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Full text of "Theologische Studien und Kritiken, in Verbindung mit D. Gieseler, D. Lücke ..."

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Theologiſche 


Studien uud Kritiken. 


Fine Zeitſchrift 
für 


das gefammte Gebiet der Theologie, 
begründet von 
D. &. Ullmann > D. F. W. €. Umbreit 
und in Verbindung mit . 
D. €. 3. Ritzſch, D. 3. Müller, D. W. Berfälag 
" Geragegeen 


D. C. B. Hundeöhagen um D, E. Riehm. 





1868 - 
ccinundvierzigſter Jahrgang. 
Erfter Band. . 





Gotha, 
bei Friedrih Andreas Perthes. 
1868. 


Theologiſche 


Studien und Kritiken. 


Fine Zeitſchrift 
für 
das gefammte Gebiet der Theologie, 
begrändet von " 
D. C. Ullmann und D. 5. W. C. Umbreit 
und in Verbindung mit 
D. €. 3. Rinfd, D. 3. Müller, D. W. Beyſhiag 
Herausgegeben 


D. 6. 8. Handeſhagen u D, E. Riehm. 





Daͤhrgang 1868, erſtes Hefl. - 








Gotha, 
bei Sriedrih Andreas Perthes. 
1868. 


Abhandlungen. 


Bu 


1" 
Calvin's Institutio nad Form und Inhalt, 
in ihrer gefhiätligen Entwidlung 


D. 3. göntin 


Erſter Artiketl. 


„Ganz unzählbar“, ſagt Calvin's neueſter Biograph € Sagen, 
iſt der Lehrkreis aus allen Ständen und. Nationen, der ſich um 
Calbin s Buch ‚Der chriftliche Unterricht‘ nach und⸗ nach fammelte; 
ganz unermeßlich bie Wirkung, bie es! im. Laufe ‘der Jahrhunderte 
herrorbrachte; — die Zahl feiner. Auflagen, bie bis in die neueſte 
Hit hecabreichen, geht über. jede Grenze: der Berechnung: hinaus; 
man darf wohl ohne Uebertreibung behaupten, dag nie ein anderes 
Bud, von dieſer wifſenſchaftlichen Haltung und diefem Umfangs 
ine übliche Verbreitung, gefunden habe.“ *) Daß .das Buch ſchos 
vermöge: des geſchichtlichen Ginfluffes, .meichetp:.edll auf dieſt · Weiſe 
gewonnen: hat, äners;eingehenbew: And immoaͤr vxuen Betrachtung 
md Unterſugung wercho ift,caminke kinentunferer: Ser. beitoeifeta! 
Auch das wirb. Keiner beftreiten, daß es bie mächtige theolajıähe 
Vedenung dee Werkes ſelbſt iſt, das ihm. dieſen Einfluß durch 
Rhrhanderte hindurch verſchafft hat. Wit dürfen noch weiter bei 
fügen: es Gut fs“ durch ‚ei Inder. Bebeutung nicht blos in“ der 


D} e. Sichelin 8. Calvin I, Pen 7 





-8 Koſtlin 


Vergangenheit mit Recht einen ſolchen Einfluß erworben, ſondern 
es darf vermöge feines ungemein reichen Lehrinhaltes, vermöge bes 
ftrengen und ſcharfen theologischen Denkens, mit welhem «8 ihn 
durchdrungen und ſyſtematiſch geftaltet bat, und vermöge des hohen 
Hriftlichereligiöfen Ernftes, ‚aus welchem alle feine wifjenfchaftlichen 
Ausführungen hervorgehen, auch heute noch gerechten Anſpruch darauf 
erheben, von Jedem, der Dogmatik lehren oder-Iernen will, griind> 
‚lich ftudirt zu. werden. Man mörhte dem gegenüber nur das etwa 
fragen, wie weit die Zahl Derjenigen, welche wirklich eine gründ- 
liche Bekanntſchaft mit ihm felber gemacht Haben, an die Zahl 
Derjenigen hinanreihe, welche feine, gefhichtliche Bedeutung aner- 
kennen und feinen innern Werth rühmen; wir werben uns nicht 
täufchen in der Annahme, daß in diefer Hinficht gerade fein Umfang, 
von welchem Stähelin redet, Heutzutage für fehr Viele weit mehr 
Hemmniß-ald Anregung mit ſich bringe. Und in gewiffer Be— 
ziehung Hat die Bekanntſchaft mit dem Werke, die wir zu wünſchen 
haben, unter ung allgemein nicht ftattgefunden, ift auch gar nicht 
moglich gewefen. Ich meine die Belanntfchaft mit dem allmählichen 
Werden deſſelben bis zu. derjenigen Geftalt, ‘in welder es jegt 
alfenthalben unter und verbreitet ift, mit der fortfchreitenden Arbeit 
des Geiftes, der es bis dahin wieder und wieder durchgearbeitet, 
bereichert und umgeſchaffen hat, und namentlich mit der urſprüng⸗ 
Uichen-Geftalt, im welcher es aus diefem Geifte als fein erſtes 
großes, lebendiges und frisches, jugendliches und doch bereits inner- 
lich männfiches Erzeugniß.. hervorgegangen war. Es hielt ſchwer, 
die, früheren Ausgaben; der ‚Institutio, beſonders "die erfte vom 
"Hahre: 1536, zu. Geſicht zu bekommen. Sept find uns auf treff» 
liche Weiſen bie Mittel. dargeboten, das Werk auch in jener Ent- 
widlung: Kennen „za "srmen. ::Mie, Straßburger Theologen, welche 
. Coipane Weite im CorpusiRodormatorum "berauägtgeben, haben 
mid-großer Sorgfalt die verfchiedenen Ausgaben zuſammengeſtellt: 
in den Bänden XXIX und XXX bes Cörpus. - Das Berfahren, 
welches fie dabei eingefchlagen haben, iſt ein: fehn: angemeffenes. 
Wir haben. hier vor Allem (Vol. XXIX, p. 1—251) jene erfte Aus⸗ 
gabe für ſich in genauem Abdrud (au mit Angabe der urfprüng- 
lichen Seitenzahl) vor uns. Dann erhalten wir das Werk im 


über Calvin's Institutio. 9 


zweiten Hanptftabium feiner Entwicklung, zu welchem die Ausgaben 
von 1539 bis 1550 fammt Abdrüden von 1553 und 1554 ger 
hören (p. 253—1152). Und zwar ift Hier der Tert vom Jahre 
1539 zu Grunde gelegt. Die Zufäge und Umftelfungen, welde 
ber Xert 1543 und 1550 erfahren Hat und unter welchen die vom 
Rhre 1543 zum Theil weit ſich erftreden und eingreifen, find fo 
beigefügt, daß auch ein befonderer Drud fie in die Augen fallen 
fit. Nur Eines kann man an der Arbeit der Herausgeber hier 
vermiſſen: es wäre zu wünfchen geweſen, daß fie, wie fie die Vers 
geihmg der Texte von 1539, 1543, 1550 unter einander durch, 
Zufammenftellung und durch Anmerkungen unterftügt haben, fo 
ac von dem Terte des Jahres 1539 aus auf fein Verhältniß 
zu dem der erften Ausgaben bei dem einzelnen, theils Harmonirenden, 
this abweichenden Abfchnitten hätten zuridvermeifen mögen. Ges 
tude biet folgen mehr, als es beim DVerhältniß der anderen Aus» 
gaben zu einander ftatthat, auf einander ſolche Abfhnitte, in , 
welchen fih uns eine ganz neue Arbeit Calvin's barbietet, und wie- 
drum folche, in welden er nur die frühere herübergenommen hat; 
und auch bei jenen iſt es beadjtenswerth, wie auch die neue Arbeit 
doch da und dort einzelne Elemente der früheren wörtlich in fi 
aufgenommen hat. Die Herausgeber Haben barin ganz Recht 
(Vol. XXIX Prolegom. p. XLVII), daß fie nicht jenen erften 
Tert jelbjt etwa fo mit dem vom Jahre 1543 zufammenorbnen’ 
durften, wie den’ letzteren mit dem der folgenden Ausgaben. Aber 
Kidbeziehungen auf jenes Verhältniß in Noten hätten ſich wohl 
kit perftelfen laſſen und Hätten das Studium, welches bie Heraus- 
ger fonft fo norzüglich unterſtützt haben, noch mehr erleichtert. 
Ginen befonderen Band (Vol. XXX) füllt endlich derjenige Text, 
in welchem Calvin's Arbeit zum Abſchluß gekommen ift, nämlich, 
der vom Jahre 1559. Was er gegenüber-.von dem der letztvoran⸗ 
gumgenen Ausgabe Neues enthält, ift wieder forgfältig durch befon- 
dem Druck gekennzeichnet. Nur wenige Stellen werden fid finden 
fen, wo die Unterſcheidung nicht ganz genau durchgeführt, — wo 
ni im Zufammenhang wejentlih neuer Abfchnitte einzelnes 
Mr, was dazwiſchen mit buchſtäblichem Anſchluß an den früheren 
Tot uns begegnet, für jene Bezeichnung durch den Druck überjehen 


10 sörlin 


worden ift: fo einige Sätze auf p. 1030 (Vol. XXX) verglichen mit 
Vol. XXIX, p. 1005q.; auf p. 1031 vgl. Vol. XXIX, p. 1006; 
auf p. 1034 vgl. Vol. XXIX, p. 9945q. Dergfeichen Fälle in 
Calvin's Tegter Ausführung verdienen befondere Aufmerkſambkeit, 
da für die Methode feiner Arbeit, wie wir unten noch weiter be 
merfen werden, gerade diefe Art ber Verbindung: zwifchen dem Neuen 
und zwifchen alten Tertesſtücken carakteriftiih ift. — Allen den 
verfchiedenen, neu abgedrudten Texten haben die Herausgeber voran 
geſchickt eine fynoptifche Ueberficht über den Gang, in welchem jede 
einzelne Ausgabe duch die größeren und kleineren Abſchnitte Hin- 
durch den Stoff entwidelt hat. Der Gang, melden die Ausgaben 
von 1536, 1539, 1543, 1550, 1559 verfolgen, ift in fünf Co- 
lumnen fo zufammtengeftellt, daß bei jedem Stüc jeder einzelnen 
Ausgabe bemerkt wird, wo dafjelbe in den anderen Ausgaben feine 
Stelle befommen hat. Die Herausgeber erflären, das Anfertigen 
dieſer Meberfichtstafeln habe ihnen nicht geringen Schweiß gefoftet. 
- Um Alle, welche der Institutio Caluin’8 nad ihnen Arbeit widmen 
molfen, haben fie fich dadurch fehr verdient gemacht. 

So haben wir denn jegt die Institutio im Proceß ihres Werdens 
dor uns. Daß fie jedenfalls in Hinfiht auf die formelle ſyſte⸗ 
matifche Geftaltung ihres Stoffes und auf den Umfang, in weldem 
fie die Gegenftände und Streitfragen der chriſtlichen Lehrwiſſenſchaft 
aufnimmt, fehr große Wandlungen durchgemacht hat; zeigt ſchon 
der erfte Bi in die uns „vorliegenden beiden Bände und ſchon 
der. Blick auf jene ſynoptiſchen Tabellen. Und ſchon in biefer 
Hinſicht wird es fehr der Mühe werth fein, der Arbeit eines Calvin 
genauer nachzugehen. Was jene Wechfel in der Geftaltung eines 
und bdefjelben Lehrftoffes anbelangt, fo fieht man deutlich: er ſelbſt 
verfolgte hier in feiner fortfchreitenden Arbeit ein bewußtes Ziel, 
und dies .ift eben eine echt wiffenfchaftliche fyftematifche Gliederung 
und Durchdringung bes Stoffes, ‘der unter dem höchften uud zugleich 
einfachſten, in fich geeinigten dogmatifchen Geſichtspunkten zuſam⸗ 
mengeftellt werden. follte. Was bie fortgefegte Aufnahme neuer 
Gegenftände, Ausführungen und Gontroverfen betrifft, fo wird 
hiefur theils die Ruckſicht auf Streitfragen und zu befümpfenbe 
Irrthumer in Betracht kommen, welde dem Reformator im Verlauf 


über Calvin's Enstitutio. u 


ber Jahre vorzugsweiſe in dem Weg traten, theils das Bedurfniß 
der hriſtlichen Erkenntniß überhaupt, das fich ihm mad) verſchie⸗ 
denen, urſprünglich weniger beachteten Seiten Hin nod weiter auf 
drängte. Gerade aber auch während fo der Stoff mehr und mehr 
mfhwilit und die pofltive Darlegung deſſelben mehr und mehr der 
Pılmif in ihrem Zufammenhang Raum geben muß, bewährt ſich 
km gegenüber nur um fo großartiger der fyftematifche Geift, ber 
at blos die neuen Mafjen ftreng dem bisherigen Zufammenhang 
finordnet, ſondern zugleich diefen ſelbſt weiterbildet. Und dabei Hat 
beimige Lebendigleit und Unmittelbarkeit des religiöfen Bewußtſeins, 
welche neben der Arbeit des dogmatifchen Denkens vornehmlich in 
dem erften, kurzgefaßten Guſſe des Werkes ſich fundgibt und biefem 
eimm allem Scholaſticismus . entgegengefeiten Charakter aufprägt, 
bi den fpäteren, weit ausgedehnten Einzekunterfuchungen und Kämpfen 
bmigften® fo fortgewirkt, daß die Ausführung in fcholaftifche For⸗ 
mein und „spinofe Fragen“ (wie Calvin ſelbſt öfters ſich ausdrüdt) 
fig nie verläuft. Calvin felber erflärt in der Vorrede zu der 
festen Reduction, mit welder er abſchloß: obgleich ihn auch bie 
bisher aufgewandte Arbeit nicht‘ gereut habe, habe er doch nie ſich 
geaug gethan, bis er fein Werk in diejenige geordnete Geſtalt 
gebradit, in welcher er jet es vorlege; jet aber hoffe er zuver⸗ 
fihtfih Etwas‘ zu geben, was im Urtheil der Lefer, die ihn ſchon 
bisher durch ihre warme Theilnahme unterftügt haben, alfgemeinen 
Beifall finde *). Jedenfalls Hat Calvin in der fortgefeßten Arbeit 
xnes Ziel fo erreicht, dag er in dieſer Beziehung alle anderen 
Deologen der Reformation hinter ſich ließ und aud unter den 
flgenden Dogmatifern der reformirten und Iutherifehen Orthodorie 
keiner ihm nahe kam. Keiner. der Anderen zeigt dafür auch nur 
benigftens den Sinn und Trieb, welchen wir in Calvin's Arbeiten 
ſo unermudlich weiter wirfen fehen.. Zum Vergleich mit Calvin's 
Histitutio bieten’ ſich uns gerade auch hinfichtlic ihrer allmählichen 
Entwidtung beſonders Melauchthon's Loci dar, wie fie eben auch 
ir dem Gorpus Reformatorum nad) ihren verjchiebenen Ausgaben 
us vorliegen. Wir werden zwar finden, daß ihr erfter Entwurf 





Ü VoL XXX, p.2. . B 


-12 . ab ſtlin 


“in ſyſtematiſcherem Geiſt als die erſte Ausgabe der Institutio ans 
gelegt ſcheint. Und auch bei ihnen zeigt ihre Umbildung in den 
folgenden Redactionen ein Streben nach einer noch angemeſſeneren 
Gliederung des Stoffe. Allein Melanchthon erweift dann hiefür 
doch weder baffelbe Intereſſe, noch diefelbe Begabung wie Calvin. 
Der Hauptwerth, welcher feinen weiteren Arbeiten an den Loci 
zukommt, beruht weit weniger duf einem Fortſchritt, den ſte in ber 
foeben bezeichneten Beziehung machten, als vielmehr nur in einer 
fortgefetgten Arbeit an den einzelnen wichtigften Lehrftüden, die mit 
beforinener Reflexion und in fchlichtem, fittlich religiöfem und evan- 
gelifchem Geifte immer neu im Einzelnen durchdacht worden find. 
Das Ganze behält auch bei der letzten Redaction Melanchthon's, 
fo fehr das Einzelne innerlich in einer hriftlichen Gefammtanfhauung 
und Logik zufammenhängt, doch in feiner formellen Geftaltung mehr 
den Charakter einer aneinandergereihten Kette von ;locis‘, während 
in ber Geftaltung eines Syſtemes Calvin, der Anfangs Hierin hinter 
ihm zurüdzubleiben fheint, allmählich weit über ihn hinausgefchritten 
ift. Mit Recht wird man in ber .fortfchreitenden Entwicklung ber 
Institutio vor Allem eben jenen Fortſchritt in der Geftaltung des 
Stoffes zum Gegenftande ber Aufmerkfamfeit machen. Damit wird 
denn bei den Meiften von vornherein. die Amahme fidh: verbinden, 
daß mit Bezug auf den Glaubensinhaft felbft die Ueberzeugungen 
bes Verfaſſers fchon feit dem Beginne diefelben geblieben feien. 
Eben auch in die Klarheit und unwandelbare Feftigfeit, womit Calvin 
feit dem Anfang feiner Lehrthätigfeit feinen Standpunkt gegenüber 
von ben evangelifchen Dogmen eingenommen und behauptet Habe, 
pflegt man ja feine Eigenthümlichkeit zu fegen. Und biefe Annahme 
wird alferdings auch bei einem Vergleich der verſchiedenen Re— 
dactionen der Institutio wenigftend mit Bezug auf alles Grund- 
wefentfiche fich bewähren. Namentlich fällt hier vollends fein großer 
Unterfchied von Melanchthon und von deffen Verhalten gegenüber 
der Prädeftinations- und Abendmahl Lehre in die Augen. Nicht 
umfonft wird e8 indeffen fein, auch hiefür noch genauer auf bie 
einzelnen Ausgaben einzugehen, — ob nicht da immerhin noch ber 
deutfame Modificationen in der conereten Lehrausführung ſich be 
merklich machen. Es möchte doch auch hiefür das Wort Auguftin’s 


über Calvin's Institutio. 18 


beigngiehen fein, welches wir feit der Ausgabe 'vom Jahre 1543 
(Vol. XXIX, p. 255) unter Calvin's Vorrede leſen: „Ego ex 
«rum numero me esse profiteor, qui -scribunt proficiendo 
et seribendo proficiunt.‘“ . 

Indem wir von der fateinifchen Bearbeitung der Institutio aus 
dem Jahre 1536 als von der erften Geſtalt des Werkes liberhaupt 
wsgehen, Könnte indeffen vorher. noch Rechenfhaft darüber nöthig 
erſcheinen, ob wirklich, wie wir im Bisherigen bereits vorausgeſetzt 
haben, die frauzöſiſche Ausgabe des Jahres 1535, welche wan fonft 
als die erfte zu bezeichnen pflegte, gar nicht exiftirt hat. In ber 
neueren Zeit war hierüber befonders unter franzöfifchen reformirten 
Gelehrten debattirt worden, Unter deutfchen Gelehrten war naments 
lih auch noch Herzog (Art. „Calvin“ in der Theolog. Encytl.) 
ad) allen Bedenken, die fich auch ihm erhoben Haben, doc babei 
fieben geblieben, daß wir eine „doppelte Ausgabe annehmen müffen, 
die eine, frauzöſiſche, vom Jahr 1535, bie andere, lateiniſche, vom 
Rhr 1536“ *). Dagegen durfte Stähelin ®) nach, den Beiträgen, 
bie feither befonders Jules Bonnet für die Entfcheidung der Streit 
frage gegeben hatte, ſchon zuverfichtlich. ausſprechen, daß biefelbe 

+ jegt unbedingt entfchieden fei zu Gunften ber Iateinifchen Ausgabe, 
als der einzig urfprünglichen. Und dem müſſen wir vollends zu⸗ 
ftümmen nach der Haren, Alles zufammenfafjenden Darlegung der 
Gründe, welche uns nun zuerjt in den Prolegomenen zu Vol. XXIX 
boten, dann auch in der Einleitung zu Vol. XXXI, nämlich zur 
fangöfifchen Weberfegung der ‚Institutio, noch einmal wiederholt 
mb theifweife bereichert wird. Hiernach Hat jetzt auch Herzog fein 
Uttheil geändert %). Entſcheidend tft in der That fehon die eigene 
Ertlärung Calvin's vor der franzbſiſchen Ueberfegung feines Wertes 





a) Gaß (Gefcjichte der prot. Theologie I, 99 [vom Jahre 1854]) redet noch 
ohne Zweifel zu erwähnen von einer urjprünglid, franzöſiſchen Ansgabe 
aus dem Jahre 1535 und zwar von einer anonymen (hierüber fiche 
nnten). 

V a. a. O. S. böof. 

q Encyti. XIX, 307. Dorner Geſch. der proteſtant. Theologie, S. 375) 
hat, indem er noch diefelbe Angabe wie Gaß vorbringt, offenbar die neueften 
Unterſuchungen überjehen. 


12 aöd ſtlin 


“in ſyſtematiſcherem Geiſt als die erſte Ausgabe der Institutio an- 
gelegt ſcheint. Und auch bei ihnen zeigt ihre Umbildung in ben 
folgenden Rebactionen ein Streben nad; einer noch angemefjeneren 
Gliederung des Stoffe. Allein Melanchthon erweift dann Biefür 
doch weder daffelbe Intereſſe, noch diefelbe Begabung wie Calvin. 
Der Hauptwert$, welder feinen weiteren Arbeiten an den Loci 
zufommt, beruht weit weniger duf einem Fortſchritt, den ſte im ber 
foeben bezeichneten Beziehung machten, als vielmehr nur im einer 
fortgeſetzten Arbeit an ben einzelnen wichtigften Lehrſtücken, die mit 
beforinener Reflerion und in fchlichtem, fittlich refigiöfen und evan⸗ 
gelifcdem Geifte immer neu im Einzelnen durchdacht worden find. 
Das Ganze behält auch bei der letzten Redaction Melanchthon’s, 
ſo fehr das Einzelne innerlich in einer hriftlichen Gefammtanfchauung 
und Logik zufammenhängt, doch in feiner formellen Geftaftung mehr 
den Charafter einer aneinandergereihten Kette von 5locis‘, während 
in der Geftaftung eines Syſtemes Calvin, der Anfangs hierin’ hinter 
ihm zurüdzubfeiben ſcheint, allmählich weit über ihn hinausgefchritten 
iſt. Mit Recht wird man in der .fortfchreitenden Entwicklung der 
Institutio vor Allem eben jenen Fortſchritt in der Geftaltung des 
Stoffes zum Gegenftande der Aufmerkſamkeit machen. Damit wird 
denn bei den Meiften von vornherein die Amahme fich: verbinden, 
daß mit Bezug auf den Glaubensinhalt felbft die Ueberzeugungen 
des Verfaſſers ſchon feit dem Beginne diefelben geblieben feien. 
Eben auch) in die Klarheit und unmandelbare Feſtigkeit, womit Calvin 
jeit dem Anfang feiner Lehrthätigkeit feinen Standpunkt gegenüber 
von den evangelifchen Dogmen eingenommen und behauptet habe, 
pflegt man ja feine Eigenthümlichleit zu fegen. Und diefe Annahme 
wird allerdings auch bei einem Vergleich der verſchiedenen Re 
dactionen der Institutio wenigftens mit Bezug auf alles Grund» 
wejentliche fich bewähren. Namentlich; fällt hier vollends fein großer 
Unterfchied von Melanchthon und von deffen Verhalten gegenüber 
der Prädeſtinations⸗ und Abendmahls Lehre in die Augen. Nicht 
umfonft wird e8 indeſſen fein, auch hiefur noch genauer auf bie 
eingefnen Ausgaben einzugehen, — ob nicht da immerhin noch ber 
deutfame Modificationen in der concreten Lehrausführung fich be 
merklich machen. Es möchte doch auch hiefür das Wort Auguftin’s 


über Calvin's Institutio. 18 


Beiquziehen fein, welches wir feit der Ausgabe vom Jahre 1543 
(Vol. XXIX, p. 255) unter Calvin's Vorrede lefen: „Ego ex 
eorum numero me esse profiteor, wi -scribunt proficiendo 
et scribendo proficiunt.“ 

Indem wir von der Inteinifchen Bearbeitung der Institutio aus 
dem Jahre 1536 als von der erften Geftalt- des Werkes überhaupt 
ausgehen, Könnte indefjen vorher. noch Rechenſchaft darüber nöthig 
eigenen, ob wirklich, wie wir im Bisherigen bereits vorausgeſetzt 
haben, bie franzöftfche Ausgabe des Jahres 1535, welche ar fonft 
als die erfte zu bezeichnen pflegte, gar nicht exiftirt Hat. In der 
neueren Zeit war hierliber beſonders unter franzöſiſchen reformirten 
Gelehrten debattirt worden, ‚Unter deutfchen Gelehrten war nament ⸗ 
Gh auch noch Herzog (Art. „Calvin“ in der Theolog. Encyff.) 
ud alfen Bedenken, die fich auch ihm erhoben haben, doch dabei 
fehen geblieben, daf wir eine „Doppelte Ausgabe annehmen müffen, 
die eine, franzöfifche, vom Jahr 1535, die andere, lateiniſche, vom 
Jahr 1536“ ®). Dagegen durfte Stägelin ®) nach ben Beiträgen, 
die feither beſonders Jules Bonnet für die Entſcheidung der Streit 
frage gegeben hatte, ſchon zuverſichtlich ausſprechen, daß biefelbe 

+ gt unbedingt entſchieden ſei zu Gunften der Lateinifchen Ausgabe, 
als der einzig urfprünglichen. Und dem müſſen wir vollends zu⸗ 
ftinmen nach der Haren, Alles zufammenfaffenden Darlegung der 
Gründe, welche und nun zuerft in den Prolegomenen zu Vol. XXIX 
boten, dann auch in der Einleitung zu Vol. XXXI, nämlich zur 
Munöfifchen Ueberfegung der Institutio, noch einmal wiederholt 
md theilweiſe bereichert wird. Hiernach hat jet auch Herzog fein 
Urteil geändert )). Entſcheidend ift in der That ſchon die eigene 
Ctllarung Calvin's vor der franzöfifchen Yeberfegung ſeines Werkes 





i) Gaß (Gefchichte der prot. Theologie I, 99 [vom Jahre 1854]) vebet noch 
ohne Zweifel zu erwähnen vom einer urſprünglich franzöfiichen Ausgabe 
aus dem Jahre 1585 und zwar von einer anonymen (hierüber fiche 
unten). 

Ya.e.D, ©. 55f. 

Y Eacyti. XIX, 307. Dorner Geſch. der proteftant. Theologie, S. 375) 
hat, indem ex noch biefelbe Angabe wie Gaß vorbringt, offenbar die neueften 
Unterfuihungen überjehen. 


14 sörlin 


aus dem Jahr 1541. Sie wird uns jegt VoL XXIX, p. XXIX 
und Vol. XXXI, p. XVI nod genauer als bei Stäheln ©. 56 
mitgetheilt. Schon auf dem Titel heißt e8 dort: „Institution... 
'composee en latin par J. Calvin et.translat6e en fran- 
gais par luymesme.‘‘ Und in der Vorrede fagt Calvin, nachdem 


er von der Abficht feines Werkes geredet: „A ceste fin j’ay com- 


pos& ce present livre; et premierement l’ay mis en 
latin, ä ce qu’il peurt servir & toutes gens d’estude,.de 
quelque nation qu’ıl feussent: puis apres desirant de .com- 
muniquer ce qui en povait venir de fruict & nostre Nation 
Frangaise l'ay aussi translate en nostre langue “. &8 ift aller- 
dings die zweite, nicht die erfte Bearbeitung des Werkes, von beren 
Uebertragung er Bier redet, Hätte aber feine „franzöſiſche Nation“ 
ſchon vorher einen eigeus für fie beſtimmten Tett der erften Ber 
arbeitung beſeſſen, ja wäre dieſe fchon urfpränglich eben für fie 
— franzöſiſch — von ihm-abgefaßt gewefen, fo dürften wir ſicher 
irgend einen Hinweis darauf. an der. bezeichneten Stelfe bei ihm 
erwarten, — einen fiheren Beweis kann id) in einem neuer- 
dings öfterg citirten Brief Calvin's vom 13. October 1536 fehen, 
worin er von einer franzöfifchen Ausgabe feines „VBücleins* redet. 
Und zwar redet er, was Herzog in der Theol. Euchkl. II, 512 
überfehen Hat, erft von feiner Abficht, eine folche zu veranftalten; 
er fagt: „singulis .momentis de Gallica libelli nostri editione 
eogitabamus “. Das bezieht denn Stähelin (a. a. O., ©. 56) ohne 
Weiteres auf die Institutio, mit deren Ueberfegung in’s. Franzo⸗ 
ſiſche demnach Calvin damals erft fich beichäftigt Habe. Und dieſe 
Beziehung ift auch recht wohl möglich, ja wahrſcheinlich; das Dir 
minutiv libellus fteht, wenn man auf den Umfang der erften Bes 
arbeitung ficht, nicht im Wege; Calvin felbft nennt fie im der 
Vorrede feines Commentars zum Pſalter: „brove duntaxat enchi- 
ridion“. Möglich wäre indeffen doch auch (vgl. ach Corp. Ref. 
Vol. XXIX, p. XXIX; Vol. XXXI, p. XXI), daß Calvin 
damit feine Schrift über den Seelenfchlaf gemeint hätte. — Gegen 
über von jenem Beweis aber läßt nun fein einziges Argument 
mehr ſich fefthaften, das man für die Priorität einer franzöfifchen 
Ausgabe anführen möchte. Nirgends hat man eine Spur von 


über Calvin's Institutio. 1 


Eremplaten einer folchen entbedt, nirgends das Zeugniß eines 
eitgenoffen, der „eine ſolche gekannt hätte. Man Hat gemeint, 
Gulvin werde doch wohl gegenüber vom franzöfifchen Könige, welchem 
er das. Werk mit feiner berühmten Zufchrift dedicirte, ber franzds 
fügen Spradje ſich bebient haben. Diefes Bedenken erledigen nun 
unfere Herausgeber beſonders in ber Einleitung zu Vol. XXXI 
vollſtandig: nicht nur war damals die lateinische Sprache die »unis 
verfelle, internationale, diplomatifche, die Sprache par excellence«, 
jondern wir erhalten zu jener Iateinifchen Dedication Calvin’s auch 
no zwei weitere fpecielle Beifpiele in einer Debication Caſaubon's 
md einer Dedication. de Thou's an König Heinrich IV., obgleich 
Heinrich gewiß Fein größerer Latinift als fein VBorgäuger Franz 
war. Durchſchlagend hatte Manchen das Argument gefchienen, daß 
in den franzöftfchen Ausgaben die Debication ſchon vom 23. Auguft 
6 Jahres 1535 datirt ift (in der Lnteinifchen des Jahres 1536 
vom 23. Auguft ohne Jahreszahl, in den folgenden Tateinifchen 
vom 1. Auguft 1536). *) Dieſer Punkt ift aber von den Heraus. 
gebern ebenfo klar als ſcharfſinnig aufgehellt. Die Iateinifche Ans- 
gabe vom Fahre 1536 enthält,. was man früher überfehen Hatte, 
am Schluß die Bemerkung der Basler Druder Platter und Laſius, 
daß fie im Monat März des Jahres 1536 vollendet worden fei. 
Demnach muß auch Hier der 23. Auguft vom Jahr 1535 vers 
ftanden werden; eben die lateiniſche Dedication war damals ſchon 
ihrieben worden, nur der Drud hatte ſich noch fo lange verzögert, 
und zwar ift auch bie Urſache der Verzögerung aufgeklärt: fie lag 
in finanziellen Verlegenheiten Platter’s. Die fpäteren Druder der 
Iateinifchen Ausgabe nahmen dann das dort am Schluß des Buches 
genannte Jahr 1536 falſchlich auch für's Jahr der Dedication. 
Daneben fegten fie ftatt des 23. Auguſts wohl deswegen ben 
1. Auguſt, weil diefen die Borrede der zweiten lateinischen Ausgabe 
M ihrem Datum Hat. ‚Man meinte endlich, die erfte Ausgabe 
müffe zufolge einer Aeußerung Ealvin’s in feinem Pfalmencommen- 





)& wie Stähelin &. 55 das Datum twiebergibt, nämlich mit dem 
1. Auguſt und mit der Jahreszahl 1535, findet es ſich in gar Teiner Aus - 
gabe. - 


16 Körlin 


tar anonym erfchienen und fönne mit der erften Lateinischen Aus: 
gabe, die ſchon Calvin's Namen auf dem Zitel trage, deshalb nicht 
ibentifch fein. Allein der Beweis würde zu weit führen: denn 
Calvin hätte ja auch ſchon der angeblichen erften Ausgabe vom 
Jahr 1535 in der. Dedication feinen Namen mitgegeben. Und 
Calvin's Worte an, jener Stelle find überhaupt nicht von einer 
Anonymität in dem hier angenommenen Sinne zu verftehen. Calvin 
will dort dem Vorwurf begegnen, daß er ſich mit feinem „Lurzen 
Handbüchlein“ einen großen Ruf habe machen wollen; er fei, fagt 
er biegegen, ja bald darauf (ex brevi) aus Baſel weggegangen, 
ohne daß Jemand gewußt habe, er fei der Verfaffer. Hiebei aber 
"ift man nicht daran zu denken, daß er feinen Namen Calvin nicht 
auf den Titel wie auch unter die Debdication gefegt. Hätte, fondern 
daran, daß er, wie ſchon Jules Bonnet nachgewiefen hat, damals 
und fo aud in Baſel nicht unter diefem, fondern unter anderen, 
angenommenen Namen fich umgetrieben und z. B. auch Briefe ge⸗ 
ſchrieben Hat. — Ich hielt es nicht für überflüffig, die entfcheir 
denden Punkte, welche von den Herausgebern weitläufiger entmidelt 
werden, hier kurz zufammenzufafjen. Die Streitfrage ift mit ihnen 
ohne Zweifel erledigt. Zu berichtigen ift hiernach die Art, wie 
Stähelin a. a O., ©. 56 den ſcheinbaren Widerfpruc der Jahres⸗ 
zahl 1536 mit dem Datum der Dedication zu löſen fucht: daß nämlich, 
das Buch ſchon zu Ende des Jahres 1535 gedrudt, aber um ein 
Jahr vorbatirt worden fei. Zugleich wird übrigens auch noch eine 
Annahme der Herausgeber anzufechten fein. Sie vermuthen Vol. 
XXIX, p. XXVI: Calvin werde — gemäß jenem Ausdrud „ex 
brevi“ — aud ſchon vor Vollendung des Drudes Bafel verlaffen 
Haben und fo umfomehr von feiner VBerborgenheit als Verfaſſer des 
Werkes haben reden fünney. Stähelin (S. 93) laßt ihn ſchon 
gegen den Schluß der ſchönen Jahreszeit 1535 über die Alpen nad) 
Htalien und zur Herzogin von Ferrara wandern (vgl. aud Herzog 
a. 0. O., ©. 513). Dem fteht eine nenere Ausführung Rilliet's 
entgegen, wonach derſelbe bis zur Vollendung des Druces ruhig 
in Bafel blieb und erft am Ende des März 1536 von dert abging *). 


8) Rilliet, Lettre à Mr. Merle d’Aubigns sur deux points obscures de 
1a vie de Calvin (Gendre 1864). In deutſchen Blättern erinnere ich 


über Ealvin’s Institutio. 17 


Wir finden Rilliet's Abhandlung, welche erſt nach dem 29. Bande 
des Corp. Reform. erſchienen iſt, in Vol. XXXI, p. XXX als 
„une brochure aussi spirituelle que savante“ citirt, doch ohne 
daß auch noch mit Bezug auf die foeben angeregte Frage von ihr 
Gebrauch gemadt würde. In der Entſcheidung der Hauptfrage 
wird indeffen dadurd Nichts geändert. 


Berner bedarf es noch einer kurzen Erörterung darüber, ob nicht - 


für die Gefchichte der inneren Entwicklung des Calviniſchen Wertes 
bie franzöfifchen Ausgaben trog der Priorität der lateiniſchen doch 
mit in Betracht zu ziehen find. Es müßte dies umfomehr ger 
fchen, je mehr Calvin in einer von ihm felbft herſtammenden 
Uebertragung das, was er überjegte, zugleich nod) genauer erläutert 
und theilweis auch ſchon umgeftaltet und weitergebildet Hätte, Einen 
Vergleich der franzoſiſchen mit den Inteinifchen Ausgaben machen 
und die weiter erſchienenen Bände des Corp. Reform., Vol. XXXI 
und XXXII möglich. Wir erhalten Hier zuerft in der ſchon bisher 
erwähnten Cinfeitung des 31. Bandes eine Ueberficht über die ver. 
ſchiedenen Editionen der Ueberfegung, welche zu Calvin's Lebzeiten 
erichienen find und welche je auf den verfciedenen Hauptausgaben 
des lateinifchen Textes ruhen. Auch ift Hiebei aus der erften Ueber⸗ 
fegung vom Jahre 1541, welcher ſchon die zweite lateiniſche Res 
daction vom Jahre 1539 zu Grunde liegt, die oben von uns 
erwähnte Vorrede vollftändig abgebrudt (p. XXXIII). Die fran 
‚fie Institution felbft Haben dann die Herausgeber durch jene 
beiden Bände hindurch in ber ſchließlichen Hauptausgabe des Jahres 
1560 vorgelegt, während fe daneben in fortlaufenden Anmerkungen 
über die Abweichungen derfelben von den früheren franzöſiſchen Auss 
gaben berichten, auch kleinere und größere Stücke aus dieſen wörtlich 
beifügen; zugleich vergleichen ſie in den Anmerkungen die Ueberfegung 
mit dem Tateinifchen Grundtexte. Für die Frage, die wir hier 
noch erörtern wollten, ergibt ſich nun das Folgende. Die Ueber 
fegung in jener erften Ausgabe ift, wie wir bereit6 aus den oben 





mid nicht diefe Schrift ſchon belprochen gefunden zu haben, außer bei 
Herzog, Encyfi. XIX, 807, und eingehender an einem Orte, wo man nicht 
nad ihr ſuchen wird, nämlich im Cotta’ ſchen Morgenblatt 1864, Nr. 81, 


Theol. Stud. Jahrg. 1868, 2 


18 Körlin 


eitirten Worten der Vorrede vernommen haben, aus Calvin's zigener 
Hand Hervorgegangen. Aber fie folgt, wie auch die Herausgeber 
(p. XXVIO) auf Grund genauer Vergleihung erllären, Sag für 
Sag dem lateinifchen Original; ja fie ſchließt ſich diefem fo ftreng 
an, daß fie mitunter für Lefer, welche mit dem Latein weniger 
vertraut find, dunkel werden muß. Einzelnes freilich wird ſich doch 
in ihr finden laffen, was Calvin hier eigenthümlich ausgedrückt oder 
auch erläuternd dem urfprünglicen Texte beigefügt hat. So Iejen 
wir hier in dem Abſchnitt von der bürgerlichen Obrigteit, ehe Calvin 
auf die mit den verfchiedenen Verfaffungsformen verbundenen Ge- 
fahren eingeht, mehrere dem franzöfiichen Text eigenthümliche Säge, 
in welchen er Monerchie, Ariftofratie, Demokratie kurz befinirt 
(Vol. XXXI, p. 1133 vgl. Vol, XXIX, p. 233 und 1105. 
Vol. XXX, p. 1098); fie waren, wia wir aus dem fehlen einer 
dem entgegengefegten Notiz Bei unferen Herausgebern ſchließen müſſen, 
von Calvin ſchon feiner eigenen, erften Ueberfegung eingefügt. 
Solche Aenderungen des Inhaltes indefjen, welche für unſeren Zweck 
bermöge ihrer inneren Bebentung in Betracht zu ziehen wären, find 
mir wenigſtens nicht in die Augen gefallen. Nur in Betreff einer 
Umſtellung, welde Calvin 1541 an der Reihenfolge der Capitel 
vorgenommen Hat, werben wir auf jene Ausgabe zurückkommen 
müffen. Im Anſchluß an die lateiniſche Ausgabe von 1543 erſchien 
dann eine zweite franzöfifche 1545. Von ihr Habe ich aus dem 
eben vorhin erwähnten Abfchnitt und Zufammenhang eine recht 
beachtenswertfe Modification des lateiniſchen Textes anzuführen, 
welde von unferen Herausgebern gar nicht bemerkt worden zu fein 
ſcheint. Calvin läßt in jenem Zufammenhang 1543 den neu auf | 
genommenen Sag folgen: „‚equidem, si in se considerentur tres 
illae — — regiminis formae, minime negaverim vel aristo- 
cratiam vel temperatum ex ipsa et politia (== Demofratie, 
nad griechiſchem Sprachgebrauch von zoArrei«) statum aliis om- 
nibus longe antecellere“. Statt defjen jagt die Ausgabe, welche 
für Frankreich in der Landesſprache erſchien, offenbar abſichtlich 
weit unbejtimmter: „vray est que si on fait comparaison des 
trois especes, — — — que la préeminence de ceux qui 
gouverneront tenants le peuple en libert£, sera plus à priser“. 


- Aber Ealuin’s Institutio. 10 


Alein hei dieſer Ueberſetzung Haben wir nun ſchon feine Gewähr 
mehr dafür, daß fie, wenn fie aud) das „translat6e par luymesme “ 
auf dem Titel behält, Darum ihrem gauzen Inhalte nach, nämlich 
u in den Stüden, welche nad) 1543 aufzunehmen waren, direct 
von Calvin verfaßt fei. Vollends Hört eine folhe Gewähr auf bei 
der ſchließlichen franzöſiſchen Ausgabe vom Jahre 1560; ja «6 
ſtellt fi Hier vielmehr ein theilweis entgegengefegter Sachverhalt 
Heraus, Hier iſt Die Ueberfegung bis zum 7. Capitel des erften 
Auges eine ganz neue, nerjchieden von der des Jahres 1541, die 
af Auch die dazwiſchen liegenden Ausgaben mit ben durch bie 
Aendexungen des Originals - bedingten Zugaben ſich forterhalten 
hatte; letztere ift daher ‚hier von den Heransgebern anmerfungsweife, 
beigefügt worden, Im weiteren: Verlauf, beſchränkt ſich das Werk 
Kr neuen Ueberfegung anf die vielen neuen Beftandtheile des Ori« 
guoßß vor Jahre 1559, während im Webrigen der ‚alte franzöſiſche 
Rat beibehalten iſt, und zwar zeigen jene Beſtandtheile hier man⸗ 
cherlai Abweichungen nom Original, aud) viele Heine Erweiterungen. 
Alsin in Yetreff dieſes Theiles ber Uebertragung Haben win die 
Hagugoeber einleuchtend nachgewieſen, daß man fie ‚her Feder 
Lalvin's ‚nicht beilegen dürfe, da ſich hier nicht blos gine große 
Zahl na Ungenapigfeiten, Auslaffungen und müßigen Zuſätzen 
fine, ſondern auf eine Reihe von Stellen, wo der Ueberfeger 
affenbat ſelbſt hen Inteinifchen Text nicht verftgnden habe. Won 
der none. Bearbeitung jener erften Eapitel meinen die Herausgeber, 
fie menigftens ſei vielleicht von Calvin felbft. Und hiefür könnte 
man auch ainen, bei anderer Gelegenheit-‚von ihnen heigebrachten 
Brief N. Kalladon’3 (Vol. XXIX, p. XLI) geltend machen, ‚worin 
ditſer aus sigener Erinnerung erzählt, wie Calpin felber mit ‚einge 
fanftigen Meberfegung jeiner Institutio ſich beſchäftigt, Vieles 
hiefür dietirt, daneben Blätter aus einem älteren franzöſiſchen 
Eremplar eingeſchaltet habe u. ſ. w. Indeſſen fcheint ‚mir auch 
jener erſte Theil in ſeinem Inhalt ähnliche, obgleich nicht fo viele 
md auffallende Kennzeichen, wie jenes pätere, darzubieten, welche 
af eine andere als Calvin's Hand, fahliegen Lafjen. Auch ſchon 
bier ſehlt der Satzverbindung, während fie mehr Weitſchweifigkeit 
als im Origingl zeigt, doch die rechte Klarheit und Sphärfe des 
2° 


20 Köntin 


Gedankens, welche wir erft im Rüdblid aufs Original gewinnen. 
Auch Her ſchon finden ſich Ungenauigkeiten, Auslaffungen und Zus 
füge, die den Sinn des Verfaffers abſchwächen oder geradezu ftören; 
man vergleiche befonder8 vom 5. Gapitel ab; überdies haben aud) 
die Herausgeber felbft unter die Stellen, welde gegen die Ueber- 
fegung der auf Cap. 7 folgenden, Abſchnitte durch Calvin zeugen 
ſollten, ein recht ſchlagendes Beiſpiel mit aufgenommen, das ſchon 
dem 5. Capitel zugehört. — Nach dieſen Wahrnehmungen und 
den eigenen Erklärungen ber Herausgeber über den Urſprung der 
Meberfegungen Tann ich nebenbei die Bemerkung nicht unterdrüden, 
daß es principiell richtiger gewefen wäre, in's Corpus Reforma- 
torum den Text ber erften franzöfifchen Ausgabe, als den biefer 
Iegten, in extenso aufzunehmen, wenn aud auf die Gefahr Hin, 
bag dann durch Beifügung der fpäteren Stücke unter jenen Tert 
der Drud eine minder ſchöne Geftalt bekommen hätte. Es ift 
nicht blos, wie bie Herausgeber fagen (Vol. XXXI, p. XLV) 
„wahr, daß die älteren Texte in gewiſſem Sinne mehr authentiſch 
find“ ; fondern fie felber Haben zuvor dafür ſich erflärt, daß jener 
es in Wahrheit allein fei. Am meiften kann man ihrem Verfahren 
von einem praftifchen Gefichtspunft aus Recht geben, nämlich mit 
Ruckſicht auf die Verbreitung der neuen Ausgabe unter franzöſiſchen 
Lefern, deren größtem Theil ohne Zweifel daran gelegen fein wird, 
den Text der fchlieglichen Redaction auch in franzöfifcher Sprache 
als ein Ganzes vor fih zu haben. — Wir aber dürfen jegt nad 
dem Gefagten überhaupt wieder "von den franzöfifchen Ausgaben 
zu der Oeftaltung des Werkes in den Tateinifchen uns zurückwenden, 
Den Gang, melden die Entwiclung des Werkes nahm, über- 
bliden wir zuerft im Ganzen und Großen. Darauf werden 
wir im Betreff einzelner Lehrſtücke näher zuzufehen haben, wie ihr | 
. Stoff im Verlauf der Arbeit weiter auseiriandergelegt und beftimmt 
worden ſei — wieweit etwa auch der Standpunkt Calvin's in der 
Auffaffung und dem Vortrag bderfelben ſich mobificirt zeige (jo in 
unferem zweiten Artifel). - 


x - 





Es ift ſchon oben bemerkt worden, daß Calvin’s Institutio in 
ihrer erften Ausgabe noch weniger den Eindrud einer ſyſtema⸗ 


Aber Calvin's Institutio. 2ı 


then Ausführung der chriftlichen Lehre madje als die Loci Mer 
lanchthon's in ihrem erften Entwurfe. Beim Weberblid über bie 
einzelnen Beftandtheile, in welde jene zerfällt, möchte man fogar 
überhaupt zweifeln, ob in dieſer Gliederung des Stoffes ein wiſſen⸗ 
ſcaftlicher, ſyſtematiſcher Geift thätig gewefen fei, fo wenig dann 
bei genauerem Einbli ein ſolcher Geift ſchon hier fich verfennen 


Es find bie alten Hauptſtucke des populären Kriftlichen Unter» 
richts, in welchen auch Calvin Hier. den Stoff feiner: Institutio 
christianae religionis auselnanberfegt. Sie folgen aufeinander " 
in derjenigen Ordnung, in welcher Luther fie zu einem Katechismus 
vereinigt hat. Beim Eintritt in das Buch — nad) der Zuſchrift 
an König Franz — empfängt uns fogleich als Auffchrift des erften 
Eupitel8 der Titel De lege, quod decalogi explicationem eon- 
finet“ (p. 27 5q. unferer Ausgabe). Das zweite handelt De fide, in- 
dem e8 den Inhalt des apoftolifchen Symbolums erplicirt (p.56—86); 
das dritte vom Gebet, in Auslegung des Vaterunfers (p. 81—101). 
An diefe drei Hauptftüde reiht ſich, wieder ähnlich wie in Luther’ 
Latechismus, eine Ausführung über Taufe und Abendmahl, die 
beiden einzigen wahrhaftigen Sacramente des Neuen Bundes, in 
op. 4 (p. 102—140). Darduf aber folgt nun bei Calvin noch 
in Gap. 5 eine befondere Widerlegung ber katholiſchen Lehre von 
angebfühen fünf weiteren Sacramenten (p. [41—195); endlich in 
Cop. 6 (p. 195—248) eine Belehrung über die „chriſtliche Freiheit“, 
bo der Verfaffer aus Anlaß der Trage, wie ber dieſer Freiheit 
theilhaftige Chrift zu menſchlicher Geſetzgebung ſich verhafte, auch 
die Grundfehren von der Kirchengemalt und nicht minder von der 
veltfichen Obrigfeit eingehend erörtert. 

