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Theologiſche
Studien und Kritiken.
Eine Zeitſchrift
für
das gefammte Gebiet der Theologie,
in Verbindung mit
D. Giefeler, D. Lüde und D. Nitzſch,
herausgegeben
von
D. €. Ullmann und D. 3. W. C. Umbreit,
Profefforen an der Univerfität zu Heidelberg.
1853.
Schöundzwanzigfter Jahrgang.
Erſter Banb.
Hamburg,
bei Friedrich Perthes.
1853
Theologiſche
Studien und Kritiken.
Eine Zeitſchrift
für
da8 gefammte Gebiet der Theologie,
in Verbindung mit
D. Giefeler, D. Lüde und D. Nitzſch,
herausgegeben
s von
D. 6, ullmann und D. F. W. C. Umbreit,
Yrofefforen an der Univerfität zu Heidelberg.
Sahıgang 1858 erſtes Heft.
Hamburg,
bei Sriedbeih Perthes,
1853
Inhalt des Jahrganges 1853.
Erftes Heft. J
Abhandlungen.
1. Schwarz, Melanchthon und feine Schuͤler als Ethiker
e. Creuzer, Joſephus und feine oru chiſten und a
Biden Bye . . . Pe
Gedanken und Bemerkungen.
1, Bierordt, das Händefalten im Gebet .
2%. Heidenheim, über die Synagoga magın . .
Recenfionen.
1,.Hofmann, ber Schriftbeweis, rec. von Auberien .
2%. Ewald, bie ke bes Volkes Sad; sec. von
Meiger
Kirchliches.
ullmann, Betrachtungen aus Veranlaſſung eines neueren
Borfalis in der katholiſchen Kirche one:
Miscellen.
Umbreit, Grinnerung an Johann Gottfried Cichhern
108
183
u Inhalt.
Bweites Heft.
Abbandlungen. Site
1. Bieet, über bie Stellung ber Apoknphen des alten Ser est
Ramente im riftlien Ranon » "7986
U Laufs, über die Berſuchung Jeſu
Gedanken und Bemerkungen.
1. @ine Apologie des Heidentfums und Gtreitfrift sie
das Gteiftenthum, von einem MWrapmanen. Ditgetdei Pr
von Part. . 2.0200 nie 40
8. Kienten, über ſyſtematiſche und praktiſche Theolosie -
Recenfionen,
1. Haffe, Anfelm von Ganterbury
9 Dittmar, Geſchichte der Welt
rec. von Kayfır. .
Kirchliches.
Jas er, bie Bedeutung der Altern
chenordnungen für die Entwidelu
und Gute . . .
Miscellen.
Programıma der haager Geſellſchaft
qriſtlichen Beligion, auf das Jap
Sahalt.
Drittes Heft.
Abhandlungen,
l. Shabertein, Sonfeffion und Unten - » . .
2 @guig, Gyrus de he - 2 2 0.
Gedanken und Bemerkungen,
1. Graf, über die Stellung des Crordiums in ber Predigt
L Eine Berihtigung zu Reander’s Kirchengeſchichte
Recenfionen,
L66ber, Geſchichte des chriſtlichen Lebens in der rhei⸗
riſq weſtphaliſchen Kirche, ec. von Badtler . .
An Beyer, Biatter für höhere Wahrheit; vec. von
daunberge.. —
FE}
88
781
7152
u Inhalt.
Bmweites Heft.
Abhandlungen.
1. Bleek, über die Stellung ber Apokryphen des alten Te⸗
flaments im chriſtiichen Kanon .
2. Laufs, Über die Berfuhung Jeſu
Gedanken und Bemerkungen,
1. @ine Apologie des Heidenthums und Gtreitfärift wider
das Ghriftentyum, von einem Wrahmanen. weitgereit
von Paret. .
2. Kienlen, über cotematiſche und drakuſche Theologie .
Recenfionen,
1. Haffe, Anfelm von Canterbury; rec. von Kling
2. Dittmar, Gelkichte der Welt vor und nad
wer. von Rayfer. 2000. .
Kirchliches.
Jäger, bie Bedeutung ber ältern bugenhagen’fden Kir⸗
Senorbnungen für bie der deutſchen Kirche
und lm . . . . De
Miscellen.
Programma ber haager Geſellſchaft zur Wertheibigung ber
qriſtlichen Religion, auf das Jahre EB . . .
267
410
415
47
518
Juhalt.
Drittes Heft.
Abhandlungen.
l.Scabertein, Gonfeffion und union.
1.64ulg, Syrus ber Große . . . oo. .
Gedanken und Bemerkungen,
1.Graf, über die Stellung des Erorbiums in der Predigt
L line Berihtigung zu Reander’s Kirchengeſchichte
Recenfionen,
l.bel, Geſchichte des chriſtiichen Lebens in der rhei⸗
riſq weſtphaliſchen Kirche, rec. von Badtler .
Lu. Beyer, Blatter für höhere Wahrheitz ver. von
danbergee.. —
838
88
781
w Inhalt.
Viertes Heft.
Abhandlungen. Seite
1. Giefeler, über Hippolptus, die erſten Monarchianer
und bie römifche Kirche in ber erften Hälfte des dritten
* Zahrhunderts .. 759
2. Riedner, Zeichnung bes Umfangs, für ven nothwendigen
Inhalt allgemeiner Geſchichte ber chriſtlichen Religion - 787
3, Greuzer, Rüdhlid auf Joſephus; Kitär, arinug⸗
+ Monumente und Perfonalien . 6
Gedanken und Bemerkungen,
1. Ullmann, eine hiſtoriſche Erinnerung in Betreff der
freien Privatbeichte . . 91
2. Kindler, das Abendmahl der relormitten Rice in feie
mer Beziehung zu der lutheriſchen Kirche . . . 939
Recenfionen.
1. Futterbed ‚ die nertetamentuchen eedrdearife · sec.
von Thierfh . 95
2. Ullmann, bie Eüntofgteit Sera; ange. vom Bat.. . 92
Kirchliches.
Heppe, Beiträge zur Geſchichte ber Kirche und bes Feb
lichen Lebens in ber Kurpfalg .. . . 9
Miscellen.
Programm der teyler'fchen Beabattam veleuaan in
Haorlem, für 1853 . . oo. 1025
Abhandlungen.
Theol. Stud. Jahrg. 1858, 1
1.
Melanchthon und feine Schüler als Ethiker.
Bon
D. J. C. E. Schwarz
in Jena.
Da ſechzehnte Band des Corpus reformatorum ift ers
ſchienen. Freuen wir und nun überhaupt der Fortfegung
des Werkes in ſchwieriger Zeit, fo freuen wir und doppelt,
daß fie in fo gute Hände gelegt if, Herr D. Bindfeil
in Halle bat fie übernommen und bereitö an biefem Bande
gezeigt, mit welcher Kenntniß, Umficht und Genauigkeit er dad
Ganze weiter führen wird, Begann es doch fon an der
igtern zu fehlen, ba leider die Augen dem Begründer und
aften Heraudgeber allmählich den Dienft verfagten. Und
auch fonft kamen, wie dieß bei einem fo umfaſſenden, von
vorm herein ſchwer zu Überfehenden Unternehmen kaum zu
vermeiden ift, mande Lüden und Ungleihheiten in - ber
Behandlung vor. So durften im funfzehnten Bande ges
wiß die Scholien zum Kolofferbriefe von 1527 nicht weg⸗
fallen, welche, obgleich fie in die Enarratio von 1559 «)
verarbeitet wurden, doch in ihrer urfprünglichen Geftalt eis
nen fo enticheibenden, unten genauer barzulegenden Mendes
punct in Melanchthon's theologiſcher Entwidelung bezeich⸗
nen. Noch weniger durfte ber dreizehnte Band von den
philoſophiſchen Schriften zu ben biblifhen Gommentaren
fortgehen, ohne bie doppelte Bearbeitung der Ethik und
s)Cc.R.XV, 1221 ff,
1*
1.
Melanchthon und feine Schüler als Ethiker.
Bon
D. J. C. E. Schwarz
in Jena.
Dee ſechzehnte Band des Corpus reformatorum ifi er⸗
fbienen, Freuen wir und nun überhaupt ber Zortfegung
des Werkes in fehwieriger Zeit, fo freuen wir uns beppel:.
daß fie in fo gute Hände gelegt if, Herr D. Binbie:.
in Halle hat fie übernommen und bereit an biefem Biene.
geieigt, mit welcher Kenntniß, Umficht und Genarigken ere
Ganze weiter führen wird, Begann ed de ider mr
Itern zu fehlen, ba leider bie Augen dem Begume-—-
een Heraudgeber allmählich den Die merisger =
ad fonft kamen, wie bie bei einem fe nisse =
vom herein ſchwer zu Überfchenden Untere
vermeiden iſt, manche Lüden und Ungime- --
8 Schwarz
die Politik zu geben, mit welchen diefer Aufſatz es ausführ⸗
licger zu thun haben: wird. Indeß bat Herr D. Bin d⸗
feil bier bereits nachgeholfen, fo gut es ging. Der vors
liegende Band enthält nämlich), während die zweite Hälfte
(S. 525 — 1300.) die Proleggmenen und Anmerkungen zu
Cicero, vor Allem zu den Dfficien, bringt, in der erſten
Hälfte Melanchthon's ethiſche und politiſche Schriften in
Verbindung mit den Erklärungen der betreffenden Bücher
des Ariftoteles. Im einleitenden Bemerkungen werden die
verfchiedenen Ausgaben verzeichnet, unter dem Text die bes
beutenderen Abweichungen berfelben von einander mit gro⸗
Ger Sorgfalt bemerkt und vielfach hiſtoriſche und litterarifche
Erläuterungen mit weiteren Nachweiſungen beigefügt, wie
wir fie feit dem zehnten Bande immer fpärlicher, zulegt
gar nicht mehr fanden. Möge der Heraudgeber in gleicher
Weiſe fortfahren; möge dem Werleger der Muth und die
Unterftügung nicht auögehen, deren «8 zunaͤchſt nur zur
Vollendung ber Ausgabe von Melanchthon's Werken bedarf.
Es wäre beflagenswerth, wenn Deutſchland dem, ben es
in vieler Hinfiht mit Recht feinen praeceptor nennt, nicht
einmal dieſes Denkmal fegte,
Einen Beitrag zu feiner durch das jetzt zugänglicer
gewordene Material erleichterten Charakteriftit als Ethiker
zu liefern, ift der Zweck diefer Blätter, Sie möchten infofern
einerfeitd Galle's treffliche Darftelung =) und bie Arbeit
von Matthes b) ergänzen, von benen die erfle es mehr
mit der bogmatifden Entwidelung des melanchthon'ſchen
Eehrbegriffs zu thun hat, wogegen bie Iegtere fich rüdfichts
lich feiner Verbienfte um die Wiſſenſchaft überhaupt und
um bie Ethik insbefondere mehr im Allgemeinen hält. Ans
dererfeitö wollen fie eine Ergänzung bringen zu dem, was
Yelt, Schweizer und der Verfaſſer felbit in den Stu
a) Berſuch einer Charakteriſtik Melanchthon's als Theologen;
‚Halle 1840.
b) Phil. Mel., fein Leben und Wirken; Altenburg 1881.
Melanchthon und feine Schüler als Ethiker. 9
dien und Kritiken «) über die proteflantifchen Beftrebungen
für die Ethik im 16. Jahrhundert veröffentlicht baben,
Geben biefelben bei Melanchthon in den felbfländigeren
Arbeiten auch zundcft auf die Philofophie, fo if es doch
einmal von Intereſſe, zu fehen, wie er dazu fam und
wie Philofophie und Xheologie ſich für ihn je Länger je
webr zu einander flellten.. Sodann fchlägt bei ihm ſpaͤter
die Philofophie in bie Theologie, die Theologie in die Phis
Iofophie fortwährend herein und er baut fi) dad Syſtem
ber letztem im Hinblid auf die Ethik in einer Weife aus,
welche für feine ganze Stelung auch ald Theolog noch nicht
genug beadjtet fein dürfte, jedenfalls Licht wirft auf einen
großen Zheil feiner enormen wiflenfchaftlichen Thaͤtigkeit
überhaupt. Um aber die Sache zu vervollftändigen, werfen
wie noch einen Blick auf Melanchthon's bebeutendere Schü.
ler und werben unter ihnen auf eine Erfcheinung flogen,
welche umter den Sitteniehrern ber lutheriſchen Kirche im
16. Jahrhundert in der erflen Reihe, zugleich aber auch
wit Einem Fuße in der reformirten Kirche flieht. Won ba
«b erliſcht dort diefe Richtung mehr und mehr, bis Galizt
fe wiederum zu beleben ſucht. —
Daß in bem erften Decennium von Melanchthon's
teformatorifher Wirkfamkeit befondere Beftrebungen für bie
Ethik bei ihm keinen Raum gewinnen, hängt mit feiner
ganzen theologiſchen Entwidelung zuſammen. Zwar kam
er mit einer fehr freien wiſſenſchaftlichen Richtung, mit Aris
foteleß vertraut und von Bewunderung gegen ihn erfüllt,
nach Wittenberg und hatte noch in Tübingen auf Veran ⸗
laffung feined Lehrers Stadianus-den Plan gefaßt, eine
verbefferte Ausgabe befielben mit ihm zu veſorgen. In
feiner Antrittörede de corrigendis adolescentiae studiis
(9. Aug. 1518), in welcher er davon erzäplt b), warnt er
=) Jahrg. 1848. Heft 2. und 1850. Heft 1 ff.
b)C.R. XI, 20 f. — Bergl. die Rachſchrift zur Ed. princeps
der griechiſchen Grammatik,
10 Schwarz
vor verkehrter Philofopbie, empfiehlt aber um fo eifriger
die wahre und hebt neben Plato’s Republik befonders die
ethiſchen Schriften des Arifloteled hervor 5). Allein dald
{ft von jenem Plane nicht mehr die Rebe; ber junge Pros
feſſor wendet ſich fogar mit einem gewiflen Widerwillen
von philofophifchen Studien und von Arifioteles ab. In
diefer Hinficht machte Luther einen überwiegenden Einfluß
geltend, Bekannt ift, welchen tiefen Widerwillen biejer ges
gen ben „Water ber Schofaftit” gefaßt hatte, feit ihm bie
Kraft und Seligkeit bes rechtfertigenden Glaubens aufge
gangen war b), Wenige Tage nach jener Antrittörebe, in
demfelben Briefe, der Melanchthon aufs dringendfte em⸗
pfiehlt und feinen uͤberraſchenden Succeß im griechiſchen Col⸗
legium meldet, bittet er Spalatin um Vermittelung beim
Kurfuͤrſten, daß, da nun die beſten Vorleſungen in Schwange
gehen und die trefflichſten Juͤnglinge von wunderbarem Eis
fer für reine Theologie entbrennen, der Zwang in Hinficht
auf die zur Erlangung der akademiſchen Grade geforbers
ten Lectionen gemilbert, namentlich bie über ariſtoteliſche
Ethik freigegeben werde, bie für die Theologie daſſelbe fey,
was ber Wolffür bad Lamm c). — Solchem Einfluffe konnte
a) „In ca sum plane sententia, at qui velit insigue aliquid vel
in sacris vel in foro conari, param effect
anten humanis disciplinis (sic enim philosophiam voco) pru-
denter, et quantum satis est, exercuerit. Nolo autem philoso-
phando quemgoam nugari; ita enim fit, ‘ut commanis etiaı
sensus tandem obliriscare. Sed.ex optimis optima elige ea-
que tum ad scientiam naturae, tam ad mores formandos atti-
nentia, Plurimum valent Aristotelis Moralie, Leges Plato-
nis” oto.
b) Jürgens, Luther SIT, 204. vgl. den Brief an Joh. Lange,
mit welchem er ihm die Säge wider den Ablaß uͤberſchiet, de
Wette 1, 78: „Miror, quod eisdem oculis suum Aristotelem
inspiciant, aut, si inspiciant, quomodo non vident, Aristo-
telem nihil aliud esse per singula paene cola et commata,
quam Momam, imo Momorum Momum.”
©) Briefe von be Wette I, 140,
‚ni enimum -
Meelanchthon und feine Schäler als Ethiker. 11
elanchthon nicht widerſtehen. Am 13, März 1519 ſchreibt
er: wenn er überhaupt ben Ariſtoteles leſen fole, fo fey
die Dialektik noch das Cinzige, was einige Frucht bringen
Inne ⸗). Ein Vierteljahr darauf war bie leipziger Diss
putation, bei welcher Gariftabt den Sat vertheidigte, daß
der freie Wille vor der Bekehrung gar nichts Gutes ſchaf⸗
fen koͤnne, fondern daß jedes gute Wert ausſchließlich durch
Gottes Wirkfamkeit im Menfchen zu Stande komme b),
Luther ging noch weiter und wagte die Behauptung, ber
menſchliche Wille werde von Gott hin und her gezogen, wie
die Säge von bed Arbeiterd Hand, Melanchthon aber war
mit Beiden vollkommen einverfianden <). Wie konnte da
von Beftrebungen für bie Ethik die Rede feyn, die, man
faffe die Sache übrigens wie man wolle, doch eine ganz
andere Anſicht vom Willen voraudfegen. Und wad bie Phis
loſophie betrifft, fo erfcheint fie ihm jegt fo thoͤricht, daß
er die Ausgabe von Arifiophaned Wolken feinem Collegen
Amspdorf deßhalb debicirt, weil jene in ihnen verdienters
waßen verfpottet werde d). Achnliche wegwerfende Aeußeruns
ges treffen wir häufig bei Ihm, unter Andern in der unter dem
Ramen des Didymus Faventinus zur Vertheidigung Luther’s
beanögegebenen, übrigens fo koſtbaren Rebe ©), Wie bies
fer an Bugenhagen, welder von ihm eine Anweifung
zum chriftlichen Leben verlangt hatte, um biefelbe Zeit
ſchrieb f), der wahre Chriſt bebürfe Peiner Sittenlehren; ber
a) C. R. 1, 75. vgl. be Wette a. a. D. 288.
b) Bergl. Diockhoff, de Carolostadio Latherause de serro
arbitrio doctrinae contra Eccium defensore; Gott. 1850.
©) Seckendorf, Hist, Luth. I, 75.
A) December 1520, C. R. 1, 273. — e) Ebend. 286.
D S. Mohnite’s Vorr. zu Luther’s Lebensende, Gtralfund
1817: „Scripsisti, ut modum vivendi tibi scriberem. Vere
Christians non indiget praeceptia moram; fidei enim apiri-
tas dacit eum ad omnia, quse Deus vult et fraterna exigit
earitas. Haeo itague lege. Non omnes credunt erangelio.
Fides sentitar in corde.’
12 i Schwarz
Geiſt des Glaubens führe ihn zu Allem, was Gott wolle
und die brüderlihe Liebe fordere; damit möge er ſich bes
guügen; der Glaube aber werbe im Herzen empfunden —
fo war ber legtere auch für Melanchthon noch Alles in Als
lem. Einer weitern Entwidelung deſſelben nach ber fittlis
hen Seite bedurfte es für ihn nicht; er lebte und webte in
der h. Schrift, befonder& in Paulus »).
Die Frucht davon, befonders von dem Studium des
Römerbriefö, waren gegen Ende des Jahres 1521 die Hy-
potyposes theologicae, in welchen er ſich entſchieden vom
Ariſtoteles losſagt b). An fie ſchloſſen fi 1522 die Anmers
Tungen zu dem gedachten Briefe c). Es kann nicht unfere
Aufgabe feyn, ausführlicher die hier niebergelegte theologi⸗
fe Grundanſchauung barzuftellen, da bieß von Galle in
eingehender Weife gefchehen ift 4. Im Wefentlichen koͤmmt
fie auf die abfolute Prädeftinationslehre hinaus, ein Stand»
punct, welchen Melandihon bis 15% feſthaͤlt. Geſchieht
dieß auch nicht mit völliger Sicherheit und ſcheute er ſich
audy mehrfach vor feinen harten Conſequenzen — daß derfelbe
befondern ethiſchen Beſtrebungen noch immer nicht günftig
war, leuchtet ein. Zwar fchreibt er 1525 eine beachtens⸗
werthe Vorrede zu Cicero de officiis ©). Außer der Form
#) Bol. die Biebe de studio dootrinae Pauli von 15%. C. B. XI,
af.
b) „Aristotelis dootrina est in universum libido quaedam riman-
di, ut eum in paraeneticae philosophiae scriptoribus ne po-
stromo quidem loco numerare conveniat.”
e) C. R. XV, 441 ff.
d) Sharakteriftit Melandthon’s, &, 252 ff.
0) C. R. XI, 87 f.; bie Ausgabe von 1584, ebend. S. 257 f.,
legt bann bie weiter gehenden Anfichten über Werth unb Bedeu ⸗-
tung der Philofophie dar, welche wir unten erwähnen. — Den
fpätern Ausgaben ift eine Collatio actionam Atticarım et Ro-
manarum ad decalogum beigefügt, in welcher die Ueberein«
fimmung des legtern mit ben erſtern bargeftellt wird. Gie
follen gelefen werben „tamguam doctrina de virtute sumpta
ex lege naturae sea © primorum patram doctrine” — eine
Melanchthon und feine Schüler als Ethiker. 13
ruihent er an ihnen ihren Ruten für das bürgerliche Leben,
Die Wiſſenſchaften, durch welche die jungen Gemüther zur
Zugend gereizt werben, find für diefe die Wiege. Cicero
zeigt vortrefflih, was für jedes Alter in jeder Lage des
Lebens ſich ziemt. Er ſtellt in gehöriger Ordnung dem Ler
fer bie verfchiebenen Arten ber Zugend vor Augen; auf
feine Garbinaltugenden laffen ſich alle Sittenregeln zurlds
führen. Ein Thier iſt, wer durch diefe Lehre nicht gebil-
det, nicht gewöhnt wird zur Humanität und den bürgerlie
en Pflichten — eine Anfiht, welche völlig unvereinbar
erſcheint mit den Sägen ber Hypotypofen, daß bie glän«
yende Zugend eines Sokrates und Gato nur Lafler und fo
gut eine Frucht des Fleiſches fey, als Caͤſar's Ermordung «),
Meandithon aber fand die Vereinigung noch in dem Ges
danken , daß ed ſich hier nicht um bie Religion handele —
„de religione hic nihil dicimas.” Aus ihrem Gefichts⸗
yunct Die Sache betrachtet, fehlt dem natürlichen Menfchen
der Seiſt im höhern Sinne ganz und gar; nur Seele und
db iſt ihm geblieben, Paulus legt dem erfleren alle
Birffamkeit im Werke der Belehrung bei, gar nichts dem
Büm. Der Wille ift der Theil, welcher im eigentlichften
Einne ertöbtet wird; er kann alfo mit dem h. Geiſte nicht zu.
ſammenwirken. Nicht auf eine Veränderung, auf eine fürms
ide Vernichtung der alten Natur koͤmmt ed an, Es muß
in dem Menſchen ein neuer Wille gefchaffen werben, ver.
möge beflen er zum Guten befländig gezogen wird, und
dieſe Schöpfung vollbringt allein der b. Geift b).
Im Jahr 1525 erfchien die legte Ausgabe der Hypotys
vofen, Nur bis dahin hat ſich Melanchthon Öffentlich zu dem
Anfiht, bie ſich aus der Umwandlung erklärt, bie, wie wir
jeden werben, mit Melanchthon hinfichtlich der Ethik vorging.
€. R. XVI, 528. u. 59.
a) Galle a. a. O. 254,
b) Galle 255 und ber Abſchnitt de gratia et effectu gratiao in
den Anmerkungen zum Mömerbrief, C. R. XV, 466 f.
14 s Schwarz
in ihnen niebergelegten Syſtem einer auf abfoluter Präbeftinar
tion beruhenden Nothwendigkeit in allen Dingen bekannt,
Sein milder, bei allem Streben nad) wiſſenſchaftlicher Gon=
fequenz im Grunde doch auf bie praxis fidei gerichteter
Sinn, fortgefehted, tiefer eindringendes Schriftfiudium , die
bittern Fruͤchte, welche er von bem Glauben an eine ſolche
Nothwendigkeit im Leben fah, die vielfachen Veranlaſſun⸗
gen zu Gutachten über wichtige praktifhe Fragen, vieleicht
auh Erasmus durd feine Schrift de libero arbitrio
führten ipn von itx ab. Deßhalb blieb ex noch weit ente
fernt von ber Lehre des Iegtern und wanbte ſich noch dem
ſtrengen Auguſtinismus zu, bis ber Streit Luthers mit
Erasmus, die eingehendere Beſchaͤftigung mit andern Lehr
tern der alten Kirche und die zunehmenden Berathſchlagun⸗
gen in den Religiondangelegenbeiten ihn bewogen, auch
dieſes Syftem immer mehr zu mildern «),
Die erſten fihern Spuren bavon finden wir in ben in
ber Mitte des Jahres 1527 herausgegebenen Scholien zum
Kolofferbriefe, welche, wie gefagt, für die Entwidelung des
melanchthon'ſchen Lehrbegriffs von entfchiedener Bedeutung
find b). In der an Alerander Dradftädt gerichteten
Debdication fehreibt er, er habe hier vielerlei gerade jet
verhandelte Streitpuncte berühren müffen und bei Befpres
dung bderfelben den Lefern nicht bloß feine Sorgfalt, fondern
‚auch feine Biligkeit — Emisixsiav — beweifen wollen, wels
che in kirchlichen Zerwürfniffen vor Allem zu bewähren fey;
denn ander koͤnne bie Eintracht der Kirche nicht erhalten
a) ©. die Auseinanderfegung bei Galle 266 f,, in welder man
nur bie beiden Epochen noch etwas fhärfer geſchieden wünfcht.
b) Schon in dem Briefe an Lutper v. 2, Dct. 1527 (C. R. 1,
893), dann in der unten zu erwähnenden Ratio discendae
theologiae verweift Melandıthon ſelbſt auf fie: „Post hanc
(epistolam ad Galatas) et Colossenses logendi cam commenta-
rio meo, in quo etiam volui complecti praccipuos locos.
Iuberem et meos oommanes locos legere, sed multa sunt in
illis adhac radiora, quae deoreri mutare, Facilo tamen in-
telligi potest, quid mihi displiceat ex meis Colossensibus,
ubi locos aliquot mitigavi.” C. R. II, 467.
Melanchthon und feine Schüler als Ethiker. 15
oder wieder bergeftellt werben. Homer fage, aller Dinge
werde man Überbrüffig, nur nicht des Streites. Das fey
leider nur zu wahr in ber Kirche, wo oft neue Kämpfe und
Unruhen ohne alle hinreichende Urfache erregt würden von
ehrgeizigen Menfchen. Nur wenn Chriſtus ihn wieber bers
Kelle, fey Hoffnung auf Frieden u. f. w. »).
Unter jenen Streitpuncten verfteht er offenbar beſonders
den über den freien Willen, Ueber ihm ſchaltet er einen
eignen Abſchnitt ein b), deffen Refultat ift, daß, da Gott
sicht Urheber des Boͤſen fein koͤnne, ber Menſch eine ges
wiſſe WBahlfreibeit befige und zwar nicht bloß in Beziehung
auf die natürlichen Arbeiten und Befchäftigungen des Les
dens, fondern auch, um mit Erfolg einem ehrbaren und
rechtlichen Wandel — der iustisia civilis — nachzuſtreben.
Doch bleibt diefe Freiheit immer noch befchränkt, theils durch
das fündlihe Gelüft, theild durch die Verfuchungen des
Zeufels, und gar nichts gilt fie in Beziehung auf die Wies
dergeburt und ‚Heiligung.
Kürzer, aber beinahe noch fehärfer hebt er die bier
berhhrten Puncte in ben fo wichtigen Bifitationsartifeln her⸗
vor, welche 1527 Iateinifch, 1528 erweitert und mit Luther's
Borrede deutfch erfchienen ©). Außerdem bringt er auf bie
Dredigt des Gefeges und der Buße, Die Prediger follen
auch einzelne Tugenden zum Gegenftand ihrer Vorträge
machen, die fleiſchliche Sicherheit, welche ſich auf ben rechts
fertigenden Glauben ftügt, bekämpfen und über unbebeus
tende Abweihungen in der dußern Kirchenordnung nicht
freiten. Amsdorf, mehr no Agricola nahmen date
an gewaltigen Anftoß, Lesterer, welcher jest mit feinem
») C.R. 1, 874.
b) JZaſt ganz mitgethellt bei Galle 275 f. RWgl. Melanchthon
an Euther vom 20. Det. 1527: „Attigi in Colossensibus hanc
ipsam causam eamgue, ubi primum, occasio faerit, in aliquo
alio seripto cogito copiosios explicare. C. R. I, 898.
©) Beide Ausgaben zufammen von Strobel, Altdorf; 1777.
16 . Schwarz
Antinomismus zuerft herwortrat, war nahe daran, einen
beftigen Streit zw veranlaffen. Durch Luther wurde er
noch zur Ruhe gebracht «).
Unterbeffen hatte Melanchthon fi dem Studium ber
Philoſophie und dem Ariſtoteles wieder mehr zugewandt.
Sein College Milich empfiehlt in einer von Melanchthon
verfaßten Promotiondrebe von 15% über die Dialektif b)
nicht bloß diefe, fondern auch bie philoſophiſche Sittenlehre,
damit die Grenzen zwiſchen ihe und der riftlihen Lehre
gehörig inne gehalten werben koͤnnen. Melanchthon felbfk
gibt die Dialektik 1529 verbeffert heraus c) und hat bie
Erklärung von ben beiben erfien Büchern der ariflotelifchen
Ethik beendigt A). In der trefflihen Ratio discendae theo-
logiae von 1530 aber wuͤnſcht er am Schluffe, die Theolos
gen möchten die Philoſophie nicht vernachlaͤſſigen, welche
Manche bloß deßhalb tadeln, weil fie biefelbe nicht kennen.
Waͤre dieß der Fall, fie würben fie höher Halten; freilich
dürfe fie aber auch nicht thörichterweife mit dem Evanges
lium vermifcht werben e),
Beigte fi fchon in den oben angeführten Schriften
mande Spur einer Neigung, ben firengeren Auguftinismus
zu verlaffen, fo kann man diefelbe auch, zwar nicht in dem
18, £), wohl aber in dem 19, Artikel der Augustana nach
@) Pland’s prot. Lehrbear. IT, 89 f.; Metthes, Melanchthon
9%2f.— b)C.R. XI, 189 ueq.
0) An Myconius, 10. Juni, ebend. I, 1074.
d) An Gamerarius, 8, Juni 1528, ebd. 988. und 28, Aug. 1529,
ebd. 1093; bie Enarratio felbft XVI, 277 ff.
e) C. R. XI, 25. und Strobel Melanchthon's Werbienfte um
Ariſtoteles; neue Beitr. IV, S. 168.
H &0 Galle a a. D., &. 286. wegen ber Stelle: „Esse fate-
mar liberam arbitrium omnibus hominibus habens guidem iu-
diciam rationis, mon per quod sit idoneum in is, quae ad
Deum pertinent, sine Deo aut inchoaro aut certe peragere.”
Er meint, Melanchthon habe durch bieß orte abfihtlih auf
eine gewiſſe Mitwirkung des Willens im Werke ber Belehrung
Melanchthon und feine Schüler als Ethiker. 17
der lateiniſchen Bearbeitung finden. In der deutfhen heißt
a: „Bon Urſach der Sünden wird bei und geleret, daß,
wiewol Gott der Allmaͤchtige die gange Natur gefchaffen
bat und erhelt, fo wirket doch der verkerte Wie die Suͤn⸗
de in allen Böfen und Veraͤchtern Gottes, wie denn des
Zeufeld Wille ift und aller Gottlofen, weldyer aldbald, fo
Gott die Hand abgetban, fi von Gott zum Argen
gewand hat, wie Chriftus fpricht, Joh, 8,, der Teufel redet
Rügen aus feinem Eigen.” Im lateinifchen Text aber ſteht
„aon adiuvante Deo.” Gilt ed nun bloß einen Beir
Rand, eine Mithälfe Gottes, fo ſcheint der Wille im Werk
der Belehrung doch nicht unthätig, mithin der are Syns
ergismus gelehrt zu feyn. Indeß if darauf wegen der
Urfprünglichkeit des deutfchen Textes, deſſen Sinn nicht
weifelhaft ift, fo viel nicht zu geben,
Der Arbeiten, welche der augsburger Reichstag brach⸗
te, ungeachtet gehen die Bemühungen Melanchthon's um
Ariftoteled fort, Er widmet in diefem Jahre dem Ritter
Urid Sil ling (Schilling) den Commentarzumehreren
Büchern der Politik, auch damit er feine Philoſophie ges
gen dad unbillige Urtheil mancher Leute vertheidige «), Im
folgenden Jahre ermahnt Gruciger zu ihr in einer Promos
tionszede de ordine discendi b), während Melanchthon
wiederholt die Dialektik und einen neuen Gommentar zum
Römerbriefe bearbeitet. Er dedicirt ipn dem Erzbiſchof Albrecht
von Mainz und desavouirt dabei geradezu die Annotatio-
nes von 1522 ©). Wie fehr er bier von den früheren
frengeren Behauptungen abgeht, wie entfchieden er inds
bindeuten wollen. Allein die ganze Gtelle ift, wie auch aus⸗
drüdlich gelagt wird, ein Eitat aus Augustin. Hypognostic.
311,4. (ed. Antwerp. T. X. App. p. 8.). Bei ihm aber ift ber
Cinn; „geihweige denn.”
a) C. R. II, 452 f.; der Gommentar ſelbſt XVI, 417 ff.
b) Cbend. XI, 209 f.
©) Gbend, 11, 611: „Ante aliquot annos edita est sylvula quaedam
Tyrol, Stud. Jahrg. 1858, 2
18 Schwarz
befondere mit Berufung auf die übrigen Lehrer ber alten
Kirche im Gegenfag zu Auguftin in dem Denfchen felbft
eine gewifle Urſache der Erwählung zugefteht, wenn er bie:
felbe auch keineswegs als Werdienf betrachtet wiflen will,
bat Galle ) ausführlich gezeigt. — In demfelben Jahre
widmet er Silling das fünfte Buch der ariftotelifhen
Ethit b) und behandelt die Frage: „Ob die Philofopbie
der Frömmigkeit ſchade“ in einer Weiſe, bei der wir etwas
verweilen müflen ©).
Er will nicht ausführlich den Nugen darthun, den ber
Theolog aus den einzelnen Theilen der Philofophie ſchoͤpfen
koͤnne. Er fen zu bekannt, als daß auch Undankbare ihn
abzuleugnen vermoͤchten. Nur kurz will er fi mit ber
Urt von Leuten auseinanderfegen, welde die Frömmigkeit
zum Borwande für ihre Traͤgheit (ignavia) nehmen, um
fi mit diefen Stubien nicht zu beſchaͤftigen. Nichts aber
Bann redlichen Männern die Philofophie mehr empfehlen,
als wenn fie ſich überzeugen, daß diefelbe Gott gefalle,
wenn fie feben, zu welchem Zwecke fie dem menſchlichen
Geflecht von ihm verliehen fey, und bedenken, daß feine
Gabe nicht verachtet, vielmehr mit befonberer Pietät bes
wahrt und hoch gehalten werben müffe, Vieleicht feyen An»
dere fcharffichtiger. Er befenne hierin germ feine Schwaͤche.
Gerade nachdem er die lautere Lehre ded Evangeliums ken⸗
nen gelernt, habe er Wefen und Werth ber Philofophie erft
recht eingefehen und hoffe, Viele würden mit ihm übereins
ſtimmen. So verkehrt aber fey bei vielen Andern der Sinn,
commentariorum in Romanos et Coriathios meo nomine, quam
ego plane non egnosco. Hanc at opprimerem, parari enarra-
tionem locupletiorem ia Romanos.” Diefe Ausgabe wurde
1538 und 1535 wieberholt.
) X. 0. ©. 287 f.
b) C. R. 31, 585, vgl. 595. Gleich darauf kam auch das britte
hinzu, XVI, 277.
©) Ebend. X, 689 f. Bat. auch die ſchoͤnen Difihen „Ja Ethica”,
ebenb. 587.
Melanchthon und feine Schüler als Ethiker. 19
daß da, als die Theologen jenen Werth nicht 1ekannt, Je⸗
dermann geglaubt habe, fi dem Studium der Philofos
pbie widmen zu müflen. Jetzt, da dad Evangelium benfels
ben gezeigt, ſcheue fih Niemand fo fehr vor ihr, als die,
welche für Befliffene der Gotteögelabrtheit gehalten feyn
wollen, was denn in Beziehung auf bie einzelnen philofos
phifchen Disciplinen, befonderd hinfichtlich der Moral aus:
geführt wird,
Welch' ein Abftand, bliden wir zehn Jahre zuräd; und
wie benugte Melanchthon „die halcyoniſchen Tage”, welde
das Jahr 1533 brachte, um die Eethargie in Beziehung
auf die Philofophie durch jedes Mittel auszutreiben! So
bereitete er auch eine Bearbeitung der Phyſik vor, welche
Milich herausgeben und die nicht bloß die gewöhnlichen
Scdulfragen, fondern weit nüglichere und angenehmere Dinge
enthalten folte, würdig eines philoſophiſchen Mannes a),
Der Plan wurde im naͤchſten Jahre weiter verfolgt. In
dem erften der beiden darauf bezüglihen Briefe an Arn.
Büren Ceigentlid Warwid aus Büren) bekennt er
dem für die alte Philofophie begeifterten Freunde, er habe
beſchloſſen, fich gleihfall8 ganz in ihr Studium zu verfen=
ten und wuͤnſcht nichts mehr, ald mit ihm in irgend einem
ſtillen Winkel dafür leben zu koͤnnen b). Inde Fam es
für jegt noch nicht zur Ausgabe der Phyſik. Dagegen fand
er Beranlaffung, die ariftotelifhe Ethik wieder aufzunchs
men. In der Vorrede zu den im Anfange des I. 1535
edirten Büchern derfelben tadelt er die, welche, wie Ariſto⸗
phanes, Ruhm durch Verſpottung der Philofophie uͤber⸗
haupt gefucht, im reinen Gegenfag zu den eignen früheren
a) Xu Gamerarius, 5, Dec. 1538, C. R. II, 687.5 vgl. die Dis
Riyen de initiis doctrinae physicae, ehend. X, 589.
b) 1. Febr. 1534, ebd. 702: „Postquam et tu veteris philoso-
phiae studio flagras et ego me plane in hoc ipsum doctrinae
genus abdere constitui” etc. Bol. an Fuchs, 30. April,
ebd. 718,
X Schwarz
Busen Rab am fcheinbarften koͤnne ber Tadel ger
we Da SunR motieirt werden. Denn — möge man fra:
De war ige fie, wenn ed auch eine Wiſſenſchaſt von
OU Que Leben, da doc faft alle Menfchen mehr
WE Te Arvsrtrieb, ald durch Lehre und Weisheit regiert
wurde ° Werden fie nun weber durch bie wunderbaren Les
—id a Komödien und Tragoͤdien gerührt, noch durch
M Serergen und Strafen der göttlichen und. menſchli-
ar Bier gezuͤgelt — was helfen dann die zarten und zier⸗
are Eveiterungen — dulces et venustae disputationes —
de Wineiopden? Das iff infofern richtig, als zwiſchen
Te Wertend und dem Streben deö natürlichen Menſchen
wer cin großer Streit obwaltet, und den Grund davon
Namen die recht gut, welche ſich zur Lehre der Kirche ber
deatu. Gr ift im hoͤchſten Grade beklagenswerth. Iſt aber
de Eidik deßhalb etwa trügerifch oder auch nur unnüg?
Ir Gegentheil — es ift Gottesläfterung, das unferm Geifte
won ibm eingepflanzte Licht, welches Gutes und Boͤſes uns
terſcheidet, oder die praktifchen Principien und Beweisfüh⸗
wngen für ungewiß erklaͤren und verwerfen zu wollen. »Du
ſollſt nicht falſch Zeugniß reden” fagt Gottes Wort, Alſo
dürfen wir Feine Freude an Verdrehung der Wahrheit has
ben ober fehlechte Künfte ſuchen, um fie zu nichte zu mas
chen. Allerdings gibt e8 eine wahre und fichere Sitteniehre,
wurhe aus jenem dem menfchliden Geifte von Gott einges
pflanzten Licht oder aus den natürlichen Gefegen geſchoͤpft
wird, Wie für den Geift es durch ſich felbft feflfteht, daß
2x4—8 ift, eben fo feft flieht das Urtheil: Ehebruch iſt
ſchaͤndlich und zu fliehen «). —
Darauf eine Audeinanderfegung bed Nutzens der Ethik,
welcher groß if, wenn das Bekenntniß zum Sohne Gottes
binzulömmt, Denn allerdings muß zwifchen der Lehre und
Zucht des Gefeges und dem Evangelium ſcharf unterfchier
“) An Büren, Febr. 1585; C. R. 11, 849 f.
Melanchthon und feine Schüler als Ethiker. 21
den werben. Ihm komme dabei ein Gleihnig vom Maul:
beerfeigenbaum in den Sinn. Diefer Baum bezeichnet dad
Bott des Geſetzes. Wie aber feine Früchte nur reif wers
den, wenn man fie mit einem eifernen Inftrument aufrigt
und Del hineingießt, fo nügt die Lehre des Geſetzes den
Hoͤrern, wenn fie dadurch gezüichtigt, zugleich aber mit dem
Del des Evangeliumd befeuchtet werben =), Zu dem Unter
ſchied nun zwifchen der Philofophie, welche hier das Geſetz
in einem gewiflen Sinne mit unter fi) begreift, und zwi⸗
Iden dem Evangelium, dient vor Allem Ariftoteles; denn
die Tollheit der Epikureer und Stoiker ift unbedingt zu vers
werfen, Ihn, befonders feine Lehre von der Gerechtigkeit
im fünften Buche der nikomachiſchen Ethik müffen alle gu⸗
ten Köpfe, vornehmlich die Theologen ſtudiren. Er felbft
babe fie erſt allmählich und zwar aus Plato begriffen, Und
wenn nun auch die Göttin der Gerechtigkeit von der Erbe
vertrieben -fey, fo wiflen wir doch, daß Gotted Wort von
der Gerechtigkeit nicht untergehen Tann — Grundfäge, wel:
de bald darauf wiederkehren, ald Melanchthon demfelben
Freunde die befondere Ausgabe jenes fünften Buches wid: _
met b). Wie feind er jeboch bei aller Liebe zur Philoſo⸗
Die jeder Art von Sophiſtik war, zeigt eine um biefelbe
Zet über ben Haß gegen fie gehaltene Rede c),
a) Später vergleicht er dann wieder bie Philofophie mit dem Fei⸗
genblatt , welches die Bloͤße des gefallenen Menſchen nicht decken
und nicht verglichen werben koͤnne mit dem urfprünglicy in ihm
leuchtenden göttlichen GEbenbilbe, dem Bohne Gottes. An Med⸗
mann, C. R. VII, 769 fe Aber auch jäbifche Ideen find
von Ghriftus fern zu halten; ebt. ©. 582.
b) An Büren, 18. März 1585, C. R. II, 865: „Qui liber, ut
seis, iustitise imaginem pulcherrimam ac verissimam pingit
pleneque talem, qualis Apellis est color in tabulis. — Erit
igitur auspicium nostrae amicitiae iustitia, qnae, ut universao
societatis humanae, ita mazime vinculum esse debet nustrao
<onianctionis, quia amicitiam virtutis causa colere debemus.”
Bel. and ©. 965.
JAR. Xi, 266 f.
20 Schwarz
Aeußerungen. Noch am fcheinbarften koͤnne der Tadel ges
gen die Ethik motiviert werden. Denn — möge man fras
gen — was nüge fie, wenn es auch eine Wiſſenſchaſt von
ihr gebe, dem eben, da doch faft alle Menfchen mehr
ducch den Naturtrieb, ald durch Lehre und Weisheit regiert
würden ? Werden ‚fie nun weder durch die wunderbaren Les
bensbilder in Komödien und Tragoͤdien gerührt, noch durch
. bie Drohungen und Strafen der göttlihen und: menfchlis
hen Gefege gezügelt— was helfen dann die zarten und zier⸗
lichen Erörterungen — dulces et venustae disputationes —
der Philofophen? Das ift infofern richtig, als zwiſchen
dem Verftand und dem Streben des natürliben Menſchen
immer ein großer Streit obwaltet, und ben Grund bavon
kennen die vecht gut, welche ſich zur Lehre der Kirche bes
kennen. Er if im böchften Grade beflagendwerth. If aber
die Ethik deßhalb etwa trügerifch oder auch nur unnüg?
Im Gegenteil — es ift Sottestäfterung, das unferm Geifte
von ihm eingepflanzte Licht, welches Gutes und Boͤſes un⸗
terfcheibet, oder die praktifchen Principien und Beweisfühs
rungen für ungewiß erflären und verwerfen zu wollen. „Du
ſollſt nicht falſch Zeugniß reden” fagt Gottes Wort, Alfo
bürfen wir feine Freude an Verdrehung der Wahrheit has
ben oder ſchlechte Künfte fucyen, um fie zu nichte zu ma«
en. Allerdings gibt es eine wahre und ſichere Gittenlehre,
weihe aus jenem dem menſchlichen Geifte von Gott einge
pflanzten Licht oder aus den natürlichen Gefegen gefchöpft
wird, Wie für den Geift es durch fich felbft feftfteht, daß
2x8 ift, eben fo feft ſteht dad Urtheil: Ehebruch if
ſchaͤndlich und zu fliehen «), —
Darauf eine Audeinanderfegung bes Nutzens ber Ethik,
welcher groß if, wenn dad Bekenntniß zum Sohne Gottes
binzutömmt, Denn allerdings muß zwiſchen der Lehre und
Bucht des Gefeges und dem Evangelium ſcharf unterfchies
a) An Büren, Febt. 15855 C. R. 11, 849 f,
Melanchthon und feine Schüler als Ethiker. 21
ben werben. Ihm komme dabei ein Gleihniß vom Mauls
beerfeigenbaum in ben Sinn. Diefer Baum bezeichnet das
Bolt des Geſetzes. Wie aber feine Früchte nur reif wers
den, wenn man fie mit einem eifernen Inftrument aufrigt
und Del bineingießt, fo nuͤtzt die Lehre des Geſetzes den
Hörern, wenn fie dadurch gezüchtigt, zugleich aber mit dem
Del des Evangeliumd befeuchtet werben =), Zu dem Unter:
ſchied nun zwifchen der Philofophie, weldye hier dad Geſetz
in einem gewiſſen Sinne mit unter fi) begreift, und zwi⸗
fden dem Evangelium , dient vor Allem Ariftoteled; denn
die Zollheit der Epikureer und Stoiker ift unbebingt zu vers
werfen. Ihn, befonders feine Lehre von der Gerechtigkeit
im fünften Buche der nikomachiſchen Ethik müffen alle gu⸗
ten Köpfe, vornehmlich die Theologen ſtudiren. Er felbft
babe fie erft allmählich und zwar aus Plato begriffen. Und
wenn nun aud die Göttin der Gerechtigkeit von der Erbe
vertrieben ſey, fo wiflen wir doch, daß Gottes Wort von
der Gerechtigkeit nicht untergehen kann — Grundfäge, wels
che bald darauf wiederkehren, ald Melanchthon demfelben
Freunde die befondere Ausgabe jened fünften Buches wid: ,
met b), Wie feind er jedoch bei aller Liebe zur Philoſo⸗
phie jeder Art von Sophiſtik war, zeigt eine um diefelbe
Zeit über den Haß gegen fie gehaltene Rebe e).
a) Später ı vergleicht er dann wieder bie Philofophie mit dem Fels
genblatt , weldyes die Bloͤße des gefallenen Menfchen nicht decken
und nicht verglichen werben koͤnne mit dem urſpruͤnglich in ihm
leuchtenden göttlichen Ebenbilde, bem Sohne Gottes. An Mebs
mann, C. R. VIT, 769 f. Aber auch juͤdiſche Ideen find
von Ghriftus fern zu halten; ebd. S. 582.
b) An Büren, 18. März 1585, C. R. 11, 865: „Qui liber, ut
scis, iustitine imagioem pulcherrimam ac verissimam pingit
planegue talem, qualis Apellis est color in tabulis. — Brit
igitor anspieiom nostrae amicitiae institia, quae, ut universae
societatis humanse, ita maxime vinculum esse debet nustrao
coniunctionis, quia amicitiam virtutis causa colere debemus.”
Bol. auch ©. 965.
JCR.Xi,266 f.
22 Schwarz
Unter folhen Einflüffen, Stimmungen und Beftrebun:
ge kam nun die Bearbeitung der Loci zu’Stande, Was
die treffliche Dedication an Heinrich VII. von England =)
fagt, daß er die vorzüglicften Lehrſtuͤcke der chriftlichen
Lehre gefammelt habe, von denen er glaube, fie trügen am
meiften bei zur Nahrung der Frömmigkeit und feyen von
Nugen für dad Leben und die Uebung der Gläubigen, hat
Melanchthon in einer Weiſe auögeführt, welche feinen Na»
men allein unſterblich machen müßte, wenn auch noch ſpaͤ⸗
tee Erasmus b) nicht ganz Unrecht hatte mit dem Vor⸗
murfe, er gehe für den ſchaͤrfer ſehenden Lefer über ſchwie⸗
tige Puncte noch zu leicht hinweg. Des legtern Definition
vom freien Willen war zwar nod nicht aufgenommen,
. Sie abdoptirte Melanchthon erft nach Luther’ Tode. Im
Uebrigen aber hatte er fih Erasmus bebeutend genaͤhert
und befannte fi in der Hauptfache offen zu einem milden
Synergismus ©). Derfelbe zieht ſich durch die bedeutenden
ethifchen Partien hindurch, an denen das Werk fo veich iſt
und die Melanchthon fortwährend mit befonderer Vorliebe
„behandelte, Vgl. 3.8. Loc. IV. über die menfchlichen Kräfte
und ben freien Willen; VI. vom Gefeg, mit der fhönen
Erklaͤrung des Dekalogus ; 1X. von denguten Werken; XIV.
über die Präveftinationz XVII. über dad Kreuz und den
Troſt darin; XX. Über die Obrigkeit und ihre Würde;
a) C. R. 11, 921 f.; dal. die brieflichen Aeußerungen an Freunde
S. 871. und 949.
b) Bom 6. Juni 1536: „In scriptis tais, in quibus multa mihi
vehementer arrident, interdum desidero plusculum circum-
spectionis. Frequenter enim sic leviter capita reram attin-
gie, ut negligere videaris,, quid arguto lectori venire possit
in mentem.” Ebd. IH, 87. Es ift — er flarb am 11. Juli —
fein legter Brief an Melanchthon.
©) Bufammengefaßt in den Worten: „In hoc exemplo videmus
coniungi has causas, verbum, spiritum s. et voluntatem, non
sane ociosam, sed repugnsntem infirmitati aaa.” Galle a, a,
D. S. 300.5 vgl. Pland, prot, Lehrbegr. IV, 556 f.
Melanhthon und feine Schüler als Ethiker. 28
XXIV. über die chriſtliche Freiheit. Dabei fehen wir noch ab
von den erft 1552 hinzugekommenen Erklärungen ber wichs
tigften theologifchen Begriffe =).
So fehr dringt Melanchthon jest auf den neuen Ges
derſam, daß er denfelben geradezu für nöthig zum ewigen
eben Hält b), Und wie man ſich nun auch den etwas ver:
widelten Handel mit Eordatus im Einzelnen zurecht le⸗
gen mag — es wird aus den jest vorliegenden Aufzeichnuns
gm Rageberger’s Bar, daß Melanchthon, nad) ihm
Eruciger , 1536 die guten Werke in dem Artikel von der
Reätfertigung für bie conditio sinequa non erklärt hatte <),
fo weit er davon entfernt blieb, ihnen deßhalb eine Ver⸗
dienſtlich keit zur Seligkeit beizulegen d). Kurz,” bie
ganze Richtung Melanchthon's geht gegen Ende des zwei⸗
ten Jahrzehends feiner Wirkſamkeit immer entfciebener auf
die Ethik. Und was bie Philofophie betrifft, fo macht er
nicht bloß wiederholt in den ſtaͤrkſten Ausdruͤden ihre Bes
deutung für die Theologie geltend, welche ohne diefelbe nur
Unheil bringt und gar nichts gilt ©), fondern giebt auch
&) Loci, ed. Detzer II, 351 f.
b) Loci communes, beutfd) von 3. Jonas, Wittend. 1536. ©.
75: „Derhalben wird das ewige Leben nicht gegeben wegen
der Würbigkeit unferer guten Werke, fonbern aus Gnaben um
Chriſti willen, und iſt doch dieſer neue geiſtliche Sehorſam nd»
thig zum ewigen Leben, dieweil er auf die Verſohnung mit
Sott folgen muß.”
©) KRageberger’s handſchriftliche Geſchichte über Luther und
feine Zeit, herauss. v. Reudeder. Jena 1850. &. 81 ff;
vol. C. R. I, 159 ff,
4) Bol, Rrotemata dinlectices, ib. XIII, 674: „Est autem causa
vere sic dicta, quas non solam adest ociosa, sed etiam
re ipsa agit aliquid in pariendo efectum, aut pars est eius
rei, quae constituitur. Sed causa eine qua nom nihil
sgit, nec est para constitaens, sed tantum est quiddam, sine
quo non sit effectus, sen quod, si non adesset, impediretur
agens, ideo, quia illad non accessisset.”
) &.die ſchoͤne Promotionsrebe de philosophia, C.R. XI, 278 f.:
„Omnino Ilias malorum est inerudita theologia. Est enim
% Scwarʒ
Beranlsifung, da die in Abgang gefummenen üffentlichem
Medeubungen und Disyutarionen der Studirenden wieder
eingeführt werten, um fie im der Philviopbie und der Eis
Gerseit des Urzbeils za fürdern a).
Bir gedachten bereits des Planes, die ganze Phyſtk
38 bearbeiten, und der Dindermijje, weiche feiner Ausfüh-«
rung entgegentraten. Aernlich ging es wit ber Lehre von
der Eeele, weiche beionzers zw bebanteln, Melandithen ſich
vorgenommen hartz, und muriz er fi über die ganze wenich-
fie Natur verbreiten wolle b). Die vielfachen religiöjen
Verhandlungen ließen ibn fürs Erſte nicht dazu kommen <).
Aber er war dadurch auf Tie pfodolsgiihen Grundlagen
der Ethik geführt worden. Das zeigte fih in ter erfim
befondern Behantlung derſelben, melde er 1538 d) unter
dem Zitel: Epitome philosophise morulis, erſcheinen
eg. Sie ih dem jüngern Brüd dedicirt, ber in Witten⸗
berg die Rechte ſtudirte, und durch einen Gommentor zu
bewm viel belobten fünften Bude ter nikomachiſchen Ethik -
vewollſtaͤndigt. Eon daraus, wie aus dem biäher Bes
merkten, ergibt fi), daß fie nach ihrer pdilefophifchen Seite
ganz auf ariftotelifhe Principien gebaut feya wird, Die
eanfnsmen dactriea, in qea magnae res mon explicanter di-
#erte, miscentur ea, quse oportebat seiangi, rarsus illa, quaa
mtura eoninngi postalat, distrahentur, ssepe pugnantia di-
ewntar, vieim arripinater pro veris ac proprs. Postremo
tnta doctrina monstrosa est” etc., und bie beiden Reden über
Ari. ebend. ©. 342. und ©. 647.
a) ©, die Anfprade an die Gtudirenden im C. R. II, 189. —
Bel. VII, 622: „Quantum possumus, Deo inrante ego et alii
in hac academia samus hortatores, ut iarentus discat doctri-
nam de Deo et adiungat veram philosophiam.”
b) An Gamerarius, 24. Mai 1585. C. R. II, 878.
6) An Veit Diedrid, 13. Zuli 1537; ebend. III, 388.
4) Nicht erft 1639, wie Pelt a. a. D. 273. angibt. Vgl. C. R.
I, 8595 XVI, 20 fe Außer den von Bindfeil aufgeführten
und benugten ftraßburger Ausgaben liegt noch eine fehr fhöne
bafelee von 1538 und eine Leipziger von 1539 vor.
Melanchthon und feine Schüler als Ethiker. 25
Debdication fpricht fich darüber ded Weitern auß, indem fie,
ſowohl was die Methode, als was die Idee der Tugend
betrifft, welche Ariftoteled mit Recht in die richtige Mitte
fee, ihm über ale Andern flellt. Daneben hebt fie die
Notwendigkeit hervor, die menfchliche Natur zu erforfchen,
dad Verhaͤltniß ihrer verfchiedenen Seiten und die Beſtim⸗
mung einer jeben von ihnen zu erwägen und auf die eis
gentlichen Urfachen der Handlungen einzugehen. So weife
die Ethik auf die Phyſik zurüd. Die Ausführung zerfäut
in zwei Bücher, iſt aber noch fehr ungleich und verbreitet
fi, nachdem fie den Unterſchied zwifchen Philoſophie und
Evangelium in der ſchon berührten Weiſe feftgeftelt und
die Berechtigung der Sittenlehre dargeftellt hat, im erſten
Bude (a. a. D. S. @—64.), über die Beſtimmung des
Menſchen, die Hauptfrage in der Moralphitofophie. Man
Bann fie zunaͤchſt fallen als Gehorfam gegen die Vernunft.
Da aber die rechte Philofophie nur ein Theil iſt des goͤtt⸗
lien Geſetzes, fo ift es angemeffener, ald menfhlihe Be⸗
fimmung den Gehorfam gegen Gott anzunehmen, wähs
tend fie nach dem Evangelium darin beftebt, daß der Menſch
die ihm um Chriſti willen dargebotene göttliche Barmher⸗
igteit anerkennt, annimmt, aus Dankbarkeit für biefe
Bohithat Gott gehorcht und feinen. Ruhm verherrlicht.
Nah Widerlegung der epikureifchen Anficht wird dem ges
mäß der Begriff der Tugend gewonnen. Sie ift diejenige
Beſchaffenheit — habitus —, weldye den Willen zum Ges
borfam gegen die Vernunft, weiter gegen Gott beftimmt —
„iclinat.” In diefem Gehorfam befteht ihre vorzüglichfte
Birkfamkeit. Die Urfachen der Tugend liegen in dem richs
figen Urtheil des Verſtandes, welcher dad Sittengeſetz, na⸗
türlihes und goͤttliches, erkennt, und in dem ſolchem Urs
theil folgenden Willen, Naͤher betrachtet überlegen und
wählen wir bei der Tugend. Sie iſt ein habitus electi-
vus und führt fo zu jener mediocritas, welde bie Vers
nunft verlangt, Demnach muß es einen freien Willen ges
% J Schwarz
ben, eine Unterfuchung, bei welcher man fidh nach zwei
Seiten bin vor übertriebenen Anfichten hüten muß, damit
man weber der Sittlichkeit Eintrag thue, noch die Seg⸗
nungen Chriſti verdunkele. Das Richtige auf chriftlichem
GStandpuncte iſt, daß wir ben Mahnungen bed h. Geiſtes
oder dem Worte Gottes nicht widerfireben, fondern uns
dur das Wort Gotte ermuntern und ihm zuftimmen.
Dann ift der beil. Geiſt zugleich wirkſam. Auf eine
Darftellung der Affecte, welche befonders bie Zuruͤckweiſung
der ſtoiſchen Apathie bezwedt, und auf eine Erörterung
der Frage, ob, nad Plato, die Menſchen im Grunde wis
der ihren Willen fehlecht feyen, folgt eine Eintheilung der
Zugend. Bei ihr geht aber Melanchthon nicht, wie man
hier erwarten follte, auf die Carbinaltugenden ber griechi⸗
fen Philoſophie, fondern zunaͤchſt auf den Dekalogus zus
rad =). Seine beiden Zafeln geben bie Haupteintheilung
der Zugenden, welche fi auf Gott und auf die Menſchen
beziehen. Zu jenen gehören die innere und dußere Gottes
verehrungs; zu dieſen die allgemeine und befondere Gerech⸗
tigkeit, die Enthaltfamkeit und die Wahrhaftigkeit. Nun
erſt wird der Verſuch gemacht, die Tugenden auf philofos
phiſchem Wege nad) hen Zwecken der menſchlichen Natur
iu entwideln, eine Entwidelung, welche mit der Froͤmmig⸗
keit abſchließt und dann mit jener Eintdeilung nach dem
Dekalog verglichen wird. Dabei wird immer vorausgeſetzt,
daß er mit dem natärlichen Sittengefeh und den aus ihm
abzuleitenden praftifhen Principien zuletzt identiſch iſt b). —
Das zweite Buch verfucht, ald eine befondere Ethik die vers
ſchiedenen Arten der Tugend genauer darzuſtellen, beſchaͤf⸗
tigt fich aber faft ausſchließlich mit der Gerechtigkeit, „ber
Königin der Tugenden”, deren einzelnen Zweigen und ben
®) Bol. aud) ben Brief an M. Delius, welchen biefer feinen
vier Büchern de arte iocandi vorfegte, C. R. VII, 461., bes
ſonders 464. ,
b) &, 66: „Leges naturales sunt ipsae leges decalogi.”
r
Melandıthon und feine Schüler ald Ethiker. 27
damit zufammenhängenden, zum Theil ziemlich caſuiſtiſchen
Fragen, Diefe Fragen, 3. B. uͤber den Unterſchied zwi⸗
ſchen dem firengen Recht und der Billigkeit; ob nad ihr
oder nach dem gefchriebenen Recht zu urtheilen fey; uͤber
dab Recht des Befitzes; über den Zyrannenmord; ob es
etlaubt fey, Zinfen zu nehmen — wurden auch in den von
Melanchthon ſelbſt oder doch unter feinen Aufpicien verfaß: ‚
tem und gehaltenen fog. Declamationen und fonft vielfach
adrtert und nicht bloß nach philoſophiſchen, fondern chrift«
lihen Principien entſchieden a). Sie und die von ihnen
noch zu fondernden Propofitionen zu den oͤffentlichen Dis:
»utationen enthalten ein reiches ethifches Material und ber
wugen daß lebhafte Interefie, mit welchem baffelbe das
mals im Wittenberg verarbeitet ward, Auch hat in den
1595 von Melanchthon revidirten, 1586 publicirten Gefegen
für die Univerfität der Ethions die ihm gebührende Stelle b),
Die Epitome wurde oͤfters aufgelegt und infofern er:
weitert, als ſchon in der firagburger Ausgabe von 1540
die Tugend vollftändiger behandelt, auch außer dem Com⸗
menter zum fünften Buche ber nifomadhifchen Ethik noch
eine Abhandlung über die Contracte und über die vers
ſchiedenen Verwandtſchaftsgrade beigefügt ward e). Im
Befentlihen aber blieb fie bis 1550 dieſelbe, naͤmlich ein
Verfuch, auf der einen Seite philoſophiſche und chriftliche
Ethit aus einander zu halten, auf der andem bie Puncte
anzubeuten, wo ſich jene von biefer müfle durchdringen
taffen. Zu einer genaueren Durchführung, zu einer ties
fern Durchdringung und Befruchtung des philoſophiſchen
mit dem theologiſchen Element kam es nicht, In jenem
Jahre aber nimmt Melanchthon wenigftens einen Präftige-
ven Anlauf dazu durch die Ethicae doctrinae elementa,
3) Bel. C. R. XI, 66. 857. 550, 680. 669. 908.
b) Ebend. X, 1010, Strobel’s neue Weiter. I, 134.
c) C. A. XVI, 18 f. Die Abhandlungen feibſt S. 458 ff.
28 Schwarz
welche er feinem oben erwähnten Freunde Büren wibmet #).
Zwar fagt er in der Debication, er wolle nach dem Beis
fpiel des Sokrates über diefelben Dinge daffelbe, nur wahr
und mit den eigentlichen Ausdräden, fagen; zwar wirb
das Buch zu Anfang und in ben Golumnentiteln auch
als Epitome bezeichnet; daher ed nicht befremben kann, daß
es bei oberfhächlicher Betrachtung vielfach mit derfelben vers
wechfelt ward. Sieht man aber fhärfer zu, fo beftätigt
fi die ſchon durch den veränderten Haupttitel und bie
neue Debication wahrfcheinlih gemadte Vermuthung, daß
wir bier b) eine von ber früheren mehrfach abweichende
"Bearbeitung vor und haben, in welcher jene Durchfuͤh⸗
rung fefter angeflrebt und gerade bie Hauptfrage rein theos
logiſch beantwortet wird. Es ift bie nach dem hoͤchſten Gut.
Sowohl in metaphyſiſcher als fittlicher Beziehung iſt es
Gott; näher bie ewige und unwandelbare Weisheit in Gott,
welde dad Recht fefiftelt und den Unterfchied heilige zwi⸗
ſchen ihm und dem Unrecht, und der immer auf dad Recht
gerichtete göttliche Wille c), Danach wird jegt ber Bes
griff des fittlih Guten im Menſchen und der Zugend bes
flimmt. Die legtere wird wieder nach dem Defalog einge:
theilt, aber-bei den Tugenden ber erften Tafel ift Alles auf
die Idee des Bundes mit Gott und des göttlichen Ebens
bildes bezogen. Die theologifche Tendenz gebt auch durch
die Tugenden der zweiten Tafel viel beflimmter hindurch 4)
#) C. R. VII, 684 ff. — Bol. aud bie Vorrede zu Büren’s
Schrift Caussae, cur scholae philos, praefecti in acad. Ro-
stoch, ia disciplina resarcienda elaboraverint. Viteb. 1556.
€. R. VII, 628 ff. und XVI, 14.
b) C. R. XVI, 165 — 276.
c) „Bonum morale est ipse Deus, videlicet sspientia aeterna et
immota in Deo, ordinans recta iscrimen inter
recta et non recta, et voluntas Dei semper volens recta.”
Bol. audy die Debication an bie brandenturgifden Fürften v.
3. 1558. C. R. IX, 51%,
d) Bsl. was beim achten Gebot über bie Wahrhaftigkeit bemerkt
Melanchthon und feine Schüler als Ethiker. 29
md legt ſich befonder8 bei der Auseinanderſetzung über bie
Gerechtigkeit zu Tage, weil Melanchthon dazu durch die
Berpandlungen des regensburger Reichstages und durch
das, was fi) daran knuͤpfte, veranlaßt worden war =), Auch
sieht er weit häufiger Schriftftellen, namentlich in der Lehre
vom freien Willen heran und widerlegt bie aus ihnen ges
gen biefelbe überhaupt hergenommenen Einwürfe, Daß
dedurch das Ganze, zumal in den fpätern Ausgaben, wo
noch eine Reihe von andern Abhandlungen angehängt ift b),
bunter wird, ald bie Epitome, laͤßt ſich nicht leugnen, fo
wenig, ald daß zum Theil eben deßhalb die wiflenfchaftlis
de Form nicht mehr fo rein erfcheint. Ein Fortſchritt zu
einer eigenen theologifchen Ethik aber liegt dennoch vor. Es
fehlte jegt in der That nur an einem entfchiedenen Griffe,
um den Humanismus und die Pbilofophie nicht mehr fo
unvermittelt neben dem Chriftentbum ber, fonbern in dafs
felbe aufgehen zu laſſen und die Ethik, fey ed von der Idee
des hoͤchſten Gutes, fey es von der bes göttlichen Ebenbils
des aus, zu einem in ſich abzuſchließenden Ganzen zu ges
Ralten. Wenn Melanchthon diefen Griff nicht that, fo lag
der Grund davon theils in anberweiten, ihn faft erbrüdens
den Befchäftigungen, theils in der Ueberzeugung, es werde
fih der Theolog auf Grund des evangeliſchen Princips mit
Hülfe der von ihm zu wiederholten Malen bearbeiteten Dias
Iektit, des Schlüffels zu aller wiflenfchaftlichen Methode c),
wird: „Ideo Deus generi humano virtatam cognitionem tra-
didit, ut doceret, qualis sit ipse, quia vult nostras mentes et
volantates cum sua congraere” etc.
%) C. B. VII, 686: „Malvenda in colloquio Ratisbonensi propo-
auerat dilectione homines justos case” etc.
b) Quaestiones aliquot ethicae do iuramentis, de excommunica-
tione et aliis casibus obscari. C. R. XVI, 453 ff.
)C.R. XI, 514: „Ut omnes res numerat arithmetica et
saas habet ratiocinationes — ita de quocangae negotio fuerit
institeta explicatio, sumitur a dialectioa modus dooendi, de-
20 Eimez
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Lehre von ber Excie tie egeiie Emeie ter seinebie
ſchen Erix fane <,. Uber ach ia der Zbeninzke ii jene nicht
wm entbehrem, 1beis um bes Esuzzcuee a geizime Iifen-
berung riht!z zu wärtigen, theis mm Erkren wir tie vom
ver Erbfücde, dem freiem Bil, tem getrichen Ebenküte
sehbrig zu begreifen ©). Auf fie wird im ber Ausführung
fortwährend Nidfidt genommen. Pauins if dabei zulegt
Gem Melanqhihoa in yhiloſophiſcher Hinficht folgt, jedoch
mit Ausaahme der Echte von dem angeberenen Begriffen,
wo er fi einfach an Plate haͤlt e). Sogar der Begriff
der Secte wird, nachdem cr erſt in Uchereinfimmung mit
Anlendi, dividendi, comgmentandi vera argumenta et refatandi
false.”
©) ©. 2. 11,907, vu 1128.
b) Eben. KIN, 5 J. Bol. Matthes, Melandthen, 406 f.
€) „Cause virtutum et discrimina virtatam et vitioram sine hac
dnetrins ennspiei nequsguam possunt. Itague cum ceterne
artes multum sumunt ab hac doctrina, tum vero tota philo-
sophia moralis velut ex hac scatarigine manat.”
4) 0. AR. XII, 7.5 vgl. VII, 692: „Coepi retezere librum de
anima at Indico oportere in ecolesia talom aliquam lucubra-
tlmem extare.”
) c. R, Vi, 1100.
Melanchthon und feine Schuͤler ald Ethiker. 31
Lxiſtoteles feſtgeſtellt iR, weiterhin durchaus bibliſch gefaßt *).
Und fo fehlt micht viel: wir haben in und mit ber philofos
phüchen zugleich eine bibliſch. hriftliche Pſychologie oder
vielmehr Anthropologie vor und, welche großes Auffeben
mahte und ald der erſte deutſche Verſuch ber Art nicht bloß
Beranlaffung zu heftigem Streit, fonbern auch zu mehr oder
weniger gelungenen Rachbildungen gab b),
Aehnlich verhält es ſich mit der Phyſik, von der, wie
Relanchthon diefelbe faßte, die Pſychologie eigentlih nur
nen ausführlicher behandelten Theil ausmachte. Sie vos
endete er erft 1549 und widmete fie mit einer vortrefflicgen
Dedication dem Bürgermeifter Mihael Meienburg in
Rordhauſen als Initia doctrinae physicae «), Schon in
der erſten, nachher öfter gebrudten, im Weſentlichen aber
richt veränderten Bearbeitung d) enthalten fie in drei Bü⸗
dern nicht bloß, was wir jegt Phyſik nennen, fondern zus
sei die Metophyfil, Im ausgeſprochenen Gegenſatz zu
Liſtoteles beginnt Melanchthon hier mit der Lehre von
Sott und der Vorſehung und gibt von Gottes Weſen eine
reiche philofophifche, aber aus dem Evangelium zu ergäns
Fade Definition. Aus ihm will er auch bie neun für Gots
18 Dafeyn bier aufgefiellten Beweiſe vervollftänbigt wifs
fm. Ebenfo muß man fich bei ber Lehre von der Schoͤ—
Hung an die Schrift halten. Nachdem dann die eigentlis
2) „Anima est endelechia prima corporis physici organic, po-
tentia vitam habentia.” Dann: „Anima ratiovalis est spiritas in-
telligens, qui est altera pars sobstantiae hominis nec extin-
geitur, eum a corpore discessit, sed immortalis est.”
b) Bir meinen $ier namentlich bie drei Buͤcher de anima von
Beit Amerbad, melde bieler früher mit Melanchthon bes
freundete Docent in Wittenberg 1542 mit heftigen Angeiffen
auf ihn herausgab. In Folge bes Gtreites Lehrte Amerbach
in fein Baterland Baiern und zur katholiſchen Kirche zuruͤck
und warb Profeffor in Jugolſtadt. C. R. 1, 207, X, 833.
Rageberger von Reubeder, ©. 9.
q C.R. VI1,472f.— d) Ebend. XIN, 179. Matthes a.a.D.408.
32 Schwarz
che Kosmologie und Phnfi? abgehandelt if, fol die Lehre
vom RMenſchen folgen, die aber, weil fie ſchon in dem
Bude de anima gegeben war, bier nicht beſonders aus⸗
geführt iſt. Schließen fol fe mit einem Abſchnitt de fine
hominis. Die legten Kapitel „de anima” handeln auch
vom göttlicden Ebenbilde und won ter Unſterblichkeit der
Seele 3). — „Ita”, heiũt ed, „im physicz dimittit stu-
diosam tam ad medicorum doctriaam“, weßhalb fi
Melanchthon eine Zeitlang auch eifrig mit Anatomie be—
ſchaftigte b), „tum ad ethicen. Nam medici plura de
membris et partibus humani corporis, de qualitatum
varietate et effectibus, de mutationibus corporam dis-
pütant. Ethice vero, postquam a physicis gradus ani-
mae et diversas actiones, notilias, Grogyds, diversos
adfectus sumsit, hine doctrinam extruit de fine hominis,
de legihus naturae, quae regunt omnes actiones. Ita-
que si magnifacimus ethicen et dulcissimam naturae
cognitionem, necesse est haec exordia, quae in physi-
eis traduntur , cognoscere.” e).
Zaſſen wir Alle zufammen, erinnern wir uns an bie
var wicht felbftändig berarbeitete, aber in dem Gommen=
tar zu Arißoteles vom 3. 1530 immerhin angebahnte Pos
litit, deren engen Zuſammenhang mit der Ethik Melanch⸗
thon wohl erkannte 4), fo iſt Har: ed ſchwebte ihm ein
a) C. R. Xi, 170 f.
hard Buchs, ebend. II, 719.
f, 197., womit der Brief an den Meditiner Mir
11,126., zu vergleichen iR: „Nullam profectomaias
homioam in hac vita esse indico, quam copulationem
iavocationis Dei cum vera philosophia h. e. naturae
coonsideratione. Hsec ornamenta omnibus reguis et omnibas
triompbis antefero.”
d) @bend. 11, 463. und XVI, 417 ff. Umfaßt body nach Arifioteles
die Politik im weitern Sinne bie Etihk mit. Diefe aber bie»
tet wieber bie Brunblage bar für bie Politik im engern inne,
Wo. 9. Ritter, Geſchichte der Ppilofopbie 1, 294
Melandthon und feine Schüler als Ethiker. 33
Eyllem der Philofopbie vor, in welchem bie Iegtere mit
der Politik gewiſſermaßen die Spige bildete; die Phyſik in
Berbindung mit der Metaphyſik machte die Grundlage aus;
die Pſychologie oder Anthropologie war das vermittelnde
Glied; und die Dialeftif, von welcher er die Rhetorik ab⸗
fonderte, galt ihm als die MWiffenfchaft der Wiſſenſchaften,
welche durch die. von ihr aufzuftellenden methodologifchen
Prindipien allen übrigen Diciplinen dient «), — Diefe Con:
frution war in der Hauptſache von den Alten, insbeſon⸗
dere von Ariftoteles entlehnt umd auch fonft vielfach bes
folgt b). Aber fie erfheint in ben angebeuteten Puncten
bi Melanchthon eigenthuͤmlich modificirt und kann in mans
der Hinfiht an Schleiermacher erinnern, welcher auch
davon ausging, daß die philofophifche Ethik nur als Glied
“ned philoſophiſchen Syſtems und von einer hoͤchſten Wifs
ſenſchaft aus wahrhaft begründet werden koͤnne. Als folche be⸗
ttachtet er die Dialektik, welche aber nicht bloß die weſent⸗
Ühe Form des Wiſſens, dad Princip feines innern Zus
fummenhanges, fondern auch bad gemeinfame urfprüngliche
Viſſen als Princip feinem Inhalte nad zu beftimmen
bat, weßhalb er das letztere ald das tranfcendentalg bezeich⸗
ute). . [}
Nehmen wir nun auf der andern Seite dazu bie Vers
Änderungen, welche die Loci feit Anfang ber vierziger Jahre
im Sinne des Spnergismus erfahren hatten d), die Mils
CR. XIII, 515: „Dialectica est ars artiam, i. e. non digni-
tate antecedens, sed usu serviens omnibus artibus et scien-
tin,”
b) Bol. 3.8. : Totias philosophiee humanae in tres partes, nem-
pe in rationalem (Dialektif), naturalem et moralem, dige-
wio earundemque partium laculentissima descriptio. Hiero-
aymo Wildenbergio Aurimontano dissertore. Basilene 1546.
9) Bgleiermager’s Gittenlehre von Borländer. Marburg
1850. &. 90 f.
9) S. befonders den Zuſat über das liberam arbitrium in ber
Untg. ©. 3, 1548 bei Balle, ©, 818. — Wie daher Cal⸗
Tpesl, Stud. Jahrg. 1853, &
34 Schwarz
derungen, zu denen ſich Melanchthon in den Verhandlun⸗
gen über dad Interim ruͤckſichtlich dieſes Punctes verftand,
die wachfende Entfchiebenheit, mit welcher er ſich für bie
Nothwendigkeit des neuen Gehorſams und ber guten Werke
denen gegenhber ausſprach, welche fogar die Schädlichkeit
derfelben behaupteten ⸗), die Umficht endlih, womit er
ebenfowohl von dem Patholifchen Irrthum in der Recht:
fertigungslehre, wie von dem Pelagianismus und dem Erz
trem Dfiander’5 fern blieb, ohne doch den Zuſammen⸗
bang zwifchen Rechtfertigung und Wiedergeburt, Wieder:
geburt und Heiligung zu alteriren b): fo waren in bem
legten Decennium feiner Wirkſamkeit die Weranlaffungen
und Bedingungen zu einer eigenen theologifhen Etbik noch
mehr ald früher gegeben. Melanchthon felbft vollzog fie
aus den angebeuteten Gründen nicht. Wohl aber machte
dazu 1555 zunddf fein Schüler Ehyträus den von
Pelt (Stud, und Kit. a. a. D. ©. 274 f.) charakteriſir⸗
ten, freilich noch ſeht unvolltommenen Verſuch. Nur dag
man, um gerecht zu feyn, feine Regulae vitae seu virtu-
tum descriptiones in praecepta decalogi distributae nicht
pin Tepistolae et responsa, ep.179.) noch 155%, als ex ſich
gegen einen Angriff auf feine Präbeftinationsiehre vertheidigt
hatte, Melanchthon fagen konnte: „Scribebam nuper de illo
doctrinae capite, in quo magis dissensum tnum dissimulas,
quam a nobis dissentis,” wäre unbegreiflid, wenn ber Menſch
nicht gern für wahr hielte, was er wünfdt. Man vergleiche
üderdieß Melanchthon's Brief an Marbach von 1552, C. R.
Vvit, 1166,
a) Gbend. 856 f.
b) An Oflander’s Schwiegerſohn Beſol d 22. Jan. 1551: „Socer
taus ita in nos invehitur, quasi nihil de renovatione dica-
mus. Vera pietate nos quoque et de fili Dei praesentia in
renatis et de vivificatione et renovatione omnia diximus. Sed
etiamsi novitas inchoata est, tamen retinenda est consolatio
de impatatione.” C. B. Vil, 727. — Bgl. ben Brief an
Menius, dal. 678,, und an Dfiander felbft 778,
" Melandhthon und feine Schüler als Ethiker. 85
biaß nach der frühern, von Melanchthon veranlaßten und
bereit ſehr gefchägten =), fondern nach ber legten Ausgabe
von 1598 beurtheilen muß. Im ihr findet fi ein Anhang
Aber Befen, Grund, Form und Eintheilung der chriſtlichen
Tugend, welcher manches früher Werfehlte verbeffert, bes
fonder8 den Unterfchieb zwiſchen Tugend und Pflicht, wenn
and) nicht genügend, hervorhebt und dem Banzen eine alls
gemeine wiflenfchaftlichere Grundlage geben fol. Ch yträus
wollte offenbar eine umfaffendere Zugend » und Pflichtens
Ihre liefern. Wie er ſich aber dabei nad) weit verbreiteter
Eitte viel zu einfeitig vorzugsweiſe an den Dekalogus ans
ſqließt, fo tritt bei ihm auch die Idee des höchften Gutes
Wlig in den Hintergrund. Auch iſt das Ganze nody zu
wenig theologifch gehalten, als daß es für fehr bebeutend
gelten koͤnnte.
Ziemlich auf gleicher Stufe mit ihm fleht Wietorin
Gtriget, welcher nach der Befreiung aus feiner ſchmach⸗
volen Haft nur noch kurze Zeit in Iena lehrte und fi
dann nach Reipzig wandte, wo er eine Profeffur der Dogs
matif und Ethik antrat b). Die letztere trug er nach ber
Epitome Melanchthon's vor. Diefe Vorträge wurden ſpaͤ⸗
tr nad) einem Heft aus bem Jahre 1567 herausgegeben c),
"CR. X, 678. VII, 422., wo Melandthon zugleich feine abs
weidyende Anordnung bei den Gründen ber Tugend berührt und
Minzufägt, SHyträus möge bie Sache body noch einmal ers
wägen. Gr wünfdt, fie koͤnnten das Werk auch im uebri⸗
gen banady zurecht legen. Mithin hat ex auf die fpätern Aus⸗
gaben einen pofltiven Einflus geübt. Vol. Strodel, neue
Beiter. 4, 11. S. 150.
b) „Munus commendavit (Princeps) re ipsa amplissimum, videli-
cet explicutionem doctrinae de Deo et de virtutum ofliciie”,
heißt es in feiner Antrittsrebe vom 1. März 1568.
q In Epitomen philosophiae moralis Phil. Melanchthonis “Txo-
aripera Vict. Strigelii. Exoepta de ore ipsias in praelectionibus
pablicis, quibus in academia Lipsiensi ante annos quindecim ra-
tione docendi captui iuventutis scholasticae accommodata illu-
ar
36 Schwarz
Hier iR der Zugendlehre befondere Sorgfalt gewidmet. Sie
wird erft (S. 203 f.) kürzer, dann (©. 388 f.) ausfuͤhr⸗
licher nach dem Dekalog entwidelt und babei ber Unter:
ſchied zwifchen der chriſtlichen und philoſophiſchen Zugend
erörtert. Am ausführlihften ift auch Strigel bei ber Ges
wehtigkeit (&.571 f.), Bann ſich aber von den oben angebeus
teten Mängeln der Epitome nicht losmachen. Seine ganze
Methode ift befonders infofern intereflant, als fie zeigt,
wie damals von der melanchthon'ſchen Schule die Ethik ‚in
ven alademifchen Borlefungen behandelt zu werben pflegte,
denen jened Lehrbuch noch lange zu Grunde lag, weßpalb
«& bis zu Ende bed 16, Jahrhunderts unzählige Male aufs
gelegt wurde ®).
Sogar auf den Gymnaſien wurbe danach gelehrt. Ders
felbe Pegel, welcher die firigefffchen Hypomnemata, fpd«
ter bie Bedenken und die Postilla Melanchthoniana edirte b),
gab 1589 zu Zerbſt in zwei Theilen die Epitome mit ben
Grläuterungen heraus, welche er den bremer Symnafiaflen
dazu vorgetragen hatte. Und wie hoch man Melanchthon's
Berdienſte um die Ethik hielt, ergibt fih u. A, aus dem
Urtheil: „Etsi Socrates, Plato, Aristoteles de morali
Pphilosophia multum copiose et erudite disserunt, ta-
men longe praefero scriptum rev. praeceptoris, qui
doctrina ecclesiae adiutus de fine hominis, virtatibus
stravit initia doctrinae ethicae. Opera et atadio Christoph.
Pezelii. Neapoli Nemetum 1582, 818.5 vgl. C. R. XVI, 17.
VCRaaD..
b) &ie wird bei ber Wortfegung des C. R. einige Roth machen.
Sollen die vier ziemlich ſtarken Bände gang gegeben werden,
fo dürften fie kaum in Gin Volumen geben. Auch enthalten
fie gar Viele, was nit mehr brauchbar iſt. Und body if
auch wieder ein Auszug ſehr mißlich. Rach der bisher befolgs
ten Methode müßte das Ganze erſcheinen. Dann aber wird
ſich der Herausgeber zu einem tüchtigen Kegifter entichließen
möüffen, das wir bei feinen Aiſchreden Luthers ſchmerzlich
vermiffen.
Relanchthon und feine Schüler Als Ethiker. 37
et affoctibus ita perspicue, eleganter et erudite dispu-
tat, ut nemo sit in hoc genere, qui eum aequare, tan-
tum abest, ut superare posse videatur” 2). Schade, daß
die Meiften bei ſolcher unbebdingten Bewunderung feine
Lehre nicht felbftändig fortbildeten, fir die eigentlich theolo⸗
giſche Ethik zu wenig leifteten und ſich immer mehr von
dem wieder eingeriffenen Formalismus beherrſchen ließen,
Noch am gluͤckichſten vermeidet diefe Fehler ein Mann,
auf welchen neuerlich auch wegen feiner Werdienfte um die
Paforaltheologie hingewiefen wurde b), während das Buch,
von welchem wir reben, fo gut wie ganz vergeffen if,
Bir meinen Nikola us Hemming, geboren im Dorfe
Embolds auf Laland 1513, fünf Jahre lang Melanchthon’s
Zuhörer, fpäter Profeflor der griechifchen Sprache und Dias
lekttik, audy Pfarrer zum h. Geift und Vicekanzler zu Kos
penhagen.
Bereits 1557 verfaßt er ein dem König Chriſtian II.
von Dänemark dedicirted Werk: Enchiridion theologicum,
praecipua verae religionis capita breviter et simpliciter
explicata continens, von welchem mir eine leipziger Aus⸗
gabe von 1562.44 SS, 81.8, vorliegt. In ihm will er in
die Theologie Melanchthon's einführen, „clarissimi viri,
praeceptoris optime non solum de me, sed de tota ec-
clesia Christiana meriti.” Wie aber verfährt er? Nach ei-
nem kurzen einleitenden Theil über die Principien der Theo⸗
logie, welcher an bie in demfelben Jahre zu Wittenberg er:
fbienene Heinere Schrift Hemming’ö de methodis ers
innert, koͤmmt er zur Eintheilung des Werkes, Zwei Haupt:
Kfihtspuncte find dabei im Allgemeinen feflzuhalten: das
recte sentire, bie yvüdıg, und dad recte agere, die zod-
bs. Die letztere habe Melanchthon, „hic vir Heooaßiorarog .
al puaindborarog”, wie überall, fo auch in den Locis bes
a) Bei Richter: Crises Melanchthonian. Viteb. 1592. p. 72029.
BIRLET, praktiſche Theologie 1, 65. und 80,
38 i Schwatʒ
fonbers im Ange. Sein Streben gehe immer dahin, ut
doctrinam lectoribus accommodet. Darauf fey ed jetzt
arch bei ihm abgefchen. Und fo werde er in einem erſten
Theile won dem handeln, was ſich auf ben Snadenbund oder
auf die Berheigung und das Reich Chriffi beziehe; der
georite fol die allgemeine Regel für bie Geflaltung des chriſt⸗
lichen Lebens — communem formandae vitae regulam —
vergichnen; der britte enthält dad regimen ecclesiasticum,
der vierte die vita politica et oeconomica. Der erfie könne
Wergebracktermaßen als Evangelium, die Gefammtheit der
übrigen als Sefeh bezeichnet werben, obwohl in einem ge⸗
wiſſen Einne dad Gefeg, nämlich als praktiſche Lehre, auch
auf das Banze paſſe. Within eine Auffeffung und Gties
derung des Stoffes, welche in der Hauptfache an Hit»
ſcher's Darfielung der chriftlihen Moral gemahnt. Im
+ Einzelnen vollzieht Hemming die feinige fo, daß der erfie
Tbeil (S. 5 — 117.) handelt von Gott, der Schöpfung
umd Borfehung, dem Menſchen, der urfprünglichen Serech⸗
tigkeit, dem liberum arbitrium, wobei feine Bemerkuns
gen über den Unterfchleb zwiſchen der Freiheit ald Vermoͤ⸗
gen und als Zuſtand und über ihre Gegenfäge; von dem
Bufäligen (contingentia), der Sünde und ihrer Gtrafe,
ber Zurechnung (verbum accusans), dem Evangelium, der
Reue, der Rechtfertigung, der Heilsordnung und dem Reis
de Ehriſti, welches als das Heildgut gefaßt wird und
den erften Theil abfchließt. Der zweite Theil betrachtet zus
voͤrderſt das Gefeg überhaupt und den Defalogus im Be⸗
fondern, bleibt aber nicht an ibm haften, fondern gebt in
freierer Weiſe fort zur Darftelung ber Froͤmmigkeit und
Gottesverehrung im engern Ginne, zu einer allgemeinen
Kehre von dem guten Werken, unter denen, ganz im Ginne
Melanchthon's, die guten Gefinnungen mit begriffen find,
zu den Werken der Liebe, dem chriftlichen Beruf, der Lehre
von den Gelübden, dem Gewiffen, das hier freilich fehr
unpaflend eingefchoben ift, dem alten und neuen Menfchen
Melanchthon und feine Schüler als Ethiker. 39
und defien Streben und zu dem Buchſtaben und @eift, in
bfern der alte Menfch unter jenem fleht, ber neue von
defem vegiert wird, — Der dritte Theil (S. 192— 350.)
Müpft an die Präbeftination die Lehre von der Kirche,
Da die Bürger ded Reiches Chriſti der Außern Inflitute
nicht entbehren Fönnen, fo werden diefe jetzt dargeſtellt.
Doch iſt vor Allem ein Bekenntniß nöthig. Daher geht
Hemming ziemlich ausführlih das Symbolum aposto-
licum durch. Gebet und Lehre, bie Sacramente ald Bun:
deszeichen, der geiflliche Stand und die Kirchengewalt, bie
lirchliche Autorität und die chriftliche Freiheit, die Geremos
nien und kirchlichen Adiaphora, Aergernig und Kreuz, ine»
fofern es der Kirche aufgelegt wird, endlich die Ertödtung -
des alten Menſchen werden weiter durchgeſprochen. Der
vierte Theil hat zum Inhalt die Obrigkeit, die bürgerlichen
Geſetze und Gerichte, Strafe und Eifer für Recht und ges
gen das Unrecht, die Lehre von Werträgen und Binfen,
Herrſchaft und Dienfiverhältnig, Hausfland, Ehe =), vaͤ⸗
terliche Gewalt, Gebraudy der irdifhen Güter, erlaubte
und unerlaubte Sorge, Er fchließt mit der chriſtlichen Bol-
toramenbeit,, welche in ihrer Wollendung eintritt im feligen
beben.
Wie unvollkommen, hin und wieder unbeholfen nun
auch die Gliederung im Einzelnen iſt, wie viel die Durch⸗
führung zu wönfchen übrig läßt, welche mehr caffificirend
Definition an Definition reiht, als daß fie eine fortfchreis
tende, organifch gegliederte Entwidelung verſuchte — im Als
gemeinen ſchwebt nnferm Werfaffer ein Syſtem der Theos
logie vor, welches mit überwiegend ethifher Tendenz im
aften Theil dad Heilsgut — das Reid) Gottes und Chriſti —
) Ja dem von Joh. Stoͤßel 1572 zu Leippig Herausgegebenen
Libelles de coniagio, repudio et divortio behandelt Sem:
ming auf der im Enchiridion gegebenen ethifhen Grundlage die
genannten Materien ausführlicher in mehr rechtlicher und pas
Rocats theolosiſcher Beziehung.
40 , Schwarz
darftellen folte, fowohl wie es auf der Offenbarung und
Erlöfung rubt, mithin objectio, als nach feiner fubjectiven
Aneignung dur Buße, Glaube und Rechtfertigung, Der
zweite Theil gibt eine Pflichtens und Zugendlehre, jedoch
fo, daß. die erſtere noch vorherrſcht. Der dritte und vierte
follen die fortgehende Verwirklichung bed Reiches Gottes in
den größeren Formen des gemeinfamen Lebens nachweiſen,
indem nach der bekannten Lehre von ben drei Ständen der
status ecolesiasticus, dann per politicus und oeconomicus
befchrieben werden — eine Anordnung, welche ſich getroſt
neben die von dem Lutheraner Eigen und dem Refors
mirten Daneau fielen Tann, ja felbft über ber des er⸗
ftern ftehen dürfte. Der Iegtere dagegen hat vor Hems
ming bie in ihrer Art treffliche anthropologiibe Grund»
lage voraus, Sicher hat aber auch er mit Rüdfiht auf
Melanchthon gearbeitet, wie fich nicht bloß aus dem Vor⸗
wort Beza's zu feiner Ifagoge =), fondern auch daraus er⸗
gibt, daß er, wie Melanchthon, bie Phyſik 1575 befonders,
jedoch ausdrüdti als chriftlihe Phyſik behandelte; deögleis
hen die Politit, welche zu beiden hinzugenommen werden
muß, um feine ganze, "in der That großartige Anfhauung
gehörig zu würdigen b), Die Ethif wird durch fie nach der
Seite hin vervolftändigt, auf welcher die lutheriſche Theo⸗
logie, jedoch nicht durch die Schuld Melanchthon's, von ber
teformirten immer mehr überflügelt wird, wogegen Hems
ming bie Politik, fo weit fie in feinen Plan gehört, mit
in fein Syftem zu verarbeiten ſucht. Nach jener echt pros
teftantifhen Anfbauung Daneau’s hat bie Theologie feine
zur Unwahrheit gewordenen Sagungen, Beine auf bie geis
“) Bei Schweiger, Stud. und Krit, 1850, 1, 23.
b) „Comandam nobis est, ut politicen quoqua Chri m con-
scribamus atgae superioribus laboribos opusculisque nostris
adiungemus, ne qua in parte videatar disciplina dootrinaque
Christiana vel inferior vel minus locuples, quam profana phi-
losophia.” Borr. zur Politik,
Welanchthon und feine Schüler als Ethiker. 41
fige Unmündigkeit der Menfchen gebaute kirchliche Herr⸗
fdaft mehr zu vertreten, fondern das immer reicher fi
enthülende Naturleben, die Wiſſenſchaft, die Politit und
Eittenlehre der claffifchen Welt, welcher man fih in er
neuter Freiheit und Regfamkeit zumandte, galt ihr ald ber
kräftig zu erfaflende Stoff, welcher mit dem Licht und Les
ben des Gvangeliumd durchdrungen und geheiligt werben
folte,
Um aber Hemming’s Bedeutung als Ethiker voll
Röndig zu würdigen, müffen wir zu feinem theologifchen
Berle ein pbilofophifhes, De lege naturae apodictica
methodus, hinzunehmen, weiches zuerft 1562 erfchien, 1564
und 1577 wiederholt wurde und für bad Naturrecht des
Reformationszeitalter& von großer Bedeutung iſt =). In der
an den Senator Erich Krabbe gerichteten Zufchrift wie
in der eigentlichen Vorrede meint Hemming, ed müſſe
das natuͤrliche Sittengefeg theild aus den dem Menſchen
angebornen fittlihen Anlagen entwidelt, theild aus dem
Iwede des Gefeges dargeftellt werden. Diefen analytiſchen
Beg hätten weder die alten Ethiker eingefchlagen, noch
Nelanchthon, „cuius sanctissimi viri decus nec viperina
multorum ingratitudo nec occultae malevolorum in-
sdiae nec apertae adversariorum calumniae obscura-
bunt unquam.” Jener Weg fey aber nöthig, um bie
Principien und Elemente der Ethik mit einer Gewißheit zu
finden, welche der mathematifchen Gewißheit nichts nach⸗
geben dürfe. Geführt fey er zu feinem Verſuche durch die
Auslegung des Römerbriefes, befonders dur Kap. 2.
welcher freilich auch zeige, wie man durch die bloß natür«
lie Erkenntniß weder zu ber tieferen Einfict in den nas
türfihen Schaden (vulnus naturae), noch zum Heilmittel
a) Bol. v. Kaltenborn, zur Geſchichte des Natur» und Böls
terrets und der Politik. Mb. I. 1848. ©. 287. Im Anhange
©. 26 f. ein Auszug daraus, der aber bie gerabe für uns wich⸗
tigeren Partien zum Theil uͤbergeht.
42 Schwarz
daffır Tomme, Immerhin fey jene Erkenntniß unerlaͤßlich,
weil das natürliche Sittengefeg gewiſſermaßen in Wergefs
fenbeit gerathe. Hemming entwidelt baffelbe zuvoͤr⸗
derſt zu feinem vollen Begriff. „Lex naturae est divini-
tus impressa mentibus hominum notitia certa prin-
cipiorum cognitionis et actionis atque conclusionum
ex istis principiis demonstratarum proprio fini homi-
nis congruentium, quas ex principiis necessaria conse-
quentia ad humanae vitae gubernationem exstruit ra-
tio, ut homo ea quae recta sunt cognoscat, velit, eli-
gat, agat vitetque contraria, quorum omnium et testis
et iudex conscientia kominibus divinitus est attributa.”
Darauf werden bie einzelnen‘ Momente des Begriffs durchs
gegangen, und hier bringe Hemming bie oben vers
mißte Anthropologie durch reiche, tief eindringende Betrach⸗
tungen nach, indem er zuerft von der Erkenntniß, und zwar
zunaͤchſt der niedern finnlichen Erkenntniß und dem ihr ents
ſprechenden Begehren — appetitus animalis—, dann von
ber höhern, ber cognitio intellectiva, und dem ihr entfpres
&enden appetitus rationis handelt und dabei nach Reuds
lin's Vorgange feharffinnig die verfchiedenen Stufen uns
terfcheidet. Das Princip für die letztere Art deö appetitus
iſt der Wille, Für ihn gelten, genauer betrachtet, wieber
zwei Arten von praktifchen Principien — einfache, bie fitte
lichen Begriffe gut, recht u. f. w. an fih, und zuſam⸗
mengefeßte, bie fittlichen Urtheile: das Gute iſt zu er⸗
fireben u. f. w. Weiter wird der Zweck des Geſetzes auf
den Zweck des Menſchen und feine Beſtimmung zurüdges
führt, Won den drei verſchiedenen möglichen Anwendungen
des Bwedbegriffs, von denen bie erſte innerhalb des Gegen»
flandes bleibt und feinen volfommenften Zuftand ins Auge
faßt, bie zweite feine eigenthümlichen Thaͤtigkeiten betrifft,
die dritte ihn im Zuſammenhange betrachtet mit allen Übris
gen Dingen und alles Niebere zulegt auf Ein Hoͤchſtes bezieht,
führt die deitte zu Bott,. „Deus ultimus omanium finis. Is
Melanchthon und feine Schüler als Ethiker. 43
«aim solus absque omni dubio summe bonus est.”
Berwirrt fi) nun auch von da ab die Betrachtung etwas,
indem Hemming nad) dem bekannten Fehler ber Schos
laſtik den Begriff des metaphyſiſch von dem des fittlich Gu⸗
ten nicht ſcharf genug fondert und weiter auch die religiöfe
Dee des hoͤchſten Gutes mit der ethifchen hin und wieder
vermifäht, fo thut das doch der Hauptſache wenig Eintrag.
Denn die legte Beflimmung des Menfchen, fein hoͤchſter
Ziel⸗ und Strebepunct, oder das von ihm zu verwirklichende
Maße But, bleibt immer die Erfenntniß und Verehrung
Wer Berherrlichung Gottes, eine Idee, welche auf den ers
hen Theil des Enchiridion zurüdweißt, jegt aber bloß philo⸗
ſophiſch ausgeführt wird,
Auf diefe allgemeine Ethik folgt die befondere, die
Darſtellung des fittlichen Handelns nad) den einzelnen Geis
ten des Lebens bdergeftalt, daß nach dem Vorgange ber
Uten eine theoretifche und praktifche Seite im engern Sinne
uterfcjieden wird. Diefe zerfällt in das häusliche, bürs
gerliche und geiftliche Leben, auf welches Iehtere bie beiden
eften Arten immer zu beziehen find, Das Geſetz dafür
enthält die erfle Tafel des Dekalogus, während bie zweite
das für ben status oeconomicus und politicus bringt,
So erhalten wir auch bier wieder eine dekalogiſche Ausle⸗
gung, jeboch mit dem Unterfchiebe, daß der Dekalog nur als
epitome legis naturae bargeftelt wirb, An fie reihen
ſich die vier alten Garbinaltugenden, jede mit ben ihr ent«
wahhfenden Zweigen. Daß dabei die Gerechtigkeit am vers
biitwigmäßig reichften bedacht wirb, laͤßt ſich erwarten. Bu
ihr gebört auch die religio, pietas, gratitudo, innocentia ;
wu fortitudo die magnificentia, fidentia, patientia und
perseverantia. Alle Haupttugenden find mit einer gu⸗
tm Auswahl von Gitaten aus den Alten belegt. So auch
die Lehre vom Gemiffen und beffen verfchiedenen Aeuße⸗
rungen, welcher ber befannte Syllogismus practicus Mes
lanchthon's zum Grunde liegt, Auch er führt zuletzt auf
4 Eimer;
Gert mub die Dffenbarung. Fre Iustprüche wül aber
Hemming bier xidt weiter beramzichen mut werfelgen,
wei « zur habe zeigen wollen, id wehin bie Bernumft
ogne tie Eriamme der Prepdeten uud Apeflel fommen könne.
Dieß # xun im ter That weit geaug. Sa, bei der
Eiteitung zum Defalog fammeit unter Berf. eine Reihe
von Stellen aus den Glafilırn zum Beweis, daß and) dem
Heiden vie Extruntsig des Cinen wahren Gotted und ter
Rotpweriiigfeit, in jm verehren, gar möcht fremd gemein
Ten. Rus wenn es güt, berams Vie erforderlichen Gonfe-
quenyen fir Berfiand und Willen zw ziehen, tappt felbt
ein Sokretes im Finfkern. Zeigt behltr vi Dffenberung
immer ige guieh Met und ihre dode Bedeutung. Cie ik
wumiteiber erbaufihem und esiztifchem Charakter iR, Yier
Made we gehe). Dirfe Do ans nur Rad
fem fortwährend in inniger Berbindung’blieb d), an deſſen
und Hemming’s Leiflungen fehr bedeutende WBorarbeiten,
und man Bann fragen, ob er nicht, was Schärfe und Ziefe
betrifft, überhaupt unter dem letztern ſteht. Diefer iR ſchon
durch fein Enchiridion, mehr noch durd die Schrift de
lege natarae allerdings ber Zendenz zugewandt, welde,
e) Via vitae Christian et orthodera institatio, comploctens prae-
eipes religionis capita, quse homini ad salutem consequen-
dam cogaitu mecessaria sunt, tradita a N. Hemming.
Nusc primum ex Denica translata ab Andr. Severino Vel-
leio. Francof. ad M. 1580. tt. 8.
b) Bergl, C. R. IX, 489. u. 1080.
Welanchthon und feine Schüler als Ethiker. 45
mie wir oben andeuteten, die teformirte Kirche und Theolo⸗
gie verfolgten und die in Daneau ihren würdigen Aus⸗
drud fand. Und als ſpaͤter die fogenannte lutheriſche Or⸗
todorie mit bem einfeitigen Dringen auf „reine Lehre und
richtig Sacramentꝰ in ihre volle Blüthe trat, als fie einen
Relandthon immer unverfländiger verläfterte. und feine
Säule von allen Seiten anfeindete, als von ihr mit einer _
oft wahrhaft enpoͤrenden Laxheit dem Buchflaben des Dogma
der Ernſt der Sitte und Zucht geopfert wurde, da neigte
#6 Hemming mehr und mehr der Kirche zu, die diefen
Ernk in Lehre, Verfaflung und Leben entfeiedener zu wah⸗
sen fuchte, und befannte offen, die ſaͤchſiſche Reformation
babe die Menfchen noch nicht genug zu beflern vermodt.
Des Calvinismus verdaͤchtig verlor er feine Stelle in Kos
venhagen und flarb erblindet am 23, Mai 1600 als Kanos
us in Rotſchild »),
2.
Sofephus
und
feine griechiſchen und helleniſtiſchen Führer;
weiter Brief an die Doctoren ber Theologie
Ullmann und Umbreit.
Bon
D. Friedrich Erenzer.
Ihr fortdauerndes Vertrauen will ich dadurch zu er⸗
wiedern fuchen, daß ich biegmal von dieſem jüdifhen Ges
ſichtſchreiber und feinen fremden Führen überhaupt fpreche,
da ich in meinem erſten Briefe nur fein Werhältniß zu dem
) Ehrddy’s Kirchengeſch. feit der Reform. IV, 468.
umer
seruue der Dummesles berührt hatte (Sabre. 1850.
Sn .2a N Jurafe gebe ich vom der Schrift aber
este aus werin ih zuerſt feine Perfönlidkeit mit
Nursdüestterzugen derfelben fund gibt, gehe fobann zu
sun Weremik gegen Apion über, woraus feine Ur.
‚ne Adet audlandiſche Wiffenfhaft und Eitteratur am deut:
‚len dereertreten, umd werfezulegt einige Blide zunächfi auf
we zudiſche Seſchichte amd auf andere feiner Schriften.
Sa jener Selbſtbiographie Bann unfere Abſicht jedoch
nit fowehl darauf gerichtet ſeyn, ben Berlauf biefed Ber
tens felb zu verfolgen, dem wir als befannt vorausſetzen
Yürfen, ald vielmehr darauf, foldye Pırncte hervorzubeben, welche
keu Joſephus ald Menſchen und als Gchriftfielier charakte⸗
ven, einige Fragen aus dem Gebiete der höheren Kritik
ya eroͤrtern und dabei bad Hauptwerk, die Seſchich te
des ganzen Volkes, im Auge zu behalten, wovon biefe
Lebensbeſchreibung ja eigentlich nur den Beſchluß bildet =),
Dbſchon nun bier die Specialkritit eigentlid) meine Abficht
wicht iR b), fo muß ich dod von einer Bemerkung über
den Namen bes Mannes ausgeben, „der ſich vollftändiger
«is in unfern Handfhriften TZitus Flavius Joſephus ge-
nannt habe” c). Was nun die Perſoͤnlichkeit des Sofes
a) Euseb. Hist, eccles. III, 10. mit Heor. Vales. p. 47 2q. und
Hudfon zum Anfang Diefer Biographie feidf.
b) In Betreff biefer verweife id; die Lefer auf meine Kecen⸗
fon von Flavii fosephi Opern Graece et Latine,
Recoguorit Gail. Diedorfius. Paris. ap. Didot. 1847.
2 Voll, in den Münchner Gelehrten Anzeigen. 1848. Rr. 117
10.
©) Ramlich: „Tirog (nicht Tiros, wie Dberthür noch ſchrieb)
@aßıos 'Icermog — weldger ohne Zweifel von dem Kaifer
berflammte, der ihn zum Gefangenen gemadjt und ihm das roͤ⸗
milde Buͤrgerrecht fpäter geſchenkt hatte.” Riebupr, röm.
Geld. V. ©. 272. — In den neuefen kritiſchen Zerten finden
fi jedoch davon Feine Spuren, und es if bieß wohl eine der
Paradozien, die Riebupr ſich mit Ramen erlaubt hat. Der
beräpimte Glient des Sulla Heipt auch Gornelius Zlerander (Por
Sofephus u.feine griechiſchen u. helleniſtiſchen Führer. 47
aus betrifft, fo tritt fie zwar in allen feinen Werfen zum
öfteren hervor, namentlich aber in dem Anfang und Eins
sang diefer Schrift (Blog oder de vita sua. Vol. I. p. 798.
ed. Dindorf.) und am Schluſſe der Archäologie (XX, 11.
6.791 f.). Wenn aber die nachfolgenden griehifhen und
Umifden Autoren ſich begnügt haben, über ihn als Hiſto⸗
ner in Gunft oder Ungunft ganz allgemeine Urtheile aus⸗
iufprechen, worin ihnen die neuern bis zum vorigen Jahr⸗
hundert meiſtens gefolgt find =), fo iſt man feit I. A.
Ernefi ineinetiefere Würdigung deſſelben als Menſchen und
as Schriftſteller eingedrungen und hat befien hiftoriogras
wilde Eigenfchaften im Einzelnen kritiſch gewürdigt.
Bon den Ergebniffen dieſer Krititen gehe ich zunaͤchſt
ws, indem ich mitunter Früchte meiner eignen Studien
änftteue, und gehe ſodann zur Betrachtung einiger Haupts
yancte in den Werken des Joſephus und befonderd zur
jegt erſt möglichen Beleuchtung feines Verhaltens ges
gen außländifche Gewährsmänner über.
Des Iofephus Water war, wie bie oben berührte Eins
kitung und das erſte Kapitel befagen, priefterlihen Ges
fhleiht6, bie Mutter ſtammte aus dem ber Hadmonder oder
Ighitor) und nicht Lucius G. Alex., alfo ohne den Vornamen
feines Patrone, I nehme fogleid den Ramen bes Waters
mit: Joſephus fagt cap. 2. init.: 'O warng 84 mov Mardlag,
und Matthias ſchreibt auch richtig der deutſche Ueberfeger
von den Werten bes Joſephus, Job. Friedr. Gotta, Tuͤbingen
1786. 1. ©. 8. Dagegen Schoell, Hist. de Ia litt. greog.
IV. p- 108. „Flavien Josephe fils de Mathias.” Roc um
richtiger heißt es in Pauly’s Mealencı
„Blavius Joſephus, Sohn des Matthäus”, über melden
Unterfjied Alberti adHesych. sub voo. ſchon belehren Bonnte,
©) Man findet fie alle bei Hudfon, Havercamp, Babricius
und Gotta zufammengefielt. Zu benen der fpäteren Sriechen
dabe ich ein fehr ungünftiges Urtheil über bie hiſtoriſche Treue
des Zofepbus aus unferm cod. Palat. nr. 129. und dagegen ein
deſto günftigeres über biefelbe vom Theoborus Metodita
(Miscell. cap.) in meinen Meletemm. I. p. 99. nachgetragen.
48 Greuzer
Makkabaͤer. Daher der Grundton feines Weſens! — er
war durchaus priefterlich « ariftofratifch «). — An den Ums
Rand, daß Joſephus zur Secte der Pharifäer gehörte, knipft
nun Niebuhr b) Bemerkungen über feine häiſtoriſche
Treue, „Joſephus“, fagt er, „war ein Pharifder, und ob
ex gleich ohne Frage ein befferer Mann war, als die Mehr⸗
zahl berfelben, fo war doch dad phariſaͤiſche Element in
ihm. Daher iſt er oft unwahr, und feine Archaͤologie ift
reich an Werdrehungen gefchichtlicher Zhatfahen und an
Verfaͤlſchungen, welche aus feinem ungeheuren Rational
ſtolze entfiehen. In feinem Berichte vom juͤdiſchen Kriege
legt er viel von den Eigenthümlichkeiten eines orientalifhen
Schriftftellers an den Tag, und wo er es immer mit Zah⸗
len zu thun bat, zeigt er feine orientaliſche Liebe zur Ue⸗
bertreibung.” Auch unfer gelehrter Freund €, Cleß nennt
unfern Hiftorifer „den mit Zahlen allerdings freigebigen
Joſephus“ ©), — Diefer letztere Sag jedoch muß mit Vor⸗
fit und Einſchraͤnkung angenommen werden. Hier einige
Beifpiele vom Gegentheil: A. L XII, 12, 5. p. 512. Dind.
läßt der griechifche Gefchichtfchreiber Zimagened in ber
Schlacht zwiſchen Ptolemdus Lathurus und Alerander, Hyr⸗
can's Sohn, 50,000 Menfchen umkommen ; Sofephus 3000,
— Der Bahlangabe des Joſephus A. I. XX, 8,6. p. 783,
Dindf. 400, ftatt 4000, als der gemäßigten, kommt ein Cos
der am nädften (f. Valckenaer ad actor. XXI, 38,
Opusc. 11. p. 311.), — Auch find die Zahlen in den Hands
a) 3% erinnere dabei an Antigg. Ind. IV, 8, 17. p- 187. Dindf.,
welche Stelle thucydideiſch anfängt: "Agesrongeria ur ode
mgarıozov nal d nur’ aurn® Blog rl. In dieſer politiſchen
Anficht gibt ſich der Einfluß der Pharifäer Lund, welche mit
ihrer Schule einen Antheil am Regimente zu behaupten immer
gelacht haben.
b) Kim. Geſch. V. ©, 277 f.
©) In feinem Art. „Idumädifdhe Dynaftie” in Pauly’s Meals
Encyklopaͤdie IV. S. 65., der, wie alle Arbeiten dieſes Ges
lehtten, zu ben trefflichſten biefer ganzen Sammlung gehört,
Sofephus u, feine griech. u. helleniftifchen Führer. 49
ſchriften des Joſephus oft verfaͤlſcht: A. .XIV,9,2.p.540,
Dindf. Nach dem frühern Texte, dem Cleſß a. a. D. noch
folgt, hätte Antipater feinen Sohn Herodes den Großen als
äinen Knaben ſchon über Galilda gefeht. Allein ſchon
Prideaur (MI. ©. 483.) hatfe dort zivrs zul zlxoı flatt
zeyrexaldexe Er vorgefchlagen, und, durch Handfchriften
beflätigt, if jenes jet in den Zert aufgenommen. — Was
jenen Drientaliömus betrifft, fo muß man nicht vergeflen,
daß Hfephus in feiner Archäologie gerade den Verſuch
wagte, den weltbürgerlihen Römergeift mit dem hebraͤiſchen
Particularismud zu verföhnen und mithin das Anfößige
des Wunderbaren, was ber Orient mit ſich brachte, mögs
lichſt zu mildern, — Er wollte gar nicht für die Juden
füreiben, denen diesMittheilung ihrer heiligen Schriften
und Satzungen ein Abſcheu war, beſonders in eleganter
griechifcher Sprache, wie er felbft am Schluffe der Archao⸗
Isgie fagt, fondern für die Griechen und hauptſaͤchlich für
die Römer, namentlid für feinen Gönner und Freund Epas
pbroditus, der ihn hauptſaͤchlich zur Abfaffung jenes Wer⸗
tes beflimmt hatte =),
Wie fehr jedoch Joſephus nach feiner ganzen Denkart
dem Judaismus innerlichft ergeben blieb, dafür ſprechen
ae feine Schriften, Ja felbft darin huldigte er jener Ans
ſicht feiner Landsleute, daß er die Werbreitung bed heiligen
Hebräergefeges durch Heiden für eine ſtraͤfliche Profanation
hielt. Charakteriftifch iſt in dieſer Hinficht die Erzählung
der von Jehovah beftraften Unternehmungen bed Hiſtorikers
Theopompus und des Tragikerd Theodektes (A. 1. XII, 2,
13. p. 444. Dindf.): Jener habe nämlich einen Bericht über
a) lo. Aug. Ernesti, Opuscc. philol.-critica p. 871. — Auf dies
fen Gpaphrobitos werben wir unten zum Anfang beö erften
Bude der Schrift gegen Apion, bem biefelbe ebenfalls gewibs
met ift (was in Pauly’s Realencyktop. II. &. 160. übers
fehen worden), zurüdfommen, fo wie auf den Apion ſelbſt zum
Anfang bes zweiten Buchs derſelben Streitſchrift.
Theol. Stud. Jahrg. 1853, 4
20 ame
die juͤdiſchen Glaubenölchren iz feine Gefdichtöwerke auf-
gemsmnen, ſey defwegen in cine breißigtägige Geißiebjer-
tittung gefallen, und als ex durch einen Traum gemahut
werben, baß fein Uebel daher rihrt, weil ex ſich nermeflen, _
götlige Dinge unter gemeine Menden zu verbreiten, fo
finkerung der Augen befallen, weil er in cms
ek von biefem Ucbel geheilt werben, aib ex nach Einficht
Bewährteß zum Beweife des Gegeutheils beibringen kann,
je (c- Apion. 1, 12. p. 33. Dindf.) dieß ſelbſt anerkennt
und die Entfernung Ihres Landes von dem der Griechen,
ihre Abgefchlofienheit dich Geſetz, Sitten unb Lebensweile
als Grund angibt, fo begeht er doch die Inconfequenz, und
ausfuͤhrlich zu erzählen, wie Alerander der Große auf feis
nem Zuge durch Syrien nach Ierufalem gekommen, wie
ihn deffen Einwohner feierlich empfangen, wie er den Tem⸗
pel beſucht und dem Jehovah geopfert u. f. w. — lauter
Erdichtungen ber Juden und von feinem einzigen der zahl⸗
reichen Geſchichtſchreiber Aleranders auch nur mit einer
Joſephus u. feine griech. u: helleniſtiſchen Führer. 51
Golbe erwähnt ⸗ waß, füge ich hinzu, beim Ptolemaͤus
kagi um fo auffallender ift, weil diefer König erſt in ſpaͤ⸗
ten Jahren feine Denkwuͤrdigkeiten ſchrieb, als er ſchon
viele taufend Juden in Aleranbrien und anderwärts zu Un-
terthanen hatte; denn außer den gefangenen Hebräern, bie
& felbR nad) Aegypten verpflanzt hatte (A. 1. XII, 1. p. 434.),
iogen viele freiwillig dorthin. Später, befonders feit Pto⸗
lemaͤus Philometor, fchlägt der alerandrinifche Jude Philo
(sdv. Flaccum p. 523 seq.) ihre Gefammtzahl felbft auf
äne Million an, was auf aͤgyptiſche wie griechiſche Cul⸗
tur einen bebeutenden Einfluß dußern mußte (Heyne,
Opusec. acad. I. p. 134.), — Aber Iofephus vergreift fich
im Eifer feines jüdifchen Patriotismus auch mandmal in
a) Und body des SBreiteren und ganz gemäthlicy erzäplt A. Ind.
XL, 8, 4 —6. p. 430482. Dindf. Bergl. Wyttenbachii
Opuscc. p. 420 seqg.— Wenn I. Er. Gotta zur Ueberfegung
dieſer Stelle 1. ©. 847. noch mehrere Umftände aus ben Tals
mubiften beibringt, 3. B. wie ein Zube durch Eif den König
bewogen habe, ben Zempelberg barfuß hinaufzugehen,und wenn
& nun feine Anmerkung mit den Worten fließt: „Man fiehet
wohl, daß die Juden dbiefe an fi wahrhafte Hiftorie,
ihrer Gewohnheit nah, mit fabelhaften Zufägen vermehrt has
ben”, fo mag er den Borberfag felbft verantworten. Im Ges
gentheil, an einer andern Gtelle, wo man es am erften hätte
eswerten follen, fast Zofephus kein Wort von bielem Tempels
beſuch Alexander's, naͤmlich im zweiten Buche gegen den Apion.
Dort führt er alle Zürften und Feldherren an, die im Heiligs
tyam zu Ierufalem gewefen, ben Antiohos Theos, Pompejus
ven Großen, Eicinius Graffus und den Gäfar Zitus, um feinem
Gegner barzuthun, daß fie alle dort nichts Anftößiges, fondern
lauter Ehrwärbiges geſehen (c. Ap. II, 7. p. 878. Dindf.). —
Da frage ich alfo: Hat Joſephus nicht gewagt, dem gelehrten
Apion auch den König Alerander vorzuführen, oder hat er, als
er biefe Apologie ſchrirb, felbft nicht mehr am dieſe Fabel ges
glaubt? — Iegt wüßte idy einen Drt, wohin fie gehört, näm«
lich in die griechiſche Alexanders-Geſchichte bes Pſeudo⸗Kalliſthe⸗
nes, bie uns neulich C. Müller als Anhang zu feinem Arrian
sum erfien Mat geliefert hat. — Allein in biefem heibnifchen
Roman würbe juͤdiſche Glorie nicht wohl aufgenommen ſeyn.
4*
52 Eremer
der Bata je: aer Fühzer Ve unfler cz Meizeses zur
ver Streit ſari?t geger Zaion bemerkt werten wird.
Auch im ver Caro ao lagte har er ſich munddeb Bears
fen zu Echjulber Immer {affeır, zum Iheil ans zu gee=
dem Vertrauen auf die griechichen Giiinifer mus Ghesues
araphen. So berichtet er 52. nach Berafüs über tie Res
ai⸗erungszeit des Rebufsimeyae uf eine Beife, die mit der
des &, J. mit übereinffinmer. Degglcichen cüft ex die ſa⸗
genhafte Seſandtſchaft des Svartaueckoͤnigs Im L an
den Hohenprieſter Tuias Lumrichtig in die Zeit Dias IL
herab, Emmi gitt Jofestus ma dem Girmungssphen
Kaftor 506 Todes jatzr Alerander's d. Ge. nicht ganz richtig
an. — Rod größeres Semicht wich in der verhergehenben
Yeriode darauf gelegt, das er tie Jahre Der Rinige vom
Tyrus nicht richtig gezählt habe =), — ein Bersurf, der mit
andern zufammmwenhdugt, bie zum Zesedlz haben, die Glaubs
wurdigkeit wifeses Gefdicfcrribers überhaupt verbädtig
sm madıen, wub wenigfens beseiien, te jütiide oder
wahrtgeiniicher deiklühe Epitemateren € mitunter darauf
angelegt hatten, feine hiſtorijche Autweitit zu erfhättern.
Hierbei miflen wir des Zufammenhangs wegen einen
Augenblid vergreifen und erſieas daran erinnern, wie Jos
fepbms ſeiv gegen deu fehaıfen Gegner Upon die Decchei.
digung feiner eigenen Glanbwärbigfeit im ber Archäologie
a) Die bier Wezügeten Gteen bes Iefepfes ab: A. led. XI, 1.
XI, 4, 10.5 eontr. Apion. I, 20. I, 22. — Die Redmungsfeh-
tee im der Rönigsreife von Tyens wirft ihm bes griehiide
Sq⸗li⸗n eines Gpriken ia unferer Heidelberger Handicrift
Nr, 129, mit ber unverblämten Ginleitung wer: „Diefer Jos
fephus (eint nicht fonderiidy glaubwärbig za feyn” (j. meine Me-
letemm. I. p: 99.). Ueber Me angebliche fpartanifdhe Gelanbt-
1@aft ſ. man meine Commentt. Herodott. I. p. 271 seqq. —
Die @pronologle des Joſeyhus Hat der Däne Brink einer bes
fonbeen Prüfung unterworfeh; jegt vergleihe man Clinton,
Fasti Hell, 1. p. 214. 280. und p. 815. ed. Krüger.
Sofaphus u feine griech. u. helleniſtiſchen Führer. 53
ſewohl als in der Geſchichte des juͤdiſchen Kriegs fehr bes
mdt zu führen unternimmt =).
In diefem Sinn übt er denn auch in der Einleitung
mu Geſchichte des jüdifchen Kriegs eine firenge
Nut an andern Geſchichtſchreibern, die denfelben Gegens
Hand behandelt haben: fie feyen entweder nicht Augenzeugen
geweſen, fondern hätten vom Hörenfagen unverläffige und
einander wiberfprechende Erzählungen in fophiftifchem Geiſte
"siebergefchrieben, oder ſolche, welche Zeugen ber Begeben⸗
heiten gewefen, hätten aus Schmeichelei gegen die Römer
der aus Daß gegen die Juden den wahren ‚Hergang der
Ereigniſſe luͤgenhaft entſtellt und ihre Schriften enthielten
teil Anklagen, theils Lobeserhebungen, nirgends aber gäs
ben fie Beweife von ber Sorgfalt bewährter hiſtoriſcher
drifung, — eine Kritik, die mit folgender ſcharfer, aber
auch einfeitiger Sentenz gegen die Griechen beſchloſſen wird:
„In Ehren werde die Wahrheit der Hiflorie bei und ge
halten, dieweil fie bei den Hellenen vernachlaͤſſigt wird.”
— Mog aud) bier des Joſephus Nationalgefühl fich etwas
iu lebhaft äußern, fo iſt er doch gerade auf diefem Punct
in feinem vollen Recht, und volltommen richtig fagt Nies
buhr: „Deflen Geſchichte des juͤdiſchen Krieges ift nad
den Gommentarien Caͤſar's, namentlich in Beziehung auf
die Kriegokunſt der Römer, dad lehrreichſte Werk. — Er
batte diefe Kunft felbft gelibt und ald praktifcher Krieges
und Staatsmann zeichnete er fih überhaupt fehr vortheil⸗
haft aus.” — Wie auch Theodor Metochita bemerkt, füge
ib hinzu, mit feinem mehr in ber Einfamkeit lebenden Glau⸗
benögenoffen Philo verglichen. — Aber wo keide aus dem
Wittelpuncte ihres Lebens, wo fie im Gefühle der Heilig⸗
keit des göttlichen Nationalgeſetzes fprechen, gleichen fie ſich
DJ ;h. c. Apion. I, 8— 10. Wegen bes gunädft Folgenden f.
Prooem. ad libr. de bello Iudaico $. 1— 55 Riebuhr, röm.
Seſchichte V. ©. 276 f., und Theodori Metochitae cap. XVI.
p. 180. ed. Müller. et Kiessling.
54 Greuzer
ungemein, und Gedanken unb Ausbrud zeichnen ſich durch
Gehalt und Stärke aus. Bei Iofephus ift dieß befonders
in diefem Werke der Kal. Hier tritt der ganze Menſch
hervor, — aber ber Hebräer. Daher hatte er es auch zuerfk
bebrdifch (aramdifch) gefchrieben und nur, um dem Kaifer
Veſpaſianus zu dienen, ind Griechiſche überfegt.
Von diefer Denkart ift nun die Schreibart ber nas
tuͤrliche Ausdruck, und wir knüpfen an Obiges einige Bes
merkungen über Stil und Darftelung an, Photius legt
ihm (Bibl. Cod. 47.) eine reine Sprache, verbunden mit
Anmuth, bei, belobt feine Reden wegen ihrer Ueberzeugungs⸗
ktaft, wegen ber richtigen Schlußfolge und Gentenzen,
füde, erkennt in feinem Vortrage dad Pathos an und
die Macht, Gemüthöberorgungen zu erregen. — ‚Hier theile
ich zuvoͤrderſt die Ergebnifle von I. A, Ernefti’s erſchoͤ⸗
pfenden Krititen mit, auf die auh W. Dindorf mit
Recht ein großes Gewicht legt. Die Schreibart bes Ios
ſephus iſt rein von Hebraismen, und nad) feiner Abficht
ſollte fie es auch feyn. Wo daher in feinen Redensarten
etwas Hebräifchartiges vorkommt, muß ed für verdaͤchtig
gelten (wie denn die Werke diefed Autors überhaupt ſehr
interpolirt find) und nach Handſchriften möglichft auf den
wein griechiſchen Sprachcharakter zurhdgeführt werden, Uns
ter den attifchen Hiftorifern hat Iofephus in Sprachformen
und Auddrüden den Thucy di des nachgeahmt; aber auch
Wörter und Rebensarten bed Plato hat er fid) angeeig.
met; doch auch mit Polybius hat er in Worten Mans
ches gemein ®), Iene gefliffentliche Rachahmung der Attis
a) I. A. Ernesti, Corollarium de fosephi stilo (Opuscc, philol.
eritt. p. 395, — Es if daher undegreiflih, wie Fr. X,
Bolf in feinen Worlefungen über die griechiſche Litterckurge ·
ſchichte fagen konnte: „Im Stil if Joſephus kein Held, im
Ganzen dem Polybius ähnlich”, wogegen Riebuhr (a. a. O.
S. 277.): „Cs ift merkwürdig, wie gut er griechiſch ſchreibt,
wenn wir einige ftehende Fehler ausnehmen, welche immer wies
Sofeppus u. feine griech. 1. helleniſtiſchen Führer. 55
ber, dieſer gefuchte Gebrauch eleganter Wörter; Phrafen,
Zropen u, f. w. zog ihm. von Seiten mander griedhifchen
Krititer den Vorwurf zu, „feine Gefchichte lege ſich wie
ein Schulererctium von ZJünglingen bar” ⸗). Ganz im
Begentpeil, die Schreibart des Joſephus, um denn zulegt
das kritiſche Urtheil kurz zuſammenzufaſſen, if im Gan-
va rein griechiſch und elegant, der Periodenbau wohlge⸗
fügt und abgerundet, durch Participien und Conjunctio⸗
men ohne Dunkelheit gut zufammengefaßt, mit Untermis
fhung einzelner kurzgegliederter Säge; mit Einem Worte,
es iſt der Stil wie der eined mitten in Griechenland ger
boruen Manned, aber auch eined Mannes, der durch und
durch praktifch war, der im Felde wie im Rathe-feine Er⸗
fehrımgöweisheit erprobte, der das Leben in allen feinen
Erſcheinungen kannte; — aber er war ein Iube, und ba
konnte ed nicht fehlen, daß griechiſche Gelehrte, deren gans
#6 Berdienft in ben (chönen Rebekünften beſtand, nicht bloß
feine hohe Stellung am Kaiferbofe, fondern auch feine fchrifts
Rellerifche Ausbildung ihm mißgönnten, Daß er die Natur,
wie das Leben gleich getreu auffaßte und Erdftig darzuſtel⸗
Im vermochte, davon kann einem Jeden dieſes fein Meifter-
wert die beutlichfien Beiſpiele liefern. In erfter Hinficht
tritt die Befchreibung von der Quelle des Jordan (III, 10,7.
p 178. Dindf. Yıdkr genannt) hervor; die Stelle lier
fert Belege vom giüdlichften Gebrauch der fogenannten geos
graphiſchen Metapher, woran fidh die Beſchreibung des
Seees und der gleichnamigen Gegend von Genneſar anfchließt;
ſodann die Schilderung der Umgegend von Jericho und ih⸗
ver fruchtbaren Fluren (IV, 8, 3.) — Naturgemäfde, bie
derkehren“, bie aber, wie gefagt, großentheild auf Rechnung
feiner Interpolatoren kommen.
a) Contr. Apion, I, 10. zjv isroglay dameg dv oyolfi uuganias
Tipraspa zgoneiohar. So Heidet Joſephus felbft biefen Vor⸗
wurf ein, der ihm von griechtſchen Beitgenoflen oft genug ges
wmacht worden ſeyn mochte.
56 Greuger
an das Befte erinnern, was bie griechifche Profa in diefer
Art aufzuweifen hat, 3. B. an die Schilderung des Thales
Tempe a). — Zu den im andern Sinne belebten und feelen«
vollen Partien gehören: bie Scene der Ermordung des
Priefterö Ananos; der fdhauervolle Bericht von den unter
Johannes von den Zeloten in Ierufalem verübten Greueln,
worin Joſephus eine Kraft der Darfiellung bewährt, wie
fie feinem Vorbilde Thucydides eigen iſt; die Stele, wo
der Klageruf an Jerufalem durch den Gedanken an die
Pflicht des Gefchichtfchreiberd zurüdgedrängt wird. Zuletzt
flehe bier noch des Joſephus eigenes Schlußbelenntniß über
diefe Geſchichte des jüdifchen Krieges: „das Urtheil über
feine Scyreibart überlaffe er Andern, dagegen ſcheue er ſich
nicht zu behaupten, daß er in dieſer ganzen Hiftorie die
Wahrheit als fein Endziel unverrüdt vor Augen gehabt
babe” b), — Und fomit ſcheue ich mich denn auch nicht,
denjenigen zu wiberfprechen, die neuerlich gerade dieſes Werk
des Jofephus fo unmäßig verunglimpft haben.
Um aber nun ben Zofephus in feiner ganzen Perſoͤn⸗
lichkeit, fodann als Schriftfieler und im Verhaͤltniß zu an⸗
dern Schriftftelern aufzufaffen und zu zeichnen, müflen wir
nochmald einen Blid auf das Buch über fein Leben
und auf die zwei Bücher gegen Apion werfen. Dort
bat er ſich nämlich eines jüdifhen Landsmannes, aber eis
nes perfönlichen und erbitterten Feindes zu erwehren, bier
mehrerer, zum Theil grundgelehrter und hochberühmter Wis
derſacher feined Volkes, — Jener ift Juſtus aus Tibes
@) Bei Aelian. V. H. II, 1., obſchon biefe mitunter einigen
ſophiſtiſchen Anſtrich hat. Gharakteriftiten und Belege für die
geograppifhe Metapher habe ich in den deutfcher Schrif⸗
ten zur griechlſchen und roͤmiſchen Litteratus, S. 177 ff. geger
ben.
a) Die berührten Stellen ftehen: de B. Ind. IV, 5, 2. pı 204.
Daf.; IV, 9, 10. p. 220, V, 1, 8. p. 229,; VI, 11, 5, p.886.
Joſephus u. feine griech. u. helleniſtiſchen Führer. 57
tias in Balilda a), Gefchichtfhreiber, Krieges und
Steatsmann, wie Joſephus. Won diefem immerhin merk:
würdigen Manne muß bier um fo mehr das Nöthige ges
ſegt werben, als er neuerlich vernachläffigt worden. Sohn
des Piſtos (Tlloros), eined Juden aus Tiberias in Galilda,
hat er frühzeitig auf dem Schauplage der Öffentlichen Ges
fhdfte auf und, bemagogifcher Redner und, wie der Vater,
den er nach feinem Willen leitete, Factionsmann, ergriff er, ſchon
he Joſephus zum Statthalter diefer Provinz ernannt worden,
die Waffen und machte gegen ſyriſche Gebiete fanatifchen
®ebraudy davon (Ioseph. de vita sua, in’ der Hauptſtelle
$65.p. 825. Ddf.).— Daraus geht der Urfprung des Bers
haltniſſes unſeres Staatsmannes und Geſchichtſchreibers ges
gen dieſe beiden Galilder, beſonders den Sohn, aufs
deutlichſte hervor, ſo daß ich es im Einzelnen und in feinen
Bendungen nicht zu verfolgen brauı was ohnehin die
ton mir bier gezogenen Grenzen überfchreiten würde, Ich
frreche alfo fofort nur vom Gefchichtfchreiber. Als folder
war er zuvoͤrderſt Verfaſſer einer Chronik der gekrönten jüs
diſchen Könige b) von Mofes bid auf Agrippa, den fiebens
tm Nachkommen des Herodes und legten juͤdiſchen König,
) 'Ioverog Tıßegieug. Weber ihn verbreitet ſich wiederholt und
ausführlich zuerft Joſephus felbft, de vita sun cap. 9, 17. 87.
68.74 seq.,fodann mehr oder minber genau Diog. Laert. 11,41.
P-48. ed. Cobet., Stophan. Byz. in Tußegtdg, Euseb. H, E.
MN, 9., Saidas in ’Joösrog, Photins Cod. XXXIII. — Gehe
ungenügend ift der Artikel über ihn in Pauly’s Realencyklop.
IV. ©. 686. und felbft der fonft fo genaue @. Müller in
ten Fragmm. historicc. Graec. Vol. IM. p. 528. hat ibm nur
eine halbe gebrochene Golumne gewidmet und Ünrichtiges ein»
gemitdt, wovor ihn doch ſchon Vossias de historicc. Grr. II,
p. 41 — 243. ed. Westerm. hätte bewahren koͤnnen.
b) Xgonızod ’Iovdalav Paoılioy zay dv zolg oriuncoi. Es iſt
eine bloße Abtuͤrzung biefes Titels, wenn Diogenes Laertius
dieſes Buch der Könige citist: "Ioverog d Tußsgieög dv ıS
eripnarı.
58 Erauger
der unter Glaubius ben Thron befliegen, unter. Nero an
Macht gewonnen und unter Veſpaſian noch höher geſtiegen,
im dritten Regierungsiaht Trajan's aber geftorben, und fo
weit hatte Juſtus feine Koͤnigschronik auch fortgeführt. Aus
den früheren Partien diefed Werkes wird wenig angeführt,
vermuthlich weil e8 durch andere verdunkelt worden =). In⸗
tereffanter ift eine andere Anführung daraus über das Aufs
treten des Plato in bem Procefie bes Sokrates (beim Diog.
Laert. a. a. O.) weil fie zeigt, daß diefer Jude in feine iſrae⸗
litiſche Koͤnigschronik auch Manches aus der Profange
ſchichte eingemiſcht hatte. — Sein Stil wird von Photius
(a, 0. D.) fehr gedrängt genannt, aber auch zugleich bes
merkt, daß er dabei vieles wefentlich Nothwendige übers
forungen babe. Auch fol er ſich vieler Erdichtungen ſchul⸗
dig gemacht haben, befonder& in feinem zweiten Werke über
den iüdiſchen Sgieg und bie Zerftörung Jeruſalems;
denn daß er aud Darüber gefchrieben, wird von Joſephus
umd Photius ausdruͤcklich bezeugt und hätte von Neueren
nicht. bezweifelt werden folen, Gin unverföhnlicher Feind
des Joſephus und diefen mehrmals mit Nachftellungen bes
drohend, aber jedesmal nur mit Worten beſtraft, von ben
Einwohnern der Stadt Ptolemais beim Veſpaſianus auf
Leib und Leben angeflagt, von diefem dem König Agrippa
als fein Unterthan zur Todesſtrafe außgeliefert, von beffen
Schweſter Berenice mit vielen Bitten gerettet, erſcheint die:
fer vielbegabte Patriot und Revolutiondr in einem fehr bes
wegten Leben, und für dieſe legte Thatſachen Bann Joſe⸗
phus fich felbft auf die Denkichriften jenes Kaiſers berufen.
Jenen Handlungen hatte ſich noch eine ganze Reihe ande:
ver angefchloflen, unter andern auch noch die, daß bie güns
a) Beim Syncellus, ©. 63. A. wird Zuftus neben Joſephus und
den Griechen Herobotus, Polemon und Apion über bie Periode
dee Autzugs des Iſraeliten aus Negypten genannt (f. Prel-
ler ad Polemonis fragum. p. 46., wo aber des Juſtus nicht
gedacht worden), ‚
Joſephus u. feine griech. u. helleniſtiſchen Führer. 60
fige Aufnahme, Die des Joſephus Kriegsgeſchichte beim Cds
far Zitud und König Agrippa gefunden, von Juſtus vers
dreht und ind ungüunfligfie Licht geftellt worden. — Wer
taan es nach dem Allem nun nicht natürlidy finden, daß
deſephus endlich in einer perſoͤnlichen Anſprache, bie er
kinem Leben eingeruͤckt hat a), feinen Gegner ald Mens
ſden, Bürger, Kriegs: und Staatsmann und endlich als
Seichichtfchreiber gänzlich zu vernichten fucht? Und als Ges
Mictihreiber des jüdifhen Kriegs möchte Juſtus nicht zu
miten ſeyn, da Joſephus ihm ind Angeficht fagen darf
(«a D. S. 827,), diefer habe bei Lebzeiten der Kalfer Bes
bafienus und Zitus, wie des Königs Agrippa, die zum
Theil den juͤdiſchen Krieg felbft geführt, zum Theil Beugen
deſſelben, alle aber der griechifihen Sprache volllommen
kundig gewefen, nicht gewagt,mit feiner Geſchichte beffelben
kerorzutreten, da er fie doch ſchon zwanzig Jahre zuvor
Keiftlih abgefaßt gehabt habe,
Zum Schlufle darf ich noch eine Bemerkung bed Phos
ts (Cod. 33.) über diefen Juſtus nicht übergehen, zumal
fie mit einer berühmten Stelle des Jofepbus In der Archdos
logie (XVIII, 3, 3. p. 699. Dindf.) zufammenhängt, Der -
detriarch bemerkt nämlich in der Rüge der Auslaflungen,
die jener in feinen Schriften begangen, „als geborner Jude
fo er in den allgemeinen Fehler feiner Glaubensgenoſſen vers
falm, von der Ankunft Chrifti und von deſſen Wunder
aten auch nicht die geringfte Erwähnung zu thun.“ Hier
merde ich mich nun vor ber Unſchicklichkeit hüten, daB bis
in die letzten Jahre hundertmal beſprochene jofephinie
ſche Zeugniß von Chriſtus noch einmal ausfuͤhrlich
u beſprechen, um fo mehr, ba ich niemals habe begreifen
Hmmen, wie nur jemals ein Leſer von einigem Urtheil eine
ſolche Stelle für authentifch zu halten im Stande geweſen.
Über folgende wenigen Bemerkungen darf ich mir doch wohl
Yloseph. de vita s, 6. 65. p. 834 aeg. Dindf. -
d
60 Greuzer
erlauben: ba Photius auch in dem Artikel über den Jo⸗
ſephus (Cod. LXXVL) über jenes Zeugniß von Chriſto
ein gaͤnzliches Stillſchweigen beobachtet, fo muß er es ents
weber in feinem Eremplar des Joſephus nicht gefunden has
ben (obfchon es, nach Gibbon's Bemerkung II, 16,, ſchon
zwiſchen Drigenes und Eufebius in die Xerte gelommen
war), oder er hat e& für unecht gehalten, und für die
Legtere fpricht denn auch feine Aeußerung in der erſteren
Stelle, wonach es eine zwar tabelnswerthe, aber darum
nicht minder allgemeine ſtillſchweigende Uebereintunft jüdis
ſcher Hiftoriter war, über Chriſtus ein gänzliches Stillſchwei⸗
gen zu beobachten ®), — ‚Hier fey ed mir vergönnt, an eine
a) Da von Ghriftus überhaupt nicht geſprochen werden follte,
fo burfte folgerechterweife auch von ber Pgepoxzovia oder dem
bethlehemitifhen Kindermorde nicht die Rede feyn, wehwegen
ein chriſtlicher Leſer des Joſephus (in unferm cod.
Pulat. Nr. 129.) diefen ber Untreue anklagt. Diefer war fonft
Teineswegs der Wann, ber bie Unthaten des Könige Herobes
bes Gr. ſchonte. (Man f. nur A. I. XVI, 5,4. XVn, 6, 6.
8, 1. XIX, 7, 8. und vergleiche, was ich im erften Briefe
S. 550 ff. über die Hinrichtung der eignen Soͤhne beigebracht
babe, die man im Gegenſat ber Agepoxrovia als zasdoxroria
bezeichnen könnte, — Bier erinnere id an Goethes Worte
sum weftsöftlihen Divan (©. 205.): — „bes jammervollen
Familienlabyrinth6, in welchem wir den König Herobes befans
gen fehen.”). — Um fo gefchäftiger waren die Apofcyphen, diefe
Geſchichte und die damit zufammenbängende Flucht nah Aes
aypten auszufchmüden,, wie denn unter Anderm das Gefpräd
ber Eltern Jeſu mit dem Pharao von Aegypten (in dem Krang.
infant. Arab, cap. 25.) eine fchöne Probe liefert. Andererfeits
bemerkt Relanb zuA.1.XIX, 8, 2.mit Bezug auf Apftigefch. 12,
20., wo Zofephus einen Hauptumftand mit Gtillfhweigen übers
seht, ganz richtig, daß man baraus, wie aus andern Betis
engen des juͤdiſchen Geſchichtſchreiders, 3. B. auch bes bet h⸗
lehemitiſchen Kindermordes, im Geringften keinen
Beweis gegen die Wahrheit mancher im R. T. erzaͤhlter Er⸗
eigniſſe herleiten koͤnne. — Endlich wiberftrebt es völlig je⸗
men confequenten Beticenzen ber juͤdiſchen GSeſchicht⸗
ſchreiber, wenn einige neuere Kritiker jene Erwähnung bes
Joſephus u. feine griech. u. helleniſtiſchen Führer. 61
analoge jtidifche oder chriftliche Interpolation in einem clafs
ſiſchen Autor zu erinnern, zumal einer unferer gelehrten
Freunde «) deren Erweis meines Beduͤnkens fo eben zum
Abſchluß gebracht hat. Im 9. Kapitel der unter Longinus
Namen berühmten Schrift vom Erhabenen lefen wir eine
Bemerkung, wovon id nur bie Hauptworte hier herfegen
wit: „So fagt denn auch der Gefeggeber der Juden, Bein
gewöhnlicher Mann, gleich im Eingang ber Gefege: Gott
ſprach; — was? Es werde Licht, und es ward; es werbe
Land, und ed ward.” Bekanntlich hat dieſe Stelle viele
Berlegenheiten bereitet. Die meiften Kritiker hielten fie für
echt, in dem Wunde eines Syrers wie Longinus geweſen;
der große Caſaubonus erkannte fogar in ihm einen halben
Chriſten, während andere ihre Authenticität bezweifelten;
aber Niemand wied ihr den gehörigen Ort im Terte an,
Seht erſt, nachdem Spengel erwiefen, daß fie zum nach⸗
ber angeführten Gebet des Ajar:
»Bater Zeus, o errett' aus der dunkelen Nacht die Achajer!
Schaf uns Heitre des Tage” u. f. w.
gehöre, ergibt ſich deutlich, daß jene Worte diefen Werfen
von einem Juden oder Chriften beigefchrieben worden, der
damit erinnern wollte, daß in ber Geneſis des Moſes b)
daſſelbe zu leſen ſey.
Bruders Jeſus Chriſt us Jakobus (A. I. XX, 9, 1. p. 786.
Dindf.) wollen für echt gelten laſſen. Im Grgenthelt, Sins
muß hier mit dem Andern fallen,
a) L. Spongel, Specimen emendationum in Cornelium Taci-
tum (Gratulationsicrift an Friedrich Thierſch zur 4ojährigen
eier feines Directoriums bes muͤnchner philologifchen Gemis
mars) Monach. 1852. p. 759.
db) 1 Mof. 1, 8; Ilias 17, 645 ff.; Spengel ©. 8. — „Utnon
ad Neptuni, sed ad Aiacis exemplum illa pertiuere videan-
tarz hic enim exelamat: Iuppiter, fiat Jax e tenebris! unde
doctus quidam, Christianas, at videtur, sen Iadaens, idem in
Mosis libro legi ad marginerm soripsit; iam apparet, car scri-
ptum sit raury, sic scilicet, ut Alax apud Homerum. Ergo
baec non modo insititia, sed etiam malo loco et invito hulus
scholii autore insita esse apparet,”
63 Ereuʒer
Um zu ben Sagen von Ehriſtus zuruͤckzukehren, fo if
neulich von einem berühmten Drientaliften die von deflen
Berhaͤltniß zum König Abgaros von Edeſſa in einem ents
ſchieden altgläubigen Sinne behandelt worden. Joſephus
hatte nämlich erzählt, daß ber König diefes Landes Mono:
bazes I., durch mancherlei Umſtaͤnde bewogen, fich mit ſei⸗
nee Gemahlin und Schwefler Helena zum jübifhen Glau⸗
ben gewendet habe. Nun fucht ber genannte Gelehrte zu
zeigen, daß dieſer Monobazes L identifch fey mit dem Kös
nig von Adiabene oder Edeſſa Abgaros, von dem bie Kir⸗
chenſchriftſteller berichten, daß er, von einer unbeilbaren
Krankheit befallen, auf feine fchriftlihe Bitte an Chriftus,
worauf er auch eine fchriftliche Antwort erhalten, durch den
Apoftel Thaddaͤus geheilt worden und darauf mit Helena
und dem größten Theile feiner Unterthanen Chrift geworben
fo 9). . ”
Es ift zu bedauern, daß diefer hochachtbare Gelehrte,
den ich perfönlich ſchaͤzen zu lernen Gelegenheit hatte, als
firenger Katholit die Unbefangenheit verloren hat, die For⸗
ſchungen proteflantifcher Kritiker gehörig zu würdigen b),
&) Ioseph. Antigg. lad. XX, 2, 1 seqg.— Fragments d’une hi-
stoire des.Arsacides de M. J. Saint-Mertin, publids
par M. Felix Lajard. 3 Tomes, Paris 1850. ©. Tome I,
p- 106147. 181 seqg. TomeIl. p- 281. Roc zur Zeit bes Se⸗
verus und Garacalla kommt dieſer Kürftenname bei Hero-
dian. II5, 9. p. 120. ed. F. A. Wolf. unter ber Borm Aöya-
gos und unter ber Abgar, in romiſchen Infchriften (bei Oreitt
Nr. 921. und jegt bei Zell Re. 785.) vor. Ueber bie Mün-
sen ber Xrfaciden f. man Saint-Martin Tome If. p. 416.
b) Als Beleg füge ich feine eigenen Worte hier bei (Tome II.
p- 281.) „Parmi les prinees de cette dernidre race on distin-
gue le roi Abgare, si celäbre par les rapports qu’il eut avec
le Sauveur, selon une trös-antigae tradition de
1’eglise, que le soepticsme moderne a rejettde aveo trop
de legeretd, mais dont nous espdrons ddmontrer l aathenticit⸗
par les nombreax tdmoigaagen.” Ic trage Kein Bedenken,
dleſe Erzaͤhlung mit Riebupe (rim. ©, V. ©, 862.) als eine
Joſephus u. feine griech. u. helleniſtiſchen Führer. 68
Roc möüffen wir einen Blick ſowohl auf den Schluß
der Archäologie (XX, 11. p. 791 seg. Dindf.), als auf
den Anfang und Schluß ded Lebens (p. 793 seq. u, $. 76.
p- 833.) werfen, um ein abgerundetes, von Joſephus felbft
geyeichneted Bild feiner ganzen Perfönlichkeit zu gewinnen,
ehe wir zu der Schrift gegen Apion übergehen, worin er
diefen und andere Perfonen und Schriftfteller ſchildert. —
Erſcheint er nämlich bei Eröffnung feines Lebenslaufs mit
ſichtbarem Wohlgefallen in dem Glanze einer altprieftexlis
den Herkunft, einerfeits als Pharifder, andererfeits ald Has⸗
monder, am Ausgange aber in dem angenehmen Selbſtge ⸗
fühl ald Befiger großer fleuerfreier Güter, eines fürftlichen
Bermögend und ald Günftling dreier Kaifer und einer Kai⸗
fein, — da koͤnnen wir uns nun theild den Neid und bie
unverföhnlidhe Feindſchaft eines mit ihm wetteifeenden jüs
diſchen Schriftſtellers, der es fo weit nicht gebracht hatte,
des Juſtus von Tiberias, erklären, theil, wie er über die
auf Leib und Leben gehenden Anklagen eines Sonathan, der
kurz nad) Ierufalems Zerftörung in Eyrenaila einen Aufs
Hand erregt hatte, und felbft uͤber die Intriguen des römis
ſchen Statthalters Gatullus obfiegen und die Verleumdungen
feiner Widerfacher niederſchlagen konnte ®). Aber au in
diefee feiner hohen Stellung darf Joſephus nicht anders
denn als Repräfentant des echten Judenthums b) betrachtet
werden.
Legende gu bezeichnen und es gutzu heißen, daß neulich Rus
detph Hofmann den Vriefwechfel zwiſchen Jeſus und Abgas
zus in feine Schrift „das Leben Jeſu nad) ben Apofrys
p hen“, Eeipz. 1851. $. 72. aufgenommen hat.
#) ©. „Der juͤdiſche Krieg unter den Kalfern Trajan und Bas
drian, von D. Friede, Mänter.” Altona und Leipz. 1821.
u. ©. 10 f.
b) Worüber Goethe zum wefl-öfttichen Divan (Werke VI. S. 4 f.)
Ka fo ausfpricht: „Die juͤdiſche Meligion wird Immer eis
nen gewiffen flarren Gigenfinn, dabei aber auch freien Kluge
Kan und febenbige Tpätigkeit verbreiten”, und (Merte LVi.
64 Creuzer
Ueber das Alterthum der Juden gegen Apion.
Dbfhon meines Wiffens alle Handſchriften nur zur
’Axlovos haben, fo kann ich mic body kaum Überzeugen,
daß Joſephus ſelbſt den Titel diefer Schrift fo abgekürzt
haben follte, da ja in derfelben, zumal im erſten Buche,
mehr gegen Manethon, Chaͤremon u, A. geſprochen wird,
als gegen Apion. Da indeffen fo manche Anführungen dies
fer zwei Bücher, "in deren zweitem erft Apion eigentlich an
die Reihe kommt «), fi auf diefen Iegteren Namen bes
ſchraͤnken, fo darf man fich feinen weiteren Zufag erlauben.
uebrigens iſt biefe Schrift des Joſephus nicht nur von eis
nem gelehrten Theologen wiederholt berüdfidtigt worden,
fondern hat auch außerdem in Frankreich eine eigene Mono:
gropbie erhalten b). Sch werde jedoch mehr von Deutfchen
und bauptfädlic von meinem eigenen Standpuncte, aus
neueflen Studien, über diefe Schrift kuͤrzlich fprechen.
Der Epaphroditos, der auch hier, wie im Eingange zur
Archäologie, angeredet wird c), iſt bisher ziemlich allgemein
S. 127.): Judiſches Wefen. Gnergie ber Grund von Al ⸗
lem. Unmittelbare Zwecke. Keiner, auch nur ber Bleinfte, ges
ringſte Jube, der nicht entfdiebenes Beſtreben verriethe, und
wwat ein irbifdes, zeitlidges, augenblicliches. — Jadenlprache
bat etwas Pathetiiches.”
©) Weßwegen benn auch bort erſt das Roͤthige über ihn bemerkt
werben wird,
b) &, &, Hug über bie Hiſtoriker der Gbräer und Zuſtand ber
‚Hiftoriographie In Paldftina (im Gutachten über Strauß, bas
Leben Jeſu. Freiburg, 1840.) S. 8 ff. und S. 46 f.5 vergl.
meine hiſtoriſche Kunft ber Griechen, S. 263 f. — P. M.
Crauice, dissertatio de Flarii Iosephi in auctoribus contra
Apionem afferendis fide et auctoritate. Paris. 1844.
©) Kgdrısra dwögör ’Exapgödıre. ©. Lipsins ad Taciti An-
nal. XV, 55. Im Artikel „Gpapbrobitus” in Pauly’s Reals
enepklop. II, 160. ſcheint man fich jener andern Meinung zus
neigen zu wollen, wo aber jene zweite Debication übergangen
worden (contra Apion. I, 1. p. 887. ed. Dindf.), Ia am
Schluß feiner Selbſtbiographie ($. 76. p. 838. Dindorf.)
Sofephus u. feine griech. u. heleniftifchen Führer. 85
für den befannten gelehrten Secretär bed Kaiſers Nero,
den Patron des Stoikers Epiktetos, ben Domitianus hin⸗
sichten ließ, gehalten worden, obfhon fi) aud eine andere
Beinung hat geltend machen wollen, nämlich) daß hier an
nen Freigelaffenen des Trajanus zu denken fey.
Was nun des Jofephus Urtheil über die griehifhen
Geſchichtſchreiber im Allgemeinen betrifft, ſo iſt es
im Eingange zur Archaͤologie (I, 3.) und am Schluſſe derfels
ben (XX, 8, 3. p. 782. Dindf.) nicht glimpfliyer, als wir
es ſogleich Hier finden werden; denn gleich zundchft (c. Ap.
L$.2. p. 338 seqq.), nachdem er von dem relativ fpäten
Auftreten der Griechen auf dem Schauplage der Geſchichte
und von ber fpäten Sammlung und Schreibung der hos
merifchen Gefänge geſprochen, gebenkt er des Anfangs der
griedhifchen Geſchichts-Incunabeln des Kadmos von Milet
und bed Akuſilaos von Argos und bemerkt, daß diefe Maͤn⸗
ner nur kurze Zeit vor den Perferkriegen aufgetreten. —
Benn er fodann weiterhin die Widerfprüche diefer und ans
dererhelleniſchen Logographen und Hiftorifer untereinander
bervorhebt, ihre leichtfinnige Vernachlaͤſſigung von Zeit: und
Geſchlechtstafeln bemerklich macht, ihren Hang zum Mys
thiſchen, ihre Vorliebe für den blendenden Schimmer der
Berebtfamteit, ihre Sucht, durch Lobreden bei Königen und
Erädten ſich beliebt zu machen, rügt, fo muß ic) jegt, der
Kürze wegen, auf meine und Carl Müller’s Kritiken ver:
weifen, um biefe Auffaffungen und Ausftelungen des jüdis
ſchen Geſchichtſchreibers, welche manche Uebertreibungen, ja
einige wirkliche Unmwahrbeiten enthalten, in ihrem wahren
wiederholt Joſephus, „er habe ihm alle feine Bücher über
die jüdifhen Alterthümer gewidmet”, und am Schluffe vor-
liegender Gchrift gegen Apion (II, 41. S. 391. mit dem Lob
auf deſſen Wahrheitsiiebe) obngefähr daffelbe. Da nun bie Ar-
häologie mit dem zehnten Regierungsjahre Nero’ fdjioß, fo fteht
nichts im Wege, daß Joſephus dem gelehrten Freunde biefes
Kaifers diefe feine Werke gewidmet habe.
Theol. Stud. Jahrg. 1853, 5
66 Ereuger ,
Werthe zu würdigen ), — Ein fehlagender Beleg folgt
weiterhin (I, 12. p. 343. Dind£.); nämlich zum Beweiſe der
foäten und beſchraͤnkten griechiſchen Kenntniß fremder Wöl«
Ber führt Joſephus unter Anderm an, „daß felbft die für
die forgfältigften geachteten Gefchichtfchreiber von den Gal⸗
liern und Hifpaniern fo wenig Kunde gehabt, dag Epho—
rus die Iberer (Ißmgas), die doch eine große Strede des
Weſtlandes bewohnten, für eine einzige Stadt gehalten
babe.” — Kein anderer Schriftfteller weiß von einer fo felts
famen Ignoranz des Ephorus. Im Gegentheil, Strabo b)
berichtet aus diefem Gefchichtfchreiber, ex habe die Iberer für
die aͤlteſten barbarifchen Pflanzer Siciliend ausgegeben. Und
wie Tonnte ein Hiftorifer anders berichten, ber fange nach
dem ſiciliſchen Feldzuge der Athener ſchrieb, und dem bie
helleniſchen, wie die barbarifchen Golonien jener Infel auf
feine Weife unbelannt feyn konnten ?
1, 14. p. 344. Ddf. Joſephus erörtert darauf bie
Beugniffe über das jüdiſche Volk, die fi bei
den Schriftſtellern anderer Völker finden, unb beginnt mit
den Tegyptiern, und zwar, weil er deren Driginalbes
richte nicht vorlegen koͤnne, mit den griechifchen des Manes
thon (Mevsdov) ©), wie diefer fie, nad} eigenem Geſtaͤnd⸗
“) ©. bie Hiftorifche Kunft der Griechen, &.19 ff. S. 76 ff. zweit,
Ausg., und zur Geſch. der griech. u. toͤm. Eiteratur, S. 90 ff,
u, vergl, Fragmenta historicorr. Graecc., ed. Müller. Vol. Il.
p. IX seqgq.; p. 100 seqg. u, Vol. IV. p. 628 seqg.
b) Strabo VI. p. 114. — Jene qarakteriſtiſche Rüge if den
Sammlungen der ephorelihen Bragmente von M. Marz
(Rx. 51. 6.158.) und 6. Müller (Bd, II. S. 246.) nachzu⸗
tragen.
©) Die griechiſche Schreibung biefes Namens ift ſehr verfchleben ;
mad} ber einen würde er bedeuten: „von Zhotb (Hermes) ges
geben”, und dem griecifhen ‘Eguödogos entſprechen, nad) ber
andern: „geliebt von Ihoth”, und mit Gsoyılog übereinkome
men, wobei die beachtenswerthe Bemerkung gemacht wird, daß
dieſer Rame ſchon bei ben Glaffitern vorfomme, wogegen
BiröBnog und fomit der Begriff ber Liebe zu Bott in ber
Sofephus u. feine griech. u. helleniftifchen Führer. 67
uniß, aus den heiligen Büchern übertragen habe, über deſ⸗
fen Perfon er zuvoͤrderſt eine kurze Notiz vorausfchidt,
Benn er ihn hier ald der helleniſchen Bildung und Wiſſen⸗
ſchaft theilhaftig bezeichnet, fo erheben ihn einige feiner
griechiſchen Landsleute als einen auf dem Gipfel aller Weiss
beit ſtehenden Mann, während andere ihn nicht tief genug
berabfegen zu tönnen glauben; — ein Schidfal, das ders
felbe Gelehrte in gleich fchroffen Gegenfägen auch unter ben
Reuern erfahren hat. Defto mehr Gerechtigkeit hat man
im in der neueften Zeit wiberfahren laffen. Zuerſt Nies
bubr, ber in feinen Vorträgen über alte Gefchichte dem
Hauptwerke des Manetho (©. 48 ff.) einen hohen Werth
beilegt. Aber erſt jegt und feit ben Vorarbeiten von Cham=
pollion, Letronne, Boͤckh, Bunfen, Lepfiuß,
kenormant, Franz, de Rouge, Bird und Hinks
ſind wir eigentlich in den Stand gefeßt, bie großen Ber:
dienſte dieſes gelehrten Forſchers in ihrem vollen Werthe
zu wöürbigen. Bon feinem Leben ift jedoch dußerft wenig
bekannt. Geboren in der Stadt Sebennytoß, jegt Semme⸗
mud, ber Hauptftadt des gleichnamigen ägyptifchen Nomos,
beBleidete er ein Priefteramt zu Heliopolis (On), einem be>
rähmten Prieſter⸗ und Gelehrtenfig noch in ber römifchen
Yeriode. Lebend in der Blüthezeit der Lagidenherrſchaft,
unter Ptolemäus Lagi und Philadelphus, fchrieb er feine
Berke unter dem Einfluffe diefes letzteren a). Das Haupts
griechiſchen Dnomatologie erft mit dem Gpriftentfum her»
vortrete. Die Analogie davon zeigt ſich jeht auch in der aͤgyhp⸗
tiſchen Hierogluphe der Namen: Men- Ammon, „geliebt vom
Ammon”, und Philammon, „ven Ammon liebend” (Letronne,
Mdmoires de Vacad. des inscript. Tome XIX. p. 102. und
Ronge u. A. Maury in Revue archeologigue. 8. annde,
livr. 11, p- 698 2eq.).
) Mavedäg 6 Zußevsleng (Zeßevvörng al.) bei Platarch 1. de
Isid. etOsirid. cap. 9. und cap. 28.5 f. C. Müller. ad Mane-
thonis fragmm, Vol.Il. p.5l1., Frans. ad Boeckh. Corp. inser.
11, 2. p- 283segg., undjegt unferes gelehrten Freundes D. Par⸗
5.
70 Casa
Zerres wub ubich ees Kieacchus, auf des Ariſteteles Aus
toritdt, über der Tuben Seicheit and ttliche Enthaltfams
kit >),
L2. p. 34. Ddf. Sereptus führt ummitielber dar⸗
auf fort: „Riearchos jedoch berichtet dies, we ex unferer
(bez Zuben) gedeatt, zur je im Berbeigchen, denn feine
Unfgabe wer eine andere. Gelatäes der Ahderite
dapıgen, cu Damm, ber nicht allein Philofeph, fondern
auch zu Gefhäiten böch befähigt wer, mit dem König
Alerandros gleichzeitig blühte und mit Piolemdos, des
Logos Cohn, in Berbintung ſtand, hat nicht nur fo bei⸗
laͤufig befielbe gethan, fenterm über tie Iuden cin Bud
sehörichen, and tefien Supalt ich Einiges in der Kürze
durchlaufen und zunachſt die Zeitperiobe bezeichnen wilL”
Aus dieſer Ankündigung ergibt fi fon binlänglih, wel⸗
ches große Gewicht der jüdiſche Geſchichtſchreiber auf dies
fen griechiſchen legt.
IA wiederhole jet micht, was ich vor nunmehr ſaſt
funtzig Jahren zu den Fragmenten des Milefiers Hes
Iatdos ausführlich erörtern mußte b), weil man dieſen alts
loniſchen Logographen zum Verfaſſer eined Buches über
Abraham und die Tuben hatte machen wellen, und ſchicke
wuohrberfi dad Ergebniß meiner neuen Unterfuhungen über
den Abderiten voraus. Diefer Hekatäos aus Abdera,
#) ©, jegt Clearchi fragments, p.823 soq. no. 69., aus bem Dias
lege über ben Schlaf. Wenn diefe von Andern angefochtene
Sqhriſt auch echt feyn follte, fo enthält fie body immer nur bie
Erzaͤhlung des Ariftoteles von Tinem durch Weisheit außs
geseichneten Gebräer, freilich neben der auffallenten Gage von
der Abſtammung der Juden von den indiſchen Gymnoſophiſten,
welche aber an Werth der vom ZTempelbefucy feines Schuͤlers
Alexander des Gr, in Ierufalem ſich gleichftellen möchte,
b) S. Historloorum Graecorum antiquissimoram fregmenta, Hei-
delb, 1806. p. 82 seqg. und vergl.zu bem Rächftfolgenden meine
Bemerkungen über Hecataei Abderitae fragmm., ed. Car. Müller.
Vol. Il, pı 885898.
Sofaphus u. ſeine griech. u, helleniſtiſchen Führer. 71
den Etrabo einen Zeiler, nad) ber Mutterftabt Abbera’s
Zeos, wo er zum oͤftern und in feinen legten Jahren
genz gelebt haben mochte, nennt, Zuhörer des Pyrrhon,
wird ſelbſt als Philofoph bezeichnet, aber auch als gewand⸗
tn Geſchaͤſtsmann, Grammatiker und Hiftoriker, Zeitge⸗
ıfle Alexander's des Gr., aber nicht, wie man geglaubt,
Egiehungsgenoffe, Werwandter eined der Begleiter dieſes
Anigs, nachher Beamter des Ptolemäus Lagi und als
Berfaffer eines Werkes über Aegypten mit dem altionifchen
kegegraphen, der ebenfalls Über dieſes Land gefchrieben,
Hufig verwechfelt (tie auch mehrerer anderer Schriften),
aber al8 Urheber befonderer Büder über bie Au.
denund Abraham nicht weniger faͤlſchlich bezeichnet,
obwohl er das juͤdiſche Volk kannte und achtete, auch nicht
werfäumte, in feinen übrigen Geſchichtswerken der hebraͤiſchen
Ration, ihres Urfprungs, des Mofes und der Gefege deſ⸗
ftben u.f.w. zum Theil ausführlich zu gedenken, — Wenn
aun aber Joſephus bier und anderwaͤrts ſich auf ein eiges
aes Buch des Helatäos von Abdera über die Juden
beruft, fo mußte er freilich ein folhes oder wenigſtens
kreerpte · daraus vor ſich haben, und er lebte in einem Zeits
alter, dad laͤngſt ſchon mit Schriften und Epitomen berfels
ken überfluthet war,
Und bier ſtehen wie vor einer Erfcheinung, die, um jegt
au dad Eine ind Auge zu fallen, zur Charakteriftif und
Birdigung unferes Hiſtorikers, wo er nicht aus biblifchen
und andern Urkunden fehöpfte, oder als Zeitgenoffe oder
KÜR Augenzeuge, ja endlich fogar ald mithandelnde Perfon
berihhtet, von der hoͤchſten Bedeutung ift, und die Niemand
Ihärfer aufgefaßt und treffenber bezeichnet hat, als ber große
til Baldenaer a),
LSEC. Valckenaer, de Aristobulo Iadapo, cap. VI. p. 1daegg.:
„Sed et historici, Hecataeus, Eupolemus, Artapanus, De-
metrius, Aristess meo quidem arbitrata fueruut omnes re-
ligiono Indasi, sou his nominibus inter populares fuerint noti,
72 Ereizer
Es toten nim!ih im almantrinihen Ietater und
gem Theil in Airrantria Veh mehrere Grezoca ven ges
boroen Irden act, die ennmweber wirkih bie Namen berübm⸗
ter griehiiser Serienen, mob ſchon känck beretdtachter
schötenter Eirte, führten wat unter itren Landslenten
aut benfelben genannt wurden, oder auch, periönlich anders
benannt, doch als Echrittfieler unter belcmiiben Ramen
bervertraten und als glänzende Notabilitäten, wie Arificas,
Ariiobulos, Helatäos, Demetrios Phalerrus m U, von
ihnen ſelbſt verfaßte oder Hark interpolrte Schriftwerke
ins große Publicum gaben, von dem fie Dann mit ber nach»
felgenten Zeit immer und immer gläubiger aufgenommen
wurten. — Zu disfen Gläubigen gehörte denn auch Iofe:
phus ſelbſt, der gar manche Eycerpte aus felden pſeudo⸗
mymen Probucten feinen hiftoriichen Werken einverleibt bat,
teils weil ihm das kritiſche Talent der Prüfung abging,
tdeils weil es in feinem Interefie lag, daß fie für wirkliche
Schriftwerke der Griechen gehalten wurden; denn als Zeugs
niffe fremder Autoren fr dab Hebraͤervolk wogen fie ſchwerer.
Diefem langen Auszug aus dem Helatäos veihet er
(&. 356.) unmittelbar ein Zeugnig des Agatharchides aus
Anidos an, weldyes er in ber Archäologie =)" kürzer mitges
theilt, beidesmal mit warmer Belobung ber treuen Ans
haͤnglichkeit feines Volkes an dem Gefeh, in ſcharfem Ges
genfage gegen den ſpoͤttiſchen Zabel biefes beidnifdhen Ge:
ſchichtſchreibers bei Erzählung von des Ptolemdus Lagi
Einnahme Ierufalems, weil die Einwohner fih am Sab⸗
bath nit verteidigen gewollt. ,
seu nomina mentiti”, denen er S. 26. den Ariſtobulus ſelbſt beige
feut. — Die übrigen Belege zu dem bier Borgetragenen find
jept zufammengeftelt von 9. M. Gruice in der oben ange
führten Abhanbiung: de Iosephi in libris contra Apionem au-
etoribus J— u een: . und von ©. Müller Fragmm, historicc.
Grai seq.
9 A. lad, Ben \ "Bat, jeßt beide Excerpte in Agatharchidis Cni-
ai Fragmente. Vol. II, p- 196, no. 19. ed. C. Müller,
Sofephus u. feine griech, u. helleniftifchen Führer. 73
Jedoch ſolche fatirifche Seitenblide laͤßt Joſephus ſich
faſt noch eher gefallen, als ein gaͤnzliches und noch dazu
abſichtliches Stillſchweigen eines helleniſchen Hiſtorikers über
fein Hebraͤervolk; denn unmittelbar darauf ($. 23, S. 357,)
fährt er fort: „DaB aber einige Gefchichtichreiber, denen
unfee Volk nicht unbefannt war, jedoch aus einem gewifs
fen Neid oder aus andern nicht gerechten Urſachen, deſſen
Gedaͤchtniß Übergangen haben, davon glaube ich ein aufs
fallendes Beifpiel anführen zu dürfen. Denn Hieronymos,
der die Gefchichte der Diadochen gefchrieben, lebte zu der»
felben Zeit, wie Hekataͤss, und da er Freund des Antigos
n08 «) war, fo verwaltete er denn auch die Kandpflegerfchaft
von Syrien; aber ungeachtet Hekataͤos fogar ein Buch über
und gefchrieben, hat Hieronymos in feiner Gefchichte unfes
ter nicht im Geringften gedacht, obfhon er in biefen Ges
genden faft einheimiſch geweſen; — fo fehr find die Ge
finnungen der Menfchen von einander verfchieden; denn
dem einen erſcheinen wir einer hoͤchſt forgfältigen Erwaͤh⸗
mung werth, den andern dagegen bat eine unbillige Leidens
ſchaft gegen die Wahrheit verblendet.”
Um mid bier auf dad zu befchränten, was unfern
jädifhen Geſchichtſchreiber und fein Wolf betrifft, fo darf
man jegt die Unterfcheidung, die noch neulich ein gelehrter
Xheolog b) zwifchen dem bier getabelten Hieronymos und
dem berühmten Geſchichtſchreiber der Nachfolger Alexander's
a) Arzıyörow, wie erſt jetzt aus einer alten lateinifchen Ueberſe⸗
gung im dindorfiſchen Zerte, ſtatt des unrichtigen "Anrıszov,
hergeftellt ift; f. Car. Müller. Fragmm. hist. Grr. Vol.1l.p.
450 segg., wo Alles zufammengeorbnet ift, was früher Sevin
und Mannert und neuerlih Kießling und Brädner
über dieſen Hiftoriker und feine Werke ausgemittelt haben, und
deffen leider nur allzu wenige Bruchſtuͤcke berfelben, und bars
unter auch unfere Stelle (Rr. 18. ©. 455.) aufgenommen wor»
den find.
b) 8. Hug, im Sutachten über das Leben Jeſu von D. D, Br.
Strauß. Breiburg 1840, I. ©. 49.
74 Gage
hat machen wollen, als durchaus umzuläffig bezcidinen. —
m a Een LSanbömann und Bertraue
W war zwiſchen 370—360 vor Chr. gebo⸗
und farb zwiſchen 266 — 356 in einem Alter von 104
Sahıen, Ber rein Bunden und Ges
fahren, in — —
genommen werden war. In biefer erhielt er ſich bis zu
beffen Zode in der Schlacht bei Jpſus, wo er dem gefals
lenen König zur Seite war. Vorher waren ihm von bems
felben wichtige Gefchäfte und Stellen anvertraut worden,
wie er denn erft die Dberauffiht Über den Afphaltfee in
Judaͤa und darauf fogar die Gtatthalterfiele über die Pros
vinz Syrien erhalten hatte. Deſſelben Vertrauens hatte er
fi) unter dem Sohne und dem Enkel jenes Königs, Demes
trius Poliorketes und Antigonus Gonatas, zu erfreuen. Der
erſtere fegte ihn, nachdem er ſelbſt den macebonifhen Thron
beftiegen, über das eben unterworfene Böotien, und ben
letztern ſcheint er in den Peloponnes begleitet zu haben, als
Pyrrhus vor Argos dad Leben verlor.
Daß Hieronymus nicht fiber Alerander felbft, fondern
über deffen Nachfolger gefihrieben, ift man wohl anzunchs
men berechtigt, uͤber dieſe denn aber auch im erften und
im zweiten Geſchlecht, d. h. über die Diadochen nicht nur,
fondern auch über die Epigonen bi zu Pyrrhus Tode, 272
vor Chr., und vielleicht noch weiter hinab, da er fo alt ges
worden bei vollen Geifteßfräften. Das Werk war fehr aus
führli) und eine Fundgrube flr mehrere nachfolgende Ges
ſchichtſchreiber.
Die Glaubwindigkeit deſſelben hat Brüdner moͤg⸗
lichſt zu retten geſucht; er habe, rühmt er von ihm, die
Joſephus u. feine griech. u. helleniſtiſchen Führer. 75
Bahrbeit nicht weniger fagen gewollt, als gekonnt. Schwer⸗
lich möchte diefe Schugrebe in allen Stüden ſtichhaltig bes
funben werben.
Ich laſſe hier alles Andere bei Seite, was id an eis
nem andern Drte mit Zug und Recht dagegen eingewendet
in baben glaube, und frage ganz einfach: konnte denn ein
Gtantsbeamter von Iudda und Syrien, der mit ben
Juden in fo mannicfache öffentliche und. Privatverhälts
aiffe kommen mußte, in feinem umſtaͤndlichen Gefchichtds
werke auch nicht Eine Stelle finden, wo er dem fo merk⸗
würdigen Hebräervolfe auch nur ein kleines Denkmal fegte,
und ift eine ſolche Reticenz nicht eine wahre biftorifhe Uns
trene? — Infofern ift alfo Joſephus vollkommen gerechts
fertigt, wenn man es auch dahingeftellt laſſen möchte, ob
Reid der Grund eines fo hartnädigen Stilfhweigend ges
wefen, ober macebonifcher Soldaten» und Beamtenftolz,
der auf dad Meine Judenvolk aus feiner Weltmonarchie von
oben herabſah.
Jedoch das Alter des Hebraͤervolks, fährt Joſephus uns
mittelbar fort, werde fattfam in den Hiftorien der Aegyp⸗
tier, Chaldaͤer und Phönicier, wie auch von vielen andern
griechiſchen Gefchichtfcreibern bezeugt, worauf er fobann zwei
Gruppen diefer Iegteren vorführt: bie einen, ‘die zwar nicht
ganz oberflächlich von den Juden gefprochen, feyen body,
unbelannt mit den heiligen Schriften, ſchon von vornherein
von ber Wahrheit abgewichen: Theophilos, Theodotos,
Mnafeod und Zopyrion =); die andern, Demetrios Phales
zeus, Philon der Aeltere und Eupolemos, feyen von der Wahr⸗
heit nicht weit entfernt geblieben, fie verdienten jedoch mit
Nachficht behandelt zu werden, weil fie mit aller Sorgfalf
) Der Kürze wegen verweife id; hierbei auf Vossius, de hi-
storicis Graecis p. 5604— 511. ed. Westermann,, und auf bie
Fragen. historiec. Graeoc. Vol. III. no. 88 segg. p. 156. ed.
Didot.
74 Geenger
bat machen wol _ „u, ben jüdiſchen Schriften ganz ge:
Diefer Hierony:
ter des Eumen zueren Hiſtoriker haben in neuefter Zeit
sen und flarb .. zefwnten Philo, der Aeltere und Eupo⸗
Jahren, nad usa, wie auß dem Demetrius und ans
fahren, in v: hal und Xlerander Polyhiftor in feinem
nachdem er a Zuden (megl Tovdalcov) mehr ober minder
Heerlager an soguge mitgetheilt, und Eufebius (Pr. E. IX,
geeihnet ba sausord.) hat faſt diefed ganze Buch Ale
nig Antigo:. , großes Wer? aufgenommen. Deffelben Ales
auf nach tı hatte einer unferer philologifhen Semina-
genommen . zuine Veranlaſſung, faſt gleichzeitig mit jenen
beffen Zo.ı .. Selehrten, zum Gegenfland einer gelehrten
lenen Koͤ gemacht.
ſelben wu. dieſe drei jüngern Litteratoren iſt die große
wie er Balcke naer in feinem Buche de Aristobulo
Judaͤa ı. _
vinz €:
fih unte-:u, des juͤdiſchen Trauerſpieldichters, Auszug aus Je⸗
. und Philo des Xelteren Jeruſalem, nad; ihren Fragmen-
ausgegeben von &, M. Philipfon. Berlin 1830. —
mi — prolegomenis et commentariis instructa,
A. Kuhlmey. Berol. 1840, — Den Philo nennt
Siemens Alex. (Strom. I. p. 146.) neben Demetrius ; Io
ä will ihn durch ben Beiſat der Xeltere vermuthlih vom
“ gandriner Philo zu bes Kaifers Gajus Zeit, defien Werte
se großentheild mod Haben, unterſchelden (Voss. p. 486.
Über \yesterm.). Gupolemus lebte vermuthlic, zwifden ben Iahe
men 1 190-100 vor Ehe. — War er ein Jude aus Gamaria, fe
im bar ihn Joſephus, wie Ach aus feinen Worten ergibt, wenige
for end nit dafür, fontern für einen Griechen gehalten. Ale=
"E zander Polphifoe fährt aus des Gupolemus Edrift über
. m Tagungen eine lange Gtelle über Abrahem, Do
(f. Alexundri Polyhistoris fragmm, Vol UL
225, «A C Müller) an.
© Alkaandıi Folyhistoris vitd et scriptis. Seri-
Ranch, yhilo. doctor. Heidelbergee 1348.
Kurt ber von Wiefiger philofophifden FGarnitit
draolquui.
Sofapud u. feine gried. u. helleniſtiſchen Juhrer. 77
Indaeo fo meiſterhaft geübt, verfuͤhreriſch geworden. Sie
haben alleſammt mehr ober minder die Operationen feiner
»bilologifchen Scheidekunſt bei weitem übertrieben. — Es
it ausgemacht, und oben ſchon in Anwendung gebracht
worden, daß die griechiſchen Schriftfteller bis auf Alerans
der den Großen Faum ben Namen der Juden nennen,
viel weniger ſich um deren Geſchichte befümmern; — aber "
dieſen Sag nun fofort auf alle griehifhe Autoren
übertragen und, ohne auf gegründete Einreden zu hören,
khaupter, Alles, was unter dem Namen bellenifcher Schrift:
feller in den Handſchriften über die Juden und ihre Ges
ſdichte überliefert werde, fey nichts als Machwerk von obs
kuren jüdifhen Schreiben, um ihres Ruhmes oder Rus
dens willen mehr oder minder gefchidt ausſtaffitt, und felbft
des Alexander Polyhiftor Buch über die Juden für ein von
nem Juden geſchmiedetes Product, deſſen Unterſchleif dem
Eufebius ſelbſt unbemerkt geblieben, ausgeben — ein ſol⸗
Geb Beginnen Tann der nüchterne und ernfle Forſcher für
nichts Anderes als für eine jugendliche Hvperkritik erflären,
— Darum beiße ich denn um fo mehr die tüchtige Epikrife
willommen, die ber gelehrte Garl Müller in der nun
dollendeten Sammlung der griechiſchen Geſchichtſchreiber
über jenes maßloſe Verfahren hat ergehen laſſen ).
Im folgenden Abſchnitt ($. 24.) macht Joſephus die
Bemerkung, daß nicht nur die jüdifche Nation, ſondern auch
dere und zwar hochberuͤhmte Völker und Städte Vers
lermdungen und Schmähungen betroffen, und führt darauf
wörtlich folgende Beifpiele an: — „denn Theopompos hat
die Stadt der Athener, Polykrates die ber Lakedaimonier,
der aber, welcher das Dreiſtaͤdte-Buch gefchrieben (— denn
Deopompos iſt es wahrlid nicht, wie Einige doch vermeis
nem —) auch die Stadt der Thebder verleumdet. Vieles
%) S. Cornelii Alexandri Polyhistoris fragmenta , in ber Samm-⸗
ung der Fragmm. historicorr. Graecorr. Paris. Didot. Vol. ll.
?. 29.
78 Greuzer
bat auch Timaͤos In feinen Hiftorien über die fo eben ge⸗
nannten und andere gefhmäht.” — Daß ber geniale Ges
ſchichtſchreiber Theopompus zum öfteren weder Perfonen
noch Schulen ober Staaten mit feinem Tadel verfhont
batte, ift eine bekannte Sache a), — In Betreff des Dreis
ſtaͤdte⸗Buchs zeigt Joſephus gute kritiſche Quelle und eige-
ned Urtheil. Wirklih war Theopompus nicht der Verfaſ⸗
fer deflelben, fondern es hatte damit folgende Bewandtnig,
und es ift dieß eines der auffallendflen Ereigniffe oder viels
mehr Scandale in der Litteraturgefdhichte. Anarimened von
Lampfalos b), ein abgefagter Feind des Theopompos, hatte
unter deſſen Namen und mit täufchender Nachahmung feis
ner Schreibart und Manier unter dem Titel Touciocvoc
oder Toixoarixöog eine Schmaͤhſchrift gegen Athen, Sparta
und Theben gefchrieben und an diefe brei Städte gefendet,
und ba er, wie Lucian fi) ausdrückt, mit breifpigiger Rede
‚Hellas erfte Städte vernichtet hatte, fo war ed ihm nur
allzu wohl gelungen, den Theopompus in ganz Griechenland
aufs aͤußerſte verhaßt zu machen ©),
a) ©, meine hiſtoriſche Kunft der Griechen, S. 388. zweit. Ausg.
Der zunächft genannte Polykrates iſt wohl nicht der Werfaffer
eines hiſtoriſchen Buches, Lakonika betitelt, fondern ber athenis
fe Nebner und Feind bes Iſokrates jenes Namens (f. Car.
Müller. ad fragmm. historr. Graecc, Vol. IV. p. 480.).
b) Derfelbe, deffen Ars rhetorica ad Alexandrum unfer Freund ®.
Gpengel zu Züri 1844 unter deſſen Ramen herausgegeben,
nachdem er in ben Prolegomenen bis zur Coibenz ermwiefen hat,
daß nicht Ariſtoteles, ſondern Anarimenes deren Verfaſſer fey.
— Ihm flimmt jegt unter vielen Andern auch Garl Müller
bei (ad Theopompi fragum. Vol, 1. p. LXXIV. und ad Ana-
ximenis fragmm. p. 85.).
e) S. die hiſtoriſche Kunft der Griechen a. a. D. — Jett will ich
denn dody Giniges nachtragen. Zuerſt muß ich an die Haupt⸗
ftelle felbft erinnern, naͤmlich bie Pausan. VI, 18, 5. p. 485.
ed. Schubart et Walz; fodann an Lucian. Psendol. $. 29.,
wo aber M. Gesner (III. p. 186. ed. West.) ganz und
gar fehlgegriffen und Wieland (VI. ©. 92,) auf bie fo in⸗
Sofephus u. feine griech. u. helleniſtiſchen Führer. 7@
Die bisherigen Eroͤrterungen geben ſchon genügenden
Luſſchluß theils über die hiſtoriſche Kritik, welche Joſephus
in diefer Streitfchrift handhabt, theild über den Geift, in
welchem diefe überhaupt unternommen und abgefaßt iſt. —
Daher werde ich von hier an diefe ganze Epikrife der vors
legenden Apologie gegen Apion fowohl für die folgenden
Kapitel des erften, als auch für dad ganze zweite Buch bes
trachtlich abHirzen und mid hauptſaͤchlich auf den Nach⸗
weis der Stellen von Autoren, worauf er ſich bezieht, bes
ſqraͤnken Können,
Bundchft, nachdem er ($, B.) die Urſachen des Haſſes
der Aegyptier gegen die Juden angegeben, hat er es wieder
6%-—31.) mit Manethon zu thun, aber dießmal in
einem entfchieben feindfeligen, nicht, wie oben ($. 14. 15,
6. 34.) in einem theilweife anerfennenden und freundlis
den Sinne; bier drängt ihm eine Mafle von theils fabels
haften, theils gehäffigen Berichten, die diefer Geſchichtfchrei⸗
ber über daB Hebraͤervolk umftändlich gegeben hatte, Dies
fm gefellt er fofort ($. 32 f.) den Ehäremon a) bei,
texeffante Berichte ſich gar nicht eingelaffen. Daß Dikdarches
in einer Schrift unter gleichem Zitel den Theopomp vertheis
digt Habe, iſt kaum anzunehmen, wohl aber, daß er in einer
Sarift jenes Zitels von ber beſten Staateverfaſſung gehandelt
Yatte (f. jett Max. Fahr. ad Dicacarchi Messen religg.
Darmst. 1841. p. 28 aeg.) G. Müller vermuthet, der Red⸗
mer Ariftides habe die äußere Form jenes Dreifläbte- Bus in
feiner Sobrede auf Rom, alfo zu einem total verſchiedenen Ja⸗
halt, zum Wufter genommen. — Des Zimäus Zadelfucht, von
der Joſephus zulett fpridyt, wovon er ben Ramen "Exızlunog
belommen, iſt befannt. Die Belege find in ber hiſtor. Kunft
Ver Griechen, S. 812 ff. weiter Ausgabe, geliefert.
%) Xasgijneva; dieſe Gtüde find jest aufgenommen in C. Mül-
leri fragmm. historr. Graecc. Vol. III., im Abſchnitt: Chao-
remon Alexandrinus, p. 495. fr. 1., u, zu vergleichen mit
Manetho, Vol. II. p.586 sogg., u, mit Apion, Vol. III. p. 508.,
endlich mit bee Symbolik II. S. 118 f. 286 ff. u. IV. S. 679,
Witt. Ausg. .
80 Gage
dem er unter Anderm ben ungeheuren Paradiesmiömus nach ·
weifen kann, daß ex ben Erzvater Joſeph zugleich mit Mo«
ſes aus Aegypten auögetrieben werten läßt, „Diefem”,
fährt fodanm umfer Apologet fort, „will ich noch den Lyſi⸗
machos zuführen” =), den er fofort mit ter Bemerkung
abfertigt, daß er die Unglaubwirdigkeit der beiten erfieren
durch feine Erdichtungen noch überboten babe, wovon denn
freilich die faubere Etymologie von Jeruſalem eine Probe
liefert: nämlich die umwohnenden Bölker hätten die Haupt:
ſtadt der räuberifchen Tuben ’Tepsovie genannt, wel:
chen Ramen diefe ſelbſt fpäter in “Isposdäupe umgeändert.
Das zweite Bud (p. 367 seqg. Dindf.) if fobann
im eigentlichen Sinne gegen den Apion b) felb gerichtet,
In dem erften Kapitel ſchickt Joſephus eine Charakteriſtik
feines Gegners vorans, bie, wenn fie gleich bauptfächlich
den gereisten Zon bed ſchwer beleidigten Hebraͤers verneh⸗
men läßt, im Weſentlichen jedoch durch die Zeugniffe von
Griechen und Römern gerechtfertigt wird. Denn diefer
a) Emusato di zodreıg Avsineyor Dindorf, befier als G.
Müller, der 'Esıräfm hat, Vol. IL. p. 384., wo fragm. I.
unter der Rubrif: Lysimachus Alexandrinus, diefes ganze Gtüd
aufgenommen if. Er hatte unter andern Gchriften auch Ad-
yentıond geſchrieben unb war vermuthlid; ein Zeitgenoffe des
Dionyfius von Halitarnaf, denn noch unter den römifchen Kais
fern offen in dem üppigen Boden Aegyptens ſolche Eitteraten
wie Pilze auf.
b) ‘Anier, Ueber biefen weltberühmten Mann findet man jett,
- unter ber Rubril: Apion Oasita, von G. Müller vor ben
Fragmenten feiner Werke (Vol. II. p. 506 segg.) alle Perfos
nalien zufammengeftellt, — Dan füge nur nod bei Sturz. ad
Etymologicam Gadianum, P. III. p. 601 segg., nämlich gu
Apion’s homeriſchen Gloſſen, bie ich dem fel. Sturz aus einer
darmpäbter Handfchrift mitgeteilt hatte. — Hier berühre ich
bloß Apion’s Schriften gegen bie Juden, naͤmlich die fünf Buͤ⸗
der Alyvarıaxa (ſ. fragmm. 1—14.) und bie eigentlich gegen
die Juden gerichtete Diattive: T& xard "lovdalos (Iragmm.
15—25.). — Geines Rednerrudmes wegen war ex auch von
Sofephus u. feine griech. u. helleniftifchen Führer. 81
ſchon vom Kaifer Tiberiuß ironiſch bezeichnete e), wahrs
ſcheinlich von Kretern abftammende Grieche in Alerandria +
befaß neben unftreitig großen Gaben, Kenntniffen und Fers
tigkeiten eine faſt unglaubliche Eitelkeit, die, verbunden mit
Unruhe deö Charakters und Streitfucht, ihn in der ganzen
autivirten Welt berumtrieb, wo er mit homerifchen und
andern Borlefungen fi) dad Bürgerrecht der vornehmften
Städte erwarb, fo daß ihn der ältere Plinius, der ihn in feis
ner Jugend gefehen, mit Anfpielung auf jenes kaiſerliche
Bigwort treffend ald die Pauke — oder, würden wir fas
gen, Pofaune — feined eigenen Ruhmes bezeichnete,
Bei der außerorbentlidy großen Menge von Streitpunc⸗
ten, die in diefem zweiten Buche befprocyen werden, muß
ih mich natürlich begnügen, nun noch die Charakteriſtik der
apioniſchen Polemik, wie fie Joſephus gleich zu Anfang
gibt (cap. 1. p. 367., vergl. Fragmm. p. 508.), auszuheben
und im Verfolg noch einige wenige Stellen zu berühren, —
Demnad) fagt denn der Apologet a, a, D, woͤrtlich: „Denn
unter dem, was er gefchrieben, ift Einiged demjenigen aͤhn⸗
lich, was Andere gefagt haben, Manches aber, was er hins
zufügt, iſt fehr froſtig. — Das Meifte ift niedrige Spaß«
madherei und verräth, um bie Wahrheit zu fagen, große Uns
wiflenheit, wie von einem Menfchen erfonnen, der, ſchlecht
von Sitten, fein ganzes Leben hindurch ein Marktfchreier
gewefen” (dykayayoo yeyovörog),
Einzelne Stellen betreffend, fo ift im Verfolge ($. 5,
den Alerandrinern zum Gpreder erwählt worden, um beren
Beſchwerden gegen die Juden beim Kaifer Gajus vorzutragen,
wogegen ber ‚Hebräer Philo in feiner Legatio ad Caium auftrat,
&) Plin. H. N. praefat.: „Apion quidem grammaticus, hic, quem
Tiberias cymbalam mundi vocabat, quum propriae famae
tympanum potias videri posset’”’ — und weiter hin: „immortali-
tate ase donariscripsit, ad quos aliqua componebat.” — Dem
nach dürfen wir bem Jofephus (c. Apion. II, 12.) wohl glauben,
wenn er fagt, „daß Apion die Alerandriner fellg gepriefen,
weil fie einen ſolchen Mitbürger befäßen.”
Theol. Stud. Jahrg. 1853, 6
82 Erener
p. 371.) von der großen Genf die Rede, weiche bie Juden
unter Ptolemdus Philometor und feiner Gemahlin Kleopa⸗
tra genoffen, die ihnen und namentlid) ben jüdifchen Feld»
herren des ägyptifchen Heeres, Duias ad Dofithess, ihr
ganzes Reich anvertraut 2).
Die darauf im griechiſchen Zerte folgenden Lücken
werden glüdlicjerweife durch lateinifche Ucberfegmegen und
durch die Zengniſſe anderer Autoren ergänzt, und daraus
ergibt fi denn, daß hauptiihlidd Apion es mar, der in
feinee Streitſchrift gegen die Juden gar feltfawe Dinge von
den Gulten und deren Gegemfänden im Tempel zu Ierufa-
lem unter ben Heiden amsgefprengt hatte b).
Da ich an einem anbern Drte <) weranlaft wer, dieſen
Boͤlkerſagen mad den baranf gegründeten Berleumbungen
des Hebraͤervolkes vom Geiten ber Iegyptier und deren Ber-
breitung unter ben Griechen und Römern nachzugehen und
die Anhaltspumete folder Gerüchte theild in gemiffen Phaͤ⸗
nomenen des ägyptifden Landes und in religiäfen Vorur⸗
theilen ſeiner Bewohner, theils in uralten Sitten und Gul
ten der Hirtenvoͤller zu erörtern, fo beſchraͤnke ich mich
2) Bersl. A. lad. XIII, 10%., wo Sofepfus ſich auf Strabo ber
suft, nämlid; auf deſſen hiſtoriſche Denfwärbigkeiten (1. Stra-
bonis commestariorum fragm. 3. p. 491. ed. Didot.).
b) Cap. 7. p. 873., vergl. losephi fragmm. c. Apion. no, 18.
9-51: „In hoc enim sacrario Apion praesampsit edicereasini
aput collocasse Iudacos et id colere sc diguum facere tanta
religione” etc. — und was für weitere Abenteuer dem Antior
dus Epiphanes in bemfelben Zempel begegnet feyn follten
(fr. 19.), mit daran hängenden eben fo wunderlichen Gagen,
die zur Kunde griechiſcher und römischer Schriftfieler und ſelbſt
des ernſthaften Zacitus gelangt waren (Historr, V, 4).
€) Commentationes Herodoteae, cap. II. $. 22. (p. 270 aeqg.),
überf&rieben: „Aegyptii in Israclitas malevoli ac maledici.
Snoerdotes pastoritias religiones exosi, Typhon et Typho-
nia”, wo unter Anderm von ber vorliegenden Gtelle des Jo⸗
ſephus ausgegangen worden. est Bann id; ben Lefer aoch
auf Movers, Phönizien I. ©. 297 ff. verweifen,
Sofephus u. feine griech. u. helleniſtiſchen Zührer. 83
bier billig darauf, meine Lefer auf jene Unterfuchungen zu
verweifen,
Joſephus fährt fort, als Erwieberung dem Berleumber
den aͤgyptiſchen Thierdienft vorzurüden, was aber jene
angeblichen feltfamen Geftalten im Zempel zu Serufalem
betrifft, ſich auf die Tempelbeſuche des Antiohos Theos,
des Pompejus d, Gr,, bed Licinius Craſſus und endlich
des Caͤſar Titus zu berufen, wovon Keiner fo etwas, ſon⸗
dern im Gegentheil einer wie der andere fprehende Spus
ten des reinften Cultus gefunden habe. Darauf aber, bei
Erwähnung des vom Antiochus begangenen Zempelraubes,
wirft er bie Eitate von griechiſchen Autoren des verfchiedens
Ben Gehalte durcheinander und fügt ſich auch bier auf
den Zimagened , auf den ex ſich ſchon zweimal, obwohl eis
nen fehr morfchen Stab, in der jübifchen Gefchichte (XIII.
11,3 XHI, 12, 5,) geftüigt hatte, indem dieſer griechiſche
Hiſtoriker in der erften Stelle dem Sohne des Hyrcanus,
Ariftobulus, einem abſcheulichen Tyrannen, aber Ppilhels
lenen ®), großes Lob ertheitt, In der zweiten, beim Bericht
der Schlacht zwiſchen Alerander Hyrcani und Ptolemäus
Latharus, ſich einer ungeheuren Uebertreibung ſchuldig ger
madt b).
6.14. Apollonius Molo ("4xoAlewios 6 Mia).
— Hieraus muß oben 5. 7. 3. A. ber lateiniſche Xert:
Apollonium Molonis in — Molonem unb hier in Apol-
lonius Molo aud bei Dindorf geändert werden, benn
=) Dem der gelchete 5. ©. Plaf in feinem Werke: Die Ty—
rannis — bei ben alten Griechen, Bremen 1852. in fofern
wehl eine Grwähnnng hätte gönnen bürfen, wären Juden dar⸗
tn zuläffg gewefen.
5) ©. jegt: Timagenis fragmenta, Vol. III. p. 828. no. 4. et 5.,
is fragmm. ibid. p. 498. no. 9. — unſer
fao Schwab hatte demnach Im ber Abs
baadlung: De Livio et Timagene historiarum scriptoribas ae-
zalis, Stuttg. 1884, wohl guten Grund zu vermuthen, daß
toiud (IX, 18.) mit feinem „levissimi ex Graecis” ben Ti⸗
6.
84 Creuzer
Molon war der Beiname dieſes Apollonios; denn Joſephus
(& 2%, wo er ihn unter denen aufführt, die uͤber ben
Auszug aus Aegypten fehr willkürlich bericgtet) nennt
idn nur Mölov. — Aus Alabanda gebürtig, fam er unter
Sul Dictatur, gleichzeitig mit Alerander Polyhiſtor, nach
Kom, wo er ſich als gerichtlicher Redner, wie als Lehrer
der Beredtſamkeit großen Ruhm erwarb und von Cicero,
Silar und andern vornehmen Römern gehört wurbe, und
ats er fich fpäter in Rhodus niedergelaffen, hatte er an
Gicero zum zweiten Mal einen Zuhörer,
In feinen Schriften behandelte er den Homer und bie
Redekunſt; er wird jedoch auch unter den Schriftſtellern
über die Geſchichte der Aegyptier und der Juden genannt,
aber in legterer Hinficht von Joſephus an den angeführten
Stellen nicht bloß der Unwiflenheit, fondern auch des Hafs
feß gegen das Hebräervol® und beffen Oefesgeber Mofes bes
aüchtigt *).
Hier, beim Schluſſe des Berichts über die Schrift ger
gen Apion, ſollte nun obiger Ankündigung nad der Rüds
blick auf die Archäologie folgen, da ich jedoch mehrere
‚Hauptftelen berfelben im erflen Briefe, wie in dieſem
zweiten, bereits befprochen habe und keinen größeren Raum
in Anſpruch nehmen will, fo ſchließe ich mit einigen Bes
merkungen über die Schrift von den Maklabdern und
die vom Weltall, beren Echtheit freilich beftritten iſt.
magenes habe tadeln wollen,und G, Müller (a.a. O. S. 820.)
flimmt ihm volllommen bei.
a) Huet, Demonstr. evang. IV, 33.5 Clint on, Fast. Hell. ad ann.
78. et 88. ante Chr.; Weftermann, Geſch. der griech. Bes
redſ. S. 177., vergl.jegt G. Müller (zu fragmm. historr. Grr-
Vol. III. p. 208. und p. 212 seq. fr. 5., wo aus Alerander
Yolhhifter Molo's Bericht über bie Gündfluth, Abraham’s Bor
fahren, ihn felbft und über Iſaak mitgeteilt wird). — Aus
Allem biefem iſt der Artikel „Apollonius Molo”in Pauly’s
Kealencykl. I. S. 628, theils zu ergänzen, theils zu berichtigen.
Sofephus u. feine. griedh. u. helleniftifchen Bührer. 85.
Zur exfteren (eis Maxxtßalovs A6yos), die auch einen
goeiten Titel, von ber Herrfhaft der Vernunft,
führt und von Einigen auch ald das vierte Buch der
Matlabder gezählt wird, muß ich in einer Anmerkung a)
uwoͤrderſt wieder auf bie Arhäglogie zuruͤckblicken und
fodann an ein chriftliche Poem erinnern, das von jener ſei⸗
nen Inhalt entlehnt und neuerlich einen kritiſchen Heraus⸗
geber gefunden hat. Diefes unter dem Namen des Hila:
rind auf die Mutter ber Makkabaͤer verfaßte Ges
dicht hat nämlich ein junger Philolog aus einer parifer
Handſchrift neu herausgegeben und mit einer lehrreichen
Einleitung und ſowohl kritiſchen ald eregetifchen Anmerkuns
gen wohl auögeftattet, “
Wenn diefer Kritiker bemerkt, dad ganze Gebicht bes
währe fich in vielen Stellen als eines beſſeren Zeitalters
würdig, und befonders auf den Schluß aufmerkfam macht,
der eben fo ſchoͤn als erhaben fey (WB. 390 — 394):
„Dum puer ista gerit, solverunt gaudia matrem.
Iamque ut erat lassata malis, iam voce negata
Spirat ovans interque manus conlapsa suorum
Concidit exanimis, resolutaque membra quierant,
Sie ipsa et nati sanctorum in parte recepta est”:
) Antigg. Iad. XII, 6, 2. p. 460. Dindf. wird über den Mattas
thias in Mobaim berichtet, des Könige Antiochus Abgefandte
hätten ihm, auf griechiſche Weife zu opfern, zuerft angeſonnen:
I erw döfay re ve dd ralle nal did rjV suzaı-
dla. Dieß Lette wird noch bei Dindorf im Lateinifchen ges
geben: ex doctrina, und andy von Gotta überfegt: „wegen
feiner Gelehrfamkeit”,"jebod mit der Bemerkung, daß
Ginige dabei vielmehr an die Kinder daͤchten. Lepteres iſt
das Richtige, jenes wäre eumaıdevolg. Ic Kann jegt auf Ste-
phani Thesaur, ed. Didet. sub voc. verweilen. Mattathias
wird als Vater guter Kinder bezeichnet. — Das chriſt⸗
liche Gedicht ift neu erfchienen In der Schrift: „Dissertatio
ioauguralis .de Orosii historici fontibus et auctoritate, et al-
tera de Antonii Raudensis aligao opere inedito cum Hila-
sii carmine in natalem Machabaeorum matris,
quas offert G. F. Beck Saxo-Gothanus. Marburgi 1832.
Ogtzes „Google
1.
Das Händefalten im Gebet.
Bon “
Hofrath Viewrdt,
Profeffor am Eyceum zu Karlsruhe.
Uster biefen nod zu wenig beadhteten Gegenftand ber
driſtlichen Archäologie habe ich im Herbft 1851 dem karls⸗
ruher Lyceumsprogramme eine Abhandlung a) beigegeben,
deren Hauptinhalt ich bier theologifchen Lefern mittheilen wid,
da Edulprogramme gewöhnlich nur eine geringe Werbreis
tung finden. Zugleich überfende ich der Verlagshandlung
der theol, Studien acht Exemplare mit dem Erſuchen, fie
m diejenigen Gelehrten zu vertheilen, von welchen fie etwa
gmünfeht werben.
Meine Behauptung, daß dad Händefalten im Gebet
ef dur die Germanen nad Europa gelommen und
eft durch fie dort verbreitet worben fey, ftügt fich zwar nicht
af die Autorität irgend eines unferer Archäologen, hofft
aber, fi ihnen durch folgende Gründe zu empfehlen.
1) Das Händefalten im Gebet findet ſich vor Chriftus
md lange Sahrhunderte nach Chriftus bei feinem an,
deren Voͤlkerſtamme in Europa, auch bei Feinem
%) De innctaram in precando manunm, origine Indo-Germanica et
wa inter plurimos Christianos adscito. Cum tabula lithogra-
Phica, Carolsruhae typis G. Braun. 1851. &8 @eiten,
Bierordt
S añãtiſchen Kuͤſtenvolke des ganzen Mit⸗
le beteten nachweislich mit ausgebreiteten
ni Gebeten, bie mit Gelübden verbunden
a ıe die Hände, aber ungefaltet, auf die Bruſt.
une treffen wir e8 zuerfi bei Germa
Scrtögefluß wird zwar von keinem griedi: .
>. wmichen Schriftfteller ausdruͤcklich befchrieben,
.Haen die dlteften Bilder, auf welchen ich ber
. >amanen, und zwar mit gefalteten Händen, darge
de ‚auf der Giegeöfäule des Kaiferd Theodos I. vom
wu VD), auß eine Zeit, in welcher unter den übrigen
sun Europa's noch ange keine Spur von gefalteten
den der Beter erſcheint.
3) Es findet ſich auf den aͤlteſten Grabdenkmalen
aAer germaniſchen Stämme und wird als altherkoͤmmliche
Geberde der Germanen bei der Unterwerfung und
Huldigung beferieben, alfo auch bei dem Belehnungs⸗
acte der Vaſallen, mindeftens ſchon im fiebenten chriftlichen
Jahrhundert. Daher kommen auch fpäter in unferen Did:
tern oft Ausdrüde vor wie im Parcival 51, 5: So valt
ich ihm die hende min.
4) €8 verbreitete ſich während bes Mittelalters nur in
diejenigen Länder, welde dur Germanen bezwum
gen waren, alfo im wefllichen Theile von Europa nicht
in Schottland und, was Oſteuropa betrifft, ausbräds
lich nicht in Griechenland.
5) Zu den Germanen iſt ed nicht etwa durch die
che iſt liche Kirche gefommen; denn es findet fich weder
bei unferem Heiland, noch bei ben Apoſteln und Kirchen:
vaͤtern, noch bei nichtsgermanifchen Bekennern diefer Kirche
während der fünf erflen chriftlichen Jahrhunderte. Naments
lich wird es in Feiner Spur bei irgend Einem der betenden
Shriften gefunden, deren fehr zahlreiche Abbildungen aus
dieſer Zeit in den römifchen c. Katakomben noch jetzt
vorhanden und in ben Werfen des Antonio Boſio,
das Haͤndefalten im Gebet. [7
,
Paolo Aringhi, Krievih Münter, Serour
d’Agincourt u, And. zu fehen find,
6) Auch in allen folgenden Jahrhunderten des Mittels
dterd iſt es niemals durch irgend eine Kirche
dorgeſchrieben, vielmehr durch die Griechen foͤrmlich
derboten, zwar 866, im Streite mit den Griechen, durch
einen Papft als ein ſchoͤner Ausdruck demuͤthiger Unterwür⸗
igkeit bezeichnet worden, welcher neben dem bisher in
der Kirche üblichen Gebetögefius zu dulden ſey, aber faſt
lleichzeitig wurde es durch einen Abt von Monte Gafino
as eine Abweichung vom altchriſtlichen Gebrauch fehr ges
tabelt, und Ritualbüicher fpäterer abendlaͤndiſcher Theolo⸗
gavermeiden ed, davon zu reden. Auch der Altefte
Katechismus der Waldenſer weiß nur von auögebreiteten
Armen, Doch Bilder von Betern mit gefalteten Händen
find ans der zweiten Hälfte des Mittelalters in Deutſch⸗
land und in dem übrigen durch Deutſche bezwungenen
Veſtenropa fo zahlreich vorhanden, dag wir annehmen
dürfen, diefe Händeftellung des betenden Volkes fey, wie
fo mancher andere unbedenklich heidniſche Gebrauch, durch
die abendländifhe Kirche ftillfehmweigend geduldet
worden, und fie fey ſchon in frühefter Zeit faft allgemeine
Bollafitte geweſen, wie fie ed fpäter in ben Zeiten der
Winnefänger (Zriftan V. 4492: der vielt «) sine hende
Wf ze gote vil innecliche) und in den noch fpäteren Zeis
tem Luther's b) war und wie fie es noch jegt iſt. — Die
außgebreiteten unb die auf bie Bruſt gelegten Hände bes
feben zwar noch jetzt auch in der Weſthaͤlfte Europa’s,
nämlich bei den Meffeprieftern und bei den Sfraeliten, aber
weit weniger bei dem chriftlichen Wolke; doch fcheinen dem
4) Ich vielt = faltete, wie damals id) ſchalte im Imperf, hielt,
ich wolte wielt gebildet hat.
b) Euther betete „mit gefaltenen Händen” (an Meyfter Peter, wie
man beten foll. 1534.)— Auch mande gleichzeitigen Bilder flels
len ihn fo dar,
pre Bierordt
uud - Batheiiichen Theile Deſſelben in unſeren Tagen jene
wuegedreiteten Hände bie und da durch Seuitenmiffionere
aus Neue empfohlen zu werben.
7) Es iR nit erfi mit den Kreuzzügen nach
Europa gelommen, wie G, A. Böttiger (Kleine Schrifs
wu archaͤologiſchen Inhaltes. Dresden 1838, II, 335.),
ohne irgend einen Beweis anzubeuten, behauptet hat; denn
in den Jahrhunderten der Kreugzüge war es unter ben
abendländifhen Laien ſchon laͤngſt in weit verbreitetem Ges
brauche, aber durchaus nicht üblich bei den Bewohnern ders
jenigen Länder, in welden die Kämpfe ber Kreuzfahrer
fattfanden,
8) Es findet ſich unwiberfprechlich ſchon lange in vor»
chriſtlichen Zeiten jenſeits bed Indus, und zwar nicht bloß
auf deutlichen Steinbildern der alten Inder, fondern
auch oft in ihren litterarifchen Dentmalen, namentlich in
ihrem älteften Epos Mahabhärata, wo dad Händefals
ten die Benennung ängali führt und theils im Gebete zu
den Göttern, theils gegenüber den Großen der Erde anges
wandt wird, Auch in benachbarten Ländern Indiens wird
es angetroffen, ſchon im fechften Jahrhundert vor Chriſtus bei
Confutſe. — Wie ed zu den Germanen gekommen feyn
mag, läßt fi) aus ber begründeten Annahme, daß auch fie
einft Nachbarn der Inder waren, wohl vermuthen, aber
fo wenig klar nachweiſen, ald die Art, wie die altindifche
Beiteintheilung in Wochen und die Benennung der Wochen⸗
tage, oder die altindiſchen Ordalien und Bußübungen und
vieled Andere zu unferen germanifchen Vorfahren gekom⸗
men fey.
Ueber dad biöher Geſagte äußerte mir ein ultramontas
ner Here mündli, von dem rohen Germanenvolte habe
die heilige Kirche nie etwas anzunehmen gehabt und nur
vielen Undank, wie ben luther'ſchen Aufruhr, erfahren. —
Weit milder mißbiligt ein Recenfent in den heidelberger
Jahrbuͤchern der Eitteratur 1851, S. 944. zwar aud den
das Haͤndefalten im Gebet. os
Gedanken an einen heidniſchen Urſprung unſeres Haͤndefal⸗
tens, und gleichfalls ohne irgend einen der angeführten Gründe
zu widerlegen, body er wünfcht bloß, dad Händefalten
„als eine echt hriftliche Sitte anerfannt zu fehen”; er fühlt,
nie nahe ed lag, von dem bloßen Ausſtrecken ber Hände
auch zu einer Bereinigung derfelben zu fchreiten”, und hofft,
einen Beitrag zur Loͤſung diefer Frage in einem franzöfifchen
Berke zu finden, welches und demnaͤchſt noch zahlteichere
Büder aud den Katatomben von Rom erwarten lafle, —
Bern er aber in diefem perret’fchen Prachtwerke aber⸗
mals auch nicht Ein Beiſpiel von Betern mit gefalteten
Händen aus den fünf erſten Sabrhunderten antreffen wird,
gedenkt er dann, anderer Anficht zu werden? .
Da der Gegenfland eine unter den meiften Chriften
verbreitete Sitte betrifft, fo fcheint er der Mühe nicht uns
werth, daß fachkundige Männer ihn prüfen.
2.
Unterfuchungen über die Synagoga magna.
Bon
D. M. Heidenheim
in Worms.
Ueber bie Exiſtenz und Bedeutung der fogenannten
Synagoga magna haben ſich unter ben Gelehrten der bei-
den legten Jahrhunderte zwei entgegengefegte Anfichten ger
bildet. Bevor noch die Morgenröthe der neuen Kritik heran⸗
gebrochen war, und ald man nur nach Anhaltspuncten hafchte,
um bie Abſchließung dieſes oder jenes biblifchen Buches, fo
wie bie bed gefammten altteftamentlichen Kanons feftzuftel-
im, war die gebachte Verfammlung ein willlommener Lüs
denbüßer, dem man Alles aufludb, Ein näheres Eingehen
auf die ſtiliſtiſche Form der Fanonifchen Bücher des A, T.
96 ‚Heidenheim
dad Reich Iirael; denn ed finden ſich Spuren, bag auch
diefed Reich ganz wie das Schweſterreich Juda eingerichtet
war =), — Es erklärt fich die Sache am beften dadurch,
wenn man Rrwaͤgt, wie durch dad ununterbrochene Fortbes
ſtehen diefed Inſtitutes diefe Einrichtung nad) und nach fo
fehr mit dem Volke verwuchs, daß felbft nach einer Tren⸗
nung des Reiches die Einrichtung fogar in dem fich new
organifirenden Reiche Iſrael beibehalten wurde. Ob nun
biefer Rath der Aelteften durch bad Volk aus den Aelteften
der einzelnen Gemeinden gewählt, ober durch dad Loos be⸗
Rigmt wurbe, Tann nicht mehr ermittelt werben b), jeboch
koͤnnte man annehmen, daß bie Aeltefien des Landes aus
dem Rathe ber Stabtälteften erwählt wurden e). — Fras
gen wir nun nad) dem Wirkungskreiſe diefer Behörde, fo
iſt aus ben vorliegenden Stellen zu fließen, daß ihre
Wirkſamkeit mehr auf das Allgemeine gerichtet war, und
fie dem jeweiligen Staatsoberhaupte ald Staatsrath zur
Seite fanden, Die Untergerichte befanden aus den umn
und ermwo, Joſ. 1, 10. Die Priefter ſcheinen in dem Ael⸗
teſtenrathe nicht beſonders vertreten gewefen zu ſeyn, dage-
gen dürfte bie Annahme feftftchen, daß der jedesmalige
Richter mit dem Oberpriefler dad Präfidium führte d), —
und daher mag die fpätere Einrichtung herrühren, dag dem
Spnedrium ein Nafi und Ab> Beth: Din vorftanden e),
a) 1 Kin. 21, 8. 2 Kön. 6, 32, und 10, 1-6,
b) Immerpin if die Gtelle 1 Sam. 17, 12., woes von Jſai Heißt:
er war alt und kam Drwanı, alfo unter die beffimmten
Männer, d. h. welche zum RKathe wählbar waren, von Intereffe.
c) Diefe Gtabtälteften finden fid Richt. 8, 14. 1 Bam. 11, 3.
16, 4. u. f. w. Neben der Benennung sr pr findet fich
auch asrı "mw Richt. 8, 14. 9, 50. 10, 18,
d) Joſ. 8, 88. 22, 1,
©) Diefe Annahme liegt uns weit näher, als wenn wir mit Sach 6
(f. Frankel's Zeitſchrift, &. 808.) diefe beiden Vorſteher des
Synedriums als ben zwei Gonfuln in Rom nachgebilbet betrachten.
Unterfuchungen über die Synagoga magna. 97
Roc) eine andere Behörde tritt neben den Sopr unter dem
Ramen mn "wos auf, bie zwar, wie aus Joſ. 22, 14,
bervorzugeben ſcheint, identifch mit den rmax ma urn zu,
ſeyn fcheint =), allein aus Iof. 22, 30. erfieht man, daß
die Sache fi) anderd verhält, bie Im ww eine eigene
Behörde waren, Man koͤnnte die „Nefiim” für einen ei⸗
genen Ausfhuß der max na wen betrachten, der, von
diefen gewählt, aus zwölf „Neftim”, je einer für einen Stamm
behdnd. Intereſſant ift es, in Sukkoth, das wahrſcheinlich
eine freie Reichsſtadt war, aber dennoch ihre Behörden ana⸗
log dem Mutterftaate gebildet hatte, die alte Einrichtung
zu finden. Diefe Stadt hatte 77 Aeltefte, wovon wahrs
ſcheinlich die 70 den „Sekenim” und die fieben übrigen den
„Refiim” entſprachen b), Das Inftitut der Aelteſten bes
ſteht noch zu Samuel’ Zeit fort ); dort ziehen bie Seke—
aim fogar mit ind Feld. Auch zur Zeit der Könige findet
ſich diefe Eimichtung no, wenn auch im Einzelnen abs
weichend, fo doch im Wefentlichen biefelbe q). Jedenfalls
ſcheint dieſe Einrichtung im Wolfe eine große Stüge ges
babt zu haben, und es wurbe vielleicht durch bie Aelteften
dem Könige gegenüber vertreten. Dafür fpricht die That⸗
ſache 2 Sam, 17, 15., wo die Aelteſten es mit dem Volke
und beffen Repräfentanten halten ©), Wenn biefer Eins
Eben fo lächerlich ift beffen Vermuthung, wie dort ben magi-
stratus maiores die magistratus minores zur Seite flehen
(Gel. 14, 18.), fo feyen auch bei bem jübifhen Synedrium bie
zwei Ueinen Gynebrien nachgebilbet. Auch dafür gibt der
Kanon Beweife,
a) Lengerke in f. Gel. Iſraels, Ih. I. S. 872, Anmerk. 8.
und &,515., will die Sdd für ibentif mit den ron "ann
max halten, und die Benennung „Reflim” als eine dem Glos
Hiften angehörende betrachten, aber die oben angeführte Gtelle
(Sof. 22, 30.) ſpricht dagegen.
b) Ridt. 8, 14. — c) 1 Sam. 4, 3.
4) 1 Kön. 8, 8. 12, 6. 20, 7. 8, 14. 15, 2,8u ſ. w. 2 Koͤn.
6, 82. 10, 1. 6. 28, 1. u. ſ. w.
e) 2 Sam. 17, 6. .
Theol. Stud. Jahrg. 1853, 7
” Senenhe
sihuung and xiit iheral gedad wirt, ix Tamm. dirk: Landbau
Sen Grunt jeum, der fur Das Exiviber ner Slim: Tonde
36 iengnen if e& min, baf Dir Gerichränericfung uumbe
Beraͤnerung eriainen haben mung, wir Die auf I Sum
34, & erũthtlich ik; aber chen tir!e Eee bemeili nk
wie mau immer im Brienziiken baf Alm heiter.
Zofaphat verbanme die Achefien zidı aus Dem Biutte, er
Grunt bierze mung in her Umwifienbei: det Bofrt peömiit
werben, wotucch Die Zehefiee dahin Zamen, nat Rür ber
Armen zu beugen, wie dieß aus 2 Cham. 1%, fi 7. gemie
gend hervorgeht Spiaphat dachte nermurzhli Diele Zreio
beu am bein durch bie Werterung ber Priefier um Lords
sea beim Beriise eis Extde zu maden la um ui
voQ fpikes wicber auf bie malte Einrichtung, wie je
4 Mel. 11, 16 wii wird, yerifprinuee feya
© fg, DB. Eyehid 7, 2. dab bei ten Ze kein
Waih m finden ſey, wmb ſchilden B, 1. foger, wie die
srrer *1 vor ihen füßen. Is bemicihen Ariäeie (B.11.)
ment ex foges eine amd 70 Männern befichente Berfemmse
lung, weven er fogar einen mit Namen meuut. Fallen wir
alles biöher Gdagte zufammen, fo muß ſich und daraus
das Befulsat ergehen, baf bis zum Erile, unb joger wäh
send biefer Zeit(?) diefe Gerichtsinflitution fortbeßand. Eine
ſolche Einrichtung follten wir aud wieder nadh bem Eile
erwarten, und im der Zhat, wir finden auch ba wieder bie
ran tra als Behörde conflitnirt =).— Es wird Eſta
42.3, erzaͤhlt: „Und als die rm iz von dem Wieder:
aufbau des Tempels Kunde erhielten, ba gingen fie u Se—
zubabel und den übrigen rısaun onn u. ſ. w. b).
a) Daß auch hier die rm rr2 won mit den pr übentifch
find, dafür ſpricht Eſta 8, 12. 10, 8. u, f. w.
b) Aus dleſer Gtelle geht deutlich hervor, daß die Era 2, 2 ger
nannten elif Männer zu ben mızw "on gehörten,
Unterfuchungen über bie Synagogs magna, 99
Bir find nun bier zu dem eigentlichen Puncte unferer
Erörterumg angelangt, und es fragt fi, ob wir in diefen
mas om bie Synagoga magna finden, ober nicht. Zuerft
muß es und um dad Formelle zu thun feyn; uns
fere erſte Aufgabe wird es nun feyn, bie im Talmud anges
gebene Zahl der Synagoga magna nachzuweiſen, und dieß
glauben wir mit ben ſchlagendſten Beweiſen zu koͤn⸗
zen. Im Vergleiche mit ber altmofaiihen Snftitution wäre
bier eine Anzahl von 70 Männern zu fuchen, allein die Zahl
iR bedeutend größer; wir werben hier die im Talmude ans
gegebene Zahl von 120 Männern finden. Rehemiah 8, 13.
leſen wir: „Und am zweiten Tage verfammelten fidh die
max vorn bed ganzen Volkes (d. b. die Aelteſten als
lex eingeroanberten Familien), die Priefter und Leviten zu
Era, um Unterfuhungen über ben ganzen In—
balt der Lehre anzuftellen. Alſo die Werfammelten
waren ſaͤmmtliche Aeltefien der eingewanderten Familien,
und num fragt es ſich, wie groß deren Anzahl war, Dars
über geben uns Eſta 2, 2—59, und Efra 8, 1-15, Aufs
ſchluß. In diefen beiden Abſchnitten find ſaͤmmtliche einge
wanderte Familien, fowohl die, welche ihre juͤdiſche Ab⸗
Zunft durd eine fchriftliche Urkunde, ormrı "wo, Iegitimiren
konnten, ald auch die, denen dieſe Urkunde fehlte, aufgeführt. Es
verficht ſich nun von felbft, daß legtere nicht im Rathe ver⸗
treten feyn konnten. Man könnte hier zwar einwenden, im
2. Kap. fey nicht ausdrücklich von den manrı or bie Rebe,
allein dafür fprechen 4,2, und 8, 1,, in welch legterem Abs
ſchnitte Efra fagt: „Und dieß find die mar man, die mit
mir heraufzogen, alfo auch ſchon früher, und zwar bie 2,
2. genannten, waren ran “wor ba. Die Sache fpricht fo
ſehr für fi, daß es unnöthig wäre, noch anderweitige
Belege anzuführen. Sehen wir nun die beiden gebadhten
Zafeln etwas näher an und zählen die Familienhaͤupter.
Aus ber erſten Tafel, Efra 2, 2—59, ergeben fi uns 102
Tamilienhäupter , wozu wir noch bie Efra 5, 1. erwähnten
7*
100 Heidenheim, Unterfuc). üb. d. Synagoga magna.
zwei Propheten Chaggai und Sachariah zählen, bie doch
immerhin den Xelteflen. beigezählt werben durften. So:
dann ergeben fidh und aus der zweiten Tafel, Efra8, 1—15.,
zählen wir dort die Familienhäupter, 15 max ma "wen;
dieß wären alfo zufammen 119 Aelteſte. Es verfteht fich
nun von felbft, daß Efra ald Schriftgelehrter diefer Ber
hoͤrde vorfland a). — Somit hätten wir die Zahl 120, und
wenn es auf die Namen antäme, fo koͤnnten wir audy noch
viele derfelben nennen b). Dieß verfparen wir aber für bie zweite
unterſuchung, wofelbft wir über den eigentlichen Wirkungskreis
der Verfammlung, fo wie Über die Dauer ihres Beſte⸗
bens und ihre Stelung zum Kanon handeln werden. Für
jegt glauben wir hinlaͤnglich erwiefen zu haben, baß die
im Eingange angeführten 120 Aelteften des Talmuds Feine
Erdichtung find, fondern in der That eriftirt haben,
=) Dan Eönnte bier nun einwenden, daß zur Beit Eſra's, ber
erſt um 458 v. Chr, einwanderte, bie beiden Propheten Has ·
gai und Sechariah, die 515 dv. Chr. meiffagten, fo wie bie
max ms "ann, bie mit Gerubabel 680 v. Ghr. eingewans
dert waren, nicht mehr am Leben waren; allein man bebente,
daß fowohl die Propheten durch andere Gelehrten, wie bie
Aelteften durch andere Aelteften ergänzt wurden,
b) Reh, 10, 1—80,
Kecenfionen.
1.
Der Schriftbeweis. Ein theologifcher Verſuch von D. I.
hr. K. Hofmann, ordentl. Prof. ber Theol. in
Erlangen. Erſte Hälfte. Nördlingen, Bed, 1852.
XIV und 574 ©,
Ein originelles und bedeutendes Buch, das wir ſchon deß-⸗
wegen mit $reuben begrüßen, weil es zeigt, welche tüchtige
Kräfte noch immer in dem Weinberge der Theologie arbeis
ten, und wie immer wiederneue Bahnen eingefchlagen werden
Binnen, um die in Jeſu Chriſto verborgenen Schäge der
Weisheit und Erkenntniß zu heben. Es ftcht wahrhaftig
nicht fo, wie es vor zehn Jahren einem oberflächlichen
Beobachter erfeheinen Eonnte, ald wäre mit ber ſtrauß'⸗
ſchen Glaubenslehre die dogmatifche Arbeit an ihrem Ende
angekommen. Rad; einer längeren Periode verhältnigmds
iger Unfruchtbarkeit auf diefem Kerngebiete der Theologie.
baben und bie legten Jahre wieder eine reiche Fülle ſyſte⸗
matifch » theologifcher Litteratur gebracht. Und zwar treten
neben ben Werken, die fich ald Dogmatik anfündigen, wie
die von Liebner, Lang, Martenfen, Ebrarbd, ans
dere hervor, welde ſchon durch ihre Zitel eine neue und
ägentbümlihe Auffaſſung und Werarbeitung bes Stoffes
der foſtematifchen Theologie verſprechen. Zu der letzteren
104 Hofmann
Glaffe gehört neben Rothe”s theologiſcher Ethit auch bex
vor und fiegende „Schriftbeweis” von Hofmann.
Das Bud) hat feinen Namen a parte potiori. Dem
Schriftbeweis ſelbſt, welcher neun Zehntel dieſes erſten
Bandbes (8.57 — 874.) und dem ganzen noch zu hoffenden
zweiten Band umfaßt, gehen zwei weit kürzere Abſchnitte
voraus: „Wefen und Gefeg bes Schriftbeweife” (S.3—32.)
und „da6 Sehrganze” (5.35 — 56.). Dieſes Iegtere iſt ein kurs
zer Abriß des hofmann’fchen, Dogmatik und Ethik umfaſ⸗
fenden Syſtems, weldes durch den Schriftbeweiß feine bis
bliſche Begründung erhalten fol. Es macht alfo eigentlich
den erfien, felbfländigen Theil des ganzen Werkes aus; ber
Scdriftbeweis iſt nur der zweite, dem Umfange nach freilich
unendlich ausgebehntere Theil. In dem Lehrganzen mit feis
nen acht Lehrſtucken von je vier bis zwölf Sägen feiert Diebün=
dige, firaffe, oft bis zur Dunkelpeit gedrängte, aber immer
ſcharfe Ausdrucks⸗ und Darftellungsweife Hofmann’ ihren
Zriumph. Nicht leicht iſt wohl irgendwo auf 21 Geiten
fo Bieles zufammengebrängt; man muß biefe wenigen
Blaͤtter, zumal bei der Cigenthümlichkeit von einem großen
Theil ihres Inhalt, wieder und wieder lefen, wenn man
in den Gedankenkreis eindringen will, ben uns das Buch
entwideln fol, Tendenz und Charakter dieſer beiden uns
gleichen Theile, fo wie ihr Verhaͤltniß zu einander iR nun
"in dem erften, einleitenden Abſchnitt über „Welen und Ges
ſetz des Schriftbeweiſes erörtert. Diefen Abſchnitt haben
wir denn zunaͤchſt ins Auge zu faſſen. Unter den drei an⸗
ſpruchsloſen Ueberſchriften: „Was fol bewieſen werden?
Womit ſoll bewieſen werden? Wann iſt bewiefen?” entwis
delt er Princip und Plan des ganzen Werkes, indem ſich
bie erfie Frage auf dad Lehrganze, die zweite auf den
Schriftbeweis, die dritte auf die innere Einheit beider bes
zieht.
Bewieſen ſoll werden „die wiſſenſchaftliche Ausſage des
Chriſtenthums“. Es fragt fi) alſo, was dad Chriſtenthum
der Schriftbeweis. . 108
amd was wiſſenſchaftliche Ausfage deffelben fey. Das Chris
Renthum , welches der Verf. ohne alle Begrlindung fogleich
aaͤher als „lutherifches Ehriftenthum” faßt, befinirt er als
„die in Jeſu Chriſto vermittelte perfönliche Gemeinfchaft
Gottes und der Menfchheit”. Zur wiflenfchaftlihen Aus⸗
lage aber kommt das Chriſtenthum durch die „Entfaltung
des einfachen Zhatbeftandes, welcher den Chriften zum Chris
fen macht und vom Nichtchriſten unterfcheidet, zur Darles
gung des mannichfaltigen Reichthums feines Inhalts”, mit
bern Worten dadurch, daß „ich der Chriſt mir dem Theo⸗
lagen eigenfter Stoff meiner Wiſſenſchaft bin”. Wir fehen,
der Ausgangspunct iſt bei Hofmann im Weſentlichen ber
gleihewiebei Schleiermadher und wienah Schleier
mader’8 Vorgang bei Rothe. Es iſt die fubjective chriſt⸗
Ihe Erfahrung, von welcher alle dieſe drei Theologen aus⸗
gehen. Allein indem fie fih nun anfhiden, den. Inhalt
des chriſtlichen Bewußtſeyns zu erpliciven,, ſchlaͤgt jeder ſo⸗
gleich feinen eigenen Weg ein. Gegen eine bloße „Beſchrei⸗
bung der chriſtlich-religioſſen Gemüthözuftände” verwahrt
fh Hofmann; „ein thatfächliches Verhaͤltniß Gottes und
der Menfchheit ift ja der Gegenftand unſeres Denkens, und
ſo kann e8 auf dem Wege der Selbflaudfage dieſes Ver⸗
hiltmiffeß (d. h. eben des Chriftentbums) nur immer zur
Darlegung thatfächlicher Werhältniffe zwiſchen Gott und
dm Menſchen kommen, welche in jenem voraudgefegt, ge⸗
genwärtig oder geweiſſagt liegen. Denn das Verhaͤltniß
Sotteß und der Menfchheit, wie es in und gegenwärtig iſt,
gibt ſich einerfeits als gefchichtlicher Wolzug eines ewigen
Berhäitniffes, andererſeits ald die Mitte der Vollzugss
sefhichte dieſes letzteren zu erkennen, Das Ewige ald Vor⸗
ausfegung des Gefchichtlichen ift ſonach das Erſte, worauf
die geſchichtliche Gegenwart führt: mit ihm beginnt das
Syſtem. Das Uebrige ift Vergangenheit, Gegenwart, Zus
kunft der Vollzugsgeſchichte jenes ewigen Verhaͤltniſſes. Die
Vergangenheit erfennt man an der Gegenwart ald bie ges
106 Hofmem .
ſaichtũche Beransiekung, bie Zatunft ai5 bie geihihtfiche _
Erfülung derfelben.” So thut Hofmann am den arfien
Schritt wit Schleiermacher; beim jweitentreunt er ich ſo⸗
glich won ihm und ſchreitet über den religisien Eubietti«
viteins binams in bie geichichtliche Objertivität hinein. Nicht
fromme Gefühlözuflände, fondern thatſachliche Werhältnife,
beilsgeihichtliche Thatſachen find DaB welentliche Element
feineb Eehrganzen, Es trüt bier ſogleich die dereiterifli-
fie Eigenthümiichkrit de tbeologifchen Dentens Hofmann’
hervot; bafielbe ik durch und turd bikerifd geartet.
Einen dritten Weg hat von bemfelben Aubgangtpumt aus
Rothe eingeſchlagen. Ex läßt fi) vom driklicen Bes
dedecitt vom hier aus zunäcjfi das Seſen der natürlichen
Seit, weihe durch das Ebrifienthum im eine geiſtche Zelt
umgeboren wird, fe daß bafielbe in feiner ethiſchen Gelbfl-
vollzichung bier zugleich eine wefentlich metapbyfiide Be⸗
deutung gewinnt. Bon denfelben Ausgangtpuncte aus find
alſo biefe drei Theologen zu ganz verfchiebenen Auffaſſungs⸗
weifen des Chriſtenthums gelangt:. bei Schleiermader
iR daflelbe Religion, bei Hofmann heilige Geſchichte,
bei Rothe ein ethiſch / metaphyfiſcher Proceh In Wahre
heit iſt das Chriſtenthum bie organifche Zotalität diefer brei
Momente, weldye aber hier noch auseinander gefallen find
und je einen beſonderen Vertreter gefunden haben. Demge⸗
mäß if denn auch bie Methode der drei Theologen eine we
fenttich verſchiedene, bei Schleiermadyer bie pſycholo⸗
giſch befchreibende, bei Hofmann die gefchichtlich entwis
deinde, bei Rothe bie fpeculatio deducitende. Mei unbe⸗
fangener Betrachtung werben wir gefleben müffen, daß ber
bloß fubjective Ausgangspunct durch bie unges
heure Verſchiedenheit biefer darauf gebauten Syſteme ges
richtet if. Ein Princip von foldyer Weite und Debubar-
keit, aus welchem ganz Berfhiedenes, ja Entgegengefeh«
tes ſich ableiten laͤßt, eignet fi) in Wahrheit nit zum
ber Schriftbeweis. 107
Princip, Nehmen wir nur die Anfangs= und Enbpumete
der Syſteme! Schleiermader hat nicht einmal eigent⸗
lich einen perfönlichen Gott, Rothe wohl einen Perfänlis
&en und lebendigen, aber Beinen breieinigen, Hofmann
die Lehre von den drei Perfonen, die er brei Ich nennt,
Schleiermacher flelt die ganze Lehre von den legten
Dingen in Frage; Rothe hat eine fehr reiche Eſchatolo⸗
sie, body nicht ohne daß feine Speculation noch da und
dort verfllichtigend eingreift; Hofmann’3 nicht fpeculatio,
ſondern hiſtoriſch gearteted Syſtem, in weldem wir Ver⸗
gangenheit, Gegenwart, Zufunft ſchon vorläufig als Haupt.
kategorien fanden, gibt eine tief im alten und neuen
Zeflament gewurzelte Anfchauung von ber Entwidelung bed
Reiches Sottes, bei welcher dad Volk Ifrael eine fo ber
deutende Rolle fpielt, wie nie in einer Dogmatik vor ihm,
Ferner: Schleiermader will alle Philofophie außfchlies
sen, und doch ift feine Glaubenslehre in ihren innerften
Adern davon durchzogen; Rothe ſcheidet eben fo ſtreng
wiſchen Philoſophie und Theoſophie, und doch iſt er in
ſeiner Methode, wie in ſo manchem Andern, noch weſent⸗
ih von Hegel abhängig; Ho fmann iſt von ber Philos
fophie nun wirklich faft ganz frei geworben und gegen ib»
ren Einfluß ſchon durch die Kürze feines Lehrganzen ges
fügt. Während naͤmlich bei Schleiermader die Ers
plication des chriftlihen Bewußtſeyns zwei ganze Bände
fünt und bei Rothe drei nody viel umfangreichere, if fie
bei Hofmann auf 21. kurze Seiten zuſammengeſchwun⸗
den und geht nur noch ald ein Zwerg vor dem Rieſen
Schriftbeweis her, Es iſt erfreulich, wenn bei den Theolo⸗
gen die Schrift fo waͤchſt und ihr Gigenes fo abnimmt;
vieleicht daß bald auch die 21 Seiten vollends verfhwins
den. Immer weniger wirb dann der Theologie der Vor⸗
wurf gemacht werben Finnen: bein Silber ift zu Schladen
geworden und bein Wein mit Wafler gemifcht (Jeſ. 1, 22.).
Bei Schleiermacher if die Schrift faft ganz in die Aus⸗
RR) Bomann
u x ir. smmmihen, gottmenfchlichen Entfaltung iſt
Ic Serlicucain und zur Anerkennung ber heili⸗
= Fer en zwar der ganjen h. Schrift. Der erfannte
Semmane Nr Srüsgelbichte eröffnet und den Blick für
Bi Imamzmut der Heilsurkunden; ein Organismus ift
nm weentupot, wntdeilbased Ganze, von welchem fein
oo zrernt werden Zaun. Dieſe tiefe und ungemein
Wondet, welche namentlih auch dazu bient,
.s, Zetarent in feine vollen und fo lange verkann⸗
re enter einzufegen, finden wir bei Hofmann auf
na art großartige Meife durchgeführt, Wir freuen
— dr du evangelifhe heologie immer mehr wieder
a Vettz für die ganze Schrift gewinnt, und wenn
x men Dbeologie ihreß freieren Werhältniffes zum Kanon
wa rt, ſo koͤnnen wir dad für feinen Fortſchritt des
eshmtiämnd erachten, fondern für einen noch unüber⸗
vet Melt des vorigen Jahrhunderts, welches die
d vaun doc dauptſaͤchlich deßwegen in ihrem Anfehen
upnawhles weil ihm das lebendige Verſtaͤndniß berfelben
Eaaden gefummen war, unb von welchem wir auch in
was Merlebung auf das urſpruͤngliche Princip des Protes
ind werden zuruͤkkommen müſſen. Auf einzelne Pri⸗
umanäerungen Luthers kann es bier, wie in fo Vielem, nicht
atmen; was die evangeliſche Kirche als Kirche für
vlles Wort erkennt, das bat fie durch die Ausſcheidung
der Apokrvphen ungweideutig gezeigt. Sicher — und es
wa ſich Erfahrungen dafür anführen — if ed nicht der
ale Grund der modernen Ueberfpannung Iutherifcher Kirche
Udkeit, daß treue Proteflanten von der neuern Theologie
ge Schrift noch nicht mit ſchuldiger Achtung behan⸗
von, 68 gehört zum Berufe Hofmann’s, in biefer
ung ben wahren Bortfchritt der evangeliichen Wiſſen⸗
m fördern und nicht auf dem Wege Außerlicher Aus
ı fondern Innern, lebendigen Verſtaͤndniſſes die ganze
wieder gu Ohren au bringen. Die heilige Gefchichte
der Schriftbeweis. 11
iR ein Princip, welches und zu einer noch viel volleren unb
umfaffenderen Erfenntniß und Aneignung der heiligen Ur—
hmmden verhelfen wird, mamentlich in Bezug auf das
% T. und im neuen z. B. in Bezug auf die Apokalypſe,
als dieß auf dem altproteftantifchen Standpunct möglich
war, Und fofern der rechte Einblid in die heilige Geſchichte
die ganze, im vorigen Jahrhundert begonnene Entwidelung
der Zheologie zur Vorausſetzung hat, wird barum boch der
wahre Gewinn bdiefer Periode unverloren feyn. — Hofe
mann benugt alfo im Schriftbeweis ald Beweismittel „die
kanoniſchen Bücher, nur fie und fie alle”; denn „if die
Schrift als Ganzes Gotted Wort, fo hat fie überall gleis
chermaßen Beweiskraft.“ Dieß will er nad allem Wiss
berigen natürlich nicht fo verftanden haben, daß nun aus
dem A. und R, T. promiscue einzelne und vereinzelte Bes
weisftellen beigebracht würden, wie von der alten Dogma-
til; fondern auch bier gilt ed wieder, biftorifch zu verfahs
sen. „Vor Allem find e& die in der Schrift kundgethanen
Ihatfachen eines geſchichtlichen Verlaufs, welche zum Bes
weife dienen wollen” Bon den Thatfachen unterfcheidet”
Hofmann „die von ihnen gemachten Anwendungen unb
über fie gethanen Aeußerungen, welche nur zur richtigen
Auffaflung berfelben leiten wollen” Die erzählten Thatſa ⸗
hen und bie darlıber gethanen Aeußerungen machen zufams
men die Lehre der Schrift aus, von welcher dann der
Berf. wieder „die Boraudfegungen unterfcheidet, mit wels
qen fie ſolches außfagt und lehrt: eine Unterfcheibung, wel⸗
he fich von felbft zu verſtehen fcheint, aber nur allzu haus
fig überfehen worden if.” Es wird unten zur Sprache
tommen müffen, wie weit. wir bier zuflimmen koͤnnen, wie
weit nicht. Auf dieſer Grundlage verlangt nun aber bie
biflorifche Behandlungsweiſe ferner, daß „Jegliches in der
Schrift an feiner geſchichtlichen Stelle, in feinem geſchicht⸗
lien Zuſammenhang aufgenonmen werde, daß wir und
der Beranlaflung, auf welche, der Beſtimmung, für welche
Bei
—— 7. erimmem und daraus er⸗
sum, — E ‚ErZSe Merem Tut, warum fie ihn
: mer Die mm” Erich müſſen wir,
z- (sem a Tragen. u we aimzelne Thatſa⸗
- mie se as m Giermniiinumg des im Chriſto
‚um. ı Birne unrser Ser und Menfchen mit,
„m. I Er „ir a8 rroredeee Stufen ber beilis
.® WESEN tmEMMOE Sejem, U TE za überzeugen,
zu 2 m nm Sem Sumem ter beil Geſchichte
‚ne muze Sorte, fondern dei
we zn Ser: we ia u” Ber ide, es iſt hier
per Toermime des tegmetiichen Ge
-t usıesen ad Dotmann befeamt |
. mus er dem durch ben Zitd |
= Re..r neue > Te dm „nicht fowohl um das
mu nr m er Zimrinumes zu Bun” (S. 32,
ui in Tine Ne Schriftheweiſes, zu welche
z Neu Ne Au ao zur ai eim praltifcher Beleg
Ayeie. Na, weder mehr dazu dienen fo,
> tes a Fruttineg zu deringen, als fie zu loͤſen.“
. Di Seuiu U Ngtnt dader der Berf. fein Berk, „wel
Ne ann Toxokogte aus den Fortfchritten der
er ft ii, durſte wohl hauptſaͤchlich
det ae De Nütgen Cewartung geblieben ſeyn, weil
NURNETENE Sdkutlemeiilüdrung weder ficher noch
PRRRTURENK BT NT Neg
Da U wid ran auf Die Dritte ber oben aufgemors
wet Bug Win a Öueieitn? ‚Hier ſtellt der Verf.
Neun) Net Sunlüiungen (vergl mit S. 28 ff, auch
WON Fortan und Sdrift mäflen einander durch
wu was a tdatchlichen Inhalt, was den
ud Nut endüch wad die ſyſtematiſche
NE Wiguine wat Anerdeung des Ganzen bes
ME Para ya nicht dieſes oder jenes Einzelne
Du ie Sqiiſt dezeugt erwieſen werben,
ber Schriftbeweis. 113
fonderm das Ganze des Syſtems von dem Ganzen der
Särift, Sicher wird es als ein Haupfverdienft des vor⸗
liegenden Werkes anerkannt werben, daß bier wirklich neue
Bahnen gebrochen find; über den Atomismus ber dicta
probantia iſt her Verf. wefentlich hinaus, überal hat er
ne zufammenhängende Entwidelung des Schriftgehaltes
u geben verfucht. In ganzen Abfchnitten liefert Hofmann
den Schriftbeweis, faſt ohne eine Stelle ausdrüdlich anzus
führen, indem er einfach die innere Verknüpfung und Ent
faltung der heilögefchichtlichen Thatſachen hervorhebt (©.
8510, 564—566.). Die Aufgabe ift in biefer Be⸗
iehung bei ihm noch fchärfer gefaßt, wenn auch nicht tief⸗
ſianiger gelöft, als bei J.T. Bed, mit welchem Hofmann
in Bezug auf die im Schriftbeweis ſich kundgebende Biblis
tät feiner Theologie eben fo weſentlich verglichen werden
muß, wie in Bezug auf den Standort, von dem er beim
ÆEehrganzen“ audgeht, mit Schleiermader und Rothe,
Aud) zwiſchen den beiben biblifhen Theologen beſteht ein
ihnlicher Unterfchied, wie der oben berausgehobene zwiſchen
Säleiermader, Rothe und Hofmann. Dieſer letz⸗
tere repraͤſentirt auch auf bibliſchem Gebiete eben vorzüglich
wieder bie hiftorifche Auffaflungsweife, während Bed, ohne
Berkennung des geſchichtlichen Elements (vgl. feine hriftliche
kehewiſſenſchaft, ©. 315 ff.), einerfeits in feiner Propaͤdeutik
das religiöfe Weſen des Chriſtenthums Schleiermader'n
ggenüber auf eine neue Weile aus der Schrift dargelegt, ans
dererfeits in feiner Lehrwiſſenſchaft und biblifchen Seelen⸗
lchte bie metaphufifchen Grundanfchauungen der Bibel ent
widelt hat. Die weitere Ausführung diefer Doppelparallele
inerfeits mit Schleiermacher, andererſeits mit Bed
wird am beften geeignet feyn, zu weiterer Gharakteriftit und
Kritik des bofmann’fchen Standpuncted zu dienen.
Schleiermacher ift von dem Geſichtspunct außges
sangen, daß das Chriſtenthum, weil es Religion fey, auch
bloß das unmittelbar religiöfe Gebiet umfaffe, im Uebrigen
Tpeol, Stud. Jabrg. 1853, 8
116 Hofmann
inne man über Gott, die Welt, den Menſchen denken, wie
die fonflige Wiſſenſchaft, vor Allem die Philofopbie, uns
ihre. Es war Schleiermader'n bie ganze Gottes⸗
ums Weltanfhauung feiner Zeit zu mächtig, er war in ihr
groß geworden und onnte fich nicht mehr von ihre trennen.
Auf der andern Seite war fein Herz eben fo fehr vom Chris
ſtenthum ergriffen, wie fein Werftand der modernen Denkweiſe
geben war, Gr ſuchte nun jened zu reiten, indem er es
war diefte aus dem lichten Regionen des Wiflens, wie des
Xoumd ia das dunkle Helligthum des Gefühls flüchtete,
Aarın dieſe Doppelheit rächte ſich, wie wir ja alle wiflen;
rm donn nicht mit dem ‚Herzen ein Chriſt und mit dem
wer ia Heide ſeyn z der Menfch iſt Ein ganzer, und ganze
Dun ml Chriſtus baden. Bon jenem Standpunct aus
win mi nur alles Metaphoſiſche, fondern auch alles Ges
Kant im Ghriftentbum unfaßbar. Die gefammte altı
whumntliche Worgefhichte Chriſti, ſo wie die gefammte
araaiegliche Mollendung feines Reichs konnte wicht begriffen
wann in auch bie Geſchichtästhatſachen des Lebens Ghrifi
mer. deſonders die begründenden und abſchließenden, über
manınde Aeugung, Auferiehung und Himmelfahrt, hatten
Mir Arbleiormader feine weientlühe Bedeutung. Und
wa una dad Göriitentbum if, das iR und aud) die heilige
var Dichte deweiſt fo ſeht als dieſe Erfahrungswahrs
U. Die man auch mmichren famm, die principiche, integris
denke, Unantaſtbate Steftung der Schrüt im ganzen Seſen
unk Veben der Difendarung, Sehleiermader wußte nut
hund veltuldig Element ia der Schrift anfzufafien; mit dem
ueſtdichilichen und ametapbefiden ging er auf die befannte
Nariie um Cia jchlogendet Beitpiel if feine berühmte Er·
Koran von Kol 1. 65 ME. wo er metaphufifche Verbält⸗
WS In veliudie Woryiage wmdiegt; ein andered jene Pre⸗
blul an das Wort ed Herra: „Beute weint du mit mir
tm Waratiis ſtyn“ ven er dus Waradied ganz in bad Seyn
Walk BRSRD Berctannnmneı
der Schriftbemeis. 115
Anders ift ed bei Hofmann. Er iſt — das hat fih
ums fon vorläufig wieberholt gezeigt — eine durch und
durch Hiflorifch geartete Natur. Wie Schleiermader
von ber Poefie und Philofophie feiner Zeit zur Theologie
tm, fo Hofmann von der Geſchichte. Ein Blid auf
die Schriften, welche die beiden vor oder außer ihren theo—
logiſchen veröffentlicht haben, gibt Zeugniß davon: Schleier
mader die Briefe über bie Lucinde, die Monologen, bie
Reden über die Religion, die Ueberfegung Platon's; Hof
mann die Geſchichte ded Aufruhrs in den Sevennen, ein
Lehtbuch der Weltgefchichte, womit auch noch „die aͤgypti⸗
fe und ifraelitifche Zeitrechnung” verglichen werben mag.
Schleier mach er hatte die Miffion, das Chriftenthum,
das man in bie Moral oder in die Philofophie oder ſonſt
irgendwie abforbiren wollte, ald Religion im fpecififchen Un-
terfhied von allen andern Lebenögebieten wieder zur Aner⸗
tennung zu bringen. Darin liegt feine Größe, darin auch
fein Mangel. Er hat das Chriſtenthum fo fehr von allem
llebtigen geſchieden, daß er auch bie bemfelben eigene ge
ſchichtliche und metaphufifche Seite, wodurch e8 mit dem
ganzen Weltleben zufammenhängt-ald die Macht über dafs
felbe, auögefchieden hat. Hofmann bringt und einen gro=
ben Schritt weiter. Ihm, dem Hiftoriker, ift das Ghriften«
thum Geſchichte, „die zwifchen Gott und dem Menfchen ſich
begebende Gefchichte”. Damit iſt er, wie wir fahen, über
den fubjectiven Standpunct ber bloßen Religion hinausges
fommen auf den objectiven der Offenbarung, näher ber Of⸗
fenbarungsgeſchichte. Schleiermaner war ber Xheologe
der Religion, Hofmann if der Theologe der Dffenba-
rungögefichte, Wie Schleiermacher's Reden Über die
Reigion in diefer Beziehung die charakteriftifche Vorſtufe
iu feiner Glaubenslehre bilden, ganz ebenfo Hofmann’s
Beiffegung und Erfüllung” zu feinem Schriftbeweis,
Schleiermacher's Reben follten das Herz bed gegens
wärtigen Geſchlechts wieber für die Meligion entzünden,
8.
116 ¶Sefe
Artmarı 3 Beiagung une EVÆ- legt und ben ge>
rauen Irseemms = I Teıbareng vom Patabies an
se us zum Sem 2 me mern Erde auseinander.
Dumm se Far — viel mehr von der chriſt⸗
ar = gieisutu auzueignen und in fein
— — zu af Shleiermader, und
— zer Lo Wergieidung nur freuen, wenn
u — — — erhöhte Herr fih aud in ber
— —— zur, wilere Zeugen feiner geoffenbars
Sue mit, um? um wie Wieleb bie Theologe in
= 3 er .2gieren jeit dreißig Jahren vormärtd ge«
_ Na m geſchichtlichen Thatſachen, die wir
= ze Zuieieemadder noch unverflanden bes
— zugten, ciſchlichen ſich Hofmann und bilden bie
Ze ee Denkent. Hier liegen nun feine eigent=
— Au awugle, dier feine Bedeutung, von ber wir und
zu it, Neacntreiche Wirkungen für bie Theologie ver⸗
on truth u ed, we er alle Lehre zunaͤchſt auf
zu Mut N Geſchichte zueddführt. Go erft wird mit
I Mit, die (gt In Aller Munde ift, daß das Chris
Kurs E und Neben fev, voller wiflenfhaftlicher Ernſt
et ER ertt kann and die rationaliſtiſche Auffaflung
nat und beſonders des alten Zeftaments, web
N lee, geſchichteloſen und ungeſchichtlichen Auffaf-
ugswaie yeacnüben an Ihrer Gefchichtlichfeit immer noch
an unhwnnbene Waffe batte, voͤllig überwunden werben,
kun ih bus proſanen Geſchichte, auf deren Niveau ber
aniwnlionnud die Difenbarungttdatſachen berabjieht, die
“nor Gohchichte Gtgegenſtelt. Hofmann's Werbienfte
wur otament find ſchon vielfach anerkannt; ja er
Lieſer Vetichung ungeſucht dad Haupt einer Schule
ben, wenn wir diefen Ausdiud bier brauchen dürfen;
Ind um ihn in „Kreio“ fo tüchtiger altteftamentli«
Anger, wie Delitzſch, Gaspari, Mid. Baum:
N Nur, gefammett, und der von biefen Männern
a Fr
der Schriftbeweis. 117
zum Verſtaͤndniß des A, T. eingeſchlagene Weg ift ohne
Zweifel von allen jegt in biefer Hinficht vertretenen Rich»
tungen die wahrfte und fchriftgemäßefte, wenn auch vielfach
erſt noch weiterer Ausbildung und Sichtung bedürftige,
Wundern mußten wir und in legterer Beziehung, daß Ho f⸗
mann ba, wo er feine „Weiffagung und Erfüllung” in
den Schriftbeweiß ald Theil deflelben eintreten läßt, S. 866.
gar Feine Retractationen anzubringen für nöthig hielt, Wir
hätten gedacht, ex ſey unterdeffen in manchen Puncten, z. B.
in Bezug auf die meffianifchen Pfalmen oder Jeſ. 40-66,
weiter gelommen, In der Eſchatolog ie verfpricht der
weite Band des Schriftbeweifes, wenn man wenigſtens von
ten Andeutungen bed Lehrganzen, fo wie von ber „Weiſſa⸗
gung und Erfüllung” aus ſchließen darf, noch Bedeutendes
zu leiſten, und wir halten das noch fo wenig eröffnete bis
bliſche Verſtaͤndniß dieſes gefchichtlichen Abſchluſſes der Of⸗
fenbarungsentwickelung nach allem Geſagten fuͤr eine Haupt⸗
aufgabe Hofmanns. — Auch der vorliegende erſte Band
aber leiſtet von dem genannten Geſichtspuncte aus an vie⸗
len Puncten Treffliches. Wir führen nur einige wenige Beis
foiele an. Sogleich in der Lehre von der Dreieinig-
Reit gebt und weift Hofmann den allein richtigen, uͤbri⸗
gend auch ſchon von Bed u. X, betretenen Weg, von
der oͤkonomiſchen Trinitaͤt zuruckzuſchließen auf die immas
nente und bei diefem „innergöttlichen Werhältnig” nicht in
feinem Fürfichfeyn zu verweilen, fondern «8 fogleich in der
Relation aufzufaflen, in welche ed ſich zur Menfchheit ges
fegt hat. Diefe Auffaffung thut dem wirklichen Gehalt der
kirchlichen Dreieinigkeitöiehre weit weniger Eintrag, als alle
fpeculativen Conſtructionen einer immanenten Zrinität aus
dem Gotteöbegriff heraus, welche ſcheinbar der Kirchenlehre
viel näher ſtehen. Auch die neueren, von Martenfen,
Lange, Liebner mit fo viel Geift in dieſer Richtung
unternommenen Verſuche bringen es, wenn man fie unbes
fangen prüft, zu Peiner wirklichen Preieinigkeit, fondern im
118 Hofmann
beſten Falle (bei Liebner) zu einer Art Zweieinigkeit,
die für den heiligen @eift keine ebenbürtige, perfönliche
Stelle zu gereinnen weiß. Hofmann dagegen, nachdem
er gezeigt bat, daß der Geift im alten Bunde nur erfi als
adttliches Etwas”, im neuen als „göttliche Ich” geoffen:
bart fey, Bann dieſe ſchwierige Frage durch die treffende Be⸗
merkung erledigen: „die Ausgießung des Geiftes if ber
Ihatbewels für die Perfönlichkeit defielben” (S. 170.), und
wolr gefleben, daß wir noch nichts Beſſeres unb Ueberzeus
gendere® Aber die Perfönlichkeit des h. Geiſtes gelefen haben,
als die weitere Ausführung diefed Satzes bei Hofmann.
Die & Schrift zeigt und die Dreieinigkeit niemald abges
feben von Welt und Offenbarung, in ibrer ewigen Gefchlofs
fendeit, fondern immer nur, wie fie gegen die Welt ſich ges
fer, d. d ja eben und aufgeſchloſſen hat, fo daß wir fie
unmöglich anders fallen koͤnnen. Vom heil. Geiſte iR, wie
nofmann ©, 176, richtig erinnert, Vorweltlichkeit gar
nicht einmal ausdrüdlich gelehrt, und auch über dad ewige
Werhältniß des Sohnes zum Water bietet die Schrift nur
ganz wenige, allgemeine Ausbrüde dar. Die ganze Art,
wis fie redet, if Ein großed Verbot von Speculationen über
die immanente Trinitaͤt, and die gefammte Dogmengeſchichte
bis au dieſer Stunde hat diefem Berbote das Siegel aufge:
drückt, indem noch Feine Eonftruction dieſes Dogma's geras
tben iſt. — Bei feiner firengen Geſchichtlichkeit weiß ſodann
Hofmann auch ſolche Facta der heiligen Geſchichte wie⸗
der in ihr Recht einzuſetzen, die ſelbſt von der neueren glaͤu⸗
bigen Theologie noch fo oder fo angezweifelt werben. Die
Geſchichte ded Sündenfalls, und was damit zufammens
bängt, erhält in allen einzelnen Umfländen, daß das Weib
nach und aus dem Mannegefchaffen wurde, daß die Sünde
des Menfchen nur durch die „won widergöttlichem Geiftwils
Ien” außgegangene Verführung erklärbar if, daß das Weib
die zuerft Werführte war u, ſ. w., eine tiefe Bedeutung und
feharffinnige Begründung (S. 354 ff.). Ebenſo faͤllt auf
ber Schriftbeweis. 119
die Berfuhung Shrifi in ihrer „gefchichtlichen Wirk:
lichkeit und Aeußerlickeit” (S. 390.) ein neues Licht und
ein großer Rachdruck, indem aus dieſem Factum die ganze
menteftamentliche Satanologie abgeleitet wird, Ia nur zu
febr iſt bier, wie überhaupt, die Lehre an die Thatfache ges
bunden, wovon fogleicy ein Mehreres,
Durch diefen feinen Standpunct ift denn alfo Hofs .
mann aud zur heiligen Schrift in ein ganz anderes,
viel pofitivered, lebendigeres, richtigeres Verhaͤltniß geſtellt,
als Schleiermacher. Es zeigt die Vergleichung beider
in dieſer Hinficht recht ſchlagend, wie die bibliſche Wahr⸗
beit in ſelbſtaͤndiger, von unſerem Denken voͤllig unabhaͤn⸗
giger und unantaſtbarer Macht, daß ich fo ſage, in ſouve⸗
täner Majeſtaͤt eriflirt, und wie unfere Wiffenfchaft nur bie
Aufgabe hat, den Schlüflel zu diefer in fich felbft Iebendis
gen Wahrheit zu finden, von der fie nichts hinweg», zu
der fie nichts binzuthun Tann. Mag ein Syſtem diefe oder
iene Theile der biblifhen Wahrheit verwerfen, weil ihm in
feinen Grundanfhauungen der Schlüffel zum Begreifen
derfeiben fehlt, ed werden immer wieder "Andere auftreten, -
denen es gegeben ift, auch diefe Stuͤcke der Wahrheit in ih⸗
ter inneren Bernünftigkeit und Nothwendigkeit zu erkennen,
Die Zeit liegt noch nicht lange hinter und, wo man bie
Bahrbeit und die Wiſſenſchaft auf eine eben fo unwahre als
verderbliche Weife mit einander verwechfelte und die erfiere
aur in ber Form der Iegteren anerkennen wollte. Dadurch
gerieth man in einen Formalismus bes bloßen Begriffs hin»
ein, durch welchen man aller Realität der Wahrheit verlu⸗
fig ging, fo daß am Ende die Idee das allein Exiſtirende
ſeyn folte. Dem Weſen nach baffelbe ift ed, wenn noch
heute fo manche Zheologen von biblifhen Vorftelluns
gen reben, für welche ihnen das Verfiändniß fehlt, und
die fie deßwegen für veraltet und unhaltbar erklären, flatt
zu warten und nach oben zu fdyauen, bis ihnen über die
Realität biefer Dinge Licht gefchenkt wird. Die Wahrheit
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munto£t, ne unbusktzuugrn aut umangeriuet bei Excite.
Zeligl@ het dies iu fcmer „serSiä -zuruberiichen Ihen-
die handelnden Perfonen lebendig vor unfere Seelen flellt
und den abttlichen Hintergrund der Handlung und zeigt
und den baslıber geöffneten Himmel, Eben darum, weil
der Schriftbeweis. 121
die Schrift als goͤttliches Zeugniß von der geſchichtli⸗
den Offenbarung felbft wieder auf Offenbarung beruht,
nicht fie über bie bloße Zufammenfaflung ber Geſchichte
noch hinaus. Indem der Gott, der die Gefchichte wirkte,
diefelbe auch fehreibt oder fehreiben laͤßt, will er fie unferm
Berſtaͤndniß für alle Zeiten offen und zugänglich machen,
Darum wird nicht bloß die zwiſchen Gott, und Menfchen
fih begebende Geſchichte als folche beſchrieben, nicht bloß
die Handlung, fondern es muß auch von den handelnden
Perfonen, von Gott und Menfch, von Engeln und Daͤmo⸗
zen, und dann von ber Welt fo viel gefagt werben, als
wm Verfländniß der Geſchichte nothwendig iftz gibt ja
doch ſchon ein menſchlicher Geſchichtſchreiber eine moͤglichſt
genaue Charakteriſtik feiner Perſonen. Eben damit aber
fd wir von dem bloß biftorifchen Gebiete emporgehoben
ind metaphufifche, mäber ind theologifche, anthropologifche
und tosmologifche, Nur fo erklärt es fich auch, daß bie
tigentlich hiftorifchen Bücher in Seinem der beiden Zeflas
wente ſchon ber dußern Zahl nach überwiegen, fondern im
AT, die poctifche und prophetifche, im N. T. die epiſto⸗
liſche Literatur. Im beiden Teſtamenten folgt auf die Zeit
der vorherrſchenden Zhatoffenbarung durch den Sohn in
den Theophanien und in Jeſu Chriſto eine Zeit der vors
herrſchenden Wortoffenbarung durch den Geiſt in den Pros
dheten und Apofteln (wobei im A. T, der Mofaismus ein
tigenthumliches Mittelglieb bildet, in welchem fi) Theopha⸗
mie umd Prophetie behufs der Gefeggebung die Hand bies
tm). Im der erfien jener beiden Perioden war allerdings
je dad Wort nur daB begleitende, in der zweiten aber war
&enfo die That nur das begleitende Moment, und bad
Bort, die Lehre, war dad Hauptvehikel der Offenbarung,
Daher beginnt denn auch die Abfaffung der heiligen Schrife
ten im alten und neuen Bunde erft in diefer zweiten Pe⸗
riode; die patriarchalifche Zeit, wie dad Leben Jeſu ift noch
ohne heilige Schriftabfaffung; Moſes und die Propheten
122 Hofmann
(ogl. eut᷑. 16, 31.) find die altteflamentlichen, bie Apoſtel
die neuteſtamentlichen Schriftfieller, Dieß Alles iſt bei
Hofmann von feinem einfeitig geſchichtlichen, d. b. die
Thatſachen zu ausſchließlich betonenden, Standpuncte nicht
gehörig anerkannt. Er opfert die Wortoffenbarung ber
Thatoffenbarung aufs; er führt die Lehre nicht bloß auf die
Geſchichte zuruck — das ift fein Verdienſt —, fondern er
bindet fie auch an biefelbe — das iſt fein Mangel, feine
Einfeitigkeit. Die Bibel iſt ibm bloß eine Geſchichtsur
kunde; er verkennt, daß fie zugleich ein Lehrbuch ber göttlis
den Dinge für und ifl, Und darum hat er wohl bas
große Werdienft, von der veligiöfen zur hiſtoriſchen Auffafe
fung der Schrift die Theologie principiel fortgeführt zu
baben, aber es ift noch übrig, einen dritten Standpunct,
den metaphufifchen oder, wenn man lieber will, den dogs
matifchen oder, wenn auch das noch zu wiſſenſchaftlich für
die Bibel ausgedruͤckt feyn follte, den der yrüdıs, hinzuzus
fügen, der die beiden vorhergehenden yicht ausfchließt, ſon⸗
dern sorausfegt und in fi) aufnimmt, „Die heilige Schrift
bebt den Gläubigen über den Standpunct feines individuel«
len Glaubens hinaus und flelt ihm hinein in den großen
geſchichtlichen Zuſammenhang eines Gottedreiches, welches,
in grauer Vorzeit gegründet, mit geheimnißvoller, uͤberirdi⸗
ſcher Macht durch die Jahrhunderte hindurchreicht, die Ras
tur und Geſchichte zu feinem Fußgeftell macht und erſt auf
ihren Truͤmmern feine volle Herrlichkeit am Ende der Tage
entfalten wird, Aber eben um dad Wefen biefed Reiches
und feiner biftorifchen Entwidelung zu verſtehen, iſt eö nun
für die Theologie nöthig, daß fie auch den metaphyfifchen
Hintergrund fi zu eigen made, aus welchem die Schrift
diefed Reich erftehen laͤßt. Hierdurch erſt vollendet ſich das
Glauben und das Wiflen zum chriftlichen Erkennen. Das
Gimmelreich ift nicht bloß eine veligiöfe, auch nicht blog
eine geichichtliche, es ift in letzter Inftanz eine metaphufis
fe, eine goͤttlich kosmiſche Macht; denn es ift eine zug
der Schriſtheweis. 123
xrisic, eine ganze, neue Schöpfung. Und fo gibt uns auch
die heilige Schrift nicht bloß Religion und nicht bloß Ge⸗
fhichte, fondern fie gibt und beides im Lichte einer beftimms
ten Gotteö> und Weltanfchauung, welche erfi ben rechten
Sdluͤſſel darbietet zu ben Tiefen der einen und zu den
Bundern der andern” «), Diefe Wahrheit ift im neuerer
Zeit am eingreifendften anerkannt und durchgeführt von
Rothe und Bed, von welchen und jeboch bier, wo wir
auf biblifchem Boden ſtehen, die theologifthe Ethik des er⸗
fern weniger nahe berührt. Fuͤr den Theologen kann es
kine Metaphyſik neben der Dogmatik geben; für ihn fallen
diefe beiden Wifienfchaften zufammen, Gibt es nun aber
anerfanutermaßen eine biblifhe Dogmatik, fo muß ed auch
eine bibliſche oder doch aus der Bibel gefhöpfte Metaphy⸗
ſſk geben.
Auf jene einfeitige Geltendmachung bes gefdhichtlichen
Standpunctes lafien fi num wohl die Mängel des vorlies
genden Werkes größtentheild zurüdführen. Dahin gehört
& z. B., wenn Hofmann eben bie neuteflamentliche Lehre
vom Satan nur aus ber thatfächlichen Erfahrung ableitet,
die Jeſus bei feiner Verſuchung von ber Exiſtenz deſſelben
macht (S. 300 ff.), oder wenn er S. 129 ff, die apoſtoli⸗
ſchen Ausfagen über die göttliche Präeriftenz Chriſti ganz
auf feinem Selbfizeugniffe beruhen läßt, Hiergegen, fo wie
überhaupt gegen biefe ganze Art Hofmann’s fpricht
ſchon daB einfache Dafeyn des Apofteld Paulus, welcher ja
außer aller geſchichtlichen Beruͤhrung mit den neuteftaments
lichen Heilöthatfachen fand und doch ihr größter Verkun⸗
diger wurde. Das Gewicht dieſes Einwurfs fühlt auch
unfer Berfaffer-und fucht ihn deßwegen S. 129 f. zu ent»
kräften, aber feine Bemerkungen reichen bazu bei weitem nicht
aus, wenn wir und erinnern, wie oft ſich Paulus auf Ofs
«) S. meine akademiſche Antrittörebe: „das Verhaͤttniß ber ges
genwärtigen Zheologie zus heiligen Gcrift”, S. 17,
124 Hofmann
fenbarungen, die er vom Herrn ſelbſt empfangen, direct
oder indirect beruft. Weil ferner nach Hofmann die
ganze Schrift nur die zwifchen.-Gott und dem Menſchen
fich begebende Geſchichte erzählt, fo beſchraͤnkt er, hierin das
andere Extrem zu Rothe mit feinen zahllofen, nad eins
ender auftauchenden Schöpfungäfphären, den ewigen Kath⸗
ſchluß Gottes zu ausfchlieglich auf die Menfchheit und läßt
in Folge davon auch die Engel zu ſehr nur für bie irdiſche
Natur und Geſchichte eriftiren, was nicht gefchehen kann,
ohne manden Stellen, namentlich bed Ephefers und Kolofs
ferbrief6, Gewalt anzuthun. Ueberhaupt aber, wo es in
bad trandfcendente, metaphyſiſche, den nothwendigen Hinters
geund der heiligen Geſchichte bildende Gebiet hineingeht, da
find Hofmann?s Begriffe oft von einer merkwürdigen
Dürftigkeit, Ex ſchraͤnkt hier auf feinem biftoriihen Stand»
puncte dad Gebiet der Dogmatit auf eine ganz ähnliche
Weile ein, wie Schleiermacher auf feinem religiöfen,
und fchließt hiermit noch fo manche von der Schrift dar⸗
gebotene Wahrheit aus, Es zeigt ſich dabei, daß jene Uns
terſcheidung deſſen, was die Schrift ausdruͤcklich lehrt, und
was fie nur voraudfegt oder gelegentlich fagt, eine mißliche
und für bie Dogmatit unfruchtbare ift. If doch bie dogs
matifche Bundamentallehre, die von Gott, in der Schrift
auch nur vorauögefegt. Ueberhaupt iſt es ja, befonders im
den neuteflamentlichen Briefen, meift von jeweiligen Um⸗
fländen und Gemeindebebürfniffen abhängig, worüber ſich
die Apoftel ausbrüdlich lehrend verbreiten, worlber nicht.
Und uns ziemt es, jede Belehrung in göttlichen Dingen,
auch wo fie und von der Schrift nur gelegentlich barges
reicht wird, zur Erweiterung unferer Exfenntniß zu verwens
den, deren Grenzen ja ohnedieß eng genug geftedt find,
Hofmann felbft kann jene Unterſcheidung in praxi auch
gar nicht durchführen; ſonſt dürfte er von Vielem, wie z. B.
von der Angelologie, die doch eigentlich auch nicht ausbrüds
lich gelehrt wird, nicht fo ausführlich handeln, als er es ge⸗
ber Scheiftbeweis. 125
than hat. Indeſſen iſt diefe Unterſcheidung für den Schrift
beweiß immerhin nachtheilig genug gewefen, namentlich in
der Lehre von Gott, Wir wollen mit unferm Verfaſſer
nicht darüber rechten, daß er die göttlichen Eigenſchaften
außgefchloffen hat; aber es iſt doch gewiß eine bie Fülle
der Gottheit wenig erfchöpfende Beftimmung, wenn man
Sott mur einerfeitd ald die Macht, deren die Welt if, ans
dererſeits als den fein felbft, d. h. ewiges Ich, Seyenden zu
bezeichnen weiß. Auch in der Trinitaͤtslehre fehlt es an zus
ſammenfaſſenden, begrifflich abſchließenden Geſichtspuncten.
Mit der Flucht vor der Transſcendenz hängen wohl, viel⸗
leicht unbewußt, auch die neuen Auffaffungen der Begriffe
„80g08” und „Weisheit” zufammen, die fich ſchwerlich eimer
allgemeineren Zuſtimmung werben zu erfreuen haben. O Aoyoc
it nach ©, 102 ff. eine neutrale Bezeichnung Jeſu Chriſti
als des Gegenſtandes ber apoftolifhen Verkündigung; bie
Weisheit in Spruchw. 8. nah &.92 ff. eine geiſtig⸗ſittliche
Beftimmtheit, wie fie dem gottesfürchtigen Menſchen eignet,
Bas den Malach Jehovah betrifft, fo hat zwar Hofs
mann bie fhon früher von ihm vertretene Anficht wiebers
holt, und auch Delitzſch in feinem Commentar zur Ger
neſis iſt jetzt derfelben beigetreten ; wir aber müffen geſtehen,
daß und die ganze einfchlägige Entwidelung im Schriſtbe⸗
weiß weit mehr in der entgegengefesten, von Hengfiens
berg, Kurg u, A. vertretenen Anficht beſtaͤrkt hat, worte
nach der Malach mit dem Logos identiſch if. Die Be⸗
grünbung von biefem und Anderem miürbe hier freilich zu
weit führen. — Aehnlich wie in der Lehre von Gott ſcheint
uns auch im ber Lehre vom Menfchen der Reichtum der
Sibfifchen Beftimmungen lange nicht erreicht durch die hofe
mann'ſche Unterfheidung von Ratur und Ich (d. h. eis
gentlich einfach, was man gewoͤhnlich Leib und Seele nennt)
md von der boppelten Wirkung des Geiſtes Gottes in
beiden. Es handelt ſich hier um die Möglichkeit einer bie
bliſchen Seelenlehre, in welcher Beziehung ſich Hofmann
116 Hofmann
Hofmann’d Weiffagung und Erfüllung legt und ben ge>
ſchichtlichen Organismus der Offenbarung vom Parabied an
bis zum neuen Himmel und der neuen Erbe auseinander.
Darum hat Hofmann unendlich viel mehr von der chriſt⸗
lichen Wahrheit ſich wiſſenſchaftlich anzueignen und in fein
Syſtem aufzunehmen gewußt, als Schleiermader, und
man Fann ſich bei diefer Vergleihung nur freuen, wenn
man wahrnimmt, wie der erhöhte Herr fi) auch in der
Wiſſenſchaft immer neue, vollere Zeugen feiner geoffenbars
ten Wahrheit erwedt, und um wie Vieles die Theologie in
der Erkenntniß der legteren feit dreißig Jahren vorwärts ges
ſchritten if. Gerade jene gefchichtlichen Thatfachen, die wir
oben ald von Schleiermader noch unverftanden bes
zeichnen mußten, erfchliegen fih Hofmann und bilden die
Angelpungte feines Denkens. Hier liegen nun feine eigent=
lichen Verdienſte, hier feine Bedeutung, von ber wir uns
noch weitere, fegensreiche Wirkungen für die Theologie ver=
ſprechen. Trefflich iſt es, wie er alle Lehre zunaͤchſt auf
den Grund der Gefchichte zurüdführt. So erft wirb mit
der Wahrheit, die jegt in Aller Munde iſt, daß das Chris
ſtenthum That und Leben fey, voller wiſſenſchaftlicher Ernft
gemacht. So erft kann auch die rationaliftifche Auffaffung
der Schrift und befonders des alten Teſtaments, wels
he der aͤlteren, gefchichtölofen und ungefchichtlichen Auffafs
fungsweife gegenüber an ihrer Gefchichtlicheit immer noch
eine unentwunbene Waffe hatte, voͤllig überwunden werben,
indem man der profanen Geſchichte, auf deren Niveau ber
Rationalismus die Offenbarungsthatfacdhen herabzieht, die
heilige Geſchichte entgegenftelt. Hofmann’s Verdienſte
um das alte Zeflament find ſchon vielfach anerkannt; ja er
iſt in diefer Beziehung ungefucht das Haupt einer Schule
geworben, wenn wir dieſen Ausbrud hier brauchen dürfen;
es bat fih um ihn ein „Rreis” fo tüchtiger altteftamentlis
Ger Forſcher, wie Delitz ſch, Cas pari, Mid. Baum:
garten, Kurtz, geſammelt, und der von dieſen Maͤnnern
der Schriftbeweis. 117
zum Verſtaͤndniß des A. T. eingefhlagene Weg ift ohne
Zweifel von allen jegt in dieſer Hinficht vertretenen Rich⸗
tungen die wahrfte und fchriftgemäßefte, wenn auch vielfady
erſt noch weiterer Ausbildung und Sichtung bedürftige,
Bundern mußten wir und in legterer Beziehung, daß Hofs
mann da, wo er feine „Weiffagung und Erfüllung” in
den Schriftbeweiß ald Theil deffelben eintreten läßt, S. 866.
gar Eeine Retractationen anzubringen für nöthig hielt, Wir
hätten gedacht, er fey unterbefien in manchen Puncten, 5.8.
in Bezug auf die meffianifchen Pfalmen oder Ief. 40-66,
weiter gekommen. In der Eſchatolog ie verfprict der
weite Band des Schriftbeweifes, wenn man wenigfiend von
ten Andeutungen des Lehrganzen, fo wie von der „Weiſſa⸗
gung und Erfüllung” aus fliegen darf, noch Bedeutendes
zu leiften, und wir halten dad noch fo wenig eröffnete bis
blifche Verſtaͤndniß dieſes gefchichtlichen Abſchluſſes der Of-
fenbarungsentwickelung nach allem Geſagten für eine Haupt⸗
aufgabe Hofmanns. — Auch der vorliegende erſte Band
aber leiſtet von dem genannten Geſichtspuncte aus an vie⸗
len Puncten Treffliches. Wir fuͤhren nur einige wenige Bei⸗
ſpiele an. Sogleich in der Lehre von der Dreieinig-
keit gebt und weit Hofmann den allein richtigen, übris
gend auch fon von Bed u. A, betretenen Weg, von
der oͤkonomiſchen Zrinität zuruckzuſchließen auf die immas
nente und bei diefem „innergöttlihen Werhältnig” nicht in
feinem Füuͤrſichſeyn zu verweilen, fondern es fogleich in der
Relation aufzufaffen, im welche es ſich zur Menfchheit ges
fest hat. Diefe Auffaffung thut dem wirklichen Gehalt der
tirchlichen Dreieinigkeitölehre weit weniger Eintrag, ald alle
fpeculativen Conſtructionen einer immanenten Zrinität aus
dem Gotteöbegriff heraus, welche fcheinbar der Kirchenlehre
viel näher fliehen. Auch die neueren, von Martenfen,
Lange, Liebner mit fo viel Geift in biefer Richtung
unternommenen Verſuche bringen es, wenn man fie unbes
fangen prüft, zu Feiner wirklichen Preieinigkeit, fonbern im
118 gofmann
beſten Falle (bei Liebner) zu einer Art Zweieinigkeit,
die fuͤr den heiligen Geiſt keine ebenbuͤrtige, perſoͤnliche
Stelle zu gewinnen weiß. Hofmann dagegen, nachdem
er gezeigt hat, daß der Geiſt im alten Bunde nur erſt als
„göttliche Etwas”, im neuen als „goͤttliches Ich” geoffen⸗
bart fey, kann diefe fehwierige Frage durch die treffende Be⸗
merkung erledigen: „bie Ausgießung des Geiftes iſt ber
Thatbeweis für die Perfönlichkeit deflelben” (S. 170.), und
wir geflehen, daß wir noch nichts Beſſeres und Ueberzeus
genderes fiber die Perföntichkeit des h. Geiſtes gelefen haben,
als bie weitere Ausführung diefes Saged bei Hofmann.
Die h. Schrift zeigt und die Dreieinigkeit niemals abge
fehen von Welt und Offenbarung, in ihrer ewigen Gefchlofs
fenheit, ſondern immer nur, wie fie gegen die Welt ſich ges
öffnet, d. h. ja eben und aufgefchloffen hat, fo daß wir fie
unmöglich anders fafien Finnen, Vom heil. Geifte ift, wie
Hofmann ©. 176. richtig erinnert, Vorweltlichkeit gar
nicht einmal ausdrücklich gelehrt, und auch über das ewige
BVerhältniß ded Sohnes zum Water bietet die Schrift nur
ganz wenige, allgemeine Ausbrüde dar. Die ganze Art,
wie fie redet, ift Ein großes Verbot von Speculationen über
die immanente Trinität, and bie gefammte Dogmengefchidhte
bis zu biefer Stunde hat diefem Verbote das Siegel aufge:
drüct, indem noch Feine Conſtruction biefed Dogma's geras
then ift. — Bei feiner firengen Geſchichtlichkeit weiß ſodann
Hofmann auch folde Facta der heiligen Geſchichte wies
der in ihr Recht einzufegen, bie felbft von ber neueren gläu=
bigen Theologie noch fo ober fo angezweifelt werben. Die
Geſchichte des Sündenfalls, und was damit zufammens
bängt, erhält in allen einzelnen Umftänden, daß das Meib
nad) und aus dem Mannegefchaffen wurde, daß bie Sünde
des Menfchen nur durch die „non mwibergöttlihem Geiftwils
Ien” ausgegangene Verführung erklaͤrbar ift, daß dad Weib
die zuerft Verfuͤhrte war u, f. w., eine tiefe Bedeutung und
feharffinnige Begründung (S, 354 ff.). Ebenſo faͤllt auf
der Scheiftbeweis. 119
die Verſuchung Chriſti in ihrer „gefchichtlichen Wirk
lichkeit und Aeußerlichteit” (S. 390.) ein neues Licht und
an großer Nachdruck, indem aus biefem Factum die ganze
neuteſtamentliche Satanologie abgeleitet wird, Ja nur zu
ſeht iſt bier, wie überhaupt, die Lehre an die Thatſache ges
bunden, wovon ſogleich ein Mehreres,
Durch diefen feinen Standpunct iſt denn alſo Hofs .
mann auch zur heiligen Schrift In ein ganz anderes,
viel pofitiveres, lebendigeres, richtigeres Verhaͤltniß geſtellt,
als Schleiermacher. Es zeigt die Vergleichung beider
in dieſer Hinficht recht ſchlagend wie die bdibliſche Wahr
beit im ſelbſtaͤndiger, von unſerem Denken voͤllig unabhaͤn⸗
giger und unantaſtbarer Macht, daß ich fo fage, in ſouve⸗
taner Majeſtaͤt eriflirt, und wie unfere Wiſſenſchaft nur die
Aufgabe hat, ben Schtüffel zu diefer in ſich felbft lebendi⸗
gen Wahrheit zu finden, von ber fie nichtd hinweg», zu
der fie nichts binzuthun Tann. Mag ein Syſtem diefe oder
iene Theile ber biblifchen Wahrheit verwerfen, weil ihm in
feinen Grundanfhauungen der Schlüffel zum Begreifen
derfeiben fehlt, ed werden immer wieder Andere auftreten, -
denen es gegeben iſt, auch diefe Stuͤcke der Wahrheit in ihs
ter inneren Bernünftigkeit und Nothwendigkeit zu erkennen,
Die Zeit liegt noch nicht lange hinter und, wo man bie
Bahrheit und die Wiffenfchaft auf eine eben fo unwahre ald
verberbliche Weiſe mit einander verwechfelte und bie erfiere
ame in ber Form der legteren anerkennen wollte, Dadurch
gerieth man in einen Kormalismus bed bloßen Begriffs bins
ein, durch welchen man aller Realität der Wahrheit verlus
fig ging, fo daß am Ende die Idee das allein Exiſtirende
feyn ſollte. Dem Weſen nach baffelbe ift ed, wenn noch
beute fo manche Theologen von biblifhen Borftelluns
sen reden, für welche ihnen das Verſtaͤndniß fehlt, und
die fie deßwegen für veraltet unb unhaltbar erklären, flatt
Ju warten und nach oben zu fhauen, bis ihnen über die
Realität diefer Dinge Licht geſchenkt wird. Die Wahrheit
120 Hofmann
ſelbſt wird nicht aufgelöft dadurch, daß ein beſtimmtes wiſ⸗
ſenſchaftliches Syſtem feinen Plag für diefelbe hat, fondern
nur das Syſtem muß fi) wieder auflöfen gerade an dieſem
feinem Wahrheitömangel, mag es fonft auch viele Wahrheis
ten enthalten. Inöbefondere alfo aud in Bezug auf ihr
Verhaͤltniß zur heit, Schrift iſt bie Theologie von Hof:
mann wefentlich gefördert. Ihm ift die Schrift der Or⸗
ganismus des göttlichen Zeugniſſes von ben fortfchreitenden
Geſchichtsthatſachen der Offenbarung, die „Zufammenfaflung
der Geſchichte im Worte” (S. 44.).
Aber gerade hier tritt nun auch zu Tage, was an dem
hofmann'ſchen Standpuncte noch mangelhaft iſt.
Wie bei Schleiermacher von der Schrift nichts begrif⸗
fen und angeeignet wird, als ihr religioͤſer Inhalt, fo bei
Hofmann nichts als ihr gefchichtliher. Da ihm die
Schrift nur die Zufammenfaffung der Gefchichte im Worte
iſt, fo bleibt Alles im Worte, was nicht Gefcjichte zufams
menfaßt, noch undurchdrungen und unangeeignet bei Geite.
Delitz ſch hat dieß in feiner „biblifch =prophetifchen Theo⸗
logie” (S. 172 ff.) in Bezug auf Einen Punct fehr gut
nachgemiefen, in Bezug nämlich auf ben Hofmann ’fden
Begriff der Weiſſagung, wie er feinem Werke über „Weiſ⸗
fagung und Erfüllung” zu Grunde liegt, Was aber Der
litzſch dort vom prophetifchen Worte aufzeigt, das gilt
vom Worte der Schrift überhaupt, Daffelbe liegt nicht fo
tnapp und flraff am Leibe der Geſchichte an, als ob es
nur das Kleid derfelben wäre, ober da8 Gefäß, worin jene
zufommengefaßt iſt. Vielmehr ift das Wort ein Heilige
Gemälde, welches uns, um mit dem Apoflel zu reden,
Chriſtum und bie ganze heilige Gefchichte vor bie Augen
malt, fo daß es nicht nur dad Gefchehene immer wieder
mit friſchen Eindrüden in uns reproducirt, fondern auch
die bandelnden Perfonen lebendig vor unfere Seelen ſtellt
und den göttlichen Hintergrund der Handlung ums zeigt
und den darüber geöffneten Himmel, Eben darum, weil
der Schriftbeweis. 121
die Schrift als göttliches Zeugniß von ber gefchichtlis
Gen Offenbarung felbft wieder auf Offenbarung beruht,
nicht fie über die bloße Zufammenfaffung der Gefchichte
noch hinaus, Inden der Gott, der die Gefchichte wirkte,
diefelbe auch ſchreibt oder fchreiben läßt, will er fie unferm
Verſtaͤndniß für alle Zeiten offen und zugänglich) machen,
Darum wird nicht bloß die zwifchen Gott und Menfchen
fh begebende Geſchichte als folche befchrieben, nicht bloß
die Handlung, fonbern es muß auch von den handelnden
Perfonen, von Gott und Menſch, von Engeln und Daͤmo⸗
nen, und dann von ber Belt fo viel gefagt werben, als
wm Verſtaͤndniß der Geſchichte nothwenbig iſt; gibt ja
dech fhon ein menfchlicher Geſchichtſchreiber eine möglichft
genaue Charakteriſtik feiner Perfonen, Eben damit aber
find wir von dem bloß hiſtoriſchen Gebiete emporgehoben
ins metaphyſiſche, mäher ind theologifche, anthropologifche
und tosmologifhe. Nur fo erklärt es fich auch, daß bie
tigentlich hiſtoriſchen Bücher in keinem der beiden Teſta⸗
mente fhon der aͤußern Zahl nad überwiegen, Tondern im
AT. die poetifche und prophetifche, im N. T, die epiſto⸗
liſche Eitteratur, In beiden Teftamenten folgt auf die Zeit
der vorherrfchenden Thatoffenbarung durch den Sohn in
den Zheophanien und in Jeſu Chrifto eine Zeit der vors
hertſchenden Wortoffenbarung durch den Geift in den Pros
pheten und Apofteln (wobei im A. X. der Moſaismus ein
eigenthumliches Mittelglied bildet, in welchem ſich Theophas
nie und Prophetie behufs der Geſetzgebung die Hand bie
tm). In ber erfien jener beiden Perioden war allerdings
ie das Wort nur daB begleitende, in der zweiten aber war
ebenſo die That nur daB begleitende Moment, und das
Bort, die Lehre, war dad Hauptvehikel der Offenbarung.
Daher beginnt denn auch die Abfaflung der heiligen Schrifs
tn im alten und neuen Bunde erft in diefer zweiten Pes
Tode; die patriarchalifche Zeit, wie daB Leben Jeſu ift noch
Ohne heilige Schriftabfaſſung; Mofes und bie Propheten
127 Hofmann
(ogl. Luf, 16, 31.) find die alttefiamentlichen, bie Apoſtel
die neuteftamentlihen Schriftfteller, Dieß Alles iſt bei
Hofmann von feinem einfeitig geſchichtlichen, d. h. die
Thatſachen zu ausſchließlich betonenben, Standpuncte nicht
gehörig anerkannt. Er opfert die Wortoffenbarung der
Thatoffenbarung auf; er fiihrt die Lehre nicht bloß auf die
Geſchichte zurüd — das iſt fein Berdienft —, fondern er
bindet fie auch an diefelbe — das ift fein Mangel, feine
Einfeitigkeit. Die Bibel iſt ihm bloß eine Geſchichtsur⸗
kunde; er verfennt, baß fie zugleich ein Schrbuc der göttlis
hen Dinge für und ifl, Und darum bat er wohl das
große Werdienft, von der veligiöfen zur hiſtoriſchen Auffafe
fung der Schrift die Theologie principiel fortgeführt zu
baben, aber es ift noch übrig, einen britten Standpunet,
den metapbyfifchen oder, wenn man lieber will, den dog»
matifchen oder, wenn auch dad noch zu wiffenfchaftlich für
die Bibel außgedrhdt ſeyn follte, den der yvacız, hinzuzu⸗
fügen, ber bie beiden vorhergehenden yicht ausſchließt, ſon⸗
dern voraudfegt und in fih aufnimmt. „Die heilige Schrift
bebt den Gläubigen Liber den Standpunct feined individuels
ien Glaubens hinaus und flellt ihn hinein in den großen
geſchichtlichen Zuſammenhang eines Gottesreiches, welches,
in grauer Vorzeit gegründet, mit geheimnißvoller, überirdi⸗
ſcher Macht durch die Jahrhunderte hindurchreicht, die Na⸗
tue und Geſchichte zu feinem Fußgeftel macht und erſt auf
ihren Trummern feine volle Herrlichkeit am Ende der Tage
entfalten wird. Aber eben um bad Weſen dieſes Reiches
und feiner biftorifyen Entwidelung zu verftehen, ift es nun
für die Theologie nöthig, daß fie auch den metaphyfiihen
‚Hintergrund fi) zu eigen mache, aus welchem die Schrift
diefed Reich erſtehen laͤßt. Hierdurch erſt vollendet fi) das
Glauben und das Wiſſen zum chriftlichen Erkennen. Das
„Himmelreich iſt nicht bloß eine religiöfe, auch nicht bloß
eine gefchichtliche, es iſt in letzter Inftanz eine metaphyſi⸗
ſche, eine goͤttlich-kosmiſche Macht; denn es iſt eine ud
der Schriftbeweis. 123
zelöıg, eine ganze, neue Schöpfung. Und fo gibt uns auch
bie heilige Schrift nicht bloß Religion und nicht bloß Ge⸗
ſcichte, fondern fie gibt und beides im Lichte einer beftimms
tn Gottes⸗ und Weltanſchauung, welche erft den rechten
Cchlüffel darbietet zu ben Xiefen der einen und zu ben
Bundern der andern” a). Diefe Wahrheit ift in neuerer
Zeit am eingreifendften anerfannt und durchgeführt von
Rothe und Bed, von welchen und jedoch hier, wo wir
uf biblifchem Boden ftehen, bie theologiſthe Ethik des ers
Ram weniger nahe berührt. Fuͤr den Theologen kann es
tine Metaphyfik neben ber Dogmati geben; für ihn fallen
dieſe beiden Wiſſenſchaften zufammen, Gibt es nun aber
anlanntermaßen eine biblifche Dogmatik, fo muß ed auch
eine biblifche oder doch aus der Bibel gefchöpfte Metaphy⸗
MR geben,
Auf jene einfeitige Geltendmachung bed geſchichtlichen
Etandpunctes laffen ſich nun wohl die Mängel bes vorlies
genden Werkes größtentheild zurüdführen. Dahin gehört
84.8, wenn Hofmann eben bie neuteflamentliche Lehre
vom Satan nur aus der thatſaͤchlichen Erfahrung ableitet,
die Jeſus bei feiner Werfuchung von der Exiſtenz deſſelben
meht (S. 390 ff.), ober wenn er ©, 129 ff. die apoſtoli⸗
Men Ausfagen Über die göttliche Praͤexiſtenz Chriſti ganz
af feinem Selbſtzeugniſſe beruhen läßt, Hiergegen, fo wie
überhaupt gegen biefe ganze Art Hofmann’s fpricht
(don daß einfache Dafeyn des Apofleld Paulus, welder ja
außer aller gefchichtlichen Berlhrung mit den neuteflaments
üben Heilsthatfachen Rand und doch ihr größter Werküns
diger wurde. Das Gewicht diefes Einwurfs fühlt auch
vafer Berfafler-und fucht ihn deßwegen S. 129 f. zu ents
käften, aber feine Bemerkungen reichen bazu bei weiten nicht
aus, wenn wir und erinnern, wie oft fi Paulus auf Ofs
) ©. meine akademiſche Antrittörede: „das Verhaͤttniz ber ges
smmmärtigen Theologie zur beiligen Grit”, ©. 17.
124 Hofmann
fenbarungen, bie er vom ‚Herrn felbft empfangen, direct
oder inbirect beruft, Weil ferner nah Hofmann die
ganze Schrift nur die zwiſchen Gott und dem Menfchen
fi) begebende Geſchichte erzählt, fo beſchraͤnkt er, hierin das
andere Ertrem zu Rothe mit feinen zahllofen, nad) ein⸗
ander auftaudenden Schöpfungsfphären, den ewigen Kath»
ſchluß Gottes zu ausſchließlich auf die Menfchheit und läßt
in Folge davon auch die Engel zu fehr nur für die irdiſche
Natur und Gefchichte exiſtiten, was nicht geſchehen kann,
ohne manchen Stellen, namentlich des Ephefers und Kolofs
ferbriefs, Gewalt anzuthun. Ueberhaupt aber, wo es in
dab trandfcendente, metaphyfifche, den nothwendigen Hinters
grund ber heiligen Geſchichte bildende, Bebiet hineingeht, da
find Hofmann’s Begriffe oft von einer merfwürdigen
Dürftigkeit, Er ſchraͤnkt hier auf feinem hiſtoriſchen Stand⸗
puncte dad Gebiet der Dogmatil auf eine ganz ähnliche
Weiſe ein, wie Schleiermacher auf feinem religioͤſen,
und fehließt hiermit noch fo manche von der Schrift dar⸗
gebotene Wahrheit aus, ES zeigt fich dabei, daß jene Uns
terſcheidung deſſen, was die Schrift ausdruͤcllich lehrt, und
was fie nur voraußfegt oder gelegentlich fagt, eine mißliche
und für die Dogmatik unfruchtbare iſt. IA doch die dogs
matifche Sundamentallehre, die von Gott, in der Schrift
auch nur vorauögefegt. Ueberhaupt ifl es ja, befonders in
den neuteftamentlichen Briefen, meift von jeweiligen Um⸗
fländen und Gemeindebedürfniffen abhängig, worüber ſich
die Apoſtel ausdruͤcklich Ichrend verbreiten, worüber nicht.
Und uns ziemt ed, jede Belehrung in göttlichen Dingen,
aud wo fie uns von der Schrift nur gelegentlich darges
reicht wird, zur Erweiterung unferer Erkenntniß zu verwens
den, deren Grenzen ja obnedieß eng genug geftedt find,
Hofmann felbft Bann jene Unterfceidung in praxi auch
gar nicht durchführen; ſonſt dürfte er von Vielem, wie z. B.
von ber Angelologie, die doch eigentlich auch nicht ausdruͤck⸗
lich gelehrt wird, nicht fo ausführlich handeln, ald er es ges
der Scheiftbeweis. 125
than bat. Inbeſſen iſt diefe Unterfcheibung für den Schrift
beweiß immerhin nachtheilig genug gewefen, namentlich in
der Lehre von Gott. Wir wollen mit unferm Verfaſſer
nicht darüber rechten, daß er die göttlichen Eigenfchaften
ausgeſchloſſen hat; aber es ift- doch gewiß eine die Fulle
der Gottheit wenig erfchöpfende Beftimmung, wenn man
Sott nur einerfeitd ald die Macht, deren die Welt if, ans
dererfeit als den fein felbft, d. h. ewiges Ich, Seyenden zu
bejeichnen weiß. Auch in der Trinitaͤtslehre fehlt es an zus
fammenfaffenden, begrifflich abſchließenden Geſichtspuncten.
Mit der Flucht vor der Trandfcendenz hängen wohl, viel
lit unbewußt, auch die neuen Auffaflungen der Begriffe
„Eogo8” und „Weißheit” zufammen, die ſich ſchwerlich einer
allgemeineren Zuftimmung werben zu erfreuen haben. ‘OA6pog
iſt nach S. 102 ff. eine neutrale Bezeichnung Jeſu Chriſti
als des Gegenſtandes der apoftolifhen Werfündigung; bie
Beisheit in Spruͤchw. 8, nach &.92 ff. eine geiftig-fittlidde
Beftimmtheit, wie fie dem gottedfürchtigen Menfihen eignet,
Bas den Mala) Ichovah betrifft, fo hat zwar Hof⸗
mann die fhon früher von ihm vertretene Anficht wiebers
bott, und auch Deligfch in feinem Commentar zur Ger
nefis iſt jegt derfelben beigetreten ; wir aber müffen geſtehen,
daß und die ganze einfchlägige Entwidelung im Gchriftbes
weis weit mehr in der entgegengefegten, von Hengflens
berg, Kurg u, A. vertretenen Anficht beſtaͤrkt bat, wor⸗
nach der Malach mit dem Logos identifh if, Die Bes
grümbung von diefem und Anderem würbe hier freilich zu
weit führen. — Aehnlich wie in der Lehre von Gott fiheint
uns auch in der Lehre vom Menſchen der Reichthum der
bibliſchen Beſtimmungen lange nicht erreicht durch die hofs
mann’fhe Unterfeidung von Natur und Ich (d. h. eis
senttich einfach, was man gewöhnlich Leib und Seele nennt)
und von ber doppelten Wirkung bed Geiſtes Gottes in
beiden. Es handelt fidy hier um die Möglichkeit einer bie
büfdyen Seelenlehre, in welcher Beziehung fih Hofmann
120 “Hofmann
ben Proteflationen von Harle ß gegen eine folde anfıhließt
mit ben ziemlich geringfchägigen Worten, „man habe eine
biblifhe Anthropologie und Pſychologie zufammengelefen,
aber ohne von der Schrift dazu berechtigt zu feyn” (©. 248.).
Wir foliten aber denken, die Wirktichkeit fey ber befte Bes
weis für die Möglichkeit und Berechtigung, und da Bed
den Beweis für die Wirklichkeit in feiner „bibliſchen See⸗
Ienlehre” auf eine auögezeichnete Weife geliefert bat, fey es
nicht mehr möglich, nad Der Möglichkeit zu fragen, Es
banbeit fi bei ſolchen Leitungen nur darum: paſſen fie,
mit Detinger zu reden, wie ein Schlüffel in dad Schloß
heiliger Schrift? Nun fol natürlich nicht gefagt ſeyn, daß
Wed die bibliſche Pſychologie nach allen Theilen ein: für
allemal richtig dargeftelt habe, aber das muß ich doch bes
Tannen, daß das angefochtene Büchlein im Ganzen mir und
manchen Andern aus meiner theologiſchen Bekanntſchaft als
ein teefflicher Schlüffel zu Vielem in ber heiligen Schrift
gedient bat, Kann man doch 5. B. den pauliniſchen Lehr.
begriff gar nicht darſtellen, ohne auf die pauliniſche Pſy⸗
Hologie ausbrädlich einzugehen, fo daß ſelbſt Ufterti, von
feinem wiſſenſchaftlichen Gewiflen getrieben, fi) veranlaßt
ſah, feinem panlinifchen Eehrbegriffe (6, Aufl, S. 384-396.)
nech „genamtre” Unterfuchungen anzufcließen über die Ber
grifft zvaone, voög, Yuya, palvss, wagdie; und auch
Reander in feiner kurzen Darfielung der panlinifchen
Bebre flieht ſich genöthigt, über „die Trichotomie ber menſch⸗
lichen Natur bei Paulus” befonbere Unterfucgungen anzu⸗
ſtellen (Geſch. der Pflanzung und Leitung ber chrifti. Kirche
bush die Apoftel; 4. Aufl, ©. 677:ff.). — Ueberhaupt
wenn wir nur die bed’fdhe Schrifttheologie, wie fie nas
mentlich auch in der „chriſtlichen Lehrwiſſenſchaft“ niederge-
legt ift, mit der hofmann'ſchen vergleihen, wenn wir
die Theologie und Anthropologie, Angelologie und Daͤmo⸗
nologie beider Männer einander gegenüberftellen, fo werben
wir fagen muͤſſen, man erhalte durch Bec eindringenbere,
der Gchiftbeweis. aꝛ21n
tenttalere Blicke ind Weſen und Wirken dieſer heilsgeſchicht⸗
lihen Potenzen, derſelbe biete und mehr reelle Erkenntniß
dar und thue dem Wahrheits⸗ und Wiſſenstrieb völliger
Genuͤge. Und Tann man bei dem Xieffinne Bed’ & oft die
Sdaͤrfe und Präcifion vermiffen, welche die Darſtellung
Hofmann’s auszeichnet, fo vermißt man noch mehr bei
dem Scharffinne des legteren ben metaphyſiſchen Tiefblick
md die kernhaft myſtiſche Intuition des erfteren, welche
din nothwendiges Erforderniß zu voller Erfaffung von Ges
halt und Geftalt der Schriftwahrheit ift, Die Lehrwiſſen ⸗
Ihaft iſt wirklich biblifchsdbogmatifch geartet, der Schriftbe⸗
weiß mehr nur exegetiſch; jene gibt das Schriftfoftem, dieſe
mar Schrifterklaͤrungen zum ho fmann'ſchen Syſtem;
dort entfaltet ſich vor uns das göttliche Lebensreich, und
dieſe Entfaltung gewährt und in ihrer alle Tiefen und Hös
ken umfafjenden Fülle die maͤchtigſten Eindrüde «). und
Einblie, hier erhalten wir Intereffante, originelle, eregetifche
Unterfangen und Entwidelungen, deren Kühnheit und
Eubtiität uns öfter Bewunderung als Ueberzeugung abs
nötpigt und die Kraft ımb das Lehen der Sache ſelbſt oft
mehr bedeckt als offenbart. Das if das Werthvolle an
den Schriften Beck's, daß fie ‚die Gotteds und Welten -
fdanung der heifigen Schrift ia ihrer urfprimglichen, nur
iR eigenen Kraft und Geiſtesflille, in ihrer vollen, plaſti⸗
füen, ein göttliches Leben athınenden Geftalt und darſtellen
mb dadurch neue Grundanſchauungen und Fundamental ⸗
begriffe darbieten, ohne welche, um mit Rothe zu ſprechen,
in unferer jegigen Theologie nicht aus der Stelle zu kom⸗
men ik. Eine ſolche neue metaphyfiſche Grundlegung, nas
ment in Beziehung auf die Lehre von Gott felbft, ver⸗
niſſen wir bei Hofmann. Dem bisherigen Spiritualis-
mus und namentlich dem modernen Idealismus gegenüber
®) Gindrüde, Eebenseindrüde find es ja, worauf auch in geiftigen
Dingen jede edjte Ertenatniß ruht.
