung; der
zweite Abſchnitt (B. 5—11), zu welhen V. 5b ben Uebergang
bildet, handelt vom Unglauben, welcher dem ſich offenbarenden Lo⸗
908 entgegengefet wird, und zwar genauer bon der außerordent-
lihen Veranftaltung Gottes, den Unglauben abzumehren, nämlich
von der Sendung ded Vorläufers, ſodann von der Thatſache des
Unglaubene felbft; der dritte Abjchnitt endlih (WB. 12—18) handelt
vom Glauben, von der Annahme der Logosoffenbarung, indem
zuerft, der Thatfache des Unglaubens fogar in Israel gegenüber,
darauf bingewiefen wird, daß doch durch die Wirkfamleit des Loge
eine neue Menfchheit erwirkt ſei (B. 12. 13), ſodann das concrete
Object des Glaubens, nämlich die Menſchwerdung des Logos
(B. 14*), Hingeftellt und endlich die Gewißheit diefer wunderbaren
Thatjache durch das dreifache Zeugnis der Sylinger, als der un:
mittelbaren Augenzeugen (V. 14°), des Täufers, als des getige-
fandten Vorläufers (B. 15), und der ganzen Kirche (V. 16—18),
welde die Wahrheit jener Thatſache erfahren, erfebt hat, beftätigt
wird. Wollen wir diefe Anfiht Godet's ridtig würdigen, fo
müffen wir ſogleich hinzunehmen, was er über den Plan des durch
diefen Prolog eingeleiteten Evangeliums und über die innere Be⸗
ziehung, in welchem der Prolog zu demjelben fteht, ausführt. Wie
in dem Prolog wird auch in dem nachfolgenden Evangelium ber
Gang der Eutwidlung durch die drei Hauptmomente: Offenbarung
des mienfchgeworbenen Logos, Unglaube und Glaube, beftimmt. In
dem erjten Hauptabſchnitt (1,19 — 4,54) finden wir die erften
Dffenbarungen des Logos und den Beginn des Glaubens, aber
auch fchon die erften Anzeichen des Unglaubens. Der zweite Ab»
ſchnitt (5, 1 — 12,50) ift, wie insbefondere der rüdblidende Ab⸗
ſchluß (12, 37f.) zeigt, dazu beftimmt, die Entwiclung des Un-
glaubens zu fchildern. Der dritte Theil (13,1 — 17,26) fielft
dagegen die Entwidlung des Glaubens in den Jüngern dar, welche
durch die Thatjachen (Kap. 13), durch die Reden (14,1 — 16,33)
und durch das Gebet (Kap. 17) erfolgt. Der vierte Theil
(Rapp. 18. 19) ſchildert die Paſſion und fomit die Vollendung
Commentaire sur l’evangile de Saint Jean. 72a
de8 Unglaubens; der fünfte (Kap. 20) endlich berichtet Die Auf:
erftehfung und ftellt den nun zu feiner vollen Höhe gelangten
Glauben (20, 28) vor Augen. Aus der damit wejentlich gleich"
artigen Anlage des Prologs und des gefchichtlichen Haupttheils un.
ſeres Evangeliums ergibt fi) auch der Zwed des Prologs. Diefer
fol, gleichwie etwa (II, 103) vor einer mufilalifhen Compofition
Beftimmungen über das Tempo und die ganze Vortragsmeile fich
finden, den Lefer von vorn herein auf das Wefentliche in der
evangelifchen Geſchichte Hinleiten, darauf daß es ſich bier um ben
wundervollen Grund des menfchlihen Heils, nämlich die Offen-
barung des ewigen Gottesfohnes im Tleifche, handelt, und daß
diefe einzigartige Offenbarung nicht nur im Glauben aufgenommen,
fondern auch im Unglauben verworfen wird.
So.richtig auch die drei Hauptmomente, nämlich die Offenbarung
de8 Logos, der Glaube und der Unglaube diefer Offenbarung gegen»
über, erfcheinen, würde doch die von Godet gegebene Dispofition -
zunächft dann in Anfpruch zu nehmen fein, wenn er einerjeits ver⸗
fennte, daß die Schilderung der fich offenbarenden Herrlichkeit des
Meufchgeworbenen während des gefamten Verlaufs des evangelifchen
Berichtes hervortritt und auch die Partien beberrfcht, welche im
übrigen vorzugsweife der Darftellung des Glaubens und bes Un⸗
glaubens dienen, und wenn er anderfeits überfähe, daß in den Ab⸗
Schnitten, welche ben Fortgang des Glaubens fchildern, doch auch
die Geſchichte des Unglaubens weitergeht, und umgelehrt. Während
aber der Verfaſſer in diefen beiden Beziehungen dem evangelifchen
Texte in ber That gerecht wird, läßt er einen anderen, gerade in
der johanneifchen Anſchauungs⸗ und Darftellungsweije fehr bes
deutungspollen Gefichtöpunft, welcher auch jchon für die Anlage
des Prologs maßgebend ift, viel zu wenig bervortreten, nämlich
den der xodass, welche mit ethifcher Nothwendigleit aus dem Offen-
barwerden der Herrlichkeit des Menfchgewordenen fich ergibt, fo
daß die Erfiheinungen des Glaubens und des Unglaubens nicht ſo⸗
wol eine nad) der anderen und unabhängig von einander, fondern
vielmehr neben und mit einander, als gleihmäßig durch die Offen-
barung des Herrn Hervorgerufene und an derjelben zur Auswirkung
gelangende fittliche Mächte zu verftehen find; man vergleiche, wenn
728 Godet
es überhaupt eines Beweiſes bedarf, z. B. Joh. 2, 17ff. 3, 18f.
6, 66. 7, 12. 31. 40ff. 9, 9. 16. 39. 10, 19. 12, 31. 46ff.
Auch bei Godet fehlt die gelegentliche Hinweiſung auf diefe kri⸗
tifche Natur der Offenbarung des Herrn nit (II, 291. 373;
II, 36. 581); aber er macht biefelbe auch an folden Stellen
nicht geltend, wo der Contert darauf führt (III, 193), und er
verfennt, wie insbejondere die Darftellung an der zuletzt ausge⸗
hobenen Stelfe (II, 193) zeigt, wie von diefem eigentümlich jo-
hanneifchen Gefichtepunfte des Kritifchen in der Offenbarung des
Herren beide Entwidlungsreihen, die de8 Glaubens und des Un⸗
glaubens, angefchaut fein wollen und wie hiedurch die Anlage des
Evangeliums, aud) des Prologs, mitbedingt wird. Was an der
Godet'ſchen Dispofition im einzelnen zu beanftanden ift, das
hängt unverlennbar mit dem bezeichneten Mangel zufammen. Nur
dem irrtümlichen Separiren der Geſchichte des Unglaubens don ber
des Glaubens ift es beizumefjen, wenn Godet in den zufammen-
genommenen V. 5—11 jenes erftere finden und bier auch das
Zeugnis des Täufers, nämlich als gottgewollte Abwehr des Uns
glaubens, einordnen will. Died letztere heißt doch, worauf fchon
oben wegen des Beginns der evangelifchen Geichichtserzählung hin⸗
zumeifen war, die volle gefchichtliche Bedeutung des Täufers unter:
ſchätzen. Gegen die Godet'ſche Aufftellung ift um ihrer Einfeitig-
feit willen zunächſt die pofitive, auf die Glaubensgründung gerich-
tete Aufgabe des Täufers geltend zu machen. In gleicher Weite
ift die Zufammenfaffung von V. 12—18 in Anspruch zu nehmen,
nämlich einerfeits die unnatürliche Scheidung zwifchen V. 11 und
V. 12, melde fi) do im Conterte (®. 11 09 nragslaßor;
V. 12 öcoı da EAaßov) als unzertrennliche Glieder eines gegen»
ſätzlichen Parallelismus darftellen, und anderjeit3 das den Glauben
beftätigende Zeugnis der ganzen Kirche, welches in V. 16—18 vor-
fiegen fol. Was dies letztere Moment anlangt, fo wird man das
V. 16 (nueis navres) Geſagte als Zeugnis der „ganzen Kirde”
bezeichnen dürfen; ich geftehe aber, daß mir dieſer Ausdrud eine
ſchärfere dogmatifche Präcifion zu haben jcheint, als rein exegetifch
fih darbietet; mir genügt die finnvolle und (mavres) über das
V. 14 Ausgefagte hinausgehende Bezengung, daß die Fülle der
Commentaire sur l’&vangile de Saint Jean. 729
offenbar gewordenen Herrlichkeit jo reich an Gnade geweſen ift,
daß fie für alle, fo viele (vgl. V. 12) fie im Glauben gefchaut
haben, ausgereicht hat. Jeden Falls finde ih alfo gleih Godet
in V. 16 das auf ber eigenen feligen Erfahrung beruhende Zeug⸗
nis des Apoftel® und aller derer, welche wie er an der Offen⸗
barung des Menfchgewordenen theilgenommen haben. Wozu aber
dient bier die Beziehung auf Mofes? Was hat der Evangelift im
Sinne, indem er in den abfchliegenden Worten des Prologs dem
Mofes mit feinem Gefege den gerade hier zuerft genannten Jeſum
Ehriftum ‚mit feiner Gnade und Wahrheit gegenüberftellt? Godet
beantwortet die Frage nicht; er kann es auch nicht, nachdem er die
Berfe 16—18 als Zeugnis der ganzen Kirche zufammengefaßt und
fo unter den Gefihtspunft geftellt bat, von welchem aus ber Ab»
Schnitt B. 12—18 als die prologifche Skizzirung der Entwicklung
des Glaubens erfcheint.
Meine Anfiht in Betreff des zuletzt bezeichneten Punktes möchte
ih nicht ohne Verbindung mit einigen anderen Bemerkungen über
die Anlage und den Zwed bes Brologs vorlegen; meine bisherigen
Bedenken gegen die Godet'ſche Auffaffung werden erft hiemit
recht ar werden. Laſſen wir die formale Anlage des Prologs
vorläufig dabingeftellt fein, fo werden wir den materiellen Inhalt
desfelben in folgenden wefentlichen Momenten finden dürfen. Zur
vörderſt kommt e8 auf die Berfon des Herrn an, von welchem
das Evangelium handeln foll; es wird alfo einerſeits das ewige,
göttliche Sein und Wirken des Logos, anderfeits die Offenbarung
besfelben im Fleiſche ausgefagt. Das Zweite ift der Erfolg diefer
Offenbarung, und zwar, vermöge der Fritifchen Natur derfelben,
der zwiefache Erfolg, bes Glaubens und des Unglaubens. Das
Dritte ift das zweimal erwähnte (V. 6. 15) Zeugnis des Täufers,
welches ſowol den Kommenden anfündigt, als auch den Gelommenen
beglaubigt. Das Vierte ift das Verhältnis der neuteftamentlichen
Offenbarung des Herrn zu der altteftamentlichen Gottesordnung;
dies iſt der Gefichtspunkt, unter welchen nicht nur die Hinweifung
auf Moſes und fein Geſetz (B. 17), fondern auch die Ausfage
(8. 11) fällt, daß der im Fleiſche erfcheinende Herr tn fein Tängft
zuvor bereitetes Eigentum gekommen und von den Seinigen gleich»
730 Gobet
wol nicht angenommen fei. Neben biefen vier, zu dem evangelifchen
Material gehörenden Hauptſtücken find dann noch zwei wichtige
Beziehungen, welche diefen ftofflichen Elementen ſchon im Prologe
gegeben werben, nicht zu überfehen, nämlich einestheil® die auf den
Glauben (vgl. 20, 31) abzielende Zweckbeſtimmung, anberntheils der
Univerfalismus der Heilsoffenbarung (8.7.9. 12.16). Es treten
alfo, wenn ich nicht irre, die beiden gefchichtlichen Momente, nam⸗
ih das Amt des Täufers und die altteftamentliche Vorbereitung,
ungleich bedeuitfamer und felbftändiger hervor, als bei der Go⸗
det' ſchen Darftellung. In diejen beiden Momenten finde ich wer
fentlihe Züge der Hiftorifhen Haltung auch des Prologs und,
wenn ich fo fagen darf, das richtige Gegengewicht, durch welches
das fpeculative Element des Prologs vor jeder Abirrung von dem
feften rund und Boden der gottgeordneten Thatfachen bewahrt
wird, die wahre Objectivität, welche die unentbehrliche Kehrſeite der
iohanneifchen Subjectipität if. Wenn ich num darauf noch Hin-
deuten darf, wie biefe vier den weſentlichen Gehalt de Prologs
bildenden Hauptftüde durch das ganze nadfolgende Evangelium
fich Hindurchziehen und in demjelben ihre vollere Ausführung er-
halten, fo möchte ich von vorn berein fagen, wie ich demgemäß
das innere Verhältnis des Prologs zu dem Evangelium felbft auf-
faffe. Meine Mebereinftimmung mit Godet und meine Abweihung
von ihm Tann ich am beften darlegen, wenn ich fein mufilalifches
Gleichnis einigermaßen umgeftalte, ‘Der Prolog gleicht nicht dem
Angaben über Tempo u. dgl., die vor einem Mufitftüd ſich
finden, fondern der Ouvertüre zu einem Drama Wie in ber
Ouvertüre der Charakter des Drama's vorbezeichnet wird, wie bie
in bemfelben thematifch herrfchenden Melodien vorklingen, fo zeigt
uns der Prolog die Themata der evangeliihen Gefchichtserzählung.