Neben der Methode, nach welcher Calvin den Lehrftoff zunächft 
ter jene drei Hauptſtücke zufammengefaßt Hat, erfordert hier eben 
auch das Verhältniß, in welchem nun hiezu die noch folgenden Ca- 
Piel ftehen, unfere Aufmerkſamkeit. An ſich boten jene Hauptftüce 
einen Rahmen dar, im welchen bereits der ganze weſentliche Inhalt 
ks griſtlichen Unterrichts fich befaffen Tieß, wenn überhaupt einmal 
dr Stoff nach ihnen gegliedert werben follte. Die Institutio wird 
af dem Titel unferer erften Ausgabe bezeichnet als „totam fere 


2 * Kötlin 


pietatis suminam et quidquid est in doctrina salutis cogkitu 
necessarium, complectens“. Und in der That hat Calvin Alles, 
was von bet Heilslehre „zu wiſſen nothwendig ift“, wenigftens 
den Gtundzügen nach ſchon fo vollſtändig in jenen Rahmen auf 
genommen, daß fich daran ſehr leicht ätich Alles, was welter noch 
der Darlegung bedürftig ſchien, Hätte anreihen laſſen. Et Hat, wie 
wir beiläufig bemerken, dort ſchon auch ſolche Lehrſätze erürtitf, 
denen nicht blos Luthet in feinem Katechisinus gerhäß dert Zwecken 
einet prattiſch-⸗ katechetiſchen Lehrſchrift keine derattige Etdrierung 
zu Theil werden laßt, ſondern auf welche dich Melauchthon in 
feinen Loci Anfangs noch nicht näher Hatte Eingehen wollen, weil 
es in ihnen um die höchſten objectiven, mehr arzebeteitden als zu 
erforfchenden Myſterien fich handele, nämlich die Lehre Bor bes 
Sottesfohried ewigemn Weſen und -Verhäftniß zum Bater. Dort 
bot ja Hu filr die Gegenftände, welche Calvin vielmehr erft in 
drei weiteren, befonderen Capiteln behandelt Kat, beſonders das‘ 
zweite Hauptſtuck beim vierten: Theile des apoſtoliſchen Symbolums 
(p. 725qq.) Raum und Ankgüpfung: die Lehre bon det Kirche 
und von ber Sünbenvergebung, deren man eben im ber Kirche ge- 
nieße, führte vom felbft auf die Lehre dom dei Sacramenten, von 
Klrchengewalt und Kirchenregiment, von unberedjtigten ober berech⸗ 
tigten kirchlichen Satzungen. Zur Lehre bon det Kitche und Ger 
meinſchaft der Heiligen gehörte fofort auch der Gegenſatz gegen die 
römische Auffaffung von Ordo und Prieftertfum, auf welchen Calbin 
dann erft im 5. Gapitel bei den fünf fälfchfichen Sacratnenten zu 
reden kommt. Ueber bas Binden und Löfen nuch dem Sinne 
Ehriftt hatte Calvin auch wirklich ſchon dort feine Haiptfäge Kurz 
ausgeführt, während er im 5. Capitel bei der Lehre vom Ordo 
erft wieder nen bavon unhebt und auch im 6. Kapitel bei der Lehre 
von der Kirchengewalt theilmeife hoc) einmal darauf zurückkommen 
mußte. Für die Lehre von den weltlichen Obrigkeiten, Wwelche ſich 
dann an bie von ber Kirchengewalt bei ihm anfchliegt, hätte ſich 
derſelbe Anſchluß auch ſchon innerhalb einer allgemeinen Rehraus- 
führung über die Kirche durchführen laſſen. Beſonders auffallen 
kann die Behandlung, welde in jener Gliederung des-Stoffes der 
Lehre von der Buße zu Theil geworden ift. ine Erörterung der 


über ‚Ealvin’s Institutio. 23 


Hauptmomente, welche zu diefer Lehre gehören, zieht fi, wie wir 
bald noch näher fehen werden, ſchon durch die beiden erften Haupte 
füde Hin: eine Erflärung über die Wirkung, melde zum Behnf 
der Sündenerfenntniß das Geſetz hervorbringen, über ben felig- 
machenden Glauben, den die Predigt von Chriftus erwecken folle u. ſ. w. 
Schließlich wird hier bei der Ausfage des apoftolifchen Symbole 
über die Siündenvergebung Alles dahin: zufammengefaßt, daß die 
Gläubigen die Vergebung empfangen, wenn fie, vom Bewußtſein 
der Sünden barniebergebeugt, ihr. Fleiſch und alles das Ihrige 
abtödten, — daß fie diefe Buße während ihres Wandels im Kerfer 
des Leibes beftändig fortfegen müffen, — und daß fie nicht etwa 
hiedurch die Vergebung felber verdienen, vielmehr unter völliger 
Geringſchätzung ihrer ſelbſt erft die Barmherzigkeit Gottes in Ehrifto 
verfihmeden und in gewiſſer Zuverficht zu der Bier dargebotenen 
Vergebung wieder aufleben follen. Nachher aber, gegenüber vom 
fathofiihen Bußſacrament, handelt Calvin erft noch neu und noch 
eingehender von diefer Abtöbtung und Vergebung, um von hier aus 
überqugehen zur ſcholaſtiſchen Lehre von contritio, confessio, satig- 
factio, von der wahren Schlüffelgewalt u. j. m. — Gegenüber 
vom Inhalt jener drei Hauptftüce kann das, was die weiteren 
Capitel nachbringen, jedenfalls nur als -ein Anhang gelten. Ja es 
find Anhänge nur zu einzelnen Veftandtheilen jener Hauptftüde. 
Allein dem Umfang nach wird das, was wir als die Hauptmafje 
des Buches anfehen möchten, von den Anhängen“ beträchtlich über» 
troffen, umd zwar fo ganz beſonders auch jenes wichtigſte Haupt» 
ftü De fide; man vergleiche die oben angegebenen Seitenzahlen. 
Mit Bezug auf die letzten Capitel Täßt ſich nicht mehr fagen ®), 
daß das Buch in feiner erften Ausgabe in der That ganz dem 
von Calvin felbft ihm beigelegten Namen eines „Eurzgefaßten Hand» 
buchs“ entſpreche. — Werner hat hier aud) der Gedanfengang 
mehr wiffenfchaftliche Strenge als in den erften Hauptſtücken. Wir 
dürfen nicht meinen, Calvin hade Hier fich mehr gehen laſſen und 
fei dadurch auch mweitläufiger geworden. Er fehreibt vielmehr gerade 
bier mit befonberer. Umfiht und Schärfe. — So fand dann 


a) Stägelin a. a. O. I, 74. 


a Köftin,, 


Calvin, als er fein Werk erweiterte, und umarbeitete, auch weit 
weniger burchgreifende Aenderungen bei den Beftandtheilen der letzten 
als bei denen der erften Capitel nöthig. " 

Es laßt fh im Voraus erwarten, daß bejtimmte und ſpecielle 
Sntereffen und Motive der Grund waren, weshalb Calvin den 
Stoff feiner drei fetten Capitel in diefer Weife ausführte. Und 
zwar haben wir hiebei noch zu unterfeheiden zwifchen dem vierten 
und zwifhen dem fünften und fechften, deren Ausführlichfeit am 
meiften auffallen kann. Dort, bei der Lehre von den beiden Sa- 
eramenten, wobei beſonders die vom Abendmahl erörtert wird,- hat 
Calvin vorzugsweife ein Bedürfniß im Ayge, mweldes aus dem 
Schooße des Proteftantismus.. felbft heraus ſich geltend ‚machte. 
Es ift ihm um die richtige Stellung feiner evangelischen Lefer zu 
den immitten der evangelijchen Gemeinschaft ausgebrocdenen Streitig- 
feiten zu. thun. Vornehmlich in diefem Sinne fonnte er (p. 102) 
fagen: „nunc de sacramentorum ratione dicendum erit, de qui- 
bus certam aliquam doctrinam tradi magnopere nostra refert“. 
Analoge Gründe haben Luther veranlagt, in feinem großen Kate⸗ 
Hismus dem Abfchnitt über Taufe und Abendmahl eine folche Aus- 
dehnung zu geben. Gegenüber von den bisher in jenem Streit 
aufgeſtellten Haupttheorieen, der lutheriſchen und der ſchweizeriſchen, 
will Calvin jegt den ihm eigenthümlichen Standpunft begründen 
und Mar maden:*fid fern Haltend von einer Auffafjung, welche, 
um die wahre Bedeutung der Sacramente zu behaupten, Gott an 
irdiſche Werkzeuge zu binden und dem Leib Chrifti den Charakter 
wahrer und menuſchlicher Leiblichteit abzuſprechen Gefahr Läuft, — 
noch weit angelegentlicher aber fich verwahrend gegen eine Herab- 
fegung jener Bedeutung, wobei man die Sarramente, anftatt vor 
Allem göttliche Mittel. zur Stärkung des Glaubens und zu geift- 
licher Nahrung in ihnen zu erfennen, ganz oder wenigftens über- 
wiegend nur zum Ausbrud menſchlichen Bekennens, ja am Ende 
gar zu einem leeren Schaufpiel made. Daß der wahre Gehalt 
der Sacrämente nicht aufgegeben werben follte, war ſchon hiemit 
aud den Vorwürfen des Katholicismus ‚gegenüber verſichert; eigens 
und eingehend wendet ſich gegen ihn unfer Capitel nur mit feinen 
Erklärungen über die Anbetung der Hoftie, über den Laienkelch und 


über Calvin's Institutio. B 26 


beſonders Über bie Meſſe. Dagegen iſt dann bei den weitläufigen 
Ausführungen der beiden letzten Capitel das Verhältniß zum Ka⸗ 
tholiiemus das eigentlich Beſtimmende für Calvin. Eigens gegen 
dieſen, beſonders gegen feine Buße und Schlüffelgewalt und gegen 
fein prieſterthum, wendet ſich die wefentlich polemifche Ausführung 
des fünften Capitels. Im ſechsten Capitel überwiegt über bie por 
lemiſche Tendenz die apologetiſche: während die Evangelifchen mit 
guten Gründen die Kirchengewalt nad päpftfichern Sinn und, bie 
Sagungen, unter welchen diefe die Seelen knechte, zurlichweifen, ſoll 
man nicht meinen, daß ſie dem Staat, den politiſchen Geſetzen, den 
Obrigkeiten oder auch nur wenigſtens den böfen, tyranniſchen Mer 
genten bie vollſte Anerlennung und völligen, bürgerlichen Gehorſam 
verweigern, noch auch, daß fie Überhaupt von einer Kirchengewalt 
er von Firchlichen Ordnungen Nichte miffen wollen. Es ſoll 
blog das geiftliche und das politifche Negiment wohl unterfchieben, 
bie Kirchengewalt wefentlih in ben von Gott verorbneten Dienft 
des Wortes gefetzt, feine menschlichstirchliche Verordnung ‚zum Bann 
für die Gewiffen gemacht werden. In Betreff eben diefer befon- 
deren pofemifch » apologetifchen Capitel aber ift nun ferner noch zu 
bemerfen, daß fie, wie unfer Ueberblick über fie zeigt, nicht ſpeciell 
gerade diejenige Frage erörtern, um melde in Wahrheit der tieffte 
Gegenſatz ber evangelifcheg, gegen die katholiſche Anſchauung ſich 
bewegt, nämlich die Frage von der · Rechtfertigung, dieſem Mittel⸗ 
punfte in der Lehre von ſubjectiver Aneignung des Heiles und in 
der Lehre vom Heilsweg überhaupt. Das Wefentliche über den 
Weg des Heiles durch Gnade und Glauben im Gegenfag zur 
Vertgerechtigfeit Hatte Calvin ſchon in jene erften zwei Hauptſtücke 
aufgenommen, bort aber noch ohne eine fo eingehende Apologetit 
und Polemik. Jetzt, wo die fpecielfe apologetifche und polemifche 
Ausführung eintritt, bilden ihren Hauptgegenftand vielmehr die 
firhlihen Juſtitute, Sagungen, Uebungen und äußeren Autoritäten 
det Katholicismus; nur aus Anlaß des Gegenfages zur facramens 
tafen Bußübung der römifchen Kirche ift Calvin auch noch auf eine 
mauere Expofition des innerlichen Proceffes in der wahren Buße 
qrüdgeflommen. Eine Erflärung hiefür können wir nur darin 
finden, daß eben auch diejenigen fpecieflen Borwürfe und Anſpruche 


26 ’ Köflin 


von Seiten der Tathofifchen Kirche, welche damals Calvin befon- 
ders nahe getreten waren, vorzugsweife auf jene Punkte ſich ge- 
richtet Hatten. So war es im Kampfe der Reformation ja über 
Haupt gar Häufig der Fall, wo es fatholifchen Gegnern gm ber 
Neigung, in jene, tiefften Tragen des inneren Heilslebens fi ein- 
äulaffen, oder überhaupt an Sinn und Verſtändniß fir diefelben 
fehfte, namentlic aber, wo es gaft, den Arm der weltfichen Gewalt 
gegen die Neuerer aufzubieten. Und fo Hatte in der That Calvin 
gerade damals vorzugsweife mit Angriffen diefer Art zu thun. 
Er felbft fagt fpäter in der mehr erwähnten Vorrede zu feinem 
Pfalmencommentar: die graufamen Mafregeln gegen die Prote- 
ftanten in Zrankreih habe man damals durch das Vorgeben zu 
rechtfertigen gefucht; daß Diejenigen, welche. jo behandelt werden, 
nur Anabaptiften und unruhige, wirre Menfchen feien, von denen 
auch alfer politiſchen Ordnung der Umſturz drohe; hiegegen habe 
er nicht fehmeigen dürfen; deshalb habe er feine Institutio heraus. 
gegeben. Speciell über Alles, was hiemit zufammenhing, wußte 
er fid) erflären in einer Schrift, bie auf den König von Frankreich 
wirken folfte. Den fpeciellen Gegenfag gegen die Anabaptiften in 
Betreff der Kindertaufe hat er freilich jet nur erft kurz erdrtert; 
ausgefprochen aber hat er ihn mit den Hauptgründen ſchon beftimmt 


genug, um auch in diefer Beziehung den Vorwurf irgend einer ' 


Gemeinfhaft mit jenen abweifen zu können. — Bliden wir endlich 
von Hier aus wieder auf die“drei erften Eapitel und ihr Verhältniß 
zu den legten zurüd, fo finden wir feine Ausführung dort noch 
nicht wie hier von folchen Gefihtspunften durchdrungen. Und mit 
Bezug darauf gederifen wir nun der Erflärung, welde Calvin in 
feiner Dedicafion über die Abficht feines Werkes gegeben hat. 
Er Habe, fagt er, als er zuerft die Hand an das Werk‘ gelegt, an 
Nichts weniger gedacht, als daran, Etwas zu fihreiben, was dem 


- Könige überreicht werben ſollte; feine Abficht fei nur geweſen, einige 


„Rudimente“ vorzutragen zur Unterweifung von Lefern, die refigiöfes 
Intereſſe Haben, in der wahren Frömmigkeit und insbefondere zum 
Beſten feiner Landsleute, der Franzoſen, von denen er ſehr Viele 
nad) Chriftus dürften, fehr Wenige mit einer, wenn aud nur 
mäßigen, Erfenntniß ausgeftattet gefehen Habe; dieſe feine Abſicht 


über Eafoin’® Institutio. 9 


gebe and fein Buch felbft zu erkennen durch bie ganz einfache 
&hrform, die er-ihm gegeben habe („liber — — ad simplicem 
rudemque docendi formam appositus“; franzöflih: „je l’ay 


stcomod& & la plus simple forme' @enseigner qu’il m’a est 


possible‘‘ ; als er jedoch das Wüthen gottlofer Leute in Frankreich 
gegen die Befenner gefunder Lehre gefehen Habe, fei es ihm erfprieß- 
id) erfjlenen, daſſelbe Wert zugleich zur Unterweifung Derjenigen, 
für die er es urfprünglich beftimmt umd zu einem Bekeuntniß vor 
dem Könige dienen zu faffen. Die Abfichten, von weichen Calvin 
im Pfalmencommentar und in diefer Debication rebet, widerfprechen 
einander natitrlich nicht, wie fie denn auch von Stähelin unbefangen 
neben einander aufgeführt worden find. ber eben fie in ihrem 


Unterfchiebe von einander dienen uns nun zur Erflärutg jenes " 


Verpältniffes zwifchen der erften und zweiten Hälfte 
des Wertes. Chen Hinter jener Abſicht, welche Calvin in ber 
Dedication für feine urfprüngliche erffärt, tritt in der erften Häffte 
noch die apologetifch- polemifche Tendenz zurück, obgleich natitrfich 
auch ſchon jene Untermeifung ihren Standpunkt fpeciell im Gegen- 
ſatz gegen bie katholiſche Lehre einnehmen mußte. In den festen 
Eopiteln wird die Ausführung wefentlih von diefer Tendenz und 
mar mit Mücficht auf die erwähnten fpecielferen Vorwürfe der 
Gegner beftimmt, obgleich natürlich auch fie zugleich wieder dem 
Bedurfniß der evangelifchen Lefer dienen, fie theils in ihrer Freiheit 
gegenüber den Anfprüchen der römifchen Kirche befeftigen, theils 
dor einem Mikbraud ber Freiheit, wie man ihn Anderen mit Recht 
dorwarf, warnen und bewahren follte. Zu einer fo eingehenden 
bolemiſchen und beſonders apologetifchen Bezugnahme auf jene Gegen- 
füge mag Calvin auch der Zeit nach erft fpäter fich veranlaft ge⸗ 
funden. Haben, während eine ſolche Darftellung ber „rudimenta‘“, 
“Die wir fie in den drei erften (beziehungsweiſe auch noch im vierten) 
Kapitel, vor uns haben, ſchon vorher von ihm entworfen war. 
Die Zeit, wo er „zuerft die Hand an das Werf legte“, muß nad) 
dieſen Ausdrücken Calvin’s dem Zeitpunft, aus welchem die Dedi- 
tion ftammt, jedenfalls um eine ziemliche Strede vorangegangen 


fin. Es ift nicht unwahrſcheinlich, daß er, wie hieraus auch in, 


der Einfeitung Vol. XXXI, p. XIII geſchloſſen wird, den Anfang 


D 


Eu " Köftin , 

und erften Entwurf ſchon in Frankreich gemacht Hat. Diefelben 
Motive, welche ihn fpäter erft zu der Präfentation des Werkes an 
den König. veranlaßten, werden auch erft im Verlauf feiner Arbeit 
jene fpecielfe, ausführliche Behandlung des Inhalts der Tegten und 
namentlich vollends des fechften Capitels verurfacht Haben. Der 
Gefammtinhalt aber, mit welchem es ein „Unterricht chriftlicher 
Religion“ zu thun Hat, ift dann eben nicht jo, wie es nach dem 
inneren Zufammenhang der Gegenftände möglich und im Intereſſe 
einer ſyſtematiſchen, wiffenfchaftlichen Ausführung gefordert war, 
in Eines verarbeitet worden. 

In dem Gefagten haben wir denn auch ſchon eine Erflärung 
für die eigenthümfiche Form, in welcher der ſchon von ben erften 
Eapiteln zufammengefaßte wefentfihe Inhalt des chriſtlichen Un 
terrichts, durch dieſe Capitel hindurch auseinander gelegt wird. Spe⸗ 
ciell von ihnen gilt, was Calvin demerkt über eine von ihm ſelber 
beabfichtigte „simpliceem rudemque docendi formam “ ®). Für 
jene befehrungsbebürftigen Chriften, welche bei allem Hunger nad) 
Chriſtus höchſtens eine „mäßige“ Erkenntniß befaßen, paßte die 
geringere wiſſenſchaftliche Strenge, die Vereinigung von Praktiſchem 
und Theoretifchem, bie fehlichte Kürze auch in fehr wichtigen Ab 
fehnitten der Lehre. Für fie paßte namentlich, jene Einordnung des 
ganzen, theils mehr praftifchen, theils mehr theoretifchen Lehrſtoffes 
unter diejenigen allgemeinen Hauptſtücke, welche ihnen jedenfalls 
ſchon am meiſten geläufig wären, nämlich unter bie des Katechis- 
mus. Wir wiffen, daß Melanchthon feine Loci mit ihrem mehr 
durchweg wiffenfchaftlichen Gange der Ausführung gleich zu Anfang 
nicht überhaupt für Chriften von einer fo allgemeinen Bildung, 
daß fie Latein verftanden, -oder für die gens d’&tude im Sinne 
Calvin’s (f. oben), fordern für Studenten oder Stubirthabende 
in weit engerem Sinne des Wortes gefchrieben hat. Zugleich zeigte " 
dann das Vorantreten diefer allgemein chriſtlichen Hauptſtücke auch 


a) Stähelin (I, 45) hat den Sinn biefer Worte nur unvollftändig twieder- 
* gegeben, indem er überfeßt: „ich bemühte mich, fo einfach als möglich; mid) 
auszudrüden“; fle'gehen auf bie ganze Form. ” 


. - 


über Calvin's Institutio.. 20 


den latholiſchen Leſern von vornherein an, daß die neue Lehre nichts 
Anderes wolle, als diefe nad) ihrem wahrhaften, förifigemäßen, 
göttlichen Inhalte darlegen. 

Allein amdererfeits zeigt ſich nun, wie ſchon oben angedeutet 
wurde, auch ſchon in dieſer Darftellungsform tar ber ſyſtematiſche 
Geift, die ſyſtematiſche Arbeit des Verfaffers. Der Stoff ift doch 
keineswegs blos äußerlich nad) diefen Hauptftüden aneinandergereiht. 
Durch die Hauptbeftandtheife des Unterrichts, die ſich fo vertheilt 
haben, zieht” ſich doch ſchon von-Anfang an ein Faden, der fie nach 
ihrem inneren Zufammenhange verbindet: Ja 68 beginnt ſchon 
bier diejenige innere Entwicklung bes Stoffes, welche dann auch 
für Calvin's fpätere Bearbeitungen deſſelben grundfegend geblieben 
iſt. Unter der Ueberſchrift „De lege ete.“ kommt Calvin doc, 
rictt fogleich auf Geje und Delalog zu reden. Er geht vielmehr 
dadon aus, daß die Summe-ber heiligen Wiflenfchaft aus diefen 
zwei Theilen beftehe: aus der Erfentitniß Gottes und aus der Er- 
lenntniß unſerer ſelbſt. Mit Bezug auf die erftere faßt er in 
wenigen Sätzen die Eigenfchaften Gottes zufammen. Um in die 
kegtere einzufithren erflärt er: Adam, nad) dem Bilde diefes Gottes 
geſchaffen, Habe durch feinen Fall die Gaben der Gnade und die 
Gemeinfhaft mit Gptt für ſich und für ung Alle verſcherzt; wir 
fein völlig unfähig, etwas Gottgefälliges zu thun, fein ſämmtlich 
Kinder des Zornes, feien aber zugleich in Selbſtliebe fo verblendet, 
daß wir un nicht fo erkennen und demgemäß darniederwerfen wollen. 
Eben zu dem Behufe, fagt er dann, fei das gefchriebene Gefeg von 
Gott gegeben, damit diefe Lehre von der Gerechtigkeit uns klar 
ige, wie weit wir vom rechten Weg entfernt feien; wir follen 
darin als im einem Spiegel unfere Sünde und unfer Verfluchtjein 
anſchauen. Weiter führt Calvin ans; wenn wir fo gedemüthigt 
“fim, gebe Gott den Demüthigen Gnade, und zwar in Chrifto; 
Vergebung, Friede, Verſöhnung u. f. w. werde in biefem uns 
geihenkt, fo wir im Glauben ihn aufnehmen. Da aber jene Er- 
fenntniß unferer Selbft und unferes Elendes und zugleich bieſer 
Saube, der uns Gottes Barmherzigkeit genießen laſſe, nicht von 
ms oder in unferem Bermögen fei, jo muſſen wir Gott anflehen, 


20 Köplin 


daß er in Beides uns einführen möge *). In der That hat hiemit 
Calvin ſchon den ganzen Gedanfengang entwidelt, in welchem ber 
Inhalt und die Bedeutung feiner nachfolgenden drei Hauptitüde 
— vom Geſetz, Glauben, Gebet — im Borans zufammengefaßt Liegt; 
und zwar find es, wie wir fehen, ganz diejenigen Grundgedanten, 
welche auch bei Luther nicht blos feine Heilsichre überhaupt ber 
herrſchen, fondern auch feinen Katechismus durchziehen. Nachdem 
darauf Hin Calvin den Defalog im Einzelnen ausgelegt Hat, ſchließt 
er diejes erfte Eapitel wieder mit Erflärungen über Bedeutung und 
Zived des Geſetzes überhanpt. Zugleich Handelt er im Auſchluß 
hieran von dem Werthe der guten Werke im Leben dar Ehriften, 
proteftirend einestheils gegen eigene Verdienfte, anderntheils gegen 
die Meinung,. al® ob die guten Werke abgethan fein jollten. Das 
Eapitel vom Glauben aber knüpft hierauf wieder daran an, daß 
die Uebertretung des Geſetzes uns verdammt und die Goſetzes⸗ 
erfüllung über unfere eigenen Kräfte gehe: die einzige Rettung aus 
diefem Elend werde in Gottes Barmherzigkeit dem Glaubgn dar⸗ 
geboten. Und zwar wird nun fogleih, ehe noch des Glaubens 
Inhalt nach dem apoſtoliſchen Symbole durchgenommen wird, feine 
fubjective Beſchaffenheit dahin beftimmt, daß er ‚nicht ein blofer 
Biftorifcher Glaube, fondern eine volle Zuverficht auf Chriſtus und 
den guten, gnädigen Gotteswillen fein müſſe. Daß diefer Glaube 
rechtfertige, wird eigens wieder beim Artikel von der „Sündenver- 
gebung und namentlich wieder am Schlufje des ganzen Hauptſtüdes 
— mit Bezug aufs Verhältniß zur Liebe. — behauptet. Die An 
Inüpfung des dritten Hauptftüdes, vom Gebet, erfolgt in der Weife, 
welche fchon der Eingang des erften Capitels angedeutet hatte. 
Nur verbindet ſich jegt mit der Beziehung auf das Heil, das wir 
als Sünder von Gott erflehen müfjen, ſogleich die Beziehung darauf, 
daß Gott überhaupt der Geber aller guten Gaben fei und als beſtet 
Bater im Gebet um fie wolle angegangen werden. Den Schluß 


a) Um Mißverftändniffe fern zu Halten, muß ich darauf aufmerffam machen, 
daß bie von Stähelin (©. 75) gegebene Heberficht über unſeren Abſchnitt, 
welche namentlich jene Stellung des Gefeges nicht erkennen vis ſehr une 
genan iſt. 


über Calvin’ Institutio. 81 


wat, nad der Erklärung des Vaterunſers, eine wiederholte Ver⸗ 
fiherung, daß Gott die im Gebet ausharrenden Gläubigen nie 
verlaffen werde, obgleich er ihnen freilich oft die ſchwerſten Proben 
auferlege. Unvermittelt erſcheint ‚num hierauf der Uehergang zur 
Sacramentenlehre des vierten Capitels, fofern er zunächft nur 
gemadt wird mit dem Sage: „Nunc de sacramentorum ratione 
dieendum erit, de quibus certam aliquam doctrinam tradi 
magnopere ‚nostra refert.‘‘ Indem jedod dann das Sacrament 
d8 ein zur Stüge unferes Glaubens dienendes Zeichen des guten 

Gotteswwillens definirt wird, ift aud ein innerer Anſchluß an’ u 
Borige gegeben in der Ruckbeziehung auf die Bedürftigfeit des bisher 
wörterten fubjectiven Glaubens *). Von der im fünften Capitel 
folgenden ausführlichen Abhandlung über die angeblichen weiteren 
Suramente erklärt Calvin felbft, daß er fie beifüge wegen der 
bisher feſtgewurzelten Lehre und Sitte, während an ſich ſchon bie 
Ausführung feines vierten Capitels- hinteihen müßte, gefehrige, 
aüdterne Chriften vom fürmigigen Suchen nad) noch mehr Sacra⸗ 
menten abzuhalten. In Betreff des letzten Capitels endlich. 
bmerft er, er Habe ſchon im Früheren den Gegenftand deſſelben, 
die griftliche Freiheit, kurz berührt (vgl. beſonders in feinen Sägen 
über die Geltung des Geſetzes); er muſſe noch ausführlicher davon 
handeln wegen des Mißbrauchs, ben Viele von biefer Freiheit machen. 
— Es konnte nicht fehlen, daß der große Inhalt des hriftlichen 
Unterrichts, welchen die drei erften Capitel umfaſſend darlegen, 
auch ſchon bei der Theilung unter diefe Hauptftlde empfänglichen 
fern als ein innerlich ſehr wohl zufammenhängendes Ganzes ſich 
dergegenwärtigte. Aber den angemefjenen Ausdrud hat er als ein 
ſolches Ganzes allerdings in diefer Darftellungsform keineswegs 
ſchon gefunden. Es fehlt fehr vielen einzelnen Beftandtheilen bei 
Üer Unterordnung unter diefe Stüde die directe Beziehung auf 
den Faden “ber Teitenden Grundgedanken. Es wird vermöge folder 





a) Ealsin Hat hiernach nicht fo, wie es bei Stähelin S. 70f. erſcheint, 
das Gebet (Cap. 3) und die Sacramente (Cap. 4) als „Gnadenmittel“ 
uſammengefaßt; Calvin, fagt Stähelin, gehe mit Cap. 3 zu der Lehre 
von den Gnadenmitteln über und da nehme das Gebet die erfte Stelle ein. 





32 aöoſtlin 


Unterordnung Weſentliches zurücgeſtellt, für was jener nach feinem 
inneren Zufammenhang eine frühere Stelle forderte: Har ift dies 


3. B. in Betreff der Lehre von Gott, als dem allmächtigen Schöpfer. | 


Es wird vorangeftellt, was feinem inneren Zufammenhang nad 


erft auf fpäter Behandeltem ruht: fo z. B. die Lehre vom Braud) 
des Gejeges. mit Bezug auf Diejenigen, welche ſchon im Glauben 
wiedergeboren find, .und von ben guten Werfen, fofern fie aus 
Kraft der Gnade und im Genuß der Vergebung. von Chriften voll- 
bracht werden. Die Hauptlehre von der Zutheilung des Heils 
aus Gnaden ohne Verdienft an den Glauben oder von der Recht⸗ 
fertigung durch Glauben hat, während fe durch's Ganze ſich hin- 
durchzieht, hiebei fir ſich felbft eine angemefjene befondere Stelle 
nicht erhalten, und zugleich finden jo mit Dem. auf fie fehr viele 
Wiederholungen ftatt. 


Einen hohen Werth behält die Institutio gerade aud) im biefer | 


ihrer erften Geftaltung. Ya gewiſſe Vorzüge hat dieſe Ausgabe 
fogar vor den fpäteren Bearbeitungen voraus. Mit großer Sider- 
‚heit und Klarheit Hat der fünfundzwanzigjährige Verfaffer den Inhalt 
des chriftlichen Unterrichts durchdrungen und gemäß dem Bedürfniß 
feiner Lefer dargelegt. Die Mängel Hinfihtlih der Syſtematil 
find wenigftens zum großen Theil durch diefes Vebürfniß motlbirt, 
und trog derfelben werben einem minder geübten Lefer die leitenden 
Grundgedanken hier fogar noch leichter und lichter ſich darftellen, 
als in den fpäteren Ausgaben, wo ihre Entwicklung eine ftreng 
foftematifche ift, aber durch eine Maſſe anfchwellenden Stoffes fih 
hinziehen muß, unter dem fie leicht ſich verbirgt (ogl. auch Stähelin 
hierüber, ©. 86). Vor den nachfolgenden Bearbeitungen . endlich 
wird dieſe immer auziehend bleiben durch den Charakter urfprüng- 
licher Srifche, der den erften Guß auszeichnet. Sie ift infofern 
wieder ber erſten Ausgabe von Melanchthon's Locis zu vergleichen; 
dabei bricht in diefer, obgleich ihr Gang im Garen fchon ſyſtema⸗ 
tiſcher iſt, doch die Tebendige innere Bewegung des Verfaſſers an 
einzelnen Abfchnitten auch unvermittelt und Heftig durch: nicht fo 
bei Calvin, dem gerade bei feiner erften Ausgabe eine Verbindung 
warmen Lebens mit durchgäugiger maßvoller Ruhe der Darftellung 
eigenthümlich ift. 





über, Ealoin?s Institutio. „ss 

Calvin ſelbſt fagte nachher von feiner erften Ausgabe, er habe 
hier großentheils nur leichthin gearbeitet), Wir werden diefe 
Eritfingsarbeit ſchon gewichtig genug finden. Sie hat auch zu ihrer 
Zeit ſchon weithin und Fräftig gewirkt: Gott, fagt Calvin, habe 
ihr einen Erfolg gegeben, den er felbft nimmermehr erwartet habe. 
Aber ein Hauptwerk proteftantifher Theologie für Jahrhunderte 
mar fie noch nit. Sie ift es geworden durch die unermübliche 
Beiterarbeit ihres Verfaſſers, der ohne Zweifel mehr als irgend 
einer der Leſer gleich in der nächſten Zeit das Bedürfniß fühlte, 
fie nad) allen Seiten Hin fortzubilden. 

Die zweite Ausgabe erfdien zu Straßburg 1539, in ihrer 
Vorrede datirt vom 1. Auguft. In Betreff ihres Titels machen 
wir auf eine Berichtigung aufmerffam, welche gewiſſen herfömm- 
Äigen ungenauen und ierthümlichen Angaben über ihn jegt zu Theil 
geworden ift. Mean lieft nämlich Häufig, fie fei „erfchienen unter 
dem Namen Alcuin“: fo bei Stähel in a. a. O., ©. 62, bei 
Dorner a. a. D., ©. 375. Aeltere Hatten ſich genauer aus— 
gedrückt: es gebe feltene,. merfwürdige Exemplare des Buchs mit 
diefem Anagramm. Der urfprünglihe Sachverhalt ift nach Vol. 
XXIX, p. XXXIVsqg. ohne Zweifel der: die Auflage im Großen 
trug den Titel „autore Joanne Calvino Noviodunensi‘, demnad) 
nihteweniger als die Perfon des DVerfaffers verhüllend. Nur 
eine für Frankreich beftimmte Anzahl von Exemplaren erhielt den 
anderen Titel, um unter feinem Schuge dur bie Hände von 
Örenoifitatoren und anderen Inquiſitoren laufen zu können. Noch 
mehr: es blieb auch in der Ueberſchrift der dem Titel und einem 
lurzen Vorwort folgenden Dedication der Name des Königs Franz 
weg, und jene lautete: „potentissimo illustrissimoque monarchae 
magno Francorum, regi, principi ac domino suo, Alcuinus “. 


8) Im der Borrede von 1539, Vol. XXIX, p. 255 (vgl. Vorrede von 1559, 
Vol. XXX, p. 1): „in prima hujus nostri operis editione — — 
leriter majori ex parte, ut in minutis operibus fleri solet, defune- 
tus eram“ (In ber Ueberſebung Vol. XXXI, p. 5: „je m’en estoye ac- » 
'quitt6 plus legerement, m’estudiant & brievetö“. Stähelin (S. 61) 
Hat Hier, wie auch ar andern Stellen, Calvin's Worte nicht nad; dem 
Driginal, fondern nach diefer Ueberfegung wiebergegeben.) 

Weol. Stud. Jahrg. 1868, 8 








34 :  Köftlin 


Es konnte Einer meinen, eine Schrift des alten Aleuin, dem „großen 
Fronfenfönige“ gewidmet, in neuem Drude vor ſich zu haben. 
Ein folhes Exemplar Haben 2 B. unfere Herausgeber noch in 
Baſel gefunden. " 

Indem Calvin in feiner Vorrede für den großen Erfolg feiner 
Schrift vom Jahre 1536 Gott und den Lefern dankt und feinen 


Dank eben mit der gegenwärtigen neuen Arbeit möchte abgeftattet 


haben, fügt er hiezu bei: „et facturus id quidem.eram aliquanto 


‚maturius, nisi totum fere biennium dominus me miris modis 


ezercuisset“. Wunderbar war er in der That umgetrieben worden, 
feit er die erfte Ausgabe veröffentlicht Hatte: umgetrieben durch 
feine Reife nach Italien, von da zurüd nach Bafel, fofort weiter 
in feine Vaterftadt Noyon, dann wieder Bafel oder Straßburg 
zu, wobei er unterwegs unverfehen® in Genf fich feftgehalten fand; 
umgetrieben durch die Sorgen und Kämpfe, welche die Genfer Zu- 
ftände bereiteten, bis er den Staub dort von den Füßen fehüttelte 
und wieder den Wanderſtab ergriff; umgetrieben endlich durch die 
Pflichten de8 in Straßburg übernommenen Berufes, wo er zugleid 
paftorale Thätigkeit und ein alademiſches Lehramt zu verfehen hatte. 
Und erftaunlih müfjen wir nun in der That and die Studien 


nennen, bie er, wie die neue Bearbeitung der Institutio bezeugt, | 


aud unter ſolchen Umjtänden weiter getrieben, für fein Buch ver- 
wertet, in feinem Buche niedergelegt hat. Den eigenen Stoff hat 
er neu durchdrungen, gerade in den wichtigften Stucken fehr ber 
reichert, auch jegt überatt mit gleihmäßiger Schärfe des Gedantens 
und Präcifion des Ausdrudes ausgeführt. Mit Belegftellen aus 


der Heiligen Schrift ift die neue Ausgabe "weit vollftändiger aus⸗ 


geftattet als die erſte. Dazu kommt eine ausgedehnte Bezugnahme 
auf menſchliche, und zwar nicht blos theologiſche, ſondern auch alt⸗ 


claſſiſche Literatur. Unter den alten kirchlichen Schriftſtellern iſt 


natürlich Auguſtin auch von Calvin wie von den anderen Refor⸗ 
matoren am meiften fort und fort benugt und über ihn mit den 
Katholiken gekämpft worden. Auch alte griechiſche Theologen aber, 
darunter Origenes, begegnen ung jet bei Calvin. Auf die Theo 
rieen der Schofaftifer ferner geht er jest bei verſchiedenen Punkten 
fehr genau ein; er hält ſich Hiebei befonders an den Lombarden; 


über Ealoin’s Institutio. 35 


mas die nachfolgenden Scholaftifer anbelangt, fo Hat er offenbar 
nicht fo, wie Luther und auch Melanchthon, vornehmlih mit No— 
minafiften und Sfotiften fich befhäftigt. Und zu dem fommt nun 
eine mannichfache Bezugnahme auf Schriften und Aeußerungen ber 
berühmten alten Heiden, der Griechen und Römer, — bald Hinz 
weifungen auf Elemente der ewigen, höchſten Wahrheit, bie auch 
in ihrem Geifte ſich Fundgaben, bald Hinmeifungen darauf, wie doch 
auch fie noch in Dunkelheit gebannt blieben, bald Auseinander» 
fegungen” mit ihnen über .affgemeine phifoföphifche, pſychologiſche 
Fragen und Begriffe. Wir haben von Griechen hauptſächlich Plato 
und Ariftotel® zu nennen, ganz befonders aber Plato, von welchem _ 
Einelnheiten aus verfchiedenen Dialogen uns vorgeführt werden, 
— von Lateinern Cicero und Seneca, — unter den Philoſophen 
lm ift ihm Plato religiosissimus et maxime sobrius®). Wir 
finden fo 3. B. in Calvin's Erörterung der menfchlihen Seelen« 
vermögen ®) die Anfichten eines Plato, Ariftoteles, Themiftius, 
Cicero, EHryfoftomus, Drigenes, Auguftin, Bernhard, Petrus vom⸗ 
bardus, Thomas in Citaten aus einzelnen Büchern diefer Männer 
ufommengeftellt: eine Zufammenftelfung, wie fie fo reid) und zu— 
gleich fo concis nicht leicht in Schriften anderer Reformatoren zu 
finden fein wird. Dabei bieten ſich die Citate überall angemefjen, 
ohne etwas Gefuchtes oder gelehrten Prunk zu zeigen, im Conterte 
dar; und man fieht, daß fie der Verfaſſer nicht blos da und dort 
aufgelefen, fondern einem reichen Material, das ihm frei zu Gebot 
ftand, entnommen hat. Wir wiffen, daß Calvin die Glajfifer ſchon 
für feine urfprüngfiche wiffenfchaftliche Ausbildung ftudirt hatte. 
Bar ja dod auch feine eigene erſte Publication der Kommentar 
zu einer Schrift Seneca’8, worin er bereits feine Beleſenheit in 
jenen an den Tag legte. Und fein treues Gedächtniß für Alles, 
was er einmal in ſich aufgenommen Hatte, wird uns aud von 
feinen Freunden gerühmt. Aber er war offenbar auch feither, 
vährend feiner bewegten theologischen Laufbahn, im Verkehr mit 





a) Vol. XXIX, p..290. 
ba. a. O., S. 814ff. 331 (vgl. in dee Ausgabe vom Jahre 1559: Lib. Do, 
ap. 2, 8 20a, $ 2). . 
8 





86 Köflin 


J 
jenen Alten geblieben und Hatte ihn wohl in Straßburg jetzt neu 
aufgenommen. Wie aufmerkjäm er für Erfeeinungen aus ber alten 
Literatur blieb, zeigt befonders- auch feine ſchon erwähnte Anführung 
des Themiftius, aus defjen Paragraphen zu Ariftoteles’ Schrift über 
die Seele er Sätze vorbringt: diefe waren, fo meit ich wenigftens 
finden fann, erjt im Jahre 1534 zu Venedig gedrudt erfchienen. 
Die Citate aus ben Claſſikern hat dann Calvin namentlich auf 
in der legten Ausgabe feines Werkes noch beträchtlich vermehrt. 
— Neben der Beihäftigung mit den dogmatiſchen Ausführungen 
Auguftin’®, der anderen älteren Theologen und der Scholaſtiker 
gibt ferner eine fortgefegte, ftrenge hiſtoriſche Forſchung mit Bezug 
auf die kirchlichen Fragen, auf die urfprüngliche Geftalt und die 
Umbildung der fathofifgen Kirchenverfaſſung, auf die Gefchidte 

- des Papſtthums u. |. m. in der neuen und in den weiter folgenden 
Redactionen der Institutio fi fund; einen ausgedehnten neuen 
Beitrag hat von daher namentlid, die Ausgabe des Jahres 1543 
in ihrem 8. Capitel erhalten. — Während aber die Institutio 
des Yahres 1539 von folhen vorangegangenen wiſſenſchaftlichen 
Arbeiten ihres Verfaſſers Zeugniß ablegt, war dieſer im den letzt⸗ 
verfloſſenen Jahren vor Allem und nach verſchiedenen Seiten hin 
bewegt geweſen durch Fragen und Kämpfe, welche in der Gegen | 
wart felbft und zwar auf dem Boden der Reformation an ihn, 
berandrangen. Und namentlich denjenigen Bedürfniſſen chriftlichen | 
Unterrichtes, welche mit Bezug auf fie fid) ergaben, ſucht er in 
feiner neuen Arbeit eingehend zu genügen. Das Beduürfniß einer ! 
Belehrung gegen anabaptiftifche Herthümer war für ihn ver: | 
fchärft worden durch den Conflict, welchen er ſelbſt in Genf 1537 
mit den Wiedertäufern zu beftehen Hatte. In feine Institutio fügte 
er nun nicht blos über die Kindertaufe ftatt feiner früheren kurzen 
Süge einen ausführlichen Abfchnitt ein, ſondern widmete jener Ric: 
tung aud) in feinen Ausführungen über die Heilige Schrift, über, 
die Sünden der Wiedergeborenen, über die Heiligfeit der Kirche, 
über den Chiliasmus u. ſ. w. gebührende- Rückſicht. Bon Männern 
gleichen Geiſtes ſah er auc eine Leugnung der Auferftehung der 
Gottlofen und die Behauptung einer Wiederbringung aller Dinge 
ausgehen, wogegen er jegt gleichfalls eine Polemik aufnahm in feine 


über Calvin’6 Institutio. " 37 


Erffärung des apoftolifchen Symbolums. „Einige Wüthende aus 
der Secte der Anabaptiften“, welche im Alten Bunde feine Offen- 
barung ewigen Lebens und geiftiger Güter anerkennen wollten und 
„om Bolt Iſrael nicht anders als wie von einer Heerde Schweine 
dachten“, veranlaßten ihn ferner, in einem befonderen Capitel von 
„der Aehnlichkeit und dem Unterfdjiede des Alten und Neuen Tefta- 
mentes“ zu Handeln. Den Ser vet hatte er neben anderen neueren 
Antitrinitariern ohne Zweifel ſchon 1536 im Auge gehabt bei feinen 
Ausfagen vom Vater, Sohn und Geift, welche ewig Eines götte 
fihen Wefens und Ein Gott feien, und meiter befonder& bei feinem 
Viderfpruch gegen eine Anfiht von Chriftus, wonach dieſer erft 
als der Deenfchgewordene, megen feines Empfangenfeins aus dem 
Keifigen Geifte, Sohn Gottes Heiße. Servet zu nennen Hatte er 
hichei wie abſichtlich unterlaffen: ebenfo aud wieder 1539; wir 
bemerfen Hiezu, daß er denſelben dagegen fpäter (1559) auch bei 
feiner Polemik gegen jene Auffaffung des Alten Teftamentes aus= 
drüdlich als Genoffen jener Anabaptiften nennt. Namentlic mit 
Rücſicht auf die eben erwähnten Irrlehren führt er nun 1539 die 
Kehren von der Dreiheit in Gott und von Chriftus als dem Gottes- 
fohne noch weiter aus. Andererſeits war befanntlth auf Calvin 
febft in Genf duch Caroli ber Vorwurf gewälzt worden, daß 
er der allgemein hriftlichen, im Athanaſianum niedergelegten Tri 
nitätgfehre untren geworden fei. Auch dieſen Vorwurf zu widere | 
fegen mußte. er bei feiner neuen Bearbeitung des genannten Lehr» 
ſtüdes bedacht fein. Gegenüber vom Streite der Lutheraner 
und Zwinglianer über die Abendmahlefehre Hatte Calvin ſchon 
1536 fehr entfhieden an jene Richtung oberbeutfcher Theologen ſich 
angefchloffen, welche mit der Anerkennung davon, daß es im Abend- 
mahl vor Allem um eine reale göttliche Gabe fih handle, den 
Kirhen der Tutherifchen Reformation ſich zu einigen fuchten, während 
fe die Gabe wefentlih nur als Gabe für die Seele betrachtet 
haben wollten. Seither war Bucer bis zur Annahme der Witten 
derger Goncordie weiter gegangen. Ihm ftand jet Calvin in 
finem Straßburger Amt als College und Fremd zur Seite. Mit 
den Theologen der Augsburger Confeffton follte jet auch er felbft 
Gemeinſchaft machen bei den damals angeknüpften Verhandlungen 





88 Köoſtliu 


über eine Verſöhnung der Katholiken und Proteſtanten. Im Februar 
des Jahres, in welchem er die neue Ausgabe der Institutio erſcheinen 
ließ, war der Frankfurter Convent, auf welchem er mit Meland- 
thon perſönlich befannt und befreundet wurde. Er durfte hofien, 


in diefem einen Genofjen fr feine eigene Auffaffung des Abend- | 


mahls gefunden zu haben; im folgenden Jahr erſchien dann Me- 
lanchthon's veränderte "Ausgabe der Augsburger Confeffion, und 


det Umftand, daß die Bekenner der leßteren gegen die Aenderung | 


des zehnten Artikels feinen Proteft einfegten,. mußte die Hoffnung 
weiterer, ausgedehnte? Erfolge auf dem hier eingefchlagenen Weg 
der Lehre erweden. Da zeigt denn fchon-die Institutio vom Fahre 
1539, wie angelegentfich und tief Calvin felbft unter jenen Ver⸗ 
haltuiſſen dieſer Lehre weiter nachgedacht hatte. Seine Hauptaufe 
gabe übrigens fah Calvin fort und fort im Zeugniß für die evan- 
geliſche Grundlehre von der Gottesgnade, die den Sünder ganz 
ohne all fein Verdienſt vechrfertige, und für die Autorität des in 
der Heifigen Schrift uns vorgelegten Gotteswortes. Die Lehre von 
der Verderbniß des natürlichen Menfchen und die Lehre von der 
Rechtfertigung Hat dann Calvin 1539, anders als 1536, aud in 
befonderen Hauptftüden zu einer fharf zufammenfaffenden uud ent- 
faltenden Darftellung gebracht. Neues aber hatte Calvin vornehm- 
lich mit Bezug auf die Quelle und Norm der Gotteswahrheit, auf 
die Heilige Schrift und die göttliche Offenbarung über 
haupt in feinen Studien durdarbeitet, um 1539 eine ſchon fehr 
gereifte Frucht davon feinen Leſern darbieten zu können. Der Ab 
hängigfeit vom Glauben an die Autorität ber Kirche, worein der 
Katholicismus den Glauben an die Göttlichkeit der heiligen Schrift 
verfegt Haben wollte, ſtellt er hier bereits in ſcharfen Sägen bas- 
jenige unmittelbare innere göttliche Zeugniß entgegen, welches uns 
eine über alle menſchliche Schlüffe und Judicien erhabene Gemiß- 
heit von der Autorität der Schrift gebe und an weldes dann für 
uns erft weitere einzelne Kriterien und zwar vor Allem wieder 
innere, im Inhalt und Charakter der Schrift felbft liegende Kriterien 
ſich anſchließen follen: was auch bei Luther das Entfcheidende für 
feinen Glauben an Gottes Wort war, hat dod erft Calvin in 
jenem Testimonium spiritus saneti auf den beftimmten dogma⸗ 





über Calvin's Institutio. . 39 


tiſchen Ausdruck gebracht. Mit der Beziehung auf den Katholicie- 
mus verband fich dann in der Entfaltung der Rehre von der Schrift 
die auf jene anabaptiftifchen Schmärmer. Und weiter hat er jegt 
aud die gottlofen Zweifler und Weltmenſchen, welche den 
Chriftenglauben fammt allem Glauben an Gott zu einer Illuſion 
machen wollten, und das Bedürfniß, alle Grundlagen unferer Gottes- 
erfenntnig ihnen gegenüber zu beleuchten, mit klarem, umfaſſendem 
Bid und ſyſtematiſchem Geift in's Aüge gefaßt. Zugleich treibt 
ihn, aud) abgefehen von jenen Gegenfägen, ein allgemeines, religiöſes 
und wiffenfchaftliches Intereſſe, diefem Bedürfniſſe zu genügen; 
und indem er hiebei and) den Offenbarungen Gottes in der ganzen 
Schöpfung nachgeht, fehen mir ihn befeelt von warmer, freubiger 
Theilnahme für alle die edeln Künfte und Wiffenfchaften, welche 
mit der Betrachtung des Himmels und der Erde ſich beſchaftigend 
us hier in die Geheimniſſe der göttlichen Weisheit weiter hinein⸗ 
ſtauen lehreu (ogl. 3. B. Cap. I ber Instit. von 1539, p. 2865q.). 
Bereits erhebt fih fo bei ihm ein im den Grundzügen fertiges 
Gebäude Hriftliher Apologetit. Er fteht mit demfelben ſchon 
1539 einzig da unter den Neformatoren und unter den bisherigen 
chriſtlichen Theologen überhaupt. Nur wie vereinzelte Bauſteine 
erfheint im Vergleich damit auch dasjenige, was Melanchthon in 
der letzten Bearbeitung der Loci 3. B. mit, Bezug auf die Beweife 
füt's Dafein Gottes dargeboten hat. Calvin Hatte in feinen ſpä— 
teren Ausgaben nur noch einzelne Momente einzufügen und weiter 
auszuführen. — Eine nah Inhalt und Umfang fehr bedeutende 
Zugabe bifdet endlich in der Institutio vom Jahre 1539 der Ab- 
fgnitt über die Prädeftination. Die erfte Ausgabe hatte nur 
lurz, befonder® im Lehrſtück von der Kirche, auf die Gnadenwahl 
Bezug genommen. Jetzt dagegen trägt Calvin feine ftrenge Prä— 
deftinationsfehre fo vollftäudig und ſcharf vor, daß er Wefentliches 
fpäter nie mehr beizufügen hatte. Weifen und nun die anderen 
größeren Ausführungen, mit welchen er feine Institutio neu be— 
teihert hat, neben dem Intereſſe, das ihr Gegenftand fchon an und 
für ſich Hatte, zugleich auf conerete theofogifche Fragen, Bewegungen 
md Erſcheinungen der damaligen Zeit und der eben vorangegangenen 
Jahre zuritet, fo möchte man wohl einen beftimmteren Anlaß auch 


, 


a0 as ſtlin 


für dieſen Vortrag einer Lehre finden, von welcher der Verfaſſer 
fehr wohl mußte, daß auch manche evangelifch Gefinnte an ihr fih | 
ftoßen werben. Calvin ftellt ſich mit ihr, wie auch Luther gethan 
hatte, vor Allem in Gegenfag gegen menfchliche Anmaßung, melde | 
auf Grund eigener Leiftungen und mit ihren eigenen Vorftellungen | 
von Gerechtigkeit Anfprüche vor Gott erheben möchte, und hiemit 
gegewdie Fathofifchen Theologen und gegen Männer wie ein Erasmus. 
Alfein von diefer Seite war in der letzten Zeit nichts Namhaftes, 
was eine ſolche Entgegnung gefordert hätte, veröffentlicht worden; 
Pighius und vollends Bolſec traten befanntlich erft fpäter gegen 
jene Prädeftination auf. Und keineswegs blos Gegner folder Art 
hatte Calvin jetzt im Auge. Er erflärt ſich vielmehr gleich im 
Eingang des betreffenden Capitels (p, 862) gegen gewiffe Theo 
Togen, welche die Erwähnung der Prädeftination beinahe fo gut wie 
begraben haben wollen, ohne daß er doc; irgend ihnen eine Ber- 
leugnung der göttlichen Gnade oder ein Pochen auf eigene. Werte 
zum Vorwurf machte. Er erfennt vielmehr Tobend die Befcheiden- 
‘heit an, mit ber fie bie göttlichen Geheimniffe wolfen berührt Haben. | 
Er Hält ihnen nur entgegen, daß der menfchliche Geift ſich nicht | 
willkürliche Schranken fegen laſſe und daß Gott ſelbſt in feinem 

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Worte mehr geoffenbart Habe, die von Jenen gefürchtete Gefahr 
aber nicht fo Hoc) angefchlagen werden dürfe, um von Gottes Orafefn 
den Geiſt wegzumenden. Wir werden hiemit an Melanchthon er- 
innert, — an feine Loci vom Jahre 1535. Er Hatte hier bie 
„bunfeln“ Fragen (obscuriosa quaedam) in Betreff der Gnaden- 
wahl als inutilia et perplexa abgemwiefen, hatte der „Einbildung“ 
von einer blos particnlaren Verheißung die univerfafiftifchen Schrift- 
ausfprüche entgegengeftelft, damit-man an fie ſich Halte, und Hatte 
wirklich den von Calvin geforderten beftimmteren Begriff der Prü-. | 
deftination fo. gut wie begraben. Den Laurentius Valle, deffen | 
Anfiht von einem Präbeterminirtfein aller von Gott vorhergefehenen 
Acte durch Gotted eigenen Willen Calvin rühmend citirt (p. 873), 
hatte -er ausdrücklich beftritten. In den Schriftausſagen, nad) 
welchen Gott Menfchen zu Böfem zu beftimmen fcheine, hatte er 
eine bloße Zufaffung don Seiten Gottes ausgefprochen gefunden, 
was Calvin jetzt nachdrücklich bekämpft. Weiter erinnern uns dann 


\ über Calvin's Institutio. a 


on bie Aeußerungen ber Institutio über jene Theologen die birecten 
Arnferungen Calvin's über Melanchthon's Loci in der Vorrede 
zur franzöftfchen Ueberfegung bderfelben vom Jahre 1546: Me» 
lanchthon Habe in der Prädeftinationsfehre nur das, was zu erfennen 
nothwendig fei, berühren wollen, das Uebrige wie begraben (en- 
sevely) gefaffen ; er ſelbſt, Calvin, befenne hiegegen, daß Alles, was 
Gott in der Schrift uns zu offenbaren gefallen Habe, nicht unter- 
drückt werden dürfe, was auch immer die Folgen fein mögen ®). 
Shärfer äußerte er fi über ihm gegen den Genfer Magiftrat 
1552: „Melanchthon ne satisfaiet à nulles gens sgavans, 
pour ce qu’il fleschit d’une prudence trop humaine, n’osant 
peint dire ce 'qu’il cognoist estre' vray, pource qu’il craint 
que tous ne fussent point capables de l’ouyr.“ ®) Yene Aus- 
ge von Melanchthon's Werk war “freifich ſchon vor der erften 

Ausgabe der Institutio erfchienen. Geſchrieben aber war diefe ja 
fhon im Sommer des Jahres, in welchem jene erfchienen ift. Es 
müßte ung Wunder nehmen, wenn Cafoin die Wendung, welche 
er hier einen Melanchthon nehmen fah, nicht mit großem Ernfte 
zum Gegenftand der Aufmerffamfeit für fi gemacht und, falls fie 
ihn nicht zu gewinnen vermochte, die von ihm angenommene Wahrheit 
iht gegenüber nur um ſo entſchiedener feftzuftellen verfucht hätte. 
Indem er jetzt mach jener Seite Hin die Wahrheit fo feft zu bes 
haupten und fo fcharf auszuführen für gut findet, find wir berech— 
tigt, den bejonderen Anlaß hiezu wirklich eben in Melanchthons 
Locis zu ſuchen. 

Die Zwede, welhen nad Calvin's Abficht fein neu ausge— 
arbeitete® Werk zunächſt dienen follte, Bingen für ihn zufammen 
mit derjenigen academifchen Thätigfeit, welche er damals in Straß» 
burg zu üben Hatte. Die Lefer, für welche es nad) der Vorrede 
beftimmt ift, find Studirende im engeren Sinne des Wortes und 
ar Stubirende der Theologie. Eine fürzere, einfachere Unters 
weifung für Tehrbedürftige Chriften insgemein war indeffen aus 
iiner Institutio in feinem Katechismus hervorgegangen, beffen 


®) Corp. Ref. XXII, 681. 
b) ibid. p. 682. 


42 B Köflin 


ı 


erfte Entftehung fchon in feinen vorigen Genfer Aufenthalt fällt. 
Nur um fo mehr aber ift feine Erflärung über das, was er eigent- 
lich — aud) für jene Leſer — geleiftet Haben will, zu beachten. 
Sie zeigt und, wie er im Inhalte der criftlichen Unterweifung 
und Wiffenfhaft nur den begriff der in der heiligen Schrift 
entfalteten Wahrheit, ferner in einer wiffenfchaftlichen Darftellung 
dieſes Inbegriffes nur ein Hilfsmittel für's Studium und Ber- 
ftändniß der Schrift felbft fehen wollte. Er beftimmt nämlich 
feinen Zweck näher dahin: er möchte die Theologiebefliffenen zur 
Rectüre des göttlichen Wortes fo vorbereiten, daß fie Leicht in die 
felbe eintreten und ohne Anftoß darin fortfchreiten fönnen ; er glaube 
die Summe der Religion fo volfftändig zufammengefaßt und in 
folher Ordnung entwidelt zu haben, daß es den Lefern darnad) 
nicht ſchwer fallen werde, zu erkennen, was fie im der heiligen 
Schrift hauptſächlich fuhen und worauf fie allen Inhalt der Schrift 
beziehen folfen. So möchte er dann, wie er beifügt, auch Erffü- 
rungen zur heiligen Schrift, die er felbft etwa noch heransgeben 
werde, vorgearbeitet haben, fofern e8 nun in folheu Commentaren 
Feiner” weitläufigen dogmatifchen Disputattonen mehr bebürfen werde. 
An folder Schriftauslegung arbeitete er auch wirklich gerade damals; 
kurz darauf erfchien fein Commentar zum Römerbriefe. Wir ge 
denken hiebei des Zufammenhanges, in welchem bei Melanchthon 
die Entftehung feiner Loci mit feinen Vorlefungen über den Römer 
brief ftand, und der Erffärung über ihren Zwed, welden er in 
feiner erften Ausgabe · vorangeſchickt hatte: dag namlich aus ihnen 
die Jugend, was in der heiligen Schrift Hauptfächlich zu ſuchen 
fei, erfennen und nach ihnen. die Leſer der Schrift ſich in dieſer 
orientiren ſollen. 

Der Beſtimmung, welche Calvin ſo ſeiner neuen Bearbeitung 
der Institutio gab, eũtſprach neben der großen Bereicherung an 


dogmatifchem Stoff, die wir bereit® im Zufammenhang mit den 


geſchichtlichen Vorausfegungen der neuen Arbeit betrachtet Haben, J 


die größere wiſſenſchaftliche Schärfe, mit welcher er die erweiterten 
Hauptſtucke ausführte. In Betreff der größeren neuen Zugaben 
haben wir nur nod auf das Capitel „vom Leben des Chriften- 
menfgen“ aufmerffam zu machen, mit welchem er jegt feine Unter- 


Aber Calvin's Institutio. 48 


weiſung in der chriſtlichen Religion auch hinſichtlich der Ethik vers 
volfftändigt Hat; gegenüber von der Weitjchweifigkeit, in welcher 
die ethifchen Abhandlungen früherer Theologen über die Tugenden 
fd) ergingen und auseinanderfloffen und gegen welche er felbft ſich 
in ausdrüdlichen Gegenjag ftellen wollte, hat er hier wirklich feine 
Gabe einer ebenfo gedrängten, als warmelebendigen und in die 
Tiefe dringenden Darftellung vorzüglich bewährt. Gemäß jener 
Beſtimmung und in folher wiſſeuſchaftlicher Haltung Hat er endlich 
den Gang und die Gliederung des ganzen Werkes jet umgeftaltet. 
Die Urſachen, welche ihn früher den Hauptftüden des Katechismus 
folgen fiegen, waren weggefallen. In der neuen Geftaltung aber 
ichleßt er fih nun an eben jenen.inneren Faden an, melden wir 
doch auch ſchon in der erften Ausgabe bei ihm wahrnehmen konnten. 

Die Calvin fon urfprünglid, im Hauptftüct vom Gefege, von 
den mei Hauptbeftandtheilen chriftlichen Wiſſens, von der Gottes» 
erfenntwiß und unferer Selbfterfenntnig ausgegangen war und wie 
er jegt wieder mit ben entſprechenden Sägen fein Werk eröffuet, 
jo behandelt er jetzt fofort eigens in zwei Capiteln erft jene, dann 
dieſe. Genauer übrigens befchäftigt jich jenes Capitel nicht“ mit 
der Erfenntniß Gottes überhaupt, fondern mit der Frage, wie wir 
zu derjelben gefangen. Da hat die oben erwähnte große hriftlich- 
apologetiiche Ausführung ihre Stelle erhalten: dem menſchlichen 
Geiſte ſei ſchon urfprünglic Fine gewiffe Erkenntniß Gottes, ein 
Gefühl von Gott eingepflanzt, fo daß ſchon hiernach die Ableitung 
der Religion aus, der Schlaufeit einzelner Menſchen ein Unfinn 
fi; uud dazu fomme das Pit, das Gott in feiner Schöpfung 
une über fich felbft und zugleich über unjere eigene ewige Beftim- 
mung gebe und welches fortleuchte, auch während wir in perſön— 
fiher Verderbtheit von dem ſchon durch jenen inneren Sinn gewies 
jenen Weg traurig abirren; doch auf die rechte Bahn und zu bringen, 
fein freilich auch diefe Herrfichen Leuchten des Schöpfungswerfes 
sicht im Stande, die bei uns nur ſchwache Funken noch anzuregen 
vermögen; da komme uns denn Gott mit dem wirkſameren Mittel 
ſenes Wortes in der biblijchen Offenbarung zu Hilfe, — mit der 
hiligen Schrift, deren Göttlichfeit durch das Zeugniß des Heiligen 
Geiſtes eine über alles meuſchliche Urtheil erhabene Gewißgeit für 


44 Röptin 
uns habe, die auch mit der in ihr dargelegten. Gottesweisheit, mit 
der Hoheit ihres Inhaltes, mit der inneren Harmonie ihrer Be— 
ftandtheife unferen Geift mächtig, wie keinerlei menfchliche Literatur, 
ergreife, für welche endlich auch; das Zeugniß der Kirche, nämlich 
bie Uebereinftimmung der gefammten Chriftenheit und fo vieler 
heiliger Männer umd Blutzeugen, gemichtig mit eintrete; und der 
Gott, welcher Hier vertrauter und klarer mit ung rede, ftelfe ſich 
als ebendenfelben dar, der auch in jenen allgemeinen Offenbarungen 
wirke; — dies die Grundzüge des in feiner Neuheit und Origi- 
nafität beſonders werthvollen Abſchnittes. Das 2. Capitel ber 


trachtet näher, nad; einer furzen Ausführung über die urfprlng- 


liche Begabung des Menfchen, den Zuftand der Werderbniß und 
Sundenknechtſchaft, worin er jegt mit den Kräften feiner Intelligenz 
und vornehmlich mit denen feines Willens fich felbft erkennen muß. 
Welchen Anſpruch auf unbedingten Dienft jener Gott an uns macht 
und wie fehr wir Sünder mit unferer Armuth und unferem Mangel 
an eigener Gerechtigkeit vor ihm uns beugen müſſen, — das weiter 
zu zeigen ift die Hauptaufgabe der Lehre vom Gefeg im 3. Car 
- pitel; innerhalb deffelben hat Calvin weſentliche Aenderungen 
. nad) 1536 nidjt vorgenommen. Von da geht er wie in ber erjten 
Ausgabe zum Glauben weiter, in welchem wir Sünder die Barm- 
herzigfeit Gottes umfaſſen dürfen. Den Inhalt defjelben entwickelt 
er wieder nad) dem apoftolifchen GHaubensbefenntniß, in Gap. 4. 
Während er aber fchon hier, und zwar noch eingehender als in ber 
erften Ausgabe, das Wefen des Glaubens und die Lehre von der 
in jenem Bekenntniß ausgefprochenen Sündenvergebung erörtert Bat, 
Täßt er jegt ein befonderes Capitel über bie aus dem Glauben er- 
wachſende Buße oder innere ſittliche Umwandlung und Wiedergeburt 
fofgen, worein er. einen früher im Capitel von den falſchen Sacra- 
menten behandelten Stoff aufnimmt, und weiter noch ein eigenes 
Capitel über die Rechtfertigung und das Verdienſt der Werke, da 
er die Rechtfertigung, obgleich fie die erfte, durch den, Glguben 
zu erlangende Gnade und die Wiedergeburt erft bie, „zweite Gnade“ 
fet, doch vorher nur fürzer berührt Habe, um vor einer eingehen- 
deren Beſprechung derſelben auch ſchon das praftifch Lebendige Wefen 


des rechtfertigenden Glaubens und das Weſen der, jetzt mit Bezug | 





über Ealvin’s Institutio. 45 


auf ihre angebliche Verdienſtlichkeit noch weiter zu erörternden guten 
Berfe der Chriften zu charalteriſiren (Cap. 5 und 6). Daran 
ſchließt fi) im 7. Capitel die fon erwähnte Abhandlung vom 
Verhältniß des Alten und des Neuen Teftamentes zu einander — 
mit Bezug auf die Heilegüter, die wir Chriſten durch die Gnade 
mitteljt des Evangeliums empfangen; endlich im Cap. 8 die Ber 
trachtung des göttlichen Rathfchluffes, der diefes Heil dem Einen 
zu Theil, den Anderen nicht zu Theil werden laſſe, oder der Ab: 
{nit von der Prädeftination, von welcher aus Calvin auch noch 
auf Gottes Vorfehung im Walten über die gefammte Welt den 
Blick Ienkt. "Der Gefammtinhalt von Cap. 4—8 ift fo eine große 
Entfaltung desjenigen Lehrftoffes, welcher in der erften Ausgabe 
den Gegenſtand des dritten Hauptftüces gebildet Hatte. In dem» 
ſelben Gebanfengange wie dort reiht ſich dann hieran wieder die 
Lehre vom Gebet (Cap. 9), von den Sacramenten, von der drifte 
lihen Freiheit. Die Lehre von den neuteftamentlichen Sacramenten 
iſt indeffen jet in drei Capitel zertheilt, — in die Abſchnitte von 
ifnen im Allgemeinen (Cap. 10), von der Taufe (Cap. 11), vom 
Abendmahl (Cap. 12). Der Stoff, welder in dem Einen 6. Ca— 
pitel der erften Ausgabe ftand, ift ohne eine wefentliche innere 
Anderung oder Zugabe unter drei Capitel mit bejonderen Ueber: 
ſchriften: „De libertate Christiana, De potestate ecclesiastica, 
De politica administratione‘‘, geftelit (Cap. 13—15). Die fünf 
borgeblichen Sacramente der römifchen Kirche werden erft im 16. 
Capitel bekämpft, offenbar um biefem weſentlich polemifchen Abſchnitt 
erſt hinter den weſentlich pofitiven dogmätiſchen Ausführungen eine 
Stelle zu geben. Den Schluß des Werkes macht in Cap. 17 der’ 
neue Abſchnitt Über das chriftliche Leben, — angehängt wie eine 
kurze Ethik an ein zunächſt wejentlich, mit der Dogmatik ſich bes 
ſchaftigendes Werl. — Aus diefer Ueberficht .über den inneren 
Gang der neuen Ausgabe wird von felbft ſchon erhellen, welches 
Recht die verfchiedenen Ausfagen neuerer Theologen über fie Haben. 
Säweizer *) bemerkt unbeftimmt: fie fei ſchon wiſſenſchaftlicher 
ordnet. Nach Stähelin ®) hat das Werk ‚Hier im Weſentlichen 





3) Die Eentraldogmen der reformirten Kirche I, 154. 
ba... 0, S. 183. 