128 Hofmann
find wir duch die Schrift auf die Geltendmachung der
Reiblichkeit bed ‚Heiligen, der organiihen Geflaltung des
Geiftigen, in doppelter Beziehung gewiefen, in hiſtoriſcher
und in dogmatifcher, Denen gegenüber, welche in der Schrift
nur Lehren, Vorfchriften, Wahrheiten, Ideen finden, handelt
es ſich um die Nahweifung, daß die Offenbarung fich eis
nen Leib, einen organifchen Beſtand, geſchaffen hat in der
beiligen Geſchichte. Das hat Hofmann geleiftet, Aber
diefe Aufgabe felbft weißt noch auf eine tiefer liegende zus
rück. Man findet in der heiligen Schrift bioße Ideen, weil
man felbft bloß idealiſtiſch denkt, weil man keine andern
foftematifchen Begriffe hat, als fpiritwaliftifchsabftracte, duͤrf⸗
tige, ſchattenhafte, wefenlofe. Dem gegenfiber handelt es
fi) darum, die Grundbegriffe und namentlich alfo vor al⸗
len den Gotteöbegriff fo zu faflen, wie fie die Schrift faßt,
qualitativ, concret, realiſtiſch, „maſſiv“. Das hat Hof⸗
mann nicht geleiſtet. Wir müflen noch weit gruͤndlicher
von biefer ganzen Art der modernen Weltanfchauung los
werden, wenn unfere Theologie ſich ſchriftgemaͤß geftalten
. fol. Das Verhättnig von Natur und Geift iſt jet für
diefelbe eines der wichtigſten. Probleme, und ed fey vers
gönnt, bei diefer Gelegenheit an das Werk von Jeh. Ris
ders „Natur und Geil”. zu erinnern, welches dieß Pros
blem zunaͤchſt von naturwiſſenſchaftlicher Seite aus auf
eine auch für ben Theologen höchft intereffante Weife aufs
fast,
Wir haben vorhin gefagt, das und vorliegende Buch
gebe nicht ſowohl das Schriftſyſtem, als Schrifterflärungen
sum bofmann’fchen Syſteme. Damit ift ein Punct ans
gedeutet, in weldyem wir ſchließlich das, was und an dem
Buche mangelgaft erfcheint, noch einmal zufammenfaflen
koͤnnen. Es ift dad Auseinanderfallen des Lehre
ganzen und des Lehrbereiches oder ber aus dem
moterialen Princip (Rechtfertigung und Wiedergeburt) und
der aus dem formalen Prineip des Proteſtantismus entwi⸗
der Schriftbeweis. 129
deiten Lehre, Diefer Dualismus iſt dem Werke fchon in
formeller,, kimftlerifcher Beziehung nachtheilig. Die Seele
iR fo eigentlich vom Leibe getrennt; das ben Schriftbeweis
ordnende, zufammenhaltende, organifirende Princip liegt aus
berhalb deſſelben. Zwedmaͤßiger · waͤre es vieleicht gewefen,
wenn Hofmann bie Paragraphen des Lehrganzen zwi⸗
fden den Schriftbeweis felbft, nach Art der ſchleier⸗
mache r'ſchen Dogmatik, eingefügt hätte; der Dualismus
wäre wenigſtens nicht fo fichtbar. hervorgetreten. Doch
Het fi auf dem nun eingefihlagenen Wege die Eigen:
tümtlichkeit hofman n'ſcher Theologie allerdings Elarer
und unummundener heraus, und bad iſt immerhin etwas
werth, fofern ed den Ueberblid und die Prüfung erkeichtert,
Schlimm ift ed nunaber, dag in Folge diefer Anordnung im
Schriftbeweiß ſelbſt dem Lefer der dogmatifche Faden oft
-faß verloren geht. Das Buch fällt fo in eine Vielheit eins
jelner eregetifcher Unterfuchungen auseinander, die freitich
für ſich immer fehr anregend find, aber fich häufig zu fehr
ins exegetiſche Detail verlieren, als daß fie den organifchen
Zuſammenhang des Schriftſyſtems, fo fehr ed Hofmann
um denfelben zu thun feyn mag, noch zu lebendiger An⸗
fdauung bringen koͤnnten. Der Verfafler vedet und flreitet
im Zerte ſelbſt zu viel über Fragen, die eigentlich in einen
Gommentar, nicht in eine Dogmatik oder da hoͤchſtens in
Anmerkungen gehören, und fo ſteht er fich mit feiner Dar-
ſtellung vielfach felbft im Wege. Fuͤr das, was eigentlich
die Aufgabe der Dogmatik ift, die Piſtis zur Gnoſis zu are
heben, dem Glauben zum Verftändnig über fich felbft zu
helfen, zur Einfiht in die Algemeinheit und Nothwendigs
feit der Principien, auf denen er ruht, fo daß die göttliche
Wahrheit unfer freied und lebendiges Eigenthum nicht bloß
der Erfahrung, fondern auch der Erfenntnig nad) wird, —
bierfür finden wir in dem hofmann’fchen Werke viel zu
wenig gethan. Es wäre das offenbar zunächft Sache bes
Lehrganzen geweſen; allein diefes ift in fo latouiſcher Kürze
Tyeol. Stud. Jahrg. 1858,
4” ‚Kaufmann
gehalten, fo wenig für das Denken des Leſers vermittelt,
daß es den dogmatiſchen und fuftematifchen Werth, der ihm
unftreitig zukommt, durth feine ſtraffe Form mehr verhültt,
als offenbart, und lediglich nicht thut, um eine freie Ues
berzeugung von feinem Inhalte zu wirken. Das Lehrganze
:alfo iſt zu kurz, der Schriftbeweis zu detaillirt exegetiſch;
mir ein Mittleres zwiſchen beiden koͤnnte es feyn, was und
‘den bermonifhen Eindrud eines wohlgegliederten Syſtems
gu gewähren im Stande wäre, — Aber auch in materieller
Beziehung gereicht jener Duallsmus dem Werke zum Nach⸗
“heil, ſchon deßwegen, weil der Lefer fogleich ‚merkt, daß
derfelbe im Grunde etwas rein Illuſoriſches if. Die Ue⸗
bereinftimmung zwiſchen Lehrgangem und Schriftbeweis ift
natinlich eine 'won vornherein ausgemachte Sadye, da ja
ibeide Einen Mann zum Urheber haben, Diefer Urheber
wird -Ind Lehrganze nichts aufnehmen, was er nicht zum
woraus als ‚fehriftgemdß erkannt hat, und, was wichtiger
iſt, ver wird auch umgekehrt in der Schrift nicht mehr ſin⸗
den, als wozu ihm eben fein Lehrganzes, feine ſonſtige
Denkroeife, ben Sthluͤſſel darreicht. Wir haben fon oben
den fubjectiven Ausgangspunct, welchen auch Hofmann
für fein Lchrganzed genommen hat, verwerfen muͤſſen und
gezeigt, wie berfelbe durch feine eigene Geſchichte gerichtet
iſt. Die-drei Theologen, welche aus dem „Ich der Chriſt“
ihre Syſteme herauswickelten, haben eben immer ihre eigene
Theologie vorm .chriftlichen Bewußtfeun ausſagen laſſen: der
‘fabfective Ausgangspunct wird zum individuellen, 'Dag
nun auch ein ſolches Syftem unter dem meſentlichen Eins
Kuffe "der Heiligen Schrift entfichen, wie bei Rothe und
Hofmann, fo nimmt man doch !die individuell zufagende
Seite der Schrift, bei Hofmann bie geſchichtliche, zu
raſch und voreilig für dad Ganze und verliert darüber den
Bid für die übrige Schriftwahrheit. So iſt das Ausein⸗
-anderfalen des Lehrganzen und- des Schriftbeweifes nur die
Fihtbare Erſcheinung des oben aufgezeigten Suundman ⸗
ber Schriſtbeweis. 131
vB. Zeit man bann mit dem ſchon ferligen Seufteme in
ber Hand an die Schrift heran, fo müflen eben bie einmal
vorausgeſetzten Gedanken durchgeführt werben, unb das gibt
der Eregeſe jene Wilkürlichfeit und Gewaltfamfeit, welche
ſchoa on der „Weiffagung und Erfüllung” fo vielfach ger
tadelt wurde und welche nicht eben geeignet if, fo man ⸗
hen guten und wahren neuen Erklärungen, dis ung Hofr
mann zu bieten weiß, den Weg zu bahnen. Dee Lefer ers
wertet wenigftend, baß das wegere Gerippe des Fehrganzen
im Schriftbeweiſe ſelbſt wit Fleiſch und Blut umgeben
werde; aber häufig iſt auch das nicht ber Fall, ſondern
eben nur jene ſtraffen, zugefpisten Begriffe werben durch
ausfüprliche eregetifche Eroͤrterungen erwielen, Vollere Ber
Rimmungen erhalten wir nicht; von Gott und Menſch, von
Engeln und Dämonen gibt Hofmann nur die aͤugerſten,
abfrerten Umrifle des Geſtalten, die esft concreter auöges
fühet werben müffen, hoͤchſtens einmal eine Zeichnung, der
eb aber aoch am Farben fehlt. Aus ber modernen Nega⸗
ton ſchreitet er wur sh zur einfochen Pofition fort, ohne
füon die File der bibliſchen Beſtimmungen, jene ganze le⸗
bensvolle, plaſtiſche Anſchauung der Schrift, zu erreichen,
So liefert er den Beweis, wie wenig man von einem zum
deraus fertigen Syſteme aus ben Teichthum ber Schrift
vilis aufſchlieben kann, und bei sl feiner Biblicitat gebt
a oft vor den Eskenntniffshögen ber Bibel vorbei. Man
ſicht im Sioriftbeweife immer weit mehr ben ſcharfen, ener⸗
sien Denker, der Seine Gedanken in der Schrift fucht‘
und Babes, old jene kindliche Tiefe eines Beugel, Roos
u. A., melde einfach aus ber Schrift lernen will und
dem Gottesworte in fo ſelbſtlos heiliger Verſunkenheit lauſcht,
wie Maria den Reben des Herrn, In dieſer Beziehung
hat Hengfenberg neulih irgendwo ein gutes und be
berzigenswerthes Wort gefprorhen: „Mir kommt es dars
auf an, Angeſichts aller Auöfprüche der heiligen Scheift ein
auteb Gewiſſen zu haben, keinen im Herzen meaaurohnfäpen,
132 Hofmann
einem Gewalt anzuthun, zu allen nur die Stellung zu has
ben gleich der des Naturforſchers, ber die Gegenftände wies
der und wieber betrachtet, fie unter das Mikroſkop nimmt
und dann treulich berichtet, was er gefeben.” Wir Theolo⸗
gen müffen es auch in unferm Denken immer noch mehr
lernen, gleich den Apoſteln Knechte Iefu Chriſti zu feyn
Ghil. 1,1).
Es handelte fi für uns in dieſer Anzeige darum,
die hofmann'ſche Lehre in ihrem Princip und hiermit
zugleich in ihrem Verhaͤltniß zur Gefammtentwidiung jetzi⸗
ger Theologie zu erfaflen, fodann auf dieſes Princip bie
Vorzüge und Mängel des „Schriftbeweifes” zurüdzuführen.
Auf eine Menge Ichrreicher Unterfuchungen, welche das
Bud enthält, konnten wir daher hier gar nicht eingehen
und koͤnnen die Lefer nur einladen, dad Buch felbft zur
Hand zu nehmen; fie werden es auch da anregend und
fördernd finden, wo fie dem Verfaſſer widerfprechen müfe
fen. Zum Gelungenften rechnen wir die Eroͤrterungen über
die Prädeftination, über den Suͤndenfall, über die Rechtfer.
tigung, namentlich im alten Bunde, fo wie über den alttes
flamentlihen Kanon. Der Schriftbeweis umfaßt bis jegt
die vier erſten Eehrftüde, welche 1) von Gott, Trinitaͤt,
Prädeftination, 2) von der Schöpfung, dem Menſchen und
ben Engeln, 3) vom Sünbenfal und ben böfen Geiflern,
4) vom Sündenzuftande, Tode, Zuftande nach dem Tode,
fodann vom Verhältniffe Gottes zu der fündigen Menſch⸗
heit und der Gerechtigkeit des Suͤnders aus Glauben, fo
wie vom alten Teftamente handeln, Bei ber gefchilderten
Art des Buches erhält man auch manche werthvolle Uns
terſuchungen oder Refultate von Unterfuchungen, die man
ſonſt nicht in einem foftematifch:theologifchen. Werke erwars
tet, 3. B. Uber Charakter und Tendenz vieler biblifhen Buͤ⸗
her, über das Buch Henoch, Über dad Verhältniß des Pau⸗
Ins zu Jakobus, bed zweiten Petris zum Jubasbriefe, über
einzelne Schriftaußbrüde, wie dv Xgsorp, iv dorf u. ſ. w.
der Schriftbeweis. 133
Bir ſcheiden von dem verehrten Verfaſſer, deſſen Beruf
wir nach allem Biöherigen noch mehr auf dem bibliſch- ges
ſchichtlichen als dogmatiſchen Gebiete finden, mit ber anges
legentlichen Bitte, daß er nach Vollendung des Schriftbes
weiſes feine fo bedeutende Kraft der oben erwähnten Wiſ⸗
fenfhaft des Kanons zuwenden möchte, Nicht leicht iſt
wohl hierzu Jemand fo der Mann wie er, und faum gibt
6 in unferer jegigen Theologie ein bringenderes Beduͤrfniß
und eine lohnendere Arbeit, Die Einleitungswiſſenſchaft
nad) ihrer bisherigen Behandlungsweife war die trodenfte
und geiſtloſeſte von allen theologifchen Disciplinen, oft mehr
angethan, einem das Bibelftudium zu verleiden, als in dafs
felbe einzuleiten. Wird fie aber durch die heilige Geſchichte
belebt und zu einer lebendigen genetifchen Entfaltung des
Sdriftorganismus fortgebildet, fo wird das auch dem
Sqriftſtudium einen neuen Schwung geben,
Prof. Auberlen in Baſel.
2.
Die Aüterthümer des Volkes Ifrael, von H.
Ewald. Göttingen 1848.
Bas anfangs nur ald ein längerer Abfchnitt der Ges
ſchichte Iſraels am Ende des zweiten Bandes derfelben
eben follte, hat der Verf. hier weiter audgeführt und als
äin befonderes Werk erfcheinen laſſen. Daffelbe erlaubt das
ber eine abgefonderte Befprehung, ohne daß die Wollen.
dung des nunmehr zum Abfchluffe reifenden Hauptwerkes
abzuwarten wäre, ja es verlangt beinahe eine folde der
Anzeige der größeren Schrift vorangehende Erörterung,
Denn neben dem Wunſche, den die Worrede ausfpricht,
„daß Mandye, welche etwa das Hauptwerk nicht lefen, wes
nigſtens an den in diefem Bleineren Werke befchriebenen Lebens⸗
einrichtungen des alten Volkes erkennen mögen, welcher Geiſt
ſich einſt Jahrhunderte lang in ihm regte”, bürfte auch die
138 Ewald
Hoffnung nicht unerfuͤllt bleiben, daß manches ungerecht⸗
fertigte Vorurtheil gegen das eigentliche Geſchichtswerk weis
hen wird, wenn man vorerft biefe jedenfalls gedankenreiche
und anregende Schrift über die Altertpümer Iſraels unbes
fangen auf fi) wirken laͤßt. Cine biblifche Kritik und Gas
ſchichtsbetrachtung, die ſolche pofitive, für das veligiöfe Les
ben förderliche Ergebniſſe liefert, erweiſt ſich von ſelbſt als
wefentlich verfhieden von dem, was fi} fonft mit dem Vor⸗
geben der Vorausfegungslofigkelt und mit bem Anſpruch auf
Alleinherrſchaft unter dieſem Namen geltend macht. Die
letztere Art von Kritik if ed, was bei Bielen Fein Vertrauen
auflommen läßt zu einer eigentlichen Bibelwiſſenſchaft. Und
doch darf die evangeliſche Kirche nicht müde werden, diefe
anzuſtreben, eine folche natürlich, die eben fo fehr ben Glau⸗
ben an dad Wort Gottes in der Schrift, wie bie Anfpräche
wiſſenſchaftlicher Forſchung befriedigt, welche eben fo wenig
den Wahrbeitsfinn einzelnen dogmatifchen Einbilbungen und
Machtſpruͤchen alter oder neuer Zeit, als die Hoheit des
Wortes Gottes der Vernunft des neunzehnten Jahrhunderts
zum Opfer bringen möchte, Daß und wie weit diefes Buch
Ewald’s ein Bauſtein fey für diefed Hauptwerk, an dem
unfere Zeit zu arbeiten hat, wird ſich in den nachfolgenden
Blättern herausftellen,
Doch ed legt noch ein anderer, allgemeinerer Grund
vor, warum in unferen Tagen Schriften wie die vorliegens
de alfeitige Theilnahme nicht allein von Seiten der theo⸗
logiſchen Wiffenfchaft, fonbern auch der Diener am göttlis
hen Wort in der Gemeinde fordern dürfen. Es ift eine
wahre, wenn gleich theilweife zu fehr auf die Spige getrie⸗
bene Behauptung, wenn unlängft eine vielgelefene Zeitung
fi} alfo vernehmen ließ: „Die Geiftes: und Seelenwiſſen—⸗
ſchaften find im Grunde jest erft auf dem guten Wege der
thatfädlichen Forſchung, Zergliederung und Erfaffung, und
fo Hat auch bie Religionswiflenfdaft die unfruchtbare Sac⸗
zaſſe der Dogmatik, zwiſchen deren feflgetvetenem Stein⸗
die Alterthümer bes Volkes Iſrael. 185
after höchfiens noch Spitzgras wachſen wollte, verlaſſen
and ſich den Urverhäitniffen bed religiöfen Lebens und Ges
mütbed, ber praktifchen Erfaffung und Ertiefung des ur⸗
ariftiden Wortes und Werbend zugewandt, während bie
Ormeinde auf bie urfpränglichen, einfachen, herzerfaflenden
und durch die Gewiflen ſchlagenden Töne bed lautern und
vollen Bibelworts zuruͤckzuhoͤren fich besifert.” Leider har
ben aber dis Beſtrebungen um Erforſchung bed Einzelnen
in der Bibel, befonderd im alten: Teſtament, bei und biq
it bei weiten nicht ſoviel Boden gewonnen, als zu wuͤnſchen
and nad ben Grundfägen unferer Kirche zu: erwarten waͤre.
Die Einen finden es fo leicht und bequem, bie Geſchichte,
kiatichtungen unb Geſetze, felbf den ganzen religiöfen Stands
yanct bed Volkes, von welchem ja doch dad Heil kam, nach
«im paar religionsphitofophifhen Schablonen zu verzeichnen,
wo nit gar vornehm zu ignorien, während hinwieberum
Andere, die auf Katheder und Kanzel dem Bibelwort feine
Esre zu laſſen und wieder zu verfchaffen gefonnen und ben
mäht find, noch gar zu häufig glauben, mit den im doge
matifhen Nee eingefangenen oder gar nur durch Ueberlies
ferung überfommenen allgemeinen Sägen für die Beduͤrf⸗
niffe der Wiſſenſchaft oder der Kirche auszureihen, und
vermeinen, das Goͤttliche an ber Bibel nur fo leichtlich wege
imbelonmen, ohne dem. Körper, in dem es erfchienen ift, die
einzelnen Erfcheinumgen und Entrickelungen, in die es ſich
gelleidet hat, kennen gelernt zu haben, Und doch „bleibt dad
Göttliche am der Bibel unggefianden, wenn men wicht die
menſchiiche Seite an ihr auffaßt” =).
a) Diefer Gay if gleichſam. das Motto einer Heine Schrift, wels
&e in anregender Weife ben oben angebeuteten und vornehmlich
acch im biblifchen Geſchichteunterricht Häufig vernachläffigten Weg
eines. heilfamen Gebrauchs des Bibel zu zeigen ſich befircht. Ih
weine „die Wehgndlung der bitlifchen Geſchichte alten Teſtaments
im Bollsfänglen, beſonders au lebendiger Auffaſſurg geſchichtlicher
Berhältniffe der alten Zeit und der Begsamart, von G. A. Oquff,
436 Ewald
Die nachfolgende Anzeige möchte daher an einem aufs
fallenden Beifpiele zeigen, wie nicht bloß für die theologiſche
Wiffenfhaft und den Altertbumsforfcher, fondern eben fo
fehr auch für den praktiſchen Geiſtlichen in den Alterthüs
mern bed Volles Ifrael ungemein viel Förberliche und zu
wiſſen Nothwendiges enthalten fey, und wie dad, was bier
in einem Buche von 3 Bogen geboten wird, während foldy
reicher Inhalt fonft bändereiche Werke und Folianten füllte,
es vollkommen verdient, nicht als Sache des Fachgelehrten,
fondern als ein Werk, deffen jeder Theologie Studirende,
jeder Freund der Bibel, jeder Forſcher gefhichtlicher Wahrs
beit bebürfe, betrachtet und benugt zu werben,
Wir laffen zu dieſem Behuf dad Werk zunaͤchſt ganz
für ſich felbft reden, indem zuerft fo kurz, als es angeht,
die wefentlichen Grundgedanken und hervorſtechendſten Eigen»
thuͤmlichkeiten deffelben mitgetheilt werben follen, und dann
erft einige Bemerkungen und Bedenken über biefen und jes
nen beſonders wichtigen und durchgreifenden Punct fi) ans
reihen mögen,
Erſter Abſchnitt.
Nicht die Zuſtaͤnde des Volkes Iſrael nach jeder Rich
tung, alfo namentlich nicht die minder wichtigen Aeußerlich⸗
keiten des Lebens, fondern dad Ganze aller durch dad Ges
feg ober fonft durch Öffentliche Geltung beftehender Einrich⸗
tungen des alten Volkes oder bad Leben des Volkes, ſofern
es durch die in ihm rege geworkgnen Wahrheiten und Triebe
feiner Religion beftimmt und beherrſcht wurde und der die—
fem Volle vor allen andern des Alterthums inwohnende
Geiſt darin ſich ausprägte: das iſt der Gegenſtand und Ins
Stadtpfarrer in Waldenbruch. Stuttgart 1850.” Auch auf „bie
viblifdhe Geſchichte als Geſchichte der Offenbarungen Bottes, Leit:
faben fürehrer, von be Wette. Berlin 1846” möge hier hin»
gewiefen werben, da auch biefes Schriften dieſetbe Richtung
zu fördern geeignet iſt.
die Alterthümer des Volkes Iſrael. 137
halt dieſes Buches, Und zwar nimmt es feinen Standpunct in
der Zeit, als die Geſetze, Sitten und Einrichtungen der
mofaifehen Gottherrfchaft während ber fonnigen Tage Das
vid's und Salomo’s in ihrem ganzen Umfange fi) voll
kemmener audbildeten und tief mit bem ganzen Volktleben
derſchlangen.
Die große Menge von Erſcheinungen auf dieſem Ger
biet zerfält dem Werfaffer in zwei von einander zu haltens
de Haupttheile. Dem einen Kreiß gehören an die menſch⸗
fihen Beftrebungen und Werke, womit ber Menſch der
göttlichen Näbe und Gnade, de Raths und der Dffenba.
rung feines Gottes ſtets ſich zu verfihern ſuchte, dem ans
bern die göttlichen Anforderungen vollkommener Gerechtig⸗
keit umd Heiligkeit, welchen der Menſch genügen fol und zu
welchen jene Beftrebungen eben nur hinzuleiten beflimmt
waren. Da indeffen in der ifraelitifchen Religion dieſe beis
den Seiten ſich noch nicht gegenfeitig -dediten, wie im Chris
ſtenthum, fo mußten beßbalb einzelne Einrichtungen hinzus
kommen, welche dazu bienen follten, die dadurch entflanbes
nen Mängel auszugleihen. Diefe ergänzenden Anflalten
bilden daher anhangsweife einen britten Theil der Alterthlis
mer Iſraels.
1. Iene Beftrebungen und Anftrengungen
aun, um feinem Bott nahe zu fommen, — als des
en gemeinfames und dem ifraelitifchen, wie noch mehr dem
beibnifchen Alterthum eigenthuͤmliches Gepräge eine gan
befondere Scheu vor allem Ungewöhnlihen und Schredhafs
tem in der Natur und vor dem bahinter liegenden Göttkis
Sen bezeidinet werden muß, — äußern und vollziehen ſich
entweder durch dab bloße Wort oder durch die That, d.h,
durch Hingabe eine® Guts um Gottes willen, durch Opfer
im eigentlichen oder uneigentlihen Sinne des Worts.
1) Bei den Aeußerungen religiöfen Gefühls der erſte⸗
ten Art, zu denen gehört: das Gebet, Segen und. Fluch,
Eid und Geluͤbde, zeigt ſich ſchon recht die weile Befonnen«
138 . Emalb
beit der iſraelitiſchen Religion gegenüber von andern, z. B.
der indifchen ober minhamebanifchen, die dem Gebraud von
Zluch⸗ und Zauberformeln fo viel einraͤumten, während bei
den Iftaeliten die Zauberei von Anfang an fern gehalten,
Vie Anwendung des Wortfluchd num auf. bie dringendſten
Faͤlle befchränft, auch bei den Gelübben neben der Strenge
die nöthige Bihigkrit eingehalten wurbe.
2) Das religisfe Beflhl trieb aber von jeher ben Mens
ſchen, mit noch flärkeren Mitteln in die Gottheit zu dringen,
nämiich mit Leiftumgen ber That, womit der Menſch ums
mittelbar die Gottheit nicht nur zu rühren, fondern ſtaͤrker
wie zu berühren fucht, um von ihr wieder berührt und bes
feligt zu werben. Dieß kann man indgefemmt Opfer men«
nen, Das hierbei nie fehlende Merkmal einer Entfagung
auf etwas dem Einzelnen Theures oder Angenebmes gibt
dem Begriff des Dpferd feine ewig geltende Medeutung,
auch noch für und und in alle Zukunft. Mit andern Relis
gionen des Alterthums aber ift die iſraelitiſche durch ihre
Opfer zwar einerfeitö verwandt, hat jedoch andererſeits nicht
allein einige Bweigarten des Opfer, alfo namentlich das
Wenfhenopfer, von Anfang an verworfen und andere ſchon
vorhandene weit mehr vergeiftigt, fondern hat auch ein ganz
neueh, ihr allein eigenthuͤmliches und wahrhaft geifliges Dpfer
in ihrem Schooße erzeugt, ben Sabbath, diefe idrem Weſen
nach rein moſaiſche Einrichtung, bie als ſolche der größte
und fruchtbarfte Gedanke des Jahvethums ifl.
Fragen wir naͤmlich nach ben einzelnen Erfcheinungen
umb Arten, in denen ber eben genannte Begriff des Opfers
im weiteften Sinne in Ifeael Geftalt gewonnen hat, fo daB
daraus wirkliche Inflitute und Gebräuche des Wollölchens
wurden, fo müffen wir drei Hauptarten unterfceiden, je
nachdem die Hingabe und Entfagung babei ſich bezog ent»
weber auf das Eigent hum bed Menfchen, oder auf feis
nen Leib, oder endlich auf das Geifige an ihm, bad er
feinem Gott derbringt,
die Alterthümer des Volkes Iſrael. 19
a) Bei den Eigenthumesopfern ſtellt ſich, wenn
man auf die dabei zu Grunde liegende Vorftelung von bev
Gottheit und demgemäß auf daB mehr oder minder geiftige
&präge der einzelnen Opfer dad Augenmerk richtet, als we⸗
fentticher Unterfchieb das heraus, daß bei ben einen etwas
nenſchlich Genießbares den Außeren Stoff bildet und des
danke an einen ber Gottheit bereiteten Genuß in gröbes
ma ober feinerer Weiſe hereinfpielt, daB aber bei ben ans
den (den Weihgeſchenken, ſ. unten) diefer anthtopopathiſche
dedanke ganz befeitigt wird. Die des erfleren Art laſſen
ſih alfo unter dem Namen Genußopfer zufammenfaffen,
rfallen aber felbft wieder in zwei Unterarten, je nachdem
da genannte Merkmal, der Gedanke an den Genuß, den
man der Gottheit bereitet, das Einzige iſt oder nicht. Jene
Menbar groͤbſte Opferart erfcheint im ifraelitifchen Cultus
mr bei einer ganz ifoltet ftehenden und mahrfcheinlich aus
entfernten Urzeit flammenden Sitte, der zufolge auf einem
Vſche im Heiflgthum Brod + und Weinfpenden fir die Gott⸗
kit dargebracht wurden.
Aber nicht bloß dadurch ſcheidet fi das Opfer ber
Shaubrode von allen andern derfelben Claſſe ab, fondern
md) weiter durch das Hinzutreten eines zweiten Merkmals
dab dort noch ganz fehlt, daß nämlich die übrigen ale ein
gewiſſes Zeichen der ſichtbaren Wermittelung zwiſchen Hims
ml und Erde an ſich trugen, Dieß iſt nichts Anderes als
dad Feuer, wodurch das höhere Alterthum am augenfcheins
föften die Wechſelwirkung zwifchen Gott und Menſch ins
kiben tretend fühlte,
Somit find die Genußopfer theils Tiſchopfer, theils
deuer⸗ ober Altaropfer; dieſe feibft aber theilen fi wies
drum, wenn man entweder auf die Stoffe ficht, in Fleiſch⸗
Opfer (blutige) und Getreideopfer (unblutige), oder aber,
wenn man ihre Bedeutung ind Auge faßt, in Ganzopfer
Brandopfer), Dankopfer nebft den obs und Preisopfern,
0 [0 )
Eite- Benigungs - ut Emscihespfer
u Bembeiesfer
Mmscicıtes Eye ME. =— 7. prisendgen. © mag bier
wwigen. ia Kite be Eüpe juinmmmmzarlelen, weiche bie
yamı Ebet ibersaittenten Unknen tei Bert. über tie fdywie>
igßen mt wor autern wieiscipusdgenen Pamcte tiefeb Ge
ars cibsra.
Die qua bunte Bene ter Keneefer geht im zwei
rohr Gegenläge exieisznter, tr fd am Berauisflung, wie
an Unikituunz uıb Gchaltung geprnictig ctma fe verbal:
Dentopler, heiter wie ter as, mit tem erfresenden Zuthes
Ken des Deis und Weitramds unh ber eizerttimlichen Be⸗
Simmung, daß bes Exhlachtikirr, zwiihen tem E’pfernden,
eicher und Yiter gettrilt, dem Ereff zu einer heiteren und
mittheitfemes Exypfcrmatlzeit bergab; auf ber ambern Seite
Sept des Guldepfcr mit feinem finfiern Scheine, Dengemäfß bei
befelben midyt nur die Freiheit des Dpfernben weit mehr
beitgrhult und fein Bitgeuuß, wie and) die Beigaben von
GSetreide uud Bein, Dei und Weihrauch ganz befeitigt wa
von, fondern ausdriccũch cin weibliche Thier gewählt wer:
den mußte und ber Leib des Dpferthieres für umrein galt). —
=) Uns Beranloffung bes ellzemeinen Berfahrens bei ten Breuer
opfern wird ©, 46. barkder, taf wenigfkens für Die höheren Ar⸗
ten von Dyfern eis der geeignete Drt gerade bie möchlide Bes
gend des Aitars angedeutet werbe, burz gefagt: dies mag ein
Ueberbleibfel eines alten Blaubens feyn, daß die Gottheit ents
weber im Often ober im Rorden wohne und von dort komme.
Bei den Beleoftellen für biefe Behauptung iR Katt3 Moſ. 6, 18.
gu Isfen 6, 25. und beizufügen 2Wof. 26, 35., wo bie Rorbfeite
end als der Det bes Sqdaubrodtiſches bezeichnet ift, ferner Richt.
5, 4 f., wo wir in einem ber älteflen Lieber gleichfalls ber
Borfellung begegnen, daß Gott bei feiner Offenbarung auf Si⸗
mai von Geis Über Edom, alfo von Rorden her gelommen ſey.
bie Aiterthämer de6 Volkes rad. 141
Bon Wichtigkeit ift die Wahrnehmung, daß bad Getreide⸗
opfer im Fortgang der diteften Gefchichte einer vollsthums
lichen Ausbildung Iſtaels ſichtbat genug hinter das Thier⸗
apfer ſo zurüdtrat, daß biefeß den Haupttheil des ganzen
Dpferweiens darflellte. Hierbei muß eine befondere Urfache
mitwirkend geweſen feyn. Diefe ift in ber ganz außerors
dentlichen Heiligkeit zu fuchen, worin einem großen Theile
des Alterthums das Blut erfhien. Das warme Blut naͤm⸗
lich der Menfchen, wie der Wierfüßler und Wögel, ſchien Die
Seele ober das Leben ber Welen felbft zu enthalten und
faßt gleichbedeutend mit der Seele zu ſeyn. Galt nun dad
keben und bie Seele für etwas Heiliges, fo mußte auch
das Blut mit ganz anderen Gefühlen betrachtet werben,
als alle übrigen Theile des Leibes. Sein Anbiid 108 den
Geiſt unmittelbar zum Gedanken an Gott, ſtellte ihm ein
ſchlechthin Beheimnigvolles vor und erfülte ihn mit einem
unendlich tiefen Schauer; das Blut erfchien für den froms
men Menſchen ald kaum beruͤhrbar und nod weniger eß⸗
bar. Indem der Menſch nun fo das Blut ded Opferthieres
selig hingab, ohne felbft davon zu genießen, gab er es hier
Gott bin, und wie er ihn bat, es gnädig anzunehmen, fo
tonnte der Dpfernde des frohrn Glaubens leben, daß Bott
es gnädig annehme. Der Menſch fah das Ueberfinnliche
und Göttliche im Blute am beutlichften gleichſam mit eiges
men Augen und fühlte es mit dem eigenen Blute. Es galt
alſo als das ſtaͤcfſte Mittel der göttlichen Gnadenverfiche⸗
nung, als von Gott auf den Altar gegeben, um bem Mens
fen feine Gnade und Verſoͤhnung fletd neu zu verſichern. —
Das fogenannte Brandopfer ſollte eigentlich Gluͤh⸗ oder Ganzs
opfer heißen; denn nicht r1b5, fondern ds 1%, glühen, brens
nen, iſt die Wurzel des Wortes und auf das lang dauernde
und volfländige Verbrennen deffelben weift auch 3 Mof.6. bin,
als das Hauptmerkmal diefer Opferart. Der Zweck berfels
ben aber war der allgemeine, die göttliche Gnade und
Berföhnung zu gewinnen, und zwar bucch ben kraͤftigſten
142 Sun.
Ynänut euer Ergebung uud williger Aufopferung, Weil
eben biefe Gefiunung die vorberrfihende ber Religion Is
auelB war, erhielt gexede dieſes Dpfer fehr frühe ben Bors
ang vor allen andern und begleitete fomohl die Daukopfer
als vie Schuldepfer z es wurde die Grundlage aller von
Reichawegen zu bringenden Opfer. — Mit befonberer Sich⸗
Walt forderte enblich das Jahvethuu bei feinem ernſten
Rampfe gegen Sunde nd Gchuid derauf bezügliche Opfer
aub bildete Diefelben völliger aus ald 3 B. die Dankopfer.
As find bie ywei; Sabn⸗ (Euther: Günd-) und Schulbopfer,
heibe Zranesopfer und dazu beflinumf, sine einzelne Stö:
sung der Peiligkeit ber Gemeinde oder Einzelner auszuſbh⸗
men, wodurch Be, eben von bem Brandopfet fi) unterſchie-
ben. Durch weiche Befonderheiten Lafien ſich num aber dieſe
wei Unterarten des verfühmenden Dpfess unterfheiben?
Dies iS cine virlbefprocene Frage. Die Antwort lautet
oh 3 Mol A— 7: dab Sühnapfer trat ein, wenn ein
Bergehen zuerſt von Andern bewerkt und dem Sünder am
saʒeigt wurde, fo daß ein Öffentlicher Anſtoß und cin Aer⸗
gerniß gegeben war und deßhalb eine Bühne als Bediuf⸗
aiß erſchien; das Schuldopfer aber mußte gebracht werben,
wenn auf bem Ginzelnen irgend ein Ungehörige und Un-
Heiligeb lag, deſſen ex füch zuerſt allein bewußt wurde ober
welches er als mur ibn zunddfi allein drädend empfand,
abe ba Andere ibn besum zur Suͤhne auffordern mußs
4as #). Zrauer⸗ und Zwaugtopfer waren beibe; nie heißt es
a) Abgefehen von der wohl Taum haltbaren Benennung „Eüdnopfer”
fiott der gewöhnlichen „Cändopfer” empfiehlt ſich diefe Auffals
fung be6 genasaten Nnterfäieds nicht BIoß Such Cinfachhelt,
fonberm gang kefonbers bucd) ipee xxegetiſqͥe Begründung (1. 8
Mof. 4, 33.38., wo 8 = „wenn etwa” zu faflen if, vgl. 5, 3.
4.; mon beachte ben weſentlichen Unterfdieb von Hephal und
Rat) und ipre, möchte man fagen, pſychologiſche Wahrdeit.
” Ueberell, wo die Begriffe Bünde, Schuld, Strafe in ihrer Tiefe
seoft and Borkeprungen zur Gühne getzoffen werben, macht
ſich der Untesfhieb von Werlepung bes Öffentlichen Gewiffens
die Alterthuͤmet des Volkes Iſtael. 468
son ihnen, fie feyen ein engenehmer Seruch des Herrutz
aber unter fi waren fie der Natur der Sache nach vor
achmlich noch dadurch werfchlsben, daß dad Biut des Dpies⸗
tines daB ſolche Öffentliche Vergehen zu ſichaen befkiment
wor, wecht ſtark in die Sinne tretend, an die Hoͤrner des
AUters oder den Vorhang des Allerheiligen geforangt wer⸗
den mußte, eine Sitte, welche bie Richtigkeit des angegebes
am Umerſcheidungemerkmals :beiber Opfer noch mehr ins
Et Reli. -
Uten den ‚genannten und aͤhnlichen Opfern vom Eis
sethume Tag mehr ober minder bewußt der Mani gu
Grunde, das vom Menſchen Hingegebene ſichtbar als Ge⸗
mb vom „Himmel angenommen zu fehen; nur bei dem
Shhn+ und Schuldopfer wurde bisfer Gedanbe etmas in
den Hintergrund gebrängt, Seiner und geifliger, weil ohne
dieſe anthropopathifche Vorſtellung, find die Opfer folcher
Ser, weiche entwweber nit zu Genuß» oder Altargaben
Wuglich waren, ober doch ohne den Anſpruch, als Genuß ⸗
Mier zu gelten, Singegeben wurden. Diefer Art find die
derſchiedenen Weihgeſchenke, deren negative Kebrfeite bie fos
wnannten Bannopfer (a3) a) ‚bilben, Diele ‚Iegteren herubs
auf ber einen, bes CEinzeln⸗Gewiſſens auf ber andern Seite gels
lend, ‚oder, wie man fagen kann, es gibt objective und ſubjective
Bergehungen, welche deide eine verſchiedene Behandlung erheis
fd. 26 ifi.erfreulich, zu bemerken, daß auch Winer in ſei⸗
mm Bealmörterbuß, 8. Aufl, unabhängig von Ewald, im Mes
ſetuchen ganz auf dieſelbe Anſicht gekommen ift ‚und ihe vor
eilf andern, die ex anführt, ben Vorzug ‚gibt.
) Die Bufammengehörigkeit, aber auch Verſchiedenheit diefer zwei
Begriffe tritt in ‚dem von chriſtlichen Schriftſtellern fpäter aufe
sefellten Sprachgebrauch ber zwei Wörter dradnum und ded-
Spa — Weihgefhent und Bann (Werbanntes) heraus. —
Lehnliche Borftellungen und Gebräuche, vermöge beren Sachen
ober Pesfonen, als unmiberrufliches Cigenthum der Bottheit ges
weit, dem Tode oder Untergange verfielen, führt Winer (u.
%8, Bann) von Galllern und Deutihen an. Auch bei den
144 Ewald
ten anf ber Vorſtellung, daß irgend ein Gegenfland fo ger
faͤhrlich und unverbeſſerlich, oder fo unheimlich und verab⸗
ſcheuungswuͤrdig erfhien, daß man fich nicht anders vor
ihm zu retten wußte, ald indem man ihn der Gottheit zu
vertilgen oder doch zu beſſern übergab, z. B. Altäre, Ob:
genbilder, Tempel der Feinde, ja ihre ganze Beute, beſon ⸗
der ihre Roſſe und Wagen, auch Feſtungen, ferner ſolche
Glieder der Gemeinde, welche den Bund mit Bott verlegt
hatten, Aergerniß gebende Gegenftände und Perfonen, auch
wenn nur Einzelne fidy daran drgerten, was endlich übers
haupt offenbar mit der Heiligkeit der Gemeinde unverträgs
lich erſchien.
b) Als zweite Hauptart von Opfern find zu betrachten
die Leibed. und Leibesluſtopfer, wobei aber wie
derum bie iſraelitiſche Religion vermöge ihrer Heiligbaltung
Römern kommen Spuren folder Opfer vor; nicht allein naͤm ⸗
lich die Gelbkaufopferungen ber Derier, des Gurtius „gehören
Vierher, fonbern alle ben Göttern ber Unterwelt und den Mas
nen beftimmten Gaben, aus Sachen oder Perfonen beftehend,
was ben gräßlichen @lablatorentämpfen ihre Entflehung gab.
Cine Hauptflelle über die ättefte Zeit iſt Liv. 1, 87. spolüis ho-
stium — id votum Vulcano erat — ingenti cumulo accensis.
In ganz befonders trauriger Ausartung hat man diefe tief mit
dem religidfen Gefühl verwachfene Sitte auf ben Güpfeeinfeln
getroffen; bort fleht fie noch zubem mit einer wahren Menfcyen»
vergötterung und bem ſchamloſeſten @igennuge in Berbinbung.
Was nämlid; der König, als der göttlicy verehrte Wüenfch, ber
süpet, in Tabs = geheltigt, feinem Belieden oder, wenn er
wi, dem Untergange verfallen, Bu bemerken iſt noch, wie
ſehr auch Hierin, wie fonft, die iſraelitiſche Religion dualiſtiſche
Borſtellungen fern gehalten hat, fo daß ſolche Opfer nicht zur
Befriedigung einer racheburftigen, finfteren göttlichen Macht (bei
den Römern der unterirdiſchen Bötter), fondern zu Ehren bes
@inen heiligen Gottes dienen folten. Daß ber allerdings Leicht
denkbare Mißbrauch von Gelten einer eigennügigen Priefters
ſchaft in Ifrael nit Rattfand, geht mit ziemlicher Gicherheit
daraus hervor, daß wir bei den Propheten nirgends eine ders
artige Rüge ſiaden.
die Alterthümer des Volkes Iſrael. 145
des menfchlichen Leibes, als der Wohnung bed Ebenbildes
Gottes, diejenigen Uebertreibungen, welche wir fonft im Mor:
genlande auf diefem Gebiete antreffen, mit befonnener Mds
Bigung fern zu halten gewußt hat. Diefe Selbftopfer bes
ſchraͤnkten ſich in Iſtael auf das Faften, dad Nazirderthum,
das fid im neunten Jahrhunderte in den Rekhabaͤern noch ein:
mal eigenthuͤmlich geftaltete, und die Beſchneidung. Auch
die Legtere Sitte iſt ein Opfer am eigenen Leibe und Blute
von jedem maͤnnlichen Mitgliebe ded ganzen Volkes Gott
dargebracht, um ſich ſelbſt ihm zu geloben und anzu⸗
eignen, und in ihr eine ewige Erinnerung, daß man fi) fo
einem Höheren. geweihet habe, fortan mit fich herumzutragen,
Wahrſcheinlich im Nillande, in fernen Urzeiten entftanden,
war die Beſchneidung gewiß bei dem Volke Ifrael lange
vor Moſes eingeführt und wurde ſtrenger als früher anges
ordnet, als Ifrael unter Joſua Kanaan eroberte und alle
fine volksthuͤmlichen Werhältniffe fehler ordnete. Diefelbe
wurde von num an das Zeichen der Weihe zum Eintritte
in die Gemeine Jahve's, folglich aud zur Theilnahme an
allen Rechten wie den Pflichten derfelben, Die Ueberſchaͤung
des Aeußerlichen im achten und fiebenten Jahrh. v. Chr.
führte zu der oft wiederkehrenden Ermahnung, daß nicht fos
wohl das Fleiſch als das Herz beſchnitten, d. i. vom Uns
heiligen gereinigt „werden müfle So unleugbar nun in
folgen Stellen die Bedeutung der Beſchneidung darin ges
funden wird, daß biefelbe ein Sinnbild und daher wohl
auch der geiftigen Reinigung fey, fo trifft diefe fpätere Ans
fiht doch den Sinn ded höheren Alterthums nicht, fondern
urfprünglich hielt man diefen Gebrauch für ein Leibesopfer,
wofür namentlich) 2 Mof. 4, 24-26, ein deutlicher Beleg iſt.
ec) Ein dem Jahvethum ganz eigenthümliches Opfer,
welches erft am reinften und unmittelbarften feinem Sinne
entſpricht, ift der Sabbath, diefe ihrem Wefen nad rein
mofaifche Einrichtung und als folche der größte und fruchts
barfte Gedanke des Jahvethums. Es ift dieß eine von allen
Theol. Stud. Jahrg. 1853,
148 ’ Ewald
bisher befprochenen weſentlich verfchiebene dritte Haupts
art der Dpfer, dad Rubeopfer, Bwar findet fi
auch bier das eine Merkmal aller Opfer, dad der Entfa
sung, nämlich auf werktäglichen Gewinn ımd Genuß; aber
nicht dieſes Negative iſt die Hauptſache, fondern das Pos
fitive, daß die Ruhe foll dem Herrn Jahve feyn, ihm ges
bören, ihm geheiligt ſeyn. Darum alfo fol der Menfh am
legten Wochentage feinen Geiſt und Leib von der Laft und
dem Treiben des gewöhnlichen Lebens befreien, um beflo reis
mer und ungeflörter fi) wieder in feinem Gott zu fanmeln
und feine befferen Kräfte in ibm neu zu flärken. Was fo
Mofeb aud biefem Tage machte, war etwas ganz Neue,
früher unter keinem Wolke und in keiner Religion Dage:
weſenes, wenn gleich ber fiebentägige Wochenkreis und die
Eintheilung aller Zeit nach ihm lange vor Moſes weit auf
ber Erde verbreitet geweſen feyn mag. So geiftig aber
nun auch diefe Art von Opfer iſt, fofern der Menſch dabei
keine äußeren Güter hingibt und feinem Leibe Bein Leid an«
thut, fondern nur feinen Geift dem Schöpfer darbringt, fo
bat ber Sabbath doch zugleich etwas Aeußeres und er
kann fo als ein Heiligthum (Sacrament) Jahve's gelten,
welches die Glieder ber Gemeinde halten müſſen. In bier
fen Sinne wurbe ber Sabbath für wichtig genug gehalten,
in das Zehngebot aufgenommen zu werben, obgleich doch
in diefem fonft fein einziges Opfer, noch beifiger Gebrauch
gefordert wird, Wie der Friedensbogen, wie bie Beſchnei⸗
bung, fo if der Sabbath das Beichen bes Bundes zwiſchen
Sott und Menfchen, und zwar des Bundes, der im vierten
Weltalter buch Mofis Wermittelung geftiftet wurde,
Diefe im Bisherigen befprodjenen Aeußerungen des
veligiöfen Gefühls, theils durch Worte, theild durch Opfer
der mannichfachften Art, bildeten alfo die menſchlichen Be:
ſtrebungen und Werke der Menfchen, um in. die Gottheit
zu bringen, Was fonft noch zum Cultus gehörte, war mehr
oder minder etwas Aeußerliches und hatte entweder bie
J
die Alterthuͤmer des Volkes Iſrael. 147
Bekimmung, zum heiligen Worte ober Werke vorzubszeiten,
wie die verfejiedenen Reinigungen und Weihungen, ober
“diente als Mittel und Werkzeug, nicht allein um die res
ügiöfen Wahrheiten aͤußerlich darzuftellen, ſondern fie zu
falten, mitzutheilen, fortzupflanzen. Es müflen Perfonen
da ſeyn, welche fie ſtets lebendig verfündigen koͤnnen, Pries
fer und Propheten, ferner Geräthe, Derter und Häufer
um Behuf der Verkündigung und Uebung bes Gultus,
adlich beflimmte Zeiten =), an benen ber einzelne Menſch
ab noch mehr die ganze Gemeine Muße und Auffordes
mag bat, die im Getümmel des gemeinen Lebens fo leicht
überhörten Wahrheiten des hoͤhern zu erkennen und ſich
an ihrer Kraft und ihrer Mittheilung neu zu ſtaͤrken.
") Reben den gleichmäßig wieberkehrenden heiligen Tagen und ben
damit zufammenhängenden religiöfen Uebungen hatte Iſrael,
wie andere Völker, ‘das Beduͤrfniß, durch gewiffe Anflalten und
Beihen (sacra diurna) fi des ununterbrochenen hülftels
en Daſeyns feines Gottes in feinen eigenen Mitte gu verfis
Yera. Hierher gehört außer dem ſchon beſprochenen Rifchopfer
der Schaubrode und dem taͤglichen Brandopfer auch das flets
brennende Licht am Leuchter des Heiligthums. Es If auffals
lend, wie man baran zweifeln Eonnte, ob biefes Licht beftändig
brennen mußte, da dieß nicht allein Iofephus, ſondern noch ent⸗
ſaiedener das fo oft davon ausgefagte Tram beflätigt. Roch
auffallender if ed, wie Thenius im errget. Handb. z. A, A.
mi Gam,.8,3. fagen Tann: „bie Hauptftellen über biefen Ge
wenftand zeigen, baß bie Lampen bes Leuchters des Morgens
und des Abends bei dem MWorgen> und Abenbopfer anges
sünbet werden folten, fo daß dieſeiben alſo bie Racht ins
derqh nicht brannten,” Die Gtele 1 Sam, 8,8. nebſt anderen
nnte eher auf die Wermuthung führen, als ob das Lit nur
Rachts gebrannt habe. Wei -genauerer Erwägung dürfte bie
Gade vieleicht am richtigften fo deſtimmt werden: 3 Mof. 24,
34, fo wie andere Stellen Laffen nicht zweifeln an der ununs
terbrochenen Dauer des heiligen Lichtes; beim Beginne jeden
Zegt, d. h. jeden Abend, wurbe ber Leuchter gugerichtet (729),
d.h. mit neuem Dele gefüllt, 2 Mof. 27, 20f.; 2 Chron. 13, 11.5
dagegen mußte jeden Morgen nachgefehen, bie Eichterzc. gereinigt,
mahgebeffert werden; barauf weit aa 2 Moſ. 80, 7. hin.
ı10*
148 Ewald
uUnnnter allen dieſen Gebraͤuchen und Anfialten der Got:
tesverehrung zeichnen ſich aber einige wenige aus, in denen
die ifraelitifche Religion ihren vollen Sinn und Geiſt eben⸗
fowohl wie ihre äußere Geltung und ihre Heiligkeit zuſam⸗
menzufaflen fuchte, welche ihr als Zeichen ihres Bundes
mit Gott galten und welche mehr als alles Sichtbare heis
lig zu halten waren. Dieb waren bie eigentlihen Sa⸗
cramente Ifraels, feine Heiligthiimer =) im engfien Sinne
genannt, Als ſolche Gebräuche außerorbentliher Art er-
feinen nur die ſchon befprocyene Beſchneidung und der
Sabbath, von den eigentlichen Opfern aber das Pafchah und
fein Blut. Es find dieß Zeichen und Handlungen, welche
urfprünglih aus dem Leben und der ganzen Kraft und
Birkfamkeit der befonderen Religion ſelbſt floſſen, unb in
welchen biefelbe alfo auch ihren ganzen Inhalt auszubrüden
und ald etwas in der Welt und für die Welt Geltendes
für immer feftzupalten, fortzupflanzen und zu erneuen fuchte,
fofern fi) nämlicy das Innere in Aeußerlichkeiten ausprägen
‚ läßt. Denn bei aller Aengſtlichkeit, mit der in jenen Beis
ten die wahre Religion an ſolche aͤußere Stügen fih an«
klammerte, verleugnet ſich doch auf der andern Seite die
Anfiht nicht, daß die Wahrheit und Kraft der Religion
von feiner Aeußerlichleit abhange. Vielmehr wird (unb es
iſt dieß das innerfte Wefen bes Jahvethums und einer feis
ner Hauptunterſchiede vom ‚Heidenthume) doch wieder allzs
Heilige zulegt auf Jahve, fein Wollen und Wirken, fein
Erwählen und Verwerfen, zurkdgeführt, und Alles, was
fonft unter Denfchen heitig Heißt, nur von ihm abgeleitet.
1. Diefer Trieb des Jahvethums, bie reine innerlicye
Wahrheit ald weit uͤber allem Aeußeren flehend und davon
ganz unabhängig ſicher und Mar feflzubalten, zeigt fi nun
vornehmlich darin, daß diefen menſchlichen Bemühungen und
Werken, um Gottes Gnade zu gewinnen, ald andere
“on. .
bie Alterhümer des Volkes Ifrael. 149
Seite feiner Gefege und Einrichtungen die göttlichen
Anforderungen der Heiligkeit und Gerechtig—
keit des Lebens gegenübertreten, Anforderungen, melde
unabweisbar gelten, mögen jene menſchlichen Bemühungen
auch vielfach ungenügend feyn. Es find bieß eben die ewigen
göttlichen Wahrheiten in ihrer Anwendung auf bad menfch-
liche Leben, ein fehr großer Theil der Rechte und ber Ges
fege ber alten Religion.
Alles Einzelne, welches hier zur Sprache kommen ann,
bringt das Jahvethum mit hoͤchſter Klarheit unter Einen
Hauptgrundfag, nämlich unter daB göttliche Gebot: „Heiz
fig ſollt ihr ſeyn; denn heilig bin ih”. In diefem Aus
ſpruche liegt bie unerſchoͤpfliche Forderung ber unendlichen
Aufgabe für den einzelnen Menfchen, wie für das Ganze,
welche alle befonderen Forderungen ſchon in fich ſchließt.
Zugleich wurde das, was als heilig galt, mit einer in dies
ſem Grade unerbörten Innigfeit und Entſchiedenheit, mit
diner ungemein ſtrengen fittlihen Zucht gehandhabt, und
zwar nicht durch Obrigkeiten, fondern durch die Gemeinde
ſelbſt, die mit der größten Aengſtlichkeit daruͤber machte,
daß das Unantaftbare, das in ihrer Mitte, ale Glieder bes
fhägend und erfreuend, wohnte, in Feiner Weiſe entweiht
würde. Bon Beweifen diefes zarten Gemeindegewiſſens ift
das alte Teftament vol. Als bezeichnend für den Zuſtand
der GSittlichkeit und Zucht der Gemeinde müffen unter Ans
derem bie neben ben veligiöfen Sühnungsmitteln, ben
Opfern, ergebenden bürgerlichen Strafen, die Art und die
Anwendung berfelben, gelten. Zu bemerken ift in biefer
Beziehung dad Fehlen der Gefängnißftrafen und ber leibli⸗
chen Züchtiguhg und die häufige Anordnung ber Todes⸗
Arafe, während auch die Geldſtrafen in den diteften Zeiten
felten in Anwendung kamen.
Bas hatte nun der altteftamentliche Menfh zu thun
und zu laffen, um heilig zu feyn, wie Gott heilig ift, d. b»
um an der ſchlechthin vollkommenen, von keinem fittlichen
150 J Ewald
Mangel je berührbaren ewigen Macht Theil zu nehmen —
welche Theilnahme feine Beſtimmung und Aufgabe des Le:
bens ift —? Er hatte alle einzelnen Dinge, Perfonen, Ver⸗
bättniffe und Wahrheiten, wie fie ſich für Iſrael als uns
antaftbar, im bie höchfte ‚Heiligkeit Gottes ſelbſt bineinreis
end und von diefer wieder getragen und gefhüßt, mit
Einem Wort als heilig ſich bewährt haben, auc heilig zu
achten und zu halten und Alles zu meiben, was biefe heis
lige Ordnung flörte. Die Frage nah den Forderungen der
Heiligkeit und Gerechtigkeit, der Rechte und Geſetze in Iſ⸗
rael führt alfo zuruͤck auf die Frage: was galt in Ifrael
als Heilig? Es find drei große Fächer, in welche alles
bierher Gehörende, im welche fomit auch diefe ganze andere
Seite der ifraelitifcgen Alterthumer zerfält. Eine Heilige
keit für ben Menfchen hat
1) der Menſch felbft ald Ebenbild Gottes an ſich
ſowohl, wie als Glied eineb größeren Ganzen, in weldyes
fich ſtets die Menſchheit gliedert, des Haufes, der Gemeine
und des Reiches, und ebenfo das Eigenthum bes Diem
ſchen, fofern es urfpränglich immer Erwerb feiner Anſtren⸗
gung iſt. B
‚Hierher gehören vornehmlich die verſchiedenen Gefehe
und Einritungen, welche die Sicherheit des menſchlichen
Lebens und Leibe, des guten Namens, bes Eigenthums
jedes Einzelnen, ferner die Bewahrung der Zucht und Orb-
nung bed Familienlebens in feiner mannichfaltigen Gliede⸗
rung, die Verhaͤltniſſe der Eitern und Kinder, des Mannes
und des Weibed, der Sclaven und endlich auch der Frem«
den betreffen. Eine Menge von Eigenthuͤmlichkeiten in den
* Anfichten und Ordnungen treten und hierbei entgegen, wos
durch diefe Verhältniffe alle in Iſrael ein befondered Ges
präge erhielten. Wir erinnern, als an die hervorſtechendſten
Puncte, an bie überaus große Scheu vor der Befledung
des heiligen Landes durch irgend ein Menfchenblut, an die
Behandlung des unabfichtlichen Mordes (die ſechs Zufluchts⸗
die Alterthümer bes Volkes Iſrael. 151
hätten), an bie Einrichtung ber jedem Cinzelnen als bloße
Sehen von Bott überlafienen Erbäder, und was bamit zus
fammenhing: Jubeljahr, Leviratsehe u, dgl, an die Geſetze
von verbotenen Heirathen.
Bei der zulegt genannten Einrichtung ift es wegen ih⸗
ur noch in der chriſtlichen Kirche gültigen Bedeutung von
beſonderem Werth, ſich zwei Fragen möglihk Har gu ber
antworten: welche Gründe waren ed, worauf die Strange
des Iahvethums in dieſer Hinficht beruhte, und fodaun,
wide Sefchledtöverbindungen galten im Einzelnen als ver
beten?
Bas die erfie Frage betrifft, fo iſt es verfehlt, für alle
File ausnahmslos nur Eine Urfache a) zu ſuchen. Aller⸗
dings waltet bier Eine Haupt» und Grundurfacdhe, in dem
Belen der Ede felbR wurzelnd. Die durch diefelbe geflifz
tete Gemeinfchaft follte eine ganz andere feyn, als bie burch
Blutsverwandtfchaft von Anfang an gegebene, ein Neues
ſollte durch fie Hinzulommen zu einem Alten, Je verſchie⸗
dener aber und entfernter das neue Pfropfreis ift, deſto
freier und friſchet kann das beiderfeitige Bute in einander
wirken und fich neu entfalten, und beflo weniger pflanzt
fh das Einfeitige und daher Schwache fort, Zu diefer ers
Rem Urſache trat aber bann die Rüdfiht auf die gute Zucht
und die heilſame werhfeifeitige Scheu unter den Hausglie⸗
dern,
Mitwirkend mochte ſeyn (f. ©. 221 ff.) bie auch fonf
ſo vielfach hervortretende Scheu vor dee Vermiſchung zweier
Dinge, die man ald mit einander unvereinbar aufah und
a) Derin Hat es namentlich Michaelis in feiner umfaflenden
und ſcharfſinnigen Schrift über diefen Gegenſtand verfehlt, in⸗
dem er zu einfeitig bie Abſicht, unzucht in ben Zamilien gu
verhäten , als den einzigen Beſtimmungsgrund zu den Gefegen
Über verbotene Heirathen annimmt und bie Müdfiht auf den
reapeetus parentelao gang ausfchlieft.
152 Emwalb
durch deren Wermengung alfo, wie-man glaubte, die na=
tuͤrliche und göttlihe Ordnung der Dinge geftört würde.
Sofort ift in Rechnung zu nehmen das alterthümliche
feſtgeſchloſſene Hausweſen, wo ſich um den Einen Water
fehr viele Verwandte fefter anfammeln und fein große Ans
feben leicht auf ähnliche Hausglieber übergeht, wodurch es
fich erflärt, daß die Schranken noch firenger, d. h. in die⸗
fem Falle weiter und vielfacher, werben mußten. Insbefons
dere find ed endlich die befonderen Gefühle der kindlichen
Scheu, der elterlihen Scham und endlich bie der Scham
vor feinem eigenen Fleiſch, d. i. feinen nächflen Blutsans
gebörigen, und damit vor fich felbft, welche als die Grund»
fäufen eines ſchoͤnen Familienleben durch dieſe Werbote in
ihrer Unantaftbarkeit gefichert werben ſollten.
Demgemäß waren nun im Einzelnen verboten die Hei⸗
rathen 1) mit der Mutter; 2) mit ber Stiefmutter oder ir
gend einer Frau des Vaters; 3) mit der Schwiegermutter
(3Mof.20, 14); 4) mit der Tochter — offenbar iſt 3Mof.
18, 10. bie Tochter nur aus Verſehen auögefallen (wenn
man ja einen mofaifhen Ausſpruch für dieſes Werbot will,
fo ließe fih 3 Mof. 18, 17. anführen) — oder irgend einer
Enkelin; 5— 7) mit der Tante väterlicher oder muͤtterlicher
Seite, fo wie mit der Frau des Vatersbruders; 8) mit ber
Schwiegertochter; 9) mit den angeheiratheten Töchtern oder
Entelinnen; 10) mit der Schwefter (und Stiefſchweſter);
11) mit der angeheiratheten Schwefter vdterliher und 12)
wahrſcheinlich auch mütterlicher Seite; 13) mit der Schwäs
gerin, d. i. Frau (Witwe) bed Bruders; 14) mit der
Schwefter der noch lebenden Frau,
Neben dem Einzelnen hat man aber ald beſonders wich⸗
tig und beiehrend zu betrachten die alle diefe befonderen
BVerhältniffe und deren Ordnung durchziehenden allgemeinen
Grunbfäge und Grundgedanken, Als folde machen fi
. zwei bemerkbar: einmal bie fchon erwähnte Anficht von dem
Menſchen ald demjenigen Gefchöpfe, das von ber Schöpfung
die Alterthämer des Volkes Ira. 153
an das Ebenbild Gottes an fi trage und dadurch eine ihn
über alles fonftige geſchaffene Wefen erhebende Würde bes -
fie, an der alle Menfchen ohne Unterſchied weſentlich Theil
nehmen und die in jedem einzelnen Menfchen fich frei ents
wideln müffe. Diefe Grundanfhauung geht in den man⸗
nichfaltigſten Vorſtellungen und Mebensarten durch das
ganze A. T. Hierauf beruht die ſchoͤne Menſchlichkeit, die
ſich durch alle hierher gehörigen Gefege und Anordnungen,
insbefondere auch durdy die über die Stellung des Weibes,
der Sclaven und Fremden hindurchzieht «). Aber diefem
idealen Grundgedanken fteht allerdings fodann ein Zweites
gegenüber, das gleich falls dieſes ganze Gebiet von Rechten
und Gefegen beherrſcht und eigenthuͤmlich geftaltet. Es ift
dieß die Macht der Wirklichkeit, ber Gefchichte, des Uebere
tommenen, welche, wie überall in der Welt, fo auch bier
der Idee ſich anhängt, fie theilmeife herabzieht und ftört,
Lüngfi ehe die Wahrheiten der höheren Religion durchaus
dringen und ae Zuftände des menfchlichen Dafeyns umzus
geſtalten anfingen, hatten fi im Heiligthum bed Haufes,
des Stammes und bed Volles Gewohnheiten feſtgeſetzt, wel»
de ſich bald mehr, bald weniger zäbe dem neu ſich Bil
denden hemmend in den Weg flellten und welche nicht zu
befeitigen, wohl aber zu vergeiftigen und zu. verflären,
die Gefeggebung unternehmen konnte und auch mit Er
folg unternommen hat, Dieß gilt 3. B. von ber Blut:
the. Ganz befonders werth, im Einzelnen verfolgt zu
werden, iſt aber der Entwidelungsgang, welchen die Vers
daltniſſe der Kinder, des weiblichen Geſchlechts, der Sclas
verei genommen haben, indem auch bier die Härten ber als
a) Wenn wir von hier aus einen Blick werfen auf Pie gepriefene
ſchoͤne Menſchlichkeit des Briechentyums und uns dabei erinnern,
was nad) einer früheren Abhandlung biefer Blätter Ariftotes
tes über biefe Tragen vorbringt, fo werden wir kaum mehr
—A welchtm Bolke auch in dieſem Betracht die Palme ges
tt, *
154 Ewald
ten Hausfitten mehr und mehr ber umgeflaltenden Gewalt
bes Höheren Geſetzes weichen mußten, Und zwar findet ein
Sortfchritt flatt nicht bloß in den Zeiten Mofis im Ber
gleich mit der Patriarchenzeit, fondern auch nach Moſes ars
beitet der Sauerteig der höheren Wahrheiten mit ftill wirs
Eender Macht fort bis auf die fpäteren und ſpaͤteſten Ges
ſchlechter. Man vergleihe 2Mof. 34, 7. 20, 5, mit den wes
ſentlich anders lautenden Stellen 0 Moſ. 24, 16. Jerem. 31,
3 f. Hefeliel 18, %0:, fodann die merkwürdige Erſchei⸗
mung, wie die Wielweiberei, obgleich durch Gefeg nie aufs
gehoben, ſich allmaͤhlich immer mehr verliert, fo daß die Ges
ſchichte Iſraels endlich mit dem ungezwungenen, aber ents
ſchiedenen Siege der Einehe ſchließt. Nicht minder als die
enge Gefchlofienheit des alterthumlichen Haufes, wo fie
ſchaͤdlich werden Eonnte, hat das Jahvethum mit feinem edles
ven Triebe die Schranke der Volksthuͤmlichkeit zu durchbre⸗
chen und auch bis zu den Fremden den Kreiß ber Liebe und
Achtung, der Gerechtigkeit und Billigkeit zu erweitern vers
motht (m, f. def. 3Mof, 19, 16—18., vgl, mit 3.).
2) Eine Heiligkeit Hatte aber für den iſraelitiſchen Mens
fen auch die Natur, die ganze belebte und unbelchte
Schöpfung, als das dem Menſchen erkennbare weile Werk
Sottes, deſſen Ordnung der Menſch nur zu feinem eigenen
Schaden verachtet oder gar ſtoͤrt. In ben früheften Beiten
machte die Natur, als ein Lebendiges und Selbſtaͤndiges ge»
dacht, die ftärkften Eindrüde auf den Menſchen, nicht bloß
von ihrer freundlichen, fondern noch mehr von ihrer ſchein⸗
. bar feindlichen und finſteren Seite. In welch’ dunkle Bande
dadurch der menſchliche Geift im Helbenthum geſchlagen
wurde, ift bekannt. Davon hat zwar das Jahvethum durch
den richtigen Begriff vom Schöpfer und von ber urfprüng«
lichen Guͤte alles Geſchaffenen den Geift befreit, fo daß bie
mofaifche Gefeggebung vielmehr durch eine ungemein zarte
Scheu vor den Rechten der beiebten und ben Gefegen der
unbelebten Natur auögezeichnet iſt. Doc trägt fie ande⸗
die Aterthümer des Volkes Iſrael. 156
serfeit8 noch manche Spuren ber uralten unklaren Schen
vor natürlichen Dingen; die tieferen und richtigen Grunds
fäge haben andy hierin mit dem gefchichtlichen Herkommen =)
zu fämpfen. Daraus fließt, daß ihr ziemlich viele Dinge
und Zuftände der Ratur ſchlechthin als unreine gelten, als
foldje, die aus verſchiedenen, nicht weiter erörterten Urſachen
in der Gemeinde des heiligen Gottes nicht zu bulden feyen,
meil fie den Menfchen der Gemeinfchaft Jahve's und feis
mr Verehrer unwürdig machen.
Drei Hauptarten von Unreinheiten find zu unterfcheis
den: das zu eſſen Unreine, nicht von Pflanzen, fondern nur
von Thieren; das zu berühren Ünteine; verunreinigende
Gtoffe am Menſchen und fonft, Hierzu kommen ‚weiter
widernatürliche Vermiſchungen verfchiedener Dinge, wodurch
Undereinbared vermengt und bie natürliche Ordnung ber
Dinge, fomit der Wille des Schöpfers verlegt wird, und
fedann die wibernatinlihe Verſtuͤmmelung und Entflellung
des Leibes aus religisfen oder andern Beweggründen und
Beranlaffungen. Den hierauf bezüglichen Verboten ſteht
gegenüber das Gebot, die Natur ald Werk Gottes zu ehren
und zu ſchonen, ja mit ihr zu fühlen und zu leben zu Eh⸗
ven des Schöpferd und zu Nugen des Menfchen.
So unleugbar in diefen bis ins Einzelnfte gehenden
Sejegen auf ber einen Seite ein edles Zartgefühl und ein
) Man könnte fagen, in biefen Befegen und Anordnungen, welche
ſich auf die Heiligkeit der Ratus beziehen und welche für uns
gem Theil etwas Befrembliches an fi tragen, haben fih in
Atael die Gtoffe abgelagert, weiche in den Raturreligionen des
fonftigen Altertgums überpaupt fo Uppige Blüthen und Fruͤchte
trugen und vielleicht zum Theil mitwirkten, bie fittlihen Be⸗
ſtandtheile der Religion abzutreiben. So betrachtet, erſcheinen
die Beſtimmungen Über rein und unrein u. dgl. als ein nothwen ⸗
diger und erft noch mäßiger Tribut, weldyen Iſrael geben mußs
te für feine Mitgliedfgaft an der alterthäimlichen Menſchheit und
deren Stellung zum Naturieben mit feinen Schrecken und Heims
liqhteiten und dem bapinter verborgen gedachten Goͤttlichen.
156 "Ewald
milder Sinn ſich ausſpricht, der nicht bloß den brütenben
Bogel in feinem Nefte und den drefchenden Ochfen, fondern
felbft die Bäume des Feldes umfaßt, und fo wohldurchdacht
und folgerichtig das Ganze diefer Beſtimmungen und Ges
fege über diefe Unreinheiten u. f. w. und über das Verhal⸗
ten zu ihnen ift und ſelbſt in diefen kleineren Dingen den
>@eift des großen Geſetzgebers wahrnehmen läßt, fo ift doch
auf der andern Seite zuzugeben, daß bierin dieſe Gefehge-
bung mande Spuren der uralten unklaren Scheu vor na»
thrlichen Dingen an ſich trägt, wie fie einer Zeit anklebte,
wo die Natur dem Wefen und ben Urfachen ihrer Erſchei—
nungen nad) fehr wenig näher erfannt war. So gewiß das
ber die leitenden Grundgebanfen auch bei diefen Einrihtuns
gen ewige Bedeutung haben, fo gewiß gehört vieles Ein⸗
zeine bavon dem Vergänglichen am Mofaismus ana). Der
. Grund, warum auch ſolche Speifegefege ald Beftandtheile
der großen Gefeggebung aufgenommen wurden, iſt aber kei⸗
neswegs in der Abficht zu ſuchen, dadurch dad Volk Iſrael
zu vereinzeln und von andern abzufondern; dieß war viels
mehr nur Folge, nicht der urſpruͤngliche Sinn diefer geſetz⸗
a) Bebenten wir ben gefunden, bebeutungsvollen Kern, ber andy Hier
von ſcheindar abfloßenden Hüllen eingeſchloſſen iſt; erwägen wie
ferner, wie noch fo vieles Andere der Art bie alterthämliche
Menſchheit im Heibenthum. ja felbft in den vormofaifchen Zeiten
Iſraels in ſich ſchloß, deſſen ſich jene neue Seſetzgebung zu ers
wehren hatte — es ſey nur erinnert an das weite und undeim—⸗
liche Gebiet de6 omen und ber Augurien, wohtn vielleicht auch
1 Moſ. 15, 11., Richter 6, 86 ff., 1 Sam. 14, 10. gehört, und
an bie 1Mof.32, 2583. erwähnte, aber vom Geſet nicht mehr
berüdfichtigte Worftelung und Sitte; — faffen wir endlich bie
erziehende Bedeutung des Befeges recht ind Auge: fo wers
den wir auch auf biefem Gebiet die weife Umfiht und Maßhal⸗
tung des GSeſetzgebers nicht anders als bewundern koͤnnen. Die
Neuzeit mit den oft fo kleinlichen, inhaltsleeren, mitunter felbft
unfirtlicden Beftanbtheilen in ihren Gelegblihern hat am wenige
fien ein edit, ſich ihm gegenüber ihrer Weisheit zu rühmen.
die Alterthuͤmer des Volkes Iſrael. 157
lichen Beftimmungen; fonbern der Urfprung und ‚Grund
davon liegt einzig in ben angegebenen allgemeinen Urſachen.
3) Doch über der Heiligkeit ber Natur fowohl ald des
Menſchen ſteht die de wahren Gottes, wie ihn der Menſch
im Volke Ifrael Tennen gelernt hat, des ihm ald feinem
aleinigen ‚Herrn und König zugehörenden Wolkes und
der Einheit, des lebendigen Zufammenwirkens aller feiner
-Beflandtheile und Mächte, — ded Reiches Jahre's.
Die Heiligkeit Gottes, feined Namens, der drei das Volk
mit ihm aufs engfle verbindenden Sacrarhente, feiner heis
Nigen Offenbarungöftätte, befonderd der Bunbedfade, war vor
Aem durch die firengftien Beftimmungen vor jeder Verle⸗
gung bewahrt, Strenge Ausfhließung des Bilderdienſtes
und Heidenthumes ſchloß ſich hieran unmittelbar an. In
Beziehung auf ben legterm Punct machte es aber einen bes
deutenben Unterfchied, ob ein fremder Gottesdienſt ſich mit
dem Jahvethum verſchmelzen oder ob er ihm feindlich ent⸗
gegentreten wollte. Auch hier zeigt ſich wieder die Noth⸗
wendigkeit, die Forderung des ſtrengen Geſetzes, welche auch
jede ſolche Verſchmelzung verbot, zu unterſcheiden von der
Wirklichkeit, in der dieſe beliebte Vermiſchung des Alten
und Neuen bis in bie Föniglichen Zeiten nicht aufhörte. Die
Berehrung der Teraphim gehört hierher. So wenig biefelbe
feit Samuel eine öffentliche feyn durfte, fo gewiß dauerte
fie in einzelnen Häufern noch lange darnach fort. Daß man -
in diefen uralten Hausgöttern der Borfahren Jfraeld in den
Zeiten nach Mofes Jahve'n fah, ift eben fo wenig zu beftreis
ten, ald daß die aus Aegypten flammende Vorliebe für die
Berehrung des Schutzgottes unter einem Stierbilde eben das
durch immer wieder ſich erneuerte, weil es nicht als Heis
denthum , fondern nur ald eine befondere Form des Jahve⸗
thums betrachtet wurde. Am auffallendften aber ift die am
meiften verbreitete und am häufigften gebulbete Vermiſchung
der Verehrung des wahren Gottes mit einem urſpruͤnglich
wohl kananitiſchen Eultus, der Verehrung von heiligen Steis
158 Ewald
nen eigenthuͤmlicher Farbe oder Gehalt (Wätylien), Das
Muſter diefer alten Heiligtümer wurde von Ifrael, ald es
nad der Stiftung des Jahvethums Kanaan eroberte, nach⸗
geahmt, und befonderd zur Zeit der Richter, aber auch un⸗
tee den frömmeren Königen Juda's, verehrten Viele den
iſtaelitiſchen Schußgott in einem folden Heiligthume. Das
find die fogenannten Höhen. Darunter hat man ndmlich
durchaus nicht wirkliche Anhöhen oder Berge zu verfichen,-
fondern bie Hauptſache dabei und das Urfprünglihe war
wohl baffelbe, was Tacitus (Hist. 2, 3) von der Venus in
Paphos berichtet: simulacrum Deae non effigie humana,
continuus orbis latiore initio tenuem in ambitum
” metae modo excurrens.- Es waren Steintegel, ald Sinns
bilder bes Heiligen, woneben gewöhnlich ein Altar, heiliger
Baum ober Hain ober auch noch ein Bild des einzelnen
Gottes fand (m. f. noch Gefch, Iſr. II, 110,).
Aber vermöge des Bundes zwiſchen Jahve ald König
und Ifeael ald felnem Volke ift auch dad Volk nicht mehr
für fi allein, fondern nimmt an ber ‚Heiligkeit und Herr⸗
lichkeit dieſes feines Gottes felbft Theil; das ganze Iſrael
mit allen feinen Gliedern ift gefeglich „ein Reich von Pries
Kern, ein heilige Volt” geworben. Als Kennzeichen und
Unterpfänder diefer Ale, Hohe und Niedere, nad) den wah⸗
zen Grundfägen der Gleichheit und Brüderlichkeit umfaſſen⸗
den Heiligkeit gelten vor Allem die drei oben genannten
Sacramente, fodann aber auch ein einfaches dußeres Dr⸗
denszeichen, eine an dunkelblauem, alfo himmelfarbigem Fa⸗
den hangende Quaſte, die Jedermann in Iſrael tragen follte
(4 Mof. 15, 37 41., vgl, Matth. 3, 5.). Trotz der Heilige
feit und Würde aller Glieder der Gemeine müffen aber
doch in ihr immer auch menfchlihe Ordner und Leiter feyn,
Die Gleichheit und Freiheit in Iſtael hebt weder die Mans
nichfaltigkeit der giftigen Kräfte, noch die Theilbarkeit der
menſchlichen Lebensbeſchaͤftigungen, noch bie daraus hervor⸗
gehenden Vorzüge. und Herrſchaftsrechte Einzelner auf, Ins
die Alterthümer des Volkes Sfrael. 159
deſſen iſt jede · flänbige oder außerordentliche Macht diefer
Art nur dadurch befugt zu herrſchen, daß fie vor dem hös
beren Willen und Geſetz in Ifrael fich beugt; jeder menſch⸗
liche Herrſcher ficht feine Pflichten ‘verdoppelt, feine Freu⸗
ben aber nur, fofern er jenen genügt.
So ſehr nun das Volk Iſrael vermöge des Bewußt⸗
ſeyns feiner Heiligkeit und feiner Bevorzugung vor allen
übrigen Völkern der Erde ſich Im Gegenfag gegen dad Fremde
wußte und fühlte, fo Fam es doch während der ſchoͤnen Zei⸗
ten feiner ‚älteren Geſchichte nie in die Gefahr, dadurch
übermütbig und gegen andere Wölker ungerecht zu werben,
Dad Jahvethum forderte nie, wie ber Islam, dad Schwert
gegen alles Fremde heraus. Auöfprüche, welche jeden Vers
trag und jede Freundſchaft mit den Kanandern u. f. w. vers
bieten, finden ſich erſt in fpäteren, nicht aber in den aͤlteſten
Beſtandtheilen des Gefeges, und zwar find auch jene Bes
fehle einzig von der Furcht, von dem Heidenthum erbrädt
zu werben, eingegeben, nicht aber etwa von ber Zerftörungds
luſt ober blinder Feindſchaft. Etwas Anderes aber iſt auch
bier wieber die gefchichtliche Wirklichkeit, der zufolge eine ges
waltfame Verdrängung wenigſtens Eines älteren Volkes ſich
nothwendig zeigte, um für das Jahvethum einen feften
Sitz auf Erden zu gewinnen, Außerdem zeigen die Beftims
mungen uͤber Schußbefohlene, über Kriegführung, über bie
Aufnahme Fremder in bie Mitgliedfchaft der Gemeinde einen
ſchoͤnen Geift der Milde und Schonung, befonbers im fuͤnf⸗
ten Buche Mofis,
Sofern nun das Volk in einzelne Beftandtheile, Grups
ven und Mächte zerfällt, diefe aber, durch ein gemeinfames
Band zufammengehalten, in Iebendigem Zufammenwirken
ein einheitliche Ganzes barftellen, muß Insbefondere noch
von einem Reiche und deffen Heiligkeit geredet werden.
Als befondere Mächte diefes Reiches find zu unterfcheis
den: 1) dad Volk und feine Leiter, alfo die Volksgemeine
für fich, die Auffeher und Richter drs Volks, der Fuͤrſt des
160 r Ewald
Volkes; 2) befondere Mächte im Wolle: das Propheten:
thum und daS Prieſterthum — tbeild in feinem Verhaͤltniß
zum Volke, theils nad dem Umfang und der Art feiner
Pflichten, theils nach den Quellen des Unterhalts.
Die Beftandtpeile, nach denen auf uralten Grundlagen
die Volksgemeinde ſich gliederte, find: 1) die Häufer ober
Familien, welche dann wieder in einzelne Haushaltungen
(Männer) ſich fpalteten ; 2) die Gefchlechter (gentes, dijuor),
auch Zaufende genannt, deren jede wahrfcheinlich zwölf Haͤu⸗
fer in ſich begriff; 3) die gleichfalls wohl aus je zwölf Ge—
ſchlechtern beftehenden zwölf Stämme (tribus), Die an der
Spige diefer drei Stufen Stehenden heißen Häupter, Wär
ter, Waterhäupter, Xeltefle, muthmaßlich zufammen 1728
an der Zahl, Diefe waren urfprünglic) wohl immer auch
die Anführer des Volks in den Kriegen, vorzüglich aber die
Vertreter deffelben bei Berathungen und Beſchlußnahmen
über die gemeinfamen Angelegenheiten. Denn Iſrael hatte
fo gut wie die wohlgegliederten Voͤller des Alterthums in
Europa oder die deutſchen Stämme eine fländifhe Verfafs
fung. Sehr frühe bildete ſich aber ein Ausſchuß zur obers
ſten Volksleitung. Dieß find die 70 Aelteſten, der Senat,
deſſen Entflehung nad mehreren Spuren in den Zeiten
lange vor Moſes zu fuchen ift, und ber fobann durch ihn
nur eine höhere Vollendung und Herrlichkeit erhielt. Neben
diefen Xelteften bildete fi) aber während ber aͤgyptiſchen
Knechtſchaft tin befondered Amt, das ber Aufieher, und
durch Mofed (nach der Erzählung 2 Mof. 18,) das der Rich⸗
ter über die gewöhnlichen Faͤlle des Lebens, Beide Aems
ter, welchen überhaupt die ganze Aufſicht über die Ordnung
zugetheilt war, und zwar für Krieg und Frieden, fallen
nad) mandyen Stellen faft ganz zufammen (Weiteres über
dad Gerichtöwefen ſ. S. 335 ff.). Eine ſtrenge äußere Eins
beit der Hertſchaft nun aber in der Hand eines einzigen
Fürften oder Königs fehlte ſchon vor Mofed, In der Alles
entſcheidenden Zeit Mofis aber, da fi das Volk zum ers
die Aterthümer des Volkes Iſrael. 161
en Male unter bie Herrſchaft Einer großen, ewigen Wahr⸗
heit beugte und zu einer firengen Einheit geflaltete, foͤr⸗
derte der Umſtand, daß kein einzelnes Haus oder Geſchlecht
mit bergebrachten Anfprüchen auf fürflliche Macht vorhan⸗
den war, den großen Gedanken der GSottherrſchaft. Für
einzelne, befonders dringende Fälle konnte zwar wohl aus
der Mitte der Edien ein Volksfuͤhrer aufgeflellt werben,
wie in ben Zeiten der Richter; ja felbft ein allgemeiner ans
erkannter Fuͤrſt über Ale war durch das Geſetz nicht durch⸗
aus ausgeſchloſſen (2Mof.22,27. [2B.), aber eine koͤnigliche,
d. i. über Alles fich erſtreckende, ununterbrechbare, zwingende
Nacht einem Einzelnen zu übertragen, fürchtete ſich auch
daB Geſetz in feiner alten Strenge, Es fchien dieß unver.
eiabar mit ber Theokratie.
Einzelne Mächte, Zünfte, Genoſſenſchaften, Körpers
ſchaften, die vermöge der Ausbildung befonderer Fertigkei⸗
ten und Kräfte um einen befonderen Mittelpunct, als eine
Gemeinde, in der großen Gemeinde, ſich ſammeln und von
da aus mächtig auf den ganzen Volkskoͤrper einwirken, fins
den ſich bei den meiften Völkern auf gewiflen Stufen ihrer
Entwidelung. Waͤhrend wir diefe Erſcheinungen ſonſt in
dem Bereiche verichiebener, auch nieberer Beſtrebungen fins
den, 3 B. in der Nachbarſchaft Iſraels auf dem Boden
ber Gewerbe und bes Handels, iſt ed bei diefem Wolke
wieberum nur daß religiöfe Leben, das einer ähnlichen, aber
in ihrer Art einzigen Macht die Entflehung gab, dem Pros
phetenthum, einer Macht, welche mitten im großen Volks⸗
Urper fi emporhob und aufs erfolgreihfte auf ihn eins
wirkte, ja welche Iſrael erft zu dem Molke einzigen Were
thes bildete, als welches es in der Weltgefchichte erſcheint.
Übgefehen von ber inneren Seite der Sache, worliber in
der Einleitung zu den Propheten des alten Bundes befannts
Ed tief eingehend gefprochen iſt, erſcheint als das Eigen
tümlie des Prophetenthums in feiner Stellung zum
Bellöganzen, daß es förmlich durch bad Belt verordnet .
Tpeol, Grad, Jahrg. 1858,
wer, da Pasphrt, zumal cin fen bemüiter, babe dab
Seht, im ber Beilöseriemmmisrng ober jeuk ieh zu
tten, os icy ımemizäber un Rirmset al jenem Geti
sesautwertih. Se geöber und trimer aber bad Peuphrien:
um in Sirad wirfte, bee meniger cigure € Ach, um
duberüc A bleſ⸗ Fertigłeit fesgepluug aber gar arbüich
zu werden, ale amd, um ans ji) berams eine Sinperkheft
ober ung eine iche Werffiätte irgentene im Belle zu
bünen. Deipeib ik an) über die dabese Eriemung oder
Xirivung x. der Propheten zicht viel zu tagen. Sm Gegen:
theii ik dentũh wahrzunchenen, wie bad Dxralcimejen, weil"
des ganze Atierthe erfüllt und im ber aͤurren Zeit nd)
in Iſcaci mit der herrihenden Refigien in Berbinbumg ge:
fegt wurde (mam denke voruchmlid am bas heilige Laed «)
©) Hieriser, über das fogrnznnte rim und Tummim, RE. 508 fi.
308 ff. gefpeodgen. Diele Werte, eigentiich fo wie alt Geigkeit
i ‚(Offeabesung) und Sthtigkeit, dexia⸗e am fie bieß einen
richtigen Dralelfpeug, fagen alfo über bie Art bei Drakeis
feioh aichts aus. Bas dieſe Art und bie äuferen Berkjeuge
datei tetzifft, fo IR am watıfheintiäfen anzunchmen und aus
den Erzählungen vom Gebraudge biefes Drakeis zu faptiehen,
dab zwei Gteinden verfdicdensr Farben in dem vom auf dem
Gphos befindlichen Beutel, ji = To, als Eoofe gefegättelt und
eines davon herausgehoben wurde. So gewiß es if, daß biele
Art von Orakel nicht aus freiem Triebe des Geiftes floß und
an ein Äußeres Werkzeug fi tnüpfte, fomit za der von dem
Vten 016 Eünftkdje Montit bezeichneten Gattung gehörte (man
vl. Pauıy’s Realeacytiopad. der clafj. Aitertpumswiffenid.
1, 1116 ff.) und jedem Unbefangenen als ein Reſt von Heidens
thum erſcheinen muß, fo iſt es auf der andern Eeite unlengbat,
nit allein, daß das Boik felbfi dis in die Zeiten David’s und
Galomo’6 und mod) fpäter (Mm. f. auch Io. 11, 50 F.) auf ben
Hohenpricfter als eine uneriöpfige Quelle des Drckels dicke,
fondern auch, daß gerade biefe Form der Weiffagaung durch das
006 wiederholt und mädtig auf bie Geſchichte des Volkes eins
wirkte (Iof. 7. 1 Cam. 10. und 14.), auch fpäter daran
geglaubt wurde (vgl. Gpr. 16, 83. 18, 18.), ja, was: bi
Dauptſeqhe IR, daß Diefeibe gefehtich fanctionixt war (2. ich
bie Alterthümer des Volles Iftael. 163
durch dem Hohenpriefter, an die Spuren von Drakelſuchen
terd) imeubatio [f. Geſch. Mr. I, 379, 11, 500.} und durch
due Art Geßdopavrela [H0f. 4, 12. 4 Mof. 17,7 ffJ, dur
dab Prophetenthum in feine Schranken gewiefen, beſeitigt
und rein vergeiftigt wurde.
Aber die großen Wahrheiten und Kräfte, welche das
Mophetenthum von Moſes an und durch ihn am ſtaͤtkſten
Im Wolfe gründete, fuchten in ihm fähige Werkzeuge zu
ihrer ungemindersten Erhaltung und beftändigen Fortpflans
img von Gefchlecht zu Geſchlecht. Hieraus bildete fi in
der Iugendzeit der Gemeine Jahve's das Priefterthum
det Stammes Levi und damit eine neue, in dad ganze Volks⸗
Ieben tief verzweigte Koͤrperſchaft, die, mit dem Kerne des
Bolkes ſelbſt immer verjüngt, noch länger als das Prophe ⸗
tntyum ſelbſt, bis zum Ende der Geſchichte fortdauerte.
Des alte, vormoſaiſche Prieſterthum, das unzweifelhaft vor⸗
handen" war, mußte einer beſſeren durchgreifenden Einrich⸗
tung weichen, welche, trotz mancher Irrthuͤmer und Mängel,
wide der Lauf der Jahrhunderte mit fich brachte, doch jede
wbere ähnliche des Alterthums weit hinter ſich laͤßt. Zwar
legt ſchon in ihrem geſetzlichen Anfange, nämlich in dem
Charakter der Erblichkeit, nach unferen Begriffen ein Mans
38.) Wir müflen alfo auch biefe Grideinung unter bie
Fäe zechnen, In denen das Jahvethum uralte Volksſitten, und das
Bedürfniß der alterthümlichen Menſchheit beruͤckſichtigend, manches
Andere bufdete, was es nicht verhindern Eonnte. Weit entfernt, daß
dieß ums ein ſchiefes Licht auf die iſraelitiſche Geſetgebung wirft,
möffen wir fie vielmehr bewundern, wie fie baneben durch bie
sefegliche Aufnahme des freien, vein geiftigen Prophetenthums
den guten Samen in den Boden gelegt hatte, ber Auf einfache,
ungefuchte Weife das Unkraut feiner Zeit gründlich abtrieh.
Unfere Bewunderung muß ſich noch fleigern, wenn wir wieder
einen Seitenblick ‘werfen auf bie Art, wie bie vielgerühmte
Gtaatsweisheit und Philoſophie des claſſiſchen Altertpums hierin
verfuhr, d. h. wie unvermittelt hier die Gegenfäge fortgeführt
wie fo gar nicht ein vernünftiger Abſchluß der Sache gefunden
wurde,
1
164 Ewald
gel und Widerfprucd mit Anderem’; aber dieß war noth⸗
wenbige Folge der geſchichtlichen Entwwidelung, der Roth mb
Schwaͤche der Beit überhaupt, war in Iſrael bei der fonfligen
freien Bewegung des Volkslebens und dem Mangel an anderen
feften Einheitspumcten durchaus Beduͤrfniß; auch waren ein
zelne Ausnahmen nicht ausgefchloffen (2 Sam. 8, 18. 6, 14.
Bf. 110, 4.1 Kön. 8, 63 ff.), endlich war es ſchon viel, daß
das Jabvethum in fo früher Beit bad Propbetenthum von
allen ſolchen Schranken befreite ). Uebrigens leuchtet für
jene Zeit bie Nothwendigkeit einer Rändigen Priefterfchaft,
und zwar gerade einer foldyen, wie dad Geſetz fie fordert,
von felbſt ein, wenn wir den Umfang ihrer Pflichten und
ihre ganze Bedeutung ins Auge faflen. Ihre Aufgabe war,
die einmal gegründete wahre Religion in der Gemeine das
durch zu fhligen, daß es fie in dem ganzen großen Volke
ſtets lebendig erhäft, ein Iſrael in Iſrael bildet und gleich⸗
ſam als noch engerer Kreis zunaͤchſt das Heilige umgibt,
endlich daß fie alle Truͤbungen, welche im Verhaͤltniß zu
Gott eintreten, tilgt, die Schuld des Volks traͤgt und die
goͤttliche Gnade ſtets wieder herſtellt. Zu beachten iſt hierbei
insbeſondere, wie daB Geſetz aufs ſtrengſte darauf halt,
daß diejenigen, welche das ‚Heilige für die Andern beleben
und ſchuͤtzen wollen, es felbft zuvor am veinften befigen fol
Ten. Wer des ‚Herrn iſt, den zeichnet er auch dußerlich als
folchen aus; wer heilig und gottgeliebt iſt, ‚den würbigt er
auch vor der Welt feiner Nähe (4 Mof. 16, 7.). Selbſt ges
ſchichtlich beruht die Vollmacht Ahron’s und feines Stam⸗
mes zu ihrem hohen Amite darauf, daß fie in der ſchwerſten
a) Aud Tann es Teinem aufmerkfamen Lefer ber Geſchichte Ifraels
entgehen, wie vom Auftreten eines. felbflänbigen Propheten⸗
Randes, von Samuel an derfelbe feine Aufgabe, gegen bie
Mängel, Ginfeitigkeiten und Uebergeiffe der fländigen Priefter»
ſchaft Oppofition zu bilden, volllommen verflanden und unvers
holen erfuͤllt hat, ohne ſich durch bie hohe Stellung, welche das
Gefen, ober durch den Einfluß, weichen ber Volkaglaube den Prien
ſtern einsäumte, beirren au laſſen.
die Alterthümer des Volkes Arad. 165
Befuhung am herrlichſten ihre veine Ergebung und Aufs
sierung bewährt hatten (4 Moſ. 16, W—17. 3, 7—13.;
2 Roſ. R, W.; 3 Mof. 10, 3. 8). ‘
So fehr aber in dem erften Jahrhundert des Beſtan⸗
des des Jahvethums das Prieſterthum ſich zu einer großen
Sondermacht ausbildete und es ſcheinen koͤnnte, als haͤtte dieſe
die Bolksmacht weit überflügeln und ſich zur überwiegenden
Herrſcherin machen müffen, fo zeigt die Geſchichte daB ges
ade Gegentheil davon. Die hobepsiefterlihe Macht ers
Mlaffte als die Einheit und Stärke der Herrſchaft nur zu
bald, und ſehr früh bildete fih bei dem Wolke in Kanaan
äine oft nur zu freie Volksherrſchaft aus, weiche ſich bis
var Bildung des Königthums ald der gewöhnliche Zuſtand
hielt, ja nach dieſer Zeit in beiden Reichen den Sturz ders
felben mit herbeiführte (ſ. Ewald’& bibl. Jahrbb. 1849,
6.% fi). Wenn diefe gefchichtliche Thatſache ein weiterer
Beweis iſt, wie feft und Mar durch Mofes den Prieftern die
Grenzen ihrer Wirkſamkeit vorgezeichnet waren, und wie
hart der Geift des Jahvethums in ben erſten Jahrhunder⸗
ten aller Willkuͤrherrſchaft, auch ber hierarchiſchen, widers
Ärebte, fo bildet diefelbe Thatſache zugleich einen wichtigen
Gridrungsgrund, wie im Laufe der Zeit das Aufkommen
tincs menfchlichen Königthums in Ifrael nicht mehr zu ums
) Bas hier und in der Geſch. Iſr. IT, 181. über die Auszeiche
mung des Ctammes Leni, gefagt if, läßt ſich unſchwer auch auf
die ſcheinbar eben fo wilkürlihe Grwählung bes ganzen Volles
Iſtael anwenden. Go weit Überhaupt eine Antwort auf ſolche
Gragen und Käthfel der göttlichen MWeltregierung möglich iſt,
hat diefelbe bereits in treffender Weife 1 Mof. 18, 19. gegeben.
Sawieriger ſcheint die Frage, wie die räthfelhafte Erfcheinung,
von der 2 Mof. 5R, berichtet, mit ber hohen Bedeutung und
Beimmung Ahron’s und ber Seinen zufammenzureimen ſey.
Hierüder, fowieüberden Widerſpruch, ber zwiſchen 2 Mof. 19, 5.
und der Zufftellung einer erbiichen Priefterfchaft ſich zu er⸗
eben ſcheint, fpricht weiter eingehend Geſch. fr. II, 180 ff.
18 f. .
14 Emıı
er. zur, Tann. man. meimennb:; ne Zinteri Bei Sie
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tumtshre East 125 zLi<zse De. pızmes Dim,
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ur Speu Krinnpk, wir ei Uiır.. mm ae zellneiige
Mobeig 15 yalcı Buster Both umstze ei in Zeige
18 Gmsiesnıg 05 Bois emmi aufıınz wm Belläieger
pefgekeic m guz zur um un ab heile Ei de} Dia>
zheibreigigt, sun kein Tor mg geilirärnen
2 Erb her beyeger mE. wir td mizterbeft,
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—— —
dualen : Bil 5 dire, ie Img eb wit
4:05 ſagu per: es kuzızaer L- } kr kiefeibe Erſoei⸗
Eystung das Yiizen Etäite un beicaters med Theiis
berldben, ver Bunteblate mit den Gefcheötafeln, worin Al⸗
las un: Heilige und Bahre zufammengefaßt ſchien
als auch Lie Einfiht, daß lelbſt tiefes Heifigthum nicht et»
wo: Lushaub Nott wendiges fey, daß jetes auch noch fo
aroße und kunſireiche Haus immer ciwad ber ganzen Ho⸗
heit Jahve's wenig Eatſprechendes enthalte (2 Sam. 7, 6ff.;
Def 16, 1 0.5 2er, 3,16,, auch 2 Mof. 0, A., 3, 4).—
Zhells hierin, thells noch insbefondere im Bau des Einzel»
nen, vornehmlich des üduzov, bewährt es fi), daß die alte
die Alterchümer bes Volkes Iſrael. 167
Gottherrſchaft, obwohl fie ihrem innerfien Leben nach vom
Heidenthum völlig verfchieden war und fo auch im Aeuße⸗
ren jedes Bild der Gottheit ausfchloß, doch in der geſchicht⸗
lichen Wirklichkeit vorläufig noch vielfach in fein Weſen zus
tadfant.,
UL. Um aber den Uebeln zu begegnen, welche auch
nach dem ganz neuen, reinen und heiligen Anfang. bei der
Gtiftung der Gemeine unfehlbar fi einfchleihen mußten
amd welche alle Opfer und alle Strafen nicht ganz zu vers
tigen vermochten, traf die Weisheit Moſis Maßregeln, fol:
Gen Mängeln auf die rechte Art zu begegnen und bie un:
vermerkt geftörte urfpringliche Reinheit und Gefunbheit bed
Ganzen überall wieder herzuftellen. Die beiden bis her bee
ſprochenen Seiten ber ifraelitifgen Berfafs
fang follten noch dur weitere Beflimmungen
ergänzt werden. So wie noch jegt unfere in gewiſſen
Friſten wiederkehrenden Reichs⸗ und Landtage zu einem ſol⸗
den großartigen Läutern aller Volksverhaͤltniſſe beftimmt
find, fo wurde von bem großen Gefehgeber Zürforge ges
troffen, um in gewiſſen Friſten den göttlichen Anforderuns
gen ftärfer zu genügen und das Zeblende zu ergänzen. Es
wurden zu dieſem Behuf die menfchlihen Bemühungen und -
Anftrengungen gegen Gott, ed wurde die Anwendung bed
Dpferd aufs hoͤchſte gefleigert. Die Art, wie dieß geſchah,
tnüpfte ſich an den Sabbath, das hoͤchſte und zugleich eigens
thlimlichſte Opfer des Jahvethums. Wie am gewöhnlichen
Sabbath die Sorgen und Geſchaͤfte des gemeinen Lebens
ruhen, fo follte durch eine vielfache, außgebehnte Anwendung
der Siebenzahl des Sabbaths, fo zu fagen, an größeren Sab⸗
bathen ein allgemeiner Stillſtand des gewöhnlichen Volks⸗
lebens eintreten. An den in immer weiteren Kreifen wies
derkehrenden größeren und größten Sabbathen ſollte alles
zum Reiche Jahve's gehörende Irdiſche immer wieder zu
feiner urfprünglichen und nothwenbdigen Zauterkeit, Geſund⸗
heit und Gerechtigkeit zuruͤkkehren. Und zwar follte dieß
atoſes Esbbaitijahr, ba Imizie Zeir, ai DaB
Gebenie Eebbettjce, fo daß; Fi zuiett man cin halbe
Zhtkntecıt am dab euere Inkyit; tirh üR kab fogenemmte
€ Guben 5 Eyazen, weile dab Burhanbeufeyn vor
Der geheienmißvoll
Daſchah, —— Berſchonung, einem eigentlichen
Hausopfer); 2) einem Dankſeſte für die Erſtünge bed neuen
Jahre, dem Sehe der ungefäuerten Brode. Daß dab Pas
ſchah und bie legtgenannte Feier anfänglich getrennte Feſte
waren, folgt aus 3Mof.23, 5 f., Iof. 5, 10 f., AMof. WB,
16 (, 2 Mol. 3, 15. Spaͤter hörte bie Unterſcheidung auf
(Mor. 16, 1-8).
Der uͤberlegene Geiſt Mofis brachte nun vom Begriffe
des Sabbaths aus in diefe ganze Reihe möglicher heiliger
Zelten einen Gedanken und daher Ein feſtes Band und
bie Alterthuͤmer des Volkes Iſrael. 169
Einen eben fo Maren als ſchoͤnen Zuſammenhang. Und zwar
war, wie im ganzen Jahvethum, fo auch bei der Feier die»
fer Feſte immer ein Gedoppeltes mit einander verbunden,
der prieſterliche Dienft und bie Beier der Gemeinde, Ges
möß ber Heiligkeit der Siebenzahl war 1) der fiebente Monat
nach dem Sahresanfang (im Frühling) vor allen andern
ausgezeichnet und fo wurde bei der Bedeutung ber Neus
monde überhaupt, welche insgefammt wenigftens im haͤus⸗
lichen Kreiſe gefeiert wurden, ber fiebente Neumond unter öfe -
fentticher Theilnahme als großes Feſt gefeiert und von ben
Prieftern am Heiligthum laut als ſolches verkundigt. Hierzu
lamen ſechs weitere Feſte in ber Art, daß bie beiden feftlis
Gen Jahreszeiten, Frühling und Herbft, ſich je in drei bes
fondere Feſte fpalteten: Worfeier, Hauptfeier, Nachfeier. Sos
mit iſt als zweites Feſt zu merken die Vorfeier des Fruͤh⸗
lingöfeſtes, begangen durch ein haͤusliches Sühnopfer, das
Daſchah, urfprünglich, wie die Vorfeier im Herbſt, am zehnten,
fäter in engerer Verbindung mit dem darauf folgenden
Sehe am vierzehnten des erften Monats. Diefes Reinigungs:
feſt mit feinem nachfolgenden Hauptfeft galt als ein für
alle Häufer, ja für die einzelnen Männer nie zu unterlafs
ſendes Heiligthum, 3) Das Hauptfeft, das Feſt des Unge⸗
fäuerten, dauerte eine ganze Woche, Urſpruͤnglich reines
Frühlingsfeft erhielt das Ungefäuerte, das zunaͤchſt Sinns
bild des Anfangs der Getreideernte gewefen war, im Laufe
der Zeit eine höhere, geiſtige Bedeutung; es follte Zeichen
ſeyn der mit dem neuen Jahre wieder zu erflrebenden Reins
beit. bes ganzen Hauſes. 4) Das freubige Schlußfeft des
Srkhfings wurde weiter hinausgefshoben, damit unterbeflen
die ganze Ernte beendigt werben koͤnnte. Sieben Wochen
nad) dem zweiten Tage des Hauptfeftes, am funfzigften Tage, .
felte Pfingften, dad Feſt der Getreideernte, auch Tag der
Etſtlinge, oder Feſt der (fieben) Wochen gefeiert werden, mit
Daxbringung der Erftlinge ſowohl durch die Priefter als
dab ganze Bolt, 5) Die Vorfeier bes Herbfted am zehnten
170 Ewald
des fiebenten Monats war, wie Frühling, ein Buß⸗ und
Sühnfeft, aber nicht bloß ein haͤusliches, fonbern ein allge⸗
meines , Öffentliches Feſt, der große Werföhnungstag, bes
ſtimmt, die ganze Gemeine aller Schuld der Vergangenheit
zu entladen, damit fie mit beiterem Sinne das größte Freu⸗
denfeft des Jahres feiern koͤnnte. Ja nicht bloß die Ges
meine, fondern auch bie Priefter und das Heiligthum muß»
ten an dieſem Tage entfühnt werben; daher bie zweierlei
Sühnopfer, rein priefterliche und fobann ſolche, welche fich
auf bie Gemeinde bezogen. Letztere beftanden aus dem vor⸗
mofaifches "Gepräge an ſich tragenden Opfer ber zwei Zie⸗
genböde, von denen der eine fr Jahve, der andere für
Azazel, einen böfen Geift der Wüſte (dxoxopzaiog, aver-
runcus, nicht einerlei mit dem fpäteren Satan, fondern ein
Reſt vormoſaiſcher Religion), beftimmt war. 6) Das Haupts
feft, Hüttenfeft genannt, dauerte auch wieder vom funfzehns
ten an eine ganze Woche und wurde in hoher Freude und
unter allgemeinfter Theilnahme des ganzen Volkes gefeiert,
Dieß gilt ganz beſonders von dem achten Tage, der 7) daB
Schlußfeft bildete, dad durch Beſuche des Heiligthums vom
Lande ber noch vorzüglich audgezeichnet war und daher auch
einen befonderen Namen führt: nıx3, zavyugıs (3 Mof. 23,
36). Dieß waren die fieben Iabreöfefte, gleichfam fieben
Jahres ſabbathe Iſtaels.
Unter dieſen ſieben Feſtiagen ſonderte aber das Geſetz
wiederum drei mit der hoͤheren Bedeutung ab, daß fie zus
gleich Wallfahrtstage feyen, an welden fi die Maͤn⸗
ner des ganzen Volks wie Ein Leib um fein Heiligthum
wie um feine Seele verfammeln follten: dad Hauptfeft im
Frühling und das Funfzigtagfeft (Pfingften) im Frühling,
fodann das Hauptfeft im Herbſte. Dreimal im Jahre folls
ten alle Männer Iſtaels fi) am unmittelbaren Anſchauen
des gemeinfamen äußeren Heiligthums und Mitempfinden
feiner Opfer neu zum Dienfte Jahve's ftärken und vereinigt
fi) wieder ald Ein großes einiges Volk ihres Gottes füh-
die Alterthümer des Volkes Iſrael. 171
len. Freilich blieb auch hier die Wirklichkeit vielfach hinter
der Zorberung bed Gefeges zuräd. Im Zufammenhang mit
diefer Anordnung, woburd die Zefte des Herrn volksthuͤm⸗
lich werben follten, ſteht noch das Weitere, daß die Gehe
innerhalb des Jahvethums ihren vorher bloß natürlichen
Sinn immer mehr verloren und einen eigenthümlichen ifraes
ütifyen, der höheren Religion gemäßen Geift in ſich aufs
nahmen. Diefelben Zefte, welche anfangs bloß Raturfefte
waren, wurben zugleich benugt zu Feſten der großen Tha⸗
ten und Erfahrungen der Gefchichte, ihre uralten Gebraͤuche
im geſchichtlichen Sinne aufgefaßt; das Paſchahfeſt ward
Beides: Feſt der Verjuͤngung und Erlöfung des neuen Jah⸗
us und Feſt der großen Erlöfung aus der ägyptifchen Noth;
ebenfo wurde das Hüttenfeft mit dem Andenken an bad
einflige Wohnen Ifraeld in der Wüfle in Verbindung ge⸗
fegt. Dem Pfingfifefte gaben erft die Rabbinen den ges
(dichtlihen Sinn einer Erinnerung an die Gefehgebungs
ki dem Paſchah⸗ und Hüttenfeft dagegen ift die Wera
ſchmelzung der gefchichtlichen und ber natürlichen Beziehung
walt und flammt wohl ſchon von Mofes felbfl.
Auf derfelben Grundlage beruht nun weiter die Beier
des fiebenten Jahres, Sabbathjahres, in welchem das
Geld, gemäß feinem göttlichen Anrecht auf ein gewiſſes Maß
von Ruhe und Schonung, follte ruhen, brach liegen dürfen,
fo dag man ihm gleichſam Feine Schuld abforderte; daher
beißt es auch Brachjahr oder Jahr des Nachlaflens, Späs
ter, als ſich die Sache allmaͤhlich ſchwerer ausführen ließ,
tignete ber Deuteronomiker wenigftend den Erlaß der Schul
ben diefem Jahre ald wünfchenswerth zu. Eine befonders
üifrige Verwendung der übrig bleibenden Zeit diefed Jahres
für Schule und Unterricht haben wir Grund vorauszufegen
nad) der Andeutung 5 Mof, 31, 10—13., wo wir einem
Reſte diefer Sitte begegnen. War der Kreis von fieben fols
Yen Sabbathiahten bald abgelaufen, fo follte das unmits
telbar folgende funfzigfte Jahr (eigentlich die letzte Hälfte
172 Ewa
des neunundvierzigſten und die erſte des funfzigften Jahres)
als Sabbath⸗Sabbathjahr oder fogenannted Iubeljahr
endlich die legte Art von Stillſtand für die irbifchen Dinge
im Reiche bringen, damit alles etwa Werwirrte auf feinen
einen Zuſtand zuruͤckkehre. Es Tann fich hierbei nur um
die aͤußern Lebendgüter des Volkes handeln, um die allmähs
lich entftandenen Unebenheiten zwifchen Reihthum und Ars
muth der einzelnen Bürger. Diefe Quelle der Unzufriebens
beit und Umwälzung ber Staaten folte durch Wiederher⸗
fellung bed Beſitzes der Erbäder nad) den Häufern ber ur⸗
foringliden Befiger im Iubeljahre befeitigt werben. Denn
Zubel und Freude kehrten natürlich mit biefem Jahre in
vielen Familien ein, und durch bie, lauteften Freudentoͤne
verkündigten die Priefter mit ihren Poſaunen den Eintritt
* der allgemeinen Befreiung. Man hat durchaus feinen Grund
zu bezweifeln, daß die Beier des Jubeljahres, fo tief eingrels
Gend auch feine Wirkungen auf eine Menge von Berhältnifs
fen waren, zu Zelten wirklich auögeführt worden feys ed hat
gewiß einft wirktich im Volksleben Ifraeld Jahrhunderte lang
beftanden, Allein mit der Abnahme der echten Gottesfurcht,
worauf (3 Mof. 25,5, 5 Mof. 15.) dieß Geſetz einzig geftügt
feyn Eonnte, fo wie dadurch, daß dad Wolf aus einem vor«
zuͤglich aderbauenden ein lieber Handel und Gewerbe treis
bendes wurde, kam ed, daß feit den falomonifchen Zeiten
die Beobachtung des Jubeljahres fihtbar abnahm, weßwes
gen auch der Deuteronomiler ganz davon ſchwelgt und nur
die Erlaffung der Schulden im fiebenten Jahre, fo wie bie
Wiederherſtellung der Leibeöfreipeit zu retten ſucht. Zur
Beit der großen Propheten im neunten und achten Jahr⸗
hundert war dieß Geſetz im Volksleben erftorben, wiewohl
«8 in ber Erinnerung und in den Bildern ber Seſſeren
fortlebte (Jeſ. 61, 2.)
Zweiter Abſchnitt. .
Es Tann nicht fehlen, daß beim Durchwandern des im
Bisherigen geſchilderten Gebiets dem Lefer ſelbſt mancher ⸗
die Alterthümer des Volkes Arad. 173
lei Bebenten, Zweifel und Fragen fich aufgebrängt haben.
Der Stoff ift ia fo reichhaltig; des Dunklen in diefen fo
ferne liegenden Dingen ift fo viel; der Gang, die Anord⸗
zung, die Anfichten unfered Buches haben fo ſtark ausge⸗
praͤgte und überrafhende Eigenthümlicpkeiten, dag wir und
bei dem Gegebenen von ferne noch nicht beruhigen koͤnnen
und daß bemgemäß eine Befprechung der hieraus ſich ers
gebenden Bedenken dem Berichterſtatter nicht erlaffen wer⸗
den Tann.
1. Eine der erften Gegenreden allgemeinerer Art möchte
wohl die ſeyn, dad Buch lafle bei allem Reichthum des
Stoffes doch nicht Weniges vermiffen, was man fonft in
Schriften über die Alterthümer eines Volkes zu finden ges
wohnt ſey. Um nichts zu fagen von dem Fehlen ber ges
lehrten Zuräftung und Ausftattung, einer Rechenfchaft des
Berfaffers über feine Stelung zu feinen Mitarbeitern auf
dem Gebiete der ifraelitifchen Alterthuͤmer, fo wie über ben
Stand diefer Wiſſenſchaft in früherer und gegenwärtiger
Zeit, jedenfalls möchte der eine und andere Leſer erwartet
haben genaueres Eingehen auf die Quellen, denen der Ins
halt zu entnehmen fey, ferner eine Befchreibung des Landes,
eine Schilderung des häuslichen Lebens, eine größere Bes
sudfichtigung der aͤußeren. Verhaͤltniſſe überhaupt, ein Bild
der Seflaltung des Volkslebens, wie es ſich zu verfchledenen
Beiten in der Wirklichkeit audgeprägt bat u. dgl. Je mehr
man von dem Verfaffer bei feiner umfaffenden Kenntniß
and zarten Empfindung für das morgenländifche Weſen
überhaupt und daß ifraelitifche Alterthum insbefondere ges
rade in diefen Fragen befriedigende Antwort zu erhalten mit
allem Grunde erwarten durfte, deſto ſchmerzlicher möchte
mancher Lefer die genannten Rüden empfinden. Zwar ents
hält das Geſchichtswerk felbft gerade fiber die wichtigeren
Yuncte, die man hier vermißt, fehr ausführliche und theils
weife meifterhafte Abhandlungen; wir nennen namentlich das
16. 359 ff. über die Lage und Beſchaffenheit Palaͤſtina's
174 Ewald
Geſagte. Die Geſchichtsquellen aber find bekanntlich eben⸗
daſelbſt S. 15-256, beſprochen und dieſe Eroͤrterung wird
naturlich bei dieſem Anhang zum Hauptwerk vorausgeſetzt.
Auch find ja im Eingang unſerer Schrift die Gründe kurz
"angegeben, warum ber Werfaffer feinen Stoff auf dad von
ihm Gegebene befchräntt hat.
Deffenungeachtet laͤßt ſich nicht in Abrede flellen, daß
es am Plage gewefen wäre, häufiger auf die im Hauptwerk
gegebenen Erörterungen über Gegenſtaͤnde, die eben einmal
zu den Alterthuͤmern gehören, zu verweifen, bie dort gefuns
denen und begründeten Ergebniſſe kurz zufammenzufaffer
und damit den Bebürfniffen eines mit den befonderen Stu⸗
dien nicht bis ins Einzelne vertrauten Leſerkreiſes entgegenzus
Tommen, Und felbft innerhalb des vom Verfaſſer ſelbſt ums
grenzten Rahmens ift zum mindeften an Einem Puncte eine
ſehr fühlbare Luͤcke zurlidigeblieben; wir meinen da, wo bet
zweite Theil von den Anforderungen der Heiligkeit und Ger
rechtigkeit beginnt. So gruͤndlich und alfeitig im Geſchichts⸗
werke die Gefeggebung und beſonders das Behngebot beleuch⸗
* tet wird, fo war eine Beſprechung dieſes Gegenftandes, im⸗
methin mit Berufung auf dad ſchon Gefagte, aber zugleich
mit Burger und ſcharfer Bufammenfaffung der früher aufges
flelten Hauptfäge, im Bufammenhang unferer Schrift nicht
zu umgehen, Wir fommen unten barauf zurück, wie ein
beſtimmteres Auögehen gerade vom Dekalog dem ganzen
zwoeiten Theile der Altertbümer fo gut angeftanden hätte.
Ebenfo verhält es fi mit dem Abſchnitt fiber das Prophes
tenthum, Je ſchaͤtzenswerther die Abhandlung bed Verfaſſers
hierüber ift, welche feiner Erklaͤrung der Propheten des alten
Bundes vorausgefchidt wird, um fo mehr bedauert man «8, daß
berfelbe von dem echte eines felbftändigen Schriftſtellers, die
Ergebniffe feinertiefen und gründfichen Forſchungen wieberholt
und in veränderter, dem Zuſammenhang angemeffener Form
vorzutragen, gar zu ſpaͤrlichen Gebrauch gemacht hat.
die Alterthümer bes Volkes Ifrael. 175
So wie das Buch einmal angelegt iſt, d. h. bei der
Art, wie darin immer die einzelnen Erſcheinungen auf die
tieferen Gründe zurüdgeführt werden, möchte endlich felbft
die Forderung nicht unzuldffig erfcheinen, es follte ein einleis
tender Abfchnitt in kurzen, fcharfen Zügen ein Gefammtbilb
von dem Eigenthümlichen des Moſaismus =) gegeben haben,
etwa fo, daß die allgemeinen Grundwahrbeiten von Gott
und feinem Weſen an fi, wie in feinem Verhältniß zur
4) Sollen wir dieß Cigenthuͤmliche und, wenn man win, fpecififch
Unterfcpeidende bes Mofaismus in wenige Worte zufammenfafs
fen, fo möchten wir fagen: es befleht nicht bloß in diefen und
jenen reineren Vorſtellungen und Grundfägen über Bott und
göttliche Dinge, über des Menſchen Gtellung zu Bott u. dal,
(vet. auch oben ©. 148.), fondern auferdem noch 1) bazin,
daß diefe und jene Brundwahrheiten des fittlihen und zeligiös
fen Lebens in einzelnen Perfönlichkeiten und Offenbarungswerk⸗
zeugen, vor Allem in dem großen Gefehgeber ferdft Geftalt ges
wonnen haben; 2) barin, baß biefe zeineren und tieferen
Bahrpeitennicht als Geheimlehre behandelt, fondern die Schei⸗
. bewanb zwifchen Volksreligion und geheimer Weisheit der Pries
fer ober Philoſophen aufgehoben , der Grundfag vom allgemeis
nen Prieftertjum aufgefteüt worden iftz 3) daß bie großen Ge⸗
danken von Gott und göttlihen Dingen überhaupt und vom
einer Theokratie insbefondere nicht bloß in das Gemuͤth und
keben Ginzelner, fondern in das wirkliche Leben eines ganzen
Bolkes eingeführt, zur Grundlage eines Staats gemacht und in
einer Geſchichte von Jahrhunderten durchgeführt worden find,
Diefe Yuncte find es vornehmlich, welche dem Moſaismus den
Charakter einer gottgewirkten, geoffenbarten Religion geben;
dadurch ſteht er einzig und leuchtend da in ber Geſchichte der
Menſchheit; das befonders Tann nie und nimmermehr aus dem
natürlichen Gntwidelungsgange ber zeligidfen Anlage in ber
menſchlichen Natur abgeleitet werden, fo fehr auch alle nur ir⸗
gend bienfibaren Mittel in dem Gange ber Dinge, die Araft
einjelner Perfdnlichleiten, deren Eebensgang und fonflige Grfahruns
gen und Kenntniffe, Errungenſchaften anderer Zeiten, Bdiker
und Geiſter, ſelbſt die natuͤrliche Beſchaffenheit des heiligen
kandes u, dal., benugt und verwendet wurden, um bie göttlichen
Keime auf möglichft einfache Melle fich entfalten und zur Reife
Tommen ga laflen.
166 Ewald
geben war, fondern darin nothwendig bie Einheit des Beis
ches ſich zufammenfaflen mußte, nachdem fowohl bie hohes
priefterliche, als die vichterliche, und endlich die in Eli und
Samuel vereinigte prieſterlich⸗richterliche Herrſchaft ſich ald
unzureichend gezeigt hatte (m. ſ. Geſch. Sfr. Il. 443).
Diefelbe allgemeine, Geſtaltung des Lebens jener Sott⸗
berrſchaft führte endlich noch ganz beſonders zu ber eigens
thuͤmlichen Bauart des dußeren Heiligthums bin,
welches die heilige Mitte und ber ſchoͤnſte Verſammlungs⸗
ort des ganzen Wolke werben follte und wirklich in der
Geſchichte Iſraels fortwährend eine außerordentliche Wich⸗
tigkeit behielt. Anfangs, wie es fcheint, nur bie zeltartige
Wohnung de. großen Volksfuͤhrers Moſes wurde es in Folge
der Empdrung des Volks etwas entfernt vom Volkslager
aufgeftellt und golt von nun an als heiliger Sit des Dres
Fels (Dffenbarungszelt) mit feinen drei fireng gefchiedenen
Räumen, Auch bier begegnet und, wie ſchon wiederholt,
. B. bei der Frage nach der Zuldffigkeit eines erblichen
Vrieſterthums inmitten eines Volles, das felbft ganz pries
ſterlich ſeyn folte, oder. bei der Wahrnehmung, daß das
Jahvethum einerfeitd offenbar den Keim in fi trug, eine
allgemeine Religion zu werden, andererfeitö fo ſtreng in bie
Schranken Eines Volkes ſich einfchloß, fo lange es nicht
anders feyn konnte, es begegnet und hier dieſelbe Erſchei⸗
nung, daß Beides neben einander herging, ſowohl die Heis
lighaltung einer heiligen Stätte und befonderd eines Theils
derfelben, der Bundeslade mit den Gefegestafeln, worin Als
les unendlich Heilige und Wahre zufammengefaßt fchien,
als uch die Einfiht, daß felbft diefes Heiligthum nicht et⸗
was durchaus Nothmendiges fey, daß jedes auch noch fo
große und Eunftreihe Haus immer etwas ber ganzen Hos
heit Jahve's wenig Entfprechendes enthalte (2 Sam. 7, 6ff.;
Jeſ. 66, 1 ff.5 Ser. 3,16., au 2 Moſ. W, A., 24, 4.).—
Theils hierin, theild noch insbefondere im Bau des Einzel:
„nen, vornehmlich des &övrov, bewährt es ſich, daß bie alte
die Alterthümer des Wolke Iſrael. 167
Gottherrſchaft, obwohl fie ihrem innerfien Leben nach vom
Heidenthum völlig verſchieden war und fo auch im Aeuße⸗
ten jedes Bild der Gottheit ausſchloß, boch in der geſchicht⸗
lichen Wirklichkeit vorläufig noch vielfach in fein Wefen zus
tudfanf.
UI. Um aber ben Uebeln zu begeanen, welche auch
nach dem ganz neuen, reinen und heiligen Anfang. bei der
Stiftung der Gemeine unfehlbar fi einfchleihen mußten
und welche alle Opfer und alle Strafen nicht ganz zu vers
tigen vermochten, traf die Weisheit Mofis Maßregeln, fol:
Gen Mängeln auf die rechte Art zu begegnen und bie un-
vermerkt geflötte urfprüngliche Reinheit und Geſundheit bed
Ganzen überall wieber herzuftellen. Die beiden biöher bes
fprodenen Seiten ber ifraelitifhen Verfaf
fung follten nod dur weitere Beflimmungen
ergänzt werden. So wie noch jet unfere in gewiſſen
Friſten wiederkehrenden Reichs⸗ und Sandtage zu einem ſol⸗
den großartigen Läutern aller Volksverhaͤltniſſe beftimmt
find, fo wurde von bem großen Gefeßgeber Fürforge ges
troffen, um in gewiffen Friſten den göttlichen Anforderun⸗
gen flärker zu genügen und das Zeblende zu ergänzen, Es
wurden zu biefem Behuf die menfchlichen Bemühungen und :
Anftrengungen gegen Gott, es wurde bie Anmendung des
Dpfers aufs hoͤchſte gefteigert. Die Art, wie dieß geſchah,
tnüpfte fi an den Sabbath, das hoͤchſte und zugleich eigen»
thlımlichfte Opfer des Jahvethums. Wie am gewöhnlichen
Sabbath die Sorgen und Gefchäfte ded gemeinen Lebens
ruben, fo follte durch eine vielfache, ausgedehnte Anwendung
der Siebenzahl des Sabbaths, fo zu fagen, an größeren Sab⸗
bathen ein allgemeiner Stillſtand des gewöhnlichen Volks—
lebens eintreten. An den in immer weiteren Kreifen wies
derfehrenden größeren und größten Sabbathen folte alles
zum Reiche Jahve's gehörende Irdiſche immer wieber zu
feiner urfpränglichen und nothwendigen Zauterfeit, Geſund⸗
heit und Gerechtigkeit zurüdkehren. Und zwar follte bieß
168 mal °
auf brei Gebieten Rattfinden: bie volftpinmliche Religion
und Eitte follte in jebem Jahre wiederholt erfrifcht und ges
flärkt werden; dem Grund und Boden bed Volks ſollte dieß
im Laufe von Jahren zu Theil werben; endlich dad ganze
Reich folte im Laufe der Jahrzehente und Jahrbunderte
eine bis auf ben tieffien Grund zurädgebende Läuterung
und Verbeſſerung erfahren.
So entſteht denn 1) inSabbathmonat, welcher als
der fiebente des Jahres zugleich alle übrigen jährlichen Feite,
d. i. größeren Sabbathe, ebenfo nach fich beflimmt, wie bie
Wochentage vom Wochenſabbath abhängen; 2) ein Sab⸗
bathjahr, welches als das je fiebente wiederkehrt; 3) ein
großes Sabbathiahr, das funfzigfte Jahr, als das
fiebente Sabbathjahr, fo daß ſich zulegt immer ein halbes
Jahrhundert an das andere knüpft; dieß if das fogenannte
Subeljahr,
Es finden ſich Spuren, welche das Vorhandenſeyn vors
moſaiſcher Feſte außer Zweifel fegen. Diefelben waren reine
Naturfefte: zur Beier der Neus und Vollmonde und ſodann
ein Fruͤhlings⸗ und ein Herbſtfeſt. Lebteres war ein gros
Bed Dank s und Freudenfeft mit ganz laͤndlichem Zuſchnitt,
das erftere aber hatte nicht einen fo einfachen Charakter,
fondern beftand aus zwei Theilen: 1) einem Sühnfefte mit
einem Reinigungds und Verföhnungsopfer im Hinblid auf
die Sünden der Vergangenheit und auf die Sorge wegen
ber geheimnigvoll vorliegenden Zukunft (dem fogenannten
Paſchah, d. i. Voruͤbergang, Verſchonung, einem eigentlichen
Hausopfer); 2) einem Dankſeſte für die Erſtlinge des neuen
Jahres, dem Feſte der ungefäuerten Brode. Daß bad Pas
ſchah und die legtgenannte Feier anfänglich getrennte Feſte
waren, folgt aus 3 Moſ. 23, 5 f., Joſ. 5, 10 f, 4Mof. 28,
16 f, 2 Mof. 3, 15. Später hörte bie unterſcheidung auf
(5Mof. 16, 1-8).
Der überlegene Geift Moſis brachte nun vom Begriffe
des Sabbaths aus in biefe. ganze Reihe möglicher beiliger
Beiten einen Gedanken und daher Ein fefte® Band und
die Alterthuͤmer des Volkes Iſrael. 169
Einen eben fo klaren als ſchoͤnen Zuſammenhang. Und zwar
war, wie im ganzen Jahvethum, fo auch bei ber Feier die⸗
fer Feſte immer ein Gedoppeltes mit einander verbunden,
der priefterliche Dienft und die Feier der Gemeinde. Ges
mäß der Heiligkeit der Siebenzahl war 1) der fiebente Monat
mach dem Jahresanfang (im Frühling) vor allen andern
anögezeichnet und fo wurde bei der Bebeutung ber Neus
monde überhaupt, welche insgeſammt wenigftens im haͤus⸗
lichen Kreife gefeiert wurden, der fiebente Neumond unter öfs -
fentticher Thellnahme als großes Feſt gefelert und von ben
Vrieſtern am Heiligthum laut als ſolches verkuͤndigt. Hierzu
kamen ſechs weitere Feſte in der Art, daß die beiden feſtli⸗
Gen Jahreszeiten, Frühling und Herbſt, ſich je in drei bes
ſondere Feſte fpalteten: Worfeier, Hauptfeler, Nachfeier. So⸗
mit iſt als zweites Feſt zu merken die Worfeier des Früh⸗
lũngsfeſtes, begangen durch ein haͤusliches Sühnopfer, das
Pafcyah, urfprünglich, wie die Borfeierim Herbft, am zehnten,
fodter in engerer Verbindung mit dem barauf folgenden
Feſte am vierzehnten des erſten Monats. Dieſes Reinigungs:
feſt mit feinem nachfolgenden Hauptfeft galt als ein für
alle Häufer, ja flr die einzelnen Männer nie zu unterlafs
ſendes Heiligthum, 3) Das Hauptfeft, dad Zeft des Unges
fäuerten, dauerte eine ganze Woche, Urſpruͤnglich reines
Früblingsfeft erhielt daB Ungefäuerte, das zunaͤchſt Sinns
bild des Anfangs der Getreideernte geweſen war, im Laufe
der Zeit eine höhere, geiftige Bedeutung; es ſollte Zeichen
feyn der mit dem neuen Jahre wieder zu erfirebenden Reins
beit des ganzen Haufe, 4) Das freudige Schlußfeft des
Srhfings wurde weiter hinausgefchoben, damit unterdeffen
die ganze Ernte beendigt werden koͤnnte. Sieben Wochen
nach dem zweiten Tage des Hauptfeftes, am funfzigften Tage,
feßte Pfingften, daB Feſt der Getreideernte, auch Tag ber
Erfilinge, oder Feſt der (fieben) Wochen gefeiert werden, mit
Darbringung der Erfilinge ſowohl durch die Priefter als
das ganze Bolt, 5) Die Worfeier des Herbſtes am zehnten
170 Ewalb
bes fiebenten Monats war, wie Sehhling, ein Buße und
Süpnfeft, aber nicht bloß ein haͤusliches, fonbern ein allges
meines , Öffentliches Feſt, ber große Werföhnungstag, bes
fimmt, die ganze Gemeine aller Schuld der Vergangenheit
zu entladen, damit fie mit beiterem Sinne das größte Freu⸗
benfeft bed Jahres feiern koͤnnte. Ja nicht bloß die Ges
meine, fondern auch bie Priefter und das Heiligthum muß»
ten an biefem Tage entfühnt werden; daher die zweierlei
Sühnopfer, rein priefterlihe und ſodann folche, welche ſich
auf die Gemeinde bezogen. Letztere beftanden aus dem vor⸗
mofaifches "Gepräge an ſich tragenden Opfer ber zwei Zie⸗
genböde, von benen der eine fir Jahve, der andere für
Azazel, einen böfen Geift ber Wülle (dxomopwaiog, aver-
runcus, nicht einerlei mit dem fpäteren Satan, fondern ein
Keſt vormofaifcher Religion), beftimmt war. 6) Das Haupts
feft, Hüttenfeft genannt, dauerte auch wieder vom funfzehn-
ten an eine ganze Woche und wurde in hoher Freude und
unter algemeinfter Theilnahme des ganzen Volkes gefeiert,
Dieß gilt ganz befonders von dem achten Tage, der 7) daB
Schlußfeſt bildete, das durch Beſuche des Heiligthums vom
Lande her noch vorzüglich ausgezeichnet war und daher auch
einen befonderen Namen führt: nıx3, zavsfyugıg (3 Mof. 3,
36.). Dieß waren bie fieben Jahresfeſte, gleichſam fieben
Jahresſabbathe Iſraels.
Unter dieſen ſieben Feſttagen ſonderte aber das Geſetz
wiederum drei mit der hoͤheren Bedeutung ab, daß fie zu⸗
gleih Wallfahrtstage feyen, an welden fi bie Mäns
ner des ganzen Volks wie Ein Leib um fein Heiligtum
wie um feine Seele verfammeln follten: das Hauptfeft im
Frühling und das FZunfzigtagfeft (Pfingften) im Frühling,
fodann das Hauptfeft im Herbſte. Dreimal im Jahre folls
ten alle Männer Iſraels fi) am unmittelbaren Anfchauen
des gemeinfamen äußeren Heiligthums und Mitempfinden
feiner Opfer neu zum Dienfte Jahve's ftärken und vereinigt
ſich wieder ald Ein großes einiges Volk ihres Gottes fühs
die Alterthümer des Volkes Iſrael. 171
len. Freilich blieb auch Hier die Wirklichkeit vielfach hinter
der Forderung ded Geſetzes zurüd. Im Zuſammenhang mit
diefer Anorbnung, wodurch die Feſte des Herrn volksthuͤm⸗
lich werden ſollten, ſteht noch das Weitere, daB bie Feſte
innerhalb des Jahvethums ihren vorher bloß natuͤrlichen
Sinn immer mehr verloren und einen eigenthuͤmlichen iſrae⸗
litiſchen, der höheren Religion gemäßen Geift in ſich aufs
nahmen. Diefelben Feſte, welche anfangs bloß Raturfefte
waren, wurben zugleich benugt zu Feſten der großen Tha⸗
ten und Erfahrungen ber Gefchichte, ihre uralten Gebräuche
im geſchichtlichen Sinne aufgefaßt; das Pafchahfeft ward
Beides: Feſt der Verjüngung und Erlöfung des neuen Jah⸗
res und Feſt der großen Erlöfung aus der ägyptifchen Noth 3
ebenfo wurbe das Hlüttenfeft mit dem Andenken an dad
einſtige Wohnen Ifraeld in der Wüfle in Verbindung ges
fegt. Dem Pfingfifefte gaben erſt die Rabbinen den ges
ſchichtlichen Sinn einer Erinnerung an die Gefeggebungs
bei dem Paſchah⸗ und Hüttenfeft dagegen ift die Ver⸗
ſchmelzung der gefhichtlichen und der natürlichen Beziehung
uralt und flammt wohl ſchon von Mofes felbfl.
Auf derfelben Grundlage beruht nun weiter die Feier
des fiebenten Jahres, Sabbathjahres, in welchem das
Feld, gemäß feinem göttlichen Anrecht auf ein gewifles Mag
von Ruhe und Schonung, folte ruhen, brach liegen bürfen,
fo daß man ihm gleichfam keine Schuld abforberte; daher
heißt ed auch Brachjahr oder Jahr des Nachlaſſens. Spaͤ⸗
ter, als ſich die Sache allmählich ſchwerer ausführen ließ,
eignete ber Deuteronomiler wenigftend den Erlaß der Schuls
ben diefem Jahre ald wünfchenswerth zu. ine befonders
äfrige Verwendung ber übrig bleibenden Zeit dieſes Jahres
für Schule und Unterricht haben wir Grund vorauszufegen
nad) der Andeutung 5 Mof, 31, 10—13., wo wir einem
Refte diefer Sitte begegnen, War ber Kreis von fieben fols
Gen Sabbathiahren bald abgelaufen, fo follte bad unmits
telbar folgende funfzigfie Jahr (eigentlich die letzte Hälfte
177 Ewa
des neumundvierzigflen und die erſte des funfzigfien Jahres)
als Sabbath Sabbathjahr oder fogenannted Iubeljabr
endlich die legte Art von Stillſtand für bie irdifhen Dinge
Im Reiche bringen, damit alles etwa Werwirrte auf feinen
reinen Buftand zuruͤckkehre. Es Tann fi bierbei nur um
die äußern Lebensguͤter des Volkes handeln, um die allmähs
lich entftandenen Unebenheiten zwifden Reichthum und Ars
muth der einzelnen Bürger. Diefe Quelle der Unzufriebens
beit und Umwaͤlzung der Staaten ſollte durch Wiederher⸗
ſtellung ded Beſitzes der Erbäder nach den Häufern ber urs
forünglichen Beſitzer im Jubeljahre befeitigt werben. Denn
Jubel und Freude kehrten natürlich mit biefem Jahre im
vielen Familien ein, und durch die lauteften Freudentoͤne
verkündigten die Priefter mit ihren Pofaunen ben Eintritt
der allgemeinen Befreiung. Man hat durchaus Feinen Grund
zu bezweifeln, daß die Feier des Jubeljahres, fo tief eingreis
end auch feine Wirkungen auf eine Denge von Verhaͤltniſ⸗
fen waren, zu Zeiten wirklich auögeführt worden feyz es hat
gewiß einft wirklich im Volksleben Iſraels Jahrhunderte lang
beftanden, Allein mit der Abnahme der echten Gottesfurcht,
worauf (3 Moſ. 35,55 Mof. 15.) dieß Gefeg einzig geftügt
feyn konnte, fo wie dadurch, daß das Wolf aus einem vote
zuͤglich aderbauenden ein lieber Handel und Gewerbe treis
bendes wurde, kam ed, daß feit den falomonifchen Zeiten
die Beobachtung des Jubeljahres fihtbar abnahm, weßwe ⸗
gen auch der Deuteronomiker ganz bavon ſchweigt und nur
die Erlaflung der Schulden im fiebenten Sabre, fo wie die
Wiederherſtellung ber Leibeöfreiheit zu retten ſucht. Zur
Beit der großen Propheten im neunten und achten Jahr⸗
hundert war dieß Geſetz im Volksleben erflorben, wiewohl
«8 in ber Erinnerung und in den Bildern der Beſſeren
fortiebte (Jeſ. 61, 2).
Bweiter Abſchnitt. .
Es kann nicht fehlen, daß beim Durchwandern des im
Bisherigen geſchilderten Gebiets dem Lefer felbft mancher»
die Alterthümer des Volkes rad. 173
lei Bedenken, Zweifel und Fragen fich aufgebrängt haben,
Der Stoff if ja fo reichhaltig; des Dunklen in diefen fo
ferne liegenden Dingen ift fo viel; der Bang, die Anord⸗
mung, die Anſichten unfered Buches haben fo ſtark ausge⸗
praͤgte und überrafchende Eigenthümlickeiten, bag wir uns
bei dem Gegebenen von ferne noch nicht beruhigen koͤnnen
und daß demgemäß eine Beſprechung der hieraus fich ers
gebenden Bedenken dem Berichterftatter nicht erlaſſen wer»
den Bann.
1. Eine ber erfien Gegenreden allgemeinerer Art möchte
wohl die feyn, dad Buch laſſe bei allem Reichthum des
Stoffes doch nicht Wenige vermiffen, was man fonft in
Schriften über die Alterthlimer eines Volkes zu finden ges
wohnt fey. Um nichts zu fagen von dem Fehlen der ges
lehrten Zuruͤſtung und Ausftattung, einer Rechenſchaft des
Berfaſſers uͤber ſeine Stellung zu ſeinen Mitarbeitern auf
dem Gebiete ber iſraelitiſchen Alterthuͤmer, fo wie uͤber den
Stand dieſer Wiffenfhaft in früherer und gegenwärtiger
Zeit, jebenfalld möchte ber eine und andere Leſer erwartet
haben genaueres Eingehen auf die Quellen, denen der Ins
halt zu entnehmen fey, ferner eine Befchreibung deö Landes,
eine Schilderung des bäuslichen Lebens, eine größere Bes
rudfichtigung der äußeren, Verhältniffe überhaupt, ein Bild
der Geſtaltung des Volkslebens, wie es ſich zu verfchlebenen
Zeiten in der Wirklichkeit ausgepraͤgt hat u. dgl. Je mehr
man von dem Berfaffer bei feiner umfaſſenden Kenntniß
und zarten Empfindung für dad morgenländifhe Wefen
überhaupt und das ifraelitifche Altertbum insbefondere ges
ade in dieſen Fragen befriedigende Antwort zu erhalten mit
allem Grunde erwarten durfte, deſto ſchmerzlicher möchte
mancher 2efer die genannten Lüden empfinden. Zwar ents
haͤlt daB Geſchichtswerk felbft gerade über bie wichtigeren
Yuncte, die man hier vermißt, fehr ausführliche und theils
weife meifterbafte Abhandlungen; wir nennen namentlich bad
16. 239 ff. über die Lage und Beſchaffenheit Palaͤſtina's
176 Ewald
Welt und zum Menſchen, ven ber Werwicküchung diefer
Wahrheiten in dem ifeaelitifchen Staate, von der Auspraͤ⸗
gung dieſer allgemeinen Grundfäge in ben befonderen Ans
fihten und Zorderungen, Handlungen und Gebräuchen zu⸗
ſammengeſtellt und der Ausführung des Einzelnen wären zu
Grunde gelegt worden. Wir vermiffen mit Einem Worte ein
Kapitel etwa mit der Ueberſchrift: Kern ber altteſtamentli⸗
Gen Religion.
2% Taͤuſchen wir und nicht, fo betrifft ein weitesed Bes
denken bed Leferd, dem wir gleichfalls Worte leiden müffen,
die auf den erfien Anblick hoͤchſt auffallende Zerriſſenheit des
Inhalts, die felb dann, wenn man bie Anorbnung des
Verfaſſers im Allgemeinen gut heißen wollte, unzuläffig er⸗
ſcheint. Wer fucht in dem zweiten Haupttheile, der von ben
Anforderungen ber ‚Heiligkeit fpricht, das Einzelne über Pries
fler und Leviten, ihre Kleidung, Unterhalt, über das beilige .
Belt, über das Gerichtsweſen? IA es nicht, ein flörender
Sprung, wenn in dem Abſchnitt über die Einigung bes
Reichs von der Erörterung des Verhaͤltniſſes zwiſchen der
Prieſter⸗ und Volksherrſchaſt zu dem Artifel vom Gericht
und von dieſem zu der Bauart des dußeren Heiligthums
übergegangen wird? Jeder Lefer, der die Inbaltsanzeige
überblidt, fucht derlei unter ber Rubrik: bie heiligen Aeus
ßerlichkeiten, womit ber erſte Theil ſchließt. Auch findet er
es ungehörig, daß über nicht wenige Puncte an mehreren,
gan, auseinander liegenden Drten gefprochen ift, flatt daß
jeder an feinem Theile ein» für allemal abgehandelt würbe,
Er findet 3. B. in der Inhaltsangabe unter bem Zitel: heis
lige Zeiten, heilige Menfchen u. bgl., ganz wider Erwarten
weder die Zefte, noch ben Sabbath, noch die Priefter außs
fuͤhrlich befprochen, fondern nur kurz erwähnt, dagegen ans
derwaͤrts, wo er ed nicht fucht, tritt ihm das Wermißte in
überrafchenber Umgebung entgegen. Solche Wiederholungen
und ungewöhnliche Verbindungen erſcheinen allerdings ſehr
befremdlich. Uebrigens haben wir ja auf einem verwands
die Alterthuͤmer des Volkes Iſrael. 177
ten Gebiet, dem der Sprachwiſſenſchaft, öfters bie Erfah⸗
tung gemacht, daß wir in einer wiſſenſchaftlich angelegten,
in grammatiſcher Weiſe georbneten Grammatik gar Vieles
in ganz anderen Zufammenhang geftellt finden, als wir es
nach den herkoͤmmlichen Sprachlehren zu erwarten gewohnt
waren, daß aber doch der wiſſenſchaftliche Sprachforſcher
mit feiner Ordnung uns am Ende völlig im Rechte zu feyn
ſchien. Deßhalb werden wir und wohl hüten, den Meifter,
der und in feinen Sprachlehren gerade durch ſolche überra-
ſchende Neuerungen mehr» ald einmal erſt das rechte Licht
aufgefledt hat, wegen folder Einzelnheiten in feinen geſchicht⸗
lichen Arbeiten alsbald unwiſſenſchaftlicher Behandlung zu
seinen und ohne Weiteres in diefer Beziehung ein abſprechendes
Urteil über feine Leiflung abzugeben. Wir werden vielmehr
3) die Hauptfrage fcharf ins Auge faflen, was von
der Anordnung bed Stoffs überhaupt, von der Vertheilung
deffelben in die drei Haupttheile und deren Richtigkeit zu
fen.
Die zunaͤchſt ſich aufdringende Einwendung bagegen,
daß nämlich im A. T. felbft nirgends eine Spur ſich finde,
die zu der Eintheilung nach den drei Hauptabfepnitten uns _
ſeres Buchs berechtigte, werden wir allerdings ſogleich zu⸗
rudweifen. In ben fogenannten moſaiſchen Schriften find
die nach unfern Begriffen verfchiebenartigften Grundfäge,
Forderungen, Geſetze unterſchiedslos neben einander geftellt;
Speiſegebote und fonftige Vorfchriften über die Aeußerlich-
keiten des veligiöfen, wie des bürgerlichen Lebens treten in
bunter Reihe mit den Sittengefegen auf; bei abſichtlicher
Verlegung irgend eines Heiligthums des Volks ift mit gleis
Ger Entfchiedenheit die Todesſtrafe gedroht, wie bei der
Berlegung des Menſchenlebens; kurz, das Ewige am Mo⸗
ſaismus und das, was und an demfelben als veränderlicher
Beſtandtheil erſcheint, ift in den Urkunden ſelbſt in keinerlei
Beife geſchieden.
Das Auffallenbe und Anftößige diefer Erſceinuns wiſ⸗
Theol. Stud. Jahrgs. 1868,
178 Ewald
ſen wir leicht zurecht zu legen: fuͤr reine Sittlichkeit das
Bolk zu bilden, war damals noch nicht moͤglich; zuerſt muß⸗
tm, um eine Grundlage für fittliche und religiöfe Drbnung
zu finden, alle möglichen Lebenöverhältniffe des Menſchen
unter ben religiöfen Gefichtspunct geftelt werben; well aber
fene damalige Entwidelungsftufe überhaupt die des Geſetzes
war, fo war ed vor der Hand nothwendig, dem fpäteren
chrifttichen Grundfage , daß allerdings das ganze Gebiet
des menſchlichen Lebens von religiöfem Geifte getragen,
durchdrungen und vergeiftigt werden müfle, in einer Menge
von Geboten, auch tiber ſcheinbar ganz' äußerliche und klein⸗
The Dinge, gewiflermagen eine greifbare Geftalt zu geben.
Wei genauer Erwägung befremdet e8 nimmermehr, daß alle
Arten von Wahrheiten, Grundfägen, Gefegen und Anorbs
mungen ganz in gleicher Weife als Forderungen Gottes an
den Menſchen auftreten und es von allen heißt: das ſoliſt
du— annehmen, glauben, thun und beobachten, um der Ge⸗
vechtigkeit, bie vor Gott gilt, theilhaftig zu werden. So ges
wiß dieß iſt, fo iſt auf der anderen Seite unziwelfelhaft, da
ein Geifftiger Schriftfteller, ein wiſſenſchaftlicher Geſchichts⸗
forfger vollkommen in feinem Rechte ift, wenn er an fid
felbſt die Borderung ſtellt, in biefe bunte Menge des mans
nicfaltigften Inhalts eine unfern Begriffen entſprechende
Drönung zu bringen. Somit kann gewiß nicht fo im Allges
mehren unferem Verf, entgegengehalten werden, bie Bibel unters
ſcheide nicht zwifchen Werken gegen Gott und zwifchen götts
lichen Anforderungen der Heiligkeit und Gerechtigkeit, deß⸗
halb fey auch biefe feine Eintheilung unberechtigt. Als
cdriftlicher Schriftfteller des neunzehnten Jahrhunderts mußte
er vermittelſt formeller Anwendung feiner wiffenfchaftlichen
Gedanken eine In den mofaifhen Schriften nicht gegebene
Anordnung des Stoffes felbftändig fuchen. .
Eine andere Frage aber ift, ob er die allen Anforderuns
gen entfprechende Eintheilung durchaus gefunden habe, Und
diefe Frage muͤſſen wir verneinen, Zwar iſt manches Ein-
die Alterthümer des Volkes Ifrael. 179
wine, was zur Bechifertigung deu Anordnung gefagt if,
B. ©. 5 f., auf ben erſten Aublick beſtechend, anderes
dem Inhalt Angehörige erhält durch die nom Verf. demſel⸗
ben angewiefene Stellung .ein uͤberraſchend neues Licht, wie
ber Sabbath, die Feſtkreiſe; auch beredet man fich vielleicht
anfänglich, es gebe unfer Buch nur die altherkoͤumliche
Unterfcheidung von Ritual und Sittengeſetz ia tieferer Baf
fung und eigenthämticher Anwendung, . Bei näheren Bes
trachtung zeigt fi) jedoch letztere Vernnuthung als amrichiig,
und die Anschnung, fo wie die dieſelbe begrndende Auffal⸗
fang weſentlicher Stüde erweiſt ſich vielfach mehe als geif«
reich und biendend, denn als wahr und überzeisgend,
Diefeb Urteil müffen wir namentlich uͤber einen einzel⸗
men Punct ausfpreden, beffen Behanblung zwar augendlick⸗
lich anfpridt, bei genauerer Prüfung aber etwas Schhiefes
uud eben damit das Ganze fogar Verwirrendes hat, über bie
Bedeutung, weldye dem Sabbath angewiefen wird. Cut
zwar und hoͤchſt lebrreich iR, was unfer Verf. zur Abwehr
ſelſcher Anfichten über benfelben vorbringt; ber Sabbath iſt
kein fremdländifcyes Inftitut, fein Saturnustag, aber er iſt
auch kein Opfer *), Wir können ſelbſt Faſten und Razis
rderthum nur entfernt mit den Dpfern zufanımnewfeiien,
noch viel weniger aber den Sabath. Derfelbe iſt ein Kuhe⸗
mb Freudentag für Menſchen und Nusthiere, durch Enthals
tung von aller Arbeit, allem Verkehr und burdy ein befons
deres Brandopfer gefeiert, wohl aud nad 2 Kin, 4, 23,
ud nach Jolephus verbunden mit andaͤchtiger Befchäftigung
mit dem Geſetz. Doc auch abgefehen von dieſen letzteren,
alerdings wicht ſtarken Beweisftellen, haben wir, wie auch
der Berf. ſagt, nicht das Hauptgewicht auf das negative
«) Alerdiage, wen wir Ale vom Berf. gegebene Mogciffäbeftim:
mung des Opfers als richtig anertennen müßten, Jieße ſich wer-
langen, daß wir folgerichtig auch feine Anfiht vom Sabbath
theilten. Aber e6 wird unten ©. 189 f. nachgewieſen werben,
das eine engere Baffang diefes Begriffs durchaus nöthig ifl.
12 * J
180 nad
Merkmal der Enthaltung von Arbeit, fondern darauf. zu les
gen, daß der Sabbath weiter ein Tag bes Herm, ein Tag
geiſtiger Sammlung war, Während num jenes erflere
Merkmal, die Werzichtleiftung auf Arbeit und ben damit
zu erzielenden Gewinn, noch zur Roth zur Vergleichung mit
den Dpfern berechtigt, iſt es dagegen gerade das Letztere und
ichtigere, wodurch ſich der Sabbath. vom Dpfer weſentlich
unterſchridet; es gehört dieſes Inſtitut weit mehr dem rein
fitthich en Gebiet“) an und deßhalb ſteht es aud im
Behngebot., das vom Dpferweſen nichts aufgenommen
bat, ‚Dex . Sabbath , ber immerhin nach Einer Seite
bin eine. Bergleihung mit ben Dpfern zuläßt, er⸗
ſcheint ini, Bufanmienbange ber Gefehgebung durchaus
als ein Glied in der Kette der göttlichen Anfarderungen,. bes
‚zen Hauptfag if: du fonf heilig ſeyn. Diefe Geite des
Sabbaths in Verbindung mit dem bdaffeibe beſagenden
"Sage, berfelbe fey eine Nachbildung des göttlichen Thuns,
iſt es auch, was dem Sabbath feinen bleibenden Pag im
hrißlichen Bewußtſeyn und in ber criftlichen Kirche ver⸗
Schafft bat, nicht aber fein Charakter als geiſtiges Opfer, -
eine Auffaflung, die immerhin etwa einer homiletiſchen Bes
‚handlung, nicht aber einer. wiffenfhaftlihen Erörterung ‚der
Sache ſich empfehlen mag.
Diefer Mißgriff in Betreff des Sabbathbegriffs erklärt,
bei der Bedeutung, welche der Sabbath für viele andere
Theile des Cultus hatte, nicht Wenige von dem, was und
an ber Anordnung des Buches ftört, doch nicht Alles, Der
fon oben berührte Umftand, daß biefelben Gegenflände in
beiden erſten Haupttheilen zur Sprache kommen und gleich⸗
ſam felbft nicht zu wiſſen fcheinen, ob fie da oder dort Une
terkunft finden follen, macht und mebr als bedenklich, ob die
ganze Anordnung eine auf innerer Nothwendigkeit beruhende
ſey. Zwar kann es nicht fehlen; daß bie naͤmliche Sache,
) S. Weiteres hiegüber unten ©, 198,
die Alterthämer bes Volkes Iſtael. 181
ie nachdem fie von biefer ober jener Seite betrachtet wird,
auch bei ganz gerechtfertigter wiſſenſchaftlicher Eintheilung
in dem einen Zheile und in einem andern beſprochen oder
wenigſtens berührt werben muß; aber das iſt dad Bedenk⸗
lie, wenn der Leſer unfchlüffig wird, ob der Verf. diefelbe
Sache nicht mit gleich viel Recht dem einen oder andern
Theile hätte zuweilen Finnen. Wo das der Fall ift, muß
im Eintheilungsgrund oder font wo noch ein tieferer Fehler
Reden. Run aber fragen wir: wenn der Hraelit fih um
Schonung ded eigenen oder fremden Lebens, um Vermei⸗
dung unreiner Speifen u. dergl. bemühte, hatte er babei
nicht ganz denfelben Zweck, wie bei feiner Beobachtung des
Sabbaths, der Beſchneidung, des Opferweſens, wollte er
nicht mit Allem ſich der Gnade, des Wohlgefallens ſeines
Gottes verfihern, war nicht jenes fo gut wie dieſes eine
Beftrebung, ein Werk gegen Gott? Somit haben wir gewiß
fein Recht, Dinge, bie fo wefentlid Eins find, als. zweien
innerlich verfchiebenen Gebieten angehörige Stuͤcke ausein⸗
ander zu balten, und doch thut dieß unfer Verfaſſer. Hins
wiederum find Gebet, Gelübde, Gabbathfeier, Faſten, Nas
nirderthum doch wohl auch Anforderungen an ben Men«
fen, ſich einer Heiligkeit, die vor Gott güt, theilhaftig zu
machen, fo gut ald die Pflichten gegen Weib und Kind, ger
gen Schutzbefohlene u. dgl. Und doch weift unfer Buch
die letzteren dem zweiten, jene Stuͤcke aber dem erften Theile zu,
Was mag doc wohl die Fäden des vielfach fo ſchoͤnen
Gewebe einigermaßen verfchoben haben ? Wenn wir und nicht
ganz taͤuſchen, liegt der Grund darin, daß der Verf. dießmal «)
a) Diefe Ausftellung der ewald'ſchen Geſchichteforſchung im Als
gemeinen zu maden, wäre hoͤchtt undillig. Wir möchten viels
mehr fagen, daß bei aller Freideit der Kritik, die derſelbe in
geſchichtiichen Dingen übt, gerade die zarte Scheu und bemäthige
Anerkennung deffen, was er als fider beglaubigte Thatſachen
und offenbare Leuchten der Geſchichte anfieht und verehrt, dies
fen Bibelforfcher auszeichnet vor Andern, die mit unrecht als
in gleichem Lager mit ihm kaͤmpfend betrachtet werben, bie aber
in ganz anderem Geifte die Bibel meiftern wollen.
J
182 Ewald
2
in einigen Hawptpuncten den eigenen Sedanken zu viel Recht
eingeräumt hat gegenüber von dem Stoffe, den er zu behans
dein hat, daß er bie moderne Bernimft, fatt fie bloß zur
formellen Regelung des Gegebenen zu benugen, bat übers
greifen laſſen in das Gebiet der Sache felbft, ald dürfte fie
aud damit nach eigenem Belieben falten. In Folge defs
fen bat er uͤberſehen, daB bie Geſchichte und der Text ber
Bibel nie und nirgends Faſten, Naziraͤerthum, Beſchneidung
und noch wenfger den Sabbath als Opfer bezeichnet, weder
eigentlich noch uneigenttich fo nennt, ein Stillſchweigen, daB
diegmal um fo bemweifender iſt, als gerade ber Dpferbegriff
eine fo große Rolle im ganzen, auch im iſraelitiſchen Alterthum
ſpielt. Noch wichtiger if aber ein Anderes und Allgemeines
res, daß nämlidy der durch bie ganze Bibel hindurchgehende
Unterſchied zwiſchen ben Forderungen ber Sittlichkeit und
Religioſitaͤt, welche an ben Willen des Menſchen gemacht
werden, und zwiſchen dem, was durch die Dpfer bewirkt
werden ſoll, eine Ergaͤnzung zu ſeyn eben jener andern
fittlichen Seite der Religion, geradezu uͤberſehen und vers
wifht wird. Daß der Menſch neben der Sittlichkeit noch
etwas Anderes außer ihm brauche, um zum Frieden mit Gott
zu gelangen =), hat das ganze Altertyum geahnt und biefer
Ahnung in dem Inftitute der Opfer den Ausbrud gegeben.
Allerdings erwachte in den tiefer Blidenden fruͤh die Eins
Ft, daß dieſe Art von Opfern, wie fie das Heidenthum
und auch ber levitiſche Gottesdienft aufftellte, nicht zum
Zwecke führe; aber bie Propheten, welde eben biefe Refors
mation anbahnten und theitweife burchführten, ließen bene
noch bei alem Verſtaͤndniß, daß Liebe größer fey, denn
&) Gin sacriicium propitiatoriem, id est opus satisfaotorium pro
calpa et poena, hoo est reooncilians Deam seu placans iram
Dei, sca quod meretur aliis remissionem peocatorum, wie bie
‚Apolog. conſo⸗⸗. Aug. p.258 seq. fagt und biefe Art von Opfer
ſchatf vom sacrificium euzagıornde, zu denen aud) bona opera
sanctoram gehören, unterfdeibet.
die Alterthümer des Volles Iſtael. 183
Dpfer, den Dpferbegriff nicht ganz fallen, wie denn keine
tiefere Religion davon ablaflen Tann, und ſprachen wenig⸗
Hens ein Bedürfniß nad) einem Opfer in hoͤherem, nicht levi⸗
tiſchen Sinne aus, in der Ahnung eines ſich für das Ganze
epfernden perfönlichen Meſſias; und diefem WBebürfniß ents
ſprach fofort, als die Zeit erfület war, — bad Heilswerk
Ghrifti (m. vgl. unten ©, 194.).
4) Doc auch in vielen Puncten, wo der Baf. fih an
des Bibelwort hält und barauf feine Folgerungen und Er⸗
gebniffe gründet, find wohl ben meiften Lefern Bedenken
aufge ſtiegen, ob nicht da und dort einer Angabe des Tertes
Gewalt angethan ober zu viel Beweiskraft zugefchrieben
worben fey, ob nicht manchmal flatt ficherer Thatfachen bloße
Bermuthungen geboten und beibes ohne gehörige Scheidung
unter einander gemiſcht werbe, ob überhaupt die Stellung,
die der Verf. zu den biblifhen Urkunden einnimmt, nicht
eine zu kecke und freie ſey. Es wäre nicht undenkbar, daß
Solche, die beſonders in Iegterwähnter Beziehung aus dem
biäher Mitgetheilten Mißtrauen gegen den Verf. geſchoͤpft
baben, oder, was leider in unfern Zagen bed Parteiweſens
fo bäufig iſt, ſchon zum voraus gegen ihn eingenommen
ſind, bereits ihr Urtheil über das Buch abichliegend, fagen
Tönnten, was daran wahr fey, halten fie nicht für neu und
ſonderlich beachtenswerth, was es aber Neues bringe, fey
nicht wahr und der Beachtung unwerth. Ein derartiges
Urtbeil wäre aber das unbilligfie von ber Welt, Vielmehr
wird ſich und bei genauerer Prüfung folder Einzelnheiten und
Erwägung der obigen Bedenken herauöftellen, daß allerdings
hie und da der geiftreichen Gombination zu viel Raum ges
geben, einzeinen Beweisftellen zu kecke Refultate entnommen
find, daß aber aubererfeits über nicht wenige und gerade
über weſentliche Stüde des ifraelitifchen Alterthums ein böchft
erfreuliches Licht verbreitet worden ift und daß indbefondere
die Zotalanfchauung bed Verf., feine Stellung zu den Quel:
len und des Gefchichte diefed Altertyums, fein tiefes Eindrins
184 Ewa -
gen, Einempfinden möchte man fagen, in die leitenden und
treibenden Grundgedanken beffelben auch in diefem Buche
fih im Ganzen des Beifalls aller unbefangenen und flimms
fähigen Beurtheiler, des Danks vieler wahrer und warmer
Freunde bed Bibelmortd und unferer evangelifchen Kirche
wird zu erfreuen haben, Vielfach dadurch belehrt, angeregt
und in feiner Liebe zum Worte Gottes geftärkt, wird Mans
Ser von dem Buche fagen, daß ſelbſt da, wo er nicht zu-
fimmen koͤnne und wo ber Meifter zu irren feine, zwar
nit „mit ihm zu irren Gewinn bringe”, wohl aber der
eifrige und tieffinnige Forſcher bibliſcher Wahrheit ſich nicht
verborgen und ihm heilfamen Anftoß zu weiterem Nahdens
Ten und Streben gegeben habe.
Diefes Gefammturtheil zu begründen und zugleich ba
und dort einen befcheidenen Verſuch zu machen, einige dunk⸗
lere Partien der ifraelitifchen Alterthuͤmer aufzuhellen, möge
die Aufgabe der noch folgenden Bemerkungen feyn,
Sollen wir zuvoͤrderſt die Stüde bezeichnen, im denen
nach unferem Dafürhalten mehr finnreidhe Gombination als
ſicher begründete Wahrheit zu Tage tritt, fo iſt der Abſchnitt
über die verfchiebenen Zeitalter (S. 109 f., vgl. Gef. Ir. I.
©. 94.), das über die Siebenzahl der Feſte Gefagte, die
Behauptung, daß die fogenannten Höhen Sinnbilder des
‚Heiligen in Geftalt Begelförmiger Steine geweſen feyen, ente
ſchieden hierher zu rechnen.
Allerdings, um mit dem Eehtgenannten zu beginnen,
seht ganz augenſcheinlich aus Ier.7, 31. 32,35, 2.Kön, 17,9,
hervor, daß zu gewiflen Zeiten darunter nicht wirkliche Hoͤ⸗
henpuncte verflanden worden feyen. Auch iſt die von The—
nius verfuchte Erklärung in Winer’ 8 Zeitſchr. f. th. V. II,
1,143, und in feinem Gommentar zu 1 Sam. 9, 12., dag
das Wort einen abgefperrten Plag bezeichne, ſowohl ſprach⸗
ich als fachlich betrachtet, nicht genligend, Aber die Erkld-
rung der dunkeln Sache in unferem Buche iſt gleichfalls uns
befriedigend; denn es kommt nirgends eine Andeutung vor,
die Alterthümer bes Volkes. Iſrael. 185
daß biefe ‚Höhen eine und daffelbe mit den auch im iſrae⸗
litiſchen Auterthum verehrten heiligen Steinen feyen; ferner
gibt die Wortbebeutung bazu fein Recht, und bie auffallende
Duldung des Hoͤhencultus neben dem Ievitifchen Gottesdienſte
läßt Alles eher vermuthen, ald daß gar bie Wermifhung mit
tenanitifchen Weſen darin enthalten fey. Dieß Fönnte man
zur Roth noch erklaͤrlich finden, wenn jene Steine urſpruͤng ·
lich Meteorſteine waren, oder auch, wenn durch biefelben.
din Sinnbitd des auf dem Wafler ſchwebenden Erdballs
gegeben werben follte, eine Annahme, zu deren Gunſten ſich
wa eine von den Erklaͤrern gewöhnlich überfehene, aber
ſeht wichtige Stelle bei Curtius 14, 7. a. E. anführen ließe,
Da nun aber, was mir dad Wahrſcheinlichſte ift, jene wuns
derlichen kenanitiſchen @teinbilder, deren Werbreitung ſich fo
weit erfiredte und die nach Zacitus au im Tempel der
Benus zu Paphos ſich fanden, mit dem Phallusdienfte in
Verbindung geflanden haben mögen, fo darf um fo weniger
etwas fo ganz Uniſraelitiſches mit diefem in Iſrael fo ſchonend
behandelten Gultus in Zufammenhang gebracht werden. Wir
tdun alfo befler daran, in Betreff der räthielhaften Höhen
zu fagen, daß diefelben mit dem auch bei Ifrael tief einge
wurzelten Glauben an bie Heiligkeit der Höhen der Erbe
iu Bufommenbang geflanden und urſpruͤnglich wirkliche na⸗
tärliche Höhen geweſen feyen, fpäter aber möchte berfelbe
Rame für Heinere Separatbeiligthlmer überhaupt, abgefehen
son der Dertlichkeit, ſich erhalten haben.
Eben fo unhaltbar möchte die Annahme der Giebenzahl
der Feſte ſeyn. So anfpredhend ber Gedanke auf den erſten
Anbiid iſt, fo fpricht doch entfchieden dagegen, daß bie Büs
er Mofis dieß nirgends erwähnen, geſchweige fo hervor⸗
beben, wie es unter diefer Vorausſetzung zu erwarten waͤre;
daß namentlich die Begründung der Annahme des fiebenten
Feſtes ungenügend, auch die Trennung bed Paſchah von dem
Feſte der ungefäuerten Brode als einer befonderen Zeier mehr
nur Bermuthung ift, endlich, daß das Bufammenfallen dies
186 > Ewald
fer zwei ebengenannten Feſte, was jedenfalls fpäter elatzat,
unerflärli wäre, wenn. auch nur in der Ueberlieferung der
Glaube gelebt hätte, Moſes habe eine fiebenfache Feſtfeier im
Jahre angeordnet.
Moch häufiger aber finden wir uns in bem Falle, von
diefer und jener Behauptung unfered Buches fagen zu müfe
fen, fie Eönne zwar nicht als entſchieden unrichtig, aber auch
nicht als gehörig begründet gelten. Lefer, bie ſich unferem
Berf, mit einem gewiffen Zutrauen bingeben, werden auch
da, wo bie Beweiſe nicht völlig ausreichen, manche auch
keckere Verſicherung auf Treu’ und Glauben hinnehmen unb
daß zu fefler Begruͤndung Mangelnde zurecht zu legen oder
gu ergänzen fuchen, während allerdings andere, durch den
guverfichtlihen Zon, mit dem auch da, wo ein non liquet
am Pla wäre oder eine Sache als bloße Vermuthung ges
geben werden folte, flatt beflen aber als von etwas ganz
Sewiflem und Abgeſchloſſenem gefprochen wird, zurüdgeftoßen,
deko unzugänglicher ſelbſt in ſolchen Fällen fid zeigen wer⸗
den, wo der Verf., hätte er weniger zuverſichtlich geſprochen,
ficherlich Anerkennung gefunden haben würde, Wir leugnen
nicht, daß wir und ſelbſt zur erften Leferclaffe rechnen, Man
erwartet vieleicht von einem- Berichterlatter, er müfle ich
auf die Seite der Letzteren, der Mißtrauiſchen und Schärfes
ven, fiellen, wird es aber auch nicht verargen, wenn berfelbe
eben einmal eine größere Doſis von Vertrauen mitbringt,
zumal wenn er fo ehrlich iſt, dieß zuzugeſtehen, und weiter,
wenn — Gründe vorhanden find, gegen dad Mißtrauen felbft
wieder mißtrauiſch zu feyn, und hinwieberum bad Vertrauen
‚ felbft keineswegs ein blindes, unbedingtes iR, ſondern theilß,
wie bisher ga verſpuͤren war, bei entfdiedenen Mängeln
nicht feſthalten will, was ſich nicht halten läßt, theil aber
in zweifelpafteren Faͤllen ſich vor ſich felbft und Andern zu
rechtfertigen bemüht.
Es kommt nämlich zweierlei gar fehr in Betracht, eins
mal bie Beſchaffenheit des Stoffs und fodann die Gigens
die Alterthümer des Volkes Iſrael. 187
thämlichkeit des Bearbeiters. Das Cine macht in folden
Dingen des fernen Alterthums eime ganz fichere, mathemas
the Sewißheit nicht felten ganz unmoͤglich, mit wenigen
Mitteln muB öfters fehr viel erreicht, Wichtiges entſchieden
oder wenigſtens zu einiger Klarheit gebracht werden; daB
Andere entſchuldigt zum mindeſten Vieles, was einer ſolchen
Sewißheit zu ermangeln ſcheint, und heißt und bedenken,
daß Bahn brechende Geiſter zum Theil andere Aufgaben haben
md fomit aud andere Beurtheilung beanfpruchen dürfen,
als ſolche Schriftfteller, die zum Sammeln, Berarbeiten,
auch wohl Nachbeflern berufen find «). Die Hauptfache ift
ja doch, daß ein folder keckerer und origineller Geiſt den
Eindrud macht, daß ed ihm einestheils redlich um Wahrheit
zu thun fey und daß et anderntheild die Kraft befige, fein
Gebiet mit umfaflendem Blicke zu bemeiftern, im Ganzen
«ine aus voller Tiefe gefhöpfte Anſchauung zu bewähren
und in weſentlichen? Stüden, wo hundert Andere bei allem
Eifer und WBahrbeitäfireben nur wie in der Dämmerung‘
feben, ein helles Licht aufzufteden. Immerhin mag ein
Solcher in Einzelnheiten irren, vielleicht ausfchweifender irren,
als Andere, aber nicht nur fürs Ganze find feine Leiftuns
gen dennoch unfchägbar, fondern, und das eben möchte hier
gerechtfertigt werben, in vielen Fällen verdient ein halber
Beweis, eine Ahnung und Andentung von ibm entgegen
kommendes Zufrauen und jedenfalls die ruͤckſichtsvollſte Pruͤ⸗
fung. Denn gleichwie für ein zartes ſittliches Gewiſſen ein
oft unbedeutendes Zeichen bebeutfam wird, fo iſt es mit zart
organifisten und fein fpürenden wiſſtnſchaftlichen Geiftern,
die oft gerade aus dem unfcheinbarften Geſtein noch die Böfte
a) Man vergl. in dieſer Beziehung 3. B. die deutfdhe Mythologie
von Grimm, bie gleichermaßen eine Menge folder Behauptuns
gen enthält, welde, obgleidy nicht ganz fireng beweisbar, von
einem ſolchen Führer geboten und aus fo bewährter Totalan⸗
ſchauung herausgefprocyen, dennoch eben ſich Zutrauen erwerben
und eine zuverſichtliche Zuftimmung abnöthigen.
188 "Ewald
lichſten Köcher edlen Metalls berauskiopfen. Ban halte
diefe etwas abſchweifenden Gedanken dem Beſtreben zu gute,
nicht ‚allein das obige Zutrauensgeſtaͤndniß zu rechtfertigen:
und ben nachfolgenden Erörterungen noch günftiges Gehör
zu verfchaffen, fondern es indbefondere auch in Rüdficht
auf dad größere Geſchichtswerk laut und dankbar aus zuſpre⸗
den, was mir die deutſche Bibelwiflenfhaft an Heinrich
Ewald zu haben fcheint. Beiſpiele werden das Gefagte
noch Elarer machen und zugleich Gelegenheit zu einigen viels
leicht nicht unwichtigen Bemerkungen geben,
Gleich anfangs bat wohl die Behauptung, auch bei Iſ⸗
rael zeigen fi) Spuren, daß bei den Opfern ber Gedanke
an einen ber Gottheit bereiteten Genuß hereinfpiele, übers
raſcht und vielleicht befremdet. Den Einen mag dieß als
etwas zu Niedriges erſcheinen, noch Mehrere werben ſagen,
diefe Anſicht fo keck auszufprechen, liegen viel zu wenig
Gründe vor. Allerdings wäre diefelbe dielleicht etwas vor⸗
fichtiger vorzutragen gewefen, etwa in der Art: Wir treffe
in dem Opfer der Schaubrode auf eine Worftellung und *
Sitte, welche bei Ifrael nur dieſe eine Knofpe getrieben,
während fie bei andern Völkern (man denke an. die lecti-
sternia ber verfchiedenften Religionsſtufen ber diteren und
neueren Zeit und vergleihe auch Virg. Aen. 2, 764., üdris
gend auch Bäbr's Symb. 1,438. und Winer im Realwoͤr⸗
terb. u d. W. Schaubrode) zu üppigen Zweigen fi) aus«
gebildet bat, aͤhnlich wie unter den Sprachen die eine in
diefer, die andere in einer anderen Wort» ober Satzbildung
befonders ſtark if, und was bie eine in reihen Wildungen
entfaltet hat, davon eine andere vieleicht nur ſchwache Anz
fäge an ſich wahrnehmen läßt, In der Hauptfache aber
möüffen wir dem Verf. volllommen Recht geben und freuen
und bes von ihm hierin eröffneten neuen und Haren Ges
fiptöpuncted,
Außer den im Buche angegebenen Beweifen möchte auch
die Anwendung ded Salzes bei den Opfern, vieleicht deß⸗
die Alterthümer des Volles Iſrael. 189
gleichen die des Dels dafkır fprechen. Die tiefere Deutung
IZMof.2, 13., daß das Dpfer durch das Salz als Sinnbild
eines ſtets erneuerten Bundes mit Gott bezeichnet werden
folle (in unf. B. ©. 35.), iſt damit nicht ausgefchloffen, dürfte
indeffen als eine erſt fpätere finnreiche Auffaflung des laͤngſt
beftehenben Gebrauchs zu betrachten ſeyn. Anfänglich aber
ſcheint es nicht ſowohl der Gedanke an den Salzbund, al
der Mangel des Sauerteigs auf der einen und ber Wunſch,
ber Gottheit einen angenehmen (Geruch und) Genuß zu bes
reiten, auf der andern Seite gewefen zu ſeyn, was ein Sal⸗
zen der Opfer nicht bloß aus dem Pflanzenreiche, wie man
gewöhnlich annimmt, fondern Heſek. 43, 24, auch der bluti⸗
gen Opfer und nach der Lesart der LXX. in 3Mof. 24,7.
auch der Schaubrode nahe legte.
Der ganze Abfchnitt unſeres Buchs von ben Dpfem
iſt überhaupt von der Art, daß man auf der einen Seite
fehr viel Aufklärung und Anregung daraus gewinnt, auf
der andern aber fowohl im Einzelnen als beider Behand⸗
lung ber zu Grunde liegenden allgemeinen Begriffe eine ſchaͤt ⸗
fere Faffung und Umgrenzung wünfchen möchte. Daß ber
Begriff des Opfers zu ſehr ind Allgemeine gezogen wurde,
wit Beifeitefegung des gefcichtlich Feſtſtehenden und Vor⸗
liegenden, wurde oben bei ber Erörterung des Sabbaths
berührt... Wir müffen aber bier nothwendig auf diefe Frage
zuruckommen; ift eö ja doch der wichtigſte Begriff der Me=
ligionen des Alterthums. Es möge, fo weit es liber ein fo
weitſchichtiges Gebiet in der Kürze gefchehen kann, eine
gene Gedankenentwickelung verfucht werden, deren Zufams
menftimmung oder Widerfpruch mit der unferes Buche von
ſelbſt einleuchten wird; zugleich werben dadurch die befon»
deren Einwendungen gegen Em ald’s Anficht vom Sabbath
noch mehr Licht und feftere Begründung erhalten.
Gleichwie im Begriff der Religion zwei Hauptmerkmale
unterſchieden werben müffen und auch auf ben verſchiedenen
Religionsfufen die zwei im Abbängigkeitögefühl eingefchloffe-
190 Ewald
nen Stimmungen bald mehr, bald weniger auseinander tre⸗
ten, das Gefühl der bloßen Jurcht vor Gott und das Ber
fühl der Gemeinfchaft mit Gott, fo verhält es ſich auch mit
dem Opfer; ed gehört dazu ein Regatives und ein Pofitived.
Entäußerung auf der einen — Hingabe an Gott auf ber
andern Geite, dargeſtellt durch eine befondere in die Sinne
fallende, außerordentliche That, iſt Opfer im allgemeinften
Sinne, Im diefen Merkmalen iſt allerdings das Weſentliche
enthalten, was bei dem, was zu allen Zeiten Opfer genannt
wurde, zu Grunde legt. Aber wenn es ſich darum hats
beit, vom Standpuncte der alterthinmlichen Menſchheit, auch
ber ifraelitifchen, aus den Begriff zu beftimmen unb bem
Opfer noch fchärfer feinen Drt im Gedankenkreis und Les
ben des Alterthums anzuweifen, fo muß noch ein weiteres
Merkmal mit flärkerer Betonung hinzugefügt werden, daß
naͤmlich bie befondere That, welche jenen zwei Orundgefühs
len zum Ausdruck dienen fol, nicht bloß überhaupt eine
außerordentliche, fondern eine actio sacra fey, Darin Hegt
ein Geboppeltes: es muß eine von dem übrigen Than ımd
Eeben des Menfchen, von der profanen Welt gefonderte, rein
dem veligiöfen Zwecke dienende Thätigkeit ſeyn; es muß ſo⸗
dann, wenn wir naͤmlich von dem Dpferwefen eines bes
flimmten Volkes reden, dieſe Thätigkeit durch Volkoſitte und
Geſetz geheiligt, als gültige Dpfer anerkannt ſeyn. Diefes
Merkmal, daß jedes Opfer eine res sacra ſey, außer Acht
gelaffen zu haben in der Darfiellung eines gefciätlidh vor⸗
tiegenden Opferwefend des Alterthums, bad if am Ende
nad unferem Dafürhalten das befonders fühlbare Werfehen
unferes Verfaſſers.
Und doch, dürfte man wohl fagen, tft es gevade biefes
legtgenannte Merkmal =), von dem man, wenn man dad
a) Ride nur ſprachlich, fondern mbglicherweiſe ſelbſt der Zeit nach
ft dem Römer das consecrare locum j. e. © profano sacrum
declarare mit dem dedicare i.e. verbis deo dare et dicare atıß«
ebnanderz m. ſ. Lis. IT, 8, 6, vergl. mit 1, 56.
die Alterthümer des Volles Sfrael. 191
Werden der Sache verfolgen wid, auszugehen hat. Erſt
nachdem ein Volk vieleicht längere Zeit ſolche actiones sa-
eras im unbeffimmten Gefühl und Bemühen, feine religioͤ⸗
fen Empfindungen badurd im Allgemeinen auszudrüden,
gehbt bat, treten jene zwei weiteren Merkmale hervor, man
wird fi Mar, daß im religiöfen Beben zwei wechſelnde Stim«
mumgen zu unterfcheiden feyen, einerfeits Gefühl der Bes
trenntbeit des Endlichen vom Unendlichen, die Stimmung
der Furcht und Aengſtlichkeit, andrerſeits das Beduͤrfniß und
Bewußtfeyn der Gemeinſchaft, Liebe, Berföhnung mit dem⸗
feiben. So bilden fi) dann die zwei, aud) von Ewald
ſcharf untexfchiedenen Hauptarten der Opfer, bie eine mit
heiterem und eine andere mit ernſtem, finfteren Charakter.
De Umftand, daß die Menfchheit von vegetabilifcher Nah⸗
tung zur animaliſchen uͤberging, erklaͤrt es ferner ſchon zur
Cenuige umd mehrere Spuren beſtaͤtigen es, daß die aͤlteſten
Dpfer in Iſrael, wie auch bei andern Völkern, unblutige
waren. Im Verlaufe der Zeit (dt fi aber wahrnehmen,
wie daß Thieropfer entfchieden die Oberhand geminnt und
Hiper gefchägt wird (m. vgl. 1 Moſ, 4, 3—5.), ja daß dies
ſes letztere felber wieder eine immer tieffinnigere Bedeutung
edit, Während es naͤmlich auf der Älteren Gtufe der res
Tigibfen Entwickelung zunaͤchſt nur überhaupt recht nach⸗
druͤclich den Opferſinn dethaͤtigen ſollte, indem man das
Dheuerſte und Liebſte, mit dem eigenen Leben Verwachſene,
feine beſten Hausthiere, hingab, kommt bei größerer Verin⸗
nerlichung eines Volks, wenn bie ſittlichen Begriffe ſich laͤu⸗
tern und ſchaͤrfen und dieſelben, beſonders in der Geſtalt
des Schuldgefuͤhls, herantreten an bie anfaͤnglich noch für
fh beſtehenden Gefuͤhle und Uebungen des religioͤſen Lebens,
noch ein Bweites hinzu: dad Thieropfer wird Sinnbild
der fittlich⸗ religioſen Stimmung des Opfernden; der Menſch
wird fi bewußt, vor Gott als Unheiliger zu gelten, feine
Strafe zu verdienen, felbft der Babe des Lebens unwüͤrdig
mu ſeyn, und das fieht er nun finnbitblich im Tode ber
192 Ewald
Opferthiere durgeftellt und findet eine Berubigung dackt,
feines Herzend Gefühle dur das fließende Blut und das
entſchwindende Leben des Thiers ausgedrüdt zu haben
(m. vgl. die befonder deutlichen Beiſpiele bei Liviud 1, f.
21, 45. 4. E.). Berſchieden davon ift dann ein Dritte, da
nicht bloß finnbitdlih der Menſch feine Gefühle auf biefe
Art darſtellt, fondern in Wirklichkeit (realiter) das hier
als vor Bott fFellvertretend für den des Todes ſchul⸗
‚digen Menſchen gedacht wird, Da nämlich das fromme
Sefüht in feiner hoͤchſten Erregung ſelbſt daß eigene Beben
Gott zu opfern bereit ifk und ſich durch feine Schuld. noch
befonberd dazu verpflichtet fühlt, daneben aber. dad Mens
ſchenopfer, obgleich e8 bei fehr vielen Völkern, auch bei Iſ⸗
tael zu gewiffen Zeiten noch (1 Mof. 22. Richt. 11.), faſt kaum
zu umgeben ſchien, dem beffern Sinne widerſtrebt (3Mof. 18,
21.), fo erwuchs dad Beduͤrfniß eined Erfagmittels für diefen
-Drang der Frömmigkeit, und fo trat bei dem Thieropfer ber
myſtiſche Gedanke an eine GStellvertretung hinzu, um fo
mehr, je inniger ber alterthuͤmliche Menſch ein Mitgefühl
mit der Natur, vor Allem mit feinen Haustbieren in ſich
trug.
Mit dieſen Andeutungen wuͤnſchte ich die Grundgedan⸗
ten des Verf. uͤber die allgemeineren Fragen theils beſtaͤtigt,
theils, wo ſie mir wenigſtens unentwickelt und unklar ſchie⸗
nen, auf den beſtimmteren Ausdruck gebracht zu haben.
Was derſelbe uͤber die hohe Bedeutung des Blutes fagt, iſt
gewiß richtig und klar. Daſſelbe war, als Sitz der Seele
und des Lebens betrachtet, für den Menſchen des Alterthums
gleichſam ein Bote aus dem geheimnißvollen Gebiete, in wel⸗
chem die unergruͤndlichen Quellen alles Daſeyns rauſchen;
trat es den Menſchen vor die Sinne, fo erweckte ed bie
Schauer des Ueberfinnlichen, Goͤttlichen. Alles num aber,
was das menſchliche Gemuͤth, ſobald es einmal in dieſen
Kreis myſtiſcher Empfindungen eingetreten iſt, bewegt und
erfült, fein Fordern und Wunſchen, fein Glauben und Ah:
die Alterthümer des Volles Ifrael. 193
nen, iſt eine Sprache, welche zu verſtehen und im klare Bes
danken zu faflen, wie es ſcheint, dem Verſtande fo wenig.
mehr möglich if, als derfelbe eine tieffinnige Muſik volle
ſtaͤndig in Begriffe und Worte zu faflen vermag, Es laͤßt
ſich nur einfach die Thatſache hinftellen: man glaubte an
eine wirkliche Stelvertretung und fühlte fi) in diefem Glau⸗
ben beruhigt und verſoͤhnt. Das unerklaͤrliche Wie zu ers
klaͤren, ift auch unferem Verf. nicht gelungen; was in uf«
ferem Buche ©. 40. (f. oben &. 141.) baräber geſagt iſt,
find raͤthſelhafte Worte, Man mag fi damit tröflen, daß
es an diefer Grenze der verftändlichen Gedanken ‚den Rune
logen aller Zeiten bis jetzt ebenfo ergangen iſt.
Die verfchiedenen Entwidelungsftufen des religiöfen 2u
bens erfordern aber noch in anderer Beziehung eine größere
Berhdfihtigung; ed follte in einem Buche über die ifraelis
tiſchen ‚Alterthümer die Frage über dad Verhaͤitniß von Re⸗
Bgion und Sittlichkeit umfländlicder und ſchaͤrfer behandelt
worden ſeyn; benn ber Migfeismus nimmt aud hierin eine
in feiner Art einzige Stellung ein, Es möge aud) hierüber
der Berfuch einer Entwideling der biecher gehörigen
Srundgedanken gemacht und dem Gutachten der Refer vor.
gelegt. werben.
Auf der nieberften Stufe geht bekanntlich das teligiöfe
und fittlidye Leben, falls da& Bewußtſeyn für das Iegtereüber«
haupt ſchon erwacht ift, entweder gleichgültig neben einander her
ober tritt fogar in gegenfeitigen Widerſpruch; es gibt bann uns
fittliche Religionen oder irseligiöfe Sittlichkeit. Erſteres gehört
der Stufe der Kindheit, Letzteres der Zeit einer übergreifen.
den Verſtaͤndigkeit an, beides, ſowohl bei einzelnen Perfonen,
wie bei ganzen Voͤlkern. Das Ineinanbergreifen und die
Einheit beiber Gebiete lernt ſich für diefe und jene nicht fo
ſchnell. Anfänglich iſt es das veligiöfe Gefühl mit feinen
Uchbungen, was vorberrfchend ald dad ben innerlichen Men:
fen Befsiedigende und zum Himmel Führende gilt. Das
neben bilden ſich bürgerliche und fittliche Befetgebung, meift
Theol. Send. Jahrg. 1888.
194 Ewald
ziemlich unabhängig vom Beligidfen, aus, doch balb mehr,
bald weniger in fliler Ahnung des engen Zufammengehör
rens mit ber Religion. Man blide nach Griechenland und
Rom, Um zum $rieden mit Gott (ein auch bei heidniſchen
Schriftſtellern gar nicht felten vorkommender Begriff) zu
gelangen, gelten als bie vorzüglichften, ja einzigen Mittel
anfänglich die Uebungen ber Frömmigkeit, vor Allem bie
Dnfer, Das Gehorſam auch für dieſen Zweck beſſer fey, als
Dpfer, diefe Einficht zur Reife zu bringen, braucht es ge⸗
raume Zeit, If es aber einmal dahin gelommen, fo kehrt
ſich das urfprüngliche Verhaͤltniß gewiffermaßen um: erſchien
auf der niederern Stufe die Sittlichkeit hoͤchſtens nur als
eine Ergänzung der Opfer, fo werden nunmehr die Opfer
die Ergänzung des fittlichen Lebens; bie auch bei ernfllichem
Streben zurüdbleibenden Mängel laſſen den Menfchen nicht
zu voltommenem Frieden Gottes kommen, er bebarf zur
Berföhnung mit demfelben noch einer neben der innerlichen
Hingabe und der Bethätigung gjner Gemeinſchaft mit Gott
durch gottgefäliges Leben hergehenden Verſicherung ber götts
lichen Gnade; etwas, dad dem Opfer entfpricht, etwas außer
dem Menſchen Worgebendes, fey es auch in der hoͤchſten
Verfeinerung, bleibt Bebürfnig des endlichen, fündebefledten
Gemütbs.
Diefe zwei Mittel, den tiefften Anforderungen des ins
wendigen Menſchen zu genügen und das rechte Verhaͤltniß
amifchen Gott und dem Menſchen herzuftellen, eineötheils
durch die rein in dem Subject vorgehende Gefinnung und
That, anderntheils durch ein Objectives außer ihm, feinen
dem erſten Anbli nach fi auszuſchließen, und leider if
auch innerhalb des chriftlihen Kirche öfters der Gegenſatz
zwiſchen beidem aufs hoͤchſte geſpannt worden und bat
ſchon viel Verwirrung angerichtet. Alle befferen Religionen
aber haben das fcheinbar Widerfprechende neben einander
aufgenommen und beibed zu vermitteln geſucht. Gehen
wir dieß fihon bei Griechen und Römern, beten Sprache
die Alterthümer des Volkes Iſrael. 196
felbſt durch die verſchiedenen Worter fin heilig: „Laadg, Ayıos,
Ssios, sacer und sanctus”, das Gefühl für jene Gegenfäge
ausdruͤckt, fo ift dieß noch weit mehr und vollkommener auf
dem biblifchen Boden der Ball, Die altteſtamentliche Reli:
gion bat eine Bermittelung von beidem angeflrebt und ge-
funden, fo weit e8 vor dem Epriftentyum möglich war; was
im ‚Heidenthum nur geahnt wurbe, ift bier im Laufe von
Sahrhunderten mit Bewußtfeyn verarbeitet und aur Geltung
gebracht worden. Zwar ließe fi mit einigem Scheine bes
haupten, nicht erſt die Propheten, fondern felbft ſchon Moſes
babe dad Aeußerlihe und Ungenügende des Opferweſens
durchſchaut und, wo bie heilige Gefinnung vorhanden fey,
ſolche Stügen und Mittel für den Frieden mit Gott für
überflüffig gehalten; man vergleiche namentlich Die merkwuͤr⸗
dige Stelle Ier. 7, W. In der That aber verhält es ſich
fo, daß allerdings ſchon Mofes und Samuel und ebenfo alle
wahren Propheten die hohe und höhere Bedeutung ber Hei⸗
tigung bed Inneren erkannt und entſchieden ausgeſprochen
haben, daß aber andererfeits die Nothwendigkeit des Opfers,
ſey es in ber Älteren Form des eigentlichen Opfers, ober in
der vergeiftigten Geftalt, wie das Opfer dann im Ehriften-
tum gefaßt ‚wurde, nirgends in der Bibel völlig befeitigt
iR, fonderntim Gegentheil, fofern nur nicht bad Andere, Wich⸗
tigere, Innerliche, darunter leidet, immer daneben ald forte
beſtehend anerkannt wird. Ein ſchlagender Beweis für diefe
Auffaffung und Stellung jener zwei Seiten ber Religion
fon bei Moſes ift das, daß unleugbar einerfeitß der Deka⸗
log gleichſam das Allerheiligſte, die Opfergefehgebung das
Heitigthum bes mofaifchen Religion bildet, An biefem Drte
iruchtet nun vollends ein, wie nothwendig es iſt, in einem
Buche über bie ifraelitifchen Alterthümer den Dekalog an
die Spitze zu ſtellen, und wie ed natürlich fören muß, wenn
dia Gtüd des Dekalogs, die Sabbathheiligung, aus feiner
Celle geruͤckt und mit dem Dpferwefen zufammengenom-
wen wib, w
196 Ewald
Im Betreff des Dekalogs mag bier au einer Behaups
tung unſeres Buchs gebacht werden, bie unferes Erachtens,
fo zuverfichtlich fie ausgefprochen iſt, Doch der gehörigen Bes
gründung ermangelt, der Behauptung nämlich, daß mit dem
zweiten Gebote bloß die Läfterung, Verwuͤnſchung Gottes,
überhaupt das Uebelreden von ihm gemeint fey (Alterth.
©. 238. Gef. Ife. II, 152), Wir koͤnnen nicht anders
als treffend finden, was unfer Catech. mai. darüber fagt:
Abutimiur divino nomine, quando aut simpliciter pro
tuendo mendario abutimur, aut aliud quippiam; quod
non est,.sub divini nominis praetextu molimur, quo
alterum fraudulenter circumducimus, aut illud blasphe-
mando, execrando, maledicendo, incantando ignomi-
niose asarpamus. Breviter, quacunque ratione eius
adminiculo perpetrari possunt flagitia. Diefe allgemeine
Beziehung iſt ‚offenbar der allgemeinen Faffung bed Deka⸗
logs entfprechender, ald wenn bie letere, ohne daß eine
Nothwendigkeit dazu vorläge, durch Berufung auf andere
Stellen, in denen offenbar nur von einzelnen Erſcheinungen
der Sache die Rede ift, eben nur auf dieſes Einzelne ges
deutet wird. "
Befonderd erfordert aber jegt dad über die Mes
ſchneidung Gefagte noch eine eingehendere Grörterung ;
denn das bierüber ©. 95 ff. Bemerkte gehört ganz vor⸗
nehmlih zu benjenigen Stüden, bie auf der einen Seite
ungemein viel Treffendes und Anregendes enthalten, auf der
andern aber ſich allzu Fed und zuverſichtlich geberben, auch
in der Begründung zu wenig gefichert find, als daß fie all»
gemeiner Zuftimmung fi erfreuen dürften, Immerhin wer⸗
den wir über die Entfiehung biefer Sitte Baum anders ur⸗
theilen dürfen, ald der Verf, wenn wir die von ihm und
Andern beigebrachten Belegftellen (m. f. auch Winer’s
Realwörterbud) I. S. 158.) in ihrer vollen Bedeutung gel⸗
ten laffen. Diefelbe ſcheint effenbar im Nillande fich ger
bildet zu haben, Daß aber ber Uebergang berfelben vom
die Alterthümer des Volkes Iſrael. 197
den Aegyptiern zu gewiffen femitifhen Völkern durch die
Hykſos bedingt geweſen fey, kann doch wohl für nicht mehr
als für bloße Wermuthung gelten, während andererfeitö bie
Ueberlieferung von Abraham ald dem Stifter biefer Anord⸗
nung für feine Nachkommen benn doch vieleicht eine ſtrengere
geſchichtiiche Bedeutung anzufprechen hat, ald unfer Verf.
ihr zufchreibt. “
Wichtiger jedoch iſt bie Frage nach dem Sinne der Bes
ſchneidung. Die oben S. 145, mitgetheilte Auffaflung
Ewald's kann nicht verfehlen, im Allgemeinen ben Eins
drud zu machen, es fey in der Hauptfache dad Rechte ger
troffen; beſonders erfheinen diefer aus der Tiefe geſchoͤpf⸗
tem Erörterung der räthfelhaften Sitte gegenüber die ges
wöhnlichen Ableitungen aus medicinifhen und phyfiſchen
Gründen vecht in ihrer Unhaltbarkeit, Wie follten um fols
Ger auöwendigen Umftände willen ganze Völker diefen felt-
famen Brauch ſich haben auferlegen laſſen? Das muß ties
fere, mit den wichtigften religidfen Begriffen zufammenhäns
gende Urſachen gehabt haben. Es iſt daher gewiß ein gluͤck⸗
fiher, ſchon von Meiners (Brit. Geſch. der Rel. II, 473ff.)
von ferne geahnter, von Ewald aber klar durchgeführter
Gedanke, die Sitte mit dem Dpferwefen in Verbindung
zu fegen, Nur zweierlei Bedenken find und dabei zurüdz
geblieben.
Etwas Anderes ift ed, die Entſtehung der Sitte, wenn
man ihren erfien Quellen nachgeht, im Opferbegriffe zu fins
den, etwas Anderes, dieſe Vorſtellung bei einer Darftellung
der ifraelitifchen Alterthumer geradezu zum Ausgangspuncte
du nehmen und ohne Weiteres die Beſchneidung ald Opfer
im bezeichnen. Erftered ann ganz gerechtfertigt feyn, ohne
dag man defhalb zum Letzteren irgend befugt wäre Was
in diefer Beziehung über die Auffaflung und Stellung bes
Sabbaths gefagt wurde, gilt in gleicher Weife auch bei dies
der Sache. Man kann fogar zugeben, e8 wäre gar finnvoll
und ſchoͤn, wenn die Befchneidung im Zufammenhange der
198 Ewald
ifraelitifchen Einrichtungen die ihr von unferem Verf. ans
gewiefene Stellung gehabt hätte; aber wenn eben bie ges
ſchichtlichen Urkunden ihr diefelbe nicht geben, fo fordert die
diefen ſchuldige Unterwerfung und bie geſchichtliche Treue,
daß wir in einer Geſchichtsdarſtellung ber ifraelitiſchen Als
terthumer einfach bei dem ftehen bleiben, was unleugbar
von den Geſchichts⸗ und Gefegbüchern felbft als ihre im
Volksleben geltende Bedeutung bezeichnet wird, Daß dieſe
aber nicht die iſt, die Befchneidung fey „ein Dpfer am eiges
nen Leibe und Blute, einem Gotte dargebracht, um ſich ihm
felbft zu geloben und anzueignen und in ihr eine ewige Er⸗
innerung diefer Weihe mit fi) herumzutragen”, bedarf wohl
keines weitern Beweiſes. Unfer Verf. fagt S. 101 f. ganz
wahr: „Die Beſchneidung wurde daB Zeichen der Weihe
zum Eintritt in bie Gemeine Jahve's, und zwar nicht nur
ein Zeichen zur Erinnerung, fondern für den Gläubigen auch
zur treibenden Kraft des Lebens in den Rechten und Pflich⸗
ten der Gemeine, und indem es fo weit über feinen leiblis
chen Sinn hinausreicht, wird es zu einem Heiligthume (Gas
eramente).” Je treffender dieß ift, um fo mehr erwartet
man, daß nicht unter den Opfern, fondern unter ben bie
Heiligkeit der Gemeinde betreffenden Einrihtungen der Bes
ſchneidung ihre Stelle wäre angewiefen worben.
Ein zweites Bedenken erwedt ed, wenn S. 99. gefagt
wird: „Deutlicher ald in der kurzen Muftererzählung 2Mof,
4, 22-26. kann dad urfprünglihe Weſen der Befchneidung
im Sinne der Urgeit nit befchrieben werden.” Zwar in
der Hauptſache hat auch hier wohl wieder unfer Verf. ganz
dad Richtige getroffen; aber einmal if und bleibt diefe
kurze Notiz eine ſchwer zu deutende Stelle und bietet ein
zu ſchwaches Fundament, ald daß darauf mit folder Zuvers
fit daß ganze Gebäude gebaut werden Fönnte, und ſodam
bringt die Auseinanderfegung der Stelle bei Ewald Beine
ganz Mare Worftelung hervor und leidet, wie mir ſcheint,
an einigen Härten. Ich möchte verfuchen, eine Erklaͤrung
die Alterthümer des Volkes Sfrael. 19
der dunkeln Stelle vorzulegen, die mir eimfacher und natlırs
licher vorlommt. Mofed war auf dem Wege nach Aegypten
toͤdtlich erfrankt. Die bisher unterlaſſene Beſchneidung ſei⸗
nes Sohnes durch die Mutter wird nachgeholt, wahrſchein⸗
id) weil man glaubte, dadurch ein Gott mißfaͤlliges Ver⸗
fdumniß gut zu machen und fo dad darob verhängte Strafs
gericht vom Water abzuwenden, Mit einem fpigigen Steine
vollzieht die Mutter die Sache und ſpricht, des Kindes Füße
faflend (dieß if entweder eigentlich zu verſtehen oder im
Sinne eines älteren Audlegerö: illud membrum, a quo
per circumeisionem aliquid detrahitur ; — sam im Sinne
von berühren, faffen, hat feine Schwierigkeit, m. vergl. Tod)
und re im Kalund Hiphil und ähnliche Werba): „du (mein
Sohn) biſt durch Blut, die blutige Beſchneidung, zu einem
(Gott) Verlobten gemacht.” Als dieß geſchehen war, wurde
wirklich die Gefahr vom Haupte des Waters abgewendet.
Damals ſprach Bippora die Formel: „ein Blutverlobter der
Beihneidung”, d. h. die nad) dem Zeugniß der juͤdiſchen
Ausleger Gerihom, Abenesra, Kimchi übliche Benennung
der befchnittenen Kinder, wonach fie „durch Blut Werlobte”
(nämlich Gottes) biegen, ſchreibt fi) von jener Aeußerung
der Frau Mofis herz ms- mm in ber angegebenen Weiſe
zu faffen, hat nicht nur am ſich nichts gegen fi, fondern
wirb durch ähnliche Ausdrüde, z. B.5Mof. 25,2. Mor P=
einer, der Schlägen verfallen ift, noch wahrfcheinlicher ges
macht. Für die Deutung des Sinned der Beſchneidung
wäre demnach aus bdiefer Stelle nur fo viel zu gewinnen,
daß diefelbe für ein Zeichen einer innigen Werbindung des
Kindes mit Gott galt, das fi als Gott wohlgefälig auch
damals erwies, infofern die Vollziehung der Sache dem Mofes
das Leben gerettet zu haben fchien.
Wenn wir fomit unferer Stelle auch nicht fo viel Be:
weiskraft zutrauen koͤnnen, als unfer Berfaffer, der hier wohl
zu viel zwiſchen den Zeiten lieft, fo müffen wir ihm dennoch,
wie gefagt, in der Hauptfoche beiftimmen, bag wahrſchein⸗
198 Ewald
ifraelitifhen Einrichtungen die ihr von unferem Verf, ans
gewiefene Stellung gehabt hätte; aber wenn eben die ges
ſchichtlichen Urkunden ihr diefelbe nicht geben, fo fordert die
dieſen fchuldige Unterwerfung und bie geſchichtliche Treue,
daß wir in einer Gefchichtödarftelung ber ifraelitifchen As
terthümer einfach bei dem ſtehen bleiben, was unleugbar
von den Geſchichts⸗ und Gefegbüchern felbft als ihre im
Volksleben geltende Bedeutung bezeichnet wird, Daß dieſe
aber nicht die iſt, die Befchneidung fey „ein Dpfer am eiges
nen Leibe und Blute, einem Gotte dargebracht, um ſich ihm
ſelbſt zu geloben und anzueignen und in ihr eine ewige Er⸗
innerung diefer Weihe mit ſich herumzutragen”, bebarf wohl
keines weitern Beweiſes. Unfer Verf. fagt ©. 101 f. ganz
wahr: „Die Beſchneidung wurde das Zeichen der Weihe
zum Eintritt in bie Gemeine Jahve's, und zwar nicht nur
ein Zeichen zur Erinnerung, fondern für den Gläubigen auch
zur treibenden Kraft des Lebens in ben Mechten und Pflich⸗
ten der Gemeine, und indem es fo weit fiber feinen leibli⸗
en Sinn hinausreicht, wird ed zu einem Heiligthume (Gas
ramente).” Je treffender dieß if, um fo mehr erwartet
man, daß nicht umter den-Opfern, fondern unter den bie
‚Heiligkeit der Gemeinde betreffenden Einrichtungen der Bes
ſchneidung ihre Stelle wäre angewiefen worden.
Ein zweites Bedenken erwedt es, wenn S. 99. gefagt
wird: „Deutlicher als in der kurzen Muſtererzaͤhlung 2Mof,
4, 4—%. Tann dad urſpruͤngliche Weſen der Beſchneidung
im Sinne der Urzeit nicht befchrieben werden.” Zwar in
der Hauptfache hat auch bier wohl wieder unfer Verf. ganz
das Richtige getroffen; aber einmal iſt und bleibt diefe
kurze Notiz eine ſchwer zu beutende Stele und bietet ein
zu ſchwaches Fundament, ald daß darauf mit foldyer Zuver⸗
ſicht das ganze Gebäude gebaut werden koͤnnte, und fodarm
bringt die Außeinanderfegung der Stelle bei Ewald Beine
ganz Mare Vorſtellung hervor und leidet, wie mir fdheint,
an einigen Härten, Ich möchte verfuchen, eine Erklaͤrung
die Alterthümer bes Volkes Iſrael. 19
der dunkeln Stelle vorzulegen, die mir eichacher und natuͤr⸗
licher vorkommt. Mofes war auf bem Wege nach Aegypten
toͤdtlich etfrankt. Die bisher unterlaſſene Beſchneidung ſei⸗
nes Sohnes durch die Mutter wird nachgeholt, wahrſchein⸗
lid) weil man glaubte, dadurch ein Gott mißfaͤlliges Vers
ſaͤumniß gut zu machen und fo das darob verhängte Strafs
gericht vom Water abzuwenden. Mit einem fpitigen Steine
vollzieht die Mutter die Sache und ſpricht, des Kindes Füge
faffend (dieß iſt entweder eigentlich zu verfichen oder im
inne eines älteren Auslegers: illud membrum, a quo '
per circumeisionem aliquid detrahitur ;— am im Sinne
von berühren, faffen, hat Feine Schwierigkeit, m. vergl. To
und nie im Kalund Hiphil und ähnliche Werba): „du (mein
Sohn) biſt durch Blut, die blutige Befchneidung, zu einem
(Gott) Verlobten gemacht.” Als dieß gefchehen war, wurde
wirklich die Gefahr vom Haupte des Waterd abgemendet,
Damals fprady Zippora die Formel: „ein Blutverlobter der
Beſchneidung“, d. b. die nad dem Zeugniß der jüdifchen
Ausleger Gerfhom, Abenesra, Kimchi übliche Benennung
der befchnittenen Kinder, wonach fie „durch Blut Werlobte”
(nämlich Gottes) hießen, fcpreibt fi) von jener Aeußerung
der Frau Mofis her; Eo7- m in der angegebenen Weiſe
zu faflen, hat nicht nur an ſich nichts gegen fi, fondern
wird durch ähnliche Ausdrüde, z. 8.5Mof. 35,2. Man a=
einer, der Schlägen verfallen ift, noch wahrſcheinlicher ges
macht. Für die Deutung des Sinned der Beſchneidung
wäre demnach aus dieſer Stelle nur fo viel zu gewinnen,
daß biefelbe für ein Beichen einer innigen Berbindung des
Kindes mit Gott galt, das fi) als Gott wohlgefällig auch
damals erwies, infofern bie Vollziehung der Sache dem Mofes
daß Leben gerettet zu haben ſchien.
Wenn wir fomit unferer Stelle auch nicht fo viel Be:
weiskraft zutrauen koͤnnen, als unfer Berfafler, der hier wohl
zu viel zwifchen den Zeilen lieſt, ſo müffen wir ipm dennoch,
wie gefagt, in der Hauptfache beiftimmen, daß wahrſchein⸗
200 Ewald
lüch (mehr laͤßt Gab bis jest gewiß nicht behaupten) bei ber
Entftehung der feltfamen Sitte der Gedanke an ein von
oder an dem menſchlichen Leibe gebrachtes Opfer zu Grunde
lag. Wer weiß, ob es nicht urfprünglich eines der Erſatz⸗
mittel war, wodurch das religiöfe Gefühl fi aus dem Wir
berfiteite, ob Menfchenopfer Pflicht oder aber Unrecht feyen,
zu retten fuchte? Etwas Aechnliches laͤßt ſich in einer gleiche
falls auf Abſchaffung von Menfchenopfern hindeutenden Hands
lung bei dem römifchen Supercalienfeft erkennen. Bei dem
Opfer an jenem Feſte wurden zwei Jünglinge aus eblen Ges
ſchlechtern herzugeführt; diefen wurde das blutige Opfermefs
fer an die Stirn geftrichen, worauf ſogleich Andere ihnen
das Blut mit in Milch getauchter Wolle abwiſchten, nach
welcher Procedur die Juͤnglinge laut auflachen mußten.
Daß man in Ifrael, oder wo fonft die Sitte auflam, geras
de diefed Exrfagmittel wählte, hängt wohl mit der auch fonft,
3 3. bei Schwurhandlungen (f. 1 Mof. 24, 9.), hervor:
tretenden Vorſtellung von der ‚Heiligkeit des Zeugungsglies
des zufammen. .
Sey dem nun, wie ihm wolle, im Zufammenhang der
mofaifchen Gefeßgebung erſcheint jedenfalls die Befchneidung
nirgends mehr in jener urfprünglicden Bedeutung. Hoͤch⸗
ftens Fönnte man fagen: ed lag einerfeitd die Vorſtellung zu
Grunde, daß das Kind dadurch in ähnlicher Weife, wie wir
es von der Erfigeburt der Menſchen und Thiere wiffen, als
Gott zugehörig bezeichnet werde, anderntheild der eben diefe
Vorftelung erflärende Glaube, es fey die Beſchneidung ein
Beichen höherer Reinigkeit und edlerer Bildung. Letzteres
tritt in allen Stellen des alten Teſtamentes, wo von bee
Bedeutung ber Beſchneidung die Rede ift, heraus, nicht nur
in den immerhin nicht ganz beweifenden Ausfprüchen 3 Moſ.
26, 41., 5 Mof. 10, 16,, Jer. 4, 4., womit Röm, 2, W.
und viele Säge bei Philo zu vergleichen find, fondern nas
mentlic in der entfcheidenden und viel befprochenen Stelle
Joſua 5, 2-9. Unfer Verf. fagt über Werd 9.: „ZIofus
die Alterthümer des Volkes Iſrael. 201
ruft bier wie in ungewohaser Berude aus, nen habe Sah-
ve den Hohn ber Aegyptier (welche Iſrael gar kein- rechtes
Bolt zu ſeyn vorgeworfen hatten) von ihnen abgewält.”
Daß hiermit im Allgemeinen dar Sinn des Terted getroffen
und bie dunkeln Worte weit einfacher und natürlicher als
3. B. bei Keil in feinem Gommentar zu biefer Stelle. ers
klaͤrt find, darüber kann Fein Zweifel feyn. Nur ließe fich
fragen, ob nicht dennoch arın ram beffer in mehr objects
vem Sinne zu faflen wäre, fo daß es bebeutete entweder
fo viel als: „die früher auf Ifrael in Aegypten laſtende
Schmach“, oder aber: „die in Aegypten herrſchende ſchmach⸗
volle Einrichtung”. Im wwfteren Falle koͤnnte man die Vers
muthung wagen, es fey in Aegypten, ald der Plan, die ifs
raelitiſchen Knaͤblein zu tödten, mißlungen war, die Anords
nung getroffen worden, diefelben wenigftens unbefchnitten zu
lafien und fie damit (vergl, Drigened und das Beiſpiel des
Apion bei Winer) als minder edle Volksclaſſe zu bezeich⸗
nen ©), Die legtere Ueberfegung: der fraglichen Worte ift
forachlic wohl ganz zuläffig, und «8 ließe ſich dann eine ans
dere Muthmaßung daran Enüpfen. If nicht etwa dad darin
enthalten: „während in Aegypten nur die bevorzugten Ka⸗
Ren beſchnitten wurden, ift nunmehr dad ganze Volk Ifrael
als vor Gott gleich behandelt (vergl. Vers 8.). Damit iſt
die ſchmaͤhliche ägyptifche Ungleichheit, daB Kaftenwefen, aufs
geboben, dad ganze Volk als ein prieſterliches geheiligt“?
Durch alle diefe theild zuftimmenden, theils mehr oder
minder von dem Verfaſſer abweichenden Bemerkungen dürfte -
wohl bei den meißen Lefern das fchon früher ausgeſprochene
Gefammturtheil ber unfer Buch noch fefler begründet wors
den ſeyn, daß es eine hoͤchſt bedeutende, gedankenreiche und
) In ähnlicher Deiſe, fogt Tennent in feiner Schrift: „Das
Chriſtenthum auf Geyton”, haben die Singhalefen von der Zaufe
teinen andern Begriff, als daß fle eine Art Givilauszeichnung
fey, und das Wort dafuͤr bezeichnet buchſtaͤblich „ Rangverleis
Yung”.
202 " Ewald
anvegenbe Schrift fey, naturwhdfig, friſch und faftig, wie
Ades, was von unferm Verfaſſer kommt. Dieß bringt es
dann ‚mit fi, daB ed auch an einzelnen allzu uppigen Ran
ten nicht fehlt, welche abzufchneiden, wir bei aller Hochach⸗
tung vor diefem Bibelforfcher und nicht abhalten laſſen duͤr⸗
fen, Eben deßhalb ift e8 auch von ferne Bein die Sache abs
ſchließendes Wer? und will wohl auch nicht dafür gelten;
fonft müßte es auch weit umfaflender feyn. Wohl aber dur⸗
fen wir darin einen wichtigen Bauftein für die in unferen
Beiten ſich aufbauende deutfche Bibelwiſſenſchaft mit reiner
und gefunder gefchichtlicher Anſchauung erbliden. Im biefer
Beziehung muͤſſen wir ſchließlich «noch auf einen Punct zu
reden kommen, der vielleicht Manchem als bedenkliche Seite
unſeres Buches erſcheint und noch einen Stachel zuruͤckge⸗
laſſen haben koͤnnte, der aber im Gegentheil dem unbefan⸗
genen Blicke als Vorzug deſſelben und ber ewald' ſchen
Behandlung der Bibel uͤberhaupt gelten muß.
Biederbolt fanden darin die Anficht ausgefprochen,
daß dab iftaelitifche Weſen mit feinen Wahrheiten, Gefegen
und Einrichtungen, obwohl feinem innerften Leben nad) vom
Heidenthum völlig verſchieden, doch in der geſchichtlichen
Wirklichkeit vielfach in das legtere Wefen zurlidfan? oder —
was noch bedenklicher ſcheint — Spuren davon von feinen
Anfängen an mit ſich trug und nur in langem Laufe der
Jahrhunderte fi) davon zu reinigen flrebte. Man ift haͤu⸗
fig aud noch heutzutage der Meinung, ſolche Zugefländniffe
thuen der Ehre der Bibel Eintrag. Selbſt wenn dem fo
wäre, dürften wir fie nicht zurüdhalten und die Widerfprü«
che nicht verſchweigen, falls der geſchichtlichen Forſchung uns
umſtoͤßliche Beweiſe dafuͤr ſich aufdraͤngen. Dieß wuͤrde
uns dann nur die Pflicht auferlegen, den Gründen biefer
Erſcheinung nachzugehen und fie mit unferer Ehrfurcht vor
der göttlichen Offenbarung in der Schrift möglichft in Eins
Hang zu feben, Es ift dem aber in ber That nicht fo, viels
mehr wenn wir auf biefem ſtreng gefchichtlichen und aufrich⸗
du Alterkhümer bes Volles Irad: . 208
tigen Biege voranfıhreiten, dieibt auch die Einficht nicht aus,
daB, wie auf der einen Seite die Aufnahme ſolcher wider⸗
forechenden unreinexen Beftandthelle eben einmal. durchaus
nothwendig war, wenn die Dffenbarung nicht mit magifcher
Birkung auftreten, fordern bie geſchichtlichen Bedingungen,
dad Vorhandene und Mögikbe berüdfictigen und darauf
dad Neue und Wahre bauen wollte, fo auf der andern Seite
im Begentheil die Kraft und Größe der neuen Religion nur
in deſto glänzenderem Lichte erfcheint, je unvolltommener
md ungefügiger manches anfangs mit Hereingekommene
war, das ihr dann im Laufe der Zeit auszufcheiden, zu uͤber⸗
winden amd zu vergeiftigen, fo herrlich gelungen if. So
viel iſt gewiß, daß mit diefer Betrachtungsweiſe der Sache
der Wahrheit und fomit der evangelifhen Kirche beffer ge⸗
dient ift, ald wenn man gefchichtliche Pflanzungen aus ih»
rem raatlırlichen Boden heraußreißt, fobann daran herum
Inmbolifirt und allerhand Gutgemeintes, Geiftreiches und
bauliches darein legt. Wenn wir, um ein Beiſpiel zu ges
ben, Joſua 8, 31. und anderwärts leſen, daß nach dem Als
teſten Geſetz ein Altar entweder aus Raſen oder aus unbes
hauenen Steinen gemacht werden follte, fo wird wohl Je⸗
dem , der die Sache mit einfältigem geſchichtlichen Blide
anfieht, ed am natlırlichften fcheinen, zu fagen, es fey damit
entweder angedeutet die alterthuͤmliche Weife im Bau der
Atäre, welche für die Späteren eine gewifle Heiligkeit ges
babt babe, oder aber haben wir daran zu denken, daß das
von menſchlichen Händen und gewöhnlicher Handthierung
Unberübrte vornehmlich für würdig gegolten babe zu heilis
gem Dienfte, ein Solches ja audy bei den Opfertbieren fi
zeige ober bei den Nazirdern, deren Haupt Fein Scheermefler
berühren follte. Was fagen wir nun aber dazu, wenn der
neuefte Ausleger ded Buches Joſua zu der angeführten
Stelle bemerkt: „Jeder Altar des wahren Gottes follte nad)
2 Mof. 2%, eigentlich aus Erde errichtet werben, und wenn
er aus Steinen erbaut wurde, doch durch den Gebrauch von
204 Ewald, bie Alterihümer des MWolles Sfrael.
oben, unbehauenen Gteinen daB Anfehen und Weſen ber
Erde behalten. — Bon Erde follte aber ber Schlachtopferels
tar ſeyn oder wenigftens das Weſen der Erde an ſich tras
gen, weil alle blutigen Opfer in der unmittelbarfien Bezie⸗
bung zur Sünde und zum Tode flanden, durch die ber
Menſch, das Geſchoͤpf von der Erde, wieder zur Erde wird” ?
ESolche Symbolik fpricht nicht felten Ciner dem Andern
nad und dunkt fich damit viel weifer und gläubiger, als bie
nuchternen Ausleger der Sache, die nicht fo viel Geiftreis
ches vorzubringen wiffen, die man aber beffen ungeachtet
gern willfürliche und allzu freie Bibelſorſcher heißt. Ders
artige Bibelwiflenfhaft mag Einzelnen, die daran Geſchmack
finden, zuſagen; bad, was bem Heile der evangelifhen Kir⸗
che frommt und daffelbe gründlich fördert, waͤchſt nicht auf
diefem Boden. Wenn unferer Kirche eine Zukunft blüht —
und wir leben dieſer Zuverficht —, fo liegt diefelbe ſicherlich
aur auf der Bahn derjenigen Bibelforfjung, welche eine
geſunde gefchichtliche Anfhauung mit frommer Ehrfurcht vor
dem Worte Gottes zu verbinden weiß. Dieß gilt aber uns
zweifelhaft von dem Buche, dem, wie wir hoffen, in den
vorangehenden Blättern mancher eifrige Leſer gewonnen were
den if.
Schoͤnthal.
e. Mezger.
Kirchliches.
208 Ullmann
Das find gute und erfreuliche Worte, die wir auch im
Munde deffen, der fie geſprochen, keineswegs als bloße
Worte anfehen. Bir felbft möchten gern ben Glauben
theilen und die Hoffnung aufrecht erhalten , die darin ihren
Ausdrud gefunden. Denn bei aller Entſchiedenheit enanges
Ufdsproteflantifher Ueberzeugung, in ber wir leben und
durch Gottes Gnade felig zu flerben hoffen, blicken wir dens
nod gern auch auf bad Gemeinfame der beiden Kirchen,
freuen uns einer jeden von wahrhaft chriſtlichem Grund
auögehenden Annäherung ‚und, wuͤnſchen aufrichtig einen
ehrenhaften, auf ben Fundamenten’ der Wahrheit und Ges
rechtigkeit ruhenden Frieden.
Aber gerade, weil wir einen ſolchen Frieden wimſchen,
kann und jenes Wort, wie ſchoͤn es an ſich fey, für fich allein
nicht genügen, Sollen wir. gegenfeitige Achtung und Bier
besbewährung nicht bloß wuͤnſchen oder deren Mangel bes
Hagen, fondern ihrer in der That froh werden, ſollen wir
wirklich Frieden haben, fo müffen auch Bebingungen ges
let und im. Leben durchgeführt werden, unter denen allein
diefe Güter zu gewinnen und zu erhalten find. Die Grunds
bebingung bafür liegt in der wahren Parität, in ber
zur vollen Wahrheit gewordenen Gleihflelung der Kirchen.
Bei biefer Forderung aber verftehen wir das Wort „Paris
tät” nicht in einem bloß dußerlichen, rechtlichen, fondern in
einem zugleich innerlichen, religiöfen und fittlichen Sinne;
denn bie rechtlichen Beſtimmungen ſind auf dieſem Gebiete
nicht ausreichend, wenn ſie nicht von einem tieferen Grunde
aus Geiſt und Leben empfangen.
Wohl müffen vor Allem die geſetzlichen Ordnungen aufs
recht erhalten werden, welche das gegenfeitige Verhaͤltniß
der Kirchen und deren Stellung zum Staat abgrenzen,
Aber wenn hinter dem Bollwerk rechtlicher Sicherſtellung der
Geiſt der Geringſchaͤtung und der Zwietracht ſteht, fo wird
es bog nie zu einem gruͤndlichen Frieden kommen. Bur Wahr⸗
heit wisb die Parität nur, wo fie auf innerer Anerkens
Betrachtungen ıc. 209
nung ruht. Diefe innere Anerkennung hat Feine Stelle, fo
lange eine von beiden Kirchen bie andere nur duldet als ein
Factum, das, für jegt wenigftens, nicht zu dnbern iſt, und blog
darum buldet, weil es nicht zu ändern iſt; fie kann erſt
dann Raum gewinnen, wenn jede Kirche der andern einen
pofitiven Werth in Beziehung auf das zuerfennt, was das
Befentliche der kirchlichen Gemeinfhaft ausmacht. Das
Wefentlihe, das poſitiv Wertvolle einer kirchlichen Ges
meinſchaft aber liegt in ihrem hriftlihen Charakter,
darin, daß fie eine felbftändige Geftalt des chriſtlichen Glaus
bens und Lebens ift, eine eigenthümliche zwar, aber zugleich
eine ſolche, die nicht etwa nur von Menfchen willkuͤrlich
und eigenmächtig fo gemacht, fondern nad) goͤttlicher Ord⸗
mung fo geworden iſt. Rur das Legtere gibt ihr ein Ans
recht auf dauernden Beſtand, während fie als bloß menſch⸗
liches Gemächte nichts Anderes verdiente, ald den Weg alles
Fleiſches zu gehen.
Diefen ihren chriſtlichen Charakter will auch unfere
evangelifche Kirche anerkannt wiſſen. Sie verfagt folde
Anerkennung der katholiſchen Schweſterkirche nicht und dar⸗
um darf auch ſie, ſoll wirkliche Paritaͤt beſtehen, darauf
Anſpruch machen. Die bloß „bumane” Duldung und Ach⸗
tung, die „Boraudfegung reblicher Uebergeugung”, überhaupt
alled nur auf Menfchliches und Perfönliches fich Beziehende
ann in diefem Verhaͤltniß nicht genügen. Eine Kirche will
als Kirche ihre Geltung haben. Und nur wenn ihr biefe
zugeftanden wird, hat auch die aͤußere Anerkennung volle
Bedeutung und Bürgfchaft ber Dauer. Im entgegengefeg:
ten Fall if das Verhaͤltniß nur ein bewaffneter Friede, der
in Krieg übergeht, fo wie die Umftände es mit ſich bringen.
2.
Es wirb einem Lefer, der unfere Betrachtungen bis
zum Schluffe verfolgen will, ungeeignet erfcheinen, wenn
wir diefe Gedanken in Beziehung fegen zu einem Vorfall,
Tpeol, Stud. Jahrg. 1858, 2
210 Ullmann
der fih in ben legten Monaten in unferer unmittelbaren
Nähe ereignet hat, Wir meinen bie vielfach befprochene,
wiewohl nicht eben fo genügend beleuchtete, Berfagung
des Lodtenamtes für den bödftfeligen Groß:
berzog Leopold von Baden von Seiten bed
Erzbifchofs von Freiburg.
In diefem Exeigniffe, welches wie ein elektriſcher Schlag
die ganze Bevoͤlkerung Badens vom Hoͤchſten bis zum Ges
zingften durchzuckt und die Mitglieder der Tatholifhen Kits
he wohl noch mehr erregt hat, als bie ber proteftantifchen,
baben wir zwar zunaͤchſt nur einen einzelnen Ball vor und.
Aber es gibt concrete Fälle, aus benen ein Verhaͤltniß all-
gemeiner Art beffer und eindringlicher erkannt wird, als
aus weiten theoretiſchen Ausführungen. Insbefonbere pflegt
das Volksbewußtſeyn ſolche Fälle zu.ergreifen und fich dar⸗
aus feine Weberzeugung zu bilden. Hierbei müflen wir
und nun zwar fehr hüten, die auf dieſem Weg erzeugte
Stimmung und Meinung ald unmittelbar maßgebend für
die Wahrheit zu betrachten. Aber ein Eisment der Wahr⸗
heit wird doch in dem liegen, was bei folder Gelegenheit
allgemein und durchgreifend empfunden wird, und. die Aufe
gabe der befonnenen Forfhung wird es bann feyn, diefes
Wahre, ausgeſchieden von ſchwankender und getrübter Meis
nung, hervorzuheben und die ganze Erſcheinung in ihrem
inneren Grund und ihren Folgen für das Leben barzus
ftellen.
Indem wir dieß in Betreff deö bezeichneten Falles ver⸗
ſuchen wollen, zeigt ſchon die Zeit, in der wir es thun, daß
wir dabei nicht unter dem Einfluß unmittelbarer Erregung
ftehen und eben fo wenig die Abficht haben Fännen, eine
ſolche Erregung, wo fie voruͤber gegangen, zuruͤckzurufen,
ober, wo fie noch vorhanden, zu fleigern. Die Sache hat,
abgefehen von allem Momentanen, ihr tiefer liegendes In⸗
tereffe; fie bietet ein Problem dar, das auch wiſſenſchaftlich
geloͤſt feyn wi; e& find daraus Lehren zu ziehen, bie nicht
Betrachtungen xx. 211
bloß heute und morgen, fondern auf die Dauer gelten.
Dem Bedürfniffe, das hieraus erwaͤchſt, möchten wir an
unferem heil entgegentommen, und wir unterziehen uns
diefer Aufgabe in der Gefinnung, die man von dem evans
gelifhen Theologen erwarten darf, nicht aus Neigung zum
Streit, fondern weil wir eine Verpflichtung fühlen, der
Wahrheit zu dienen und durch biefe auch de m Frieden,
welcher der allein wuͤrdige iſt.
3.
Bei der Beurtheilung eines concreten Falles muͤſſen
wir natuͤrlich von concreten Werhältniffen ausgehen,
Wir dlrfen nicht einen beliebig gemachten Maßſtab anlegen,
fonbern mur den, welcher uns durch die beftimmt gegebenen’
Berhältniffe felbft dargeboten wird, Da es fih nun hier
um einen Act innerhalb ber katholiſchen Kirche, um das
Zobtenamt für einen hingeſchiedenen evangeliſchen Landes⸗
beren, handelt, fo haben wir zu fragen theils nach den all⸗
gemeinen Ordnungen, die hierbei Überhaupt in ber datho⸗
liſchen Kirche gelten, theils, wenn eine vollkommen gleich
mäßige Ordnung nicht immer und überall eingehalten wor:
den ift, nad} der in einem beflimmten Kreife und zu bes
Rimmter Zeit üblichen Praris, Manches bierher Gehörige
wird im Verlauf der Erörterung felbft vorkommen; einige
Hauptfäge aber, welche die allgemeine Grundlage für die
Auffaflung und Beurtheilung bes Uebrigen bilden, mögen
ſchon Hier ausgeſprochen werben.
Die katholiſchen Beftimmungen über das Todten⸗
amt ruhen natürlich auf der Lehre vom Weſen der Meſſe
überhaupt. Bekanntlich betrachtet die katholiſche Kirche die
Meffe ald die immerwährende Repräfentatior und Fortfes
tung des Berföhnungsopfers Chriſti am Kreuz, als den heis
ligen Act, wodurch jened Opfer ſtets lebendig erhalten und
angewendet wird, Da nun in dem Verföhnungdopfer Chriſti
alles Heil befchlofien Liegt, fo erfcheint eben damit bie Meffe,
14*
42 . Ullmann
weil fie das perenn gewordene Opfer ift, als bie ſtete Ver⸗
mittelung aller Heilögnade und ift darum nicht bloß der
Gipfel und die. hoͤchſte Goncentration des Gotteöbienftes,
fondern auch dad ohne Vergleich wirkfamfte Mittel, um für
empfangene Wohlthaten zu banken, neue Segnungen zu er⸗
flehen und Gebete für Lebende und Todte darzubringen,
dergeftalt, daß die mit der Meſſe verbundenen Bitten und
Zürbitten eine Kraft befigen, welcher nichts Anderes gleich:
kommt.
Insbefondere wird nach katholiſcher Lehre auch den Ab⸗
geftorbenen, wenn und fo lange fie ſich am Mittelorte, im
Zegefeuer, befinden, durdp dad Meßopfer und bie damit
verknüpfte Fürbitte eine unvergleichliche Wohlthat erwiefen,
Es wird dadurch ihr Gtrafleiden im Reinigungszuſtande
erleichtert und abgekürzt, ihr Uebergang zur vollen himmlis
ſchen Seligkeit beſchleunigt, und eben barin liegt die Bes
deutung der fogenannten Seelenmeffe ober bed Todt en⸗
amtes »).
Der glaͤubige Proteſtant nun, der ſich allein an das
eins für allemal dargebrachte und Alles vollendende Opfer
feines Heren und Heilandes felbft hält und die Nothwens
bigfeit einer äußeren kirchlichen Fortfegung beffelben nicht
anerkennt, wird eben darum eine Seelenmeſſe für feine Per=
fon nicht begehren. Dennoch aber ift es feit Menſchenge⸗
denken vielfach, unter und vorgelommen, daß von Fatholis
ſchen Verwandten und Freunden aud für Hingefchiebene
evangeliſcher Gonfeffion, überhaupt für Akatholiten, Sees
Ienmeffen verlangt und gegen Erlegung der Gebühren ohne
Aufand gewährt worben find, Es wurde daran von Fathos
liſcher Seite Fein Anſtoß genommen; man Fonnte es als
a) Wer fi nicht aus dem ZTridentinum und römifden Katechts⸗
mus, aus Bellarmin ober fpäteren Dogmatikern und Polemitern
über diefe Gegenſtaͤnde Kenntnig zu fchöpfen vermag, findet
eine kurze, Überfichtliche Darftellung in Afhbady’s kath. Kirs
chenlexikon, Bb.A., unter ben Worten: Meſſe und Seelenmeſſe.
* Betrachtungen ıc. 213
ein Zeichen freundlichen Vernehmens der Confeffionen ans
fehen,
Namentlich ſchien ſolche Uebung bei dem Tode des evanges
liſchen Candesherrn anwendbar, weil biefer feinen Fatholis
ſchen und proteftantifchen Unterthanen gleichmäßig angehörte
unb bie erfteren wünfchen mußten, dem hingeſchiedenen Zürften
auch in ber gewohnten kirchlichen Form bie hoͤchſte Ehre
und Zheilnahme zu erweifen. In diefem Sinne wurde bei
dem Tode der brei Großherzoge Badens, welche bem zulegt
verbfihenen vorangingen, bei dem Tode Garl Friedrich's,
Carl's und Ludwig's, jebesmal ein feierliche Traueramt
von der Regierung angeorbnet und biefer Anorbnung von
der gefammten Fatholifchen Landesgeiſtlichkeit auf eine durch⸗
aus wilige und ungezwungene Weiſe ®) Zolge gegeben.
Ja der Geiftliche felbft, welcher gegenwärtig ben erzbifchäfs
fichen Stuhl von Freiburg einnimmt, hat nicht nur bei meb⸗
teren dieſer Trauerämter fungirt, fondern im legten alle, bei
dem Tode Großherzog Lubwig’s, iſt er als damaliger Stelle
vertreten des Erzbifchofs ber Regierung fogar zuvorgekom⸗
men und bat felbft die Abhaltung eined Traueramtes vors
gefchrieben, bevor der hierauf bezügliche Regierungserlag
an ihn gelangt war 4).
Dieß find die allgemeinften Grundlagen, von denen
aus wir den Fal zu betrachten haben, Es geht ſchon hier⸗
aus hervor, daß es ſich dabei nicht um die einfache Ans
wendung einer feften, ftets beobachteten Drbnung und nicht
um etwa8 allgemein Anerfanntes, fondern um ein unter
2) Es ift eine durchaus grundlofe Inſinuation des „heſſiſchen
Volksfreundes”, daß bei dem Tode Carl Friedrich's ber katholl⸗
ſche Klerus Badens von ber Staatsregierung geswungen wors
den fey, ein Todtenamt zu halten. Diefe Umwahrheit iſt aufs
bünbigfle widerlegt durch eine vollſtaͤndige authentiſche Darſtel⸗
lung bes Hergangs in einem Artikel der darmſt. allg, Kirchen⸗
zeitung, Juni 1852, Rr. 100. und 101.
b) Näheres in dem eben angeführten Artikel,
214 "Ullmann
den gegebenen Umfländen Neues und Bweifelhaftes hans
delte. Wollten wir auch annehmen, es habe bei der Verſa⸗
gung des Todtenamtes für den hingeſchiedenen Landesherrn
dem Erzbiſchof daB volle Recht zur Seite geflanden, immer
vwoürbe doch in einer fo zarten, tief greifenben Frage wieder
außerordentlich viel'barauf angelommen fen, wie das der
bisherigen Gewohnheit Zuwiderlaufende zu feiner erfimalis
gen Anwendung gebracht wurde; barum war auch die fors
melle und geſchaͤftliche Behandlung der Sache fehr wich⸗
tig, und da gerade von hieraus ein bebeutfames Licht auf
den ganzen Charakter bes Gonflictes fällt, fo Tonnen wir
nicht umhin, einen kurzen Ueberblid über Anfang und
Verlauf der Berwidelung au geben.
4
Nac dem vom ganzen Lande tief und aufrichtig ber
klagten Hinſcheiden Großherzog Leopolb’8 mußte es für die .
Regierung, an beren Spitze ein pietätooller Sohn getreten
war, eine ber erfien Aufgaben feyn, die Trauerfeier, bie
dem hohen Berblichenen gebührte, fo zu orbnen, wie es in
Uebereinftimmung mit beffen eigenen Wünfchen der erhabes
nen Stelung des Landeöheren und’ den Bebürfniffen for
wohl ber Regentenfamilie, als des mit ihr trauernden Wols
kes entſprechen Eonnte. Das zunaͤchſt betheiligte Miniftes
rium «) beſtimmte zu dieſem Zweck einen feierlichen Gottes⸗
dienſt für beide Confeſſionen, für die evangeliſche auf Sonn⸗
tag den 9. Mai, für die Fatholifhe auf Montag den 10,
und zwar dad Letztere deßhalb, weil man nach der biöheris
gen, nie widerſprochenen Uebung die Abhaltung eined Sees
a) Die naͤchſte Anordnung ging freilich vom Minifterium des Ins
nern aus, welches einen Proteftanten zum Vorſtand bat, aber
es war überall nicht bloß diefes Minifterium, weldes bie Ent⸗
ſcheidungen in ber Sache gab, fondern bie höhere Inftanz des
Gtaatsminifteriums, weldes aus Kathollken und Protes
flanten gemifcht if.
Betrachtungen ıc. 215
lenamtes winfchte und dieſes nach der Drbnung ber Fathos
üfchen Kirche auf einen Sonntag nicht zuläffig iſt. Die
Aufforderung zur Feier bed Trauergotteöbienftes auf katho⸗
lifcher Seite erging wenige Tage nach dem Hintritt des
Großherzogs an die hoͤchſte geiftliche Behkgbe durch ben
katholiſchen Oberkirchenrath ganz in berfelben Weiſe, wie
fie in früheren Fällen ergangen und ohne bie geringfte Bes
anftandung durch die That refpectirt worden war.
Kein Unbefangener kann zweifeln, daß hierbei das Mis
nifterium in beflem Glauben und vollfommener Arglofigkeit
handelte. Der höchfifelige Großherzog felbft-hatte gewünfcht,
feine Beifegung möge einfach vollzogen werben, da aber,
wo die Gemeinde zum Gebet für ihn ſich verfammle, eine
moͤglichſt erhebende Zeier flattfinden. In diefem Wunſche
war zwar die ausdruͤckliche Beziehung auf ein Todtenamt
natürlich nicht enthalten, aber eine ſolche Beziehung lag
doch nahe. Denn für bie Fatholifhe Gemeinde beſteht in
ſolchem Balle die hoͤchſte Feier, ja die allein volftändige in
einem Zraueramte, und nur durch ein ſolches ſchien dem
Glaubens s und Pietätsbedrfnig ber um ihren Fürften
teauernden katholiſchen Bevölkerung wirklich genügt werben
zu Eönnen. Es Eonnte aber auch für bie Regierung bei Ans
orbnung eined Zraueramtes um fo weniger ein Bedenken
entftehen, als bie feit Menſchengedenken geltende Praris die
Abhaltung zahlreicher Seelenmeffen für Akatholiken und ins⸗
befondere die dreifache Wiederholung berfelben Zeier bei dem
Hingange badifcher Landesherren nachwies. Nicht durch Anz
orbnung eined Traueramtes mußte bie Regierung befuͤrch⸗
ten, Anftoß zu geben, fondern durch Nichtanorbnung ; denn
nur dad Leßtere verfließ gegen die bisherige, willig beobach⸗
tete Uebung und konnte den Schein erzeugen, man wolle
der Batholifchen Kirche und Bevölkerung das Gebührende
nicht vollftändig geben =), An bie Abficht eines ftaatlichen
a) In anderen Ländern ift bieß auch anders gehalten worden. So
in Preußen bei dem Tode Friedrich Wilpelm’s IIT., wo ben las
216 ullmann
Eingriffes aber in die inneren Angelegenheiten der katholi⸗
ſchen Kirche war hierbei nicht zu denken; es wurde ja nur
verlangt, was bie Kirche früher ſelbſt zu wiederholten Ma⸗
len gethan, und in berfelben Form, bei der man nie ein
Bedenken geſcaden; auch wird es ſchwerlich einen Katholis
ken unter und geben, ber im Ernft den Gedanken gehegt
hätte, die Regierung habe biefen fo zarten, fo ſchmerzlichen
Anlaß nur ergriffen, um bie Freiheit ber Kirche anzutaften und
dadurch zu hoͤchſter Unzeit einen Gonflict hervorzurufen, Bu
arglos, zu wenig achtend auf bie veränderte Beit mag bie
Staatsbehörde gehandelt haben, aber gewaltthätig, abflchte
lich übergreifenb hat fie nicht gehandelt,
Angenommen jedoch, man wäre von Seiten des Minis
fleriums bei aller Wohlmeinung über bie ber weltlihen Bes
hoͤrde gezogene Linie hinausgegangen: was war dann wohl
das Richtige von Seiten des Herrn Erzbiſchofs ? Doch ges
wiß nicht, fogleich thatſaͤchlich vorzuſchreiten, fondern vor
Allem den Weg der Verſtaͤndigung zu betreten. Hier
ſogleich war nicht nur Gelegenheit, fonbern dringende Aufs
forberung, das Andenken bed gütigen Fürften, welder der
katholiſchen Kirche nur zarte Gewiflenhaftigfeit bewährt
und dem Herrn Erzbiſchof perfönlich ſich ſtets gnaͤdig ers
wieſen hatte, dadurch zu ehren, daß man Alles aufbot,
um ber beginnenden Regierung bed tief ergriffenen Soh⸗
ned das Aergerniß eined Streites über der Gruft ded Bas
ters zu erfparen. Es durfte nicht angenommen werben, bie
Staatöregierung fey für billige, wohlbegründete Vorſteilun⸗
tholiſchen und evangeliſchen Geiſtlichen in gleichmäßiger Weiſe
nur die Verleſung einer koͤniglichen Bekanntmachung in Betreff
des Ablebens des hoͤchſtſel. Königs an einem deſtimmten Sonns
tage vorgeſchrieben wurde. Allein die babdiſche Regierung hatte
ſich offenbar an die Präcebentien ihres Landes zu halten; bieß
erfdien hier ald das Orbnungsmäßige und Berechtigte und Ans
deres war auch von ber kathoiiſchen Bevölkerung nicht erwartet
worden.
Betrachtungen x. 217
gen unzugänglich, und die Gelegenheit, ſolche nicht etwa nur
in jeder Stunde, fondern in jeder Minute an Ort und Stelle
gelangen zu laſſen, war veichlich gegeben. Statt irgend eis
ned Verſuches zur Audgleihung jedoch wurde fofort das
factifche Vorgehen gewählt, und zwar erfolgte baffelbe in eis
nem zweifachen Stadium, Anfänglid war nod der von
der Regierung beflimmte Tag, Montag ber 10. Mat, beibes
balten, aber ald Inhalt der Trauerfeier, unter Ausſchluß
der Meffe, nur Predigt, Gefang und Gebet beſtimmt
worden. Dann aber wurbe, ba hierbei Die Möglichkeit offen
blieb, daß ein Thell der Geiſtlichkeit dennoch freiwillig eine
Meffe celebrire, der Wrauergotteödienft auf ben Nachmittag
des vorangehenden Sonntags, alfo auf eine Zeit verlegt,
vermöge deren jene MöglichFeit der Meſſe vollſtaͤndig
abgefnitten war, fo baß die auf biefen Punct gerichtete
Ab ſichtlichkeit deutlich hervortrat.
Die Regierung ihrerſeits verſchmaͤhte nicht, das zu thun,
was man zuerſt von ber Curie hätte erwarten dürfen: fie
verſuchte Vermittelung. Auf Beihluß des Staatsminiftes
riums wurde ein Fatholifches Mitglied diefer höchflen Bes
Hörde nady Freiburg entfendet. Aber weder ber Zuſprache
biefed hoben Beamten, nod den gewiß wohlgemeinten
Vorſtellungen eines Domcapitels, in deſſen Mitte fih Maͤn⸗
ner wie Hir ſcher und Staudenmaier befinden, gelang
es, in den Entichlüffen des Erzbiſchofs eine Aenderung zu
bewirken. Er erklärte, was auch daraus folge, feinem Ge⸗
wiffen folgen zu müflen. Ohne Zweifel ift die Berufung
auf das Gewiffen, an fich betrachtet, zu ehren; aber boch
hätte hierbei ber auf biefe letzte perfönliche Inftanz fi) Bes
rufende bedenken mögen, daß auch die ihm entgegenftehens
den Männer ein Gewiffen hatten, baß früher fein eigenes
Gewiſſen anders gefprochen und daß unter allen Umftänden
ſolche Dinge in möglichft verföhntihem Sinne zu behandeln
feyen.
218 Ullmann
Aber auch durch die Exfolglofigkeit des Ausgleihungs-
verfuches ließ bie Regierung fi nicht aus ihrer Bahn draͤn⸗
gen, Weber beftand fie auf dem von ihr verlangten Trauer⸗
amte, noch verbot fie die vom Erzbiſchof angeordnete Feier,
noch forderte fie die Geiſtlichen zu desen Unterlaffung oder
die Laien zur Nichttheilnahme daran auf: fie gab nur eine
Erklärung, die eine vorhandene Thatfache conftatirte und
von wefentlich negativer Beſchaffenheit war; fie ſprach aus
und that den ihr untergeordneten Behörden Fund, daß fie
die vom Erzbiſchof vegulirte Trauerfeier nicht ald biefelbe
anzuertennen vermöge, bie fie felbft gewuͤnſcht, und auch
nicht als folche anerkannt und behandalt wiffen wolle. So
viel that fie, und weniger zu thun, wäre eine Schmälerung
ihrer eigenen Würde gewefen. Sie burftg „das Verfahren
des Erzbiſchofs nicht ruhig und demüthig hinnehmen; fie
durfte die Bevölkerung des Landes nicht in dem Wahne lafe
fen, die angeordnete, dem Gebrauch widerfprechende, nach
Anficht Vieler fogar ein Glaubenögericht in fich fchließende
Todtenfeier fey wirklich diejenige, welche fie für ben Landess
beren felbft bei der Kicchenbehörde erbeten habe” a), Dars
auf reducirt fich ber ganze Eingriff, von dem fo viel uns
nügen Aufhebend gemacht worden ifl: bie Regierung läßt
nad) vergeblichem Zufpruch die Kirchenbehoͤrde rubig gemäh«
en und beſchraͤnkt ſich auf die einfache Erklärung, die fie
der Wahrheit ſchuldig war, daß die von der Curie vorges
ſchriebene Trauerfeier eine andere fey, ald die von ii bes
antragte.
5.
Der Erfolg, den das Verhalten des Erzbiſchofs hat⸗
te, iſt feiner Zeit durch die öffentlichen Blaͤtter ſattſam bes
Tannt geworben; auch Fonnte Ieder davon in feiner Um⸗
gebung die unmittelbarfte Erfahrung machen. Die große
a) Allgem. Beitung vom 1. Juni 186%, Rr. 158.
Betrachtungen ıc. 219
Mehrheit der Batholifchen Bevölkerung Badens zeigte ſich
unzufrieden mit dem erfahren des Oberhirten und von
ſchmerzlichem Bedauern bis zu ſtarker Entrüftung Eonnte
man alle Zöne ber Mißbiliigung vernehmen. Während bie
Batholifchen Laien aller Stände, felbft am Site bed Erzbis
ſchofs, in großer Zahl zum evangelifchen Trauergottesdienſte
Rrömten, befanden fich die Priefter in fehr peinlicher Lage.
Hie und ba wurben Werabredungen getroffen, anderwaͤrts
banbelte jeber einzelne nach beftem Ermeſſen; überhaupt
aber kamen bei bem Schwanken zwiſchen dem, was die Res
gierung gewünfcht, und dem, was bie Eurie vorgefchrieben,
alle möglichen Faͤlle zur Berwirklihung. Manche verzichtes
ten auf Alles, bis bie flreitenden Potenzen ſich geeinigt has
ben wuͤrden; andere hielten beide Gotteöbienfte, wieder ans
dere mur einen von beiden; einzelne celebrirten auch ein
Todtenamt, gleichfam außerhalb bes ganzen Streitbereiches,
an einem beliebigen Tage. Jedenfalls wurbe in nicht wes
nigen Kirchen — Hamentlid) in faft allen zum Gapitel Las
benburg gehörigen — ein eigentlicheß Traueramt gefeiert und
zwar fo, daß dabei die Geiftlichen entweder ganz aus eige⸗
nem Antrieb handelten, oder durch die Bitte von Gemeindes
gliedern, die als Leidtragende auftraten, veranlaßt wurden.
Da nun, wie natürlich, aldbald auch die Preſſe in leb⸗
baftem Für und Wider auf den Gegenſtand einging, entſtand
für einige Zeit eine lebhafte kirchliche Aufregung, bei der
auch Manches vorkam, deſſen fich der ernfter Geſinnte nicht
freuen konnte. Ganz von ſelbſt regen ſich bei ſolchen Anz
laͤſſen immer auch Tendenzen, bie allem Kirchlichen abhold
find, und eö fehlt nicht an Geiſtern, welche Kirchen- und
Staatögewalt gern auf einander flogen fehen, weil fie hoffen,
daß beide darunter leiden. Aber offenbare Verleumdung ift
&, wenn man fagt, alle Widerrede gegen ben Erzbiſchof fey
nur hervorgegangen aus „Freude am Scanbal und aus Haß
gegen bie Kirche an und für fi” =), ober ed fey nur ra⸗
1) Hefl. Voltofreund vom 22, Mai 1852, Kr. 41.
220 Ullmann
dicales und proteflantifches Oppofitionsgelüfte gewefen, was
die Sache begierig ergriffen und feindfelig ausgebeutet habe.
Jeder unter uns Lebende hat fich aufs deutlichfte überzeugen
koͤnnen, daß ed zunaͤchſt vorzugsweiſe Katholiten waren, die
fi) in ihrem religiöfen Gefühl und Beduͤrfniß verlegt fühl:
ten, und wenn bann freilich au8 Gründen, die in der Ga:
che felbft Tagen, auch Proteflanten mit diefen Katholiken
fompathifirten, fo waren es wieder auf beiden Seiten einem
fehr großen Theile nach die confervativften Perfonen, welche
das Verfahren des Erzbiſchofs mißbilligten, und zwar dar»
um mißbilligten, weil fie darin den Ausdruck eines Syſtems
erbliten, von beffen weiterer Entfaltung fie nicht feftere
Begründung der öffentlichen Ordnung und bes gebeihlichen
Bufammenwirtens von Staat und Kirche, fondern Wirkun⸗
gen der Auflöfung und Zwietracht erwarten zu müffen uͤber⸗
zeugt waren. Diefe Perfonen würben in ihrer Pietät für
den Hingefciedenen und in aufrichtiger Liebe zum oͤffentli⸗
en Wohl den Herrn Erzbiſchof viel Meber haben anders
bandeln fehen; aber wenn es. nun einmal trotz aller Zufprache
fo gehandelt hatte, wie er es gethan, fo lag es freilich auch
nicht in ihrer Macht, die daraus entfpringende Erregung zu
befeitigen und jedwedes trübende Element davon ferne zu
halten. 6.
Gegenüber den Wirkungen, die das „thatfächliche Vor⸗
geben” hervorgebracht hatte, war es für den Erzbiſchof drin⸗
genbe Pflicht, fich vor der Geiſtlichkeit und den Pflegebefohs
Ienen feines Sprengeld über die Gründe feines Verfahrens
auszuſprechen. Konnte man bie ſchon früher erwarten, in
demfelben Augenblide, ald die von ber bisherigen Uebung
abweichende Vorſchrift über Nichtabhaltung des Todtenam-
tes vor bad Publicum trat, fo ſchien jest die dußerfte Zeit
zu einer motivirenden Erklärung gefommen zu feyn, um fo
mehr, da in ber That alle denkenden Perfonen in Baden
Betrachtungen ıc. 221
nach einer authentiſchen Darlegung ber Gründe. dringend
verlangten,
Diefem Verlangen begegnete ber vom 9. Mai datirte
Hirtenbrief a), welcher beftimmt war, am ſechſten Sonns
tage nady Dſtern oder am Pfingfimontage von allen Kans
zeln verkündet zu werden.
Es Fann bier nicht unfere Abfiht ſeyn, ja es würde
und unpaffend fcheinen, dieſes Firchliche Actenflüd einer Kris
tiE zu unterwerfen, wie man fie fonft bei litterärifchen Pros
ducten anzumenden pflegt. Aber bie Achtung vor amtlicher
Bürde oder perfönlichen Eigenſchaften darf und nicht abs
halten, die Gründe, deren der Hirtenbrief fi) bedient, nad
befter Ueberzeugung zu prüfen,
Bir glauben gern an die Aufrichtigkeit der Acußeruns
gen von Verehrung und Liebe für die Perfon des höchftfes
ligen Großherzogs und zweifeln eben fo wenig an ber Wahr:
beit ber Worte, in denen ſich der lebhafte Schmerz fiber die _
Verwidelung und deren Folgen ausdrüdt d). Aber offens
bar Tonnte doch der Eontraft zwifchen dem Worte, welches
die verehrungsvollſte Liebe ausdrüdt, und ber Handlungs
weife, welche biefe Liebe nach der Meinung fo Bieler zu
a) Hirtendrief des hochw. Herrn Grabiihofs von Freiburg, D.
‚Hermann v. Vicari. Freib. 1852,
b) Rur dazu war Beine Urſache, von „feindſeliger Seſinnung gegen
die kathollſche Kirche und Werbäähtigungen gegen bie Katholis
ten”, namentlid deren „Eoyalität” zu ſprechen, die bei biefer
Gelegenheit auf proteftantifher Seite hervorgetreten feyen, Alle
verfländigen Proteftanten wußten zwiſchen dem, was die eräbis
ſchoͤſliche Gurie that, und der katholiſchen Kirche wohl zu uns
terſcheiden, und wie hätten fie an ber Loyalität ihrer katholiſchen
Mitbräder zweifeln follen, ba biefe felbft in überwiegender Mehr⸗
heit die Abhaltung eines Todtenamtes gerade aus Loyalität
wänfchten und fo zahlreich an den proteftantifchen Bottesbienften
fich betheitigten? Im Gegentheit: es hat kaum je eine lebhafe
tere Annäherung von Mitgliebern beider Gonfeffionen ftattges
funten.
222 Ullmann
‚ verleugnen fhlen, nur dann volftänbig gehoben werben,
wenn gezeigt wurbe, daß dieſe Handlungsweife in materiels
tee und formeller Beziehung durch die Amtspflicht unbedingt
geboten war, Hierzu genügte natürlich nicht die bloße Ver⸗
fiderung, daß ein Gebot der Pflicht vorhanden geweſen,
fondern die Gründe für bad beobachtete Verfahren mußten
in einer Weiſe dargelegt werben, welche geeignet war, bei
jedem Verſtaͤndigen alle Zweifel zu befeitigen. In Betreff
der formellen Seite ber Sache, d. h. der ganzen gefchäftlis
chen Behandlung berfelben, ift nun dazu auch nicht einmal
ein Verſuch gemacht, Dagegen zur Rechtfertigung des Mas
teriellen, der Verſagung bed Todtenamtes felbft, wird eine
Beweisführung gegeben, und von dieſer haben wir zuzufes
ben, ob fie in den entfcheidenden Hauptpuncten genügen
Tann ober nicht,
Die Argumentation des Herrn Erzbiſchofs ift im
Weſentlichen folgende. Wenn es überhaupt ber Kirche als
lein zuſteht, ihre gotteöbienftlichen Handlungen zu ordnen,
fo gilt dieß insbefondere vom heil, Meßopfer. Nun ift es
aber Borfchrift der katholiſchen Kirche, daB das h. Meßopfer
fire keinen Verftorbenen dargebracht werden darf, der nicht
in ber Gemeinfchaft der Kirche dahingeſchieden, weil offens
bar nur der Anfpruch auf das Opfer ber Kirche bat, wels
her ein Mitglied derſelben geweſen, wie an den Gütern
der Familie nur deren Glieder Theil nehmen. Und da die
Kirche keinen Unterfchied macht zwifchen Hohen und Gerin ⸗
gen, fo ift dieß auch auf Fürften anzuwenden. Zwar ver
hätt es fich in dieſer Rüdficht anders mit dem noch im
Leben Befindlihen und anders mit dem Hingefchiedenen.
So lange der Fuͤrſt lebt, wird er als der von Gott eins
gefegte Herrſcher des Staates betrachtet, und da Binnen
in Beziehung auf ihn Bitt- und Dankopfer bargebracht
werden. Nach feinem Hingang jedoch erſcheint er nur als
Mitglied feiner Eonfeffion, und da dad Seelenamt ſich nicht
auf den Regenten, fondern allein auf die Perfon bezieht, fo
würde bie Darbringung eined Seelenamtes thatſaͤchlich aus⸗
x
Betrachtungen ı. 223
ſprechen, er fey als Glied ber katholiſchen Kirche geflorbenz
um aber dieß zu thun, dazu achtet die katholiſche Kirche die
Freiheit der Gewiffen zu hoch. IR man in früheren Faͤllen
ein oder das andere Mal hiervon ;abgewichen , fo hebt die
mebrmalige Uebertretung einer Vorſchrift diefelbe nicht auf,
zumal wenn fie aufs Neue eingefchärft worden, wie dieß im
vorliegenden Falle vor einigen Jahren von Seiten des heil,
Stuhles gefhehen. Auch Fommt hierzu noch, daß die Pros
teftanten die Grundlagen des Todtenamtes, bie Lehren von
der Opferwirtung der Meffe und vom Zegefeuer, verwerfen,
mithin die Seelenmeſſe felbft fuͤr werth⸗ und zwecklos ach⸗
ten müffen, und daß ihnen gegenuͤber im fraglichen Falle
die katholiſche Kirche nicht zurücigeblieben ift, indem boch
jedenfalls die im katholiſchen Bereich vorgefchriebene Feier⸗
lichkeit nicht übertroffen worden ift von der in ben evan⸗
geliſch ⸗ proteſtantiſchen Kirchen angeorbneten.
7.
Indem wir zur Prüfung dieſer Beweisführung über
gehen, find wir natuͤrlich weit entfernt, den Satz zu beſtrei⸗
ten, welchen der Hirtenbrief an die Spige ſtellt. Gewiß iſt
es nur bie Batholifche Kirche felbft, welcher es zuſteht, ihre
Sultuöhandlungen zu ordnen und uͤber die Zuläffigkeit nas
mentlich des Meßopfers in beſtimmten Fällen zu entfcheiden.
Allein je entfchiebener dieß anzuerkennen ift, um fo mehr ift
zu fordern, daß es in der That auch die Kirche fey, nicht
eine particuläre Autorität innerhalb derfelben, von ber diefe
Anordnung und Entſcheidung audgehe, und daß das hierauf
Bezuͤgliche in Folge gefehlicher Bekanntmachung klar und
offenfundig vorliege, fo daß Jedermann, ber Geiftliche wie
ber Laie, die eigene Eonfeffion wie bie frembe und zumal
auch das Staatsregiment, ſicher wiffe, woran man fih"zu
halten und weffen man fi im vorkommenden Falle zu verfes
ben habe, Und eben hieran knuͤpft ſich unfer erfted Bedenken.
Die bloße Berfiherung, ed ſey etwas Vorfchrift der
katholiſchen Kirche, kann wohl genügen bei allgemein aners
224 Ullmann
Tannten unb offenkundigen Dingen. In einem ſtreitigen
alle aber, wie es der zu beurtheilende iſt, mußte das Vor⸗
bandenfeyn diefer Worfehrift mit voller Beſtimmtheit nach⸗
gewiefen werben. Wo angefehene katholiſche Theologen, be»
ven Gelehrfamkeit und Lirchliche Gefinnung Feinem Zweifel
ausgeſetzt ift, abweichender Meinung find, wo nichteins, zwei⸗
ober dreimal, fondern während eines langen Zeitraums in
einer ganzen Menge von Faͤllen eine andere Praris befolgt
worden: da Bann nicht eine im vollen Sinne Firchliche Vor⸗
ſchrift vorliegen, das heißt eine Worfchrift, zu. deren unver⸗
Außerlichem Weſen es gehört, daß fie, wie von der Kirche
als klares Geſetz promulgirt, fo audy jederzeit und überall
anerfannt unb beobachtet worben fey; ba haben wir es jes
denfalls mit einer Contro vers frage zu thun. Zur Ent⸗
ſcheidung einer Controversfrage aber Tann einmal zunaͤchſt
auf Beinen Fall die einfache Berufung auf kirchliche Vor⸗
ſchrift dienen; denn diefe letztere iſt eben felbft dad erſt zu
Beweifende, und dafuͤr liefert und ber ‚Hirtenbrief Feine ges
nügenden Mittel, Zwar berufg er ſich in Einem Puncte auf
etwas Beftimmtes, ‚auf bie vor einigen Jahren erfolgte neue
Einfhärfung der Vorſchrift von Seiten des römifhen Stuh ⸗
les. Damit wird und jedoch nur eine Hoffnung auf Auss
kunft eröffnet, bie Auskunft felbft aber nicht gegeben. Denn
abgefehen davon, daß jebenfalld nur das neu eingeſchaͤrft
werben konnte, was fon immer in Geltung war, und daß
wir damit eben wieber auf bie Frage nad) dem allgemeinen
Kirchengeſetz zuruckgewieſen find, fo war vor Allem das wich⸗
tige Actenftüd felbft, auf welches bier Bezug genoms
men wird, genau zu bezeichnen und deffen wefentliche Bes
flimmungen vorzulegen; denn bieß würde offenbar mehr zur
Sache gethan haben, ald manche anderweitige Ausführuns
gen; und hiermit bleiben wir wieber ganz und ſelbſt übers
laflen. Nun wollen wir zwar nicht in Abrede flellen, daß
ein päpftliche® Schreiben vorhanden fey, von dem wir ans
nehmen zu duͤrfen glauben, daß es ber ‚Hirtenbrief vornehms
Betrachtungen ꝛtc. 225
lich im Auge habe. Aber, indem wir und vorbehalten, auf
dieſen Punct fpäter zuruͤkzukommen, brängen ſich uns ſchon
bier folgende Fragen auf: Kann eine an eine einzelne Pers
fon gerichtete und nicht einmal zur Veröffentlichung beftimmte
paͤpſtliche Erklaͤrung einfad die Stelle eines allgemeinen
Kirchengeſetzes vertreten ? Müßte nicht diefe Erflärung, wenn
fie im Widerfpruch mit der bisherigen Praxis unter uns als
authentiſch gelten follte, auf orbnungsmäßigem Wege pubs
licirt fein? War es nicht, da das betreffende Breve fchon
vor einem Decennium erſchien, Pflicht, damit viel früher und
albald nach deſſen Erſcheinung bervorzutreten? Konnte
und durfte es fo lange unerwaͤhnt, unverkundet und unan⸗
gewendet bleiben, und war es dad Richtige, daß bie erfts
malige Anwendung in einem fo eclatanten Falle von der zar⸗
teten Befchaffenheit gemacht wurde, und zwar gemacht
wurde, ohne in demfelben Moment eine rechtfertigende und
mildernde Erklaͤrung abzugeben und nachher in.eine billige
Verſtaͤndigung einzugehen? Lauter Fragen, auf bie wir eine
authentifche und befriedigende Antwort bis jetzt nicht erhals
ten haben,
Indeß der Hirtenbrief beruft ſich nicht bloß auf die
Autorität, er gebt auch auf Gründe ein; und biefe Brände
haben wir ebenfalls näher zu unterſuchen.
Der erſte Grund, womit die Verfagung bed Trauers
amtes für Proteflanten gerechtfertigt wird, beſteht darin,
daß Anfpruch auf daB Dpfer der Kirche nur ber habe, der
ihr Glied gewefen, wie an den Gütern ber Familie nur des
ven Glieder Theil nehmen. Es ift dieß im Wefentlichen der
naͤmliche Gedanke, welcher anderwaͤrts auch fo formulirt
worben ift, daß zwiſchen der Batholifchen und evangelifcyen
Kirche keine Gemeinfhaft der Sacramente beflche.
Denn da ald die Hauptgüter der Kirche bie Gnadens
umd Heildwirkungen zu betrachten und biefe naͤchſt dem
Worte Gottes vorzugsweife durch bie Sacramente vermits
telt find, fo beruht dad, was man Oitergemeinfäaft einer
Theol. Stud. Jahrg. 1858,
220 Ylmena
Kischenfamitie nennen Tann, zumeiß auf der Saccamentt·
gemeinfcaft. Mit diefem Argumente bat es num folgende
VBewendtniß. Cine Sacramentsgemeinſchaft im vollen und
ſtrengen Sinne befteht allerdings zwiſchen Katholifen und
Droteftanten nit; denn gerade auf dem Gebiet ber Sa⸗
ewangente unterſcheiden ſich beide Kirchen auf durchgreifende
Beiſe und es gibt facramentlihe Handlungen, die zugleich
fo entfhieden einen Meleuntnißcharakter an fi tragen, daB
fie unwittelbar die Bugebörigkeit zu ber Kirche in fich ſolie⸗
Ben, innerhalb deren die Xheilnadme daran flattfindet, Die
iß namentlich der Fall bei dem Sacramente bes Altars, bei
deſſen Genuß, weil derſelhe zugleih Gommunion und Ber
kenatnißact iſt, yoraußgefeit wird, daß Jeder ihn nur in der
Kirche vollziehe, deren Glied er iſt, und daß jede Kirche nur
Solche zulaſſe, die erklaͤrtermaßen ihre Glieder fepn wollen.
Aber ungeachtet der Unüberfchreitbarkeit ber Grenze aufge
wiffen Puncten iſt doc auch andererfeitd die ſacramentliche
Scheidung beider Kirchen Feine abfolnte, Dieß zeigt die
Aaufe und bie auf katholiſcher Seite als Sacrament bes
handelte Ehe. Wird, wie zu aller Zeit geſchehen, die Kaufe
her enangelifchen Kirche auch in der katholifchen Kirche ans
ukannt, und umgekehrt, oder wird eine gemifchte Ehe auch
von der katholiſchen Kirche als wirkliche Ehe, mithin ala
ewas Sacramentliches betzachtet, fo findet zwiſchen Katho⸗
Wen und Proteſtanten auch eine beziehungsweife Sacraments.
gemeinſchaft ſtatt. Wollte man die Scheidung auf biefem
Gebiet zur abfoluten machen, fo müßte mam jeden Wroter
ſtanten, der zur Bathetiichen Kirche uͤbertritt, noch einmel
taufen und jede gemiſchto Ehe für Goncubinat erllären. Da
man bieß nicht thut, fo wird ein gemifler Erad von Gar
cramentsgemeinſchaft eingeräumt, und felb wenn bieß wen
Batholifcyer Seite mar ein Zugeſtaͤndniß an die unabwend⸗
bare Macht der Werhältniffe wäre, fo bliebe es doch immer
eine Beſchraͤnkung des Princips und ed wärbe ſich fragen,
warum biefe Deſchraͤnkung untes aͤhnlichen Behingungen
Betrachtungen ıc. 227
nicht auch auf omberen Puncten ſtatthaben Binnte, ſobalb
nicht ausdrudliche Kischengefehe entgegenſtehen. Die Meſſe
freilich tritt und als einer des Puncte ‚entgegen, wo etwas
der Art am wenigen zuldifig ſcheint. Allein es kemmt hier
Alles darauf an, von welchem Standort and. man die
Sache ketrachtet. Wenn der Hirtembrief den Aughruck „Ans
ſpruch auf dad Opfer der Kirche” gebraucht und damit
fagen will, der Proteſtant habs nicht ein förmliches Recht
darauf, fo iR dagegen nichts einzumenden. Nicht nur hat
der Proteftant ein ſolches, ihm ansbrüdlich eingerdumtes
Recht nicht, fondeen, wenn er «& hätte, fo koͤnnte er auch
von fih aus und fi fi nicht davon Gebrauch machen,
Aber es iſt ja hier überhaupt nicht von preteſtantiſchem
„Anfpruc”, ſandern von katboliſcher Gewaͤhrung bie Rebe,
und zwar ven einer Gewährung nicht vermoͤge eines Rech⸗
tes, fowbern vermöge theilnehmender Liebe, Es bat nicht
der. proteftantifche Fünft feibh für fi und es haben auch
nicht bie proteſtantiſchen Unterthanen für ihn von. der ka⸗
tholiſchen Kirche das Tobtenamt wie ein Recht begehrt, ſom
ben bie Staatsregierung, die als ſolche weder proteſtantiſch
noch katholiſch iſt, bat, geſtüzt auf bie biäherige Lebung,
ein folches angeordnet, weil fie die Zuverſicht haben durfte,
damit den Wimſchen der katholiſchen Bendiferung und ber
Kirche felbft nur entgegengulommen. Die feeie liebevolle
Theilnahme für den Hingeſchiedenen war es, an weiche biers
bei appellirt wurde, und wenn man Dagegen hie Ahlebnung
der Bitte Damit metisitt, Daß zwiſchen beiden Kirchen keine
Gemeinfepaft der Güter, d. b. hier ber Sacramente, vor⸗
handen fen, fo ſteht dem zweierlei entgegen: einmel da
ſchon Bemerkte, daß doch auch. auf andern Puncten in bes
Ahat Sarramenkögemeinihaft zwifchen Katholiken und Pros
teflansen nortommmt, und baan das noch näher. Autneffenbe,
daß ſelbſt das Meßopfer in Beziehung auf Regenten evan⸗
geliſcher Genfeffion gefeiezt und ihnen ayf biefem ſacramen-
talen Wege Hei exflcht wird, Wenigſtens in Metreff leben⸗
1°
228 ullmann
der proteſtantiſcher Fuͤrſten trägt die katholiſche Kirche fein
Bedenken, dieß zu thun. Und man wird bann natürlich,
fo lange die Sache nicht anders motivirt wird, fragen: was
tum nicht auch, ja warum nicht viel mehr für Werftorbene,
da von dem lebenden eine der katholiſchen Lehre entgegen-
lebende Ueberzeugung mit Beflimmtheit gewußt, von dem
verftorbenen nur ald möglich voraudgefegt werden kann?
Hier greift nun die weitere Beweisführung des Hir⸗
tenbriefes ein mit der Unterfcheidung zwifchen dem lebens
den und verflorbenen Fürften. Der lebende ift. der
von Gott eingefegte Herrſcher des Staates, der verftorbene
erſcheint lediglich als - Mitglied feiner Gonfeffion, und für
diefen ein Seelenopfer barbringen, hieße, ihn factiſch für
ein Glied der katholiſchen Kirche erfiären, was die Kirche
aus Achtung für die Gewiſſensfreiheit nicht thun kann.
Die Achtung der Gewiffensfreiheit, um daruͤber zuerfk
ein Wort zu fagen, ift gewiß überall fehr loͤblich und chriſt⸗
lich, und je mehr diefelbe fich praktifch bethätigt, deſto ſchoͤ⸗
ner wird fi das Verhaͤltniß der Gonfeffionen geftalten, Als
lein hier gerade war die Betonung derfelben am wenigften
an ber rechten Stelle; denn Bein evangelifcher Chriſt badis
ſchen Lande würde in der Abhaltung eines Todtenamtes
für den geliebten Großherzog einen Eingriff in die protes
Rantifche Gewiſſensfreiheit oder gar die thatſaͤchliche Erklaͤ.
rung davon gefunden haben, daß derfelbe als Glied der ka⸗
tholiſchen Kirche verſchieden ſey. Was aber den Hauptpund
betrifft, die Unterfeidung zwifchen dem lebenden und vers
ſtorbenen Sürften, fo haben wir zwar wohl gewußt, daß
mit dem Tode der Fürft aufhört, Träger der Begierungs«
gewalt zu feyn, dagegen haben wir nicht gewußt, daß er
dann nur als Mitglied feiner Gonfeffion erſcheine. Schon
der fürfllihe Charakter, der auch im Hingeſchiedenen noch
geehrt ſeyn will, fordert einen andern Gefichtöpunct, noch
mehr aber der menſchliche. Der letztere beruht nicht auf der
oder jener Qualität, fondern auf dem lebendigen Ganzen
Betrachtungen x. 229
der Perfönlidkeit, von welder wir als Ghriften bie
Gewißheit haben, daB fie den Tod uͤberdauere. Und wenn .
nun in einer ſolchen Perfönlichkeit, zumal einer nach göftlis
er Drdnung hoch geftelten, ein Strahl goͤttlicher Liebe wi⸗
dergeleuchtet hat, wenn biefe aus der Quelle des Chriften«
thums entfprungene Liebe fegendreich in den weiteften Kreis
fen geworben if: wird «8 dann eine wuͤrdige, eine dem
Seifte des Evangeliums entfpredhende Betrachtungsweiſe
ſeyn, in dem Hingefchiedenen nichts Anderes zu fehen, ald
ein verflorbened Mitglied feiner Confeſſion ? Wird es nicht
vielmehr ebenfo dem menſchlichen, wie dem chriſtlichen Ger
fühl entfprechen, einer Perfönlichkeit ſolcher Art auch über
das Grab und die confeffionele Schranke hinaus jede Art
der verehrenden und liebenden Theilnahme zu bemeifen, die
und zu Gebote fteht? Der Here Erzbifchof ſelbſt bat dieß
wobl gefühlt und iſt mit feinem Argumente durch die That
in Widerſpruch getreten. Denn er hat nach dem Hinfchels
den des Großherzogs zweierlei gethan, was fi durchaus
nicht bloß auf das verflorbene Mitglied einer anderen Gons
feffion beziehen konnte. Er hat zuerft ſchon einen allgemeis
nen feierlichen Gottesdienft und dann auch nachträglich noch
ein Hochamt angeordnet. Keines von beiden konnte ledig⸗
lich dem verfiorbenen Proteftanten als ſolchem gelten, fons
dern jenes nur dem Zürften, dem auch im Tode noch bie
gebührende Ehre werden follte, und dieſes nur der edlen und
hoben Perſoͤnlichkeit, durch welche dem Lande fo viel Gu⸗
ted zu Theil geworben, Freilich follte das nachträgliche
Hochamt nicht ein Seelenamt, fondern ein Dankamt feyn;
aber bei dem hier darzubringenden Danke konnte man ja
doch nicht bloß bei den Objecten der Wohlthaten flehen bleis
ben, fondern mußte, wenn es Irgendwie dad gefunde Gefühl
befriedigen folte, zur Perfon des Wohlthäterd fortgehen.
Burde aber einmal überhaupt in Beziehung auf diefe Pers
fon als bingefdhiebene ein Meßopfer celebrirt, warum dann
nur ein Dankamt und nicht auch ein Opfer der Fürbitte
für dad Seelenheil ?
230 ukmann
Am wentgften Beweißkraft befigen die beiden don dem
‚Hirtenbriefe Hülfsweife herangezogenen Gründe, deren
erfter ſich auf die proteftamtifche Weflreitung der Dogmen
fügt, welche die Seelenmefle begründen, der andere bie
weſentliche Gleichheit des von ber Curie für die Trauerfeier
Vorgefchriebenen mit dem proteſtantiſcherſeits Angeorbneten
geltend macht,
Wenn gefagt wird, ein Seelenamt fen für den hinge⸗
ſchiedenen Proteftanten darum nicht zuläffig, weil deffen Be⸗
lenntniß die Lehren von der Opferwirkung ber Meſſe und
vom Fegefeuer verwirft, ohne biefe Dinge aber daB Gers
tenamt feine Bebeutung babe, fo Tann bieß in doppeltem
Sinne gemeint ſeyn. Es Tönnte entweder der Gedanke zum
Grunde liegen, für den, welcher Opferwirtung und Fege⸗
feuer leugnet, feyen beide in der That auch gar nicht vors
handen, und darum koͤnne in Beziehung auf ihn von Wir,
ungen, bie hiermit zufammenhängen, gar nicht bie Rede
feyn. Dder es kann die Uebergeugung ausgeſprochen wer⸗
den ſollen, bei Perſonen, weiche die Grundlagen des Sees
lenamtes nad) ihrem Bekenntniß beſtreiten, wäre e8 ber
Kirche unwindig, ein ſolches in Anwendung zu dringen, fie
würbe ſich damit einer Profanation ihrer Heiligthinmer ſchul⸗
dig machen, Den zuerſt audgefprochenen Gedanken werden
wir dem Hirtenbriefe kaum unterlegen dürfen, Denn dba er
die Lehre vom reinigenden Mittelzuflande als die „allein
mit der göttlichen Offenbarung und ben Anforderungen der
menfchlichen Vernunft im Einklang ftehende” bezeichnet, fo
muß er je nofhwendig an bem objectiven Vorhandenſeyn
dieſes Mittelzuftandes fefhalten, als einer Sache, die nicht
wieder abhängig iſt von fubiectivem Annehmen oder Ver⸗
werfen, und hiernach würde e8 immer benfbar bieiben, daß
auch ein bie Eriftenz eines foldden Zuftandes Beſtreitender
doch in benfelben verfeht würbe, wenn man nicht voraud«
fegen wollte, daß er eben um feiner Weflreitang willen ſo⸗
Betrachtungen ıc. 231
Tore der Berbammnig arıheimfahe =). Und da bas Dies
dyfer trotz der proteflantifgen MWerwerfung der Lehre don
der Opferwirkung in Beziehung auf lebende proteſtantiſche
karſten angewendet wird, fo iſt nicht einzufehen, warum es
wegen diefer Werwerfung auf verflorbene nicht angewendet
werden fol, Können wit alfe den erften Gedanken ald den
vom Hirtenbriefe gemeinten nicht voraudfegen, fo müſſen
wir beim zweiten fichen bleiben, und diefer geht bahin, daß
es der Kirche nicht würdig fey, ihr Opfer ba darzubringen,
wo deſſen Grundlagen Seine Anerkennung finden. Diefet
Grund würde ohne Zweifel zutreffend feyn, wenn daB
Dpfer von Solchen, die es innetlich verwerfen, doch mit frie
volem Hohn oder Zroß gefordert würde, oder wenn es zur
Befriedigung und in der Mitte Solcher dargebtacht werben
ſollte, die an beffen Bedeutung und Wirkung nicht glaus
bein, ber beides war ja eben hier durchaus nicht der
Fall. Nicht im einer Geſinnung, die fich der katholiſchen
Kircht auch nur entfernt feindfelig entgegenflelte, fondern
in einer Sefinnung, die auf die Eigenthümlichkeit dieſet
Kirche mit Genteigtheit einging und berfelbeh gerecht wers
den wollte, wurde das Todtenamt für den gefciebenen
Fürften gewänfiht, Und hicht zur Wefriebigung und in der
Mitte von Proteftanten — obwohl gewiß auch diefe hierbei
am wenigften an ben dogmatiſchen Gegenſatz gedacht haden
whrben — ſollte daB Dpfer gefelert werden, fonbern Für
das BedhrfniB glaͤubiger Katholiten und in deren Mitte.
Die einfac) glaubigen Katholiken würden aber auch, hätte
man fie nitht mit Gewaltſamkeit auf etwas Anderes hinge⸗
a) Dieſen Webanten finden wir allerdinge bei Belturmin. Im
iR das Dogma vom Fegeſtuer fo wichtig, baß er gang loetiell
an die Berwerfung beffelden die Hbllenſtrafe Tnüpft, Gr fagt
de pargat. I, 15: Constanter assorimas dogma esse fidei pur-
‚getoriam, adeo, ut qui non eredit purgatoriam esse, ad illad
nunquam sit pefventurüs, sed in Gehenna sempiternd incendio
Wraciandes.
232 Ullmann
drängt, eben fo unbedenklich wie in früheren Faͤllen barauf
eingegangen feyn und würden rubig von dem Traueramte
feine Wirkung erwartet haben, unbeirrt durch proteftantis
ſchen Widerſpruch, da fie ja wohl wiffen, daß auch fonft
ihre Kirche durch diefen Widerſpruch ſich nicht hindern läßt,
das zu thun, was fie aus andern Gründen für gut und
zweckmaͤßig hält,
Findet nun fon hier eine gewifle Vermiſchung bes
Batholifchen Standpunctes mit dem proteftantifchen ftatt,
fo tritt und dieß noch mehr in der andern Bemerkung ent ⸗
gegen, baß die in ben katholiſchen Kirchen angeordnete Feier
von der proteftantifchen nicht übertroffen worden fey. Hier⸗
mit verhält es ſich fo.
Wenn beim Tode des Landeöheren die. hohe Würde des
Geſchiedenen einen hochfeierlihen Trauergotteödienft verlangt,
fo haben wir Evangeliſchen für diefen Fall einen feierliches
ven nicht, ald den in Predigt, Gebet und Gefang beftchens
den. Wohl aber hat die Fatholifche Kirche einen feierliches
ven, Für fie ift die Meſſe der Höhepunct des Cultus. Laͤßt
fie diefe hinweg, fo ift ihr Gottesdienſt nicht nur minder
feierlich, fondern felbft unvoliftändig, und das Fehlen ber
Hauptſache kann durch fein Aufbieten anderweitiger Mittel
erfegt werden. Thun alfo auch in ſolchem Falle beide Kir
hen der Quantität nach dad Naͤmliche, fo ift dad doch ein
der Qualität nach durchaus Verſchiedenes, weil dad, was
die katholiſche Kirche thut, einen ganz andern Sinn bat,
Gleichgeſtellt koͤnnte beides nur werden, wenn aud bie
evangelifche Kirche das, was ihr Hauptſache ift, die Wers
kuͤndigung des Wortes, weggelaffen hätte.
Es kommt aber auch noch ein Weiteres hinzu. Unter
den vom Erzbiſchof angeordneten Cultusbeſtandtheilen war
auch das Gebet. Die katholiſche Bevoͤlkerung ſollte alſo fuͤr
ihren hingegangenen Fuͤrſten beten. Nun wohl! Aber die
wirkſamſte Art des Gebetes iſt die mit dem Meßopfer ver⸗
bundene. Soll der glaͤubige Katholik mit voller Seele für
geliebte Todte beten, fo will er es bei der Meffe tun, und
Betrachtungen x. 233
Beine andere Beier kommt ihm dagegen in Betracht. Gerade
diefe Art des Gebete aber war ihm verfagt. Er follte bes
ten und doch nicht auf die wirffamfte, intenfiofte Art beten!
Belden Zwiefpalt mußte dieß in fein Gemüth pflanzen!
Es wirb gar Mancher ſich diefen Widerfpruch nicht haben
fen koͤnnen, zumal wenn er ſich erinnerte, wie ihm geflats
tet fey, für perſoͤnliche Bedrängnig und Nothdurft der vers
f&iedenften Art =) eine Meffe leſen zu laſſen und wie von
diefer Vollmacht fo oft für fehr geringfügige Dinge Gebrauch
gemacht werde, und dem gegenüber ſchmerzlich empfinden
mußte, daß ihm für den Ausdruck eines fo edlen Gefüͤhls
die gewohnte und allein ganz genügende Form vorenthals
ten blieb.
So verhält es ſich mit dem erzbifchöflihen Hirtenbriefe,
Er entbehrt der durchgreifenden Haltung und feine Argus
mentation iſt nicht geeignet, auf entfdheidende Weiſe die
Ueberzeugung zu begründen, daß auf katholiſchem Stand-
puncte gerade fo habe gehandelt werben müffen und nicht
anders habe gehandelt werden Finnen, Wir wollen nicht in
Abrede ftellen, daß es für diefe Handlungsweiſe im katho⸗
liſchen Syſtem, je nachdem es gefaßt wird, auch einen wirk⸗
fiien Grund gebe, aber gerade diefen Grund hat der Hits
tenbrief nicht ausgefprochen; den müffen wir uns ſelbſt ſu⸗
den und damit find wir zur Betrachtung der Sache an
und für fich verwiefen, zu ber wir nunmehr fortgehen.
8
Fragen wir, abgefehen vom beftimmten Kalle, nach der
Zutäffigkeit eines Todtenamtes für hinge
ſchiedene Proteſtanten überhaupt, ſo treten uns
a) Richt bloß für Sünden, Strafen und Satisfactionen, ſondern
auch pro aliis necessitatibus ſoll nach dem Tridentinum
(Sess. XXI. cap. 2.) das Mehopfer dargebracht werden und
Jedermann weiß, wie weit dieß ausgedehnt wird.
238 Allmam
iemerhalb der katholiſchen Kirche felbft wiberfprechente Kri ⸗
mmgen entgegen. Auf der einen Seite wird bie Buldffigkeit
behauptet, auf ber andern Seite wird fie geleugnet; ja
Manche rechnen fogar das hierbei angenommene Verbot gu
dan abfolut verbindenden Kirchengeſetzen, an denen auch das
Deerhaupt der Kitche wirhtd-gu ändern bermöge Die Aufs
gabe der ledteren wäre gewefen, biefes Verbot Mar barzue
legen. Da fie 26 biß jett nicht gethan, fo muſſen wir und
MIR darnoch umſehen.
Des Meßopfer kann in Betreff unferer Ftage unter
einen zwiefachen Gefichtöpun gebracht werden: den allges
meinen, inwiefern es überhaupt ald bie wirkſamſte Art bes
trachtet wird, göttliche Segnungen zu erflehen, ober baflw
zu banken, und den fpeciellen, inwiefern bie damit verbüns
denen Gebete die befondere Kraft befigen follen, den im Fe⸗
gefeuer befindlichen Seelen Hülfe und Erleichterung zu vrr⸗
mitten, Wr erwägen die Sache unter beiden Gefichtt:
pantten,
Usber die Bedeutung und Wirkung der Mefle, gang
attgemein genommen, druckt ſich ein neuerer katholiſcher
Throloge, den wie wohl als Sprecher ſtinee Kirche betrach⸗
ten dürfen, MöHler m der Symbolſke⸗), fo aus: „BRit
dem Meßopfer wird von Seiten der Glaͤubigen die Bitte
derbunden, dab Betdienſt Chriſti, welches in der endariflis
ſchen Darbringung concentrirt angeſchaut wird, allen Be⸗
dürftigen und Empfaͤnglichen angedeihen zu laſſen. Dem
Chriſten iſt es unmöglich, bloß ſich zu berüͤckſichtigen; um
wir viel weniger gewaͤnne er es über ſich, in fo heiliger
Deiet lediglich ſeinet eingeben? zu ſeyn and bie flehentliche
Bitte ga unterlaſſen, daß das die Sunden der Welt aufs
volegende Verdienſt Chriſti auch Allen zu eigen werden
möchte! Aud die Gemeinfhaft mit den in Chriſto felig
gewordenen und vollendeten Geiſtern wirb erneuert, ba fie
®) Dritte Auf, ©. MB6, unb 80
Betrachtungen x. 85
mit Chriſto eins find. und fein Werk ohne feine Wirkungen
nicht angeſchaut werden kann. Ale Angelegenheiten des ins
neren und aͤußeren Lebens endlich, ſchmerzliche und freubige
Creigniffe, Sluͤck und Unglüd, werden in Werbindung mit
dem Opfer gebracht und bei der Gebächtnißfeier in Chrifto,
dem wir bad Hoͤchſte verdanken, wird Bott überhaupt ges
dankt und geflagt, in ihm und vor ihm um Troſt, Muth
und Kraft im Leiden, um Selbſtverleugnung, Milde, Sanfte .
muth im Wohlergehen geflcht.”
In diefen Worten des geiſtvollen Gegnerb bed Protes
ſtantismus iſt nichts enthalten, was auch nur entfernt eine
Beſchraͤnkung ber Wirkungen des Meßopfers allein auf Dit
glieder der katholiſchen Kirche im fich ſchloͤſſe. Im Gegens
theil in der Hinwelfung auf das „die Sünden der Welt
aufwiegende Verdienſt CHrifti”, in der Hervorhebung „alles
Bedürftigen und Empfänglichen”, in ber Betonung ber Ans
wenbbarkeit des Opfers auf „alle Angelegenheiten bes ins
neren und Äußeren Lebens” tritt und die unbefcheänkte All.
gemeinpeit, in welcher Möhler die Wirkung bes Meßopfers
gedacht wiſſen will, aufs ſtaͤrkſte entgegen.
Man Fönnte nun denken, es gehöre dieß etwa auch zu
den ibealificenden Abweichungen, von ‚denen ber berühmte
Symboliker überhaupt und namentlich in feiner Erpofition
über die Meſſe nicht frei iſt. Allein in der That bat er nur
die Lehre feiner Kirche, wenigftens nad) Einer Seite hin,
zum entfprehenden Ausdrud gebracht. Denn wenn biefe
Kirche in der Meffe die fietd fortgefehte Anwendung br
Berſoͤhnungsopfers Chriffi am Kreuze erblidt und mit bie,
fem Glauben nicht fofort die Annahme verbinden will, daß
Chriſtus ausſchließlich für die jeweiligen Mitglieder der ka⸗
tholiſchen Kirche geflorben fey, fo muß fie einrdumen, daß
fih die Wirkungen der Meffe auch auf Akatholiken, ja
Nichtchriſten erſtrecken koͤnnen, zum mindeften fo lange fie
fi) noch in dieſem Leben befinden, alſo hoffen laſſen, daß
fie noch Glieder der katholiſchen Kirche werben koͤnnen. Bu
236 uumann
dieſer weitherzigeren Auffaſſung der Sache hatte ſchon die
altchriſtliche Kirche den Grund gelegt. In die Gebete und
Fuͤrbitten, welche fie bei der Feier des h. Abendmahls dar⸗
zubringen pflegte, wurden auch die außer der Gemeinſchaft
Stehenden, bie Feinde «) und insbeſondere die damals noch
heidniſchen, ja bie Kirche meift bedrüdenden oder blutig
verfolgenden römifchen Kaifer b) aufgenommen, Und davon
iſt denn audy in der fpäteren katholiſchen Kirche, als ſich
das Meopfer ausbildete, eine Nachwirkung geblieben. Dieß
bezeugt die Formel im Meßkanon: „Bür dad Heil ber gans
zen Welt”, und die wenigftens unter gewiffen Bedingungen
eintretenbe thatfächliche Anwendung der Mefle auf Akathos
Iiten, In biefem Sinme haben fh auch katholiſche Theo⸗
logen von ganz orthoborem Klang zu verſchiedener Zeit außs
gefprochen. Unter ben Neueren erinnern wir an den ſtraß⸗
burger Generalvicar Liebermann, welder die Frage, wie
es in Betreff des Meßopfers mit den außer ber Kirche ler
benden Ercommunichten, Häretifern und Ungläubigen zu
balten ſey, fo beantwortet ce): „Niemand zweifelt, daß auch
für diefe und für alle Menfchen, die in dieſem irdifchen Les
ben fich befinden , daB Opfer barzubringen erlaubt ift, da
Sott will, daß alle Menfchen felig werden und zur Er⸗
kenntniß der Wahrheit kommen. Das Opfer ded Kreuzes
a) Radmweifungen in Rheinwalbd's kircht. Archäologie, S. 365
867.
b Zestullian in Apologet. cap. 30: Nos enim pro salute im-
peratoram Deum invocamus aeternum. Unb befonbers ad Sca-
pulam cap. 2: Christianus nullias est hostis, nedum impera-
toris ... Itaque et sacrificamus pro salute imperatoris, sed
Deo nostro et ipsias, sed quomodo pruecepit Deus, pura pre=
ce. Daß hier bei sacriicamas nicht an eigentlidhes Opfer zu
benten fey, fonbern nur an das Opfer bes Gebetes, ergibt bie
Bergleichung mit ber Gtelle im Apologetitus, der ganze Gons
tert und namentlid der Zuſat: pura prece.
ec) Liebermann, Tnstitationes theolog. Mainz 1831. Tom. IV.
p- 528-525.
Betrachtungen x. 237
iſt für Alle dargebracht worden, warum follte nicht bie Meſſe
für Alle dargebracht werden können?” Wil man aber einen
Theologen, deflen Orthodoxie auch Über jeden Anflug des
Zweifels erhaben ift, fo Iefe man ben Garbinal Bellars
min»), Er gibt zwar der Sache eine eigenthuͤmliche Wen⸗
dung, indem er zwiſchen diterter und indirecter Wirkung
des Meßopfers unterfcheidet, aber body hält auch er im
Hinblid auf die Allgemeinheit des Kreuzesopfers Chriſti an
der Allgemeinheit des Meßopfers und beffen Anwendbarkeit
auf lebende Nichtkathotiten feft und räumt ein, daß, indem
bei Darbringung des Kelches „für das Heil der ganzen
Belt” gebetet werde, auch die Ungläubigen in gewiſſem
Sinne in dieſes Gebet eingefchloffen feyen.
Nach diefer Seite finden wir in der katholiſchen Aufs
faſſung der Meſſe offenbar eine Tendenz zu moͤglichſter Auss
dehnung und Verallgemeinerung und es drüdt ſich darin fo
viel Weitherzigleit aus, als dad Dogma zuläßt, Aber biefe
espanfive Richtung findet fofort ihre Schranke und fchlägt
in eine contractive um, fobald es ſich nicht mehr um Le
bende, fondern um Berftorbene, alfo um die Meffe nicht als
allgemeines Bitt: und Dankopfer, fondern fpeciell als Sees
lenamt handelt. Zwar if auch: in diefer Beziehung noch
ein Zug zur Univerfalität geblieben, infofern das am Aller:
feelentage dargebrachte Mebopfer ſich auf alle Verſtorbenen
bezieht und überhaupt daran fefgehalten wird, daß auch
daS befondere Zraueramt nicht bloß dem Einzelnen, für den
«8 gehalten wird, fondern allen Gläubigen, lebenden und,
verftorbenen, zu gute komme b). Aber doch bat man ges
«) In der Abhandtung de missa II, 5. fagt Bellarmin: In
oblatione oalicis, dum pro totius mundi salate orare jubemur,
certe aliquo modo pro inhdelibus etiam oramus. Aud) er
ſpricht fon den Cat aus: Sacriicium cracis pro omaibns
fait oblatam: car igitur non possit etiam missa pro omnibus
offerri ?
b) Catech. Rom. II. quest. 68. er 64,
20 Ullmann
une bie febe hbeſtimmie Miefchräufungen eintreten leſſen,
wur wie haben nun zu unterfuchen, in welchem Sian uud
wis welchem Grund.
Die vornehmfte Autorität zur Entfheibung der Frage
if ohne Zweifel, dad tridentinifche Concil. Dicke
Synode hat zwei Satzungen gegeben, bie bier in Betracht
lommen. In der einen Gtelle «), bie das fegefeuer ‚betrifft,
findet fich bie Behimmung, „daß hie. in demfelben befind»
Uden Seelen durch die Füsbitten der Gläubigen, vornehm⸗
lich aber durch dad angenehme Opfer baa Alters unterftügt
werden.” In ber andern Stelle b), welche dem ſichtbaren
Dpfer Berföhnungslraft für Lebende und Werfiorbene zuer⸗
kennt, lefen wir die Werte: „Darum wird daſſelbe vicht bloß
für die Sünden, Stuefen, Satiöfactionen und Bebärfniffe
ber Ichenden Gtäubigen, fondern auch für bie in Ghrifke
Berſtorbenen, bie wo nicht nollkommen ges
veinigt find c), in redter Weiſe nach der Heberlieferung
der Kirche dargebracht.
Daß diefe Sicden auf Beinen Fall ein beftimsetes und
directes Werbot des Todtenamten für Proteflanten enthals
ten, iſt für ſich ſelbſt einleuchtend. Solite ein ſolches Ver⸗
bot darin liegen, fo Könnte es nur indirect aus dem Zur
‚ fanmenbang erſchloſſen werben. Dieb wide nkmlich dann
der Ball fepn, wenn bie Mesfmale, welche bie Perfonen,
dia Gegenftand bei Fiubittopfers feyn koͤmmen, beſchreihen,
quf bingeſchiedene Proteſtauten durchaus nicht angewendet
werben dürften, Solcher Merkmale treten ums Drei em⸗
gegen: 1) dad Geflorbenfeyn im Chriſto; 2) der Mangel
an volftändiger Reinigung; 3) dad aus biefen heiben
Momenten fi ergebende Verfegtfeyn ind Fegefeuer. In
Betreff diefer Beſtimmungen ift num Nas, daß bie letztere
a) Sessio XXV. Decret, de purgatorio.
b) Seas. XXI. cap. 2.
©) sed et pro defunctis in Christo, nondum ad plenum purgatia.
Betrachtungen etc. aso
uch anf verflechene Brotefianden ihre Anwendeng bau
fände, wenn bie beiden erfiereu bei ihnen zuſammentraͤſen.
Nicht minder Yaz ift, daß auch der Anwendung des zweiten
Merkurals, des Mangeld an volfommener Reinigung, nichts
entgegenfleht; denn dad Minbefle, mad von Latholifchen
Standpunct in Betreff eined hingeſchiedenen Proteſtauten
ausgeſagt werden müßte, märe doch dieß, daß er nicht völlig
gereinigt and biefem Leben gegangen fey. Dagegen können
fi radfichtlich des erſten Merkmals, des Hingeſchiebonſeyns
in Chriſto, Zweifel: erheben und man kann katholiſcherſeits
fragen, ob auch ein im enangelifch«protstantiichen Miekennts
mig Hingefchiedener unter die „in Chriſto Werflorbenen”
ober, wie ed unmittelbax vorher ausgedrückt wird, unter bie
„Bläubigen” gerechnet werben hürfe oder nicht, Dieß ift
bie Hauptfrage und auf ber Beantwortung biefer Frage
wmbt das ganze Gewicht ber Sache.
2%
Gerade bien nun iſt aber auch der Punct, wo die Bas
thoikchen Behrer felbft auseinander gehen. Es gibt eine
Rrengere Auffaflung, welche jeben im proteftantifchen Be⸗
Beantniß Hinſcheidenden als ſolchen von ber Kategorie der
Slaͤubigen und bes Heiles Chriſti Theilbaftigen ausfchlieht,
and eiıe milbere Auffaffung, welche dieß nicht thut, ſon⸗
dern außer dem kirchlichen Bekenntniß auch noch auf Ande⸗
ved Nädficht nimmt. Schon WBellarmin unterſcheidet «)
unter den Sliedern Chriſti, d h. in feinem Ginne der Kin
We, folhe, die es der Wirküchkrit nach d), und folche, die
es der Möglichkeit nady <) find, und fließt auch die ie
teren von ber Wohlthat bed Meßopfera wicht ganz amd, Cr
fein zwar denkt hierbei nur an Perfonen, bie ſich nach am
2) De mina II, 6.
b) act.
©) potentia.
240 . Ullmann
Leben befinden, und will bie Unterfcheibung nicht angewendet
wiffen auf Verſtorbene, weil biefe entweder in Wirklichkeit
Glieder Chriſti ſeyen oder gar nicht “), Allein fpätere ka⸗
tholiſche Theologen haben den Gedanken auch, nach ber letz⸗
teren Seite hin geltend. gemacht, Diefe Theologen wollen
zwar den Sat, daß nur in der katholiſchen Kirche wahrer
Glaube und wirkliches Heil fey, nicht aufgeben, aber fie
fuchen ihn, einem unvertilgbaren Zuge chriſtlicher Liebe fol⸗
gend und von der dem Ghriftentbum entfprungenen Bildung
bebrängt, möglichft zu erweitern. Sie machen einen Unters
ſchied zwiſchen formeller und materieller Zugehörigkeit zur
Kirche, und indem fie fagen, daß da, wo ein aufrichtiges
Berlangen nad) dem wahren Glauben vorhanden fey und
im Wandel ſich fund gebe, auch ohne foͤrmliches Bekenntniß
doch eigentlich der katholiſche Glaube gemeint und gewollt
werde, folgern fie bieraus, es dürften auch für einen in
folcyer Gefinnung Verftorbenen, weil er doch feiner innerſten
Intention nach der wahren Kirche angehört habe und dars
um die Hoffnung des Heiled für ihn nicht aufzugeben fey,
die hoͤchſten Heilsmittel der Kirche in Anwendung gebracht
werben,
In diefem Sinne ſpricht ſich unter den neueren katho⸗
liſchen Dogmatitern Brenner b) aus. Er fagt im We⸗
ſentlichen fo: „Indem bad Concil von Trient. nur für bie
Rechtglaͤubigen opfern läßt, Tann es hierbei nur jene Ein.
richtung im Auge haben, nad) welder für bie außer der
Kirche Befindlichen Beine befondere, Öffentliche und feierliche
Liturgie flattfindet; aber die flile und allgemeine Darbrins
gung bed Opfers für dieſelben ift deßhalb weber unerlaubt
noch ungültig. Da jedoch die Synode nur die verfiorbenen
Rechtglaͤubigen nennt, auch die Liturgie nur auf ſolche ges
a) Defuncti aut sunt membra Christi actu aut nullo modo—
fat er a. a. O.
b) Degmatit, Do. 3, &.262--265,
Betrachtungen ıc. 24
richtet il, von einer noch jenſeits möglichen Belehrung aber
die Offenbarung fchweigt, fo kann nur für folche außer der
Kirche Verſtorbene das Opfer verrichtet werben, von denen
anzunehmen if, daß fie wenigftend materiell der Kirche
angehörten, was aus ihrem früheren Wandel, ihren Lebens⸗
verhältniffen und der Forderung bed Opfers für fie von Sei⸗
ten ihrer Glaubendgenoffen erfichtlich if, wo, wenn diefe der
Gemeinde bekannt find, auch eine öffentliche feierliche Liturs
gie abgehalten werden Bann.” Won diefem Standpunct aus
bat fi dann die mildere Praxis gebildet, von der uns aus
neuerer Zeit zahlreiche Beifpiele vorliegen, namentlich die
Abhaltung des Zodtenamtes für die drei Iehtverflorbenen
evangelifchen Regenten Badens; und ohne Zweifel in ſolchem
Sedankenzufammenhange geſchah es auch, daß nicht nur auße
gezeichnete katholiſche Theologen jegt wieder bem Erzbiſchof
riethen, in gleicher Weife zu verfahren, fondern auch billig
denkende Geifttiche dem Wunſch ihrer Gemeinden nach einem
Zobtenamte für den Großherzog Leopold nicht widerſtrebten =).
Diefer Auffaflung kann eine priftliche Milde gegen ans
beröglaubende Individuen und eine billige Würdigung
perfönlicher Eigenfchaften nicht abgefprodhen werben. Aber
es if wohl zu bemerken, daß diefe Milde und Billigkeit nur
gegen bie anderöglaubenden Einzelnen gehbt wird, nicht
gegen bie anderöglaubende Kirche. Im Gegentheil: ins
dem ber Einzelne ein Gegenftand der Heilshoffnung und
der Theilnahme nur dadurch wird, baß man annimmt, er
gehöre der wahren Intention nad) feiner Kirche eigentlich
) Diefer Gtandpunet ift burchgeführt in dem „Gefprädy über ben
katholiſchen Zrauergottesbienft für abgeſchiedene Proteflanten,”
Heidelberg, 1852, bei G. 8. Winter, befogpers in ber Bort-
fegung S. 6 ff. Das in gutem Sinne gehaltene Schriftchen rührt
wohl von einem ber Geiſtlichen her, die ein Zobtenamt gehalten
haben.
Tpeol. Sud. Jahrg. 1868, 16
242 Ullmann
nicht mehr an «), wird diefe Kirche felbft um fo mehr als
eine vom Heil entblößte bezeichnet. Alfo ehrend für die
evangeliſche Kirche ift freilich auch diefe Auffaflung nicht,
Aber ed gibt freilich eine andere Auffaflung, welche die obs
jective Strenge noch flärker hervortreten Täßt, indem fie auch
in Beziehung auf die Subjecte gar Feiner Ausnahme Raum
gibt. .
Die mildere Auffaffung räumt ein, daß unter gewiffen
Bedingungen auch ein hingeſchiedener Proteftant ober uͤber⸗
haupt afatholifher Chrift als ein „in Chriſto Werforbener”
oder als „Oläubiger” angefehen werden koͤnne; die firens
gere Auffaffung ſchneidet diefe Möglichkeit ab. Ste geht
noch weit entfchiedener von dem Grundfage aus, daß außer⸗
balb der Kirche Fein Heil fey, und geftattet nicht, daß man
dabei zwifchen formeller und materieller Zugehörigkeit zur
Kirche oder in Betreff Berftorbener zwiſchen Gliedern Chriſti,
die es der Wirklichkeit nach, und Gliedern, die e8 ber Mög»
lichkeit nady find, unterſcheide, fondern, indem fie alle Theil⸗
nahme an Chriſto und feinem Heil ganz an die Mitglieds
ſchaft der Kirche knuͤpft, unter ber Kirche nur die fichtbare
Batholifche, durch den Papſt geeinigte, und unter Mitglied«
ſchaft nur die durch förmliches Bekenntniß vermittelte äußere
- Zugehörigkeit verfteht, fommt fie nothwendig zum Schluffe,
daß, fo gewiß nur in der katholiſchen Kirche Chriſtus mit
feinem Heil und der wahre Glaube fey, eben fo gewiß Fein
außer dem Verbande dieſer Kirche Lebender ald ein „Bläus
biger” und kein außer ihr Hingeſchiedener als ein „in Chriſto
Berftorbener”” angefehen- werden koͤnne.
a) Dieß ſprach 4. B. der bekannte D, Derefer, bamals Latholis
ſcher Stadtpfarrer in Carlsruhe, in feiner Leichenrede auf Garl
Friedrich aus, indem er fagte, man habe für benfelben ein
Zodtenamt hälten Eönnen, weil er im ‚Herzen Katholik gewefen.
Die Aeuferung erregte jedoch in jener Zeit ſolchen Anftoß, daß er
verfegt werden follte und ſich diefer Verfügung nur durch feine
Gntfernung nach Luzern entzog. Darmſtadt allg. K.⸗3. 1852.
Rr. 101. ©. 818.
Betrachtungen ıc. 243
Dieb ift nım aud) der Geſichtspunct, der, wie man auch
fonft über ihn urtpeilen mag, die Sache wirklich Mar macht;
er gibt und für die Verweigerung des Todtenamtes einen
beffimmten, im Zufammenhange des Syſtems triftigen Grund,
Bon da aus if deutlich, warum für den lebenden Protes
fanten, welchem Stand er auch angeböre, das Mefopfer
dargebracht werben Bann, für den verfiorbenen aber nicht:
der lebende ift Gegenftand der Belehrung, der verflors
bene bat aufgehört, es zu feyn,? „Den Lebenden”, fagt Bels
larmin »), „ann daB Dpfer indirect nügen, und darum
auch indirect b) für fie bargebracht werben. Denn indem
wir ein Dpfer bringen für Ausbreitung, Einigung und Reis
nigung der katholiſchen Kirche, was body erlaubt if, wird
es auch indirert bargebracht für die Belehrung ber Ungläus
bigen und Haͤretiker. Auch befleht eine eigene Meſſe zur
Aufhebung des Schisma, und wenn nun gleich hierbei für
den Frieden der Kirche geopfert wird, fo gefchieht dieß doch
implicte auch für bie Schismatiker, auf daß fie nämlich
bekehrt werben.” Und weiterhin: „Das Opfer wird für
Glieder Chriſti auch dann bargebracht, wenn es bargebracht
wird fuͤr Einige, damit fie Glieder Chrifti werden” c), Vor⸗
nehmlich aber wird in diefem Zuſammenhang einleuchtend,
wie für verflorbene Proteftanten das Dpfer deßhalb nicht
dargebracht werben Tann, weil ed in Beziehung auf fie wirs
kungslos und unnüg wäre, „Es ift gewiß”, fagt ders
felbe Bellarmin d), „daß die Fürbitten der Kirche weder
®) De missa Il, 5.
b) Die directe Darbringung betrachtet Bellarmin als unerlaubt auch
in Beziehung auf Fürften, fobald fie Excommunicirte find,
ut sant reges haeretioi. Dagegen erklärt er fie für er⸗
laudt in Beziehung auf heidniſche Fürften, 3. B. die Beherr⸗
ſcher von Indien, Japan, China und der Türkei. De missa II,5,
e) Hierbei iſt immer feſtzuhalten, daß „Glied Shrifti” und „Glied
der katholiſchen Kirche” für Bellarmin ganz identiſche Begriffe
find.
d) De pargatorio If, 18., womit au verbinden de missa II, 6.
16*
244 Ullmann
den Seligen nügen, noch ben Berbammten, fondern allein
denen, die fi} im Fegefeuer befinden; denn die erfteren bes
dürfen ihrer nicht, die legteren koͤnnen durch diefelben Feine
Hütlfe empfangen” a). Der Claſſe der Geligen koͤn⸗
nen natlrlich von dieſem Geſichtspunct aus verftorbene Pros
teftanten nicht zugewiefen werden. Aber auch in bie Glaffe
der im Zegefeuer Befindlichen dürfen fie nicht gefegt werden,
denn wenn aud dad eine Merkmal bei ihnen zutrifft, der
Mangel an vollkommener Reinigung, fo fehlt doch das ans
dere viel wichtigere, das Hingefchiedenfeyn in Chriſto. Es
bleibt alfo nur bie dritte Claſſe übrig, diejenige, welcher ges
genüber die Werfegung ind Zegefeuer eine hohe Wohlthat
wäre;. und da in Beziehung auf biefe Claſſe eine Hülfe
durch Fürbitten unmöglich ift ‚fo kann die Kirche folche auch
nicht anwenden, weil es völlig unftatthaft wäre, eine heilige
Handlung da zu verrichten, wo man von beren Wirkungs⸗
loſigkeit überzeugt if,
10,
Der Srunbfag, dag außer ber Kirche kein Heil
‚fen, iſt als ein weſentlich und permanent katholiſcher zu be⸗
—8* Die bedeutendſten Symbole, wie das Concil von
Trient, der roͤmiſche Katechismus und das tridentinifche Be⸗
kenntniß, ſprechen ihn ohne irgend eine Milderung aus b),
und die Kirche als ſolche iſt babei immer fliehen geblieben.
&) non possunt javari.
b) Die tridentiniſche Synode beginnt bas Decret de peco. orig.
Sess. V. mit ben Worten: fides nostra catholica, sine qua im-
possibile est placere Deo. Die Profess. fid.Trid. hat die For-
mel; catholica ſides, extra quam nemo salvus esse potest. Und
der roͤmiſche Katechismus fagt, allgemein werde die Kirche
auch deßhald genannt, weil Alle, „die des ewigen Heils theilhaftig
au werden verlangen”, an ihr feflhalten müffen; — nur in ihr
ſey auch die wahre Anbetung Gottes und das wahre gottgefäls
lige Opfer zu finden. Cat. Rom. I, 10, 16. et I, 10, 19.
Betrachtungen ıc. 245
Die oben berührte Deutung, welche für die Möglichkeit bes
Seligwerdens eined Proteflanten Raum läßt, beſteht nur
als etwas Thatſaͤchliches unter Patholifchen Theologen und
Laien, aber principiell ift fie von ber Kirche nie anerkannt
worben. Im Gegentheil, wir haben bis in bie neuefte Zeit
ſehr beftimmte Erklärungen von Rom aus, welche ben Grund»
fag von ber alleinfeligmadyenden Kirche nicht nur in aller
Schärfe erneuern, fondern bdenfelben auch gerade mit der
Frage uͤberZulaͤſſigkeit des Kobtenamtes fürPros
teftanten in genaue Verbindung bringen, Papft Gre
gor XVI. in einem Breve an die Bifchöfe Bayerns vom
7. Mai 1832 verwirft aufs flärkfte die Meinung derer,
„die fich und Andere zu überreden fuchen, nicht in der roͤmi⸗
ſchen Kirche allein koͤnne der Menſch felig werden, fondern
auch Ketzer und in ber Kegerei Sterbende koͤnnten zum ewi⸗
gen Leben gelangen.” Auch; gab hierzu noch im Namen des
Papftes Cardinal Bernetti unterm 12, Sept. 1834 eine Ins
ſtruction, welche zugleich „jede Deutung Und Erläuterung
dieſes heiligſten Dogma's“ verwarf. Vor Allem aber ift bier
das Breve Gregor's XVI zu beachten, welches in eis
nem dem unfrigen ähnlichen Ball an den Bifchof von Augs⸗
burg erging. Diefer hochgeachtete Biſchof hatte bei dem
XZode ber trefflihen Königin Caroline von Bayern, einer
proteftantifchen Fürftin, entweder — benn hierüber ſchwan⸗
ten bie Angaben ®) — ein förmliches Tobtenamt angeordnet,
oder boch jedenfalls für den Trauergottesdienſt ein Mebres
res beflimmt, ald man in Rom für angemeflen erachtete,
und erhielt darauf unter dem 13, Febr. 1842 vom Papft eine
a) Eine in officielem Ton gehaltene Mittheilung ber allg. Beitung
v. 5. Juni 1852, Rr, 157. (Xugsburgd. 4. Juni) verfichert, der
Biſchof von Augsburg habe bei dem Tode der Königin Garoline
im Weſentlichen nur das Naͤmliche angeorbnet, was ber Erz ⸗
biſchof von Freiburg beim Tode Großherzog Leopold’s. Iſt bieß
sihtigg fo würde der Grabifcyof, nach dem päpftlichen Breve ges
meffen, nicht zu wenig, fondern ſchon gu viel gethan haben. -
.