Die Töne bes Prologd Elingen durch das Evangelium Hin immer
voller und Elarer wieder; die Örundlinien, welche im Prolog ge⸗
zogen find, treten in den weiter ausgeführten Gemälden des Evan
gelium® immer wieder hervor, wie benn der Evangelift feinen
Prolog in der bejtimmteften und deutlich marlirten Erinnerung an
das Gejchichtliche, an das Seibfterlebte (vgl. bei. B. 14 Edenae-
neda; DB. 18 EEnynoazso, Xorifte), gefchrieben hat. In Be»
Commentaire sur l'érangile de Saint Jean. 731
treff der Beiden erfien Hauptpunkte, nämlich der Darftellung der
Herrlichkeit des Herrn vor und nad feiner Menſchwerdung und
des zwiefachen Erfolgs, welchen die Offenbarung bei den Gläubigen
und bei ben Ungläubigen findet, bebarf es eines bejonderen Nach⸗
weifes nicht; ‚nur in Betreff ber beiden anderen Grundzüge des
Prologs, nümlicd, des über den Täufer und des über die altteita-
mentliche Vorbereitung Angedenteten, mag das Folgende bemerkt
werden. °
Die gottgeordnete Bedeutung des Täufers für das gefhichtliche
Leben des Herrn wird im Evangelium nicht allein an ben ſchon
oben hervorgehobenen Stellen (1, 19ff. 3, 23ff.) geltend gemacht,
Sondern auch im weiteren Verlaufe der Entwidtung in Bezug ge⸗
nommen (5, 33. 10, 41). Die wahrhaft geſchichtliche Art der
johanneischen Darftellung (vgl. Apg. 1, 22) erkenne ich aber eben
darin, dag der Bericht über die Wirkfamleit des Herrn feinen Aus»
gang von dein Zengnis bes Täufers nimmt. |
Breiter und wiederholt tritt naturgemäß im Evangelium bie
Bezugnahme auf Moſes, auf die Weißagung, auf die altteftament-
liche Vorſtufe überhaupt hervor. Das Heil kommt, unbefchadet
feiner Univerjalität (vgl. 3. B. 3, 16f. 4, 23. 6, 33. 51), von
den Yuden (4, 22); die Thatfachen der heiligen Gefchichte erfolgen,
damit die Schrift erfüllt werde (12, 38. 15, 25. 17,12. 19, 24. 36);
duch Moſes foll der Glaube an den Herrn erwedt werden und
Mofes muß die Ungläubigen verflagen (5, 45); über Mofes und
feinem Geſetze fteht der Herr mit feinem Seile (6, 32 ff. 7, 19 ff.
vgl. noch 1, 46. 2, 22. 5, 39. 6, 45. 8, 56. 12, 14ff.). So
entfprechen die durch das Evangelium fih hinziehenden Verweiſungen
anf Moſes und den ganzen alten Bund dem fchon im Prolog an⸗
geichlagenen Grundton.
Don dem nun gewonnenen Standpunkte aus wird und auch
die Gruppirung ber Verſe des Prologs etwas anders als bei
Godet erfcheinen. Den V. 5 werden wir mit V. 14, zu
welchen er innerlich gehört, verbinden und, indem wir die zweite
Gruppe mit V. 6 beginnen laffen, dem Zeugnis des Täufers die
dem Sinne des Evangeliſten entjprechende Stellung richtiger ans»
weifen. Die Berfe 11 und 12 werden wir nicht von einander
182 Gobet
ſcheiden, ſondern die mit V. 6 beginnende Gruppe bie B. 13
ausdehnen. Die dritte Gruppe, deren Anfang dazu dient, mn
mehr die große Thatſache, um welche ſich alles dreht, machtvoll
einzufegen (®. 14), reicht bi B. 18. Die eingehende Begrim⸗
dung diefer Dispofition durch die Auslegung des Einzeluen Tann
ih hier nicht geben; doch möchte ich wenigſtens noch einige Worte
hinzufügen. Die beiden legten Gruppen von Gedanken ftehen gleicher:
weife auf dem in V. 1—5 gelegten Grunde, indem der jenen
erften Abfchnitt abfchließende B. 5 in das Geſchichtliche hinüber⸗
weil. Die Abſchnitte B. 6—13 und B. 14—18 haben, gan
nad johanneifcher Art, eine gewiſſe Gleichmäßigleit unter einander.
Ungleid ift der Gang der Entwicklung; gleich aber find wefentlid
die dargelegten Sachen. Dort (B. 6—13) geht die Darftellung,
nachdem zunächſt der Vorläufer mit feinem vorbereitenben Zeug:
niffe feinen richtigen Play gefunden hat, von dem göttlichen Sein
des Logos aus und gelangt, daß ich fo fage, fiufenweife (nv —
doxönerov V. 9, 7v B. 10, 749er V. 11) zu der geſchichtlichen
Erfcheinung und der Wirkung berfelben (B. 11. 12f.); hier
(8. 14ff.) geht die Darftellung umgelehrt von ber wundervollen
Thatſache felbft (VB. 14) aus und gelangt, nachdem auch bier des
Zäufers und feines beglaubigenden Zeugniffes gedacht ift, zu bem
Erfolge ber Offenbarung. Dies ift die echt johanneifche Weife,
bei einem centralen Gedanken zu verweilen und denfelben von ver:
ſchledenen Seiten anzufhauen. Den Parallelismus ber beiden
Chelen finde ih aud) darin, daß wie in V. 11 (ra idıe, oi Icio)
die Hinweifung auf die altteftamentliche Vorbereitung (vgl. V. 17)
vorliegt, jo anderfeits in dem letzten Abfchnitt die Hindeutung auf
den Unglauben nicht fehlt; denn die mit Unrecht an dem miever⸗
ftandenen und gemisbrauchten Geſetze Moſis Hangenden (8. 17;
vgl. 5, 45 u. ä. St.) find eben die idsor, welche den Herrn nidt
angenommen, die Tovdasos des Evangeliums, welche ihn verworfen
baben.
Meine etwas abweichende Anficht von dem Organismus des
Prologs Hindert mich aber nicht, der oben mitgetheilten Godet'⸗
ſchen Dispofition des Evangeliums felbft zuzuftimmen. Ich glaube,
daß ber Verfafjer unter forgfältiger Vermeidung der Mängel, welde
Commentaire sur P’&vangile de Saint Jean. 138
den bis dahin verfuchten Beftimmungen anhaften und in tactvoller
Wlirdigung der von dem Evangeliften ſelbſt gegebenen Fingerzeige
(vgl. insbefondere 12, 37 ff.) den johanneifchen Srundplan, welcher
aber auch in der That ebenjo einfach wie Far und beftimmt her⸗
vorzutreten fcheint, zutreffend nachgewiefen hat. Was ich etwa ver-
miffe, liegt einestheils, in Betreff des Meateriellen, in der nicht
genügenden Hervorhebung des Kritifchen in der Offenbarung bes
Menfchgeworbenen und in der gleichfalls mich nicht befriedigenden
Nachweiſung der Bedeutung, welche der Evangelift der altteftament-
lichen Vorſtufe zuſchreibt; ſodann anderſeits, in Betreff der eigen-
tümlich johanneifchen Gefichtspunfte, unter welche das Materielle
der Geſchichte geftellt wird, vermiffe ich die ausreichende Marfirung
der beiden, durch das Evangelium wie durch den Prolog fich hin⸗
ziehenden Ideen von der Univerfalität des Heils, welches für ben
x00nos beftimmt ift, und von der maßgebenden Zweckbeziehung,
daß die ganze Offenbarung des Herrn auf bie Erwirkung des
Staubens abzielt (vgl. 3. B. 2, 11. 22f. 3, 15. 4, 48ff. 5, 24.
6, 47. 10, 37. 17, 21. 19, 35. 20, 8. 29). Ich fage nicht, |
daß der Verfaſſer an den einzelnen Stellen diefe Momente ver«
kenne ober unterjchäßge, fondern daß er diefelben nicht genügend in
ihrer für die johanneifche Art der evangeliichen Geſchichtſchreibung
charakteriftifchen Bedeutung geltend made. —
Wenn ich zum Schluffe in Betreff der von Bodet gegebenen
Auslegung des Einzelnen mich auf einige Bemerkungen befchränfen
muß, obwol es an Anlaß zu Zweifeln und mitunter (3. B. zu
Joh. 10, 1ff.) zu ziemlich weit veichendem Widerfpruch nicht fehlen
würde, fo fcheint es mir gerathen, ſolche Sachen zur Sprade zu
bringen, die entweder unter einen allgemeineren Gefichtspuntt ges
faßt werben können ober die etwa im Vergleich mit dem in der
erften Auflage Gefagten befonders ſich darbieten, Im allgemeinen
verdient die Godet'ſche Exegeſe das Lob philologifcher Sorgfalt
und Gründlichkeit. Godet ift durchans bereit, die Gefeke der
Sprache anzuerkennen und ihnen die gebürende Folge zu geben;
und er wird in&befondere dieſe Grundlage aller gefunden Exegefe
vor Augen zu haben, wenn er ben überall verglichenen Meyer’ chen
Commentar einmal. al® unentbehrlich bezeichnet. Dem Refpecte vor
754 Godet
‚der philologifchen Akribie Meyers ift es auch auzufchreiben, wenn
wir wiederholt auf die Worte „quoi qu’en dise Meyer‘ ſtoßen;
unfer Verfaſſer will dann jagen, daß bie grundfäglih aud von
ihm anerlannten Sprachgefeße unbillig angewandt, nicht ohne Ueber⸗
fpannung geltend gemacht werden, daß es fi) um eine pedanterie
grammaticale (II, 523) Handelt. Dieſerhalb zuerft möchte id
einige Beifpiele ausheben.
An der Stelle, zu welcher Godet den eben bezeichneten Vor⸗
wurf wider Meyer erhebt (Joh. 6, 67), hat der letztere nach
meiner Ueberzeugung entſchieden Recht. Godet ſelbſt bemerkt, in
vollſter Webereinftimmung mit Meyer, daß die mit gun) eingeleitete
Trage des Herrn eine verneinende Antwort erwarten laſſe. Dies
wollen wir vor allen Dingen fefthalten; wenn es auf weitere Be⸗
lege anlommen könnte, fo würden fie ganz nahe (7, 35. 47 ff.
9, 40) in einiger Fülle zur Hand fein. ‘Dann aber kann die
Trage des Herrn nur den von Meyer befchriebenen Sinn haben
(„doch nicht auch ihr wollet weggehen ?“), und es ift nicht wohl
möglich, mit Godet zu erläutern; „Cette question respire une
mäle energie — il leur ouvre la porte toute grande — Si
cependant vous voulez, vous pouvez aller.“ Der Vorzug der
Meyer’fchen Accurateſſe liegt darin, daß die feine Nuancirung der
Frage richtig gewürdigt wird, während auch Godet die wefentliche
Borausfegung, daß die Jünger nicht weggehen wollen, natürlich
anerkennt. — Ein anderes Beifpiel in Betreff der philologifchen
Accurateſſe ift die Würdigung aoriftifcher Formen. Mehr als ein-
mal macht Godet geltend, dag der Aorift nicht im Sinne eines
Plusguamperfectums zu verftehen fei (I, 393. 400); mit Unrecht
aber will er feloft (II, 365) — quoi qu’en dise Meyer — den
Aorift Euxgrvonoev (Joh. A, 44) als Plusquamperfectum auffafjen.
Unmöglih! Nur in gewiffen nebenfäglihen Stellungen (vgl.
Winer, S. 258) kann der Xorift eine ſolche Modification ge:
winnen, nicht aber in einem Hauptſatze, der — wie 4, 44 ber
Fall ift — eine gefchichtlihe Angabe felbftändig einbringt. _
Um einer anderen philologifchen Raiſon willen muß ich die in
der gegenwärtigen Ausgabe verfuchte Auslegung von 3, 34 nod
zuperfichtlicher für irrig halten, al8 die frühere Erklärung. Gleich
Commentaire sur l’&vangile de Saint Jean. 738
bleibt ſich Godet darin, daß er ein auso fupplirt; neu ift aber
der Verſuch, in so nvevua das Subject zu ddeosv eriennen zu
laſſen. &r überfegt: „car l’Esprit ne [Jui] donne pas avec
mesure “; der Text foll jagen, daß der Geiſt die Worte voll Offen-
barung nicht, wie bei den Propheten, in beſchränkter Weife, ſondern
ohne Maß dem Herrn verleißt. Dreierlei fcheint mir diefer Aus⸗
fegung entgegenzuftehen: das Fehlen des adro im Texte, die
Wortftellung, welche ganz unnatürlich wäre, wenn zo rweöne
Subject fein follte, und das Präſens ddwasv, welches in derjelben
Weife wie das Fehlen des adrw die directe Beziehung der Aus⸗
fage auf Chriftum verwehrt, denn von einer fortlaufenden Mit»
theilung des Geiſtes an Chriftum weiß Johannes fonft nichts.