46 Köflin 


ſchon feine vollendete Form gewonnen, in der es dann aud) den 
folgenden Geſchlechtern überliefert worden fei. Dagegen fcheint den 
- Straßburger Herausgebern die urſprünglich „ziemlich durchfichtige 
umd einfache Dispofition“ jegt „intricatior et naturali rerum 
rationi minus consentanea‘“; fie fagen von den Ausgaben vor 
1559 insgemein: „singula argumentorum capita uno tenore 
aliud post aliud venisse, varie quidem mutata serie, sed 
minime ad systematis normam, interiorem singulorum dog- 
matum nexum respicientis, disposita“®). Gegen das zuletzt 
genannte Urtheil verdient unfere Ausgabe und ihr mit.Geiftesfchärfe 
weiter arbeitender Verfaſſer jedenfalls ſehr entſchieden verwahrt zu 
werden. Unſchwer find freilich auch bedeutende Mängel der neuen 


Arbeit in Hinficht anf Syſtematit zu erfennen. So fällt die Un- | 


angemefjenheit der Stellung, . welde der Inhalt der Gotteslehre 


erft in dem das apoftolifhe Symbolum ausführenden Abfchnitt 
(Eap. 4) erhält, jegt erft recht in die Augen, nachdem ſchon ein 
befonderes Capitel über die Erfenntniß Gottes vorangegangen ift. 
Die Lehre von ber allgemeinen Providenz Gottes möchte man nicht 
erft Hinter der Prädeftinationsfehre, fondern gleich nad) ‚der Lehre 
von Gott, dem allmächtigen Schöpfer, ſuchen. Am bedenklichſten 
ift überhaupt die Einordnung jenes 4. Capitels mit dem, was 
es gibt und nicht gibt: es entwidelt auch diejenigen Stücke des 
Glaubensinhaftes, welche nicht erft und micht fpecififch für den 
rechtfertigenden, Gottes Barmherzigfeit ergreifenden Glauben in 
Betracht kommen, und läßt wiederum Stüde weg, welche doch mit 
jenen unmittelbar zufammenhingen, wie die foeben erwähnte Lehre 
* von der Vorſehung mit der von Gott und feiner Schöpfung. Auch 
mandjes Einzelne, was wir in der Ueberficht unberücfichtigt ließen, 
wäre hier zu erwähnen; fo eine Erörterung über die Sünden der 
Wiedergeburt fchon bei dem Artikel des Symbolums über die Sün- 
denvergebung, alſo noch vor dem befonderen Abjchnitt über Buße 
und Wiedergeburt. Die Eingliederung alter diefer Lehrftüce hat 
auch Calvin felbft jpäter verändert. Daß ohnedieß zwiſchen feiner 
zweiten und feiner Tegten Ausgabe noch ein fehr bedeutender Unter- 


a) Vol. XXIX, p. XXX. XL. 





über Calvin's Institutio. 4 


ſchied in ber Syſtematik ftatthat und hiernach Stähelin's Worte 
zu berichtigen find, werden wir bei dieſer ſelbſt ſehen. 

Im Ganzen aber iſt die Umgeftaltung, welde Calvin 1539 
feinem Werfe gegeben, von alfen, welche es durchgemacht hat, die 
wigtigfte. Er Hat Bier, fo große Abfchnitte er aud aus der erften 
Ausgabe herübernahm, doch weit mehr als fpäter ganze Maffen 
des Stoffes neu durchgearbeitet. In den fpäteren Ausgaben und 
auch in der großen Umarbeitung des Jahres 1559 befteht die neue 
Arbeit doch mehr nur in einer mehr oder weniger durchgreifenden 
Neuordnung der bereits vorliegenden Tertesglieder und in Einfügung 
Meinerer und größerer Zugaben zwifchen diefelben hinein. — An 
Umfang war der Stoff der zweiten Ausgabe, verglichen mit dem 
der erften, wohl um Etwas weniger als das Dreifache gewachſen *). 

Zwei Fahre“ nach diefer Ausgabe erfchien die erfte, von Calvin 
feßt verfaßte Ueberfegung der Institutio, — ohne Angabe 
des Drudortes und Druders, als welche nach Vol. XXXI, p. XXIX 
mol Genf und Michel de Bois anzufehen find. Wenigftens Eine 
Anderung hat das Werk fon hier wieder erfahren: das Capitel 
von den fünf vorgeblihen Sacramenten hat feine Stelle wieder 
unmittelbar hinter denen von Kaufe und Abendmahl befommen und 
hat fie dann fernerhin dort behalten. 

Im nämlihen Jahre fehrte Calvin felbft nad) Genf zurück. 
Es begann die für ſein praftifches Wirken wichtigfte Periode feines 
Lebens, voll Kampf und Arbeit, voll Sorge — wie für die Genfer 
Kirhe, ſo für den weiten Kreis der reformirten Kirchen uhd fir 
die evangelifche Predigt überhaupt. Seine ſchriftſtelleriſche Arbeit 
an der Institutio ruhte darum nicht. Gerade feine Wirkſamkeit 
dur) diefes Werk reichte ja auch im die weiteften Kreife. Die 
nene Ausgabe des Jahres 1543 zeigt namentlich das fort« 
gefegte Bemühen um eine beffere Dispofition des Ganzen, bringt 
auf) einzelne neue umfaffendere Ausführungen über die Engel und 





ı) Nicht um das Sechsfache, wie Stähelin ©. 62" angibt; man vergleiche 
die Maße‘ nach dem neuen Abdrud im Corp. Ref., wobei man beadjte, 
daß hier in den Text von 1539 große Stüde von 1543, aud einzelne 
von 1550 eingeſchaltet find. 





48 Köſtlin . 


Teufel, über Kirche und SKirchenregiment, über die von den Latho⸗ 
lilen empfohlenen Gelübde. Der allgemeine Gedankengang dis 
Werkes ift zwar derfelbe geblieben. Dem 3. Capitel, vom 
Geſetz, ift jedoch jegt der Abſchnitt über die Gelübde als viertes 
Capitel beigegeben: freilich nicht angemeffen der Stelle, welde in 
jenem beftimmten Gedanfengange die Lehre vom Gejeg einzunehmen 
hatte, wie denn auch Calvin felbjt fpäter jenen neuen Abſchnitt 
paffender Hinter die Capitel von der Kirche, den menfchlicen 
‚Sagungen u. f. w. verlegt hat., Das bisherige 4. Capitel, 
vom Glauben nad dem appoſtoliſchen Symbolum, ift zerlegt in 
vier Gapitel (Cap. 5—8), von welchen das erfte das Wefen des 
Glaubens, die drei andern den Inhalt des Glaubensbekenntniſſes 
ausführen. Und zwar bezeichnet hier Calvin als’ erften Theil des 
"Symbolums die Lehre „von der Trinität, der Allmacht Gottes 
und der Schöpfung“, als Yuhalt des zweiten Theiles die „von 
der Fleiſchwerdung, dem Tode, der Auferftehung Chrifti und dme 
ganzen Geheimniffe der Erlöfung“, als Inhalt des dritten Theiles 
die „vonr heiligen Geifte“, ald Inhalt des vierten Theiles, die „von 
der Kirche, ihrer Regierung, Ordnung, Gewalt und Disciplin, 
desgleichen von den Schlüffeln, der Sündenvergebung und endlichen 
Auferftehung“ : eine Eintheilung, welche und Hinüberführt auf die 
ienige, nach welcher er zulegt im Jahre 1559 fein gefammtes 
"eigenes Werk disponirt "hat; für jegt übrigens handelt er noch 
jenen dritten Theil vom Heiligen Geift nur ganz kurz nad) dem 
zweiten und in Einem Capitel mit diefem ab, indem er die Lehr 
von der Wirkjamkeit des Geiftes in den Subjecten noch wie 1539 
erft auf die Ausführung des Symbolums folgen Täßt in den Ca— 
piteln von der Buße u. |. w. Der neue Abſchnitt von dem guten 
und böfen Engeln fammt erweiterten Sägen über die Schöpfung 
überhaupt fteht beim erften Theil des Symbolums; in jenem finden 
wir namentlich auch die Leugnung der perfönlichen Realität jener 
Geifter bekämpft, offenbar wieder auf eine beftimmte, damals vor⸗ 
Tiegende Veranlaffung Hin, nämlich mit Bezug auf die Libertiner, 
gegen welche Calvin jegt auch eine befondere Schrift abfakte *). 


a) Bgl. in der Instructio adversus libertinos, Cap. XI. XII. 


\ . 
über Cafein’s Institutio. my 


In der Lehre von der Kirche, alfo beim vierten Theile des Sym-⸗ 
bofums (in Gap. 8); iſt jet, ſyftematiſch richtig, der größte Teil 
dejenigen Stoffes, der früher das der Lehre von der hriftlichen 
dteiheit folgende Eapitel von der Kirchengewalt gebildet Hatte, ferner 
die Lehre vom wahren -geiftlichen Amte, welche beim vorgeblichen 
saeramentum ordinis behandelt worden war, und die früher bei 
der Buße erörterte Lehre von den Schlüffeln verarbeitet; dazu 
fommen neue Ausführungen gegen die Ansprüche des Katholicismus 
und Papismus, welche Calvin feither aud im Sendfihreiben an 
Sadofet bekämpft hatte, mit eingehenden Biftorifchen Deductionen, 
— ferner weitere Beftimmungen in Betreff echt evangelifcher Kirchen⸗ 
ordnung, bei welchen wir namentlich die Säge über Laienälte ſte 
m betrachten haben werden und welde für Calvin jegt befonders 
ven feiner praktifchen organifirenden Thätigfeit in der Genfer 
Fire wichtig geworben waren. Während dann auf die- Entwicklung 
des apoftolifchen Symbolums wieder die Capitel von der Buße, 
Rechtfertigung und dem Verhättnig des Alten und Neuen Tefta- 
mente folgen (Cap. 9-11), wird jegt- hiernach fogleich (Cap. 12) 
die pofitive Lehre von- der chriſtlichen ‘Freiheit beigezogen, die ja 
ten aus der dort bargefteliten Heilsmittheilung-Hervorgeht. Daran . 
reift ſich noch, wie früher das ganze Eapitel von der Kirchengewalt, 
ſo jegt ein befonderer Abfchnitt don den „menſchlichen Traditionen“ 
(Cap.13), der theils Neuss, theils noch Stücke aus jenem früheren 
Enpitel enthält: auch fir feinen Inhalt war freilich der paffendfte 
Drt bei der Xehre von ber Kirche,’ wo er nachher (1559) mit dem 
Abſchnitt von der. Kirchengewalt wieder zufammengeordnet worden 
ff. Die übrigen Capitel behielten -die Stellung vom Jahre 1539, 
bejiehungsmeife 1541 ®). 

Auf's Nene legte Calvin“ feine bejfernde Hand an das: 1539 





a) Bei der Ausgabe von 1543 muß ein’ wunderliches Mißverflänbnig Stä- 
helin's (a. a. O., ©. 62) berichtigt werden, ber auf dem Titel eines 
ihm vorliegenden Eyemplaxs den Joh. Sturm als den Herausgeber bezeich« 
net zu finden glaubte. Sturm ftand auf dem Titel (vgl. Vol. XXIX, 
p. XXXIV) nur als Autor der auch von Gtähefin mitgetheiften, zur 
Einführung des Buches dienenden "Zeilen; nach unferer Iuterpunctations- 
weile war Hinter feinen Namen ein Doppelpunft zu fegen. 

Theol. Stud. Jahrg. 1868. 4 


» Käflin 


wen anögeführte Werk bei ver Ausgabe des Jahres 1550: 
bier übrigens wicht mit Aenderungen der Dispofitipm, noch mit 
Aufnalune wewer Abfchuitte, Dach wenigtens mit einzelnen, theilweiie 
echt iniereffanten Mleineren Einfcheltumgen im dem Text von 1543, 
feruer mit werfchiedenen Modificationen einzelner Güte und Aut 
trüde. Wir nennen von foichen Einfcheltungen z. B. die Par: 
graphen über Bunter und Weifſagungen als Sriterien für die 
Güttlihfeit der Schrifteffenberung, — über die Zweifel, ob Moſe 
und die Propheten die wach ihnen benannten Schriften wirklich 
‚verfaßt haben, ja ab je ein Maſe eriflirt Babe, wobei eine Unter: 
fucung, mer jene Zweifel damals erhoben, wohl der Mühe wert 
märz, — „über ben Vegriff des Gemiffens mit Bezug auf die 
Sreißeit des Gewiſfens wen menfclicher Satzungen und quf kı 
am des Gemiffens willen zu leiſtenden Gehorfem (im Cap. 13). 
Durchareifend umd umfajkeup mar endlich wieder die Umat- 
‚beitung, im welcher Calvin 1559 fein Werk new der grofen 
Menge dankhaxer, eifriger Leſer übergab. Nachdem er, wie die 
Borrede bemerkt, fie gerne ſchen früher angeführt hätte, hatte ır 
Fe wollenss zu Stande gebracht unter dem Drud-und den Nat; 
i eines Inngmrierigen Wechſelfiebers, im welchem er fih 
ühlte; mur deſte weniger hatte er fich geſchout, 
Lejern diefe Gabe hinderlafſen zu können. Das Nur’ 
kündigte fen der Titel an: „Instikutio Christiane 
in libros quatuor nunc primum digesta certisque 
distineta capitibus ad aptissimam methodam, aucta etiam 





Biertel gegenüber von der Ausgabe det Jahres 1550 gewachſen. 

Berjchiedene neut dogmatijche Fragen und Kümpfe Tagen von 
den Iegten Jahren her wieder vor dem Geifte des Berfaffers. Sie 
woren großentheild wieder Anlaß zu den Erweiterungen feines 
Buches. Rem ift fo namentlich die feharfe, ausführliche Contro: 
verfe, in welcher die Institutio jedt bei der Abenduahlslehre den 
Lutheranern gegenüberftcht. Andererfeit® will er nicht minder, 
als es die deutfchen und lutheriſchen Theologen thaten, die eigen: 
thumlichen Theorien des aus dem Lutherthum Bernorgegangenen 





Aber Calbins Fnstitutio. 5 


Oſiander in Betreff des gättlichen Ebenbildes, bed Wertes Chriſti, 
der Rechtfertigung , von ſich umd feinen Leſern fernehglten und 
namentlich die Rechtfertigungslehre defjelben widerlegen. Die liberr 
tiniftifhen Anfchauungen, die wir ſchon in der Ausgabe don 
1543 berüctfishtigt fanden, begegnen uns jegt neu in Calvin's Streit 
gegen gewiſſe „ungeheuerlicpe Geifter“ der Gegenwart, welche au 
die Stelle Gottes nur eine in der finnlichen Welt und in ung 
Menſchen wirtſame Naturkraft ſetzen wollen (Lib. I, C. 1). 
Servet wird jegt mit feinem Namen aufgeführt und apsführlicher 
und mit Bezug auf mehr Lehrpunlte, als in den biegerigen Aus 
gaben, widerlegt. Auch an Lalius Spzinus werden wir jagt 
innert; befonders bei der Lehre vom Verdienfte Chriſti (vgl. Näheres 
in unferem zweiten Artikel); Sozin Hatte ferner ſchon mehrere Jahre 
ya dem Galoin ‚Bedenken ‚gegen die kirchliche Auferſtehungelehre 
dorgelegt, indem er einfach daran ſich halten wollte, daß wir einſt mit 
einmm neuen Leib umklgidet fein werden: ſpeciell wit Bezug auf 
dieſe Anficht hat jetzt Calvin die Lehre von der Auferſtehung weit- 
laufiger ahgehandelt. Auch abgejehen von ſolchen Beziehungen aber 
zeigt die neue Ausgabe das Beſtreben, vollends ‚gang umfafjend 
ale Momente anfgunehmen, welche zu einem Ganzen Ariftlicer 
behrwiſſenſchaft gehören, ſie gleichmäßig je nad ihrer Bedentung 
gu entfalten und fie wirllich zu einem durch und durch geordneten 
Ganzen zu verbinden. . In diefem Streben hat Kalvin iept 528 
auch die natürlichen Vermögen des Menſchen, die er zuvor im Zu 
ſammenhang mit der Erbfünbe beſprochen ‚hatte, eingehender an und 
für ſich entwidelt, hat bie Lehre vam Werke Chriſti beftimmter 
als zunor durch die Lehre von den drei Aemtern durchgeführt u. ſ. w. 
Dan hätte jegt mohl auch bei dem ekhifchen Abſchnitt, welcher vom 
&ben des Chriſten handelt, noch größere Ausfügrligfeit erwarten 
mögen. Hier- hat ſich jedoch Calvin begnügt mit dem, was er 
ichon bisher gegeben. Ex ſelber bemerkt jetzt dazu: „vel aliis 
pattes quibus non adep sum idoneus relinquam; amo 
natüra, brevitatem, ‚et si forte gopiogius Jagui vellem, non 
accederet‘‘ *). 





a) Lib. III, €. 6, $ 1; die feangöftfche Ueberſetzung det gerade diefe Sara 
teißifchen Sfite weggelofen. 


4* 





52 " Köflin 


* Die Umarbeitung Hat übrigens auf diejenigen einzelnen Elemente 
des Lehrftoffes, die ſchon in den bisheriger Ausgaben ausgeprägt 
waren, nur wenig, ja fo wenig als möglich ſich erſtreckt. Sie ift 
vielmehr in der Weife vor fi gegangen, daß fie diefe, ohne fie 
in ſich neu zu geftalten, aus ihrer urſprünglichen Verbindung geloöſt, 
in eine neue Gfiederung gebracht und darin zwiſchen fie die neun 
Glieder eingerlidt ober aud in neue größere Abfchnitte Keine Stuch 
des alten’ Textes unverändert ‚aufgenommen hat. Wie wir ein 
ühnliches Verfahren ſchon beim Verhältnig der zweiten zur erften 
. Ausgabe wahrnehmen, fo jegt vollends bei diefer leiten Redaction. 
Mitunter erfcheinen fo im neuen Texte ganz vereinzelte Sätze aus 
dem alten, in welchem fie anderswo geftanden hatten. In dem 
oben erwähnten Bericht über die franzöſiſche Ueberfegung von 1560 
erzählt Collado, wie ein Exemplar der früheren Ausgabe zerfchnitten, 
diefes und jenes Stücd zufammengeffebt, Neues dazwifchen geſchrie 
ben worden fei. Offenbar war Calvin felbft ähnlich‘ bei der neuen 
Tateinifchen Redaction zu Werke ‘gegangen. Das Verfahren ift cha⸗ 
ralteriſtiſch für ihm: für die Siherheit'und Genauigfeit, mit welder 
er ſchon das früher Gefchriebene von ſich durchdacht und auege 
fproden ‚wußte, um nun Nichts‘ davon unnöthigerweife bei Seite 
fallen zu laffen, für die verftändige Oekonomie, mit welder er 
feine geiftigen Producte beifammen hielt, und zugleich für die Mühe, 
welche er ſich gab, diefelben "noch zu bereichern und ſyſtematiſch zu 
vollenden. 

Hauptfache ift fo bei der letzten Ausgabe tHeils jene Ergänzung 
durch neue Stücde zum Behuf dogmatiſcher Vollſtändigkeit, theils 
die neue Anordnung des Ganzen zu einem wohlgegliederten Syſteme. 
Und zwar hat nun in dieſer Beziehung die neue Arbeit Calvin's 
noch mehr als in jener geleiftet. Darauf ift bei ihr zumeift das 
Augenmerk zu richten. " ö . 

Calvin Hat jetzt feinen Stoff bekanntlich‘ nicht mehr blos in 
Capitel zertheilt, fondern in vier Bücher zufammengefaßt, unter 
welche er die einzelnen Capitel ſtellt; auch hat er größere Capitel 
der bisherigen Ausgabe, oft ohne an ihrem Inhalte zu ändern, 
in mehrere kleinere zerlegt. Die Ueberfchriften der. Bücher find: 
De cognitione Dei creatoris; De cagnitione Dei redemptoris 


Aber Calvin's Institutio. 5 


inChristo, qnae ‚patribus sub lege primum, deinde ‚et nobig 
in evangelio ‚patefacta. est; De modo percipiendae Christi 
gratise, et qui inde fructus nobis proveniant et qui effectus 
wonsequantur; De externis mediis vel adminiculis, quibus 
Deus in Christi societatem’ nos invitat et, in ea ‚retinet, 

Da beginnt denu das erfte Buch wieder mit jenem Zufammens 
hang von Gottes: und Selbfterkenntniß und will zuerſt wieder von 
jmer handeln. Es geht jegt aber nad) jenen Abfchnitten über die 
Quellen und Normen unferer Gotteserfenntnig, über die göttliche 
Offenbarung und die Heilige Schrift, fofort aud in den Inhalt 
dieſer Etkenntniß ein. Es ſiellt den Einen wahren Gott den Gögen 
der Heiden entgegen, kämpft auch ſchon — und zwar in Stüden, 
welche aus der früheren Auslegung des Dekalogs ftammen — 
gan die Neigung, ihm eine fichtbare Geftalt beizulegen. Es trägt, 
bie Gafoin früher im Capitel De fide gethan, die Schriftlehre 
im dem Einen ‚göttlichen Weſen vor, das drei Perſonen in fh 
enthalte. Dann zieht e8 aus jenem, früheren Capitel, nämlich aus 
br Erllarung vom erften Artifel des Symbolums, bie. Lehre von 
dr Schöpfung und den Engeln bei, erörtert — was früher im 
Gapitel von der menſchlichen Selbfterfenntnig zufammen mit der 
Srhfünde behandelt worden war — den Urzuftand, in wegen 
der Menſch nad dem. göttlichen Ebenbild geſchaffen worden, nebſt 
finen allgemeinen Vermögen, freitet endlich noch weiter zur alle 
gemeinen Weltregierung. und Providenz, die wir früher als Anhang 
ur Prädeftinationslehre abgehandelt fanden, bei der übrigens auch) 
it noch bereits zugleich das Wirken Gottes in ben Böfen zur 
Sprache ‚gebracht wird. 

Dis zweite Buch beginnt mit demfelben Hinweis auf bie 
Vichtigkeit der Selbfterfenntnig, mit welchem vordem das frühere 
von der Selbfterfenntniß überhaupt handelnde Capitel begonnen 
hatte, um hiemit in dieſelbe Darftellung unferes, aus Adam’s Fall 
heworgegangenen Sündenftgndes einzuführen, welche auch. ſchon den 
dauptinhalt jenes Capitels ausgemacht Hatte. Das Refultat iſt, 
dij der verlorene Menſch nur in Chriſtus feine Erlöfung zu ſuchen 
hele, wovon jetzt ein neu verfaßtes Capitel zunächſt im Allgemeinen 
feet. Nachdem hier..gezeigt ift, daß dies ſchon feit Adam's Fall 


"gti ° oo 





a "mögliche Weg des Geiles gewefen und HAB hievon auh 
ſchon dem Volke des Alten Bundes durch Gottes Offenbarung g- 
zeugt worden ſei, wird, ehe das chriſtliche Heit ſelbſt zur Dar 
ſtellung kommt, erſt im Betreff der altteſtamentlichen Oerlononie 
näher, ausgeführt, was das Gefeg dort’ gewollt und geſollt habe 
(Dazu die Erklärung des Dekalogs), wie Chriftus, obgleich fm 
den Fuden unter dem Gefege bekannt, doch erſt im Evangelium 
des Neuen Bundes zur vollen Offenbarung komme (hieruber en 
neues Capitel), wie hiernach überhaupt das Alte. und Neue Tefte! 
ment nach Aehnlichtelt und Unterfihieb fid zu einander verhalt 
(ebendieſelbe Ausführung, auf welche die früheren Ausgaben art 
dom chriſttichen Glauben und der chriſtlichen Heilsmittheilung mt 
zurückgegangen waren). Darauf folgt die Lehre von der wirlüte 
Menſchwerdung, beit Beiden Natüren, dem dreifachen Auite, dm 
erföfenden Tod, und der Aufertehung Jeſu Chrifti mebft einem 
neuen Abſchnitt "über dent Begriff feines Verdienſtes, durch das er 
and Grade und Seligteit erworben. 

Alles aber, was Chriſtus für ung gethan und erworden Kt 
idird id: zu eigen bitte) den Glaubeti; urd indem mt icht ad 
Pr die dm Cöattgefiut dargebotenr Mitteilung Chrft 
erfaffert, weiſt dies zurück auf einkn tieferen Grund, nämlich aufs 
geheime · Wirken des Heiligen‘ Geiſtes, durch welches wir Chriſi 
gerieben. Sbo eröffnet ſich das dritte Buch. Es entfaltet ale 
huimn feineh Itihalt im der Lehre vom Weſen des Glaubens, dat 
zoꝛwor im Eingang zar Auslegung des Symbolums beſprochen 
Mörder war, von der Buße oder Wiedergeburt und dein neuen 
Leben, von der. Rechtfertigung des gläubigen, im neuen Leben war 
deluden Ehrifieit, von bet geiſtlichen Freihrit, wetche berſetbe gef, 
dor Gebete, mit welchem er fortwährend aus Gottes Schäten 
feibpfen” def, don der Gnadenwaht, vermöge beten: Gon von 
Ewigtkeit vieſes geſanimte Heit den Einen ſichet and ganz zugetheift, 
den Mweren verfagt Hat. Sir dieſen Abſchnitten kehrt ſo weſentlich 
det Inhatt“ utrd die Gedankenfolge der vorigen Ausgaben wieder. 
Bas Capitel vom chriftlichen deben aber reiht ſich jegt, in mehrere 
auseindndergelegt, am den Abfchuitt von der Wiedergeburt, die in 
folchein Leben ich bethatigen ſoll, und ift hielt aus einem Anhang 





Aber Gafbin's lüstitatio. 55 


dr Institutio zu" einem organiſchen Gliede geworden. Den Schluß 
des Vuches bildet ber jetzt neu bearbeltete Abſchnitt von „der letzten 
Auferſtehuinng“, der von der ſeligen Hoffnung, welche die bereits 
vom Tode zum Leben durchgedrungenen Chriften unter den noch 
fortdauernden Dtangfatin ihrer irbiſchen Pilgerſchaft ftärte und 
aufrichte, 

Das vierte Buch Teht jene „externa media vel admini- 
cula ete.“ im der Kirche und den‘ Sacramenten dar, indem- es 
mn beider Xehre‘ don der Kirkhe vollends alle die Abfchnitte zus 
fommenfaßt, die innerlich dazu gehörten‘, früher jedoch an andere 
Eiellen zertheilt geweſen wären. Zuletzt führt es von dem geiſt⸗ 
fhen, auf den innerre Menſchen und das ewlge Leben bezüglichen 
Regimente noch Hinüber auf dasfenige, welches mit der außeren, 
Kirgerficheir Gerechtigkeit zu thun Habe: mit dem Capitel „De po- 
Iitiee administratione“ ſchließt fo das ganze Wer: 

Dan Kat bei diefer Gefammtamordnung des Stoffes die Voran⸗ 
ftellung der objecfiden‘, theologiſchen Momente gegenüber von den 
anthropofogifchen, — des „Deus creator, Deus redemtor“, 
fon beſonders charaltetiftiſch gefunden. Wir haben indeffen zu 
beachten, daß, ſo gemiß had) dem Inhalt der cafvinifchen Lehre 
von Gott und Menſch jener der abſolut beftimmende ff, doch für 
bie Erkenntniß der teligiöfen Wahrheit gerade nach Calvin die 
Betrachtung Gottes imd die Selbſibetrachtung des Menſchen don 
dornhereiti Hand in Hand gehen muß und dag in der Entwiclung 
des behrſtoffes deu Lusſagen über den Schöpfer bie Misfagen über 
den von ihm gefſchaffenen Menſchen zur Seite: gehen, der Lehre don 
Gott dem Erlsſer die Darſtellung des erföfimgsbedürftigen Merifchen 
Dorangeht und "bei der Lehre‘ von der Heilsaneignung der göttliche 
dactor überhaupt nut inſoweit Betrachtet wird, als er in der eigenen 
fitlichen Erregüng und Bewegung des Sübjectes ſich berhanat. 

Allgemeln finden’ wir ferner bei neueren Theologen jene Andrd⸗ 
nung wefetitfich" dadurch charäkteriſirt, daß ſie den geſammiten chriſt⸗ 
lichen Lehrftoff in die Grundlinien des apoftofifhen Sym boles 
haht Habe. Und darauf haben auch wir ſchon bei der Betrachtung 
kr Ausgabe von 1543 hingeblict Der Sachverhalt bedarf jedoch 
fr noch näheken Zuſehens und genauerer Beſtimmungen.Zuhleich 








56  Rößlin - 


iſt auchemerfen, daß dabei die, „Argumente“, melde die Anfters 
damer und nach ihr die Tholud’jche Ausgabe den einzelnen Büchern 
voranſchictt und welche ausdrücklich auf, die Artikel des Symbolums 
verweifen, aus dem Spiele bleiben müffen: denn fie ftammen nicht 
von Galoin’s, fondern erft von fpäterer Hand. Calvin felbft nun 
hatte, wie wir bei der Ausgabe von 1543 oben fahen, ſchon früher 
das apoſtoliſche Bekenntniß in vier Theile: zerlegt. . Und fofern er 
dort die Lehre von der Kirche. dem vierten Theile zumies, trifft 
jegt die neue Eintheilung feines ‚eigenen Werkes mit den Teilen 
des Symbolums noch mehr zufammen, als es nad) jenen „Argu- 
mentig‘‘ erſcheint: denn diefe theilen das Symbol nur in die 
drei Theile De Deo .creatore, redemptore et sanctificatore, 
denen dann Calvin's drei erfte Bücher entfpreden ſollen, worauf 
aber noch die Lehre von der. Kirche folge. (vgl. das ‚Argumentum ! 
zum 3. und 4. Bude). Anbdererfeits dagegen hätte nach derjenigen 
Eintheilung des Symbols, welche Calvin in der Ausgabe von 1543 
gemacht Hatte, bei ‚einer Anordnung des ganzen Werkes nad) den 
Theilen des Symhols bie Lehre vom fubjectiven Heilsproceß als 
ſolchem, bie jegt das dritte Bud; füllt, mit dem Inhalt des gegens 
wärtigen vierten Buches Einen Haupttheil bilden müffen, und einem 
dritten Haupttheile wäre nur die Lehre vom heiligen Geifte, feinem 
Weſen und feiner Kraft an ſich ‚zugefallen; denn er Hatte dort 
Vol. XXIX, p. 479 die Theile des Symbole fo zufammengefakt: 
„tria membra patris,, fili et spiritus deseriptionem, unde 
totum. redemptionis nostrag MWygterium dependet, ‚compre- 
hendunt; -quartum, -quibus in rehus site sit nostra, salus, 
commemorat“...Und im der neuen Ausgabe hat er nun auch nicht 
etwa, wie wir. bej. einer Gliederung nady dem Symbol erwarten 
möchten „,da8 dritte Bud) wenigftens eröffnet mit der Lehre ! dom 
Geiſt an ſich und feinem Weien, um daran die Lehre von dem 
durch den Geiſt gewirkten Heilsproceß zu reihen; ſondern was er 
von jener dehre gibt, ſteht ſchon in dem Abſchnitte des erſten Buches 
über, bie Trinität. Ya er hat den Geiſt ſelbſt nicht. einmal jn der 
Ueberſchrift dieſes Buches genannt; denn dieſe lautet eben nur, 
wie ſie oben wiedergegeben worden iſt; die Voranſtellung des „Deus 
sanetificator “ oder de Titels „De cognitione Dei sanctifica- 





dris in spiritu 
als Ueberfchrift 1 
Tert, fondern a: 
mödte man nad) 
vom „einigen So 
ſomit auch die Tel 
So hatte einft Li 
Glaubens und di 
D.XXDO, ©. 1 
„In einer ewigen 
geboren iſt“, erſ 
Glaubens“ beigez 
mit der vom Weſ 
Siftes ſchon in 
nd tingehend aby 
des Jahres 153€ 
Gange des Symi 
nität nicht unter 
Auslegung dieſes 
darauf aufmerffar 
bolums die ‚Stell 
erſtchung vor dei 
In der That kön 
tingeſchlagen hat, 
feiren, vielmehr 
Later, Sohn ur 
tgierung überha 
fie bedingten Hei 
deögfeichen om. I 
bedürftigkeit (1. & 
Thätigteit Gottes 
Etiftung des ſcho 
denſchgewordenen 
Sriftus geſchenkt 
dem durch den G 
delaproceſſe bis 





ss asvſtkin 


(3. Buch), 4. von den äußeren Mitteln, deren Gott fut dieſes 
Wirken feines Geiſtes ſich bediene (4. Buch). Wir erhalten hier 
einen an ſich Maren Gang, zu deffen Marer und fcharfer Darlegung 
jedoch gerade die Viertheifung bei Calvin und die auch von ihm 
felbft an die Hand gegebene Beziehung auf's Symbolum micht fo, 
wie e8 von Vielen gerühmt wird, dient. Nebenbei bemerfen wir, 
daß mit denjenigen beiden Haupttheilen, welche hier fich ergehen 
würden, auch ſchon eine Anknüpfung fir die Föderaltheologie fpäterer 
teformirter Dogmatifer ſich ‚darbietet. Calvin felbft führt freifid 
bet jener Zufammenfteflung der Lehre. von Gott nnd vom urfprüng 
fichen Menſchen die Idee des Bundes für das Verhältniß Beider 
nit ein, und ein eingehendes Verweilen bei diefem Verhältniß hätte 
überhaupt dem Gewichte nicht entfprochen, welches dann nad) den 
nachfolgenden Lehrftäd von der Prädeſtination auf den die Sünde 
md den Sündenfall ſchon in fich ſchließenden, Alles von vornherein 
determinirenden, ewigen Rathſchluß Gottes "Fällt. Zunächſt aber 
ſchien doch für ein ſolches Verweilen dadurch, daß er dort von 
jenem Rathſchluſſe noch ſchweigt, gerade andy bei ihm Saum gegeben. 
So hat Calvin's Werk allmählich diejenige Geftalt gemorinen, 
in welder es zum bfeibenden größten Denkmal für den umfaffenden, 
ſtrenge benfenden theofogifchen Geiſt ſeines Verfaffers geworden if. 
Und blicken wir von hier wieder auf die vorangegangene Ent 
wicklung zurüd, fo fehen wir ſchon dort überall’ eben denfelben Geift 
arbeiten nad) dem Ziele Hin, bei welchem er jegt glaubt ftehen bleibm 
zu dürfen, Obenhin angefehen erfcheint der ganze Organismus 
des Werkes feit ‘der erften Anlage vom Jahre 1836 fo durdaus 
umgewandelt, daß feine Schrift eines andern reformatorifchen Theo 
Togen ein ähnliches Beifpiel darbiete; und doch fehrt jener Grund: 
gedanfengang, den wir ſchon dort. durch bie Gliederung nach dem 
katechetiſchen Hauptſtücken ſich durchziehen fahen, auch jetzt am feinem 
Orte wieder. Im Einzelnen ferner haben viele und zum Zoch 
ſehr ausgedehnte Abschnitte faſt unverändert von der erſten bis 3 
letzten Ansgabe ſich erhalten. Es zeugt dies, wie ſchon bemerl 
von der Gründlichkeit, womit der Verfaſſer ſchon anfünglich ihre 
Inhalt durchdrungen zu Haben fid "beruft war. Und zuglei 
müffen wir jegt, gerade auch wenn wir an fein theilweife medei 
nifches außeres Verfahren bei ihrer neuen Eingliederung denken, 


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so ‚ - Rößlin. - 


der chriſtlichen Religion“ an fi und mit fpecielfer Beziehung -auf 
die. Bedürfniffe der Gegenwart gehörten, die geiftige Energie und 
Klarheit, welche den ſich häufenden Stoff bemeiftert und .zufammen- 
drängt, während zugleich alle ungehörigen, müßigen Sragen und 
Ercurſe ferngehaften werden. Dagegen behält nun freilich die 
Darftelfung nit mehr. den urfprünglichen lebensvollen Guß und 
Fluß. Es verſteht ſich, daß in derfelben auch jest noch überall 
die lebendige perfünfiche Ueberzengung des Verfaſſers ſich kundgibt; 
fie behält ferner immer ihr Abſehen auf's ſittlich-religioſe Leben 
der Lefer; müßig find für fie eben ſolche dogmatiſche Fragen, melde 
für diefes feine Bedeutung haben: man vergleiche z. B. die Schranten, 
welche fie jich hiernach z. B. bei der Ungelofogie und Satanologie 
mit großer Befonnenheit geiegt hat. Nicht aber die Unmittelbarteit 
des Ausdruds von dem, was im inneren Beben fich bewegt, betgä- 
tigt und bezeugt, fondern der großartige, „Achtung gebietende, auf 
fefter Weberzeugung ‚ruhende. Denkproceß, durch welchen die göttliche 
Lebenswahrheit hier Hindurchgegangen ift, tritt jegt im Charafter 
des caloinifchen Werkes voran. Andererfeits bricht in der fpäteren 
und namentlich der legten Ausgabe gerade auch durch diefe wiffen- 
ſchaftliche Darftelfung eine perſönliche Erregung und Heftigfeit gegen 
die Widerſacher der Wahrheit durch, die uns, wie wir oben bemerft 
haben, in der erften Ausgabe noch nicht begegnet. Ausdrücke, wie 
„blaterones, phrenetici, bestiae, protervia canina‘“, befonders 
„canes“ erſchallen da und dort; öfters find fie in polemiſche Ab- 
Schnitte, deren Text fonft ganz unverändert aus der erften Ausgabe 
von Calvin beibehalten ift, fpäter nod von ihm -eingefchaftet worden. 
In Melanchthou's Locis hatte ein folder Ton überhaupt nie fo 
ſich geltend gemacht und war nad) der erften Ausgabe, welche auch 
ſonſt große, lebendige innere Bewegung gezeigt hatte, vollends mehr 
und ‚mehr perſchwunden. Bei Luther, welchem man ein ſolches 
Schelten am. meiften vorzumerfen pflegt, hängt e8 mit dem gewal⸗ 
tigen inneren -Seben, Wogen und Kämpfen zufammen, deſſen un 
mittelbarer, das Maß überftrömender Ansdrud dann auch feine 
Schriften, ihrem Gefammtcharafter nah find. Bei Calvin treten 
jene Ausdrüde neben der fonft fo maßvollen wiſſenſchaftlichen 
Sprade und Haltung gerade am ſchneidendſten und ftehendften 
hervor; er wirft fie gleichſam mit einer Miene, bie hei aller Leiden- 


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@ Köftlin,äber Calvin's Institutio, 


aufammenfaffende Darftellung ber Eigenfchaften und zwar nament⸗ 
lich der ethischen Eigenſchaften Gottes nicht gegeben und auch nachher 
nirgends verſucht; ſchon die erfte Ausgabe, welche mit zufammen- 
faffenden Sägen über Gott als die unendliche Weisheit, Gerechtig- 
keit, Barmherzigkeit u. f, f. begann, Hatte von fnäteren, weiteren 
Ausführungen des Werkes viel mehr erwarten laſſen: diefe Sätze 
find in der legten Ausgabe an jener Stelle ausgefallen und mezden 
nachher nirgends eigens entwickelt. Und doch möchte man in dem, 
198 wir vermiffen, hie notwendigen ‚Prämiffen fuchen für die 
Beantwortung der ſchwierigſten Tragen, welche dann die Lehre von 
Gottes Wollen und Wirken für die Menfchheit zumeiſt gerade bei 
Calvin uud seiner Prädeſtinationelehre mit fi bringt. Dem Haben 
wir endlich beizufügen, daß die Lehre von diefem ewigem ‚gött 
Kiden Willensrathſchluß nicht blos derjenigen Grundlage 
entbehrt, welche wir in einer zufammenhängenden Darftellung von 
Gottes ewigem ethiſchen Weſen ſuchen, ſondern daß aucp fie felbit 
erſt da in's Syſtem eintrittt, wo von der wirklichen Application 
der Guade gehandelt worden war. Man möchte jagen, der Rath— 
ſchluß werde erft Hierin wirkſam und offenbar, ſeine Erkenntniß ſei 
alſo erft von Hier aus zu geminnen. Allein gerade nach, Calvin 
füllt ja doch, wie er in diefem fpäteren Abſchnitt ‚ausfpricht, unter 
‚eben denfelben auch ſchon die erfte Sünde Adam's, der. nad; gött- 
licher Verordnung ‚gefündigt Hat, obgleich Calvin denfelben im erſten 
Bude, mo er von dieſer Sünde felbft vedgte, noch nicht wollte in 
die Betrachtung Hereingezogen. Haben. Forderte ein ſyſtematiſchet 
‚Gang ‚des. Werkes nicht einen Hinbli auf denfelben wenigſtens 
ſchon da, wo fein geſchichtliches Wirken fo Hervortrat, und noch 
vorher ‚eine folhe zufgmmenhängende Gotteslehre, auf welche dann 
fofort non ihm ‚aus zurückgeblickt werden konnte? Es genügt, hier 
diefe Tragen aufgeitellt zu haben. Ein weiteres Eingehen auf fie 
müßte ung ſchon in die einzelnen Lehrſtüche fir ſich und im ihre 
geſchichtliche Entwicklung hei den verfchiedenen Redastionen des Wertes 
Hineinführen. Wir behalten es uns fo für unferen zweiten Artifel vor. 


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6 Steig 


des Apofteld Johannes geweſen, daß der Presbyter Fohannes fin 
Anderer als der Apoftel felbft jei und daß wir fomit in dem 
Zeugniffe über Markus ein apoftolifch- johanneifces Zeuguiß von 
glaubwürdigfter Urfprüngfickeit befigen. Der legte Nachweis ift 
das Ziel, auf weldes die fleißige Arbeit in unverkennbarer apo⸗ 
logetiſcher Tendenz ausgeht. Dieje Differenz der Urtheile erflärt 
fi indeſſen nit allein aus den abweithenden Standpunlten Derer, 
die fie gefällt haben, oder aus den Zehlern ihrer Unterfugung, 
fie hat ihren Grund zum Theil and in dem fragmentarifchen Cha 
rafter der und aufbehaltenen Nachrichten, der nicht in allen Punkten 
eine fichere Entſcheidung geftattet And ‚darum die Gefahr nahe legt, 
der Vermuthung größeres Recht einzuräumen, als ihr gebührt, 
Dei diefer Sachlage dürfte eine nochmalige Revifion, die fid in 
wiſſenſchaftlicher Beſcheidenheit mit dem Erreichbaren begnügt und 
auf das Unerreichbare verzichtet, nicht überflüſſig erſcheinen; mir 
lag ſie um ſo näher, weil ich durch die Fixirung meiner Stellung 
zu der fortgeſchrittenen Unterſuchung Manches in meinem Artitel 
zu berichtigen und zu ergänzen hoffte. 

Eufebius, deffen Kirchengeſchichte (III, 39) wir die wichtigften 
und zufammenhängendften Nachrichten über Bapias verdanken, ftellt 
an die Spige derfelben (8 1) die Ausſage des Frenäus, daß Papias 
Aodvvov udv dxovorjc, HoAvxagnov dd Eraigos geweien fti, 
und geht fofort darauf aus, das unmittelbare Hörerverhäftniß des 
Papias zu den Apofteln als einen Irrthum des Irenäus aus deb 
Papias eigenen Worten zu ermeifen: dieſer deute vielmehr felbit 
an, daß er keineswegs dxgoauns zal auzorıng berfelben geweſen 
fei, fondern die Glaubenswahrheiten von ſolchen empfangen habe, 
die einft mit Jenen im vertrauten Umgange geftanden hätten. 

Dan kann nun freilich ohne Mühe nachweisen, daß Euſebius 
mit feinem Urtheile in den folgenden Jahrhunderten alfein geblieben 
ift, und daß trog dejfelben nicht nur Hieronymus, fondern auch 
Matimus Confeſſor, der finaitifche Presbyter Anaftafius und Andere 
mit renäus den Papias für den unmittelbaren Hörer des Apoftels 
Zohannes gehalten Haben. Aber durch diefen Nachweis ift das 
Urtheil des Cufebins nicht im Entfernteften entkräftet; nirgends ift 
das Gedächtniß vergeßlicher und durch unkritiſche Auctoritäten ber 





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66 . Steig 


In dem Prodmium feines Werkes fagt er ($ 3): orx iron 
dd 00 xal Ö0a nord naga +Wv ngeoßvrsgwv zalüs 
Euadov xal zalög Eurnuörevoa ovyzararabaı vals ägun- 
velars, diaßeßawvusvos Unde arıöv alydeav. Ad Gr 
währsmänner nennt er-die Preöbpter ; eine Bezeichnung, über deren 
Umfang und Grenze bier noch nichts Beſtimmtes gejagt wird. 
Ich Habe feiner Zeit aus der Wahl von age geſchloſſen, daß 
er feine Mittheilungen unmittelbar aus dem Munde der Presbyter 
geichöpft habe: Weizfäder hat diefem Schluffe widerſprochen, Zah 
ihn adoptirt. Gewiß hat der Letztere Recht, wenn er jagt, war 
Iavaır rag zivos heiße nie etwas Anderes, ald „durch perſon⸗ 
lich empfangene Belehrung von Einem lernen“. Er durfte dafür 
nur an 2 Tim. 3, 14 erinnern: eldes, zagd wivog Zuadı., 
Dod wollen wir auf age allein noch feinen Beweis “baum; 
unfere Auffaffung wird fpäter durch weitere Argumente gejtügt 
werden. Aber auf das Beftimimtefte läßt das xad vor 50. ertennen, 
daß die Berichte ber Presbyter nicht die einzige Quelle des Papios 
waren, ſondern dag fie ihm erft als zweite und zwar mündliche 
Quelle in Betracht kamen, neben einer anderen, die er vorher im 
Prodmium namhaft gemadt haben muß und welde Euſebius zu 
unferem Bedauern nicht anführt. Diefe erſte Quelle kann nur in 
ſchriftlichen Aufzeichnungen beftanden, fie muß nad) aligemeinr 
Anfiht als eine ſehr glaubwürdige und zuverläffige gegoften haben, 
und er hält e8 darum für nothwendig, ſich zu rechtfertigen, daß et 
ſich neben ihr noch einer anderen bedient, die vielleicht Manden 
als eine unfichere erfcheinen · konnte, für deren Verläſſigkeit er aber 
mit feiner ausdrücklichen Verſicherung emtritt. Dies ijt der Sinn 
der Worte; „ch werde aber nicht anjtehen, auch alles das, was 
ich einft von den Presbytern richtig erfahren und richtig meinem 
Gedachtniß eingeprägt habe, ſammt den Erklärungen zuſammenzu- 
ſtellen, da ich für die Wahrheit deſſelben bürge.“ Aus zwei Quelle, | 
einer fehriftlichen und, wie fd aus dem Folgenden noch deutlicher 
ergibt, einer mündlichen, hat aljo- Papias jein Material geſchöpft. 
Worin beftand dieſes? Er beabfihtigt eine Erklärung oder Aus 
Tegung der Aöyım xugiax d. h. der Reben des Herrn; diefe find 
der Stoff, die Sijryoic oder Sgpmveias aber, die er damit ver- 
"bindet, find — fo follte man denken — feine eigene Zuthat und 


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e Steig 


Reditfertigung bedurft, wenn er nur neben feiner Erklärung auch 
bie anderer, und zwar jo glaubhafter Zeugen aufgefucht umd ge 
boten hätte? Darin Tag ja nichts Berfänglides, Nichts, woraus 
ihm aud nur der leijefte Vorwurf erwachſen konnte. Eine Ente 
ſchuldigung war nur dann an ihrer Stelle, wenn er neben ben 
ſchriftlich verbürgten Reden Ehrifti noch andere, nicht aufgezeich⸗ 
nete, nur aus mündficher Mittheilnug ftammende, in feinem Wert 
niederlegte und fie ebenfo wie jene mit einer Sgumvel« aueftattele. 
In der That würde auch Alles, was Papias im Folgenden über 
die Berläffigkeit und ben Werth ‚der von ihm gefammelten Tra- 
ditionen fagt, feine ganze Bedeutung verlieren, wenn feine Nad- 
forfhungen nur dem Zmwede der Auslegung und nicht vielmehr in 
erfter Linie der Vervollftändigung der von Anderen aufgezeichnet 
Worte Ehrijti gedient Hätten. Auch der Ausdrud Gvyxararaiı 
tais Epumvelass läßt ſich fehr gut in diefem Sinne verjtehen, daß 
er das von den Presbytern Bernommene mit den dazu gehörigen, 
darauf bezügfichen Erklärungen zufanmengeftellt Habe; wie dem 
nit nur Rufinus (exponere cum interpretationibus suis), 
fondern auch VBalefius (cum interpretationibus nostris ad- 
seribere) ihn fo verjtanden haben. 

Aber find denn die Adyı= xugiaxd, bon denen Bapias redet, 
wirklich nur die Reden Chriſti und können fie nicht vielmehr den 
Gefammtinhaft der evangelifchen Gefchichte, oder wie unfer „Wort 
Gottes“ geradezu die göttliche Offenbarung bezeichnen. Wenn Zahn 
den Ausdrud als einen dehnbaren bezeichnet und ihn bis zum Be 
griffe der Offenbarung erweitert (S. 670f.), fo mag er im All 
gemeinen Recht Haben; im fpäteren Gebrauche deffelben tritt 
allerdings eine folhe Dehnbarkeit und Erweiterung bier und da 
zu Tage. Aber daß Acysov und Röyıe in dem Sprachgebrauche 
der LXX und des N. T.'s, ausgehend von der claſſiſchen Be 
deutung: Orakelſpruch, Gottesfpruh, nur Worte, Sprüdt, 
Reden göttlichen Urfprungs bezeichnet, Hat Schleiermacher fo genii- 
gend (a. a. O., ©. 738) nadgewiefen, daß es feines weiteren 
Eingehens bedarf. Auch wo die apoftolifhen Conftitutionen das 
Wort Löyıov gebrauchen, ift entweder ein einzelner göttlicher Aus 
fpruch "gemeint, wie IL, 16, 3 dg8 von Gott 4WMof. 12, 14 über 


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ro - j Steih 


dd toĩc sas aAlorplag Evrolds urnhoveooviwW*), alla 
zols Tas nagd Tod xvglov ränilore dedollsres xal am 
aöris Hapayivonsvaug vis Almdeles. Die Ptesbyter werben 
hier als ſolche bezeichnet, welche nicht, wie Die, detiem det ‚große 
Haufe zufüllt, erdichtete Gebote Berichten, bie dem urfprüngfichen 
Wefen des Chriftenthums fremd find, fordern die vom Herrn ſelbſt 
ſelnen Gläudigen gegebenen und bot ihm, als der perſönlichen 
Wahrheit, ſtammenden Gebote, bie ſie in ſicherer Etinnerung Haben 
und darım uud wahrheitögetren referiren und übetfiefern Eönnen: 
ſolchen Zvrodeds iſt er daher auch bei ben Presbhtern nachgegangen, 
offenbar nicht als eittern geelgneten Apparat für die Auslegung der 
aus einer ſchriftlichen Quelle gefihöpften Aöyız zvoraxd, fonden 
als Aoyloıe xugiaxoss felbft, die et ebenſo wie die anderen aut 
fegen wollte und die ihnen als gleich authentlſche volllommen eben 
burtig an ber Seite ſtanden. Daß er uber bie Adys& nach ihrem 
Inhalte Hier vornehmlich ale Zrrorer bezeichtiet, hat fein Analogon 
in Oonst. apost. I, 4, wo umgefehrt,Aöyie-Xerörod für evsolul 
ſteht, und zeigt, daß er fehon auf dem beften Wege war, im’ alt 
katholiſchen Gelfte das Weſen des Chriſtenthums als abſoluten 
Heilprincips vornehmlich inter dem Gefichtspunft des Gebotes zu 
faffen, eine Anfchauung, die bereits bei Juſtin, Itenäus und Ter- 
tulfiatt in der nova lex ihren Abſchluß farb. . 

Im I 4 fährt Bapias fort: ed dd Nov zad srumroloun- 
ade Tıg Tols npeoßvrsgois ZA$os, vous tov ngeoßvrepuy 
avengıvov Aoyovs. Wenn Weizjäder S. 29 fagt: „Dies heißt 
nicht, auch die Apoſtelſchüler Habe er mach dem Zeugniß der Apoftel 
gefragt, fo wie er zuvor bieje ſelbſt gefragt hätte, fondern a uch 
bei den Apoſtelſchülern ſei es ihm nicht auf daB eigene Zeugniß 
berfelben, fordern auf das ber Apoftel, welches ſie mitthellen konnten, 
angefommen“, fo ift dies ein zu raſcher Griff, denn nur vorellig 


a) Zahn Halt es für das Matilclichfte, mnworeve hier in der gleichen 
Bedeutung wie in dem unmittelbar vorhergehenden Gate für „in Erin 
nerung haben“ zu nehmen; allein die Synonyme dıddaxeı und Aeyar 
deuten bereits auf die fortgefchrittene Bederfturtg: berichten, referiren. Beides 
ſchließt ſich ohnehin nicht aus: was man beriditen will, muß man aud 
in der Erinnerung Haben. i " 


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RR. Steig . 