246 Ullmann
zurechtweiſende Erklaͤrung =), in ber zugleich, wenn wir ein
ahnliches Schreiben an den Abt von Scheyern vom 9, Juli
1842 Hinzunehmen, die neuefte Auffaflung unferer Frage von
Seiten des römifchen Stuhles enthalten ifl, Hier wird das
in der augsburger Didcefe bei dem Tode der „akatholifchen”
Königin » Witwe Angeordnete tief beklagt und bann fo fortges
fahren: „Es war wohl billig, daß man ber verflorbenen Koͤ—⸗
nigin von Bayerndie bürgerlichen und ihrer Würde entſprechen⸗
den Ehren zu Theil werben ließ, aber wir ſprechen hier von
den katholiſchen Gebraͤuchen, die bei ihrer Beftattung
angewenbet wurden, und haben einen Brief vor Augen,
den Du am 19, Nov. hierüber an die Geiftlichen erlaſſen.
Da Eönnen wir nun kaum mit Worten ausdrüden, welchen
Schmerz wir im Gemüthe empfunden, ald wir baraus ers
fahen, daß Du befohlen, jene Öffentlichen Bitten, die für
alle in der chriftlichen und katholiſchen Gemeinfchaft Ver⸗
florbenen von der Kirche angeordnet find, follten für eine
Fürftin gehalten’ werben, welche, wie fie aufs offen.
Iundigfte in der Kegerei gelebt, fo aud in ber
felben geftorben iſt. Und es thut bier auch nichts zur
Sache, ob fie etwa in ihren legten Augenbliden durch bie
verborgene Güte des barmberzigen Gottes zur Buße erleuch-
“tet worden feyn koͤnnte. Denn biefe verborgeneren Geheims
niffe der göttlichen Gnade gehören nicht in den Bereich des
äußeren Urtheils der Firchlihen Gewalt, und barum ift es
durch die alte und neue Disciplin der Kirche verboten, daß
Menfchen, die in dem dußern und offenkundigen Bekenntniß
einer Härefie gelebt haben, im Tode durch die ka⸗
tholifhen Gebräuche geehrt werben, Und nicht
aufrieden damit, die katholiſchen Gebräuche bei biefer Ge:
legenheit vorzufchreiben, haft Du auch geboten, daß ber Zrauers
a) Sie iſt abgedruckt in ber berliner allg. Kirch. = Zeitung 1845.
Nr, 82, und 84. — und im Katholiken, erſtes Miheft 1852.
©. 21-426,
" Betrachtungen ıc. 247
sebner bie Hingefchiebene noch befonderd ben Gebeten ber
Gläubigen empfehle, und verboten, daß er etwas hinzufüge
zut Erklaͤrung des Unterfchiebes zwiſchen dieſer Beflattung
und der der Katholiken. Ja, Du haſt Dich nicht geſcheut, von
ihrem Tode ſo zu reden, als ob ſie von Gott aus
diefer Zeit zum ewigen Leben berufen worden
wäre. Wir begreifen nicht, wie daB von Die fo zuverficht⸗
lich ohne irgend weitere Erklaͤrung habe geſchehen und biefe
Behauptung vereinigt werden koͤnnen mit dem katholiſchen
Dogma von der Nothwendigkeit des wahren fa
tholiſchen Glaubens, mit bem Dogma, welches, un:
ter die vornehmften Artikel des Bekenntniſſes gehörig, auch
wir in einem Schreiben an bie Bifchöfe Bayernd aufrecht zu
erhalten empfohlen haben als ein beſonders zu biefer Zeit
noth: iged Gegengift gegen die herrſchende Seuche des
Indifferentismus =).
Hier haben wir etwas Klares und Beſtimmtes, zwar
nicht ein eigentliches Kirchengefeg, aber body die authentiſche
Erktdrung des Oberhauptes ber katholiſchen Kirche, welche
dahin geht, daß jedem hingefchiedenen Akatboliken, na=
a) Diefes Breve findet feine noch verfchärfende Ergänzung in dem
paͤpſtlichen Schreiben an den Abt von Scheyern vom 9,
Juli 1842, Bei ber Herftellung der Benebictiner-Abtel Scheyern
hatte naͤmlich König eudwig die Bedingung geftellt, es follten
daſelbſt bei-feinem einftigen Hinſcheiden, fo wie bei bem feiner
proteftantifhen Gemahlin Grequien gefeiert und aud für bie
Zukunft jährliche Bebächtnipämter gehalten werden, Gregor XVI.
diefe Webingung zurüdweilend, erklärte, die eier müfle auf
katholiſche Glieder des Haufes beſchraͤnkt bleiben, auf proteftan«
tiſche aber dürfe fie ſelbſt nicht in der Weile ausgedehnt were
ben, daß der Priefter das Mefopfer „pro defunctis e catholica
regia familia universie” applicire — „offenbar”, wie der Ka⸗
tholit a. a. O. ©. 426. fagt, „aus dem zwar nicht ausdrüdlich
beigefügten, aber in die Augen fpringenden Grunde, weil durch
eine ſolche Intention des Priefters das scandalum, quod fideli-
bus ex teli funere obvenit, Beineswegs gi wird.ꝰ
248 Ullmann
mentlich dem Proteftanten, als einem, der in offenbarer Kes
tzerei gelebt und geftorben, die Ehren bed katholiſchen Bes
gräbniffes und die Wohlthat des Tobtenamtes, ja ber Ges
bete der Gläubigen überhaupt, zu verweigern feyen, und zwar
darum zu verweigern, weil fich dieß nicht vertrage mit dem
Grundfage, daß außerhalb der Kirche Fein Heil fey, von
welchem in irgend einem Falle eine Ausnahme zu machen,
nicht geftattet ſey. Zwar wird hierbei gefagt, daß es fich
aur um dad AußereUrtheil der kirchlichen Gewalt handle,
vor welches die Gebeimniffe der göttlichen Gnade nicht ges
börten, und auch fonft macht man geltend =), daß es bloß
der dußere Richterfluhl (dad forum externum) der Kirche
fey, von dem bie, welche nicht Glieder der Kirche geweſen,
auch nicht als Glieder der Kirche angefehen werben koͤnnten;
allein, wenn man fi dabei zugleich ganz und gar & ben
Grundfag ftügt, daß außer der Kirche kein Heil fey, Und bie
Zugehörigkeit zur Kirche lediglich an das äußere Bekenntniß
Inüpftz; wenn man dabei das Katholifche fchlechthin mit dem
Chriftlichen identificirt b): fo hat bie Unterfcheidung zwiſchen
dem Urteil der Kirche und den Geheimniffen der göttlichen
Gnade eine Bebeutung, fondern Plingt nur wie Ironie,
Denn was hilft eine Moͤglichkeit, von der doch nicht anges
nommen wird, daß fie in irgend welchen näher beflimmten
Bällen zur Wirklichkeit werde? Die Fatholifche Kirche fagt
nicht bloß pofitiv, daß innerhalb ihres Bereiches die Seligs
keit gefichert fey, fondern fie fügt ausdruͤcklich die negative
Beftimmung hinzu, daß außerhalb ihrer Niemand fes
lig werden Fänge ©), und wenn babei auch nicht die foͤrm⸗
liche Sentenz ber Berdammung audgefprochen wird, fo konnte
dieß unterbleiben, weil es überflüffig war. Wird nur eine
"ganz beftimmte Zahl in die Seligkeit eingefchloffen, fo vers
*) 3. 8. im Katholiken, ſ. Maipeft 1852. ©. 422.
b) Bie das Breve es thut, indem es bie Formel gebraudt: „in
der katholiſchen und qhriſtlichen Gemeinfchaft”.
c) Extra guam newpo salvus esse potest — fagt das tribentinis
ſche Glaubenstekenntniß,
Betrachtungen ıc. 49
t-
ſteht fi, wenn nicht beftimmte Ausnahmen gemacht wers
den, die Unfeligkeit aller Ucbrigen von ſelbſt. Und daß fi
dieß auch verftehen folle in Betreff aller außerhalb der
Beren Kirchengemeinfhaft Werftorbenen, davon ift eben
die ausnahmlofe Verweigerung des Todtenamtes der unzweis
deutige Ausbrud, Denn wenn die Batholifche Kirche alle
Heildgnade fortwährend durch bad Meßopfer vermittelt
ſeyn laͤßt, fo ſchließt fie den, welchem fie dieſes Opfer vers
weigert, auch von ber Heilögnade aus, und thut fie dieß
ohne Unterfchied bei allen verſtorbenen Akatholiken, fo invols
virt dieß die thatfächliche Ausfchliegung aller von der Se:
ligkeit. Daͤchte ſie bei irgend welchen Perfönlichkeiten eine
Ausnahme möglich, fo müßte fie in theilnehmender Liebe
wenigſtens in Beziehung auf diefe einen Verſuch machen.
Die alte Kirche hatte eine Sage, welche in ſolchem Sinne
einen Zug zur Weitherzigkeit beurkundete: die Kürbitte des
Papfted Gregor des Großen follte den edlen Kaifer Trajan
aus ber Hölle befreit =) und auch fonft folte dad Gebet
frommer Chriften ein Gleiches bei einigen tugendhaften Hei⸗
den bewirkt haben. Wenn dem gegenüber die neuere katho⸗
liſche Kirche jeglichen Verſuch, etwas der Art zu erzielen,
von fi) weift, fo ift dieß ein factifcher Beweis, daß fie alle
ohne Unterſchied der Maffe des Verderbens zuzählt. Nimmt
fie aber erſt einmal diefen Standpunct ein, dann ift ed nur
eine Sache der Confequenz und namentlich die nothwendige
Folge von der Anwendung der Kategorie des „Häretikerd”, dag
den Alatholiten nicht bloß das Todtenamt verfagt werbe,
fondern zugleich die Fürbitte der Gläubigen überhaupt
und ber ganze Inbegriff kirchliche Begräbnißehren b),
und biefe onfequenz ift auch in dem oben angeführten Breve
deutlich genug gezogen,
a) Paulus’ Diac., vita 8. Greg. c. 27. Johannes Diac., vit. Greg.
L. II. c. 44. .
b) Negator ecclesiastica sepultura paganis, Judaeis et omnibus
iodelibus, haereticis et eorum fautoribas. Bit.
Rom, XXIV, 2, 27 et 28, Riqhter's Kirchenrecht, 9.278.
\
250 Ullmann
N
- 11.
‚Hiermit find wir in authentiſcher Weiſe auf den wirt:
Hiden Grund der Sache gelommen. Diefer Grund — die
nothwendige Folgerung aus dem Sage, daß außer ber Kir:
he Fein ‚Heil fey, — liegt einfach darin, daß für hingeſchie⸗
dene Proteftanten, weil fie als Häretifer außer der Gemeins
ſchaft der Kirche und eben bamit außer der Heildgemeins
ſchaft Chriſti verftorben find, auch nicht einmal ein Verſuch
gemacht werden koͤnne, ihnen dieſes Heil durch das Mep-
opfer noch zuzuwenden. Und zwar ruht diefer Grund wies
ber weſentlich darauf, daß ſich die römifch-Fatholifche Kirche
in ausſchließlicher Weife ald die allein hriftliche fest und
die von ihr formulirte Rechtglaͤubigkeit ſchlechthin mit dem
Glauben identificirt, Die unabweisbare Folge davon aber
iſt, daß der Afatholit, fo lange er lebt, dem innerflen Bes
fen nach nur als eine Aufgabe für bekehrende Einwirkung
und nach dem Tode nur als Gegenftand paffiver Trauer
betrachtet werden Tann,
Diefen Grund nach feinen Borausfegungen und Haupt«
folgerungen fpricht dad päpftliche Breve deutlich und uns
umwunden aud; es fteht in dieſer Beziehung mit ſich felbft
in Einklang und muß und wenigftend dadurch, daß es et⸗
was Triftiges gibt, befriebigen. Der erzbiſchoͤfliche Hirtens
brief dagegen läßt gerade diefe Eigenfchaften vermiffen, Er
fließt ſich, wie wir nicht zweifeln können, an daB befagte
Breve an — denn worauf anders follte die Hinweifung auf
neue Einfhärfung von Seiten des römifchen Stuhles ges
ben? — aber, indem er dieß thut und zugleich auf eine Dars
legung der Gründe fich einläßt, fpricht er doch den letzten,
eigentlich entſcheidenden Grund nicht aus und zieht nicht die
Folgerungen, die ſich nothwendig daraus ergeben müffen,
Er verfucht, während in ber That der Weg der firengeren
Praxis eingefchlagen wird, in feiner Rechtfertigung dieſes
Weges Milderungen, bie dem Zuſammenhang einer andern
Anſchauungsweiſe angehören, und kann daher nicht wirklich
überzeugen und zufrieden flellen,
Betrachtungen ıc. 251
Wir können und biefe Erſcheinung auf bem Stanbpunct
des Heren Erzbiſchofs ganz gut erklären. Der bezeichnete
Grund ift fo angethan, daß er nur ausgefprochen zu wer⸗
den braucht, um Widerfpruch bervorzurufen. Nicht bloß
ber Unglaube oder die weichliche Sentimentalität, fondern
das einfache und gefunde chriftlihe Gefühl lehnt fich bages
gen auf, wenn unter Nichtachtung deö Perfönlichen und In=
nerlichen, ber Glaubensgefinnung und Lebensbewährung, bloß
die aͤußere kirchliche Zugehörigkeit ald Bedingung für das
Hell und die Anwendung ber höchften Heilömittel geltend
gemacht wird, Darum befteht eine Scheu vor der beſtimm⸗
tem Darlegung biefer Gedanken. Aber wenn wir dieß bei
einem Katholiten, der doch auch der Pietät und Liebe ges
nügen möchte, fehr natürlich finden, fo koͤnnen doch wir un«
fererfeitö und dabei nicht beruhigen, fondern müffen natürlich
fo fagen: Macht man jenen Grund praktiſch zur Regel des
Handelns, fo fol man fi) dazu auch eben fo deutlich bes
kennen, wie e& Gregor XVI. in feinem Breve gethan hat;
trägt man aber Scheu vor diefem Bekenntniß, fo foll man
fi) wohl überlegen, ob ed mit dem Grunde felbft bie rechte
Bewandtniß habe und ob dad baraus abgeleitete Handeln
das richtige ſey.
1%
Noch bleibt und übrig, die Frage zu beantworten, wie
wir die Erſcheinung der erneuerten fchroffen Hervorkehrung
des befprochenen Grundfages zu beurtheilen und wie
wir als evangelifche Ehriften und dazu zu flellen haben.
Dffenbar haben wir es hier nicht mit einer iſolirten Er>
fdeinung zu thun. Es waren ja verſchiedene Beihaltungd:
weifen möglid) und unter biefen wurde diejenige gewählt,
welche der bisherigen Uebung, fo wie der herrſchenden Stim-
mung der Patbolifhen Bevölkerung entfchieden zumiberlief.
Sehen wir nun zu berfelben Zeit auch Anderes hervortreten,
was, einen gleichen Geift athmend, auf eine gleihe Quelle
zurüdweift, fo müßten wir und abſichtlich die Augen vers
252 Ullmann
ſchließen, wollten wir barin nit einen inneren Zuſammen⸗
bang erkennen. Es ift ein ganzes Syſtem, weldes uns
bier entgegentommt und nur eben in dem einzelnen Falle
feinen beſonders prägnanten Ausdrud findet,
Diefes Syſtem, getragen von einer berrfchenden Stroͤ⸗
mung innerhalb des Katholicismus, geht darauf aus, den
Standpunct der abfoluten Ausſchließlichkeit ber ka⸗
tholifchen Kirche in aller Strenge wieder herzuftellen. Natürs
lich, fo weit die Umftände es geftatten, Auf dem rechtlichen
Gebiete, in der dußeren Stellung ber Kirchen, geftatten fie
es zunaͤchſt noch nicht, Da ift durch den weftphälifchen Fries
ben unb bie deutfche Bundesacte auch ber evangelifchen
Kirche die gleiche Berechtigung gewährleiftet, ihre Kreife zu
ziehen, und dafür geforgt, daß die Wormürfe ber Apoftafie
und Kegerei nicht zur Anwendung kommen bürfen «), Aber,
was vom rechtlichen Gebiete ausgeſchloſſen iſt, das tritt uns
in den verfchledenften Aeußerungsweifen auf dem Gebiete
der kirchlichen Praxis, der Theologie, des focialen Lebens
entgegen. Da fagt man und durch Worte ober Thaten, in«
direct oder direct eine Menge fehr unfreundlicher Dinge, die
im Befentlichen darauf hinauslaufen: Ihr ſeyd Häretiker;
die Reformation, von ber ihr ben Ausgang genommen, war
nur ein großer Abfall von der göttlichen Orbnung, welcher
alle fpäteren Abfaͤlle, alles Revolutionäre der neueren Zeit,
zur nothwendigen Folge gehabt; euer Bekenntniß hat eis
gentlich Fein wahres, inneres Recht zu eriflicen; eure vor⸗
gebliche Kirche muß unvermeidlich der Auflöfung verfallen
und gebt berfelben bereitö fo fichtbar entgegen, bag man
ihre Tage zählen kann; auch werden die Völker zum vollen
Frieden, die Staaten zur wahren Ordnung, die Throne zur
unerſchuͤtterlichen Sicherheit erft dann kommen, wenn ber
Zuſtand wieder zurücgeführt feyn wird, in welchem die eus
=) Weſtphaͤl. Friedeneſchluß, Art. 5. $. 85. Deutſche Bunbesacte,
Art. 16. Bergl. Rilyter’s Kirchenrecht, $. 61.
Betrachtungen ıc. 2353
ropaͤiſche Menſchheit vor der Reformation ſich befand, wenn
insbefondere die Einheit, Macht und Herrlichkeit der katho⸗
Ufchen Kirche, in welcher allein Heil ift, in aller Fülle ers-
neuert feyn wird,
Im Sipne diefes Syſtems werben alle Verbindungs⸗
brüden mit der evangelifchen Kirche abgebrochen und alle
Anftalten getroffen, um eine moͤglichſt ſcharfe Scheidung
durchzufuͤhren; es wird die vollftändige Trennung ber Kir:
de vom Staate gefordert und ein Ziel angeſtrebt, bei wels
em angelommen, die Kirche felbft einen Staat im Staate
bilden und unter Befeitigung bed wirklichen Staates bie
Erziehung, die ganze höhere Leitung der Fatholifchen Bevoͤl⸗
Terung in ihrer Hand halten würde, Won felbfk verficht es
fi, daß im Bereich dieſes Syſtems die Proteflanten wes
ſentlich als Object befehrender Bearbeitung behandelt wer⸗
den, woraus fi dann in ber Praris die Sendung von
Miffionen auch in Gegenden von überwiegend proteflantis
ſcher Bevölkerung ergibt und bie hierbei, wie bei anderen
Gelegenheiten, hervortretende Vorliebe für den Orden, wels
er von Anbeginn in der Belämpfung bed Proteftantismus
ſowohl der eifrigfte, als auch ber erfolgreichfle gewefen iſt.
Bad werben wir nun hierzu fagen? Es fiheint mir,
dag wir vornehmlich viererlei zu fagen haben.
Er ſtli Wo jenes Syſtem und die damit verbun⸗
dene Geſinncch; die Oberhand gewinnt, da kann ber gute
Wunſch in dem ‚Hirtenbriefe des Fuͤrſtbiſchofs von Breslau,
daß zwifchen ben Gonfeffionen eine auftichtige gegenfeitige
Achtung, Dulbung und riftliche Liebesbewaͤhrung, ja ein
Zuſammenwirken zu chriftlich =fittlichen. Zwecken flattfinden
möge, leider nicht in Erfüllung gehen. Die äußere Gleichs
berechtigung — davon find wir ja audgegangen — hat ihre
volle Wahrheit und eine Bürgfchaft der Dauer nur, wenn
fie auf innerer Anerkennung, auf der Zuerkennung der Chriſt⸗
lichkeit rupt; und eben dieſe fittliche Baſis der Parität will
imes Spflem von Grund aus zerſtoͤren. So bleibt nur ein
254 Ullmann
erzwungener Friede übrig, hinter bem ber Krieg lebt, der
nicht außbleiben Bann, fobald bie dußere Nötbigung zurlicktritt.
Will man aufrictig den Frieden, fo muß man auch beffen
unerläßliche Bedingungen wollen, Berfagt man biefe Bes
dingungen, fo brängt ſich bie ſchmerzliche Ueberzeugung auf,
daß man in der That nicht den Frieden, fondern den Krieg
will,
Zweitens: Wir Binnen e8 Euch rechtlich micht
wehren, wenn Ihr und als Soldye, die des Heiles verluſtig
find, betrachten und als Objecte der Belehrung behandeln
wollt, wenn «8 Euch gefällt, font Gewährtes zu verfagen
und überall eine recht unüberfteigliche Scheidemand zwifchen
den Gonfeffionen aufzurichten, Auch werden wir nicht Gleis
ches mit Gleichem erwiedern, Wohl aber koͤnnen wir Euch
ernfilich und wohlmeinend zu bedenken geben, was daraus
folgt. Es Fann daraus nur fociale Verwirrung und natios
naled Unheil erwachſen. Die Mitglieder beider Kirchen les
ben faft in allen. deutfchen Landen gemiſcht durcheinander
und find durch taufend und abertaufend Beziehungen im
einander verflochten und auf einander angewiefen. Der
Verſuch zur Durchführung einer abfoluten Scheidung würbe
zwar unausbleiblid) am ber Macht des Lebens und feiner
auch bie gewaltigften Dämme überfluthenden Strömungen
ſcheitern; aber fchon als Verſuch müßte er nausbleiblich
die Wirkung haben, Unruhe und Unfrieden, jeteacht und
Gehaͤſſigkeit herbeizuführen, Daran aber, daß alsbald eine
Ueberwindung und Aufzehrung der evangelifchen Kirche din
treten werbe, koͤnnt Ihr doch bei nüchterner Ueberlegung
ſelbſt nicht glauben, Die Rebe von ber Selbſtaufloͤſung
des Proteftantismus if eine bloße Modephraſe. Im Ges
gentheil: feit er fich wieder mehr und mehr auf feinen wah⸗
ren Grund, auf den lebendigen Chriftus, auf das Wort
Gottes und auf dad Bekenntniß ber Wäter, ſtellt, feit er fich
wieber an feine Sendung gegenüber der geiftlichen und leibs
lichen Noth des armen Volkes erinnert, hat er offenbar fris
s
Betrachtungen x. 255
ſche Lebenskraft gewonnen, und je mehr ihm von außen zus
geſetzt wird, deſto mehr wird er innerlich erſtarken. Es moͤ⸗
gen Abfälle und Gonverfionen von beiden Seiten, vieleicht
in größerer Zahl, vorkommen, aber dieß wird in dem ges
ſchichtlich und fachlich tief begründeten Beſtand der beiden
Kirchen Feine wefentliche Weränderung hervorbringen. Sind
wir aber foldhergeftalt gebieterifch darauf bingewiefen, uns
bräderlich zu vertragen und gemeinfaom für bad Wohl des
Einzelnen, wie des Ganzen zu forgen: was follte benn das
bei herausfommen, wenn es gelänge, die Scheidung zwifchen
Katholiken und Proteftanten bis auf den Punct zu treiben,
daß fie in demfelben Staat wie zwei gefchiedene Voͤlker ein
ander gegenüberftänden a)7 Wahrlih wir find nicht fir
verwafchene Zoleranz und charakterloſe Wermifhung! Jede
Kirche fol ihre Eigenthümlichkeit behaupten! Aber ed thut
doch nicht bloß Scheibung noth, fondern aud Annäherung
und Einigung auf. wahrhaft hriftlihem Grunde. Die Aufs
gabe der Kirchen kann nicht fein, fich nieberzulämpfen, fon
bern in edlem Wetteifer um die Palme des heilfameren
Wirkens für dad große Ganze zu ringen. Und wenn dieſes
Verhältniß ſtatthaben fol, dann barf nicht ſchon der erſte
Grundfag, auf ben eine Kirche fich fügt, der ber abfoluten
Außfchtieglichkeit feyn.
Drittens: Diejenigen, welde die bezeichnete Ten⸗
denz verfolgen, find nicht gleich zu ſetzen der Tatholifchen
Ghriftenheit, ſondern bilden nur einen Theil berfelben auf
dem Grunde befonberer Interefien. Sie mögen, fobald man
den roͤmiſchen Ausgangspunct voraudfegt, die Eonfequenz
für fih haben; aber die Gonfequenz allein thut es nicht,
wenn fie nicht auf dem Grunde ber Wahrheit ruht, Die
a) Treffliche Bemerkungen über biefen Punct finden fic in einem
(wahrſcheinlich von dem älteren Thierſch herrührenden) Aufs
fag über die Bewegungen auf dem kirchlichen Gebiet in der all
gem, Zeitung v. 2. u, 8, Juni 1852, Rx. 154, und 155,
256 Ullmann
chriſtliche Wahrheit und Liebe aber wirb nimmer in die
Schranken diefes Syſtems eingefchloffen werben können. Das
Heil deffen, der gekommen ift, das Berlorene zu fuchen, der
alle Mühfeligen und Beladenen zu ſich ruft und die geifts
ich Armen felig preift, wird fich nie in ausfchließlicher Weiſe
an das Außere Bekenntniß zu einer formulirten Rechtgläus
bigfeit knupfen laffen =), und jede Kirche, die dieß thut und
ben legtlich entfcheidenden Werth ber inneren Bedingungen
des Heiled, der Buße und des lebendigen Glaubens, vers
kennt, wird im Laufe der Zeit entweder genöthigt feyn, ihr
Syſtem im Sinne der hriftlichen Wahrheit umzubilden, ober
fie wird an diefer Wahrheit und der aus ihr hervorgegans
genen Bildung feheitern, Denn jede Kirche ift nur Form
des Chriftenthums, und wenn Wefen und Form in Widers
flreit gerathen, fo Tann ein Zweifel feyn, auf welcher Seite
zulegt der Sieg feyn wird, Als Vorzeichen einer Umbil⸗
dung, wie fie eintreten muß, fol der Katholicismus einers
feits dem Geifte chriftlicher Liebe und andererſeits den ges
a) Wenn dem gläubigen unb zugleich qhriſtlich ernften Katholiken
ein evangelifger Mitbruder entgegenteitt, der auf bie Frage:
was ift bein einiger Troft im Leben und im Sterben? — in
Aufsichtigkeit die Antwort bes heidelberger Katechismus geben
Bann: „baß ic; mit Leib und Geele, beides, im Leben und im
Sterben, nit mein, fondern meines getreuen Heis
tandes Jeſu Shriſti eigen bin’: wirb er denn biefen
MWitbruder in Chriſto darum, weil er nicht derſelben äußeren
Kirchengemeinſchaft angehört, von Chriſto und feinem Heile
auszufcpließen wagen? Gr wird es bei einiger tieferer Beſin⸗
nung nicht thun koͤnnen. Und zwar darum nicht, weil ihm
das ganze Chriſtenthum zuruft, daß vielmehr Jeder, welcher Kir⸗
che er auch angehöre, vor Allem bie in jenen Worten fi auss
drüdihde Glaubensgefinnung haben muß, damit er bes
‚Helles in Ghrifto theilhaftig werde und bleibe, Leder wahrhaft
chriſtliche Proteftant iſt ein lebendiger Proteft gegen die Lehre
von der alleinfeligmadenden Kirche, und je größer die Zahl
ſolcher lebendigen Protefte wird, deſto weniger wird fich jene
Lehre Halten koͤnnen.
Betrachtungen xc. 257
gründeten Anſpruͤchen ber evangelifchen Kirche wahrhaft ges
recht werben, betrachten wir bie in ber Batholifchen Kirche
immer wieder auftauchenden Beftrebungen, die Schranken,
der Heilsgemeinſchaft chriſtlich zu erweitern, und das Vor⸗
handenſeyn zahlreicher Mitchriften katholiſchen Glaubens, wels
che, bie Gemeinfamkeit des Grundes in Chriſto und feinem
Evangelium freudig anerfennend, zuerft Chriſten feyn wol⸗
len unb nur von da aus auch Katholiken, Indem wir auf
fe binbliden, mit denen wir uns brüderlich verbunden fühs
len und in denen wir ein heilſames Gegengewicht gegen die
esdufive Richtung erkennen, geben wir die Zuverficht nicht
auf, baß beide Kirchen auch in Zukunft die Stelung ein⸗
nehmen werden, die Gott ihnen beflimmt hat: die St lung,
in ber fie ſich gegenfeitig ergänzen, anregen unb beleben
follen, bis es dem ewigen Lenker der Dinge gefält, auf We⸗
gen, bie wir jegt noch nicht kennen, eine höhere Einigung
berbeiguführen.
Endlich viertens: Alles hat fein Maß. Wie zu ans
dern ſtolzen Wogen, fo wirb Gott im rechten Augenblid
auch zu jener Strömung fprechen: bis hierher und nicht
weiter! Auch befteht noch eine irdiſche Macht von Gottes
Gnaden, welche richtige Schranken zu ziehen, bie Hohe Bes
Rimmung hat, Der Staat, dem gerade bie Reformation
das Bewußtfeyn und die Kraft gegeben hat, auch eine goͤtt⸗
liche Ordnung von felbfländiger Berechtigung zu feyn, wird
feine Aufgabe nicht darin finden, daß er zur Vernichtung
des veformatorifchen Werkes die Hand bietet und fich felbft
wieder in die alte Unterordnung ſtellt. Er wird — fo hofs
fen wir — gerecht feyn und Gott geben, was Gottes if,
indem er jeber Kirche diejenige wuͤrdige Selbftändigkeit ger
währt, die fie bebarf, um bie Heilskraͤfte des Chriſtenthums
frei und wirkſam zu entfalten. Aber er wird auch nicht
aufhören, barauf zu halten, daß man dem Kaifer gebe, was
des Kaifers iſt; er wird feine eigene Selbſtaͤndigkeit behaup⸗
ten und nicht zugeben, daß die Kirche, die zum Dienfte der
Tpeol. Stud. Jahrg. 1898, 1
.
258 Ullmann, Betrachtungen ıc.
Liebe beftimmt ift, eine Herrſchaft übe in ber Weife welt:
licher Macht,
5 Die Thatſache, die und zu biefen Betrachtungen geführt,
hat bei ihrem Auftreten mit Grund lebhafte Aufregung her⸗
. vorgerufen. Möge fie in ihren Nachwirkungen eine heilfame
Brut des Friedens tragen! Aber nicht eines oberflaͤch⸗
lichen Friedens, der nur auf Vergeſſen beruht, fondern eines
gründlichen, der aus chriftlicher Erkenntniß und Buße her⸗
vorgeht. Und Evangelifchen aber wolle der Herr geben, daß
wir immer fefter und gründen auf fein Wort und das barin
wurzelnde Belenntnig. Dann werden wir ſtark feyn in Ges
duld und Ausdauer, in Demuth und Gottesmuth, in der
Waffenruͤſtung der Gerechtigkeit und der Liebez und follten
dann Zeiten der Prüfung oder Sichtung eintreten, fo wers
den fie und nicht rathlos finden, fondern unfer Rath wird
von dem kommen, ber der Verſtand der Verflänbigen und
die Weisheit der Weifen iſt, der den Hoffärtigen widerfichet,
den Demüthigen aber Gnade gibt.
Miscellen
2
Erinnerung
an
Sohann Gottfried Eichhorn.
Den 16, Detober 1852 find e& Hundert Jahre, daß an
diefem Tage Johann Bottfried Eichhorn in Dörs
tenzimmern bei Dehringen in bem damals fogenannten
Rei geboren wurde, Er hatte ſich in dem zerfplitterten
deutfchen Waterlande auch ein befonderes Reich der Wiſſen⸗
ſchaft erobert, in dem er Jange Zeit hindurch faft wie ein
Alleinberrſcher mit einem felten vorgelommenen Anfehen res
gierte, Es war das orientalifch =biblifche Reich, Viele bed
gegenwärtigen Geſchlechts werben fagen, wie es bei Hiob
von der Weisheit heißt: „Wir hören ein Gerücht davon.”
Diefe möchte ich ermahnen, ſich nicht mit Citaten aus Eiche
born’s Schriften zu begnügen, fonbern wenigftens feine
„Einfeitung in das alte Teſtament“ felbft zu lefen, ein
Berk, dad nicht bloß der Gefchichte der altteſtamentlichen
Kritik anheimgefallen und darin eine Epoche bezeichnet, fons
dern ſchon wegen des für die Zeit feiner erſten Erſcheinung
bewunderungswuͤrdigen deutſchen Stiles, in bem es ges
ſchrieben, zu unſerer Nationallitteratur gehört. Wäre ed mir
möglich gewefen, zur biegmaligen Berfammlung der Driens
taliſten nach Göttingen zu fommen, wo Eichhorn als eis
ner der eifrigften Lehrer und fleigigften Schriftfteler 39 Jahre
gewirkt, fo würde ich an dem Drte, an dem er auch mich durch
feine lebendig anregenden Vorträge zuerft in den Orient und
in das alte Teſtament eingeführt, ein Wort über die zeitges
mäße vechte Feier feines hundertjährigen Geburtötaged ges
262 Umbreit, Erinnerung an I, G. Eichhorn.
ſprochen haben. Ich bin felbft zu fpät auf die bießjährige
Bedeutung des 16, Dctoberd aufmerffam geworden, um
meine dankbare Erinnerung an meinen treu geliebten Lehrer
und väterlichen Freund jegt anders zu befunden, ald durch
dieſes kurze fchriftliche Wort, welches freilih nun erſt post
festum im erflen ‚Hefte ber theologifchen Studien und Kris
titen in die Deffentlichkeit gelangen Tann. — Dreierlei habe
ich von meinem feligen Lehrer aus feinem Munde, aus feis
nen Schriften und aus feinem Leben mir abgezogen, was
ich unferer Zeit, in ber e8 bisweilen den Anfchein hat, als
geböre es zur chriftlihen Pflicht, Herder und Eihhorn
gerabezu über Bord zu werfen, an dad Herz legen möchte:
1) die Kritik der heiligen Schrift ift eine proteftantifchsfreie
Wiſſenſchaft; 2) die Auslegung derfelben muß, wenn auch
nicht allein, doch auch im Geifte des Drients geübt wers
den; 3) die Humanität und 'Pietät gehören auch zur Relis
gion und insbefondere zum guten deutſchen Sinn.
‚Heidelberg,
den 16. Auguſt 1862.
8.8. 6, Umbeeit.
Anzeigeblatt.
Bei Briedridh Perthes in Hamburg find erſqhienen:
Geſchichte der Europäifchen Staaten von Heeren und
Ufert. 2öfte Lieferung, 1fle arbtheitung, Be
Schäfer, Geraigte von Portugal, Ar Bd.
Subferiptionspreis 2 Thlr. 8 Sir.
Einzelpreis
Pe SE tg grtem
Ritter, Dr. 8. Geſchichte der Phitofopbie, Per Band,
It. 28 Ser.
Gleichzeitig bildet dieſer Theil
ben 7. Band der chriſtlichen Philoſophie
un
den 3. Band der neueren Philofophie.
Der 12te Band, der dad Merk befchließt, erfcheint in
Iabreöftift,
Zu Weihnachtsgeſchenken feien empfohlen:
:&; funfzig Zabeln für Kinder,
bey⸗ Speer, Kun, Por gende 1 ah, 36 Sur.
Ri ⸗ eat, ⸗ »— :
. 9 2— :
hutausgbe, gebunden 15 Ser,
— mit franzöf. Tert, kaman, 88
Thlr. 5 Ser,
s RA gebunden
2 Thir
— — — — —
99, Etzaͤhlungen aus dem Leben af fir die Der
im und feine Kinder. Fr a
General Graf Hobeim und fi “ au,
Niebuhr, Heroengeſchichten. 2. Auflage, 12 Ser.
ollack der Lauf bi it. Ein Gebiht in 10 Ges
po fä —* — Pr wen mie bunden
gr.
Ueber den Seelenfrieden. 5. Auflage, 1 The,
Strauß, B., Lieder aus der Gemeinde, ih Callico geb.
Ir, 22 Gar.
Vibliſche Beipnachtögabe für At und Iun
\ il ur —RX un Fabir. 6 Sgr.
In Maroguin gebunden 1 Th, 2 Sgr,
te Brieeid u. Audrere Pertgen In Hamburg u. Gotha
ußgegeb
a en eeg
Dar Sehrganz von 4 Heften Toftet Thit.
"Inhalt deſſelben:
11) Richtungen und Aufgaben der Dogmatik in gegen⸗
wärtiger Zeit. Vom Herausgeber der Zeitfchrift,
12) Ueberficht der kirchlichen Literatur vom Jahre 1825
bis zum Jahre 1850, Ite Abtheilung (f. 28 Heft
151 u. 18 Heft 1852), Bon De Engelhardt in Ers
langen.
Das 1. Heft bes Jahrganges 1858 dieſer Zeitſchrift seideint
gleichzeitig mit dem vorliegenden ber Fheologifchen —— und Kris
titen und wird den Leſern berfelben beftens empfohlen,
Berner find in bemfelben Verlag erfchienen:
Tholud, Dr. A. der Geift der lutheriſchen Theologen Wits
tenbergd im Berlaufe des 17. Jahrhunderts, theilweife
nad handſchriftlichen Quellen. Geheftet 2 Thlr. 4 Sgr.
C. Plini ‚ Sermadi naturalis historiae. libri XXXVII
Sillig. Tom. I. II. V. gr. 8. Gebeftet.
—— — a Band ji Zhlr,
Ladenpreis & Band Thlr.
Tom. III. IV. u, VI. iſcheinen in kurzen Pr A)
Carmen der bie
Reuen Se laene von de Perfon Se ihre vb biSHf
tifch entwidelt. Ir Bd. 2 h
* Ba Band (Shtus) —A den naͤchſten da
fandt,
Chronicon — Werjagorum, Russorum
nec non Danorum Suevorum, Norvegorum etc.
auctore Dr. Fr. C. H. Kruse. gr. 4. ——
Glossarium diplomaticum, zur Grläuterung fmieriger,
einer diplomatifchen,, biftorifchen, fachlichen oder
ertlaͤrung bebürftigen lateiniſchen, hods und Pen
niederdeutfchen Wörter und Formein des gefammten Mit«
telalterd. Mit urkundlichen Belegftellen perfeben von
Dr. Eduard ——— Balı Seheftet. I. 18
bis 58 Heft. Subferiptionspreis & Heft 15 Thir.
Bu Melhnaqtegelcenten empfthlen wir:
Hey: Schneider, das Kind von der Wiege bis FR © un
Gartonnirt 15
Schneider» Kohlrauſch, Bildniſſe deutſcher Kaifer von Karl
dem ht a ne | In eine
DO Livier, Fr., Bilderbibel, mit Text von v. Schubert,
Neue Ausgabe 2 Zhle. 20 Ser,
Diaz de Gaſtillo, Meriko, 2 Bde. Gartonnirt2 Thlr. 6 Sgr.
Umbreit, neue Poefien aus dem Alten Teftament. rum
Schald, wache und bete, Einer Mutter Geleitsworte_ an
ihre Tochter. 18 Ser.
PH a . in ſchoͤne Gabe an heranwachſende
in
a Se in Berlin find erſchlenen und in allen
23. 8, Selsicte der ont Aue
onfismation innerhalb ber evangeliſchen
18 Bog. gr. 8. broch.
. 8, Grab büdlein. Mit ei
hange 3,8 ee — " 3 En.
er, E., Prebiger in Berlin, Kirchlich es Lehrblatt,
Bas De Fahıgang von Nummern Foftet 15 Sgr.
— — Lehr: und Betenntnißlieder ber evangelifchen
Kirche, Erklaͤrt und mit hiſtoriſchen Einleitungen vote
ben, nebſt einem Anhange über Privatbeichte und Kir
chenzucht. 14 Bog. 8, 15 Sgr.
Bonnet, &,, die Familie zu Bethanien oder Betrach⸗
tungen über das elfte Gapitel des Evangelium Johan«
ned. 14 Bog. 8. broch. 15 Sgr.
Brieger, C. F., Ver ſuch einer bibliſch⸗ſachlichen u. ſprach⸗
35 Gettärung bet Meinen Iutherifhen Katehiämuß.
Hauptftäd I—V. Zunäcft für Lehrer, 2, verb, und
vermehrte Auflage, 14 Bog. 8. 125 Sur,
Zrohnd „K. BE, Prof,, über die Bedeutung
eriind in der großen Kıifis unferer Zeit. Ein Vor:
trag, den 10. März 1852 gebalten. broch. 4 Ser.
Tyßka, K. F., Pred, Getbfemane, Maria und Gol
rs Zwei liturg. amahtn und eine Abendmahlds
Prier für die Leidenswoche unferes hochgelobten Erlöfers,
des Gotts Menſchen Jeſu Chriſti, Zufarmmengeftett und
mit den noͤthigen Mufikbeilagen verfehen, Me 8.
gr
Euchiridion, Dr. Martin Luthers Peiner Katechismus für
die gemeinen Pfarrheren und Prediger, Nach ber Cons
cordia von 1580, den Zeittenbergen und Ienact Tomis,
mit Berüdfihtigung ber erften uegabe des Endiridion
v. 3. 1529 _und mit einem kurzen Nachworte herausge-
gem von 8.3.3. Schneider. 1 Bog. fleif broch.
jeim Verleger 1 Sgr., im Buchhandel ‚14 Sgr,
Bei 8. 6. W. Vogel in Leipzig erſchien ſoeben:
Festbriefe, die, des heiligen Athanasius,
Bischofs von - Alexandria, Kür dem Syrischen
übersetzt und durch Anmerkungen erläutert von
F. Larsow. Mit 3 Karten, gr. 8. br. 27 Ngr.
Bei. 8. Unzer in i
Pi augen In Rinigtberg iſt erſchlenen und durch alle
Chriſtliche Dogmatik
Sohannes Seneid Auguſt Ebrard,
Doctor u. orbentl. Profeffor ber ref. Theologie zu Erlangen.
2 Bde. Geh. 54 Thlr.
Der Berfafler will keineswegs bloß eine Hiftorifhe Dars
fellung ber alten seformisten Dogmatil geben, noch
aud eine Apologie berfelben; er giebt, wie er in ber Borrebe
pm erfien Bande ſich feldft ausfpridt, eine auf felbfiftändigen
iblifhstpeologifhen Unterfudungen ſich aufbauende, in
dogmatiſcher Terminologie ſich vollendende „, hriftliche Dogmatit”,
weiche nur in bem @inne eine „veformirte” ift, daß fie einen Theo⸗
Iogen ref. Belenntniffes zum Autor bat, nicht aber in dem Ginne,
daß derfelbe darauf ausginge, bie Saͤte der altref. Dogmatiker als
foldye um jeden Preis rechtfertigen gu wollen. So treu und objecs
tio er ihr Gyftem und ihre Gäge dargeftellt hat, fo offen hat
ex fih erlaubt, Unentwideltes (4. B. bie Eschatologie) zu entwideln,
und fchief Entwickeites (4. B. die Lehre von der Bnadenwahl) neu
und anders zu entwideln, während er dagegen in ben Lehren von
der Perfon Ehriſti, von dem h. Abendmahl und von der Kirche durch
De d. Schrift felbft mit aller Enticiebenheit auf die zeformirte Lehre
geführt worben if. In dem Dogma von ber Perfon Gprifti dürfte
die dogmenhiftorifche Unterfuhung über bie von Zwingti und Galvin
erneuerte alttatholifdhe und bie von Luther getheilte fholas
ſtiſche Srundaaſchauung nicht ohne Intereffe fein. In einer Zeit,
wo die confeffionellen Differenzpuncte fo viel befprochen werden, wirb
wohl einem Jeben, weicher Ridtung ex audy angehörte, ein Werd
willfommen fein, worin er über bie altreformirte Dogmatit eine
treue, unparteiifhe und unentftellte Belehrung findet. Und
diefe findet er hier, da ber Autor feine Kritik der altref. Dogmas
tũ von feiner hiſt oriſchen Darftellung derfelben überall ſcharf
gefondert Hält.
In ber E. H. Beck ſchen Buchhantlung in Mörblingen if fo
eben erſchienen und burdy alle Buchhandlungen zu begiehen:
m, Dr. Guſtav, die Religion und das
Recht der Welt nebft einem Anhang über den mos
raliſchen, geifligen und politifhen Charakter unferer
Zeit, gi 8 eh XXX und 232 Seiten, Preis: HNgr.
ober 1 fl, 36 fr, ° .
80 eben ist erschienen:
Das
2 ®
. Evangelium Marcions.
Text und Kritik
mit Rücksicht auf die Evangelien des Märtyrers Justin,
der Clementinen und der apostolischen Väter.
Bine
Revision der neueren Untersuchungen nach den
Quellen selbst
sur
Textesbestimmung und Erklärung des
Lucas-Evangeliums.
Von
Dr. Gustav Volckmar,
ordeatlichem Hauptlehrer der alten Sprachen.am Gymnasium
za Fulda.
Leipzig, August 1852.
Weldmann’sche Buchhandlung.
So eben erſchlen bei Langewieſche in Barmen:
Die Neden des Herrn Jeſu.
Andeutungen für gläubiges Werftändnig derfelben
von Rud. Stier, Dr. ber Theol. ıc.
Verbefferte und vermehrte 2ta Auflage, 2ter Theil,
Preis für Thell 1. u. 2, Cinfonderpeit nach Matthäus) 4 Thlr.
Der Ste Theil (nad) Markus und Lukas) if unter ber Preffes
Zeil &—6. (nad Johannes und die legten Reden Jeſu nah
allen & Evang.) find noch in der erſten Auflage zu baben. Der
nuepe Beuttheiler dieſes allerwärts anerfannten eregetis
ſchen Hauptwerkes fagt unter Anderm: „Ueber bie Bedeutung
bes Werkes hat Kritik wie Gebrruc Hinlänglich entichieten:_ das
Bud ift im vollften Sinne tes Wortes praktiſch, eine Bers
tiefung in das Eeben, Wirken, Reden bed Deren. Mag man,
welcher Säule man will, angehören, ben verfhiedenften Eritifchen
ingipien huldigen 2c, —, mit dem praßtifhen Stier, der
eues, EinfahsTiefes aus den Schachten hervorbringt, wird
man gern und freudig zufammengehen. Bür den Homileten
bietet das Bud einen reden Schay” uf. w.
Beiefirift, gie bie uniste evangelifhe Kirche 1832, DB, XII.
Soeben if erſchienen und in allen Buchhandlungen vorrätig:
Dr. ©. H. von Schubert’s
kleine Erzählungen für die Jugend.
‚ Bweiter Band,
gr. 8, geh. 24 Rar., geb, 27 Nor.
Bee a Fe er l Eenae
er er —* — mr — Rifchen Sea
Palm u. Enke.
Bei Banbenhoed u. Ruprecht in Göttingen If erſchlenen:
Kritiſch⸗ epegetifcher
Commentar über Dad Neue Teftament
von Dr. Heinr. Aug, Wild, Meyer,
. 12te Kötheitung. °
Auch unter dem Titel:
Kritifhzeregetifhes Handbuch
über die Briefe Petri und den Brief des Judas
von Dr. Joh. E. Huther.
gr. 8. geb. 842 Geiten. Preis 1 Thlir. 5 Ggr.
Im Berlage ber Ricolai’ 8 lung in Berlin:
PA se. Ten Buchhandlung ft fo
Die Kanzelberedfamteit Luthers
nach ihrer Genefis, ihrem Charakter, Inhalt und
ihrer Zorm,
von E. Jonas,
Prediger an St. Gertrud in Gtettin, Ritter.
Geheftet. Preis 2 Thir.
Der Berfaffer hat, wie er Im Vorwort fagt, ſich bemäht, ein
Bitb von dem größten Kanzelredner Deutichlands zu ent⸗
werfen, und es an Studien nicht fehlen laffe baflelbe mit 8 Su gs
eigenen Worten barı ie nahen auf das Mi fs
nertſam, zumel es ni allein für Geiftliche, ſondern ua für
taten von großem Intereffe fein wird, indem es ben keſer
genaltigen Kaͤmpfe ber eformatii die Wahrfeiten
ie geſtritten wurde At —* rg nö, weichen bie da
göttlichen Wortes für alle vwieder recht deutlich
vergegenwaͤrtigt.
ai De en erfätian une bus air Bujanklungen ku dr
Sn:
Die Apoftelgefhichte
oder der Entwidelungsgang der Kirche
von Jeruſalem bis Rom.
Ein bibliſch⸗ hiſtoriſcher Verſuch
von
D
A. Yaruıgarten,
Doctor ber Philofoppie und Theologie, Peofeffor in Boftod.
weiter Theil, erſte Abtheilung:
Bon Autiochia bis Korinth.
AB gr. 8. 28 Bog, geh. 1 Ahlx. Sgr. "
ein bie dieſes Wert beim des ers
ften he —S Geige ve in der ae endhcfpee
Gene Anfiht, baß bei dem Reichtfum unferer eregetifhen Literatur
* —— — — gerade der Apoſtelgeſchichte fo ſehr
m fi
— wie nun das Erſcheinen ber erſten Hälfte bes zweiten
Theiles ankündigen, fügen wir nod hinzu, daß ber gelehrte und
gli: ‚Here Werfafler tn diefem Werte — einen Bofttiorn
ſchritt in dem Bepändnie jenee heiligen Urkunde barftelt.
liefert zum erften MR Rachweis daß die Apoftelgefgichte *
abgerundetes, in ſich fortſchreitendes Ganzes ift, welches in
dem Kanon ber heil. Sqheitt ein weientliches Slied bildet. Die 4
reiste Entwidelung, die eigentlihe Gubftanz bed Buches,
det ich burdiweg auf bie forgfältigfte Auslegung des Festes,
18 zeigt in lebendiger Klarheit nicht nur zu dem bisherigen Verlauf
der Gefcichte bes Beiden Gottes den großartigen — ſondern
Pr neilagenb die Grundfäben zu dem Gewebe der ganzen Kirs
Torte heit, been gmeite Aitfellung in Rargem vr
fäelnt, — four Tnfünge der Heiden Kifgtiden
Satroidelang, in welger wi “
Kokzange von Antiodte dis su Wem Ahfhtafe ia Ram.
In der Weldmann'schen Buchhapdlang in Leipzig sind erschienen:
Kurzgefasstes exegetisches Hand-
buch zum Neuen Testament. Von.Dr. W. M. L. de
Wette. 1. Bd. 3. Theil. Evangelium und Briefe
Johannis. Vierte Auflage, earbeitet von Dr.
B. B. Brückner. gr. 8. 1 Thlr. 75 Ngr.
De Wette’ s Handbuch zum N. T. ist jetzt wieder vollständig
zu haben und besteht aus folgenden Abtheilungen :
1, 1. Rrangeliam Matthäi. 3. verb. Anl. 1845. 1 Thlr. — Ngr.
= 2. Eraugelium des Lucas und Marcas. 9. verb,
Ad. mn Wr
- 83. Evangelium u. Briefe Johannis. 4. stark
verm. Aufl., herausg. v.B.B.Brückner.
Be Th-
- 4. Apostelgeschichte. 3. verb. Aufl. 148 .— - 18) -
11, 1. Brief an die Römer. 4. verb, Aufl. 1847. — - -
=" % Briefe an dieCorinther. 2. verb.Auf.145. 1 - 4 -
7%. Briefe an die Galater und ‚Thessalonich
2. verb. Au. 1665 . » . .— - 18h-
= 4. Briefe an die Coloser, Philemon, Ephesier
und Philipper. 2. verb. Aufl. 184) - m -
= 5. Briefe an Titus, Timothens u. die-Hebräe:
2. verb. Aufl. 197 o. 1
UI, 1. Briefe desPetrus,Jadasund Jacobus.1847° — - 2% -
-" 2 Offenbarung Johannis. 148 » . + - 2E-
Kurzgefasstes exegetisches Hand-
buch zum Alten Testament. 1. Lieferung. Diekleinen
Propheten, erklärt von Dr. F. Hitzig. Zweite
Auflage, gr. 8. 1 Thlr. 224 Ngr.
— — — 2. Lieferung. Hiob, erklärt
von Ladwig Hirsel. Zweite Auflage, durchgesehen
von JustusOlshausen. gr.8. 1 Thlr. 74 Ngr.
Die folgenden Lieferungen enthalten:
Air, Jeremia, erklärt von F. Hitsig 1841. . 1 Thlr. 2 Ner.
IV. Sanmel, erklärt von O. Thenius. 189% 1 -
V. Jesaia, erklärt von A. Knobel. 158 . I - 25 -
VL. Richter und Ruth, erklärt
BB le A-
VII. Sprüche Salomo’s, erklärt v.E. Bertheau;
Prediger Salomo’, erklärt y.P. Hitzig-
1 er tTelnn el- —-
YUL, Der Prophet Bsechiel, erklärt v. P-Hitzig. 18
ee ech - -
IX. Die Bücher der Könige, erklärt von O. The-
Di. 19. 0 R- R-
X. DasBuch Daniel,erklärt v.F.Hitzig. 1880. 1 - — -
Im Drucke befinden sich:
Die Bücher der Chronik, von E. Berthoaa.
Der Pentateuch, von A. Knobel.
Gerda, Drat der Engeltarb « Reykeriien Sefbuerndrre.
Theologiſche
Studien und Kritiken.
Eine Zeitſchrift
für
das gefammte Gebiet der Theologie,
ö in Verbindung mit j
D. Gieſeler, D. Lüde und D. Nitzſch,
herausgegeben
von
D. 6. ullmann und D. F. ®. €, Umbreit,
Yeofefforen an ber Univerfität zu Heidelberg.
Sahrgang 1853 zweites Heft, _
Hamburg,
bei Brtebrih Pperthes.
1858
Kbbandlungen
Tpeol. Stud. Jahrg. 1868, 18
1.
Ueber
die Stellung’ der Apokryphen bes. alten Teſta⸗
mentes im chriftlichen Kanon,
Don B
D. $r. Bleet.
1, Der Begriff der altteffamentlichen Apokryphen wird
bier in dem Sinne gefafit, worin er geſchichtlich in der pros
telantifchen Kirche gebräuchlich geworben if, Ueber den
verfiedenen Gebrauch der Benennung apokryphiſch,
Apokryphen, in derälteren Kirche in Beziehung auf
Schtiften vergl. Giefeler: „Was heißt apokryphiſch ?”
in d. Stud. u, Krit, 1829, H. 1. S. 141-146. Urfprünglid)
ſcheint die Benennung nicht in ſchlimmen Sinne gebraucht
u ſeyn und nicht im Gegenfage gegen das Kanonifche, fons
dern nur gegen dad Deffentliche, in Beziehung auf ſolche
Säriften, von benen angenommen oder behauptet ward,
daß fie aus früherer Zeit auf dem Wege geheimer Ueber⸗
lieferung ſich erhalten und fortgepflanzt hätten, Beſonders
ſcheint das Wort in diefem Sinne bei gnoftifhen Parteien
in Gebrauch gewefen zu feyn, für Schriften, auf welche
fie ſich für ihre Lehre vornehmlich ſtuͤtzten, welche fie anges
fehenen Männern ber Vorzeit beilegten. So fagt Clemens
Alex. (Strom. 1,15. $.69.), daß bie Anhänger des Prodikus
fi rühmten, PlBAovs dmonpügpovg des Zoroafter zu befigen.
18*
268 Bleek
Je groͤßeres Gewicht aber die Haͤretiker auf ſolche Schriften
legten, deſto verdaͤchtiger waren dieſelben ſchon aus dieſem
Grunde den Lehrern der rechtglaͤubigen Kirche; fie betrach⸗
‚teten fie ohne Weiteres — und im Allgemeinen mit Recht —
als fpätere untergefchobene Machwerke häretifchen Inhaltes,
fo daß ſich daher bei ihnen an ben Begriff des Apokryphen
von felbft der des Untergefchobenen anknüpfte; vergl. 3. B.
Iren. adv. haer. I, %0.: dz6xgvpor xal v6da yoapal.
Constitutt. apost. VI, 16: al dv zoig zelmoig dE zıysg
suvlygayav Bıßlle dæaoxouvpa Mwüciog xal ’Evdy xal
Addu, ‘Hoalov ze xal Auvld xal’Hlle xal züv rouõv
zargiagzüv, pdogoxoik xal.ris dAndelng dydgd, u. A.
Niemals aber wird in den erften Jahrhunderten diefe Bes
nennung in Beziehung auf biejenigen Schriften ober eine
einzelne berfelben gebraucht, welche wir unter ben Apokry⸗
phen des A. T. verfichen. So werden biefe Bücher, wie
die Weisheit, der Sirach u. f. w., auch noch fowohl vom
Athanafius (Epist. festal.), ald vom Ruffin (Expos.
symb. apost.) zwar von ben kanoniſchen Büchern des A. T.
außbrüdtich gefchteden, aber eben fo ausbrüdlich von apos
kryphiſchen Schriften, und. als eine mittlere Claſſe hinges
ſtellt — bei Athanafius und in ber ihm folgenden Syno-
psis script. sacrae als Lefeblicher, BıßAla dvapıynaxs-
peve, bei Ruffin als kirchliche, libri ecclesiastici. An-
ders ift e8 bei Hieronymus, der unter Apocrypha alle
ſolche Schriften umfaßt, welche durch Titel oder theilwelfe
Anerkennung in der Kirche darauf Anſpruch machten, den
Banonifchen Büchern gleihgeftellt zu werden, ohne dazu bes
rechtigt zu feyn , ohne Rüdficht darauf, ob ſolche Schriften
duch ihren Inhalt ganz verwerflich feyen, oder wenigftens -
theilweife zum Lefen zu empfehlen. Gr fprict daher zwar
in les. c. 64. von Apocryphorum deliramenta — in
Beziehung auf Schriften wie die Ascensio Iesaiae und die
Apocalypsis Eliae, und in Habacuc. c. 2. von einem
gewiſſen liber apocryphus stultitiae condemnandus,
üb. d. Stell. d. Apotepph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 269
und in der Vorrede zum Esra und Nehemia aͤußert er ſich
wegwerfend von den somniis apocryphorum tertii ‘et
quarti libri (des Eöra); aber in dem Prolog. galeat.
in libr. reg., wo er bie fämmtlichen Bücher des hebraͤi⸗
ſchen Kanons namentlich aufführt — ald 22, oder, wenn
Ruth und Klagelieder als befondere Schriften gezählt wuͤr⸗
den, ald 24 — ſagt er darnach: Hic prologus scriptura-
rum quasi galeatum principium omnibus libris, quos
de Hebraeo vertimus in Latinum, convenire potest, ut
sire valeamus, quidquid extra hos est, inter
apocrypha esse ponendum, und fährt dann fo
fort: Igitur Sapientia, quae vulgo Salomonis inseribi-
tur, et Iesu filii Sirach liber et Iudith et Tobias et
Pastor (am wahrfcheinlichften doch der Paftor des Hermas)
non sunt in canone, fo daß er alfo diefe Buͤcher —
und nach bem unmittelbar Folgenden auch bie beiden Bücher
der Makkabaͤer — mit unter bie Apokryphen rechnet a), So
it ed von ihm auch wohl in der Epist. 7. ad Laetam ge:
meint, wo er in der Belehrung diefer Witwe für die Unter
weifung ihrer Tochter Paula, nachdem er bargelegt, in wel«
her Reihenfolge diefelbe die kanoniſchen Bücher des A, und
N. T. leſen fole, fortfährt: caveat omnia apocry-
pha, et si quando ea non ad dogmatum veritatem,
sd ad signorum reverentiam legere voluerit, sciat non
eorum esse, quorum titulis praenotantur, multaque
his admixta vitiosa, et grandis esse prudentiae, aurum
in luto quaerere. Vergl. auch feine Vorreden zu den Buͤ⸗
&erm Tobi und Judith, wo er fagt, daß die Hebraͤer dies
felben unter den Apokryphen haben; denn fo ift wahrfchein> -
7
a) &o aber auch wohl ſchen Gyril! von Jeruſale m In Cato-
ches. IV, 33., wo er den von ber Kirche anerkannten Buͤchern
des A. u. N. T. bloß duöngupa entgegenftellt und als bie
Bücher des X. T. nur die 22 des hebräifchen Kanons — bloß
mit Cinſchluß des Buches Baruch, als mit zum Jeremias ges
Hörend — namentiich auffuͤhrt.
270 Brleet
lich an beiden Stellen ſtatt hagiographa, bad die früs
beren Ausgaben haben, mit Martianay nach einer alten
Hanbfehrift zu leſen. In der Worrebe zu den falomos
nifhen Schriften aber fagt er von ben Büchern Judith,
Zobi und ber Makkabaͤer, daß die Kirche biefelben zwar
leſe (legit), aber fie nicht unter bie kanoniſchen Bücher aufs
nehme, und fordert daffelbe in Beziehung auf die Weisheit
und ben Sirach: sic et haec duo volumina legat ad
aedificationem plebis, non ad auctoritatem ecclesiasti-
corum dogmatum confirmandam. ine ſolche Ausdeh⸗
nung ber Benennung ber Apokryphen brachte ed denn von
felbft mit fi, daß man biefelbe nicht mehr in der gleichen
Bedeutung wie früher faßte, der des Werborgenen und auf
gebeime Weife Ueberlieferten, noch auch beflimmt damit die
Vorſtellung des Untergefhobenen und Häretifchen verband.
Am gewöhnlichfien mag wohl gewefen feyn, dag man den
Namen auf das Unfihere des Urſprunges der Bücher bezog,
wie Auguftin (de civ. Dei XV,23.) — jedod nicht in
Beziehung auf unfere altteftamentlihen Bücher, fondern
in Beziehung auf andere, unter dem Namen von Patriarchen,
Propheten oder Apofleln unter den Haͤretikern in Umlauf
befindliche Schriften — fagt, daß fie apocryphae nuncu-
pantur eo, quod earum occulta origo non claruit pa-
tribus, a quibus usque ad nos anctoritas veracium
scripturarum certissima et notissima successione per-
venit. Doc dachte man theilweife an eine beftimmte etys
mologifche Bedeutung ded Wortes gar nicht, fondern begriff
unter der Benennung der Apokryphen überhaupt folche
Schriften, welde als den kanoniſchen nicht gleichftehend,
aber nahe kommend betrachtet wurden, wie wenn Hieronys
muß (de vir.-illustr. c.6.) von dem Brieſe des Barnabas
fagt: quae inter apocryphas scripturas legitur a), In
@) Der Wortbebeutung nach entſprechend ift dem griechtſchen dwo-
»gugog bas hebräifce rı235 dieſes wird bei den fpäteren Juden,
ib. d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 271
Beziehung auf dad A. X. aber finden wir in der abendlaͤn⸗
diſchen Kirche auch fpäter wohl, daß nach dem Beifpiele
des Hieronymus diejenigen Schriften der lateinischen Bibel,
welche ſich nicht im hebraͤiſchen Kanon finden, wenn man
fie nicht ohne Weiteres ebenfalls als Fanonifch und den Bes
Randtheile des hebräifchen Kanons an Anfehen gleichſtehend
betrachtete, als Apokryphen bezeichnet wurden; fo im 13, -
Jahrh, von Hugo Garenfis (Prolog. in losuam:
Bestant apocrypha: lesus, Sapientia, Pastor et Mac-
«abaeorum libri, Judith atque Tobiae. Hi quia sunt
dubii, sub canone non numerantur etc.) und im 14,
Zatmubiften und Babbinen, öfters ebenfalls in Beziehung auf
Schriften gebraucht im Begenfage gegen das Kanonifhe, wie
das Berbum pı,verbergen, gebraudt wird für: dem öffents
lichen Sebrauche entziehen, theils in Beziehung auf Hands
ſchriften beiliger Buͤcher, die, weil fie verfäliffen, ſchadhaft
oder fehlerhaft waren, dem ferneren Gebrauche entzogen werben
mußten , tbeild in Beziehung auf gange Bücher, ‚die aus der
Zahl ber kirchlichen, zum Öffentlichen Gebraude beflimmten
Schrif ten ausgeftoßen wurden. Zum Theil hat man hiervon
den Gebraud; von dwöxgupe in der chriſtiichen Kirche abges
leitet (fo Hottinger, Bertholdt, de Wette, Herbft,
Bng u. A.); aber wenigftens urſpruͤnglich if von biefem jüs
diſchen Sprachgebrauche der Gebrauch bes griechiſchen Wortes
nicht ausgegangen; nur auf die Wendung, welche namentlich
Hieronymus dem Begriffe des Apokryphiſchen gibt, Könnte
jener von Einfluß gewefen ſeyn. — Auf einem Irrthum berupt
es, wenn dem Epiphanius bie Ableitung von xguxen und
ws in privafiver Webeutung beigelegt wird, als feyen bie
Bücher fo genannt worden, weil fie von der Aufbewahrung in
der Bundeslade audgefchloffen feyen; denn wenn er de men-
sar. et ponder. c. 4. von ter falomonifchen Weisheit und dem
Sirach fagt, daß fie nüglich feyen, dAR’ eis dge@nör dnrav oda
drapigorra— dis — iv 1P dger drerißnsar, sovriorır
de zü ꝛĩe Saßnung Bord, fo folgt daraus nichts für eine
Ableitung ber Benennung dmöxgupos, beren er ſich in Wer
wiehung auf diefe Gcheiften gar nit bedient, weder hier
noch anderiwo. ben fo wenig macht Johannes Dam. de
orthod. fide IV, 18. eine ſolche etymologiſche Ableitung geltend.
274 Bleek
gelangten. So finden wir, daß Caſſiodor (de divin.
Jeetionn.c.12 seq.) bie Bählungen ber kanoniſchen Bücher
nad Auguſt in und nah Hieronymus neben einander
hinſtellt, daß Gregor ber Große ſich entichulbigt, ins
dem ex aus 1 Malt. als einem nicht-kanoniſchen Buche
ein Zeuguiß anführt (Moral. in Iob. L XIV. c. 13), und .
daß auch in fpäterer Zeit manche ber angeſehenſten Theolo⸗
gen ohne Bedenken diefe Bücher als zwar zum Lefen nuͤtz⸗
lich, aber nicht im Kanon befindlich bezeichnen, auf den Uns
terſchied zwifchen ihnen und den kanoniſchen Büchern bins
weifen ober aus ihnen angeführte Zeugniſſe nicht ald beweis
fend gelten laffen, oder nur 22 Bücher ded A. X, zählen,
wie unter Andern aud dem 8. Jahrh. Beda und Alcuim,
aus dem 9, Rabanus Maurus, aus dem 10, Rabulf
Niger, ausdem 12.derAbt Peter von Elugny, Hugo
und Rihard von St. Victor, Rupert v. Deuz,
Johann von Salidbury, aus dem 13, Hugo Garen,
ſis, aus dem 14. Nikolaus Lyranus, aus dem 15.
Antoninus, Erzbiſchof von Florenz, und fo auch noch aus dem
16. Jahrh. Franz Zimenes, Cajetan, Santes
Pagninus u. A.«), fo dag alfo aud noch im Refors
mationözeitalter die Anerkennung ber altteftamentlichen
Apokryphen mit vollem kanoniſchen Anfehen nicht ald ein
Dogma ber Fatholifhen Kirche galt. Als ſolches wurde
diefe Vorſtellung erſt durch dad tridentiner Concil firirt.
Auch bier machten ſich anfangs verſchiedene Vorſtellungen
in diefer Beziehung geltend. Aber die vierte Sigung (am
8, April 1546) flellte ein.namentliches Werzeichniß der ſaͤmmt⸗
lichen Bücher der Schrift A. und N. T. auf, worin als
Beftandtheile des A, T. die Bücher Tobi und Judith, die -
a) ©. Iob. Gerhard, Loc. theol. T. II. loc. 1.c. 6.5.90 —96.;
Keerl, Apotryphen, S. 140 — 144; f. ebend. &.150. über das
angebliche ſiebente Decret des florentiniſchen Concils hinſichtlich
der Gleichſtellung des Apokryphen mit den kanoniſchen Schriften.
üb. d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im hrifll. Kanon. 275
Weisheit und Sirach, dad Buch Baruch und die zwei Bü—
er der Maflabäer mitten unter ben Büchern bed bebräis
ſchen Kanons genannt werden, und ſprach bad Anathema
über diejenigen aus, welche nicht die fämmtlichen Bücher
mit allen ihren Zheilen, wie man in der katholiſchen Kirche
gewohnt fey, fie zu lefen, und wie fie in der Vulgata ent:
balten feyen (alfo aud die apokryphiſchen Bufäge zu den
Büchern Eſther und Daniel), ald heilig und kanoniſch ans
nehmen würben, Zwar haben gleihwohl auch fpäter ver»
ſchĩedene katholiſche Theologen, wie Sirtus von Giena
«(biblioth. sancta 1566), Bernh. Lamy (Apparat. ad
Biblia 1687), Jahn u. A. unfere altteftamentlihen Apo⸗
kryphen ald wie deuterofanonifdhe Schriften von den Bü:
&ern des hebräifchen Kanons als protokanoniſchen ſcheiden
und ſie dieſen auch an Anſehen nicht gleichgeſtellt wiſſen
wollen; aber es iſt dieß ſicher nicht dem Sinne des tri⸗
dentiner Concils gemäß, wie das auch andere ‚Theologen
dieſer Kirche, wie namentlich Welte (Tuͤb. Quartalſchrift,
Jahrg. 189. St. 2. S. 2330 ff), auch Scholz Gibl.
Eint. 1, 263.) geltend gemacht haben.
Das durd das tridentiner Concil firirte Urtheil der
roͤmiſch-katholiſchen Kirche hinfichtlich der Gleich⸗
flelung unferer altteſtamentlichen Apokryphen mit den kano⸗
niſchen Schriften war nicht ohne Einfluß auf die Firirung
der gleichen Vorſtellung auch in ber griehifchen Kirche,
Hier finden wir, wie bei Drigenes, fo durch beflen Einfluß
in den verfchiedenen Verzeichniſſen der altteffamentlihen Buͤ⸗
er aus dem vierten Jahrhunderte unfere Apokryphen — mit
Ausnahme des Baruch — entweder gar nicht mit genannt,
oder von ben kanoniſchen Büchern ausdrüdlich gefondert,
wenn gleich fie in Beziehung auf ihren Inhalt werth ges
balten, zum keſen empfohlen und auch von ben Kirchenſchrift⸗
ſtellern anderswo zum Theil felbft in gleicher Weife wie die
Banonifcyen Bücher benugt wurden, So führt auch Jo—
banned Damascenus als altteflamentliche Schriften
276 Bleek
die Bücher bed hebraͤiſchen Kanons auf und ſagt dam von
der Weisheit Salomo’d und dem Sirach, daß fie zwar
üvdgsres nal mail feyen, aber nicht mitgezählt würden.
Auf ihn beruft ſich noch der alerandrinifche Geiſtliche Me
trophanes Kritopulus in feiner Confessio (vom J.
16%) Kap. 7. dafür, daB die Kirche Chriſti die Bücher,
welche Einige mit zur heiligen Schrift zählen weiten, Zobi,
Judith, Weisheit, Sirach, Baruch und die der Makkabaͤer
niemals als kanoniſche und authentiſche Schriften angenom⸗
men habe, obwohl ſie nicht zu verwerfen ſeyen, da viel
Moraliſches, ſehr Lobenswerthes darin enthalten ſey. Damit
ſtimmt auch Eyrillus Lucaris überein in feiner Con-
fess. interrog. 3., indem er als bie kanoniſchen Bücher
ded A. T. den Pentateudy, die Hagiographen und die Pros
pheten nennt, die 22 von der laodicenifhen Synode aufge
führten, und im Gegenfage gegen diefe fagt, daß die foge-
nannten Apokryphen deßhalb fo hießen, weil ſie nicht von
dem allheiligen Geifte die gleiche Bewährung haben, wie
die eigentlich und zuverläffig kanoniſchen Bücher. Diefe Aus⸗
fage wirb auch in der bauptfächlich im Gegenfage gegen ven
Cyrillus Lucaris vom Petrus Mogilas aufgefekten Con-
fessio orthodoxa (vom 3. 1642) nicht angegriffen, indem
P. 1. quaest. 54. zwar vom Verhaͤltniſſe des A. T. zum
N, X. die Rebe ift, aber bie einzelnen Schriften nicht aufs
geführt werden. Doch werden einige Dale Stellen aus den
Apokryphen in gleicher Weiſe wie aus den kanoniſchen Bi:
dern als Ausfprüche der Schrift oder der heiligen Schrift
angeführt. Und in der — gegen die Galviniften gerichteten
— Erklärung der Synode zu Conflantinopel vom I, 1672
Heißt es (5.225. d. Audg. von Kimmel) in Beziehung auf die
altteftamentlihen Apokryphen — als biein den Verzeichniſſen
früherer Heiliger Schriftfteller nicht mit aufgeführten Bücher
des A. T. — auch nur, daß die deßhalb nicht völlig zu
verwerfen feyen, fondern xaA& nal xsvdgsra genannt würs
den (vom Joh. Dam.). Aber die von der in bemfelben
N
‘
&. d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 277
Jahre zu Jeruſalem gehaltenen Synode zur Feſtſtellung des
othoboren Glaubens und hauptſaͤchlich gegen bie Calviniſten
abgegebene, von dem Patriarchen von Serufalem Dofir
theus verfaßte Confeſſſon (confessio Dosithei) ſpricht es
außdrüdtich aus (quaest. III. p. 467 seq.), daß bie ſa⸗
Ismonifche Weisheit, die Bücher Judith und Tobi, bie Bes
ſchichte vom Drachen und von der Sufanna, bie Bücher
dee Makkabaͤer und Sirach ebenfalld als echte Beſtandtheile
der göttlichen Schrift und als kanoniſche Bücher zu betrach⸗
ten feyen, und rügt es — als Unwiſſenheit oder Bosheit
(Wsloxaxodeymg), daß Eyrillus Lucaris dieſe Schriften als
Apotryphen bezeichnet habe =). Es laͤßt fih wohl nicht be⸗
imeifein, daß auf biefe Beflftellung die MWerhäftniffe in der _
abendlaͤndiſchen Kirche, der Worgang des tridentiner Con⸗
ad und der auf ber Synode vorwaltende Gegenſatz gegen
die Eiwirkung ber proteftantifhen Kirche mit Einfluß ges
übt haben. Seitdem aber fiheint fidy die allgemeine Aner⸗
kennung jener nicht im bebräifchen Kanon, wohl aber in der
Geptuaginta enthaltenen Schriften und Schriftftäde als ka⸗
wuiſcher Beftandtheile der heiligen Schrift in der griechiſchen
Kirche immer mehr befeftigt zu haben, wie fie benn auch in
neuerer Beit von Seiten. diefer Kirche wiederum ausgeſpro⸗
Gen und im Gegenfage gegen die proteflantifche Kirche und
gegen die Verbreitung von Bibeln ohne die Apokryphen mit
Nachdruck geltend gemacht iſt.
In der proteantifchen Kirche dagegen firirte ſich
das Urtheil über die Apokryphen in der Weiſe, wie es in
dee lutheriſchen MWBibeläberfegung angedeutet iſt, wo fie von
den Büchern des bebräifchen Kanons gefondert und als Bi
Ger bezeichnet find, welche ber heiligen Schrift nicht gleich
a) Die Acten der Synode von Jeruſalem, fo wie die andern Bes
lenatniß ſchriften aus der fpäteren griechiſchen Kirche f. in Kim—
mel’6 Monamente fidei ecclesiae orientalis. Jena 1850,
2 Thle. 8. .
278 Bieek
gehalten, obwohl nuͤtlich und gut zu leſen ſeyen; ben glei⸗
den Platz hinter den Buͤchern des hebraͤiſchen Kanons ers
bielten fie auch in den anderen proteſtantiſchen Bibeluͤber⸗
fegungen, nicht bloß in Intherifchen, fondern aud in res
formirten, wie in ber deutſchen ſchweizeriſchen, der englis
ſchen und hollaͤndiſchen. Dem entfprechend find denn auch
die Verfahrungsweiſe und die Aeußerungen ber proteftanti«
ſchen Belenntnißfchriften und Dogmatiker, uͤbereinſtimmend
mit Hieronymus und Athanaſius u, A., daß fie unſere Apos
kryphen vom Kanon ausſchließen und ihnen ſelbſtaͤndige
Autorität zur Erweiſung von Glaubensfägen abſprechen,
aber fie doch als zum Lefen auch für die Chriſten nüglich
und erbaulich betrachten. Von den proteſtantiſchen Bekennt⸗
nißſchriften dußern ſich auf ausdrüdliche Weife über diefen
Gegenftand nur mehrere aus der reformirten Kirche:
fo bie ſtreng talviniſche Confessio Gallicana von 1559, wo
Kap.3f. die Bücher des hebraͤiſchen Kanons und die des
N, T. namentlich aufgeführt und als kanoniſch bezeichnet
werden, als bie Norm und Regel unfered Glaubens, und
es dann beißt, baß wir durch den heiligen Geiſt gelehrt wer«
ben, dieſe zu unterfcheiden von anderen libris eoclesiasticis,
qui, ut sint utiles, non tamen sunt einsmodi, ut ex
is constitui possit aliquis fidei articulus; bie 39 Artikel
der anglikaniſchen Eonfeffion vom I. 1562, wo es Artifel 6,
nachdem die Fanonifhen Bücher des A, T. aufgeführt find,
von den Apofryphen, die darnach ebenfalls namhaft aufges
führt werden (und. babei auch dad dritte und vierte Buch Esra),
beißt, daß die Kirche diefelben zwar Iefe ad exempla vitae
et formandos mores, fie aber nicht anmwende ad do-
gmata confirmanda ; die von Bulling er entworfene zweite
helvetiſche Gonfeffion von 1564, wo ed Kap. 1. ‚nachdem bie ka⸗
nonifhen Schriften der Apoftel und Propheten beider Teſta⸗
mente, ohne fie einzeln zu nennen, ald das wahre Wort
Gottes bekannt find, zulegt heißt: interim nihil dissi-
mulamus quosdam veteris testamenti libros a veteribus
üb. d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 279
muncupatos esse apocryphos , ab aliis ecolesiastioos,
utpote quos in ecclesiis legi volaerant quidem, non
tamen proferri ad auctoritatem ex his fidei confirman-
dam; bie (fpäter von ber dordrechter Synode beſtaͤtigte)
beigifche Gonfeffion, wo, nachdem Kap, 4. die kanoniſchen
Bücher X. und N. X. aufgeführt find, Kap. 6. ein Unterfchieb
zwiſchen biefen und den Apokryphen geltend gemacht wird,
die in derfelben Weife wie in ber anglikaniſchen Gonfeffion
aufgeführt werden, und von denen es heißt, daß die Kirche
biefelben zwar leſen Pönne und aus ihnen documenta de
rebus cum libris canonieis consentientibus desumere
daß aber fie Fein ſolches Anfehen haben, ut ex ullo testi«
monio ipsorum aliquod dogma de fide aut religione
Christiana certo constitui possit; tantum abest, ut di-
vinorum illorum librorum auctoritatem imminuere va-
leant ; endlich die thorner Declaratio von 1645, wo «8 in
der specialis declarat. ‚no. 2. heißt, daß die niit im
bebräifchen Kanon des A, T., fondern nur im griechiſchen
Zerte vorhandenen Bücher Apokryphen feyen und daß fie
daher dem göttlichen Kanon sub anathemate nicht beiges
zählt werben dürften, etsi utiliter ad aedifioationem eo-
clesiae legi possunt. Auf noch ftärkere Weiſe gegen bie
Apokryphen, nämlich ohne beftimmte Anerkennung der Nuͤtz⸗
lichkeit ober eines Unterfchieded berfelben von irgend ande
zen Schriften, fpricht fich nur die auch von der ſchottiſchen
Kirche gebilligte Eonfeffion der weftmünfterfhen Verſamm⸗
lung ber Puritaner ober Preöbyterianet vom I. 1648 aus,
Kap.1., wo, nachdem die Banonifchen Bücher des A, und N, X,
einzeln aufgeführt find, es $. 3. heißt: Libri apocryphi
valgo dicti, qaum non fuerint divinitus inspirati, ca-
nonem scripturae Se. nullatenus constituunt, proindeque
nullam aliam autoritatem obtinere debent in ecclesia
Dei, nee aliter quam alia humana scripta sunt aut ap-
‚probandi aut adhibendi. Won Ausfprüchen ber Apokry⸗
phen wird in den reformirten Bekenntnißſchriften überhaupt
Theol. Stud. Jahrg. 1858, 19
280 " Bleek
Bein: Gebrauch gemacht, außer daß im heidelberger Kate:
chismus wenigſtens in der lateiniſchen Ausgabe in ber 106.
Frage bie Stelle Sir. 3, 27. unter anderen Stellen ber
Schrift angeführt if (in der auguſti'ſchen Ausgabe auch
Be. 7. und 9. Stellen der Weisheit), und in der Conf.
Gzencherina (um 1558), pröposit. 43, 45., Stellen auß ber
Weisheit, dem Sirach und dem Buche Judith. — Bon den
lutheriſchen Bekenntnißſchriften hat Feine ein Werzeich
niß der kanoniſchen Bücher ber heiligen Schrift, noch fpres
chen fie fi) über das Verhaͤltniß der Apokryphen zum Kas
non aus. ber fie führen aus ben Apokryphen Feine Gtels
len an, außer der Apologie, welche S. 116. und 225, Aus⸗
fprüche derfelben berüdfichtigt. An der .erfleren Stelle wird
der aus Tob. 4, 11. zu Gunften der Werkheiligkeit herge⸗
nommene Beweis wiberlegt, aber ohne daß diefe Schrift
felbft ald ungültig zurüdgewiefen wird; an der anderen Stelle
beißt es in Beziehung auf die Fürbitte der Heiligen für die
Glaͤubigen, daß dieſe zugegeben ‚werden möge, obwohl in
der Schrift darüber Fein Zeugnis vorhanden fey, praeter
illud somnium sumtum ex libro Maccabaeorum poste-
ziore, was von dem 2 Makk. 15, 11 ff. erzählten Zraums
gefichte ded Judas Makkabaͤus a) gemeint ‚if, womit diefes
zwar nicht als ein volgültiges Zeugniß anerkannt, aber
doch auch nicht verworfen wird, Aber bie nachmaligen or=
tbodoren lutheriſchen Dogmatiker haben den in ber lutheri.
ſchen Bibel angebeuteten, Unterfchiedb zwifchen den Apokry⸗
pben und ben Schriften des hebrdiſchen Kanons feftgehalten
und. den erfleren zur Begründung von Glaubenslehren kein
felbftändiges Anfehen beigelegt , jedoch ohne ihnen einen ges
wiſſen Werth aud für die Belehrung und Erbauung des
chriſtlichen Volkes abzuſprechen, wie bieß eben fo wenig im
Algemeinen bie reformisten Dogmatiker thun. Die engs
8) Entftelend fagt Keeri (Apokr. S. 146. Anm.), daß die Apos
logie bie in bieſer @telle vorkommende Fürbitte für bie Tod⸗
ten (?) einen Traum nenne,
üb.d. Stel. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 281
liſch⸗biſchoͤfliche Kirche hat ſogar aus den Apokryphen kirch⸗
liche kectionen für den gottesdienſtlichen Gebrauch an Wo⸗
chentagen ausgezogen. Erſt in neuerer Zeit, fo viel ich weiß,
it es nicht bloß als bedenklich, fondern ald entfdyieden ges
fübrfich und verderblich bezeichnet, die Apokryphen mit den
Tanonifchen Büchern der Schrift äußerlich in den Ausgaben
der Bibel in den Landesſprachen zu verbinden; fo von Seis
ten der presbyterianiſchen Kirche in Schottland und Engs
land, fo wie der fogenannten evangelifchen Partei der anglis
Tarifen Kirche, wie denn bekanntlich die englifch = fchottis
fhen Bibelgefellfchaften feit dem 3. 1825 gegen die Werbreis
tung von Bibeln mit den Apokryphen aufs nachdrücklichſte
psteflicen. Diefer Purismus gewinnt auch in Deutfchland
immer mehr Eingang. Auf dem vorjährigen Kirchentage zu
EÜberfeld wurden zwei in dieſem Sinne geſchriebene Bros
fölren von zeformirten Theologen verbreitet: a) 8. W. I.
Schroͤder, reform, Pred.in Elberfeld: Wie reimen ſich Stroh
und Beizen zufammen? ſpricht der Herr; eine Abhandlung
überden Kanon und die Apofryphen bes A. T., aus den Kirchlis
den Blättern abgebrudt. Eiberf. 8. ohne I.,und b)Ebrarb, _
&ugniffe gegen die Apofryphen, abgedruckt aus ber Reform.
Kirhenjeitung, Bafel 1851. In der legteren Schrift finden
fh S. 4, noch drei andere, denfelben Gegenftand und in
denſelben Sinne behandeinde Schriften von lutherifchen und
mirten Theologen aufgeführt, die mir nicht befannt find,
wu Krauſſoid (zwei Epiſteln über die Apokeyphen, Fürth
11), Sutter (Zeugniß gegen die Apokryphen, im Aufs
frage des Verwaltungsrates für innere Miffion im Großh.
Baden, augsb. Bekenntniſſes, Karlsruhe 1850) und Jo h.
Sqiller (Gottes Wort und die Apokryphen. Neuſt. a. d. H.
1851). Dann hat derſelbe genannte Verwaltungsrath, uns
ter dem Vorfige bes Prof. W. Stern, in einem Aufrufe
vom Juli 1851 die Sache in gleichem flrengen Sinne zum
Gegenſtande einer Preisaufgabe gemacht und von den zur Loͤ⸗
* fung derfelben eingegangenen neunzehn Schriften zweie gekrönt,
19*
282 Bleek
welche beide auf dem dießjaͤhrigen Kirchentage zu Bremen
durch Herrn D. Marriatt verbreitet wurden. Die eine, welche
den zweiten Preis erhalten hat, von dem ſchleſiſchen Paſtor
Ed. Kluge (Frankf. a. M. 1852) ift mehr populär gehals
ten, in zwei Gefprächen zwiſchen einem Paflor und einem
Schullehrer, im Allgemeinen in ziemlich gemäßigter Weiſe;
die andere, welche den erſten Preis erhalten hat, von dem
Pfarrer Lic, Ph. Friede. Keerl in ber badifhen Pfalz
(die Apokryphen des A. T. Ein Zeugniß wider biefelben
auf Grund des Wortes Gottes. Leipzig 1852. 12 Bog. 8.)
ift unverkennbar mit vielem Fleiße gearbeitet, fteht aber auf
demfelben fehroffen, abfolutiftifchen Standpuncte, wie die zuerſt
genannten Schriften und wie bie Aufgabenfteller fordern,
Diefen kann ich nicht für richtig halten, und dieſes zu bes
gründen, ift der Zweck dieſes Auffages, wobei ich bemerke,
daß ich über diefen Gegenftand meine Anſicht darzulegen
ſchon lange vor dem Erſcheinen der neuern Schriften über
denfelben im Sinne gehabt habe,
3, Die Hauptgrinde, worauf geftügt man ſich berech⸗
tigt und verpflichtet erachtet, bie Apofryphen aus den zum
Bolksgebrauche beflimmten Bibeln gänzlich auszuſchließen,
ihnen in denfelben auch einen gefonderten und untergeordner
ten Platz nicht zu laffen, find die: es feyen diefe Schriften
weder von ben Juden jemals als kanoniſche und göttliche
anerfannt worben, noch hätten fie das Zeugnig Chrifli und
der Apoftel für fih, wie die Bücher des hebräifhen Ras
nons, fie feyen veinmenfchliche Erzeugniffe, weßhalb es ſchon
an ſich unftatthaft fey, fiemit den göttlichen , infpirirten oder
den das Wort Gottes enthaltenden Schriften des A. und
N, T. zufammenzuftelen, fie feyen aber auch durch ihren
Inhalt mit dem Geifte und ber Lehre der biblifchen Bücher
nicht vereinbar, ja fie feyen nicht bloß durchaus unzuver⸗
täffig, fondern enthielten auch manche felbft ſeelengefaͤhr⸗
liche Irrthümer, Meine Abficht iſt bier jedoch nicht, die
einzelnen unferer Apofryphen einer umfafienden Betrachtung
üb.d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl Kanon. 283
u unterwerfen und fie gegen die mannichfaltigen, gegen
ihten Urfprung wie gegen ihren Inhalt in hiſtoriſcher, dogs
matifher oder moralifcher Beziehung vorgebrachten Anſchul⸗
digungen in Schug zu nehmen, fondern bauptfächlih nur,
es im Allgemeinen zu rechtfertigen, daß ſolche nit im
hebtaͤſchen Kanon befindliche Schriften der etwas fpdteren
jidiſchen Litteratur in der Sammlung ber biblifhen Bücher
einen gewiffen Plag einnehmen, und zwar dieſes durch Be⸗
trahtung des chriftlichen Kanond und des Verhaͤltniſſes des
32, überhaupt zum chriſtlichen Kanon, fo wie ber Abs
föliegung des altteftarıentlichen Kanons und der Lehre und
des Verfahrens Chriſti felbft und der Apoftel und neutefta:
mentlihen Schriftfieler in Beziehung auf das alte Teſtament.
4, Der Begriff des Kanonifchen fällt mit dem des
Rormativen zufammen, und fo ift der chriſtliche Kanon der
Inbegriff derjenigen Schriften, welche auf zuverläffige Weiſe
die Regel und Norm für die Beſtimmung des chriſtlichen
Btaubens und Lebens darbieten. An diefer Eigenfchaft neh⸗
men aber ſchon beim neuen Teſtamente nicht alle einzelnen
Göriften in gleich volfommener Weile Theil, fondern in
verſchiedenem Grade, Den Charakter abfoluter Kanonicität
würde nur Solches haben, was von Chriſtus felbft unbes
dingt ausgegangen wäre, Won ihm aber hat ſich und wes
der etwas Schriftliches erhalten, noch iſt «8 irgend wahrs
ſdeinlich, daß er je etwad gefchrieben habe zu dem Ende,
deß es den folgenden Geſchlechtern ald dad Seine uͤberge⸗
den würde; denn wer Bann fi) wohl den Erlöfer ohne
Berperrung und Truͤbung des wahrhaftigen Bildes feiner
Perfon denken als fich hinfegend,um, wie ein zweiter Mofes,
ein Gefegbuch für den neuen Bund oder, wie der Gründer
äiner phitofophifchen Schule, den Inbegriff feiner Lehre nie«
dezufreiben? Wir find daher an feine unmittelbaren Juͤn⸗
ger gewiefen, die ihm während feiner öffentlichen Wirkſam⸗
fit zur Seite fanden, die Zeugen feiner Thaten und Res
den waren, feines Todes und feiner Auferflehung, denen er
I—
8
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F
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Diefes aber, glaube ih, haben wir alles Recht, von den
vier im N, T. enthaltenen Evangelien anzunehmen. Doch
findet ſchon in dieſer Beziehung ein Unterfdieb flatt. Won
diefen vier Evangelien macht nur das vierte ſelbſt darauf
Anſpruch, die Schrift eined Apofleld zu ſeyn, und zwar
des geliebten und vertrauteften Jüngers des Herrn, und es
wird ſich als ſolche nach meiner Ueberzeugung auch immer
wieder von Neuem bewähren, Da aber trägt daflelbe wegen
feines Urfprunges gewißlich eine höhere Beglaubigung in
fich und wird als gefchichtliches Zeugniß eine höhere Autos
sität in Anfpruch nehmen koͤnnen, als jedes der drei andes
ven Evangelien, von denen Feines fich felbft ald Schrift eis
nes unmittelbaren Juͤngers bezeichnet, und welche fi nach
den Ergebniffen gewiffenhafter Forſchung auch nur ald Werke
mittelbarer Jünger betrachten laſſen. Aber es läßt ſich doch
nicht verfennen, daß Johannes nicht darauf ausgeht, uns
daß Lebensbild des Herrn gleichmäßig nach allen Seiten bin
vorzuführen, daß er befonderd nur gewifle Seiten hervor«
bebt und andere mehr liegen läßt, und zwar das zum Theil
deutlich, weil er dieſe bei feinen Lefern als ſchon bekannt
vorausfegen Tonnte, daß dieſes gerade ſolche Seiten find,
üb. d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. imhriftl. Kanon. 285
welche vorzugöweife in den ſynoptiſchen Evangelien hervor.
gehoben werden, ja daß dad johanmeifche Enangelium felbft
ar unter Vorausſetzung bed weſentlichen Inbaltes ber fun“
optiſchen verftändlich iſt, daß wir alfo ſchon durch das jo:
banneifche Evangelium veranlaßt und berechtigt werben, ben wes
fentlichen Inhalt auch ber ſynoptiſchen Evangelien anzuers
lennen, daß die in diefen hervorgehobenen Seiten und Züge
von der Perfon und Geſchichte Ehrifti im Allgemeinen: nicht
minder wefentlich find, als die johanneifchen, um das Bil.
deb Heren auf volle Weife aufzufaflen. Cine genauere Er—
ſerſchung diefer Schriften felbft wird auch immer von Neem
datauf führen, daß nicht bloß ihre Abfaflung einer Zeit an⸗
gehört, wo die Quelle der mündlichen apoflofifchen Ueber:
üeferang über die evangelifche Geſchlchte noch nicht verſiecht
wer, fondern auch, daß ihre Mittheilungen auf einer im
Veſentlichen authentifchen apoftolifhen Ueberlieferung beru ⸗
hen, wenn auch nicht gerade in der Weiſe, wie die Alten
@ meiftens darftellen. Es kommt bazu, daß die Kirche
ton in verhältmigmäßig fo früher Zeit — wie fi) nach⸗
meifen laͤßt, ſchon in der erfien Hälfte des zweiten Jahr⸗
hunderts — und in allen verfchiedenen Gegenden gerade in
der Anerkennung wie des johanneifchen, fo biefer drei fons
stifhen Evangelien zufammenftimmt und fehr bald nach
der Mitte beffelben Jahrhunderts alle anderweitigen evan-
geifhen Schriften entfchieden zurückweiſt, und biefes auf
ne freie, ungemachte Weife, ohne beflimmte Werabrebuns
gen, ohne Goneilienbefhlüffe, und ohne daß durch das
berwiegende Anfehen irgend einer einzelnen Gemeinde oder
üngelner Kirchenlehrer auch die übrigen Gemeinden und Chris,
fen beftimmt worden wären, was fich nicht erflären laſſen
wirde, wenn nicht die Kirche jener Zeit gerade diefe Evan:
gelien von ber noch Älteren Kirche ans einer nahe an dad
woſtoliſche Zeitalter fi anreihenden Zeit ald bie vor ans
deren glaubiwärdigen und beglaubigten geſchichtlichen Schrifz
ten über dad Leben und Wirken des Herrn überliefert em⸗
284 Bleek
die Verheißung ertheilte, daß er nad) feinem Heimgange
ihnen den heiligen Geiſt fenden werde, der fie in alle Wahr⸗
heit führen und ihnen Alles, was fie von ihm, dem Herrn,
gebört, in Erinnerung bringen werde, bie wir aud bald
nad der Himmelfahrt mit dem Geifte aus der Höhe erfüllt
fehen, und die wir baber auch gewiß mit allem Recht als die
zuverlaͤſſigen Dolmetfcher des Herrn zu betrachten haben, zus
nähft in ihrem Zeugniſſe über feine Perfon felbft, feine
Thaten, Reden und Schidfale, dann aber auch in ber Art
und Weiſe, wie fie nach feinem Heimgange in feinem Nas
men und Auftrage fein Werk weiter fortgeführt haben, So
werden wir denn Tanonifches Anfehen zuvoͤrderſt den evan⸗
gelifchen Schriften zuerkennen, welche und die Geſchichte
des Erloͤſers nach echtapoftolifcher Ueberlieferung vorführen.
Dieſes aber, glaube ih, haben wir alles Recht, yon ben
vier im N, T. enthaltenen Evangelien anzunehmen. Doch
findet ſchon in diefer Beziehung ein Unterfchied flatt. Won
diefen vier Evangelien macht nur das vierte felbft darauf
Anſpruch, die Schrift eined Apoſtels zu feyn, und zwar
des geliebten und vertrautefien Jüngerd des Herrn, und es
wird ſich als ſolche nach meiner Ueberzeugung aud immer
wieder von Neuem bewähren, Da aber trägt daffelbe wegen
feines Urfprunges gewißlich eine höhere Beglaubigung in
fich und wird als gefchichtliche Zeugniß eine höhere Autos
ritaͤt in Anfpruch nehmen koͤnnen, als jedes der drei ande⸗
ven Evangelien, von denen Feines fich felbft als Schrift eis
nes unmittelbaren Jünger bezeichnet, und welche fi nad
den Ergebniffen gewiflenhafter Forſchung auch nur ald Werke
mittelbarer Jünger betrachten laſſen. Aber e läßt ſich doch
nicht verfennen, daß Johannes nicht darauf ausgeht, uns
das Lebensbild des Herrn gleichmäßig nach allen Seiten hin
vorzuführen, daß er befonders nur gewifle Seiten hervor«
bebt und andere mehr liegen läßt, und zwar das zum Theil
deutlich, weil er diefe bei feinen Lefern als ſchon bekannt
voraudfegen Eonnte, daß dieſes gerade folche Seiten find,
üb. d. Stel. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 285
welche vorzugsweiſe in ben ſynoptiſchen Evangelien hervor⸗
gehoben werben, ja daß das johanneiſche Evangelium. ſelbſt
aur unter Vorausſetzung des weſentlichen Inhaltas der fon"
optiſchen verſtaͤndlich iſt, dag wir alſo ſchon durch das jo-
banneiſche Evangelium veranlaßt und berechtigt werben, den we⸗
fentiichen Inhalt auch der ſynoptiſchen Evangelien anzuers
kennen, daß die in diefen bervorgehobenen Seiten und Züge
von ber Perfon und Gefchichte Ehrifti im Allgemeinen nicht
minder wefentlidh find, als die johanneifchen, um das Bild
des Heren auf volle Weiſe aufzufaffen, Eine genauere Er—
forfcpung diefer Schriften felbft wird auch immer von Neuem
darauf führen, daß nicht bloß ihre Abfaflung einer Zeit an=
gehört, wo die Quelle der münblichen apoflofifchen Ueber:
Hieferung über die evangelifhe Geſchlehte noch nicht verſiecht
wer, fondern auch, baß ‘ihre Mittheilungen auf einer im
eſentlichen authentifhen apoftolifchen Weberlieferung beru⸗
ben, wenn auch nicht gerade in der Weife, wie die Alten
es meiſtens darſtellen. Es kommt bazu, daß bie Kirche
ſchon in verhaͤltnißmaͤßig fo früher Zeit — wie ſich nach⸗
weiſen laͤßt, ſchon in der erſten Haͤlfte des zweiten Jahr⸗
hunderts — und in allen verſchiedenen Gegenden gerade in
der Anerkennung wie des johanneiſchen, To dieſer drei ſyn⸗
sptifchen Evangelien zufammenftimmt und fehr bald nad
der Mitte deſſelben Iahrhundertd alle anderweitigen evan ·
geliſchen Schriften entſchieden zurücdweilt, und dieſes auf
eine freie, ungemachte Weife, ohne beſtimmte Werabrebuns
gen, ohne Goncilienbefchlüffe, und ohne daß durch das
überwiegende Anfehen irgend einer einzelnen Gemeihde oder
einzelner Kirchenlehrer auch die Übrigen Gemeinden und Chris ,
fen beftimmt worden wären, was ſich nicht erklären laſſen
würde, wenn nicht die Kirche jener Zeit gerade diefe Evan-
gelien von der noch Älteren Kirche aus einer nahe an dad
apoſtoliſche Zeitalter fich anreihenden Zeit ald die vor ans .
deren glaubwärdigen und beglaubigten gefchichtlichen Schrifs
ten über dab Leben und Wirken ded Herrn überliefert em:
286 Bleet
pfangen hätte. Endlich dient auch bie unbefangene Ver⸗
gleihung deſſen, was und von anderweitigen evangeliſchen
Schriften aus den erſten Jahrhunderten bekannt ift, nicht
wenig dazu, und in ber Ueberzeugung zu befefligen, daß
von allen Evangelien, bie in den erfien Jahrhunderten vor«
banden waren, außer dem johanneifchen Beines die evange⸗
liſche Ueberlieferung fo lauter und unverfälfcht enthielt und.
keines mehr geeignet war, ald unfere fonoptifhen, um uns
das Bild Chriſti nad) feinem Wandeln auf Erben in wahs
zer, ungetrübter Geflalt vorzuführen, und daß wir allen
Grund haben, wie dem johanneifchen, fo auch ihnen volles
kanoniſches Anfehen zuzuerkennen, wie einen anderen evans
geliſchen Schriften, Haben wir in ihnen, wie fie und vors
liegen, auch nicht unmittelbar apoſtoliſche Schriften, fo har
ben dafür bie einzelnen in ihnen berichteten Begebenheiten
und Auöfpriche Chriſti meiftentheild das im Weſentlichen
aufammenftimmende Zeugniß zweier ober breier Evangeliften.
Mit diefer Anerkennung bed kanoniſchen Anfehens diefer Evan
gelien Bann ed fehr wohl beftehen, daß diefelben im Einzelnen
manche Widerfprüche gegen einander, überhaupt manche
Ungenauigkeiten und Unrictigkeiten darbieten; diefe koͤnnen,
wenn wir bloß auf den äußeren Verlauf der Begebenheiten
feben, fo wie beſonders auf die Verknüpfung ber verſchie⸗
denen Ereigniffe und die Werbinbung ber verfchiebenen Aus⸗
forüche des ‚Herrn unter einander, fehr bedeutende feyn und
find es aud, Aber fie berühren nicht das Weſentliche des
chriſtlichen Glaubens und find nicht ſolcher Art, daß das
durch das Bild von der Perfon ded Heilandes verfälfcht
und Fremdartiges auf ihn übertragen würde; und das ift
es, wodurch ſich unfere Evangelien, die fynoptifchen wie
das johanneifhe, von allen uns bekannten apokryphiſchen
auf eine fo vortheilhafte Weiſe unterſcheiden. Allein immer
wird und body unter jenen das johanneifche Evangelium
wegen feines unmittelbar apoftolifhen Urfprunges in Bas
üb.d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriftl. Kanon. 287
noniſcher Dignität um eine Stufe höher flehen, auch als die
ſpnoptiſchen, wenigftens als irgend ein einzelnes berfelben.
5. Die Apoftel kommen nun aber für uns, wie ſchon
au ihrer Zeit ſelbſt, nicht bloß ald Zeugen für die Gefchichte
des Herrn in Betracht, fondern auch wiefern fie anderweis
fig lehrend und handelnd auftreten. Denn wie wir allen
Grund haben, überzeugt zu feyn, daß durch ihre Ueberlies
ferung die Perfon des Erloͤſers in ihrer wahren Geſtalt dars
geſtellt und feine Reden wefentlich in ihrem wahren Sinne
überliefert find, fo find wir aud berechtigt zu glauben, daß
fe fein Bert in feinem Sinne fortgefegt haben, und daß
fie daher auch, wo fie nicht ausbrüdlich eigene Ausſprüche
Griſti anführen, fondern im Auftrage des Herrn, in dem
ihnen von ihm zugewiefenen Berufe, felbft lehrend auftreten,
in feinem Geifte reden und handeln, fey es mündlich oder
ſchriftlich. Daher hat bie Kirche denn von Alters her mit
Recht außer den evangeliſchen Schriften ein kanoniſches Ans
ſchen auch den apoftolifchen beigelegt, wiefern diefe und die
in den Sinn des Herrn eingeweihten und von feinem Geifte
afüllten Junger auf zuverläffige Weife in ihrer amtlichen
Thaͤtigkeit vorführen. Dahin gehören denn auf der einen _
Seite die Apoftelgefchichte, wiefern biefelbe uns — und ald
einziges und erhaltened Geſchichtswerk dieſes Inhaltes —
ein treues Bild gibt von der Wirkfamkeit der Apoftel zur
Grandung, Ausbreitung und Befeſtigung der Kirche, auf
der andern Seite die uns, erhaltenen echten apoftolifchen
Briefe. Unter dieſen Iegteren nehmen einen Haupttheil die
pauliniſchen ein, welche die Kirche mit Recht denen ber ans
dern Apoftel, die der Here ſchon während feines Lebens auf
Exden um ſich berufen hatte, unter denen fi) uns Schrifs
ten nur von einigen wenigen erhalten haben, gleichgeftellt
bat, da Paulus nicht nur nach glaubwürdigften Zeugniffen
dur) unmittelbare Offenbarung vom Heren felbft feine Be:
sufung zum Apoftelamte und feine Erkenntniß des Evan.
geliumd empfangen hatte, fonbern wir ihn aud von ben
‚
288 Bet
anderen Apofteln felbft ald ihren Genoſſen in biefem Amte
anerfannt finden, fo daß fie dad gemeinfame Arbeitäfeld
mit ihm theilen. Die Kirche bat nun wenigftens feit dem
Ende des zweiten Jahrhunderts diefen apoſtoliſchen Gchrifs
ten ſtets ganz gleiches kanoniſches Anſehen wie den evanges
liſchen zuerkannt ©), Doch ſcheint die Schrift felbft. und zw
veranlaffen, einen gewiflen Unterfchied in dieſer Beziehung
anzuerkennen, Die Apoftel waren zu ihrer Wirkfamfeit im
Dienfle des Herrn befähigt, die meiften durch ben vorher
gegangenen Umgang und bie perfönliche Unterweifung des
‚Herrn, fie ale durch unmittelbare Berufung von Selten
des Heren und durch die Kraft des beiligen Geiſtes, der
ſich auf die Juͤnger überhaupt ergoß, von dem aber die
Apoftel gewiß auf eine ganz befondere Weife erfült waren,
Dadurch wurden fie immer mehr gebeiligt und in alle Wahr«
beit geführt. Aber diefes doch nicht auf fo abfolute Weiſe,
daß fie auch nur in ihrer amtlichen Thätigkeit durchaus frei
wie von Sünde, fo von Irrthum dageſtanden hätten, und
auch fie felbft machen’ darauf nicht Anſpruch. Was das
Grftere betrifft, fo war es nicht außerhalb feiner amtlichen
Stelung, ald Petrus in Antiochien ein Verfahren einfchlug,
weßhalb Paulus fich berechtigt achtete, ihm nebft Anderen,
die fi durch fein Beiſpiel verführen ließen, ber Uzbxguaig
zu befhuldigen (Gal. 2,11 ff.), Das Letztere aber ergibt
fich (dom darays, daß wir fehen, wie die Art des Wirkens
und die Anordnungen eines einzelnen Apofteld im apoſto⸗
liſchen Kreife felbft nicht ohne Weiteres ſchon als das Rich:
tige und als bindend angefehen werben. Als Petrus den
‚Heiden Cornelius tauft, werden ihm darüber von Seiten
der Judenchriſten Vorwürfe gemacht, und er fieht fich
veranlaßt, gegen fie fein Verfahren in diefer Beziehung zu
#) Damit ftimmt au Schleiermacher, ber einen Unterſchied
in Beziehung auf kanoniſche Dignität zwiſchen evayy&lıor und
dsdoroRog feftzufegen für unguläffin achtet; f. Kurze Darft,
$. 106.
x
üb.d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 289
rechtfertigen. Und als ſpaͤter die Heiden in größerer Zahl
in dad Reich Gottes aufgenommen werben ohne Beſchnei⸗
dung und Berpflihtung auf das Geſetz, fo wird bad nicht
ohne Weitered anerfannt, weil Paulus, ein Apoftel, auf
dieſe Weiſe verfuhr, fondern erſt nach gemeinfamer Bera⸗
thung der Heidenprediger mit den Apoſteln und Aelteſten
in Ierufalem. Ja felbft das damals getroffene und in dem
apoftolifhen Gendfchreiben ben Gemeinden Syriens und
Ciliciens zur Kenntniß gebrachte Uebereintommen ſcheint
Paulus nicht ohne Weiteres ald für bie Dauer verpflichtend
und bindend betrachtet zu habenz fonft wuͤrden wir erwar ⸗
ten, daß er in ben Briefen an die Galater, Korinther, Roͤ—
mer, Koloſſer ſich irgendwie.darauf bezöge, was aber nicht
im mindefien ber Fall ift, fo nahe auch die Veranlaffung
dazu lag. Daß Paulus felbft feinem (ſchriftlichen) Worte
micht ohne Weitere eine abfolute Autorität beilegt, zeigt
deutlich die Art und Weife, wie er daſſelbe in Werhältniß
zu dem Worte des Herrn ftelt, indem er in der Behand:
ung eines und befjelben Gegenftandes das Eine bezeichnet
als etwas, was nicht dr gebiete, fondern ber ‚Herr, bad
Andere als etwas, was er fage, nicht der Herr (1 Kor. 7,10.
12.), ober worüber er kein Gebot des Herrn habe (V. 25.).
Daburch dürfen wir uns freifi nicht irgend abhalten laſ⸗
fen, demjenigen, was ſich und von den gefprochenen ober
geſchriebenen Worten ber von dem Erloͤſer unmittelbar be:
rufenen und unterwiefenen und von feinem Geifte erfüllten
Apoftel erhalten hat, Fanonifche und normative Dignität zus
zuertennen, Allein dazu, glaube id, werden wir allerdings
mach fo beffimmten Andeutungen der heiligen Schrift felbft
veranlagt, dem Apoftolifchen nicht die gleiche abfolute Autos
rität beizulegen, wie dem Worte bed Herrn felbfl, dad eins
zelne apoſtoliſche Wort nad) dem Worte des ‚Herrn zu bes
urtheilen, und baher auch hinſichtlich des kanoniſchen Ans
ſehens die evangeliſchen Schriften, die und auf beglaubigte
Beife das unmittelbare Wort des ‚Herrn berichten und feine
‚
290 Bleet
Perfon in ihrer unmittelbaren Erſcheinung und vorführen,
um etwas höher zu ſtellen, als die bezeichneten apoftolifchen
Schriften, welche und die Apoftel in ihrem Wirken und
Lehren vorführen.
Unter den Schriften diefer zweiten Abtbeilung der neus
teftamentlihen Sammlung gibt ed nun aber auch mehrere,
deren apoftolifcher Urfprung nicht bloß erft etwa durch neuere
Kritiker in Zweifel gezogen oder geleugnet wird, fondern
auch ſchon in ber alten Kirche nur theilweife anerfannt ift
oder ald durchaus unſicher erfcheint, und diefe können wies
der den anerkannt echten apoftolifchen Schriften nicht ganz
gleichgeftellt werden, Doch finbet unter den bezeichneten
Schriften feibft noch ein bebentender Unterfihieb ſtatt zwi⸗
ſchen ſolchen / die fich felbft ausdruͤcklich als das Werk eines
Apoftelö geltend machen, fo daß die Frage nur bie feyn
kann, ob fie wirklich von ihm ausgegangen, ober ihm von
einem andern Schriftſteller untergefchoben find, — fo fteht die
Stage am entfciedenften beim zweiten petrinifchen Briefe —,
und ſolchen, bei benen der Verfaſſer, mag er ſich nennen
oder nicht, nicht beftimmt darauf Anfprudy macht, zu ber
Zahl der Apoftel zu gehören; dahin gehört beſonders ber
Brief an die Hebraͤer; eben dahin nach meinem Urtheile
auch die Briefe ded Jakobus und Judas, die. Apofalypfe,
beögleichen der zweite und britte der johanneifchen Briefe.
Den Schriften ber legteren Art kann einegrößere oder geringere
kirchliche Autorität zulommen, wenn ihre Verfaſſer auch
nicht Apoftel waren, aber Männer, bie auch ſchon im apos
ſtoliſchen Zeitalter in der Kirche als Lehrer in Anfehen ftan=
den. So ber Brief an bie Hebräer, wenn er nad) dem
Urtheile Zutherrd und vieler proteftantifchen Theologen der
neueren Zeit vom Apollo verfaßt if; denn er iſt dann bad
Berk eines Mannes, der ſchon im apoftolifchen Zeitalter
als Lehrer fo bedeutend daftand, daß er an einer und ders
felben Gemeinde neben dem Paulus eine felbftändige evans
gelifche Wirkfamkeit übte, und daß Paulus ihn willig als
x
ib.d. Stell. d. Apokeyph. d. A. Sim chtiſt. Kanon. 291
‚ feinen Mitarbeiter anerfannte,, der das von ihm Bepflanzte
begoffen habe; einen ſolchen Mann find auch wir wohl bes
rechtigt als unfern Lehrer ber das Wefen des Reiches Gots
tes unb beffen Verhaͤltniß zu der früheren Ordnung ber
Dinge — denn barauf bezieht ſich ja ber weſentliche Inhalt
des Briefe — anzuerkennen, wenn gleich der Brief ſchon
wegen dieſes Urfprunges nicht auf das gleiche Anfehen Ans
ſpruch machen Bann, wie wenn er eine Schrift des Apoſtels
Paulus felbft wäre, Berner der erſte der katholiſchen Briefe,
IR derfelbe — und das, glaube ich, Läßt fich hinreichend feft,
fiellen — vom Bruder bed Herm, Jakobus, verfaßt, fo ift
er dad Werk eined Manned, welcher, obwohl während des
&bens des Herm noch nicht gläubig und auch fpdter nicht
zu der Zahl ber eigentlichen Apoftel gehörend, doch zeitig
neben den Apofteln ald Lehrer und Worfland der Stamms
gemeinde zu Jeruſalem im hoͤchſten Anfehen erfcheint, fo daß
Paulus ihn mit dem Petrus und Johannes in Eine Reihe
ſtellt, fie ale drei als folche bezeichnend, die als Säulen
gelten. Darnach find wir wohl berechtigt, den uns erhals
tenen Bräcf den apoftolifchen Briefen an die Seite zu ſtel⸗
len, ihm wenigftens unter den nicht + apoftolifcyen den erſten
Pot zuzumeifen, wie er biefes auch durch feinen Inhalt .
und Geift vollkommen verdient; gehört er auch nicht zu den
Schriften, die vor allen geeignet find, den Grund des
Sriftlihen Glaubens zu legen, fo doch- zu denjenigen ber
urhriftfichen Kirche, welche vor allen geeignet find, auf
dem gelegten Grunde fortzubauen, und zu gewiflen Zeiten
iſt er vorzüglich geeignet, vor dem Mißbrauche der an ſich
ht evangelifchen Lehre von der Rechtfertigung durch den
Glauben zu warnen und auf bie Gefahren ber zu einfeitigen
Hervorhebung berfelben hinzuweiſen. Bebeutend geringer
als diefer Brief fteht der fiebente der katholiſchen Briefe da,
fowohl wenn wir auf die Perfon feines Verfaſſers feben,
der, obwohl gleichfalls einer der Brüder des Herrn, doch
jedenfall eine viel geringere Stellung in der Kirche einges
292 Bleel
nömmen hat, wie er dem ſelbſt ſehr das Bedürfnis fheint
gefühlt zu haben, ſich an feinen Bruder Jakobus und an
die Apoflel ald Autoritäten angulehnen, als amd) durch feis
men Inhalt und namentlich auch durch die Weiſe, wie er
für die alte Geſchichte auch auf ganz umd ger Apokryphi⸗
ſches und Fabelhaftes hinweilt, ganz anders, als e in irgend
einem andern Buche des N. Z. der Fall if. Aber fehen
wir auf den Kern des Briefes, fo ſpricht fich berin unvers
kennbar ein’ fehr gediegener urchriſtlicher Ginn aus, ber
das Unevangelifpe, weiches ſich im der Kirche geltend zu
machen wußte, von der evangeliſchen Gefinnung mit ſiche ⸗
sem Bewußtſeyn zu ſcheiden und mit großem Eruſte zu rü⸗
gen weiß, und der in biefer Beziehung noch mannichfaltig zum
Vorbilde dienen Tann, fo daß wir aud ihm dad Anſe⸗
ben einer kanoniſchen Schrift, obwohl nur untergeorbneter
Art, mit allem Rechte zuerkennen können, — Daffelbe gilt
von der Apofalypfe, wenn dieſe, wie fortwährend meine
Ueberzeugung ift, die echte Schrift nicht des Apoſtels, aber
doch eined noch dem apoftolifchen Zeitalter angehörenden
Iohannes it, indem wir ſchon dadurch veranlagt werben,
fie in kanoniſcher Beziehung niedriger zu flellen, ald wenn
. fie das Werk eines Apoſtels wäre; biefelbe nicht den kano⸗
nifhen Schriften erften Ranges gleihzuftellen, werden wir,
auch durch den Inhalt veranlagt. Denn zwar gibt fi) in
diefem Buche ein räftiger chriſtlicher Sinn zu erkennen, bes
fonders eine lebendige Buverfiht zu dem Herrn, zu ber
Kraft feined Geiſtes und zum ſicheren endlichen Siege des
Reiches Gottes über bie Welt und alle feindlichen Maͤchte;
darin fleht fie den apoftolifchen Schriften nicht nad. Aber
ſchon der prophetifche Charakter felbft, die burchgebende Bes
ziehung auf die Zukunft der Kirche und der Welt, bringt
es mit ſich, daß das Buch nicht in dem Sinne und in bem
Grade ein normatives und eigentlich kanoniſches Anfehen
baben Tann, wie bie meiften anderen Buͤcher des N. T.
die gefchichtlichen wie die Lehrſchriften, weil alles Prophes
ab. d. &tell, d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 293
tiſche überhaupt mehr ober weniger und gerade in dieſem
Buche in hohem Grabe ein poetiſches Gewand an ſich trägt,
und fi) das eigentlich Dogmatifche von bem Poetifchen und
Symboliſchen der Einkleidung fo ſchwer mit einiger Sicher⸗
beit fondern läßt, Dazu kommt, daß die Apolalypfe ges
fucht hat, den Zeitpunct ber Parufie des Herrn und der
Bollendung feined Reiches auf beflimmtere Weife anzugeben,
die ſich durch den Erfolg nicht bewährt hat, wie denn ein
Forſchen darnach an ſich dem Sinne des ‚Herrn nicht ges
mäß ift (Matth. 24, 36. Mark. 13, 32. Apoftelgefd. 1, 7.). —
Noch weniger aber als dieſen vorher betrachteten Büchern
läßt ſich kanoniſche Autorität, außer nur in fehr beſchraͤnk⸗
tem, untergeorbnetem Sinne, bem zweiten petrinifchen Briefe
beitegen, wenn berfelbe bei dem ausbrüdlichen Anfprudye,
für eine Schrift des Petrus gehalten zu werben, nicht wirds
lich diefem Apoftel angehört, fondern — was ſich nach meis
nem Ermeſſen gleichmäßig aus äußeren und aus inneren
Gründen als ſicher annehmen läßt — in deſſen Namen von
einem fpäteren Schriftfieller, wohl nicht vor dem zweiten
Jahrhunderte, gefchrieben ift, Denn wenn audy zur billigen
Beurtheilung des Verfaſſers diefer Epiftel nicht außer Acht
zu laſſen ift, daß in jenem Zeitalter eine ſolche Einkleidung
für paraͤnetiſche Schriften überhaupt nicht ungewöhnlich war
und aud wohl Männern von ernfler chriſtlicher Gefinnung
nit fhr unerlaubt galt, fo ſcheint ed mir body durchaus
unthunlich, eine auf ſolchem Wege entfiandene Schrift
zu den eigentlich kanoniſchen Büchern zu rechnen, welde
die Norm und Regel für den Glauben und dad Leben der
Shriften bilden, wie benn der Brief in bie Reihe der kano⸗ ·
niſchen Schriften in dem groͤßten Theile der Kirche ſeit dem
vierten Jahrhundert auch nur unter der erſt ſehr ſpaͤt und
langſam ſich bildenden Vorausſetzung aufgenommen iſt, daß
er eine echte petriniſche Schrift ſey. Doch iſt dieß keine hinrei⸗
chende Veranlaſſung, den Brief in den Ausgaben des N. T.
— im Driginal und in den Ueberſetzungen — auszuſtoßen
294 Bleet
oder bie Anwendung beffelben zum praktiſchen homiletiſchen
und asketiſchen Gebrauche zu verbieten, da er ſich feinem
fittlihen Geifte und dem weſentlichen Lehrinhalte nach mit
den echten apoftolifhen Schriften ganz in Uebereinſtimmung
befindet, wodurch es auch herbeigeführt ift, daß bie griedhis
ſche und lateiniſche Kirche feit dem vierten und fünften Jahr⸗
hunderte die früheren Bweifel gegen ben apoftelifchen Urs
fprung deffelben niebergefchlagen- und ihn in die Reihe der
kanoniſchen Schriften de N. Z, aufgenommen bat.
6. Aus den biöherigen Bemerkungen, glaube ih, wird
erhellen, daß binfichtlich des Tanonifchen Anſehens der vers
fhiedenen Beſtandtheile des N, T. eine gemwifle grabweife
Verſchiedenheit anzuerkennen ift, in höherem Mage und in
mehreren Abflufungen, ald biöher gewoͤhnlich anerkannt
wird, und dieſes auch in Beziehung auf diejenigen Bücher,
bei denen wir einen Grund haben zu vermuthen, daß fie
etwa erfi in fpäterer Zeit verfaßt feyen oder überhaupt von
Anderen, ald von denen fie verfaßt erfcheinen wollen, Diefe
Verſchiedenheit wird auch keineswegs aufgehoben durch die
den Büchern gemeinfame Eigenſchaft der Infpiration, wenn
man nicht biefen Begriff ald einen magiſchen in ber gangen
Strenge früherer Orthodorie geltend machen will, ine
ſolche Anſicht wird zwar auch in neuefter Zeit noch theils
weife felbft von gelehrten proteftantifchen Theologen gehegt
und geltend gemacht, Pann aber doch als von der Mehr⸗
zahl der wiſſenſchaftlichen deutſchen Theologen der evange⸗
liſchen Kirche aufgegeben betrachtet werben, wiefern fie
im Algemeinen bei der Infpiration bie ganze natürliche
und geiftige Indivibualität und Selbflthätigkeit de Schrei⸗
benden, fo wie den Einfluß ber perfönlichen und der natio⸗
nalen Entwidelung beftehen und die Infpiration fich nicht
auf Buchftaben und Worte, für fi) genommen, und auch
niet auf die Gedanken in ihrer Vereinzelung beziehen laſ⸗
fen, dabei auch Beſchraͤnktes im Ausdrude, Unvolllomme-
nes in Gedanken und felbft Unrichtiges in Unweſentlichem
i6.d. Stell. d. Apokryph. d. A. 3. im chriſtl. Kanon. 295
zugeben; wird dieſes aber zugegeben, fo ſcheint es weniger
angemeſſen, viel leichter irre fuͤhrend, die einzelnen neute⸗
famentlichen Schriften als Werke des heiligen Geiſtes, der
ſich der Schriftſteller bloß als Organe bediente, als dieſelben
dd Werke der vom Geiſte Gottes erfüllten und geleiteten
menſchlichen Verfaſſer zu bezeichnen. Dann aber weiß ich
wir für die neuteflamentlichen Bücher die Infpiration ber
Berfaffer beim Schreiben berfelben durchaus nicht ald eine bes
fondere zu denken und al8 eine andere, als von der fie bei
der mündlichen Verkündigung des Evangeliumd oder in ihrer
amtfihen Thaͤtigkeit überhaupt erfüllt waren «), Denn ich
Tann mir nicht denken, daß 3. B. der Apoſtel Paulus, als
a an die Galater fchrieb, weſentlich anders vom Geifte bes
wege und infpirirt war, ald wie er ihnen mündlich das
Evangelium predigte, und anderd und höher beim Schreiben
der Briefe an bie Philipper, an den Philemon u. f. w., als
wie er die und in der Apoftelgefchichte erhaltenen und andere
uns nicht erhaltene Reden an Heiden und Juden und in
Sriftlichen Gemeinden hielt. Wäre die Infpiration beim Schreis
ben der neuteftamentlihen Schriften an ſich als. eine höhere
au betrachten, als wie die bei der mimdlichen Lehrthätigkeit
der Jünger des Herin, fo würde dem Lukas bei der Abs
feffung der Apgftelgefchichte ein höherer Grad von Infpiration
zujulegen feyn, ald den Apofteln Petrus und-Paulus felbft
beim Halten der in jenem Werke mitgeteilten Reden. "Das
iR allerdings gar wohl denkbar und an ſich fehr wahrſchein⸗
lich daß auch derfelbe Apoftel das Walten des heiligen Gei—⸗
ſtes in verſchiedenen Momenten feiner Wirkſamkeit in verſchiede⸗
2) Bergl. Baumgarten⸗-Cruſius, Einl. in das Studium der
Dogmat. $. 21.5; Schleiermacher, Dogmat. $. 130, 2.5
Rinfch, Sendſchr. an Deibrüd (1827), ©. 63: „Die Schola⸗
ſtiker unferer Kirche haben zuweilen ein Mehr ven Einfluß bes
Geiſtes auf die Apoftel gerade beim Schreiben angenommen,
wenn fie dem Andringen eines Bellarmin nichts Beſſeres entges
senzufegen wußten.”
Theol. Stud, Jahrg. 1858. 20
296 Bleek
mem Grade in ſich verfpürt hat, daß ex das eine Mal ſtaͤrker
und reiner davon bewegt und getrieben ward, als das andere
Mal; aber das if nad meinem Ermeflen nicht abhängig
davon, ob feine Thätigkeit eine mündliche oder eine fehrift:
lie war. Auf der anderen Eeite erſcheint hiernach auch
der Begriff der Infpiration in Beziehung auf die neuteſta⸗
mentlichen Schriften nicht ald ein abfoluter, fondern als ein
relativer und fließender, und zwar auf ſolche Weife, daß,
da ja die Wirffamkeit des heiligen Geiſtes inder Kirche eine
fortbauernde ift und ſich in einzelnen Gliedern bderfelben
auch in fpäterer Zeit auf eine vorzügliche Weile bewiefen
bat und fortipährend beweift, an dieſer Eigenſchaft mehr
oder weniger felbft Schriften einer fpäteren Zeit Theil nehmen
koͤnnen, dinen wir in Beiner Weife mehr ein kanoniſches,
normatioed Anfehen beilegen dürfen. Auf jeden Fall aber
haben wir Recht voraudzufegen, daß ber heilige Geiſt in
ſtaͤrkerer und reinerer WBeife den Apofteln beigewohnt hat,
als ſolchen Gläubigen der chriſtlichen Urzeit, welche zu dem
‚Heren nur in einem entfernteren oder gar nicht in einem
unmittelbaren perfönlichen Verhaͤltniſſe ftanden, und dag
daher auch dem verfchiedenen Schriften des neuteflament-
lichen Kanons die Eigenſchaft der Infpiration in verfchiedes
nem Grabe beiwohnt. Nicht minder ergibt fih, wie id
glaube, aus dem Bisherigen, daß, wenn gleich alle kano—
nifgen Bücher des N. T. fi müſſen ald infpirirte in dem
bezeichneten Sinne betrachten laſſen, doch diefer Begriff der
Iufpiration felbft zur Beſtimmung des Kanonifhen nicht
ausreichend, daß er bazu viel weniger geeignet ift, ald ans
dere, auf beflimmtere Weife erkennbare Momente, nament:
lich dad perfönliche Verhaͤltniß der Schriftfieler zum Herrn
und ihre Stelung in der Kirche in der chriſtlichen Urzeit.
Darnad wird nun aber hinſichtlich der Beſtimmung
des Umfanges des neuteftamentlihen Kanond immer eine
gewiſſe Freiheit der Bewegung bleiben, und zwar nicht bloß
was die Frage betrifft, ob es mit diefem oder jenem unferer
üb. d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. imhriftl. Kanon. 297
neuteftamentlihen Buͤcher etwa fo fteht, daß wir daſſelbe
techtmaͤßigerweiſe gar nicht als kanoniſch oder nicht einmal
als infpirirt betrachten koͤnnen, als auch, ob auch außer
den jegt im N. T. enthaltenen Schriften noch anderen aus
dem chriſtlichen Alterthum ein kanoniſches, normatives Ans
ſehen zuerkannt werden duͤrfe. Die erftere Frage beantwors
tet ſich durch daS bisher Auseinandergefegte; fie fommt am
weiften in Betracht bei einer Schrift, wie der zweite petris
niſche Brief, der, wenn er ein Pfeudepigraphum ift, allers
dings nicht irgend ald kanoniſch betrachtet werden kann, und
als infpirirt nur im allerweiteften Sinne, aber, wie ſchon
bemerkt, ohne daß dieß hinreichende Weranlaffung ift, ihn aus
der Sammlung der neuteftamentlichen Bücher, worin er in
der griechifchen, wie in ber ganzen abendländifhen Kirche
ſeit vielen Dahrhunderten feinen Play hat, zu entfernen.
Bas aber Die andere Frage anlangt, fo kommen, da fi
durchaus nicht erwarten läßt, daß noch echte apoſtoliſche
Schriften follten aufgefunden werden, befonderd nur bie
Schriften in Betracht, welche wir unter dem Namen ber
pofolifchen Wäter befigen, namentlich derjenigen, die im
R. T. felbft ſchon als chrifkliche Lehrer und apoftolifche Ge:
bilfen genannt werben, Barnabad, Clemens von Rom
Philipp. 4,3.) und Hermas (Roͤm. 16, 14.), deren Schriften
wir auch in der älteren Kirche eine Zeitlang, beſonders bei
den Merandrinern, in gleicher oder faft gleicher .WBeife ges
braucht finden, wie die neuteſtamentlichen Bücher. Aber feit
der Mitte des dritten Jahrhunderts finden wir die ganze
Kirche in der Auöfcliegung derfelben vom neuteſtamentlichen
Kanon zufammentreffend, und diefes, wie ich. glaube, mit
richtigem Urtheile. Am eheſten würbe ohne Zweifel noch
Barnabas nach feiner für laͤngere Zeit fo bedeutenden Stels
Iung in der Kirche darauf Anfpruch machen können, daß
dem von ihm Gefchriebenen Banonifches Anfehen, wenn auch
mm in untergeorbnetem Sinne, zuerkannt wuͤrde. Doc
iR der unter feinem Namen vorhandene Brief hoͤchſt wahrs
20*
298 ° Bleek
ſcheinlich nicht von ihm und auch durch ſeinen Inhalt, durch
das großentheils ſehr Kleinliche und Spielende in der typiſch⸗
fombolifchen Lehrweiſe, nicht würdig, ben, neuteſtamentlichen
Schriften an die Seite gefegt zu werden. Die beiden an
deren genannten Männer. aber treten ſchon unter ben apo ⸗
ſtoliſchen Gehuͤlfen zu wenig hervor, als daß wir dadurch
veranlaßt werden koͤnnten, ihnen als Lehrern der hriftlichen
Urzeit ein gleiches Vertrauen zu ſchenken, wie 3. B. dem
Apollo. Aber auch der Brief des Clemens an die Korinther
— die einzige der unter feinem Namen vorhandenen Schrifs
ten, welche wahrſcheinlich echt iſt, — und der unter dem Na»
men bed Hermas vorhandene Paftor find ſchon durch ihren
Umfang und die Breite der Darftellung nicht wohl geeignet,
Beftandtheile des N. T. abzugeben , auch ihrem Lehrgehalte
nad) nicht bedeutend genug, vielmehr die Iegtere Schrift
durch ihren vifiondren Charakter dazu gar nicht geeignet,
7. Wenn nun aber ſchon die Beftandtheile des N. 2.
in verfchiedenem Grade als kanoniſch zu betrachten find und
einzelne berfelben nur in einer fehr untergeorbneten, ja faſt
die Grenze des Kanoniſchen überfchreitenden Weife, fo gilt
diefes noch mehr von den Schriften des A. T., deſſen Bes
deutung für die chriftfiche Kirche auch noch der Gegenwart
nicht verfannt werden darf, aber auch ‚nicht Überfchägt, wie
dad Bine ebenſowohl gefchehen ift und noch geſchieht, wie
dad Andere. Für die Gewinnung des richtigen Urtheiles
aber find wir zunaͤchſt an die Ausfprüche und Werfahrunges
weife des Erloͤſers felbft und des neuen Zeflamentes gewie⸗
fen. Hier Tann nun zuoörberft darüber Bein Streit feyn,
daß ed der Lehre des neuen Teſtamentes gemaͤß if unb.in
den Auöfprüchen Chrifti felbft und der Apoflel gegründet,
daß dad X. T. — und zwar fowohl in feinem gefeglichen,
ald in feinem prophetifhen Inhalte — eine Offenbarung
Gottes an dad Bundesvolk enthält, in infpirirten Schriften
von Schriftftelern, die vom Gelfte Gottes oder von dem
heiligen’ Geifte erfüllt waren und beim Schreiben durch den⸗
i6.d. Stel. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 299
felben geleitet wurden. Aber auf der anderen Seite Bann
e durchaus nicht durch bie Lehre Chriſti und des N. X,
begründet und gerechtfertigt werben, wenn dem X. X. für
die Epriftenheit die gleiche kanoniſche, normative Dignität
beigelegt wird, wie dem N. T., wenn dad X, und das N. T.
als weſentlich gleichſtehende Theile des chriftlichen Kanons
betrachtet werden. Denn bie ganze altteſtamentliche Offen⸗
barung hat ihre unmittelbare Beziehung nur auf dad Volk
Irarl, mit der Beftimmung, biefes zu erziehen und hinzu⸗
führen auf das Heil, welches ihm und mit ihm der Menſch⸗
beit in Ehrifto und feinem Reiche beftimmt war; fie hat ges
gen bie neuteftamentliche Ordnung nur einen vorbereitenden
Charakter, als zuudayapdg els Xguorsv (Gal. 3, 4).
Rachdem aber jenes Heil felbft in die Welt getreten iſt und
mit demfelben in Chriſtus die abfolut, vollfommene Dffenbas
rung, konnen für diejenigen, welche dieſes erkannt haben,
die früheren vorbereitenden und unvollfommneren Offenbas
rungen nicht mehr bie gleiche Bedeutung haben, wie für bie
Gläubigen des alten Bundes, und koͤnnen für ben Glauben
und daB Leben der — auch bald fo weit über ben Kreis des
Volkes Ifeael ſich ausbreitenden — Chriftenbeit nicht auf
gleiche Weife die Norm und Regel darbieten, wie bad in
nd durch Ehriftus Geoffenbarte; jene gehören alle mit zu
demjenigen, was ber Apoftel Paulus ald. die grorgei« rov
xconov bezeichnet (Gal, 4, 3, 9,5 Kol, 2,8. 20, =), als die
2) Da Paulus in beiden Briefen vorzugsweife Heidenchriſten
vor Augen hat, welche er ermahnt, ſich nicht bem Joche des
juͤdiſchen Gefeges zu unterwerfen, und er Kol. 2, 20, ihre Bes
tehrung zu Ghriflus als ein dmodaveiv iv Agısrh dad ray
oroızeim» zoo xoonov bezeichnet, fo wie Bal. 4, 9. die An⸗
nahme des ifbifchen Geſetes von ihrer Seite al ein Imsorgd-
gus dl del cd deßeri nal aroyd ororyela, ols walır
Grade» dovirisw Ollovas, ſo ſcheint e8 mir ganz unverkennbar
zu ſeyn, daß er darunter mit dem juͤdiſchen Geſetze zugleich
andy Solchet verfteht, was bei ben Heiden bisber Geltung und
bindendes Anfehen In zeligiöfer Beziehung gehabt hatte, ihre
"300°! Bleek
Anfangsgründe der Welt, als das Elementariſche, was,
nachdem es feine Beſtimmung erfüllt hat, auf Chriſtus hin»
zuführen, nachdem die Zeit erfült und Chriſtus mit feinem
Heile erſchienen ift, von feiner biöherigen Bedeutung noths
wendig verlieren muß. Es ift hier das Verhaͤltniß im Als
gemeinen ein ähnliches, als wie der Täufer fein Verhaͤltniß
zu Chriſtus bezeichnet: äxeivov dei adkdvew, ink db Ber-
zododes (Joh. 3, 30). Und dieſes gilt im Allgemeinen gleich.
mäßig von den verfchiedenen Beftandtheilen und Geſichtspunc⸗
ten, worein dad A. T. zerfällt und wornach es fich betrach⸗
ten läßt, von der Gefchichte, wie von dem Geſetze deſſelben,
und aud von den prophetifchen Elementen, wie von dem
ganzen fitttich:religiöfen Geifte, Darüber gebe ich hier eis
nige kurze Andeutungen,
8. Nach jübifher Schägung nimmt unter den Schrif⸗
ten des A. T. den erften Rang ber Pentateuch ein mit dem
darin niebergelegten Geſetze. Dieſes Gefeg war für das
Volk Ifrael gegeben und onnte nur innerhalb diefes volk⸗
lichen Kreifes feine Anwendung finden; es hat, wie einen
Religionen nebft den damit zufammenhängenden Gefegen und
SInftitutionen, wiefern aud) darin Keime enthalten waren, welche
unter der göttlichen Leitung bie Herzen auf die Aufnahme des
Bolltommenen, bes Heiles in Ghrifto, vorbereiten Tonnten und
wirklich darauf vorbereitet haben. Diefe Anſchauungsweiſe ift
aud ganz dem Gparafter des Ginganges ber athenienſiſchen
» Rede des Paulus entfprechend, Apoſtelgeſch. 17,22 ff.; vergt. auch
Röm.1,19f. 2,15. Laͤßt fi nun hiernach gewiß nicht leug⸗
men, daß Paulus Juͤdiſches und Heibnifches in Werhättnig zum
Edriſtlichen auf gewiffe Weife parallelifist, das Gine wie das
Andere nur als etwas-Glementariiches und Worbereitendes bes
otrachtend, fo body auf der anderen Geite eben fo wenig, daß
er zwiſchen beidem noch einen weſentlichen unterſchied ſett,
und daß er das iſraelitiſche Gefet und das A. T. überhaupt
ganz anders als eine pofitive göttliche Offenbarung und als
mit bem Gpriftentpume in unmittelbarem Zufammenhange fie
hend betrachtet, als Alles, was bie Heidenwelt irgend Vergleiche
bares barbot.
üb.d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 301
religiöß s firchlichen, fo zugleich einen national » bürgerlichen
Sparakter. ine nationale Gültigkeit behielt daſſelbe für
den Juden auch nach feiner Belehrung zu Chriftus, fo lange
a fi nicht von feinem Wolke losfagte und fo lange ber
mit der jüdifhen Kirche fo eng verflochtene Staat überhaupt
noch fein Beſtehen hatte. Cine religiöfe Geltung aber
hatte e8 für den Chriſten feit der Gründung der chriſtlichen
Gemeinde nicht mehr, und hat es noch weniger jet für die
Chriſten, nachdem der judiſche Staat ſchon fo lange untergegans
gen ift und die chriftliche Kirche fyon feit fo Tange von der juͤdi⸗
ſchen völlig getrennt ift. Diefe Aufhebung der Verpflichtung der
Ritglieder deö neuen Bundes auf das altteftamentliche Geſetz iſt
der Lehte des N. T. felbft gemäß und wird befonders vom Apoftel
Paulus, wie in Beziehung auf die levitiſchen Inftitutionen
auch vom Werfafler des Briefes an die Hebräer, mit bes
fonderem Nachdrude geltend gemacht, Darnach kann denn
aber das altteftamentliche Gefeg für uns nicht mehr nors
matived Anfehen haben, wie es für das Wolf Ifrael vor
der Erſcheinung Chrifti hatte und haben ſollte. Allerdings
enthält daB altteftamentliche Geſetz auch Elemente von blei-
bender Bedeutung und Geltung; ſolche laſſen fi ja felbft
den Religionen und Gefegen der alten Voͤlker der Heiden:
weit nicht abfprechen, und wie follten fie denn fehlen koͤn⸗
nen, wie nicht in einem noch viel höheren Grade ſich fins
den müffen in einem Gefege, welches auf göftlicher Offen⸗
barung beruht und die Beſtimmung hatte, wenn auch nur
für das Volk Iſrael, den Durchgang zum Evangelium zu
bilden! Doch haben folde ‘Elemente ihre für uns fort-
dauernde Gültigkeit nicht infofern, als fie Beſtandtheile
des für das Volk Iſrael beftimmten altteffamentlichen Ge
feßes find, fondern hur inwiefern dad Evangelium fie ans
efannt und in fich aufgenommen hat, wie denn das Ge:
fe felbft Feine Anleitung gibt, ſolche Elemente von feinen
anderen Beſtandtheilen, womit fie durdjeinander gehen, zu
ſondern, fondern alle feine Vorſchriften als gleich unver
302 Bleek
belich bejeichnet, 5 Mof. N, M; vergl. Salat. 3, 10.
Nicht ans dem alttefismentiichen Gefehe felbi lernen wir
erleunen, welches die vor Allem weſentlichen Gebete bed
Geſetzes find, fondern erſt aus der Beichrung Chrifi, Katth.
2,5 -40.3 Rat. 12,9 —31.; vergl. Luk. 10, 77., wo
wir uns ohne Zweifel die Sache fo zu deuten haben, baf
der Gefegedichrer dem Erlöfer die dort mitgetheilte Ant
wort nicht auf die erfie Frage gegeben hat, fondern erfl,
nachdem Jeſus ihn durch mehrere Fragen darauf bingeleis
let hatte, was nur in der Erzählung des Evangelifien zu⸗
fammengezegen if. Der Ausſpruch Matth. 19, 18 f. —
und bei Lukas und Markus an ben parallelen Stellen —
kommt bier weniger in Betracht, da nah dem Charak-
ter ber ganzen Erzählung die Meinung ded Herm nicht
fen kam, daß die aͤußerliche Erfüllung der dort angeführe
tem Gebote aus der zweiten Gefegeötafel hinreichend fey,
den Befig des ewigen Lebens zu fihern, fondern er wohl
nur beabfihtigte, durdy die Hinweifung auf biefelben den
Bann zu prüfen, um dann je nad) ber Erwiederung deſ⸗
felben weitere Forderungen an ihn zu flellen, Ueber den
Ausfpruch Chriſti Matth. 5, 17— 19, bemerke ich kürzlich
Folgendes. Aus ber gegenwärtigen Stellung deſſelben läßt
fi) bei der ganzen Zufammenfegung der Bergpredigt nicht
mit einiger Sicherheit erkennen, in welchem Zuſammenhange
und bei welcher befonderen Beranlaffung ber Erlöfer diefes
vorgetragen hat, Nach der Form’ des Außfprucyes, welcher,
wenigfienö wie er bei Matthäus lautet, an bie Sünger ges
richtet ift, und nach dem Inhalte von ®. 19. ift weniger
wahrſcheinlich, was die meiften Ausleger annebmen, daß
Jeſus beabfihtigen folte, die Befchuldigungen ber Widers
ſacher abzuwehren, als ob er darauf ausginge, das vaͤterliche
Geſetz aufzulöfen, als vielmehr, ſolche feiner Jünger zu belehren
und zurückzuhalten, welche etwa durch die freiere Stellung,
die fie ihn felbft gegen den Buchſtaben des Gefeged, wie
namentlich in Beziehung auf die firenge Haltung des Sab-
üb.d. Stell.d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 303
baths und die Reinigungs= und Speifevorfchriften einneh⸗
men fahen, ſich berechtigt achteten, als Genoffen des neuen
Bundes ſich alsbald von dem Joche des väterlichen Geſetzes
Iotjufagen, daſſelbe für fi ald antiquirt zu betrachten.
Solche weißt der Exlöfer darauf hin, daß er überhaupt nicht
gelommen fey, dad Alte aufzulöfen, fondern vielmehr, ihm
feine rechte Erfülung zu geben, fowohl dem prophetifchen,
als dem gefeglichen Inhalte des alten Bundes, daß daffelbe
bi8 dahin feine Gültigkeit behalte, und daß diejenigen ſei⸗
mer Sänger, welche bamit begännen, ſich von dem väterli-
Gen Gefege Todzufagen und damit bie Bande, welche fie
an ihr Volt knuͤpften, abzuftreifen, nicht im Geifte des
neuen Bundes felbft, des Reiches Gottes, bandelten, wie
diienigen, welche dieſes Geſetz ihres Volkes auch ferner
beobachteten. Er wollte, daß feine Jünger feinem eige⸗
nen Beifpiele folgen folten, während aud er die Bors
ſchriften des Geſetzes des Volkes, dem er durch feine Fleiſch⸗
werdung angehoͤrte, fortwaͤhrend beobachtete, wenn auch in
fteierem Sinne, nicht ſklaviſch buchſtaͤblich, daß fie nicht
von vorne herein eigenmaͤchtig, wie auf revolutionaͤrem Wege,
die Bande, welche fie an ihr Bolt Enüpften, von ſich abſtrei⸗
fen, fondern die Löfung davon der weiteren Entwidlung der
Berhäitniffe unter der Hand Gotted überlaffen follten, Daß
aber das judiſche Gefe& im neuen Bunde eine immerwährende
Geltung haben und auf gleiche Weife für die fämmtlichen
Nitglieder auch ohne Rüdfiht auf ihre Geburt und Nas '
tienalitaͤt verpflichtende Kraft haben follte, hat der Erlöfer
fiher nicht fagen wollen =).
) S. bie treffiiche Predigt von Schleiermacper: über ben
Mafftab, wornach Chriſtus feine Jünger ſchaͤtt, Matth. 5, 19.
(Pred. Reue Ausg. Berl. 1835. Bo. IV. Nr, 35.), Für die
fpecielle Erklaͤrung bemerkte ich noch Folgendes: 1) Geſet und
Propheten find hier von ter in den Schriften des alten Bundes
niebergelegten göttlichen Offenbarung gemeint, das Geſet von
der im Pentateuche, die Propheten von der in ben übrigen Buͤ⸗
Ei Bleek
9. Wie gerade auch daB altteſtamentliche Sittengeſetz kei⸗
neswegs dem Standpuncte des Reiches Gottes entſprechend
ſey,' ja beide vielmehr auf gewiſſe Weiſe Gegenſaͤtze bilden
chern bes A. I. Zunaͤchſt haben wir hier dabei zwar an ben
gefeglichen Inhalt dieſer Schriften gu benten, wie ebenfo
Matth. 22, 40. Euf. 16, 29, 31. (und wie anderswo bei ders
felben zmeitheiligen Bezeichnung an ben prophetiihen Inhalt
derfelben), ba, was den prophetifchen Theil bes A. T. betrifft,
weder die Widerſacher bes Heren noch feine Sänger fo leicht
darauf verfallen konnten, baß er darauf ausgehe oder bazu exs
f&ienen fey, denfelben aufzulöfen. Doch läßt ſich wohl deuten,
daß der Erlöfer, um die Meinung zurüdzumweifen, er wolle das
von Gott geoffenbarte Gefeg feines Volkes auflöfen, ausfprechen
konnte, er fey überhaupt nicht gekommen, aufzulöfen, naͤmlich
bie frühere Ordnung ber Dinge und bie Offenbarung, worauf
fie berupte, fondern vielmehr ihr bie rechte Erfüllung zu ger
ben. Und daß er babei wirklich auch mit an bem prophetifchen
Inhalt des A. T. gedacht bat, läßt ſich nach V. 18. nicht wohl
bezweifeln. 2) wAngoo» iſt hier gewiß nicht fo viel als vers
volltommmen, wie namentlih be Wette es faßt; in Wer
siehung auf die Propheten würbe biefer Begriff gang unpaffend
feyn, aber auch vöue» wingos» Bann nicht heißen: bas Geſet
vervolltommnen, fondern nur: es erfüllen, wie Röm,
13, 8, Die hier angegebene Beftimmung aber der Erſcheinung
bes Erldſers auf Erden, das Geſet nicht aufzulöfen, fondern
zu erfüllen, bericht ſich ſowohl auf das Sittengeſet, als auf
den rituellen heil des Befeges. Das Gittengefeg erfüllte er
durch fein ganzes heiliges, fündlofes Leben, wodurch er den ſitt⸗
lichen Anforderungen bes Gefeges im vollften Sinne Genüge
leiftete, vole fein anderer Sterblicher es vermocht hatte; bie
Grfülung des rituellen Theiles des Geſetzes aber, namentlich
ber Reinigungs: und Opfergefege zur Verſoͤhnung Gottes, iſt
weniger in ber Beziehung gemeint, daß Jefus bei feinem Wans
dein auf Erden auch bie darauf ſich beziehenden Vorſchriften
beobachtet hat, als vielmehr in Beziehung auf bie bloß typiſche
und abbilblihe Bedeutung ber betreffenden Vorſchriften, bie
nur hinmeifen follten auf das Beduͤrfniß einer innerlichen Rei⸗
nigung und einer wahrbaften, weſentlichen Xerföhnung mit
Gott, wie fie allein durch Chriſtus und im neuen Wunde rea⸗
liſirt werden konnte; erft dadurch erhielt dieſer ceremonielle
Theil des Gefeges ebenfo wie die Propheten feine Erfüllung.
.
üb.d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im hriftl. Kanon. 305
führt der Erlöfer in einer, Reihe anderer Ausfprüche aus,
weiche in der Bergprebigt Kap. 5, W ff. an den eben bes
bandelten unmittelbar angereiht find, formell auf eine‘ nicht
ganz angemeffene Weife, indem nach dem Verhältniffe der
Gedanken flatt der Partikel Ydg V. %0. cher ö& am Drte
gewefen wäre, Befonderd bei den proteftantifchen Außle-
gen iſt zwar fehr verbreitet die Annahme, daß Jeſus bier
die im Reiche Gottes geforderte Sittlichkeit im Gegenfage
mm gegen bie pharifäifche Gefeglichkeit und die bei den
3) In ®. 18. ift das as dv waglldn d ougandg nal ı) yi
wohl nicht ald Grengbeftimmung gemeint, fo daß barin ſchon
angebeutet wäre, daß das Seſet in ber neuen, Orbnung ber
Dinge, bei der Vollendung bes Reiches Gottes nach Erneuerung
‚Himmels und der Erde, feine Geltung verlieren werde, fondern
zur ſpruͤchwoͤrtlich in dem allgemeinen Ginne, daß eher Him⸗
mel und Erde vergehen werde, als daß das Geles feine Güls
tigleit verlieren koͤnnte (vergl, Luk. 16, 17.); aber ſchwerlich
iR mit Fridſche in demfelden Sinne — als blog nachdruͤck⸗
lie Betheurung, daß das nicht gefchehen werde und dürfe —
audı das weiter hinzugefügte Eos dr warra ydıızas gu faflen
= es werde cher alles Andere gefchehen. Vielmehr bezieht ſich
das adrre ohne Zweifel auf den Inhalt des Geſetzes und ber
Propheten, naͤmlich namentlich auf den typifchen und prophetis
fen Inpalt des %. T., und wir haben ‚das Werhältniß fo zu
faffen: das Gefeg werde feine Gültigkeit nicht verlieren, bis
Ales gefchehen ſey, worauf es hinweift, bis e& feine vollftändige
singmoss gefunden habe, es-müfle, bevor es als aufgelöft bes
trachtet werden Lönne, zuvor feine Erfüllung finden. Aehnlich
iſt das Verhaͤltniß der gleichen Worte, obwohl in anderer Bes
wiehung, Luk. 21, 39.5 Matıh. 24, 34.5 Mark. 19, 30. Diefe
Erfüllung aber des Gefedes und der Propheten in bem bier
gemeinten &inne geſchehe theilweiſe ſchon durch ben heiligen
Wandel des Grlöfers auf Erden, bann in feinem Tode und
der darin geftifteten volltommenen DBerföhnung, worin das Ges
temonialgefeg über Reinigung und Gühnopfer . feine Grfüls
lung fand, und dann weiter in ber ſich daran anſchließenden
Gründung der Kirche des Herrn als einer felbftänbigen, auch
bie Heibenwelt in fi aufnehmenden Bemeinfhaft, welche als
ſolche beſonders durch die völlige Auflöfung des jüdilhen Staa⸗
tes und Tempeldienſtes befeftigt warb.
306 Bleek
phariſaiſchen Schriſtgelehrten uͤbliche Auslegung des Geſe⸗
tzes betrachte, nicht aber gegen den Standpunct des altte⸗
ſtamentlichen Geſetzes ſelbſt. Aber daß wirklich das Letztere
der Fall ſey, wie ſchon bie griechiſchen Ausleger annehmen
und fpäter focinianifche und katholiſche, hat unter den neues
zen proteflantifchen Auslegern namentlih Neanbder (Leben
Jeſu. Ausg. 4, S. 394 f. Anm.) 'geltend gemacht, und, wie
ich glaube, mit Recht. Es fpricht dafuͤr namentlih, daß
Jeſus im Folgenden die jüdifhen Sagungen, denen er feine
Gebote gegenüberftelt, zum Theil ganz in der Form bins
ftelt, worin fie ſich im moſaiſchen Gefege finden, wie ®. 27.
38,, und daß, wo er fie in etwad anderer Weife gibt, wie
V. 22. 31, 33, 43,, die Abweichung doch theild nur die dus
Bere Form und Ausdrucksweiſe trifft, theils die hinzugefüg«
ten Zufäge dem Sinne der moſaiſchen Worfchriften felbft
entſprechend erfcheinen. Dazu kommt, daß das 266E9y rois
doxalois, womit 8, 21. 33, die juͤdiſchen Gebote einges
führt werben, ohne Zweifel ſich auf die Mittheilung der⸗
felben durch den Mofed an das Volk feiner Zeit bezieht (Fes
iſt zu den Alten gefagt”, und ebenfo dann auch das eins
fache 86607, V. 7. 31. 38. 43.) a), Somit bezeichnet
a) Wenn aleich geammatifc möglich, fo iſt es doch hier ſehr unnas
tuͤrlich/ das sols dgzuloıg mit Beza, Paulus, Kuinoel,
Fritſche, Winer, Ewald u, A. als Bezeichnung des Sub⸗
jects zu faffen = Uxö zür dgzalor, wo man denn bei dem
dozaloıs meiſtens an bie fpäteren juͤdiſchen Gchriftgelehrten
vor Chriſtus denkt; man würde da aud) eher wgsoßvrdgos ers
warten. Aber auch an ſich liegt es viel näher, den Dativ bei Zg-
dE0n als Bezeichnung derjenigen zu nehmen, gu benen geredet
wird, wie an allen anderen Gtellen im R.X. (Rdm.9, 12. 26.3
"al. 3, 16.5 Offenb. 6, 11. 9,4). Dann aber erfiheint es mie
auch durchaus unnatuͤrlich, bei den dgzaloıs an bie Juden vor
Ehriſtus zu denken, zu denen bie fpäteren Schriftgelehrten re⸗
deten (fo BaumgartensGrufius und RitfhI, Gntftes
bung der altkathol. Rice, &.31f.), und auch nit wahrſchein ⸗
Ud, wie de Wette, daß als die Mebenden dieſe fpäteren
Schriftgelehrten follten mit dem Mofes zugleich gemeint ſeyn;
üb.d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 307
alfo der Exlöfer das juͤdiſche Sittengeſetz uͤberhaupt — nicht
bloß nach der Auffaffung und Behandlung, die es von Seiten
der fpäteren Schriftgelehrten erfuhr, ſondern auch in der
Gehalt, worin es von Moſes felbft dem Wolke verkündigt
war — als dem Standpuncte bed Reiches Gottes nicht
mehr entfprechend und gibt-über dad Verhaͤltniß des chriſt⸗
ligen Sittengefegeö zu demſelben einige nähere Andeutungen,
worin er namentlich erftlich überall auf bie Gefinnung zurüds
geht und darnach ben fittlichen Werth der Handlungen will
beurtheilt wiſſen, nicht bloß nach dem Aeußerlichen der That
— indem, wo Jeſus felbft ald Solches, was er von ben Sei⸗
nigen forbere, ebenfalls aͤußerliche Handlungen nennt, wei⸗
Rens der Bufammenhang nicht verfennen läßt, daß fie nur
ds Eremplificationen zur Veranſchaulichung ber Gefinnung
genannt werben, weldye er and Herz legen will — und
weitens ingbefondere die Pflicht der Liebe gegen den Nächs
fen tiefer faßt und fie auch weiter ausdehnt, als es daß
altteſtamentliche Geſetz nach feinem befchränkten nationalen
Gtandpuncte gethan hatte und thun konnte. Das mofal-
ſche Geſetz gebietet, den Naͤchſten zu lieben wie ſich ſelbſt,
3 Mof. 19, 18, Der Begriff des Näcften (3x7) bezeichnet
dert im Sinne des Gefetzes nicht nähere Freunde, aber
auch nicht die Mitmenfchen Überhaupt, fondern die Nebens
menſchen aus dem Wolke Ifrael. Das zeigt bier fchon der
unmittelbare Zufammenhang, indem biefer Gedanke: „und
liche deinen Naͤchſten wie dich felbfl”, dem des unmittelbar
vorhergehenden erften Hemiſtichs entfpricht: „du ſollſt nicht
tahıgierig und nachtragend feyn gegen die Söhne beines
Volles”, Daffelbe ergibt fih aus V. 33. 34., wo noch
indbefondere von den Zremblingen bie Rede iff, bie fi
wa bei den Ifraeliten und in ihrem Lande aufhalten
fondern gewiß haben wir nur an bie Iſraeliten zur Beit des
Mofes zu denken, denen durch biefen das noch gültige Geſet
zuerſt verkuͤndigt warb.
308 j Bleet
moͤchten, und geboten wird, auch ſie zu lieben wie ſich
ſelbſt. Das bezieht ſich indeſſen nur auf ſolche Fremdlinge
ober Nicht · Iſraeliten, welche ſich als Schuͤtzlinge unter den
Iſraeliten aufhielten und mehr oder weniger auch an den
gottesdienſtlichen Einrichtungen des Volkes Theil nahmen.
Ein Gebot der allgemeinen Menſchenliebe auch in Beziehung
auf die Mitglieder der anderen Voͤlker uͤberhaupt hat das
moſaiſche Gefeg nicht. Wielmehr nimmt es in ber Bezie⸗
bung Theil an dem particulariftifhen Standpuncte und
Geiße des Volkes, für welches es beſtimmt war, was mit
der ganzen providentiellen Stellung des Volkes zufammen-
bängt. Bir finden daher gegen die Genoffen anderer Böls
ter im Algemeinen im Gefege nur eine feindſchaftliche
Richtung; fie werden an fi, wie als Feinde Jehova's, fo
als Feinde des Wolke Jehova's und der einzelnen Mit«
glieder deffelben betrachtet und find Gegenflände ihres Haſ⸗
ſes. Darnady ift wohl zu erflären, wenn es in des Erloͤ—
ſers Angabe über das Gebot des alten Geſetzes als zweites
Glied heißt: ‚ad ſollſt haflen Deinen Feind”. Da ſich
diefes auf ausdrückliche Weife‘ in jener Gefegeöftelle nicht
findet, wie eben fo wenig an einer anderen Stelle des Ges
ſetzes, fo bezieht man es gewöhnlich nur auf die Deutung,
„welche die fpdteren pharifäifchen Schriftgelehrten dem mos
ſaiſchen Gefege gaben. Aber wenn Jeſus dieſes auch mit
dor Augen gehabt bat, fo, glaube ich, doch nicht dieſes als
lein, fondern er will damit zugleich ben unvollkommenen,
particulariflifhen Standpunct und Geift des altteftamentli-
hen Geſetzes felbft bezeichnen, wofür die Ausbrudsweife
auch ganz ‚angemeffen ik, wenn wir nur den Begriff
des Zeindes zundchft in volklicher Beziehung faſſen. So
Tann au, was der Erloͤſer felbft im Folgenden als feine
Gebote in Beziehung auf Feindesliebe dem Altteftamentlis
hen entgegenftelt, mit in volklicher Beziehung gemeint
ſeyn, wenn gleich es barauf nicht zu beſchraͤnken iſt. Die
gleihe Gefinnung aber, wie gegen Genoffen fremder, goͤ⸗
36.6. Stel.d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 309
dendieneriſcher Voͤlker, hielten die Ifraeliten auch leicht ges
gen perfönliche Widerfacher unter ihren Volksgenoſſen für
gerechtfertigt, insbeſondere wenn fie diefe irgendwie ald Wis
derſacher des wahren Gottes und feines Dienſtes anfehen
konnten. Wie aber in dieſer Beziehung der Geift des
Evangelium gegen den bed alten Teſtamentes einen Ges
genfog bildet, zeigt am deutlichſten die Erzählung Lu. 9,
51—56, Dort bezeichnet der Exlöfer dad Verfahren eines
angefehenen und auf vorzuͤgliche Weiſe mit göttliher Kraft
ausgerüfteten altteflamentlichen Propheten, eines Elias, wos
tun derfelbe die von dem gößendienerifchen Könige von
Ihrael gegen ihn audgefandten Männer auf wunderbare
Beife und gerade mit Berufung auf feine göttlide Sens
dung vernichtete (2 Koͤn. 1,9 ff.), ald ein foldes, welches
ganz entgegen fey dem Geiſte des Reiches Gottes, von
welchem feine Sünger durchdrungen ſeyn und ſich leiten
laffen folten, welcher als Geift der heiligen Liebe fie Ichren
folte, auch das aus Mangel an Erkenntniß Widerftrebende
im menſchlichen Geſchlechte nicht zu verderben, fondern dem
Heile zuzuwenden; er ann jenes Verfahren des großen
Propheten bed alten Bundes baher nicht ald ein rein aus ,
dem Geiſte Gottes hervorgegangenes betrachtet haben, fon:
dern ald eim foldyes, woran neben dem Geifte Gottes, wel:
chet die Wunderkraft in ihm wirkte, auch menfchlicher Eis
genwille und Sündhaftigkeit mit ihren Antheil hatten. Auf
entſprechende Weiſe würde ber Heiland aud gewiß wohl
geurthgilt haben z. B. uͤber den Befehl des Samuel hine
fichtlich der Zilgung der Amalefiter und ber Ermordung
de Agag (1 Sam. Kap. 15.), obwohl diefes dem Stands
yuncte des mofaifchen Geſetzes entfprechend war. — Wir
onen daher nach den eigenen Auöfprüchen des Herrn bad
alttefamentliche Gefeg an ſich und bie bem entfprechende
Handlungdweife der Männer Gottes im alten Teſtamente
nit wohl als normativ für uns betrachten, fondern haben,
um zu erkennen, was und wie viel barin für und Ver⸗
310 Bleek
pflichtendes und Vorbildliches enthalten iſt, im Allgemeinen,
wie jedesmal im Einzelnen den Standpunct des neuen
Bundes oder bed Evangeliums zur Beurtheilung anzulegen.
. 30. Daffelbe gilt denn auch für die Beurtheilung bes
fitttidh »religiöfen Geiftes der altteffamentlichen Schriften,
fo 3. B. der Pfalmen, einer Sammlung von Liedern, ders
gleichen Fein anderes Wolf des Alterthums erzeugen konnte,
wie dasjenige, dem der wahre, lebendige Bott ſchon in ber
Urzeit fih in feiner Heiligkeit geoffenbart hatte, die auch
felbft mehr als eine der anderen altteffamentlichen Schriften
geeignet ift, in ber chriftlichen Kirche fortwährend zur Er⸗
bauung fowohl Einzelner ald der Gemeinde zu dienen, und
von jeher dazu gebient hat, Auf eine befonderd erhebende
Weiſe fpricht fich in fo vielen diefer Lieder dad Vertrauen
ber frommen Dichter auf die Vorſehung Gottes aus, als
des ‚Heiligen und einen, des Almäctigen und Gerechten,
des Gnaͤdigen und Barmherzigen, welcher die Seinen, die
auf ihn harren, nicht verlaffen werde, fo wie auf nachdruͤck⸗
liche Weiſe der Abfcheu .vor der Sünde, und dieſes in man
hen Liedern mit dem Bewußtſeyn der eigenen Schuld, der
‚ fortdauernden Sündhaftigkeit, mit der Anerkennung, daß
vor Gott Fein Menſch gerecht fey (4. B. Pf. 19, 13,5 Pf. 3.
32. 38. 39. 51. 106, 6 ff. 130. 143.). Auf der andern Seite
aber bieten auch dieſe Lieder Mandyes dar, was mit ber
Lehre und dem Geifte des Chriſtenthums nicht vereinbar iſt;
dahin gehört, daß das Wertrauen auch der Frommen auf
Gott nur auf dieſes Leben befchränkt erſcheint (fo beſonders
Pſ. 6, 6. 30, 10. 88, 11 f. 115, 17.), daß in manden Lies
dern flatt des Bewußtſeyns und der Anerkennung der allges
meinen und perfönlihen Suͤndbaftigkeit ſich ein geroiffes ftol
zes Vertrauen auf eigene Unſchuld und ein Berufen auf eigene
Gerechtigkeit findet, z. B. Pf. 7. 11.18. (8. 21 ff.). W. 59.
(8.4. 5.). 66. (8. 18.) u. a., und daß anderswo ſich ein
Seift Teidenfchaftlicher Feindſchaft und Rachſucht gegen bie
Widerſacher Fund gibt, wie befonders Pf. 109. 137. 69, 3
3.5. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 311
—2. 58, 11. 59, 11—16. 149, 7 f. Allerdings iſt nicht
außer Acht zu laſſen, daß bei folchen Aeußerungen die Vers
faffer bie Feinde nicht bloß ald ihre perfönlichen Widerfacher
betrachten, ſondern zugleich oder hauptſaͤchlich ald die Feinde
der Ftommen überhaupt und ald Widerfacher ded wahren
Gottes und des Volkes Gottes, Aber auch fo ift der darin
fih fund gebende Geift dem des Evangeliums eben fo wenig
entfprechend wie jened Verfahren bed Elias,
Einen noch viel ftärkeren Gegenfag bietet dad Buch
Efther dar. Ich halte es für unmöglich, daß, wenn Iemand
da Buch mit unbefangenem Gemüthe lieft, er follte urthei⸗
Im können, daß der Verſaſſer deffelben nichts weiter beab«
Fötigt babe, als eine einfache und getreue Darſtellung ges
ſdichtlicher Ereigniffe und Charaktere zu geben, und daß
er daher auch nicht habe verſchweigen wollen, wie die Ju⸗
den zur Zeit des Ahasverus auch ihrerfeits ſich verfündigt
haben, Durch die ganze Darftelung fcheint mir aufs deut⸗
lichſte hervorzutreten, daß ber Schriftfieller felbft an den
Charakteren und ber Handlungsweiſe feiner hier auftretenden
jüdiſchen Volksgenoſſen, der Eſther und des Mardochai, ein
beſonderes Wohlgefallen findet, daß die Sinnesart, welche fie
kund geben, ihm als die rechte, des jübifchen Volkes wärdige
erſcheint, was noch um fo beftimmter hervortritt, wenn aner⸗
fannt wird, daß der Inhalt des Buches ſich nicht als reine
Geſchichtserzaͤhlung betrachten läßt, fondern dad etwa zu
Grunde liegende Geſchichtliche fehr ſtark und zwar wohl
ber) den Werfaffer des Buches felbft ausgeſchmuͤckt iſt, fo
daß alfo der Schriftfteller in der Darftellung mit großer
Fitiheit ſcheint verfahren zu feyn ). Dann aber, glaube
ich, läßt ſich nicht wohl in Abrede flellen, daß feine andere
altteftamentliche Schrift "vom Geifte de Evangeliums fo
a) Gäwerlich laßt ſich denken, daß, wenn aud) der perfifche König
auf Anreizung eines Günftlings ben Worfag gefaßt hatte, alle
Juden in felnem Heiche auszurotten, er das würde zwölf Mo⸗
nate, bevor bie Ausführung ftattfinden follte, in allen Provinzen
Tpesl, Brad. Jahrg. 1858, 21
312 Bleek
ferne iſt, wie dieſes Buch, bei dem ber durch daſſelbe ſich
bindurchziehende engherzige nationale Rache» und Verfol⸗
gungsgeift nicht einmal durch die Beziehung auf Gott und
feines Reiches haben bekannt machen laffen, und nit bleß
heimlich für die Gtattpalter, fondern burch Öffentliche Kuss
ſchreiben auch für die Vdiker (K. 3, 12 ff.), und das, ohne
daß bie Juden irgend daran denfen, ſich dem brohenden un ⸗
heile durch die Flucht zu entziehen; darüber iſt wenigftens nichts
angebeutet, wie man bei der fonftigen Umftändlicleit der Er⸗
zaͤhlung doch wohl erwarten dürfte, Dabei ift noch zu erwäs
gen, was gewöhnlid; ganz unbeadjtet bleibt, ba zu den per⸗
ſiſchen Provinzen der Zeit auch Judaͤg gehörte, welches das
mals wieber faft ganz von Juden bewohnt war; ber perſiſche
König würde bemnady durch fein Edict bie Zödtung aller oder
bei weitem bee meiften Bewohner dieſes Landes angeordnet und
zwoͤlf Monate vor ber brabfichtigten Ausführung angekündigt
haben, was gewiß ſchwer zu glauben if. Nidt geringere
Schwierigkeit verurfacht es, daß, als nachher ber König jenen
Befehl bereuete, bloß der Umftand, daß durch ein zweites Cdiet
den Juden geftattet ward, fid gegen ihre Zeinde und Angreis
fer zu vertheibigen, follte den Grfolg gehabt haben, daß den
Juden Alles in allen Landen unterlag, daß fie 75,000 Wann
— gleichfalls Unterthanen des Königs — tödteten (R.9, If);
wenn auch bie Beamten bes Königs aus Furcht vor bem jeti⸗
gen Bünftlinge, dem Mardochai, fie begünfigten, fo kons⸗
ten biefeiben body ſchon nad dem exfleren nicht wiberzufenen
Ediete fie nicht wohl auf thätige Weiſe unterftügen. — Ganz
befonbers unnatuͤrlich und unwahrſcheinlich tft es ferner, daß,
nachdem die Juden in der Reſidenz Gufan an dem einen Zage,
auf welchen das erſtere koͤnigliche Eict ibse Ermordung am
geordnet hatte, ſchon 500 ihrer Widerſacher getoͤdtet hatten,
der König ſollte dann auf Bitte der in ihrer Radfucht und
ihrem Btatdurſte noch nicht befti⸗ digten Eſther durch ein neues
Ediet geſtattet haben, das Blutbad an feinen nicht⸗jͤdiſchen
unterthanen auch ben folgenden Tag fortzufegen, we auf bie
Juden kein Angriff mehr erlaubt war (8.9,12—15.). Wie
laͤßt es fich ferner glauben, daß ganz Bufan, wie durch das
erſte, buch den Haman bewirkte Edict in Beftürzung (8.3,
16.), fo durch das zweite, durch den Mardochai veranlafte folltein
fötyen Jubel verfegt worden ſeyn, wie K. 8, 15, erzäplt wird? Und
üb. d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 313
die Theokratie irgendwie geheiligt erſcheint. Gewiß iſt es
auch merkwuͤrdig und dient mit zur Charakteriſtik des ums
tbeokratifchen Geiſtes des Buches, daß in der ganzen, zehn
Kapitel langen Schrift auch nicht ein einziges Mat Gott
genannt wird, in irgend einer ber Bezeichnungen deffelben,
während «8 bei dem Gegenftande, ben die Erzählung behan.
deit, keineswegs an Gelegenheit fehlte, in der ziemlich ums
Rändlichen Darftellung die Geſchichte in Beziehung auf Gott
zu feßen, fo daß man fi) wundern muß, wem behauptet
wird, es liege, dag ber Gottesname in dem Muche nicht
verfomme, in der Natur der Sache. — Daß das Bud
nachmals bei den Juden zu eimem befonderen Anfehen ges
langt ift, fo daß fie zum Theil es der Thora gleihflellen
und über bie anderen Ketubim und felbf über die Nevlim
(f. Carpzov. Introd. 1. p. 366.) fegen; iſt dem Charakter
des fpäteren rabbiniſchen Judenthums gemäß: Doch ſcheint
es auch felbft bei den Juden nicht gleich anfangs allgemeine
Anerkennung gefunden zu haben, wie fi aus bem Talmud
von Ierufalem tr. Megill. f. 70, 4. fliegen läßt, wo es
beißt, daß über die Ginfährumg des Purimfeſtes durch bie
Eſther und den Mardochai 85 Aelteſte und unter ihren mehr
als dreißig Propheten als uͤber eine Neuerung gegen das Geſetz
gefpottet hätten; denn wenn die Angabe in biefer Geftalt
auch etwas fabelhaft lautet, fo Liegt body wohl etwas Wahs
res zu Grunde, und fie ſelbſt hätte ſich nicht fo bilden Eins
nen, wenn bad Buch Efther fon von Anfang an bei den
Suben allgemein in ſolchem Anfehen geftanden hätte, wie
im fpäterer Zeit, Vieleicht haben dieſe Zweifel der Juden
mit Einfluß geübt auf die Erſcheinungen in der dlteren
wie fonderbar und unwahrſcheinlich iſt es, daß ber perſiſche
König ſollte in ale dandſchaften feines Reiches ein befonderes
Edict haben ergehen laffen bes Inhaltes, daß jeder Mann Herr
in feinem Haufe ſeyn folle (R. 1,21.) Roch Anderes gegen den
zein geſchichtlichen Charakter der Graählung f. bei de Wette,
Ginteit. ins A. 2. 9. 198. =. b.
21 *
312 Bleek
ferne iſt, wie dieſes Buch, bei dem ber durch daſſelbe ſich
hindurchziehende engherzige nationale Rode» und Verfol⸗
gungägeift nicht einmal durch die Beziehung auf Gott und
feines Reiches haben bekannt machen laffen, und nidt bleß
heimlich für die Gtattpalter, fonbern durch Öffentliche Aus⸗
ſchreiben aud für die Wölker (K. 3, 12 ff.), und das, ohne
daß bie Juden irgend daran denken, ſich dem drohenden Uns
heile durch bie Flucht zu entziehen; darüber iR wenigfens nichts
angebeutet, wie man bei ber fonftigen Umſtaͤndlichkeit der Grs
zaͤhlung body wohl erwarten dürfte, Dabei ift noch zu erwäs
gen, was gewöhnlich ganz unbeachtet bleibt, daß zu den per-
ſiſchen Provinzen der Zeit auch Zubäa gehörte, welches das
mals wieber faft ganz von Juden bewohnt war; ber peefifche
König wärbe demnach durch fein Edict bie Zödkung aller ober
bei weitem ber meiften Bewohner biefes Bandes angeorbnet und
zwölf Monate vor ber brabfichtigten Ausführung angekündigt
haben, was gewiß ſchwer zu glauben iſt. Nicht geringere
Schwierigkeit verurſacht es, daß, als nachher ber König jenen
Befehl bereuete, bloß ber Umftand, daß dusch ein zweites Gdiet
den Juben geftattet ward, fich gegen ihre Feinde und Angreis
fer zu vertheibigen, follte den Grfolg gehabt haben, daß den
Juden Alles in allen Banden unterlag, daß fie 75,000 Mann
— gleichfalls Untertyanen bes Könige — töbteten (RI, If.)
wenn aud bie Beamten bes Königs aus Furcht vor dem jegis
sen Günftlinge, dem Mardodai, fie begünfigten, fo Eonns
ten bdiefelben doch fon nad dem erfleren nicht wiberzufenen
Ediete fie nicht wohl auf thätige Weiſe unterftügen. — Ganz
befonbers unnatuͤrlich und unwahrſcheinlich tft es ferner, daß,
nachdem bie Juden in der Reſidenz Suſan an bem einen Tage,
auf welchen das erſtere koͤnigliche Ehict ibse Ermordung ans
geordnet hatte, ſchon 500 ihrer Widerlacher getoͤdtet hatten,
der König ſollte dann auf Bitte der in ihrer Rachſucht und
Äcem Btatdurſte noch nicht befriebigten Efider durch ein neues
Edict geftatter haben, das Blutbad an feinen nichtsjüdifchen
Untertyanen auch ben folgenden Tag fortzufegen, we auf die
Juden Fein Angriff mehr erlaubt war (8.9,12—15.). Wie
täßt es fid ferner glauben, daß ganı Gufan, wie durch das
erſte, durch ben Haman bewirkte Edict in Beflürzung (8.3,
16.), fo durch das zweite, durch ben Mardochai veranlafte follte in
fötgen Jubel verfegt worden fegn, wie K. 8, 15, erzäpttwicd? Und
ib.d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 318
die Theokratie irgendwie geheiligt erſcheint. Gewiß iſt es
auch merkwuͤrdig und dient mit zur Charakteriſtik des ums
theofratiichen Geiſtes des Buches, daß in der ganzen, zehn
Kapitel langen Schrift auch nicht ein einziges Mal Gott
genannt wird, in irgend einer der Bezeichnungen deſſelben,
während es bei dem Gegenflande, ben die Erzählung behan ⸗
beit, keineswegs an Gelegenheit fehlte, in ber ziemlich ums
Rändlichen Darſtellung die Geſchichte in Beziehung: auf Gott
zu feßen, fo daß man fi) wundern muß, wenn behauptet
wird, es liege, daß der Gottesname -in dem Buche nicht
vorfomme, in der Natur der Sache. — Daß das Bud
nachmals bei den Juden zu einem befonderen Anfehen ger
langt ift, fo daß fie zum Theil es der Thora gleichftellen
und Über die anderen Ketubim und felb über die Neviim
(,Carpzov. Introd. I. p. 366.) fegen; ift dem Gharafter
des fpäteren rabbiniſchen Judenthums gemäß. Doch ſcheint
es auch felbft bei den Juden nicht gleich anfangs allgemeine
Anerfennung gefunden zu haben, wie fi) aus dem Talmud
von Serufalem tr. Megill. f. 70, 4. fliegen läßt, wo «8
beißt, daß über die Einführung des Purimfeſtes durch die
Eſther und den Mardochai 85 Aeltefte und unter ihnen mehr
als dreißig Propheten als über eine Neuerung gegen das Geſetz
gefpottet hätten; denn wenn die Angabe in dieſer Geſtalt
auch etwas fabelhaft Iautet, fo Liegt body wohl etwas Wah⸗
ies zu Grunde, und fie felbft hätte fich nicht fo bilden Töns
nen, wenn bad Buch Efiher ſchon von Anfang an bei ben
Juden allgemein in ſolchem Anfehen geflanden hätte, wie
in fpäterer Zeit. Vielleicht haben biefe Zweifel der Juden
mit Einfluß geübt auf die Erſcheinungen in der diteren
wie fonderbar und unwahrſcheinlich iſt es, daß der peiſiſche
König ſolite in alle Laudſchaften feines RKeiches ein beſonderes
Edict haben ergehen laſſen bes Inhaltes, daß jeder Mann Herr
in feinem Hauſe feyn folle (R.1,21.)1 Roch Anderes gegen den
rein gefchihtlichen Charakter dee Eraählung f. bei be Wette,
Einteit, ind A. 2. $. 198, «. b.
21 *
314 Bleek
chriſtlichen Kirche, namentlich der griechiſchen; hier wird in
den Verzeichniſſen der kanoniſchen Bücher des A. T. das
Bud Eſther vom Melito und vom Gregor von Nazianz
ganz mit Stillſchweigen Übergangen; in den lambis ad
Sellucam und. in der Synopsis scripturae sacrae heißt
es, von Ginigen werde auch diefes Buch zu den kanoni—⸗
ſchen gezählt, oder es werde von einigen ber Alten auöges
fagt, daß es bei den Hebraͤern als kanoniſch gelte; beim
Athanafius wird ed, wie unfere Apokryphen, gefondert
von den Banonifhen Büchern, unter die Schriften zweiter
Claſſe, die dveyınmoxdpsve, gerechnet, und noch im ſech⸗
ſten Jahrhundert fchreibt Junilius (de part. leg. div.c.3.),
es werbe zu feiner Zeit fehr gezweifelt, ob das Buch in den
Kanon gehöre. Auf. jeden Fall aber zeigen dieſe Tängere
Zeit fi fund gebenden Bedenklichkeiten in der riftlichen
Kirche, dag man den in dem Buche herrſchenden Geift mit
dem Geifte des Evangeliums nicht zu vereinigen wußte.
Später hat befanntlid Luther an dem Buche ſtarken Ans
ſtoß genommen, ald,einer Schrift, welde, obwohl im Kauon
mit befindlich, mehr als irgend eine andere Schrift verdiene,
nicht darin zu feyn (de servo arbitr. Opp. Lat. ed. len.
T. II. p. 182. W. A. XVII &, 2189.), und der er, wie
dem zweiten Buche der Makkabaͤer, fo feind fey, daß er
wollte, fie wären gar nicht vorhanden, da fie zu fehr ju⸗
denzten und viele heidniſche Unart hätten (Tiſchreden,
W. X. XXI. &, 2080.).
Zwar fehlt es auch nicht an Schriften und Ausſpruͤchen
im A. T., welche einen anderen, univerfelleren und mehr
dem evangelifchen ſich annähernden Geiſt befunden. Ber
Allem zeichnet fi dadurch das Buch Jonas aus, befien
Bwed unverkennbar der ift, dem beſchraͤnkten jüdifchen Par:
ticulariömus entgegenzuwirken, wie er in ber Maffe des
Volkes herrſchend war und theilweife felbft bei prophetiſch
begabten Männern ſich fand, der Vorſtellung, als ob Je⸗
bova, der von den Sfraeliten verehrte einige wahre Gott
ib. d. Stell. d. Apokryph. d. A. Z. im chriſtl. Kanon. 315
in Wahrheit auch nur ihr Gott ſey, ſeinen Wohnfig nur
in ihrem Lande habe, nur ihr Volk mit väterlicher Liebe
umfaffe, und als ob es recht und ihm mwohlgefällig fey, ges
gen alle anderen Völker ſchon als ſolche eine feindfelige Ges
fianung zu begen und flatt ihrer Belehrung nur ihr Wer.
derben berbeizuwänfchen. In einer anderen Schrift bes
a, T. iſt die allumfaſſende Waterliebe Gottes, welche Pers .
fon und Volk nicht anfieht, fondern das Heil Aller wii
und Aller ſich erbarmt, die zu ihm fich befehren, auf eine
fo eindringliche und dem Geifte des Evangeliums fo nahe
kommende Weiſe hervorgehoben, wie in diefem Buche, welche
Anſicht man auch über das gefchichtlihe Subftrat der Ers
zaͤhlung für die richtige Halten mag. Aber im Allgemeinen
tunen wir binfichtlic des fittlich»religiöfen Geifles dem
a. T. unmöglich die gleiche normative Autorität zuerfennen,
wie dem N. T. und felbft denjenigen Schriften des N, X,
welche ſich nur als kanoniſche Schriften in zweiter und drit⸗
ter Reihe betrachten laſſen.
11. Weſentlich nicht anders verhält es ſich mit den eis
gentlich prophetifhen Beftandtheilen des A. T., und felbft
mit denjenigen, welche fich als meſſianiſch in engerem oder
weiterem Sinne betrachten laffen. Diefe laffen uns erfens
nen, wie ſchon von Anfang. an fromme, vom Geifte Gottes
erfüllte und erleuchtete Männer auf das Heil, welches Gott
der Here dem auserwäblten Wolfe und von ihm aus ber
Menſchheit überhaupt beflimmt hatte, ihren Blick gerichtet
und durch ihre Auöfprüdye auch den Slick ihres Volkes
darauf gerichtet haben. &ie bieten und nicht bloß für die
reingefchichtliche Betrachtung ein ungemeines Intereffe dar,
fondern koͤnnen auch mannichfaltig dazu beitragen, ben Glau⸗
ben des chriſtlichen Leſers zu ftärken und zu befefligen, Aber
eine eigentlich normative Bedeutung für den chriſtlichen
Stauben und die riftliche Erfenntnig kann auch den eins
zelnen prophetifchen Ausfprüchen nicht wohl beigelegt were
den; denn nach dem Charakter ber Prophetie überhaupt
316 Bleek
und der Beſchaffenheit der altteſtamentlichen prophetiſchen
Ausfprüche insbeſondere ſpiegelt ſich der göttliche Geiſt auch
in dieſen Ausſpruͤchen immer nur in einer der menſchlichen
— volklichen und perſoͤnlichen — Eigenthumlichkeit d er Maͤn⸗
ner, auf welche er ſich herabgelaſſen hat, entſprechenden
Geſtalt ab, und fo tragen die Ausſpruͤche und bie darin ſich
und gebenden Erwartungen bes meffianifhen Heils einen
mannichfaltigen Charakter an ſich, einen mehr gefeglichen,
iüdifch = particmlariftifgen oder einen freieren und mehr
univerfellen, einen mehr dußerlichen und politiſchen oder
einen mehr geifligen, einen mehr oder weniger beſtimmten
überhaupt. Ueberall iſt der Strahl der göttlichen Erleuch⸗
tung ‚durchbrochen durch die menfchliche Perfönlichkeit und
Schwachheit des Propheten, Darin findet es feine Erklaͤ⸗
zung, daß, fo gewiß bie ‚Heildhoffnung, welche in den uns
erhaltenen prophetifchen Ausfprüchen fi) fund gibt, nach
dem goͤttlichen Rathſchluſſe im Allgemeinen in Ghriftus und
dem von ihm gegründeten Reiche ihre Erfüllung gefunden
bat unb immer mehr finden fol, dieſes doc keineswegs
durchaus in der Weiſe gefchehen ift und geſchehen wird,
wie es ſich bier im Ginzelnen ausgeſprochen findet, daß
vielmehr alle dieſe Weiffagungen, auch die erhabenften und
geiſtigſten, mandyerlei darbieten, mehr oder weniger, was
zwar nad) dem Zufammenhange ſich ald wirkliche Erwars
tung bed prophetifchen Schriftftellers hinftelt, was aber in
dem von ihm gemeinten Sinne fi nicht erflllt hat und
wovon ſich auch nach ber bisherigen Entwicklung des Rei⸗
ches Gottes ſchon erkennen laͤßt, daß es ſich nicht erfuͤllen
wird. Es find daher auch die prophetiſch- meſſianiſchen
Schilderungen und Andeutungen des A. X. an fich nicht
geeignet, weder bie einzelnen, noch in ihrer Gefammtheit,
und über die wirkliche Befchaffenheit der Perfon des Hei⸗
Landes und des Weſens feines Reiches ſichere und eigentlich
dogmatifche Auffchlüffe zu gewähren, und koͤnnen nicht als
aormativ für die Geftaltung unferer Erkenntniß von Chris
üb. d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 317
ſtus und feinem Heile betrachtet werden; eine ſichere Er⸗
kenntniß in diefer Beziehung koͤnnen wir vielmehr nur erſt
aus der geſchichtlichen Erſcheinung im N. T. felbft gewin⸗
nen, und erſt von da aus vermoͤgen wir zu beurtheilen,
was in dieſen altteſtamentlichen Weiſſagungen das Weſent⸗
liche und Goͤttliche iſt, und was das der menſchlichen Schwach⸗
heit Angebörenbe.
12. Die Sache fleht demnach, wie mich duͤnkt, fo. Das
A. T. als Ganzes hat auch für den chriſtlichen Glauben
eine fortwährende nicht geringe Bedeutung, ald Sammlung
von Schriften, welche und erkennen laflen, wie Gott der
Here ſich auch ſchon vor Chriſtus nicht unbezeugt gelaffen,
wie er dad Volk, aus dem der Erloͤſer hervorgehen follte,
erwaͤhlt und geleitet habe, durch dad Geſetz und durch
Weiſſagung, um eö fo zufammenzubalten und vorzubereiten
auf die Erſcheinung des großen Heiles. Wie aber die alts
teftamentlichen Dffenbarungen überhaupt nur einen vorbes
veitenden Charakter haben, und zwar für dad Volk Iſrael,
fo koͤnnen auch die altteftamentlichen Schriften für das Volk
des neuen Bundes nicht mehr an fich eine normative Aus
terität haben und Zönnen als Beſtandtheile des chriſt⸗
fichen Kanond nur in einem untergeorbneten Sinne betrach⸗
tet werden, und zwar in einem noch mehr untergeorbneten
Grade ald unter den neuteflamentlichen Schriften felbft die⸗
jenigen, welche nicht den erfien Rang einnehmen, Dabei
werden aber bie einzelnen altteftamentlihen Schriften auch
wieder gegen einander für und nicht den gleichen fortbauern«
den Werth haben, Im Allgemeinen werden die in engerem
Einne prophetiſchen Schriften und die propbetifhen Ele:
mente, welde fi durch das ganze A. T. bindurchziehen,
eine fortwährend größere Bedeutung für und haben, ald
der gefehliche Theil, und bie einzelnen Schriften und Ab:
ſchnitte um fo mehr, ald fie prophetiſch oder typiſch auf dad
Heil des neuen Bunde hinweiſen und als ber in ihnen
waltende Geift dem des Evangeliums entfprechend oder ſich
318 Bleek
annaͤhernd iſt. Die Inſpiration der altteſtamentlichen Schrift⸗
ſteller laͤßt ſich im Allgemeinen nur betrachten als ein Er⸗
fültfegn und Getrieben⸗ und Geleitetwerden von dem Geiſte
der altteſtamentlichen Theokratie, wobei bie VPerfoͤnlichkeit
und Selbſtthaͤtigkeit eben fo wenig vernichtet und zurückge⸗
drängt ward, wie bei den neuteſtamentlichen Schriftſtellern,
und wobei in dem einen ber gefegliche und particulariftifche
Standpunct flärker hervortritt, in dem anderen biefer mehr
mit prophetifhen und univerfellen Elementen untermifcht
iſt. Außer dieſer Verfchiedenheit, woburd bie einen Bes
flandtheile des A, T. dem ganzen Geifte nach dem Neuteftas
mentlichen näher ftehen, ald die anderen, wird auch die Bes
theiligung des Geiftes Gottes ander Abfaflung der Schrifs
ten oder die Infpiration der Schriftfieller eine andere feyn
bei ſolchen Schriften, in denen Männer, welche einer befons
deren göttlichen Offenbarung über Allgemeines oder Spe⸗
cielles theilhaftig geworden, felbft diefe mittheilen, wie bei
den von Moſes felbft niedergeſchriebenen Gefegen und bei den
von den Propheten felbft aufgezeichneten Weiflagungen, eine
andere bei Schriften, worin vom theofratifchen Geiſte bes
wegte Männerihre perfönlichen Empfindungen oder Reflerionen
auöfprechen, wie bei den Pfalmen, dem Hiob, dem Kobes
leth, eine andere bei den hiftorifchen Schriften, die ſich mit
der Geſchichte vergangener Zeiten befchäftigen, welche bie
Verfaſſer, wie fie diefelbe durch mündliche oder ſchriftliche
Ueberlieferung überfommen und erforfcht haben, in befons
berem Hinblid auf die Theokratie und deren Intereffen bes
richten,
Auch die fpdteren jüdischen Schriftgelehrten nehmen
eine Verſchiedenheit der Geiftesbegabung der Verfaſſer ihrer
heiligen Bücher an, wenn gleich in einer Weife, wie fie
dem inneren Charakter und Verhaͤltniſſe diefer Schriften
nicht ganz entfprechend ift, nach der Eintheilung des Ka⸗
nond in Thora, Neviim und Ketubim, Diefe Cintheilung
aber und namentlich die Unterfcheidung der Ketubim von
ab. d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im hriftl. Kanon. 319
den Revüm hängt mit der Entftehung der Sammlung zus
fammen, worüber im Weſentlichen meine Anſicht noch dies
felbe ift, als welche ich in meiner Abhandlung über den Das
niet in Schleiermader’s, be Wette’ö und Lüde’s
theol. Zeitfehr. Bd. III. geltend gemacht habe (8,1 ff.),
wornach namentlich wenigftens die Pfalmen gleichzeitig mit
den in ber zweiten Abtheilung enthaltenen geſchichtlichen
und eigentlich prophetifchen Büchern zufammengeftelt und
auch gleichzeitig mit ihnen mit dem Geſetze vereinigt find.
Es laͤßt fi auch mit Sicherheit annehmen, daß bei der
Sammlung des Kanond und noch lange nachher den Pfals
men wenigftens Bein geringerer Grab von Heiligkeit und
Infpiration beigelegt worden ift, als den hiſtoriſchen Büs
een unter den Nevilm, ja als felbft den eigentlich prophes
tiſchen Schriften, wie wir denn im neuteflamentlihen Ges
brauche Feine Andeutung einer unterorbnenden Unterfcheidung
in diefer Beziehung antreffen, vielmehr auch die Pfalmens
dichter felbft wohl ald Propheten bezeichnet oder mit unter
den Propheten begriffen finden, Ebenfo ftehen, was bie
Art der Infpiration betrifft , die Bücher der Chronik, Esra,
Rehemia gewiß weit mehr auf gleicher Linie mit den Büs
chern Samuelis und der Könige, ald wie diefe mit den eis
gentlich prophetifchen Schriften. Es ift aber fehr begreiflich,
wie, als der altteflamentliche Kanon einmal in biefer Ges
Kalt und Reihenfolge feit langer Zeit fixirt war, die jüdis
ſchen Schriftgelehrten dafür mehr innere Gründe aufzufins
den fuchten. Cine beflimmte Unterſcheidung aber der Art
der Inſpiration der fämmtlihen Ketubim als folder
von den Neviim findet ſich erſt bei fehr fpäten Rabbinen,
wie Maimonides, Ephoddus und Abarbanel, und
chriſtliche Theologen follten darauf nicht zu viel Gewicht les
gen, wie zum Theil auch wohl jegt noch gefchieht. Aber
auf der anderen Seite äft es eben fo wenig zu rechtfertigen,
wenn binfichtlicd der Infpiration zwifchen den verfchiedenen
Elaſſen der altteflamentlihen oder gar der altteſtamentli⸗
320 . Bleek
chen und der neuteſtamentlichen Schriften gar kein Unter⸗
ſchied zugegeben wird.
13. Wer aber das hier Dargelegte im Allgemeinen an⸗
erkennt, ber wird auch nicht umhin koͤnnen zuzugeben, auf
der einen Seite, daß es unter ben im A. T. enthaltenen
Schriften Einzelne® geben Tann, wad feinem Urfprunge
und feiner inneren Befchaffenheit nad) ganz auf der Grenze
des Kanonifchen fteht, indem ed aus dem Gebiete des goͤtt⸗
lichen Offenbarung und des vom theofratifchen Geifte Ge:
trieben» und Geleitetfeyns fo gut wie ganz herauötritt und
fo auch Feine befonderen Momente für die Gefchichte ber
auf Chriftum vorbereitenden und auf ihn bin erziehenden
Entwidtung der altteftamentlichen Theokratie barbietet, und
auf der anderen Seite, daß wir nicht gerade berechtigt find,
die Betheiligung des göttlichen Geiſtes bei der Abfaffung
von Schriften, die aus dem ifraelitifchsjüdiihen Wolke aus
der vorchriſtlichen Zeit hervorgegangen, auf die im hebraͤi⸗
ſchen Kanon befindlichen auf abfolute Weiſe zu beſchraͤnken.
Zu diefem Urtbeile werben wir auch durch das Ver⸗
fahren Chriſti und des N. T. berechtigt, welches ohne Zwel⸗
fel wieder mit dem damaligen Stande des Kanons in ber
juͤdiſchen Kirche zufammenhängt, Doch iſt fortwährend
ſtreitig, wie es fi) damit eigentlich verhält. Ueber die Abs
ſchließung des altteftamentlihen Kanons fehlt «8 uns ganz
an irgend zuverläffigen, eigentlich gefchichtlichen Nachrichten.
Die genauere Unterſuchung biefes Gegenftandes würde zu
weit führen. Fuͤr unfern Zweck mögen folgende Andeutun
gen genügen. — Nachdem im Zeitalter des Esra und Ne:
bemia aus den bamald vorhandenen Ueberbleibfeln der bes
braͤiſchen Litteratur außer dem Ventateuche auch unfere Ne⸗
viim fammt den Pfalmen und vielleicht einigen anderen
Schriften wie eine heilige Nationalbibliothet ausgefondert
waren, bat ed noch mehrere Jahrhunderte gedauert, bis alle
diejenigen Bücher damit vereinigt werben konnten, welche
fi) jetzt noch in ber britten Abtheilung des hebräifchen Ka⸗
üb.b. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 321
nons befinden; das folgt ſchon aus ber fpäteren Zeit ber
Wfaffung mehrerer derfelben, am ficherften des Buches Das
niet, aber hoͤchſt wahrſcheinlich auch mehrerer anderer biefer
Bücher , wie des Kobeleth, ber Chronik, der Bücher Esra
und Nehemia und Eſther. Aber auch nachdem biefe der
Zeit7 nach fpäteften Bücher des A. T. nicht bloß verfaßt
waren, fondern and im Allgemeinen Anerkennung ald heis
lige Schriften gefunden hatten, war der Kanon und ber
Umfang bed Kanoniſchen bei den Juden, und zwar nicht
bloß bei den helleniſtiſchen, fondern theilweife felbft auch bei
den hebraͤiſchen, in einer gewiffen Bewegung und Flüͤſſigkeit,
fo daß wenigftens über einzelne unferer Bücher längere Zeit
Bedenklichkeiten flattfanden, ob fie mit Recht als heilige,
tanonifche Schriften betrachtet werben Pönnten, Namentlich
finden wie im Zalmub und bei anderen fpäteren Schrift⸗
ſtellern beflimmte Spuren, daß bie drei ſalomoniſchen Schrifs
ten, und beſonders ber Prediger und das Hohelied, theil«
weife Widerfprudy gefunden haben müffen, indem mande
fie der Zahl der heiligen Bücher nicht meinten beizäplen zu
dinfen, und daß der Widerſpruch fi) nur verlor, weil man "
anfing, fie anders als bisher zu deuten (bad Hohelied wohl
ohne Zweifel allegoriſch); f. die Miſchna tr. laduim 3, 5.,
wo ſich Angaben über Diöputationen angefehener juͤdiſcher
Gelehrten über das Hohelied und den Prediger finden,
ob fie die Hände verunreinigen (d. i. zu den heiligen Buͤ⸗
chern gehören) oder nicht, und wo dabei aud von einer
verſchiedenen Beurtheilung bes Predigerd von Seiten ber
Säule des Hillel und der des Schammai die Rede ift; im
Zalmub tr. Schabb. f. 30, 2,, wo es heißt, daß die Weis
fen den Prediger wegen des inneren Widerfpruches feiner
Worte hätten verbergen wollen (1, d. i. dem öffentlichen Ges
brauche entziehen, für apokryph erklären), dag man es aber
unterlaffen habe in Beziehung auf den Anfang des Buches
(8.1,3.) und den Schluß deſſelben (12,13f.), als welche
beide Worte des Gefeged feyen; aͤhnlich in Beziehung auf
322 Bleek
den Prediger Vajjikra rabba sec. W. f. 161, 2. und Hĩe-
ronym. in Cohel. 12, 13., wo er es ald Ausſage ber
Hebrder bezeichnet, daß, da mit anderen nicht in den Ka⸗
non aufgenommenen ſalomoniſchen Schriften auch ber Pres
diger wegen feines anftößigen Inhaltes auszuftoßen ſchien
(oblitterandus videretur), man ihn dennod in die Zahl
der göttlichen Schriften gefegt habe in Beziehung auf ben
Schluß (13,13 f.), der als die Summe der ganzen Rede
das binftelt, Gott zu fuͤrchten und feine Gebote zu halten;
ferner Capitula R. Nathan. c. 1., wo es in Beziehung
auf alle drei falomonifchen Schriften heißt, daß anfangs
Manche fie hätten verbergen, nicht für heilig, kanoniſch ans
erkennen wollen, bis die Männer der großen Synagoge
. Tamen und biefelben erklärten (durch Interpretation bie
Bedenken entfernten). Daß auch das Buch Efiher muß bei
den Juden Angriffe auf fein Anfehen erfahren haben und
auch wohl bei ihnen längere Zeit nicht allgemein zur Zahl
der heiligen, kanoniſchen Schriften gerechnet worden ift, f.
S. 313 f. Doch if fo viel fehr wahrſcheinlich, daß in den
bebräifchen Kanon niemals andere Bücher, ald welche ſich
gegenwärtig darin finden, aufgenommen und in beffen Hands
ſchriften eingerüct find, und daß berfelbe feine fehle Ab⸗
ſchliezung auf den gegenwärtigen Umfang wohl in ben
Schulen der Schriftgelehrten erbalten hat, welche in dem
Beitalter vor und nach der Zerftörung Jeruſalems durch bie
Römer in Paldftina und Babylonien blühten. Das erfte
ſichere Zeugnig in diefer Hinficht bietet die befannte Stelle
des Joſephus dar, c. Apion. 1, 8. Denn wenn auch
in den in diefer Stelle enthaltenen Behauptungen fi) mans
ches Uebertriebene und Ungenaue oder geſchichtlich nicht Er⸗
weislihe, offenbar bloß auf einem Urtheile des Joſephus
felbft Beruhende findet, fo ergibt fi) doch fo viel daraus,
daß berfelbe den Kanon mit einer beflimmten Anzahl von
Büchern ald abgeſchloſſen betrachtet, und mit der größten
Wahrſcheinlichkeit laͤßt fi annehmen, daß bie 22 Bücher,
üb.d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 323
worauf er bie Zahl angibt, naͤmlich als fünf Bücher Moſis, drei⸗
sehn Bücher der Propheten und vier Bücher mit Hymnen nnd
Gittenvorfchriften, gerade die in unferem Kanon befindlichen
Schriften find (vergl, de Wette, Einl. ind X, T. 5. 15.
am. b.). Gleichwohl drüdt Joſephus verſchiedentlich
anderswo in feiner Archäologie ſich dahin aus, daß er uns
ter den heiligen Schriften, woraus er ben geſchichtlichen
Inhalt feines Werkes geſchoͤpft habe, audy andere Schriften,
ſolche, in denen die Geſchichte weiter herabgeführt war, als
in unferen kanoniſchen Büchern, mit zu umfaffen fcheint,
worüber f. Movers, Loci quidam historiae canonis
V. T. illustrati (Breslau 1842), S. 14 f., wie er denn
auch fire die nach serilifche Gefchichte bis auf den Artarerres
Ratt des kanoniſchen Buches Esra ganz befonders ben apos
ktyphiſchen griechiſchen Esra fcheint benugt zu haben (f. Mo⸗
vers a. a. O. S. Wf.).
Noch mehr aber war es bei den eigentlich helleniſtiſchen,
zunaͤchſt den alexandriniſchen Juden ber Fall, daß der Bes
griff beiliger , göttlicher Schriften mit kanoniſchem Anfehen
din flüffiger und relativer blieb und man zwiſchen den in
dem bebräifhen Kanon befindlichen Büchern und manchen
anderen Schriften aus dem fpäteren nach-exiliſchen Zeit⸗
alter biß auf Ghrifius, namentlich unferen altteflamentlichen
Apokryphen, binfichtlich des Anſehens Leinen fcharfen Unter:
ſchied machte, Die Frage, wie fie häufig geſtellt wird, 'ob
die Alerandriner einen von den Paldflinenfern verſchiedenen
Kanon gehabt haben, wird von proteſtantiſchen Theologen
zum Theil bejaht — wie von Semler, Corrodi, Mün:
fer, Auguftiu. 4. — zum Xheil und von den mei-
Ren verneint, und fo auch von de Wette, Eint. ins A. T.
$. 176, =). Allein es läßt ſich doch mit der größten Bahr:
3) So aud von Movers a. a. D. S. 20ff., ber aber die ganz
verkehrte Meinung geltend zu machen fucht, daß unfere Apo⸗
kryphen früher auch in Paldftina kanoniſches Anfehen gehabt
und ſaͤmmtiich dort verfaßt ſeyen.
324 Bleek
ſcheinlichkeit aunehmen, daB unſere Apokryphen des A. T.,
fo wie die apokryphiſchen Zuſaͤtze zu den kanoniſchen Buͤ—⸗
ern in dem griechiſchen A, X. im Algemeinen ſchon zur
Zeit Chriſti und der Apoſtel und früher fid in den Hands
ſchriften der griechiſchen Bibel mitten unter den kanoniſchen
Beſtandtheilen ded A. T. befunden haben; einen foldyen
Plag würden fie aber. nicht wohl haben erhalten können,
wenn bie alerandrinifchen und helleniſtiſchen Juden übers
haupt zwiſchen ihnen und den Beſtandtheilen des hebräis
ſchen Kanond einen ſcharfen Unterſchied gemacht und den
Charakter der Heiligkeit und Goͤttlichkeit ausſchlleßlich auf
die Iegteren beſchraͤnkt hätten, Sehr begreiflich aber ift es, daß
ſolche Juden, welche die heilige Schrift im biefer Ueberfegung
laſen, welche zur Zeit Ghrifi eine fo große Verbreitung
batte, felbft in Palaͤſtina, vielfach gar nicht dazu kamen,
zwiſchen den nur in ihr, nicht aber. im hebraͤlſchen Kanon
befindlichen Büchern und den Beftandtheilen des letzteren
einen Unterfchieb zu machen, Vielfach beruft man fidy zwar
auf den Philo ald Zeugen dafür, daß auch die alerandris
niſchen Juden feit der Aufnahme der ſpaͤteſten unferer alts
teftamentlichen Bücher in den Kanon denſelben ſcharf bes
grenzt und Feine anderen Schriften als kanoniſch und goͤtt⸗
ich betrachtet haben, als wie die jegt im hebräifchen Kanon
befindlichen. Allein es fragt ih, ob mit Recht. Philo cis
tirt allerdings auf ausdruͤckliche Weiſe Feine unferer altte⸗
Romentlihen Apokryphen, aber er citirt auch viele unferer
Banonifchen Bäder nicht. Er befchäftigt fich in feinen Wer⸗
ten überhaupt ganz befonderd mit der Auslegung der mo⸗
faifchen Bisher, wie er denn Mofen als doyuseopfgv bes
trachtet, die anderen heiligen Schriftftellet nur ald Ereipovs
Moüsiag. Aus dem Pentateuche citirt er unzählige Stel«
len, außerdem etwa zwanzigmal Ausfprüche aus den Pfalmen,
aus den anderen Schriften nur wenige. Gar nicht citirt er
ben Ezechiel, Daniel, die Klagelieder, den Joel, Amos,
Dbadja, Micha, Nahum, Habakuk, Zephanja, Haggai,
üb, d. Stell. d. Apokryph. d. A. 2. im chriſtl. Kanon. 325
Maleadji , den Prediger, das Hebelied, Eher, Ruth; den
Hiob citirt er nur ein einziges Mal, ebenfo die Buͤcher
der Könige und die Ghronif, und auch dem Jeſaias und
den Jeremias nur fehr felten. So kann benn darand, daß
er unfere Apokrvphen nicht ausdrüdlich anführt, nicht mit
einiger Sicherheit gefolgert werben, daß er fie nicht in we⸗
ſentlich gleiche Linie mit ben prophetiſchen und hagiographi⸗
Shen Schriften des altteflamentlidhen Kanons geftellt habe.
Daß er bier nicht gerade einen feharfen Unterfchieb gemacht
bat, laͤßt ſich ſchon deßhalb vermuthen, weil ee den Begriff
der Infpiration fo weit ausbehnt, indem er eine ſolche auch
fich ſelbſt beilegt, fo daß er, abgefeben von Moſes, zwiſchen
den Übrigen heiligen Buͤchern und feinen eigenen Schriften
feinen oder nur einen geringen Unterfchled ſetzt; f. de
Cherub. $.9. p. 112. D.; de migrat. Abrah. $.7. p. 393. C.
Unb wenigfiens in der Stelle de praem. et poenis $. 19.
wird ein in unferen altteffamentlichen Büchern fich nicht fins
dender Ausſpruch, den er in irgend einer verloren gegans
genen Schrift muß vorgefmden haben, als Ausſage eines
Heaxltov angeführt, auf ganz entfprechende Weiſe, wie
fonft kanoniſche Ausſpruͤche der Propheten, und fo, daß er
gleich darauf eine Pſalmſtelle ald wie gleicher Art anflhrt,
14, Bon noch ganz anderer Bedeutung für uns muß
natürlich daB Verfahren Chriſti und ber neuteflamentlichen
Schrifſtſteller fepn, auf welches auch ſowohl diejenigen, meldhe
die Apokryphen ganz verwerfen und fie von alen zum Volls.
gebrauche beflimurten Bibelausgaben gaͤnzlich ausgeſchloſſen
wiffen wollen, fi berufen, als auch diejenigen, welche ein
ſolches Urtheil und Werfahren nicht gehörig berechtigt erach⸗
ten; ich glaube, bie tegteren mit mehrerem Rechte als bie
Ich will nicht befkteiten, daß, wo im N. T. von ber
Scrrift, von den Gchriften, von dem, was gefcheieben iſt
und in aͤhnlichen Ausdricken im Adgemeinen die Rede if,
in der Regel vorzugoweiſe die kanoniſchen Bücher des A.X,
326 Bleek
gemeint find, Die Stelle Lukas 24, 44. wird von vielen
Auslegern fo gefaßt, dag Chriſtus dort durch „das Geſetz
Mofis, Propheten und Pfalmen” das ganze A. T. nach ber
Eintheitung des hebräifchen Kanond habe bezeichnen wollen,
fo daß bei den Palmen am die fämmtlihen Hagiograpben
zu denken wäre, bie nad dem erflen Buche in diefer drit⸗
ten Abteilung bezeichnet würden, und hat dann darin zum
Theil einen Beweis dafür gefunden, daß ber Erlöfer bie
beitige Schrift beffimmt auf diefe drei Theile des bebrdis
ſchen Kanons beſchraͤnkt habe, Allein auf die votausgeſetzte
Weiſe, ald Bezeichnung der ganzen heiligen Schrift des
alten Bundes, ift es wohl überhaupt nicht gemeint, fondern
es werden nur vom A. T. bie Hauptſchriften bervorgebos
ben, welche Weiffagungen oder prophetiſche und typiſche
Hindeutungen auf den Meſſias und fein Reich enthalten,
der Pentateuch, die eigentlich prophetifhen Buücher und die
Palmen, Eher läßt fih die Stelle Luk, 11,51., Mattb,
3,35. zum Beweiſe anwenden, baß damals fon, wie
jet, die Chronik das legte Buch bes altteftamentlichen Ras
nond bildete; aber wenn dieſe Stelle, wie fehr wahrfchein«
lich, ein anderswoher entichntes Citat iſt, worliber weiter
unten, fo laͤßt fi daraus nichts weiter über dad eigene
Urtheil Chriſti in der Beziehung entnehmen, daß der Schrifts
Tanon in der Chronik feinen Beſchluß babe. Vielmehr dient
dann die ganze Stelle zum Beweiſe, daß der Exlöfer die
Schriftautoritaͤt nicht beſtimmt auf die kanoniſchen Bücher
des A. T. beſchraͤnkt hat, wie ebenfo die Stelle Joh. 7,
3,, fo wie in anderen neuteftamentlichen Schriften 1 Kor.
2,9, Jud. 8. 14f., Jakob. 4, 5f. Diefe Stellen Haben
wir indeffen etwas näher einzeln zu betrachten,
a. Im Briefe des Judas 8. 14 f. wird ausdrüdtich
als Weiffagung des Henoch, „des Giebenten von Adam”, ein
Ausſpruch angeführt, welcher ſich in der kanoniſchen Schrift
nirgends findet, wohl aber in dem pfeudepigraphifchen Buche
Henoch, welches, in griechiſcher Sprache den Kirchenvaͤtern
üb. d.@tel. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 327
wohl bekannt, ſich und vollſtaͤndig noch in aͤthiopiſcher Ueber⸗
ſchung erhalten hat; ſ. uͤber das Buch unter Andern nas
mentlih Liide in der zweiten Auflage f. Einl. in die Offens
barung (1852), S. 89 — 144., wo er fi — ohne Zweifel
mit Recht — gegen feine frühere Anficht daflır entfcheidet,
daß dad Werk im Allgemeinen juͤdiſchen und vorchriſtlichen
Urfprungs iſt und der größte Theil ſchon aus dem Anfange
de makkabaͤiſchen Zeitalters, urfprünglid wohl in Palaͤ⸗
Rine in hebräifcher oder aramaͤiſcher Sprache gefchrieben,
daraus ind Griechifche üiberfegt und aus bem Griechiſchen
wieder ind Aethiopiſche. Daß von dem Buche auch nicht
der Heinfte Theil vom Henoch felbft oder aus deſſen Beitals
ter herruͤhrt, wie für die urfprüngliche Geftaltung deſſelben
noch ein Geiſtlicher der englifch = bifchöflichen Kirche, E. Mu rz
zay, in einer ausführlichen Schrift (Lond. 1836) geltend zu
machen geſucht hat, darüber kann gar kein Zweifel feyn.
In diefem Buche findet fi der von Judas angeführte
Ansfpruch nicht weit vom Anfange, 8. 2%, ald Androhung
des herannahenden göttlichen Gerichte über die Frevler.
U8 fiher aber Bann betrachtet werden, daß Judas den
Anspruch nicht etwa aus einer mündlichen Ueberlieferung
von der Zeit des Denoch her entnommen hat, wie Keerl
(a a. D. ©. 117 f.) mit möglifier Unwahrſcheinlichkeit
annimmt, fondern aus jenem Buche, welches er alfo ald
eine echte Schrift und als authentiſche Quelle für die gött-
fihe Dffenbarung ſcheint betrachtet zu haben, wie er denn
and bei der Hinmweifung auf die Verfündigung und Bes
firafung ber gefallenen Engel ohne Zweifel dasjenige vor
Augen bat, was fi in dieſem Buche 8. 7 ff. ald weitere
Ausführung der Erzählung 1Mof. 6, 1—4. findet. Nicht
minder hat er die Angabe V. 9. über den Kampf des Erz⸗
engels Michael mit dem Teufel über den Leichnam des Mofes
ehne Zweifel aus einer anderen apokryphiſchen Schrift der ſpaͤte⸗
ten jüdifchen Kitteratur gefchöpft, als welche ſchon von Glemens
von Alerandrien und Drigenes die dvallszlug Maroing bezeich⸗
Tpeol, Stud. Jahrg. 1865,
328 Bleek
net wird, die er ebenfalls wie eine authentiſche Schrift bes
nutzt.
b. Jakob. K. 4, 5. 64. Die Stelle iſt ſchwierig und
wird auf ſehr verſchiedene Weiſe angeſehen. Aber fo, wie
es hier lautet: 7} doxsire, Orı eväg 1) yoapi Adyaız „ober
meinet ihr, Daß die Schrift umfonft fagt?” d. i.
ohne Grund, in den Tag hinein, ohne daß es der Wahrheit
gemäß wäre , läßt fich dieſes unmöglich als eine bloß ganz
allgemeine Hinweifung auf den Inhalt der heiligen Schrift
mit Beziehung auf das Vorhergehende betrachten, wiefern
diefelbe etwa — entweder im A. T., ober, wie be Wette
wil, im N, T. — die Liebe zur Welt als mit der Liebe
zu Gott unverträglich darſtellt, oder in ähnlicher Beziehung,
fondern nur als Einführung eines folgenden Schriftcitates,
Dabei ift auch nicht wohl zuläffig, die Sache fo anzufehen,
wie 3.8. Elöner und Kern, daß Jakobus bei jener Eis
tationsformel ſchon die nachher V. 6b. angeführte Stelle
aus den falomonifchen Sprüchen (8. 3, 34.) im Sinne ges
babt hätte, fo daß das Dazwifchenliegende, zgög Pdsvovr —
diocoo zdpıv, feine eigenen Worte wären, in denen er, ehe
er die Schriftfiele anführte, wie zur vorläufigen Erlaͤute⸗
rung bderfelben einen anderen Gedanken, auf den er hierbei
geführt ward, eingef&haltet und dann in dem did Adyaı bie
Gitationdformel nur wiederholt hätte; das erfcheint nach der
Beſchaffenheit jener ald eingefchaltet betrachteten Worte an
ſich und nach dem Werhältnig der beiden Glieder, in welche
fie zerfallen, zu einander, wie man auch den Sinn derfel-
ben faffen mag, im hoͤchſten Grade unnatürlid) und durch
aus unwahrſcheinlich. Wielmehr bezieht fic die Eitationdfors
mel 7 yoapi; Akycı ohne Zweifel auf die nädffolgenden
Worte felbft, und zwar von zgds PBdvov an bis dldwcı
zegıw. Eine folhe Stelle findet fi aber im X. T. nir⸗
gends, weder den Worten nad) in der Geptuaginta, noch
au, wenn wir auch nur auf einen möglichen Sinn der
Worte fehen, im bebräifchen Texte; man hat zwar bald
üb. d. Stell. d. Apoktyph. d. A. 2. im hriftl. Kanon. 320
dieſe, bald jene Stelle herbeigezogen, wie 1 Mof. 6, 3. 5.
8,4., 4 Moſ. 11, 4f. W., Hobebl 8,6., Ezech. 3, B.u,«,,
aber keine dieſer Stellen iſt der Art, daß es irgend wahrſchein ⸗
lich waͤre, daß Jakobus an ſie koͤnnte gedacht haben. An
dere haben eine Beziehung auf neuteſtamentliche Stellen an⸗
genommen, wie Gal. 5, 17 ff, 1 Petr. 2, 1ff, welche Stel:
len jedoch, abgefehen von anderen Gründen, welche ed uns
ſtatthaft erfcheinen laffen, an fie zu denken, mit der unfrie
gen nur eine fehr allgemeine und unbeftimmte Achnlichkeit
darbieten. Es bleibt daher nichts übrig, ald anzunehmen,
daß Jakobus hier einen Ausſpruch aus einer nicht⸗kanoniſchen
Schrift angeführt hat, und zwar, da aud Stellen ber fa
lomonifcyen Weisheit, wie X. 6, 11, u. a,anwelheWetftein
gedacht hat, Feine hinreichende Xehnlichkeit darbieten, aus
einer ſeitdem verloren gegangenen Schrift, aller Wahrfcheins
lichkeit nad aus der fpäteren jüdifchen Litteratur. Gleich⸗
wohl ift der Ausſpruch mit einer für Stellen aus kanoni⸗
fen Büchern üblichen Formel (7 yoapy Akyeı) citirt, was
nicht wohl hätte gefchehen koͤnnen, wenn Jakobus zwiſchen
den Büchern des bebräifhen Kanons und anderen heilige
Segenflände behandelnden Büchern auch der fpäteren jüdis
fen Litteretur einen ſcharfen Unterſchied gemacht hätte =),
a) Welcher Art die Schrift war, woraus ber Ausſpruch genoms
men if, und wo unb wann verfaßt, laͤßt fid nicht weiter ers
mitteln. Der Umfang des Gitats iſt ohne Zweifel der im Texte
angegebene, fo daß zu bemfelben fowohl das mgds PRövov
gehört, als audy das neitor® &2 &ldmsı zdgıw , nicht aber er⸗
fieres mit zur Gitationsformel, nod) letzteres zur eigenen Rebe
des Zakobus. Am wahrſcheinlichſten find dann bie Worte —
wenigftens im Sinne des Jakobus — fo zu faffen. wie naments
ud Schnedenburger und de Wette fie erflären, gög
ꝓbd oo⸗ adverbialiter, zd nveüne vom göttlichen Geiſte, und
als Object des dxsmoßelv die Menſchen: „bis zum Reide = mit
eiferfüchtigem Verlangen begehrt (uns) der Beift, melder in
uns Wohnung gemadıt, gibt aber (auch) befto größere Gnade.”
Es wird dann auf den Inhalt biefes Spruches Hingewiefen zur
2*
330 Bleek
c. 1 Kor. 2, 9, wird mit der Formel zudis yöygazıaı
ein Spruch eingeleitet: „Bad Fein Auge gefehen und Bein
Ohr geböret und in Beine Menfchen Herz geftiegen ift, was
Gott den ihn Liebenden bereitet bat”, bei dem man zwar
gewöhnlich an Jeſ. 64, 3. (4.) denkt (ſo ſchon Hieronym.
ad les. 1.1., praef.ad pentat. und ep. 101.ad Pammach.);
allein diefe Stelle („von Alters her hat man nicht gehöret,
nicht vernommen, Fein Auge fah ‘einen Gott außer bir,
der thut für die auf ihn Harrenden”; LXX.: dxd zoo al
vos obx Yuodsausv, obäb ol dphaiuol 1 sldov Bedv
av 600 xl ı& Ägya oov, & moijdeg Toig bzoubvoucr
EAsov) bietet doch mit dem Eitate eine zu geringe Achnlich:
keit dar, ald daß es wahrfcheinlich wäre, daß Paulus fie
allein oder, wie man zum heil gemeint bat, in Berbins
dung mit Ief, 65, 17. 52, 15. im Sinne gehabt haben könnte,
Schon Drigenes (adMatth. 27, 9.) und andere Alte neh⸗
men an, daß der Apoftel den Ausſpruch aus einem jlidifchen
Apofryphon genommen habe, nah Drigenes u. A. aus
einem Apokryphon des Elias, was auch wohl richtig iſt,
obwohl der Ausſpruch mit dem xcddos ylygazıaı in gleis
her Weife angeführt wird, ald Ausſage der Schrift, wie
Stellen aus kanoniſchen Büchern. Denfelben Ausſpruch
führt übrigens auch Clemens Rom, (ad Cor. 34.) als
Grweifung bes vorhergehenden Gedankens, daß bie Liebe zur
Weit ſich nicht mit der Liebe zu Gott vertrage, wiefern naͤm⸗
lich der Geiſt, weldien Bott hat in uns wohnen laffen, uns
gang für ſich Haben will und glelchſam neidiſch und eiferfüdhtig
barüber wacht, daß wir uns nicht zugleich der Welt als ihr
eigen ergeben, wofür er uns aber auch lohne durch deſto reich⸗
lichere Gnade, die er uns verleihe. Gtatt zgöc Phovos würde
allerdings in biefem Sinne eher eine andere Ausdrudsweife mit
EiRos angemeffener erſcheinen. Auch würde Jakobus wohl, wenn
er ſelbſt bie Ausbrudsweife gebildet hätte, Lieber biefes Wort
angewandt haben; aber baf er den vorgefundenen fremden
Ausbrud in biefem Ginne faßte und anführte, Zaun man ſich
doch wohl denken.
üb, d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 331
Borte Gottes an, mit fehr unbebeutenden Abweichungen
von dem paulinifchen Citat, namentlich der, daß er flatt
sois dyazacıy abıdv hat zoig oᷣrouivovon abıdv, wobei
ihm die erft angeführte Stelle des Iefaia Tann mit vorge
ſchwebt haben. Db er aber den Ausſpruch unmittelbar aus
derfelben apokryphiſchen Schrift wie Paulus genommen hat,
oder nur wieder aus bem paulinifchen Briefe, laͤßt ſich nicht
wohl entfcheiden.
Ich uͤbergehe die Stelle Eph. 5, 14. Die bort (mit
& Alyeı) angeführten Worte find zwar ficher ebenfalls nicht
aus den kanoniſchen Büchern des A, T. entnommen; das
haben auch ſchon die Alten bemerkt - welche zum Theil fie
wieder aud irgend einem jübifchen Apokryphon ableiten;
doch macht bier der Inhalt des Gitates, wenigſtens im lege
ten Gliede, es allerdings wahrfcheinlicher , daß der Apoftel
den Ausfpruch aud einer ſchon von einem chriſtlichen Dich⸗
ter verfaßten Schrift entnommen hat, wie vielleicht auch
das mit benfelben Worten (dö‘Adyss) eingeführte Citat in
demfelben Briefe K. 4, &
d. Joh. 7, 38. heißt es in der Rebe Chriſti: 6 zuorev-
ar eig int, wadig elmev 7 ygapı;, moranol dx rijg xoL-
Mas abrod deboovow Gdarog füvrog, was der Evange:-
AB, 39, auf die Mittheilung des heiligen Geiſtes an bie
an Jeſum Glaubenden deutet. Anerkannt iſt gegenwärtig,
daß das xußrig elzev f ygapr; ſich nicht auf das Vorher⸗
gebende bezieht („wer dem Gebote der Schrift gemäß an
mid) glaubt), fondern auf das Folgende, Torauol ... Güv-
205. Hier kann ich aber nicht glauben, daß der Erloͤſer
oder der Evangelift follte dabei eine Stelle, oder etwa meh⸗
tere Audfprüche mit einander verbumden, aus ben Banonifchen
Büchern des A. T. im Sinne gehabt haben; denn bie Stel:
im, an welche man gedacht hat, wie Jeſ. 58, 11. 44,3.
11,9, Sach. 14,8, 3oel3,23., Ezedh.47,1—12,, bieten alle
theils im Ausbrude, teils in Beziehung auf ben Sinn
feine irgend genligende Aehnlichkeit dar; in einer findet ſich
332 Bleek
namentlich das &x zig xoialag adrod. Mir iſt hier wieder
im hoͤchſten Grade wahrfcheinlih, was ſchon Whiſton,
Semler und Paulus gemeint haben, daß eine Bezie—
bung auf eine feitbem verloren gegangene jübifhe Schrift
flattfindet, worin fi) ald bilbfiche Ausdrudsweife die Worte
fo fanden, wie fie hier angeführt werden, obwohl die Ci⸗
tationdformel diefelbe ift wie fonft bei der Anführung von
Ausſpruͤchen aus Fanonifhen Büchern.
e. Zul. 11,49—51a.: di rodro xal f sople zoö
BoD elmsev — daooreii sig adrodg ngophrag .... nal BE
abıay dnoxrewvodc xra. Daflır lautet ed in der Pas
rallelſtelle bei Matthäus 8.23, 34f. fo, daß nit eine
Hinweifung auf einen Audfpruch der Weisheit Gottes flatts
findet, fondern derfelbe Gedanke ganz mit Jeſu eigenen
Worten ausgeſprochen wird: uk roöro, ldov, Eyi dxooztlle
xods vᷣuãg npopirag... .xul BE adrüv daoxrevsisexrh,
Bei Lukas aber ift fehr ftreitig, wie jene Anführungsfors
mel 5 oople zod Heod slmev gemeint if. Für das Urtheif
darüber kommt es mit barauf an, welcher der beiden Evans
geliften uns die Rede des Herrn in biefer Beziehung in ber
urfprüngliheren Form überliefert hat. Viele Ausleger ger
ben in dieſer Hinfiht dem Matthäus den Vorzug der Prior
rität, und dieſe nehmen dann zum Theil an, daß Lukas,
indem er ed fo umgeflaltete, mit jener Formel nur einen
eigenen Ausfpruch Chriſti habe einleiten wollen, indem fie
die „Weisheit Gottes” entweder geradezu als Bezeichnung
Chriſti fetbft nehmen, oder es doch fo faffen: die Weisheit
Gottes, d. i. der allweiſe Gott, fpricht, nämlich durch meinen
Mund. So nementlih Meyer und auch Neander, Les
ben Jeſu. 4. Auflage, S. 655. Anm., wo er dieß als An»
fiht Tweſten's anführt und billigt; der hier mitgetheifte
prophetifche Ausſpruch Chriſti fey wohl der befonderen Merks
würbdigfeit deffelben wegen als etwas Cinzelnes aus dem
Munde Chriftt fortgepflanzt worden, fo daß er als ein von
der in ihm erſchienenen göttlichen Weisheit (Weish.7, 27.)
üb. d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 333
gefprochenes Wort bezeichnet warb; in diefer Form habe
denn Lukas den Spruch, den er ald etwas Ginzelnes vors
fand, in feine Sammlung aufgenommen. — Alkin gegen
diefe Erklaͤrung fpricht ſchon der Umftand, daß diefes in
unferen Evangelien ja nicht ald ein befonderer einzelner Aus⸗
ſpruch mitgetheilt wird, fondern im Zuſammenhange einer
längeren Rebe und fo, daß er ſich bei Matthäus an dens
felben vorhergehenden Ausſpruch (über dad Erbauen der
Gräber‘ der Propheten) anfchließt, wie bei Lukas (Matth,
8.29—3.; Luk, V. 47 — 48.). Auch iſt der. Ausfpruch
ſelbſt nicht gerade ſolcher Art. und vor anderen Ausſpruͤchen
Chriſti ſich dermaßen auszeichnend, daß es an ſich wahr⸗
ſcheinlich waͤre, daß er ſich als eine einzelne, von dem Er⸗
loͤſer vorgetragene Sentenz unter dieſer beſonderen Bezeich⸗
nung: „Ausſpruch der Weisheit Gottes”, ſollte fortgepflanzt
"Haben. Am wenigſten iſt irgend wahrſcheinlich, daß dieſe
Worte Jeſu bei Lukas im Sinne des Evangeliſten eine cis
tirende Hinweiſung auf feinen Ausſpruch im Matthaͤus⸗
evangelium ſelbſt ſeyn ſollten, wie (früher) Rit ſchl (Evang,
Marcion’s, ©. 89.) und Baur (theolog. Jahrbb. 1846.4. S.
43.) meinen. Fuͤr die größere Urſpruͤnglichkeit aber des Lukas
in dem beſagten Puncte ſpricht auch dieſes, daß bei ihm
das dı& roõro am Anfange, was beide Evangeliſten mit
einander gemein haben, weit angemeffener erſcheint, als bei
Matthäus. Bei Matthäus wil Meyer diefes auf dad Fols
gende, Szwg EAdy (V. 35.), beziehen, was an ſich unnatürz
lich ift und wobei audy diefer ganze Spruch ohne alle Bers
bindung mit dem Vorhergehenden fände, Wie es bei Mat⸗
thaͤus flieht, laͤßt ſich dad Verhaͤltniß nicht wohl anders faf-
fen, als fo: darum, eben eurer ganzen heillofen Gefinnung
entfprechend, fiebe, fende ich zu euch Propheten u.f,w., und
ihr werdet deren töbten u. f. w., flatt: dem entſprechend
werdet ihr, wenn ich Propheten u. f. w, an euch fende, bes
ren töbten u. f. w. Aber ald vecht natürlich und den Ein:
drud des Urſprunglichen machend erfcheint dieſes doch gewiß
334 Bleek
nicht; als viel angemeſſener dagegen erſcheint nach meinem
Beduͤnken die Verbindung mit dem dık zouro bei Lukas.
Hier Tann da di& zodro ..... elxev mit dem Aoriſt nicht
gemeint feyn als Einleitung einer Weiflagung, welche der
Erloͤſer eben damals zuerft ausſprach, fondern nur als Hinz
weifung auf eine früher außgefprochene, und zwar auch nicht
auf eine ſolche, welche Jeſus felbft früher einmal ausges
ſorochen hatte, fondern auf eine von ihm vorgefundene, Ein
ſolcher Ausſpruch findet fi) aber in ben uns erhaltenen
Schriften nicht; denn es ift nicht wohl denkbar, was DIE»
baufen für möglich hält, daß die Stelle 2 Chran. 24, 19,
(LXX.: xal dniorsis mgdg abrobgagopisag Izusrginer
#005 xUgıov al obx Aaovoav) gemeint feyn follte, die
Jeſus nur weiter auögeführt hätte, Wir werben vielmehr
veranlaßt — mit Paulus, van Hengel (Annotatt. in
nonnulla loca N. T. p. 1-24), Ewald (bie brei erfien
Evangelien, S. 3%9.) — an eine feitdem verloren gegangene
juͤdiſche Schrift zu denken, in welcher entweder die göttliche
Weisheit auf ſolche Weife redend eingeführt war, oder welche
felbft etwa den Zitel führte: 7 sopla zod Ocoũ. Das bar»
aus entnommene Gitat erfizedt ſich wohl bis zu den Wor⸗
- ten xal tod olsov (B. 51.), wie denn auch die Art und
Weiſe, wie fi daran das Folgende anſchließt: var Ayo
Gpiv, dnfendnjoera dad väg yevsäg vadeng, baflır ſpricht,
daß das Vorhergehende anderswoher entlehnte Worte find,
woran der Erlöfer bier anfnüpft, indem er hervorhebt, daß
es gerade das Gefchlecht feiner Zeit fey, auf welches ber
Ausſpruch feine rechte, volle Anwendung finde und an wels
ches bei der yeve& den in dieſer prophetifchen Drohrede
vor Allem zu denken fey. Daſſelbe wil die Anknüpfung
in ber Einführung des Citates mit dı& zoüro fagen: „dars
um bat auch die Weisheit Gotted gefagt”, d. h. dieſe eure
Sinnes » und Handlungsweife ift ganz dem folgenden Aus⸗
fpruche der Weisheit Gottes gemäß, welcher in euch feine
rechte, volle Bewährung findet. Diefe Darſtellungsweiſe iſt
üb.d. Stel. d. Apokryph. d. X. T. im chriſtl. Kanon. 335
nun bei Matthäus geändert, fo daß bie Weiffagung wie ein
unmittelbarer Ausſpruch Iefu an diejenigen erſcheint, zu
denen er redet, weßhalb diefe hier auch in der zweiten Per-
fon angerebet werben: ich fende zu euch .... und ihr wer«
bet tödten u. f. w. Dabei ift nun aber doch aus der ur⸗
ſpruͤnglicheren Geftaltung der Rede Jeſu, wie wir fie bei
Lukas finden, daß dı& zoüro beibehalten, obwohl dieſes
bier bei Matthäus, wie ſchon bemerkt, nicht recht angemeſ⸗
fen iſt; daß erklärt fich gewiß auf die hier dargelegte Weife
am natürlichften, während es ſchwer zu erklären feyn wärbe,
wenn in diefer Beziehung die formelle Geftaltung der Rede
Jeſu bei Matthäus die urfprünglihe wäre a). Es findet
ſich demnach hier in der Rebe Jeſu nach der urſpruͤnglicheren
Geftaltung derfelben bei Lukas die Hinweifung auf den Aus»
ſpruch einer nicht im Kanon enthaltenen Schrift ald wie
auf eine göttliche Weiſſagung.
15. Allerdings findet fi nun von den hier beſproche⸗
nen Gitaten Feines in unferen altteftamentlichen Apokryphen;
allein ich zweifle nicht, daß dieſes nur ald mehr zufällig
zu betrachten ift und daß die neuteflamentlihen Schriftftels
ler nicht durch innere bewußte Gründe abgehalten worden
find, aud aus dieſen Schriften einzelne Stellen ausdrücklich
anzuführen, fo gut wie jene Audfprüche aus anderen eben⸗
falls nicht im hebräifchen Kanon befindlichen Buͤchern. Auch
von den Büchern bes hebräifhen Kanons werden mande
im N. T. niemals angeführt ober benugt, wie namentlich
das Hohelied, der Prediger, das Bud Efiher (auch Esra
und Nehemia, Obadja und Nahum). Und auf der anderen
®) Dagegen ift fehr wahrſcheinlich, daß in dem prophetiſchen Aus ⸗
ſpruche felbft das xal deoorölong bei Lukas (dmoorels eis
aurodg agopirag xal dmoordlovg) dem evangelifhen Schriftz
ſteller angehört, der babei beflimmt an bie Apoftel Chriſti
dachte, und daß in biefer Beziehung Matthäus uns ben urs
fprängticheren Ausdrud gibt, wenn es bei ihm heißt: zgopnras
nal oopoos um) yganpareis. -
336 Bleek
Seite, glaube ich, läßt es ſich bei unbefangener Betrachtung
nicht in Abrede ſtellen, daß die meiſten neuteſtamentlichen
Schriften mehr ober weniger ſichere Spuren einer Bekannt⸗
ſchaft mit unferen Apofryphen und Reminiscenzen aus ih⸗
nen barbieten, beſonders aus dem Sirach und ber falomo=
niſchen Weisheit, aber audy aus den meiften anderen, ine
fehr fleißige, dankenswerthe Sammlung in diefer Beziehung
bat Stier geliefert (in dem Auffage: „Sogar die Apokry⸗
phen im N. &.”, in f. Andeutungen für gläubige® Schrift:
verfiändnig. Zweite Sammlung 18%, S. 486 — 524). Sehr
Schaͤtzbares hat dann neuerdings Nitz ſch insbefondere in
Beziehung auf das Buch ber Weidheit gegeben, zuerſt in
feinem Prodmium zum Lectionsverzeichniffe der berliner Unis
verfität für dad Sommerfemefter 1850, wo er zuletzt (S. 8f.)
namentlich auf einige befonderd ‚verwandte Stellen dieſes
Buches mit dem Briefe an die Römer hinweiſt, und dann
in feinem trefflichen Auffage: „Ueber die Apokryphen des
A. T. und das ſogenannte Chriſtliche im Buche der Weiss
heit” (in d. deutſchen Zeitfchr. fuͤr chriſtl. Wiſſenſch. u, chriſti
Leben. 1850, Nr. 47 — 49.), wo er (S. 383 ff.) auch das
Gemeinſame deſſelben mit den neuteſtamentlichen Schriften
in Sprache, Lehrart und Vorſtellungsweiſe auf eindringende
Weiſe beſpricht. Es liegt in der Natur der Sache, daß es
nicht leicht gelingen wird, gegen Solche, die der Annahme
einer Benutzung der Apokryphen im N. T. principiell ent⸗
gegen find, einen überzeugenden Beweis zu führen, daß in
diefer oder jener neutefiamentlihen Stelle ohne förmliche
Gitation eine Beruͤckſichtigung eines der Apokryphen oder eine
Reminidcenz daraus flattfindet, und auch Solche, welche bie
Sache ganz unbefangen betrachten, ohne vorgefaßte Meis
nung, weder nach der einen noch nach der anderen Seite
bin, werden nach den Umftänden bei Betrachtung der eins
zelnen Stellen vielfach zweifelhaft bleiben, ob dergleichen
wirklich flattfindet oder nicht, Aber für nicht wenige Stel⸗
len findet doch, daß dieſes der Kal ift, eine ſehr überwies
ab. d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 337
gende Wahrſcheinlichkeit ſtatt, indem das Verhaͤltniß der
Art iſt, daß, wenn es ſich um den Ausſpruch eines kanoni⸗
ſchen Buches des A. T. handelte, nicht leicht Jemand zwei⸗
fein würbe, daß derfelbe zu Grunde liege. Wie in dieſer Bes
ziehung nad) meinem Urtheile das Verhältniß einzelner Büs
der des R. T. zu unferen Apokryphen ift, will ich hier
kuͤrzlich andeuten, mit dankbarer Benugung ber flier’s
fen Sammlung, jedoch ohne vollſtaͤndig auf eine Beleuch⸗
tung aller einzelnen Stellen einzugehen, in denen moͤglicher⸗
weife eine Berüuͤckſichtigung diefer Schriften koͤnnte flattges
funden haben.
16, Unter den Fatholifchen Briefen finden ſich befonders
in dem des Jakobus wiederholte Anklänge an unfere Apos
kryphen — namentlich den Sirach, doch auch die Weisheit und
das Bud) Tobi —, welche zufammengenommen es im hoͤch⸗
flen Grade wahrfcheinlich madyen, daß derfelbe Ausfprüche
dieſer Bücher vor Augen gehabt und fich theilweife, wenn
auch im veränderter Form und Ausdrucksweiſe, angeeignet
hat. Dahin gehört namentlich K. 1,19, die Ermahnung,
ſchnell zu feyn zum Hören, langfam zum Reden (Eoro oð
züg ävdgwxog raybs zlg rd dxodon, Ägudug sig rd Au-
Ansaı) in Vergleich mit den Stellen bes Sirach 8, 5,11,
(ylvov zayds iv dxgodas cov al &v uaxgodvule pdsy-
yov dadxgisw) und 8, 4,29, (ui yivov rgagds [cod. Al.
taybs] dv yAmssy oov). Andere von Stier angeführte
Stellen, die jedoch weniger ſicher find, find: 8. 5, 7,, vergl.
Eir, 6, 19.3 K. 1, 8. 4,7 f., vergl. Sir, 1,28, 30. 2, 12,5
&.1,17., vergl, Tob, 4, 19.5 K. 2,13. 14— 16., vergl, Weish.
6,6. Af. Zu diefen Stellen laſſen ſich aber, wie ich glaube,
nod) andere hinzufligen, an denen ein Einfluß der Apos
kryphen wenigftens mit eben fo großer Wahrſcheinlichkeit
angenommen werben kann; fo 8, 1,5. für den Gebrauch
von dvadlgeıv von dem Vorruͤcken von Wohlthaten, die man
erweift, Sir. 18, 18, 0, 15. 41,8. ; 8. 1, 13, für den Ges
danken, daß Bott nicht dürfe als Werfucher zum Boͤſen bes
338 Bleek
trachtet werden, Sir. 15, 11f.3 K. 3, 6ff. für die Schilder
rung ber verberblichen Wirkung der Zunge Sir. 38, 13—2%6.
(vergl. namentlich) für das PAoylgsıv ®, 22,, auch daſ. V. 11f.);
8. 5, 6. für den weiteren Begriff von povavar Sir, 34
(31), 8 f., und für den Gedanken der Verurtheilung des
Gerechten Weish. 2, 10. 12. W.; 8. 3, 15. für den Gedans
Een, daß Neid und Hader nicht eine Weisheit fey, die von
oben fomme, fondern die irdifch, feelifch, teufelifch fey, Weish.
7, B. 1, 4., wo die Weisheit bezeichnet wird als ein lautes
ter Ausflug der göttlichen Herrlichkeit, in welche daher nichts
Befledtes dringe, und bie nicht in eine raͤnkeſchmiedende
Seele eingebe, noch in einem ber Sünde verfallenen Leibe
wohne,
Weniger irgend Sichered bieten bie anderen katholiſchen
Briefe dar, außer 1 Petr. 1, 6—-7., wo bie größte Wahr⸗
ſcheinlichkeit flattfindet, daß dem Apoftel für die Weiſe, wie
er den Gedanken ausführt, daß die Gläubigen in der jüngs
fien Zeit frohloden werden, wenn fie auch jegt für kurze
Zeit durch mannichfaltige Verſuchungen betrlibt werden, was
bezwede, daß ihre Glaubensbewährung koͤſtlicher erfunden
werde, als durch Feuer geprüftes Gold, die Stelle Weish.
3,5-7, vorgeſchwebt hat, mo von dem Looſe der Gerech⸗
ten die Rede ift, als welche nad geringer Büchtigung
(dAlya mardevdävrsg , vergl, 1 Petr.: dAlyov ägrı . . Au.
andivres) reichliches Heil empfangen werben, bie Gott ges
prüft (dxsigussv, vergl. 1 Petr. : dv zorxlAoıg wupaouoig)
und feiner würdig gefunden babe, die er wie Golb im
Schmelzofen erprobt habe (üs zevadv dv guvsvryoim 3d0-
aluaoev adrodg, vergl. 1 Petr.: ro doxluiov Öuiw wg
xlorewg æoluriuoreoov xgvolov . „ dir zugög dompuafo-
plvov). Vergl. noch, wie Weish, B.7. &v xaugd bxıoxo-
ans abröv von ber Zeit der Heimfuchung ber Gerechten in
gutem Sinne, ihrer Vergeltung, gefagt ift, mit 1Petr,2, 12.
iv ipiog dmuoxomäs, und befonders mit X, 5, 6,, wo bie
Leſer ermahnt werben, ſich zu demüthigen unter die ſtarke
ib. d. Stel. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl Sanon. 339
Hand Gottes, damit er fie erhoͤhe dv zug ααοα,α:—
denn fo ift wahrſcheinlich mit Eolindus und Lachmann zu
leſen flatt des bloßen dv za des recipirten Textes.
17. Der Brief an die Hebrder bietet mehrere und ziemlich
fihere Spuren einer Benugung namentlich der ſalomoniſchen
Weisheit und der Bücher der Mallabder dar. Was die
Iegteren betrifft, fo iſt es wohl ziemlich anerkannt, daß der
Berfaffer des Briefe in der Aufführung der Beiſpiele eines
ſtandhaften Glaubens aus der Geſchichte des alten Bundes:
volkes Kap, 11, zulegt (von B. 34b. an) namentlich auch
mit an die Glaubenshelden im Zeitalter der Makkabaͤer ges
dacht bat, fo daß er dieſe in Eine Reihe ſtellt mit den from«
men Gläubigen der früheren Zeiten, welche die kanoniſchen
Bücher des A. T. uns kennen lehren, Es läßt ſich aber
auch nicht bezweifeln, daß ihm bei ſeiner Ausdrucksweiſe
gerade auch die Darſtellung unſerer Bücher der Makkabaͤer
vorgeſchwebt hat; fo namentlich V. 35 b.: rvuaculob nocv
od zgoodskdnsvo: rν dnoAdgmaiv, va agelrzovog dva-
orcisccoc röyworv, bezieht fi) ohne Zweifel auf die Erzäh-
lungen 2 Maft, 6, 18— 7, 42. von dem Märtyrertfum des
Eleazar und ber fieben Brüder; für Eruumavlodnsav vergl,
dort 6, 19, W. zgooäyev und dev dx) rd riunavor,
wie für xgelrcovog dvasıdasag roᷣxcoꝛv ebend, 7,9 ff. Fer:
ner für Hebr. V. 36. duzayuiv vergl, 2 Makk.7, 7. (1dv
dedregov Ayov dm} zöv Eumaıyubv), ebend.®, 10, (6 relzog _
ivezalgero), 1 Makk. 9, 26. (Evimastev avroig) ; fir Hebr.
ebend. naszlyav vergl, 2 Makk. 6,30.7,1. und für puAaxg
1 Wakk. 13, 12. Nicht minder hat der Verfaſſer bei V. 38 b.
Ey lonulais xAavauevog xal ögeoı xal ornAmloıs xal zeig
Gmaig vis yüs, fo wie V. 37. bei dem Verbranntwerden,
welches dort urfprünglich hoͤchſt wahrfcheinlich genannt war
flatt der jetzigen entſchieden falfchen Lesart äneipdsünser,
ohne Zweifel hauptſaͤchlich an die Makkabaͤer gedacht; f,
meinen Gommentar 3. Br, a, d, Hebr. z. d. St. ©. 837 f;
342. — Für das Verhaͤliniß zum Buche der Weisheit aber
340 Bleek
vergl. namentlich Hebr. 1,3. daaoyaoua zug ödkng ... arod
mit Weish, 7,%., wo die Weisheit heißt ein dradyaaue
Yords didlov; Hebr. 4, 12, 13. — wo das Wort Gottes bes
zeichnet wird als lebendig und kraͤftig, als fchneidender denn
ein zweifhneidig Schwert, als durchdringend und theilend
felbft Seele und Geift bis auf Fugen und Mark, ald Rich:
ter der Gedanken und Gefinnungen bed Herzens, vor dem
Bein Geſchoͤpf fich verbergen koͤnne — mit Weish.7,22—24,,
wo ed von dem zveöua, womit die Weisheit verfehen fey,
unter Anderem beißt, daß es fey Aszrdv, söxluneon, ...
6b, dxaivrov, ... . Bißeiov, dapeils, mavroöuve-
uov, zavemloxonov xal dk advrav yupoüv zveupdren,
vorgüv, xadegäv, Aenrordrov, und wo die Weisheit ſelbſt
bezeichnet wird ald zdang xuviaens urntixdregov" Öuxeı
db xal zupei dık advrmv dık viv xudegsrnte, fo wie
8.277., ald welche ula odox zdvra Ödvarar, und 8, 1., als
weldye dınrelve: dad zigarog elg zögag sbgdocag xal dr
oxsi ri advre yonsrüs; auch Hebr. 8, 2, 9, 11. — wo
das bimmlifche Heiligthum der Chriften, durch welches Chris
ſtus Hindurchgegangen und deffen Pfleger er ift, bezeichnet
wird ald die axıwi dAmdırn, uslfov, reisoriga, od gar
gorolmrog, od zadıng züg xrlosug, Mu Lantte xvᷣoios.
oðx dvdgmmos — mit Weish. 9, 8., wo der auf Gottes
Anordnung erbaute irdifche Tempel mit feinem Altar bes
zeichnet wird als ein ulunne oxwig dylas, Mu xgomrol-
waoag da’ deyis-
18. Nicht minder laffen fi in den paulinifhen Brie⸗
fen mehrfach mit ziemlicher Sicherheit Benugungen und
Berüdfihtigungen unferer Apofryphen wahrnehmen, am
meiften des Buched der Weisheit. Am ficherften ſcheinen
mir folgende Stellen zu feyn: Röm, 1,20—32., wo der
Apoftel die Unfittlichkeit und zum Theil hoͤchſt entehrende
Lafterhaftigfeit der Menfchen aus ihrem muthwilligen Ber-
kennen Gottes, ftatt deffen fie ſelbſt niedrige Gefchöpfe ver-
ehrten, ableitet, wobei fi) mit größter Wahrſcheinlichkeit
üb. d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 341
annehmen läßt, daß der Apoſtel Weish. Kap. 13— 15. vor
Augen gehabt hat; im Einzelnen vergl. namentlich Weish.
13, 8., daß die Gögendiener im Allgemeinen unentſchuldbar
find (od supyvaozol), da fie,.die wohl die Welt zu erfors
ſchen vermodhten, um fo eher hätten den Herrn derfelben
finden folen, und ebendaf, 8. 5., daß aus der Größe und
Schönheit der Geſchoͤpfe nach Verhältnig der Schöpfer ders
felben geſchaut werde, mit Röm. V. 20 f., daß die Menfchen
ohne Entſchuldigung feyen (dvazoAdymzoı), daß fie Gott,
defien Weſen fie an feinen Werken erkennen koͤnnten, nicht
als Gott ehrten, nod ſich ihm dankbar bewielen, fondern
vielmehr Bildern von Menfhen und niedrigen Thieren goͤtt⸗
liche Ehre erzeigten; und Weish, 14, 21 ff. der Gedanke,
dag rüv dvanuumv zlömAov Donoxsla navrög dog}
sax00 xal alılz xal xigag Zorlv, und die Aufführung der
einzelnen Laſter, denen die Gögendiener anheimfallen, mit
Röm. V. MA—N.; f. Stiera. a. O. S. 502 f. mit der
Anm. Mit Recht bemerkt Nitz ſch (deutſche Zeitſchr. a. a. D.
©. 387.), daß es faſt unmöglich ſey, in dieſem Abſchnitte
dem Paulus völlige Urſpruͤnglichkeit zuzuſchreiben, ungeach⸗
tet er von der ſalomoniſchen Auffaſſung des Heidenthums
nicht unweſentlich abweiche, fofern er den Grund bed Uebels
weniger, wie bie Weisheit, im Mangel am Wiſſen und
Denken fuche, ald im verkehrten Willen. Vergl. übrigens
für Röm. V. 21: Zuaramönoev Ev Toig Ösekoyısuoig au-
zöv xal oxorlodn 7; douvsrog adriw xagdle, auch noch
Beish, 11, 16: . . Aoyıouav dovvirav dönlag adrüv,
iv olg zAayndivreg Edgioxsvov dloya Egasrd ara.
Roͤm. 9,21: 7 odx Eysı Zovalav 6 xegapebg voü
znAoö ix Tod abrod Pupdnaros zoom Ö wiv
&lg tun oxedog, B ÖL elg druplav; Vergl. Weish. 15, 7:
xal yag xegapsdg.. x Tod abrod nnAod dus-
zAdonto rd ze züv xadagüv Eoyav doüla oxsin 1d re
lvavıla adv$” Öpolas.
Röm. 9, 2.3: sl dt Hilav 6 Bsög Ivdslfesder vv
342 Bleek
deyhv xal yvaplamı vd duvardv abrod Avaya iv zoll
Baxgodunlg deyis zamgrısutve sl; deöluev, xal
Iva yvoglay zöv zAoürov is Ödins aurod dal axsın
ilovs, & zgoroluaoev el; dotav xra.; Weish. 12,20. 21:
sl yio Irdgobs zalduv cov xal Öpsikontvous davdın
perk roocorns riuconoas zpo00gig [xal derjasms), dos
z0dvovs xal roæov, 8’ &w dzallayücı vis xaunlas, werk
æsons dagußelag Exgwag obs viods cov, dw zols za-
oda Ögxovs xal auwäras Eimxas dyadüv Uxoozt-
oo; Bergl. hierüber Nitz ſch in d. angef. Prodmium,
S. 8, u, deutſche Zeitſcht. a. a. D. S. 371. Mir iſt kaum
ein Zweifel darüber, daß Paulus die Stelle der Weisheit
vor Augen gehabt hat. Bei beiden ift ber Gedanke der,
daß, wenn Sott feine und feines Volkes Widerſacher —
wobei audy in der Weisheit, wie bei Paulus, zunaͤchſt an
den Pharao gedacht werden Bann — mit ſolcher Nachſicht und
Langmuth behandelte, bevor er fie dem Verderben preis gab,
er um fo mehr noch feine vaͤterliche Fürforge an denjenigen
beweifen werde, oder an denjenigen die Fülle feiner Herrlichkeit
werde fund thun bürfen, welche feine Söhne feyen, Gefäße
feiner Erbarmung — wobei nur bie Weisheit an die Ifraeliten
denkt, Paulus aber zunaͤchſt an die in das Reich Gottes
aufzunehmenden ‚Heiden. In der Bezeichnung der Wider:
ſacher und des göttlichen Verfahrens gegen fie entfpricht das
öpe douevoi Havdıp in der Weisheit dem xcrnoriou ve
els dacõacicv bei Paulus, fo wie dab uerk Tosadıng 2900-
oxis in der Weisheit dem paulinifhen dv woAAZ urxgo-
Yvule. Bei beiden ift am Anfange die gleiche Anlage der
Periode in dem el des Vorderfages, Bei biefer Annahme übris
gens, daß die Stelle der Weisheit dem Paulus als Vorbild
vor Augen geftanden habe, fpricht für die Erklaͤrung der paulis
nifchen Stelle die Stelle der Weisheit mit baflır, worauf wir
aber auch durdy den Zufammenhang jener felbft nothwendig
geführt werden, daß V. 33, iva xal yvoglay ald Nachſatz
gemeint ift, in bem Sinne: fo wird er auch fund thun oder
üb. d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 343
Bund thun dürfen, ndmlidy ohne daß Jemand ein Recht bat,
deßhalb mit ihm zu hadern,
Röm, 11, 32, . . iva obs zdvrag diejop. Weish.
11,24: igeig db zdvras, Or zdvre Ödvaoeı, xal zago-
095 duagrijpara dvdgdzav zlg perdvoav.
Auch wohl Röm. 2,4, . . ris xonorornros abzod
æal sig duozüs xal rijs naxgoßvnlas. Weish, 15,1: ob
& 6 dide uam zenords zal Kinds, uangödvnog al
iv Ua diowäv ık advra. .
1 Kor. 6, 2. für den Gedanken, daß die Gläubigen die
Belt richten werben (A odx oldars, Or ol äyıoı rov xd-
6uov xgvoücıw;), mag dem Apofiel wohl Weish. 3, 8, vor⸗
geſchwebt haben, wo es von ben (entfchlafenen) Gerechten
beißt, daß fie xgvoucw Edvn xal xguejoovo: Anüv.
2 80x. 5, 4. wo es in Beziehung auf den menſchlichen
Körper heißt: ol övrsg dv TB oxıfves Orevafonev Bapov-
asvor, liegt nicht unwahrſcheinlich Weish, 9, 15. zu Grunde:
agröv yap oöpa Bagdvs Yuzıjv zal Boldeı vd yehdıs
Oxijvog voüv noAupgdvrida.
Ephef. 6, 13—17. in der Schilderung der Rüftung,
womit der Apoftel die Gläubigen ermahnt, fich gegen die
feindlichen Mächte des Geiſterreiches zu waffnen, liegt für
die bildliche Darftellungsweife im Allgemeinen fo wie für Eins
zelnes, wie fi faum bezweifeln läßt, Weish. 5, 18 — W.
zu Grunde, wo in aͤhnlicher Weile die Waffenruͤſtung ges
ſchildert wird, womit der Höchfte fi zur Beſchirmung der
Gerechten verfehen wird; für das Einzelne vergl, Ephef.
8.13: dvaldßsrs iv zavorilav od soo, mit Weish.
B. 18. Arperas wavorklav (vergl. auch für das di& Todro
Sphef. V. 13, daſſelbe Weish. ©. 17.); Epheſ. 8. 14: iv-
duociusvos rov dapaza zig Öixmoodvng mit Weish. B. 19:
Wwössere, Bagaxı dixmoodunv; Ephel.®.16: .. dvaie-
Bövrss röv Hugeöv rijs aloreng, iv & Övviocode zavın
1% Biln zod novngod r& zerugmuive oßisaı, mit Weiöh,
B. 20: Anyyera dozld« daarapdgnov Sudema; Ephef.
Theol. Stud, Jahrg, 1853,
344 Bleek
®. 17. xal rim ndyamav zod zvedunzog mit Weish.
B. U: öfvvei 2 dadronov deyiw sls boppalav.
1 Zpeffal, 4, 13: . . Tv u Auaijohe, aubing al ol
Aoımol ol un Exovres Bla, Weish, 3, 18: ddv ve dfing
teAsurjoacw, ody Efovav dAnlda oböt dv Feige dayvo-
6205 zapauddon.
Aus dem Buche Judith liegt die Stelle Kap.8, 14: .
õri BdB og xapdlagdvdgaizov ody Ehe jasre xal Adyous
tig dicvolag abrod ob Arpers xal aõs zöv Bew...
igevvijoers zul rov voov abrod iuıyvoocods nal zövV Ao-
yıusudv abrod nuravojsee; umdapüg, dösApol, — nicht
unwahrſcheinlich zu Grunde bei der paulinifchen 1 Kor. Kap,
2.8. 10 f.: zd yAp aveiun advıe Epsvvg, al rk
Ban oo Beod‘ rl; yag oldev dvdgunav za od dv-
Ipuzov, sl wi rd zvsda roũ dvögmaov ıd tvadıh; olro
xal v& vod Beod oddel; Eyvanxer, el wi rd zvedperod Beod.
Anklänge an Stellen des Sirach, welde eine Berüds
fihtigung derſelben wahrſcheinlich machen, finden fi) bei
Paulus an folgenden, auch fhon von Stier angeführten
Stellen,
Roͤm. 2, 5—11. von der Gerechtigkeit und Unparteilichkeit
des göttlichen Gerichtes, vergl. Sir. 32 (35.), 15 ff. 5; für das
Einzelne vergl, namentlich Roͤm. 8. 11: 0d ycio dar 2906-
wzoAnpla zapk zo Beh, mit Sir. V. 15 fi: xUguog agr-
uns korı, wol oda EForı zog’ ar dd aposanou" ob
Amyszaı ngbomxov ara; Röm, V. 5: dmmoxgislag soo
otoũ, ög dmodade Exdorp xark rk Epya adroü, mit Sir.
8.22: xgivei dialog ai zomfocı zelaw. WB, 24: Ems
dvrazodß dvdguzen nark rs mpdtug adroü xal rk Epya
zav dvdpmaaw xark rk bvdvpruere abeav; für letzteres
vergl, noch Röm, V. 16: xgivei 6 Hedg rk zgurk rav dv-
Henna.
Röm. 12, 15. xArisıv nerk alaudvran. Sir. 7, 5: 0%
Voriger dad xAnıbvrav nal werk aevdodvınv aivdnoor.
1 Kor, 6, 12. 13: — od advra suapigu. — z& Bou-
üb. d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 345
para sd} xoAlg xal q; xoidle vois Boopesıw. Sir, 37, 38:
06 zdıa z&0 auppigu. 36 (33), W (18.): mäv Bonner
peyeras xoiada. Stier (5.512) bemerkt, daß diefe zwei
Anfpielungen durch ihre Rachbarfhaft einander wechfelfeitig
beflätigen,
2 Kor. 7, 10, bei dem Gedanken, daß 7; zur Bedv
Adan ussdvosav elg omınglav dpsraudintov wzspydßeran
5 dt roũ adapov Adan Bevarov xarspyaseı, hat ber
Apoftel für dad zweite Glied des Gegenfaged, daß die welts
liche Betrübniß den Tod bewirkt, nicht unwahrſcheinlich
Ausſpruche des Sirach vor Augen gehabt, weldjer warnt,
dag man nicht zu fehr und zu lange ber Betrübniß nach⸗
hangt, da fie zum Tode führe, Kap. 30, 21. 23, (woAAovg
dsixtswev 9) Aday), 38,18, (dad Adang tußalvardcvarog);
im Gegenfage biergegen redet er vom einer zur Beſſerung
und zum Heile führenden Ada xark edv.
Ich übergehe hier andere paulinifche Stellen, in denen
man Anfpielungen auf einzelne Stellen ber Bücher Baruch,
Zobi und der Makkabaͤer zu finden gemeint hat, da fie mir
Beine befondere Wahrſcheinlichkeit darzubieten ſcheinen.
19. Unter den Evangelien bietet namentlich das johannei⸗
ſche mehrfache Anklaͤnge an das Buch der Weisheit bar,
welche eine Benugung und Berüdfihtigung beffelben wes
nigſtens fehr wahrfcheinlih machen, Längft anerkannt ift,
daß die Schilderungen der Weisheit in dem nach ihr bes
nannten Buche Kap. 7—9., wie auch wohl die im Sirach
Kap. 1.24. mit eine Stufe für die Ausbildung des Bes
griffes des johanneifhen Logos bilden. Für das Einzelne
vergl. namentlich Weish. 8, 3,, daß die Weisheit ihren Adel
rühme, da fie mit Gott zufammenlebe, ovußlacım Heod
Egevsa, mit dem 6 Aöyog Av acds zöv Debv, Joh.1,1., und
Weish. 9, 1. 6 zoıjdag ndvsa dv Adyp oov mit Joh. 8.3: -
adyıa 8 eörod iylvero. Ueber dad Werhältniß beffen,
was bie Weish. Kap. 16, 5 ff. über die eherne Schlange
bat — welche bezeichnet wird als auuBoAov owrnglas, dies
23°
346 Bee
nend zur Erinnerung an bes Gebet bei gätiähen Gefches,
wobei eb heißt, daß 6 Zsuargmpeis eb dk vd Sampednwor
äseilsro, dllk dud 05 dv zuvıme Gwrüge — yabem Zusfpru:
ſ. Nit ſo ind. deutſch. Beitir. a aD. EL Der Aus
foru Weist. 9, 16: zul mölız sindfegen A yis mal
uk dv yagciv eöplsuones merk miwen, uk Si iv odgavois
vis Ifıgviasev; erinnert am die Borte bes Ferm Seh. 3,12:
& ck iuiyaa slzov Univ zul od zasceders, wärs, iv ale ci
twovgeine, zıeredserz; umb ch iR midht ganz unmwahrfchein«
Bu Seh. 17, 3: abry di dene g eiames Leg, Iva pu-
roeunel 6: vv növon däydıede Habe zul, vergl. Beish.
15.1.3: eb & 6 Bode gumv .. . diydie- — vd zip äul-
sensdel a: dldulypes Iixmosörg, zei slöinen vd xodros
sov ölle ddevasiaz.
Uns dem Eirady if der Spruch der Weiöh. Kap. 4,21:
ol Isßierci; nz Es zuveisovsı, zei ol zivevzis ma Fri di-
4h6ovoer, zu vergleichen für den Ausfpemch Ghrifi Joh.
6, B. wo er nad) einer alderen Betraditungdweile in Bes
Detung auf (FOR It: Eye ei 6 dewos vis feis“
6 iggöpevos
Aus dem Bude Zobi vergl. Kap. 12, W. bie Worte
des fcheidenden Eugeld Raphael: xui wor &bouoloysichs
ıh Yıb, dıbrı dvaßalven zods row daocrsllanıd ms, mit
den Worten de Erlöfers, ber im Begriffe if, von den Bei.
nigen zu ſcheiden, Joh. 16, 5: vor di dmdye zods row
——— wobei er fie ermahnt, ſich dehalb nicht zu
EN Eh De froplfäen Erangehen IE und Dem Date
Zobi namentlich Kap. 14, 4. u. 5. zu erwähnen, wo es in
der weiffagenden Rebe des Tobias an feinen Sohn in Bes
ziehung auf die dem Lande bevorfichende Zeit der Zrübfel
heißt, daß "Ispoodlunn Eoras Egnpos al 6 olnos so Sad
ab. d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 347
dv ade) xaraxejonm xal Epmuos Tores uöroı yadvov
(8. 4), und daß die Juden dann nach der Rüdkehr aus
dem Eil den Tempel (olxos) wieber aufbauen werben,
doch nicht wie ben früheren (fo groß und prächtig), Loc
singmdäcı xaıgol tod alüvog (G. 5.). Für den erfleren
Bars vergl. Matth. 33, 38: 1dod, dolercu Hpiv 6 oluog
Spy Eonpos; ebenfo in der parallelen Stelle Luk. 13, 35.
nad) dem recipirten Textz dort if das Egnpos ohne Zweifel
unecht unb bat auch der Rede Chriſti nach der urfprünglis
den Conception hoͤchſt wahrfcheinlich nicht angehört, deren
Einn wohl mit Chryſo ſtomus, Bengel und Meyer
fo zu faſſen if, daß den Juden ihr Haus — nämlich Ierufas
lem — werde felbft überlaffen werden, indem ed nicht mehr
Gegenſtand befonderer Fürforge von Seiten Gottes oder
des Menſchenſohnes feyn werde, Lachmann bat bas äpn-
wos auch bei Matthaͤus außgelaffen; doch iſt es dort wohl
echt und von dem Schriftfieller wahrfcheinlih mit Rüds
fit auf die Stelle im Buche Tobi hinzugefügt, wenn gleich
es bier in anderer Beziehung fieht, ald welche die Worte
Chriſti wahrſcheinlich urfprünglich hatten. — Für V. 5. aber
vergl. Luk. 21,24., wo es heißt, daß Ierufalem werde von
Heben zertreten werden, dzgis ob wAngmdücı xuıgol d-
Swöv, wo ed auch nicht unwahrſcheinlich if, daß auf den
Ausdrud des Evangeliften der des Buches Tobi von Eins
Fluß geweſen iſt.
Anklaͤnge an den Sirach in den ſynoptiſchen Evange⸗
lien finden ſich namentlich an folgenden Stellen:
Matth. 6, 14: div ydo dpijse zoig dvögazos rk za-
eaxsepase abröv, das zul Univ 6 zart Unüv 6 ol-
edvios. Sir. W, 2-5: apes dölxnua Tb zAnolov sov, al
rore demdivrog 0ov al duagılas oov Außdijoovrar xæxa.
Matth. 11, 28—30, der Zuruf des Erlöfers an bie
Mühfeligen, die er einladet, zu ihm au kommen, um bei
ihm Ruhe zu finden, verglichen mit der Weife, wie Sit.
24, 19 ff. die Weisheit diejenigen, welde erlangen nad)
uk Bat
ur DSG. SO, ze DE mei ſich wem ühren
Feder gr tigen.
U (. m nbese Irene zei Tone
m Er. 16: dmen; aoynrm sellils 6
ng zur zueihiE But, 105 ern.
LE“ Z.. we 1er kun ie ee Mufforberung
ve Serüger Be Fenue ar jerer MAehitsac x wein
su um Zufrung ar Ei up, ür Zar wabe gb
mr, zu isch: vs. verisene. Bert. Eir.4, 10: pe
eyes vz dr zeig zus üre. Ende; va mug
Iog ag wg rem.
X tem Bee Jarıı very. ir tem Schr der Se
kr 89.15, 37, me eb ir ber Zrürrbumg bed göttlichen
Grriäteh wizer tie nice Biker heife, der eimächtige
He werte üe Train au Inge des Gerubteb, devves
xl za: oxdiyzez &; aigee; airie. zei zlahserın iv
alchssa iss aliwas. ir Mur. 13 12.50: Balder Â
Tei; ug chv zuneen vos zepbs- iu baımı 6 zlawünds
zaı 6 Poorubs was ddorsew.
Aus tem Bar) vos. Kap. 4, T: Bei, Igyevım ol
vloi 600, oüs Iamisuies, Iopowsa ewsuyaiva dab
dyaroläv Ims dvonir, wit Rath. 8, 11 f: .. ud
dab dvarolüv za) boonie Fkoecı —- ol äh wiol sis fe-
oulslas uplOnsorm zii
In der Apofleigefhichte enthält namentlich das Gebet
der Apofid Rap. 4, 24 ff. ziemlich unverkennbere Anfänge
an tab Gebet der Judith Kap. 9, 12 f.
Am wunengbarfien ik wohl der Einfluß bed Buche
Zobi Kap. 12,15: yo ein "Pagani, zi; ix rüw ixrk d-
ylov dyyliar , ol g06avapigovo. zas zgossujäs wür
dylav wal slonogebovras ivcdmov vis Sbkns vou dylov,
auf die Darfielung der Apokalypſe Kap. 8, 2: ul el-
dov zobg iaık dyylioug, ot Ivamıov zoo Deod Earfxast.
®, 4: nal dvißn 6 namwög zw unsapdewv ui 2006
üb.d. Stel. d. Apokryph. d. A. T. im hriftl. Kanon. 349
suzas av &ylav du zegös zoo dyyllov dvaaıov Tod
od.
4. Bliden wir nun auf das bier Nr. 14%. Dar:
gelegte zurüd, fo laͤßt fich aus dem Werfahren Chriſti und
der neuteſtamentlichen Schriftfieller gewiß Feine Berechti⸗
gung oder Verpflichtung zu einer‘ abfoluten Ausſchließung
der Apokryphen aus der Bibel herleiten, Wielmehr finden
wir im neuen Zeflämente einen freieren, auswählenden Ges
brauch der Banonifchen Bücher ded A, T. und Beine ſcharfe
Unterfcheidung derfelben von anderen mit heiligen Dingen
fi beſchaͤſtigenden Schriften der jüdifchen Litteratur. Aus
Säriften ber letzteren Art finden wir im N. T. theild aus⸗
dridtiche Gitationen, in derfelben Form, wie aus den ka⸗
noniſchen Büchern, theils — und fo von ben meiften uns
ferer fogenannten Apokryphen — unverfennbare Berädfic-
tigungen ihres Inhaltes und beutlihe Spuren eines Ein
fluſſes derfelben auf die Vorftelungen, Darftellungsweife
und Sprache ber neuteftamentlihen Schriftfteller, was in
der Weile und Ausdehnung, worin es flattfindet, das Ges
wicht ausdruͤcklicher Anführungen vollkommen aufwiegt.
Bir koͤnnen darnach mit Sicherheit annehmen, da Chriftus
und die neuteflamentlichen Schriftfteller unfere altteftament»
lichen Apoktyphen im Allgemeinen gar wohl kannten und
auch in ihren Kreifen als bekannt vorausfegen konnten, und
daß fie dieſelben auch nicht gerade geringer geftellt haben,
wie die anderen nicht ⸗ kanoniſchen Bücher, auf welche ſich
bei ihnen auöbrüdliche Berufungen finden, Die Stellung
aber, welche das neue Zeftament gegen die einen wie gegen
die anderen diefer Schriften nimmt, wuͤrde unerklaͤrlich feyn,
wenn Chriftus und die neuteftamentlichen Schriftfteller ges
glaubt Hätten, das Volk oder die Ehriftenheit vor dem Le:
fen diefer Schriften ſchlechterdings warnen zu müflen, oder
wenn fie einen ſpecifiſchen Unterfchied zwifchen biefen Schrifs
ten und den Banonifchen Büchern des A. T. gemacht hät:
ten. Die Annahme eines ſolchen läßt ſich auch ſchwer recht⸗
350 Bleek
fertigen, weder durch die Rädficht auf die Zeit der Abfaſ⸗
fung, noch auf den Inhalt und Geift der Schriften.
Was das Erſtere betrifft, fo iſt es allerdings als ein richti⸗
ges Bewußtſeyn der Suden anzuertennen, daß in ben letz⸗
ten Sahrhunderten vor Chriflus, nach dem Zeitalter des
Maleachi und Nehemia, der Geift felbfländiger Prophetie
aus Ifrael gewichen war (1 Makk. 9,27. 4, 46, 14, 41.),
Allein damit war doc nicht die Abfaflung von Schriften
— geſchichtlichen wie didaktiſchen und poetiſchen — auöges
ſchloſſen, deren Verfaffer vom Geifte der Theokratie getries
ben und geleitet wurden, und welche auf die Entwicklung
der Theofratie und der Heilslehre nicht ohne Einfluß blie⸗
ben, Auch von den Schriften des hebraͤiſchen Kanond wird
nicht behauptet, daß fie alle prophetiſch begabte Männer zu
Berfaffern haben. Dazu kommt, daß einzelne ber in der
beitten Abtheilung des hebräifchen Kanone befindlichen Schrifs
ten felbft nach ben Ergebniffen gefunder Forſchung erft dies
fem fpäteren Zeitalter angehören, wie namentlich das in
theofratifcher Hinficht fo wichtige Buch Daniel, deffen Ab:
faffung ficyer ſpaͤter faͤllt, alb die de6 Buches Jeſus Sirach,
erſt in den Anfang des makkabaͤiſchen Beitalters, aber damit
in einen Zeitpunct, welcher an wahrhaft theokratiſcher Bes
geifterung des Kerned des Volkes wenigen Beiträumen in
der aͤlteren Geſchichte des altteflamentlichen Volkes nach⸗
ſteht, und welcher daher wohl geeignet war, auch Schriften
ſelbſt von bleibender Bedeutung für die Geſchichte der Theos
kratie und die Fortbildung der Heildichre hervorzubringen.
Was aber den Inhalt der Schriften betrifft und den in ibs
nen waltenden Geift, fo würde ed in diefer Beziehung als
lerdings fehr bedenklich feyn, den Apokryphen in den zum
Gebrauche des chriftlichen Volkes beftimmten Bibeln einen
Pla zu geben oder zu laffen, wenn damit die Bebeutung
verbunden wäre, daß diefe Bücher in ihrem ganzen Inhalte
als in vollem Sinne kanoniſch flr die Ghriftenheit, als nors
mativ für die Geftaltung des chriſtlichen Glaubens und ber
üb.d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 351
chriſtlichen Sitte zu betrachten ſeyen. Allein fo duͤrfen wir ja
dab alte Zeftament überhaupt nicht anfehen, auch nicht bie
Beflanbtbeile des hebraͤiſchen Kanons, und wenn das über
deren relative und gradweiſe Bedeutung für den chriſtlichen
Kanon oben (Rr. 7—12.) Dargelegte richtig it, fo wird
wohl auch zugegeben werben, daß an biefer Bedentung auch
unfere Apokryphen, bie einen mehr, bie anderen weniger,
Theil haben koͤnnen und wirklich Theil haben, ja einzelne
derfelben felbft in höherem Grade als einzelne Bücher des
bebräifhen Kanons, da fie auf reinere Weiſe vom theofras
tiſchen Geiſte durchdrungen erfcheinen und für die Entwides
fung der Heilslehre, wie für die Geſchichte der Theokratie
auf Chriſtum entſchieden von größerem Einfluffe gewelen
find, wie diefe. Diefed gilt namentlid von dem erften Buche
der Maklabder, fo wie von der ſalomoniſchen Weisheit und
dem Jeſus Sirach. Das erfigenannte biefer Bücher, das
erfte Buch der Makkabaͤer, iſt, wie Nigfch mit Recht fagt,
„wirkliche heilige Volksgeſchichtſchreibung und keineswegs
in dem Sinne wie das 2%. und 3. Buch ber Makkabaͤer
apokryphifch” (deutfche Zeitſcht. a. a. D. S. 374.)5 es führt
uns die Geſchichte des alten Bundesvolkes während eines
vierzigiährigen Zeitraumes in ben heldenmuͤthigen Kämpfen
für feinen Glauben und für ben Dienk des wahren Gottes
auf eine im Wefentlihen zuverläffige Weiſe vor Augen,
umd dieſes entfdjieden mehr in dem wahren Geiſte der Theo»
kratie, wie namentlich das Buch Eſther. So urtheilt auch
&utber, weicher, während er das Buch Eſther der Stelle
im Kanon für wenig würdig bezeichnet (f. oben S. 314),
von unferem Buche in der Vorrede zu demfelben fagt, daß,
obwohl daffelde fich nicht in der hebraͤiſchen Bibel befinde,
es faft eine gleiche Weife halte mit Reden und Worten,
wie andere ber heiligen Schriftbücher, und nicht unwuͤrdig
geweſen wäre, feinen Platz mit darin zu finden, ba es ein
ſehr nöthig und nuͤtzlich Buch ſey, um den Propheten Dar
niel Kap. 11. zu verfiehen, und es aud für uns Ghriften
.
8
t
und ;u willen mighb in. — web er dam weis
zuweilen {ut Berg‘. am ti Berute zum 2.3,
„wo er in Bezitung auf bab erie Dad fh
Sin äußert, do befihe Hg elite im die
tigen Schrrien geneummern ic, dagegen dab
aleıtings bilig berzuöceweriea jcoge, wenn
tiefes Gries euttalte, wir tie ihdme Gefichte
Märtyrer ter Maffaharr und itrer Mutter und
re Etüde mehr. — Die keiten anberem genannten
iften aber, ba3 — uriprürs'ich hekrärich oder eramäifch
weiäjriebene unb ver tem Daniel verfaßte — Buch bei Je⸗
REERERERN
: Hunt
im dieſer Beziehung höher fichen, «is 5. B. das Hohelied,
fo große Echönbeiten dieſes auch basbietet.
Daraus felgt nun nicht gerade, daß alle zum Wells:
gebrauche beflinmten Bibelausgaben nothwendig auch diefe
Schriften und die altteſtamentlichen Apokryphen überdaupt
mit enthalten muͤßten. Eo wie unzählige CEremplare von
Ausgaben, die bloß das R. Z. in der Landeöfpradhe ents
halten, auögegeben werben umd ausgegeben werben dürfen,
andere, die das R. Z. mit den Pfalmen enthalten, oder
etwa mit den Palmen und ben prophetiſchen Büchern des
a. 2., fo muß es audy erlaubt ſeyn, folche Ausgaben zu
verbreiten, die mit dem N. 3. zugleich die kanoniſchen Büs
er des A. T. ohne die Apokryphen enthalten, und das
um fo mehr, da die Apokryphen auch in ihren gefchichtlis
chen Beftandtpeilen nicht in der Weife weber an bie kano⸗
niſchen Bücher noch an einander ſich anſchließen und unter
einander zufanmmenhäugen, wie bie kanoniſchen Bücher und
namentlich die gefchichtlichen derſelben im Verhaͤltniß zu eins
üb. d. Stell. d. Apokryph. d. A. T. im chriſtl. Kanon. 358
ander, und ſie nicht etwa irgendwie in fortlaufender, zuſam⸗
menhaͤngender Weiſe uns die Entwicklung der Heilslehre
und die Geſchichte des Bundesvolkes von dem Zeitalter des
Eera und Nehemia an bis zu dem Zeitalter Chriſti vorfuͤh⸗
ren, ſo daß alſo die betreffende, zum Verſtaͤndniſſe des N. T.
erforderliche Kenntniß in zuſammenhaͤngender Weiſe doch auch
für das chriſtliche Volk auf anderem Wege dargereicht wers
ben muß, Aber dieſes kann nicht berechtigen, dad Mannich⸗
faltige, wenn auch gleihfam mehr Sporadiſche, was bie
Apokryphen in biefer Beziehung barbieten, dem chriftlichen
Bette gänzlich vorzuenthalten, Die flarre Feſthaltung des
Princips der Ausfchließung der Apokryphen von Seiten der
engliſch · ſchottiſchen Bibelgeſellſchaften hat fon dem Eins
gange der von ihnen gefpenbeten Bibeln bei den roͤmiſch⸗
katholiſchen, wie bei den griechiſchen Ehriften fehr geſchadet.
da bie Audlaffung diefer Schriften der hohen Geiſtlichkeit
derfelben willtommenen Vorwand zu der Belhuldigung der
Berſtummelung ber heiligen Schrift gegeben hat. Das allers
dings kann nicht wohl gebilligt werben, daß bie Tatholifche
Kirche dieſen Schriftflüden, und zwar fomohl den felbftän-
digen Schriften unter ihnen, ald aud; den adokryphiſchen
Bufägen zu den Büchern des hebraͤiſchen Kanons, fortwäh«
rend unterſchiedslos ihren Platz mitten unter ben Fanonifchen
Sähriften gibt, ohne alle Andeutung, daß es mit ihnen doch
eine etwas andere Bewandtniß hat, und baß fie von der
Sefammtheit der jüdifchen Kirche niemals als kanoniſch an:
erkannt und angenommen find, Mit Recht hat bie protes
ſtantiſche Kirche in den von ihr, und zwar ſowohl von te
formirter als Iutherifcher Seite beforgten vollftändigen Aus⸗
gaben der Bibelzum Volksgebrauche das in diefer Beziehung
flattfindende Verhaͤltniß ſchon durch die abgefonderte Stels
lung dieſer Stüde angebeutet. Aber Feine hinreichende Vers
anlaſſung findet ſtatt, den Apokryphen auch diefen Play und
fomit jegliche Verbindung mit der Bibel flreitig zu machen,
ba ed Schriften und Schriftftüce über heilige Gegenflände
854 Bleek ub. d. Stell. d. Apokrvph. d. A. . i. hriſt. æ.
aus der juͤdiſchen Litteratur vor Chriſtus find, die wenig
ſtens bei einem Theile der Juden vor Chriſtus einiged Ans
fehen als Heilige Schriften müflen gehabt haben, bie wir
auch im N. T. mehrfach gebraucht und berüdfichtigt, fo wie
in ber alten Kirche mannichfaltig ausdruͤcklich als Schrift⸗
autoritaͤt angeführt finden, die auf bie Entwickelung ber
Heilslehre auf Chriftum hin nicht ohne Einfluß geblieben
find und für das Werftändniß ber neuteftamentlichen Schrifs
ten in Beziehung auf Vorſtellungsweiſe und Sprache nicht
ummefentlidy beitragen, Gegen biefe altproteftantifche Ver⸗
fahrungdmeife in Anfehung ber Apofryphen kann bogmatis
ſche Bedenklickeit nur erhoben werden von einem Stand»
puncte aus, wo das X. T. als abfolute göttliche Df⸗
fenbarung betrachtet und allen einzelnen altteftamentlichen
Schriften auch für die Chriftenheit diefelbe kanoniſche, nors
mative- Autorität beigelegt wird, wie bem N. T. Bird
dagegen anerfannt — was, wie ich glaube, nicht bloß als
Sache der Wiſſenſchaft zu betrachten ift, fondern auch ims
mer mehr zum Bewußtſeyn bed chriflichen Volkes kommen
muß —, baß ben altteftamentlidhen Schriften überhaupt im
Vergleich mit den neuteftamentlidhen kanoniſches, normatived
Anfehen nur in einem untergeordneten Sinne zufommt, und
zwar in verſchiedenem Grade je nach ihrer Bedeutung fin
die Entwickelung ber ‚Heilsiehre und für bie Gefchichte der
Xheofratie auf Chriftum hin, fo wie nach ihrer Uebereins
fimmung mit dem Geifte des Evangeliums, fo wird auch
wohl anerkannt werden, baß an diefer Bedeutung bed A. T.
auch bie Apokryphen einen gewiffen — größeren oder gerin ⸗
geren — Antheil haben, den auch das chriſtliche Volk wohl
befähigt if, richtig zu ſchaͤtzen, und den wir fein Recht ha⸗
ben, ihm gaͤnzlich vorzuenthalten,
Laufs über die Berfuhung Jeſu. 355
2
Weber die Verfuhung Jeſu,
Maith. 4, 111.5 Luk. 4, 1-13, ©)
Bon
BB. Laufe,
Bafor zu Malbuiel in der Aheinprevin.
8 Kor, 3,11. Denn fo das Klarheit hatte, das ba aufhöret;
vielmehr wird das Klarheit haben, das da bieibet.
Die Auffaffungen der Berfuhungsgefchichte um eine zu
vermehren, hat fein Bedenkliches. Ob ich aber das Haupte
bedenken gebührend erwogen, und ob meinem Verſuche das
rechte theologifche Werlangen, ben Heiland hier mehr in feis
ner Klarheit zu finden, zu Grunde liegt, muß ich meinen
keſern, wenn fie zum Schluffe meiner Darflellung gekom⸗
men find, zu beurtheilen anheimgeben,
Ich kann es mir denken, daß bie Ausführungen von .
D. D. 5. Strauß über die Verſuchungsgeſchichte manchen
ungelehrten Leſern fehr befriedigend erfcheinen, Zumal mehr
wu Anfang bed Werkes über das Leben Jeſu lebend, gehoͤ⸗
sen fie vieleicht zu den verlodendflen Partien, durch wels
che die Kurzfichtigeren für die mythiſche Anſicht über unfere
Evangelien gewonnen werden, obgleich ſich Strauß felbft
bier, J. &.479, 2, Aufl., zulegt feiner rabbiniſchen Paralles
len zu ſchaͤmen ſcheint. Wir begen dagegen die Zuverficht,
daß die Zeit fommen wird, wo gerade die von feinem Sas
genftrom verwafchene Geftalt der Verſuchungsgeſchichte zu
den Eräftigften Beugniffen für die Urfprünglickeit unferer
a) Indem wir mit dem nadfolgenden Auffag eine Ausnahme mas
Sen, ift es nit unfere Abſicht, weitere Grörterungen über
den vielbeſprochenen Gegenftand in unfere Zeitſchrift aufzus
nehmen, " Die Rebaction,
366 Laufs
evangeliſchen Schriften zu zaͤhlen ſeyn wird. Freilich von der
bisherigen Exegeſe aus wird dieſe Stellung der Dinge nicht
zu gewinnen ſeyn. Denn wie dieſe auch wunderſam hin ⸗
und herſchwaͤrmt, bleibt bei ihr dieſe Geſchichte doch im
Ganzen eine zum chriſtlich freien und klaren Geiſte ſchlecht
ſtimmende, unheimliche Mumiengeſtalt, an der man mübfam
einige dunkle Hieroglyphen von chriſtlichem Sinne heraus⸗
lieſt. Es dürfte an der Zeit feyn und gerade bie in dies
fer Zeitfchrift vertretene theologifche Richtung dürfte die drins
gende Aufgabe haben, eine beftimmtere Anficht zu gewinnen.
D. Zul, Müller hat neulich mit anderen Worten, aber ſtark ges
nug gefagt, unfere Schrifterflärung liege noch vielfältig
in den Windeln. An diefem Stüde der neuteftamentlichen
Urkunden werben wohl viele vom Bisherigen unbefriebigte
Schriftforſcher diefe Behauptung gelten laffen; möge nur
das geheime Verzweifeln am Weiterkommen der Eregefe das
aus berfelben meinem Unterfangen entflehende gute Vorur⸗
theil nicht wieder verwiſchen.
Im Allgemeinen muß ich mich der Auffaffung anſchlie⸗
Gen, welche die Verfuchungen Jeſu als Vorgänge in feinem
Innern anfieht: Feine mehr fihtbare Erſcheinung des Gas
tans, als wenn auch wir verfucht werden! eben fo wenig un«
mittelbare Auftreten deffelben zu Anfang des Wirkens Jeſu,
als am Ende deffelben, wo „der Zürft biefer Welt kommt
und auögefloßen wird”! Wie bibelgläubig ſich auch die Er⸗
klaͤrung ausnehmen will, bie ben Fuͤrſten ber Finfterniß dem
Lichte der Welt ohne Weiteres zur Erſcheinung condenfirt ges
genüberftehen (dBt, man weiß nicht, in welcher Geftalt und
mit welchen unterfcheidenden Merkmalen, ob einem Mens
ſchen odereinem Thiere ähnlich : die Schriftmäßigkeit önnen wir
ihr nicht zugeſtehen; denn was in den Wiflonen der Offen:
barung Johannis vorkommt, bildet für das wirkliche Leben
Beine Analogie, D. R, Stier zieht bei ben zwei erſten Vers
fudungen nad Matthäus einen guten Freund und einen
Engel des Licht mit in den Vorgang, und bei ber dritten,
über die Verfuchung Jeſu. 357
der Anbetungsverſuchung, läßt er erſt den Teufel unverdeckt
hervortreten, Daß alfo vom bämmerigen bis zum taghellen
Erſcheinen des Verſuchers eine Fortbewegung in die Ges
ſchichte kommt, hat ben geiftreihen Mann, ber, obgleich
der chriſtliche Ereget beides, das Zufußfeyn und das Fliegen,
verfichen muß, doch von den Flügeln wohl zu häufigen Ges
brauch macht, zu diefer Annahme bewogen, - Aber ob nicht
neben dem äfthetifchen, bramatifchen Beweggrund auch daB
Bebürfniß, den Teufel doch nicht ohne Noth fo ganz und
gar unvermittelt auftreten zu laffen, feinen Antheil an biefer
Annahme bat?
Die Auffaffung, welche die Verſuchung durch einen Phas
zifder au Jefum heranbringen laͤßt, ift in D. J. P. Lange's
Leben Jeſu, 2. Buch. J. Thl. S. 218., mit einer neuen Hy⸗
potheſe hervorgetreten. Die an den Taͤufer geſchickten Ab⸗
geordneten des hohen Rathes ſollen, nachdem fie von’ jenem
gebört, daß er nicht der Hauptmann der neuen Bewegung
fey, Jeſu gleich in die Wuͤſte nachgereift feyn. Diele Hys
pothefe, die ſich nur auf die angenommene Gleichzeitigkeit
jener Abordnung mit ben Tagen ber Verſuchung Jeſu ſtützt,
iſt für mich von einer ind Willkuͤrliche gehenden Kuͤhnheit.
Bo iſt es geſchehen, daß eine noch ſo ſagenhafte Geſchichte
die Verhandlungen eines Geſandten, die von dem General
vor den Kaiſer ſelbſt verwieſen worden ſind, nur bis auf
das erſte, weniger wichtige Stadium berichtet? Es gehoͤrt
nicht viel Wuth und Scharffinn dazu, um dieſer Hypotheſe
ſchon jegt ihr Geſchick in der theologifhen Discuffion vor⸗
berfagen zu koͤnnen. Uebrigens befenne ich hier mit Freude
und Dan?, welche bedelitende Anregung ich für die Gewins
mung der im Folgenden entwidelten Anfiht aus den Anz
fängen und Anklängen zu berfelben in dem geiftreichen Werke
meines genannten. hochgefhägten Sculfreundes, den ich
bald in unfere Provinz zuruͤckberufen fehen möchte, empfans
gen babe,
Man meint, bie verfhiedenen Verſuchungen, als innere
358 Laufs
ı Vorgänge gefaßt , freiten gegen bie Saͤmdloſigkeit des
‚Hellandes, ‚Diefe Meinung ſcheint mir" aber von Vorauss
fegungen auszugehen, wobei bie Gleichheit deffen mit uns
aufgehoben wird, ber doch nach der Schrift in allen Gtüs
den mit und verfucht worben ift, Denn biefer Einwurf
ſcheint mir zulegt fo viel zu beißen, ald: ber Heiland hat ins
nerlich nicht verfucht werben koͤnnen, die dußere Verſuchung
bat nicht in fein Inneres bringen koͤnnen. Was bleibt dann
* aber von dieſer in der Schrift fo nachdruͤcklich behaupteten
Gleichheit übrig? Denn was ift eine Verſuchung, bie nicht
in daB Innere des Menfchen vorbringt Won einer Durch
negung des Marmors Bann freilich nicht die Rede ſeyn;
darum fann aber auch von einem mit dem Holze und dem
Schwamme irgend gleichen Verhalten deſſelben gegen das
Waſſer nicht gefprochen werben, Andererfeits muß ich mich
jedoch auch dahin- erlären, daß, wenn vom Innern des
‚Heilanded die Rede ift, eine abfolute Innerlichkeit nicht ges
meint ſeyn kann und fol, Bei keinem auf Erden lebenden
Menſchen if diefelbe je ohne alle Aeußerlichkeit. Es gibt
eine Subjectivität, die nicht irgenb ein aus dem Acußeren,
aus ihrer Umgebung kommendes Element in jedem Augens
blick an ſich trüge; in ben wildeften Phantafien felbft fpielt
irgenb ein objectiver Coefficient noch mit, Diefe aus der
Umgebung bes Heilandes ftammenden Dinge, diefe die Ver⸗
ſuchung von dem Aeußeren ins Innere deſſelben pflanzens
den Zräger feblen bei umferer Auffaffung der Verſuchungs⸗
gefchichte auch gar nicht, Theils beſteht diefe® Medium,
wenn aud nicht in der Schrift an ſich, doch in der ges
deuteten altteftamentlichen Schrift, theils in einem factis
ſchen, nahe allgemeinen Beftande in der damaligen Welt,
Luß, 4, 6. Örs Zuol nagadsdoraı, hat Jefus nämlich nicht
als bloße Großſprecherei des Teufels verftanden. Kann eine
menſchliche Perfon, unbeſchadet der Sündlofigkeit Jeſu,
die Verfuhung an fein Inneres heranbringen, warum nicht
auch bie damalige Schrifteridrung, warum nicht auch die
j .
über die Verſuchung Jeſu. 359
damalige factifche heidniſche Weltmacht, durch welche beide
Autoritäten dargeftelt waren, unter die Chriſtus gethan
war , und in welcher das, was fie nach Gottes Willen was
ten, und was menſchlicher Willkür und Unwahrbeit bei ih⸗
men angehörte, nicht ohne Weiteres gefchieben vorlag, fo
daß er ihnen Beine Prüfung ſchuldig gewefen wäre?
Am Ende zieht ſich nämlich die behandelte -Streitfrage
auf dad Gebiet des großen Gegenſatzes, zwifchen deſſen beis
den Polen dad menſchliche Leben ſich fort und fort bewegt,
der Spontaneität und Receptivität. In der äußeren Lebens
entfaltung bed Heilandes verehrten wir darin feine heilige "
Bollkommenheit, daß er in feinem Leiden feine Spontanei⸗
tät bis zum Tode am Kreuze mit liebendem Willen nach
der Nothwendigkeit der Lage der menſchlichen Dinge in
Paffivität hat übergehen laſſen können, und er feine Thats
wirkfamfeit von Anderen bis zur Hinnahme feines Lebens
bat hemmen laflen. Die der Welt über ihn gegedene Macht,
geleitet durch einen Hohenpriefter, auögefährt durch einen
römifchen Landpfleger, als gefegmäßige Obrigkeit, machte
ihm bdiefe Zurüdziehung feiner Thatkraft zur Ex erfannten
heiligen Pflicht. Kann es in dem Zuſammenſeyn feines
inneren Seelenlebens mit der Welt und ihrem von dem
Berderben durchſetzten Leben anders ſeyn? Jeſu Voll⸗
kommenheit muß hier ebenfalls in dem gehoͤrigen Verhaͤlt⸗
niß der fpontanen und receptiven Gedanken⸗, Gemuͤths⸗
und Willenszuſtaͤnde erkannt werben. Die MReceptivitdt
allein ‚ das einfeitig paffiv fich verhaltende Innere, gibt Teinen
volltommenen Gharalter, aber eben fo wenig die bloße Spon-
taneität, das ſich abfcpließende und überwiegend ruͤckſichts⸗
188 in ſich ſelbſt arbeitende, nad} feiner Eigenthuͤmlichkeit ſich
allein bewußt und Mar werdende Innere. Es gibt Men:
ſchen, deren Auszeichnung in ihrer Art allerdings in ein»
feitig vorwiegender Spontaneität und Werfchloffenheit gegen
alled Fremde und in dem trogigen Unvermögen, fidh-in dafs
felbe zu verfegen, ſich aͤußert; aber große dehlen und wis:
Theol. Sud. Jahrg. 1868.
:860 . Laufs
griffe ‚müffen ſich mit dieſer einſeitigen, von der Receptivität
nicht gebötig durchwirkten und mitgebilbeten Kräftigkeit
verpaaren, Sowohl auf dem Gebiete des Erkennens ald des
Handelns muß die umgebende Welt zum entſprechenden
Einwirken auf den Menſchen kommen.
Je vollkommener ſich bier Spontaneitaͤt und Recepti⸗
vitoͤt verbinden und abwechſelnd in einander fpielen, um
‚bafto vollkommnere Erkenntniß und Handlung gibt es,
Wenn: ber Naturforfcher in feinen Unterfuchungen fein bis-
heriges Wiſſen nicht irgend in Stilftend verfegt und dad
Blümlein, das, Metalftücihen nicht wie ein Lauſchender zu
Morse ‚Eopımen läßt, fo bleibt es bei dem möglicherweife
beſte herwen alten: Irrthum. Je mehr ein Mann ſich diefem
‚borghenden Seelenſchweigen zu Überlaffen verfteht, dann aber
mit dee Spontaneität ſeines Geiſtes, die herausgelaſſene
Wahrheit im.Borüberflug ergreifend und bie ſich auſdraͤu⸗
gende Täufchung-abwehrend, im gehörigen Augenblid zur
Stelle if, um deſto vollkommener und ficherer wird bie
Forſchung. Deſto vollſtaͤndiger kann ber Sieg werden, je
voßftändiger und ungehinderter ber Feldherr feinen Gegner
bat an fih heraukommen Laffen. _
Kein Menſch entziebt ſich ganz diefem aufs und abge
benden Wellenſchlage der. Geiſter, der Einfiedler in feiner
Klauſe nicht, .umd eben’ fo wenig ber Defpot unter feinen ihm
gegenüber ſcheinbar willenloſen Höflingen. Es if nicht
moͤglich, daß ein einzelner Menſch in ber einen Drganis⸗
mus darſtellenden menfehlichen Gefelfchaft, ohne aufzuhören,
Mani zu feyn, in feinem innern ober dußern Leben die
Stellung reiner Spontaneität einnehmen koͤnnte. Auch Chriſtus
würde mit bloßer Spontgneität nicht wahrhaft. unfer Bruder,
unfer Griöfer und Bein vollkommner Menſch geweſen feyn,
. Denn die Süube liegt gerade in ber aufgehobenen Harmo⸗
nie zwiſchen Spentaneität und Receptivität; weil biefelben
nicht in gehörigem Wechſel fich gegeneinander aufs und zu:
fliegen, gibt es im Gange des allgemeinen und individuels
len menſchlichen Organismus dieſe Stödungen, Stöße und
über die Verſuchung Jeſu. 861
Abirrungen. Wie weit und in wie langen Paufen die Spon⸗
taneität überwiegend zurücktritt, beſtimmt ſich nad) dem fitts
lihen 3wede, der zu erreichen ift, dem befondern Beruf und
der eigenthumlichen Lebensſtellung (Matth. 17,27.). Der
Fortfehritt geht nicht immer in gerader Einie zum Biel, es
Tann aud in frummer Linie gefchehen, Wer mur einen kurs
zen Abfchnitt der krummen Linie vor fi hat, Bann bei bes
ſchraͤnktem Berfland und Erfahrung nach dem bloßen Aus
genſchein wähnen, bie Regel und dad Maß feyen verloren
in Abweichung. Aber ed ift nur eine kuͤnſtlichere Linie im
Werden; iſt diefelbe auögeführt und dad Geſetz der Curve
erfannt,, fo findet man, wie bad rechte Maß der zufammenz
geſetzten Bewegung, das rechte Berhältnig von Feſtſtehen⸗
dem und Bewegtem, von Vorwaͤrts- und Geitwärtögehen
der Richtung bewahrt worden ifl, Der Zonkünftier loͤſt
die Diffonanzen, die vorübergehend ſich zu ergeben ſcheinen,
in höhere Harmonie auf, Ich kann hier die richtige Auf:
faffung der. Sündloſigkeit Jeſu nach der Seite, wo fie,
analog feiner Joh, 10, 18. ausgefprochenen phyſikaliſchen
Vollendung, fein jedeömaliges heiliged Sichwiederzurechtfins
den aus fich felbft ift, nur durch Gleichniſſe andeuten.
Sollte der Heiland ſich der Welt zur Vollführung feis
nes Werke an ihr gegenüberftellen, fo mußte er, zumal an
dem bedeutenden Wendepuncte feined Lebens, dieſelbe fich, feis
nem Geifte, wie fie war, gegenüberftellen laflen. Wenn
beide, der Heilige Gottes und die fündige Welt, für einans
der feyn und nicht bloß neben einander bleiben follten, fo
Eonnte es ohne gegenfeitiges Durchbringen nicht abgehen.
Die Schrift und vor Allem ber Heiland begreift aber die
Welt nicht nad) ber materialiftifhen oder halbmaterialiftis
fen und fragmentarifhen Auffaffung, wie fie bem moder:
nen Zeitbewußtfeyn vielfältig zu Grunde liegt, fo daß man
nur geiftentleerte und aus dem höheren Zufammenhange ge
riſſene Dinge und Gebiete vor ſich zu baben'meint. Die
Belt if vielmehr nach fchriftmäßiger Auffaflung zum. Guten
. 21*
362 aufs
und Boͤſen Organ des fie durchehenben GSegenfatzes der
Geiſter. Sott trägt alle Dinge mit feinem kraͤftigen Werte,
aber es ift auch feine lerre Bezeichnung, wenn Chriſtus den
Teufel old dem Zürflen der Weit umfchreibt. Um nicht in
einen Verſuch der richtigen Gonfruction der Teufeltidee ein»
zugetzen, darf ich mich hiex aid auf etwas nach ber h. Schrift
Jeſtſtehendes berufen, daß im bem Zufland bes Abfales
und Berderbens, worin die Weit liegt, auch der Zeufel
überall fein Berk hat, freilich in bem Gimme, baf der dem
notärlichen Erkennen bleibende (es fann und fol nicht ans
ders!) Duclisemmd in Ehriſto allein feine wirküche Uebers
windung findet. Mit der Welt, wie fie ik, ſtroͤmt nicht
bloß ihr eigner Einbrud, fonbern auch im höcfken poneres
logiſchen Zufammenhang der Satan mit feinen nad) allen
Seiten gehenden umbeiligen Richtungen des WBellend umd
der verzerrten Gpiegelungen bed Erkennent alö der Compler
aller loſen unb leeren Frypothefen, memit bie Cine rechte
Möglichkeit und Wahrheit verdunkelt und verleugnet wird,
auf und ein. Geim formale Recht, angehört zu werben, bes
hält aber dem ehrlichen Manne gegenüber auch ber Schuſt
wit feiner Sippſchaft, welcher, wenn wir fo fagen bürfen,
mit in bem Gade diefer Welt Hedi. Der Schuft, den ich
anhören muß, dem ich ohne Weiteres dad Handwerk vor»
greifend nicht legen darf, Tann aber ebenſowohl als in eis
ner einzelnen Perfon im einer Gollectioperfon, in einer Ges
ſellſchaft und ihrer vormwiegenden Beits und Weltanſicht,
figen. Es kann daher der Teufel, der uns anficht, gleich
fehr hinter beiden verborgen liegen.
Die Evangeliften bringen, nad} der ohne allen Zweifel
von dem Herrn felbft gegebenen Erzählung, diefe drei Ans
Idufe des Verſuchers auf benfelben mit feinem öffentlichen
Auftreten in nicht bloß chronologifhe Werbindung. Dieß
Bann nur der Ausleger bezweifeln, der nach allen bisherigen
Bemlihungen daran verzweifelt, daß wirkliche befimmte
Anknlıpfungen an den meffianifhen Plan zu finden feyen,
über die Verfuhung Jeſu. 363
Der fleptifche de Wette hat ſich doch den Glauben hieran
bewahrt. Anders ber Pfarrer W. 5, Rink in den neueften
Berhondlungen über bie Werfuchungsgefchichte in der deutſch.
Beitfgr. 1851. Nr. 36. Derfelbe fagt: „Ich konnte mich
nie mit der herkömmlichen Anficht befreunden, daß die Ber:
fuhung de8 Herrn eine für feine Perfon und fein Amt
Garakteriftifhe, von andern Verſuchungen ſpecifiſch verfchie:
dene fegn folle, daß bie Treue gegen feinen meffianifchen
Beruf auf die Probe geftellt worden fey (de Wette zu Matth.4.),
als hätte der Teufel beabfichtigt, den Plan zur Gründung
deb Reiches Gottes auf Erben zu verrücken.“ Die hiermit
eingenommene exegetiſche Stellung muͤſſen wir für eine
durdaus verfehlte halten. Denn es werben nach unferer
Anfiht neben ben allgemeinen Verſuchungskategorien die
damaligen Welt: und Zeitanfichten ald Träger der fatanis
fhen Reben mit dem Plane Jeſu gerade in Beziehung has
ben treten müffen, Aber wie boctrindr, abſtract, geſchichts⸗
198 lauten die meiften Erklaͤrungen! Schleiermacher
(über uf, &. 54.) findet hier Dinge erzählt, die im Leben
Ifu nie wirklich vorgefommen find, bei dem Sündlofen
auch nicht follen haben vorkommen koͤnnen, bie derfelbe aber
dennoch, als Parabel erzäptt, in fein ſuͤndloſes Leben
verlegt haben fol. Ihr Inhalt fey dad Compendium meſ⸗
fianiſcher Weisheit für die Jünger: „kein Wunder zu thun
zum eignen Vortheil, nie auf ben außerorbentlichen götts
lien Beiſtand etwas zu unternehmen, niemals, auch nicht,
wenn der größte Vortheil dadurch unmittelbar zu erreichen
wäre, fi in eine Gemeinfhaft mit dem Böfen ober gar
in eine Abhängigkeit von dem Boͤſen einzulaffen.” Dub⸗
baufen fepematifirt im Commentar alfo: „Berfuhung mit
dem leiblichen Beduͤrfniß, mit Wunderprunf und Ehre, mit
bohmüthiger Herrſchſucht.“ R. Stier hält ed für durch
den Zitel feines Werkes Über die Reben Jeſu gerechtfertigt,
abfkract zu bleiben. Er fagt: „Won ber Berfuhung Chriſti
an fich, ihrem innerften Grunde nach des Waters heiligem
366 Laufs
und verfianden, beim rechten Namen nennt, das ift befons
ders bei ber Berfuchung mit der Teufeldanbetung offenbar.
Ich kann die Meinung eines Andern beſſer erfennen, als sr
fie ſelbſt ausdrüdt und verfieht, oder als fie in ihrer taͤn⸗
ſchenden Berhüllung klingt; warum alfo der Heiland nicht
auch bed Teufels Sinn? Ich deute in meines Herrn Er⸗
zaͤhlung, die ich mit aller Erfurcht vor mir babe, mit dies
fen Bemerkungen gewiß nichts willkuͤrlich hinein. Beden⸗
Ten wir doch, wie ed zugeht bei den Stimmen vom Hims
mel im Leben des Heilandes. Wenn Geift zum Geifte fpricht,
kann der Hergang nicht anders ſeyn, und ber ‚Herr, indem
er die. Jünger mit biefer verborgenen Geſchichte bekannt
machte, hat voransfegen müffen, daß fie und wir verſtaͤn⸗
dig feyn und das Sprechen des Teufels aus dem Weſen
der Sache verftehen würden.