Ich halte alfo auch Hier an Meyer feit. Derjenige, heißt es im
Texte, welchen Gott gefandt hat, redet die Worte Gottes; und er
vermag dies, weil Gott den Geift, d. 5. die Bedingung der Fähig-
feit, offenbarungsvolle Worte Gottes zu reden, nicht nach irgend
einem Maße gibt, fondern bei feiner Geiftesmittheilung unbefchränft
ift, fo daß er alfo, wie V. 35 auch gefagt ift, dem geliebten Sohne
Ichlechthin alles, auch bie unbegrenzte Fülle des Geiftes, geben
fann, und fomit der Sohn als das Licht und Leben ber Melt,
als die Wahrheit felbft, als die volllommene Offenbarung Gottes
dafteht.
Ein philologifches Bedenken habe ich auch gegen die Godet'ſche
Auffeffung der Stelle 17, 25. Hier follen die beiden xad einander
entfprechenb zwei Glieder eines Gegenſatzes einführen: die Welt
einerfeits, die Jünger anderfeits. Mit Unrecht beruft ſich Godet
biebei auf Stellen wie 6, 36. 15, 24; denn während im allge
meinen ein berartiger Gebrauch des doppelten xufF eines Beleges
nicht bedarf, erfcheint derjelbe 17, 25 deshalb nicht ftattnehmig,
weil das erſte Sakglied (za a xdopos xz4.) dur den fofort
eintretenden, mit da marlirten Gegenfag von dem nun erit fol«
genden Satzgliede (xcèà odros xwA.) gefchieden wird. Hienad iſt
der Bau des ganzen Satzes vielmehr diefer. Zuerſt wird nad
drücklich (xaf, und doch), wie mit fchmerzlicher Verwunberung, der
Unglaube ber Welt ausgefagt; dem tritt fofort gegenüber das zu⸗
verfichtliche Selbftzeugnis des Herrn (ich aber Babe dich erkannt),
156 Godet
und hieran ſchließt fi) (xaF) das Zeugnis über die Jünger, welche
den Herrn erlannt haben, und die weitere, wiederum mit xad an-
gefügte Ausſage, daß der Herr, feiner Sendung feitens des Vaters
gemäß, ihnen den Namen des Vaters kund gemacht hat und ferner
fund machen will. Diefe Anfügungen mit xa/, obne Markirung
des inneren Verhältnifjes, in welche nur einmal der leicht ſich dar-
bietende Gegenfag (yo da xra.) eintritt, ift echt. johanneiſch.
Die Godet'ſche Ordnung erfcheint mir zu künſtlich. —
Eine wejentliche Verbeſſerung hat der Verfaſſer feiner Aus⸗
fegung von “oh. 1, 5 gegeben. Während er das padsves früher
auf die in der Welt fortwährende, im Gewiffen der Menſchen
(Röm. 2, 14f.) fich bezeugende Wirkfamleit des Logos vor feiner
Dienfchwerdung bezog, verfteht er jetzt das Präſens (vgl. 10h. 2, 8)
von der dem Evangeliften gegenwärtigen Wirklichleit der Logos⸗
offenbarung. In diefer Auffaffung, welche auch durch die im
Texte fofort angefchloffene gefchichtliche Bezeichnung des der vor-
bandenen Offenbarung entgegengetretenen Unglaubens beftätigt wird
(8. 5), ftimme ich dem Verfaſſer volifommen bei, aljo auch in
der entjchiedenen Polemik gegen Meyer, welder an die fort«
währende Offenbarung des Logos, vor und nad) der Menfchwerbung
denft. Dagegen muß ih als der johanneifhen Anſchauungsweiſe
nicht entfprehend die Soderfche Erklärung von Joh. 5, 27 in
Anſpruch nehmen. Deshalb, erläutert er, fei dem Menſchenſohne
da8 Gericht übergeben, weil „le jugement de I’humanite doit
etre un hommage rendu & la saintet& de Dieu, un vrai acte
d’adoration, un culte. Pour cela, il faut que cet acte parte
du sein de l'humanité elle-m&me. La r¶tion doit &tre
offerte par l’&tre qui a commis l’outrage. — Le jugement
est, pour toute la portion pecheresse de l'humanité, la re&-
paration forcee due par celui qui n’a pas voulu s’appröpier
par la foi la libre r¶tion de l'expiation.“ — Uber in diefem
Sinne könnte doch nur das menfchlihe Gerichtetwerden, nicht das
menschliche, d. 5. von dem Menſchenſohne auszuführende, Richten
angefchaut werden, falls überhaupt bei Johannes ein Anhalt für
eine derartige Vorſtellung fih fünde. — Indem ich von einer
weiteren Erörterung des Einzelnen abfehe, kann id nur mit ber
“ Commentaire sur l'érangile de Saint Jean. 187
wiederholten Bezeugung fehließen, dag das Studium des Gobet’-
fchen Werkes mid mit der freudigften Dankbarkeit erfüllt bat.
Hannover.
D. Fr. Düfterdiek.
2.
Gerichte Aegyptens unter den Pharaonen. Nach ven
Dentmälern bearbeitet von Dr. Heinrich Brugſch⸗Bey.
Leipzig, 3. C. Hinrichs'ſche Buchhandlung, 1877.
XI & 818 ©.
6. Mafpero’s Gefchichte der morgenländifchen Völker im
Altertum. Nach der zweiten Auflage des Originals
und unter Mitwirkung des Verfaffers überfett von
Dr. Richard Pietſchmaun. Leipzig, Wilhelm Enger
mann, 1877. VIII & 644 ©.
Diufterarbeiten der Reconftruction des morgenlänbifchen Alter»
tums aus den glüclichen Forſchungen und Entdedlungen der Gegen-
wart auf den Zrümmerfeldern vom Nil bis zum Tigris treten
uns in den genannten Werken entgegen. Das eine ift bie Frucht
der langjährigen Autopfie eines weltberühmten Aegpptologen in den
Urkunden, Dentmälern und Dertlichleiten des Landes feines Stu⸗
diums. Das andere ift eine Sammlung und Sichtung nicht ſowol
der eigenen als der fremden Unterjuchungsrefultate der Neuzeit auf
fämtlihen Gebieten der morgenländifchen Altertumsfunde zu einem
Moſaikbilde der Univerfalgefchichte des weitlichen Orients von dem
jugendlichen, aber nicht&deftoweniger grundgelehrten Nachfolger eines
Jean François Ehampollion und Bicomte Emmanuel de
Rougeauf dem ägyptologiſchen Lehrftuhl am College de France,
für die deutfchen Leferkreife unter Mitwirkung des Verfaffers herge⸗
rihtet und mit den Literarifchen Stoff ergänzenden Anmerkungen
bereichert von Dr. Rihard Pietfhmann, der feine Befähigung
zu einem felbjtändigen Urtheil in Sachen der orientalischen Archäo⸗
Theol. Stud. Jahrg. 1878. 48
138 Brugfch, Geſchichte Aegyptens unter den Pharaonen.
logie durch feinen „Herme® Trismegiſtos“ vor zwei “Jahren er-
wieſen bat. Beide Werke find mit dem Segen de® „nonum pre-
matur in annum“ gejalbt, denn dem von Brugſch ift eine
frangöfifeje „‚ Histoire d'Egypte“ erftmals vor bald zwanzig, und
wieder vor zwei Fahren vorausgegangen, und dem von Mafpero
eine „Histoire ancienne des peuples de l’Orient‘ in eben-
fall® zwei Ausgaben. Sie allfeitig zu würdigen liegt außer den
Zielen diefer theologifchen Zeitfchrift und außer dem wiſſenſchaft⸗
lichen Bereiche ihres unterzeichneten Mitarbeiters; aber ihre Be-
ziehungen zu der Geographie, Oeſchichte und Religion des
A. T. darzulegen ifl beider Pflicht.
Beginnen wir mit der Geographie, fo zieht Mafpero,
defien Eomtbinationen felbftverjtändlih Böker hinauf und weiter
hinausreichen, als die des Speciafiften Brugſch, fon bie bib-
liſche Wiege der Menſchheit, das Paradies, in den Kreis feiner
Betrachtuhg herein. Er fieht in deffen Topographie eine in ihrem
Kern Hiftorifche, aber in ihrer Ausgeſtaltung durch den geograpfifchen
Horizont der fpäteren Helmat des Votkes Istael alterirte Er-
innerung an die einftige den Völkern auf der ungeheuren Länder⸗
ftrede vom Kaukaſus bis zum erythrätfcheri und vom Indus bie
zum mittelländifchen leere gemeinfame Urheimat auf der Hed-
ebene Bamir, ber Verbindungsfette des Belurdaghs mit dem
Himalaja und dem Ouellgebiete de8 Drud und Jarartes,
die nach Notbdoften, und ded Elymandrus (Helmend) und
Indus, die nah Süden abfließen. Was uns Bier als Ergebnis
ber mobernen Forfchung geboten wird, iſt wejentlih deutfches
Gut, ſignirt mit den Namen Ewald, Laſſen, Windiſchmann
md Spiegel und nad ihnen von Renan abeptirt. — Wenden
wir uns vom Baradies der Bölkertafel zu, fo gewährt ums
Maſpero für deren Würdigung und Erflärung nur eine bürftige
Ausbente. In Betreff des erfteren Punktes verdächtigt er nämlich
ihten Werth durch eine gelegentliche Hinweiſung anf den ih ihr ba
und dort zu Tage treteitden Widerjpruch zwifchen Sprache und
Raſſe, aber ift denn die Unmöglichkeit eines Spracentaufches mit
Wiſemann gegen einen Max Müller fchon bewiefen? Sm
Betreff des letzteren Punktes befpricht er unter den Rindern Ja⸗
Maſpero, Gefchichte der morgenländ. Bäfter im Altertum. 789
phets nur Thubal und Meſech, in denen er mit Eberhard
Schrader die Tybarener und Mofcher ber Griechen und bie
„Tublai“ md „Muskai“ („Zabali* und „Must“ fchreibt
E. Schradernod in K. m. AT.) wiederfindet, deren erftere er an
den norbweftlichen Abhang der armenifchen Berge und in das Strom«
gebiet de3 Iris bis an das Schwarze Meer verſetzt, wührend er
die letzteren an den beiden Ufern des oberen Euphrats haufen
und „bis an ben Halya“ (mas jedoch wegen ihrer Gründungen
Mazala und Eomana „bis füblich über den Oberlauf des Ha⸗
[y8 hinaus“. heißen follte) reichen läßt. So kommt der alte
Bochart wieder zu Ehren! Wer find nun aber bie den Mojchern
angefchloffenen Thiras? ine directe Antwort finden wir hier⸗
auf weder bei Mafpero, noch bei dem hier erſtmals eine bib-
liſche Frage ftreifenden Brugſch, wol aber eine indirecte in den
„Zurfha”, wie der erftere fchreibt, oder „Zurfha”, „Tuirſcha“
und „Tuliſcha“, wie der legtere will, den mit Libyern ver-
bundenen Angreifern Menephtahs II. und Ramfes’ III. auf deu
ägpptifchen Denkmälern. Maſpero deutet den Namen auf bie
Tyrſener oder Tyrrhener an der Weſtküſte Sleinafiens,
Brugfh auf „Kaurer" und „Tauros“. Beide Deutungen
laſſen fich fprachli trog der Rüdfiht auf by und ayım einer-
und wm = ara = an anderfelts mit Doym nicht combinirem,
fondern nur die Maſpero's, weil die Endfilbe an Tauros nur
griechiſche Bildungsſilbe if. Unter den Enten Japhets übergehen
beide Autoren die Kinder Gomers ganz und von deu Rindern Ja⸗
vans Eliſa; Tharfis aber deutet Mafpero auf die phönicifche
Kolonie Tarteffus in Spanien, wobei er jedoch dieſem Namen
mit Kithim d. i. Kittion auf Cypern, da8 Brugſch In den
„Kitti* der Agpptiichen Monnmente wiederfindet, ben Collectivbe⸗
griff „eines fern und an der See gelegenen Landes” beilegt. Die
Dodanim nehmen wir mit Knobel gegen Dillmanns Rhodus
für die Darbaner im Nordweſten Kleinaftens. Sie treten als
„Darbani* oder „Dandani“ in den Kriegsberichten des Ramſes⸗
Sejoftris auf, werden aber von Brugſch im Unterfchled ven
Mafpero fonderbarerweife mit ben Dardanern in Kurdiſtan bei
Serobot I, 189 zufammengeftellt. Die vier Kinder Hams finden
48*
140 Brugſch, Geſchichte Aegyptens unter den Pharaonen.
bei beiden Autoren alle eingehende Berücfichtigung, wir können aber
nur die zwei intereffanteften in da8 Auge faſſen: Mizraim mit
feinen Descendenten und Put. Den eriteren mit wenig Ber
änderung den Aſſyrern, Berfern, Arabern und Kurden mit den
Hebräern gemeinfamen Namen leitet Brugfch von dem ägpptifchen,
übrigens nicht Häufig vorfommenden, Wechfelnamen des Gaues von
Zanis „Ta mazor“ ab. Diefer foll „das befeftigte Land“ be
deuten und ift alſo Har und deutlih mit dem hebräifchen Arsy
identifch, von welchem Knobel und Ebers Mizraim ableiten.