ö ngeoßöregos. Waren Kriftion und diefer Presbhter Johannes 
Apoſtelſchuler? aber dann konnten fie nur kesmel zov ano- 
Grökov, nicht Tod xuglov genannt werden; oder foll uadı7rai zou) 
xvolov hier etwas ganz Anderes bedeuten? aber in welchem Ver— 
haltniſſe find dann diefe beiden Männer zu den Apofteln zu denl 
und warum werben fie ihnen fo nahe und mit ihnen fat auf ein 
Linie geftelit? Nah Eufebius ($ 7) Hatte Papias die Zeug 
niffe der Apoftel nur durch ihre Schüler empfangen, dagegen den 
Ariftion und‘ den Presbyter Johannes noch felbft gehört; aber er 
wagt es doch darum noch nicht, dieſe Heiden Letzteren geradezu in 
bie zweite Generation herabzudrücken und zu bloßen Apoftelichülern 
zu machen. Kühner verfährt Rufinus; er überfegt ohne Bedenlen 
die Worte des Eufebius mit tertwibriger Freiheit: Papias apo- 
stolorum se verba ab his, qui secuti eos fuerant, Aristione 
videlicet et Joanne presbytero,. asserit suscepisse. hm ftet; 
am näcften Weizfärder, der ben Namen mresaßsregog allein 
auf die Manner der erften Generation, bie Apoſtel, beſchränkt, 
während der zweite Johannes ihn nur im Unterſchiede von dem’ 
gleichnamigen Apoftel als Amtsname oder im techniſchen Sinne 
getragen Habe; weder er noch Ariftion feien mithin Presbyter im 
bisherigen Sinne, ſondern nur Apoſtelſchüler geweſen, auch nedr- 
zei Tod xvoſov würden ‚fie nur im Gegeufatze zu wos rac 
allorgiag EvroAdg wmuovevoncıw genannt. Diefe Anficht hat) 
zu ihrer Borausfegung, daß der Sag: & ze Agioriwv — Asyov- 
69 nicht als indirecte Frage, ſondern als Relativfag aufzufaſſen 
und durd; rd mit zodg car zgeoßvregwv Aöyovs unmittelbar 
zu verbinden ift. Aber auch fo begreift fich nicht, ‘mit welchem 
Rechte Ariftion und der Presbyter Johannes von dem Kreife der 
rrge0ßöregos ausgefchloffen fein ſollen, denn wie konnte. Papias 
gerade die, welche mit den Presbytern verfehrt hatten, nad) dem 
fragen, was Ariftion und der Presbpter Johannes fagen, menn 
diefe nicht felbft Presbyter waren? Auch» Zahn beitreitet 
(©. 661.) die Coordination beider Sätze; auch er erklärt den zweiten 
für einen Relativfag, der durch fein 12 ummittelbar an zog zov 
mgeoßursgwv Adyovs angeſchloſſen fei, und zwar, weil das Re 
lativum unmöglic, eine indirecte Frage einleiten tönne; gleichwohl 


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74 Steit 


zu ſtellen, im bem zweiten aber denfelben ann durch Asyova 
wit Ariftisn als einen joldyen anzuführen, der noch immer wandelt 
uud deilen Stimme noch gegemmärtig ertönt? Schon dieje Br- 
mertungen reichen hin, Zahn’s Entordung als eine unheltbare zu 
feumzeichnen und bie Hypetheie von der Jdentität des Apoſtels und 
des Presbyters Johannes zu widerlegen. Endlich glaubte Ewald 
Geſjchichte des Bolles Firaci VII, 263) dem Wechſel der Tem⸗ 
yora einev und Asyovaıv nicht die Bedentung einer firengen Unter: 
jcheidung der Zeiten beilegen zu Dürfen: „was ſolche Männer fagten, 
das fagen fie ja in gewiſſem Sinne noch immer“ ; auch, er nimmt 
Aaomtaĩ vos zugiov in dem Sinne von Autopten; Ariftion und 
der Presbyter Johannes fein ebenjo wie die Zwölfe Herrnſchüler 
und Presbyter, fie gehörten mithin der erften Generation an, Papins 
aber, der igrer Aller Racrichten nur an der zweiten Hand halt, 
gehöre erſt in das dritte Geſchlecht; es fei daher ebenfo irrthümlich, 
wenn Eufebius fchliege, er habe Ariftion und den Presbyter Jo 
Hannes noch ſelbſt gehört, als wenn Irenãus ihn des Apoftel 
Johannes Zuhörer nenne. Die Stelle des Enfebins glaubt Ewald 
fo verftchen zu follen: „ch erforſchte die Worte der Aelteſten, 
was Andreas oder was Petrus fagte . . . . oder was eim ander⸗ 
weitiger (Eregos) der Schüler des Herrn, wie Ariftion ‚oder der 
Presbyter Johannes, die Schüler des Herrn, ſagen.“ Ewald ſcheint 
demnach ftatt des Relative ã re die Conjunction &ss zu leſen, 
aber diefe drüdt doch, mag fie vor einem Particip oder vor einer 
Appofition ftehen, ſtets wie das lateiniſche quippe einen Grund 
für das unmittelbar Borhergegangene ans, dient aber nie zur 
Erempfification. ” 

Soweit gehen über den Inhalt eines Fragments die Anfichten 
auseinander und fo entgegengefegte Folgerungen werden daraus ge 
zogen. Um fo vorjichtiger und bedächtiger werden wir vorzujchreiten 
Haben. Wenn zunächſt Zahn die Regel aufitellt, daß das Relativum 
unmöglid einen indirecten Fragefag einleiten fünne, jo find mir 
in der Tage, widerſprechen zu tönnen. Matthiä hat in-feiner aus 
führfichen griehiihen Grammatit (I, 907, 8 485) durd eine 
Reihe von Beifpielen nit nur aus Tragifern, fondern auch aus 
Plato und Xenophon nachgewieſen, daß in abhängigen Fragejägen 


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16 . Steig 


an.die bekannte Regel erinnern, daß im Griechiſchen das Berbum 
in indirecten Fragen in demfelben Tempus und Modus fteht, wie 
in den directen: man fann daher jede indirecte Frage, abgelöft von. 
dem regierenden Sage, als eine directe nehmen umd Hat nur den 
der indirecten ‚Frage ſpecifiſch eignenden Fragewörtern (mie ömd- 
vegos, Önöre, Sorıs) die directen zu ſubſtituiren. Direct aus 
gedrüct würden daher die Fragen, die Papias an die Vertrauten 
der Presbyter richtete, jo gelautet haben: „Was (cl) hat Andreas 
oder was Petrus gejagt, oder was Philippus oder was Thomas 
oder Jakobus oder was Johannes oder Matthäus oder wer font 
zu den Züngern des Herrn gehörte, und was (FL) Tagen Ariftion 
und der Presbyter Johannes, die Jünger des Herrn?“ =) Allein 
die größere Evidenz, die wir dadurch zu gewinnen ſcheinen, ift dei 
feine völfig fihere; denn wenn Ewald's Bemerkung, daß, mes 
folge Männer jagen, fie in gewiſſem Sinne noch immer jagen, 
und daß darum auch bei den Sprüchen längft Dahingegangener das 
‚ Bräfens ganz an feiner Stelle ift, al eine richtige anerfannt werden 
muß — und das wird Niemand beftreiten — fo fönnte auch in 
den bivecten Fragen der Wechſel der Tempora für die Zeitbeftim- 
mung nod immer ein ganz irrelevanter fein. Wollen wir daher 
eine Verfchiedenheit in der letzteren aufrecht halten, fo müſſen wir 
‚andere Gründe dafür Haben. Nun fteht für mein Urtheil feft, daß 
Papias den Ariftion und den Presbyter Johannes den Apofteln nicht 
einfach angereiht, foidern als eine zweite Neihe von ihnen untere 
fchieden und dies dadurch markirt hat, daß er jede diefer beiden 
Reihen durch das Epitheton ueImrad tod xvglov abſchließt. Was 
tann ihn dazu veranlagt, worin fann ihm der Unterfcheidungsgrund 
gelegen haben? Beide waren ihm mrgsoßvregor, beide wasıei 
zod xvglov; uns drängt fich dabei fofort der eminente Unterſchied 
auf, daß die in erfter Linie genannten Presbyter und Herrnjünger 
ſämmtlich Apoftel, die in zweiter Linie genannten dies nicht waren; 


a) Auch Balefins Hält diefe Unterfheidung der Tempora in feiner Ueber- 
ſetzung feft: „curiose seiscitabar, quaenam essent seniorum dieta, quid 
Andreas, quid Petrus .... quid ceteri domini “diseipuli dicere 
soliti essent: quidnam Aristion et Joannes Presbyter, discipuli 
domini, praedicarent“. 


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x 5 . 
78 Steig 
\ 


Quelle jeber einzelnen nur ganz allgemein als Weberkieferungen der 
Presbyter referire (wie etwa Irenäus die testimonia feiner se- 
niores), fo ergibt fi daraus für mic) wenigftens,- wenn ich «6 
mit altem bisher Erörterten zufammenfaffe, ein Hoher Grad von 
Wahrſcheinlichteit (das Höchite, was ſich in ſolchen ſchwierigen und 
dumfelen Fragen erzielen läßt), daß Papias aus dem engeren Apoſiel- 
kreiſe feinen mehr perſönlich gefannt Habe, fendern mr den Ariſtion 
und den Presbyter Johannes, welche mithin nicht blog die übrigen 
Apoftel, fondern auch den Johannes überlebt haben müfjen. Dem 
hätte er mit Diefem noch in dem vertrauten Verhältniſſe perſön- 
lichen Verkehrs geftanden ‚wie es Irenäus annimmt, dann würde 
er (die Verſchiedenheit der beiden Johannes varausgefegt, deren 
Identität auch Zahn nicht bewiefen Bat) defjen ‚Zeuguifie gewis 
ebenfo fpeciell hervorgehoben haben. Allein danon dat Eufebins in 
feinem Werke Nichts gelefen. 
Aus dem Gefagten ergibt fi meiter, daß der Ausdrud mer 
oßvregos bei Papias ſammtliche Männer der eriten Gensration 
umfaßt, die ſich für Kleinaſien durch bie Lange‘ Lebensdauer des 
Apoſtels Johannes beftimmt (obgleich die Dehnbarkelt des Ausdrude 
dem weit jüngeren Jrenäus gejtattete, auch die in Bolyfarp reprü 
fentirten pednral ziv anoordAmv noch unbedenklich Presbgter 
zu nennen). Daß unter biefe erfte Generation dem Papias au 
noch Ariftion und ber Presbyter Johannes zu ftehen kamen, ver 
bürgt ihre Bezeichnung als uaedneai Tod zuglav. Zahn wirft 
Weizfäder mit Unrecht vor, daß er diefe im Sinne „treuer Ehriften" 
"genommen habe; Weizfäder hat fie vielmehr im Gegenfage zu vos 
tag allorplas Evrolds urnnovevovosv gefaßt; allein daß man 
die Träger und Vermittler der vom Heren dem Glauben gegebenen 
und aus der Wahrheit ftammenden 5310401 oder Adyse deagulb 
fhon uasmrel coü xpgiov genannt habe, dafür iſt big jegt noch 
fein Belag erbracht worden, Der Ausdrud bezeichnet entweder: 
einen unmittelbaren Schüler oher "ganz allgemein einen Bekenner 
des Herrn und fann hier aur im erften Sinne gemeint fein. Die 
beiden indirecten ragen des Papias beweifen überdies, daß ihm 
die Zeugniffe des Ariftion uud des Presbyters Johannes. auf einer 
Anie nicht wit den Ausfagen der Apofteljchüler, ſondern mit den 


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Zwrt: iemer Kudirtunger zıt Exkerrs gefsermen jei, un 
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Sea heim for. Jerem wr pioh meörrei von zrgior in 
Sxrre yon Aarodien rehmen, britresen wır jelbjinerjtändlic nicht, 
be$ 23 verisieorne Jüngerkreife g:b: den engiten bildeten die zwili, 
einen cueren tie fieb;ig, den meiteiten Die, welche an Jejut 
unter deinen Zeitzenoijen fih argeitiofien Hatten oder auch nur 
gm (5 B. Joh. 6, 69). Aber wenn auch nur im weitejten 
Eine Arion und der Preebyter Johannes ihm fo von Anfang 
an zugeihan gewejen waren, konnte jie Papias, dem es vor Allem 
auf Augeszeugenihaft anfam, unter diejer Bezeihnung mit den 
Apofteln verknüpfen. Damit hebt ſich aber auch noch das Bedenken 
Zah's, daß Papias zuerft von Worten der nedızei ron xugiov 
und dann noch einmal von dem rede, was zwei Männer jagen, 
die ebenfalls nasrzai r. x. und gang unzweifelhaft (?) in dem 
% 1 ühlog nasrejs begriffen gemejen fein (5. 663). 

Sir können nady diefer Unterfuhung nur dem Eufebius Recht 
geben, wenn er aus dem zweimaligen Borfommen des Namens 
Johannes und aus der zweiten Erwähnung mit der fignalifirenden 
Appojition 6 rresoßvregos, und zwar nad) dem Arijtion, auf zwei 
gleihnamige, aber verjchiedene Johannes geſchloſſen und in Papias 
den wöri;xoog nur des Presbyters, nicht des Apojtels, gejehen hat. 
Er hat ſich auch dies Urtheil nicht erft in der Abſicht gebildet, für 
die Apofalypfe einen andern Verfaffer als den Apoftel Johanues 
zu gewinnen; was er in diefer Beziehung fagt, ijt nur eine beſchei⸗ 
dene Vermuthung: er Hält es für denkbar, daß, wenn man nidt 
den Apoftel als den Verfaſſer des Buches gelten laſſen wolle, 
daffelbe von dem Presbyter gejchrieben fein fönne. - Diefe Alter: 
native gründet ſich wiederum auf bie Thatfache, daß die Apokalypſe 





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82 , Steig 


über das im Jordan bei ber Taufe Chrifti aufgeflammte, Teuer 
(Dial., e. 88). An ſolche Schriften könnte man daher and) immer 
Bin bei diefer Stelle des Papias denten. Aber auch dem Lufas- 
evangelium. dürfte er ſchwerlich den gleichen Werth wie feinen Zra- 
ditionen beigelegt haben, da er ja aud an dem. Markusenangelium 
Mancherlei auszufegen hatte, weil fein Verfaſſer nicht Autopte war. 
So ließe ſich wohl Zahn’s Erklärung rechtfertigen. ‚Aber es ift 
noch eine andere Auffajfung des Ausſpruchs Papias’ möglich, die 
überdies den Vorzug hat, daß fie fich ganz enge an den Wortlaut 
feines Tertes anſchließt. Er fagt ja nur, daß er geglaubt Habe, 
aus dem,,was ihm Bücher boten, nicht fo vielen Gewinn zu 
ziehen, als aus dem, was er aus der Tebendigen und noch immer 
forttönenden Stimme, d. h. aus der mündlichen, direrten und iv 
directen Belehrung der Presbyter lerne, und da er biefen Sah 
mit dem Vorhergehenden durch yag verknüpft, fo gibt er den Grund 
an, warum er durch die von Augenzeugen (wie.von Matthäus in 
der Redefammlung) ſchriftlich figirten Adyse xugiexd trog ihrer 
Authentie und Ariopiftie ſich doch noch nicht volltommen befriedigt 
gefühlt, ‘fondern um weitere Auskunft ſich an bie Presbpter und 
‚ deren Vertraute gewandt Habe. So verftanden kann fein Urtheil 
auf affe fhriftlichen Aufzeichnungen bezogen werden, ohne daß es 
gegen biefe eine geringfchägende Aeußerung enthielte, ſondern es ſpricht 
nur aus ganz’ fubjectiven Erfahrung den relativ mächtigeren Eindrud 
aus, den aus den mündlichen Berichten derſelben Augenzeugen ein 
Dann empfing, defjen Bildung eben, wie Zahn fagt, vornehmlich 
auf perfönfiher Einwirkung beruht hatte. Damit fteht auch nicht 
im Widerſpruche, daß er die Aöyıa xugiaxa zuerft aus ſchriftlicher 
Aufzeihnung und dann erft aus febendigen Traditionen gefammelt 
Hat; beide betrachtete er als Ausflüffe einer und derſelben Quelle; 
aber hier quolfen fie ihm unmittelbarer, frischer, Tebendiger entgegen; 
er erhielt Antwort auf die Fragen, die fein Herz und fein: Intereſſe 
brennender befchäftigten, und je eigenthümlicher mir uns die Geiſies⸗ 
richtung des Mannes zu demfen Haben, um fo woher mußte er 
fich in dem Strom autoptiſcher Ueberlieferung fühlen, der ihn im 
freien Wechſelgeſpräch umfluthete, in dem offenen Fahrwaſſer, in 
welchem es am / ſicherſten feinen Lieblingszielen zuſteuern . konnte 





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8 . Steig 


man ihn um folches fragte, zu antworten.” Allein Krüger be 
merft (a. a, D., 853,2. Anm. 1), dag im Griechiſchen das Im⸗— 
perfect oft gebraucht wird, wo im Lateinischen das Perfect ftehen 
müßte, und daß dies befonder& bei Neye und &xöReve der Fall fei. 
Es Tann feinem Zweifel unterliegen, daß diefer Fall. hier vorliegt, 
denn das Zeugniß fieht gar nicht darnach aus, als ob es eine 
ftehende Antwort des Presbyters auf eine. wiederholte Frage fei. 
Es ift aber au fraglich, ob die ganze Stelle als Ausſpruch des 
Preobyters zu nehmen fei, wie fie offenbar Eufebius genommen 
hat, denn die zweite Hälfte, von ovre yap 7xovoe an, madıt, wie 
Tholuck, Bleek und Holgmann fahen, ganz ‘den Eindrud einer 
gelehrten Reflexion des Papias; mande Ausdrüde, wie magme- 
Avdnoe und ovvrafıs Tür xugoxöv Aoylav, gehören zu feinen 
Stiwörtern (obgleich man folde auch in der erften Hälfte findet, 
wie don Quynuövevoev), ebenfo ift die wiederholte „Umfchreibung 
mit mowiogar, diefem Fragmente eigenthümfich ; das sc Egprp ſcheiut 
darauf hinzudeuten, daß fich Papias an anderen Orten feines Wertes 
ausführlicher über das perjünfiche Verhältniß des Markus zu Petrus 
ausgefprohen Habe, und diefe Anficht wird durch Eufebius (II, 15) 
beftätigt; der ganze Ausſpruch enthält endlich zwei Urteile, deren 
das letztere das erjte motiviren ſoll und die dennoch nicht recht 
harmoniren; denn während der Presbyter an dem Berichte dei 


"Markus die rufıg vermißt, zwedt das Folgende vornehmlich darauf 


ab, feine Unvoliftändigfeit zu entfhuldigen. Darum haben aud) die 
Worte 09 ulvro raksı den Erflärern fo große Schwierigkeit ge 
macht: Holgmann bezieht fie lieber auf den Mangel an principieller 
Anordnung und Nealeintheilung im Vergleih zu dem erften Evan 
gelium, als auf den Mangel an chronologiſcher Ordnung im Ber 
gleih zum vierten; Weizfäder auf den Mangel un Vollſtändigkeit, 
obgfeich diefe nie durch zafzs bezeichnet werden kann; Zahn endlich 
auf den Mangel „an Geſchloſſenheit (?) der Reihe von Erzähfungen 
und Reden, vielleicht auch an ſicherer chronologiſcher Zufammens 
fügung“. Mir ſcheint es, daß das Urtheil des Presbyters, dad 
zu feiner Rechtfertigung fo Tünftlihe Erklärungsverſuche bedarf, | 
weit über feinen wirklichen Werth überfhägt worden ift; daß «| 
auf den Charakter des Markus überhaupt nicht in Allem zutrifft 


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8 7 Steig 


von einer advrakıg zer xuguaxüv Aoylr ſpricht, fo Hat er dabei 
nicht das Ganze im Auge, fondern nur-den Theil, worauf es ihm 
bei feinem perjönlichen Intereſſe ımd feinem ſchriftftelleriſchen Zweck 
vornehmlich ankam, nämlich die Reden; wir haben- daher auch fein 
Recht, den legten Begriff durch den erfteren zu interpretiren und 
zu erweitern. Die Annahme einer Redefammlung, welche als dir 
daktiſche Grundſchrift mit einer Hiftorifhen in zwei unferer Evan 
gelien verarbeitet worden ift, ift ein durchaus felbjtäubiges Poſtulat 
der neueren Evangelienkritit und fo unabhängig von dem Zeugniffe 
des Papias, daß fie dieſes ebenfofehr betätigt, als von ihm ber 
ftätigt wird. So wenig aber unfer fanonijcher Matthäus eine freie, 
aber vollftändige Bearbeitung eines hebräifchen Evangeliums ift, 
fo wenig wurde jene hebräiſch gefchriebene-Redefammlung des Diet: 
thäus durch eine einzelne Evangelienſchrift überflüffig,, fondern fie 
wurde e8 durch die ganze Tanonijche Evangelienliteratur, die von 
Reden des Herrn weit mehr bot als jene, und in welcher außerdem 
zwei Schriften, der fanonijche Matthäus. und Lulas, dem ganzen 
Stoff jener Sammlung abforbirt hatten. Papias feheint übrigens 
bie Redefammlung des Matthäus nicht mehr gefannt zu Haben; 
die Kirchenväter, die fie noch weniger zu Geficht befommen haben, 
hieften fie in. verzeihlichem Irrthum nad) des Irendus Vorgang 
(V. 6, 1 cf. Euseb. V, 8, 2) für den Hebräifchen Grundtet 
unferes Matthäus. 

Nur eine Spur deutet darauf hin, daß Papias in feiner ttiynoic 
einzelne neuteſtamentliche Begriffe erläutert Habe. Wenn er nämlich 
(nad) de8 Maximus Confeffor „Commentar zu der himmlischen 
Hierardjie des Areopagiten“, Cap. 2, p. 32; ed. Cordetius) von ben 
erften Chriften fagte, fie hätten Diejenigen, welche Gott gegenüber 
axoxio üben, Kinder (raidag) genannt, fo ſcheint er damit die 
Kindeseinfalt im Auge gehabt zu haben, zu der wir nach Chriſti 
Ausſpruch Matth. 18, 3 zurückkehren und in der wir den Kindern 
gleih (os Ta cudla) werden follen. 

Mehrere Aeußerungen des Papias weifen offenbar bie Erfüllung 
von Weiffagungen Chrifti nah. Dahin ‚gehört die Angabe des 
Eufebius ($ 9), Papias habe mit den Töchtern des Philippus 
(die Appofition drooroAog gehört wohl dem Euſebius an) zu Hier 


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78 Steig 


Quelle jeder einzefnen nur ganz allgemein als Leberkieferungen ber 
Presbyter referire (mie etwa Irenaus die testimonia feiner se- 
niores), fo ergibt fi daraus für mid) wenigſtens, wenn id es 
mit allem bisher Erörterten zujammenfaffe, ein hoher Grad von 
Wahrſcheinlichteit (das Hochſte, was fi in ſolchen ſchwierigen und 
dunkelen Fragen erzielen läßt), daß Papins aus dem engeren Apoftel- 
kreiſe feinen mehr perſöulich gefannt Habe, jendern nur den Ariſtion 
- und den Preöbpter Johannes, welche mithin nicht blos die übrigen 
Apoftel, fondern auch den Johannes überlebt haben müfjen. Denn 
hätte er mit Diefem noch in dem vertrauten Verhältnijfe perjäns 
lichen Verkehrs geftanden, wie es Zrenäus annimmt, dann würde 
er (die Verfchiedenheit der beiden Johannes vorausgeſetzt, deren 
Identitat auch Zahn nicht bewiefen Hat) defjen Zeuguiſſe gewiß 
ebenfo fpeciell hervorgehoben haben. Allein davon hat Eufebins in 
feinem Werke Nichts gelefen. 
Aus dem Geſagten ergibt ſich meiter, daß der Ausdruck mer 
oßöregoı bei Papias jümmtlihe Männer der erften Gensration 
umfaßt, die ſich für Kleinafien durch bie Lange‘ Lebensdauer dei | 
Apojtels Johannes beftimmt (obgleich die Dehnbarkel des Ausdrude 
dem weit jüngeren FJrenaus geftattete, auch die in Polyfarp reprär 
fentirten nedmrai rev anoasalov noch unbedenkiih Presbhier 
zu nennen). Daß unter biefe erfte Generation dem Papias auch 
noch Ariftion und der Presbyter Johannes zu ftehen kamen, vers 
bürgt ihre Bezeichnung als nednsai Tod zuplav. Zahn wirft 
Weizſacker mit Unrecht vor, daß er diefe im Sinne „treuer Ehriften“ 
"genommen habe; Weizſäcker hat fie vielmehr im Gegenfage zu ro 
tag allorelag Evroldg urnnovevovos gefaßt; allein dag man 
die Träger und Vermittler der vom Heren dem Glauben gegebeuen 
und aus der Wahrheit ftammenden svralai oder Adyıe deshalb 
ſchon pasmrai zoö xpglov genannt habe, bafür ift big jetzt noch 
fein Belag erbradht worden. Der Ausdru bezeichnet entweder | 
einen unmittelbaren Schüler oder "ganz allgemein einen Bekenner 
des Herrn und kann hier nur im erften Sinne gemeint fein. Die | 
beiden indirecten Fragen des Papias beweifen überdies, daß ihm 
die Zengniffe des Ariftion und des Presbyters Johannes, auf einer 
Linie nicht wit den Ausfagen der Apoſtelſchüler, fondern mit den 


des Bapias von Hierapofis „Außlegung ber Reben bes Germ'. 79 


Zeugniffen der Apoſtel ſelbſt ftanden, denn auch bei den Apoftels 
fhülern war es ihm, wie uns Weizjäder belehrt, nicht um deren 
Zeugniſſe zu thun, fondern um die der Apoftel und des Ariftion 
und des Presbyters Johannes. Auch Markus war Apoſtelſchüler; 
wirde wohl Papias auch Diefen, von dem er fagt: ouzs yag 
jaovos toõ zuglav, ours magmxoAovämoe auto, Üoregov da 
Dirgp, ebenfo wie den Ariftion und den Preobyter Johannes 
Hadıtıs Tod xuglov genannt; würde er rüdfichtlich des Markus, 
deſen Evangelientradition er Mangel an za&ıs und Vollftändig- 
feit yorwirft, wit demſelben Intereſſe gefragt Haben: = MMagxag 
dev; womit.er fragte; *l Agorlov x. drug. I. Ayovan; 
md nicht vorgezogen haben zu fragen: xl ZAsrgog elmev, wenn 
ihm noch Jemand verläffige Kunde vom Herrn aus Petrus’ Munde 
gien konnte? Indem er daher diefe beiden Regteren wie die Apoftel 
kahrei Tod xuglov nennt, rechtfertigt er, meines Erachtens, 
marım er ihren Zeugniffen opoftefartigen Wang vindicirt hat, 

Bir nehmen darum das Prädicat weder: Tau xzuglov in dem 
bier allein zuläffigen Sinne von aveorrıns. Johannes ift aber 
am Ende des 1. Jahrhunderts, unter der Regierung Trajan’s, ver» 
idieden und uß ein hohes Alter von mehr als neunzig Jahren 
erregt haben. Wenn aber Ariftion und der Presbyter Johannes 
in überfeht haben, wie alt follen fie geworden fein, wenn fie 
Feſum noch perfönlich gekannt haben? Wir verfenuen diefe Schwies 

tigleit nicht, Halten fie aber nicht fr unlösbar. Auch Irenäus 
betrachtet ſich als Hörer des Polylarp, obgleich wir aus feinen 
eigenen Worten wiffen, daß er nur als Knabe ihn gefannt; und 
doch beruft er fich feierlich und umjtändlic anf die Treue feiner 
Crinnerungen aus jener Zeit und will als Polykarp's Schüler 
onerfannt fein. Nun ift es durchaus nicht unmöglich, daf Ariftion 
und der Preöbyter Johannes, Beide ohne Zweifel Paldftinenfer, in 
ihrer frühen Jugend noch Jeſum gefehen, gehört, von ihm die - 
aften für ihr ganzes Reben entfcheidenden Eindrücke empfangen 
hatten und doch, wenn fie aud nur das Alter des Johannes er⸗ 
tihten, dieſen noch um 5—10 Jahre überlebt haben. Da wir 
überdies annehmen dürfen, daß der Presbyter Johaunes und wahr- 
ſcheinlich auch Ariftion in Epheſus lebten, fo ift es nicht undenkbar, 


0 Steitz 


daß Papias erſt nach Johannes' Tode, aber bald darauf, zum 
Zwecke ſeiner Nachforſchungen nach Epheſus gekommen ſei, und 
beide Männer perſonlich befragt, daß er ebenſo Ipäter durch Andere, 
welde von ihnen famen, ihre Nachrichten und Traditionen erhoben, 
und fofern diefe Anderen auch mit Johannes und fonft einem Apojtel 
befannt gewefen, auch nad) deren Zeugniſſen ſich erfundigt habe. 
Alterdings können dieje Vorausfegungen nicht auf Viele zugetroffen 
fein, aber darum weiß auch Papias nur zwei Männer aufzuführen, 
die er noch ig diefem Sinne al Herrnſchüler den Apofteln an die 
Seite ftellen fann. Indem wir jedod nasmrei vod xuglov im 
Sinne von Autopten nehmen, beftreiten wir felbjtverftändlich nicht, 
daß es verfchiedene Züngerfreife gab: den engften bildeten die zwölf, 
einen tveiteren die fiebzig, den meiteften Die, welche an Jeſut 
unter feinen Zeitgenoffen ſich angeſchloſſen hatten oder auch nur 
glaubten (z. B. Joh. 6, 60). Aber wenn aud) nur im weiteſten 
Sinne Ariftion und der Presbpter Johannes ihm fo von Anfang 
an zugethan geweſen waren, fonnte fie Papias, dem es vor Allem 
auf Augenzeugenjhaft anfam, unter diefer Bezeichnung mit den 
Apofteln verknüpfen. Damit hebt fich aber auch noch da8 Bedenken 
Zahn's, daf Papias zuerft von Worten der uednzei Ton xugiov 
und dann nod einmal von dem vede, was zwei Männer fagen,. 
die ebenfal® nesnrel r. x. und ganz unzweifelhaft (?) in dem 
7 ris &lRog nasmens begriffen gewefen fein (S. 663). - 
Wir können nach diefer Unterfuhung nur dem Eufebius Recht 
geben, wenn er aus dem zweimaligen Vorkommen des Namens 
Johannes und aus der zweiten Erwähnung mit der fignalifirenden 
Appojition 6 rrgsoßvrsgog, und zwar nad) dem Arijtion, auf zwei 
gleichnamige, aber verfchiedene Johaunes gefchloffen und in Papias 
den avenxoog nur des Presbyters, nicht des Apoſtels, gefehen hat. 
" Er hat fi auch dies Urtheil nicht erft im der Abficht gebildet, für 
die Apofalypfe einen andern Verfaffer als den Apoftel Johanues 
zu gewinnen; was er in diefer Beziehung fagt, ift nur eine beſchei⸗ 
dene Vermuthung: er hält es für denkbar, daß, wenn man nicht 
den Apoftel als den Verfaffer des Buches gelten laſſen wolle, 
daffelbe von dem Presbpter gefehrieben fein könne. - Diefe Alter 
native gründet fih wiederum auf die Thatſache, daß die Apotalypie 


des Papias von Kierapofis „Auslegung der Reden_bes Herrn”. 8 


von den Einen unter bie duoAoyovuera, von den Anderen unter 
die avsıleyduevr gejtellt und mithin von Diefen dem Evangeliften 
obgefppochen wurde. Er beruft ſich endlich für -feine Ueberzeugung, 
dab es zwei Johannes gegeben Habe, nicht auf die Sage von deu 
beiden Gohannesgrähern in Ephefus, fondern er begründet umge 
fehrt mit feiner aus Papias’ Worten genommenen Weberzeugung 
die Wahrheit der Sage. Schon vor ihm hat Dionyfius von Ale- 
zandrin mit kritiſchen Gründen nachzuweiſen derjucht, daß der 
Eoangelift die Apokalypſe nicht gefchrieben haben könne, und fie für 
die Bifion eines andren ‚in Kleinafien verlebten Johannes gehalten; - 
ad er hat beveitS auf die beiden angeblichen Johannesgräber hin⸗ 
gmiefen (Euseb. h. e. VII, 25, 16. 26). Seine fritifhen Ars 
gumente, welche die Vorläufer der neueren Kritif gegen den npoftor 
Giden Urfprung des Buches geweſen find, müſſen Jedem, auch 
mean er fich richt dadurch überzeugen läßt, noch jegt Achtung ein- 
füßen und verdienen es wahrlich nicht, daß er, den die uächſte 
Zeit mit dem Namen des Großen geehrt hat, von Zahn als „nicht 
groß in der Wiſſenſchaft“ gekennzeichnet wird. Man vergleiche 
dagegen Weizſäcker's - umfichtiges Urtheil im Artitel „Dionyjius“ 
in Herzog's Realenchklopädie III, 411, der ihn gerade in diefer 
ürage ein Heute noch nicht Hberlebtes Mufter nennt. 

Das Fragment.des Papias fliegt mit den Worten: 0) yag 
u dx sav BıßMlov zonoürov us wyeisiv UnsAdußavor, 600» 
"u nage: Lan: yavjs za mevodons. Nur wenn man biefe 
Borte fo faßt, daß Papias auf Bücher. Überhaupt nichts gegeben, 
fondern bie unmittelbare Tebendige Stimme der Tradition ihm Alles 
ggolten Habe, kann man mit Zahn ‚darin „eine wegwerfende Aeuße⸗ 
tung“ erfennen. Ganz conjeguent hält er darum die Bücher, die 
Papias fo Herabjegen fannte, für Schriften, die er als Hermeneut 
yum Berftänbniß ‚oder zur BVeſtätigung der Aöyse hätte herbeiziehen 
lönnen, häretiſche oder katholiſche Bücher, die meift an ihn erit, 
kerangetreten feien, als ex. in reiferem Alter ftand und feine vor⸗ 
womlih auf. perfönliher Einwirkung ruhende Bil— 
dung ſich abgeſchloſſen hatte. Daß man es allerdings mit dem 
Gehrauche apokryphiſcher Evangelientraditiouen noch nicht. allzuſtreug 
nahm, zeigt z. B. die nur in ſolchen vorkommzude Erzahlung Juſtin's 

Deol. Stud. Jahrg. 1868. 6 


82 ’ Steig 
über das im Jordan bei der Taufe Chrifti aufgeflammte, Feuer 
(Dial., c. 88). An folhe Schriften fönnte man daher andy immer» 
hin bei diefer Stelle des Papias denken. Aber auch dem Lufas- 
evangefium. dürfte. er ſchwerlich den gleichen Werth wie feinen Tra- 
ditionen beigelegt haben, da er ja auch an dem. Markusenangelium, 
Mancherlei auszufegen hatte, weil fein Verfaſſer nicht Autopte war. 
So ließe ſich wohl Zahn's Erklärung rechtfertigen. Aber es ift 
noch eine andere Auffaffung des Ausſpruchs Papias' möglich, bie 
überdies den Vorzug hat, daß fie fich ganz enge an den Wortlaut 
feines Tertes anſchließt. Er fagt ja nur, daß er geglaubt Habe, 
aus dem,, was ihm Bücher boten, nicht fo vielen Gewinn zu 
ziehen, als aus dem, was er aus ber Tebendigen und: noch immer 
forttönenden Stimme, d. h. aus der mündlichen, directen und is 
directen Belehrung der Presbpter Terne, und da er biefen Sah 
mit dem Vorhergehenden durch yag verknüpft, fo gibt er den Grund 
an, warum er durch die von Augenzeugen (wie von Matthäus in 
der Redefammlung) ſchriftlich fixirten Adyız xugiexe trog ihrer 
Authentie und Ariopiftie fi doch noch nicht volltommen befriedigt 
gefühlt, fondern um weitere Auskunft ſich an die Presbyter und 
‚ deren Vertraute gewaridt habe. So verftanden Tann fein Urtheil 
auf alfe ſchriftlichen Aufzeichnungen bezogen werben, ‚ohne daß es 
gegen dieſe eine geringfchägende Aeußerung enthielte, ſondern es ſpricht 
nur aus ganz’ fubjectiven Erfahrung den relativ mächtigeren Eindrud 
aus, den aus ben mündlichen Berichten derfelhen Augenzengen ein 
Mann empfing, deffen Bildung eben, wie Zahn ſagt, vornehmlich 
auf perfönfiher Einwirkung beruht hatte, Damit fteht auch nicht 
im Widerſpruche, daß er. die Adyım zugiexa zuerft aus "schriftlicher 
Aufzeihrung und dann erft aus Iebendigen Traditionen gefammelt 
Hat; beide betrachtete er als Ausflüffe-einer und derſelben Quelle; 
aber hier quolfen fie ihm unmittelbarer; frifcher, Tebendiger "entgegen; | 
er erhielt Antwort auf die Tragen, die fein Herz and fein: Intereſſe 
brennender befchäftigten, und je eigenthumlicher mir uns die Geifte- 
richtung ded Mannes zu denken. haben, um jo wohler mußte er 
ſich in dem Strom autoptifcher Ueberlieferung fühlen; der ihn im 
freien Wechſelgeſpräch umfluthete, in dem .offenen Fahrwaſſer, in 
welchem er am:ficerften feinen Lieblingszielen- zuſteuern konnte. 





des Papias von Hierapolis „Auslegung der Reden bes Herrn, 88 


Et ift daher auch nur die eine Seite des Gedanfens, wenn Weizſäcker 
jagt: „Allerdings ſchieu ihm die. Fülle der Ueberlieferung durch die - 
vorfandenen Schriften keineswegs erſchöpft zu fein, ja im gegen 
wärtigen Augenblide, wo es ſich um. Unterfheidung des Falſchen 
und Aechten handelte, nicht zu genügen.“ 

Leider find von dem Werke des Papias nur fo fpärfiche Frag- 
mente auf und gekonunen, daß wir den Charakter deſſelben nach 
wenigen Seiten hin feitzuftellen vermögen. Daß er fi auch über 
feine ſchriftlichen Quellen verbreitet Haben muß, erfehen wir aus 
feinen Mittheilungen iiber das Markusevangelium und die Meder 
ſammlung des Matthäus. Wenn man daraus früher gefchloffen 
hat, daß er nur dieſe Evangelien gefannt „und benutzt habe — eine 
dolgerung, ‚gegen dien. ornehurlich mein Artikel gerichtet war —, ſo 
fd ähnliche Luftſchlüſſe durch den jetzigen Stand der Evangelien⸗ 
fit und unferer Kenntniß des nachapoſtoliſchen Zeitalters einfach 
umöglich geworden... Es kaun nicht mehr bezweifelt werden, daß 
Bapiag unfere kanoniſchen Evangelien fammt der Apoftelgejchichte, 
ja die meiften neuteftamentlichen Schriften, ebenfo gut gefannt habe, 
wie ben erften Johannes und den erften Petrusbrief und die 
Motalypfe. Die Mitteilung feiner Nachrichten über das Markusr 
mangelium und den Matthäus bei Eufebius berechtigen nicht zu 
tinem argumentum e silentio, fondern bezeugen nur das Intereſſe, 
melhes der Vater der Kirchengeſchichtsſchreibung an dieſen beiden 
Traditionen nahm. 

Ueber Markus führt Papias ein Zeugniß des Presbhters, ohne 
Zweifel bes mehrerwähnten Prebdiers Johannes, an: xal zouro 
ö mgeaßucegog Bye‘ Mögxas uer, ägueveurng IlErgov Verönerag, 
dca durnuörevoer, üngıßü E Houve⸗, 0% broı rafeı Ta Und rau 
Xoioꝛoũ 7 7 AyHvra 7 meu2Ibra: ovre zug Meouge Tov xuglov, 
oure nagrxo) Mnoer — vboreoo⸗ de, wg Epar,, IErgg, ög 
mg ruc zeslas Inoıito trug Jıdaoxaklas, ar orx ‚sang virus 
tür zugraxcir moiovutyoc Aoylup [s Aöyar], sore ovdEr 7 uapre 
Mögnas, aörax ivıq Jooyag , os änspumuöreuger . c ⸗0 
nocjouro aooroia⸗. Tod under ‚dv ſeouor nagak ir a Ver, 
caodol Tu in; avrois.. Zahn faßt (S. 692) dag Imperfect Neyer 
im cigentlichen Siyne: „Auch die, pflegte der Preöbpter, wenn 

6* 








Ds . Steig 


man ihn um foldes fragte, zu antworten.” Allein Krüger ber 
merft (a. a. O., 853,2. Anm. 1), dag im Griehifchen das Im— 
perfect oft gebraucht wird, mo im Lateinischen das Perfect ftehen 
müßte, und daß dies beſonders bei Neye und Zxöheve der Fall fti. 
Es fann feinem Zweifel unterliegen, daß diefer Fall. hier vorliegt, 
denn das Zeugniß ficht gar nicht darnach aus, als ob es eine 
ftehende Antwort des Presbyters auf eine. wiederholte Trage fe. 
Es ift aber auch fraglich, ob die ganze Stelle als Ausſpruch des 
Preobyters zu nehmen fei, wie fie offenbar Eufebius genommen 
hat, denn die zweite Hälfte, von odre yap 7xovos an, macht, wie 
Tholuck, Bleek und Holgmann fahen, ganz ‘den Eindruck einer 
gefehrten Aeflerion des Papias; mande Ausdrüde, wie ragme- 
Avgnoe und ovvrafıg tüv xugraxdv Aoylov, gehören zu feinen 
Stichwortern (obgleich man ſolche auch in der erſten Hälfte findet, 
wie 6a Zurmuövevoev), ebenfo ift die wiederholte Umfchreibung 
mit no1ei090, diefem Fragmente eigenthümlich; das gs Ip ſcheint 
darauf hinzudeuten, daß ſich Papias an anderen Orten feines Wertes 
ausführlicher über das perjünliche Verhältniß des Markus zu Petrus 
ausgeſprochen habe, und diefe Anficht wird durch Eufebius (II, 15) 
beftätigt; der ganze Ausſpruch enthält endlich zwei Urtheile, deren 
das legtere das erſte motiviren foll und die dennoch nicht recht 
harmoniren: denn während der Presbyter an dem Berichte dee 
"Markus bie rafıg vermißt, zwedt das Folgende vornehmlich darauf 
ab, feine Unvoltftändigfeit zu entfhuldigen. Darum haben. aud) die 
Worte 09 ulvroı ass den’ Erflärern fo große Schwierigkeit ge: 
macht: Holgmann bezieht fie Lieber auf den Mangel au principieller 
Anordnung und Kealeintheilung im Vergleich zu dem erften Evan- 


‘gelium, als auf den Mangel at chronologifiher Ordnung im Vers 


gleich zum vierten; Weizfäder auf den Mangel un Vollſtändigkeit, 
obgleich diefe mie durch ra&ıg bezeichnet werden -tann ; Zahn endlich 
auf den Mangel „an Geſchloſſenheit (P) der Reihe von Erzählungen 
und Reden, vieleicht auch an ficherer chronologifcher Zufammen- 
fügung*. Mir ſcheint e8, daß das Urtheil des Presbyters, das 
zu feiner Rechtfertigung fo künſtliche Erllärungsverſuche bedarf, 
weit über feinen wirklichen Werth überjhägt worden iſt, daß es 
auf den Charakter des Markus überhaupt nicht in Allem zutrifft 


det pepias von Hiecapofiß , Autlegung der Reben des Ger’. 86 


und ſchon darum nicht, wozu es freilich auch nur Zahn ſtempeln 
wollte, apoſtoliſch⸗ johanneiſcher Abkunft ſein kann. Dagegen mag 
der Behauptung, daß dieſes Evangelium aus petriniſcher Tradition 
gefloffen ſei, immerhin eine wirkliche Erinnerung der alten Kirche, 
wenn auch fagenhaft erweitert und ausgeſchmückt, zu Grunde liegen. 
Bern nım die neuere Evangelienkritik ein Recht Hat, zwifchen einem 
Urmarkus und dem kanoniſchen zu unterfcheiden, was hier nicht zu 
unterfuchen und mit dem Zeugniß des Papias nicht zu entſcheiden 
ät, fo kann diefes Zeugniß felbftverftändlih nur auf Jenen gehen. 
Zahn freilich ſcheint ein foldes Recht nicht anzuerfennen: er ver» 
fährt darum ganz confequent, wenn er das Zeugniß auf den far 
nonischen Markus befchräntt. 

Wichtiger ift das über Matthäus (8 16) Gefagte: mzol de roũ 
Murdofov revr’ eine: (nämlich von Papias vgl. $ 14, wenn 
and, wohl auf das Zeugniß feines Gewährsmannes hin) Mardaloc 
nv odv “Eßoatöv dinkkxıyp Ta Aöyın ouverdßaro, Houmevos d’ 
avra ᷣc 77 duvaros xaoros. Die legtere Bemerkung wird man 
wohl am einfachften von dem Privatgebrauch verjtehen, den die des 
Heräifchen mehr oder minder fundigen Gemeindeglieder vpn diefer 
hebräiſch gefchriebenen umd nicht überfegten Schrift in früherer Zeit 
gemacht Haben. Die neuefte Kritik fieht ziemlich übereinftimmend 
in diefem Werke eine von Matthäus veranftaltete Sammlung der 
Reden Chrifti. Anders Zahn. Er gibt (S. 694f.) dem Aus- 
drud xuguaxd Aoyıo in dem Dietum über Markus gleichen Umfang 
mit zu Uno Tod Xporod 7 Asxdbra 7 npuysHvra und fieht 
demnach in der in dem Dietum über Matthäus erwähnten avv- 
tafıg ro» Aoylar ein Werk diefes, Apoftele, welches außer Reden 
auch noch Thatſächliches enthielt, alfo eine volljtändige Evangeliens 
ſchrift; diefe fei urfprünglich hebräiſch gefchrieben gewefen und Jeder 
habe fie jo gut überfegt, als er konnte; entbehrlich fei fie erjt das 
durch geworden, daß ein griechiſches Evangelium entftand, meldes 
ihren Inhalt vollftändig wiedergab und doch mit folder Freiheit 
abgefaßt wurde, daß es fich wie im Originale Tieft. Allerdings 
geben die Worte 74 önò Tod Xo. 7 Asyderru 7 mgaydbvra im 
Munde des Pregbpters den Inhalt eines Evangeliums vollftändig 
an; aber wenn dann Papias in feiner daran gefnüpften Reflexion 


8 7 Steig 


von einer advrakıs zur xugimcr Aoylav ſpricht, fo Hat er dabei 
nicht das Ganze im Auge, fondern nur den Theil, worauf es ihm 
bei feinem perfönfichen Intereſſe und feinem fchriftftellerifchen Zweck 
vornehmlich ankam, nämlich die Reden; wir haben. baher auch fein 
Recht, den legten Begriff durch ben erfteren zu interpretiren und 
zu erweitern. Die Annahme einer Redefammlung, welche als di» 
daktiſche Grundſchrift mit einer Hiftorifhen in zwei unferer Evan⸗ 
gelien verarbeitet worden ift, ift ein durchaus ſelbſtändiges Botulat 
der neueren Evangelienkritit und fo unabhängig von dem Zeugniffe 
des Papias, daß jie diejes ebenfofehr beftätigt, als -von ihm ber 
ftätigt wird. So wenig aber unfer kanoniſcher Matthäus eine freie, 
aber vollftändige Bearbeitung eines hebräifchen Evangeliums iit, 
fo wenig wurde jene hebräifch gejchriebene-Redefammlung des Diat- 
thäus durch eine einzelne Evangelienſchrift überfli}ig, fondern fie 
wurde e8 durch die ganze kanoniſche Evangelienliteratur, -die von 
Reden des Herrn weit mehr bot als jene, und in. welcher außerdem 
zwei Schriften, der kanoniſche Matthäus und Lulas, den ganzen 
Stoff jener Sammlung abforbirt hatten. Papias ſcheint übrigens 
die Redeſammlung des Matthäus nicht mehr gefannt zu Haben; 
die Kirchenväter, die fie noch weniger zu Geficht befommen "haben, 
hieften fie in. verzeihlihem Irrthum nad) des Irenäus Vorgang 
(V. 6, 1 cf. Euseb. V, 8, 2) für den Hebräifchen Grundtert 
uüferes Matthäus. 

Nur eine Spur deutet darauf Hin, dag Papias in feiner ZEnynuıs 
einzelne neuteltamentliche Begriffe erläutert Habe. Wenn er nämlid 
nad) des Marimus Confeſſor „Commentar zu der himmlischen 
Hierarchie des Areopagiten“, Cap. 2, p. 32; ed. Corderius) von den 
erften Shriften fagte, fie hätten Diejenigen, welche Gott gegenüber 
öxaxla üben, Kinder (maidas) genannt, fo ſcheint er damit die 
Kindeseinfalt im Auge gehabt zu haben, zu ber wir nach Chriſti 
Ausſpruch Matth. 18, 3 zurüdfehren und in ber wir den Kindern 
gleih (ws T& audio) werden follen. 

Mehrere Aeußerungen des Papias weifen offenbar die Erfüllung 
von Weiffagungen Chrifti nad. Dahin ‚gehört die Angabe des 
Euſebius ($ 9), Papias habe mit den Töchtern des Philippus 
(die Appofition anoozoAog gehört wohl dem Eufebius an) zu Hier 


des Papias von Hierapolis „Auslegung der Reden des Herrn“. 67 


rapolis verlehrt und von dieſen einen wunderbaren Bericht gehört: 
vorge Yüp üvdoraaı zur’ auzov yeyorular iorogei. Die Worte xar 
avror werden gewöhnlich als Zeitbejtimmung gefaßt, allein da nad, 
Routh (Relig. sacr., Ed. II, Vol. I, 33) die griechiſchen Me— 
näen zum 14. November den Philippus zu Hierapplis einen Todten 
und in Galiläa einen Knaben auferwecken laſſen, fo wird, wie 
Dodwell (ebendaf.) annimmt, auch Euſebius dafjelbe haben fagen 
wollen. Vielleicht follen feine Worte heißen: Papias erzählt, daß 
eine ihn, den Philippus, angehende oder zu ihm in naher Beziehung 
ftehende Auferftehung eines Todten gefchehen fei. Ohne Zweifel 
hat Papias damit die Erfüllung des Wortes Eprifti, Matth. 10, 8: 
vexgods .Zyelgere conftatiren wollen. Auch die weitere Notiz (8 9), 
daß der Apg. 1,.23 genannte Barfabas mit dem Beinamen Zuftus 
Gepias nennt ihn umgekehrt Juftus mit dem Beinamen Barfabae) 
ein töbtliches Gift ohne Schaden getrunken habe, fol offenbar die 
Bahrheit der Verheigung CH xüv Javaoınov rı nlwoıw, od 
un avroog Pay (Mark. 16, 18) erhärten,. mögen diefe Worte 
damals bereits in einzelnen Abfchriften des Evangeliums Marci 
aufgenommen gewefen (bekanntlich findet fich die Exıftenz des Schluffes 
deffelben erſt bei Jrenäus III, 10, 6), oder von Papias aus der 
Tradition entlehnt worden fein. 

Befonders dankenswerth ift es, daß Zahn zuerft auf die Sage 
des Papias vom Ende des Judas näher eingegangen ift, wie ſich 
diefefbe in den Katenen zum Matthäus und der Apoftelgefchichte 
und in den Commentaren des Dekumenius und Theophylaktus zu 
ber letzteren findet, Daß in den erfteren die Vermittlung der Notiz 
auf den Apollinaris, wahrſcheinlich von Laodicea, zurüdgeführt wird, 
hat für uns fein weiteres uterejfe; wichtiger-ift, daß bei Allen 
als Gewährsmann Papias auftritt. Voran fteht der Say, daß 
Zudas in Folge des Erhängens nicht (mie Matth. 27, 5 durch 
annyEaro angedeutet wird) erftidt, fondern am Leben geblieben fei. 
Das beftätige auch der Ausdrud der Apg. 1, 18: mes yerö- 
neros &Aaxnoev uloog, deutlicher noch berichte. es Papios in dem 
4. Buche feiner Eregeſis: yulya dosßelug ünodeyua dv tovrp ro 
xoonp mepiendrnoev 6 lovdas. Darauf folgt dann eine Aus- 
führung, in welcher zwei verfchiedene, aber urfprünglih aus einer 








88° \ Steih 


N 
Zradition erwachſene Relationen verwirrend ineinandergemorfen find, 
"Die gemeinfame Wurzel ift die von beiden übereiuſtimmend berichtet 
Sage, daß Judas fo am Leibe aufgefchwolfen- fei (nono9elc yag 
In} ToooVrov nv oagxu beginnt die eine, ZugroIn yap mi zo 
ooũro/ 7v oaugxa die andere), daß er zwiſchen den Rädern eine 
Wagens nicht durchkonnte; nach dem einen Referate fuhr nun wirklich 
ein Wagen daher und erfaßte ihn, Judas flürzte (aruo eic = 
zenns yeröuevog), barſt und feine Eingeweide wurden verfchüttet; 
nad dem andern -dagegen ſchwoll fein Haupt jo an, daß die Augen, 
tief in die Höhlen zurüdgedrängt, nicht mehr fehen konnten; alle 
inneren Säfte waren in Auflöfung begriffen und ftrömten durd 
die unnatürlid erweiterten Schamtheile ausy nach vielen ‚Qualen 
verfchied er auf feinem Ader (xwolor), aber wegen des peftartign 
Geruches, der dort noch zur Zeit des Referenten zurüchgeblieben 
war, blieb‘derfelbe Leer und unbewohnt (Verwendung von Bf. 69, 26, 
aber hier in ganz anderem Sinne als in der Apg. 1, 18) und 
jeder Wanderer eilte rafch vorüber. „Ein fo ſchweres Geridt 
vollzog fih auf Erden- am Fleiſche des Judas.“ Ueber die 
Verſchiedenheit und Unvereinbarfeit der Nelationen über den Aus 
gang des Yudas bei Matthäus und in der Apoftelgefchichte kann 
fein Zweifel beftehen.- Die beiden Sagen ber. Kafenen und ber 
griehifchen Eregeten ſchließen ſich offenbar an.die Notiz der Apoftel- 
geſchichte an und bilden dieſelbe durch eine Reihe von Zügen meiter 
aus. Zahn hat fie fchärfer im Texte gefchieden und die leptere 
dem Papias zuerkannt, die erftere dagegen als Interpretation ein- 
geflammert. Mich wundert, daß er nicht darauf aufmerkfam gemadt 
hat, daß Theophylaft im Kommentar zur Apoſtelgeſchichte die erftere 
ganz ansgelaffen und allein die zweite als Erzählung des Papias 
‚eingeführt Hat. Es ift nun für Zahn’ Tendenz fehr bezeichnend, 
daß er ſchon dem Papias die Abficht zutraut, er habe — was 
allerdings ‚die fpäteren Eregeten nad) der von ihnen an die Spike 
geſtellten Erklärung bezwedten — die abweichenden Berichte des 
Matthäus und der Apoftelgefcichte harmoniſtiſch ausgleichen wollen. 
Allein diefe” apologetiſchen Intereſſen waren dem Papias ſicherlich 
noch vollfommen fremd. Seine Abficht war ohne Zweifel auch 
hier der Nachweis, wie fi an Judas die Weiffagung Ehriſi 


des Bapias von Hierapolis „Auslegung der Reden des Herm“. 80 


(Matth. 26, 24) erfüllt Habe: dei 82 z@ ardeunp Zuew, di 
08 6 viög zoo avdgumov nugaöldorar" xulöv jr uuro, el ovx 
Yorıdm 6 &vdownog Exeivos. Der Wunſch des Nichtgeborenfeins 
itt im Talmud ein ganz gewöhnficher und befagt ſprüchwörtlich (die 
ähnfiche Redensart wie Matth. 18, 6) nur, daß es beffer wäre, 
ein folcher Menſch egiftire gar nicht und wäre dadurch der Mög: 
fihfeit enthoben, eine fo entfegliche That zu vollziehen. Allein 
Bapias fah im dem Worte die Androhung eines fo furdtbaren 
Gerichtes, daß ihm gegenüber felbft das Nichtgeborenfein als Glück 
ericheinen mußte. Da diefer Vorftellung der einfache Selbftnord 
des Judas bei Matthäus noch weniger entiprechen konnte, als die 
Gnühlung der Apoftelgefichte, fo wandte er fich ohne Bedenken 
ner Sagenbildung zu, welche mit jener Vorftellung harmonifcher 
niammenzuftimmen fehien und fand in ihr evft die Wahrheit des 
Bortes Chriſti vollkommen gerechtfertigt. Man fieht übrigens 
daraus zugleich, was Papias mit der Verfiherung meinte, daß 
Bücher ihn nicht ſo gefördert hätten, als die lebendige Stimme 
der Tradition. Es iſt klar, daß die zweite Erzählung dem Zwecke 
des Papias am meiſten entſprechen mußte. Die nur leicht aufge 
worfene Bermuthung Schleiermaher’8 (a. a. D., ©. 744), 
dag dem Papias möglicher Weife unfer Matthäusevangelium 
unbefannt geweſen fei, ift allerdings durch den jegigen Stand der 
Ragogik befeitigt, aber dag Papias, wie wir annehmen müffen, 
daffelbe gefannt Hat und fich dach fo feicht von feinem Berichte 
trennen konnte, beweift, dag man an Evangelienfchriften nur die 
dorderung ftellte, daß fie die xvoruxa Aöyıo in zuverläffiger Weife 
wiedergaben,, daß man aber zu den darin erzählten Thatſachen ale 
Nebenumftänden in einem weit freieren Verhäftniffe ftand, ale in 
fpäteren Zeiten, und ihnen darum auch ganz unbefangen andere 
Traditionen entgegeuftellte, zumal wenn man fi) an diefen des 
Mertmates- authentifcher Abkunft verfichert zu haben glaubte. So 
zeigt auch diefe Erzählung des Papias, daß er es als eine der 
vihtigften Aufgaben feines Werkes anfah, die eingetroffene Erfüllung 
der Weiffagungen Chrifti “nad;zuweifen. In diefem Sinne vor- 
nehmlich find die Mittheilungen aufzufaffen, die er aus dem Leben 
der Apoftel gab, in dieſem Sinne hat er, foweit wir urtheilen 


do Steig ° 


tönnen, den Stoff zur Auslegung der Herenworte bei feinen Pree 
bytern geſucht. Dies entfpricht aber durchaus dem Charakter di 
zweiten Jahrhunderts, das jchon in der Erfüllung der altteftamen 
lichen Weiffagungen den ummiderleglichiten Beweis der Wahrhe 
des Chriftentfums fowohl für Juden als Heiden fah und diele 
testimonium spiritus sancti nicht ſtärker unterftügen fonnte, ol 
durd den Nachweis, dag auch Chriſti Weiffagungen gleich bud 
ftäbfich erfüllt worden feien. 