Allein es ift nicht genug, daß wir das fubjetiv Aus⸗
geprägte nicht überfehen, auch bad Prägnante in den Aus⸗
drüden und Situationen iſt nicht außer Acht zu laflen. Es
muß der ganzen Beltz und Lebensanfhauung Jeſu etwas
Correlates aus den bamald vorliegenden Beziehungen der
allgemein geltenden Welt⸗ und Lebensanfhauung in der
Verfuhung gegenübergetreten feyn. Die Anfechtung, die
zu der bedeutfamen Zeit nach der Taufe nicht dieſe feine
ganze Lebensanfhauung angegriffen, die Anfechtung, die
dieß nicht ſyſtematiſch gethan, auf einer ſtarken, in der wirk⸗
lichen Welt liegenden Angriffslinie (ohne welche nämlich der
Zeufel nicht in die Erſcheinung und wirklich an den Hei⸗
land hätte herankommen können), würde in dem Sinne nicht
Verfuhung für ihn haben feyn können, als fie von ibm
felbft aufgefaßt und erzählt if, Der geifterfülte Jeſus
wird nicht von geiftlofen, platten Berfuchungen berührt wor⸗
den feyn, die nicht einmal fo viel Geift in ſich hatten, daß
fie in ihrer Art Syſtem balten und den Anſchein höheren
Zufammenbanges haben, Derfelbe hat gewiß feinen Süns
gern nicht Plänkeleien mit dem Zeufel, wie fie durch fein
über bie Verſuchung Jeſu. 367
ganzes Leben vorlommen, wie entfcheidende Schlachten ers
zaͤblt. In den betrefflichen einzelnen Anfechtungen müffen
wir baher die einander gegenüberftehenden Syfleme wahrer
und falfcher meffianifcher Weltanſchauung und Werfahrens
ſich fpiegeln fehen, wenn wir mit unferem Werflänbniß dies
ſes Schriftſtückes zur rechten Klarheit fommen wollen,
Es findet fi) auch alfo. Der Teufel fpriht mit ben
Borten: „Bift du Gottes Sohn”, aus einem Meſfſias ſyſtem
und feinen Gonfequenzen heraus. Seiner Sache und feines
Spkems ift ſich der ‚Heiland Iängft Mar und gewiß, Aber
aus ber Theorie bat er nun in die Prarid Üiberzugehen, aus
der göttlichen Ruhe feiner Unbefangenheit haben wir nur:
mandherlei als in bie reflectirende Ueberlegung bei ihm tretend
zu denken, worüber feine hohe, heilige Seele, nach Matth.
6, 3,, in ihrer Weiſe, kommt Zeit, kommt Rath, wird ges '
frroden haben. Jetzt ift die Bahn zu bezeichnen und bie
Scheidung durch witkliche Losfagung zur Rechten unb zur
Einen zu machen. Wie konnte dieß, wofern Chriſtus wahs
ve und volllommner Menſch war, und er feinen Brüdern,
die in der Welt find, von Herzen angehörte, anders ge⸗
föchen, als mit ringenben Vorgängen in feiner Seele, wie
wir fie nach den Hauptpuncten in der Werfuchungdgefchichte
berichtet finden? Man hätte daher von den zwei entgegen=
geſehten Seiten nicht überfehen follen, einmal: mit einem
Bode, als bloß mit feiner leiblichen und nicht mit feiner
gangen geiſtigen Lage in Zuſammenhang gebrachtem Dinge,
wird ein Jeſus Chriſtus nicht verſucht. Das augenblickliche
Bedurfniß iſt nur als bie Veranlaſſung berichtet, an wel:
her die an der entgegengeſetzten Meſſiasidee haftende, ſchein⸗
bar günftige und nothwendige Seite verfuchend hervortritt.
E gehört nach unferer Anfiht D.I.P. Lange das Ver ⸗
dienft, diefen Bufammenhang bei der erften Verſuchung ent«
Mbieden geltend gemacht zu haben, Anderntheils hätte
man es ebenfo fefthalten follen, daß mit einem rein ſchul⸗
mäßig auftretenden Princip ber in fich gewiffe Heiland nicht
368 Laufe
verſucht werben Eonnte, Dazu gehörte ein mit ber Wirk⸗
lichkeit vermiſchtes und boppelt und dreifach mit der wire
lichen Welt verfhlungenes Princip, wie das eigentlich ims
mer dad Weſen der Werfuchung if, daß nicht ein Princip
reinweg, fondern in feiner geſchichtlichen Kreuzung, in ſeii⸗
nem Gonflict mit einem anderen, oder durch bie augenblid-
liche, vielfeitig unklar machende Verſchlingung beffeiben den
Gegenftand der Verſuchung bildet,
Saffen wir ben prägnanten Hintergrund Bei der erfien
Berfuhung feharf ind Auge. Dadurch, daß all’ unfer Er:
kennen relativ und in Beziehung flehend ift, gibt es überall
fogenannte flillfchweigende Borausfegungen. Auch D. Strauß
bat fie bei aller gerühmten Worausfegungslofigkeit, wenn er
doch, wie wir Alle, von der Entdeckung Amerika's redet,
wobei offenbar der europaͤiſche Standpunct ded Rebenden
vorauögefegt wird. Diefe Bezüglichkeit wird gar nicht er⸗
wähnt, wenn man biefelbe ald die Worausfegung Aller, als
fo im allgemeinen Bewußtfeyn liegend anfehen kann, daß
jeder fonft allgemeine Ausbrud nicht leicht in anderer Bes
ziehung verftanden werben ann. Der Name Normaljahr
bat gewiß lange im beutfchen Reiche Feiner weiteren Er⸗
Udrung bedurft. Durch bie veränderten Zeiten koͤnnen bie
alten Ausdrüde aber etwas Unabäquates und darum Une
Bares befommen, Die moſaiſchen Analogien verbergen ſich
aber nach fo langer Zeit noch immer in diefer Verſuchung
dem Bundigen Bibellefer nicht; zu der Zeit, als ber Heiland
dieſe Geſchichte feined Innern mittheilte, und die Evanges
liften fie nieberfchrieben, waren aber diefe Durchklaͤnge nicht
bloß Analogien, fondern bewußters und vorausgeſetzterweiſe
Typen, die vom Meffias erfült werben mußten, .
Mofes, fofern er pharifdifch gedeutet, ift der Gewährd
mann der von dem Herrn nicht acceptirten Meffiadtheorie;
er iſt aber auch, richtig aufgefaßt, der Typus, den Chriſtus
wirklich erfüllen will. Daß er dieß thut, indem er zugleich
höher und anders if, ald Moſes, darin liegt ber Gonflit
über bie Verſuchung Iefu. 369
und bie principielle Verwicklung feines Lebens, Daß Wahrs
beit und Unmwahrheit fo nahe in einander liegen, baraus
bildet ſich die ganze Kataftrophe des Lebens Jeſu. Am
Jordan, wie in Gethfemane entbrennt darum der Entfcheis
dungsfampf in dem Herzen Jeſu, der hier fich überwiegend
als Seelenleiden, dort überwiegend ald Verſuchung darſtellt.
Jeſus, der als Erfuͤller uͤber den Buchſtaben hinausgehen
muß, — die Schriftgelehrten, die beim Buchſtaben ſtehen
bleiben, das iſt die Eine große Phaſe des heiligen Kriegsl
Die Parallelen aus ber Gefchichte Mofis, die der Heiland
fowohl bei der Erlebung der Werfuchung als bei der Er⸗
zaͤhlung bderfelben im Auge gehabt hat, hätten auch bie
Ausleger entfchiedener im Auge halten muͤſſen. Mit einem
bloßen Citat ift das nicht abgethan. Es ift ſchon genug
angedeutet, warm ber evangeliſche Ereget, ber aud bie
richtige Erkenntniß des Uebergangs vom alten zum neuen
Teſtamente feines Theils zu vermitteln hat, bier näher auf
die Sache eingehen muß.
„In die Wuͤſte geführt werden” darf nicht nach dem
bloßen abftracten Wortfinne verftanden werden, denn ed iſt
ein nach der Gefchichte Iſraels ausgeprägter Ausdrud, Die
Büften am Jordan und die Wüften am Sinai find hims
melweit verfchieden von einander, aber weil es fi um Anz
deutung der Erfüllung handelt, iſt ber Ausdrud gerade beis
behalten, Nach dem Auszug Ifraeld aus Aegypten war
die Brüde hinter ihm abgebrochen. Die Wüfte bezeichnet
einen kampf⸗ und verfuchungsvollen Iwifchenzuftand des
Bolkes der Erwaͤhlung; aber derfelbe war unvermeiblich
and in dem Vorwärts! lag dad Heil, Durch die Taufe
am Jordan ftebt der Heiland gleicherweife in einer ges
waltigen Ablöfung von feinen früheren Lebendverhäftniffen.
Die Einſamkeit, in welche er ſich begibt, heißt darum nicht
bloß wegen ihrer Debe eine Wuͤſte, fondern auch wegen ber
Zoögeriffenbeit feiner nunmehrigen Lebensſtellung. So hätte
man denn auch dad vierzigtägige Faſten eben fo wenig in
370 Laufe
buchſtaͤblichem Sinne verſtehen follen, als die Wüfte im fir
neitifhen Sinne. Ober verfieht Jemand das wörtlich, wenn
und erzäblt wird: Auch ich ging fchnaubenb auf Damasfus
los, — war drei Tage nicht febend, — bi mir der Mann
kam mit Namen Ananiad? Wäre, um ed kurz zu begeich«
nen, das Erfüllungsprincip nicht fo durchgehend in den
Reden des Heilandes, fo möchte ed zu entſchuldigen ſeyn,
Hi
f
f
R
i
H
m auch Schleiermacher, biefen eg für fi
t haben, barf und nicht hindern, Die Bedeutung befs
felben in der Entwidiung der Dffenbarung und namentlich
in dem Leben Jeſu anzuerkennen. Die Begriffe feiner Muts
ter und feiner Brüder, der Gpeife, des Brodes und des
Waſſers, des Lebens und der Zodten, des Blinbfeynd und
des Sehens, nud was nicht Alles bis zum hölifchen Feuer,
Matth, 5, 22, behandelt Chriſtus fo, daß er ſich dabei als
den Erfüller von Allem dargibt.
Wie ſtimmt es auch dazu, wie er ſich über dad Faſten
ausſpricht und das gefegliche, ſtatutariſche Faſten für eine
zum neuen Zeflamente nicht ftimmende Inſtitution erflärt,
daß er felbft zum Antritte feines neuteflamentlichen Amtes
in folder Weiſe die gewöhnliche jübifche Ascefe fol gefleis
gert haben? Zu den unummunden Haren Stellen, in des
nen der Heiland ſich zurüdweifend gegen das Faſten aus:
ſpricht, wil namentlih D. R. Stier Matth. 17,21. als
ein Correctiv, ein Gegengewicht gegen Mißverſtaͤndniß, aus
Es
sfr
über die Berfuhung Zefu. 371
ſehen. Wahrlich, es würde nach der gewöhnlichen Erklaͤrung
dieſe Stelle mehr als ein Correctiv, — ein Widerſpruch ger
gen jene Maren Stellen ſeyn. Dan follte fi das mehr
eingeftehen. Der ‚Herr verlangt von den Jungern Fein mit
feiner Sache zufammenbängenbed Faſten, und jest follen
fie von ihm den Vorwurf hören, baß die Unterlaffung defs
felben ihre Unfähigkeit für die volle Ausführung des ihnen
übertragenen Werkes zur Folge hat? Jeſus hat das Zaſten
für einen alten, nicht anwendbaren Schlauch erffärt, und
man foll es ſich zeigen, daß ber neue Moſt verloren geht
und nit zur Kraft kommt, bieweil die Juͤnger den alten
Schlauch gering gefhägt haben? Zwiſchen flatutarifchem und
chriſtuich freiwilligem Faſten, daB Jeder ſich felbft vieleicht
in der alten‘ flatutarifchen Form auflegt, laͤßt ſich freilich
unterſcheiden; aber wie konnten die Juͤnger durch die allges
meinen Erklärungen des Herrn gegen das Faften ſich auch
zu dem letzteren damals befonders aufgemuntert fühlen!
Benn Detinger ſich bad Befrembende aus Matth. 17,21.
wegfchaffen. will mit der Bemerkung, daß die Jünger übers
haupt oder in ber letzten Zeit zu viel gegeffen und getruns
ten haben, fo bat er dem Begriffe des Faftens im Munde
des Herrn einen ſchon erweiterten Sinn, nämlich des blo⸗
Gen Diäthaltens, beigelegt. Auch R. Stier verficht Nüch⸗
ternheit und Maͤßigkeit des leiblichen Lebens darunter, Aber
das iſt nicht weit genug gegangen. Chriſtus nimmt unferes
Erachtens das Hafen, Matth. 17, 21., nad dem Erful⸗
lungsprincjp in dem fchon von dem Propheten Jef. 58, 5 ff.
aufgefchloflenen vollen, das ganze Leben durchdringenden,
ethiſchen Sinne. Es ift das Leiden und Entbehren, das
ein Menſch nicht al6 ein ſelbſterwaͤhltes, wilkürliches Werk:
fi anthut, fondern das aus feinem Lebensberufe und Durch
feine von höherer Hand ihm auferlegten Geſchicke, die ſchon
mach der Andeutung Chriſti mit den Hochzeiten und Flit⸗
terwochen wechfeln, ihm fidy ergibt. Dabei ift jedoch nicht
außer Acht zu laffen, daß in jener Stelle das Erfullungs⸗
ee een fondern auch
durch ganze Reiben buchſtäblich und ohne gehörige Zotal»
anſchauung aufgefaßter prophetiſcher Stellen Schein hatte,
und auch wegen der Autorität derer, die fie mebr oder we⸗
niger hegten, rückſichtsvoll zu bebandein war. Darum war
es vom hoͤchſten Belange, daß Chriſtus dem Eindrude dies
fer Sachlage, die er in hingebender Weiſe in der bypother
tifchen Form fi) mußte zum Bewußtſeyn kommen laffen,
Schlag auf Schlog, wie es die Verſuchungẽgeſchichte fo uns
vergleichlich darſtellt, den fpontanen, die Wahrheit feiner Er⸗
kenntniß fefihaltenden Moment folgen ließ, Was in einem
unkräftigen Aufgeben feines Standpunctes würde gelegen '
haben, iſt aud) fonf (Joh. 8, 44. u. 55.) von Chriſtus felbft
cusgeſprochen. Zur Kraft der Gegendußerung, mit welcher
die erfte Verſuchung zuruckgewieſen wird, gehört es, daß
darin Moſes mit Mofes geſchlagen wird, daß diefelbe ges
faßt iſt in die moſaiſche Erfahrung, daß der Menſch nicht
lebt vom Brode allein, fondern von jeglihem Worte, das
aus dem Munde Gottes geht. Dahin weiſt alfo jener
volftändig gefaßte Typus felbft: gegen das Innere, Ideale,
muß das diefer Welt angehörige Aeußere zurücktreteri, ges
gen das an ber Zeit feyende neue Mannabrod das alte,
nach der beſchraͤnkten, aus Aegypten mitgebrachten Anficht
die einzige Subſiſtenz bildende Brod, gegen die aus Gottes
Munde fommende neue Offenbarung die bisher ald einzig
möglich unterſtellte Meinung von feinem Walten. Wenn
das nämlich ohne Weiteres ber Sinn des Herrn wäre: ich
vertreibe mir ben leiblichen Hunger mit ber geiftigen, heiligen
Beſchaͤſiigung, wie er Joh. 4, 34. das Auffäieben des fs
ſens erklärt, fo möchte eingeworfen werben, warum es dann
über die Verfuhung Jeſu. 375
aber zum Hungern, zum Gefühl bes natärlichen Bedürfe
nifles, gekommen ey. Die angeführte Stelle lautet 5 Mof,
8, 3: „Er bdemüthigte dich und ließ did) hungern und fpeis
fete bi mit Man, das du unb beine Bäter nie er⸗
kannt batteft, auf baß er dir Fund thäte, daß der Menfch
nicht lebt vom Brode allein, fondern von Allem, das aus
dem Munde des Herrn geht.” Die menſchliche Beſchraͤnkt⸗
heit, die für das Neue Feine ‚Stelle weiß und es für uns -
möglich hält, weil fie das Alte für allein möglich und rich⸗
tig-anfieht, wird mit der Kundgebung Gottes am Manna
zu Schande gemacht. Das Schlagende in der Anwendung
diefer Stelle liegt alfo nicht, wie man annimmt, in einer
abſchwaͤchenden Verallgemeinerung dieſes Ausſpruchs aus
der alten Geſchichte, ſondern in dem, was gerade fo cha⸗
rakteriſtiſch uͤber die Bedeutung bed Neuen hier geſagt iſt,
das der Menſch bemüthig als nothwendig, recht und wahr
in Gottes weiter fchreitender Offenbarung anzuerkennen und
binzunehmen hat. Das Motiv, das den Hintergrund der -
Berſuchung bildet, wird fo zugleich mit dem, was den Vor⸗
wand hergibt, durch ben rechten Wit und den zugleich von
allen Seiten treffenden Geiftesblig des Herrn gefchlagen,
In feiner originellen Mittlerftelung hatte Jeſus aber
nicht allein gegen ein falfches jüdifches Element zu kaͤm⸗
pfen, fondern ein ſich gleich fehr aufbrängender falfcher heids
niſcher Einfluß war aud von feinem heiligen Plane fern
zu halten. Im der von Matthäus als bie dritte, von Lukas
als die zweite aufgeführten Verſuchung geht dieß vor. Rus
kas fol dieſe Umſtellung bloß barum vorgenommen haben,
weil Wüfte und Berg ihm einander näher zu liegen und
mehr zufammenzugehören geſchienen haben, ald Wuͤſte und
Ierufolem, alfo aus geographifcher Rüdficht. Könnte er es
nicht vielmehr aus einem in der Sache ſelbſt liegenden
Grunde gethan haben, aus dem noch mehr Haren Verſtaͤnd⸗
nifle der Verſuchungsgeſchichte, um nämlich in derfelben den
Hanptgegenfag: Berfuhung mit dem Beftebenden Juden⸗
Theol. Stud. Jahrg. 1868,
su NMrscl hervorgeht, fo liegt beiden Berichten eine logiſch
aeich ſehr zu rechtfertigende Dispsfition zu Grunde, Eules
thdt zufammen, was ungeadjtet des Gegenfabes der Ras
Nonalitäten doch einander correlat iſt, Matthäus aber riet
die jadiſchen Verfuchungen zuſammen und läßt bie heidni⸗
Me zuledt folgen. Doch ich greife damit dem Gange mei:
wer Unterfudtung ſchon vor.
Die Bedeutung, die das heidniſche roͤmiſche Reich, dieſe
orbjs genannte weitſchichtige Zuſammenfaſſung der Wöller,
für die Erfüllung der Zeit hatte, Bommt in der Weihnachts-
und Pingfaefbihte zu acdöriger Anerkennung. Auch beim
wirktichen Auftreten Jeſu kann dieſelbe nicht überfehen wer«
den, Das zwiſchen Iudda und Gelilde ſich hin⸗ und ker»
siedende Wirken Jeſu würde wohl die äußerlich offene Bahn
nicht gefunden und wehl nicht Zeit gehabt haben, fich voll-
Rändig zu entfalten, ohme bie Macht der heidniſchen Mi
mer, bie das bißberige, fi in Pharifdertfum verlierende
Sudenthum bei aller Beligiondfreipeit doch wieder gebunden
hielt. Was von dem Ginflufe der Zerſchueidung Deutfc-
lands in viele Staaten auf die geiſtige und Utterarifche Ents
wilfiung beffelben gefagt worden if, möchte bier verglichen
werben dürfen. Die die Weitgefchichte bewegenden Mächte
mb aber bei Weiten nicht immer fo rein, daß der Reine,
wo bie Wahl in feiner Macht und die Hingebung eine freie
iR, nicht zu unterfuchen Hätte, weiche Anfchlieung ihn ge>
zieme unb welche nicht, welche Dienfte ex hinnehmen dürfe
und welde nicht, Darum hing bie Reinheit bes Plamed
Deſu von Anfang auch baran, wie ex ſich zu bem gewaltig
über die Verſuchung Jefu. 377
durch fein Volk gehenden heidnifchen Zeitgeifte ſtellte. Mußte
er über dem Judenthume ftchen, wie vielmehr mußte er
von bem Heidenthume, das von ber herrſchenden roͤmiſchen
Beltmacht nicht zus trennen war, unabhängig bleiben, Ins
dem er dem Jubenthume in der damaligen Geftalt bad abs
ſolute Recht der abfoluten Wahrheit nicht zuerfannte, muß ⸗
ten die heidniſchen Strebungen im Lande die Neigung has
ben, ſich an ihm heranzubrängen. Ia, Indem er uͤber den
doch ſchon geifigere Elemente in feinen Meffiaserwartuns
gen hegenben Zäufer weit hinausging und Iſraels dußere
Bolkskellung unrettbar an eine neue Drbnung ber Dinge
verloren erkannte, konnte er den heidniſchen Strebungen mit
Nothwendigkeit in die Arme geworfen zu feyn fcheinen.
Ber weiß? unter den feinen Umgang anfangs fuchenden
Zoͤllnern und Leuten zu Kapernaum mögen deren, die es
alfo anfahen, nicht gefehlt haben, Jedenfalls, was würde
geſchehen feyn, wenn es möglich gewefen wäre, daß Chris
Rus die bebrohte Grenzlinie nicht vom Anfang fo ſtark bes
wacht hätte? Wie bereitwillig war Pilatus, auf Jeſu Seite
zu treten! Mußte ihm nicht die offene Erklärung Jeſu,
daß ihm. und den Römern die Macht von bem Gott Iſ⸗
zaelß gegeben fen, gefallen, wenn auch bie Anwendung dies
fer Erklärung und dad Schweigen Jeſu bie Scheidelinie
Hart zog? Denn den Römern konnte es mus erwuͤnſcht
ſeyn, die ſproͤde Abgeſchloſſenheit Iſraels einer größern Li⸗
beralitaͤt Platz machen zu ſehen. Die Einraͤumungen, die
die Zoͤllner in Drangebung ber levitiſchen Reinheit machten,
waren gewiß den politifchen Tendenzen des heibnifchen Roms
ſehr willkommen.
Vom Standpuncte der weltlichen Klugheit und nach
dem Sinne des Fuͤrſten der Welt, wornach es auf das Ges
lingen und Erreichen der Zwecke, einerlei, mit welhen Mits
tein, ankommt, konnte es alfo fcheinen, als wenn ed, nach⸗
dem bie jüdifhe Faſſung bes Meffiasplanes zurudgewiefen
wer, auf eine entſchiedene Allianz Jeſu mit dem heibnifchen
2°
378 Sit
Ben bersniisumes wife. Des Zara ber Zeimbfchefl,
der m Griege zwäden I 2ır ber Hein beichigt wer,
ſe Re ja ziederprrfen werten Tas Deitenttem yoktio zu
sei-auen, cm bei Izverzzum zu fölagen, Isunie um fo
md« Cars Dizpiyans ber Berinheng Sefa bien, als
fin weites Buche Erime Tirmiche Zembeigenofien-
ſchart ſachen unk atitizpen, dem ch vom felbfä ergebenden
Tier aber biunehmen fzie. Der Upefiel Paulus verſetzte
fodter daich bie ven ik auigchemte Berufung feine geifl-
aus tem Machtkreiie des mefsiihen Geſetzes
dab Forum des heidwiicen Caijers. So weit burfte
Efienbarung Gottes über Moles und deſſen Bolksinflitus
tionen hinens weiter geführt geweien wäre, fo hätte auch
Youlus durch die feibfeigue Werfekung vor das fremde
geweſen, wenn Jeſus es nicht hätte in fein Bewußtſeyn
treten laffen, wie nahe die Verſuchung lag, bisfen heibuis
ſchen Hebel zu gebrauden, ihn felbfithätig in feine Hand
zu nehmen, um bad ihm wiberfichende Judenthum bamit
niederzubrechen, und um feinen Plau zu erreichen, fich eis
niges Heidenthum gefallen zu laſſen. Das Beiſpiel ber
rdmiſchen Kirche mit ihrer Nachgiebigkeit gegen heidniſche
Geremonien und Gewohnheiten der Völker und das Ber-
fahren der Jeſuiten bei der indiſchen Miffion beleuchten uns
die Verſuchung, die der ‚Heilige Gottes an feiner viel ſchwie⸗
zigeren Stelle am Anfange feines Werkes fofort überwun«
den bat. Die befonnene, unbeirrte Art und Weiſe, wie ber:
felbe erſt Gemeinſchaft macht mit dem Fanandifchen Weibe,
nachdem es, fo zu fagen, Ifrael Satisfaction gegeben und
in bem befannten Ausſpruche demfelben gehörig den Vor⸗
zug vor allen ‚Heiden zuerkannt, zeigt von ber Feftigkeit,
über die Verfuchung Zefu. 379
mit welcher berfelbe feine Stellung durchgehalten hat. Daß
Joh. 12, %0 ff. ein Jünger es auf den andern ſchiebt, Iefır
den Wunſch der Griechen, ihn zu fehen, wenn fie auch
Profelyten des Thores feyn mochten, mitzutbeilen, daß es
Johannes für bedeutfam genug hält, diefen Hergang zu ers
wähnen,. ſchüint mir davon zu zeugen, daß den Juͤngern
diefe Stellung fehr bekannt war, Auch fcheint mir Johan⸗
ned darum von ber Vorlaſſung der Griechen nicht zu bes
richten, weil Jeſus fie aus dem in Rede ftehenden Grunde
nicht vorgelaffen hat.
Wir treten der Würde Jeſu gewiß nicht zu nahe, wenn
wir ſagen, daß derſelbe ſich damals auch dem Heidenthume
gegenüber habe orientiren müflen, Bei ber entſcheidenden
Prüfung vor feinem Auftreten mußte die Sachlage auch
nach ihrer weltlichen Auffaffung und Empfehlung fich obs
jectio in fein heiliges Bewußtfeyn drängen, “Obgleich ihm,
dem Sieger, dem die Macht gegeben, ſich ber Feind nur
naht, um befiegt zu werden, fo zeigt der Heiland doch auch
fonft, Matth. 16, 2. 23,, wie groß feine heilige Empfind⸗
lichkeit ift falſchen Zumuthungen gegenüber, die feinen Weg
verfehren wollen. Die hinter dem Drängen des natürlichen
Lebens rebende böfe Geiſtesſtimme hat er denn auch hier
nicht anders verftanden, denn ald eine Zumuthurg des Zeus
fels, ihm anzubeten, Denn die alleinige Anbetung des uns
fihtbaren Iebendigen Gottes war Ifraeld Panier und hei-
liges Abzeichen, in welchem fein Unterfchied von allem Heid⸗
niſchen ſich am merktichften hinſtellte. Ungeachtet alles Ver⸗
derbend in Ifrael Eonnte.der Heilige Gottes die heilige
Grundlage deffelben nicht preisgeben. Den im zweiten Ges
bot auch ind äußere Voͤlkerleben vorgefhobenen Poften der
Bahrheit, mit dem Ifrael alles Heidenthum ſchon im alten
Bunde überflügelte, hätte der Herr verkennen und aufgeben
müffen, wenn er gegen pofltive Ginrdumungen pofitive
Hülfe von der heidnifhen Weltmacht hätte empfangen
wollen.
An. Suuis
Den des Ya Teit unter tem ſich über Aues en
regen Sinuäfe oner Sottesderehrung. Man vergleide
u Amen Fusheridied und ein Abenuiegend
So Su. X der Arünmung umb Anlehrung
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. rauonaien und cızifunmigte
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Sen Zene, om Tem verfuchenben
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sugum gefallen zu laffen, ja
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o nt ihn als eimem
spot lKorinth. 5.5,
.. ün.en dem Stern’.
über die Verſuchung Jeſu. 381
Wie ich dafuͤr halten muß, daß in ber vorhin erflärten
Berfuhung ber Heiland in Gedanken auf ben hoben Berg
verfegt wird, vom weldem bie Rundfchau über alle Reiche
der Erde ihm eröffnet wird, fo muß ich aud bei der nun
zu gebenden Erklaͤrung der bei Matthäus an zweiter, bei
Lulad an dritter Stelle ſtehenden Verfuhung die Hinaufs
führung auf des Tempels Zinne gleichermeife als eine Ges
dankenvorfpiegelung anfehen. Bei einer Werbandlung in
der Borkellung hat eine ſolche Scenerie ihren richtigen Sinn.
Ban folte, wenn von ber Kugelgeftalt der Erde nicht zu
eben ift, dem befonnenen Jeſus doch die Unterfielung, daß
die Erde von einem Menfchenauge in der Wirklichkeit uͤber⸗
ſchaut werben koͤnnte, nicht zur Laft legen, Auch hat Je—
ſus auf mehr ſchlichten Verftand der Seinen gerechnet, ald
daß wir ums hoch darüber verwunderh bürften, wie er doch
fo bald oben auf der hoͤchſten Frontfpige des Tempels fi
habe befinden koͤnnen. Denn die bier genannte Zinne kann
eine andere ald eben bie des Hauptgebäudes feyn, Die
Bruſtwehr eines jähen Vorſprungs ober einer Vermauerung
des jäh abgefegten Höhenterraind kann unmöglich gemeint
ſeyn. Nur könnte man mir, wenn ich ed bei dem zwei letz⸗
ten Verſuchungen alfo mit dem Schauplage halte, vielleicht
die Gonfequenz aufnöthigen wollen, ed auch bei ber erſten
wit der Hinausführung in die Wüße alfo nehmen zu müfs
fen. Denn nicht allein der Ausbrud bei Masl.: xal södds
rò zveöpe adröv iußeAlsı eig vhv Fonuov, fondern noch
vielmehr bei Luk.: Ayero dv co zvsdperı, koͤnnte baflız
zu ſprechen fcheinen, daß auch bier bei der allfeitigen Uebers
denkung feines Pland der ‚Heitand fi in Gedanken babe
in die Wüfle verfegt gefehen, und alle weiteren Umſtaͤnde
nur auf gebanfenmäßigen Unterflellungen beruhen. Iſt bad
aber ber einzige Fehler meiner Auffaflung, daß ihr diefe
Eonfequenz fehlt, fo will ich diefen Borwurf einmal auf
mich kommen Laflen.
Sowohl die ſprachliche Darftellung innerlicher Dinge
und Serimsorgänge, als bie ſprachliche Auffaflung Außers
licher geſchichtlicher Dinge und ihrer Motive ſucht überall
So if es bei den bülberreichen Drientalen und Romanen,
und fo it es bei dem mächternen Deutfchen, unter denen
wen nenlidd wow einer Revelution in Schlafrock und Pans
torfein hat. Ich erinnere an Auddrüde wie Hin⸗
Relung auf efenen Bart, Schauftellung vor ber ganzen
. bie ja bei Weiten nicht immer buchfläblich zu
mem Km, Könnte nicht, um unferm Gegenflande näher
we fenmen, Iemuza mach Mattd. 23, fagen, Chriftus habe
de kader vom Berge in der Wüſte geprebigte Dppoſition
zer Te Nrael dederrſchende Schriftgelehrfamkeit zulegt
SE ame tie Zenfler des Hohenprieſters, ja von der Binne
dee Irmpeid gepredigt, Die Grenze wilden dem Eigent⸗
Achen und Uneigentfichen iR in ſolchen Darftelungen eine
undeftimmte. &o gibt es unter den Ausdrüden bed Hei⸗
landes aud) folche, in denen. das Symboliſche und das Buch⸗
ſtaͤbliche nicht ſtreng gefonbert iſt. Analog dem altteſtament ⸗
tichen ſpmboliſch kurzgefaßzten Vergeltungsgeſetze: Auge um
Auge, Zahn um Zahn, bildet der Herr die neuteſtamentliche
Regel, zum Mod auch den (werthvolleren) Mantel zu ges
ben, zum gefchlagenen rechten auch den linken Baden bar
zubleten. Die Möglichkeit, dag bieß auch in buchſtaͤblichem
Sinne vorkommen kann, ift nicht ausgeſchloſſen, aber die
Oauptſache IR, einen ſymboliſchen Ausbrud für ein ganzes
Weblet von Bällen zu haben. Aehnlich iſt es nun auch hier
mit der Aumutbung an den ‚Heiland, fi von der Zinne
derunterzuſtarzen. Bei den romantiſchen Vorſtellungen, die
die Juden ſich vom Hervortreten des Meſſias machten, iſt
der buchſt aͤblicht Sinn nicht ausgeſchloſſen, aber das Sym⸗
doliſche, das viel weiter Reichende des Ausdrudes iſt nicht
Au verkannen. Man febe zu, ob, wenn das die Meinung
Ni biefer Merlodung war, Ghriftus ſolle durch einen wuns
derbollen Runffprung, für ben des Tempels Zinne nicht
if
über die Verfuhung Iefu. 383
wegen der Beftimmung, fondern nur wegen ber Höhe des
Gebäudes vor allen gewählt worden, die Anerkennung feis
mer Sendung gewinnen, das hervortretende Unwürdige,
das ‚Hiftrionifche der Zumuthung nicht ganz anders würde
jurüdgewiefen worden feyn,
Im Allgemeinen ſchien ald Regel feftfichen zu follen,
daß alles heilige Wirken in Ifrael, wenigſtens daß legte
und hoͤchſte des Meſſias, von feinem gefeglichen Mittelpuncte,
dem Zempel zu Ierufalem, unter der Autorität der zuerſt
gewonnenen Anerkennung der dort beflellten Pfleger und
Borgefegten der heiligen Angelegenheiten, auögehen müffe,
Den diefe Frage betreffenden Vorgang in feiner Seele hat
ber Heiland in biefer in Rebe ftehenden Verfuhung uns
offen gelegt. Nah Strauß ift von diefen Berfuchungen
nichts wirklich durch das Gemuͤth des Heilandes gegangen,
da ja die Sage fie fpäter erdichtet haben ſoll. Nah Schleier
macher find biefe Dinge allerdings durch Jeſu Seele ges
gangen, allein fpäter und rein reflexionsmaͤßig, ohne daß
dem Worte, Bilde und unterftellten Affect je wirklich eine
entfprechende Erfahrung in feinem Leben zu Grunde geles
gem. Wir behaupten bagegen, daß gerabe dadurch, daß
Chriſtus uns fo viel möglich die Schlagworte in der prägs
nanten Weiſe, wie fie'fich nach ber ſtizzenhaften Art innes
rer Gedankenvorgänge ihm dargeboten, und wie fie in dem
Fiuſſe des inneren Lebens Geftalt gewonnen, hat wieberges
ben wollen, bie verfchiedenen Verſuchungen ihr auf den ers
ſten Blick Räthfelpaftes an ſich tragen, weßhalb es die Aufs
gabe des Eregeten ift, durch Zurüdverfegung in den Horis
zont der Zeit und der augenblidtichen Tage Jeſu den vollen
Zuſammenhang zu gewinnen, Wenn wir fehon immer in
der Seele unferer Mitmenfchen, indem wir fie anreben, etz
was leſen und voraudfegen, fo ift ed nicht zu viel behaups
tet, wenn wir voraußfegen, der Teufel habe bei diefer Vers
ſuchung in der Seele des Heilandes gelefen: fein nach ber ges
meinen Erwartung zu Jeruſalem beginnen follendes Auftres
386 Laufe
ten iſt für feine Perfon und Sache zu gefährlich; gerade in
dem Sinne, wie er den Meffiadplan im Kampfe gegen die
Schriftgelehrten, im Gegenfage gegen die Machthaber zu Je⸗
zufalem ausführen will, ift ed bebenklich, von Jeruſalem feis
nen Ausgang zu nehmen, ober, um es im Bilde der Ver⸗
ſuchungsgeſchichte zu fagen, fich von ben Binnen des Tem:
pels aus in feine meſſianiſche Laufbahn zu ſtuͤrzen. Denn
dieß, mit Hintanfegung aller ſich daran Intıpfenden Gefahs
sen und Gonflicte, flatt von der Grenze des Landes und
von der Gewinnung der nieberen Stände des Volkes aus
feine fefte Stelung zu erlangen, mitten unter bie Vrieſter
und Schriftgelehrten ſich zu werfen, ift der volle Sinn bie
fer Verſuchung. Denn ed liegt einestheils im Geiſte der
Welt, fi der mit Muth umd. Aufopferung zu beflehenden
Gefahr nach eignen Gedanken mit allerlei Klugheit und feis
gen vorgefhhgten Stüden, zu entziehen, anderntheil aber
die Gefahr, die pflihtmäßig mit Vorſicht zu vermeiden if,
mit tollkuͤhnem Muthe zu provociren,
Neben die Frage über Jeſu Verhaͤltniß zu bem derzeis
tigen Judenthum und Heidenthum mußte biefe dritte Frage
über dad Verhaͤltniß feines erften Antnüpfens mit ben vers
ſchiedenen Ständen in feinem Wolke fidy fielen. Mit der
Hauptfladt in Einem Schlage dad ganze Land zu erobern,
war ber dem fleifchlihen Sinne und den gemeinen Meffiads
erwartungen des Volkes am meiften zufagende Weg; dem
alle Hülfe der Allmacht Gotted, die dem Frommen verbeis
gen ft, ſchien um fo viel mehr dem Meffias zur Werfüs
gung geftellt feyn zu muͤſſen. Wenn man nicht fagen will,
daß ber Heiland nicht habe in den Fall kommen können,
zwifchen dem Einen und dem Anbern in menſchlicher Weile
fi) zu entfcheiden, fo hat er auch im ſchweigenden und bins
gebenden Moment der Prüfung dieſe Auffaflung an ſich
beranfommen laſſen müflen. Nur durch ſolches Verhalten
ann dad den verfchiedenen Kreifen der Gemeinſchaft ver-
pflichtete Individuum feine" Pflicht begreifen und die Wahr:
über die Verſuchung Jeſu. 385
beit herausſinden. Daß bie Entſchließungen Jeſu nicht im
Boraus in gerader Linie für alle Fälle haben fefifichen koͤn⸗
nen, gebt aus dem biefer Werfuchung analogen Worgang
Joh. 7, 10, genügend hervor. Seine Brüder brängen ihn,
nach Jeruſalem zu gehen. Die Entſcheidung ſchwankt bei
demfelben nicht allein, fondern aͤndert ſich auch nach ben
nur kurze Zeit von einander getrennten Erwägungen. Das
gehörte zur vollkommenen Menſchheit des Erlöfers, Denn
die Gemeinſchaft ift etwas dem Individuum von außen
Geſetztes, und das Wohlverhalten gegen diefelbe kann nicht
teinweg von innen befiimmt werden. Wie große Worficht
übrigens Jefus in Bezug auf Ierufalem ſich von Anfang
zur Pflicht machte, iſt uns bei feinem erſten Auftreten das
ſfelbſt, Io. 2, 24., ausbrüdtic geſagt.
Inwiefern rein objectiv von den verbis ipsissimis bed
Zeufels in buchſtaͤblichem Sinne nicht bie Rebe feyn Tann,
iſt ſchon erklärt, Den Geiſtreichen ift der Teufel geiftreich,
den Lebhaften ift er lebhaft, und den Phantafiereichen ift er
phantaflevo. Ich erinnere an Hamann: in welches alles
gorifch gebeutete Schriftwort würde er die an ihn beranges
kommene, mit feommen Gründen gleißende Werfuchung nach
der wirklichen Geftaltung in feinem Gemüthe uns haben
mittheilen müffen, wenn er diefe geheimen Acten genau
hätte offen legen follen? Denn ich möchte nicht annehmen,
daß Jeſus hauptfählih aus dem Joh, 16, 4. angegebenen
Geſichtspuncte, wegen der noch nicht Alles ertragenden Schwäche
der Jünger, in feiner Darftelung damals, als er die Ver⸗
ſuchungsgeſchichte erzählte, in dem ebenfomohl auf phyſi⸗
ſche, als auf von den Menfchen kommende Gefahr deutbaren
Bilde der zuletzt erklärten Verſuchung die wirkliche Sache
etwas habe verdeden wollen. B
So ergeben fich drei. Stüde, auf welde die Verfus
&ung fidh bezogen hat, die an dem Wendepunct im Leben
Jeſu, wie Jeder eingeftehen wird, die Hauptfeagen gebildet
haben müffen, Ueber dad Wefen feines Werkes felbft hat
386 Lauf über die Verſuchung Jeſu.
derfelbe damals nichts erft feflzufegen und ſich Mar zu ma⸗
hen gehabt, Daher handelte es ſich mehr um die Form,
fo zu fagen, um dad Methodologiſche feines Auftretens, und
wir finden demgemaͤß bie Werfuchung ſich bei ihm einſtel⸗
Ien bei der Entſcheidung der Frage nach ihren drei Seiten,
wie er ſich mit feinem ewigen Teftament zu feiner Zeit mit
der bamaligen geiftigen Weltlage von vornherein zu flellen
babe, Dieß ar zu machen, ift das Ziel meiner Auseinans
derfegung gewefen, Ob, wer biefe ſich mir ergebenden ges
ſchichtlichen Ausgangspuncte der Werfuchung Jeſu ganz ans
nehmenswerth an fich findet, die exegetifchen Mittel, die ich
zu meinem. Zwecke gebraucht habe, verwerflich ober bedenk⸗
lich finden dürfe, muß ich der unbefangenen chriſtlichen Er,
wägung und dem theologifhen Gewiffen der Mitforſcher
anheimgeben.
Gedantenund Bemerkungen.
fe
sOC
B)
gle
* 1.
Eine Apologie des Heidenthums und Streitſchrift
wider bad CEhriſtenthum,
don
einem Brahmanen *)
Alle Menſchen beobachten, nachdem fie zuvor Unterfus
ungen angefleht, religiöfe Sagungen, Welcher Beligion
auch Jemand feyn mag, er iſt überzeugt, daß er durch feine
Religion felig werde, Leute anderer Religion mögen kom ⸗
men und viel seven, aber um deßwillen wirb Fein Menfch
feine eigene Religion verlaffen und die ihrige annehmen,
Es mögen daher Über dieſen Gegenſtand alle möglichen Büs
cher gefchrieben und veröffentlicht werben, von wem fie wols
a) Mitgetpeilt vom Diakonus Paret in Bradenheim (im Würts
tembergifchen). Werfafler berfelben if der Brahmane Mora
Bhatta Dandekara; feine Schrift wurde durch eine Disputas
tion veranlaßt, welde I. Wilfon 1891 mit mehreren Brahs
manen gemäß einer von biefen an ihn ergangenen Aufforde⸗
zung gehalten hatte, Der Titel der Schrift iſt: Hindu- dharme-
sthäpans, und 3. Wil ſon hat fie mit einer englifhen Ueber⸗
fegung (Translation of the „verification of the Hinda Reli-
gion”) und einer ausführlichen Widerlegung*) 1832 in Bombay
berausgegeben. Anm. d. Ueberf.
®) @iner Widerfegung bebarf «8 unter uns und namentfid) im Bereiche biefer
Zeltſchriſt nicht. Wer die Ausführung des Wrahmanen auch mur mit
einem beſche denen Mafe rifticher Grfenntnip Tieft, wird wahrnehmen,
dab fie inbise und wider Willen vielmehr ein Zeugnip für das Toriten-
thum ablegt, al gegen baffelbe.
An. d. Redaction
390 Eine Apologie des Heibenthums
len, — es bient zu nichts, Aber unter ben Hinbus hat
allmählich das Wiſſen abgenommen; Unkenntniß des Weſens
der Religion und der Merkmale ihrer Wahrheit oder Falſch⸗
beit wird immer allgemeiner: würden wir in einer fo bes
denklichen Zeit ſchweigen und auf das, was Leute von einer
anderen Religion veröffentlicht haben, nicht antworten, fo
wuͤrde dieß in nicht langer Zeit die Mimmften Folgen ha⸗
ben, Aus biefem Grunde fehreibe ich, fo gut ich's vermag,
diefe Abhandlung. Ueber die Wahrheit oder Unwahrheit
ihrer Behauptungen möge Gott ſelbſt entſcheiden.
In den Beinen mahrattifhen Büchern, welche bie
hriftlichen Priefter gegenwärtig zu ſchreiben pflegen, ift bad
‚Hauptthema in der Regel der Gögendienft (Idolatry), Da
Gott Feine unterfcheidbaren Geftalten hat, fo bezeichnen fie
es als ſinnlos, daß die Hindus ein Bild für Gott halten
und als folden verehren. Diefer Gegenfland muß daher
zuerſt näher erörtert werden. Nun fage ich: es gibt nicht
einen einzigen Hindu , welcher ein Bild für Gott haͤlt; je⸗
der weiß vollfommen, daß es nur Einen Gott’ gibt und
daß diefer geſtaltlos und allmädhtig if. Warum alfo, wird
man fragen, ein Bild verehren ? Hierauf erwidern wir,
daß alle Menfchen von Natur flumpf, verborben und uns
wiffend find, Obgleich bekannt if, daß es einen Gott gibt,
fo ift dieſer Gott boch nirgends zu fehen; wenn eine Eünbe
begangen wird, fo ift nicht ſogleich Har, daß er den Süns
der in diefer Welt darum ſtraft; alle Furcht vor ihm ſchwin⸗
det daher aus ber Seele. Der König ift nirgends zu fer
ben, und wenn feine Unterthanen eine Uebertretung beges
ben, fo wird fie nicht geftraft. Unter biefen Umftänden
müffen diejenigen felten werden, welche nicht bloß nach ih⸗
rem eignen Gutbünten leben wollen, Würde den Menfchen
in ihren weltlichen Verhaͤltniſſen und Genüffen nicht eine
Beſchraͤnkung auferlegt, fo wuͤrden durch die verführende
Kraft der Weiber, bed Reichthums u. dergl. beinahe alle
von ihrem Glauben abfallen. In Erwägung alles befien,
und Streitſchrift wiber das Chriſtenthum. 391
mit Rüdfict auf dad Wohl des Volkes, haben bie heiligen
Bücher Bilderverehrung erfunden und für die Maſſe viele
teligiöfe Gebräuche vorgefchrieben. Man fehe nur auf die
Sitten und dad Betragen berjenigen, deren Religion feine
derartigen Gebräuche enthält, und man wird auf einmal
feben, ob Bilderdienſt u, dergl. von Nugen fey oder nicht.
Daß Gott dem Bilde gleich fey, meint Niemand, aber ins
dem er fih die VBorftellung davon bildet, bringt er doch
jeden Tag eine kurze Zeit mit Gottesdienft zu und erlangt
fo Frieden der Seele, Wird dieſes Verfahren fortgefegt, fo
wird endlich bie wahre Gotteserfenntniß erlangt und die
Serle von ber Welt abgelenkt. Dann fieht man allerdings
ein, daß ſolche Gebräuche unnüg find, und gibt fie demnach
auf. In den heiligen Büchern werden auch Belehrungen
über die rechte Zeit und Art ertbeilt, wo und wie man fie
aufgeben foll, und Viele haben fie auch wirklich aufgegeben.
Wo aber eine der ihrigen aͤhnliche Geiſteskraft noch nicht
erlangt worden ift, was würde es ba Einem helfen, wenn
er mit dem Munde MWeisheitslehren ausſpraͤche und doch
nur nad) den Eingebungen feiner Begierden lebte? Wenn
in der Bilderverehrung und den teligiöfen Gebraͤuchen, wel⸗
he ſich auf den Leib und Andered beziehen, keine Tugend
liegt, welche Zugend foll dann in dem bloßen Gerede lies
gen? Die Tugend in jedem Gebiete hängt daran, daß
der Geift feit darauf gerichtet iſt. Diejenigen, welde dieſe
feſte Seelenrichtung erlangt haben, find in der That felten,
Bo noch ein fchöned Weib, Reichthum und Ehre begehrt,
der Zorn nicht unterdrüdt, ein eigennügiger und ſelbſtſuͤch⸗
tiger Zweck durch Mittel des Betrugs verfolgt wird, — wo
dieß der Fall ift, da wird das bloße Reden von Gott mit
dem Munde nie und nimmer einen Anſpruch auf ben Nas
men eined Heiligen geben.
Der Hauptgrund, aus welchem Bilderverehrung vorges
ſchrieben wird, iſt folgender, Wie ein Gefäß, das voll ift,
nichts weiter in ſich einläßt, fo Tann die Seele, welche mit
Tpeol. Stud, Jahrg. 1858, 26
302 Cine Apologie bes Heibenthums
Verlangen nach weltlichen Dingen erfüllt ift, die Liebe zu
Gott nicht in fi) einlaffen. Daher muß jenes Berlans
gen auögetrieben werben. Die Austreibung jedoch iſt we⸗
gen der Unftetigfeit der Seele ungemein ſchwierig. Es
wäre eben fo leicht, einen Affen zu überreden, daß er rus
big bleiben fol, als die Seele dazu zu vermögen, ſich in
Ruhe zu begeben, Die Seele kann nicht einen Augenblid one
einen Gegenftand bleiben, dem fie anhängt, und zwar find
es bloß fihtbare Dinge, denen fie anhangen mag. Nun
ift Gott ohne Form und Geftalt: wie ann alfo die Seele
ihm anhangen ? In ben heiligen Büchern find barum. reine
Gegenftände bezeichnet und gebildet, und es iſt die Aufmerk-
ſamkeit der Seele auf fie hingelentt worden, um fie von
den unreinen zu trennen. Bu diefem Zwecke wird dad viers
armige Bild Gottes und werden andere Bilder ähnlicher
Art gebraucht, und mittelft ihrer werden die böfen Gedan⸗
ten aus der Seele vertrieben. Gleichermaßen muß bie
Seele immer thätig feyn, und darum find die mit dem Bils
derdienſte verbundenen Geremonien vorgefchrieben, um ihr
Belchäftigung zu gewähren. Aus diefen Uebungen entfpringe
ein Verdienft, und mittelfk ihrer erhält die Seele die Kraft,
ihre Betrachtung auf den unſichtbaren Gott zu richten; iſt
dieß einmal ber Fall, fo ift das glückliche Ergebniß unun⸗
terbrochene Freude, welche wir mit dem Worte Mokſha be»
zeichnen,
Bir wollen nun betrachten, wiefern ber Bilderdienſt
und andere gute Werke Werdienft erzeugen »), Ein Bes
weis hierfür iſt die Erklaͤrung, welche die heiligen Bücher
hierüber geben, Wenn ein wahrheitsliebender Mann nach
einer Reife in ein ferne Land uns von den wunderbaren
Dingen erzählt, die er dort gefehen, z. B. daß er Zwillinge
gefehen mit aneinander gewachfenen Körpern, fo glauben
a) Iſt in dem allgemeinen Ginne zu nehmen: Gott gefallen.
D. ueberſ.
und Streitſchrift wiber das Chriſtenthum. 393
wir ihm ſogleich; denn man muß zugeben, baß ber Beweis
aus dem Zeugniß eben fo gut eine ‚wahre Erkenntniß ges
ben Tann, ald der Beweis aus der Sinnenanfhauung oder
aus Schlüflen. So verhält es ſich fogar bei menſchlichem
Beugniffe: wer wollte alfo jenes göttliche Bengniß verdaͤch⸗
tigen oder verwerfen, welches Brahma, der urfprüngliche
Männliche, gegeben hat? Als nod nichts war, als der
Eine immaterielle Gott, konnte der, welcher von ihm ents
fprang, fein Daſeyn nichts Anderem verdanken, ald der eins
ſachen Kraft der Gottheit. Man muß daher zugeben, daß
er, völlig Bolt, in unterfcheidbares und fihtbares Dafeyn
eintrat. Welch’ eigenfinnige, hohlkoͤpfige Geſchoͤpfe find dems
nach die Menſchen unferer Zage, welche fein Zeugniß vers
dächtigen oder verwerfen! =)
Ich bringe jet einen Beweis aus ber Vernunft, Ber
bienft entfleht, wenn man Gott gefält, Nun ift aber Gots
tesdienſt und Achnliches ein Mittel, ihm zu gefallen. Ein
Beifpiel! Ein Bekannter von dir ift in einem fernen Lande
oder in deinem eignen. Du nimmft eine andere Perfon und
gibſt ihr den Namen deines Freundes oder machſt ihr,
ohne Namengebung, aber indem di jenen im Sinne hafl,
Speifen, Kleider u. bergl, zum Geſchenk, fo wird bieg ohne
Zweifel der eigentlich damit gemeinten Perfon gefallen, Um⸗
gekehrt, fegeft du dich nieder und flößefl mit dem Fuße ges
gen einen Stein, wobei du den Namen einer beftimmten
Perfon nennft und Scheltworte audfprihft, fo wird die
Betragen, wer fie es erfährt, ihr gewiß mißfallen. Verhaͤlt
es ſich alfo bei beſchraͤnkten Menfchen , wird nicht Gott, der
vermöge feiner ale Dinge umfaflenden und durchdringen⸗
den Kraft unfichtbar gegenwärtig ift, und dem zu Ehren
a) Hier ift offenbar die Kosmogonie von Manu's Geſetbuch!, 6ff.
vorausgefeht. Die Gottheit Brahma’s (in der männlichen Borm,
daher der erfte Maͤnnliche, der aus dem unperſoͤnlichen Brahma
als Reutrum entfprang) wird darum bewiefen, weil er als ber
tegte Urheber der Heiligen Schriften giit. %. d. ueberſ.
26 ·
394 Eine Apologie des Heidenthums
der Bilderdienſt u, dergl. eingerichtet wurde, — wirb nicht dies
fer allwiſſende, gnädige und gütige Gott an den genannten
Dienften ein Gefallen finden? Das vorhin gegebene Beis
ſpiel ift freilich nur in Einer Hinfit anwendbar: man muß
den Vergleichungspunct allein feſthalten.
Wenn ein Koͤnig ſeinen Unterthanen gewiſſe Beſehle zu⸗
geſandt hat, ſo ſichert ihnen Gehorſam gegen dieſelben
Wohlergehen, Ungehorfam bewirkt das Gegentheil. Ebenſo
werden ihre Gemüther, wenn fie dieſe Befehle hören, von
Freude, Betruͤbniß oder Furcht bewegt, wie die Umftände
es mit fi bringen, Nun frage man, wer diefe Gefühle
erregt, Sagt man: der König, fo läßt fich entgegnen, er
fey ja nicht gegenwärtig. Der Befehl des Königs ift nicht
der König felbfl. Es muß deßhalb in dem Befehle felbft
eine wunderbare Macht liegen, Wie in Arzeneien und vielen
anderen Dingen verfchiedenartige Kräfte liegen, fo muß
aud in der Bezeugung durchs Wort eine Kraft verborgen
ſeyn. Gibt man nun zu, daß in menſchlichen Worten eine
Kraft liegt, fo kann man nicht zweifeln, daß eine folde
aud in den durchaus wahren und glaubwürbigen göttlichen
Worten liege, So wird mittelft der Mantras [dev Gebete
und Hymnen der Wedas] die Gottheit nach den in den heis
ligen Büchern niedergelegten Verſicherungen in das Bilb
bineingerufen und der immaterielle Gott erhält dadurch eis
nen freilich unfinnlichen, idealen Leib, Hat er fo einen Leib
bekommen, fo wird er nach ben heiligen Büchern als koͤr⸗
perbegabt behandelt, und wenn er das fieht, fo macht es
ihm Vergnügen. Daher kommt dad Verdienſtliche. So
fließen wir alfo, daß man durch die rechte Bilderverehs
zung umd bie Volbringung ähnlicher guter Werke Gott
finden und genießen kann. Diefe Folgerung läßt ſich uns
mittelbar auß den heiligen Büchern herleiten, aber auch
durch die Vernunft kann fie feſtgeſtellt werden. — — —
Zur Befeitigung der Unwiffenheit, in welcher bie Seele
des Menſchen gefangen iſt und durch welche es gefchab, daß
und Streitfchrift wider das Chriſtenthum. 395 -
diefe ihr eigenes Wefen und das Wefen Gottes vergeffen
bat und von den Pfeilen der Begierde und Leidenſchaft ges
teoffen umberirrt, — zur Befeitigung biefer Unwiffenheit und
zur Herftelung der wahren Gottederkenntnig werben in den
beiligen Büchern Bilderverehrung und beftimmte Geremos
nien vorgefchrieben, Dan wendet ein, ber Bilderdienſt und
dad Geremonienwefen, bie jegt unter den Hindu berrfchen,
und die Bilder der Götter felbft dienen nur’ dazu, die bes
klagte Unwiflenheit und die aus ihr entftehenden Leidenſchaf⸗
ten zu vermehren. Weisheit und Tugend koͤnne nie auf
diefem Wege erlangt werben, weil die Seele die Natur der
Gegenflände annehme, mit denen fie viel umgehe, Sole
daher bie wahre Erkenntniß Gottes erlangt werben, fo müfle
die Aufmerffamkeit auf Gott gerichtet werden, Werbe
fie auf verfchiedene Götterwefen gerichtet, fo koͤnne daraus
die Erkenntniß des Einen Gottes niemals gewonnen werden,
Auf diefe Einwendung werden in den heiligen Büchern der
Hindus manche Antworten gegeben, z. B. daß Gewohns
beiten durch Gewohnheiten «) verdrängt, Werke der Hände
durch Werke ‚der Hände befeitigt, Einbildungen des Hers
zens wiederum durch Einbildungen des Herzens erfegt, Gifte
durch Gifte neutralifirt werden müffen; aber eine volftäns
dige Ausführung wuͤrde dieſe Schrift zu fehr ausbehnen,
Indem ich deßhalb lediglich auf das gewöhnliche Verfahren
der Menfchen hinmweifen will, erwähne ih nur bie Mittel,
welche andere Religionen anwenden und welche meine obige
Antwort deutlih machen werben, Bei den Mufelmannen
fpriht man nur von Einem Gott, Gleichwohl fegen fie ihr
Vertrauen auf die Menfchen, welche durch ihre wunderbas
ven Thaten ausgezeichnet waren, und fie fagen und, daß
ihr Gemüth dadurch Präftiger zu Gott hingezogen und auf
ihn gerichtet werde. Ebenſo verhält es fich mit vielen ihrer
Geremonien, welche denen der Hindus fo fehr gleichen; ihre
a) fo bloß weltliche durch vellgiöfe ac. A. d. Ueberf.
396 Eine Apologie des Heidenthums
Bemerkungen darüber laufen darauf hinaus, daß fie ih⸗
nen bebülflih feyen, die Seele dem rein geiftigen Gott
als dem letzten Biele näher zu bringen, Unter ben Anhängern
der Lehre Chriſti wird zundchft nur Ein Gott gelehrt, Hers
nad) aber wird diefer felbe Gott, fofern er die Eriöfung
der Geſchoͤpſe, d. h. ihre Befreiung von aller Anhänglichs
keit an bie fichtbare Welt und den Zuſtand einer beſtaͤndi⸗
gen Richtung auf ben geifligen Gott, bewirken will, unter
drei Formen bargeflellt, welche fie ald Water, Sohn und
Geiſt bezeichnen, Diefe Formen, flır fich betrachtet, find eins
ander fehr unaͤhalich; die Anwendung deſſen, was jede bers
felben von ben anderen unterſcheidet, auf den Einen wahren
unfihtbaren Gott, ber mit der hoͤchſten Majeftaͤt begabt,
mit allen Eigenfhaften erfült und im Befige aller Macht
ift, kann nicht einen Augenblick gebuldet werden (that which
is distinctive of each of them cannot for a moment be
tolerated if applied to the one true invisible God etc.).
3. 8. der heilige Geiſt reinigt die Herzen ber Menſchen,
d. h. derer, welde jene Religion annehmen, umd man fagt
zwar von ihm, er fey ohne Form und Seftalt, wie ber Bas
ter, in der That aber find feine Geſtalten zahlteich und
mannichfaltig. Bisweilen wird er wie eine Taube. In
anderen Fällen wird er wie ein Feuer, Sehen wir auf den
Sohn, fo finden wir, daß er bald unter der Form bes
Wortes exiſtirt, bald wieder einen flerbliden Leib annimmt,
ber, gleich dem unfrigen, aus den fünf Elementen zufammens
geſetzt ift, und ald Grund hiervon wird angegeben, daß er
in feiner geifligen Dafeynöform die Erlöfung von Geiftern,
die in materielle Leiber eingeſchloſſen find, nicht volbringen
Tann, Nachdem er fo einen Leib angenommen hat, gerät
er in einen Zuftand, der mit ber Größe und Herrlichkeit
Gottes unverträglich iſt, — einen tadelnswerthen und ganz
unziemlichen Zuftand, Er wird in dem Schooße einer Mut⸗
ter geboren, se wird ein Kleines Weſen, wie jedes andere
Geſchoͤpf, er erfährt Freude und Leid des menſchlichen Les
und &teeitfchrift wider das Ehriſtenthum. 997
bens, er leidet die Strafe eine Uebelthaͤters und ſtirbt ei»
nen ſchmaͤhlichen Tod; durch diefe und andere Mittel ers
wirbt er fich die Gunft Bottes und fo vollbringt er die Ers
loͤſung der Menfchen. Die Anhänger biefer Lehren behaup:
ten, daß, während alles dieß geſchieht und alle diefe Geftal-
ten angenommen werben, bie Einheit Gottes doch unzerftört
bleibt und dad Alles ihm viele Herrlichkeit verſchafft. Die
iR ihr offened Glaubensbekenntniß. Wenn nun dieſe drei
Gottheiten die Seele nicht verwirren, fonbern das Geſchoͤpf
vielmehr im der Werehrung des Einen Gottes befefligen,
wie fol der Dienft Räma’s, Kriſhna's und anderer Götter
eine ſtets wachſende Verwirrung in unferen Seelen anrich⸗
tn? Warum fol nicht mittelft ihres Dienſtes der Geift
die Kraft erhalten, feine Betrachtung auf ben rein geiftigen,
geflaltiofen, Alles erhaltenden, unendlichen Gott zu richten?
Man wirb einwenden, wir verehren biefe Götter durch das
Medium der Steine, des Waffers, der Bäume und Thiere,
mb fo verlieren fie ihre Größe und Erhabenheit, Ich ants
worte: durch das Medium biefer Dinge haben fie ſich den
Menſchen in Liebe geoffenbart, ohne von ihrer Ehre etwas
zu verlieren, wie follen fie alfo etwas von diefer Ehre ver⸗
Heren, wenn man fie durch biefes felbe Medium anbetet?
Wenn ber beklagte Werluft wirklich flattfände, wie könnte
Gott und befehlen, ihn durch diefes Medium anzubeten ?
Wenn die Behauptung Gott nicht entehrt, daß berberaufchende
Saft der Zraube und die Brodfrucht (die aus der Erde
entfpringt , die nichts als Erde iſt und, nachdem fie gegeſ⸗
fen worden, zuletzt dad Allerſchlechteſte wird) Theile feines
Leibed feyen, wie Tann es feine Ehre befleden, wenn man
fagt, daß im Feuer, in der Kuh, dem Shaligram (dem heis
ligen Steine) und andern fo heiligen und reinigenden Dingen
feine Herrlichkeit wohne? Diefe Schlußfolgerung, moͤchte
man fagen,, ſcheint gut zu feyn, aber wenn Bilderdienft,
aſchungen und bie begleitenden Geremonien und andere
Gebräuche diefer Art den Zweck haben, dad Andenken an
398 Eine Apologie des Heidenthums
Gott frifh zu erhalten, die Erkenntniß feines wahren Weſens
zu gewähren und die Seele von verunreinigenden Gegens
fländen fern zu halten, fo gebt der Aufmerkfamkeit ihre
Richtung auf diejenigen Gegenftände, welche die Größe, Macht,
Weisheit, Güte und andere Vollkommenheiten Gottes of
fenbaren, auf die Sonne, den Mond und bie zahllofen
Sterne, auf die großen Fiſche des Meeres und ber Flüſſe,
auf die Berge und Wälder und die wunderbaren Gefchöpfe,
die fie bewohnen, auf die Bäume, die Metalle und andere
Dinge, welche die Hand der Natur felbft geſchaffen bat,
Mit Uebergehung von dem Allem in ein Zimmer treten, bie
Thüre fchließen, ein Stud bemalten Steins oder ein Stud
Metal oder dergl, nehmen, nieberfigen, e8 Gott nennen
und mit vielen Anrufungen ehren, was bat das für einen
Sinn? — In diefer Hinfiht berufen wir und auf den Ies
ſus Chriſt, den ihr für euern Erloͤſer haltet und der defs
halb allwiſſend feyn muß. Er wird im diefer Frage fich
auf unfere Seite ſtellen und euch die verlangte Auskunft
geben. Die Antworten, weldye.in unferen Büchern über dies
fen Gegenfland gegeben werben, find wahrſcheinlich zu ſchwer,
als daß ihr fie verſtehen koͤnntet; ich führe fie daber nicht
an, fondern nehme etwas, was ihr eher begreifen werbet.
In euren Büchern werden die Eigenſchaften und die Macht
Gottes befchrieben, Wenn dad Lefen hiervon ober dad Sprechen
“ darüber genügt, das Andenken an Gott zu erhalten und die
Entfernung der Sünde zu fihern, oder wenn der Anblick
und die Betrachtung der Sonne, ded Mondes und ber ans
deren Geſchoͤpfe diefe Wirkung hat, warum befiehlt euch euer
Exlöfer, im Werborgenen oder an einem beflimmten Drte
zuſammenzukommen? — — Und warum fagt er euch, ihr
folet von Zeit zu Zeit euch verfammeln, ein Stud Brod
nehmen und, indem ihr ein paar Worte murmelt, es vers
zehren ? Warum befiehlt er euch, geiftige G:tränke zu euch
zu nehmen? Warum verlangt er, ihr follet Wafler auf
den Kopf gießen? Wie? Brod, Wein, Waffer find lauter
und Streitſchrift wider das Ghriftenthum. 399
materielle Dinge und Finnen nur auf den materiellen Leib
einwirken. Wie koͤnnen fie aber auf die Neigungen, den
Willen und andere Eigenfchaften der Seele oder auf die
Seele felbft, das reelle Lebensprincip, daB feinem Weſen
und Dafeyn nad) über alle Materie erhaben if, einen Eins
fluß ausüben? Wie koͤnnen diefe Dinge für den Menfchen
etwas VBerdienfliches und Heiligendes haben, und wie Bann
er mittelft derfelben Eigenſchaften erhalten, welche ihm
auf den Stand der Gottesnähe und die Befreiung von der
Materie Anſpruch gäben? Das ift rein unmoͤglich. Den.
noch, trog allem dem verlangt Chriſtus von euch, biefe Ges
temonien zu beobachten, und wer fie nicht beobachtet, fons
bern nur fein Vertrauen auf Chriſtus fegt, if nicht fein
Verehrer und Niemand nennt ihn fo. Mittelft diefer Geres
monien alfo wird der Dienft Chrifti, d. h. Meinheit des
‚Herzens, verwirklicht, Der göttliche Befehl, von welchem
wir ſprechen, ift nicht gegeben ohne eine Werheißung und
wird nicht vollzogen ohne eine Belohnung. Wenn alfo
diefe unbedeutenden Geremonien bei nur gelegentlicher Ver⸗
richtung fo Zreffliched wirfen, warum follte nicht der, wels
her die mit Bilderverehrung und Beſuch der Wallfahrts⸗
orte verbundenen, ben genannten ganz gleihartigen, nur
unvergleichlich bebeutfameren Geremonien verrichtet, von bem
Buftande der endlichen Befchränktheit befreit und der götts
lichen Natur theilhaftig werden? Wenn jene reinen geiftis
gen Getränke und andere Naturgegenftände Heiligkeit vers
teihen Eönnen ohne bie geringfle Beimifhung von Beraus
fung, wie fol eine Vergrößerung der Unwiſſenheit entſte⸗
ben aus dem Gebraude der reinen Waſſer ded Ganges,
ober des durch die Berührung der Füße Kriſhna's geheilig⸗
ten Waflerd, oder aus der Betrachtung feines Bildniſſes
und der Bitdniffe der andern Götter? Sagt man, jener Wein
und jenes Brod follen bloß Zeichen des Leibes und Blutes
Chriſti ſeyn, oder mit anderen Worten, man gebraudhe fie
nur, um feine Lehre der Seele einzuprägen, und die an Ghris
400 Cine Apologie des Helbenthums
ftum Oldubigen werben burch das Werbienft fellg, dad er
durch Wermundung feines Leibes und Vergießung feines
Biutes erwarb, fo dient bieß nur zur Befbdtigung unferer
Behauptung. Wenn ber Gebrauch dieſer Mittel ſolche Wir⸗
ung bat, warum follte durch Verehrung ber Bilder R&s
ma's, Krifhna’s und anderer unfer Gedaͤchtniß nicht untere
flügt werden? Wenn wir durch unfere eigenen guten Thaten
die Seligkeit nicht erlangen koͤnnen, fo bewirken die guten
Thaten Krifhne’s, wenn wir ihn in Einfalt anbeten, biefe
Seligkeit für und, — Hinſichtlich biefed Punctes pflegen
unfere Gegner zu fragen: Wann verrichtete Kriſhna irgend
gute Thaten? Sein Benehmen, fagen fie, iſt burdaus finds
haft, Feine Spur von Rechtſchaffenheit iſt darin zu finden,
Wir antworten: So verhält es ſich nicht bei ihm allein.
Das Benehmen aller der zahlreichen Götter, welche von
bem Einen Gott entfprungen und doch nicht mehr ald Ein
Gott find (wie ed nur Einen Gott gibt, obwohl man Bas
ter, Sohn und heiligen Geiſt unterſcheidet), gleicht in vieler
Hinfiht dem des Kriſhna. Seine Entwendung der Kuh⸗
beerben, fein Ehebruch, Siva's tobbringendes Fluchen und
unziemliches Betragen gegen Pärmwati, Brahma's Lies
beshandel mit feiner eigenen Tochter, Rama's wahnfinniges
Umarmen ber Bäume, als er, feine Gattin fuchend, Sitd!
Sitä! rief, Paraͤſhara's Umgang mit einer Fiſcherstochter —
ſolche ſchaͤndliche Handlungen wie biefe, fagt ihr, führt ihr
an und ſtellt fie auf Eine Linie mit ben guten Thaten
Chriſti? Was hat das Hören foldyer Erzählungen Verdienfts
lieb? Und Herzendreinheit kann ohnedem baraus nicht im
minbeften gewonnen werben. Wie durdy Hören von Lies
besliedern bie Luft entflammt und durch die Erzählung ber
Streiche Sindia's und Holkar's ber Geift aufgeregt wird,
fo wird durch die Erzählung ber genannten Thaten ber
Götter nur die Unfittlichkeit gereizt. Auf biefen Einwand
erwibern wir, daß alle biefe Thaten eben fo viele tugend⸗
hafte Handlungen der Goͤtter waren, bie fie verrichteten.
und Otreieäheift volber das Chriſtenchum. 401
Wir behaupten weiter, daß durch das Anhören und Erzaͤh⸗
ken derſelben die Unmwiffenheit der gefangenen Seele und
ihre daraus folgende Unterwerfung unter die Leidenfchaft
entfernt wird, und baß fie daher eben fo viel Kraft wie
die Bilderverchrung felbft in ſich haben, in ber Seele zeine
und heilige Stimmungen hervorzubringen. Näher betrachtet,
find biefe Thaten fogar weit beffer ald jene von euch ers
wähnten geten Handlungen Ghrifi, Nur euch, bie ihr fie
von vorne herein ſcheel anfehet, erfcheinen fie laſterhaft.
Hoͤret alfo ben Beweis, Gute und ſchlechte Handlungen
Eennt man an ihren Erfolgen. Die Handlung, deren Er⸗
folg nach der Entfcheidung der heiligen Bücher ein guter
iſt, if eine gute Handlung, und umgekehrt. Begeht man
einen Diebſtahl, fo folgt Strafe darauf; darum iſt der Diebs
ſtahl boͤſe. Belehrung Anderer verſchafft dem, ber fie gibt,
Ehre; darum iſt dad Lehren etwad Gutes. Ebenfo tft der
Tod die Folge, wenn man Gift nimmt, und bee Körper
wird erhalten durch den Genuß von Brod und Reis; befs
halb ift das Erſtere fchlecht, dad Zweite gut, Sollte aber
der Diebflahl Ehre verfchaffen, Weisheit Strafe nach ſich
sieben, Gift den Körper erhalten, Brod und Reis feinen
Tod herbeiführen, wer würbe dann fagen, ed fey böfe, wenn
man einen Diebftahl begehe oder Gift efle, und wer würde
die Mittpeilung von Weisheit und dad Eſſen von Reis und
Brod gut nennen? Es mag Einer fidy taͤuſchen: er kann
Gift für Reid und Brod, Brod und Reis für Gift baltenz
aber wenn er biefe Gegenftände gekoſtet hat, fo ift er auch
mit ihrer wahren Natur befannt geworden, Ebenfo fehen
auch Viele, befangen in Taͤuſchung, die Thaten Räma’s,
Kriſhna's und der andern Verkörperungen als tadelnswerth
an, wähsend fie denjenigen, die fie recht anfehen, ald lehr⸗
reich und rettend erfheinen, — — Daß Krifhna einen Ehes
brudy beging, dag Rama, feine Gattin rufend, im Walde
umherrannte, daß aud der große Seher Paräfhara einen
Ehebruch beging, haltet ihr für wahre Begebenheiten, Run
402 Eine Apologie des Heidentfums
eben bie Bücher, welche dieß berichten, erfläcen ausbrüds
lich, daß jener felbft für Einfiebler bei all' ihrer Reinheit
und ibren heiligen Handlungen fchwer erreichbare Zuftand
der völligen Befreiung [von der Materie] ben ehebrecheri⸗
fen Weibern, den Genoffen Kriſhna's bei feinen Diebſtaͤh⸗
len und mehreren Andern verliehen wurde. Hal Ha!
Denn in dem Benehmen des anbetungswürdigen Rämas
chanda zeigt fi) eine preiswuͤrdige Wahrhaftigkeit, Freund⸗
lichkeit, Sanftmuth, Gehorfam gegen die Eitern in ber bes
denklichſten Lage, Edelmuth und eine unendliche Majeftät.
Die Einkörperungen vergeffen niemals ihre eigenthuͤmliche
Natur (mie die Menfchen, welche vergeffen, baß fie Ver⸗
örperungen ber Gottheit find), und daber thut ihnen kein
Uebel, dad fie in Folge der Einkörperung befällt, irgend ein
Leid, wie die Gottheit Chriſti dadurch nicht vermindert wird,
daß er einen menſchlichen Leib annimmt, Mit diefem Puncte
unfereö Gegenftandeö feyd ihr daher wohl bekannt, So wils
fet denn, daß es nicht finnliche Luft war, welche ben Rama
trieb, feine Gattin zu fuchen, fondern er wollte dadurch eis
gen, daß er bereit fey, für einen Solchen, den er im ‚Herzen
und Gemüthe trage, felbft das Leben zu laflen; das wollte
er zeigen, dadurch zu Beftändigkeit in feiner Verehrung ans
treiben und zugleich einige in dem Walde gebannte Geiſter
erlöfen. So haben aud feine anderen Handlungen ihren
entfprecyenden Zweck. Aus Parafhara's ehebrecheriſchem Ums
gange mit der Fifcherdtochter entfprang ein Sohn, deſſen
Preis die ganze Welt erfüllt, der bad große Werk der Samms
lung und Ordnung ber Vedas und Gaftras vollendete [VyA-
sa]. Ein ſolcher Sohn Eonnte in einer gewöhnlichen, wenn
auch noch fo reinen und trefflichen ehelichen Verbindung
nicht erzeugt werden, Warum fol man daher immer nur
dabei flehen bleiben, daß es ein Ehebruch war? Gleicher⸗
maßen zeigen bie Purana's, wie alle anderen Handlungen
ber Götter von einem glüdlichen Erfolge begleitet waren.
Die einen biefer Handlungen zeigen die Unabhängigkeit und
und Streitſchrift wider das Chriſtenthum. 403
Almacht Gottes, andere, die unter ben jebesmaligen Ums
fänden nothwendig waren, zeigen das Gute und dad Ue-
bei, welches aus guten und laſterhaften Handlungen ents
fpringt, um von jenen Mufter zu geben und von biefen abs
zuſchrecken. Wie kann man alfo behaupten, baß durch Ans
bören dieſer Handlungen und buch ihre Betrachtung Feine
Reinheit des Herzend gewonnen werben koͤnne? Gie find
unvergleichlich beffer und um Vieles verdienſtlicher als die
Handlungen Jeſu Chrifti, Dieß zeigt eine Wergleihung des
Werkes Chriſti mit denen unferer Einförperungen lverkoͤr⸗
perten Gottheiten]. Cure Lehre it, daß, da die Menſchen
durch ihr eigenes Verdienſt bie Seligkeit nicht erlangen
Tonnten, Gott feinen Sohn zu ihrer Erlöfung in die Welt
fandte. So kam er denn, verrichtete rechtſchaffene Werke,
gab zulegt fein eigenes Leben bahin und öffnete dadurch
den Menfchen die Thüre des Himmels, Offenbar alfo hat
er, weil dad zur Erlöfung der Menfchen erforderliche Ver⸗
dienft durch ihre guten Werke nicht zu erhalten war, fein
Leben dingegeben und jenes dadurch erworben, Gut: wenn
alfo Werke Verdienſt geben müffen, fo ift es nutzlos, wenn
man das Reben in Gefahr fegt, und Bein Thor würde ſich
au etwas fo Nutzloſem anfdiden, Unfere Lehre dagegen
iſt: Räma, Krifpna und die anderen Einkörperungen haben
zu ihrem Zwecke bie Erlöfung der Welt, aber, ohne daß fie
ein Leiden durchmachten, bad irgend mit dem Chriſti zu
vergleichen wäre, und ohne ſich, wie er, einem ſchmaͤhlichen
Zode auszufegen, fi) nad) Belieben auf der Welt zu thun
gemacht (sported themselves at pleasure) und eben das
durch die Erlöfung derjenigen bewirkt, welche bei ihrer
Gnade Zuflucht fuchten, fie verehrten, oder fonft mit ihnen
in Verbindung fanden, Sie mochten thun, was fie wolls
ten, fo waren alle ihre Handlungen vol Verdienſt; fie hats
ten aud nicht nötbig, wie andere abhängige Gefchöpfe, bes
Rimmte Pflichten gu erfüllen und dadurch ein gewiſſes Mag
von Gerechtigkeit zu erwerben, Sie waren vollendete Ein,
204 Cine Apologie bed Heibenthums
Törperungen der Gottheit und hatten daher bie erraähnte
Macht. Auf das Alle werdet ihr einwenden: wenn bie
Handlungen Rama's, Kriſhna's und ber anderen Einkörpes
rungen die GEriöfung ber Menſchen zum Bmwede hatten,
warum offenbarten fie nicht die Sanftmuth, das Mitleiben,
die geiſtliche Gefimung und die Tadelloſigkeit des Lebens
Jeſu Chriſti, um dadurch jenen Zweck zu fördern? Warum
begingen fie Gottes fo unwindige Handlungen, indem fie
fahlen, aus Furcht flohen und wegen der Trennung von
Anderen außer fi Famen? Wenn unmiffende Leute diefe
böfen Handlungen fahen (deren Folgen jedoch, mie wir
zeigten, gut waren), werben fie nicht bei ſich felbf denen:
„das haben die Großen gethan; warum follten wird nicht
auch thun?” und demgemäß zu handeln anfangen?
Es find ſchon oben Tlare und überzeugende Gründe
gegen biefen Einwurf gegeben worden, Diefe Gründe ges
nügen euch jedoch vieleicht nicht. Wir bitten euch deßhalb,
das Benehmen eures Erlöfers Jeſu Eprifli einen Augens
blick unparteiifh zu betrachten, und ihr werdet, mit ber
Hülfe des anbetungswindigen Kriſhna, die Sache richtig
verſtehen lernen. Euch alſo, die ihr die Handlungen der fleiſch⸗
gewordenen Götter lediglich mit dem Maßſtabe des gemeinen
Lebens meffet, fagen wir: daB, was Jeſus Chriſtus getban,
hat den Menſchen den Weg der Unfittlichkeit gebahnt. Fragt
ihr, wiefern, fo bemerken wir, daß Chriſtus euch gebietet,
nur an ihn zu glauben, und euch unten biefer Bebingung
verheißt, alle eure Sünden, alte und neue, auf-fich zu neh⸗
men und fo eure Erlöfung zu bewirken, Werden nicht die
Menfhen, die fo geneigt find zur Sünde, wenn fie eine
Berheigung wie diefe hören, an Jeſum Chriftum glauben
und ſich dann anſchicken, nach voller Herzentuft zu füns
digen? Wenn wir das fagen, fo werdet ihr fehreien: „Rem!
nem! ihr mißverftehet wölig den Sinn bed Worked: an
Chriſtum glauben. An ihn glauben, heißt: feine Gebote. ew⸗
füllen. Wer gehorcht, ber glaubt: ohne daß gibt es keinen
und Streitſchrift wider das Chriſtenthum. 408
Glauben.“ Run, werben denn nicht auch die Diener Krifhs
na’s, feinen Geboten gehorfam, dann nad) eurer Meinung
fündticyer Handlungen fih enthalten? Wenn ihr fraget,
warum Rama, Kriſhna und bie anderen @inkörperungen
die Erlöfung ber Menſchen auf diefe oder jene befonbere
Weiſe volbrachten, fo fragen wir end bagegen, warum
Gott feinen Sohn in die Welt gefandt und ihn zum Zweike
der Erlöfung der Menſchen in einen fo ſchmaͤhlichen und
ſchrecklichen Zuſtand verfegt bat. Wie? hatte er nicht ans
dere Wege, die Welt zu erlöfen? Ihe werdet fagen, «8
babe offenbar Feinen andern Weg zur Erlöfung der Mens
ſchen gegeben, ohne daß die göttliche Gnade oder Gerechtig⸗
keit nothgelitten hätte, und es habe deßdalb diefer Weg eins
geſchlagen werden müflen. Wir antworten: Gott ift alls
mädtig, und wenn ihr behauptet, er habe Bein anderes
Mittel zur Erlöfung der Menfchen gehabt, fo hänget ihr
der Herrlichkeit feiner unendlihen Macht einen unvertilge
baren Fleden an, Nachdem er Kräfte und Wefen hervor
gebracht, welche die Sünde erzeugen koͤnnen, muß ec in
dem Augenblide, wo die Suͤnde wirklich erzeugt ift und in
der Welt erfcheint, ein Menſch, eine Taube, ein Feuer wers
den und fi unerhörten Lelden unterwerfen? Sagt body:
warum fol er fi fo viel zu ſchaffen mahen? Wenn ihr
darauf erwidert, er habe gethan, was ihm gut daͤuchte, fo
fagt ihr genau baffelbige, was wir fagen: Krifpna und Ans
dere thaten zur Griöfung der Welt, was ihnen gut
daͤuch te.
Wir ſuchen Niemanden ſeinen Glauben zu nehmen;
denn wie Gott für die Beduͤrfniſſe aller Voͤlker auf dem
Erdboden binfictlih der Nahrung und Kleidung geforgt
bat, fo hat er für die Bewohner verfchiedener Gegenden
auch verfchiebene Lehren zu ihrer Befeligung gegeben, Die
Lehren, nach welchen die Menfchen jedesmal Gott verehren,
und fie allein find für fie die wahren. Nach der Befchafs
fenheit: derfelben werden fie auch befonderd von Gott bes
406 Cine Apologie des Heidenthums
lohnt. So lange deßhalb die Bewohner Indiens bie Ans
ordnungen beobachten, welche in ben für Indien gültigen
heiligen Büchern vorgeſchrieben find, erbalten fie die Gunft
Gottes; die Keute unfered Waterlandes dagegen, welche bie
Religion Fremder annehmen, entfernen fi nur um fo weis
ter von Gott, Wir haben hierfür Erfahrungsbeweiſe. Vor
mehreren Jahren traten bie Bewohner von ein .paar Bes
zirken in Konkan zu einer fremden Religion über. Was
gewannen fie dadurch? rüber, als gemeine Hindus, aßen
fie keine Thiere; als fie ihren Glauben geändert hatten,
fingen fie an, fie zu effen, Fruͤher waren fie an gar Beine
geiftigen Getränke gewöhnt; von ba an zogen fie alle Scham
aus und fingen an, offen fi bis zur Beraufhung und
Tollheit zu betrinten, Früher hatten fie einige Achtung ges
gen Andere; jegt find fie fo rob und ruͤckſichtslos als mögs
dich geworden, Man follte glauben, fie feyen gerade aus
der Hoͤlle gekommen. — Mörder find fie, die fogar, wenn
fie fie nicht zum Effen nöthig haben, zum bloßen Bergnüs
gen vierfüßige Thiere und Wögel tödten! Das find bie
Eigenfchaften diefer unferer Landsleute, und das find fie
durch ihren Religionswechfel geworden, und es feheint, als
ob nur Solde, welche ihnen in Allem ähnlich werden wollen,
auf die Einwendungen anderögläubiger Fremder hören oder
daran denken, ihren Glauben anzunehmen. Wenn dad die
Sefinnung und der Wunſch irgend Jemandes if, fo laſſe
man Leute von fo unreinem Sinne die neue Religion von
ganzem Herzen annehmen. Ehe fie unter den Beſchraͤn⸗
Zungen bleiben, welde die Religion unferes Vaterlandes
ihnen auferlegt, und diefe Welt fammt ber anderen verlies
ven, laffe man fie immerhin zu der Religion übertreten, wo
fie nach Herzenstuft eflen, trinken und ſich's wohl feyn laſ⸗
fen Zönnen, und laffe fie fo doch wenigſtens dieſe Melt ges
nießen, obwohl es klar ift, daß fie endlich in die Hoͤlle kom⸗
men müffen.
‚Hierauf wird man entgegnen: wer feine ‚Religion ver:
"und Streitfcheift wider das Chriftenthum. 407
laffe, ber thue dieß nicht ohne Grund; er koͤnne bie Ein,
würfe, die man gegen feine bisherige Religion vorgebracht,
für wahr halten; daher fey es unfere Sache, dieſe zu wis
berlegen; fey bieß gefchehen, fo werbe Niemand mehr feine
Religion dndern, Wir fagen: Fort mit diefen Einwärfen!
Alles, was ihr gegen unfere Lehre von Gott einwenbet, ber
in feinen Einförperungen ald Kriſhna und fonft Diebftahl
und Ehebrudy begangen, haben wir ſchon hinreichend zuruͤck⸗
gewiefen. Wollt ihr mehr Beweife, fo find wir bereit, fie
euch zu geben, Zwiſchen den Handlungen Gottes und bes
nen des Menfchen ift der Unterfchied, daß jener unabhängig
bandelt, diefer aber verpflichtet if, dem göttlichen Gebote
gemäß zu handeln. Jenes mächtige Wefen, welches unab⸗
bängig handelt, zu bekritteln, if ſchon gänzlich ungeeignet,
Benn ein Feuer angefangen bat, ein Haus zu verbrennen,
fo wäre es Befchränktheit, wenn man fragen wollte, warum
es ein zweited verbrenne, Eben fo befchräntt ift es, Ein-
wendungen wie bie genannten zu erheben, Ihr fraget,
warum Gott, da er zur Erlöfung ber Menfchen fich vers
koͤrpert hat, in der und der Weife handelte Wir fagen:
Ale, was er that, hatte die Verwirklichung jener Erlöfung
zum Zwecke und dieſes Werk befchäftigte ihn ausſchließlich.
Wie ein Kaufmann, um alle Kunden in feinen Laden zu
bringen, eine Menge Artikel hält und ausſtellt, woburd er
alle an ſich zieht, fo fchlägt die Einkörperung Gottes viele
Wege ein, die Erlöfung der Menfchen zu bewirken, Mit
weldyer Gefinnung immer Jemand ber göttlichen Einkoͤrpe⸗
rung Krifpna nahte und mit ihr verkehrte, — eben diefer
GSefinnung gemäß verkehrte der Gott mit ihm · und bewirkte fo
die Erloͤſung Aller. Fragt man nun, warum er einen Dieb⸗
ſtahl beging, fo antworten wir: das gereichte zur Ehre,
nicht zur Schande feiner Gottheit. Er war der Herr des
AUS; daher nahm er, was er brauchte, ohne Bedenken,
Die Einwohner von Gofüla waren auch von ihm fo entzuͤckt,
Theol. Stud. Jahrg. 1858, 2
408 ine Apologie bes Heidenthums
daß fie ihn um jeden Preis bei fi) haben wollten; ihnen
zu Gefallen pflegte er zu kommen und zu ſtehlen. „Warum
that er bad? Barum erwies er fich ihnen nicht auf andere
Weiſe gefälig?” D ihr Klüglinge, haben wir nicht bereits
bewiefen, daß Alles, was Gott that, recht und gut ift? Und
wer ſeyd ihr, große Männer, daß ihr nur fo kommen und
ihm vorfcpreiben duͤrft, gerade fo zu handeln, wie ihr es für
paffend haltet? Saget ihr, das fey eure Meinung nicht,
fondern er hätte nur nichts thun follen, was unter Mens
ſchen für unſittlich gilt, fo fragen wir dagegen, warum
ihr denn nicht weiter geht und behauptet, daß Gott in jes
ber Hinficht wie ein Menſch handeln müffe,
In der Gefchichte derjenigen, auf welche Leute anderer
Religionen ihr Vertrauen fegen, finden wir, wie ſchon bes
merkt, ganz gleichartige Handlungen — bie einen völlig
abweichend von dem gewöhnlichen Urtheile, bie andern von
tabelnswerther Natur, wieder andere befremdenb und wuns
derbar. Warum verrichteten die Einkörperungen fo viele
feltfame und wunderbare Thaten? Warum handelten fie
nicht wie andere Menfchen? Die Antwort, die man hier⸗
auf gibt, wird auch auf diejenigen Seiten ihres Verhaltens
anwendbar feyn, welde Thoren für unvereinbar mit den
gewöhnlich menfchlihen Anfichten halten. Die Sache vers
bält ſich fo: Gleichwie das ftagliche Wefen Gott ift, Ale
an Macht übertrifft und deßbalb Wunder verrichtet, wie
fie ein Menfch nicht verrichten Fand, fo iſt es über alle
Beſchraͤnkung duch Geſetze erbaben und begeht barum
Handlungen, wie fie Menfchen nicht thun dürfen.
Ein gewiſſer chriſtlicher Prieſter macht folgende Bes
merkungen: „Gott ift der Water ded ganzen Menſchenge⸗
ſchlechts, und fein Water gibt für die Reitung feiner Kinder
wiberfprechende Gefege, Gott hat Ein Geſetz gegeben, und
daher gibt ed nur Eine wahre Religion und nur Eine
wahre gefchriebene Nerm der Religion, wie es auch nur
und Streitſchrift wiber das Chriftenthum. 409
Eine Sonne für diefe Erde gibt.” Für dieſe Erbe gibt
es allerdings nur Eine Sonne: aber gibt es im Weltall
nicht viele Sonnen? Wie kann das Licht der Einen Sonne
bie Firſterne erreichen, welche in einer unbegreiflich weiten
Entfernung von ihr fi befinden? Es muß body zugegeben
werben, daß fie mit eigenem Lichte feuchten, Ferner: wenn
Iemand zwei Söhne hat, einen Mugen unb einen thöriche
ten, wird er ihnen verfchiedene Werbaltungsmaßregeln nach
ihren verſchiedenen Fähigkeiten geben, eder beiden biefelben?
- Wenn er ihnen aud nad dem Maße ihrer Talente vers
ſchiedene Wege vorfchreibt, feine Abſicht dabei iſt doch die⸗
felbe, nämlich beide Hug zu machen, Daffelbe gilt von der
Art, wie Gott mit dem Menfchen umgeht,
Ein anderer chriftlicher Priefter fchreibt, wie folgt: „In
den beiligen Büchern ber Hindus werben ben Göttern Vaͤ—
ter und Mütter zugefchrieben, auch einem jeden fein eigenes
Verf, fo dem Brahma die Schöpfung, dem Viſhnu die
Erhaltung, dem Siva. die Zerftörung und fo fort,” Run,
von Gott wird nirgends gefagt, daß er Water und Mutter
babe. Es gibt nur Einen Gott, deſſen Name in ber Sand»
kritſprache Brahmä lautet: er iſt der Eine Gott, Sofern
in biefem Gott dad Verlangen der Weltſchoͤpfung entſteht,
erhält er den Namen Brahma; in der Zeit der Erhaltung
erhägt er den Namen Viſhnu, in ber Zeit der Zerſtoͤrung
den Namen Siva. — — Daß Gott einen Vater und eine
Mutter habe, diefe Behauptung if völlig falſch, und nirz
gends ift gefagt, daß Brahma von irgend Iemanden ab»
Ramme, Als er jedoch ſich einkörperte, ba hatte er Water
und Mutter, und dieß hat nichts Befremdliches. Auch Ies
fus Chriſtus flammte von einem Weibe ab; er fiel nicht
vom Himmel, Es ift aber immer fo, daß die Menfchen
bei anderen auch die Heinften Fehler rügen und die ihrigen,
fo groß fie auch feyn mögen, niemald bemerken,
So find denn alle Einwürfe widerlegt. Wer in der
—
408 ine Apologie des Heibenthums
daß fie ihn um jeben Preis bei fi) haben wollten; ihnen
zu Gefallen pflegte er zu kommen und zu fehlen. „Warum
that er bad? Warum erwies er fich ihnen nicht auf andere
Weiſe gefälig?” D ihr Klüglinge, haben wir nicht bereits
bemwiefen, daß Alles, was Bott that, recht und gut iſt? Und
wer ſeyd ihr, große Männer, daß ihr nur fo kommen und
ihm vorfchreiben dürft, gerabe fo zu handeln, wie ihr es für
paflend haltet? Saget ihr, das fey eure Meinung nicht,
ſondern er hätte nur nichts thun follen, was unter Mens
ſchen für unfittlich gilt, fo fragen wir dagegen, warum
ihr denn nicht weiter geht unb behauptet, daß Gott in jes
ber Hinficht wie ein Menſch handeln müffe,
In ber Gefchichte derjenigen, auf welche Leute anderer
Religionen ihr Vertrauen fegen, finden wir, wie ſchon bes
merkt, ganz gleichartige Handlungen — bie einen völlig
abweichend von dem gewöhnlichen Urtheile, bie andern von
tabelnswerther Natur, wieder andere befrembend und wuns
derbar. Warum verrichteten die Einkörperungen fo viele
feltfame und wunderbare Thaten? Warum handelten fie
nicht wie andere Menfchen? Die Antwort, bie man hiers
auf gibt, wird auch auf diejenigen Seiten ihres Verhaltens
anwendbar feyn, welde Thoren für unvereinbar mit ben
gewöhnlich menfchlichen Anfichten halten. Die Sache vers
hält ſich fo: Gleichwie das ftagliche Weſen Gott ift, Alle
an Macht übertrifft und deßhalb Wunder verrichtet, wie
fie ein Menſch nicht verrichten Fand, fo ift es über alle
Beſchraͤnkung durch Geſetze exbaben und begeht darum
Handlungen, wie fie Menfchen nicht thun dürfen.
Ein gewiſſer chriſtlicher Prieſter macht folgende Be⸗
merkungen: „Gott iſt der Vater des ganzen Menſchenge⸗
ſchlechts, und kein Water gibt für die Leitung feiner Kinder
wiberfprechende Gefege, Gott hat Ein Gefek gegeben, und
daher gibt es nur Eine wahre Religion und nur Eine
wahre gefcriebene Norm ber Religion, wie ed auch nur
und Streitſchrift wider das Chriftenthum. 409
Eine Sonne für biefe Exde gibt.” Für biefe Erbe gibt
es allerdings nur Eine Sonne: aber gibt es im Weltall
nicht viele Sonnen? Wie kann das Licht der Einen Sonne
die Firſterne erreichen, welche in einer unbegreiflich weiten
Entfernung von ihr fid befinden? Es muß doch zugegeben
werben, daß fie mit eigenem Lichte feuchten, Ferner: wenn
Jemand zwei Söhne hat, einen Mugen und einen thörich-
ten, wird er ihnen verfhiedene Werbaltungsmaßregeln nach
ihren verfchiedenen Fähigkeiten geben, eder beiden diefelben?
Wenn er ihnen aud nad dem Maße ihrer Talente vers
ſchiedene Wege vorfchreibt, feine Abficht dabei iſt doch dies
felbe, nämlich beide Flug zu machen, Daffelbe gilt von der
Art, wie Gott mit dem Menfchen umgeht.
Ein anderer hrifklicher Priefter fehreibt, wie folgt: „In
den beiligen Büchern der Hindus werben ben Göttern Vaͤ—
ter und Mütter zugefchrieben, auch einem jeden fein eigenes
Werk, fo dem Brahma die Schöpfung, dem Viſhnu die
Erhaltung, dem Siva die Zerftörung und fo fort,” Run,
von Gott wird nirgends gefagt, daß er Vater und Mutter
habe. Es gibt nur Einen Gott, deffen Name in der Sand»
kritſprache Brahmä lautet: er it der Eine Gott, Sofern
in biefem Gott dad Verlangen der Weltfhöpfung entfleht,
erhält er den Namen Brahmd ; in der Zeit der Erhaltung
erhägt ex ben Namen Viſhnu, in der Zeit der Zerſtoͤrung
den Namen Siva. — — Daß Gott einen Vater und eine
Mutter habe, diefe Behauptung ift völlig falſch, und nirs
gends ift gefagt, daß Brahma von irgend Jemanden ab⸗
ſtamme. Als er jedoch ſich einkörperte, da hatte er Water
und Mutter, und dieß hat nichts Beftemdliches. Auch Ies
ſus Chriſtus flammte von einem Weibe ab; er fiel nicht
vom Himmel. Es ift aber immer fo, daß die Menfchen
bei anderen auch die kleinſten Fehler rügen und die ihrigen,
fo groß fie auch feyn mögen, niemals bemerken,
So find denn alle Einwürfe wiberlegt, , Ber in ber
z*
410 Kienlen
bier vertheidigten Religion immer noch Anflände zu finden
glaubt, muß biefen unglüdlichen Umfand der Sünde biefer
ober einer früheren Geburt zufchreiben, Nur wer feine eis
gene Mutter im grundlofen Verdachte haben Tann, daß fie,
indem fie ihn empfing, einen Ehebrudy begangen habe, nur
ein folder Menſch ift im Stande, feine eigene Religion zu
perdächtigen und zu bezweifeln, die Religion diefed großen
indifchen Feſtlandes. So if denn unfer Wunſch, ba biefe
zum Beſten des Volkes niebergefchriebene Streitſchrift eis
nigermaßen dazu biene, einen folhen Menſchen zur Er
kenntniß der wahren Religion zu bringen.
2
Ueber
foftematifhe und praktiſche Theologie
Bon
HB. Kienlen,
D. theoL, Pfazer zu Golmar.
Im Jahrgange 1846 diefer Zeitfhrift, S. 893 ff., har
ben wir bie Stellung der Apologetit und ber Polemik ins
nerhalb der theologiſchen Encyklopädie befprodyen und dies
fen beiden Wiſſenſchaften an der Spitze der praktiſchen Theo⸗
logie ihren Platz angewiefen. Weiteres Nachdenken über
diefen Gegenftand und auf demfelben Wege hat und über
die damald gewonnenen Reſultate hinaus und an ein Biel
geführt, welches wir hiermit in aller Kürze dem theologis
fen Yublicum vorlegen. —
Es ſteht und immer noch feſt, was wir in jenem Auf⸗
über ſyſtematiſche und praftifche Theologie. 411
fage behaupteten: daß Apologetif und Polemik, wie wir fie
faſſen, nothwendig binter Dogmatit und Ethik zu flehen
fommen müffen, Es ift und aber noch dazu Mar geworden,
daß fie auch noch hinter kirchliche Politit und Liturgik ges
bören, Denn jene beiden follen gewiß nicht bloß die Grund:
fäge der Lehre, ſondern auch die der kirchlichen Geſellſchaft
und bie des Cultus vertheidigen. In der proteftantifhen
Polemik gegen die katholiſche Kirche wird eben fo gut bie
hierarchiſche Verfaffung und der- lateinifche Gottesdienſt ans
zugreifen feyn, ald dad Dogma von ben Überflüffigen Wer⸗
Ten der Heiligen; in der Polemik gegen bie Qudfer wird
ihre Verwerfung des fortgefegten Gebrauchs der Sacras
mente befämpft werden müflen; in ber Apologetit wird
man bie Nothmwenbigkeit eines Cultus und einer geordneten
Kirchengemeinfchaft überhaupt zu vertheidigen haben.
Wenn wir nun aber fo mit diefen beiden Wiffenfchaf-
ten noch einen Schritt weiter gegangen find, ald damals, -
fo fragt es fidh, ob es zweckmaͤßig fen, nun alle biefe viere:
kirchliche Politik, Liturgit, Apologetit und Polemik, in der
praktifchen Theologie fiehen zu laflen, oder ob es nicht ges
rathener fey, biefelben mit der Dogmatik und der Ethik in
ein Fach zu werfen, für welches wir bann den früheren
Namen, ſyſtematiſche Theologie, wieder vorfchlagen und
diefelbe in thetiſche und antithetifche theilen würden,
Dieß ſcheint und jegt in der That das Angemeffenfte,
Denn was ift eigentlich praktiſche Theologie, der Etymolos
gie-des Wortes gemäß? ine Anweifung zum Handeln,
zur geordneten Thätigkeit, Wiederum, was find Pirchliche
Politik und Liturgit?. Sie find keine ſolche Anmweifungen,
fondern fie find eigentlich nichts Anderes als zwei Corolla⸗
rien der Ethik.
Bei ſolcher Stellung gewinnt man nun auch eine ſchoͤne
Correſpondenz unter den Wiſſenſchaften der ſyſtematiſchen
und denen der hiſtoriſchen Theologie, nach folgender Tafel:
412 Kienlen üb. ſyſtem. u. prakt. Theologie.
Hiſtoriſche Theologie. Syſtematiſche Theologie.
Kirchengeſchichte. Statiſtik. Thetlſche. Antithetiſche.
Dogmengeſchichte. Symbolik, Dogmatik u. Ethit. Apologetil und,
Bolit. Kirchengeſch. Polit. Statiſtik. Kirchl. Bolitif. Polemil.
Liturg. Kirhengeſch. Liturg. Statiſtik. | Liturgif.
Miſſionsgeſchichte. Miſſionoſtatiſtik.
In der praktiſchen Theologie verbliebe dann nur die
dort entwickelte Technik der Seelſorge und bed Cultus.
Ueber das Naͤhere berufen wir uns abermals auf unſere
Encyklopaͤdie.
Recenfionen
1.
Anfelm von Ganterbury, Dargeftelt von F. R.
Haffe, D. u, ord. Prof, der ev. Zheol, zu Bonn,
Bweiter Theil, Die Lehre Anfelm’s. Leipzig. Ver⸗
lag von Wilhelm Engelmann, 1852. X. 663,
Der Verfafler des vorliegenden Werkes, beffen erfien
Theil wir in den Stud. u. Krit, 1844, H. 4. charakteriſirt has
ben, hat in Anfehung der Herausgabe bed zweiten buch⸗
ſtaͤblich die Regel befolgt: nonum prematur in annum,
umd damit freilich wohl auch das erreicht, daß ed nicht bloß
ein dyavıoua ds zd zagaygjue ift, fondern ein uvijue ds
zo del. Was vom erſten Theile zu rühmen war, das gilt
in gleichem, wenn nicht noch höherem Maße auch vom zwei⸗
ten: die gruͤndlichſte Durchforfhung der Quellen; die ges
nauefte Bekanntſchaft mit dem, was ald Woraudfegung der
anſelm'ſchen Theologie in Betracht kommt, und Überhaupt
mit Allem, was zur Vergleihung und Erläuterung ſich dars
bietet; eine Mare, faubere, präcife Darftelung des wohl:
durchdachten und forgfältig durchgearbeiteten Stoffes, eine
Hingebung an den Inhalt, eine Objectivität ber - Auffafs
fung, ein reines und durchdringendes Verftändniß des Theo⸗
logen Anfelm, wie man es von dem Darfteller feines Lebens
mit Recht erwarten Eonnte, Der Verf, erweift fich hier ebenfo
als Meifter in der Dogmenhiftorie, wie bort in der Kirchen-
416 Haſſe
hiſtorie, und ſein Buch iſt eine wahrhafte Bereicherung der
dogmenhiſtoriſchen Monographie. Dieſe Meiſterſchaft gibt
fi aber nicht allein im Einzelnen kund, fondern auch in
der Anordnung und GSeftaltung des Ganzen. Diefelbe ift
durchaus fachgemäß, nichts Gemachtes, nichts Aufgedrun⸗
gened, Man ficht, wie diefe Theologie aus Anfelm’s Geifte
berauögeboren worden, Eins nad) dem Andern und aus dem
Andern, ein organifches Ganzes, das ſich mehr und mehr
zuſammenſchließt, und zwar fo, daß auch die zeitliche Ent»
flehung der wifienfchaftlichen Zractate Anſelm's dem inne
ten Fortgang und Zuſammenhange großentheild entfpricht,
Hiervon hat und D. Haffe ein treues Wild gegeben, wos
für wir ihm Urfache haben, dankbar zu feyn,
Um Anfelm als Theologen zu begreifen, mußte vor
Allem die theologiſche Arbeit, in weldhe er eingetreten und
welche er auf eine fo bedeutende Art fortgeführt, fomit die
Zheologie ber früheren Jahrhunderte in einem
kurzen Umriffe.vorgeftellt werden. Dieb ift im erſten Ras
pitel (S, 3-33.) gefchehen. Dieſes gibt mehr, ald bie Ues
berſchrift: bie Scholaftit, auf den erften Blid erwarten
laͤßt. Die Scholaftit ift ja diejenige Theologie, welche mit
Anfelm ins Leben treten follte, die neue höhere Stufe, auf
welche durch ihn vorzugäweife die chriftliche Theologie ers
boben wurde, daher er mit Recht der Water ber Scholaſtik
genannt wird, Der Verf. legt aber bier die Genefis der
Scholaftit vor, womit zugleich ihr Charakter im Allgemein
nen gezeichnet if, Beides ſetzt er dadurch ins Licht, daß
er und die Geſchichte der chriſtlichen Theologie
von Anfang am auf eine höcyfk Ichrreiche und einleuch⸗
tende Weife vorführt. Er geht davon aus, wie ſowohl eine
innere Notwendigkeit, dad im Glauben, d. h. der unmit⸗
telbaren Hingebung an das Heil in Chriſto, urſpruͤnglich
mitgefegte theoretifche Moment, ald auch eine äußere
Nöthigung, dad Beduͤrfniß des Chriſtenthums, fich zu vers
theidigen, ſich mit der philofoppiich gebildeten Belt, in die
Anfelm von Ganterbury. 417
es eintrat, und ber ed als blinder &vdovamopnds, ald nevia
erſchien, außeinanberzufegen, zu einer Wiſſenſchaft des Chris
ſtenthums, zur Theologie habe führen müffen, Dann weißt
er die erſten Anfäge dazu auf in der „hriftlihen Phi⸗
Iofophie”, wie fie in den Apologien bes zweiten Jahr⸗
hunderts vorliegt, noch ohne alles Bewußtfeyn des Unters
ſchieds dieſer Philofophie vom Chriſtenthume felbft, Zu
folder Unterfcheidung drängte aber der Gnoſticismus,
dad Product des Triebs nad einem neuen Chriſtenthume,
einem philofophifchen, mit Verdraͤngung der zlorıs. Es
galt nun, theild diefe fiher zu ſtellen, theild das rechte Ver⸗
bältniß derfelben zur yrüdıs zu finden. Das Erſtere ges
ſchah zumächft durch die kirchliche Firirung der Glaubens:
fubftanz, fodann durch die damit Hand in Hand gehende
antiphiloſophiſche und antignoflifhe, glaubensinnige und
glaubenötreue, zwifchen Heidniſchem und Chriftentyum, zwis
ſchen Speculation und Religion aufs ſtrengſte ſcheidende Theor
logie eined Irenaͤus und Tertullian, Diefen gegen
über that es num aber noth, das Recht des Denkens zur
Anerkennung zu bringen, — die Aufgabe der alerandris
nifdhen Xheologie, welche zwar die Unverbrüdjlichkeit der
zlarıg, der wefentlihen2&runblage der yvücıs, aber auch
die wirkliche Erkennbarkeit ber’ chriſtlichen Wahrheit, bie
Moͤglichkeit einer Glaubendwiſſenſchaft behauptete und die
Philofophie ald Zucht⸗ und Bildungsmittel hierfür betrach⸗
tete. Das faſt unvermeidliche Gnoſtiſiren diefer Theologie
rief eine kirchliche Reaction hervor, womit die Dogs
menftreitigkeiten, welche ber Theologie ihren wahren
Inhalt geben follten, beginnen, Die Reaction geht aus
vom überlieferungdtreuen, antiphilofophifchen Abendlande
(Dionyfius von Rom) und führt eine Berfehung des heibs
nifchen und des chriſtlichen Elements in der alerandrinifchen
Theologie herbei im Arianismus und Athanafianismus. Die
Kichtung auf den Unterſchied, der im erfleren vorherrſchte,
fixitte ſich im der antiocheniſchen, die (athanaſianiſche) auf bie
418 Haſſe
Einheit, welche ſich aber dom ſabellianiſchen Elemente zu rei⸗
nigen hatte, in ber alexandriniſchen Schule. Beide Schu⸗
len reiben ſich auf im chriſtologiſchen Streite; das wiſſen⸗
ſchaftliche Leben des Drients erſchlafft. Aber unter den
Streitigkeiten war die griechiſche Theologie ins Abendland
eingedrungen, wo ſich die antiocheniſche Nüchternheit und
Befonnenheit mit ber alerandrinifhen Tiefe und Innigkeit
verband, und, die patriftiiche Theologie in Auguftin ihren
Hoͤhepunct erreichte, In ihm nimmt der ſtrenge Glaubens:
ernſt der Iateinifchen Theologie bie Beweglichkeit ber grie⸗
chiſchen in fi auf und durchdringt fie mit feiner Energie
und Gonfequenzs — ber Grund einer neuen Zukunft der
Theologie. Er hat gründlicher, als die Alerandiiner, ben
Platonismus wie Gnoſticismus überwunden; er bat dad
alerandrinifhe „nisi 'credideritis, non intelligetis”, im
vollſten Maße erfahren; ihm ift die Philofophie ein bloß
formelled Mittel, den Glauben in fi felbft begreifen zu
lernen, und er widerfteht jedem materiellen Einfluffe derfel:
ben, So ernft es ihm aber ift mit dem: fides praecedit
intellectum, fo entſchieden ift es ihm um ben intellectus
zu-thum, Und barin hat er Großes geleiftet: ben Begriff
der Homoufie volftändig durchgeführt, die pofitive Loͤſung
ber chriſtologiſchen Streitigkeiten begründet, endlich die kirch⸗
lich =dogmatifche Ausbildung des britten Hauptartikels, der
Lehre von der Gnade, eingeleitet, ein Stoff, an deſſen Be
wältigung bie abendländifhe Kirche noch immer arbeitet,
So das Bisherige zufammenfaflend und Neues anregend,
bat er dem Abenblande die geſchichtliche Weiterführung
ber Zheologie vinbicirt.
Nun hatte das Abendland zunaͤchſt den Auguftinismus
zu verarbeiten'und vollends alle Bildungsſtoffe des Drients
in fi aufzunehmen. Dieß war der befruchtende Same
für die Germanen, deren finnender forfchender Ernſt
und ebenfo in das Unenbliche ſchweiſender, als wieder Alles
Anfelm von Eanterbury. 49
in ſich concentrirender Geift ‚fon von Haus aus zur Wiſ⸗
ſenſchaft neigte.
Bis dahin aber war kein reines Erkenntniß⸗
intereffe, fonbern zuerft bad apologetifche, dann das
polemifchez die Erkenntniß Mittel, nicht Zweck; daher
die Speculation mehr ober weniger deſultoriſch; Feine fletige
GSedantenentwidelung, und immer nur aufs Einzelne ges
richtet, wenn auch bei einem Athanafius oder Auguflin der
tieffte Zotalzufammenhang durchblickt. — Es fehlte nod
bie wiffenfhaftlihe Form. Dieß war die Aufs
gabe des Mittelalters, Da handelte es ſich nicht
mehr um Heraudfegung (Dbjectivirung) des Glaubens, fons
dern um bentende Affimilirung dieſes Objects. Für dieſe
Production einer. eigentlichen Wiſſenſchaft des Glaubens, für
das Begreifen des im kirchlichen Lehrbegriffe entwidelten
Glaubens, bildete fi der germanifche Geift zur Kunſtge⸗
rechtigkeit des Denkens an dem kuͤnſtleriſchſten Denker des
Alterthums, Ariftoteles, Der Verf, fest nun ind Licht,
wie der germaniſche Geift, nachdem er ſich zuerft noch auf
einzelne ältere Streitfragen ernſtlich eingelaffen, ja an Mas
terien, die dad Alterthum unberührt gelaffen (Heil, Abend»
mahl), fi) gewagt, mehr und mehr auf daB ganze Dogs
ma — und zwar ald theoretifhes Problem — eins
gegangen, zuerft in Iſidor's Sentenzenfammlung; wie ges
rade an ber „Pofitivität” des Glaubens fih dad freie Den⸗
ten erzeugt, wie die „Dialektik“ zur Ausbildung gefommen,
in großartiger Anwendung auf die Theologie zuerft bei Eri⸗
gena — eine Blüthe vor ber Zeit, daher ohne Frucht; wie
erft noch eine gründlichere und vollftändigere Aneignung
wie des patriftifhen Materiald, fo der formellen Fertigkeit
erforderlich war, und zwar beides zunaͤchſt gefondert, weil
beide Seiten fi) felbftändig entwideln mußten, follten fie
ſich fpäter durchdringen, ohne fi zu abforbiren; wie
dann die Dialektik zum erften Male beftimmter in theologiſche
Anwendung gelommen im berengar’fchen Abendmahlöftreite,
420 Gaſſe
wie Berengar den Lanfranc, Anſelm's Lehrer, dazu ge⸗
draͤngt, wie aber in deſſen Schule im Gegenſatze gegen die
Anficht, zu der Berengar wenigſtens unbewußt neigte, daß
das Glauben vom Erkennen abhaͤngig ſey, der Grundſatz
fich feſtgeſtellt, daß man glauben müſſe, um zu erkennen,
nicht aber erkennen wollen, um zu glauben. So fand
Anfelm Princip und Richtung der neuen Then
logie fhon vor,
Aber was Lanfrance dem Denken nur nothgebrungen
zugeſteht, an Gegenftänden des Glaubens fi zu verfuchen,
das vindicirt demfelben Anfelm mit unbefangener Zuverſicht.
Mit hoher Kraft und Kühnheit, auf allen Autoritaͤtsbeweis
verzichtend, flelt er fi die Aufgabe, die gefammte Gottes⸗
lehre aud dem reinen Begriffe des Abfoluten zu deduciren
und dieſen felbft denkend zu erzeugen (monologium), Sein
FZortſchritt beficht in der klaren und fihern Erfaflung der
* Aufgabe, ber reinen und feften Durchführung und ber
wirklichen Durchd ring ung des Glaubens mit dem Dens
ken. Er iſt der Vater der Scholaſtik; dem wiſſenſchaftlichen
Triebe, der ſeit Iſidor in der Kirche ſich regte und in Bes
tengar und Lanfranc bereits dem Durchbruche nahe Fam,
bat ee Bewußtſeyn, Geftalt und Sprache verliehen und
ihn fo in den Stand gefegt, fich gefchichtlich zu bethätigen,
Smwar ift in ihm bie Speculation noch halb Meditation,
von der Innigkeit der Andacht MIN durchgluͤht, und zunaͤchſt
nur Bleinere Lehrcyklen befchäftigen fie; aber feine Haltung
iſt ernft und fireng, methodifch und wiſſenſchaftlich, verglis
Sen mit Auguftin. Und von der einzelnen Lehre fleigt
die Unterfuhung alsbald zu den oberften Principien auf
amd zieht bad ganze Gebiet, welches in ihren Umfreis fällt,
in Betracht. Sein Monologium entwirft gleichfam den
KRiß der gefammten Kirchenlehre, eine Summa im Kleinen.
So ſteht er in der Mitte zwifchen Auguflin und Thomas
Aquinad ; aber diefe find confummative Größen, er eine
änitiative. Auguftin verjüngt fi in ihm, um den
Anfelm von Ganterbury. 41
Srund zu Thomas Aquinas zu legen Go bes
zeichnet der Verfaſſer treffend die Stelung Anfelm’s und
fließt damit fein erſtes Kapitel,
Im zweiten (&, 34-57.) verbreitet er ſich über die
allgemeinen Principien Anſelm's. Die Theologie
bat ihm, wie ſchon der Titel feiner erſten theologiſchen
Schriften (exemplum meditandi de ratione fidei — mo-
nologium; fides quaerens intellectum — proslogium)
andeutet, die Aufgabe, daB der Glaube wiſſenſchaftliche
Einfiht in feinen Inhalt (intellectus) werden fol, indem
ex denkend (meditando) fi von fich felber Rechenſchaft
(ratio) gibt, Sein Inhalt — Gott und bie göttliche Dfs
fenbarung — wird abernichterfi dadurch Wahrheit, fondern
iſt etwas an und für ſich Reales, das ber Menſch fi) ans
eignet durch ungetheilte Hingebung bed Herzens baran,
durch Glauben. Hierdurch erfhlieht, er ſich der Wahr⸗
beit: Gott gibt fi ihm zu erfahren, er wird die Wahrheit
inne und mag fie nun auch benfend erkennen, Kann er
dieß, fo bat er Gott zu danken, wo nicht ſich zu beugen
und anzubeten. Je mehr Glaube und Gehorfam gegen
Gottes Zeugniffe, defto mehr Erleuchtung und. Verftändnig. "
Der Glaube faßt aber zweierlei in fih: Aufnahme ins
Beroußtfeyn und ben rechten Willen, welcher Werk ber
Gnade ift. Der lebendige Glaube (credere in Deum)
fließt unmittelbar ein dad tendere in Deum, und umges
ehrt; und dieß gehört zur Ebenbildlichkeit des Menfchen
mit Gott. Die Erfüllung der urfprüngligen Beftimmung
des Menſchen, Gott zum Inhalt feines Wiffend und Wil:
lens zu haben, ift aber durch die Sünde gehemmt und ers
fordert eine göttliche Wiederherflellung, der ein Suchen
Gottes von Seiten des Menſchen, theoretiſch der Trieb nach
Erkenntniß, entgegentommt , die aber bedingt iſt durch die
rechte Richtung ded Suchens, durch Wiedereinlenfung in dad
rechte Verhaͤltniß zu Gott, durch Belehrung. So hängt
Wis am Glauben, Diefer treibt aber weiter: theoretifch
422 Haſſe
zur Erkenntniß, praktiſch zur Liebe — Dieſe Erkenntniß
ſteht in der Mitte zwiſchen Glauben und Schauen. Jener
iſt unmittelbare Perception, wie dieſes, aber eine unvollkom⸗
mene, weil er bie Wahrheit zwar hat, «ber ohne ſich da⸗
von Rechenfchaft geben zu koͤnnen. Hierzu fommt es durchs
Denken, weldes ebenfo nad Durchdringung bed Objectes
von Seiten bed Subjectes firebt, ald der Glaube Durchs
dringung des Subjected von Seiten des Objectes iſt. Hiers
durch nähert fi) der Glaube dem Schauen, welches voll:
tommene Erkenntniß if, Im Erkennen aber iſt freie
Aneignung, nad) den Gefegen bes Denkens, ohne Bes
rufung auf Autorität. Diefe wirb jedoch badurd
nicht entbehrlich, da fie 1) dem Denker den Inhalt Liefert,
2) der bloß fubjectiven und approrimativen Gewißheit und
Einficgt ded Denkens in der Selbfibezeugung Gottes einen
* objectiven Halt und Maßſtab, eine höhere Beſtaͤtigung gibt.
Ale Wahrbeit, die die Wernunft findet, erhält ihre Geltung
erſt durch die heilige Schrift, indem diefe fie entweder geradezu
bejaht, oder doch nicht verneint. — Dieß Denken als fol
ches vecurrirt freilich nicht auf die Autorität; denn es if
felbftändige Reproduction des Gegebenen, aber es fol die
Sache weder machen, no erſchoͤpfen wollen; „denn
der Glaube ift fein prius, dad Schauen fein posterius,
und Gott das A und D.” Dieß der Inhalt de zweiten
Kapiteld, woraus erhellt, dag in Anfelm die unbedingte
Hingebung an das Wort Gottes, deſſen Summa bie kirch⸗
lich firirte Wahrheit ift, mit der Selbftändigkeit be Den»
kens, oder der freien Selbſterzeugung der Erfenntniß, in
reiner Harmonie gewefen,
Bon mehr untergeorbneter Bedeutung ſcheint dad dritte
Kapitel (S.58—76.), die Dialektit Anfelm’s, wobei
fein dialogus de grammatico zu Grunde liegt, Indeß ift
auch dieß ein wefentliches Moment der wiflenfchaftlichen Bes
deutung Anſelm's, welcher, felbft Meifter in ber Dialektik
enkwiſſenſchaft), gar eifrig darauf hielt, daß feine Schuͤ⸗
Anfelm von Canterbury. 423
Ier diefe Urs und Vorwiſſenſchaft aller andern trieben, bes
vor fie an die Theologie gingen. Der Verfaffer gibt einen
Auszug aus dem dialogus, einer Einleitung in die Dialektik,
und zieht endlich das Refultat, daß Anfelm ed mit dem
Denken nicht leicht nehme, daß bei ihm ein wirkliches Ver⸗
fändnig des Ariſtoteles fich finde und daher auch die Faͤ⸗
bigkeit, fih mit großer Selbftändigkeit auf biefem
ſchwierigen Gebiete zu bewegen, ganz anders ald Gerbert
(„de rationali et ratione uti”). „Der Dialog bezeichnet einen
Wendepunct der Entwidelung: er ift bie Probe, bie dad
Mittelalter vonder in der Schule des Ariftoteles erlangten
Reife zu einer felbftändigen Reproduction biefer Wiffenfchaft
ablegte.” Mit diefem wohlbegründeten Urtheil fchließt der
BVerfaffer dieſes Kapitel und geht num im vierten (S.
77—112.) von der formellen Seite der Speculation Ans
felms zur materiellen über, indem er unter Zugrundes
legung des zur Erläuterung einer Stelle des Monologiums
geſchriebenen dialogus de veritate ben Realismus Ans
felm’s unterſucht. — Anfelm geht aus von der Wahrheit
der Rede und fchreitet fort zu ber bed Denkens, des Wols
‘tens, des Thuns, der Sinne, endlich des Seyns. Alle
diefes ift wahs, inwiefern es das wirkliche Sollen zur Er⸗
ſcheinung bringt, oder ausbrüct, begreift, will, thut, iſt,
was es foll, oder feiner Beftimmung entfprict. Ale andern
Wahrheiten aber wurzeln in der höchften, welche ift, was
fie if, weit ſie's iſt, nicht weil ſie's feyn ſoll, oder in wels
he Seyn und Sollen zufammenfallen, durch welche alles
Sollen erſt gefegt ifl. Die eine Wahrheit eriftirt nun in
einer dreifachen Sphäre: 1) als reine Gaufalität — abfolute
Wahrheit = Gott; 2) ald Wirkung, und zwar: a) ald
ſolche, die ſelbſt wieder wirft im Seyn (ober erden) der
Dinge, welches an jener participirt, indem es fie nach aus
sen manifeſtirt; b) als bloße Wirkung im Denken bed
Menſchen, welches dad objective Seyn in fih aufnimmt
(der Brennpunct if, worin dad in jenem (ald hoffen) in
Theol. Stud, Jahrg. 1863,
424 Haſſe
die Aeußerlichkeit heraustretende göttliche Denken wieber ein
innere wird), eben barum aber vom Seyn abhängt, —
In beiberlei Hinficht iſt die Wahrheit relativ, d. h. von
der abfoluten abhängige und nur fucceffiv ſich vollendende,
und breitet ſich in eine Mehrheit aus, die aber wegen ber
darin ſich auöprägenden Einen Wahrheit body ein einheits
liches Ganzes, ein Syſtem ifl, Diefe Grundgedanken bed
anſelm'ſchen Realismus treten noch deutlicher heraus im
Gegenfag gegen den damals namentlih von Roscelin res
präfentirten Nominalis mus. Roscelin verwarf nicht nur
den platonifchen Realismus, ber den Univerfalien (Gattun-
gen, Arten) eine von ben Individuen unabhängige Realität
zuſchreibt, dad Allgemeine ald ein felbftändig Wirkliches betrach⸗
tet, deſſen Erſcheinung das Einzelne ift, ſondern auch den ariftos
telifchen , der denfelben nur eine den Individuen inhärirende
Realität zuerkennt, und erklärte fie für eine bloße Abftraction, eine
bloße vox, einen leeren Schall; bad Denken war ihm ein Spiel
mit felbftgefchaffenen Begriffen, die Feinen Grund in ber
Sade haben, Anſelm fieht hierin eine Schwäde und Be
ſchraͤnktheit, welche das finnliche Seyn für dad einzige Seyn
bäft, eine Leugnung des Geiftes, der Vernunft, und ſetzt
ihm zunaͤchſt entgegen die Selbſtgewißheit des denkenden
Geiſtes wie von dem eigenen Seyn, ſo von einem Seyn
außer ihm, welches nicht in die Sinne faͤllt. Jedes Ding
hat nach ihm einen Zweck, dem es ent ſpricht oder wider⸗
ſpricht, daher wir es gut ober ſchlecht x, nennen, Dieſer
bat im Ieteren Falle keine äußere Wirklichkeit, muß aber
doch ein Wirktiches feyn, weil wir fonft die Dinge nicht dars
auf beziehen koͤnnten. Eine Wirklichkeit, welche für und
doch nicht durch das Denken erifirt. Alles Seyn iſt ges
dantenbaft, d. b. fchließt die Beziehung auf einen Ges
danken in ſich, der durch daffelbe zur Erfcheinung kommen
will; daher die Möglichkeit einer wirklichen Erfenntniß;
und ebenfo dad wahre Dentenwefenhaft, Hinaus⸗ und
Hinäberbewegung in dad Seyn.
In diefem Realismus Anfelm’s, welchen ber Werfaffer
Anfelm von Ganterbury. 425
nach feiner eigenthinnlichen Faſſung und feinem innern Zu⸗
ſammenhange vollſtaͤndiger und einleuchtender dargelegt hat,
als es biöher geſchehen ift, tritt und auch ſchon das entgegen,
was nun als ber erfte und hoͤchſte Gegenftand feiner Spes
culation erfcheint, Die böchfte Wahrheit iſt ja Gott. Mit
dieſem Principielten, mit der Gotteserkenntniß, verfuchte es
aud feine erſte theologifhe Schrift, fein Monologium,
Im dieſes führt und das fünfte Kap, (8, 113— 232):
„die Gotteslehre Anfelm’s” ein. Der Verfaffer wird
wohl keinen Widerſpruch erfahren, wenn er dieſe erfte Schrift
Anfelm’s (aus ber erfien Hälfte feines Priorats) für feine
befte erklärt, „Durchbachter,, einheitlicher concipirt und
forgfältiger ausgeführt if Beine andere.” Ihre innere Reife
aber ift um fo bewundernswürdiger,, ald es etwas Neues
war, was Anfelm bier verfuchte: denkendes Exforfchen bes
Weſens Gottes, ohne alle Zuhälfenahme der Geſchichte
(Sott ald Erfahrungsgegenftand, Princip der Offenbarung xc.).
— Auögehend von dem Allgemeinften , daß Gott das Abs
folute ift, läßt Anfelm diefen Begriff an den Begriffen des
hoͤchſten Guts, der Größe, des Seyns, des Weſens ſich
entwickeln: „Es muß ein Gut, eine Groͤße, ein Seyn, ein
Weſen geben, welches durch ſich ſelbſt und durch welches
alles Andere if,” d. h. ein Abſolutes. Dieſes iſt aus
und durch ſich weder als bewirkende Urſache, noch als Stoff,
noch als Werkzeug, ſondern ſo, daß Setzen und Geſetztſeyn
ſchlechthin zuſammenfallen. Alles Andere aber iſt durch
daſſelbe als bewirkende Urſache (ſchoͤpferiſch), nicht als
Stoff, „aus Nichte”, in dem Sinne, daß ed aus dem
Nichtfeyn ind Seyn getreten, d. h. entflanden iſt. Jedoch
fo, daß es in feinem fchöpferifchen Grunde präformirt war,
Diefe ideelle Präeriftenz der Welt ift der Gedanke ober
daB Wort derfelben, d. h. die fchöpferifche Eonception ih⸗
ed Inhalts von Seiten des Abfoluten felbft, was der eins
sige, volkommen ausreichende und urfprüngliche Grund feis
nes Schaffen ift, identifch mit ihm felbft, dieweil es das
durch ſich fchaffende Wefen if, Der föbpferihe Grund ift
426 Hafle
aber auch der erhaltende, und zwar bad Gefcaffene
durchdringend, durchwaltend, eine Immanenz, welche bie
Zranfcendenz nicht ausſchließt, da das Bedingende bad Bes
dingte überragen muß, So ift der Begriff bed Abſolu—⸗
ten von allem Andern unterfchieden. Nun gilt es aber,
die in ihm enthaltenen Beſtimmungen aus ihm zu bebucis
ven — feine Eigenfhaften. Die Grundregel ift, daß
von ihm prädichtt werben Bann und muß, was ſchlechthin
beffer ift oder höher ſteht, ald fein Andered (non ipsum),
alfo alles Vollkommene, aber nicht ald etwas, was es hat,
fondern als etwas, was es if. Quidditaͤt (Weſen) und
Qualität fällt da zufammen, Es iſt aber keine Zuſammen⸗
fegung, fondern abfolute Einheit, indem eine jebe Eigens
ſchaft oder Beftimmtheit die übrigen ift, einzeln und zufams
men, und demnad jede Beflimmtheit dad Abfolute ſelbſt
und umgelehrt, und zwar in jeder Hinſicht. Beiſpielsweiſe
werben nun die (metaphyfifchen) Eigenfchaften der Ewigkeit
und Algegenwart deducirt. „Das Abfolute ift nie und
nirgends, ald von Zeit und Raum nicht befhränkt, und
doch immer und überall, vermöge feiner Immanenz in Zeit
und Raum und Allem, ohne welche Alles fofort in fein
Nichtſeyn zuruͤckſinken würde. — Es iſt ohne Accidentalität,
als umveränderlich (ewig), Subſtanz aber nicht im gewoͤhn⸗
lichen Sinne, weil weder Allgemeines noch Einzelnes, fon«
dern nur im Sinne von essentia, ald Bezeichnung bed
Selbſt oder Was, und zwar diejenige Subſtanz, welde
das abfolut Höhere ift, alfo nicht Körper, fondern Geiſt.
Es ift der einzige Geift, welcher aus und durch fich iſt,
während alles Andere aus und durch ihn ift, und eigents
lich allein als feyend zu betrachten, ber allein ſchlechthin
ſeyende. — Alfo das Abfolute ift abfoluter Geiſt. Als
folder muß er nicht nur bie Dinge, fondern auch ſich felbft
denken und ſprechen, und zwar principiellerweife, aus
und durch fich felbft ſich ewig für ſich felber fegen, denken,
ſprechen. Dieſes Wort, das Ebenbild feined Weſens, ift
das Urbild der Dinge, Es iſt Ein Wort, mit dem er fi
Anfelm von Ganterbury. 427
und mit dem er bie Greatur fpricht, Diefes fchöpferifche
Wort, ded Vaters Ebenbild, der Greatur Urbild, worin Als
les beſteht (wie entftanden ift), ift der ewige Sohn Gottes,
deffen Zeugung und Einheit mit, und Unterſchied von dem
Vater nun weiter entwidelt wird. — Im Sohne hat der
- abfolute Geift ſich ewig ald Object vor fi. Eben fo ewig
aber muß er fi mit fich felbft zufammenfcliegen, ſich
lieben. Dieß folgt nothwendig aus dem Erkennen; ed fegt
aber auch voraus, daß ber abfolute Geift 1) Bewußtſeyn
überhaupt (memoria), 2) ſich für ſich gegenſtaͤndliches Be⸗
wußtfeyn (intelligentia) if, Aus beidem procedirt die
Liebe, iſt das Dritte zu beiden, Wie diefe dem abfoluten
Seife gleich und Eins mit ihm ift, wefentlih Eine, und
ausgehend, nicht gezeugt, wird näher audeinandergefegt, und
dann das Verhaͤltniß der drei zu einander (abfolute Imma»
nenz und doch Unterfchied) dargelegt.
Bon diefem Geheimnifje der Dreieinigkeit hat der”
menfchliche Geift eine zwar nicht eigentliche, d. h. mit dem
Seyn und Wefen zufammenfallende, aber doch wahre Er⸗
kenntniß, vornehmlich durch ſich felbft, als vernünftige Greas
tur, ſchon infofern er ald Geift, der ſich feiner felbft be-
wußt ift, fich felber erkennt und ſich mit fich felber zuſam⸗
menſchließt, ein Spiegel oder Bild der Dreieinigkeit bed abs
foluten Geiftes ift, noch mehr aber feiner Beftimmung
nach, des abfoluten Geiſtes ſich bewußt zu feyn, ihn zu ers
kennen und fi mit ihm zuſammenzuſchließen, was feine
Ebenbildlichkeit im eigentlichen Sinne if. Aus diefer Bes
flimmung , welche durch freie That zu erfüllen ift, ergibt
fi) dad Berufenfeyn zu ewiger Seligteit, wenn aber das
hoͤchſte Gute verfchmäpt wird, ewige Unfeligkeit, Beides
aber 'fegt die UnfterblichFeit der Seele voraus, Die
Lebensaufgabe des Menfchen aber, Trachten nach dem höchs
fien Gute, ſchließt außer ber Liebe noch in fi die Hoffs
nung, bie Gewißbeit von ber Erreichbarkeit des Zieles;
die Wurzel von beidem aber iſt der Glaube, bad Bewußts
428 Haffe
ſeyn in Bezug auf das Unfichtbare, näher den abfoluten
dreieinigen Geift, welches weſentlich ein Streben nad) feis
nem Gegenftand in fi) hat, alfo die Liebe erzeugen muß,
weiche die Lebendigkeit des Glaubens ift,
Der Schluß führt zum Anfang zurüd: „Der abfolute
Geiſt und Fein anderer iſt Gott zu nennen; der Dreis
einige darf allein der Gegenftand unferer Anbetung feyn.”
Dad Refultat iff, daß der chriſt liche Gottesbegriff die
Wahrheit des allgemeinen iſt. — Dieß find die Grund: "
gedanken bed Monologiums nad) dem forgfältigen Auszuge
des Verfaffers, welchem nun (S. 102ff.) fi) anfchließt eine
trefflihe Nachweifung der wohlgelungenen Loͤſung der Aufs
gabe (intellectus fidei), der Eintheilung und des Ganges
der Abhandlung, woburd das Ganze mit den einzelnen
Momenten und Begriffen ins heifte Licht geſtellt wird.
x Auf biefelbe Weiſe verfährt der Verfaſſer mit allen
theolegifchen Tractaten Anſelm's, indem er von jedem ders
felben einen gebrängten, aber genauen Auszug gibt unb fo
den Lefer zu felbkändiger Einficht in Anfelm’s Geiſtes arbeit
befähigt, dann aber diefen fo dargelegten Inhalt anatyfirt
und erplicist, und fo in das volle Verſtaͤndniß und in die
gerechte Würdigung des Werkes hineinführt.
An das Monologium, in welchem ed fi) um ben Ins
halt bes Gotteögebantens , ben Begriff des Abfoluten,
handelt, ſchließt fi das Proslogium an, welches bie
Dbjectivität deffelben, die Realität des Abfoluten
feſtſtellen fol, was zur Entvedung des ontologifchen
Arguments führte,
Dieß iſt der Inhalt des fechften Kapiteld (8. 233
— 36.) , welches zuvoͤrderſt die Geneſis diefer Schrift in Ans
felm’8 &eifte: Forſchen nach einem einfacheren, im Gebans
Ten des Abfoluten ſelbſt liegenden Beweiſe, und ihren Chas
alter : nicht ruhige Expofition, fondern ringendes Denken,
anhebend mit Gebet, ſchließend mit Frohlocken, barlegt,
dann zum Gegenſtand berfelben: Gottes Seyn (dev Kern
Anfelm von Canterbury. 429
der Schrift) und Wefen, ſich wendet. Der Sag: Gott
ift, feßt voraus eine vorläufige Beflimmung bed Wefens,
naͤmlich daß Gott für Jeden das Hoͤch ſte fey, was er dens
ten kann, Diefer Gedanke aber ſchließt das Nichteriftiren
ja die Möglichkeit deffelben aus; das Hoͤchſte kann nicht
anderd gedacht werden, denn ald wirklich. Dieß ift die
Summa bes Beweife, der auch für den Atheiften evibent
ſeyn fol. — Der Verfaffer zeigt nun, daß diefed Schließen
zein vom Gedanken des Abfoluten aus auf die Wirklich⸗
keit, diefe Bolgerung, bie der Nero des Weweifes fey: was
als wirklich gedacht werden muß, iſt auch wirklich, dieſes
Ontologifche , etwa Neued gewefen, daß auch bei Auguftin
und Boẽthius bloß Fosmologifche Argumente, Vorlaͤufer
ber Beweife des Monologiums, ſich finden. Sowohl diefer
erfte Berſuch eines eigentlichen Beweifes, als dad Sich-
lägen dabei nur auf ben Gedanken, anflatt, wie bie
Kircpenvdter, auf die Erfahrung, forderte die Kritik
heraus, Wie biefe von Gaunilo geübt worden und wie
Anſelm darauf geantwortet, wird nun durch Erpofition des
Inhalts der beiben Abhandlungen gezeigt. Darauf folgt eine
kritiſche Erläuterung der ganzen Verhandlung, in welcher
fi das berausftelt, da es eine zweifadhe Objectivis
tät des Gedankens des Abfoluten ift, welche Anfelm bes
weifen will: 1) eine dialektiſcher daß es ſich nicht den⸗
Ten laͤßt, ohne daß es als wirklich gedacht wird; 2) eine
metaphyſiſche: daß es alfo ein Wirklihes iſt. Diefe
aus jener zu folgern, ift nad dem Verfaſſer Anfelm bei
der metaphufifchen Stellung, die er dem Denken gibt (dab
es allen Inhalt vom Seyn empfängt), wohlberechtigt, Aber
dad urgire Gaunilo mit Recht, daß fie nit ohne Weis
teres und geradezu aus jener folge. „Hier ift alfo eine
Lücke in der Argumentation Anſelm's —, bie er felbft nicht
genug empfindet, weil er, vol von jener Entdedung, fo
raſch ald möglich weiter eilt, um nur daß dialektifche Seyn
auf ein metaphyſiſches zurüczuführen. Gerade hierin aber
430 Haſſe
in der Offenlaſſung einer Luͤcke, die doch ein ganzes Sy⸗
ſtem der Metaphyfit als Hintergrund ahnen laͤßt, liegt. ein
gute Theil der Anziehungskraft, welche unfer Argument
von jeher ausgeuͤbt hat, weil es in ber That bie Grundfra⸗
gen aller Speculation, wie namentlid die über das Ver⸗
bältnig vom Denken und Seyn, zur Sprache bringt.” —
Diefe ganze Erörterung verräth, wie überhaupt dad ganze
Buch, daß bie fpeculative Tuͤchtigkeit bed Verfaſſers der hie
ſtoriſchen Gruͤndlichkeit und Kunft foͤrdernd zur Seite ſteht.
Der übrige Theil des Proslogiumd ſtellt ſich dar ald
eine Ergänzung des Monologiums in Betreff des Wefens
Gottes. Es werben indbefondere diejenigen Eigenfchaften
hervorgehoben , welche einen Widerſpruch unter fi oder
mit dem Begriffe des Abfoluten zu enthalten feinen, z. B.
die Barmherzigkeit und die Gerechtigkeit. Sodann wird bie
Einheit oder Identität Gottes mit ſich felbft in der Fülle
der Eigenfchaften dargethan und gezeigt, wie diefelbe der
Grund feiner Ewigkeit, Algegenwart und Selbſtgenugſam⸗
Zeit if, Nachdem er zulegt noch einmal kurz daß trinita-
riſche Verhaͤltniß ins Licht gefegt, fo fchließt er mit dem
Preife der Seligkeit,, die in diefer Erkenntniß liegt,
Die beiden folgenden Kapitel führen und nun Anfelm
als Kämpfer für den kirchlichen Glauben vor, dad fiebente
(S. 37— 321.) als Beftreiter eines das Trinitaͤtsdogma
meifternden Zritheismus, das achte (S. 32— 361.) als
Widerleger ber binter der abendländifhen Entwidelung zus
rüdgebliebenen griechiſchen Lehrmeife, welde den Ausgang
des heiligen Geifted vom Vater und Sohn verwarf, — Im
fiebenten Kapitel’ geht der Berfafler davon aus, wie Anfelm
jeder Meifterung des Dogma ebenſo im Intereſſe der
wahren Wiffenfhaft, die ihm an den Glauben geknüpft
war, wie im Interefle des Glaubens und ber Kirche ent:
gegentreten zu müffen glaubte, und wie er dabei nicht feis
ne eigene Theorie zum Audgangspuncte genommen, fon
dern die feindliche aus ſich felbft zu widerlegen geſucht. —
Anfelm von Canterbury. 431
Nachdem er die innere Gnofis und das erfte geſchichtliche
‚Hervortreten des Tritheismus kurz dargelegt, fo kommt er
auf den in feinem Nominalismus wurzelnden Tritheismus
des Roscelin, der zwar auf einer Synode fi zum Wis
derrufe hatte beftimmen laffen, aber diefen hernach als einen
durch Furcht vor dem erbitterten Wolke ihm abgebrungenen
zurüdgenommen. In Rüdfiht auf den Irrenden fowohl,
als auf die Wiffenfchaft, die derfelbe für ſich anrief und die
durch Roscelin’3 Auftreten in den Verdacht kommen Eonnte,
als führe fie nothwendig zur Härefie, befaßte ſich Anfelm,
bereits Erzbiſchof geworden, mit der Widerlegung dieſer
Theorie, die er als eben fo unwiſſenſchaftlich wie unkirchlich
erweift, indem er zeigt: 1) daß ihre letzte Gonfequenz Tri⸗
theismuß fey, 2) daß fie dadurch jedem wahren Gottesbes
griffe widerſpreche, 3) daß fie nicht einmal erreiche, was fie
bezwede: bie Menſchwerdung nur einer einzigen Perfon bes
greiflih zu machen. — Mit diefer Polemik, welche die Uns
fähigkeit Roscelin's, Über folhe Dinge mitzuſprechen, dar⸗
thut, verbindet ſich eine apologetifche Nachweifung der kos
ben Bedeutung der Kirchenlehre für bie Wiſſenſchaft — eine
Beftätigung und Erläuterung der Lehre des Monologiums,
Kirchenlehre und Wiſſenſchaft ſtimmen zuvoͤrderſt darin übers
ein, daß bad Weſen Gottes die Einheit fordert, fodann
aber auch im Betreff der Perfönlichkeit, d. h. der Art
und Weife, wie Gott fi ald Selbft befigt, oder, als abfos
luter Geift, ſich zu fich ſelbſt verhält, was. wenigftens eine
Mehrheit von Stellungen mit ſich bringt, Beide Beflims
mungen gewähren aber auch erſt die Möglichkeit einer Zus
fammenfaffung im Begriffe der Dreieinigfeit, Endlich if
es die kirchliche Trinitdtslehre, welche allein die chriftologis
ſchen Grundirrthumer abſchneidet und eine eigentliche Menſch⸗
werdung Gottes begreifen laͤßt.
Der Verf. ſchließt mit weiteren Notizen über Roscelin,
wornach er auf feiner Meinung beharrte.
Das achte Kap. gibt zuvoͤrderſt eine kurze Nachweis
432 Haffe
fung über die Entſtehung des Streites zwiſchen ber lateini⸗
ſchen und griechifcyen Kirche über dad lilioque und zeigt
dann, wie die Schrift Anfelm’s (de processione spir. S.),
des fiegreichen Vertheidigers der Iateinifchen Lehre auf ber
Synode zu Bari, 1100 oder 1101 verfaßt, fi dadurch
außzeichne, daß fie zum erften Male von dem gemeinfamen
Zrinitätöbegriffe beider Kirchen aus bie lateiniſche Lehre als
die einzig confequente, dieſem Begriffe entfprechende, zu ers
weifen fuche, während man bis dahin immer nur den Vor⸗
wurf der Neuerung abgewehrt, und wenn man auch weiter
ging, wie Ratramnus, doch auf bie innere theologifhe Be—
gründung ſich nicht eingelaffen hatte, Die processio ex
utroque ift nad Anfelm Folge der Homoufie, Da ber
Vater nicht als Vater zum Geifte ſich verhält (diefer nicht
Sohn if), fondern ald Gott, fo muß der vlös duood-
oꝛos ſich gleichermaßen zum Geifte verhalten, d. h. als Deus,
de quo est Deus; der Ausgang aber muß auß beiden ders
felbe feyn, alfo processio ex uno; fomit wird die wo-
vaggla nicht aufgehoben, und auch daß principaliter
procedere de patre iſt nicht ſtatthaft. Und wie ſich im
Bater und Sohn der Unterſchied manifeftirt (Gott, von
dem Gott und Gott, der von Gott), fo im Geiſte die darin
enthaltene Einheit; daher muß er zu beiden daſſelbe Ver⸗
bältnig haben, dad der Zufammenfdließung, und
daher auch von beiden, aber nur inſofern fie eins find, auß-
"gehen, Der Verf. weift hier noch das Grundloſe der Beſchul⸗
digung Baur's nad, daß Anfelm ſich felbft widerfpreche,
indem er allen drei Perfonen die Afeität zufchreibe und den⸗
noch behaupte, daß nur ber Water den Sohn zeugen und
nur beide den Geift hauchen koͤnnen. Das Eine beziehe
ſich auf die gemeinfame Gottheit, das Andere auf die befons
dere Perfönlichkeit, und wenn es die Afeität ſelbſt fen, wels
che ſich durch die hypoſtatiſchen Acte verwirkliche, fo müffe
fie auch jedem berfelben innewohnen, ohne daß fie aufpöre
Anfelm vor Ganterbury. 433
ten, biefe beftimmten und bie Acte je ber einen oder ande⸗
ren Perfon zu ſeyn u, f. w.
Die beiden nädften Kapitel handeln von der Frei—⸗
beit, ber Bedingung ber Erreichung des Endzwecks der
vernünftigen Greatur, dem Begriffe, der das Räthfel der
Geſchichte LER, wie der Gotteßbegriff bad Räthfel der Welt
(Kap. 9, S. 362—392.), und von ber Entſtehung des
Böfen, der Hamartigenie (Kap. 10. S, 33— 44%). —
Bas den Freiheitöbegriff (dialogas de libero ar-
bitrio) betrifft, fo unterfcheidet Anfelm (formelled Wollen)
Freiwilligkeit, Spontaneität, Sichſelbſtbeſtimmungsfaͤhigkeit,
was bie Möglichkeit des fich auch anders, ald er foll, Ber
Rimmens oder die Willkür für den creatuͤrlichen Wil
len übrig läßt, und Freiheit, d, h. Vermoͤgen, dad em⸗
pfangene Gute zu bewahren, in bes anerfchaffenen Gerech⸗
tigkeit zu beharren. Mit diefer teleologifhen Faſſung (Frei⸗
beit — das der Befimmung ber vernünftigen Greatur
entſprechende Vermögen) tritt Anfelm dem Pelagianismus
entgegen; damit aber, daß er die Freiheit ausdruͤcklich nur
als Vermögen beftimmt, geht er über den auguftinifchen
Begriff, der fie Überwiegend als Zuftand, ald activ faßt,
hinaus und bildet ihn wefentlich fort. Hiernach iſt die Frei⸗
beit unverlierbar. Auch die Suͤndenknechtſchaft, d. h.
actuelle Unfaͤhigkeit des Willens, das Rechte aus und durch
fich ſelbſt zu wollen, hebt die virtuelle Möglichkeit, es zu
wollen, nicht auf, — Kraft diefes Unterfchiedes kann auch
der Wille zugleich ſchwach und ſtark feyn,
Die Bethätigung der Freiheit erfolgt aber nun in einer
zweiſachen Belt des creatlirlihen Geiftes: in der Welt rein
perſoͤnlicher Geifter, welche nur durch bie gemeinfame
Beziehung auf Gott zufammengehalten werben (Engel), und
folcher, die in einem organifchen Werbande fliehen, Eine
Gattung (Familie) bilden — Menſchen. Dort Tann nur
von einer perfönlicdhen, bier von eine Gefammtthat
bie Rebe feyn. Aus jener if die Verfuchung in diefe ges
434 Hafle
drungen, und ber menfchliche Wille im Haupte der Bamilie
ihr unterlegen, fo daß für den Willen des Einzelnen Beine
andere Entſcheidung uͤbrlg geblieben ift, als für die Willkuͤr.
Hier aber tritt, weil dieß zwar einerfeits feine That, andes
rerſeits aber auch nicht feine That if, die Möglichkeit einer
Eridfung ein, — In diefen Gedanken liegt der Haupt⸗
inhalt der folgenden Kapitel,
* Dem zehnten Kapitel liegt ber dialogus de casu
diaboli zu Grunde, deſſen Hauptzwed dahin geht, die Nes
gativität des Boͤſen nachzuweiſen. Da alles Pofitive
nur von Gott berühren Tann, fo konnte es zu einem Kalle
in der Engelmelt kommen, ohne daß derfelbe von Gott vers
urfacht wäre, nur wenn bad Böfe etwas Negative if,
Das Boͤſe ift nämlich die Ungerechtigkeit, fomit ein Mangel,
Es kommt nur im creatürlien Willen vor, liegt aber wes
der im Wollen als ſolchem, dad beim ungerechten Wollen
diefelbe Function iſt, wie beim gerechten, noch im Inhalte
als folhem, der aus dem Seligkeitätriebe flammt, fonbern
allein in der Beziehung des Wollens dieſes Inhalts zum
Sollen des Willens, welche ein Widerfpredden iſt — und
dieß iſt etwas Negatives, bie Werneinung des göttlichen Wil:
lens durch den creatürlichen. Und dieß und nur dieß ift
nicht von Gott, oder die göttliche Gaufalität verhält ſich
dazu nur negativ, zulaſſend, d. h. nicht verhindernd. So
entfteht das Boͤſe nicht ohne Gott, aber auch nicht durch
Gott. Gott aber Fann bie Actualifirung der Möglichkeit
jener Verneinung nicht hindern, weil diefe Möglichkeit von
ihm herruͤhrt.
Anfelm geht auf Auguſtin's Wege fort, aber mit grö-
Berer Vertiefung in die Sache. Sein Dialog ift der erſte
Verſuch, die Negativität des Boͤſen als ſolche wiſſenſchaft⸗
lich durchzuführen. So iſt auch die Ponerologie durch ihn
um ein Bedeutendes gefoͤrdert worden. Mit dieſer Bemer⸗
kung ſchließt der Verf. das zehnte Kapitel,
Mit dem eilften (S. 443—484,): ber erfie Adam
Anfelm von Ganterbury. 435
und die Möglichkeit eines zweiten (de 'conce-
ptu virginali et originali peccato), geht nun bie Darſtel⸗
kung zum Myfterium der Erlöfung über, — Schon in der
erſten Zeit feines Epiſkopats hatte Anfelm fein Hauptwerk
über die Werföhnungslehre begonnen, Hier aber drängte
fich ihm die Brage auf, warum es nur für die menſch-
liche Sünde eine Werföhnung gebe, wie ſich alfo diefe von
der teufliſchen unterfcheibe; zubem hatte er die Möglichkeit
eines fündenreinen Eintritts in die Menfchheit an ſich noch
nicht erwiefen und verfprochen, darauf zuruͤckzukommen.
Dieß die Genefis der vorliegenden Schrift, welche er 1099
oder 1100 nach Vollendung jener Hauptſchrift abfaßte, —
Den Kern diefer Schrift, deren wiffenfchaftlicher Zufammens
hang (S. 470 ff.) dargelegt wird, bildet jene Nachweifung,
der aber eine Theorie der Erbflinde vorangehen mußte, Die
Srundgebanten find: Zufammenhang aller Menſchen nicht
bloß durch das Eine Weſen, welches fie mit einander ges
mein haben, ſondern auch durd die Art und Weife, wie fie
diefeß überfommen, die Abflammung; daher Abhängigkeit
von dem Urpaare, von welchem fie die menſchliche Natur
erbalten als eine von ber urfprünglichen Gerechtigkeit ente
biößte, eine Schuld der Natur, welche jeder Einzelne in
ſich vorfindet, fo wie der vernünftige Wille in Ihm erwacht,
Dielen Zuſtand ber Ohnmacht und Blöße vermag nur eine
neue Schöpfung zu heben, die Hervorbringung eines zweis
ten Adam, deren Möglichkeit in der Allmacht des Schöpfers
beruht, welche aber mitten im $amilienzufammenhange des
alten Geſchlechts erfolgen muß, wenn die erfte Schöpfung
nicht aufgehoben werden fol, Dieß war nur möglich durch
Empfängniß ohne Zeugung, durch unmittelbare Wirkung
Gottes. Diefe- Entſtehung fonnte eine fündlofe ſeyn, weil
die feruelle Thaͤtigkeit fündlich ift nur durch die ſich damit
verbindende Luft u. ſ. w., und ebenfo eine ſchuldfreie,
weil die Verpflichtung zu einer Genugthuung für die durch
Preisgebung der urfprünglicen Gerechtigkeit begangene
“6 Safe
Sünde nur auf denen Laftet, welche die Sünde mit begangen
baben, den natürlihen Nachkommen Adam's.
Der Stifter einer neuen, gerechten Menfchheit kann aber
der fo ind menfhliche Dafeyn Getretene nur fo werben, daß
er zugleich die alte entfühnt, oder für fie die Genugthuung
leiſtet, welche er für ſich felbft nicht zu leiften hat.
Mit diefer Bemerkung führt der Verf, ind zwoͤlfte
Kapitel hinüber — die Satis factionslehre Anfelm’s
. — bie Il. 1I. cur Deus homo? (S. 485 — 609.)
‚Hier wird vor Allem bad Ungenügende der patriftifchen
Erklaͤrungen über dieſe Carbinallehre dargethan, wie dieſel⸗
ben einerfeit6 nur Elemente einer Verföhnungstheorie ent;
dalten, andererfeits die Beziehung des Erloͤſungswerkes auf
den Zeufel auf eine bedenkliche Weife hervorheben. Außer
diefem Anftoße rügt Anfelm an ihnen auch die Ungründlichs
Zeit, mit welcher bloß die Angemeffenheit, nicht die Noth⸗
wenbigfeit diefer Art und Weiſe ber Erlöfung nachgewiefen
wird. Er zeigt nun im erſten Buche, wie eb ohne Chris
Rum nicht möglich fey, felig zu werben, im zweiten, wie
Gott dennoch die-Menfchen felig machen wolle, diefer Ends
zweck ſich alfo auch verwirklichen müffe, aber nur durch
einen Gottmenſchen verwirklichen Fönne, und wie baber
Alles, was ber Glaube von Chrifto halte, in einer tiefen
inneren Nothwendigkeit begründet fey, — Der Inhalt beis
der Bücher wird nun &, 497—572. erponirt, ſodann
die innere Structur des Werkes aufgezeigt. Dad Problem
iſt: Nachweiſung des Zufammenhanges zwifden dem Tode
Chriſti und der Vergebung der Sünden, deſſen Schlüffel
gefunden wird im Begriffe der Satisfaction, worauf
zuerſt die Nothwendigkeit einer ſolchen überhaupt (daB die
Süuͤndenvergebung dadurch bedingt fey), dann die Unfähig«
keit des rein auf fich geſtellten Menſchen, fie zu leiften, end⸗
lich, daß nur ein Gottmenſch, und zwar nur dadurch, daß
ex flirt, fie leiſten koͤnne, dargethan wird. — Wir müffen
und verfagen, aus ber näheren Erörterung biefer Puncte
Anfelm von Ganterbury. 437
(&. 573—607.), in welche ber Verf. auch die neueflen
Darftellungen ber anfelm’shen Lehre von Baur und G,
Schwarz berudfihtigt und berichtigt, Weiteres mitzutheis
len, unb beſchraͤnken und auf die Schlußbemerkungen des
Verf. (S. 607 f.). Hiernach ſtellt fi das Problem als eis
nigermaßen gelöft dar, indem der Tod Chriſti ald die mes
ritorifhe Urfade der Sündenvergebung ers
ſcheint. Anfelm ift der Erſte, der eine eigentlihe Theorie
der Verſoͤhnung aufgeftellt, die feſte Grundlage für alle
weiteren Theologumena barhıber, den Anfloß zu einer grünbs
licheren Beſchaͤftigung bamit. Und er hatte zuerft auf den
eigentlichen Kern der Sache hingeleitet. Die Beziehung
auf den Xeufel wurde forthin eine Nebenbeziehung, bie
Hauptfrage die, wie die Sünde und ihre Schuld durch ben
Tod des Gottmenfchen aufgehoben fey, Endlich mit dem
Satisfactionsbegriffe war ein wefentliches Moment ber Sache
für immer der dogmatiſchen Erkenntniß gewonnen. Daß
Anfelm zu fehroff zwiſchen Satisfaction und Strafe untere
f&ieden (mur bei innerer Verwandtſchaft Bann jene ein Er⸗
ſatz für diefe feyn), daß er nicht genug beachtet, daß ber
Tod des Gottmenſchen, ald Tod, auch irgendwie Sold ber
Sünde feyn mußte, endlich, daß er daB Leben des Herrn
nicht gehörig in Rechnung gezogen — biefe Mängel bat bie
fodtere Entwicklung ergänzt, berichtigt und bereinigt, ohne
je den Grundgedanken Anſelm's aufzugeben. — Die ans
ſelmſche Theorie ift vom ſelbſt, durch ihre innere Gediegen⸗
heit, der Kroftallifationdkern für die Kirchenlehre geworden,
Und von keiner feiner Schriften läßt ſich fo fehr, wie von
diefer, behaupten, di fie für die gefammte Kirche Frucht
getragen und ihrem innerſten Leben zu gute gelommen,
Diefe Bemerkungen kann Ref. nur unterfehreiben und
die Verſicherung hinzufügen, daß durch die Darftellung des
Verf. die Satiöfactiondtheorie Anfelm’s, diefe fo viel miß⸗
verftandene, auch ſchmaͤhlich entftellte Lehre, vollends ind
hellſte Licht geftelt worden iſt.
438 Hafle
Nachdem Anfelm in den biöher in Betracht gezogenen
* Schriften dad Göttliche und das Menſchliche erforſcht und
erwogen, fo ſchloß er feine fitterariiche Laufbahn mit der
Unterfuchung ber „Darmonie beider Sphären”, in ber Schrift
de concordia praescientiae et praedestinationis et gra-
tise Dei cum libero arbitrio, deren Inhalt der Verf. im
dreizehnten Kap. (8.610 —663.) unter der Auffchrift:
Sottes Walten und bie menfhlide Freiheit,
darlegt und erläutert, — Anfelm unterſcheidet hier vom
Willens vermögen und ber Wilenshandlung bie Wil
lens rich tung oderWillendneigung al Princip ber letzte⸗
ven, welches dem erfitren den Inhalt gibt, Diefe, infofern fie
auf das Rechte geht, Bann der Wille fich nicht felbft geben,
fondern nur von Gott empfangen, und nachdem er fie aufs
gegeben, Bann fie nur durch fhöpferifche Einwirkung wieder
hergeftelt werden. Jenes ift Werk der Güte, diefes Werk
der Onade, welches zu Stande kommt, indem 1) durch
dad Sacrament der Wiedergeburt der Menfch in die Ges
meinſchaft Ehrifti aufgenommen und feines Verdienſtes theil⸗
baftig geworden, der Vergebung feiner Sünden verfichert,
2) in den fo gefchaffenen zeinen Boden der Same bes
Wortes Gottes ausgeflreut und fo .das Bewußtſeyn ber
Gerechtigkeit und des Weges dazu wieder erjeugt, 3) durch
göttliche Einwirtung der Wille zur Aufnahme derfelben ge⸗
neigt gemacht wird — eine fchöpferifche, göttliche Berührung
des Geiftes, worin die Gnade culminirt, und welche das
Xegtentfcheidende iſt. Sorge der Freiheit iſt es nun, die
empfangene Babe zu bewahren, die empfangene Richtung
einzuhalten, wodurch die Gerechtigkeit je Länger deſto mehr
mit dem Selbſt des Menſchen verwaͤchſt, und die Verlier⸗
barkeit der Gerechtigkeit abnimmt, Dieſe Thaͤtigkeit iſt im
göttlichen Rathſchluſfe (Prädeftination) mit eingeſchloſ⸗
fen, es ift darauf mit gerechnet, und zwar mit ber Mögs
lichkeit auch der Ungerechtigkeit, Gutes und Boͤſes iſt präs
beftinirt, nur jenes ald von Gott zu bewirkendes, dieſes ald
nicht zu verhindernbed, Wie aber das Wirken Gottes
Anfelm von Ganterbury. 439
die Freiheit nicht aufhebt, fo auch nicht fein Wiffen, wel
ches ja auch als fchöpferifches mit dem Wirken zufammens
faͤllt. Das Boͤſe aber fleht dem nicht entgegen; denn es
bildet nur eine Luͤcke in der göttlichen Drbnung der Dinge,
welde durh Strafe oder Sühne ausgefüllt wird, —
Auch das Wilfen, nur ald Wiſſen betrachtet, fhließt die
Freiheit nicht aus, Weil es volltommen, dem Gegenftande
addquat if, fo weiß Gott dad Freie als Freies u. f. w.
Die Vorausgewußtheit ſchließt bei freien Handlungen (ethis
ſchen Exeigniffen) die Möglichkeit des vorher auch nicht
in die Wirklichkeit Tretend ein, und nur die Nothwendigkeit,
dag, wenn ein Ereigniß in die Wirklichkeit tritt, es nicht
zugleih nicht in die Wirklichkeit treten Tann. — Der
Verf. ſchließt mit der Hinweiſung auf bie durchgehende
tiefe, foftematifche Einheit Anfelm’s, wodurch er ein Vor⸗
bitd für die Speculation aller Zeiten fey, um fo mehr, als
fie auf der fireng theolo giſchen Haltung feines Dens
tens (Pf. 36, 10.) berube,
Bir aber fhliegen diefe Anzeige mit aufrichtigem Dante
gegen den Berfaffer, der in diefer Monographie den groß⸗
artigen Anfang der Scholaftit auf eine fo gründliche, ja,
man darf wohl fagen, erfhöpfende Weife erforfcht und dars
geſtellt und dadurch für die weitere monographifhe Durchs
forſchung dieſes noch fo vieler Aufhelung bedürftigen Ges
biet8 einen foliden Grund gelegt hat. Möchte er nicht nur
viele Lefer, die feine Leiftung zu würdigen wiſſen, fondern
auch wuͤrdige Nachfolger in der die Anftrengung ber edels
flen Kräfte anfprecyenden und lohnenden Arbeit finden, einer
Arbeit, durch welche fi) auch mehr und mehr herausſtellen
wird, was ſchon dad gegenwärtige Werk den Kundigen
und Achtſamen ohne alle ausdruͤckliche Hinweifung erken ⸗
nen läßt, daß dad Beſte der mittelalterlihen Theologie
auch der evangelifchen Reformation und ihrer Theologie
tuͤchtig vorgearbeitet hat.
Kling.
Tpeol, Stud. Jahrg, 1868, 2
440 Dittmar
2
Die Geſchichte der Welt vor und nad Chris
ſtus, mit Rückſicht auf. die Entwicklung des Lebens in
‚Religion und Politik, Kunft und Wiſſenſchaſt, Handel
und Induſtrie der welthiftorifchen Voͤlker. Für das all⸗
gemeine Bildungsbedürfnig dargeftelt von D. Heinr,
Dittmar. Heldelberg bei Karl Winter, 1-4. Band.
1846 — 1851.
Wenn es überhaupt eine hocherfreuliche Thatſache if,
daß feit dem Wiedererwachen bed evangelifchen Glaubens
immer mehr die verfchiedenften Zweige bed menſchlichen
Willens unter die heilen Strahlen der Sonne der Bahr
heit gefegt werben, fo ift es vor Allem eine koͤſtliche Errun⸗
genſchaft, daß auch von einer fo tief eingreifenden Wiſſen⸗
ſchaft, wie die Weltgefchichte if, das Chriſtenthum immer
entſchiedener Befig ergreift, Dieß ift bekanntlich fchom feit
längerer Zeit im Werden. Bon denkenden Männern wie
/A. Bräm, J. Chr. 8. Hofmann, Chr, Barth, Fr.
Ehrenfeuchter befigen wir mehr allgemein gehaltene Bes
trachtungen der Weltgefchichte, und eine Ausführung des
Ganzen hat uns in feiner eigenthlimlich geiftreihen Weiſe
Leo geſchenkt. Aber fein Werk fett gelehrte Bildung vor⸗
aus, und eine chriſtliche Bearbeitung der Weltgefhichte für
das allgemeine Bildungsbedürfnig, für die große Anzahl
derer, welche, ohne gelehrte Grumblagen zu befigen, doch
ein eben fo natürliches als achtungswerthes Verlangen begs
ten, ſich über die Vorzeit gründlich zu unterrichten, fehlte
bis jegt noch. Diefem laͤngſt gefühlten Bebürfniffe bat
nun Dittmar zu genügen gefucht. Beſcheiden befennt er
(Band II. Vorrede, &, VII): „Auf den Vorzug der Mit:
theilung von neuen Ergebniffen ureigner Erforfchungen macht
meine Arbeit Beinen Anſpruch; mein Hauptbemühen war,
von dem reihlih vorhandenen Material das
Wefentlihe und Bewährte ſichtend auszubes
ben.”
die Geſchichte der Welt vor und nad Chriſtus. 441-
Welch' eine Aufgabe dieß ſey, wird Jeder leicht einfehen,
der. mit dem heutigen Stande der biftorifchen Wiſſenſchaft
in ihren verfchiedenen Zweigen auch nur einigermaßen bes
kannt iſt. Es ift ohne Zweifel für den Darſteller der Uni⸗
verfalgefchichte ein ſeltenes, nicht hoch genug zu ſchaͤtzendes
Gluͤck, daß er bereits eingehende und geniale Arbeiten über
einzelne Partien der Geſchichte vorfindet, ja daß es unferer
Beit vorbehalten war, litterarifche Schäge und archaͤologi⸗
ſche Fünde zu entdecken, die auf bisher nur wenig bekannte
Gebiete ein helles Licht geworfen haben; aber mit der Maffe
des Gegebenen waͤchſt auch die Schwierigkeit, dieß Alles zu
umfaflen. Da gilt ed, mit ber Fackel der Offenbarung und
an der Hand bewährter Schriftforfher das Dunkel der Ur⸗
anfänge der Menfchheit zu beleuchten, eine Aufgabe, die fich
mancher bisherige Bearbeiter der Weltgefchichte bequem oder
vornehm fern gehalten hatz ed gilt, mit ber durch ben
Glauben erleuchteten Zorfhung tiefer Naturfundiger bie
Urgefchichte zu unterſuchen, die Angriffe zurüdzumeifen,
durch weiche man die Data ber Offenbarung in die Reihe
‚ nationaler Mythen herabſtoßen zu Tonnen meinte, und das
Menfchengefchlecht in feiner Verbreitung über die Oberfläche
der Erde zu verfolgen; da müffen die Reifenden gehört wers
den, welde und die Riefenbauten des Drients, jene flums
men Zeugen der Vorwelt in Aegypten, Perfien, Indien und
Chaldaͤa, befchreiben, welche zum Theil kaum jegt erſt aus
dem Schutte emporgetaucht ſind, zum Theil erſt anfangen,
verſtanden zu werden; da muß der Hiſtoriker ſich von ge⸗
nialen Kennern alter Religionen, einem Creuzer, Goͤr⸗
res u. A., in die Geheimniſſe der Symbolik der alten Voͤl.
fer einweihen laflen; ee muß die griechiſche und roͤmiſche
Welt, wie fie und ein Niebupr, ein Otfried Müller
u %. erſt in einem neuen Lichte vor Augen geftelt haben,
fammt ihrer Kunft» und Litteraturgefichte durchforſchen,
die Periode Alexander's und feiner Nachfolger im Lichte der
tlaſſiſchen Darftellung Droyfen’8 verfiehen lernen, den
. 2.
442 Dittmar
Wegen des Volkes Gottes bis in bie mit Affgrien, Baby
Ion und Perfien verfchlungenen Perioden, ja bis in bie
dunkleren Zeiten des Verfalls und der politiihen Raͤnke
nachgeben, den Fall der römifchen Republik und die Kaifers
zeit in ihrem mannichfachen Detail kennen lernen, die Ans
fänge deö Germanenthumd nach ber durch die Grimm’s
wiedergewonnenen Erkenntniß deffelben "verfolgen, die kir⸗
chenhiſtoriſchen Refultate eines Neander, Giefeler u. A.
in fi aufnehmen, die neuerdings erft aufgehellte Geſchichte
der einzelnen flavifhen und romanifchen Voͤlker ſtudiren,
bie feit Jof. v. Hammer entdedte Gefchichte der Araber
und Moslemin fi aneignen, bie Forfhungen der großen
Geſchichtſchreiber unferes eignen Volkes, eines Leo, Euden,
Er. v. Raumer, Wilden, verarbeiten, die Reformation
und ihre Vorläufer nach dem Ergebniffen neuefter Studien
begreifen und das feit breifundert Jahren ind Unermeßs
liche auseinandergehende Meer moberner Staatengefchichte
durchſchiffen, noch nicht einmal zu gedenken der zahlloſen
Monographien über einzelne bedeutende Männer, Orte, Sys
ſteme, welche gleichfalls nicht zu ignoriren find. Diefer
ungeheuren Aufgabe hat ſich der Verf. mit einem wahrhaft
eifernen Fleiße unterzogen, und was bis jegt großentheilß
Privateigenthum ber Gelehrten war, allen Gebildeten unfes
res Volkes zugaͤnglich gemacht; und wenn einerfeits bie
Niefenarbeit, alle Schäge des hiſtoriſchen Wiſſens unferer
Beit in fih aufzunehmen, unfer Staunen erregt, fo verbient
Dittmar ohne Zweifel den Dank ber deutſchen Nation,
der er durch fein allumfaffendes Werk eine wahre Biblios
thek gefchichtlicher Kenntniffe und Erkenntniffe geſchaffen hat.
Hier Tann jeder Gebildete fi über alle Theile der Welts
geſchichte unterrichten, und es wird nicht leicht einen Punct
geben, worliber er nicht gründlichen und faßlichen Unters
richt fände. Und doch ift bei all' der Gemeinfaßlichkeit nir⸗
gends bie edle Sprache, nirgends der Ernſt ber Wiſſen⸗
ſchaft verleugnet, fo wie andrerfeits die Gründlickeit der
die Geſchichte der Welt vor und nach Chriflus. 443
Darftellung fern ift von aller Trockenheit; Alles hat Fleiſch
und Blut, Leben und Farbe, und nicht leicht gefchieht eines
Wunders der Baukunſt, eines prächtigen Aufzugs, einer
entfcheidenden Schlacht oder Verhandlung Erwähnung, ohne
daß und bie anfhaulichfle Schilderung gegeben wäre.
Man hat fih von einer Seite darlıber aufgehalten, daß
der Verf, „fr das allgemeine Bildungsbebürfnißg” gefchries
ben bat, weil die Bildung unferer fogenannten Gebildeten
nicht tief genug fey, um einen Anfpruch auf ſolch' eine hin=
gebende Bemühung zu begründen. Aber gerade dann, duͤnkt
uns, if ein Werk wie das vorliegende am Plage. Sind
unfere Gebildeten nicht gründlich genug gebildet, nun fo hat
ja eben der Gelehrte die Aufgabe, ſich zu ihnen herabzu⸗
laſſen, ihnen die Ergebniffe ernfter Forſchung mitzutheilen
und fie fo Über die Seichtigkeit des halbgebildeten Weſens
emporzuheben. Und in welcher Wiſſenſchaft Pönnte er bieß
fo gut, als in der fo fehr gefuchten, auf das geſammte Den«
ten der Gebildeten fo einflußreichen Weltgefchichte? So
lange ein ſolches Werk, das mit größter Gemeinfaglichkeit
eine gediegene Grundlage des Wiſſens und bes Urtheils
verbindet, noch nicht eriftirt, werden Arbeiten rhetorifcher
Hohlheit, wie die rotted’fche, immer ein großes Publis
cum baben, und was ift bann gewonnen?
Nah allem Bisherigen ift es wohl felbftredend, daß
der Verf., indem er die Refultate fo vieler Forſchungen in
fih aufnahm, Peine bloß aͤußerliche Zufammenftellung gab.
Ueberall hat er mit feinem fo mannichfaltig geöffneten Ins
tereſſe fich in die verfchiebenften Gebiete hingebend vertieft
und das Empfangene reiflid in ſich verarbeitet, &o finden
wir alfo eine große Maffe hiſtoriſchen Stoffes aller Art zu
einem wohlgefügten Ganzen verbunden; Alles läuft in eis
nem ununterbrodyenen Faden pragmatifher Entwidelung
dahin.
Es verſteht ſich, daß im einer chriſtlichen Weltge⸗
ſchichte Chriſtus als der Mittelpunct derſelben offen
444 Dittmar
hervortritt. Bei dem vorliegenden Werke deutet dieß ſchon
der Titel: „Geſchichte der Welt vor und nad Chriftus”
an, und nicht leicht möchte die burchgreifende Wendung, bie
der Eintritt des Erloͤſers in die Entwicklung ber Menſch⸗
beit gebracht hat, in irgend einem andern Buche der Art
fo entſchieden audgedrüdt worden feyn, als bier, fo oft
man aud) feit I. v. Müller Chriftum den Schlüffel der
Weltgefchichte genannt hat, Andere haben fon darauf
aufmerffam gemacht, wie im Gegenfage zu ber bisher bes
liebten Anficht von ber Entftehung und dem Werthe des
Heidenthums Dit tmar-wieder ausführlich die geoffenbarte,
alfo wahre Anſchauung ausführlich geltend gemacht hat, Wer
Augen bat, zu fehen, kann in ben beiden erften Bänden mit
nicht großer Mühe verfolgen, wie in der vorchriſtlichen Periode
überall das Hinftreben des Wölkerlebens nach dem Verhei⸗
Genen hervorgehoben if. Während bei dem Wolke der Wahl
die directen Hindeutungen in Gefeß, Propheten und Vor⸗
bildern betont werden, wird gezeigt, wie die Heidenwelt in
idren verſchiedenen Abzweigungen die mannichfachſten Ver⸗
ſuche machte, die Aufgabe der Menſchheit mit bloß menſch⸗
lichen Kräften zu löfen, und über diefen Verſuchen zu Schan⸗
den wurde, wie aber auch der Gang ber Gedichte vor
Chriſtus in den nach einander auftretenden Reichen darauf
berechnet war, daß dem Gottesreiche die weitefte Bahn zu
allen Nationen gemacht würbe, Schön hat dieß der Verf,
in dem geiftreichen Auflage zufammengefaßt, mit welchem er
die römifche Gefchichte eröffnet, „Der befchaulich in fich ru⸗
hende Geift des heidnifchen Drients”, fagt er (11,275 ff.),
„der anfangs noch einzelne Reſte von Uranfhauungen bes
wahrte, fuchte das leitende Gefe& für die Entwidlung eines
Volkes als eines fittlihen Ganzen zwar richtig in einem
Höheren, Uebermenfchlichen, griff aber, durch die Sünde in
Irrthum verkehrt, fehl und glaubte, es in dem ſtarren Res
gimente unlebendiger Natugmäcte oder in dem Defpoten:
willen deö Stellvertreters ber Gottheit, alfo in einem nur
D
die Gefchichte der Welt vor und nach Chriſtus. 445
ſcheinbar Unwanbelberen und ſcheinbar Ewiglebendigen, zu
finden. Aus diefem Grundirrthum unterbrüdte er jede freie
Megung der angeborenen Individualität und fchloß ſich da⸗
bei möglicäft von der Berührung mit andern Völkern ab,
Darum mußte er in feiner Ganzheit allmählich felbft dem
geiftigen Tode fowohl, ald auch der leiblichen Abgeftandens
heit anheimfallen. — Im Gegenfage davon hat ſich der bes
weglide, mehr nach außen fchauende Geift des Griechen
gerade die Entwidlung der individuellen Freiheit zur Les
bensaufgabe gemacht und dadurch in dem Leben einzelner
zu ihm gehöriger Individuen, Stämme und Politien die
genialften Erſcheinungen harmoniſcher Schönheit hervorges
zaubert, Weil er aber dad Gefeh für jene Entwidiung nur
aus dem Individuum felbft nahm, in beffen natürlichem
Buftande es eben fo vorherrſchend als ein Gefeg in den
Gliedern ſich Fund thut, fo zerfplitterte er feine Kraft-und
konnte es nicht zur Darftelung eines harmonifch conflituirs
ten, auf einem allgemein fittlihen Bewußtſeyn ruhenden
und darum felbftändig fortbeſtehenden Volksganzen bringen,
Bei feinem fteten Hange, die Grenze der von ihm aufge
ſtellten Freiheit zu Üüberfpringen, ging er zulegt ber Freiheit
ſelbſt verluftig, wenn er auch in feiner äußeren Gebundens
beit noch fortfuhr, in andern Beziehungen belebend auf An⸗
dre zu wirken, ja fogar einem phyſiſch Kräftigeren, der ihn
in fi aufnahm, noch zu großartigen, wenn auch vorliber=
gehenden Siegen zu verhelfen.”
„Noch ein Verſuch, ſich mit eigner Kraft fein Volks⸗
daſeyn felbfändig auszubauen, war übrig; aber aud er
foßte fcheitern an dem Mangel eined Gefeges, welches hoͤ⸗
ber iſt, als das, ſo in dem von der Sünde getruͤbten Ge⸗
wiſſen des Menſchen wohnt, Es follte das Volk der Roͤ⸗
mer in ſeinem maͤchtigen Gange über die Voͤlkerbuͤhne den
Beweis geben, daß auch ein durch die ſtrengſte Form des
menſchlichen Rechts mit beſonnenſter Reflexion zuſammen⸗
gehaltener Volksverein, auch wenn er bie angeborene Indi⸗
446 \ Dittmar
vidualität keineswegs in ſich erftict, ſondern nur ihr natuͤr⸗
lich freies Handeln durch Uebereintommen rechtsfoͤrmlich
bindet, zwar mit ber mächtigen Kraft ber Einheit lange
Zeit hindurch alles ihm Wiberftrebende Überwältigen und
riefenhaften Umfang gewinnen Bann, daß aber ein ſolcher
Volksverein, .eben weil nur dad Gefeg menſchlichen Rechts
ihn trägt, und folglich die mit ihm zufammenhängenden
übrigen fittlihen Stügen almähli von dem nur aͤußerlich
verdedten, innerlich deſto heftigeren Feuer der Selbſtſucht
ebenfalls bald verzehrt werben, dennoch, wenn auch vom
hohlen Scheine des Rechts noch eine Zeitlang gehalten, ends
lich auch zufammenbriht und mit feinem Kalle die von
ihm unterjochte Welt um fo tiefer erfchättert, je mehr er
fie vorher, flatt fie mit einem höheren Leben zu befruchten,
faft aller noch übrigen Lebenskeime beraubt hat, — Nichts—
deſtoweniger hatte das römifhe Wolf mit feiner männlichen
Charakterftärte noch die große Beftimmung, durch Grüns
dung des vierten Weltreichs (Dan, 7, 23.), gleich einem Welt»
firome, allmaͤhlich die verfchiedenen neben ihm beftehenden
Völker und Reiche wie Flüffe und Bäche in ſich aufzus
nehmen, um nach Gotted Abſicht dem Heile, dad die Voͤl⸗
ker bis an der Welt Enden erleuchten folte, eine unbehins
derte Bahn zu maden,” '
Man wird diefer Darftelung feine Zuftimmung nicht
verfagen koͤnnen, wenn man auch wünfchte, in derfelben
noch entfchiebener und ausführlicher bei den Griechen das
Element der Schönheit, bei den Römern das ber Kraft
berüdfichtigt zu fehen, — Nachdem der Verf, einmal bei
dem Mittelpuncte der Gefchichte, bei Chrifto, angelangt
it, fo finden wir natuͤrlich die Geſchichte des Reiches
Gottes vorangefielt und vorzugsweiſe berückſichtigt. Nes
ben den Incunabeln des kirchlichen Lebens laufen ganz fachs
gemäß bie Anfänge ded germaniſchen Volkes her, des
Volkes, welches „zum künftigen Eräftigften Träger des Chris
ſtenthums erfehen war”, und „von dem der zertrümmernde
Hauptfioß auf den Beſtand ber römifchen Weltherrfchaft
die Geſchichte der Welt vor und nad) Chriſtus. 447
ausgehen fohte” (III, 21.). Wir fehen daB Kaiferreich vers
fiecden, das deutfche Wolf dagegen immer mächtiger her⸗
vortreten,. bis endlich die alte Welt die Aufgabe, dem Chris
ſtenthume theild zum Meizmittel, theils zum erſten, wenig
angemeffenen Gehäufe gedient und feine Verbreitung zu den
Boͤlkern angebahnt zu haben, erfüllt hat und von den ges
waltigen Hämmern der Gefchichte zerfchlagen werden Tann.
Während nun das Chriſtenthum bed Drients theils noch
lange ein kraftloſes Daſeyn hinſchleppt,“ theils das Gericht
der Bernichtung erleidet, erhebt ſich im Decident vor un.
fern Augen ein neues, aus Germanentbum und Ghriftens
thum geborenes Wölferleben, anfangs noch vielfach befruchs
tet durch römifche Gultur und römifches Recht, dann ims
mer felbftändiger feine eigenthuͤmlichen flaatlichen und rechts
lichen Berhäftniffe herauebildend und, wenn audy erft nach
Sahrhunderten und nicht ohne Impulfe von den Voͤlkern
des Islam ber, fein eignes geiſtiges Leben, feine eigne
Cultur und Handelöthätigkeit erringend, Wir fehen das
Mittelalter, den Lehensſtaat, das Feudalrecht, das Städtes
leben vor unferen Augen entſtehen; es bildet fich das deuts
ſche Rei) und zulegt die Hierarchie, ald die Alles umfafs -
fenden Mächte jener Zeit, beide in einem Bunde der Eifers
fucht, in einer concordia discors begriffen und durch ihre
SInftitutionen den chriflichen Geift verförpernd, bis fie fi
im Kampfe mit einander aufreiben, da denn zuerft die Hie⸗
rarchie das Kaiferthum zerfchlägt, fo dag um das beutfche
Reich her die andern Staaten ſich ftärker emporbeben koͤn⸗
nen, fobann biefe Staaten (vor allen Frankreich) wieder
die Hierarchie herabdrüden und fo der Reformation bes
von der Fußfohle bis zum Scheitel kranken Kirchenleibes
die Bahn bereiten. Ueberall zeigt fi uns Mar, wie die
Kirchengefchichte der Kern der Gefchichte geworben iſt.
Man glaubte gleich nach dem. Erfcheinen des erften
Bandes, aus den erften Abfchnitten deſſelben fchließen zu
koͤnnen, der Verf. fey in der Anorbnung des Ganzen der
Nachtreter Le o's. Hiegegen verwahrt er fi, und, wir
448 5 Dittmar
glauben, mit Recht (IM. Vorrede, S. V— VII). Gem
betennt er, 9. Leo viel zu verdanken, aud wohl ein
zelne archiftktonifhe Linien und Verbindungen von feinem
Bauriffe entlehnt zu haben, wie z. B. feine Aufeinanders
folge der aͤlteſten heidniſchen Culturvoͤlker (und auch dieſe
mit großen Aenderungen), weil fie unter allen bisherigen
allein einen tieferen Nachweis des Ganges der Gultur ver=
fucht habe, Im Grunde aber ſey fein Plan doch ein an⸗
‚derer, freilich nicht neu, vielmehr ber ältefte ber alten, aber
auch feine Erfindung irgend eines Hiftorikers, fondern Se⸗
meingut der Menfchheit, nämlich der Plan ber Geſchichte
ſelbſt, der mit der Offenbarung zufammenfalle, Die
fen habe er in der Schrift gefunden, dann im Gange ber
Sefchichte aufgefucht und weiter ind Einzelne verfolgt, als
feine auf gleihem Standpuncte flehenden Vorgänger in ber
Geſchichtſchreibung es gethan. Verſuchen wir, fo viel es
hier in der Kuͤrze moͤglich iſt, die Anordnung wiederzugeben,
die der Verf. befolgt hat.
Nachdem uns der Verf. einen Blick in den Uranfang
der Dinge hat thun laſſen und uns im Lichte der Offen⸗
barung die Schöpfung bes Menſchen, bad Werben der Spras
che und die Entftehung der Sünde und deren Folgen dars
gelegt hat, ſehen wir dad Menſchengeſchlecht in feiner erſten,
geringen Auöbreitung, feiner Werzweigung in Keniten und
Sethiten. Bald reißt die Sündfluth den Faden der Ent:
widlung ab; von einer einzigen Familie aus erneuert fich
die Menfchheit, fpaltet fi) in Sem, Ham und Japhetz jegt
erft, zumal feit der babylonifcyen Wölkertrennung, fehen wir
bie Erde in ihrer gegenwärtigen Bewohnung, wobei, wie
zu erwarten war, bie Voͤlkertafel 1Mof. 10, zu Grunde liegt
und verfucht wird, aud die dort nicht genannten Voͤlker
auf ihren wahrſcheinlichen Urfprung zurishzuführen, ja felbft
die Bevölkerung ber neuen Welt in Zufammenhang mit
ben Angaben der Schrift zu bringen.
Nun werben uns, nachdem zuvor bie Entwidelung des
Heidenthums und ber erſten Staatenbildbung gegeben ift,
die Gefhichte ber Welt vor und nach Chriftus, 449
die aͤlteſten Culturvoͤlker vorgeführt, das Zendvolk, die Ins
der, bie Aethiopier und Aegyptier, die Altbabylonier und Alt⸗
affgrer, die Perfer und Phönicier, die Ghinefen ; erſt dann
Tommt die Geſchichte Iſtaels und mit ihr verfchlungen die
des fpäteren affgrifchen, babyloniſchen, mediſchen und pers
fiſchen Weltreichs (anders als bei Leo, welder Ifrael erft
nad der Geſchichte Griechenlands und Roms bringt), bis
dahin, wo das babylonifche Eril einen entfchiebenen Abs
ſchnitt macht. Jetzt treten wir auf den Boden Griechen:
lands, und der erfle Band führt feine Geſchichte bis auf
den Höhepunct der Blüthe und wieder bis zum inneren
Verfalle nach dem peloponnefifchen Kriege ; mit dem Hervor⸗
treten Macedoniens beginnt der zweite Band, bie Heldens
geftalt Alerander’s d. Gr, ſteigt vor und auf, griechifche Bils
bung und orientalifcher Luxus vermengen ſich durch ihn,
zumal durch bie alle Nationen durcheinander treibenden
Diadochenkaͤmpfe, aber ihre Wermengung im Hellenismus
iſt auch die Auflöfung des Griechenthums, welches jegt in
den Staaten aus Alerander’s Monarchie nur noch confervirt
wird, um das nachher emporfleigende roͤmiſche Weltreich
geiftig zur befruchten. Wir verfolgen nun Roms Gefchichte
von den nationalen Elementen an, bie nadher das römis
ſche Volk bildeten, bi dahin, wo ed, auf den Gipfel feiner
Macht angelangt, die Faͤulniß des Orients in fi aufnimmt,
dann in wüthenden Bürgerkriegen fich felbft zerfleifcht und
endlich der Monarchie in die Arme fällt. Jetzt, wo an
der Grenzfcheide der Aeonen (1 Kor. 10, 11.) dad Harren
der Völker und der Bankrott ihrer fittlihen Strebungen
beleuchtet wird, hebt fi) das Wolf Gottes als das Volk
der Verheißung aus allen andern hervor,
Das Erfcheinen des Weltheilands eröffnet den dritten
Band, doch wird die Gefchichte der Kirche fürs Erfte nur bis
zum Apoftelconcit fortgeführt und erſt wieder aufgenommen,
nachdem die Germanen gefchilbert find, die Kaifergefchichte
bis auf Commodus erzäplt und ein Blick auf das filberne
Zeitalter der claffifchen Litteratur geworfen iſt; jegt folgt
450 Dittmar
die ausführliche Darftelung bes chriftlichen Lebens in ben
gloei erften Jahrhunderten, fobann der Verfall bes roͤmi⸗
ſchen Reiche im dritten Jahrhundert, bis daffelbe mit Gone
fantin eine neue Geftalt befömmt und dad Chriftenthum
ald Lebendelement in ſich aufnimmt, vor deſſen Sonnenms
ſtrahlen nun bald die legten Schatten bes Heidenthums
trog aller Kraftanftrengungen verſchwinden. Aber immer
offenbarer wird es, daß das roͤmiſche Weltreich ind Grei⸗
fenalter getreten iſt; felbft das Chriſtenthum nimmt in ihm
eine verfnöcerte, dogmatifirende Geftalt an, immer entfchies
dener tritt die germaniſche Welt in den Vordergrund; Go—
then, Hunnen, Vandalen treten nad) einander auf bem
Schauplag; wir fehen ein Dſtgothenreich, ein Frankenreich
entfteben; in beiden bereitet ſich das Chriftenthbum neue
Gefäße mit eigenthuͤmlichen ftaatlihen Verhältniffen, wies
wohl e8 im Frankenreiche noch einmal abwärts geht, und By⸗
zanz noch einmal vorübergehend nach außen ein Wachsthum
erhält. Aber der Welten wird durch chriſtliche Miffionen
verjungt, wogegen im Oſten der innere Verfall immer mehr
zu Tag kommt, Da tritt Muhammed auf, das Chalifens
reich entfteht, das chriſtliche Morgenland, Nordafrika und
Spanien empfangen ihr Gericht, und während das oͤſtliche
Kaiſerthum vollends erftarrt, heben fich die Karolinger herz
vor, Bonifacius vonführt fein großes Werk, und in Karl
d. Gr. ſtellt fich bereitd die ganze künftige Herrlichkeit des
neuen Kaifertyums, die Kirche im Bunde mit bem Staate,
dar. Wir werden in alle Zweige feiner großartigen chriſt⸗
lichen Gultur eingeführt, müffen aber alsbald nad} feinem
Tode das Sinken feines Geſchlechts wahrnehmen,
Der zweite Theil des dritten Bandes führt und zunaͤchſt
an ben fächfifchen und falifhen Kaifern vorüber und zeigt
und im Kampfe Gregor's VIL. mit Heinrich IV. die Entſtehung
der roͤmiſchen Hierarchie; dann wird uns die Gefchichte
Sranfreihe, Englands, Scandinaviens, der Slaven und
Ungarn, des griechiſchen Reichs, Spaniens (des muhammeda⸗
niſchen und des chriſtlichen) und der oͤſtlichen Chalifate vor⸗
die Gefchichte der Welt vor und nad) Chriftus. 451
geführt. Dieß bildet den Uebergang zur Gefchichte der
Kreuzzüge, ber Ritterorden; wir lernen das Staͤdteweſen,
das Moͤnchsthum, bie Scholaftit kennen, fehen bereits die
Ausartungen ber Kirche und ihnen gegenüber eine bald reis
nere, bald fleiſchlichere Sppofition, Damit ift dad Zeitalter
der Hobenftaufen eingeleitet, in welchem das Kaifertyum
auf der Spige der Macht erfcheint, um darin aldbald vom
Popfitpum überboten zu werden und einem jähen Kalle ent⸗
gegenzugehen. Die Gulturgefchichte dieſer Periode zeigt
und deutſche Poefie, Baukunſt und mittelalterliche Scholas
fit in Höchfter Bluͤthe und führt uns die ebelfte Frucht der
Ritterorden, die Ehriftianifirung Preußens, vor Augen. Dann
ziehen wieder die außerbeutfchen Länder fo ziemlich in ders
felben Ordnung wie vorhin an und vorüber, nur daß dießs
mal bad Mongolenreich die Zahl der gefchichtlihen Staaten
vermehrt. — Indem nun dad Kaifertbum immer mehr berabs
koͤmmt, zerfplittert ſich unſer Blid mehr und mehr auf alle
Staaten Europa's; Frankreich koͤmmt empor, Enechtet die
Hierarchie, wird aber felbft im Kampfe mit England aufs
tieffte gedemüthigt; Spanien befreit fi von den Mauren,
Scandinavien hebt fi durch die calmarifche Union, Polen
und Ungarn empfangen ihre größten Könige, Osmanen und
Mongolen erreichen den Höhepunct ihrer Macht. Die nächfte
Periode führt uns zunaͤchſt zur Kirche zurüd; wir finden fie
in Außerfter Verſunkenheit; bald treten nun reformatorifche
Geifter auf, reformirende Concilien werben abgehalten; die
Wirren unter Friedrich 111. erregen die Sehnfucht nad) an⸗
deren Zuftänden immer mehr. Frankreich, im Kampfe mit
England ſchon faft unterliegend, behält am Ende den Sieg
und gewinnt neue Kraft, zumal nachdem die ſchnell empor⸗
gekommene Macht Burgunds eben To raſch wieder gefunten
iſt, wogegen fi England in blutigen Adelskaͤmpfen zer⸗
fleiſcht. Spanien tritt mächtig aus dem Vernichtungskampfe
mit den Mauren hervor; auch die öftlichen Reiche fchreiten
voran, Rußland ſchuͤttelt das Mongolenjoch ab, die Osma⸗
nen flärzen mit Konftantinopel ben legten Reſt des griechis
452 Dittmar
ſchen Reiche. In Italien werden Venedig, Florenz, Mais
land mächtig, aber auch das Haus Habsburg erneuert ſich
in Marimilian J., und felbft das deutfche Reich beginnt ſich
aus feiner tödtlihen Ohnmacht aufzuraffen,
Mit dem vierten Bande werden wir in bie neue Zeit
eingeführt. Neue Welten werden entbedt, alte geiflige
Schäge au dem Schutte hervorgebolt und durch die Erfin⸗
dung der Buchdruderkunft zum Ferment ber erflarrten Chris
flenheit gemacht, um ben endlichen Durchbruch der Refors
mation vorzubereiten, Bald fchauen wir die Auferftehung
des Evangeliums und verfolgen fie in alle ihre Stadien, befons
ders aber tritt der Heros derfelben, Martin Luther, als
volftändig gezeichnete Lebensbild vor und; mit feinem
Tode und mit dem Beginne bed ſchmalkaldiſchen Krieges
bricht das Werk ab, dem wir moͤglichſt baldige Fortfegung
und Vollendung wuͤnſchen.
Müffen wir in der Anordnung des Geſchichtspla—
nes die entſchiedene und zugleich durchaus fachgemäße Durchs
führung des chriſtlichen Princips erkennen, fo beurfundet
fi unfer Werk als ein chriſtliches auch durch ben allents
halben ſich ausſprechenden hriftlihden Sinn, durd bie
Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe des Verfaſſers. Ohne
Zweifel hat die Weltgefichte einen Beruf zum Weltges
richt ez es ift recht, daß ber Hiſtoriker nicht bloß objectio
theilnahmlos erzähle, fondern daß er auf echt menfchliche
Weiſe zeige, daß er ein Gewiſſen hat, Das Gewiflen des
Hiſtorikers bat aber um fo mehr Beruf, fich auszufprechen,
ald es ein evangelifch erleuchteted if. Obwohl nun ber
Verfaſſer ſich nirgends mit feinem Urtheile vordrängt, fo
ſchimmert dieſes doch überall zur Genüge hindurch, abgefes
ben von den Stellen, die von felbft zum Ausſprechen ſeines
Urtheils auffordern. Und indem er auch bie glänzendften
Erfcheinungen ber Weltgefchichte an den Maßftab des Chris
ſtenthums hält, erſcheint freilich Wieles, was bisher wie ein
Ideal dageftanden hat, in einem minder ſttahlenden Lichtez
dafür werden wir aber auch mit dem Gchidfale fo manches
die Geſchichte der Welt vor und nach Chriſtus. 453
Heroen der Gefchichte audgeföhnt, indem und mit ber ihm
anhaftenden fündlihen Schwäche aud die Notwendigkeit
der Züchtigung fofort einleuchtet. Demnach haben wir hier
‚nirgends ein unerbittliches Gericht, fondern ein ſolches, wels
ches, von barmherziger Liebe getragen, durch bad Bewußt⸗
feyn eigener Menſchlichkeit gemildert if, eine Eigenfchaft,
ohne welde und dad gefchichtliche Urtheil, wenn ed nad
dem reinflen Lichte ber Wahrheit gefält wird, faum ertraͤg⸗
lich feyn möchte. Ein Beurtheiler hat Dittmar biefe
Milde zum Vorwurf gemacht und namentlich bemerkt, er
sehe dem claffifchen Alterthume nicht Fräftig genug zu Leibe,
indem er überall unbefangen das fittlih Edle und geiftig
Schöne deffelben anerfennt. Ex kann aber getraſt dad Bei⸗
fpiel eines Paulus und Petrus für ſich anführen, welche
auch bei den gröbften Werirrungen der Juden und ‚Heiden
auf Rechnung bringen, daß Solches „in ben Zeiten ber Uns
wiflenheit” gefchehen fey, die Gott „üuberfehen habe”, um
feit der Erſcheinung Seines Sohnes ‚allerwärtd zur Buße
aufzurufen (Apoſtelgeſch. 3, 17 ff. 17, 30.). — Nur in Einer
Hinficht hätten wir gewuͤnſcht, ber Verfaſſer hätte in feinem
Streben, allen Seiten gerecht zu werben, mehr Maß ge:
balten, in Beziehung auf die Reformation und die Kirdhe
des Mittelalters. Je Feder heutzutage die römifche Kirche
mit der Verbammung ber erfteren hervortritt, je gröbere
Entftelungen ſich katholiſche und Fatholificende Schriftfieller
erlauben, deſto getrofter follte die evangelifche Geſchicht⸗
ſchreibung auf dem göttlich verfiegelten Rechtsboden ber
Reformation einherſchreiten und nicht bad formelle Recht
der alten Kirche in einer Weife gelten laſſen, daß bie Ex-
Tämpfung der Freiheit des Evangeliums als eine Sache ers
ſcheint, worüber adhuc sub iudice lis waͤre. Im biefer
Beziehung hätte Meferent, wie gefagt, einzelne Stellen
gern anders gefehen. Jedoch ber ganzen Haltung bes Bus
ches gegenüber, namentlich der fo warmen Behandlung der
Geſchichte Luther's gegenüber, dürfte der beſprochene Man«
gel ald ein verfchwindendes Moment angefehen werden,
w
454 Dittmar, d. Geſchichte d. Belt voru. nad) Chriflus.
welches der feltenen Verdienſtlichkeit, Trefflichkeit und Nügs
lichkeit des Werkes In Feiner Weiſe Abbruch zu thun vers
mag. Diefes Werk erfüllt zweifelsohne, wie ed auch auds
gefprocdenermaßen in der Abſicht des Verfaſſers lag, eine
hochwichtige Miffion am die Gebildeten unferer Nation
(I. Borr, ©. VIf.) auf eine. auögezeichnete Weife, und
möge man immerhin auf die liebevoll eingehende Berüde
fihtigung diefer „Schicht” unferes Volkes veraͤchtlich herabs
blicken, diefe „Schicht” iſt nun einmal die culturgeſchichtlich
einflußreichfe, und nur allzu lange hat der beutfche Gelehr⸗
tenftand, auch der theologifche, ſich vornehm gegen diefelbe
abgefchloffen, feine geiftigen Schäge nur den Zunftgenoffen
mitgetheilt und fo den antichriſtlichen Schriftftellern eines
der wichtigften Arbeitöfelder uͤberlaſſen. Wer kann berech⸗
nen, wieviel Antheil an dem feit 1830 unfer Volk beherr⸗
fchenden Liberalismus, ja wohl felbfl an den revolutionären
Bervegungen von 1848 und 1849 bie weite Verbreitung der
rationaliſtiſch⸗liberalen Declamationen Rotted’8 gehabt has
ben mag! Drüden wir dem Berfaffer die Hand, daß er
mit einem nicht geringen Opfer feiner gefährdeten Geſund⸗
heit bie ungeheuere Arbeit übernommen bat, den Deutfchen
die Ergebniffe ihrer genialen und gelehrten Geſchichtsforſcher
durch gründliches Studium und edle populäre Darftelung
zugaͤnglich zu machen und ihnen hiermit auf dem uͤberzeu⸗
genden Wege gebiegener chriftliher Geſchichtſchreibung Chris
ſtum fund zu thun, und wünfchen wir, daß bie mit fo vies
ler Aufopferung bereitete koͤſtliche Gabe von den Gebilbeten
unferer Nation auch nach Verdienſt gewürdigt und recht
reichlich gebraucht werde, Der Herr aber, in deffen Dienft
die Arbeit unternommen worden if, ſchenke dem theuren
Verfaſſer auch ferner noch die noͤthige geiftige und leibliche
Kraft, damit uns dad Werk recht bald vollſtaͤndig geſchenkt
werben koͤnne.
Gernsbach, im Februar 1852,
Diakonus Kavfer,
Kircqchliches.
Theol. Stud, Jahrg. 1868. Lu
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1.
Die Bedeutung der ältern bugenhagen’fhen Kir⸗
chenordnungen für bie Entwicklung der beutfchen
Kirche und Eultur, -
von
€. 8. Jäger,
Repetenten am evangelifen Seminar zu Tübingen.
Durch dad Erfcheinen der richter' ſchen Sammlung
der Altern evangelifhen Kirchenordnungen iſt, die hiſtoriſthe
Theologie auf eine Aufgabe aufmerkfam gemacht worden,
die von ihr bisher ziemlich vernachläffigt worden if, Es iſt
unbeſtreitbar, daß eine lebendige Anfhauung von ber Be⸗
deutung ber Reformation in der Entwidiung ber hriftlichen
Kirche nicht abſtrahiren kann von der Art und Weiſe, wie
in diefer Periode der Organismus des kirchlichen Gemeindes
lebens in einer Reihe individueller Geflaltungen ſich ausbil«
det, Richter hat in feiner kurzlich erfchienenen Geſchichte
der evangelifhen Kiechenverfaffung in Deutfchland eine kurze
Ueberficht fiber diefen Theil der Kirchengefchichte neuerer Zeit
gegeben. Allein wenn bei derartigen Arbeiten wirklich ein
richtiges Bild von den kirchlichen Zuſtaͤnden diefer Zeit ges
wonnen werden foll, fo darf man die Bedeutung einer Kir⸗
chenordnung nicht uͤberwiegend in der Geftaltung des Kies
chenregiments fuchen, fondern in den Ginrichtungen, die
unmittelbar in bad tägliche Leben der Kirchengemeinde eins
greifen, Es ift eine gefrhichtliche Thatfache, daß bas'Beben
»*
458 Säger
der Kirche und die Form des oberften Kirhenregiments ſehr
oft fi gleichgültig gegen einander verhalten haben. Nament:
lich in Deutſchland, wo ſich dad Kichenregiment unter Ein
flüffen außerkirchlicher Natur ausgebildet hat, ift es fo weit
gelommen, daß die Gemeinde fih in der Regel erft dann
um Befriedigung eines religiöfen Bebürfniffes an die oberſte
Kirchenbehörde wendet, wenn dieſe bemmend in den Weg
getreten war, Ohne daB verfucht der Kern der Gemeinde
in Form freier Affociation, ohne daB Kirchenregiment, feinen
eigenen Weg zu geben, und läßt das Kirhentegiment dafuͤr
forgen, wie e8 mit paffenden Anordnungen hinterdrein kom⸗
men und ſich im Gredit erhalten möge, was oft erſt nach
vorhergegangenen minder freundfcaftlichen Begegnungen ger
lang. Dieß ift nun einmal eine unleugbare Thatſache, bie
man ſich nicht verbergen darf. Ich erinnere da nur an das
ſchon fo fruͤh in der lutheriſchen Kirche auflommende Gon-
ventifelwefen, dem unflreitig ein tiefere Beduͤrfniß nach eis
ner lebendiger, beffern Seelforge trog allen Verirrungen zum
Grunde lag, — fo wie an bie Miffionsvereine und damit vers
wandte Erfheinungen. Alles dieß ift dem Hiftoriker ein Bes
weis bafür, daß er ſich fehr davor hüten muß, aus ber
Form des Kirhentegiments auf den Zuftand der Kirche dis
rect zu ſchließen. Der organifhe Zufammenhang des Kirs
chenregiments mit dem kirchlichen Gemeindeleben Tann fi
todern, ja faft auflöfen, ohne daß deßhalb das Leben der
Kirche ſtill fände; es pulfixt fort, unbefümmert um den es
umfchliegenden Mechanismus. Dagegen hat jede Kirchens
ordnung Einrichtungen, die fundamentaler, organifher Nas
tur find; es find dieß die Schule, der Gottesdienſt, Kirchens
zucht, die Drganifation der Seelſorge, Armenpflege, Ber
kenntniß. Das find direct in den organiſchen Lebensproceß
der Kirche eingehende Factoren; nad ihnen beſtimmt
füh der Werth und die Bedeutung einer Kirchenordnung.
Ale andern Einrichtungen follen nur den Zweck haben, dier
ſen Hindamentalen Inſtituten ‚und Eebenselementen ihre fies
.
d. Bedeutung d. aͤltern bugenhag. Kirchenorbn.ıc. 459
tige Erhaltung und Fortbildung zu fihern, und darum find
fie nur mittelbare Kriterien für die Befchaffenheit einer Kir⸗
qchengemeinſchaft. Es ift diefe Auffaflung auch dem Geifte
und ausgefprochenen Grundſatze ber aͤltern Kirchenorbnungen
gemäß, wie dieß die folgende Unterfuchung zeigen wird,
Bugenbagen flcht als Kirchenordner ebenbürtig nes
ben Melanchthon und Brenz. Seine Grundfäge Über die
Einrichtung der evangelifchen Kicche hat er nicht nur felbft
in mehreren Städten und Ländern ind Leben einzuführen
gelacht, fondern fie find auch in andere Kirchen, wo er
nit in eigener Perfon ald Kirchenordner thätig war, auf
Grundlage der von ihm außgearbeiteten Mufterorbnungen
zur Anerkennung gekommen. Wir befchränten uns jedoch
auf die Ältere Gruppe, die der Ausbildung ber Conſiſtorial⸗
verfaffung voranging, da In ihr die eigenthümlide Ans
ſchauungsweiſe Bugenhagen's deutlicher und reiner her⸗
austritt. Es gehären zu ihr vor Allem die braunſchweigiſche
Kichenordnung v. J. 15%, die hamburger v. I, 1529,
die Ihbeder v. J. 1531, die pommeriſche v. I. 1535, die
ſchleswig⸗ holſteiniſche v. I. 1542 (die daͤniſche Kirchens
ordnung v. 3. 1537 laſſen wir bei Seite, da fie in der
ſchleswig⸗ holſteiniſchen fich wiederholt, nur mit Modifi⸗
cationen, ten eigenthlimlichen Landesverhaͤltniſſen gemäß).
Diefe rühren alle von Bugenhagen felbft ber; ihnen
nachgebifbet find die bremenfer Kirchenorbnung v. I. 1534,
die mindenfhe v. I. 1530, die göftinger v. 3. 1530, die
foefter v. 3. 1532, ja felbft die wittenberger Kirchenord⸗
nung v. 3. 1533, die halliſche v. J. 1541.
Die jüngere Gruppe beginnt mit der braunſchweig⸗
wolfenbüttler Kirchenordnung v. J. 1543, welcher mehrere
Kirchenordnungen nachgebildet find.
1) Die wichtigſte Kirchenordnung der aͤlteren Gruppe
iſt die braunfhweigifchei:u, 3,158; fie iſt für die
Stadt und ihre Einritangen betechned und.ifk ihren Grund⸗
zuͤgen nach Norm geblieben für alle übrigen bugenhagen’s
460 SIhger
ſchen Kirchenerbnungen, Eine fundamentale Eigen
thämlichkeit diefer Gruppe von Kirdenorbnun:
gen befiebt num darin, daß fie burdaus vom
padagogiſchen Seſichtspunct aus abgefaßt find;
unter dieſen Seſichtspuncet wird alles Einzelne
fabfumirt. In allen anderen evangelifhen
Kirdenorbnungen diterer Zeit fehlt dDiefer pas
dagogiſche Eharakter im Banzen und das paͤda⸗
sogifde Element ii durchaus untergeoronet
unter die Beflimmungen über ben Cultus. —
Zar Bugenhagen hat felbft die Taufe ihren vollen
Werth nur durch den daran anfnüpfenden chriſtlichen Unter,
richt, Hören wir feine eigenen Worte! Die braunſchwei⸗
ger Kirchenordnung v. 3. 1528 beginnt folgendermaßen:
„Bor alle fint dre dink alfe noedich angefehen. Dat ers
fie gude Scholen uptorihten vor de Kindere,
Dat ander Predikere, de Babes wort reyn bem
Volke vorbragen, antonehmen, od latiniſche Lels
tien unde uthleginge ber hilgen Scrifft vor de
Gelehrden to vorfhaffen. Dat drudde gemeine
Kaften antorichten mit Kerfensguberen unde anderen
Gaven, daruth fulfe unde andere Kerfensdenfte erholden unde
ber Armen NRotrofft (Mothburft) werde geholpen.”
Das find alfo für Bugenbägen bie wichtigſten Beſtim⸗
mungen; bann fügt er nur ganz anhangAweife Folgendes
bei: „Darna is od gehandelt, wat cheiſtlike Geremonien
unde andern Kerken⸗denſt andrept (eantifft), fo vele alfe
denſtlick, tom Evangelio, chriſtliker Lve (Liebe), Ehre unde
Eynicheit is angefehen.” Dann /ommt eine Berwarnung
gegen undhriftliche Lehre and Aukuhr und am Schluffe wird
wieder mit großem Nahdruce die Wichtigkeit der drei ere
ſten Puncte hervorgehoben : Wo (wie) noedich overs (aber) de
erſten dre Stucken fon, alfe Scholen uptoride
ten, Yredigere vrrordenen,unbe befulvigen (dies
felben, ndantich die Prediger und Schulen) unde arme Luede
>
d. Bebeutung b. Altern Bugenhag. Kirchenorbn. ıc. 461
uth ber gemeynen Kaften befsrgen, wert hyr na
angeſcreven werben, alfo bat wirt alleyne Ghriftene ſuender
ock vornufftige redelike Luede monten (müflen) bekennen, bet
ſulk tovorſorgen recht [y”. Die Grundlage für den evan⸗
geliſchen Schuluntemicht iſt die Taufe. Daher heginnt big
Kirchenordnung mit ben Beſtimmungen über die Taufe
„van ber Dape”) dabei wird auch für bad leibliche Leben
des Kinds geforgt in dem Artifel „van den Heve Ammen,“
und daran ſchließen ſich hie Beftimmungen „van ben Scholen
mit folgenden bezeichnenden Worten: Id (es) is hillich unbe
cdriſtlick vecht, alſe gefecht-id, dat wy (wis) unſe Kyndecken
Chriſto to Doͤpe (Taufe) bringen, Doers (Aber) ach leyder,
wen fe up waflen (auf wachſen) unbe de Tidt (Beit) kumpt,
dat me fe leren ſchal, fo id nemand dar heyme, Remand vors
bermet fid ower (Uber) de armen Kyndere, dat me fe
lerede, dat fe mochten by Ghrifto bliven, dem
fe in ber Doͤpe geoffert font, Nemand vorfue
met gerne den Kynderken be Doͤpe, alfe od
recht id, overs wedderum nemandbgebentet, bat
uns nit alleine bevalen id, de Kyndere to bis
pen, fonbern od, wenn de Tidt kumpt, to lerne,
alfe geſcreven id to vorn van ber Dipe” Es wird dann
darauf hingewiefen, wie der ganze Rath und „de ganze Bar
meyne, vor alle andere Dinge vor noͤdich angefehen, gute
Scholen uptorichten.” Diefe paͤdagogiſche Zendenz hat alfa
nicht bloß im dem Kopfe bes Kirchenorbnerd Bugenhagen
gelebt, ſondern die evangeliſche Richtung im Wolke hat ſich
bier weſentlich nach biefer Seite hin audgefproden, und
zwar nicht erſt auf Anregungen Bugenhagen's hin, fondern
wir baben urkundliche Beweiſe, daB in Braunſchweig fon
vor Bugenbagen’s Ankunft in der Stadt und vor jeder Ein
wirkung von feiner Seite bie Reformation biefe Richtung
auf die chriſtliche Erziehung und den Unterricht der Jugend
genommen hat. Am Anfange des Jahres 1528 forderten
die Bürger durch ihre Verordneten vom Rathe außer Er:
te Eimie io Jeürr ergmn Osum,
ze u Wire 3 uch Zirdensrie. IL E56.
wäre wohl zu leiden und dieſer Sache nicht entgegen.”
»
d. Bebeutung d. aͤltern bugenhag. Kirchenordn. rs 463
Wir fehen hieraus, daß bie Forderung weſentlich auch auf
hoͤhere gelehrte Bildungsanſtalten ging, wie denn überhaupt
damals die höhere wiſſenſchaftliche Bildung im engen Bus
fammenhange mit der Kirche und darum auch mit der alls
gemeinen Boltöbildung gedacht wurde, Es waren jedoch
fon vor der Reformation in Braunfchweig mehrere Schus
len; außer den Stiftsſchulen finden wir die genannte Mars
tinsſchule und Katharinenſchule; unter den Stiftöfchulen ift nas
mentlich zu bemerken bie St, Aegidienſchule, die denn auch nach⸗
ber in der Reformationdzeit ſich erhielt, obwohl in der Kirchen⸗
ordnung nur von zwei lateinifchen Schulen die Rede ift (vgl.
Rebtmeyer a, a. D, Beilagen zum 3, Bande, ©, 464,
wo biefe drei Schulen nicht einmal ald die einzigen anges
führt werden, fondern nur als frequentissimae scholae,
Und zwar in einer Zeit, wo ſchon längft die römifche Partei
in Braunfhweig ihre Stifte verloren hatte). Auch befans
den fi unter den Schulrectoren Männer, die der Refor⸗
mation den Sieg in Braunſchweig erkaͤmpfen halfen; ſo
namentlich Johann Laffards an der St. Martinſchule, der
ſich auch durch Unbefangenheit den ſpaͤteren Parteiungen
gegenüber auszeichnete. In der Reformationszeit nahm alſo
Die Bewegung in Braunfchweig fofort bie Richtung auf die
Erziehung und den Unterricht der Jugend, und Bugenhagen,
der in Folge des vorhin angeführten Rathöbefchluffes berus
fen wurde, fand bei feiner Ankunft bereits diefe Richtung
vor, Sie hat aber wirklich ihn felbft lebendig ergriffen und
auf die Dauer ſich in ihm- befefligt, wie die Vergleichung
der fpäteren bugenhagen’fcyen Kirchenordnungen zeigen. wird,
Dieb hat ſchon der alte Rehtmeyer bemerkt, wenn er a. a. D.
S. 68. von Bugenhagen’s Tätigkeit in Hamburg nichts
weiter zu fagen für gut findet ald diefe Burgen Worte: „Als
D. Pommer nady Hamburg gereifet — — fchrieb er dafelbft
aud eine Kirchenorbnung und richtete die St. Johannis⸗
ſchule an, die noch heut zu Zage in gutem Stande und
der Republit nüglih if”, und ebenfo von feiner Thaͤtig⸗
keit in übel (ebendaf. S. 69.): „er machte allda auch eine
4 Bige
Kıchpenscsuung uno ürten eine gemeine Ediaie im Siefler
Ex. Retscrizen 0’. — Zuseutagen me zbechengt cin
Garztur, ter mir Erz ger sur Eirzeinhenme uub uns
mwerzzee Bericht Te angız we; DB. en Ihe a ip
hs a Ntanm” Mick, ve Er eÂ
mem Berizle vertauft, ter m Ber ken 3cı der Ammes
ienhet Buzehiger'ö vorlzm, we cn Scharitichers, „ber
lange Exıt”, auf tem Ridwsiıge ericiagen merke, wei er
bi ma Scrihtung mm Fehiiich ar, Er mein
and) tie kberwiegent päbageziiche Hichsung, tie in Drsums
ſchweia geberricht zu haben idbeint, im mch ni mb fizinte
Fe in feiner Kirhenertzumg, uur Def dicie Richtung fh
auf Vie Dauer bei ibm begricadete ut funtumenisier Ras
sm war. Wie im feier erücz Kicchenertaung Die Artikel
von ber Zaufe und den Schalen das Fundament mmb ber
Ausgengbpund find, an dem cr tie anteren Beflimmun-
gen fi) anreihen, fo wietertelt ſich dies im ber hamburger
Kirdenertnung vom Jahre 1529. Die echt erfien Artikel
befchäftigen fig mit der Echule, und bie Einleitung begiant
wit den Worten: „In diger Ordeninge ib amgeridhtet eine
gude Schole the holdem vor de Joe get (Tugend) und
gude Prädicanten thom Worte Bades vor und alle,
mit Borboldinge der Arbeidere, wo bilid und drifiid,
dartho eine Vorſorginge vor de Armodı”; und bei ter Zu⸗
fammenfaffung iſt wieder die Rebe von dem, was „der
Joeget und dem Wolfe thor Beleringe” fol gehalten wer:
den. Auch bier umfaßt die Kirchenordnung das Schulwe⸗
fen von ben niederſten Bolksfhulen an bis zu einer Binias
turumiverfität. In der göttinger Kirchenordnung von 1531
wiederholt ſich die braunfhweiger Kirchenordnung faſt ganz
in dieſem Puncte, obwohl fie nicht von Bugenhagen ſelbſt
herruhrt, fondern von dem braunfchweiger Coadjutor Heinz
rich Windel, der fie von feiner Heinmath aus übertrug.
Daſſelbe findet ſtatt bei der von Bugenbagen ſelbſt verfaß:
sen luͤbecer Kirchenordnung von 1531, Hier handeln auch
d. Bebeutung d. ältern bugenhag. Kirchenorbn. ıc. 466,
bie erfien 17 Artifel vom Schulweſen und zeigen gegenüber
den übrigen Artikeln zufammengensmmen eine bemerkend:
werthe Ausfuͤhrlichkeit. Mehr nur dußerlich benugt iſt die
braunſchweiger Muftererdnung in ber heſſiſchen Kirchenord⸗
nung von 1532, in deu wittenberger Kirdyenorbnung ven
1533 und in der bremenfer Kirchenordnung von 1534; ja,
in der pommerifchen Kirchenorbnung von 1535 hat bie bu⸗
genbagen’fhe Grundidee gerade in. ben nur untergeordnet
erfcheinenden Artikeln Aber die Schulen eine traurige Reac⸗
tion erfahren, die bier auf Rechnung ber Ariſtokratie zu fes
gen if. Diefelbe fchiebt die Errichtung von Schulen ganz
den Städten zu und bürdet ihnen allein die Pflicht auf,
mindeſtens je zwei Buͤrgerskinder zur Univerfität zu ſchi⸗
den; dieſe Univerfität wird aber ungemein hungrig ausge⸗
ſtattet. Da ber Adel ſelbſt nichts thun mag, fo iſt es kein
Wunder, daß er auch den Städten gegenüber mit feinen
Bumutbungen nicht ſcharf ſeyn darf; es wird geflagt, daß
bei den Heinen Städten „be Knaben trefflick vörfumet (vers
fäumet) werden, dardorch dat de Scholmeiſter od Stad⸗
fiheyver 98”, und verlangt, „dat men deſſe beyde Ampt nicht
uplegge eyner Perfone, funder van eynander ſcheyde, fo
veele ed mögelid 98”; aber mit diefem Zufage: „fo
veele es moͤgelick 18”, ift wieder Alles der Willkür anheim⸗
gegeben, Und „darmede oͤverſt (damit aber) arme Kinder
nicht van der Schole gedrungen werden, ſchal men ben vdt
van nöden vs (fol man, denen es vonnöthen if) vor den
Dören (Thüren) tho bedelen (betteln) nicht vorbeden (ver⸗
bieten).” Alfo DOrganifation des Kinderbettels! Die Aris
flokratie auf dem treptower Landtage bat zwar ein Gewifs
fen und daB Bewußtſeyn von dem, was gefchehen follte,
allein fie mag nichts thun, weil’8 Geld koſtet; fie ſchiebt
die Sache den Städten zu und begnügt ſich auch bei diefen
mit bettelhafter Einrichtung. Cine ſolche Ariftofratie mag
zu brauchen feyn zur Reaction gegen den Paroxismus einer
Hypercultur; nur Bann man das gerade Fein Verdienſt um
v
35 Gigs
vie Kiree nennen. Fran zum 2m Base zum Bub
hemmmerkuien iöje. zurmm ex einme. ice Dübel wit zuhe
tebfi Iren im, ‚hamz. Dar’ dir zuumgeffice Kindr —
Sb erringt. wat a bar’. wie
ertuum Fb bildete. — Dagegen zit in Der indher Sie
Genertaumg son 1522, dir ber bummuribeeigiiihen muchaulbll:
bei if, ber pünagogiiche Geiibrknumı zwirher im den Barbers
gast. Zum is der ihlebmigchnfkieiniiken Zurfenschumg
vom Sabız 1542 beiſa eb nach in ber Einieitung: „Rexken-
ssbeninge fie zernemafit zu ins (ir) Exulen: em
Sen pa ber Bese ieb if bier blof das Beheuunuig gemeint)...
iboes ambera yu Echrien _ .. Ihem beutten sam Den G-
semonien „ . . Ibn vrerben, bat men gememe Rufen pe
zuge... ihm wiTren, das cin Biiiee To mit Amen
Yrewehen ... Ihem iblen von ten Böden (Bichenh)...”
bes Edle jeiammmentängt, uud wie iche er Wh beiluchtr,
biefe Grmmbiage überall feizuhatten, zeigt ſich im der von
dm icvit irten yommeriiiden Kirchrnertzumg son 1582; er
Weißt die Ueberiärift: „Rarlenorteninge inn deu
Eteben uud wor men Scholen bafit (we man
Equiæ bat”; er abfirahirt alfo gerabegu zum dem Oucs.
bie feine Eduien haben, und beriudiichtigt fie im Beriemfe
ber Ansfihrung mur nebenbei; umb med in ber vom ihm
verfoften braunidhweig-woifcabittier Kirdpensrtuung vom
Zahee 1543 tritt zwar die Tirche im engeren Eiane am bie
Eyite, allein tie Equle erhält doch andy Yirr eine bedens
tende Etcllung, wenn ch heißt: „Ghriflfife Kerkenerbeninge
deiet (theilet) HE in dre Dele: dat erfie Dei is von dem
Resten... . dat ander Dei iS van dem Gabeln... . bat
deubbe Dei van gemeinem Kaflen.”
d. Bedeutung b. Altern bugenhag. Kirchenorbn. c. 467
Bir koͤnnen nach dem Biöherigen fagen, daß in allen
denjenigen von Bugenhagen felbft herruͤhrenden Kirchenord⸗
nungen,’ welde für Städte berechnet find, bie paͤdagogiſche
Zendenz ihren adäquaten Ausdruck gefimden hat, ebenfo in
einem großen Theile‘ der Kirchenordnungen, die den bugens
bagen’fcyen nachgebildet und für Städte berechnet find, Das
gegen in allen denjenigen bugenhagen’fcyen Kirchenorbnum
gen, welche auf ein ganzes Rand berechnet find, hat die vaͤe
dagogiſche Tendenz bedeutende Beſchraͤnkungen erfahren, fie .
bricht fi) an widerſtrebenden Verhaͤltniſſen. Vergleichen
wir damit die früheren Kirchenordnungen, fo finden wis
zuerſt in der leißniger Kaftenordnung, die von Luther herz
rührt, bie Trias Prediger, Schule, Armenpflege angedeutet ;
im Artikel V. (Kichter's Kirchenordn. 1. S. 13.) werden
folgende Ausgaben des gemeinen Kaftens aufgeführt: „Abs
gabe des Pfarramtd, Ausgabe fir die Kufterey, Ausgabe fur
die Zuchtſchulen, Ausgabe fur den gebrechlichen-und alben
armen Menfchen”, Ferner if zu bemerken die fralfunder
Kirchenordnung vom Jahre 1525, welde in drei Theile zer⸗
fält: „1) Wan den Predigern . .. 2) van der Schole .. .
3) van den gemenen Kaften ...“ Diefelbe Trias findet
fih in der diefer Kirchenordnung angehängten Rathsverord⸗
nung, und in dem Anhange wird ganz befonders für bie.
Befoldung der Schuldiener geforgt, an der es bisher noch
mangelte, Dagegen in ber Sandedordnung bed Herzogthums
Preußen (Richter a. a. D. S. 34.) iſt nur ganz kurz von
Schulen die Rede, und es find diefelben auf die Städte und
zwar mehr nur auf die großen Stäbte beſchraͤnkt, und ift
auch da empfohlen, daß mit Reformen „nit fehr geeylt
werde”, da man nicht wiffe, „ob der gemain Kaften zur
Unnbterhaltung der Armen genugfam fein würde”; bie ganze
Sache wird als eine untergeordnete behandelt. Dagegen
in ber halliſchen Kirchenordnung vom Jahre 15% wird ges
gen den Schluß (Richter a. a. D. S. 48.) fehr ernſtlich
ermahnt zu Förderung des Schulweſens und baffelbe in
468 Jager
engfien Zufammerhang geſetzt mit ben heiligen Ehriſten ⸗
lichten; aber arch bier if nur von der Stadt die Bede,
uud we am Echiuffe von den Dhefera die Kede if, wich
beftagt, daB man „die Bewer (MBantın) geringer acht, dan
bie Sew oder ander unserufftig Zhie”, und anf ben Ban
ernaufßand als gerechte Straft dafür bingewiefen. AS
Hinberniß fin die Befferung der Sanblirden wird auch
bier angeführt, daß „die Lchen der Pfaren faßt al in frems
der Herſchaften Hand Feen” und der Rath der Stadt erſt
noch lange mit „Lehen Herren” verhandeln und fid am
Ende auch eine Weigerung gefallen laffen muß. Dad
auch in dem auf die Stadt bezhglichen Theile erſcheint bie
Schalordnung mehr als ein Anhang, als Aufforderung zu
Erfullung einer einzelnen Ghrifkenpflicht, nicht als ein fun⸗
bamentaler Artife. Daffelbe ift der Fall in ber anf der
bomburger Synode angenommenen Beformatio eccl. Hass.
vom Jahre 1596. Die Schulordnung iſt ein Anfang der
Kirhemorbnumg (Kapitel 10. 30 ff.); Aufzeichnung vers
dient aber die Beſtimmung des 30, Kapitelö, wo ed heißt:
in omnıbus civitatibus, oppidis et pagis
sint puerotum scholae. Dagegen Kap. 31. werden bie
scholae puellarum nicht fo allgemein geforbert; doch
heißt es auth hier: sint praeterea in civitatibus et op-
pidis, si fieri potest, etiam in pagis puellaram
scholae. In den Schulen follen vor Allem die funda-
menta fidei gelehrt werden, In dem fächfifchen Unterricht
der Wifltatoria ıc. vom Jahre 4528, dem Mufter für fo
viele Kirchenordner, iſt die Volksſchule faſt ganz igno⸗
sirt über der Gelehrtenſchule, wie man denn überhaupt
Melanchthon nicht ganz freifprehen kann von unpraktis
ſcher Gelehrtenbornirtheit, welche die Beduͤrfniſſe des Les
bens nicht ſcharf ins Auge faßt. Luther hatte da in feis
ner Schrift an ben dentfchen Adel vom Jahre 1520 mit
ganz anderem Ernfte die religiöfe Volksſchule gefordert, als
die geiftige Zeugungöftätte ber evangeliſchen Kirde. Aber
d. Bedeutung d. Altern bugenhag. Kirchenorbn. ıc. 469
erſt einem Bugenhagen gebührt der Ruhm, dev Schule
ihre fundamentale Stelung im kirchlichen Leben in einer
Kirchenordnng angewieſen und bie Verpflichtung zur: Er⸗
richtung von GSchulen an das Zundamentalſacrament. des
Kirche, an bie Kaufe, angelnüpft zu Haben in einer ins Les
ben eingeführten Kirchenverfaffung. Die Städte aber find
auszuzeichnen, als bie einzigen Puncte, in welchen bie evan⸗
geliſche Kicche ihre Vflanzſchulen erhielt und: von denn aus
Deutſchland feine geiftige Bildung erwuchs. Und wenn
auch geruͤhmt werben muß, daß Fürflen und Adel durch
den gemährten Waffenſchutz an der evangelifchen Kirche eine
heilige Pflicht erfüht haben, fo muß doch das nur zu fehr
überfehene größere Werbienft ber Staͤdte hervorgehoben wer«
den, das fie ſich durch Begrimdung "einer tlichtigen kirchli⸗
chen Schule erworben haben. Ein Geſchichtsforſcher, der
biefen Namen verdienen voll, darf. nie vergeffen, daß ein
einziges Blatt eines. Schulbuches für das geiftige Beben ei⸗
nes Volles und einer Kirchengemeinſchaft nicht felten meht
Werth Hat, ald ganze Follanten von Edicten über die Coms
peteny der Gonfiftorien und des Iandeöherrlichen Kirchenres
giments. Gegen dieſe Dinge bleibt ber Geiſt des Volkes
oft ganz gleichguͤltig, ein Lehrftoff aber geht durch die Schule
in Kopf und Herz des Volkes Kber und führt ein Regi—
ment, wie ein Conſiſtorium und Fein Fuͤrſt. Ja felbf die
Symbole einer Kirchengemeinſchaft haben nicht die Bedeu⸗
tung für das kirchliche Beben, ‚welche einem Lahrgegenftande
der Schule zukommt, außer wenn fie ſelbſt und fofern fie
durch die Schule hindurch ſich dem Geiſte des Wolfe ein:
prägen; denn was bie Schule in bad Herz der Jugend eins
gepflanzt, ſetzt fich weit feſter, als ber durch die Prebigt
mitgetheilte Lehrftoff, Nur die durch perfönlichen Umgang
fi) vermittelnde fogenannte Seelforge ift in dieſer Hinficht
der Säule an die Seite zu ftellen, wie denn auch auf dies
ſem Wege der Privatfeelforge und religiöfen Berathung op⸗
pofitkomelle Beftrebungen eine fehläfrige Kirche in kurzer Zeit
\
462 Jaͤger
richtung eines gemeinen Kaſtens behufs der Armenpflege
und anderen kirchlichen Reformen namentlich auch Beſſerung
des Schulweſens, und daß dieſe Forderung am meiſten be⸗
tont wurde, geht deutlich daraus hervor, daß in der darauf
erfolgten Antwort des Raths auf keinen andern Punct ſo
ausführlich und lebhaft eingegangen wird, wie auf biefen
die Schule betreffenden, wovon ſich Jeder Überzeugen Tann,
der in Rebtmeyer’s braunſchw. Kirchenhiſtor. II. &.55f,
dad Actenſtuͤck nachleſen will, Es wird fogar in bem auf
die Schule ſich beziehenden Artikel vorausgeſetzt, daß bie
Bürger ſich die Gonceffion erbeten haben, außer den öffents
lichen Schulen ihre Kinder noch befonderd durch Privatichs
ver unterrichten zu laffen, ‚daß alfo mit ber Tendenz auf
kirchlichen Unterricht der Jugend zugleich verbunden war
die Zendenz ber Familie, den kirchlichen ewangelifhen Uns
terricht in ihrem eigenen Schooße fortzufegen unb fo das
Öffentliche kirchliche Leben organifh in das Leben der Bas
milie aufzunehmen, Diefen Artikel geben wir bier um feis
ner Wichtigkeit willen feinem Wortlaute gemäß: „Mit den
Schulen fahe €, E. Rath hoch nothwendig an, weil ger
lehrte Schulmeiſter nicht wohl aufzubringen und zu erhals
ten, und eine Zeit ber eine geringe Schule gewöhnlich ge>
wefen: baß ein jeber mit feinem Wermögen dazu thäte, daß
die Schulen verbeffert und ein gefchidter Mann zu St. Mars
tin und St. Katharinen unterhalten würde. Wann denn
alfo gelehrte Schulmelfter beſtellt wären, würde ein jeder
die Seinen in ben Stifftsſchulen vor fich felbft der Gebühr
nad wiffen zu halten” (die Stiftsfulen waren mit den
Stiften noch roͤmiſch⸗katholiſch, da fie bem Mathe und der
Gemeinde nicht unterworfen waren, fondern dem braums
ſchweigiſchen Herzoge Heinrich dem Juͤngern, einem Gegner
der Tutherifchen Lehre, den man nicht zu beleidigen wagte),
„und fo jemand des Wermögend, baß er feinen Kindern
einen fonberlichen Lehrmeifter halten und verforgen möchte,
wäre wohl zu leiden und biefer Sache nicht entgegen.”
>
d. Bedeutung d. aͤltern bugenhag. Kirchenordn. ıc. 463
Wir fehen hieraus, daß bie Forderung wefentlich auch auf
höbere gelehrte Bildungsanſtalten ging, wie benn überhaupt
damals die höhere wiflenfchaftliche Bildung im engen Bus
fammenhange mit der Kirche und barum aud mit ber alls
gemeinen Woltsbildung gedacht wurde, Es waren jedoch
fon vor der Reformation in Braunfchweig mehrere Schus
len; außer den Stiftsſchulen finden wir bie genannte Mars
tinsfchule und Katharinenſchule; unter ben Gtiftöfchulen iſt nas
menttich zu bemerken die St, Aegidienſchule, bie denn auch nach⸗
ber in ber Reformationdzeit ſich erhielt, obwohl in der Kirchen⸗
ordnung nur von zwei lateinifchen Schulen die Rede ift (vgl.
Rebtmeyer a, a. D, Beilagen zum 3, Bande, ©, 464.,
wo biefe drei Schulen nicht einmal als die einzigen anges
führt werden, fondern nur als frequentissimae scholae,
nd zwar in einer Zeit, wo fon längft die römifche Partei
in Braunfdweig ihre Stifte verloren hatte). Auch befans
den fi unter den Schulrectoren Männer, die der Refor⸗
mation den Sieg in Braunſchweig erfämpfen halfen; fo
namentlich Johann Laffards’an der St. Martinfdule, der
ſich aud durch Unbefangenheit den fpäteren Parteiungen
gegenüber außzeichnete, In der Reformationdzeit nahm alfo
bie Bewegung in Braunſchweig fofort bie Richtung auf bie
Erziehung und ben Unterricht der Jugend, und Bugenbagen,
der in Folge des vorhin angeführten Rathsbeſchluſſes berus
fen wurde, fand bei feiner Ankunft bereits diefe Richtung
vor. Sie hat aber wirklich ihn felbft lebendig ergriffen und
auf die Dauer ſich in ihm- befeftigt, wie die Vergleichung
der fpäteren bugenhagen’fchen Kirchenordnungen zeigen wird,
Dieb hat ſchon der alte Rehtmeyer bemerkt, wenn er a, a, D.
©. 68, von Bugenhagen’s Thätigkeit in Hamburg nichts
weiter zu fagen für gut findet als diefe kurzen Worte: „Als
D. Pommer nad) Hamburg gereifet — — ſchrieb er dafelbft
auch eine Kirchenorbnung und richtete die St. Johannis⸗
ſchule an, die noch heut zu Zage in gutem Stande und
der Republik nuͤtzlich if”, und ebenfo von feiner Thaͤtig⸗
keit in Luͤbeck (ebendaſ. S. 69,): „er machte allda audy eine
. Ds
ur. Säger
Kirchenordnung und fliftete eine gemeine Schule im Kloſter
Gt. Katharinen an”, — Bugenhagen war überhaupt ein
Sharakter, der mit Liebe fogar auf Einzelnheiten und mo⸗
mentane ‚Bebürfniffe einging (mie 3. B. ein Theil des Aps
tikels „van Miöbeberen” (Miffethätern) feine Exiſtenz eis
nem Vorfalle verdankt, der in ber erſten Beit der Anwe⸗
Tenheit Bugenhagen’s vorkam, wo ein Scharfrichter, „der
lange Gurd”, auf dem Richtplatze erfchlagen wurde, weil ex
bei einer Hinrichtung einen Fehlhieb that), So nahm ex
auch die überwiegend paͤdagogiſche Richtung, die in Brauns
ſchweig geherrſcht zu haben ſcheint, in ſich auf und fipirte
fie in feiner Kichenordnung, nur daß biefe Richtung ſich
auf die’ Dauer bei ihm begründete und fundamentaler Nas
tur war. Wie in feiner erflen Kirchenordnung die Artikel
von der Taufe und den Schulen dad Fundament und der
Audgangspunct find, an ben erft die anderen Befiimmuns
gen fich anreihen, fo wiederholt fich die in ber hamburger
Kirchenordnung vom Jahre 1529, Die acht erſten Artikel
befchäftigen fi mit der Schule, und bie Einleitung beginnt
mit den Worten: „In dißer Ordeninge i angerichtet eine
gude Schole tho holden vor de Joeget (Jugend) und
Hude Prädicanten thom Worde Gades vor uns alle,
mit Vorholdinge der Arbeidere, wo bilid und chriſtlick,
dartho eine Worforginge vor be Armobt”; ımd bei der Zus
fammenfaffung ift wieder die Mebe von dem, was „der
Joeget und dem Wolke thor Beleringe” fol gehalten wers
den. Auch bier umfaßt die Kicchenordnung dad Schulmes
fen von ben nieberften Volksſchulen an bis zu einer Minias
turumiverfität. In der göttinger Kirchenordnung von 1531
wiederholt ſich die braunſchweiger Kirchenorbnung faft ganz
in diefem Puncte, obwohl fie nicht von Bugenhagen ſelbſt
berührt, fondern von dem braunfcbweiger Coadjutor Heinz
rich Windel, der fie von feiner Heinmath aus übertrug.
Daffelbe findet flatt bei der von Bugenhagen felbft verfaß⸗
ten lübeder Kirchenordnung von 1531. Hier handeln auch
d. Bedeutung d. dltern bugenhag. Kirchenordn. etc. 466,
bie erften 17 Artikel vom Schulweſen und zeigen gegenüber
ben übrigen Artikeln zufammengenemmen eine bemerkens—
werthe Audfbhrlichfeit. Mehr nur dußerlich benugt iſt die
braunſchweiger Muſterordnung in der heſſiſchen Kirchenord⸗
nung von 1532, in des wittenberger Kirdyenorbnung von
1533 und in ber bremenfer Kirdhenorbnung von 1534; ja,
in der. pommeriſchen Kirchenordnung von 1535 hat bie bu⸗
genbagen’fhe Grundidee gerade in. ben nur untergeorbnet
erſcheinenden Artikeln über die Schulen eine traurige Reac⸗
tion erfahren, die bier auf Rechnung der Ariflofratie zu fes
gen iſt. Diefelbe fehiebt die Errichtung von Schulen ganz
den Städten zu und bürdet ihnen allein bie Pflicht auf,
mindeſtens je zwei Bürgeröfinder zur Univerfität zu ſchi⸗
denz diefe Univerfität wird aber ungemein hungrig ausge⸗
flattet, Da ber Adel felbft nichts thun mag, fo iſt es kein
Wunder, daß er auch den Städten gegenüber mit feinen
Bumuthungen nicht feharf feyn darf; es wird geflagt, daß
bei den Beinen Städten „be Knaben trefflid vörfumet (vers
fäumet) werden, dardorch bat be Scholmeiſter od Stad⸗
ſchryver 98”, und verlangt, „dat men beffe beyde Ampt nicht
uplegge eyner Perfone, funder van eynander ſcheyde, fo
veele es mögelid 98”; aber mit dieſem Zuſatze: „fo
veele es mögelid y6”, ift wieder Ales der Willkür anheims
gegeben, Und „darmebe oͤverſt (damit aber) arme Kinder
nicht van ber Schole gebrungen werden, fhal men ben vdt
van nöden ys (fol man, denen ed vonnöthen iſt) vor den
Dören (Thliren) tho bedelen (betteln) nicht vorbeben (ver⸗
bieten)” Alſo DOrganifation des Kinderbettelö! Die Aris
floßratie auf dem treptower Landtage bat zwar ein Gewifs
fen und daB Bewußtſeyn von dem, wad gefchehen follte,
allein fie mag nichts thun, weil's Geld Boftetz fie fchiebt
die Sache den Städten zu und begnügt ſich auch bei diefen
mit bettelhafter Einrichtung. Cine ſolche Xriftofratie mag
zu brauchen feyn zur Reaction gegen ben Parorismus einer
Hypercultur; 'nur kann man das gerade fein Werbienft um
‘
466 Yger
x
die Kirche nennen. Wenn man ben Bauer zum Vieh
berunterfinfen läßt, wenn ex einmal feine Bibel nicht mehr
felbft leſen ann, dann darf die evangelifche Kirche darauf
rechnen, baß fie einſtmals aufhört zu exiſtiren. Es ift nur
gut, daß trog folder Barbareien ber Gefehgebung in übers
wiegend ariftofratifhen Staaten der evangeliiche Geiſt doch
fi) erringt, was er bedarf, wie bad Beilpiel Pommern
zeigt, in welchem mit ber Zeit ein friſches evangeliſches Chris
ſtenthum ſich bildete. — Dagegen tritt in der ſoeſter Kir⸗
chenordnung von 1532, die der braunfchweigifchen nachgebils
det ift, der pädagogifche Geſichtspunct wieder in den Vorder⸗
grund. Auch in ber ſchleswig⸗holſteiniſchen Kirchenordnung
vom Jahre 1542 Heißt es noch in der Einleitung: „Kerken
orbeninge fleit vornemlick yn ſoͤß (ſechs) Stuͤcken: thom ers
ſten yn ber Lere (es ift hier bloß das Bekenntniß gemeint)...
thom andern yn Scholen ... thom brubden van den Ce⸗
temonien ... thom veerben, bat men gemene Kaſten up⸗
richte ... thom vöfften, bat ein Biſchop fy: mit ſynen
Praweſten ... thom föften von ben Böden (Bliheik) ...”
Wie eng bei Bugenhagen Alles mit ber Organifation
der Schule zufammtenhängt, und wie fehr er ſich beſtrebte,
diefe Grundlage überall feſtzuhalten, zeigt ſich in ber von
ihm vevidirten pommeriſchen Kirchenorbnung von 1542; bier
heißt die Weberfchrift: „Rarkenorbeninge inn den
Steden und wor men Scholen hafft (mo man
Schulen bat)”; er abflrahirt alfo geradezu von den Drten,
die feine Schulen haben, und berudfichtigt fie im Verlaufe
der Ausführung nur nebenbei; und noch in ber von ihm
verfaßten braunſchweig · wolfenbüttler Kirhenordnung vom
Sabre 1543 tritt zwar die Kirche im engeren Sinne an bie
Spige, allein die Schule erhält doch auch hier eine bebeus
tende Stellung, wenn es beißt: „Chriftlife Kerkenordeninge
delet (tbeilet) fit in dre Dele: dat erfte Del is van ben
Kerken... . dat ander Del is van den Scholen .. . bat
drubde Del van gemeinem Kaften,”
d. Bedeutung d. ältern bugenhag. Kirchenorbn. ıc. 467
Wir Tonnen nad dem Biöherigen fagen, daß in allen
denjenigen von Bugenhagen felbft herrührenden Kirchenord⸗
nungen,‘ welche fir Städte berechnet find, bie paͤdagogiſche
Tendenz ihren adäquaten Ausdruck gefimden hat, ebenfo in
einem großen Theile‘ der Kirchenorbnungen, die den bugen⸗
bagen’fchen nachgebildet und für Städte berechnet find. Das
gegen in allen denjenigen bugenhagen’fden Kirchenorbnums
gen, welche auf ein ganzes Land berechnet find, hat die paͤ⸗
dagogifche Tendenz bedeutende Beſchraͤnkungen erfahren, fie
bricht fi an widerfitebenden Verhaͤltniſſen. Vergleichen
wir damit die früheren Kirchenordnungen, fo finden win
zuerft in der leisniger Kaftenorbnung, die von Luther herz
rührt, die Trias Prediger, Schule, Armenpflege angedeutet ;
im Artikel V. (Kichter's Kirchenordn. I. ©. 13,) werden
folgende Ausgaben bed gemeinen Kaſtens aufgeführt: „Auss
gabe des Pfarramtd, Ausgabe fur die Kufterey, Ausgabe fur
die Zuchtſchulen, Ausgabe fur ben gebrechlichen-und alben
armen Menfchen”, Ferner ift zu bemerken bie firalfunder
Kirchenordnung vom Jahre 1525, welche in drei Theile zer⸗
fält: „1) Wan den Predigern . .. 2) van der Schole . . .
3) van den gemenen Kaften . . .” Diefelbe Trias findet
fi in der diefer Kirchenordnung angehängten Rathöverorbs
nung, und in dem Anhange wird ganz befonders für bie
Befoldung ber Schuldiener geforgt, an ber es bisher noch
mangelte, Dagegen in ber Landedorbnung des Herzogthumd
Preußen (Richter a. a. D. S. 34.) ift nur ganz kurz von
Schulen die Rede, und es find diefelben auf die Staͤdte und
zwar mehr nur auf die großen Städte beſchraͤnkt, und if
“auch dba empfohlen, daß mit’ Reformen: „nit fehr geeylt
werde”, ba man nicht wiffe, „ob ber gemain Kaften zur
Unndterhaltung der Armen genugfam fein würde”; bie ganze
Sache wird als eine untergeordnete behandelt, Dagegen
in ber hallifchen Kirchenordnung vom Jahre 1526 wird ges
gen den Schluß (Richter a. a. D. ©, 48.) fehr ernftlich
ermahnt zu Förderung des Schulweſens und baffelbe in
468 ©. Jäger
engfien Zuſammenhang gefegt mit ben heiligften Ghriften-
pflichten; aber auch bier iſt nur von ber Stadt bie Meder
und wo am Schluſſe von ben Dirfern bie Rede ift, wird
beitägt, dad man „die Bawer (Bauten) geringer acht, dan
die Sew ober ander unverufftig Thier”, und auf ben Baur
ernaufftand als gerechte Strafe dafuͤr bingewiefen. Als
Hinderniß für die Beſſerung ber Landkirchen wird auch
bier angefuͤhrt, daß „die Lehen der Pfaren faſt all in frem⸗
der Herfchaften Hand fleen” und der Rath der Stadt erſt
noch Tange mit „Lehen Herren” verhandeln und fi am
Ende auch eine Weigerung gefallen laffen muß. Doch
auch in dem auf bie. Stadt bezuͤglichen Theile erfcheint bie
Schulordnung mehr als ein Anhang; als Aufforderung zu
&fkllung einer einzelnen Chriſtenpflicht, nicht als ein fun⸗
damentaler Artikel. Daffelbe ift der Fall in der auf der
bomburger Eynobe ‚angenommenen Reformatio eccl. Hass.
vom Jahre 1596. Die-Schulordnung iſt ein Anfang der
Kirchmorbnung ‘(Kapitel 10. 30 ff); Auszeichnung vers
dient aber bie Beſtimmung des 30. Kapitelö, wo ed heißt:
in omnıbus civitatibus, oppidis et pagis
sint puerorum scholae. Dagegen Kap. 31. werden bie
scholae puellarum nit fo allgemein gefordert; doch
heißt es auth hier: sint praeterea in civitntibus et op-
pidis, si fieri potest, etiam in pagis puellarum
scholse. In den Schulen follen vor Allem die funda-
menta fidei gelehrt werben, In dem fächfifchen Unterricht
der Bifitatoria zc. vom Jahre 15%, dem Mufter für fo
viele Kirchenordner, iſt die Volksſchule faſt ganz ignos
rirt über der Gelehrtenſchule, wie man denn überhaupt
Melanchthon nicht ganz freifprehen Tann von unpraftis
fer Gelehrtenbornirtheit, welche die Bebürfniffe des Les
bens nicht ſcharf ins Auge faßt. Luther hatte da im feis
ner Schrift an den deutſchen Adel vom Jahre 15% mit
ganz anderem Ernfte bie religiöfe Volksſchule gefordert, als
die giftige Zeugungöftätte der evangeliſchen Kirche, Aber
d. Bedeutung d. dltern bugenhag. Kirchenorbn. 2. 469
erft einem Bugenhagen gebührt der Ruhm, der Schule
ihre fundamentale Stelung im kirchlichen Leben in einer
Kiihenordnumg : angewiefen und bie Verpflichtung zur. Ers
richtung von Schulen an das Fundamentalſacrament der
Kirche, an bie Taufe, angelnlipft zu haben in einer ind Les
ben eingeführten Kirchenverfaſſung. Die Städte aber find
auszuzeichnen, als bie einzigen Puncte, in welchen die evan⸗
geliſche Kirche ihre Pflanzſchulen erhielt und von bemen aus
Deutſchland ſeine geiſtige Bildung erwuchs. Und wenn
auch geruihm werben muß, daß Fuͤrſten und Adel durch
den gewährten Waffenſchutz an ber evangeliſchen Kirche eine
beitige Pflicht erfüllt haben, fo muß doch das nur ‚zu fehr
überfebene größere Werbienft der Städte’ hervorgehoben wer⸗
den, daß fie fi) durch Begründung "einer tuͤchtigen Eirchlie
chen Schule erworben haben. Ein Geſchichtsforſcher, der
diefen Namen verdienen will, darf. nie vergeffen, daß. ein
einziges Blatt eines Schulbuches für das geiftige Leben eis
ned Volkes und einer Kirchengemeinſchaft nicht felten mehr
Werth Hat, als ganze Follanten von Edicten über die Goms
petenz der Gonfiflorien und bed landesherrlichen Kirchenre⸗
giments. Gegen biefe Dinge bleibt der Geiſt des Volkes
oft. ganz gleichgültig, ein Lehrſtoff aber geht durch die Schule
in Kopf und Herz des Volkes uͤber und führt ein Regie
ment, wie kein Gonfiftorium und ein Zürfl, Ja ſelbſt die
Symdole einer. Kirchengemeinſchaft haben nicht bie Bedeu⸗
tung für das kirchliche Leben, welche einem Lehrgegenſtande
der Sqchule zulommt, außer wenn fie ſelbſt und fofern fie
durch die Schule hindurch fi dem Geiſte des Volkes eins
prägen; benn was bie Schule in dad Herz der Jugend eins
gepflanzt, ſetzt fich weit feſter, ald ber durch die Prebigt
mitgetheilte Lehrſtoff. Nur die durch perfönlien Umgang
ſich vermitteinde fogenannte Seelforge ift in diefer Hinficht
der Schule an die Seite zu ftellen, wie denn auch auf dies
fen Wege der Privatfeelforge und religiöfen Berathung op«
pofitiomelle Beſtrebungen eine ſchlaͤfrige Kirche in kurzer Zeit
470 Jäger
dem Untergange nahe bringen koͤnnen, trog ber ſchoͤnſten
Drganifation des Kirchenregimentes. Dieß mußten und wife
fen jet noch die römifche Kirche und ihre Hauptvorfechter,
die Jeſuiten; fie ſuchen fi immer zuerſt der Schule au. bes
mächtigen, und wo bieß wicht angeht, durch bie ſpecielle
Beichte auf dem Wege ber Seelſorge Eroberungen zu mas
den. In der Reformationdzeit wurde in der evangeliichen
Kirche bie Dhrenbeichte allmaͤhlich abgeſchafft; ihre Stelle
folte ausfüllen einerfeitd die Schule, aubererfeits bie Seel
forge, die, flatt zu warten, bis die Leute kommen um geiſt⸗
lichen Rath, denen, die ihn bedürfen, nachgehen fol. Im
diefer Umkehrung des alten Verhaͤltniſſes lag einerfeitd die
Anerkennung der individuellen chriſtlichen Freiheit ber Kir
chenglieder, fofern fie nicht mehr gezwungen find, fi in ib
ven Privatangelegenpeiten durchaus von einem privilegisten
Klerus bevormunden zu laffen, der zudem in feinen Glie
dern Teine Garantie mehr gab, daß dieſe perfönlihe unmit ·
telbare Einwirkung eine heilfame wäre, andererfeits aber
auch die Forderung, daB durch das Predigtamt ein freier
geifiger Verkehr organifirt und erhalten werde, in welchem
jedes einzelne Blied der Gemeinde der Anregungen theilhafs
tig werbe, bie es zu feiner fittlihen Entwidelung bedarf.
Da aber in der Iutberifchen Kirche in Folge der verfümmers
tem Ausbildung der Verfaſſung, dieſe feelforgerlihe Thaͤ—
tigkeit immer mehr eine dußerliche, polizeimägige Form ans
nahm, die dem Gemeindeleben nicht bloß felbfländig, fon
dern auch entfremdet gegenüberficht, fo hat biefe Kirche wor
Allem in ber Schule daB Drgan, durch welches hindurch fie
den Geift des Volkes bilden Bann, Die volftändige Ex
Eenntniß diefer Wahrheit finden wir zuerſt in ber braun«
ſchweigiſchen Kirchenordnung vom I. 1528.
2, Als Lehrgegenftände der Schulen im Ganzen werben
bezeichnet „de teyn (zehn) Gebot Bades, der Loven (Glauben),
dat Water unfe, be Sacramente Chriſti mit ber uthlegginge
(Auslegung) fo vele alfe Kvndern denet (dienet), Item le
d. Bedeutung d. ältern bugenhag. Kirchenordn. ıc. 471
ven fingen latiniſche Pfalmen, leſen uth ber Scrifft. latiniſche
Lectien ale Dage. Darto Scholekunſt, daruet me 'lere
ſulks vorflaen. Unde nicht alleune dat, fouder od daruth
mit der Tidt mogen werden gude Scholemeyfiern, gude Pres
digern, gude Rechtvorſtandige, gabe Arfien, gude Bades
fruchtende, tuchtige, ebrlife, redlike, gehorſame, feuntlite, ges
lerde, frebefame, nicht wilde, ſondern froͤlike Borgern, de
od fo vortan dre Kynder tom beften mogen holden unde
fo vortan Kyndes Kynd.” Es if beachtendmertb, wie bier
niebere und Höhere Bildung im engfien Aufams
menbange fliehen, und zwar fo, daß die höhere Bildung
nicht nur ald Fachbildung aufgefaßt wird für. gewiſſe Bes
zufsarten, fondern, wie der Schluß der Gitelle zeigt, als
Mittel zu allgemeine Humanifirung des bürgerli
Ken öffentlichen und privaten Lebens; ja, es wird in ben
legten Worten der Stele die Bildung durch Familientzadis
tion ald Ergänzung und Frucht der Schulbildung gefordert,
Für diefe Bildungselemente find in ber braunſchweigiſchen
Kirchenordnung verſchiedene Schulen beffimmt, und zwar
„latinifche JungensScholen”, hinfichtlich deren verwiefen wird
auf Melanchthon's Bifitationsbichlein ; dann die „duedeſchen
(deutfchen) Jungen: Scholen” und die „ZungfeawenScholen”,
welche das Anftandögefühl der diteren Kirchenordnungen
durch Lehrerinnen beforgen läßt =). Zugleich iſt bem
perattendenten aufgegeben, „latinifche Lectien vor de Geler⸗
ten lefen”, und- daffelbe liegt feinem Adjutor zwei» ‚oder
dreimal in der Woche ob; ebenfo. folen es die übrigen dazu
fähigen Prediger thun. So fucht ſich diefe Stadtgemeinde
ein vollſtaͤndiges Unterrichtsſyſtem zu erringen, Ferner bes
@) gl. Reformat. eccl. Hass. c. 31., Luther in ber leißniger Ka⸗
flenorbnung, Kichter a, a. O. &.13, Brenz in der hallifchen
Kirdyenordaung dv. I. 1626. Kichter a. a.D. S. 49. erſte Go⸗
Iumne am Sqhiuß des Artikels von den Gchulen, und hamburger
Kirchenorbnung v. 1599, Art. 48, am Schluß.
Theol. Stud, Jahrg. 1858, a
412 - Sager.
ftimmt die braunſchweig. Kirchenordaung, daB Schüler, die
fonderliche Geſchickichkeit, Andere zu lehren, zeigen, Bott
geopfert werben follen zum Dienſt im geiftlihen und weltli⸗
en Regiment, Arme biefer Art find von ber Gtabt zu
dieſem Zwede auszurüften, gemäß einer damals weit vers
breiteten ſchoͤnen Sitte, wofür fie dann aber audy an den
Dienſt der Stadt gebunden waren und nur mit Genchmis
gung der Baterſtadt in fremde Dienfte treten durften. Die
kirchlichen und bürgerlihen Interefien find bier durchaus
in einander verflochten. Daran fliegen ſich die Beſtim⸗
wrungen über die Wifitation der Schulen, damit fie „befläns
dich mogen ſyn“. „De Superattendente edder oͤverſte Pres
diker mit fonem Helper neven vyff (fünf) Perfonen des
Mathe uth den vyff Wickbelden unde neven den Gchats
Caſtenheren feholen alle halve Jahr de beyden Scholen vi⸗
fitiren.“ Dafür haben aber auch einzelne gelehrte Schul⸗
rectoten Antheil am Kirchenregiment, wie es (Richter, Kir⸗
chenordnung I. ©. 110. erſte Columne am Schluß) heißt:
„De beyden (nämlich der Superattendent und fein Adjutor)
wen Noet (Roth) anqueme, Bades Wort bedrapende, fdhos
len to fi tehn den Magifter van funte (Ganıt) Marten
unde den Scolmeyfter van funte Catharinen neven den ans
deren Predicanten, da be irrige Sake nicht andrept.” —
Winkelfchuien werben verboten, dardorch den rechten gu⸗
den Scholen moge Afbrofe (Abbruch) geſchehen“. Wenn
wir nach der mindenfhen Kirchenordnung fließen dürfen,
die fonft ganz nach dem Muſter der braunſchweigiſchen aus⸗
gearbeitet if, fo wurden die Lehrer angeſtellt durch ben Sus
perattendenten unter Zuſtimmung bes Rats und Mitwir⸗
tung der Schagkaftenherren, nachdem fie vorher vom Sus
perattenbenten geprüft und tlchtig gefunden wurden. Die
hamburger Kirchenordnung von 1529 hat im Ganzen diefel-
ben Beftimmungen über die Schulen, nur binfichtlidh der
Ernennung der Lehrer zeigt fie eine auffallende Eigenthlum:
lichkeit, Bir ſehen nämlich hier das Intereffe des Staates
d. Bedeutung b. dltern bugenhag. Kirchenordu. ec. 473
an bie Gpige geſtellt; der Rath ernennt bie Lehrer, die
Geiſtlichkeit wird bloß zugezogen und zwar bei der Ernen⸗
nung ber fieben Lehrer der Superattendent und fein Adjus
tor, bei der Ernennung des Record, Subrectors und Gans
tor& bloß die Diakonen, d. h. die zur Armenpflege und Vers
waltung der kirchlichen Einkänfte gewählten Bürger, bie
das Latenelement in ber Kieche vertreten. Berner find bier
die Lehrer dem Gerichte bes Raths unterworfen. Die ham⸗
burger Kirhenorbnung gebt nun auch weiter zu Einrichtung
eines -förmlichen Lectoriums, wo latejniſche gelehrte Worles
fungen gehalten werben follen, und zwar auch juridiſche und
mebicinifche; dem Superattendenten und dem Adjutor find
die theologifchen Haupflectionen Übertragen, aber auch die
Paftoren und Kapläne dürfen hier Lectionen und lateiniſche
Reden halten, wenn. fie dazu tauglich find. In ber ham
burger Kirchenordnung find den Beftimmungen über die
Gelehrtenſchulen unmittelbar angefügt die Beftinmnungen über
eine gelehrte „Liberie” (Bibliothek), während in ber braun»
ſchweigiſchen Kirchenordnung dieſer Artikel ohne allen innern
Zuſammenhang eingefchoben if zwifchen die Saͤte von den
kirchlichen Aemtern und die von ben Feſten. Die braun⸗
ſchweigiſche Kirchenordnung beflimmt in diefer Sache, daß
die alte St, Andreas⸗Bibliothek erhalten werben foll, und
zwar follen in dieſelbe beſonders ſolche Bücher angefchafft
werben, bie für einen Privatmann zu theuer find, 3. B. bie
Werke Auguftin’s, des Ambrofius, Hieronymus; benn ob»
wohl „me alle Doctores moet (muß) richten na ber hillgen
Scrifft, alfe fe ſulveſt bebben begeret unde befereven, fo
vallen doch to Tiden etlike Saken vor, dar me fe ſonderlich
to bedarff.“ Auch in allen Pfarreien ſind uͤberdieß noch ei⸗
nige Bücher anzuſchaffen, die der Obhut der Schatkaſten⸗
herren unterſtellt find, Es if alſo nicht ſowohl ein wiſſen⸗
ſchaftlich⸗ hiſtoriſches Intereſſe, aus dem dieſe Beſtimmungen
hervorgehen, als vielmehr das Beduͤrfniß, in kirchlichen Fra⸗
gen zweifelhafter Art die Ideen dieſer alten angeſehenen Kir⸗
a1
474 Yager
chenmaͤnner ſich zu nutze zu machen; aber biefes Beduͤrfuiß
hat unmittelbar eine wiſſenſchaftliche Bildung erzeugt, die,
weil enger mit dem Leben verwachſen, mehr allgemeines But
des Volkes war, wie wir denn in der mindenſchen Kirchen⸗
ordnung von 1530 von den Schullehrern an ben Iateinifchen
Schulen Kenntniß der griechiſchen und hebradiſchen Sprade
geforbert finden, obwohl gerade biefe Kirchenordnung bie
Schulen unter daB Regiment der Geiſtlichkeit, wenn auch
nicht ausſchließlich, ſtellte. — In der lübeder Drbnung von
1531, die von Bugenhagen felbft berührt, if überwiegend
die hamburger Kirchenordnung zu Grunde gelegt. Das Lets
torium findet fich auch hier, ald eine Art von Miniaturunis
verfität, durch welche diefe Kleinen Freiſtaaten, wie jede an⸗
dere Zerritorialgersalt, ſich in Befriedigung der höheren wif
ſenſchaftlichen Bedärfniffe in ſich ſelbſt abzuſchließen firebten.
Das ·Bemerkenswertheſte an dieſer Kirchenordnung iſt bie
Beſtimmung über die Beſetzung ber Schulſtellen und über
die Schulaufſicht. Sie geht in der Loslöfung von der Kirs
chengewalt noch weiter ald die hamburger Kirchenordnung.
Da, wo die hamburger Drbnung das Collegium ber Diakos
nen, bad, wenn auch ein Laiencollegium, doch kirchlicher Nas
tur iſt, einführt, ſetzt die luͤbecker Ordnung dad Collegium
der Bierundfechzig und ihre Verordneten — einen urfprüngs
lich rein politifhen Factor. Roc auffallender aber ift, daß
zur Gontrole und Aufficht über die Schulen und die Lehrer
nicht die Geiſtlichkeit verordnet wird, fondern den Schullch:
ven find an die Seite geflellt zehn „Kirchenväter”, je zwei
aus jedem der fünf Kirchſpiele; eigentlihekocalfhul
auffidt findet nicht ſtatt, fondern alle Schulen find
unter die Auffiht eines alle Kirchfpiele zumal vertretenden
Collegiums geſtellt, „wente (denn) de Schole kuempt
ber gantenStadt tho umme der Borgerskinder
willen und umme des Kerkgeſanges willen. Mit
ſuelker Wyſe kann od ein jewelik Karſpel (Kirchſpiel) ordent⸗
lich durch ſyne twe (zwei) Kerkveder van ſick klagen, ſo et⸗
D
d. Bedeutung d. Altern bugenhag. Kirchenordn. zc. 475
Ti feyl (Fehler) wurde befunden ber Scholgefellen ebder der
Scholen edber des Kerkgefanges halven.” Alfo nicht einmal
eine unmittelbare Disciplinargewalt haben biefe Kirchenväter
bei ihrer Aufficht über die Schulen, fondern nur das Recht,
beim Rathe zu Hagen. Im Beiſeyn biefer zehn Kirchenvaͤter
haben dann bie Wormwefere der Scholen, welche zugleich „be
Vorftendern der Sängerye” find, ale Jahre dem Kath oder
deflen Abgeordneten Rechenſchaft abzulegen, Das Lehrerper⸗
fonal fteht alfo ziemlich felbftändig neben der Geiftlichkeit
und den bürgerlichen Gollegien, mit Ausnahme der oberften
Staatögewalt, bed Rathes. Diefe Selbftänbigkeit it um fo
bedeutender, ald nach allgemeiner Sitte jener Zeit die Schuls
geſellen ganz abhängig waren von den Schulmeiftern, „In
allen Städten plecht (pflegt) de Rath tho holdende dat Schol⸗
bus und Woningen der Scholegefellen, Dat oͤverſt (aber)
ein Erbar Radt bier mit nyen (neuen) Dingen nicht befwes
vet mochte werben . . . is vdt (if e8) vor gud angefeben,
bat ein Erbar Radt holde alleyne de 4 buteften (aͤußerſten)
Wände unter und bauen van der Scholen und Scholgeſellen⸗
Boningen, — Alle andere Notrofft ... ſcholen vorfchaffen
de Vorweſere der Scholen.“
Bei al’ dem müffen wir jedoch bedenken, daß diefe Bes
flimmungen für Schulen gelten, die mehr den Charakter von
Gelehrtenſchulen hatten ; die Lehrer an denſelben waren oft
Männer von berfelben Bildungsftufe wie die Geiſtlichen.
Im allen Städten it almäplich die Sitte aufgefommen feit
der Reformation, daß jeder ordentliche Bürger feinen Sohn
in einer lateinifchen Schule unterrichten läßt, wenn er auch
bloß zum Gewerbömann beflimmt war, wie ed ja heut’ zu
Zage noch in den größeren Städten und felbft in kleineren
Landſtaͤdtchen häufig vorfommt. Urfprünglich lag darin ein
Streben nach allgemein menfchlicher Bildung, und fo iſt es
fehr begreiflich, daß fich alsbald die Anſicht geltend machte,
daß diefe Schulen nicht bloß Firchlicher Natur feyen, fondern
allgemein bürgerlichen Sweden dienen und barum in einzels
476 Jäger
nen Stäbten unter bie fpecielle Aufſicht des Rath, unabs
bängig von der Geiſtlichkeit und ben kirchlichen Factoren, zu
ſtellen feyen. Dazu kommt, dag, wenn einmal das Laien
element in der Kirche zur Anerkennung gelommen ift, wie
dieß in Freiſtaaten am flärkften hervortreten muß, gar leicht
politifchen Factoren Pirchliche Thätigkeiten zugewiefen werben
Tonnten, wenn nicht gerade ein folcher Staat confeffionelle
Differenzen in fi aufnimmt, Verdankt ja auch dad monar⸗
chiſche Staatskirchenthum feine Eriftenz der Anerkennung bed
Laienelemented in ber Kirche, wie Luther's Schrift an den
deutfchen Adel und viele andere feiner wichtigften und wirk⸗
famften reformatorifhen Schriften beweifenz aber auch bier
ift vorausgeſetzt, daß innerhalb bed Staates bloß evangefis
ſchen Chriften politifhe Rechte zulommen, Mit dem Fallen
dieſes Grundfages bat dad Staatskirchenthum in Monar⸗
dien wie in Breiftaaten feinen urfprünglicen Rechtsgrund
verloren, Uebrigens wiederholen wir bie Bemerkung, bag
dieſe Ifolirung der Schule der Geiſtlichkeit gegenüber in ber
bamburger und lübeder Kirchenordnung einzig in ihrer Art
iſt.
Merkwiundig iſt ber verſchiedene Einfluß, der in ber
pommerifchen Kirchenordnung von 1535 der Geiſtlichkeit auf
die verfchiedenen Schulen eingeräumt wird. Diefe Kirchen⸗
orbnung verordnet bie Errichtung einer Univerfität, „daffe
gude Lande tho erholden yn geiftliden unde weltliken Res
gimente”, fügt aber glei) den Math hinzu, „mit eyner rins
gen Univerfität” anzufangen und nad zwei Jahren eine um
faffendere Einrichtung zu treffen. Es wird nun Einrich⸗
tung eines Paͤdagogiums nach dem Mufter des marburger
gefordert, gemäß dem Vorgange von Roflod, und zwar folle
man fi auf acht Lehrer befchränken, vier professores ar-
tiam, zwei Theologen und zwei Juriſten; der erſte Artifte
iſt Vorſtand des Paͤdagogiums, in welchem humaniora
und Naturwiſſenſchaften gelehrt werden ſollen. Es ſteht
alſo hier die Geiſtlichkeit und Theologie ſehr im Hinter⸗
d. Bedeutung d. ältern bugenhag. Kirchenordn. ꝛc. 477
geunde; daflır haben in den niederen Schulen die kirchlichen
Gewalten ein Ucbergewicht. „Scholmeifter unde Subrector
ſchoͤlen annehmen Radt, Parher unde Kaftenherten ; ber
Rector ſchal ſick de andern Gefellen vorſchaffen, doch dat fe
dor) ben Superattendenten des Derdes eramenert werben.”
Bemerkenswerth ift, daß bei den Schulmeiftern Univerfitätös
bildung erwartet wird. Es wirb nämlich beſtimmt, daß jede
Stadt, die es vermag, wenigfiend zwei Bürgeröföhne auf
die Univerfitdt fehide, und wenn fie veich iſt, vier, ohne bie, "
welche „van fi fulveft (ſelbſt) fryewillich ſtuderen“, und
um num den Studierenden nach Vollendung ihrer Studien
ein „nerlide Condition” zu ſichern, folen in den Städten die
Prädicantens, Syndikus⸗ Schulmeifters und Stabtfchreis
berflellen gut befoldet werben,
Bir dürfen bei Beurtheilung der alten Kirchenordnun⸗
gen nie vergeffen, daß dad Schulwefen feinen Mittelpunct
in den Städten hatte und bier höhere Bildung von ben
Lehrern gefordert wurde, fo daß bie Schulmeifter hier ganz
den Predigern binfichtlich ihrer Bildung an die Seite ges
Felt werden =), wie denn überhaupt das höhere geiftige
Leben befchränkt erſcheint auf die Städte, von ihnen
aus fi) entwidelt und in fie wieber ald in fein Ter—⸗
rain zurüdtehrt, fo daß felbft die ſtolze Ariftokratie, die
Schmach, bie fie fich damit anthut, gar nicht ahnenb, biefe
geiftige Priorität ald Privilegium den Städten geſetzlich zus
erkennt, ja von ihnen dabei noch außerordentliche Opfer vers
langt, ohne felbft auch etwas dazu fleuern zu wollen, Ex:
®) In der mindenfhen Ordnung vom I. 1530 wird Kenntniß ber
griehifhen und hebrätihen Sprache vom Schullehrer verlangt
und in der braunfchw.swolfenb. Kirchenordnung v. 3. 1543 ber
Fall gefegt, daß ein Squullehrer fon magister artium wäre,
in welchem alle er dann von ben Predigern „mit Willen und
Vulbord des Made” angeſtellt wird, ohne weitere Prüfung unb
Beſtaͤtigung durch den Superattendenten.
478 Jaͤger
freulich iſt es dagegen, in ber braunſchw.⸗wolfenb. Kirchen⸗
ordnung von 1543, mit welcher die zweite Gruppe der bu⸗
genhagenſchen Kirchenordnungen beginnt, zu ſehen, wie der
bugenhagen’fche pädagogifche Grundgedanke anfängt, feine
fundamentale Bedeutung dadurch zu erhalten, daß auch an
das Landvolk ein wenig gebacht wird. Auf den Dörfern
muß nad) diefer Kirchenordnung der Küfter zugleich noth⸗
dürftig Schule halten Tönnen, wie er auch in Städten
für den niederſten Unterricht verwendet werben darf, in
welchem Dienft er dann dem Schulmeifter fuborbinirt if.
Diefe Beftimmung begreift man leicht aus dem Bufammens
bange, in welchem die Schule mit dem Öffentlichen Gottes
dienfte feht, da der Kirchengeſang durch die Schule mögs
lich gemacht wird, Denn Lefen, etwas Rechnen und Sins
gen und nothbürftiges Schreiben, das waren die Fertigkeis
ten, bie in den niedern Schulen erlernt wurden und für
bad Bedürfnig des Volkes ausreichten, und auch unter dies
fen fland das Leſen und Singen oben an, weil das erfle
dem Laien die Bibel zugänglih machte, daB zweite dem
evangelifchen Gotteöbienft unentbehrlich. war; dazu kam, als
eine Hauptfache, dad Memoriven religidfer Lehrftoffe Im
den Städten aber entftand ein Zug nach höherer Bildung,
fo daß die niebere Schule und bie Gelehrtenfchule hier ganz
eng mit einander verbunden find, bie erftere nur als ein
Element der legtern auftritt. Die Beflimmung in ber wol,
fenbüttler Kirchenorbnung zeigt am deutlichſten, wie in den
Städten bie fogenannte deutſche Schule in Verbindung
fand mit der Iateinifchen. Nur wenn man dieß im Auge
behält, verficht man die Beftimmungen ber alten Kirchen:
orbnungen über die Schulen, Offenbar wurde die niebere
Bolksſchule vom Schullehrer durch Einen feiner Schulgeſel⸗
Ten beforgt, an deſſen Stelle in Bleineren, ärmeren Städten
der Küfter trat, wobei er jedoch in diefelbe Unterordnung
unter den Schulmeifter geftellt wurde für diefen Dienft, wie
die fogenannten Schulgefellen.
d. Bedeutung d. Altern bugenhag. Kicchenorbn. ıc. 479
3, ine weitere Frage, deren Beantwortung zum Ver⸗
fändniß der focialen Eirchlichen Verhaͤltniſſe jeder Zeit noths
wendig ift, if die nach der Beziehung, bie zwiſchen
der Schule und ber Familie flatthatte, Ein Schule
zwang, ber in die compacte Einheit des Bamilienlebens eins
griffe, war jener Zeit noch fremd. Bei bem allgemeinen
Drange der Zeit nad geifliger Bildung war jede Familie
froh, wenn fie Gelegenheit hatte, ihren Kindern in Schulen
die Kenntniffe zu erwerben, die ald zur Seligkeit nothwen⸗
dig erachtet wurden, oder wenigſtens als nothwendige Drs
gane zur felbflänbigen veligiöfen Erbauung anzufehen find,
wie dad Lefen, Wenn es in ber pommerifhen Kirchen⸗
ordnung beißt, man folle den armen Kindern erlauben, vor
den Thüren zu betteln, damit fie nicht von der Schule wegs
gedrängt werben, fo zeigt dieß deutlich, daß bei Nichtbezah ⸗
lung des Schulgeldes, auf das ber Lehrer angewiefen war,
ein foldyes Wegdrängen erfolgte, was bei einem wirklichen
Schulzwange nicht denkbar if. Doch lag es fehr nahe, bei
der Wichtigkeit, die man der Sache gab, und gemäß der
damaligen Sitte, die kirchliche Mitgliedſchaft ſelbſt mit Strafen
zu erzwingen (wiewohl dieß nicht in dem Sinne der aͤlteſten
Kirchenordnungen und namentlich der bugenhagen'ſchen lag,
wie die Beſtimmungen über die Ercommunicirten zeigen),
daß man bald zum Schulzwange fortfehritt. If einmal die
Schule in fo engen Zufammenhang mit der Taufe und dem
Cultus gebracht, wie in der braunfchweiger Kirchenordnung
von 15%, fo war es riatürlich, daß, wie die Taufe, fo auch
der Schulbefuch zwangsweife gefordert wurde, Sodann beus
tet auch dad Verbot der Winkelſchulen, gegen die naments
lich die lübeder Kirchenordnung von 1531 eifert, ald gegen
Schulen, „dar me wol twintich (zwanzig) Jahr yn loept
C(aͤuft) und lernt nicht vele”, ficher darauf bin, daß man
zwangsmaͤßig dad Schulmwefen zu begründen geneigt war,
Denn ed iſt doch Har, baß, wenn bie Kirche in Verbindung
mit dem Staate Schulen hergeftellt hätte, worin gegen ein
480 Jager
moglichſt geringes Schulgeld Unterricht ertheilt worden wäre,
die Goncurrenz dieſer ganz auf das Schulgeld angewieſenen
Winkelſchulen bald aufgehört hätte, ober wenigftens biefelben
durch ausgezeichnete Leiſtungen und Anflug an bie refor⸗
matorifche Bewegung fi) hätten im Credit befeftigen muͤſ⸗
fen, was dann jedenfalls Pein Schade gewefen wäre. Aber
da die Kirche in Deutfchland ſich zu polizeimäßiger Ausbil⸗
dung hinneigte, in Ermangelung einer organifchen lebendigen
Kirchenzucht in der Gemeinde, fo war es unvermeidlich, daß
der Schulzwang bald auffam, mit welchem ein Kampf der
Schule mit der Familie eröffnet wurde, in bem die Einheit
der Erziehung ſich aufloͤſte. Die natuͤrliche Priorität ber Gas
milie macht fi) dann dadurch geltend, daß mit dem Austritt
des Kindes aus der Schule das Signal gegeben ift zur Ver⸗
wiſchung alles in der Schule Gelernten. Diefer Kampf
Inüpft fi) hauptſaͤchlich an das Schulgeld bei armen Bamis
lien und an das Beduͤrfniß der Arbeitshülfe der Kinder. Je⸗
denfalls ift bad gewiß, daß Schulgeld und Schulzwang nicht
gut neben einander beftehen. Hält es einmal der Staat und
bie Kirche fr nothwendig für ihren Beftand, daß alle Kin
der durch die Schule hindurchgehen müſſen, fo if fein Grund
vorhanden, eine Einderreiche Familie ſtaͤrker zu belaften, als
eine kinderloſe ober minder gefegnete, Denn beim Staates
wohl und dem Beſtande der Kirche im Ganzen ift jede Bas
milie ohne Unterſchied gleichmäßig intereffirt; hört aber der
Schulzwang auf, fo erflären damit Staat und Kirche, daß
fie ihre Intereffen nur vermittelt durch die Interefien der
Familie wahren wollen; fie begnügen fi) damit, paflende
Schulen einzurichten und fo jeber Familie Gelegenheit zu
geben, freiwillig ihre Erziehungsthaͤtigkeit durch die Thaͤtig⸗
keit der Schule zu ergänzen, wie diefes Syſtem mit großem
Erfolg in Schottland jegt noch befteht, wo eine organifde
Seelforge dad Intereffe für die Schule wach erhält, Im
diefem letztern Falle ift das Schulgeld eine Abgabe, bie
Niemanden unbillig erfheint und armen Familien durch freie
d. Bedeutung d. Altern bugenhag. Kicchenorbn. ıc. 481
Entroidelung ber chriſtlichen Armenpflege erleichtert wird.
Sobald der polizeiliche Mechanismus fi) zwiſchen die Bas
milie und Schule vermittelnd eindrängt, wird die Wirffams
keit der Schule ſelbſt um ein Bedeutendes vermindert, Denn
bie organiſchen Elemente der Gefelfchaft haben einen natürs
lichen Horror gegen ben Mechanismus der Polizei, der an
die Stelle ihrer lebendigen Glieder eine Krüde fegen und
amputiren will, ohne vorher organische Belebungsmittel eintre⸗
ten zulafien, zu welchen vor Allem eine durch Gemeindevertreter
vermittelte Seelforge gehört. Diefen Weg der feelforgerlichen
Ermahnung betreten die ältern Kirchenordnungen und fogar bie
fonft mehr von polizeimaͤßig mechanifcher Anfchauungsweife tits
girten ſachſiſchen Wifitationsartifel vom J. 1528, Hier heißt es
(S.%, bei Rich ter a.a. D.): „Es ſollen auch die Prediger
die Leute vermanen, yhre Kinder zur Schule zu thun, damit
man Leuf auffzihe, geſchickt zu Ieren yn ber Kirchen und
fonft zu regiren.“ Bezeichnend ift in der braunfchweiger Kir⸗
chenordnung von 1528 der gemlithlich-feelforgerliche, ermah⸗
nende Zon, in dem ſich der Artikel „van ben Gcholen” bes
wegt, für den man als merkwüͤrdiges Analogon vergleichen
Tann die von Brenz verfaßte halliſche Kirchenordnung vom
3. 1526 (bei Richt er a.a.D. 1. S. 48.) in ihrem Schlußs
artifel von den Schulen, der überhaupt nahe binftreift an
die bugenhagen'ſche pädagogifche Richtung,
4, Was endlich den Lehrfloff in feinem Verhaͤltniſſe zur
kirchlichen Lehre betrifft, fo ift in allen Kirchenordnungen der
ältern Zeit als ſich von felbft verſtehend vorausgeſetzt, daß
ſich dieSchuleindieferBeziehung auf das evans
geliſche Glaubens bekenntniß gründe. Doch iſt zu be⸗
merken die Tendenz, von der niedern Volksſchule Alles fern zu
halten, was nicht pofitiv bildend iſt, alſo alles eigentlich Po⸗
lemiſche. So heißt es in der braunſchweiger Kirchenordnung
vom J. 1528, die Jugend ſolle fernen „de teyn Gebot Gas
des, den Loven (Glauben), bat Water unfe, be Sacramente
Chriſti, mit der uthlegginge, fo vele alfe Kyndern
482% Jäger
benet”. Das kirchliche Bekenntniß wird alfo nur nach feis
ner pofitiven, unmittelbar evangelifcyen, praktifchen Seite in
die Schule hereingezogen, Daraus erflärt es ſich, daß die
ältern Kirhenordnungen vom Bekenntniß erfi reden bei den
Beflimmungen über bie Prädicanten; auf die Schule wird
es nur mittelbar bezogen. Es iſt zwar unzweifelhaft, daß
die geforderte Auslegung tiber „de Sacramente Eprifli” es
nicht wird haben fehlen laſſen an Hervorhebung des ſpecifiſch
Lutheriſchen, fo wie an gelegentlichen verwerfenden Aeußeruns
gen über die Papiften und Sacramentirer; allein es zeugt
doch von einem gefunden Sinne, daß, wie wir wiffen, gerade
in.diefer erften Zeit dad Hauptaugenmerk auf pofitive Be⸗
friedigung des religiöfen Bedürfniffes gerichtet wurde, wos
durch ſich die damalige evangelifche Schule febr außzeichnete
vor der möndifchen Lehrweiſe, die darauf außging, zu fas
natifhem Haffe ſchon die Jugend heranzuziehen. Die Poles
mit und ber polemifche Gonfeffionalismmus zeigte fich weniger
in diefen innern Heiligthlimern der evangelifchen Kirche, als
— wie es allein normal iſt — in den Beziehungen, wo es
ſich direct um: Abgrenzung gegen andere Richtungen hans
delte und um Erhaltung der innern Einheit und einheitlichen
Entwidelung. Es ift in den ditern Kirchenordnungen nas
mentlich dad Amt des Superattendenten, das feinen einzigen
Zweck darin hat, alle das religidfe Bewußtſeyn des Volks
verwirrende Lehrdifferenzen fern zu halten, Die organifche Bes
ziehung dieſes Amtes zum kirchlichen Leben liegt einzig in
diefer Function, die verſchiedenen Lehrthaͤtigkeiten, namentlich
die ber Prediger, in der Einheit des Bekenntniſſes zu erhals
ten; alles Andere in der Amtöthätigkeit der Superattendens
ten ift untergeorbneter Natur, In Beziehung auf bie Schus
fen ift in den meiften aͤltern Kirchenordnungen dem Super⸗
attendenten ein Pruͤfungsrecht des anzuftellenden Lehrers und
Theilnahme an der Bifitation der Schulen eingeräumt, aber
immer concurriren in den ſtaͤdtiſchen Ordnungen mit entfcheiz
dendem Einfluffe politifche Factoren; nur „fo vele de lere unde
b. Bedeutung d. Altern bugenhag. Kirchenorbn. ıc. 483
Eynnicheit bebrept,” gehört dem Superattendenten „mit fps
nem Adiutor de gange Safe aller Predigern unde der Schos
len” (braunfchw. Kirchenordnung von 1528. a, a. D, 1. ©, 100.),
In der Unterordnung unter ben Superattendenten werben
beide, Schule und Predigtamt, unmittelbar vereinigt durch
ihre Beziehung auf bie Fundamentaliehren der Kirche, Der
Guperattendent hat „uptofehn, wat me leret unde wo (tie)
u. f.w.” Denn „wy (mir) willen nit liven mit unfen wer
tende (Wiſſen) Secten edder Partyen des Woerdes halden”
(ebendaf.). Der Superattendent if fomit nur das Organ,
durch welches die Einheit des Belenntniffes gewahrt wird,
Dabei ift aber unverkennbar, daß das eigentlich confefiionelle
Leben ſich nicht in der Schule, fondern erſt in dem Gottes⸗
dienfte concentrirt. Die Schule hält fich mehr in dem Be⸗
reiche der elementarifchen evangelifhen Grundwahrheiten. Nur
im Lectorium, entfprechend den Univerfitäten, tritt die cons
feffionele Richtung ſcharf hervor; daher ift der Hauptlehrer
an demfelben wieber der Superattendent und fein Abjutos
und ihnen untergeordnet die übrigen Prediger, Es liegt dieß
in der Natur der Sache; denn bdiefe höchfte Form der Schule
if eben dazu beflimmt, eine Heranbildung Künftiger Predi⸗
ger und Lehrer für die amtlihe Wirkfamkeit zu vermitteln,
Wir haben fon oben bemerft, daß in ber braunſchweiger
Kirchenordnung von 1528 auch die Hauptlehrer beigezogen
werden in das Collegium der Prediger und des Superattens
denten, fobald es fi um eine Sache „Gades Wort bebras
penbe” handelt. Auch hierin zeigt fich deutlich, wie in dem
Belenntniffe ber Einheitöpunct liegt, in welchem Schule und
Predigtamt Ein Intereffe haben; jedoch erfcheint das letz⸗
tere überwiegend vertreten, weil, wie [yon gefagt, in ihm
erſt das confeffionelle Leben ſich concentrirt. Bemerkenswerth
iſt das collegialiſche Verhaͤltniß des Superattendenten und
ſeines Adjutors, in welchem dieſe hier den Predigern, wie den
Hauptlehrern gegenuͤberſtehen. Der Superattendent mit
feinem Abjutor iſt mehr nur primus inter pares und hat
484 Jäger
ſelbſt aushelfend in allen Kirchen zu prebigen, ba er an kei⸗
ner Kirche beſonders angeftellt if; ebenfo ber Adjutor. Im
der braunſchweigiſchen Kirchenordnung von 1528 heißt es,
daß der Superattenbent durch den Rath und bie Schatz⸗
kaſtenherren als Vertreter der Gemeinde in feine Amtögeivalt
eingefegt werde. Es iſt dieß infofern natuͤrlich, als bie For⸗
derung ber Einheit in der Lehre weſentlich auch vom politi.
ſchen Standpunct aus geftellt wurde, „Eintrechtige Prebis
gen” in ber ganzen Stadt werben verlangt mit. beutlicher
‚Hinweifung auf die Gegner, unter bie fowohl Papiften als
Bwinglianer gerechnet werben, fofern die erſtern „webber de
Gnade Gades” verftoßen, die letztern? „wedder den bevehl
unde Infettinge der Döpe unde bes Gacraments des Lives
unbe Bludes unfes Heren Jeſu Chrifti, van Ehrifto mit
klaren Worden ingefettet unde bevalen.” Zugleich aber
wird auch ausführlich abwehrenb auf die karlſtadtiſche Var⸗
tei bingewiefen unb auf ihre Hinneigung zum Aufruhr,
„Unlivelid ſchal und od fon ſulke Prebige, de barhen bes
net, dat me ber Dvernheit nicht ſcholde gehorfam fon, gelyck
efft unter den Ghriftenen nicht ſcholden weltlife Heren fon.”
Es wird dann die Vollmacht der chriſtlichen Obrigkeit als
ein abſolutes goͤttliches Recht in Anſpruch genommen. Aus
demfelben Gefihtöpuncte wird nun auch gefordert, baß bie
Prediger in ihren Rügen ſich mäßigen folen: „de Prebilere
ſcholen frylik ſunde flrafen, doch unvormerket de Perfonen;
wente (denn) beteren (beffern) fcholen fe unbe nicht ſchen⸗
den.” „Up fulfe unbe bergelite Stucke moet be Superattens
bente fehn, dat de Iere Chriſti by uns reyne blive unde Un«
einicheit unde Ungehorfam nicht werde dorch unſchickede Pres
digen erwedet.” So iſt denn der Superintenbent nicht bloß
Diener der Kirche, ſondern auch bed Staates, fofern biefer
feine innere Ruhe und Einheit burd bie kirchliche Einheit
vermittelt und bebingt anfieht, Andererfeits finden wir in
ber braunſchweigiſchen Kirche zu der Beit der erfien Kirchen ·
orbnung bad Beſtreben be Pirchlichen Amts, fi autonom
d. Bedeutung d. Altern bugenhag. Kirchenordn. ıc. 485
zu machen. As naͤmlich Bugenhagen vom Rath berufen
wurde zur Orbnung der Kirche, weigerte er fich, fein Amt
anzutreten, „bevor bie Übrigen Kirchendiener und evangelis
ſchen Lehrer in Braunfchweig ihren Willen und Conſens
darin begeuget hätten durch ben gewöhnlichen Kirchengebrauch
der Auflegung der Hände” (Rehtmayer, braunſchw. Kirchen ⸗
biftorte, III. S. 59.). Er verfammelte die Prediger in ber
St. Andreaskirche und ließ ſich von ihnen in feinem Amte
beftdtigen. Und als Bugenhagen vor feiner Abreife von
Braunfchweig die Einfegnung eines Superattenbenten vers
mittelte, wozu durch Luther M. Gorolitius vorgefchlagen
wurde mit Webergehung des frühern Hauptes der braun⸗
ſchweigiſchen Prediger, Heinrich Winkel, der fi etwas
unſelbſtaͤndig gezeigt zu haben ſcheint (f.Rebtmayer, IH.
6,45. und 51.): fo geſchah zwar damals die Ernennung
durch den Rath und die Schagfaftenherren, aber es heißt
dabei doch ausdruͤcklich, der Ernannte fey vor dem verfams
melten Bathe den Prebigern vorgeflelt worden, „die denn
auch mit Hand und Mund verhießen, fie wollten ihn für
ihren Superattenderiten erkennen und ſchuldige Obfervanz
leiten’ (Rebtmayer, III, S.71.) — eine, wenn auch fehr
mittelbare Anertennung einer Berechtigung ber Prediger,
durch Adoption den Superattendenten ſich zu ſetzen. Im
Sanzen gebt jedoch auch bier fehr ſchnell die Entwidelung
dahin, daß die Randeöregierung das Kirchenregiment in die
Hand nimmt; nur in Entſcheidung von Lehrftreitigfeiten will
die potitifche Gewalt ſich nicht einmifchen. So heißt ed am
Schluſſe der braunſchweigiſchen Kirenorbpung von 158,
wer gegen biefe Kirchenordnung etwas einwenden wolle, folle
es, wenn er aus ben Gilden ift, durch feinen Gildmeiſter,
wenn er aud ber Gemeinde iſt, durch feinen Hauptmann oder
Bürgermeifter an den Rath bringen oder fich bei dieſen feis
nen nächften Vorgefegten Raths erholen; an rein politifche
Factoren wird hier der Bürger gewieſen in Bragen Über bie
äußere Kirchenordnung. „Dreppet (betrifft) overs de Safe
486 Jäger
de lere an bed Evangelit edder ſus be Prebifern in unfen
Kerken, fo ſchal der Superattendente mit fonem Adiutor — —
dartho dohn.” Die Autonomie der Kirche ift alfo wenigſtens
in Sachen ded Glaubens und der Lehre und in Fragen,
welche die perfönliche Qualität des Predigers betreffen, an⸗
erfannt, Das ſchon oben berührte Glaubensgericht, beftehend
aus dem Superattendenten, feinem Adjutor, den nicht betheis
Higten Predigern und den zwei Hauptlehrern ber Stat, iſt
ganz autonom; nur dadurch fichert fi) der Staat feinen
Einfluß, daß die Prediger durch den Rath und die Schafe
kaſtenherren ernannt und zur Prüfung dem Guperattendens
ten und dem Abjutor zugeſchickt werden, welde bloß ein
Veto gegen untüchtige Gandibaten haben, und auch ihe Präs
fungsrecht flammt ihnen vom Rath und ber Gemeinde, denn
es heißt dabei ausdruͤcklich: „de (die, nämlich der Superate
tendent und der Adjutor) od fold tho dohn Macht ſcholen
bebben und Bevehl vam Erbaren Rabe und ber Gemeinde.”
Damit droht freilich diefe Kirchenbehoͤrde zu einer bloßen
vom Staate beftelten Eramenscommiffion herabzufinken *),
Die gleiche Form, wie bei der Anftelung, wird bei der Abs
fegung eines Predigers befolgt, und ohne Zweifel gilt dieß
a) Es erwies ſich auch in ber Folge die Vollmacht des Guperintens
denten in Braunfchweig als nicht ausreichend zu Erhaltung der
Ginpeit der Predigt, indem mehrere Prediger zwingliſch predig⸗
ten und einenmädtig in Sachen bes Gultus verführen. 1529
wurden zwar die zwei Hauptgegner auf Betreiben Bugenhagen’s
hin entfegt und ausgewiefen, aber der Zwift war damit nicht
beendigt und der Superintendent M. Gorolitiuß fuchte durch
Ginführung eines regelmäßigen, alle vierzehn Tage ftattfindens
den Golloquiums bie Geiſtlichkeit zu einer gefchloffenen Gorpora-
tion zu vereinigen, ohne dexen Zuſtimmung kein einzelner Pres
diger fi) eigenmächtig Abweihungen in Predigt und Gultus follte
erlauben dürfen. Diefe Einrichtung, obwohl durchaus freier Ras
tur, erwies ſich wirklich als praftif und erhielt fi) bis in’
fpäte Zeiten — offenbar ein Nachbiid der vor der Reformation
beſtehenden · geiftlichen Union- in Braunfchweig.
d. Bedeutung d. ditern bugenhag. Kirchenordn. . 487
Alles auch für die Anfelung und Abſetzung eines Haupt⸗
lehrers, da diefe ald Gollegen der Prediger im Glaubendges
richt erſcheinen. In der hamburger Ordnung von 1529, wo
wir die Schule ziemlich unabhängig finden von der Geiſtlich⸗
Zeit, finden wir dagegen bei Beftelung von Geiftlihen eine
umfaffendere Mitwirkung des geiftlihen Standes; er ſteht
ganz in derfelben Linie mit den Übrigen Factoren bei Erwähs
lung des Superattendenten und Adjutord, dagegen die Pas
ſtoren werden von den Rathöherren bed Kirchſpiels, den Dias
tonen und den vierundzwanzig Bürgern, bie die Gemeinde
vertreten, erwählt „nah Rabde unb by wefenbe bed Super:
attendenten und ſynes Adjutors“, welchen bie lübecker Kirs
chenordnung von 1531: noch die übrigen Paſtoren hinzufügt
mit dem gleichen Rechte der Zuftimmung. Die andern bu«
genhagen’fchen flädtifchen Kirchenordnungen haben meift die
Beftimmungen der braunſchweigiſchen Kirchenordnung in dies
fem Puncte wiederholt, Der Superattendent vertritt nach
der biöherigen Ausführung die Stele, die früher der Biſchof
inne hatte, nur fteht er in engerem Verbande mit ber übrigen
Geiſtlichkeit und ift weſentlich felbft Prediger. Früher beftand
in Braunfchweig eine fogenannte geiftliche Union, welche das
ganze. Kirchenregiment in Händen hatte; es waren bieß bie
Pfarrherren, deren es damals fieben waren an den fieben
Hauptlicchen, die zwei Decane zu St. Blafius und St, Cy⸗
riacus und enblid der Abt am St. Xegidienklofter. Die
Pfartherren pflegten nie zu prebigen, fondern beriefen dazu
Prädicanten; fie führten bloß das Regiment und bezogen
ihre Einfünfte, von denen fie ihre Prädicanten befoldeten,
Ihre Lethargie gab die Möglichkeit, daß einer ber Praͤdican⸗
ten nad) dem andern zur evangelifchen Partei überging, wies
wohl einzelne unter ben Pfärrberren felbft zu der neuen
Richtung binneigten. Diefer Einrichtung gegenüber wird
nun der Superattendent felbft zum Prebigtdienfte verpflichtet
und tritt in collegialiſches Werhältnig zu den Predigern. —
Dagegen finden wir in ber pommeriſchen Kirchenorbnung von
Tpeol, Stud. Jahrg. 1858, 32
488 Säger
1535 noch Raum gelaflen für das Epiffopat, „fo fyne Gna⸗
ben deſſe Orbeninge würde annehmen”; wo aber nicht, „Io
ſchoͤlen (ſollen) doch alle ſulke Bades Saken dorch de
Dverich eit ſammt den Andern, wo geſecht, uthgerichtet
werden vor dem Superattendenten des Derdes.“
Die Staatsgewalt hat auch hier eine umfaſſende Wirkſam⸗
keit in der Kirche, wie ſchon die braunſchweigiſche Kirchen⸗
ordnung fie feſtſetzte. Im Falle einer Weigerung bes Bir
ſchofs, die evangeliſche Kirchenordnung anzunehmen, tritt die
Obrigkeit in feine Rechte ein und die Superattendenten, des
ven je Einer in einer Vogtei aus den Pafloren aufzuflellen
iſt, concurriren dabei, jeder in feiner Diöcefe, Dagegen ift
dem Superattendenten ein bedeutendes Recht, bad er fonft
in ben bugenhagen’fchen Kirchenorbnungen bat, entzogen,
nämlid die Prüfung der Gandidaten für geiftlihe Aemter.
Es find dazu befondere Eramenscommiffionen aufgeftellt, und
zwar im ganzen Lande drei, eine zu Stettin, eine zweite zu
Greifswalde (oder zu Stralfund), eine dritte zu Colberg.
Sie beftchen aus ben Prädicanten der brei genannten Städte,
und es darf Bein Prediger angeflellt werben, ehe ex von einer
diefer drei Commiffionen, und zwar ber der vacanten Pfars
vei am nächften Legenden, „epne halve Stunde lang vam
Geſette unde Evangelio, Geloven (Glauben) unde Werken”
und „wat he van ben Sacramenten, Bothe unde Dvericheit
bolde”., befragt und für „duͤchtich yvnn der Lere” erkannt
worden ifl. Selbft für den Fall, daß das Epiffopat bliebe,
darf ber Bifchof nur auf dad Mefultat diefer ihm entzoges
nen Prüfung bin anftellen: „Idt. fan — fone Gn. nemandt
confirmeren one Züchniffe der Lere genamen van ben Eyas
menatoribusꝰ; fält aber das Epifkopat, fo tritt die Staats⸗
gewalt unter Goncurrenz des Superattendenten in diefe Bes
fugniß ein. Die oberfie Einheit der Kirchengewalt liegt alfo
im Staate, der über den verſchiedenen Superattendenten
ſteht. Der. Superattendent iſt damit zu einem bloßen Aufs
feher degrabirt, ber alle wichtigern Dinge, „wor eyn wrevell
d. Bedeutung b. Altern bugenhag. Kirchenorbn. ꝛc. 489
(Brevel) edder Muthwille dar ſyn würde unde fahre (Gefahr)
der Lere”, an den Biſchof zu bringen hat und, wenn bier
fer wegfält, an die Staatögewalt. Eine rein Eirchliche oberſte
Kirchengewalt fehlt, fobald das Epifkopat fält, und an ihre
Stelle tritt „de Dvericeit”, d. h. die Staatögewalt. Es
fehlt bloß noch das Conſiſtorium, ald Organ bed landesherr⸗
lien Kirchenregiments, und wir hätten daB fpätere Staatds
kirchenthum, und zwar fo, daß der Landesherr weſentlich als
„de Dvericheitꝰ, ald Inhaber der oberflen Staatögewalt, zus
gleich Inhaber der biſchoͤſlichen echte iſt. Diefe letztern
werden als ein integrirendes Moment ber Staatögewalt felbft
aufgefaßt, So ift denn auch diefe ganze Kirhenorbnung auf
einem Landtage zu Treptow durch die politifchen Factoren
als Gefeg vereinbart worden, wie diefe Form der kirchlichen
Geſetzgebung auch fchon in ber braunſchweigiſchen Kirchen,
ordnung von 15% und in den andern bugenhagen'ſchen Kir⸗
chenordnungen ſich findet, indem die politifyen Factoren, ber
Rath, die Gemeinde und bie Bilden, den vorgelegten Ent
wurf annehmen und zum Gefeg erheben, Nur Eines hielt
in damaliger Zeit die Staatögewalt in Schranken; es ift
bieß die Abſchließung der Geiftlichkeit in ſich zu einem bes
fonbern Stande, der eine gewiſſe Autonomie anfprechen konnte,
wie damals überhaupt im Staatsleben jebe ſtaͤndiſche Cor⸗
poration, In der pommerifchen Kirchenordnung zeigt fich
dieß in den Beflimmungen fiber die Eraminatoren, in wels
chen gewiffen Vertretern des geiftfichen Standes ein Recht
eingeräumt wird, wonach Fein neued Mitglied in den Stand
eintreten kann ohne Adoption von Seiten der den Stand
tepräfentirenben Eraminatoren. Ebenfo finden wir biefe corpo=
rative Selbftändigkeit in gewiſſem Sinne in dem Glaubens gericht
der braunſchweigiſchen Kirchenordnung von 18W. Mit der Aus:
bildung des Polizeiſtaates verloren die Corporationen ihre Selb⸗
ſtaͤndigkeit, die corporative Verbindung loͤſte ſich auf in einen
kirchlichen und politiſchen Beamtenmechanismus, und nun
war allerdings die Kirche wehrlos an die Staatsgewalt
2°»
490 Säger
überliefert. Am ſtaͤrkſten zeigt ſich bie corperative Ausbils
dung bed geiſtlichen Standes in der ſchleswig⸗ holſteini ⸗
fen Kirchenordnung v. 1542, in der freilich bie bifhöflidhe
Verfaffung adoptirt wird. Der Biſchof von Schleöwig wird
mit Wiffen und Zuflimmung des Landeöheren gewählt von
feinem Kapitel und den Pafloren zu Schleswig, Hufum,
Flensburg und Habersleben ; er reſidirt in Schleswig, bat
aber fonft ganz diefelben Pflichten wie der Guperattendent
zu erfüllen. In Holflein hat er nichts zu thun; für diefes
iſt ein eigener Probft beftimmt, der von den Paftoren ger
wählt und vom Landeöheren beftätigt wird, Die biſchoͤf⸗
liche Jurisdiction übt der Biſchof durch ein Conſiſtorium
aus; der bolfteinifche Probft dagegen ift eben ein Superats
tendent, wie bie der übrigen bugenhagen’fchen Kirchenordnun⸗
gen, nur mit etwas mehr Gelbftändigfeit gegenüber von
der Stantögewalt, da die Wahl beffelben dem Collegium
der Paftoren zuſteht.
So entwidelten fi) denn in jener Zeit neben einander der
Einfluß der Staatögewalt auf die Leitung ber Kirche und
bie corporative Goncentration des geiſtlichen Standes, eins
ander gegenfeitig einſchraͤnkend und unter wechſelndem Uebers
gewicht des einen oder des andern Factors, je nad) dem los
calen Verhältniffen, In den Städten erhielt fi) dieſes Ver⸗
haͤltniß lange, dagegen in ben Kirchenorbnungen, die ganze
Länder umfaßten, ward durch die Einführung der Gonfiftes
rialverfaffung der Sieg des Iandesherrlihen Staatskirchen⸗
regiments entſchieden. Den Uebergang dazu fehen wir in
der braunſchweig⸗ wolfenbüttler Kirchenordnung v. 1543,
‚Hier ſteht über den fünf Superattendenten zu Wolfenbüttel,
Helmftädt, Bockenem, Gandersheim und Alvelde eine „oberſte
Guperintendentia” ald Drgan des landesherrlichen Kirchens
tegiments. Doc) haben bie einzelnen Superintendenten noch
eine ziemlich ſelbſtaͤndige Macht, fie Lönnen volle Jurisdic⸗
. on üben über bie Pfarrer; nur wo fie Hinderniſſe finden
in Erhaltung der echten Lehre und Einigkeit und Bucht, tritt
d. Bedeutung d. Altern bugenhag. Sirchenordn. x. 491
die Höhere Inſtanz „der oberfien Superintendentia” ein.
Diefe ganze Entwicelung berührte aber das Leben der Ger
meinde darum wenig, weil fie nur durch eine Mivalität
der Staatögewalt mit der ftändifchen Corporation der Geifls
lichkeit ſich vermittelte, Die corporative Abſchließung des
geiftlichen Standes verhinderte in diefer Beziehung die Bes
theiligung der Gemeinde.
Wichtiger für die Gemeinde war nur dieß, daß der
Zweck, den die ganze Einrichtung eines oberften Kirchenre⸗
giments bat, nämlich die Erhaltung der Einheit der Lehre
und des Bekenntniſſes, dadurch erreicht wurde, und damit
verband fich von felbft der weitere Zweck, eine den Beblirfs
niffen der Gemeinde entſprechende Thaͤtigkeit des Predigt:
amts in Gang zu erhalten. Hierher gehört namentlich die
Bemerkung , daß in den Städten gewöhnlich ungemein reichs
lich für Erbauung geforgt wurde, &o bat 3. B. Brauns
ſchweig im Jahre 15% nicht weniger als zehn Kirchen, an
denen zum Theil mebrere Geiſtliche thätig waren, ohne den
Superintenbenten und feinen Adjutor, und die ganze Stadt
war in flnf Kirchfpiele geteilt. In Hamburg waren es
vier Pfarrkirchen mit je Einem Pfarrer und zwei Kapellas
rien, wozu noch ein britter kommt für die St. Jakobkirche
und ein Driefter für die heifige Geiſtkirche. Sehr reichlich
iſt Lübe verfehen; bier find fünf Kirchſpiele und In biefen
„dree Kapellane tho unfer leven Frawen, de od vorwaren
de Hyllige Dages Predife tho S. Katharinen, dre tho S.
Jakob, de od vorwaren de Hyllige Dages Predikye to S.