Bon ben Descendenten Mizraims find die Ludim nah Ma—
jpero mit-Ebers die „Rutu“ oder „Lutu“, wie die ägyptiſchen
Autochthonen auf den ägyptischen Monumenten heißen; die Ana:
nim nah Mafpero und Brugfch mit Ebers bie „Anama“
oder „Einwanderer“ vom großen femitifchen Wolle der „Amu“
(d. 5. bei femitifcher Etymologie „Voll“, bei ägyptifcher „Hirten“)
in den Marſchländern am bufolifhen Niların; die Lehabim, die
Libyer; die Naphtuhim nah Mafpero mit Knobel und
Ebers „bie Bewohner bes Ptahgebiets“, deſſen Mittelpunkt Mem⸗
phis war, nah Brugſch aber die „Na⸗Pa⸗Thuhi“, d. 5. „die
vom Lande Thuhi“, die weftlichen Nachbarn ber Aegyhpter an der
Norblüfte des afritanifchen Seftlandes; die Pathrufim, ägyptifch
entweder nah Mafpero und Brugſch „Pastosres“, „das Süd-
land“ (von Memphis bis zum erften Katarakt), oder nad) Ebers
„Pa⸗Hathor“, „die Hathorlandjchaft“ oder die Thebais, bei Na-
hum No-Amon. Ueber die Kasluchim lafien ung Mafpero
und Brugfch ohne Auffchluß, wir werden in ihnen eben bis auf
weiteres mit Ebers nah Knobel und Dillmann bie Ein
wohner von Kaftotis zwifchen Aegypten und Philiſtäa zu fuchen
haben. Die Caphthorim will auh Mafpero mit den meiften
Auslegern dem Zwifchenfag von der Abftammung der Philifter
gegen die Mafora hier und 1Chron. 1, 12 vorangeftellt wiffen.
Diefe Verſchiebung wird aber unnöthig, wenn man bie Caphthorim
“über Kaſiotis in das fpätere Philiftän einwandern läßt. Wer find
nun die Saphthorim? Auch nah Mafpero noch die Kreter,
indem er zwar Caphtor mit Cypern etymologifch identificirt, aber
den Namen für einen infularen Collectionamen von beliebiger Ueber⸗
Maſpero, Gefchichte der morgenländ. Bölfer im Altertum. 741
tragbarkeit erflärt. Wahrfcheinlicher muthet einen freilich die An-
fiht von Ebers an, ber die Caphthorim auf Grund des Hiero-
glyphennamens „Kaf, Kaft” und „Seft”zu phöniciſchen Anfieblern
des nordöftlihen Delta und alfo zu weitlihen Nachbarn ber Cas⸗
luhim madt. Denſelben Wohnſitz weift ihnen Dietrich an, der
ihrem Namen das imaginäre Etymon „Kah-Pet-Hor*, d. i. „Land⸗
ftrih der des Hor“ unterfchtebt. Wenden wir uns zu But, fo
erfennen Mafpero und Brugfc mit fämtlichen Aegyptologen
gegen Dillmann, welder noch an Knobels Libyern fefthält, in
ihm die „Punt“ der ägpptifchen Monumente, welche Arabien und
das Somaliland repräfentiren. Von ben Kindern Sems fcheint
den Arphachſad audi Mafpero mit Arrapaditis — Albaq zu
identificiren, für die Erklärung des Namens aber acceptirt er die
auf das Arabifche gebante Weberfegung Schlözers mit „Chal-
düergrenze”. Bei Lud Hält er die Kombination mit den Lydiern
nicht für ficher, jedoch ohne ihr eine andere Plaufibilität zu fub-
ftitutren. Darf man an die alten, in ber Gefchichte der achtzehnten
äghptifchen Dynaftie eine Rolle fpielenden Bewohner Paläftina’s
und Syriens, die „Rutennu“ oder „Rutennu“ der Monumente
erinnern? Wenn fie auch fchon vor der Einwanderung ber
Israeliten in Paläftina von ben „Chita“ oder Hethitern vers
drängt worden fein mögen, ihr Name wird doch noch Tange in der‘
biftorifchen Erinnerung gelebt haben. — Unter den entfernteren Des⸗
cendenten Sems darf das vielbefprochene Ophir unferer Beach⸗
“tung nicht entgehen. Man bat es in Aſien, und zwar in Arabien,
Perfien, Indien und Java, in Afrika, und zwar auf beffen Oſt⸗
feite, ja fogar in Amerika, nämlich in Peru, geſucht; für die
afrifanifche Küfte ſprechen fi Mafpero und fein Redactor
Bietfhmann aus. Weber die Städte in der Epijode vom Neid)
Nimrods liefert und Maſpero nur magere, über das bis jekt
Bekannte und Erfannte nicht Hinausreichende Notizen: Ninive
und Calah find allbefannt, Erech macht er zu Warka, feinen
keilinſchriftlichen Namen fchreibt er „Uruh*, E. Schrader „Ar-
fu“; Akkad weiß er fo wenig als bdiefer zu recognoßciren;
Chalneh, keilinſchriftlich ‚„Kalanneh“, combinirt auch er mit
Nopher⸗Niffer und Rechoboth⸗Ir und Reſen erwähnt er gar
712 Srugſch, Geſchichte Yeggptens unter den Phnraomen.
weht. — Die Heimat Abrahams, Ur⸗Chasdim, ift für Ma-
fpero mit allen Affgriologen Mugheir auf dem rechten Ufer des
unteren Eupbrat. Eine Localifirung, welche zuerſt Eupolemus
mit feiner babylonifchen Heimatftadt Abrahams, Kamarine, gegeben
hat. Der Zufammenhang dieſes Städtenamens mit pe „Mond*,
den men früber irrtümlich für bie Sdentität Urs mit Warka
durch deſſen ummögliche Kombination mit rn verwerigen wollte,
läßt ihn Lediglich als die arabiſch⸗griechiſche Ueberſetzung von Ur
ericheiuen, da uru im Affpriichen „Mod“ bedeutet. Gegen biefe
füblihe Ortobeſtimmung hat zuerft Dillmasn und nad ihm
Nuss! Einfpradge erhoben. Iſt aber die Differenz der Zuſammen⸗
ſetzung und der Einfachheit zwifchen dem hebräifchen unb affyrijchen
Namen eine wirkliche Juftanz gegen die Ydentität von Ur⸗Chaedim
und Ur? Wird das Stillfegweigen bed - Buche der Urfprünge von
einer Arphachfadwanderung nad) Babylenien nicht vielleicht, wie
3. B. Dunder will, durch Arphachſads Sohn, Selah, wenig
ſtens andeutungsweife gebrochen? Warum jollte ferner ein Hirten»
zug, der vom unteren Euphrat nad Paläſtina wollte, nicht den
Weg über den Enphrat hinüber und an beiten Linfem Ufer hinauf
bis ungefähr zur Furth von Thapſakus und von da nad
Thadmor („Zur Mede*) und Damaéëkus, oder bis zur Furth
von Karchemis, db. i. nah Mafpero nidt Circefium, fondern
Mabug oder Hier-apotis, und von da nach Hamath und Damaskus,
gewählt haben können, um fo viel als möglich die Wüfte zu ver-
meiden? Muß fodaın Haran ftatt bes nur eine bis zwei Tag⸗
reifen von Thapſakus entfernten Karrhä gerade das armenifche
Arran oder Aranieh Ewalds fein? Dillmann zieht ja
das ſelbſt in Zweifel! Wo ift endlich der Beweis dafür, daß Ur:
Chasdim eine Landſchaft und Leine Stabt war, und daß, wenn
e8 eine Stadt war, diefe von dem fübbabylonifhen Ur ver:
Thieden war? Soll doch auch Fein anderer von den Ur Tau
tenden Ortsnamen auf das Ur Abrahams paſſen! Neueſtens bat
es nun Halevy in die Gegend von Damaskus verlegen wollen,
aber doch wol nicht wegen des basmascenifhen Königtume
Abrahams bei Nilolaus von Damaskus und Yuftin? Diefe
Mafpero, Geſchichte der miorgenfänd. Völler im Altertum. 148
Tradition ift wol nicht mehr als der mythifche Reflex der Ber»
bindung des Erbſohnes Eliefer mit Damaskus durch Wortfpiel
oder Gloſſe in Gen. 15, 2, welche wenn fie einen Biftorischen
Gehalt hat, direct gegen einen Connex ber abrahamifdhen Familie
mit Damaskus fpriht. — Gehen wir mit Abraham über bie
Grenze des gelobten Landes, fo iſt Mafpero mit der Mittheilung
von Keilfehrift » und Hieroglyphennamen aus der Geographie
Paläftina’s fehr fparfam und bedient fich meift der biblifchen.
Für die erfteren find wir eben au &. Schrader, für die leßteren
an Brugfch gewieſen, der und vom, Hermon bis zum Bache Acgyp-
tens mit einer Reihe geographifcher Hieroglypheunamen verforgt,
deren Fdentification mit biblijchen freilich mehr als eines Frage⸗
zeichen® bedarf. Heben wir die wichtigften aus, fo begegnen uns
im oberften Norden rechts und links vom „Jardanu“ oder Jor—
dan „Luis“ d. i. Laiſch, „Hazor“ d. i. Hazor, „Akſep“ d. i.
Achſaph; weiter füdlih „Maroma“ und „Kinnarut“, die alten
Täuferinnen ber Seen Meromund Öenezareth, dann „Dapur im
Lande der Amoriter“, d. i. die Fefte auf dem Berg Thabor, zu
der vom Welten her der Carmel vielleicht als „Keriman“, wie
Brugſch fchreibt, oder als „Karmana“, wie Mafpero will, herüber:
ſieht; tiefer, ſüdweſtlich liegt das jchlachtenberühmte Megiddo ale
„Maletha“ oder „Makethu“, um vieles füdlicher das alte Gibeon
als „Debeana”; und dann Jeruſalem? Nein, Jeruſalem findet
fich nirgends! Ein „Schalama“ kommt wol vor, allein es ſoll
Salem oder Saleim füblih von Schthopolis fein. Doc, wir
eilen der Grenze zu an „Alan“ d. i. Eglon und „Gazatu“ d. i.
das philiftäifche Gaza vorüber nah „Harkaro“ oder „Harinkola“
oder „Abſakabu“, drei angebliche Namen für Rhinoforura —
Jenſeits der Grenze intereffiren uns vor allen Dingen die Locali-
täten der Geſchichte Joſephs und des Auszugs aus Aegyp—
ten. Zu den erfteren gehört mit ihrem Obelisfen bei dem Dorf
Matarieh als ihrem einzigen noch fichtbaren Dentzeichen bie
Heimatftabt feiner ägyptifchen Gattin, das alte „Anu“, On oder
Heliopolis, um einen ganzen Breitegrad nördlicher gelegen, als
der nachmalige Wohnplag feines Vaters Jakob zwiichen dem ſe⸗
bennytifchen Nilarm und der Wüfte; ferner das Land Goſen, hierogly-
141 Brugſch, Geſchichte Aegyptens unter den Pharaonen.
phifch „Kefem“, welchem On von den Septuaginta und der fop-
tischen Bibelüberfegung einverleibt wird. Zu den letteren gehören
bie Arbeits- und Lagerftationen der Israeliten bis zum
Schilfmeer. Die einen find die are miskenoth, die „Schak-
häuſer“ nach Luther oder „Vorratheftädte* nach der Tandläufigen
interpretation, welde jedoh Brugfh nah dem Vorgang ©.