In Kleinafien Hingedamit, wie wir aus den Mittheilungen de 
Vresbyter des Jreuäus ſehen, noch eine ausgeprägte eschatologiſch 
apofafyptifche Richtung zufammen. Auch des Papias Werk ift i 
diefelbe eingetreten. : Andreas von Cäſarea führt ihn in den Bro 
legomenen zu feinem Gommentare über die Apofalypfe unter de 

“ Zeugen für ro Seonvevoror oder akıömarov dieſes Buches au 
Da aber nicht feftiteht, ob Papias felbft diefe Ausdrücke gebraud 
habe, da ihm ferner Ariftion und der Presbyter Johannes ja 
auf einer Linie mit den Apofteln ftanden, fo läßt ſich aus der Aı 
gabe des Andreas auch nicht beweifen, daß Papias den Evangelifte 
Zohannes für den Verfaffer der Apokalypfe gehalten habe, wen 
dies auch das Wahrſcheinlichere ift. Bon der Apofalypfe hat ı 
vielleicht bei Anlaß von Reden Chrifti (wie Matt. 24 u. ſ. w 
geredet und fi ihrer zur Erläuterung jener Reden bedient. De 
Presbyter Anaftajius vom Sinai erwähnt ferner an zwei Stelle 
feiner Betrachtungen über das Heraemeron, daß Papias der Bor 
gänger. Derer gewefen, welde das ganze Sechstagewerk und d 
Erzählung vom Paradiefe geijtlih auf Chriftum und die Kird 
gedeutet hätten; da ihn nun auch Eufebins den Vorläufer des Ch 
liasmus eines Zrenäus und Anderer nennt, fo wird jene Not 
des Anaftafius dahin zu verftehen fein, daß. er nach Analogie d 
ſechs Schöpfungstage ſechs Chiliaden des Weltlaufes, als den Sabbal 
aber das taufendjährige Neid und mit demfelben die volle Wieder 
herftellung des paradiefifhen Urftandes angenommen habe (vg 
Dorner I, 217, Anm. 60). Auf dieſe chiliaſtiſchen Erwartunge 
bezieht ſich and das hefannte Gleichniß vom Weinftod, vom Weizen 
torn, von den Obftfrüchten und der ganzen Vegetation im taufent 
jährigen Reiche, welches ung Srenäus aus dem 4. Buche des Papic 


des Papias von Hierapolis „Auslegung der Reden des Herrn“. 9 


(N, 33, 3) aufbetahrt *), diefer aber durch feine Gewährsmänner 
ans dem Munde Ehrifti felbit als Aöyıo» xugaxov empfangen 
haben will. Die Bilder des Gleichniſſes fhildern die unerfchöpfe 
fihe Fülle der Befriedigung im taufendjährigen Reiche; bie Zahlen 
find daher -nicht buchftäbfich zu nehmen, fondern der ſymboliſche 
Ansdrnd für den ſchlechthin unendlichen Ueberſchwang. Dem ent 
ſprechen auch die weiteren Züge, daß, fo oft ein Heiliger nach einer 
Traube greift, eine andere ihn einfadet: Ich bin beffer, nimm mid) 
und fegne mich durch den Herrn, fowie daß alle Thiere ſich nur 
von Begetabilien nähren, untereinander im Frieden leben und dem 
Menſchen willig fi; unterordnen. Auch darin liegt nur bie im 
zunehmender Proportion ſich entfaltende Bolltommenheit und bie 
Aetige Harmonie paradieficher Zuftände ausgefproden, in denen 
kin Stimme der Berführung mehr, fondern nur die Auffordes 
tungen ertönen, die Gabe Gottes mit Danffagung und ohne Schuld 
zu genießen, und die Unterordnung ber Thierwelt unter den Menfchen 
die Analogie jeiner Unterordnung und feines freien Gehorſams 
unter Gott ift. Wie weit des Euſebius Urtheil gegründet iſt, dag 
Popias ſich das tahfendjährige Reich ſinnlich (owuerıxus) gedacht, 
indem er da& im dem apöftolifchen Berichten bildlich und myſtiſch 
Gemeinte mißverftanden habe ($ 12) — ein Urtheil, dem auch 
Norimus Confeſſor (im Kommentare zum: 7. Cap. der kirchlichen 
Hierargie) und Stephanus Gobarus (bei Photius Cod. 232) 
beittitt — dürfte ans diefem Gleichniſſe nicht zu entfcheiden. fein 





a) Irenäns leitet es mit den Worten ein: „Quemadmodum Presbyteri 
meminerunt, qui Joannem discipulum domini viderunt, audisse se 
ab eo, quemadmodum de temporibus illis (nämlid) regni sui) docebat 
dominus et dieebat.“ Man hat gefragt, ob dies Irenaus oder Papias 
füge. -Weizfäder entſcheidet fich mit großer Zuverfiht (S. 126) für 
das Letztere. Ich begreife dies fehr wohl. Gehören die Worte den Papias 
an, fo beftätigen fie auf das glängendfte Weizſäder's Anfiht, daß Papias 
aue mit Apoftelichlifern verkehrt und daß auch Ariftion und der Presbyter 
Johannes ſolche geweſen find. Aber man ngl. II, 22, 5: mavres of 
ngeoßuregoı Waprugodaw, ol zard ziv 4aiav Tuivun to Too zuglou 
uadnrz ovußeßAnxores, nagadedwxivaı talra rov Twavrnv. Hat 
Srenäus dies geſchrieben, dann gehören auch jene Worte ihm am und nicht 
dem Papias. J 


9” “ Steig 


(und doch feinen die beiden Letzteren daſſelbe allein zum Grumt 
ihres Urtheild gemacht zu Haben, da fie dem Papias Schuld gebe 
er habe das Reich Gottes als aloImriv Powuaru» anölavcı 
aufgefaßt), weil die apokalyptiſche Form fehr wohl die Möglicte 
offen läßt, daß dem Papias die finnlihen Bllder Hilfen’ geiftig 
Gedanken gewejen find. Jedenfalls zeigt und daffelbe, daß er b 
xugraxa Aöyım nicht blos aus fehriftlicher Aufzeichnung, fonder 
aud aus mündficher Ueberlieferung geihöpft hat. Das beftäti 
uns auch die von Eufebius ermähnte Erzählung need yuvaxd 
ini noMais önogrlas dıaßkmYelons Enl Too xvglov, die nid 
nur in dem Werke des Papias, fondern nach Eufebius’ Verſicherun 
aud im Hebräerevangelium geftanden hat und offenbar mit de 
durch Interpolation in das Evangelium Johannis gekommen 
Gefchichte von der Ehebrecherin (8, 1—11) identiſch ift. D 
Einwand, daß die Erzählung, deren Eufebius gedenkt, von ein 
Sünderin, aber nicht einer Ehebrecherin handle, hebt fich dur 
Vergleichung der apoftofifchen Eonftitutionen (II, 24, 4), wo neh 
der großen Sünderin (Luk. 7, 37) eine andere, Iron zus mua 
Trevio, auftritt, die ſich trog diefer Bezeichnung durch den aı 
Joh. 8, 11 entlehnten Ausſpruch Chriſti als die in letzter Ste 
erwähnte Ehebrecherin ausweilt. Aus Eufebius’ Notiz erjehen mi 
daß zu feiner Zeit die Erzählung noch nicht in das Zohan 
evangelium, wohl aber in das Hebräerevangelium übergegang 
war. Uebrigens kann e8 dem Papias aud, hierbei nicht ſowohl a, 
die Gefchichte, al auf das Aöyıor xupıaxor angefommen fein. ( 
ſind dies die einzigen Herrnworte, von denen wir. ficher wiſſe 
daß fie Papias aus mündlicher Ueberfieferung gefchöpft habe; ab 
wenn damals noch manches Andere von Mund zu Mund ging - 
ich erinnere mur an das befannte: ylveode Tganelicor döxımo - 
fo dürfte auch Papias Alles, dejjen er habhaft werden konnte, au 
gezeichnet haben; feinenfall® aber möchte ich auf die unbeſtimm 
Verſicherung des Eufebius: zul au de 6 aurög wor dx zug 
dooews dygapov el; aurov Hxovra nagaredeirun, Evag te zw 
nogaßoAds Tov owrijgos zai dıdahnuiles arzon xul rıva UN 
avdıxwrega, mit Zahn ben beftimmten Schluß bauen, daß er nu 
noch wenige Aöyıa xugoxa von feinen Presbytern erhalten hab 


des Papias von Hierapolis „Auslegung der Neben des Herrn“. BB , 


bean das zivag bezieht fich nur mildernd auf Auffäliiges und Pa- 
tadored in den Mittheilungen des Papias; was aber außer biefem 
unter dem vorangeftellten «Aa verborgen liegt, wiſſen wir nicht. 
Daß diefe ſpäte Nachlefe der noch in’ unficherer Ueberlieferung forte 
fnufenden Herenworte von der Kirche nicht beachtet wurde und 
verloren ging, erklärt ſich theils aus ihrem ungenügend verbürgten 
Urfprung, theils aus ber wachſenden Abneigung gegen den Chi 
fasmus, durch die des Papias Sammlerfrüchte in Mißeredit kamen, 
teils aber aus dem fteigenden Anfehen der in dem neuteftament- 
lien Kanon fich abſchließenden Bucherſammlung, mit der fi, bald 
das Merkmal der Theopneuftie verband. Uebrigens darf man aus 
dem Titel des Werkes nicht fchließen, daß Papias eine voliftändige 
Sammlung von Herrnworten mit einem fortlaufenden Gommentare ' 
derichen habe; Eufebins fagt (V, 8, 8), Irendus gebenfe der 
Erinnerungen eines apoftolifchen Presbyters, deffen Name er vers 
Nneige, und fege deſſen Zänyrous Ielav yeupay bei. So wie 
Shritwort und Auslegung it den Zeugnifen dieſes Presbyters 
bei Jrenäus unbefangen durcheinanderlaufen und ſich in mannice 
facher Weife verfnüpfen,-mag es fi auch mit den Aoylıs ron 
xuplov und den ZEnynoss des Papias verhalten haben. 

Schließlich erwähnen wir noch zweier Citate des Papias in des 
Andreas von Cäfaren Commentar zur Apofalypfe. Das eine ent 
Hält die danielifche Vorjtellung, daß ‘Gott einigen von den einft 
sättlihen Engeln die Verwaltung der Erde übergeben habe; das 
andere befagt, daß ihre Ordnung (r&Eıs) zu nichte geworben fei. 
Zehn ficht darin eine Erläuterung zu Luk. 10, 19; allein da das 
pneite Citat aud in der Gramer’fchen Katene zur Apotalypfe 
(KU, 9) vorlommt und Hier r&fıs mit moAsuen yyelonos ertärt 
vird, fo könnten diefe beiden Ausſprüche im Werte des Papias 
auch ſehr wohl mit apokalyptiſchen Vorftellungen im Zujammen- 
hang geftanden haben; Es iſt dies Alles, was ſich über.des Papias 
Bert jagen Täßt. Möchte diefe Unterfuginug dazu beitragen, die 
Differenz der Anfichten über diefen Oetenſan dem endlichen Aus ⸗ 
frag näher zu bringen! r 





“ . Steit 


Erft nad; Abjendung diefes Auffages fam mir die. Abhandlun 
Overbeck's: „Ueber zwei neue Anficten vom Zeuguiſſe de 
Papias für die Apojtelgeicichte und das vierte Evangelium“ ü 
der „eitſchrift für wiſſenſchaftliche Theologie“ (X, 1, 35f.) zu 
Mit ihrem Verfaſſer ſtimme ich in vielen Bemerfungen gegen Zahn 
namentlich in denen über das Fragment von dem Tode des Juda— 
überein;. ich gebe ihm in&befondere darin Recht, dag das Meoti 
diefer Sagenbildung nicht in der Ausgleihung der Berichte dei 
Matthäus und der Apoftelgefhichte liegen. kann, feudern daß de 
Mythus erft fpäter im harmoniftifchen Intereſſe benugt worde 
ift, glaube aber das eigentliche Motiv einfacher: und richtiger nad) 
gewiefen zu haben. Das alte lateinifche Argumentum zum Evan— 
gelium Johannis Halte ich für ebenfo unſicher und unzuverfäffg, 
wie das Inteinifhe Fragment über die Marien. Dagegen fanı 
ich auf das Schweigen des Euſebius über eine etwaige. Berugung 
diefes Evangeliums durch Papias auch jetzt noch nicht, das Gewich 
legen, das ihm Overbeck noch immer zugefteht.. Es ift mir um: 
zweifelhaft, daß unfere fanonifhen Evangelien (wenn auch nid 
einzig und.altein) zur Zeit des Juſtin und feiner jchriftftellerifcher 
Thätigfeit, die zugleich die des Papias gewefen ift, befannt ware 
und gebraucht wurden. Die Bermuthung Overbeck's, daß die vor 
Papias bezeugte aramäifche Spruchjammlung des. Matthäus da: 
nagaräifche Hebräerevangelium geweſen fein dürfte, iſt nicht neı 
und hat in der Wiſſenſchaft fein Glück gemacht: ich bin von ihre 
Haftlofigkeit noch unumſtößlicher überzeugt, feitdem Hilgenfeld di 
wirklichen und angeblichen Fragmente diejes Enangeliums vollſtändie 
jufammengeftellt hat. Noch jpäter als Overbeck's Abhandlung kam 
mir Kloſftermaunds Schrift über das Markusevangelium zu. Id 
habe über fie fein Wort zu.verfieren: feine 'Erörterungen über Papiad 
ftehen uud. fallen mit der. Guericke-Zahn'ſchen Hypotheſe von der 
Hoentität .des Apoftels und des Presbyters Johannes. Wäre nod 
da8 Goncept meiner Abhanblung. in meiner Hand, jo mürde if 
bei der’ ſchwierigen Frage Aber das Zeitalter des Ariftion und dee 
Presbyter Johannes noch bejtimmter die Möglichkeit hervorgehoben 
haben, daß beide vielleicht nur in frühe ſter Jugend ſich mit dem 
öffentlichen Wirken des Herrn berührt haben und darum einem 


des Papias von Hierapofis „Auslegung der Reben des Kern“. . 96 


weit jüngeren Gefchlechte noch als Männer der erften Generation 
(ngeoßurepa) und als Autopten (kaIzrai ou xvolov) erjceinen 
Ionnten. Dieſe Annahme würde zugleich leichter erklären, warum 
fie vapias mit den Apofteln zufammengeftellt Hat, wie fie trogdem 
den Johaunes noch um geraume Zeit überleben fonnten und daß 
die Traditionen des Papias, deren‘ hauptfädlichfte Gewährsmänner 
fie nach Euſehius waren, zum Theil einen fo apofryphijchen Chas 
zofter tragen. Schlieglih noch die Bemerkung, bag meine Ber 
ſprechung des papianiſchen Zeugniſſes über Matthäus und Markus, 
es nur mit Zahn's Aufftellungen zu. thun Hatte; auf die Anfichten 
Anderer konute ich, obgleich fie mir befannt find, nicht. eingehen, 
ohne die Grenzen diefer Abhandlung ungebührlih zu erweitern: 
& genügte mir, meinen Standpunkt ihnen.gegenüber nur anzudeuten. 





3. 


Bonaventura als Dogmatifer. 
+ Bon 
D. W. X. Solendag ) 





Das Werk, “in welchem Bonaventura feine ſcholaſtiſche Gelehr⸗ 
ſamleit niederlegte, umfaßt zwei ſehr ſtarke Foliobande. Auf das 
1. Buch des Combarden „Fommen 45% enggedruate Bofiofeiten — 


a) Nachſtehender Aufſatz bildet eine Ergfinzung zu der anziehenden Schrift unſeres 
geehrten Herrn Mitarbeiters: „Studien' zu Bonaventura“ (Berlin 1862); 
dort iſt in:4 Capiteln Bonaventura's Bildungszeit; feine Schriftauslegung; 
feine Ordensleituug; feine myſtiſchen Sauriften) dep viel genannte und doch 

. toenig befanntg, Dann nad; den Seiten, welche ein allgemeineres Intereffe 
beanſpruchen konnen, eingehend charakteriſirt; Hier dagegen ſoll theologiſchen 
Leſern eine anſchaulicht und gtuaue Vorſtellung von der Form und dem 
Inhalie · der Sauptwerle Bonabenturcẽs, tueltfe -ihn zum |Hodhgefeierten 
Sqholenicee gemacht haben, dargekattn wertez. „Die Redagtipm; " 





. % Hollenberg‘ 


von welchen indeß der Text des Lombarden felbft abzurechnen if 
auf das 2. Bud kommen. 603 Seiten u. f. w. Es fann un 
natürlich nicht beitommen, von dem Anhalt diefes koloſſalen Werte 
eine Vorftellung zu geben. Nur Einzelnes kann hier’ feine Stell 
finden. So möchte id) von dem vielgejchmähten Prolog den Ge 
dankengang etwas genauer mittheilen. Er ijt allerdings nicht di 
ſchöuſte Partie des Commentars, und man muß darauf verzichten 
in ihm das lobende Urtheil Gerfon’s bewährt zu finden. Doe 
wird der Auszug felbft bemeifen, daß gerade der Prolog für bi 
Anſchauung der fcholaftiichen Methode von Wichtigkeit ift. 

Das Proömium beginnt mit einem Spruch der Schrift. -Hiob28, 
Heißt e8 nämlich (nach der falfchen Ueberfegung der Bulgata): „Pro 
funda fluviorum scrutatus est et abscondita produxit i 
lucem“, „die Tiefen der Ströme hat er erforfcht und das Ber 
borgene an's Licht gebracht“. Sieht man diefen Spruc, forgfälti 
an, fo gibt er eine Andeutung von dem vierfachen Grunde, welde 
in den Sentenzen hervortritt. Denn 1) der materielle Grund find 
fih in den „Strömen“ ; 2) der formale in dem „Erforſchen de 
Tiefen“ ; 3) die Finalurſache in der Enthüllung des „Verborgenen“ 
4) die wirkende Urſache in dem „Exfgricen“, wie in dem „an 
Licht ziehen“. Und wie der natürliche, materielle Strom vier Eigen 
ſchaften hat, fo auch der geiftige, der in den Sentenzen behandel 
wird, und daher hat ber Lombarde vier, Bücher der Sentenzen 
Denn der natürlihe Strom hat 1) Perennitas (Zeit); 2) Spa 
ciositas (Raum); 3) Circulatio (Kreislauf der Bewegung, ver 
möge des Verdunftungsprocejfes 2c.); 4) Emundatio, infofern e 
bie Gefifde reinigt, ‚ohne ſelbſt dadurch unrein, zu werden. So il 
aud) in dem göttlichen Strom eine perennitas, das ewige Aus 
gehen des Sohnes und des Geiftes, wie e8 Daniel 7, 9—10 heißt 
„Der Alte der Tage ſetzte ſich und ein fenriger ſchneller Stron 
ging aus von ‚feinem Angefiht." -Schuell war der Strom, ben 
die Fülle der Tugend ftrömte in den Sohn, und feurig, denn di 
Fulle der Liebe ftrömte in den Geift. Was die spaciositas betrifft 
fo ift ja die-Schöpfung ‚der Dinge ein fo umfaffendes Gebiet, di 
man nicht ſowohl von einem Stromg,. als pou einen Meexe ſprechen 
folfte, wie der Pſalmiſt (Pf. 104,:25) fogt; „Das Diver: fo groß 


Bonaventura als Dogmatiler. 9 


und weit (spaciosum)*. Was bie circulatio angeht, fo iſt das 
die Zleifhwerdung des Sohnes. Nicht blos kommt in Betracht, 
deß die Schöpfung von Gott ausging und am fechften Tage dur 
den Menſchen wieber zu Gott zurüdkehrte, fondern auch, was Jo⸗ 
hannes 16 zu leſen tft: „Ich bin vom Vater gelommen in bie 
Belt, wiederum verlaffe ich die Welt und gehe zum Bater“. So 
itt alfo auch das 3. Bud) der Sentenzen ſchon angedeutet. Endlich 
die emundatio ift an fih ſchon Mar. Die Sacramente find es, 
nelde und von den Sünden reinigen, während fie jelbft rein bleiben 
bie der Strom. (Auf eine afberne Weife ergibt ſich die ganze 
Biertheilung der Bücher noch aus einer etgmologifchen Betrachtung 
der vier Namen Piſon, Gihon, Hidekel und Phrat, der vier Pa- 
tdiefesftröme.) 

Diefer erfte Theil des Prodmium umfaßt beinahe 3 Folioſeiten, 
af welchen 42 Citate aus der Bibel vorfommen. Zum näheren 
Lerftändniß des ſchon Angedeuteten fügt Bonaventura vier. quae- 
stiones hinzu, 1) über die Materie, oder ben Gegenftand der Theologie 
oder der vorliegenden Sentenzen. Die erfte Antwort fagt: Gott 
ift der Gegenftand berfelben; eine zweite: es ift Sade und 
Beiden; eime dritte: es ift das credibile. Jede Antwort 
wird kurz begründet, aber nun folgen unter dem Titel „sed contra‘ 
nicht weniger als ſechs Widerlegungen. 1. Gott fei nicht das 
Subject der Theologie, weil die Ereaturen auch mit behandelt 
bürden; 2. auch könne Gott, infofern er auch der Endzwed des 
ganzen Werkes fei, mischt zugleich bie materia beffelben "fein; 
3. „Sache umd Zeichen“ ift eine zu-weite Beftimmung, weil alle 
Wiſſenſchaften fo beftimmt werden Tonnen; 4. auch ift Sache und 
Zeichen zweierlei, jo daß eine ſolche Inhaltsbeſtimmung die Einheit 
des Inhaltes aufheben würde; 5. das credibile ift zwar Gegen» 
ftand der Wahrheit [der unmittelbaren Religion] aber nicht der 
Wiſſenſchaft; 6. auch kann man fagen, daß die Sentenzen nicht 
blos vom Glauben, fondern aud von Hoffnung und Liebe Handeln, 
dljo ift das credibile nicht die Materie der Theologie. 

Nun aber folgt die Eonclufion, die Löfung der Schwierigkeiten, 
in ſechs Sägen. Das Subject kann nämlich in dreifaher Bedeu 
tung genommen werden, als das subjectum radicale, wie 5. B. 

Col. Stad. Jahrg. 1868. 7 


3 Hollenberg 


in der Grammatik als folches die Buchſtaben, die einfachften Formen 
bei der Analyfe übrig bleiben; in dieſer Bedeutung ift Gott dai 
Subjectum der Theologie; ferner als subjectum, auf weldes alı 
auf ein totum integrale Alles bezogen wird; endlich als totun 
universale; dem zweiten foll in der Grammatik die angemefien 
und vollendete Rebe entſprechen, in der theologiſchen Wiſſenſchaft 
Chriſtus; als letzteres foll in der Grammatik das artieulirte, inhalts 
volle Wort, in der Theologie entweder Sache und Zeichen, ode 
das mit der Erkenntuiß verbundene credibile angefegen werben. 
Nun erft wendet er fid) gegen bie ſechs Widerſprüche. 1: Alter 
dings fei Gott nicht im ganzen Werke das Subject quantum a 
substantiam, aber danı doc) quantum ad opera, et fei nid 
ut totum, fondern ut principium das Subject. 2: Allerdinge 
fei der Endzweck und Materie verfchieden, aber man müffe in Bezut 
auf legtere fondern: die materia ex qua, in qua und circa quam 
Diefe materia circa quam fei eben das Object. In ähnliche 
Weiſe werden die übrigen Behauptungen begrenzt umd berichtiget. 
Die zweite Trage ift: Welches ift die formale Urſache oder di 
Weife des Fortſchreitens in dem Buche der Seutenzen? Diel 
Weiſe, ber. modus procedendi, ſcheint nach der Hiobſtelle ci 
perserutatorius und inquisitivus secretorum zu fein, eine Er 
forfchung des Verborgenen. Nun aber erheben fich unter sed contr: 
erft drei Bibelftellen gegen das Forſchen, dann unter 4. wird gefagt 
der modus procedendi in der Wiſſenſchaft widerſpreche überhaup 
der Weife der Schrift, welche typifch und hiftorifch fortfchreite 
widerfpreche auch 5. dem Gegenjtande, infofern er dem Glauber 
angehöre (credibile).; 6: aud; dem Endzwecke, der’ Förderung be 
Glaubens, denn die Grunde fürderten nicht den Glauben, fonden 
leerten ihn aus, wofür Gregorius und Hieronymus citirt werden 
— Sed contra heißt es: 1. nach der Schrift muſſen wir berei 
fein, Jedermann von unferm Glauben Rechenſchaft zu geben: 
2. tritt Richard a Victore für die Notäwendigleit der Argumen: 
tation auf;.3. wie in anderen Wiſſenſchaften, was vernünftig be 
kampft werben kaun, auch vernünftig vertheidigt werden muß, fi 
muß es ja amd in der Zheologie:fein, wenn fie nicht ubler fteher 
ſotl, als die anderen Wiſſeufchaften. 4. Wir haben dabei auch dat 


Bonaventuen a9 Dormatiler. ” 


Vorbild der alten Kirche, welche gegen die falſchen Wunder ber 
Magier die wahren der Heiligen fegte. In der Conelusio bleibt 
es bei dem modus perscrutatorius, denn bie Begründung bewegt 
die Anfänger zum Glauben, beftärft die Schwachen und befeitigt 
die Volllommenern. Dies wird in ſechs Sägen erwieſen. Jene 
Shriftftefen verwerfen ja nicht die Forſchung, fondern blos bie 
eurioga perscrutatio, mir werben vielmehs angemwiefen: Suchet 
in der Schrift (gerutamini scripturas), Während bie Schrift 
den Ölaubensingalt als ſolchen, als credibile behandelt, Kommt er 
in der Wiffenfchaft als das intelligibel Gemachte vor, daher die 
andere Methode. Allerdings Tann. die Forſchung dem Glauben 
feindlich ſein, aber doch nur wenn man des Vernunft um ihrer 
felbft wilfen zuftimmt, wenn aber der Glaube ans Liebe zu dem 
Infalt, dem er zuſtimmt, Gründe zu haben verlangt, ſo Tann die 
Begründung nicht verfänglich fein. 

In einer dristen Frage handelt es ſich darum, ob die Theologie 
ihren Endzweck in der Speculation habe, oder dasin, daß fie uns 
beffere, Drei Gründe treten für das Legtere auf, denn unter gontra 
drei fie das Erſtere; davımter ift, baß der Lombarde jage, feine 
Abſicht ſei, dem verborgenen Inhalt theologiſcher Unterſuchungen 
darzulegen, was eben auf die Erlenntniß als den Endzweck führe, 
ferner gehöre ja der Beſſerungezweck in das moraliſche Gebiet, die 
Theologie handele aber nem Glauben; endlich gehöre der Veſſerungs⸗ 
wet in das praftiihe Gebiet und dabei komme es auf unfer 
Handeln an, dis Theologie aber Habe nicht unjer Handeln, ſondern 
Gott zum Gegenftaud. 

In der Gonelusio wirb der permittelnde Begriff der Weispeit 
Berbeigezogen, als weiche cognitio und affeetus zugleich jei. Das 
Reſultat ift, dag die Theologie allerdings Gegeuſtand der Specu⸗ 
lation ſei, aber vorzüglich dazu beftiamt, gat zu machen. 

Am wunderlichſten ift die letzte Trage des Probmiums geftellt: 
ver die wärdende Urſache der ‚libri sententiarum ſei? Darauf 
fügt er ad 15 „Es ſcheint Peter Lombardus zu fein.“ Aber es 
iſt doch bedentlich, wenn man Matth. 23, 10 vergleicht: „Einer 
ift mer Magiſter, euer Lehrer und Doctor,” Dazu kommt ad 2, 
daß Peter Lombardus pielfach und nach feinem eigenen. Geſtündniß 

q8- 





100 ” Hollenberg 


aus den Vätern gefchöpft Hat, weshalb man nad Ariftot. Ethik 
DL, 4 ihm die Autorfchaft abftreiten kann. Aber ein Contra fagt: 
„Gott hat das Werk der Sentenzen doch nicht mit feinem Finger 
gejchrieben, fondern hat einen andern Lehrer dazu gebraucht“, jo 
geräth man auf den Lombarden; ferner fagt der Lombarde felbft: 
„mit vieler Mühſal und mit Schweiß Habe ich diefes Werte mit 
Hilfe Gottes vollendet“. In der Conclufion wird erft der Unter: 
ſchied zwiſchen einem bloßen Schreiber, einem Compilator, einem 
Commentator und einem Derfaffer fharffinnig beftimmt. Der 
Lombarde ſei mur als ein Verfaffer (auctor) zu bezeichnen. Zwiſchen 
dem Meifter Chriftus und dem Meifter Peter fei ein ähnlicher 
Unterſchied wie zwifchen einem, der uns das Geficht wiedergibt und 
einem andern, ber uns bie fichtbaren Dinge mit feinem Finger 
zeige. Die letztere befcheidene Rolle müſſe dem Lombarden ver- 
bfeiben. : " . 

So viel von dem Prodmium zu den großen Gommentarien über 
die Sentenzen. Seine Schwächen treten leicht hervor; aber fie find 
die allgemeinen ber ſcholaſtiſchen Periode, und beruhen zumeift in 
einer Geſchmacloſigkeit, die durch die Gewohnheit des dialektiſchen 
pro und contra in allen,- auch ben unbedeutendften Dingen, zur 
zweiten Natur geworden war und dem Gegenftand inhärent erfcien. 
Ebenſo erkennt man bei einigem Wohlwollen auch bald die guten 
Züge in dem Prodmium, das tüchtige Streben, überall gewiffenhaft, 
mit Umgehung feiner Schwierigkeit, namentlich feines Widerſpruchs, 
der von der heiligen Schrift aus erhoben werden fönnte, die kirch⸗ 
liche Lehre, den Text des Lombarden 2c. zu erörtern und zu be— 
währen. Auch diefe befjeren Merkmale des analyfirten Stüdes 
find zunächft als in der Zeit liegende, allgemeine Vorzüge ber fchos 
faftifchen Art anzufehen. Das Individuelle in dem Denken Bo: 
naventura's tritt in diefem Abfchnitte noch nicht hervor. 

In den nachfolgenden Stüden, wo der Tert der Sentenzen dem 
Commentar Bonaventura’8 zu Grunde liegt, ift die Methode diefe. 
Zuerft beginnt Bonaventura eine Expofition des Textes, wobei 
denn auch die Anordnung und Folge der Diftinctionen vertheidigt 
wird. Dann greift der Commentar einige Säge heraus, bie ſchein⸗ 
bar faljch find oder der Erläuterung bedürfen. Wenn diefe Säge 


Bonaventura als Dogmatiker. 101 


zurecht gebracht find, folgt articulus I, der den Text zu erldu⸗ 
tern und weiter in's Feine auszufpinnen hat. Im Eingang jedes 
Artilels werden die notwendigen Fragen, die ſich aus der Materie 
ergeben, aufgeftelit, felten mehr als vier. Diefe Fragen, die Unters 
abtheilungen der Artikel, werden dann von verſchiedenen Geſichts⸗ 
hunften pro und contra beantwortet und die Concluſion gibt die 
endgüftige Entſcheidung des Commentars, genau nad der Weife 
des Probmiums. 

Die erſte Diſtinction des zweiten Buches der Sentenzen hat in 
ihtem erſten Stück zu zeigen: es ſei ein Princip der Dinge und 
nicht mehrere, und dann im zweiten Stüd die Beweggründe zur 
Schöpfung zu entwideln. Dies alles thut der Lombarde auf beis 
nahe drei Seiten. 

Nun folgt eine Expofition des Textes. Dann fragt Bonaven» 
tura in der erften dubitatio, ob die Reihenfolge der erften beiden 
Bücher denn richtig fei, ob man nicht vielleicht erft von den Crea—⸗ 
turen, als von dem Bekannteren Hätte reden müffen und dann von 
der Trinität. Es folgen noch vier andere Einwürfe. Dann fommt 
Artifel I von dem Hervorgang der "Dinge in's Dafein, und zwar 
Trage 1: ob die Dinge ein Caufalprincip haben. In ſechs Sägen 
wird dies mit Hülfe ariftoteliicher Citate bejaht, in fünf anderen - 
mit Beziehung auf denfelben Ariftoteles verneint; in der Eonclufion - 
wird entjehieden, daß die Welt ſowohl als Ganzes als auch nach 
ihren inneren Principien aus Nichts gefhaffen fei. Auf fehr ver- 
ftändige Weife wird diefe Behauptung den vier Hauptirrthümern 
gegenüber feftgeitellt *). Hierauf geht er zu einer zweiten Frage 
über: ob die Welt von Ewigkeit oder aus der Zeit geichaffen fei. 
Zuerft wird das ‘oppositum behauptet und bie Erſchaffung ex 
tempore in fünf Sägen geleugnet, aber in ſechs nachfolgenden 


a) Fur bie Frage, wie weit Bonaventura mit Ariſtoteles bekannt geweſen, 
tommt biefe Aeußerung mit in Betracht: „Utrum (Arist.) posuerit ma- 
teriam et formam factam de nihilo, hoc ego nescio; credo 
tamen, quod non pervenit ad hoc; ..... ideo et ipse defeeit, 
licet minus, quam alii.“ Und in einer, in anderer Beziehung intereſſanten 
Stelle fährt er fort: „Ubi autem peritia philosophorum defecit, sub- 
venit nobis sacrosancta scriptura.“* 





100 ” Hollenberg 


aus den Vätern gefchöpft Hat, weshalb man nach Ariſtot. Ethil 
I, 4 ihm die Autorſchaft abftreiten kann. Aber ein Contra fagt: 
„Gott Hat da8 Werk der Sentenzen doch nicht mit feinem Finger 
gefchrieben, fondern hat einen andern Lehrer dazu gebraucht“, fo 
geräth man auf den Lombarden; ferner fagt der Lombarde ſelbſt: 
„mit vieler Mühfel und mit Schweiß Habe ich diefes Werke mi 
Hilfe Gottes volfendet*. In der Conclufion wird erft der Unter 
ſchied zwiſchen einem bloßen Schreiber, einem Compilator, einen 
Commentator und einem Verfaffer ſcharfſinnig beftimmt. Der 
Lombarde fei nur als ein Verfaffer (auctor) zu bezeichnen. Zwiſchen 
dem Meifter Chriftus und dem Meifter Peter fei ein ähnlicher 
Unterfchied wie zwifchen einem, der uns das Geficht wiedergibt und 
einem andern, ber uns die fichtbaren Dinge mit feinem finger 
zeige. Die letztere befcheidene Rolle müſſe dem Lombarden ver: 
bleiben. ö ö . 

So viel von dem Prodmium zu den großen Commentarien über 
die Sentenzen. Seine Schwächen treten leicht hervor; aber fie fint 
die allgemeinen der feholaftifhen Periode, und beruhen zumeift in 
einer Geſchmacloſigkeit, die durch die Gewohnheit des dialektiſchen 
pro und contra in alfen,- auch ben unbedeutendften Dingen, zut 
zweiten Natur geworden war und dem Gegenftand inhärent erfcien. 
Ebenfo erfennt man bei einigem Wohlwollen auch bald die guten 
Züge in dem Brodmium, das tüchtige Streben, überall gewiſſenhaft, 
mit Umgehung feiner Schwierigfeit, namentlich keines Widerſpruchs, 
der von der heiligen Schrift aus erhoben werden könnte, die fird- 
liche Lehre, den Text des Lombarden ꝛc. zu erörtern und zu be 
währen. Auch diefe befferen Merkmale des analyjirten Stüdes 
find zunächſt als in der Zeit Tiegende, allgemeine Vorzüge der ſcho— 
Taftifgen Art anzufehen. Das Individuelle in dem Denken Bo 
naventura's tritt in diefem Abfchnitte noch nicht hervor. 

In den nachfolgenden Stücen, wo der Tert der Sentenzen dem 
Commentar Bonaventura's zu Grunde liegt, ift die Methode dieſe. 
Zuerft beginnt Bonaventura eine Expofition des Textes, wobei 
denn aud die Anordnung und Folge der Diftinctionen vertheibigt 
wird. Dann greift der Commentar einige Säge Heraus, bie ſchein⸗ 
bar falfch find oder der Erläuterung bedürfen. Wenn diefe Säge 


Bonaventura als Dogmatiter. - 101 


zurecht gebracht find, folgt articulus I, der den Text zu erläu⸗ 
tern und weiter in's Feine auszufpinnen hat. Im Eingang jedes 
Artilels werden die nothwendigen ragen, die ſich aus der Materie 
ergeben, aufgeftelit, felten mehr als vier. Diefe Fragen, die Unters 
obtheilungen der Artikel, werden dann von verfchiedenen Geſichts⸗ 
punften pro und contra beantwortet und die Concluſion gibt die 
endgüftige Entfcheidung des Commentars, genau nad ber Weife 
des Probmiums. 

Die erſte Diſtinction des zweiten Buches der Sentenzen hat in 
ihrem erſten Stüd zu zeigen: es ſei ein Princip der Dinge und 
nicht mehrere, und dann im zweiten Stüd die Beweggründe zur 
Schöpfung zu entwickeln. Dies alles thut der Lombarde auf bei⸗ 
the drei Seiten. 

Nun folgt eine Exrpofition des Textes. Dann fragt Bonaven- 
tra in der erften dubitatio, ob die Meihenfolge der erften beiden 
Bücher denn richtig fei, ob man nicht vielleicht erft von den Crea⸗ 
turen, al® von dem Befannteren hätte reden müfjen und dann von 
der Trinität. Es folgen noch vier andere Einwürfe. Dann fommt 
Artikel I von dem Hervorgang der Dinge in's Dafein, und zwar 
Frage 1: ob die Dinge ein Caufalprincip haben. In ſechs Sägen 
wird dies mit Hülfe ariftotelijcher Citate bejaht, in fünf anderen 


mit Beziehung auf denfelben Ariftoteles verneint; in der Concluſion 


wird entjehieden, daß die Welt ſowohl als Ganzes als aud nach 
ihren inneren Principien aus Nichts gefchaffen fei. Auf fehr ver- 
ftändige Weife wird diefe Behauptung den vier Hauptirrthümern 
gegenüber feftgeftellt *). Hierauf geht er zu einer zweiten Frage 
über: ob die Welt von Ewigkeit oder aus der Zeit gefchaffen fei. 
Auerft wird das oppositum behauptet und die Erſchaffung ex 
tempore in fünf Sägen geleugnet, aber in ſechs nachfolgenden 


a) Für die Frage, wie weit Bonaventura mit ciftoteles bekannt geroefen, 
lommt diefe Aeußerung mit in Betradit: „Utrum (Arist.) posuerit ma- 
teriam et formam factam de nibilo, hoc ego nescio; credo 
tsmen, quod non pervenit ad hoc; . .. ideo et ipse defecit, 
licet minus, quam ali.“ Und in einer, in anderer Beziehung intereffanten 
Stelle führt er fort: „Ubi autem peritia philosophorum defecit, sub- 
venit nobis sacrosancta scriptura.‘“ 





ior J Sollenberg 


Voftionen wird dieſelbe wicderum behamptet und“ mit Hulfe bei 
Ariftotele bewicſen. Die Eonelufion befagt dann, daß die Welt 
weil fie ans Nichts entftanden, vom Ewigkeit her erfhaffen fei 
aber nur nach der Willensbewegung des Principe, nicht der natür 
lichen Ausführung deſſelben. Runmehr folgt ein Artikel II Abe 
die Einheit des Weltprincips. Die erfte Frage ift: ob die Ding 
von mehreren Principien hervorgebracht feien. Es wird biefe Frag 
erft bejaht, durch Herbeiziehung der Manichäer und ſolcher bibliſche 
Spräde, wie vom Fürften diefer Welt, Gott diefer Welt, von 
Geſetz in den Gliedern u. f. w., im Ganzen durch ſteben Sätze 
uun aber folgt das Gegeutheil, es wird geftügt durch oh. 1 
„Alle Dinge find durch [das Wort] gemacht“, durch Sprüche, wie 
„Mir ift gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“, un 
andere Gründe. Die Concluſio bleibt auch bei der Einheit de 
Brincips und widerlegt die Manichäer ausführlid. Die ziveit 
> Zrage ift, ob das einheitliche Princip alles aus ſich gefhaffen ode 
durch Wermittlung eines Andern. Das Letztere ſcheint Anfang! 
erwieſen zu werden; es wird gefolgert aus der Freundlichkeit un 
ans der Hoheit des Schöpfers, daß er einem Anderen nicht bio 
Kräft gegeben, fondern aud) die Fähigkeit des wahrhaften Schaffens 
- namentlich der Heineren Dinge. Aber vier Gäge erheben fid ba 
gegen, worunter der, daß aus ber ausichliegfichen Liebe, die wi 
zu Gott haben follen, ſchon die Undenfbarfeit eines anbermeitiger 
Schöpfers folge. Und fo ftellt auch die Coucluſio feft, daß Got 
als reine THätigfeit (actus purus) und die zureichende Urſach 
aller Dinge, Alles unmittelbar hervorgebratht Habe. Der Iekt 
(dritte) articulus Handelt fiber das Weſen des Schopferprincipe 
(De ente et quidditate prineipii producentis) und ftellt zuerf 
die Frage auf: ob man bie Schöpfung als Veränderung begelchner 
müffe (motus und mutatio gehen immer ineinander über). Di 
Pro und contra bfeiben duufel, die Concluſion aber fagt, Daß di 
Schöpfung eine Veränderung fei, in der Dinge eine Beftimmtheil 
haben, die vorher gar feine hatten (denn die Schöpfung ift ex nihilo) °) 


e) „Crestio est mutatio in qua res aliquo medo se habemt et nullo 
modo prius, cuius terminus est tota rei 'substantia.“ 


Bonaventura als Dogmatiter. 108 


Die zweite quaestio #t: Ob die Schöpfung eine Vermittlung 
zwiſchen Schöpfer und Gefchöpf fei. (An creatio dicat medium 
inter ereatorem et creaturamf.) Dies wird in fünf Sägen 
bejaht; e8 folgen aber. fünf contra. Die Concluſion behilft ſich 
fo gut es geht: die Schöpfung als Handlung (actio) ift eine Der- 
mittlung zwiſchen Schöpfer und Gefchöpf, doch nur für den Ge 
daufen (secundum rationem praecisam tantum), die Schöpfung 
(ds passio, als gejegte) ift aud in biefer Beſchränkung keine 
Sermittfung. 

Der zweite Theil der erften Diftinction des zweiten Buches 
handelt im Allgemeinen von der Beſchaffenheit des Menſchen, in 
Bezug auf den Endzweck, zu dem er erfchaffen ift. Die Expo- 
ftion des Textes und die dubia folgen. Der erfte Artikel ſtellt 
wert die Frage auf: ob von der erften bewirkenden Urſache eine 
Werheit von Dingen habe ausgehen müffen oder fünnen. Bier 
Gründe ſcheinen dagegen zu entſcheiden, die Vielförmigkeit fcheint 
dem einheitlichen Princip, die Gegenfäge zwiſchen Gutem und Böfen 
dm guten Princip zu widerfprehen. Aber es folgen vier contra, 
die Höhere Subftanz ift au in höherem Mage diffufiv, communi- 
tin, cognitio; je einfacher fie ift, defto gewaltiger, je früher, deſto 
univerfaler wirffam. Die Conclufion jagt ähnlich: das anfängliche 
Prineip aller Dinge hat die Erſchaffung einer Fillfe von Dingen 
nicht nur zum Gegenftand feines Denkens, fondern auch feines Wollens 
gemacht. Dann wird in der zweiten quaestio gefragt: ob die 
Geſammtheit der Dinge unterfchieden werden könne in die geiftigen, 
die förperlichen und die geiftig=förperlichen (ex utraque media). 
Gegen die Annahme körperlicher und gemifchter Dinge erheben ſich 
mehrere Schwierigkeiten, ja auch das Dafein rein geiftiger Weſen 
ſcheint der Natur zu widerſprechen. Aber vier contra jhügen bie 
obige Dreitheilung, fo zeigt fih die Macht Gottes in der Er- 
ſchaffung entgegengefegter Dinge und in deren Verbindung; ähnlich 
iſt es mit der Weisheit und Güte Gottes. Und die Concluſion 
Seit dabei. . 

Der zweite articalus behandelt erft. die Frage: ob Gott zu 
feinem Ruhm oder zum Nugen der Dinge die Dinge felbft hervor⸗ 
gebracht Habe. Hier wird nicht das oppositum, fondern die Mei- 











104 Hollenberg ’ 


nung des Bonaventura zunächft in bier: Punkten erfoiefen, nämlich 
daß. der Ruhm Gottes der Zweck der Ereatur fei; zwar folgen 
noch vier Einwürfe, aber fie find ſchwach und das Reſultat ift: 
Die vorzüglichere Urſache der Geſchöpfe ift der Ruhm des all- 
mächtigen Gottes, der zwar nicht gemehrt, aber doc geoffenbart 
und mitgetheilt werden foll, aus diefer Manifeftation des Ruhmes 
Gottes geht aber auch der Nugen der Creatur hervor. In quaestio 2 
wird gefragt: ob der Engel vorzüglider fei ala der Menſch. Die 
pro und contra werden in oberflächlicher Weife abgemacht. Die 
Concluſio fagt: Wenn man die Beftimmung der Beiden zur Se 
figfeit berückſichtigt, find fie gleih, wenn man aber den Adel der 
Natur betrachtet, fo ift der Engel.höher al der Menſch. Der 
dritte Artikel will den Unterſchied zwifchen der Geiftigfeit der Engel 
und ber Menſchenſeele feſtſtellen. Es wird zunächſt gefragt 
(quaestio 1): ob Engel und Seele in specie verſchieden ſeien. 
Für die fpecififche Verfchiedenheit fpricht namentlich, daß die menſch⸗ 
liche Seele das Senfible und Vegetable an ſich hat; für die fpe 
eififche Gleichheit wird angeführt, daß ſie Beide zu gleicher Selig 
feit berufen find. Sonderbar vorfichtig fagt die Concluſion, obwohl 
die Seele, genau geredet, feine Species, fondern nur die Form 
einer Species genannt werden "dürfe, wird doch gelehrt, daß fie 
von dem Engel fich fpecififch unterfcheide. Nun wird in der zweiten 
quaestio in Erwägung gezogen, weldes denn die Differenz fei, 
durch welche fich der Engel und die Seele unterſcheiden. Das 
Reſultat ift, daß die Fähigkeit, mit dem menſchlichen Körper fih 
zu verbinden, den Unterfchied der Seele conftituire. 

Doch die vorftehenden Auszüge mögen genügen, von Yonavens 
tura’8 Weife und damit von einer ganzen Reihe ſcholaſtiſcher Ars 
beiten. eine annähernde Vorftellung zu geben. Was den dogmas 
tiſchen Gehalt der Commentare unferes Bonaventura betrifft, fo 
ift es befannt, daß faft nur in der Lehre von den Sacramenten 
durch die Scholaftif eine Erweiterung und Entwidlung des Stoffe 
ftattgefunden Hat, und eben in diefem Punkte aud) Bonaventura 
noch inhaltlich ein entſchiedenes Intereſſe gewährt. 





Bonaventura als Dogmatiker. 108 


Das Breviloguinm. 


Anftatt aber in Bezug auf die inhaltliche Seite ber Glaubens» 
lchte von dem fcholaftifchen Gerkft der Kommentare auszugehen, 
jehen wir es vor, zu dieſem Zwed ein kleineres dogmatifches Werft 
zu benugen, welches unter dem Namen Breviloquium ein wohl» 
verdiente Anfehen genießt). Schon Gerjon ftellte das Brevi⸗ 
loquium (mit dem Stinerarium) an die Spige ber kleineren 
Shriften Bonaventura’s, und in neuerer Zeit ſchrieb Baum— 
garten Erufins: „Das Breviloguium ift leicht die befte Dog- 
matik des Mittelalters‘ (Compendium der chriftlihen Dogmen- 
gigihte I, 262) B). Es befteht aus zwei Theilen, von denen 
der erfte prooemium, der zweite tractatus genannt wird. Das 
Yrebmium hat eine gewiſſe Aehnlichkeit mit dem, was bei ung 
difah unter dem Titel der Prolegomena oder auch Bibliologie 
de Darftellungen der Dogmatif vorausgefhidt wird. Es fängt 
mit einem Gebet aus Ephef. 3, 14 ff. an und fließt an die Stelle 
„auf daß ihr begreifen möget mit alten Heiligen, welches da. fie 
die Breite und die Länge und die Tiefe und die Höhe 2c.“ bie 
Bemerkung, daß Paufus in derfelben den Urfprung (ortum), Fort 
gung (progressum) und den Beftand (statum vel fructum) ber 
teiligen Schrift, welche die Theologie genannt werde, enthüllt habe, 
& ift unmöglich, daß Einer zu ihrem Berftändnig kommt, dem 
aiht zuvor der Glaube an Chriftus, als an die Leuchte, die Thür 
und die Baſis der ganzen Schrift eingegoffen ift. Und fo wie der 
Anfang, fo ift auch der Fortgang in der Heiligen Schrift nicht bedingt 
durd) die Gefege der Schlußfolgen, Definitionen und Eintheilungen, 
na der Weife anderer Wiffenfchaften, fondern fie ſchreitet gemäß 
dm übernatürlichen Lichte fort, um dem Menfchen auf feiner Pilger» 
ſohtt das nöthige Licht zu geben, fo weit fein Heil dadurch geför— 
dert wird, fie thut dies zum Theil durch einfache Worte, zum Theil 





9) Bir benutzen aufer der Vat. noch die Separat- Ausgabe von Hefele 
(1845), welche viele Vorzüge beſiht. 

b) Shrödh (XXIX, 230) fagt in feiner Weile vom Breviloquium: „, wenn 
man nur die Erwartungen nach dem Zuftande des Jahrhunderts gehörig 
herabſtimmt, ein nicht übel gerathenes Bud)“, 


106 Sollenberg 


durch myſtiſche. Sie befchreibt den Inhalt des ganzen Univerfum 
wie in einer Summe, und das ift ihre Breite, fie befchreibt de 
zeitlichen Verlauf, und das ift ihre Länge, fie beſchreibt die Herr 
lichteit der Seligen, das ift ihre Höhe, und das Elend der Ber 
dammten, worin ihre Tiefe und die Tiefe des göttlichen Rathſchluſſe 
befteht. Alle diefe vier Eigenfchaften werden vorläufig im pro 
gressus der heiligen Schrift aufgewiefen. Was num den Befton 
und die Frucht der Schrift betrifft, fo ift als ſolche die Fülle de 
ewigen Seligfeit zu nennen. Mit der Richtung auf dieje ift di 
Schrift zu erforfchen, zw erklären und zu hören. Der Gebant 
wie denn im Einzelnen diefe Frucht zu gewinnen fei, führt ih 
wieder zu dem Anfang zurück, mo der Epheferfpruch dem Leie 
zugerufen Hatte, die Kniee zu beugen vor dem Vater unferes Herr 
Jeſu Ehrifti. 

Die ſchon oben angebeuteten vier Eigenſchaften der Schrift werde 
nun befonders erörtert. Die Breite bejteht in der Menge ihr 
Zpeile. Das A. T. insbeſondere faßt eine Menge von Bücher 
in fi, ſowohl (5) legales, (10) historiales, (5) sapientiale 
als (6) prophetales, im Ganzen 26 Bücher. Im N. T. en 
fprechen den Gefegesbücern die Evangelien, den Hiftorifchen di 
Apoftelgefchichte, den Lehrbüchern die Briefe, insbeſondere die paı 
Tinifchen, den prophetifchen Büchern die Apofalypfe: Diefe vie 
Theile des U. und N. T.'s follen ſchon bei Ezechiel im der erfte 
Biſion von der Feuerwolfe mit vier Thiergeftalten angedeutet fein ® 

Die Länge der Schrift befteht in der zeitlichen Ausbreitung ihre 
Inhaltes vom Anfang der Welt bis zum jüngften Tage. In dieſe 
Ausdehnung find drei Perioden zu bemerken; die erfte Periode he 
das Geſetz der Natur, die zweite das gefchriebene Gejeg, die brit 
das Gejeg der Gnade. Sodann wird mit Rüdficht auf die Shi 
pfungstage noch eine andere Eintheilung in fieben Zeitafter angenon 





a) Bonaventura fagt beifäufig, daß man mit Recht die Schrift in A. um 
N. T. eintheile, nicht in theoretifche und prattiſche Schriften, wie in d 
Bitofopfie. Denn in der Schrift könne nicht das Keligiöfe und Ethiſc 
geſondert werben, wicht die motitia reram sive credendorum von dt 
notitia morum. Den Unterfchieb der beiden Teſtamente könne man fur 
durch die Worte: Furcht und Liebe, timor und amar, -ausbräden. 


Bonaventura als Dogmatiker. 107 


men: Adam bis Noah, Noch bis Abraham; Abraham bis David, 
Darid bis zur babylonifchen Gefangenschaft, von da bis Chriftus, 
fodann eine große Periode bis zym Ende der Welt, und neben und 
in der letztgenannten noch die fiebente von der Grabesruhe Chrifti 
66 zur allgemeinen Auferftegung. Wie biefe fieben Perioden mit 
den einzelnen Schöpfungstagen ſtimmen follen, kann bei Bonaven 
tura weiter erfehen werben ®). 

In Bezug auf die sublimitas der Schrift geht er ganz auf bie 
Anfgauangen bes Ureopagiten von bem verſchiedenen Hierarchien 
in. Die Tiefe ber Schrift zeigt ſich beſonders in der Vielheit 
ürer möftifchen Auslegungsweiſe. Denn außer dem buchftäblichen 
Ein kanu fie am verjchiedenen Stellen noch dreifach erklärt werden, 
dur Allegorie, quando per unum factum indicatur aliud fa- 
tum secandum, quod credendum est; bie Tropologie,‘ wenn 
aus dem factum Ein faciendum, aus einem Hiftorifhen Umftand 
eine ethifche Anregung genommen wird, die Anagogie, ein Empor 
führen von der Wirklichkeit zu dem Gebiete ber Sehnſucht. 

Wenn er im PBrodmium nod bie Eigenthitmlichleit der biblischen 
Darftellungsweife in's Auge faßt, fo überſieht er dabei natürlich 
nicht, daß dieſelbe eine andere fei, als die ſcholaſtiſch- wiſſenſchaft⸗ 
fihe, infofern fie für die verfchiedenen Beſchaffenheiten der Seelen 
be wirffamften Mittel zur Seligkeit bereit halten müffe. Damit 
# ihr bei dieſer Mannichfaltigfeit aber nicht an Gewißheit fehle, 
Ät ſe nicht durch menſchliche Forſchung, fondern durch göttliche 
Offenbarung überliefert. Daher iſt nichts in der Schrift als unnütz 
A verachten ober als falſch zu verwerfen. Der Ausleger muß 
das Verborgene und Dunffe durch hellere Steffen verdeutlichen, 
u welchem Ende er die Bibel ihrem Buchſtaben nad) im Gedächt- 
niß Haben muß. Für die Anwendung der verfhiedenen Auslegungs> 
teilen werden die Regeln aus Auguſtin (de doctrina chr.) ge⸗ 
Kommen. 

Sodann geht er zu der Abhandlung felbft über, welche in 
feben Abſchnitten oder 72 Capiteln vollendet wird. Die fieben 
Abſchuitte Handeln: 1) von der Dreieinigfeit Gottes, 2) von der 





) Achaliche Spielereien befäjäftigen ſogar noch Melanchthon. 


106 . Hollenberg 


Ereatur, 3) von dem Verderben der Sünde, 4) von der Fleiſt 
werbung des Wortes, 5) von der Guadengabe des heiligen Geift 
6) von der facramentalen Heilung, 7) von dem Endgericht. € 
Neihenfolge weicht aljo aicht von dem Gange der Sentenzen ı 
nur daß einige Punkte mehr zu Hauptabtheilungen benutzt werd 

.nämlih 3, 5, 7. In dem Eingang der Abhandlung, wo er bi 
Mannichfaltigfeit des Inhaltes der Theologie erwähnt, kommt 
auf einen Gedanfen, den wir fon aus den Gommentaren zu } 
Sentenzen Tennen, dag nämlich troß biefer Mannichfaltigfeit | 
Theologie eine einheitliche Wiffenfchaft fei, deren. Subject Gi 
fei, infofern alle Dinge von ihm fein, Chriſtus, infofern 
durd ihn fein, das Erlbſungswerk, infofern Altes dar 
hin gerichtet, da8 Band ber Yiebe, infofern Alles durch diefes v 
Mnüpft fei. Auch das credibile und intelligibile wird hier nı 
einmal genannt. 