Klimenten, twe to S. Peter, twe to S. Dylgen, twe yn
ber Doemparre, de ock S. Juͤrgenskerken ſcheelen vorwaren”,
dann „eyn Prediker thom Hylligen Geiſt, de ock vorware
dath Pocken Huß edder Hospitael“, und dieſe alle zu ben
fünf Pfarrern hin, ſammt dem Superattendenten und Ads
jutor. In der erſten Zeit der Reformation war in den
Städten das Intereſſe an der Predigt und Erbauung ſehr
groß und die Gemeinde richtete fogar ſelbſt ihr Augenmerk
[2 En
seszıf, 1ef E gem Samner. bir
uhr = Ente fun. iv m ler Ener u gun. Eo
na ber er Begerisues: Eılırt m Bemmibuug, im
Iniange 1es Juri 2& ur me Gemente
“1m Zrmesisier 15 Bir Bes emutug we”
“Heizmsscera ll DEZ. Tau wir
Yis= Yan? Irsipicer srEmmenter Beiüing. — Degagm
we Id = Zrurisery 20 Beizten um Jammehe der
Heweckscie ve Irzın ter Frrrug x winten. De
d. Bedeutung d. Altern bugenhag. Kirchenorbn. ı. 493
fehn, dat Wele in ben hilgen Dagen ſupen (faufen) 2c.....
to Vorderve Lives unde der Selen unde to groter Aerger⸗
niffe des Chriſtliken Namens, fo is id billich, bat wy des
Gruewels (Graͤuels) ringer malen, Wyo willen overs um
der Predige willen, de uns un ſunderge Feſte werden vohr⸗
gebragen, unde um der Chriſtenen Leve willen, bat unfe
Geſinde od möge Rowe hebben unde gaen in de Predige,
late ſick leren unde bede, unde lave (labe) Got mit Gange,
bolden biffe naſcreven Hefe,” Diefe kirchlichen Feſte und Feier⸗
tage werden nun beſtimmt und dann heißt ed weiter: „Alle
Sundage wille wy od holden, alfe ſtedes (ſtets) by ben
Ehbriftenen gewaenlid isgewefet, dat wy unde
unfe Geſinde Rowe mögen hebben, tofamende Tas
men, fingen unde laven Got, beben vor und, vor unfe
Dvericheit, vor unfe. unde anderer Luede (Leute) Notrofft
Lives unde ber Seelen, — — befonderge dat wy benne mit
unferm Gefinde den gangen Dach (Tag) oͤver mögen hören
dat Woert Gades unde tom facramente gaen, unde Rubm
(Raum) hbebben Bades Wort to betradten, to
lefen” u, f. w. Diefe Kirchenordnungen wiflen nichts von
einem befondern göttlichen Gebote zur Sonntagsheiligung
für ben Ghriften, fondern nur von einer guten alten Sitte
und ber Nothwendigkeit eines feft beftimmten Tages zum
Behuf freier, ungehinderter Xheilnahme am Gotteöbienfte,
für welchen die Sonntage und Feſte die Hauptzeiten find,
Außedem haben die aͤltern Kirchenordnungen viele Wocens
gotteöbienfte angeordnet, die zum Theil in befonderer Ber
ziehung zur Schule fleben, wobei biöweilen noch lateinifche
Gefänge vorkommen, während für die Predigt und die Gas
cramentsliturgien in allen bugenhagen'ſchen Kirchenordnuns
gen durchweg die deutfche Sprache gefordert wird, und zwar
mit befonderem Nachdruck bei der Zaufe, da dieſes Sacra-
ment für Bugenhagen die Baſis des Schulunterricht iſt.
Ueberhaupt verfuhr Bugenbagen in Audmerzung aller uns
weſentlichen Elemente aus dem Gottesdienſt und ben Kir⸗
[0 3ge
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ecke verwerte wre, zuid dom ir Gemrinbeserseb-
mes 4 eischın, sch Er m tel weggunckmen
ut sum Gau zu versecmen ‚Retimayer lil.&.M).
5) Ben geicher Beberzuzg für das ergazıie Buben ber
Aache, wie Ve Schrie, ik tie Eceliorge Bähn
nen in ber Mefsrmationsgit bie Eule mem ſich bübele
und bei Bugruhagen fintamentaies Element der Kirdie iR,
bringt eb tie Idee des allgemrinen Prieiertkumd und die
Upyofition gegen tie in ber Threnbeichte gehbte Beer
mundung von ſelbſt mit fih, daß bie Seelſorge vorerſi
nemiich zuruidiritt. Sie knupit ſich ſaſ ansihückich an
Sranfens und Armenpflege; eine allgemeinere Bedeutung
fuat fie ſich zwar in ber Beichte zu erhalten, allein mit
dem Ballen der Ohrenbeichte if bier ein Hauptmittel dezu
verlosen gegangen, Hoͤchſtens noch in der Behandlung der
Ehefaden von Seiten ber Beiftlickeit ik eine vom Kierus
ausgehende allgemeine Seelforge moͤglich gemacht, aber auch
bier kommt chen wieber Alles auf den guten Willen der
Kirhenglieder an, ob fie in Gewiſſensſachen den Rath des
Geiſtlichen einholen wollen ober nit. Die Geelforge in
der evangellſchen Kirche mußte ganz neue Formen und Grunds
lagen befommen, wenn fie ohne Wiberſpruch mit ben ewis
d. Bedeutung d. ältern bugenhag. Kirchenordn. c. 495
gen Principien der evangelifchen Freiheit follte beſtehen koͤn⸗
nen. Eine ſchwache Spur eines Suchens neuer Grundlas
gen finden wir in der braunfchweigifden Kirchenordnung
von 1528; es heißt von den Armendiafonen:. „Sulfe Dia»
Bene, dewile fe hebben de heymelicheit des Loven in reyner
Gonfcientien, konen od mol troefiten "mit Gades Woerde de
Armen unde Elenden, den fe mit Gelbe to Hulpe famen,
alfo ſanctus Stephanuß to Hierufalem dede — — ane Platte
unde ane Diaten-Rod” allein das ift nur eine evangelifche
Reminiscenz aud der altapoftolifhen Kirche, denn es wird
gleich hinzugefügt: „By und overs (aber), wat dem Worde
Gades by den Kranken totumpt, dohn de Predilanten mit
der Heimfödunge, alfo dat unfe Diakene alleyne van dem
gemeynen Gude Geld vorfchaffen den Nottifftigen.” Die
Idee wird alfo falen gelaffen, durch ein Collegium von
Vertrauensmännern der Gemeinde die Seelforge zu vermits
teln. Es widerfpricht dem evangelifchen Grumdfage der ins
dividuellen hriftlihen Freiheit, wenn eine öffentliche, ſey es
bürgerliche ober kirchliche, Macht fi) eindrängt in die Ges
beimniffe der Individualität, ohne von ben betzeffenden Pers
fonen felbft dazu requirirt zu werden, Die einzige Seel⸗
forge in der evangeliihen Kirche, die allgemein für Alle
gätte, ift die Zulaffung und Förderung frei ſich bildender
Affociationen zu Tbaͤtigkeiten, welche das roligioͤſe Leben
ber Einzelnen, die daran Theil nehmen, und der Anbern, bie
davon Beugen find, beleben, ‘Hier finden fi) dann durch
individuelle freie Wahlanziehung auf Grundlage der Fami.
lie die Perfönlikeiten zufammen, die einander ergänzen
und darum gegenfeitig geiftig fördern koͤnnen. Außerdem
wird fi die Seelforge, wenn fie direct von eigentlich offi⸗
ciell·kirchlichen Factoren audgebt, immer darauf beſchraͤnken
möffen, den Ruf der Individuen, die fie bedürfen, abzus
warten oder durch perſoͤnliche Wermittelung bdenfelben ſich
zu nähern, Diefed Bewußtjeyn von den Schranken ber
individuellen Seelforge haben diefe aͤlteren Kirchenordnungen,
⸗206 Iige
Sie ſeden im ber Blegel iecche periiaiche Bermmtischung vor
ans (ver;l. tie Iraurie. Kirdenrtz vn BBa aD.
&. 111), mameniih bei ten Srschrrieinden: „Ber de
Prrfiern tea Sıanden wide gesertert werten, iwet fe wei
entfheitizet. Bennte velite te Euche baten dat
Evangelinm unbe febu mnie Pretigere mit
gerne” Ja felbü wenn bie Fretiger gefertert werden,
iM ibmen tegeimäfiger Beinch minteäens ale deri Tage
Enche In ſid bebden, umte fuifer Bitatien ber Prediger
midt bebarifien.” Um ie mehr haben fir Dagegen bie Kran:
ten im ten vielen ‚Hefsitälem der Stadt Bremuihweig zu
befinden, wie denn gerate barauf bin eine der ‚Dauptferde:
rungen des Bolfs am Aufange des Jahr 1528 ging, das
man den Eruten in ten Hoſpitaäͤlern das Gvangelium zu
gie kommen lafıe. Es wird in ter braunichweiger Kir:
chenordnung von 153 (a. a.D.L ©. 111.) diefe Seite der
Seeiſorge foͤrmlich organiñrt. Bon allgemeinerer Bedeu:
tung war die Seelforge in Beziehung auf die Zulaffung
zum Sacramente; in dem Artikel Bicht hören und dat
Sacramente gevenꝰ wird entichieden gefordert, dab ohne
vorangegangene Rekenſchop unde Berichtinge ſyues Les
vensꝰ, dem ordentlichen Prediger gegeben, Niemand zum Ga:
cramente fol zugelaffen werden. Es iR biefe Beimmang
ziemlich unũcher gehalten. Die individuelle Freiheit wer
anerkannt, und doch ward für bie Zheilnahme an der Som:
munion eine Garantie gefordert, daß nicht Unwürbige dazu
Tonımen, wenigſtens fo weit dieß im Bereiche der Moͤglich⸗
Beit Liegt, Diefe Beichte ift daher weſentlich zu umterfdheis
den von bem allgemeinen Sundenbekenntniſſe, wie es eim
integrirended Moment des Gultus wurde. Diefeb allge:
meine Belenntniß gebört nicht unter den Begriff der Seel⸗
forge; dagegen iſt in den älteren Kirchenordnungen nad
beſonders ein ſeelſorgerliches Beichthoͤren fefgelrät, fo je⸗
doch, daß man in ben Beſtimmungen eine Unſicherheit in
d. Bedeutung d. Altern bugenhag. Kirchenorbn. ıc. 497
den Brundfägen erkennt, Man wollte den Gewiſſenszwang
ber alten Dhrenbeichte vermeiden und doch konnte man ſich
noch nicht dazu entichließen, fi mit Ausfchließung öffentlis
der Sünder zu begnügen und fonft nach öffentlicher Er⸗
mahnung dem Gewiſſen des Einzelnen es zu überlaffen, ob
er zum Gacramente kommen wollte oder nicht, So ſetzte
man benn zwiſchen die Kirchenzucht und den Gultus auch
noch eine ſpeciſiſch ſeelſorgerliche Bermittelung ald allgemei⸗
nes Geſetz, womit aber freilich die Obrenbeichte wieder adop⸗
tiet war. Die pommerifche Kirchenorbnung 'von 1535 vers
fucht die Grenzlinie zu firiren, durch welche mit Vermeis
dung ber Oprenbeichte diefe feelforgerliche Specialbeichte ges
ſetzlich beflimmt wäre, „Wo woll (wiewohl) de Ghriften
mit ber bemeliden ebder Dhrenbicht, alle Stüde by Vor⸗
dömenifle tho vortellen (zu vergählen), nicht befchweret ebder
vorſtricket ſchoͤlen werden, dennoch ſchal (fol) de hemelide
edder Ohrenbichte nicht affgebaven werden, funder alfe ein
heylſam WBerathflaginge geholden werden, dar ein yeber
fonem Bichtvaber- edber Prefter gerne ſyne Gebreken unde
fonderlid anliggende Feyl vormelden unde beflagen ſchall,
Rabt unde Troſt unde- endtfic de Abfolution van em ents
fangen, welleö gar heylfam is unde denet tho der ftillinge
unbe Borfekeringe (Berficherung) der Conſcientien unde thor
Schuw (Scheu), ſick henforder vor folde Sunde tho vor
waren.” Der Unterfcieb von ber alten Obrenbeichte fol
alfo darin liegen, daß bie neue Ohrenbeichte, obwohl gefehs
lich gefordert von ber Kirche, doch feinen abfoluten göttlis
chen Charakter beanfprucht in der Welfe, daß die Mitthei⸗
Iung aller individuellen Anliegen an den ordentlichen Pres
diger als Bedingung der Seligkeit gefordert wird. Es kann
ſich alfo der Beichtende, ohne Gefahr für feine Seligkeit,
ein inbivibuelles ‚Gebiet reſerviren. Allein es iſt Mar, daß
damit die gefehliche Forderung ihren Sinn verliert, Wenn
der Einzelne mit individuellen Anliegen zuruͤchalten darf,
wer wid da eine Grenze ſetzen, bis zu welcher fich dieſes
498 . Jager
individuelle Gebiet ſoll ſixiren dänfen? Damit gebt mögli
cherweiſe dieſer feelforgerlichen Gpecialbeicte aller Inhalt
verloren , der fie von der fpäter auflommenden allgemeinen
Beichte im Cultus unterſchiede. Es if Mar, daß daB evan⸗
gelifhe Princip es mit ſich bringt, daß die geſetzliche For⸗
derung der Specialbeichte aufgegeben werde, und diefelbe
mm ald Element des freien perfönlichen Berkehrs fich ers
balte. Perfönliche Berathung und Mittheilung in fo gan
individuellen Angelegenheiten fordert in einer Kirche, bie
nun einmal das allgemeine Prieftertbum ihrer Glieder pres
damirt bat, die Form freier perfönlicher Gefellung, ge
gründet auf perfönliches Vertrauen und individuelle Wahl
anziehung, welche fi in feinem Amte als ſolchem fiziren
laſſen. Hier tritt die Perfon ald überwiegender Factor ein,
dad Amt bat nur ein Moment in Berbindung mit diefem
Hauptfactor, alfo nur in zufälliger Beife. Trotzdem verfus
hen es die ditern Kirchenorbuungen, dem Predigtamte, abs
gefehen von der Perfon des Prediger, auch hier feine Vrio⸗
vität zu ſichern. Es lieh ſich dieß durchführen, fo Lange
im erften -Drange der Reformbewegung die indivibuellen
Gebiete fi noch nicht in ihren Grenzen firiren konnten
und da8 new emporgefommmene evangelifche Prebigtamt durch
die perfönliche Kraft feiner Träger hohes Wertrauen aller
Gemeindeglieder befaß. Als aber mit der Zeit der Grund»
ſatz, daß die Bedeutung und Wirkfamkeit des Amtes nicht
abhänge von der perfönlichen Qualität der Inhaber, nicht
mehr bloße Glaufel der Theorie war, fondern praktiſches
Moment erbielt, trat das Unnatuͤrliche in dem Bufammen-
zwingen individueller Gebiete mit dem Amtscharakter ins
Sewußtſevn. Die inhividuellen Beziehungen ſuchten fich
loszuminden von ber amtlichen Einwirkung ; deßhalb findet es
fon die pommeriſche Kirchenordnung von 1535 für nötbig,
daß die Prediger in der Predigt das Volk ermahnen, ber
Specialbeichte fih nicht zu entziehen. Aber es konnte nicht
auf die Dauer fo bleiben; bie Specialbeichte kam ab, und
d. Bebeutung d. aͤltern bugenhag. Kirchenorbn. ıc. 499
an ihre Etelle traten allmählich freie individuelle Genoffens
f&aften, die im Pietismus fi im Kampfe gegen die Kits
chengewalt verfuchten, welche fie nicht wollte auftommen
loffen. Die Bedeutung des Pietiömus für die kirchliche
Gutturgefchichte befteht eben in diefer Reconftruction der ins
dividuellen Seelforge auf Grundlage bed allgemeinen Pries
ſterthums, womit fich freilich immer auch individuelle Bils
dungen des Belenntniffes zu verbinden frebten, welche ben
ſtarren Confeffionalismus allmaͤhlich überwanden, unterftügt
von ber gleichzeitig auflebenden. freien Wiſſenſchaft. Das
evangelifhe Princip ift alfo in biefem Puncte im Anfange
der Reformation nicht rein zur Anerkennung. gekommen;
auch war das Wolf noch zu fehr an die alte Form ber pries
ferlihen Einmifbung in die Privatangelegenheiten gewöhnt,
als daß die Kirche ohne Specialbeichte hätte beftehen koͤn⸗
nen. Sie mußte diefem Bedürfniffe Rechnung tragen, wenn
fie nicht Gefahr laufen wollte, daß fich daffelbe in ruͤcklaͤu⸗
figer Bewegung zur roͤmiſchen Kirche geltend machte gerade
bei denen, die ein tiefered religiöfes Intereffe hatten. Nur
darin wird das evangelifche Princip gewahrt, ba es dem
Einzelnen freigelaffen wird, wie weit er Gpecialitäten beich⸗
ten will, und nur der Rath gegeben wird, „etlike Stüde,
welke de Gonfcientien am meiften beſchweren“, mitzutheilen,
Die ſchleswig⸗ holſteiner Kirchenordnung von 1542, die im
Ganzen die Saͤtze der pommeriſchen Kirchenordnung von
1535 wiederholt, fügt noch nähere Beſtimmungen über bie
Abfolution bei, in welchen zum Xheil die Kirchenzucht mit
der Seelſorge vermifcht wird, zwei Thätigkeiten, welche als
lerdings fehr nahe mit einander verwandt find, darin aber
doch entfchieden ſich von einander fcheiden, daß die Kirchen⸗
zucht naturgemäß bloß auf Öffentliche Aergerniſſe ſich be»
sicht, während bie Seelforge individuelle "Berathung ber
Gewiſſen iſt. Während deßbalb die Kirdenzucht mit Recht
an das Predigtamt geknipft wird, Tann dagegen die Seele
forge fi nie ganz daran fefleln laſſen, fondern fie wird
800 Jäger
vom Amte mehr oder weniger abflrahiren, Denn amtliche
Thaͤtigkeit Bann nur für öffentliche Angelegenheiten urfprings
lid beſtimmt feyn, und wo fie auf Privatberathung fih
einlaͤßt, hört fie eben damit auf, eine amtliche zu feyn, und
wird felbft eine perſoͤnliche private Function, der dad Amt
boͤchſtens als förberndes Accidens zur Seite geben kam,
wenn es organifd; mit dem Leben ber Gemeinde zuſammen⸗
bängt. Wenn daher die ſchleswig⸗ holſteiniſche Kirchenords
mung von 1542 fagt: „Den yegen apenbar (offenbaren)
Sunde. bort (gehört) od eine apentlide (öffentliche) Abſo⸗
lutio; wat aveift hemelid gefcheen vs, bat ſchal od deme⸗
Hd abfolvert werden”, fo iſt der erſte Theil dieſes Satzes
eine ganz unter den Begriff der Kirchenzucht gehörige Be
fimmung, der zweite Theil allein gehört unter den Begriff
der Beichte als eines Elements der Seelforge; nur iR dabei
vergeffen, daß, was amtlich gefchieht, nichts Heimliches iſt
und was heimlich gefchieht, nichts Amtliches iR, eine Schwie⸗
rigkeit, unter der jede geſetzlich mit dem Amte verbun:
dene Seelſorge leidet, womit jedoch eine freie Verbindung
der Seelforge mit dem Amte, vermittelt durch eine tuͤchtige
Perfönlicpkeit, nicht als ungeeignet bezeichnet werden fol. —
Außer der Beichte findet ſich noch ein Punct, in welchen
eine ſeelſorgerliche Thaͤtigkeit gefeglich beruͤckſichtigt iſt; ed
find dieß die Eheſachen, fo weit fie in die Competenz des
geiſtlichen Amts gehören. Im der roͤmiſchen Kirhe war
bier bie feelforgerliche Thaͤtigkeit verunreinigt durch unge:
ſchicte Wermifhung mit richterlicher Thaͤtigkeit. Seide
bat nun bie Reformation anfänglich ſcharf von einander ge:
ſchieden. Nach der braunſchweigiſchen Kirchenordnung von
1528 gehoͤren alle eigentlichen Haderſachen vor den Rath,
der nur bei Fällen, die „ſwaͤer (ſchwer) tho orbelen” find,
den Superattenbenten „beföden laten edder en barto them
(siehen)” win. Dieß ift billig, fofern Gewiflendfachen mit
unterlaufen koͤnnen und bier ein’ Geiſtlicher als Sacver:
fändiger natürlicher Rathgeber if. Nur „wat beimelid
d. Bedeutung d. Altern bugenhag. Kirchenorbn. ıc. 501
de Gonfeientien alleyne bedrept, bat wert me
fragen unde richten laten by dem Superattendenten — —
ebder by den anderen Predikanten, fo neine. (feine) Ware
darup fteit (flieht) der Aergerniße” Da in dieſen Sachen
naturgemäß nur auf Klage bin eingewirft werden ann, fo
iſt es ganz in der Drbnung, baß das geiftlihe Amt als
dad bezeichnet wird, vor deffen Forum eine ſolche Klage ges
bört, Denn das verſteht ſich von felbft, daß die Klagenden
nicht dieſe Vermittlung des geiftlichen Amts anfprechen,
wenn fie kein Vertrauen zu feinen Traͤgern als Privatper«
fonen haben, und durch ihnen näher fiehende Gemeindeglieder
die Sache nicht konnten vermitteln laffen, fo daß doch auch
bier dad kirchliche Amt requirirt wird nur um des perfönlichen
Charakters feiner Inhaber willen oder in Ermangelung einer
andern‘ Vermittelungsform. - Fac tiſch iſt alfo auch in die
fem Glemente der Seelforge dad Amt nur Mebenfache, die
Hauptſache das perfönliche Vertrauen, welches befien Ins
haber befigt. — Während nun die hamburger Kirchenord⸗
nung von 1529, die lübeder von 1531, die foefter von 1532
und die ſchleswig⸗ holfteiner von 1542 bei dem in der letz⸗
tern ausgefprochenen Grundfage bleiben, daß die Ehefachen
die Geiſtlichen nicht weiter angehen, „den fo vele alfe ber
drept bat tho Hopegevent (Gopulation) unde Irringe ber
Gonfcientien, dat andere — kompt der Avericheit by, dat
men ein gudt Gonfiftorium uprichte”, welches der Lübeder
Drdnung gemäß nah Faiferlihem Rechte zu richten
bat, — fo ft dagegen die pommerifche Kirhenordnung von
1535 in die alte Verbindung und Vermiſchung der Seel:
forge mit der Juſtiz zuruck: der Superattendent hat bie
Geri dtsbarkeit über Cheſachen. Hier erklärt es ſich dadurch,
daß dieſe Kirchenordnung noch an das Epiſkopat als eine
moͤgliche Einrichtung denkt und für den Fall feines Weg⸗
fallens eben, fo gut es geht, die Functionen deffelben zwi⸗
ſchen den Superattendenten und der Staatsgewalt theilt,
obwohl, wenn das Epiffopat beftehen bliebe, man ihm feine
sor Viger
Medteellnummenteit würtern will turd) Erweiterung ber
Gempeten; ter Eramizsteren za des Euperatiendenten,
Je were in der Felge x’ das Faneniihe Recht zurhiige
griffen murde, deir mehr im im Ber evamgelifchen Kirche
die Bermiitung wer Eer’nge ad Inf wieder auf iz
Beziehung auf Ereuten Ja jez ütcfeen bugenhagen’:
fen Kirhemertezzgra aber :A mit ter Irennung beider
und der Zurädzabe der Sch; in Ereischen am den Staat
die mnpafiente Berwirre:g ter kirzeriien Excite der Ehe
wit der Kirdüich-reiiziöien auizeteben ext eine normale Ber
bintung beiter Saiten mözich gemaät. — Die Frage über
firhicde Zraunng gehört, wenn wir wcu den Grmdfägen
Bugenbagen’s auögchen wollen, gerate wir tie Befiimmus-
gen über tie Zaufe, in enzfie Bearbinzung mit tem firdlis
den Edulrinrigtungen. Denn für die Kirde if die Er
felbk nichts Anteres ald die Zuntamrntalierm der Schule
(f. oben ©. 49 ). Die Erziehung der Jugend if die Eine
aͤtigkeit, in der Familie und Schule ſich verbinden, Beite
Find die geifige Zengungöfätte der Kirche. Es kaum dabır
die Kirche mit Kecht von jetem ihrer Mitglieder erwarten,
daß es bei Eingehung der Ede nicht abfirahire von der kirch ·
Kihen Gemeinſchaft, in ber es ſteht. Aber auch bier gilt
daſſelbe, was vom ber Verpflichtung zur Schule gefagt
wurde. Gtaat und Kirche haben zu bedenfen, daß nicht
fie die Ehe fließen, fondern die Eheleute, und dag die
Ehe ein Infitut if, das älter iR, ald fie beide, dem
Begriffe und der Zeit nach, gerade wie auch Kinder:
zeugung und Kindererziehung. Die Kirche wire durch Seel⸗
forge und Zucht darauf hin, daß die Ede unter ihre Au:
ſpicien geſtellt werbe; ber Staat aber Bann nichts weiter
verlangen, als daß die Eingehung der Ehe eine Deffentlid-
keit hat, weldye eb ihm möglich macht, daß er Uebertretung
feiner Geſetze verhindere ober befizafe. Diefe Deffentlichteit
iR vorhanden auch bei der kirchlichen Trauung, wenn die bes
treffende Kirche öffentliche Anerkennung im Etaate dat. Der
d. Bedeutung d. aͤltern bugenhag. Kirhenorbn. c. 503
Staat Tann ja vorhergehende Anzeige fordern und ſich durch
einen Bevollmächtigten, den er als Zeuge zu der Handlung
ſchickt, davon überzeugen, dag Alles im Einklange mit fels
nen Sefegen geſchieht. Es ift eine bureaukratiſche Barbas
rei, bie Deffentlichleit des kirchlichen Actes nicht gelten laſſen
zu wollen und noch befondere bürgerliche Trauung zu for⸗
dern von benen, die die kirchliche Trauung wählen. Die
alten Kirchenordnungen, welde in der Regel den engften
Verband der Kirche mit dem Staate vorausſetzen, meiden
gerade in ber kirchlichen Trauung jede Unterſcheidung des
kirchlichen und politifchen Elements, während fie bei fonftie
gen Eheſachen diefe Unterſcheidung machen, Diefe Mefles
ziondlofigkeit der kirchlichen Sitte muß freilich mit der Zeit
aufhören, die politifche und die Pirchliche Seite müffen un⸗
terfchieden werden, nicht erft bei der ſchon beftehenden Ehe,
wie biefe Kirchenordnungen es thun, fondern ſchon bei der
Schließung der Ehe. Allein Unterſcheidung iſt nur gefors
dert zum Behuf einer organifchen Verbindung beider Geis
ten, nicht in dem Sinne, daß jede Seite thut, ald wäre
die andere gar nicht für fie vorhanden. Und gerade in der
Schließung der Ehe ift es naturgemäß, daß der Staat der
kirchlichen Handlung rechtliche Wirkung zukommen läßt;
denn die kirchliche Handlung bat ja ihren Schwerpunct in
den gegenfeitigen Gelöbniflen der Nupturienten, und diefe,
wenn fie Beine ungefeglichen Borausfegungen haben, find
ja au für den Staat die Hauptſache. So kommt alfo
der Staat babei in Feiner Weife zu kurz, und nun noch
eine Eiviltrauung zu fordern, iſt eine nicht zu verantwors
tende Weration. Dem Staate fleht es dann immerhin frei,
demjenigen, der die kirchliche öffentliche Trauung nicht will,
eine andere Form vorzufcreiben, wenn er es für gut und
nothwenbig findet. So lange aber alle Glieder des Staats
im Berband Einer Kirche ftehen, ift Fein Grund zu einer
ſolchen Statuirung. einer Civilehe vorhanden; dieſes Beduͤrf⸗
niß tritt erſt da ein, wo im Staate eonfeffonele Differenz
Theol. Stud. Jahrg. 1868,
504 Tiger
ven jugelaflen werben muriten, aber feuflige Epeitungen
ber Kirce vorliegen. uf Grund eines bioß fingirten mbg-
Uden 5:25 act man meh feine Griege, die ih feibfl er
bewermicn wnb neran'afen Eiumen Daher finden
im den altım Kirenertzungen der nangeiitchen Kirche Bei
fen Kirche verzefommenen un reich frirten Piadies
Teiem, gegen welche man zarürid das alte Kaiferrecht und
das Redr des Staats geltend machte. AUS nun die Re
formarion eintrat, brmichrigtem ich die politiſchen Foctoren.
vamentli im Staͤdten und Sıeifasten, fofert der Juris⸗
diction in Epelachen, und ta tie ewangelifhe Kirche auch
die göttlichen Rechte des Etaat gegenuber ben hierarchi⸗
fügen Decirinen der römifchen Curie zur Anerkennung brachte,
fo unterfügse fe auch dieſe Rüdgabe der Jurisdietiog im
Ehefachen an den Staat. Doch in ten menardifden Staa:
ten, mit Anbuahme Echleiwig-Helfins, trug man auf den
Landesherrn gar bald Die kirchüche Autorität des Bios
über, und fo vereinigten dena Die Genfiherien, als Organe
lichen Dinge. So finden wir diefes Genfiflorium ſchon in
der braunfhweigsweifenbiittler Kirchenerduung v. 1543 von
Bugenhagen felhk abeptirt, während in den Altern bugen⸗
hagen ſchen Kirdyenorbnungen mit Ausnahme der yommeris
ſchen von 1535 die Zrennung des Bürgerichen und Kicd:
lichen in dieſem Puntte durchgeführt if.
6. Eine eben fo ſcharfe Scheidung bed Kirchlichen und
Bürgerlichen finden wir in dem SBeflimmungen über die
Kirchenzucht bei allen aͤltern bugenhagen ſchen Kirchenert:
d. Bedeutung d. Altern bugenhag. Kirchenordn. ıc. 505
mungen mit einziger Ausnahme der von Heinrich Winkel
abgefaßten göttinger Kirchenordnung von 1530, welche bes
reitö Diejenigen mit weltlichen Strafen bedroht, bie fi
durch den kirchlichen Bann nicht beflern laflen, Die brauns
ſchweigiſche Kirhenordnung von 1528 dagegen fagt, man
ſolle den Ercommunicitten leiden „mit Naberfhop (Nach⸗
barſchaft) in Borgerſchop, in werliker Drdeninge tom ges
meinen Frede”, wiewohl man auch bier mit ibm handeln
fol ald „mit einem Borgern unde nicht mit einem Chris
flene”; überhaupt fole man fo mit ihm fahren, daß bie
Leute merken, daß man Beine Freude an ſolchen Menfchen
babe; weltliche ‚Strafe aber möge die Obrigkeit verhängen,
fo weit e8 das bürgerliche Geſetz befimme, Nur bei Gots
teslaͤſterung wird von der weltlichen Obrigkeit direct Strafe
verlangt; alle weiteren in ber braunſchweigiſchen Kirchenords
nung von 1528 genannten Vergehen, für die auch weltliche
Strafe gefordert wird, find wefentlid bürgerliche Vergehen,
In der pommerifchen Kirchenordnung von 1535 wird außer
der Gottestäfterung noch Zauber genannt, ald ein Vergeben,
das auch die weltliche Obrigkeit beſtrafen fol. Sonft hat
auch fie die Zrennung von Staat und Kirche in dieſem
Yuncte feftgehalten und fagt ausbrüdlid von ben Audges
f&loffenen: „Inn börgerliten und werltliten oͤpentliken Sas
ten unde Handelingen fan men fe nicht vormiden, overſt
doch fonderliter Gemenſchop Handels unde Wandels ſchal
men fid erer entholven, wo S. Paul 1 Kor. 5, u, 6, Ieret,”
Ebenfo fagt die ſchleswig:holſteiniſche Kirdenordnung von
1542 ausdruͤcklich: „Unde de Avericheit ys fo widt der Ker⸗
Zen tho denende vorpflichtet, dat fe dorch ere Beſchüttinge
yn frebe leeven möge.” Es wird alfo von der weltlichen
Gewalt weiter nichts gefordert, ald Schug gegen Infulte
und Infurien von Seiten ber Gegner, Der Grundfag, auf
dem diefe Beſtimmungen ruben, ift Mar ausgeſprochen in
der bremenfer Kirchenorbnung von 1534, die von bugenhas
gen’fchen Mufterorbnumgen abhängig ift: „Dat Preding- Amt
3.
ENT Fe
va n2 nn de muziffter Suiten wicht fherken, fonder laten
x mn. zu " Sie 9. ande fengen (fe:
zu amt, Darin Winde zn zeit mp them Richter ge:
oe. zur um Su IL Deere mumürf Dem Prebigffeie
ww me er a. wert.iie— Bed Gödtlife
Fe vatata zb Dem zehberfee mögen ya cam
Fuer „u mt we mc wor Geie —
ms a me Dane ande Derminge” — Bebeigens
me wi alı Börcser' Sur Üihengrtmumgen ber Sir
ut m ua ger Tune „be vom spenden
Sure au Suter tw Suammuerridde Kirdesmenung
un E86 Mutone Den Kerken” (Üble:
ru immun u ID), nach vorhergugemge:
unecut Grmahaung, Die —
on re Set zum Abendmahl, ſonſt mertum ie
un prallen, ja nah ausbrüdlicher Beim
. ywuvitnungen follen fie fortwißeent mut
a: m VSeiforgerd bedacht werben Dies
su ed wirffam in einer Zeit, we Die numge
ur Ns algemeine Öffentliche Meinung Für üb
\ Sud ch gegemüber won ſolchen Mitgliedern, ber
out einem disferlichen oder innerfichen Gemabe
Wit ven Wertd if, auch in einem Etastz, der
x Wüglieder im ihren vollen bürgerfichen Red-
B Ader dieſt Scheitumg von Kircdenzuckt mb
sänywet Wiufe Dörte mit der Zeit auf; in der zweiten
ws I dugendagen ſchen Kirchenerbuungen, weiche zu
a Svteinöiig egelienbättier Kirdeneriuung ven 1543
3 Mugenbugen feihft feine früheren Gemmbfäge
IN doe deer eingeführte Genfijkerium übt Die
oud und mat drgerliche Sünder der Obrig⸗
halung meta Dirfe Bermengumg der Kir
UNS Nugatden Peigeigewait und Sufliz bet
de Kuce Nupeiidich der Bermittelung Bes
u wutualte, det iiberhaupt immer geneigt wer,
x Ne Gaudeas alt Freiigtinheits alles Kirch⸗
d. Bedeutung d. dltern bugenhag. Kirchenorbn. 2c. 507
liche an den Staat preißzugeben, nicht bedenkend, daß bie
Seelforge und Kirchenzucht damit ihre rein fittliche Macht
verliert, odioss wird und bie Kirche fammt ihrem Glauben
und ihrer Predigt in Mißcrebit kommt, als eine bloße
Staatöpolizeianftalt, Luther dagegen konnte fih nie ganz
mit diefer Einmiſchung der Staatöpolizei und Juſtiz in die
kirchliche Disciplin und Werwaltung befreunden und äußert
feinen Widerwillen dagegen immer und immer wieder in
feinen Briefen und Gutachten (f. Richter, Geſchichte der
evangel. Kirchenverfaffung S. 8 ff). — Die Wirkung der
Kirchenzucht in der lutheriſchen Kirche ift bekanntlich bedeu⸗
tend gelähmt worben durch das abftracte Eifern gegen „die
guten Werke”, worin einzelne ertreme Köpfe fogar fo weit
gingen, daß fie diefelben nicht nur für unndthig zur Selig⸗
keit, fondern fogar für verberblich erklärten, Wir müffen
aber fagen, baß dieß nicht im Geifte der bugenhagenſchen
Kirchenordnungen lag, in welchen wir ein fehr ernſtes Stres
ben nach Sittenreinheit finden; ber Bann wird gegen alle
Unzudt und Voͤllerei verordnet nach vorheriger vergeblicher
Ermahnung, und ſchlechte Bolkafitten bekämpft Bugenhagen
in feinen Kirchenordnungen, fo oft er Anlaß dazu findet, und
zwar nicht bloß durch Strafen, fondern durch Beſeitigung
der Mißſtaͤnde im focialen Leben, welche die Quelle von Sit«
tenlofigkeit waren. So wird z. B. im Artifel vom Banne
iA der braunfchweig, Kirchenorbnung von 1528 aufgefordert,
„bat de Heren unde Frawen unde Naberfchop unde ans
dere frame Luede helpen ſulkene Walle (d. h. der Unzucht)
wehren mit dem ehelifen Stande, dat Megebe (Mägde), be
by uns lange in Trueen unde Ehren gebenet hebben, ton
eren mogen werben dorch ‚und geholpen. To anderem uns
nuttem unde ſchecklikem Gadesdenſte hebbe wy (mir) fus
lange hehr gerne mit beyden Henden gegeven”; und wenn
in berfelben Kirchenordnung anftändige Befoldung der Pres
diger gefordert wirb, fo wirb dabei als ein Hauptmotiv aus
Ber dem Rechts⸗ und Billigkeitöpunct angegeben: „wenn
wy — unfe Predikere nicht redelick vorſorgeden, fo vorbobe
d. Bedeutung d. ditern bugenhag. Kirchenordn. ıc. 509
Preftern feggen, dat fe predigen in oeren Buebel (Beutel),
alfe ſus lange ber gefchehn i6” (Richter, Bd. 1. S. 117 f.).
Zugleich ift darin eine Garantie gegeben, daß die Armen:
fonds nicht in Mitleidenſchaft gezogen werden für allgemein
tirchliche Ausgaben, und da das Kollegium ber Armendias
Tonen einzig und allein mit der Werforgung der Armen be>
ſchaͤftigt und nicht durch allgemeinere Kirchliche Werwaltungss
angelegenheiten in Anſpruch genommen iſt, fo Tann es fi
mehr in bie individuellen Beduͤrfniſſe der Armen einlaffen
und vertiefen. — Was dann die Grunbfäge der Armenpflege
felbft betrifft, fo wird vor Allem der Bettel fireng verboten;
nur fo lange dürfen die armen Leute „noch etlite Weken
umgan”, bis „diffe Kafte in den Swank fumpt”, Das
Betteln der Schüler, welches die pommer'ſche Kirchenord⸗
nung von 1535 legaliſitt, wird in ber braunfchweig. Kirchen⸗
ordnung von 1528 und in den anderen fädtifchen Kirchens
ordnungen diefer Gruppe fofort verboten; ein Jeder folle
feine Kinder felbft verhalten; „is id em micht mogelid, fo
werden be Diakene wol barto gedenken, bat me fo der Bes
delerfen loes werbe, de unter bem Scholere-Namen de Luede
vor den Doeren vereren,” Am allerwenigften wird Bettel
von Moͤnchen und Andern, die arbeiten koͤnnen „edder ſus
negne Not hebben”, geduldet; nur für den Fall, daß fie
„by uns Trank werden”, foll man fie pflegen, wie die eiges
nen Armen der Stadt. Ebenfo wolle man burchreifende
Arme bedenken, befonderd auf Fürbitte frommer Bürger
oder Prediger hin, mit Almofen, „id were Geld, Hafen (Ho:
fen) edder Schoh“. Ebenfo fol in dem Peſthauſe der Un:
vermögliche verforgt und gepflegt werben durch Diener und
Dienerinnen, welche daflır befoldet find. Die Unterftügung
aus dem Armenkaften wird in ber Weife geleiftet, daß bie
Diakone wöchentlich einmal, entweder am Sonntag oder.
fonft einem beftimmten Zage, fi) verfammeln zu Auötheis
fang der Almofen und „to reden, mat noet id vor etlife
infen edder Hueßarmen: unde wen neyn Gelt bar is
r toringe, fo ſcholen de Predikanten dat dem Volke an:
sm Auen zent im Emm zu —teb
1 is 5. R.ır zrı rt Özeiscmen Meme,
m mern um Teer Dumer Toner, ie Sermiben
Zirran..” Dee se Zufiie des
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1.rirager. Damit serermaz Felez mig, wem
"...ds gegejex” — zui !ire Zur ei Edemge
"us No zur tem Imeakz, um Zuide, iz hre Umofen im
Amcı un? Re sau, u ame mı mir Berinf der
Amoſen Nekzater ze Hr Tirem gegemißer wei Be:
gendagen, La Lie würzigten Icmer die Rio, die mach
cr Säumzerisl Juden, das geifont werten ah, wenn
nicht miz der Imurh bie Demecz:sciun ji verbinben
vol — rer wird in ben bugenjuger den Sicchensed-
nungen daraaẽ zeiten, daß Lie Armer we wigiich beſchät⸗
tige werten. Die Frauen, tie in ten Foivisers verhalten
er mit wihertiten Almoien aus tem gemeinen Raflen
bedacht werden, ſtad werprlichtet, fi} zur Pil:ge vom Kranke
und Kiadern beſtellen zu laſſen gegea eine Gebühr, die für
arme Kranke und Eltern der gemeine Taften bezahlt. Die:
ienigen Weider, die in Hofpitälern aber durch Amefen er⸗
währt werten und ſich der Annahme juldier Dienfiz weis
gern, folen forort aus ben Hofpitälern ausyewirfen werten
und ber Almojen veriuflig gehen (Ridtera aD. a.
©. 111.,, zen fie nicht gerade durch Krankheit und Alte
zu dem geforterten Dienſte untüchtig And. Diefe Befkims
mung ſcheint unter diefen Theile des Armen Erbüterung
— Afferung gegen dad Evamgsliun hervorgerufen zu has
d. Bedeutung d. Altern bugenhag. Kirchenordn. zc. 511
ben, ſowie Infulte gegen bie Prediger, die bie Hoſpitaͤler
befuchten. Aber die Kirchenordnung von Braunſchweig
meint: „me Fan ſulke Dueveld » Hunde wol feuern, edder
uth dem Hofpitale jagen.” —
Mit’ diefen Beftimmungen fuchte die evangeliſche Kirche
dem zömifch = Batholifchen Bettelweſen ein Ende zu machen;
fie organificte die Armenpflege und verfuhr mit Strenge ges
gen die Arbeitöfcheu,. während die roͤmiſch⸗katholiſche Kirche
den Bettel geheiligt und organifirt und damit bie ſchaͤnd⸗
ichfte Faulenzerei befördert hatte, Waren ja doch die Moͤnchs⸗
kloͤſter faft alle ſolche Schmarogerpflanzen und eine Allianz
von Bettelei, Faulheit, Unmaͤßigkeit und Unfittlichleit, Die
Reformation hat durch diefe Beflimmungen über die Armens
pflege eine fundamentale Veränderung des Volksgeiſtes und
Volkslebens hervorgebracht. Die evangelifhen Länder ber
wohnte von ba an ein arbeitfames, fleißiges Volk, und noch
bis auf den heutigen Tag fält Jedem, der aus dem protes
ſtantiſchen Deutſchland in das römifchstatholifche kommt, auf,
welcher Unterſchied da fich zeigt, trog der vielen Sittens
loſigkeit und Arbeitöfcheu, die in den neueften Zeiten feit Ans
fang diefes Jahrhunderts auch in proteſtantiſchen Rändern
auftam. Durd feinen Cultus, feine geifligen Bildungsbe,
firebungen, durch die fittlihe Hebung des geiftlihen Stans
des und durch die Zerftörung des roͤmiſch⸗katholiſchen Bettel⸗
wefens hat ber Proteftantismus in das Volksleben einen
ſittlichen Ernſt und ein ſolides Weſen gebracht, während der
roͤmiſche Katholicismus auf der einen Seite den Parorismus
einer planlofen Adcefe, auf der andern im Cultus und in feis
ner Weltanſchauung ein finnlid betäubendes, eine Frankhafte
Phantafie nährendes Element in fich vereinigt und fo in
Extremen die fittliche Lebenseinheit auflöfl, Der Einfluß der
Reformation auf bad fociale Leben des Volks ift im Gans
zen ein heilfamer geweſen. Bor Allem aber find die bugen«
bagen’fhen Kirchenordnungen auszuzeichnen wegen ber ho⸗
ben Bedeutung, welde in ihnen die Schule erhalten hat.
Und in ben Beftimmungen über die Beziehungen zum Staate,
S19 Jäger, d. Bedeut. d.dlt. bugenhag. Kirchenordu. x.
wie fie in der Ede und Kirchenzucht ſich zeigen, ſuchen dieſe
Kirdenortnungen alle ungebörige Vermiſchung abzuwehten
und aud) bier die richtige Mitte einzuhalten, bie durch des
unpraftiigen Melandıben’3 Einfluß fo bald in der evanges
iiden Kirche weriailen werde. Endlich in ben Beftimmuns
an oͤder Ve Armenpürge bat Bugenhagen durch Trennung
der Imreier wor der Kicchenfonds der Armuth ihre Bes
ne sera zurd Auiſtellung eine befondern Col⸗
= Irmrmunen ein gründlicheres Eingehen anf
„Er Ber fe der Armen möglid gemacht und
NN Sarriun en teden, welche jede demoralifirende
Ser ri a Sumlofigkeit in der Behandlung der
— m anver und heute noch Berüdfichtigung verbies
5 uciteerfolgt, auf diefelben Wahrheiten füh-
ui Npenme wieder gegen die EtaatSarmenpflege gel
gun N Und wenn wir nun die weite Ber:
wen dugenbagen'ſchen Grundfäge bedenken, von
u we aus na Göttingen, Hamburg, Lübel, Brer
ur ar dolfein, Dänemark, Pommern unb vom
wide Mutihland aus wieder rüͤckwirkend auf Mittel:
Na dd wenn auch nicht überall in den Kirchenordnun⸗
ya ta Munphilngend, fo doch in dem lebhaften Verkehr
davundihh durch Städte in Umlauf gebracht — dann erſt
Deusuta WIE Me gefchichtlidde Bedeutung derfelben und müf
nam Einfluh auf das Bolksleben namentlich im nörds
aan deutſibland erkennen und vermuthen, daß er weiter
wndt, la Urkunden uns fagen können. Ward ja doch Bus
ntgg ſumer wieder von den norddeutſchen evangeliſchen
wide in Auſpruch genommen und ordnete von Wittenberg
ana Ara Die Innern Angelegenbeiten dieſer Kirchen, Überall
md Bruhn binterlaſſend, Daß er der Schule aufgeholfen und
ber Gründung deutſhder Bildung einen großen Antheil
dubt.
Miscellen.
. Programma
der haager Geſellſchaft zur Wertheidigung der chriſt⸗
lichen Religion,
auf dad Jahr 1852,
Die Directoren ber haager Gefelfchaft zur Vertheidigung
der chriſtlichen Religion haben in ihrer am 15. Sept, d. J.
und an den folgenden Tagen gehaltenen Berfammlung Aus:
ſpruch gethan Über neun beiihnen eingegangene Antworten auf
verſchiedene Preisaufgaben, aber Feiner berfelben den Preis
zuweiſen koͤnnen.
Zuerſt haben ſie die hochdeutſche Abhandlung in Erwaͤ⸗
gung genommen mit dem Wahlſpruche: „Mi r Eavriw
Exaorog Oxozoüvreg u, f. f., bie Frage betreffend: „Eine
biftorifch = philoſophiſche Darftellung des heutigen Commu⸗
nismus nad) feinem Urfprunge, nach der fortfchreitenden
Entwidelung feines Charakters und nach feinen Folgen, wo-
bei nachgewiefen werden fol, in welchem Verhaͤltniſſe ber
Communismus zum Ghriftenthume fteht, mit genauer Ans
gabe ſowohl deffen, was von feinen Theorien, al mit ben
Grundlehren des Evangeliumd flreitig, verworfen werden
muß, als auch deffen, was darin auf chriſtlichen Principien
beruht und zur Verbeſſerung des gefelfchaftlichen Zuftandes
beitragen Tann.” Die Directoren urtheilten, daß diefe Abs
bandfung, durch Deutlichkeit und Ordnung empfehlungds
werth, alle in der Frage vorfommenden Puncte aufgenoms
516 Programma
men unb in einem guten Geifte abgefaßt war, daß es ihr
aber im Allgemeinen mangelte an gründlider Forſchung
und insbefondere an Entwidelung deſſen, was die Darſtel ⸗
lung der Sache von einem öfonomifch = politifhen Stand:
puncte aus erfordert, an Ermittelung ihrer Principien aus
der Geſchichte früherer Jahrhunderte, an Vermeldung defs
fen, was Deutfchland ſowohl als Frankreich und andere Laͤn⸗
der bereit feit einer Anzahl von Jahren geliefert haben,
und an Benugung der ſchon vorhandenen Litteratur. Dar⸗
nad) wurden die Abhandlungen vorgenommen über bie Frage:
„Wie find die Worte „binabgefahren zur Hölle” in
dem fogenannten symbolum apostolicum aufzufaffen, und
woraud läßt ſich ihre Aufnahme in daſſelbe herleiten? Welche
verſchiedene Erklärungen hat diefer Artikel im Laufe ber Zeit ers
fahren, und welcher Werth iſt demfelben noch jetzt beizumeſſen?
Es waren deren drei, indem man eine vierte mit dem
Wahlſpruch: In’ neoessariis unitas u. f.f,, an ihre
Adreffe hatte zuruͤckſchicken müffen, und zwar unter Andes
rem aus bem Grunde, weil nur die Hälfte ded Ganzen
zur beflimmten Zeit empfangen und fünf Wochen ſpaͤter
ein Brief des Verfaſſers eingelommen war mit der Nach⸗
richt, daß er bie zweite Hälfte noch micht fenden könne, Die
drei Abhandlungen, worliber Ausfpruch geihan wurde; hat
ten die Devifen: Nr. 1. O Beds zdvuag dvßgniwoug xrä.,
Nr. 2, Hipev 6 vlös od dvdgeizou xri., Nr. 3, "Av sis
&bov xariy xxa. Die zwei erflen waren in hochdentfcher,
bie dritte in nieberbsutfcher Sprache abgefaßt. Rr. 1. ers
gab fi alsbald als ein nichtobedeutender Aufſatz. Bon
gang anderem Gehalte fanden die Directoren Nr. 2. Sie
betrachteten biefe Antwort als bie Arbeit einer tüchtigen
‚Hand und eines Maren Kopfes, und in lobenswerther Kürze
einen Reihthum von Sachen entfaltend. Aber weil mans
gelhaft in der Eregefe mancher biblifhen Stelle, unzuläng«
lich in der Beantwortung der Frage, wie ber Artikel in
das Eymbolum gefommen fey, und hin und wieder unbes
der haager Gefellfhaft zc. 517
haglich durch bie trodne Recenfion des aus ben Schriften
der Kirchenväter entnommenen Materials, mußte diefe Abs
handlung von ihnen bei Seite gelegt werden. Auch bes
dauerten fie, daß nicht im Mindeſten berüdfictigt war,
was bierüber in den legten Jahren durch Niederländer ges
ſchrieben worden; weil aber folder Mangel durchgehends
in den Antworten der Ausländer angetroffen wird, würbe
diefer bei ihnen nicht fo ſchwer gewogen haben, daß fie dem
Verfaffer darum den Ehrenpreis vorenthalten hätten, Weniger
günftig war das Urtheil der Directoren über Nr. 3. Wenn
fie auch den Fleiß und die Velefenheit, welche bier ind Auge
fielen, als lobenswerth fihägen mußten, fo fanden fie ans
dererſeits in dieſer Schrift neben den Mängeln, die fie mit
der vorhergehenden gemein hatte, noch verfchiedene andere.
Inſonderheit wurde fie abgewiefen wegen der ennuyirenden
Weitſchweifigkeit, womit der Gegenftand behandelt war, we.
gen Mangels an jeglicher Methode oder regelmäßiger logi⸗
ſcher Beweisführung und wegen der an mandyer Stelle
vorlommenden Aufopferung des Sinnes der biblifhen Worte
an bie eigenen Ideen des Verfaſſers.
Nun fehritten die Directoren zum Auöfpruch Über drei
Antworten auf die Frage: „Wie baben wir uns die befon-
deren Dffenbarungen Gottes, deren Inhalt und Geſchichte
in unſerer beiligen Schrift enthalten ift, zu denken? In
weldger Beziehung fanden fie zu ber eigenen Geiftesentwis
delung und ber füttlichen Freiheit derjenigen, die fie empfins
gen, und welche Uebereinkunft beſteht zroifchen ihnen und
dem Urfprunge ded vielen Trefflichen, das fich bei den heid⸗
niſchen Völkern entwidelt hat?”
Zwei waren in hochdeutſcher Sprache, Nr. 1. mit dem
Wahlſoruche: O zvevparızdg dvanglver xrA., und Nr. 2, mit
der Devife: Ildvrav eltıog süv xcau 6 Hedg ar. Nr. 3,
war ein niederbeutfcher Auffag mit dem Wahlſpruche: H Tov-
Salav 6 Beös ubvov xra. In Nr, 1. ſah man nichts
weiter als eine flüchtige Skizze einer populären Abhandlung
vortommenden Unreinheit "der Eprege und de Etil5 und
geite, wie wir uns die Dffenbarıngen Getteö vorzuftellen
haben, daß in der zweiten Abtheilung nicht genug nachge⸗
wiefen war das Berhäituiß, worin jene Offenbarungen zu
der eigenen Geiſtesentwiclelung und der fittlichen Freiheit des
Menſchen geſtanden haben, und daß in der dritten Abtheh
Tung der Endzwed der Frage manchmal aus den Augen
verloren worden war.
Endlich ſprachen die Directoren ihr Urtheil aus über
zwei hochdeutſche Antworten auf die Frage nach dem pau⸗
liniſchen Eehrbegriff über die KRechtfertigung
des Suͤnders vor Bott. Diele Frage war durch Fol⸗
gendes näher beleuchtet: „Man verlangt eine eregetifdhe
Entwidelung dieſes Dogma’s nad der Auffaffung des
der haager Geſellſchaft x. 519
Paulus, nebft einer Anmelfung, in welcher Hinficht diefe
Auffaffung allein den Zeiten ber Gründung des Chriftens
thums angehörte, und in welcher Hinficht diefelbe dem We⸗
fen der Sache nach für alle.Zeiten Geltung hat. Dabei
werbe einerfeit der von diefem Dogma gemachte Mißbrauch,
anbererfeitö die tröftenbe und heilig machende Kraft deffels
ben hervorgehoben.”
Aber in Nr.1, mit dem Wahlſpruch: Philosophia
quaerit u f. f., fahen die Directoren nur eine oberflaͤch⸗
tie Schrift ohne wiflenfchaftlihen Werth. Dagegen dus
ßerten fie Freude über Nr. 2, mit dem Wahlſpruch: I7g00-
sezöpsde wer dindıväg u. ſ. f., als bie Arbeit eines Mans
nes, der, fehr bewanbert in ber alten und neueren Littera-
tur, fich feit einer Reihe von Jahren auf dem Gebiete der
Theologie tüchtig umgefehen und mit Originalität und Tiefe
einen recht chrifllihen Sinn verband, Sie bebauerten es
daher, daß fie auch dieſer Arbeit ben Ehrenpreis weigern
mußten, weil der Werfaffer feine Bundestheorie auf Miß-
verftändniß mancher bibliſchen Stelle gegründet, feine Ber
trachtungen mehrere Mule in einen dunkeln Nebel gehült
und in der Erklaͤrung ber paulinifhen Schriften zu wenig
unterſucht hatte, inwiefern man auf Menſchen, bie inners
halb des Chriftenthums geboren und erzogen find, anzus
wenden habe, was von dem Apoflel ben vormaligen Juden
und ‚Heiden vorenthalten worden war,
Die folgenden Preisaufgaben wurden aufs Neue, zur
Beantwortung vor dem 15. December 1853, ausgefchrieben.
I. „Wie haben wir uns die befonderen Offenbarungen
Gottes, deren Inhalt und Geſchichte in unferer heiligen
Schrift enthalten ift, zu denken? In welcher Beziehung
fanden fie zu der eigenen Geiftesentwidelung und ber fit»
lichen Freibeit derjenigen, die fie empfingen,, und welde
Uebereinkunft befteht zwifchen ihnen und dem Urfprunge des
vielen Zrefflichen, was fich bei ben heidnifchen Völkern ents
widelt hat ?”
Thdeol. Stud. Jahrg. 1858, a
ma gemadite Mistrend, ambrrrrieis tie tröfende und
heilig mechende Kraft teiielben bernergrheben.
II. „Eine Gißerä@piUcfontiice Detradtung deb Com:
Berbefierung des gefellfchaftlihen Zalandes beitragen kann.”
IV. „Bie find die Worte „binebgefahren zur
Hölle”, in dem fogenannten symbolum apostolicam,
aufzuſaſſen, und woraus läßt ſich ihre Aufnahme im daffelbe
berteiten? elche verſchiedene Erflärungen het diefer Artis
Bel im Laufe der Zeit erfahren, uud welher Berth ik
demfelben noch jeht beigumefien?”
Bor 1. September 1854 ficht die Gefellfchaft den Ant:
worten entgegen auf die ebenfalls aufs Newe autgeſchriebene
Preitaufgabe: Da außer den eigentlich fogenannten ap
krvphiſchen Evangelien (Protevang. Iacobi, Evangelia in-
fantiae und Evangelium Nicodemi) auch noch eine andere
Claſſe evangelifcher Geſchichte neben unfern vier kanoniſchen
Evangelien unter ben erſten Chriften im Gebrauch und in
Anſehen gewefen ift, von welder man, namentlich was dad
Cvangelium xad’ ‘Eßgalovs, xas’ Aiyuzzlous, Petri,
Cerinthi, Tatiani, Marcionis betrifft, bei ben als
ten Kirchenſchriftſtellern Spuren antrifft, fo verlangt die Ges
der haager Geſellſchaft x. 521
ſellſchaft: „Eine Abhandlung, enthaltend eine forgfältige Zus
fammenftellung, Laͤuterung und Beurtheilung der in den als
ten Schriftftellern über die Evangelien ber Hebräer, ber
Aegyptier, des Petrus, Gerinthus, Tatian und Marcion ents
baltenen Stellen, nebft einer Darlegung beffen, was ſich dars
aus im Lichte der heutigen Wiſſenſchaft zur Erklärung des
Urfprungs und der Schidfale, fo wie des Inhaltes der dano⸗
niſchen Evangelien ableiten läßt.”
Auch hat die Geſellſchaſt befchloflen, folgende neue Preis:
aufgabe zur Beantwortung vor dem 1, September 1854 aus⸗
aufchreiben:
„Wehe Anfihten findet man bei chriſtliden Theologen
früherer und fpäterer Zeit uͤber die Erfcheinung des Soh⸗
nes Gottes an bie Patriarchen, an Moſes und die Ifräes
liten? Wodurch haben fie im Allgemeinen, ſowohl in den
profanen, als in den. heiligen Schriften, Beranlaffung ges
funden, diefe Anfichten zu begründen, und wie haben
wir im Befondern zu urtheilen über die Stellen nicht nur
des alten, fondern auch des neuen Teſtaments, die man
bierzu anführt ?”
Auf unbeftimmte Beit ausgeſchrieben bleiben die Fragen
über eine apologetifhe Bibliothek und über die
Richtung der Apologetit des Chriſtenthums.
Die Geſellſchaft verlangt nämlich:
1. „ine apologetifche Bibliothek, d. h. ein volftändiges
und wiſſenſchaftuich geordnetes -Werzeichniß und eine kurz⸗
gefaßte Litteraturgeſchichte der groͤßern und kleinern apologe⸗
tifhen Schriften, von den fruͤheſten Zeiten des Chriſtenthums
bis auf unfere Tage.”
1. Eine Wergleihung der Richtung, welche bie Apolos
getik des Chriſtenthums in Tpätern Zeiten eingeſchlagen hat,
mit der felherer Jahrhunderte, wobei zugleich die Urfachen
aid Folgen derfelben deutlich hervorgehoben werben.”
Für die genügende Beantwortung aller oben angeführs
ten Preißaufgaben wird eine Ehrendenkmuͤnze von ers
PX
522 Programma
böhtem Preife, im Werthe von vierhundert Gulden, aus⸗
geſtellt, wobei den Verfaſſern die Wahl bleibt, ob fie ben
Werth ganz oder theilweife in Geld entnehmen wollen.
Bor bem 15. December dieſes Jahres werden noch ers
wartet bie Beantwortungen der ragen über den Pan:
theismus und dad Presbyterial: Syfiem in der
teformirten Kirche, fowie Gemälde aus ber nie
derländifhen Kirchengeſchichte und ein Reli
gionssLehrbud Über den Anhalt des Evange
liums. Bor dem 1. September 1853 müffen die Autwor⸗
ten eingefandt werden auf die Fragen über die Schrifs
ten bes Ignatius, über die biblifhe Kosmogos
nie, über bie innere Miffion in Verbindung _
mit dem geiflliden Prieftertbume aller Chris
fien, und eine Ueberſicht der Geſchichte des römis
Shen Katholicismus in den Niederlanden,
Die Schriftfieller, welche fi um ben Preis bewerben
wollen, werben. erfucht, ihre Abhandlungen nicht mit ihrem
Namen, fondern mit einer beliebigen Devife zu unterzeich-
nen, Ein verfiegelte®, Namen und Wohnort enthaltendes
Billet, die Abhandlung begleitend, babe fodann diefelbe De=
vife zur Aufſchrift. Die Abhandlungen müſſen in boldndis
ſcher, franzoͤſiſcher oder beutfcher Sprache abgefaßt feyn, und
zwar bie in deutſcher Eprache mit lateiniſchen Buchflaben,
wibrigenfalld fie zur Seite gelegt werden. Ueberdieß wird
den Schriftfiellern auf6 Neue. in Erinnerung gebracht, daß
auf gedrängte Behandlung großer Werth gelegt wird. Auch fey
eine deutliche Handfchrift dringend empfobten, indem unleferlich
Geſchriebenes abgewiefen wird. Ferner find die Abhandluns
gen mit einer bei ber Gefelfshaft- unbekahaten Hanb zu
ſchreiben und franco am den Mitvirector und, Serretär her
Sefelfchaft, W. A. van Hengel, D. theol. und Profefs
for zu Leyden, einzufenden. Au wird aufs Neue zur War⸗
nung baran erinnert, daß es ohne Buflimmung des Borftans
S des ber Gefellfchaft nicht: erlaubt ift, feine -gefrönte Abhand⸗
der haager Geſellſchaft ıc. 328
lung herauszugeben, weder einzeln, noch in einem andern
Werke. — Die Geſellſchaft behaͤlt ſich das Recht vor, von
den eingelaufenen Abhandlungen nach Belieben zum allge⸗
meinen Nutzen Gebrauch zu machen und ſie, ſie moͤgen den
Preis erhalten oder nicht, theilweiſe zu veröffentlichen, ent⸗
weder mit bloßer Hinzufügung der. von den Verfaflern ges
wählten Wablfprüche, ober auch mit Nennung ded Namens,
im Sale die Verfaffer der Bitte um Eröffnung derfelben zu
wilfahren belieben. Schließlich wird zur Kenntniß gebracht,
daß bie Verfaffer ihre eingefandten Arbeiten nicht zurüdbes
tommen, aber auf erhaltene Anfrage bed Verfaſſers und uns
ter Angabe der Adreffe und Gemährleiftung der Koften eine
Abfchrift davon von Seiten bes Worftandes beforgt wird.
Drudfehler
In dem Auffag „Über die Methode ber Dogmengefchichte” in
ben theolog. Studien und Keititen, 1852, 46.Heft.
S. 757, 3. 19 lies: die Richtungen und Perioden mit einander ftehen,
flat: den Richtungen und Perioden, mit einander ſtehen.
» 361, Anmerkung, 3. 1 lies: 9. Mitter, flatt Hr. Ritter.
» 770, Anmerkung, 3. 1 lies: Stadium, flatt: Studium.
s 7%, Anmerkung, 3. 4 lies: feftgeftellt, ſtatt: feftgehalten.
« 806, 3. 3 lies: wäre nun eben nur durch fefere, ſtait: wäre
nun eben durch feftere,
» 821, 3. 16 tes: ein Werk, flatt: nur Werk.
Anzeigeblatt.
BU Friedrich Perthes in Hamburg iR erſchienen:
Tholuck, Br. A., Stunden chriftlicher Andacht. 5. Auen
gebeftet 2 Kbhir.
Die anderen MBerte bes Verfaſſers “in bemfelben Vers
ag fin!
Tholuck, Dr. A., Evangelium Johannis. 6. yufag,
far.
— — — bie Lehre von ber Ein. 7. Auflage,
1 Thlr. 18 for.
— — — bie Bergprebigt, 3. Aufl, 2Thlr. 4 for.
— — — Prebigten üb, d. Hauptflüde des chrifts
lichen Glaubens, gr. 8, 3 Zu. 4. Aufl.
Thlr. 6 fgr.
— — — Hebräerbrief m. BL 3a 22er. 15 fgr.
— — — bie Glaubwürdigkeit ber evangel. Sei ih,
Auflage, Tolr.
— — — verwmiſchte Schriften, 2 Thle. 4Thir.
— — —— c(ommeagtatio etc. Partt.l.IL 213 fgr,
— — — der Geiſt der luther. Theologen Witten⸗
bdergs. 28
le. 4 ſgr.
Berner iſt erſchienen:
Neander, Dr. A., dad Leben Jeſu. 5. Aufl, 3 Thlr. 22 for.
Die anderen Werke des Verfaſſers in bemfelben Ver⸗
lag find:
Reonder, Br. A., allgemeine iR der it Rei fon
und Ki Kirche, I . 1. 2. —8
"auf gutem Papier 28 a. 2
aan Vapier 21 Thlr, FH hr.
Reander, Dr. A., Geſchichte der Pflanzung und Seitang
der chriftlihen Kirche durch die Apoftel,
2 Thie. 4. Auflage 4 Thlr.
— — — ber heilige Bernhardt und fein Zeitalter.
Ein hiſtotiſches Gemälde. 2, umgearbeitete
Auflage, 2 Zhlr. 16 for.
— — — Denfmändigkeiten aus der Geſchichte des
chriſtlichen Lebens. 2 Bände, 3. Auflage.
3 Thlr. 14 far.
Einzeln if} zu befommen:
Kiepert, Karte zu Neander’s Apoſtelgeſchichte. 2Blatt. 1 THlr,
Ferner: “
Borländer, K. tabellariſch- überfihtlihe Darftellung der
Dogmengefiichte En Ba Bortehungen WR it
e en allgemeine Kirchen, e.
2 Sehe 4 Folio, s ® x fer.
PR Friedrich u, Andreas Perthes in Hamburg und Gotha iſt
Zeitſchrift für hiſtoriſche Theologie. Herausgegeben von Dr.
Chr, W. Niedner. 1853, 18 Heft, 9 gpren ee
(4
Inhalt deffelben:
1) ueberſicht der kirchengelchichtlichen Literatur vom Jahr 1825 bie
vum Jahr 1850. (Schluß aus I. Heft 1851 und I. u. IV. Heft
1852.) Bon Dr. Engelharbt in Erlangen.
2) Die Gonvocation der englifhen Kirche. Don Dr. Garl Schoell
in eippig.
Dos det des Sahrganges 1853 diefer Zeitſchrift erſcheint
gleichzeitig mit dem vorliegenden der Theologifchen Studien und wirb
den Eerern berfelben beftens empfohlen.
Berner find erſchienen:
Sämam, A., Chriftus, oder die Lehre des Alten und
euen Teftaments von der Perfon des Exlöfers, biblifch-
dogmatifch entwidelt, 2r Band, geheftet, 2 Zhlr,
Ir u. % Bd. vollftändig 4 Ihle,
Glossarium diplomaticam zur Erläuterung ſchwieriger Wörter
und Formeln des gefammten Mittelalters, Yon Dr. Ed,
Brinfmeier. $olio, geh. I. 68 u. 78 Heft & 1 Zhlr.
Müller, Dr. Ferd. Heinr., die deutfhen Stämme und ihre
Zürften. 5. Band, aud unter dem Titel: hiftorifch » geo⸗
Anzeigeblatt.
WU Friedrich Verthes in Hamburg If erſchienen:
Tholuck, Dr. A., Stunden chriftlicher Andacht. 5, Autın.
geheftet bir.
Die anderen IR Werte des Verfaflerd "in bemfelben Ver⸗
lag find
Tholuck, Dr. A., Evangelium Johannis. 6, 2 Ieg
für.
— — — bie Lehre von ber EM 7. Auflage.
1 Thlr. 18 for.
— — — die Bergprebigt, 3, Aufl, 2 Tplr, 4 for.
— — — Predigten üb, d. Hauptftüde des chriſt⸗
lichen Glaubens. gr. 8, 3 Eike. 4. Aufl.
5 Thlr. 6 for.
— — — Hebräerbrief m. BL 3. Aufl, 2Thlr. 15 fgr.
— — — die Glaubwürdigkeit der evangel, Sei ihre,
2. Auflage, Thir.
— — — vermiſchte Schriften, 2 Thle. 4 Thlr.
— — — Commentatio etc. Partt. l. II. 214 Fl
- — — ber a der luther. 10;
ft her. Theo an —*8 —
Berner iſt PR
Neander, Dr. A., dad Leben Jeſu. 5. Aufl, 3 Thlr. 22 fgr.
Die anderen Werke des Verfaſſers in bemfelben Vers
lag find
Neauder, Dr. A., —— Be der eilt. ——
1.2,
ö f ter 28 Ib
Fi imo Dapler 2 — Be gr.
Reander, Dr. A., Geſchichte der Pflanzung und Leitun,
der chriftlichen Kirche durch die Apoftel,
2 Thie. 4. Auflage 4 Thir.
— — — ber heilige Bernhardt und fein Zeitalter,
Ein hiſtoriſches Gemälde. 2, umgearbeitete
Auflage. 2 Zhlr. 16 fgr.
— — — Dentwürbigkeiten aus der Geſchichte des
chriſtlichen Lebens. 2 Bände, 3. Auflage.
3 Zhle, 14 far,
Ginzeln if} zu bekommen:
Kiepert, Karte zu Neander's Apoftelgefchichte. 2Blatt. 1 Thlr.
Kerne: .
Borländer, K., tabeWarifch- überfichtliche Darftellung der
Zogmengefiihte — Neanene Borlehingen —— au
legehung _aul te.
Fon A Pr en allgemeine Kirchenge —
PR A driedrich u. Andreas Perthes in Hamburg und Bote ift
Beitfehrift für hiſtoriſche Theologie. uögegeben von Dr.
Shr. Be Niehnen 0 Do Alea gie
Inhalt deffelben:
1) Ueberficht der Kedengefüihtticen iteratur vom Jahr 1825 bis
yum Jahr 1850. (Schluß aus Il. Heft 1E51 und I. u. IV. Heft
1852.) Bon Dr. Engelbarbt in Grlangen.
2) Die Gonvocation der englifhen Kirche. Von Dr. Carl Schoell
Das — des Jabrganges 1853 biefer Zeitſchrift erſcheint
gleichzeitig mit dem vorliegenden ber Theologiſchen Studien und wird
den £efern derfelben beftens empfohlen.
Berner find erfchienen :
Säuman, A., Chriſtus, oder die Lehre des Alten und
euen Zeftaments von der Perfon des Erlöfers, biblifch-
dogmatifch entwidelt, 2x Band, geheftet, 2 Zhlr,
ir u. 2 Bd. vollftändig 4 Thlr.
Glessarlum diplomaticum zur Erläuterung ſchwieriger Wörter
und Formeln des gefammten Mittelalters, Won Dr. Ed,
Brinfmeier. golio, geh. I. 68 u. 78 Heft &1 Thir.
Müller, Dr. Ferd. Heinr., die deutſchen Stämme und ihre
Gürften. 5. Band, auch unter dem Titel: hiftorifch » gen»
rapbifche Darſtellung von Deutſchland im Mittelalter.
, & Band, 2 Ihlr,
Köftlin, J., die ſchottiſche Kirche, ihr inneres Leben und
ihr Verhältnis zum Staat, von der Reformation bis auf
die Gegenwart, geb, 2 Thlr.
So eben iſt erfchienenund durch alle Buchhandlungen gu beziehen:
Vrolegomena
ur
Philoſophie.
Von
Dr. Friedrich Harms,
außerord. Profeffor an der Univerfität Kiel,
Gr. 8, Geheftet, Preis 1Tple. 9 Gar.
Diefe Yrolegomena, indem fie die herrſchenden Methoden des phis
loſophiſchen Erkennens unterfuchen, ftellen, anfnäpfenb an Kant's Kris
ticismus, der Philofophie die Aufgabe, den Wegriff ber Wiſſenſchaft,
wie er in den Erfahrungswiflfenf&haften vorausgefegt und ans
gewandt wird, zu erklären, und verfuchen, daraus bie Grellung der
Phitofophie zu den Übrigen Wiffenfchaften, wie zum praftifchen Leben
neu zu begruͤnden. Da bie Darftellung bei aller wiffenfhaftligen
Haltung zugleid) allgemein verftändlich iR, fo glauben wir um fo mebr,
nicht nur das philofepbifche, fondern bas wiffenfhaftliihe und den⸗
Eende Publicum überhaupt auf das Erſcheinen biefer Schrift hinweis
fen zu müflen. Wenn irgend einr, fo moͤchte fie im Stande feyn, die
Besoen zu befeitigen, die von der Philofophie aus, je allgemeiner fie
je sh allen Seiten has wiſſenſchaftliche und praktifche Leben bes
et haben.
Braunſchweig, im December 1852,
u ° mefäte & Sohn,
. Bruhn.)
Bei Riharb Mählmenn in Halle erſchien und if durch alle
Buchhandlungen zu bexiehen:
Dr. Julius Müller,
Profeffor und Gonfiftorialrath zu Halle,
außerordentlich gelungenes Portrait, gezeichnet und litho⸗
graphirt von
Dtto Spedkter,
Preis 20 Sor.
Bei Mepler in Stuttgart erfäten fo eben:
Das Chriſtenthum
nach feiner Geſchichte und Lehre, als Lehrbuch für den
evangelifchen Religionsunterricht in Gelehrten» und böberen
jewerbefchulen, EN lei ald Handbuch für Gebildete,
vom —E Carl Bed,
2 Theile gr. 8. geb. 1 Ahix. 10 Gar. oder 2 fl. 16 Er,
Diele nach competenten Urtheilen treffiiche Schrift trägt bem
Slauben und der Wiffenfhaft in gleihem Grade Rechnung und
guet fi ebenfo für erwachfene Gebildete, wie für ben Unterricht in
höheren Lehranftalten. Jeder Theil wird auch einzeln abgegeben,
dee erfte Theil, die Gefchihte, zu 25 Gar. ob. 1 fl, 30 Er., ber
weite, die Lehre, zu 16 Sgr. ober 45 kr. Die bereits erfolgte Ein⸗
fährung”in mehreren Pannöver., Wärttemb. und Badiſchen Eehrans
falten möchte zur weiteren Empfehlung biefes Buches dienen, —
Borräthig in allen Buchhandlungen,
Bei Juſtus Perthes in Gotha ift fo eben erſchlenen:
Proteftantifche Mlonatshlätter
für immere Zeitgefchichte,
Zur Beleuchtung der Arbeiten und Aufgaben ber hriftlihen
Gegenwart,
Unter Mitwirkung von
Dorner, Hagenbach, W. Hoffmann, Hunbeshagen,
Nitzſch, GL Perthes, Ullmann, W. Wadernagel,
Wichern, Wieſe u. A.
herausgegeben von
Dr. Heinrich Gelzer.
Desembers Heſt 1852. Preis } Thaler.
Jnhalt:
1. Vorwort. II. Fuͤnſzig Theſen zur Feler des 31. Octobers 1852.
Bom Herausgeber. II. Vom wabren Begriff bed Glaubens als
Zeriebtraft zur Jpealität und vom falfhen Jpealismus. Cine Beifes
predigt hber Hebr. 11, I. Won Dr. 8. B. Hundeshagem
IV. Warnungen eines beutfchen Gtaatsmannes, und Antwort des Her⸗
ausgebers. V. Der Kirchentag in Bremen. Bon Dr. Lucius in
Darmfadt.
Bel Juſtus Perthes in Gotha iR fo eben erſchlenen:
Vroteſtantiſche Mlomatshlätter
für innere Zeitgeſchichte.
Unter Mitwirkung von
Dorner, Hagenbach, W. ‚ en,
ger
Wichern, Wieſe n. A.
herausgegeben von
Dr. Heinrich Gelzer.
Jahrgang 1853. Preis 4 Thaler.
Inhalt des Januar s Heftes 1853: ”
1. Shriftliche Reden an bie @ebildeten unferer Beit. IT. zeligien
Philoſophie und Potitit in näcfer Zukunft, von K. St. III. Mär
torerthum der drei englifhen BirddfeGramner, Ridley und Batfmer.
Bon Dr. ©. Weber. IV. Gin Ruf der Warnung an einen Eöniglis
hen Profelyten. Weza’s Zufchrift an Heinrich IV. V. Bo ftehen
‚ wie? Rüdblid auf bie innere @eichichte Europa’s feit 1848, VI. Miss
cellen. Der Wariencultus in Aragonien. Gin franzöfiihes Profelys
tenverzeichniß. SWBrucftüde einer deutfchen Stofenfrang- und einer ri
miſchen Barienpredigt. VII. Literatur und Kunſt. a) Hermann:
die Gefdichte des beutichen Wolkes in 15 Wübern. b) Schnorr: bie
Bibel in Bildern.
80 eben ist in unserm Verlage erschienen:
Die
Gemesis
erklärt von
August Knobel,
Professor an der Ludwigs -Universität su Gieiken.
gr. & broch. Preis 1 Thlr. 15 Ngr.
(Den 'kurzgefafsten exegetischen Handbuchs zum Alten Testa-
ment 11. Lieferung.)
Leipdig. Weldmann'sche Buchhandlung.
Bei Li
— eh In Dermtabt iſt erſchienen und durch alle
Die bibliſchen Geſchichten
des Alten Teſtaments,
aum muͤndlichen Erzaͤhlen bearbeitet von
dr. W. J. G.
Serinatdirector zu Briedberg.
Ausgabe für Behrer, 14 Nor,
Zugleich iſt eine Ausgabe für den Gebrauch In Säulen erſchie⸗
ae Due in Partien zu 10 Expl. ä 10 Nor. ober 3E.Kr. abs
Die Ste Abteilung, „dad [7
ven ae nn neue Teflament”, wird noch im Laufe
Bei Palm & Enke in Erlangen ift fo eben erſchlenen und in
allen Buchhandlungen vorrätpig:
Ungewitter, Dr. F. H., Der Welttheil Anftralien.
Neuefte ausführliche Beſchreibung deffelben unter genauer
Bezugnahme auf die dortigen europäifchen Anfiedlung ds,
gamets und proteftantifchen wiekatholiſchen
iffionds Berbältniffe, Nach den zuverläffigften
Quellen_bearbeitet. Mit einem Worworte von Dr. ©.
S. v. Schubert. 2 Zhlr. 16 Ngr. oder 4 fl, 24 fr.
— uahencnden se bahn >
Erneuerte Rechenchaft
über dad ö
Evangelifhe Geſangbuch
von
Dr. Rudolf Stier,
Guperintendent und Oberpfarser in Schkeudit.
Preis 3 Bor.
Der evangelifge Oberkirchenrath in Berlin hat bad Stterſche
Sefangbuch ald vorzugameife empfehlenemwertb bezeichnet;
aud das Magdeburger Gonfiftorium hat baffelbe feinen fämmtlichen
Superintenbenten durch Eriaß vom 16. Geptember biefed Jahres dur
allgemeinen Ginfährung empfohlen, Die Hinweifung auf fo gewich⸗
je und überaus günftige Beurtbeilungen bürfte genägen, dem tier"
— neuem bie Aufsertfamteit der protehantifäen
Seiſtlichteit zugumenden, ”
In der Dieteridifüen Bacpandtung In Göttingen ift erſchlenen:
Die
drei Sohamneifchen Briefe.
Mit einem volftändigen Commentar
von Dr. Sr. Düſterdiek.
Band I., "
die Einleitung zu dem erſten Briefe und den Gommentar zu I. Joh.
I, 1-11, 28. enthaltend.
gr. 8. geh., 2 Thlr.
Die Bollſtaͤndigkeit und theologifche Art der Arbeit iſt darin zu
erkennen, daß einesfeits die in ber Seſchichte der Eregefe heraustre
tenden theologifhen Richtungen vollftändig gezeichnet und auch durch
einzelne BWeifpiele hinreichend und im Zufammenhange dyarakterifirt
erfeinen und daß andrerfeits nicht allein die Form ber. apoftolifchen
Worte erläutert, fonberm auch der Gedankengehalt fo weit entwidelt
üft, als dies in einem Gommentar geſchehen Bar, welcher ein Com
ntar bleiben will, aber als folder bie Lefer nicht bis unmittelbar
‘wor die apoftolifhen Gedanken, fondern in biefeiten hineinführen möchte,
Gerade in dieſer Arfıht Hat fid der Derfaffer der firengften und
Barften eregetifchen Methode befleißiget. Der Lefer foll wichtige
Auslegung aus bem Texie gleichfam bervorwachfen fehen und fi an
dem reichen Leben der apofolifhen Gedanken weiben.
Der 2te Band, Schluß des Werkes, erſcheint im naͤchſten Jahre.
Berner iſt erfchienen:
Beugniffe aus dem akademiſchen Gottesbienfte zu Göttingen.
Sammlung, von Predigten,
berausgegeben von
3. Ehrenfeuchter.
98. 8. geb. 1 hir. 15 Rar.
(Band 1. erſchien 1849 und koſtet 1 Thir. 15 Nor.)
Bon ber ſehr fhönen Taunig’ihen
Haus: und Kirchen: Bibel,
174 Bogen in rxmat, welche bisher 4 hir. WO Sgr. Eofete,
wird bis Gnde dieſes Jahres, fo lange ber Borrath reicht, das Crem ⸗
plar für 2 hie. durch jede Buchanblung geiefert,
Blemming in @logan.
Ia der Unterzeichneten if neu erfchlenen und in allen Bude
hanblungen zu erhalten:
Ueber den .
alt - und neuteftamentlichen Kultus,
insbefondere
Sabbath, Prieſterthum, Sacrament und Opfer,
von
Eruſt Sartorius,
Doctor der Tpeologle, Generalfuperintendent und Oberhofpreblger In Ränigeberg 1. Pr.
ge. & Geheftet. Preis 1 Ihr. 8 @gr. oder 2 fl. 18 fr. A.
Der Inhalt vorliegender Schrift — zugleich in die beiwegteften
kirchlichen Fragen der Gegenwart eingreifens — wird nidht wenig
dazu beitragen, über bie Bedeutung und das Gewicht der darin ers
Örterten Lehren für die evangelifche Kirche zu orientiren und Schwan⸗
kendes zu befefligen, — zumal aus dem Mund und ‚Bergen eines ihrer
bewährteften Kämpfer, deffen gewichtige Beugniffe ſchon feit lange von
zeihem Gegen begleitet find.
Gkuttgert, Werlagshußfanblung von S. G. Lieſching.
Bei Bandenhord & Ruprecht in Göttingen iſt erſchienen:
Kritiſch⸗ eregetifcher “
Commentar über das Neue Teltament
von
Dr. $. 9. W. Meer.
Zweite Abtheilung.
Auch unter dem Titel:
Kritiſch⸗ exegetiſches Handbuch
über das Evangelium des Johannes.
Zweite vollftändig umgearbeitete Auflage.
ar. 8. geh. AN und 465 Geiten. Preis 1 Adir. 29} Sgr.
Biblifhe Gefchichte,
Mit den Worten der Bibel erzäple
von
Br. Wilh. Bodemann,
Vaſtor zu Sqhnacendurs .
pre IR a, Pelfeprs [ie 34 Gueßplae > Bil
Im Werlage der Unterzeihneten iſt fo eben erſchienen und in
allen Buchhandlungen zu haben:
Gefhihte der Paͤdagegik
Wiederaufblähen
klaſſiſcher Studien bis auf unfere Zeit,
Bon
Karl von Raumer.
Dritter Cheil,
Bweite Abtheilung
Rod· h. 16:ogen fein Bali Preis geh. Iz Ahi. — 2.30 Er.zhein.
Sahalt,
Die eat der Wiffenfdaft und Kunſt. — Der Unterricht im Deut:
— er Dioden, — Beilage: Diherone, Korfu u
lebunt en. — Beilage: R
3 ° die hifterifhe Wahepeit,
Die Berlagspandlung freut ſich, nach längerer Unterbredjung wie
ber eine Abtheilung biefes ausgezeichneten und in feiner MWebeutung
mehe und mehr erfannten — veröffentlichen zu dürfen, und eben
fo angenehm ift e6 ihr, dem aablzeichen Freunden beffelben anzeigen
au Ebonen, daß der verehrte Derfaffer mit Ausarbeitung der drits
ten Abedellaag befäftigt ik, welde mit ber Wefpsechung des beuts
ſchen Univerfitätswefens das ganze Wert veihliehen wird
Brüper find erfchienen?
Deelden Wertes erfier Theil. Das Miütelalter bis zu
TE azeite Auflage, 25 Bogen, 25 Thir.
HR FR zweiter Xheil, Vom Tode Bars
bis zum Zode Peſtalozzis. Zweite Degmebzte Auf
lage. 33 Bogen. 23 Thle. — & fl 36 fr, Rhein.
felben Werkes dritter Theil, erfte Abtbeilung.
Er „grberänberte Auflage, 18 Bogen. 14 Thlr. —
FA —8 erſte Kindheit. Kleinkinderfcjulen. Schule uns Baus,
Alumneen. Erziehungsinfitute. Hofmeifter. —
ligionsunterrit. 2atein. Aphorismen über das gehren der. =
Felde. Grofunde, Raturunterricht, Geometrie. Rechnen. Phy-
fie Erziehung. — Gchiafbetradtungen,
GStuttgart. Verlagebuchhandlung von S. G. Lieſchins.
Beoiftändig ift fo eben in meinem Verlage erſchienen:
Die Sountagsweibe.
Predigten,
gehalten von
Br. ©. C. 9. Harleß,
Vräfdent des proteftant. Oberconfiftoriumd in München,
Sechſter Band.
gr. 8. Geh. Preis } Thilr.
Die früper erfdhienenen fünf Wände find noch fortwährend, jer
der Band einzeln, durch alle Buchhandlungen zu beziehen,
Auch in der Folge werben alle Predigten des gel In Ranzels
reduers in der feitherigen Weile erfcheinen, und mit der nädften
Prebigt, ber erſten bes fiebenten Bandes, beginnt ein neues Abon«
mement auf 20 Predigten, auf welches zu dem Gubferiptionspreife
von 1 Zhir. jede Buchhandlung Beflellungen annimmt,
Leipzig, im September 1862.
. B. G. Zeubney.
Im Verlage der Dyk'schen hachhandiuag in Leipalg ist «0 eben
erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben:
Weisse, Prof. Dr. Chr. H.,vie Chriftologie Suthers
und die chriftologifche Aufgabe der suangelifchen Theolo gie.
Zur dogmatischen Begründung der evangelischen
Union. gr. & geh. 1 Thir. 225 Ngr.
Wir machen auf dieses Werk die Abnehmer von’ „Ueber die
Zukunft der evangel. Kirche. Reden an die Gebildeten deuticher
Nation”, woran es sich als ergänzendes Seitenstück anschliefst,
aufmerksam.
d h
am Bin u Dom at anne
* Casparl, Prof. Dr. C. P., Ueber Micha den
Morassthiten und seine prophetische Schritt. Kin
monographischer Beitrag zur Geschichte des- alt-
testamentlichen Schriftihums und zur Auslegun
des Buches Micha. (Universit.- Programme f. st
u. 1852.) gr. 8. Christiania. geh.
von dem Herrn Verfaſſer übernommen, und es if dies Werk durch
jebe Buchhandlung zu 3 Thir. 16 Nor, von ihr zu beziehen.
Berl em Buchhandlung in
Belle arhinen {p vn Mignfinter 5 je
Privat: WVgende,
daß ift allerlei Formular und Worrath für dad geiftliche Amt,
Gleichgeſinnten — für Nadahmung und Gebrauch
argeboten
von
Dr. Nudolf Stier.
Bweite Auflage
9. 8. geh. 378 Geiten. 1 Iple. 21 Gegr,
Einen Beweis von der Bwedmäßigkeit und von bem Werthe dies
les Baches Hefert wohl aud ber Umftand, da ſchon nady wenigen
Monaten feit feinem Erſcheinen eine neue Auflage nöthig ward.
Liturgifche Andachten
der föniglien Hof» und Domkirche
für die Feſte des Kirchenjahres.
Im Auftrag herausgegeben
dom
®. A⸗Strauß.
weite vermedrte Auflage, mit einer vollftändigen Gamms
tung leicht auszuführender icchlicher Ghorgefänge. Ler.sd,
160 Geiten, Preis W Nor.
Diefe neue Auflage if nicht nur um bie boppelte Anzahl von
Keftandadıten vermehrt; durch die mufifalifhe Zugabe hofft fie aud
einem vieifach laut geworbenen Wunſche entgegenzulommen.
AUltenftüde
aus ber Berwaltung bed evangelifchen Oberkirchenraths.
Viertes Heft,
entpaltenb die Denkſchrift, betreffend die Wermebrung
der Dotation der evangelifchen Kirche in Preußen.
gr. 8, 101 Seiten. Preis 10 Gar.
Brüper erſchienen dieſer Aktenftüde Heft 1-3 &8 fer.
Dr. Ich aber und melı 18 wollen dem Herrn
ee, Far mein ‚Hauß wollen ben I
G. A. 9.) Das Pflegeramt der innern Miffion. 23 for.
Zheologifde
Studien unv Kritiken.
Eine Zeitfdrift
für
das gefammte Gebiet der Theologie,
iu Berbindung mit
D. Gieſeler, D. Lüde und D. Ritzſch,
beransgegeben
D. €, ullmann und D. F. W. C. Umbreit,
Vrofchoren an der Uniserfitkt zu Heibelberg.
1853
Schöundzwanzigfter Jahrgang.
3weiter Band.
Hamburg,
bei Eriedrih Perthes.
1853
Theologiſche
Studien und Kritiken.
Eine Zeitſchrift
für
das gefammte Gebiet der Theologie,
in Verbindung mit j
D. Gieſeler, D. Lüde und D. Ritzſch,
berausgegeben
von
D. €. ullmann und D. F. W. C. Umbreit,
Vrofefforen an bes Univerfität gu Heibelberg.
Sahrgang 1858 drittes Heft,
Samburg,
bei Briedbrih perthes.
18653
Abhandlungen
Dar Google
1.
Confeſſion und Union,
Profeffor Schoeberlein
in Selbelberg.
Es ift eine wohlthuende, erhebende Erſcheinung ber Ges
genwart, daß allenthalben ernſte, fromme Gemüther ſich
dem Glauben der Vaͤter wieder zuwenden, und daß dieß
mit um ſo groͤßerer Entſchiedenheit und innerer Lebendigkeit
geſchieht, je mehr man von anderer Seite bemüht iſt, bie
heiligen Grundlagen der Kirche und jede, Auctorität in Glaus
bensſachen zu vernichten, Aber Ein Mißton trübt udfere
Freude über dieſes Wiedererwachen des kirchlichen und velis
giöfen Lebens, Die if bie fi damit verbindende Rüds
kehr zum alten confeffionellen Hader,
Schon die ift tief zu beklagen, daß fich der alte Streit
zwifchen ber evangeliſchen und Patholifchen Kirche wieder "ers
neuert; doppelt aber beklagenswerth iſt es, daß er auch
zwiſchen den evangelifchen Gonfeffionen ſelbſt heftiger wieber
ausbricht. Wie vor dreihundert Jahren Lutheraner und Res
formirte einen bie evangelifche Kirche zerreißenden, ihre bee
ſten Kräfte zerfplitternden und bad Glaubendwerk ber Res
formation dem Abgrund des Verderbens nahe bringenben
Kampf mit einander führten, fo fcheint auch heute wieder
die zwifchen beiden eingetretene Spannung in offene Beinds
feligkeit übergehen zu wollen; benn ſchon wird eine auch
wahrhaft ſordern ? Over I fie nicht wielmehe nur ein Zeug»
niß, theils daß man von ben legten Jahrhunderten nichts
Gonfeffion und Union. 539
gelernt hat, theils daß man jener geiſtigen Prabuckivität
und Gelbfländigkeit ermangelt, welche den Kämpfen ber
früheren Jahrhunderte, fo betrüblich fie waren, noch einen
geroiffen Werth verliehen hat?
Unfere Zeit hat eine andere Aufgabe. Die beiden bie⸗
berigen Abwege: der das Poſtulat der Union leug⸗
nende Gonfeffionalismus und der bie fortdaus
ernde Bedeutung ber Eonfeffion verkennende
Unionismus, find von und gleiherweife zu meiden,
dingegen Gonfeffion und Union in ihrem wahren
Berhältniß zur Werwirklihung zu bringen,
Hierfür die richtigen chriſtlichen Grundfäge aufzuftellen, iſt
die Abficht der folgenden Erörterung.
A. Theoretiſcher Theil,
1. Einheit und Vielheit der Kirche.
Im Weſen der Kirche liegt ihre Einheit. Denn dab
Haupt der Kirche ift Eines: Chriſtus. Das Leben, welches
von dem Haupte den Gliedern zufirimt, iR Eines: bad
Hal, das er durch Tod und Auferflehung der Menſchheit
errungen, Das fie beiebende und bewegende Princip iſt
Eines: der heilige Geift, ausgegangen von Jeſu dem Auf
erftandenen und Erdoͤhten. Das Band, wodurch die Glies
der mit ihrem Haupte verbunden find, it Eines: ber
Glaube, welcher die. Gnade Ghrifli im Gemith aufnimmt
zur erwibernden Piebeöhingabe. So iſt auch ber Ming. Eis
ner, weicher den Einzelnen geſchichtlich in bie Gemeinfhaft
der Kirche einführt zur Einverleibung in Chriſtum: bie
Zaufe im Namen ded Waterd und bed Sohnes und des
heiligen Geifted. Und endlich die Hoffnung ift Eine, welche
die Ghriften ſtaͤrkt und teößet anf ihrem irdiſchen Pilgers
wege: daB ewige Leben, von Chriſtus den Seinen, die bis
540 Schoeberlein
ans Ende beharren, verheißen in der Bellendung ſeines
NAeiches. Die Kirche iſt weientli Eine
Doch fielt die Kirche nicht eine bloße Einheit dar,
fondern fie trägt auch eine Bielheit in fich, und biefe IR
nicht minder in ihrem Weſen begründet als jene Einheit.
Begrändet iſt fie theild im Weſen der Gnade Chriſti,
welche dad Lehen der Kirche, theils im Weſen ber Men ſch⸗
heit, welche ihre Fülle bildet,
Bas jme Geite anlangt, fo iſt es zwar Ein Herr, in
dem die Gnade fir ums befleht. Aber diefer Eine Herr iſt
De, in deſſen Offenbarung alle übrigen Dffenbarungen Got:
tes ihre zufammenfaffende Spitze haben, der menſchgewor⸗
dene Sohn Sottes felber. Und es iſt der Menſchenſohn,
in welchem bie ganze Fülle der Menſchheit beſchloſſen, in
deſſen Gnade Heil für alle Schäden des Menfhenlebens
bereitet iſt. Deßgleichen ift e8 zwar Ein Geift, durch wel⸗
en dieß Heil und zugeeignet wird; aber in einer großen
Mannichfaltigkeit von Gaben iſt er ausgegoffen, um alle
Seiten des menfchlihen Lebens zu heiligen, So trägt die
Gnade Ehrifti wefentlich eine Vielheit in ſich. Und das
Gleiche gilt von der Menſchheit, welche an dem Einen
Haupte durch den Ginen Geil zu einem geifftichen Leibe
fol aufetbaut werden. Auch fie iſt an ſich gleichermeife
Eine, Aber fie entfaltet fich zugleich in einer unendlich reis
den Mannichfaltigkeit von Individuen, wodurch fie erſt zu
einem wirklichen Organismus erflehen Bann, So hat jebe
Beit ihre befonbere Aufgabe in ber Entwidelung, jedes Volt
in dee Gliederung der Menſchheit zum Beide Gottes, Ja,
jeber Einzelne ſelbſt bildet wieder ein felhfländiges, mehr
ober weniger bedeutungsvolles Glied in ber Kette bes Gans
zen, ‚damit dad Reich Gottes feinen volkommenen Ausbau
erfahre, Eben well die Gnade Gottes fo unendlich reich iſt
an Weisheit, Gegen und Kraft des Lebens, eben weil in
Ghrifto die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt und
die ganze Fülle der Menſchheit unbitblich befteht, kann nice
Gonfeffion und Union. 54
der Einzelne mit feiner befchränkten Seiſteskraft die Ziefen
des Heiles ganz erfaffen und ausſprechen, ja nicht Ein
Bolt, noch Eine Zeit vermag «8, fondern nur die Menfchs
heit in der Totalität ihrer Entwidelung und Gliederung,
nur bie Menfchheit in ihrer geiftlichen Wollendung wird das
Weſen deB Reiches Gottes geiftig wahrhaft durchdringen
und feine Fülle darftelend verwirklichen. Im den einzelnen
zeitfiden und perfönlichen Erfcheinungen auf dem Gebiet
der Kirche aber duͤrfen wir nur Bruchflüde des Ganzen ers
kennen ober vielmehr nur einzelne Spiegelungen des Ges
fammtbildes, wie fie auf Grund der biftorifhen Individuas
litaͤten ſich bilden.
So liegt beides alſo im Weſen der Kirche: Einheit
und Vielheit, und eben dieſer Gegenfag bedingt bie
Wahrheit und Gefundheit ihres Lebens. Ohne innere Viel⸗
beit. hätte fie ein armes, ſtarres, ohne innere Einheit ein
zerriſſenes, ber Auflöfung zueilendes Seyn. Aber bie Viel
beit gibt ihr Fülle und Lebendigkeit, und die Einheit innern
Halt, Kraft und Klarheit. So vermag fie in Wahrheit
ihre Aufgabe zu erfüllen, darſtellende Verwirklichung des
Reiches Gottes in dieſer irdiſchen, zeitlichen Weltfphäre zu
ſeyn.
2. Gonfeſſion.
Am Anfang tritt und in der Kirche vornehmlich das
Moment der Einheit entgegen, wie es in der biblifchen Urs
Bunde heißt: „Ale, die gläubig waren worden, waren bei
einander und hielten alle Dinge gemein (Apoftelg. 2, 44.)” und:
„die Menge der Gläubigen war Ein Herz und Eine Seele”
& 3). Diefe Einheit trägt noch) ganz dad Gepräge der
erſten Unmittelbarkeit. Doc, zeigen fich audy in jener Zeit
bereits die Keime einer Vielheit und die urbildlihe Andeus
tung Bünftiger Gegenfäge. Die Vierzahl ber Evangeliften,
welche uns das Bild der Perfon Jeſu gezeichnet, und die
Zwoͤlfzahl der Apoftel, welche das Werk. Chriſti der Welt
verkündigt haben, ift Ausbrud für diefe Wahrheit, Matthäus
Sas in jenen Anfängen der Kirche uur mad) fei
Geımblinien angedeutet if, des het im Laufe ihrer Ent-
feine Ausführung gefunden, unb was dert zafch
in Iabrzebenben fi folgte, bat ſi fadter im den Beitrasm
vieler Jahrhunderte Aber au, web be
mals noch in Einheit geflanden, iR fadter bis in das Er⸗
trem wiberfpredgenber worben.
immer beflinmter mit ihrer Eigenthümlichkeit herdorgetteten:
bie Kirche im Drient nahm eine andere Richtung als im
Decident, und bort unterfchieden ſich ebenfo wieder Aegypten,
Syrien, Kieinafien und Byzanz von einander, als bier
Nordafrika, Gallien und Italien. Da jedoch bie apoſto⸗
liſche Tradition noch maͤchtig nachwirkte und in der geſchicht⸗
lichen Stellung jener Voͤlker noch nicht bie naturlichen
Gonfeffion und Union. 543
Grundlagen dazu gegeben waren, fo entwidelten fid bie
Gegenfäge noch nicht zu ſelbſtaͤndigen, feſt auögeprägten, bieis
benben Kirchen, Dieb gefchah aber im fpätern geſchichtlichen
"Verlauf ber Kirche. Zuerſt bildete fi) der Gegenfag ber
orientaliſchen und occidentaliſchen Eigenthuͤmlichkeit in ber
griechiſchen und roͤmiſchen Kirche aus. Dann hob
fi) aus dem Katholicidmus und im Gegenſatz zu ibm
der Proteftantismus hervor, unb dieſer ging wieber
in die Unterſchiede der Tutherifchen und reformirten
Kirche auseinander, Neben dieſen größeren Ganzen aber,
welche wir mit dem Ausdruck Gonfeffionen, Kirchen
bezeichnen , bilbeten fich theils ſchon vor. ber Reformation,
theils nach derfelben noch viele einzelne Bleinere Zweige ber
Kirche, welche wir Secten zu benennen pflegen ®).
Jene, die Confeſſionen, unterfcheiden ſich hierbei wes
ſentlich von biefen. Der Unterfcyieb aber befleht nicht, wie
die gewöhnlihe Meinung if, darin, daß die Gonfeffion
durch bloße Einfeitigkeit der kirchlichen Lehr» und Les
bensweife, bie Sette durch pofitiven Irrthum berfelben
bedingt fey. Denn es gibt Secten, welche weniger Irr⸗
thumer in fi begen, als bie roͤmiſche Kirche. Noch viel
weniger ift e8 die Anerfennung oder Nichtanerken⸗
nung bes Staates, welche eine kirchliche Corporation
zur Gonfelfion oder Secte ſtempelt. Vielmehr pflegt dies
ſelbe feld nur Folge von dem eigentblmlichen kirchlichen
Charakter zu feyn, den eine religiöfe Gemeinſchaft hat,
Secte ift ein kirchlicher, Fein flaatörechtlicher Begriff.
Auch in der Secte ſtellt ſich und wie in ber Gonfeffion ein
individuelled Leben der Kirche bar. Aber ber Unterſchied
iſt der, daß bie Individualität der Secte jener Univerfalie
=) Bon ben Gecten figb wieder bie Härefiem oder Keterelen
ald Vermengung von Unchriſtlichem mit Chriſtlichem zu unters
ſcheiden — wie denn 3. B. der Metpodismus, bie Brüderges
meinde 2c, unter bie Kategorie ber Gecte, aber nicht bes Häs
tefie fäut.
festyam tur) tie Kirche Ales nem madhen, den gamen
wen der Excte bei Gewicht nur auf eineh star aupine Mer
beiden Seiten zugleich. Die Seiten — —
ſches als particalare kirchliche Inbividueli
töten.
Richt fo auch die Confeffiomen. Ihre Bebeutumg
i# eine univerfellere. Zwar faſſen auch fie das Chei⸗
festem von inbieibuckem Etantpunde auf. Doch neh
men fie daſſelbe dabei in feizer Zotalität, und zwar ebenfe
objestiverfeitö, bezkglid) der darin gesffenbarten göttlichen
Gabe, als ſabiectiverſeits, bezüglich feiner Gegenswirkun:
gen in ber Meufchheit. Die Gonfefisnen find bemnad;
mniverfelle kirchliche Jadividualitaten. Und
zwar gilt dieſe Univerfalität vom ihrem Urfprung und
von ihrem Wefen,
Es wäre eine zu äußerliche, eberflädhliche Betrachtung,
das Individuelle in den Gonfeffionen bloß auf die Eigen⸗
shhmlichkeit ihres Stifterd zurudzuführen. Gehen wir
Gonfeffion und Union. 545
auch allerdings den Geiſt eined Luther und Calvin in der
lutheriſchen und teformirten Kirche fortleben, fo find fie
ſelbſt dog, biefe Männer, nur wieder bie hervorragenden,
den Anftoß gebenden Vertreter einer umfaflenderen Richtung,
vor Allem die klaren, ſcharf ausgeprägten Repräfentanten der
Eigenthümlichkeit des Volkes, welchem fie anges
börten, Mehr noch iſt es alfo die Volkseigenthümlichkeit,
welche fi) in den Gonfeffionen abfpiegelt, Dieß beftätigt
uns aud ein Blick auf die Wirklichkeit. Daß ſich der oriens
taliſche Typus in ber griechifchen, der occidentaliſche in der
roͤmiſchen Kirche fortpflanze, haben wir ſchon bemerkt.
Ebenfo liegt am Tage, wie ber Katholicismus mehr dem
Charakter der füdlichen, der Proteſtantismus mehr dem
der nördlichen Länder entſpreche. Und auch das ift un⸗
ſchwer zu erkennen, daß der Iutherifhe Typus feine befons
dere Verwandtſchaft mit ber germanifchen, refp. ber
deutſchen und ffandinavifhen Volkseigenthuͤmlichkeit habe,
hingegen die reformirte Kirche in den weftlihsromani«
ſchen Nationen heimiſch fey. Doch reicht auch diefer Zur
ſammenhang mit ber Volkseigenthuͤmlichkeit, wie ſchon die
häufige Miſchung der Confeſſionen in denfelben Ländern uns
lehrt, nicht aus, um das Wefen der Eonfeffionen zu erffäs
sen, Wielmehr weift dieſer Zufammenhang mit ber Volks⸗
eigenthümlichkeit felbf noch weiter ind Allgemeine zurüd,
infofern auch die nationalen Individualitäten nur wieber in
irgend einem Maße Ausdrud für Grundfeiten im menſch⸗
lichen Weſen überhaupt find. Und diefes iſt es mithin eis
gentlih, worin das Weſen der Gonfeffionen feinen legten
Grund hat, Die Bedeutung der Gonfeffion iſt begründet
in dee Bedeutung bes Chriftenthbums für bie
Menſchheit als folde -
Das Chriftentyum ift dad dem Weſen bed Menſchen
abfolut Gemäße, indem es den Menfcyen in bie Lebendges
meinfchaft mit Gott, woraus ihn die Sünde geriffen, wie
der zuruck und dadurch der geiftlichen Vollendung zuführt,
ep che
Geißeblebens unterworfen bat. Und es liegt mithin im ber
Natur der Sache, daß die Kirche, der Leib Cheiſti, in ib
zer gefcictlichen Entwidelung und lecalen Ausbreitung
die allgemeinen Lebensformen und Gtufen auf ähnliche
Deiſe darſtellend durchlebe, ald es bei dem Einzelnen und
der ganzen Menſchheit äberhaupt der Fall if. Diefe ge
fonderte Berwirtligung ber Srundformen und
Hauptfiufen menfhliden Wefensd auf dem Ges
biete ber Kirche bildet das Weſen der Gonfeffion.
griff ihres Glaubens nieder, fondern fie flellt nur diejenigen
Yuncte darin dar, welche für ihr Verhaͤltniß zu den andern
kirchlichen Richtungen ſpecifiſche Bedeutung haben. Dieß
thut fie in der Form des einfachen Zeugniſſes, nicht ber Be
lebrung oder Werfündigung. Die Aufforderung dazu aber
Gonfeffion und Union. 547
erhält fie mit gefchichtlicher Nothwendigkeit in ben Anfäns
gen ihres Beftandes durch bie öffentliche Berührung mit
den abweichenden chriſtlichen Richtungen. So wird eine
Kirche nicht erft durch das Symbol zur Kirche; aber indem "
fie fi) in ſelbſtaͤndiger Eigenthuͤmlichkeit neben andern her⸗
ausbildet, fpricht fie ihr Glaubensleben nach feiner Eigen.
thlmlichkeit im Symbol aus. Diefed gilt deßhalb fortan
als Zeugniß von ber unterfcheidenden Eigenthümlichkeit ei-
ner Kirche und bleibt, ba eine Kirche, wenn fie nicht ſich
felbft aufgeben will, an ihrer Cigenthümlichkeit im Weſent⸗
lichen fehhalten muß, die fefte, bauernde Grundlage für
alle innere und dußere Zortentwidelung ihres Lebens,
Das Bekenntniß aber. und bie Lehre, welche in dem
Belenntniß ihre kirchliche Norm bat, iſt nur die eine Weife,
worin fi die confeffionelle Eigenthuͤmlichkeit ausſpricht.
Das Wort hat feine Ergänzung in der That, Das Thun
der Kirche nun iſt doppelter Art: ein beſtimmt georbneteß,
feftbegrenztes und ein freies, in fletem Fluß begriffenes.
Jener Art ift der Cultus mit feiner Eulmination im Gas
eramente, worin bie Gemeinde ihre Gemeinſchaft mit Chriſto
fort und fort darftellend bethätigt, und die Berfaffung
mit ihrer erziehenden und züchtigenden Leitung, wodurch
die Kirche ſich die dußere Begrenzung und innere Ordnung
- ihreß Lebens gibt. Das freie Thun der Kirche aber befteht
in ihrer Sitte und. Sittlihfeit, welche ihren eigenthüm⸗
lichen Charakter dem Familien » und bürgerlichen Leben, ja
felbft dem wiſſenſchaftlichen, Kunft> und sale aufs
prägt.
Alle dieſe Lebensdugerungen einer Gonfeffion. müffen
Aufammengenommen werden, wenn man ihre Eigenthüms
Ucpleit volftändig würdigen fol, Die bloße Aeußerung im
Worte des Bekenntniſſes ließe uns bloß die theoretifdye oder
abfractsideale Eriftenz derfelben erkennen, wogegen bins
wieberum das bloße Thun ohne erklaͤrendes Wort der Lehre
über die innerfle Bedeutung und den srinfiden, Werth je:
Theol. Stud. Jahrg. 1868,
548 Einebeicn
au Erführber Derminnger zm Ungenüpen Iefe. ec une
Ihe zer Lohr gie jr ler Zortehg ie 8
beui zriammer. Zıt TE tom ruhig uber
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3. Die Goufefhonen.
Gonfeffion und Union. 549
Megung des Glaubens in aͤußere Wirklichkeit zu führen
und ihr einen finnlich faß» und ſchaubaren Ausdruck zu ges
ben. Beide Zendenzen verleihen den zwei Hauptkirchen
des chriſtlichen Altertbums und Mittelalterd, der griech i⸗
fhen und römifchen, ihren unterfeidenden Charakter.
Semeinfam ift beiden das Ziel des Strebens: daß bie Kirche
in einem fertigen, moͤglichſt volfommenen Leibe in dieſer
Belt daflehen und vermöge deſſelben ihre geiftliche Macht
frei offenbaren und Träftig üben möge über die natürlichen "
inneren und dußeren Gewalten des menſchlichen Lebens —
ed herrſcht im beiden bie Zendenz der Berleiblihung,
Dabei aber befteht der Unterfchied, daß im der griechifchen
Kirche jenes erflere Moment vorwaltet, in der römifchen
daB zweite, wiewohl verbunden mit jenem. Der griechis
ſchen Kirche Grundbemühen ift, die im Bekenntniß feſtge⸗
ſtellte Lehre und bie durch Tradition geheiligten Orbnungen
zu bewahren. Hingegen fegt die roͤmiſche Kirche die
leibbildende Thaͤtigkeit fort; fie Hält nicht ſtarr am Altchrifte
fihen feft, aber darauf ift fie bedacht, daß fie Jedem, was
fd an geifllihem Leben regt, feinen Ausdruck und feine
befiimmte kirchliche Jorm verleihe, und daß fie felbft als
Ganjzes die Einheit der Kirche in fefter, aͤußerlich firhtbarer
Geſtalt darſtelle. Wie die griechiſche Kirche vor Allem bes
wahren will, fo die roͤmiſche vor Allem geftalten. Jene
ift infofern die ſtarrere, diefe die lebenbigere n). Ans
dererfeit aber iſt jene auch die an den chriſtlichen Grund: =
formen mit größerer Treue fefihaltende, diefe bie in eins
feitiger Fortbildung wil lkuͤrlichere, mit bem Princip
der Wahrheit in größeren Widerfpruch getreten, Und es
mußte deßhalb, wenn im Werlauf der Geſchichte eine neue,
durchgreifende Richtung und Bewegung fich geltend machen
=) Kamm man von bes katholiſchen Kirche Überhaupt fagen, daß ſie
ben Leib ber Kirche darſtelle, fo wäre hierbei die griechiſche
Kicje dem Suodengerüfte des Beides, die römifche dem dleiſche
deſſelben zu vergleichen. a.
650 Sdoeberlein
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Gonfeffion und Union. 551
der katholiſchen Kirche, und die Auctorität Chriſti offenbart
ſich nicht auf ideale Weife durch die Macht feined Wortes
und Geiftes in ihr, fondern ift auf finnlich« reale Weife an
Perfon und Infitut geknüpft und in ihnen verkörpert. .
Der objectiven Seite entfpricgt bie fubjective,
Bie die katholiſche Kirche bemüht ift, die Gnadenmacht
Chriſti in voller irdiſch⸗ finnlicher Wirklichkeit darzuftellen,
fo auch ſucht fie dad GIaubensleben der Kirche vöL-
lig in die äußere Erſcheinung zu führen. Der Glaube felbft
fon, der die Seele der Gnade Chriſti theilhaftig macht,
trägt in der Eatholifchen Kirche den Charakter der Veraͤu⸗
Gerlihung. Denn er ift als zweifelloſes Fuͤrwahrhalten ber
von der Kirche überlieferten Lehre und als unbedingte Uns
terwerfung unter ihre Ordnungen zunaͤchſt ein Glauben an
„ bie Kirche, in welcher Chriſtus mit feiner Gnade und Macht
irdiſch fortlebt. Infonderheit aber fol die unmittelbarfte
Wirkung ded Glaubens, die Anbetung Gottes, einen finns
lichen Ausdrud gewinnen. Und zu diefem Zwecke ſtehen alle
Künfte im Dienfte der Kirche, nicht bloß Poefie und Mus
Fit, fondern auch Architektur, Sculptur und Malerei, ja
felbft die Mimik; fie alle follen das Leben des Glaubens in
Form, follen den Gedanken in Bild, ben Geift in einen
Leib leiden, Diefe Verleiblihung geht felbft bis ins Eins
zelne. So befondert ſich die Gnade. Chriſti für die einzels
nen Zuſtaͤnde des Lebens, indem fie mit einer Siebenzahl
von Sacramenten ben Menfchen durch fein ganzes Leben
fegnend begleitet, ja ihren Segen auch ‚auf die ſpeciellſten,
geringften Seiten beffelben durch beföndere MWeihehandluns
gen Üiberzuleiten ſucht. Und der gleiche Fall iſt es mit den
Aeußerungen der Frömmigkeit. Kür jedes Bedürfuiß des
gläubigen Gemuͤths hat die Fatholifche Kirche einen Weg
der Befriedigung vorgezeichnet, für. jede Regung des Glau⸗
bens eine beflimmte Form der Aeußerung anögeprägt. Aus
diefem Drange find bie mancherlei Arten gotteöbienftlicher
Beier allmählich entftanden ‚.wobei felbft für die eigenthuͤm⸗
52. Scoebelein
lichſten Stimmungen ber Andacht, ja für jeden Grab ders
felben fich in Geberde und Handlung bie entſprechende
Verſinnbildlichung feſtgeſtellt hat. Nicht minder findet je
der werkthätige Drang des Glaubens in ben verſchiedenen
geſchichtlich entſtandenen Wereinen und Inſtituten ben fers
tig zugerichteten Raum für feine Bewegung und bie Aufs
forderung, in Handlung uͤberzugehen. Ja mehr als dieß:
diefe Aeußerungen bed Glaubens find zum großen Theil fos
gar in fefte Ordnung und Gefeg gebracht, und das Geſetz
der Kirche beflimmt nicht minder den Gegenfag von Werk:
und Feiertagen mit feinen mannichfachen Abflufungen der
Belerlicgkeit und feiner Kundgebung von Trauer und Freude
in Faſten und Genuß, als fie bie feſten Grenzen zieht zwis
ſchen perfönlicher Selbſtaͤndigkeit und kirchlicher Auctorität,
zwiſchen freier Bewegung und ber Forderung kirchlichen
Gehorſams. Alles zielt darauf hin, beides: die Gnabe und
das Leben des Reiches Gottes, zur vollen dußeren Darſtel⸗
lung in Form und Bilb, in Handlung und Werk zu bringen.
Natürlich veflectirt fich diefe Tendenz der Berleiblichung,
welde ſich im Leben der Fatholifchen Kirche unmittelbar
ausgeprägt hat, auch in der Lehre derfelben und ſucht
dort ihre Rechtfertigung. Im katholiſchen Lehrgebäude ſteht
aus diefem Grunde vornan bie Lehre von der Kirche als
der gottgeorbneten Wermittlerin ber Gnade und der Stells
vertreterin Chriſti, als der ſichtbaren Erſcheinung des Reis
ches Gottes auf Erden. Auf das Sacrament, worin ſich
CEhriſti Gnade leiblich dargibt, wird der Hauptnachdruck
gelegt. Dad Weſen der Sünde wird in bie Herrfchaft der
Sinnlichkeit gefegt, die Rechtfertigung wird von dem Werk
der Heiligung abhängig gemadt u. ſ. f. Ueberall liegt
das Gewicht auf: der finnlihen Erfcheinung: die göttliche
Auctorieät wird in ihrer menſchlichen Wermittelung, das
himmliſche Gut in feiner irdiſchen Einkleidung, bie geiſtliche
GSefinnung in der fihtbaren Handlung aufgefaßt, betont,
gefordert. Und wie find biefe Zuſtaͤnde wieder in concrete,
—R
Gonfeffion und Union. 553
plaftifche Form gebracht, wenn den fieben Todfuͤnben die
fieben Haupttugenden und bie fieben Gaben des heiligen
Geiſtes gegenübtrgeftelt werben, wenn das Fegefeuer mit
feinen verſchiedenen Lebenskreifen, dem limbus infantam,
patrum ete., und bie Hoͤlle mit ihren Schreden, der Hims
mel mit feinen Seligkeiten ausgemalt wird !
So hat fi bie Kirche im Katholicismus einen ſchoͤn
geformten, wohlgegliederten Leib gebiet, welcher (wie bie
Bebeutung des Leibes hierin befteht) ebenfo Ausdrud und
Bild als fefte Wohnung. und bomogenes Organ ihres Geis
ſteslebens if, einen Leib in Cultus und Verfaffung, in Lehre
und Leben. In feinem Cultus if die chrifllihe Anbetung,
in feiner Verfaffung das Geſetz der Gabe, in feiner Sitte
das Werk ded Geiſtes ſymboliſch dar. und orbnungsmds
Gig feſtgeſtellt, und in feiner Lehre hat ex Alles bekräftigt
und zu ermeifen verfucht. .
Daß ſich nun die Kirche überhaupt verleibliche, ift nichts
Verwerfliches, vielmehr etwas Nothwenbiged, Wie Hätte
fie fonft in diefer Welt einen feften Beftand, wie Raum
gewinnen mögen, damit ſich ihr Glaubensleben ungehemmt
und frei und ohne ſtets von Neuem bahnbrechende Arbeit
offenbare! Zumal ift ihre Werleiblihung von hoher Bes
deutung für die Belehrung und chriftlihe Bildung der gers
maniſchen Völker im’ Mittelalter gewefen;. denn biefe woll⸗
ten dad Göttliche hauen und faffen im irdiſchen Bilde, fie
Tonnten die Kraft der Gnade ‚nur verfiehen in dem impos
nirenden Glanz des heiligen Werkes und beburften einer ers
ziehenden Leitung durch feſte Sitte, um in geiſtlicher Ges
finnung zu erftarken, bedurften der ſtrengen Zucht kirchlicher
Auctorität, um flr die Freiheit des Glaubens reif zu wer⸗
den. Sie ift aber nicht bloß nothwendig gewefen, diefe
Verleiblichung der Kirche, fie ift es noch. Wie jeder Geiſt,
der hienieden feyn und wirken will, eines entfpredhenden
Leibes hierzu bedarf, fo auch der Lebensgeiſt ber Kirche,
Er Bann hienieben nicht beſtehen ohne eine feftgegrundete,
554 Schoebetlein
beftimmt begrenzte, wohlgeorbnete Wohnung, worin fein
von der Welt unterfchiedenes Leben in fi) gefammelt und
nach außen geſchuͤtzt ruhe; er kann bienieden nicht wirken
ohne ein homogenes Drgan, woburd er fein die Welt ers
leuchtendes, befreienbes und erneuendes Leben ausfpredhe; er
kann endlich hienieden nicht in ſich befriedigt feyn ohne eis
nen Maren, ſichtbaren Ausdrud feine Wefend, worin fein
" alle Hoheit menſchlichen Werkes überfirahlendes göttliches
Leben als Sieg über die Welt offenbar wäre,
Wenn auf diefe Weife der Katholicemus ber Kirche
einen Leib zu ſchaffen fucht.in heiliger Ordnung, Feier und
Sitte, fo ift biergegen alfo nicht nur nichts zu fagen, fon
bern’ ed muß vielmehr als ein fehr weſentlicher Vorzug ans
erfannt werden, Aber freilich beftehen bier auch heilige
Schranken. Der Leib ift nicht um fein felbft willen da,
fondern um des Geiſtes wien, Und wenn er den Geik
zuruͤckdraͤngt, ſtatt ihm zu offenbaren, wenn er etwas für
ſich feyn oder fi gar an die Stelle des Geiſtes ſetzen will,
fo ift er von feinem wahren Weſen abgefallen. Die Ge:
bilde des Leibes follen ferner wirklicher Ausdrud bed Geis
ſtes, ſollen weiche, bildfame, theils den Geiſt zur freien
Offenbarung anregende, theils jeder fortfchreitenden Bewer
gung des Innern willig dienende Organe — ed bürfen Feine
Aftergebilde feyn. Hat die roͤmiſch⸗ katholiſche Kirche dieſe
Schranken eingehalten? Hier find ihre Gebrechen. Der
Leib, den fie ber Kirche.gebildet, iſt hicht ein durchweg geifls
licher, fondern ein zum Theil fehr fleifchlicher Leib, und ih⸗
ven Beruf, dem dhriftlihen Geifte für feine heilige Dffens
barung und Wirkſamkeit eine reine Wohnung und völlig
bienftbares Organ zu feyn, bat fie fo fehr verfannt, dag
fie dad Ghriftentbum nicht felten zu einem Mittel entheis
ligte, ihre felbfifüchtigen,, weltlichen Intereſſen dadurch zu
erreihen. Die theokratiſche Auctorität, wornach fie die Voͤl⸗
Ber zur Freiheit in Chriſto erziehen follte, hat fie wie einen
Raub angefehen und, in Maria, item Sinnbild, und den
Gonfeffion. und Union, 555
‚Heiligen ſich felbft verherzlihend, fich zur unbebingten Vers
mittlerin mit Chriſto aufgeworfen, wodurch die Seelen in
geiftliher Unmündigkeit zuruͤckgehalten und ſtatt Chriſto zus
geführt, vielfach von ihm abgelenkt und auf Menfchendienft
gewielen werben. Die Feſtigkeit der kirchlichen Drbnungen,
womit fie den freien Bewegungen einen fichern Halt zu bies
tem den Beruf hat, damit fich biefelben immer wieder das
van zurückfaͤnden und aufrichteten, ift in vielen Beziehun⸗
gen zu einer flarren Macht des Geſetzes geworden, weiche bie
Gewiſſen knechtet und die Freiheit unterdrüdt, Der Reich⸗
tbum von Gultusformen follte ein die Herzen erbauendes
Sinnbild und ein den Geift der Anbetung erwedenber Ans
laß für die Stäubigen ſeyn; aber iſt er nicht im Katholis
cismus durch finnliche Pracht auch in den Dienft der Eitels
Zeit getreten und eine Urfache zu Üüberwiegendem Bormelwes
fen und, Lippendienft geworden? Und die Pflege des Wer⸗
kes endlich, welche den Liebeögrund im Innern immer neu
beleben folte, hat fie nicht gar mannichfach den Charakter
bobler Werkheiligkeit angenommen, welche ohne Glauben
Gott gefallen will und bie Seele auf eigenes Verdieſt trauen,
im irdiſchen Sinn der Selbftfucht fich verhärten läßt?
So hat die katholiſche Kirche, indem fie die Gnaden⸗
macht CEhriſti einerfeits und das Glaubensleben der Ehriften
andererſeits in volle dußere Wirklichkeit zu führen firebte,
unter den Einflüffen des Fleiſches dort ſich zur weltlichen
Hierarchie auögebildet, welche Chriftum, den Einen
Herrn, zurüddrängt, und bier eine geſetzliche Werkge⸗
rechtigkeit aufgerichtet, weldhe vom Glauben, dem Ei⸗
nen Weg zu Chriſto, abführt. Statt eine fefte Burg bed
Heils ift fie alfo vielmehr eine den Heilsweg erſchwerende
Schranke, flatt ein dienſtbares Organ der Gnade eine viel⸗
fach leere, ftarre, die Selbfibefpiegelung hervorrufende Form,
flatt ein hellleuchtendes Abbild Chriſti zum Theil ſelbſt ein
den Namen Chriſti bei der Welt verläfternded Zerrbild gewor ·
556 Sqoeberlei
den. Dies ter Abwes, auf weihen ber heccccca
in fer BeiichC tung gerafhen.
Da tie Bart ie Kirche aui birfe Meier er Sabisi
tuaizät ter Eik-be vermurricigse, je mmite mh dad Ge
richt über fie ergehen: ter Geil muite gegen felde Ben
Weiäiäung teaziren. Feriih kine, um abgrichen Gi
von, die Kirche auf ber Einfe ber Bericitächung wicht fire
Yen bieiben Eiunen. Wir im der Entwidıtung des ci
men Bufhen des Leibe) Reife dazu tum, teß ber Geif
und entfalten möge. Und and) wenn die Fatheiifche Kirche
micht im Jerthümer unb Mikbräude ſich verriet hätte, je
mer Fortſchritt wäre dennoch, nur etne Bruch uud Spal
tung, wäre auf elmählihem, füllen Bege
ſchet en. Das Streben nach Bergeifligung, nach immerer
Wahrheit uud geiffier Freiheit hat in der Kirche and) mie
gänzlich gefehlt; fonfk wäre ihr äußerer Behand nicht mehr
ein Leib der Kirche, fondern ein bloßer Leichnam gewefen.
Aber theils liegt eb, wie bemerkt, in der Ratur der ge
ſchichtlichen Entwidelung, daß früher das Streben nad
Bergeifiigung gegen bad nad) Berleiblihung zurüdg
theils hat die Hierarchie dieſe Regumgen, welche fie aus
tragen Ruhe ihres fihern Befiges aufflörten, mit feib
tigem Eifer verfolgt und in die verborgenen Ziefen des
nern zurlidgebrängt. Und als nun der Drang nad)
beit und Zreiheit übermächtig wurde, als der fi in fi
ſelbſt zufammenfaflende Lebensgeift der Kirche das übermus
chernde Fleiſch beſchraͤnken, die verfuöcherten Organe nen
beleben und bie Aftergebifde ausfdyeiden wollte, da ſtieß
bie roͤmiſche Kirche diefe Beflrebungen ald ketzeriſche aus.
Das von dem geſchichtlich entflandenen Kirchenleib geſon⸗
derte Geifteöleben der Kirche ift nun in der evangelis
ſchen Kirche zur felbfändigen Offenbarung gekommen,
|
—
Eonfeffion und Union. 997
Wie der Katholicismus bie Berletblihung
ber Kirche vollzieht und repräfentirt, fo dee Proteftans
tismus ihre Bergeiftigung ®),
Die katholiſche Kirche hat innerhalb des neuen Zeflas
mentes dem Standpunct des alten erneuert, Denn
dos ift das Charakteriſtiſche des alten Teſtamentes, daß es
das geiſtliche Weſen des Reiches Gottes in einer dußern
Theokratie voraus darſtellt, fein inneres Leben im Symbol
und Geſetzeswerk abbildend. So auch ſtellt die katholiſche
Kirche in der ſichtbaren Geſtalt ihres einheitlichen, feſtge⸗
gliederten und an geiſtlichen Lebentformen reichen Organis⸗
mus, ſo wie in der unter ihrer geſetzlichen Leitung ſich bil⸗
denden frommen Werkthaͤtigkeit ein Bild und Symbol des
Reiches Gottes und feines gottmenſchlichen Lebens dar. Nur
find die ſymboliſchen Formen in ihr nicht mehr Vorbilder
eines Künftigen, fondern abbildliche Ausprägung eines Ges
genwärtigen, und ihre gefegliche Auctorität wii nicht mehr
einer verheißenen Geiftedausgiegung Wege bahnen, fondern
Die Kräfte des bereit6 ausgegoffenen Geiſtes im beſtimmten
Schranken zur Bethaͤtigung antreiben.
Anders dagegen iſt das Princip und Verfahren der
evangelifchen Kirche, Sie will dad Weſen des neuen
Teſtamentes in feiner vollen Wahrheit zur Offenbarung
und Verwirklichung bringen. „Die Gnade und Wahrheit ift
durch Iefum Ghriftum worden”, davon geht bie enangelis -
ſche Kirche aus. In feinem irdifhen Wandel bat der menſch⸗
gewordene Gotteöfohn durdy Leiden und Tod bie Werföhs
nung der Sündenwelt vollbracht, und Eraft feiner Aufers
3) Es find Hier Überall bie Begriffe „geiftig” md „geifli”
wohl gu unterfcheiben. Jenes bezieht ſich auf einen Gegenſat
im menſchlichen Wefen, auf ben Begenfag von Leib und Geiſt,
diefes auf einen Gegenfag in ber Defonomie bes Meices
Gottes, auf ben Gegenſat von Ratur und Gnade. Der Begen-
Tag des Geiftigen iſt das Leibliche, der bed Geiftlichen das Ra⸗
turliche.
der Gnadengaben; body flellt die ſichtbare nicht bie wahre
die evangeliſche Kirche Epriftum nicht dem Bieifche, fondern
dem Geifte nad), wie der Apoftel von ſich fagt (2 Kor.5, 16).
Ihr Brundfireben ift, die Gnade Chriſti als folche, im ih⸗
zer geifligen Bebeutung, zu erfaffen, umb die Verleiblichung
derfelben im Symbol und Iuftitut Rebt für fie erſt in zwei:
ter Einie
Nun verhalten fi) aber Beift und Leib wie Innen
lichkeit und Aeußerlichkeit, wie Freibeit und
Schranke, wie Weſen und Form, Diefe Gegenfäge
begegnen uns benn auch in ber ımterfcheidenden Eigenthüm:
lichkeit der evangelifchen und katholiſchen Kirche.
Die evangelifche Kirche ficht ſich nur ald Dienerin, nicht
als Stellvertreterin Chriſti an, nur ald Führerin der Sees
len zu Chriſto, nicht als abfolute Bermittlerin mit ihm.
Jeder Einzelne fol in perfönlich seigne, unmittelbare Ges
meinfchaft mit feinem Heiland treten. Das Priefterthum iſt
ein allgemeines. Ihre Glieder find Freie in Chriſto. Nicht
fo zwar, daß für den Einzelnen keine höhere Auctorität
\
Gonfeffion und Union. ' 559
beflände; aber biefe ift nicht die fleifchlich > reale Auctorität
der Hierarchie, fondern die ideale Auctorität des Willens
Chriſti, wie folder als geiſtige Macht in und über feiner
Gemeinde fortlebt und in dem infpitirten Worte der heili⸗
gen Schrift feinen Haren, fehlen und eben hiermit abfolut
normirenden Ausdrud erhalten hat. Nicht fo, daß im Les
ben ber Kirche bloße Subjectivität ohne Objectivitaͤt, bloß
Individuelles ohne Allgemeines, bloß Flüffiges und Bes
wegliches ohne Feſtes und Beſtaͤndiges wäre; aber dieß
Feſte, Allgemeine, Dbiective in ber Kirche befteht nicht als
Geſetzesmacht, weldher der Einzelne dußerlich unterworfen
wäre, fonbern als frei bildende höhere Geiſtesmacht der Wahr⸗
beit, an welcher das individuelle Geiftedleben ſich reinigen
und ftärten, an welcher die geiftliche Perfönlichkeit zu innes
zer Selbftändigkeit ficherheben ſoll. Die evangeliſche Kirche
will geiftliche Freihe it nur, indem fie geifllihe Wahr-
beit wil, Die wahre Stellung der Seele zu. Chrifto if
. ihre das Erſte, worauf fie fieht. Diefe aber befteht ihr in
der Innern Lebensgemeinſchaft mit Chriſto dem Berföhner,
wornach der Sünder, alled eignen Verdienſtes ſich begebenb,
die Gnade Chrifti zu feinem Heile ergreift; fie beſteht im
Glauben, welder eben deßhalb den Sünder allein vor
Gott rechtfertigt... Auf den Glauben legt fie dad Hauptge⸗
wicht; das Werk, dad gotteöbienflliche und birgerliche, bat
für fie num Werth ald Ausdruck der wahren geiftlichen Her
zensſtellung in biefem Glauben. Und damit num ber Eins
zelne mit inmerer Klarheit und wirklicher Freiheit des Geis
ftes in bie Lebensgemeinſchaft mit Ghrifto eintrete, fo war
fie von Anfang an darauf bebacht, daß daB Wort im
Schwang gehe. Auch im Gottesdienfte hat fie der Vers
kundigung bed Wortes in ber Prebigt bie erfte Stelle ein
geräumt; denn imWBorte findet der Geift den klarſten Aus⸗
druck, der die vollfte innere Freiheit und Wahrheit ermögs
licht, wie die Schrift fagt, daß der Glaube aud der Pres
digt komme, Won felbft aber war hiermit gefeht, daß Rein«
560 Schoeberlein
beit der Lehre ihr Hauptziel war, und ald nothwendige
Bolge ergab ſich, daß die Wiſſenſchaft in ber evangeliſchen
Kirche vor ben Künften ihre Pflege empfangen mußte.
In alle dem: in dieſer Befreiung der Einzelperſoͤnlich⸗
keit von ber bloßen äußern Auctorität zur Freiheit in Ehrißo,
in biefer Berinnerichung des geiftlichen Lebens durch Bels:
mung des Slaubens im Gegenfab zum dußern verbienfs
lichen Werk und in diefer Herflellung einer Berehrung Gob⸗
tes im Geil und in der Wahrheit — in dem Allem hat bie
evangelifche Kirche ihr Streben nach Bergeiſtigung der
Kirche an ben Tag gelegt.
Aber hat fie auch dabei die nahe liegenden Abwege ein⸗
feitiger und falſcher Vergeiſtigung vermieden Bi
koͤnnen leider nicht mit einem freudigen Ja antworten, Die
bieraschifche ‚Auctorität, welche mit felbfifcher Anmaßung
fi zwifchen bie Seelen und Chriſtum flellte, hat fie nie
dergeriffen, aber ein anderes geifllihes Regiment, welchei
ihr Schug wider die trennenden, zerfiörenden Mächte der
Selbſtſucht und Gottlofigkeit und einen feften äußern Stand
in dieſer Belt des Fleiſches verlichen hätte, hat fie anfı
richten nicht verflanden. Den felbfleignen Zugang zu
Quelle der Wahrheit und Gnade hat fie Jedem eröffnet
und bie freie Forſchung mit ihrem Princdp der Bewegum
und des Fortſchrittes bat fie als Panier aufgeſteckt ; aber bat fit
auch zu hindern vermocht, daß die Freiheit der Forſchung
in wiſſenſchaftliche und unwiſſenſchaftliche Frechheit und Zů⸗
gelloſigkeit außartete, und daß an ber Stelle des Aberglau⸗
bens der hyderkoͤpfige Unglaube fein Haupt erhob? Sie
bat durch die Pflege des Maren Worts in der Predigt dad
leere Jormelweſen bunkier, erdruͤckender Ceremonien befes
tigt und durch Herftellung ber reinen Lehr& einer Maſſe
von fehriftwidrigen Gebraͤuchen ein Ende gemacht; aber bat
nicht auch bie mit der Herrſchaft der Predigt herrſchend
werdende Subjectivität die objective Macht einer hriflih
finnigen Liturgie, und bie am jene Herrſchaft fich knuͤpfende
Gonfeffion und Union. - 561
Bernuͤchterung die ſtill und tief erbauende Herrlichkeit einer
heiligen Kunft aus dem Gultus verdrängt? Sie hat end⸗
lich durd das nachdrückliche Dringen auf Herzenderneues
rung im Glauben die Heuchelei des äußern Werkvienftes
mit feiner Verdienſtlichkeit aus dem kirchlichen Leben vers
trieben; aber ift auch eben fo ſchnell aus der geiftlichen Ges
finnung wiebdergebornen Herzens eine neue allumfaflende
heilige Sitte bed Volkes entftanden, welche den alten hobs
len Werken neue lebendvolle entgegengeftellt hätte?
* Durch ibt formelle Princip von der abfoluten Auctos
rität der heiligen Schrift in Glaubensſachen hat bie evan⸗
gelifche Kirche zwar bie Freiheit, und durch ihr mates
riales Princip von ber Rechtfertigung durch den Glauben
bat fie die innere Wahrheit, durch beides die Geiſt i g⸗
Beit des chriftlichen Lebens wieder hergeftellt, Aber die Frei⸗
beit entbehrt in ihr der heilfamen, nothwendigen Schranke,
die innere Wahrbeit einer allfeitig fruchtbringenden Triebs
kraft nach außen, der Geiit eines homogenen Leibes,
aus welchem Far und heil fein Bild ſtrahlte, worin er ftil
und ficer geborgen wohnte, durch den er frei, mächtig und
alldurchwirkend fein Leben in ber Welt. offenbarte, Doch
alle diefe anhaftenden Schwächen heben bie innere Kraft
ihres Daſeyns, die nicht vermiedenen Abwege heben bie
Nichtigkeit des eingefchlagenen Hauptweges, bie mannichs
fachen eingeriffenen Uebelftände heben bie wirkliche Gefunds
heit der neuen kirchlichen Heilds und Lebensordnung nicht
auf, Im dem burch hierarchifche Feſſeln faſt erflidten, durch
Zormel = und Werkvienft erſtarrten Leibe der Kirche den
Geiſt wieder zu innerem, wahren, freien Leben erwedt zu
haben — das ift der Ruhm, iben der evangelifchen Kirche
Niemand zu entreigen vermag, Und die Zurüdführung der
Seelen zu bem Einen Herrn auf bem Einen Wege des
Glaubens — fie bfeibt ipr Segen, ihre Stärke, die Bürg«
Tchaft ihres Beſtandes und ihrer Zukunft,
562 Schoeberlein
e) Lutheriſche und reformirte Kirche.
Die Vergeiſtigung der Kirche hat der Proteſtantismus
nun auf zweif ach em Wege vollzogen, wie dieſe Doppel:
beit im Weſen des Geiſtes begruͤndet iſt. Bei dem Stre—⸗
ben und Werk der Reformation konnte naͤmlich der Büid
entweber vorzugsweiſe auf das Heildbedürfniß ber
Seelen, welche von dem Gnadenborn Chriſti ab zu den
Iöcherichten Brunnen menſchlicher Satzungen geleitet was
zen, oder auf den Abfall der Kirche gerichtet ſeyn, in
welcher „Ghrifti Bild” nicht mehr zu finden fey und „Got:
tes Ehre” nimmer wohne, fondern der Greatur Verherr⸗
lichung und Dienft gebradt werde, Es konnte die evan
gelifhe Kirche, indem- fie zur Herſtellung des reinen Claus
bens auf‘ bie heilige Schrift als Lauterfte Quelle und hoͤchſte
Auctorität zurüdging, die chriftliche Wahrheit mehr in freier
Beife aus der Tiefe ihrer von dem Worte Gotted am eigs
nen Herzen gemaditen Erfahrung herausgeftalten, ober fie
Tonnte ber hriftlihen Lehr= und Lebensorbnung direct fo
folgen, wie ihr forſchender Geift fie in der Heiligen Schrift
vorgezeichnet fand und aus derſelben zu deuten vermochte.
Jenes ift der Weg, welden das durch die Gnade wiederges
borne, erneute Gemuͤth einfchlägt; dieſer wird von bem
durch Gottes Wort erleuchteten Werftand und geheiligten
Billen gegangen. Im jener Weile offenbart ſich vorwie⸗
gend die geiftliche Gefinnung, in biefer der religiöfe und
reformatorifche Charakter (wogegen im Katholicismus
das religiöfe Handeln den Grundzug bildet), Beides, jene
fubjective und diefe objectiveThätigkeit, find die zwei
Srundformen, in welden bad Geiſtebleben ſich kundthut;
in beiden konnte mithin auch die Wergeifiigung der Kirche
im Proteſtantismus fich vollziehen.
In ber That. fehen wir auch biefen boppelten Weg
von ihm betreten. Die lutheriſche Kirche hat jenen, die
teformirte dieſen eingefchlagen. Der Unterſchied beider
Kirchen befteht nämlich nicht bloß in der verfchiedenen Auf
Gonfeffion und Union. 563
faffung der Lehre vom Abendmahl und in einzelnen abweis
chenden Formen bed Cultus. Dieß find nur einzelne Puncte,
an welchen die beftehende Verſchiedenheit für da8 Gemeindes
bewußtſeyn deutlicher zu Zage getreten iſt. Es handelt ſich
auch bei dem Gegenfag der beiden Kirchen um mehr als
um bloße Streitigkeiten der Schule, als um entgegenfles
bende Lehrfäge der kirchlichen Wiſſenſchaft, es handelt ſich
um eine Verfhiebenheit im Glauben und Leben der
Semeinde, Der Unterfcied if ein innerer unddurds
greifender, er beruht auf einer individuellen Richtung
des gläubigen, die Kirche zur Wahrheit der Gnade zurüd«
führenden Sinned und Geifted, und er umfaßt alle Ges
biete, durchdringt alle Lebensbethätigungen der Kirche. Die
lutheriſche Kirche iſt in ihrer Reformation dem Zuge bes
gläubigen Gemüthes gefolgt, die reformirte Kirche
bat die Forderung bed erleuchteten Verfiandes
mit heiligem Willen erfüllt,
Nun geht dad Gemüth, unmittelbar auf dem leiblichen
Naturleben ruhend, einen ſtillen, allmaͤhlichen, an die Stus
fen des innern Wachsthums gebundenen Gang, während
Verſtand und Wille, von jenem Naturgrunde ſich losrei⸗
Send, mit Abſicht und Grundfag das Leben nach objectiven
Normen umbilden. So hat auch die Reformation der [us
tberifhen Kirche einen allmählicyen, von innen nad
außen fortfchreitenden, im Grunde noch immer in der Fort:
bildung begriffenen Gang genommen, einen Gang, wobei
fie an das Beſtehende mit möglichfter Schonung fih ans
ſchloß und nur da zerflörende Hand anlegte, wo daffelbe in
Widerſpruch mit dem klaren Schriftwort fland, Die lutheri⸗
ſche Kirche hat fich nicht felbft von ber Batholifchen Kirche
losgeriſſen, fondern ift von berfelben außgefloßen worden,
und bat aud bei allem Eifer gegen das römifhe Babel
immer noch ihre Mutterkirche in ihrgeehrt, worauß fie her⸗
vorgegangen. Anders die reformirte Kirche. Zragend
vor Allem ‚was in ber heiligen Schrift ausgefprochen und.
Theol. Stud. Jahrg, 1858,
664 Schoeberlein
als Ordnung vorgeſchrieben ſey, hat fie raſch und ruͤcfichts⸗
108 in ber Kirche jeden Beſtand getilgt, den fie nicht zus
gleich in der Schrift fand. Ihr Reformationswerk hatte
"einen energifch durchgreifenden, vevolutionären Charakter.
Und fo ſteht fie heute noch mit dem gleichen Fenereifer al
tem Nichts Biblifchen entgegen und ift die geborne Gegnes
tin ber Batholifcgen Kirche, welche bie Kirche Gottes mit
beidnifchem Wefen veruinreinige,
Wie fi) hiernach jener principielle Unterſchied ber beis
den reformatorifchen Sähwefterfirchen in der Art und Weile
ihrer Reformation felbft zeigt, fo offenbart er ſich aber auch
in ihrem gefammten Wefen und Leben.
Fuͤrs Erfte in’ der Lehre. Das Gemüth einigt, der
Verſtand ſcheidet. Das Gemäth hält fi in den Gegen
fügen an dad Verwandte, fucht die Mechfelbeziehungen auf
und ſtrebt nad) Werföhnung der Gegenfäge durch eine höhere
Einheit. Der Verftand aber verfolge bie Unterfchiebe mit
ſcharfem Bid und betont die Gegenſaͤtze bis zur Scheidung.
So ſcheidet die veformirte Kirche in der Lehre von ber ewi⸗
gen Vorherbefiimmung mit ſchroffer Gegenüberflellung Got⸗
tes Rathſchluß für die Ermählten und Verworfenen und
trennt in ber Gnadenwahl goͤttliches und menſchliches Wir⸗
Een bis zur Aufhebung des legtesen. Hingegen die huthe⸗
riſche Kirche kennt nur einen allgemeinen goͤttlichen Raths
ſchluß zur Seligkeit und Inhpft die Ausführung an die
freie Mitthätigleit des Menſchen zur Erlangung oder Ber⸗
ſcherzung des zugedachten Heils durch Glauben oder Unglaus
ben, Die veformirte Kirche trennt Wort und Seiſt in dem
Wirken ber Gnade, fo daß der Geift nur in ben Erwaͤhl⸗
ten wirke, die Verworfenen aber das leere Wort enpfan:
gen ohne Gnadenwirkung. Die lutheriſche Kirche hingegen
berfnhpft beides aufs engſte und ſpricht: wo Gottes Wert
gepredigt wird, da wirft auch Gottes Geiſt. Die refor
mirte Kirche Hält in Chriſti Perſon die goͤttliche und menſch⸗
liche Natur bis zum Scheine einer Doppelperſoͤnlichkeit, je
Gonfeffimn nad: Ynion. 565.
bis zum Scheine einer Aufhebung ber göttlichen Logos Per⸗
föntichkeit auseinander; bie Iutherifche hingegen betont die
wunderbare Einigung: und Durchdringung beider, fo daß
fie auch den Schein des Unnatiulichen in ber Perfon Jeſu
nicht ſcheut und den Unterſchied det beiden Stände in Jeſu
Leben Hierfür außer Acht läßt. Der gleiche Grund if es
nun au, warum die veformeiste Kirche, dad Geheimnig
des Gacramented dem. Verſtande möglich nahe zu bringen
bemüht, himmiliſches und irdiſches Element (nach calvinifchen
Auffaffung) aufs fhärffle getsennt hält, fo daß bei dem ira
diſchen Acte jenes im Hirmmiel verbleibt. und nur von den
Glaͤubigen empfangen wird, ie daß Zwingli, in ber Mesn
ſtaͤndlichung bed Geheimniffes bis zur Aufhebung deffeiben
fortfehreitend, jenes mit biefem nur durch den Aet geiſtiger
und geiſtlicher Erinnerung noch in Verbindung erhaͤlt. ‚Die
katherifche Kirche dagegen, in beifiger Scheu. var heut Ges
Heimniß ſich beugend, hält bie wahre Einheit uud Durch
deingung des Himmliſchen und. Sedifchen im Sacramente
feſt und iſt nur durd die Polemik dazu gedrärigt worden,
nähere verflandesmäßige. Beſtimmungen darbber aufzuſtellen.
&o chen wir ben oben angegebenen Unterſchied der beiden
Schweſterkirchen dad ganze Lehrſyſtem (denn surh.in aus
dern Lehren laͤßt ſich heufelbe Unterſchied, nar ſchwaͤcher,
verſpiren) in der Art durchdringen, daß in der reformirten
Kirche die rationale und etbifche, in ben lutheriſchen
Kirche die m y ſt i ſch e Auffaflung der Lehren; vorherrſcht.
Ebenfo macht ſich jener Unterſchied im Cultus gel⸗
tend. . Nuz tritt Hier eine andere Seite bed Gegenſatzes her⸗
vor. Das Bewäth naͤmlich, wie oben bemerkt worden,
raht wamittelber auf bam leiblichen Naturgrunde (wie in
dem eſea der natürlichen Gemlithichteit ſich biefe ſpeti⸗
fifche Seibiche Bediagtheit offen Fund thus), “wogegen Ber
ſtode und Wille einen befiimmten Gegenfat zut Leiblichkeit
bilden, aͤhmich ‚dem - vom. Spiritualität zur Materialität.
Dieß macht, daß bie reformirte Kirche Au aus dem Eul⸗
566 Schoeberlein
tus zu entfernen geneigt iſt, was nicht als vernunftiger (refp,
verfländiger) Gottesbienft ſich darſtellt, daß fie namentlich
alle ſinnlichen Darftelungen des Heiligen verwirft und bes
Wort im Unterſchied von Bild und Symbol zum faft aus.
ſchließlichen Mittel der Erbauung macht. Hingegen bie In
theriſche Kirche möchte gern alle Künfe in ben Dienſt da
Kirche ziehen und thut es auch — wie fie dieß namentlich
im Kirchenlied und Kirchengefang bewiefen — fo weit iht
ſchoͤpferiſche Kraft zu Gebote ſteht. Nur beobachtet fie de:
bei bie doppelte Schranke: daß ſolche Darftellung bem
Worte bes Heild nicht widerfreite und daß die wahre Er:
bauung weder durch Unverſtaͤndlichkeit noch Ueberladung ber
Formen gehindert werde — worin fie ihren geiſt igen
Standpunct im Gegenfag zur Sitte der katholiſchen Kirche
bewährt, . .
Bon einer dritten Seite fiellt ſich der oben aufgepeigk
Unterfchieb ber beiden verfchwifterten Gonfeffionen in ber
Berfaffung und Sitte ber Kirche bar, Hier tritt wie
der jener in ber Art unb Weife der Reformation bereitd
kund gegebene Gegenfag ein: ber der allmaͤhlichen Entwide⸗
lung aus bem innen Bebürfniß des Glaubens an der Hand
des hiſtoriſchen Beſtandes und der der energifchen Durd:
führung nad) dem objectiven Maßſtab ber heiligen Schrift
In der Iutherifchen Kirche nämlich beſteht ein zwiſchen dem
Beduͤrfniß einer Auctorität und zwiſchen den Rechten da
Freiheit hin s und herſchwankendes Suchen nach feften Grunds
fägen und Formen ber Regierung, welches fich vorläufig
mit einem kirchlich⸗ flaatlichen Zwitterzuſtande begnügt. De
gegen fehen wir in ber reformirten. Kirche eine von dem
Grunbfag ber vollen Muͤndigkeit der Gemeinde ausgehende
und von verzehrendem Eifer gegen jeden hierarchiſchen Leber
griff erfüllte klare und praktiſche Regelung ber Gemeinde
verbältniffe nach dem in ben apoftoliichen Gemeinden vor
Hiegenden Typus, welche wenigftens bem Beſtande der er
seinen Gemeinden einen feften Halt bietet, wenn fie auch
Confeſſion und Union. 567
nicht eine geglieberte, geſchloſſene Einheit aller Gemeinden
unter Einem Regiment zu ſchaffen vermochte, Achnlich iſt
es in Leben und Sitte ber beiden Gonfeffionen. Die
lutheriſche Kicche fließ die bisherige Sitte nicht gewaltſam
um, es fey denn, daß. diefelbe mit falfcher Lehre zufammens
bing, und in der Neubildung der ihrigen ſchnitt fie dem
natärligen Beduͤrfniß menſchlichen Wefens nicht jeden Eins
fluß grundfägli ab, wohl aber fuchte fie durch die Pre
digt reiner Lehre jene Gefinnung in den Herzen zu pflegen,
aus welcher, wie fie erwartete, die gefunde chriſtliche Sitte
mit innerer Nothwendigkeit auf freiem Wege hervorgehen
werde. Anders dagegen die reformirte Kirche. Diefe ſetzte
ſich die Herſtellung einer chriſtlichen Sitte direct zum Ziel,
damit in der Kirche Chriſti Chriſti Bin geſchaut werde
und Gottes Ehre wohne. Mit‘ beitigem Eifer hat fie das
her der gottlofen Lebensweife und abgoͤttiſchen Sitte ein
Ende gemacht und eine heilige Sitte nach der Vorfchrift -
des göttlichen Geſetzes im alten und neuen Teſtament, nice
immer ohne kirchliche und bürgerliche Zwangsmittel (mie
das Wirken Calvin's beweiſt), eingefuͤhrt, welche zum gro⸗
‚Sen Theil noch heute in ihr aufrecht erhalten iſt.
So fehen wir von beiden evangelifhen Gonfeffionen
das Werk der veinigenden unb befreienden Vergeiſtigung
der Kirche, in welchem fie die Seelen zu dem Einen Herm
auf dem Einen Wege des Glaubens zuricführt, auf dop⸗
pelte Weife vollzogen: von der Tutherifchen Kirche auf ſu b⸗
jeckivem Wege, in ber Unmittelbarkeit des Gemüthes,
von der reformizten Kirche auf ob jectivem Wege, in der
vermittelten Thätigfeit des Verſtandes und Willens; von
der lutheriſchen Kirche unter Betonung und Ausbildung
des unmittelbar Religidfen (Myſtiſchen), von ber
reformirten Kirche unter Betonung und Ausbildung des
Rationalen und Ethiſchen im Weſen des Glaubens =).
a) Es if au beachten, daß der Segenſat ber Dbjectivität und
568 Schoeberlein
In biefer indivldurllen Kichtung des Geiſteslebens iſt
es begrändet, daß bie lutheriſche Kirche auf deut ſche m
Boden entſproſſen und im Ganzen auch auf bie deutſchen
und verwandten ſcandinaviſchen Boͤlkerſchaften beſchraͤnkt
OSub jectivitaͤt bier von ber Zhätigkeit des Beifes gitt,
durch welche das MBert ber Meformation entſtanden iſt und bes
ſteht, nit von einzelnen Momenten ber Lehre ober bes ker
bens der Kirche. Bon biefen aus ſtellt fi zum Theil das
Berpäitniß in umgekehrter Meife dar. Denn fo hält bezägtich
ber Snadenwirkung bes Saeramente die lutheriſche Ricdhe bie
Dbjeetivität feſt, wogegen bie seformirte Kirche biefelbe gang
vom Gubject abhängig macht. Deßgleihen iſt das Berfahren
ber lutheriſchen Kirche, wornach fie bie dorreformatoriſche Entwis
ckelung ber Kirche im Ganzen und Wefentlichen aufaimmt und
nur das Antibiblife bavon ausfchelbet , ein objectiveß zu mens
nen, das radicale Werfahren ber zeformisten Kirche dagegen
ein fubjectives. Dieß ſcheint mit dem Dbigen in Wiberfprud
zu ſtehen, näher betrachtet aber ſteht es mit bemfelben in in»
nerem Bufammenhang. Die Thaͤtigkeit bes Verſtanbes näms
lich iſt eine objective, weil ber Verſtand bie Dinge in ihrem
Anſich auffaßt, obgefehen von ber MBeife, wie diefelben ſich in
der Erfahrung bes @ubjects reflectiren. Und folder Art war
die reformatoriſche Thätigkeit der zeformirten Kirche, wenn fie
ſich zu iprem Werke durch den Widerſpruch des hiſtoriſchen
Beſtandes der Kirche mit ihrer Idee beſtimmen ließ umd den⸗
felben aach der abſoluten Rerm bes Wortes Gotted wieder in
integrum reſtituiren woßte, Hingegen tft bie Thaͤtigkeit des
Gewuͤths eine fubjective, weil das Gemüth bie Dinge in ihrer
Webeutung für das eigne Leben und aus ber Grfahrung beffels -
ben auffoßt. Und folder Art war die reformatorifäge Thaͤtig⸗
Echt der lutheriſchen Kicche, wenn ihr Merk ans dem lebendigen
. tiefen Beblefuig der Geelen nad) Heil und Frieden hervorging.
Iber indem der objective Verſtand abſtract ſcheidet, was im
- Leben zufammengehört, wird er fubjectio; und bas fubjective
Gemuh, indem es, auf Grund des Sicheinlebens in bie Dinge,
geeinigt Hält, was geeinigt ik, wird es objectiv. Ebenſo ins
dem der Werftand, die Geſchichte abſtraet nach abfoluter Norm
meſſend, dem factifhen Beſtand feine Berechtigung abſpricht,
fo wird er unhiſtoriſch, fubjectio; und bas Gemüth, indem es
den hiſtoriſchen Weftand, worein es mit allen Bafern feines Les
bens verwachſen if, ehrt und Lebt, wird diſtoriſch, obiectiv.
Sonfeffion und Union. 569
geblieben if. Denn bie herrſchende und dharakterififche
Seite im beutfchen Weſen if geiflige Ziefe und Gemuͤths⸗
innerlichkeit. Luther if ein &epräfentant beffelben. Hins
gegen die veformirte Kirche hat ihre Heimath und ihren
bauptiähliäften Sig in ben weſtlich en Gegenden Eus
zope’d, welche ſich Durch Hare Verſtaͤndigkeit und durch
prabtiſche Tuͤchtigkeit, zum Theil auch durch filtlichen Ernſt
amszeichnen. Zwingli und Galoin find Repräfentanten bies
fer Bolksthuͤmlichkeit. Im ben fuͤdweſtlichen Gegenden Deutſch⸗
lands aber findet eine Beruͤhrung und gewiſſe Verſchmel⸗
zung beider Confeffionen ſtatt.
Es liegt nun auf der Hand, wie jede der beiden Schwes
ſterlirchen ibre Licht⸗, aber auch ihre Schattenſeiten
babe. In der Lehre hat die Iutherifche Kirche tiefer gegrif⸗
fen; ebenfo erhöht es ihren Werth, daß fie die Bedeutung
ber chriſtlichen Kunf für den Cultus zu würdigen verſteht,
und daß fie überhaupt von ber dem Standpunct der Ver⸗
geiffigung nabeliegenden Abſtraction und Spiritualität ſich
ferner gehalten, mehr leibliche Fuͤlle fich bewahrt hat. Auch
bleibt ihre Sefthaltung des Prindps, das Aeußere frei aus
dem Innern werden zu laffen, von hoher chriftlicher Be⸗
deutung, wenngleich ed bie Geftaltwig einer feſten Verfaſ⸗
fung und Sitte aufhält. Hingegen ift ber ſtrenge fittliche
Lebendernft und der Beſtand einer hriftlichsfiommen Sitte,
Das abfiracte Streben nad) abfoluter Objectivität führt au
ſubjectiver Willkür gegen bie relative Dbjectivität der zeit⸗
lichen Wermittelangen im Menſchenleben. Hingegen ber Aus⸗
gang vom fubjectiven Webärfniß führt in die innere Realität
des Sehens, in welchem bie göttlich =erwige Objectivität ſich in
Me Sqhranken und den Gtufengang menſchlich⸗ zeitlicher Objee⸗
tioität einfüpet. — Uebrigens gelten jene Gegenfäge der Ob⸗
jectioität und @ubjectivftät von beiden Kirchen nur in relativer
Weife. Denn die veformirte Kirche vergaß in ihrer Reformas
tion fo wenig, auf das Heilsdebürfnip der Seelen zu achten,
” als die lutheriſche Kirche, mach dem göttlihen Normen in ber
heitigen Sqheiſt zu fragen.
570 Schoeberlein
es iſt der einfache, klare Bau einer evangeliichen Gemeindes
verfäffung, wie ſolches der reformirten Kirche eigen, in feis
ner Weiſe ebenfalls ein tiefgreifender Vorzug und weſent⸗
licher Segen. ‚
‚Hinwieberum jeboch wer wollte ſich die Augen dagegen
verſchließen, daß jede der Gonfeffionen auch an befondern
Gebrechen leide! Wenn bie Iutherifche Kicche in ber Lehr⸗
bildung dem Streben nad Einigung der Gegenſaͤtze zum
Theil die Eonfequenz geopfert und bei ihrem Dringen in
die Ziefe zuweilen in myſtiſches Dunkel ſich verloren bat,
bat ſich hingegen bie reformirte Kicche von ſpiritualiſtiſcher
Entleerung ber Fülle und von rationaliſtiſcher Verflachung
ber Tiefe einzelner Lehren frei erhalten? Umgekehrt aber,
wenn der reformirten Kirche mit Recht liturgiſche Armuth
und unerbauliche Nüchternheit im Gultus vorzuwerfen if,
ſteht ihr die lutheriſche Kirche nicht in Wärme des Eifers
und in reicher Tätigkeit für die Pflege kirchlicher Interefs
fen und beiliger Zwecke nah? Liegt ferner eine Gefahr
nur in der Geltendmachung der Einzel- Unabhängigkeit und
Selbſtregierung, und nicht aud) in der Betonung ber Dbs
jectivität des Belenntniffes und Amtes? Dder iſt umiger
kehrt nur bie Schlaffheit, wohin die evangelifche Freiheit
- abirrt, ein Mangel, und nicht auch die Gefeglichkeit, zu
welcher die firenge kirchliche Zucht und Gitte verleitet?
Nein, wie es bei den Einzel. Perfönlicykeiten if, daß ſich
an ihre individuellen Vorzüge zugleich individuelle Mängel
zu Inüpfen pflegen, fo iſt es auch bei den Gonfeffionen.
. Und möge ?eine der beiden Schweſterkirchen ſich mit ber
Meinung taͤuſchen, fie babe nur ihre Vorzüge zur Entwis
@elung gebracht, die andere dagegen fey nur die Irrwege
ihrer Individualität gegangen! —
Die gegebene Darlegung der Eigenthümlichkeit ber bes
flehenden Gonfeffionen liefert den Beweis für unfern oben
aufgeftellten Sag, daß die Gonfeffionen kirchliche Ins
dividualitdten find und zwar Inbividualitäten von
Eonfeffion und Union. 571
univerfelter, nicht bloß particularer Bedeutung, Sie
find nicht der. bloße Abdrud von ber Eigenthümlichkeit des
Stifters, von welchem unter dem Zuſammenfluß günfliger
Umftände eine dußere kirchliche Gemeinſchaft ausgegangen.
Auch find fie mehr denn bloße Product nationaler Eigen»
thuͤmlichkeit auf dem Birchlichen Gebiete, obwohl beiden Ans
nahmen relative Wahrheit zukommt. Sie haben ihren letz⸗
ten Grund im Wefen des Menſchen an ſich, indem in ihs
nen daB Chriſtenthum von den Hauptgegenfägen des menſch⸗
lichen Weſens aus auf felbftändig individuelle Weiſe aufge:
faßt und dargeftelt iſt: von der leiblichen und geiflis
gen (dußern und innern) Seite und bezüglid) der Iegtern
wieber don der objectiven und fubjectiven. Und
zwar bezieht fich diefe individuelle Verwirklichung nicht bloß
auf vereinzelte Momente des Chriftentbums, fonbern bes
greift und durchdringt alle feine Seiten, alle Lebenkaͤuße⸗
rungen der Kirche,
4. Union, -
Aus biefem Weſen der Gonfeffion und dem Unterſchied
der Gonfeffionen von einander ergibt fi, daß Peiner derfels
ben abfolute Bedeutung, Feiner die Bedeutung zulomme, .
die Kirche zu feyn, fondern daß fie ſich gegenfeitig zur
Darftellung des gefammten Lebens der Kirche. in wefentlis
her Weiſe ergänzen,
Diefe gegenfeltige Ergänzung iſt vorerfi auszufagen
von den beiden evangeliſchen Gonfeffionen. Keine ders
felben kann für die auöfchließliche Repräfentantin der Lehr
amd Lebensrihtung der evangelifchen Kirche gelten. Hätte
ſich die Reformation nur nach dem lutheriſchen Typus voll»
aogen, fo hätte ſich die Vergeiſtigung der Kirche zu fehr in
der Unmittelbarkeit, Innerlichteit und Idealitaͤt abgeſchloſ⸗
fen, und ber Gegenſatz gegen die Berfleifchlihung der Kirche
wäre nicht zu feinem vollen, energifhen Ausdruck gelom«
men. Andererfeits wen fich die Reformation nur nach dem
572 Schoeberlein
reformirten Typus vollzogen hätte, fo wuͤrbe bie Kirche mr,
von matetialiſtiſcher Veraͤußerlichung fih abwendend, einer
ſpiritualiſtiſchen ſich genähert haben, und ber Bruch mit
der geſchichtiichen Mutterkirche wäre zu einem unheilbaren
geworben. Erſt indem bie lutheriſche Fische auf fubjectis
vem, bie reformirte auf objectivem Wege das Geiſtesleben
der Kirche zur Entfaltung bringt, wird daſſelbe in feiner
Alfeitigkeit und Füße offenbar, Die beiden Confeſſionen
ergänzen ſich, wie fih Gemüth und verfiändiger Wille zu
Einem Geiſt, Geſinnung und Charakter zu Einer Perföns
lichkeit, wie fi) Milde und Etrenge, Bermittelung und
Gonfequenz zum vollen gefegneten Wirken ergänzen.
Diefe gegenfeitige Ergänzung ber Confeſſionen erſtreckt
fi aber noch weiter, fie umfaßt auch den Gegenfag der
evangelifchen Kirche zur Fatholifchen (worin römi⸗
ſche und griechiſche befaßt find), Denn ber geiſtige
Menſch ift noch nicht der volle Menſch, fondern er ift es
erft durch die Einheit des Geiſtes mit dem Leibe, Beſtaͤnde
bloß bie evangelifche Kirche, fo würde das Chriftenthum
in diefer finnlichen, fleifchlichen Welt des feflen dugern Halts
entbehren und fpeciell in dieſer Beit der auflöfenden, alle
Auctorität untergrabenden Tendenzen Peine bie Maflen bes
wältigende Wirkſamkeit üben innen, Für die Maflen, wels
che nur das abbängige Naturleben, nicht das felbfändige
Perfonleben der Menfchheit vepräfentiren, gehört abſolute
(eine unmündige Gemeinde vorausfegende) Auctorität mit
flartem Arm, wie die katholiſche Kirche fie hat. Ja, würde
nicht felbft der Proteſtantismus, wenn er allein fände, bei
feinem Princip der freien Bewegung, troß feines Palladiums
ber heiligen Schrift, von der Strömung der Zeit vielleicht
weiter mit fortgezogen werden und ſchwerer fich wieder zu⸗
ruͤcfinden, als es nun ber Fall ift, wo der Katholicismus
ihm zur Seite das Banner der Auctoritaͤt mit eiſerner Hand
aufgerichtet haͤlt und bei dem hiſtoriſchen Beſtande kirch⸗
licher Behr» und Lebensordnung mft zaͤher Feſtigkeit beharrt?
Gonfeffion ımb Union. 678
Himasieberum aber, wenn bloß bie Bathotifche Eieche bes
fände, wie wollte das Chriſtenthum den Kampf mit bem
wechfenden Antichriſtenthum aufnehmen, wie beſtehen! Denn
diefe Mächte find geiftiger Art und Bitmen nicht durch bloße
äußere Gewalt überwunden werden. Nur ber Proteflans
tismus (melder feinem Weſen nad) eine religidß = mündige
Gemeinde voraudfegt) vermag wahrhaft frei miit Freien und
auf geifiigem Wege mit Geiflig> Gebildeten uͤber Glaubens⸗
ſachen zu verhandeln und fo mit Würde umd Segen bie
Sache der Kirche wider das immer fablimere Antichriſten⸗
thum zu führen. Wie wollte auch überhaupt bie Kirche
ſich ohne den Proteſtantismus frifd und jung erhalten, da
dem Katholicismus das Princip des innern Fortſchritts
mangelt, obme welchen jedes Leben gebunden ft! Die
Kirche würde wie ein veralteteß, abgelebtes Inſtitut in der
zu immer neuen Gonfequenzen forteilenden Welt des Gels
ſtes daftchen, ja durch ſolche Verfleinerung am Ende ihres
ſpecifiſchen, von der Welt unterfciedenen Lebens verluftig
gehen. Es ergänzen fi) alfo beide, Katholicismus und
Proteftantismus, wie Auctorität und Selbftändigfeit, wie
Stabilität und Bewegung, wie Geſetz und Freiheit; fie es
gänzen fi wie Aeußeres und Inneres, wie Bild und
Wahrheit, wie Werk und Gefinnungz fie ergänzen ſich,
wie ſich Leib und Geift zu einem concreten Menfchen ergäns
zen. Erſt mithin, indem die Kirche die Principien des Kar
tholicamus und Proteflantismud in fi) geeinigt hält, kann
fie zu einem „voltommenen Mann” in Chriſto heranwachſen,
und indem fie, die beiderfeitigen Gaben pflegend, nach dem
geſchichtlichen Erforderniß jegt vorzugsweiſe die eine, dann
die andere zur Offenbarung und Anwendung bringt, wird
fie auch äußerlich den Sieg über die Welt gewinnen »),
a) Diefe individuelle Berechtigung und gegenfeitig ergänzende Bes
beutung fämmtliher Gonfeffionen fließt übrigens nid aus,
daß ben einzelnen für ſich wieber ein verfchiebener Werth
574 Schoeberlein
Wenn bem aber nun wirklich fo if, daß die einzelnen
Gonfeffionen bie verſchiedenen Grundfeiten des Eirchlichen
Lebens zur vorzugöweifen Ausbildung bringen und fo, auf
Grund ihrer Eigenthuͤmlichkeit ſich gegenfeitig ergänzend,
sulomme, vielmehr if bieß in bem Begriff einer organiſchen
Grgänzung mit eingefchloffen. Sie haben verſchiedenen Werth
erſtens an ſich; denn wie zur Ganzheit des Menfchen zwar
Leib und Geift und biefer wieber In feiner fubjectiven und obs
jectiven Tpätigkeit gehören, doch aber dieſe einzelnen Momente
ein verfchiebenes Maß der Webeutung im Gefammtorganismus
des perfönlichen Lebens haben, fo iſt es auch mit ber Stellung
der einzelnen Gonfeffionen in ber Ginen Kirche. Gobdann aber
gilt dieſe verſchiedene Werthfhägung aud für die eingels
nen Glieder ber Kirche. ben weil bie Gonfeffionen
»Eishlide Inbividualitäten And, fo Tann ber Einzelne
nach feiner Individualität mehr ber einen ober andern verwandt
ſeyn. Der Gine fordert für bas kirchliche Leben vor Allem
Beftigkeit und Ginheit fammt einer reihen Flle und Gliebes
zung bes äußeren Beſtandes, ihn wirb bie kathollſche Kirche
feffeln und befriedigen. Dem Andern Uegt vor Allem an ber
innern Wahrheit, an freier Lebendigkeit und Tiefe des Blaus
benslebens; er wird ſich zur lutheriſchen Kirche dingezogen
füplen. Und ein Dritter hat vornehmlich das Bedürfniß einer
Haren Verſtaͤndigkeit und Energie des Glaubens fammt Eins
fachheit, Orbnung und Strenge bes Lebens, Gr wird fi am
meiften mit der reformirten Kirche verfichen. Und fo kommt
es elnestheils, daß bei ben Gliebern derſelben Gonfelfion man-
naichfache Abftufungen und Schattirungen des confeffionellen
Lebens fid finden, Anderntheils aber erhalten von biefem Bes
fiptöpuncte aus wirkliche Uebertritte ihre selative Berechtigung.
Uebertreten freilich, weil man die eigne Kirche für unchriſtlich
daͤlt und die andere für die ausſchließliqh heifttiche, iſt feibft
unchriſtlich. Pingegen kann es nit verworfen werben, übers
zutreten, weil bie andere Kirche der eignen Individualität ges
möäßer und fomit für ben eignen Standpunct bie wahrere ſey.
Doch dürfte foldy ein Schritt wirklich gerechtfertigt nur
erſcheinen, wenn theils das confeffionelle Geräpt nit bloß-auf
einzelne Puncte, fondern auf bas gefammte Weſen ber Gonfels
fon id bezieht, theils aber ſich mit dem Innern Bug zugleih
die befontere äußere Währung verbindet.
Gonfeffion und Union. 575
erſt in ihrer Geſammtheit das Ganze der Kirche barftellen,
Tann es dann genügen, baß biefelben in äußerer Trennung
und ſelbſt gegenfeitiger Befehdung neben einander ſtehen
bleiben ? Fordert die gegenfeitige Ergänzung zu ihrer vols
len Wirklichkeit nicht auch die Einheit eines gemeinfamen
Beſtandes? Führen doch auch bie einzelnen Theile des
Menfchenwefens nicht ihr befondered, abgetrenntes Leben,
fondern beftehen in einer organifchen Einheit des Dafeyns !
Könnte es bei der Kirche, welche den geiflichen Drganids
mus der Menfchheit darſtellt, in ihrer Vollendung anders
ſeyn? Ein Getrenntbleiben der Kirche in mehrere ſich ab⸗
ſtoßende Gegenfäge iſt ein ben Glauben und die Wiſſen-⸗
ſchaft unbefeiedigt laſſender Widerfpruch mit der Idee ihres
Lebens, Im biefer ihrer Idee liegt e8 zwar, daß fie die
in der Einheit rubenden Gegenfäge zur vollen Entfaltung
bringe. Und bieß ift bis zur felbfländigen Ausbildung in
Gonfeffionen geſchehen. Aber weder ift hierdurch die gegens
feitige feindfelige Befehdung der Confeffionen gerechtfertigt,
fondern diefe iſt bloße Folge der in die Entwidelung eins
gebrungenen Sünde, noch aber darf dieſer Stand ber
Trennung ein bleibender ſeyn, fondern bat feine Wahrheit
nur als Durchgangspunct der Entwidelung. Vielmehr
gleichwie bie Kirche gefchichtlih von einer aͤußern Einheit
ausgegangen, fo muß fie, wenn die Gegenfäge zur vollen
Entfaltung gekommen, zur Einheit gefchichtlich auch wieder
einkehren. Diefe Einheit wird ſich aber von jener erften
unmittelbaren dadurch unterfcheiden, daß fie bie Mannichfals
. tigfeit der Gegenfäge nicht mehr in unerſchloſſener, unbes
ſtimmter Weiſe in ſich trägt, fondern daß fie den ganzen
Gewinn ihres . geichichtlihen Ganges in ſich aufgenoms
men ‚bewahrt, &8 wird eine die confeffionellen Unterfchiebe
in ihrer Klarheit und im ihrem Recht erhaltende, aber fie
auch theils zu ihrer Idealitaͤt und vollen Wahrheit erhebende,
theils in lebendiger Gegenſeitigkeit und Durchbringung verbins
dende Einheit ſeyn. Dieß iR das Biel der Kirche: bie Union
576 Schoeberlein
der Eonfeffivmen zu „Einer Heerde unter Einem Hi
ten”, weicher iſt Chriſtus (Joh. 10, 16).
B. Ptraktiſcher Theil.
Aus diefer Darftellung des gegenfeitigen Verdaͤltniſſes
von’ Gonfeffion und Union ergeben ſich einfach die richtigen
Brumdfäge ͤber das Werhalten zu beiden.
1. Abwege.
Was bie Kirche zu meiben hat, find zwei Abwege: 1)
eine ſolche Ueberfpannung des confeffionellen Unterfchiedes
und Gegenſatzes, wobei die gegenfeltige Ergänzung zur doͤ⸗
bern Einheit unmöglich iſt, und 2) eine folche Herſtellung
der Einheit, wobei der Unterſchied und Gegenfat der Cons
fefftonen nicht gewürdigt wird — alfor erclufiver Cons
feffionalismus ımd indifferenzirender Untes
nismus.
4) Excluſiver Confeſſionalismus.
Das Aeußerfle von. ausſchließendem Gonfeffionaltäneus
iſt es, wenn eine Gonfeffion die übrigen als Gonfeffionen
gar nicht gelten idßt, fonbern in bem Wehhne ſteht unb bazs
nach handele, ald ſey fie die Kirche ſelbſt, als ſey fie als
teinfeligmadgend, in den andern aber fep Bein Heil zu
finden. Dieß iſt ber. Abweg ber römifch.en Kirche. Sie
identificitt ben richtigen Sag: „extra ecolesiam aullaao ·
luaꝰ, wit dem andern: „extra ecclesiam ramano-catlo-
licam nulla salus”, und es iſt nur eine vor. ber Gonfes
quenz der Unchriſtlichkeit zurüchfchredtende Milderung, wenn
. ber Einzelne hierbei von feiner Gonfeffion unterſchieden und
bei ihm ‚nach Umftänden ein unberouftes Bugebören zur
Batholifchen Kirche angenommen wird. Die roͤmiſche Kirche
erkennt das Weſen ber Gonfeffion Überhaupt gar wicht am,
fie kenat nur ben Gegenfag von Chriſtenthum und Richt
Confeffion und Union. "577
chriſtenthum, von Kirche und Secten, und indem fie ſich
ſelbſt mit der Kirche identificirt, fo finken für fie die andern
Gonfeffionen zu bloßen Secten herab. Dahin verleitet fie
die egoiſtiſche Ueberfpannung ihrer Individualität, welche in
ihrem Streben nach Verleiblichung den Geift felbf in den
Leib verwandelt, d. h. die Kirche an die Stelle Chriſti ſetzt.
Doch begegnen wir nicht bloß in der Batholifchen Kirche
bem Abweg bed ausfchließenden Confeſſionalismus, fondern
auch in der evangelifchen. Wenn Lutheraner — zwar
nicht bis zu dem Sag fortgehen,, daß außer der lutheriſchen
Kirche kein Hell ſey (obwohl man nicht felten Gedanken
ausgeſprochen findet, welche an biefen wenigſtens hinanſtrei⸗
fen), wenn fie aber doch bie Ueberzeugung kund geben,
die fombolifchen Beftimmungen der Iutherifchen Kirche feyen
der ausſchließlich richtige Ausdruck für die chriſtliche Wahr«
heit und die andern Gonfeffionen befinden ſich, fo weit fie
von jenen Beſtimmungen abweichen, in pofitivem Jtrthum,
die lutheriſche Kirche fey bie einzig wahre unter ben Con
feffionen, und es beſtehe fir die andern (da die Lehre das
Wefentliche, alles Uebrige unweſentlich fey) nur die Auf⸗
gabe, ſich zur lutheriſchen zu bekehren — heben nicht auch
fie im Grunde das Weſen der Confeſſion auf, da daſſelbe
nicht fowohl in dem Mehr und Weniger von Inthum, al‘
vielmehr in dem inbivibuellen Standpunct kirchlichen Den.
tens und Lebens befteht, wovon das Mehr und Weniger
von Ierthum num fecunbäre Folge iſt? Und wenn Einzelne
vollends fo weit gehen, daß fie einer Kirche wegen irrthuͤm⸗
lichen Bekenntniſſes die geiftliche Realität ihrer nach Chriflt
Einfegumg vollzogenen Gnadenordaungen abfprechen, irren
fie nicht ſelbſt geradezu auf ben kathollſchen Abweg ab?
Sie unterfheiden fi) von der katholiſchen Kirche nur darin,
daß fie die ausſchließliche Wirkſamkeit bee Gnade von der
dogmatiſchen Lehrfaffung abhängig madyen, jens hingegen
an das hiſtoriſche Inftitut fie Inüpft. Iſt es denn aber
wirklich die reine Lehre, bie Alles thut, und verllert ges
578 Schoeberlein
gen bie bogmatifche Lehrformel alles Andere feine Bedeutung?
Das Bekenntniß zu Chriſto als dem Herrn macht freilich
das Wefen der Kirche aus. Aber befchränkt ſich denn die
Belenntniß auf dab bloße ſymboliſche Dogma? IR der
Ausbrud des Glaubens in der kirchlichen Ordnung und
Eitte nicht aud ein Bekenntniß, und find dieſe nicht aud
Träger ber erlöfenben Gnade Chrifti, wovon ein Segen auf
den Einzelnen ausgeht, ja ein zum Theil noch tiefer drin:
gender Segen, ald wo bie reine Lehre auf ein abfrarte
Dofeyn im Symbol befchränkt iſt, nicht aber zugleich in
tirchlicher Feier, Ordnung und Sitte ſich zu verkörpemn
weiß? Wenn der Apoftel (Eph. 4,5.) unter den Grund:
lagen der Kirche auch die la zlorıg nennt, fo meint a
fürwahr damit nicht die Uebereinftimmung in allen Lehr
puncten, fondern er meint bamit jenes Grunbbefenntnis
des Herzens zu Chriſto, vermöge beffen ber Menſch fein
Heil nicht in fi, fondern in Chriſto ſucht, feinem ıHerm.
Iſt auch bie übermäßige Betonung bed kirchlichen Belennt:
niſſes als Reaction gegen vorausgegangene Verflachung
der pofitiven Heilslehren und gegen indifferentiflifche Gleich⸗
macherei der confeffionellen Typen infofern eine gewifle ge:
ſchichtliche Notwendigkeit, als die geſchichtliche Entwidelung
in Folge der mitwirtenden Sünde zwiſchen Ertremsen hin:
und herzuſchwanken pflegt, fo macht ſich doch eben biefer
fündlihe Beigefchmad in dem gegenwärtigen Eifer für Bes
kenntniß häufig. nur allzu bemerkbar. : Hinter dem Scheire
frommen Eifers verbirgt ſich viel Parteifanatismus, web
Gem Hochmuth und Herrſchſucht nicht immer. frenfd find,
binter dem Schibboleth hoher kirchlicher Worte viel Unkennts
niß der Freiheit und der Tiefe chriftlich»evangelichen We⸗
fens und inter einer rührigen Thaͤtigkeit für das confeſſio⸗
nelle Intereſſe viel geiftige Bequemlichkeit, welche lieber
auf der Arbeit der Reformatoren ſich breit bettet, als in
ihrem Sinn und Geift fortarbeitet, welche es worgieht, wäh:
rend der großen kirchlichen Bewegungen ber Gegenwart
Confeſſion und Union. sa
ſich feparat ein Hüttlein im alten Styl zurechtzumachen, ſtatt
am allgemeinen Weiterbau ber Kirche unter Kampf und
Stürmen ſich zu betbeiligen und mit dem Ganzen auch
Entbebrung und Ungemady zu leiden. Wann wirb man
doch einfehen, daß mit der buchftäblichen Erneuerung alter
Glaubensſaͤtze und Außerer Wiederherſtellung alter Ordnun⸗
gen noch nicht auch der friſche, lebenskraͤftige Geift vergans
gener Jahrhunderte zurüdgerufen wird, daß vielmehr jeder
Zeit, wenngleih fie auf dem gelegten Grunde fortzubauen
hat, doch wieder ihre neuen Aufgaben geftelt find? Wann
wird man einmal einfehen, daß es uns jetzt, anſtatt und ims
mer Heinliher gegen einander abzugrenzen, vielmehr noth
thue, gegen die Feinde chriftlicher Wahrheit von rechts und
links zuſammenzuhalten? Gedenke man doch bed Wortes
unſeres Herrn, das er vom Muͤckenſeigen und Kameelever⸗
ſchlucken geſprochen hat! Und lerne man auch von ſeinen
Seinden, welche nichts angelegentlicher zu hindern ſuchen
als Eintracht im Heerlager der Kirche, und ihre Freude
über unſere Zwiſte offen genug auöfpredhen! — -
Aber noch an einem neuen Drte haben wir ben confefs
fionelen Excluſivismus zu fuchen, nicht bloß im römifchen
Ulttamontanismus und im modernen Altlutherthum, beren
Verwandtſchaft in der gemeinfamen Betonung fleiſchlicher
Pofitivität beſteht, ſondern ſelbſt bei Solchen, welche bie
Zahne der confeffionellen Einigung ſchwingen. Viele näms
lich — und vorherrſchend iſt dieß auf reformirter Geite
der Fall — find zwar von dem angelegentlichen Streben
erfült, die Gegenfäge der evangelifhen Gonfeffionen unter
Berweiſung auf ihre Unweſentlichkeit auszugleichen und hier
die volle kirchliche Eintracht herzuſtellen, aber um fo hef⸗
tiger wendet ſich ihre Erbitterung gegen bie Tatholifche Kirs
de. Und man vergegemwärtigt ſich und Andern von diefer
Seite ohne Ende alle Sünden und Gebrechen derfelben,
und if fo wenig geneigt, in ihr bei ihren Mängeln. doch
aud eine Schweſterkirche zu ehren und zu lieben, dag man
Theol. Stud. Jahrg. 106 3
60 Schoeberlein
fe, ihr wahres Wefen und ihre faifche Geſtalt, Katholidd
mus und Romanidmus, nicht unterſcheidend, geradezu ad
eine Kirche des Abfalls von Chriſto darſtellt, die man mit
allen Bitten bed Worts und bed Rechts verfolgen müfle,
Diefe unverföhnlichen Katholifenfeinde bilden mithin bas
Gegenſtuͤck zu jenen Lutheranern, welche, indem fie dab
Sarrament und Amt ber Kirche, refp. einen beſtimmten
Sactamentds und Amtöbegriff einfeitig urgiren, lieber mit
den Katholiken Kirchengemeinſchaft haben wollen, als mit
den Reformirten.
Alle diefe Arten des ausſchließenden Gonfeffionalisums
find vom Uebel, Man vergißt dabei, daß die Einheit ber
Sonfeffionen größer und wichtiger ift, denn die Unterfchiebt,
Und {m legten Grunde quillt biefer Rigorigmus aus einem
offenen ober verborgeneren Egoismus, welcher ſich in den
eigenen Borzügen befpiegelt, Wie. leicht aber if es, fi
bierüber vor ſich ſelbſt zu rechtfertigen! Man ſchaut an
den andern Gonfeffionen nur auf die Schattenfeiten und es
klaͤrt fie für das Weſentliche derfelben, an fich felbft aber
"nimmt man Alles in feiner Idee und blickt Aber die Wirk⸗
lichkeit mit ihren Mängeln als uͤber etwas Unweſentliches
oder Vorübergehendes hinweg. Siehe, fo ift man bered
tigt, ia verpflichtet, Die eigene Gonfeffion als die wahre
Kirche über. die andern als Irrthumskirchen zu erheben.
Bon peoteftantifcer Seite erklärt man den Jeſuitismus für
die mothwendige Gonfequenz und wahre Erſcheinung de
Bathofifchen Kirche, und Batholifcherfeitö leitet man alle aufs
klaͤreriſchen und beftructiven Tendenzen ber Neuzeit aus
dem Proteftantiämus ab, welcher darin Teine natürlice
Frucht bringe und feine wirklichen Gonfequenzen ziehe, Bit
ſchnell iſt da der Stab über bie andere Kirche gebrochen!
Und eben fo ſchnell iſt and) ber Schatten von ber eigenen
abgewandt, wenn die katholiſche Kirche den Jeſuitismus
idealiſirt, bie evangeliſche aber die falfche Aufklärung ein
fremdes Gewaͤchs in ihr mennt, wofle fie Beine Werantwor
Gonfeffich und Union. s81
‘
tung habe. Wie viel wahrer und gerechter wäre ed doch,
in biefen Erſcheinungen einerfeits den Zuſammenhang mit
dem mötterlihen Boden ber confeffionellen Individnalitaͤt
anzuerkennen, andererfeits aber fie zugleich abs bie derſelhen
foeciell nabeliegenden Abwege zu bezeichnen! Ach! Des
muth thut und noth und Liebe auch auf confeffienelem
Gebiete. Nicht ihrer Worzlige follte jebe der Gonfeſſionen
gegen die andern ſich rühmen, fordern, ihrer eigenen großen
Schwächen eingedenk, ſollte jebe mit den andern vielmehr
wetteifern, es ihnen zuvorzuthun in Lauterkrit und Tuͤchtig⸗
Bye ie Glieder, in treuer Benugung der empfangenen
and in Erzielung von Gegenöftlichten ihrer Arbeit
zur Ehre Gotted und zum Aufbau feines Reiches,
b) Indifferengirender Unionismus,
Der exclufive Gonfefftonalismus ift nur ber eine Abweg,
welcher. auf dem Gebiete der Gonfefflon und Union beſteht.
Abm flcht ald der andere gegenüber ber indifferenzi⸗
rende Unionismusd. Während dort über den Untere
ſchieden die gemeinfame Einheit und über dem Fehheiten
der der eigenen Gonfeffion zukommenden Indivibuelitdt die
Berechtigung und ergänzende Medeutung ber andern Gons
fefBonen verdennt wird, fo wird hier dad Streben nach
Einheit bis zur Befetigung der die Einheit exft lebendig
und concret machenden Unterfdiebe und die confeffipnelie
Zoleranz bio zur darakterlofen Indifferenz in Glaubensſa⸗
chen getrieben, Wir meinen Übrigens biermis nicht jenen
Latitudinarismus, welcher das Specifilche bei Ghrikenthums
ſelbſt aufheben und ou feine Stelle eine allgemeine Ver⸗
nunft. und Naturseligion, wenn miht gor Religions⸗ und
Gottloſigkeit fegen will — denn biefer Irsthum gehört dem
aBgemeiu chriſtlichen Gebiete an, auf weichem wir hiem nicht
Heben —, fondern wir meinen den nach innerhalb des Chris
Genthwme ſelbſt ſtehenden, ben faeifiih confeffionellen
Lautudinarizmua. Diefer lann nun eine zneſache Wurzel
se Scocbetlein,
baben, den Glauben oder Unglauben. Der gläubige
Latitudinarismus iſt wieder enger oder weiter, beſchtinlie
oder aniverſeller. Beſchraͤnkter iR er ba, wo er ſich bh
auf den Gegenfa& ber evangeliſchen Gonfeflie
men unter ſich bezieht, indem er biefen für einen wölg
bebeutungälofen, bloß kuͤnſtlich bervorgerufenen erfiärt.
Diefen Standpunct nehmen viele edle Gemüther ein, Und
nahe gelegt iſt derfelbe durch bie beklagenswertben ditem
und neueren Befehdungen ber beiden Schweſterkirchen, dk
jedes evangelifche Herz aufs tieffie betrüben muͤſſen. Ded
iſt der biforifchen Wirklichkeit ihr Recht nicht gelafien,
wenn man bie Unterſchiede der beiden Confeſſionen von
dem Gebiete bed Glaubens und Lebens hinweg auf bad da
bloßen Schule verweifen und fie für nichts benn theologis
fe Streitfragen erklaͤren wil, Das Gefühl von einem
durchgreifenden Unterſchied lebt zu tief in dem WBemußtfen
beider Kirchen, als daß nicht biefe gefliffentliche Wermifdhun
dee Gegenfäge die umgekehrte Wirkung hervorbringen und
das confeffionelle Bewußtſeyn nur um fo mehr wieder aufs
regen müßte, Wenn man aber bereits verſucht bat, durd
einigende Formeln den Zwieſpalt für immer zu heben, f
ift dieß zwar als edles Streben nach dem vorgeftedten Bick
mit Freuden zu begrüßen; allein entweder find dieſe Fer
meln der Cinigung zu allgemein, fo baß fie mehr einem
Rädfipritt als einem Fortſchritt gleichen, oder fie find wie
ber zu inbivibuell, als daß fie in dem allgemeinen Bewußt
ſeyn Eingang finden Fönnten und ſich auf ihnen eine kirch⸗
liche Gemeinfchaft erbauen ließe.
Noch abſtracter ift jener Standpunct, welcher die Be
deutungsloſigkeit der Unterſchiede audy auf den Gegenfat
ber katholiſchen und evangelifchen Kirde an
dehn@ will, Denn durch ihn wird bie ganze Gefdihle
der Kirche zum bloßen Spiel und zur Lüge,
bält fich diefer Latitubinarismus nur auf.bem allgemeinen
Gebiete ſchoͤner Worte und frommer Wuͤnſche, die einm
Gonfeffion und Union. 583
ernſtlichen Kampf mit ber Wirklichkeit nicht wagen, Wo
derfelbe aber doch fi in bie Wirklichkeit einführen wil, da
bringt er es zu weiter nichts als zu einem unbefriebigenden
Gonglomerat aus ben einzelnen Gonfeffionen, nicht aber zu
einem einheitlichen, klaren, lebenskraͤftigen Ganzen,
Bon den bisherigen Ausgleichungstendenzen find nun
wieber andere zu unterſcheiden. Die genannten haben. ihren
Grund in einem Beduͤrfniß des Glaubens, welcher durch
den Streit um Dogmen daB Leben des Glaubens beein
trächtigt fieht und ſich hierdurch zur Leugnung ber Webeus
tung der confeffionellen Unterſchiede fortreißen IABt. Iene
andern Erſcheinungen aber haben ihre Wurzel.:in einem ges
ringern oder größeren Maß von Unglauben. Auch bier
begreift ber indifferenzirende Unionismus wieder einen en⸗
gern ober weitern Kreis, nämlich entweber den bloßen Ges
genſatz der evangelifchen ober den aller Gonfeffionen,
Auf jenem engeren Gebiete ftehen diejenigen, welche,
N unter feindfeliger Polemik gegen die katholiſche Kirche, mit
dem Unterfchied der evangeliſchen Gonfeffionen auch bie Gels
tung der Symbole für diefelben aufgehoben wiſſen wollen.
Sie fehen in der evangelifhen Kirche die Kirche der chriſt⸗
lichen Auftidrung und in der katholiſchen die Keſte chriſt⸗
licher Zinfternig, in der Reformation aber den geſchichtil.
hen Uebergang aus biefer zu jener. Auf dem Gtanbpunct
der Reformatoren ftehen bleiben zu wollen, erfcheint ihnen das
der als ein Aufhalten jenes großen Werkes chrifklicher Auf⸗
klaͤrung. Und wie fie aus diefem Grunde dem Symbol
feine fortdauernde Bedeutung abflreiten, fo thun fie es
auch bezüglich des damit zufammenbängenden, darin feſtge⸗
flelten Unterſchiedes der Confeffionen. Won biefer Selte
wird offenbar beibes verfannt: das Weſen des Chriſten⸗
thums und das ber Kirche. Das Chriſtenthum wird vers
Tannt; denn daffelbe ift etwas viel Goncretereß als eine ſuc⸗
ceffive Verwirklichung der allgemeinen Humanitaͤis- ober
Chriſtudidee in dev Menſchheit — fein Lebensprincip iſt viele
584 Sqhoeberlein
mehr bie geichidhltiche Menſchwerdung des wahrhaften ewi⸗
gen Sohues Gottes ha Fleiſche zur Tilgung unſerer Suͤnde
durch ein ewig gültiges Opfer, Und bie Kirche wird vers
tannt; denn nicht auf einem abſtracten religiöfen Streben,
fondern auf einem realen Glaubensinhalt erbaut ſich dies
felbe — fie. ruht auf dem Glauben an jeme göttliche That
in der. Gefchichte zur Werföhnung ber Menfhheit. Wenn
aun eine Kirche den von ihr im Bekenntniß gelegten Sand
verläßt, fo-hat:fie hiermit fich ſelbſt verlaffen. Und wenn
fie von ihrem Glauben Fein befimmtes, im Worte des Be—
kenntniſſea faßbares Zeugmig mehr zu geben weiß, fo bat
ſie eben’ Hiermit auch von ‚dem im-Haren Schriftwort aus.
gefpvochunen Werfen des Chriſtenthums ſich entfernt,
Noch größer ift die Auſion über die Chriſtlichkeit der
eigenen Beftrebung bei derjenigen nivellicenden Unionsſten⸗
denz, welche auch die katholiſche Kirche mitbefaßt. Gilt es
ſchan von jeher engeren, daß fie aus einem irgendwelchen
Glaubensmangel ‚ließe, welcher ſich durch die Glaubens fülle
den. enangelifchen Bekeuntniffe gedrüdt fühlt, fo in noch
höberem Maße. von ber legtern. Der tieffle Grund dieſer
Beſtrebuag ift eine: innere Entfremdung von bem, was dab
Beftntiige. ie Ghrifttnthum bildet; und der Ueberfchritt
vom cqhriſtlichen Gebirt auf bad nichthriftliche liegt derfels
ben ans biefem Grunde aud nimmer fehr fern. Dennoch
bat diefelbe, ungeachtet der Abftraction, womit fie behafe
tet iſt, in-unfern Tagen ſich zu einer feften kirchlichen Ge:
meinſchaft zu conſolidiren verfucht, aber mit tantalifher Muͤhe,
ba nur Negatives ihre Glieder einigt, nicht Pofitives.
Zwei Abwege alfo find ed, welde für die Kirche ber
auͤglich der Gonfeffion und Unten beflehen: der engbers
sige Gonfeffionalismus und der zu weitherzige
Unionismus. Die Kirche hat diefe Abwege nicht ims
mer vermieden. Es hat zu Zeiten je Die eine Gonfeffion
die andere verfolgt, als wäre fie nicht befier, denn ber Türke.
Und man bat uniren wollen, als wäre. ber Confeffionds
Confeſſion und Union. 885
unterfchieb nur Auögebunt bes Huſſes. Jener unchriſtliche
Abweg hat im biefen uͤberchriſttichen hineingetrieben und ums
gelehrt. Im diefem Genflict ber gegenfäglichen Bichtungen
fiehen wir gegemmärtig von Neuem, Welches iſt bie wahre
Mitte? welches unfere Aufgabe? So wieberkolen wir die
Gingangs aufgefielite Frage jegt, nachdem wir: zu ihrer Be⸗
antwortung den Grund gelegt haben. Bir Antwort ergibt
ſich Mar genug aus unferer obigen Darftekung won der Bes
Deutung unb bem gegenfeitigen Verhaͤltniß "der Gonfefos
wen; fie laufet: Bewahrung der Gonfefflon unter
Anfrebung ber Union und Anſtrebung der Union
unter Bewahrung der Gonfeffion, -
2 Bewahrung ber Gonfeffien.
Wir könnten ed nicht anderd benn -beftagen, wenn
beute bereit aller Diten eine Verſchmelzung der Gonfeffios
nen zu Stande kaͤme. Denn es koͤnnte nur geſchehen auf
Koften bes .innern Keichthums und ber beflimmten , "Maren
Geftalt ber Kirche. Was wäre doch erreicht, werm wir das
* Gegenfäglihe, bad in ben fämmtlichen Gonfeffionen ſich
findet, bei Seite liegen laſſen und uns nur auf das, was
allen gemeinfam ift, beſchraͤnken wollten? Wie arm und
bürftig würde die Geſtalt biefer einheitlichen Kirche feyn!
Die reiche Wahrheits fuͤlle, welche auf jenem Gebiet der Ges
genfäge liegt, wäre auf immer für die Kirche verloren, und
die ganze bisherige Entwidelung der Kirche wäre vergeblich
gewefen. Wenn man aber bei diefem Unionsbefireben bie
wirklichen confeffionelen Gegenfäge mit aufnehmen und zu
einem Ganzen verbinden wollte, koͤnnten wir das, ohne zus
gleich das Irrthiunliche in ben Gegenfägen mit aufzunehmen?
Wie könnten wir, um zuvoͤrderſt den Gegenſatz der
katholiſchen und evangelifchen Kirche ind Auge zu
faſſen, wie £önnten veir, indem wir ben Teichthum von
religiöfen Lebenöformen und die feſte Einheit bed Katholis
eiomus ber Unionslische zueigneten, bieß thun, ohne zugleich
586 Bqhoederlein
von den falſchen dogmatiſchen Borausſetzungen, von dem
daran hängenden Aberglauben uhb dem bamit verknipften
Hierarismmns "viel mit hineinzutragen, unb wie bie freie
Lebendigkeit des Proteſtantismus biefer Uniondlicche zueig⸗
men, zugleich aber dabei allen Mißbrauch dieſer Freiheit
zum Dienk des Unglaubens und alle Auswüchfe des übers
wuchernden Sectenweſens abfchneiden? —
Das von dem Gegenſatz bed Katholicismus und Pros
teſtantismus gilt, git in feiner WBeife auch von bem der
lutheriſchen ‚und reformirten Kirche, Auch biex
kann nichts. Gedeihliches auf kuͤnſtlichem Wege bewerkſtel⸗
gt werben, Denn auch bier liegen die Vorzuͤge ber beis
den Gonfeffionen zum Theil eben auf dem Gebiete des Ges
genfaged, Denken wir uns, daß heute Deutſchland feinen
lutheriſchen und die Schweiz ihren reformirten Typus aufz
gäbe, und daß beide ſich zu Einer Kirche vereinigten, Wie
Tönnte es anders gefchehen,, als daß zugleich die Gemuͤths⸗
tiefe ber lutheriſchen Kirche ſich zur Anndherung an bie
verſtaͤndige Faßlichkeit und Nüchternheit der reformirten und
bie teformirte Sittenfirenge fi zur Annäherung an die ins
nere Freiheit der lutheriſchen Kirche abſchwaͤchte? Wäre es
aber für die evangelifche Kirche ein wirklicher Gewinn, wenn
jene allerdings zum Theil minder faßlihe Gemüthstiefe
der lutheriſchen und biefe allerdings nicht immer freizins
nerlihe Sittenſtrenge der teformirten Kirche für immer aus
ihr ausgefchieden würden? ODder wäre Solches etwa Feine
nothwendige Folge? Iſt unfere Gegenwart reif und tuͤch⸗
tig genug, eine Vereinigung ber beiden Kirchen berzuftels
len, worin bie Gegenfäge derfelben in ihrem vollen Werthe
bewahrt und zu einer wirklich höheren Einheit aufgenommen
wären? Um für eine evangeliſche Unionskirche populäre,
klare, den Gegenfag der Tiefe und Verftändigkeit und ben
Anfhauungsreihthum beider Kirchen in ſich befaffende
Lehrformeln aufzuftellen, müßte unfere kirchliche Wiſſenſchaft
erft zu ganz neuen Standpuncten fortgefchritten feyn, bie
Gonfeffion und Union. 587
fie aber. bis jet erft ſucht und nur annähernd gefunden
hat. Und wie wollte: im kirchlichen Leben Strenge und
Breibeit, feſte Sitte und innere Lebendigkeit zu fchöner Har⸗
monie fi) einigen, wenn nicht erſt die beiden Voͤlker, aus
deren natürlicher Eigenthümlichkeit diefe ficchlichen Gegenfäge
bervorgewachfen, in Liebe ſich eng verſchwiſterten, damit
in freier Weife auch ihr Glaubendleben in Einem Stroms
beiliger Begeifterung gufammenflöffe?
So viel fehlt noch zur Herflelung einer wahren Union
— felbft zwiſchen der lutherifchen und veformirten Kirche,
umd in höherem Maße zwifchen der evangelifchen und Bas
tholiſchen. So lange aber diefe höhere Einheit über den
Gonfeffionen noch nicht gefunden if, fo lange iſt es Pflicht
jeder der Gonfeffionen, daß fie ihre fpecififche Eigenthuͤm ⸗
lichkeit wicht aufgebe, fondern bewahre. Denn es iſt an
ihre Cigenthümtichkeit wie eine befonbere Aufgabe für dad
Sefammtieben ber Kirche, fo ein befomberer Gegen für die
Glieder biefer Conſeſſion felbft geknüpft, da nach bem ins
nern Bufammenhang der confeffionellen und nationalen @is
genthůmlichkeit ‘der Geift der ermeuernden Gnade bei gans
zen Voͤlkern und den einzelnen Perfonen eben in jenen cons
feſſionellen Formen am erwecküchſten an das ‚Herz andrins
gen, am tiefften is daffelbe eindringen Bann. Begibt ſich
eine Gonfeffion nun ihrer Eigenthuͤmlichkeit, fo begibt fie
ſich damit auch diefes befondern ihr zugedachten Gegend
und bleibt zugleich die Loͤſung der befondern ihr geflellten
Aufgabe für das Ganze ſchuldig. Wenn die Iutherifche
Kirche deßhalb fih von außen aufgebrungener Unionsfors
men in biefem Sinne erwehrt, fo ift ihr ſolches nicht nur
nicht zu verargen, fondern fie übt darin vielmehr eine hei⸗
lige Pflicht der Selbfterhaltung, und jeder wahre Freund
der Kirche muß aufrichtig wünfchen, daß fie in dem Bes
fireben, ihre Eigenthünrlichkeit auf den verſchiedenen Gebies
ten des kirchlichen Lebens mehr zu reinigen, zu verlebendis
gen und in tiefere Dahrheit zu führen, von dem Gegen
Ro > 3 Ehecakin
QGutaet fegkiter Amez muige. Dei Glckhe gilt fr bie m
Rumirr Erde Min foliten wir etwa fdperl dazu fchen
were au din Burheitiche Kirche mit euer Eiche ihre alten
drcduchen Formen wieder aufnimmt umb embbilbet, um bie
din sidwienen Ganbenfhäge ihren Glicdern zunuwer
m:
Aber freilich es Gegen bei biefer Bewahrung und Zul
Nitung der confeffionelien Eigenthämlichleit auch Sefab⸗
aca nahe, umb fie liegen doppelt mahe, wenn eime Zeit bei
wufchioneilen Indifferentisums verangegangen, weldier fein
Wurzeln im Ungleuben hatte. Indem ber wieder erwe
ende Glaube dann mit neuem Eifer der alten Liche bie
keimifchen Räume der confeſſienellen Glaubends und ko
bensformen auffudyt, wie leicht verbindet ſich amit dieſen
heiligen Sinn der Liebe und Zreue zugleich auch wieder ber
alte fleiſchliche Sinn eines fanatifhen Particularidnus unb
foldgt in diefen gerabezu um! Irrig if es ſchon, wem
man bierbei die alten Formen aufnimmt, weit fie alt find.
Denn nicht alles Frühere in dem confeffionellen Leben Bammt
wirklich aus Gott; ſelbſt if nicht Alles wiki ans dem
«onfeffionellen Grundprincip erwachſen, ſondern Wieled #
auch zufällig von außen herangekommen, Bieles durch füb
ſche Gonfequengen entfanven, Bürirs fear aus ber unter
men Quelle ber Streitſucht und ves Porteihaſſes entfprun:
gen. Wäre es m nicht ein Wiederaufnehmen der alten
Mängel, ein Erneuern ber alten Gebrechen, ein Sic) wie
der Einleben in die alten Sünden, wenn man bas frübe
Beftandene ohne Weiteres nur. anfnähme, wie es früher be
ſtanden? Nein — das pringipielle Leben ber im Befammts
organismuß der Kirche berechtigten und nothwendigen Ins
dividualität ber eigenen Gonfeffion, das nehme man mit
dem heiligen Sinn glaͤnbiger Treue wieder in Geiſt und
Gemith auf, aber dad Beſtandene ſelbſt präfe man bier
bei an dem Prüfflein der untruglichen Offenbarung in Got:
tes Wort, und dad Neuaufzunchmende erwachſe aus ben
Gonfeffion ud Union. 089
wirklichen Bebürfniß ber Gemeinden und aus lebendigem
Drange ber gläubigen Herjen. Auf diefems Wege mag bie
einzelne Eonfeffion Ihre Eigenthuͤmlichkeit in Einzelnem von
ihrem Princip aus’ ſelbſt noch weiten fertbilden — auch die
iſt nicht verwerflich, vielmehr für eine Erhöhung ihres con⸗
feffionellen Werthes zu achten, wenn fle hierdurch ſech ties
fer in bie göttliche Wahrheit eintebt. Aber — and dieß iſt
die andere Schranke der canfeffienellen Tteut + um fü
mehr fey eine Kirche auf ihrer Hut, baß fie. zum Irrthunt
nicht audy die Sünde füge, weder die. Side der Welt
lichkeit, indem fie bei ihrem confeſſianellen Streben nur nach
dem Gelüften de Fleiſches fragt, ftatt nach dem heiligen
Willen Gottes, noch die Stnde dB Hothmuths, indem fie
in ihren vermeinten Wotzügen fi befpiegeit und andere
GSonfeffionen wegen ihrer Mängel gering achtet, noch enbs
lich die Sünde der Bosheit, indem fie Abneigung und
Groll gegen die andern Gonfeffionen in ihrem Herzen hegt
und biefelben verfolgt. Vielmehr muß jene Behnnung con⸗
feffioneler Zrene zugleich beides, von dem Geiſt heiliget
Strenge und demüthäger Liebe durchdrungen fegn — bank
nur iſt die Bewahrung der Gonfeffion rechter, seikliben,
göttlicher Art,
Mit Einem Worte und in aͤußerer gorm Hanen wir
es aud fo auöbrüden: die wefentliche Schranke für Bes
wahrung des Gonfeffion ift die An ſtrebung der Union.
3. Auſtrebung der Union.
Benn die Bewahrung der eigenen Gonfeffion nicht
fefbftfächtiger Art feyn ſoll, fo darf fie von mir nicht aus
bem Grunde gefchehen, weil fie eben meine Gonfeffion ift,
fondern weil fie ein weſentliches Glied im Ganzen der Kits
che bildet, ih aber vermöge meiner Stellung in ihr die
nächte Pflicht habe, ihr felbft dieſes Recht und bem Gan«
zen dem daraus erwachfenden Gegen zu wahren. In biefer
felben Beziehung zum Ganzen bin ich nun. aber auch bie
idealer ab realer Einigung.
2a, Sipale Einigun
Sir den Berkie gene Goperatiouen befkchen Die
Weiden Seſete wie fir den ber einyinen Perfenen. Das
Auch in Sc) beiaffenbe Gruntgefeh ik dab ber Riche, wei
Ge in ihrer Wahrheit weientlich auf Achtung met. Wir
Be im eiche Gottes dab Baub zwifden den cimjeinen Ders
Jemen bildet, fo iR fie auch im der Tirche, eis der Eingrän-
Yung des Beiheb Gottes im das Mehl der Weit, dab Baub
swilhen ben Eonfeffionen, in befien Pflege ſich die Heilig:
keit und Wahrheit ihres Lebens offenbart. Die erfie Form
der idealen Einigung unter den Gonfeffionen if demnach
Die gegenfeitige Adtung, das Algemeinke aber,
rin dieſelbe ſich aubfpricht, dieß, daß jebe der Goufeffio-
nen in der andern eine chriſt liche Bemeinfchaft ſede
und ehre. Haben doch die Eonfeffionen, wenngleich in der⸗
ſchledenem Maße der Wahrheit, das alle mit einander ges
Ein Btaube, Eine Zaufe, Ein Gott und Water Aller, der
da iſt Über euch alle und durch euch alle und in euch allen.”
Belteres zur Zuerkennung des Charakters der Chriſtlichkeit
su fordern, wäre willkürlich. Denn der Eine, Herr, ba
fleiſchgewordene Wort, iſt das Lebensprincip, von welchem
Gonfeffion med: Union. 59
alles ‚Heil ber Gemeinbe zufließt, ber Slaube iſt das Band
mit bem ‚Herm, wodurch fie feiner Gnadengaben theilhaftig
wird, und. bie Zaufe iſt bie dußere, hiſtoriſche Verwitte⸗
lung, beren es bedarf, weil wir nicht. mit einem bloß ideas
len, fonbern mit bem zealen, im Fleiſch erfchienenen Chris
ſtus Semeinfchaft haben. Der Eine lebendige Gott aber,
welcher (weder deiſtiſch, noch pantheiſtiſch, fondern wahr
baft theiſtiſch) über, durch und in uns allen if, bildet den
legten Grund, auf welchem bad Ganze in abfoluter Weiſe
ruht. Auf biefem gemeinfamen, allgemein chriſtlichen Boben,
welcher feine kirchliche Seite in dem Feſthalten an den oͤku⸗
menifchen Symbolen bat, ftehen die Gonfeffionen alle. Die
gegenfeitige Anerkennung als chriftlicher Gemeinfchaften iR
demnach bie erfle und Grunbbebingniß eines fittlihen Ver⸗
haͤltniſſes der Confeſſionen. Aber freitich liegt darin mehr,
als daß man fich biefe Achtung im äußern Verkehr nicht
verſage. Es liegt auch dieß darin, daß jeder Gonfeffion
die@inpeit mit ben andern in Chriſto nun auch
wichtiger fey, als die zwiſchen ihnen fkattfins
denden Unterſchie de. Im biefer Hinficht hat jede der
Gonfeffionen in ſich zu fchlagen und eine Schuld zu beken⸗
nen, Denn würden fo viele confeffionelle Reibungen flatts
finden, wenn die Gemüther von der Gemeinfamlelt des
Glaubens und Lebens in Chriſto tiefer durchdrungen wären,
als von ben Gegenſaͤtzen ?
Doch dieſe allgemeine Anerkennung fpricht bad volle
Wefen der confeffionellen Achtung noch nicht aus, Nicht
bloß für ein Glied am Leibe Chrifi überhaupt foll eine
Gonfeffion bie andere halten, fonbern auch für ein indis
vidnell berehtigtes und nothwendiges Glied,
Spricht‘ dod der Geift nicht zum Leibe: „was bebarf es
deiner?” noch umgekehrt alfo ber Leib zum Geiſte, und der
Kopf nicht zum ‚Herzen, noch umgekehrt: „id allein bin
genug, weiche bu” (1 Kor. 12), Was ſagt denn aber mun
die katholiſche Kirche zur evangelifdyen: „ich bin allein bie
Een
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Yesteflantiiemd in der
Genziith, im ber refermirten Kirdye feinem fittlichen Berfbanb
babe. Wie weit find in der Wirklichkeit bie Genfefunnen
nech davon entfernt, im dieſer MBeife ſich gegenieitig Gereih-
tigkeit widerfaßsen zu laffen und ſich ber fpecifiien ar
ben, die den anbeın verlichen find, zw fremem, ſich zw
freuen, daS die andern in ihrer Weife bas eifien, wad mem
felbR nicht veruag, umd baf fo durch aegenfeitige Grgdes
sung daS gefammite Lehen der Kirche zur Offenbarung
andern beſcheiden und bereit feyn folle, von ihnen
au lernen. Lehrt uns doch die Erfahrung, wie die ka⸗
tholiſche Kirche im evangeliſchen Deutſchland zu einem wie
Beäftigeren „Leben gebeihe, als im rein katholiſchen Suͤden.
Und and) die evangeliiche Kirche pflegt da ihre Kräfte res ⸗
famer zu entfalten, wo fie mit der katholiſchen Kicche am eime
würdige Haltung zu wetteifern hat, Ebenſo pflegen die res
formizte umd lutheriſche Kirche, wo fie nebeneinander fichen,
gegenfeltig von ihrer Strenge und Milde, von threr Energie
Eonfeffion und Union. 598
und Innerlichkeit, von ihrer Schärfe und Freibeit ſich mite
zuthellen. Dieß iſt der Segen der Gemeinſchaft. Es iſt
nun mit jener Forderung nicht gemeint, daß wir unſer Auge
gegen die Maͤngel und Gebrechen der andern Kirchen ver⸗
ſchließen ſollten. Nein, wir moͤgen uns dieſelben immerhin
ſehr deutlich zum Bewußtſfeyn bringen, damit wir nicht
ebenfalls dartin verfallen. Durch bie gegenfeitige Anerken⸗
nung iſt ſelbſt eine wirdige, vom Ernſt der Liebe getra⸗
gene, populäre oder wiſſenſchaftliche Polemik nicht ausge⸗
ſchloſſen. So wird ed namentlich allzeit ein Beruf der
wangelifhen Kirche ſeyn, gegen den Hierarchismus und bie
Geſetzlichkeit der katholiſchen Kirche auf Grund des Gchrifts
wortes von ber freien Gnade in Chriſto lautes, entſchiedenes
Zeugniß zu geben. Aber — daß wir nur dabei auch uns
ſerer eigenen Gebrechen allzeit lebendig eingeben? feyen, den .
Zabel der Gegner gleichfalls willig hinnehmen und uns
ernftlich mühen, in Alem würdig dazuſtehen! Ebenfo duͤr⸗
fen wir und — doc ohne ſelbſtiſches Rühmen, vielmehr
mit Dan? gegen Gott, von welchem alle gute Babe kommt
— der Vorzüge freuen, welde unfere Gonfeffion auszeich⸗
men; ja, es laffe jede Eonfeffion ihr Licht hell leuchten zur
Erbauung und Nacheiferung ber andern, Nur daß wir
aber eben fo bereitwillig bie Worzäge ber andern anerfennen,
durch welche fie und befhämen, und daß wir von ihnen
erwedlichen Anlaß nehmen zur Reinigung, Erhöhung ünd
Heiligung unferer eigenen Individualität! —
Segenfeitige Achtung in Anerkennung der Chriſtlich⸗
keit, ber Sleichberechtigung und relativen Worzäge ber ans
dern Confeffionen, welde aber in der Berwerfung und Bers
meibung ihrer Abwege eine innere Schranke hat, iſt alfo
das Erfte, was bezüglich bed Verhaltens ber Gonfeffionen
unter einander gefordert werden muß.
Auf ber Stufe der Achtung erhebt fich im Leben ber
Semeinſchaft als höhere Stufe die Liebe, Gründer ſich
Die Achtung auf bie Würde beB Anden, fo bie Liebe auf
Hi
ı
ih
Mt
a |
je Hl
Il
HH
H
einander verbunden feyn. Es gilt hierfür
Bert: „fo Ein Glied leidet, fo leiden alle Glieder mit,
und fo Ein lied wirb Herrlid gehalten, fo freuen ſich alle
Stieder mit” (1 Kor. 12,%.). Wenn die katholiſche Kirde
bei ihrem e unter ben ‚Heiden fdywere Kämpfe
zu befichen und Berfolgung zu leiden hat, bärfte die ewans
geliſche babei theilnahmlos bleiben, ober gar über diefe Hin⸗
derniſſe ihrer Ausbreitung im Stillen fi freuen? Unb
wenn fie in ihrem Innermfräftiger ſich wieber aufzuerbamen
bemüht if, dürften wir es hindern wollen, fo weit es von
ihr in.heiligem Sinne gefchieht, zur geiſtlichen Wohlfahrt
ihrer Glieder und ohne Beeinträchtigung ber Rechte andes
ser Kirchen, ober müßten wir nicht vielmehr und freuen
über das Bebeihen ihre Werkes als einer Mitarbeit am
Beide Gottes und uns durch ihren Borgang zu gleichem
Eifer anregen laſſen? Daflelbe gilt auch für den umge
kehrten Fall und für das gegenfeitige Verhaͤltniß der ans
dern Gonfeffionen. Confeſſionelle Liebloſigkeit ift zumal auch
jede firchlihe Propaganda, Die katholiſche Kirche hält
fle freitich im Gegentheil für eine Heilige Pflicht, Doc ift
es nicht das wahre Weſen ihrer Individualität, was fie zu
Gonfeffion und Union. 305
dieſem Schritte verleitet > fondern der ihrer Individualität
nabeliegenbe Abweg , wornach fie, für die Mittheilung des
Heils ein feſtes Infitut ſchaffend, an die befimmte Form
unb Grenze deſſelben das Heil ſelbſt knuͤpft. Gegen folde
directe oder indirecte Ein⸗ und Uebergriffe kann die evans
gelifche Kirche ſich nicht bloß leidend verhalten, vielmehr iſt
fie ed fi und ber allgemeinen Kirche ſchuldig, durch bie
Macht des Wortes und auf bem Wege des Rechts dieſel⸗
ben abzuwehren, ihren Rechtsbeſtand zu fihern und die
freie Entfaltung ihreß Lebens nad) innen und außen ſich
zu erhalten. Was follen wir aber bazu fagen, wenn bie
ewangelifhe Kirche, der dfefer Abweg an fich fern liegt —
doch fie felbft trifft diefer Vorwurf nicht, fondern nur eins
zelne ihrer Glieder — von ihrem andern individuellen Stand»
puncte aus mit ben gleichen Mitteln den Angriff abweh⸗
zen und erwiedern will? — Die hrißtichen Gonfeffionen fols
len durch dad Band jener Liebe mit einander verbunden
ſeyn, welche den Brhdern Segen wuͤnſcht ‚und für fie bes
tet. Und bei foldem Sinne wird der Anlaß aud nicht
fehlen, ſich in mannichfacher Weiſe zugleich gegenfeitige
Handreichung zu leiften. Dieß ift die allgemeinfte Pflicht,
welche ſich auf dem Standpunct der Liebe für die einzelnen
Confeffionen ergibt, und dieſelbe hat ihre Schranke nur in
den Irrthürlern und Mißbräuchen der andern Gonfeffion,
von welchen bie Liebe ſich fern hält und bie Schweſierkirche
mit heiligem Ernſt, wiewohl in Demuth, zu befreien fucht,
b) Reale Einigung=Union,
Mit der bloß idealen Einheit gegenfeitiger Achtung und
Liebe, welche ſich unmittelbar in fachifcher Anerkennung und
bruͤderlicher Handreichung bethätigt, iſt jedoch bie Aufgabe,
welche den Gonfefflonen in ihrem Verbaͤltniß zu einander
geſtellt iſt, noch keintswegs vollkommen geloͤt. Denn, wie
oben gezeigt worben, bildet die Entfaltung ber kirchlichen
Einheit in ‚getrennt beſtehende Gegenfäge nur einen geſchicht⸗
Tpeol, Stud, Jahrg. 1888,
598 Schoeberlein
liſchen Kirche erkannt, ben fie ſich, obwohl von ihrem
Standpunet aus und in anderem Sinn und Geift, fomit
auch in anderer Weiſe, gleichermaßen anzueignen beflrebt
fl. Sondern, woran fie ſich ſtoͤßt, if dieß, daß in ihr das
‚Heil felbf an den gliedlichen Bufammenhang mit diefer dus
Bern Auctorität geknüpft ift, und daß fie ſich, flatt als
frei machende Erzieherin den Seelen in hingebender Liebe zu
dienen, zu einer Beberrfcherin der Gewiſſen aufwirft. In diefem
Sinne hat Melanchthon den ſchmalkaldiſchen Artikeln den Zuſatz
beigefügt, Daß er „um Friedens und gemeiner Ginigfeit wits
Ien felbft die Superiorität des Papſtes über die Biſchoͤfe,
iure humano, zujulaffen bereit fey, fo er das Evan
gelium wollte zulaffen.” Dad andere, eng biermit
aufammenhängende, bie fubjectine Seite des Heils bes
treffenbe Hinderniß iſt dieß, daß in der katholiſchen Kirche
nicht der Glaube in Wahrheit es iſt, der Chrifli Gnade
uns zuwendet, fonbern daß dad eigene Werk der Menfchen
bierfhr in Rechnung gebracht wird, Und auch hier wiebers
um fleht einer Einigung nicht dieß im Wege, daß bie ka⸗
tholiſche Kirche die Werkthätigkeit überhaupt betont, fordert
und durch eine feftere kirddliche Sitte theilweife hervorruft,
Vielmehr iſt ſich Hierin die evangeliſche Kirche felbft”rines .
gerofffen Mangel bewußt und bemüht fi, wovon die
Gegenwart manches Zeugniß ablegt, dem Beiſpiel ber Fathos
liſchen Kirche In ihrer Weiſe nachzueifern. Sondern das
Xrenmende if dieß, daß die katholiſche Kirche aus dem
Werke, das doch nur Frucht und Erweiß des lebendigen
Glaubens if, ein Werdienft vor Gott macht und menfchs
liches Thun, das aus dem Gehorfam gegen die Kirche ent»
Ppringt, auf Eine Linie mit dem ganz nur von Ghrifi
Gnade lebenden Glauben ſtellt, es zu einem Mittel des
Heiles erhebend. Nicht alſo die Tendenz der Berleiblis
Yung an ſich, wodurch bie katholiſche Kirche vielmehr
eine nothwendige Ergänzung ber übrigen Gonfeffionen dil⸗
det, fondernabie Ausartung biefer Tendenz in
Gonfeffion und Union. 599
Hierarhie und Werkgerechtigkeit iſt der weſent⸗
liche innere Grund, weldyer die evangelifche Kirche von eis
ner Union mit der katholiſchen abhält und abhalten muß.
Umgekehrt will auch die katholiſche Kirche von eis
ner Union mit der evangeliſchen nichts wiſſen, fo fehr fie
der freien innern Lebendigkeit und bibliſchen Lauterkeit ders
felben als eined Salzes bebürfte. Denn theils ift ihr für
dieſe Borzüge der evangelifchen Kirche, wovon fig nur die Aus⸗
wüchfe und Gefahren flieht, das Auge verfchloffen, theils aber und
vornehmlich deßhalb will fie nicht, weil fie fich in ihrer folgen
Selbfigenügfamkeit, welche mit der. Form auch das Wefen,
mit dem Inflitut auch das Leben zu haben meint, zur Idee
einer gegenfeitigen Ergänzung ber Gonfeffionen überhaupt
gar nicht zu erheben vermag.
In einer kirchlichen Exfcheinung der Gegenwart iſt übris
gend bie Union bes Katholicismus und Proteflantismus
wirklich verfucht worden, Wir meinen ben Irvingianids
mus, Der Irvingianismus will „die fchließlihe Union ber
Gonfeffionen bereitd in der Gegenwart darſtellen ald apo⸗
ſtoliſch⸗ hriftliche Kirche. Und wir müffen es ihm zugeftes
ben: er bat das für die Gegenwart Mögliche hierin geleis
flet. Das ſtarke, tiefe Sehnen Vieler nach der Verbindung .
einer feften, gegliederten Verfaſſung und eines reicheren
Guftus mit der fhriftgemäßen Lehre und mit den urfprüngs
lichen Grundzügen des Firchlichen Lebens hat durch ihn eine
gewifle Befriedigung gefunden. Kein Wunder, dag mane
she edle Gemüther, durch feine apoſtoliſche Geftalt und fein
ſchoͤnes Gewand angezogen, aus den Wirren unferer cons
feffionelen Kämpfe in feinen Schooß fich flüchten! Aber wie
viel fehlt theils auch bier noch zur Verwirklichung einer
wahren Union, einer foldyen nämlich, welche bie beiderfeis
tigen Mängel wirktich ausſchiede und bie beiderfeitigen Vor⸗
zuͤge zu einer Maren, lebendigen Einheit durch die Macht
Eines Princips wirklich verbaͤndel Theils aber zu welchen
gewaltſamen, auf offenbarer Selbſttaͤuſchung beruhenden
588 Schoe berlein
Gotted begleitet ſeyn möge. Das Gleiche gilt für die ze
foemiste Kirche, Und follten wir etwa ſcheel dazu fchem,
wenn auch bie katholiſche Kirche mit meuer Liebe ihre: alten
kirchlichen Formen wieder aufnimmt und ausbildet, um bie
darin befihloffenen Suadenſchaͤtze ihren‘ Bliedern zuzuwen⸗
den? . .
Über frellich es liegen · bei dieſer Bewahrung und Aus.
bildung der confeſſionellen Eigenthumlichkeit auch Gefa h⸗
ren nahe, und fie liegen doppelt nahe, wenn eine Zeit des
eonfeffionefien Indifferentismus vorangegangen, welder feine
Wurzeln im Unglauben hatte,‘ Indem ber. wieder erwa⸗
ende Glaube dann mit ‚neuem Eifer ber alten. Ziebe bie
beimifchen Räume ber confeffionellen Glaubends und Le
bensformen auffucyt, wie leicht verbindet ſich mit dieſem
beiligen Sinn ber Liebe und Sreue zugleich auch wieber. ber
alte fleiſchliche Sinn eines fanatifchen Porticnlorismus und
ſchlaͤgt in diefen geradezu um! Irrig ift es fon, wenn
man hierbei bie alten Formen aufnimmt, weit fie alt find.
Denn nicht alles Frühere in bem .confeffinmellen deben flammst
wirklich aus Gott; Telbft iſt nicht Alles winkäch aus bem
eonfeffionellen Grunbprincip erwachſen, fondern Wicked if
auch zufällig von außen herangekommen, „Wied durch fel-
ſche Gonfequenzen entflanden, Vines fear aus ber unrei⸗
nen Quelle der Streitſucht und des Parteihafles entfpruns
gen, Wäre es sm nicht ein Wiederaufnehmen ber alten
Mängel, ein Erneuern ber alten Gebrechen, ein Sich wies
der Einleben in die alten Suͤnden, wenn man das früber
Beftandene obne Weiteres nur aufnähme, wie es früher bes
fanden? Nein — das principiele Leben der im Geſammt⸗
organismus der Kirche berechtigten und nothwenbigen Ins
dividualität ber eigenen Gonfeffion, dad nehme man mit
bem heiligen Sinn glänbiger Treue wieder in Geift und
Gemüth auf, aber dad Weftandene felbft prüfe man hiers
bei an dem Prüfflein der untrüglichen Offenbarung in Got⸗
tes Wort, und das Neuaufzunchmende erwachſe aus bem
Gonfeffion uud Union. 589
wirklichen WBebürfniß ber Gemeinden und aus Isbenbigen
Drange ber gläubigen Herzen. Auf biefems Wege mag die
einzelne Eonfeffion Ihre Eigenthuͤmlichkeit in Einzelnem von
ihrem Princip aus ſelbſt noch weiten fortbiiden — auch dieß
iſt nicht verwerflich, vielmehr für eine Erhöhung ihres con⸗
feffionellen Werthes zu achten, wenn fie hierdurch ſech ties
fer in bie göttliche Wahrheit einlebt. Aber — and dieß üſt
die andere Schranke der canfeffionellen Treue + um fo
mehr fey eine Kirche auf ihrer Hut, daß ſie zum IJrethum
nicht auch bie Sünde füge, weder die. Shibe der Welt.
lichkeit, indem fie bei ihrem comfefkanelten Streben nur nach
dem Gelüften des Fleiſches fragt, flatt nach dem heiligen
Willen Gottes, noch die Suͤnde HE Hothmuths, indem fie
in ihren vermeinten Wotzügen fi) befpiegelt und andere
GSonfeffionen wegen ihrer Mängel gering. achtet, noch end⸗
lich die Sünde der Bosheit, indem fie Abmeigung und
Stoll gegen die andern Gonfeffionen in ihrem Herzen hegt
und biefelben verfolgt. Vielmehr muß jme Gefinnung con⸗
feſſtoneller Treue zugleich beides, von bem Geiſt heitiget
Strenge und demuͤthiger Liebe durchdrungen ſeyn — bank
nur iſt die Bewahrung der Gonfeffion rechten, seitlichen,
göttliche Art,
Mit Einem Worte und in dußerer Form kbunen wir
es auch fo ausdrüden: die wefentlihe Schranke für Bes
wahrung des Gonfeffion iſt die Anfirebung der Union.
3. Anftrebung der Union.
Benn bie Bewahrung der eigenen Confeſſion nicht
felbftfüchtiger Art feyn fol, fo darf fie von mir nicht aus
dem Grunde gefchehen, weil fie eben meine Gonfeffion iſt,
fondern weil fie ein wefentliches Glied im Ganzen der Kirs
che bildet, ich aber vermöge meiner Stellung in ihr die
nächfte Pflicht habe, ihr ſelbſt dieſes Recht und dem Gans
zen ben daraus erwachfenden Gegen zu wahren. In dieſer
felben Beziehung zum Ganzen bin ich nun. aber auch die
690 Sgoeborlein
übrigen Gonfeffionen zu wuͤrdigen verpflichtet, und es wäre
nur die Fortſetzung jener Selbſtſucht, wenn ich dieſelben
bloß nach ihrem Gegenſatz zu meiner Confeſſion und nicht
zugleich nad) ihrer fperififchen Stellung im Ganzen auflefs
ſen woßte, Aus diefer gemeinfamen Gliedſchaft am Ge
ſammtleib der Kirche folgt aber, daß ich, indem ich bie
eigme Gonfeffion für das Ganze bewahre, mich von den
andern nicht iſoliren dürfe, fondern in gliebliche Gemeins
ſchaft mit. ihnen ‚zu treten habe. Diefe ift der Natur ber
Sache nad) eine innere und dußere, ſich vollziehend in
idealer und realer Einigung.
a) Ipale Einigung.
Bür den Verkehr ganzer Gorporationen beſtehen die
gleichen Gefege wie für den ber einzelnen Perfonen, Dis
Altes in fi) befaffende Grunbgefeg if das der Liebe, wel
che in ihrer Wahrheit wefentlich auf Achtung ruft, Bir
fie im Reiche Gottes das Band zwiſchen ben einzelnen Per
fonen bilbet,: fo iſt fe auch in der Kirche, als der Gingrän
dung des Meiches Gottes in daB Reich der Welt, das Bard
zwiſchen ben Confeſſionen, in deſſen Pflege ſich die Heilige
keit und Wahrheit ihres Lebens offenbart. Die erſte Borm
der idealen Einigung unter den Gonfeffionen iſt demnach
die gegenfeitige Achtung, das Allgemeinſte ab,
worin biefelbe fih ausſpricht, dieß, daß jede der Confeſſio⸗
nen in der andern eine chriſt liche Gemeinſchaft ſche
und ehre. Haben doch bie Eonfeffionen, wenngleich in ver
ſchiedenem Maße der Wahrheit, das alle mit einander gu
mein, wos bad Wefen der chriſilichen Kirche ausmacht und
was ber Apoftel mit den Worten bezeichnet: „in Hem
Ein Glaube, Eine Taufe, Ein Gott und Water Aller, Dr
ba ift Über euch alle und durch euch ale und in euch allem.”
Weiteres zur Zuerkennung des Charakters der Geil
su fordern, wäre willfürlih. Denn der Eine, Herr, dad
fleiſchgewordene Wort, ift das Lebensprincip, von
Gonfeffion und Union. 91
alles Heil der Gemeinde zuflieht, ber Blaube ift das Band
mit dem Herm, wodurch fie feiner Gnabengaben theifhaftig
wird, und bie Taufe iſt die dußere, hiſtoriſche Wermittes
lung, beren es bedarf, weil wir nicht. mit einem bloß ideas
len, ſondern mit dem realen, im Fleiſch erfchienenen Chris
ſtus Gemeinſchaft haben. Der Eine lebendige Gott aber,
welcher (weder deiſtiſch, noch pantheiſtiſch, fonbern wahr
daft theiftifch) über, durch und in uns allen if, bildet den
legten Grund, auf welchem bad Ganze in abfoluter Weile
zubt. Auf diefem gemeinſamen, allgemein diriftlichen Boden,
welcher feine kirchliche Seite in dem Feſthalten an den oͤku⸗
menifchen Symbolen bat, ſtehen die Gonfeffionen alle. Die
gegenfeitige Anerkennung als chriſtlicher Gemeinfchaften if
demnach bie erfte und Brundbedingniß eines fittlihen Wer:
haͤltniſſes der Gonfeffionen. Aber freilich liegt darin mehr,
als dag man ſich diefe Achtung im dußern Werkehr nicht
verfage, Es liegt auch dieß barin, daß jeber - Eonfeffion
die Einheit mit den andern in Chriſto nun auch
widtiger fey, als bie zwifhen ihnen flattfins
denden Unterfchiede, In biefer Hinſicht hat jede der
Sonfeffionen in fi) zu ſchlagen und eine Schuld zu beken⸗
nen. Denn würden fo viele confeffionelle Reibungen flatts
finden, wenn die Gemüther von der Gemeinfamfeit des
Glaubens und Lebens in Ghrifto tiefer durchdrungen wären,
als von den Gegenfägen?
Doc biefe allgemeine Anerkennung ſpricht das volle
Weſen der confeffionelen Achtung noch nicht aus, Nicht
bloß für ein Glied am Leibe Chriſti überhaupt foll ‚eine
Gonfeffion die andere halten, fondern auch für ein indis
viduell berehtigtes und nothwendiges Glied,
Spricht‘ doch der Geift nicht zum Leibe: „was bebarf ed
deiner?” noch umgekehrt alfo der Leib zum Geiſte, und der
Kopf nicht zum Herzen, noch umgekehrt: „id allein bin
genug, weiche du” (1 Kor. 12.). Was fogt denn aber nun
die katholiſche Kirche. zur evangeliſchen: „ich bin allein bie
502 Sehoeberlein
wahre, bin die alleinſeligmachende Kirche; du biſt ein ab⸗
trännig Kind, das zur Mutter wieder wmgulchren bat”?
Der was fagt bie enangelifche Kixche zur Zatholifchen: „du
bi bad alte Babel, in mir. ift dad Zien”% der vollends
was fehen ſich bie lutheriſche und refonmirte Kirche mit
ſcheelen Bliden an, als wäre je die eine für ſich die wahre
Zrägerin bed evangelifchen Geiſtes und bie andere eine uns
echte Tochter der Reformation? Wir haben oben gezeigt,
daß ber Katholiciemus den Leib und ber Proteftantiämns
den Geiſt der Kirche repräfentie, und daß wiederum. ber
Vroteſtantismus in der lutheriſchen Kirche fein Herz, fein
Gemuͤtb, in der reformirten Kirche ‚feinen fittlichen Verſtand
babe. Wie weit find in ber Wirklichkeit bie Gonfelfionen
noch davon entfernt, in biefer: Weiſe fich gegenfeitig Gerech⸗
tigkeit widerfahren zu laflen und ſich der fpecifiihen Bas
ben, die ben andern verliehen find, zu freuen, ſich zu
freuen, daß die andern in ihrer Weiſe das leiften, was man
felbft nicht vermag, und daß fo durch gegenfeitige Ergäns
sung bad gefammte Leben der Kirche zur Offenbarung
komme! .
Und doch iſt auch hiermit die Forderung, welde in
dem Begriff ber gegenfeitigen Achtung liegt, noch nicht exs
ſchoͤpft. Bielmehr ſchließt bie individuelle Berechtigung ber
Einzelnen im Ganzen eine gegenſeitige Erhöhung der eig⸗
nen Lebenskraft durch die der Andern in ſich. Und hieraus
folgt, daß jebe der Gonfeffionen zugleich ſich gegen die
andern beſcheiden unb bereit ſeyn folle, von ihnen
zu lernen. Lehrt uns body die Erfahrung, wie bie las
tholiſche Kirche im evangelifchen Deutfchland zu einem viel
Bräftigeren „Beben gebeihe, als im rein katholiſchen Süden.
Und auch die evangeliſche Kirche pflegt da ihre Kräfte reg ⸗
famer zu entfalten, wo fie mit der katholiſchen Kicche um eine
wuͤrdige Haltung. zu wetteifern hat, @benfo pflegen bie res
formirte und lutheriſche Kirche, wo fie nebeneinander fichen,
gegenfeitig von ihrer Strenge und Bilbs, von ihrer Energie
Gonfeffion und Union. 595
amd Innerlichkeit, von ihrer Schärfe und Freiheit fich mite
zuthellen. Dieß iR der Gegen bet Gemeinſchaft. Es ift
nun mit jener Forderung nicht gemeint, daß wir unfer Auge
gegen die Mängel und Gebrechen ber andern Kirchen ver⸗
füließen folten, Nein, wir mögen und diefelben immerhin
ſehr deutlich zum Bewußtſeyn bringen, bamit wir nicht
ebenfalls barein verfallen. Dur bie gegenfeitige Anerkens
nung if ſelbſt eine wärdige, vom Gruft ber Liebe getra⸗
gene, populäre ober wiſſenſchaftliche Polemik nicht ausge-
ſchloſſen. So wirb es namentlich allzeit ein Beruf der
ewangelifchen Kirche ſeyn, gegen den Hierarchismus und bie
Geſetzlichkeit der katholiſchen Kirche auf Grund des Schrift⸗
wortes von ber freien@nabe in Chriſto lautes, entfchiebenes
Beugniß zu geben, Aber — daß wir nur babei auch uns
ferer eigenen Gebrechen allzeit Iebendig eingeben? feyen, den .
Zabel der Gegner gleichfalls willig hinnehmen und uns
ernftlich mühen, in Alem wuͤrdig dazuſtehen! Ebenſo bir.
fen wir und — doch ohne ſelbſtiſches Ruͤhmen, vielmehr
mit Dank gegen Gott, von welchen alle gute Gabe kommt
— ber Vorzüge freuen, welche unfere Gonfeffion autzeich⸗
nen; ja, es laffe jede Gonfeflion ihr Licht hell leuchten zur
Erbauung und Naceiferung der andern, Nur daß wir
aber eben fo bereitwillig die Vorzuge ber andern anerkennen,
durch welche fie und befchämen, und daß wir von ihnen
erwedtichen Anlaß nehmen zur Reinigung, Erhöhung uͤnd
Heiligung unferer eigenen Inbivfdualität! —
Gegenfeitige Achtung in Anerkennung der Chriſtlich⸗
keit, der Sleichberechtigung und relativen Worzäge ber ans
dern Gonfeffionen, welche aber in ber Verwerfung und Ver⸗
meidung ihrer Abwege eine innere Schranke hat, iſt alfo
das Erſte, was bezüglich des Verhaltens ber Gonfeffionen
unter einander gefordert werden muß.
Auf ber Stufe ber Achtung erhebt fich im Leben der
Seweinſchaft als Höhere Stufe die Liebe. Grümbet fi
die Achtung auf die Würde des Andern, fo bie Liebe auf
594 Schoeberlein
bie innere Verwandtſchaft und die dadurch bebingte gegen
feitige Anziehung, Hieraus ergeben fih für bie Bethätis
gung ber Liebe unter den einzelnen Gonfeffionen einerfeits
zwar relative Werfchiedenheiten; dem bie einzelnen Gons
feffionen find ſich nicht ſaͤmmtlich gleich verwandt; anderer⸗
ſeits aber beſteht doch eine beflimmte Werwandtichaft auch
für fie alle: die Chriſtlichkeit. Und biermit ergeht dab
Grundgebot, das Ghriftus ben Seinen gegeben, das der
Bruderliebe, auch an bie Eonfeffionen. Nicht genug,
daß der Einzelne in dem Gliede einer andern Gonfeffion
einen Bruder in Chriſto liebe, wenn berfelbe im Glauben
ſteht; auch die Eonfeffionen ſelbſt, indem fie Glieder an
dem Einen Leibe Chriſti find, ſollen durch das Band der
Liebe in gegenfeitiger Theilnahme und Handreihung mit
einander verbunden ſeyn. Es gilt hierfür des Apoſtels
Wort: „fo Ein Glied leidet, fo leiden alle lieber mit,
und fo Ein Glied wird herrlich gehalten, fo freuen ſich alle
Glieder mit” (1 Kor. 12,26,). Wenn die Batholifche Kirche
bei ihrem Miſſionswerke unter den ‚Heiden ſchwere Kämpfe
zu befiehen und Verfolgung zu leiden hat, dürfte die evan⸗
geliſche babei theilnahmios bleiben, ober gar über biefe Pins
derniffe ihrer Ausbreitung im Stillen fi freuen? Und
wenn fie in ihrem Inner kräftiger ſich wieder aufzuerbauen
bemüht ift, dürften wir es hindern wollen, fo weit es von
ihr in.heiligem Sinne geſchieht, zur geiſtlichen Wohlfahrt
ihrer Glieder und ohne Beeinträchtigung der Rechte andes
ver Kirchen, oder müßten wir nicht vielmehr und freuen
über dad Gedeihen ihres Werkes als einer Mitarbeit am
Reiche Gottes und uns durch ihren Vorgang zu gleichem
Eifer anregen laſſen? Daffelbe gilt auch für den umge
kehrten Fall und für das gegenfeitige Verhaͤltniß der ans
dern Gonfeffionen, Confeſſionelle Lieblofigkeit iſt zumal auch
jede kirchlihe Propaganda, Die katholiſche Kirche hält
fie freilich im Gegentheil für eine heilige Pflicht. Doch ift
es nicht das wahre Weſen ihrer Individualität, was fie zu
Gonfeffion und Union. 505
biefem Schritte verleitet > ſondern der ihrer Individualität
naheliegende Abweg , wornach fie, für die Mittheilung des
Heils ein feſtes Inflitut ſchaffend, an die beflimmte Form
und Grenze deſſelben das Heil ſelbſt kniwft. Gegen ſolche
directe oder indirecte Ein⸗ und Uebergriffe kann bie evans
geliſche Kirche fid nicht bloß leidend verhalten, vielmehr iſt
fie es fih und ber allgemeinen Kirche ſchuldig, durch die
Macht des Wortes und auf dem Wege bed Rechts diefels
ben abzuwehren, ihren Rechtsbeſtand zu ſichern und die
freie Entfaltung ihres Lebens nach innen und außen fi
zu erhalten. Was ſollen wir aber bazu fagen, wenn bie
evangeliſche Kirche, der dieſer Abweg an fich fern liegt —
doch fie felbft trifft diefer Vorwurf nicht, fondern nur eins
zelne ihrer Glieder — von ihrem andern individuellen Stands
puncte aus mit den gleichen Mitteln den Angriff abweh⸗
ren und erwiebern will? — Die chrittichen Gonfeffionen fols
len durch dad Band jener Liebe mit einander verbunden
feyn, welche den Brhdern Segen wuͤnſcht und für fie bes
tet. Und bei foldem Sinne wird ber Anlaß aud nicht
fehlen, fih in mannichfacher Weife zugleich gegenfeitige
Handreihung zu leiften. Dieß iſt die allgemeinfte Pflicht,
welche ſich auf dem Standpunct der Liebe für die einzelnen
Gonfeffionen ergibt, und diefelbe hat ihre Schranke nur in
ben Irrthüreen und Mißbraͤuchen der andern Confeffion,
von welchen bie Liebe fich fern hält und die Schweſterkirche
unit heiligem Ernſt, wiewohl in Demuth, zu befreien fucht,
b) Reale Einigung==Union,
Mit der bloß idealen Einheit -gegenfeitiger Achtung und
Liebe, welche ſich unmittelbar in factiſcher Anerkennung und
örliberlicher Handreichung bethätigt, iſt jedoch die Aufgabe,
welche den Gonfefflonen in ihrem Verhaͤltniß zu einander
. iſt, noch keintswegs volltommen geläfl. Denn, wie
oben gezeigt worben, bildet die Entfaltung dar kirchlichen
Einheit in getrennt beflehende Gegenfäge nur einen geſchicht⸗
Theol. Stud, Jahrg. 1868,
598 Schoeberlein
itſchen Kirche erkannt, den fie fi, obwohl von ihrem
Standpunct aus und in anderem Sinn und Geift, fomit
aud in anderer Weile, gleihermaßen anzueignen beftrebt
iſt. Sondern, woran fie ſich ſtoͤßt, ift dieß, daß in ihr das
Heil ſelbſt an ben gliedlichen Zuſammenhang mit dieſer dus
Bern Auctorität geknüpft ift, und daß fie fi, flatt als
frei machende Erzieherin den Seelen in hingebender Liebe zu
dienen, zu einer Beherrſcherin der Gewiſſen aufwirft. In dieſem
Sinne hat Melanchthon den ſchmalkaldiſchen Artikeln den Zufag
beigefügt, daB er „um Friedens und gemeiner Einigkeit wil⸗
len ſelbſt die Superiorität des Papfted über die Biſchoͤfe,
iare humano, zuzulaſſen bereit fey, fo er dad Evan
gelium wollte zulaffen.” Das andere, eng biermit
aufammenhängende, die fubjective Seite des Heils bes
treffende Hinderniß iſt dieß, daß in ber katholiſchen Kirche
nicht der Glaube in Wahrheit es ift, der Chriſti Gnade
und zuwendet, fonbern daß daß eigene Werk ber Menfchen
bierfhr in Rechnung gebracht wird. Und auch hier wieder:
um ſteht einer @inigung nicht dieß im Wege, daß bie Tas
tholiſche Kirche die Werkthaͤtigkeit überhaupt betont, fordert
und durch eine feftere kirddliche Sitte theilweife hervorruft,
Vielmehr iſt ſich Hierin die evangeliſche Kirche felbft”eines .
geroifien Mangeld bewußt und bemüht fi), wovon die
Gegenwart manches Zeugniß ablegt, bem Beiſpiel ber Pathos
Uſchen Kirche in ihrer Weiſe nachzueifern. Sondern das
TZrennenbe iſt dieß, daB die katholiſche Kirche aus bem
Werke, das doch nur Frucht und Erweis des lebendigen
Glaubens iſt, ein Verdienſt vor Gott macht und menfche
Udes Thun, daB aus bem Gehorfam gegen die Kirche ent»
ſpringt, auf Eine Linie mit dem ganz nur von Chrifi
Gnade Iebenden Glauben ſtellt, es zu einem Mittel des
Helles erhebend, Nicht alfo die Tendenz der Berleibli-
&ung an ſich, mwoburd bie katholifche Kirche vielmehr
eine nothwenbige Ergänzung der übrigen Gonfeffionen bis
det, fondernabie Ausartung bdiefer Tendenz in
Gonfeffion und Union. 599
Hierarchie und Werkgerechtigkeit ift der weſent⸗
Uche innere Grund, welder bie evangelifche Kirche von eis
ner Union mit ber katholiſchen abhält und abhalten muß.
Umgelehrt will aud die Patholifche Kirche von eis
ner Union mit der evangelifchen nichts wiflen, fo ſehr fie
der freien innern Lebendigkeit und biblifchen Rauterfeit ders
felben als eines Salzes bebürfte, Denn theils iſt ihr für
diefe Vorzüge der evangelifchen Kirche, wovon fig nur die Aus⸗
wuͤchſe und Gefahren flieht, das Auge verfchloffen, theils aber und
vornehmlich deßhalb will fie nicht, weil fie ſich in ihrer ſtolzen
Selbfigenügfamkeit, welche mit der. Form auch das Weſen,
mit dem Inflitut auch dad Leben zu haben meint, zur Idee
einer gegenfeitigen Ergänzung ber Gonfeffionen überhaupt
gar nicht zu erheben vermag.
In einer kirchlichen Exfcheinung der Gegenwart iſt übtis
gend die Union des „Ratholicismus und Proteſtantismus
wirklich verfuht worden, Wir meinen den Irvingianiss
mus. Der Irvingianismus will „bie ſchließliche Union der
Gonfeffionen bereit in ber Gegenwart barfiellen ald apo«
ſtoliſch⸗ chriftliche Kirche. Und wir müffen es ihm zugeſte⸗
ben: er bat das für die Gegenwart Mögliche hierin geleis
flet. Das flarke, tiefe Sehnen Vieler nach der Verbindung .
einer feften, gegliederten Verfaſſung und eines reicheren
Guftus mit ber fchriftgemäßen Lehre und mit ben urſpruͤng⸗
lichen Grundzügen des kirchlichen Lebens hat durch ihn eine
gewifle Befriedigung gefunden. Kein Wunder, daß mans
she edle Gemüther, durch feine apoftolifche Geftalt und fein
ſchoͤnes Gewand angezogen, aus den Wirren unferer cons
feffionellen Kämpfe in feinen Schooß fich flüchten! Aber wie
viel fehlt theils auch bier noch zur Verwirklichung einer
wahren Union, einer ſolchen nämlich, welche bie beiberfeis
tigen Mängel wirklich ausſchiede und bie beiderfeitigen Wors
zuͤge zu einer Maren, lebendigen Einheit durch die Macht
Eines Princips wirklich verbändel Theils aber zu welchen
gewaltfamen, auf offenbarer Selbſttaͤuſchung beruhenden
600 Shhoeberleia
Mitten einer apofloliſchen Auctoritaͤt und uͤbernatuͤtlichen
Geiſtesmacht hat derfelbe greifen müffen, um dem kuͤnſtli⸗
den Sebaͤude einen wenigftens dem Schein nad feften
Boden’ zu geben!
Bis die oben angegebenen Hinderniffe befeitigt find,
muß die Unlonstendenz zwiſchen ber evangelifhen und ka⸗
tholifdyen Kirche ihr Wirken auf den engen Kreis des Ein
zelebens beſchtaͤnken. Im Freundes⸗, im Familien» und
geſelligen Verkehr kann eine theilweife Antichpation ber kunf⸗
tigen Unlon bereits ftattfinden und findet vielfady wirklich
ſtatt. Namentlich gilt dieß von mandyen gemifchten Ehen,
nicht von denen gewöhnlicher Art, wo religiöfer und cons
ſeſſioneller Indifferentismus die beiden Theile zufammens
führt, fondern von jenen feltener Art, wo ſich beide Zeile
in einer höhern, lebensvollen Einheit über ben ®egenfägen,
werigften für ihr Gefühl, zufammengefunben haben — 05»
wohl auch hier die dußere Wirklichkelt dem innern Bunde
immerhin: noch manche wmpfinblihe Hemmung feines Les
bens zu bereiten pflegt.
P) Union der lutheriſchen und reformirten
Kirche,
Eine andere ift die Lage der Iutherifchen und res
formirten Kirche. Hier befteht nicht bloß in dem „Ein
Sott und Water Aller” und in der „Einen Zaufe”, ſondern
auch in dem „Einen Heren” und „Einen Glauben” die Eis
nigkeit des Geiſtes in voller, unbefchränkter Weife. Denn
beiden iſt im Wahrheit Chriftus ausfhlieglih „Herr”, in
der Kirche aber erkennen fie nur eine Erzieherin der See
len zu Chriſto, eine adfolute Wermittlerin mit ihm. Und
ber Glaube, welcher jedes eigene Verdienſt auöfchließt,
iſt beiden der einzige Weg zu Chrifto, dad Werk aber nur
der Erweis feiner Lebendigkeit, nicht verdienſtliches Mittel
felbft zum Helle. Hier find fomit diejenigen Vorausſetzun⸗
gen wirküch vorhanden, an welche bie Möglichkeit einer
Sonfefkon und Union. 601
heiligen Union geknuͤpft if, Wehr als volle Uebereinſtim⸗
mung in jenen allgemeinen Grundlagen ber Kirche und
fpeciell in dem .doppelfeitigen evangeliſchen Orundprincip,
dem objecfiven von ber anusſchließnichen Beilsauctorität
Chriſti, des .Heren, und dem fubjectiven von dem aus⸗
ſchließlichen Gnadenweg bes Glaubens, mehr iſt zu einem
bleibenden „Band ded Frledens” nicht nöthig — fo wenig
eine Gleichtzeit in allen Puncten ber Lehre, als in den dus
Besen Einrichtungen und Sitten. Selbſt vom Abendmahl
Tann dieß nicht bebanptet werden. Und es iſt in diefer
Beziehung nit zufällig, daß der Apoflel in jener entfcheis
denden, die Grundlagen der Kirche angebenden Stelle
(Eph. 4.) des Abendmahls Feine Erwähnung thut. Denn
das Abendmahl ift nur die das Leben der, Kirche pflegende,
nicht aber ihren Beſtand ſelbſt bedingende Gnabenmittheis
kung Chrifli, Das Abendmahl hat, wiewohl eine fehr wes
fentliche, doch nicht centrale Bedeutung im Leben der Kirche,
fo daß eine verfchiedene Auffaffung defielben ein abfolutes
Hinderniß der Union nicht feyn darf. So liegt auch daB
Hinderniß einer derzeitigen Union mit der Fatholifchen Kto
wie gezeigt worden, in etwas ganz Anderem als in ihrem
abweichenden Abendmahlsbegriff.
‘ Adgefehen aber auch hiervon, iſt denn der Unterfchieb
zwiſchen der lutheriſchen und reformirten Abendmahlslehre
— worin der Gegenfag der beiden Kirchen in theoretifchen
und praktiſcher Hinficht feinen Hoͤhepunct hat — wirklich
ein fo abfoluter, als derſelbe lutheriſcherſeits dargeſtellt zu
werben pflegt?
In der: Lehre vom heiligen Abendmahl befles
+ sen zwei ertreme Anſichten entgegengeſetzter Art, die ſich
wieber berühren. Es ift dieß bie katholiſche und die
zwingli'ſche Theorie, deren jene, nach der Eigenthlimliche
Beit der beiden Gonfeffionen, auf den Abweg bes kirchlichen
Moterialismus, diefe auf den des kirchlichen Spiritualismus
abirrt. Dort wird nämlich Brod und Wein in fleifhlih
602 Shhoeberlein
Leib und Blut Chriſti verwandelt, dieſes iſt finnlich ſchau⸗
und greifbar, bleibt unter der nunmehr bloß noch als Schein
vorhandenen Form non Brod und Wein in äußerer Gicht-
barkeit fortbeftehen und wirb in irdiſch⸗ ſinnlicher Weiſe
wie andere Nahrung verzehrt. Hier dagegen if Leib und
Blut Chriſti gar nicht wirklich gegenwärtig, fonbern als
bloße Erinnerungszeichen daran ſtehen Brod und Wein ba
und vergegenwärtigen den Gläubigen zur Staͤrkung ihres
Glaubens den Berföhnungstod Chriſti. Beide Theorien bes
zeugen ihren chriſtlich glaͤubigen Charakter dadurch,
daß ſie das Abendmahl in unmittelbare Beziehung zum
Berſoͤhnungsopfer Chriſti fegen. Aber beide heben dabei
dad Scheimniß des Sacraments auf, weil fie beide am
Materiellen, Iedifchen und Zeitliden bangen bleiben. Beide
wiffen nichts von dem verklaͤtten, fondern bloß von dem
fleiſchlichen Leibe Chriſti, und nur der Unterſchied beſteht
dabet, daß er dort wirklich genoſſen, hier bloß abgebildet
wird; beide tilgen das Uebernatürliche in der heiligen Hand-
lung, jene, indem fie den Vorgang zu einem unnatürlicyen
‚verkehrt, diefe, indem fie ihn zu einem bloß natürlichen ſtem⸗
pelt; beide bleiben in den Vorſtellungen von Raum und
Zeit dieſes Erdenlebens befangen, jene, indem fie dad Opfer
Shrifi in dem Moment der Gonfecration und an der Stelle
des Altars vorgehen, reſp. ſich unblutig wiederholen läßt,
diefe, indem fie den vor 1800 Jahren auf Golgatha geopfer
ten Leib Chrifti bloß für die gläubige Betrachtung
zugegen, real aber fern ſeyn läßt.
Bwifchen beiden Ertremen einer fleifchlichen Realität
und einer abfiracten Idealitaͤt ſtehen die Tutherifche und
calviniſche Anficht in der Mitte, Die lutheriſche Kirche
lehrt: Brod und Wein werden im h. Abendmahle nicht
verwandelt, fondern in Folge der Gonfecration verbinden ſich
auf geheimnißvolle Weile der wahre für und geopferte Leib
und das wahre Blut Ghrifi, der nun im ‚Himmel verfiärt
ift, mit den beiden fichtbaren Geftalten und werden von ben
Gonfeffion. und Union. 603
‚Binzutretenden: in, mit und unter Zixob und Wein wahr
baft, aber geiſtlich genoflen, von den Gläubigen zum Segen,
von den Ungläubigen zum, Gericht. Die calviniſche Anficht
aber lautet: im h. Abendmahle treten Brod und Wein,
indem fie unverändert bleiben, kraft der Ginfegung Chriſti
in eine gebeimnißvolle Beziehung zu dem verfiärten Leibe
Chriſti, welcher zur Rechten Gottes im Himmel if, fo daß
die Seelen der Glaͤubigen während des Genuſſes von Brod
und Wein (indem fie in den Himmel ſich erheben) eine von
dem verflärten Leibe Chriſti ausgehende Kraft zur Verfieges
ung der Vergebung ihrer Sünden erfahren. In beiden Ans
fichten ift einerfeitö dad Unnatürliche aus der Handlung
befeitigt; denn die irdifchen Elemente als ſolche verbleiben,
und ber Leib Chriſti wird nur in geiflficher, nicht fleiſchlicher
Weile genofien. Andererfeits gehen fie über einen bloß nas
türlichen Vorgang hinaus; denn fie erheben ſich über
das Materielle, indem fie Brod und Weln zu dem vers
klaͤrten Leibe Chrifti in Beziehung ſetzen; fie erheben ſich
über das irdifh Räumliche, indem fie dem Irdiſchen
ein Himmlifches in der Handlung begegnen, den Leib Chriſti
im Himmel naͤmlich mit den Elementen auf Erden in eine
gebeimmißvolle Verbindung treten laffenz fie erheben fich über
das irdiſch Zeitliche, indem fie das Verföhnungsopfer
Chriſti auf Golgatha mit feinem ewigen Wohnen und Herr⸗
ſchen zur Rechten des. Waters verfntpfen und aus der Eins
beit beiber den gegenwärtigen Genuß ber Berföhnungsgnade
ableiten. Beide Kirchen halten bemnach einerfeits das Spe⸗
eififche der Sacramentögnade dur die Annahme vom
Genuß des wirklichen Leibes und: Blutes fe, und beide
bewahren babei das Geheimnißvolle der Sacraments⸗
gnade durch die Annahme vom Genuß bes verklärten
Leibes und Bluted Chriſti. Nur kommen beide zu dieſem
gemeinfemen Refultate, ihrer Individualität gemäß, auf
verſchiedenem Wege: bie Iutherifche, indem fie von der Wahr.
beit des Leibes Ghrifti, woran demgläubigen Gemüthe vor
604 Schobelin '
Allem West, außgeht und dabei den Tatholfichen Abweg wei⸗
den will; bie caloiniiche Hingegen, indem fie von ber Spi⸗
ritualitat des Genuffes, die dem erleuchteten Werftanbe
vor Allem wichtig if, ausgeht und dabei ben zwingli’fchen
Abweg melden will, - .
Es ift nicht zu verkennen, daß ber Lutherifchen Lehre
hierbei gewiſſe Vorzüge zukommen, Einmal in theoretis
fer Hinfichtz denn fle faßt die Weife des Ueberna tür⸗
li ch en in Chriſti verklaͤrtem Leibe charalteriftiſcher auf, indem
Fe denſelben nicht an (irdiſch) raͤumliche Schranken im Him⸗
mel knuͤpft, und fie faßt das Leibliche in demſelben
Garakteriftifcher auf, indem fie Leib und Biut Chriſti in
Gimmliſch) ſubſtantieller Wirktichkeit genoffen werden, nicht
eine bloße Kraft davon ausgehen laͤßt. Die Vorzüge dee
lutheriſchen Lehre aber in praktiſcher Hinſicht betreffend,
fo iſt dieſelbe einestheils troͤſſt licher; denn Chriſtus kommt
den Heilsbeduͤrftigen, in der Schwachheit ihres Glaubent
ihnen aufhelfend, mit feiner facramentalen Gnade entgegen,
fie brauchen fich nicht erft in der Kraft ihres Glaubens zu
ihrem Heiland emporzurichten. Anderntheild aber hat fie
auch einen eindringenderen Ernſt; benn fie ſpricht zugleich
über den, welcher unwürbig genießt, ein aus dem Genufle
feibft erwachſendes Gericht aus, .
Wenn aber hiernach allerdings die lutheriſche Kirche den
im Ganzen zutreffenderen Ausdruck für das Heilige Geheims
niß des Abendmahls befigt, ift derfelbe darum der vollkom⸗
men adäquate, der Feiner Ergänzung, einer Wertiefung bes
dürftige ? Furwahr wir haben von den Tiefen der göttlichen
Wahrheit und. Gnade eine größere Vorſtellung. Das Wers
haͤltniß deö Uebernatürlichen zum Natürlichen, des Göttlis
chen zum Menſchlichen, des Himmfifchen zum Irdifchen, bed
Ewigen zum Zeitlichen und deren eigenthümliche Vereinigung
in der Offenbarung und Gnadenwirkſamkeit Chriſti laͤgt fi
nie zureichend in dogmatifche Formeln faflen, ba-biefe immer
von unferer in dem Kreife des Ratärlichen ſich bewegenden
Eönfeffion md. Union. 660s
Vorſtellungswetfe hergenommen find. Und es liegt dei jeber
biefer Formeln / wieder die Gefahr nahe, anf einen Irrweg
abzuführen, weßhalb es für das Beben ber’ Kicche feinen
Gegen hat, daß hierin die Gegenfäge als Warnung vor
demfelben einander gegenfiberftehen. - Kann und fol nun
nicht ſpeciell auch hier die calviniſche Anficht der lutheriſchen
zu einer relativen Ergänzung bienen durch die Betonung
der andern Seite im farramtntaken Geheimnig? Die lu⸗
theriſche Kirche hat Recht, auf die volle Wirklichkeit
des Leiblien Im Leibe Chriſti Gewicht zu legen; aber
koͤnnen wir das Unterfchiebliche der bimmliſchen, verktärten
Leiblichkeit von der irdiſchen, «materilln am Ende anders
bezeichnen, als daß wir fie-der Kraft vergleichen im Unters
ſchied vom ſchweren Stoffe? Die Iuthesifche Kirche hat
Recht, auf die mirflihe Gegenwart des Leibes und
Blutes Chriſti im Abendniahle Gericht zu legen, und fie
bedient ſich Hierzu in fehr geeigneter Weiſe der Formel „in,
mit und unter”, weil dieſelbe dad Vechaͤltniß der vollkom⸗
menen Ginigung ohne Aufhebung des einen ober: anderen
Theiles am amnäherndften auöfprichtz aber iſt mit biefer
Immanenz in Brod und Wein das Verbleiben im Himmel
ausgeſchloſſen, da der Himmel doch nicht frdifch = räumlich
und meßbar von und entfernt -ift, fondern vielmehr die
ganze Erde umfängt und durchdtingt, ihr immahent iſt, wie
die Idee der Wirklichkeit, nur da aber auf Erden zur wirk⸗
lichen Offenbarung kommt, wo der Rapport mit bemfelben j
durch heilige Kraft eröffnet wird % Die Intherifche Kirche
bat ferner Recht, auf den wirklichen Genuß von Chriſti
Leib und Biut mit dem Munde Gewicht zu legen; aber
da dieß Genießen doch nicht in kapernaitiſcher Weife (unter
Bermalmung mit ‚den leiblichen Sähnen), fondern in geifte
licher Weiſe gefchehen, fo wie auch nicht dem aͤußerlich ſinn⸗
lichen, ſondern dem inwendigen, geiſtlichen Menſchen ſich
mittheilen ſoll, wird im Weſentlichen das Gleiche nicht auch
durch jene Annahme ausgeſagt, wornach in dem Momente
606 Schyoeberlein
des ſiunlichen Genuſſes von Brod und Wein von dem ver⸗
klaͤrten Leibe Chriſti eine heilige Gnodenkraft eindringend
in unfer Inneres ausgeht ? Die lutheriſche Kirche hat end⸗
lich Recht, darauf ‚Gewicht zu legen, daß ber unwuͤrdig
Genießende ſich dab heilige Abendmahl zum. Gericht effe
und trinde; aber ift dieſes Gericht durch die calviniſche Ans
ſicht ausgeſchloſſen, da dach auch bei der Verkündigung
des Evangeliumd, wobei. Beine farramentale, geiftleibliche
Mitteilung beſteht, Chrfitus den Einen ein Geruch bed
Todes zum Tode, ben Andern ein Geruch des Lebens zum
Leben wird? .
Wir ſehen hiexaus, daß der Lehrunterfchieb ber beis
den Schweſterkirchen im heiligen Abendmahl nur fehr rela»
tiver Art iſt. Im Weſen befteht Webereinfiimmung. Und
die. Abweihung hat ihren Grund nur darin, daß die vom
Genüth ausgehende Anſchauung die Gegenfäge beſtimmter
in ihrer Einheit auffaßt und bie Bedeutung des Leiblihen
nachdrücklicher betont, hingegen bie vom Verſtande, der feis
ner Natur ‚nach, ſcheidet, ausgehende Anſchauung die Gegens
füge in der Einheit getrennter hält und das Sinnliche ins
Seiftige zu verflüchtigen geneigt iſt.
Was follen wir aus dieſem Grunde nun dazu fagen,
wenn Lutheraner ed mit Ihrem confeffionellen Gewiflen nicht
meinen vereinigen zu koͤnnen, daß fie Reformirten das beis
lige Abendmahl reichen oder baffelbe mit ihnen genießen,
die Einen überhaupt nicht, die Andern nur dann, wenn
die Reformirten daffelbe im Sinne ber tutherifchen Lehre
empfangen zu wollen erflären? — Man fucht diefe confeſ⸗
fionele Engherzigkeit auf verſchiedene Weife zu rechtfertigen,
„Die Abendmahlögemeinfchaft”, fagt man, „hat von je als
Zeichen der Kirchengemeinfchaft gegolten. Kirchengemein⸗
ſchaft hat zu ihrer Worausfegung Glaubendgemeinfchaft.
Glaubensgemeinſchaft aber haben wir mit den Reformirten
nicht, indem diefelben über dad Abendmahl abweichend von
und denken, Deßbalb koͤnnen wir auch nicht Abendmahld
Gonfeffion und Union. 607
gemeinfchaft mit ihnen pflegen.” Aber hat ed denn mit
dieſer Schlußfolgerung feine volle Richtigkeit? Schon ber
erſte Sag kann nicht fo unbedingt als allgemeine Worauds
fesung zu Grunde gelegt werden; denn die Stellung der
Eonfeffionen zu einander im unferer Zeit iſt eine weſentlich
andere als bie der Kirche zu den ketzeriſchen Secten in ben
erften Jahrhunderten, und feit der Reformation hat nicht
ausfchlieglih nur die firenge Praris beftanden, Auch gibt
es eine facramentale Gaftfreundfchaft, wobei noch nicht
wirkliche Kirchengemeinfchaft zu beſtehen braucht, Aber abs
gefehen davon, ift denn, wie oben vorausgeſetzt wird, Glaus
bensgemeinſchaft identiſch mit buchfläblicher Webereinftims
mung in allen dogmatifchen Zeftftelungen? Gibt es denn
nicht auch eine Einheit Im Geifte des Glaubens bei dog»
matifchen Abweichungen, und ift bieß nicht bie wahre Eins
beit? (Eph. 4, 3.) Beflehen denn lutheriſche und reformirte
Kirche bloß ald Gegenfäge innerhalb ber chriftlichen
Kirche? Wiſſen wir nicht auch von einer evangelifchs
proteflantifden Kirche, innerhalb weldyer bie lutheri⸗
ſche und reformdigte Kirche Glaubensgemeinſchaft mit einan«
der haben® Und iſt diefe Glaubensgemeinſchaft nicht eine
eben das Wefen betreffende, eine dad Wefentliche in Wahrs
heit umfaffende — wie wir foldes oben bezüglich des
Abendmahls als ded confeffionellen Hauptlehrpunctes fpes
ciell erwiefen haben? Won der Idee der Glaubendges
meinfhaft aus die Abendmahlsgemeinſchaft der Iutheris
fen und -reformirten Kiche als Glaubensverleugnung zu
verwerfen, iſt deßhalb Fein Grund vorhanden, am wenigs
fien da, wo fie bloß die Bedeutung fäcramentaler Gaſt⸗
freundſchaft hat. Selbſt dann waͤre kein Grund dazu vor⸗
banden, wenn lutheriſche und reformirte Kirche innerhalb
der Einen evangelifchen wie „rechtgläubige” und „irrgläus
bige” nebeneinander fländen, da doch immerhin der Eine
Geiſt des gemeinfame evangeliſchen Glaubens beide durch.
weht, Noch weniger aber iſt es der Fall, wenn der Ges
6008 Schoeberlein
genſatz von Wahrheit und Irrthum zwiſchen ihnen nur ein
relativer iſt und zugleich dad Berhäkniß einer relativen Er⸗
gänzung zwiſchen beiben befteht,
Noch grundlofer iſt freilich bie Argumentation Anderer,
welche deßhalb mit der reformirten Kirche Beine Abendmahls.
gemeinfhaft pflegen wollen, weil diefelbe überhaupt Bein
Abendmahl babe, weil fi reformirtes und lutheriſches
Abendmahl zu einander verhalten wie ein „Willen Brod
und Trunk Wein” zu „Leib und Blut Chrifi”. Dieb iſt
nicht mehr bloß confeffionelle Engherzigkeit, dieß ift confels
fioneße Lieblofigkeit und Verblendung. Warum ſoll bed
das Abendmahl der reformirten Kirche nicht. wirkliches Gas
crament ſeyn Weil fie eine falſche dogmatiſche Anficht des
wit verbindet? Warum aber hindert dieſe falſche dogma ⸗
tische Anficht nicht auch die Wirklichkeit und Gültigkeit der
teformirten Taufe, und müßte nicht confequentermeife auch
die Taufgemeinſchaft mit der reformirten Kirche aufgegeben
werden, womit fie für unchriſtlicher ald irgendwelche Keperei
erllärt würde? — Ja, ift jene Anficht denn auch nur lu⸗
therifch gedacht? Eben nach der Anficgg der Mitberifchen
Kirche hängt ja die Wirklichkeit des Sacraments
wicht von der perfönlichen Anſicht, Gefinnung und Wuͤrdig ⸗
Beit des Gonfecricenden, fondern von der treuen, fchriftges
mäßen Verwaltung ab, und die Wirklichkeit des Em
pfangs von Leib und Blut Chrifi nicht von der Anfict
und Gefinnung des Pinzutretenden, fondern nur von dem
ſchriftmaͤßigen Genufle der geweipten Elemente. Go weit
aber der allgemeine Sinn der Kirche bierbei in Betracht
Tommt, in welchem fie dad Sacrament nerwaltet, will denn
nicht auch die reformirte Kirche fo gut als bie lutheriſche
bierbei Chriſti Auftrag vollziehen? Und fie thut ed im Glau⸗
ben an den wahren, lebendigen Chriflus, auf den fie ihr
Heil gründet und von dem fie fpeciel im Abendmahl Wer
fiegelung befjelben nach Ifeiner Berbgißung erwartet. Ja,
ſelbſt wenn bie reſormirte Kirche die ‚bogmatifche Anficht
Gonfeffion und Union. 608
hätte (wie mur ihr einer Reformator Zwingli fie aufgeſtellt),
dab Chriſtus im Abendmahl feinen Leib und fein Blut
nicht real mittheile, gibt fich denn Ghriftus Jedem nach ber
Weife feiner dogmatiſchen Meinung, ben Zwinglianern
zwingliſch, ben Calviniſten calviniſch, den Lutheranern Ins
theriſch 0. — Wohin führt jene Annahmel Die refer⸗
wirte Kirche verwaltet das heilige Abendmahl auf Grund
und in der Weile von Chriſti Einfegung: fo theilt ſich Chri⸗
Rus auch im vefoumirten Abendmahl fo mit, wie es bei
Einfegung defielben fein Sinn und Wille geweſen, d. h. er
theilt barin feinen Leib und fein Blut mit, wie er ed vers
beißen hat. Und felbft die Wuͤrdigkeit des Genufles,
fo wie der daran gefuüpfte Segen if nicht von der dogmas
tifchen Anficht abhängig. Abhängig iſt er nur vom Glau-
ben. Aber ift Glaube identiſch mit dogmatifcher Erkennt⸗
nig? Glaube ift ein Leben des Gemüths, kein bloßes Vor⸗
fielen des Verſtandes. Nöthig iſt zu einem gefegneten
Empfang nur Eines: Verlangen bed Herzens nach Chriſti
fündenvergebender Gnadenmittheilung mit Zuverficht zum
Worte feiner Verheißung — mehr nicht, felbft dieß nicht,
daß man dieſe Gnadenmittheilung für eine von der ſonſti⸗
gen verfdgiebene halte. In jenem zuverfichtlichen Werlangen
Hegt wohl auch eine Erkenntniß, die nämlich, daß im beis
ligen Abendbmable dem Sünder die verföhnende Gnade Chriſti
zu Theil werde; aber unweſentlich ift dabei, wie ſich der
Genießende das Weſen dieſer Mittheilung vorftelle. Die
sichtige, tiefere dogmatiſche Anſicht ift gut, namentlich fos
fern fie im Gemüth ein noch Iebendigered Sehnen zu wes
den vermag; aber wäthig zum Empfang bed Gegend an
fich if fie nicht, Und du, der du in fo aͤngſtlicher Sorge
dein Gewiflen nicht durch den Mitgenuß eines Reformirs
ten befleden wilft, wife, daß eben diefe beine liebloſe
dogmatiſche Scrupulofität dich am gefegneten Genuffe hin⸗
dert, und daB du hingegen großen Segen bavpn haben
wärdefi,, wenn bu mit deinem Bruder, ben du im JIrrthum
610 Schoeberlein
befangen meinſt, ber aber doch mit bir denſelben Herrn
bekennt und diefelbe Gnade ſucht, in bemlthiger Liebe an
Einem Altare zum Mahl des Herrn hinzutreten wärbeft!
Zwiſchen den evangelifchen Schweſterkirchen, der lu⸗
therifchen und reformirten, Tann Abendmahlögemeins
ſchaft alfo in wahrem, heiligen Sinne beſtehen, weil beide
wahrhaft Eins find im Glauben an den Einen Herrn. Die
Abendmahlögemeinfchaft derfelben aber erweitert fi natur⸗
gemäß zur allgemeinen Kirchengemeinfchaft. Denn
eben die Lehre vom heiligen Abendmahl ift es, worin bie
Eehrunterfchiede beider Kirchen ihre Spige haben, fo daß,
wenn bie Verſchiedenheit hierin nicht trennt, Sehrgemeins
ſch aft überhaupt moͤglich if. Und zum Andern bifbet bie
Abendmahlsfeier den Höhepunct des gottesbienflichen Le
bens, fo daß, wenn bier Trennung nicht feyn muß, für
Gultusgemeinfchaft überhaupt die Möglichkeit beſteht.
Bo aber Lehrs und Cultusgemeinfchaft, da ift auch kirchen
tegimentliche Einbeit ausführbar, Union überhaupt verwers
fen und fie, wo fle auftritt, als Secte behandeln, ift dem⸗
nach unevangeliſch, fo lutheriſches Wielen erfcheint, Weſent.
lich offenbart ſich die geiſtliche Freiheit und innere Leben
digkeit unferer Kirche darin, daß fie ihren Beſtand nicht
auf Uebereinftimmung in allen einzelnen Lehrpuncten grün-
det (wie die katholiſche Kirche nach ihrem leiblichen Charak⸗
tee mit der Unterwerfung unter ihre Auctorität auch unbes
dingte Annahme aller ihrer einzelnen Lehrfäge fordert), fons
dern daß fie in ihrer Gemeinfhaft von der „Einheit im
Evangeliſch⸗ Eentralen ausgeht und von da ber Einheit im
Veripheriſchen zuſtrebt. Darauf berupt bad Weſen der
evangeliſchen Union,
Wenn wir aber biermit die Möglichkeit einer Union
wwiſchen der lutheriſchen und veformirten Kirche in der Ges
genwart erwiefen haben, fo find wir doch keineswegs ges
meint, biermit zugleich aud ‘die Nothwendigkeit ei
ner durchgaͤngigen Verwirklichung berfelben aus⸗
Eonfeffion und Union. 611
ſprechen zu wollen, Vielmehr müfjen wir hierfür auf uns
fere obigen Säge zuruͤckverweiſen, wornach die Bewahrung
der Eonfeffion in gefondertem Beftande auch zwiſchen Zus
tberanern und Reformirten in der Gegenwart noch ihre hohe
Wichtigkeit hat, Wie unftatthaft, felbft nachtheilig eine ges
fliſſentlich herbeigeführte Union zwiſchen völlig getrennten
reformirten und Iutherifhen Ländern, wie z. B. Schweiz
und Deutfchland wäre, darauf ift oben ſchon bingewiefen
worden. Etwas anders flelt fi die Sache innerhalb
Deutſchlands ſelbſt. Theils nämlich trägt bie refors
mirte Kirche In Deutfchland überhaupt nicht den entſchieden
reformirten Typus, fondern iſt größtentheild dur eine
Verſchmelzung des reformirten Principd mit dem Melandys
thonianismus der lutherifchen Kirche entftanden, fo daß ihr
Gegenſatz zur lutheriſchen Kirche hierdurch von vornberein
gemüldert erſcheint; theils aber find ſich in Deutfchland
die einzelnen Staaten verfchiedener Confeſſion durch ihre
politifhe Lage im Äußeren Leben bereit mehr genäbert,
was zugleich innerlich) näher bringt und fo eine kirchliche
Einigung vorbereitet. Hier find mitbin die innern und du:
Bern Verhältniffe einer engeren Verbindung und beziehungss
weifen Berfchmelzung der beiden kirchlichen Richtungen güne
fliger. Dennod Finnen wir auch hieraus noch nicht die
Forderung einer Union für ganz Deutfchland herleiten. Im
Gegenteil wir müflen im Intereffe der Kirche lebhaft wine
fen, daß es dazu noch nicht fomme. Denn wenn in als
len Zheilen Deutſchlands, welches vermöge der oben auf«
gezeigten Verwandtſchaft der deutſchen Volkseigenthuͤmlich⸗
keit mit dem lutheriſchen Lehr» und Lebenstypus zum vor⸗
zugsweiſen Träger der lutheriſchen Individualität beſtimmt
iſt, die Union vollzogen würde, wo koͤnnte (außer im fans
dinavifchen Norden) dad lutherifche Princip ſich frei in feis
ner Eigenthümlichkeit entfalten? Und wel ein Nachtheil
wäre es für dad Gefammtleben der Kirche, wenn, bevor
die wahre höhere Einheit allfeitig gefunden, diefe die innere
Thpeol. Sud. Jahrg. 1858.
612 Schoeberlein
Lebendigkeit, Ziefe und Freiheit der Kirche in befondere
Dflege nehmende Individualität ihe Weſen nicht zu reiner
Ausprägung bringen koͤnnte! Es Tann nur ein Gewinn
für den reichen, vielfeitigen Aufbau der evangelifchen Kirche
in Deutfchland feyn, wenn feine rein lutheriſchen Provins
zen, in welchen veformirte Gemeinden bloß ſporadiſch beftes
ben, im Kreife ihres innern Lebens ihre Eigenthlmlichkeit
feibftändig pflegen und ausbilden. Ein Gleiches gilt in ſei⸗
nem Maße auch von ‚den zeformirten Theilen unferes Waters
landes.
Aber ebenfo muͤſſen wir es andeterſeits für eine falſche
Richtung des Confeffionalismus erklaͤren, wenn man aud
da, fey es in einzelnen Gemeinden oder ganzen Provins
zen, gegen die Anbahnung der Union fi ſtraͤuben wil,
wo bie befondern geſchichtlichen oder localen Verhaͤltniſſe
ein irgend welches Maß der Aundberung und Einigung als
etwas Naturgemäßes und Wuͤnſchenswerthes nahe legen.
Der innerfie Grund dieſer neuerlich zumal im Lutherthum
fi geltend machenden Ausſchließlichkeit ift Mangel an cons
feffioneller Demuth und Liebe. Die Demuth ſteht an, in
jeder Abweichung des Andern von der eignen Anficht ſogleich
baaren Irrthum anzunehmen, fondern fie denkt an moͤgliche
Einfeitigeit und Ergänzungsbebürftigkeit ber eignen Er⸗
kenntniß und bofft von dem Andern, wenn fie im Weſent⸗
lichen mit ipm Eins if, durch die Verbindung mit ihm
vielmehr einen Segen empfangen zu Lönnen, Die Liche
aber ſchaut auf die Wege Gottes und if, wo dieſe es fors
dern, auch zu Opfern bereit, Run find es aber Wege goͤtt⸗
licher Führung, wenn (wie in Preußen) die Schweſterkir⸗
hen unter Einem weltlichen Regiment fo vereinigt werben,
daß für fie, die in allem Uebrigen verbunden find, auch
Eine hoͤchſte kirchliche Leitung als das Naturgemäße ſich
darftelt, Und es find Wege göttlicher Führung, wenn
(wie in Baden, Rheinpfalz x.) die Schweſterkirchen in Ei-
nes Provinz und in denfelben Städten nebeneinander leben
. Gonfeffion und Union. 613
und durch jahrhundertlange Thellnahme an allen übrigen
Lebensverhältniffen auch in ihren kirchlichen Anſchauungen
fi fo fehr genähert haben, daß ihnen die Differenzen ges
gen die Einheit gering erfcheinen und fie im Liebesdrang
des Glaubens (mie «8 in Baden bei Gründung ber Union
zum großen Theil der Ball gewefen), nicht im Indifferen⸗
tiömus bed Unglaubend, bie Gemeinſamkeit des Gottesdien⸗
ſtes und kirchlichen Lebens wuͤnſchen. Doch wird freilich als
lerdings auch nur dann die an die Einigung gelnüpfte Bas
ſchraͤnkung der eigenen confeffionelen Inbivibualität gerecht:
fertigt erfcheinen, wenn fie wirklich nicht ein Werk des Uns
glaubens, fondern des Glaubens iſt, d. h. wenn zwei For⸗
derungen vereint zu ſolchem Schritte brängen: die äußere
Borderung der beſtehenden gemeinbliden Ver
bältniffe und die innere Forderung ber brüber-
lichen Liebe,
Im Allgemeinen werden ed nun zwei Formen feyn,
in welden die Annäherung und Einigung ber beiden Schwes
flerkicchen fih vollziehen Bann. Die innigfte Verbindung
wird da gefordert erfcheinen, wo die beiden Schweſterkir⸗
chen entweber feit lange in den gleichen Landestheilen oder
Städten vereinigt nebeneinander leben, oder wo neue Ges
meinden aus Gliedern ber beiden Gonfeffionen in der Ges
genwart fi bilden. Wenn hier der gefonderte Bortbeftand
ober Neubeftand auf Grund der dußeren Verhaͤltniſſe und
des innern überwiegenden Dranges nach Bereinigung als
ein Mangel empfunden wird, fo kann eine irgend welche Aus
Bere Werbinbung ber beiden Gonfelflonen nicht genügen,
fondern diefem Beduͤrfniß entfprict nur die Gemeinfam«
keit des ganzen kirchlichen Lebens: Gemeinfamteit
der Lehre, bed Gottesdienſtes, der Verfaſſung, der Sitte
und ber übrigen kirchlichen Beziehungen — d. h. wirkliche
Union,
Das erſte Erforderniß, wie bei Union überhaupt, fo
ſpeciell innerhalb der evangeliſchen Kirche, die auf bie Lehre
. ar
614 Schoeberlein
das Hauptgewicht legt, iſt: Feſtſtellung der gemeinſamen
Lehre. Dabei kann verſchieden zu Werke gegangen werben,
Man fieht entweder von den bisherigen Belenntnißgrunds
lagen ber Kirchen völlig ab und vereinigt ſich — bie dus
herſte Schranke für den evangelifchen Charakter einer kirch⸗
lichen Gemeinfhaft — bloß über der Heiligen Schrift
als höcften Norm und Quelle für den kirchlichen Glauben,
- ohne über ihren Inhalt felbft etwas aufftellen zu wollen.
Diefes bloß formale Bekenntniß aber bietet Feine zureichende
Uniondgrundlage, Denn einestheils if daffelbe eine entwe⸗
der ungläubige oder bochmäthige Abſtraction von ber gans
zen bisherigen Geifted + und Glaubensarbeit der Kirche, for
mit nicht ein Fortfchritt zu höherer Erkenntniß, fondern ein
Rüdfcgritt zu den bloßen Anfängen ber Kirche; anberns
theils iſt es unbedingte Freigebung der Gubjectivität, da
eine Norm, über deren Inhalt man nichts aufzuftellen vers
mag, auch nicht ald Schranke für Webergriffe der Subiecs
tioität gebraucht werden Bann. Und wie verträgt ſich Sol
ches mit dem Charakter pofitiver Objectivität, der jedem
wirklichen Gemeinleben eignet?
Ein zweiter Weg ift, daß man die Symbole der
beiden Gonfeffionen in ihrer bisherigen Aucı
torität ald Lehrnorm belaffe und fid zu dem, was
beiden gemein ift, zu ihrem consensus, ald zur gemeinfas
men Lehre der vereinigten Kirchen, befenne, bezüglich ber
Lehrgegenfäge aber, als welche nicht das Weſen des evans
geliſchen Glaubens betreffen, der individuellen Richtung der
Einzelnen freien Raum gewaͤhre und nur die feindliche Be
kaͤmpfung der entgegenftehenden Lehrmeinung ausſchließe.
Diefer Weg ift ein naturgemäßer. IA er auch nicht unbes
dingt als Fortſchritt in der Entwidelung des kirchlichen Le⸗
bens zu bezeichnen, fo doc noch weniger als Rüdfchritt,
fondern die Kirche verbleibt hierbei auf der biöherigen
Stufe ihrer Entwickelung, aber fie hebt die andere Seite
ihres gegenwärtigen Beſtandes hervor, nämlich die Geite
Gonfeffion und Union. 615
der Einheit, ohne Tilgung der Unterfchiebe, wogegen bie
eonfeffionellen Kirchen den Unterfchied gegen die Einheit in
den Vordergrund ftellen, ohne diefe felbft zu leugnen. Hier⸗
aus erhellt, wie unbegründet die Annahme mandyer Luthe⸗
raner if, daß die Theilnahme bed Unirten am lutherifchen
Abendmahl und die des Lutheraners am unirten für einen
„Mebertritt in eine andere Kirche” zu achten ſey. Die ift
nicht einmal beim vollen, factifhen Eintritt in die unixte
Kirche oder beim Rüdgang aus diefer in die confeffionelle
der Fall, Der Lutheraner gibt in der auf bem consensus
ftehenden Union feinen lutheriſchen Typus nicht nothwendig
auf, fondern er geht nur aus dem Separatbeftand der
lutheriſchen Kirche in ihren Unionsbeftand mit ber res
formirten über. Und dieß fann er thun, wenn ihm die
Einheit beider Gonfeffionen höher fleht, als ihre Unterfchiede,
Als dritte Möglichkeit endlich liegt vor, daß die vereis
nigten Gonfeffionen ein neues gemeinfamed Symbol
aufſtellen, errichtet auf der Grundlage der bisherigen Bes
Eenntniffe — (mogegen ein unbedingt neued Symbol nicht
eine unirte, fondern eine voͤllig neue Kirche begründen würde,
was außer den Bereich unferer vorliegenden Betrachtung
faͤllt). Und auch da iſt wieder ein doppelter Weg möglich.
Entweder nämlich ſtellt das Symbol fehr allgemeine Bes
flimmungen auf, damit unter demfelben als unter einem
weiten Mantel die verſchiedenſten Richtungen der evangelis
ſchen Kirche Play finden mögen, Je allgemeiner aber diefe
Beflimmungen find und je mehr fie den Gewinn der bißs
ber errungenen Glaubenseinſicht der Kirche bei Seite liegen
laffen, defto größer if die Werwandtfchaft diefed Weges mit
jenem erfigenannten, den wir ald abfoluten Rldfchritt bes
zeichnet haben, Dder das neue Symbol — welches freilich,
um biefen Namen in Wahrheit zu tragen, aus dem wirt:
lihen Gemeinbebemußtfegn der Gegenwart entfprungen
feyn müßte — flellt Beftimmungen auf, weldye den Gewinn
der ganzen biöherigen Arbeit kirchlichen Strebens und con=
616 Schoeberlein
feſſionellen Kampfes lebendig in ſich tragen und in einem
hoͤheren, einheitlichen Ausdruck zuſammenfaſſen. Und hier
iſt zu ſagen: je mehr in demſelben die Gegenſaͤte theils zu
vollem echte beftehen, theild zu wahrer, innerer Einheit
aufgenommen find, befto mehr iſt ſolche Union eine annd-
bernde Verwirklichung des Endzield der Kirche und bezeich⸗
net fomit einen weſentlichen Fortſchritt in ihrer gegenwärtis
gen Entwidelung.
An die Gemeinſamkeit der Lehre ſchließt ſich mit Rothe
wendigkeit die Gemeinfamleit des Eultuß, der Berfaf
fung und der Sitte, Und hierfür gelten bie gleichen
Srundfäge. ‘Aufgabe iſt, die Vorzüge beider Gonfeffionen
moͤglichſt zu verbinden und ihre Mängel dagegen fern zu
balten, hierbei 'aber daB Neue aus Einem Geifte des Blau
bens zu Einem harmoniſchen Ganzen erwachfen zu laſſen.
Da nun, nad) unferer obigen Darftellung, die Worzüge ber
lutheriſchen Kirche nach Seite der Lehre und des Cultus,
die ber veformirten nach Seite der Werfaflung und Sitte
liegen, fo wird eine Union um fo volllommener werden, je
mehr in Lehre und Cultus der lutheriſche, in Verfaſſung
und Sitte der reformirte Typus nicht allein herrſcht.
aber vorberrfcht, beſchraͤnkt durch den ergänzenden Gegens
ſatz der Schweſterkirche.
Legen wir dieſen Maßſtab an unfere beſtehenden Uniss
nen, fo müflen wir fagen: es fehlt noch viel, daß fie eine
Darftelung ber wahren Union feyen, Nur ſchwache An
fäße dazu find gemacht; ja einzelne tragen ein ziemlich las
titubinariftifches Gepraͤge. Im Allgemeinen beſchraͤnken fie
fi auf den consensus mit Freigebung der individuellen
Richtung in den gegenfäglihen Puncten und verharren infos
fern auf der Stufe der biöherigen Lehr: und Lebensentwis
delung ber Kirche, Aber auch hier find fie von wefentlicher
Bedeutung und von wirklihem Gegen für die Gegenwart
und Zukunft der Kirche. Sie find es einmal ſchon duch
den Sinn und Geift, der fie hervorgerufen. Denn es if
Gonfeffion und Union. 617
ungerecht, bie Unionen ber Gegenwart ohne Weiteres als
Erzeugniffe des Unglaubens charakterifiren zu wollen. Wenn;
gleich wir allerdings in ihnen vielfältig den Einflüffen def
felben begegnen, fo lehrt und doch wiederum ein tieferen
Blick in die neuere Geſchichte, daß fie nicht weniger in ine
nigem Zuſammenhang mit der Glaubensbewegung ber Ger -
genwart fliehen, ja zum Theil recht eigentlid) aus der neu
erwachenden Liebe zu den poſitiven Grundwahrheiten des
chriſtlichen Glaubens erwachſen find. Der fpäter hervorge⸗
tretene Gonfeffionalismnd, welcher auf die gleihe Quelle
zurkdzuführen, hat dann nur die andere Seite des kirch⸗
lichen Glaubendiebens in Pflege genommen. Bekunbet ſich
in diefem der Ernfi der Treue, der des Glaubens Kind
iſt, fo in jenem die Demuth der Liebe, welche gewißs
lich Peine unedlere Tochter des Glaubens zu nennen, Nicht
bloß die confeffionele Treue, welche die eigene Individua⸗
Nität für den reichen und allfeitigen Ausbau ber Gefammt-
kirche rein fortbildet, geht in den Wegen Gottes und hat
eine Verheißung, fondern auch bie confeffionelle Liebe, wel
che auf Grund des Gemeindebebürfniffes um der Einigung
im Wefentlihen willen gern zu Opfern im Unwefentlicyen
bereit ift. Und weit entfernt, daß wir ſolche Unionen in
einzelnen Gemeinden wie ganzen Provinzen ald „Not h⸗
fände” beklagten, deren man ſich baldmoͤglichſt müffe zu
entledigen fuchen, erkennen wir barin vielmehr Licbes:
werte des Glaubens, deren Pflege und befohlen ift,
Sind aber ſonach die beftchenden Unionen ſchon um des
Grundes willen, aus dem fie entfprungen, zu ehren, fo
überdieß noch um des Zieles willen, dem fie zuftreben,
Denn obwohl fie von ber wahren Union felbft noch fern
find, fo hat ſich doch in ihnen der Geift, welcher bie ſchließ⸗
liche Union bilden wird, einmal wirklich erhoben und in
Bewegung geſetzt, um raſtlos vorwärts zu ſchreiten. Und
das Endziel der Entwidelung der Kirche fleht nun nicht
mehr bloß als abftracte Forderung in dem Bewußtſeyn der
618 Schoeberlein
Ghriftenheit, fondern in wirklichen Anfängen zugleidh vor
Augen ald factifche Erklärung, daß auf der Einheit im We
fentlichen eingrößeres Gewicht liege, als auf den Gegenfägen
in Unwefentlihem, als ernfte Warnung, daß man fid in
Pflege der confeffionellen Eigenthuͤmlichkeit nicht überflürze,
noch zu gebäffiger Feindſchaft fortreißen lafle, und ald ein
dringende Mahnung, die Einigkeit im Geift zu halten durch
. dab Band des Friedens.
Doch nicht überall wird zwiſchen den nebeneinander
ſtehenden Schwefterlirchen das Beduͤrfniß einer ſolchen volis
ſtaͤndigen Einigung ſich Fund geben. Wo dieſelben blog
unter Einem weltlichen Regiment vereinigt find, nach gan:
zen Provinzen aber gefondert beftehen, da ift theils aͤußer⸗
lich feine Verſchmelzung gefordert, theil® wird ſich, weil
nicht die Gelegenheit, ſich in einander einzuleben, gegeben ift,
ein innered Verlangen darnach weniger bilden. Doc aber
bat es für das von der weſentlichen Einheit der beiden
evangeliſchen Kirhen durchdrungene Gemüth etwas Unbe⸗
friedigendes, daß bie Glieder derfelben, während fie Gin
Regiment in allem Uebrigen verbindet, in kirchlichen Din
gen völlig gefcieden ſeyen. Hier ift die Vereinigung unter
Einer gemiſchten oberften evangeliſchen Kirchenbehoͤrde, alfo
eine bloße kirchenregimentliche Einigung, wobei die confeſ⸗
fionelen Eigenthümlickeiten in den Gemeinden felbft uns
verändert fortbefteben, bier ift Gonföderation an ibrem
Drte, Wenn von beiden Seiten der innere Trieb und ernſte
Wille brüderlihen Sinnes vorhanden iſt, fo ift ſolche Confoͤ—
deration in Segen ausfuͤhrbar. Ja ſelbſt die unirte Kirche
kann als ſelbſtaͤndiges Glied, weil als beſondere Lebensge—
ſtaltung evangeliſchen Weſens, in dieſen Bund eintreten,
und ſie wird dann den ſchoͤnen Beruf darin uͤberkommen,
als Mittlerin zwiſchen den Gegenſaͤtzen ein immer tieferes
gegenſeitiges Verſtaͤndniß der beiden Schweſterkirchen her—
beizuführen. Aber freilich wird fie dieſen Beruf nur
dann wirklich erfüllen koͤnnen, wenn ebenfo fie feibft die
Gonfeffion und Union. 619
fortbeftehende Berechtigung der confeffionellen Zypen, als
die mit ihr verbundenen confeffionellen Kirchen bie Union
in ihrer abfoluten Bedeutung für die Zukunft und in ihrer
relativen für die Gegenwart aufrichtig anerkennen.
Ueberhaupt müffen wir es als eine für dad Gebeiben
ber evangelifhen Kirche befonderd ſegensreiche göttliche Flih⸗
zung anfehen, baß in ihrem Schooße und in unferem lies
ben beutfchen Vaterlande die verfcgtedenen Formen bed cons
feffionellen Lebens: abgefchloffene Gonfeffion, Eon-
föderation undUnion, theild in ganzen Provinzen, theils
in einzelnen Gemeinden ſich allmählich herausgebildet und
feftgeftelt haben. Nur gehört zur vollen Verwirklichung
dieſes Segend ein Zweifaches. Erfilih müflen alle diefe
verſchiedenen Geftaltungen der evangelifchen Kirche ſich als
ein folibarifches Ganzes nady außen betrachten: wie im
Kampfe wider alle antichriftliben Bewegungen ber Zeit,
fo auch da, wo es gilt, den vollen, Träftigen Beftand der
Einen evangelifen Kirche gegen bie Uebergriffe und Ans
feindungen der roͤmiſchen Hierarchie zu wahren. Das Zweite
aber ift, daß fie fi mit dem bloßen ruhigen Nebeneinans
derbeftehen nicht begnügen, fondern bie innere Einheit des
evangelifchen Geiftes theild durch fortgehenden geiftigen Aus⸗
tauſch, durch aufrichtige gegenfeitige Theilnahme und mans
nichfaltige brüberliche Handreihung bewähren, theils aber
auf den verſchiedenen Gebieten des kirchlichen Lebens zu
gemeinfamer Arbeit für den allgemeinen Aufbau der evans
geliſchen Kirche fi) verbinden und dad, was allen gemein
fam ift, zu einem immer fefteren allgemeinen Band ausbil⸗
den, worin die innere Einheit auch dußere Wirklich
teit gewinne, Wenn die evangeliihe Kirche auf biefem
Wege, den fie bereits mit Segen beiteten, fortgebt, fo wird
fie dadurch ebenfo ihr eigenes geiftliches Leben am gefüindes
ſten pflegen, als auch am naturgemäßeften ihrerfeit dad
Eünftige Werk der allgemeinen Union vorbereiten,
6x Schoeberlein
Y) Allgemeine Union,
Berner noch als bie Union ber Iutherifchen und refor⸗
uirten Kirche zu Einem evangelifchen Ganzen ficht die
Union der kathollſchen und evangeliſchen Kirche zu Einem
chriſtlichen Banyen. Eine nothwendige Worausfegung
baflx ift, daB vorher die Schweſterkirche ber roͤmiſchen, bie
griechiſche, aus der Erflarrung, in welcher fie fi) noch
befindet, zum Leben erkoeckt worden und in den Kreis des
allgemeinen kirchlichen Berkehrs eingetreten fey. Ihr treues
Sehhalten an den altchriftfichen Lebensformen und die groͤ⸗
Bere Keufchheit ihrer Verleiblichung birgt für fie einen Se⸗
gen in fi, ber ihr nicht wird verloren geben, umd befds
bigt fie fpeciell für die Aufgabe, eine Annäherung zwiſchen
der evangeliſchen und katholiſchen Kirche zu vermitteln,
Freilich werden dem erſt große Mölkerbemegungen voraude
gehen müffen (auf welche übrigens fo manche Anzeichen im
Dften vorausverfündend hinweiſen). Cine zweite Voraus⸗
fegung aber, damit eine allgemeine Union zu Stande kom:
men koͤnne, tft die, daß ſich die Menfchheit zu einer großen
Boͤlkerfamilie fortgebiidet habe, worin die confeffionellen
Richtungen die lebendigſte, alfeitigfe Wechſelwirkung auf
einander üben. Auch zur Erreichung, dieſes Zieles fehen wir
in der Gegenwart mandye bedeutfame Schritte gefcyeben.
Doch dieß find nur äußere Bedingungen, wodurch
der Entwickelungsgang ber Kirche an den Gang der allge⸗
meinen Geſchichte der Menſchheit geknüpft if, die mit der
Geſchichte der Kirche dem Einen Ziel der Wolendung des
Reiches Gottes hienieden entgegengeht. Die Union ſelbſt aber
muß aus dem eignen inneren Leben der Kirche hervor⸗
wachſen. Und bieß ann nur dadurch geſchehen, daß der
Geiſt einer höheren Einheit ſaͤmmtliche Gonfeffionen verföh
nend durchdringt. Diefer Geiſt if ber Geiſt der johan⸗
neiſchen Lehrs und Lebensanſchauung. Er hat in der
apoftolifchen Kirche den Gegenſatz der jakobifch - petrinifchen
und ber pauliniſchen Glaubensrichtung überwunden, indem
Gonfeffion und Union. 621
ex beide in ſich einigte, Jene erſtere Richtung ift fobann ſpaͤ⸗
ter in der katholiſchen Kirche zur völigeren, aber auch
einſeitigen und theilweife in Irethum und Sünde abgewi⸗
denen Audprägung gekommen, diefe in der evangelis
fden Kirche, Die wahre Unten kann deßhalb auch am Ende
wit am Anfang nur durch jene verföhnende höhere Einheit
der johanneifchen Richtung bewerkſtelligt werden. Hierin
voranzugehen, ift aber vor, Allem bie evangelifche und ins
nerhalb berfelben wieder, vermöge ihrer ben Gegenfag bes
Sinnlichen und Rationalen in ber Imerlichkeit des Ges
müth8 relativ aufhebenden Individualität, die lutheriſche
Kirche berufen. Der katholiſchen Kirche, obwohl fie ſich
die allgemeine war Z£ordv nennt, liegt Solches fern, weil
fie in der Aeußerlichkeit ihres Strebens diefe Allgemeinheit
auf die Grenzen ihres fichtbaren Kischenbereiches beſchraͤnkt.
Hingegen die evangeliſche Kirche iſt durch bie Freiheit und
Innerlichkeit ihres Standpunctes auf eine viel größere Weite
berzigkeit, ich möchte fagen: Hochherzigkeit in kirchlichen
Dingen gewiefen. Sie follte einerfeitd immer mehr Ernſt
machen mit bem apoftolifhen Grundſatze: „Alles ift euer,”
d. h. fie follte Alles, was wahrhaft riftlich und foweit es
folches iſt, es ſeyen Wahrbeiten, Perfönlichkeiten oder Bes
bendorbnungen, aud wenn es in andern Gonfeffionen her⸗
vortritt, als zugleich ihr, wenigftend im Geiſte, zugehörig
betrachten, Andererſeits aber follte fie immer lebendiger
von ber Weberzeugung fidh durchdringen laſſen, daß ihre
Individualität nicht die ausſchließliche ſey, und follte in
diefer Demuth, ohne ihre Individualität aufzugeben, fons
den von ihr aus, fie veinigend und heiligend, immer ties
fer nach jener innerſten Mitte vorzudringen fidh bemühen,
von welder aus bie fchließliche Einheit ihre Wirklichkeit
gewinnen wird. ‚
Bu biefer confeffionellen Annäherung und Anbahnung
einer ſchließlichen Union ergehen auch von außen ber die
dringendſten Aufforderungen. Denn bie wachſende Macht
622 Schoeberlein
des Antichriſtenthums, welches klug genug nicht bloß ins
chriſtliche, fondern ſelbſt ins confeffionelle Gewand ſich zu
Heiden weiß, wie fol fie anders gebrochen werden, ald da=
durch, daß die Gonfeffionen, den innern Zwift beilegend,
mit vereinten Kräften den Kampf gegen ben gemeinfamen
äußeren Feind aufnehmen?
Freilich wird es im Laufe der natürlichen Entwidelung
der Kirche immerhin zu nicht mehr als zu allgemeinen, den
Boden bereitenden Wermittelungen und zu einzelnen, einen
vorläufigen Kern bildenden innern Anbahnungen der fchließ:
lichen allgemeinen Union kommen. Denn die wahre Eini-
gang erblüht nur aus der Wurzel der wahren brüderlichen
Liebe; aber — können wir nach ber biöherigen Erfahrung
Andered erwarten, ald baß die Selbſtſucht auch bis and
Ende in der Kirche eine Herrſchaft über die Gemüther üben
werde? Es bedarf des unmittelbaren, übernatürliden Eins
greifens einer höhern Macht, um die mehr denn bloß indis
viduell getrennten, um die zugleich durch ſuͤndlichen Wider
ſpruch gefchiedenen Theile der Kirche zu Einem lebendigen
Ganzen wieber zu verbinden. Doch jene vorausgehenden
Anbahnungen find nöthig, damit alddann das übernatürs
lich begründete Werk feine natürliche Anknüpfung finde in
der innern Bereitung ber Seelen und in ber dußern Wer
bindung der Voͤlker.
Diefe befondere göttliche Machtwirkung wird nach dem
Worte der Verheißung die ſeyn, daß Chriſtus der Herr in
‚Herrlichkeit wiederfommen und fein Reich hienieden auftich⸗
ten wird, um den Sieg feiner Kirche über die Welt that:
ſaͤchlich zu offenbaren. In jener Zeit irdifchen Friedens
wird die Kirche wirklich als Ein Mei des Glaubens in
brüberlicher Liebe beftehen, und bie einzelnen Gonfeffionen
werden nicht mehr Außerlih von einander getrennt feyn,
fondern in organifder Weife mit ihrer Eigenthümlichkeit
ſich zur Darftelung der Einen Kirche ergänzen, Es wird
in diefer wahrhaft allgemeinen Kirche das wahrfte, freieſte,
Gonfeffion und Union. 623
idealſte Geiſtesleben mit einem reichen, geglieberten, feften
Leibesleben nad allen Seiten ihres Beftandes ſich durch⸗
dringen. Und bierzu wird ebenfo die katholiſche Kirche ihr
die fefte Baſis und dußere Fülle bieten, als die veformirte
Kirche ihr die geiftige Schärfe, die lutheriſche die innere
Lebendigkeit und Freiheit zueignen, Wie in Chriſti Perföns
lichkeit alle Individualitäten der Menfchenkinder zu idealer
Einheit und harmoniſcher Schönheit geeinigt find, fo auch
wird die Kirche, fein Bild- widerftrahlend, den in reichges
glieberter, harmonifcher Fülle beftehenden ‚.im reinen Lichte
der Liebe leuchtenden und zu geiftlicher Herrlichkeit ſich ent⸗
faltenden Leib Chrifti hienieden darftellen. Dann ift in
Wahrheit erfült, was Er, der Herr, während feines Wan⸗
dels im Fleiſche verheißen hat: „und wird Eine Heerde und
Ein Hirte werden.”
2,
Cyrus der Große
Eine Grörterimg der Frage, ob Eyrus, der Gründer
des mebosperfifchen Reichs, in der That nicht mit
dem Kores der heiligen Schrift, dem Wohlthäter ber
Juden, ein und berfelbe fey.
Bon
Fr. Bilhelm Shulg,
Licentiaten und Privatborenien an der Univerfität Berlin.