Birds mit Nüdfiht auf das ägyptifhe mesket, meskeneth,
„zempel, Heiligtum“, in „Zempeljtäbte“ verwandeln möchte, Pi-
thbom und Ramſes. Das erftere hieß äghptiſch „Pistum“, „die
Stadt des [Sonnengottes] Tum“, und lag nah Brugſch im Nomos
Sethroites, nah Ebers aber fühöftlih von Bubaſtis auf der
Trümmerftätte Tel e8-Soliman, nad der gewöhnlichen Meinung
jeboh auf der von Telsel-Kebir. Das Tettere hieß äguptifh „Bi:
ramſes“, „die Stadt des Ramſes“, weil fie Ramfes IL. aus ihren
Ruinen wieder aufgebaut hatte, und war nah Brugſch, Ebers
und Mafpero mit Zoan, ägyptiſch „Ze' an“ und Zo’an, grie-
chiſch Tanis, identiſch. Die anderen bilden gegenwärtig eine
Streitfrage zwifhen Brugfch und Ebers. Brugſch bat näm-
(ih geftügt auf den Papyrusbericht eines Beamten in Ramſes aus
dem mofaifchen Zeitalter, welcher auf der Verfolgung zweier ent-
laufenen Sklaven feine erjte Tagreife bis Suchoth machte, von
da in zwei Tagen nah Chetam fam, wo er erfuhr, dab bie
Flüchtlinge fchon die „Schanzmaner, nördlih von Migdol des
Königs Seti⸗Menephtha“ überftiegen hätten, für den Auszug der
Yeraeliten die Marfchroute von Ramſes über Daphnä zu ber
ägpptifchen Heerſtraße nach Paläjtina zwifchen dem Sirbonisfee
und Mittelmeer bis zu dem Berg Kaſios oder Baal-Zephon
und über deſſen Ruͤcken durch den See gegen Süden zuerft auf
der internationalen Drientaliftenverfammlung zu London 1874 vor:
gefchlagen und in feinem neueften Werke beibehalten, wogegen
Ebers die fraglichen Ortslagen mehr gegen Süden verfdiebt,
fo daß er Suchoth in dem Landftrih zwifchen Birket-Balah
und Timſah ſucht und den Zug hinter Suchoth fon vor Etham,
das er dftlih vom Südende des Birket-Balah an die Grenzmauer
verlegt, gegen Süden ablenken und dann weftlich an den Bitter:
jeen vorüber dur den Golf von Suez gehen läßt, wobei er
Mafpero, Geſchichte der morgenländ. Völker im Altertum. 745
Pihahiroth, ftatt e8 mit Brugfch für den „Eingang zu ben
Abgründen“ oder „Barathra” des Sirbonisfer’8 zu erflären, her-
kömmlichermaßen mit dem Kaftell Adſchrud identifichrt, Baal»
Zephon auf dem Atälagebirge und Migdol ftatt bei Be-
Iufiumam Südendeder Bitterfeen fucht, — Eonjecturen, für
die er freilich den Beweis fchuldig bleibt und den Vorwurf des
Widerfpruchs mit fich felbft fich gefallen Laffen muß, daß er
einerſeits ausdrüdlich das biblifche Namfes mit Zoan-Tanie-San
identificire und anderfeits bei feiner Wuszugsrichtung doch
deſſen Verſchiedenheit von Zoan und Einerleiheit mit dem
viel füdlicheren Ramſes⸗Maſchuta vorausfege, wozu ihn freis
Lich eigentlich fchon feine Localifirung von Pithom zwingt. Jeden
Falls hat aber auch die Brugſch'ſche Zugrichtung ſchwere Bedenken
gegen fi, welche Riehm im Artikel , Hahiroth“ in feinem „Hand⸗
wörterbuch des biblischen Altertums für gebildete Leſer“ aufgezeigt
hat. Die ſchwerſten find die biblifche Einfchränkung des Namens
„Schilfmeer“ auf den älanitifchen Meerbufen und den Golf von
Suez, die Wendung des Zuges nicht Hinter, fondern vor Etham,
alſo nicht erft am Berg Kaſios, und die Unerflärbarteit ber
Meinung des Pharao, die Israeliten hätten fich im Lande verirrt
und feien in der Wüfte eingefchloffen, bei ihrem Verbleiben auf der
Heerftraße bis an die Landesgrenze. Einwendungen, denen ber Re⸗
ferent noch zwei Fragen beifügen möchte. Die eine lautet mit
Rüdficht auf den Mebergang bei Daphnä über den Waſſerarm zwifchen
dem Menzahleh-See und dem Birket-Balah: ift denn das Volt
Israel zweimal durch das Waffer gegangen? Die andere mit
Ruckſicht auf die ägyptifchen Feftungen zur Deckung der Heerftraße:
warum fchweigt die Bibel von den unvermeidlichen Zufammenftößen
mit deren Befagungen, wenn die Ssraeliten auf der gewöhnlichen
Heerftraße vorüberzogen ?
Gehen wir von der Geographie zu der Gefchichte über, fo
beginnen nah Mafpero die Berührungspunlte des A. T.'s mit
den profanen Traditionen ſchon in dem Schöpfungsberidt.
Diefer foll nämlich nur der Abklatſch der „turanifchen“ Priefter-
fage von der Ausgeburt aller göttlichen und irdifchen Rebensgeftalten
aus dem Urwaſſer „MummusTiamat“ (zu deutſch „Meer-" ober
146 Brugfe, Geſchichte Hegyptens unter den Pharaouen
„Abgrundmutter“) unter Weglaffung ber Borgänge und Kämpfe
im &ötterleben jein, deren legte Schatten übrigens Bietfhmann
noch im Behemoth und Keviathau des Buches Hiob uud des Thal⸗
mud erfennen will. Dasfelbe fol bei der Sintflut und Sprach—
verwirrung der Fall fein. Hier findet der Referent zu allererft
das Prädicat „turaniſch“ der chaldäiſchen Urfagen unter dem Ni:
vean der neneften Forſchungsſtufe, da dasfelbe nad) dem competenten
Urtheil A. v. Gutſchmids miwdeftene den Spott Mephiſto's anf
den prächtigen Erfag des Begriffs duch das Wort eremplificirt
und nad den Unterfuchungen Sachau's und Halevy's fogar in
das Gegentheil feiner Bedeutung bei den Affgriologen umfchlägt,
indem e8 ftatt einer uralifch-altaifchen vielmehr eine ſemitiſche
Volks⸗ und Sprachqualität anzuzeigen feheint, da das Turha“ bes
Zendaveſta wahrſcheinlich Syrien bedeutet. Sodann vermag er
ein Recht der Verwerthung dieſer Sagen zu weit reichenden Schlüſſen
in fo lange nicht anzuerkennen, al® die Lefung und Deutung der fie
enthaktenden Keilfchriftdocumente noch fo unficher ift, wie heute.
Aber auh im Fall der unmiderfprechlichen Zuperläßigleit ihrer
interpretation könnte er um der Details willen in der gegenfeitigen
Webereinftimmung und Abweichung die Teilinfhriftlide Tradition
nicht ald Quelle und bie biblifche nicht al8 deren Abwaſſer
gelten Laffen, fondern beide nur als Parallelen von ungleicher Rein
heit. — Die erfte biblifhe Perfon, weldhe bei Mafpero das
geſchichtliche Intereſſe in Anſpruch nimmt, it Nimrod. Er
macht ihn zum Doppelgänger Izdubars, einer Heraklesgeſtalt
ber chaldäifchen Urfage, bei deren Namen Pietſchmann vorſichtig
bie Unficherheit der Lefung vormerkt. Diefe Smith’sche Fdenti-
fication ift von Oppert in den „Göttinger gelehrten Anzeigen“
1876, ©. 875 ff. mit beachtensmerthen Einwendungen angegriffen
worden. Ausgehend von der Vielſeitigkeit IPubars, die dem
FJäger und Städtebauer Nimrod lediglich abgeht, durch welchen
Mangel Letzterer wefentlich ale eine hiftorifche und nicht mytho⸗
logifhe Figur charakterifirt wird, verwirft Oppert zunächſt
das Smith'ſche tertium comparationis des Zuges Nimrods nad)
Aſſur und feiner dortigen Gründung Ninive's, indem er in Gen.
10, 11 Aſſur als Subjectsnominativmit den Sceptuaginte,
Maſpero, Geſchichte der morgeländ. Bälle: im Altertum. 747
Vulgata, Luther, Perizonius, Michgelis, Schumann
und dv. Bohlen gegen die es als Objectsaccuſativ nehmenden
Onkelos, Bodhart, Elericus, Rojenmüller, Tuch und
E. Schrader auffaßt. Soedann premirt er bie chronologifche
Differenz zwifchen dem Auftreten Nimrods nad, und Izdnbars,
der keineswegs als ein Nachlomme des „Adrahaſis“ oder Xi-
ſuthros bei Beroſus erfeine, vor der Sintflut. Endlich glaubt
er den erfteren, geftügt auf Mid. 5, 5 in eine Berjonification
eines alten erobernden Sügervolles im unteren Euphratgebiet ein»
ſchließlich Elams und den feteren in Alorus, ben erften Menfchen
bei Berofus, verwandeln zu dürfen. Ohne Oppert in diefer Cha-
rafterifirnng Nimrods beizuftimmen, bält es der Referent aber
gleihwol für bedenklich, daß Mafpero denfelben trog feiner Ber-
gleihung mit Izdubar doch für eine Hiftorifege, freilich ganz
alfein aus ber allgemeinen Vergeſſenheit feiner Umgebung gerettete
Figur anſieht. Das gänzlihe Fehlen des Namens in der alt-
aſſyriſchen Sage und Geſchichte erweckt nämlich in Verbindung mit
der Merkwürdigleit, daß der Name „Nimrod“ erft um 1000 v. Ehr.
in einer Hieroglypheninfchrift bei Brugſch als der des afiy-
riſchen Großkönigs und Vaters des Gründers der XXI. entſchie⸗
den aſſyriſche Namen enthaltenden Dynaſtie „Naromath“
auftaucht, einen böjen Argwohn gegen das Alter und damit gegen
die Gefchichtlichkeit des bibliſchen Nimrod der Urzeit. — Abra⸗
ham fieht er ebeufo für den wirklichen Führer desjenigen heile
der unter dem ſagenhaften Thara aus dem füdlichen Chaldän fluß-
aufwärts nah Haran gezogenen Semitenftämme an, weldher über
den Euphrat gieng, Syrien durchzog und bei Hebron ſich feſtſetzte.
Die Gefchichtlichleit der Epifode Gen. 14 läßt er durd die keil⸗
ihriftlihen Kuduriden in Elam bezeugt fein. — Bei Jakob⸗
Israel reihen fih endlich Mafpero und Brugfch die Hänte.
Letzterer erkennt fogar in deffen Gefhichte den Punkt, wo die-ägyp-
tiſchen Monumente zum erſten Male biblische Perfonen und Bacten
hronologifch firiren. Auf einem in Tanis gefundenen Dent-
ftein aus der Zeit des Pharao Ramjes LI. ift nämlich ale Datum
der Abfaffung der Inſchrift das Jahr 400 des Hykſoskönigs Nub
angegeben. Nun fegt Brugſch, welcher nach dem Vorgang des
748 Brugſch, Gefchichte Aegyptens unter deu Pharaonen.
Schweden Lieblein in der chronologifchen Verwerthung überlieferter
Gefchlechterreihen die Stammtafel eines ägyptiſchen Hofbaumeifters
auf den Felswänden von Hammamat, Namens „Ehnumsabsra “,
der nah ©. 37 im 27., nad ©. 665 aber im 28. und 29. Regie:
rungsjahr des Darius Hyftaspis, alfo in den Jahren 493 bis
490 vd. Chr., gelebt hat, zum Edftein feiner Königsrechnung macht
und nun bie Regierungszeiten der Pharaonen der Tafel von Abydos
nach der Generationenrechnung Herodots von 490 v. Chr. an rück⸗
wärts je zu 33 fahren berechnet, als wahrfcheinlichite mittlere
Durchſchnittszahl für die Regierung Ramſes' II. 1350 v. Chr. an
und bringt fo die Herrfchaft Nubs, und zwar wahrſcheinlich deren
Anfang, auf 1350 +400 = 1750 v. Ehr., — eine Jahrszahl,
welche zum Datum der Einwanderung Jakobs in’ Aegypten und
der dortigen Amtsthätigleit Yofephs wird, wenn man mit
Rückſicht auf die heutzutage faft allgemeine Annahme de Aus:
zugs aus Aegypten nad dem Tode Ramfes’ II. unter feinem
Nachfolger Menephtha II. von ungefähr 1300 v. Chr. nad
2Mof. 12, 40 um 430 Jahre zurückrechnet. Beifall vermag
jedoch der Referent, der die Sache der biblifhen Zahlen fo lange
ein Lauth und Oppert ebenfalls auf Grund der Denkmäler an
1490 und 1493 v. Chr. für den Auszug fefthalten, nicht
verloren geben kann, diefem Calcul keinen zu zollen, da er nur
den Schein monumentaler Objectivität bat, in der That aber auf
dem immerhin fubjectiven, der gefchichtlihen Sicherheit er-
mangelnden Anja ber Regierungszeit Ramſes' II!) ruht und
zu der Verwerfung des von Oppert anerfannten Datums des Tem:
pelbaus in 1Kön. 6, 1 zwingt, das doch an und für ſich ebenjo
viel Glauben verdient, als die 430 Jahre des Aufenthalts der Is⸗
raeliten in Aegypten. Mag e8 fich übrigens mit der Zeitrechnungs:
frage bier verhalten, wie es will, barin find jeden Falls Brugſch
1) Brugſch bemerkt ſelbſt, „daß die hundertjährige Dauer von drei auf-
einander folgenden Regierungen vielmehr unter al® über ber Wahrheit
fteht”, was ganz mit dem Umftande übereinftimmt, daß fein Anſat des
Begins dev XVII. Dynaftie auf 1558 v. Chr. um ducchichnittlich 100
Jahre fpäter ift, als der der neueren Bearbeiter Manetho's, Bunfen,
Böckh und Lepfiue.