Von ber Trinität redet er in ber erften Abtheilung im gewöh 
licher Art. Als Ratio der ganzen Dreieinigfeitslehre erjcheint i 
da8 Streben des Glaubens, von Gott das Höchſte und Fromm 
zu denfen; nun würde man fi nicht den höchften Begriff von il 
maden, wenn man nicht glaubte, daß Gott ſich auf die höchſte! 
mittheilen könnte, und nicht den frömmften, wenn man glaubte, 
konne es wohl, aber er wolle e& nicht. Daher fagt der Glau 
daß Gott ſich auf die höchſte Weife mittheile, indem er von Em 
keit einen Geliebten und Mitgeliebten habe, und fo fei Gott dr 
heitlich und einheitlih. Mit dem, was fo rationell ift, ftim 
auch überall die Schrift. Zur näheren Beftimmung diefer Le 
dient die Erörterung ber zwei Emanationen (durch die Natur o 
durch den Willen), der drei Hhpoftafen und der betreffenden 9 
lationen: Vaterſchaft, Sohnfchaft, Hauchen, Hervorgang (processi 
Fügt man zu dieſen vier Beziehungsverhältniſſen der Hypoſta 
noch die Urfprungsfofigkeit des erften Principe Hinzu, fo hat m 
eine Ueberficht über die wichtigften. Begriffe der Trinitätsleh 
Um diefe Lehre katholiſch auszudrüden, hält Bonaventura e& f 
nöthig, die Worte der Kirchenlehrer, namentlich ihre Logifchen 2 
ftinetionen, zu Hülfe zu nehmen. Nach diefen muß man nun v 
Gott nur das Vollkommenfte ausfagen, alles Andere nur allenfal 


Bonaventura als Dogmatiker. 108 


ad der Anmehmung der menfchlichen Natur. Bon den zehn Ka- 
tgorien fönnen 3. B. die fünf legten: passio, ubi, quando, situs, 
habitus, da fie körperliche veränderliche Dinge angehen, Gott nicht 
mgeihrieben werden, es fei denn bildlich. Die fünf anderen aber 
wohl, fo jedoch, daß fie die Einheit Gottes nicht aufheben. Die 
meiteren trinitarifchen Ausführungen mögen hier Übergangen werben. 
Bon der Allmacht Gottes, der Weisheit, der Prädeftination und 
Präfdenz lehrt er ebenfalls das Gewöhnliche, auch in dem Ausdrud 
entfernt er ſich nur wenig von der ſcholaſtiſchen Terminologie *), 
hohl er doch im Ganzen den Wald von Worten etwas Lichtet. 
In der zweiten Abtheilung (De creatura mundi) wiederholt er 
mädft das, was wir aus dem zweiten Buche der Sentenzen oben 
mitgetheift haben, dag die Welt ex tempore und nicht ewig fei, 
di fie aus Nichts und von einem einheitlichen und höchſten Princip 
sidaffen fei, die entgegenftehenden Irrthümer werden furz widers 
Int. Hierauf werden die körperlichen Dinge betrachtet und zwar 
mädt in ihrer Entftehung, wobei dann die Schöpfungsurfunde 
in etwas Fünftlicher Weife beiprochen wird. In dem nächſten Ca— 
Aitl werden die körperlichen Dinge nad) ihrem Sein erörtert, 
vobei die ganze Himmelskunde, wie die phyfitalifchen Vorftellungen 
dr Zeit in nuce mitgetheilt werden. Darnach ift von der Wirk« 
fumfeit und den Kräften der Dinge die Rede und der bibfifchen 
®hrart über dieſen Punkt. Nun erft geht Bonaventura zu ber 
Grihaffung der hohern Geifter über, zu dem. Fall derfelben, der 
Befeftigung der nicht gefallenen Engel, der Erſchaffung der Menſchen⸗ 
fele und deren Natur, wobei eine kurze pfychologifche Ueberſicht 
tiugeſchaltet wird, zu der Erſchaffung, Entftehung und Befchaffen- 
hit des menschlichen Körpers, wobei bei der urjprünglicen Aus— 
fiftung deffelben einen Augenblid verweilt wird. Die Anthropologie 
wird fodann abgefchloffen durch die Reflexion auf die Totalität des 
9) & lommt 4. ®. folgender" elegante Sat vor: „Licet divins sapientia, 
ratione diversitatis scitorum et connotatorum diversa sortiatur vo- 
cabula, non tamen diversificatur secundum rationem intrinsecam. 
Cognoseit enim contingentia infallibiliter, mutabilia immutabiliter, 
futura praesentialiter, temporalia aeternitaliter, dependentia inde- 
pendenter, creata-increate, alia a se in se et per ge.“ 


110 Höllenberg 


Menfchen als ein aus -Leib und Seele beſtehendes Ganzes. Ueb 
gens .erreicht er bei weitem nicht die wahrhafte Einheit diefer bei 
Theile, nur das ift anzuerkennen, daß er -Chriftum mit in die 
Einheit ſchaut und ihn mit Rückſicht auf ein doppeltes Bud) Gott 
eine innere Manifeftation und eine äußere, nennt: ein liber int 
et foris scriptus. Bei feiner atomiftifcgen Anficht vom Dienfc 
ift e8 denn nicht zu verwundern, daß er in Bezug auf die tol 
Ausrüftung des paradiefifhen Menſchen die katholiſche Lehrw 
vom superadditum genau befolgt. 

Im dritten Theile des Breviloguium wird zunächſt von b 
Urfprung des Böfen im Allgemeinen gehandelt, bierauf von 
Berfuhung im Paradiefe, dem Fall und der Strafe. Yon 
Erbſunde lehrt er unter anderm, daß, wenn ein Mind zu derfel 
noch feine Thatfünde hinzugefügt habe und dann fterbe, es rı 
mit finnfiher Strafe in ber Hölle geftraft werde (sensus poe 
in gehenna non debetur), und eine entgegenftehende fireng 
Anfiht Auguſtin's fuct er aus dem, Streit deffelben gegen 
pelagianifchen Irrthümer zu erklären und zu entfräften. In de 
felben Zufammenhang zeigt e8 ſich, daß er das von dem Fran 
Tanern fpäter fo fehr begünftigte Dogma von der unbefledten E 
pfängniß der Maria nicht gehabt Hat, denn er nimmt an, daß 
böje Begierde der Maria bei der Empfünguiß des Sohnes Got 
durch eine befondere Gnadenwirkung getilgt worden ſei. 

In dem vierten Theil, der von der Sleifchwerdung des Soh 
Bandelt, . fommt Bonaventura zunächſt auf einige thörichte Fra 
über die Angemeſſenheit diefer Incaxnation. Er ſpricht ſode 
von dem opus, modus und tempus der Fleiſchwerdung ſell 
Als opus geht ſie von der Trinität aus und iſt ein Annehn 
(assumtio) des Fleiſches von Seiten der Gottheit und eine Einigu 
(unio) der Gottheit mit dem Fleiſch. Diefe Einigung geſchi 
nicht in der Einheit der Natur, fondern der Perfon, nicht als e 
Einigung der menfchlichen Perfon, fondern der göttlichen, nid | 
angenommenen, fondern der annehmenden, nicht einer beliebig 
Perfon, fondern der Perfon des Logos allein, in welcher die Ei 
gung fo groß ift, daß, was immer vom Sohne Gottes gefagt wi 
vom Menſchenſohn gefagt wird und umgelehrt. Dieſe nothwendi 


Bonaventura als Dogmatiker. 111 


communicatio idiomatum tritt nur dann zuruck, wenn es ſich 
um ein Wort Handelt, das ein Widerfprechendes in fi ſchließt, 
vie z.B. die Beziehung der Einigung einer Natur mit der andern: 
timgen, annehmen und angenommen werden, oder eine Negation, 
wie z. B. anfangen, erjchaffen werben ac. 

Ueber den modus der Fleiſchwerdung bringt Bonaventura erft 
die Geſchichte der Verkündigung bei und ſchließt daran, wie gemöhn- 
fi, mehrere rationes, von denen ſich eine auf die Frage bezicht, 
warum fich bei der Incarnation Gott, Engel und Menſch betheis 
figt Hätten. Sodann wird Gal. &, 4 „als die Zeit erfüllet war“ 
beſprochen. Sehr gut wird zu ber Fülle der Zeit. auch die alle 
nahliche Einftcht der Menfchheit in das Sündenverderben gerechnet 
md die päbagogifche, Bedeutung des Gefeges erfannt *). Auch die 
uffianifche Hoffnung weiß Bonaventura zu würdigen, wenn auch 
niht ganz genügend nad) ihrer fubjtanziellen Seite in dem aufs 
febenden Menſchengeſchlecht. In demfelben Gedankengange ſpricht 
wand) von einer Incarnation ohne Rückſicht auf die Sünde, als 
von einem Wortgang der Werke Gottes vom Unvollfommenen zu 
dem Volllommenſten, nach der Achnlichkeit des Sechstagewerles, an 
deſſen Schluß ja auch der Menſch in feiner Zier erichien, dod hat 
@ ſich dieſen Gedanfen nicht deutlich gemacht und geht ſogleich 
wieder in dem gewöhnfichen Zufommenhang der Menfchwerdung mit 
der Sünde ein. 

Mit Wärme: und Beredfamleit erwägt Bonaventura ſodann die 
Fülle der Gnadenkräfte und Gaben in Ehrifto, zunächſt der cha- 





3) „Sic debuit Deus genus humanum reparare, ut salutem inveniret, qui 
vellet quaerere salvatorem, qui vero nollet quaerere salvatorem, 
nec salutem per consegüens inveniret. Nullus autem quaerit me 
dicum, nisi recogtioseat morbum; . .. Quia igitur homo in prinv 
cipio wui lapsus adhue superbiebat de seientia et virtute, ideo prae+ 
misit deus tempus legis naturae, in quo comvinceretur de ignorantie, 
et post, cognita ignorantie, sed permanente superbia de virtute qua 
icebant: ‚non dest, qui faciat, sed deest qui jubeat‘, addidit 
legem praeceptis moralibus erudientem et caerimonialibus aggra- 
vantem, ut habita scientia et cognita impotentia, confugeret homo 
ad divinam misericordiam et gratiam postulandam, quae data est 
nobis in adventu Christi“ 





112 „Holfenberg 


rismata in affectu, feine Sündlofigfeit, feine mittheilende Wirt 
famteit als die Wirkfamkeit des Hauptes auf die lieder *). So 
bann vebet er von der Fülle der Weisheit und Erfenntniß Chriſt 
endlich von feinem Verdienſt und deffen Folgen. 

Endlich ſpricht er in drei Capiteln noch von dem Leiden Chrifti 
die trodene Sprache wird hier mehr als fonftwo von dem leber 
digen religiöfen Gefühl durchbrochen. Die Schlußerörterung übe 
den Ausgang und Gewinn des Leidens führt von felbft auf de 
fünften Teil: Bon der Gnadengabe des Heiligen Geifte: 
Die Gnade wird zuerſt als ein Gefchent Gottes gefaßt, dann al 
eine Unterftügung des freien Willens, drittens als ein Heilmitt 
der Sünde; Bonaventura fucht fi durch die gewöhnlichen Formel 
vor den Beſchuldigungen des Pelagianismus zu ſichern. 

Er geht num zu ber Art über, ‚wie fi die Gnade ausbreit 
und verzweigt (ramificatur) in allerlei Tugenden, Gaben ur 
Seligfeiten. Der Tugenden unterſcheidet er fieben, drei tHeofogifch 
Glaube, Hoffnung und Liebe, und vier Cardinaltugenden: Weihe 
(prudentia), Mäßigfeit (temperantia), Zapferfeit und Geredti 
keit. Er weiß wohl auseinanderzufeßen, wie aus ber einen Gnal 
doch fo Mannichfaltiges ſich entwidele und wie dann doch in allı 
diefen Tugenden auch wieder eine Einheit fei und ein enger Zi 
fammenhang. Und mas die obige Dreitheilung in habitus vii 
tutum, donorum und beatitudinum betrifft, fo fagt er, wie 
im theoretif—hen veligiöfen Gebiet drei Stufen gebe: Glauben, de 
Geglaubte erkennen, und das Erkannte ſchauen, und auf der erftt 
Stufe die Seele zurechtgebracht, auf der zweiten befreit, auf d 
dritten vollendet werde, fo verhafte es fi auch mit der Unte 
Scheidung der Tugenden, Gaben und Geligfeiten.” Was nun in 
befondere die habitus donorum anlangt, fo will Bonaventui 
fieben Gaben des Heiligen Geiftes mit Rückſicht auf Jeſ. 11, 
nadjweifen. Diefe Gaben werden dann in ihrem Werth betracht 


8) Sonderbar bringt er die allgemeine Wirlſamkeit Ehrifti auf die Menſche 
welche feiner Erſcheinung vorgingen und nadjfolgten, mit dem Spru 
Matth. 21, 9 im Verbindung: „Das Volt aber, das vorging ur 
nachfolgte, fchrie und ſprach: Hofianna, dem Sohne Davids.” Gerade 
etlärte ſich ſchon Otfried in der Evangelienfarmonie. 


Bonaventurn als Dogmatiter. “ 18 


gegenüber den Verkehrtheiten ber Laſter, den Kräften der Natur, 
den Zugenbpflichten, im Leiden, Haudeln und in der Betrachtung. 
Aud der Seligkeiten find nach der Bergrede fieben, für welche 
Sichenzahl er in ſcholaſtiſcher Art mehrere rationes aufführt. Zu 
den fieben Seligfeiten treten dann noch zwölf Früchte des Geiftes 
nah Gal. 5, 22 und die sensus spirituales, Anſchauungsweiſen 
des Göttlihen, welche in ihren Stufen endlich wie die Jakobsleiter 
an den Himmel reichen, wo dann zufegt die Seele ihren herrlichen 
Bräutigam findet, „welchen aud die Engel ygefüftet-zu fchauen“, 

und zu Sem ſich das Gemitth beſtindig ſehnt, wie der Hirſch ud 
friſhem Waffer. 

Unterbeffen aber ift es erforderlich, daß eine Hebung in der Gnade‘ 
fintrete, erften® in Bezug auf den Glauben; hierbei fommt ber 
Glaubensgehorfam gegen die articuli fidei in Betracht, ja gegen 
"Ne ganze heilige Schrift (quia auctoritas prineipaliter residet 
ih sacra scriptura). Die zweite Mebung findet in Bezug auf bie 
Fiebe ftatt; die dritte in Bezug auf das Thun und die daſſelbe 
tegelnden Geſetze und consilia. Hiebei wird das mofaifche Gefeg 
und die Erfüllung deſſelben in fieben Nummern in Betracht gezogen. 
Eine vierte Uebung der Gnade bezieht ſich auf die Gegenftände der 
Üitte und des Gebetes, wober natürlich auf das Baterunfer über- 
gegangen wird. Nach dem bei Bonaventura fo Häufigen Gegenſatz 
wiſchen dem Pilgermege und der Heimath- bezeichnet er die drei 
erften Bitten des Baterunfer als ſolche, welche ſich auf das prae- 
mium patriae, bie vier anderen als ſolche, melde ſich auf da 
viaticum viae beziehen. “Eine meitere Ausführung diefer Gebanten 
fan hier nicht erwartet werben. 

Der fechfte Theil des Breviloquiums ift überſchrieben: „Von der. 
fürramentafen . Heilung“ (De medicina sacramentali). Die Der 
fnition des Sacraments ift nicht von der gewöhnfichen verjchieden. 
Die Sacramente find repräfentirend vermöge ihrer similitudo 
iaturalis, fie find bedeutfam vermöge ihrer göttlichen Einfegung, 
md theifen geiftlihe Güter und Heilung mit vermöge 
ifrer sanctificatio. Es fehlt nicht an Anklängen an die innerliche 
Auffaffung ber Heiligen Handlungen; fo verneint er es ausdruüdlich, 
daß die Gnade in den Sacramenten fubftanziell enthalten fei und 

Vol. Stud. Jahrg. 1868. 8 





114 Hollezberg 


eaufal gewirkt werbe, weil die Gnade allein im der Geele wol 
und von Gett allein amsfließe, es müfje im den Sacramenten ı 
durch diejelben die Heilung der Seele von dem hechſten Arzt Chrift 
wurf göttlichen Befehl genommen werben, ebwohl Chrifins feine Gie 
sicht an die Sacramente gebunden Babe. 

Yonaventura fügt eine wicht ganz correrte Ueberficht über 
altteftamentfichen Analoga der Sarramente hinzu und erörtert da 
die Zahl und den Unterſchied der Garramente feiner Zeit. 9 
fünnigften iſt in diefer Beziehung die Bergleihung der Sacramıtı 
mit den Tugenden. Weil nämlich die Sacramente Heilmittel fir 
die Geſundheit der Serfe aber im den drei theologiſchen und d 
Cardinaltugenden hervortritt, jo muß eine innere Verknüpfung v 
vornherein wahrſcheinlich genannt werden. Im Einzelnen dispon 
die Taufe zur Tugend des Glaubens, die Zirmelung zur Ho 
nung, die Euchariſtie zur Liebe, die Buße zur Gerechtigkeit, | 
legte Delung zum Ausharren, welches die Ergänzung und Sum 
der Zapferfeit ift, die Ordination zur Weisheit, die Ehe ; 
Bewahrung der Müßigkeit. Dagegen ift es fehr zu verwunder 
durch welche Berdrejungen er dazu fommt, die ſammilichen € 
eramente auf die Einfegung durch Chriſtus zurüdzuführen. Daı 
fteht Bonaventura noch gebundener da, als fpätere Kiechenlchr 
weiche der gewöhnlichen Ehtlichteit foweit Gehör geben, daß jie | 
Kirde in Bezug auf die Einfegung der Sacramente eine größe 

- Auctorität beilegten. Ueber die Verwaltung der Sacramente (ef 
er das in der latholiſchen Lehre Gewöhnfiche; die intentio im Au 
theiler ift erforderlich, außerdem meift der ordo sacerdotalis, | 
der Firmelung und der Ordination fogar der ordo pontifical 
Jutereſſant ift, was er darüber bemerkt, daß außerhalb der Kird 
bei Ketzern 2c., aud die wahren Sacramente nichts fruchten. ( 
folgert daS aus einem fichern Grundfag, daß außerhalb der © 
meinſchaft des Glaubens und ber Liebe, welde uns zu Sinde 
und Gliedern der Kirche mache, kein Heil ‚sei Um aber die Au 
hebung der facramentalen Wirkungen außerhatb der Kirche nic 
ganz ohne Erklärung zu laffen, wiederholt er eine Vergleichung di 
Sarramente mit den vier Paradiefesftrömen, bie Auguftin in feine 
Streit gegen bie Donatiften aufgeftellt hatte. Obwohl nämlich die 


Bonaventura al Dogmatifer, 18 


Ströme auch nach Mefopotamien und Egypten fließen, fo iſt bad 
nirgend die ſelige Fülle, als im Paradiefe. 

Sodann wird voch der Reihe nach über bie ategeität der Sa⸗ 
ccamente geſprochen. Am wichtigſten "ft, was er in Cap. IX über 
die Integrität des heiligen Abendmahles bemerkt. Das fei feftzuhalten, 
dab in diefem Sacrament Chrifti wahrer Leib und wahres Blut 
nicht blos bezeichnet werde, fondern wahrhaft enthalten fei, unter 
der doppelten Geftalt won Brod und Wein, nicht als in, einem 
doppelten Sacramente, fondern in einem einzigen, Sobald bie Ein» 
fegungsworte mit der intentio conficiendi nom Priefter gefprochen 
fien, geht die Verwandlung der Elemente var ſich. Die finnenfällige 
Geftoft bleibt, im ihr iſt Ehriftus auf faccamentale Weife ganz *). 
& wird und als Speife vorgelegt (proponitur), und wer fie 
vürdig empfängt und nicht blos auf facramentale Weiſe, ſondern 
ud in Glauben und Liebe ihm geiftlich iffet, der wird dadurch 
mehr dem myſtiſchen Leibe Ehrifti einverleibet (incorporatur) und 
in ſich felbft wieder hergeftellt und gereinigt d). Denen, die ſich 
noch wenig würdig und rein an Leib und Seele fühlen, oder wenig 
fromm, väth er die Heilige Handlung aufzuſchieben. " 

Hier wird es angemeffen fein, aus Bonaventura's Commentar 
über die Sentenzen noch Einiges beizubringen. 

Lib. IV, dist, 8, art. 2, 1 hebt Bonaventura mit Hugo a 
ſancto Victore hervor, daß in der Euchariſtie breierlei vorhanden 
fä: die fichtbare Geftalt, der wahre Leib Chriſti und. der myſtiſche 
Leib deffelben. Diefe Unterſcheidung dient wenigftens dazu, bie 
behte zu ftügen, doß auch die Böfen den wahren Leib Chriſti em⸗ 
pfangen. Bol. dist. 9, art. 2, 1. Die Schuld, die dieſe da⸗ 





a) „In quarum utraque continetur totaliter non eircumseriptibiliter, nec 

loealiter sed sacramentaliter totus Christus.“ 

b) In der nachfolgenden Erörterung heißt es noch auebrüdfich: „quoniam ca- 
pacitas nostra ad Christum efficaciter suscipiendum non est in carne, 
sed in spiritu, non in ventre sed in mente, et mens Christum non 
attingit nisi per oognitionem et amorem, per fidem ei charitatem ... 
ideo ad hoc, quod eliquis digne accedat, oportet quod spiritualiter 
comedat. 

8. 


116 [ J Hollenberg 


durch auf' ſich laden, hebt Bonaventura mit: Marten Worten 

hervor ®). 

Der Lombarde eifert IV; 9 gegen bie Häreſie, als ob hei 
„dem Abendmahl der Leib Chriſti nur in ber Art eines Zeichene 
fin signo) auf dem Altare vorhanden fet, und fucht biefe „hae- 
resis modernorum“ befonder des Scheingrundes zu berauben 
den fie aus Joh. 5: „Das Fleifh ift fein nütze“ zu nehmen 
pflegten. Bonaventura pflichtet dem Lombarden überall bei unt 
erhärtet, daß der Leib Chrifti veraciter vorhanden fel. Die Un 
möglichkeit läßt er um fo weniger gelten, als ja nicht Chriftus zum 
Behufe diefes Geheimniſſes geändert wird, fondern die Elemente 
‚ Und wenn man entgegne, Chrifti Körper habe eine auf ben Himme 
begrenzte Eriftenz, fo fei das wahr, was die natürliche Erijten 
angehe, nicht aber in Bezug auf die Kraft, andere Körper in fid 
zu verwandeln. Durch diefe übernatürliche Kraft wird ‘er überall 
wo etwas Anderes in ihn verwandelt wird. 

Bonaventura behauptet nicht allein, dag Chriftus wahrhaft ir 
Abendmahl fei, fondern auch, daß er nach feiner natürlichen Größ 
(secundum suam naturalem quantitatem) vorhanden fei. Sein 
Gründe anzugeben, wird man mir gern erlaffen. Große Verlegen 
heit macht nun das Verhältniß der propria dimensio zur Dimenfio 
der Hoftie, ein Wort wird indeß gefunden, „Chriftus ift nid 
dimensive im Abendmahl vorhanden“. 


8) Freilich teitt ſelbſt bei Bonaventura in biefem Punkte eine Abftumpfun 
des Gefühle für das Heilige hervor; fo fagt er: „Qui projiceret corpu 
Doꝛ sterquilinium, 'gravissime peccaret; sed non est main 

sterquilinium, quam homo peccator, ergo etc.“ Sierbei gebe ich zu 
gleich eine Probe von den Verſen, in welden ein Unbelannter in, feine 
„sententiae sententiarum * (19 SS. Fol.) den Inhalt jeder Diftincrio 
austrädt (IV, 9): 
„Sumere crede malos corpus Christi pretiosum 
Hisque salutiferum non est sed perniciosum, 
Digne sumentes sunt fructum percipientes 
Spiritualiter hi, sacramentaliter illi. - 
Est sacramentalis modus unus, spiritualis 
- Est melior, sine quo praesumes sumere pecco.“ 
Daß diefe Reime dem Bonaventura fälſchlich zugeſchrieben werben, ift fon 
lange erfannt worden. 





Bonaventura als Dogmatifer. \ 117 


Während. der Lombarde behguptet hatte, daß ein außer der airche 
ſtehender Prieſter die Brodverwandlung nicht zu Stande bringe 
(eonfieere), lehrte Bonabentura, wie bie meiſten Commentatoren, 
das Entgegengeſetzte *). Im Diſtinction XII beginnen die berüdhr 
figten ſcholaſtiſchen ragen, welde das communicirende Subject 
betreffen. Die erite Frage des zweiten Artifels ift: „An corpus 
Christi trajieiatur-in ventrem müris.“ Obwohl Bonaventura 
fih fomit auf dergleichen Vorwitz einläßt, fo ift doch anzuerkennen, 
dab ihm noch mehr Sinn für das Schicliche geblieben ift, als den 
meiften Anderen; gleich die erfte Frage beantwortet er, gegen bie 
Entſcheidung feines hochverehrten Lehrers Alerander, mit einem Nein, 
weil der Leib-Chrifti eben nach Heiliger Ordnung für den Menſchen 
beitimmt. fei, nicht für fonft Jemand. Die zweite Frage: „an 
corpus Christi descendat in ventrem hominis“, an-welce ſich 
mderweitig noch unangenehmere Fragen angelehnt haben, übergehen 
bir hier ebenfalls ®), und, verlaffen überhaupt bie Geutenen, um 
zum Breviloquium gurüczufehren. . 

In diefem folgt nach der Erörterung der Euchariftie im 10, Capitel 
des ſechſten Theils die Buße, im UIten die letzte Oelung, im 12ten 
bie Prieſterweihe, im 13ten die Ehe. Etwas Eigenthümliches tritt 
in diefen Abjchnätten nirgend hervor, die Einfachheit der Behand- 
lung aber, welche Yon: der fonftigen ſcholaſtiſchen fo wohltguend 
obfticht, verdient dem Heinen Buche alles Rob. 

Der letzte ober fiebente Theil des. Breviloquiums handelt von 
dem eschatologiſchen Problem. Daß ein Tag des Gerichte kommen 
werde, an welchem die Eröffnung der Bücher, d. i...der Geiviffen, 
fattfinde, iſt ihm gewiß. Vorher tritt fthon für die Seelen der 
Gerechten, bie mit nicht volfgüftiger Buße geftorben find, eine Strafe 





3) Im ſolchen Stellen brirfgt mar gewöhnfich am Rande an: „Hic magister 


mon fanetur. B ' 

b) Die Entfcheidung ift diefe: „Corpus Christi descendit in stomachum 
ad sumptionem sacramenti, et quamdiu stant species (als Brod und 
Beim) ibi stat, et si species evomuntur, eucharistia quoque evomitur, 
ut putatur probabiliter.“ Bei ber Taufe find die Erörterungen reiuer 
gehalten ; dod) lommt aud) dort die Frage vor: „an aliquis possit ba- 
pticari in utero‘“, was von Bonaventura verneint wird. 


Sollenberg 


Fegefeuers ein, in welchem fie gequält iverden secundum plus 
minus, je nachdem fie mehr oder wenig Verbrennliches aut 
am Leben mitgenommen haben. Ebenfo gehen dem Gericht 
jer die suffragia eeclesiastica, die Opfer, Faſten, Almofen 
sete und freiwillige Büßungen, welche die Kirche zum Befte 
im Fegefeuer Befindlichen verwendet dazu. kommen nod di 
ragia ‚der Heiligen. Dem: Gerichte gleichzeitig iſt ſodann bi 
löſung unferer Welt durd; das Feuer und die Verklärung der 
m, in&befondere auch ber Menjcenwelt*). Das Feuer def 
Bonaventura als ein Zufammenwirken des irdiſchen euer: 
dem Fegefeuer und dem Feuer der Hölle. 

Ein zweites gleichzeitiges Ereigniß ift die Auferftehung ber Leiber 
eine alfgemeine ift. Die Guten’: erhalten ihre Leiber wieder 
* befreit von allem Abnormen, fo daß die echte Natur zum 
fein kommt. Dies malt er mit vieler Phantafie aus ®). 
3on dem, was dem Gerichte nachfolgt, zieht er zuerft das, Höftifch 
er in feine Betrachtungen, dann und zuletzt die Glorie des Pa 
eſes. Selbft bei diefem Gegenftande verläßt ihn die Schärf 
Diftinetion nicht, denn er theilt den Lohn des Paradiefes i 
praeinium substantiale, d. i. das Schauen Gottes von An 
ht zu Angefiht, da8 praemium consubstantlale,- der verffärt 
mit feinen herrlichen Eigenfchaften, und das praemium acci 
tale, nämlich die aureola, die Krone der Märtyrer, der Lehre 
der ımbefledten Jungfrauen. Den Schluß des ſchönen Werte 





„Dieitur autem transire figura huius mundi, non quantum ad de 
struetionem totalem huius mundi sensibilis, sed quia per actionen 
Mius ignis, omnia. elementaria inflammantis, cofsumentur vege 
tabilia et animalia purgabuntur, et innovabuntur elementa, maxim 
aer et terra, purgabuntur justi et adurentur reprobi; quibus facti 
cessabit etiam motus coeli, ut sic completo numero electorum fia 
quodam modo innovatio et praemiatio corporum .mundanorum. 


(VI, 4, 1.) 
„Opportunum est, ut si aliquod membrum deerat, suppleatur, s 
aliqua erat superfluitas, auferatur, si.... parvülus erat, ad quan 


titatem aetatis Christi, quam habebat in resurrectione, licet. non ir 
mole, divina virtute dedueatur, si decrepitus ad eandem aetaten 
reducatur, si gigas, si nanus, ad mensuram congruam limitetur.“ 


Bonaventura als Dogmatiler. 110 


macht er mit einer Stelle aus Anſelm's von Canterbury Pros⸗ 
logium (Cap. 24f.),. wo ſich Anfelm in einem Gebete fehnt nad 
der Seligkeit, die fein Auge gefehen und kein Ohr gehöret hat und 
in feines Menſchen Herz gefommen ift (1 Kor. 2, 9). 

Bevor wir das Breviloquium verlaffen, ift noch eine eine, 
wahrſcheinlich unechte Schrift zu erwähnen: „„Declaratio Termino- 
rum Theologiae.““ Es find im Ganzen nur vier Folioſeiten, 
welhe mit den Worten ſchließen: „Haec sunt, carissime frater, 
pauculs, quae pro usu et exercitio tibi relinguo, postquam, 
deo dante, te iterato videro, Jatius tibi exponam.“ Es ift 
din Grundriß des Breviloquiums, in der Form von bloßen anein- 
andergereihten Erklärungen. Obwohl ber Ausdruck zum Theil wört⸗ 
ih mit dem Breviloquium ftimmt, fo findet fich doch auch wies 
drum, namentlich zu Anfang, einiges Abweichende. 

Bern man bie Commentare zum Lombarden ein ſyſtematiſirtes 
Rpertorium.. dev Theologie, das Breviloguium ein Compendium 
derfelben nennen kann, fo ift das . 


Eentiloguium 


als eine Propäbentif der: Theologie zu bezeichnen., Den Namen 
führt es davon, daß es im feinen vier Theilen [etwa] 100 Ab» 
ſchnitte emhält. Bonaventura bezeichnet nad einer für ihn charak⸗ 
teriſtiſchen Einleitung den Zwed feines Werkes und fagt: Er habe 
8 zum Beften der. Kleinen und auf Verlangen verfertigt, er ein 
Ungelegrter, ein ungelehrtes Buch. Den Inhalt habe er ans den 
Ausſprüchen proborum genommen“); es kommen neben einer 
ofen” Zahl von Kirchenvätern auch Ariftoteles, Cicero (Tullius, 
De inventione, Ad Herennium), Seneca, Boethius und einige 


Andere vor. Auch über den Inhalt gibt Bonaventura felbft eine . - 


Ueberficht; der erfte Theil Handle von dem Böfen unter dem Ge- - 
fihtspunkte der Schuld, der ziveite von dem Bbſen unter dem Ge 
fihtspunfte der Strafe, der dritte vom Guten unter dem Gefichts- 
punkte der Gnade, der vierte vom Guten unter dem Gefichtspunfte 





%) Shrödh fheint (XXIX, 219) die probi als Philofophen zu verſtehen 
und wundert fi dann, daf doch meift nur Kirchenväter angeführt find: 





120 Hollenberg 


der DVerherrlihung. Danach würde bie erfie Häffte des Centi 
loquiums dem dritten Theile des Breviloquiums und dem Schlu 
bes fiebenten Theiles entſprechen; die zweite Hälfte des Gentiloguium 
aber mußte aus fehr verſchiedenen Theilen des Breviloquium 
das entfprechende Material entnehmen. Nicht dogmatifche, fonder 
ethiſche Begriffe beftimmen im Centiloquium die Folge der Theil 
‚ja man kann aud vom Inhalte felbft jagen, er gehöre mehr i 
das Gebiet der Ethik. Aber auch nur diefes mehr Täßt. fich be 
haupten, denn’ bie fittlichen Themata werden in dem Centiloquiur 
doch wieder dogmatiſch behandelt und die ſcholaſtiſchen Divifione 
und Subdiviſionen machen hier einen um fo unangenehmeren - Ein 
drud, als das fittliche Gebiet noch mehr als das dogmatifche ver 
langt, aus dem eigenthümlichen Weſen des menfchlihen Bemuft 
fein& und niht.aus pinem fertigen Neg der Dialektik feine Ordnun 
— zu empfangen. ‚Um aber noch am einem einzelnen Momente ; 
zeigen, daß nicht blos die Behandlungsweife dogmatifch-ift, ſonder 
aud ganze dogmafifche Abfchnitte in. den Rahmen, der Ethif gebrad 
werden, fo ift die britte Abtheilung des Centiloquiums (De bon 
sub ratione gratiae) junädft dazu beſtimmt, das Gute in ei 
bonum increatum, ein. bonum.creatum und. ein bonum conju 
gatum,. worunter. Ehriftus verftanden- wird, einzutheilen, und mu 
folgt in ziemlicher. Ausführlichkeit die ganze Lehre. von ber Dre 
einigfeit, dann bie: Lehre von der Schöpfung, von der Beſchaffenhei 
der Engel, ihrem Fall und ihrer Befeftigung, ja zwei Abjchnitt 
behandeln alfein bie Vorftellungen von der himmliſchen Hierardie 
welche Bonaventura den Anfängern vielleicht hätte erlaffen. können 
Im Verlaufe derjelben Abteilung werden die ſämmtlichen (fano 
niſchen und apofryphen) Bücher ber sacra scriptura aufgezählt u. |.m 
Eine verwandte Schrift Bonaventura’s iſt die etwas niedrige 
- ftehende Diaeta Salutis, in welcher eine Reiſeroute zum Paradief 
gezeichnet wird. Der Ausgangspunkt der Reife ift bie fündig 
Zuftändlichteit des Menſchen; die Reife geht nun in neun Sta— 
tionen, die felbjt wieder diaetae find, zum Ziele hin, wodurch di 
ganze Schrift zehn Theile (tituli) erhält. Ein Anhang verſuch 
noch, die Anwendung des. Vorhergegangenen ben. Predigern zu er 
leichtern. 


Bonaventura ald Dogmatiker. 121 


In der Befchreibung des Musgangspunftes der Reiſe wird das 
Bejen der Sünde. im Allgemeinen beſchrieben als das eigentlich 
Haßliche, als das Ungerechte, welches der Satan ergreift und 
febt (mas ſchon in dem Spruche 1 Moſ. 14, 21 liegt: „Gib mir 
biegeute [animas], die Güter behalte dir“) und ale das Schwache. 
Im Speciellen find fteben Hauptfünden zu nennen, fünf den Geift 
näher betreffende: Hochmuth, Neid, Habſucht, Zorn und acidia 
(eröla), zwei das Fleiſch: Ueppigfeit und gula (Schmwelgerei), 
welche alle durch) das Gedächtnißwort saligia angedeutet werden. 
Son allen diefen Sünden bringt die Schrift fodann einige Gleich- 
nife vor, fie wirken alle auf die Seele, wie,wenn die Faulniß 
iinen Apfel ergreift und entſtellt, auch ſteht es mit ihnen wie mit 
kibfihen Wunden, bie am erften und zweiten Tage nicht beſonders 
fhmerzen, aber am dritten Tage ſchwer zu berühren und zur Hei⸗ 
Img zu bereiten find. “Auch geht es bei den Sünden wie bei einem 
fdlehten Tuche. Denn wie bei biefem ber Verkäufer nur ben 
fhönen Anfang des Tuches aufrolit, das übrige dem thBrichten 
Räufer verbirgt, fo entrollt ſich bei der Sitnde blos die delectatio, 
nicht das Mittelftück, die. Reue, oder däs Ende, die HöHe u. ſ. w. 
& werden auch die übrigen Laſter gleichnißweife erläutert, wodurch 
die ganze Schrift ein myſtiſches Gepräge erhält; and die ‚große 
Vorliebe für die affegorifce Auslegung der heiligen Schrift ent- 
ſpricht der myjtiſch⸗ praktiſchen Haltung der diaeta salutis. Bon 
kbem Laſter werben. die Typen und Vergleichungen aufgeführt, 
fodann die Nachtheile ‘(damma), welche es im Gefolge ‚hat, und‘ die 
übgeläiteten Laſter (fliae). Go 3. B. Leiten ſich von der luxuria 
fünf andere Laſter ab: fornicatio, nämlich eum..muliere soluta, 
aulterium, stuprum (quod est-cum virgine vel religiosa) 
md incestus. (Das Alles fol ſchon liegen in 2 Kön. 6, 25: 
Do erzählt wird, daß ein Biertheil Kab Taubenmiſt fünf Sitber- 
finge galt.) 

Die erfte Reifeftation ift num bie Buße. Sie wird erft im 
Algemeinen gepriefen, dann folgen Erörterungen über ihre Theile: 
Zuhirfhung (contritio), Beichte (comfessio) und die büßerifche 
Gemgtäuung (satisfactio). Dieſe Theile find als partes inte- 
grales noch zu unterfcheiden von den partes virtuales, das find: " 


124 \ Hollenberg \ 


folgenden Beſchreibung der drei theologifchen Tugenden wird zw 
zu Anfang immer auf die Sentenzen zurücgewiefen, aber me 
tommen homiletifche Stellen aus dem heifigen Bernhard in Betrad 
und Bonaventura Tann fi nicht genug thun in ber Aufhäufu 
von Vergleihungen, bie das Weſen und die Herrlichkeit der T 
genden anfhaulid machen follen. 

Die erfte der Cardinaltugenden, und zwar wird fi fie als pruden! 
gefaßt, befommt ihre Definition aus Cicero's De officiis, die andeı 
aus anderen Schriften. 

In der folgenden Station ergeben ſich bie fieben Gaben { 
heiligen Geiftes, ein fehr befiebtes Thema, über‘ weiches Bonavi 
tura noch ein befonderes Buch gefchrieben hat. Wie die fieh 
Gaben aus Jeſ. 11 abgeleitet werben, haben wir fehon aus d 
Breviloguium erfehen. In der Diaeta salutis find nur vier Get 
beſonders behandelt und zwar zunächſt die Furcht, in der gemöl 
lichen panegprifcen Weife. Am Ende diefes Abfchnittes wird all 
dings bemerft, daß das donum der pietas, der scientia upd | 
fortitudo zu beſprechen fä, aber die erftere fei dafjelbe oder fi 
daffelbe wie die Barmherzigkeit, und komme daher fpäter vi 
Die zweite, das Wiffen, fei ſchon bei der Tugend der pruden 
erledigt, ebenfo die fortitudo fei zwar nicht als donum, aber d 
aͤls yirtus früher hinlänglich behandelt worden. Er geht for 
fogfeih zum donum consilii über, wobei er mißbräuchlicher We 
wieder auf die jogenannten evangelischen consilia kommt. Bei & 
intellectus bemüht er ſich, zwiſchen ihm und der sapientia ein 
Unterſchied feſtzuſtellen, und zwar will er die prudentia und s 
pientia auf das active, praktiſche Leben, den intellectus auf | 
Eontemplation hefchränfen. Nictsdeftoweniger ſoll der intellect 
erforſchen, was über uns ift: Gott, mas ‚neben uns: ben Nächte 
und was unter uns ift: unfern Leib. Das Erftere gelingt nı 
Röm. 1,19 durch die Erkenntniß der. visibilie. Doch unterjceit 
er weiterhin ein doppeltes Buch, worin der. Verftand leſen könn 
das Bud, der Schrift, welches der Heiland den Yüngern no 
feiner Auferftehung gab, damit fie” in den gefegligen Vorbilde 
und prophetiſchen Gefängen des A. T.'s bie Geheimniffe der Gna 
erkennten, das andere Buch ift daS der Natur, welches die Bei 
niſchen Philoſophen nicht verftanden haben, da fie nicht vermochte 


Bonaventura als Dogmatiter. 125 


von der Größe des Geihöpfs zu der Größe dei Schöpfers auf- 
zuftigen. Eigenthumlich ift noch, daß er in dem Creatirlichen, 
fofern e8 der Erkenntniß dienen foll, neben dem fchlechthin Natür- 
fiden auch die Werke der Kunft aufzählt und in jenem ein signum 
zaturale, in diefen ein‘ signum positivum Gottes findet. 
dreilich zieht er fich in letzterer Beziehung fogleich wieder auf das 
Irtifiielfe im kirchlichen Leben zurüc, die Gebäude der Kirchen, 
die Gewänder der Priefter mit ihren bedeutfamen Farben, und 
Lehnliches. Den Schluß. der Abhandlung über die fieben Gaben 
macht die Weisheit. " . 

Unter der Ueberſchrift „Won den evangeliſchen Seligkeiten“ (De 
ketitadinibus evangelicis) handelt der Verfaſſer fodann in der 
ſetſten Station von den fieben Hauptbegriffen der Stelle Matth. 5, 1ff., 
peft von der Demuth (humilitas), die er nicht genug preifen 
fm, von ber Sanftmuth (mansuetudo, oder mititas), vom 
Beinen und zwar von brei Arten des Weinens (fetus com- 
punctionis, compassionis ‘und devotionis), bon ſechs Hinderniffen 
des Weinens und ſechs Gründen und Belohnungen des Weinens, 
von der Barmherzigkeit, von der Reinheit des Herzens, 
alz deren Urfachen er die Refung der Schrift, Almoſen und Thränen 
afähft, vom Frie den und von der Geduld. 

Die fiebente Station gewährt die zwölf Früchte des Geijtes, 
ac Gal. 5, von welchen aber nur acht befprochen werben, weil 
bie übrigen ſchon anderweitig erfedigt find. 

Die achte Station führt zu dem 'Endgericht, und zwar, wie im 
Brebiloquium, treten erft die vorhergehenden und dann bie dem 
Gerichte ſelbſt gleichzeitigen Momente auf. 

Zu den vorangehenden Momenten liefert er nad Hieronymus 
eine (ebhafte Befchreibung der Zeichen Mark. 13; am erften Tage 
ehebt ſich das Meer 15 Ellen Hoch über die Bergeshöhen und 
feht an feinem Ort wie eirte Mauer, am zweiten Tage verſchwindet 
% faſt, am dritten Tage erfcheinen die Fiſche und Seeungeheuer 
über dem Meere und brülfen zum Himmel empor u. f. w. Nach 
dieſen Zeichen befchreibt er, wie bie Bücher geöffnet werden: 1) das 
Bud) des Leidens Chrifti, 2) das Buch des Gewiſſens, 3) das 
But) des Lebens. Darauf fpricht er über das Urtheil felbft und 
deſen Ausführung. ' 


Hollenberg ‚ 


In der Tegten Station wird uns die Strafe der Hölle und 
erlichteit des Paradiefes 'gefhildert. Um die Größe der St— 
chaulicher zu machen, führt er einen Sprud) Auguftin’E an, 
m die Strafe des Fegefeuers fchlimmer fei, als jede irdi 
tal, wie viel mehr die Höllenftrafe. Wirkſamer aber ift n 
: er neun verfchiedene Arten der Höffenftrafen anführt: Be 
irm, Geſtank, Kälte, Hunger und Durft, Folter (Mar. I 
jreden, Finfterniß und endlich noch die Beſonderheit, daf 
m Strafen nicht blos eine acerbitas, fondern aud) contra 
ift, Flamme und doch Finfternig, Tod ohne Tod, Ende 
ner anfängt x. 

Er geht dann zur paradisi gloria ‚über, die er nach Wü 
umalen nicht unternehmen will. Aehnlic wie im Breviloqu 
hreibt er die Krone einmal als aurea und dann als aureı 
erfte ift da8 praemium substantiale, welches im Schauen 
nießen Gottes befteht; die.[corona] aureola ift da8 praemi 
identale, die. Krone der Yungfrauen, Märtyrer und Leh 
ch einer kurzen, Betrachtung der zwölf Früchte des Leidens Ch 
> der zwölf Früchte der unfterblichen Glorie wird von der Sd 
: und dem herrfihen Bau des himmlischen Jeruſalems mehr 
tet als gelehrt. Was die Apofalypfe darüber fagt, wird 
ſtiſchem Geſchmack weiter entwidelt, namentlich was die ı 
ebenen Edelfteine anbetrifft, die in der Offenbarung genannt fi 
t legten Capitel wird die Herrlichkeit der Gemeinfchaft geprie 
ch welche in dem, oberen Jeruſalem. die himmlischen Heerſchac 
Chriſto verbunden find, und in ſchönen Cantilenen , die | 
e Paraphrafen bibliſcher Stellen find, läßt, der Schriftfteller 
ſchiedenen Gruppen der Seelen von dem erhöhten Heilande 
Iommnet werben. - 

In dem Verlauf der /zufegt analyfirten Schrift wurde ein 
deres Wert Bonaventura’s über die fieben Gaben des heili 
iftes erwähnt. Da es ſich nad) Form und Inhalt auszeich 
wolfen wir es hier wenigftens im Allgemeinen charakterifi 
» damit von der Reihe Schriften Abfchied nehmen, welche 
maventura's dogmatiſcher Anſchauung zunächft und ex profe 
tun Haben. 

Bonaventura geht don dem Spruche (Jak. 1) ans: „Ale g 





iR 
Bonaventura als Dogmatiker. "137 


Gabe und .alfe vollkommene Gabe kommt von oben herab, dem 
Later der Lichter“ und fieht in den Gaben des heiligen Geiftes 
sen Strahlen des Lichts, eines Lichtes, welches ſowohl erleuchtet, 
als and erwärmt, Erfenntniß gibt und Erquickung *). Sorgfältig 
Indert er fobann bie vollkommenen Gaben der Schöpfung "von 
den Gaben der Vollendung, von welden er ja fpecieller reden will. 
Für die Siebenzahl der Gaben führt er außer der Auctorität der 
befannten Stelle Jeſ. 11 aud) eine ratio an, denn durch die Sieben ⸗ 
zahl wird ein umfafjendes Ganzes angedeutet (per septenarium 
sgnificatur universitas) und gleichwie die Welt in fieben Tagen 
vollendet worden, alſo die Meine Welt, der Menſch. Sodann ſucht 
a die Gaben des Geiftes von anderen Zuftändlichkeiten und Gaben 
n mterfcheiden. Die Gratia- ift ja die Quelle und die weiters 
biende Macht auch der Tugenden, in denen fie ſich gleichſam ver- 
zweigt, Wie-fich diefe Tugenden nun won den Gaben des Geiftes 
unterjcheiden, gelingt Bonaventura natürlich nicht fo gut zu zeigen, 
a wie fie mit ihnen zufammengehören. Hauptſächlich faßt er die 
Gaben als die reinigenden und befruchtenden Ströme auf, welde 
in dem erentürlichen Leben zu einer relativen Selbftändigkeit 
gelangen und dann den Laftern von innen heraus Widerftand 
kiften. Die, verfgiedenen Seligfeiten fondern fi ſchon leichter 
don den Gaben. ” 

Was nun das Einzelne betrifft, fo beginnt er mit der Furcht, 
«8 dem Zundament der übrigen. Die Furcht leitet er mit Auguftin 
as der Liebe ab (timor est amor fugiens quidquid ei adver- 
stur). Eine gewiffe natürliche Furcht, wie fie Ehriftus vor 
feinem Tode empfand, fei zwar. nicht vonder heiligen Geifte, könne 
aber nicht gerade verworfen werden. Cine zweite Art von Furcht 
äft die weltliche Furcht, eine dritte die knechtiſche, eine vierte 





2) Er zieht dabei nach Gregor's Vorgang in myftiier Art die fieben Söhne 
diobs zur Vergleichung herbei, von denen jeder an feinem Tage ein 
eonvivium madte: „sunt septem dies spirituales, sive illumina- 
tiones et quaelibet dies habet suum convivium. Igitur sicut 
septem sunt dies, ita et septem convivia erunt sive septem mentis 
tefectiones nos praeparantia et nos habilitantia ad illud grande con- 
Yirium ete.“” Diefe zwei Begriffe dies spiritualis und convivium kehren 
bei deg Beſprechung jedes einzelnen donum wieber. 


2 f Hollenberg 


ie anfangsartige Furcht (timor initialis), von dem Sprude: „ 
urcht des Herrn ift der Weisheit Anfang“. Sie ift von 
ndlichen Furcht fo ünterfchieden, wie da8 Unvolitommene vom % 
mmenen. Denn eine völfige Liebe treibt diefe Furcht aus, 

infte Art der Furcht ift die findfiche (Alialis) und die eigent 
tabe des Geiſtes. Darnach fpricht er davon, wie denn nun 
er Furcht in der Seele ein Heller Tag anbreche und das Wohll 
er Seele vorbereitet werde (Hiob 1). In dieſen myſtiſchen 
sfitionen folgt er meift dem Hugo a fancto Victore und dem heil 
Jernhard. In zweiter Stelle handelt er von dem donum 
römmigfeit. Wohl weiß er, daß es eine gewiffe angeborene Fr 
igfeit gibt (pietas innata, quaedam affectio inclinans ad fi 
arentes ete.); diefe fogenannte Pietät fei auch in dem hie 
ie bei den Störchen z. B. Manche Haben auch eine ſchon 
idfeftere Pietüt, die acquisita, welche ſich auf die Bekannten 
reunde bezieht. Die vollfommene pietas ift aber die, welche ı 
wiell aller Frömmigkeit in\unfere Seele eingegoffen, nicht | 
ın Freunden, fondern Allen unaufhörlich Wohlthaten ermeift. 

it an Werke der Barmherzigkeit an ſich, fünf feibliche: Arı 
juchen, MDürftende tränfen, Hungernde fpeifen, Gefangene erlö 
adte Heiden, Fremde beherbergen, Todte begraben; und fünf g 
de: Schuldnern vergeben, den Sünder zurechtweifen, den | 
iffenden lehren, dem Schwanfenden-berathen, den Traurigen tröſ 
r das Heil des Nächſten beten, Beleidigungen ertragen. Es fol 
ieder die zwei Anhänge über den Tag und das Convivium 
etas, in welchen Richard und Hugo a fancto Victore, Bernhe 
habanus, Caffiodor, Boethius, Auguftin, Gregor, Anfelm 
jamascenus u. X. citirt werden. Das dritte donum ift die © 
r Erkenntniß (seientia), welde nad) Gregor, dem bie Anordn 
r fieben entnommen ift, jegt folgen muß, weil das Erkennen 
fofern Erfennen ift, al6 e8 den Nugen ber Frömmigkeit ı 
hließt und andererſeits die Furcht und die auf die eigene © 
richtete Barmherzigkeit der pietas den Gläubigen’ antreiben, 
rfenntniß vom Heil zu ſuchen. Die weitere Behandlung 
e gewöhnliche. Nur wird noch ein Abfchnitt hinzugefügt über 
ilige Schrift, als der reichlich befegten Tafel der Erkenntniß ı 
r Geheimniffe Gottes. Leider ift diefer Theil voll von ( 





Bonaventura ‚als Dogmatifer. 129 


tmadloſigleiten in der Vergleichung des Einzelnen, meift jedoch 
find diefelben als Citate Herübergenommen. 

Von der Stärfe (fortitudo) Handelt das folgende” Eapitel, 
weil auf da8 Erkennen des Heilsweges das Handeln folgen muß. 
Bonaventura unterſcheidet eine zwiefache fortitudo, als Tugend und 
ol Gabe. Jene kämpft "gegen die zu überwindenden Schwierige 
kiten und Uebel mit Rüdfiht auf die endlichen, natürlichen Prk- 
dien, diefe mit Rückſicht auf die übernatürlichen Principien des 
ewigen Gefeges *). In dieſer letzteren QTapferkeit Haben die Heis 
ligen freudig ihre Kämpfe ausgefochten. In dem nun wie oben 
ſich anſchließenden Abſchnitt über den geiftlihen Tag, der mit der 
tortitado in der Seele anbreche, Spricht Bonaventura von den drei 
Thoren der Seele, Gedächtniß, Verftand und Willen, in welchen 
fi die Ebenbifdlichkeit des Menſchen mit Gott zeigt, als in Kräften, 
velhe der Ewigkeit fähig find. Dieſe Thore öffnet der heilige Geiſt 
durch das · Geſchenk der Tapferkeit. 

Die fünfte Gabe des Heiligen Geiſtes, der Rath, consilium, 
wird ebenfalls zuerft nach ihrer natürlichen, pſychologiſchen Baſis 
berachtet, dann nach ihrer Steigerung durch die göttliche Kraft. 
teiht it auf diefer Stufe der geiftliche Tag und das geiftliche 
Vohlleben zu ſchildern, das mit dem consilium gegeben ift. "Ein 
Sdlußabſchnitt zeigt noch, wie die drei höheren Nathgeber: me- 
noria, intellectus, voluntas, auf die niederen Seelenkräfte und 
Tugenden reinigend, erleuchtend und vollendend wirken. 

Die ſechſte Gabe, der intellectus, ift die erfte ber beiden, 
welche mehr zum contemplativen Leben gehören. Daß der Intellect 
ine in das Innere eindringende Keuntniß fei, leuchtet fon aus 
der Ahftammung des Wortes Hervor, infofern es aus intus legere 
componirt fein fol. Die Erkenntniß als donum des heiligen Geiftes 





3) „Est alig fortitudo, quae est donum Sp. S., quae se habet respectu 
ilius poenae secundum dictamen supernaturalium prineipiorum ae- 
ternae legis“. .... Ex quo patet, quod donum fortitudinis est 
habitus existens sicut in subjecto in voluntate in quantum nego- 
tiatur circa ardya, quo voluntas hebilitatur ad volendum mortem 

. sustinere, pro defensione seu pro motione veritatis fidei vel mo- 
rum etc.“ 


Deol. Stud. Jahrg. 1868. 9 





180 Hollenberg, Vonadentura als Dogmatiker. 


liegt noch · höher als die gewöhnliche, denn fie ift ja ein übernatü 
liches Licht (ein lumen -supernaturale. et superadditum inte 
kectui et datum homini) und daher ſchaut fie das höchſte Wat 
und das Unwandelbare. Wie. möthig eine ſolche Erkenntniß de 
Ehriften fei, weiß er wohl quseinanderzufegen, ebenfo auch, ı 
denn biefelbe in die Geheimniffe der Schrift und im die Sacı 
mente eindringt. Damit ift auch ſchon die letzte Betrachtung ? 
©egenftandes, von dem Tage und dem Wohlleben der zur Orten 
niß gelangten Seele, angebahnt. 

Die letzte Gabe des heiligen Geiftes, die Weisheit, m. 1 
befonderer Sorgfalt erörtert. Die Weisheit der Welt, melde t 
Thorheit vor Goft ift, laßt er gleich fallen; aber aud die ewi 
unerſchaffene Weisheit kann nicht in feine Betrachtung gehör 
Näher ſchon liegt ihm die menfchliche, philofophifche Weisheit, meld 
wie Ariftoteles mit Reit fagt, wunderbare Freuden gewährt; al 
der eigentliche Gegenftand feiner Abhandlung ift die Weisheit v 
Oben. Sie ift. auch eine Betrachtung Gottes, aber weſentlich 
der Liebe Gottes wurzelnd und mit der Seligkeit der Empfindu 
verbunden. Diefe Weisheit muß von Gott erlangt, von ihm 
beten und gefordert werden, durch das erftere (quaerere) wird 
gefanden, durch da® Fordern. (postulare) wird fie befeffen; m 
findet fie durch Einficht, man befigt” fie durch Liebe. Das Ma 
welches die Weisheit der Seele bereitet, wird in Bildern dargeſte 
und zwar ale ein dreifadhes, ald ein Mahl der Freunde, u 
der heilige Geift durch die Weisheit anrichtet der Seele, wie | 
im Leibe ift; darnach als ein Mahl, dns der Seele zu Tt 
wird, infofern fie vom Leibe getrennt ift, das Mahl ! 

. Ruhenden, die im Herrn geftorben find; endlich als das M 
der Herrſchenden nad Luk. 22, 29ff.: „IH will euch ? 
Neid) beſcheiden, wie mir mein Vater befchieden Hat, daß ihr. ei 
und trinfen follt über meinem Tiſch 2.“ Zu den Gäften in diei 
hochſten Mahl gehören auch die Engel, melde mit den Gelig 
zuſammen den Herrn loben werden in Ewigleit. 


‚ 


. 


Gedanlen und Bemerkungen. 











1. 