Während es biöher immer für eine ausgemachte That⸗
ſache galt, daß der aus dem Herobot und auch fonft bin
laͤnglich bekannte Eyrus nicht bloß bie perſiſche Monarchie
gegründet habe, fondern auch als der Kored ber heiligen
Schrift der Anfänger eines neuen juͤdiſchen Staates gewes
fen ſey, bat man ſich in den legten Jahren veranlaßt ges
feben, aud an biefer Annahme zu rütteln und dem viel:
gerühmten Perferheiden feine Ehren zu ſchmaͤlern. Ganz
unermwarteterweife if diegmal ber Verſuch des Umfkurzes
zuerft in England von einem Herzog auögegangen, naͤmlich
von Herrn George Duke of Mandhefter, der in feinem Buche:
the times of Daniel. 1845, feine fleißigen und gelehrten
uUnterſuchungen befonber& fiber diefen Gegenfland ausdehnte.
Sodann hat der Herr Prof. Ebrard im 3, Hefte biefer
Beitfchrift vom Jahre 1847 die Refultate des Herzogs nicht
bloß anempfohlen, fondern auch theilmeife neu begründen
zu koͤnnen gemeint, Und endlich hat der ‚Herr Diakonus
Bee diefelben in einem eigenen Meinen Buche über Cyrus
Gyrus der Große, 625
von 1850 noch allgemeiner zu verbreiten geſucht. Man
nahm naͤmlich beſonders Anfloß daran, daß nach Daniel
nit Eyrus ald Sieger ber Nebukadnezar und feine Nach⸗
kommen, fondern vielmehr Darius ald Eroberer Babylons
aufzutreten ſcheine; man wußte, daß ein Darius Hyſtaſpis
nad der Vulgaͤrgeſchichte Babylon erobert habe, und ſchloß
alsbald, daß Daniel mit feinem Darius ben Darius Hy⸗
ſtaſpis meine und mit ihm ben eigentlichen Anfang des
medo⸗ perfifchen Reiches fege, So mußten denn natürlich
die Ghaldder, die nach ber Bibel unmittelbar vor dieſem
Darius Babylon inne hatten, ibentifch feyn mit den Pers
fern, die es nach der Vulgaͤrgeſchichte bis auf Darius Hy⸗
ſtaſpis beherrſchten; das Volk der Chaldaͤer durfte Fein an⸗
deres ſeyn, als das ber Perſer; ihre Könige Nebukadnezar I.
und II. und Evilmerodady mußten den Koͤnigen ber Perfer,
Cyrus, Kambyſes und Smerdis, aufs gemauefte entfpredden,
und der Kored der heiligen Schrift, der erſt nach der Er⸗
oberung Babylons den Juden die Erlaubniß der Kuͤckkehr
gab, er mußte — verſteht fi) von felber — nach jenem
Darius Hyflafpis gelebt haben, Fonnte nicht ber befannte
Cyrus, der Gründer der perſiſchen Monardie, fondern nur
ein Unterfönig der fpätern perſiſchen Regenten feyn,
Zu neu und überrafchend aber if diefe Anficht, als daß
fie fo ohne Weiteres hingenommen werben könnte, Der
‚Herzog ſcheint fich auch felber von vornherein auf vielfeitis
gen Widerfprud gefaßt gemacht zu haben. Gleich in ber
Vorrede fagt er mit Ernefli: Es ift ein Fall von feltenem .
Städe, mit Iemanbem zufammenzutreffen, der gefonnen
iſt, Vorurtheile aufzugeben, und ber den Willen oder gar
ben Muth bat, die Meinungen Anderer zuzulaffen. I un-
fortunately, fügt er bann hinzu, can appropriate this
language in its full force; for my doubts begin at
that point of ancient history, which all others have
assumed as estabished. Wenn ſich der Herzog freilich
damit zugleich über jeden Widerſpruch zu troͤſen fucht, als
626 Schultz
ob er beſonders in Vorurtheilen feinen Grund haben werde,
fo thut man doch in der That fehr wohl daran, das Alte
nicht eher fortzumerfen, als bis man fi) vom der Worzügs
lichkeit ded Neuen binlänglidd überzeugt hat. Bedenken
muß es doch auf jeden Fall erregen, daß achtzehn Jahr⸗
hunderte von Anfang bis zu Ende Ale in gleicher Weiſe
über einen und denfelben Punct geirrt haben follen, über eis
nen Punct, der keineswegs unbeachtet geblieben ift, fondern
den die gelehrteften Männer zu allen Zeiten, Iofephus, GL
Ptolemäus und Eufebius ſchon unter den Aelteren und Gals
vifius, Scaliger, Petavius, Ufcher, Prideaur, des Vignoles
und Hartmann außer vielen Anderen unter ben Neuern, aufs
forgfältigfte erörtert haben, Ebrard will dem zwar vorbeus
gen und meint, eigentlich habe nur ber Eine Joſephus ges
iretz dem feyen dann alle Kirchenvaͤter gefolgt und nur das
durch fey der Irrthum fo eingewurzelt und durch alle Zei:
ten conftant geworden: — bie Quellenfchriften redeten, wenn
fie von Griechen herrührten, nur von Gyrus und den Per
fern, wenn fie chaldaͤiſchen Urfprungd wären, nur von Res
bukadnezar und den Chaldaͤern, fo bag man, ohne ſich von
Joſephus bevormunden zu laffen, beide leicht in eins zufam-
menbringen koͤnne. Damit wird man ſich aber wenig bes
ruhigen koͤnnen; Eufebius und viele Andere nad) ihm has
ben doch offenbar nicht bloß die Meinung des Joſephus,
fondern auch die Nachrichten des Ehaldderd Berofus und
der Andern vor Augen gehabt,
Es wird daher vor Allem eine genauere Prüfung der
Quellen felber am Drte, ja unerläglich nötbig feyn, Möchte
es auch vom Prof. Ebrard etwas zuviel behauptet fein,
die Unterfuchung des Herzogs liefere ein Refultat von fols
her Bedeutung und Wichtigkeit, daß, wenn daffelbe Aner⸗
Tennung finde, dadurch eine Revolution in der Geſchichts-
forſchung ber älteften Zeit hervorgerufen werde, nicht min⸗
der groß als bie Revolution, welche Gopernitus Im der Aſtro⸗
nomie hervorbrachte: — fo Tann ſich doch allerdings der
Eyrus der Große 627
‚Hiftoriker die Aufgabe nicht erlaffen, die Sale moͤglichſt
weit ind Reine zu bringen, und die theologiſche Forſchung
auf dem Gebiete der biblifchen Geſchichte kaum ein interefs
ſanteres Feld finden, als bier, wo die Nachrichten der Iſrae⸗
Titen mit ben Nachrichten anderer Wölter fo eng in einans
ber greifen und ſich gegenfeitig entweber beflätigen ober
zweifelhaft machen, Moͤchte nur eben fo wenig bad Recht
ber Vulgaͤrgeſchichte gegen das ber heiligen, wie das ber heilis
gen gegen jenes ber Bulgärgefchichte gefränkt werben! Der
Herzog hat den Verſuch gemacht, ‚wie weit man fomme,
wenn man vorerſt einmal bie Ehronologie der heiligen Schrift
für ſich behandele, ohne fogleih im voraus Vergleichun⸗
gen mit der Profangefchichte eingumengen, und dann erft
die legtere mit in Rechnung ziehe”, und Ebrard hat Beinen
Anftand genommen , diefe Methode als eine fehr vorzügs
liche und wahrhaft wiſſenſchaftliche anzuerkennen. Willens
ſchaftlicher aber noch wird man ohne Zweifel verfahren und
jeden Verdacht auf Worurtheil beim Herzog felber vermeis
den, wenn man ber Wulgärgefchichte eine eben fo ſelbſtaͤn⸗
dige Behandlung zu Theil werden laͤßt, wie der. biblifchen
Gefchichte, und erftere eben fo wenig allzu abhängig von
letzterer macht, al über dieſelbe herrſchen läßt, fondern
vielmehr das nicht von felber Uebereinftimmende als nicht
übereinftimmend anerfennt. Hier fol darum zundchft allein
von den außerbiblifchen Nachrichten, dann von der heiligen
Schrift felber die Rede feyn und zulegt eine Vergleichung
beider gegeben werben, und zwar jedesmal nach ben drei
Puncten, die für den vorliegenden Gegenfland in Betracht
Tommen, nach dem, was bie Chaldder, was dad Werhält-
niß der Chaldaͤer und Perfer zu einander, und zuleht, was
die Perfer felbft betrifft,
Die Chaldaͤer alfo zuerft treten bei den Schrift⸗
ſtellern, welche ſich naͤher auf ſie einlaſen unmittelbar
Tpeol, Stud. Jahrg. 1858, .
@s Schulb
nach dem Untergange Affurs, des erſten bedeutenderen Welt⸗
reiches in Afien, auf dem Schauplatze ber Geſchichte auf.
Bis dahin find fie in einer größern ober geringern Abhäns
gigkeit von ben Affyrern gehalten worben. Denn werben
aud Nabonaflar und dann Markokampad, der Jeſ. 39, 1.
Merodad und 2 Koͤn. 22, 12. Berodach genannt wird, mit
vielen Andern als Könige Babylons aufgeführt, fo haben
doch die aſſyriſchen Könige Phul, Xheglath » Phalafar,
Salmanaflar, Sennacherib und Aſſerhaddon ohne Zweifel
eine Oberhoheit über biefelben ausgelbt, und ebenfo deren
ſchwaͤchere Nachfolger Samuges und Sarakus. Nabepo⸗
laffar, der darnach bie Herrſchaft fiber Babylon erwarb,
hatte baher nicht Babel von babyloniſchen Königen zu ers
obern, fondern vielmehr von dem König Affyriens zu bes
freien, Und das beflätigt denn audy» Alerander Polyhiſtor
im Chronikon des Eufebius ganz ausdruͤclich. In ber Aus:
gabe von Scaliger (S. 38.) Heißt es naͤmlich vom Rabopos
laſſar =), daß er zum Aflyages von Medien gefchidt und
deffen Tochter Amtitte für feinen Sohn Nabuchodonoſor zur
Gemahlin genommen, bann daß er, als Feldherr von Ga
rakus ausgeſandt, gegen Sarakus felbft nach Ninive zu
Gelbe gezogen fey; Sarakus habe fi) aus Zurcht mie der
Königöburg verbrannt, und er, der Water des Nabuchodo⸗
noſor, habe die Herrſchaft über die Chaldaͤer uͤberkommen.
Ebenfo beißt es im armeniſchen Chronikon des Eufebius
nad) Aucher: p. 22. „Hicexercitum Astyagi Medo, familiae
®) Toörov d Holvlerug Aldtavögog Zugdardzaler nalet win-
vevte mgög "Aerveiynp, oargiunv Mnörlas, zal zje Owye-
zige avrod Anke Aaforea vönpme eig cdr wlör eures
Naßeuzodosdsog: odros ergemmyös Und Ziganeg, ses Zul-
Salar Busıldas, erulslg xard zoü aurod Ziigenog als Nivor
Imorgarsiang, od züv Ipodor wrondalg d Zigenog bawrör
oꝛð⸗ vols Pasileloug dvingness nal rw dgziv sr Xaldaler
wagilaßır d wirds Naßomolisagos, d rou Naßovgodeness-
g0v zarig. .
Cyrus der Große. "629
prineipi ac satrapae, auxilio misit, ut Amuhean, Astya-
gis fillam, Nabucodrossoro, filio suo, uxorem daret.”
Ferner unterjochte Nabopolaffar nicht etwa die alten
Babylonier,unter die Herrſchaft irgend eines anderen Volks.
fammes, fondern Träftigte und vergrößerte vielmehr ihre _
Macht. Ebrard behauptet zwar vom Rabopolaffar und feis
nem Sohne (©. 665.): „Sie waren nicht Babylonier,
fonbern Ehaldder. Diefer urfprünglich armenifche Stamm
war (ef. 23,13.) von den Aſſyrern nach Babylon ver»
pflanzt worden und bildete hier eine eigene Kafte . . . Wer
waren aber biefe Chaldder? . . . Die Sprache der Chal:
däer, die und noch in wenigen @igennamen erhalten ift,
war ein mebo«perfifcher Dialekt.” Mas aber zundchft die
uUnterſcheldung ber Chaldaͤer von dem Babyloniern angeht,
fo erwähnt Xenophon (Cyrop.IIl, 2.$.7.12,) allerdings ein
Bolk der Chaldäer in ben Bergen Armeniens, an der Grenze
der Aſſyrer, und findet ebendaſelbſt dieß Wolf bei feiner Rüde
kehr von Kunara (Anab. IV,3,$.4. V,5.$.9. VIL,8.$.14,).
Allein daraus darf man doch noch nicht ſchließen, daß die
Chaldaͤer aus jener Gegend erft in Babylonien eingebruns
gen feyen und Babel erobert haben, Nur bas möchte
man vermuthen, daß bie Ghaldder früher in jenen Lande”
ſchaften am Cuphrat und Tigris weit verbreitet geweſen
ſeyen, zumal da ſich auch das zen "me 1 Mof. 11, W. in
Mefopotamien und wre Ezech. 1,3, am Epaboras in
der Gegend Mefopotamiens findet. Mag auch Dikaͤarch
bei Stephan von Byzanz zu KaAdeaiog erzählen: Einer von
den Nachkommen des Ninus, Xaidriog genannt, habe Ba⸗
bei gegründet, „Äxavras es tadınv Gvvayapim zobs xa-
Aovpbvoug Xaidalovs”, und mag man auch ned Ans
deres für jene Meinung vorbringen, wie Gefenius in feinem
Commentar zu Jeſaias 23,13,, dennoch behauptet Leo (Lehr⸗
buch Dex Univerſalgeſch. J. S. 99.) wohl nicht wit Unrecht von
allen dieſen Gründen: „fie erfcheinen doch bei näherer Pruͤ⸗
fung nicht Benbhaltend. Die Ehasbim, mit denen wir es
a2*
630 Schult
hier zu thun haben, ſind von jeher in Babylonien und bis
in die oberen Theile Meſopotamiens zu Haufe” Daß man
fi auf Jeſ. 23, 13, ganz mit Unrecht berufen hat, hat ſchon
Hupfeld (de rebus Assyriorum p.15. eto.) und dann Des
Usfch (Eommentar zum Habakuk, Einl. S. XXI.) zur Ges
nuͤge dargethan. Was fodann die Sprache ber Ghaldder
betrifft, fo behauptet der Herzog von einigen Eigennamen,
daß fie eine perfifde Endung hätten; auch Bel fey ein pers
fiſcher Sott und in „Mefech” liege der Name der perfifchen
Gottheit Schech. Zunaͤchſt koͤnnte es ja aber auch recht
gut ſeyn, wenn man von 1 Mof. 10. abſieht, daß die Chal⸗
daͤer zum indogermanifhen Stamm gehört hätten, ohne
daß ‘fie darum mit den Perfern identifch zu feyn brauchten.
Bon Bel fodann hätte doch wahrlich nicht die Rebe feyn
follen, Und wenn Ebrard außerdem noch beifügt, die Namen
der Beamten feyen ebenfalld perfiichen Urfprungs, namen
und rw, fo macht Leo mit Recht gegen eine ſolche Argus
mentation überhaupt geltend: „wir Deutfche find body dar⸗
um noch Feine Römer, weil das Oberhaupt unfered Reiches
Kaifer hieß, und Feine Juden, weil einige biefer Kaifer den
Namen Joſeph führten.” Daß die babyloniſchen Könige
namen übrigens gar nicht fo unfemitifch find, hat Ideler
im Handbuch der Chronologie I. &, 200. Not, gezeigt. —
Ebrard hat indeß noch etwas Anderes, worauf er ganz bes
fondern Nachdruck legt (S. 674.): „Nach der gewöhnlichen,
hergebrachten Anſchauung ber Geſchichte jener Reiche iſt es
geradezu unbegreiflich, ſowohl wie perſiſche Sculptur nach
Ninive, als wie ninivitiſche nach Perſepolis gekommen ſeyn
ſollte. Schon vor der Gründung des perſiſchen Reiches ſoll
ia — ſey es Nabopolaſſar von Babylon, ſey es Cyarares
von Medien, ſeyen es beide mit einander — Ninive zerſtoͤrt
haben. Jener Nabopolaſſar, welcher Ninive einnimmt, iſt
Cyrus ſelbſt, und er nimmt Ninive nicht als Eroberer, fon
bern als Ufurpator, old affyrifcher Feldherr. Nun wird es
ganz begreiflich, daß Cyrus bei der Erbauung von Perfe:
Gyrus ber Große. 631
polls Formen ninivitiſcher Sculptur auwandte, Das affgs
riſche und das perfiiche Meich Liegen nicht mehr um Jahr⸗
bunderte auseinander, fonbern berühren fich aufs engſte. —
So erklaͤren fi) dann auch die Negergeftalten auf ben Rui⸗
nen von Chorfabad. Vor Kambyfes kamen jene Gegenden
in feine Berührung mit Afrika; — (führen nicht viele Spu⸗
zen auf eine chuſchitiſche Golonie in Aflurt) — War aber
Cyrus der Ufurpator (nicht der Zerſtoͤrer) von Ninive, fo
läßt ſich eine productio sfriedliche Thätigkeit feiner und feis
ned Sohnes in Niniveh wohl denken.” Prof, Ebrard ift hier
aber wohl allzu flüchtig verfahren; ſonſt würde er doch auf
ieden Ball gemerkt haben, er ſetze zuerft, um bie gewöhns ⸗
liche Anſchauung der Gefchichte als unhaltbar darzuſtellen,
etwas voraus, nämlich daß Nabopolaſſar Ninive gänzlich
zerfiört habe, was er bann, um feine Auffaffung zu em⸗
pfehlen, wieder Teugnen müfle. Hat Nabopolaffar Ninive
nicht gänzlich zerflört, wie er das annehmen muß und wie
es auch nach den Berichten angenommen werben ann, num
fo konnten ja auch noch die Perfer in der Folgezeit ihre
Kunftwerke dort errichten; was brauchte er ed felber zu
thun ?
Nicht die alten Babylonier alſo wurden von Nabopo⸗
laſſar einem neuen Geſchlechte unterworfen, ſondern Nabo⸗
polaſſar's Geſchlecht vielmehr wurde durch ein anderes ber
Herefchaft beraubt, Schon Nabopolaſſar's Sohn, Nabus
chodonoſor, der berühmtefte der haldäifchen Könige, ſcheint
den Zünftigen Sturz geahnt zu haben. Abydenus führt
ndmlih im Chroniton des Eufebius (ed. Scal. p. 41.) eine
Erzählung des Megaſthenes von ihm an, wonach er einſt
im ekftatifchen Zuftande ausgerufen habe: &yo Naßovxo-
ögdsogog, & Baßviawıoı, ziv weilouees Uuiv z00-
ayyllim ovupogrv. Und gleich nach Nebukadnezar's Tode
fing fi das zu erfüllen an, was er vorhergeſehen hatte.
Gleich nach feiner Weiffagung, erzählt Megafthenes weiter,
verſchwand er, und fein Sohn Evilmalurduͤchos wurde Koͤ⸗
632 Schalg
nig. Nedgliffer, der Schwager, aber töbtete letteren und
hinterließ dann den Labaſſoaradkos. Und als auch der auf
gewaltfame Weife ſterben mußte, bejeichnete ex ben Nabans
nodochos als König. Diefem aber ſcheukte Cyrus, nachdem
er Babylon eingenommen hatte, bie Degemonie Karmaniens.
Cbenſo zählt Berofus (10. c. Ap. 1,20.) die Reihe der
Nachfolger Nebukadnezar's auf und fügt dann über den
Nabonnidus hinzu: odens d ig Baislag airoü dv zB
Intanesdszdep Eren, mgosteinaußing Kögog M rüs Ilsg-
oldos uerk duvdusug zollig xal zeraorgehduevos ri⸗
Auscho "Acler näcem Ögunser int eis Baßvamviag.
Mit welchem Rechte alfo behauptet doch Ebrard, dag, fo
Viele von dem chalddiſchen Reiche reden, von dem perfifchen
ſchweigen, und fo Viele vom perfifchen reden, vom chaldaͤi⸗
ſchen fhweigen? Das ſteht doch zunaͤchſt feſt: haben fi
die Geſchichtſchreiber über die chaldaͤiſche und perſiſche Ges
ſchichte geirrt, fo bat fich nicht erft Joſephus geirrt, fons
dern ſchon der chalddiſche Priefter Beroſus felbft, der zur
Beit Alerander’8 des Großen lebte, und Abydenus ebenfalls
der bald nachher die Geſchichte ſchrieb.
Aber fonderbar ift es doch, fagt Ebrarb, daß Herodot
vomNabopolaflar und Nebukadnezar nichts weiß. Vielleicht
baben ſich alfo Seroſus und Abydenus im der That ges
täufcht, als fie Herodot's Geſchichte der Perfer nicht für
die ihrer Ghaldder, fondern für die eines andern Volkes
anfahen. Dder findet fidh bei Herodot dennoch etwas von
jenen chaldaͤiſchen Königen? Schreitet denn feine Erzaͤh⸗
lung etwa von ben Affyrern ſogleich zu den Perfern fort,
wie die jener von ben Affyrern zu den Ghalddern? „Waͤh⸗
end die Aflyrer”, heißt es bei ipm, 1,95., „an 520 Jahre
über das obere Alien herrſchten, fingen zuerft bie Meder
an, von ihnen abzufallen, und nad) diefen thaten dann auch
die andern Voͤlker daffelbe, wie die Meder.” Dann vedet
er von den einzelnen Kriegen, die zwifchen den einzelnen
Völkern Aſiens geführt wurden, und erwähnt diefelbe Er⸗
Gyrus der Große, 633
oberung inive's, deren oben Alerander Polyhiſtor Ehwähe
nung gethan hat, und nach welcher dort Nabopolaffar die
Herrſchaft der Ehalbder begründete, Eyarares und bie Mes
der, erzählt Herobot, hätten, fobald fie das Joch der Scy—
then abgefchhttelt, die Stadt Ninive eingenomnien, und
dann fügt er die benfwärdigen Worte bei: xal zobg 40-
Ouglovs Imozuplous kwosjsaveo adv zig Baßvkavinz
polens, als wollte er baffelbe anbeuten, was Alerander
Polyhiftor auseinandergefeht hat, daß die Meder mit ben
Babyloniern nicht Seindfeligkeit, fondern Buͤndniß und
Breundfehaft gepflegt hätten. Darauf fangen auch nad
dem Herodot die Babylonier erſt felbft mächtig zu werben
an, und zwar unter zweien Labyneti und ber Gemahlin
des erſteren, der Ritokris.
Erſt nach der Regierung des zweiten Labynetus, erſt
da gründet Cyrus die Herrſchaft der Perfer in Babylonien,
Er brachte dann natürlich die alten Babylonier unter die
Herrſchaft eines neuen Stammes, den Norden unter bie -
Herrſchaft des Südens. Denn das Baterland ber Perfer
lag nach Herodot gegen Süden, in jener Gegend, in wels
“her ſich hinter den rauhen Bergen des perſiſchen Meerbus
ſens, um bie Ufer des Cyrus und Arares, zwei große Ebe⸗
nen außbreiten und mitten im Gebirge Dörfer, Gärten,
FZruchtbaͤume und Weinberge dem Wanderer darbieten. Es
erhellt, Herodot hat keineswegs dieß ſuͤdlichere Wolf mit
den Chalbaͤern, die nördlich am Euphrat wohnten, für ein
und daffelbe halten koͤnnen.
Endlich blieben die Babylonier immer diefem Einen
Volke der Perfer unterworfen, wurben fie nicht etwa mit
den Perfern von einem neuen von Neuem unterjocht? Denn
obmohl die Perfer und Meder, nach bem Tode bed Kam⸗
byſes und ber Ermordung des Pfeudos Gmerbis, unter
Darius Hyſtaſpis dad abgefallene Babel noch einmal ers
obern mußten, eroberten fie es doch nicht ald Feinde der
634 Schultz
rechtmaͤßigen koͤniglichen Familie, ſondern als Vertreter ih⸗
rer Rechte.
Sollte man alſo nicht vielmehr geneigt ſeyn, die Chal⸗
daͤer ſtatt im ben Perſern des Herodot, in feinen Babylo⸗
niern unter ben beiden Labyneti wiederzufinden ? Allerdings
würde man dann annehmen muͤſſen, daß Herodot im Gans
zen wenig von ben Ghaldäern mitgetheilt habe. Aber wa
bat das auch Anſtoͤßiges? Zeigt ſich Herobot nicht faſt durch⸗
gängig unbekannt mit der Alteren Gefchichte Aſiens? Won
der älteren Geſchichte Aſſyriens weiß er z. B. faft gar nichts
au erzählen, und was er davon erzählt, ift meiſtens irrthuͤm⸗
ld, Die 520 Jahre wenigftens, die er der Herrſchaft der
Aſſyrer beilegt, ſcheinen nur errathen zu feyn. Da Agron,
der Sohn bed Ninus, etwa um 1224 v. Chr. die Herrfchaft
der Herafliden auf dem lydiſchen Throne eröffnete, durfte
Ninus felber, ald der Water, nur ein Mein wenig früher des
aſſyriſche Reich gegründet haben (cf. Hupfeld, de rebus
Assyr. p.23—27). An zwei Orten freilich (1, 106. u, 184.)
verfpricht Herodot etwas Genaueres über bie Afiyrer, aber
nirgends gibt er es, und wohl mit Recht glaubt Voſſius
(hist. Gr. p. 16.), daß er nie etwa daruͤber gegeben habe.
Aliter si esset, fagt er, puto, veterum quisquam memi-
nisse. Nam et scriptoris magnitudo atque antiquitas,
argumenti nobilitas, illud omnino merebantur. Wohl
mit Recht behauptet auch des Wignoled (Chronologie de
Thist. 8. Il. p. 182.): Certes, si Herodote est le p£re de
Phistoire, comme mille ecrivains l'ont appell& apres
Ciceron, ce n’est pas assurdment de l’histoire d’Assy-
rie. Ou c’est une fille, qu’il a laissee dans son en-
fance, et que d’autres ont pris la peine d’elever.
Allerdings, wollte man bie Labyneti für die chaldaͤiſchen
Könige des Berofus halten, dann würde man ſich auch zus
naͤchſt erfi mit den Namen auseinanderfegen müflen. Biss
ber hat man freilich faft wenig Anſtoß daran genommen,
eine und dieſelbe Perfon unter verfchiedenen Namen bei ver⸗
Cyrus der Große, 635
.
ſchiedenen Schriftftellen wieberfinden zus follen. Am weites
fen find hier leider gerade der Herzog, Ebtard und Wette
gegangen, die doch gerade Andere wegen biefes Fehlers fo
bitter tadeln, Während fie vom einem: ganz richtigen Ges
fihtöpuncte aus voraudfegen, wer in ber heiligen Schrift
Darius genannt werbe, heiße am wahrfcheinlichftenin ber Buls '
gaͤrgeſchichte auch fo, ſcheuen fie fich nicht; zu behaupten, der
in ber Bibel Nebukadnezar genannt, werde, heiße bei den
Griechen Cyrus und Kambyfes, der in ber heiligen Gchrift
nur unter dem Ramen Evilmerodach vorkomme, führe bei
ben Griechen immer den Namen Pſeudo⸗Smerdis. Aufs
allerſtaͤrkſte wird aber hier durchweg gegen eine ſolche Will⸗
kuͤrlichkeit angekaͤmpft werben muͤſſen, durch welche Alle
Alles aus den Erzählungen ber Alten zu machen im Stande
find, Wenn man es ſich auch leicht vorftellen Tann, daß
ein Schriftfieler, namentli aus einer fremden Nation,
einige Buchftaben eines Namens entweder nicht recht vers
flanden, oder nach feinem Sprachibiom verändert habe, fo
iſt es doch durchaus nicht denkbar, daß ein und derfelbe Koͤ⸗
nig mit einem und demfelben Namen von ben Einen bald fo,
von den Andern bald anders genannt feyn ſollte. Es ift
wahr, von manchen Königen.werben uns zmei ganz berfchies
dene Namen genannt, Cyrus z. B. fol eigentlich Agrada⸗
tos gebeißen haben, Aber dad wird ja auch nicht in Abrede
geſtellt, daß Könige ald Könige fich zuweilen anders nann⸗
ten, als fie vorbem geheißen, ober auch wohl zwei verfchies
dene Namen zugleich führten. Das nur muß aufs ents
ſchiedenſte geleugnet werden, daß ein umd derſelbe Mann
von dem einen Volke nur Nebukadnezar, von dem andern
nur Cyrus ſollte genannt feyn. Dagegen ift und gerabe
Cyrus der flärkfte Beweis, Denn obwohl er, wie gefagt,
noch einen andern Namen hatte, wird er doch von ben ver⸗
ſchiedenſten Völkern immer nur mit dem Einen Namen Cyrus
benannt, Und wendet man ein, daß ja doch auch die Mes
derlönige vor Cyrus von Herodot ganz anderd genannt
636 Schultz
werben, ols won Ktefias, fü haben bie neueren Forſchungen
es ziemlich gewiß gemacht, daß Kteßas eine ganz anbere
Begentenzelhe aufzähle, ats Herodot. — Run find ja aber
die Namen des Herodet umb bed Beroſus gar nicht fo ver
ſchieden. Zwiſchen dem legten des Merofus, dem Rabonnis
d08, und dem letzten Labynetos leuchtet bie Namensaͤhnlich⸗
keit von ſelbſt ein; aur die erfien Buchfaben, R und 2, find
gewechſelt, Buchſtaben, die, wie in Legar und Near, Nabe
unb Labu ober abo und Nabo, gar oft mit einander zu
wechfeln pflegen. Größer koͤnnte die Verſchiedenheit zwiſchen
Nabuchodonoſar und Labynetus erfcheinen, wenn man biefe
beide zufammenftellen wolltes aber fie if es in der That
nicht. Scaliger hat in ber emend. temporum p. 577.0. bie
Meihe einiger chaldaͤiſchen Wörter aufgeſtellt, aus denen ihre
Eigennamen gebildet zu ſeyn pflegten. Man ſieht darunter
Letzar, Regar, Near, Schegar, Nergal, Belti, Bel. Auch
Nabuchodonoſar wird alfo ein zufammengefehted Wort feyn,
fo daß es eigentlich zwei Namen enthält, Der erfle num,
Nabu, ift in Laby bewahrt. Der zweite aber, Near, konnte
auf biefe Weife leicht weggelaflen ober in netos verftüms
melt werben. Diefe letzten Silben finden fich ja zuden
auch nicht bloß bei Herodot, fonbern auch bei andern Schrifts
flellern anders geſchrieben. Im chalbäifchen Original wurde
der Name, fo viel fi) aus dem Kanon bed Ptolemäus fließen
läßt, Nabo» fol. letzar gefchrieben, d. h. Mercurii Dei prin-
ceps; 2 Kön, 24, 1. 10, 11. ift er Nabo⸗kad⸗netzar gefchries
ben, woraus Berofus und Joſephus Nabuchodonoſor gebils
det haben; Jer. 21, 2.7. 22,25. heißt er Nabufadreger,
welcher Ausſprache Megafihenes und Strabo gefolgt find.
Allerdings möchte es endlich Bedenken erregen, daß He⸗
sobot doch nicht von fo vielen chalddifhen Königen redet,
wie Berofus, fondern nur ben Hauptanfänger mit dem Les
ten biefer Dynaftie erwähne, und noch dazu beide unrichtigers
weife in das Werhäitniß von Water und Sohn bringe,
Wiederum konnte es ſich aber doch auch leicht exeignen, daß
Eyrus ber Große 687
dem Herodot diejenigen zwiſchen beiden, bie wenige Yaher,
ia kaum wenige Donate tegierten, entweder wirkfich unbe⸗
kannt blieben, ober doch ber Erwähnung nicht werth bäuchs:
ten. Von vornherein iſt es zudem wahrfheintih, daß auch
Nabonneb bei Berofus, obwohl er bloß ein Babyloniewheißt,.
durch Verwandtſchaft der Königsfamilie nahe fland und das
ber leicht ald ein Sohn bed Nebulabnezar in fpäterer Zeit:
gelten konnte. Daß er gerabe zum Throne beftimmt wide,
läßt fo etwas voraudfegen. Außerdem paßt alles bad, mas
‚Herobot 1, 185, von der Nitokris erzählt, zu gut auf die Frau
des Nebufabnezar nach Berofus, die eben fo umternehmend
und eben fo bedeutend für die Wergrößerung Babylons war.
Auf keinen Ban fteht nach ale dem etwas im Wege, bie
chaldaͤiſchen Könige vielmehr in den Labyneti des Herodot,
als in feinen Perfern wiederzufinden, und Chalbder und
Derfer koͤnnen fehr wohl als verfchiedene Wölker erſcheinen.
Ob fie ed aber auch müflen? Eine Zuſammenſtellung der
chaldaͤiſchen und perfifchen Könige im Einzelnen wird uͤber
ihr Verhaͤltniß genügende Auskunft geben,
Um bie Chaldder und Perfer alfo einmal mit
einander zuſammenzuſtellen, fo bemächtigte ſich nach jenem
oben citirten Fragment des Alerander Polyhiſtor Nabopo⸗
laſſar allerdings mit Gewalt Babyloniens, und zwar, wie
es ſcheint, durch mebifches Buͤndniß unterſtuͤzt. Ebenſo
hatte Cyrus, als er Babylon angriff, mediſche Truppen ſchon
laͤngſt mit den ſeinigen verbunden. Leicht aber läßt es ſich
nachweiſen, daß Nabopolaſſar nicht Babylon, ſondern Ninive
erobert, und daß andererſeits Cyrus nicht mit Ninive, ſon⸗
dern gerade umgekehrt mit Babel zu thun gehabt habe.
Nabopolaſſar führte ja fein Heer keineswegs gegen Babylon,
fondern zur Befreiung Babylon gegen Rinive, Denn es
waltet da durchaus ein Irrthum ob, wenn Profeffor Ebrard
behauptet (S. 664.): „Nun erzählt aber Alexander Polyhiſtor
(im Chron. bed Euf. ©, 59,) vom Nabopalaflar dieſelbe Ger
088 Schultz
fchichte. Er ſey aſſhriſcher Jeldherr geweſen und babe ben
Thron uſurpitt und dann Babel erobert,” Alex. Polvhiſtor
erzählt nur die Eroberung der Stadt Ninive (xer& zoü
abrod Zdguxog sig Nivov ixiarpersdcag), Und Abys
denus fagt ganz in Uebereinftiimmung mit ihm (chron.
Eus. ed. Aucher. p. %.): „post quem Saracus in As-
syrios regnavit, et quum compertum habuisset multi-
tudinem barbarorum maximam e mari exisse, ut im-
petum faceret, Busalossorum ducem confestim Baby-
lonem misit, Ille autem, consilio rebellionis inito,
Amuhean, Astyagis Medi, familiae principis, filiam, Na-
buchodrossoro suo filio uxorem despondit. Ac deinde
protinus discedens accelerat aggredi Ninum, id est,
urbem Ninive. Cum autem de his omnibus certior
est factus Saracus rex, concremavit regiam aulam
Evoriti. Nabuchodrossorus vero accipiens regni im-
perium valido muro Babylonem cinxit.” Hätte doch
Wegtzke biefen Irrthum lieber aufgebedt, flatt auf die Ers
oberung Babels durch Nabopolaflar fo großes Gewicht zu
legen und noch andere Gonfequenzen daraus zu ziehen! Aus
Berdem ift Nabopolaffar zwar ebenfalls, wie Cyrus, mit den
Medern verbunden, aber doc in einer ganz andern Weiſe.
Allerdings wie Rabopolaffar mit Aftyages ein Bündnig
durch eine Ehe zu Stande brachte, die er zwar nicht ſelbſt,
aber doch fein Sohn Nabuchodonoſor einging , fo heirathete
auch Eyrus nad Ktefiad (fragm. ed. Lion. p. 7.), fey es
Die Tochter oder fey es die Enkelin des Aflyages, bie faſt
benfelben Namen führte, wie jene beim Alerander Polyhifter,
naͤmlich „Amyfis”, Aber während Rabopolaflar im Ber⸗
trauen auf bie Freundfchaft mit dem Aftyages einen Krieg
unternahm, fegte Cyrus tro der Freundſchaft mit bemfelben
feinen Krieg fort; denn Cyrus befämpfte die Babylonier als
bie Bundeögenoffen des Aſtyages, als die, welche fi) mit
den Lydern verbunden hatten, ihm Hülfe zu bringen. End»
lich möchte man durch die Geſchichte der Heirathen felbf
Cyrus der Große. 639
mehr davon abgerathen, als barauf geführt werben, ben
Nabopolaflar mit bem Eyrus zu ibentificiren, Denn gefeht,
Polyhiftor meinte diefelbe Tochter des Aſtyages, von ber
Kteſias redet, fo hat alfo Eyrus nad) Kteſias, der vermeinte
liche Nabopolaffar, der Water, eine und biefelbe Frau gehei⸗
rathet, die Nebukadnezar, der Sohn, nach Polyhiftor geheis
tathet haben fol. Jeder fieht, daß fo nothwendig der eine
ober der andere Bericht falſch ſeyn müßte,
Run ift Nabopolaffar ſowohl felbft von Affyrien aus⸗
gegangen, um fidh zum König Babyloniens zu machen, als
er auch feine Thaten in Affyrien ausgeführt hat, fo viel von
ihm erzählt werben. Ebenfo, behauptet Wetzke, fey Cyrus
von Affgrien her und von ber Zerſtoͤrung Ninive's nach Bas
bylon gekommen, Herobot erzähle nämlich zuerft, wie theils
Kröfus befiegt, theils die kleinaſiatiſchen Griechen unters
worfen wurden, und fahre dann (1,177,) fo fort: „Wie nun
Harpagus Niederafien verheerte, fo that Eyrus felbft ein
Gleiches mit Oberofien, wo er ein Volk nach dem andern
überwältigte und Feines überging. Als er ſich bad Meifte
von den nach der See zu liegenden Ländern unterworfen
hatte, griff er die Affyrer an, Unter vielen andern großen
Städten war bie beruͤhmteſte und mächtigfte Babylon, wo
auch nach der Vermüflung ber Stadt Ninus (Ninive) bie
Zönigliche Reſidenz angelegt wurde” (S. 56.). „Herodotꝰ,
fagt er, „läßt ihn von Perfien und Medien auögehen, ſtellt
ihn dann als Eroberer von Lydien bar und beutet an, daß
ex vor der Bezwingung Babylons Ninive erobert, daß er
alfo von Affyrien aus den Umſturz des babylonifchen Reichs
bewerkfielligt habe” (S. 57.), Aber wer fieht nicht, daß
Hr. Wetzke hier abermals in einem Jrrthum befangen ift,
daß Herodot Feine andere Zerſtoͤrung Ninive’8 als die von
ihm vorher erwähnte durch Gyarared andeutet? Met fieht
nicht gerade hier recht deutlich, ba Nabopolaffar, der jene
ſchon laͤngſt geſchehene Zerfiörung veranlaßte, ein ganz Ans
derer ſeyn muß, ald Cyrus, der bie Stadt als ſchon laͤngſt
640 . Schule
gzerſtoͤrt vorfinbet? Ebrard führt zwar nichts deſto weniger
an (©, 670,), ein geisiffer Amynthas behaupte, daß Ririve
von CEyrus erobert werben fey. Wer Tann aber auf eine
"fo unfichere Behauptung eines fo unſichern Schriftftellers
etwas geben, wenn fie wirklich fo ohne Weiteres außgefpres
hen if} Prof. Ebrard erwähnt auch, um eine Aehnlichkeit
wwiſchen Nebukaduezat I. Mabopolaſſar) und Eyrus nad
zuweiſen, nad) Diodorus Sic. habe Cyrus bie hängenden
Gärten in Babel erbaut, nach Beroſus jener Nebukadnezar
4b. h. Rabopolaffar). Werofus aber laͤßt Re nicht vom Na⸗
boyolaffar (Nebufadnegar I.), ſondern von dem eigentlichen
Nebukadnezar (Nebukadnezar IL) erbant feyn, der nach Ebrarb
nicht dem Gyruß, fondern dem Kambyſes entſoricht. Und
Diodorus erzählt faft in woͤrtlicher Uebereinfimmung mit
dem Berofus (2, 10), der fogenannte haͤngende Garten
neben der Burg fey nicht ein Werk der Semitamid gewes
fen, fondern eines fpätern affyrifhen (babyloniſchen) Könige,
Diefer habe, wie man fagte, einer Nebenfrau zu Riebe, einer
gebornen Perferin, weiche bie Gebirgsauen vermißte, durch
eine kuͤnſtliche Anpflamung die Eigenthiumlichkeit des per
ſiſchen Bobens nachahmen wollen. Mei Werofus ift ndms
lich dieſe Frau bie des Nebukadnezar.
So ſtimmt denn auch das, was ſonſt noch von den
uUnternehmungen bes Einen und des Andern witgetheilt wird,
gar wenig überein. Vom Nabopolaſſar erzählt WBerefus
(dos. c. Ap. I, 19.). „Als Nabolaffaros (Eufebius ſcheint
noch das richtigere Nabopolaſſaros gelefen zu haben) hörte,
daß der angeftellte Satrap in Aegypten und in ben Dertern
Coͤleſpriens und Phöniciend abgefallen twäre, fo ſchiette er,
nicht ſeibſt mehr im Stande, fi) Gefahren zu unterziehen,
feinen Sohn gegen benfelben ab: avargoag 10 viö Ne-
Bovzodovoodgp dr Exrı dv quxls ulm uud wüs dund-
ueog. Zunuling oà Naßovzodovdsogog zb deoandey zal
sagerabinsvos adrod ze ixvplsvoer zal ryv ygav BE
doxije Gxd zw adrod Basıislav imolgsm. Genen Bo
Cyrus Her Große. 641
ter Nabolaſſaros aber begegnete: es, bag ex um bie Zeit
gerabe krank wurde und in der Stadt ber Babylonier fein
Leben endete.” Eyrus bagegen faßte zwar auch ben Plan,
und zwar in eigener Perſon das Heer gegen bie Aegpptier
zu führen ( Herod. 9, 153), er faßte aber biefen Plan nit
allein (yon im Anfang feiner Regierung, nicht gegen bad
Ende derfelben, wie Nabopolaflar, ſondern er gab. ihn auch
bald wieder auf, Er griff vielmehr die nördlichen Voͤlker⸗
flämme an, als bie füblichen Aegyptier, und zwar beſonders
die Maflogeten, und fo flarb er demm nicht daheim, wie
Mabopolaffar, fondern er wurde draußen im Felde von ber
Maffagetentönigin Tomyris getöbtet und verftümmelt, Dder
wollte etwa Jemand ben Zenophon vorziehen, nad deſſen
BDarftellung in der Cyropaͤdie Cyrus ruhig daheim auf ſei⸗
nem Lager hinſcheidet? Aber Wetzke hat felber der Beru⸗
fung barauf entfagt, Da er naͤmlich zugeben muß, daß
&enophon’s Cyrus im Uebrigen dem Nabopolaſſar nicht ents
ſpreche, fo hat er ausführlich genug (S.63—83.), aber eben
fo überfihffig zu zeigen verſucht, ber Cyrus bes Zenophon
fey nicht derſelbe wie dee des Herodot, fondern ex gehöre
einer fpätern Beit an, und er vielmehr fey der Kores bes
b · Schrift, u
In Betreff des Nebukadnezar fobann möchte man aus
den oben citirten Worten: „ovorjoas zo viß Naßovgo-
. Bovosögp dveı Bru dv Säule nögn zwi wis Sundpeug”,
ſchließen, daß ihn fein Water noch bei feinen Lebzeiten an
der Föniglihen Macht habe Theil nehmen laſſen; jenes „al
rin yögav EE doyis bad ry adsoo (au auzou ges
ſchrieben) BaoıAslav dmolmae” würde aud) baflır fpres
dien. Doc; mag das noch auf ſich beruhen; des Vignoles
meint (a. a, DO. 11. ©. 425,), die Sache auch anders verftehen
zu koͤnnen. Wichtiger ift es zunaͤchſt, ihn in feinen Feldzu⸗
gen mit dem Kambyfes zu vergleichen. Nicht allein Jos
ſephus berichtet barlıber ans den tyriſchen Sahrbüdern
(«Apion. 1, 21,), daß Nebukadnezar Tyrus unter dem Koͤ⸗
642 Schaltz
nige Efthobal an 13 Jahre belagert babe, ſonden ajl
roſus ſelbſt fährt fo fort: ſobald Nabuchobongfor ml
feines Waters erfahren, habe er die Angelegenpeitnuh
ten und bem übrigen Lande geordnet und ſey 4
"Iovdalem za xal Dowlcav zul Zigmı
vov zack vv Myvzrov 2W6 vvrdieg ziol zün gi
Berk Bagurdeng Övvdusog xal TÜg Aoswnig dpekie
roulgey al ci Baßviovlay — in Eile durch ie
nach Babylon gekommen, — Kambyfes wurde bi
Zeldzuge nach Aegypten weder vom Vater ausgefantd
bei deffen Lebzeiten, noch vor der Erlangung dei s
ums, fondern nach dem Zobe bee Vaters und im
ber volfen Herrſchaft zog er aus, Er kehrte auch nicte
dem Kriege nach Haufe aurüd, ſondern flarb da braufen. &
fol im Chronikon derfihern, diefen Ausfpruch bei vielafl
rikern gefunden du haben, Gufebius fagt aber m
vToðrov (sc. außvom) rivie paou alyar Naßovp
Gooooi devrcoo α "Olopkgvnv zul —
Soto "Apgızavdg, Öneg dddvarov. Gr redet alfo un
von einem Ausſpruche Vieler, wonach Kambyſes bei e
Juden den Namen Nebukadnezar geführt habe, ſondem m
einer Conjectur Einiger, unter Anden des Afrikanus, i
ihm unhaitbar 3u ſeyn ſcheint wonach Kambyſes für da
Nebukadnezar {m Suche Judith zu halten wäre, Ba
Suidas übrigens den Afrifanus als einen Gewährsns
für diefe Nelnung anführen fol, fo iſt daß fein neues Zug
MiB, ſondern dieſelbe Gonjectur Beim Eufebius, Und fprit
bufadnezar zu halten ſey? Keineswegs. Da er mit. eins
gen Andern den Kambyfes in dem Nebufadnezar des Bi:
\
1) Cyrus der Große. 643
zert hah, #8 Judith wiederfinden zu mäffen meins, fo meint er
) Neleha enbar daß er ein ganz anderer Nebukadnezar ſey, als
eAngeher, welcher die Juden in bie Gefangenſchaft geführt hat,
ardng m’enn unter bem Nebulabnezar im Buche Judith find ja
Dowizrst Zuben ſchon wieder aus dem Epile zurüuckgekehrt (vgl.
#0 5, 21.0. Die Meinung des Afrikanus geht alfo der
r ig brard’s und Wetzke's gerade entgegen, nämlich dahin, daß
in 6ie ambyfes erſt nach dem Erile der Juden König geweſen
il ei Und fragt man noch, ob Afritanus wohl zu feiner
vr Sonjectur, daß mit bem Nebukadnezar im Buche :Zutith
Br „Kambyfes gemeint fey, einen Grund haben mochte, ſo, will
—5 — wenigſiens böchft wahrſcheinlich ſeyn. Vielleicht, daß
„einige Juden dem Rambpfe, ohne ihn auch .nur.im. Ges
Fo ingften mit dem Nebufadnezar, bem Urheber bed Gpile, zu
Be roechfeln, auß Haß wegen feines ähnlichen Beträgend den
I einamen Nebukadnezar gaben, und daß es allmählich . une
der Fer den Juden gewöhnlich) wurde, jenen perfifchen König nur
ME gie diefem Beinamen zu benennen, Und wie, wenn‘ dad
nd “ alepandrinifche und orientalifche Chronikon nun weiter nichts
als dieß bezeugen wollte? Doch das alerandsinife und
‚- * orientaliſche Chronikon ſind uͤberhaupt zu ſchlechte Autori⸗
wi taͤten, als daß man viel darauf geben duͤrfte. Hier genuͤgt
Ees zunaͤchſt, daß der aͤgyptiſche Krieg von Kambyſes ganz
®. anberd unternommen wurde, als von Nebukadnezar. Wo
auch findet man, daß Kambyſes in diefem Kriege bie Juden
er nach Babylon geführt habe? Ebrard und nach ihm Wette
"führen die Worte des Hekataͤus von Abbera in Los. c: Ap.
1, 22. an: die Perfer haben zuerft viele Tauſend Juben aus
ihrem Lande (ed ſteht als BaßvAüva) weggefuͤhrt; fie für
gen hinzu, Cedrenus rede von 300 Jahren verſiſcher Herrs
ſchaft, wovon. 70 Jahre dee jübifchen Gefangenſchaft anges
hörten, und ebenfo fage ber Berfafler von 2 Malt. (1, 19.),
die Väter feyen nach Perſien weggeführt worben, . Daraus
a) Rad dem Sriechiſchen 5, 19. “ J
Theol. Stud. Jahrg, 1858, “
‚644 eig
erhellt doch aber weiter nichts, ald daB Babylon und die
Babylonier fpäter nah denen genannt wurben, benen fie
fi Hatten unterwerfen müflen. Man fährt fort, wäre der
Krieg Nebukadnezar's gegen Aegypten nicht berfelbe, wie der
des Kambyfes, fondern ein früherer, fo müfle ed doch aufs
fallen, daß Herodot und Diodorus Sic, nichts von einer
Eroberung Aegyptens vor ber bed Kambyſes wüßten. Allein
von winer gänzlichen Eroberung ift ja auch bei Beroſus nicht
die Rebe, fondern nur von einer Befiegung und einer ges
wiffen Unterwerfung ber Aegyptier, bei der fie bennody immer
ihren eigenen König behalten Tonnten, Zubem wiſſen je
auch allerdings Herobot und Diobor von früheren Kriegen
der dgpptifchen Könige mit Syrien, nur daß die Aegyptier,
die dem Herodot davon erzählten, in ihrer Eitelkeit bloß
das für fie Ruͤhmliche mitgetheilt zu haben feinen, Denn
Herobot erzählt, Nekos, der Sohn des berühmten Pfammes
tich, ber der Dodekarchie ein Ende machte, habe bie Syrer
bei Magbolus. befiegt und nach der Schlacht Kadytis, eine
große Stabt Syriens, eingenommen (2, 159,). Ja, Hero
dot deutet fogar an, daß Nekos nicht aus bloßer Exobes
rungsluſt biefen Krieg unternommen, daß er felber gar nicht
an den Krieg gedacht habe, fonbern daß er dazu durch eine
von ben Barbaren drohende Gefahr veranlagt worden ſey.
Er ſey eben damit befchäftigt geweſen, einen Canal zwiſchen
dem Mittelmeer und Rothen Meer graben zu laſſen, als
ihn ein Drakel an der Fortfegung ber Arbeit verhindert
babe: Nexdg piv vüv uttat devacam iuudsaro, Bar
nlov duxodlov yevopbvov, und biefe® Drakel, fagt He
rodot ausbrüdlich, habe ben Nekos angetrieben, nicht Er⸗
oberungen zu machen, fonbern ſich gegen bie Barbaren zu
ſchuͤten: z& Bapßdop adrdv zeosgyatesdar. Dioborus
Sic. erzählt außerdem noch, des Nekos Enkel, Pfammos
Sohn, Apries, habe einen Krieg mit Phönicien geführt, che
er von Amafid, dem legten Könige vor Kambyſes, entthront
worben fey (Diod, 1, 68),
Cyrus ber ‚Große. 645’
Doch laſſen wir die Kriege, fo berichtet Beroſus, daß
Nebufadnegar nicht weniger groß im Frieden, ald im Kriege
geroefen fey: er habe von der Kriegäbeute den Tempel des
Belus und andere eifrig ausgeziert, bie ‚alte Stadt erneut
und eine andere draußen dazu gebaut, und zgds rd umxdrı
Ödvaodeı roðs molopxoüvrag röv zorandv dvaoıgEpov-
zug in) viv adlıv xaraoxsvdtsı, Guspeßdästo reeig abo
wis Evdov z6leng wegißdloug, vosig di vis Fo rodrav.
Ebrard und Wegke führen nun zwar. gerade biefe Worte
für ihre Meinung an und argumentiren aus ihnen alfo:
Nebukadnezar würde ben Eingang bes Fluffes nicht fo befeftigt
haben, wenn ſich nicht Cyrus ſchon vorher deffelben zur Ers
oberung ber Stadt bedient hätte. Aber Herodot felber
ſcheint body ſchon vor dem Cyrus Aehnliches von der Nitos
kris (1, 185. 186.) anzubeuten, Und möchte es dennoch auf.
fallend bleiben, wenn nicht Nebuladnezar mit Kambyſes idens
tifch wäre, wie viel auffallender müßte es dann body ſeyn,
daß von Kambyſes fo ganz und gar nichts von Werken des
Friedens erwähnt wird, im Fall er wirklich mit Nebukad⸗
nezar ein und berfelbe? Es thut ſich bier offenbar die
ſchwaͤchſte Seite jener Anficht auf, Denn da Kambyfes
nicht, wie Nebukadnezar, 43, fondern überhaupt noch nicht
einmal 8 Jahre regiert, fo weiß auch Herodot aus feiner
Regierung weiter nichts, als den einen Krieg mit Aegypten
und Afrifa, der ſchon im fünften Jahr der Regierung unters
nommen und bis ans Ende berfelben fortgeführt wurde.
Herodot muß daher in Betreff des Kambyſes durchaus ges
iret haben, Wetzke fucht dieß Seite 98, auf folgende Weife
plaufibel zu machen: ald Cyrus in der legten Schlacht gegen
die Maffageten umgelommen, habe Darius Hyftafpis —
denn von bem geht die Demonflration aus — noch nicht
das Alter erreicht gehabt, in welchem er hätte Kriegsdienſte
leiften koͤnnen; Darius fen höcftens 20 Jahre alt geweſen
(Herod, 1,209). Wenn nun von dem Tode des Cyrus bis
auf die Ermordung des Pfeudo» Smerdid wirklich nur ein
. “
‘646 Schulb
geitraum von 8 Jahren verfloſſen wäre, wie Herodot das
will, fo müßte Darius in einem Alter von hoͤchſtens 3
Jahren König geworben feyn. Und babe das auch fonf
nichts Auffallendes, wenn Jemand ein Königreich durch Erbe
ſchaft uͤberkomme, fo muͤſſe es doch beim Darius ungewöhns
ti) ſeyn, ber als jüngerer Mann wohl nicht zu der Ber
ſchwoͤrung ber Xelteren zugelaflen wäre. Buben werbe ja
auch erwähnt, daß Darius ſchon drei Söhne erzeugt batte,
„ehe er König wurbe, Aber nicht im Todetjahre des Eyrus
witd es erwähnt, daß Darius 0 Jahre alt gewefen, fon
dern im Anfange des Krieg gegen die Maſſageten. Hat
diefer Krieg nun auch nur etwa zwei Jahre gedauert, fo iſt
Dariud doch wenigftens 30 Jahre bei feiner Thronbefleigung
geivefen, und warum follte er, ber Afiate, in einem ſolchen
Alter nicht fhon drei Söhne erzeugt haben, warum nicht
zur Verſchwoͤrung gegen ben Pfeudo »Smerbiß zugezogen
fegn, zumal da er aus einer ber vornehmften, dem Pfeubos
Smerdis feindlichen Familien war?«) Wer fagt und denn,
dag bie Übrigen Theilnehmer ber Verſchwoͤrung, außer bem
Dianes, dem Water ber Phaidyma, älter als 30 Jahre ge
wefen? Damit ift aber auch zugleich ein Anderes erledigt,
was Wetzke ebenfalls anführt: hätte Kambyſes ben Krieg
ſchon im fünften Jahre feiner Regierung gegen Aegypten une
ternommen, fo hätte ihn Darius noch nicht begleiten koͤnnen
wie er ihm doch begleitete, weil die ebein Perfer erft von 236
Jahren an nad) der Gpropäbie Kriegäbtenfte zu leiſten pflege
ten. War Darius 22 Jahre alt beim Tode des Gyrus, fo
a) Schon aus dem Herodot Übrigens und noch mehr aus ben Keils
inſchriften zu Behiſtan erhellt, daß Darius wie Cyrus vom
dem Acdämenes abflammte und fi daher als ein lich der
veitmäfigen Königsfamilie betrachtete. I Iaboured, fo äten
fegt Rowlinfon eine Stelle jener Keilinſchriften, by the Grace
of Ormasd, in order that Gomätes, tho Magian, might not
supersede our family (cf. Vaux:„Niniveh and Persepolle”,
p- 406.)
”
Cyrus der Große. 647
hatte er gerabe beim Anfange bed acgyptifchen Kriegs das
zur Kriegsführung gehörige Alter, Wie ſchoͤn ſtimmt alfo
Alles beim ‚Herodot zufammen, dem man einen fo groben
Irrthum unterlegen will, wie wenig dagegen verträgt fi)
das Alles miteinander, wad Ebrard und Wetzke behaupten!
Gyrus, fagen fie, habe den Kambyſes zum Mitregenten eins
geſetzt, fobald er Babylon erobert, alfo 10 Jahre vor feinem
Zobe, Gut, es fey! Kambyſes aber muß, wenn er Nebus
kadnezar ift, nach einer ziemlich übereinftimmenden Angabe
Alter 43 Jahre, alfo nach Eyrus. Tode wenigftens noch 33
Jahre vegiert haben, Darius Hyſtaſpis nun, ber beim
Tode des Eyrus 22 Jahre war, müßte alfo wenigfiens 55
bei feiner Zhronbefleigung geweſen ſeyn. Dreißig Jahre
nachher aber, alfo in einem Alter von 85 Jahren, unters
nimmt er den Krieg gegen Griechenland, Wie jugendliche
Träftig doch der Greis erfcheint, der noch mehrere Jahre das
rauf alle Tage zum Zeus betete: Ads nos vlonudar zobg
Adnvalovs, und nie bie Hoffnung, ſich zu rächen, aufgab!
Was Hilft es da, aus dem Amynthas ober fonft einem obs
feuren Schriftfteller ein Paar Stellen zu citiren, wonach
diefelben Werke, die anderswo bem Nebukadnezar, bier nicht
dem Kambyfed, fondern dem Cyrus zugefchrieben werden?
Was ſollen diefe Stellen, die nicht den Nebukadnezar und
Kambyfes, fonbern den Nebukadnezar und Eyrus hoͤchſtens
ähnlich erfcheinen laſſen, die alfo ihre Anſicht nicht unters
fügen, fondern nur verwirren? Die Könige ber Chaldaͤer
und Perfer follen diefelben feyn, weil von beiden erzählt
wird, fie hätten Babylon vergrößert. Alfo find ganz gewiß
Salomo und Herodes identiſch, weil beide ben Tempel in
Serufalem bauten,
Freilich ein gleiches Endſchickſal fcheinen fie denn doch
wenigftend beide gehabt zu haben, Nebufadnezar und Kams
byſes. Wie von Nebukadnezar, wird aud von Kambyſes
erzählt, daß er unfinnig geworden ſey. Und allerdings,
wenn fonft Alles Abereinfiimmte, was von beiben erzählt
648 Schulg
wird, fo Könnte auch bieß ald ein Beugniß ihrer Achnlickeit
geltend gemacht werden, Da aber dad Gegenthril flattfin-
det, fo könnte mit noch mehr Recht behauptet werden, Rero
und Domitian feyen ein und berfelbe gewefen, weil beide
unfinnige Handlungen volbracht hätten, zumal da ja Nero
zugleich Domitius, alfo beinahe ebenfo wie Domitian beißt.
Außerdem flimmt nicht einmal bad, was vom Wahnſinn des
Nebufadnezar berichtet ift, in irgend etwas mit bem Wahns
finn des Kambyſes überein. Nebufadnezar wirb, nachdem
ex lange glüdlich und weife regiert, aus Stolz über al fein
Gluͤck zulegt daheim wahnfinnig und muß von ber Regierung
gänzlich abtreten; Kambyſes, der faR von Anfang an rafl,
wird durch fein Unglüd gerade immer noch raſender, bleibt
aber deflenungeachtet im Beſitz der Herrſchaſt, und zwar nicht
daheim, fondern im fernen Aegypten. Won Nebulabnezar
wird durchaus nicht berichtet, daß er in feinem Wahnſinn
zur Graufamkeit hingeneigt habe; Kambyfes läßt unbarms
berzig die Worfteher der Stadt Memphis tödten, weil fi
bie Bewohner berfelben des neu gefundenen Apis freuten, ers
ſchießt mit frevelnder Hand den Sohn des Prexaſpes, weil
der Water ihm gefagt, die Perfer hielten ihn für einen
Beintrinker, ja bringt feine eigene Schwefter um, die ihm
Gemahlin zugleich.
Doch genug von Nebuladnezar und Kambyſes. Um
bie Aehnlichkeit ihrer Nachfolger zu erweiſen, führt Wetzke
an (S. 8.): „Herodot erzählt, Pſeudo⸗Smerdes fey von feis
nem eigenen Schwiegervater ermordet worden. Beroſus aber
gibt an, Evil: Merodadh fey von feinem eigenen Schwager
umgebracht worden.” Aber abgefehen davon, daß hier eben
foviel Unähnlichkeit wie Aehnlichkeit obwaltet, fo ift doch
Evil⸗Merodach der Sohn feines Vorgängers, Pfeudo-Smers
dis dagegen auch nicht im Geringften mit dem feinigen vers
wandt. Ferner nad Evil-Merodach zegieren noch mehrere
andere Zürften, ehe die Herrſchaft an dad folgende Regen:
tenhaus koͤmmt, nad Pſeudo⸗Smerdis folgt unmittelbar
Cyrus der Große, 649
Darius Hyſtaſpis. Darius ‚Hoftafpis erobert zwar Babel
auch, wie bie Perfer bei Berofus zur Beil Nabonned’s, Dar
rius erobert ed aber, nachdem es von ber perſiſchen Herr⸗
ſchaft abgefallen, die Perfer bei Beroſus erobern es dagegen,
als es ihnen! noch nie gehört hatte. — Es erhellt, die Ges
ſchichte der Chaldaͤer und die der Perſer differiren fo mans
nichfaltig, daß man fie wohl nicht aus Werfehen getrennt
bat, fondern durch gute Gründe gezwungen worben # fie
auseinanderzubalten.
Sind denn auch etwa die Perfer bloß nad) Gutduͤn⸗
Ten biöher fpäter angefegt worden, ald die Ehaldäer? Gibt
es benn ba nirgends fichere Anhaltepuncte? Die Aftronomie
bietet doch dergleichen fidher genug dar. Dad Jahr, in wels
chem Cyrus auftrat, fleht an fich feſt, bie Zeit des Nabos
polaffar aber wird durch eine Mondfinfternig als eine um
etwa 66 Jahre frühere beftimmt, Im fünften Jahre des
Nabopolaffar nämlich ereignete fich eine Mondfinfterniß, bie
nach der Berechnung unferer meiften Aftronomen im 3.4093
per. Jul, d.i, im 3. 621 v. Ghr, flattgefunden haben
muß, Keppler wollte fie zwar ſchon 18 Jahre früher ans
fegen (eclog. chron. p. 63-65.), aber nur deßhalb, weil
ex faͤlſchlich voraudfegte, daß die Mitte ber Eklipſe zu Ba⸗
bylon gefeben fen. Nabopolaffar hat alfo etwa 4088 per.
Iul. oder 63 vo, Chr. zu regieren angefangen. Ebenſo
wird die Zeit Labynet's I. durch Herodot beflimmt, und
zwar fo, baß fie gerade für die des Nebufadnezar, als eines
Sohnes bed Nabopolaffar, paßt. Herodot erzählt nämlich
von einer Sonnenfinfterniß, die zur Beit des Kriegs zwiſchen
Cyaxares von Medien und Alyattes von Lydien eintrat, und
nach welcher Labynet 1. ben Frieden. vermitteln half. Am
meiften paßt nun zum Berichte des Herodot (1, 73. 103.)
die vom Jahre 41% per. Iul., bie denn auch von ben
meiften Gelehrten, unter andern auch von Keppler und zus
legt auch von Scaliger für die in Rede ſtehende gehalten
650 Schultz
iſt. Daraus ergibt ſich alſo daß Labynet J. um 4129 per.
Iul. oder 585 v. Chr. noch regiert habe, gerabe wie es ſich
für Nebukadnezar paßt.
Cyrus aber fing nach der einflimmigen, Angabe des
Diodorus Sic., Thalus, Kaftor und Polybiud (ck Eus.
praep. evang. X, 10. p. 488.) feine Regierung im erſten
Jahre der 55. Olympiade an, d. 1. 4154 oder 4155 per.
Iul., 559 v, Chr, Und außerdem wird es fo befätigt durch
eine Monbfinfterniß, die ſich nad Ptolemäus im fiebenten
Jahre des Kambyfes ereignet hat (5, 14.), Alle Chrono
logen und Aftronomen fommen darin überein, baß biefe
Mondfinfternig 4191, d. 1. 5% v. Ehr,, eingetreten fen. Es
folgt alfo ganz richtig, baß Kambyſes 529, 30 Jahre nah
dem Regierungsantritt des Cyrus, zum Throne gelangt fer.
2 Das Alles iſt auch längft durch die Berechnungen des
GL. Ptolemäus herausgebracht und in dem Kanon Ptolemäi
zufammmengeflelt worden. Der Herzog hat zwar im zehnten
Kapitel feines Werkes die Glaubwürdigkeit deffelben in
Zweifel zu ziehen gefucht, aber was er dagegen vorgebradt,
will doch Alled gar wenig ſagen. Der Kanon wirb gewiß
immer ebenfoviel, ja noch mehr Glaubwürdigkeit fir den
Geſchichtsforſcher haben, wie nur irgend. ein Schriftfteller
des Alterthums haben kann. Hartmann wenigftens, fo wes
nig er feine Berechnungen ganz mit dem Kanon in Uebers
einflimmung zu bringen vermag, gefteht dennoch ein: eun-
demque canonem tantum abest ut nos ex omni parte
repudiemus, ut potius ... magnopere aestimemus, et
quousque cum obseryationibus astronomicis veram hi-
storiam coniunxit Ptolemaeus, eodem in Almagesto
usus, tanquam eximium veritatis testem recipiamus
(systema chron. bibl.). Es wird alfo erlaubt feyn, aus
diefem Kanon bie Könige, fo weit fie bier in Betracht kom⸗
men, mit ihrer Regierungszeit abzufhreiben, und zwar nad)
- der verbefferten Ausgabe, wie fie Calviſius und Bengel vor:
lag, mit chriftlicher Zeitrechnung, Nabopolaffar regierte
Cyrus der Große. 651
danach von 625 bis 604, Nabokolaſſar von 604 bis S6t,
Ilvarodame 561 bis 559, Nirkfaffolaffar bis 555 und Ra ·
bonned bis 538, Dann folgten der Reihe nach:
Gyrus .. von 538 bis 5%,
Kambfes von 5%9 bis 521,
Darius I. von 521 bis 486,
Rerxes . . von 486 bis 465,
Artaxerxes von 465 bi 424,
Darius IL von 424 bis 405,
I
Aber allerdings, bad möchten aud wohl der Herzog
und Herr Prof, Ebrard zugeben, daß die Vulgaͤrgeſchichte,
für ſich betrachtet, ſchwerlich auf eine Anficht wie die ihs
tige führen werbe, Auf die heilige Schrift vor Allem komme
es an, und wit der geratbe man gerabe fo in den größten
Widerfprud), wenn man die Geſchichte, wie es hier gefches
ben, anſchaut. Nicht allein, daß jener Darius des Daniel,
der auf die Chaldaͤer folge, auf Darius Hyſtaſpis fchließen
laſſe, und zur Beit des Ahasveros im Buche Efiher fodann,
der unflreitig des Darius Hyftafpis Nachfolger, naͤmlich
Eerxes ift, immer noch nicht auch nur irgenb welche Andeus
tung von der Rüdkehr der Juden aus Babylon gegeben
werde, fondern Kored, der ben Juden endlich die Erlaubs
niß zuruckzukehren vermittelte, erſcheine auch deutlich als
ein Zeitgenoſſe des Eſra und Nehemia, die doch unter Ar⸗
taxerxed lebten, und fomit als ein Zeitgenoſſe des Artarers
xes felber, als ein Unterfönig deffelben, den er, oder fchon
fein Borgänger Rerxes, eingefegt habe. Was bleibe da ans
derd übrig, ald mit dem Kores auch das Ende des Exils
in diefe Zeit des Artaxerxes hinauszufchieben und den Das
rius, unter welchem nach der Rüdkehr der Tempel aufers
baut wurde, für einen zweiten Unterfönig, für einen Nach⸗
folger des Kores unter Artagerred zu halten? was anders,
als dann natürlich auch den Anfang des Exils etwa in die
652 Schultz
Zeit des Cyrus hinauf zu verlegen, den Koͤnig von Babel,
der die Juden in die Gefangenſchaft führt, den Nebukad⸗
nezar, in Cyrus, dem damaligen Regenten Babylons wie⸗
derzufinden und als eine dem Kambyſes entſprechende Per
foͤnlichkeit einen Nebukadnezar IL. herauszuſuchen? Und num
Tomme noch das dazu, wenn auch jenes Ale, was bie
Wulgärgefchichte von ihrem Nebukadnezar I. oder Nabopo⸗
laſſar und feinen Nachfolgern berichte, noch nicht gerade fo
ſehr geeignet fey, fie identifch mit den Perferkönigen erfcheis
nen zu laſſen: wad bie Bibel über die Chaldder ausfage,
paſſe erft gar ganz zu dem, was man anderweitig von
Gruß und feiner Dynaflie wife. — Wohlen alfo, mag
auch Letzteres zunächft noch auf fich beruhen, bis es zur
Vergleihung der Bibel mit der Wulgärgefhichte gekommen
ſeyn wird, dad wird auszumachen feyn, ob die Bibel von
zwei ſolchen Perfonen etwas wiffe, bie dem Cyaıd und Kam⸗
byſes entfprechen koͤnnten, ob nad) ihr die Hertſchaft der
Chaldaͤer wirklich durch einen Darius aufgehoben und das
Eril der Juden bis unter ben Ahasver der Efiher biugezos
gen werde, ob endlich die Zeit des Kores in der That als
die des Artaxerres oder auch nur des Rerxes erfcheine,
Um die Ghaldder alfo wieder voranzufchiden, fo
meinen der Herzog, Ebrard und Wetzke, einen Nebukadne⸗
zar 1. und Il. auf folgende Weife aus dem Daniel erweifen
zu Binnen. Nach Ierem, 35, 1. flehe es feft, daß der Ne
butadnezar, der Ierufalem belagert und erobert habe, im
vierten Jahre des jldifhen Königs Jojakim König von Bas
bel geworden ſey. Diefer Nebufadnezar, heiße es Dan. 1.
ſey im dritten Jahre Jojakim's nach Ierufalem gekommen
und babe den Daniel mit Anderen nad Babel weggeführt,
- Da nun aber unter dem dritten Jahr des Jojakim bier
nur dad eilfte deflelben verſtanden werben könne, fo fey
Nebukadnezar damals ſchon das fiebente Jahr König gewe⸗
fen. Trotzdem werde nach Werlauf von wenigfiend drei
Sahren, in benen Daniel zu Babel erzogen und in der
Gyrus der Große. 653,
Beißheit ber Chaldaͤer gebildet wide, Dan, 2, 1. ein Jahr
als das zweite Regierungsiahr eines Nebukadnezar bezeich⸗
net. Daraus erhelle alfo denn doch ganz Mar, bag da
von einem andern Nebufabnezar die Rebe feyn muͤſſe. — Bon
vornherein freilich möchte man dagegen wohl fragen, wie
man denn da einen andern Nebufadnezar verfichen folle.
Im erfien Kapitel wenigfiens bandelt body Daniel fortwähs
rend von einem und bemfelben Nebukadnezar. Nebuladnezar,
fagt er, babe ihn nach Babel geführt, Nebukadnezar habe
ihn und feine Freunde unterrichten laſſen, Nebulabnezar
babe fie zu feinen Dienern beftelt: — Nebukadnezar, fährt
ex dann 2, 1. fort, habe im zweiten Jahre feiner Herrſchaft
einen Zraum gehabt, Wer wollte bier nicht denfelben Nes
buladnezar verftehen, den er fortwährend im Kapitel vorher
verflanden hat? Wer wollte nicht dafür halten, daß, wenn
bier ein anderer Nebukadnezar verftanden feyn follte, er
aud als ein anderer bezeichnet feyn würde, zumal da ja
die Heilige Schrift doch fonft gern „der Sohn des ober ded”
beizufegen pflege, Wie aber fo der Verlegenheit entgehen,
der man nad) jener Meinung dann unwiderſprechlich bins
gegeben ſeyn fol?
Zunaͤchſt allerdings wird man mit Zug und Recht den
Unterfag in Zweifel ziehen, durch welchen jene Verlegenheit
bereitet wird, Das dritte Jahr des Jojakim, von dem
Dan. 1,1. redet, fol fein eilfte® und fomit fhon das fies
bente des Nebukadnezar ſeyn. Warum? Das eilfte, d, i. das
Dritte nach der Wiedereinfegung des Iojafim , müffe man
bier verftchen, weil die Schrift fonft von einem Zuge Nes
buladnezar’s nach Jeruſalem im wirklich dritten Jahre Jo⸗
jakim's nichts wifle. Aber die Schrift weiß überhaupt gar
nichts von einer Wiedereinfegung Jojakim's drei Jahre vor
feinem eilften. Denn wenn man bie Andeutungen vergleicht,
die durch die Weiffagungen des Ieremias hin ausgeſtreut
find (vgl. 46,2,), fo bleibt Bein Zweifel, dag Iojafim ſchon
in feinem vierten Jahre von den Ghalddern nicht bloß bes
654 U
beſiegt, ſondern auch wieder eingeſetzt iſt. Weun es alfe
2 Kön, A, 1. heißt, Jolakim ſey im dritten Jahre nach feis
ner Wiedereinſetzung von ben Chaldaͤern abgefallen und ders
nad) von Neuem durch bie Ghaldder geftürzt worden, fo
weiß man, wie man bad zu verfichen hat, Das naͤm⸗
lich ſteht ja anderweitig binlaͤnglich ſeſt, daB Jojakin
noch nicht gleich drei Jahre nach feiner Wiedereinſetzung
von Neuem enttbront worden fey, nicht In feinem fiebenten
Jahre, fondern daß er eilf Jahre regiert habe. Nicht fos
glei, ald er drei Jahre nach ber Wiebereinfehung abge
fallen war, ift er auch in demſelben Jahre noch geſtuͤrzt
worden, fondern nur in der Folge feines Abfalles, im eilften
Jahre. Wenn man Übrigens das vergleicht, was Aber die
beiden Feldzüge gegen ihn berichtet wird, fo wird es ſchen
daraus gewiß, daß Daniel ben erftern, nicht den letztern
meine, Denn nur bei dem erflern war Nebukadnezar fel-
ber nad) 2 Kön, 24, 1. zugegen, wie er bei bem Dan. 1,1.
als gegenwärtig erfcheint. Und wird auch zu bem erſtern
2Kon. 24,1. nicht fo bemerkt, daß Nebukadnezar Gefans
gene und Tempelgefäße mit ſich fortgeführt habe, wie die ß
Dan. 1, 1. bemerkt wird, fo wird dieß boch durch die Par
rallelſtelle 2 Ghron. 36, 6.7. ergänzt, wo zwar nur von
Einem Zuge die Rede ift, aber doch gerade von eben bem,
bei dem ber König felber zugegen war, und zwar faft mit
denſelben Worten, wie Dan,1,1. Hat man ſich nun aber
auch überzeugt, daß Dan, 1, 1. unter dem dritten Jahr bed
Jojakim das wirklich dritte deffelben zu verfteben ſey, wird
dadurch fchon fofort Alles Mar? Gefegt, Nebukadnezar wäre
nicht bloß in diefem dritten Jahre nad Jeruſalem gekoms
men, fondern hätte audy noch in demfelben Jahre ben Das
miel nach Babel geführt und wäre bann im Jahre darauf,
im vierten des Jojakim, König geworden: bätte Daniel
dann aud nur in biefem Falle im zweiten Jahre bed Ne—
bukadnezar ſchon bie drei Jahre feiner Bildung hinter ſich
baben tönnen? Allerdings, wäre feine Ankunft in Babel
Cyrus der Große. 685
ſchon. in ben Anfang des dritten und Nehukabnezar’s Regie⸗
rungsanteitt erft gegen das Ende des vierten jojaßtin’fchen
Beglerungejahres anzufegen. Allein eine. ſolche Außglei
dung hätte ſchon etwas Gezwungenes. Und dann kommt
noch dazu, daß es ſich fat zur Evidenz erheben läßt, Res
bukadnezar fey noch gar nicht im dritten Jahre vor Ierws
falem angelangt, habe viel weniger noch im Anfang deſſel⸗
ben Jahres die Gefangenen nach Babel gebracht, fonberh
das Wort win bei Daniel in dem Gage: fm dritten Jahr
des Reihe Jojakim's Fam Nebukadnezar nach Jeruſalem,
— ſey nicht im Sinne von „ankommen”, ſondern von „aufs
brechen” zu nehmen, und Nebukadnezar's Belagerung habe
erft im vierten Jahre Jojakim's ihren Anfang genommen.
Bei der Vergleichung deö Jeremias, befonderd 35, 1, und
46, 2,, drängt ſich diefe Annahme faft unabweisfich auf,
Damit gibt ſich denn freilich auch eine ganz andere
und »iel einfachere Loͤſung. Man wird nämlich das Jahre
unterſcheiden müflen, in welchem Nebufabnezar den Juden
als König erfchien, und dann ein andered, in welchem es
zu Babel wirklich König wurde. Seit dem vierten Jahre
des Jojakim handelte er mit den Juden ald ein König,
etwas fpäter erſt, mit dem Tode feines Waters, wurde er
König. Man beachte übrigens, wenn ed bier fihon einmal
erlaubt iſt, auf bie Wusgärgefchichte zurhetzubliden, wie
die heilige Schrift and) ba noch, wo fie ſchweigt, mit ihr
durch die bloßen Vorausfegungen, die fie machen laͤgt, über
einftimmt, ‚und man faſſe auch das ind Auge, baß nach
den meiſten forifligen Angaben Rebulabnezar 43 Jahre res
giert, mach der Bibel dagegen 45 zu regieren füheint, daß
alſo die beiden erſten Jahre Feine eigentlichen Regierungs⸗
jahre. Hat er nämlich bei dem Sturze Jojakim's fieben
Sabre geherrſcht, fo führt er den Jechonjah in feinem ach⸗
tem Jahre gefangen , flebenundbreißig Jahre aber nachher,
alfo im fünfunbviergigfien feiner Regierung ; firbt er und
fein Nachfolger Evil⸗Merodach zieht den Jechonjah aus
dem Gefaͤngniß.
666 Schul
Das Berhaͤltniß der Chaldaͤer fobann zu
ben Perfern betreffend, und zwar zunähfi im All⸗
gemeinen, follen die Beſieger und Unterjodher der Chal⸗
der nach der Schrift durchaus nicht ald Perfer, fordern
vielmehr als Meder, d. i. als eine ſich nach ben Perfern
erhebende, mediſch eigenthämliche Macht erſcheinen. „Richt
Chaldaͤer von Perfern,” fagt Ebrard, „werben unterfchieben,
fondern die (mit den Perfern identifchen) Chaldder von den
Medern” (8,672), Und wahr iſt es ja allerdings zunächk,
daß die aͤlteren Propheten, Iefaiad und Ieremias, bie Uns
terjocher Babeld, die Befreier der Juden, meiſtens Meder
nennen (vgl, Jeſ. 13, 17.19, Ier. 51, 11. W). Wan bes
handele doch aber Propheten als Propheten, und nicht als
Geſchichtſchreiber, verlange alfo nicht von ihren, was man
nur von Geſchichtſchreibern zu verlangen berechtigt if. Wie
hätten fie denn auch zu ihrer Zeit die füdöftich vom Tigris
wohnenden Wölfer anders als mit dem bamald allein bes
kannten Namen der Meder bezeichnen follen? Uebrigens iſt
es immer veachtenswerth, wie Jeſ. 13, 17. die Eroberer Bas
bels ſchildert; offenbar ſcheint er eher ein Volk wie bie Pers
fer, als eind wie die Meber geſchaut zu haben. Die Meder,
heißt es, will ich gegen fie erwecken, die weder nach Silber
begierig find, noch auf Bold merken, fondern die Shnglinge
mit dem Bogen erfhießen u. f. w. Dann deutet auch Ies
ſaias fowohl wie Jeremias an, daß die Belagerung Babels
von ben Mebern nicht alleih außgehen werde, Ser. 51, 27.
lleſt man: ruft. wider fie die Koͤnigreiche Ararat, Meni und
Astenes — und Jeſ. 21,2: Elam, feige hinauf! belagere,
© Mebien! und 22, 6: Elam fhreitet daher, mit Köchern,
Bogen, Zruppen und Neitern gerüftet, Ueber bie Elami-
tee oder Eiymder bemerkt aber ſchon Joſephus (Arch. I, 6,
4.):"Eivpos ’Eiupalovs, Ilsgeäv ovrac deymyisas, za-
siluzev, und Bar Bahlul (in Hybe's: de relig. vet.
Pers. p. 423.) oS. „un 00m ‚od a2 hans
(„die Magier waren von vn Perfn aus a
Eyrus der Große. 657.
Etam'sꝰ). Und meinen auch Einige, vielmehr behaupten zu
möüffen, daß die Elymder nicht ganz mit Recht fir Perfes
genommen würden, fo if doch das Bar, daß der Prophet
nicht bloß die Meder, fondern auch bie ſuͤdlich in Perfins
Gegend Wohnenden als Sieger über Babylon geſchaut babe,
Ja, Daniel fagt aufs allerbeftimmtefte, daß die Perfer das
Reich des Chaldders Belfazar einnehmen würden, .„Est
enim in illo Pharsin (quod in parietem inscriptum est)
duplex significatio. Nam et abruptum significat, et
ipsos Persas, qui abruperunt” (Grotius); oder „in vooe
Tom dwalvıfig occurrit; non enim dividendi solum sigui-
ficatum obtinet, sed et ad Persas, exoidii Babylonici
auctores, alludit (Glass, phil. s. p. 1979). Wenigfiens
verfand Daniel fon die Schrift an der Wand dahin, daß
das Reich des Belfazar getheilt und Medern und Perfern
gegeben werden wuͤrde. Aber wozu überhaupt bie Prophes
ten befragen über eine Zhatfache, über die man bie: @es
ſchichtſchrelber zuatpe ziehen ann ? Heißt es nicht 20hron.
3%, 17—W: „Gott führte über fie die Könige ber Chaldaͤer
und führte fie weg mach Babel, fo viele vom Schwert
übrig geblieben waren, und fie wurden feine (Nebubaduezar’s)
umd feiner Söhne Knechte bis auf das Meich ber Perfer?”
Wie deutlich iſt es hier doch, daß die Schrift dad Reich der
Derfer als ein auf das chaldaͤiſche folgendes kennen lehrt!
Daniel nun. deutet allerdings im Anfange des fechften
Kapiteld an, daß der Meder Darius. bad Koͤnigthum
empfangen habe; wie er «8 jedoch empfangen habe, das
fagt er. nicht. Im vorhergehenden Kapitel handelte: er zwar
von bem Geficht des Belſazar, wodurch ihm ber Untergang
feined Reiches angezeigt. wurde, und im legten Verſe heißt
es, daß Belſazar in eben der Race umgebracht fey; wenn
man aber daraus fchließen wollte, wie Ebrard und Wetzke
das thun, baß Darius felber den Belſazar getödtet und for
gleich nach feinem Tode die Herrſchaft an fich geriffen babe,
fo lieſt man doch nicht allein, daß Darius da. fen 62
68 Shut
Sabre alt gewefen fey (5, 31.), alfo bereitö in einem Alter
geftanden habe, dem es nicht mehr fo gar eigen ift, Kriege
au führen und Gtäbte zu erobern, fondern ber Werd, in
welchem die Geſchichte des Darius anfängt, iſt auch durch
einen ſolchen Zwiſchenraum von der Geſchichte des Belſazar
im Worbergebenden geſchieden, daß bie Worte: „Und
Darius aus Meden nahm bad Reich ein”, gar nicht fo
eng meit dem Worhergebenben, fondern vielmehr mit bem Fol:
genden zufammengehören. Dann laffen auch bie Worte:
wrabe dan ıyıra in), dieſe Worte felber am wenigfien
den Gedanken an eine Eroberung durch Darius auflenmen.
Denn 5ap bebeutet, beſonders beim Daniel, niit „etwas
gewalffem nehmen”, fondern „etwas ald eine Gabe em:
Afangen”, Man vergleihe 2, 6., wo Nebukadnezar ben
Magiern verſpricht: „ihr werbet Geſchenke empfangen”
(an va Ybgen mag SR)5 man vergleiche auch 7, 18,, eine
Stelle, die wegen ihrer Achnlichkeit viel Licht über bie uns
fere verbreitet. Denn wie es bier’ beißt, Darius habe bad
Reich empfangen, fo findet man 7, 18: bie ‚Heiligen des
Höchften werben das Reich empfangen (mıye Yapı)- Die
Heiligen des Höchften werben das Reich doch aber nicht
durch Eroberung einnehmen, ſondern ber Alte der Tage wird
es einnehmen und bie Gewalt und Ehre und Herrſchaft dem
Menſchenſfohn (8. 14.) und durch ihn feinem heiligen Volle
geben (8. 27.),. fie werden es alfo vom Hoͤchſten ald eine
Gabe empfangen. Freilich, wo eine Gabe, da muß auch ein
Geber fepn. Führen denn aber nicht aud) deutliche Spuren
anf einen folhen? Nennt Daniel nicht ned in bemfelben
fechften Kapitel 8. 28. Koreſch ben Perſer als einen Solchen,
der nicht allein dem Darius gleichzeitig, ſondern beffen Reich
and) mit: dem des Darind aufs engfle verbunden gemefen
ſey? Er fagt doch, nachdem er auf wunderbare Weile in
ber Lömengrube erhalten worden, daß er durch bieß eine an
ihm gefchehene Wunder ſowohl im Königreich des Dariub,
als auch in dem des Koreſch maͤchtig geworben ſey, als ob
Cyrus der Große. 659 .
ber, der im Königreich des Darius, zugleich damit auch ins
Königreich des Korefch Anfehen gewonnen habe, — Auf dafs
felbe Refultat führt denn auch Dan. 9, 1. Freilich, weil
bier vom Ende des Exils die Rebe, und dieß zur Zeit des '
erften Darius noch nicht fein Ende erreicht haben fol, bes
baupten ber Herzog, Ebrard und Wetzke, daß der bier ges
nannte Darius von dem im fechflen Kapitel weit verfchieden
und vielmehr der fey, unter welchem nad Era, Haggai
und Sacharja der Tempel zu Ierufalem wieder auferbaut
wurde. Was fie body aber eben erfi zu beweifen haben,
daß das Eril noch nicht unter dem erflen Darius zu Ende
gegangen fey, das felfen fie fo als auögemacht voraus, We⸗
nigſtens hätten fie, ohne von diefer Vorausſetzung gezwungen
zu feyn, wohl ſchwerlich das flr ihre Behauptung geltend
zu machen geſucht, was fie für biefelbe geltend gemacht
haben. Unter dem Darius in Kap. 6,, fagen fie, weilten
die Juden noch in Babylonien, unter biefem in Kap.Y. das
gegen erfcheine Ierufalem (9, 7.) außer dem Tempel (9, 17.)
ſchon wieder hergeftelt. Wer aber Kap. 9. ®. 7. unbefans
gen anfieht, kann wohl nur gerade das Gegentheil darin
finden. Dein Herr, heißt es, ift bie Gerechtigkeit, unfer
die Scham des Antlitzes, wie ed heut zu Tage fleht, für
den Mann Juda's und für die Bewohner Jeruſalems und
für das ganze Ifrael, die da nahe und bie da fern find in
allen Ländern, wohin bu fie verſtoßen haft in ihren Webers
tretungen, Allerdings iſt hier vom Manne Juda's und von
den Bewohnern Serufalemd die Rede (=): wer wüßte
aber nicht, daß man in der hebräifdhen Sprache bie aus
Serufalem nicht gut anderd zu bezeichnen vermag? Ber
wollte trog ber folgenden Worte, bie won einer Zerſtreuung
in alle Lande handeln, an eben zu biefer Zeit in Ierufalem
anfäffige Bürger denken? Derſelbe Name, biefelben Attri⸗
bute, zu deutlich fpricht Alles für die Identität diefes Darius
mit dem in Kap. 6, Gerade ald hätte Daniel es hindern
wollen, bier an einen andern Darius als ven früheren zu
Tpeol, Stud, Jahrg, 1888,
660 Schult
denken, ſetzt er, wie oben wm, fo bier "m sm
(aus dem Samen der Meder) und außerdem, wie er
oben gefagt hat: „er empfing dad Reich, fo bier win
erroa mıobg ba bonn, „der zum König gemacht wurde über
das Reich der Chaldaͤer.“ Der Herzog und Ebrard bezichen
freilich in diefem Sage: Darius, der Sohn des Ahasverus
aus dem Samen der Meber, der zum König gemacht wur:
de u. f. w., die Attribute auf den Ahasverus. Sie koͤnnen
fie aber nur, da fie ſich mac) 6, 1. von vornherein als ein
Eigenthum des Darius zu erfennen geben, gewaltthätig auf
Ahasveruß beziehen und bringen außerdem den Daniel ba
durch mit ſich felber in Widerfprud, Da es fi naͤmlich
bier keineswegs um Jemand handelt, der irgend einmal Kö:
nig geworben ift, fondern vielmehr als der erfle unter ben
perfifchen Königen das Reich der Chaldaͤer empfangen habe,
fo würbe bier nicht, wie vorhin, ein Darius als der Erſte
- erfeheinen, fondern vielmehr ein Ahasverus. Won ganz Wins
felben‘ Darius alfo, von dem Daniel 6, 1. gefprochen, fagt
er nun hier, nit, daß er Babylon erobert habe, fondern
daß er zum König der Chaldaͤer eingefept worden fey (Tran
rex constitutus est, sc. ab altero aliquo). Wenn nun
aber Darius Babel nicht felber erobert hat, und Babel doch
nach Kap. 5. erobert werden follte, was liegt da ndher, als
anzunehmen, daß Koreſch, der Zeitgenoffe des Darius, es
erobert babe?
Doc nein, Koreſſch ik fein Zeitgenoffe jenes Darius,
der ber Herrfchaft der Chaldaͤer ein Ende machte, ſondern
geboͤrt vielmehr in bie Zeit der legten perfifchen Könige,
„Dffenbar” — bemerkt Weste (S. W.) zu einer Weiffagung
bei Daniel aus bed. Koreſch Zeit (Dan. 11, 2,3.) — „Dffens
bar if hier die Rede von bem nahen Untergange bed perfiz
ſchen Reichs; der vierte König (von Koreſch ab) fol ber
legte ſeyn.“ Und möchte auch vielleicht Wetzke felber
leicht von biefem Argumente abflehen — «8 liegt zu Has am
Xage, daß unter dem vierten König nicht bie Eine Perfon des
Cyrus der Große. . "661
letzten Königs zu verfichen fey; denn wie würde es auf die
paſſen, was da gefagt iſt, fie werde eine größere Macht has
ben, als alle Könige vorher? Und nur zu leicht kann man
nad) der Weiſe der Propheten unter biefem vierten König,
der den Krieg gegen die Griechen befonder& heftig fortführte,
. alle Nachfolger zugleich mitverfiehen, die endlich jenem Kriege
mit den Griechen erlagen; — aus dem Buche der Eſther
foll es doch zu Mar einleuchten, daß vor dem Koreſch ſchon
ein gewiſſer Ahasveruͤs ben Thron des perfifchen Reichs inne
gehabt habe, Denn die Geſchichte der Efiher, der Gemah⸗
Hin des Ahasverus, müffe ſich nothwendigerweiſe vor der
NRüdkehr der Juden, die doch von Korefch ausging, ereignet
haben, „Bon diefer Rüdkcht” — behauptet Wetzke zunaͤchſt
(&,32.) — „ſcheint wenigfiens Haman, der Jubenfeind, durch⸗
aus nichts zu wiſſen; denn er fpricht noch im zwölften Jahre
diefeß Könige (Ahasver's) zu Iegterem (3, 7. 8.): Es ift ein
Volt zerſtreut und theilet ſich unter alle Voͤlker in allen
Landen deines Koͤnigreichs, und ihr Geſetz iſt anders, denn
aller Völker.” „Noch beachtenswerther”, fährt er ſodann
fert, „iR, daß Mardochai (2, 6.) von fich fagt, er fey mit
Jechonja durch Nebukadnezar aus Ierufalem weggeführt
worden,” Und diefe Argumente wird man nicht dadurch
zu entkraͤften verſuchen, daß man mit Ferrand (reflexions
sur la religion Chretienne. T. I. p. 159.) und des Bigno«
les (chronol. S. II. p. 274.) annähme, Ahasver, der Ger
mahl ber Efiher, fey jener Cyaxares, der, bevor noch Eyrus
das Prineipat der Meder an ſich riß, zugleih mit Nebus
Babnezar Jerufalem erobert und einen Theil Juden mit fi
gefangen gefhhrt habe. Denn mit Recht hat ſchon Harts
mann (syst. chronol. bibl. p. 378.) gegen dergleichen Ans
nahmen bemerkt: „quod sub Ahasvero Estherae Persae
Ppraeponantur Medis — gentes enim Ahasvero subditae
Persae et Medi semper vocantur, nunquam Medi et
Persae, — cuius (rei) alia ratio esse nos potest, quam
quod Ahasverus esset Persa. Nec ubi Medi domina-
4°
662 Schultz
bantar in Persas, conveniens potest iudicari, subiectae
nationis nomen praeponi familiae dominanti. Item,
quod Esth. I, 14. nuncupentur principes septem, regi
proximi, et regni primates, qui ordo introductus est
superiori tempore, quo Persae iam dominabantur.” —
Allein diefe Gründe Hartmann’s gelten aud gegen Ebrard
und Wetzke, die ja auch die Eſther in eine Zeit verfegen
wollen, wo die Meder das Principat inne hatten, bie Pers
fer unterworfen waren, Und dazu koͤmmt, daß dad, was
von ben Juden im Buch Efiher audgefagt wird, nicht auf
die Zeit des Erils, fondern vielmehr auf eine fpätere paßt.
Denn fo groß konnte die Zerftreuung der Juden in der ers
ſten Zeit des Exils wohl kaum feyn, daß fie ſich über alle
Gegenden und Satrapien Perfiend erſtreckte; fo groß Fonnte
fie wohl erfi damald werden, als fie ſchon Lange in das
Gebiet der Perfer verfeßt waren, Außerdem rubt audy bas
Argument Wetzke's auf der falfchen Borausfegung, daß nach
ber Erlaubniß zur Rüͤckkehr nur ſehr wenige oder gar feine
Juden in Perfien zurüdgeblieben feyen. Das Gegentheil
erhellt aus ber allgemeinen Tradition der Juden, dag nur
Wenige und zwar die Niedrigfien und Aermften des Volkes
am Ende der Gefangenſchaft nach dem Waterlande zurüd:
gekehrt, daß der Kern der Nation dagegen und bie Bors
nehmften in Babylon zurüdgeblieben feyen (Thalmud. Ba-
bil. in Kidduschim), Prideaur darf fogar behaupten (alte
und neues Teft. I. S. 18, im dritten Bud): „Wenn wir
nad) der Zahl der Familie Ahron’s gehen, fo muß deren eine
weit größere Menge gewefen feyn, als derer, welche fi
wieber in Judaͤa nieberließen. Denn von 24 Drbnungen
der Söhne Ahron’s, welche weggeführt wurben, finden wir
Ährer nur vier unter denen, die wieder zurädfamen.” — Was
dann noch den Mardochai betrifft, der felber erft ins Exil abs
geführt feyn fol, fo leidet dieß Argument an großer Schwäche,
Es ift ja binlänglich bekannt, daß nach der Weiſe der h. Schrift
das oft von ben Kindern mit auögefagt wird, was von ben
Cyrus der Große. 663
Eitern außgefagt werden follte, So heißt es 1. Moſ. 46, W.,
daß 66 Seelen mit dem Jakob nady Aegypten gelommen
feyen, obgleich man ſich doch bald überzeugen kann, das
einige von den 66 erft nachher in Aegypten geboren Seven,
Die Zeit des Mardochai und der Eſther brand alfo kei⸗
neswegs bie des Erild, eine Zeit vor Korefh und feiner
Aufhebung des Eril zu fenn, «0 es fleht demnach fe, daß
wenigſtens das Buch Eſther nicht bloß nichts in den Weg
legt, den Koref für früher ald den Ahasvesos, den Gemahl
der Eſther, zu halten, fondern auch dazu veranlaßt, Wie
ſteht es aber mit den übrigen hierher gehörigen Büchern
der b. Schrift? Was ſagen denn fie, wenn es nun gilt, die
Geſchichte und Ordnung der Perferkönige felber zu beftimmen?
Die Geſchichte der Perfer, fo weit fie in ber Bibel bes
rührt wird, iſt allerdings ein etwas fehwierigerer Punct,
Wird man auch von vornherein gendthigt, die Vorausſetzun⸗
gen, von denen Prof. Ebrard und Wetzke auögeben, als uns'
haltbar zu verwerfen, fo fieht man ſich doch, wenn man
dann ebenfo die Refultate derfelben verwerfen muß, für den
erſten Augenblid wenigftens in einer gewiflen, ſcheinbaren
Verlegenbeit. Doch nur deſto mehr Aufmerkfamkeit ſchenke
man der Unterfuhung! Efra 4, 5., fagt Ebrard, werde ein
Darius ald der Nachfolger des Korefch genannt, und V. 24,
werde derfelbe Darius ald Nachfolger des Artachſchaſta ges
nannt. Verſtehe man nun unter Koreſch Leinen Unterkönig
bes Artaxerxes oder Artachſchaſta, fondern den Eyrus, und
unter diefem Darius nicht den Darius Nothus, der nur ald
unterkoͤnig wirklich ‚auf den Unterfönig Koreſch folgen konnte
und als eigentlicher König nachher in der That auf dem
Artaserred oder Artachſchaſta folgte, fondern den Darius
‚Huftafpie, wie gewöhnlich, fo ſey diefer weder ber Nachfol⸗
ger bed Artarerged, noch des Cyrus geweſen. Hier muß
man zunaͤchſt dieß antworten, daß fo eng Darius gar nicht
mit dem Koreſch verbunden erſcheine, wie es hier behauptet
664 Schulb
wird. Ebrard ſagt, es heiße: „So lange Kores lebte“,
ruhte der Bau, und wiederum: „bis zur Herrſchaft des
Darius” ruhte der Bau, „It damit nicht offenbar geſagt,
daß Kores bis zur Herrfchaft des Darius lebte?” In
der That, „nn ein und berfelbe Zeitraum bald durch die
eine, bald durch vie andere biefer Beitbeftimmungen ums
ſchrieben wäre, fo würde man nicht mit Unrecht fchließen,
daß das „ſo lange Kored lebte” ebenfoviel fagen wolle,
wie jenes „bis zur Herrfchaft ded Darius”. Aber ed wäre
wohl zu wuͤnſchen, daß Prof. Ebrard etwas genauer und
treuer citirt hätte, Eſra druͤckt fich doch nicht bald fo, bald
fo aus, fondern verbindet beides mit einander und fagt:
„die ganze Lebenszeit des Korefch, bed Königs von Perfien,
und bis zur Herrfchaft des Darius, des Königs von Pers
fien”, Wenn man bier das und ein Bischen genauer bes
achtet, fo fieht man deutlich, daß Efra durch daſſelbe zwei
keineswegs gleiche Zeiträume, ſondern vielmehr zwei auf
einander folgende Zeiten in Eine Zeitangabe vereinigt habe,
die Zeit des Koreſch und die Zeit bid auf den Darius, und
«8 folgt gerade dad Gegentheil von dem, was Ebrarb bier
finden wollte, naͤmlich daß doch nach dem Korefch erft die
Beit bis auf den Darius verfliegen mußte, ehe bie Herr⸗
ſchaft des Darius beginnen konnte, daß alfo Darius nicht
ein unmittelbarer Nachfolger des Korefch geweſen, fondern
daß eine Zwifchenzeit zwiſchen Koreſch und Darius verfloſ⸗
fen fey, Freilich nad Ebrard müffen der Darius und Kos
res möglihft eng zuſammengeruͤckt werden. Gr glaubt
Sach. 1, 12,, wo offenbar von demfelben Darius wie bei
fra die Rede, dahin verftehen zu müffen, daß bie 70 Jahre
des Erils, die doch unter Koreſch ihrem Ende zugeben fols
ben, erſt im zweiten Jahre dieſes Darius eigentlich um ges
wefen feyen. Sagt denn aber Efra 1, 1. nicht ganz aus⸗
drüdtich, daß jene 70 Iahre, von denen Jeremias geweiflagt,
ſchon im erften Jahre des Kores ihr Ende erreicht hätten?
Dan müßte alfo zulegt auch das Ieugnen, daß auch mur
Cyrus ber Große. 666
überhaupt ein Kores das juͤdiſche Exil aufgehoben habe,
was doch nicht allein Efra, ſondern auch Jeſaias und die
Bücher ber Chrom, beftätigen! Der Herzog für feinen Theil
bat es nicht zu leugnen gewagt, fondern er nimmt zwei
Beitläufe von 70 Jahren an, von deuen der erftere im ers
ſten Jahre des Kores, der andere im andern des Darius
abläuft. Ebrard aber fpricht fich ganz dreift darüber aus
(S. 606.). „Der Herzog”, fagt er, „ift genoͤthigt, zweierlei
70 Jahre anzunehmen, erſtlich 70 Jahre der Gefamenſchaft.
die aber gar feinen Abfchluß finden, und dann noch 70
Jahre der Verwuͤſtung. Wir dagegen erhalten eine eins
fache Zahl von 70 Jahren, die mit der großen Deportation
Jechonja's und der Verwuͤſtung des Tempels beginnt, und
mit dem Wiederaufbau des Tempels endet. Im zweiten
Jahre des Darius Nothus waren die 70 Iahre um.” Was
find denn das für Worte beim Sacharja, auf die ſich Ebrard
beruft? „Es antwortete”, heißt es, „der Engel’ des Herrn
und fprady: ‚Here Bebaoth, wie lange wilft du dich nicht
erbarmen Ierufalems und der Städte Juda's, über welche
du gezuͤrnt haft diefe 70 Jahre?” und das verficht man body
am beften nicht von jenen 70 Jahren, die zur Zeit des Sas
harja eben erfi im zweiten Jahre des beſprochenen Darius
zu Ende gingen, fondern von den bekannten 70 Jahren der
Gefangenſchaft. Das nämlich iſt doch der Sinn in ben
Worten des Engels: ift es nicht gemug, daß Jeruſalem die
70 Jahre der Gefangenfchaft, wie fie vom Propheten Ieres
mias vorbergefagt, vom Heren verworfen gewefen ift? Sol
es jeßt, nachdem jene Jahre ſchon lange- abgelaufen find,
uoch länger verworfen bleiben? Oder man kann ja auch
bie 70 legten Jahre verſtehen, die eben erſt ihr Ende er”
seichten, und braucht darum dennoch nicht das Ende des
Esils bis auf diefe Zeit hinauszufchieben. Denn da der
Zempel zu Ierufalem erfi 18 Jahre nach dem Anfange des
Exils zerftört worden war, fo konnte Sacharja, für den es
666 Schultz
fich um einen neuen Tempel handelte, von ber Zerſtoͤrung
des Tempels ab leicht neue 70 Jahre zählen.
Aber wie fleht ed nun mit der Haupffache, mit ben
Derferönigen indgefammt und ihrem Verhaͤltniß zu eins
ander? Ganz befonders kommt bier das Buch Eſta in
Betracht. Nachdem Kored, fo wird uns bier erzählt, im
erſten Jahre feiner Regierung den Juden die Erlaubniß ers
theilt, mit den Tempelgefäßen nach Ierufalem zurüdzuleh:
ven, machten ſich Serubabel oder Scheöbazar, ber Fürft der
Juden, und Iofua, ihr Hoherpriefter, bahin auf, und zwar
mit vielen Anderen, die Efra 2, aufgezählt werden, darunter
auch mit einem gewiffen Rehemiad, und befegten von Neuem
die Städte Juda's. Noch in bemfelben Jahre, im fiebenten
Monat, kamen fie dann zufammen, um bad Laubhüttenfeſt
zu feiern und die Wiederherſtellung des Tempels vorzubes
zeiten. Schon im andern Jahre des Kores fingen fie dann
auch wirklich mit dem Bau deffelben an (Rap, 3.). Kaum
aber war dad Fundament gelegt, als die Samaritaner, bie
Widerſacher der Juden, den Fortbau unterbrachen. „Sie
dingeten nämlich Räthe wider fie und binderten ihr Vorha⸗
ben, fo lange Kores, der König von Perfien, lebte und bis
an die Regierung des Darius, des Königs von Perfen”
(4, 4. 5). „Und unter der Regierung des Achaſchveroſch“,
beißt es nach einem Abfage weiter, „im Anfange feiner Res
gierung, ſchrieben fie eine Anklage wider die Juden und bie
Bewohner -Jerufalemd” (4, 6,)5 weiter, wiederum nad) eis
nem Abfage, zur Beit des Artachſchaſta fehrieben Bislam,
Mithredat, Tabeel und Andere ihres Gollegiums an Artach⸗
ſchaſta, den König von Perfen. Dann, nachdem ihr Schrei⸗
ben und die den Juden ungünflige Antwort des Königs
mitgetheilt ift, heißt e8 wieder: „Da börte auf die Arbeit
am Haufe Gottes zu Jerufalem und blieb unterlaffen bis
zum zweiten Jahre ded Darius, des Königs von Perfen.”
Endlich fließt ſich Kap. 5. an dieſe Worte durch die Er«
zaͤhlung an, wie man eben unter Darius auf die Ermahs
Gyrus der Große, ” "867
nung bed Haggai und Sacharja ben Tempel wieder herges
ſtellt und im fechften Jahr des Darius vollendet habe, und
dann heißt es noch 6, 14, 15: „Und fie bauten und volls
endeten auf den Befehl des Gottes Ifraeld und auf ben
Befehl bed Kores und des Darius und bed Artachſchaſta,
des Königs von Perfen, und es wurde aufgerichtet dieß
Haus bis zum dritten Tage des Monats Adar im fechften
Jahr der Regierung des Darius,”
Zuerft alfo wird Darius zunaͤchſt hinter dem Kores ges
nannt, und man glaubt, mit Ahasveros und Artafafla längfk
über ihn hinaus zu ſeyn; plöglich aber lebt man wieder,
nachdem von Artafafla die Rede gewefen, beim König Das
rius, und zwar offenbar bei bemfelben, von dem vorher die
Rebe gewefen, bei eben dem, bis in beffen Zeit ber Tempel⸗
bau fi lag. In welchem Verhaͤltniß ſteht er alfo zu Kos
es, in welchem zu Artafafla? Mit Ebrard und Wetzke
Tann man bier freilich Teicht fertig werben. Um den Korefch
ald einen Fuͤrſten zu, erweifen, der mit Darius nicht vor,
fondern unter Ahasveros und Artaſaſta regiert habe, bes
bauptet Wetzke (S. 9.): „Nirgends fleht, daß Koreſch jes
mals fein Eſra 1, 2-4. enthaltenes Edict wieder zurüdges
nommen habe. Wenn er nun mit dem mächtigen Cyrus
identiſch iſt, wer durfte fich dann der Ausführung deſſelben
widerfegen?” Zeigt denn aber nit Efra deutlich genug
an, daß bie Miderfacher der Juden durch Wermittelung fals "
fer Räthe, nicht durch einen über dem Kores flehenden Kös
nig den Bau verhindert hatten? Jene leugnen ed, „Der
Bau”, fagt Ebrard, „ruht auf Befehl des Artaxerxes, durch
Volziebung des Kores. Wie Kores flicht, wird Darius
Nothus (dev nachherige Nachfolger des Artarerres) von Ars
taxerxes zum Satrapen in Babel eingeſetzt; Darius, der
Sohn des Zerred und der Eſther, ift den Juden günftig und
erwirft nun von Artarerred die Erneuerung ber einft von
Kored gegebenen Erlaubniß zum Tempelbau, fo daß ber
Bau von flatten ging auf Befehl des Kores, Darius und,
668 Schultz
Artachſchaſta (Efra 6, 14.)” (©, 679). Nach Ebrard if
Rehemias ber Erſte, der von Babel nach Jeruſalem zurkds
Lehrte, Erſt als er diefe Reife angetreten, befahl Artach
ſchaſta auch dem Kores, den Erulanten die Rüdkehr zu er⸗
Tauben, und da erſt begab ſich Serubabel mit den Seinigen
nad Judda. Da Nehemias im zwanzigſten Jahr des Ar
tafafta zuruͤckkehrte, fo fällt alfo das Ende des Exils ek
um diefe Zeit. Schreiben denn aber nicht die Widerſacher
der nach Ierufalem Zurüdgelehrten ſchon an Ahasver einen
Anklagebrief (Efra 4, 6.), müffen alfo nicht die Juden fhen
viel früher vor Artafafta ihr Waterland wieder aufgefuht
haben? Ebrard und der Herzog erflären Eſra 4, 6., dad
aud in der Septuaginta fehle, für eine Gloſſe. Sagt dem
aber nicht Efra wenigftend aufs allerflarfte, daß er ſchon
im fiebenten Jahr des Artachſchaſta nach Ierufalem gekom⸗
men fey, und zwar „um die bort fon wieder Anweſenden
das Gefeg Gottes zu Ichren” (Efra 7, 7.)% Ebrard m
Bidet auch diefe Stee, wenn nicht für unecht, fo doch für
corrumpirt. Solde Willkür aber dem Worte der h. Schrift
gegenüber verdient Peine Widerlegung, Nur eine factiſche
Berichtigung wird man wohl noch in Beziehung auf bie
Argumentation Ebrard's bei biefer Gelegenheit geben bürs
fen. Um zu zeigen, daß Nehemiad und Efra, die unter
Artafafta Zurüdkehrenden, mit Serubabel und Joſua unter
Kores gleichzeitig feyen, kommt ihm Alles darauf an, zu ber
weifen, daß alle vier ein und daſſelbe Laubhüttenfeft ge
feiert Hätten, Das Laubhüttenfefl, von dem Efra 3, 1 ff.
berichtet, muß alfo baffelbe feyn, wie jenes, von dem Reh. 8.
redet, und zwar darum, weil auch dad in beiden Büdern
vorhergehende ein und baffelbe fey. In beiden gehe nämlich
eine und diefelbe Lifte der unter Serubabel Zurüdgekehrten
vorher, die beide Male mit einer und berfelben Bemerkung
ſchließe, in beiden auch die Nachricht von einer Volkever⸗
fammlung, an. welche ſich dann das Laubhüttenfeft anlehne.
„Ja mehr noch”, heißt es dann Efra 2, 63. ‚tritt auf dem
Eyrus der Große. 669
Laubhüttenfefte Joſua's eine Perfon ermahnend auf, welche
ohne Weiteres wrgyen genannt wird, und Neh. 8, 9, tritt
auf dem Laubhuͤttenfeſt Eſra's Nebemia felber in der ndms
lichen Weiſe ermahnend auf, und damit gar Fein Zweifel
Aber die Identität Nehemia’s mit jenem „Thirſchata“ bleibe,
fo Heißt es hier (Neh. 8, 9,) and mn am, und dort
wird neben ben Hauptführern der unter Kores zurückkeh⸗
wenden Erulanten (Efre 2, 2.) wirklich neben Joſua und
Serubabel ein Nehemia genannt,” (S. 682). Allerdings,
fo vorgetragen, hat die Sache vielleicht einigen Schein, aber
doch nur einen irrthumlichen. Bei dem Laubhüttenfefte des
Serubabel und Joſua im Buche Eſra wird keineswegs eis
nes Thirſchata gedacht, vielmehr gefchieht dad in der Lifte
der zurüdgelehrten Erulanten (Efr. 2, 63.), und da tritt
der Thirſchata nicht ermahnend auf, viel weniger in ber naͤm⸗
lichen Weiſe, wie Nehemia auf feinem Laubhüttenfefte, fons
dern er gibt vielmehr bie Beflimmung, daß gewiſſe Priefter,
die ihr Gefchlechtöregifter verloren hatten, ihres Amtes vers
Iuftig ſeyn follten. Eben weil diefe Perfon bei Efra fo
ohne Weiteres Thirſchata genannt wird, fann man doch an
Niemand anberd denken, als an den Serubabel, ber nah
der hebräifchen Sprechweiſe (Efra 1, 8) ein Fuͤrſt der Ju⸗
den, nach der chaldaͤiſchen (5, 14.) ein Pechah war. Pechah
bezeichnet ja daffelbe, was Thirſchata, wie dad aus Neh.
5, 14. erhellt, wo Nehemiad, wie fonft Thirſchata, fo Pechah
fein fol, Faſt Feht man gar nicht, wie Prof. Ebrard ſich
fo irren konnte, da ja Nehemias felber beides, die Beſtim⸗
mung des Thirſchata (7, 65.) und dann feine ermahnende
Toaͤtigkeit während feines Raubhüttenfeftes, ald etwas ganz
Berſchiedenes hintereinander erzählt, Wäre er 7, 65, mit
dem Thirfchata gemeint gewefen, fo würde er zudem, wie ims
mer bis zu Kap. 8., in ber erfien Perfon von fich geredet
haben. — Etwas anders hat ſich Wetzke die Sache zurecht
gelegt. Noch zur Zeit des Ahasver, 5 Jahre vor dem Ars
taſaſta, gab Kores als Unterfönig in Babylon den Juden
670 Shchult
die Erlaubniß der Ruͤckkehr, und nicht allein Serubabel und
Joſua, ſondern auch Eſra und Nehemia machten alsbald
von derſelben Gebrauch, letztere beide naͤmlich zu einer er⸗
ſten Reife nad) Jeruſalem, von ber fie und merfwürdiger«
weile auch nicht ein Wörtchen erwähnen. So kann «8
denn natürlich wahr feyn, da bie Widerſacher der Juden
noch an Ahasver einen Anklagebrief fchidten, und daß Efra
im fiebenten Jahre des Artafafla wirklich eine Reife mad
Jeruſalem, nämlich eine zweite, machte. Eſra war mit Res
hemia nad den Störungen durch die Widerfacher wieder .
nach Babel gelommen und kehrte nun, nachdem inzwiſchen
unter dem Nachfolger bed Kored, dem Darius, der Tempel
vollendet war, mit einem günfligen Decret des Artafafle
von Neuem nad) feinem Vaterlande heim, Warum fol
denn aber die Rückkehr der Juden unter Serubabel gerade
in die Zeit des Ahasveros fallen, warum nicht fchon früher?
Weil Nehemiad, der bis im die legten Zeiten bed Artafafta
lebt, ſchon unter diefen erſten Rüdtehrenden erfcheint? Kann
es benn aber unter den vielen Juden nicht zwei Nehemias
gegeben haben? Kann der. unter Serubabel nicht ein ganz
anderer feyn? Nehemias erzählt doch nachher felber, daß
er die Lifte derer gefunden babe, die mit Serubabel, Joſua,
Nebemia u, f. w. zuruͤckkehrten, fagt nicht, obwohl er,
wie bemerkt, biß zum 8, Kap. in der erften Perfon von ſich
redet: bie mit Serubabel, Joſua und mir zuruͤckkehrten.
Dber etwa deßhalb, weil bad Laubhättenfeft bed Serubabel
und Iofua in der That daffelbe ift, wie jened des Era und
Nehemia? Aber geraͤth Wetzke, der dieß allerdings ſo be⸗
hauptet, nicht in Widerſpruch mit ſich ſelbſt? Das Laub⸗
huͤttenfeſt des Serubabel iſt doch ſchon vor dem Baue des
Tempels, alfo auch nach Wetzke vor der Ankunft des Gira
im fiebenten Jahr bes Artaſaſta und noch viel mehr vor
der des Nehemia im zwanzigften Jahr deſſelben Königs ger
feiert worden? Nein, in der Art widerfpricht Wetzke freilich
nicht ſich felber. Nachdem Nehemias von Kap. 1. bis 7, 6.
Cyrus ber Große. 671
das erzählt bat, was nach dem zwanzigften Jahre des
Artafafta lag, greift er nun Kay, 7, 6, bis 12, 27., und
zwar befonder& eben mit ber Erzählung vom Laubhüttenfeft,
in bie frühere Zeit zuruͤck und berichtet dad, was er nach
feiner erften Reife mit Serubabel und Joſua zugleich erlebt
und ausgeführt hat. Einem Widerfpruche, wenn auch ans-
derer Art, Bann aber Werke trog einer folden gewaltfas
men Annahme, bie fi auch nicht im Geringften begruͤn⸗
den laͤßt, doch nicht entgehen, Bei dem Laubbüttenfefte, das
nad Wetzke alfo noch vor dem Baue bed Tempeld, noch
vor dem fiebenten Jahr des Artafafta gefeiert feyn fol, iſt
Rehemias ſchon ald Thirſchata zugegen geweſen und doch
iſt er wieder nach Neh. 5, 14. erſt im zwanzigſten Jahre des
Artaſaſta Thirſchata geworden. Und abgefehen davon, hans
delte es ſich um ein und daſſelbe Laubhuͤttenfeſt, wie aufs
fallend, ja unerklaͤrlich muͤßte es doch ſeyn, daß bei Seru⸗
babel und Joſua nirgends Eſra und Nehemia, bei Nehemia
und Efra nirgends Serubabel und Joſua erwähnt werden?
Freilich beide Mal fängt die Erzählung mit denfelben Wors
ten an: „und es Bam der fiebente Monat heran,” Aber
wer wüßte nicht, daß jedes Laubhüttenfeft im fiebenten Mos
nat gefeiert wurde? Es iſt wahr, auch die folgenden Worte
flimmen überein: „und es Fam zufammen daB ganze Volk
wie Ein Mann.” Aber hat dieſe Webereinftimmung nicht
vieleicht einen andern Grund? Wenn es nämlich aus vies
len Anzeichen wahrfcheinlich wird, daß Kap. 7—10. im Buch
Mehemias, alfo gerade die Schilderung dieſes Laubhüttens
feſtes, ebenfo von Efra abgefaßt fey, wie die des Laubhuͤt⸗
tenfeſtes unter Serubabel im Buch Eſta, fo erklärt ſich
fon aus der Einerleiheit des Schriftftellerd, wie die Worte
jedesmal fo einerlei lauten konnten. Und dazu koͤmmt, daß
er fich vieleicht nicht ohne Grund das zweite Mal gerade
wieder fo wie bad erfte Mal ausgebrüdt hat, Vielleicht
ſchwebte ihm, ald er das zweite Laubhättenfeft beſchrieb,
daB erſte vor Augen; vielleicht wollte ex es auch Andern vor
672 Sa
Augen führen, Vielleicht war er befien eingedenk, unter
wie ungünftigen Umfländen man bdereinft das Laubhüttenfeft
gefeiert, nämlich das erſte Mai nach der Rüdkehr, unter
wie günfligen man bagegen es jegt feiere, und vielleicht wollte
er, daß auch Andere durch die Erinnerung an jene frühere
Beit diefer von Gott gewirkten günftigen Beränderung eins
gedenk würden: wie damals in einem offenen, bem Angriff
der Feinde ausgeſetzten Dorfe, fo felere man es jegt in einer
dur) Mauer und Thore gegen ben Angriff jener geficherten
Stadt, Wenigftend bemerkt Efra bei dem erſten Laubhüts
tenfeft (3, 3,) ausdruͤcklich: „Schreden befiel fie vor ben
Boͤlkern in den Ländern”, und beim zweiten: „das Wolf
kam zufammen auf dem Plage vor dem Thore bed Waſ⸗
fer,”
Auf Hypothefen, wie die Ebrard's und Wetzke's, darf
man ſich hier alfo freilich nicht einlaffen, um es zu erfldren,
wie Darius einmal zunaͤchſt hinter Kores, fobann hinter
oder mit Artafafta zugleich genannt werden koͤmme. Barum
beide, Darius und Kores, fon mit Ahasver und Artafafle
gleichzeitig feyn ſollen, laͤßt ſich durchaus nicht abfeben,
Wenn man dafür noch anführt, Efra, ber Zeitgenoffe des
Ahasver, müffe zugleich aud ein Zeitgenoffe des Kores ges
wefen feyn und dürfe nicht allzu lange nach dem Epile gelebt
baben, weil er fi} einen Sohn des Seraja, ded am Ans
fange des Exils getödteten Hohenpriefters, nenne: fo bedenke
man, daß fi) im Hebräifchen auch oft der Enkel oder Rache
Tomme einen Sohn feines Ahnherrn nennt umd die Mittels
glieder überfpringt, fo fie anders weniger befannt waren,
daß ja nicht einmal Joſua mehr, der Geleiter des Seruba⸗
bei, obwohl er ohne Zweifel weiter zuruͤckragte, als Eſra,
ein Sohn des Seraja, fondern vielmehr ein Sohn des Jo⸗
zadak, ein Enkel, de Seraja war (1 Ghron. 6, 14). —
Barum Kores und Darius Unterlönige des Ahasderos und
Artaſaſta gewefen ſeyn follen, laͤßt ſich fo noch wiel weniger
begreifen. Dder werden fie etwa durch ihren unterſchied⸗
Cyrus ber Große. 673
lichen Titel als ſolche Tenntlidy gemacht? Man fagt, Artas
fafta führe Efra 7, 11. den Namen „Rönig der Könige”.
. Aber Jedermann ficht auf den erfien Blick, daß ſich "Artas
fafta in einer etwas anmaßlihen Redeweiſe nur felber fo
nenne, Efra 4. führt er keinen andern Zitel, als der auch
dem Kores vorher beigelegt war. Ja, Kores behauptet nicht
allein von ſich, wie Artafafta, daß er ein König ber Könige
fey, fondern noch bei Weitem mehr, daß der Herr, der Gott
des Himmels, ihm alle Reiche auf Erden gegeber habe
2 Ehron. 36,2%. Efra 1,2). Für einen Unterfönig oder
Satrapen würde ſolche Behauptung offenbar ufurpatorifdh
geklungen haben, Dan. 10, 1. 11, 1. 2 Ehron, 36, 22. 23,
Era 1,1. 2, 8, kurz alle Stellen, wo von Kores die Rede,
beftätigen zu deutlich, Daß er fich deffelben Anfehens zu er»
freuen gehabt habe, wie Ahasver und Artafafla, Und ebens
fo verhält es fi mit Darius, Auch er heißt Esra 4, 5. ein
König der Perfer, und auch er legt Eſra 6, 11. feinem Edicte
ſolches Gewicht bei, wie es ihm nur der geoßmädhtigfte Rö=
nig der Perfer beitegen konnte. Allerdings, er heißt auch
einmal (Efra 6, 22.) nicht König von Perfen, fondern Koͤ—
nig von Affur, Und um das zu erklären, wird man nicht
zu der Aushülfe Berthold's greifen dürfen, der in der Eins
leitung S. 1001. die ganze Stelle Kap. 6, 19-22, einem ges
ſchichtsunkundigen Werfafler aus der Zeit der Lagiden und
Seleuciden zufchreibt, Dad wäre mehr eine Flucht, ald
eine fung der Schwierigkeit, Ja bazu wird nicht einmal
dad audreichen, was Clerikus in feinem Commentare zu ber
Stelle bemerkt: König von Affur fey Darius nach alter
Sitte genannt; Affur fey von Alters ber der gemöhnlichfte
Name für alle jene Gegenden gewefen, Aber mit Unrecht
behauptet nichts deſto weniger Wegte (S. 37.): „Damit wird
‚zweifelsohne angedeutet, daß feine Gewalt ſich eigentlich nur
über Babylon und bie dazu gehörigen Landſtriche erſtreckt
babe.” Dagegen reicht ſchon das hin, daß ja auch Artafafla
felber Neh. 13, 6, König von Babylon genannt wird, was
674 Schultz
doch ziemlich ebenſoviel ſagen will. Der Grund, warum
Darius hier einmal gerade Koͤnig von Aſſur heißt, liegt
vielmehr in dem Gebanten der Stelle. Die Iſraeliten naͤm⸗
lich, die aus der Gefangenfchaft zuruͤckgekehrt waren, banken
da Gott, daß er fie fröhlich gemacht, unb freuen fi, daß
der Feind, der fie einfimals in die Gefangenfchaft geführt,
iegt die Freiheit und die Erlaubnig zum Tempelbaue geges
ben habe. Darius, ber König von Perfen, kommt bier das
her gar nicht als folder in Betracht, fondern vielmehr al6
eine Fortfegung einer und berfelben feindlichen Macht, von
der früher das Unglück angehoben, beren Herz Gott jet
aber gewandt hat (=> son).
Wie aber fol man nun zu einem fichern Refultate der
Esra 4. genannten perfifhen Könige gelangen? Carpzow
(introd. I. p. 336 etc.) und fehr viele Andere unter den
Xelteren ſchon (cf. Joh. H. Michaelis, adnot. uber. zu
Eſta 4, 6.) und Jahn, Rofenmüller und Gefenius mit faſt
einftimmigem Beifall unter den Neuern haben angenommen,
Darius habe erſt nach Ahadveros und Artafafta regiert und
ſey zunaͤchſt hinter Kores (Eſta 4,5.) nur per prolepsin
erwähnt, „Ad ea statuenda,” fagt Hartmann (synt. chron.
bibl. p. 371.), „per nexum historiae adducor, quem
suppeditavit Esdras (4, 6.). Is enim postquam dixerat
iam sub Cyro ipso, corruptis consiliariis, impeditam
esse templi aedificationem ad usque regnum Darü,
regis Persarum, nunc incipit rationes adserti enume-
rare historicas. Nam, inquit, cum rex fieret Ahas-
verus etc., quae sane ratio nulla foret, nisi Ahasveri
regimen cum Cyri morte coniunctum vellet scriptor
divinus.” Der gute Hartmann hat aber nicht gefehen, daß
das „denn” Efra 4, 6, nicht von Efra, fondern von Luther
berrühre, daß Efta felber vielmehr mit „und” fortfährt —
„und unter ber Regierung des Ahasverus“ — daß er alfo
nicht etwas zur Begründung nachzuholen, fondern die Ges
ſchichte fortzufegen ſcheint. So viel ift wohl wenigftens klar,
Cyrus der Große, 675
wenn Efra nicht Vers 24. noch einmal auf Darius käme,
würde hier Niemand baran zweifeln, daß Ahasverus, wie
er V. 6. nad Darius ſteht, fo auch nach Darius regiert
habe, Allerdings weiß man auch aus der Profangefchichte,
daß, wie bier die zwei Könige Ahasver und Artafafla zwi⸗
ſchen Kores und Darius eingefchoben werden follen, ges
rade fo zwei Könige, wenn auch ganz anders gebeißen,
naͤmlich Kambyſes und Smerdis, zwiſchen Eyrus und Darius
regiert haben. Darf man ſich aber in einer folhen Weiſe
an die Profangefdichte anlehnen, daß man ihr zu gleicher
Zeit wieberum ganz ungetreu wird? der follten bier doch
etwa einmal bie Namen nicht in Anſchlag gebracht werden
dürfen, auf bie oben ein nicht geringes Gewicht gelegt wors
den it? Mögen zunaͤchſt, wenn ed nun doch einmal nicht
mehr ohne die Profangefchichte geht, die Übrigen Punete
zum Vergleich gezogen werden!
.. III.
Zunaͤchſt kann es wohl in Beziehung auf die
Chald aͤ er keinem Zweifel mehr unterliegen, daß der Ne⸗
bukadnezar der heiligen Schrift nicht etwa dem Cyrus und
Kambyſes, fondern durchaus dem Nabochodonofor des Bes
roſus entſpreche. Und koͤnnte es daB wirklich noch, fo bat
man doch nunmehr das ſchlagendſte Argument dagegen,
naͤmlich ein Argument, das ſich aus dem aͤgvptiſchen Kriege
des Nebukadnezar hernehmen läßt, Freilich Ebrard und
Wetzke haben gemeint, diefen Krieg gerade für ihre Anficht
benugen zu Binnen. Nach Jeremias erobert Nebubadnezar
Taphanches (Daphnae Pelusiae). „Ebendafelbfl”, fagt
Ebrard (8.671), „hatte nach Herodot Pſammetich fein Las
ger gegen Kambyſes aufgefchlagen. Auch der beftige, lei⸗
denfcpaftliche Charakter des Kambyſes ſtimmt in allen feis
nen Zügen, wie er bei.Herobot erfcheint, auffallend mit dem
Bilde überein, welches im Buche Daniel von dem Charak⸗
ter Nebukadnezar's 11. entworfen wird,” Aber man kann
Tpeol, Stud. Jahrg. 1858, 420
676 Schultz
fi in der That gar nicht genug wundern, wie es doch
Ebrard fowohl als Wetzke fo ganz und gar entgangen if,
mit welchem aͤgyptiſchen König es Nebukadnezar nach ber
beiligen Schrift und mit welchem es Kambyſes nad) Herebot
zu thun hat, Nach der h. Schrift hat Nebukadnezar mit Phas
rao Neo zu kaͤmpfen (2 Kön. 23, W. 2 Ehron. 35,200.
Jer. 46, 2). Nach Herodot dagegen führt Kambyſes mit
Amafi Krieg (3, 1.). Ober hat hier ‚Herobot wieder trog
des verfchiedenen Namens doch denfelben gemeint, wie die
Bibel? Hier dürfte es wohl ſchwerlich Ebrard felber in
den Sinn fommen, fo etwas anzunehmen, dba ja Herodot
ebenfalls neben dem Amaſis auch den Necho kennt, und
zwar von Necho ganz daſſelbe erzählt, was bie h. Schrift
von ihm anbeutet, Denn wie Herodot nach dem, was oben
angeführt worden, erzählt, Necho ſey durch ein Drakel zum
Kriege gegen bie Afiaten veranlaßt worden, fo erwähnt dad
merkwürbigerweife auch 2 Chron. 35, 21, Necho läßt da
dem Iofiad fagen, Gott habe geſprochen, um ihn eilen zu
machen: »brab Tor wre. Diefer Necho nun aber, der
Sohn des bekannten Pfammetich, ift weit früher ald Amafis;
denn auf Necho folgt erſt Pſammos, dann Apries und dars
auf erft Amaſis. Geht daraus nicht aufs beſtimmteſte ber
vor, daß auch Nebukadnezar weit früher geweſen ſey, als
Kambyfes? Mas will es gegen ſolche Zeugniffe fagen, wenn
man ba eine gewiſſe Achnlichkeit zwiſchen beiden Kriegen
nachweifen kann, wie fie zwiſchen allen Kriegen der damas
tigen Zeit flattfinden mußte, oder zwifchen bem Charakter
des Nebulabnezar und Kambyſes, wie er allen Defpoten
gemeinfam zu feyn fcheint,
Freilich fol die Schrift Einiges von Nebufabnezar ers
zählen, was auf feinen Andern, als auf den Kambyſes oder
Cyrus paſſe. „Dienähere Unterfuchung”, fagt Ebrard &.667,,
„EnÜpft der Herzog an dad goldene Bild Dan, 3,” Mei
biefem Bilde fcheine es fi) um die Einführung eines neuen
Cultus zu handeln, Gerade dem entfprechend berichte nun
Cyrus der Große. 677
Strabo von Cyrus, daß er den Schechdienft und zugleich
das Hötdgige Jahr einführte. Nebukadnezar's Bild werde
alſo ein Schechbild des Eyrus geweſen feyn. Aber wahrs
lich, ein fehr böfed Zeichen, wenn der Herzog eine fo ges
wichtige Unterfuchung mit einer fo wenig gegründeten Ars
gumentetion anhebt. Wenn noch Strabo berichtet hätte,
Eyrus habe zur Einführung des Schechdienſtes ein ſolch
golbenes Bild, wie Nebukadnezar, errichten laſſen. So
aber ift die Argumentation eigentlich nichts fagend. Daß
Daniel in demfelben Kapitel die muſikaliſchen Inſtrumente
mit griechifchen Namen zu nennen und Wetzke daher
mit Nebukadnezar den Kambyſes zu meinen ſcheint, weil
exft feit Cyrus eine Berührung ber Griechen mit ben Bes
wohnern ber Öftlihen Gegenden Aſiens eingetreten fey, bes
darf bier wohl feiner weitern Berückſichtigung. na2D fan
ja viel leichter femitifch von 7=d, „flechten”, für ein mit Sais
ten befpanntes Inſtrument, ald aaußdxn griechiſch von irs
gend einer Wurzel abgeleitet werben, und ebenfo vieleicht
"TIERE von dp und "ra, weil es Saiten bezeichnet, die mit der
‚Hand gefchlagen werben, Auch verſichert es Strabo (&.471.)
von ddgu oder xwöge ausdrüdlich, daß das Inſtrument
fowohl wie ber Name aus Afien zu den Griechen gekom⸗
men fey, wenn ed auch einige von xuvugdg haben ableiten
wollen; ebenfo von omaßdxn Athendus (4. Rap. 23); von
vedvoe, das doch dem Tanzen fehr aͤhnlich iſt, Pollur
(9,4.8.52.5 vgl. Haͤvernid's Comment. zu Dan, 3.). Und
ſcheinen dennoch einige Wörter mehr griechiſch, wie wiabu:o,
fo weiß man ja in ber That von einem viel früheren Zus
fammentreffen der Aflaten und Griehen, woraus Entlehs
mungen ber Art leicht ihre Erflärung finden. Alex. Polys
biftor erzaͤhlt im Chronikon des Gufebius, daß ſchon Afferhads
von bis an bie Weſtkuͤſte Aſiens vorgedrungen fey und dort
unter Andern den Pythagoras gefangen weggeführt habe, und
Gurtius fagt (IV, 12, 1.): post hos ibant Gortuae, gen-
tes quidem Enboicae, Medos quondam secuti, sed iam
4*
678 Schult
degeneres et patrii moris ignari. So gut ein Haufe
griechiſcher Soldaten nach Oberafien ziehen konnte, konnte
es auch allenfalls ein Haufe unfleter Muſikanten. Nichts
ſteht der Annahme Geier’ entgegen, daß am dalbäifchen
‚Hofe griechiſche Mufifer geweſen feyen, die dort zugleich mit
den Inſtrumenten griechiſche Namen einführten — Wie ⸗
derum fol freili dad, was man anderweitig, befonbers
aus ben perfiichen Sagen, von Gyrus weiß, am beften
zu dem Nebukadnezar der heiligen Schrift paflen. Bon
Dſchemſchid erzähle man — und Dſchemſchid fey Fein Ans
derer als Cyrus, benn er fol wie Cyrus bad Sonnenjabr
erfunden, er wie Cyrus Perfepolis („Tekti Dschemschid”,
Thron oder Gebäude Dſchemſchid's) erbaut haben — er babe
ſich ſelbſt anbeten und diejenigen, weldye deflen fich weis
gerten, ind Feuer werfen laffen. Da habe man die Ges
ſchichte von Nebukadnezar (Dan. 3.). Aber in ber That,
die Unbefangenheit ift groß, mit der fo die perfifchen Sa—
gen benugt werden. Hier alfo wird angenommen, Dſchem⸗
ſchid fey Eyrug oder Kambyfes, S. 677. foll bie perfifche
Sage den Cyrus Kaikosru nennen. Dſchemſchid und Kai:
kosru find aber nach der Sage mehr als taufend Jahre von
einander getrennt und Dſchemſchid gehört einem ganz ande
ven Zeitalter an, als Gyrus, naͤmlich nicht einem hiſtori⸗
ſchen, ſondern einem mythiſchen. Noch Hoͤltv freilich („Dfiems
ſchid, Feridun, Guſtaſp, Zoroaſter“ von A, Hoͤlty. Hans
nover 1829) halt den Dfiemfchid für Dejoces. Aber Rhode
bat nachgewieſen, daß die Nachrichten in den heiligen Bü-
ern des Zendvolles ſich gar nicht auf daS perfifche Reich,
fonbern auf ein eigenes, nachher verſchwundenes Volk bes
ziehen („bie heilige Sage und bad gefammte Religions ſyſtem
der alten Baltrer, Meder und Perfer oder des Zendvolkes,”
180), Dfiemfhid wird als der Erſte dargeſtellt, unter dem
die Eeri (Agıoı) feſte Wohnfige einnahmen, Mit goldenem,
gottgefchenkten Dolche fpaltete er die zu bebanende Erde,
und wo fonft Feine Thiere waren, brachte das angebaute
Cyrus der Große. 679
Land große und ‚Heine in Ueberfluß hervor. Er erfüllte
das Land mit rothbrennenden Feuern, d. h. mit heiligem
Dienft und frommer Uebung. Die immer goldenen Felder
dort trugen Alles, was gut zu effen iſt. So bildete er Wer,
das an allen Dingen Ueberfluß hat, mit feinem goldenen
Dolche (Ebrard bemerkt S. 668: „das Zendaveſta beſchreibt
eine Stadt Wer, die Dſchemſchid erbaut habe, fo, daß Alles
auf Babel paßt”). Daraus, daß Perfepolis, die von Ey⸗
. ru8 erbaute Stadt, Tekti Dſſjemſchid genannt wird, erhellt
nur fo viel, daß die perſiſche Sage Vieles durcheinander ges
worfen habe und daher in hiftorifchen Dingen durchaus
nicht berbeigezogen werben duͤrfe. Es verlohnt ſich daher
auch gar nicht der Mühe, auf dad weiter einzugehen, was
Ebrard fonft noch aus berfelben beigebracht hat,
Das fodann der Evilmerodach ber heiligen Schrift
nicht dem Pſeudo⸗Smerdis des Herodot, fondern dem Evils
maradonchos bes Beroſus entſpreche, Teuchtet von felbft
ein, Schwieriger dagegen iſt es, den Belſazar des Daniel
unter ben chalddiſchen Königen bed Beroſus wieberzufins
den. Weder Nerigliffer, ber den Evilmerobady ermorbete,
noch Laboroſoarchod, des Mörbers Sohn, noch auch Nas
bonneb haben einen Namen, der mit dem bed Belſazar
eins zu ſeyn ſcheint. Viel wird es immer für fi haben,
. den Belfazar für den legten der babyloniſchen Könige, alfo
für Nabonned zu balten, Denn wenn man auch aus Dan,
5, 30. und 31. nicht herauslefen darf, daß Darius den Bels
fazar getöbtet und nach deffen Tode unmittelbar dad Reich
eingenommen habe, fo wird doch von Daniel in der Erklaͤ⸗
rung ber Viſion 5,26-28, der Sturz des Belfazar und .
die Eroberung Babeld durch die Meder und Perfer in nabe
Verbindung gebracht. Und Herodot nennt ben legten Las
bynet, d. i. ben Naboned, ebenſo wie Daniel den Belſcha⸗
zar, einen Sohn des erflen Labynet oder Nebukadnezar.
Bielleicht möchte ſich aud die Werfchiebenheit der Namen
Rabonned und Belfchazar leicht erklären laffen. Wahrſchein⸗
680 Schulg
lich iſt Nabonneb, wie Labynet aus Nebu⸗kab⸗ nezar, aus
Nabo « nezar zufammengezogen worden. Nabo ift aber fo
viel wie dominus, alfo fo viel wie Bel, und nezar und
schezar werben, wie oben nachgewieſen, leicht vertaufät,
Bugegeben werden muß aber auch, daß, wenn bier für ben
Belſazar dod einmal Iemand mit einem andern Ramm
flehen muß, man bann aud leicht an ben Evilmero⸗
dach denken koͤnnte. Denn Evilmerodach bat biefen Ra
men ohne Zweifel erfi ex eventu empfangen, urſpruͤnglich
dafür einen andern gehabt, Denn ber Name ra fiht
entweder mit bem JS, dem nergal (Meinem Unglüͤck), oder
mit bem h, dem kajun (dem großen Ungluͤck), in Verbin:
dung - (vgl. eo, Univerſalgeſch. S. 101.) und evil if der
Thor; der Name bezeichnet demmach einen Thoren bed Un
nlüds. Wie natuͤrlich wäre es alfe, wenn Daniel, am Hofe
lebend, an ben eigentlichen Namen gewöhnt, den eigent:
lichen Namen gebraucht hätte, andere Schriftfteller dagegen
den andern, ben in der Redeweiſe bed Volks üblichen! Zu
beachten bleibt e& immer zunaͤchſt, daß das Endſchicſel
des Belfazar viel beffer zu dem bed Evitmerobadh, alb
zu dem des Nabonneb paßt. Die Cyropaͤdie freilich Id
den Nabonneb auch ermordet werben, gerade wie Danid
den Belfazar. Die Cyropaͤdie muß aber immer fehr vor
ſichtig benugt werben und Beroſus berichtet geradezu, Ey
rus habe den Nabonned leben laſſen, dobs olaeigiov airö
Kagpevlav. Schon Marſham fagt (can. chron. p. 555.
cf. 596,): „Evil-Merodacho et Balthasaro idem regnandi
tempus, idem exitus assignantur”, und Hävermid hat,
was ‚Hoffmann für dieſelbe Anficht gefagt, wiederholt, baf,
wie Evilmerodach im dritten Jahr ermordet wurde , fo
auch nur vom britten Jahre des Belfazar die Rede ſey
(Reue keit, Unterfuchungen, S. 73), Sodann ſpricht auch
Baruch 1, 11., wenn derfelbe hier angeflihrt werden darf,
von dem Belſazar neben dem Nebuladnezar alfo, als ſey
er ber einzige rechtmäßige und fichere Thronerbe deſſelben.
Cyrus der Große. 681
&o aber wäre die Annahme einer Doppelbenennung bier
eine ganz andere, als bie oben befämpfte. Nämlich nicht
die ganze Schrift nennte einen andern Namen, als bie
ganze Wulgärgefchichte, fondern bie Schrift felber nennte
einen König bald fo, bald fo, was nichts Auffallendes has
ben koͤnnte.
In Beziehung auf den eigentlichen Hauptpungt, auf
das Verhaͤltniß der Ehaldder zu den Perfern, iſt es ferner
ſchon aus dem Obigen klar geworden, daß ber Darius des
Daniel keineswegs ald ber Unterdrüder Babylons erfcheint,
vie der Darius Hyſtaſpis, fondern im Gegentheil, Freilich
Darius Hyſtaſpis hat das Land in Satrapien eingetheilt,
wie der Darius des Daniel das in ähnlicher Weiſe getban
zu haben ſcheint. Darf man fo etwas aber für ihre Iden⸗
tität geltend machen? Ja, wenn nach der Vulgärgefhichte
Darius Hyſtaſpis ber Erſte und Einzige gewelen wäre, ber
eine ſolche Eintheilung angeordnet hätte. Aber Herodot
felbf erzählt ſchon von Eyarares, dem Water des Aſtyages:
nal agürdg a dAbyıce wark vis zobg dv 1) ’Aoly xal
mgürog Ösirafs zuols Exdarovg slvar, zoug 5 alyuopd-
oous xal roðs ſæxias al roðs rofopögovg (1,103.). Bus
naͤchſt ſcheint zwar in dieſen Worten mehr eine Eintheilung
ber Bürger in Vermoͤgensclaſſen, als des Landes in Pros
dinzen zu legen. Denn xark vilse wirb bier nad) den
folgenden Worten am natürlichfien von census und vecti-
gal, alfo secundum census sive vectigalia verflanden, So
erweiſt fih jedoch zugleich dad als falſch, was man von
jener Seite behauptet hat, nady ‚Herobot fey Darius Hys
ſtaſpis der Erſte, welcher nicht nur das Steuerwefen ordnete,
fondern überhaupt Steuern erhob, Und fobann bringt body
eine Steuererhebung zugleich auch eine gewifle Eintheilung
in Provinzen mit fi, ohne welde in einem größeren
Reiche die Steuern gar nicht eingetrieben werden koͤnnen.
Spricht doch der Urfprung bed Namens provincia felbft
682 - Schult
für den engen Zuſammenhang einer ſolchen Cintheilung mit
ber Steuererhebung, Mit Recht fagt daher Hävernid (Com⸗
mentar, 8.%7.): „Es if unleugbar, daß auch bei ben
Medern (ndml, vor Cyrus) eine Gatrapentegierung beſtand, und
aus Herodot hat Herren (een I, 1.©. 170.) die gewiß
begründete Gombination gezogen, daß wegen des vorherr⸗
ſchenden Princips einer Rangordnung der Völker (Her. 1,
134.) jeder Satrap bie Zribute von feinem Nachbar eins
treiben und bie naͤchſten an Mebien den Extrag des Gans
zen dem Könige überliefern mußten.” — Daß Daniel übris
gend die Burg Sufa erwähne, die nad) Plinius erſt Das
rius Hyfafpis erbaut habe, dieß Argument hätte Profeſſor
Ebrard mit keinem Worte für die Identität der beiden
Darii geltend machen ſollen. Kann Plinius bier auch nur
irgend welche Autorität haben? Sagt nicht berfelbe Pli-
nius auch 6, 14: Ecbatanam, caput Mediae, Seleu-
cus rex condidit? So gut, wie ſich diefe letztere Bemer⸗
tung als durchaus grundlos zu erkennen gibt, thut es bie
über Sufa aud. Der ältefte unſerer Hiftorifer , Herodot,
weiß von einem Erbauer und Gründer ber Stadt nichts,
Sie wird aber ı& Baaulrjia Msuvdvie (5,53.), Me
wvövuov dorv, Zoüca rk Miprövie (7, 151.) genannt
und fo in bie mythiſche Zeit des Memnon hinaufgefchoben,
Es war eine heilige, durch die Gottheit felber von Alters
ber geheiligte Stadt, älter als die Weltmonarchie der Pers
fer, aͤlter ald Cyrus felbft (vgl. Hävernid, Camm. zum Das
niel, ©. 554.),
Anftoß möchte e8 allerdings wohl erregen, daß bie Pro«
fangeſchichte von einem ſolchen erflen Mederkönige Babys
lons gar nichts wiffen ſollte. Und doch, wie koͤnnte fie das?
Unfere Hauptquellen über die perfifhe Geſchichte find He⸗
rodot und Ktefiad. Ueber ben Herodot geficht aber felbft
ein Gefenius ein (thes. II. p. 349): solere Herodotum
praetermissis mediocribus hominibus ex longa regum
serie nonnisi unum alterumve memorare reliquis emi- '
Eyrus der Große, 683
nentiorem et aliunde constat, et ipsa Babyloniae hi-
storia docet. Und Kiefias hat feine meiften Nachrichten
nad) den neuern Fotſchungen wahrſcheinlich aus Koͤnigalie⸗
bern, alfo aus fehr mangelhaften Quellen entnomnten. Wohl
bemerfe man indeß, daß Herodot und Kteflad über dem
Darius nur ſchweigen, nichts einer Exiſtenz deſſelben Widers
ſprechendes haben, Und dann findet ſich doch auch bei ans
bern Hiſtorikern wenigftend eine Andeutung bier und ba
von einem Mederkönige als Genoſſen des Cyrus. Merk⸗
wuͤrdig iſt hier zunaͤchſt die Stelle bes Aeſchylus in den
Pafern, wo es heißt (W. 756.): Mĩdoc y&g Av 6 zgürog
Aysubv oroeroũ, "Allog 8’ Ixslvov zalg 168’ Egyov AMvvos
... roltos 6’ da’ abroö Kügog xra. Dem Cyrus wird
bier die Eroberung Lydiens, Phrygiens und Joniens, nicht
die Babylons zugefchrieben, wahrſcheinlich alfo, daß Aeſchy⸗
Ins Babylon als ben Theil de AAAos anfah, fo daß ber
diRog Fein anderer feyn kann, ald ein eng mit Cyrus vers
bundener medifcher König. Abydenus fodann läßt den Nes
bufadnezar in feiner Weiſſagung, von der oben bie Rebe
gewefen ift, fagen: od (sc. Kugov) dh avvaluıog Zora
Myjöns; zd ’Asovglov aörnne (praepar. ev. 9, 14.)
Ja derfelbe Abydenus nennt (chron. Euseb. Arm. p. 61.
ed. Aucher.) den Bezwinger Babylons geradezu Darius:
„Daräut rex de regione depulit aliquantulam (naͤml. den
Iedten:' König von Babylon). Haͤvernick behauptet zwar
(Reue kritiſche Unterfuchungen, S. 78. Anm.), diefe Stelle
des Abydenus beziehe ſich anf Darius Hyſtaſpis, aber ganz
ohne Grund, Bon Zenophon außerdem ift bekannt, daß er
in der Gyropädie dem Herodot ganz entgegen berichtet, wie
die Meder unter Gyarares TI, dem Sohn des Aflyaged, ges
meinfam mit den Perfern Babylon erobert hätten, und Häs
vernick beweift (Comment, S. 204.), daß die Darftellung
des XZenophon viel mehr innere Wahrfcheinlichkeit habe, als
die des Herodot, Daß dem Zenophon bier wenigftend eine
684 Schultz
Varſiſage zu Srunde gelegen, daß er nicht Ales fingiet habe,
gibt auch ſelbſt v. kengerke zu (Comment. 3. Daniel, &.221.).
Darf man nun aber auch mit Hävernid noch weiter
geben und etwa annehmen, daß der Cyaxares des Zenophon
der Darius des Daniel felbft fey, wie das ſchon Joſephut
(Ach. 10, 11, 4.), Hieronymus, Wenema, Pempereur, Bis
tringa, Prideaux und viele Anbere angenommen haben?
‚Hävernid macht befonders daflır geltend, daß Cvarares ſich
von Charakter dem Darius fo ähnlich zeige, und zwar in
der Vereinigung mehrerer Gegenfäge, die ſich fonft feltener
in einem Menfchen vereinigt finden, Des Vignoles behaup⸗
tet dagegen von der andern Seite (II. &. 517.): 1) Son
nom de Cyaxare n’a aucun rapport avec celui de Da-
rius. 2) Son pöre dtait Astyage, roi de Medes, et ce-
lui de Darius porte le nom d’Assuerus. 3) Ce Cyaxare
ne se trouve que dans un roman etc. Und diefen @rän-
den darf man allerdings nicht jegliches Gewicht abfprechen.
Habernick zwar meint, die Differenz zwifhen den Namen
babe gar nichts Befremdended (S. 210.). Aber wollte Gott,
daß - fie bald etwas Befremdendes haben möchte! Deffen-
ungeachtet, wenn ber Darius des Dantel ein Mederkönig
zur Zeit des Cyrus ift und Gyarares fi uns als folden
bei Xenophon darbietet, fo bleibt faſt gar nichts Anderes äbrig,
als beide für identifch zu halten. Und wie, wenn ſich und
nun ein Weg zeigte, allen jenen Einwürfen des Wigmoled
mit Einem Schlage zu entgehen? Schon Prof. Hengfen:
berg hat (Beiträge, &,57.) vermuthet, daß Zenophon nicht
den eigentlichen Namen des Gyarared gebraucht habe, Nehme
man dazu an, daß diefer fogenannte Cyaxares eigentlich
nicht ein Sohn, fondern ein Bruder des Aſtyages geweſen
ſey, und es erklärt ſich Alles. Oder bat eine folche Annahme
Schwierigkeit? Zenophon brauchte einen Mittelömann zwis
ſchen dem alten Aftyages und dem jungen Cyrus und ließ
daher ben Bruder bes Aſtyages, den er als eine im Uebri⸗
Cyrus der Große. 685
"gen ganz geeignete Perſoͤnlichkeit In ber Gage vorfand, eis
nen Sohn bes Ayages ſeyn, um ihn fo dem Eyrus etwas:
näher zu bringen. So ift es ja auch fonft feine Weiſe in
der Gyropdbie, etwas nicht geradezu willkuͤrlich zu fingiren,
fondern fi an die wirkliche Geſchichte anzuſchließen, dies
felbe aber nach feinen Zwecken umzublegen. Bei einer fols
chen Annahme hat denn zunaͤchſt der Name Cyarares nichts
Auffallendes mehr. Zenophon nannte den, der als Sohn
des alten Gyarares Darius hieß, als einen Enkel deffelben
nad einer wohlbefannten Sitte eben na feinem Großvater,
Syarared, Sodann hat ed nun feinen guten Grund, daß
Darius ſchon 62 Jahre alt iſt, als er die Herrſchaft Babys
lons übertömmt (Dan. 6, 1.). Ja endlih flimmt es fo
auch aufs fehönfte überein, daß Darius Dan, 9, 1. ein
Sohn des Ahasverus genannt wird. Ahasverus oder Zerxes
naͤmlich ift ganz derfelbe Name wie Eyarared, Denn ſchon
nad bem Berichte des Strabo und dann nad ben von
Geſenius im Thefaurus mitgetheilten neueren Entdeckungen
von Grotefend und Champollion heißt diefer Name altpers
ſiſch eigentlich Kbſchwerſche oder Khfchherfche oder auch
Khſchearſcha. Nimmt man die erfie biefer Ausſprachen und
gibt man ber erfien Silbe derfelben den Vorſchlagsvocal a,
fo hat man Khaſchwerſche, was ja ganz bem bebräifchen Achaſch⸗
verſoſch entfpricht, Sucht man dagegen dad Zweite fo auszufprer
hen, wie es bafteht, und Heft man Khſch, wie man ed Iefen muß,
als x, To hat man Zerred; nimmt man endlich das Lepte,
und ſpricht man bad Kh mit einem Hülfsvocal für ſich aus,
fo bat man Kva und in ſchearſcha kaons, alfo Kuͤaxares.
Zugleich ſieht man übrigens wohl noch leichter, wie Artas
zerred dem Artachſchaſta der Bibel entfpricht.
Bird man da aber in Betreff ber Perferkönige
felber, nachdem fo die Identität der Namen in der Schrift
und in der Wulgärgefchichte erfannt ift, noch ferner geneigt
686 Schalt.
feyn, ben Achaſchveroſch Eſta 4, 6. für Kambyfes und ben
Artachſchaſta für Pſeudo⸗Smerdis zu halten? Da ja auf
den Cyrus, der auch nach der Echrift als der eigentliche
Sroberer Babeld vorauögefegt wird, Kambyſes und Pfeubos
Smerbis folgten, dann Darius Hyſtaſpis, Zerred und Artas
xerxes, fo ſcheinen Ahasveros und Artafafta freilich, wenn
fie Nachfolger des Kores find und Vorgänger des Darius,
mit Kambyfes und Smerdis ibentificirt werben zu müſſen.
Sind fie's denn aber wirklich? Können -fie nicht auch bie
Nachfolger des Darius ſeyn, fo daß die Schrift den Kam:
byfes und Smerdis gar nicht nennte, fondern diefe Reibe
aufftelte: Darius mit Kores, dann eine Lüde, dan Darius,
dann Ahasveros, dann Actaſaſta? Allerdings, da Efra
4, 24, von Abadveros und Artafafta auf den Darius, zweis
felsohne Darius Hyflafpis, einen Uebergang wie auf einen
Spätern zu machen ſcheint, fo feheinen fie auch als feine
Vorgänger vor ihm untergebracht werden zu muͤſſen. Wie⸗
berum aber, ba gerade umgefehrt ®. 6, von demſelben Da:
rind auf denfelben Ahasverus und Artafafta wie auf feine
Nachfolger fortgefchritten wird, fo frägt es fi noch er,
was man von beidem annehmen fol, So viel ift gewiß, für
das Letztere fpricht nicht bloß, daß der Name Ahadveros
derfelbe wie Zerred und Artafafta derfelbe wie Artarerres
iſt, fondern auch, daß, wo ſich der Name Artafafta font
noch in der Schrift findet, er da den Artarerze® bezeichnet,
und zwar im Bud, Efra felber nachher von Kap. 7. ab,
Diefer Umftand if fo gewictig, daß ſich Scaliger (de
emend. temp. p. 602.) darum zu einer ganz gewaltfamen
Annahme hat verleiten laffen, Um ben Ahasverus für den
Rerxes und ben XArtafafta für den Artarerres halten zu Eins
nen, will er lieber den Darius, auf den Efra 4, 24, kömmt,
um den Tempelbau unter ihm zu erzählen, für ben Darius
Nothus nehmen, der nach Artarerges regierte. Und doch
eben unter biefem Darius nicht bloß Serubabel und Joſua
Cyrus der Große. 687
noch, fondern auch Solche, die ben alten Tempel noch gefehen
batten; vgl. Hagg. 2, 3, Aud iſt das wohl zu beachten,
daß, wenn fih Pſeudo⸗Smerdis wirklich, wie man ihn bier
unter Ahasver verfteht, den Namen Abadver beigelegt hätte,
man fi dann doch wundern müßte, warum ſich auf
der Infhrift Behiſtans auch nicht dad Geringfte von folcher
Ramensveränderung, wohl dagegen die Ufurpation eine dem
griechiſchen Smerdis fo aͤhnlichen Ramens findet, Die
Ueberſchrift einer vor Darius bingefiredten Figur lautet
nad) Rawlinfon: This Gomätes, the Magian, was an im-
postor. He thus declared: I am Bartius (Smerdis), the
son of Cyrus; i am the king.” ‚Sodann laͤßt doch auch
das Bud Eſra — und diefer Umfland wiegt in völliger
Uebereinftimmung mit dem eben Befprochenen um fo ſchwe⸗
zer — das Buch Efra felber, ganz für fi) betrachtet, fos
wohl den Worten, wie auch dem Zuſammenhange nad) viel
eher 8. 24. ald V. 6, einen Rüdfchritt in frühere Zelten
erwarten. Denn was zunaͤchſt die Worte betrifft, während
8.6. durch 7, „und”, als eine Fortfegung mit V. 5. verbun.
den ift, knuͤpft ®. 24, nicht etwa durch Pus, „dann”, fons
bern dur yıma, „in jener Zeit”, an. Dient diefe Partikel
auch zuweilen allerdings dazu, Spätered an Fruͤheres anzus
zeihen, fo heißt fie ja doch eigentlich „in spatiis temporis
demensis” (cf. Simonis lexicon) und leitet eigentlich zu
dem über, was in eine eben ſchon bezeichnete Zeit hinein»
faͤllt. Nach dem Zufammenhange fodann ift ed ganz Mar,
daß ſich 8. 24. nicht an das zunächit Vorhergehende, fons
dern vielmehr an dad Frühere anſchließt. Schon Vitringa
hat in den Hypotypofen (S. 109.) darauf aufmerffam gemacht,
dag V. 6. gar nicht mehr auf den Tempel fpeciel Beziehung
babe, fondern vielmehr ganz allgemein laute, Kleinert (Dors
pat. Beiträge 1832, 1.) hat fobann weiter bemerkt, daß nicht
bloß 8, 6., fondern auch 8. 7 —23. eben fo allgemein fey,
ober vielmehr auf ganz andere Gegenftände als auf den
688 Schale
Zempel Beziehung habe: „Auch im ganzen Abfchnitt 8.7.
bis 23,”, fagt er mit Recht, „iſt gar nichts enthalten, was
uns on den Tempelbau zu denken nöthigte; überall iR uur
von der Stadt, ihrem Ausbau und ihren Mauern, die Rebe.”
Bers U. dagegen fängt ploͤtzlich wieder vom Zempel am,
Bahrlih, wenn Efra fagt, Artafafta habe den Bau der
Mauern verboten, und dann B. 24. fortfährt, zu jener Zeit
fey der Bau des Tempels unterblieben, fo wird man doch
nicht auf 8. 23. gerade eine Beziehung in V. 24, finden
wollen? Zudem fehe man doch audy die übrigen Worte in
B. A. an! Efra fagt: in jener. Zeit hörte auf die Ars
beit am Haufe des ‚Herrn, und über dieß „hörte auf” lefe
man nicht ohne Aufmerkſamkeit hin! Wann hörte denn ber
Bau ded Tempeld auf? Doch wohl nicht erfi unter Artafafta,
fondern, wie Eſra 3, 5. gefagt bat, unter Kores ſchon. ‚Hätte
Eſra bier alfo wirklich von der Zeit des Artaſaſta reden
wollen, fo hätte er body wohl fagen müflen: „zu jener Zeit
börte wieder auf”, ober vielmehr, da er nirgends andeus
tet, daß des Tempelbau von Neuem unternommen fey: „Zi
jener Zeit blieb er noch länger liegen.” Wahrlich es muß
als ausgemacht angefehen werden, nicht zwiſchen Kores und
Darius, fondern erſt nach Kores und Darius find Ahasver
ros und Artaſaſta gefolgt; der Artaſaſta bier ift derſelbe
wie ber, unter weldyem Eſta Kap. 7. nach Ierufalem giebt;
8.6, Handelt nach der Erwähnung bed Darius wirklich von
der auf Darius folgenden Zeit; 8.24, vielmehr kommt von
ber fpdtern Zeit auf die frühere deö Darius zurüd, und
bie perfifche Koͤnigsreihe ift alfo nach der Schrift in der That
diefe: Kores, dann nach einer Lüde Darius, dann Ahasveres
und Artafafla.
Keil’ Worte (Apologetiſcher Verſuch über die Bücher
der Chron. S. 190—136,): „es ift gewiß fehr hart, B. 24.
nicht auf ®, 23,, fondern auf V. 5. zurädzubszichen,” Böns
nen bier daher durchaus Beinen Beifall finden, Wenigſtens
Cyrus der Große. 689
iſt es gewiß eben fo hart, Werd 6,, ber mit „unb” anfängt
und von Ahasveros redet, nicht ald eine Fortfegung der Er⸗
zaͤhlung von ber Zolgezeit, fondern vielmehr als eine in bie
Zeit vor bem 8,5. erwähnten Darius zurüdgreifende Aus⸗
führung au faffen. Hätte Efra 8, 6, wirklich ausführen
wollen, aus welchen Gründen ber Tempelbau von Cyrus
bis auf Darius liegen geblieben fey, warum bätte er ba
nicht V. 6. ſtatt durch Y burdh "2 mit dem Vorhergehenden
verbunden? Wie nothwenbig bieß "2 if, wenn V. 6, als
eine erklaͤrende Audführung angeſehen feyn ſoll, zeigt ja am
beften die Ueberfegung Luther's und ber Irrthum derer, die,
durch Luther’ Weberfegung verleitet, "> vorauögefegt haben,
Genug, da Esra B. 24. nicht fagt, der Bau des Tempels
ſey legen geblieben, ſondern habe aufgehört, da er aber nur
zur Beit des Kores aufbörte, fo deutet Eſra deutlich genug
an, von welcher Zeit dad Pucz zu verfiehen ſey. Keil bat
freilich noch ein Bedenken: weder finde ſich eine Spur,
meint ex, noch fey es auch wahrſcheinlich, daß der Artafafta,
der bier den Bau Jeruſalems verbietet, ſich nachher dem
Eſta und den Juden fo gnädig bewieſen haben follte, viel
wehr müfle man dieſen Artafafla von dem, ber nachher
(Kap. 7.) dem Efra fo viel Wohlwollen erweift, unterfcheis
den, Und allerdings, theilt man bie Vorausſetzung Keil’s,
daß das den Juden unguͤnſtige Edit des Artafafla Kap. 4,
auch auf den Tempelbau Bezug babe, fo begreift man nicht
recht, wie derfelbe Artafafta nachher 6, 14, als ein Mitvolls
ender des Tempels und als ein Befoͤrderer des Tempelcults
von Kap. 7, ab fo ohne Weiteres vorgeführt werben konnte.
BBiederum aber, follte 6, 14, und Kap, 7. mit einem Male von
einem andern Artafafta die Rebe feyn, als vorbin, fo bes
gttift man eben fo wenig, wie fo ohne Weiteres, ohne bie
geringfle Andeutung mit eben demfelben Namen ein anderer
König bezeichnet feyn follte, Hier gälte es doch wahrlich:
Incidit in Scyllam qui vult vitare Charybdin. Was
690 Schule
lliegt alfo näher, als bie Vorausſetzung Keils nicht zu thei⸗
ten, ja hierin eben eine Beftdtigung dafür zu finden, daß das
Ebict des Artafafta 4, 7—23,, wie ed feinem Wortlaut nah
nichts mit dem Tempel zu thun haben will, fo auch in ber
That nichts mit dem Tempel zu thun habe. Hat fih fein
Artaſaſta durch fein. Edict in Beziehung auf ben Tempe
ungnddig bewiefen, nun bann freilich, aber auch nur dan,
braucht auch nachher, wenn fich ein Artaſaſta in Beziehung
auf ben Tempel gnädig erweilt, weder gefagt zu werben, daß
es ein Anderer fey, noch auch, daß er ſich bekehrt habe.
Zudem fpricht fo Vieles daflır, daß das Edict 4, 7-2.
troß feiner Ungunft dennoch von bemfelben Artafaftha her
rühre, von dem das Edict an ben Efra nachher Kap. 7. ge
geben worden if, Won ber einen Seite offenbart fih in
beiden Edicten ein und berfelbe Charakter. Denn trog der
Ungunft erfcheint der Artafafla des erften Edictes dennoch
in bemfelben günftigen Lichte, in welchem nachher der Ars
tafafta des zweiten Edicted wegen feines Wohlwollens er:
ſcheint. Artafafta verbietet ja 4, 7. den Bau nicht abfolıt,
fondern fpricht fi) nur dahin aus, feine Beamten follten
den Bau hindern, bis er die Erlaubnig zum Bau ertheilm
werbe, gleichfam als hätte er noch nicht ficher gewußt, was
er über Ierufalem befchliegen folle, fondern noch genaue
nachforſchen und Rath pflegen wollen. Er erſcheint Feind
wegs unbedachtſam, fondern vielmehr für das öffentliche
Wohl beforgt, befiehlt, bevor er entſcheidet, in den Urkunden
über den betreffenden Gegenftand nachzuſuchen, und ent
foricht fo ganz dem Bilde, das bie Wulgärgefchichte von
Artorerres Makrochir entwirft, Nicht zu uͤberſehen iR auch
der charakterifiifche Zug, der in beiden Edicten, fo kurz
find, dennoch wieberkehrt, nämlich die ausgeſprochene RI
ſicht auf den Schaden ober Vortheil, der dem koͤniglichen
Haufe erwachfen Fönnte, und zwar in einer faſt gleichen
Bendung. „So follt ihr nun eingedenk feyn”, heißt es 4,22,
Gyrus der Große. 691
zu thun biernach; warum ſollte erwachfen Nachtpeil, zu ſcha⸗
den den Königen?” und 7, 23: „Alle, was nad) dem Bes
fehle des Gottes vom Himmel, werbe eifrig gethan an dem
Haufe des Gottes vom Himmel; warum folte feyn Born
Über das Königreich des Königs und feiner Söhne?” Und
dazu kommt noch, daß, wenn biefer Artaſaſta nicht Artas
xerxes, fondern wirklich Pſeudo⸗Smerdis geweien wäre,
die Brieffteller dann wohl kaum 4, 15, hätten fagen konnen,
der König fole in den Ghronifen feiner Vaͤter ſuchen
laſſen. Pſeudo⸗ Smerdis rühmte fi) doch, der Sohn des
Cyrus, alfo des Erften diefer Dynaftie in Medien, zu ſeyn,
und diefe Abfaffer des Briefes thun, als zähle das Haus
des Fürften ſchon alte Ahnen, die längft mit Ierufalem zu thun
gehabt, Bon ber andern Seite ſetzt auch die Gefchichte der
Juden zur Zeit des Artarerpe beide Decrete als ‚zugleich
nebeneinander zu Mecht beftehend voraus, Denn nur, wenn
neben dem für den Tempelcultus günfligen Edict an Eſra
noch dad den Stadt» und Mauerbau hindernde Geltung
batte, erklaͤrt es ſich recht, daß Efra trotz alle feines Eifers
die Stadt und das Wolf einer fo traurigen Lage Überlaffen
mußte, wie fie ſich im zwanzigſten Jahre des Artarerzgs,
als Nehemias nach Ierufalem aufbrach, zu erkennen gibt, -
und zwar erklaͤrt es ſich fo ganz zur Genüge, obwohl «6
bißher immer als unerklaͤrlich ſo Vielen Anftoß gab. Eſta,
dem Priefter, waren nur in Beziehung auf ben Tempel bie
‚Hände losgemacht, in Beziehung auf alles Uebrige noch immer
die Flügel gebunden. Und erſt Nehemias erhielt in Be⸗
ziehung auf den Bau ber Stadt und ihrer Mauern die Er⸗
laubniß, deren einflige Extheilung Artaſaſta in feinem uns
guͤnſtigen Edicte nicht als unmöglich bingeftelt, aber doch
bis jegt immer noch zurüdgehalten hatte,
Die Anordnung in Efra 4. ift alfo folgende. Als bie
Gamaritaner hörten, daß ber Tempel von ben Juden ges
baut werde, kamen fie, um mit ihnen mitzubauen, Bon
Tpeol. Stud, Jahrg. 1858, “
692 Schult
ben Juden aber zusüdgewiefen, wurden fie Ihre Feinde und
betrugen fi) von da ab als ihre Gegner. Und zwar vers
binderten fie zuerſt ihre Abſicht, fo lange Kored.Ichte, und
von da bis zur Regierung bed Darius; dann wandten fie
ſich auch an den Ahadverus und zulegt an den Artafofla,
am ben der Brief mit feinem Antwortfchreiben B. 7—22,
mitgetheilt wird. Zw jener Zeit (B. 24.), d. h. als bie Sa-
meritaner fo ihre Gegner. wurden, zur Zeit bed Kores, hörte
der Tempelbau auf, bis zum zweiten Jahre des Darius,
Buetft alfo berichtet Efra won den Samaritauern, was er
von ihnen zu berichten batte, dann koͤmmt er auf den Tem⸗
pelbau zurüd, der von ihnen verhindert war. Fehlt es da
etwa an Drbuuug? Allerdings, es iſt nicht gerade eine
biſtoriſche Anordnung, aber eine fachliche, wie fie nicht eins
facher feyn konnte. Hätte denn Efra etwa, nachdem er von
ben ‚Hinderungen ber Semaritaner. zur Zeit des Kores ge
sedet, bloß um ber hiſtoriſchen Debnung willen zuerft den
Tempelbau unter Darius erzählen, unb dann noch einmal
auf bie Hinderungen der Samaritaner, nämlich auf die zur
Beit des Apasverus und Artafafts, kommen follen, über bie
er doch nur wenige Worte beizufügen hatte, ober war es
einfacher für ihn, nachdem er erwähnt hatte, wir bie Samas
ritaner Feinde geworden, nun auch fogleich beizufügen, welche
Anfeindungen die Juden von ihnen erfahren mußten, und
dann vom Tempelbau, der inzwiſchen vollendet war, zu bes
richten? Es kommt dabei die ganze Abfiht ded Buches
Eſta in Betracht. Eſra bat offenbar — das erhellt and
dem Edicte des Artafafla an ihm ganz deutlich, Kap. 7. —
die Miſſion erhalten, den Tempeltultus wieberherzuftellen;
bie Wiederherſtellung bed Tempels und feines Cultus zu
beſchreiben, ift ihm demnach auch die Hauptfache in feinem
Bude, ja, Wiederherſtellung bed Tempels amd feines Cul⸗
tus koͤnnte man dad ganze Buch überfchreiben. Wie er ben
Zempelcult wieder hergeſtellt babe, fchließt er daher am
Cyrud bes Große. 893
beſten daran an, wie ber Tempel felber von den Juden wieber
hergeftellt worden fen, und biefem Pofltiven f&idt ex am
einfachften alles Negative, nämli die Hinderungen ber
BWieberberftelung, als etwas nur. Gelegentliches worauf, fü
daß er mit BV. 24, abſchließend auf feinen eigentlichen Ges
genſtand zuruckweiſt und mikdiefem Verſe noch einmal andeutet,
warum er uͤberhaupt von der Feindſchaſt der Samaritaner
geſprochen habe, Freilich auch inmitten des Tempeldaues
unter Darius tritt noch einmal der Werfuch einer Stoͤrung
ein. Aber erſtlich Hat ‘biefer Wetfuch Leine Wirkung, und
dann ift er nicht ein Verſuch feindlicher Abſicht, er geht nicht,
und bad beadjte man wohl, von den Samatitanern aus,
ſondern von den perfifhen Beamten, Der Gamaritanes
als folder Anfeindungen follten Kap. 4. in Einen Abſchnitt
als etwa Gelegentliches zufammengefaßt werden, und das
tigt ulm fo mehr eine Unterbrechung bee Beitfolge angemefs
fen finden. Was Vitringa (Hypotyp. S. 109.) von Efra
4,6. fagt, indem er diefen Vers ganz tichtig auf Kerred bes
zieht, 8. 7—23, freilich auf Kambyſes, das findet daher faſt
wörtlich feine volle Anwendung auf biefen ganzen Theil des
vierten Kapiteld, auf ®, 6-23: „Mihi ita videtur, quum
(scriptor) ... in una veluti tabella exhibere vellet
molimina adversariorum ad turbandas res Iudaeorum,
anticipasse illam loqui de conaminibus hostium Ia-
daeorum sub Xerxe (quem recte Assuerum vocat) bre-
vissimis verbis et generalioribas, v. 6... Quae Oxd-
Aspbız facilis est et nihil habet paradoxi. Quin favet
locus ipse recte inspectus, in quo de impedito opere
templi sub Assuero ne verbura quidem dieitar.
Darauf, daß Efra’6 Hauptabficht die gewefen fey, die
Wie derhetſtelung des Tempels und feines Cults vor allem
Andern zu befpreiben und daher bie Anfelndungen ber Gas
maritaner, ſpeciell in Ein Kapitel zufammengebrängt, vorwege
zuſchicken, auf diefen Punct der Anosbnung, als auf einen;
46*
\
694 Schult
der auch ſonſt noch Licht verbreitet, ſoll hier ein beſonderes
Gewicht gelegt werden, Aber freilich, hat denn Efra über
haupt die Anordnung feines Buches getroffen? Hat er
denn nicht Kap. 4. u. 5. und theilweife 6. ſchon fo vers
bunden als eine Urkunde vorgefunden, wie man diefe Ka—
pitel heut zu Tage verbunden ſieht? Sie find chaldaͤiſch
geſchrieben, waͤhrend der Übrige Efra hebraͤiſch, und tragen
allerdings auch fonft Spuren einer urfpränglich eigenen Aus
torſchaft an fich. Und das muß auch entſchieden anerkannt
werden, wenn Einiges nicht dennoch auffallend bleiben ſoll.
Ganz befonderd kommt hier 5, 4. in Betracht, Es if da
von dem unter Darius wieder begonnenen Zempelbau bie
Rebe, alfo von einer Zeit, wo Eſta — wenn fonft irgend etwas
wabhrſcheinlich ift, oder evident, ſo iſt e8 dad — noch nicht in
Serufalem war. Und doch fängt ber Autor.da plöglich an,
von ſich zu reden, als hätte ex mit zu den Ierufalemiten und
Tempelbauern gehört, „Da fagten wie ihnen”, heißt es,
als fey er mitten darunter gewefen. Dieß für eine bloß
communicative Redemeife Eſta's zu halten, wird, da fie ſich
nur an dieſer einen Stelle im Efra fände, immer etwas
Unbefriebigendes behalten. Dann kann man es auch nicht
überfehen, daß Kap. 46. faſt nur Briefe enthält, die durch
moͤglichſt kurze Uebergänge mit einander verbunden find.
Das Wahrſcheinlichſte wird demnach das feyn, daß man in
SIerufalem wichtige Briefe und Edicte zuſammengelegt und
mit einer kurzen Beiſchrift fiber die Weranlaffung und Fol.
gen berfelben verfehen hat. Diefe Beifchrift etwa für efraifch zu
halten, gebt deßbalb nicht an, weil jene Stelle Efra5, 4,, wo
ein Ierufalemit unser Darius in der erſten Perfon zedet, fih
eben in ber Beiſchrift, nicht in einem Briefe findet; auch
würde Efra, wenn er felbft bie Beifchrift verfaßt hätte, gar
keinen Grund gehabt haben, weber fihon vor bem erfien
Briefe 4, 8. chaldaiſch anzufangen, noch aud nach bem
legten Briefe chaldaiſch fortzufahren, nämlih 6, 13—18,,
Cyrus ber Große. 695
oder wenigftens nicht, gerade bis B. 18, und nicht weiter
damit fortzufahren,
Aber eben fo ficher bleibt es auch, daß Efra Kap. 4, 8.
bis 6, 18. nicht ganz ohne eigene Zuthat hereingenommen,
fonbern vielmehr erft felber in die Geflalt und den Bufams
menbang gebracht habe, in dem wir jenen Theil jegt haben,
fo daß durchaus nichts im Wege fleht, die Anorbnung nach
dem, was ihm bie Hauptſache feyn mußte, zu erklaͤren.
Wenn zunaͤchſt Eſra 5,4, 5. bie Rede fo ploͤtzlich von der
erſten Perfon wieder zu ber dritten übergeht: „da fagten
wie ihnen, wie bie Männer hießen, die dieſen Bau thäten,
Aber dad Auge ihres Gottes Fam auf die Aelteften ber
Suben” — fo will es wenigftend nahe liegen, 8. 5. „Aber
das Auge ihres Gottes” fin eine Ergänzung des Efra zu
halten, bie da andeuten fol, daß ber Bau trog ber Ans
frage der perfifchen Beamten, auch noch ehe die Erlaubniß
von Darius angekommen, fortgegangen fey. Sodann will
es auch nicht gerade wahrfcheinlih feyn, daß fra 4,8,
bis 6,18. fo von einem einzigen Werfaffer bearbeitet übere
Tommen babe. Jener, ber ſich 5,4. als einen Theilnehmer
des Tempelbaues in den erften Jahren bed Darius zu ers
kennen gibt, er hätte auch noch von Artarerred teben Bin,
nen, ober erfi in deſſen Zeit gefeprieben? Denn wäre auch
Artafafta in dem ungünftiges Decret nicht Artarerres, fo
iſt es doch ber Artafafta 6, 14., der als Befoͤrderer des
Zempeld genannt wird, Es iſt das nicht unmöglich; von
Darius Hyftafpis erften Jahren bis auf Artarerpes find &s
wa funfzig Jahre; -aber plaufibel ift es doch auch nicht
gerade, Das Plaufibelfte vielmehr bleibt immer, daß Efra
einen noch unverbundenen Stoff vorgefunden und ganz nach
eigenem Plane geformt habe.
Aus Eſta's eigenem Mane, wie er oben angegeben iſt,
die Anfeindungen der Samaritaner in eind vorweg zufams
menzufaffen und bie Wiederherſtellung des Tempels und
606 Sl
feines Qults als Hauptfache durchweg im Auge zu behals
ten, findet denn eine Stelle ihr Berfländniß, bie ſonſt durchweg
handel bleibt, nämlich 4,710. „Zur Zeit des Artafafta”
beift ed, „ſchrieb Bislam, Mithredat, Tabel und die Uebris
gen ihrer Genoſſenſchaft an Artafafta, den König von Per
fien, und der Inhalt des Briefes war aramdifch gefchrieben
und aramdifher Sprache.” Dann folgt in halbäifcher
Sprache: „Richum, der Rathäherr, und Simſai, ber
Schreiber, ſchrieben einen Brief gegen Jeruſalem.“ Man
bat nach dem vorigen Verſe den Brief des Bislam u, ſ. w.
erwartet, zumal da etwas Chaldaiſches folgt, wie jener
Brief chalddiſch gefchrieben feyn follte, und ſiehe, es fcheint
vielmehr von einem neuen Briefe und anderen Abfaflern
bie Meder zu feon. Aber es fcheint nur; Eſta bat einen
Brief, ber nach feiner Beifchrift zunaͤchſt von ben perfifchen
Beamten Richum und Simſai berührt, er weiß aber, daß
er eigentlich von den Samaritanern Bitlam u. ſ. w. vers
anlaßt worden iſt, und der folgende Vers der Beiſchrift
fegt das auch. „Damals“, heißt es ja V. 9. weiter, „(sc
fprieben) Kickum, der Bathöherr, und Simſai, ber Schreis
ber, und bie Uebrigen ihres Genoſſenſchaſt, nämlich bie
von Dins und Apharſatcha und wie fidh die Samarita⸗
mer alle weiter nennen mochten, alfo nicht etwa Richum
und Gimfei allein, fondern ganz befonders alle die Sama⸗
ritaner, d. 1. bafielbe Volk, das früher den Tempelbau vers
hindert hatte, Und um das hervorzuheben, daß ber Brief
von ben Samaritanern angeregt ſey, darum fit Gira
bie Namen der famaritanifchen Henpträbelöführer, Bislam
u. fu w., voran, bie, fo lange man biefe Abfichtlichkeit nicht
estannt bat, allerdings etwas Befremdendes haben. Eſta
meint: zur Zeit des Artafafta ließen Bislam u. ſ. w. dis
nen Brief ſchreiben, und Rihum und Simfai fhrieben
ihn. — Ebenfo verhäft es ſich mit 6, 14. und 15. „Sie
bauten und vollendeten”, beißt es von ben Zempelbauern
Cyrus ber Broße. 697
zur Zeit des Darius, „auf den Befehl bes Gottes Iſraels
und auf 'ben Befehl des Kored und bed Darjawes und
des Artafafta, des Königs in Perfien.” Werd 15: „Und es
wurde gefertigt das Haus felbft biß anf ben britten Tag
im Monat Adar, nämlich im fechften Jahr der Regierung
des Königs Darius,” Man fieht nicht, was ber Artaſaſta
bier fol, und noch Keil hält ihn fümgein ziemlich ungefchids
tes Einfchiebfel des Efra; man begreift nicht, wie das Haus,
das unter Darius fertig wurbe, und zwar ſchon in feinem
fechften Jahre, noch unter Artafafta vollendet feyn folk,
Aber das fteht auch gar nicht fo da. Nachdem bis V. 13;
erzählt worden ift, wie Darius die Erlaubniß zum Tem⸗
pelbau gegeben habe und feine Beamten feinem Befehle
folgfam nachgekommen wären, nachdem alfo die volle Freis
beit zum Tempelbaue da il und nun gar nichts mehr im
Wege fleht, da erweitert fih dem Efra die Ausfiht, und
wie e8 fein Hauptthema ift, die ganze Wiederherſtellung
des Tempels und dann auch feines Cults zu ſchildern,
nicht etwa feine Reife, die nur in ihrer Bebeutung für ben
Tempel in Betracht kommt, fo faßt er mın Alles, wonon
er noch eben will, fummarifch zuſammen, greift mit bem
Artafafta wieber vor und führt erſt nachher bad Einzelne,
ſey ed aus der Zeit des Darius, fey ed aus ber des Artas
fafte, weiter aus. Der Werd gilt ald eine Ueberfehrift an ber
Pforte eines neuen Abſchnittes, die auch den zweiten Theil
des Efra mit anzeigt. Iſt doch diefer Vers auch ganz alle
gemein gehalten, fo daß er fowohl den Bau bed Hauſes,
wie auch die Herfiellung des Cultus zugleich bezeichnen
kann. Keineswegd wird das Haus hier ſpeciell ermähnt,
fondern es heißt: Und bie Aeltefien der Juden bauten und
hatten Gedeihen anf die Weiffagung des Propheten Haggai
und des Sadarja, des Sohnes Iddo's, und bauten und
vollendeten — zu welcher Vollendung nicht bloß ber Bau
gehört — auf den Befehl des Botted Ifraels und auf ben
698 Schulb
Befehl des Kores und des Darius und des Artaſaſta. Man
beachte, welch' zuſammenfaſſenden Charakter ber Vers zeigt;
den Kores holt er nach, um an den Anfang zu erinnern,
und den Artafafta erwähnt er mit, um das Ende mit eins
zuſchließen. Erſt im folgenden 8. kommt dann Gfra auf
dad Hauß ſelbſt: „und es wurde fertig”, fagt er, „jene
Haus, oder dad Hub felbfl” zc. Läuft bei ihm Alk
auf die ganze Erneuerung der Xempeiberrlichkeit hinaus
und ift davon feine Seele voll, dann Tann das bier nicht
Auffalendes mehr haben, was fonft allerdings unpaſſend
erfcheinen muß,
So erfi, nachdem man durchaus Feinen Anlaß mehr
bat, Ahasverus und Artafafla vor Darius zu fegen, und
mit Entſchiedenheit behaupten darf, die Reihe ber perfifden
Könige in der heiligen Schrift flimme durchaus mit ber in
der Bulgärgefchichte, wenn man fie fo aneinander hält, def
Kored mit Cyrus zufammenfällt, fo erft darf man nun auf
eben darum mit eben fo großer Entſchiedenheit behaupten,
Kores fey fuͤr durchaus nichts Anderes, al Cyrus felber zu
halten. Damit wäre denn aber auch die Unterfuchung am
Biele, Nur eins möchte bier noch beantwortet werden koͤn⸗
nen, naͤmlich, wer denn der Darius fey, der Neb. 12,2,
noch nach der Zeit bed Artaxerres genannt werde. Es wer
den von Nehemias Eintreffen in Ierufalem an bis auf ihn
nod vier Hobepriefter aufgenählt, Etjaſib, Jojada, Ir
hanan und Jaddua, und man hat ihn baber nicht für den
Nachfolger ded Artarerzes, den Darius Nothus, ſondem
vielmehr für dem ziemlich hundert Jahre fpäteren Darius
Codomannus halten zu müffen geglaubt. Und fragt man,
wie benn da Nehemias die Zeit dieſes Darius habe erleben
und ihn in feinem Buche erwähnen koͤnnen, fo if die
Antwort, für die Zeit des Einen Nebemiad feyen ber Has
benpriefter eben zu viel, man müffe den Vers daher für
einen fpäteren Nachtrag halten. Gpricht aber weiter nichts
Gyrus der Große. 699
als fo etwas, für bie Unechtheit dieſes Verſes, fo kann das
und wenig kuͤmmern. Leicht konnte es ſich ja, zumal in
jener fo bewegten Zeit, ereignen, daß ein Hoherpriefter ſchnell
auf ben andern folgte. Sind denn nicht auch während bes
Mannesalters David's ebenfoviel Hobepriefter gewelen, und
zwar aus der Einen Linie, wie Rehemias bier aufzäplt?
zuerſt Ahimelech, den Saul töbten ließ, dann Abjathar,
fein Sohn, der den Davib auf feiner Flucht vor Saul bes
gleitete (1 Sam, 22, %.); dann Ahimelech, der Sohn des
Abjathar, der, im Anfange von David's Regierung Hohers
priefter war (2 Sam, 8, 17.), und endlich Abjathar, der, als
David vor Abfalom floh, mit Zadok die Bundeslade trug
(2 Sam. 15,24.; 1R5n.2,20.). Freilich Joſephus berichtet,
daß Jaddua, der bei Nehemias zulegt genannte, zur Zeit
Alerander’8 des Großen Hoherpriefter gewefen ſey. Joſe⸗
phus berichtet aber. auch, daß Sanballat, der doch offenbar
in der Zeit des Artaxerres und Darius Nothus lebte, zur
Zeit Alexander's gelebt habe, und berichtet außerdem noch
mandye fabulöfe Dinge. Ueberhaupt weiß er von feinem
perſiſchen König nad; Darius Nothus mehr, hält diefen für
den von Alerander überwundenen und hat darum offenbar
über die Zeit des Jabdua mit geirrt, Allerdings legt auch
das Chronikon Alerandrinum unfern vier Hohenprieftern eine
fo lange Zeit des Prieſterthums bei, daß diefelben weit über
Darius Nothus hinaus regiert zu haben feinen; ſchon
Joſua erhält 52 Jahre und Joachim 30, Eijafib fobann 40,
Zojada auch 40, Johanan 32 und Jaddua 20, Wer fieht
aber nicht auf den erſten Blick, daß diefe Zeiten, wenigs
ſtens die erfien, die burch fo runde Summen, 50, 30, 40,
40, beflimmt werden, nie errathen find, eben um ben Beits
raum von Gyrus bis auf Alerander und Darius Codomans
nus auszufüllen? Ohne Zweifel ging dad Ghronikon von
derfelben Anſicht wie Joſephus aus, die nach Prideaur
den Juden ziemlich allgemein war, daß Darius Nothus
700 Schultz, Cyrus der Große,
und Darius Cobomannus ein und berfelbe fey, daß alſo
Jaddua die Zeit des Codomannus und Alerander’s erlebt
baben müffe, und theilte darnach einem jeden feiner Bor:
gänger einen angemeflenen Zeittheil zu. Die Nachrichten
der heiligen Schrift über die Perferkönige erſtrecken ſich alfo
nicht weiter als über Cyrus, die Zwiſchenzeit zwiſchen Ey:
rus und Darius Hyſtaſpis, welche die Wulgärgefchichte mit
Kambyſes und PfeudbosSmerdiß ausfuͤllt, uͤber Darius
Gyſtaſpis, unter dem der Tempel wieder hergeflellt wurde
vergl, zu Efra auch Haggei und Sacharja), Über Zerret,
Attaxrerxes und Darius Nothus,
Gedanken und Bemerkungen.
Google
1.
" Ueber .
die Stellung des Erorbiumd in der Predigt.
Mit befonderer Beziehung auf bie in Palmer’s Homiletik
entwickelten Anfihten,
Dom
"Hofcaplan €. Graf in Meiningen.
Wir haben ruͤckſichtlich der Stellung, welche bad Ers
ordium in der Predigt einnimmt, eine doppelte Prarid vor
ums, Entweder beginnt der Prediger fogleich mit dem Ver⸗
Iefen bed Textes und läßt darauf dad Exordium folgen,
oder er beginnt mit dem Erorbium und laͤßt dieſes in dem
Text einmlinden,
Die Frage wäre nun: IR es ganz gleichgültig, weicher
von biefen beiden Einrichtungen man folgt, ober laſſen ſich
beftimmte Regeln daruͤber aufftellen, in welchem Falle man
die eine und in welchem bie andere vorzuziehen bat, oder
verdient unter allen Umftänden bloß die eine von biefen
beiden Anordnungsarten den Vorzug — unb welche?
Daß wir eine Hare und entfcheidende Antwort anf biefe
Frage zu finden fuchen, fcheint um fo nothwendiger, als
die Anfichten unferer berühmteften Theoretiker darüber noch
verfchieden, zum Theil auch ſchwankend find, und nun viele
der heutigen Prediger von ber in ben meiflen Gegenden,
auch bei und in Sachſen, altuͤblichen Weife, den Introltus
706 Graf
ein wahrer Kunſtgenuß vermittelt worben ſeyn, wenn er
ſchon vorher gewußt hätte, was ihm gezeigt werben follte,
und worauf e8 bei der Betrachtung und Beurtheilung befs
felben beſonders anfäme? Ebenſo, ſcheint es, wird ber Zert
auch einen ganz andern, einen viel beflimmtern und tiefern
Eindrud auf den Hörer machen, wenn biefer ſchon vor dem
Verlefen des Textes den Gefictöpunct kennt, aus welchem
derfelbe diegmal betrachtet werben fol. Hierauf aber if
gewiß ein großes Gewicht zu legen. Denn ber Bibeltert
fol ja — darüber find doch ohne Zweifel Ale einverftans
den — für unfere Predigten nicht bloß den Ausgangs
punct und bie Grundlage oder gar nur das Motto bilden,
fondern er foll vielmehr der Lebensobem ſeyn,
der die ganze Prebigt in allen ihren einzelnen
heilen und Gliedern durch weht. Eben bewegen
aber muß fehr viel, ja Alled daran liegen, daß berfelbe gleich
beim Berlefen den Einen beftimmten Eindrud, welchen der
Prediger beabfichtigt, zu machen im Stande ift, und bag
fomit aud der Eindrud ber ganzen Predigt
ſelbſt nur nod als das nothwendige Mefnltat
des vernommenen Botteswortes empfunden
wird, Einen einzigen, weiter unten zu befprechenden Fall
ausgenommen, ift er aber gewiß nicht im Stande, diefen bes
fimmten Cindrud glei beim Verleſen berdorzubringen,
wenn er fo ohne Weiteres und unmittelbar an den Anfang
des Vortrags geftelt wird,
Denn wird und nicht jeder Prediger zugeben, daß ein
und derfelbe Test, je nachdem er auf diefe oder jene Zus
fände angewendet und zu der einen oder zu ber andern Beit
behandelt wird, auch zu fehr verſchiedenen Themen benugt
werben fann? Alſo wird es doch auch nothwendig ſeyn,
dem Zuhörer den Geſichtspunct zu bezeichnen, aus welchem
er ben Text bießmal anfehen fol, und man wirb daher auch
nicht fagen wollen, eine befonbere Borbereitung auf dad Ans
hören des Textes fey vor einer chrifttichen Zuboͤrerſchaft um
über die Stellung des Erorbiums in der Predigt. 707
nöthig, weil ie dad Bibelwort fo ſchon Allen befannt fey
und ihnen mithin nicht wie etwas Fremdes entgegentreten
oder unverſtaͤndlich erfcheinen und ohne Cindrud bleiben
werde, Ia freilih, irgend einen Eindrud wird es gewiß
immer auf und machen, oft fogar einen recht tiefen und leb⸗
baften, auch wenn es ganz unvermittelt an uns berantritt.
Aber es kommt ja hier, bei der Predigt, Alles darauf an,
daß es gerade den Einen beflimmten Eindrud, der diegmal,
zufolge bed vom Prediger gewählten Thema's, der vorherr⸗
fchende feyn fol, ſchon beim Worlefen hervorbringe, und
das bleibt. dann eben fehr problematifch, wenn der Tert ganz
unvorbereitet, ohne einleitended Exordium, der Gemeinde
vorgetragen wird.
Dieß erfcheint num aber auch deßwegen noch um fo
bedenklicher, als ja nach richtigen Grundfägen der Pres
biger immer nur wie ein Außleger des göttli=
Gen Worts und nit wie ein im eigenen Nas
men Rebender vor feiner Gemeinde daftehen
ſoll. Unfere Predigten koͤnnen erft dann ald wahrhaft bi-
bliſche und chriſtliche Predigten erfcheinen, wenn die Ges
meinde in benfelben ben wirklichen Inhalt des göttlichen
Wortes und nicht bloß den Ausdrud unferer fubs
jectiven Anſichten und Gefühle vernimmt. Ja, es
iſt gewiß ganz richtig, wenn wir verlangen: bie Gemeinde
muß die Perfon des Prediger beim Anhören der Predigt
gänzlich zu vergeffen im Stande feyn über dem Worte Got:
tes, das er ihr vorträgt und von dem feine ganze Predigt
getragen und durchdrungen ifl. Hieraus aber folgt wieder,
daß wir die Gemeinden fhon zum Anhören des Wortes
Sotted, des Textes, fo vorzubereiten ſuchen müffen, daß jes
bes chriſtliche Gemüth bie ganze folgende Predigt aus dem
Zerte gewiſſermaßen in ſich felbft und von ſich felbft con⸗
firuiren Bann, und daß ed nun dasjenige, was ed in feinem
Iamern trägt, durch ben Mund des Prebigers nur noch auf
einen beftimmten und Haren Ausdruck bringen hört,
Tpeol, Stud. Jahrg. 1858, 1
708 Graf
Dieß aber iſt ja rein unmoͤglich, wenn der Geiſtüche
gleich mit dem Verleſen des Textes beginnt. Da wird und
muß es ‚vielmehr in ber Regel folgendermaßen zugehen, Ein
jeder and aͤchtige Hörer — und folhe müflen wir doch
voraußfegen — wird fich bei dem Verleſen des Textes je
nach feiner augenblidticden Stimmung und feinem befonbes
zen Bebürfniffe diefem ober jenem Eindrude hingeben und
den einen oder ben andern im Terte enthaltenen Sa für
fi) ald den Hauptgedanken auffaffen; und nun, nachdem
dieß gefchehen ift, kommt erfl der Prediger und ſtellt aus
einem vieleicht von dem des Hoͤrers ganz verſchledenen Ges
ſichtspuncte feine- Betrachtungen Über den Text an. Muß
da nicht in unzähligen Fällen das Gefühl rege werben, daß ſich
jest eine fremde Subjectivität hervorbrängt,
ſich zwiſchen uns und ben Text flellt und ung ge
waltfam aus unferem von dem Worte Gottes
aufgefloffenen Gedanken. und-Gefähtstreife
herauszuwerfen bemüht ift? Ja es wird dieß noch
viel auffallender, wenn der Prediger, wie es oft geſchieht
und wie es Palmer fogar zu billigen fcheint, nach dem
Verlefen bed Textes denfelben in dem darauf folgenden Er⸗
orbium vorerſt noch ganz „in Rube läßt”, d. h. von
etwas ganz Anderem, ald dem Inhalte des Textes, zu reben
unfängt. Macht ein unpaffender und ungefchidter Eingang
vor dem Texte einen fehr üblen Eindruck, fo iſt doch der⸗
jenige noch zehnmal übler, der in diefem Falle entfteht.
Sollten wir aber nicht auf das forgfältigfte Alles vers
meiben, was bazu beitragen Bönnte, in ber Gemeinde das
Bewußtfegn zu ſchwaͤchen, daß fie bei ihren Gotteßbienfien
nicht bloßes Menfchenwort, fondern wirklich nur das Wort
Gottes — aber durch den Mund des Prediger8 — verneh-
men follet Wird es dagegen bei ber bezeichneten Weiſe
dem Volke nicht immer vorkommen müffen, als höre es eben
nur den Prediger tiber dad Wort Gottes, nicht aus dem=
felben reden? Abgefehen davon, daß bie Prediger auch nur
Aber bie Stellung des Erorbiums in der Predigt. 709
zu häufig über baffelbe hinaus» und hinwegre-
den! Die Klage alfo, daß unfer proteſtantiſcher Gottes⸗
dienft eben buch die Predigt und ihre überwiegende Ber
deutung fm Cultus viel zu fehr von der menfchlichen Pers
ſoͤnlichkeit des Prebigerd beherrſcht und unter Umſtaͤnden
tyranniſirt werde, erhält gerade durch jene jegt wieder viel⸗
beliebte Weiſe gewiß viel mehr Schein und wirklichen Vor⸗
ſchub, ald man auf den erſten Blick für möglich halten
möchte,
‚Hiergegen koͤnnte und freilich eingewendet werden, bie
fer ganze letzte Theil unferer Beweisführung für die Stel
lung des Erordiums vor den Tert Tomme doch am Ende -
auf eine bloße Illuſion hinaus; denn ber Prediger wähle
fein Thema doch immer nach eigenem Gutdünken und fubs
jectivem Belieben, und wenn er nun auch mit dem Erors
dium anfange unb durch bie einleitenden, den Zert vorbes
reitenden Gedanken feine Gemeinde auf einen beftimmten
Standpunct zur Betrachtung und Auffaffung bed Textes
flelle, fo fey e8 ja auch immer noch bloß die Subjectivität
dieſes Predigers, welche die Gemeinde beherrſche und ihr feine
Auffaffung der Sache aufnöthige, — Allein biefe Einwens
dung hat offenbar nicht zu bedeuten; gerade fie vielmehr
beruht auf einer bloßen Illuſion. Oder fehten wir denn
etwa Anderes voraus, ald baß ber Gemeinde bad Bewußt:
feyn erhalten werden müffe, fie folle in der Kirche nicht die
fubjectiven Anfichten diefed ober jened Predigers, ſondern
vielmehr nur aus feinem Munde bad Wort Gottes felbft
hören? Und wenn nun ber Prediger unferer Korberung ger
maͤß in einem der Tertverlefung voraußgehenden Erorbium
die Gemeinde auf den Text fo vorzubereiten weiß, daß jeber
andaͤchtige Hörer die im Thema auszufprechenbe Einheit des
Zerteß und ber Prebigt fon beim Anhören des erfieren
für fi) herausfühlen und fo die ganze Predigt, wie wir oben
fagten, gewiſſermaßen fs ſich ſelbſt ober vielmehr aus bem
Zerte herausconftruiren muß, wird bann nicht gerabe. in
ar
710 Graf
Jedem das Bewußtſeyn geweckt und geſtaͤrkt werden, daß
es eben.nur ber Text und nicht die Subjectivität des Pres
digers feyn darf, was bie gottesbienftliche Andacht der Ge
meinbe zu beflimmen, zu tragen und zu leiten hat? ‚Hierauf
aber wird gewiß Niemand mehr fagen mögen, daß auch fo
noch das fubiertive Belieben des Predigerd Raum und Ge
Iegenheit genug habe, z. B. durch gewaltthätige Behand
dung und unnatürliche Anwendung des Textes, bie Gemeinde
zu tyrannifiren. Denn hier fpredhen wir ja von der Sache,
wie fie ſeyn folt, nicht wie fie in praxi oftmals ift und
durch die allerdings unzählbaren Werfündigungen der ein
zelnen Prediger wirklich gar arg verpfufcht und verborben
wird. Außerdem aber verſteht es ſich auch von felbh, daß
eine ſolche Aeußerlichkeit, wie im Grunde die Sache, von
der wir bier veben, boch immer bleibt, für ſich allein ver
nünftigerweife nicht zum einzigen oder nur hauptſaͤchlichen
Kriterium der Chriſtlichkeit und Angemeffenheit einer Predigt
gemacht werben fol. Viel eher koͤnnte man ſich dagegen
bie andere Einwendung gefallen laſſen, daß bie Beftimmung,
welche hier dem nach unferer Anficht vor dad Zertverlefen
zu flelenden Exordium zugefchrieben werde, in unferen Gots
tesbienften ſchon durch andere Mittel erreicht werden folle
und koͤnne, und daß damit alfo die ganze bier verfuchte
Beweisfuͤhrung in ſich felbft zufammenfalle, Man Fönnte
naͤmlich fagen: alle der Predigt vorausgehenden Cultuss
theile (Gefang, Gebet und Kapitellefen) feyen ja ſchon darauf
berechnet, die Prebigt vorzubereiten und damit alfo auch den
Gtanbpunct feſtzuſtellen, aus welchem der Predigttert aufs
zufaſſen fey. Denn ba die Gemeinde, getrieben von dem
Bedlrfnig anzubeten, in die Kirche gefommen fey, fo be
ginne der Gottesdienſt zwar in der Regel mit einem Ges
fange allgemeineren Inhalts, dem ſogenannten Eingangsliede,
weil biefeß eben an jene noch nicht auf ein beſtimmtes Eins
zelne gerichtete fromme Stimmung der Gemeinde anzutnüpfen
babe; aber von bier aus werbe dem Cultus ſchon durch dab
über die Stellung des Exordiums in ber Predigt. 711
mun folgende Gebet (Intonation und Gollecte ober Altars
gebet) und Hier und da auch durch das Verleſen ber Sonn:
tagslection (Epiftel oder Evangelium) eine beftimmtere, der
Bebeutung bed Tages entfprechende Färbung und Richtung
gegeben, um hernach durch dad auf den Inhalt der Predigt
bezügliche „Hauptlied” und wohl auch noch einmal durch
das Verlefen eines ben Text vorbereitenden Bibelabſchnittes
(.Kapitels“) allmählich und flufenweife zu dem fpeciellen
Gegenftande überzuleiten, der dem Xerte zufolge in ber
Predigt behandelt werden ſolle; es bedirfe demnach in
der Predigt felbft Peiner nochmaligen Worbereitung auf
den Tert, — Bir werben der allgemein gültigen kirchlichen
Praxis zufolge diefe Auffaffung und Erklärung unferer vers
ſchiedenen Gultustheile im Agemeinen als richtig anerfennen
müffen, aber deffenungeachtet werden wir und gegen bie
Schlußfolgerung zu verwahren haben, daß das Erordium
dem Texte nicht voranzugehen brauche, Denn findet auch
in der Anorbnung unferes fonn» und fefttäglichen Cultus
ein folcher ſtufenweiſer Fortfchritt unverkennbar flatt, wie
angegeben wurde, fo folgt daraus doch noch keineg⸗
wegs, daß es ein eben» und gleihmdßiger Fort
fihritt feyn würde, wenn man von dem fogenannten Haupts
oder Predigtliede unmittelbar und ohne Weiteres zu dem
Zerte hinuͤberſpraͤnge. Es würde dieß in der Regel eben
immer ein Sprung unb unter Umftänden foger ein recht
gewaltiger Sprung ſeyn — und gerade diefe Einwendung
gibt und Grund und Anlaß, die Zweckmaͤßigkeit der hier
"vertheidigten Predigteinrihtung nicht bloß, wie in dem
Obigen gefchehen ift, auß dem Wefen und ber Beftimmung
der Predigt und des Predigttertes an ſich, wie aus ber
Bedeutung, welche das Wort Gottes überhaupt In ber Kirche
und dem Gottesdienft der Gemeinde haben muß, fondern
aud aus dem Zufammenhange, in welchem bie Predigt mit
dem ganzen Gultus als ein Theil und Glied deſſelben fleht,
zu beweifen, Denn gerade barum, weil unfer ganzer Öffente
712 Graf
licher Cultus auf eine allmaͤhliche und flufemmeife Ueberlei⸗
tung von dem Allgemeineren auf das Speciellere, das in
der Predigt ſeinen hauptſaͤchlichen Ausdruck findet, ange⸗
legt iſt, erſcheint es nothwendig, dieſen flufenmeifen Forts
ſchritt auch infofern einzuhalten und bis zum Ziele fortzu⸗
fegen, als ein angemeffenes Erorbium ber Predigt die Ges
meinde in den Stand ſetzt, gleich beim Werlefen bed Ters
tes bie Einheit deffelben, die im Thema ausgeſprochen wird,
berauszufinden, Daß dieſer Zweck aber ſchon wirklich durch
das Hauptlied und bie bemfelben voraußgehenden andern
Eultustheile volftändig erreicht werden koͤnne, wirb Nies
mand behaupten wollen. Es wuͤrde dieß hoͤchſtens nur an
denjenigen Feſten ber Fall ſeyn koͤnnen, deren Gegenftand
bie Gemüther ſchon fir ſich felbft ganz durchdrungen bat,
und dieß auch nur unter den zwei Bedingungen: 1) daß
dad Thema der Predigt fich lediglich an den Hauptgegen⸗
Rand des Feſtes hält und nicht — wie es doch oft ber
Fall feyn kann — mehr bloß eine Nebenpartie bes Feſtter⸗
tes oder einen, wenn aud) immer in Bezug auf die Feſt⸗
thatfache flehenden, doch erft mittelbar daraus abzuleitens
den Gedanken behandelt, und Q) daß auch ber Zert felbk
ein folder ift, in welchem nur der Eine von dem Prediger
aufgefaßte Hauptgebanke ausgeſprochen Hegt und ganz uns
verfennbar auf den erften Blid für Jeden als ſolcher her:
vortritt.
Die Regel wird alſo immer die bleiben muͤſſen, daß
der Prebiger, wenn er bem Texte ober dem Worte Gottes
vollkommen gerecht werden und der Hauptbeftimmung ber
Predigt felbft ganz gemäß verfahren will, dem Kerte
ein Erordbium voranftelle,
Einige wenige Beiſpiele mögen zur näheren Erlaͤute⸗
tung und zum Belege für die eben entwidelten Gedanken
bier Plag finden. Die würtembergifche Tertfammlung fehreibt
für den erften Zrinitatisfonntag Mark, 4,26—32. vor, und
üehmen wir nun an, der Geiſtliche wolle bei biefem Zertt
über bie Stellung bed Erorbiums in ber Predigt. ° 713
einmal den „chriſtlichen Raturgenuß” zum Thema feiner
Predigt machen. Daß ein ſolches Thema mit feinen Their
len ganz ungezwungen aus bem Zerte abgeleitet werben
Tann, und baß feine Behandlung gerade jekt, wo nach dem
Vorgange eined berühmten Buches in gewiſſen Kreifen fo
viel von „Naturgenuß” geredet wird, zwedimäßig feyn mag,
wird wohl Niemand beftreiten, Aber felbft angenommen,
mon ließe ald Hauptlied das befaunte „Wie groß ift des
Aumaͤcht'gen Güte” oder ein ähnliches fingen und laͤſe zur
weiteren Vorbereitung ivgend einen Pfalm, ber die Herts
lichkeit Gottes in ber fichtbaren Natur zum Gegenftand hat,
fo würden die Zuhörer boch beim Verleſen ded Textes ſicher⸗
lich für ſich ſelbſt immer noch nicht den Punct treffen, vom
welchem der Prediger dießmal benfelben betrachtet haben
will, und die Zertverlefang würde infofern, weil fie eben
nicht vorbereitet genug wäre, ihren eigentlichen Zweck viel
zu wenig erfüllen, ja es mwürbe nun aud dad nach fol⸗
gende, auf bie Ueberleitung zu dem genannten Thema bes
rechnete Erordium den Zuhörer aus feinem eignen von bem
Texte bereitö erfchloffenen Gedankenkreiſe erft herausbrängen
müflen. Denn jenes Thema Enüpft an ‚denjenigen Inhalt
bed Textes an, der in bemfelben allerdings als bloße Neben⸗
partie erfcheint, wenn biefe auch mit noch fo viel fichtbarer
Liebe von dem Deren felbft ausgemalt ift, und es bezieht
fi auf Worausfegungen, die, fo vollkommen begründet
und richtig fie auch find, doch beim unvorbeteiteten Verle⸗
fen des Textes fo leicht von Keinem vorzugsweiſe werben
ind Auge gefaßt werden. Der Zuhörer würde alfo von
ben Sägen, mit welchen der Prediger nun nad dem Vers
leſen des Textes hervorträte, überrafcht ſeyn — und ob
folche Ueberrafcyungen, fo fehr fie auch die Effectmacher
lieben, auf die Kanzel gehören, unb ob fie dazu dienen,
das Bewußtſeyn zu ftärfen, daß man in ber Kirche dad
Wort Gottes und nicht bloß einen menſchlichen Kunſtredner
Hören folle, Hürfte doch fehr zu bezweifeln ſeyn. Stellen
a *"
kopen vorzunehmen — was für ein Thema koͤnnte denn
dem Inhalte des Evangelluns für ben dritten Trinitatis⸗
fonntag von dem verlornen Schaf und Grofcden (Luk. 15,
1— 10) nach Berö 2. angemeffener feyn, als dad über den
ſtraſenden Ernſt diefes Evangeliums gegen diejenigen, die
ſich nicht um die Berlornen Fummern? Aber wird dena ein
Zuhörer beim unvorbereiteten oder doch nicht: hinlaͤnglich
vorbereiteten Anhören diefes Evangeliums daſſelbe auch für
ſich ſchon aus dieſem Geſichtspuncte betrachten? Wird er
ſich nicht viel eher und viel wahrfcheinlicher dann bloß mit
dem Gedanken an die erdarmungsreiche Liebe des Herrn oder
an bie Verpflichtung, die Werlornen zu fuchen, befchäftigen
und alfo noch beim Berlefen gerade diejenigen Puncte übers
feben, auf die es dem Prediger bei feinem bießmaligen
Bwede ganz befonderd ankommen und von denen er wäns
ſchen muß, daß fie Jeder fogleich recht ernſtlich bedenke?
Schicken wir nun aber dem Verleſen des Textes im Erors
dium die Betrachtung voraus, wie nothwendig das in
unferer Beit neu belebte Streben fey, die Berlorenen, beren
fi) ja fo viele auch mitten in ber Chriſtenheit finden, aufs
zuſuchen und zu retten, und mit welcher Entſchiedenheit ſich
Jeſus gegen diejenigen erfläxt habe, bie ſich aus dieſen ober
jenen Gründen nit mit den Sündern befaſſen möchten,
und daß ſich bieß namentlich auch in dem Zerte zeige, fo
findet der Zuhörer auf der Stelle fchon beim Verleſen des
Textes heraus, worauf es heute ankomme; er empfängt
an unmittelbar vom Texte ſchon ben rechten Eindrud und
Tamm, wie wir oben verlangt haben, die folgende Prebigt
Fi ihren Hauptzügen nad fofort aus dem Xerte heraus
felbſt conftruiren. Denn er wird fogleih beim Anhören
des Evangeliums gewahr, daß ſich der firafende Ernft bes
Herrn hier nach V. 1, und 2, ebenfowohl gegen die Selbfts
überfchägung, ald nah. 4. u. 8. gegen ben irdifchen. Sinn,
nah 8.5. u. 6. gegen bie Lieblofigkeit, nah B. 4. und
. gegen ben Kleinnmth und nach eben bemfelben Bere end
über bie Stellung bes Erorbiums in ber Prebigt. 717
lich noch gegen die Traͤgheit richte, durch welche Viele vers
hindert werben, ſich ber Verlorenen anzunehmen.
Gerade fo verhält es fi nun natürlich auch mit ben
Feſtterten und ihrer Behandlung, Hier aber werben ein
paar ganz Furze Andeutungen genügen. Welch einen uns
erfcöpflic reihen Stoff enthält 3. B. das Evangelium für
den zweiten DOftertag, Luk. 24, 13—35.! Der Prediger
Tann dieß Evangelium von bem verfchiedenften Seiten und
Geſichts puncten aus behandeln und babei doch immer bie
Einheit des Tertes und die Bedeutung des Fefled im Auge
behalten, Aber wenn irgendwo, fo wird es gerade bei eis
nem folchen Evangelium auch dem hartnädigften Gegner uns
ferer Theorie über die Stellung bed Exordiums fühlbar
werben müffen, daß es fih an dem Evangelium, wie an
ber Gemeinde verfündigen bieße, wenn man berfelben dad
Evangelium nicht durch einige einleitende Säge unter den
Geſichtspunct rlıden wollte, in welchem die einzelnen Theile
deſſelben fich zu einem beflimmten Totaleindrude vereinigen,
Dad ganze Feflevangelium läßt Tich z. B. nach allen feis
nen einzelnen Gliedern zu einer durchaus fefigemäßen
Predigt verarbeiten, wenn wir aus V. 31. dad Thema abs
keiten: Das DOfterfeft Öffnet auch und die Augen, daß wir
den Heren erfennen; und ebenfo, wenn wir, V. 29, zu
Grunde legend, den Gedanken ausführen: Im Glauben
an ben Auferftandenen beten und bitten auch wir: „Herr,
bietbe bei und, denn ed will Abend werden!” Aber einen
wie ganz verſchiedenen Charakter werben diefe zwei Dres
digten über dad ndmlihe Evangelium haben! Und würbe
nun nicht ber Hauptzwed des Zertverlefens, bag der Text
naͤmlich aud dem Zuhörer ald Grundlage für die ganze
folgende Andacht dienen möge, durchaus verfehlt werden,
wenn man einem folden Gvangelium nicht eine Anfprace
vorausſchiclen wollte, die gewiſſermaßen die Tonart angäbe,
in weicher dießmal ein folder Feſthymnus in unfere Herzen
bereinllingen fol? Und wird bad nicht ebenfo, ja zum
118 - _ Graf
Theil in noch höherem Grade, bei ben Evangelien für bie
Weihnachten und Pfingften nöthig und erfprießlich ſeyn?
‚Wenn fi nun aber bie bisher angeführten Beifpiele
alle auf Evangelienterte bezogen und wenn fich bei biefen
fon die Nothwendigkeit und Zweckmaͤßigkeit eines auf fie
vorbereitenden Introitus nicht verfennen ließ, fo bedarf es
wohl Baum noch einer weiteren Nachweiſung dafür, daß bei
epiſtoliſchen Texten die hier empfohlene Einrichtung noch viel
umerläßlicher erfcheint, Denn in der Regel find diefe ent
weder viel ſchwerer verftändlich als die evangelifchen — und
daß bei folgen, wenn ihr Verleſen nicht ganz vergeblich ſeyn
ſoll Cabgefehen von allen anderen Rüdfichten), einige das
Verftändnig und bie richtige Auffaffung erleichternde Bes
merfungen voraudgehen müffen, ift ja gewiß einleuchtend
genug; oder ed umfaflen viele von ihnen auch fo verfchies
benartige Gedanken, daß fie beim Berlefen durchaus feinen
rechten Zotaleindrud machen würden, wenn ber Prediger
nicht vorher auf den Einheitspunct derfelben aufmerffam
gemacht hätte; oder fie beziehen fich auf fpecielle Verhaͤlt⸗
niffe, die nicht aus dem eigentlichen Zertinhalt felbft und
unmittelbar erfichtlich find, wie dieß im Gegentheil wohl
meiſtens bei ben hiftorifhen Texten ber Fall iſt; oder es
find die dogmatiſchen und moralifchen oft fo allgemeinen Ins
halts, daß bie Theilnahme und Aufmerffamkeit für fie oft
ſehr gering feyn würde, wenn der Prediger biefelbe nicht
durch einen paffenden und mitunter auch fpannenden Ine
troitus zu erregen wüßte, Man nehme z. B. die Epiftel
für den zweiten Epiphaniasfonntag, Röm, 12, 7—16. Wird
da dem’ Hörer nicht im voraus angegeben, in welhem Ge=
danken er die Einheit diefes Textes zu fuchen habe, fo wirb
immer ber eine Vers die Aufmerkſamkeit von dem andern
wieder ablenken, und am Schluffe der Verlefung wird dann
der Hörer von Allem, weil es eben zu vielerlei war, eigents
lich gar nichts tiefer empfunden und eben fo wenig ſich et⸗
was beſonders eingeprägt haben, Lenken wir aber im Ins
über bie Stellung bes Erorbiems in ber Predigt. 719
troitus feine Gedanken 3.8, darauf, wie bei aller Verſchie⸗
denheit unferer ixdifchen Berufsarten doch gewifle Grund⸗
fäge als für Ale gleihermaßen gültig angenommen werben
müffen, und wie.fich durch Befolgung diefer Grunbfäge in
ieder Berufsart, auch der aͤußerlich geringften und niedrigs
fien, doc} ein fittlicher Werth bewähren und wahrhafte Gott»
gefänigkeit erringen lafle, fo wird ber Zert nun mit ganz
andern Augen angefehen und mit ganz anbern Ohren aufs
genommen werben, als bieß außerdem der Fall wäre, und
die Entwidelung 3.8. des Thema's: wie der Chriſt fi in
feiner irdifchen Berufstpätigkeit zu zeigen habe, nämlich daß
ex, was er zu thun hat, ganz thue (V. 7. u. 8.) und mit
Luſt (B. 8-12.) und gegen Jedermann (V. 13—15,) und
in Demuth (V. 16.), wird nun einem Jeden ald bie durch
ben Text felbft gebotene erſcheinen. Iſt es nun aber auch
richtig, daß ſich in ſolchen Fällen der Zwei, Thema und
Dispofition vollkommen aus dem Zerte felbft zu rechtferti⸗
gen, am Ende auch durch ein dem Zertverlefen nach fols
gendes Erordium erreichen ließe, fo wird es doch unftreis
tig mehr Billigung verdienen, wenn man ben Hörer in den
Stand fest, dieß fchon beim Verleſen bed Textes felbft zu
erkennen, weil dann eineötheild der Eindrud des Textes
ein ftärkerer und lebhafterer feyn, anderntheild aber au
die Subjectivität des Predigerd mehr vor dem Terte zurüds
treten wird.
Hoffentlich dürfte das bisher Angeführte ſchon hinrei⸗
hen, um die bei uns altherfömmliche Weiſe, das Exordium
dem Zerte vorangehen zu laſſen, zu rechtfertigen. Indeß
möge zur Verſtaͤrkung der hier verfuchten Beweisführung
nun auch noch eine möglichft kurze Beleuchtung der Gründe
folgen, welche man gegen diefe Predigtanorbnung und für
bie umgefehrte Einrichtung vorzubringen pflegt,
Wir wollen uns hierbei an die Darftelung Palmer’s
halten, weil diefe jedenfalls bie vollftändigfte und am meis
fien in dad innere Wefen der Sache eingehende iſt.
720 Sf
Palmer fagt in feiner Homiletit (2. Aufl.), S.543f.1
„Wie haben bis daher immer angenommen, bie Tert⸗
verlefung gehe der Prebigt voran, biefe beginne erſt nad
derfelben. Offenbar iſt dieſes auch bie natuͤrlichſte Stel
lung, daß ich, was ich auslegen will, zuvor als Text vers
leſe.“ So plaufibel dieſer Sag auch Flingen mag , fo geht
er doch von einer falfchen Auffaflung des Wortes „aus⸗
Legen” aus, von einer Auffaffung, die noch dazu mit den
eigenen früheren und ganz vortrefflichen Erklaͤrungen Pals
mer’5 über jenen Begriff in einem merkwinbigen Wider⸗
ſpruche ſteht. Denn fo gewiß nach den richtigen Bemerkuns
.gen, die Palmer an früheren Stellen macht, der Prediger
daB „Außlegen des Textes“ anders zu treiben hat, als ein
gelebrter Ereget, und fo gewiß das Augenmerk des Prebis
gers vorzugsweife auf die Zotalität und Einheit des Textes,
fo wie auf ben fachliden und hauptſaͤchlichen Inhalt deffels
ben, nicht auf das Nebenfächliche, Sprachliche und dergl.,
gerichtet feyn muß, fo gewiß ift ed auch das Natuͤrlichſte
für den Prediger, damit zu beginnen, daß er, wie oben ans
gegeben wurde, feine Zuhörer gleich durch das Exordium zu
der richtigen Auffaſſung und Anwendung des Textes im
Stand fege, Dazu kommt, daß ein gelehrter Commentator
Immer vorausfegen kann, jeder feiner Lefer oder Zuhörer
babe den zu commentirenden Tert felbft vor fih und habe
fi auf die Behandlung deffelben auch ſchon anderweit bins
Yänglich vorbereitet, was Beides der Prediger bei feinen Zus
börern nicht fo vorausfegen barf, Und überdieß wird es fig
is felbft der gelehrte Ereget bei einer einigermaßen widhtie
gen Stelle oder bei einer eigenthümlichen Auffaflung derfel⸗
ben nicht nehmen laflen, vor der Befprechung bed Einzelnen
(dab ift aber doch im Grunde fo viel ald: vor dem Verle⸗
fen des Textes) einleitende Bemerkungen über Zuſammen⸗
bang, Hauptinhalt, Tendenz der Stelle und dergleichen mehr
vorauszuſchicken.
‚Hiermit erledigt ſich auch bie weitere Bemerkung Val⸗
über bie Stellung des Crorbiums in ber Predigt. FAt
mers: „Wir unfered Theils, bie wir freilich durch unfere
Bondesfitte auch gar nicht daran gewöhnt find, begreifen
wenigfiend bie Nothrormbigkeit ſolchen Woreingangs bei
gewöhnlichen Predigten nur ſchwer, da und für bad Mes
bürfniß einer Ueberleitung von dem Texte zu dem Thema
der folgende Eingang vollkommen genügt, Es fol wohl
erft ber Text vorbereitet werben. Aber iſt denn Gottes
Wort etwas fo Fremdes, daß erft ein Stud Rede baffelbe -
anmelden ‚muß, während jenes Wort Gotted erft noch im
Vorzimmer warten fol? Oder muß bie Gemeinde, die
vorher gefungen und gebetet hat, als fo völlig geiſtesab⸗
wefend betrachtet werden, daß es exft vieler Worte bedarf,
um bem: Texte Gehör zu verfchaffen?” Es liegt auf ber
‚Hand, daß Palmer bier, wahrſcheinlich von ber Vorliebe für
das Gewöhnte und für feine „Landeöfitte” verleitet, wiederum
von nicht gehörig begründeten Borausfegungen ausgeht,
Denn der Eingang fol ja nicht bloß die Ueberleitung vom
dam Terte zum Thema geben , fonbern da das letztere, das
Thema, wie er felbft fehr ſchoͤn entwidelt, die Einheit des
Nerted und ber Predigt auf einen beflimmten Ausdrud brins
gen fol, fo hat ber Eingang eben mehr zu thun, al6 bloß
überzuleiten und hinzuleiten: er fol in ben Hörern bad Bes
wustſeyn jener Einheit wecken — und baß ber Text dann
mehr zu feinem wahren Rechte und Einfluffe kommt, wenn
der Eingang vor dem Terte fleht, al wenn erſt ber Text,
vieleicht halb umverflanden, angehört und hinterdrein erklaͤrt
wird, das ift ſchon oben gezeigt worden. Dann aber vers
ſteht es ſich von felbft, daß bie „Worbereitung des Textes
durch das Erordium” auch viel mehr ſeyn fol, als eine
bloße „Anmeldung” defielben wie eined Fremden ; und daß
endlich nach unferer Auffaffung nicht das Wort Gottes es
iſt, welches „in Vorzimmer warten Miß“, fondern daß
wir, die Gemeinde, vielmehr während bes Erordiums wie
im Vorzimmer fliehen, um auf dad Wort Gottes, bad ba
kemmen folk, zu warten und auf feinen Empfang vorbereis
m. 2 Wuf
tet zu werben, iſt ganz augenſcheinlich. Auch if es mit
bloß darauf abgefeben, dem Worte Gottes durch das Cror⸗
dium überhaupt „Gehör zu verſchaffen“, fondern vielmehr
au bewirken, daß es recht gehört werde und die feiner Be⸗
deutung und Würde entfprechende Aufnahme finde,
Ebenfo ift es unzuträglih, wenn Palmer ferner fagt:
„Wohl hängt ber Text, herausgenommen aus der Schrift,
mandmal in der Luft, Aber wenn er nun im eigentlichen
Exordium einftweilen in Ruhe gelaffen, und wenn erft von
feinen Vorausſetzungen aus auf denfelben zugefleuert wird,
fo daß er hernach wieder vermittelt ericheint, fo iſt ja die ·
fer Zweck auch erreicht”, nämlich der Zweck, ben Text durch
dad Eyordium vorzubereiten. Wir muͤſſen biefen ganzen
Paſſus unzuträglid nennen; denn ba Palmer durch ben Bus
faß: „herausgenommen aus der Schrift”, ſelbſt zugeſteht,
daß biefes in der Luft Hängen des Textes nit an dem
Zerte ſelbſt oder ap der Schrift liege, in ber er vielmehr
feinen guten und felten Zufammenhang mit dem Ganzen
bat, fo trifft ja ber Vorwurf, daß der Zert in der Luft
hänge — und exempla sunt in promtu — Niemand ans
ders, als den Prediger, der ihm fo unvorbereitet in die Ges
meinde hineinwirft. Und wird die Sache etwa dadurch
befler, daß der Text, wie es Viele wirklich machen, während
des ganzen Exordiums noch in Ruhe, das heißt bier doch
offenbar in der Schwebe und in der Luft hängen gelaffen
wird? Ja, ift ed nicht eine contradictio in adiecto, wenn
‚ber Tertinhalt erſt als etwas Bekauntes bingegeben und
bann doch erſt wieder vermittelt, ober wenn ber Zweck ber
Vorbereitung auf denfelben erft duch ein nachfoigendes
Hinfteuern auf ihn erreicht werden fol? B
Doch Palmer jagt weiter: „Wir haben viele Exordien
jener Art verglich, aber mußten faft immer geflehen, daß
daflelbe, was vor dem Texte gefagt war, auch nach dem⸗
felben hätte gefagt werben können, daß vide, wiele Vor⸗
eingänge ziemlich überflüffig waren, daß entweder, was fie
über die Stellung des Exordiums in ber Predigt. 723
enthielten, eine eigene Predigt gegeben hätte, ohne daB
darum die heutige mangelhaft geweſen wäre, oder daß ihr
Inhalt ganz gut in ber Predigt felbft hätte untergebracht
werden Tonnen.” Hier beweift der berühmte Homiletifer
offenbar zu wenig. Er beweift nämlich nur, daß es viele
ſchlechte und verfehlte Prebigterordien gibt, was ihm freis
lich Niemand. beftreiten wird. Aber würde er und wohl
Recht geben, wenn wir nun etwa Über die Predigten übers
baupf fagen wollten: „fie Fönnten lieber ganz wegbleis
ben und völlig aufgegeben werben; denn wir haben viele
Predigten angefehen und gehört, aber mußten nur zu haͤu⸗
fig geſtehen, daß fie, gehaltlos und ‚unbedeutend, wie fie
waren, ziemlich überflüffig erfhienen?? Und boch würde
dieß die nämliche Art von Beweidführung ſeyn, wie Pals
mer fie in den oben flehenden Sägen gegen die von ihm
fogenannten „Woreingänge” aufgeftellt hat,
Bei dem hierauf folgenden Paſſus geht er wieder von
einer unftatthaften Woraudfegung aus; denn er fagt: „Aus
Berdem haben wir noch dad wider diefe Eingänge, bag uns
ferem Gefühle nach der Text, zwifchen lauter Predigten gleiche
fam eingeflemmt, zumal wenn er ein kurzes Wort if, feine
Stellung über ber Predigt verliert umd gar zu leicht zum
Rang eined bloß citirten Spruch herabfintt.” Denn wenn
man auch nicht in peinlicher und Hleinlicher Wortklauberei
mit ihm barhber rechten will, daß er bem Zerte feine Stelle
über der Predigt anmweift, während derſelbe doch in der
ganzen Predigt feyn und biefelbe durch und durch erfüllen
und durchdringen müffe, fo haben wir ihm dagegen ganz
entfchieven darin zu widerſprechen, daß der Zert, zumal
ein kurzer, nun zwifchen lauter Predigten eingeklemmt er⸗
fcheine und zum Rang eines bloß citirten Spruch herabs
ſinke. Er fegt da eben ohne zureichenden Grund voraus,
daß der Eingang den Fehler haben müffe, eine aparte Pres
digt zu feyn, und daß nach dem Eingange die Predigt nes
ben dem Texte weggehe.
Theol. Stud. Jahrg. 1858, 48
724 Graf
Nicht zutreffend iſt ferner bie folgende Bemmkung:
„ber Prediger folle boch nicht felbft anfangen zu derotiren,
ehe Gottes Wort zu ber Gemeinde gefprochen habe.” Denn
wenn er oben zu wenig bewiefen hatte, ſo beweiſt er bier
zu viel, Ober würde aus feinem bier aufgefiellten Grund»
fage nicht zugleich folgen, baß auch die Gemeinde nicht mit
Singen und Beten ihre eignen Gedanken auszufpreden ans
fangen dürfe, bevor. das Wort Gottes zw ihr gerebet habe?
Wie wenig aber mit ſolchen Ausfprüchen bewiefen if, ers
gibt ſich deutlich, wenn man bedenkt, daß am Ende auch
mit gleichem Scheine dad Entgegengefegte aufgeftelt und
Hefagt werden koͤnnte: Was will denn der arme ſchwache
Menſch hernach noch viel peroriren, wenn das Wort Bots
tes ſelbſt fchon zu der Gemeinde geredet hat?
Noch auffalender ift die Bemerkung : „Nur felten mag
der Fall eintreten, daß, ehe zum Thema zu kommen ift, fo
viel Präliminarien muͤſſen verhandelt werden, daß fie in
Einem Exordium nicht gemig Platz haben und fo Ihre Ber:
thellung in zwei Erorbien bequem ifl,” Denn wer hat doch
behaupten wollen, daß auf das eine Erordium vor bem
Zerte noch ein zweites nach bemfelben folgen müfje? Die
ältern Homiletiker unterfcheien vielmehr alle genau zwiſchen
dem fogenannten Introitus oder Erorbium und bem Zrank
itus, und baß der letztere in genauefter Beziehung zu dem
den Zert vorbereitenden Exordium fliehen müfle und beiwe
gen nur ganz kurz, auf wenige Säge beſchraͤnkt feyn duͤrſe,
wird wohl von Niemandem mehr verfannt, Wohl wird
in praxi jener Fehler mit doppelten Erosdien von unge
ſchictten Prebigern gemacht, aber man beurtheilt eine Theo
vie doch wahrlich nit nach den Zehlern, bie gegen fie
gemacht werben!
Bas Palmer dann noch gegen Schweizer bemerkt,
der den Woreingang nötbig finde, um ben zum voraus
ſchon befannten Text aufzufrifchen,, ift ſchon duch die bis⸗
berigen Ausführungen erledigt; ebenfo, was er vorher
über bie Stellung bes Erordiums in der Pradigt. 725
barlıber gefagt hat, „daß der Prediger allenfalls an einem
‚Hauptfefte mit einem fogenannten „Auftritte” beginnen Pins
ne, weil der höhere Schwung, den er bier nehme, ihn
zur feftlichen Begrüßung ber Gemeinde und bes Tages,
welde von einem innern Bedürfnig, wie von bes Gitte
gefordert werde, qualificire.” Denn ed wirb bie oben vers
theidigte entgegengefegte Anſicht durch biefe Berufung auf
bie kirchliche Sitte und bad innere Beduͤrfniß ſchwerlich als
terirt werben,
Sonach aber Finnen wir auch ben folgenden Satz der
palmer’fhen Erörterungen über dieſen Gegenſtand nicht
zugeben, in welchem er fagt: „In dieſer Sade wird am
Ende das harme'ſche Paftoralprincip entfcheiden müffen,
Wo die Gemeinde ihrer alten Sitte gemäß es liebt, vor
dem ZTerte einen Woreingang zu hören, da mag's gefches
benz nur mache eö der Prediger nicht zur kehenden Form,
indem ex fonft fehr leicht in Verſuchung kommt, Ueberflüf⸗
figes zu reden. Nimmt er ſich in dem Falle die Freiheit,
den Zufammenhang zwiſchen Voreingang und Zert etwas
lockerer zu machen und, wie 3. B. Krummacher viels
fach thut, als Erordium eine eigene Pürzere Predigt zu
balten, fo thut er damit freilich ein opus supererogativum,
zwei Predigten ftatt Einer zu halten. Da aber opera su-
pererogativa innerhalb des Proteftantismus nicht gefordert
(eigentlich nicht einmal anerkannt) werden; dba gegen dieſen
fpeciellen Ueberſchuß des Guten fogar triftige Gründe ob⸗
walten: fo darf Feinenfalld die Homiletif denfelben zu einer
Pflicht, zu einer Vollkommenheit in ber Predigtkunft erhes
ben.” Denn abgefehen davon, daß bie dogmatifchen Bes
denken des Proteftantismus gegen bie opera supereroga-
tiva hier im Grunde nur ſcherzweiſe erwähnt werben koͤn⸗
nen, fo geht Palmer auch hier wieder von der unzuläffigen
Vorausfegung aus, der Woreingang werde gewöhnlich nur
in einem lodern Bufammenhange mit dem Zerte und der
Predigt ftehen und eigentlich eine aparte Predigt feyn, was
48*
126 Graf, üb. d. Stellung d. Erorbiums in d. Predigt.
eben ein Fehler wäre. Der Hauptgruͤnde für bie Stellung
des Erorbiums vor ben Zert aber thut er nur allzu kurze
Erwähnung und beftreitet fie auch nur dadurch, baß er fie
in einem anderen Sinne auffaßt, als in welchem fie ges
meint find,
Wenn er fi) daber auf die „tigen Gründe” beruft,
welche gegen jenen von ihm fogenannten „fpeciellen Ueber⸗
ſchuß des Guten” vorwalten follen, fo haben die vorfichen-
den Bemerkungen vielleicht gezeigt, wie es in ber That um
biefe Gründe befteltt ift.
Eine Hinweifung hierauf aber dürfte wohl um fo eher
Entfeguldigung finden, je größer das Anfehen iſt, welches
fi die palmer’fche Homiletit gewiß mit vollem Rechte bei
den praftifchen Geiſtlichen erworben hat, und je größer alfo
die Gefahr ift, daß auf Palmer’s Autorität hin eine bisher
in vielen Xheilen ber proteftantifhen Kirche noch aufrecht
erhaltene und im Interefle ber Sache auch fernerhin aufrecht
zu haltende Sitte von immer Mehreren aufgegeben werden
koͤnnte, da nur zu Wiele bad iurare in verba magistri
gewohnt find,
Eine Berichtigung zu Neanderꝰs Kirchengeſchichte. 797
2%
Eine Berichtigung zu Neander's Kirchengefchichte
von einem Numismatifer.
In Neander's Kirchengefhichte, Hamburg 185, Bd. I.
©. 112, heißt e8: „Der chriftliche Gelehrte Bardefanes fol
viel bei Abgarus gegolten haben, und diefer führt an, daß
derfelbe die fonft in dem Cultus der Gybele gewöhnlichen
Gaftrationen bei ſchwerer Strafe verboten habe. Daraus
erhellt freitih noch nicht, daß er ein Chriſt war; aber es
feplen auch zuerft auf ben Münzen deſſelben die fonft ges
wöhnlichen Infignien des Baaldcultus jener Gegend, und
es erfcheint flatt deffen dad Kreuzeözeichen.”
Die chriſtlichen Symbole auf der gemeinfchaftlichen
Münze ded Septimius Severus und eines Abgarus, welche
der von N, citirte Bayer (hist. Edessena e numis illu-
strata, 1. UI, p. 173. Tab. V. n. 111) abbildet, beftehen in
fünf Perlen auf der Mitra des Könige, welche, einzeln ges
ſtellt, zufälig ein Kreuz bilden, in folgender Geftalt :*:
Wäre diefe Abbildung, welche Bayer aus Spanheim,
diefer aus Baudelot entnahm, auch genau, fo ift doch (fo
wenig wie im griech. X) hierin noch Fein Kreuz zu fehen,
fondern eine zufällig Preugförmige Verzierung. Auf ande
ten Abbildungen bei Bayer ift diefer. Zierath fo gefaltet: >
(Tab. V.n. I.). Allein zwölf Münzen des Septimius Ses
verus und Abgarus in ber Pönigl, Sammlung zu Berlin
und bdreiundzwanzig Schwefelpaften von parifer Münzen
derſelben Zürften haben ftatt deſſen die auf ben edeſſeniſchen
728 Eine Berichtigung zu Neander's Kirchengeſchichte.
Königsmüngen flet wiederkehrende Verzierung der Mitra:
Stern im Halbmond, Alſo war auch wohl dad baubelot’s
ſche Eremplar ebenfo, nur ſchlecht erhalten, und daher ers
klaͤrt fich die irrige Abbildung,
Es kann bier gar nicht die Rebe feyn vom Aufhören
der Baaldzeichen; denn biefe Münzen haben faft. immer
auf der einen Seite den Kopf ded Kaiſers, auf der andes
ven den bed Königd, wenn nicht ben letzteren, fo roͤmiſche
Typen. Alfo ift gar fein Raum für Baalszeihen. Stern
im Halbmond ift doch Feind?
Uebrigens iſt Neander's Zweifel an ber Zeit beſtimmung
der bayer'ihen Münze unbegründet, da Septimius Severus
auf der Worderfeite dargeſtellt und genannt it, ber 13—
211 n. Chr. regiert hat,
Necenfionen
1
Geſchichte des chriſtlichen Lebens in der rheiniſch⸗weſtphaͤ⸗
liſchen evangelifchen Kirche, von Mar Goͤbel.
2, Band, das fiebenzehnte Jahrhundert oder die herrs
ſchende Kirche und die Secten, 1. Abteilung: bie
reformirte Kirche, 2, und 3, Abtheilung: bie evanges
liſch⸗lutheriſche Kirche und der Separatismus. Koblenz
in Gommiffion bei Karl Bädeler, ©, 880,
Wenn bie Anzeige des erſten Bandes dieſes Ficchens
biftorifchen Werks von den Werborgenen des ‚Herrn, von
den tobeßmuthigen Zeugen des Evangeliums, im vierten
Hefte des Jahrganges 1850 diefer Zeitfehrift, das Ganze
einen Kranz, aus den duftendſten Blüthen des hriftlichen Les
bens der rheinifchsweftphälifhen evangelifchen Kirche gewuns
ben, nannte, fo möchte vorliegende Hortfegung als ein wohls
georbneter Blumenftrauß von allerlei Gartens und Zeldblus
men, mit mancherlei kuͤnſtlich nachgemachten ober unnatuͤr⸗
ich aufgeſchoſſenen Miftbeetpflanzen vermifcht, bezeichnet were
den Finnen, Mit unermüblichem Fleiß fpürt der Verfaſſer auf oft
unbetretenen Pfaden allen einzelnen Erſcheinungen chriſtlichen
Lebens in feinen mannichfaltigften ‚Arten, Abarten und Auds
artungen nad). Die breit getretene Heerſtraße pflegt er fels
ten zu gehen, fondern ift unabläffig bemüht, aus amtlichen
Protokollen und handfchriftlihen Quellen die über einzelne
Secten und Perfonen herkömmlichen Urtheile zu berichtigen
und aud in den traurigften Werirrungen dad Gute und
Wahre, ihre Berechtigung und ihre durch Zeit und Umftände
732 Göbel
erklarliche, ja faſt nothwendig gemachte Entſtehung nadhzus
weiſen. Daß er Niemand weber zu Leide noch zu Liebe ges
ſchrieben, fondern nur Thatfachen, bad Leben habe reden laſ⸗
fen, davon gibt jede Seite des Buches Zeugniß,
Die Zeit des Kampfes um ihr Dafeyn hatte die evan⸗
gelifche Kirche Rheinlands und Weſtphalens mit Ablauf des
16. Jahrhunderts ziemlich hinter ſich. In den unabhängigen
Städten und aufeinzelnen adeligen Häufern waren öffentliche
Bemeinben erblüht, Die an andern Orten heimlichen Gemein
hen waren trotz ihres ſchweren Kreuzes mit jenen dennoch,
obwohl nur heimlich, eng verbunden, Die herrliche Glaus
dens⸗ und Zeugengeit, welche bei der erſten Bemeindebilbung
bie unverwüßlicde Lebendfraft der evangelifhen Wahrheit
tobesmutbig und fiegreid, wie zu Anfang ber chrifllichen
Zeitrechnung, offenbarte, ging mit Anfang des 17. Jahr⸗
bunderts, womit Band 1. fhloß, zu Ende, Allmählid ers
oberten ſich auch einzelne heimliche Gemeinden ein unange
fochtenes Dafeyn oder gelangten hierzu durch politifche Ber
änderungen, Der ſelbſtaͤndiger geworbenen Kirche erwads
fen aber neue und ihrem Leben gefährlidhere Feinde, €
iſt die Lauheit und die bamit einreißende Zuchtiofigkeit. Die
Lehre ift zwar gefichert, aber dad Leben beginnt zu erfchlafs
fen. Die noch unter ſchwerem Kreuz feufzenden Gemeinden
End darum nahe daran, mit ben In ihrer Sicherheit ſchlaff
gewordenen Öffentlichen die Gemeinfchaft zu brechen. De
bildet ſich unvermerkt innerhalb beider Kirchen, ſowohl ber
zefosmirten als auch Iutherifchen, ein den matten, fieden
Kirchenleib heilendes Remedium. Es ift der anfänglich hart
serfchrieene unb heftig verfolgte Pietismus, dad thätige, le
bendige Chriſtenthum, welches, zuerſt von Port⸗Royal aus⸗
gehend, in der reformirten Kirche vornehmlich als Labadis⸗
mus, in ber evangeliſchen als Myſtik und Pietismus, ein heil⸗
ſames Salz für die allgemeine Kirche, neu belebend wirkt,
Diefe Zeit war die Zeit der innern Miffion des 17. Jahr⸗
hunderts. Das neu angefachte Glaubensleben tritt weniger
Geſchichte des chriſtlichen Lebens x. 783
wait der Kirchenlehre — denn feine Träger und Workimpfer
find meift aͤngſtlich bemüht, ihre Rechtglaͤubigkeit aufs ent.
ſchiedenſte darzuthun, — als vielmehr mit dem kirchlichen
Reben, mit der Praris, in feharfe Oppofition, Die Kirche
ſtoͤßt das in ihr erwachfene Heilmittel anfänglich) entweber
gewaltſam aus, oder belegt es mit ſchwerem Drud, bis e&,
hierdurch wiederum geldutert und abgeflärt, als wohlgerei⸗
nigte Lebenseſſenz heilend und belebend in ihren Schooß
gurkdtchet oder nad) vergeblichen Verſuchen, eine Gemeine
haft der Heiligen außerhalb der Kirche zu bilden, in ſich
ſelber verktiuppelt und als ein vom Lehmöquell abgeriffenes
Baͤchlein in Sumpf und Schlamm verläuft. Die Darſtel⸗
lung dieſes Kreislaufes, wie die Kirche die fie neu belebenden
@lemente au& ſich felber gebiert, ihre eigenen Erzeugungen
dann von fich ausſtoͤßt und hierauf fie wiederum als wird.
fame Heilmittel in ſich zurüdzieht, alfo der thatfächlihe
Beweis, daß bie Kirche ihre Heilskraͤfte in ſich felber birgt,
und daß jede Abtrennung von ihr in felbfigemachter Ifos
lirung feine dauernde Lebensfähigkeit befige, daB die Kirche
den Pietismus oder das thätige Chriſtenthum eben fo wenig
entbehren Tann, als diefer jene, — daß ift der für unfere
Beit fehr lehrreiche Inhalt diefes zweiten Bandes,
Derfelbe muß fi) natürlich in zwei große Hälften thei⸗
ken, deren eine die reformirte Kirche in brei ſich von ſelbſt
ergebenden Abfchnitten, nämlich die niebertheinifche, die nie⸗
berländifche und ben beiden gemeinfamen Labadismus bes
handelt, während die andere Hälfte bie Zuftände ber Iuthes
riſchen Kirche, wie fie fi) am Niederrhein unter Einfluß
der von Johann Arndt ausgehenden Myftif und am Ober⸗
shein unter dem bie Kirche gewaltig erſchuͤtternden Pietis⸗
mus von Phil, Jak. Spener entfaltet, darſtellt. Doch
begnligt ſich der Berfaffer keineswegs mit einer allgemeinen
Zeichnung diefer kirchlichen Zuftände, fondern, und das gibt
dem Werke fein beſonderes Intereſſe, jede neue Richtung und
lebendkraͤftige Erſcheinung bed kirchlichen Lebens wird in
734 Göbel
ihren Urhebern und einflußreichſten Vertretern mit teefflicher
Buͤndigkeit biographiſch gezeichnet. Das ift des BVerfaſſers
Kunſt, derartige Lebensbilder, wie fie aus ihrer Zeit hervor⸗
gehen und dieſelbe wiederum geſtalten helfen, kurz und cha⸗
rakteriſtiſch der Anſchauung des Leſers vorzuführen, Eine
dritte Abtheilung behandelt die außerhalb dieſer beiden Kir⸗
chen in hartnaͤckiger Trennung beharrenden Separatiſten, den
eigentlichen Bodenſatz und Niederſchlag dieſer kirchlichen Laͤu⸗
terungsperiode. Die zu jedem Abſchnitt beigefuͤgte Anzeige
der Quellen, aus welchen der Verf. geſchoͤpft, bietet einen
großen Schatz der Litteratur für alle dieſe Erſcheinungen und
gewäbrt einen Blick in die umfangreichen Studien des Bers
faſſers.
Zuerſt alſo beginnt er mit der reformirten Kirche, wie
ſie durch den Tod des letzten cleviſchen Herzogs, Johann
Wilhelm, deſſen Erbe Brandenburg und Pfalz-Neuburg in
Befig nahmen, am Niederrhein eine ganz andere Geſtalt
gewinnt. Es iſt die Zeit der Verträge und des Brechens
der Verträge; der wiederholte Mechfel der Landesherren er⸗
zeugt gleichen Wechfel in den kirchlichen Zuſtaͤnden. Ye
nachdem die Gonfeffion von jenem, hatte auch die eine oder
andere der beiden Kirchen Schutz und Schirm, oder lehnte
fi an einen ihr verwandten Machthaber. Der Abfall Neus
burgd zum Katholiciömus beraubte die Iutherifche Kirche,
welche naturgemäß ber weltlichen Obrigkeit ſchwer entbehren
Tann, jedes Schuges und Beiſtandes. Die von Brandens
burg dann und wann angewandten Repreffalien befchweren
die hart geplagten Gemeinden nur noch mehr. Das traus
tige 2008 der beiden Kreuggemeinden in Aachen und Köln,
von benen jene ihre Kirche mit eigener Hand niederzureißen
gezwungen wolırde, dieſe aber, gewaltfam vertrieben, ben furcht⸗
baren Schmerz erfeben mußte, daß bad von ihr erbaute
Mühlheim am Rhein in einer Nacht wieder der Erde gleih
gemacht wurde, gibt ein anfchauliches Bild der unglaublis
en Berationen, welchen bie Kreuzgemeinden während bed
Geſchichte des chriſtlichen Lebens ıc. 735
juͤlich⸗ cleviſchen Erbfolge⸗ und des dreißigiaͤhrigen Krieges
ausgeſetzt waren. Dagegen zeigt die merkwuͤrdige Rettung
ber ſolinger Gemeinde durch ihren heidenmirthigen Johan⸗
ned Lünefchloß, was ein einziger Glaubensmann in
Beiten ſchwerer Drangfale vermag. Trotz diefer Bebräng«
niß von außen war dennoch gerade diefe Zeit auch die bev
ſchaͤrfſften Polemik zwifden beiden Schweſterkirchen. Und
je bedrängter die lutheriſche war, deſto heftiger führte fie ben
eonfeffionelen Streit, während reformirterfeitd von Brandens
burg, wie auch von einzelnen hervorragenden Männern,
3. B. von Joh. Durdus und Gilenius, durch Schrift
und Wort ireniſche Verfuche, obwohl vergeblich, gemacht
wurden, Die in foldyer Drangfaldhige unterbrochene Birds
liche Gemeinſchaft, welche die heimlichen, durch ihr Kreuz
glaubenöfräftigern Gemeinden den öffentlich anerkannten, in
ihrer Ruhe aber ziemlich erfchlafften gar noch verweigerten,
wirb endlich unter vieler Mühe und Arbeit wieder bergeftelt
und durch eine vereinbarte Verfaffung und Disciplin befeftigt.
Die neu hergeftellte Kirchenzucht nimmt ihren Anfang vor
nehmlich bei fämmtlichen Gemeindebienern, und je ernſter
und firenger fie bei diefen gehandhabt wird, deſto ſegens⸗
reicher wirkt fie auf die Gemeinden. Einzelne Beifpiele ders
felben thun zur Genüge dar, wie traurig es damals im
Puncte der Heiligung fowohl bei Paftoren als in den Ges
meinden ausſah. In der Lehre, welche bie reformirte Kirche
nie fo ſcharf betont hat, wie es die lutherifche that, gelangt
der beibelberger Katechismus fehr bald zu allgemeiner Gel
tung, doch blieb man in Lehre und Predigtform- bis zur
Gründung ber duisburher Univerfität in großer Abhaͤngig ⸗
Zeit von den Niederlanden. Ueberrafchend ift ed, wie bamald
in ber reformirten Kirche auf den Synoden zu wiederholten
Malen fo fireng auf Gebrauch vorgefchriebener Formulare
beim Cultus gebrungen wird, wie auch aufs Knieen beim
Gebet, während diefelbe Kirche fich jetzt gegen „beides fort⸗
geſetzt zu firduben pflegt,
136 Bird
Das beſtaͤndige Drängen anf Feſtſtellung kirchlicher For ⸗
men und Einrichtumgen und bie damaligen politiſchen Drangs
fale hatten allmählich den ſpeciſiſch⸗chriſtlichen Inhalt des
Lebens am Niederrhein geſchwaͤcht, und bedenkliche Symptome
eines traurigen Verfalls der alten Glaubensinnigkeit und
wahrhaft driftlichen Lebendigkeit traten immer Flarer zu
Tage. Da wehte noch zu rechter Zeit von der niederländis
ſchen Kirche, zu welcher das zweite Buch übergeht, ein neuer
Lebensodem, welcher das erflerbende Leben der rheiniſchen
Kirche neu erwedte. Es würde zum Verfländniß der Ges
ſchichte diefer Kirche für viele Lefer ſicherlich erwuͤnſcht feyn,
wenn der Verf. bierbei auf die politifche Geſchichte mehr
Bezug genommen und ben Einfluß der verſchiedenen Wech-
felfälle des dreißigjährigen Krieges für feinen Gegenftand
näher markirt, dann aber von ben feftgeftellten Kirchenord⸗
nungen wenigftens die, welche bie Kirche am wirkſamſten
berührten, auszugsweiſe als Beilage hinzugefligt hätte, ſtatt
deren Kenntniß voraudzufegen oder auf bie betveffenden
Werke darüber zu verweilen, Will man Geſchichte fehreis
ben, fo darf man das Gefchehene nicht als bekannt voranss
fegen, Dem iſt dagegen in der Darftellung der niederländifchen
Kirche mehr genügt. Hier wird z. B. die Weranlaffung,
Geſchichte und der Einfluß der dordrechter Synode, fo wie dee
dadurch bewirkte traurige Ausgang der für Gewiſſensfreiheit
zeugenmuthigen Armintaner in lebendiger Anſchauung vor⸗
geführt, Das von den dordrechter Beſchluͤſſen auf die
Kirche und kirchliche Wiſſenſchaft gelegte ſchwere Joch bes
wahrte zwar ber reformirten Kirche ihre Rechtgläubigkeit,
drohte aber auch zugleich, diefelbe vom Glaubensquel, von
der heil, Schrift, abzuführen und auf bie Nebenwafler der
fombolifhen Bücher vorherrſchend zu befchränten. An ein»
zelnen Verſuchen, dieſes Joch abzufchätteln, fehlte es natuͤr⸗
lich nicht, Sowohl die fireng ſynodale oder ſymboliſche, als
auch die freiſinnigere, bibliſche Richtung hätte ausgezeich⸗
nete Repraͤſentanten. Als Vertreter jener witd der gelchtte
Geſchichte des chriſtlichen Lebens ꝛc. 737
und fromme Gisbert VBoötius, der veformirte Joh. Gers
bard, nad) feinem Leben und Wirken, Einfluß und Cha⸗
rakter befonders gezeichnet; ebenfalls auch fein Gegner;
welcher ihm in der legten Hälfte feines Lebens den ſchwer
errungenen Siegeskranz wieder zu entreißen droht, D. Jo⸗
bannes Goccejus oder Koch, Mit feinem folgenfchweren
Grundſatz: id significant verba, quod significare pos-
sunt in integra oratione, sicut omnino inter se con-
veniunt, brach derfelbe der Schrifterfiärung ganz neue Bah⸗
nen. Der hierüber anfänglich ne gelehrte Streit griff, für
die reformirte Kicche hoͤchſt charakteriſtiſch, bald tief ins
Sriftliche Leben und in die kirchliche Praxis bei der Frage
über die Sabbathöheiligung ein, während die coccejanifche
Lehre vom Gnaden» und Werkbunde auf dem Gebiete ber
Dogmatik eine voͤllige Umwandlung vorbereitete,
Was diefe beiden Meifter theologiſcher Wiſſenſchaft und
Männer aufrichtiger Frömmigkeit in Dogmatik und Eregefe
gewirkt hatten, baflelbe nun wieder ind thätige Chriſtenthum
und in die Praxis aufdem Gebiete des Volkslebens einzuführen,
bazu waren zwei andere Männer, Jodocus Lodenflein und Jean
de Labadie, berufen. Erfterer, zwar Schüler von Voet und
Koch, aber Bein gelchrter Theologe, iſt eine ber lieblichften
Erſcheinungen des gottfeligen und liebeseifeigen Chriſtenthumb.
Sein Lebensbild ald treuer Prediger und Seelforger, Water
der frommen Privatverfammlungen, fpäter collegia pietatis,
als chrifilicher Liederbichter — „Heiligfter Jeſu, Heiligungs⸗
quelle,” iſt von ihm und nicht von Graffelius, — ein Mann
von apoſtoliſchem Geiſt, voller Miffionsfinn, der ſterbend
Tagen konnte: „Iſt das ber od, fo flerbe ich wohl leicht!”
iſt ein wahrhaft Toftbarer Juwel in dem Ringe diefer Lebends
bilder, Dan gewinnt biefen treuen Knecht Gottes um fo
lieber, je demüthiger er ſich ber beftehenden Ordnung unters
wirft und troß der Mar erkannten Berberbtheit der allgemei⸗
men Kirche ruhig in felbiger ausharrt, während fein Gefine
nungsgenoffe Jean be Labadie in feinem Eifer eine Ge⸗
738 Göbel
meinde ber Helligen außerhalb der Kirche zu ſtiften ſich ge
trieben fühlt.
Dieſes Mannes einflußreiches Wirken füllt das britte
Buch der Geſchichte ber reformirten Kirche, Seit den gro:
Gen Reformatoren, fagt ber Verf., hat Fein Mann auf die
veformirte Kirche und theilweife auch auf die Iutherifche fo
gewaltigen Einfluß geübt, Daß aber Labadie's und feiner
Anhänger Name jegt verbunfelt, ja verſchollen fey, komme
daber, weil fein Schuler Spener die Bezeichnung Labadiften
in Pietiſten veranlaßte. Abgefehen von Labadie's perföns
licher Begabung, bat hierzu auch fein auslänbifcher Urfprung
viel beigetragen, Er war Franzoſe, in der Kreuzesfchule
feiner vaterländifhen Kirche ſtark geworden, ein Jeſuiten⸗
fehler, dann Janfenift und fpäter Prediger im füdlichen
Frankreich, wo ihn der Biſchof Bazas „als einen ausgezeich⸗
neten Arbeiter in dem Weinberge des Herrn, als unerfchrode
nen Belenner Jeſu Chriſti und erleuchteten Halbindrtyrer”
rühmte, und ſchied nad mandyerlei Werfolgungen aus der
katholiſchen Kirche aus, um bei den Reformirten „ein Volk
zu finden, dad Gott in Jeſu Ehrifto liebte und ihm aufrich⸗
tig und im Wahrheit dienen wolte,” Seit Calvin, fagt
Garifoles, fey Fein ſolcher Mann zur veformirten Kirche
Übergetreten. Seine eifrige Thätigkeit in Montauban, fein
Beruf nach Drange, feine Flucht nach Genf, feine fehrift:
ſtelleriſchen Arbeiten, welche ihn den Freunden in den Nie
derlanden bekannt und lieb machten, daß fie feine Wahl zum
Paftor in Middelburg burchfegten, — hatten überall ein
neues Geifteswehen- in der Kirche zur Folge und verbreiteten
unermeßlichen Segen. Sein Bund mit Yoon, Dulignon
und Menuret, eine feierliche Selbftopferung zum Dienfte Got⸗
tes, fo wie feine Freundſchaft mit der frommen Anna Maria
von Schlirmann, diefer Perle unter ben berühmt gemworbenen
Brauen, deren anfangs den Wiſſenſchaften und Künften ger
widmetes Leben, nachher ein Leben verborgen mit Chriſto in
Gott, in einem befondern Abſchnitte ausführlicher befchrieben
Geſchichte des cheittiichen Lebens x. q80
wird — warb ber Anfang zur Bildung einer ecelesiola im
ecolesia im mibdelburger Pfarrhaufe, Die bier geführtes
Welprechungen, von Labadie Prophetie genannt, von Spener
ſpaͤter nach Deutfchland verpflangt, geben, weil fie eben nicht
bie Kische, fondern das Haus, nicht die kirchlichen Hands
lungen, fondern die h. Schrift zum Mittelpunct der Fröm⸗
migkeit machten, den erfien Anfloß zur Trennung der Bio °
bergebornen von ber Gemeinde und Kirche. Diefelbe erfolgte
jedoch factifch erft nach einer Reihe Argerlicher Auftritte über
Lababie’s Verhaͤltniß zue kirchlichen Ordnung und zu den
fombolifchen Büchern, durch förmlichen Beſchluß feiner Syn⸗
ade. Hierdurch ward Labadie's gefegnetem Wirken der
naturgemäße Grund und Boden entzogen. Gein Bruch
mit der Kirche warb dad Signal zur Bildung einer freien
Gemeinde, wie fie feit den Wiedertäufern auf dem Feſtlande
nicht wieder gelehen war, Ihre Meifeagenten werden jene
oben genannten drei Freunde. Der anhaltenden Anfeindungen
in der Heimath endlich mübe, befchließt der Kern dieſes ein
irdiſches Zion fuchenden Haͤufleins, den vaterländifchen Bo⸗
ben zu verlaflen, Gleich verfheuchten Zauben fehen wie
diefe Schaar bald hier, bald da einen Ort ſuchen, wo ihr
Fuß ruhen und fie ihr Meifegelt auffchlagen Fönne Wir
fehen fie in ‚Herford bei der edlen und frommen Pringeffin
Eliſabeth — deren Leben ein befonderer Abſchnitt gewidmet
iſt — Hütten aufſchlagen und, obwohl hier etwas beſſer
erganifirt, doch ſchon die erſten Schritte zur Schwaͤrmerei
und Enthufiafterei thun. Was fie im Geifte begonnen, fegen
Fe im Fleiſch fort. Ihre ſtreng communiſtiſch durchgeführte
Haus⸗ und Gemeindeordnung mit fehr bedenklichen Grunds
fügen Aber das eheliche Leben, diefer gefährlichen Klippe
aller feparatiftifchen Beſtrebungen, mußte ihnen im lusheris
ſchen Herford neue Verfolgungen bereiten. Dad Reichöfanzmers .
gericht zwingt die edle Prinzeffin, ihre lieben Schuͤtzlinge auf⸗
zugeben, Altona bietet ihnen ein neues Afyl; dafeldft ſtirbt
Sababie eined ruhigen und frommen Todes. Seine Ges
Theol. Stud. Jahrg. 1858. *
740 Bibel:
mehide hatte durch ihr Wanderleben ber Kirche wohl eben
fo große Miffionsdienfte erwiefen, als feine Trennung ihr
geſchadet hatte. Denn auch in Altona war ihres Michhens
nicht lange. Unter Leitung des rubigen, aber ſtreugen Yoen
wahr fie nach Holland zurüd, Hier war Wiewert, dab
Erbe dreier Schweſtern, ihr zum Zufluchtsorte umd Cizen⸗
thum gepeben. Ihre eigenen Grundſaͤtze bereiten aber froh
dieſes ſchoͤnen Grundbefitzes der Golonie den Untergang, ein
lehrreiches Beifpiel, wie auch in edeifter Form und GeRatt
bes Communismus keine Sebensfägigkeit befügt. AbRchtlih
iſt das Referat hierüber, weil ber Labadismus die intereflans
teſte Partie in der Geſchichte ber „reformirten Kirche bildet,
etwas ausführlicher gegeben. Die Parallele, welde da
Barf, zum Schluß noch zwiſchen Labadie und Binzenderf
nieht, gewährt aufs überrafchendfte außerordentlich viel
Bergleihumgspuncte im Leben, Schickſale und Wirkfamleit
biefer beiden Männer,
Obwohl Labadie und Yoon geflorben und ihre Gemeinde
auseinanbergegangen war, lebten und wirkten bie Grunbfäße
ihrer Frömmigkeit noch lange fort. Der einmal in bie ey
kaltete Kirche geworfene Brand glühte etwa nicht bloß unter
der Aſche weiter, ſondern ſchlug allenthalben in hellen Feuer⸗
flommen wieder empor. Es entfpinnt ſich der heftige Kampf
des wahren Chriſtenthums gegen das herrſchende Schein⸗
chriſtenthum, des innerlichen Glaubenslebens gegen die kirch⸗
lichen Formen und Formeln. Eine Reihe der Repräfentans
ten dieſes von Labadie erwedten Glaubenslebens führt nun
der Verf, mit gewohnter Treue und Meifterfchaft dem Lefer
vor Augen, Zuerſt iſt es ber goftfelige Untereyk, deſſen
Saatfeld hauptſaͤchlich Muͤhlheim a. d. Ruhr, Kaſſel und
Bremen war, welcher durch Wort und Schrift unter großer
Berkennung feines Eifer, unſterbliche Seelen zu gerinnen,
Bebabie’s Ernſt und Drängen auf Wiedergeburt erfolgreich
nachahmte. Der befonders in Mühlheim durch Schlüter
genährte Labadismus, deſſen Natur nach dem urkundlich
Geſchichte des Hrilfichen Lebens x. TAT
Wnitgetheilten Briefe der Graͤfin zu Broich ſehr unſchaͤdlich
und von lauterer Frömmigkeit gewefen zu ſeyn ſcheint, vers
breitet manches Licht über fpätere und neuefte Erfhelnungen
des chriftlichen Lebens in biefer Gegend =); ebenfo die fols
gende Schilderung des Joachim Neander, welcher ſowohl
als Labadiſt, als auch als geiſtlicher Liederdichter nicht nur
damals, ſondern auch noch heute ber evangeliſchen Kirche
großen Segen bereitet, Gleich Untereyk kommt aud) er aus
feinem mit großem Gegen geführten Schulamte zu Diffel-
dorf in feine Vaterſtadt Bremen. Ihm, ald dem Water
bed deutfihsteformirten Kirchenliedes, fegt ber Verf. noch ein
befondered Denkmal, in welchen auf die Macht des Liedes
zur Etweckung neuen Lebens auch in der reformirten Kirche
trefflich bingewiefen wird, Die Zeiten werben allmaͤhlich
andere, ber Labadismus verbreitet feine belebenben und auch
zerfegenden Kräfte immer welter; bie Kirche ergreift dagegen
andere Maßregeln und trifft zugleich durch einzelne Syno⸗
dalbeſchluͤſſe entfprechende Einrichtungen zur georbneten Pflege
a) Es fey erlaubt, hier auf ein in weiteren Kreifen vielleicht we⸗
higer bekanntes Schriftchen: Gerhard Lerfteegen, ber fromme
Vieberbiäiter und thätige Freund der Innern Miffion, dargeftellt
von D. Gerhard Kerien, Bählyeim a. d. Muhr 1861, aufmerk⸗
ſam zu machen. Daſſelbe zeichnet ſich vorzüglid dadurch vor
gewoͤhnlichen Lebensbeſchreibungen aus, daß es meift des ſeligen
Terſteegen inneres Leben aus feinen Sqhriften und Briefen,
welche dem Berf. zahlteich gur Hand find, lieblich zeichnet und
einen herrlichen Wii In das fromme Bemüth und eifrige Bins
gen nach Heiligung dieſes Gotteamannes than taͤßt. Dadurch
wird es ein doͤchſt ſchaͤtbarer Beitrag zu unferer ascetifhen
Kitteratur, und um fo fhägbarer, je gefunder bie Ascefe eines
Terſteegen, denn die vieler Andern iſt. Für praktiſche Prediger
und Erbauung ſuchende Seelen bleibt es eine reiche Fundgrube,
für gelebrte Forſcher in der Geſchichte des Ascetik wird es nicht
minder exgiebig feyn, in, Gemeindebibliotheken hat es feinen
Plag. Zugleich hat derfelde Verf. eine Sammlung von Ter ſtee⸗
gen’s Gebeten für chriſtliche Freunde, 1852 ebenbafelbft, herauss
gegeben. J
“0”
742 Göbel
des ſtark erwachenden dhriftfichen Lebens, Retürſich warh
durch ſolche Anordnungen nun auch da Auftreten labadiſi⸗
ſcher Erſcheinungen, ſobald fie ſich nicht in die Schranken
ticchſicher Ordnung fügen wollten, ſchaͤrfer iberwacht. A
Dpfer diefer Ordnung und feines unfägfamen Eifers fält
zuerſt der Pfarrer Reiner Cooper, ein Mana von entfcjieden
hriftlicher Frömmigkeit, ernſtem Streben wach Heifigung,
deſſen Leben ein Leben voll Unrube und Widermärtigkeiten,
Daſſelbe Schidfal trifft im Menrſiſchen auch ten Piane
Samurl Nethenus, welcher, voll zarter Gewiflensferupel, tur
Hartnädiged Beharren auf feinen fubjertiven Anfichten bie
Glaffe zu feiner Amtöentfegung voͤtdigte. Sein Eifer unt
Giganfinn bereitete ihm in Birfein ein dhaliches Loos und
wmadte, daß er am verſchiedenen Orten tie Samenkörner be
&rifllichen Sehens ausſtrtute, aber bie und ba auch vid
ſchadete. Durch feine Schritten fücht fein Name in man:
en Gegenten noch in geicgnetem Andenfen, Erf in Frier.
Arolf Lampe, diefem einflusreichkten Zhesiogen und gefeirm:
tem Dichter der refermirten Kirche, beffen reichhewegtet und
wediieleoles Leben der Ber. mit großer Eiche md Win
fdütert, begegnen wir ber entichen Beriähuumg bes Labe⸗
Nitmnd mit der Kirche. Im it wellendet ſid der Kırik
Bar, Kane 5 in dic ee Klaren Breheumgen
Geſchichte des chriftlichen Lebens ꝛc. 743
mus überwunden, fondern zugleich auch die Uranfänge dies
fer Trennung, die Voẽet und Koch theoretifh ausgebildet,
indem er beide Schulen durdy feine Dogmatik wieder dere
einigte.‘ Er iſt der reformirten Kirche Unionsmann.
Mit Lampe ift in der Geſchichte der reformirten Kirche
ein natürlicher Abſchnitt, ein Ruhepunct in ihrer Entwides
lung, gegeben, Der Verf. wendet ſich daher zur Iutherifchen
Kirche, Das vierte Buch fhildert fie am Niederrhein von
1609—17%0, Das Bild, dad er von ihr entwirft, ift ein
wenig erfreuliche, und da ſich keine Verhandlungen Iutheris
ſcher Synoden mehr auffinden laffen, fo wird ed auch ein duͤrf⸗
tiged, Wohl mag daB Leben ber Iutherifchen Kirche, bie
ihrer Natur nach an eine Verbindung mit der weltlichen
Obrigkeit gewiefen ift, ſolche aber gerade hier mit Ausnahme
einiger Magiſtrate freier Städte entbehren mußte, felber feine
Bildungsanftalten für ihre Geiftlihen befaß und daher es
geſchehen laffen mußte, daß unreife Gymnafiaften (von Dorts
mund befonders) und Studenten ald Prediger umberreiften,
— noch größere Schwierigkeiten zu überwinden gehabt haben,
als die durch ihre Verfaffung mehr unabhängige Schwefters
kirche. Auch mag unter biefen Verhältniffen die Geldfrage
fie fehr ſchwer gedruͤkt haben, — — aber ob ihr inneres Leben
deßhalb tiefer flebe, ald das ber reformirten Kirche, in wels
her doch die heftige und anhaltende Oppofition gegen das
Außerliche Kirchenthum den ficherfien Beweis für den Vers
fall des chriſtlichen Lebens liefert, daran liege ſich wohl noch
zweifeln. Der Verf, legt einen faſt zu großen Nahdrud
auf die Verfaffung, an welcher dieReformirten freilich eine
treffliche Stüge befaßen, dagegen fheint er bem Streben
nach Reinheit ber Lehre, das bei den Lutheriſchen ſich vor.
wiegend zeigt, kaum einen fo nachhaltigen Einfluß aufs Le:
ben zuzutrauen. Und doch lehrt bie Gefichte, daß weber
die mufterhaftefte Verfaffung, noch der ausgebildetſte Lehrs
typus den Verfall des chriftlihen Lebens aufhalten Bann,
fondern bag Alles auf den Geift ankommt, welcher bie aͤußer⸗
aM. Göbel
Uchen Formen beleben und bie Lehre au einer belebenden
Macht machen muß. In faft fämmtlichen Gemeinden des
Niederrheins fand die pfalz + zweibruckener Kirchenordnung,
welche auf melanchthoniſche Grundſaͤtze baſirt if, allges
meine Anerkennung. Die Formula concordiae hat in
diefen Gegenden nie fombolifche Geltung gehabt. Sonder⸗
bar, daß dennoch in jüngfter Zeit hier und da Meine Häufe
lein ſich zu ihr hinneigen und nur in ihr ben einzig reinen
Ausdrud lutheriſchen Bekenntniſſes zu finden meinen. Der
Religiondwechfel des Urhebers jener Kirchenorbnung beraubte
aber die evangelifche Kirche großentheils des Segens derſel⸗
ben. Die Verdienfte des M. Johannes Scheibler um Vers
faffung und Regierung der Kirche im bergifchen Lande, des
gleichen die Thätigfeit des Infpectord Wenemar Elber für
ihre Ordnung und Erhaltung im Glevifchen werden näher
hervorgehoben und gerühmt. Die Mittheilung der von allen
maͤrkiſchen Paſtoren aufd Neue unterfcriebenen Confessio-
nis forma ift fehr dankenswerth.
Doch auch der lutheriſchen Kirche follte ebenfo, wie ber
teformirten durch Labadie, ein Heilmittel gegen den Verfall
des chriſtlichen Lebens aus ihrem eigenen Schooße erwach⸗
fen, Und auf Grund diefer Erſcheinung bereiten fi) auch
bier ganz ähnliche Kämpfe, wie roir fie dort gefehen haben, Bei
der nahen Berührung beider Kirchen, deren Mitglieder in
diefen Gegenden vermifcht bei und unter elnander lebten,
Fonnte es Überhaupt nicht fehlen, daß die Vorgänge in der
einen auf die Entwidelung der andern ſtets ruͤckwirkend ſich
Außern mußten, welche Wechfelbeziehung wohl mehr hätte
hervorgehoben werden follen, Die Urheber und Reflauras
. toren ded chriftlichen Lebens find hier Johann Arndt und
Phil, Jak. Spener, ohne deren genauere Kenntniß das Vers
ſtaͤndniß der Geſchichte chriſtlichen Lebens im Rheinland und
Weftphalen nicht möglich if. Daher wird auf beider Mäns
ner Leben und Wirken, Charakter und Syſtem näher einges
gangen. Wie die deutſche Reformation vornehmlich aus der
Geſchichte des chriſtlichen Lebens ıc. ‚145
Myftit hervorging, fo -ging auch bie Neubelebung der heute
ſchen evangelifchen Kirche zunächfl wieder aus dem Studium
der Myſtik hervor, Wie daffelbe zunaͤchſt von Präforius,
Beigel u. A. eingeleitet und dann in Joh. Arndt ſei⸗
nen gefchicteften Verbreiter gefunden babe, berichtet aufs
bündigfte in Durchfichtiger Darftelung das fünfte Bud, As
Repräfentant diefer arndt'ſchen Myftik in der rheiniſch⸗weſt⸗
phälifhen Kirche wird Joh. Jakob Fabricius, Pfarrer an
der Grenze von Rheinland und Weftpbalen, zu Schwelm,
nach feinem thätigen Leben und eifrigem Wirken gefchildert,
Das Leben dieſes zwar bamals vertriebenen, aber noch heute
in gefegnetem Andenken flehenden Mannes gewährt ein ans
ſchauliches Bild von der Wirkfamkeit und Stelung biefer
Schule in damaliger Zeit,
Ehe auf Spener, den einflußreichſten Mann, der mus
ber oberrheiniſchen Kirche hervorgegangen, näher eingegangen
werden Bann, wird ganz fachgemäß vorher der Zuſtand und
bie Lage biefer Kirche felber geſchildert. Das gefchieht im
fechften Bucher Hier befindet fich die Kirche wegen des haͤu⸗
figen Confeſſionswechſels der Kurfürften in der Pfalz, der
Landgrafen in Heflen, wie auch wegen ber durch ben breißigs
jährigen Krieg gerade erflerem Lande widerfahrenen Um⸗
wälzungen im bitterftien Notbftande, Dad Kreuz liegt aber
vorwiegend auf den Pfarrern und Gemeindedienern, weniger
fühlbar auf den Gemeindegliedern. Die Fürften üben faſt
unumſchraͤnkte Epiffopalgewalt. Sehr fhägbare Mittheiluns
gen werben bei biefer Gelegenheit über Verfaſſung und Sitte
in diefer auf verfchiedenen Territorien verbreiteten Kirche ges
geben ‚ ebenfo in dem, was Lehre und Gotteödienft betrifft,
wo allenthalben die erft fpäter eingeführte Gonfirmation
ſchon dringend empfohlen und angeorbnet wird. Erſt jegt
Bann im fiebenten Buche bie Geſchichte bed Pietiömus und
zunaͤchſt die ſeines Gründerd, des Straßburger Phil. Jak.
Spener, behandelt werden, indem die Gefchichte der obers
rheiniſchen Kirche das Werftändnig dieſer tief eingreifenden
TE. [DE
Perfönlichkeit um MWieled erleichtert und aufkluͤrt. Dbweht
Gpener’6 Leben vielfach befannt, fo wird doch jeder Lefer
dieſe Rebenöbefchreibung und die feiner Schüler wieberum
mit Intereffe lefen, Denn einmal iſt es die vom Verf. ſtets
feftgehaltene Beziehung auf die rheiniſch⸗weſtphaͤliſche Kirche,
welche dem Wirken diefer Männer einen befonbern Reiz vers
leiht; dann aber weiß der Verf. mit eigenthuͤmlichem Ges
ſchick auch dem Bekannten neue Auffafjungdweifen zu geben
und ihm weniger befannte Züge beizufügen.
Der fpener’fche Einfluß macht ſich am Oberrhein zu»
naͤchſt an feinem Schwager, dem gräflih ſponheimiſchen
Jaſpector Joh. Heine, Horb , geltend, einem gelehrten,
ſtrengen, veichbegabten, aber auch leidenſchaftlichen und
bereffüchtigen Mann, Sein Leben ift ein Leben voll
Kampf; durch eigene Schuld machte er fi für fein Amt
unmoͤglich und bereitete ſich nach feiner Verſetzung nach
Hamburg große Zrübfale, ja die nicht ohne feine Veran⸗
laffung daſelbſt angeregten tumultuariſchen Auftritte zwans
gen ihn, Amt und Stadt zu räumen, Nicht ohne Bebauern
Tann man fein Leben Iefen, weil diefe reichbegabte Perſoͤn⸗
lichkeit bie von ihre ausſtroͤmende Segensfülle immer wies
der ſelbſt verfümmert und unwirkfam macht. Aehnliches
findet ſich aud bei dem frommen, aber unverfländig eiferns
ben Johannes Merker in Effen, wo nicht nur bie ganze
Stadt, fondern auch die preußifche Regierung zu Cleve und
einige Univerfitäten in biefen Argerlihen Streit hineingezo⸗
gen wurden ©). Mit Recht erkennt der Verfaſſer in ders
artigen Auftritten eine Weranlaffung, daß die lutheriſche
Kirche biefiger Gegend ihre urſpruͤngliche Geſtalt einbäßte
und reformirtem Einfluß zugänglicher gemacht ward. Aehn⸗
liche und in der Art ihrer Führung noch Argerlichere Strei⸗
@) Was ter Verf. in der Rote S. 622. andeutet, geſchah nicht,
Fr trrtpimtich ſteht, im I. 1744, fondern am 9, Wei
Geſchihte des hrifichen eebens u. 747
tigkriten bietet das Leben ded D. Joh. Georg Joch, effrigen:
Predigerö und Gynmafiarchen ber freien Reichsſtadt Dort⸗
mund, mit ihrem Archigymnaſium Pflegerin ber echt
evangelifhen Lehre für die Grafſchaft Mark, deren Gemeins
den faft ſaͤmmtlich in diefe Kämpfe ber alten Orthodoxie
mit dem neu erwachten Leben, deſſen Vorkaͤmpfer außerhalb
Dortmund der Werfaffer bes trefflichen bergiſchen Gefangs
buches Vogt und Veltgen waren, bineingezogen wurben,
In ben nun folgenden drei Lebensbildern, des ernflen und
feurigen Bußpredigerd und geiftlihen Dichters Bartholo⸗
mäus Grafielius in Däffeldorf, dann des Lic. Iſtael Claus
ber in Bielefeld, in welchem das lebendige, thätige Chri⸗
ſtenthum ohne jede ranhe Schale und bittern Kern eine
außerorbentlich liebliche Geftalt gewonnen, endlich des Egi⸗
dius Günther Hellmund in Wetzlar und Wiesbaden, Maͤn⸗
ner der halliſchen Schule, finden ſich die kirchlichen Zu⸗
ſtaͤnde von Weſtphalen bis ar den Oberrhein und in ben
beffifchen Landen, inwiefern fie durch das Wirken Diefer
Männer in ben mädtigen Kampf der Zeit hineingezogen
wurden, anſchaulich dargeſtellt. Beſonders gewähren bie
urkundlichen Mitteilungen des durch Hellmund in Wetzlar
erregten Kampfes einen klaren Blid in diefe alle Stände
durchdringenden Zeitbewegungen. Zulegt hatte fih der Pies
tiömus doch allmählich fo viel Terrain in der Kirche erobert,
dag auch feine eifrigſten Gegner den Gründer deſſelben nicht
mehr zu verfegern und ihm die Seligkeit abzufprechen wagten.
Der Geſchichte des Pietismus ſchließt ſich die Geſchichte
ded Separatismus in dieſen Landen an. Dieſelbe umfaßt
bie dritte Abtheilung bed ganzen Werke und muß unftreis
tig als eine der gelungenften Arbeiten über biefen ſchwieri⸗
gen und in feinen einzelnen Erfcheinungen oft geradezu ſich
widerfpreddenden Gegenftand genannt werden, Der Ders
fafer leitet diefen Abſchnitt ein mit einer Maren und hoͤchſt
nüchternen Unterfuhung über Wefen und Urfprung des Ges
paratismus, ſtellt die Grundfäge deſſelben, feine Wahrheit
MB... De
‚undıfeinen Irrtham, feine Tugend und Suͤrde in helles
Licht. Ob aber bie Zurüdjiehung bes Herrn, fo wie bie
‚res Täufer: Jobannes in die Wuͤſte und bie des Apoſtels
Mantıd in die Stile Arabiens irgendwie für eine Art Bes
rechtiguna, oder Parallele, oder nur Analogon des Sepa⸗
-satisumud angeführt werben koͤnnen, — ſcheint doch ſehr
‚sweifelhaft. Denn diefe Zurückziehungen waren bewußte
Vorbereitungen auf die fpgtere öffentliche Amtöführung ober,
wie bei Johannes, eine vorgezeichnete Lebensaufgabe zu ſei⸗
ner Wirkfamleit aufs öffentliche Leben, Richtiger iſt ed, die
erſten Spuren bed Separatismus im Einfiebler und Klo⸗
ſterleben und Gölibate zu ſuchen, obwohl auch bier kein eis
gentlicher Separatismus, fondern nur ihm verwandte Anſchau⸗
ungen gefunden werben koͤnnen. Treffend dagegen wird bes
‚merkt, wie die Intherifge Kirche eben wegen ihrer von ber
katholiſchen Kirche erzwungenen Separation weniger bit
Gefahren ded Separatismus in ſich trage, als bie ſich von
Rom freiwilig feparirende reformirte Kirche. Der eigent:
He Ausbruch des Separatismus wird hiſtoriſch ald die
Drucht der Verbindung des von Spener angeregten thätis
gen Chriſtenthums mit der von Arndt neu eingeführten My⸗
- fit, alfo der ſtillen Myſtik mit dem werkthätigen Pietis⸗
muß, bezeichnet, Er hegt aber in feinem Schooße wiederum
zwei tief greifende Gegenfäge, je nachdem bie Frage über
die Rechtmäßigkeit und Heiligkeit der Ehe entfchieden wird;
deinnach theilt er ſich im ſtrenge, eigentliche Separatiften
oder in wirkliche Separatiftengemeinden, ift er ifolirender
oder Gemeinſchaſt bilvenber Art. Zu ben Iegteren gehören
die verfprengten Ueberbleibfel ber alten Wiedertäufer. Ihr
Leben und ihre harte Bedrängnig in den verſchiedenen Ge
bieten des Rheinſtromes, wo fie ſich als Eleine Gemeinden,
die unter dem Kreuz wie Rofen unter Dornen blühten,
vielfach fammelten und fomwohl. durch ihre abgeſchloſſene
Bröntinigkeit, als auch durch ihren ſchaffenden Fleiß und
rege Betriebfamkeit die Anfeindungen und ben Neid kirch⸗
Geſchichte bes ceſtichen Lebens ꝛc. TER
licher und bürgerlicher Behörden zugleich zuzogen, bilbet
den Uebergang zur Darftellung bes eigentlichen Separatis⸗
mud in der evangelifchen Kirche. Als Vater deſſelben
fieht M. Gottfried Arnold oben an. An ihm flieht man bie
ganze Arbeit des Geifted, alle die einzelnen Stadien diefer
Verierungen zu burchlaufen. In feinem Leben finden ſich
zu verſchiedenen Zeiten alle die Gebrechen und Fehler, Jer⸗
thümer und Wahrheiten des Separatiömus entſchieden aub⸗
geprägt, bis fie zuletzt, von dieſem begabten und erleuchteten
Manne ſaͤmmtlich wieder überwunden, nur ald die gefahrs
vollen Durchgangspuncte zu feiner fpäter wohlgeorbneten
und reich gefegneten Thätigkeit in der Kirche Chriſti erſchel⸗
"nen, An ihn, befien Wirkfamkeit in Gießen, dad mit Mars
burg der vornehmfte Heerd lebendig thätigen Ehriſtenthums
für beide Heffen und weitere Umgegend war, fange Beit
hindurch nachhaltig blieb, ſchließt fich die Geſchichte des Se⸗
paratismus in der Grafſchaft Wittgenftein. Hier hatten
alle fonft faft nirgends gebuldeten Wiedertäufer, Pietiſten,
Separatiften, Infpiriete u. ſ. m. ein Aſyl gefunden. Mit
unermüblicher Geduld und umfichtiger Sorgfalt verfucht der
Berfafler den verworrenen Knduel diefes Bufammenfluffes
der Sectirerei zu entwirren und in dad Ganze Licht, Ord⸗
nung und Mare Unterfcheidung zu bringen, Nah Mieg’s
Andeutungen über biefe Secten behandelt er zunaͤchſt bie
drei Urheber und Verbreiter des Separatismus. Es iſt zu⸗
erſt D. Heinrich Horch; deſſen Amtsentſetzung als Profeſ⸗
ſor der Theologie zu Herborn gab das Signal sum offes
nen Ausbruch des Separatismus in ganz Heſſen und Rafs
fau. Dann Heinrich Reitz, Pfarrer zu Homburg vor der
Höhe, welder nach Niederfegung feine® Amtes durch die”
Schrift: die Hiftorie der Wiedergebornen, vielfach bekannt
geworden. Und endlich als dritter: Philipp Jakob Dilthey,
wegen feiner Anficht über die Kindertaufe abgefegter Pfare
rer, der in feiner Eremitage zu Saßmanndhaufen bei den
Separatiften in hohem Anfehen ſtand. Diefe drei find aber
6 "Site
wiederum meift Schüler des kaſſeler Vietiften und Schwärs
mers Balthafar Chriſtoph Klopfer, Einen neuen Abſchnitt
in dieſer Geſchichte bildet ber Zuzug einer Schaar verfanns
ter ſchweizeriſcher Pietiften und Chiliaſten, deren Häupter
Samuel König, Joh. Jak. Knecht und Carl Anton Püns
thiner, in ihren Lehrmeinungen und ſchwaͤrmeriſchen Vorge⸗
bungen beſonders gezeichnet werben. Die traurigen Folgen
diefer Einwanberungen ins Wittgenſteinſche werben bierauf
an ber Gefchichte ber Grafen und ber Gräfinnen dieſes Landes
nachgewiefen, Das Schidfal der Iegteren, deren Unſchulb
and aufrichtige Frömmigkeit jenem ſchaͤndlichen Treiben zum
Dpfer fiel, erregt ſchmerzliche Theilnahme. Den Gipfel:
punct aller Schwärmerei und faſt fatanifcher Verworfenheit
erreicht jedoch diefe faubere Wirthfchaft im Wittgenfteinifchen
in der Eva von Buttlar und ihrer Rotte, Ihr Leben
und Zreiben iſt ein grauenhaftes Gewebe von Heuchelei,
Bodheit und ſcheuslicher Kafterhaftigkeit, Jeder wird eb
dem Verfaſſer Dank wiſſen, daß er fi bei Darftellung
dieſer Scheuslichkeiten beſonders einer eblen Objectivität
und Nüchternheit, oder richtiger Keufchheit befleißigt und
das Ganze mit einem für jeden Leſer wohlthuenden fittlichen
Ernfte behandelt, das Aergfte lieber in fremder, als deut⸗
fer Zunge erzählt. Doc mitten in dieſen ſchauerlichen
Berirrungen begegnet und aufs überrafchendfte eine der
liebenswuͤrdigſten Perföntichkeiten, welche gleich einer hehren
Lichtgeftalt unter dieſen Nachtgeftalten bed religisfen Lebens
dahinwandelt, fich felber rein und unbefledt erhält und vie
len Seelen ein Geruch zum Leben wird, Es ift ber fromme,
feurige und um Chriftt, ſeinch Koͤnigs, willen jeder Entbeh⸗
zung und jedes Opfers faͤhige Ernſt Chriſtoph Hochmann
von Hochenau. Ein Reiſeprediger ohne kirchliche Ordina⸗
tion, ſehen wir ihn entweder auf ſeinen Reiſen durch ſaſt
den groͤßten Theil des proteſtantiſchen Deutſchlands bei Ho⸗
. ben und Geringen, in Gefaͤngniſſen und freien Verſamm⸗
lungen, vor Magiftraten und zegierenden Häuptern, vor
Geſchichte des chriſtichen Lebens x. 751
Juden und .Chriften bad Wort von ber Buße unb Mies
bergeburt, oft unter unbarmberziger Verfolgung, todesmuthig
verfündigen, oder aus feiner in Schwarzenau erbauten
Friedensburg, wo er ein ſtilles, abgefchiebenes, beſchauliches
und bad Fleiſch abtödtendes Leben führte, Sendſchreiben
an feine zahlreich zerſtreuten Freunde zur Stärkung des
Glaubens und der Liebe abfaffen, Seine Milde und Ents
ſchiedenheit, feine Sanftmuth und fein Liebedeifer, feine
Demuth und kindliche Frömmigkeit mathen ihn, obwohl
unverheiratbet, zum Water und Berather vieler Seelen;
doch am Niederrhein ift für feine weit verbreitete Wirkſam⸗
keit der empfänglichfte Boden, Hofmann, der fromme Gans
didat zu Mühlheim, und Zerfteegen werben feine Söhne in
Chriſto. Auf hoher Stufe der Heiligung ſtehend, gehört
ex keiner Parteiz felbft ein Separirter wird er doch für
viele Separatiften die Urſache und der Anfang einer Vers
föhnung mit der Kirche; er fchlägt die Brüde, auf welcher
nachher Lampe die zerfireuten und abgefonderten Elemente
des chriſtlichen Lebens in die Kirche zurüdführt, Er war,
wie der Verfaſſer mit Stilling's Worten ſchließt, „ein herr⸗
licher Mann”,
Es folgen ſchließlich noch einige Nachtraͤge, welche wer
nige dem Verfaſſer ſpaͤter zu Haͤnden gekommene urkund⸗
liche Nachrichten zu dem Leben des Theod. Untereyk, des
Joachim Neander und Barthol. Craſſelius enthalten, nebſt
einigen Berichtigungen. Die zuletzt noch hinzugefügte chro-
nologifhe Zafel und dad forgfältige Sachs und Namenz
zegifter find gewiß für Viele eine bantenswerthe Zugabe.
Möge der dritte legte Band nicht zu lange warten laffen und:
die neueften Erſcheinungen des chriftlichen. Lebens in eben
ſolcher Nüchternheit wie biefe beiden Bände wiedergeben.
Wachtler.
767 My. :
2
Blaͤtter für höhere Wahrheit, von Johann Friedrich
von Meyer, Doctor ber Theologie. Auswahl in
zwei Bänden aus den eilf Bänden bes fel, Verfaſſers.
Nebft einer biograppifchen Ginleitung, Stuttgart,
1853, .
Der Gedanke, eine Auswahl aus Johann Friedrich
von Meyers „Blättern. für höhere Wahrheit” dem Pablis
cum in die Hände zu geben, der. fo eben zur Verwirkli⸗
dung gelangt if, muß als ein burchaus glücklicher und
zeitgemaͤßer bezeichnet werben. Es haben dieſe Slaͤtter in
ben Jahren 1819 bis 1832, wo fie urfprünglich erfchienen,
bereits eine fehr bebeutenbe und tief greifende Wirkfamkeit
gehbt, Meyer gehört aber zu jenen reichen und weit Bliden
den Geiſtern, weldye nicht bloß eine ephemere Bedeutung
haben, und ber Inhalt jener Blätter if noch keineswegt
völig zum Gemeingut geworben, Zudem iſt die Entwide
lang der Theologie in ein ſolches Stadium eingetreten, daß
icht gleichſam eine zweite Periode fir deren Benugung in
hohem Grade twänfchenswerth erſcheint.
- Meyer’s urfprängfiche Wirkfamkeit galt zmmächft ber
Ueberwindung des Rationahsmuss fen Name . wird ſtets
hell leuchten unter jenen edeln Geiftern, welche im ben er⸗
ſten Jahrzehnten des gegenwärtigen Jahrhunderts ben Aus⸗
weg aus den oͤden und kahlen Labyrinthen eben dieſer Denk⸗
art zu finden und den reichen und lebensvollen Garten det
bibliſchen Wahrheit wieder zu eröffnen wußten. Er war
bełanntlich nicht Aheolog ex professo, feine Hauptthätig:
Blätter für Höhere. Wahrheit. 758
keit bewegte fi in ganz anderen Sphären; abir feine Bits
dung war eine fehr vielfeitige, umd er wußte fih mit gro⸗
Ber Freiheit auf gar mannichfachen Gebieten geifligen Stres
bens zu bewegen. Bon jeher machte ſich auch die Sehne
ſucht nach den göttlichen umd ewigen Dingen bei ihm gels
tend, und nachdem endlich diefe legtere Michtung zur vollen
Entſchiedenheit bei ihm gelangt war, fo erfaßte er nun bie
Höcften Wahrheiten in innigſter Beziehung zu jenen ats
bern Erfenntniffen, mit welchen er feinen Geift von vorm
berein bereichert hatte,
Hiermit wußte er dem Rationalismus jene At von
Berechtigung zu nehmen, welche ihm der alten, erftorbenen,
in fi felbft machtlos gewordenen Drthodorie gegenäber
wohl zugeſtanden werben mußte. Die Theologie des vori⸗
gen, ja fon früherer Jahrhunderte war, 'bei wefentlicher
Bernachlaͤffigung ihrer ſelbſt und raftlofer Fortentwickelung
der andern Wiffenfchaften, in eine entfhieden gedrliäte und
unnatüclihe Stellung gerathen, fo daß fie theilweife ihren
eigenen Inhalt preis zu geben ſich im Falle fah, um fo
weniger alfo vor ihren Gegnern in eigentlich würdigen,
Achtung gebietender Weiſe ſich zu behaupten vermochte,
Meyer aber, mit der ganzen Innigkeit feines tiefen Gele
ſtes und Gemuͤthes den heiligen Urkunden zugewendet, mit
Liebe auch der weltlichen Wiſſenſchaft hingegeben ,- füllte,
unterftügt von fo manchen bedeutenden Geiſtern feiner Zeit,
den Punct finden, wo jene beiderfeitigen Gebiete fich bes
rühren, wo Natur und Gefchichte einerfeits und die goͤtt⸗
Tide Offenbarung anbererfeltö gleichfam ineinander laufen
und demnach bie Thatfachen und Lehren der Bibel in ihres
großartigen, das ganze Univerfum umfaflenden Bedeutung
erſcheinen.
Vor. dem leuchtenden Glanze, in weldem jetzt der
Neichthum und die Fülle der bibliſchen Wahrheit aus ihrer
Berhuͤluung wieder hervortrat, wurde die Kahlheit und
Dürftigkeit der rationaliſtiſchen Dentart in ſolchem Maße
165% J von Meyer
erftccin daB diefelbe ihre biöherige Ariziehungsfraft ver
fieren mußte. @in frifcher Lebenshauch begann die Then
‚Iogte zu durchweden, und während man ſich bisher zumeiſt
nur in der Bernelnung des in den Dffenbarungsurkunden
Begebenen wohlgefallen hatte, fo trat von jet an der Geiſt
der Pofitioität wieder in feine‘ echte ein.
So war denn jetzt wieder ber Boden gewonnen, it
welchem wurzelnd der chriſtliche Sinn die erforderliche Rabs
zung finden konnte, um zu fhöner Bluͤthe und Frucht zu
gedeihen. Wenn aber Meyer bei feinen theologifchen Befter
dungen zunaͤchſt nur die bibliſche Wahrheit ald foldhe ins
Auge gefaßt. hatte, fo machte fi nun alsbald der Geif der
Pofitisität in noch entfchiebenerer Welfe geltend. Mau
wollte nicht mehr bloß auf der Bibel ruhen, fondern man
wendete fidy mit aller Neigung noch einem andern von den
Vätern ererbten Schage zu, welcher in der rationatififgen
Periode beinahe mit Verachtung bei Seite gelegt worden
war, bem befondern kirchlichen Bekenntniß.
Sofern die befondere Gemeinde einer ſolchen Bafı
nothwendig bedarf, fofern in deren Bekenntniß die Haupt⸗
momente der biblifhen Wahrheit in feſten umb beflimmten
Formen ausgeprägt find und letztere eben hiermit gegen
verwerflihe Umbeutungen gefichert erfiheint, muß dieſe
ſtrengere Poſitivitaͤt als völlig berechtigt bezeichnet werden,
Wie aber, wenn uͤber dem flarren Feflpalten am Buchſta⸗
ben bed befondern Belenntniffes die tiefere Erforfchung des
Wortes der Offenbarung Eintrag erleiden follte? Wie, warn
man in übertriebener Sorge für die Bewahrung des Sys⸗
bol& die freubige Fortentwidelung ber chrifllichen Willen
febaft hemmen und eben hiermit die Theologie in eine Abs
liche Exftorbenheit verfinten laffen wollte, als durch weidhe
fie bereitö früher dermaßen verunftaltet worden, ba ber
auch ihre Wahrheit verwerfende Rationaliemus kaum and
bleiben konnte? Wie, wenn man über dem Streben, dit
Reinheit bed Glaubens zu bewahren, die Liebe, welche der
Blätter für. höhere Wahrheit, 756
Avpoſtel für dab Höhere, für das Hoͤchte erklaͤrt, amfgeben
wollte und, ſtatt in Liebe und in Glauben auf Einigung
der chriſtlichen Kirche binzuarbeiten, vielmehr Zertrennung
beabſichtigte und zu Erreichung dieſes beklagenswerthen Zies
les den Fanatismus der Unkundigen zu erregen gebächte?
Es laͤßt fi nicht leugnen, baß eine ſolche Gefahr
gegenwärtig wenigftens droht; und fo kann man fich denn
gewiß nur darüber freuen, daß eben jetzt durch eine Aus
wahl aus den „Blättern für höhere Wahrheit” die Aufs
merkſamkeit auf den edlen Mann bingelenkt wird, welder
ſich um die Wiederbelebung des echten Geiſtes der Pofie
tivität fo große, ausgezeichnete Werdienfte erworben hat,
Mögen denn die vor und liegenden zwei Bände eine recht
freundliche Aufnahme: finden, daß ihnen des bedingungsweiſe
werfprochene dritte Band in Kurzem folgen könne; mögen
fie ferner Veranlaffung werden, daß man die meyer'ſchen
Schriften überhaupt noch forgfältiger ausbeute, als bisher
geſchehen, die vielen noch in ihnen verborgen liegenden
Goldkoͤrner mit gebührendem Eifer and Licht ziehe; mögen
fie endlich dazu dienen, jener ſtillen und ruhigen, zugleich
aber auch fo weit greifenden theologifchen Forſchung, wie
Meyer fie übte, und die für unfere Zeit zum unabweisbas
ren Bebürfnig geworden ift, mehr und mehr Bahn zu
brechen !
Diefe Art der Forfhung, welde au das von bem
Bibelwort ald ſolchem ferner Liegende liebevoll ind Auge
faßt und mit erfierem zu Einer Totalanſchauung zu vereis
nigen bemüht ift, fie allein vermag der Wiffenfhaft des
Heils jene Fülle und Kraft zu verleihen, wodurch fie gegen
die Einwürfe des dermalen in fo furdtbarer Gewalt hervors
tretenden Unglaubens hinreichend gefihert erſcheint. Nur
auf diefem Wege, nicht aber durch ſchnoͤde Verachtung und
Berwerfung der anders Dentenden — als woburd nur Ers
bitterung und Werhärtung bewirkt wird, — koͤnnen auch bie
confeffionelen Gegenfäge allmaͤhlich zut Auföfung und Auss
Tpeol- Stud, Jahrg. 1853, B
756 von Meyer, Blätter für höhere Wahrheit.
gleichung gebracht und biermit ber Bau der Kirche des
‚Herren wirklich und weſentlich gefördert werben,
Die einundvierzig längeren und fürzeren Auffäge, welche
die vor und liegende Auswahl barbietet, find fehr mannich⸗
foltigen Inhaltes, doch befindet fi unter denfelben Fein auf
den Magnetismus fich beziehender; auch wurde von rein
Erbaulichem und Lyriſchem nur Weniges mitgetheilt; man
her ſehr wichtige Artikel mußte wegen der zunächft für noth:
wenbig erachteten Beſchraͤnkung weggelaffen werben. ine
fehr dankenswerthe Zugabe bildet bie biograpbifche Einleitung,
welche ſich vorzüglih bie Entwidelung des Innern Lebens
unfered Meyer zur Aufgabe gemacht hat, und zu welder
die in ben Schriften bed ſel. Mannes felbft gegebenen An:
beutungen mit großem Fleiße benutzt worden find.
D. Julius Hambergen,
Theologiſche
Studien und Kritiken.
Eine Zeitſchrift
für .
das gefammte Gebiet der Theologie,
in Verbindung mit j
D. Gieſeler, D. Lüde und D. Ritzſch,
berausgegeben
von "
D. €. ullmann und D. F. W. €. Umbreit,
Profeſſoren an ber Univerfität zu Oeldelberg.
Jahrgang · 1858 viertes Heft.
Hamburg,
bei Briedrih Perthes.
1858
Abhandlungen.
Tpeol. Stud. Jahrg. 1858. 61
1.
Ueber Hippolytus, die erſten Monarchianer und bie
roͤmiſche Kirche in der erften Hälfte des dritten
Jahrhunderts.
Bon
D. 2. € 8, Gieſeler.
Die unter dem Titel: Origenis philosophumena sive
omnium haeresium refutatio. E cod. Parisino nunc
primum edidit Emm. Miller, Oxonii 1851. 8., herausge-
gebene Schrift iſt unftreitig der bedeutendfte Zund ber letz⸗
ten Jahre für Gefchichte der Philofophie und alte Kirchen⸗
geſchichte. Und da fie in ihrem Inhalte fowohl als in der
fragmentariſchen und verberbten Geftalt, in welcher fie auf
uns gekommen ift, fo viele Schwierigkeiten barbietet, fo kann
es nicht body genug angefchlagen werden, daß fie von dem
Herrn Geheimenrathe Bunfen aldbald eine Erlaͤuterungs⸗
ſchrift =) erhalten hat, welche fi eben fo fehr durch bie
vielfeitigfte und xeichſte Gelehrfamkeit, als durch Scharffinn
und philologifche und biftorifhe Divination auszeichnet. Es
iſt fehr natürlich, wenn Viele vor einem neu aufgebedten
Werke des Altertbumd, welches fo viele Dunkelheiten und
a) Hippolytus und feine Zeit. Anfänge und Ausfihten des Chris
ſtenthums und der Menſchheit, von Chr. G. I. Bunfen, Docs
tor der Philof. u. der Rechte. Erſter Band, die Kriti, Leipzig
185% (aus dem Engsliſchen überfegt von dem ‚Hrn. Lic. Raub).
sı*
760 Giefeler
Kaͤthſel darbietet, anfangs ſchweigend flilfehen, zwar ben
von Schwierigkeiten freien Inhalt nugen, aber doch nicht gern
das erfte Wort Über bie zahlreichen dunkeln Stellen und
neuen Angaben beffelben ausſprechen mögen. Aber eben
deßhalb ift es hoch verbienftlich von einem Manne, der als
Gelehrter wie als Staatsmann fo body fleht, allen dem vor-
liegenden philologiſchen und hiſtoriſchen Schwierigkeiten kuͤhn
und breift entgegenzufreten, und den Weg zur ‚Heilung der
Berberbnifle und zur Erhellung der Dunkelheiten zu vers
ſuchen. Denn bamit ift bie fo nothwendige Discuffion über
alle die zahlreichen dunkeln und ſchwierigen Puncte eröffnet,
welche allein zu einer vielfeitigen Erwägung berfelben und
endlich zu dem richtigften Urteile, welches und möglich if,
führen Bann.
Des Herrn Geh.⸗Raths Bunfen Schrift hat noch eine
andere große Bedeutung durch ihre freifinnigen Aeußerungen
über die Entroidelung ber Theologie überhaupt und bie
gegenwärtigen Zuſtaͤnde berfelben in Deutfhland und Eng,
land, und es ift zu wuͤnſchen, daß diefelben jegt, wo eine
am Ende kleine Partei, welche ſich aber des großen Worts
bemaͤchtigt hat, uns wieder in das 17. Jahrhundert zurüd:
zuführen droht, allgemeine Beherzigung finden möge, Ins
deffen ich beſchraͤnke mich bier darauf, in die biſtoriſch-kri⸗
tiſche Discuffion über die nen aufgefundene Schrift einzu:
treten, und auch da nur über bie Zeit der Abfaffung ber
Schrift und die perſoͤnlichen Werhättniffe des Verfaſſers,
wie über die Buftände ber roͤmiſchen Kirche in ber Zeit defr
felben und die erften Monarchlaner meine abweichende Ans
fit vorzutragen.
Darin ftimme ich mit Heren Geh.⸗Rath Bunfen überein,
und zwar durch feine Gründe überzeugt, daß bie vorliegende
Schrift nicht dem Drigened angehört, fondern dem Hipp
lytus, und daß fie deffen von den Alten öfter erwähnter zurd
zasüv algsoson Eieyyog iſt. Ebenfo darin, daß berfelbe
Hippolytus auch Werfafler der beiden Schriften: 6 mıneds
über Hippolytus, bie erſten Monarchianer zc. 761
Außdgvdos und zegl is Tod wavsög alrlag ift, und daß
diefelben in bdiefer Drbnung ber Beit nach bem Elenchus
vorangegangen find, Dagegen kann ich mich nicht mit Bun⸗
fen’& Anſicht befreunden, daß biefer Elenchus gleich nach dem
Tode des roͤmiſchen Biſchofs Calliſtus, im erften Yabre des
Kaiſers Alexander Severus (222 n, Chr.), von Hippolytus
dem Presbyter der roͤmiſchen Kirche, und zwar von ihm als
bereits altem Manne, geſchrieben feyn ſoll (S. 155.), daB
aber ber Verfaſſer auch nachher unverändert in ber Gemein ⸗
ſchaft der roͤmiſchen Kirche und Presbyter geblieben ſeyn
und unter Mariminus Thrarx (236-238) den Märtyrertob
erlitten haben fol (S. 157.)..
Allerdings laͤßt fich die Auffaffung von dem Leben des
Hippolytus, welche ich früher (CKirchengeſchichte, Bd. 1. Abth. 1;
4. Aufl. $. 65. Anm, 9.) vorzüglich nad) Prudentius und
den älteren Martyrologien verfucht habe, jegt nach bem Er⸗
feinen des Elenchus nicht mehr halten, Hippolytus, das
ergibt fi) aus demfelben deutlih, Fam nicht erſt während
der novatianifchen Streitigkeiten nach Rom, fondern war
viele Jahre vor denfelben fchon Presbyter ber römifchen
Gemeinde.