Mafpero, Geichichte der morgenländ. Böller im Altertum. 149
und Mafpero mit Recht einig, dag Jakob und Joſeph in die
Hyffoszeit und an einen Hykſoshof gehören. Was die Einzelheiten
des Schickſals Joſephs in Aegypten betrifft, jo bringt Brugſch
eine von ihm und Ebers auch ſchon früher benügte Parallele zu
deffen Scene mit dem Weibe Potiphars und eine zweite neue zu
den fieben Hungerjahren unter defjen Bezirat aus einer Grab-
infchrift von el⸗Kab bei, in welcher ein gewiſſer Baba, ein angeb-
licher Zeitgenoffe des thebanifchen Könige RasSefenen Taa I.
unmittelbar vor dem Beginne der XVII. Dynaſtie, feiner Ge-
treidefpenden während einer vieljährigen Theurung fich rühmt.
Doch beruht die von Brugſch diefem Baba angewiefene Zeit-
ftellung Lediglich nur auf den indirecten chronologifchen Anzeichen
des Charakters der Malerei in dem Grab, der möglichen Iden⸗
tität diefes Baba mit dem gleichnamigen Inhaber eines benach⸗
barten Grabes aus der angegebenen Zeit und des im ganzen frei«
lich feltenen, aber eben doc; durch ein Monument der XII. Dynaftie
bezeugten Vorkommens jahrelanger Hungersnoth, fo daß man
fhwerlih mit Brugſch deifen Gleichzeitigkeit mit Joſeph wird
annehmen dürfen. Intereſſant ift die Erflärung der in der Ge⸗
ſchichte Joſephs fi findenden ägyptifchen Wörter. Die Aus-
rufung abrek Heißt „beuget die Kniee“; die Würde eines Zaph⸗
natpaneac ift die des „Landpflegers des Bezirks von der Stätte
des Lebens“ d. h. des Hauptorts des jethroitifchen Nomos, Asnat
ift der ägyptiſche Frauenname „Sant“ oder „Snat“; der Priefter
Potiphern heißt das „Geſchenk der Sonne“, nah Ebers „hin⸗
gegeben dem Phra“ d. i. dem Sonnengott; der anders gefchriebene
und deswegen von Brugſch gegen Ebers u. a. von diefem
unterfchiedene Name des Kämmerers Potiphar „das Gefchent
des Erjchienenen“. — Die Bedrüdung der Jsraeliten in Aegypten
glaubte man jeit Chabas dur die „Aperiu, welde Steine zu
der großen Feftung Rameſſu's zu fchleppen haben“, in einem Pa⸗
pyrusbericht aus der Zeit Ramſes' II. iluftrirt zu jehen. Brugſch
leugnet aber deren Verwandtihaft mit den Hebräern auf das
entfchiedenfte und verwandelt fie in die midianitifhen Beduinen in
der Wüfte vom Golf von Suez bis zum Nil füdlih von Helio⸗
polis, — eine Auffafjung, der jedoh Ebers im leuten Jahr⸗
150 Brugid, Geſchichte Aegyptens unter den Pharaoneı.
gang der „Zeitichrift der Deutfchen Morgenländiſchen Geſelſſchaft
‚zu Gunften von Ehabas mit Gründen entgegentreten zu wollen
erflärt. — Ueber ben Pharao des Auszugs find Brugſch und
Mafpero uneins. Der erftere fegt den Auszug, wie ſchon
oben bemerkt, in die Zeit Menepbtha’s IL. von 1300 bis 1266
v. Ehr.; der letztere findet dagegen bie Zuſtände Acpyptens unter
diefem König noch zu confelidirt, als dag die Empörung und Flucht
ber Israeliten unter ihm hätte gelingen tännen, und verlegt des⸗
wegen den Auszug in die unrubigen Jahre vor oder nach dem
Tode feines Sohnes und Nachfolger Seti’s II., der ebenfalls
nebenbei den Namen Menephtha führte und nah Brugſch von
1266 bis 1233 regierte. Moſe felbft weiß feiner der beiden
Gelehrten in einer äghptiſchen Perfönlichleit zu recognosciren, wie
das feiner Zeit Lauth in einem gewiffen „Mefu, dem Hörer bes
Phtha“, Freilich unter allfeitigem Widerfpruch verſucht Hat. Doch
glanbt Brugſch, fein Andenken fei in dem Namen einer hundert
Jahre nad) dem Tode Ramfes’ II. erwähnten Dextlichkeit in Mittel⸗
äghpten „een: Mofche“, „die Inſel oder das Ufer des Moſche“,
erhalten gewefen. — Für die vierzig Jahre In der Wäüſte
ift Mafpero’s Rechtfertigung eines Iangjährigen Aufenthalts der
Israeliten dafelbft mit ber Hinweiſung auf die großen Sriege
Ramfes’ III, welche das ſüdliche Syrien zu ihrem Schauplaß Hatten
und dem Führer der Israeliten ein geduldiges Ausharren in ber
Wuüſte zu der Eingewöhnung des Volles in die ftaatlichen und
friegerifchen Bebingungen der Selbftündigkeit räthlich machen mußten,
gegen den zum Dogma gewordenen Zweifel an ihrer Geſchichtlich⸗
feit von Werth. — Einen neuen Conflict mit den Aegyptern führte
der Einzug der Israeliten in Kanaan nidt herbei, da die
Rameſſiden nach dem Urthell Mafpero’s fi mit dem Beſitz et-
licher Feſtungen an der großen Keerftraße nach Syrien begnägten
und fih um den Herrſchaftswechſel im übrigen Lande nicht be-
fümmerten. So hörte denn die politifche Berührung mit der ſud⸗
weftlichen Weltmadt bis in die Zeit Salomo’6 auf. Aber
auch mit dev Öftlichen ergab ſich Jahrhunderte lang feine, da bie
aſſyriſchen Eroberer noch allzuviel und lang im Oſten und Norden
befchäftigt waren, als daB fie fo weit über der Eupbrat Hütten
Matvers, Gefchichte der morgenländ. Völfer im Altertum. 751
herkibergreifen können. Erft in der Geſchichte Samaria's machen
fih deren Eingriffe bemerfih. Was nun die Berührung Salo-
mo's mit Aegypten betrifft, fo befteht fie bekanntlich in deſſen
Heirat mit einer ägyptifchen Königstochter. Unſere beiden His
ftorifer geben über deren Vater Leine Auskunft. Gr kann aber
kaum ein anderer gewefen ſein, als der letzte Pharao der XXI.
temitifchen Dynaftte, Bfufennes II. bei Manetho, welchen Brugſch
die Jahte 1000 bis 967 v. Chr. anmeift, während Maſpero
den Tod Salomo’s auf 929, alfo feinen Negierungsantrit auf
929-440 = 969 v. Chr. feßt. Auf den chronologifhen Cardinal⸗
punft des Negierungsantritts Salomo's wirft jedoch die Möglich:
fett der annähernden Beftimmung des Datums des paläftinifchen
Kriegszugs Siſals, „Schaſchanq I.” nah Brugſch und „She
fhong L“ bei Mafpero, im 5. Yahre Rehabeams durch zwei
ägyptifhe Steinurfunden ein Licht, das uns die eigene Entfcheidung
über denfelben erlaubt. Die eine ift die oben erwähnte Stamm:
tafel des Hofbanmeiftere „Chnum⸗ab⸗ra“ auf den Felowänden von
Hammamat, welcher din Hofbanmeifter „Horsem-faf“ als feinen
14. Borgänger aufzählt. Die andere ift bie Gedächtnisinſchrift
diefes „Hor⸗em⸗ſaf“ über den ihm im 21. Jahre „Schafchang I.“
vor diefem zugelommenen Befehl zum Bau der Nuhmeshalle der
Bubaftiden am Amonstempel von Karnak in den Steinbrüchen von
Silfilis. Rechnet man nun mit Herodot 334 Jahre auf eine
Generation, fo bat „Hor⸗em⸗ſaf“ feine Laufbahn ſputeſtens
(135%X334) + 490 = 924 v. Chr. gefchloffen, die Ausführung des
Hallenbaues Hatte alfo fpäteftens 925, der in einer Wandinfchrift
diefer Halle befchriebene paläftinifche Kriegszug Siſaks aber minde-
ftend 1 Jahr früher, alfo 926, mithin der Tod Salomo's fpäteftens
926-+5==931 und fein Regierungsantritt 931 -+-40== 9711. Chr.
ftatt. Nimmt man an der runden Zahl 40 für die Regierungs⸗
zeit Salomo’8 Anſtoß, jo beweift dafür das 41 jährige Alter Re⸗
habeams bei feiner Thronbeſteigung, daß fein Water eher Tänger
als kürzer regiert hat. Genau dasfelbe Antrittspatum Salomo’s
bringt auf den Grund biblifcher, freilich durch die fatale Cor⸗
rectur der 480 Yahre in 1Kön. 6, 1 in 580 verbäctiger Zahlen:
combination Röderath heraus, ein ganz ähnliches Movers und
152 Brugſch, Geſchichte Aegyptens unter den Pharaonen.
A. v. Sutfhmid, wenn fie auf den Grund phöniciſcher
Epocdenzahlen ben Anfang des Tempelbaus auf 969 oder 967
v. Chr. ſetzten. Hiftorifch richtig kann jedoch diefes Datum
nicht fein, da einerjeitE 971 das fpätefte mögliche Antrittsdatum
Salomo’8 nach dem obigen ägyptischen Ealcul iſt, und anderſeits
das Generationsalter Herodots „eher unter, als über ber Wahr:
heit fteht“, um eine oben angeführte Bemerkung Brugſch' zu
wiederholen. Man wird demnach mit dem NRegierungsantritt Sa
lomo's bis zum Jahr 1000 v. Ehr. in runder Zahl hinaufzugehen
haben. In feindliche Berührung mit den ſüdweſtlichen Nachbarn
fam zuerft vielleiht Salomo’8 Enkel Aſſa durch den Einfall Se⸗
rahs des Kufchiten in 2Chron. 14, 9—13. Brugfch erwähnt
ihn zwar in dem vorliegenden Werke gar nicht, erflärt ihm aber
nach einer Anmerkung bei Mafpero in feiner neuen Ausgabe der
Histoire d’Egypte, ®b. I, ©. 228, für das Unternehmen eines,
freifih viel jpäteren Aethiopenktönigs Aterk⸗Amen, welche Ar
fiht Ir. Lenormant teilt. Mafpero dagegen verweilt den
felben in da8 Gebiet der Sage, worin ihm Movers, hier übrigen?
allzu fühn, mit ber Metamorphofe Serahs in Memnon-Abonis
voransgegangen iſt. Unter den äthiopifchen Eindringlingen jener
Zeit in Aegypten, welche Brugich aufzählt, findet fich keiner, dejjen
Narhe fi mit Serah combiniren Liege, und Manetho’s Oſor—
hon, der Sohn Siſaks, mit dem man Serah von Des Vignoles
bis auf Unger und Ebers identiflciet, war ein Semite um
fein Kuſchite. Mit Zuverläßigkeit laſſen fich dagegen So und
Thirhaka in den kuſchitiſchen Herrſchern der XXV. Dynaflit
Sabako, hieroglyphiſch „Schabak“, keilinſchriftlich „Shabe“),
und Tearkon oder Tarakon, bierogipphifch „Zaharaga“ oder
1) Der Schlußconfonant k in der ägyptiichen Namensform ift nad Oppert
der Ausdrud eines der Geezſprache eigentiimlichen, den anderen ſemitiſchen
Sprachen fremden Kebllautes, den die aſſyriſche Form mit einem dem
Ain ähnlichen Zeichen wiedergegeben, die bebräifche aber einfach abgeſtoßen
hat. Nach Brugſch ift das fchließende k der nachgefetste Artikel im der
Sprache der nubiſchen Barabra, fo daß der Name „der Kater“ bedeuttl.
Sei dem, wie ihm wolle, jeden Falls ift So mit Brugſch und Maſpero
ale „Seve“ zu vocalifiren, was ſchon Winer vorgefchlagen hat.
Mafpero, Gefchichte der morgenländ. Bölfer im Altertum. 158
„Taharqa“, keilinſchriftlich ‚ Tarquu“ oder „Tarqu“, recognosciren.