Eregetifche Bemerkungen zu den Sprüchen Salomo's. 
Bon J 


D. R. Müelſchi, Dekan in Kirchberg, Kanton Bern. 





Berfönliche Vorliebe und äußere Veranfafjung Haben den Ber 
foffer der nachftehenden Bemerkungen feit Jahren wiederholt zum 
tingehenden. Stublum des Buches der Sprüche Salomo's ges 
führt. Namentlich war es die im Vereine mit mehreren Freunden 
unternommene Reviſion unferer kirchlichen Bibelüberfegungen, der 

ftanzöſiſchen und der deutſchen, von deren erfteren bereits.da8 Geſetz 
and die Hiftorifchen Bücher im Druck erſchienen find (Lanfanne 
1861 und 1866), die poetiſchen Schriften demnädft die Preſſe 
verfaffen werden, wogegen bie Arbeiten der deutſchen Verſion noch 
nicht fo weit gebiehen find, — was mid zu tieferem Eindringen 
in diefes Höchit intereffante Schriftftüd nöthigte: Es wird dies nur 
deshalb kemerft, um den Charakter der nachfolgenden Anslegunge- 
proben, die dem Urtheil der Sachkenner vorgelegt. werden, in's 
tichtige Licht zu fegen. Nämlich bei Erſtellung einer kirchlichen 
Ueberſetzung wird mit echt der Grundfag gelten müffen, dag — 
ſoweit woglich, d. 5. wo nicht die Grammatik ein Verſtändniß des⸗ 
felben geradezu unmöglich macht — am überlieferten maſoretiſchen 
Terte feſtzuhalten fei und Abweichungen davon nur im Nothfall 
auläffig ſeien. Dieſe Beſchränkung, die einer ſolchen Arbeit natür« 





134 Rüctigi 


Ticherweife gefeßt ift, iſt gerade bei einem Buche um fo wichtige 
deffen Text aus mancherlei Gründen, namentlich auch, der Schwi 
rigfeit und mitunter- gefuchten Dunfelheit des Ausdrucks wege 
in der That in einem nicht völlig reinen Zuftand auf uns gefomm« 
ift. Schon die alten Berfiönen, voran die LXX, gingen bier m 
einer ziemlich weitgehenden Weberarbeitung und nicht immer glü 
lichen Conjecturen voran, wogegen allerdings auch zuzugeben i 
daß fie noch im einer Anzahl von Stellen den urfprünglichen Te 
uns aufbewahrt Haben (f. befonders Higig, Die Sprüde ©: 
[Zurich 1858], ©. XXIIIff.). Wenn nun der eben gemanı 
Gelchute Ya ſeiner, in tmancher Hipſicht aurexichnieten, Bearbeitu 
der Sprüche in ſehr hohem Maße Conjecturalkritik übte und wirhl 
eine beträchtliche Anzahl von Stellen auf höchſt fharfjinnige u 
glückliche. Weife emendirt hat, fo ging dagegen das Veftreben d 
Unterzeichneten dahin, fo gut als ‚möglich in's BVerftändniß d 
maforetifchen Textes einzudringen und fo zu verfuchen, denſelb 
feftzuhalten gegen vorgefchlagene Aenderungen. Inwieweit mir d 
in den mitgeteilten Steffen gelungen fei, darüber werben Ande 
urthellen; das Gefegte mag genügen zu Bezeichnung des Gefih 
punktes, von dem man bei der Arbeit ansgegamgen iſt. 
Cap. VIIL 

8. 85. Wir haften das Chetibh feit, punktiren es aber nid 
wie man gewöhnlich thun zu müffen glaubt, als Pluralis vwy 
was jedenfalls auch die Aenderung bes vorangehenden ıyso in »R 
zur Folge Haben imitfte, fo daß eine Willkür die andere ‚hervorrie 
fondern isn, was wir aber als Partie; mit »— als werbi 
dendem Bocale auffaffen, vgl. Pf. 114, 8: Ind ppm; 113, 
Sn app; 1Mof. 49, 11: May gppb min, ſ. Ewald, Let 
buch, 8:214, 5.1: (5 Ausg). Alfo: „wer mich findet, ift e 
Findender von Leben = der findet Leben“. Mit Unrecht hab 
die Maforeten dies fogenannte paragogifche »— *) verlannt und i 
Q’ri als überflüffig bemerkt, indem fie erleichternd nyg zu kei 
gebieten. Wir Halten dafür, es fei eine — ganz nad; femitifche 





8) Hier Aublandersiwo (der. 10,17; 29,28; 51,18. Magk 4,21. Erd. 27, 


exegetifche Bemerkungen zu der Eprücen Salomo's. 186 


Geſchmade — geſuchte Aſſonanz und daher dieſe ungewöhnliche 
Form gewählt, um ein gleichlautendes Wort in verjchiedener Wer 
deutung dicht nebeyeinander zweimal zu gebrauchen. 


Cop. X. 


8. 6. Aeltere und neuere Ausfeger haben hier Anitoß genom⸗ 
men und find bei Deutung der zweiten Vershäffte geſtrauchelt, weil 
der Parallelismus etwas verſteckt, aber nur um fo ſchöner ift. 
Das Richtige fahen unter den Alten Yquila und Symmachus, von 
Neueren namentlich Ewald und Bertheau, Elfter und Zödler, aber 
zum Theil ohne fchärfere Beſtimmung des Mealfinnes. Nämlich 
gmäg V. 11 ift ser Subject, nicht Object; alfo der Sinn nidt: 
‚eu Mund der Freoler dedt Uurecht“, wie auch Higig, mit Aen- 
drumg der Punctation in ngy dem Sinn nach deutet, d. h. „Unrecht, 
Leid fällt auf ihren Mund, diefer wird dadurch geftopft, daß fie 
verſtummen müffen“ ; aber zu ſolchem Sinne würde nicht ngp er⸗ 
wartet, fondern ein Wort, das „verſchließen“ oder dergleichen bes 
deuten könnte, und ftatt Dgm würde etwa > „Schande“ erfordert. 
Der Sinn ift vielmehr der: während der Gerechte, welder felber 
für Andere ein Quell des Lebens und Segens (V. 11), nichts als 
Ciebe und Treue ift, aud Segen zu erwarten hat (V. 7), hat der 
Fredler in fich felbft nur Verderben, er verſchließt's, birgt’s war 
(vgl. ng» B. 18) mit dem Munde, hat's aber doch in ſich (Bi.5, 10), 
und das gerade, daß er in fich den oym für Andere verbirgt, wendet 
den Segen auch von ihm ab. Man vergleiche die Ueberfegung des 
Targ. und die Deutung von Ibn - Esra, 

8.8—10. „Wer weiſen Herzens, nimmt Gebote an“, er redet 
wenig, aber hört viel, nimmt Lehren an, drum geht's ihm gut 
(8. 9, a. Eap. 3, 1ff.); „wer aber ein Thor ift an Lippen“, 
ſich durch feine Worte als einen Thoren erzeigt, immer redet und 
ſich nicht belehren läßt, „tommt zu Fall“, eigentlich: wird hinges 

. norfen. Es iſt überhaupt ein eigenthümlicher Reiz vieler Sprüde, 
daß der Parallelismus nicht immer völlig zufammenteifft, fondern 
dem Leſer überlaffen bleibt, die Zwiſchengedanken zu ſuchen und die 
Confequenzen herauszufinden. Cs ift dies eine allgemeine Bemer- - 
bung von großer Wictigfeit für die Erklärung unferes Buches, 


Rüerihi 


tuß, Birt. Hermeneutif, ©. 472. 4255. „Wer in Unſchu 

ıbeft, wandelt ſicher; wer aber feine Wege krümmet, wird erfan 
den“ (wir bleiben mit Ewald und Bertheau, auch Zödter | 

er Bedeutung von yap nad LXX und Vulg., der Sinn wi 
fhärfer: er jchlägt frumme Wege ein, wie er meint, um dei 
erer und unerfannter das Böſe üben zu können, aber er wi 

) immer erfannt und offenbar, er muß felber immer fürcht 

ınnt zu werden, was feinem Wandel „Unficherheit“ gibt; es 

» ein guter Gegenfag zum erften Gliede vorhanden). „Wer n 

1 Auge bfinzelt (6, 13), ftiftet (f. yng Nehem. 5, 7) Kräntun 
wer ein Thor ift an Lippen, kommt zu Fall.“ Hier hab 
Tegten Worte Anftoß gegeben und man fuchte, wie ſchon LX. 
ch Aenderung derfelben einen befjeren Gegenfag zum vorig 
ede zu erhalten. Doc ift gerade Hier der gewöhnliche Te 
auch Higig anerkennt, durchaus richtig; man erffäre ihn | 

blinzelt, der Zalfche, ſchafft Leidweſen, verurfacht Verdruß fi 
bft, und auch wer thöricht gerade heraus Böſes redet, fäl 

r fi) alfo bös gegen Andere erzeigt, wird's nicht lange treibe 

trägt felbjt die böfen Folgen davon, die nur verfchteden fir 

aachdem- er fich böfe gezeigt hat: Verdruß, wenn er's in ve 

Her Weife, Sturz, Fall, wenn er’s offen gethan hat. 

B. 14. Nach dem Sprachgebrauch unſeres Buches (V. 1 
3; 18, 7; 10, 29) ſcheint der Sinn des zweiten Glied 
fein zu können „des Thoren Mund ift naher Einfturz“ d. 

jeend der Weife fein Wiffen birgt, alfo nicht viel redet und 

Sünde bewahrt bleibt, ift, wo Thoren reden, die ftets d 

m aufthun, Einfturz, Schreden, irgendein Unglüc nahe v 
Thüre, denn da läufts ohme Sünde ſchwerlich ab, daher ni 

e die übelſten Folgen für die Thoren. felbft, die fo plauder 
für Andere, 3.8. die ihnen zuhören, vgl. 21, 23 zum erft 
ede und zum zweiten 10, 19; 13, 3. Jak. 3, 1f. Die € 

ung von Ewald, Berthean, Hitig: „des Narren Mund dro 

3 zu plagen und zu Berften, jeden Augenblick droht er mit fein 

fällen herauszupfagen“, ift gegen die angeführten Parallelſtell 
nur veranlaßt worden durch das Streben, einen deutlichere 

zenfag zum erſten Versgliede zu befommen. Daß ein fold 





eregetifche Bemerkungen zu den Sprüchen Salomo’s.. 137 


aber, nur mehr in der Tiefe, auch bei unferer, von Rofenmüller 
und Zödler in der Hauptfache angegebenen, Deutung vorhanden 
it, fiegt auf der Hand. 

8. 17. Diefe Sentenz ift ein Verweis, wie zuweilen das Aller 
äinfachfte und Zunächſtliegende beharrlich verfannt werden Tann; 
man hat an den fo einfachen und fo wahren Worten Herumgefünftelt, 
bio weil man den Realgedanken nicht faßte. Der Sinn ift einfach 
br: das Beifpiel wirft, nämlich: „ein Weg zum Leben ift, wer 
Zucht bewahret; wer Warnung läßt (4, 2), feitet irre“, wie Ber- 
team und Zöckler ganz richtig überfegen. Wer die Lehre bewahrt, 
ft and Anderen ein Weg zum Leben; wer fie verläßt, führt nicht 
mr ſich ſelbſt, fondern auch Andere zu Schaden, ift ein Ver 
fire. Eine Aenderung der . Punctation, wie ſie Ewald und 
Öitig auf verſchiedene Veife* vorgefchlagen haben, ift - gänzlich 
möthig. 

8. 18. Ewald hat ganz richtig gefehen, wa8 der Sinn der ma- 
foretiichen Lesart unferes Verfeg fein muß, und wenn er dann doch 
havon abgehen umd den Text nad LXX ändern will, fo fann ‘dies 
ur aus Mangel an tieferem Eindringen in den Realſinn erklärt 
nerden. Mir faſſen den Vers (ähnlich wie einige, bei Geier er- 
mäßnte, ältere Ausleger) als nur eine Ausſage bildend (die Structur 
der einzelnen Sprüche ift nun einmal nicht conftant die nämliche, 
fetbjt nicht durchweg in der nämfihen Sammlung, weshalb man 
an ſolchem Wechſel, drängt er ſich fonftwie auf, nicht Anftoß nehmen 
darf); fonft wird weder die Structur des erften Hemiſtichs, noch 
viel weniger das fo nachdrückliche nun im zweiten Gfiede irgendwie 
erllärbar, denn die Erklärung „der ift trügerifche Lippen — ein 
Mann trügerifcher Lippen“ (Bertheau u. A.) geht hier nicht an; 
die Stellen 12, 19. 22 find weſentlich verſchieden, weil: wir hier 
dir Soneretum und fein Abftractum Haben. Vielmehr ift zu erklären: 
‚wer Haß birgt mit trüglichen Lippen und dabei Berläumdung aus=- 
hen laßt, — der ift ein Thor“; eins der alferhäßlichften Laſter 
Ät, wenn man den Haß birgt unter ſchönen Redensarten, dabei 
ober hinterrücks verfeumdet, ein Sofcher ift vor Gott und Menfchen 
detachtet und verworfen, ein bsp>. Das Subject wird alfo beſchrie— 
ben mit doppelter Eigenſchaft und dann das Prädicat durd mn 





138 Rai 


ſtark hervorgehoben zur Bezeichnung des Abfchenes vor einem ſolch 
Bol. 26, 24 ff. . 

®. 32. Man Hat Hier oft an pp Anftoß genommen und fd 
im Alterthum (LXX, Veneta) entweder durch Aenderung ber Leto 
oder durch gezwungene Dentung ſich zu helfen gefucht, wie n 
Hitzig zwar leſen will und zugleich die zweite Hälfte des 
Verſes mit derjenigen des 32. Verſes den Pla wechſeln (ü 
Altes ohne Noth, ja mit Zerftörung einer ſchönen, lebensvol 
Sentenz und Erfegung derfelben durch einen trocknen Gemeinpl 
V. 31 fagt: „der Mund des Gerechten fproßt Weisheit, aber 
Zunge der Verkehrtheit wird vertilgt“ ; ift der Mund des Gerech 
bem guten Baume oder Erdreiche vergleichbar, das auch gute Frü 
tragen muß, fo ift die ränfevolle Zunge ein ſchlechter Baum, 
nur faule Früchte tragen kann ıMd ebendeshalb ausgerot 
umgehauen, vertilgt wird, vgl. Matth. 7, 16—19. Dem f 
BD. 32 noch bei: „die Tippen des Gerechten kennen Wohlgetällig 
aber der Frevfer Mund Verfehrtheit“ ; der Gerechte findet jewei 
wie von felbjt, was wohlgefällig ift (nämlich vor Gott, 11, 
er ift wie injpirirt davon, fo daß feine Lippen es wie ganz natür 
finden, während umgekehrt der Frevler nichte als Verkehrtes ler 
meiß umd fein Mund alfo auch nur folhes redet. Man fann 
y7 vergleichen das Homerifche 3094a eidevaı, ja side Hu 
Schon Umbreit Hat weſentlich das Richtige gefehen. 


. Cap. XI. 


8.16. Während Hier die LXX offenbar eine viel ausführlid 
Sentenz in ihrem Texte lafen und überfegten, welder z. 8. a 
Ewald und Higig den Vorzug vor der fürzeren, maforetifc 
Geſtalt des Spruches geben, hat doch auch letztere, wie es ſche 
einen guten Siun, fobald man, ähnlich wie Schultens, Rofenmül 
de Wette, Umbreit, erklärt, indem y al8 Vav der Gleichſtellu 
wie 25, 25; Hiob 5, 7 u. a., aufgefaßt wird: „ein anmuthi 
Weib erwirbt Ehre, wie Gewaltige Reichthum erwerben“ ; da E 
ift fo wahr wie das Andere. Ein Weib ift durdy ihre Anm 
mãchtig, wie die Gemaltigen durch ihre Kraft; in der Aumuth li 
eine ebenſo große Macht, als im imponivenden Weſen des Gen 


regetifche Bemerkungen zu ben Sprüden Salomo’s. 139 


tigen; ja die Markt der Stärke der letzteren gewinnt nur mehr 
Bei, des. Weib dagegen Ehre und Achtung, mas mehr werth ift 
2 


Cap. XII. R 


8. 19 galt von jeher für fehr fchwer, weshalb eine Menge von 
Ertlärangen geſucht wurden, Uns ſcheint die, nach dem Vorgange ” 
der Yulg., von den Meiften befolgte Worterflärung die richtige zu 
fein: „erfüßter Wunſch ift ſüß der Seele, und Greuel den Thoren 
it's, vom Böfen zu weichen“. mm ift Partic. Niph. Fem. von 
9, „gemorbeu“, ſ. v. a, „zu Stande gefommen, verwirklicht, in 
Erfüllung gegangen“ , wie das Wort ähnlich auch 5Mof. 27, 9; 
dh. 8, 10 gebraucht iſt, Hiemit gleichbedeutend mit der 187 yRO 
812. Das.erfte Glied fpridyt fo ein allgemeines pſychologiſches 
Öechm aus, dus zweite aber fubfumirt unter dafjelbe einen beſon⸗ 
deren Fall: dem Lefer bleibt es überfaffen, die Verknüpfung zwischen 
keiden zu finden, vejpective die Lehre und Nuganmendung aus der 
ganzen Sentenz zu ziehen. Wir denken, Jarchi hat da wohl das 
Kirfachfte und Michtige getroffen, wenn er das zweite Glied als 
dolgerung aus dem erften auffagt: Allen ift die Erfüllung ihrer 
Begierden füß, darım kann der Thor, der nichts als böfe Wunſche. 
ht, nicht Laffen Von Böſen. Es kommt alfo weſentlich auf den 
Inhalt der yeB an, diefer hängt ‘ab von der innern Beſchaffenheit 
8 Begehrenden; iſt diefer ein bspp, fo iſt auch fein Begehren ein 
Ihlechtes, obwohl es ihm auch als füß vorfommt, es Ju erreichen; 
fee alfo zu, daß deine ya eine gute fei, deren Erfüllung du did) 
mit Recht freuen dürfeft! — Die Auffafjung von Umbreit und 
Hitig, welche überfegen: „auffteigender Wunſch“ oder „entftandene 
At“ (fo auch Zödler) ift ſprachlich kaum nachzuweiſen und auch 
iahlich unrichtig; um muß keineswegs gerade eine, „verbotene“ 
ft bereichen, f. dagegen B. 12. Man vgl. Rofenmüller. 

8. 23. Ganz unnöthiger Weife haben alte und neue Erklärer, 
vom den LXX bis auf Higig, an diefem Verſe Anftoß genommen. 
Sr gibt einen fehr guten Sinn, fobald er richtig verjtanden wird. 
Bir erffären mit Ubreit: „viel Nahrung gibt der Armen Neubruch, 
aber Vermögen wird hingerafft, wo Unredt ift“. Wenn Yitig 


140 Rüetihi 


frägt: warum gerade der Neubruch? fo antworten wir (nad) % 
theau und Rofenmülfer): weil dieſes als ein zuerft bebauter, u 
gemachter, daher auch ein mit vieler Mühe bearbeiteter Acker 
der dann aber die darauf gewandte Mühe lohnt, vgl. Hof. 10, 
ger. 4, 3. Aus dem Gegenfag bes zweiten Gliedes erhellt 
ſelbſt, daß unter dem Armen ein Gerechter gemeint ift, vgl. 
128, 2. Dabei nehmen wir vi nicht, wie die Meiſten, perſt 
= „es gibt welche, die...“ oder „manch er wird weggerafft . 
fondern als Subftantiv, wie es 8, 21 offenbar fteht und 

ſchon von den Alten meift richtig erfannt ward, im Sinne 

ovote, „Vermögen“. Zum Sinne vgl. 16, 8. Ezech. 22, 

ger. 22, 13; diefe Stellen beweifen zugleich, daß upwin- 
moralifhem Sinne von Unrecht bei Erwerbung des VBermö) 
verftanden werden muß, nicht aber im öfonomifhen Sinne 
Unordnung, wo's nicht ordentlich Hergeht, wie Ibn- Esra 

Kimchi deuteten. Ob man dagegen 3 als Angabe der Umftände 
bei“ (fo oben), oder geradezu von der wirkenden Urſache — „dur 
wie die Meiften überfegen, fajfen wolle, jcheint ziemlich gleichgi 
und kommt fo ziemlih auf Eins hinaus; wir zügen jedoch 

Umbreit das erftere vor, weil es die Ausjage mehr in ihrer 

gemeinheit beläßt. 


Eap. XIV. 


8.7. Wir überfegen, im erften Gliede mit älteren und neu 
Auslegern, 3. B. Bertheau, übereinftimmend: „entferne dich ı 
Angefihte des Thoren (gehe weg von ihm, gegenüber), fon ft & 
du nicht erfannt Lippen der Einficht“ (di nicht auf ſolche 
ftanden, feine Einjicht in Hinficht folcher gezeigt, nicht gemußt, 
ſolche za finden, oder — nicht zu finden find). Was uns abt 
der Auslegung von Umbreit, Ewald und ſchon der Vulgata 
folgen: 1 „geh’ geradelos auf einen Thoren und doch erfährt du f 
Worte der Einſicht“, find in Kürze folgende Erwägungen: 1) 
wohl wir zugeben, daß 1339 bei Verbis der Ruhe aud) die ! 
deutung „gegenüber Jemandem, hiemit in der Nähe Jemand 
haben fann (vgl. 1Moſ. 21, 16. 2Kön. 2, 7.15. 5Mof. 28, 
AMof. 2, 2), ſo müffen wir diefelbe bezweifeln bei einem Vei 


eregetifche Bemerkungen zu den Spruchen Salomo's. 14 


kr Bewegung, wo bie andere Bedeutung — „g conspectu, 
von etwas weg“ offenbar die zunächftliegende ift und häufig vor⸗ 
tommt, 3. B. Bf. 38, 12. Jeſ. 1, 16. Am. 9, 3 u. a. Daß 
aber 190 mit folgendem 5 verbunden vorfonme, beweift Richter 
2, 34 vgl. 5Mof. 28, 66 und es Liegt dies ohnehin durdaus in 
dr Anafogie der Sprache, was wir gegen Higig bemerten. 2) Das 
Perfect pyay kann, wie Higig fehr triftig hervorhebt, nicht Zu⸗ 
lünftiges bezeichnen; wir nehmen es alfo in feiner Bedeutung als 
Präteritum, dann aber faffen wir ) als einführend den Folgeſatz 
d8 Gegentheils vom Hauptjage, d. h. — „fonft“, welche Bedeu⸗ 
tung fih) aus derjenigen von „fo daß“ (Bolgebezeichnung, 3. B. 
3Mof. 23, 19) nad) negativen Vorderſätzen leicht entwidelte und 
ifelsopne vorfommt, 3. B. 2Mof. 34, 15. Pf. 55, 13, wohl 

ud Pf. 51, 18.. Hiob 6, 14. Pi. 143, 7; vgl. 1 Mof. 31, 27. 
Sim alfo der: wenn du dic mit einem Thoren in Redegemein⸗ 
Maft einfäjfeit, fo fieht man dir an, daß du nicht weißt, was ver⸗ 
fäudige Lippen find. Nur ale untergeordneten Grund führen wir 
an, daß die angenommene Synekdohe von mp bei der andern Er⸗ 
Mürung auch viel härter ift als bei der unfrigen. Gegen die von 
R Aben-Dana (bei Salomo ben Melek) vorgefchlagene, von 
Koſenmüller befofgte, Deutung? „entferne dih . .. und von 
dem, bei welchem du nicht erfannt haft Lippen der Einſicht“, 
bricht theils die Härte der Ergänzung der Worte 12... Iydz 4 
tifen y und b3, theils der Umftand, daß fo das zweite Glied nichts 
Neues gäbe, ſondern eine nackte Wiederholung des erſten. Wie 
wenig nach alle dem eine Aenderung des Textes, wie fie Hitzig nad 
LAX befolgt, nöthig fei, erhellt Aus dem in obiger Weife genügend 
atlärten Texte, 

8.17. Auch Hier vermögen wir die Nothwendigkeit irgendwelcher 
Tertänderung trog der ſcharfſinnigen · Vorſchlage von Emald -und 
dihig nicht einzufehen. Der Vers ift von Rofenmüller, Umibreit, 
% Bette, Bertheau im Weſentlichen richtig überfegt und erflärt 
dorden. Das zweite Glied darf nicht nothwendig einen Gegenfag 
zum erften geben, auch in V. 19 ift das z. B. nicht der Fall; 
% gibt aber auch Bier ein Mehreres als das erfte Glied: „wer 
ſquell auffährt, begeht Thorheit, wer aber auf Boſes ſinnt, iſt 





‘142 B Rurt tſchi 


fchon haſſenswerth“. Daß dow vhde vorzüglich in malam part 
gebraucht werde, beweiſen 12, 2; 24, 8; Bf. 37, 7. 

8. 25. Da es bisher nicht recht gelungen ift, diefen Vers 
friedigend zu erffären, fo ſchlagen wir folgende Auffaffung v 
„es rettet Selen ein wahrhafter Zeuge, wer aber Lingen b 
(der Tügner), ungerechtes Gut“; wir nehmen alfo bsp als F 
dieat zu beiden Hemiftichien, im zweiten etwa in gleihem Si 
mie 1Mof. 31, 9; zu mp im Sinne von dem duch Trug 
worbenen vergleichen wir Ser. 5, 27. Wir entgehen fo der Schi 
rigfeit, vor mon das 7y aus dem erften Gliede ergänzen zu müſ 
was ſchwerlich zuläffig wäre, ober den Text zu ändern, was gen 
erjcheint. 

8. 26. Die meijten Ausleger erkennen mit Recht an, dab 
dein Abjtractum ) my bes erſten Gliedes der concrete Meg 
des "m my herauszunehmen fei, auf den fid dann: das Suffir 
rgpd1 bezieht). Es entiteht fo ein fehr ſchöner Simt, den 
ja nicht durch Tertesänderung uns rauben laſſen mödten, näml 
der göttliche Schng für Seine Verehrer erftredt ſich noch weiter 
anf diefe perfönlih, auch auf.ihre Kinder und Kindesfinder, 
2Mof. 20, 65. Pf. 103, 17. Drum ift die Gottesfarcht ein 
fefter Verlaß. 

8. 32. Die Mehrzahl der Erklärer nehmen myy3 im m 
lifchen Sinne: „durch feine Bosheit, durch feine Sünde“. U 
fo vermiffen wir den Gehenſatz zum folgenden Gliede, welches ? 
auch Higig nah LXX und Syr. ändern will. Wir aber ü 
fegen: „in feinem Unglüd (vgl. 2Sam. 16, 8; 17, 
wird hingeſtoßen („gefällt”, wie Hitig gut überſetzt, da dns V 
an ſich einen erfüllten Begriff hat, weshalb nicht mit Ewald 
verbinden ift: „in fein Unglück geftogen wird..“; wie neh 
?= &, nicht — eis, alſo ganz parallel dem zweiten Gli— 
der Frevler, aber es vertrauet in feinem Tode (mod) — felbfi 
feinem Zode) der Gerechte“, nom ift wie Pf. 47, 7 abfolut ge 
vom Vertrauen auf Gott. Es gehört dieſer Spruch zu denjenih 
weldye eine Hoffuumg und Ahnung des ewigen Lebens, ferbft & 


a) Bgl. Ewald mı 12, 6. 


eregetifche Bemerkungen zu ben Sprüden Salomo’s. 148 


dem leibfichen Tod hinaus, ausſprechen, wie fie vom religiöfen Leben 
Ntaels aus feinem innerſten Wefen hervorgetrieben wurde. Für 
ken Greofer iſt dagegen die Hoffnung dahin, f. 11, 7 u. Pf. 16. 
11.49, 73, ſowie befonders das Buch Hiob, vgl. Lug, Bibl. 
Dogmatit, ©. 100, und Bibl. Hermeneutit, S. 468. In ber 
Hauptfahe richtig erklärt Rofenmüller. 


Cap. XV. 


8.4. „Gelaffenheit der Zunge (f. 14, 30: wer mit Gelaſſen⸗ 
keit tröftend, vatgend u. |. w. zu Einem redet) ift ein Lebensbaum 
(für den, zu dem fie redet); ift aber Falſchheit in ihr — 
bilrs Bruch im Herzen“, vgl. Rofenmüller und Bertheau. Zu 
Wo vol. 11, 3; 13, 6 und zu ızp Gef. 65, 14, wo es parafiel 
dem 35 397, vgl. Bf. 51,.19. Der Realfinn ift alfo: gerade 
mit der gelaffenen Rede, die fonft fo wohl thut, pflegt der Boſe 
zu täuſchen und dann wird man dadurd) noch ärger und tiefer 
ihlagen und betrübt als vorher. Die phnfifche Erklärung von 
Jarhi, Schultene w. A. „ein Bruch durch Windftoß“ ift mit 
Reöt jetzt allgemein aufgegeben, weil vom Sprachgebrauch nicht 
iterftügt. Dagegen Tönen. wir an > vor m fo wenig Anſtoß 
mhmen als 3. B. Ezech. 25, 6. 15. vgl. 36, 5. Daß die Alten 
trilmeife anders gelefen haben, darf uns nicht beftimmen, den ges 
dohnlichen Text zu verlajfen. 

87. Folgen mir dem fihern Sprachgebrauche, nad welchem 
m, zumaf in Piel, nicht fo viel bedeutet als „ausbreiten, vers 
reiten, außftrenen wie Samen“, wie es faft alle Ausleger faſſen 
A dirfen meinen, fondern „fihten (20, 26), wannen, ventiliren“ 
md inſoweit and „ausftreuen“ das erfefene Korn, das babei zu 
Boden fällt, und „zerftreuen“ die Spreu am Winde (fo 3. B. 
dm Feinden gefagt): fo erwächſt uns folgender Sirin unferer Sen 
tn: „der Weifen Lippen worfeln (ventiliren) Erfenntniß", fie 
ften ſolche, erörtern fie und ſtellen fie rein dar; went Weiſe 
Imden, fo fällt das gediegene, reine Gut der Erkenntniß nieder, 
det Unreine, Unmüge n. ſ. w. wird durch ihre Reden, wie die 
Ehren durch's Worfeln, davon gefichtet und geſchieden. Dem fügt 
dann antithetif und In feiner Kürze um fo fehärfer das zweite 











144 Ruetſchi 


Glied bei: „aber das Herz der Thoren nicht alfo“; 2 
oDpi find einander nicht ganz gleichgeſtellt, ſondern Id deutet 
weil Thoren in ihren Herzen die Erkenutniß nicht fo gefichtet 
erörtert wie gutes Korn Haben, fo fann natürlich auch .von il 
Lippen nicht ſolche gediegene Erfenntniß firömen. Wir bfeiber 
auch bei der einfachften Bedeutung der Worte Ind, ohne fie w 
in moralifd+figürfihem Sinne („das Herz der Thoren ift ı 
ſicher, nicht redlich, unzuverläfjig“, LXX. Syr., Schultens, de W 
- Ewald, Bertheau) oder in mehr intellectuellem Siune, mit Hi 
ala Object zum = „was nidt fo ift, Umwahres, Lügen“ 
zufaffen, was feinen Gegenfag zu nyı ‚gibt und auch fprad 
ferner liegt. \ 
®. 15. Saft allgemein glaubt man, weil im zweiten Gliede 
„frohlicher Sinn“ gepriefen wird, im erften Sage 1x nicht 
äußerer, ſondern von innerer Bedrängniß — „betrübt, mißmu 
gebeugt“ faſſen zu ſollen, — wie wir glauben mit Unrecht 
gegen den ſehr conſtanten Sprachgebrauch. Wohl bezeichnet der 
häufig einen innerlich, im Gemüth Leidenden, aber nie dann, 
diefe Stimmung getadelt oder mißbilfigt werden foll, find doch 
omay eben bie echten Sfraeliten, die mzwgol z@ nveiuarı, 
daß innere Betrübniß anders bezeichnet zu werden pflegt, | 
B. 13. Dagegen bezeichnet 5Mof. 24, 12 augenfcheinlich 1 
feiblih Armen, und fo nehmen wir’ auch hier; wir gewir 
dann durd) Entgegenfegung beider Hemifticien folgenden. fehr ſcht 
Sinn: „alle Tage eines Armen find [zwar] böfe [in Rückſicht 
feine äußerfihen Unftände]; wer aber (= ift.er aber) frögli 
Herzens, fo iſt's ldeunoch] ein beftändiges Feſtmahl“, auch 
äußerlich Arme kann alſo trotz feiner ſchlimmen Tage all 
Breudenmahl halten, hat er nur ein fröhlich Herz ſich bewa 
Wie tief wahr die Sentenz ijt, bedarf feiner Auseinanderjegu 
man vergleiche gleich, den folgenden V. 16. 
®. 16 nehmen wir nad) V. 6 und 17, d. h. wir verfte 
unter mprıp nicht jpeciell (wie Higig und Zödfer nach Vuig. 
dem Verbo om Pſ. 39, 7, wo inzwiſchen die allgemeine Bei 
tung „lärmen, ſich abmühen“ aud ausreicht) die „raftlofe Gi 
den Schag zu mehren, fondern allgemein nad) dem Sprachgebrai 


exegetiſche Bemerkungen zu ben Sprüchen Salomo's. 145 


‚se Verwirrung, Unordnung“ in menſchlicher Geſellſchaft, bie da» 
durch zerrüttet und zerftört wird, namentlich in Folge der Unter- 
trüdung des Einen durch die Andern; hier alfo insbefondere: in⸗ 
vendige Unficherheit, Unruhe in der Familie, eine Folge des Mangels 
an echter ‚„Furcht Gottes“, mie fie das erſte Glied preift als 
Grundfage alles wahren Glüdes auch bei wenig äußeren Glüds- 
gütern. Man vgl. zu myrp befonders 2Chron. 15, 5 (paralfel 
by pn); Jeſ. 22, 5 (ale göttliche Strafwirkung); 1Sam. 5, 9. M; 
5Mof. 7, 23 (Beftürzung); Am. 3, 9 (Verwirrung, Unordnung, 
to Gewalt vor Recht geht). 

8.10. Auch, hier erſcheint ung Hitzig's Aenderung von byy in 
rıyals eine Verſchlimmbeſſerung; ift doch der Sinn, den z. B. 
Bette, Ewald, Bertheau richtig ausdrücken, ebenfo klar als wahr: 
‚KuBeg des Faulen ift wie eine Dornenhede (vgl. Mid. 7,4)”, 
dh fieht eben überall Schwierigkeiten und läßt ſich's fauer 
erden; Keiner lebt in Wahrheit mühevoller als der Faule. Dem 
gegenüber nun: „aber der Pfad der Redlichen (Geraden, Gerechten) 
it gebaßnet“ ; dadurch, daß dem dyy die Dryy) entgegengefegt werden, 
vird die Faulheit ſtark verworfen, als Unrecht, als nicht gerader 
Weg bezeichnet. 

8.26. „Ein Greuel des Heren find böfe Gedanken (Anschläge), 
ober rein find Tiebliche Worte.“ Wir Halten dafür, die ger 
mählten Ausdrüde nayın und ornd follen an's Opferweſen er- 
imern ; die wahrhaftigen Opfer bejtehen in Gedanfen und Worten; 
tere geben etwas Weiteres als die Gedanken im erften Gfiede, 
to das antecedens genannt ift. Jene „Lieblichen Worte“ find 
nach 16, 24 zu dverftehen (Bertheau): ſolche gefallen Gott wohl, 
ährend er ein auf Böfes finnendes Herz verwirft, Er, der Herzen 
md Sinne fennt. Der Sinn des Verſes jft meift zu wenig tief 
iaht worden. 

Cap. XVI. 

8.27—29. Weil e8 vielfach verfannt worden ift, wodurch der 
kinn mander Sentenz ſchief und lahm geworden ift, wollen wir 
ki dieſen Verſen darauf aufmerffam machen, daß das Prädicat 
dm Subject voranfteht, was die Regel ift, vgl. 6, 12—14; 

ol, Stud. Jahrg. 1868, J 10 


146 - Rüuetſchi 


14, 15; 17, 4. 9 (und dazu Hitzig); 14, 19; 21, 17 u 
Sonach gewinnen wir für unfere Verfe folgenden fcharfen 

treffenden Sinn, welchen viele Ueberfegungen mehr oder wen 
verwiſcht haben: „ein heilfofer Mann ift, wer Unglück gräbt | 
Anderen, vgl. von Nachftellungen Hiob 6, 27 und das Bil 
der Grube Bf. 7, 16; 57, 7), und auf feinen Lippen iſt's 
fengendes Feuer. Gin verdrehter, ränfefüchtiger Dann ift, 

Streit anftiftet (Mancher hält dies für eine Art von Vergnü 
aber ftets deutet es auf einen „verdrehten“ Charakter; fo wird 
Streit - Anrichten ſcharf als unfittlich verworfen), und ein Of 
bläfer (18, 8; 26, 20. 22) ift, wer vertrauten Freund tre 
Ein gewaltthätiger Mann ift, wer feinen Nädjiten bethört ( 
ſcheint aber auch oft ein „unſchuldiger“ Scherz, ift aber im Grı 
ein Werk der Gewaltthat, des argen Unrechts) und ihm dann g 
läßt (das der Sinn des Perf. mit 7 nad) Impf.; letzteres ſchi 
die Handlung als eine Gewohnheit, erfteres führt empha 
hervorhebend die Folge davon an — xei’odrwg, ſ. z. B. 25, 
dgl. Ewald's Lehrb., $ 233, b) „auf einem Wege, der nicht ( 
(itotes, für „auf ſchlechtem, ſchlimmem Wege”, vgl. Pf. 36 
ef. 65, 2). ©, dazu 1, 10ff. Schon Umbreit und Er 
haben im Allgemeinen richtig überfegt und erflärt. 


Cap. XVII. 


®. 11. Verkennung des fichern Sprachgebrauches, wonach 
ſeinen Nachdruck nicht immer auf das unmittelbar dabeiſteh 
Wort, ſondern auf den ganzen nachfolgenden Say wirft, 
1Mof. 29, 14 „wahrlich, du biſt mein Fleiſch und Beir 
44, 28 „gewiß! zerriffen ift er“ u. ö., hat die Interpreten 
diefem Verſe vielfach, irre gehen laffen. Indem wir uns fonjt 
Umbreit und de Wette anfchliegen und die Deutungen von En 
und Higig als gezwungen und geſucht verwerfen, erflären ı 
„Gewiß! Empörung fucht Böfes (Verderben) und ein graufa 
Bote wird gegen fie entjandt werden.“ ap nehmen wir als J 
stractum pro Concreto, wie Ezech. 2, 7. 8, und ale Sub 
de8 eriten Gliedes, fo daß 12 im zweiten Gliede ſich darauf beji 
Der Sinn ift alfo: ein Empörer (gegen Gott und Menfchen) ſi 





eregetiſche Bemerkungen gu den Spräden Salomo's. 147 


fiherfih, ob er's gleich nicht meint, ſich ſelbft das Boſe, Unglüd; 
ke Empörung bringt gewiß nur Unglüc ihrem Urheber. Der 
‚pranfame Bote“ tft ber, welcher Todesurtheil und Vollſtreckung 
Wielben zugleich bringt. Man vergleiche den allgemeinen Gedanken 
von dem fich felbft in's Verderben ftürzenden Wege der Günder, 
1, 16ff. 


Cap. XVII. 


8.10. Die Ausleger haben Hier faft ſämmtlich richtig über- 
fegt, nur Higig nahm Anftoß und meint, ftatt yray vielmehr om 
ten und dann 13 — „durch ihn“ faffen zu follen; mit Unxecht, 
wie wir glauben. „ine fefte Burg it der Name Jehopa's: zu 
ihr fuft der Gerechte und ift erhöht.“ Wir bemerken noch Fol⸗ 
gabs zur Nechtfertigung. 12 kann gewiß die Richtung des 
Aufn ausdrüden, da 7 in fiheren, ob auch feltneren, Beiſpielen 
km eis ober in c. accus. entſpricht, ſ. IKön. 10, 26. 1 Sam. 
3,26 0077 ni2 = ſich einlaffen in Blutvergießen, in Blutſchuld 
gerathen, of. 23, 7 Dan min == eingehen unter dieſe Heiben, 
9.61, 3, ja fo wohl aud in unferem Gapitel B. 6 272 mia 
= „eingehen in Streit", was ſchürfer ift als die, ſprachlich aller⸗ 
dings auch mögliche, ablative Faffung des 3 = lommen mit Streit, 
Streit dringen. Ferner beachte man am Schluß am, womit bie 
Folge des Laufens als roſch und ſicher eintretend ſchön hervor⸗ 
hoben wird, f. unſere Anmerkung zu 16, 29. Wir bleiben übri⸗ 
#03 bei der urfprünglichen und nächſten Bebeutung (hierin mit 
ditig übereinftimmend) des Verbi air) m= „erhöht, erhaben fein“, 
doraus erſt das consequens iſt: „firher, geidägt fein“, wie Bas 
Dort in Piel und Pual (unten 29, 25) vorkommt, obwohl in 
der Mehrzahl der Stellen die Bedeutung „erhöhen“ vollfommen 
wöreiht; mau vgl Gef. 9, 10; Pf. 20, 2; 69, 30; 91, 14 
md den Mebergang der Begriffe „Höhe“ und „ficherer Ort, Zus 
Auge im Subft. am. Der Realfinn unferee Stelle ift fehr 
Mon; Jahve gibt und ift eine fefte Stüge; daß gerade non ge 
gt ift (wie Pf. 20, 2), vermehrt noch den Gedaufen, denn dies 
bexichnet ſtets Ihn, wie ihn der Menſch kenut, wie er Ihn in 
Grtenntniß und Glauben erfaßt und im Herzen trägt. Eben was 

10* 





148 Aüetigi 


der Menſch von Gott kennt, ift für ihn ein fefter Turm. We 
ein Menſch ftrauchelt oder zagt, fo fehlt e8 nur daran, daß 
nicht hingelaufen ift zu diefem Halt, ſich gleichfam nicht erinn 
hat, wo jein fefter Schuß ift. Thut er’s, fo iſt er fofort erhil 
befreit aus aller Gefahr. Der in Gefahr, äußerer und inne 
Angft Schwebende wird als „niedrig“, als herabgedrückt geda 
der Vertrauende, feine Zuflucht zu dem Jahve, den er Kennt, N 
mende erfcheint al „erhöht“. S. auch Pf. 61, 3 u. 4. 


Cap. XIX. 


®. 15. Wie man an diefer fo einfachen Sentenz Anftop ı 
men fonnte und daraufhin mit Herbeiziehung der auf DMißverftä 
niß beruhenden Weberfegung der Alerandriner den Text änd 
wollte, ift mir ein faum begreifliches Näthjel. Iſt es denn n 
vollſtändig wahr und in andern Sprüchen unferer Sammlung eb 
falls ausgefprochen, was hier fteht: „Faulheit läßt in tiefen Si 
fallen“ ? vgl. 24, 30—34; 6, 9—11. Was ijt num aber 
Folge diefer einfchläfernden Wirkung der Trägheit. Keine and 
als die im zweiten Versgliede geſchilderte: „Läffige Seele ı 
hungern“. Der Faule begehrt wohl auch, aber er hat dann nid 
feine Eßbegierde (wr)) zu ftillen, eben weil fie „läfftg“ war 
in nicht aus faulem Schlafe zu angeftrengter Thätigkeit zu me 
vermochte; feine Trägheit betäubt ihn völlig, daß er fich nicht ı 
voffen mag, f. auch 20, 13. Das „Mangoldkraut“, zu weld 
als zur geringften Nahrung die Trägheit herunterbringe, ift ni 
als ein mwigiger Einfall von Higig. 

®. 18. Don Neuern hat, wie wir glauben, nur Umbreit f 
das Richtige gefehen, indem er das Platte und unerträglich DM 
der gewöhnlichen Erklärung fühlte, welche im zweiten Gfiede ı 
Beſchränkung und Ermäßigung des im erften Gliede Entf 
tenen zu fehen vermeint und überfegt: „züchtige deinen Sohn, | 
dieweil noch Hoffnung ift; aber ihn zu tödten laß dir nicht 
Sinn fommen“, als Hätten wir hier eine Warnung gegen üb 
mäßige, der Gefundheit, ja dem Leben des Kindes ſchädliche Strei 
der väterlichen Zucht. Vielmehr ift das zweite Glied gerade e 
Schärfung des erften, und der Sinn ift der: „und laß dich mi 


exegetifche Bemerkungen zu ben Sprüchen Salomo’s. 149 


gelüften, ihn zu tödten“, nämlich: eben, wer fein Kind nicht züch- 
figet am rechten Ort und zur rechten Zeit, der tübtet es, ber 
mordet feine Seele! Ein wahrlich auch unferer ſchlaffen Zeit, mit 
ihrem falſchen Philanthropiemus, ihrer feigen und im Grunde höchft 
ſelbſtſüchtigen Schonung gegenüber, fehr berechtigtes, goldenes Wort! 
Zum Sinne vgl. 23, 13. 14: „nicht fpare am Knaben Zucht; 
wenn dur ihm fchlägft mit dem Steden, wird er nicht fterben; du 
zwar [hlägft ihn mit dem Steden, aber feine Seele retteft du vor 
der Hölle“. Man überfah bier meiftentheil® die Emphafe des 
vorangeftelften ugs; am beften noch Pifcator und Higig, im Gegen- 
jap zu sp. Der Sinn ift: du thuſt ihm Geringes an, aber 
eihft Großes dadurch; als Vater züchtigeft du ihm natürlich mit 
Nix, mit „Menſchen-Stock“ (2 Sam. 7, 14), nur mit der Ruthe, 
tetef, bewahreſt ihn aber fo vor der Unterwelt. ©. weiter 13, 24; 
3,12; 22, 15. ©ir. 30, 1. 


Cap. XX. 


8.4. Die Einwendungen Higig’8 gegen die jegt, feit Vulgata, 
gmößnliche Erklärung des Verſes fcheinen größtentheils wohlbe⸗ 
gründet; wir fuchen daher nicht zwar eine durch nichts bezeugte 
Aenderung der Lesart, wohl aber eine andere Auslegung der Worte. 
qm bezeichnet eigentlich den Herbft, d. h. die Zeit der Obft- und 
Reinfefe, des Pflückens (man) der Früchte, im Gegenfage zu yır 
wohl auch Herbft und Winter zufaommen, die fältere Jahreszeit 
wgenüber der wärmeren. Deshalb aber darf man np nicht er» 
fären „der Kälte im Herbit wegen“, denn gerade der Begriff 
der „Kälte“ Tiegt am ſich nicht in dem Worte, und wenn alfo 
das der Hauptbegriff fein follte, warum wäre dann nicht der directe 
Ausdrud für „Kälte“ gejegt worden? Wir Kalten den Begriff 
ber Jahreszeit feſt und nehmen nun die Präpofition po nicht 
ufal, fondern tem porell; dies zwar nicht in der gewöhnlichen 
Beventung von „nad, gleich nach“, als Angabe des terminus a 
wo (inde ab), fondern vom Zeitpunfte felbjt. So gut locales 
Paud das Verweilen und Sein an einem Orte bezeichnen kann 
(wie Tateinifch a dextra u. dgl.), fo auch temporell „zur Herbft- 
zit“, eigentlich: von ber Herbftzeit an, indem der Unfang ber» 





150 Adetihi 


felben in's Auge gefaßt wird. Mean vgl. das Häufige many, ı 
Jedermann auffaßt = „am folgenden Tage“, 3. B. 1Mof. 
34. 2Mof. 9, 6. 3Mof. 28, 11. 1Sam. 5, 3f.; 20, 97 
ypp == „am Ende", vgl. Ewald, Lehrb., 8 220b. 218c. U 
„bon der SHerbftzeit an, zur SHerbftzeit pflügt nicht ber Fe 
(während der Fleißige damit beginnt, ſobald ber Herbſt anfär 
— daher yo), und fo wird er dann fuden (Nachfrage hal 
— bei feinem Ader!) in der Ernte und — nichts ift dal»). 9 
leſen mit K'ri EIN dgl. zu 16, 29, wodurch die Folge des ı 
fehrten Thuns oder Laffens emphatiſch eingeführt wird, wäh 
Chetibh bau einfach die Schilderung fortfegen würde, mas 
ſchwächer wäre; man konnte fogar das Perf. des K’ri mit y hy) 
thetifch faffen — „und wenn er fucht (fuchen witrde) in 
Ernte, fo ift nichts dal“ vgl. 1Mof. 33, 13: an] ++++ Dy 
„und wenn man fie triebe, jo ftürben fie“. Die von Schult 
nad) Bj. 109, 10 beliebte Punctation ala Piel Iyyy — zer ı 
betteln“, geht aus den von Hitig angeführten Gründen 
an, es gäbe nicht einmal einen recht runden und vollen Stan, 
yo könnte nicht fo kurz beigefügt fein. 

®. 25. Der Sinn diefes Spruches wird im Allgemeinen 3 
richtig verjtanden, fon feit LXX; e8 foll gewarnt werden da 
daß man nicht einmal Verſprochenes und Gelobtes dadurch 9 
der theilweife zurüdnehme, daß man Hinterher erft nachjieht, 
und wie man's jegt halten und erfüllen wolle. Die Art aber, 
man diefen Sinn aus den Worten eruirt, ift verſchieden und ı 
unferem Dafürhalten noch kaum völlig befriedigend gelungen. 9 
mentlich fcheint und die gewöhnlich angenommene Konftruction 
Worte an ſchweren und kaum erträglichen Mängeln zu leid 
man ergänzt 3. B. vor yby ein px, man befommt dann eine bi 
Bebenten erregende aramäifche Stellung des Yuf. Apab ganz 
Ende, weil man allgemein “mx als Präpofition auffaßt. Um d 
Schwierigkeiten zu vermeiden und unter Berückſichtigung des | 
beachtenswerthen Umftandes, daß gerade die Verba rn und — 


a) Roſenmüller: postulabit, sed nihil erit, quod colligat; t 
Umbreit. 


exegetifche Bemerkungen zu ben Sprüdjen Salomo’s. 161 


in den bezüglichen ober nahe verwandten Stellen der Thorah ges 
braucht find (5 Mof. 23, 22. 3Mof. 27, 33), möchten wir, nur 
etwas modifteirt, die Deutung von Ziegler neu auffrifhen und alfo 
effüren: „Baltftrid für den Menfchen iſt's, Heiliges (im Sinne 
des Geſetzes: das, mas man als xogß&v gelobt hat) zurückzu— 
halten und zu verzögern Gelübde, um [erft] nachzufehen 
[ob und wie man fie erfüllen wolle]*. Nämtic ydz nähmen wir 
als Nomen actionis unter Bergleihung des Stammes ) = men- 
titus est, abstulit quod alteri debetur; doch müfjen wir Ara- 
biſten entſcheiden laffen, ob dieſe Wortbedeutung richtig und ver— 
geihbar ift; die Wortform wäre wohl fein Hindernig, man vgl. 
Yy, das Patach in yby würde ſich durch y erklären. Auch Ewald 

md Bertheam fühlten richtig, daß das Wort ein Infinitiv oder 
Sıfantio fein müffe, wollten aber ydz punftiren, was kaum nöthig 
fin wird. In me würden wir fodann den Infin. Piel no- 
minascens erfennen, was und nicht fo „gewagt“ vorfommt, wie 
Umbreit die Erklärung von Ziegler, die freilich an einigen, von 
uns, wie wir Hoffen, befeitigten, Schwierigkeiten laborirte, bezeichnete. 
Ung tommt die gewöhnliche Annahme, yo» fi = nyb Hiob 6, 3 
— U mindeſtens als ebenfo gewagt vor, obwohl fie einen ganz 
paſſenden Sinn gäbe: Teichtfinnig, übereilt ausfprechen. 

8. 30. Wir deuten diefen Vers, im Wefentlichen mit Bertheau 
übereinftimmend, als eine fehr ſarkaſtiſch ausgefprochene Sentenz 
bietend: „Wundftriemen find Reinigung am Schlechten und Schläge, 
die 6i8 in die Kammern des Leibes (bis in's Innerſte) dringen.“ 
Die Structur ift die, daß das Prädicat mitten zwiſchen zwei Sub- 
teten fteht, von denen das zweite deutlich das Schärfere gibt, eine 
Steigerung enthält. An einem Böfen müjfen Harte Schläge als 
Reinigungsmittel dienen, ihm gleichſam eingerieben werben, und 
wenn diefe nicht gewirkt, nicht gehörig gefruchtet haben, fo folgen 
ſolhe Schläge, die in’s Innerſte eindringen. Wir nehmen alfo 
PR oder, wie K’ri will, phye , nicht wie die Alten als Verbum, 
ſondern al Nomen: jenes findet ſich nur in Kal und Pual, fee 
tere8 dagegen ift in Efth. 2, 3. 9. 12 von den Einreibungen mit 
Salben und Wohlgeruchen der für’s Königlich perfifhe Harem Ber 
fmmten gebraucht, alfo als Schönheitsmittel für den Leib. Die 























182 Rüetihi 


Seele des Böfen aber bedarf zu ihrer Verſchönerung ſchärff 
körperlicher Zucht. Wie treffend und ganz im Geift unferer Spri 
diefe Sentenz ift, ift von felber Har, man vergleiche auch Umbi 
Die Präpofition 7 vor y) ift ganz in Orbnung, da eben fo 
„Einreibungen“ äußerlih am Böfen vorgenommen werben. | 
Eonjectur Hitig’8 laffen wir auf ſich beruhen. 


Cap. XXI. 


®. 5. Indem wir uns an die gewöhnliche Deutung diefer 
ſchweren Worte anfchliegen, möchten wir fie nur etwas fchärfe 
präcifiren, woraus fi denn die Ungebühr einer Aenderung 
Textes von felbft ergibt: „Gedanken eines Fleißigen — 
zum Gewinne, aber jeglicher, der eilt, — nur zum Mang 
Wo Fleiß und Befonnenheit (darum find die niagro hervorgehobe 
zufammen find, hat's guten Erfolg; wer aber (ohne fich Zeit 
„Gedanken“, zu Nachfinnen und Ueberlegen, zu nehmen, wie 
opposito zu ergänzen ift, was leicht erhelft) nur eilfertig, 
leidenſchaftlicher Gier handelt, meinend, ſchnell reich werden zu mol 
bringt fi gewiß nur zum Mangel. Wie verderblih alfo b 
ungebuldige Haft! welch ein Wort für unfere Zeit!! mie t 
Beifpiele, zumal in der Handelswelt, find nicht warnende Yıuf 
tionen dazul Man vgl. 19, 2, und ein etwas verwandter Geda 
in 13, 11; 28, 20. 

®. 28. Die Sentenz, die 3. B. de Wette und Ewald rid 
überſetzen, iſt ſehr fein gebaut, und man muß ſich hüten, i 
Spitzen nicht abzubrechen. Nämlich ya darf nicht, wie noch Umb 
wagt, gegen den Accent mit mb verbunden und Tegteres dann 
der höchſt feltenen (Habaf. 1, 4) Bedeutung von „Wahrheit“ a 
gefaßt werden; denn auch abgefehen von den Accenten entfteht 
fein rechter Gegenfag: 12 und Sz7 geben allein nidt ei 
vollen Gegenfag. ya ift abfolut gefegt wie 1Kön. 3, 9 v 
Gehorfam auf das, was wahr und recht ift. Der Tügenhafte Zer 
hält eben nicht auf da8 Wahre, drum muß er aufhören zu ſprecht 
feine Bahn geht aus (Pf. 1, 6). Dagegen der Mann, der hört 
auf das Wahre, wird immerdar ſprechen „als Zeuge und fon 
glücklich Tebend ftets reden fünnen und gern gehört werden“ (Emall 





eregetiſche Bemerkungen zu ben Sprüchen Salomo's. 158 


af eben nicht „untergehen“ (= ein Ende mit Schreden nehmen). 
du nygb in obigem Sinne beweift für unferen Zufammenhang 12,19, 
vie Bertheau richtig anmerkt; ſ. auch 19, 9. 5. 

8.29. Man hüte fi, Hier der Lesart des K’ri, melde auch 
LXX ausdrüdt, zu folgen und alfo yı7y ftatt j73 leſen zu wollen; 
sift dies nichts als eine erleichternde Lesart, vielleicht veranlaßt 
Ach das Veftreben, den fcheinbaren Widerſpruch mit 16, 9 zu 
uermeiden, wobei aber der ſchöne, treffende Sim des Driginals 
toren geht. Letzteres, zudem durch Aquila, Symmachus und 
Tatgum bezeugt, iſt in der Ueherfegung, wie Umbreit bemerkt, 
idner in feiner ganzen Schärfe wiederzugeben ; am treffendften wohl 
Gm: „Frechheit ein Frevler zeigt im dem Geficht: doc Med» 
liter — er recht macht feine Wege“, oder Umbreit: „es nimmt der 
dulihe fefte Mienen an, der Redliche befeftigt feinen Weg“. Die 
ganze Schärfe des Ausſpruchs Liegt in dem Gegenfag von 17 und 
dep mit ihren verfchiedenen Objecten 1938 und 197371. Beide Zeit: 
wörter enthalten den Begriff des „Feſtmachens“, aber die Objecte 
And eben verfchieden. Der yya ſieht's nur auf's Aeußere, auf die 
Formen, auf das Ausſehen und den Schein, auf momentanen Erfolg, 
%, der Sur dagegen geht auf das Reale aus, auf das wirklich 
Iate, er befeftigt alfo feine Wege, feine Lebens» und Handlungs- 
wife, fein ganzes Thun und Wandeln. Wie fehr bewährt ſich 
vd) das immer nen im Leben! Der Böfe ſucht und meint mit 
her Stirn feine Frevelei verdeden, ſich den Anfchein eines „ehr 
hr Mannes“ geben zu können, der Redliche ift wirflih zer 
md dadurch wird fein Weg „befeftigt“, vor Fall und Untergang, 
vr ſchlimmer Entfarvung und jähem Sturze gefichert und bewahrt, 
mas alles „Feftmachen des Angefichts“ auf die Länge nicht zu Teiften 
mag! Das Wort wa ift oben 7, 13 (vgl. Qoh’el 8, 1. 5Mof. 
%, 50) mit dem Accuſativ conftruiet, hier dagegen mit 3. Einen 
yeihen Wechfel der Conſtruction finden wir bei wg 3. 8. def. 1,16 
Rt 0987, dagegen Thren. 1, 17 mit p7p2; ebenfo bei vn 3. B. 
#22, 8 mit onS (neben opipp mpp) und Hiob 16, 4 mit 
Ar. Diefer Conftructionswechjel bedingt übrigens eine 
Viantirung des Sinnes; mit I wird die betreffende Handlung nur 
18 eine Außerliche Geberde dargeftelt; der Accuſativ weiſt auf 


154 Rüetſchi 


eine mehr von innen kommende Bewegung der äußeren GI 
Bin; dort Haftet die Handlung gleihjam am Gliede, Hier befti 
‚ ber Wille das Tegtere als fein Werkzeug. Zu pr vgl. Pf. 119, 
Man bemerfe auch die Emphafe des nr, wodurch das Thun 
pr, obwohl aud) in einem „Feſtmachen“ beftehend, ſcharf in 
traft gefeßt wird gegen das nur vermeintliche „Feſtigen“ des 
Dean verliert offenbar viel durd die Lesart my, ſei's, daß 
dabei, wie gewöhnlich, das Suffixum in 947 reflerive faßt, 
bag man’s mit Hitig auf den pi) des erften Gliedes zurüch 
— der Redlihe durhfchaut die Wege des Frevlers, obgleid | 
fie frech zu leugnen verfucht, wo man aber eher 125 als 7 
warten würbe, oder eine Wendung wie 28, 11 (pr). 