Aber das ift undenkbar, daß berfelbe, der fon unter
den Biſchoͤfen Zephyrinus und Calliſtus Presbpter war und,
wenn aud) im Preöbytercollegium zur Oppofition gebörig, doch
mit beiden Biſchoͤfen in Kirchengemeinſchaft ſtand, ſogleich
nach dem Tode des Calliſtus eine ſo ſchmachvolle Schilde⸗
rung von deſſen Charakter und Sitten habe veroͤffentlichen
und nicht. viel weniger nachtheilig von deſſen Vorgaͤnger
Bephorinus habe reden Fönnen, wie wir beides in biefem
Elenchus leſen. Abgefehen von der Unwuͤrdigkeit und med:
loſigkeit eines folden Verfahrens, gegen bie nicht lange vor«
ber abgefchiedenen Biſchoͤfe ſolche Beſchuldigungen auszu⸗
ſprechen, ſo konnte Hippolytus dergleichen nicht ſchreiben,
ohne ſich von der Gemeinſchaft mit dem Calliſtus und den⸗
jenigen, welche denſelben als Maͤrtyrer ehrten, getrennt zu
762 Gieſeler
baben. Dan erwaͤge beſonders, daß er ſtets bie Lehre des |
Noẽtus, wie die des Calliſtus ald algsoıs bezeichnet: mußten |
ſich, als er ſich fo ausbrüdte, nicht bereits von aller Ge:
meinſchaft mit jener Partei losgemacht haben? Diefe Zrens
nung fand aber erft weit fpäter ſtatt; Hippolytus gehörte nad
Prubentius (zsgl orepdvav, hymn. X 1.) zu den Rovatianern,
deren Schisma 251 beginnt. Erſt nach diefem Jahre kann
der Elenchus gefchrieben ſeyn; durch diefe Annahme allein
wird der Gharakter des neunten Buches erflärlih. Denn
unter Zephyrinus und Calliſtus fah Hippolytus die Keime
der verberblihen Unordnungen fich entwideln, welche ihn und
feine Partei fpäter nöthigten, Jich, von der Kirche zu trennen,
und daß ift es, was er in diefem Theile feiner Schrift deuts
lich machen will,
Daß aber, als er ſchrieb, ſchon eine bedeutende Zeit
nach Calliſtus vergangen war, das beutet er felbft S. W.
in den Worten an: Toveov zöv Blov doxei juiv dyazı-
\ zöv ixbiobai, Inel work zöv abrdv zg6vov „iv Eyapdven
Wenn er hier feine Erzählung Über Calliſtus damit begrüns
det, daß er Zeitgenoffe deſſelben gewefen fey, fo kann er
nur geraume Zeit nach dem Tode deffelben gefchrieben haben.
Wenn er fi) aber als Zeitgenoffe deſſelben bezeichnet, fo
wird er vorzugsweiſe die Beit, auf welde es hier am meis
ſten antömmt, die Zeit der kirchlichen Wirkſamkeit des Cal⸗
liſtus im Auge haben, wo er ſelbſt bereits Presbyter war.
Denn Altersgenoſſe des Calliſtus braucht er deßhalb nicht
geweſen zu ſeyn, und wenn er damit beginnt, das ſoge⸗
nannte Martyrthum des Calliſtus zu erzählen ), welches
=) Auch Über dieſes Martyrthum bin id mit Herrn Geh.⸗Rath
Bunſen, welcher daſſelbe von dem Märtprertode des Coalliſtu
unterſcheiden wid (S. 101.), nicht einig. Tatliſtus genoß den
Ruhm eines Martyrers, weil er, wie wir aus bes ‚Hippolptus
Gryäplung fehen, feines chriſtlichen Bekenntniffes wegen in den
ferbinifchen Bergwerken einige Zeit zugebracht haben ſollte.
Dee Unterfchieb zwiſchen Gonfefforen und Märtyrern wurde nicht
To ſtreng feſtgehalten, daß nicht auch Gonfefforen mit dem Eh
über Hippolytus, die erflen Monarchianer x. 763
ſchon in das Jahr 192 n, Chr. faͤllt, fo braucht er daffelbe
nicht als Mann erlebt zu haben, es reicht hin, daß er über
daffelbe fpäter von zuverläffigen Zeugen unterrichtet war.
Daß ferner Hippolytus im erflen Jahre ded Kaiſers
Alexander Severus ſchon ein alter Mann gewefen fey, dafür
iſt bloß die Annahme geltend gemacht, daß er bereits zur
Zeit des fogenannten Martyrthums des Calliſtus im männs
lichen Alter geftanden habe, worüber foeben gefprochen ift,
und die Angabe des Photius (God. 121.), daß Hippolytus
ein Schüler des Icendus gewefen fey. Auf diefe Angabe
iſt indeffen wohl nicht zu geben, da von dem Hippolytus
ſelbſt früheren Kirchenlehrern, auch einem Eufebius und
Hieronymus, nichts befannt war, und Photius alfo jene
Angabe nicht einem Altern Zeugniffe entnommen haben kann.
Da Photius über den Hippolytus eben gar Feine Nachricht
vorfand, fo fheint er, um einigermaßen die Verhaͤltniſſe
deffelben zu bezeichnen, durch jene Angabe bad Abhängig«
zennamen Märtyrer bezeichnet worden wären. Hippolytus ers
zählt nun aber hier (S. 285.), wie es fi eigentlich mit biefem
Dartyrthum verhalten habe. Galliftus habe nämlich eines gro»
ben Betruge wegen ald Verbrecher eine ſchwere Strafe zu
fürchten gehabt. Da habe er ben Schein eines Gpriften ange
nommen, ohne es zu fern, und ben Gottesbienft in einer jüdis
ſchen Synagoge geftört, und fey deßhalb auf die Klage ber Ju⸗
den von dem Präfecten Fuscianus zur Geifelung und zu den
ſardiniſchen Bergwerken verurtheilt, in welchen ſich damals
viele Chriſten des Chriſtenthums wegen befunden hätten. Als
nun Marcia, die Goncubine des Commodus, durch ihre Fürs
ſprache jene Bekenner befreit habe, fo fey auch Galliftus irr⸗
thümlich feei geworben, ungeachtet er auf dem Verzeichniſſe des
Biſchofs Victor nicht geftanden habe, und habe ſich fo fpäter
andy den Schein eines Gonfeffors gegeben. Es erhellt daraus,
daß von bem Martyrtobe bes Calliſtus zur Zeit, als Hippolytus
ſchrieb, in Rom noch nicht die Rede war; benn fonft hätte ber
legtere durch dieſe Erzaͤhlung das vorgeblihe Rartyrthum deſ⸗
ſeiben nicht enthuͤllen wollen koͤnnen. Erſt fpäter deutete man
den Callistas martyr, als welcher er in ben Diptychen aufgeührt
war, auf einen Martyrertod.
764 Giefeler
keitsverhaͤltniß ber Schrift des Hippolytus von ber bed Ite⸗
ndus ausgedruckt zu haben, welches ja von bemfelben felbft
auch ausgeſprochen worben iſt.
Die Verſicherung endlich (S. 157.), es ſey eine voͤllig
bezeugte Thatſache, daß Hippolyt unter Maximinus (36-
238) den Maͤrtyrertod erlitten habe, ſett mich in Werlegens
beit, weil ich auch nicht das geringſte Zeugniß dafür finde.
In den mitgetheilten Abfchnitten der Papſtkataloge heißt es
nur, daß der Biſchof Pontianus und der Preöbyter Hippo,
lytus unter Alerander Severus nach Sardinien verwieſen
feyen, und daß Pontianud dort geftorben fey, Das Mar-
tyrologium Romanum zum 13, Auguft fegt den Märtye
rertod des Hippolytus unter den Kaifer Valerianus (%8),
und wir werben fehen, daß biefe Angabe zu bem übrigen
BVerhältniffen fehr wohl paßt.
No ein Umſtand muß dafür geltend gemacht werben,
daß Hippolytus feinen Elenchus längere Zeit nach dem Tode
des Calliſtus (222) gefchrieben hat. Während er bei allen
anderen Gertenhäuptern einige Notizen über ihre Herkunft
und ihr Zeitalter gibt, führt er den Sabelius (S.285.289)
ohne alle Angaben über feine perſoͤnlichen Verhaͤttniſſe ein.
Das konnte er nur, wenn Sabellius damals, ald er fehrieb,
ein allgemein genannter und befannter Mann war; das war
berfelbe aber noch nicht 222, wo noch Kleomenes an der
Spige der Partei ftand, fondern wurde es erſt fpäter, ſeit
30, als ee in Ptolemaid als Gectenhaupt auftrat und
von da aus durch feine Lehre den ganzen Drient in Bewe⸗
gung brachte,
Ich will jegt verfuchen, die hiſtoriſchen Verhaͤltniſſe in
der römifchen Gemeinde von Victor an, welche durch bie
vorliegende Schrift eine fo bedeutende Aufklärung erhalten
haben, nach meiner Auffaſſung darzuſtellen, und damit auch
bie Stellung des Hippolytus, wie fie ſich mir zu ergeben
ſcheint, zu erläutern,
über Hippolytus, bie erften Monarchianer ꝛc. 765
Die Zwiſtigkeiten in ber roͤmiſchen Fire, welche bei
der Wahl des Cornelius endlich zu offener Spaltung, ber
novatianiſchen, führten, hatten ſchon lange vorher ihren An?
fang genomnten. Sie begannen mit der Bekämpfung des
Montanismus in Rom durch den Biſchof Victor (185—197),
Nachdem dieſe ftrenge Richtung in Rom, wie in Africa viele
Freunde gewonnen hatte, ald Victor ſchon im Begriff war,
die Kirchengemeinſchaft mit den Montaniften in Aflen und
Phrygien wieder herzuftellen, wurde die Stimmung in Rom
durch den Praxeas, welcher bie abgeneigten Urtheile ber
afiatifchen Antimontaniften dorthin bradyte und als Gonfeffor
ein großes Gewicht hatte, bedeutend geändert, und naments
lich Victor von jenem Vorſatze wieder abgebraht. Da trat
der heftige Tertullian als Beſtreiter des Praxeas auf, und
bekaͤmpfte ihn theils als den Gegner des Montanismus,
theils auch, um deſto tiefern Eindruck zu machen, als Häres
tiker wegen feiner Lehre von Chriſto (adv. Praxean c. 1:
duo negotia diaboli Praxeas Romae procuravit: pro-
phetiam expulit et haeresin intulit, paracletum fuga-
vit et patrem crucifixit).
Die Kirche hielt damals nur an den allgemeinen Sägen
feſt, daß der Logos in Chrifto Fleifh geworden, dag Gott
in Chrifto gewefen fey und die Welt mit fi verföhnt habe,
und daß die ganze Wirkſamkeit Chrifli eine göttliche gewe⸗
fen fey. Die näheren Eroͤrterungen uͤber dad Göttliche in
Chriſto, und wie es ſich zu dem Water verhalte, ließ fie frei,
und fo Eonnten Juſtinus und Theophilus fi den Logos als
einen Untergoft, zur Wirkſamkeit im Endlichen aus dem
Vater auögefloffen, denken, während Athenagoras benfels
ben als den von dem verborgenen Gotte perſoͤnlich nicht vers
ſchiedenen offenbaren Gott auffaßte. Die Montaniften, zur
finnlihen Auffafjung der göttlihen Dinge geneigt, fehloffen
fi der erſten Anſicht, die Antimontaniften dagegen ber
zweiten an; befanntlich gingen einige der legtftn fogar fo
766 Giefeler
weit, die ganze Logosidee und bie Quelle derfelben, bad
Evangelium Johannis, zu verwerfen.
Auch Prareas ſchloß ſich der unter den Antimontaniften
gewöhnlichen Anficht an, daß, da nur ein Bott fey, iy Chaiſto
tein anderer Gott gewohnt haben koͤnne, als eben jener eine,
der Vater, Zertulian ſtellte berfelben bie emanatiftifche
Auffaffung in ihrer gröbften, anſtoͤßigſten Geftalt entgegen,
Danach war auch Bott ein Körper, der in fi) den Sohn
— ebenfalls ein koͤrperliches Weſen — gefchaffen und ges
zeugt hatte. So war ber Sohn ein Theil des ganzen göft:
lichen Weſens, in der Zeit von demfelben hervorgebracht, fo
daß eine Zeit war, wo Gott noch nicht Water war. Diefe
in der That heidniſche Lehre — denn der Sohn ging nad
derfelben ebenfo aus Gott hervor, wie Minerva aus dem
Haupte des Jupiter, und war ein in der Zeit entflandener
Untergott — mußte in Rom eben fo großen Anftoß erregen,
als man bereitd dem ſchwaͤrmeriſchen und finftern Monte
nismus abgeneigt geworben war. So wurde ed bem al
Confeffor hochgeehrten Proreas leicht, über die gegen ihn
gerichteten Anſchuldigungen der montaniftifchen Partei den
Biſchof und dad Preöbyterium in Rom zu beruhigen (Ter-
tull. adv. Praxean c. 1: Denique caverat pristinum
doctor de emendatione sua; et manet chirographum
apud Psychicos, apud quos tunc gesta res est; exinde
silentium), Durch diefen Worgang kam aber die Frage
über das Göttliche in Chrifto aud in Rom in Bewegung,
und es trat Theo dotus ber Gerber mit der Lehre ber:
vor, daß diefes Göttliche bloß eine goͤttliche Kraft geweſen
fey, welche auf den Menfchen Jeſus ſich bei der Taufe herab»
gefenft und ihn von da an geleitet habe =), Sonach war
a) Hippolytus gibt biefe Lehre in bem uns erhaltenen Fragmente
bes Fleinen Labyrinths (Gufeb. 5, 28.) kurk bahin an, Yılör
nögmmov yandodaı Agıoröv. Ausfüprliher in dem Elendus
©. 258: adv ale 'Inaodv elvaı ärdgamor dx mugdivon yıre-
snnivor nard flovinv zoo Ilargös, Puisavın Eh wowds
über Hippolytus, bie erfien Monarchianer zc. 767
Jeſus eine menfchliche Perfon und unterfchieb fi nur das
durch von ben Propheten, daß die göttliche Kraft, welche
fi auf diefe nur von Zeit zu Zeit gefentt hatte, in ihm
ununterbrochen wohnte. &o lange bie Lehre unentwidelt
geblieben war, mochten Manche diefelbe in dieſer Weife aufs
gefaßt haben; fo bald diefe Entwidelung aber mit dem Ans
ſpruche auf allgemeine Annahme hervortrat, fo ſchien fie der
Mehrzahl die Würde Chriſti zu verlegen, und Theodotus
murde mit feinem Anhange aus ber Kirche ausgefchloffen,
Die fpdtern Theodotianer fagten nun barüber nach der Ans
gabe des Pleinen Labyrinths (Eufeb. 5, 28.), alle Früheren
und auch die Apoftel hätten ihre Lehre feftgehalten, und die
Wahrheit fey bis auf die Zeiten des Victor bewahrt wors
den, erſt feit dem Zephyrinus, dem Nachfolger bes Victor,
fey die Wahrheit verkehrt worden. Wenn wir hier die Eins
feitigkeit und Uebertreibung der Parteidarftellung befeitigen,
fo behalten wir die volllommen wahre Angabe, daß bis
auf Victor die Kirche fi) mit allgemeinen Beftimmungen
begnügt habe, mit welchen die Anſicht der Theobotianer fo
gut beftehen konnte, wie die andere, daß aber feit Zephyri⸗
nus engere Formeln üblich geworden wären, welche ſich mit
der Lehre derfelben in entfchiedenen Widerſpruch gefegt häts
ten. Es bleibt nun noch die Berfchiedenheit, dag die Theo»
wäcın dvdgamos ul evoeßloraron yeyovösa, Haregor dal
zoö Pawrlanarog iu] 15 "logäden zezugmabras zos Aguordv
Avaßır nureiniudäru dv aldıs megioregäg, Sder 03 zgors-
gar rag —VT. u eis ermgrmelvas, # N dore xarıldör
dradılzön de aus zö zveine, 8 el vor Koierön ago0-
ayogeisı. edv ö} ovdfzors rodros yeyarivas aurör Bilov-
iv in} v5 nußdög zoö merinarog, Frrgos BR park sie dw
vongav ardorasın. Hier ſcheint eine Werfciedenpeit der Ans
gaben fattzufinden. Rad dem kleinen Labyrinthe nannten bie
Theodotianer die Perfon Chriftum, nah dem Elenchus war
Ehriſtus der Geiſt, welcher auf die Perfon Jeſus herablam.
Indeſſen werben fie doch auch die Perfon, nachdem der Beift auf
fie gelommen war, Gpriftum — den Gefalsten — genannt haben,
768 Gieſeler
dotianer dieſe Veraͤnderung unter Zephyrinus ſetzen, Hippo⸗
lytus in dem Labyrinthe dagegen bemerkt, daß Theodotus
ſchon unter Victor excommunicirt worden ſey. Auf eine
ſichere Entſcheidung über dieſe verſchiedenen Angaben muͤſſen
wir wohl verzichten; vielleicht begannen bie Maßregeln
gegen Theobotus in dem legten Jahre des Victor, aber erf
unter Zephyrinus trat die Lehre, daß Chriftus eine göttliche
Derfon fey, den Theodotianern ſtark und beffimmt entgegen.
So war alfo in der roͤmiſchen Kirche Chriftus als gött-
liche Perfon entfhieden anerkannt; nun aber begann unter
Zephyrinus die neue Differenz innerhalb dieſer Lehre leben
diger erörtert zu werden, ob jene göttliche Perfon ber Bater
felbft, oder von demfelben verſchieden fey, ob alfo der Vater
in Ehrifto Menſch geworden fey, ober ein von bemfelben ge
zeugter göttliher Sohn.
Die Lehre von einer göttlichen Zeugung feheint, wie dem
Praxeas, fo allen entfchiedenen Antimontaniften, welde
durch biefelbe finnliche Begriffe auf die Gottheit uͤbertra⸗
gen zu fehen meinten, ebenfo wiberflanden zu haben, wie
die ſinnliche montaniftifhe Ausbildung der Lehre überhaupt
und bie übertriebene dußerliche Zucht ber Montaniften. So
werden wir nicht irren, wenn wir in ber Partei, welche jet
aus allen Kräften bie Lehre vertheidigte, daß ber Water in
Chriſto Menſch geworden fey, die Antimontaniften wieder
erkennen; und fo erflärt es ſich auch, wie jene Partei fih
zugleich duch auffallend laxe Grundfäge über kirchliche Dis
ciplin charakteriſirte. Es war. dieß ebenfalld ber Gegenfas
zu dem Montanismus, deffen Disciplin leicht ald zu dußer
lich und dem Geiſte des Chriſtenthums widerſprechend nach:
gewiefen werden Eonnte; aber dieſer Gegenfa& führte, wie
oft, auch hier zu einem andern Aeußerſten.
Kieinafien war die Mutter wie bed Bontanismus, fo
auch des Außerfien Antimontanismus, Es war Epigonud,
ber Schüler des Smyrnaͤers Noetus, welcher nach Rom
kam und dort zuerſt jene Lehre, daß der Water in Chriſto
über Hippolytus, die erfien Monarchianer ıc. 769
Menſch geworden fey, verbreitete. Er gewann.ben Kleomes
ned; biefer trat noch offener mit jener Lehre hervor und
fand großen Anhang, inöbefondere ſchloß fich ihm Sabellius
an (Hippolyti elenchus p. 279 sqq.).
Daß dieß unter dem Epiffopate des Bephyrinus (202
—219) geſchehen ſey, fagt Hippolytus ausdrüdiih, man
wird aber-genöthigt, ed In die legten Jahre des Zephyrinus
zu fegen. Denn wenn Noetus nad) Angabe des Epipha-
nius noch im I. 245 lebte, fo wird einer feiner Schüler
doch wohl nicht vor dem Jahre 215 in Rom thätig gewe⸗
fen feyn. Inöbefondere aber ift ed nicht denkbar, daß Sabels
Uns, welcher 30 noch als ruͤſtiges Parteihaupt in Ptolemais
auftritt, früher als 215 in Rom als Lehrer diefer Partei fo
bervorragte, wie er nach dieſer Erzählung hervorgeragt
baben muß.
Diefen Antimontaniften und Monardjianern gegenüber
wurden die montaniſtiſch Gefinnten in Rom wohl immer
unbebeutender. Dagegen trat ihnen eine andere Partei ents
gegen, welche die antimontaniftifchen, wie die montaniſtiſchen
Auswüchfe in gleicher Weile verwarf, aber Weranlaffung
fand, vorzugöweife die erſteren zu befämpfen, und weiche
ihnen gegenüber insbefondere die göttliche Perfon Chriſti
als von dem Water verfchieden betrachtet unb bie alte
Kirchendisciplin feflgehalten wiffen wollte. Diefe Partei
batte in dem Presbyterium ihre Vertreter (die Jueis im Elen⸗
chus), und zu denfelben gehörte auch Hippolytus. Zu feiner
ſchriftſtelleriſchen Thaͤtigkeit gegen die Antimontaniften gehoͤ⸗
ten namentlich die Schriften: AroAoyla oado Tod xurk
Todvrum ebayyıllov xal daoxeitpsng und zegl Zagıspd-
av daosrolxi; zapddooıs, ba bekanntlich die entſchieden⸗
ſten Antimontaniften die Echtheit jener biblifhen Bücher,
wie die Fortdauer ber Charismen leugneten.
Vor Allen fand dem Hippolytus und feiner Partei .
Calliſtus entgegen, welcher ſchon ald Presbyter unter Zephy⸗
rinus die Monarchianer begünfligte und durch feinen Eins
770 Gieſeler
fluß auf dieſen Biſchof die Partei derſelben hob, alsdann
aber, als Nachfolger des Zephyrinus, noch entſchiedener der⸗
felben den Sieg zu verſchaffen ſuchte. Die antimontaniſtiſche
Richtung deſſelben läßt fich befonders aus feinen laren Grund:
fägen über Kirchenzucht erkennen (Hippolytus p. 9:
zgörog t mgös rag yoväg voig dußgezog Buyzgugtir
dxsvönoe, Alyav zädw Ir’ adrod dplscduu dpaprlas).
Wenn Hippolytus dem Calliſtus Schuld gibt, daß a
durch jene Lockerung der Kirchenzucht und Nachſicht gegen
fittliche Mängel feine Partei habe vergrößern wollen, fo darf
man nicht vergeffen, daß jener als novatianifcher Parteis
fchriftfleller den Calliſtus ald den Urheber der Verderbniß
betrachtet, welche in die roͤmiſche Kirche eingedrungen ſey
und feine Partei endlich) zur Trennung von bderfelben ge
nöthigt habe, Ueberhaupt darf man, wenn auch bie That:
ſachen, welche Hippolytus angibt, richtig find, wohl anneh⸗
men, daß er diefelben in der für Calliſtus nachtheiligften Form
erzählt. Wollte man feine Schilderung buchſtaͤblich nehmen,
fo müßte man ſich die römifche Kirche in einem fittlichen Ber
falle denken, wie er im dritten Jahrhunderte kaum ange
nommen werden Bann, Wenn Galliftus Allen Suͤndenver⸗
gebung verhieß, fo that er dieß im Gegenfage zu der mon
taniſtiſchen Strenge, welche manchen Sündern Kirchenbuße |
und Wiederaufnahme in die Kirche ganz verfagte, Im die
fem Sinne mochte er auch die Worte Pauli und Chriſti oft
gebrauchen: „Wer bift Du, daß bu einen freiden Knecht
vichteft ?” und: „Laflet das Unkraut mit dem Waizen mad:
fen”, und mochte ſich auf die Arche Noah, das Worbifd ber
Kirche, berufen, in welcher unreine und reine Xhiere zufam-
men waren, Aber allerdings mochte er nun in der Aufle
gung von Pönitenzen zu milde und in der Wiederaufnahme
der Sünder zu wilfährig ſeyn; gewiß wich er darin von
der alten Kirchenzucht ab, daß er Solche, bie in der zweiten
ober dritten Ehe lebten, in den Klerus aufnahm und ed ge
Rattete, daß auch Kieriter nach der Weihe noch heiratheten.
über Hippolytus, ‘die erften Monarchianer zc. 771
- Wenn wir annehmen muͤſſen, daß in einer Zeit, wo
das Belenntniß des Chriſtenthums Feine Vortheile, fondern
nur Gefahren brachte, in der Gemeinde wahre innere Ans
haͤnglichkeit an daflelbe die allgemeinere Stimmung geweſen
ſey, fo koͤnnen wir nicht glauben, daß foldye Milderungen
der Zucht, wenn fie nach der Darftelung bes Hippolytus
geradezu zur Beförderung der Zuchtlofigkeit eingetreten wären,
den Beifall der Mehrzahl gewonnen hätten, Ste konnten
nur Eingang finden, wenn dadurch, daß man das Syſtem
einer Üübertriebenen Strenge in feiner Entfernung vom Geifle
bes Chriſtenthums erfannt hatte, die Gemüther dem entges
gengefegten Aeußerfien geneigt gemacht worben waren, Ins
dem jegt dem Montanismus gegenüber geltend gemacht wurde,
daß das Chriſtenthum nicht eine neue aͤußerliche Zucht, nicht
ein zweites Geſetz, fondern ein inneres Lebensprincip fey,
fo konnten viele Chriſten in diefer Loderung der Kirchenzucht
eine Wiederanndperung an den echten Geiſt des Ghriftens
thums erbliden, Und fo iſt es auch. erklaͤrbar, wie trotz
allem Nachtheiligen, was Hippolytus von dem Calliſtus er⸗
zaͤhlt, das Andenken deſſelben in der roͤmiſchen Kirche ſo
hoch gehalten werden konnte.
„Dabei iſt nicht zu überfehen, daß, fo heftig auch ber
Kampf zwilchen beiden Parteien unter Galliftus entbrannte,
es doch nicht zu einem Schisma kam. Beide Theile hatten
ihre Vertreter im Presbyterium; in bemfelben wurbe vielfach
geflritten ; die firenge Partei ſchloß manche Sünder von der
Kirchengemeinſchaft aus, welche die Gegenpartei alsbald wies
der aufnahm, und Calliſtus machte mit Nachdruck fein
biſchoͤfliches Anfehen über dad Preöbyterium geltend (Hips
polvtus S. 290,), aber zu einer Trennung in zwei Kirchen⸗
gemeinfhaften kam es nicht. Calliſtus hatte den biſchoͤflichen
Stuhl nur drei Jahre inne; auch die Kürze biefer Zeit
mochte die Urſache feyn, daß dad ſich allerdings vorbereitende
Schisma noch nicht zum Ausbruche kam.
Hippolytus ſchließt ſeinen Bericht mit dem Calliſtus.
Tpeol. Stud. Jahrs. 1858,
772 Giefeler
Nach demfelben ſcheinen gemäßigtere Männer auf dem rd
miſchen Stuhle gefolgt zu ſeyn, unter benen bie heftigen
Parteilämpfe ſich milderten, ungeachtet die Parteien felbk
nicht verfdwanden. Daß die Monarchianer auch nachher
in Rom fortdauerten, ergibt fich deutlich daraus, daß Hip
polytus (S. 283.) noch rüs aloboecos wgoordrag in bet
Beit, wo er ſchreibt, als vorhanden bezeichnet, und S. Wl.
berichtet, daß bie Schule des Calliſtus noch fortdauere, deren
Anhänger ald Karlorievol (S.292,) bezeichnet werden,
Indeffen lenkte fih die allgemeine Stimmung immer
mehr gegen die Monarchianer zu der Anficht bin, daß bie
göttliche Perfon Chriſti eine von dem Water verſchiedene fen,
und bie monarchianifche Anfiht wurde immer allgemeiner
als Härefiß betrachtet.
Dieb fehen wir aus der Schrift de Novatianus
de trinitate, welche nad) dem Tode des Calliſtus und vor
dem novatianifchen Schisma gefchrieben iſt.
Novatianud gehörte mit Hippolytus zu derſelben Par:
tei und kannte alfo bie Vorgänge unter Zephyrinus und
Calliſtus eben fo gut wie jener. Er beſtreitet auch biefelben
bäretifchen Lehrmeinungen über die Perfon Chriſti, deren Her:
vortreten in Rom Hippolytus erzäplt, nämlich Gap. 11 fi.
die Theodotianer und Cap. 18 ff. die Patripaffianer. Aber
er nennt unter den Häuptern der legtern nur den Sabellius
(Sap. 12,); es fällt ihm nicht ein, Verftorbene, mit denen
er in Kirchengemeinfchaft geflanden hatte, und namentlich
Biſchoͤfe, welche er als ſolche anerkannt hatte, als Haͤretiker
zu brandmarken. Wir fehen daraus, wie gan; anders Hip
polytus hätte ſchreiben müſſen, wenn er, als er ſchrieb, noch
in der Gemeinſchaft der Kirche geweſen waͤre, welche Ze⸗
phyrinus und Calliſtus als ihre früheren Biſchoͤfe ehrte.
Aber die Lehre der Monarchianer, zu welcher ſich auch
Calliſtus betannt Hatte, ſteht Novatianus ſchon nicht an, ent
ſchieden als Haͤreſis zu bezeichnen. Und dieß iſt ein Be⸗
weis dafür, daß in ber Zeit, wo er ſchrieb, das allgemeine
über Hippolytus, die erften Monarchianer ıc. 773
kirchliche Urthelt ſich gegen diefelbe gelenkt hatte, und daß,
wenn aud Anhänger derfelben noch in Rom waren, biefe
doch fi heimlich halten mußten, wenn fie nicht befuͤrch⸗
ten wollten, aus ber Kirchengemeinfchaft auögefchloffen zu
werden.
Bir kommen nun zu bem Ausbruche ber novallanifchen
Streitigkeiten 251. Wir finden bei der Wahl des Cornelius
zwei Parteien einander gegenuͤberſtehend, eine, welche für
firenge Kirchendisciplin iſt, die andere, welche in dieſer Be⸗
ziehung Nachſicht geübt wiffen wild, Wir dürfen biefelben
wohl für Fortfegungen berfelben Parteien, welche zur Zeit
bes Calliſtus einander gegenüberflanden, halten, mur bag
fi die larere Partei feitdem in ihrer Mehrzahl von dem
Monarchianismus frei gemacht hatte, welchen fie damals,
wenigftend zum größten Theile, begte. Die firenge Partei
glaubte, bei dem Cornelius diefelbe Fräfliche Nachſicht wies
derzufinden, welche früher Califtus gezeigt hatte, weigerte
ſich daher, denfelben anzuerkennen, und beeilte fich, alle uͤbri⸗
gen Kircyen von den Gründen ihrer Weigerung in Kennts
niß zu fegen, um diefelben für fi zu gewinnen. Leider
baben wir Feine Entwidelung biefer Gründe von novatias
niſcher Seite; «8 laͤßt fi denken, daß, was ihre Gegner
darüber mittheilen, nur unvolftändig if. Daß aber diefe
Gründe überall tiefen Eindrud machten, daß viele Gemeins
den in ben verfchiebenften Ländern fich für bie Novatianer
erklärten, und daß nur durch die Bemühungen der hervors
zagendften Biſchoͤfe diefer Zeit, bes Eyprianus von Carthago
und des Dionyfius von Alerandrien, der Sieg ihren Geg-
nern verblieb, das ift bekannt,
Ueber die Anftrengungen, welche die Novatianer in
Garthago und in Afrika machten, und über die Gefandts
ſchaſten, welche fie dorthin fenbeten, wiſſen wir Näheres aus
Syprian’s Briefen. Weniges dagegen ift über ihre Bemühun,
gen im Driente befannt, aber bag biefelben nicht minder
bedeutend waren, dürfen wir aus den Erfolgen berfelben
52°
772 Gieſeler
Nach demſelben ſcheinen gemaͤßigtere Männer auf dem td.
mifchen Stuhle gefolgt zu feyn, unter denen bie beftigen
Parteilämpfe ſich milderten, ungeachtet bie Parteien felbf
nicht verſchwanden. Daß die Monarchianer audy nachher
in Rom fortdauerten, ergibt ſich deutlich daraus, daß Hip⸗
polytus (S. 283.) noch rĩs algkosng wgoordras in ber
Beit, wo er fehreibt, als vorhanden bezeichnet, und S. 31,
berichtet, daß die Schule des Galiftus noch fortdauere, deren
Anhänger ald Karlorievol (&.292,) bezeichnet werben,
Indeffen lenkte fi die allgemeine Stimmung immer
mehr gegen bie Monarchianer zu der Anficht hin, daß bie
göttliche Perſon Chriſti eine von dem Water verfchiedene fen,
und die monarchianiſche Anſicht wurde immer allgemeiner
als Haͤreſis betrachtet.
Dieß ſehen wir aus der Schrift des Novat ianus
de trinitate, welche nach dem Tode des Calliſtus und vor
dem novatianiſchen Schisma geſchrieben iſt.
Novatianus gehoͤrte mit Hippolytus zu derſelben ars
tei und kannte alfo die Worgänge unter Zephyrinus und
Calliſtus eben fo gut wie jener. Er beftreitet auch biefelben
bäretifchen Lehrmeinungen über die Perfon Chriſti, deren Her
vortreten in Rom Hippolytus erzählt, naͤmlich Cap. 11 fi.
die Theodotianer und Gap. 18 ff. die Patripaffianer. Aber
er nennt unter ben Haͤuptern der letztern nur den Sabellius
(Cap, 12.; es fällt ihm nit ein, Verftorbene, mit denen
er in Kirchengemeinſchaft geflanden hatte, und namentlid
Biſchoͤfe, welche er als ſolche anerkannt hatte, als Häretike
zu brandmarken, Wir fehen daraus, wie ganz anders ‚Hip
polytus hätte ſchreiben müflen, wenn er, als er fchrieb, noch
in der Gemeinſchaft ber Kirche gewefen wäre, welde Be
phyrinus und Galiftus als ihre früheren Biſchoͤfe edtte.
Aber die Lehre der. Monarchianer, zu welcher ſich auch
Calliſtus bekannt hatte, fleht Novatianus ſchon nicht an, ent
ſchieden ald Härefiß zu bezeichnen. Und dieß if ein Br
weiß ‘dafür, daß in ber Zeit, wo er ſchrieb, daB allgemeine
über Hippolytus, die erften Monarchianer ıc. 773
kirchliche Urtheit ſich gegen diefelbe gelenkt hatte, und daß,
wenn auch Anhänger bderfelben noch in Rom waren, biefe
doch fi) heimlich halten mußten, wenn fie nicht befuͤrch⸗
ten wollten, aus ber Kirdhengemeinfchaft auögefchloffen zu
werden.
Wir fommen nun zu dem Ausbruche der novallanifchen
Streitigkeiten 351. Wir finden bei der Wahl des Cornelius
zwei Parteien einander gegenüberfichend, eine, welche für
firenge Kirchendisciplin ift, die andere, welche in diefer Be⸗
ziehung Nachficht gebt wiffen will. Wir dürfen dieſelben
wohl für Fortfegungen berfelben Parteien, welche zur Zeit
bes Calliſtus einander gegenüberftanden, halten, nur daß
fih die larere Partei feitdem in ihrer Mehrzahl von dem
Monarchianismus frei gemacht hatte, welchen fie damals,
wenigſtens zum größten Theile, begte. Die ſtrenge Partei
glaubte, bei dem Gornelius dieſelbe fräfliche Nachficht wies
derzufinden, welche früher Galiftus gezeigt hatte, weigerte
ſich daher, denfelben anzuerkennen, und beeilte ſich, alle übris
gen Kirchen von den Gründen ihrer Weigerung in Kennts
niß zu fegen, um biefelben für fih zu gewinnen. Leider
haben wir feine Entwidelung dieſer Gründe von novatia⸗
niſcher Seite; es läßt fi denken, daß, was ihre Gegner
darüber mittheilen, nur unvolftändig if. Daß aber biefe
Gründe Überall tiefen Eindrud machten, daß viele Gemeins
den in den verfchiedenften Ländern fich für bie Nobatianer
erklärten, und daß nur durch die Bemühungen der hervors
ragendſten Biſchoͤfe diefer Zeit, des Eyprianus von Garthago
und des Dionyfius von Alerandrien, ber Sieg ihren Geg ⸗
nern verblieb, das iſt bekannt.
Ueber die Anftrengungen, welche die Novatianer in
Garthago und in Afrika machten, und über bie Geſandt⸗
ſchaſten, welche fie dorthin fendeten, wiſſen wir Näheres aus
Syprian’s Briefen. Weniges dagegen ift über ihre Bemühun«
gen im Driente befannt, aber daß biefelben nicht minder
bedeutend waren, bürfen wir aus ben Erfolgen berfelben
52°
774 Gieſeler
ſchließen. Der Biſchof Fabius von Antiochien neigte ſich
ihnen zu (Eufeb, 6, 44.); auf einer Synode in Antiochien
wurbe Alles aufgeboten, um ber Sache bed Novatianıd
Anerfennung zu gewinnen (Eufeb. 6, 46.); alle Kirchen
des Drients und über denfelben hinaus waren deßhalb ges
foalten, und ed war indbefondere des Dionyfius, Biſchoſs
von Alerandrien, Verdienſt, fie wieder vereinigt zu haben
¶ . deſſen Schreiben an ben roͤm. Bifchof Stephanus bei Eufeb.
7,5: Tobr öl vöv, dösipk, du Fvarın zäcmı al’zgd-
zs00v dısoyonsva zard za vhv dvaroihv Exnänoles zul
Ir zg000rigm x. r. A.). Dennoch bildeten ſich dafelbk
novatianifche Gemeinden, welche noch Jahrhunderte hindurch
beftanden ; noch im Anfange des fiebenten Jahrhunderts fa
Eulogius, Biſchof von Alerandrien, fich veranlaßt, gegen die
Novatianer zu fchreiben (Photius, cod. 182.).
So darf man alfo nicht daran zweifeln, daß, fo wie
nach Garthago, fo auch nach dem Driente Abgefanbte ber
MNovatianer gegangen feyn werden, Zu diefen ſcheint aber
vorzüglid) Hippolytus gehört zu haben, welcher durch feine
griechiſche Bildung, feine theologifche Gelehrſamkeit und
durch den Ruf, welchen er ald Schriftfteller fich bereits es
worben hatte, vorzugsweiſe dafür geeignet war,
Eufebius (hist. ecc). 6, 46. in fine) zählt mehrere Schtei⸗
ben auf, welche Dionyfius von Alerandrien in der novatie⸗
niſchen Angelegenheit nad) Rom erlaffen habe. Das erflt
derfelben war eine dxsaroAl dumxovind;, doch wohl eis
Schreiben im Dienfte der Kirche, und zwar des kirchlichen
Friedens, welches er durch den Hippolytus ſendete. Daf
biefer Hippolytus der unfrige ift, Bann nicht wohl bezweifelt
werden, da Eufebius früher (6, 22.) von demſelben ge
ſprochen und außer demfelben Beinen andern erwähnt bat.
Wir dürfen wohl annehmen, daß Hippolytus als Geſandier
der novatianifchen Partei auch nach Alexandrien Fam und
von Dionyfius ein Ermahnungsfcreiben an dieſe Partei er
bielt, von der Spaltung abzuflchen.
4
über ‚Hippolytus, bie erften Monarchianer x. 775
Diefe Wirkfamkeit des Hippolytus im Driente bietet
auch bie angemeffenfte Erflärung für die Angabe des Hie⸗
sonymus, daß Hippolytus in einer feiner Reden andeute,
daß er fie in der Kirche in Gegenwart bed Drigenes gehal⸗
ten habe (Catal. c. 61. zählt unter feinen Schriften auf
z=g000„.A.lav de laude Domini Salvatoris, in qua prae-
sente Origene se loqui in ecclesia significat). Diefe
Rebe kann nicht wohl bei ber früheren Anwefenheit des Oris
genes in Rom gehalten ſeyn. Denn wenn berfelbe auch
damals fhon nicht mehr unberühmt war, fo war er doch
ein Baum breißigiähriger junger Mann =): wie follte ein
roͤmiſcher Presbyter damald dazu gekommen ſeyn, der Ans
wefenbeit beffelben in einer kirchlichen Rede zu gedenken ?
Wenn aber Hippolytus fpäter als Gefandter ber Novatianer
in ben Orient fam, fo mußte ihm vor Allem daran liegen,
den Drigenes für fi) zu gewinnen, welcher damals ald uns
beſtrittenes Haupt aller Theologen und als Confeſſor bie
hoͤchſten Ehren in der Kirche genoß und an den Folgen der
in der deciſchen Verfolgung erlittenen Mißpandlungen Präns
kelnd und leidend in Tyrus lebte. Wenn nun Hippolytus
nad) Tyrus ging und bort als fremder Biſchof aufgefordert
wurde, in ber Kirche zu reden, fo iſt es wohl denkbar, bag
er in einer Lobrede Chrifti des greifen Bekenners beffelben,
des Drigeneß, ehrend gedachte,
Hippolytus bezeichnet ſich in dieſem Elenchus deutlich
als Biſchof b). Da er bei Portus Romanus den Maͤrtyrer⸗
tod litt, ſo darf man wohl annehmen, daß er in einer Rom
benachbarten Stadt Biſchof war, und es iſt wohl moͤglich,
daß er Biſchof von Portus Romanus geweſen iſt. Keines⸗
wegs moͤchte ich aber das Letztere mit der Sicherheit behaup⸗
©) Rebepenning’s Drigenes I, 350. 362.
b) p. 3: Awöoroloı, — ev Tjpsig duddogos ruygdvovres, vis ra
adrig zügızog werkzoverg, dgzusgerelas ra nal Ördaonallas,
nal pgovgol rs Auxinslag Asloyıakdvos zul.
776 Gieſeler
ten, wie es Here Geh.-Rath Bunſen S. 151. thut. Wenn
freilich, wie dort angegeben wird, bereits Petrus von Aleran:
drien, welcher um 311 Märtyrer ward, diefen Umftand ber
zeugt hätte, fo winbe biefes Zeugniß von großem Gewichte
ſeyn. Aber der Brief, in welchem fich daffelbe findet (Chron.
pasch. ed. Bonn. 1, 12.), kann nicht echt ſeyn, da in dem»
felben S. 9. Athanafius ald dad große Licht der Kirche von
Alerandrien erwähnt wird, und er deßhalb jünger als Atha⸗
nafius feyn muß. Wenn Eufebius, welder, mit allen Hülft:
‚mitteln außgerüftet, den dlteren chriſtlichen Schriftftellern fo
fehr nachforfchte, und Hieronymus, welcher längere Zeit in
Rom verweilte und feine befondere Aufmerffamkeit den all⸗
chriſtlichen Ueberreften in diefer Stabt wibmete, wenn biefe
beiden Männer nicht erfahren konnten, wo Hippolytus
Biſchof gewefen fey, und wenn der römifche Biſchof Gela
fius, am Ende des fünften Jahrhunderts, durch die rufiniſche
Ueberfegung von Eufeb. 6, %. fi) verleiten ließ, ihn für
einen Metropoliten von Arabien zu halten: fo muß es im
vierten und fünften Jahrhundert an jeder Nachricht darüber
gefehlt haben, Nun ift es allerdings moͤglich, daB die Ans
gabe, Hippolytuß fey Biſchof von Portus Romanus gewe
fen, fih in einem Goder irgend einer Schrift deffelben er⸗
balten hat, und von Späteren erft entdeckt und benugt if,
aber eben fo möglich ift es auch, daß man fpäter ſich durch
den Umftand allein, daß er bei Portus Romanus ben Zob
gelitten hatte, veranlaffen ließ, ihn für einen Biſchof dies
fer Stadt zu erklären.
Indeſſen Hippolytus war jedenfalls Biſchof einer Stadt
in ber Nähe Roms, aber er war, wie fi aus dem Bor
flehenden ergibt, novatianifcher Biſchof, und. als folder
ſchrieb er diefen Elenchus.
Auch in diefer zunaͤchſt nicht für Parteizwecke abgefaß:
ten Schrift konnte er feine Parteianfichten nicht verleugnen,
Im neunten Buche finden wir dargeſtellt, wie jene laren
Grundſaͤtze über kirchliche Disciplin, welche endlich das
über Hippolytus, die erſten Monarchianer ıc. 777
Schisma herbeigeführt hatten, zuerſt von Calliſtus im engen
Vereine mit dem Monarchianismus gebildet und ausgeſpro⸗
hen waren. Hatte fich auch fpäter ber legtere mehr zuruͤck⸗
stehen müffen, er war in einem Xheile der den Novatianern
entgegenftehenden Partei noch immer vorhanden; der heftige
Antimontanigmus war es fortwährend, welcher den Monar⸗
chianismus und die ſchlaffen Grundfäge über Kirchendisci⸗
plin mit einander verband, Wenn Hippolytus im Driente
den Novatianismus in diefer Weile zugleich ald Oppofition
gegen den Monarchianismus dargeftellt hatte, fo läßt es ſich
erſt erklären, wie jener bort fo großen Anklang finden konnte.
Denn gleichzeitig mit der Entſtehung des novatianifchen
Schisma hatte Sabelius in Ptolemaid für den Monars
chianismus zu wirken angefangen, und ber ganze Orient
war durch ihn aufgeregt, Kein Wunder alfo, daß viele
Genminden, welde fi) durd den Sabellianismus verleht
fühlten, bereit waren, ſich den Novatianern, ben entſchie⸗
denften Bekaͤmpfern deffelben im Dccidente, anzufchließen,
und daß fie mißtrauifch gegen die römifche Partei waren,
welche wenigftens früher mit Sabellius in Verbindung ge⸗
ftanden hatte, und in weldyer immer noch manche heimliche
Freunde beffelben fich befanden.
Hippolytus wurde endlih Märtyrer; denn es Bann
nicht wohl daran gezweifelt werben, daß er ber Hippolytus
ift, deffen Martyrthum Prubdentius zegl orspdvov hymn.
11. erzählt. Als er zum Tode geführt wurde, ba ergriff
ihn, wie Prudentius erzählt, der Gedanke, von ber Einheit
der Fatholifchen Kirche getrennt zu feyn, mit folder Macht,
daß er fich zu derfelben befannte und feine Gemeinde, welche
ihn trauernd umgab, ermahnte, ebenfalls zu jener Einheit
zuruͤckzukehren. So flarb er als katholiſcher Märtyrer, nach
dem Martyrolog. Romanum unter Valerianus im I.
38, Wenn er unter Zephyrinus Preöbyter wurde und um
215 etwa 30 Jahre alt war, fo erreichte er ein Alter von
73 Jahren,
778 Giefeler
Aus diefen Verhaͤltniſſen ergibt ſich aber auch, wie ed
möglih war, daß die Lebensumftände eines fo bedeutenden
Schriftftellers fpäter in ſolche Bergeffenbeit kommen Eonnten,
Die katholiſchen Römer erhielten allerdings das Andens
Een des Presbyters Hippolytus (denn als Biſchof konnte er
von ihnen nicht anerkannt werden), welcher kurz vor ſeinem
Maͤrtyrertode von der novatianiſchen Partei zum katholiſchen
Kirche zuruckgekehrt watr. Im Driente war aber Hippoly:
tus bei feinen Reifen zu Gunften des Novatianismus ald
ein von Rom gelommener Biſchof befannt geworden; vor
feinen fpäteren Schriften hatte er ſich auch felbft Biſchof
genannt, Wenn man nun nad) längerer Zeit fich in Rom
nad dem Biſchofe Hippolytus erfundigte, fo erflärt es ſich
leicht, daß man dort von demfelben nichts wußte, da man
es ohne Zweifel bald vergeflen hatte, daß der ald Märtyrer
hochgeehrte Presbyter Hippolytuß eine Zeit lang novatiani⸗
ſcher Biſchof gewefen war. Und fo gefchah es denn, daß
Eufebius und Hieronymus, welche doch gewiß über den
Biſchof Hippolytus Nachforſchungen angeftelt hatten, nichts
über denfelben erfahren konnten,
Auch auf dad Schidfal der zahlreichen Schriften des
Hippolytus, welche unter andern Umftänden doch gewiß fein
Andenken lebendig erhalten haben würden, hatten jene Ber:
bältniffe Einfluß. In Rom kümmerte man ſich natürlich
um diejenigen, welche er getrennt von ber Kirche gefchrieben
batte, nicht; auch der Elenchus mußte hier mißfallen, da er
fo vieles für die roͤmiſche Kirche Nachtheilige enthielt. Nach
‚und nach aber wurbe auch die Kenntniß der griechiſchen Sprache
feltener, und fo vernadhläffigte man audy die früheren Schrifs
ten des Hippolytus, weil fie griechiſch gefchrieben waren.
In den Drient dagegen waren von Anfang an dieſe Schrife
ten nur in einzelnen Eremplaren gekommen, welde in ver
fiebenen Orten weit zerftreut waren, Daß man von dem
Verfaffer. fo gar nichts wußte, verminderte natürlich fehr bie
Achtung gegen diefe Schriften. Der Elenchus enthält zu
über Hippolytus, bie erſten Monarchianer ıc. 779
viele merkwürdige Abſchnitte, ald daß man ihn ganz hätte
vernachlaͤſſigen Können, Wenn in demfelben aber urfprüngs
lich, namentlich im zehnten Buche, ſich Manches fand, was
auf eine Verbindung bed Werfafferd mit den Novatianern
bindeutete, fo ließ man das weg und gab überbaupt durch
Weglaflung des Unbedeutenderen und Anftößigen dem Buche
bie fragmentarifche Geflalt, welche ed jegt bat.
Aus ber vorliegenden Schrift des Hippolytus ergibt ſich
auch über die chronologiſchen Verhaͤltniſſe der erfien Monars
chianer mancherlei, was hier noch angedeutet zu werben
verdient. i
Zuerſt kann es auffallen, daß in derfelben bes Prareas
gar keine Erwähnung geſchieht, da berfelbe do in Rom
lebte und als der aͤlteſte der Monarchianer betrachtet zu
werden pflegt. Indeffen Prareas blieb, wenn auch von dem Ter⸗
tullian angefeindet, doch in der Gemeinſchaft der Kirche
und Eonnte alfo eben fo wenig an die Spitze der häretifchen
Monarchianer gefegt werben, wie 3. B. Athenagoras, wels
her ja diefelbe Meinung hegte.
Eben fo wenig wird Artemon erwähnt, obgleich ders
felbe nach der gewöhnlichen Annahme unter Zephyrinus in
Rom gelebt haben fol. Diefe Annahme beruht indeflen
auf fehr ſchwachem Grunde und muß jet aufgegeben wers
den, Naͤmlich Eufebius (hist. eccl. 5,28.) bezeichnet ein Schrift,
aus welcher er Auszüge über die beiden Theodotus in Rom
mitteilt, als oxovdcone xark rüg ‘Apriuawog alglosug,
Ww aödız 6 dx Zanocdrav Tleülog xuß" juäs dvavıd-
saodaı zexsigaru. Man hat nun angenommen, daß dieſe
Schrift zugleich gegen die Xheodotianer und Artemoniten
gerichtet gewefen fey, ba bie letzteren, ungeachtet fie in ben
Auszügen nicht vorfämen, doch von dem Eufebius als in
derſelben beſtritten bezeichnet würden. Und alsdann hat
man gefchloffen, daß, da ber Verfafler der Schrift nach Rom
gehöre, kurz nach ben beiden Theodotus gelebt und mit den«
780 Siefeler
felben auch den Artemon befiritten babe, auch Artemon in
den Zeiten ‚der beiden Theodotus in Rom gefucht werden
müffe. Den wahren Titel der Schrift — 6 apıngös da-
Böorvdog — lernen wir indeffen aus Theodoret. haer.
fabul. comp. 5, 5. fennen und wiſſen jest, daß unfer
Hippolytus Verfaffer derfelben war, Wäre in diefer Schrift
auch Artemon befämpft, fo würde derfelbe auch ohne Zwei⸗
fel in dem fpäter gefchriebenen Elenchus genannt worden
feyn. Aber Eufebius bezeichnete diefelbe nicht durch ihren
Titel, fondern nach ihrem Inhalte, und zwar macht er die
in berfelben beftrittene Ieriehre feinen Beitgenoffen durch
die Namen kenntlich, welche damals bie allgemein befannten
Repräfentanten berfelben waren, Artemon und Paulus von
Samoſata, ohne alle Rüdfiht auf die chronologiſchen Ver:
bältniffe, Davon alfo, daß Artemon im erften Wiertel des
dritten Jahrhunderts in Rom gelebt habe, kann jegt nicht
mehr die Rede feyn, vielmehr wird die Stelle des Schrei:
bens der Synode von Antiodien im Jahre 269, welche den
Paulus von Samofata verurtheilt (bei Euseb. hist. eccl.7,
3%, 8.), zu ihrem Rechte kommen, in welcher die Bifhök
aufgeforbert werben, mit dem neu gewählten Dominus in
tirchliche Correfpondenz zu treten, während Paulus an den
Artemas ſchreiben möge (16 Öt "Apraud oðros Imioreläkte).
Hier wird Artemas offenbar noch als Lebender bezeichnet,
Er war®älter als Paulus von Samofata und gehörte ohne
Zweifel dem Driente anz das ift Alles, was fi) von ihm
audfagen läßt,
Ueber Noetus hatte man bisher bloß die Zeitbeftims
mung des Epiphanius, daß derfelbe ungefähr 130 Jahr
vor ihm, alfo um 245, aufgetreten (haer. 57. $.1: Nor-
rös — dviorn, od mod Erüw zAsıdvaw, daR g od 10%
vov rõv zodtav Exardv rgulzovre, nAslo 7 Adoco), dh
er feiner Lehre wegen von den Preöbytern feiner Gemeinde
(Ephefus?) aus der Kirchengemeinfchaft ausgeflogen und
bald darauf geftorben fey. Wenn Theodoretus den Epigonud
über Hippolytus, bie erften Monarchianer ıc. 781
und den Kleomened ald Vorgänger des Noötus bezeichnet,
fo fehen wir dagegen aus unferem Elenchus, daß Epigonus
vielmehr ein Schüler deffelben war, nad) Rom kam, dort
die Lehre feines Meifters verbreitete und den Kleomenes für
diefelbe gewann, daß aber der legtere zur Zeit des Zephyris
nus, wohl in den legten Jahren deffelben, jener Lehre einen
größeren Anhang verſchaffte. Herr Geh.-Rath Bunfen zeigt
©. 85., wie Theodoret durch Mißverftand der Weberficht
am Ende bed Elenchus zu feinem Irrthume gekommen ſeyn
möge,
Nun ſcheint es allerdings, daß, wenn der Schüler eines
Schülers des Noẽtus ſchon unter Zephyrinus, alfo vor 219,
die Lehre deffelben in Rom verbreitet hat, Noetus nicht erſt
um 245 aufgetreten feyn fann. Aber dennoch läßt fich jene
chronologiſche Angabe des Epiphanius nicht fo ohne Weiten
res verwerfen, da er biefelbe gewiß irgendwo vorgefunden
bat, und bei genauerer Erwägung ift diefelbe auch nicht fo
unvereinbar mit der Erzählung des Elenchus, als es auf den
erften Blick ſcheint.
As Epigonus nach Rom kam, kann Noetus mit feinem
Anhange in der afiatifhen Gemeinde, welcher er angehörte,
noch nicht ercommunicirt, geweſen feyn; denn fonft würde
Epigonus auch in Rom nicht zur Kirchengemeinfchaft zuges
laſſen worden feyn, und der ganze Anhang deffelben, Kieos
menes und Galiftus,. würde fich außerhalb der Kirche bes
funden haben. Wie nun oben ſchon bemerkt worden iſt,
daß damals in Rom unter Zephyrinus und Calliſtus inners
halb derfelben Kirchengemeinſchaft für und gegen die patris
paffianifche Lehre gefttitten wurde, und daß erft in ber ſpaͤ⸗
teren Schrift des Novatianus de trinitate die Patripaffias
ner entfchieden als Haͤretiker erfcheinen, fo dimfen wir wohl
annehmen, daß die Lehrentwidelung eben fo allmählich in
der afigtifchen Gemeinde, welcher Noetus angehörte, fort
ſchritt. Range Zeit mochte derfelbe alfo dafelbft feine Lehre
vorgetragen haben, von Einigen befltitten, Andere zu einem
782 Gieſeler
Schuͤlerkreiſe um ſich fammelnd, und ſchon vorlaͤngſt mochte
Epigonus aus demſelben nach Rom gegangen ſeyn, als end⸗
lich die Presbyter jener Gemeinde, ohne Zweifel im Zuſam⸗
menhange mit den Schritten andeter Kirchen, namentlich
auch der roͤmiſchen, ſich gegen den Patripaſſianismus erho⸗
ben und den Noetus excommunicirten.
Auch Epiphanius berichtet, daß derfelbe lange vor die
fer Ercommunication ſchon feine Lehre vorgetragen habe.
Da man aber von dem fpäteren Standpuncte auß nicht zu
begreifen vermochte, wie der Patripaffianismus längere Zeit
unangefochten in der Kirche geduldet feyn konnte, fo nahm
man an, Noẽtus habe früher feine Lehre nur heimlich vor
getragen. Und wenn ein fruͤheres Preöbytercolegium fih
mit den Erklärungen eined Mannes, welchen die fpätere Zeit
für einen Häretifer hielt, hatte zufrieden flellen laſſen (wie
doch unzweifelhaft dad roͤmiſche mit den Erklärungen des
Prareas), fo mußte derfelbe vor jenem Collegium feine wahre
Meinung abgeleugnet haben. So iſt denn audy wohl die
Darftelung des Epiphanius, daß Noetus lange Zeit feine
Lehre heimlich verkündet und die Presbyter durch Unmwahrs
beit getäufcht Habe, mit Beruͤckſichtigung der fpäteren Auf:
faſſung zu beurtheiten,
Jedenfalls aber werben wir die Zeitangabe des Epipher
nius auf die Excommunication des Noetus und deffen bald
darauf erfolgten Zod zu beziehen haben. Und dann if es
wohl denkbar, daß ſchon dreißig Jahre früher ein Schüler
beffelben nad) Rom ging und dort feine Lehre verbreitet,
Es verfteht ſich von felbft, daß die Zeiten der Lehrer und
Schüler diefer Art nicht fo weit auseinanderliegen wie Ge
nerationen. Epigonus kann in dem Kleomenes fehr bald
einen Anhänger feiner Lehre, d. h. einen Schüler, gewonnen
baden. Und die Verdammung bdiefer Lehre mag, nachdem
fie in Rom erfolgt war, auch in Kleinafien flattgefunden
und dort noch den greifen Noetus getroffen haben. Indeſ⸗
fen müffen wir doch den Beginn. der Lehrerwirkfamkeit des
über Hippolytus, die erften Monarchianer ıc. 783
Noẽtus jegt bedeutend höher hinauffegen, als er bis dahin
angenommen zu werben pflegte. Er muß in den Anfang
des dritten Jahrhunderts fallen, und Noetus wird demnach
im Greiſenalter geftorben ſeyn.
Ueber die Zeit des Sabellius wurde bis dahin vors
zugsweiſe die Stelle des Briefes des Dionyfius von Alexan⸗
drien an ben roͤmiſchen Biſchof Sixtus (258) beachtet, in
welcher die Ketzerei deffelben als eine neuerdings in Ptoles
mais angeregte Lehre (Eufeb. 7, 6: zspi Yie od vor
auvndiveog iv v5 ITcolspaldı zig Ilvrandisug dbyua-
vog xrA.) bezeichnet wird, Sonach glaubte man das
Auftreten de Sabellius fruͤheſtens um das Jahr 250 ans
nehmen zu dürfen. Indeſſen hätte davon ſchon bie gewiß
vor dieſem Jahre gefchriebene Schrift des Novatianus zus
rüdpalten müflen, da in derfelben (Gap. 12.) Sabellius ſchon
als bekannter Ketzer erwähnt wird, deſſen erſtes Auftreten.
alfo viel früher gefegt werden muß. Aus dem Elenchus
erfehen wir nun, daß Sabellius bereitö gleichzeitig mit dem
Kleomened, und in feiner Lehre mit demfelben übereinftims -
mend, in Rom aufgetreten ift, daß alfo feine Wirkfamfeit
in Ptolemaiß eine zweite, weit, fpätere war. Daraus erklaͤrt
fi, wie Dionyfins, Biſchof von Rom von 259—270, ih
veranlaßt ſehen konnte, gegen die Sabellianer zu fehreiben,
und ebenfo flimmen damit dann auch recht wohl die Ans
gaben überein, daß Sabellius ein Schüler des Noötus ges
wefen fey (Philastrius haer. 55. und Augustin. de haer.
c. 41.), und daß noch zu des Epiphanius Zeiten fih Gas
bellianer in Rom gefunden hätten (Epiphan. haer. 62. init.).
Noch einige Worte über die Statue des Hippolytus,
welde 1551 in Rom aufgefunden worben ift, und welde
jest in der vaticaniſchen Bibliothek aufbewahrt wird. Herr
Geh.⸗Rath WBunfen hält diefelbe für ein Denkmal aus dem
vierten Jahrhundert, und gibt hoͤchſtens nur zu (S. 163.), daß
fie nicht jünger feyn könne, ald aus dem fechften Jahrhunderte,
784° 5 Gieſeler
Jedenfalls findet er in derſelben das Bild eines chriſtüichen
Biſchofs im apoſtoliſchen Zeitalter; daß es ein Biſchof fey,
dafuͤr iſt ihm die Gathebra, der Biſchofsſitz, Beweis (S. 12)-
Ih will mic bier nicht auf das mir fremde Feld der Ar
&äologie der Kunft wagen, Fann aber doch nicht umbin,
einige Bedenklichkeiten in folgenden Fragen auszuſprechen:
IR eine Statue von biefem Kunflwerthe aus dem vierten
bis fechften Jahrhundert wohl zu erwarten? Wodurch un:
terfcheidet fi die Gathebra von den andern Cathedris figen:
der Statuen, und woran gibt fie ſich als bifchöftiche Cathe⸗
dra zu erkennen? Unterſcheiden ſich die Gewaͤnder ber Sta
tue — eine allerdings lang hinabreichende Tunica und dat:
über ein Pallium — weſentlich von ber gewöhnlichen Kleidung
von Philofophen, und welches ift das Eigenthümliche in der Be:
kleidung des Biſchofs aus dem apoftolifchen Zeitalter * Laͤßt fih
erwarten, daß dieſes Eigenthümliche im vierten bis fechften
Sahrhundert noch genau befannt war, oder ift es nicht vie:
mehr wahrfcheinlicher, daß, wie man überhaupt geneigt war,
die beftehenbe kirchliche Sitte als apoftolifch zu "betrachten,
fo aud ein Biſchof der alten Zeit in dem biſchoͤflichen
Schmude, wie er zur Zeit der Anfertigung des Bildwerli
uͤblich war, abgebildet feyn würde? Wenn die Statue ohne
Inſchrift wäre, wide dann wohl irgend Jemand fie von
einem chriftlichen Biſchofe deuten, oder nicht vielmehr auf
irgend einen Philofophen oder einen Grammatiker beziehen,
welcher ſich auf die Schrift, mit deren Erklärung er fih
befchäftigt, bequem lehnt? Ich füge diefen Fragen nur noch
die gewiß allen Freunden ber chriftlihen Archäologie ange
nehme Nachricht hinzu, daß wir vieleicht von meinem ver:
ehrten Herrn Collegen, dem auögezeichneten Archäologen
Br. Wiefeler, eine gründliche Erörterung berfelben zu er
warten haben.
Dagegen muß ich jegt meine Firchenbiftorifchen Zweifel
an biefer Statue geltend machen. Die Chriften begannen
erſt gegen das Ende bes vierten Jahrhunderts, und zwar
über Hippolytus, die erften Monarchianer ıc. 785
nicht ohne ſtarken Widerſpruch Einzelner, ihre heilige Ges
ſchichte in. Gemälden darzuſtellen, aber Statuen heiliger
Perfonen lagen auch den Abendländern noch längere Zeit
fern, wie fie in der griechiſchen Kirche noch jetzt verworfen
werden. Wenn ſich aber die chriftlichen Römer wirklich fhon
im vierten Jahrhundert zu einer ſolchen Ehrenerweifung ents
ſchloſſen, wie kam es, daß fie den Preöbyter Hippolytus —
denn Preöbyter, nicht Biſchof wer ihnen der Märtyrer, wie
wir aud dem Prubdentius fehen — zum erfien Gegenftand
berfelben machten, da berfelbe doch keineswegs bei ihnen
eine irgend audgezeichnete Verehrung genoß? Wenn aber
fon in dem vierten Jahrhunderte ein fo ſingulaͤres Denk:
mal demfelben errichtet war, wie fommt ed, daß Prudentius
deffelben nicht gedenkt, und daB Hieronymus es nicht ges
ſehen und aus demfglben erkannt bat, daß der Biſchof Hip⸗
polytuẽ, deſſen Schriften ipm gar wohl befannt waren, mit
dem Preäbyter Hippolytus, welchen er ald roͤmiſchen Märs
tyrer gewiß auch Bannte, diefelbe Perfon fey?
Die Statue muß in einer fpäteren Zeit, im fünften
ober fechften Jahrhunderte, dem Hippolytus gewidmet feyn.
Dann aber fragt fih, vb in biefer Zeit eine Statue von
ſolchem Kunftwerthe noch hervorgebracht werden konnte, ober
ob es nicht wahrfcheinlicher it, daß die alte Statue eines
Philoſophen oder Grammatikerd damals zu einem Hippolys
tus benugt worben ift,
» Auf der Statue tritt der Oſtercyclus fo hervor, daß die
Abfiht, den Hippolytus ald Urheber deffelben zu ehren, nicht
zu verkennen iſt. Won jenem fagt nun Ideler (Handbuch
der Chronologie II, 224.):
„Der Kanon des Hippolytus ift nichts weiter, ald ein
roher Verſuch, der nur auf wenige Jahre die Probe beſtand.
Wenn baber das ihm geſetzte Denkmal, wie es ſcheint, zus
naͤchſt dazu befiimmt war, die römifchen Chriften mit der
Zeit der Ofterfeier bekannt zu machen, fo muß ed ihm fehr
früb, vieleicht ſchon unter Aerander Severus felbft, errichtet
786 Gieſeler
worden ſeyn, während deſſen dreizehnjaͤhriger Regierung die
Chriſten ihrem Cultus ungeſtoͤrt oblagen. Wer koͤnnte ſich
als die Unrichtigkeit des Kanons nach Ablauf einiger Cykel
anerkannt war, noch die Muͤhe gegeben haben, den Urheber
deſſelben durch ein ſolches Monument verewigen zu wollen!”
Wenn wir es nun aber flır eine kirchenhiſtoriſche Un
möglichfeit halten müffen, daß ſchon die roͤmiſchen Chriſten
des dritten Jahrhunderts dem Hippolytus diefe Statue m
richtet hätten, fo bleibt nur ber andere Fall übrig, daß die
felbe in einer viel fpätern Zeit angefertigt wurde, in welder
man den Charakter dieſes Cyclus nicht mehr genau Fannt,
denfelben alfo nicht ald Norm der Beſtimmung des Dfter
feſtes aufzeichnete, fondern ein anderes Intereſſe hatte, den
Urheber zu ehren,
Von dem Jahre 387 an bis dahin, wo im fechfen
Jahrhundert der Dfterfanon des Dionyfius von ber roͤmi
fen Kirche angenommen wurde, gab die von der aleyan
drinifchen abweichende römifche Beftimmung bes Dſterfeſtes
fortwährend Weranlaffung zu Verhandlungen und Steeitig
Beiten über diefen Gegenfland a). Der römifche Stolz fühlte
fi dadurch verlegt, daß den alerandrinifchen Biſchoͤſen die
Berechnung des Dſterfeſtes von dem nicaͤiſchen Concil über
tragen war, und daß bie alerandrinifhe Berechnung allge
mein flıt richtiger gehalten wurde, als die roͤmiſche, und fo
näherte man fi) in Rom nur fchrittweife der alerandrins
ſchen Norm, bis man- fie endlich in dem dionyſiſchen Kanca
volftändig annahm. Während diefeß Streites läßt es fh
denken, daß man in Rom auch mit Gelbfigefühl darauf bin
wies, daß der aͤlteſte Pafchacyclus von einem Römer, dem
Hippolytus, herrühre, und daß man darauf fiel, diefen 6h⸗
dus an dem Seſſel einer alten Statue, welche damit zu det
des Hippolytus gemacht wurde, aufzuzeichnen, wie man ia
Ravenna im fechften Jahrhundert die dionyfifche DOftertafel
@) Ideler’s Handbuch ber Gpronologie IT, 254,
\
über Hippolytus, die erſten Monarchianer ıc. 787
auf eine Marmortafel der dortigen Metropolilankirche ein-
grub ®). So nur bürfte fich dieſes finguldre Denkmal des
Hippolytus erflären laſſen, ba die gefeiertften Märtyrer und
Heiligen der römifchen Kirche eines ähnlichen entbehren.
2.
Zeichnung
des Umfangs für den nothivendigen Inhalt
allgemeiner Geſchichte der hriftlichen Religion.
Ein Fragment aus Theorie ‘der Kirchen⸗Geſchichtſchreibung.
Bon
Profeffor Niedner.
Alle Voran⸗Zeichnung ded Umfangs, welcher dem noth⸗
wendigen Inhalt einer Univerfalgefchichte des Chriſtenthums
zu geben fei, kann ihre Richtigkeit voll erweifen erſt in auds
führender Darlegung derfelben. Unter diefem Vorbehalte
aber iſt's nicht unftatthaft, von den Stiftungs- und Folges
Geſchichten aus, welche den Umfang wie die Faſſung ihres
Inhalts normirt haben, grundbildliche Linien für bie Ges
fommtheit Deſſen zu ziehn, was zur chriftlichen Religion als
hiſtoriſcher Erſcheinung wefentlich gehöre.
Durchſichtigkeit und Ueberſichtlichkeit gewinnt ſolche
Grundzeichnung des Inhalts, wenn deſſen Maſſe unter Ka—
tegorieen geordnet wird, als die Gattungen ſeines Ein⸗
zelnen und Beſondern. Es find allgemeinſte Verhaͤltniſſe
awiſchen je zwei allgemeinſten Beziehungspuntten, unter
welche alles Leben einer Religion, fallen muſſte, indem fie
eine Geſchichte ſich gab; zumal das der hrifllichen als Welt:
religion. Es find -daher vollkommen ſelbſt⸗g eſchich t⸗
liche oder wirklich» geweſene, keineswegs blos vorgeſtellte
9) Ide ler 11,289,
Theol. Stud. Jahrg. 1858, ss
788 .. Riebner
abſtrahirte Geſichtepuncte. Als für jene UmfangsBeflims
mung maßgebend erfcheinen vornehmlich vier ſolche Grund:
verhältniffe: die Verhaͤltniſſe zwiſchen Religiöfem
und. Chrikliem einerfeits, Nichtsreligidfem md
Nicht-chriſt liche m andererfeitd; zwiſchen Theorie und
Praxis, Theoretiſchem und Praktiſchem; zwiſchen Bewe⸗
gung und Beſtehn, Entwickeln und Feſtſtellen; zwiſchen
individualer Freiheit mit ihrer unbeſtimmten Mannid:
faltigkeit, und ſocial er Seſetzlichkeit mit ihrer geſchloſſenen
Einheit.
AS über den Umfang mit / entſcheidend koͤnnte noch ein
fuͤnftes Verhaͤltniß erſcheinen: dad zwiſchen goͤtt lich Ob⸗
jectivem und menſchlich Subjectivem. Daſſelbe
umſchließt gefammte Welt» und Selbfl-Auffaflung des Men-
ſchen, auch die zwei Wefens:Weftandtheile des Chriſtenthums
und des in ihm zu führenden Lebens, ſeine zwei Seiten
Auf der einen Seite ſteht: die Principalitaͤt goͤttlicher Grund⸗
verurſachung und Gefammtleitung; als der ſtetigen Voraus⸗
ſetzung und Gewaͤhrleiſtung über dem Menſchen. Auf der
andern: die Mitwefentlichkeit menſchlichen Selbftmitthätige
werdend; als der eben burch Jene möglich und darum zum
Pflicht gemachten Hingebung an daB göttliche Wirken in
dem Menſchen. Allerdings, der Inhalt einer Chriſten-Ge⸗
ſchichte erhielt immer fehr verfchiedenen Umfang, jenachdem
dieſes Verhaͤltniß genommen war, das Höhergewicht auf bie
objective oder-auf bie fubjective Seite gelegt ward, Abſo⸗
Inter Supranaturalifmus, in feiner Auswahl aus dem Ge
ſchehenen, ftellte das der objectiven Seite Beigemeffene mehr
hervor, das der fubjectiven Zugeftandene mehr zurück. Um:
gekehrt, der blind fehende Naturalifmus. Doch, das ger
nannte und eine Reihe noch anderer fundamentaler Werhätt:
niffe ift, dergleichungsweiſe, grundbeſtimmender gewefen für
die Faſſung des chriſtüchen Geſchicht Inhaltes , von weh
her bier micht die Rede werben ſoll.
In allen jenen zuvor⸗genannten chriſtlich⸗religioͤſen Et:
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl deel.⸗Geſch. 789
benös$Begiehungen aber if nun zu zeigen: wie vielnchr
eine erweiternbe ald eine verengernde Umfangs Beflims
mung des Geſchicht⸗Inbaltes demjenigen Umfang entfpreche
welchen dies Leben an feiner Quelle empfangen und in ſei⸗
nem Verlaufe gehabt hat. Dad Schwergewicht ber For
derung, welche hiermit an Gefchichte bed Chriſtenthums ges
fedt wird, bedarf zu feinem Erweiſe dieſer Abhandlung
nicht 1),
1. Religiöfes und Nihtsreligiöfes; Chriſt⸗
lides und Nicht-chriſtliche s.
1. Die retigions «-hiRowife Morausfegung,
Die thatſachliche Steltung, welche bie Gefchichte des
Chriſtenthums zur Welt: Gefchichte eingenommen hat,
auch fernerhin einnehmen wird, bis dereinft dies Senfkorn
fein Wachsthum vollendet, iſt diefe: daß Re eine Weltges
fHidte innerhalb der Weltgeſchichte bildet; einen
Theil der Geſammtgeſchichte, welcher die Beſtimmung bat,
deren Ganzes mit ſich zu durchdringen, fo in teleologiſchem
H Es bedarf nur eines Wüdes in die Literatur ber ueuefen
Sabre: wie Diele in fonft ungewoͤhnlichem Maße fi der Uns
terfuhung bes morgenläntifchen und griechiſchen Alterthums,
mit Bezug auf Seſammtgeſchichte der Menſchheit
zugewendet hat; wie bei ſolchem Gifer, noch ganz abgefehn vom
Auseinandergebn feiner Ergebniffe, die in ihr ſelbſt gegründete
Pflicht Geikticher Circhen · Seſchichtſchre ibung fich verftäckt, hiſto⸗
riſche ReligionensBergleihung” in ihren Bereich zu ziehen. —
Inwieweit die Ftage nach dem nothwendigen Umfange hrifilis
den Geſchicht ⸗Inhaltes, welche Hiervon zunaͤchſt beruͤhrt wird,
andy mit der nothwendigen Faſſung beſſelben zufammens
bangt, its um der Genfsqpeuz willen dem Werfaffer viedeiät
feine zwei Abhandlungen zu nennen, in ber Zeitſchrift
für die Hiftorifche Theologie, 1851. 4. Heft, 1852, 4. Heft.
Indhalt derfelben, gleichwie der hier vorliegenden, find keine
Sefsißt- „Anfpauungen”, fondern Ergebniffe ans feritid dio⸗
" fom Streben nad Veſchicht⸗Erkenatniß.
sg*
790 Niedner
Sinne Das zu werben, was fie archologiſch bereits if. Ob
folche Weltgeſchichtlichkeit des Chriſtenthums, die hoͤchſte Ider
deſſelben als aͤuſſerer Erſcheinung, ob ſolch weltgeſchichtlicher
Glaube an daſſelbe in deſſen Ausfuͤhrungs⸗ wie im feiner
Stiftungs:@efchichte ſich bewähre, dies zu unterſuchen, iR
eine der Aufgaben chriſtlicher Religions. Geſchichtſchreibung ·
. Selbſtverſtaͤndlich iſt die Wechfelwirkung, als allgemeine
Zorm des Berhältniffes für beide Verhaͤltniß ⸗GSlieder, für
Chriſtenthum oder Religion überhaupt und Welt, Art und
Map aber, wie dad wechfelfeitige Wirken unter beide ſich
vertbeilt hat, ift die ſtets Unterſuchung for dernde
That ſache. Es frägt fich: ob in ihr ein biſtoriſcher Grund
vorliege, die Religion von Ehriſti Welterlöfung als das
hoͤchſte Princip der Welt und Weltgefchichte immer mehr
feftzuftellen, eben weil fie in diefer ald ſolch Princip nur erft
werbend erfcheint. Das iſt der Punct, an weldem, in Be
zug auf almdliged Zufammengehn ber Chriſtenthums⸗ und
Welt⸗Geſchichte, entweder der Glaube oder der Zweifel fih
bricht. Ghriftliche Theobicee muß zugleich als Chriſtodicee
fi vollziehn: auf dem geſchichtlichen Grunde nicht der über:
haupt gegebenen Welt allein, fondern zugleich der in Chriſti
Neus Schöpfung möglich sgeworbnen. Letztere Anlage zu
Welt, ohne Ausſchluß der erfteren, dieſe Möglichkeit des
Werdens einer hoͤhern Weltordnung durch Bottes:Madt
und Menſchen⸗Streben, fie ift die „befle Welt”... Die Ges
ſchichte aber, als Wiſſenſchaft vom Welt:Gefchehn, iſt durch ⸗
aus nicht dieſe Theodicee ſelbſt, nur deren Subſtrat. Und
fie iſt auch ſolches nicht als dad einzige. Denn jeder Eins
zelne fol in feinem Einzelleben die Erfahrung von Dem
machen, was im Gefammtieben fih im Großen begiedt.
Ertenntniß ber wirklichen welthifterifchen Stelle des
Ehriftenthums, wie der Religion überhaupt, ift Das wovon
Alles abhangt. Won den Erforderniffen zu derfelben
foßen bier- blos einige ſtehen. So zunaͤchſt, Unterſcheidung
und: zugleid) Verbindung zweier Momente, Nur Gleid«
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. priftl. Rel.⸗Geſch. 791
Beachtung der potentiellen wie ber actuellen Seite iſt
vollsgefhichtliche Meſſung jeder geiftigen und zumal fittlicher
Kraft, demnach vor allen der chriftlichen Religion. Eben
diefe hoͤchſte aller Weltkräfte Gottes hat die Beſtimmung
gehabt, innerhalb einer fhon beftehenden Welt, mitsabhängig
von ben diefer eignenden Principien, eine böhere Weltords
nung zu ſchaffen. Dies ift der in ihr ſelbſt liegende Grund,
vermöge deſſen ihre gefchichtliche Weltſtellung ald eine zweis
face ſich zeigt. Denn ſtets ift neben ihrer Wirkfamkeit auf
die Welt noch hergegangen eine blofe Bedeutfamkeit
für die Welt. Letztere hat darin ſich gegründet, daß in je—
der gegebenen Zeit von ihren wirklich eingetretenen. Wirkun⸗
gen unterſcheidbar waren noch andere, nicht wirklich einges
tretene: entweber fchon möglich gewefene, und nur in Folge
menſchlicher Freiheit und Sünde niet wirklich gewordene;
oder, vermöge des Weltgefeged der Almäligkeit, erft für
Tünftige Entwidelung aufbewahrt, So hat auch Das vom
Cbriſtenthum, was nur potentiell und nicht zugleich actuell
in Chriftenheit vorhandengewefen, im Bereich feiner Ges
ſchichte geftanden: jener erſtern Seite feiner Bedeutſamkeit
nad, ald eine Mahnung für jede einzelne Zeit an das Zus
rüdbleiben ihres Wollens hinter ihrem Wermögen, ſich binz
zugeben der Wirkfamkeit jener entgegentommenden Kraft;
der andern Seite feiner Bedeutſamkeit nach, ald eine Hin
weifung jeder einzelnen Zeit auf das Unerſchoͤpfliche jener
für alle Zeiten nachhaltigen Kraft, ald der Quelle ihrer
Zukunft,
Wird aber des Chriſtenthums welthiftorifche Stelle nach
feiner actuellen Wirkſamkeit alein beſtimmt, dann zeigt
ſich eine noch andere Eigenfchaft aller Höheren Kräfte, welche
diefen einen über dad unmittelbar Wahrzunehmende hinauss
reichenden Umfang ihres Wirken giebt. Es eignete nam:
ich zumal der hoͤchſten über allen, der Gotted:Kraft durch
Ebriftus, ein in dem Sinne geheimnißvolles Wirken, daß
diefes, in Einzelnem oder im Ganzen, nicht in demfelben
790 . Niedner
Sinne Das zu werden, was fie archologiſch bereits if. Ob
folche Weltgeſchichtlichkeit des Chriſtenthums, die hoͤchſte Ider
deſſelben als aͤuſſerer Erſcheinung, ob ſolch weltgeſchichtlicher
Glaube an daſſelbe in deſſen Ausführungss wie im feiner
Stiftungs«@efchichte ſich bewähre, dies zu unterſuchen, if
eine der Aufgaben chriſtlicher Religions. Geſchichtſchreibung .
. Selbſtverſtaͤndlich iſt die Wechfelwirkung, als allgemeine
Zorm des Verhältniffes für beide Werhättniß- Glieder, für
Chriſtenthum oder Religion überhaupt und Welt. Art und
Maß aber, wie dad wechfelfeitige Wirken unter beide ſich
vertheilt hat, ift Die ſtets Unterſuchung forbernde
Thatſach e. Es frägt fi: ob in ihr ein biftorifcher Grund
vorliege, bie Religion von Ehriſti Welterlöfung als das
hoͤchſte Princip der Welt und Weltgefhichte immer meh
feftzuftellen, eben weil fie in diefer ald foldy Princip nur erft
werdend erfcheint. Dad iſt der Punct, an welchem, in Be
zug auf allmäliges Zufammengehn ber Chriftenthumss und
Welt: Befhichte, entweder der Glaube oder der Zweifel ſich
bricht. Chriſtliche Theodicee muß zugleich als Chriſtodicee
fi vollziehn: auf dem gefchichtlichen Grunde nicht der über
haupt gegebenen Welt allein, fondern zugleich der in Chrifli
Neus Schöpfung möglich »geworbnen. Lebtere Anlage zu
Welt, ohne Ausflug der erfleren, biefe Möglichkeit des
Werdens einer höhern Weltorbnung durch Gottes⸗Macht
und MenfchensStreben, fie ift.die „befle Welt”... Die Ge
ſchichte aber, als Wiſſenſchaft vom Welt-Gefchehn, iſt durch ⸗
aus nicht dieſe Theodicee ſelbſt, nur deren Subſtrat. Und
fie iſt auch ſolches nicht als das einzige. Denn jeder Ein-
zelne fol in feinem Einzelleben die Erfahrung von Dem
machen, was im Gefammtleben ſich im Großen begiebt.
Erkenntniß der wirktichen welthiſtoriſchen Stelle de
Chriſtenthums, wie der Religion überhaupt, iſt Das wovon
Alles abhangt. Won den Erforderniffen zu derfelben
foßen bier blos einige ſtehen. So zunaͤchſt, Unterſcheidung
und zugleich Verbindung zweter Momente Rur Gleid
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel,-Gefch, 791
Beachtung der potentiellen wie ber actuellen Seite if
vollsgefchichtliche Meflung jeder geiftigen und zumal fittlicher
Kraft, demnady vor allen der chriftlichen Religion. Eben
diefe hoͤchſte aller Weltkräfte Gottes hat die Beſtimmung
gehabt, innerhalb einer ſchon beftehenden Welt, mitsabhängig
von den diefer eignenden Principien, eine höhere Weltord⸗
mung zu ſchaffen. Dies ift der in ihr felbft liegende Grund,
vermöge deſſen ihre gefchichtliche Weltfielung als eine ziveis
fache fi) zeigt. Denn ſtets ift neben ihrer Wirkfamkeit auf
die Welt noch bergegangen eine bloſe Bedeut ſamkeit
für die Welt. Letztere hat darin fich gegründet, daß in je
ber gegebenen Zeit von ihren wirklich eingetretenen. Wirkun⸗
gen unterſcheidbar waren noch andere, nicht wirklich einges _
tretene: entweder fchon möglich geweſene, und nur in Folge
menſchlicher Freiheit und Sünde nicht wirklich geworbene;
ober, vermöge des Weltgeſetzes der Allmaͤligkeit, erſt für
Tünftige Entwidelung aufbewahrte, So hat auch Das vom
Gtriftenthum, was nur potentiel und nicht zugleich actuell
in Chriſtenheit vorhandengeweſen, im Bereich feiner Ges
ſchichte geſtanden: jener erftern Seite feiner Bedeutfamkeit
nad, ald eine Mahnung für jede einzelne Zeit an das Zus
rüdbleiben ihres Wollens hinter ihrem Vermoͤgen, ſich bins
zugeben: der Wirkſamkeit jener entgegentommenden Kraft;
der andern Seite feiner Bedeutſamkeit nad, als eine Hin-
weifung jeder einzelnen Zeit auf das Unerſchoͤpfliche jener
für ale Zeiten nachhaltigen Kraft, als der Quelle ihrer
Zukunft.
Wird aber des Chriſtenthums welthiſtoriſche Stelle nach
feiner actuellen Wirkſamkeit allein beſtimmt, dann zeigt
fi eine noch andere Eigenſchaft aller höheren Kräfte, welche
diefen einen über dad unmittelbar Wahrzunehmende hinaus⸗
reichenden Umfang ihres Wirkens giebt. Es eignete naͤm⸗
lich zumal der hoͤchſten über allen, der Gottes-Kraft duch
Chriſtus, ein in dem Sinne geheimnißvolles Wirken, daß
diefed, in Einzelnem oder im Ganzen, nit in demfelben
792 Niedner
Maße ein auch hervortretendes wurde, in welchem es
ein maͤchtigges war. Dieſe Eigenheit der Wirkungss
Art alles Ethifchen, bes chriftlichen infonberheit, drängt ſchon
dem nur flüchtig flreifenden Blicke ſich auf; felen es ganze
Voͤlker oder einzelne Menfchen, die er unter diefen Geſichts⸗
punct flelt. Und doch beſteht Das was ihm ſich bietet,
mehr nur in ben Auffens und Maffen:Beftalten als in ben
Beſchaffenheiten, welche die Wirkungen dieſer Kraft fiad
und als foldye felbft wiederum Kräfte werden.
Die Thatſache indeß, daß zweierlei Kräfte, aus Chriftens
thum und aus Welt auffer ihm ſtammende, in die Hervor⸗
bringung gefammten Geſchicht ⸗Stoffes chriſtlicher Zeit ſich
getheilt haben, begründet noch ein zweites Erforderniß
zur Erkennung ber welthiftorifchen Stelle des Erſtern. Daſ⸗
felbe betrifft dad Maß und die Art diefer Vertheilung mit Ihrer
unendlichen Verſchiedenheit. Es ift baher: ein unter ſich
Vergleichen der Grundgeflalt und der Nachgeftalt ders
felben, wie Jene uranfänglih im Ehriſtent hum und
Diefe nachfolgend in der EHriftenh eit vorliegt.
Seit Chriſti Erfcheinung gab es zwei allgemeinfte Grunds
Weltthatſachen, die erfte und eine zweite Menſchenwelt⸗
Schöpfung und Regierung. Als factifches, in ges
wiſſem Grade zugleich normales Werhältnig zwiſchen
beiben Weltordnungen befland ein Unt er ſchied, doch auch
ein Zuſammenbang im Unterſchiede. Dieſe Zweifach⸗
heit des Verhaͤltniſſes hat, aͤuſſerlich und innerlich, darin ſich
kundgegeben, daß nur allmälig einzelne Theile des Menſchen⸗
geſchlechts in den zweiten Schöpfungsfreis eingetreten, dab -
felbft die in ihn eingetretenen nicht fo ganz aus dem erflen
berausgehoben worden find. Noch bis jest iſt bloß der klei⸗
nere Theil in die neue Weltordmung auch nur Aufferlich ein.
gegangen. Und innerhalb deren felbft haben ſtets, verſchie ⸗
den unb wechfelnd in Art umd Maß, die Anlagen und Euts
widelungen aus ber urſpruͤnglichen Schöpfung zu denen der
fpäteen eine zwiefache Stellung eingenommen, Die ur
l
Umfang f. d.nothw. Inh.d. allg. chriſtl. Rel.-Geſch. 793
fprünglichen der alten Natur (vechtvrrflanden, rithiig die
„nathelihen” alleinsbenannt) hatten einestheiis allerdings
bie Beftimmung, auch in der zweiten Zeit des Menfcyenwelts
Schaffens entweder in ihrer Selbft-Eigenheit fortzubauern
und fortzuwirken, oder durch die neuen umgebilbet und ge—
feigert zu werden, Sie haben aber anderntheil® auch ohne
folche, entweder angeflammte oder erworbene, Berechtigung
mitwirkſam ſich erhalten oder erneuert,
So iſt dad Grundverhältniß, welches vor allen ein für
Welts und Chriftentbums:G ef chichte maßgebendes wers
den muffte, das zwifchen den zwei Schoͤpfungs⸗ oder
EntwillungdsKreifen. Und feine Geftalt if ein
theils fich wefentlich Unterfheiden, theils ſich lebendig Bus
fammenfaffen ber zwei BerhältnigGlieder. Unter ben Selbſt⸗
täufchungen der Gegenwart mag nicht bie Fleinfte der Wahn
fein, als wäre die bereits in alter Chriſtenzeit ſchwebende
Frage, die Religionen-vergleichende, für Ale entſchieden. Der
gnoſtiſche und antignoftifhe Streit ber Piftis hatte zwei
Seiten, Auf der erflen war ed, wo Chriſtenthum ald ob»
jective Religion mit ben zwei Bor.Religionen zufammenges
flellt wurde, Auf der zweiten war ed, wo Ebenbaffelbe ald
fubjective Religion entweder durch Gnofid” der Logik und
Phyfik, ober durch Gnoſis der Ethik und Myſtik über feine
einfache Piſtis hinaus. und emporgehoben werben follte,
oder nicht ſollte. Auf beiden Seiten wiederholt gegenwärs
tige Beit genau die alten Säge und Gründe; nur mit grö-
Seren Mitteln und reicheren Vorlagen.
In Betreff der objectiven Seite des Piſtis- und Gnos
ſis⸗Streites, von welcher allein hier die Rede ift, wird das
VBorriden zu Einigung oder Entſcheidung erſchwert durch
ein bogmatifhes Verfahren, in unter fich entgegen»
gefegter Weife. Bald zurüdgeftelt und abgeſchwaͤcht, bald
hervorgehoben und vergrößert erfcheint Eines von Beidem:
entweber ber wefentliche Unterfchied, oder der fletige Zuſam⸗
menhang zwifchen ben zwei Schöpfungen, So vertritt man
794 \ Niebner
das Interefle entweder der Weltlichkeit ober ber Chriſllich⸗
keit. Bei foldem Verfahren bleibt vergeblich das Unterſchei⸗
den pofitiver und negativer Kraft des Vorchriſtlichen, ein
Hoͤheres vorzubereiten. Denn bierbei wird dann body beis
derlei Kraft unter die Worseligionen und beren innere
Richtungen wiederum verſchieden vertheilt, Auch die Unter:
f&eidung an fich führt nicht weit. Denn gerade das am
meiften für ein pofitio Worbereitended Angenommene, im
Heidniſchen oder Züdifchen, ift oft das in Diefem Feſthal⸗
tendfte gewefen, eben weil es fchon eine Befriedigung ge
währte, Endlich erſcheint noch eine Haupturfache fogar dei
Unvermögens, den geſchichtlich gegebenen Unterfchied und
Bufammenhang beider Schöpfungen gefhlchtgemäß zu ſuchen.
Diefe zwei Geftalten des Verhaͤltniſſes beider find ſtets zus
fammen aufzufuchen; denn fie haben zufammen beftanden,
einander einfchräntend oder bedingend. Nur fo wird jener
Grundfehler vermeidbar, entweder den Unterfchied oder ben
Zuſammenhang beider Schöpfungäkreife zu entflellen oder
auch zu leugnen, Bei mehr Ernſt, ihn zu vermeiden, würde
der neue wie alte Zweifampf ber Gnoſtiker und Pifliter,
über Noturalifmus fammt NRationalifmus und abfoluten
Supranaturalifinns, weniger mit verbundenen Augen flatt:
gefunden haben,
‚Hier nun ift es nichtöweniger als Abficht, zur Schlich⸗
tung des Streites beizutragen. Vielmehr einziger Zweck
ift Nachweifung einer zweifahen Nothwendigkeit für
Geſchichte, ſolchem Stand der Dinge gemäß. Diet
muß den Umkreis ihres Inhalts bis zu bem Grade erwei
tern, wo fie ald Vorlage des Thatbeſtandes in Betreff
dieſes erften Grundverhältniffes gelten Tann. Denn dei
Geſetz der Hiſtorik, daß Reinheit der Gefchichte ebenfofcht
von Volftändigkeit wie von Richtigkeit abhange, daß ihre
Treue ebenfo Wahl wie Faffung angehe, wird noch geſchaͤrft
durch das mächtige ſich Drängen der Maffen. Ebendieſelbe
muß den Umfang ihred Inhalts nicht durch die ſpaͤtet
.
Umfang f. d. nothw· Inh d. allg. heil. Rel-efä. 795
Wirklichkeit allein, fondern -in oberfier Stelle vom Chri⸗
flenthume felber ſich vorzeichnen laflen, weil Diefes ihr
felbfisgefchichtliher Ausgangepunct iſt. So wird fie dann
Unterlage für Vergleichung der urschrifllichen und ber nach⸗
chriſtlichen Art, eine neue Welt mit Kräften aus der alten
und aus der neuen Schöpfung herzuſtellen. Solch Vers
gleichen ift eben jenes, vorhin als ein zweites angekündigte,
Erfordbernig zur Erkennung der Religion Chriſti als
wirklicher Welt-Anftalt Gottes.
Die univerfale Selbſt-Beſtimmung der neuen Got«
teBsAnftalt war: beide Worwelten, bie unter dem Schrift
Geſetze zufammen mit ber unter'm NatursGefege, unter eine
Goͤttliches und Menſchliches fi) nähersführende Ordnung
der Gnade und des Geiſtes zu ſtellen. Denn durch bie Ems
pfänger war das urfprüngliche Gepräge und Vermögen beis
der Saben und Gefege, weldye von demfelben Urheber und
Geſetzgeber aus verfchiebener Zeit ſtammten, verborben wor⸗
den und nicht bloß unentwidelt geblieben. In den neuen
beiligen Schriften ſteht von den erften Ehriften Beides bes
richtet: ein erft Uebergehn von Annahme ungleiher zu Ans
nahme weſentlich gleicher Nothwenbigkeit neuen Bundes, für
Juden wie für Heiden; aber auch bereitd die Entſchieden⸗
heit für legtere, Das neuere Hinabverlegen diefer Entfchies
denheit erſt in's zweite Jahrhundert ift, abgefehn von noch
Anderem, übel begründet durch willkuͤrliche Uebertreibung der
Macht judaifirenden Gegenwirkend, der Ohnmacht paulini⸗
ſcher Wirkſamkeit. Zudem bat der Grad zeitig äufferliden
Ueberwiegens, entweber ber einen ober der andern Verhaͤlt⸗
niß · Beſtimmung, nur katholiſches Gewicht, bei welchem Vie⸗
les oder Alles auf Stimmen-3dhlung beruht, — Aehnlich
hat, dem geſchichtlich aͤuſſern Hervortreten nach, der natur⸗
gemaͤß allmaͤligen und nur zugleich goͤttlich geleiteten Ent⸗
widlung entſprochen eine andre, verwandte Thatſache deſſel⸗
ben erſten Jahrhunderts. Die Erörterung des innern Ver⸗
haͤltniſſes der neuen Heils⸗Botſchaft zum Bißherigen richtete
796 Niedner
fich zunächſt auf ihren näͤchſten Beziehungspunct, auf die
Beſchaffenheit vorzugsweiſe desjenigen ’Iubens oder Heiden
thums, welches in ben damaligen Kreifen des Werkändigens
als das herrſchende und bedürftige baftand. Aber, fo eben
iſt die apoftolifche Auffaflung und Behandlung des unmits
telbar vorliegenden Nichtchriſtlichen, wie folche keineswegs in
des Paulus Perfon allein dargeſtellt war, die Norm für ihrt
nach⸗apoſtoliſche analoge Anwendung auf das weitere Nicht⸗
chriſtliche, welches dem erfien Verkundigen zeitlich oder raͤum⸗
lich entfernter gelegen hatte.
Ebenſowenig, wie des Chriſtenthums primitive Auffef
fung, ſteht Deffen noch urfprünglicere Selbſt⸗Aufſtel⸗
lung in feinem Urheber entgegen, wenn hriftliche Welt
Geſchichte das heidniſch⸗ wie das iſraelitiſch-Vorchriſtliche,
obwol nur nach Verhaͤltniß, in den Bereich ihrer vergleichen:
den Kenntniß zieht. Doch, hier kann abgefehn werden vor
befonderer Rechtfertigung aus dem Urchriſtenthum ſelbſt
Für Gefhichte genügt, als Nöthigungs:Grund zu Aufnahm
des beiderlei Vorchriſtlichen in ihre Darftelung, das Bor
bandenfein zweier Thatſachen in der Zeit nad Chris
ſtus. Sie find: fletes Streiten über beide Religions
Inhalte ber Vorzeit an ſich; ſtetes Fortwirken beider
in bie Chriſten⸗Zeit und Welt heruͤber. Geſchichte nicht be
Chriftentyums allein, fondern zugleich blofer Epriftenkeit,
muß von Chriftenthumsnichtgemäßer wie gemäßer Schägung
und Anwendung des Vorchriſtlichen berichterſtatten.
In Betreff der erften Thatſache, haben die gewöhn
lichen zwei ertremen Meinungen neben und geges
einander geftanden, ſich anklagend entweder rigoriſtiſchen
ober latitudinariſtiſchen Misverſtaͤndniſſes der Univerfalität
Chriſti. Und das ift fo geweſen von aͤlteſter bis in jünghe
Zeit, Nur mit einem großen Unterfchiede, auffer noch an
dern. Dort, im Eifer und Drange jener Jahrhunderte, wo
die Fülle der Heiden an der Juden Gtatt eintrat, machte
die Neuheit und Auffere Notwendigkeit dieſes Greignifiee
Umfang f.b. nothw. Inh. b. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 797
jene Gegenfäge unvermeidlich, Späterhin, nachdem laͤngſt
zu folder erſten Thatſache noch eine zweite hinzugelommen,
boͤchſt vielartige Bermwendung des Heibnifchen wie Juͤdiſchen
unter den Ghriften ſelbſt, war eben Diefe DUB was jene
GSegenfäge in der Werthbeſtimmung für Beides unterhielt,
‚Hier erſcheint alfo jener auswärtige Grund, die Verhältnißs
Brage zu behandeln, in einen mehr inwaͤrtigen verwandelt.
Und in der That, bie zwei Meinungsparteien fuchten des
nun nicht erſt ſich herandrängenden, fondern eingebrungenen
beivderlei Fremben, oder auch nur eines von beider, ſich ents
weber zu erwehren ober noch beffer zu bemaͤchtigen. Die
rigoriſtiſche hat dabei weit mehr gegen Heidenthum als ges
gen Judenthum, die latitudinariſtiſche vielmehr für Jenes
als für Diefes parteigenommen. Eine dritte Anſicht
von beiden Vorwelten bat auch wider diefe zwei Auflerften
Meinungen ein Gegengewicht gebildet. Der Erfolg, fo das
Geſchichtbild im Ganzen, ift unter alle drei vertheilt gewes
fen und — geblieben. J
Die erſtgenannte Thatſache war die des bloſen
Werth-Beſtimmens. Hier hat zunaͤchſt der Rigo⸗
riſmus vornehmlich über Heidenthum, obwol wiederum
in ſich ſelbſt vielfach modificirt, ungefädr fo ſich ausgeſpro⸗
hen, wie einſt Marcion über Ifrael und feinen Moſes. Die
Beier der abfoluten Welt. Nothwendigkeit und Allein ⸗Voll⸗
Fommenheit des neuen Heils kann, nad ihm, nur fo auf
ben Zrümmern der alten Ratur wie NatursWelt gefchehn:
daß Diefe durchweg gelte ald Werk eines dveldsog in feiner
Vielzahl, eines Anti-Logos gleich dem nachherigen Antis
Shriftz als allezeit und überall gleicher Gegenſatz der Alleins
Dffenbarung des wahren Gottes in Ifrael, ebenbarum zu⸗
legt gänzlich in fi) felber zuſammengebrochen.
Solcher totalen Evacuation der heidnifchen Vorwelt
vom Goͤttlichen des wahren Gottes ift auch von Denen,
welche bad Beſtehn eines Gegenfages zwiſchen Gott und
Belt durch die Sünde anerkannten, dennoch Folgendes ents
80% . NRiebner
denthum, mit ihrem mehr ober minder ſich auch nähernden
Suchen und Streben nad) der hoͤhern Geiſtes⸗ und Seelen:
Babrheit, nach dem „unbeannten” Gott und Heil; zumal
im Hinblid auf den wirklichen Zuftand der Ghriftenheit felbk,
in welder ebenfalls eine große Mannicfaltigkeit ber Abftu:
fung erſcheint. Das Entſcheidende bingegen, bi
folcher erweiterten Religionens oder Zeiten » Bergleichung,
konnte nicht Das fein, was vor und auffer dem Ghriften
thum Einzelnen, fondern Das was Allen oder den Meiſten
möglichsgemacht war. Die Gefammthpeit innerhalb der
Vorwelt nun, vom Indus oder Ganges bis Griechenland
und Rom, aud mit Einfluß der iſraelitiſchen, hat ald
Ganzes die fubjective und objective Unzureichenheit dei
Bor⸗ ober Nicht⸗chriſtlichen zugleich aufgezeigt. Das beißt:
die WillendsFähigkeit der. Subiecte, die Heild« Mittel fon
der erften Schöpfung und der Offenbarungen nach ihr recht
zu gebrauchen, und die Wirkungs-Kräftigkeit die ſer Cobjeis
ven) Mittel felbft, Beide zeigen in ihrer Gefammtgefchichte
keine Fortbauer des Erhaltens und des fortfchreitenden Ent:
wickelns zum Beſſeren auf; vielmehr, ausnahmlos einm
Fortſchritt zum Wiederverfale auch des unvollkommen Er
reichten. Alſo, eine uͤberall zweiſeitige Unmoͤglichkeit, die
Macht des Boͤſen und ſeines Wahns zu brechen; eine Fort
führung des Abfalls und der Verlorenheit, dem wahren
Göttlichen gegenüber: d. i. Bebürfniß der Erlöfung burd
dies @öttliche felber.
Eine zweite Thatſache Hat. darin beftanden: def
wirklich die Kräfte und Entwidelungen aus ber erſten
Schoͤpfung, neben denen ber zweiten, in deren neue Zeit
und «Sphäre hereingedauert, in diefer eine nicht blos mega
tive Stelle behauptet ‚haben; daß Fortwir ken eined um
berechtigten wie eines berechtigten Bördriftlidhen in de
Chriſtenheit ſtattgefunden hat, Won Anfang an, Schon kt
iohanneifhe Prolog zu Urgeſchichte chriſtlicher Zeit befagt,
daß die Finſterniß das in fie hineinſcheinende Licht nicht
. Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chtiſtl Rel.⸗Geſch. 803
begriffen. Judiſches und Heidniſches hat zum neuen Got:
tesreichs·Baue, bald nad) deffen Grundlegung, ſich zudräns
gend feine Spreu wie feine Steine herzugetragen, mit denen
es einft feine Tempel baute, Die zwei obengenannten, ſich
wechſelſeits überbietenden Vorſtellungen bed Verhaͤltniſſes
zwiſchen Chriſtlichem und Vorchriſtlichem ſind auch Geſtal⸗
tungen dieſes Verhaͤltniſſes geworden, und als ſolche ſich
gleich⸗geblieben. Der kirchlichen Chriſtenwelt, von welcher
der Schluß auf die nicht ⸗ kirchliche ſich ſelbſt⸗ergiebt, iſt's
nie ganz gelungen, die zwiſchen Particulariſmus und Syn⸗
kretiſmus hindurchgehende Bahn des ſpecifiſch Chriſtlichen
feſtzuhalten, deſſen Weſenheit als der einzigen Univerſalreli⸗
gion zu bewahren. Auch in ihr, obwol weniger als in man⸗
chen Religionsparteien und Wiſſenſchafts⸗Schulen oder in
den Welt:Staaten, zeigt ſich Beides: Ausſcheidung mit dem
Chriſtenthum vereinbarer, Einſchmelzung mit ihm unverein⸗
barer Beſtandtheile, aus beiden Vor-Religionen felbft, oder
aus ben unter deren Einfluſſe flebengebliebenen Kreiſen.
Die Kirchliche Chriftenheit, ungeachtet ihrer wieberum nad
Raum und Zeit mannichfaltigen, überbied zwiſchen Petrinis
ſchem oder Paulinifhem ſchwankenden Selbftgeftaltungen,
fie hat allerdings vorzugsweife vor der übrigen Chriſtenwelt
auf ihrem pofitiven Grunde ſich errichtet und geftanden, Und
wäre ihr Fortbauen auf diefem noch unvollkommener ges
wefen, als e8 war, bann wide ber Gefchmad einer viel:
mehr Welt: Bildung und Gefinnung als Wiffenfhaft der
Gegenwart fir den Rococo-Styl eines mobern santifen
Nichtchriſtlichen, weil e8 zugleich nicht:religids iſt, noch fruͤ⸗
ber mit Chriftenthum und Religion gebroden haben. Gleich«
wol ſteht anbererfeits geſchichtlich feſt: daß Kirchenchriften-
thum ber principale und nicht abfolute, der centrale und
nicht erclufive Herd und Kreis chriftlihen Geſchehns gewe—⸗
fen; daß es mit biefer Einſchraͤnkung der xarigam des
Chriſten⸗Verderbens war und iſt. Aud einzelne feiner Öfies
der als ſolche rangen nad) einem Antheil an der menſchlichen
Tpeol, Stud. Jahrg, 198. “
804 Niebner
Seite des ſich Vollbringens chriſtlicher Schöpfung, Wit
Sicherheit öffnet oder fchließt die Schranken Der allein,
welder am Anfang das „Werde” dieſer höhern Schöpfung
ſprach. Alſo: die Sieges⸗Geſchichte der chriſtlichen Religion
gegenüber beiden Vor⸗Religionen bietet, ihrem ſocialen und
individualen Inhalt nady, eine negative wie pofitive Geite,
Und dad Heiden: oder Judenthum ber Chriften bat, für
fein eigened Verſtaͤndniß, dad Heiden- oder Judenthun
der Heiden ober Juden vor ober neben Jenem zur
nothwendigen Vorausſetzung.
Der Schluß aus Diefem allen, für Geſchichte der
chriſtlichen Religion und blofer Chriftenheit zugleich, kann
nur folgender fein. Diefelbe hat ihren hoͤchſten Beruf barin:
naͤchſt den Stiftungs-Urkunden eine Mitquelle zu fein fir
die vor Allem nothwendige Erkenntniß der Theokratie,
welche als Ghriftofratie ſich vollziehen will, und welche ge:
ade. in biefer Form den meiften Welt-Widerſtand gefunden
bat (was fie ſchon ſelbſt bei ihrer Gründung als ihre Zu:
kunft verlündigte), Aber die Gefchichte ſtrebt nach an:
naͤhernder Erfühung ihres Auftrags dann allein, wenn fir
in den Umkreis ihres Inhalts möglihft alle ihrem Gegen:
fland gegebene Formen zieht; damit dieſe an dieſem fih
meſſen laſſen. In Vergleich mit dem Chriftlihen Chriſti
aber nicht ebenfo in Vergleich mit dem der Chriften:
beit, war das heidnifch oder ifraelitifch Wors ober Neben
riftlide nur die den alsdann gekommenen Tag verkündi:
gende Nacht, der vom Licht geworfene Schatten. Darſtel
lung ebenfofehr der hiſtoriſchen Chriſtenheit wie des hiſtori⸗
fen Chriſtenthums, d. i, Beider in ihrem nicht immer in
Eine zufammengehenden Geſchichten, muß in ſich aufneh⸗
men den Abriß der Entwidelung des Heidnifchen oder Für
diſchen, wie Beides vor und innerhalb und neben ber
Chriſtenheit hergegangen iſt. Wo felbft Dad negative, neben
bem überall blos ftrebend pofitiven, fich Werbalten zum ge
Tommenen und empfangenen Heil nicht fehlen darf, da haben
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 805
auch die feines Kommens erſt Harrenden oder Nicht⸗harren⸗
den Anſpruch auf eine Stelle. Bon Latitubinarifmus ges
faͤhrdet ift mehr bie gefchehende, weniger bie barftellende
Geſchichte.
2. Die verſchiedenen Beſtimmungen bes Umfangs.
Wie fehr Erweiterung bed Inhalts chriftlicher Geſchicht⸗
Darftelung Bedürfniß fei, das erhellt‘ zuvoͤrderſt an zwei
Aufferken Methoden geſchichtlicher Welt: und Chri⸗
ſtenthums⸗Auffaſſung. Nach beiden zeugt die Geſchichte
überwiegend für den Sieg der Welt über das Chriſtenthum;
ald den unter anderm beöhalb nothwendigen Ausgang ihres
langen Streites, weil bisher vorherrſchend ber umgekehrte
Ausgang für den allein-möglicyen gegolten hat,
Die eine Methode if grundfäglider Subjecti-
vifmus; weiter verbreitet, ald es den Sicheren duͤnkt,
weil die Worte nicht immer gleich ſinnlos lauten. Da „Alles
in der Welt zulegt blos fubiectio iſt, da Jedes Jedem fo
oder fo erfcheint, je nachdem er auf ben einen oder andern
Standpunct fi} ſtellt oder geftellt findet”: fo ift das facti=
ſche bald Einanderzentgegentreten bald Ineinandersverfhwims
men bes Chriftlihen und Nicht⸗chriſtlichen, überhaupt des
Religiöfen und Nicht:religiöfen, nur eben zu faſſen wie alle
Erſcheinungen in der Welt, wie Ale was überall der Sub⸗
jecte eigenes Werk if. Beides laͤſſt dem Geſchicht⸗Betrach⸗
ter die Wahl, fich das Weltgefchehn zu conflruiren: ent
weder mehr aus der einen, ober mehr aus ber andern jener
äwei gleich fubjectiven Tendenzen und Gaufalitäten. Doch
bat er feine individuelle Subjectivität dem Zeitbewufft-
fein zu accommobdiren, Diefes ift bie fociale Subjectivität,
der Inbegriff aller mit den Zeiten wandelnden Entwickelun⸗
gen. Dargeftellt wird es bald in einer Minderheit, bald in
einer Mehrheit. Aber in beiden Dafeinsformen conflituist
es fih nie als förmliche Societät. Gleihwol oder eben⸗
darum beherrſcht ed ben Gang der Dinge. sa
.806 Niebner
Eine zweite, nur nicht fo univerfal- oder totalsfub:
jectiviſtiſche Methode, Chriſtenthum oder Religion und Bifs
fenfhaft oder Welt in ihrer Wechfelverbindung zu faffen,
iſt erflärter Naturalifmus: Annahme nur phyſiokrati⸗
ſchen ſtatt alles theofratifchen Welt⸗Princips, als des objer-
tiv oder in der That einzigen und wahrhaft progreffiven.
Religiöfe, zumal riftlihe Welt-Betrahtung und Behand:
fung iſt blos eins der fubjectiven Mit:Principien des Welt⸗
geſchehns, wie ſolche auf unteren Entwicklungsſtufen alle
dings auch naturgemäß ſich erzeugt haben. Als ficherer Er
folg der Entwidelung des Denkens und Wiffens, namentlich
durch Philofophie der Natur und Gefchichte, ſteht aber zu
erwarten, die nature und gefchichtsphilofophifcde Erkennt
niß werde an bie Stelle aller biöherigen Religion treten,
alleinige Princip ber Weltgefchichte werden. Dder audı,
nach einer andern Verſion, aus dem unmittelbaren Leben
bes Teiblichen Beduͤrfens gefhöpft und wiederum in baffelbe
- getaucht: ein Univerfal- Humanifmus, als Syſtem all:
gemeinsmenfhliher Willens: Beflimmungen, wird dit
Beichen und Wunder der Religion thun. Einſtweilen bleibt
der in's Chriſtenthum eingeklemmten Weltgefchichtfchreibung
eine zweifache Aufgabe. Einmal, iſt nachzuweiſen die vor⸗
waltend repreſſive Seite bisheriger Entwicklung, die hem⸗
mende Macht vor Allem des religioͤſen Intereſſe ſammt po⸗
fitiver Religion, Und dann, find aufzuzeigen bie zerſtreuten
Spuren von einer doch auch progreffiven Geſchicht-Seite
fon bisher. Dort wird erkannt die Nothwendigkeit eine
Befreiung; bier erfcheinen die Anfänge eines Freiwerdent
— Hiernach beffimmt fi die Stele und Wechſelſtellung
der zwei Principien in Welt und Weltgeſchichte, entweder
des Religiöfen und Chriflichen ober des Nicht-religiöfen und
Nicht⸗chriſtlichen. So nämlich: daß diefe zwei gar unglei⸗
hen WeltsElemente, das accidentiel eingedrungene und dad
ſubſtantiell einheimiſche, das hyperphufifhe ober transfen:
bentale und das hylozoiſtiſche ober immanente, im hiſtoriſchen
Umfang f. d. nothw. Zah. d. allg. chriſtl Reh-Gefch. 807
Darſtellen in zwei moͤglichſt geſonderte Sondergeſchichten
auseinanderfallen: in eine Kirchen. oder Theologen⸗ ober
Frommen · Geſchichte, und in eine Staaten» ober Voͤlker⸗ nebſt
Wiſſenſchaft· und Kunft-Gefhichte; kurzweg, in Kiechens
und in Welt· Geſchichte.
Allerdings find, durch beide „ganz moderne” Welt⸗ oder
Geſchicht⸗Anſchauungen, die zwei ehedem allein⸗her rſch e n⸗
den noch keineswegs aus ihrer Vor-herrſchaft vertrieben,
Diefer Iegtern beiden gemeinfames Weſen ift: Anerkenntnig
des Religiöfen und des Nichtsreligiöfen, des Ehriftlichen und
des Nicht ·chriſtlichen, als der zwei Kräfte und Kreife, welche
mindeſtens auf noch lange hin die naturgemäße oder göttlich
geordnete Beftimmung haben, neben einander zu wirken unb
zu beſtehen. Allein, im Beflimmen über das normale und
über dad factifche Verhaͤltniß zwiſchen diefen zwei Princi⸗
pien und Reiben, in Hinficht auf deren wechfelfeitige Stel:
lung gleichwie auf ihren größern ober beſſern Antheil am
allgemeinen Geſchehn, gehen bie zwei Anfchauungen nahe
bis zu Gegenfägen auseinander, Bezeichnet koͤnnen fie wers
den, nicht eben fehr richtig, aber auch nicht ganz falfch, als
überwiegend weltlide und überwiegend kirch⸗
liche Geſchicht⸗Auffaſſung. Das beiderfeits Einfeitige und
Dogmatiſtiſche beſteht darin: daß fie den Streit, zwiſchen
ſtaatlichem oder wiſſenſchaftlichem oder gemeinbürgerlihem
Weltthum und geiftlihem oder ſonſtwie eng s geſchloſſenem
Kirchenthum, nicht bloß als ihren Inhalt darlegen, fondern
auf deſſen Wahl und Faſſung einen beflimmenden Einfluß
üben laſſen.
Die vorwiegend weltlicye Welt⸗ und GefchichtsAufs
faffung erfennt das zugleich religiös beflimmte Ethis
ſche wol nominell fo an, wie es im Chriſtenthum auftritt,
als nothwendiges und oberſtes MitsPrincip der menfchlichen
Dinge. Doc die in deren wirklichem Gefchehn ihm zuers
Tannte Stellung ift mehr eine unters und nach > geord⸗
nete; in Vergleich mit dem Phyſiſchen und Logifchen, in
kraft auf die Welt, ihrem noch höheren Maße nach, fchen
erfennbar, wenn auf die höhere Kraft des Religidien
oder auch nur bed Ethiſchen überhaupt bingewiefen if.
Die Diefem, mehr als allem Andern, eignende Wirkung auf
den Menſchen ift die Gefinnung. Keine andere, phyſſch
oder logiſch herbeigeführte, Beflimmtheit des Menfchen exfafft
und umfafft Diefen fo völlig in feiner Selbſtheit und Gary
heit, macht fo fehr den wefentlihen und vollſtaͤndigen Man
ſchen zum „Subjecte” feiner Thaͤtigkeit, verärkt und com
eenteirt in diefer fo mächtig feine Kraft, erficedt dern Em |
fluß auf Willensbeftimmung fo weit über eine große Zahl |
der ſocial verbundenen Menfchen, erreicht ein fo durchbrins
gendes Eindringen in alle Bildungs- und LebenssKreif,
vermag fo unmittelbar alle biefen gewidmete Kräfte oder
Thaͤtigkeiten deren befonderem Ziele felbft erſt näherzuführen,
wirkt fo in den Einzelnen auf das Ganze und durch ein
Ganzes auf deffen Einzelne. Nursäufferlicher Beobachtung
freitich entgeht ſehr leicht ſchon das Wirken bed Gedankens
auf den Weltgang, der Einfluß intellectueller ſcientifiſcher
Menfhen-Entwidelung auf das flaatliche Volksleben mit
feinen weiterſchreitenden Bebürfniffen, Und noch ungleich
zarter ober feiner find die Fäden, mit welchen das (Im Gu⸗
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.-Gefch. 809
ten ober im Böfen) fittlihe Gefinnetfein fich in's Weltge-
ſchehn einwebt. Doc, diefe Schwierigkeit des Auffuchens
feiner Wirkſamkeit ift nicht fo groß, wie der Reihthum an
Beugniflen von ihr. Die Forberung welche das gemeinfte
Humanitaͤts⸗Princip an allgemeine oder Menfchheit-Befchichte
ſtellt, daß Solche möglichft im Intereffe Aller auftrete, fie
koͤnnte allein ſchon jenes überwiegend = weltliche Gefchicht:
Berfahren verurtheilen, mit feiner unverhältnigmäßigen Zu⸗
rüdftelung Deffen, was thatſachlich allezeit und überall
der großen Menfhen: Mehrheit ald der Nero des Weltlichen
ſelbſt ebenfo gegelten wie gedient hat. — Das öfters Unzu⸗
zeichende der Achtung, welche der fittlichen Weltmacht in der
Weltgeſchichtſchreibung wird, kann nicht zweifelhaft
fein. Darum kann die Trivialität vorftehender Erinnerung
an biefelbe nicht eine allzu große Schuld fein.
Die vorwiegend Firhliche Welt: und Geſchicht⸗Auf⸗
faſſung hält ungleich fefter, ald jene weltliche, an des Reli»
giöfen und Chriftlihen notwendiger Weltherrſchaft. Die
Form und Sphäre indeß, in welcher Diefe ſich vollziehe, ift
ihr, mehr oder weniger ausfchlieffend, die Kirche in rein⸗
geifklicher Geſtalt. Solcher Ekkleſiaſticiſmus vindicirt
einer Standes⸗Prophetie mindeſtens relativ, den weltlichen
Verſonen wie Dingen gegenüber, den Alleinbeſitz des Pneuma,
des Princips zu chriſtlicher Welt. Er. vindicirt hiermit der⸗
ſelben nichts Geringeres, als die Immanenz der in ihr ſich
tradirenden oder ſuccedirenden Gottes⸗Kraft und Befugniß,
nach dem durch ſie vermittelten Goͤttlichen dem durch's Chri⸗
ſtenthum eroͤffneten Goͤttlichen alle buͤrgerliche Weltgeſtaltung
und allgemeinmenſchliche Weltbildung zuzuführen. Dieſer
Kirchen⸗Begriff, theilweiſe auch auſſerhalb ſogenannt katholi⸗
ſchen Bezirkes, hat da, wo er ſich folgerecht hiſtoriſch durch
zuführen unternahm, die Welt: und Kirchen⸗Geſchichtſchrei⸗
bung zu einem Gomplement der mangelhaften Welt» und
Kiechen- Wirklichkeit gemacht: d. h. zu einer Beweisführung
für dad in Diefer unerreicht Gebliebene, als ein wenigfiens
810 Niedner
in Zukunft noch zu Erreichendes und Erreichbares. Dabei
iſt zu Grunde gelegt eine Eintheilung geſammten Geſchicht
Stoffe, welche dem Religioͤſen und Chriſtlichen, im Gegens
über der wirklichen Welt, eine einerſeits ſehr ſchroffe und
andererſeits fehr fchlaffe Stellung giebt; wie Dies eben im
Weſen jener KirchenTheorie liegt, Den einen Theil bes
Inhalts folder Geſchichte bildet „das chriſtlich religiöfe Ge:
ſchehn“: als zu Stande Gelommenes entweder durch bie
geiftliche Kirche unmittelbar felbft, oder für fie durch Welt:
flaat und Weltbildung in ihrem Dienft und unter ihrem
Gebot, Den andern, nach Beſchaffenheit und Ansbehnung
ganz ungleichen, Theil bildet das Nichtsreligiöfe und Nicht
chriſtliche. Deffen Inhalt wiederum ift ein zweigetheilter.
Er enthält alles nicht kirchen⸗religioͤs und nicht kirchen ⸗chriſt⸗
lich Entflandene und Gefaflte, Diefes ift daher theils ſicher
nicht und jedenfalls nicht ſicher wahrhaft Religiöfes oder
Chriſtliches, theils nicht nothwendig unter den Einfluß der
Religion oder des Chriftentyurss Fallendes, religioͤs oder
chriſtlich Gewichtloſes, wenn auch nicht ganz Gleichgültiges.
Für ſolche Verhaͤltniß⸗Beſtimmung, zwiſchen geiftlicher
Kirche und dem Welt: oder Geſchicht-Inhalte chriſtlicher
Beit, Tag ein fcheinbarer Berehtigungd-Grumd ver:
poſitiv oder affirmativ, in der Idee chriſtlichen Gemeinwe⸗
ſens; negativ, in der Wirklichkeit aller weltlichen Kreife ihr
gegenüber. Die Weltnothwendigkeit der Integrität und der
Kraft chriſtlicher Weltreligion forderte, zur Wahrung diefer
Beiden, zur Sicherung ihrer Aechtheit und Wirffamkeit, eine
eigene Stelle und eine entfprechende Stellung der Kirche.
Der Sinn, in weldem Eegtere neben Staat und Schul,
als eigene Anftalt neben biefen zwei Anflalten, durch's Cpri-
flenthum felber eingefegt iſt, bildet die hochwichtige aͤuſſere
oder formale Seite des Wefen:Unterfcheidenden biefer Reiz
gion von allen andern Religionen, Derfelbe hat aber im
gemeinen geiftlihen Kirchen⸗Begriffe nicht feinen vollſtaͤndi⸗
gen und reinen Ausdruck erhalten, Die urchriſtliche Ein-
Umfang f. d· nothw. Zap.b. ag. Geifl.Rel-Gefä. 811
fegung der Kirche, als befonderer Anſtalt zu Religions⸗Ver⸗
tretung, fland gegenüber der (im Morgenlande üblichen)
mechaniſchen Zufammenwerfung und Vermiſchung aller drei
Kıgife menſchlicher Entwidelung, ungeachtet deren noch voͤl⸗
liger Ungleichartigkeit, ſchon vor irgendwie vorgefchrittener
wirklicher Herrſchaft der Religion über alled Andre, Eben⸗
diefelbe fland, und zwar noch weit mehr, entgegen ber
(griechiſch⸗roͤmiſchen) Unterordnung des Religisfen unter das
Andere, welde ein Durchdrungen⸗werden des Legtern vom
Erſtern vielmehr gefährben muffte als gewährleiften konnte.
Allein, fie hat nicht anftatt jener Wermifchung eine Sons
derung oder Entgegenfegung, und nicht flatt jener Unterords
nung des Religion-Wertretend unter das Uebrige eine nur
umgefehrte Unterordnung alles Uebrigen unter das Religion:
Vertreten in der Weiſe eingefegt, wie Beide in gemeinem
Kircgenbegriffe und Kirchenthume angefirebt worben find.
Deſſen Abweichendes von feiner Einfegung ift zunaͤchſt:
daß der Anſpruch an Weltherrſchaft übergetragen worden
von der Religion felbft auf Deren blofe Vertretung und
Vertreter, ald ein den Laien gegenüber gleich unbedingt güls
tiger, Aufferdem: daß die Unterfchiedenheit „geiflicher und
weltlicher” Perfonen und Dinge Grundfag geworben ift ald
eine für Kirchenthum fubftantielle und permanente, welde
ſtets diefelbe bleiben oder auch zu Entgegenfegung vorſchrei⸗
ten koͤnne, nicht zu allmäliger Verminderung beſtimmt fei,
Ueberdied hat eine zweifache Wirklichkeit, die der Kirche und
ihrer Welt⸗ Umgebung, jene geiſtlich⸗kirchliche Eintheilung des
Geſchicht⸗Stoffes als undurdführbar erwieſen. Die fo fih
faſſende und geftaltende und flellende Kirche iſt nicht in dem
Grabe, wie es zu ſolcher Eintheilung erforderlich wäre, das
Drgan geworden für Erhebung der Religion zum Princip
der Welt, ihrer Wiflenfchaft und ihres Staats. Sie ift for -
gar nicht alezeit und überall und in allen nothwendigen
Beziehungen, für nur Chriftliches und für alles Chriſtliche
und für alles mit Diefem wefentlih Bufammenhangende,
82 Niedner
das Centrum geblieben oder geworben. Und das iſt geſchehn
bald durch ihre eigne Unvollkommenheit, bald durch der
zwei anderen Kreiſe entweber unberechtigtes ober berech⸗
tigtes ſich Zudraͤngen. und Wiberſtreben. — Demmach
übernimmt hiſto riſche Unt erſuch ung des chriſtlichen
Lebens⸗Umfanges den hiſtoriſchen Beweis baflır: daß fo
geiſtlich⸗geſchloſſen kirchliche Auffaflungsweife Dem, was im
Chriſtenthum begründet und in der Epriftenheit vorherrſchend
geweſen, weit näher ſtehe, als jene uͤberwiegend weltliche
Auffaffung. Aber fie vermag die in dieſer Dafeindform bar:
geſtellte Chriſtenheit nur ald den an Inhalt reichſten, nicht
als den: alleinigen chriſtlich religiöfen Lebenäßreis aufzuzeigen.
8. Das Map einer Erweiterung des Gelqih /⸗Inhaltes.
Gegenüber beiden zulegt genannten Arten, dem Religis
fen oder Ehriftlichen und dem Nichts religiöfen oder Nicht:
chriſtlichen ihre Stellung zu einander und in ber Weltgeſchichte
anzuweifen, fleht eine dritte Art; nichts Anderes ans
forechend als ihr gleiches Recht, fich auch vorzulegen in an
führender Geſchichte, zu ihrer Bewährung oder Nicht:Be
waͤhrung. Sie befteht einzig in umfänglidherer und
durdgeführterer Bufammenfaffung ber Geſchiche
des Chriſtenthums mit der Gefchichte. der Welt. Und fi
berupt auf einer gar nicht neuen Faflung der Begriffe
von biefen zwei Geſchichten. Nach derſelben iſt der
erſtern Gegenftand nicht Chriſtenthum allein, fondern zugleich
blofe nach Solchem blos firebende Ehriftenheit, Nach eben
derfelben ift ber letztern Gegenftand nicht Weltthum allein,
fondern die unter des Chriſtenthums Einfluß oder Zukunft
unmittelbar oder mittelbar geflelte Welt. Solche zuſam⸗
menfaffendere Darſtellung fol keineswegs eine combimirte
Kirchen⸗ und Welt⸗Geſchichte fein, auch nicht eine Verbäit:
nig:Sefhichte der Kirche und Welt. In beiden Film
müffte der ganze Inhalt, welchen die das Religiöfe aumlie
genden Kreife im Verbande mit Diefem gehabt haben, Rit
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. hriftl. Rel.⸗Geſch. 813
Gegenſtand des Darftellens werben. Sie fol nur gleiche
mäßiger Beides geſchichtlich erkennbar zu machen fuchen,
den Unterſchied wie den Zufammenhang ımd den Zus
fammenbang wie ben Unterfdieb, zwifchen Religiöfem -
und Nictsreligisfem ober Chriſtlichem und Nicht⸗chriſtlichem.
Solche Gleichmaͤßigkeit ſcheint ihr fiherer möglich bei ihrem
fi Zufammenfaffen in Eine Geſchichte, als wenn fie id
ſtreng von Weltgeſchichte abgefchiedener Kirchengeſchichte zur
Darftellung gebracht werben fol. Denn fo begegnet es
leicht beiden Gefchichten, daß fie, vorzugsweiſe entweder auf
nur⸗weltlichen ober auf nur⸗ kirchlichen fogenannten Stands
punct ſich ftellend, nur von da herab jenen Unterſchied oder
jenen Zuſammenhang erbliden, — Hiermit erweitert fi nun
zwar folcher Gefchichte der Umfang ihres Inhalts wie Ges
fichtötreifes; fie wird fetigere Gleichbeachtung und Aufeinan«
derbeziebung der Auffens wie Innenseite des teligiöfen
und chriftlichen Geſchehns. Aber eben hiermit vergrößert
fi ihr andy die Pflicht, den Einfluß der Subjectivität auf
ſolche Erweiterung möglihft zu vermindern, Solches ge⸗
ſchieht, indem fie dad Maß der Erweiterung von ebens
daher empfängt, wo die zwei gleichmäßig bervorzuhes
benden Stüde liegen, der Zuſammenhang und der Unterſchied
zwiſchen Religiöfem oder Chriſtlichem und Nichtsreligiöfem
oder Nicht⸗chriſtlichem. Nämlich: aus demjenigen Zufams
wmenhange und Unterfciede zwifchen Beidem, welder als
theils vom Stifter felbft eingeſetzt, theils erſt nach ihm an⸗
genommen biftorifh nach weisbar ſich zeigt. — Doch
iſt Hier durchaus Abſicht, nur einige der weit mehrern
hiſtoriſch begründenben Momente heranszubeben.
Eh riſt i Heils⸗Weltordnung war Religion im (ihr allein
eigenen) höchften Sinne diefes Wort: Idee und Kraft aus
Sott in Eins, mitten hinein ſich ftellend in die Menſchheit,
zu deren Erlöfung. Ihr Weſen, ganz an feine Perfon in
und auffer deren fihtbarem Exfcheinen geknüpft, vollzog ſich
als Beides: ald die zundchft nothwendige und ſtets nothwendig
814 Niedner
bleibende Werföhmung oder Suͤndenvergebung durch Goties
Gnade; als Heiligung und Erleuchtung durch Gottes⸗Geiſt.
So war fie ethiſche Neus Schöpfung, Wiedergeburt; mit
daran, wie an alle Schöpfung, fich ſchlieſſender Regierung.
Hiermit war zwifden beiden Schöpfangen ein untheilbers
zweifaches Verhaͤltniß gefeht. Won deffen zwei nothwendi⸗
gen Seiten bildete bie eine ber Weſens⸗Unterſchied:
die ungleich höhere Wirkungs:Kraft und Wirkungd-Art der
jest verlichenen Mittel; diefe foliten, wie ehedem, zu Anle:
gen im Menfchen felber werben, aber ihn zu einem wirklich
neuen Menfchen entwideln, nach GSottes jegt gott ⸗ menſchlich
erſchienenem Bilde, Die andere Seite bildete der Lebens
Bufammenbang der neuen Kräfte mit den alten: dieſe
ſollten durch jene theils überwunden und verdrängt, theil
geheiligt und gefteigert werben, für fie theils Gegenſeh
theils Gegenftand fein. So forderte eben ber Unterfhie
in Bezug auf ben Zuſammenhang Beides, deffen theils Auf:
loͤſung theils Fortbeſtehn.
"Für alle Folgezeit nach der Stiftung hat ie
nie überwundene Hauptfchwierigkeit darin gelegen, die zweite
Schöpfung ald ganz wefenttihe Umſchaffung und ald deh
nicht völlige Vernichtung der erſten zugleich zu faflen; neh
mehr basin, ſolche Wereinbarung des Wefens- Unterſchiedi
und des Lebens· Zufammenhangs beider Schoͤpfungen auf
das in nicht⸗chriſtlicher Welt Gegebene einzeln anzuwenden.
Das gewöhnliche dreierlei Meinen hat hier neben und gegen
einander geſtanden. Grad und Umfang ſowol ber fchon ur
ſpruͤnglichen Zureichenheit oder Unzureichenheit, wie der nad
gefolgten Entwicklung oder Verderbung ber Menſchen⸗Ratu
erſter Schöpfung, baben dreifache Abſchaͤrung erfahren,
Eine dritte hat zwiſchen Natur» Eultus (Naturthum fait
Chriſtenthums) und Natur⸗Verwerfung (abfolutem, fallhen
Supranaturalifmus) geftanden, gleichwol auch nicht zrifchen
biefen zwei Aeufferften vermittelt, mach deren theoretiſcher
und praktiſcher Beziehung und Bedeutung. Die Unmolk
Umfang. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 815
des Geſchichtſtoffes, in Folge dieſes Thems aller Themen,
iſt eben die in der Wirklichkeit liegende Nöthigung, in das
Einzelne der durchweg von diefer Verhaͤltniß⸗Frage berührs
ten Erſcheinungen einzugehn, Denn nur in biefer dreis
fachen Stellung, welche die Gefchöpfe der zweiten Schds
pfung zu beiden Schöpfungen, in ihrem Meinen und Thun,
ſich gegeben haben, wird die wirkliche Geſtalt der chriſt⸗
lichen Schöpfungsseit erfannt, — Die Nothwendigkeit einer
Erweiterung bes Geſchicht⸗Inhaltes chriſtlicher
Religion in Chriftenheit, oder was Daffelbe ift, einer Ver⸗
engerung ber fogenannten „Auffenwelt für Chriftenthum”,
erhellt aus deffen Behandlungs» Befchichte ſchon in ihrem
oberflädlichften Umriß; fogar, wenn mehr gefehen wird auf
die Kirchen und Religionsparteien, ald auf die von ihnen
Abgewichenen,
Die Behandlung des Chriſtenthums zundhft
als objectiver Religion, in praftifher genau fo wie
in theoretiſcher Hinſicht, iſt Schwebung zwiſchen Auslegen
und Entwickeln geweſen; je nach Hervorhebung und Faſ⸗
ſung der theils materialen theils virtualen Seite ſeiner Po⸗
fitivitaͤt. Nach Beidem iſt der Chriſten religiöfe wie gemeine
Lebensführung nicht als bloſe Chriflenthums-Aneignung ges
ſchehen: weder rein aus der pofitiven Religion heraus, noch
mit einem an ihr allein gebildeten Geifl, Wielmehr, unter
weſentlichem Einfluffe eines Nicht⸗chriſtlichen und Nicht⸗reli⸗
giöfen; gleichviel, ob Solches aus vordpriftlicher Zeit und
nichtepriftlicher Umgebung ſtammte, oder in Ghriften felbft
aus ber alten Natur ſich erzeugte, Dogma und Cultus,
Difeipfin und Verfaffung, in ihrer Materie und Form, tras
gen Charaktere oder Spuren von Fremdem: vor oder neben
dem Chriſtlichen anderweit entwidelten Nationalitäten und
Politieen, feientififchen und aͤſthetiſchen oder allgemeinen Bils
dungen, bis herab zu Vorſtellen und Sitte der Maffen, Die
Dualität chriſtlicher und nichichriſtlicher, gleichwie religioͤ⸗
fer und nichtreligiöfer, Lebend-Weftandtheile war an fich bes
816 Niedner
gründet; in des Stifters eigenem Antnüpfen feiner Schöpfung
an bie erfie, nicht blos in dem panlinifchen „Alles ift Euer”.
Uber, wo nun überall im Einzelnen, gegenüber bem
weber ſynkretiſtiſchen noch ertlufisen Univerfalifmus der Belt:
zeligion ſelbſt, entweber Rechtverfländnig oder Misverſtaͤnd⸗
niß, entweder Klarheit und Entfciebenheit oder Dunkel und
Berwirrung fi) finde, das ift eben die fo tief hinein füh-
sende Frage. Auch für die Gefhichte; obgleich Diefe
gänzlich nicht felbf Urtheil fällen, weil fie aber biſtoriſch ſic
begrundende Urtheilskraft bilden fol.
Bezeugt if folder Stand der objectiven Chriſtlich⸗
keit der Ehriftenheit durch den inner- und auſſer · kirchlichen
Geſchicht⸗Inhalt, in allen ihren drei Zeiten. Zwar,
dad gemeine griechiſch⸗roͤmiſche Religions-Unwefen ward ziem:
lich zertrümmert, mit dem Griechenroͤmer-Reich zuſammen.
Auch das guoſtiſch⸗manichdiſche Nebeneinander · ſtellen zweier
Religions⸗Stufen innerhalb Einer Religion, obwol nie auf:
gegeben, ift mehr blos ald ReligionssKriticiimus immer neu
wieder aufgetaucht. Das Einwirken der moflemifhen Ge
waltreligion auf das Innere der Ghriften blieb nur eben
das helleniſtiſche. Religidfe Germanen: und Stawen:Ratios
nalität gehört größerntheil® zu dem durch's Ghriftenthum
Untergegangenen. Hingegen, in juͤdiſcher gerabe ſtatt pros
pheten · hebraiſcher Religion, im griechiſch⸗ römischer Wiſſen⸗
ſchaft und Kunſt und allgemeiner Bildung, und zwar der
Sinnes · wie Vorſtellungs⸗Weiſe nach, hat dad Alterthum
in die nur zum Theil „neue Zeit” hereingedauert. Im
Eklekticiſnus des Iubaifirend und Hellenifirens
und Romanifirens ber Ehriften zeigt ſich, ald bad Vor⸗
waltende, blofes Streben nach gleihem Vermeiden der
Einmiſchung und ber Ausfchlieffung ded Ftemden. Die
germanifche Rationafität, unter den der neuen Religion fpd
terhin zugewandten bisjegt die einzige von probuctivem
Vermögen, hat große Anftengungen gemacht, um in chrife
üUcher Weiſe ſich in bie weltgeſchichtlichen Wölker einzureiben,
Umfang fd. nothw. Inh. d. allg. hriftl.Rel.-Gefch. 817
als Trägerin chriftlicher Gultur an der alten Cultur · Voöͤlker
Statt, und doc mit Deren Bildung al einer ihrer Mits
grundlagen zugleich, Aber, nach wie vor ihrer Kirchen:
Verbeflerung iſt Diefelbe unter ſich vielgetheilt geblieben,
über Das was entweder chriftlichs oder undhriftlich- Nichts
chriſtliches ſei, wo die Grenzſcheide diefes zweierlei Nicht:
chriſtlichen im Einzelnen liege. Gleichwol, vom Auffinden
und Feſtſetzen dieſer Grenze, nicht blos in vager Allgemeins
beit, fondern als des Maßgebenden für Aufnehmung oder
Ausweifung alled einzelnen Nichtschriftlichen, fogar für reli⸗
gioͤſe Behandlung alles einzelnen Nicht⸗religioͤſen, hing bie
&öfung der Aufgabe aller Zeiten ab. Solche aber war: auch
menſchlicherſeits die zur Weltreligion beſtimmte Religion dies
fen ihren Ziele näher zu bringen.
Die Behandlung des Chriſtenthums als fubs
jectiver Religion blieb ſtets mangelhaftes Exfireben der
Zotalität der Beziehungen, in welchen der einzelne Be⸗
kenner zeligidß fein fol. Chriſtlich fubjectiver Religion war
es weſentlich, den ganzen Menſchen für fich zu fordern, for
lidariſch als Subject des Lebens in ihr durch fie. Im Auf:
faffen und Ausüben diefer Religion follten zu proportionirz
tem Antheil vereint fein alle vier Hauptformen der Mens
ſchennatur, als ihrer glei fähige und bedürftige: Sinn
lichkeit und Gemüth und Denken und Wille, Diefe
innere Univerfalität des Chriftentyums im Menſchen, ganz
gleich der Aufferen im Raume, ift noch nicht gefchichtlich ges
worden; vieleicht Baum mit wenigen Ausnahmen, Das beis
weitem Gewoͤhnliche in den religiöfen Lebens=Erfcheinungen
auch der Chriften war allezeit: in ben verfchiedenen Kreis
fen und Zuftänden menfdlihen Naturlebens nur vorzugs⸗
weife in ber einen ober andern jener vier fubjectiven Daſeins⸗
und Wirkungs⸗Formen der Religion, wie jede gerade ber
befondern Befchaffenbeit ſolcher Kreife oder Zuflände ent:
ſprach, religiöfeß Leben darzuftellen.
Alſo: Behandlung bes Ghriftenthums als objetiver
818 Niebner
Religion bietet die größte Mannichfaltigkeit, mit welcher fein
erfied Srundverhältnig, dad zum Nicht-chriftlichen und Nicht⸗
teligiöfen, theoretiſch vorgeſtellt und praktiſch aufgeſtellt wor:
den. Die Linien derſelben haben in Alles ſich verlaufen.
Gleicherweiſe Behandlung: deffelben als fubjectiver Religion
bat meiftens, ähnlich wie bei den Nicht:Chriften, mehr nad
den Befchaffenheiten der nichtsreligiöfen Lebens⸗Zuſtaͤnde ſich
zertheilt, als in die Einheit aller Formen chriſtlichen Religion-
Lebens fich zufammengefchloffen. Demnach: damit das Ge:
ſchicht⸗Bild von dem (theoretifch oder praktiſch) wirklich
geführten veligiöfen Chriſtenleben auch in der quantite
tiven Beziehung wahr fei, find alle feine zerſtreuten
Züge zu fammeln, Folglich: nicht fowol ber „Welt dei
nad chriſtlichem Leben ſtrebenden Shriftenlebend” , vielmehr
der aufferhalb ihrer liegenden „Auflenwelt”, iſt eine engere
Grenze zu ziehen,
Allerdings, Erweiterung des Umfangs für den Inhalt
diefer Geſchichte hat ihre gemeffenen Schranten. Zunddf,
der vollfiändige Einziels Inhalt des religiöfen und des
anberweiten Chriſtenlebens, welches dem Weſen nach Ein
Leben nur erſt werben ſollte, bleibt in zwei Geſchicht⸗Dar⸗
Rellungen zu vertheilen, — Allein, in den Bereich des erſtern
Lebens gehören mit=wefentlich die Gattungen und Haupt:
arten des legtern: d. i. deö Denkens ‘und Handelns in
den Kreifen, welche aufferhalb des Bezirks der Kirchen oder
Religionsparteien und ihrer Theologieen oder Culte ober
Sittengefege Tagen, in Staat und Bürgerthum, in Schulen
wiſſenſchaft und Kunſt, in allgemeiner Bildung und Lebens:
fitte, Diefelben theilten ſich, ihrer Abkunft und Richtung
nach: in Folge-Beftalten auß dem kirchlich- oder theologiſch⸗
Religiöfen; aber auch in Neben: und Gegen-Geftalten, Er:
zeugniffe kirche-⸗freier Wiſſenſchaft oder Bildung oder Denk:
weife, mit bald felbflsreligiöfer bald verflachter Sinnesart.
Legtere Claſſe, eine hoͤchſt mannichfaltige, hat das im ber
Chriſtenheit wirklich geführte religidfe Leben wefentlich mit:
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. el «Gef. 819
befimmt, Selbſt unmittelbar: denn fie iſt keineswegs blod
praktiſch, durch daB Leben ihrer Glieder, fondern ebenſowol
durch eigene Religions: und Bebend.Xheorieen fir eine große
Zahl leitende Norm geworden, Nur nody mehr mittelbar:
denn von ihr find die dufferen Mittel und die Bildungen
und bie Denkweifen und Sinnesarten mit = ausgegangen,
für diefelben Laien und Geiſtlichen, welche das kirchlich ober
tbeologifch feftgeflelte Leben leben folten.
Die Verbiendung eines falfchen Kirchen oder Theolo⸗
genthums, deſſen Sicherheit ohne Seiner-felbft » Gewißheit,
hält dergleichen Goöfficienten, als im „Auffengebiete” ihr
Weſen treibende, für nicht fehr bebeutfame Beftandtheile der
teligiöfen Lebens ⸗Geſchichte in ber Chriſtenheit. Das ift
genau fo „wader kirchlich“, wie die Wornehmbeit vieler (jes
doch keineswegs aller) Vertreter ber Welt-Wiffenfchaft und
Bildung, welchen gemeinschriftliche Religions:Faffung oder
audy überhaupt religidfe Welt:Auffaffung für brav weltlich
gilt, Wol gab es allezeit Männer entweder nur bed Staats
und der Wiffenfhaft und der allgemeinen Bildung, ober
nur geiftlichen Kirchen» und afketifhen Brömmigkeit:Sinnes
und Thuns. Das nody gar unzureichend concentrifche ſich
Bewegen ber zwei hemiſphaͤriſchen Kreife, ungeachtet ihres
gemeinfamen Ziteld und Laufe in „chriſtlichem Weltraum,
hat gefonderten Gefdichts Stoffes genug ergeben. Aber,
eben died Borbandenfein zweier Irgendwie die Relis
gion angehenden Lebendgebiete, mit ibren pofitiven ober nes
gativen Inhalten, Stufenunterfhieben oder Gegenfägen, ift
erſt das ganze Wichtige. Zudem iſt's vollkommen unges
ſchichtlich daB Diejenigen, welche entweder dem Kreife der
unmittelbaren oder dem ber mittelbaren Religionssgörberung
fich Aufferlich zugetheilt fanden, und welche gleichwol nicht
biermit auf einen „entweder religiöfen oder nichtreligiöfen
Standpunctꝰ ſich geſtellt meinten, daß dieſe Beſſeren unſers
chriſtlichen Geſchlechts in allen Staͤnden an Zahl fo gering
oder in ihrem Wirken fo unbedeutend geweſen — Solche
Thbeol. Stud. Jahrg. 1858.
Eu in der Geſchichte ſtreiten.
Jderner, ſcheidende Meffung Deſſen, was einedtheils
das Religidfe und Chriſtliche, anderntheils das Nicht⸗religidſe
mb Nicht⸗chriſtliche gewirkt habe, ober amd) nur, wie dab
Eine des Andern Entwidelung und Wirkungskräftigkeit ge:
fördert oder gebemmt habe, ſolche Darlegung des Neben
und Ins und Gegeneinander- wirken beider Gaufalitäten
(„Pragmatif” benannt, mit einem eignen Namen obm
Zwed und Sinn), fie ift böchftens umd Baum mit annähern
der Genauigkeit und Vollſtaͤndigkeit moͤglich. Schon ans
dem Ratur-Grunde, weil es Modus ded Geſchehns in der
Belt ift, daß gewöhnlich eine Mehrheit vom Urſachen in Zu:
fammenwirten unter fi) zufammengebt. — Allein, dies Welt
geſetz der Urſachen-Verflechtung iſt kein Freibrief für Trig⸗
heit, welche die Schwierigkeit des Unterſcheidens und Ber
gleichens bis zu Unmöglichkeit vergrößert. Umfomeniger, ds
die zwei einander entgegenflehenden fubjectiven. Intereffen
oder Dogmaticifmen die Antheile am Geſchehn umter beide
Goncurrenten, Keligion oder Nict-Religion, Ghriftenthum
oder Weltthum, fo treffend zu vertheilen wiffen! Es bleibt
moͤglichſtes Vergleichen die Aufgabe, ſtetes Gleichbeachten
das Mittel,
4. Der Abfhiuf.
Seſammt⸗Scheluß aus ber thatſachlich realen, nicht
bloß urſpruͤnglich idealen, Welt-Stelung der WeltsReltgion
far deren Geſchichte iſt: daß die ſchwierige Grenzſcheidung
zwiſchen chrifkticher Religions: Geſchichte und Welt⸗Seſchichte
In der That eine unmoͤgliche werden Tann durch Grundſatz;
beſonders bei folgenden drei irrigen Vorausſetzungen.
Eine erfte von diefen ft: wenn Ehriftenthum und
Welt nicht, wie beim Urheber von Ienem und Heiland für
Diefe, fondern wie „Geiflic) und Weltlich“ im ſpaͤtern Kir
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 821
chenthume obne weiteres zu einander geſtellt werben, Ges
nannte je zwei VerhältnißsBlieder entfprechen ſich nur cheil⸗
weife, Denn das Geiſtliche hat nicht ganz das CEbriſten⸗
thum vertreten, ſowie nicht ohne Selbſt · Verweltlichung; und
das Weltliche hat nicht blos Das in ſich dargeſtellt, was
dem Chriſtenthume Welt“ hleß. Chriſti Teleologie forderte
als Eigenſchaft für die Vorbereitung auf die vollendende
irdiſche Zukunft ſeines Reichs, inwieweit Solche auch menſch⸗
licher⸗ſeits durch die Kirche ſtattſinden ſollte, daß in Diefer
eine Anlage gegeben ſei zu Annaͤherung an Zuſammen⸗
wirken Aller fir Ausſcheidung des Welts Böfen aus ber
Menſchen⸗ Welt. Jene Standes⸗ und Kreifed-Unterfheidung
dingegen hat dieſe authentiſch chriſtliche Eigenſchaft, ſolch
allmaͤliges Zuſammenfuͤhren als ihren Zweck in ſteter Ge
genwart und nicht erſt am Ende, nur bei ihrem Auftre⸗
ten in ſich befafft, nachmals ſtets mehr oder minder zuräd«
geſtellt und abgeſchwaͤcht.
Eine zweite irrige Vorausſetzung iſt: wenn nicht bie
unterſcheidung zwiſchen Chriſtenthum Chrifti und Chriſten⸗
tum der Chriſtenheit überall ſtreng durchgeführt wird,
Denn: wol war Erfteres flr Letzteres keineswegs bios ideal
über ipm, als über einem alten Koſmos oder Chaos ohne
Neuſch oͤpfung, ſchwebende Zwedfegung und Norm, fondern
zugleich real in ihm lebensfchöpferifch dafeiende Kraft und
That, Und body bat auch diefe Schöpfung die ewige Ges
bundenheit auch der ethifch erhobenen Phyſis an ihr Höbes
ret, die Ewigkeit eines religiöfen Werhältniffes, nach deffen
dunkleret Seite bewährt: die Geſammtheit der Gefchöpfe
bat nicht blos unter dieſem Schöpfer, fondern weit hinter
feinem Schöpfungss Werke ſelbſt zurädgeftauben, Welches
Gericht aber diefe Unterfcheivung für das Berichterſtatten
habe, dad zeigen Die am meiften, welche eine von zwei Chriſten⸗
beiten in der Gefchichte gefunden haben, entweder eine in der
Kirche ziemlich bis zu Chriſto hinanreichende, oder eine in der
55°
822 Niedner
Welt mehr oder minder entſchieden über Chriſtum hinaus⸗
ſchreitende.
Wir hingegen balten und lieber noch eine Dritte irrige
Borausfegung vor. Es ift die: wenn bei ber Wahl bes
Inhalts für chriſtlich veligisfe Lebens-Befchichte das Leitende
nicht gleihmäßig Beides ift, Dad was der Ghriften Faſſung
und Ausübung ihrer Religion wirklich beffimmt bat,
fei es vorgefchriebenersmaßen, fei ed felbfliermähl
tersmaßen. Das Sollen nicht allein hat bie Blaͤtter die
fer Sefchichte entweder überhaupt mit einem Inhalte, ober
mit hriftlihem Inhalte gefühlt, Ohnehin vermag Gefchicht:
ſchreibung oft genug, bei den Einzelbeſtrebungen und bei
den Gemeinanflalten, nur vom Moͤglich⸗gemachten und nicht
ebenfo vom Wirklich⸗ geworben zu berichten, Die bier ges
forderte Erweiterung des Geſchicht ⸗ Inhalte, vom Normalen
auf alles bebeutfame Factifcge, von Dem was pofltiven Ges
halts war auf Das was negativen Gehalts war, gilt ganz
vorzüglich von ber (hier behandelten) erſten Grundbeziehung
des Ghriftlihen und Religiöfen. Deffen Welend- Eigen
beit, wahrlich fie ift entſchieden genug, um herausserfenn:
bar zu fein nicht blos in feinen Gegenfägen und Entflelun
gen, fondern noch in feinen Wirkungen auf die Welt oder
Nachbildungen durch die Welt, wie weltlich durchbrochen
auch uͤberall ſolche feine Erſcheinungsgeſtalt fei. Ebendeſſel-
ben Geſchichte daher, auch wenn ſie ſo wenig wie ihr Ge—
genſtand ſelber der Welt fich verſchlieſſt, verirrt und verliert
fich nicht nothwendig in Deren Geſchichte. An ihrem eigenen
Ausgangspuncte fich fefihaltend, befchreibt fie mit Eben
diefem einen eigenen Geſchichten⸗Kreis mitten
durch die Weltgefchichte hin, einen in diefer auch felbft welt:
geſchichtlichen; ringend mit ihr um den Preis, für weltliche
ober für chriftliche Weltgeſchichtlichkeit. So als Werfud,
kirchen⸗central und weltsperipherifch zugleich berichtzuerflat:
ten, trägt fie den Namen „Kirchen Gefchichte” vom ihrem
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 823
Gegenftande, von der Anftalt Deſſen, welcher als Herr der
Kirche und Welt durch die Welt geht 2).
2) Rod einmal, obgleih fidher vergebens, fei es gefagt:
dap der Dualifimus von Kirchengeſchichte und Meltgefhiähte in
demjenigen Maße, in welchem er gemeinhin den Inhaltes
Umfang Weider gegen einander abfchliefft, die Beweiskraft ber
Geſchichte entträftet. Denn daß die Geifter bes zweifaden
Segenfages Äber bie Chriſtenthums- Brage, welche jett die
Beit bewegen, durch dogmatifche Bormeln weder zu bannen noch
au verlöhnen find, das liegt zu Tage. Und bie große Chriſten⸗
beit der Gegenwart iſt nicht mehr die einft jugendfräftige Kleine,
als diefe ſchon mit ähnlichen Gegenfägen in ihrer Mitte um
ihr Dafeln rang. Der eine foldye Gegenfag, in einer unter
mehreren Grfdeinungsformen, leugnet den MWefensunterfchieb
wwifhen vorchriſtlichem und chriſtiichem Weltalter, wenn bie
Tiefen und Höhen in beiden an einander gemeffen werden. Ihm
iſt in der überall nur Ginen Menſchennatur ber ebenfo nur
Eine Grund zu Menſchenwelt gelegt. Die vermeinte zweite
Schöpfung iſt nur fpätere Verherrlichung eines biofen Gliedes
in der Eutwicklungereihe des Einen RatursWeifteriebene. Das
von biefem Chriſtus nicht Geſchaſſene, aber Berſtaͤrkte, If das
auf die Entwidlungsbahn feines Geſchlechts neusgeworfene alte
Hemmniß: Religion, Berweifung des Menfchen vielmehr über
ſich hinaus als auf ſich felbft, in allen feinen Beziehungen; for
mit Störung des Raturlaufs, Verlegung bes Raturrehts. Dar⸗
um find alle Menſchen die Rechts-Bubjecte, die zu Berufenden
für- das Werk ihrer Zurücdfährung auf fidy felder; nad der
langen Lüge, gleichdiel od von Böttern ober von Ginem Gott,
welche durch bie alte und neue Weltzeit ſich hindurchgetragen.
— Diefe, an fi nicht neue, Erſcheinung von Auswanderunges
Sucht vieler Gpriftentyjum» Müden wärde unbebeutfam fein,
wenn fie auf der andern Kehrfeite der Gegenwart für bebeuts
ſam gälte und größere Kraft des Miderfands fände. Gier aber
rollt fi auf durchlbchertem Boden ein verwortener Knäuel
Derer, welche noch an die Thatſache einer neuen WRenfchenmwelts
Stiftung feit oder durch Chriſtus glauben. Ihr Streit war
ein ein diſteriſher, jett ift er ein dogmatiſcher, und fo
wird er num ganz gewiß bald aussfein. Nämlich: er iſt weni⸗
ger noch blos daräber, ob die Gtiftung eine katholiſche oder
proteſtantiſche, eine ſupranaturaliſtiſche ober rationaliſtiſche ger
wefen; mehr baräber, was für eine Gtiftung fie gewefen
824 NRieduer
IL Zheorie uns Praxis; Theoretiſches m
Breftifies.
1. Gefhigtlihes Berhältniß Beider im Hervorbringen
des Gtofs.
3u dem duffern Modus, wie alle und fo die Religions:
Geſchichte ihren Inhalt gewonnen bat, gehört das Reben
einander: oder Zufammen=beftchn einer Theorie und Praris
Die große Berfchiedenheit, beim Beſtimmen des Sinnes
ieber von Beiden und des Werbältniffes zwiſchen Bes
den, wie im Allgemeinen fo in Religion und Chriftenthum,
war ein zweiter Hauptanlaß zu Unficherheit über den Um
fang des Inhalts chriftlicher Religionsgeſchichte. Es wird
aber auch dieſes Grundverhaͤltniß, wie ed durch alle Zeiten
ſich herrſchend gefaltet hat, als ein ſolches erweiäber fein,
daß diefer Geſchichte einen vielmehr umfangsteichen als eng
begrenzten Inhalt gegeben habe.
Dies bewährt ſich ſchon bei der vielbehandelten Frage
über die Nothwendigkeit oder Zuldifigkeit, Bedeutung oder
Sinn von Bewgeiv und wodossıv im Bereiche der Relis
gion, oder doch der chriſtlichen, nach deren Wefen und Zwed
anders zu mobificiren, ald für wiſſenſchaftliches und allge⸗
meines Leben, Ginige Beifpiele genügen. In Betreff de
Bsogsiv war fraglich: die Unterſcheidung und Werbindung
nur feientififchen Auslegens oder auch Entwidelns, umd zu
gleich fyeculativen Erforfchens und Prüfens und Weiterfüh:
rens; ebenfo, dad Unterfcheiden und Verbinden nur in den
fein würde, wenn fie die eine ober bie andre geweſen wäre. —
So wird die Frage von den zwei Säöpfungen und MBeltaltern
bort negativ entſchleden in Betreff idres Worhanbenfein, hier
unentfdyieben gelaffen in Betreff ihres Beſchaffeaſeins. Bo,
biefer Beits@rund ergidt nur Dre Mögtiäkelt. daß man leichter
bie In ſich feld gegräntete Rothwendigkeit zugeftehe, bas ger
ſchichtuce Berpättniß awiſchen beiden Schöpfungen als cin
erſtes Srunburchäitniß zu eradten), weiches eine Gefdiäte des
Grißentpums vom Iren Anfang bis Gabe buräyufägeen Jahr.
Umfang f. d. nothw. Zab.d. allg. chriſtl Kel.⸗Geſch. 825
Gegenſtand fich vertiefenden Religiondfinnes, und bis zu in.
telectueller Anſchauung ſich fleigernder Geifted-Exgriffenheit
und Erhobenheit, Im Betreff des zpdrrav: deffen Dar:
ſtellung als Religions-Uebung,, in Formen theils individuell
privater Aflefe, theils gemeinfam öffentlichen Cults; ebenfo
als Meligiond: Ausübung, theild in Glaͤubigkeit beflimmten
Borſtellens und Gefinnetfeins, theils (in Selbſtbeſtimmung
und Thatkraft zu Werken des handelnden Lebens.
Noch tiefer und weiter greifend indeß war allezeit die
Saflung bed Verhaͤlt niſſes zwifchen Theorie und Praris,
Theoretiſchem und Praktifhem in der Religion, Denn in
ihm fchliefit fogar das Weſentliche des ReligionssWBegriffes
felber ſich auf. Hätte über dies Gattungs⸗Berhaͤltniß mehr
Beſtimmtheit und Einigkeit beftanden, dann würde dad Er:
oͤrtern Über die zwei unter ihm flebenden Art: Berhältwiffe,
welche die für Religion gewichtigfen find, ein minder unend»
lies ſein. Schon die Faffung der BerhältnißsGlieder, als
Glaubens und Werke, Glaubens und Wiſſens, war in ihrer
Unbeftimmtheitsund Unvollftändigkeit recht darauf angelegt,
durh Die Bragfellung felber die Löfung zw erſchweren.
Hierzu noch, fo mangelhafted unter fi Zufammienhalten der
zwei Verhaͤltniß⸗Fragen ſelbſt, von Glauben und entweder
Denken und Wiflen, oder Wollen und Thun. So bat jenes
allgemeinere Berhältniß, ſchon dur das Beziehungsreiche
und die Tragweite feiner Natur, audy ohne die unüberfeh-
bare Meinungsverfchiebenbeit über feine Geftaltung, den
Inhalt einer Geſchichte Sri veligiöfen Lebens erweitert
wie verwidelt,
Die Spitze ded Gegenfages der Meinungen bildeten
zwei äufferfte Einfeitigkeiten. Ein ReligionsTheore
ticifmuß fegte dad Weſen ber Religion, und gerade auch
der chriſtlichen, wenigftens bad ihren Begriff erk Erfüllende
und nit blos Vollendende, in „wiflenfaftliches” Denken
und Wiflen. Gin ReligiondsPrakticifmus fehte das
Weſen aller Religion, der chriſtlichen zumal, mehr oder mins
25 Niebner
der fireng auöfhliehlich, in dad Wollen und Thun auf Grund
ces Biiniurum von vorſtellendem ober bentendem Glauben,
Des Borherricdhende blieb allerdings, wenn auch we
niger in praxi el in thesi, bie Wefend: Nothwendigkeit
beider Seiten. Jedoch, mit größter Berfciebenheit unt
BWanbeibarkeit des Meinend und Verfahrens in Betreff dr:
Urt, wie die nothwendig zwei Geiten zu einander ſich ver
halten oder ſtellen müffen. Die zwei Haupt- Arten folder,
beide Seiten anerfennenden, Stellung waren: bald meir
Berſchraͤnkung beider, bis zu einem Zuſammenwirken; ba
mehr Sonderung, mit blofem Aufeinanderbejiehn. — Die
zeigt ſich an ber allgemeinen und an der befondern aͤuſſe
ten Form der Stellung, weldye die Theorie und die Praris
du einander eingenommen haben, indem durch fie dad re
ligioͤſe Chriſtenlehen feinen Inhalt und feine Geftalt erdielt,
Erſtens: Entwidelung wie Wirkſamkeit der Theorien,
und zwar der bes fogenannten Theoretiſchen und Vraktiſchen
zugleich, bat zu ihrem Ausgangspund oder Drt neben
der Theorie noch die Praris gebabtı Die Bildung
auch ber Dogmen, nicht allein die der Theorieen von Gult
und Difdplin uhdb Gemeinſchafts⸗Verfaſſung, if vielfach ge
ſchehn zugleich in der Praris als folder. Findung und Auf:
flellung von Lehren oder Grunbfägen, wie von Religionds
oder Sitten-Gebräuchen und Gocialformen, reihete (unwill⸗
Türtich oder abfichtlich) auch der Ausführung oder Ausübung
fd an. Sie trug dann wol mehr ben Charakter eine
Praktiſchen; jedoch ohne nothwendig ben einer Theorie zu
verlieren. — Allerdings aber hat Theorie, ſelbſt die für des
allein fogenannte praktifche Religions⸗ und Gemeinfchaft:
Weſen, neben der Praris noch eine eigene Bik
dungsſphaͤre für fich gehabt. Da, wo das Theoretifiren in
foldyer Sonderung von der Prarid auch aus hinreichender
Beziehung auf Diefe heraustrat, wurde fie Scholafticiimus,
bloſe Gelehrſamkeit, auögeartete Wiſſenſchaft. Das geicab
am leichteften und bäufigfien, wenn entweder Verſtandes⸗
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. hriftt. Rel.⸗Geſch. 827
und Gedaͤchtniß⸗Wiſſen um feiner felbft willen, oder Denken
nad) Dent: Möglichkeit oder gar nad Denk. Nothwendigkeit
als alleinigem Maßſtabe des zu Denkenden, ſchon für bie
zwei cautionzleiftenden Factoren „wiffenfchaftlicher Theorie”
galten, Doc) hat die in eigenem Kreis fich bewegende Theo⸗
tie auch einem andern, natur» unb lebensgemäßeren Wiſſen⸗
[haftö» Begriffe zugeſtrebt. Diefer fette auf fubjectiver
Seite, naͤchſt der überall nothwendigen Willensbeftimmtheit
oder Gefinnung, zwei Quellen wahrer Theorie ober Wiffens
ſchaft, als vollfommen gleich nothwendige und untrennbare:
dad denkende Willen oder wiflende Denken des Stubiums;
und, dad Erfahren im Wahrheitsfchaffenden und bewähren:
den Leben. Wirklich, auch in der fo oft und weit von ihrem
Religions: Begriffe abgewichenen Ghriftenbeit, haben Theo⸗
reme felbft des Theoretifchen, die Dogmen, auffer fcientifis
ſchem Dogmatificen über das Pofitive noch zwei andere
Quellen gehabt: Vereinigung höheren Religiondfinnes mit
höberer Bildung, und, nicht blos-⸗aͤuſſerlich gebliebene Re«
ligions · Uebung oder Ausübung. Das Wehen bed „Bei
ftes”, auch des nur ganz menſchlichen, iſt nicht durch das
ftientififche” Gebiet allein gegangen.
Erfter Kanon für chriſtliche Religions: Gefhichte,
in Bezug auf dad Grundverhältnig von Xheorie und
Vraxis, ift demnach: daß dieſes nicht in dem von „Wiffen-
ſchaft und Leben” aufgegangen erfcheint; weshalb auch als
die Verhaͤltniß⸗Glieder nicht diefe Zwei genannt werben konn⸗
ten, wie es herkoͤmmlich iſt. Die Unterfcyeidbarkeit einer
theoretifchen und einer praktiſchen Seite am chriſtlich religids
fen Leben fordert von deſſen hiſtoriſcher Darftelung eben
diefe Bweifeitigkeit: fo nämlich, wie bie zwei Seiten
theils zufammengehangen haben, theils auseinandergegangen
find; wie alfo die auf beiden für beide gelegenen Bildungs⸗
Oder Birkungd- Momente einander geförbert ober gehemmt
haben, je nach ihrer rechten oder unrechten Aufeinanderbes
diehung, Jene aber, denen der religisfe Menſch anders als
8 Riebuer
fen Icht, denn entweber fein esse in cogitare söer fein
zu verweilen. Diefe zeigt, wenn auch wid ihn: we
unb Namen von Beiden hat, von irgendwelchen Zufam
menfein einer Theorie mmd Prasis, Dean Den,
weicher es gefdhaffen, ober Denen, welche es zuerſt verkin
diget, umb nicht ohne es auch felber zw leben, wärben Sen
noch weniger glauben,
Bweitens: Daß Werhäitwig von Theorie und Preis
iR gleihwenig, wie mit dem vom Wiffenfdaft und Lehen,
mit dem von Schule und Kirche ohne weiteres in Eins
infammengefallen. Inwieweit aber Zheorie m
Praxis im zwei befondere Kreife als „Schule und Kirche
ib vorzugsweife vertheift haben, ik des Maß, in weiden
Beide in folder ihrer Befonderumg entweder einer Iren
nung nahesgefommen feien, oder ihre Aufeinanderbe
siebung fi bewahrt haben, keineswegs ſchon comflatirt
Man erkennt Dies vorläufig daran, daß nicht folgereht
überall nach Ekkleſiaſticiſmen wie Scholaflicifmen gleihmäß
Nachfrage ift; während ekkleſiaſtiſche wie ſcholaſtiſche Ba:
fehlung des rechten Verhaͤltniſſes zwifchen Theorie und Prars
an ſich felber gleich möglich und bedenklich il. Die Br:
griffe von Efklefioflicifmms und Scholaficifmus find ned
nicht allbereits ſicher feſtſtehende. Alfo auch nicht das zit:
liche oder räumliche Borhandenfein oder Nichtvorhandenſeia
beider Mängel und Uebel. Died um fo weniger, ba Str
fensUnterfcheidung ihrer Größe und ihrer Art erforderlich iR;
auch Beruͤckſichtigung einer Mehrheit von Intereſſen oder
Bebürfniflen, inneren oder Aufferliden, überdied nach Raum
oder Zeit verſchiedenen. Wornach und wie bie Begriffe oder
Grenzen des nothwendigen oder zuläffigen Verhaͤltaiſſes
zwiſchen Theoretiſchem und Praktiſchem in Religion, beffimmt
worden feien, das iſt die Frage; ob nach und gemäß fa
jectivem Ermeſſen einzelner Individuen und ganzer Societi ⸗
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 829
ten allein, ober nad) erweiblihem Bedhrfen und Vermoͤgen
der Beiten und.Wölker, fowie innerhalb der Schranken des
Religidfen überhaupt und des Pofltiven insbefondere. Darum
kann daS entweder Verrufen oder Losfprechen und Rühmen
newiffer Zeit⸗ oder Raum⸗ Theile, in Bezug auf fcholaftifchen
Individual⸗Theoreticiſmus und auf ekkleſiaſtiſchen Socials
Prakticiſmus, wie es fi) zum Nachbeten fortgepflanzt bat,
nur etwa noch anregen. Naͤmlich, zu der das geſchichtliche
Darſtellen durchweg begleitenden Unterſuchung:
wo und wann und inwieweit, ſowol im Kirchen⸗ als im
Schulen⸗Kreiſe, eine nach allgemeinen und nach beſondern
Gründen mehr oder minder gemäße ober nicht⸗gemaͤße Stel⸗
lung dem Theoretiſchen oder dem Praktiſchen gegeben wors
den fei; und zwar, in der vierfadhen ‚Hinficht, in der Bes
ſchaͤftigung mit jedem von Beiden, in der Faflung jedes für
fi, in der Werthgebung für das Eine oder das Andre, in
der Aufeinanderbeziehung Beider.
Nur an einen Bleinften Theil des zu Beachtenden wirb
bier erinnert, So haben einerfeits felbft erklaͤrteſte Schulz
Theoretiker, fogar in’ den ald ſcholaſtiſch ausgerufenen Zeiten,
den character indelebilis einer Religions:Dogmatik keines⸗
wegs in allen Beziehungen und Graden verleugnet, oder
auch nur verbumkelt, Zweck⸗ oder maßlofed und zweckwi⸗
driges Alteriren der Materie wie der Form einer Religions.
lehre muß überall Scholafticiimus heiſſen. Zudem ift Ma»
terialed und Formales gar nicht wahrhaft trennbar. Daher
bat ein guter Xheil noch der neueften fpeculativ.logifalen
Dogmatik genau fo gutes Recht auf den Namen, wie bie
einſt mehr nur formalstogitalen Dogmatiken fiebzehnten oder
dreizehnten Jahrhunderts. Im dieſen zwei verrufenften Zeis
ten iſt nicht fo vorzugöweife auf die Wors oder Nebens Ars
beiten der ſchulwiſſenſchaftlichen Größen, und nicht foviel
auf die „Beinen Leute” des Schulhandwerks zu fehn. Die
Mehrzahl unter Ienen, wie Quenſtedt und Thomas, hat bei
ihrer boctrinairen Religions Behandlung in ihren Haupt:
so Riebuer
werfen um feine Einie mehr, aid die Gihelsßiler der Ge
genwart, aufcıhelb der Religion gelanben. Der „Euteid:
Iunz8-Preceb deb tegmatiiden Berwafftfeind” mer bamalı
noch weniger an bie imbivibmelle Fertfcheritumg gebunden,
folzte aoch mcht ter umgebenden Echend-Bewegumg. Sleia
lalſch iR es, für ingendeine ſolche Zeit, die Werherrihek
dialektijchen Dogmatifirend im befiimmien Gegenden als al
gemein im Reume, auch ohne Ride auf andre Mictm-
gen danchen, fo ziemlich als Aleiaherrichaſt fih verzußckn.
Andererfeits haben Kirchen und Religions
parteien, au al folde, durch ihre größeren oder fi:
meren Echter, zu weichen bisweilen Richt-Beiflfiche amd Richt:
Tpeologen gehörten, wiflenfhaftliche oder fonft hödere Re
Uigiens:Zhesrie geförbert oder gebilligt. Dieb foger in den
Bafe, daß gewöhnlich er zu unterfuchen if, imminweit der
Schulen ſtabiliſtiſch prohibitio entgegengelveten, ober mm
populär und unpofitio ſelbſt: ſcholaſtiſch geworden fei. Di
Annäherung an die Idee „briflicher Religionswik
fenf&aft”, diefer höhern Einheit und Norm foctifher Ede:
Ien- und Kirden-Wiflenfchaft, de wirflichsgewefenen rei:
fen Ehrißeniebens mad) feiner theoretifhen Seite, fie am
allein gemefien werden in einer das Einzelne unter ſich wr-
gleidenden Stiftungs · und Ausführungs » Geſchichte dei
Chriſtenthums. Das aber fieht ſchon fehl: daß Borhanden
fein theoretifdy religiöfen Chriſtenlebens, d. h. wirklicher inne
zer oder Auflerer Foͤrderung chriſtlicher Erkenntniß. weiten
Umfanges gewefen if, wicht gänzlich allein in bem von kim:
tififchen Schul: oder Kirchen⸗WMaͤnnern fo benannten Tier
retiſchen eingefchlofien. Daffelbe if} nicht in ſolche Zeiten
oder Räume ausſchließlich zu fehen, in welchen das There:
tifiven durch Reiben von öffentlichem Streite ber Kirchen,
bald unter ſich, bald mit ihren Schulen, ſich bindurd-
bewegte. Noch weniger in ſolche vornehmlich, in welden
das private Dogmatifiten als Über Leichenduͤgel des je vet:
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.-Gefh. 831
herigen Vorſtellens wandelnde Kritik einherſchritt. Daſſelbe
iR auch da zu ſetzen, wo theoretiſche Thaͤtigkeit religioͤſen
Geiftes und Sinnes zufammen mehr auf Intenfive
Vertiefung der Erkenntniß, auf Einfiht ging, Sogar da
noch, wo fie als aͤuſſere Verbreitung der Chriſtenthums⸗Er⸗
tenntniß wirkte, in zweifacher Weiſe: ald Anwendung ber
gewonnenen Einficht in die chriftlich = göttlichen Dinge auf
die menſchlichen alle, welche nach ihnen ſich beftimmen ſol⸗
len; und, ald Heranziehung Bieler zur gleichen Erkenntniß,
"inwieweit ſolche die Vorausſetzung if um daran zu glauben
und dernad zu handeln. Wol wäre ſolch dogmatiſches
Wirken ohne jenes erfigenannte nicht möglich gewefen, Aber
es ift nicht durch daffelbe allein wirklich geworden. Und
unter der Kategorie des Dogmatifchen führt ed nur „Ges
dichte der Dogmatik” nicht auf; aus begreiflichem Grunde,
welcher eben Zein Grund für Non-Eriftenz if,
Ein zweiter Kanon für Gefchichte hriftlich religiöfen
Lebens ift alfo: Das Verhaͤltniß 'zwifchen Theoretiſchem
und Praktifhem ift ebenfowenig, wie in dem von Wifs
fenfchaft und Leben, in dem von Schule und Kirde
aufgegangen oder allein=bargeftellt gewefen. Biel
mehr, die Beflrebungen und Leiftungen entweder für dad
Theoretiſche oder fr dad Praktifche haben, in räumlich oder
* zeitlich verfchiebenen Maßen und Arten, unter beide Anflals
ten oder Kreife fih vertheilt. Sogar von den wirklich
vorzugsweiſe entweder „Schule” oder „Kirche Vertretenden
wurde meiſt eben nur vorzugöweife, nicht ausſchließlich, entwes
der Theorie ober Prarid vertreten. Allerdings erfcheint bei einer
Anzahl unter ihnen ein Ueberfchreiten ded. Maßes in Bevor:
zugung entweder bed Xheoretifchen oder des Praktiſchen.
Aber dann bat Daffelbe doch räumliche und zeitliche Schran ⸗
ten, fowie an andern Perfonen und Kreiſen Gegengewichte
gefunden, Auch find für die Räume oder Zeiten, in diefer
wie in anbern Beziehungen, ihre Bermögen und Beduͤrfniſſe
verſchieden und wechfelnd. gewefen. Nach Diefem allen und
22 Riedaer
Uchalichem fine die zwei unter ſich corırlatın oder paraliden
Zhatfadhen zu csefletiren: wann und me mad inwirmeit Die
methwentige tbeild Echelafif theils Elichaik in Gele
Kiıfend und Efticheficiimnd übergegangen fei. Uebeiaen
i felbfiverfändlib, daß ebendieſe Grenzberährung zwüde
Moß und Unmaß noch anderweit, micht bei bem Teorci
ſchen und Praftifchen allein, ſeiches Umbirgen der Beriich
ung wötbiggemadit bat.
2. Die Bolge aus dem geihiätidhen Berpäitniß zwilden Iiene
um Praris für feine gefidtlie Darkellung.
Schon aus den wenigen Andeutungen über die Ge
Kaltung,, welche das zweite Geundwerhäimiß für alles ich
gidfe Leben bei den Chriſten erhalten bat, erhellt eine zwei
fadhe Anforderung am hiſtoriſche Derfkckmg diek
Lebens. Die erfie iſt wiederum: möglich voli ſt aͤndi⸗
ges Anfammeln der hiſtoriſchen Daten, in weichen fpeciih
der bald gemeinfame bald verſchiedene Autheil ber The
und der Prarid om Werden deſſelben ſich darlegt. Die
Beſchaffenheit und die Mennichfaltigkeit der Arten, wie je
dem von Beidem, ber Theorie nebſt dem Theoretiſchen oder
der Prasis nebfl dem Praktiſchen. feine Geftalt gebildet we
fein Bericht gewogen worden if, bat mit ihrer beflimmen
den Macht in alles Einzelne und bis in deſſen Ianerfe
hineingereicht. Weit mehr, als anerkannt if, ergiht fh
eine Einſicht in die wirklich · geweſenen Wechfel-Bänge m
Erfolge chriſtlich religiöfer Lebens · Seſtaltung nur denn, wet
moͤglichſt über alle mit ihr zufammenhangende Faffınga
unb Behandlungen des zweiten Grundverbältniffes berichtet
wird; alfo, über die des Theoretiſchen für ſich (mach fein
verſchiedenen Arten, 3. B. auch des philoſophiſchen ober es
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.-Gefch. 833
fl
ten entweder Glauben mitSrkenntniß⸗ Streben und Folge
kraft auf Willen, oder bloſes Fürwahrhalten ohne Abwehr
des Zweifels oder Unglaubend und der Willens + Traͤgheit.
Es haben Theoreme des fogenannten Praktiſchen die liturs
gifchen und diſciplinariſchen und focialen Formen dem chriſt⸗
lichen Charakter bald genaͤhert, bald von ihm entfernt: fie
bildeten diefelben entweder zu Mitteln und Ausbräden ins
dividuell perfönlicger Antheilnehmung am Leben diefer Res
ligion im Menſchen, oder lieffen diefelben zu mehr blos
aufferhalb der Subjecte fiehen s bleibenden Gebraͤuchen und
Geſetzen hinabfinten. Gleiches, wie von der Theorie oder
den beiderlei Theoremen, gilt dann von der Praxis, von der
Zhätigkeit für die Ausführung Jener. Hier hing Vieles,
dem Erfolge wie dem Werthe nach, von der Gefinnung ab.
Diefe ward nicht gegeben, aber mitsgegrümbet und mitsges
bildet durch jene beiderlei Theoreme; wenn z. B. aud) denen
des Theoretiſchen ein ächt praktiſcher Zweck, auch denen bed
Praktiſchen ein Acht theoretifher Grund vorlag.
Boͤllig noch der Umfangs: Beftimmung gebört auch die
zweite Forderung an, welche das thatſachliche Werhälts
niß zwifchen Theorie und Praris religiöfen Chriſtenlebens
an Deſſen Geſchichte ſtellt. Diefelbe geht auf überall zus
fammenfaffende VBorlegung des Theoretifchen und Prak⸗
tiſchen, ald der zwei untrennbaren Seiten nur Eines Lebens.
Den nothwendigen Inhalt ded Haupttheils einer Kir
chengeſchichte, welcher die „Sach e“ vorlegen foll, neben
einem die Gemeinſchafts⸗ Form vorlegenden andern, bildet
alfo Beides zufammen: die Theorie, d. i. bie Theoreme
Aber die göttlichen und menfchlichen Dinge, und die Theo
reme oder Grundfäge über eine ihnen entfprechende Reli⸗
glons· Uebung und Austıbung in Eult und Sitte; daran fi)
ſchlieſſend, die Praris, d. i. die Sorgen und Erfolge in Bes
treff der Geltendmahung und Wirkſamkeit der beiderlei
Zheoreme, Der chrifliche wie de Natur⸗Grund für Un;
teennbarkeit der Praris und Xheorie ift die gleiche Weſent⸗
834 Niedner
lichkeit der einen fuͤr die andre® die gleiche Nichtigkeit der
einen ohne die andre, Beide verhalten fich genau fo zu
einander, wie Grund zu Folge oder Mittel zum Zwecke.
Chriſtlicher Glaube im objectiven Sinne hat zu feinem In⸗
halte Beides, die göttlichen Gebote oder Forderungen, Be:
Iehrungen oder Berklindigungen. Ebenderfelbe im fubjectiven
Sinne, wie er 3. B. Joh. 14, 21. 15, 10. in feinen Sys
nymen gezeichnet wird, weiß von feiner Trennung. Diele;
ben Gründe fordern auch das ſich Aneinanderfchlieffen der
beiderlei Xheoreme ; in ber Regel (nur mit einzelnen Auf
nahmen) in derfelben Drbnung, welche in Betreff der Then
rie und Praris ſtets flattfindet, daß alfo die Theoreme des
Theoretiſchen die erfle und bie des Praktiſchen die zweite
Stelle einnehmen, Lehren ober Dogmen find fie beide.
Denn Lehre ober Dogma ift eia aus der Maffe bes Bor
ſtellens und Erfahrens herausgehobenes, zu einem nothwen⸗
digen oder gültigen erhobene Seen, um nad) ihm das für
irgendwelchen Kreis erforberliche Denken und Gefinnetfen
oder Wollen und Thun zu beftimmen.
Durch das Verhaͤltniß, welches das Chriſtenthum für
feine Theorie und Praxis eingefegt hat, durch den in ihm
gefifteten Meligionss oder religidfen Lebens s Begriff, find
demnach ausgefchloffen alle diejenigen Bertpeilun
gen des Inhalts feiner Geſchichte, welche die Theorie von
der Praxis und die Xheoreme für das Theoretifche von denen
für das Praktiſche fondern. Zu folden Sonder geſchich
ten gehört vor allen die fogenannte Dogmenbiftorie.
Sie aber, in ihrer von Kirchenhiſtorie ausgefchiedenen Aufs
ſtellung, verlegt zugleid die übrigen Grundverhältnifle, welche
für alles chriſtliche Religions.Leben beſtehn. Darum finde
erſt nach deren vollſtaͤndiger Worlegung bie Abweifung der:
felben ihre Stelle. Hingegen ift das zweite Grundoerhält:
niß, der enge Werbanb des Zheoretifhen und Praktiſchen
ſchon für ſich allein audgeichend, um wider zwei ander
weite Sondergefchichten gerechte Bedenken zu m
regen.
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 835
Sonderung in eine Glaubens- und eine Sitten
kehr⸗Geſchichte hat noch Weniger für fich, als die Schei⸗
dung dieſer zwei Lehr⸗Theile im thetifhen Behandeln. In
der veligiöfen Lebensbewegung knüpft ſich noch unlösbarer,
als ſchon im Religions⸗-Begriffe, das Band zwiſchen Hin⸗
gebung des Denkens und Hingebung des Wollens, Streben
nad) Ueberzeugung und nach Heiligung. Im Verfolgen des
geſchichtlichen Verlaufs der Beſtrebungen, uͤber das ald Dogs -
matifches bezeichnete Theoretiſche und über dad als Ethiſches
bezeichnete Praktiſche richtig zu befiimmen, dringt es noch
mehr ſich auf, wie fehr Beides durch einander bebingt war,
um im Gntwideln der pofitiven Grundlagen den rechten
Inhalt für Beides zu finden. Dem weiter: entwidelnden
Borfchen nach den göttlichen Dingen muffte, noch aufier dem
Pofitio-gegebenen, auch der durchaus praktiſche Zwed ihrer
Erkenntniß zweifach dienen, als Rorm für die Beſchaffen⸗
heit des Inhalts feiner Ergebniffe, und ald Anzeige der
Grenzen feiner Fortführung. Ebenſo daB befondere Ent:
wideln des aus dem Göttlihen für dad menſchliche Thun
Folgenden muffte zweifach auf ebendied Göttliche zurüdgehn,
als den Realgrund und ald zugleich die Erkenntnißquelle
aller für Denfchen moͤglichen und nothwendigen Willens.
Bildung, Xrandfcendenter und arroganter Dogmatifmus,
bald afketifch ideatiftifches bald koſmiſch ſenſualiſtiſches Ents
ſtellen der Ethik, ewiger Streit über Glauben und Wiſſen
und Thun, Verfennung der frommen Sittlichkeit oder fitt-
lihen Froͤmmigkeit, dieſe und andere Verirrungen oder Bes
wegungen, auf beiden Gebieten, werden hiſtoriſch verſtaͤnd⸗
licher nur bei deren Bufammenfaffung im hiſtoriſchen Dar-
fielen, Denn eben dad mangelhafte Bufammenhalten oder
doch Aufeinanderbeziehen des Dogmatifhen und des Ethi-
ſchen in deffen Behandlung iſt eine il Urfachen gewefen.
Sonderung einer Archäologie" von der Kirchenge⸗
ſchichte mag nöthig oder zuläffig werden, wenn der befondre
Zwed geſetzt wird, die ſogenannte praktiſche Saite des reli⸗
Theot. Srud. Jahrg. 1858.
86 - Niedner
giöfen Lebens, in ihre kleinſten Beſtandtheile zerlegt, allem
tenmen zu lernen, ohne fie zugleich als Theil des Ganzen
ya ertenmen, Cine (bifkorifche) Wiſſenſchaft aber kann ſolch
Serchtück mie werben. Denn ibm if dad Gherakterzeichen
der feichen, | die Möglichkeit genetifher Behandlung, durch
Ange das Ginzeine innerhalb jeder Glaffe der Eirchlihen
Dinge zundchft nach deren befondrer Natur fich beflimmt
Denn ber Gorab wiederum von biefer Natur, gleid-
ter Zweck aber auch Grund von allem jenen Einzelnen,
dech aufferhulb, im Kirchenganzen. Die Aushilfe fir
ae Specials oder Particulars Geſchichten aber, entweder
Weransichen oter Wiedererzäblen des „Rötbigfien” aus dem
ften ankerwärts Grzäblten, bilft nichts wider die machtheilige
Wirdung uf Kirhengefhihtfhreibung, wenn Dick
nun, auf fremde Rechnung, nicht Die praktifche wie dk
theecetifche Seite ihres Gegenftands als vollkommen gleich
mwefentlid in ibr felber zur Derfiellung bringt. Def
aber ſolche Gleichſtelung in ihrem Begriffe liegt, des m
weift bie Ratur ihres Gegenſtandes, mog diefer nach feine
Idee oder in feiner Wirklichkeit hetrachtet werden. Bas
Erſtere betrifft, fo find, wie befannt, in der chriſtlichen Re:
ligion beide Seiten gleich wefenhaft, eben weil die theon:
tiſche dad Grund⸗Weſen und die praktiſche dad Folge ⸗Weſen
fein fol. Was Letztere betrifft, fo bat die Chriftenheit ſteu
und überall das Praktifche, in Vergleich mit dem Theoreti⸗
fen, als diejenige Sphäre erwiefen, in weldyer das religiäfe
Leben der großen Mehrheit ihrer einzelnen Glieder mit wirk⸗
licher eigener Antheilnebmung fi) zu bewegen vermochte,
wo ber Laien Religion: Denken oder Religion : Empfinden
weniger problematifch blieb.
Aber auch jene „Altertfums-Wiffenfchaft”” [beftimmter,
Alterthums⸗Geſchichte] in fich felber iſt bis auf den Re
> herab unglädlich geweſen. Sie wuflte Zweierlei mie
Umfang f.d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 837
zu fagen. Das Eine: warum fie nicht, folgerecht, von noch
andern alten Sachen erzähle, Denn Befhränkung auf Ge:
bräudhe oder Formen war wol die ſtillſchweigende Voraus⸗
feßung. Soldye ward aber, durch Unterfcheidung derfelben
als Zuftände von den Begebenheiten der Gefchichte, übel
gerechtfertigt. Denn bei dem Uebrigen, 5. B. den Dogmen,
bat es ebenfowol Zuftände, und bei den Gebraͤuchen hat es
nicht allein folde oder ein Beſtehn gegeben. Dies hangt
mit dem, andern Unfagbaren zufammen : wo denn der Grenz»
fein, das Merkmal für den Begriff des Alterthums liege; ob
& z. B. nicht für's neungehnte Jahrhundert wieder neue Als
terthümer gebe, nachdem die evangelifchen Kirchen ſechszehnten
Jahrhunderts nun ſchon in einem Doppelfinne altgemorden.
Sehr aͤhnlich hat die „Patriftit” fogar der Katholiken noch
nicht vermocht ihr Schluß⸗Jahrhundert feſtzuſtellen, und bat
die der Proteflanten nie gewagt ihren Luther aufzunehmen.
Das Entfcheidende indeß, wider alle archaͤologiſche Ver⸗
kürzung der Kirchengeſchichte durch eine Archäologie auffer
ihr, muß ſchon die Thatfache fein: daß in allem Kirchlichen
überhaupt die Lebenskraft, die Geiſtes⸗ oder bie Nichtgeiſtes⸗
Trabition, im Bereiche des Praktiſchen noch mehr als in
dem des Theoretifchen, felten ganz und nie für immer aus:
geftorben if; als nicht blos erhaltende, fondern bald Altes
wiedershervorziehende, bald auch Neued nachsfchaffende. Dar⸗
um ift Altertbum für den Gegenftand jenes Sammel⸗Wiſ⸗
fen, für die praktifhen Religions und Gemeinſchafts⸗For⸗
men, ein nicht allein ganz relativer und vager, fondern zu⸗
gleich disparater Begriff wie Name,
M. Bewegung und Beftehn. "
Faſſung ded Begriffs diefer zwei Werhältnig : Glieder,
und Beflimmung theild ibres Verhaͤltniſſes unter ſich, theils
ihres Werths oder Gewichts für ein Ganzes, waren corre⸗
late Operationen, gleichwie die Begriffe felbft correlate
find, Alles chriſtlich veligiöfe Geſchehn nach dem Stifter,
er
838 Niebner
4
als angeftxebte Erhaltung und Verftärkung der Wirkſamkeit feis
ner Stiftung, bat wefentlich mitzabgehangen von der nie
überwundenen Schwierigkeit, genannte zwei Wechfelbegriffe
unter einander in Bezug auf daffelbe zurechtzuftellen. Daher
bat auch die dritte Grundverhältnig dem Geſchichtſtoffe
feinen Umfang fo fehr erweitert, — Für alle Kreife
menſchlichen Werbend und Seins gilt, daß Entgegenfegung
eines fi Bewegend und eined Beſtehns, auf weltficher ober
auf geiftlicher Seite, -zu den abftracten Begriffs-Dichtungen
gehört, zu den Uebertragungen eines formal:kogifchen in das
Ethiſche und Phyſiſche. Es gilt aud dann noch, wem
ſolche Entgegenfegung blos den Sinn hat, daß entweder
Nur⸗Bewegung oder Nur:Beftehn als dad an Dafein und
Macht, an Werth und Recht Ucberwiegende gefegt fein folle.
Ganz befonderd im Menfchenz Bereiche, und im ethiſchen
oder religiöfen zumal, iſt das an die Spige zu Stel:
lende: nicht, das Ueberwiegen des einen ober des andern
der zwei Werhältniß» Glieder; fondern, die fletige gleiche
Wefentlichkeit beider, ald der nothwendig zwei formalen Ele
mente alles Lebens. Erſteres iſt ein Stufen:Begriff, Letztere
ift ein in ſich gefchloffener Begriff. Und, was noch mehr
zur Sache thut, es wird ſich erweifen laſſen: dag Stufe
oder Grad jenes Ueberwiegend immer nur im Einzelfall und
für ihn beſtimmbar, die Gleichweſentlichkeit beider Lebend-
Elemente hingegen für alle Einzelfälle allgemein:gültig ift.
Ebenfo: daß jene Stufen-Beftimmung zwiſchen beiden rich⸗
tig geſchehen kann, nur wenn fie dieſe Gleichwefentlichkeit
beider bei jeder ihnen angewiefenen Stufe, d. b. bei jeder
Vertheilung des Uebergewichts unter fie im Einzelnen, als
überall gültig zu Grunde legt oder fefthält. Das heifft:
auch dies Grundverhaͤltniß ſtellt in fich eine Gorrelation dar.
1. Auffteltung bes Verhaͤltniſſes.
Die im Allgemeinen gleiche Weſentlichkeit, oder, noth⸗
wenig ftete Bufammenheit einer Bewegung und eines Bes
ſtehns erfcheint, zuvörderſt, in der That aufgegeben in
Umfang f. d. nothw. Inh.d. allg. rl. Rel.-Gefch. 839
dem mobernen Lebens s oder Entwidlungs:Begriffe, welchen
naturaliſtiſche Denkweiſe ausgebildet bat, Diefer ſetzt
wol auch die zwei Factoren gefammten Menfchen: wie Nas
tur⸗Lebens; aber ba6 Beftehn ald den negativen, bie Bewes
gung allein als den pofitiven, Erſteres gleich dem durch daß
bewegliche Ich immer fortzutreibenden Nicht-Ich. Er fegt
biermit als die Lebens⸗Form fletige Fortbewegung weſentlich
allein. Denn ausdruͤcklich fol in jedem gegebenen Heinften
Beit:Moment oder Atom, ganz gleich diefem felber und zus
gleich mit ihm, jedes -Beftehn oder Beſtehende durch eine
Fortbewegung wiederaufgehoben, nur in feinem Anbern
und ebenfalls wieder Fortzubewegenden aufbewahrt werden.
Das ift aber eben der Begriff abfoluten Werdens oder
Flieſſens, wie er in einem Chaos, nicht in werbendem Koſmos,
felbft nicht auf deſſen phyſiſcher und noch weniger nady feis
ner ethiſchen Seite, ald nachweisbar oder aud nur denkbar
erſcheinen mag. Er ift: Segung eines Seins allerdings
überall; aber eines ſchlechthin nursmomentanen überall, eines
in jebem atomifhen Momente weiter: und von ſich hinwegs
ruckenden, eines als das was es injedem Iegtpuncte gewor⸗
den in jedem nächften wiedersverfchwindenden. Solcher Les
bendsBegriff ift richtig in Bezug auf die einzelnen Beſtand⸗
theile eined im phyſiſchen oder ethiſchen Sinne Lebendigen,
wiefern fie in einem folhen zufammengenommen vorgeftellt
werden. Denn in jedem Meinften Zeitmomente find ftets
mehrere derſelben als ſich verändernd zu denken. Er ift
aber gegen die Erfahrung infoweit, ald nad ihm die fletige
Veränderung, oder die blofe Momentaneität des Seins und
Beſtehns, auf alle Theile gleich ſich erfireden fol; fo, daß
es Beftand» Theile gar nicht giebt, weil alles Beſtehn nur
in Bewegung aufgehen fol.
Beiweitem vorherrſchend indeß erfcheint jenes noth⸗
wendig ſtete 3Zufammenfein der zwei Lebendformen ans
erkannt; die ganze wirkliche Geſchichte hindurch, [melde
nicht nach blofen Worftelungen ſich zu richten pflegt]. In
840 ® Niedner
allem Staats⸗ und Kirchenwefen, wie im Dafein der In:
dividuen, haben immer Beftehn und Bewegung ald bie zwei
Formen neben einander gegolten und flattgefunden, welche
unter bie einzelnen kebens⸗Inhalte zu vertheifen feien, als
erhaltende und ald verändernde. Aber, eben dad Wertheilen
beider hat den durch alle Gefchichte gehenden großen Streit
geſchaffen. Solcher betraf: theils, die einzelnen Dinge felbfl,
d. i. Anficten oder Lehren und Einrichtungen oder Geſetze
fammt Zuftänden, weldye entweder Fortbeftehn oder Fortbe⸗
wegung zuläffig oder nothwendig zu machen ſchienen; theils,
die befondre Zeitdauer ihres Beſtehns oder ihrer Bewegung.
Doc) betraf derfelbe gewöhnlich nicht allein died Anwenden
des allgemeinen Grundfages, daß beide Lebensformen neben
einander zu vertheilen feien, auf bie einzeinen Fälle; ob
alfo nach deren befonterer Ratur die eine oder bie andre
geeigneter und anwendbar fei. Sondern, meiſt lag den
Streitenden zu Grunde irgend ein Grad ihrer Vor⸗Entſchie⸗
denbeit im Allgemeinen, für überwiegenden Werth entweder
bes Beſtehns oder der Bewegung überhaupt. Won ſolcher
Bor: oder Gefammt:Anfiht haben, in Kirche oder in Staat
oder in Wiſſenſchaft, mindeſtens Biele ſich leiten laſſen;
und zwar, aus der Zahl der durch Stellung ober durch Eins
ficht zur Entſcheidung Berechtigten wie der Unberechtigten.
Geſchichtliche Darftellung nun fol den Gang
zeichnen, welchen das chriftlich religidfe Leben, auf feiner
theorefifchen und praßtifhen Seite, innerhalb jener zwei Bes
bensformen zwiſchen beiden ſich vertheilend genommen bat,
Sie fol die rein aus Thatſachen beftchende, blofe Unterlage
werben: keineswegs allein ober zunaͤchſt für ein hiſtoriſch
begründete Urtheil Über Angemeflenbeit, oder Unangemeffens
beit des Verhaͤltniſſes, das jedesmal zwifchen Beſtehn oder
Bewegung flattgefunden hat; ſondern vor Allem, um den
ganz vorzüglih hiervon abhängigen Zufammenhang und
Gang der Dinge erfennbar zu machen. Der natürlichen
Haupt-Erforderniffe find zwei. Erſtens: Ermittelung
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriftl. Rel.⸗Geſch. 841
ber wirklichen Größe des Maßes, in welchem ent
weber Bewegung oder Beftehn neben oder nach einander
flattgefunden, mit einander ſich verbunden oder abgewechſelt
haben, Bweitens: Worlegung des Gangs oder Zus
ſtands der religiöſen Dinge, inihrer Beziehung
zu dem jebeömaligen Maße von entweder Beftchn oder Ber
wegung, wiefern fie dieſes Maß theils erklaͤrlich machen,
theils entweber rechtfertigen oder verurtheilen. Vom erften
Erforderniß if zu fagen: daß es keineswegs ebenfo leicht
fi erfüllt, wie ed von felber fich verficht. Wie Viel ents
weder von Bewegung ober von Beftehn, in jedem einzelnen
Raums oder Zeit:Tpeil und in jeder Gtaffe der religiöfen
Dinge, wirklich vorhanden oder auch nur wirklich beabſich⸗
tiget gewelen fei, das wird häufig durch Schein oder durch
Dunkel verhüllt. Died zeigt z. B. ſchon der Irrtbum: das
allezeit und Überall gleich Vorherrſchende in Kirchen fei nur
Streben nach Beftand gewefen; dad in Secten und Pars
teien, oder wenn aud in Diefen nicht, doch in den Indivi⸗
duen, nur Streben nad Abwandlung. Die Maß: oder
SradsUnterfchiede der Bewegung oder des Beſtehns, gleich
wie der Beftimmungen darüber, find oft fo fein, daß fie
kaum annähernd fich feſtſtellen laffen; zumal wenn Aufgabe
iſt, nicht blos das vorgefchriebensgewefene, fondern das wirk.
lich⸗geweſene Maß vorzulegen. In Betreff des zweiten Er⸗
forderniffes ift noch einmal ausdrücklich abwehrend zu erins
mern: daß Gefchichte die Urtheilds wie ErfldrungesBründe,
binfichtlich des jedesmaligen Maßes der Wertheitung zwiſchen
Bewegung ober Beſtehn, vorzulegen hat, bie Erflärung eben
hierdurch auch wirklich vollzieht, des Urtheilens felbft hinges
gen ganz ſich enthält,
Es bedurfte nur einfacher Angabe der grunderfien Er:
forderniffe zu geſchichtlicher Darlegung dieſes ganzen Ber:
haͤltniſſes, um die Rothwendigkeit etwas volftändigern
Sammelns der Data für baffelbe anzuzeigen. Doch muß
als eine noch eigene, dritte Anforderung gelten: das
842 Niebner
Unterſcheiden zwiſchen der mehrern Arten von Be
wegung; analog dann anwendbar auf Art-Unterfchiede
auch des Beſtehns, und fo auch ded Berhaͤltniſſes zwiſchen
Beiden. In dieſem Unterſcheiden erſt vollendet ſich die
Findung des wirklich«gewefenen Maßes der jedesmaligen
Bewegung. . Und in ihm widerlegt ſich nebenbei mande
irrige Schägung, nicht etwa blos bed Werthes ober Um
werthed, fondern ded Charakters fomol einzelner Ge
ſchicht⸗ Partieen, als jener zwei Lebensformen felbft uͤberhaupt.
Der Umfang des Vorhandenſeins einer Bewegung in der
Geſchichte erweitert fich weit über den hinaus, in welden
daffelbe eingegrenzt erſcheint bei einem einförmigen Bewe
gungs= Begriffe, welchen die Schen vor Beſtehn wie die vor
Bewegung gemeinfam zu Grunde legt, indem fie ſich aus
Geſchichte zu begründen ſucht. Diefer einfeitige Begriff iR
aber nicht der einzige in der Wirklichkeit, er beträgt fie nur
um einen ihrer ebelften Beflandtheile. Und das iſt ein noch
groͤßeres Uebel als dies, daß jene beiderlei einander entges
gengefegte Scheu auf ihren Begriff als den allein⸗geſchicht⸗
lichen ſich fügt, um die Geſchichte für den Worzug entwe
der ded Bewegens oder des Beſtehns zeugen zu laffen,
In aller Erfahrung, nur ganz befonders in religiöfen
Lebens: Bereiche, find als pſychiſche Thatſache conftatirt zwei
Haupt⸗Richtungen oder Arten der Bewegung, ad
theoretifcher oder als praktifcher Strebe-Aneignung von ei:
nem geiftigen Object. In der erften geht die Lebensbe⸗
wegung nur gleichſam in die Länge vorwärts; das ik
jene, welche ald die einzige von gefchichtlicher Bedeutung
gilt, Eine zweite Richtung oder Art geiſtiger Bewegung
aber if: wo Diefe gleihfam in bie Tiefe geht. Sie flelt
fo ein ſcheinbares Stillſtehn dar; zumal da fie nicht noth⸗
wendig an dad Fortdauern jener erſtern Bewegungs⸗Art
gebunden, nur fehr wohl vereinbar mit ihr if. In der Zhat
aber ſtellt fie volllommen gleich jener eine Fortbewegung
dar, nur in andrer Richtung und von andrer Art, Die
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 843
zwei Arten fönnen wie folgt unterſchieden werden.
Die erfte kann bie ertenfiv oder quantitativ pro
greffive heiffen: wo des Subjectd Fortbewegung zu feinem
Dbjecte bin vornehmlich ober zunaͤchſt auf deffen Quantität
fich begieht, wo die fubjective Aneignung von ihm ſich im⸗
mer mehr auf feinen ganzen Umfang auszudehnen ſtrebt;
fei es für Erkenntniß oder für Wilens- Bildung. Die
zweite kann die intenfiv ober qualitativ progreffive
beiffen: wo des Subjectd Fortbewegung zu feinem Gegen-
ftande hin vor Allem auf die Beſchaffenheit feines Werhälts
niſſes zu ihm ſich bezieht, befonderd indem fie dieſes zu eis
nem: im Subjecte felber fich reflectirenden und in diefem
Sinne innigeren zu machen ſtrebt. Dort iſt's mehr Erweis
terung des Umfangs, hier mehr Verſtaͤrkung des Grads der
Aneignung vom Objecte, einer theoretifhen oder einer prak.
tiſchen. Denn eines Subjects Beſtimmung feines Wollens,
wie feines Vorſtellens und Erkennens, kann auf Umfaffung
des ganzen göttlichen Objectes, des volftändigen göttlichen
Willens und Seins, ſich richten; und dennoch wird hierdurch
allein nicht nothwendig das göttliche Wollen oder Sein
von ihm angeeignet,
Dad Berfennen und Zurüdftellen genannter
zweiter BewegungssArt ift der gemeinfame Irrthum, mit
welchem die Anhänger unbebingter Vorzuͤglichkeit entweder
der Bewegung oder bed Beſtehns einander wechfelfeitd an
diefer Einfeitigkeit feftgehalten haben. Die Anbeter der Bes
wegung gaben denen bed Beſtehns einen Grund zu ihrer
Scheu vor einer Bewegung , welde, in ihrer Einartigkeit, _
fo leicht ein ſich Verlieren in die Länge oder ein ſich Vers
fleigen in die Höhe ward, jedenfall dem religiöfen Bedürf⸗
niß feine Befriedigung durch fie nicht gewährleiften konnte,
Die Anbeter des Beſtehns verleideten diefes ihren Gegnern
dadurch, daß fie es ihnen nicht entgegenhielten als eben den
Sig auch jener zweiten Bewegungs⸗Art, mit deren unends
lihem Reichthum an Bewegung, welcher ben der erfien Bes
844 - Niedner
wegungs⸗Art entweder ergaͤnze ober erſetze. — SBeiberlei Cul⸗
tus der Einſeitigkeit befeſtigte ſich nun zwar in dieſer durch
das Vorgeben: jene andere Bewegungs⸗Art finde ſich von
ſelber hinzu, entweder in der uͤberhaupt nur Einen Art von
Bewegung, oder im Beſtehn als ſolchem. Und inwieweit
etwa Keines von dieſem Beiden ſtattfinde, gehoͤre ſicher jene
hier aufgedrungene zweite Art gar nicht zu den berechtigten
teligiöfen Lebensformen; ſondern entweder in das dunkle
Reich der Myſtik mit feinen Un- oder Schein⸗Tiefen, oder
zu ben vielen Adiaphoren. Gefegt, allem Dem wäre fo, woran
aber nicht zu denken iſt: dennoch bliebe die ungemeine Macht
ber bier heroorgehobenen andern Art, ald eine Wahrheit wo
nicht an ſich, doch in der Geſchichte.
Betrachten wir aber die Zweifachheit der religidfen Be:
wegung überhaupt, und deren zweite Art infonderbeit, hier
nicht nach der hohen Bedeutung, welche in Jener und in
Diefer für das gefammte chriſtliche Leben und deſſen Ge:
ſchichte liegt. Vielmehr, nur nach dem Gewicht, das Beide
für eine Zurechtſtellung zwifchen feinen zwei For
men haben, um diefe als in ihm gleich«wefentliche zu er:
ennen, fowie ald gar wohl vereinbare, Schon die erſte
BewegungdsArt felber,, die ertenfiv progreffive, iſt weder
nothwendig noch von Allen fo einfeitig vorgeftellt worden,
wie in jenem uniformen 2ebend-Begriffe: daß Leben eine
durch Alles gleich hindurchreichende Stetigkeit des Fort:
ſchreitens in ſich ſchlieſſe, daß es jede Art und Dauer ihrer
Unterbrechung durch ein theilweiſe Beſtehn (in gewiſſen
Stüden oder Beziehungen) ausſchlieſſe. Noch klarer erkannt
jedoch wird die Erforderlichfeit, nicht bloſe Zuldffigkeit eined
Nebeneinander beider Lebensformen an der zweiten,
intenfio progreffiven Bewegung. In ihr vornehmlich iR
es, wo die in ihr gefchehende Abwandlung des Modus, wie
menſchliches Subject zu feinem (göttlichen) Gegenflande fih
verhäft, nicht nothwendig zugleich Deffen Entwidelung mit:
wird, fondern ebenfowol blofe Entwidelung des Erſtern am
Umfang f. d. nothw. Inh. » allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 845
Leßtern oder durch ihn fein kann. Und keineswegs vermins
dert fidh bier die Fülle der Bewegung des Individuums
dadurch, daß ihm fein Begenftand, nicht in feine eigene Ent⸗
widelung bineingezogen wird, dab Wahrheit oder Größe
deffelben nicht als von ber fubjectiven Aneignung abhängig
gilt, Auch mit der logiſchen wie ethiſchen Natur des Ob⸗
jects und Subjects vollfommen verträglich ift ſolches Forts
beftehn des Erſtern in feiner Sichfelbftsgleichheit, gegenüber
und in der Bewegung des Letztern. Denn fol Beflchen-
des Idfft zwar die fubjective Tätigkeit nicht ſich erſtrecken
zugleich auf ein erft Hervorbringen oder wefentlich Abändern
feines Inhalts, oder audy nur feiner Form, inwieweit Diefe
zu feinem Wefen gehört, Daffelbe fordert aber des Sub⸗
jectes ganze Selbf-Thätigkeit, für Deflen eigne Entwicklung
an ihm.
Dad Chriſtenthum nun fegt das von Menfchen
unabhängige Beſtehn feines Wefensinhaltes und Dafeins
und Wirkens nicht allein. Es fegt noch aufferdem eine im
Dbiecte felber fort und fort lebendige, nicht blos einft her⸗
abgeftiegene, fondern ftets berabwirkende Kraft, eine entges
genkommende Selbfibewegung göttlichen Geiſtes zu den
menſchlichen Geiftern hin. Daſſelbe fegt hiermit ein zweie
fach receptives Verhalten der Subjecte zu ihrem Object, zu
dem Beftande feined Inhalts fammt deſſen Weſensform,
und zu ber an Beide fidy fnüpfenden Wirkſamkeit feines
Geiſtes. Eben hiermit fegt ed zugleich ein actives Verhal⸗
ten der Subjecte zu ihm ein, als feine Forderung und Wirs
ung, als ihre Pflicht und Beftrebung. Dies ift Gründung
eines veligidfen und ethiſchen MWerbandes in Eins;
eines Bundes wie Gott ihn fchliefft, und wie er in der
Fülle der Zeiten ihn fehlieffen wollte,
Sole Einfegung eines Beſtehns im Befte
benden, einer Bewegung im Bewegenden, geſchah
in dem ®eben, in welchem einft das Sein felber in's Wers
den ſich herabgegeben hat, in Diefem ftebend und mit Dies
846 Niebner
fem wandelnd, ohne in ihm fich zu verlieren und ohne ihm
fi zu entziehen. Das einem folden Leben Nach-leben fand
in demfelben den Grund ‚für Beides: für Fortbewegung zu
ihm bin, weil es ein unendliche und in feine Unendlichkeit
ihm nad) ziebendes war; für Fortbeſtehn in ihm, weil es
ein in ſich vollendete, der Endlichkeit mäcdhtiged war, So
fteht die zweite Lebens⸗Schoͤpfung, mit ihren zwei Seiten,
an ber Spige chriftlicher Zeit, Sie war: fortdauernde Auf:
hebung aller Selbfigenugfamfeit und Selbftändigkeit der
Subjecte, gegenüber dem „höchften” Objectiven; als einem
vor und Über ihnen in ſich Beſtehenden, und doch für fe
Nothwendigen, und auf fie Wirkfamen, weil es unendlid
größer fei als alle Subjecte zufammen. Und fie war:
neu · verſtaͤrkte Forderung wie erhöhete Leitung einer Gelb:
Mitthaͤtigkeit der Subjecte, gegenüber demfelben Objectiven;
Diefem als noch in derfelben dreifachen Beziebung zu ih:
nen, und doch ald einer im Sohne durdy Gnade und Eiche
fo vermittelten, daß die Strebung nach ihm dem Unendlichen
bin nicht zu groß fei für Einzelne aus ihnen, Das ik
der chriſt o⸗theiſtiſche Pantheifmus oder vielmehr Anthro⸗
potheifmus ber Zukunft, als einer im vollen WBortfinn in
unendlicher endlofer Ferne liegenden. Und das if
. dad ewige Zuſammen eines ewigen Beflebns und
einer ewigen Bewegung, ald dad unterfcheidende Weſen
chriſtlichen Entwicklungs⸗ oder Lebens⸗Begriffs. Zugleich if’
der Grund, weshalb für die Gefchichte dieſes unendlichen
Lebensweges jene noch anpere Art der Bewegung auf
ihm ein fo großes Gewicht gehabt hat. Denn es lag mehr
in deren Begriffe ſchon ſelbſt, als in dem der vieldeutigern
erften Art: daß von ihr aus wol leichter, auch unter den
Subjecten felbft, der vechte Entwidelungsbegriff oder
das rechte Verhaͤltniß zwifchen Beſtehn und Bewegung fid
finde; eben weil ihr das in ſich Beltehende das mächtigk:
fie Bewegende war, weil fie auf einem auch in feiner le
4
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 847
bendigen Selbftbewegung fefiftehenden und feſthaltenden
Grund ſich bewegte.
2. Folge für bie Seſchichtſchreibung.
Vorftebende drei Anforderungen an chriftliche Lebensge⸗
f&ichte, nur herausgehoben aus noch mehrern, erweifen ihre
Nothwendigkeit, wo nicht durch ſich felber, doch durch
„die Gewalt der vornehmlich zwei als Generaldogmen auf:
getretenen Entwidlungs-Begriffe, unter welcher auch
diefe Geſchichte in’ ihrem Darftellen wie Geſchehn geftanden
bat. Denn beide Lebens» Begriffe haben zwar, einander
ziemlich ſchroff entgegengefegt, entweder für Beſtehn oder für
Bewegung als die wahre oder doch unbedingt höhere Form
entfchieden, in welcher der objective und fubjective Geift des
Chriſtenthums fein Leben und Werk volziehe. Dennoch ha=
ben fie diefen Lebensgeiſt gleich „genau” an feiner Wirklich:
keit gemeffen, und find fo entftanden, Darum bedarf’8 noch
immer des Zweifels, ob nicht beide dem fchon ſelbſt⸗wuchern ⸗
den, aber zugleich an Gefchichte fich großziehenden Dogma=
ticiſmus gehören, auf abgekürgter Geſchicht⸗Erforſchung bes
ruhen. Darzuthun iſt wenigftens, daß beide durch Geſchichte
ebenfowenig einander zu befiegen, wie zwiſchen einander zu
vertragen vermocht haben oder vermögen,
Diefe zwei Entwidlungs-Begriffe, für die chriftliche wie
allgemeine Menſchheit, find allerdings jeder wiederum in ſich
ſelbſt verfchieden gefafft aufgetreten, aber doch mit mehr oder
minder Antheil aller Faſſungen an nachgenannten Haupt⸗
eigenfchaften. Der beiweitem vorherrfchend gewefene
hat beide Momente, das religiöfe und daß ethifche, demnach
«in der hier fraglichen Beziehung) ein Beſtehn auf pofitivem
oder höherem Grunde und ein Fortbewegen oder Fortbauen
auf demfelben, feftgehalten. Einem noch größeren Umfange,
noch volleren Maße feiner Anerkenntnig und Wirkfamkeit
haben auffer wie in ihm liegende Urſachen entgegengeflan-
den. Unter legteren war dad bedeutendfle Hinderniß: nicht
zunaͤchſt, fondern mehr nur mittelbar feine Faflung; vor
848 Niedner
Allem nämlich jene nie ganz uͤberwundene Schwierigkeit,
die Antheilnahme am Beftimmen der Grenzpuncte zwiſchen
Bewegung und Beftehn unter Societät und Individuen zu
vertbeifen. So ward oder ſchien dann leicht mangelbaft
entweder die relfgiöfe oder die moralifche Seite des Ent:
widlungs:Werfes, die erhaltende ober-die fortbildende. —
Der Entwidlungs:Begriff einer Minorität in allen driß-
lien Zeiten, welche jedoch ſtets nur ein Theil der „Indi—
vibuen= Macht in der Kirche” geweſen ift, loͤſte die Ent:
widelung mehr oder weniger von ihrem religiöfen Grunde
und Beziehungspuncte, ließ fie felbft mehr eine logiſche ald
eine etbiſche fein. So trat immermehr‘an die SteDe cine
Entwicklung der Menfhen am Chriſtenthum Entwicklung
eines Menſchenthums aus fi) felbft hervor; gleichwie Auf-
ſuchung „ewiger Wahrheiten von phyſikaler und logikaler,
dadurch allein auch ethiſcher Nothwendigkeit”. Größer Um:
„fang der Anerfenntniß erwarb diefer Begriff, wenigftens bis:
jegt, fchon aus dem Humanitäts-Grunde nicht: weil folde
abfolute, überdies einfeitig logikale Subjectivität und Pre:
grefftität geeignet war, nicht ſowol die Gefammtheit der
einzelnen Menfchen und den ganzen Menſchen zu entwideln,
fondern alle nicht⸗-denkende Subjecte an eine Hierarchie be
dormundender Denfer:Subjectivitäten zu binden, gleichwie
ſtatt ewiger Wahrheiten ewige Mobilitäten al das alleinige
Beftehn einzufegen.
Beide Entwicklungs⸗Theorieen haben im Worbergrunde
des Kampfes über Bewegung und Beſtehn, auch wel auf
den Höhen ber (zwifhen Gut und Uebel wechfelnd) fort:
fhreitenden Zeit geftanden, Weiden Eonnte es kaum gend:
gen, fi nur als der je andern Bügel oder Sporn zu be
traten. Die eine hat den Ertrag der andern für bie Schale
ober den Auswuchs, den ihrigen für den Kern oder Rem
der Geſchichte gehalten. Hiftorifhe Forſchung nun,
tm Gegenhber von beiden, erkennt als ihre ndhfte Auf
gabe: diefelben', weiche vorzugsweife der Beſchaffung dei
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.-Gefch. 849
Geſchichtſtoffes ſich bemaͤchtiget haben, zuerft in fich ſelbſt
als Theorieen und in ihrer Wirkfamkeit, moͤglichſt mit allen
ihren beroortretenbern Modificationen oder Eomplicationen
unb Seiten, zu der Kenntniß von ihnen vorzuführen, welche
durch ihre wogenden Strömungen gefordert if. Allerdings
Bwed darf e8 für Hiftorie als ſolche nicht fein, und Erfolg
würde es nicht fein, daß beiderlei „hiftorifcher Dogmatis
ciſmusꝰ fein Fefiftehn in die Bewegung immer fortfirebens
der Erkundung der Wirklichkeit tauche. Hingegen für die
von ihm verhältnißmäßig Freieten, deren wch eine große Zahl
ift, bleibt es notbwendig, an den einzelmen chriſtlichen
Lebens: Erfcheinungen ein Maß für den Werth abftrahirter
Lebens· Anſchauungen zu befiten.
Aber, eine noch andere Aufgabe drängt der Ges
ſchichte das Streben nach Volftändigfeit auf, Das chriſt⸗
lich religiöfe Leben, ald theoretiſches und praktiſches, hat
nicht da allein fi vollzogen, wo jene einfeitige Bewegung
und ein ihr fih widerſetzendes Beſtehn um die Leitung des
GSangs der Entwidiung lämpften. Die oben als eine zweite
bezeichnete Bewegungs⸗Art ift für daffelbe zu größe:
rer gefhichtlider Geltung zu bringen. Sie war bie,
welche möglicherweife ebenfowol im Beftehn, d. i. im Gtills
ſtehn der ertenfiven Bewegung, wie in ober neben biefer
Rottfand. Sie war zugleich die, welche mehr refleriv auf
die Befchaffenbeit, auf die Intenfität des fubjectiven Ans
eignend fi) verhielt; in welder fomit am feichteflen die '
Kraft der Lebensbewegung ſich verſtaͤrken, der Gehalt des
Lebens ſich verdichten konnte. Diefe Seite chriſtlich religid-
fer Lebend-Fübrung, nicht minder bedeutungvoll ald jene mit
ſich felber ämpfende, if auch feineswegs in jedem Sinne
und Maße ausgeſchloſſen aus dem Bereiche des in Gefchichte
Nachweisbaren. Lebendbefchreibung des Ghriftenthums in
Shriftenheit hat, vermöge derfelben, minder häufig entweder
von wirklichem Stilftehn, oder von blos ſcheinbarer und
rüdgängiger Bewegung chriſtlich werdender Menfchheit zu
850 ‚ Niebner
berichten ; handelnd wider dad Wort des Herrn, „laffet die
Todten ihre Zodten begraben.” Diefelbe bietet ihr Stoff
in zweifacher Geftalt und Sphäre, in welcher fie hifte-
riſch wahrnehmbar vorliegt. Und es ift nun einmal bier
das Wort genommen für ein fib Erweitern des gefchict:
liyen Aufſuchens auf Alles das, was nicht entweber durch's
Ehriftenthum felbft oder durch die Wirklichkeit in den Hin:
tergrund zurücgedrängt war.
Die eine Geſtalt und Sphäre der mehr inten
fiven Lebensberaguftg iſt jene, die unter den Höherflehen:
den unſers chriftlichen Geſchlechts, den Reformatoren von
Auguftin an, den Namen einer un ſicht baren Kirche ge
tragen hat. Das Was ihres Inhalts, fomit das Wo ihres
Daſeins, ift zwar allezeit fehr verſchieden beflimmt worden,
fowie fehr mannichfaltig gewefen, Dennoch ift das Nach⸗
weisbare nicht ihre Thatſachlichkeit allein; in dem Maße,
daß an derfeiben die fichtbare Kirche eine reale immanente
Mit:Kraft gehabt hat, bewegendes Princip der chriſtlichen
Welt in dem Grade zu werden, in welchem fie es geworden.
Nachweisbar ift auch, an unzähfigem Einzelnen, dem allein
wahrhaft Beweifenden: wie dad factifche Werhältnig zwiſchen
beiberlei Kirche darin beftanden hat, daß ein Theil des Ja:
halts der unſichtbaren in der andern fichtbar geworden, in
diefe übergegangen erſcheint, oder doch in den Wirkungen
ihrer Wirkſamkeit auch ſinnlich wahrnehmbar hervorgetreten
iſt; während es für den Übrigen Theil bei blos geiſtiger Erw
®ennbarfeit geblieben. — So find beide Theile des Inhalts
unfichtbarer Kirchen» Wirkligkeit Feine unmoͤglichen Gegen:
Hände für Kirchen⸗Geſch i chte. Und fie find mindeſtens
ebenfofehr aus intenfiver wie aus ertenfiver Bewegung her:
vorgegangen, Luther hat die unſichtbare Kirche lieber die
Seele ald den @eift des fichtbaren Kirchen⸗Leibes genannt,
Die andere Geflalt und Sphäre jener im Be
ſtehn fich bewegenden Bewegung iſt eine confiftentere Maſſe
gewefen. Nur nicht ſchon vorläufige Ableugnung einer Bit:
Umfang f. b. nothw. Inh. d. allg. chriftl. Rel.-Gefch. 851
wefentlichfeit diefer Bewegungd= Art, auch in ihren Unvolls
tommenbeiten, ift erforderlich, um die Ebenbürtigkeit des aus
ibr erzeugten Lebens als Mit:Gegenftanbes der Gefchichte zu
erkennen. Gefammtes Raumgebiet der Ehriftenheit, alle ihre
Zeiten hindurch, flellt zweigetheilt ſich dar in Betreff
der Religion wie der allgemeinen Gultur: getheilt nicht nur
in Mutterländer und Kolonieenz fondern, mehr oder wes
niger bleibend, auch in gebildetere und mindersgebils
dete Völker und Länder, gleihwie in Gebildeten-
und Ungebildeten- Stand. Innerhalb einiger Bils
dungs⸗ Volker und Länder fowie Stände erfolgten die mei
fen der größern Entwidelungen. Und Diefe waren aller:
dings vorzugsweiſe an jene extenfive Fortbewegung geknüpft.
Die vielen Anderen, Völker und Stände, hingen nicht nur
von Ienen ab, fondern fanden auch hinter ihnen zurüd,
Ob diefer Gang auch der hriftlichen Dinge zu den au im
Chriſtenthum unabänderliben Weltgefegen gehöre, oder ob
nur die Chriftenheit leichter, als unvermeidlich war, in ihn
ſich gefügt habe, oder ob durch das allerdings in der Chris
flenwelt bemerkbare Entgegenwirken dieſer zweifache Bildungs»
Unterfcjied fo weit, ald es möglich war, gehoben fei: auch
dies bat die Geſchichte zu unterſuchen. Thatſache aber ift,
bis auf ben heutigen Tag, das flete und allgemeine Bor:
bandenfein einer unendlichen Chriſten zahl, wel
her ald der ihr mögliche religiöfe Lebens Ant heil chen
nur der befchieden war und ift, welchen jene zweite Be
wegungssArt ober Lebens:Borm in ſich fchliefft 3),
3) Die geifles » ariftofratifhe Bölkers Tafel, vermöge biefer
Zweitheilung der Spriftenheit, ift Aberblicklich folgende geweſen.
In der ältern Zeit waren die Stammländer religiöfen wie alls
gemeinen „höhern” Bildungsiebens: in Orient und Decident
sufammen, ſyriſches und griecbifhes Vorderaſien, Aegypten,
Griechenland; Italien, Africa, Spanien, Gallien, Britannien.
In ber mittlern Zeit: der Occident nahebei allein; in ihm jene
glei anfänglichen Bildungsländer, nur mit ziemlichem Hinweg ·
Theol. Stud. Jahrg, 1853, 57
852 Niebner
In allgemeine Geſchichte der chriſtlichen Religion
nun, als Darlegung des von ihr geflifteten religioͤſen Lebens,
iſt von univerfalent Gewicht unmöglich allein, wenngleich
vorzugäweife, das nach gemeinem Entwiclungs⸗Begriff für
univerfal Geltende: das zeitliche Wechſeln der nationalen
Traͤger und territorialen Sige des Entwidelns, wiefern Sol
ches flattgefunden hat in Form der ertenfioen Progreffion
und im Kampfe mit einem fie unterbrechenden Beftehn, Die
Univerfalität diefer „bumanften” aller Religionen bat eine
nicht blos räumliche, fondern auch menſchliche Bedeutung:
auf die Individuen als ſolche ift in ihr gerechnet. Schon
darum bat ihr Weltzweck ſich feiner Erfüllung entgegenge
führt, eine Gefchichte fi gegeben, nicht fo vorzug&
weife wefentlid nur in derjenigen Form, welde
die Modalitäten der Lebensführung befchaffte oder beftimmte.
Aufferhalb der vielsentwidelnden Gentrals oder Capital⸗Sitze
„böberer” religioͤſer Lebens⸗Cultur, da gab es noch zahlreiche
wenigs oder nichtö=„entwicelnde” Mebenländer fammt Bil:
tern, Und doch lagen dieſe nicht fo jenfeit der Pole, daß
neben Receptivität bloſes ſtabiles Wegetiren in jedem Sinne
mit Nothmwendigkeit eintrat. Wiederum innerhalb des Län
der= und Voͤlker⸗ Bereichs der zur alleinigen geftempelten
falle Africa's und Spaniens. und mit allmäligem Hinzutritte
Deutflande. In der neuern Zeit: Erweiterung des mittelals
terlihen Gulturgebietes; univerfal jedoch, wenig über des Ger
manrenflanımes Bereich hinaus. Die Glawen » Rationelitk
theilte ſich, bis jett, nur in Abhängigkeit von griechiſch⸗roͤmiſch⸗
germanifhem Weſen. Rorbs wie Süds America blieb Loloniale
Begetation einer weiten Möglichkeit, aud nad; feiner politis
ſchen Cosfagung von ber vor ihm civilifisten Welt. Morgens
und abenblänbife Griechen vermochten ihre (nicht durch ir
Iſlam allein) verlorene Stelle in der Gedichte, als des and
qriſtlich ätteften Gulturvoikes, nit wiederzugewinnen. Sie
eigen ihren germaniſchen Nachfolgern, daß Bbiker vor dem
Altaverden fich zu hüten haben. — Aehnliche Abwandiungen im
Großen ergibt die Stände» Geſchichte.
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.:Gefch. 853
Lebens: „Entwidelung” felbft, auch da hlieb eine große Mehr:
beit ausgeſchloſſen von thätigem Antheil .an folder. Und
body war Das, „wovon fie lebte”, biefed fremd Entwidelte
nit ſchlechthin alein. Endlich, in demfelben Bereiche Fam,
"in gewiffen und ziemlich vielen Städen, für alle oder die
meiften der „Entwicler”” auch felbft eine Zeit des zu Bes
flande gelangten Entwidelns. Und doch war aud fo bie
religiöfe Lebensbewegung, in noch einer Hauptſache, nicht
nothwendig oder wirklich zur Ruhe des Grabed gekommen.
ebenfalls war fie e8 nur in manchen. — Der Lebens-Antheil,
welcher für genannte dreifache Maſſen möglich geblieben,
theilweife in ihnen auch wirklich geworben ift, hat nicht
durchweg in einem gleichfam paffivsactiven allein beftanden;
in dem, mit welchem jener einfeitige Lebens Begriff fie fammt
allen ihren Beftandtheilen zu Antichthonen religiöfen Lebens
berabfegt. Derfelbe war, ber Möglichkeit nach: nicht mins
der progreffive Productivität oder productive Progreffivität
in ihrer Art, eben in jener intenfiven Weile. Er war den
materialen und formalen Mitteln nach empfangene, auch
wol mehr Religionsausübende ald Religion-vorftellende, und
doch fortfchreitende Lebensbewegung. Und feine gefchichtliche
Auffuhung oder Aufzeigung if nicht ſchwerer, wie nicht
leichter, als bei dem jener „unfichtbaren” Kirchen⸗ oder Lebens.
Genoflen. — Demnach erfiredt ſich das Geſchicht-Gebiet
activer Chyiſtenheit noch jenfeit der Grenzen, welche ein ſchon
fehr lange moderner Entwidiungs » Begriff ihm zieht; eine
Theorie der Bewegung, die felber nichts iR als eine von
mehrern.
IV. Socialität und Individualität.
Chriſtliches wie nichtchriſtliches Menfchentyum ift von
Natur individual und ſocial zugleich, Daffelbe hat Ins
dividuität und Societät an einander gebunden, Beider Wech⸗
felverbindung zur Allgemeingeftalt veligiöfer wie aller Lebens⸗
Führung und Entwidiung eingefeßt, Individuation und
52.
854 Niebner
Affociation feiner Zwecke und Mittel gefordert. In der Ber:
kuͤndigung eines Reichs Gottes, ald der Idee des Menfchens
geſchlechts, Tag die Aufgabe ausgeſprochen, alle Einzelne
und alles Einzelne entgegenzuführen dem fich Bufammen:
fhlieffen zu Einem Ganzen, Sie felber lautete nur auf
ein erſt⸗Werden der Gemeinfchaftlichkeit in der Gemeinfchaft,
auch nicht auf ein Untergehn der Einzelnen als folcyer in
der Gefammtheitz aber auf Vereinigung flatt Wereinzelung.
— Die Möglicgfeit annähernder Löfung von Seite der Men:
fen, vorausgefegt ihre göttliche Gewaͤhrleiſtung im Fort:
gange wie am Anfange, war in ber eigenen Natur der
Aufgabe begründet. Darin naͤmlich: daß die Socialis
firung geſchehen folte vorzugsweiſe und zunächft im Bereiche
und durch die Mittel des Sittlichen; als des für die
Menfchheit Hoͤchſten und Algemeinften, Nächften und Per:
föntichften zugleich, Das Ethifhe, geboben und getragen
durdy Kraft der Religion, war dad Geeignetfte den Prind:
vat zu führen, in erflee Stelle dad Werk der Menſchen⸗
Vereinigung zu vollbringen; obwol in wefentlichem Ber:
bande mit dem Logiſchen und dem Andern. Denn vor Allem
des Sittlihen Natur war es, in beiden nothwendigen Bes
ziehungen zu wirken: ertenfio, in alle Lebens. Organe und
Theile Aller einzubringen, der Pulsfchlag gefammten Lebens
Körpers zu werden; intenfio, die Einzelnen felbft perfänlic,
in ihrem eigenften Selbft=fein zu erreichen, die Socialifirung
des Individuellen an den Individuen oder ald Socialiſirung
der Individuen felber zu vollziehn,
Das iſt die Größe der foteriologifhen Anthropologie
im Ehriftenthum, im Gefolge chriftologifcher Theologie,
Das wodurch biefe Religion den Charakter „göttlicher Hu⸗
manität” trägt: daß in ihr dad Nothwendige das Mögliche,
das Hoͤchſte das Naͤchſte, das Allgemeinfamfte das Perſoͤn⸗
lichſte iſt; daß Alles im ihr göttlich und menſchlich zugleich
gemeffen ift. So trat die Reichs⸗Idee als Ziel und Kraft
und Rorm für allgemeins menſchliche Lebens » Beflimmtheit
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 855
auf: für ein Menfcpens Werden auf Grund neuer und
größerer, ald ehedem, von oben gefchehener Runde und That;
und nun, nad) folder Menſchen⸗Weltgruͤndung, durd vor
Alem fittliches Stehen und Bewegen auf biefem Grunde,
mit allem Denken wie Wollen, um Heiligung des Sinned
und Erkenntniß bes Geiſtes zu gewinnen an der. Sünde
und ibred Wahnes Statt. Es war eine alte „Sage”, daß
die Sünde der Leute Verderben fei. In Zolge diefer Wahr«
beit durch traurige That, flellte dad Evangelium den Ge
genfag der Sünde an die Spige feiner felbfl, ald
objectiver und als fubjectiver Religion, in Dem welcher es
brachte, und in Dem was es forderte. Herrſchaft Gottes
(als des allein Goͤttlichen) über und in den Menſchen, ald
Erkennenden wie ald Handelnden, jegt nachdem fie in dem
Einen mitten unter ihnen erſchienen als That, allmälig her⸗
zuſtellen: das ift die Botſchaft und der Auftrag, ergangen
an die Menſchen als Einzelne und Vereinte 9).
Der Begriff eines Lebens, das jene Religion leben
foltte, feines nothwendigen Inhalts und feiner nothwendigen
Form, muffte derfelben Religion folgerecht beftimmt fein,
Die Doppelgeftalt feiner Führung, als focialen und ins
dividualen Lebens in Einem, war in der neuen Stiftung
für daffelbe aus deſſen urfprünglicher Gründung angeorbnet
geblieben. Jedoch nun erft war Diefelbe eingeſetzt als Wahr:
beit ihrer Idee und als mögliche Wirklichkeit zufammen.
So mufften nach Ebenderfelben alle Hauptverhält
niffe des Menſchenlebens umgebildet werden. — Allein,
4) Wem diefer Chriſten⸗Beruf als fromme Sittlichkeit nicht hoch
genug dünkt, um das Gewicht ber für feine gemeinfame Er»
fülung gemäßeften Gemeinſchafts⸗Form zu erkennen, der muß,
um die Aufgabe wenigftens ſchwer genug zu finden, es verſuchen
das Böfe ſammt feinem Wahn und Uebel wit logifhem und
phyſiſchem Zauber allein zu bannen. Das Fönnte aber doch erft
eine „Geſchichte der Zukunft” ergeben, die uns jest noch nichts
angeht. .
856 Niedner
unvollſtaͤndig iſt geblieben ſelbſt deren bloſes Mit⸗Beziehen
auf dieſe Grundform 6). Gewoͤhnlich erſcheint allein jenes
dritte, das zwiſchen Bewegung und Beſtehn, nebſt dem eng:
verwandten, freier Mannichfaltigkeit und einheitlicher Be
flimmtheit, auf die focialsindividuale Verhaͤltniß · Frage befons
ders bezogen. Gleichwol, die Univerfalität jener Forderung
allen religiöfen Lebens . Inhalt focialsindividual zu geftalten,
ſchloß ſchon in fi, daß alle feine Grundverhaͤltniſſe unter
diefen End: Gefihtspunct ald das Schluß · Verhaͤltniß fallen
müffen, Dieſes felbft aber bat den Reichthum feiner Ge
ſchichte in zweifacher Weife vergrößert, Schon feine allges
meine Ratur verflocht die religiöfen Lebens-Beziehungen mit
nahebei ausnahmlos allem Andern. Und feine Mobification,
durch Eintheilung in Laien» Individuen und in entweder
geiftliche oder ſtaatliche Religiond-Societät, brachte noch bes
fondere Berwidelungen mit Allem.
Einzig in Bezug auf die Weite des Umfangs,
welchen das vielbehandelte vierte Grundverhältniß dem Ge
ſchicht⸗Inhalte gegeben, wird daſſelbe hier noch berührt;
abgefehn von feiner Faſſung. Erſtere, ald Forderung gefelt
an bie Kirchen⸗Geſchichtſchreibung, gründet fich auf die Die
fer ohne weiteres geſetzte Aufgabe, Solche aber if: ein
durch Vollſtaͤndigkeit treues Bild davon zu geben, wie bie
Societäten und die Individuen, nicht blod der Form ihrer
5) &o, in Betreff des Scheidens oder Vereinbarens weltlichen
und hriftlidier Yrincipien ober Zwede, z. B. einer Chriſtie⸗
niflsung auch ber ſcheindar auffer dem Religions Bereiche lie⸗
genden WeltsZuftände, Verwirrung und Verſumniß Eonnten
nicht fo groß werben, wie fie e6 geworden, wenn Gocietäten
und Inbivibuen, als Soiche, gerabe auch in biefer gemeinfamen
Aufgabe Weweggrund und Norm für ihre Wereinigung fanden.
Ebenſo, bei mehr Abmeflung des Theoretifhen und Pras
Etifhen nach theils individualem, theild focialem Bedürfen
und Vermögen, würde ber ewige Nicht⸗Feiede zwiſchen Gculs
und Kirchen ⸗Dogmatik, zwifden Beiden und Volke⸗ oder Ges
bildetensReligiof, nit fo weitsherrfchend geblieben fein. _
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 857
wechſelſeitigen Stellung nad, fondern zugleich der’ as
terie ihrer beiderfeitigen Thätigfeit nad, mie alfo
Beide nit blos zu einander, fondern zugleich zu ihrem
gemeinfamen Grunde und Zwede geftanden haben; d. h.,
inwieweit die Stellung und Wirkſamkeit Beider ihrem Aus:
gangspuncte nahergeblieben und ihrem Zielpuncte naherges
kommen fei. Denn die in des Stifter Teleologie klar vor:
liegende Beftimmung feiner Kirche war: göttliche Anftalt
und göttlihes Drgan zu fein für eine Menſchen⸗Gemein⸗
haft, in welder, durch das flete Walten des Geiftes von
Chriſto aus, das Reich Gottes komme. Die Darftelung
bat alfo ale Formen und alle Thätigkeiten, unter letztern
die individualen gleich deh focialen und die focias
len gleich den indisidualen, nah Maß und Art, der
vorzubeben. . ö ‘
&o den Umfang feines Inhalts erweiterndes Darftellen
fegt fih ald Zweck [wenn «8 ihm auch nicht erreicht]: Vor⸗
legung bed wirklich »gewefenen Kirchenthums;
d. h. zunächft, derjenigen Vertheilung aller Thätigkeit für
die Religion unter Societäten und Individuen, welde das
Dafein und Wirken der Religion als religiöfes Leben wirt:
lich beffimmt bat. Das Gefammtergebniß folder Vor⸗
lagen Tann leicht die Thatſache fein: daß die wirklichen Faſ⸗
fungen und Ausführungen des Kirchen .Begriffes, im Raume
neben einander und in der Zeit nad einander, theild mans
nichfaltiger , theild wiederum jede in fich nicht felten anders
befchaffen gewefen, als fie bei ihrem dogmatiſtiſchen Betrach:
ten nad) „fertigen” (durch „Dogma von Kirche” feftgeftell:
ten) Begriffen von Kirche erfcheinen. Hiftorifche Erkennt⸗
niß des Religionsgemeinſchaftlichen oder Kirchenthuͤmlichen
wird erworben durch‘ Zufammenftellung aller irgendwie bes
deutfamen Verſuche in ſolchem; ungeachtet ihrer Verſchie⸗
denbeit, in Betreff ihres pofitiv chriftlichen Grundes, ihres
teligiöfen und focialen Werthes. So umfafjendes Auffuchen
wird zwar vielleicht keine der mehrern, entweder vorbem ober
858 Niedner
gegenwaͤrtig, herrſchenden oder nicht⸗herrſchenden Religions
gemeinſchaften, mit ihren Gemeinſchafts-Begriffen und For:
men, volftändig „hiſtoriſch bocumentiren”. Daffelbe wird
vielleicht: nur dies nachweiſen koͤnnen: wie ale um Bars
oder Allein · Herrſchaft und Dauer geworben haben; auf
wol barnady geſtrebt haben, ſich aus ber chriftlichen Religion
beraus und fomit der menſchlichen Natur gemäß zu ent
wideln. Aber die fo vorgelegte gefammte Stufenleiter dır
Verſuche, das Verhaͤltniß zwiſchen Societät und Individuen
zu ordnen, und zwar ſo, wie dies Verhaͤltniß in jeder der
getroffenen Ordnungen wirklich beſtanden hat, fann wenig
ſtens fi) bemühen, im Dienfte, obgleich nicht völlig einer
der befondern Gemeinſchaſten, doch des hriftlichen Ganzen
zu ſtehn. Sie kann unterfuchen: ob nicht dennoch das
Chriſtenthum in feiner Ehriftenheit, hinſichtlich der Gemeins
ſchaftsform, zwar in großer Mannichfaltigkeit und ohne hin:
reichend erftrebte oder gelungene rechte Einheit, aber auch
fo noch einer koſmiſchen Geftaltung ſich näber geführt hat;
ob nicht dad chriftliche Gemeinſchaftsweſen als eine Wider⸗
legung durch die That gegenübersgeftanden hat dem jüdiſchen
und beidnifhen, jenem ald mechaniſch zufammengefügtem,
diefem als mehr chaotiſch auseinandergefallenem. So kann
fie verfuchen den hiftorifchen Gegenbeweis zu führen wider
zwei Meinungen verzweifelter Gegenwart: bie Chriſtenheit
fei dahin gelangt, wie in ihrer Religions fo in ihrer Ge
meinſchafts⸗Faſſung, entweder zum Jüdifchen oder zum Heid:
niſchen ſich zurüdzuwenden ald ihrem Mufter, mit Einem
von Beidem ed noch einmal zu verfudhen, mit Dem aber,
worin Beides uͤberwunden fchien, lieber zu brechen 6).
Der Punct welder allein hier herausgehoben werden
fol, um an ihm die Nothwendigkeit, daß die Gefchihte
6) Das Borhandenfein beider Zeitsftictungen, entweder auf Zu
fammenpreffen oder auf Auseinanbergebnstaffen
zeligißfer Gemeinſchaft, iſt augenfällig. Alfo, auch bie Aufgabe
für Geſchichte diefer Gemeinſchaft. .
Umfangf.d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.-Gefch. 859
etwas weit ſich fafle, zu zeigen, betrifft die Thatfache: wie
der wirkliche Antheil am religidfen Geſchehn unter die Wer
treter eines religionsgemeinfchaftlichen Ganzen, auch wenn
ſolches eine berrfhende Kirche war, und feine einzels
nen Glieder vertheilt gewefen. Diefe Unterſcheidung einer
eigenen Mitwirkſamkeit der Individuen als
ſolcher, neben der einer Societät als folder, geht natürs
lich nicht darauf, daß Jene oft ald Organe von Diefer in
deren Auftrage handelten; was von felber fich verſteht. Auch
nicht darauf, daß ein Theil der Erſteren in entfchiedenen
Gegenfag mit dem Sinne ber Letztern trat; denn nur von
einer in ner⸗-kirchlichen Vertheilung fol die Rede fein.
Ebenfowenig fält die Unterſcheidung in Eine zufammen mit
der zwiſchen unfichtbarem und fihtbarem Kirchenthum. Die
in ihr geltendgemachte Thätigkeit der Einzelnen wird nicht,
wie in Diefer, gegen die des Ganzen gehalten als eine duffer-
lich mehr zurüdgetretene und innerlich wertboollere, fo daß
diefe zwei Eigenfchaften für fie nothwendige Merkmale feien;
fondern ald eine gewöhnlich offen hervorgetretene ihrer Das
ſeins⸗ und Wirtungs:Form nach, und als eine ihrem Werthe
nach fehr verfchiedengrtige und unbeftimmte,
Bon ſolcher Zhätigkeit der inner⸗kirchlichen Individuen
überhaupt nun ift Beides genau zu, unterfuchen: die wirks
lich⸗geweſene Größe ihrer felbft wie ihres wirkfamen Eins
fluffes auf bie Societätz und, ihre wirklichgewefene Be:
ſchaffenheit. Denn einerfeits ift mol biöweilen, in kirchlicher
Geſchichtſchreibung wie Begriffsfaffung, der individuale Ans
theil an Dem, was den Kirchengefchicht: Inhalt wie den Kirs
chen⸗ Gehalt ausmachte, in höherem Grade zurücgeftellt wor:
den, als Chriftentpum und Wirklichkeit fordern oder zulaffen,
Das ganze Wefentlihe des Wirkungs-Verhaͤltniſſes zwiſchen
Sefammtheit und Einzelgliedern hat wol gegolten ald ziem⸗
lich ‚aufgegangen in dem Einen, daß den Regierenden oder
BVerwaltenden entweder Gehorchende und Ausübende, oder
Nicht⸗Gehorchende und Nicht:Ausübende gegenübergeflanden.
860 Niedner
Auch die zwei allerdings mitsangewendeten Neben-Unter:
ſcheidungen, entweder „unfichtbarer” oder zweideutiger und
unentſchiedener Kirchenglieber, reichen nicht aus. Anderer:
feitö, die in der That noch befonders anzuertennende Indi⸗
vidualitaͤt überhaupt, als eine „inner⸗kirchliche Macht”, kann
zumal gegenwärtig allzufehr hervorgehoben werben; im Bi
derfpruche mit der Stelle, welche fie hat einnehmen ſollen
oder eingenommen hat. — So wird das bikorifhe Ge
genverfahren ein ganz ähnliches fein müflen, in biefer
wichtigften Beziehung des vierten Grundverhältniffes, wie
beim dritten von Bewegung und Beſtehn. Es find mög:
lichſt alle biftorifche Data zu fammeln, für das Maß oder
Die Größe und für bie Befhaffengeit des Wirkens
der Individuen und der Societäten als folder, Indeß Bin
nen beide Dogmaticiſmen, der indivibualiftifche wie der fo:
cietätifche, nur in ausführender Geſchichte ſelbſt widerlegt
‚werden, . Denn fie verderben die Geſchichte und beweifen
ihr Dogma aud bderfelben nicht durch fubjective Faſſung
allein, fordern häufiger no und unbemerkter durch
‚Hervorheben und Zurüdftelen, Erwähnen und Verſchwei⸗
gen. Eben deöhalb genügen ganz wenige allgemeine Ev
innerungen, über den nothwendig umfangreichen Inhalt hifle:
riſcher Darlegung auch des vierten Grundverhaͤltniſſes.
1. Maß des Wirkens von Individuen und Societäten.
Zunaͤchſt, der SefammtsCharakter aller irgend:
wie organifitteren kirchlichen, wie nichtkirchlicher, Gemein
fchaften zeigt eine große Vielartigkeit auf, felbf im legal
feftgeftellten und noch mehr im factiſch ausgeführten Ber:
theilen des inner⸗kirchlichen Wirkens, ſchwebend zwiſchen in
dividueller Freiheit und Gebundenheit. Die Natur der Sache
wiefern fie ein Abgrenzen au im Einzelnen unmöglid
machte; die Befchaffenheit der Organifationen oder Gemein
ſchafts⸗Verfaſſungen felber, welche keineswegs je Alles an
die Vertretung des Ganzen durch die Societät feſtbanden;
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. hriftl. Rel.⸗Geſch. 861
die ‘gelinde ‘oder fchlaffe Verwaltung und die häufige Abaͤn⸗
derung oder Umgeftaltung berfelben, melde bie ohnehin
natürliche mangelhafte Ausführung oder Beobachtung noch
förderten: ſchon diefe drei (leicht zu vermehrenden) Urſachen
erklaͤren die Gefammtgeftalt, welche ald die aud mit
herrſchende das wirkliche Kirchenthum gehabt hat, und
welche eben bie gefchichtliche Feflftellung bed Maßed ber
verteilten Wirkſamkeit fo fehr erſchwert. Den Geſammt⸗
charakter bildet eine nie zu ganzem und feftem Beſtand ge:
tommene Schwebung: zwiſchen angefirebter wechfelfeitiger
Erclufioität und Gollegialität des Antheild an ber religisfen
Lebens· Leitung.
Ferner, befondere Charaktere bed Kirchenthums,
wiederum ſelbſt des legalen und nicht des factiſchen allein,
haben ſich ergeben noch auſſer jenen ſchon im Gefammt.
charakter gegründeten, durch deſſen Zuſammenhang mit pers
fönticyen oder räumlichen oder zeitlichen Bedingungen. Es
find die, welche durch Gegenftand und Gang der Streits
führung zwifchen einem Ganzen und feinen Gliedern bedingt
waren. So wurde dad Wirkungs⸗Verhaͤltniß zwifchen Beis
den, durch die Wirkfamkeit „der individualen Macht in der
Kirche”, ein fehr verſchiedenes, wenn Diefe entweder nur
die Gemeinfchafts:Form oder zugleich die Materie der Reli:
gion mitzubeftimmen ſtrebte. Ebenfo, nach Maßgabe der
Art, wie Diefelbe jene drei erfien Grundverhältniffe zu ord⸗
nen unternahm, das Chriſtliche zum Nichtchriſtlichen, das
Theoretiſche zum Praktifchen, das Fortfchreiten zum Beftehen
ſtellte. Und ebenfo, je nachdem beide Theile ſich zu begrüns
den fuchten: entweder durch religiöfes und ſociales Beduͤrf⸗
niß, oder mir durch überlieferten Brauch und. auftauchenden
Unabhängigkeitsfinn; entweder aus chriſtlich⸗poſitivem und
menfchen.natürlihem Recht, oder nur aus Herrſcher⸗ und
Partei:Geift.
Dualität im Modus auch der innersfirdlihen Ent
wickelung bes religiöfen Lebens hat alſo Dem, was im
862 Niedner
engeren eigentliheren Sinne Kirchenthum zu heiffen hat,
dem Bertheilen der Wirkſamkeit unter Societät und Ind '
viduen, feinen allgemeinen Charakter und feine befonderen
Charaktere gegeben. Sie hat zugleich in allem Girizelnen
wie im Großen fich geltendgemacht. Ebendiefelbe Zweiheit
tritt aber auch meiſt als Ineinander-Verſchraͤnkung oder
Verwickelung der ſocialen und ber individualen Form des
Geſchehens auf. Erſteres zeigt die Wichtigkeit, Letzteres die
Schwierigkeit, beider Wirkfamkeit auf ihr wahres Maß zu
rüdzuführen, und fo erft den biftorifchen Begriff des Kir:
chenthums zu finden.
2. Beläaffenheit bed Wirkens von Individuen und Gocietäten.
Das Unterfcpeidende, gleichwol von einander Untrenn
bare des zweifeitigen (individualen und focialen) Wirkens hat
fi) durch ale Grundverhältniffe hindurchgeflihrt, auch feiner
materialen und formalen Befchaffenheit nad. Bi
Kenntnig und Erkenntniß deö wirklichen Kirchenthums auch in
diefer Beziehung, in Hinſicht auf die Qualität der vertheil:
ten Wirkſamkeit, durch volftändiges Einzel:Eingehn allein
gewonnen werde, Bönnen fon zwei Beifpiele zeigen.
Ein Beftehn neben der Bewegung erfcheint, zunaͤcht
von Seite herrſchender Kirchen felbft, verfchiegen und
wechſelnd gefafft oder geltendgemacht. In Betreff des Ga:
chen⸗ Unterſchiedes iſt, mit Ausnahme eines ausgewaͤhlten
Theiles theoretiſcher und praktiſcher Grundlehren ſowie eini⸗
ger Verfaſſungsformen, im meiſten Uebrigen ungleich weni⸗
ger Fortbeſtand gefordert worden. In Betreff des Zeiten:
Unterfchieded, ift diefelbe Forderung bis zur Reformation
mehr nur bruchflüdweife vorgefchritten. Nach diefer Zeit
allgemeiner Bewegung folgte in katholiſchem Kreife nun ef
auögebehntered Ueberwiegen des Stilftande, Im proteflan:
tifhen, in ber frübern Hälfte feiner neuen Zeit, neues fih
Bufammenfdlieffen zu kirchenthuͤmlicher Conſiſtenz; in der
fpätern, von oben herab vorwaltender Nachlaß von der ges
ſetzlichen Proportion zwiſchen Abwandeln und Erhalten. In
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 863
den meiften Secten bat, im Ganzen und ſeht erklaͤrbarer⸗
weife, verhältnißmäßig mehr das Stillſtehen fammt Einheit,
als ein Weiterfchreiten überwogen. — Die Behandlung des
Verhältniffes zwifchen Beſtehn und Bewegen auf Seite der
Individuen nun, nad) Befchaffenheit wie Erfolg, muffte
ſolchen Unterfihieden auf Seite der Repräfentation des So⸗
cialen entfpreden; fie war von dieſen theil Grund, theils
Folge. Aber, auch hier bedarf der inbividuale Antheil am
Geſchehn im Großen einer Unterfucung im Einzelnen; um
ihn bald weiter auszudehnen, bald enger einzufchränten,
nad feinem qualitativen wie quantitativen Verhalten zu
dem der Societäten,
Für die Einheit erfcheint, die chriſtlichen Zeiten hin-
durch bald nady deren UrsAnfang, eine zweifache Repraͤ⸗
fentationds$orm derfelben im Großen. Allerdings hat flets
eine ChriftensSodetät allen GhriftensIndividuen, ebenfo wie
den Nichtehriften, gegenüber und vorgeftanden als reale und
keineswegs bloß ideale Einheit. Das heifft: mit wirklicher
Sichfelbft- Gleichheit, ald dad Gänze; ald nicht nur Einem
Biel zuftrebende, fondern gewiſſe Grund = Wahrheiten und
Grund⸗Saͤtze gemeinfam fefthaltende und ausübende, durch
ihr Sein und Thun numerifh Eine Religionsgemeinfcaft.
Ebendiefelbe jedoch, auch ald eine Mehrheit von Formen
jener Einen Kite, Die in den mehrern Kirchenformen
nicht minder real vorhandne Einheit ſchloß eben jene unis
verfale Einheit in ſich ein; aufferdem aber eine nur partis
eulare oder fpeciale, die eined blofen Theils der Chriften
über gewiffe blos ihm gemeinfame Faflungen gewifler Stüde,
wobei weber jene noch biefe immer nur unweſentliche waren,
Legtere Einheit, die innerhalb jeder von ſolchen mehrern
Theilkirchen neben wie nach einander, war Einheit nur eines
Ganzen, nicht des Ganzen, — So ift fhon fehr früh, nur
aber eben durch unvollftändiges Durchdringen des höhern
Apoftel-Verftändniffes, die Grundlegung gefchehn zu demje-
nigen „KRatholiciimus”, welcher den Univerfaliimus ber Te⸗
864 Niedner ”
leologie Chriſti unvolllommen in fich abgebildet, bie Unter:
ſcheidung einer unfihtbaren Kirche in ihm zu einem noth⸗
wendigen Uebel gemacht hat, mochte die Regtere in biefer
Form behareen, oder in Secten: und zulegt auch ſelbſt in
Kirchen s Geftalt fichtbar von ihm fich ausſcheiden. on
etwas untergeorbneterem Gewicht war die im eilften Jabe:
bundert auch erklaͤrte KirchensZheilung, zu welcher viel früher
fon die Ungleichheiten ſyriſch⸗griechiſchen Kirhen-Morgen
landes und roͤmiſch⸗ germaniſchen Kirchen⸗Abendlandes den
Grund gelegt hatten. Hingegen, wiederum als wichtiger
muß gelten, was in ben verſchiedenen Raums oder Zeit:
Theilen der herrfchenden Kirchen fich zeigt: ein abweichen
des Beftimnien ber Grenzfheide zwifchen Eigenſchaft ald
bloſer Theilficche und als „Secte”; alfo, über Abftufung
zuläffiger Mannichfaltigkeit innerhalb der Kirden- Einheit.
Beſchaffenheit und Erfolg des Wirkens der Indivi
duen konnte und muflte hoͤchſt verſchieden fein, im Ge
genüber fo zweifacher Repräfentation kirchlicher Einheit
Wenigſtens einer Anzahl derfelben erſchien nun leichter das
BVorhandenfein einer Mehrheit von Theilkirchen als nicht
minder eine Individuation, gleich der ihrigen; nur in vid
größerem Maßftabe und als dem duffern Erfolge nach be
denklicher, vermöge ber höhern Macht moraliſcher als pbys
ſiſcher Perſonen; ſodaß der Unterſchied zwiſchen Vertretung
und Störung der Einheit, durch ſelbſt bloſe Theilgame und
durch nur noch kleinere Theilganze innerhalb derſelben, auf
einen blos gradualen zurüdgehe. Die Aufgabe für folde
Theilkirchen und Theilkicchenslieder war nun beiderfeitige
Beweisführung: daß die Grenze der in Chriſtenthun
und Menſchennatur glei) begründeten Mannichfaltigkeit, in
Betreff des nach jenem und für diefe Wefentlihen, unbe
rührt bleibe von denen Unterſchieden, welche die Theilkirchen
außeinanderhalten, wie von denen, welche fie und ihre eins
zelnen Glieder in Spannung erhalten. — Man fieht, wie
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 865
fo Zufammengefegtes nur in. mögliäft einzelnem Aus
einanbernehmen ſich hiſtoriſch entwideln laͤſſt.
8. Was und Beſſchaftfen deit des Wirkens
genialer Individualität.
Noch iſt, unter den fo vielszufammengefegten Verhaͤlt⸗
niß ⸗· Formen des Individual-Socialen, derjenigen ihre Stelle
anzuweifen, welde durch das Auftreten genialer Einzelnen
gegebene war. Solche haben an der Spide von Socies
taͤt und IndividuensMaffe zugleich geflanden,
für Beide ald die Genien der durch die Zeiten ſchreitenden
und Zeitalter geündenden Gefhichte. Ein Theil des größe:
ren Geſchehns, an welches vor anderem die Welt-Entwide-
lung und ſo auch die chriſtlich religiöfe Lebens-Entwidelung
gelnüpft war, if in folgender Weife eingetreten. Zwar ſtets
unter Vorausfegung des Vorhandenſeins, auch unter wefents
lichen Mitwirken des in gemeiner Indioiduität und Gocie-
tät dargeftellten Algemeinfamen; hingegen feiner vorzuͤg⸗
lichen oder entfcheidenden Verurſachung nach, weder durch
die collectio organifirten noch durch die ſporadiſch nicht ⸗ orga⸗
nifirten Individuen-Maffen, fondern durch einzelne aus dies
fen hervorragende größere Perfönlichkeiten. Das iſt das
Weltgefeg vom Ariftofratifmus des Geifted; gültig
auch im religiöfen und chriftlihen Bereiche der geifligen
Welt, Diefer ift noch mehr in Geſchichte begründet oder
nachweisbar, als jener oft weit über feine Grenzen hinaus⸗
gettiebene Nationalifmusz eine Form, in welcher aller»
dings auch, indem bie Geifter der Nationen und Zeiten durch
ihre Einzelnen redeten, Weltgefchicdhte geworden iſt. Des
Chriſtenthums hohe, nur zugleich durch Ghriflus menſchen⸗
nabe, Idealitaͤt gruͤndete eine unendlich reihe Abſtufung im
annähernden Hinandringen nach feiner Höhe hin, ohne je
bis zu ihr. Hiermit forderte fie Bereinigung vielmehr als
Vereinzelung der individuellen Kräfte, eröffnete jedoch ande»
rerſeits die Nothwendigkeit wie Möglichkeit des Hervortre⸗
tens ihr näher-gelommener Einzelnen. Gleichwie uͤberhaupt
866 Niebner
die allgemeineren Gefege aus der erſten Schöpfung in die
zweite perüber:gelten follten, fo auch dieſes zweifache: daß
Vereinigung der Kräfte deren Verſtaͤrkung in fich ſchlieſſe,
auch ein höher Hinaufreichen einzelner aus ihnen fördere;
daß fie aber durdy fich allein Solches body weder hervor:
bringe noch erfege.
Für Geſchichte, als Auffuchung auch des urſachlichen
Zuſammenhanges der Dinge, iſt ein fernerer Noͤttigungt⸗
Grund zum Erweitern ihrer Vollſtaͤndigkeit ebendieſe That
ſache, daß in der chriſtlich religioſen wie anderweiten Lebens:
Entwicklung die groͤßern Epochen bedingt erſcheinen durh
höhere Geiftes = oder Willens⸗Stufen Einzelner; wenigſtens
verhältnißmäßig mehr ald durch Maſſen⸗-Entwicklung, jedoch
mit folder verbunden, ald zugleich ihrem Grunde und nicht
blos ihrer Folge, Geſchichtgemaͤß iſt die geniale Individue:
lität mit der gemeinen, vereinzelten ober unter fich vereinten,
audeinanderzufegen in Betreff des beiderfeitigen Antbeils
aud am größern Geſchehn. Die Beſtimmung des Genia
lität Begriffes muß weſentlich zugleich Beftimmung
eines Verhaͤltniſſes fein, Nämlich: zwiſchen den Geiften,
welche vor anderen dem Werben ber Kirche wie der Welt
vorgeftanden, und den Societäten nebft gefammten Indivi⸗
duen, welche den gewöhnlichen Gang deſſelben vermittelt
haben. Der Begriff verliert feine geſchichtliche Nachweit-
barkeit, wenn er, wär’ es auch nur in allem BBefentlichen,
der Genialität eine volle Ausnahme-Stelung zu gemeine
Theorie und Praris giebt. Der vermeinte automatifche Che
rakter eminenten Geiſter⸗Adels, als ein Schaffen unmittelbar
aus ſich heraus, ift überall zuräczuführen auf ein mur über:
wiegend Hervorbringen aus ſich felbft, unter Woran und
Hinzuwirken eines Eleinern Maßes von den Kräften auſſer
ihm. Eine Selbfigenugfamkeit und Selbftändigkeit, welcht
die Mitwefentlichkeit irgendeines Maßes folcher Kräfte, auch
für den in ſich gegründetften ſchoͤpferiſchen Menſchengeiſt
verleugnet, ift widerſprochen ſchon durch die weltbegriffliche
Umfang f. d. nothw. Jah. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 867
Thatſache eines allgemeinen Zuſammenhangs der Dinge.
Das Auffinden der im Beſondern geſchichtlich gegebenen
Bedingungen aber, [melde uͤberhaupt eben von dez Dinge
Geneſis ihren Namen haben], der Erklaͤrungsgruͤnde für
Hervortreten und Walten und Erfolge und Rachdauer größes
ter Größen, fordert nur ein rechtes Suchen; namentlich ein
folches, das auf wahre Erkennung der gemeinen Gaufalitäs
ten geht, im vollen Umfange ihres Vorhandenſeins und Wir«
kungs⸗Gebietes. So ift Dafein von Theorieen, durch welche
auch geiftig höher Stehende mitbeftimmt werden, nicht an
foͤrmliches ſyſtematiſches Aufgeftelltfein gebunden oder darauf
beſchraͤnkt. Und, Eigenfchaft eben gemeiner Praris ift es,
einzeln zerflreut Keime und Stoffe für neue Kräfte zu be
reiten, welche dann in vor andern in ſich felber begabten
Einzelnen concentrirt erfheinen,
Budem, der Thatbeftand gefammter Genien-Ge-
ſchichte: d. h. nicht die Seltenheit des Auftretens allein,
auch die Befchaffenheit der Aufgetretenen. Religiöfe Genia⸗
litaͤt unter Ghriften, folte fie wirklich je volftändig erſchie⸗
nen fein? d. i. als harmoniſches fi Zufammenfaflen und
unter fi) Zufammengreifen aller der Beziehungen oder Sei:
ten, in welchen der Vollbegriff objectiver Religion ald ſub⸗
jective Religion oder religiöfe Leben ſich manifellicen würde?
[Denn wir reden zu Chriften, denen ihr Urheber etwas
Mehr gewefen als det „erfte Chrift” und „religiöfer Genius”)
Vielmehr, auch in ihr bekundete ſich die größere Kraftfülle
nur in einigen Beziehungen vor andern. So, vorzugsweiſe
in Form entweder tief innigen Gemüthes, oder hohen Dens
kens; entweder praktiſchen Organiſirens, oder theoretifchen
Erfindens; entweber eines die verirrte Fortbewegung zur
Ruhe Bringen, oder eines die erflorbene Bewegkraft Neu-
belebens. Sol Zurüdführen der Beſchaffenheit auch aller
genialen Individualität auf ihr geſchichtliches Map ift micht,
wie es fcheinen koͤnnte, ein Derausfallen aus em Begriffe
Theol. Stud. Jahrg. 1868,
870 Niebner
meinf&aft und deren Werfaffung war bie Form des ke⸗
bens, welche nicht deſſen Wefen felbft ausmadhte, und bad
nicht aufferhalb feines Weſens liegen konnte. Chriſtlich re
ligiöfem Leben war e8 mitweſentlich, das Gemeinſchafts⸗ke⸗
ben der Menſchheit zu werden. Daſſelbe hat auch beiweitem
vorzugsweiſe in dieſer feiner Wefensform feine GSeſchicht
gehabt; obwol die Führung deſſelben gleich nothwendig and
in individualer Geſtalt geſchehen ſollte und geſchehen if.
Und die Weſentlichkeit dieſer allgemeinen Form iſt auch den
befondern Verfaſſungsformen zugelommen, obwol fie blofe
Verſuche zu Herflellung derſelben, einer rechten Lebens⸗Ge—
meinfchaft, waren. Die Gemeinſchafts-Verfaſſung kann auf
nicht in dem Sinne oder aus dem Grunde zur aͤuſſern Ge
ſchichte gerechnet werden, weil in ihr und durch fie die meiſte
Berührung mit der Auffenwelt flattgefunden habe. Denn
fo müflte derfelben Auffengefchichte der größte Theil religis-
fer Lebens⸗Aeuſſerung angehören; ald welche auch felbft erfi
in dieſem fi Berühren mit ihrem Anderen, mit ihrem Ge
genflande, den Begriff des Lebens erfüllt. Unterfcheidung
zwiſchen Innerem und Aeufferein kann alfo nicht der Grund
fein für befonderes Darſtellen der Geſchichten diefer Sach
und ber Gemeinfaftsform diefer Sache, — Selbſt niht
für befondered Darftellen der Geſchichte ihres Dafeins im
Raume. Denn an Sonderung ded Innern und Aeuſſem
knuͤpft ſich allzuleicht eine Herausfegung aus der Weſens-
Beziehung. Der chriftlichen Religion aber iſt gleich weſen
lich, in allen Welt: Räumen bazufein, wie in rechter &:
meinſchafts⸗Form bazufein. — Demnach find Berfal:
fungsd» und Ausbreitungs-Geſchichten, aud wem
fie beſonders dargeftellt werben, nicht als eigentliche Auf:
ſen-Geſchichten der Religion zu behandeln, als bleft
biftorifche Statiftiten ihrer auffer ihr gelegenen Gemein
ſchaftsform und Ausdehnung im Raume.
Bei der faft allgemein angenommenen Dreitheilung
hingegen fceint, zu deren Rechtfertigung, nur noch Folgen:
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 871
des erforderlich; in Gemäßheit obiger Umfangs Beflimmung
für den Inhalt. Der Haupt-Theil, welder das relis
giöfe Chriſtenleben (ald die Sache ſelbſt) vorlegt, kann nicht,
auch nicht vorzugsweife 5508 ald Lehr: Zpeil "bezeichnet
werden; ober gar Gultus und Sitte, unter den verkehrten
Ziteln von „Gebräuchen und Leben”, an einen andern Theil
ablaſſen, um fle in biefem mit den Gemeinſchafts⸗Formen
zu vermiſchen, fei es innerhalb der Kirchengeſchichte uber
in einer eigenen, „Archaͤologie“. Ebenſowenig kann "der
Haupttheil feinen Behrens Inhalt in kirchengeſchichtlichen
und nicht-kirchengeſchichtlichen zenfpalten Iaffen; um
letztern an eine „Dogmenhiftorie” abzutreien. Das Begriffs
widrige biefer zweitgenannten Zerfällung nothwendiger Bes
ftandtheile kommt erft hier zur Rachweifang. .' Denn: fie iſt
mehr, ald andre dergleichen Sondergeſchichten im Bereiche
chriſtlich religiöfen. Lebens, durch die Gelammtheit aller fee
ner Grundverhäitniffe ausgeſchloſſen. Ste Idfft ſich alſo
nun, nachdem diefe volfkändig vorliegen ,. in ihrem Biber
fireite mit alen fihtbarer aufzeigen. Und Died, gerade im
Bufammenbange mit dem Eroͤrtern über Einteilung ; um
eben in ihm darzuthun, wie Eintheilung von Zertheilung
fich unterſcheide.
Hierauf fraͤgt ſich's aber noch um die (dem Obigen
folgerechte) Zulaͤſſigkeit und Art derjenigen Einſchraͤn⸗
kung der geforderten Umfaͤnglichkeit, welche fuͤr den In⸗
halt des Haupt⸗Theils eintritt, wenn ſociale Verfaſ⸗
fung und raͤumliche Ausdennung in beſondern
Meben⸗Theihen zur Darſtellung kommen. Es iſt zu
zeigen: wie dies Abweichen folder Dreitheilung wen dar
Wirklichkeit, weiches fowenig zu leugnen wie ganz zu vers
meiden ift, am meiften gemildert werbe; durch welchen Grad
des Audeinanderliegend der drei Theile ſchon ſelber; ſodaß
deren ſtete Aufeinanderbeziehung flatt ihrer Zuſammenſaffung
genüge, und, durch welche Art ihrer Anordnung als Aufein
anberfolge, — Doch if hier durchaus nicht Zweck, beide
873 Pe Niebner
Unterfachumgen felbft zu führen; fondern nur nachzuweiſen
wie dieſelben in Bolge aus dem Geſchicht ⸗Begriffe des Gan-
zen nothwendig werben,
1. Befhiähte des hriſtiich veligidfen Lebens, mb
eine Soadergeſchichte für deiktid religiäfe Dogmen.
Seit Auffindung einer neuen hiſtoriſch⸗theologifchen Diſ⸗
ſenſchaft für Dogmen foll Kirchen: Geidiäte zwar, —
denn Soptel ward wirklich zugeſtanden —, Gefchichte ge
ſammten chriſtlich religiöfen Lebens in der Gemeinſchaft fein
und bleiben. Jedoch, mit Ausnahme der Lehr⸗Seite deſſel⸗
ben; und fo, daß diefe Ausnahme durch den Begriff der
Kirchengeſchichte felber gutgebeifien oder gemährteiftet fei,
das wäre alfo, durch den in Stiftung und Ausführung des
CEhriſtenthums vorliegenden Begriff folched Lebens, Die
Eehr· Seite folk in zwei Stüde zerbrochen werden, von weis
pen die Kirchengeſchichte nur eind „befomme”: bie in und
nach kirchen⸗oͤffentlichem Streite zu Firchensöffentlicher Lehre
erhobenen Lehren. Der Dogmen⸗-Geſchichte iſt ein beſſe ·
res Loos gefallen: die Möglichkeit, entweder den Lehr⸗Theil
in feinem vofftändigen Umfange und Iufammenhange ges
benb, als beinah eine Wiſſenſchaft dazuſtehn; oder als Lei
ren⸗Geſchichte dev Schulen allein, im Bunde mit Weltbils
dung und Kirche zugleich einhertretend, fir diefe Seiden
Segenftand der Furcht oder Ehrfurcht zu fein. — Es gibt,
für das Entſtehen und Feſthalten diefes denkwuͤrdigen Ber:
trags unter zwei Geſchichten, drei Erfldrungsgrände;
weiche jedoch, aur im aladligen Abwandiungen, an fich in
blos Einen zufammengehn, aus dogma tiſch⸗ hiſtoriſcher
Aufbamung heraus. Denn Soiche allein war fähig, eine
eigene. hiſtoriſche Wiffenfchaft für Dogmen zu „conflituiren”,
von welchen nicht beflimmt gefagt ift, weher fie kommen
und wahin fie gehen müflen, weiche alſo wei theologifche
heiffen können! -
Zue erften eigentlichen, d. h. durchgeführteren und zus
gleich grundſaͤtzichen, Genderung war der Anlap (mie bes
Umfang f. d. nothw. Inh. b. allg. chriſtl. Rel.-Gefch. 873
kannt, in ber zweiten Hälfte achtzehnten Jahrhunderts) eine
Bewegung im dogmatifchen Zeitbewufftfein mancher Zeit⸗
theologen. Ein eklektiſcher Kriticifmus entwidelte
fi) nad und nach, in feiner zwiſchen Schulen» und Kirchen«
Dogmatik ſchwebenden Polemik, ald Purification derfelben
von dem ihr in ihrem langen Leben Angewachfenen. Ders
felbe trat auf als Herftellung eines nicht blos „rechten”,
fondern „wahren? Lehr-Chriftentbums: anfangs, nur eines
bibliſch⸗ reinen und allgemeinsverftändlichen oder denkbaren;
dann, auch eines wo nicht bibelsfreien, body Pirche:freien,
wiederum entweder Fantiftb-vernünftigen oder blos gefunds
d. i. gemeinsverfländigen. Fuͤr Ausſcheiden einer eigenen
Dogmengeſchichte war der wirkliche Beſtimmungsgrund ein
Zolgeſatz aus Zeit⸗Dogmatik: der Ballaſt, nachdem er in
„geſchichtlichem Wege aus ber Kirche hinausgeworfen wors
den, dürfe nicht ferner In deren Geſchichte liegenbleiben. Nur
ſchein“ ar konnte noch als Mit:Befiimmungsgrund zum Aut:
ſcheiden gelten: daß ſolches gefordert ſei durch das Beduͤrf⸗
niß, den allmaͤligen Miſchungs⸗Proceß der Lehr. Beſtandtheile
hiſtoriſch aufzuzeigen, und als einen falſchen hiſtoriſch nach⸗
zuweiſen. — Bielmebr, gerade im Verband mit Kirchen⸗
geſchichte, felbft für die intendirte Lehrficchen-Reinigung,
wuͤrde ſoich hiſtoriſches Beweisführen leichter donſtatten⸗gegan⸗
gen fein. Die dogmatiſch⸗diſtoriſchen Kirchen:Meviforen haͤt⸗
ten dann beide Seiten der ganzen Kirche vor ſich gehabt,
die Dogmensbebürftige oder fähige und bie mit Dogmen
Überladene oder uͤbel⸗ verſorgte. Der Scheidungs⸗Grund war
aber auch in ſich felbft fein zureichender Grund. Denn die
Unerfchöpflichkeit ſolches Geſchicht⸗Unterſuchens forderte defs
fen weit längere Fortfegung; und zwar, ungetrennt von
gefammten Geſchichten der Kirche, weil in deren Geſammt⸗
beit allein dad Maß und ber Grund von Dogmen ⸗Verir⸗
rung oder Nicht⸗Verirtung liegen kann.
Streng kirchenthümliche Theologie, in jener Zeit
des Auffommens ber neuen Geſchicht ⸗Wiſſenſchaft wie noch
874 Niedner
ſpaͤterhin, hat mit dieſer als einer gegen fie gerichteten nie
fehr fich befafft, aber das Sonder⸗Beſtehn derfelben in ihrem
Sinne und Intereffe verfianden und verwendet. Ihr ge
nügte, daß die Geſchichte der Kirche Entwicklungs⸗Geſchichte
besjenigen Lehren» Zheil$ blieb, welcher vorzugsweiſe die
„Kirchenlehre“ hieß, Eine Gefchichte von „Dogmen auffers
dem” fchien nun gefahrlos brauchbar, ald Repertorium kirch⸗
licher und nichtkirchlicher, wichtiger und überfläffiger, Lehren
und Meinungen ber Privattheologie, für polemiſch oder apo«
logetiſch kirchenwiſſenſchaftlichen Bedarf. — Gleich wol
gilt von Apologie für die Lehrkirche genau Daſſelbe, was
von jener Kritik wider fie. Beiderlei dogmatiich-biftorifcher
Zweck vermochte, nad Natur der Sache, dann allein ſich
einigermaßen zu erreichen, wenn er durch die Wechſelgaͤnge
aller kirchlichen Lehren und aller kirchlichen Dinge, als durch⸗
weg einander bedingende, ſich hindurchfuührte, d.h. wenn er
innerhalb Kirchengefchichte ſich "vollzog.
Der „hochgelegenſte“ aller Standpuncte endlich, der
durh Pantheiften- Naturalifmus fpeculativ vollen
dete fholaftifche, hat jenem rationalifirenden Kriticiimus,
biermit der vom ihm hervorgebrachten neuen hiſtoriſchen
Scienz. eine hoͤhere Stellung angewiefen. Er felbft war nun,
nad) Wiedereinfegung der theoretifchen anftatt blos prakti,
ſcher Vernünftigkeit, naturs und geified:philofopbi.
fher Rationalifmus, Univerſal⸗Kriticiſmus. Als fol-
her hat Derfelbe, namentlich durd Baur, eine „Philoſo⸗
phie der Dogmenhiftorie” hervorgebracht, welche deren fons
dergeſchichtliche Aufftelung noch entfciedener als ganz we:
fentlich fest. Denn der frühere Zweck und Grund für Solche
war blos, den Kirchen und Kirchengefchichten durch eine
aufferhalb ihrer vollzogene Lehren » Gefchichte zu beweifen,
daß fie ihren Lehr⸗ und Lehrgefchiht: Inhalt zu purificicen
und zu rebuciren haben. Jetzt hingegen warb der ſonder⸗
gefchichtliche Zweck gefteigert zu dem Nachweife: daß fortan
von Kirchen: und von Religiond:Intereffe ganz freie Lehr:
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.-Gefh. 875
Wiſſenſchaft der göttlich » menſchlichen Dinge einzutreten
babe 7). — Aber, die neue Geſchichtwiſſenſchaft, gerade
weil fie hier auf einen hiſtoriſchen Vernichtungs⸗Beweis
wider theologiſche wie efftefiaftifhe Dogmen im Großen an:
gelegt fein foll, if fo durch fich felber angewiefen vielmehr
auf ihre Berbündung mit Kirchengeſchichte, mit der Gefchichte
im Ganzen. Denn ihre Beweißtraft kann ſich duflern und
bewähren allein im Vergleichen oder Zufammenhalten. Im:
mer auf zwei Sciten find die Endzwede und Leiftungen
und Stellungen unter fi) zu vergleichen. Zunaͤchſt, der
Gegenfag und nicht blos Unterfchied im Gefammts oder
Endzwede: indem diefer auf Seite der philofophiewiffens
ſchaftlichen Schulen nicht allein gegen fociale Stabilität und
Unität, ſondern zugleich gegen das Naturrechts⸗widrige einer
Religions: Pofitivität, gegen dad Beſtechende religiöfen Ins
tereſſes an ber weſentlich logiſchen Lehr⸗Wahrheit ſich gerich-
tet habe. Ferner, der Gehalt bed Geleiſteten: wiefern Dies
fe& auf Seite der durch Kirche falihen Schulen mehr nur
Lehrwiſſenſchaft aus Lehre, auf Seite der ohne Kirche wah⸗
ren Schulen vielmehr Lehre aus Lehrwiffenidaft geweſen.
Endlich, die duffere Stelung der beiderlei Schulen: eine fo
günftige für die kirchlichen, eine fo ungünftige für die nicht:
kirchlichen. Die Aufzeigung diefed Proceß-Ganges nun, aber
in zwei Geſchichten von dem mit einander Procefficenden,
widerfpricht ja dem Begriffe eines Proceffes, if logiſch
und pbyfifh unmöglid,
N Rach Baur, Lehrbuch der chriſtlichen Dogmengeſchichte, hat
des theologie s wie philoſophie / diſtoriſche Entwidlungsgang fels
ber aufgezeigt: wie der Prieftersod immer älter und immer
mehr zu eng, der Philofophenmantel immer weniger unfdeins
bar und immer mehr paffend geworden. Inwieweit der Schein
ſolches Ausganges durch mangelhaftsgebliebenes Beftimmen der
Stellung, welde in Ehriſtenthum Ppilofopbie und
Theologie zu einander haben follen, wefentlid mitsverfhuls
det fei, daräber find kurze Andeutungen gegeben in der „Kieler
Monatsfrift”, November s und DecembersHeft 1851.
876 , Riedner
Doch, au denen Theologen, welche auf keinem
ber vorgenannten drei Stanbpuncte ſtehn, iſt das Zweige
ſchichten · Syſtem als fait accompli das Rechte, Ihnen ges
genüber folge hier nur Einer von den mehren Gegen
gränden, entnommen aus ber wirklich gewefenen Ratın
des Gegenftandes; aud wenn eine abfichtlich fo abgekünnte
Gegenrede nicht genügen ſollte.
Oben warb bie Nothwenbigkeit behauptet, den Begriff
chriſtlich religibſen Lebens, nach ber Alfeitigkeit und Untrenn
barkeit feiner wefentlichen Merkmale und Beſtandtheile, etwa
auf jene vier Grundverhälmiffe zurlhgeführt, gerade in di:
ner Geſchichte feiner Vollziehung moͤglichſt feſtzuhalten. Und
es ſchien, als ob ohne fo angeſtrebte Umfaͤnglichkeit wel
Erzählungen aus dem Leben des Chriſtenthums in Chriſten⸗
beit fi) abfafjen liefen, doch Feine Geſchichte dieſes Lebens.
Aber, auch die Falfchheit jener Behauptung gefegt, unab:
bängig von derſelben ſcheint feſtzuſtehn: daß es Aufde
bung einer Kirchengeſchichte im Begriffe feld
if, wen deren Doppelgängerin, unter bem luͤberdies ent:
weder Zuviel= oder Nichts fagenden) Namen Dogmen⸗Hi⸗
florie, eine hiftorifhe Religionswiſſenſchaft auffer ihr fein,
und doch mit ihr in wefentlicher Beziehung flehen fol. Am
zufammenfaffendflen fährt fich der Beweis vom vierten je
ner Brundverhältniffe aus, ald dem centralen für die andern
Principien dieſes Lebens⸗ und Gefchicht= Begriffes. Und
gültig if er wider beide gangbare Arten, die Stellung einer
Dogmen » Sondergefcichte zur Kirchengeſchichte zu beflim;
men; auch wider die in der Zwiſchenzeit von Semler bis
Baur recipirte. Denn ein ariomatifcher Sag ift, daß Ber:
letzung wefentlichen Eigenthums · Rechtes der Kirchenhiſtorie
eine Aufhebung ihrer Integritaͤt, d. h. ihrer ſelbſt ſei. So
bedarfs allein der Vindicirung dieſes Anrechts an den Ja⸗
halt der Dogmenhiſtorie für die Kirchenhiſtorie. Selbſtklat
aber ift, daß ſolche Rechts. Verlegung ganz gleich der Gadk
nach eintritt in beiderlei Art: mag die Guͤter⸗Theilung zu
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.-Gefch. 877
Gunſten jener Nebengeſchichte mit kirchlicher oder unkirchlicher
Geſinnung und Anſicht geſchehn; d. h. mit ſolcher Lehren⸗
Wahl und Faſſung, daß die ihr zugetheilten Lehren denen
der Hauptgefchichte entweder beis und nach⸗geordnet oder
entgegengeflellt werben, An der Wirklichkeit gemeflen, moͤch⸗
ten beide Arten des Wertheilend weder wiffenfhaftlid
noch kirchlich haltbar fein,
Nehmet den Kirchenbegriff in weiterem oder im enges
rem: Umfange; fobaß Kirche entweder die Ehriftenheit, oder
die Sefammtheit herrſchender Kirchen in eier Mehrzahl,
oder Eine aus dieſen ald die alleinwahre fei. Und benfet
als möglichen Inhalt einer nichtzEirchengefchichtlichen Lehren ⸗
Geſchichte, ſtatt eines confus zufammengerafften, eben ben
in bißheriger Dogmenhiftorie zufammengeftelten. — Berges
genwärtigen wir und nun einen Augenblid die drei Haupts
verfhiedenheiten, welche auf der Lehrs&eite aller
Kirchen begegnen. Gie zeigen: daß alles durd fie von
dem inengerem Sinne Ihrigen Unterſchiedene,
(begreiflicherieife nur das in fich felber Gewichtige aus der
Waſſe dieſes Andern), zwar nicht durchweg das Leben einer
Kirche nach feinem Weſen mit-gebildet, aber doch in Wer
fend. Beziehung zu ihm geftanden hat. Daher ift Dafs
felbe zu erachten als unverdufferliches, obwol theilweife nicht
Kirchens@ut, doch ausnahmios Eigenthum der Kirchenges
ſchichte, weil Kirchen au barin ihre Gefchichte gehabt
baben.
Eine erfie Hauptunterfheidung zwifchen Lehren
iſt: die zwifchen „Kirdenlehre” zur Zfoyrv, in dem
diplomatifchen engern Sinne, und — „andern” ehren,
Etwas genauer, als diefe Zweithelung der Bequemlichkeit,
ſcheint eine Dreitheilung zu entfprechen der Sache:
d. b., keineswegs bios der pofitiven Idee chriſtlicher Kirche,
obwol Chriſtenthum nach Grund:Redht über Kirchenthum
ſteht; ſondern der von den mehrern Kirchen ſelber in fich
getragenen Idee, dem von ihnen fich geſetzten und erklaͤrten
878 Niedner
Zwecke, der in ihnen vorhandenen Befrebung. Es waren:
förmlic oder diplomatiſch öffentlich, wenn auch nicht immer
oͤkumeniſch⸗ katholiſch, zu Geſetzen erhobene Lehren; duch
foctifche Approbation und Tradition mehr oder minder als
gemein oder vorherrfchend fixirte Lehr⸗Saͤtze; gänzlich oder
zumeiſt der Freibeweglichkeit überlaffene Sreis£ehren, noch
unterfcheibbar von den Freifchaaren des Doguatifer» und
Nichtdogmatiker⸗Meinens. — Weide Eintheilungen aber find
blofe Gradsüinterfcheidungen des Lehren. Gewichts; welde
überdies , vermöge ihres bißweiligen Abweichend unter fi,
nur ein kirchliches Bewuſſtſein unbedingt, das chriſtlich ⸗ ob⸗
jective Urtheil nur dedingt aubgeſprochen haben. Sie find
keineswegs Beſtimmungen des Umfangs, entweder
für das Lebren-Bedürfniß zum Lebensbebarf religid
fer Gemeinfhaft, oder für Lehren⸗-Aecht heit in chriſt⸗
licher Gemeinfhaft. Das wirkliche, felbft das bios ge
fegliche religioſe Worflellen oder Glauben und Gefinnetfein
und Handeln, des Banzen wie unzähliger Einzelnen, if
nicht beflimmt worden durch die erſte jener Kehren
Glaffen allein, fogar nicht ausnahmlos vorzugsweiſe;
konnte und durfte es auch nicht. Beides aus Gründen, bie
in menſchlicher Natur ober in chriſtlicher Religion Tagen,
Zudem ift jene Werth: oder Rang-Beflimmung, ihrer An:
erfanntheit und Wirkſamkeit nach, in den verfdjiedenen Raum:
und ZeitsXheilen ber Kirche verſchieden gewefen. — Folglich
ergiebt diefe erfte Hauptunterfheidbung Wenig oder Nichts,
was flır dad Glauben oder Thun in einer Kirche entbehrlid,
gleichwol noch wichtig genug wäre, um aufferhalb ber Kir
chen⸗Geſchichte in einer Capellen⸗Geſchichte zu figuriren.
Eine zweite Hauptunterfheidung betrifft: die
Lehren des focialen Ganzen, d. h. gewöhnlich der Re
jorität, einerfeitö; die mehr .ober minder unvereinbar ab:
weichenden Lehrmeinungen Einzeiner, Heiner oder
großer Minorität, andererfeits. Hier hat der Unfug dei
Himweglaffens aus Kirchengefchichte, theils in Ketzer⸗ theild
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 879
in Dogmen=Hiftorien, wenig auf die Zahl der Härefen ſich
erſtreckt. Wichtig jedoch ift die Erfheinung, daß Kirchenge⸗
ſchichten wie Kirchen ihre Härsfen aller Grade gewöhnlich
zumeiſt aus den Einzel⸗Lehren zufammengelefen haben, daß
bie abweichenden fundamental⸗theologiſchen Standpuncte nicht
nach Verhältniß ihrer Bedeutſamkeii auch bierher bezogen
worden find. Gin Grund war, unter Anderem, dad übers
haupt mangelhafte fi) Zuſammenfaſſen der Kirchen als fols
der mit ihren Theologieen im Ganzen, Die Kirchen-Ges
ſchichten aber haben wefentli zugleich Theologie⸗Geſchichten
zu fein. Denn Kirchen und Theologieen find nicht ohne
einander gewefen; unb bie Einzelabweichungen find häufiger
aus Legteren, ald aus dem in engerem Sinne fogenannten
Kirchlichen, hervorgewachſen· Jene müflen alfo den Ges
genfag von Ortho⸗ und Heterodorie Überall durchfühs
ven, durch die Gefchichte der Fundamenggl»Theolos,
gie, wie durch bie der fundamentalen oder Mlht.fundamens
talen Dogmen. — Aber auch in Bezug auf adgewichene
Einzellehren allein iſt jenes in Kirchenhiſtorien abkürs
sende Berichterflatten nachiheilig geworden, Nämlich, obwol
nicht für dad Anfammeln der, Abweichungen, body für die
Genauigkeit im Darftellen berfelben, welche fo ſehr
von ausführlihem Vorlegen abhangt. Kirchen⸗Geſchichte,
wie feine andere neben ihr, hat auffer dem Intereſſe auch
das Geſchick oder Vermögen, nad) Ueberwindung einer
Schwierigkeit zu fireben, welche durch das Kirchen⸗Urtheil
nicht unbedingt gehoben iſt. Sole bat keineswegs auch
nur vorzugöweife ſich gegründet in der Möglichkeit, daß
der haͤretiſche Thatbeſtand mehr nad einem kirchlichen
ald nad dem riftlichen Maßſtabe dargeſtellt oder gewürs
digt vorliege; fodaß die Gefchichte beim Chriſtenthum erſt
Vor⸗Frage, bei der Kirchentradition nur Nach⸗Frage zu thun
habe. Die nody größere Schwierigkeit lag im Beflimmen
der Grenge bes für Kirche und deren Gefchichte Wichtigen
in Betreff der Abweichungen. Deren Gewicht war abs
880 Niedner
zuwaͤgen nach den vier in ihnen ſelbſt unterſcheidbaren Be⸗
ſtandtheilen: ihrem wirklichen Sinne; ihrem innern Zuſam⸗
menhange mit noch andern Anſichten deſſelben Abweichen⸗
den; ihren igeſammten Gruͤnden; ihrer möglichen Tragweite.
Ebenſo, nach den auſſerhalb gelegenen vier Beziehungen:
ald Gewicht für die Forderung voſitiv chriſtlicher Lehren
Reinheit; für religiöfes Bedürfniß; für kirchliche Ordnung;
für gefammted Lehren-Syftem, wiefern mandyes Abweiden
viele Lehren blos mittelbar, aber fo doch au betraf. —
Aus diefem Wenigen ſchon erhellt: wie die zweite Haupt
unterfcheidung, gleich ber erfien, Nichts zum Ausſcheiden
aus Kirchengeſchichte darbietet,
Eine dritte Hauptunterfheidung gebt zurid
auf jenes Wirken eines Theils der Individuen, ald ein
„Macht innerhalb der Kirche”, neben dem Walten
der Societätö>Vertvetung. Dargeſtellt war daſſelbe in min
deftens vier'Rreifen. Die erfien zwei bildeten biejenigen
der Geifilibens und Gelehrten⸗Claſſe angebörenden Ein
nen, welche im Dienſt der Kirche und doch in freierer Stel⸗
lung zu deren Vertretern flanden. Bon ihnen, alfo von
theoretifcher Theologie und Philoſophie und firenger Wil:
ſenſchaft überhaupt, iſt das Meifte bes vom Kirchlichen im
engern Sinne” Unterfhiedenen ausgegangen, ift auch Ebers
dieſes felber (negativ oder pofitio) zuerſt vorbereitet worden.
Das bezeugt der gefchichtliche Zufammenhang aller (nicht
aus Ueberlieferung allein bervorgetretenen) Kirchendogmatil
mit Privatdogmatit, fogar mit noch Andrem, Mitsbefims
mend aber, mittelbar nur noch mehr als unmittelbar, und
auf das LehrensBilden nur weniger ald auf die Lehren
Wirkſamkeit, haben noch zwei andere Kreife gewirkt, Sie
waren: der, in welchem vorzugsweiſe auögeprägter Religions:
&inn, nur blos⸗weltlicher Gefinnung und einffitigem anmaf
lichem Denken ald „Myftit” verrufen, ſich bewegte; und
der, in welchem bie „allgemeine Bildung” nebft Kunf dei
Schöne zum Guten und Wahren zu fügen fich beſtrebte.
umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl Rel-Geſch. 881
Es wird nachgerade Zeit, auch für ganz nur kirchen⸗religios
und weltsverleugnend ſich faſſende Kirchengeſchichte, beiden
legtern wie jenen zwei erflern Kreifen foviel Raum in der
Darftelung zuzugeſtehen, als alle vier in der Kirchen Lebens⸗
Umgebung eingenommen, als fie Antheil am kirchlich⸗religioͤ—
fen Leben gehabt haben, Aufgabe ift, den Bereich und Ges
balt ber individuell wirffamen Zheil- Mächte, innerhalb
ober neben der focialen Gentral: und Normal:Macht, ges
ſchichtlich zu erkennen. Alfo ift Pflicht für die Gefchichte
eben der Legteren felber die Gleihbeachtung Deſſen, was
wirklich gelehrt und geglaubt und gelebt worden, noch auffer
Dem, was vorgefchrieben gewefen. Das Geſetzliche war
nicht dad allein Wirkliche; und das Nichtgefegliche war nicht.
nothwendig oder durchweg Unkirchliches. Zudem, negativer
wie pofitiver Thatbefland innerhalb eines Ganzen, wenn er
nur Selbftgewicht für dieſes gehabt, war Beftandtheil viel
leicht‘ nicht dieſes Ganzen, doch feiner Geſchichte. — Dogs
menbiftorie geht folglich auch Hier leer auß; fol fie nicht
mit dem ganz blos Ephemeren und Mikrologiſchen aus dem
wuͤſten Reiche des Meinens ſich füllen.
Genſetzt nun, Vorftehendes über die drei Hauptgattungen
von Verſchiedenheit Deflen, was alles der Lehren Bildung
und Wirkſamkeit, mebt oder weniger nahe, zufammenzbe-
ſtimmt haben fol, lieſſe durch gefammte Lehren-Geſchichte
einzeln-beweiſend ſich hindurchführen. Und vorauds
geſetzt, ein Begriff chriſtlicher Kirchengeſchichte muͤſſe zwar, im
Gegenſatze eines unchriſtlichen Latitudinariſmus ſtatt Univer⸗
ſaliſmus, fo manches nur in Chriſtenheit überhaupt Vorge⸗
kommene abſtreifen von Dem, was feinen normalen Weſens⸗
Gehalt ausgemacht habe; ebenderſelbe aber koͤnne auch ſo
ſich ſelbſt nicht erfüllen, ohne alles mit dieſem Weſensge⸗
balt in weſentlicher Beziehung Geſtandene in feinen "
nothwendigen Inhalt aufzunehmen, Dann würde man
f&hlieffen: es habe ein Gegenftand, naͤmlich von wirkſam
geworbener veligisfer und religionsgemeinſchaftlicher Bedeu ⸗
882 Niedner
tung, für zwei chriſtliche Lehren⸗Geſchichten überall nicht
eriſtirt.
Vom ſcientifiſchen Maßſtabe nur ein Wort in for⸗
maler Beziehung; denn in der fachlichen iſt die Mitwefent-
lichkeit theologifher und philoſophiſcher Chriſtenthums⸗Wiſ⸗
ſenſchaft, innerhalb der Kirchengefchichte als ſolcher, ſchon
vorhin ſowie weitersoben angezeigt. Jenes Verſe tzen eines
Geſchicht-⸗Stoffs aus einer Stelle heraus, in welche er mit
begrifflicher Nothwendigkeit gehört, an einen andern Drt,
wo er dann entweder. ausfchließlich oder noch einmal da⸗
ſtehen fol, ſolch entweber privatives oder repetitendes Zranss
locations⸗Verfahren würde, um ein wiffenfchaftlicyes zu heiſ⸗
fen, einen neuen Wiſſenſchafts-Begriff erfordern. In ſolchem
wäre das etwa für eine theologifche Encyklopaͤdie Paffende,
Bequembeit für einen gewiffen Gebrauch, neben Unbefüms
merniß um Begriff und Wirklichkeit der Sache, bad Weſen
der Wiſſenſchaft 8). °
8) Daffelbe Parcellirungs · Syſtem hat die Symbolik, unter
dem Scheintitel einer eigenen MWiflenfhaft, aus ihrem natärlis
chen Lebens s Zufammenbange herausgefegt. Gleichwol hat es
Derfelben, als einer univerfals und particularstirhlihen, mod
Beinen Eigen⸗Inhalt anzuweifen vermocht. Denn: ihr „Äuffes
zer” Theil, der Symbole Entftehungss und Ginführungs- und
irkungo· Seſchichte, iR in Kirchenditorie ſchiechthin und durch⸗
weg wefentiih. Ebenſo in Theologen⸗ wie Kitchen» Dogmas
tie ihr „‚Innerer” Ipeit, der Symbole Auslegung und Begrüns
dung und Vergleichung; wiewol dirfen dritten Punct auch bie
Geſchichte der Kirche für ih anfpredden muß. Gin britter, pars
ãnetiſcher Theil aber würde der praktiſchen Theologie zugehäs
ren. — Was noch jene Dogmen-Sondergefhidte bes
teifft, fo Können zufälige Utilitäte« und Gubjectivitäre. Brände
für fie nicht auch der Hiſtorik fi aufbringen. Diefe dat an
der eigenen Bubjectivität genug. b. h. an ihrem Bemühn, das
ſchon in ihrer Allgemeinheit gar ſchwer vermeibbare Gubjectin»
ren zu vermindern. Es if daher z. B. Über jenen Grund, baf
in ber Abfonderung allein „recht große Ausführlidkeit” möge
UA) werde, nichts weiter zu fagen als: daß fpecial s hiſtoriſche
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel⸗Geſch. 883
2. Serfafſungs- und Ausbreitungssefdichte,
als befondere Kirhengefhiht» Theile,
Der Umfang des nothwendigen Inhalts für hiſtoriſche
Darftellung der Gemeinſchafts⸗Formen und ber Raum⸗Gren⸗
sen, in welchen religiöfes Gpriftenieben ſich bewegte, erhielt
feine Vorzeichnung, zugleich mit dem Umfange des Lebens:
Inhaltes feibft, in obigen Grundverhältniffen, vornehmlich
im vierten und erſten. Die Worlegung der Verfaflungs: .
und Ausbreitungs⸗Geſchichten in befondern Theilen,
auffer dem Haupttheil, bedarf allein noch einer Rechtfers
tigung. Jedoch, einer verfchiedenen. Denn bie Gemein:
ſchaftlichkeit war noch enger, als bie Räumlicpkeit, mit der
Sache felbft verſchraͤnkt.
u Die Berfaffungs-Gefdihte der Gheiftenpeit.
Geſchichte der Gemeinſchafts⸗Form Fann einigermaßen
der des gemeinfamen Lebens mehr bloß zur Seite gehn,
als überall in fie verſlochten fein, ohne hiermit in durch⸗
weg von ber Wirklichkeit abweichende Stellung
zu ihr zu treten, Im wirklichen Religiondleben felbft ers
feinen Sache und Form, in ihrer Entwidelung und Wirk
famteit, bald mehr verflochten bald mehr gefondert. Erſterer
Modus des fi) Bildend und Aeuffernd Beider, ihre Vers
flochtenheit, war der normale; ſchon nach Menſchennatur,
noch entſchiedener vermöge des Chriſtenthums. In ſich fel-
ber vollkommene Sache führt die ihr entſprechende Form
Monographieen Jedem freiftehen, aber nicht MWiflenfchaften aus ·
machen. Diewol, Dogmenhiſtorie hat ſelbſt ihren Antheil am
Privileglum der Special⸗ und Particular⸗Hiſtorien dadurch
oefähedet, daß fie ſich bis zur Eigenſchaft eines ſelbſtaͤndigen
Schein: Banzen verſtieg. Cine eigene Species für fie iſt un
Rattpaft ; vermöge bes Begriffs der Kirchengefchichte, welche bie
Theologie⸗Geſchichte mit Rothwendigkeit in ſich einfchliefft. Eben ⸗
dieſelbe wird ouch überflüffigs in dem Maße, wie Geſchichte
der Kirche ihre Schuldigkeit thut. So bleiben ihr nur Parr
tileln, um welche fie nicht zu beneiben if,
Tpeol, Stud, Jahrg. 1858, [.}
884 Niebner
mit fib, Und biefe Religion, als Princip für Denfchenge-
meinſchaft, trug in ſich zugleich mit der Fülle ihrer focialen
Kraft die Grundzüge ihren focialen Aufftellung. Inwieweit
nun chriſtliches Leben-Bilden aus dem Chriftentfum heraus
geſchehen ift, bat Fraft ber Sache deren Gemeinſchaftsform
ſich gleichſam um fie herumgelegt. Allein, häufig iſt's ans
ders gefchehn. Nämlich: dad Bilden gefhah, im Allgemei-
nen nicht ohne chriſtliches Mecht, unter Zuziehung eines
Richt⸗chriſtlichen und Nicht:religiöfen ; alfo, nationaler Eigen,
beiten oder Bildungen, politiſcher Verfaffungen und Zuflände,
individualer WiffenfchaftösTheorieen oder Lebens:Anfchauuns
gen vom menſchlich Socialen, Aber in Maßen und Arten
des Zuziehens, vermöge deren die Angemeffenheit der Ge:
meinſchafts⸗Form an die Sache, an Religion und chriſtliche
Religion, oft nicht den Grad erreichte, welcher durch Diefe
oder durch's Fremde felbft moͤglichgemacht und gefordert
war, Died die Mangelhaftigkeit der Syngenie’
und dadurh Homogeneität der Gemeinſchafts-Geſtalt
mit dem Inhalte gemeinfamen Lebens; noch ganz abgefehn
von den Mängeln in Verhältnig zur Norm für Beide, Zu
derfelben trat auſſerdem, ſcheinbar oder wirkiih, ein Hin-
derniß ber Anwendbarkeit einer mit der Sache gleid-
artigeen Gemeinſchaftsform. Es war das Zuruͤcbleiben der
großen Mehrheit von Chriften im Beſtreben oder im Ge
lingen, theoretiſch und prabktiſch chriſtliches Leben wirklich zu
geftalten und zu leben. Ihm entſprach dad Unvermögen
derfelben Mehrheit, eine diefer Sache angemeßnere Gemein:
ſchaftsform, 3. B. eine mehr moraliſche als juridifche, auch
nur zu ertragen. Und dad warb dann weiter ein Hemm:
niß größern Anftrebens ihrer Aufſuchung oder Einführung.
Solcher factifhe Hergang des Sachen⸗ und Formen
Bildens, au) in Kirhen-Chriftenheit, iſt nun der felbfige:
ſchichtliche zureichende oder nmöthigende Grund, beiberlei
Bildungs:Gefhichte in zwei Theilen beſonders vorzule
gen. Mit zwei Bebingungen jedoch. Erftens unte
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. hriftl. Nel.Geſch. 885
der einer Behandlungsweiſe, durch welche in beiden
Theilen möglichft hervortrete jenes univerfale Moment: dad
Maß ⸗Verhaͤltpiß zroifchen erſtrebtem und verfäumtern, gelung⸗
nerem und mislungenem Aufeinanderbeziehn geſammten re⸗
ligioͤſen Lebens und feiner Gemeinfchafts-Berfaflung, im
Bilden und im Wirkſam⸗machen Weider nad allen ihren
Beftandtheilen. Died Vergleichen nun gewinnt gerade erft
Durchſichtigkeit, wenn jedes der zwei Vergleichungs-Glieder
in einem eigenen Theil zur Vorlage kommt, in der Eontis
nuität feiner zunächft in ihm felber bedingten befondern
Entwicklung. Denn bie Bildung des Inhalts beider Reihen
erfolgte unvollkommen aus ihrem gemeinfamen Grunde
beraus, daher auch unvolllommen aus einander und für
einander, Ebendiefelbe zeigt ſich auch in verfchiedenen Zeit
ober RaumsAbfchnitten verfhieden, bald mehr zufammens
bald mehr auseinander⸗gegangen. Aus bdiefen zwei Urfachen
iſt dad Vertheilen Bein durchgaͤngiges Abweichen von ber
Wirklichkeit, Ueberall jedoch koͤnnen allein die Gattuns
gen und Arten ber Gemeinfhaftös$ormen, das Verfaſ⸗
fungswefen im Großen, in einem eigenen Theile zu befons
derer Darftelung kommen. Die einzelnen Anwendungen
derfelben auf die Geftaltung des religiöfen Lebens müffen im
Haupttheile felbft Überall hervortreten ober durchſcheinen.
Eine zweite Bedingniß, unter welder bad Ber:
theilen minder weit von der Wirklichkeit abweichend wird,
iſt vehte Ordnung der Aufeinanberfolge beider
Theile. Schon feftftehen würde Diefe, fir dad religiöfe Les
ben als die Sache felbft in erfier Stele, und für bie Ges
meinfhaftöform in zweiter Stelle, wenn bie Entwidlung
Beider normal gefchehen wäre, Sie hat aber von mannidy
fachen oder wechſelnden Auffern Urſachen mitsabgehangen,
welche wiederum ihren gemeinfamen Grund hatten in ber
ſchwierigen und nur allmäligen Bildung und Umbildung
der Menfchennatur, durch deren eigene und durch die aus
Chriſtenthum anzueignenden Kräfte, Es iſt von univerfal-
*
886 ” Niebner
fer Bedeutung, Zweierlei überall hervorzuheben und feſtzu⸗
ſtellen. Das Eine ift: welches Gewicht auf die Geſtaltung
entweber des gemeinfamen Lebens felbft oder feiner Gemein:
ſchaftsform gelegt, wie die Befchäftigung mit dem Einen
oder der Andern vertheilt worden; ebenfo, wie die Geftaltung
jedes von Weiden felbft befchaffen gewefen fei, nad Maß
und Art ihrer Aufeinanderbeziehung, wie fie alfo von der
des je. Andern mitsabgehangen und fl die des je Andern
angemeffen fi mit-beftimmt babe. Das zweite Univerfal
befteht in ben nothwendigen Kolgen, welche hieraus hervor:
gegangen für daß refigiöfe Gemeinſchafts⸗Leben felbft, in ſei⸗
nem Einzelnen und Ganzen, Es ift aber auch von größte
Schwierigkeit, überall herauszufinden: welches von Beiden,
ob der Inhalt des veligiöfen Lebens felbft oder feine Ge
meinſchafts· Form, theild in der ipm gewordenen Behandlung,
theils im Einfluffe auf das je Andere, überwogen babe;
welches von Beidem alfo im Darlegen voranzuftellen ſei.