In Conflict bringen dieſe beiden die aͤgyptiſche Chronologie mit der
bibliſchen nicht, da wir nur über ihre ägyptiſche, nicht aber über
ihre äthiopiſche Regierungszeit Zahlenangaben beſitzen. Es iſt
deswegen für die Chronologie Hiskia's gleichgültig, ob man die
ägyptiſche Regierung Thirhaka's mit Brugſch und Maſpero
auf den Grund einer Apisgrabinſchrift, welche den Geburtstag des
betreffenden Apis in das 26. Regierungsjahr Thirhaka's, ſeinen
Todestag in das 20. Regierungsjahr Pſametichs J. und ſeine ganze
Lebensdauer auf 21 Jahre ſetzt, auf 693 oder 692 bis 666 v. Chr.
berechnet oder nicht, wenn man nur mit M.v. Niebuhr, Duncker,
und Mafpero feinen Zug gegen Sanberib in feine worägyptifche
äthiopifche Regierungszeit verlegt. Ya die Gefamtregie-
rungszeit Thirhaka's kommt fogar in fhöne Harmonie mit der
Bibel, wenn es ſich in der Angabe Röckeraths nicht um einen
Irrtum oder einen Drudfehler Handelt, daß die Apisgrabinfchrift
Nr. 2035 im Louvre das 46. Jahr diefes Königs erwähne. Sekt
man nämlidh mit Brugſch und Mafpero das erfte Regierungs⸗
jahr Pſammetichs auf 666 oder mit Herodot auf 670 v. Ehr., fo
fommt das erjte Fahr Thirhaka's in Aethiopien auf 66646
— 712, oder 670X46 = 716 v. Chr. Die letztere Zahl aber
reicht über das 14. Negierungsjahr Hiskia's nah Petavb, Ufcher
und Scaliger um 3, nah Des Vignoles um 7 Yahre hinaus.
Rechnen wir nun no bis zu Sabako um bie 12 ober 14 Re
gierungsjahre feined Sohnes und Nachfolgers Sevehus bei Ma⸗
netho, alſo bis zu 724, beziehungsweife 726, oder 728, beziehungs-
weife 730 v. Chr. zurüd, fo haben wir feine biblifche Gleichzeitig.
feit mit dem ihn gegen Salmanafjar zu Hülfe rufenden Hofea. Bon
ben Königen der XXVI. Dynaſtie verflicht die Bibel den Pharao
Necho, Nechao II. bei Manetho, „Neku“ oder „Nelo* bei Brugfch
und Mafpero, als Sieger von Megiddo 608 und als Befiegten
von Karchemis 605 dv. Chr. nah Mafpero, und den Pharao
Hophra, Apries bei Herodot, Uaphris bei Manetho, Wahabra
oder Uhabra bei Brugſch und Mafpero in den Todeskampf
des unglüclichen Juda, beide ohne Wiberfpruch gegen die monu⸗
mentale Chronologie, feitdem durch Apisgrabinfchriften erwieſen Ift,
Theol. Etnb. Yahrg. 1878. 49
154 Brugſch, Geſchichte Aegyptens unter ben Pharaonen,
dag Herodat mit feinen 16 Regierungsjahren Nacho's gegen die
Manetho's Recht Hat.
Wenden wir uns von Welten nad) Dften und geben wir
Berührungen des getheilten Reiches Israel mit Aſſyrien nad, f
jehen wir hier die biblifche Chronologie durch die Keilfehriftberichte
weit bedenklicher compremittirt, als durch die Hieroglyphen, wenn
wir nämlich unfere Vernunft gefangen nehmen unter ben Glauben
an die Unfehlbarkeit der chronologifchen Projection eines Keilfchrift-
forjchers, der Mafpero fich unbedingt unterworfen bat. So vie
aber auch die deutſche Wiflenfchaft Urfache zum Stolz auf biefe
Huldigung des Franzoſen vor dem deutjchen Meifter Eberhard
Schrader hat, fo darf dies doch feinen Grund zur Zurüdhaltung |
von Bedenken gegen deſſen Correctur ber biblifchen Gefchichte und
Zeitrechnung des neunten und achten Jahrhunderts nah Maßgabe
feiner Deutung und Verwerthung ber afiprifchen Keilfchriften ab:
geben. Zunächſt follte nun aus dem affyrifchen Contact Fsraels die
Bundesgenoffenfchaft Ahabs mit Benhadad (trog des keilfchriftlichen,
neuerdings in „Rammanidri“ corrigirten „Binidri“, nit „Ben-
hadar“, wie Mafpero fchreibt, da A. v. Gutſchmid und
Ed. Meyer die Exiftenz eines Gottes Hadad bewieſen und W. Graf
von Baubdiffin feine Zweifel an ihm zurüdigenommen haben) gegen
Salmanaſſar IL trog Schraders Appellation an den Friedens⸗
bund zu Aphek nah Wellbaufens Darlegung ihrer geſchicht⸗
lichen Unwahrfcheintichkeit verſchwinden und Opperts ud Schra—
ders „Ahabu Sirlai“ nah U. v. Gutſchmids Nachweis ber
Unzuverläßigleit diefer Leſung niemand mehr für „Abab von 8:
rael“ imponiren. Ebenſo wenig aber erlaubt bie bibliſche Chrono:
logie, ihn mit Wellhaufens verwegener Abbreviatur in einen
„Joram ben Abab“ umzudeuten. Auch in Jorams Nachfolger
Jehu vermag der Weferent den Adrefjaten der Quittung Sals
manaffar’8 II. für den „Tribut Jahua's des Sohnes Humri’s“
“mit dem zufett genannten Gelehrten nicht zu ertennen, weil er
zwifcgen den zweihöderigen Kameelen des Landes Kirzana und Musri
aufgeführt if. Zu den von Wellhaufen und U. vd. Gut—
Schmid abgethanen Identlficationen keilinſchriftlicher Königsnamen
mit bibliſchen gehört weiter die des „Azriyahu“ oder „Acnriyabu“
Mafpero, Gefchichte der morgenfänd. Völker im Altertum. 755
mit Afarja-Ufia von Juda. Man muß wahrhaftig mit Ma»
[pero von der Unver meidlichkeit diefer auf vier verftümmelten
Inſchriften beruhenden Ydentification überzeugt fein, um es glaub»
lich zu finden, daß einem fyrifchen Dynaftenbund gegen „Tuklat⸗
babalafar“ II. jelbft Perjonen beitreten, welche dem Schauplak
der Begebenheiten fo fern ftanden, wie Azariah von Juda. Schwerer
fällt die Tributzahlung eines „Minihimmi Samirinai” an Tuklat⸗
habalaſar IL in das Gewicht, wenn der erftere einer und derfelbe
mit Menahem von Israel ift, da fie zu der vielbeliebten Ver⸗
ſchmelzung Phuls und Tiglath-Pilefers in Eine Perſon geführt bat.
Diefe Unification ftebt jeboch auf ſchwachen Füßen, nachdem 9. v.
Gutſchmid aus der aſſyriſchen Verwaltungstifte fcharffinnig des
ducirt bat, daß Tiglath- Pilefer außer den Kriegsziigen nad) Phi-
fiftäa und Damaskus, welche mit den aus den Zeiten der Könige
Pekah und Ahas in 2 Kön. 15, 29 und 16, 7—9 erzählten zu-
fammenfallen, keinen weiteren nad Samaria unternommen habe,
da die Züge nah Arpad bei der viel größeren Entfernung biefer
Stadt von Samaria ald von Ninive unmöglih mit Schrader
als Züge gegen Samaria aufgefaßt werden könnten. Gemonnen
ift übrigens mit A. v. Gutfhmids Aufrechterhaltung der Selb-
ſtändigkeit Phuls, den er in dem Porus bes ptofemäifchen Kanons
wieberfindet und auf Grund der von ihm gemeinfhaftlich und
nicht fſueceſſiv aufgefaßten Wegführung ven Ruben, Gab und
halb Manafje dur Phul und Tiglath⸗Pileſer in 1Chron. 5, 26
und des Hülferufs des Ahas an die Könige von Affyrien in
2Chron. 28, 16 zum Mitregenten und möglichen Bruder Tig⸗
laty- Pilefere mit dem Sig in Sepharvaim macht, für die Aus
torität der biblischen Chronologie nichts, da er den Einfall Phuls
in Israel gleichzeitig mit dem Unternehmen Ziglath-Pilefers gegen
Arpad 742— 740 erfolgt fein läßt und alfo unter die Zeiten Me⸗
nahems herunterſetzt. Muß denn aber ber Xributzahfer „Mini⸗
himmi Samirinai“ nothiwendig der König Menahem von Sa»
maria fein, deſſen Könige doch ſonſt in den Keilfchriften nur als
ſolche des „Landes und des Haufe Humri“ bezeichnet werben, und
erinnert fein Schickſalsgenoſſe „Rafunnn Dimaskai“ nicht weniger
an den König Rezin, als an einen untergeorbneten Edlen aus
49*
756 Brugſch, Geſchichte Aegyptens unter den Pheraonen.
dem Geſchlechte der Reſon von Damaskus, fo daß die beiden
Bundesgenoſſen Pekah und Reziu ihren Zribut an Tiglath-Pi⸗
fefer dur zwei Stellvertreter, einen nicht näher befannten
Menahem aus der Stadt Samaria und einen begleichen Refon
aus der Stadt Damaskus, abgeliefert hätten, wodurd die Stellver⸗
treter anftatt ihrer Herren zu der Ehre der Aufführung ihrer
Namen im königlich aſſyriſchen Siegesbericht gelommen fein könnten?
Könnte ferner der afiyrifhde Gegner des Königs Menahem in ber
Bibel, „Phul“, nit der Eponyme von 769, „Bilmalil”, als
Feldhanptmann des damaligen affyrifhen Königs geweſen fein,
wenngleich die Berwaltungslifte für das Fahr 769 nur einen
Feldzug in das unbelannte Land, Ituh“ verzeichnet? (Vermuthungen,
welche der Referent Schon in den Jahrgängen 1874, ©. 780 und
1876, ©. 135 und 142 diefer Zeitfehrift ausgefproden hat.) Einen
Lichtſtrahl wirft jedoch in dieſe dunkeln Schatten die Ueberein-
ftimmung der Keilfchrifturfunden mit der Bibel im Datum der
Eroberung Samaria's durch Sargon oder „Saryulin” 722 oder
721, wie A. v. Gutſchmid will, mit dem wegen der Differenz
eines Jahres niemand wird ftreiten wollen. Dieſen Lichtftrahl
droht aber der Widerjpruch des Feilfchriftlichen Datums des Ein-
falls Sanheribs, ber nah Mafpero 704 auf den Thron kam,
702 oder 701, mit dem biblifchen, dem 14 Jahre Hiskia's in der
in 2Rön. 18 uns vorliegenden Faſſung der Erzählung alsbald
wieder zu verfchlingen. Nah 2 Kön. 18, 1. 9. 10 regierte näm-
lich Hiskia gleichzeitig mit Hoſea, wie auh Mafpero annimmt,
wenn er den erfteren 727 und den letteren 729 den Thron bes
fteigen läßt; alfo kann Hiskia's 14. Jahr unmöglich das des Ein-
falls Sanheribs gewefen fein, außer man wirft mit Wellhauſen
die Gleichzeitigkeit Hiskia⸗Hoſea beifeite und verlegt den Regierungs⸗
antritt Hiskia’s in das Jahr 715. Glücklicher al8 Wellhaufen
ift nun aber in ber Löſung diefes Problems Kleinert durch den
Nachweis der Eonfufion zweier affyrifcher Einfälle, des von
Sargon in der Nimrudinfchrift in den Sahren 713—711 und
bes von Sanherib im Jahre 702 oder 701 in den einzigen bee
legtgenannten Königs, von dem Redactor von 2Kön. 18 unter
Mebertragung des Datums des erfteren auf den letzteren geweſen.
Mafpero, Geichichte der morgenländ. Völker im Altertum. 157
Hienach dürften die biblifchen Gefchichtszahlen des achten Yahr-
bunderts immer noch nicht gegen die Yündlein der Affyriologie
preiszugeben fein, und fogar auch dann nicht, wenn man fie mit der
bibfifchen Inſtanz gegen die Aufrechterhaltung der betreffenden Kö⸗
nigszahlen verftärkt, nämlid mit dem aus ihnen fi ergebenden
Uralter des Propheten Jeſaja. Allerdings müßte diefer, ba
er im legten Fahre des Königs Uſia, d. i. nach der Bibel 758
etwa 30 Jahre alt aufgetreten ift und erft mit der Sataftrophe
Sanheribs aus der Gefchichte verfchwindet, das ungewöhnliche Alter
von fait 90 Jahren bei voller Geiſteskraft erreicht Haben, allein
die Ungewöhnlichkeit fehließt die Möglichkeit nicht aus. — Blicken
wir in die Gefchichte des ſiebenten Jahrhunderts hinein, jo über-
rafchen uns affyrifche Synchronismen für die biblifche Zeitrechnung
auch bier. Ueber Hiskia's Nachfolger Manaffe Haben wir zwei
Inſchriften aus den letzten Zeiten des Bruders und Nachfolgere
Sanheribs, des Eſarhaddon oder „Aſſur⸗achn⸗iddin“ und den
erften des letzte Sarbanapal oder „Aſſur⸗ban⸗habal“, welche
ihn beide unter den tributpflichtigen Fürften aufführen und deren
zweite in Berbindung mit einer Inſchrift über die Gefangennahme
Necho's I. Schrader eine Handhabe zur Verteidigung ber Ge⸗
Schichtfichkeit der aſſyriſchen Gefangenfchaft Manafje's in Babel
gibt, während Mafpero hier emancipationsfüchtig diefe aus Mis-
trauen gegen die Bücher der Chronik leugnet. Keilinfchriftliche
Beziehungen auf Spätere Könige und Schickſale Juda's haben wir
bis jett Feine mehr, namentlich hat Nebuladnezar oder „Nabu⸗
kudur⸗uſſur“ keinerlei Inſchriften gefchichtlichen Inhalts Hinterlaffen.