Allenfals im Großen, für die Gattungen und Haupt:
arten in Beidem, wird einigermaßen erkennbar: ob Ent
widelung und Wirkſamkeit, entweder des Religionswefens
oder des Verfaſſungsweſens, zu der des je Andern mehr
beftimmend oder mehr abhängig ſich verhalten habe; wel:
dem der zwei Gefchicht= Theile alfo die erfle ober bie
zweite Stelle Überwiegend angewiefen ſei. Von ſelbſt
verfieht ſich die Unzuläffigkeit Einer, als für alle Zei⸗
ten glei allgemeingültig, imvoraus feftzufegenden Ordnung
der Aufeinanderfolge jener zwei, Theile. Denn eben das
zeitliche, fogar räumliche Wechfeln folder Geftaltung br
Verhältniffes, daß fie das Webergewicht und fo bie Priorität
entweder bes Religions: oder des Verfaſſungsweſens bebingt,
ift das Univerfale, welches die Gefchichtbarftellung zur Ans
ſchauung bringen fol, indem fie bald das Eine bald das
Andre voranftellt. .
Aein, aud fo behält die Sicherheit ded Stellen
Bertheilens, zwifchen religioſem Lebens s Inhalte und
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. hrifl. Rel.-Gefd). 887
feiner Gemeinſchaftsform, ihre fehr gemeffenen Schranken.
Dies gilt 3. B. von dem nur angenommenen, keineswegs
ficher begründeten Sage: es habe in der alten Kirchenzeit
am meiften Religions: und Verfaſſungsweſen ſich wechfels
ſeits bedingt, dagegen in ber mittlern Erſteres von Letzterem,
und in ber neuern Letzteres von Erfterem überwiegend abs
gehangen. Man muß ebenfowol ſagen: ſchon im erften Zeitz
alter würden Religion und Gemeinfchaft ganz andere gewor«
den fein, hätten nicht Beide ihre Geftalt mehr von auffen
ber ald aus ſich und von einander empfangen, Gleichers
weife laͤſſt fi) über das dritte Zeitalter von jenem Sage
fehr Abweichendes fagen. Zunaͤchſt, was den Fatholifch ges
bliebenen Bereich angeht: gerade die Werfaflung vorzugds
weife, unabhängig vom flehenden Religionsweſen, habe noch
eine gewiffe Beweglichkeit dargeboten. Und, was bie pros
teſtirenden Kreife betrifft: hier zeige die nicht fehr folgerechte
Erneuung auch des Verfaſſungsweſens, wie zwar dies Nes
gative oder Mangelhafte auf der Verfaſſungsſeite fehr viels
fach den Gang der religidfen Dinge mitbeftiimmt habe, wie
bingegen das wirklich pofitive Neue oder Beſſere auf der
ReligiondsSeite nicht fo beftimmend für erftere Seite gewor⸗
den fei.
Nur Ein Mittel ift überall anwendbar zu Vermin⸗
derung der Schwierigkeit, das ſtets nur graduale oder relas
tive Verhaͤltniß, in welchem entweber Religion oder Vers
faflung in ihrer Ausbildung und Wirkſamkeit überwog, nach
feinem jebedmaligen Beftande zu finden, dann biefem gemäß
ihre entweber Aufeinander⸗Folge oder Ineinander-Verfchrän-
ung zu beflimmen. Das Mittel ift auch bier möglichfte
Bollftändigkeit oder Alfeitigkeit. Mit folder find, zus
näcft innerhalb des jedeömaligen Religions: und Verfaſ⸗
ſungsweſens felber, alle die befonderen Beftandtheile und
Charaktere jedes von beiben für fich zufammenzuftellen, Nur
fo wird erfennbar, wie beide Kreiſe nicht blos auf ihrer
Oberfläche oder einem Theile nach zu einander ſich verhal⸗
888 Niebner
ten haben,” &o namentlich die zwei univerfalften Momente
der Verhaͤltniß⸗ Gefchichte von Religion und BBerfaflung.
Denn, was Grab und Art bes Ausbildung beider Kreife
ſelbſt betrifft, fo hat dad ernſtlichere Beſtreben und das
größere Gelingen in berfelben immer mitsabgehangen vom
Aufeinanderbeziehn beider, von der Proportion zwiſchen
Religions und Verfaffung-Bilden. Das Maß folder Pro:
portion, die fo Bebeutfame für beiderlei Bildungs-Gefchichte,
wird alfo eben nur an deren Einzel:Inhalte recht erfannt.
Und, was die Folgen aus den Religions: oder Verfaffungs:
Bildungen betrifft, fo genügt ſchon bad Eine aus deren
Mangelhaftigkeit entiehnte Beiſpiel: wie Diefe immer eine
bemmende und eine forttreibende Kraft zugleich äufferte. So,
wenn dad eligionswefen entweder aus der Verſaͤumniß
focialen Formen⸗Bildens, oder aus der Ueberwucht focialer
Formens@ewalt und Ungeftalt fi wieder bervorzuringen
hatte 9),
b. Die Ausbreitungs-Geſchichte des Chtiſtenthums.
Dieſer Theil ift Religions. Statiftil; aber, als mit
den Zeiten wanbelnde oder hiftorifche, in fehr umfaffen:
dem Sinne. Drei nothwendige Beftandtheile in ihm find:
Eintritt und Wechfel bald einer Erweiterung, bald einer Ber:
engerung ber räumlichen Grenzen überhaupt, innerhalb wel:
cher die neue Religion, ale Solche und im Ganzen, entwe:
9) Breitich ſteht Hier mehr nur das Gingefändniß ber Schwierig ⸗
keiten, und ein ges Hindeuten auf bie größern univerfal-Hiftoris
ſchen Aufgaben, wie Beide geknüpft ſiad an Vorlegung ber
Berfaffungs-Befchidhte in einem befondern Theile, anftatt deren
burdgängiger Verflechtung in bie Beligions« Befdichte. Aber
das hiſtoriſche Darfiellen muß vor Allem fo fih zu faffen
fuchen, um dazu beizutragen, daß in ber Wirklichkeit
felöft mehr Gewicht gelegt werde auf ben ungemein viel:
entf&eidenden Zuſammenhang, welder zwifhen Sache
und Bemeinfhaftsform chriſtlichen Lebens allezeit bekam
den hat,
Umfang f. d. nothw. Jnh. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 888
der zur Kenntnis und Uebung Einzelner ober zur Geltung
bei Senoffenfchaften gelangt iſt; frägere und gegenwaͤrtige
Beſchaffenheit und Zuftände der vorgefundenen Religionen,
auch aller mit Diefen. zufammenhangenden Bildungen unb
Aufferen Verhaͤltniſſe; Einfuͤhrungs. Art und nächfter Erfolg
der eingetretenen Religion, fürerft als Bekenntniſſes und
Cults und Sittengefeges im Allgemeinen. &o if’ Worbes
zeitungs: und Eröffnungs:Gefdichte des Dafeins chriſtlicher
Religion in feiner räumlichen Beflimmtheit; Beſchreibung
zugleich der Innern Eigenfdaften wie der duffeen: Grenzen
amd Bedingnifle des Schauplatzes. — Die Steliung bes
Theils zu denen ber Verfaffungss ımd Religiond«
Geſchichte ift eine durchaus umiverfale. Jedoch, in höherem
Sinne in den zwei erſten Beitaltern, ald im drit⸗
ten. Dort enthält er, der Sache nach, weit Mehr .ald die
blofen Vorangaͤnge des Inhalts jener beiden Theile; bier
dagegen, wenig Mehr ald deſſen räumliches Weiterſchreiten.
Hiernach beſtimmt fich. der Ort für die. Raum:Gefcichte
zeitlich verſchieden.
In- ber ältern und mittlesn Beit bat zwiſchen ber
neuen und den alten Religionen nicht Das allein flattgefuns
den, was auch ‚in der neuern Zeit fortwährte, innere und
äuffere wechſelwirkſame Grenz⸗Beruͤhrung; ſondern überbied
eine Mit⸗Grundlegung zu wichtigem Juh alte der
machgefolgten Briten in Chriſtenbeit ſel ber. :Die nie
verfale Bedeutfamfeit der Grenzen:Gefchichte in ben zwei
erften Beitaltern, im euflen gumal, camcentsirt fich, ihren Un-
fprunge nach, im Heraustritt der neuen Religion aus bem
Drient in den Decident. Solcher Wechfel bed natidnal⸗ter⸗
ritorialen Schauplaged im Großen, auf welchem die Ge⸗
ſchichte des Chriſtenthums (abgefehn von deſſen Stiftung)
geſchehn if, bat nachmals nicht ſich wiederholt, eine
Alles·umfaſſende, obwol nur Wieledsbebingende Bebeutung,
fhr die Welt und für die Welt»Religion zugleich, iſt folgende
gewefen. Zür Exftere, oder nach der mehr duflern Seite
890 Niebner
ber: Das Morgenland ift, entweder dem Religions⸗Bekennt.
nifle ſelbſt nad, oder nod im chriſtlichen Bekenntuiffe, über:
wiegend morgenlaͤndiſch geblieben, Das Abendland bat letz⸗
teres Belenntnig allgemein angenommen, und iſt in ibm
weſentlicher umgeflaltet worden. So hat ber Schauplag
&riftlichen Geſchehns mehr in Ihm als in Jenem gelegen.
Für die BWeltreligion felbft, oder nach der inneren Seite bin,
bat das tief Eingreifende der Bedeutung barin beflanden:
daß alle drei größere abendlaͤndiſche Heidenthuͤmer, Helles
niſmus und Romanifmus und Germanifmus, mehr als alle
andere, mit ihren Bekennern zugleich auch felber vielfach
in's nene Bekenntniß übergetreten; d. h., daß von ihren
retigioſen oder nichts seligiöfen Beſtandtheilen ober Kräften
viele mitsübergegangen find, So iſt's gefhehn, daß Vor⸗
oder Nichtschrifkliches vom Chriſtlichen umgebildetes Ob⸗
ject warb, und daß Ebenbaffelbe für das Gpriftliche mitbit:
dendes Element blieb,
Diefe Fortdauer jenes dreifachen Nichtchriſtlichen, gleich ⸗
wie des Juͤdiſchen, mit feinem ſtaͤrkern theils Heruͤberdringen
theils Widerſtreben in den zwei erſten Zeitaltern, macht in
dieſen dad Voranſtellen ber Raum» Gefhichte als be
fondern Theils zuläffig. Vorangaͤnge und Hergang
des Religienswechfeld bilden in ihnen ſachgemaͤß eine eigene
Borbereitungss und Eröffnungs» Seſchichte. Durch ſolche
wird auch keineswegs unvermeibbar ein Anticipiren, ein
Borausnehmen aus. ber Entwidlungd: Gedichte des Chrift⸗
kchen in’ fich felber; obgleich, im Fortgange der Zeit, bie
maue Religion meift in ihren unterbeß entwickelten Faſſungen
zu ben Fremden gelangte, Denn jener Theil hat allein die
Religions⸗Aenderung im Ganzen darzulegen, Die befon
dern Faſſungen alles Einzelnen, im Zufammenfein des As
ten und Neuen, haben ihre eigenen ſpeciellen Einführungss
Geſchichten, welche überhaupt allen den einzelnen fpeciellen
Entwitungb-Orfhiäten felber unmittelbar und einzeln fi
anfchlieffen,
" Umfang f. d. nothw. Zah. d. allg. chriſtl. Rel.-Gefch. 891
Im neuern Beitalter blieb die Raum⸗Erweiterung
nicht, wie ehedem, Gewinnung ganzer Länder und Wölker
mit felbflseigener Lebenskraft, fondern wurde mehr nur Ans
fammlung und Anſchlieſſung einer Chriſtenheit in ber Dias
foora und als Kolonie. Zwar, in ihrer vollen Gültigkeit
bleibt obige Abweifung jenes mangelhaften Verſtaͤndniſſes
der Teleologie des Chriſtenthums, mit feinem Borurtheile
für den zugleich probuctiven und gegen den meift nur res
ceptiven oder reproductiven Theil der Chriftenheit, In chriſt⸗
‚licher Geſchichte ſteht Letzterer nicht fo weit hinter Erflerem
zurüd; obwol bis auf einen gewiffen Grad, wiefern er bis
jegt wenig activen Antheil genommen an ber einen Seite
chriſtlichen Lebens, entweder an fortfchreitendem Entwideln
oder an erneuerndem Herftellen und Erhalten, Denn ihm
blieb doch, als möglicher oder ald wirklicher Antheil, die
andre gleich bebeutfame Seite deffelben Lebens: jene unbes
dingt und für Alle gleich mögliche und nothwendige Bes
firebung, das Chriſtliche, welches auch auf feinen tiefern
Stufen fubjectiver Aneignung noch body flebt, immer mehr
und allgemeiner anzueignen. Hingegen, eine mitsgrundles
gende Bedeutung für die hriftlihe Geſammtgeſchichte kommt
diefem Theile der Ghriftenheit nicht zu. Und er nahebei
allein hat durch die Miffionen feit America® Entdedung
fih erweitert. Darum iſt's ſachgemaͤß, wenn in diefem Zeit:
alter‘ die Verbreitungs⸗Geſchichte ihren Ort ver
ändert, wenn fie in dieſem aͤuſſerlichen Sinne hinter die
Bildungs: Gefcichte zurüdtritt; ald ein Beftandtheil
in der Wirkungs-Geſchichte des Chriſtenthums, nad
deren -ausmwärtiger Beziehung.
Doch tritt die Hiftorifhe Darftelung des chriftlihen
Raumes, eben vermöge ſolcher Einordnung in die Wirkungs⸗
Geſchichte, ald mahnende Erinnerung auf; an das
Gebot der Teleologie des Chriftenthums, die Welt immer
allgemeiner mit ihm zu erfüllen. Sie weifet nach: wie fehr
gerade dies Zeitalter, auch noch feit Ende des achtzehnten
892 Niedner
Jahrhunderts, hinter feinen zwei Vorgaͤngern zurückgeblieben
iſt; wie unzureichend „die das ganze Chriſtenthum ganz Bes
figenden” ihr auswärtige wie inwärtiges Amt am Reihe
Gottes, d, b. zugleich an der feiner bebürfenden Menfchbeit,
verwaltet haben. Go behält die RaumsGefchichte, aud ned
im Beitalter ihrer verhältnigmäßigen Dürftigfeit, ihren ver:
bindenden Gedanken mit der Gefammtgefchichte.
VI Nothwendiger Inhalt allgemeiner Chriftenthuns:
Geſchichte in ihrem Anfange.
1. Bors Befhichte ber chriſtlichen Zeit.
Sie ift Auswahl des durch feine univerfale Beziehung
zu Chriſtenthum und Ghriftenheit Wefentliden aus ge
fammter Geſchichte vorschriftlichen Altertbums. So beflimmt
fi für diefelbe folgender Inhalt, zunaͤchſt im Allgemei
nen. Das Heidentbum bes Drients: in feinen entwide:
tern Erſcheinungsformen, bei Indien und Perfern und
Aegyptiern; in den mehr zurüdftehenden Superſtitionen Bor:
derafiend, bei Ghalddern, Syrern, Arabern. Das Heiden
thum des Decidents, als abbängige und als felbfändige
BWeiterentwidelung des orientalifhen, durch Griechen und
Römer, Der Gegenfag einer monotheiſtiſchen Volks. Keli⸗
gion, in Herder: und Judenthum: mitten in der morgen
und dann abendländifchen Heidenweltz von ihr nicht unbe
rübıt, doch über fie urfprünglich erhoben. — Eine ſehr be
deutende Abftufung erfcheint au im Heidenthum. Deſſen
Erkenntniß ift bebingt durch Hervorhebung bed Nebeneinen
derflieflens von ganz Verſchiedenartigem, nichtsweniger ald
überall gleich Heidniſchem. Sein allgemein fpecififdUnter
ſcheidendes aber war: die Nicht» Erkenntnig der Heraus
gehobenbeit aus aller Weltnatur fammt „Schickſal', d. i.
der Unbedingtheit oder Vollkommenheit, und darum zugleich
der Einheit, als des Weſensmerkmales im GottedsBegrifft;
alfo, die Meinung von Eingefchloffenheit des ganzen Goͤn⸗
lien in bie Naturwelt. Die Bezeichnungen als Pantheilmus
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 803
oder als Polytheiſmus zeigen nur einen modalen Unterſchied an.
Auch das logiſch und theilweiſe ſelbſt ethiſch phyſikale Suchen
nach dem „unbekannten Gotte“, es iſt nicht vorgedrungen bis
zu derjenigen Faſſung des Gottesbegriffs, durch welche dieſer
erſt ein religioͤſer Begriff wird, Das iſt die, welche das
geiſtige Individuum als ſolches, in voͤllig gleichem Maße
und in noch hoͤherer Art wie dad AN der Dinge, in uns
mittelbare Beziehung zu dem abſolut Höcften ſetzt.
Jenes nach Gott Suchen hingegen hat auch da, wo es nicht
ouf WeltsErfiärung allein, fondern auf Welt:Stelung des
Menſchen ald eine religiöfe oder nichtsreligiöfe ſich richtete,
zwar für bie religiöfe entfchieden. Aber, eben hierbei hat
daffelbe ſtets eine Stufenleiter von blos Stufensgöttlihem,
alſo Nicht⸗goͤttlichem, ald den Beziehungspunct oder Vers
ehrungd-Gegenftand zwifchen dem Menſchen und dem unbes
Tannten Etwas fiehngelaffen, bat fo in ber Hauptſache nie
mit dem Polptheifmus gebrochen, — Das gefchichtliche Dars
legen aller diefer Befchaffenheiten und Zuftände, in beiden
Vor:Religionen, bat zu gefhehn mit Hervorftellung des Res
ligions⸗ und Sittengefdichtlihen vor allem Andern, Aber
auch, mit Beachtung des Zuſammenhangs zwiſchen ihm und
dem Andern, als feinem Mit. Grund oder als feiner Folge;
zugleich, mit Unterfcheidung zwiſchen Volks-Maſſe und Ges
bildeten- Stand. Darum, unter Zuziehung des Staaten⸗
und Völker: und Bürgerwefens, der Wiffenfchaft und vors
nehmlich der Philoſophie, der „allgemeinen” oder äftpetifchen
Bildung nebft Kunft. Begreiflicherweife nur infoweit, als
diefes Nichtsreligiöfe theild mit dem Religiöfen enger vers
flochten war, theild als defien Ergänzung oder Erfegung
diente ober dienen follte, theils eben durch feine Strebes
Leiftungen die Nothwendigkeit einer wahren Welt:Religion
noch beſonders erwieß, theils auf deren nachmalige Einfühs
rung und Auffaffung vorangewirft hat,
In dieſem Gefammtinhalte treten einige Beftands
tbheile hervor, mit vorzäglicher Univerfolität ih»
894 Niebner
ver Beziehung zu dem höheren Gange ber Welt:Entwides
lung, in welchen nachmals die chriftliche Religion, als erſt
bie Gewähr für feine höhere Wollziehung , eingetreten if.
So zunähfe der duffere und der innere Zufams
menbang und Unterfchied zwifden morgenlänbi
fen und griechiſch-romiſchen Heidentyümern,
fowie beider fehr verfhiedene Befhaffenheit in
Berbältniß zum Chriſtenthumz zwei erfl in ber
neueſten Zeit wiederaufgenommene Fragen, welche durch
lebendig fortfchreitende Erforſchung eigentlich jetzt erft die
Grundlagen für ihre Loͤſungs⸗Verſuche erhalten. Ein Weis
fpiel oder Beleg der Nothwendigkeit, orientafifches und bei:
leniſches Religionswefen als Parallelen zu behandeln, ob:
gleich die Modalitäten des Zufammenhanges noch ber Un-
terſuchung bebürfen, iſt die Zhatfache der Nachwirkung aus
dem orientalifhen im helleniſchen: das nur allmälige Zu:
rüdtreten eines dem Orient verwandten Charakters hinter
den von ihm ſich entfernenden; ein zuwenig hervorgehobe⸗
ner Punct in ber griechiſchen Religionsgeſchichte. Aner:
Bannter hingegen iſt die Bedeutung des Drients für den
ſpaͤtern Synkretiſmus in berfelben.
Der Hellenifmus in fid felbft, ald weltge:
ſchichtliche und als in Beziehung zu Chriſtenthum vor⸗ ge⸗
ſchichtliche Nationalität, Die große Verſchiedenheit
ber Rihtungen und Charaktere in ihm, aud nad
feiner religioͤſen Seite, erfcöpft ſich Teinedwegs in ben zwei
unterſcheidungen: ber Wolf: oder Dichter:Religion, und
der Gebildeten= oder Ppitofophen » Religion oder Religions:
wiſſenſchaft; der zwei größeren Zeiträume, der Erhebung
vom 7, bis 4. Jahrh., und bes Verfalls in den 3 legten Jahr⸗
hunderten. Wiederum innerhalb jedes ber hiermit Uns
terſchiedenen find noch fehr bedeutende Unterſchiede aufzus
zeigen. — Was zunäcft den dlteren Zeitraum betrifft,
fo bildete zwar ein zweifaches Gemeinfame bad Unters
ſcheidende des helleniſchen Goͤtter⸗Vorſtellens und Darſtel⸗
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 895
lens vom orientaliſchen: ſein vielmehr anthropomorphiſcher
und anthropopathiſcher, uͤberhaupt anthropologiſcher, als
phyfiomorphiſcher und koſmologiſcher Charakter; und, feine
mehr Afthetifche als mimetiſche Formation. -Demgemdß,
feine Ausbildung vorzugsweiſe in Poefie durch deren Haupt:
organ, die Phantafle, in unbegrenztem Mythus, wenig in
Spmbolit mit deren göttlidh=beutender Beobachtung ber
Natur⸗ Erfheinungen; das Götter-Sein und Walten ein
Reflex vielmehr der Beweglichkeit griechiſchen Menfchens
Lebens, als ber Gefeglichkeit allgemeinen Natur = Lebens,
Aber, mindeſtens noch zwei Hauptmomente haben, ans
flatt eines panhelleniſch uniformen Charakters der Griechen⸗
religion, diefer eine Mehrheit von ebenfo weit verbreiteten
wie tief eingehenden befondern Charakteren gegeben,
Ein erſtes war: der, manche fogenannte Nationalität an
Groͤße übertreffende, StämmesUnterfhied; nament⸗
lich der Dorer und der Jonier, Letzterer wieberum ald theils
Kleinafiaten theild Attiker. Ein anderes war: die durch
hoͤhere Gultur verfuchte theils ethifche theils Logifche Relis
giond=-Umbildung, wieſern Solche gleihwol nie Ei—
genthum ber Allgemeinheit oder auch nur der großen Mehr⸗
beit geworden ift. Diefe Unterſchiede zweiter Art find auch
keineswegs in der Ppilofophie und in den Myſterien allein
dargeſtellt gewefen, fondern in zwei allgemeiner zu faflen-
den höhern Entwickelungs-Reihen. Die eine,
und in der beffern frühen Zeit bis Mitte des 5. Jahrh. an
Wirkungs⸗Kraft und Umfang beiweitem vorwiegende, war
dargeftellt in der einen Hälfte der Literatur und
vorzugsweiſe Posfie. Im ihr erfcheint eine mehr zugleich
der ernſtern und höhern Lebensſeite zugewandte Richtung;
an priefterliches Tempelthum und an Mufterien = Eulte
fammt Drakelftätten bald angefchloffen, balb nicht anges
fehloffen, von Drphikern oder (nachweisbarer) von Hefiodos
an bis zu dem älteren Tragikern herab; gleichviel ob in
hymmiſcher oder auch felbft epiſcher, in gnomiſcher ober mes
896 Niedner
liſcher, zuletzt in tragifch=dramatifcher Form. Diefelbe war
ſpecifiſch unterfchieden von der anderen, wol allezeit größe:
ven, jedenfalls mehr vorherrſchenden, Hälfte der höhern
Gultur: welche Überwiegend der Feier und Verſchoͤnerung
des finnlicyen ober finnen =geiftigen Naturlebens, ober dem
Intereffe des Bürgerthums fi) widmete, durch dichtende
und bildende und redende Kunſt; von den Homeriden an
bis zu den Rhetoren! Die andere Reihe war bargeftelt,
weniger in Hiſtoriographie und in bürgerlicher Redekunſt,
vorzugsweife in der Philofophie. In Diefer wiederum
hat, von ihrem Auftreten bis zu ihrem Höhepuncte in Ari
floteleß, in vor⸗ wie nach⸗ſokratiſcher Zeit, ein innerer
Hauptunterfchieb in religiöfer Beziehung fi) hindurchge⸗
führt: zwiſchen Uebergewicht bes Phyſiſchen und Logiſchen
ber das Ethifhe, und Streben nach Vermittelung unter
biefen drei Factoren ber Denk» und Lebens: Wiffenfchaft.
Beide zulegtgenannte Entwidelungs : Reiben,
ganz gleich in fich darftelend das geiftigere helleniſche Bil:
bungsleben, den hoͤhern Hellenifmus, waren mehr in
der Zorn als in der Tendenz unterſchieden. Sie felber zei:
gen die Nothwendigkeit, ihren Parallelifmus unter ſich wie
mit dem Andern, gegen das fie als Gegengewicht dienten,
überall hervorzuheben, Diefelbe ift darin gegründet, daß
von folhem Zufammenbetrachten die Erkenntniß des Ma:
ßes abhangt, in welchem überhaupt von den höher Gebil:
deten und Gefinnten eine Religions = Verbefferung , als zu:
gleich Volks s Verbefferung , erfolgs= fähig ausgegangen if,
Dos Wirken der poetifchen Form iſt das größere gewefen
in ihrer Zeit ſelbſt; die griechiſche Nationalität war geeig:
neter, auch die Maffe zu erheben zu einer Nation für Did:
ter und Kunft überhaupt, als zu einer Nation für Denker
und flrenge Wiſſenſchaft. Das gleichzeitige Wirken der
philoſophiſchen Form erfcheint jedenfalls nicht als ein fo
unmittelbare8 und nachweisbares. Beider Formen Birk:
famteit aber hat, auffer dem helleniſchen Gefammtgeift, noch
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg, chriſtl. Rel.⸗Geſch. 897
in ihnen felber ihre Schranke gehabt, Weide erſetzten nicht
Das, was nachmals Kirche und Theologie geheiffen worden
iſt: Veranftaltung und Befrebung ſpecifiſch für das religiös
Ethiſche, um an biefem Quell vor Allem ber Gefinnung
eine Gewäprleiftung allgemeinerer Wirkungskraͤſtigkeit des
Uebrigen zu haben, Und Beide vermochten nody viel weni⸗
ger ihren Ideen oder Erfenntniffen, welche, wie die von
fühnender und beiligender Erloͤſung oder von erleuchtender
und begeifternder Offenbarung, zum Theil dem Gebiete res
ligios fittlicher Wahrheiten näher kamen, auch die Eigen:
ſchaft zu verleihen, daß ihre Realität getragen wurde von
einer gewährleiftenden That. — So find die drei legten
Jahrhunderte berbeigefommen. Sie, in griechiſch⸗roͤmiſch
gebilpeter und roͤmiſch beberrfchter Welt, mit ihren drei Unis
verfitäten Athen, Alerandria und Rom, haben allerdings
auffer bloſem Verfalle noch andern Inhalt aufzuzeigen, Ins
deß, jenes Zerbrechen der felbfländigen und nicht bloß der
reinen Nationalitäten, das makedoniſche im Drient und das
roͤmiſche zugleich im Decident; jene immer audgedehntere
Miſchung helleniſcher und morgenländifcher und römifcher
Eulturen fammt Religionen; jenes gleihfam in die Breite
Gehn befonders der griechiſchen Bildung, als Erweiterung
des Gebildeten» Standes, neben Zuruͤckgezogenheit eines ge⸗
lehrten Grammaticiſmus vom öffentlihen Leben und pro⸗
ductiven Wirken; jener Gento von räumlich und fachlich
fonkretiftifchem Aberglauben und Unglauben; überhaupt,
das Herabfinten jener zwei höhern Bildungsformen bei den
melt=führenden ‚Hellenen, der Poẽſie und Philofopbie, für
Letztere fogleich anfangs fi ankündigend im Auftreten des
Stoicifmus und Epikureifmus: folde und ähnliche Erſchei⸗
nungen haben doch dad Zufammenfinten des alten Baues
zugleich dargeftelt und herbeigeführt,
Die vorsgefchichtliche Stelung des in ungleih enges
rem Sinne vorschriftlihen Volkes Iſrael bedarf kaum
eines Wortes, für die Nothwendigkeit ausführenderen Vor⸗
898 Riebner
angangs feiner Innern Gefchichte, in deren hiſtoriſch protypi-
fen Momenten. Die Haupteintheilung derfelben,
wie fie auf ebendiefe Momente am beflimmteften hinführt,
liegt angezeigt vor in ber Größe eines durch biefelbe hin
durchgehenden SefammtsUnterfhiedes. Diefer war:
eine zweifade Srundridhtung und Grundform,
als Entwidelung aus mofaifcher Geſetz⸗Theokratie, nad
der Altern mehr patriarchalen Theofebie; und zwar, wieder:
um fehr verfchieden in ben zwei (bem Innern und Aeuſſern
nach) ſich auseinanderfceidenden Zeiten. In der He
braͤer⸗Zeit bi zum Eril: Nebeneinander: beſtehn zweier
Entwidelungen , der beiden Seiten des Mofethums, einer
prophetiſch geifligern und einer mehr nur « geſetzlichen; fo,
daß erftere vorzugsweiſe als die prophetiſche, letztere
als die levitiſch⸗prieſterliche bezeichnet werden Bann, Ih:
ver Stellung und Wirkſamkeit wie Entwidelung und Be:
ſchaffenbeit nach, haben beide Richtungen bald nur das Ge
gengewicht fidh gehalten, bald auch zufammengewirft oder
fich wechfelfeitd ergänzt, in der kirchenſtaatlichen Leitung des
öffentlichen und privaten theokcatifchen Volkslebens. Das
gegen, im Unglüd meift unfelbftändiger und bald ganz pres
phetenlofer Ju de n⸗ Zeit: Anfangs, Alleinherrſchaft einer
Nomolo gie und Nomokratie, als Geſetz⸗-Gelehrſam⸗
keit und Geſetz⸗ Strenge. Dann, Auflöfung des ausgearte⸗
‚ten Nationaliſmus in Parteiung: in bie einer aberglaͤu⸗
big felbflsgerechten Mehrheit, und einer theils ſkeptiſch theits
aſtetiſch ſelbſt⸗ gerechten Minderheit. Doc ohne gaͤnzliches
Ausfterben einzelner des Propheten ber Zukunft Wars
tenden.
2. Grund. Geſchichte der chriſtlichen Zeit.
Sie iſt Geſchichte der Selbſt⸗Aufſtellung des
Chriſtenthums, als Gottes zweiter und hoͤherer Weltanſtalt
zu Gottesreich auf Erde wie im Himmel. Daſſelbe trat
auf als Idee und Kraft zugleich, das heifft als Princip.
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 899
Geſchehen iſt diefe einen neuen Welt: Grund Iegende Ge
ſchichte ald Leben Jeſu Chriſti. Und fie liegt vor in
ber Urs Runde von biefem Leben durch Die, welde
zuerſt feine Kraft erfahren, nicht bloß feinen Werlauf mit
angefehen haben, hiermit Zeugen im ganzen und vollen
Sinne ded Worts. Das find die zwei Haupteigenfchaften
der evangeliftifchen oder apoftolifchen Weberlieferung vom urs
chriſtlichen Leben, ald dem nicht blofen Anfange, fondern
zugleich Grunde und Typus alle chriſtlichen Lebens. Die
erfte befteht darin, daß ihr Inhalt eine Wirklichkeit Deffen
ausfpricht, was fie für die Wahrheit erldrt.: d. h., daß das
Licht der Welt wirklich erfchienen iſt in der Welt, ſich als
Kraft die Welt zu erleuchten und zu heiligen durch die That
feines Selbſt⸗ Wirkens in ihr eingefegt hat. Die zweite be=
flieht darin, daß ihr Inhalt noch eine zweite Wirklichkeit
Ebendeſſelben ausfpricht: wie dieſes Licht in der Finfterniß
und dieſes Leben in ber Welt nicht erlofchen, wie es ein
zuͤndendes Feuer [Luf, 12, 49) und eine fi) mittheilende
Kraft [ApG. 2)] geworden ift, ergriffen und in ſich aufges
nommen zwar von der Finflerniß und von der Welt nicht,
aber von Einzelnen in ihr, von Auserwählten aus ihr
[3ob, 15, 16. 19, ApG. 26, 16-18], von den zunaͤchſt feis
ner Faͤhigen. In diefen zwei Eigenfhaften der Ur:
Ueberlieferung beruht deren Wefen. Sie drüden zu:
gleich die zwei Grundthatſachen aus, ohne welche die
ganze Folge⸗-Geſchichte nicht möglich war: daß dad Heil
der Welt einft felbft thatfachlich in der Welt immanent ges
worden in dem ‚Einen, und, daß ed dann unter Ebendeffels
ben Fortleitung zunaͤchſt durd Einzelne, durd die erfien
„Seinen”, für noch Viele nach ihnen in ber Welt imma.
nent geblieben, Die zwei Eigenfchaften oder Thatſachen
find ſchlechthin untrennbar. Denn von einer Geſchichte
ſoll die Rede werden, welche ald Folge aus beiden biejegt
noch Fein Ende gehabt hat. Das zweite Glied ihred grund⸗
legenden Anfangs (das Fortleben Chriſti in den re Chris
Tpeol. Stud. Jahrg. 1858.
200 Niedner
ken) reihet an das erſte (dad eigene Leben Chriſti) fo fih
an, daß es, obwol nicht deſſen Größe, doch feine Nothwens
digkeit theilt,
Die Evangeliens$rage nun, die Kritik der Ueber
lieferung von Chriſto, hat natürlich auch ſtets die Untrenn⸗
barkeit der zwei Glieder feftzubalten. Ihr Shwerpuncd
liegt in der Unterfuchung theils der gefammten Beſchaffen-
beiten auf Seite der Weberlieferer, theild aber auch der Na:
tur des von ihnen Ueberlieferten: ob aus Beiden zufam-
men folgende zwei Grundpuntte bis zu moralifcher Gewißs
heit erhoben werben tönnen, Der eine: baß eine foldye ge
ſchichtliche Erſcheinung, wie die in den Evangelien berichtete,
die Subjectivitaͤt der Berichterflatter in dem zur Wahrheit
des Berichterſtattens nothwendigen Grade zu fi binange
hoben, fie vor Irrthum in irgendwie Wefentlihem verwahrt
babe, Und ber andere: daß bie geiflige Gewalt derfelben
Erſcheinung, für Das wovon zunaͤchſt aller Fortgang bei
Werts abhing, für bie Treue der Auffaffung, gerade da als
fie zuerſt ſich ausübte, eine fo große Kraft befaß, anflatt fie
erſt nachfolgend aus ſich zu entwideln und über erft fpätere
Subjecte zu gewinnen. Diefe $ragfiellung dürfte wei
eine hinreichend „von religidfem Intereffe freie” fein,
gleichwie die Unterfuhung zur Löfung fi) von demfelben
frei zu erhalten hat, Schwer mag dies fein, wie alle Ent.
fagung ; nicht ſchwerer indeß, als auf Seite Derer, welche
au entgegengefegtem negirenbem Ergebniſſe gelangen. Denn,
aud ein Intereffe der Gleihgältigkeit und einen
Gultus des Zweifels gibt ed. — Nach geſchloſſenen
Unterfucden der Ueberlieferung in ſich felber, nicht früher,
dann aber, findet die Weiterfrage einen Plag: inwiefern die
Nach⸗Geſchich te zur Ur⸗Geſchichte des Evangeliums er:
gänzend binzutzete, als ſecundaͤre Erkenntniß⸗ und Zeugnig-
Quelle, Das beifft: ob der Vollkommendeits⸗Srad, in
welchem bie UrsUeberlieferung vorliegt, auch deshalb ein
völig ausreichender fei, weil das Ueberlieferte nicht im bie
Umfang f. d. nothw. Zah. d. allg. chriſtl. Rel.⸗Geſch. 901
beit. Apoſtel⸗ oder erſte Zeugen Schrift allein, fondern in
bie ganze Weltgefchichte mach ihm ſich eingezeichnet bat.
Denn ebendjefed Ueberlieferte ift für. beinahe ausnahmlos
alles Ehrifengefchichtliche die Worausfegung geweſen; und
dies „Sagengediht” bat mindeſtens eine fehr lange und
reiche Geſchichte gehabt,
Den Inhalt dee Grundgeſchichte chriſtlich religioͤſen
Lebens bildet nothwendig der gefammte Inhalt des ur⸗
chriſtlichen Lebens: kehren wie Handeln und Leiden Chriſti
und feiner erſten Zeugen. Denn einen andern Begriff von
Leben”, in welchem diefe drei Stüde trennbar wären, giebt
es nicht; des Ineinanderaufgehns der Sache und der Per-
fon, des Wortes und ber That, des Thuns und des Leidens
in dieſen grundlegenden Leben infonderheit, nicht zu geden⸗
Ben. Den Einfprudy einer als „biblifche Theologie”
fich bezeichnenden Sonderwiſſenſchaft des Urchriſtenthums,
wenn fie Mehr als der Grundtheil chriſtlicher Glaubens⸗
und Sitten⸗Lehre fein will, wenigſtens ihr Werweifen der
Hiſtorie an des Lukas Apoſtelgeſchichte als allein die erſte
Kirchen⸗Geſchichte, muß chriſtliche Hiſtorik auf ſich beruben
laſſen als auf Idioſynkraſie für Bruchſtücke. — Jenſeit
des Grenzpunctes der Grund⸗Geſchichte, wie er in den von
der Grundlegung berichterſtattenden heil. Schriften verzeich⸗
net iſt, beginnt dann die Folge⸗Geſchichte ihrer Wir,
Bungen und Geſchicke, für und durch eine nachgeborene kirch⸗
liche und nicht⸗kirchliche Chriſtenheitz berichterſtattend, wie
bie neue Kraft aus Gott nicht mit dem erften Jahrhundert
ihres Erſcheinens allein, fondern mit einer Reihe von Jahre
hunderten in die Schranken getreten ift; unter Thaten und
Leiden, an Erfolgen veich und arm, ein Abbild vom Leben
des Stifterd in feiner einft perſoͤnlichen Erſcheinung.
‚Hier ift der Det um Rechenſchaft zu geben, wie Grund:
und Vor⸗Geſchichte fi zu einander verhalten,
Der Erſtern Inhalt, die Weltreligion in ihrer Stiftung, fors
dert weltgefhihtliche Faſſung, hiermit dab Vorangehn
. or
902 Niebner
einer Vor⸗Geſchichte. Dieienige Weltgeſchichte in welche
die Erſcheinung Chriſti ſich eingereiht hat, liegt vor wie nach
diefer „Thatſache der Fuͤlle der Zeiten”, — Es bat aber
zwiſchen chriſtlicher und vorchriſtlicher Welt oder Zeit überall
ein zweifacher, fehr verſchiedener Zufammenbang
beftanden. Der eine, durch die Beziehung des Worchriftlichen
zu dem Chriſtenthum Chriſti felbft. Deſſen Erfchei:
nen war durch Jenes nothwendig gemacht, mehr negativ als
pofitiv d. i. nur fo vorbereitet, wie Unvolllommenes das
Vollkommene vorzubereiten vermag. Der andre Zufammen:
bang bat befanden durch die Beziehung des Worchriftfichen
zu dem Chriſtenthum der Chriftenheit. Deſſen
Grundlage if jenes Chriftentyum nicht ganz und nicht allein
geworden und geblieben. Ein religiös oder nidhtsrefigist
Vorchriſtliches, in Materie wie in Form, hat die theoretiſche
und praßtifche, entwidelnde und feftflellende, individuafe und
fociate Behandlung und Wirkſamkeit der chrifllihen Religion
vielfach mit-beftimmt. Und Das ift geſchehn nach beiden
Seiten der Befchaffenheit des Worchriftlichen, der blos dhriz
flentyumssbedhrftigen wie ber chriftenthumdsfähigen; als Re
beneinander eines der neuen Religion gemäßen und nicht:
gemäßen Anfchluffe® an das Alte. Dem hat audy noch am
dermeites Nichtehriftliche fih angefügt, durch dieſelben fort
dauernden Naturanlagen felbft serzeugtes. Das lebendige
‚Hereinragen der alten Zeit in die neue ift im Großen und
Ganzen die volle Parallele des Werhältniffes, wie dies im
Einzelnen zwifchen dem alten und dem neuen Menfcyen fih
ſtellt. Schauen wir in und und dann in die Zeit feit Chr
ſtus hinein, um an bem gemifchten Inhalte Beides zugleich
zu finden, den hohen Ernft und das wahre Maß genannter
Unterfheidung. Die Thatfache, daß die Ehriftenheit mebe
nur auf der Grenzfcheide zweier Zeiten ſteht, dab
fie nur die Berufung hat, unter ihrem lebendigen Haupt
und feiner fortwährenden Geifted:Leitung, eine neue Zeit her:
aufzuführen, fie ift bezeugt durch dad ertenfive und intenfire
Umfang f. d. nothw. Inh. d. allg. hriftl. Rel.⸗Geſch. 903
Fortwirken auch des Alten in ihr: wie Solches ſich erſtreckt
bat weder auf nur Unweſentliches, noch auf nur Weniged;
nicht blos auf einzelne Philofophumene oder Theologumene
und Gebräude oder Sitten, fondern auf das phufifch und
logiſch und ethifch zu beflimmende Menſchenleben zufammen.
So ift der theils göttlich geordnete, theil s nur menſch⸗
lich audgeführte Zuſammenhang und Unterſchied
der erſten und der zweiten Schöpfung geweſen.
In diefer Gefammt:Thatfache gründet ſich die Not h⸗
wendigkeit, die Geſchichten des Vor⸗chriſtlichen wie des
Ur⸗chriſtlichen am Anfange „allgemeiner Geſchichte des Chris
ſtenthums in Chriftenheit” nicht vorauszufegen, fondern vor:
anzuftellen. Es ift unfagbar, wie häufig dad an ſich
Acht chriſtliche Beftreben, „reines Chriftentbum” zu erringen,
ohne das wirkungskraͤftige Bewuſſtſein geblieben ift, ſolches
noch nicht zu befigen. Der Mangel an diefem Bewufltfein
hat jene Unterſcheidung zwifden urfprünglichem und fpätes
rem Chriſtenthum zurüdgebrängt, und fo nun auch die in
br Tiegende Aufforderung verfennen laffen, mit ihr in beide
Geſchichten zurückzuſehn, in die der Grund-Geſchichte vor⸗
angegangene wie in Diefe ſelbſt. Allgemeine und kirchliche
Chriſtenheit, am Chriſtenthume nur ſich meſſend, wird in
der Vor-⸗Geſchichte vielfach den Spiegel ihrer eignen
Wirklichkeit vor fi finden. Um fo leichter wird Die:
felbe dann erfennen, wie fie in der Grund» Gefchichte viel»
fach nur das Bild ihrer Idee vor ſich habe,
3. HiRoriE für gefammte Befdichte religids qhriſtlichen Lebens.
Nun erfl, wenn die zwei allgemeinen Bildungs»
Grundlagen diefed Lebens, die bedingte und die unbedingte,
vorgefchichtlich und grundgeſchichtlich vorliegen, kann feiner
Aneignungs⸗ oder Bildungs- und Wirkungs⸗Geſchichte eine
Gefesgebung für fie vorangehn. Sich bewähren indeß
Bann Solche auch fo erft in der ausführenden Darftellung,
Denn die Geſetze find zu entnehmen nicht aus einer blos im
Algemeinen beobachteten Natur des Menfchengeifted, ald des
906 Ereuzer
3.
Ruͤckblick auf Joſephus;
jüdifche, chriſtliche Monumente und Perſonalien.
Dritter und legter Brief an bie Doctoren der Xheologie
Ullmann und Umbreit
von
Dr. Friedrich Creuzer.
Obſchon ich am Schluſſe meines zweiten Schrei
bens mich fo geäußert hatte, als wuͤrde ich die Eroͤrterun⸗
gen über Joſephus nicht weiter fortfegen, fo blieb mir doch
damals ſchon nicht unbemerkt, wie viel Stoff zu neuen Kri⸗
titen namentlich deffen jun difhe Geſchicht e annoch dar
biete; und gerade um dieſelbe Zeit hatte ſich unter einigen
feanzöfifchen Akademikern tiber etliche Hauptpuncte dieſes
Werks ein Streit erhoben, wobei über deſſen Verfaſſer über:
baupt in fehr verfchiedenem Sinne geurtheilt worden war.
Diefe Umftände beſtimmen mid) jest, für einen dritten Brief
noch einigen Raum in diefer Zeitfchrift in Anſpruch zu neb=
men. Ich werde demzufolge, nach einigen nachträglichen
Bemerkungen Über diefen Geſchichtſchreiber, zuerfi den Ge
genftand jener gelehrten Gontroverfe kritiſch erörtern, und
fodann davon Anlaß nehmen, über wichtige Monumente und
Perfonalien der Hebrder, Griechen und Römer bis zum Ans
fang des Chriſtenthums zu fprechen, allenthalben aber mich
ber größeften Kürze befleißigen.
Man hat Joſephus den griechiſchen Livius genannt =),
was jedoch nur in Bezug auf die Sprache, worin er ge
ſchrieben, genommen werben darf; denn man würde fehr
H Hieronym,, Epist. ad Eustach. p. 149. od. Froben.: „Tales
Philo, Platonici sermonici imitator, talos Iosephus, Graecus
Livion,”
Kuͤckblick auf Joſephus. 907
irren, wollte man es fo verſtehen, als habe der juͤdiſche Ge⸗
ſchichtſchreiber in echt⸗helleniſchem Geiſt über roͤmiſche Ges
ſchichte geſchrieben, uͤber welchen der geiſtreiche Ranke in
der Vorrede zu ſeiner franzoͤſiſchen Geſchichte ſehr treffend
bemerkt,. daß die griechiſchen Geſchichtſchreiber des alten
Roms in der Zeit feiner vollen Bluͤthe die welthiftoris
ſche Seite ergriffen, die roͤmiſchen hingegen die nationale
fefthielten. Im der That hatte aber ſchon vor der Periode
jener Roͤmermacht ein Schüler des Ariftotele® «) auch die
Geſchichte Griechenlands in welthiſtoriſchem Sinn aufgefaßt
und eine wirkliche allgemeine Culturgeſchichte ges
ſchrieben. Joſephus dagegen trat in Feinem feiner Werke
aus den Schranken ded Judenthums heraus, welches bie
Idee der Menfchheit nur in einigen Anſchauungen feiner
Propheten geahnt, im Ganzen aber niemals über den Nas
tionalparticularismus fich erhoben hatte, Ja er war von
ben befonberen Meinungen feines Standes eingenommen
und gab ihnen in feinen hiſtoriſchen Darftelungen Raum,
wie denn mehrere charakteriftifche Aeußerungen b) deutlich
verrathen, daß er vom pharifäifchen Fatalismus nicht frei
war. Hob er doch auch in anderen Beziehungen bie Lehren
feiner Secte nachdrüdlich hervor. Bezeichnend ift in dieſer
‚Hinficht die Betrachtung über einen ſonderbaren Traum der
a) Dicdarchus aus Meffene in Sicilien, der, mit allen unter eis
nem ſolchen Lehrer erwerblichen Dorkenntniffen ausgeruͤſtet, in
feinem Blog 'Ellddog, mit einem Rädblid auf die Älteren Guls
turvölker, ein großes lebendiged Gemälde der griechiſchen Laͤn⸗
dee und Staͤdte, ihrer Bewohner und beren Zuftänte, Bitten und
Verlaſſungen aufgefielt hatte, einem Werte, von dem wir und
jegt erſt aus den zufammengeorbneten Bragmenten (in Fragmm.
historicorr. Graece., ed. Car. Müller. Vol. IT. p. 227 aqq.)
den richtigen Begriff bilden koͤnnen. Einer andern Gchrift deſ⸗
felben Peripatetiters if im zweiten Briefe von mir gedacht
worden,
b) 3.8. Antigg. Ind. XVI, 11, 8. p. 652. ed. Diogf., vergl. XVII,
156. und de bello Iad. V, 13, 7.
908 Greuger
Tochter des Könige Archelaus, Slaphyra, und ihren balb
darauf erfolgten Tod, in welchem Ereigniß Joſephus einen
deutlichen Beweis für die Unfterblichkeit der Seele und bie
göttliche über bie menſchlichen Dinge waltende Vorſehung
findet =), wo jedoch der Ausdruck sd Deiov (das Göttliche)
in der Schrift eines gläubigen Juden boͤchſt unſchicklich ge:
funden werben müßte, ba bie firenge Perfönlichkeit Jehovah's
bie Wurzel feined ganzen Glaubens und Eultus war, wenn
man nicht wüßte, daß helleniſch gebildete jüdifche Schrift⸗
ſteller, wie auch Philo, mit Redensarten griechiſcher Philos
fophen und Hiſtoriker zu prunken pflegen. Dem Joſephus
aber mußte dieſer Ausdruck des Herodotus b) um fo geldu-
figer feyn, je mehr er fich in das große Geſchichtswerk deſ⸗
felben, fo zu fagen, eingelebt hatte, fo daß er auch in zwei
Hauptpuncten mit jenem Alt⸗Hellenen die größefte Achntich,
keit bat, einmal in dem patriotifhen Geift feiner Werke:
denn wie Herobot den Sieg und bie Rettung von Helles
zur Aufgabe feiner Hifkorien gemacht, fo Iofephus bie Ehre
und Wohlfahrt der Hebraͤer; fodann in der religiöfen Anſicht,
wie nur durch dad Walten ber göttlichen Worfehung jenes
Heil und jene Glorie, wenn auch unter manchen Wechſel⸗
fällen, zu Stande gebracht worden,
Die hindert jedoch den Zofegbus nit, vom Herodot
theild im Allgemeinen zu fagen, er werde von allen His
florifern zum oͤftern ber Unwahrheit bezüchtigt (contra
Apion. 1, 3. p. 338. fin.), theils felbft im Einzelnen eine
mehr oder minder firenge Kritik über ihn zu üben und da⸗
bei ihm fogar Unrecht zu thun. — Hier nur wenige Bei⸗
fpiele aus der ägyptifhen und aſſyriſchen Geſchichte. Im
=) Antigg. Ind. XVII, 13, 6. p. 690.
b) Und feiner Nachahmer, füge ich bei, wie benn bald nad Io
feppus der altgläubige Heide Pauſanias an folden religiät-
griechiſchen Bezeichnungen reich iſt, worüber 9. E. Schubart
in der caffeler Zeitfgeift für Alterthums: Wiffenfpaft 1851.
Nr, 59. ©, 312, grünblide Welchrung gibt.
Ruͤckblick auf Joſephus. 909
Betreff der erflen ſende ich eine kurze Bemerkung zur Terts
kritik voraus: in ber Stelle A. I. 1, 6, 2. p. 15. wurde in
Eichhorn's Bibliothek VII, 3. ©. 393: iv yag Alyuazov
Miorgmpy xal Meoroalovs roðs Alyuasloug — weRoönen,
beidesmal dad = ausgeloͤſcht; — fo wurde fie freilid der
Lebart ber LXX. conform, aber alsdann müßte aud ber
Königöname Meſtres beim Plinius 26,8, und in vielen Stels
len der Chronikſchreiber geändert werden (f, Jablonski, Vooe.
Aegyptt. und Eupolemus ap. Alexandr. Polyhist. p. 212.
und loann. Antioch. hist. chron. p. 539. ed. Car. Mül-
ler.). — Run des Iofephus Ausfellungen: Antigg. Iud.
VII, 10, 2. p. 312: Herodotus «) lege den Feldzug bes
Pharao Suſak nad) Paldftina und beffen übrige Thaten dem
Sefoftriß bei. — Ant. Ind. X, 1,4. p. 369. wird Heros
dot b) getabelt, daß er ben Sanherib nicht einen König der
Affyrer, fondern ber Araber nenne, — mit großem Unrecht —,
denn der griechiſche Hiſtoriker fagt mit Plaren Worten nach
allen Handfehriften: „Sanacharibos (Zxrvazdgıßov), König
der Araber und der Aflyrer,” und Sanherib hatte wirklich
einige Voͤlker ſich unterworfen, die Herobot zu den Arabern
zählt. — Dagegen find aber auch dem Joſephus theild uns
willkürlich, theils abfichtlich Fehler aufgeheftet worden, Ein
charakteriſtiſches Beiſpiel liefert: Ant. lud. XIL, 33. p. 447.
Antiohus der Große bringt dem Ptolemäus Philopator eine
große Niederlage bei und bemädhtigt fi) außer andern
Städten Serufalemd. Joſephus beruft fi) dabei auf Pos
lybius, woraus er einige Worte über den Tempel <) anführt.
a) 9, 108104, vrzgl. bie Roten Vol. 1. p.718. ed. Br. et Cr.,
jegt aber bie rechtfertigenden Erdrterungen von kepſtus in ben
Aonali dell’ instit. archaeol. Vol. X. p. 12—19.
b) 2, 141, mit der Note und mit dem Excars. p. 916. ed. B—r.
et Cr.
©) Die fidy aber in ben Pragmenten deſſelben nicht finden (f. Po-
1ybii Religg. XVI. p- 681. ed. Didot., vergl. Zenonis Rhodii
Fragmm. Vol. Il. p. 180. ed. Müller.). Bei Jofephus lauten bie
Motte in der Ueberfegung Gotta's (1. ©. 862.) for „Wen die:
910 Gröuger
Audererſeits liefern bie unmittelbar darauf angehängten Schrei:
ben mit den für die Juden vortheilhaften Verordnuugen =)
den Beweis, wie fehr Joſephus felbft manchmal durch un:
tergefhobene. Urkunden ſich hat zu Irrthuͤmern verleiten
laſſen.
Jedoch, um unſern Hauptgegenſtand nicht aus den
Augen zu verlieren, gehen wir von dem jüdiſchen Tempel
zu den Königsgräbern über und beſprechen einige
Stellen aus dem 13, und 16. Buche unfered Geſchichtſchrei⸗
bers, über welchen wir neuerlich aus Excerpten griechiſcher
Geſchichtſchreiber und des armeniſchen Euſebius durch Aus:
mittelung der Kritiker ſchoͤne Verbeſſerungen und ganz neue
Beitraͤge gewonnen haben.
Zuerſt möchte aufmerkſam zu machen ſeyn auf den Bes
richt: Antigg. Iud. XIII, 8, 2. p. 502., von dem neuen
Einfall Antiochus des Siebenten, Sidetes, auch Soter ger
nannt b), in Paldftina, Jeruſalem felbft und ben dabei eins
.
fem Tempel und der Gegenwart Gottes in demfelben
hätten wir viel zu fagen” u. f. w. xal nähere dic ww wegi
zo iegör imspavasar, als wenn ber Heide Polybius von
Gottes Gegenwart im juͤdiſchen Tempel hätte reden Lönnen. Zu
nächft wird ja Gott gar nicht genannt, und ber lateiniſche Webers
ſeber fagt auch bloß: „praesertim propter templi illias celo-
britatem,” Es muß alfo a: „befonders wegen biefes Heilig»
thums Glanz und Rum.” — Unfer gelehrier Witbärger Here
Dr. Zulius ZFürſt, der ſich mit einer deutſchen Ucberfegung
des Joſephus befchäftigt, wird Vieles der Art zu beffern finden.
a) Die von ben neueren Kritikern für erdichtet erflärt worden
find; f. !ac. Gronov. Decreta Romanoram et Asiatica pro la-
daeis © Jusepho. Lugd. Batar. 1712; vergl. I. T. Krebs. De-
creta pro Iudaeis etc. Lips. 1768,
b) Olymp. 161, 2. ©. Porphyrii Fragmm. Vol. II. $. 18. p. 712.
und Ioann. Antiocheni Frgmm. Vol. IV. $. 66. p. 561. mit den
Kritiken von Garl Müller; vergl. Chr. Sax. Tabulae genea-
logg. no. XX. et XXVI, 6, D. Bed, Anleit. zur allgem.
Seitgeſch. II. ©. 59. u. &.72f. und Wyttenbach. ad Ple-
tarch. Apophth. regum 184 F. Vol. VI; 2. p. 1086.. enblih
Ruͤckblick auf Joſephus. 911
getrete nen Begebenheiten, von denen ein neuerer Geſchichts⸗
forſcher a) Anlaß genommen, den Joſephus einem gewiß zu
flrengen Urtheil zu unterwerfen, indem er fi fo verneh⸗
men läßt: „Porphyrius fagt, Antiochus Sidetes habe die
Mauern von Serufalem niedergeriffen und die Häupter der
Nation hingerichtet, — Das lautet von einem morgenländis
ſchen Steger ungleich wahrſcheinlicher, als die Erzählung
des Joſephus (a. a, D.), der von einer perfönlichen Bes
frafung der Ueberwundenen ganz ſchweigt und die Schleiz
fung der Mauern auf Zerftörung ihrer Binnen beſchraͤnkt.
In Hinfiht der Mauern flimmt Diodor mit Porphyrius
überein, und die thörichte Eitelkeit ded Joſephus, dad Der
mütbigende unglüdlicyer Begebenheiten zu vertufchen, zeigt
ſich deutlich in der ganzen Erzählung. Die Wahrheit leuch⸗
tet doch durch” u, f. w. So Niebubr; — aber derfelbe Dio⸗
dor berichtet doch in berfelben Erzählung b) ausdrücklich:
die Raͤthe des Königs hätten ihm gerathen, daB ganze jüis
diſche Volk auszurotten, ober, wo nicht, doch feine Geſetze
abzuſchaffen und es zu einer gaͤnzlichen Umaͤnderung ſeiner
Sitten zu zwingen, und fügt buchſtaͤblich bei: Aber der
König, der großherzig und feiner Gemüthsart nad
gütig war ©), ſprach die Judaͤer von der Anklage gegen fie
Niebupr über die armenifchelicherfegung des Euſebius (Feine
Schriften. I. S. 251 ff. 299 ff.) und less in Pauty's Reals
Encytlop. IV. ©. 1327 f.
⸗) Riebuhr.a. a. O. S. 299.
b) Diedor. Eclog. XXXIV. 1. Tom. II. p. 531. ed. Dindorf., wos
mit man jegt die neuen Excerpte aus Diodorun de insidiis bei
©. Müller. Bd. 1. S. XX. verbinden muß.
©) Diodor. 1. 1. p. 581. sub fin.: 'O &2 Basıkedg ueyakdynzog
dr nal zd 700g fuegog.— Diefem Zeugniß nach war alfo bie:
fer „morgentändifhe Sieger” doc; kein Wütherih. — Dig zus
nachſt folgende Erzählung (zum Theil nach Nicolaus Damkısces
nu8) von dem Zuge dieſes Könige in Begleitung des Hyrkan
gegen bie Parther, vom Gieg über fie, von dem Raſttage bes
Veeres wegen ber zweitägigen jübifchen Pfingfifeier, von ber
92 Kreuzer
108, nachdem er Geißeln von ihnen genommen, die ſchuldi⸗
gen Steuern fi) zablen laſſen und Jeruſalem von feinen
Mauern entblößt hatte. — Diefer Sachbericht des ficiliſchen
Hiſtorikers oder feined Gewährämanmed beweiſt doch zum
wenigſten fo viel, daß ber juͤdiſche noch Immer Urſache
batte, auch der mildernden Umftände fp großen Ungihds
zu gebenfen. Ant. lad. XIII, 8, 4. pag. 503. Johannes
Horkanos entnimmt aus des reichſten jhbifchen Könige, Da-
vid, Grab breitaufend Talente Silber =) und wird dadurch
in den Stand geſetzt, ber erſte unter den Juden, fremde
Miethetruppen zu unterhalten. Hiermit verbinden wir die
Erzählung von Herodes des Großen ähnlicher Gräber
Plünderung:. Ant. Ind. XVI, 7, 1. pag. 632 sq., wo be
tichtet wird: Herodes, ber während feiner Regierung vielen
Aufwand in allerlei Leiflungen auswärts und im eigenen
Lande gemacht und von bem glänzenden Erfolge ber Unters
nehmung feines Vorfahren Hyrkanos gehört batte, fei ſchon
geraume Zeit mit ebenmäßiger Eröffnung bes Grabes De
vid's umgegangen, da dort noch viel mehr Schaͤtze lägen,
darauf folgenden Niederlage bes Antiochus und feinem Tode
wird chronologiſch unterſucht und beftätigt von Joh. v. Gums
pach in dem fo eben erichienenen Härfäbuh der rechnenden
Chronologie, Heidelberg 1858. Abſchn. III. „Ueber bas Todes⸗
jadr Antichus VII. (Bidetes)” S. 81—89.
a) Wenn Gotta (©. 405.) die Angabe des Metalles unteriäßt, fo
hat er nicht bedacht, daß in ber Wibel bei den Ginkänften Das
vid's und Salomo's au von Golbtalenten bie Mede ik. — Da
übrigens fon Hyrkan's Water, der Hohepriefter und Für Si⸗
mon. das Müngprägen eingefühet hatte (1 Waflab. 15, 5 f.),
fo wird Oyrkan jene Silbertalente zu dem angegebenen Zwed
als Sekel haben ousprägen laffen. Ich vwieberhole jet wicht,
was idy neuerlih nah Bödh, Gullimore, Koner und
Wertpof in einem Bericht über das Handbuch der griechiſchen
NRumismatit in den mändener Gel, » Anzeigen 1852. Wr. 8.
S. 66. über den jüdifhen Sekel bemerkt habe, unb will bloß
mod) auf Cavedoni, Numismata biblica, Moden. 1850, und auf
Lenormant’& Kritik darüber im Journal L’institat 1851.
Decembr. p. 189 sq. aufmerffam maden.
Ruͤckblick auf Joſephus. 913
die zu fernerem Aufwande hinreichende Mittel darböten,
und babe barauf in der Nacht. ‚in aller Stille mit Zuzies
bung feiner getreuefien Diener das Unternehmen wirklich
ausgeführt, habe jedoch nicht, wie Hyrkanos, Gelder, wohl
aber viel Schmuck an Gold und Kleinodien gefunden, weils
he er ſaͤmmtlich hinweg und zu ſich genommen ®),
Beide Berichte des Joſephus find jedoch ſchon früher
von Pined und Prideaur und neuerlih von Joſt,
Eless u. A. theils angezweifelt, theild geradezu für erdich⸗
tet erklärt worden, wie ich im folgenden Bericht von der
franzöfifch » alademiſchen Gontroverfe näher angeben werde.
Und bier ift num der Ort, wo ich über bie Verbands
lungen der Akademie der Infchriften in Betreff der juͤ⸗
bifhen Königsgräber aus den Driginal s Denkfchrif-
ten von 1851 bis 1852 ſummariſch zu berichten habe,
a) Diefe ganze Erzählung ift von Abſchreibern und Ueberfegern
mißhandelt worden. Schon der Anfang iſt noch bei Dindorf
lüdenhaft, denn er lautet fo: O yag "Hgeäng, wollois (zoig)
dralcipaeın elg za züg Ein nal rüg dv <f Pamdalg zgu-
pavog, wo fon ber wiederholte weibliche Artikel den Ausfall
eines femininen Subſtantives errathen laͤßt. — Diefe Lüde Hatte
Ion längt Koraes S. 872 durch zognylag ergänzt und die
weiterhin folgenden Worte: xal dvsanisor sig ümar dmag-
ndenı ralg zogmylasg, verhtfertigen biefe Grgänzung, was dem
‚Herausgeber bes Joſephus entgangen iſt, nicht aber dem bes
Nicolaus Damascenus, woraus biefe Stelle entiehnt iſt, ſiehe
Nicolei Damasceni Prr. Vol. II. p. 421., wo Garl Müller
das zogrylas in Klammern eingefügt hat. Der Ueberfegungsfeh
ler lautet bei Gotta fo: „Dod traf er, wie Oyrcanus au,
teine Beilage von Geld an, wohl aber” u. f. w., und in ber
lateiniſchen Weberfegung nod bei Dindorf: „Et pecunias qui-
dem depositas similiter ac Hyrcanas non invenit”,
welches dem obigen Berichte geradezu wiberfpriht und beim Ris
colaus richtiger fo überfept if: „Depositas tamen pecunias, ut
Hyrcanus, non invenit.”— Die dzoßdapa gornara waren
914 ‚ Greuger
Den Anlaß zu diefen gelehrten Unterhaltungen =) hats
ten theils die fon feit Jahren von Botta und von
mehreren Briten in den Flußgebieten des Euphrat und des
Tigris unternommenen Auögrabungen und die daher in bie
Sammlungen von &ondon und Parid gelangten aſſyriſchen
Alterthuͤmer, theils die Unterfuchungen alter Dertlichkeiten
in Syrien, Paldflina, in Ierufalem ſelbſt, theild das neu
rege gewordene Interefie an ben beiligen Orten, theild end:
li der von de Saulcy aus Jeruſalem's Höhlengräbern
entnommene und in der affgrifchen Abtheilung des Louvre
niedergelegte Sarkophag-Dedel — gegeben und das leb⸗
bafte Intereffe vieler Altertyumsfreunde erregt. Der erfte
der genannten Akademiker b) faßt am Schluffe feine Be
merfungen in folgende Säge zufammen, ald Ergebniffe ei:
gener und fremder Unterfuchungen :
1) Die Koͤnigsgraͤber des Stammes David waren im
Berge Sion und zwar gegen die mittäglicde Seite diefes
Hügels ausgehauen, und find dafelbft bis jegt verborgen,
wo nicht unberührt geblieben [?].
2) Das Maufoleum, welches in der türkifchen Tradition
als das Grab ber Könige bezeichnet wird, ift aller Wahr:
ſcheinlichkeit nach das Denkmal der Königin von Adiabene
Helena, zweier Könige, ihrer Söhne und einiger Prinzen
ihrer Familie.
3) Dad Zeugnig des Joſephus von den Reichthümern,
die in David’8 Grabe niedergelegt gewefen, hat ſchon an fih
aber nur infofern Belber, daß man babei an gefiempelte
Silber » Barren oder vielmehr Silber⸗Klumpen zu denken bat.
e) Von RaoulsRohette, 6.Quatremere u, F. be Gaulcy
im Journal des savants, Septbr. 1851 et Aodt 1858, und in
der Revne d’archeologie, 9e annde, livraison I. p. 29-37;
live. . p. 92—113; live. III. p. 157—169; iv. IV. p. 29
—240; livr. VII. p. 391409.
b) Raoul-Rochette, Courtes observations sur les tombeanx des rois
ä Jerusalem, a. a. D.
Rücbtie auf Joſephus. 95
viel Wahrſcheinlichkeit, flimmt aber auch mit dem Gebraudhe
des alten Morgenlandes volllommen überein =).
Ein anderer Akademiker, Etienne Quatremere, derfelbe,
der bie Meifeberichte des Hrn. F. de Saulcy Über daB Todte⸗
Meer und Umgegend mit den untergegangenen Städten einer
Kritik unterworfen batte, beleuchtet Deffelben Vorleſung,
worin behauptet worden war, das ald Grabmal der
Könige bezeichnete Monument in Ierufalem fey wirklich
nicht Anderes, ald was beim Joſephus unter dem Namen
Königögrüfte [oxjAnız Baaulıxd] vorfomme, und flelt das
gegen folgende Säge auf:
a) Bergl. ©. 329 ff. a. a. D., wobei ich mich doch wundere, daß
RaoutsBRocpette, der fo viele andere Schriften anführt, nit aud
des Saint» Martin (Hist. des Arsacides) gedenkt, auf den ich mi
fetbft im zweiten Brief, S. 67 f. in anderer Hinfiht berus
fen hate. — Hier trage ih deßwegen das Hierhergehörige nad;
— alfo Saint⸗Martin I. S. 129 ff.: Nach Joſephus [A. 1.XX,
2. init. p. 767. DAf.) hatte Helena mit ihrem Sohne Ipates jü-
diſche Bitten (z& Tovdaler 56) mit ihren nationalen dertauſcht,
aber nach der armeniichen Gage hatte fie nah ihres Gemahls
Abgaros Tod ebenfalls das Chriſtenthum angenommen, was St.⸗
Martin dahingeftelt feyn Iäßt, aber kabei ben Moses Choren.
H, 32. anführt mit dem Bufag: „Cs ſcheint nad Joſephus
(a. 1.XX, 4. pP. 776.), daß bie Königin Helena nach dem Tode
des Jzates nach Adiab-ne zurädkehrte. wo fie bald barauf ſtarb;
idt Sohn, der König Monodazes, ließ ihre Gebeine fammt denen
des Jzates nad} Jeruſalem bringen, wo fie in einem herrlichen
Grabmal, weles Helena während ihres Aufenthalts bafelbft Hatte
errichten laffen, beftattet wurden. Diefes Maufoleum war drei
Stadien von der Stadt entfernt gelegen. Paufanias (VII, 16, 3.
p- 80. ed. Schub. et Wals.) gebentt deſſelben unb vergleicht es
mit dem Maoufoleum der Artemifla in Karien, mit der Bemer⸗
tung: bieß feyen bie zwei ſchoͤnſten Dentmale der Art, die er
jemals gefehen. Das erflere war noch zur Beit bes Euſebius
(Hist. ecoles. II, 12.) und bes Hironpans (Epist. 27.), die es
erwähnen, vorhanden. ,
Theol. Stud. Jahrg 1858. [03
916 Greuger
1) des Geſchichtſchreiber Joſephus verdiene in der al
ten Gefchichte Fein Wertrauen, als infoweit ex ſich auf bie
heiligen Schriften füge;
2) die Königögräber feyen in den Zellen des Berged
Sion eingehauen, welcher allein, und nicht die Stadt Je⸗
tufalem überhaupt, die Stadt David's genannt worden
ſey a);
3) Iofephus nenne die wirklichen Königegräber nicht
wenusic, fondern oxtAase Baoılad b), und jenes Mom:
ment verrathe in allen Stüden feinen griechiſchen Styl und
keineswegs die rohe Arbeit, wie fie zu David’s Zeiten ge
wefen, wo alle bildenden Künfte bei den Hebrdern noch in
der Kindheit lagen [?];
4) die Erzählung bes Joſephus (A. VII, 15. p. Bl.
Ddf.) von den großen Geldfummen, welde Salomon in
David's Grabe niedergelegt habe, widerfpreche allen andern
Beugniffen, leide an innerer Unwahrfcheinlichkeit, widerſtreite
dem Geift der Propheten, unter denen Jeſajas (5, 8.) aut:
drüdfich gegen Luxus der Gräber eifere; endlich feyen die
*) Gion (Zar) wird von Zofephus mertwördigerweife ſelbſt nit
genannt, wohl aber 1 Ehron. 11,5. 7., im R. T. auch metonv⸗
miſch von der ganzen Stadt Jerufalem, feinen Eimmohnern, von
ber ganzen jädifchen Ration, und endlich metapperifd vom neuem
Jeruſalem. — Ob wegen biefer Verherrlichung im M. T. der
Zube Jofeppus den Romen abſichtuch unterdräct habe, wie Dit
(Asimadverss. in Ioseph.) veruutpet, taffe dp bahingefüeilt ſera.
Ueber bie Dertliqteiten gibt fon Roland, Palacstina IL p-B46-
Auskunft.
b) De B. lad. V, 4, 2. p. 989 Dat. Ich fege die Hanptworte biefer
Gele, auf welche ſich auch Or. de Saulch beruft, feld hier
der. Wei Beſcheeibang des beilten WRoues zu Zarufolem heilt
& u. X: Imsıra zußänor drrungd civ 'Elieng arnneler
C4drußmen Baoılle de adın, Igiren wijeng) ul di
ounlaler Pasılnar — Indnurıce wel.
Ruͤckblick auf Joſephus 817
Geibſummen ſN) und Schaͤtze, die Herodes der Große aus
den Königögräbern genommen haben folle, erſt von den
Hasmondern, welche dur ihre Siege große Reichthümer
erobert hätten, darin niebergelegt worden »);
5) jenes in fein griechiſchem Gefhmad auögearbeitete
Monument außerhalb Jerufalem, heutzutage ald die Koͤnigs⸗
graͤber bezeichnet, fey nicht das Maufoleum der Königin von
Adiabene Helena, was dem Texte des Joſephus wider
ſpreche, fondern das Grabmal Herodes des Großen, dieſes
reichen und prachtliebenden Königs, der den neuen Tempel
und fo viele Paldfte und Bauwerke aller Art in und außer«
balb Zerufalem aufgeführt habe,
So weit €, Quatremere. — Man wird erwarten, daß
die Antwort darauf nicht außgeblieben, wie es denn in dies
fer ganzen Streitfache an Replifen und Dupliken nicht ges
mangelt dat. —
Ih trage bier nur noch die neueflen Erwiederungen.
=) Dagegen bemerkt doch Joſephus ſelbſt und an derfelben Stelle,
David habe einen fo großen Reichthum befeffen, wie kein anderer
König der Juden und übrigen Völker, auch wisb der großen Er⸗
oberungen gedacht, die David in Syrien und angränzenden Läns
been gemacht, und der großen Jahrestribute, die er und nach ihm Gar
lomon von daher gezogen [vergi. Alexandri Polyhist. Fragmm.
no. 18. Vol. III. p. 225. ed. C. Müller.], worauf au Riebube,
Röm. Gerd. HIT. ©. 18. 2. Ausg. aufmerkſam macht. Was
die Rleinobien und @elder, die Johannes Hyrkan und Herodes aus
Davib’8 Grab genommen, betrifft, fo ift bei lehterem, wie aus⸗
drũcklich bemerkt wird, von Gelbfummen gar nicht bie Rebe (fiehe
oben unb bafelöft Joseph. A. I. XIII, 8,4., vergl, XVI, 7,1.].—
Webrigens find jene Gräberpländerungen ſchon früger bezweifelt
worden, f. Mart. Geier, de luota Bbracor. VI,16. p. 15leq.;
Br. Münter über das davidiſche Familienbegräbniß, in beffen
antiquer. Abhandll. &.67., und neuerlich Jo ſt, mit guſtimmung
von Gleds, in Pauly’s Reals@ncpkiop. IV. ©. 1388,
61*
918 Greuzer
nad, bie Hr. $. de Saulcy auf die courtes observations
von RaoulsRocyette (ſiehe oben) gegeben, weil fie den
Schluß bilden, und weil ihr Verfaſſer, Zögling der polytech⸗
nifhen Schule, ber ſich in der Architeftur praktiſch verfuct,
yit den alten und neuern Schriftfielern in ver Hand
jene Dertlichkeit in Jeruſalem und der Umgegend felbft ge:
nau betrachtet hat a), j
Ih muß mich bier auf dad Ergebniß feiner Unter:
ſuchungen an Ort und Stelle, verbunden mit den Zeugniffen
der Schriftfteller, beſchraͤnken: Joſephus unterfcheidet in einer
und bderfelben Stelle, als völig verſchieden und durch eine
lange Reihe der Umfangemauer getrennt, das Grabmal der
abiabenifhen Königin Helena [nebft einigen Familienglie⸗
dern] und die Grabeshöhlen ber Könige b), welche ganz
gewiß die Q’bour-el-Molouk find, und es ift daber un
moͤglich, noch heutzutage biefe zwei Denkmäler zu identifis
ciren, die vollkommen an ihrem Plage find im Verdaͤltniß
der Mauer des Agrippa, welche legtere man an allen Stel:
len Schritt vor Schritt verfolgen kann. Wenn man übri-
gend den [obigen] Bericht des Paufaniad über das Grab:
mal der Helena budftäblih nehmen muß °), fo flimmen
die fteinernen Thüren, die in die Felſenmaſſe eingehauen find,
durdaus nicht mit den Q’bour-el-Molquk überein, da
die fleinernen Porten diefer Grabeshöhle von einer ganz
andern Steinart find, als bie Felsmaſſe, in welche ausge
hauen worden,
a) Röpoase aux oourtes observations sur les temboanz des rois
ä Jerusalem, memoire de M. Raoal-Rochette par F.deSaulcy,
in ber Revue d’archeologie, 15 octobr. 1852. p. 406 ss.
b) De bello Ind. V, 4, 2. [p. 289. Ddf., vergl. oben, wo ich bie
‚Hauptworte im Driginal mitgetbeilt habe].
<) Einen Irrthum ausgenommen, bie Watiosaiiiät diefer Königin
betreffend, wovon Lärzli ins Werfolg.
Rüdblid auf Joſephus. 919
Hierbei bemerkt Hr. de Saulcy, daß er diefen Gräbern
der Könige und vieleicht David's felbft einen Sarkophag:
- Dedel entnommen habe (jegt unter den affyrifchen Denk:
mälern des Louvre befindlidy), und macht gegen Raoul⸗
Rochette geltend, daß die reichen Verzierungen dieſes Dedels,
das Blätterwert, die Palmen und Weintrauben, ſich an die
Sculpturen der Griechen und Römer unmittelbar nicht ans
reiben, fondern rein nationales Gepräge verrathen, und dag
fein einziges Merkmal der Annahme widerftreite, diefe Sar⸗
kophage mit ihren Dedeln und Drnamenten feyen mit den
Grabgewölben der Könige von Juda felbft gleichzeitig lwelche
Refultate denen des Herrn E. Quatremöre, wie wir fie oben
mitgetheilt, ſchnurſtracks entgegenftehen].
Das Grabmal der Helena, wird darauf bemerkt, habe
zuerſt der deutfche Drientalift Schulz entdedt a) und bin
zugefügt, er felbft (ve Saulcy) babe zuerft die Entdedung
gemacht, daß dad auf dem Delberg in einem Gewölbe be:
findlihe Grabmal, welches die Juden von Jerufalem für
da6 ber Prophetin Khudah ausgaben, einer gewiſſen Do-
metilla angehöre, folgende Worte zur Auffcrift habe:
Tharsi Dometilla: oudis athanatos [®agası
— oböelg dddvarog], und aus den erften Zeiten des Chri-
ſtenthums herſtamme. [Das Legterc betreffend, fo Tantet
doch diefe auf juͤdiſchem Grund und Boden entdedte griedhis
ſche Srabfchrift einer Frau römifchen Namens nicht eben
driſtlich].
a) Aiſo ſchon im Jahr 1827, denn im Auguſt 1826 ſah ich noch dier
fen meinen heſſiſchen Sandemann Fark vor feiner orientalifchen
Beife, auf ber er fo bald und fo traurig enden follte, bei Abel⸗
Remufat, der ihm mit fo manchen andern Notabeln der morgen=
töndifcen Wiffenfeaft im Anfang des nähften Jahrzebende nach⸗
folgte, — im beften Wannesalter, worin aud Gugdne Burnoaf
im kaum abgelaufenen Jahre aus dem Leben abgerufen worden.
920 ‚ Greuzer
Wenn nun ein deutfcher Forſcher im Morgenlande, ber,
ungleich vielen andern negirenden und deſtruirenden Pbilole-
gen, durch pofitive großartige Auffaflung des Alterthums
den Wiffenfchaften wefentlihe Dienfte leiftet, in feinem neues
fien Werke =) fogt: „In den Gartenvorftädten der Stadt
Rhodus feflelte beſonders ein großed Grabmal, welches, ein:
sig in feiner Art, auf griechiſchem Boden an die fogenannten
Gräber der Könige und Propheten bei Jerufe
Lem erinnert” — fo Lönnte idy davon Anlaß nehmen, man
cherlei Parallelen zu ziehen zwiſchen Todtenmalen und
Todtenfeiern der Hebrder und übrigen Afiaten, ber Aegyp⸗
tiee und anberer beidnifchen Voͤlker, insbeſondere auch ber
Griechen; da ich mich aber hier nur auf das einlaflen
Bann, was von der Bibel und von Jofephus bezeugt iſt, fo
will ich jeßt nur noch beifpielöweife an die attifche Zodten:
feier, die Nemefeen (z& Nsptose), erinnern (woran ohnehin
jener Anruf an Dometilla mahnt), deren Symbole und
Derfonificationen im Fluche des Paradiefes viel früher einen
einfachen wörtliden Ausdruck gefunden, wie ih hoffe, an
einem andern Ort genügend erwieſen zu haben b),
a) Reifen nach Kos, Halikärnaffos, Rhodos und der Jaſel Gypem
von Ludwig Roß, Halle 1852. S. 78., womit man jegt ver-
gieije: Numismatique et inscriptions Cypriotes, par H. de
Luynes, Paris 1852, fol., welcher eble Derzog feine großen
Mittel und ausgezeichneten Talente rühmtichft auf die Rörderung
der Altertbumskunde verwendet; und über bie Grabinſchriften von
Kition (Klesos, Joseph. A. 1, 1,6,1. p. 16. Ddk.). 9. Ewald,
in der Zeitſchrift für die Kunde des Morgen! . ©. 418.;
vergl. beffeiben Gntzifferung der neupunifden Infchriften, in den
götting, gel. Anzeig. 1852. Wr. 174. ©, 1785.
6) 1Mof. 3, 14. 19.4 Toseph. A. I. I, 1,4. p. 6. fin. ed. Dindl.;
vergi. Gymbolit Il. &. 463. und 11. S. 618 — 617. weiter
Ausg,, woraus ich nur bie Schlußworte hierher fege: „Der Erd⸗
wurm, die Schlange, am Erdboden kriechend und Erde frrffend,
und der Menfch, des die Erde aufrelfen, von der Erde ſich näh
Rücvlit auf Joſephus. 9
Doch bier geblihrt es fi, auf den Schluß zu denken.
— Ic kehte daher vom Anfange der jkbifhen Arch aͤo⸗
Iogie zu deren letzten Büchern zurid =) und Enlpfe an
die Angabe vom Grabmal ber jüdiſchen oder chriſtlichen
Königin Helena die gleich darauf folgenden einer andern
vornehmen Profelytin, woran ſich fodann weicht einige fpds
tere Erſcheinungen ähnlicher Art aus dem Ausife fünftlicher
Derfonen anſchließen werben. B
Machdem Iofephus (A. 1. XVII, 3, 4. pag. 700.)
eine ſchaͤndliche Geſchichte, die dem Kaifer Tiberius zur Ber
Rörung des Ifis: Tempels und zar-BeRrafung feiner Prie-
ven, und was er {ft, wieber werben foll: Erde zu Erde.” — Jett
verweife ih no auf Chr. Walz, de Nemesi Graecoram,
Tabing. 185%, wo der Mefprung diefer altsafatifien Raturgit«
tin und Weltbeterrfcherim wohl nachgewieſen if; vergl, Meinen
Bericht darüber in den mündner Gel,» Anzeig. 1852, Nr. 10.,
befonders S. 94 f. — Endlih made ich nochmals auf die jängft
aufgefundene Schrift des Biſchoſs Hippolytus (vergl. den Schluß
meines zweiten MBriefes) aufmerffam, worin ein pinbarifches
Bragment Äber Urfprung und erfte Schidfale bes
Menſchengeſchlechts aufbewahrt iſt (neulich mitgetheilt und
delprochen von ®. Preller in Sqhneidewin's Philologas VII, 1.
p. 1-60.)
a) Vo ich zu meinem zweiten Brieke (S. 60 ff.) nachtraͤglich nur
noch einige Stellen kuͤrtlich berügren will, nämlich A. I. XVII,
18. 6. XV, 1, 1. p. 691698. Däf. vergl. de B. Ind. 11,8,1. .
p. 95. und &p. Luk. 2, 2., von ber Gendung des Quirimus als
Praſes nach Syrien unter Auguflus, von dem Fenfus in Gyrien
und in Paläftina und von Pontius Pilatus als Procurater dies
ſes Iegteren Landes, unb von deſſen Werhältniffen und Werriche
tungen, — bloß um an bie Erläuterungen gu erinnern, bie biefe
wichtigen Berichte aeverlich erhalten haben: 1) von Dirkfen
im Lexioon manaale font. iur. eiril. Hor. p. 767 eg. 2) von
Ehe. Peterfen im spein. Muf. für Phllsl. VLL2. ©. 17844
3) von Ieb. v. Gumpach im Hülfsbuch der rechnenden Chro⸗
nologie, Heitelb, 1853. S 90 ff.
922 " Greuger
fer in Rom Anlaß gegeben, umſtaͤndlich erzahlt hat a), be:
richtet er ebenfo ohne Rüdhalt im zunächft folgenden Abs
ſchnitt (S. 701.), wie vier verſchmitzte Juden und deren
Vorſteher eine vornehme, zum Judenthum übergetretene
Römerin, Fulvia b), Gemahlin eines Freundes bed Tibe⸗
rius, Saturninus, dieſe ihre Schülerin uͤberredet hatten,
ihnen @old und Purpur für den Tempel in Ierufalem zu
übergeben, wie fie dieſes Geſchenk aber abgeredetermaßen ganz
und gar zu ihrem eigenen Wortheil verwendet, wie darauf
der Kaifer Befehl gegeben, alle Juden aus Rom zu ver
bannen, wie fobann durch Senatöbefchluß 4000 derfelben als
Militaircolonie nach Sardinien verpflanzt, die Mehrzahl je:
doch, welche Kriegödienfte mit ihrem Gefege unvereinbar
fanden, Strafen unterworfen worden feyen.
Wie fehr damald und viel fpäter nody beſonders bad
weißtiche Geſchlecht unter ben ‚Heiden der mofaifen Relis
gion zugeneigt war, bavon liefert unfer Geſchichtſchreiber
im andern Werk aus Nero’ Regierungszeit ein noch aufs
fallenderes Beifpiel. — Er erzäplt nämli (de B. Iud. 2,
%. p. 235.), wie in den damaligen Wechſelfaͤllen des Krie⸗
a) Bergl. Sueton. in Tiberio, cap. 36. und bie Ausführungen bei
Byukershoek, de cultu religionis peregriuse apod veteres
T. p. 240 qq. und Böttiger’s Sabina, &. 206
Ausg. im Abfchnitte: „Ifisd’enft in Rom”.
zoig Tovdaisodg, — alfo eine aufrichtig
dem mofaifchen Seſet ergebene roͤmiſche Matrone, die ganz im
Gegenfage mander anderer,udie Juvenal (VI. 488.) als bie
„Isincae sacraria lenne” befugenden ſchildert, dem veinen Geis
ligthume bes Jehovah ein reiches Opfer barbringen wollte. —
Wan wird aber auch die fittliche Gnträfung in den Ausseäden,
womit Sofephus jene Betrüger zeichnet, und fomit feine gan
objectine Darftellung biefer Frevelthat von Landslenten nich
verkennen.
Räcbli auf Joſephus. 923
ges die Damascener, als fie eine Niederlage der Römer
vernommen, ben Anſchlag gefaßt, alle unter ihnen wohnens
den Juden zu ermorden, babei aber ihre gigenen rauen
gefürchtet, weil diefe ſaͤmmtlich, wenige ausge⸗
nommen, dem jüdiſchen Gottesdienſte ſich ins—
geheim unterworfen hätten), und erſt als ein
günftiger Umftand eingetreten, die im Gymnafium zuſam⸗
mengedrängten Juden, 10000 an der Zahl, in Einer Stunde
ohne Schen umgebracht hätten.
Daß auch in anderen Gegenden Syriens eine große
Anzahl der Bewohner den hebraͤiſchen Glauben bekannte,
und zwar von Alters her,’ ergibt fi) aus dem Zeugniß des
Joſephus im Hauptwerk (Antigg. lud, VIII, 6, 1. p. 300.
Ddf.), wo er berichtet, der König Salomon habe an der
forifchen Grenze, in der Wüfte, eine Tagereife vom Euphrat,
zwei von Ober = Syrien und ſechs von Babylon, eine
Landſtrecke erobert und darauf eine Stadt gebaut und bes
feftigt, Thadamora, wie fie nody zu feiner Zeit bei den Sy:
rern genannt werde, wogegen die Griechen fie Palmyra
nennen b).
=) debolnasev 8} zög bavrer yusaluag du daas zinv dAlyar
Janynivas rj Tovdaizg Pgnoxsig. Diefe leteren
Worte lauten in ber lateinifchen Verſon: „religioni Iudaicae
addictas”, und bei Gotta: „der jũdiſchen Religion ergeben was
ven”, ba doc des Jo’ephus Aushrud felbft und das unmittelbar
Folgende: dıd meyıerog adrols dyar dykvero Andelv dxeivas,
weßwegen fie in ber größeften Unruhe waren, jenen ihren Ans
ſchlag zu verbergen”, deutlich zu extennen gibt, daß biete
rauen ihren jädifhen Gult möglihft im Gtillen übten, bie
Männer aber aus Furcht oder ihres Vortheils wegen ihren beid⸗
niſchen bisher für fi ausgelibt, jegt aber großentheils wohl
defwegen an den Juben Radıe nehmen wollten.
b) Badipoga— Ildiuvgav. Gpäter ward fie Adgiasözolıs ges
mannt, weil der Kaiſer Hadrian fie wieder hergeftellt hatte
924 Creuzer
Da dieſe große befeſtigte Stadt das Emporium für den
großen öftlichen Karavanenhandel und die Hauptnieberlage der
großen Zribute, die den jüdifchen Königen aus Syrien und
den Nachbarländern zuftrömten, wie oben bei ihren Graͤ—
bern bemerkt worden, bildete, fo Fonnse fie und ihre gang
Umgegend natürlich nur juͤdiſchen und dazu noch bewaffne:
ten Einwohnern «nvertraut werden, und daß biefer Theil
der Bevölkerung neben Arabern, Garaenen und anderen
Nationen bis in die fpäteften Zeiten ſich dort erhalten bat,
dafle fprechen fortlaufende Zeugniffe der Gefchichtfchreiber.
Unter diefen Umſtaͤnden wird es mir vergönnt fen,
zwiſchen der von Joſephus (f. oben) erwähnten Affgrerin
und Königin von Adiabene, Helena, und ber Gprerin
Benobia, die im dritten Jahrhundert (i. I. 267) nah
ihres Gemahls, Ddenathus, Tode den Thron ven Palnıyre
befliegen «), eine Parallele zu ziehen und als wahrſchein⸗
(fiehe Uranios im zweiten Buch der arabifden Geſchichten beim
Steph. Byz. in Mdluvge und jett Uranii Fragmenta bei Karl
Müller, Bd. IV. S. 624.), der e6 aber nur Ggougien, Gar
ſtell, nennt; denn weil biefer Kaifer feines Reiches Grenzen bis
dieſſeits des Cuphrat zurüdgezogen hatte, fo Eonnte er ſich auf
einen befeftigten Mititairpoften befhränten. — Zu mehr als ſa⸗
lomoniſcher Herrlichteit eihod ſich Tiefer Ort erſt wieder unter
den Odenathen, deren Dynaſtie ich nach neu gewonnenen Quellen
in einer gieich anzufährenden Schrift genealogiſch zu ordnen vers
lacht babe. B
a) Der Kürze wegen beräbre id nur die neueſten Unterfudungen
und faffe fie in dieſer Anmerkung zufammen. — Atſo über I
garos un\ feine Jamille vergl. man meinen zweiten Bei
(&. 62 f.) und füge jegt mod Ping: acta Apostoloram spo-
erypha, ed, C. Tischendorf, und bafetöfk Mr. 12.: Acta
Thaddaei. Weber Helena f. Pausen. VIII, 16, 5. pag. 80.
ed. Schub. et Walz., der fie aber für eine in Paldfine ge
berne Jũudia ircig ansgibtz fie war Proſelytia vergl. Joseph.
de B, Ind. V,4, 2. p. 239. Daf. ieber Benobia 1. meine At:
Rücblict auf Joſephus. 925
lichſtes Ergebniß anyunehmen, daß beide hochberuͤhmte Fürs
ſtinnen Südinnen gewefen, beide aber auch als Chriſtinnen
bezeichnet werden,
Daß aber der Zenobia Zeitgenoffin, die roͤmiſche Kaiſe⸗
rin Somelia Salonina, wirklich Ehriflin geweſen, wenig:
ſtens im Stillen, iſt erſt Lürzlich faft bis zur Gewißdbeit ex»
hoben worden, und darum mag zum Schluß auch nach von
diefer merkwürdigen Frau kuͤrzlich gehandelt werden, zumal
da bier ein fprechendes Beifpiel vorliegt, wie fruchtbar die
alte Münzkunde auch für bie ältere Kirchengefchichte werden
ann. Zu dieſem Iwede.gebe ich über fie und ihren Ges
mahl, ben Kaifer Gallienus, in der Anmerkung =) einige ers
Handlung : „Sur Kritik der römifhen Kaiſergeſchichte“, Deuts
ſche Schriften, Abth. IV. S. 76 ff. Daß fie jüdifde Profelytin
geiefen, begeugen ausdrädlich Photius Cod. 265. p. 1470. und
Athanesias ad solitar. vitam agent. p. 857.5 vergl. Giess in
dem ungemein fleißig gearbeiteten Artikel: Zenobia (Zmwoßla)
in Pauıy’s Real⸗Encykiop. VI, 8. S. 2857. Die Sagen von
ihrem Ghriftentpum f. bei Mosheim, Bist, Christ. secal. II. .
p- 706. und Abulphar. p. Bl. vers. Pock. — In unferen Ta⸗
gen bat endlich fogar eine tritiſche Proteftantin das Anden’en
an 3enobia erneuert, denn Baby Eſther Stanhope ift von ben
Bewohnern der ſyriſchen Wäfte wegen ihrer Großmuth und ganz
orientaliſchen Haltung wirklich mit dem Titel einer Königin von
Thadmor beehrt worten.
Eine gründlie Apologie diefes fo fehe verrufenen Kaifere
lieferte vor Jahren ſchon ein hollaͤndiſcher Philolog, und id
felbft konnte aus neu gewonnenen hiſtoriſchen Bragmenten bes
beutende Beiträge dazu nadhliefern; f. Dar. Jacobi a Lennep.
disputatio pro imperatore Gallieno. Amstelaed. 1818, und fe.
Greuger’s deutſche Schriften, Abth. IV. Leipzig und Darmftadt
1886. 11. S. 75-144: „Ballienus und Galonina; zur
Kritik der roͤmiſchen Kaffergefcjiähte”, woraus ich bie Binganges
worte bes zweiten Abfchnitts (©. 98.) hier beifüge: „Die Apos
logie der Kaiſer in wird uns weniger Mühe machen; vielmehr
wirb e6 ſich ohne weitläuftige Beweisfährung bald hesausftellen,
S
926 Greuzer
läuternde Säge und gehe ſogleich zur Beleuchtung der Re:
ligiofität dieſes Paiferlihen Ehepaars über.
Jenek politifdysfanatifhe Pantheismus, wozu Hadrian
das Signal gegeben, hatte mit dem Anfang des Dritten
Jahrhunderts felbft die juͤdiſchen und chriſtlichen Gulte in
feine Kreife gezogen, da ja ber Kaifer Severus Alerander
und feine Mutter, Julia Mammda, dem Moſes, Orpheus
und Chriſtus gottesdienflliche Ehren erwielen, weßhalb auch
diefe Kaiferin von berühmten Kirchenvaͤtern für eine Chris
fin gehalten ward, Im biefe Fußtapfen traten nun ganz
und gar in der Mitte deffelben Zeitraums Ballienus und
Salonina, Diefes Kaiferpaar huldigte, wie keines zuvor
und nachher, auf feinen Münzen allen Gottheiten des roͤmi⸗
ſchen Keichs mit einer Alles umfaffenden Idololatrie a). Je⸗
doch trat daneben der Platonismus in den Vordergrund,
aber natürlich in dem Geiſte des Jahrhunderts, in welchem
Ammonius Saffas, Plotin und Porphyrius dieſes Syſtem
vertraten. Der erfiere war felbft Chrift gewefen; die legte:
ren hatten ſich einige Lehren des Chriſtenthums angeeignet,
und unter bem entfciedenften Einfluß, den Plotinus auf
deß Publie Bicinia Julia Cornelia Salonina eine ber würs
bigften Perfonen gewefen. bie jemals auf bem Kaiſerthrone ter
Römer gefeffen.” — Ueber bie Frage, ob fie eine Deutfde ger
wefen, welches ber gelchrte und hochverdiente Staatemann H. E.
@. von Gagern im feiner Nationalgeſchichte ber Deutiden,
Abſchnitt IX. Rote 8744. zu erhärten geſucht, hatte ſich zwi:
fen uns eine Gontroverfe erhoben (f. meine Schrift: aß. u.
Galonina, S. 137 ff.), die jedoch fein Wohlwollen gegen mid
keinen Augenblid gelört, wie denn biefer wahre Patron ter
Gelehrten, ber jüngk von uns geſchleden, mich rod; mit feiner
legten Schrift: Givilifation. Peipzig 1850, freundlich! ber
ehrt hat.
a) Eckhel, D.N. V. Tom. Vil. p.448.; vergl. meine Abhandlung
„Gl, und Galonina”, ©. 112ff.
Ruͤckblick auf Zofephus. 927
bas Faiferliche Ehepaar und feinen Hof ausbte, genoffen
die Ghriften unter diefer Regierung allenthalben Schug, wie
denn fon im J. 39 nach Chrifto der Kaiſer denfelben
freie Ausübung ihrer Religion und andere wefentlidhe Be-
gimftigungen durch ein foͤrmliches Edict zugeftanden hatte =).
Daß aber Salonina wirklich eine Chriftin gewefen, oder
nad) ihrem Tod wenigftens dafür gehalten worden, bat erſt
neulih ein um bie Archäologie hochverdienter Akademiker
aud ber Auffchrift mehrerer Münzen unwiderfprechlidy ers
wiefen b). Er zeigt, daß die auf einigen Bronzen der Sas
tonina vorkommende Auffhrift: Augusta in pace c),
beweife, biefe nach dem Tode diefer Kaiferin geprägte Erz:
münze fey ein Unterpfand, daß diefelbe, gleich andern ho⸗
ben Perfonen ihre Gefchlechts, der Julla Mammda, Otta—
cilia Severa, ber heiligen Tryphonia u. A., eine Chris
fin geweſen ſey, indem diefe Formel durchaus nur auf
chriſtlichen Denkmaͤlern in diefem Sinne vorfomme und
zum Öfteren mit bem Monogramm Chriſti verbunden fey,
ebenfo wie die griechiſche Auffchrift: dv elgjvm a),
a) S. Ullmann in diefen theol. Studien u. Kritik, 1882. ©. 876 ff,
"vergl. meine angeführte Abhandlung, &. 113—136.
b) Memoire sur limperatrice Salonine, par I. de Witte.
Bruxelles, par M. Hayes, imprimeur de Pacademie royale 1852.
or. 4. mit Infchriften und Münzabdräden, worin auf meine
Annotationes in Porphyrii vitam Plotini mehrmals zuftimmend
verwiefen wird, aber nicht auf die deut ſche Schrift Über Bals
lienus und Salonina, die dem Verfaſſer unbekannt geblieben,
©) Die man theils als eine ſatiriſche Anſpielung auf ihren Gemahl,
den Kaifer Gallienus, theils auf andere Weiſe ausgebeutet hatte
(f- Gibbon, Chap. X. p. 195. not. 156. Eckhel, D. N. V.
Tom. Vn. p. 419., und vergl. me’ne Abhandlung, &. 104 f.
d) Wofür denn audy mehrere Bibelftellen, namentlich B. d. Weish.
Kap. 3. beigebracht werden. Auch wird (S. 48.) die andere
Grabinſchrift⸗Formei: Sub ascin dedicarit, worüber fo
928 Grenzen, Müdblict auf Sofephus.
Somit ſchließe ich dieſe Pleine Gallerie von Perfonalien
und ſcheide von bem jübifchen Geſchichtſchreiber, der, um
auf den Anfang dieſes Briefes zurädzubliden, zwar nicht auf
dem Standpunct der allgemeinen Gufturgefchichte ſteht, aber
doch zu derfelben wichtige Beiträge liefert,
aufßerorbentlid viele Deutungen verfudht worden (vergl. zunähk
Beil im Haubbuche der rðmiſchen Epigrappil 11. S. 183 f.), fo
wie bie bem Kreuze fi) mandımal näherube Kigur eines Elrinm
Hammers, sciscalus, ber den Rimern Heil, Gefundpeit
bedeutete, und den Aringhi (Roma subterr. 11. p. 110.) zwifden
zwei Kinder: Gräbern fand, ohne ifa beuten zu fünnen, zu den
seheimen Zeichen und Gprüden der Ghriken gehören, me
durch fie ſich einander kenntlich machen, ihren Todten aber da
Segenswunſch des ewigen Heils mitgeben wollten.
Gedanken und Bemerkungen.
1.
Eine hiſtoriſche Erinnerung in Betreff der freien
Privatbeichte.
Bon
D. C. Ullmann.
‚Herr Oberhofprediger D. Adermann zu Meiningen
bat vor Kurzem (Hamburg u. Gotha, bei Fr. u, Andr, Pers
thes, 1853) eine Heine Schrift über „die Beichte, beſon⸗
ders bie Privartbeichte” erſcheinen laſſen. Die Veran
laſſung dazu gab ein über denfelben Gegenſtand auf dem
bremer Kirchentag von ihm gehaltener Vortrag. Doch if
das in der angeführten Schrift Ditgetheilte nicht etwa nur
Wiederholung jenes Vortrags, der ihm ſelbſt jet nicht. mebr
genügte, fondern es iſt eine ganz neue Arbeit. Jeder Freund
der evangelifchen Kirche, ſelbſt wenn er ſchließlich den prak⸗
tifhen Ergebniffen des Herrn D. Adermann nicht zuſtim⸗
men follte, wird dieſes Büchlein — es umfaßt 121: Seiten
in Duodez — mit lebhafteſter Theilnahme lefen. Die
darin miedergelegten Gedanken: ruhen auf ſchriſtmaͤßigem
Grunde, ſchließen ſich überall an geſchichtlich Gegebenes an
und find aus einer warm evangelifchen, gefuhb proteftantis
ſchen Geſinnung hervorgegangen. . Die Darftelung iſt in
hohem Grade lebendig, frifch und anregenb, durchaus geeig⸗
"net, vorhandene Vorurtheile zu zerfireuen und eindringlich
zu belehren. Wir fprechen dem verehrten Verfaſſer unfern
aufrichtigen Dank für feine Eräftige Rede aus; aber indem
Tpeol. Stud. Jahrg. 1858, ca
932 ullmann
wir dieß thun, möchten wir es doch unſererſeits wicht bei
dem kahlen Worte bewenden laſſen, ſondern einen, wenn
auch ſehr beſcheidenen, Beitrag zu dem von ihm behandelten
Gegenſtande liefern.
Der Verfaſſer würdigt die Beichte, oder vielmehr das
Beichten, dad Belennen ber Sünde, wefentfi al
eine echt fittlihe That, als eine That des Gewiſ⸗
fens, welde aus dem innerfien Weſen des chriſtlichen Les
bens, infofern es durch die Erlöfung von der Sünde frei
wirb und fid) von ihr losſagt, mit Nothwendigkeit hervors
geht, aber auch der Natur der Sache nach mit voller Frei⸗
heit hervorgehen fol «). „Won innen nad außen!” fagt
er, „das iſt der Weg zum Heil! Go gewiß es von gefun:
der Keäftigkeit im Körperleben zeugt, wenn das Boͤſe nah
außen teitt, fo gewiß zeugt es auch von gefunber und Eräfs
tiger Gitttichfeit des Inneren, wenn dad Innere das Bile
dußert, unverhohlen dußert. Nun erſt ift Hoffnung da;
nun erſt bat die Hoffnung auf Beſſerung feſten Grund b).”
— „Ber feine Sünde verheimlicht, dem bringt fie um, fe
macht feine Seele zu einem Grab; wer feine Sünde bekeunt,
der lebt innerlich auf und wird von ihr frei °).”
U3 die entfprechenden Formen zur Verwirklichung die
fes chriſtlichen Lebendactes betrachtet Adermann ebenfowehl
die öffentliche Seichte als die private, jene um dem
Gefuͤhl der gemeinfomen Schuld einen Ausdruck zu geben,
dieſe um bie individuellen Beduͤrfniſſe ber belofketen Ge
wmüther im Befondern zu befriedigen. Sie die Privatbeihte
aber erkennt er wieder zwei Geſtalten en: das feierlichere
Bekennen ber Suͤnde vor dem verorbneten Geiſtlichen
unb das vertraulichere Bekennen im Lebenswerkeht
unter Qlicbern ber Bamilie, überhaupt vor Perfonen, denen
a) Haupifielle ©. 91 f.
d) S. 9.
°) ©. 108,
eine hiftor. Grinner. in Betreff d. Privatbeichte. 933
man, obne daß fie amtlich dazu beſtellt ſind, in geiftlichen
Dingen ein volles Zutrauen ſchenkt. Wenn der Apoftel
ſpricht $: „Bekenne Einer dem Andern feine Sünde? —
fo hat er offenbar das Letztere im Sinn. Gleicherweiſe hatte
Luther gefagt b): „Es if auch eine Beichte, da Einer dem
Andern beichtet, und nimmt ihm allein auf einen Ort, und
erzählt ihm, was feine Roth und Anliegen ift, auf daß er
von ihm ein tröftlich Wort höre und fein Gemiffen file,”
Auf dieſes völlig freie Bekennen der Sünde gegenuͤber
von wahrhaft vertrauten chriſtlichen Perfonen, die Private
beichte im Leben, legt unfer Verfafler ein befonders
bobed Gewicht; die kirchliche Beichte ift ihm das Haupter
wedungömittel dazu <) und er Tpricht fi) darüber in folgens
der Weiſe aus d): „Was hilft alles Beichten und zur
Beichte Gehen in der Kirche, wenn das Beichten bloß in der
Kirche gefchieht , wenn das Beichten innerhalb der Kirchen.
mauern bleibt, wenn das Beichten im täglichen Leben fehlt?
Nicht daß die Chriften ihrem Prediger beichten, fondern daß
bie Ghriften ihren Mitchriften beichten, daß fie unter einans
der beichten, daß fie ſich unter einander beffen anlagen,
wodurch fie ſich unter einander verfündigt haben, und daß
fie einander um Vergebung bitten, kurz daß fie im haͤusli⸗
hen und täglichen Verkehr das Wort bed Apofteld zur
Wahrheit machen: „Bekenne Einer dem Andern feine Süns
be?’ — das, dad iſt's, was ich will, und wodurch Chriften
beweifen, daß fie wirklich Ghriften find... . Das bringt
Würde, Schönheit, Lieblichkeit ins Leben, wenn die Brüder,
die Freunde, wenn die Haudgenofien einander die
Haͤndi reichen und fagen : „Ich habe gefehlt! verzeihe mir's 1”
— Denn wie ein foldes Beichten felbf reife Frucht if,
reife Frucht einer echt chriſtilchen Geſfinnung, fo ſchafft es
a) Zatob. 5, 16, °
b) &. 38, bei Adermann.
<) ©. 109.
©. 108,
a
934 Ullmann
auch Frucht und breitet den Frieden und den Gegen bes
‚Himmelreich& unter ben Zuſammenlebenden aus.”
Solche Beichte aber, wie jede andre, der er eine Stelle
in ber evangelifchen Kirche ſichern möchte, will der verehrte
Verfaffer — und darin bewährt ſich eben fein proteftantis
ſcher Sinn — unter Feiner Bedingung ald Geſe tz aufer
legt wiffen. Er verwahrt ſich, in beftimmtefter Unterfcheibung
der freien Privatbeichte von der Ohrenbeichte, gegen alles
Katholizirende in diefem Std, er verwirft aufs entſchiedenſte
jegliches Aufzwingen ©). Er will, daß die Privatbeichte
jeder Art, namentli aber auch jenes Bekennen im ke
bensverkehr, welches ihm fo werthvoll ift, fi nur auf freie
Weiſe von innen heraus entwidele, aus wirklichem Her
zensbebürfniß, in ungeswungenem bingebenden Vertrauen.
Aus der freien Sitte fol fi die Sache erzeugen: „denn
die Sitte ift die Mutter der Sittlichkeit“ b),
Und bier Inüpfen wir nun die geſchichtliche Notiz an,
die‘ wir mittheilen wollten. Man kann mit Grund fragen:
iſt dad, was ‚Herr D. Adermann ganz; befonderd wänfdt,
das Sundenbekenntniß im Leben, die freie Vertrauensbeichte,
nicht ſchon als Sitte bagewefen? Es lag offenbar im
Intereffe der WBeweisführung, auf biefe Frage einzugehen:
denn wenn ein gefchichtliches Beiſpiel nachgewiefen werden
Eonnte, fo durfte ohne Zweifel der Schluß gezogen werben,
daß, was einmal wirklich war, auch wieder möglid
fey, fobald nur diefelben Bedingungen chriſtlichen Geiſtes und
Lebens vorhanden wären, ‚Herr D. Adermann, obwohl feine
Schrift fonft reich genug ift an geſchichtlichen Beziehuggen,
bat ein ſolches Beifpiel nicht angeführt; darum wolle wit
es bier, hoffentlich ihm felbft nicht unerwünfdht, in aller
Kürze nachholen,
Bir koͤnnen mit Sicherheit vorausfegen, daß zu allen
3) ©. deſonders S. 68 ff. u. ©. 117.
b) @. 107, J
eine hiftor. Erinner. in Betreff d. Privatbeichte. 935
Beiten, wo das Chriſtenthum recht lebendig war, zumal in
den erfien Jahrhunderten, auch das freie Suͤndenbekenntniß
ald Vertrauensſache unter chriftlihen Brüdern und Familien:
genoffen vorkam. Hierüber dürfte es jedoch ſchwer fein,
beſtimmte Nachweiſungen zu geben. Dagegen finden wir
die Sache auch ald ausgeprägte Sitte bei einer gans
zen Senoffenfhaft, welche am Schluffe des Mittel
alters innerhalb des noch ungebrochenen Beftandes ber ka⸗
tholifhen Kirche ein Gemeinſchaftsleben nad apoſtoliſchem
Vorbild herzuftellen ſtrebte. Es waren bie, fo viele refor⸗
matorifche Elemente pflegenden, Brüder bed gemeins
famen Lebens, bie wir meinen «). Diefe Brüder, die
bekanntlich in eigenen Häufern nach freier Regel, aber
ohne Gelübde, zufammentebten, brachten auch in ihrem taͤg⸗
lichen Verkehr das apoflolifhe Wort: „Bekenne Einer bem
Andern feine Sünde!” — wieder in volfländige Anwens
dung; und zwar liegen uns darüber folgegbe, Angaben vor.
Der Stifter der Brüdergemeinfchaft war, wie man weiß,
der um die chriftliche Volksbildung fo hoch verdiente Ger.
hard Groot, Als ſich diefer einft mit feinen beiden vers
trauten Schülern, Zohann Binkerink und Florentius,
auf der Wanderumg befand, ſprach er zu ihnen: „Laßt uns
einen jeden unfer tägliches Urtheil (suffragia nostra quo-
tidiana) außfpredhen.” „Hieraus entfland”, fagt Thomas
von Kempen, der Lebendbefchreiber Gerharb’s »), „die gute
Gewohnheit, daß Jeder dem Andern feine Fehler fagte, wenn
er etwa bei ihm (in ipso) etwas Tadelnswerthes bemerkt
hatte; dann gehorchten fie einander willig, ermahnten ſich
gegenfeitig in freier Weife, erfannten bemüthig ihre Schuld
an und baten um Werzeibung; fo, durch Liebe gebeflert,
a) Gine Schitderung biefer Genoſſenſchaft habe ich gegeben in den
Reformatoren vor der Bef. Bd. 2. S. 62-201. Außerdem if
su vergleihen: Delprat, bie Brüberfhaft bed gem. Lebens,
aus dem Hollandiſchen von Mohnike, Leipzig 1840.
b) Vita Gerhardi 12, 2.
936 Ullmann
begaben fie fi zu Ruhe.” Auf die fo entBandene Seweba
keit wird fodann von Thomas in einer andern Lebentde⸗
f&reibung, in der des Florentius, angefpielt. Themas er:
zaͤhit a), wie Klorentius in einer feiner Anfpradken (Gel:
lationen) Fräftig zur täglichen Beſſerung und zum Kampf
wider die Verſuchungen ermahnt habe, und fährt dann fort:
„Es if auch nuͤtzlich, einem zuverläffigen und im Wege Get;
tes erfahrenen Bruder (fratri discreto et in via Dei ex-
perto) feine inneren Kämpfe und Verwickelungen zu offes
baren, und nicht auf dem eigenen Sinne zu beflchen, fon
bern vielmehr einem Andern zu vertrauen, bemäthig feinen
Rath anzunehmen und ihm ald Leiter zu folgen: denn bieß
# eine große Erleichterung für Neubekehrte und ein gutes
Beiden des geifttichen Fortſchrittes. Die erfle Stelle deu
tet mehr ‚darauf bin, daß dem Sünbdigenden feine Fehler
von einem vertrauten Bruder wohlmeinend vorgehalten wer:
den follten; die weite darauf, daß es heilfam fey, wenn
der Ghndigende ſelbſt feinen inneren Zuſtand einem zuver⸗
läffigen Freunde darlege. Beide Gtellen, fo ſcheint es und,
ergänzen ſich gegenfeitig und geben das Bild eines chriſtüch
freien Verkehrs im täglichen Leben, vermöge beffen die Brü:
der in gegenfeitigem Bekenntniß und liebevoller Ermahnung
ſich geiſtlich und ſittlich zu fördern bemüht waren. Da
aber ein foldyer Verkehr unter ben Genoſſen des gemeinfe
men Lebens flattfand und daß barauf ein ganz befonders
hoher Werth gelegt wurde, gebt aus einer auf und geloms
menen alten Unterweifung für die Brüder hervor. Hier
finden ſich unter Anderm die merfwürbigen Worte b): „Ein
ander feine Mängel vor dad Auge bringen, if das Kenn
weichen und bie Wohlfahrt der Genoffenfchaft der Brüder
des gemeinfamen Lebens,” Und hierzu wird, nachdem er:
&) Vita Florentii 28, ®.
4) ©. die angel. Schrift von Deiprat in ber Ucherfegung vos
Bofaile, €. 168.
N
eine hiſtor. Grinner. in Betreff b. Privarbeichte. 037
wähnt if, wie bie Kloſterleute fcharfe Disciplin und ſchwerr
Dinen für Vergehungen hätten, weiter hinzugefügt: „Mir
aber haben nichts als ein Zittlein, das iſt die Bermahnung.
Darum muͤſſen wir recht treu darin feyn. Wenn bie Wem.
mahnung bei uns vergeht, fo wird auch unfer Gtaat ver.
geben.”
Diefe Sitte gegenfeitigen Bekennens und Ermahnens
war nun zunächft unter den Brüdern ſelbſt herrſchend ; aber
bie Hauptaufgabe für die Thaͤtigkeit diefer praktiſch chriſtli⸗
en Männer war bie religidfe Bearbeitung des Wolke, und
fo theilten fich ihre Bewohnbeiten zugleich weiteren Kreifen
mit, Wir Lönnen daher mit Wadhrſcheinlichkeit annehmen,
daß auch zwiſchen den Brüdern und ſolchen Laien, die mit
ihnen in Verbindung fanden, vielfache Geſpraͤche über ins
nere Zuftände, vertrauensvolle Mittheilungen von der einen
Seite und Ermahnungen von ber anderu vorkamen. Dieß
diente einerfeit6 zur veligiöfen und fittlichen - Förberung,
tonnte aber auch anbererfeits dazu führen, dem vorgeſchrie ⸗
benen kirchlichen Bekenntniß der Dhrenbeichte Abbruch zu
thun. Doch feben wir eine directe Polemik gegen dieſes
eingreifende bierarchifche Inflitut bei den Brüdern zundchft
noch nicht hervortreten, Erſt fpäter bei einem Zögling der
Genoſſenſchaft, welcher fi) von deren Grundlagen auß felbs
fländig entwidelte, bei Johann Weſſel, kommt auch bes
ſtimmte Polemik zum Vorſchein «),
So bätten wir bier die Sitte des aus unmittelbarem
Bebürfniß bervorgegangenen freien Suͤndenbekenntniſſes im
täglichen Lebensverkehr geſchichtlich verwirklicht; und wenn
es ein bewährter Erfahrungsſatz iſt, daß Worte eine beich-
ende, Beifpiele aber eine gewinnende und befiimmende Kraft
baben, fo mag dieß auch bei diefem Beiſpiel um fo mehr
der Fall feyn, als es eine In der Xhat von warm evangelis
ſchem Geiſte durchdrungene Gemeinſchaft ift, innerhalb deren
O Reformatscn d. d. Ref. Bd. 2. ©. 596-600.
938 Ullmann, biftor. Erinner. in Betr. d. Privatbeichte.
die Sache uns entgegentritt, Aber wir dürfen dabei auch
einen Punct nicht überfehen: es war eine engere, an und
für fich vertraulichere Gemeinſchaft, aͤhnlich der der Bruͤ⸗
dergemeinde, welche un dieſes Schaufpiel barbietet. Bon
ihr aus kann nicht fo unmittelbar eine Anwendung auf die
Kirche gemacht werden. Auch ift nicht zu leugnen, daß die
Sache ihre inneren Gefahren hat: es gibt =) Perfonen,
denen bad Belenntniß der Stände und Suͤndhaftigkeit mr
allzu leicht auf den Lippen ſchwebt, es Tann daraus bei
Manchen eine Methode und Manier werden. Daraus folgt
freilich nicht die Werwerflichkeit eined ſolchen freien Suͤnden⸗
bekenntniſſes an fich; vielmehr ift, wenn es, wie nicht zu
leugnen, dem apoſtoliſchen Wort und der chriſtlichen Ider
entfpricht, darnach zu trachten, daß es fi) in der That ver
wirkliche; wohl aber folgt daraus, daß dieſes Streben von
tiefem Ernſt, von großer Weisheit und vom Geiſte fittliher
Keufchheit geleitet feyn muß.
a) Was auch Adermann nicht Überfieht, ©. 103.
Kindler, dad Abendmahl ber reform. Kirche ıc. 939
2.
Das Abendmahl der reformirten Kirche a) in feis
ner Beziehung zu dem ber Iutherifchen Kirche,
in Theſen bargeftellt Pi
von [0
Joh. Petr. Kindler,
Pfarser der veformirten Gemeinde in Räcnberz.
L Den Verdaͤchtigungen ber veformirten Abendmahls⸗
lehre wird entgegentreten:
. Es beruht auf Unkenntniß des Lehrbegriffs der veformirs
ten Kicche vom heil. Abendmahl, wenn ihr zur Laſt ges
legt wird, daß fie die Einfegungdworte aus der Ber
niunft (rationaliftifh) auslege;
2. oder daß ihre Lehre, im ſich gekünſtelt, durch die
küuͤnſtlichſten Wendungen die einfältige Beugung unter
daB klare göttliche Wort umgehe,
3, oder den Sinn der Einfegungsworte durch figürliche
Deutung abſchwaͤche,
4. oder deren Vollgehalt durch ſubjectiv-idealiſti⸗
fen Spiritualismus entleere,
Eine große Mißdeutung iſt es, wenn der Kirche aufs
gebürbet wird, daß fie ein leeres „Es bedeutet” (eine
anfänglich von den Zuͤrchern aufgeftellte, feit 1549 im
-
5,
=) Zur Xuffoffung bes Eehrbegeiffes ber reformirten Kirche vom
Heil. Abendmahle vergleiche: Shriftiiche Dogmatik von I. H.
a. Ebrard, D. und ordentl. Prof. der veform. Theologie gu
Grlangen. Bd. 2. ©. 631688. ine geordnete Bufammens
ſtellung diefer Lehre aus ben Bekenntnißſchriften insbefonbere
$%. 546. ©. 654660. J
940 Kindler
consensus Tigurinus auch von biefen officielt auf
gegebene Anficht) flatuire ;
6. daß fie Brod und Wein für nadte Wahrzeichen,
Scheingeftalten oder Gleichniſſe (Symbole) des Dleiſches
und Blutes Chriſti erkläre,
7. oder das Abendmahl für eine bloße Seianit
wfeier balte, wobei Brod und Wein bloß bedeutfame
” Grinnerungsgeichen barftellen;
8. ober ihr untergefhoben wirb, baß fie behaupte, das heil.
Abendmahl fey nur ein äußerliches Kennzeichen,
woran man einen Ghriften erkenne.
9, Ein Mißverſtaͤndniß ift ed, daß fie Ichre, die Seele des
Gommunicanten müfle fi bei biefer Beier vorerſt in
den Himmel auffhwingen, um Chriſtum von
dort herabzuholen.
10. Eine Verleumdung ihrer Abendmahlslehre iſt e&, dab
fie auf eine bloße Bergegenwärtigung Ghrifi
hinauslaufe, ohne bie wirkliche (reale) Gegenwart des
Herrn feſtzuhalten ;
daß fie darin ein Kommen der Seele zu Ehri
ſto feiere, ohne daß der Herr mit Seiner Gnade
fülle und entgegenfomme ;
12. oder daß die Glaubens that des Empfängers dei
Abendmahl zum Sacrament, fein Glaube Cpriftum
erſt gegenwärtig mache, (Nicht ohne iſt nicht weil)
13, Ein Vorurtheil ik e6, wenn man annimmt, daß ih
Abendmahl nicht viel mehr als auch ein fonfiges
gläubiges Ergreifen Chriſti gewäbre,
14. demnach das reformirte Abendmahl Glaubensſchwachen
und Angefochtenen minder Eräftigen Troſt als das der
lutheriſchen Kirche biete.
11
3,
>»
7
das Abendmahl ber reform. Fire m. 941
U. Der Diffenfus.
. Die veformirte Kirche lehrt, dag der neue Menſch,
der Menſch der Wiedergeburt, mit Chriſti verklaͤr⸗
ter Menfhheit wahrhaft gefpeift werbe,
So Tann fie auf Feine Weife zugeben, daß Jeder,
ſelbſt der entſchieden Ungläubige, — glauben
wollen {ft aber fhon Glaube — des Herrn Leib
und Blut empfange und Chriſtum in fih aufs
nehmen koͤnne, wenn fie ſchon zugibt, daß Jedem, wir
fagen Jedem, des Herrn Leib und Blut dargeboten
wird;
macht fie die Wahrhaftigkeit dieſes Sacraments nicht
von einer befimmten Doctrin der Kirche und
von ber Mitgliedſchaft an biefer, den alleinigen Beſitz
der reinen Abenbmaplös&ehre fich zueignenden Kirche
abhängig;
betont fie, daß im heil. Abendmahl und mittelſt defs
felben Ghriftus, das wahrbaftige Himmelsbrobd,
bie Seele fpeife und traͤnke;
flelt fie an die Spige der Abendmahld. Lehre, daß
nicht die Zeichen Chriſtum bringen, fondern Chris
Rus mit fich felh und zwar durch ben heil, Geil. —
den einigen Vermittler zwiſchen irdiſchen und himmlis
ſchen Dingen (1 Kor. 12, 1.) — uns ſpeiſt;
trennt ſie das Sacramentlihe und die geiftliche Spei⸗
fung (wovon der Here Joh. 6. redet) nicht alfo vor
einander, ald Tönne man die facramentlihe ohne
die geiftliche empfangen und obge den heil, Geiſt.
Daher Iehrt fie, daß nicht ber leibliche Mund das
Drgan ifl, um Chriſtum aufzunehmen, fondern der
Glaube: fie verwirft die manducatio oralis.
Ebenſo verwirft fie die Gegenwart von Chriſti Leib
und Blut in und unter Brod und Wein, lehrt aber
eine wahre Gegenwart bes Leibes und Blu⸗
942 Kindler
tes Chriſti in der Handlung bes Abendmahls
alfo dag mit Brod und Wein der Herr gegenmän
tig iſt für alle Sommunicanten und empfangen wird
von Allen, die an ihn glauben,
9. Die Frage, wie ber ‚Herr real gegenwärtig feyn koͤme
für Ale und in den Gläubigen, da er dody gen Him⸗
mel gefahren fey, fucht die reformirte Kirche nicht durch
Aufftelung der Lehre von einer Allgegenwärtigfeit des
Leibes Chriſti — communicatio idiomatum — zu er⸗
klaͤren, fondern fie läßt Geheimniß Geheimniß bleiben
und lehrt, daß Chriſtus, obgleich im Himmel, dennoch
„auf eine unbegreifliche und über alle Wernunft hinaus:
gehende Weife” im heil, Abendmahl gegenwärtig fey.
II. Der Gonfenfus.
1. Beide evangeliſche Schwefterlirchen ſtimmen darin Kber:
ein, daß das Abendmahl ein Sacrament iſt (acce-
dit verbum ad elementum et fit sacramentum —
sacramentum est invisibilis gratiae visibilis forma),
daß alfo mit den fichtbaren irdiſchen Elementen bes
Broded und Weines unfichtbare himmliſche Gnaden
fehäge verbunden find,
2, Ebenſo herrſcht unter ihnen darüber Bein Streit, daß
das Abendmahl ein goͤttliches Geheimnig— ein
Myfterium — iſt, in deffen Natur es liegt, daß feine
Höhe und Zigfe kein Verſtand erreicht, daß es in
menſchliche Begriffe fich nicht erſchoͤpfend faſſen läßt
und über allen Ausdrud mit Worten hinausgeht.
3, Beide Kirchen halten einmüthig daran, daß die Realis
tät dieſes Sacramentes in der göttliden Einfe
gung, mithin außer uns liegt.
4. Heiliglich bekennt die reformirte Kirche mit ber Intheris
”
6.
10,
dad Abendmahl der veformirten Kicche ꝛc. 943
ſchen eine reale gottmenſchliche Gegenwart Ehrifli im
beit, "Abendmahl.
So Iaffen auch beide Kirchen eine Speifung ber
Seele im Abendmahl gelten, wenn ſchon die lutheri⸗
ſche einen weniger ſtarken Nahbrud darauf legt und
auch eine bloße Speifung des verweslichen Leibes mit
Chriſti Leib und Blut ohne Speifung der Seele mit
dem ganzen Cbriſtus gelten läßt.
Nicht der Teifefte Widerfpruch waltet zwifchen beiben
darlıber ob, daß der in diefem Mahle unterfchiedslos
Alen dargebotene Segen denen ausſchließlich zu gute
Tomme, „die den Glauben haben an die Worte:
un Bür euch gegeben und vergoffen zur Wergebung ber
Sünden””; wer aber diefen Worten nicht glaubt oder
zweifelt, der iſt unwuͤrdig und ungeſchickt; denn biefe
Borte: für euch — erfordern eitel gläubige. Herzen”;
. beögleichen darlıber nicht, daß der darin bargebos
tene Segen nicht unferen Gedanken und Ginbils
dungen vorgeſtellt wird, fondern, was ber Herr vers
beißt, Er wirklich und in der That jedem Geis
nem Tifhe Nahenden wahrhaftig darbiete;
. und daß dad Sarrament Sacrament bleibt, das heißt,
dem Sacrament an feinem facramentl, Charakter nichts
abgebrochen wird, ob es auch gemißbraudt
wird; denn ed nicht auf Menſchen Würdigfeit, ſon⸗
dern auf Gottes Einfegung gegründet ſteht, gleicher:
weife wie Gottes Wort, aller Verachtung von Mens
ſchen ungeachtet, eine Kraft Gottes zur Seligkeit bleibt.
. Bolltommene Uebereinftimmung findet auch darüber
flatt, daß im Abendmahl und durch dafjelbe Chriſtus,
der lebendige, perſoͤnliche Chriſtus, den Gläubigen
wahrhaftig fich zu eigen gibt,
die Gläubigen darin kraft der Vereinigung des Herrn
mit ihnen aufs Neue mit Ihm, dem Herrn, fi
vereinigen und Ihm einverleibt und
944
12.
13,
14.
15
16,
17.
18,
19,
2
Kindler
. Ihre Seelen von Ihm gefpeift und zum ewigen
Leben gefättigt werben.
Beide Kirchen verfünden feierlich in dieſem able
den Zod Chriſti al den einigen Grund ihrer Er.
fung und die Quelle ihres Lebens, und
felern in diefem heil, Sacrament ein Bun des mahl.
Es wird daher in gleicher Weife den Otdubigen in die
fem Sacrament vor allem Andern der Troſt der
Vergebung der Sünden und damit Leben um
Seligkeit verfiegelt;
deögleichen empfangen fie darinnen Kraft aus ber Höhe
zur Heiligung.
Ebenſo betrachten fie dieß heilige Mahl als ein ſtetes
Band ber Liebe und der Wereinigung der Chriſten
untereinanber.
&o feiert bie eine wie bie andere Kirche im Abendmahl
eine Danffagung für des Heilandes Tod, eine Eu
chariſtie.
Ihre Glieder opfern ſich Ihm aufs Neue darin und
betrachten die Abendmahlsfpeife (mie ſchon Juſtinut)
als eine Nahrung, weldye das innere Leben nicht bloß
geiftig fördert, fondern geiſtleiblich ernährt, den Keim
der Auferfiehung belebt und zur Entwidelung
bringt, obwohl dieſer legte Panct in der reformirten
Kirche häufiger und ſtaͤrker betont worden if, als in
der lutheriſchen.
. Beide Gonfeffionen fordern zu einer gottgefälligen Feier
ein „Sursum corda” und
daß dem würdigen Empfange eine ernfte, gruͤndliche
Prüfung vorausgehen müffe.
Ebenfo verbinden beide mit der Worbereitungdfeier de
Abfolution und bie Renuntiation.
In den beiden Kirchen wird‘ die Stiftung Ieln
vonfändig und unverändert in Wort und Zeichen be
obachtet; nur daß die reformirte Kirche mit dem Bre⸗
das Abendmahl der reform. Kirche w. 045
hen des Brodes genauer an bie urſpruͤngliche Ords
nung fich anſchließt.
24 Weiter ſtimmen fie darin zuſammen, daß die Wire
ung nicht von der Wuͤrdigkeit deſſen abhängt, ber
das Abendmahl austheilt, und ob biefer bie Abs
ſicht gehabt, ein Sacrament zu vollziehen oder nicht.
3. Einmüthig erklaͤren fie, daß, die unwürdig, d. i.
ohne wahre Reue und Leid über ihre Sünde, ohne
wahren Glauben und guten Worfag, ihe Leben au befs
fern, zu diefem Gacrament geben, baffelbe durch eigene
Schuld fih zum Gerichte empfangen.
26. Gleich entſchieden proteflisen beide Kirchen gegen eine
räumliche Vereinigung von Brod und Wein mit
Chriſti Leib und Blut, oder eine Lörperliche Einfchlie⸗
Sung oder natürliche Werbinbung beider.
77. Endlich verwerfen beide Kirchen gleich entfhieden:
®) das Meßopfer, daß Chrikus unblutig aufs Neue
geopfert und Sein Sühnopfer bis ans Ende ber
Welt fortgefegt werde;
b) die Zransfubflantiation, daß Brod und
Bein in bad Wefen des Leibed und Blutes Chriſti
verwandelt werbe;
c) die Missa soliteria, Stillmeffe, eine Abend»
mahlöfeier ohne Bethätigung der Gemeinde;
d) die Communio sub una, daß der Kelch den
Laien, ebenfo den nicht adminiſtrirenden Prieftern
entzogen werde;
e) bie Meßadoration, daß Chriſtus in der ſacra⸗
mentalen Erſcheinung angebetet werbe;
1) die Seelenmeffe, dab das Abendmahl Tod»
ten zu gute kommen koͤnne;
©) daß jeber Theilnehmer, wenn er nur nicht wiflent-
lich und willentlich widerfizebt, es zum Heile ges
nieße;
h) daß dad Abendmabi für leibliche Roͤthen helfe;
946
2
4
Kindler
i) daß die geweibhten Elemente auch außerhalb des
Genuſſes Leib und Blut Chriſti bleiben;
k) daß dad confecrirte Brod zum Schaugepränge
umbergetragen werde;
H daß der Genuß, ganz abgefehen vom Glauben, —
ex opere operato — vermöge des gewirk⸗
ten Werkes etwas verbiene;
m) eine der Abendmahlsfeier gefe glich vorangehende
Obrenbeichte;
n) die Anwendung einer für die Gemeinde unver
Rändlihen Sprade
IV. Gegenfeitige Beziehungen.
. Ungeachtet fo vieler Einigungspuncte find es Feine
wegs bloße Spigfindigfeiten, welche bezüglid
des Lehrbegriffs vom heil, Abendmahl beide evangelifde
Schwefterlirden trennen. Der Abendmahlsſtreit if
kein bloßer Wortſtreit.
Auch bewegt fih diefer Streit nicht um bloße Kleinig-
keiten; es fcheidet vielmehr beide Kirchen bezüglid
formaler Auffaffung eine wurzelhaft verfchiebene theo:
logiſch⸗ dogmatiſche Anſchauung.
Boͤllig gleichlautende Formulirungen be
Abendmahlslehre in beiden Kirchen haben, im Munde
der einen oder der andern Kirche gebraucht, doch einen
verſchiedenen Sinn, z. B.: „mit Brod und Bein
werde Chriſti Fleiſch und Blut gereigtꝰ; „es iſt Chrifi
wahres Fleiſch und Blut”.
Es iſt daher unredlih, mit täufhenden Redensarten
den wirklich vorhandenen Diffenfus verpällen
oder abflumpfen, durch Indifferenzirung neutralifiren,
dadurch außgleihen und auf die ſe m Wege den Gon-
feſſionsuntecſchied ausmerzen zu wollen,
10,
11.
12.
13.
das Abendmahl der reform. Kiche u. 947
. Die deßfalfigen, feit 1577 leider noch immer beffe:
benden Gegenlehren find — nicht wohl auszugleichen.
Auf zweideutige Bormulirungen eine Union aufbauen
zu wollen, iſt eine — Illuſion.
. Jeder derartige, wenngleich oft herzlichſt treu ges
meinte, bäufig jedoch aus Indifferentismus gefloffene
Unionsverſuch hat fi unzulänglich erwieſen.
Jedoch find auch derartig vollzogene Unionen nicht ohne
providentielle Zulaffung des Herrn zu Stande geloms
men, wäre es auch nur um deßwillen, bamit beide Kir
hen lernen ſollten, auf welde Bafis eine Union
nicht geſtuͤtzt werben Bann.
Statt zu verhüllen und in Eins zu verfchmelzen, ift es
vielmehr Aufgabe und Pflicht der Theologie, fi) des
einmal factifch gewordenen Diffenfus beſtimmt
bewußt zu werden und benfelben mit klaren Wor⸗
ten und ohne Parteilicgkeit ins Licht zu fegen.
Um den wirklichen Diffenfus aber richtig zu faflen, ift
es unerläßliche Pflicht, aus den Öffentlihen Bes
kenntnißſchriften, nicht aber auß partelifchen, ein-
feitigen Darftellungen der Dogmatiker zu ſchoͤpfen.
Auch die von den Reformatoren ſelbſt aufgeftellten pers
fönliden Anſichten find fo wenig maßgebend,
daß 3. B. die Concordien⸗Formel einen Ausſpruch von
Luther geradezu verdammt.
Namentlich ift der reformirten Kirche Dadurch fehr fhwe-
res Unrecht gefchehen und gefchieht ihr fortwährend, daß
die von Zwingli, und zwar von biefem vorerft nur
im Kampfe gegen bie römifch »Fatholifche Dpfertheorie
aufgeftelte und vertheidigte Behauptung der Kirche
als Kirche untergefchoben worden ifl,
Um überhaupt, insbefondere in der reformirten Abends
mahlslehre nicht in Entflelung der Wahrheit zu fallen,
müffen die kirchlich en Beſtimmungen nicht vers
J 68
Tpeol, Stud. Jahrg. 1858,
948 Kindler
eingelt, fondern als ein Banzes in ihran Zufam:
menhange angefeben und aufgefaßt werben.
14 Daß aber die einzelnen Betenntnigichriften
der verfehiebenen reformirten Kirchenabtpeitungen mit
einander im Wider ſpruche fiehen, ik nnwaht.
15. Dor Laͤſterſchriften, voll der abſcheulichſten Werleums
dungen der reformirten Abendmahlslehre, wie z. B.
von Maſius, zu warnen, iſt heilige Pflicht.
16, Ie fchärfer und gewiffenhafter der Dogmatifche Lehr:
diffenfus im Abendmahl zwifchen beiden evangeliſchen
Schweſterkirchen er kannt wird, deſto leichter wird
eine Verſtaͤndigung über ihren Gonfenfus ermöglicht.
17. Die Behauptung, daß der Reformirte, wenn er dem
lutherifhen Abendmahle zufalle, nichts, der Lutheraner
im umgelehrten Falle viel verliere, beruht auf gänzli-
her Unkenntniß der Herrlichkeit der ſchriftgemaͤßen res
formirten Abendmahlslehre in ihrer Lauterkeit und Ziefe,
V. Die höhere Einheit.
1. Eine höhere Einheit im Abendmahl if zwiſchen beiden,
auf dem gleichen formalen und bem gleichen materia⸗
len Princip aufgebauten, auf gleichem Glaubensgrunde
ſtehenden Kirchen wirklich vorhanden; fußen boch beide
auf dem augsburger Betenntnib und bilden
mit einander die Eine evangelifhe Kirche.
2. Im voller Kraft beftcht eine folde Einheit im gemein:
famen Glauben an bie facramentale wahrbaf
tige Gegenwart bes Herrn,
3, Heilig bekennen fie beide, daß das Brod, bes wir bres
den, die Gemeinſchaft des Leibes und der ges
fegnete Kelch die Gemeinfhaft des Blutes
des Heren iſt (1 Kor. 1, 10—16.).
4. Eben fo Findlid und bemüthig bekennen bie beiden
10.
11,
12%,
das Abendmahl der reform. Kirche x. 949
Kirchen, Ghrifti Fleiſch und Blut werde im heiligen
Abendmahl auf eine geiftlihe, übernatürliche,
bimmlifche Weife gegeflen und getrunken,
. Der eigentliche Kern bed Abendmabls, fein Herznunct,
bleibt in den beiden Kirchen gleicherweife gefichert:
„Fuüͤr eu gegeben und für euch vergoffen
zur Vergebung ber Sünden.”
Der Zwiefpalt ‚bewegt ſich eigentlich doch nur um bie
Erklärung des Wie, die Art und Weiſe der Wereinis
gung Chriſti mit und begrifflich darzuſtellen.
. Die von der lutheriſchen Kirche behauptete Lehre von
der communicatio idiomatum iſt, im tiefften Grunde
angefeben, zur Erläuterung ihres Abendmahl = Lehrber
griffs auigeſtellt, fo entſchieden diefe Kirche jene Ab⸗
ficht dabei beſtreitet.
, Dieß Geheimniß aller Geheimniſſe aber erfchäpfend in
menſchliche Begriffe und Worte faflen gu wollen, ift
Vermeſſenheit; ja es it Ungloube an die Wabrhaftigs
keit bes Herrn, das Wie begreifen zu wollen.
). Ueber dad Wie werden wir ed bienieden niemals
zu einem abfolut richtigen Verſtaͤndniß bringen, ha uns
fer Wiſſen Stüdwerk if.
Auch ift in der That die begriffliche Auffaſſung diefes
Wie im Vergleich zum Weſentlichen bei diefem Sacra⸗
ment doc) eigentlih außerwefetlish; benn Got
tes Reich nicht in. Worten, fondern in der That be
echt (1 Kor. 4, 20.).
Zudem ift der Inhalt diefed Sacraments ein fo uns
endlich reicher, daß ihn Fein von Menſchen aufgefielter
Lehrtropuß erfchöpfen, mod viel weniger begrifflich
ſchlechthin firiren kann.
Wie überhaupt, fo iſt auch in Bezug auf dad h. Abends
mahl mehr daran gelegen, daß Einer recht glaͤubig,
als daß er rechtgläubig fey. — Daß der Herr felbft
die Drthodorie weniger als bie rechte Liebe achtet, iſt
68+*
950
13,
14.
15.
16,
Kindler
deutlich audgefprochen in dem Gendfchreiben an die
epheſiniſche Gemeinde Dffend, 2, 2.
Nun aber wird von den meiften Wortführern im Abend
mahlsſtreit nicht ſowohl für die gättlihen Bar
mentöworte, alfo nicht für dad Unmwandelbare und für
das Gentrale, als vielmehr für die menſchliche For⸗
mulirung, alfo für die Umfchreibung durch verfchiedene
begriffliche Geftaltung, geeifert. "Und doch warnt der
heilige Geift fo nachdruͤcklich Gal. 5,5: „ Werdet
nicht der Menſchen Knechte, fondern beftehet in der
Freiheit, damit und Chriſtus befreit Hat.”
Die, anftatt in Demuth und Einfalt im Glauben an
das Wort ded Herrn ſich zu halten, das „Lutheriſch,
Bwinglifh, Galvinifh” an die Spige fielen, wer:
den nachdrücklich vom heiligen Geifte seftraft (1 Kor.
3, 3. 1, 12. 13,).
Und die uͤber die verfchiebene Auffaflung des heiligen
Abendmahls einander verbammen, vergeffen der heiligen
Ermahnung Eph. 4, 1-6: „daß ihr wandelt, wie
fichs gebührt eurem Beruf, darinnen ihr berufen ſeyd,
mit aller Demuth und Sanftmuth, mit Geduld, und
vertraget Einer den Andern in der Liebe, und feyd flei:
Big, zu halten die Einigkeit im Geifl, durch das Band
des Friedens. Ein Leib und Ein Geifl, wie ihr auch
berufen feyd auf einerlei Hoffnung eures Berufs. Ein
Herr, Ein Glaube, Eine Taufe, Ein Gott und Vater
«unfer) Aller, der da ift über euch Ale und durch euch
Ale und in euch Allen.
Es ift aber nicht bloß ſchriftwidrig, es ift gottlos,
wenn beide Kirchen, welche evangelifche zu feyn laut
fich rühmen, Über die Verfchiedenheit von ſolchen Lehr:
anſichten gegenfeitig Anathemata fich zufchleudern,
da Gottes Wort, 1 Kor. 6, 22.5 1Ioh. 4, 2, 15. 2Xor,
2%, 2.; 2 Job. 7., mit derlei Bannflühen ausſchließlich
wirkliche Ketzereien belegt.
das Abendmahl der reform. Kicche c. 951
17. „Immerhin bleiben ja die Sacramente — einen fo -
18.
19.
21,
hohen Werth fie baben — bloße Mittel, durch welche
der heilige @eift feine Gnade, Kraft und Leben in uns
einftrömen läßt; dieſe Mittel aber find es nicht, ſon⸗
dern das Haupt felbft, das fich feiner Kirche und
iebem ihrer Glieder indbefondere mittheilt. Der heilige
Geiſt ſelbſt ift das Siegel (1 Joh. 3,23.24. 4, 15.16.
5,1.12°),
Zudem ift der Inhalt der heil. Sacramente fo'reih und
lebensvoll, daß eine Gonfeffion nicht genug wäre, den⸗
felben zu erſchoͤpfen, wie denn überhaupt die beiden
evangel, Schweſterkirchen fich vielfach einander ergänzen.
Wenn nun alle, namentlid in der Goncordienformel
gegen die Sacramentirer und allerlei Schwarm> und
Rottengeifterei gerichteten Ausſpruͤche auf die — Refor⸗
mirten bezogen werden, fo ift das die ſchreiendſte Unge⸗
rechtigkeit.
. Die Solches thun, treten Gottes Wort mit. Füßen;
denn daß heil, Abendmahl auch zu einem Mahl der
Bruberliebe verordnet ift: Joh. 13.: „Ein Brod ift
es, fo find wir Alle Eines Brodes theilbaftig.”
Die Möglichkeit einer höhern Einheit im Abendmahl
beweift die Harmonie, welde bezüglich diefer Lehre
zwiſchen Melanchthon, Luthers beftem Freunde,
und Calvin beflanden.
Auch die Gefchichte bezeugt e&, indem die dermalen in
Deutfchland beftebende reformirte Kirche mit ber luthe⸗
rifchen urfprünglih Eine und biefelbe protes
fantifche Kirche gemefen, bis die Auffielung der
formula concordiae (t. 3. 1577) jene gegwungen bat,
mit ber außerhalb des Reiches befindlichen evangelis
ſchen Kirche nunmehr, der lutheriſchen Kirche gegenüber,
eine befondere Kirche zu bilden. Die Stände,. welche
vom Jahre 1577 an der reformirten Kirche angehörten,
fanden weder unter Zwingli’s, noch unter Cal⸗
952 Kindler, bad Abendmahl det reform. Kische ıc.
vin’s, fondern vorzugdweile unter Melandhthons
Einfluß.
3, Die reformirte Kirche ſelbſt aber wollte nie eine an:
dere, neben ber Iutherifchen, fondern jederzeit mit bie
fer zufammen ald bie nad Gottes Wort reformirte,
d. h. eben die wieberhergeftellte, — bie evangelifäg
Kirche gelten,
A. So ift demnach der Abendmahlöftreit in feiner prin-
eipiellen Beziehung amı Ende doch nur ein —
Säulftreit; bei der Beier felbft behauptet dad Be:
dürfniß des Herzens ein entfchiebenes Uebergewicht.
3. Am allrauffallendften beweift, wie in praktiſcher Be:
ziehung der Unterfchied in ein — Nichts zuſammen
fänt, der Umſtand, daß gegenfeitig die Abenbmahld:
formulare gebraudt werden koͤnnen, die Abends
mahls lieder aber wirklich gebraucht werben.
%. Eine Abendmahlögemeinfdaft zwiſchen evangelifden
Chriſten der lutheriſchen und reformirten Kirche — zu⸗
mal wo ſolche ald Nothſtand befteht — für Sünde er:
Udren, ift — lieblofe Härte. Jedoch fol mit die:
fer Behauptung ſchwachen Bewiffen nicht zu nahe ge:
treten werben,
27. Uebrigens ift «8 dem Gewiffen eined jeden evangeliſchen
Ehriften zu überlaffen, das heil, Abendmahl nad; dem
Ritus ber andern Schweſterkirche zu feiern, Auch gibt
es Fälle, wo die Sehnſacht des Herzens nur am Altare
der Schweſterkirche geſtillt werden kann, und die foll
man ehren.
8, Die aber über das heil, Mahl der Liebe zanken, mögen
Acht haben, daß fie des Hertn Drobwort nicht treffe:
Sal. 5, 15: „So ihr euch unter einander beißet und
freffet, fo fehet zu, daß ihr nicht amter einander ver:
zehret werdet.”
Nürnberg, im Januar 1853.
Necenfionen
‚G
sOC
0)
gle
Die neuteſtamentlichen Lehrbegriffe, oder Un,
terſuchungen über dad Zeitalter ber Religionswende,
die Vorflufen des Chriſtenthums und die erfte Geſtal⸗
tung deſſelben. Ein Handbuch für dltefle Dogmens
geſchichte und ſyſtematiſche Eregefe des neuen Teſta⸗
ments von Joh. Ant. Bernh. Lutterbed, J. Bdo.:
Die vorchriſtliche Entwicklung. VIII u. 446 S. Il. Bb.:
Die nachchriſtliche Entwicklung. IV u. 305 S. Mainz,
bei Florian Kupferberg. 1852.
Laͤßt ſich oft die Klage vernehmen, daß das Leben eine
Kette von Taͤuſchungen fey, ‚fo iſt der wohl vor Allen fo zu
Blagen berechtigt, welcher, begierig nach einem wahren Forts
ſchritt des Erkennens, nach den litterariſchen Erſcheinungen
neueſter Zeit auf theologiſchem und philoſophiſchem Gebiete
greift und meiſt unter vielſagenden Titeln, zuweilen unter
beruͤhmten Namen nur Unbedeutendes und oft Geſagtes an⸗
trifft. Selten wird man baflır durch eine Taͤuſchung der
entgegengefeten Art entfchädigt. Dieß aber iſt mit dem
vorliegenden Buche der Kal. Es bereitet dem Lefer die an⸗
genehme Ueberrafchung, daß es weit mehr leiftet, als fein
befcbeidener Titel verfpridt. Denn nicht allein, daß die
neuteftamentlichen Sehrbegriffe mit der Gefammtbilbung der
alten Welt in eine Verbindung gefeht find, die wir bei den
fonfligen Bearbeitungen bed Gegenflandes faft gänzlich vers
miffen, ed enthalten uͤberdieß die Unterfuchungen über bie
Borſtufen des Chriſtenthums, welche faft drei Wiertheile des
ganzen Werkes einnehmen, einen Reichthum von fpecieller
Altertbumsforfchung und runden fich zu einem in fich abge:
956 Lutterbeck
ſchloſſenen hiſtoriſch⸗philoſophiſchen Geſammtbilde ab. Der
Berfaſſer ſchildert den deidniſchen, dem juͤdiſchen, den ge:
miſchten und den apoſtoliſchen kehrkreis. Der rein heid-
nifche zerfält ihm in ben epifureifchen, ſtoiſchen und ffep
tifchen Lehrbegriff; unter dem jüdifchen if die pharifäis
ſche, fabbucäifche, kabbaliſtiſche, famaritanifche und eſſeniſche
Lehre befaßt. Der gemifchte Lehrkreid zerfaͤllt in den vor:
chriſtlichen Synkretismus und in bie älteften chriſtlichen HE
tefien. Unter den Synkretiomus werden zufammenge
faßt: der aͤgyptiſch⸗helleniſtiſche, der magiſch ⸗helleniſtiſche,
der neupythagoreiſche, ber juͤdiſch⸗helleniſtiſche und ins beſondere
philoniſche Lehrbegriff. Hiermit ſchließt der erſte Theil, und
von dleſem Endpunct ber vorchriſtlichen Entwicklung aus
ergibt ſich dem Verfaſſer der Rüdblid auf ein organiſches
Bortfchreiten von dem Epikureismuß, ber fi, fo zu fagen, im
Aphelium-befindet, bis zum Philoniömus, der von allen vor
chriſtlichen Syſtemen am naͤchſten in die Sonnennaͤhe des
Chriſtenthums vorgedrungen iſt. Der zweite Band begimmt
mit der anderen Hälfte des gemiſchten Lehrkreifes, der Hd:
refie des apoflolifchen Beitalters, welche in die gnoſtiſch⸗
anomiſtiſche und in bie jubaiflifche zerfällt. Dann ſchließt
das Ganze mit der Darfiellung des apoſtoliſch⸗chriſt⸗
lichen Lehrkreiſes, d. h. des petriniſchen, pauliniſchen und
johanneiſchen Lehrbegriffs, ab und die johamneiſche Geflal:
tung bes Chriſtenthums bildet als Krone der gefammtn
Entwidiung den Schlußpund. Gegen bie Gruppirung bed
erſten Theils läßt ſich wenig (wovon nachher) einwenden;
die Anordnung des zweiten leidet an dem Uebelſtand, def
bei der Haͤreſie ſchon manches von der neuteftamentlichen
Lehre antichpirt werden muß und die gefammte religiäfe Bes
wegung, welde von ber Gruͤndung der Kirche ihren Anh
gang genommen bat, nicht als ein Tontinuum dargeſtellt iR.
Ein fo viel umfaffendes Unternehmen fegt, wenn be
Durchführung gleichartig ſeyn ſoll, ein Buhaufefeyn in weit
«is Einer Wiſſenſchaft voraus. Und wirklich fehen wir, deß
die neuteftamentlichen Lehrbegriffe. 957
der Berfaffer. ſich beinahe auf allen Gebieten, bie ex betritt,
felbhändig bewegt. Ex kennt und würbigt. bas claffifche
Aterthum auf eine Weife, daß man ficht, er iſt durch bie
boͤchhiſche Schule der Alterthumswiſſenſchaft hindurchgegan⸗
gen. Er kennt die neueſte proteſtantiſche Kritik, und obwohl
Batholifcher Theologe, erkennt er zwar nicht ihre Reſultate,
aber ihr Beſtreben in einem Maße an, wie ed wenige
ſchriftglaͤubige Theologen nachthun werden, II, 94,
Er if ferner in den Forſchungen über das Judenthum,
das dhelleniſtiſche, talmubifche und kabbaliſtiſche, zu Haufe und
weiß Molitor’s felten beachteten Arbeiten den Werth beizus
meſſen, der ihnen zulömmt. Endlich aber leuchtet aus der
gefammten Arbeit eine religionsphiloſophiſche Grundanficht
hervor, welche eben fo geeignet iſt, die Soͤttlichkeit des Ghris
ſtenthums zu wahren, wie auch allen wahren Elementen der
außerchriſtlichen Beifteswelt ihr Recht zu laffen und ihre
Stelle anzuweifen, Wir erfennen in ber fpeculativen Aufs
faflung bes Gegenftandes den Schüler von Baader und
freuen und, daß bie füdbeutfche Philofophie des Ghriftens
thums, bie fi) an den eben genannten Denker anknuͤpft,
bier mit folder Klarheit und Sachkenntniß vertreten iR
Wir fehen nur zu oft Philologie und Theologie in gegen»
feltiger Entfremdung. Bald mit Geringſchaͤtung, bald mit
einer gewiflen Geifterfurdt gehen bie claſſiſchen Philologen
an dem theologifchen Gegenflanb vorhber, So berührt
Niebuhr in feinen neulich exfchienenen herrlichen Vorleſun-
gen über alte Geſchichte und über roͤmiſche Gefchichte das
Shriftenthum mit keinem Worte, bis er ed bei Septimius Se⸗
verus ſchlechterdings nicht mehr unerwähnt laſſen Bann, Ans
dererſeits mangelt in der That das ſelbſtaͤndige Heimifchfeyn
in der außerbiblifchen Alterthumswiſfenſchaft, wie wir «6
3. B. an dem veremigten Leonhard Hug gefehen Yaben,
ſelbſt folchen Theologen, denen es als Schrifterklaͤrern bis
ſonders wohl anftehen würde, Wir begen zu ben protekons
tiſchen Theologen dad gute Zutrauen, baß ihrer viele das
958 Lutterbeck
Auftreten eines katholiſchen Mitforſchers, der ſo ſchoͤne Eigen⸗
ſchaften in ſich vereinigt, mit neidloſer Freude willkommen
heißen werden.
Die Aufgabe iſt eine gemeinſchaftliche fuͤr alle Vertre⸗
ter chriſtlicher Wiſſenſchaft, ohne Unterſchied der Confeſſion,
und auch die für ihre Loͤſung ſchon gethane Arbeit gehoͤrt
nicht einer von beiden Seiten. allein an. Das vorliegende
Werk if eine Zufammenfaffung beffen, was zur Sache Ge
hoͤriges von den verfchiebenften Forſchern und auf entlege:
nen Gebieten geleiftet worden if. Es if, fo zu fagen, eine
Abrechnung über den jetzigen Stand unferer Kenntniffe. Der
Totaleindruck iſt, felbft abgefehen von den felbflänbigen
Berdienften bed Verfaffers, befriedigend, indem es Mar ber:
vortritt, wie bie Gefchichtäwiffenfchaft in diefem Gebiete um
ein Bebeutendes gegen ihren früheren Beſtand, vor funfjig
oder auch noch vor zwanzig Jahren, fortgefchritten if,
Schleiermacher — deffen Stärke die Geſchichte nicht war —
Eonnte, mit einer fubjectiven Kritit Epoche machen und noch
Strauß konnte mit einer Kritik der Urgefchichte des Chris
ſtenthums ohne alle gründliche Kenntniß des gleichzeitigen
Judenthums den Zeitgenoffen imponiren. Wer gewahr wer:
den will, wie weit dad damalige Maß ber Forſchung hin:
ter der Gegenwart liegt und wieviel großartigere Borde
zungen für eine Geſchichte des Urchriſtenthums heutzutage
geſtellt find, if auf das vorliegende Werk zu verweifen.
Der Berfaffer verleugnet es nicht, daß er Katholik if.
Aber er fucht den thatfächlichen Beweis zu führen, daß ed
eine Auffaffung der Autorität gibt, welche den Forſcher nicht
knechtet, fondern erhebt. Nirgends werden ihm einzelne dogs
matifche Beftimmungen über Kanon, Infpiration, Einzeln:
heiten der Gefchichte zu bemmenden Feſſeln. Was er aber
unerſchuͤttert fefthätt, iſt die Thatſache der Menfchwerbung
des Sohnes Gottes in Chriſto, die wahre, von der goͤttlichen
Liebe ausgegangene Vermittelung und Verſoͤhnung, nad
welcher alle vorchriſtliche Religion und Geiſtesarbeit vergeb⸗
die neuteflamentlichen Lehrbegriffe. 959
lich gerungen hat. Eben dieß tritt aber auch als Refultat
der auögebreiteten Forſchungen bes Werfaflerd hervor, daß
die Idee der Menſchwerdung in keinem vorchriſtlichen Ges
dankenkreiſe außgefprochen war. Dem Heibenthum fehlte
die eine Borausfegung dazu, die wahre Gottesidee, aber auch
dad Judenthum’ hat ed in Peinem feiner Syſteme zum Glaus
ben an eine wahre Menſchwerdung des wahrhaft Göttlichen
gebracht. Für diefen Sag, den Dorner in feiner Geſchichte
der Ghrifologie voranftellt, enthielten ſchon Gfroͤrer's Arbei⸗
ten einen gewichtvollen Nachweis; noch vollftändiger findet
er bier feine erneuerte Erhärtung.
Im Berhältnig zu der Gentralwahrheit des Chriftens
thums fieht der Werfaffer den Irrthum des Heidenthums
darin, daß ed in ber Natur das göttliche Weſen ſelbſt und
alle Wahrheit fucht, — fo zwar, daß die Theologie der Heis
den von ihnen felbft zur Phyſik gerechnet wird, — und bad Uns
gentigende des Judenthums darin, daß es zwar bie geiftige
Erhabenbeit Gottes über die Natur behaupte, aber die Bes
deutung ber Natur verfenne, Gott ald naturlofen Geift aufs
faſſe, das Naturleben zu töbten fuche und dad Gute, da
die ganze Welt im Argen liege, für rein übernatürlicy Halte,
So fei der Grundbegriff des Iudenthums der Gottgeift im
Gegenfag zum Heidentyum, deſſen Grundbegriff die Gott⸗
natur ift, aber aud zum Chriftenthum, dad den Gottmens
ſchen zum Grundbegriff bat, I, 4. 136—139, Das Princip
des Heidenthums ift hiermit fo bezeichnet, daß von chrift:
lichem Standpunct aus Fein Einwand dagegen möglich iſt.
Aber mandyem Einwand unterliegt die anerfennende Hervor⸗
bebung ber einzelnen Lichtfeiten des Heidenthums, welche
einen ber auffaendften Grundzlige des vorliegenden Wer⸗
kes bildet. Möbler hat dieß ald einen Vorzug der Batholis
ſchen Glaubenslehre geltend gemacht, daß fie eine weit uns
befangenere Würdigung des Guten im Heidenthum geftatte,
als das proteftantifhe Dogma von dem gaͤnzlichen Werber:
ben der Menfchen. Wir ſehen den Werfaffer von diefem
“ Sutterbeit
Borrecht des Lathofifen Theologen deu ambgebehutzfien
Gebrauch machen. Wo ſich nur ein entfernter Anklang zeigt,
ertennt ex eine Art Prophezeiung auf dab Gheiftentum.
Er vergleicht Pythagoras, Maton und Arifieteled, Pinder,
Aeſchylus und Sophokles mit den Propheten im ber jüde
fügen Welt (1, 36). Er fagt von dem Gymuns bei Sie
anthes auf den Zeus, den er (1. &. 74.75. — mach Dr. Ger:
riere’5 Heberfegung =)) mittheilt, diefer Hyamus habe ſo ſche
wie irgend eine Stelle im alten Zeflamente Anfpruch der:
auf, zu den chriſtlichen Anfängen in der vorctriſtüchen Fit
gerechnet zu werben. In den Mithrasungfirrien, weiche ou
die chriſtliche Zaufe und Eucarifie, an die Geburt md
Auferfichung Chriſti erinnern, will er nit mit Zuflineb
Wartyr und anderen Vaͤtern der Kirche eine Nadhäffung der
chriſtlichen Bufterien von Seiten der Dämonen, fondern Ge
ber prophetifche Vorſpiele des Ehrifienthums ſehen (1, 37.)
Ber die Befirebungen von Bafauiz kennt, wird ſogleich
wahrnehmen, daß feine Betrachtung des Heidenttums cd
iſt, am weiche ſich der Berf. am genaueſten anfdhlicht. Sa
der That bat diefes Auffuchen chriftücher Ahuungen zum
Beifpiel in der Promethenöfage etwas für dem Theologe⸗
fehr Anziehendeb, und mit Diefem Berfahren glaubt Bafautt,
wenn wir nicht irren, zugleich der Sache des Ghrißenthund
einen apologetifchen Dienſt zu erweifen. Aber eben dage
gen läßt ſich ein ernfled Bedenken erheben. In dem Mafe,
«is man den heidniſchen Mythus ader das heibwifche Phi
lofophem emporhebt, finkt bie crififiche ZBehcheit herab.
Es iſt mehr Urfache, zu befürchten, daß fie dadurch entweilt,
als zu hoffen, daß fie durch foldhe Aehnlichkeiten empfohlen
und beflätigt werde. Die Berkänbiger bed Ghrifienttums
in Imdien mtsfien weit mehr darauf bedacht feyu, die Aue:
Ingie 3. 3. zwiſchen Krifchne und Chriſtas der Aufmerlfen:
keit der Hindus zu entziehen, als biefe barauf hinzuweilen,
®) Sm Ietten Be muß cin Eioct anigelelln fenn.
n
die neuteftamentlichen Lehrbegriffe. o61
indem ſonſt augenblicklich das chriſtliche Dogma mit der Uns
reinheit des heidniſchen Mythus gleichſam behaftet wird.
Ferner iſt es zwar durch ein Wort des heiligen Paulus ger
rechtfertigt, wenn man die Weiſen und Seher der Heiden
ihre Propheten (Wdsog abröv zgoprens, Tit. 1, 12) nennt,
aber es if} unvorfictig, die Parallele mit den bebräifchen
Propheten fo ohne Weitere aufzuſtellen und den Accent,
der auf das Wort ihr Prophet — Tdsog — gelegt ift, zu
vernachläffigen. Es if wahr, daß innerhalb des Heidens
thums Einzelne vor der Menge an (relativer) Gottederkennts
niß bervorleuchteten, vwoie innerhalb des Volkes Ifrael die
Propheten. Aber was nicht überfehen und in einem dem
Werth des Heidentbumd abwägenden Geſchichtswerk nicht
verfchwiegen werben barf, iſt dieß, daß zwifchen Paganismus
und Mofeismud eine eben fo gewaltige Kluft beſtand, wie
zwiſchen Mofaismus und Chriſtenthum. Keiner von den
Gerechten des alten Bundes iſt ja in das Verhältniß zu
Gott getreten, in welchem ſich die chriſtliche Kirche vermöge
des Hingangs Chrifti zum Water und der Sendung des
beiligen Geifteß befindet. So hat ſich auch Feiner der heid⸗
niſchen Philoſophen in die Stellung ſchwingen Tonnen, in
der ſich der Ifraelit von Haufe aus befand, Die erleuchtes
ten Männer der ‚Heidenwelt waren Propheten sui generis,
aber fie blieben von den Propheten Iſrael's toto genere vers
ſchieden. Das Heidenthum bewegte fi nun einmal in eis
ner Luftſchicht, über welche das Volk Ifrael durch die Dffens
barung und den Bund emporgeboben war. Es befland ein
objectiver Unterfchieb, der burch Feine Empfänglichkeit, Treue
und Anſtrengung der Heiden aufgehoben werden konnte;
der eingelne Heide mochte mit feinem Suchen einen höheren
moralifhen Werth baben, als der gegen die empfangene
Dffenbarung gleichgältige Ifraelit, aber jener trat damit
nicht aud feinem Kreife heraus. Und felbft in der Moral
bleibt zwiſchen den größten Philofophen Griechenlands und
dem wahren Jfraeliten ein ſolcher Abfland, daß eine Vers
962 Lutterbeck
gleichung ohne Vorbehalt nur fehr bedenklich erſcheinen Tann,
Es iſt gewiß nicht zufällig, daß die heilige Schrift zwar
von einer Wirkung des Logos in ber Heidenwelt fpricht, aber
nie von einer Anwefenheit bed heiligen Geiſtes bei den Heis
den, während diefe in Beziehung auf die Ifraeliten aufs
entfchiedenfte bezeugt wird.
Endlich ift nicht zu überfehen, dag manche lichte A
nungen und gotteswürdige Gedanken aus der heidniſchen
Urzeit laͤngſt abgenugt und entkräftet, verwirrt und verbun-
kelt waren, ald dad Chriftenthum eintrat. Iſt ſelbſt die ſittliche
Macht, welche in den Lehrfägen der chriſtlichen Rechtglaͤn⸗
bigkeit liegt, im Laufe der Zeiten von den Menſchen zu di:
nem großen Theile vereitelt und um ihren Erfolg gebradt
worden, fo war dieß noch viel mehr mit den ſittlichen Eies
menten beidnifcher Religion und Mythologie der Fall. As
fie mit dem Ghriftenthume in Golifion famen, waren die
Mithrasmpfterien wirklich zu einem daͤmoniſchen Zerrbild
der chriſtlichen geworden, geſetzt auch, daß ſie dieß nicht von
Anfang an geweſen wären, und dad ernſte Urtheil der Kir
chenvaͤter, welche die Sache felbft, wie fie Damals war, vor
Augen hatten, war richtiger als die ibealiftifchen Worftelun:
gen, welche in und entflehen mögen, die wir aus entlegener
Zerne und oft mit einem von der Prazis abgewendeten Blid
die Sache betrachten.
Aber auch gegen die Auffaflung des Judenthums if
Einſprache zu erheben. eine Einfeitigkeit ſoll darin be:
flehen, daß Gott als naturiofer Geift gefaßt wird, und der
Berf. meint dieß in einem zweifachen Sinne, Einmal def
wegen, weil allein das hervorgehoben werbe, daß Bott einig,
nicht, daß Er dreieinig iſt. — Zur Erläuterung muß bier
baran erinnert werben, daß ber Verf. mit Baader der Meinung
iſt, nur mit Hülfe des Philofophemd von der „Natur in
Gott” könne das Dogma der Dreieinigteit richtig gefaßt
und begründet werden und das Dogma fehe jenes Philofo-
phem voraus, was wir bier dabingeflelt laflen. — Dann
die neuteftamentlichen Lehrbegriffe. 963
aber, weil im Judenthum bie Beziehung Gottes zur Welt
faft nur ethiſch aufgefaßt, daB Gute als Werneinung ber
Natur und als ſchlechthin irbernatürlich gedacht werde, ”,
137. 138, .
FZuͤrs Erſte ift es richtig, daß den jüdifchen Theologen
zur Zeit der Erſcheinung Chriſti die Einficht in den Rath:
ſchluß der Incarnation gaͤnzlich mangelte und daß fie ſich
hauptſaͤchlich deßhalb gegen Chriſtus verfchloffen. Weder
batten fie von dem Myfterium des Unterſchiedes der Perfos
nen in der Gottheit eine lebendige Erkenntniß, noch ahnten
fie diefe Exlöfung und Erhebung des ganzen Menfchen,
welche durch die Erfcheinung ded Sohnes ald Menſch und
durch feine Auferftehung vollzogen ift, und zu ihrer Folge
eine ſchon gegenwärtige Weihe des Natürlihen (im guten
Sinne) und eine dereinflige Verklärung der Natur bat.
Aber das Verkennen der Menfchwerbung, als fie nun eins
getreten war, wurde ber juͤdiſchen Theologie ald Schuld an⸗
gerechnet, und zwar offenbar deßwegen, weil es nicht aus
dem Princip des Moſaismus, fondern aus einem unvermerkt
‚eingetretenen Abfall von bemfelben hervorging. Aber dieß
iſt es eben, was in der Darftellung des Verf. allzu fehr zus
ruͤcktritt: wie fehr dad Judenthum gerade in der Hauptfache
von Mofes und den Propheten oder vielmehr von dem
Sinne des Geiftes, der in ihnen gewaltet hatte, abgekommen
war. Aber aud bie andere Seite bes Borwurfs: Vers
neinung der Natur, trifft den Mofaismus nit, In den
moſaiſchen Opfern fol bie Zöbtung des Naturlebens die
Hauptfache feyn. Ein Moment des Cultus ift allerdings
diefe Tödtung, aber fo wenig bad einzige oder auch nur des
bauptfädliche, daß der moſaiſche Cultus im Ganzen mit
allen Einrichtungen des Heiligthums, mit allen Weihen und
Feſtzeiten vielmehr die großartigfte Erhebung der Natur in
den Dienft des wahren Gottes zu nennen wäre. Wie wer
nig der anderweitig befannte horror naturae im mofaifchen
Sefege begünfligt wird, geht auß dem Umfland doc, daß
Theol. Stud. Jahrg. 1868.
964 Lutterbeck
es im ganzen Jahre nur einen einzigen Faſttag vorzeichnet
und deſſen Feier aufs beſtimmteſte ethiſch begruͤndet.
Der Verf. ſelbſt muß einräumen, daß daB Chriſtenthum
den Schein der Naturflüchtigkeit habe, II, 270. 271., und
dürften wir die Uebertreibungen der chriftlihen Afcefe dem
Chriſtenthum anrechnen, fo wäre der Vorwurf, den der Verf.
gegen dad Judenthum erhebt, leichter gegen das Chriſten⸗
thum zu begründen, Aber in beiden Religionen haben biefe
Erfcheinungen einen ganz andern Grund. Er if ein allge
mein menfchlicyer; aber was feine Entwidiung begünfligte,
war bad Heidenthum. Es ift für das Heidenthum charak⸗
teriſtiſch, dab ed zwiſchen Naturtrunfenheit und Naturhaß
bins und herſchwankt und jene Werföhnung nicht Tennt,
welche im Jubenthum angebahnt, im Chriſtenthum vollendet
iſt. Wo fih im fpdteren Judenthum die Naturfeindſchaft
gezeigt bat, wie in der überfpannten Afcefe der Therapeus
ten, da ift, wie ber Verfaſſer felbft anerfennen muß, diefe
Stimmung und bie fie beherrſchende Idee aus bem Heiden⸗
thum berzuleiten und als eine Abirrung vom wahren Mo:
ſaismus zu betrachten.
Endlich darf aud der hochgefpannte Gegenfag zwiſchen
dem jüdifchen Volk und ben Übrigen Völkern, wie er von
den Pharifäern aufgeftelt, von Chriſtus bekämpft wurde,
nicht ohne Weitered dem Moſaismus angerechnet werden, ins
dem gerade hierin das juͤdiſche Volk fpäterer Zeit der gött-
lichen Intention, die bei feiner Erwählung waltete, ganz
offenbar zuwider gedacht und gehandelt hat.
So trefflih der Verf. dad Judenthum der fpäteren Bei:
ten charakterifirt hat, bleibt doch der Vorwurf befiehen, daß
ex bie altteftamentlicye Religion im Ganzen ebenfo zu niedrig
wie das Heidenthum zu hoch geflellt hat.
Wenden wir uns nun zur Beurtheilung des Einzelnen,
fo finden in dem erften Buche: „der heibnifche Lehrkreis”,
1,17—%,, nach allgemeinen Betrachtungen über die politis
ſchen und die Bildungszuftände jener Zeit, in die das Chri⸗
bie neuteftamentlichen Lehrbegriffe. 966
fenthum eintrat, ein woplverarbeitetes Sthid aus der Geſchichte
der griechifchen Philofophie. Es war nichtmöglich, neue hiſtoriſche
Zhatfachen über Epiturus und Zeno, Pyrrhon, Atmefidemus
und Cicero zu geben, aber das Bekannte über Epikureiömus,
Stoieismus und Skepticismus iſt mit. Klarheit und Buͤndig⸗
Beit vorgetragen. Mit Recht behauptet der Berf,, daß in
diefen Syſtemen des fintenden Alterthums biefes feine eiges
nen Principien in der Ziefe erfaßt und durchgearbeitet habe;
die Zeit der Auflöfung war die Zeit, wo daB Heidenthum
eigentlich erſt ſich felbft erlebte und zum Verſtaͤndniß feiner
ſelbſt gebracht wurde, Der Verf, zeigt, wie der Epkiureismus
ben mythologifchen Glauben befeitigte, wie er felbft durch
den Stoicismus nicht ohne Erfolg bekämpft, wie endlich
diefer durch den Skepticiimuß befeitigt und dur diefen, fo
zu fagen, reine Bahn für den Synkretismus einerſeits, aber
andererfeitd für den Dffenbarungsglauben gemacht wurde,
I, 94. %. Als der Epikureismus das Atom vergoͤtterte und
die Luft als hoͤchſtes Gut auffiellte, haste das Heiden⸗
thum eigentlich ſchon dad tieffle Unten erreicht, es trat; nun,
eine rucdläufige Bewegung ein. Indem ber WVerfafler alle
Puncte, wo diefe Syfteme ſich dem Ehriſtenthum nähern oder
ihm vorarbeiten, mit Liebe hervorgefucht bat, unterfcheis
det ſich feine Darftellung vortheilhaft von den gewoͤhnlichen.
Man fieht in der Geiftebarbeit jener Zeit nicht, bloß einen
dialektiſchen Proceß, fondern ein ethiſches Ringen, wie z. B.
in dem tiefen Ernſt des Pyrrhonismus; man ift nicht mehr
veranlaft, diefe Periode als ſchlechthin unclaffifch zu verach⸗
ten oder ald verloren für die Wahrheit zu bedauern. Dabe
bewahrt der Verf, eine ſolche geſchichtliche Objectivitdt, daß
er es fich verfagt, die Parallelen mit der Gefchichte der
neueren Philofophie und ihrer Beziehungen zum Chriſten⸗
thum zu ziehen, fo nahe ed ihm auch liegen mochte. Auch
gegen den modernen franzöfifhen Epikureismus erhob ſich
der floifche Ernſt der kantiſchen Philofophie. Sie gleicht
in ihrem praktiſchen Theile ebenfo fehr der Stoa, wie in
64*
966 Lutterbedt
ihrem theoretiſchen ber alten Skepfis, und es iſt nicht zu
verfennen, daß der Kantianismus die Vorarbeit einer Rüd-
kehr zum Offenbarungsglauben gethan hat, wie jene Syſteme
des Alterthumd die Vorarbeit für feine erſte Annahme,
Sehr wahr fagt der Verf. am Schluſſe mit Bezug auf bie
Skepfis als Endpunct diefer Entwidlungsreihe: „Mehr oder
minder hatte Ieder damals wie jetzt dieſen Weg durchzu⸗
maden; ja man Tann ben heiftlihen Glauben ſelbſt wohl
als einen ſolchen bezeichnen, der im feiner Wurzel ſtets bie
Skepfis gegen alles bloße Welts und Naturbewußtſeyn ver:
birgt, weil man zu ihm nicht kommen, in ihm nicht bleiben
tan, wenn man nicht von ber Nichtigkeit alles rein natür-
lichen Wiſſens, wie aller rein natuͤrlichen Gerechtigkeit voll:
Tommen überzeugt if”, 1, 8.
Der. Epikureiömus bildete, obwohl er auf wiſſenſchaft⸗
lichem Gebiete überwunden worden war, doch die Philofe-
pbie des großen Haufens im Heidenthum, und treffend wird
bemerkt, daß die Urtheile des Paulus uͤber das Heidenthum
‚im 17. Kapitel der Apoftelgefchichte und im erften des Briefs
an die Römer faft mit jedem Worte auf daB epikureiſche
Syſtem zielen, 1, 56,57. Wenn man fieht, wie ſcharf diefe
Andeutungen des Paulus in das innerfte Weſen jener Phis
loſophie eindringen, fo if es uns ſchon deßhalb ſchwer bes
greiflich, wie der Verf. II, 143, fagen kann: „Paulus wird
‚die gelehrten Schulen feiner Vaterſtadt ſchwerlich beſucht
haben, wie wir benn aud) feine Spur claffifchshellenifcher
Bildung bei ihm antreffen, Aus der Stelle Röm. 1, 20. fhloß
Baumgarten⸗Cruſius — und einen competenteren Schieds⸗
richter koͤnnte man in diefer Frage wohl nicht aufftelen —,
daß Paulus eine eingehende wiſſenſchaftliche Kenntnig der
philoſophiſchen Syſteme gehabt habe, So war auch der vers
ewigte Chr. Fr. Kaifer in Erlangen, ein Theologe, dem
einiges Seltfame anhing, der aber an Menge der Kennts
niffe. von wenigen übertroffen wurbe, aus der ganzen An⸗
lage des Briefs an die Römer und der darin durchgeführ:
die neuteftamentlichen Lehrbegriffe. 967
ten Dialektik überzeugt, daß Paulus ben Inhalt bed arifto-
telifhen Organon gekannt haben muͤſſe. Tritt es nicht aufs
fallender und allgemeiner hervor, daß Paulus ein Bürgers
recht in der griechiſchen Wiffenfchaft geltend machen konnte,
fo war dieß eben Grundfag bei Ihm, in feiner apoftolifchen
Wirkſamkeit unter den Griechen nie auch nur im entferntes
ſten durch den Glanz griechiſcher Bildung zu beſtechen.
Das zweite Buch: „der jldifche Lehrkreis“, I, 9—3%4.,
beginnt mit einer Geſchichte des Judenthums vom Erilium
an, auß der wir, wenn ed ber Raum geftattete, die Partie
über die Verbreitung des griechiſchen in Paldflina, I, 128—
13,, über die Sammlung ber beiligen Schriften, über die
Bufammenfegung des Synedriums und die Synagogalver:
faffung,, I, 147—152,, hervorheben würden. Dieß Alles
dient zur Ginleitung in die drei jüdiſchen Hauptſyſteme.
Es ift richtig, wenn der Verf. I, 139. 140. die Lehre von
Gott, von dem Wolke Gottes und vom Gefeh ald bie drei
Grunddogmen des Judenthums bezeichnet, und es iſt eben
fo einfach als unſeres Wiflens neu, wie er bieran die „drei
Secten” fi knuͤpfen läßt, indem die Pharifder die Lehre
vom Geſetz, die Effder die Lehre von Gott zum Mittelpunct
ibees Strebens machten, den Sadducaͤern vom Judenthum
nichts übrig blieb, als feine Dieffeitigkeit, die Idee des Vol⸗
kes Gottes. J
Die Darſtellung des Pharifdismus finden wir hier reich⸗
haltiger ald gewöhnlich, Die’ Kenntniß des Talmuds, weiche
unter ben Theologen, ‚nicht eben zur Ehre der chriftlichen
Theologie, noch immer allzu felten iſt, thut dem Verfaſſer
treffliche Dienfte, indem er mit Recht in der Mifchnah die
Haupturkunde des Pharifdismus erkennt und fie zur Eharafs
teriſtik beſonders der pharifdifchen Ethik zu Hülfe nimmt,
1, 19-200. Joſephus gibt Feine unentftellte Darlegung
der herrſchenden Denkart feines Volkes, welche eben die
pharifäifche war, zu ber er ſich felbft bekannt hatte Wie
Gfroͤrer in feiner Vorrede zur Ueberfegung des jüdifchen
968 Sutterbedt
Kriegs, fo bemerkt auch Lutterbeck gegen Joſephus, daß die
Beloten keineswegs eine von den Phariſaͤern verſchiedene
Vartei waren (1, 164. 205.). Joſephus verhült aus Pok-
tik die Borellungen feined Volkes vom meſſianiſchen Rei,
(l, 180.). Auch dieß, daß er nicht ausdrücklich vom Gatan
foricht und nirgends gefallene Engel erwähnt (I, 188, wos
ſelbſt Döfe ſtatt bloße Geiſter zu Iefen ift), ift eine Accoms
. mobation an. ben Geſchmack der Griechen, denen, wie wir
durch Gelfus erfahren, jene Vorſtellungen nicht wenig zum
Anſtoß gereichten. Es iſt beachtenswerth, daß der Berf, in
des Joſephus eigenem Lehrbegriff eine Hinneigung zu eſſe⸗
niſch⸗alerandriniſcꝛen Anfichten nachzuweiſen fucht, I, 41.
412.5 babei wird aber Joſephus offenbar viel zu günfig
beurtheitt, wenn man ihn einen Mann nennt, „der auf ber
Schwelle des Chriftenthums fand” und ber nur „durch ein
irriges (patriotiſches) Ehrgefühl abgehalten wurde, Chriſt zu
werben.” Mag es ſeyn, daß in feinem Syſtem kein unuͤber⸗
windliches Hinderniß dafur lag, fo lagen deſto größere Hin:
derniſſe in feiner Moralität. Die Verderbniß feines Cha
rakters, die er felbft zu Tage bringt, war eben fo groß ald
feine offenbar vielfeitigen Talente. Und was fein Werhält:
niß zum Chriſtenthum betrifft, fo hat der Verf. jenen bödk
einleuchtendeo Berbacht nicht berudtfihtigt, ben neulich Sepp,
früher aber ſchon Lambecius a) geäußert hat: bie feltfame,
- anftößige Geſchichte, welche bei Joſephus unmittelbar auf
fein „Beugniß von Ehrifo” folgt, ſteht als eine Satire auf
die heilige Weberkieferung von der Geburt Chriſti da, und
in dieſer Satire, nicht in jenen anerfennenden Worten über
Ghriſtus — mögen fie mın untergefegoben ſeyn ober dit —
ſteckt die eigentliche Meinung bed Joſephus über den chrift⸗
lien Glauben.
Um auf die Pharifder zurlickzukommen, fo ſtimmt dee
Verf. etwas zu fehr in bie populäre, hoͤchſt nachtheilige Ber:
a) Biblioth. Caesarca Vindobon, T. VIIE p. 30 299
die neuteftamentlichen Lehrbegriffe, 969
flelung von ihnen ein. Er läßt nur einzelne Ausnahmen
von der Heuchelei unter ihnen zu, 1, 202., da doch Paus
lus den pharifäifch gefinnten, gegen das Chriſtenthum feinds
lichen Juden im Ganzen bas Zeugniß gibt: „fie baben Eifer
für Bott, aber nicht gemäß der wahren Erkenntniß“ — eine
Aeußerung, welche hier ebenfo fehr in Betracht gezogen wers
den folte, als die großen Strafreden Chriſti gegen die
Schriftgelehrten und Pharifder, Zreffend find die Paralle:
len, womit biefer Abſchnitt fchließt: das Judenthum ging
durch die pfeudomeffianifchen Worftelungen der Pharifder,
durch Schwärmerei, alfo durch falfchen Idealismus unter,
das Heidenthum verlor fih in Epikureismus, d. h. falſchen
Realismus und Materialismus, jened in Uebereinftimmung
mit feinem geiftigen (freilich verkehrt aufgefaßten), biefes mit
feinem natürlichen Grundcharakter, 1, 206. Anerkannt ift
die ducchgreifende Achnlichkeit des Pharifdismus mit dem
Stoicismus; fie iſt faſt ebenfo groß wie die der Sadducaͤer und
Epikureer. Jedoch findet dabei der Gegenſatz ſtatt, daß im
Judenthum der Pharifdismus, im Heidentyum der Epiku⸗
reismus die Baſis bildete, und daß gegen diefe Grundmacht
dort der Sabducdismus, hier der Stoicismus als Oppofition
auftrat. Es war natürlidy, daß der Jude in ſaͤmmtlichen
Heiden Epikureer und der Heide in ſaͤmmtlichen Juden
Pparifder erblidte, 1, 207.
Bas die Sadducder betrifft (I, 208-216.), fo vertritt
der Verf. die Angabe der Alten, fie hätten hier nur die
Thorah ald heilige Schrift angenommen, gegen bie von
Winer im Realwoͤrterbuch erhobenen Zweifel, Das pfychos
logiſche Räthfel, daß die Sadducder in der Beſtrafung von Vers
brechen auffallende Graufamkeit bewiefen, ſcheint auch der
Verf, nicht volftändig gelöft zu haben (I, 215.). Zu viel
Ehre erzeigt er ihnen, wenn er einräumt, daß in der Politik
wenigfiens auf ihrer Seite — im Gegenſatze zu den Phari⸗
fdern — die Wahrheit gewefen fey und daß „Chriſtus die Po:
HE a Sadducher und Herodianer mit Wort und That
970 Lutterbeck
gebilligt habe”, 1, 216. Dieſen Sinn hat ber Ausfprud
GShrifti über die Zinsmuͤnze nicht. Die Pharifder batten
allerdings Unrecht, indem fie auf Empörung gegen bie heid⸗
niſche Dberherrſchaft Hinarbeiteten und ihre MWBefeitigung
durch eine menſchliche Gewaltthat, anflatt in Folge einer
inneren Umfehr zu Gott, bofften. Aber bie Sadducder war
ten nicht minder im Unrecht, wenn fie diefen Zuftand der
Knechtung Iſrael's durch einen römifchen Imperator und
durch eine idumaiſche, in ihrer Gefinnung ethniſirte Dynaſtie
ganz in der Drbnung fanden. Wenn dad Wolf innerüch
befler wurde, fo durfte es eine Aushälfe aus diefen ſchmach⸗
vollen Verhältniffen erwarten, und es foüte fi) nad) einer
Wiederherſtellung der Theokratie fehnen. Wenn Ghrifus
fagt: „gebet dem Kaifer, was bed Kaiferd ift, und Gott, was
Gottes ift”, fo verlangt er einerſeits allerdings Unterwerfung
unter dad Joch der heidnifchen Unterbrüder, aber anderes
ſeits laͤßt er durchblicken, daß, wenn Iſrael erſt feine Pflicht
gegen Gott wieder erfülle, dann auch feine dußere Lage
anderd werden und von Gott felbft in Uebereinſtimmung
mit den alten Werbeißungen gefegt werben folle. Chriſtus
ſelbſt fühlte fo tief für fein Volk und beflätigte fo entſchie⸗
den bie altbeiligen Erwartungen von einer einfligen Wie
derkehr ber glorreichen Vorzeit Iſrael's, daß man ſich ben
Unterfchieb nicht groß genug vorfellen Bann zwiſchen diefer
Geſinnung und ber ihrem Wolle gänzlich entfeemdeten poli:
tifhen Denkart der Sadbucder. —
De die alltägliche theologifche Bildung von der Kab⸗
bala fehr wenig weiß und gar nichts verfieht, fo ik es
hoͤchſt dankenswerth, daß der Werfafler eine Darftelung des
Tabbaliftifchen Lehrbegriffs gegeben hat, welche das Mögliche
leiftet, um ihn zugänglich zu machen und mit der übrigen
Gedankenwelt in Beziehung zu fegen, 1, 23-34. Die
Zahlenlehre des Buche Jezira, dieſes fonderbare Gegenfäd
zur pptbagoreifhen Zahlenlehre, koͤmmt bier zur Sprade,
dann bie Lehren des Sohar vom Enſoph, von due zehn
die neuteflamentlichen Lehrbegriffe. 91
Sephiroth und von ben vier Welten. Diefe erinnern an
den Urgrund, an die Aconen, an dad Pleroma und Kenoma
ber Gnoflifer, und nicht allein dieß, Imit der gefamms
ten Weltanfiht der Neupythagoreer und Neoplatoniker
flebt die Kabbala in unverfennbarer Geiftesverwandtichaft.
Wiewohl man im Einzelnen die Entlehnung nit nachwei⸗
fen kann, iſt doch die Wechſelwirkung zwifchen biefer juͤdi⸗
fen Geheimtradition und den genannten. außerjüdifcdhen
Syftemen, welche der Verf. annimmt (I, 229,), nicht zu
leugnen, Geftügt auf die Forſchungen von Molitor, Fran?
und Joel, Hält der Verf. den Rabbi Jochanan Ben
Sakkai (nicht nur Molitor, auch Joſt nimmt an, daß
Jochanan mit Gamaliel die Zerflörung Ierufalems übers
lebte) für den Erſten, dem nach Zeugniſſen der Miſchna die
kabbaliſtiſche Forſchung über das Werd der Schöpfung und
Aber den Gherubimmwagen Heſekiel's zugefchrieben wird. Den
Rabbi Aliba hält er flr den Verfaſſer des Sepher Jezira
und deſſen Schüler Simon Ben Jochai für den Begründer
des Sohar. Abſichtlich wurde der Urfprung biefer Lehren
in Geheimniß gehült. Daher fo geringe Spuren ihres
Wirkend nad) außen. Aus dem Schooße des orthodoren
Judenthums ging diefe Theoſophie hervor und fie ſchloß
fih an die firengfte Form der jüdiſchen Gefeglichkeit an
(1,227.), Mit Recht leitet fie der Verf. aus dem nach ins
nen und nad) oben gerichteten Streben ab, worauf ſich die
tieferen Geifter im Judenthum unter dem dußeren Ungläd,
befonder& nach der Zerftörung Ierufalems, zurückgewieſen
fahen (230.).". Eins abenfceint uns hierbei uͤberſehen, nämlich
daß bei diefem Beſtreben der Wunſch mitbeflimmend war,
dem verfchmähten und doch imponirenden Chriftenthum ein
Aequivalent von Tieffinn und erhebender Kraft entgegenftel=
len zu koͤnnen und ein gleich reiches Syſtem, aus den Quel⸗
len myſtiſcher Tradition gefhöpft, dem Judenthum zu vins
diciren. Wie weit diefer Gedanke den Uchebern der Kabbala
zum Haren Bewußtfeyn kam, koͤnnen wir nicht beſtimmen.
972 Lutterbedt
Aber Thatſache iR, daB das Chriſtenthum, nachdem es ein«
mal dba war, auch in denen, die ed nicht annahmen, geiflige
Bebürfniffe und Anfprüche wedte, denen nun eben auf jüs
diſchem Boden die Geheimichte genügen ſolte. Alle vom
Berf. gegebenen Data ſtimmen mit diefer Anficht zufanmen,
insbefondere aber feine Wermuthung, daß der Pſeudochtiſtus
Barkochba Kabbalift war, I, 232, II, 9. Die Kabbala
tritt fomit in eine merkwürdige Parallele zum Gnoflicismus;
aber um fo bedenklicher if e& dann auch, ob man ibr mit
dem Verf. ihre Stelle unter den vorchriſtlichen Lehrkreiſen
anweiſen darf.
In dem folgenden Abichnitt, der ſamaritaniſche Lehrbe⸗
griff, S. 355 2%69., wird gezeigt, daß die Denkweiſe der
Samariter keineswegs der rationalifiifchen, fondern vielmehr
der myſtiſchen Seite des Judenthums angehörte und mt
dem Sabducdismus in gar feiner Verwandtſchaft fand.
Hiermit flimmt neben der Empfänglichkeit der Samariter
für dad Chriſtenthum ihr Hang zur Magie und zur Gnofit-
Mit befonderer Sorgfalt if der Eſſenismus (I, 770-
322.) bearbeitet und vollſtaͤndiger als je vorher die Rad»
weifung gegeben, daß er die „Ineinsbildung des Pythage:
reißmus und des Judentums” war, I, 291.
Efiener mürffen «8 gewefen feyn, von denen im letzten
Jahrhundert vor Chriflus die Errichtung mancher pythago⸗
seifchen Schriften ausging, wie die unter dem Namen eined
Dfelos und Zimdod, Es geſchah dieg um die Zeit, wo
der durch feine Gemahlin mit dem Efläismus in Berbindung
gefommene König Juba von Mauretanien bie pythagore:
ſchen Bücher fammelte (I, 270, 271.). Aegypten, nicht Pa
laͤſtina iſt das Geburtsland des Eſſdismus (275), Die
Aehnlichkeit des Ordens mit der chriſtlichen Kirche, fe:
wohl in der Moral als in den geſellſchaftlichen Cinrichtun:
gen, läßt der Verf, ungeſchwaͤcht ans Licht treten, ebenſo
das Dafeyn ber ſpaͤteren chriſtlichen Kloſtergeluͤbde bei Eſ
ſaͤern und Therapeuten, I, 307. 311., und er fühlt bie
die neuteftamentlichen Lehrbegriffe. 973
Schwierigkeit eined Urtheild über den moraliſchen Werth
der Eſſaͤer und uͤber ihr Verhaͤltaiß zum Chriſtenthum ; denn
Chriſtus, die Apoftel, die Schrift, die Kirche fagen weder
Gutes noch Böfes von ihnen” (1, 302.), der Raturalismus
aber hat feit hundertundfünfzig Jahren nicht nachgelaffen,
den Effdismus für den Schlüffel zur natürlichen Erklaͤrung
des Wunder aller Wunder, der Entſtehung bes Chriftens
thums, auszugeben (1, 310). Johannes der Käufer muß
wirklich mit Effenern in Verbindung gewefen feyn, kann jes
doch nicht als Mitglied ihres Ordens betrachtet werben (I,
29, 295.), und was Chriſtus felbft betrifft, fo geflattet das
chriſtliche Dogma die Annahme, daß Er, indem Er an Weiss
beit wuchs, von verfchiedenen Lehrern und auch von Eſſe⸗
nern Teruge I, 312—314. Aber es bleibt die ganze Ueber⸗
einſtimmung des Efiäismus und ber Kirche eine Achnlich
Beit in der Peripherie bei einer gänzlichen Verſchiedenheit
im Mittelpunde. Das Centrum bed Chriftenthums, bie
Menſchwerdung Gottes, fehlt im Ejienismus (I, 314.) fo
ſehr, daß feine Ahnung davon da war, und wir fegen hinzu,
auch nicht die Möglichkeit einer Ahnung.
Denn ber Verf. hätte in biefer Erörterung nod weiter
gehen koͤnnen, wenn er mit dem eflenifchen Lehrbegriff ſo⸗
gleidy den philoniſchen in Verbindung gefegt hätte, den er
erſt fpäter, ans Schluffe des gemiſchten Lehrkreiſes, behandelt,
Die Darftellung Philon's, welche er dort gegeben bat (I,
418—446.), möchten wir für das Gelungenfie im ganzen
Werke halten, nicht allein wegen der Treue des Berichts
und ber Genauigkeit der Analyfe, welche die jüdischen und
die frembartigen Stoffe des Syſtems aufzeigt, fondern vor '
Allem wegen ber feinen und wahrhaft erleuchteten Beftims
mung des Verhaͤltniſſes zum Ghriftenthum, die wir noch in
Beiner neueren Darftellung fo gefunden haben, in der fonft
guten Darftelung von Gfrörer am allerwenigftin. Bir
flinsmen in die Bewunderung bed Verf. für die philoniſche
Ethik ein (1,439). Philon's ganzes Beſtreben, in bem fi
974 Lutterbeck
die beſten Elemente des Judenthums und des Heidenthaen
zur ‚Hervorbringung ber legten ‚und fcönflen vordheififichen
Bluthe verſchmelzen, ging auf etwas dem Ghrifienthum
Analoges, und derf&rfolg diefer Bemühungen wer thatfäd-
lich auf dem Boden des Chriſtenthums zu finden (1, 48.
440.), mit welchem Philon felbft nicht mehr in Berkbrung
kam, I, 4%.
Aber eben fo richtig wird ber zweidentige Charekter
der objectiven philonifchen Theorie beransgehoben, vermägt
deffen fie fi noch mehr zum Gnoſticismus als zur deik-
lichen Lehre hinneigt und fogar eine Hauptquelle der gnefr
ſchen Härefien geroorden if (I, 441.). Ihre Srundirrtha
mer liegen in der abftracten, beflimmungslofen, d. h. im
Grunde völlig fpinogiftifen Gottebidee (1, 442 und in
der durd ihre Folgen womoͤglich noch ſchaͤdlicheren Vorſtel
fung von ber Materie ald Quelle alles Böfen (1, 443. 44)
Die abſcheulichſte Verberbnig der Moral im Gnoficimes
ergab fi von da aus mit logiſcher Rothwendigkeit. Beide
Ierthümer zufammengenommen laſſen nad) Philon’d Syſten
eine Fleiſchwerdung des Logos nicht nur nicht erwarten,
fondern als ſchlechthin undenkbar erſcheinen (I, 444.). Und
fo fehen wie denn Philon in der Hauptſacht in gleicher Ent:
fernung vom Chriſtenthum wie den Effdismus, oder viel
mehr an Philon wird die gewaltige Kluft zwifchen Eſſais⸗
mus und Chriſtenthum volltommen Mar. Der Berf. betont,
daß wir die Dogmatit der Effener nicht kennen (I, 310.).
Aber wir kennen fie, wenn nicht vollftändig, fo Doch bis auf
wenige Säge. Denn follten Philon's Schriften einem ans
deren Gedankenkreiſe angehören, der neben dem effdifchen
befanden hätte, oder nicht vielmehr den Außdrud der thera⸗
peutifhen und eſſdiſchen Anfdyauungen enthalten? Gin
firenger Beweis ift hierfür nicht moͤglich. Aber wenn man
auch Einzeinheiten bier und bort für verſchieden halten
folte, der herrſchende Geiſt und fomit das Verhaͤltniß zum
Ehriſtenthum iR auf beiden Seiten daffelbe.
die neuteftamentlichen Lehrbegriffe. 975
Der Berf, felbft behauptet einen halbheidniſchen Urs
ſprung der Effder (1,302.); er hätte fie demnach in den ges
mifchten Lehrkreis einfügen, ober aber auch das alerandriniz
ſche Judenthum dem juͤdiſchen Lehrkreife zuweiſen, jeden⸗
falls beide Abſchnitte mit einander verbinden ſollen, indem
man ſelbſt nach ſeiner Darſtellung zu dem Ergebniß gelan⸗
gen muß: Philon gibt die Ideen des Eſſaͤlsmus, der Efidids
mus ſtellte bie praktiſche Verwirklichung der philoniſchen
Ideen auf, Wir bemerken noch, daß der Verf. auf Ariftos
bulus, den er für den Verfaſſer der Weisheit Salomonis
haͤlt (1,407.), und auf alle nody vorhandenen Notizen, wel⸗
che die jüdifchsalerandrinifche Litteratur beleuchten, mit Ges
nauigkeit eingeht.
Der gemiſchte Lehrkreis wird von dem Verf. mit dem
altägyptifchen Syſtem eröffnet (1,325—335.), nicht als wäre
dieſes felbft eine Miſchung, fondern weil e8 neben dem Bos
roaſtrismus den größten Theil des Stoffes für den Synkre⸗
tismus und den Gnoſticismus abgegeben hat. Der Verf,
arbeitet hier nicht felbfändig, fondern gibt einen Auszug
aus Röth, von dem er nur in Einem Puncte, binfichtlich
des Thiercultus, abweicht (1, 332). Gewiß wäre es mit.
nichts zu rechtfertigen, wenn die Theologen jenes gehaltvolle
Berk „über bie aͤgyptiſche und die zoroaftrifche Glaubens»
lehre” unbeachtet laſſen wollten, Das Talent der Darftels
lung, der große Umfang ber Mittel und das Ueberraſchende
der Refultate fordern dringend zum Gingehen auf. If
doch, um nur eins zu berühren, wenn bie bortige Anord⸗
nung und Deutung der altägpptifchen Mythengeſtalten rich⸗
tig ifl, unter andern ein für die Theologen bis dahin unge⸗
töftes Räthfel beinahe völlig erledigt: bie Entflehung und
hohe Geltung des valentinianifhen Syſtems. Aber eben
die von Möth gegebene Deutung und Nachconſtruction der
erſten ägpptifchen Götter leidet an Schwächen, welche ſelbſt
dem in der Hieroglyphenforſchung nicht felbftändigen Lefer
einleucdten müflen. Die Wergleihung des Textes mit den
076 Lutterbeck
Anmerkungen laͤßt alsbald die Luͤcken der Beweisfährung
und den bedeutenden Antheil der combinirenden und ergäns
zenden Phantofie an dem Aufbau des Syſtems erkennen.
Dann gebt Röt h, wiemohl er vorausfegungslos zu ver-
fahren glaubt und fi auf feine Skepſis etwas zu gute
thut, von Vorausſetzungen aut, weldye nad den Ariomen
einer wahren Religiondphilofopbie nit für richtig erkannt
werben koͤnnen und dad Syſtem in feinen erften Grundlas
gen afficien. Denn er läßt das dgyptifche Volk, fo zu fa
gen, mit einem Nichts in der Religion anfangen und die
aͤlteſten Götterbegriffe aus einer, fo zu fagen, neuen viffen-
ſchaftlichen Reflerion Über dad Weltgebaͤude entfpringen.
Urgeift, Urmaterie, Urzeit und Urraum find die vier Urgott:
beiten, und fie follen rein kosmiſch gefaßt werben, Won
einem ethiſchen Moment in ber Entftehung der Borftellung
und des Gultus ift Beine Rede, von einem Nachklang einer
Uroffenbarung natürlich auch nicht. Der religiöfe Ausgangds
punct des Ganzen wird verfannt und ed fieht auß, als wenn
zu allererfi eine Speculation über das Abfolute dageweſen,
nachher der Cultus ind Leben getreten wäre, ta doch Se
ſchichte und innere Rothwendigkeit vielmehr auf das Gegen»
theil hindeuten, baß bie Religion früher da ift, ald die Snoſis.
Die Theologie wird wohl thun, ſich mit den Arbeiten von
Roͤth aufs genauefle auseinanderzufegen; unferes Wiſſens
ift Lutterbed der Einzige, der dazu den Anfang ges
macht hat.
Es folgt der magiſch⸗helleniſtiſche Lehrbegriff (1, 336
3%9,). Der Unterſchied der chaltdifch>babylonifhen und
der perſiſchen Magier wird feflgeftelt. Bon Babylon iR
die Magie nach Perfien gekommen (I, 35.), aber die per:
ſiſche Magie Hat in religiöfer Beziehung die höbere Bedeu:
tung (&. 348.), Ueber Zoroaſter's Leben aͤußert ſich der
Verf. fehr fleptifh, im Gegenfag zu Koͤth's anmutbiger
Darfteung, die allerdings auf fehr ſchwachen Stügen ruht
(&. 39.). Doch geht der Verf. in feinen Zweifeln zu weit,
bie neuteftamentlichen Lehrbegriffe. 977
indem ex Überficht, daß die orientalifcye Weberlieferung von
zwei Boroafter redet, von einem mythifchen in Nimrod's Zeit
und von dem hiftorifchen, den die Griechen als Zeitgenofs
fen des Pythagoras kennen. Das Syſtem des Zendaveſta
wird dargeflellt, werthvolle Züge zur Charakteriſtik des pers
ſiſchen Glaubenseifers werden aus den Keitinfchriften des
Darius und Zerged nah Benfey mitgetbeilt (©. 351 u,
352), dann wird auf die Aftrologie der babylonifchen
Magier eingegangen (1,357 ff.). Ihr erfahren feheint nad
allem dem, was wir davon fennen, maßlofe Willkur und
ibr Anfehen bei den Griechen und Römern undenkbar, wenn
nicht noch eine geheime Kunft unter dem dußern Schemas
tismus der Horoffope verftedt war. Es fanden nad) ber
Anſicht des Verfaſſers Ahnungen, Träume und Efftafen bei
den Magiern ftatt, wobei bie Beobachtung der Geſtirne nur
ald Anregung diente; nicht der rechnende Verftand, fondern
die Senfibitität und Aufgeregtheit des Gemuͤths habe jene
Wahrfagungen hervorgebracht, die nach geſchichtlichen Zeugs
niffen eingetroffen feyen (1, 360-362.). So haben auch die
(chaldaiſchen) Magier im Evangelium die Bezüglichkeit des
Sterns auf die Geburt des Königs der Juden durch eine
Biſion erkannt ; fie waren, wie Matthäus ſelbſt andeutet,
gewohnt, durch Träume Offenbarungen zu empfangen (I,
365. 366.). &o hatte der Magismus eine der Wahrheit
zugängliche Seite und feine Verbreitung in den legten Zeiten
vor Chriftus war auf Seiten bed Heidenthums -ebenfo eine
Vorbereitung für die chriftliche Religion, wie auf Seiten des
Judenthums dad Auffommen ded Efiäismus (I, 369.). —
Der Neoplatonismus wird, weil er erſt nach dem Chris
ſtenthum ins Leben trat, nicht berüdfichtigt, dafür aber der
neuppthagoreifche Lehrbegeiff (1,370--391.). Nigidius Figus
1u8 (gef. 45 v. Ehr.), neben Varro der gelehrtefte Römer feiner
Zeit, ein Freund Cicero's, war der große Wiederherfteller der
ſchon feit 400 v. Chr. erloſchenen pythagoreifchen Lebensweiſe.
Alle Nachrichten der Alten uͤber ihn und feine Schriften
978° Lutterbeck
aibt der Verf, in einer ſehr beachtenswerthen Unterſuchung
(1,377—379 ). Das Ideal des neupythagoreiſchen Weiſen if
ſpaͤter in dem Leben des Apollonius von Tyana von Philoſtra⸗
tus aufgeſtellt worden. Der Verf. gibteinen Auszug aus dieſem
Berk, als Beitrag zur Schilderung des philoſophiſchen Zeit:
geſchmackes, und ſchließt mit der für uns unbegreiflichen Be:
hauptung: „Dafür, daß Philoſtratus die Abficht gebabt
babe, das Ghriftentyum zu befämpfen, koͤmmt bei ihm felbk
nicht die mindefte Andeutung vor” (I, 383.) Im Gegen:
theil ſcheint es uns, dag Philoftratus gar feine andere Ab:
fit gehabt hat, als einen heidniſchen Gegenchriſtus aufzus
flellen, die religiöfe Weihe, die fittliche Strenge, den Zieffinn
und die Wunder des Ghriftentyumd dem Heidenthum zu
vindiciren. Das Leben des Apollonius ift eben fo gewiß
eine gegen dad Chriftenthum gerichtete Schrift, wie die Bür
her des Gelfus, Porphyrius und Julianus. — Mit Plus
tarch's Syſtem ſchließt diefer Abfchnitt, welcher übrigens
ſchon an, der Grenze des Neuplatonismus flieht (I, 389.)
Ale diefe Erfcpeinungen zufammen, die aͤgyptiſchen Sacta,
die Magie, die Mithrasmpflerien, der Neuppthagoreismus,
zeigen durch ihre große und gleichzeitige Ausbreitung, wie
ſehr feit der Mitte des legten Jahrhunderts vor Chriſtus
im Schooße des ſich aufldöfenden Heideuthums ein Stei⸗
gen des religisfen Bebürfniffes und ein Hindrängen zu
einer religidfen Gottes: und Weltauffaffung flattgefunden bat
(1,3%.),
Im zweiten. Bande begibt ſich ber Verf. auf den viel:
‚betretenen Boden der neuteſtamentlichen Kritit. Er läßt,
wie bemerkt, bie Darflellung der Härefien bed apoſtoliſchen
Zeitalters vorangehen (TI, 1—118.), und ſtellt unter ihnen
nicht, wie gewöhnlich, die judaiftifche, fondern bie gnoſtiſch⸗
anomififche voran, Mit berechtigtem Nachdruck weit er
den modernen Mythus zuruͤck, daß die bäretifdhe Gnofis
erſt im zweiten Jahrhundert entſtanden fey (IL, 191. 12.),
die neuteftamentlidhen Lehrbegriffe. 979
und verfolgt dieſen in feiner Entſtehung kaum, in feiner
Hartnädigkeit gar nicht begreiflichen Irrthum bis auf feine
erfien Wurzeln und Anlaͤſſe. Die im erften Bande enthals
tene volftändige Vorführung aller der gnoftifchen Elemente,
von denen gerade zur Entſtehungszeit des Chriftentbums
die Geifter der Suchenden angefüllt oder doch angeregt was
ren, berechtigt, abgefehen von allen neuteſtamentlichen und
patriſtiſchen Audfagen, aufs entfchiedenfte zu der Weberzeus
gung, daß eine gnoftifche Auffaffung und Entftellung des
Chtiſtenthums nicht ein Jahrhundert lang auf ſich warten
laſſen konnte, fondern fogleich durch die erfte apoſtoliſche
Wirkſamkeit veranlaßt werden mußte; fo fehr war Alles zu
einer foldhen Wendung vorbereitet.
Das Wichtigfte in diefem Abfchnitt bildet die Unterfus
dung über den Pfeudochriftianismus in Samarien, als erſte
Zorm ber gnoflifhen Härefie (II, 1—29.), Es iſt noch viel
zu wenig beachtet, wad Matter und Gfrörer über Si⸗
mon den Magier gefagt haben. Lutterbed koͤmmt zu
demfelben Refultat, daß Simon in der That als gnoflifcher
Archihaͤretiker zu betrachten iſt. Den Mythus, mit dem
feine kebensgeſchichte umfponnen ift, verwirft er aufs ents
ſchiedenſte (II, 8-15. 190-192.), aber er hält mit Recht
die Thatfache feft, daß Simon von feinen Anhängern für
die Erſcheinung des Logos gehalten wurde, daß er fich ſelbſt
dafür erflärt hat, und daß er ald Pfeubochriftus einen aͤhn⸗
lichen Eingang bei. den Samaritanern wie Barcochba
dei den Juden gefimden hat. Aber noch weiter laͤßt ſich
der Urfprung biefer unheimlichen Richtung verfolgen. Er
weit auf die „Linke Seite der Iohannesjiinger” zurück,
d. b. auf diejenigen aus der Schule des Täufers, welde
eine dem Chriftentyum abgewendete Stelung einnahmen
(I, 300. 301.), Es ift in der That pſychologiſch vollkom⸗
men einleuchtend, daß diefe Männer nady einer ſolchen Ans
Theol. Stud. Jabrs. 1868. &
980 Lutterbeck
regung, wie fie ihnen von Johannes geworden war, nicht
rubig fleben bleiben Fonnten, fondern, indem fie den wahren
Ghriftus verkannten, auf einen falſchen hingetrieben wurden,
und daß fie, einmal dem Wahn und ber Betbörung ans
beimgefallen, ſich fo weit verirtten, er ben Dofithess, dann
den Simon, bann ben Menander ald ben von Johannes
angekündigten Gewaltigeren anzuerfennen, Dad Dafega
von Gecten, welche fi) an dieſe Pfeubochriken angelchloſſen
batten, if vollſtaͤndig bezeugte Thatſache (II, 4. 27.), Und
was den Simon betrifft, fo hätte der Werfaffer in dem von
ihm leider noch nicht berüdfichtigten neu entdedten Kirchen
lehrer — fey er nun Hippolptus oder ein uns ſonſt ger
nicht befannter Mann — die bedeutenbflen Beſtaͤtigungen
feiner Anfichten finden koͤnnen. Denn in dem merkwürdigen
Abfcpnitt am Anfang des fechften Buches der Philofophur
mena wird es aufs Neue bezeugt, daß Simon ſich für einm
Gott erklaͤrt hatte und für einen Gott gehalten wurde +);
die abſcheulichen Grundfäge feiner Anhänger hinſichtlich der
Moral werden mit ihren eigenen Worten angegeben b); amd
Simon’d Werke, der dadpasıg meydiy, werden Gtella
ausgehoben e), umd über fein Lebensende wird eine bis be
bin voͤllig unbefanute Sage mitgetheilt, Unter einem Plo
tanosbaume predigte er; Port ließ er fich mit dem Vorge⸗
ben, ex werbe wieder auferfieben, lebendig begraben, fland
aber natürlich nicht wieder auf 4). Auch fein Sylem wid
bort wait dem fonfigen Berichten äbereinftimmend gel$is
dert, Jedoch Hierin geht Bustterbed offenbar zu wei,
daß er dieſes Syſtem vollkändig, wie er es aus den Be
sichten verfchledener Kirchenlehrer sufammenfhgt, für autde⸗
&) Originie philosophumens, ed. Ran. Miller, p. 10].
Dip IM.
©) ib. p. 168 0qq.
ib. p. 176
die neuteftamentlichen Lehrbegriffe. 981
tif nimmt, Die Vermuthung liegt alzu nahe, daß, wie
die Kunde von Simon’s Leben Mothiſches, die Darftelung
feines Syſtems Eperegetifches enthält.
Der Verf. macht fi nun auf, in bem Paragraph:
der Pfeuboprophetismus in Kleinafien und Griechenland
(1, 9-57.), ale Spuren der gnoftifchen Haͤrefie, bie ſich
eben an die Simon’s knupft, im neuen Zeflamente zu vere
folgen.
Die offene Polemil in den Paftoralbriefen, die mehr
zurüuckhaltenden Anfpielungen auf ein gnoſtiſches Syſtem in
den Briefen an die Ephefier und Koloffer — worauf übris
gens die Gommentare von Staiger und Bähr zu dem
legteren Briefe noch vollftändiger eingehen, — endlich dig
Nikolaiten in der Offenbarung Johannis und bie ihnen
gleichartigen Häretiter im Briefe des Juda und im zweis
ten des Petrus werden mit Zug und Recht in diefen Zus
ſammenhang gebracht. Aber der Verfaſſer laͤßt ſich verleis
ten, Gnoftifer und Anomiften auch an Drten zu ſuchen
und zu finden, wo fie fchwerlich oder gewiß nicht zu finden
find. Allerdings deutet Paulus, wenn er im zweiten Brief
an die Theffalonicher von der Anomia, deren Geheimniß bes
reits in Wirkfamkeit fey, redet, auf diefe unheilverkündende
Beiterfheinung: die Aysartung des Epriftenthums in geſetz⸗
loſen Gnoſticismus ; aber daß es in Theſſalonika ſelbſt eine
gnoſtiſche Secte gegeben (II, 30.), ſagt Paulus mit keinem
Worte, ebenfo wenig, baß eine gnoftifche Seste zu Philippi
war (Il, 55.); denn was Paulus von Feinden des Kreuzes
Chriſti an die Philipper fehreibt, Eann auf Niemand beffer,
als auf isdifch gefinnte Judaiften bezogen werben, Aud
die Pfeudapoftel zu Korinth hält ber Verf. nicht für Zur
daiften, fondern für Gnoſtiker und Anomiſten, muß aber
geſtehen, daß fie aus Paldflina famen, fi) für Abgefandte
des Petrus und Jakobus auögaben, und fomit unter dem
65*
982 Lutterbeck
Schein des Judaismus auftraten (T, 46. 48.). Schon deß ⸗
wegen konnte dieſe Erörterung dem Verf. nicht wohl gelin⸗
gen, weil er Alles, was Paulus in Korinth zu bekämpfen
fand, auf Eine Richtung zuruͤczuführen ſucht (II, 50,). Am
allerwenigften aber wird ber Werf. Eingang finden, wenn
er fogar den Brief des Jakobus gegen die Gnoflifer gerich-
tet und für die Kirchen in Griechenland und Kleinafien be
ſtimmt feyn läßt (II, 52—54.). Paulus hätte, fo vermus
thet der Verf., bei feiner legten Anmefenbeit in Jeruſalem
im Jahre 58 dem Jakobus von ben Vorgängen in Korinth
erzählt, ihm feine Briefe an die Korinther und an die Rs
mer in Abfchrift mitgetheilt und ihn veranlaßt, ſich in einem
zunaͤchſt nach Korinth zu fendenden Briefe über die Ber:
werflichleit jener gnoſtiſch⸗ anomiftifchen Irrlehren auszu⸗
ſprechen. Diefe Hypothefe erfcheint und ald dad Schwäche
in dem zweiten Bande, und der Verf. konnte nur dadurch
auf fie verfallen, daß ihm der eine Punct, den er mit Recht
als hoͤchſt wichtig erkannte, die frühzeitige Entſtellung des
Paulinismus durch Gnoftiker, gegen die entſchiedenſten Ans
zeigen der Beftimmung des Briefes Jacobi für ſtreng jw
denchriftliche Gemeinden blind machte,
Gerintd und die Ebioniten vertreten bie dritte Form
der Gnoſis (1, 57—78,). Cerinthus wird ald Begründer
eines ſittlich gereinigten, dem Gefege befreundetern, idealiſti⸗
fen Gnoſticismus aufgefaßt (S. 66.), wiewohl gerade auf
einen ſolchen ſchon die Briefe an die Ephefier und Kolofer
hindeuten. An ihn ſchließt ih Walentinus, während fih
die andere Reihe von Gnoſtikern, die mit Simon beginnt,
imn Karpokrates, Saturninus, Baſilides und Marcion fort:
ſetzt (S. 67.). Der (gnoſtiſche) Ebionitismus wird von dem
Uebergang ber Effder zum Chriftenthum hergeleitet; Ebion
und Elxai werden für mythiſche Perfonen gehalten (&. 71.).
Doc fpricht für die Eriftenz des legteren der merkwürdige
die neuteftamentlichen Lehrbegriffe. 983
Auszug des neu entdedten Kirchenlehrers aus dem Bude
des Eichaſai a).
Die Gefichte der Jubaiften in Galatien, in Rom und
in Paldftina bildet den Inhalt des folgenden Abſchnittes,
woran fi) noch Einiges über die Judaiſten im Briefe des
Pfeudobarnabad und über die Nazarder anfchließt (II, 79
— 118), Es ift ganz richtig, daß die Judaiften nicht in
demfelben Sinne wie die Gnoſtiker eine Hätefie waren,
Die Milde des Paulus im Urtheil über die Judaiſten wird
bervorgehoben (11,90.91.), und dieß nicht zur Ungeit, wenn
man fi an die dermaligen Irrthümer über dad Verhaͤlt⸗
niß des Paulus zu den Anhängern des Mofaismus erinnert.
Ueber die Bedingungen, welche das Apoftelconcilium den
‚Heiden ſtellte, it Bd. 1. ©. 415. eine fehr beachtenswerthe
Erörterung zu finden; der Verf. fieht in den vier oder viel
mehr drei Bedingungen der Zulaffung nicht die noachiſchen
Gebote, wie fie der Talmud aufftellt, fondern die Forderun⸗
gen, an welche die Effäer die Zulaffung von Heiden ges
Entıpft hatten,
Bir gelangen endlich zum apoftolifchschriftlichen Lehr
reis, dem Schlußftein ded Ganzen (II, 121—305.). In
die Darftellung des Lehrgehaltes find, wie natürlich, Unters
ſuchungen über die Lebensgeſchichte der neuteftamentlichen
Schriftſteller und die Entftehung ihrer Schriften einger
freut. Aber eben fo zerflreut und zerbrödelt finden ſich diefe
Partien theild hier, theild in früheren Abſchnitten vor, fo daß
man fie erft mit Hülfe des ſehr zweckmaͤßigen alppabetifchen
Regifterd am Ende des Buches auffuchen muß, um fie zu
einer zufammenhängenden neuteftamentlichen Litteraturges
ſchichte zu verbinden. Dieß zu thun, ift hier nicht ber Ort;
H Origenis philosophumens, ed. Miller, p. 292 2qq.
984 Lutterbeck
daß der Verfaſſer es nicht gethan hat, iſt zu bedauern; es
wäre ihm nicht ſchwer gewefen, mit demfelben Stoffe und
denfelben Studien ein abgerunbetes Gefammtbild des apo⸗
ſtoliſchen Zeitalters aufzuftellen, Nur ein paar Worte über
biftorifch-kritifche Ginzelnheiten feyen bier geſtattet.
, Den Vertrag des Paulus mit Jakobus, Petrus und
Johannes (Galat.2.) verlegt der Verf, nicht in die Zeit des
Apoftelconcild (Ay. : Gef. 15.), fondern — mit Wiefeler
— auf einen fpäteren Beſuch ded Paulus in Jeruſalem im
Jahre 54, eine Löfung der Schwierigkeit, die nicht licht
Jemand befriedigen wird. — Ueber bie Anfläger des Pau
lus in Rom wird J, 119, Anm. eine finnteiche Vermuthung
aufgeftelt. Der Verf, findet fie in den Prieftern, welche
Felix gefangen gefegt und nach Rom gefendet hatte, wo fir
durch die Verwendung des Joſephus (im J. 63) freigelaſſen
wurden (losephus de vita sua 3,), Dieß geſchah durd
den Einfluß der Sabina Poppäa ; ihr ſchiebt der Werfaffer,
nad Wiefeler’d Vorgang, einen großen Theil der Schub
an bem Tode des Paulus und der neronifchen Werfolgung
zu. — Den Brief an bie Hebrder legt der Verf, zuverfiht:
lich dem Apollos bei — eine Hypotheſe, bie nach den Un
terfuhungen Bleek's von Luther ausgegangen ift, — mo:
dificirt jedoch diefe Anſicht fo, daß (wofür der Augenfchein
foricht) die legten neun Verſe von Paulus felbft beigefügt
feyen und daß Apollos in Gemeinſchaft mit Lukas, Clemens
und anderen Paulinern das Schreiben erlaflen hätte — eine
unnötpige Verſchmelzung mehrerer alter Hypotheſen (IL
101—103.). Ueber die Wabrfcheinlichkeit einer raſchen Ver⸗
vielfältigung und Ausbreitung der pauliniſchen Briefe ergeht
fich der Verf. (I, 181.) mit Nachiveifungen aus der Schrift
von Adolf Schmidt (Geſchichte der Denk⸗ und GSlaubens⸗
freiheit im erften chriftlichen Jahrhundert), welche Aufnahme
in die Einleitungen zum neuen Teftament verdienen, — In
die neuteflamentlichen Lehrbegriffe. 985
Bezug auf Jakobus und Judas, bie Brüder Chriſti, bieibt
der Verf, bei der ganz unbaltbaren Combinatien des Hies
zonymud ftehen, wornach fie mit den Apofteln dieſes Nas
mens identifch, nicht Brüder, fondern Vettern Ehriſti, und
zwar Söhne des Alphäus geweſen feyn follen (I, 141.).
‚Hier bat die herkoͤmmliche Anficht zu viel über die Kritik
vermodht.
Die Bedeutung diefeß letzten Buches: „der chriſtlich⸗
apoſtoliſche Lehrkreis“, if vor Allem eine dogmatiſche. Mit
hohem Intereffe wird der Lefer dem Verfaſſer folgen, wie
er, durchdrungen von der Goͤttlichkeit des Chriſtenthums als
Dffenbarung im firengen Sinne, überzeugt von ber Echt:
beit der heiligen Schriften, doch zugleich mit voller Dinge
bung die menſchliche Eigenthuͤmlichkeit der Schriftftieler und
die Entwidelungöftufen in den neuteflamentlichen Lehrbe⸗
griffen auffucht, wie er bei der unbefangenften Anerkennung
alles deſſen, was die proteftantifche, Kritik und biblifche
Theologie irgend Begruͤndetes vorgebracht hat, doch jene
Uebergeugung von der Echtheit und Theopneuſtie der heilis
gen Schriften zu wahren weiß. — Dabei feben wir ihn
mit einer Liebe zur Sache in die Tiefen des neuteftament.
lichen Schriftwortes eindringen, welche felten bei katholiſchen
Theologen gefunden wird und ſich, wo fie gefunden wird,
felten mit auögebreiteten biftorifhen Studien vereinigt,
Vielmehr ift es leider gewöhnlich der Fall, daß bei denen,
die ſich mit Sorgfalt in das Schriftwort verfenken, die dazu
nötbige Goncentration zu einer Vernachlaͤſſigung und Nichts
achtung der Geſchichte, des kirchlichen Dogma, der neues
sen Philofophie u. f. w. führt.
Der Berfaffer arbeitet in derfelben Richtung mit je
nen fc&riftgläubigen Proteftanten, welde fi daran ges
macht haben, zu zeigen, daß die göttliche Offenbarung es
Hr, welde fi in eine Entwidelung eingelaffen hat, und
986 Lutterbeck
daß dieſe anſcheinende Vermenſchlichung ihre Goͤttlichkeit
nicht aufhebt.
Wie aber ſchon in alter Zeit die verſchiedene Auffaffung
der Theopneuftie oder des Werbältniffes vom Göttlichen und
Menſchlichen in der Schrift in Zuſammenhang fand mit
einer Verſchiedenbeit in der Chriflologie — wir erinnern an
die antiochenifche und alexandriniſche Theologenfchule —, fo
ift es auch jeßt nicht zu verwunbern, wenn eine Schriftbe
trachtung, wie bie des Verfaſſers, zugleich in die Chrifle:
logie hinüberfpielt. So ernſt ift es ihm mit dem Grund:
gedanken, daß das Göttliche in die Einheit mit dem Menſch⸗
lichen eingeht, ohne letzteres zu zerflören, daß er, offenbar
diefem Principe zu Gefallen, in der Lehre von Chriflo eine
eigenthümliche, von den Ausdrüden der Rechtglaͤubigkeit
abweichende Anficht vorzutragen wagt. Ex verwirft bie Leht⸗
form, welche bei Perrone freilich etwas auffallend fo lau:
tet: in Christo erat natura humana sine persona. Et
dagegen fagt: „Die zweite göttliche Perfon hat eine menid:
liche Perfon von dem erften Augenblide des Dafeyns ter
legteren an, jedod mit rRüuͤckſicht auf deren kuͤnftige freie
Selbſtbeſtimmung mit ſich geeinigt” (11,123,), Wir kennen
den Gedankengang, der zu dieſem Sage binleitet und ihn
als nothwendigen Fortfchritt in der Entfaltung der kirchli⸗
chen Ehriftologie zu fordern feheint. Dennoch ift mit diefem
Schritt ein gefahrvolles Gebiet betreten. Denn einmal if
es nicht erfi Perrone, auch nicht erft die ſcholaſtiſche Theo:
logie, auch nicht erſt Johannes Damascenus gemefen
(auch nach ihm ift die menſchliche Natur in Chriſto avu-
s6orarog), der jene Lehrform aufgeftelt hat, fondern es
if ein Grundgedanke ſchon der oͤkumeniſchen Goncilien und
der gleichzeitigen Wäter, daß bie zweite göttliche Perlon,
welche von Ewigkeit perſoͤnlich if und Perfon bleibt, bie
menſchliche Natur in. die Einheit der Perfon aufgenommen
hat (filius dei assumsit naturam humanam in unitatem
die neuteftamentlichen Lehrbegriffe. 987
personae), Und wenn’ man meint, man. koͤnne von dieſem
Ausdrud abgehen, obne die Sache zu entfielen, fo ift dieß,
fuͤrchten wir, eine Täufchung. Um diefe Beforgniß vor dem
fofort drohenden Abweg in den Neſtorianismus gründlich zu
befeitigen, müßte erf eine Verſtaͤndigung über den Begriff
der. Perfönlichkeit fattfinden, der offenbar von Perrone
und von Baader (denn wir erinnern uns ähnlicher Aeus
Berungen von Baader, wie die, welche Eutterbed hier
thut) in verfhiedenem Sinne genommen wird,
Aber au in Beziehung auf die Schrift räumt ber
Verfaſſer der menſchlichen Seite eine Ausdehnung ein, wel»
he große Bedenken erregen kann. Wir meinen nicht allein
Bedenken bei ſolchen fchriftgläubigen Proteftanten, die dem
Conflict mit der argwoͤhniſchen, zerfegenden Kritik, ohne eine
befchügende kirchliche Autorität auf ihrer Seite zu haben,
auögefegt und dadurch veranlaft find, ſich mit übertriebener
Aengſtlichkeit an den Buchſtaben der Schrift anzullammern,
Ganz abgefehen von einer ſolchen Stimmung wird, vermus
then wir, felbft von katholiſchem Standpuncte aus Eins
ſprache dagegen erhoben werden, wie ber Verf. über die
Reden Ghrifti bei Johannes fpricyt (I, 254.). Er betrach⸗
tet diefe Reden als eine Quelle des johanneifchen Lehrbes
griffe, und offenbar mit Rüdficht auf die Gegner, welde
die Reden nicht für gefchichtlich oder nur für halb gefchicht:
lich halten, will er nur darauf beftehen, daß der Sinn dies
fer Reben treu wiedergegeben fey, nicht daß auch der Buchs
ſtabe derfelbe fey, den Chriſtus gebraucht hatte, Aber um
dieſes Zugefländnig zu rechtfertigen, genügen bie ganz rich»
tigen Säge über Infpiration, welche der Werf, bei dieſer
Gelegenheit aufftelt, Beineswegs, Denn diegmal handelt es
fi nit von einer Dolmetfchung geoffenbarter Wahrheiten
in menſchlichen Worten, wie in den prophetifhen und Dis
daktiſchen Büchern, fondern von hiſtoriſchem Bericht über
988 Lutterbedt
Borte, bie ſchon in menſchlicher Sprache von dem Men—⸗
fen Ghriftus ausgeſprochen worden waren, Das johens
neifhe Evangelium iſt eine Zeugenausfage über Worgänge,
die auf Erden gefchehen find und in die Ainnlicye Wahrneh⸗
mung fielen. Die firengen Anforderungen, welde nad
menſchlichem und göttlihem Recht an eine Zeugenaußfage,
zumal in fo wichtiger Angelegenheit, geſtellt werden, lafen
ſich nicht durch ſolche Aeugerungen befeitigen, wie I, 254.:
„Eines Apoftels ift e8 unwuͤrdig, ein Buchſtabenknecht, ge
ſchweige eine felbflofe Feder zu ſeyn, die von einem ihr
fremden Geifte geführt wird”, — oder: „der Buchftabe tödtet,
der Geift macht lebendig”, eine unrichtige Anwendung dieſes
Aus ſpruches, der einen hievon ganz entlegenen Sinn bat.
Die Schriften des Matthäus, Jakobus, Judas, Petrus
und Markus werben in dem „petrinifchen Lehrbegriffe” za⸗
fammengenommen (ll, 158—185,). Zrefflih ift die Cha⸗
rakteriſtik des Evangeliums Matthäi (11,161 ff.), doch nicht
überzeugend die Anordnung, welche dem Evangelium zu
Grunde liegen fol: Chriſtus als König: Matth. 10 1-4.
11,5 als Prophet: 4, 12-25, ; ald Hoberpriefter: 6-28,
(U, 158—160.). Die Worte: „Du bift Petrus” u. ſ. ſ.
werden von Matthäus aufbewahrt, von Lukas, dem Ghä
ler des Apoftel, der der Autorität des Petrus einmal öffents
lich widerflanden hat, werden fie libergangen, Der Bear.
ſieht hierin nicht einen Widerſpruch, aber eine „gegenfeitige
Befchränkung” und fagt, für feine Auffaffungsweife bezeich ⸗
nend: „Während im normalen Zuftende der Vorrang des
Petrus das Princip der Ordnung und die GSelbftändigkeit
des Paulus das Princip der Freiheit in der Kirche vertritt,
laſſen ſich auf beiden Seiten Abnormitäten denken, in denen
die vermeintliche Ordnung zur Werfteinerung oder Petrifids
zung (ein unabfichtliches Wortfpiel?), die vermeintliche Frei⸗
beit zur Auflöfung und Verfluchtigung alles chriſtlichen Ges
daltes, jene zur Willkuͤrherrſchaft und Tyrannei, diefe zur
+ bie neuteflamentlichen Lehrbegriffe. 989
Auflehnung und Mevolution führt — Beiſplele berartiger
Betirrungen weiß die Geſchichte von dem Worfall in Ans
tiochien an bis auf umfere Tage herab in zabliofer Menge
zu erzählen.” — „Gewiß ift in ber Kirche ein Petrus ohne
Paulus fo unbeildringend wie ein Paulus ohne Petrus, und
die Kirchenfreiheit, die jener wid, fo ſchlecht und verwerſlich
wie die Ordnung, welche diefer mil” (IT, 166. 167.). Mats
thaͤus faßt Die Kirche als Königthum. „Damit ift die pauliniſche
Anficht von der Kirche als einem Leibe und die johanneifche
als einer Familie zu vergleichen, um zu fehen, wie auch in
diefer Rüdficht Matthäus und Paulus ſich am meiften ges
genfäglid verhalten, Johannes aber beide vermittelt” (II,
S. 169.).
Die Schriften des Paulus, Lukas und Apollos (der
Brief an die Hebrder) kommen in dem paulinifhen Lehr
begriffe (Il, 186—251.) zur Sprache. Cine vortrefflihe
Stelle Über den pauliniſchen Lehrbegriff ift LI, 193. 194.
aus Thomas von Aquinum mitgetheilt. Was über die
Prädeftinationsiehre im zweiten Theile des Briefes an die
Koͤmer gefagt wird (II, 212.) iſt nicht völlig befriedigend,
Die Erörterung über die Kirche und die kirchlichen Einrich⸗
tungen nad) Paulus (11,213 ff.) zeichnet ſich aus ſowie eine
Stelle über dad Abendmahl (Il, 227.). Bei den legten
Dingen flicht der Verf, eine theologifch » philofophifche Uns
terſuchung Über die ewigen trafen ein, welche bajondere
Beachtung verdient (II, 232—238.), Es wird eine durchs
greifende Achnlickeit des paulinifchen Lehrbegriffes mit dem
phariſaiſchen nacgewielens „Paulus war aud noch als
Chriſt ein Pharifder der edeiften Art” (II, 145,) — auch Anas
logien mit dem ſtoiſchen Syſtem (ebendaf.); aber mit
Grund wird gefagt, daß ſelbſt Philon's Doctrin gegen die
des Apofteld wie Spreu und nichtige Gerede erfcheint (II,
S. 31).
Dod ward auch Paulus noch von Johannes Übers
990 Lutterbeck
troffen. Wie der Verfaſſer bed Briefs an die Hebraͤer,
muß Johannes die philoniſchen Schriften gekannt haben
(1, 441.). — Sein Eehrbegriff ift „die vollſtaͤndigſte Umar:
beitung der philonifchen Lehre vom Verhaͤltniß Gottes zur
Welt und indbefondere der philoniſchen Logoslehre, unter:
nommen, um der fi) vornehmlich auf Philon’s Xheorie
flügenden gnoſtiſchen Härefie jeglichen Boden zu entziehen”
(TI, 150, 151.). Petrus iſt der Apoftel des Judenthums,
Paulus der des Heidenthums, Johannes der ber Haͤreſie
gewefen, als Weberwinder ber nifolaitifhen und der cerins
thiſchen Serlehre (11, 134.). Die Apofalypfe, früher ge:
ſchrieben ald dad Evangelium (im 3. 69), ift fo gut wie
diefed von Johannes und ſtellt bie unmittelbare Vorſtufe
des im Evangelium enthaltenen Lehrbegriffes dar (Tl, 256.)
Ihr Grundgedanke ift richtig gefaßt, aber im Einzelnen wird
fie vom Verf. auffallend wenig ausgelegt und benutzt; viel:
leicht wollte er lieber wenig Auslegung von ihr geben, alt
eine verfehlte; ftehen doch wir Ale als ſchuͤlerhafte An:
fänger vor diefem unerfchöpflichen Bude. — Was ber
Berfaffer über die bibliſche, näher jobanneifhe Trinitaͤts⸗
lehre und ihr Verhaͤltniß zur kirchlichen fagt, geht fehr in
die Tiefe (I, 261. vergl. 206. 207.). Johannes bezeugt die
wabre, lebendige Gottesidee im Gegenfag zur abflracten
(71, 259.)5 ex, dem die neuefte Entſtellung feines Lehrbes
ariffes „bualiftifche Ieriehren ſchuld gegeben bat, überwindet
gerade den fubftanziellen Dualismus eines Philon von Geift
und Materie vermittelft der Durdführung des echten mo:
raliſchen Dualismus (I, 270.271,), fo wie durch das Zeug:
niß von der Fleifchwerbung des Logos und durch die Her⸗
vorhebung der Leiblichfeit Chrifii (275. 277.). Es ſchließt
diefer Abfchnitt mit Bemerkungen über den johanneiſchen
Chiliasmus, deffen Grundgedanken auch die Philofophie
nicht nur zuläßt, fondern als einzig würbigen Abſchluß der
Geſchichte fordert (I, 208.)
die neuteftamentlihen Lehrbegriffe. 99
. Indem wir zum Schluffe eilen, dürfen wir einige Mäns
gel nicht verſchweigen. Man merkt noch zu fehr, daß das
Wert aus Vorlefungen entftanden iſt; die Vorbemerkungen
und Uebergänge find mitunter zu umftändlih. Noch befler
würde der Totaleindrud des Gebäudes feyn, hätte ber Ver⸗
faffer alles Geruͤſte abgebrochen. Fehler in der Accentuas
tion der griechiſchen Worte ſtoͤren um fo mehr, da fich einige
von ihnen wiederholen, während im Uebrigen wohlthuende
Eorrectpeit herrſcht.
Der Verfaffer bat das Recht, von feiner Arbeit Ge⸗
winn für das eregetifhe Studium auf den Univerfitäten zu
hoffen. Er hat einen reihen Schatz des Wiſſens in einer
für Studirende volllommen zugänglichen Form dargeboten,
Werke wie diefed, wenn fie ernftlich ſtudirt werben, koͤnn⸗
ten unferen jungen XZheologen aus ber Zerfahrenheit und
Oberflaͤchlichkeit heraushelfen, an ber die jegige Spaltung
des theologifchen Vortrags in vielerlei Disciplinen und die
verwirrende, von den Quellen ablenkende Befchäftigung
mit den Einfälen de Tages zum großen Theile ſchuld
find. Es ift ein tragifches Geſchick, daß einer der wenigen -
theologiſchen Lehrer, welche geeignet find, ihre Buhörer vor
dieſem Unheil zu bewahren und in den Ernſt der Forſchung
ſowohl ald des Glaubens einzuführen, feiner theologiſchen
Lehrthaͤtigkeit beraubt worden ift, Seit die Borlefungen
der theologifhen Facultät zu Gießen aufgehört haben, hat
der Verfaſſer, um nicht jeder perfönlichen Wirkſamkeit ent⸗
fagen zu müflen, philologiſche Borträge über griechiſche und
römifche Antiquitäten und Archäologie gehalten. Die Bor:
ſteher der Batholifchen Kirche in Deutfchland und die, welche
neben ihnen über das Unterrichtöwefen zu beflimmen haben,
miüffen in einem beflagenswerthen Irrthum über die wahs
en Interefien des Chriſtenthums befangen feyn, wenn fie
die ohnehin nicht zahlreichen Männer entbehren zu koͤnnen
992 Lutterbeck, die neuteſtamentl. Lehrbegriffe.
glauben, welche in ihrer Verſoͤnlickeit und im ihrem Sirken
die Einheit ber wiſſeuſchaftlichen Wildung unſerer Beit wit
den alten religiöfen Ueberzeugungen darzuſtellen und zu vers
treten im Stande find,
7. Rov. 1852,
PH. Thierſch.
2.
Die Suͤndloſigkeit Jeſu. Eine apologetiſche Betradh-⸗
tung von D. C. Ullmann. Sechſte, neu bearbeir
tete Auflage. Hamburg, bei Fr. Perthes, 1853, VII
und 299 ©. in Detav.
Benn der Brief an bie Hebräer von bem Btifter des
neuen Bundes bejeugt: „Allenfhalben verfucht, gleichepie wir,
doch ohne Sünde”, ünd bie Kirche dieſes Zeugniß fih ans
eignet durch dad Welenntniß: „Uns in Allem gleich, anbge:
nommen bie Sünde” — fp find das fehr einfache, auch für
den ſchlichteſten Besftand zugängliche Worze. Aber wir eins
fach die Worte ſeyn mögen, fie enthalten doch flir ben, der
in die Tiefe umd Füße ihres Gehaltes eindringt, eine ganze
Belt von religioͤſen und ethifchen Gedenken; je noch mehr,
fie führen uns, fobald ihr Grund uns feßReht und ihr Bus
fammenbang richtig von und gewuͤrdigt wird, auf Die doͤch⸗
flen heilbringenden Realitäten Im Bereide des religioͤs⸗ſitt⸗
lichen Lebens hin.
Eine fündige Menſchheit auf der einen Geite, und ihr
gegenüber auf der andern ein Einziger, von deſſen ſuͤnd⸗
ullmann, die Sundloſigkeit If. 908
loſer Reinheit überzeugt zu ſeyn, wir alle Urſache haben:
das find Thatſachen, denem ein ungeheured Gewicht, eine
unermeßliche Tragweite zuerkannt werden muß. Sie fchließen,
wenn wir fie in ihrer ganzen Bedeutung begreifen, den
gottmenfchlichen Charakter des Suͤndlos⸗Heiligen, feine götts
liche Beflimmung zur Berföhnung und Erlöfung der Menfchs
beit, feinen Beruf zur Wermittelung der wahren Heilsoffens
barung, unfterfeitö aber bie Verpflidtung zum unbedingt
bingebenden Glauben an ihn in fi.
Dieß im Weſe en iſt es, was das Buch, welches
von Neuem dem theilnehmenben keſerkreiſe dargeboten wird
nach allen Beziehungen anſchaulich machen will. Es war
von Anfang defien Zweck. Aber in ber neuen Bearbeitung
iſt dieſes Biel noch beſtimmter ind Auge gefaßt und durchs
greifender verfolgt worden.
Die vorliegende Auflage liefert nicht bloß einzelne Um⸗
änderungen, fondeen eine umfaflende Erneuerung der Schrift:
eine Erneuerung, von ber wir hoffen und wänfden, daß fie
auch eine wirkliche Werbefferung des Ganzen ſey. Die
Theile, welche eine vollftändige Umarbeitung erfahren haben,
find außer der Einleitung vornehmlich folgende: der Begriff
der Sünde und der Sündlofigkeit; das Charakterbild und
das Selbftzeugniß Jeſuz die Wirkungen des Chriſtenthums
in ihrer Bedeutung für den Erweis der Suͤndloſigkeit; das
Berſuchtwerden Jeſu und die Verſuchungsgeſchichte; befons
ders aber der ganze vierte Abfchnitt, ber die Folgerungen
aus der Suͤndloſigkeit Jeſu behandelt, Diefe Partien möchte
der Verfafler, wie er es ſchon in der Vorrede gethan, am
meiften der Prüfung einfihtiger Lefer empfehlen, und in
Beziehung auf fie hegt er ganz befonderd den Wunfch, durch
berichtigende Weiterbildung feiner Gedanken oder durch Wis
derſpruch belehrende Förderung zu empfangen.
Auf Einzelnes fol hier nicht eingegangen werden. Der
N
994 Ullmann, die Sändlofigkeit Jeſu.
einzige Zweck diefer Selbftanzeige iſt, aud die Lefer der
Studien mit dem Vorbandenfeyn ber neuen Bearbeitung
befannt zu maden und fie mit wenigen Worten auf bie
Yuncte binzumeifen, für welche ſich der Verfaſſer vorzugs⸗
weife ihre Aufmerkſamkeit erbittet,
Ullmann,
Kirchliches.
Tpesl, Stud. Jahrg. 1868. “
Beiträge ) zur Geſchichte der Kirche und ‚des kirch⸗
lichen Lebens in der Kurpfalz
gegen bad Ende des 16. Jahrhunderts, °
mitgetheilt
von
Heinrich Heppe,
Dertot und Beofeffoe der Tieoleeke zu Marburg.
Die Geſchichte der evangelifhen und per chriſtlichen
Kirche überhaupt weiß von Feinem Fuͤrſten zu berichten, der
in fo umfaffender, energiſcher und eigenthuͤmlicher Welle die
ganze Macht feines landesherrlichen Regimentes äufgeboten
habe, um feinem Wolke chriſtlice Erkenntniß und phriftliche
Bucht beizubringen, wie bieß der junge Kurfürft Fried
ri IV. von der Pfalz that.
Friedrich IV. wollte fi nicht darauf befchnänken, die
Schöpfung feines Großvaters Friedrich's IN., das deutfch-
reformirte, auf des Baſis der melanchthoniſchen Doctrin auf-
geführte Kirchenwefen, in ihrem aͤußern Beſtande zu ſichern.
Denn im Grunde war dieß unter der vormundſchaft⸗
lichen Regierung Johann Gafimir’s (1583— 1592),
der das von Ludwig VI. eingeführte Lutherthum wieder
befeitigt hatte, trog der im Lande noch immer ſtark genug
8) Die Acten, auf denen die Darftellung ber hier zum erſten mal
voll ſtaͤndig beleuchteten Worgänge beruht, find von dem Berf.
in dem Segierungsardiv zu Kaffel aufgefunden worden. Um
der Kürze und Buverläffigkeit der Erzählung willen If dieſelbe
tpeilweife in woͤrtlichen Autzuͤgen aus den Acten gegeben.
e*
998 Heppe
hervortretenden Sympathien für das kutherthum ſchon bin
laͤnglich geſchehen. Vielmehr ging dad Streben des jungen Kur
fürften vor Allem dahin, den beutfehsreformisten Glauben, für
den fein eigenes Herz ſchlug, nicht bloß in den Äußeren Ordnun⸗
gen des Landes, fondern aud im Herzen feines Volkes zu
befeftigen. Und hierzu hat Kurfürft Friedrich eine Energie,
ine Thatkröft und Beharrlichkeit bes Willens aufgeboten,
die in ihrer Art ganz einzig daſteht und die Bewunderung
der Nachwelt. verdient.
Die Seele des Kurfürften war von dem Gedanken ers
füht, daß es eines chriftlichen Landesherrn heiligſte Pflicht
ſey, vor Allem dahin zu wirken, daß jeder Unterthan die
nothwendigſte Erkenntniß des chriſtlichen Heiles befige. Um
nun Über dad, was deßfalls zur Hebung der geiſtlichen Wohl
fahrt des Volkes geſchehen müfle, ins Klare zu kommen, be:
Schloß Friedrich, nachdem er eben erft zur Regierung gelangt
war, den Umfang und Charakter der priftlichen Erkenntuiß,
welche ſich bei den Unterthanen vorfand, zu ermitteln. Er
ließ daher (im December 1592) zunaͤchſt einen Theil feines
„Hofgefinded, darnach auch etliche von den Unterthamen
tentiren” und Aberzeugte ſich alsbald, daß faſt überall auch
in Betreff der fundamentalſten Lehren der Kirche die ent⸗
ſetzlichſte Unwiſſenheit herrſchte. „Denn Viele, ungeachtet
fie getauft find und fi Chriſten nennen laſſen, wiſſen doch
nicht, in weflen Namen fie getauft worden, können weder
‚die Artikel des chriſtlichen Glaubens — noch die Einfegung
der Zaufe, ja auch dad Water Unfer nicht erzählen. Etiche
die etwad davon willen, erzählen es gar in einem wider:
wärtigen Verſtand und lehren daffelbe auch alfo ihre Kin:
der. Ueberdieß, wenn man fie befragt, wer Bott fey, wer
der Mittler zwiſchen Gott und den Menſchen, weldyes der
Weg zu dem ewigen Leben, — fo wiflen fie davon ebenfe:
viel als ein ungetaufter Heide. — — Wie auch diefes Feine
geringe Verunehrung Gottes ifl, daß die armen, elenden Leute,
wie leider hin und wieder im Lande von Alten und Jungen
Beiträge zur Gefchichte der Kirche ꝛc. 99P
gefchieht, alle Tage beten: „Gott wolle und unfretägs
liche Nahrung vergeben, er wolle uns unfre
Schuld geben und widerfabren laffen; item:
er wolle uns nicht führen und wolle und ver
fuden. — Item, daß Etliche in dem chriſtlichen Glauben
anftatt der Worte „„Ich glaube eine Gemeinfchaft der Heir
Higen”” ſprechen: „„Ich glaube eine Gemeinſchaft
der Hölle” a),
Diefe traurige Erfahrung brachte den Kurfürften auf
den Gedanken, mit: feinem ganzen Wolke einen Proceß vors
zunehmen, der, wie er glaubte, nothwendig jeden einzelnen
feiner Unterthanen in den Beſitz der wefentlichfien Heilder:
kenntniß bringen mußte. Er ernannte namlich eine Vifita;
tionscommiffion, welde beauftyagt ward, jede Stadt und
jeded einzelne Dorf des Landes zu bereifen und überal in
folgender Weife zu verfahren b).
Die Vifitatoren folten zu den Amtleuten jedes Drts
geben, denfelben ihre Vollmacht vorlegen, dann bie Glocken
laͤuten und den Pfarrer vor verfammelter Gemeinde eine
Predigt holten laffen, in weldyer dad, Wolf ermahnt werden
folle, Gott um fruchtbarliches Gedeihen der bevorfiehenden
Biſitation anzurufen. Zugleich folten die Vifitatoren aus
a) Ausgezogen aus: „Vortrag, fo bei ber angeftelltent Bifitation
Gpurfürft. Pfalz angehdrigen Dieneen und Buͤrgerſchaft zu Hei⸗
beiserg befäjehen, den 19. Noyembris 40. 93.”
b) „Infeuction, was unfte von Gottes Gnaden griedrichen Pfalz:
grafen bei Rhein, des heil. römiſchen Reiche Erptruchfeffen 2c.,
Kirchenxaͤthe und verorbnete Visitatores und liebe Gelreuen fammt
und fonders in allen und jeden unfeen Aemtern, Gtetten, Flecken
und Dbrfern dieſes Kurfürſtenthums der Pfalz am Rhein kraft
der aus fonberbaren, hohen und beweglichen Urſachen angefihten
Viſitation nicht allein des Kirchenſtands, fondern aud) des polis
tifhen Wefens halber in Gegenwart und mit Zuthun unferer
jedes Orts Ober» und Unteramtleute, zu erkunden, zu verbeflern,
und wie fie es allenthalben geſchaffen befunden, uns arbentliä
und mit Umfänden zeferien und onbringen follen.”
100° Verppe
der Predigt zu ermitteln ſuchen, ob der Pfarrer feine Bor:
träge verfländlich, erbanfich und zum wahren Unterricht und
Troſt der Zuhörer einzurichten wiſſe. — Nach beendigter
Predigt folten die Viſitatoren durch die Amtleute alle ob:
rigkeitlichen Perfonen des Orts, Schultheiß, Bürgermeifter
und Rath, das Gericht und die ganze Gemeinde zu einer
beflimmten Stunde und an einen beflimmten Ort zufam-
menrufen laffen, um dad Wolf mit dem eigentlichen Zwede
ber Bifitetion bekannt zu machen. Die Vifitatoren folten
hierbei namentlich darauf hinmeifen, daß es durchaus niht
des Kurfürften Abſicht ſey, Iemandem den Glauben aufze
drängen, oder ihn durch Bloßlegung feiner Unwiſſenheit zu
kraͤnken, daB et vielmehr nur dad ewige und zeitliche Hei
feiner Unterthanen im Auge habe, welches Riemand obne
Exrkenntnig der weſentlichen Heilslehren ber Kirche zu erlans
gen vermöge, weßhalb alle Unterthanen in diefer Wifitation
eine gnädige Heimfuchung de& Allerhoͤchſten zu erfennen
bätten.
Nachdem hierauf ein Gebet gefprodhen, worin man Gott
anzurufen habe, daß er das ganze Werk durch feinen heil:
gen Geift regieren und es jur Ausbreitung der Ehre feine
allerheiligſten Namens und zu des armen Volkes ewige
Bohlfahrt gereichen laſſen wolle, — ſollte nun bie Prüfung
beginnen, jedoch für diegmal nur mit dem männlichen Ges
ſchiecht. Auch follten alle obrigfeitlichen Perfonen gefondert
vom Volke verhört werden, „damit fie nicht, wenn fie in
gleicher Unmiffenheit wie die gemeinen Eeute erfunden win
den, vor benfelben beſchaͤmt und bei ihnen verächtlid ge
macht würden”,
Die Bürgerfhaft zu Heidelberg erhielt noch bie
befondere Wergünftigung, daß bie Prifung mit ihr nicht
öffentlich, ſondern bei verfchloffenen Thüren vorgenommen
ward, „wegen ber großen Menge und fonderlich der frems
den 2eute, fo allhier wohnen”,
Die Bifltatoren durchzogen nun das Land und verfübs
Beiträge zur Geſchichte ber Kirche ıc. 1001
ven aller Drten genau nach ber ihnen mitgegeben Juftruc-
tion. Ramentli ward die Prüfung eines jeden einzelnen
männlichen Untertanen mit der allergrößten Sorgfalt auds
geführt: „Im ſolchem Examine aber hat man vornehmlich
zwei Puncte einem Jeden gefragt; erſtlich, ob fie die fünf
Hanptflüde riftliher Religion, naͤmlich Pie zehn Gebote
Gottes, die Artikel des chriftlihen Glaubens, dad Water Uns
fer, die Ginfegung beider Sacramente, — fo viel allein ben
bloßen Text derſelben anlangt, zu erzählen wüßten, Dars
nad und fürs Andre, ob fie auch der darin verfaßten chriſt⸗
lien Lehre einen Berftand haben, fintemal der Menfch ohne
derfelben Wiſſenſchaft und Verſtand nicht felig werden Fan.”
Wie nun ein Jeder beftanden, ift fleißig verzeichnet
worden, damit man wiflen möchte, wo ed Jedem fehlt, und
man in Unterweifung und Verbeſſerung ſolcher Mängel fi
defid beffer danach zu richten hätte” 5).
Nad beendigter Prüfung warb fodann die ganze Ge:
meinde wieder zufammengefordert, um fi) das Ergebniß
derfelben vorhalten zu laſſen. Die Wahrnehmungen, welche
die Vifitatoren an ben einzelnen Gemeinden machten, waren
immer ziemlich biefelben, weßhalb fie jede Gemeinde darauf
binwiefen, „daß fie über Zuverficht, nicht. ohne große Bes
fremdung, Werwunderung und Betrübniß vermerkt, daß fo
gar ein geringer Theil unter ihnen den bloßen Text ber fünf
‚Hauptftüde aus dem Kinder-Ratechismus ganz und recht
erzählen koͤnnten; ja daß ihrer auch leider mehr ald zu Viele
erfunden worden, die weber dad Water Unfer, — noch bie
Ürtikel des chriftlihen Staubend — nicht haben erzählen
koͤnnen. Viel weniger aber find derjenigen befunden wors
den, bie recht gewußt, wie fie follen felig werben, und fol-
er ihrer Seligkeit ſich tröften Finnen.”
a) „Bericht von gehaltener Viſitation, angeſtellter Unterweifung der
Alten und Katedjifation der Jugend, unb von den Mitteln, das
durch ſolche Anordnung im Schwang beharstid erhalten wich”.
1002 Heppe
Die Refultate der Prüfungen waren fehr trauriger Art.
An manchen Orten fanden ſich kaum zehn Leute vor, die
das Bater Unfer richtig herſagen konnten. Dagegen zeigte
es fi an der finnlofen Form, mit welcher die Meiften das
Gebet und den Glauben recitisten, daß fie beides mur ge:
dankenlos herzuplappern vermochten, Wiele ſprachen: „Dein
Wille geſchehe im Himmel, wie auf Erden”; „unfer täglich
Brod vergib und heute”; „nicht erfuͤhr' uns, Fein Webel vers
ſuche und”; „gib und unſte Schuld”; — und der Glaube
ward ganz gewöhnlih mit den Worten recitirt: „gelitten
bat Pontius Pilatus”, „geponziget unter Pilatus”, „der
heilige Geiſt ift geboren”, „bie Jungfrau Maria hat gelit:
ten” u. dgl, m,
Nur über dad Ergebnig der mit der beidelberger Bin:
gerſchaft angeftellten Prüfung finden ſich genauere Nachrich⸗
ten vor, Es wird nämlich erzählt, daß kaum der dritte
Theil derfelben den Text der fünf Hauptfilide babe ange
ben und daß unter biefen nur fehr Wenige die einfache Frage,
wodurch der Menſch felig werde, hätten richtig beantworten
können, „Denn auf befchehene Befragung haben fie eined-
theils unterfhieblih zur Antwort gegeben: durchs Ge
bet, eineötheild: durch gute Werke, einestheils: durch
die Sacramente, eineötbeild: durch die Worte,
welde Chriftus im Nachtmahl geſprochen, und
was bergleichen ungeſchidte Antworten mehr im Examine
vorgefallen. Etliche haben zwar recht geantwortet, daß fie
durch den Glauben an Jeſum Chriſtum felig "werben; ald
fie aber weiter befragt worden, was fie durch ſolchen Glaus
ben verftünden, haben fie die Antwort gegeben, — daß fie
unter dem Glauben entweder die bloße Erzählung der Ar:
titel, oder die fchlechte Wiſſenſchaft der Hiſtorien verftchen,
ober aber, daß einer mit feinem Bekenntniß nicht dem jüs
diſchen, tuͤrkiſchen, heidniſchen, fondern dem chriftlichen Glau⸗
ben zugethan fey.”
Es war fomit die traurige Thatſache feſtgeſtellt, daß ch
Beiträge zur Gefchichte der Kirche ꝛc. 1003
bis dahin der evangeliſchen Kirche des Landes nicht geluns
gen war, bie proteflautifche Erkenntniß von der alleinigen
Rechtfertigung durch den Glauben an bie freie Gnade in
das ‚Herz des pfälzifhen Volkes einzupflangen, Der gänzs
liche Mangel alled eigentlich Firchlihen Bewußtſeyns im
Volk trat auch darin fehr auffallend hervor, daß ſich na⸗
mentlich zu Heidelberg gar Feine Erkenntniß von der dem
geiſtlichen Amte zulommenden Bedeutung vorfand. „Denn
der meifte Theil Zuhörer allhie fi (gegen die Geiſtlichen)
allſo erzeigen, als wären diefelben nicht Botſchaſter an Chriſti
Statt, durch welche fie Gott vermahnt, und eben als hätte
Chriftus ‘allein von feinen Apofteln, und nicht von allen ges
fandten Dienern feines Evangelii gefagt: wer euch vers
achtet, der verachtet mi, Ja man fpürt bei Etlichen nicht
allein eine bloße Verachtung, fondern daneben aud eine
unchriſtliche Werbitterung wider ihre von Chriſto vorgefehs
ten Hirten und Lehrer, und zwar eine ſolche Verbitterung,
darin fie auch auf ihrem Todbette verharren; deſſen man
noch ein friſch Erempel in diefer Gemeinde allhier zu Hei⸗
delberg hat.”
Daneben traten allerdings auch einzelne erfreulichere
Erfcheinungen hervor. Es fanden fich zu Heidelberg „etliche”
Bürger, „welche nicht allein der chriftlichen Lehre einen fats
ten Berftand, fondern auch barin einen feinen chriſtlichen
Eifer” hatten. Auch konnten die Vifitatoren die Wahrnehs
mung machen, „daß die Unwiffenden alle miteinander ihre
Unmiffenheit erkennen und ſich erbieten, dasjenige, fo fie
jegund nicht wiffen, binfüro gern zu lernen, auögenommen
etlihe Wenige, deren gleihwohl in alla vier Quartieren
(zu Heidelberg) über fünf nicht find, welche entweder Iprer
Kurfürftlichen Gnaden Zweck und Vorhaben nody nicht ges
nugfam verftehen, oder aber gar überaus verfiodte gottlofe
‚Herzen haben müffen,” —
Am Schluffe des Vortrags, welchen die Vifitatoren dem
Gemeinden hielten, warb benfelben noch bemerklich gemacht,
1004 om
daß die Prüfung und diefe Erzählung ber ſchrecklichen, un:
glaublichen und mehr als heibnifchen Unwiſſenheit und Blind:
heit ded größten Haufens nicht den Bwedd habe, dad Boll
zu verkleinern und zu befhämen, fondern daß es diefe feine
grobe Unwiffenheit erfenne und an die ewige Berbammuig
denke, die auf ſolche Blindheit nothwendig folgen müfle.
Das Volt folle darum in ſich gehen und allen Fleiß an
wenden, baß ed zur wahren Erkenntniß Gottes und feine
Heiles gelange, und dadurch der allerhöchften Gefahr und
Strafe entfliche,
Um nun die allmähliche Verbreitung chriſtlicher Erkennt:
niß im Wolle zu ſichern, ordneten die Wifitatoren an, daß
in jedem Drte allfonntäglich nach gehaltener Predigt vier
bis ſechs Wochen dindurch von dem Pfarrer mit ber Ge
meinde ein beſonderes Gebet geſprochen werben follte, „in
welchem erſtlich die Gemeinde vor dem Angefichte Gottes
ihre große Unwiſſenheit und Blindheit, auch Unadhtfamkeit,
Sicherheit und Verachtung der Gnade Gottes befennt, die
er ihnen in feinem Wort hat vortragen laffen, (und in web
dem fie) darnady bittet, daß Gott ſolchen ihren Undank und
große Sünde ihnen nicht wolle zuxechnen, und um derowe⸗
gen feine Gnade von ihnen wenden, fondern foldyes Alles
ihnen gnädiglih um des Blutvergießens Jeſu Chriſti des
Mittlers willen verzeihen und vergeben, und mit feinem beis
tigen Geifte ihre Herzen erfeuchten und erweichen, daß fie
diefe gnädige und väterliche Heimfuchung. Gottes erkemen,
ihr Elend, darin fie fleden, recht fühlen, zu Iefu Chriſte
fich recht fihiden und ber ewigen Verdammniß durch Got:
tes Gnade entgehen, und durch rechte Erkenntniß Gotteh
und, ben er gefandt hat, Jeſu Eprifti, unferes einigen Mitt:
ler, und durch wahren Glauben an ihn ewig felig werben
mögen.”
Außerdem fuchten die Bifitatoren nach allen Seiten bin
über den kirchlichen und fittlihen Buftanb der Gemeinden
and über die Amtöverwaltung der Pfarrer bie genauefle Er
Beiträge zur Geſchichte der Kirche c. 1005
kundigung einzuziehen. Sie fragten, wie oft ber Pfarrer an
den Sonn: und Feſt⸗, fo wie an ben Wochentagen prebige,
welche Gommentare und andere Bücher er zur Ausarbeitung
feiner Predigten benntze, welche Bücher ex befige, ob er den
Katechismusunterricht fleißig ertheile, wie oft und in welcher
litutgiſchen Weife er Abendmahl halte; ob fich die Gemein⸗
deglieder zur Anhörung der Predigten und zum Genufle des
Sacraments fleißig einfänden, und ob fie vor dem Gebrauche
des Abendmahls in erforderlicher Weife unterrichtet würden;
ob die Drtsobrigfeit das Volk zum fleißigen Kirchenbeſuch
anbalte und die Ungehorfamen firafe; ob ein newer Kirchen ⸗
bau nöthig, und ob berfelbe etwa erfäjwert werde; ob ſich
Wiedertäufer oder andere Sectirer, oder ſolche Leute vor»
"fänden, bie ein aͤrgerliches Leben führten und dergl.
Rath, Gericht und die Wornehmen der Gemeinde wur:
den indbefondere gefragt, ob nicht bloß ber Pfarrer, ſondern
auch, fald im Dorfe eine Schule eingerichtet war, der Schule
meifter getreulich fein Amt thue. Dagegen hatten fich der
Pfarrer und Schulmeifter darüber zu erklären, ob fie bei
den Amtleuten ben nöthigen Schug fänden, ob bie etwaigen
Gollatoren der Pfränden ihre Pflicht thaten, ob fich ihre
Baulichkeiten in gutem Stande befänden, ob ihnen ihr com»
petenzmäßiges Einkommen zugeltefert werbe, und ob bie
Elaffenconvente, fo wie die vierzehntaͤgigen Vree eerialſitzun⸗
gen ordentlich gehalten würden,
Sodann furhten die Viſttatoren zu ermitteln, ob überall
die Polizei», Ehes, Almofen= und andere Ordrungen richr
tig gehandhabt, und ob für die Auftechthaltung chriſtlicher
Bucht in der Gemeinde die noͤthige Gorge getragen würde,
Wo fi Hofpitalien, Waifen» und Siechenhäufer vorfan«
den, wurden diefefben von ben Wifitatoren genau unterfucht.
Unmittelbar nad) vollendeter Bifitation fandte die Com:
miſſion ihre ausführlichen Serichs an den Kurfürften ein,
und fofort erfolgten, — zunächft für die Stadt Heidelberg, —
die gemeffenften Befehle zur kirchlichen Informirumg aller
1006 2... Deppe
Unwifienden. In Heidelberg follte jeder berfelben vier Zochen
nach beendeter Viſitation nochmals geprüft werden. Der
Schultheiß und Buͤrgermeiſter der Stadt erhielten den Be:
fehl, fernerhin Niemandem dad Bürgers oder Wohnrecht zu
ertheilen, der ſich nicht durch Vorlegung eines pfarramtlichen
Beugniffes darlıber ausmweife, daß er die fünf Hauptflüde
vollftändig erlernt babe; und die Pfarrer wurden angewie⸗
fen, kein Brautpaar aufzubieten ober gar einzufegnen, dem .
fie ein ſolches Zeugniß nicht ertheilen koͤnnten.
Außerdem erließ der Kurfürft für die Buͤrgerſchaft zu
‚Heidelberg folgende Beflimmungen,
In einem jeden Quartiere der Stadt follte ein beſtimm⸗
tes Local eingerichtet werben, in welchem jeder Bürger zu
einer gewiflen Tageözeit von einem Geiftlichen über den we⸗
fentlihen Sinn der fünf Hauptflüde und über das zur Ge:
ligkeit unerläßliche Fundament ber chriſtlichen Lehre unters
richtet werben follte. Doch ſollte diefer Unterricht nicht,
wie auf dem Lande, Öffentlich, fondern bei verfchloffenen
Xhüren und nur in Beifeyn eines Rathsherrn ertheilt wers
den. Und je nachdem ein Quartier größer oder Meiner ſey,
ſollte in je zehn oder weniger Wochen jeder Einwohner wer
nigfiend einmal geprüft werben. — Jeder verbeitathete
Bürger ſollte feine Frau mit in den Unterricht bringen, und
die Wittwan follten mit den Männern gezählt werben. —
Eröffnet follte diefer Informirungsproceh am 1. Dec. 15%
dadurch werden, daß an bdiefem Tage Nachmittags 2 Ubr
‚zwei ber verorbneten Viſitatoren „mit etlichen Paaren Eher
teuten in verſchloßner Kirche, nämlich in ber Kirde zum
bei, Seift, den Anfang machten, um dadurch den Kirchen:
dienen nicht allein wegen Ihrer Kurf. Gnaden das Wert
in die Hand zu geben, fondern zugleich auch die Weile,
Meinung und Wege zu zeigen, wie Ihre Kurf. Gnaden es
binfüro wollen gehalten Gaben.”
Außerdem follten die Geiſtlichen an -jevem Gonntage
um 12 Uhr über die fünf Hauptflüde predigen, und zwar
Beiträge zur Gefchichte der Kiche ꝛc. 1007
ganz in derſelben Weiſe, in welcher fie die Einzelnen zu bes
lehren pflegten. Auch folten fie hierbei dem Wolke diejeni⸗
gen biblifchen Geſchichten worerzählen, welche zum Verſtaͤnd⸗
niß der Summe und des Zundaments der ganzen chriftlichen
Lehre vonnöthen feyen.
Demgemäß ward an alle Bürger der Befehl erlafien,
daß fie fi fammt Weib, Kind und Gefinde zu dieſen Pre—
digten, fo wie zu den etwas ausführlicyeren Katechismuspre⸗
digten, die um 3 Uhr gehalten würden, fleißig einfinden
folten, — Zugleich traf der Kurfürft die nöthigen Vorkeh⸗
rungen, um die Begründung chriſtlicher Erkenntniß aud in
den Kindern möglichft zu fihern. Den Eltern ward naͤm⸗
fi zur Pflicht gemacht, n Kindern die fünf Hauptftüde
nad richtigem, unverfaͤlſchtem Text moͤglichſt frühe einzus
uͤben, ſie fleißig zur Katechismuspredigt mitzunehmen, und
nicht zu geſtatten, daß ſie waͤhrend derſelben auf der Gaſſe
ober vor dem Thurm umherliefen, indem auch der Schult⸗
beiß und Bürgermeifter der Stadt angewiefen feyen, dem
unleidlihen Muthwillen der Jugend auf den Gaflen mit
mehr Ernſt, als bisher geſchehen, zu begegnen. — Außerdem
befahl der Kurfürft, die Zahl der deutfhen Schulen in der
Weiſe zu erhöhen, daß ſich in jedem Quartier eine deutſche
Knaben: und eine Maͤdchenſchule befände, weldye von ben
Pfarrern wöchentlich, von den Kirchenraͤthen halbiaͤhrlich wis
fitirt werben folten. Der Beſuch diefer Schulen ſollte für
die Kinder drmerer Eltern unentgeltlich ſeyn; nur bie vers
möglicyeren ſollten vierteljährlich zwei Bagen zahlen. Die
Eitern aber follten ihre Kinder zum fleigigen Beſuche der
Schulen anhalten und fie namentlich leſen lernen laffen, da=
mit diefelben, wenn fie etwa jemald an Orte kaͤmen, wo
fie feine evangelifche Predigt hören koͤnnten, ſich felbft aus
Gottes Wort zu erbauen vermöchten.
Noch umfaffendere Anordnungen traf der Kurfürft zur
Informirung der Landbewohner. Zunaͤchſt fegte er für jede
Landgemeinde einen beſtimmten Termin feft, bis zu welchem
1008 Heme
Jedermann bie fünf Dauptikäde genau auswendig lernen
folte. Nach Ablauf dieſes Zermsins ſollte jeder Einzelne
von feinem Pfarrer nochmals geprüft, und wenn er in der
Prüfung beftebe, aus ber Liſte der Ignoranten geſtrichen
werben. Imi andern Falle dagegen ſollte der Pfarrer fert:
fahren, ibn zu unterrichten. „Doch mit den gar alten, als
beenen und mit den übel hoͤrenden Leuten follten die Pfer:
rer Geduld tragen, — ja dahin traten, daß, da fie ſchen
die Worte nicht ale fo ger gewiß kaſſen oder behalten
bunten, fie doch den Verſtand davon bekommen möchten,
Sonderlich aber, daß fieihnen dengefreujig
ten Chriſtum ind Herz predigen und ihnen oft
und viel vorfagen und eigbilden, wir fie durh
Herzlihes Vertrauen auf das Verdienſt des
Leidens und GSterbens Ghrifi, wann ihr
Stündlein vorhanden ift, in Frieden mit dem
alten Simeon von binnen fahren follen.”
Um dem Gedaͤchtniß der Leute die fünf Hauptſtuͤce
moͤglichſt einzuprägen, follten biefelben allſonntaͤglich vor
der Kanzel herab laut und verſtaͤndlich vorgelefen werden.
Außerdem verorbnete der Kurflirft, „daß alle Wochen auf
einem gewiſſen Zag und Stunde nach Gelegenheit jedes Drtb
eine gewiſſe Anzahl Manns und Weibsperſonen, mehr oder
weniger, je nachdem die Gemeinde groß oder klein ſey, an
einen gewiffen Ort durch die Obrigkeit vorbeſchieden und
durch die Kirchendiener aus dem bloßen Text der fünf Haupt:
fiide chriſtlicher Religion in dem Fundament derfek
ben auf das allereinfältigfie muterrichtet und unterwiefen
werde.”
Diefe Unterweifung folte in den Dörfern, Flecken und
Heinen Städten des Landes, um die Unterthanen nicht in
ihrer Feldarbeit während der Wochentage zu fören, Some
tags nach der Mittagsprebigt, in ben größeren Städten da⸗
gegen an einem beflimmten Wochentage ertheilt werden. Und
iwar follten immer fo viele Gemeindeglieber vorbefdhirden
Beiträge zur Geſchichte der Kirche ıc 1009
werben, daß in den größern Städten innerhalb adıt oder
sehn Wochen, in den Eleineren Gemeinden dagegen innerhalb
vier Wochen jeder Ortsange hoͤrige einmal katechiſirt werden
konnte. In den größeren Städten, wo der Batechetifche Uns
terricht am Sonntag nad) gehaltener Mittagspredigt gehals
ten werde, follten die zur Kirche Beſchiedenen in Beifeyn
der ganzen Gemeinde unterwiefen und verhört werden, das
mit auch die Uebrigen ihren Gewinn davon haben könnten,
Nur die Kinder folten vor dem WBeginme der Prüfung ents
laſſen werden, „daß fie nit hören, wenn die Alten übel bes
fliehen, und ihrer fpotten”.
Um ven Pfarzgga die Ertheilung des Unterrichts zu er⸗
leichtern, wurde benfelben eine Batechetifche Darlegung der
weſentlichſten Lehren des Chriſtenthums in awanzig Bragen
witgetheilt, welche gewiffermaßen eine Reproduction des Ins
balt8 der beidelberger Katecheſe enthielten. In diefen Bra
gen und Antworten wurden nämlich drei Stüde als Inbes
geiff aller Heilserkenntniß hingeftellt: 1) die Erkenntniß des
menſchlichen Sündenelendes; 2) die Erkenntniß, wie der
Menſch aus diefem Elend eriöft werde, und 3) die Erkennt
niß, wie ſich der Menfch für diefe Offenbarung Gott dank.
bar zu erweifen habe.
Außerdem erließ ber Kurfürft an alle Pfarrer des Lanz
bes folgende Inftruction, nach welcher fie den Unterricht er⸗
teilen follten:
„Belangend die Alten, follen die Kirchendiener die Pre-
digt um 12 Uhr am Sonntag bis auf fernere Verordnung
einfellen, und ſtatt derſelben dahin fi bemühen, daß die
armen, unberichteten und unverfländigen Leute bie textus
eatechismi recht erzählen lernen und in ben fundamentis
religionis christianae wohl informirt und unterwiefen wers
var ——'
„Sollen derhalben an einem jeden Drt, zu der Zeit und
Stunde, wie in visitatione nad) Gelegenheit jeber Kirche
geordnet, fo viele Mannsperfonen fammt ihren Weibern, als
1010 Heppe
ihnen befohlen worden, alle Sonntage durch die Unteramts
. leute beffelbigen Orts vorbefchelden laſſen, diefelbigen in der
Kirche niederfegen, und ihnen in Beifeyn der ganzen Se:
meinde, wann fie zuvor gefungen und gebetet haben, bie
bloßen Texte der fünf Hauptſtuͤce verſtaͤndiglich, langſam
und deutlich vorleſen, damit die Unwiſſenden und Anſtoßen⸗
den dieſelben bei ſich ſelbſt recht lernen nachſprechen. —
Darnach ſollen fie ihnen auch die zwanzig gedruckten Frage:
flüde, die ihnen zum Verſtand gedadter Haupt
flüde dienen follen, gleichermaßen deutlich vorfprechen,
und nahmals ein Stüd nad) dem andern fein kurz und
verftändiglich erklaͤren, wie fie in visitagpne gefehen und ges
bört baben.”
„Und da fie eins der drei Stuͤckẽ gedachter Fragen (als
erfilich von des Menfchen Elend) erklärt haben, ſollen fie
bie in felbigem Stüd begtiffenen Fragen kurz, verſtaͤndiglich
und folchermaßen vepetiren, daß die Antwort darauf folden
armen Peuten gleichfam in den Mund gegeben werde, und
alsdann umfragen, ob fie diefelben auch verſtanden und ges
merft haben.”
„Er foll auch mit befonderem Fleiß daflır ſeyn, daß die
Leute nicht ohne Verſtand, allein mit audwendig gelernten
Worten psittaci more auf die Fragen antworten, fondern
fol mehr auf den Verſtand als auf die Worte bringen. —
Und damit diejenigen, fo die Terte der fünf capitum ein:
mal recht gelernt, diefe nicht wiederum vergeffen, ſoll er
allwegen bei jedem Stüd denjenigen Tert, welcher dazu ges
börig, nur eins aus den niedergefegten Ehelenten, Mann
ober Weib, erzählen laſſen; als auf die Frage: Woraus er:
kennſt du bein Elend? fol er den Decalogum erzählen
Taffen; auf die Frage: Wer ift Chriſtus das Symbolum;
auf die Frage: Wozu dienen und die Sacramente? die Eins
fegung der Sacramente; endlich auf die Frage: Wie fol
man Gott dankbar feyn? — und fie antworten: mit dem
Gebet, — fol er das Gebet des Herrn erzählen laffen.” — —
Beiträge zur Geſchichte der Kirche ꝛc. 1011
„Es follen ſich aber die Kirdhendiener fleißig hüten, dag
fie in gebachter Unterweifung nicht fremde, vielmeniger hohe
Bragen einmifchen, fondern follen bei den ihnen vorgefchries
benen zwanzig ragen unb deren einfältiger Erklaͤrung bis
auf fernere Verordnung verbleiben,”
„Die Kinder anlangend, ſollen fie denfelben zu ange:
regter Stunde bie Zerte der Hauptflüde, wie den Alten,
langfam, deutlich und laut vorlefen und biefelben von einem
commate zum andern fein laut und verfländiglich nach⸗
ſprechen laſſen.“ — —
„Darnach follen fie die Kinder, wie ſolche in gewiſſe
. classes abgetheilt find, nachdem ein jegliches gelernt hat,
eraminiren und fehen, wie fie zunehmen. Und weil deren
zweierlei find, etliche, fo in die Schule gehen und ben Kas
techismus lernen, andre, fo nicht in die Schule gehen, auch
nicht leſen koͤnnen, noch ben Katechismus lernen, fo hat fich
ein Minifter mit Verſaͤumniß berfelben bei biefem examine
mit den Schülern nicht lange aufzuhalten, fondern den mei—
fen Fleiß und Arbeit bei ſolchen als den ungefchidteften
anzumwenben.” —
„Welche aber unter der Jugend, fie gehen gleich in die
Schule oder nicht, etwas vor den andern erwachſen und
demnach verftändiger find, die follen neben dem, daß fie die
Terte der fünf Hauptftüde recht erzählen lernen, auch allge:
mad zum Berftand derfelben eingeführt werden, und das
durch einfältige Erklärung der zwanzig Fragen ziemlich ver
flehen lernen.”
„Wie denn auch ein jeder Schulmeifter feinen Kindern
in der Schule die Hauptflüde dergeftalt und alfo täglich,
wann er fie aus der Schule bimittiren will, Vor⸗ und Nach⸗
mittags vorfagen fol, wie er den Kirchendiener alle Sonn⸗
tage in der Kirche thun hört, und fie von einem commate
zum andern fein laut laſſen nachfprechen.”
„Es follen auch die Schufmeifter und Gtödner, die dazu
qualificist, den Kirchendienern in examine ber Kinder, fo
Theol. Stud. Jahrg. 1853. 6
1012 Oeppe
viel das Verhoͤren der textuum betrifft, helfen, damit bie
Jugend nicht zu lange aufgehalten oder verfäumt werde.”
„Bu den Stunden aber in der Woche, warn er mit den
Kindern den Katechismus treibt, fol er feine unterſchiedlichen
classes in der Schule haben, und bie, fo gleiches profectus
find, in eine Klaffe zufammenordinien und jeder Klaſſe
das Ihre vorfprechen und baffelbe nachſagen laſſen: den al-
lerkleinſten oder ungefchicteften in der unterfien Klaſſe ora-
tionem dominicam, und fo fürter hinauf den andern in
der folgenden Klaffe dad Symbolum, den dritten den De
calogum, und den vierten die ingtitutionem utriusque sa-
eramenti, — und darauf ein jeded Kind infonderbeit ver-
bören,.ob es das, fo ihm damals nachzuſprechen vorgefagt
iR worden, auch für ſich allein erzählen koͤnne oder nicht,
Und ſoll ſich ein jedes Kind in feiner Klaſſe fo Tange aufhalten,
bis es bdenfelben Zheil des Katechismus gar wohl gefaßt
bat, und allerdings fertig und recht erzählen kann.“ —
„Schließlih haben alle Kircyens und Schuldiener bei
Berrichtung einer fo chriſtlichen und nothwendigen Arbeit
wohl Urſache, den Almächtigen unnachlaͤſſig anzurufen und
zu bitten, daß er fie zu recht treuen, eiftigen und unver
droffenen Arbeitern diefer feines Ernte machen wolle.” —
* *
« ,
Die Verfügungen des Kurfürften wurden fofort aller
Drten zur Ausführung gebracht. Zu Heidelberg insbeſon
dere wurben die zwanzig Katechismusfragen in ben ſom⸗
täglichen Mittagöprebigten allmonatlich durchgepredigt. Die
Schulkinder wurden nach vorſchriftsmaͤßiger Kiaffeneinthei:
tung von den Schulmeiftern und Schulfrauen felbft in die
Katechismuspredigten geführt; die Erwachſenen wurben re
gelmäßig geprüft und belehrt, und die befonderem firengen
Vorfchriften, welche ber Kurfuͤrſt zur Unterweifung feiner
Gofdienerſchaft, fo wie der Stabts und ber Landbemohner
exlaffen hatte, ſchienen zu den fchönften Erfolgen zu führen,
Im Schloffe wurde allfonntäglic, wie im ganzen Lande,
Beiträge zur Gefchichte der Kirche x. . 1013
in der Schloßkapelle öffentlicher Katechismusunterricht exe
theilt; außerdem wurben alle Hofbiener Montags um Ein
Uhr im Winters oder Koͤnigsſaal noch privatim informirt,
An biefen Privatäbungen nahmen je 25 Perfonen Theil,
und es war das ganze Hofgefinde zu dieſem Behufe in fies
ben Klaſſen getheilt, von denen jede einen Auffeher hatte,
der darauf fehen mußte, daß fich jede Klaſſe vollzählig zur
Unterweifung einftellte, und daß fie fi) jeden Morgen und
Abend zur Verrichtung eined Gebets und zur Lefung eines
Kapiteld der Schrift verfammelte, weßhalb der Kurfürft jeder
Kiaffe ein befonderes Eremplar der heiligen Schrift hatte
übergeben laſſen.
Die Klaffeneintheitung der Hofdienerfhaft war folgende:
„Die erfte Kiaffe iſt derer in der Küche; 2) derer im Bad
haus; 3) derer im Keller; 4) derer in der Schneiderei; 5)
der Zrabanten, derer im Zeughaus, der Wächter, Thürmer
und Krummbölzer; 6) derer in der Silberfammer; 7) der
Säge”
Neben diefen Batechetifchen Uebungsſtunden, welche auch
von dem am Hofe dienenden Frauenzimmer (Wäfcherinnen,
Beſchließerinnen u. dergl.) beſucht wurden, waren noch in
den beiden kurfuͤrſtlichen Ställen, im Wagenftal und im
Marftall, für das dazu gehörige Dienftperfonal tägliche Mors
gens und Abendgebete angeordnet.
Diejenigen Perfonen vom Hofgefinde, welche nicht fläns
dig bei Hofe aufwarteten und mit ihren Familien in der
Stadt wohnten, wurden am Donnerötag vor jebem monate
lichen Bettag von den Stabtgeiftlichen in dem Quartier „zw
den Barfügern” katechetiſch unterrichtet,
Die Verordnungen, wodurch diefe Einrichtungen ind
Leben gerufen waren, wurden an jebem Neujahrötage dem
ganzen. Hofgefinde Öffentlich vorgelefen. Im Jahre 1599
wurden fie fogar der Hoforbnung einverleibt, und die Bes
folgung diefer, wie der für Stadt und Sand erlaffenen Bes
*
1014 Heppe
flimmungen warb von bem Kurfürfien mit ber größten
Sorgfalt überwacht.
Ueber die katechetiſchen Uebungen bed Hofgefinded naͤm⸗
lich ließ fich der Kurfürft allmonatlich Bericht vorlegen, und
forderte außerdem alle Jahre „zu Ende deſſelben bie verords
neten Räthe und Kirchendiener, und auch die fieben Auffeher in
fein Gemach, um von ihnen zu hören, wie ed das ganze Jahr
über gehalten und ergangen fey, wie es in Beflerung zu
ſtellen und beſtaͤndiglich barin möge erhalten werden.”
In ähnlicher Weife batte Friedrich für die Gtadt Hei⸗
delberg beftimmte Gommiflare ernannt, „die das ganze Werk
dirigiren und treiben, die Leute vorbefcheiden, Adytung dars
auf haben, ob fie erfcheinen.” Außerdem mußten einige
Verordnete des Stadtraths „der Unterweifung allezeit beir
wohnen und Achtung darauf geben, daß von beiden, fomohl
von den Kirchendienern, ald auch von denen, die unterwie:
fen werden, gebührende Beſcheidenheit und Sanftmuth ges
braucht werde, damit Niemand vor den Kopf geflogen und
der erwünfchte Zweck verhindert werde.” Auch ließ fich der
Kurfürft an jebem monatlichen Bettag durch zwei Mitglier
der des geiftlichen Minifteriums und zwei Stabträthe in der
Kanzlei des Kirchenraths Bericht darüber vorlegen, „wie es
im verfchienenen Monat fortgegangen, ob Mängel vorgefal⸗
len, ober wie es möchte verbeffert werden”, woneben ber
Kurfürft noch an jedem Jahresſchluß einen vollſtaͤndigen
Jahresbericht einforberte,
Zur Veauffichtigung des katechetiſchen Unterrichts auf
dem Lande beftellte der Kurfürft einen befondern Wifitator,
„der jährlich alle ecclesias inspectorum und andere hin
und wieder, da ed die Mothdurft erfordert, deßgleichen die
conventus classicos vifitire und daſelbſt, wie die Kirchen ⸗
diener und Zuhörer ihr Amt verrichten, aud wie die Be
amten dem Minifterio die Hand bieten, und mas fonk für
Mängel, dadurch der Lauf des Evangelii und ber Zwed
des Minifterii verhindert wird, vorfallen, ſich fleißig erfun
Beiträge zur Geſchichte der Kirche cc. 1015
dige, und was er nicht mit Hülfe der Beamten verbeffern
Bann, zurkd an Ihre Kurf. Gnaden bringe, welche nach⸗
mald durch befondere Befehle an die Amtleute oder Andere,
denen es zu verrichten gebührt, Solches verbeflern laͤßt.“
Diefer Viſitator reiſte nun in allen Infperturen des Sans
des von Drt zu Drt, prüfte in den Katechisflusftunden Alte
und Junge felbft, und forgte dafür, daß die Namen byrer,
welthe trog aller Ermahnungen der Prediger Leine Forts
ſchritte in der chriftlichen Erkenntniß machten, dem Kirchen,
vathe berichtlidy angezeigt wurben, worauf diefer letztere ben
betreffenden Beamten im Namen des Landesheren aufgeben
ließ, die Unwiffenden und Fahrlaͤſſigen zum fleißigen und
aufmerkſamen Beſuche der Batechetifchen Webungdftunben mit
Gewalt anzuhalten.
AMlein trog aller biefer forgfältigen Anorbnungen vers
mochte der Kurfürft doch die Hinderniffe, welche feinem
Plane in der Gleichguͤltigkeit namentlich der beidelberger
Bürgerfchaft im Wege fanden, nicht fofort zu überwinden.
Die Gotteödienfte und bie Batecbetifcyen Uebungen wurden
von Bielen nur unregelmäßig befucht, unigfhon im Jahre
1594 ſah ſich der Magiſtrat zu Heidelberg veranlagt, ſaͤmmt⸗
liche Zunftmeifter der Stadt auf das Rathaus zu citicen
und ihnen aufzugeben, „ihren Bunftgenofien zu vermelben,
daß fie bei Vermeidung unnadjläffiger Strafe auf beſchehe⸗
ned Erfordern bei gebachter Unterweifung neben ihren Weis
bern erfcheinen, die Predigten fleißig befuchen, auch ihr Ges
finde und Kinder dahin ſchicken oder body fonft von ben
Gaſſen abhalten ſollten, damit nicht Noth ſey, mit angedroh ⸗
ter Strafe gegen fie zu verfahren.”
Auch der Beſuch der beutfhen Schulen zu Heidelberg
war ein fehr geringer, wad für den Kurfürften um fo bes
teübender war, als er erfuhr, daß von denjenigen Kindern,
welche nicht zur Schule geſchickt wurden, auch faft keins an
den katechetiſchen Webungen der Geiftlichen Theil nahm, und
daß von den Eltern derfelben durchaus nichts geſchah, um
1016 Hoppe
ihnen das ‚Herfagen bed Gebets in ber bißherigen ganz cor⸗
rumpirten und unfinnigen Form abzugewöhnen.
Aber der Entſchluß des Kurfürften fand feſt, „micht
eher zu ruhen, er habe es benn durch die Hülfe Gottes bei
Alten und Iuggen dahin gebracht, und von diefer Löblichen,
alten, turfürflfichen Stadt diefe Schmach, als folten Leute
darinnen zu finden feyn, die das Water Unfer, den Glauben
und andere Stüde chriſtlicher Lehre nicht recht erzählen koͤnn⸗
ten, ganz und gar abgewendet, wie auch den Fluch Gottes,
der durch ſolch unchriſtliches Beten, da es länger follte ſei⸗
nen Fortgang haben, gemeiner Stabt unzweifenlich winde
zugezogen werben.”
Friedrich ſetzte daher durch Erlaß vom 3. Febr. 15%
eine Commiffion nieder, welche den Auftrag erhielt, in Hei:
delberg von Haus zu Haus zu gehen und alle Kinder, die
über acht Iahre alt wären, aufzuzeichnen, damit diejenigen,
welde die Schule nicht befuchten und auch durch ihre Eis
tern Feine Unterweifung erhielten, nad Ablauf von vier
Wochen vom Tage des Erlafles diefer Verordnung an zur
Prüfung und gm Beſuche der kirchlichen Katechefen ange:
halten würden, Den Müttern follte es unbenommen ſeyn,
„neben ihren Töchtern, die etwa zu furchtſam wären, diefem
Eramen beizuwohnen.” Den Dienftboten, welche nicht zu
‚Heidelberg beimathberechtigt waren, ward es freigeftellt, ſich
Öffentlich prüfen zu laſſen oder nicht,
Die Theilnahme der Kinder an den Latechetifchen Uebun⸗
gen war in Heidelberg anders eingerichtet, als auf dem Lande.
Dort nämlich wurden alle über achtzehn Jahre alten Söhne
und Töchter ganz fo wie die Eitern geprüft und belehrt,
aber erft, nachdem die Prüfung mit den älteren Perfonen
beendet war, nach welcher zuerft die Prüfung der Soͤhne
und dann die der Töchter begann. Für die jüngern Kinder
war daneben noch an jedem Sonntage in einer beftimmten
Nachmittagsſtunde ein befonderer Katechismusunterricht an:
geordnet, in welchem den juͤngſten Kindern die fünf Haupt:
Beiträge zur Gefchichte der Kirche ꝛc. 1017
flüde eingeprägt wurden, während bie älteren Kinder mit
den zwanzig ragen befannt gemacht wurden.
Auf dem Lande dagegen, namentlich in den kleineren
Gemeinden, ſtellten ſich die Söhne neben die Väter und bie
Zöchter neben bie Mütter, um fich gleichzeitig mit benfelben
unterrichten und prüfen zu laſſen.
Indeß fah der Kurfürft ſehr wohl ein, daß ein dauern
der Erfolg dieſer Anordnungen nur durch Hebung der Sonn⸗
tagsfeier gefichert werden fönne, und daß in dem Mangel
eines fleißigen Kirchenbeſuchs die Haupturfache der früher
wahrgenommenen Unwiffenheit zu fuchen fey. Friedrich ver⸗
orbnete daher (25. Febr. 15%), „daß fernerhin in allen
Städten, Märkten, Zleden und Dörfern (ded Landes) in
den Zeiten, wo man dad Wort Gottes verfündigt, bevorab
an den Sonn» und Feiertagen, durch Jedermann, der «6
Leibes halber vermöge, daſſelbige fleißig beſucht, auch die
Jugend dazu angehalten werde, und Niemand — auf Maͤrk⸗
ten, Gaſſen, Fechtſchulen (die dann unter der Predigt gar
nicht erlaubt ober gehalten werden follen), auch andern bets
gleichen Orten, bei oder vor dem Thurm müßig geben,
fagieren, oder auch in Wirthehäufern, Zehen, Gpielplägen,
Gewerben und Gefcyäften, die fonft zu anderer Zeit und zu
anderen Orten wohl ausgerichtet werden Tönnten, ſich fols
fen finden laffen, noch Andere, die zum Worte Gottes geben,
darüber verfpotten, — Deßgleihen fol auch auf bemeldete
Sonn: und Feiertage nichts oͤffentlich feil gehabt, gekauft
oder verkauft, auch fein Laden aufgethan werben.” — Die
Beamten wurden angewiefen, den Unterthanen im Befuch
des Gottesdienſtes mit gutem Beiſpiel voranzugehen; bie
Dfarrer wurden in dem Vorwort zu einem neuen Abdruck
der Gebete wider den Zürken ermahnt, ihre Predigten fo
einzurichten, daß das Wolf zu wahrer Reue und zu herzlicher
Anrufung des göttlihen Namens geführt werbe, und das
Volt ward befchieden, den Ermahnungen feines Landesherrn
und feiner Seelforger durch fleißigen Beſuch des Gotteshaus
1018 Hape
ſes Folge zu geben, damit der Kurfürft nicht am Ende in
die Lage komme, den göttlichen Befehl in Anwendung zu
bringen, welcher laute: „Nöthige fie, bereinzulommen.”
* *
*
Alle Anordnungen, welche der Kurfuͤrſt bis dahin erlafs
fen hatte, bezogen fich zunächft nur auf die Unterpfal, am
Rhein, oder waren wenigftend nur hier zur Ausführung ges
kommen, Aber auch die Oberpfalz, die ſich noch fortwähs
send der Einführung des deutfchsteformirten Kirchenthums
zu erwehten fuchte, ſollte den Gegen einer gruͤndlichen und
umfaffenden katechetiſchen Bearbeitung erfahren.
Der Kurfürft erließ daher unter dem 6, Juli 1596 feine
fogenannte Generalinftitutiondordnung, worin er dem Lande
publiciren ließ: nachdem er in Erfahrung gebracht babe,
daß die meiften feiner Unterthanen, obſchon diefelben feit
mehr als funfzig Jahren evangeliſche Prebigten gehört und
den Katechismus gelernt hätten, dennoch nicht anzeigen koͤnn⸗
ten, weſſen fie ſich zu getröften hätten, fo habe er fich für
verpflichtet erachtet, ihnen Anleitung und Unterricht zu vers
ſchaffen, und neben den gewöhnlichen Predigten noch eine
befondere Unterweifung anzuordnen. Es follte daher bie
Obrigkeit jebes Orts gewiſſe Perfonen, und zwar etwa
funfzehn oder zwanzig Eheleute, zu ſolcher Unterweifung auf
den Sonntag vorbefcheiden, fo daß man in einem Monat
mit allen erwachfenen Gemeindegliedern katechiſiren könne.
Dann folte man die erwachfenen Söhne und Toͤchter vor
beſcheiden und Hierauf wieder mit den Eheleuten fortfahren.
Allein nur eine Vifitation war ed, die der Kurfürft in
der Oberpfalz durchfegen konnte, Dad eigentliche Inſtitu⸗
tionswer? am gar nicht zur Ausführung, weßhalb Friedtich
im Jahre 1598 eine zweite Wifitation anorbnete, und jeht
konnte mit ber Inflitution wenigſtens ein erfter Anfang ge
macht werben, Aber die Unwiffenbeit und bie Widerſpen⸗
fligkeit des Volkes waren fo groß, daß die Viſitatoren voll:
kommen zufrieden feyn mußten, als fie im I. 1600 berich⸗
Beiträge zur Gefchichte ber Kirche ı. 1019
ten tonnten, daß von den 4000 Einwohnern zu Amberg
jet bereitö 158 Perfonen, die im Schreiben und Lefen uns
terrichtet feyen, die fünf Hauptftüde des Katechismus und
inöbefondere die zehn Gebote volftändig auswendig gelernt
hätten. Won den Uebrigen aber klagten fie, daß dieſelben,
da fie weder fchreiben noch Iefen Fönnten und Niemanden
bätten, der ihnen die fünf Hauptſtuͤke vorfprechen Fönnte,
ihrer groben Unwiffenbeit halber nothwendig beſonders uns
terrichtet werden müßten.
Noch ſchwieriger, als in der Hauptfladt der Oberpfalz,
war die Ausführung bes Inſtitutionswerkes auf dem Rande,
wo dad Vol? an den meiften Orten lieber ganz auf ben
Kirchenbeſuch verzichtete, ald daß es ſich der katechetiſchen
Informirung unterwarf, weßhalb der Kurfuͤrſt die Verord⸗
nung erließ, „daß die Widerſpenſtigen ernſtlich ermahnt,
wenn ſie darauf wieder nicht erſchienen, um einen Gulden,
dann um das Doppelte geſtraft und endlich, wenn die Geld⸗
frafe nichts verfangen folte, mit dem Thurm, mit Aus⸗
ſchaffung und anderen dergleichen ſcharfen Mitteln gegen fie
verfahren werde.”
Namentlich aber hoffte der Kurfürft, durch die in der
Inſtruction vom 2. Juli 1601 neu geregelte Wirkſamkeit
der geiftlichen Infpectoren den Bortbeftand und Erfolg der
Inſtitution zu fihern, indem er in jener Inftruction verord⸗
nete: „Es fol der Infpector daran feyn, daß allenthalben
feiner auferlegten Infpection die Jugend vor allen Dingen
die fünf Hauptflüde chriſtlicher Religion nicht allein gewiß
und incorrupte erzählen lerne, fondern auch beren von Tag
zu Tag einen ziemlihen Verftand und Grund aus dem
täglichen Trieb und Unterricht treuer Kirchendiener fafle,
und dann zu deſſen befferer Gonfirmirung der in unferer
Kirhenorbnung einverleibte chriſtliche und mit Gottes
Wort begründete Katechismus durchs Jahr alle Sonntage
in den Mittagspredigten ordentlich und einfältig erklaͤrt und
darauf, wie ſich gebührt, die Jugend eraminixt und vers
hoͤrt werde.”
„1020 Heme
„In ben Flecken aber und Dörfern, da man mit den
awanzig Fragen bisher gemachter Anftellung nach etlichemal
mit Erklaͤrung durchgekommen, ſollen gleichwohl pastores
den ganzen Katechismum ordentlich, wie obgemeldet, erklaͤren
und predigen, aber allein die inſonderheit gezeichneten Fra⸗
gen im Katechismo, anflatt des Beinen, von der Jugend in
dem Verhoͤr und examine fordern und treiben, Und damit
Alten und Jungen ſolche Lehre des Katechismi durch ein
vielfältiges Repeticen defto ſtaͤrker eingebildet werde, fo fol
len allenthalben die Kirchendiener denfelben nicht allein in
den gewöhnlichen Mittagöpredigten ordentlich tractiren, fons
dern auch fonft in den anderen Predigten, fo oft es der
Zert ohnedas mitbringt, mit fonderm Ernft und Fleiß alle
giren, accommobdiren und gleichſam ihre Predigten bamit
confirmiren.”
„Er fol ihm auch die aus fondern und hochnothwendi⸗
gen Urſachen angeſtellte wöchentliche Unterweifung der As
ten, und wenn man mit benfelben herum ift, alddann ber
erwachſenen Jugend in jegigen feinen anbefohlenen Pfarr
kirchen ernſtes Fleißes angelegen feyn laſſen, — auch jeberzeit
in classicis conventibus davon fatten Bericht einnehmen,
und da in einem oder dem andern Drt Mangel, denfelben
unſaͤumlich zu verbeffern anftellen.”
* *
Die und vorliegenden Acten führen und nur bis zum
Jahre 1601, und wir müflen daher unfere Darſtellung hiers
mit ſchließen. Aber auch diefe wenigen Mittheilungen wer:
den die unvergleichlich baftehende Eigenthuͤmlichkeit des Ger
banfens, den der edle Kurfürft durdauführen fuchte, bin
laͤnglich ins Klare fegen. Wir fehen bier in dem Kurfür
ſten Friedrich das Ideal deffen, was fi fo oft innerhalb
der evangelifhen Kirche als heilloſes Zerrbild dargeltellt
bat: die landesberrliche Auctoritaͤt, als epiſtopale Huͤterin
im Haufe des Herrn. Kurfürſt Friedrich macht bier in der
abfoluteften Weife von der in die Hände der proteſtantiſchen
Landesherren gekommenen Epiffopalgewalt Gebrauch. Aber
Beiträge zur Geſchichte ber Kirche. 1021
es ift nur das ‚Heil ber Serien, bie Ehre des Herrn, bie
zeitliche und ewige Wohlfahrt des Volkes und das ‚Heil der
eigenen Seele, die der Kurfürft im Auge bat. Dad Aufs
treten und Verfahren bed Kurfürften hat vielfach etwas
Altteſtamentliches, Theokratiſches, Strenges. ‘Aber Überall,
wo Kurfürft Friedrich mit dem ganzen Ernſt eines in ſei⸗
nem tieffien Grunde aufgeregten Gewiffens handelt und eine
auf klarer Erkenntniß des göttlichen Befehls beruhende
unbeugfame Feſtigkeit des Thuns kundgibt, tritt immer auch
in hellſter Klarheit bie ſchonende Milde und Wärme eines
‚Herzens hervor, bad in bem Glauben an die erlöfende Gnade
Gottes feinen Brieden und feine Heimath gefunden bat.
In feiner vollen patriarchaliſchen Hohelt fehen wir den
Kurfürften in den Worten, womit berfelbe feinen Erlaß vom
25, Februar 1595 fließt:
„Ihre Kurf. Gnaden haben biefen Zweck und biefen
gnädigften chriſtlichen und väterlichen Vorſatz, daß fie, die
Bürger und Diener allhier, fammt ihren Weibern und Sins
dern Gott dem Herrn und Dem, fo er in diefe Welt ge
fandt und und zum Mittler und Seligmacher verordnet bat,
feinen eingebornen Sohn, Iefum Chriftum, fowohl ald Ihre
Kurf. Gnaden felbft recht erkennen Iernen, und in foldyer
Erkenntniß neben und mit Ihren Kurf, Gnaben und allen
andern frommen Chriften denfelbigen wahren Gott gleich
fam mit Einem Herzen, Seel! und Mund anrufen, ipm ben
rechten Gotteödienft und Ehre erzeigen, und alfo diefe Stadt
eine heilige, von Gott gefegnete und geehrte Stadt feyn
und mit der Zeit (dazu der liebe Gott helfen wolle) andern
Städten und Gemeinden im ganzen Lande mit Erfenntniß,
Sottfeligkeit und Tugend wie ein bel fcheinend Licht auf
einem Leuchter erfcheinen möge,”
» Daß auch ein jeder Einwohner und Bürger allhier zu
‚Heidelberg gefegnet fey in ber Stadt, gefegnet auf dem
Ader, gefegnet in feinem Weingarten, und gefegnet fey bie
Frucht feines Leibes, die Frucht feines Landes und die Frucht
1022 Heppe, Beiträge zur Geſchichte der Kicche ıc.
ſeines Viehes, daß gefegnet fey fein Korb und fein Uebri⸗
ged, daß er gefegnet fey, wenn er einziebet, gefegnet, wenn
er auögehet.” .
„Und endlich, daß Ihre Kurf, Gnaben fie fammt ihren
Weibern und Kindern an jenem herrlichen Tage vor dem
Richterſtubl des Sohnes Gottes nicht in Schmach, Zittern
und Zagen ımter ben Böden zur Linken, fondern neben
und bei Ihren Kurf. Gnaden zur Rechten neben ben Scha⸗
fen, in Heiligkeit, Freude und Wonne möge ſtehen fehen,
und fie mit ſich ald Gefegnete des Vaters bören einweiſen
in das Erbe des Meiched Gottes zu einer. ſolchen Seligkeit,
‚Herrlichkeit und Ehre, die Bein Auge gefeben, kein Obr
gehört und in Feines Menſchen Herz jemals gekommen if.”
Unter ben Beitgenoffen fand fi nur Ein evangeliſcher
Fürft des Reiche, ber mit dem frommen Kurfürften der
Pfalz verglichen werden konnte, — naͤmlich ber Landgraf
Morig von Heffen, Aber in dem Kurfürften Friedrich
war mehr Milde, Liebe und Schonung, und darum auch
mehr evangelifhe Schönheit, als in dem Landgrafen.
ter
Miscellen.
Yrogramm
der
tegler’fchen theologifchen Geſellſchaft
in Haarlem
für 1853.
Die erfte Abtheilung der teyler’fäen Stiftung bat
die folgende neue Frage zur Preisbewerbung ausgeſetzt:
„Zu den wichtigſten ragen, die in den letztverfloſſenen
Jahren auf dem theologifchen Gebiete des In« und Auds
landes wieder zur Sprache gebracht find und großes Inters
eſſe erregt, weit verfchiebene Anfichten veranlaßt und fehr
abweidyende Refultate erzeugt haben, gehört unftreitig die
Brage Über dad Anfehen (die Autorität) der apoftolis
ſchen Schriften des neuen Teſtamentes, welche für und die
Erkenntnißquellen des Chriftenthums find. Die theologifche
Abtheilung der teylerſchen Stiftung glaubt, bei den noch im⸗
merfort obwaltenden divergirenden Meinungen über dieſen
wichtigen Fragepunct, den Anforderungen ber Zeit Genuͤge
zu leiften, die Wiſſenſchaft zu bereichern und das Wohl ber
Kirche zu fördern, wenn fie die Sache zu größerer Klarheit
und Beftimmtheit zu bringen verſucht. Sie legt dazu fols
gende Fragen zur Beantwortung vor:
Erſtens: Haben wir Gründe, die Bücher des neuen
Zeftamentes in dem Sinn ald eingegeben (infpirirt)
zu betrachten, daß wir den Verfaſſern Unfehlbarkeit
beifegen müffen? und fegt die Gingebung (das Infpis
ritt feyn) die Unfehlbarkeit der Werfaffer voraus? ’
Zweitens: Was lehrt die Gefchichte ſowohl über den
Urfprung des Dogma von ber Infpiration ber neutes
1026 Progr. d. teyler'ſch. theol. Gefelich. f. 1853.
flamentlihen Buͤcher, als über die Mobificationen, welche
früher und fpäter- Darin gebracht find? und welche Ergeb:
niffe kann man daraus fowohl für dad Wefen, als für das
Gewicht dieſes Dogma herleiten?
Drittens: Steht der chriftliche Glaube in unauflds-
lichem Zufammenhang mit dem Glauben an die Unfehlbar:
keit der Apoflelt oder haben wir andere hinlaͤngliche Bes
weife für dad Anfeben der Werfaffer der neuteſtamentlichen
Bücher, um dieſen Glauben feft zu begründen?”
Der Preis beſteht in einer goldenen Medaille von
400 $1, an innerem Werth,
Man kann ſich bei der Beantwortung des Hollaͤndi⸗
ſchen, Lateiniſchen, Franzoͤſiſchen, Engliſchen oder Deutfchen
(nur mit lateiniſcher Schrift) bedienen. Auch müſſen bie
Antworten, mit einer andern Hand ald der des Werfaflers
geſchrieben, vollftändig eingefandt werden, ba feine un:
voQftändige zur Preisbewerbung zugelaffen werben, Die
Friſt der Einfendung ift auf den 1. Januar 1854 ande
raumt. Ale eingefandten Antworten fallen ber Geſellſchaft
als Eigenthum anheim, welche die gefrönte, mit oder ohne
beigefügte Ueberfegung, in ihre Werke aufnimmt, fo daß
die Verfaffer fie nicht ohne Erlaubniß der Stiftung heraus:
geben dürfen. Auch behält die Geſellſchaft fi vor, von
den nicht gefrönten Antworten nach Gutfinden Gebrauch zu
machen, mit Berſchweigung ober Meldung des Namens der
Berfaſſer, doch im legtern Falle nicht obne ihre Zuſtimmung.
Auch Eönnen die Einfender nicht anders Abfchriften ihrer
Antworten bekommen, als auf ihre Koften, Die Autworten
müffen nebſt einem verfiegelten Namens⸗Zettel, mit einem
Denkſpruch verfeben, eingefandt werden an bie Adreſſe:
‚Fundatiehuis van wijlen den Heer P. 'TEYLER VAN DER
Hust te Haarlem.
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