Dagegen lafjen die affgrijchen Keilfchriften auch noch auf bie in der
Bibel ignorirte Geftaltung Israels nad) dem Fall Samaria’s
ein intereffantes, von Mafpero aber in die fchale Bhrafe: „im
israelitifchen Königsſchloß Herrfchte ein affyriicher Statthalter”, ein»
gefangenes Streifliht fallen, indem fie einen Menahem von
Samarien, der im Jahr 701 an Sanherib, und einen Abi-
baal, König von Samarien, ber mit Manaffe in den Jahren
681— 673 an Eſarhaddon Tribut zahlte, erwähnen. Da nun im
Jahre 646 unter Sardanapal ein afjyriicher Präfect von Samaria
Eponym war, fo muß in der Zwifchenzeit das bisher von den
158 Brugſch, Geſchichte Aeghyptens unter ben Pharaonen.
Aſſyrern tolerirte Reich eingezogen worden ſein, und werden dabei,
wie A. v. Gutſchmid meint, die 65 Jahre bis zum Untergang
Ephraims in Jeſ. 7, 8 ihr Ende erreicht haben. Dieſe zweite
Kataſtrophe Samaria's wäre dann identiſch mit der zweiten Weg⸗
führung der Einwohner unter Ejarhaddon in Esra 4, 2, welche
vermuthlich von deifen Sohn und jpäterem Mitregenten „Affurs
ban⸗habal“ oder Aſnaphar in Era 4, 10, audgeführt werden
if. Die fpütere Geſchichte der Juden zeichnet Maſpero nach Maf-
gabe der herkömmlichen Hülfsmittel in den herlbmmlichen Conturen.
Werfen wir ſchließlich noch einen Blick auf das Verhältnis
beider Werke zu der altteftamentlichen Religion, fo behandeln fie
dieſelbe als gänzliche Nebenfaihe und berühren fie deöwegen nur
flüchtig und oberflählih. Brugſch ftreift nur die Bedeutung
Moſe's für fie mit den wenigen Worten: „Bei dem Leſen alt⸗
aͤgyptiſcher Inſchriften über Sitte und Gottesfurdht wird man ver:
ſucht zu glauben, daß der jüdifche Geſetzgeber Moſes feine Lehren nad
den Vorbildern der ägpptijchen Weifen zuſammengeſtellt habe.“ Diefe
Anficht über den Urſprung des Mofaismus ift nicht ohne Freunde
geblieben. Mar Büdinger 3. B. Hat in den Sigungeberichten
ber Wiener Academie (Bd. 72 und 75) eine denfelben Gedanken im
den einschlägigen Einzelheiten durchführende langathınige Abhandlung
über „Aegyptifche Einwirkungen auf hebrätfähe Culte“ veröffentlicht.
Getheilt wird fie gemiffermaßen auch von Mafpero, wenn bdiefer
die Bundeslade, „etliche Ritualvorſchriften und Geremonien“ auf
Ögyptifche Muſter zurückführt. Sein Urteil über die hebräifdhe
Religion im ganzen aber geht dahin, daß fie troß einiger unflaren
Spuren von urſprünglichem Heidentum im „auffälligften Gegenfag*
zu den Fananäifchen, ägyptiſchen und chaldäiſchen Religionen, und
zwar in dem de8 metaphyſiſchen Theismus zu dem natura»
tiftifhen Bantheismus jtehe. Diefer Theismus mit Jahve,
ber ‘aber Alter fei als Mose, fei anfänglich ein nationaler Mono-
theismus gewefen und erſt allmäblih (durch dic Propheten?)
zum univerfalen geworden. Moſe's religiöje Organifetion Habe
in einer theofratifchen Conſtitution, beziehungsweiſe in ber Ber⸗
einigung der zwölf Stämme zu einem Bolt des unſichtbaren Kö⸗
nigs Jahve, beftanden. Uebrigens veducire ſich das, was man von
Mafpero, Geſchichte der morgenländ. Völker im Altertum. 1759
der urfprünglichen Gefegebung der Hebräer wiffe und Habe, faft
auf nichts, Mofe felbit könne man, wenn nicht der Form jo doch
dern Inhalt nad), höchſtens die zehn Gebote umd etwa eine Kleine
Zahl mitten unter fpäteren Geſetzen zerftreuter Vorſchriften in den
unter feinem Namen gefchriebenen Büchern zufchreiben. Die Cha-
rafteriftit der Propheten tut Mafpero Bier unfelbftändig ab mit
einem Citat aus Nöldeke's „Altteftamentliher Literatur”, deffen
Kern und Stern der Satz ift: „Nur der ift ein Prophet, welcher
von fittlichereligiöfen Gedanken und Empfindungen bewegt ift und
im Dienfte der Religion Israels ſteht.“ Man fteht: der fleigige
Gelehrte Hat fich die Mühe der Durchficht der neueften Aufftellungen
der Linken unter ben jüdifchen und proteftantifchen Theologen nicht
erfpart, um auch nicht in einem Punkte feiner Aufgabe der Re⸗
conftruction des morgenländifchen Altertums Hinter den Forſchungen
des Tages zurückzubleiben. Daß er fidh dabei die Selbftändigfeit
des Urtheils im ganzen gewaßrt Hat, beweift feine Iſolirung der
hebrälfchen Glaubensrichtung von den Nachbarreligionen und ihre
Erhebung aus der Immanenz des Paganismus in die Transſcen⸗
denz ſchon in vormofaifcher Zeit, was trog aller Leugnung ber
Offenbarung einen ftarten Zug nad rechts verräth. Ob er ſich
mit diefer fpecififhen Differenzirung den Beifall feiner Rath-
geber erwerben werde, ift dem Referenten nicht außer Frage, da
diefe zwifchen der hebräifchen Religion und denen der verwandten
Völker nur einen relativen oder auch gar keinen Unterfchieb,
wie 3. B. Goldziher, zugeben. Aber auch die Theologen der
Rechten ftimmen ihm vielleicht in dem Punkte nicht zu, daß Jahve
ihon vor Mofe Volksgott geweſen fei, freilich vorerft fo ziem⸗
fh auf einer Linie mit den andern Göttern, fo daß Mofe’s
ganzes Verdienſt um ihn in feiner Umwandlung in „einen eifer:
füchtigen, exclufiven Gott“ beftände, da das Tyx in Exod. 3, 6
u. a. St., deſſen collective Auffaffung ſchwerlich durch Jeſ.
43, 27 gerechtfertigt wird, nah Neftle’s anfprechender Darlegung
Jahve zuerft nur als mofaifhen Familien⸗ oder lepitifchen
Stammgott erjheinen läßt, was Ewald vielleicht allzu kühn
schon aus dem Namen Jochebed gefchloffen Hat.
Beiden Werken find Karten beigegeben. Die zwei von
760 Brugſch, Aegypten; Maſpero, Morgenl. Völler.
von Unter- und Oberägypten bei Brugſch laſſen in ihrer
technischen Ausführung nichts, in ihrer feientififchen aber eine
größere Fülle von alten und neuen Namen zu wünſchen übrig.
Die eine bei Mafpero über den ganzen alten Orient ift zu
Hein, um mehr als Scülerbedürfniffe zu befriedigen.
Langenbrand, 10. Sehr. 1878.
[im wärttembg. Schwarzwalbd
Hufen Are.
Inhalt des Jahrganges 1878.
Erftes Heft.
Borwort. . . . a
Abhandlungen.
DD 1
. Kleinert, Amos Komenius . -. . . »
. Kawerau, Die Trauung. . .
.Kattenbuſch, Kritifche Studien ur Symbolit. "(Echter Artikel)
Gedanken und Bemerkungen.
. Köflin, Ein Beitrag zur Efchatologie der Reformatoren .
. Kolbe, Auslegung der Stelle Eph. 2, 19—22 .
Recenſionen.
.Budde, Beiträge zur Kritik des Buches Hiob; rec. von Smend .
Zweites Heft.
Abhandlungen.
. Kattenbufd, Kritiſche Studien zur Symbolik. (Zweiter Artikel).
- Braun, Die veligiöfen und fittlichen Anſchauungen von Adam Smith
Gedanken und Bemerkungen.
- Doedes, Ein Mandat Jeſu Chriſti von Nikolaus Hermann .
- Seidemann, Aus Spenglers Briefwechfel .
. König, Die Regeln des Pachomius
Recenfionen.
Mezger, Geſchichte der deutfchen Bibelüberfeungen in der ſchwei⸗
zerifch -reformirten Kirche von der Reformation bis zur Gegenwart;
rec. von Schröder.
. Srensbdorff, Die Massora Magna; Tec. "bon Strad.
Miscellen.
. Programm der Haager Gefellfchaft zur Berteibigung ber chriflfichen
Religion für das Jahr 1877 .
. Programm der Teyer ſchen Dlegiſaen Self zu Sanen L
das Jahr. 1878
179
254
803
314
323
341
354
373
883
762 Juhalt.
tea
Drittes Heft.
Abhandlungen.
. Schmidt, Ueber bie Grenzen ber Aufgabe eines Lebens Jeſu
3. Goergens, Das altteftlamentliche Ophir .
tea
Gedanken und Bemerkungen.
. Kamerau, Luther und feine Beziehungen zu Servet
3. Diegel, Bergleihung der kentigen evangeliſchen Prebigtweiſe mit der
—8
vor fünfzig Jahren
. Röſch, Die drei Saulenapoſtel in de eheimſprath⸗ des Thalmud.
Recenſionen.
.Wieſeler, Die deutſche Nationafität ber Reinafiatiigen Galater;
rec. von Hertzberg.
. Reuter, Geſchichte ber religidſen Anſtlarung im Mittelalier vorm
Ende des achten Sohrhunbenie | bie zum m Autenge des vieraehmten; ve :
von Ritfhl . . . ..
Biertes Heft.
Abhandlungen.
. Goebel, Das Gleichnie Marl. 4, 26—29 . . .
2. Spitta, Ueber die perfönlicden Noten im zweiten Briefe. an
Timothens .
. Sähürer, Der Berfammlungeort bes großen. Ehnereinm 0
. Trümpelmann, Socialismus und Socialreform. (Exfer Artikel)
Gedanken und Bemerkungen.
. Schmid, Robert Mayer, der große Förderer umferer heutigen wiſſeu⸗
ſchaftlichen Welterkenntnis, feine wifſeuſchaſmiche Entdeanng und fein
religiöjer Standpuntt . .
. Deppe, Der Bietift Giebertus Voetius zu uccect
.Seidemann, Je ein Brief von Amsdorf, Ed und Luther.
Recenſionen.
. Godet, Commentaire sur Pérangile de Saint Jean; rec. ven
Düferdied .
.Brugſch, Geſchichte Aeghptenẽ unter den Pharaouen, uud Mai-
pero, Sefchichte der morgenländifchen Böller im Altertum; vec. von
Röſch .. ..
—> a —
Drud von Friedr. Audr. Perthes in Gotha.
525
626
677
692
697
711
Zur gefäligen Beachtung!
Die für die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einjendungen
find an Brofejfor D. Riehm oder Eonfijtorialrath D. Köftlin in
Halle ae. zu richten, dagegen jind die Übrigen auf dem Titel
genannten, aber bei dem Nedactionsgefchäft nicht betheiligten Herren
mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re-
daction bittet ergebenft, alle an fie zu fendenden Briefe und Padete
zu franfiren. Innerhalb des Boftbezirts des Deutſchen Reiches, fowie
ans Defterreih:Ungarıı, werden Manufcripte, falls fie nicht allzu
umfangreih find, d. 5. das Gewicht von 250 Gramm nidt
überfteigen, am beften als ‘Doppelbrief verfendet.
Friedrich Audreas Perthes.
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Inhalt.
Abhandlungen.
Goebel, Das Gleichnis Mark. 4, 26—29
. Spitta, Ueber die perſönlichen Notizen im zweiten Briefe ı an Ti
mothu8 . -. ... 22.
Schürer, Der Berfammlungsort des großen Spnebriume
. Trümpelmann, Socialismus nnd GSocialreform (erfter Artikel) .
Gedanken und Bemerkungen.
. Schmid, Robert Mayer, der große Förderer unferer heutigen wiſſen⸗
ſchaftlichen Welterfenntnis, feine wiſſeuſchaftiche Eutdecung und ſein
religiöſer Staudpunkt. .. nn
Heppe, Der Pietift Gisbertus Voetius au utrecht
.Seidemann, Je ein Brief von Amsdorf, Ed und Luther...
Recenfionen.
. Godet, Commentaire sur "erangile de Saint Jean; rec. von
Düfterdied .
Brugſch, Geſchichte Aeghptens unter den Pharaonen, und Maf p ero,
Geſchichte der morgenländifchen Völker im Altertum; rec. von Röſch.
.
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stamped below.
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time. i
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