Cap. XXI. 


®. 4. Wir müffen von den meiften Auslegern abweiceı 
Erklärung diejes Spruches. Gewöhnlich (Luther, Schultens, 
ſenmüller, de Wette, Ewald, Bertheau, Elfter, Zödler) nimmt 
nämlid 'y ns als per dovrderov zu nz, app, conftr 
Genitiv — „Lohn der Demuth, der Furcht Jahve's iſt: ..“ 3 
diefe Conftruction ift fehr gefucht und durch das &ouvdero 
nachfolgenden 5. Verfe nicht genügend gefhütt, da dort die b 
fenden Worte Nominativi find. Man Hat geglaubt, dieſe 
ftruetion, welche Umbreit und Higig mit Recht verwerfen, fei 
aufgenöthigt durch den Realfinn, da ja die Furcht Jahve's 
der Lohn der Demuth fein könne, vielmehr der legtern voran 
müffe. Diefe vermeintlihe Schwierigkeit veranfaßte Umbreit, 
von der Bejcheidenheit im Betragen gegen die Mitmenſche 
verftehen, was aber im religiöfen Sprachgebrauch Iſraels un 
Sprüde (15, 33; 18, 12) nicht begründet ift; Hitig glaubt 
dadurch zu der ingeniofen, aber, wie ung dünft, nicht nur 
flüffigen, fondern ſelbſt durch die folgenden Worte nicht begitnfti 
Eonjectur Ddy) = „das Schauen Jahve's“ (Pf. 11,7; 17 
berechtigt, Warum follte indeffen der gewöhnliche Text, r 
verftanden, nicht völlig genügen? Der Sinn ift: „Lohn der De 
tft Furcht Jahve's“, nur wer demüthig ſich um fie bewirbt, e 
ſie (2, 2—5), mit ihe aber: „Reichthum und Ehre und Lel 


eregetifche Bernerfungen zu den Sprücen Salomo's. 155 


Die ehte, veligiöfe Weisheit = "nem iſt höchſter Kohn ber 
Demuth, fie iſt dem, der fie erlangt, Alles (Reichthum, Ehre, Leben), 
Ace, was der Menſch fonft begehrt und erftrebt, fie ift fein größter 
deichthum, feine höchſte Ehre, fein mahres Leben! Cine treffliche 
Sentenz, vergleichbar bem Worte des Herrn Matth. 6, 33: „erachtet 
m erften mach dem Weiche Gottes und nach feiner Gerechtigkeit, 
d wird euch alles folches zufallen". Das zweite Glied des Verſes 
jbt Hiermit eine Amalyfe des Prädicats im erten Gliede, es 
vutet an, was unter biefer '» may alles gemeint, mit ihr gegeben 
fi, was alfes der Demuth als Lohn zufalfe. 

8.5. „Dornen (Hiob 5, 5 vgl. 4Mof. 33, 55), Schlingen 
(ut. Joſ. 23, 13, wo ebenfalls beide Worte verbunden vorkommen) 
find anf dem Wege des Falfchen: es bewahrt feine Seele, wer fern 
Heißt avon.“ Der Falfhe ſcheint gar liſtig zu fein, Handelt 
der ganz verkehrt, denn fir ihn, auf feinen krummen Pfaden, find 
Innter Gefahren, Beschwerden, Fallſtricke, in denen er endlich ſich 
iher fängt, wie unfer Buch überall lehrt; der Redliche dagegen, 
er gerade wandelt, ſich fern von dem Wege des Balfchen hält, 
Abt aud) fern von den, dem wpy eigenthümfichen Gefahren und 
ehrt fo fein Leben. Wir nehmen alfo swing Ar, der Regel 
mäß (f. oben zu 16, 27), als Prädicat und nm pm als 
Zubject, und nicht ungefehrt, wo man meiftens Ar deutet als 
wer fein eben behüten will“ (fo 3. B. Umbreit, de Wette, 
Berthean, — aber ſ. 16, 17; 13, 3; 19, 8: überall ift yoga We⸗ 
hädicat) und dann peim etwa auch ala Juſſivus — „der 
libe fern“ nimmt (Bertheau, de Wette, Hitzig, Zöcller). Unfere 
deutung ift viel einfacher und zugleich ſinnvoller. 

B. 8. Diefer Vers ift von Rofenmüller in der Hauptſache 
ihtig erffärt worden und mit Unrecht ift feine Deutung von neueren 
Inslegern vielfach verlaffen worden. „Wer Frevel fäet, wird Unheil 
imten und die Ruthe feines Grimmes wird zu Ende gehen.” Zum 
"ten Hemiſtichium vgl. Hiob 4, 8; Hof. 8,7. ywz ift nicht blos 
telleit· (Bertheau), fonbern geradezu „Unglüc“, vgl. Habak. 
13u.a. Stellen bet Gesenius, Lex. Man. s. v. No. 4. Worin 
He abıy, beftehe, wird im zweiten Gliede näher angebeutet, nämlich 
2 grimmiger Härte und Unterbrücung des Nächſten, daher das 











156 Rüeiät 


Bild vom „Steden“ ober ber „Ruthe“ und der myzy bee 
mit den Menfchen Umgehenden, wie Beides z. B. aud bei 
14, 5f. vgl. 10, 5 vorfommt. Diefer Stab des grimmen Dri 
wird zu Ende gehen, zerfchlagen. werden, aufhören müffen. ( 
den Sprachgebrauch ift die Deutung von Umbreit, de Wette, C 
Eifter: „feiner Strafe Stab ift ſchon bereitet“; auch Jeſ. 1 
Cogl. Jeſ. 26, 20) Hat mby diefe Bedeutung nicht, es Heift 
hinſchwinden, zu Ende gehen“ und mazy heißt nicht ohne I 
„Strafe“, aud nicht oben 11, 23 oder Kfagel. 3, 1, wo 
myzy von Gottes Zornruthe gefagt ift. Zu einer Abweichung 
Texte iſt trotz LXX und Hitig feine Urſache vorhanden. 
8.16. Wir billigen Hier vollftändig die Deutung von Ber 
Die Frage ift: bildet der ganze Vers nur einen Sag, vom 
lichen Subject ausgefagt? oder find zwei Säge anzunehmer 
verschiedenen Subjecten? In letzterer Weife fehen z. B. de | 
Umbreit, Ewald, Higig die Sade an und finden den Sinn 
einen Armen bedrüct, tht es, um ihm, dem Armen, fein © 
mehren (Gott wird den bedrüdten Armen entſchädigen, ihn 
umfomehr fegnen und reich maden, wie zum Lohn für bi 
toiderfahrene, ungerechte Bedrückung), und wer einem Reichen 
der thut's nur zum Mangel deffelben, zur Minderung der 
des Reichen, das ſchwindet wieder hin, hat feinen Segen, 
Beftand. Allein diefe Auffaffung bietet die alfergrößten Schi 
feiten durch den fo gewonnenen Gedanken; es wird wohl ı 
der Arme, ungerecht bedrückt, wird davon befreit und erlöft w 
nicht aber, feine Bedrückung diene gerade zur Vermehrung 
Vermögens und werde ihm damit vergolten; noch viel weniger 
jemals gefagt, wenn ein Reicher ein Gefchent erhalte, fo rufe 
ein Fluch, der feine Habe verzehre. Beide Gedanken wären t 
unwahr, und man mag fi drehen wie man will und obige 
faffung noch fo oder anders mobdificiren wollen, diefe Schwie 
bleibt, und man ift 3. B. gezwungen, den „Reichen“ gerade; 
einen ungerechten Reichen zu deuten, was erſchlichen ift. 
muß alfo der andern Auffaffung den Vorzug geben und erfl 
„wer einen Armen bedrüct, um fein eigen Gut zu wermehrer 
gibt einem Reichen — nur zum Mangel“. Male parts 


eregetifche Bemerkungen zu den Sprüden Salomo’s. 187 


dlabuntur, vgl. 28, 8; 11, 24. Freilich darf man nit, wie 
eier und Rofenmäller, den Asp von einem andern Reichen ver- 
ſuhen, al von dem Bedrücker des Armen. Daß jo 5 in beiden 
deniſtichien nicht völlig gleich, das erſte Mal von der Abficht, das 
zueite Mal vom Erfolg geſetzt ift, bildet feine Inftanz gegen unfere 
Auffaffung; es gehört dies gerade zu den gejuchten pointes dieſer 
Sprüche, und überdies ift auch das zweite 5, vom höheren religiöfen 
Standpunkt aus betrachtet, eigentlich Bezeichnung der. Abficht: der 
xthlendete Meiche merkt's nur nicht, daß er fich felbft fo Mangel 
mieht; es ift, als thue er's abfihtlih! man vgl. va im N. T. 
Lie Sentenz zeichnet eine zweifache DVerfehrtheit: 1) indem ein 
Eolger einem Armen nimmt und einem Reichen, jich felber, 
ders nicht bedarf, gibt, und 2) indem der endliche Erfolg doch nur 
dei, dag er zuletzt Mangel hat. 


Eap. XXI. 


8.17. 18. Was hier Schwierigkeit macht, ift das zweimal 
uch, einander geſetzte Dx- >, don dem es nicht möglich ſcheint, es 
Se Male in gleichem Sinne zu faſſen. Wenn Umbreit, Higig, 
Fler zc. mit Recht zum zweiten Gliede von V. 17 das Verbum 
% erften wiederholen (nad) dem Vorgange von Ibn-Esra), wobei 
xp an zweiter Stelle in der That anders gemeint ift als. in 
ferer, hier — „beneiden“ wie 24, 1. 19; 3, 31. Pf. 37, 1, 
om dagegen — „eifern um die Gottesfurcht“, ihr eifrig nadj= 
nn, fo kann diefer Wechfel fehr wohl angehen, da > dort eine 
kıfon, Hier eine Sache einleitet, f. aud; oben zu 22, 16. Die 
wohnlich beliebte Ergänzung von „fei“ (im der Furcht Jahve's) 
% hart und kaum zuläffig. Hier nun hat ox“> feine gewöhnliche 
xdeutung = „fondern“. Dieſe aber mit Ewald (vgl. aud) de Wette: 
in! ſondern . .) auch in V. 18 anzuwenden: „vielmehr, 
dgibt noch eine Zukunft“, dürfte ebenfalls gewagt fein und müßte 
ud eine gar zu bedeutende Einfciebung von Zwifchengedanfen 
Mt gleichfam vermittelt werden, etwa wie einige Rabbiner para- 
Mafirten: . . wenn du Böſe beneideft, fo thuſt du, als wäre 
ir dich keine Mond, feine Hoffnung; diefem folle num unfer Sag 
Agegentreten: nicht fol fondern es gibt eine Zukunft u. j. w. 








158  Niüetfcht, egegetifche Bemerkungen zu den Spruchen Salomo's. 


Grammatiſch leichter wäre die, von Pifcator, Umbreit, Rofenmi 
Bertheau, Elfter, Zockler befolgte Trennung beider Conjuncti 
in der Weiſe: „denn, wenn es [wie nicht zu bezweifeln 
Ende gibt, fo wird deine Hoffnung [wenn du handelſt nad 
V. 17 gegebenen Rathe] nicht vernichtet werden“. Allein da 
madyen die Stellen 24, 14 vgl. Ser. 29, 11 von vornhere 
wahrfcheinlich, daß die Worte nyyas Wr mit den folgenden }ı 
auf Einer Linie ftehen, und auch die Logil wie die Wortſte 
macht ſolche Trennung, wie Higig zeigt, nicht rathſam. € 
bleibt nur entweder die Annahme, daß os - va hier für einfache: 
„denn“ ftehe, was freilich ohne weiteres Beiſpiel, daher bede 
anzunehmen wäre, oder, daß now durch ein Verfehen aus % 
eingedrungen fei. Legteres möchten wir faft anzunehmen g 
fein und fogar vermuthen, urſprünglich Habe geftanden 19-37 
Zeph. 3, 9): „nicht beeifere fd dein Herz um die Sunden, 
dern um die Furcht Jahve's alfezeit, denn dann gibt's [für 
eine Zufunft und deine Hoffnung wird nicht ausgerottet wer 
Nämlich, nach der Aufhauung unferes Buches 24, 14. 20; 1 
14, 32; 10, 28 wie der Pjalmen (37, 37f.) gibt es fin 
Böfen keine nn; dieſes Wort wird in bonam partem gebt 
und enthäfteine Hoffnung auf eine kommende, beffere Zeit (Ser. 31, 
ja felbft über den Tod Hinaus; f. oben zu 14, 32. „Todesſt 
Lebensende" (Umbreit) heißt mımx nie. 

Zum Schluß diefer Bemerkungen erlaube ih mie nod h 
weifen auf die treffliche Hermeneutifche Anweifung zu Erkläru 
Sprühmwörter, wie fie mein unvergeßlicher Lehrer D. Lut 
gegeben hat in feiner „Bibl. Hermeneutif“, ©. 468—472. 3 
es gelingen, immer tiefer einzudringen in biefen reichen ©: 
iſraelitiſcher Weisheit und immer mehr gebiegenes "Geld echt 
gidfer Lebenswahrheit aus demfelben zu Tage zu fürdern! | 
einen Heinen Beitrag zu geben, war der Zwed obigen Verſud 


Laurent, ber Pluralis maiestaticus in den Theffalonicherbriefen. 1859 


2. 


Der Pluralis malestaticus 
in den Theffaloniherbriefen. 


Bon 


D. 3. 6. 9. Sue. 


Himit unternehme ich es, zu beweiſen, daß man überall, wo in 
en Theffalonicherbriefen ein auf die Perfon des Apoftels bezüg- 
iter Plural vorkommt, denfelben als Pluralis maiestaticus zu 
wadten hat. Damit ftehe ih im Gegenfag zu v. Hofmann, 
cher das Vorkommen dieſes Plurals beim Apoftel Paulus über- 
aupt in Abrede ſtellt. Bliebe mir freilich nur die Wahl zwifchen 
rnfiht v. Hofmann’s und der der Mehrzahl der Exegeten °), 
xkhe bald den Pluralis maiestaticus anerfennen, bald nicht, fo 
Arde ich anbedingt die Hofmann'ſche wählen; denn e8 feheint mir 
km denkbar zu fein, daß gin Schriftfteller, der von fih mit Wir 
!ht, damit hie und da auch andere — feine Gehülfen — mit 
einen folfte. In den Theſſalonicherbriefen denkt fi Paulus immer, 
fan er von fich im Plural redet, als Apoftel, und fprict im 
Klühl feiner Amtswurde. Die Majeftät des Amtes alfo drüdt 
t duch den Pluralis maiestaticus aus. Will er das nicht, 
hi er mehr perfönlih, fo zu fagen privatim, fo fagt er nur 


— 


U Ropp und Pet find meiner Meinung. 





160 Laurent 


Die Durchführung diefes Satzes wird, wie ich Hoffe, fü 
Exegefe der Theſſalonicherbriefe nicht ganz unfruchtbar fein. 

Den fefteften, früher von feinem Eregeten angezweifelten 
punkt gewähren die Worte 1Theff. 3, 6: "Agrı da EAyorıo 
uoſßov rreog juäs. Denn Apg. 18, 5 heißt es ausdrü 
Rs; de xarjAdov ano vs Maxsdovias Ög ve Ziläs® 
ö Tıu6seog, Ovvelxero vö Aöyp 6 HadAos. Den eriten T 
lonicherbrief ſchrieb Paulus laut 1THeff. 1, 1 in Gefelliga 
Silvanus oder Silas und des Timotheos. Wäre nun mi 
qjuãc 1 Theſſ. 3, 6 ein gewöhnlicher, kein Majeftätspfural geı 
fo wäre Paulus zu Korinth nicht ohne Silas gewefen, was 
der Angabe der Apoſtelgeſchichte widerfprechen würde. 

Diefem Argumente zu entgehen, ftellt v. Hofmann d) bie. 
thefe auf: Timotheos und Silas fein nit miteinande: 
Makedonien nad Korinth gefommen, fondern zuerft Silas 
dann erft Timotheos, und Silas fei alſo beim Apoftel zu K 
gewefen, als Timotheos von Theſſalonich her daſelbſt ankam. 
gehe denn das jucc 1 Theſſ. 3, 6 auf Paulus und Silva 
Der Legtere war freilich erft nach dem Apoftel nach Korin 
fommen; denn nad v. Hofmann (S. 195) beſchränkt fir 
Berfaffer der Apoftelgejchichte auf die beiden Thatfachen, daf 
ohne jeine Gefährten nad Athen und ohne fie auch nad 
tinth gefommen ift. Wo war denn aber Silas vor 
Die Apoftelgefchichte jagt deutlih: in Makedonien: von 
fedonien kommt er nad) Korinth, Apg. 18, 5. 

Der Apoftel war befanntlich, ehe er nad Korinth kam, zu 3 
Dorthin war er im Jahre 53 °) von Berba ausgereift. Zu 
angefommen, hatte er (Apg. 17, 5) den Berdern, die ihn 
geleitet Hatten, den Auftrag gegeben, im den Silas und Timo 
welche zu Berba zurüdgeblieben waren, fo bald wie möglich 
Athen nadzufenden. Diefem Gebote folgte Timotheos, ward 


a) So, nicht Cidas betone ich; f. meinen Auffag: „Zur Onomaft 
der luth. Zeitichrift 1863, ©. 676. 

b) Die Heilige Schrift N. T.'s zufammenhängend unterfucht I, 195. 

©) S. meine Neuteft. Studien, ©. 87. 


ber Pluralis maiestaticas in den Theffalonicherbriefen. 161 


nn von Paulus wieder von Athen nach Thefjalonich gefandt, wie 
0 1Xheff. 3, 2 angegeben ift. Denn dort Heißt es: der Apoftel 
übe, von unüberwindlicher Sorge um die Gemeinde ergriffen, Lieber 
llein zu Athen, als ohne weitere Nachricht von den Theffalonichern 
wiben wollen (1 Theſſ. 3, 1), und Habe darum den Timotheos 
om Athen fortgefchidt. Das befagt der Ausdrud Arsupansr. 
Ik freilich nur, wenn man ihn als Pluralis maiestaticus faßt. 
%s lann v. Hofmann nicht, und darum iſt nad) feiner Anficht 
iht bios Timotheos, fondern auch Silvanıs von Berda nad 
ien gelommen, und Paulus und Silas haben den Timotheos 
beeſandt und find allein zu Athen geblieben. Won Athen reifte 
uther Paulus nach Korinth (Apg. 18, 1) und zwar, wie v. Hofe 
am jugibt, allein. Wo war aber da Silas? wie war der wieder 
nehRatedonien gefommen, von wo er ja vor dem Timotheos, 
den er nach Hofmann's Anficht noch mit von Athen nad) Mater 
onien abgeſchickt Haben ſoll, nach Korinth kam? — Die Apoftele 
Hbihte fagt: es dd zarjAdov and sjs Maxedoviag. 
m beiden, vom Silas und vom Timotheos. Ich meinestheils 
me wegen diefer Stelle an, daß Silas von Berda nad Korinth 
m, daß er aus uns unbelannten Gründen dem Gebote des Apoftels, 
2 Athen zu kommen, nicht gehorchen konnte und deshalb fo Lange 
: Mafedonien blieb, wie Timotheos, und dann mit demfelben, der 
avon Beröa abholte, nach Korinth reifte. Das erzählt Lulas 
ı der Apoftelgefchichte jo ausführlich nicht, aber feine Worte „ano 
ik Maxedortas‘““ tommen fo zu ihrem Rechte, und daß er oft 
Imejentfiches wegläßt, ift bekannt. 

Demnach ift das drsuypansr 1 Theſſ. 3, 2 ein Pluralis ma- 
staticus; was auch dadurch nicht wenig befräftigt wird, daß das 
it önsupapısv ausgefagte fogleih V. 5 durch Zrreurya ausge 
fidt wird. Denn noch Hat bis auf v. Hofmann, fein Ausleger 
ters gedacht, als daß die Ausdrücke dio unxsrı oreyovres — Erzsp- 
ſausy V. 1.2. und die ToDzo xayd umeerı oreyav Ense 
# einander völlig deckten. Anders v. Hofmann: er bezieht das 
"uye wicht auf die Sendung des Timotheos, fondern auf die 
us zweiten Boten, welchen von Korinth, nicht von Athen aus 
Kal. Stud. Jahrg. 1868. 1 





162 Laurent 


Paulus ohne Silvanus auf eigene Hand vor Timotheos A 
zu Korinth nad Theſſalonich abgefandt habe. Den -Hübe | 
nachher noch nach dem Timotheos allein abgefandt zu eineı 
wo Silvanus ihm fehlte. Dann aber fer Silvanıs ı 
gefehrt und habe den Timotheos mit empfangen. Nun fra 
hätte wohl Paufus, wenn er einen Zweiten abgefandt Hätte, fi 
Ausdrucks xdya unzerı areyav Erremipe ſchlechtweg bedient‘ 
muß es Andern Überlaffen, darüber zu entſcheiden, ob das 
mit Zrrepype zu verbinden überhaupt nur möglich ift; in dem 
nämlich, daß mit-dem xayo Paulus auch ich allein, nid 
wie zuerft, Silas und ic, fagen wolle. Ich beziehe das 
auf das Verhäftniß des Apoftels zu den Theſſalonichern, 
Sehnſucht er theile. Ich meine, ich darf es getroften Muthe 
unbefangenen Leſer üBerlaffen, eb er lieber mit mir das 1 
3, 1. 2 Ausgefagte V. 5 wiederfinden oder v. Hofmann's 
thefen annehmen will; Hppothefen, deren Art fo lühn zu fein | 
daß, wenn ein Exeget wie Hofmann firh dazu getrieben fühl 
ſchon den ganzen Sag, den er vertheidigt, im einem beder 
Lichte erfcheinen Täßt. Wan beachte nur, daß von Silas' Erj 
in Athen, von deſſen Verfchwinden aus Athen nach Make 
don deffen Verfihwinden aus Korinth und von einem zweit 
Korinth nad Thefalonich gefendeten Boten in der Apoftelge 
oder fonft nirgends etwas gejagt iſt! 

Ein fernerer Beweis für das Vorkommen des Meajeftätsp 
in den Theffolonicherbriefen findet ſich 1Theſſ. 2, 18. Dor 
es: dior nIEAjORnEv EAFElv irgög Ünäs - Ey mer I 
— zal änak wai dis. Hier würde doch Paulus, wenn 
des Majeftätsplural® gar nie bedient hätte, gewiß nicht au 
Einfall gekommen fein, erft den Plural 7seAjoaner um 
zur näheren Erörtetung den Singular Eye zu fegen. Dat 
denke ic, der Grund, weshalb v. Hofmann (I, 191) nad 
Grotins’ Vorgange das zul Erna nad dic nur mit Eyu 
Dovkos verbindet und in Pareutheſe fegt, fo daß er den 9 
von alfen Dreien, vor fi) und feinen Gehülfen, das Wollen 
fh) jelbft aber das wiederholte Wolfen ausfagen läßt. Gegen 


ber Pluralis maiestations in ıden Theſſalonicherbriefen. 168 


Ansiegung her Spricht ber Hiftorifche Thatbeſtand. Denn als 
Baus das Fheiranusv ſchrieb, waren SHas und Timotheos 
kn vorher (&gre) aus Matebonien gefommen (Apg. 18, 5). 
Tinst$eos war, wie wir wifjen, in’ Cheffalonich gewefen: auf den 
moite alſo das NSsArjommer ‚gar nick; paßte es auf Silas? 
Echwerlich! Er war ohne Zweifel in der langen Zeit, die ‚er in 
Bern verweilt war, mad Thefjalonich, dem unweit gelegenen, zum 
beſuch gelemmen. Hatte er doc beider Gemeinden, der zu Thefſa⸗ 
Imih and der zu Berba, in Abweſenheit des Apoftels mahrzus 
uimen! Ich zweifle alfo nicht im mindeften, daß das Weärr 
seuev hier Pluraks maiestatious ift, deſſen ſich Paulus hier 
kr Gewohnheit gemäß bedient, dam er «ber dann entweder zu 
beer Erörterung, um Mößverftimdniffen vorzubeugen, oder beſſer, 
neil Beides, das amtlihe und das perſönlicht Ver— 
hiltnig des Paulas in Frage kam, das eyw dv Zadlog 

befigte, Dem ijſeaq̃ocusv entſpricht dann wieder das gleich :8, 1 
atfolgende Gesyovrss, wie dem Ey yudv das Ossxew Eneurya 
8,5. Auch Rinemann erkennt hier in jteljampev wie in drrog- 
penodevse; und Jomenddoaesrv den Majeſtätsplaral an. Mir 
bite and; zu verleunen, daß V. 17 der Mpaftel ſich und mr ſich 
Hilbert? paßt denn das drroppemsoddvrsc, 08 mgngurp od 
wedig auf Timotheos und Silas? Gewiß nicht! Das gibt and) 
» Hofmann unwillkürlich gu, denw er redet S. 1B8f. vom Apoſtel 
Wein, nicht auch :won deſſen Gehüffen. So find die Majeſtüts⸗ 
ſarale Enoppasıodiyusg und domaudipape weſeutliche Shiten 
Mr Anſicht, daß auch 7Yeijepmep nur Pluralis ‚maiestaticus 
kin fan. 

Die 1Theſſ. 2, 17, fo bieten noch manche andere Stellen ‚nicht 
nice, ſondern Biftorifche Gründe für ben Majeſtütsplural bar; 
B. 2Theſſ. 2, 2 ws de’ mr, wo nicht blos der Brief offen« 
har nur den Apoſtel perſönlich berührt, ſondern auch menu und 
Kyoc der Gehülfen ja ger nicht in Frage kommen. 1Theff. 
2, 14 lann er doch nur von feinem Evangelium, das er jelbft 
detritt, zeden, wie Gal. 1, 8. 9. Wil er im ähnlichen Falle 
fine Gehülfen ‚mit erwähnen, fo ſagt er es ausdrüdlih: 2 Kor. 

u® 





164 Laurent 


1,.19. 1Theſſ. 2, 7 Tann Ho nur den Apoſtel allen 
zeichnen, und die Verfolgung 1XChejf. 2, 15 berührte mır 
Das amöoroloı 1Theſſ. 2, 6 kann doch nur auf den A 
gehen. Pſychologiſch erklären fih nur fo Stellen, wie 23 
3, 7. 9. 1Theſſ. 2, 6. 7. 11. 19. 20; 3,2u.a. m. | 
alf vedet der Apoftel. Hier auch an die Gehülfen denken w 
hieße meines Erachtens dem Gedanken Kraft und Saft nei 
Grammatiſche Gründe ſprechen an folgenden Stellen fü 
Maojeftätsplural: 2 Theſſ. 3, 9 ſteht zörov neben dav 
1 Theſſ. 2, 7 zgöYog nad) Eyerjdmuev, worauf ich jedod 
allzuviel geben will; mehr aber gilt mir das os rang, wo 
den Paulus zwang, zu den Pluralen ragaxuloüvres, mag 
Foruevor und nagrvgögsvor den Plural as mrareges zu | 
hätte er an feine Gehülfen auch mit gedacht; an feine Geh 
von denen Zimotheos ſchwerlich ſchon Vater zu nennen 
Grammatifh zu beachten ift vor allen auch das mus 17 
2, 18, wo, obwohl foeben Ey, doch gleich wieder Nuss 
und nit Zus. So natürlich war dem Apoftel der Gebraud 
Pluralis maiestaticus. Daß aber das jucc dem folgenden ı 
und dem 7usv V. 20 gleichfteht, ergibt pſychologiſcher Tact. 
Wir kommen jegt an zwei Stellen, welche für die Anficht 2 
welche immer, ober wenigjteng mitunter in dem Pluralis ı 
staticus eine gewöhnliche Mehrheitsangabe fehen wollen, au 
erften Anblif auf eine fehr blendende Weife zu fprechen fd 
Es find folgende: 1Theſſ. 2, 9 und 2Theff. 3, 8, wo der A 
von x07ov 1juv vedet und Egyalöuevos (zweimal), Enge 
und &grov Eyayoyev jagt und zwar fo, dag man zuerft n 
Paulus rede Hier nicht blos von ſich allein, fondern aud) 
feinen Gehüffen als ſolchen, die mit ihm auch fein Handwer 
trieben hätten. Das aber ift ein Irrthum, nicht blos, weil | 
2Theſſ. 3, 9 offenbar von Paulus allein die Rede ift — 
er unbezweifelt nur fein eignes Vorbild der Gemeinde vorführ: 
fondern weil nachweislich feitftcht, daß Paulus mit feiner H 
Arbeit auch den Unterhalt feiner Gehülfen verdie 
Dein Apg. 20, 34 fagt er: aurol yıvWoxere, Örı Taig yo: 


der Pluralis maiestaticus in den Theffalonicherbriefen. 165 


nv xal roĩs oloıv ner’ Zuod Unmgsmonv al geiges adraı; 
tine Stelle, welde Luther und Hugo Grotius mit vollem Rechte 
auf die Gehülfen beziehen. Denn wenn Paulus nah Rabbinen» 
ftte auch ein Handwerk verftand, fo war das von Männern gries 
dicher Herkunft nicht zu erwarten; ein freier Römer oder Grieche, 
nie die Gehülfen waren, trieb fein Handwerk. Alſo find auch 
2. 3, 8 und 1Theſſ. 2, 9 die Plurale Plurales maie- 
statici, 

Haben wir fo bewiefen, was wir beweifen wollten, fo wird 
man ung auch zugeitehen, dag 2Cheff. 3, 1 das zus» ein Ma- 
Hätepfural ift. Das erhellt aus der daffelbe enthaltenden Stelle 
%.4, 3. Dort Heißt e8: mo00svgöuevo, Aum zul nregl 
indv — AaAjomı TO Wvorigiov Tod Xgiorod, di Ö xal 
denen. Hier find 7r9008vxöuevo, der Plural, und dedenwas, 
der Singular, in einem und demfelben Sapverbande zufammen- 
geñellt. 

Steht das feſt, fo wird endlich auch der ſcheinbarſte Einwurf 
den die Gegner uns machen, der nämlich, das zugapıoroüusv 
heſſ. 1, 2 und 1Theſſ. 1, 3 könne nur auf die drei ja eben 
vorher genannten DBriefftelfer gehen, uns nicht irre maden. Er 
ft ſton don Otto v. Gerlach widerlegt duch Hinweifung auf 
Kor. 1, 4, mo edxegiori, der Singular fteht, obwohl laut 
B. 1 nicht Paulus allein, fondern Paulus und Softhenes in 
kr Ueberfchrift genannt find. Ganz daſſelbe ift Phil. 1, 1 u 4 
kr Fall: es Heißt edxagıora, obwohl Paulus und Timotheos an 
kr Spige des Briefes ftehen. Die Sache verhäft ſich offenbar 
d, daß die Gehüffen zwar als den Gruß an die Adreffaten mit 

öfprechend zu denken find ®), daß aber der Apoftel immer fo 
vohl gleich den Segen als auch den nachfolgenden ‚ganzen Brief 
2 feinem eigenen Namen und alfein fchrieb. 

Afo: in den Theffafonicherbriefen bedient fich der Apoftel Paulus 
Immer des Pluralis maiestaticus, wenn er nicht abfichtlich mehr 
Pefönlich, fo zu fagen privatim, reden will. 





4) Eenfo Belt. 





166 Laurent, des PluraHs maiestaticus im den Theſſalonichechriefen. 


Ift diefe ganze Arbeit gegen v. Hofmann gerichtet, fo mi 
ih zum Schluffe ausdrücklich befennen, daß ich zu dem gr 
Kreife Derer gehöre, die ſich dem hochverdienten Mlanne, 
3 B. dem Antichrift, das xuseyuv und bad xardxov 
in das rechte Licht geftellt Hat, auch für feine Austegung 
Theffalomicherbriefe zu größtem Dante verpflichtet fühlen. 


KNecenfionen. 





1. 


Borlefungen über die hriftlihe Dogmengeſchichte 
von F. Chr. Baur, nad deffen Tode herausgegeben von 
gerd, Friede. Baur. I. Band, 1. Abth., Leipz. 1865 
XII und 738 SS.) und 2. Abth. 1866 (XIV mb 
3 SS.). 


Nah den großen bdogmengefchichtlichen Arbeiten Baur’s, die 
m den herorragendften Leiſtungen gehören, welche wir auf diefem 
Gebiete Haben, nach feinen firchengefchichtlichen Arbeiten, welche ſtets 
auf bie dogmengefchichtliche Bewegung ihr befonderes Augenmerk 
gerichtet haben, nach dem in zwei Auflagen erfhienenen Lehrbuch 
der hriftfichen Dogmengefchichte, wird man zwar in diefen nad 
feinem Tode von dem Sohne Herausgegebenen afademifchen Vor— 
kungen nicht gerade wefentlich Neues finden. Diefelben ſchließen 
fh ziemlich genau an den im Lehrbuch eingehaftenen Gang an. 
Dennoch Hat der Heransgeber durchaus Recht, „eine mit fo viel 
Big, Geift und Wiffen im Laufe fo langer Zeit zu Stande ge- 
brachte Arbeit nicht, der Bergeffenheit zu übergeben“ und nicht blos 
volche, welche fich zu den Schülern Baur’ rechnen, werden ihm 
mit dem Referenten Dank wiffen, daß er ſich der forgfäftigen 
Ferausgabe diefer „ausführfieren und zugleich das gefammte Ge- 
ft der Dogmengefchichte gleihmäßig und überfihtlic behandelnden 
Bearbeitung diefer Wiffenfhaft“ von der Hand des großen Theo» 
bogen unterzogen hat. Die vorliegenden zwei Abtheilungen des 
etſien Bandes umfaffen die Dogmengefchichte bis Ende des 6. Jahr⸗ 


70 Baur 


underts und laſſen überall das forgfältige Wortarbeiten Bau 
uch im Einzelnen erfennen. In der angeführten Literatur ift 
tappes Maß eingehalten, worüber wir weder mit dem Berfa 
och mit dem Herausgeber rechten; es ift das nur zu bilfigen, | 
Äirfte auch nach dem allgemeinen Mafftabe Hier und da ein & 
ermißt werden. So hätte bei Manes das Werk von Flü 
ıohl erwähnt werden folfen, bei Athanafius die Monographie 
zogt u. a. m. Diefe Vorlefungen find in ihrer breiteren 4 
ihrung wohl geeignet, uns den Standpunkt, den Baur's the 
iſche Gefhictsforfhung einnimmt, nod einmal zu vergegent 
gen; hierfür find die einfeitenden Paragraphen befonders da 
riſtiſch, fo namentlich die Erörterung des Verhältniffes von Dogr 
eſchichte und Geſchichte der Philofophie (I, 78—100). 8 
ehen, wie Baur hier erinnert, nicht nur in naher Beziehung 
‚nander und greifen ineinander ein, fondern fie ftehen in einen 
gen Verhältniß, daß fie nur auseinander, ober als Theile e 
nd deffelben Ganzen begriffen werden fünnen. Denn die Geſch 
er Philofophie ift Geſchichte des menfchlichen Geiftes d. i. 
venfchlihen Denkens über das an ſich Seiende und Wahre ( 
Ibfolute), die Dogmengefchichte ein Theil derfelben; fie Hat 
{ben Gegenftand, und der Unterfchied ift nur der, daß fid in 
Yogmengefchichte da8 Denken und Forſchen des menſchlichen Ge 
n der Form des hriftlichen Dogma's bewegt, einer Form, m 
ichts Zufälliges ift, fondern aus dem Wefen des Geiftes fi 
egriffen werden muß, als eine im allgemeinen Entwicklungsge 
es menschlichen Bewußtfeins begründete Geftalt dieſes Bewußtſe 
daher gerade die productiofte Periode der. Dogmengefchtchte bie 
ı welcher das philofophifche Denken mehr und mehr in das t 
ogiſche überging. (Als an eine Analogie erinnert Baur an 
zerhältniß von Weltgefchichte und Kirchengefchichte in jener mit 
lterlichen Periode, in welder die ganze Weltgefchichte zur Kird 
efchichte wurde.) Der Umſchwung, wonach alles Denken in 
zlauben der Kirche aufgehe — fo daß die Dogmengeſchichte 
nem großen Theile nur die Darftellung des im Glauben 
!iche gebundenen und in ihm erlöfchenden freien Denkens w 
— bdiefer Uebergang von einer Form zur andern milffe ein Mom 


Borlefungen über die chriſtliche Dogmengefchichte. ım 


ds gefchichtfichen Proceffes fein, in deffen Sphäre fid der Geift 
bemege. 

68 ift ja num ohne Zweifel eine richtige und für die fpecufative 
Durchdringung des hriftlihen Dogma wesentliche Forderung, daß 
die chriſtliche Dogmenentwicklung hineingezogen und eingegliedert 
werde in die Gefchichte bes menfchlichen Geiftes Hberhaupt; die 
ganze großartige Geiftesarbeit und Gedankenbewegung der Kirche 
lann nicht derart von der natürlichen Geſchichte des Geiftes iſolirt 
werden, daß fie in ihrer Pofitivität vom rein philofophifchen Stand- 
punkte aus den Charakter einer zufälligen Erfcheinung erhielte. Es 
muß ein weiterer Horizont gewonnen werden, unter welhem man 
im chriſtlichen Dogma unter eigenthümlicher Form ben in ber 
Int alfer philoſophiſchen Forſchung weſensverwandten fpeculativen 
Gehalt zu würdigen vermag. Jener dürftige, niedrige und äußer- 
Iihe Bragmatismus, der fein Wefen getrieben Hat, als die Dog- 
mengefehichte noch eine junge Discipfin war, wird damit ebenſowohl 
übernunden als der faljche Poſitivismus, welcher das Syſtem der 
Dogmen gefchichtslos und verbindungslos mitten in die Geſchichte 
ber natürlichen Geiftesarbeit Hineinftellt. Allein e8 kommt num vor 
Alm auf die Vorftellung an, welche man fi von jenem allge— 
meinen Entwicklungsgang des philofophirenden Geiftes in feinem 
Verhältniß zu den realen Mächten des Lebens macht. Hier alfo 
namentlich auf die Stellung, in welche man die Religion und ihre 
Data zur Philoſophie fest. Baur geht daher auch zur näheren 
Legründung und weiteren Ausführung obiger Erörterung auf das 
Verhältniß von Religion und Philofophie ein. Beide find ihm an 
fih im Wefen des Geiftes identifch, im der Form ihrer Er- 
fheinmg weſentlich verſchieden. Charakter der Religion fei, 
deß der Geift die Wahrheit, welche der Inhalt der Religion ift, - 
mm als eine empfangene weiß, eine ſchlechthin gegebene (eine 
äußere Offenbarung, die ihren geſchichtlichen Urfprung außerhalb 
der Vernunft Habe); daher ihre nothwendige Form die der Vor 
fellung, ihr Inhalt ein Unmittelbares, das mit dem denfenden 
Benußtfein noch nicht vermittelt ift. In der Philoſophie dagegen 
diffe der Geift die Wahrheit als eine ihm immanente, als das 
Rfultat feines eigenen Denkens. Baur hat Hierin im Weſent ⸗ 


172 Baur 


lichen den Standpunkt feftgehalten, den er bereits in feiner One 
eingenommen, ben der Hegel’fchen Religionsphilofophie. Unterſche 
er ſich auch wefentlich und zum Vortheil der Sache durch ein ı 
objectiveres Eingehen in da8 Detail der Forſchung und demgen 
durch eine die Eigenthümlichfeit der NReligionsformen umd ih 
eonereten Inhalt wie ihren Zufammenhang, ihre Stellung zu 
ander zutreffender beftimmende Conftruction, als fie das den 
ligionserſcheinungen keck übergemworfene Ne Hegel’fcher SKatego 
gewährt, fo ift doch der Standpunkt überhaupt mit feiner gri 
lichen Verfennung des eigenthümlichen Wefens der Religion, j 
Standpunkt des abfoluten Bewußtſeins, aus deffen Schlingen 
die Wiſſenſchaft unferer Tage vermöge ihres realiftifchen mit 
Thatſachen wieder Ernft madenden Charakters auf der ganzen | 
der Wiffenfchaften loszulöfen jtrebt, nicht überwunden. Cs f 
nicht die Aufgabe diefer Anzeige ein, diefen durch die wiſſenſch 
liche Ernüchterung und — Refignation der Gegenwart bereits 
richteten Standpunkt des panlogiftifchen Rauſches zu befämp 
nur vergegenmwärtigen wollen wir uns an einigen Punften, 
derfelbe den Nefultaten der fo verdienftoolfen dogmenhiftorif 
Forſchungen Baur’s ihr Gepräge gibt. 

In dem getrennten Auseinanderfein jener beiden Formen 
Geiftes, der Religion und der Philofophie zeige ſich, fagt 3 
vornehmlich der Particularismus der alten Welt; Religion 
Philoſophie verhalten fih fo wie Orient (wobei befonders an 
Judenthum gedacht wird) und Dccident. Wir wollen im Bor 
gehen, ohne das Wahre in diefer Entgegenfegung zu verfen 
nur einshränfend erinnern, einmal, daß doch auch für die gried) 
Philoſophie die Wurzel in der Naturreligion liegt, fodann ı 
befonders, daß der Particularismus der alten Welt ebenfofehr fi 
in dem Charakter der alten Religionen für fi, ihrer mefentli 
Gebundenheit an das Nationale, alfo in dem Verhältniß von 
ligion zu Religion fiegt, fowie andererfeit® das Hinauswachfen i 
den Particulariemus ebenfofehr in der jüdifchen Religion als 
der heidnifchen PHilofophie noch auf ihrem antifen Grunde 
namentlich auch in der Stoa — ſich anfündigt. Der größte Fe 
ſchritt im Entwicklungsgange des Geiftes in der vorchriftlichen 3 


Daun, Google 





174 Baur 


wurde und in ber unendlichen Mannichfaltigfeit feiner Formen 
Erſcheinungen frei von aller particulariftifchen Befchränftheit 
mationalen Bewußtfeins ſich darjtellen follte, erweiterte ſich 
Bewußtjein in's Umendfiche, aber es war and mit einer Vor 
fegung behaftet, die für das philofophifche Denken eine ſchlech 
gegebene war, die unmittelbare Thatfache einer Offenbarung, 
welcher ſich der fubjective Geift nur receptiv und paffiv verh 
konnte. Iſt num der Neuplatonismus die eine diefer Hauptfori 
in denen fid (noch abgejehen vom Chriſtenthum) das Bewuß 
der Zeit ausgeprägt hat, eine Verfehmelzung der griechifchen 
lofophie mit dem religiöfen Bewußtfein des Orients, fo ift 
andere die jüdifche alexaudriuiſche Neligionsphilofophie, meld) 
erklären ift aus dem Erwachen eines fpeculativen Triebes und 
dürfniffes im Judeuthum. Beide Erſcheinungen gehören in 
Gebiet der Gefchichte der Philofophie und ftehen doch ium 
und wefentlicher Beziehung zur Dogmengefchichte, wie denn 
die Anglogie eines dogmatifchen Syſtems ſich in ihnen finde. „C 
hier tritt an die Stelle des Philofophirens jenes Dogmatij 
wie es zum Charakter der chriftlichen Theologie gehört. Es 
nit an echt jpecufativem Inhalt; aber der freie philoſopt 
Gedanke ift durch eine ihm von der Religion gegebene For 
bunden und mit einer Vorausfegung behaftet, in welcher das Di 
feine Schranke hat und feinen Anfang nicht in ſich felbft, fon 
nur im Glauben nehmen Tann. Die alexandriniſche Religi 
philofophie macht auf die Geſchichte des hriftlichen Dogma | 
fo den Uebergang, daß derjelbe Strom, welcher bisher in ber 
ſchichte der Philofophie feinen Lauf Hatte, nun in ein anderes 
übergeleitet wird, in welchem er unter dem Namen der cpriftl 
Dogmengefchichte fi durch wiele Jahrhunderte fortbewegt. 
gibt im Grunde neben diefer feine Gefchishte der Philoſophie we 
Man fragt nun natürlich, welche fpecififche Bedeutung denn 
Ehriftenthum für den Proceß des Geiftes bfeibt, wenn diefe } 
die Entwicklung des Bewußtſeins und das Abjtreifen der par 
lariftifchen Schranken Hervorgerufenen Erſcheinungen — Neupl 
nismus und Philonismus — ſchon im Wefentlichen das eutha 
was die neue Stufe des denfenden Bewußtfeins conftituirt, när 


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176 Baur 


Geiſtes ift Bier, fi) in den Juhalt des Glaubens immer mehr 
vertiefen und in ihm ſich zw objectiviren, bis der Cpnhalt i 
Glaubens foviel möglich erſchöpft und der freie bewegliche ji 
de8 Denkens felbft gleihjam zu einem ftehenden Syſtem ftreng 
fich abgefchloffener, durch eine äußere Autorität beftimmter Dogn 
“geworden ift, zu einem ſich felbft äußerlich und trangfcendent 
wordenem Denken.“ Hier bleibt dann natürlich nichts übrig, 
Auflöfung und Zurüdnahme des Objectivirten in den zu ſich fe 
tommenden Geift, wie dies Baur num weiter ausführt. „We 
es im Wefen des Geijtes begründet ift, daß die. Gefchichte 
Philoſophie auf einem bejtimmten Punkte in die Geſchichte 
Religionsphilofophie und Theologie oder die Geſchichte des dr 
lichen Dogma übergeht und auf dieſe Weife das freie philofopfi 
Denfen ein durd den Glauben gebundenes, nur innerhalb 
Glaubens ſich bewegendes und am Glauben entwidelndes wird, 
ift 8 im Wefen des Geiftes nicht minder begründet, daß er ı 
diefer Gebundenheit ſich wieder losmacht. Er geht dazu gleichſ 
aus fi heraus, um im Dogma fich felbft zu objectiviren, in de 
felben eine ihm felbft fremde und transfeendente Welt zu jchafi 
um auf der andern Seite aus diefer Objectivität, die er fich fe 
gegenütber geftellt Hat, fich wieder im fich felbft zurückzunehm 
Dem Dogma muß die äußerliche Geftalt, die es am fich hat ı 
in welcher der Geift fid) feiner felbft entäußert Hat, dadurch wie 
genommen werden, daß es auf feinen innern im Wefen des Geil 
liegenden Grund zurüdgeführt wird.“ Dieſe Selbftauflöfung | 
Dogma wird ganz in Strauß'ſcher Weife und mit Berufung | 
ihn dargejtellt, und es ergibt fi) daraus, daß wie die Geſchit 
der Philofophie überging in Gefchichte des Dogma, dieje wieder 
überzugehen und fi) aufzulöjen hat in Gefchichte der Philofop! 
Es iſt aber nicht genug, wenn Baur hier fagt: „wie früher 
Dogmengefchichte die Geſchichte der Philofophie in ſich untergel 
Tieß. und alle geiftige Bewegung nur don einem dogmatifchen | 
tereffe ausging, fo ift jegt da8 Umgefehrte und das philofophil 
Element ijt in der Entwidlungsgefchichte des Dogma jo fehr d 
überwiegende, daß es vorzugsweiſe das bewegende Princip if 
fondern es wäre zu dem Geftändniß fortzugehen, daß das Dog 





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178 Baur 


geiſtvoll auffaffender Hiftorifer wie Baur in der That meinen f 
mit jenen Sägen das wahre und eigentliche Wefen des Chrij 
thums bezeichnet zu Haben. ebenfalls ift es, wie and) die | 
faffungen davon nod) auseinandergehen mögen, dem Chriftent 
wefentlih, die Einheit Gottes und des Menfchen eben nicht 
eine am fich feiende, fondern als eine erft gefegte, durch Chri 
geſchichtlich zu Stande gefommene zu fafen, welche nicht nur 
weſentlichen Unterfchied, fondern auch die factifche Trennung d 
die Sünde voransfegt. Wi man dies Alles nur als die auf 
fpeculativen Standpunkt aufzuhebende Form der Vorftellung fa 
fo geftehe man ein, daß man dumit eben feinen Standpunft 
mehr auf dem Boden des hiſtoriſchen Chriſtenthums nimmt; 
dern der Borausfegung nad) über demfelben, daß alfo dev dogr 
geſchichtliche Proceß, wenn er Hierzu führen fol, nicht bios 
Auflöfung des Dogma in PHilofophie, fondern ebendamit auch 
Aufgebung des Chriſtenthums als Religion ift. Es ift für 
ganze Auffaffung harakteriftifh, daß die gefammte Baur'ſche 
ſchichtsforſchung eigentlich doch Perſon und Werk Chriſti im du 
Hintergrunde ſtehen läßt; ſie ſchrumpft, ſo zu ſagen, zuſam 
zum bloßen mathematiſchen Anfangspunkt der Entwicklungel 
Dies kommt zum Ausdruck da, wo Baur von dem Anfange 
Dogmengeſchichte Handelt (I, 15ff.). Es handelt ſich darum, 
das N. T., die Lehre Jeſu und der Apoſtel, ſchon mit fi 
gehöre. Die Antwort lautet, daß der Anfang der Dogmengeſch 
nur fein könne der Anfang der Bewegung de Dogma; ı 
nun, wie es in der That der Fall fei, in der neuteftamentli 
Behre diefe Bewegung des Dogma fchon beginne, fo gehöre fie ı 
in die Dogmengefichte. Munſcher habe gegen Ziegler Recht, 
Lehre Jeſu und der Apoftel könne, da an ihr die ganze Geld 
des Dogma Hänge, ‚vom Inhalt der Dogmengefchichte nicht 4 
zeichloffen werden. Aber die weitere Frage fei, ob bie Lehre: 
and der Apoftel in der Dogmengeſchichte jo voranzuftellen fi, 
wir in ihr das Umveränderliche haben zu dem Veränderlichen 
Dogma in der Dogmengeſchichte (Engelhardt). Man fü 
das allerdings in gewiſſem Sinne zugeben und das bibliſche W 
18 das Subftantielle betrachten, das dem ganzen Juhalte 


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180 Baur 


auch nicht die Lehre Jeſu ſelbſt, fofern fie nichts unmitt 
bar Gegebenes ift, doc die Lehrbegriffe der Apoftel ſchon 
Sphäre dogmengeſchichtlicher Bewegung angehören.“ Man 
gleiche Hierzu, was Baur in feinem Lehrbuch der criftl 
Dogmengefhichte (2. Ausg., Tub. 1858) ©. 5f. fagt: „2 
ihr (der Dogmengefgichte) aud der an die Perſon Zefu 
tnüpfte und mit ihr identifche fubftantielle Jnt 
des Kriftliden Bemwußtfeins als der unmwandelb 
Grund aller gefhihtligen Bewegung gelten muß 
ift ihr doch die urfprüngliche chriftliche Lehre felbft nur durd 
Vermittelung der neuteftamentlihen Schriftfteller gegeben, in t 
Darftellung ſich ſchon die Keime der Differenzen wahrnehmen Io 
die in der Folge in eine fo große Weite auseinandergegangen 
Auch auf dem Boden der biblifhen Theologie muß es daher 
Dogmengeſchichte wenigftens freiftehen, fo weit zurückzugehen, 
fie Differenzen nachweiſen kann. — — In keinem Tall 
aud die Lehre Jeſu zum Inhalt der Dogmengefchichte gerei 
werden. — — Gegenftand der Dogmengefchichte ift die 8 
Jeſu nur in der Form ihrer gefhichtlihen Entwicklung. ' 
Lehre Zefu ift überhaupt nicht Dogma, fondern 
der ganzen Entwidlung des Dogma zu Grunde 
gende und über ihr ftehende Allgemeine und Prir 
pielle des hriftlihen Bewußtfeins, das die Dogm 
gefhihte nur vorausfegen und nur in der Form in 
aufnehmen Tann, in welcher e8 auf dem Gebiete der neuteftan 
lichen Theologie ſchon feine beftimmtere Faſſung erhalten 5 
Das Verhängnißvolfe diefer Erörterungen Tiegt unferes Erach 
nicht darin, daß auch die apoftolifche Lehre und ihre Typen bei 
in die dogmengefchichtliche Bewegung hineingezogen werden, — 
ift vielmehr unumgänglich) und die jpecififche Dignität des apı 
liſchen Wortes für die gefammte Dogmenentwidlung damit ı 
wohl vereinbar — aud) nicht darin, daß es der „Lehre Jeſu“ 
gefprochen wird, Dogma zu fein, fondern darin, daß ala der 
unbewegliche Punkt, welcher die bleibende Grundlage der dogn 
Biftorifchen Bewegung bilden foll, nur wieder das Allgemeine | 
Principielle des chriſtlichen Bewußtſeins, welches an die Perj 


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182 Baur 


Gefetz verſchiedenes und von ihm ganz unabhängiges Princip 
Heils in ſich Hatte. Dies Princip konnte nur ber‘ 
Zefu fein“ (I, 142). Muß dies nicht als eine ganz lo 
und gleichſam zufällige Kombination erſcheinen, jo lange man 
blos jene ideelle Vorausfegung des Allgemeinen und Princip 
des chriſtlichen Bewußtſeins im Auge hat, welches fich an die P 
Jeſu Enüpft, während der tiefe und notwendige Zufammen 
nur dann, dann aber auch fofort, in die Augen fpringt, wen 
ruht auf der Vorausfegung einer realen Wirkung oder © 
bethätigung der Perſon Jeſu ohne Gleichen, nicht blos auf dem 
gehen eines neuen Bewußtfeins, fondern auf einem Wirken, 
Selbfthingabe, einer fittlichen Liebesthat von ſchöpferiſcher B 
tung? Es wird nicht nöthig fein, Hier weiter zu verfolgen, 
mit jenem Mangel eines wahrhaft realen hiſtoriſchen Funden 
welches den ganzen Bau des Dogma zu tragen vermag, die | 
Conftruction Baur's von der Entwiclung des apoftolijchen und 
apoftolifchen Zeitalters wefentlich zufammenhängt, jener Mangel 
aber nur die Confequenz feiner fpeculativen Grundanſchauung 
Abgefehen Hiervon vergegenwärtigen natürlich die vorlieg 
Borlefungen namentlich in der Darftellung der großen bogmat 
Streitigkeiten der alten Kirche auf's Neue die große Meifter 
Baur’8 in der begrifflihen und geſetzmäßigen Entwicfung 
Dogmen und erinnern dabei von felbft vielfach an die bleib 
Verdienfte, welche er fich durch feine monographifchen Arb 
insbefondere durch feine Geſchichte der Dreieinigfeit und Me 
werbung erworben hat. Neben den großen Vorzügen begriff 
und fpeculativer Durchdringung geht freilich al8 eng damit zu 
menhängend nicht felten die Verwifchung der individuellen und 
porären Züge her. Nicht als ob er über den höheren Entwidl 
gejegen, nad) denen. das Dogma feine begriffliche Bewegung di 
fegt, die concreten Faktoren, das empirifche Detail und bie cal 
rirenden hiſtoriſchen Verhäftniffe aus dem Auge liege. Es ift 
fogar, wie wir beifpielsweife anführen wollen, gerade bei ihm 
gefallen, daß er den äußern Verlauf der arianiſchen Streitigf 
in einer fr die Dogmengefchichte kaum erforderlichen Ausführli 
‚aufgenommen Hat. Wir haben einen anderen Punkt im Auge, 





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184 ‘ Kichm 


2. 


D. Hermann Hupfeld. Lebens- und Charabterbild e 
beutfchen Profeffors, gezeichnet von D. Eduard Kiel 
ord. Prof. d. Theol. in Hallen. S. Halle, Berlag 
Julius Fricke. 1867, 155 SS. 8°. 

Die Palmen. Ueberfegt und ausgelegt. von D. Herm. 
Hupfeld. 2. Auflage, Herausgegeben von D. Edu 
Riehm. Erfter Band. Gotha, Friedrich Andr 
Berthes. 1867. XVI und 506 SS. 8°. 


Die „Studien und Kritiken“ Haben ‚bisher dem am 24. 9 
1866 zur ewigen Ruhe eingegangenen Profefjor D. Herm. Hu 
noch fein Wort der Erinnerung gewidmet. Und doch hat ber 
nicht nur vermöge der hervorragenden Stellung, die er als 
der erften unter ben altteftamentlichen Forſchern unferer Zei 
der Theologie einnimmt, fondern auch vermöge feines näheren: 
bältnifjes zu unferer Zeitfchrift wohlbegründeten Anſpruch da 
daß auch hier. jein Gedächtniß in Ehren gehalten werde. Hu 
gehörte nämlich zu dem Kreife von Mitarbeitern der Studien, w 
von Anfang an mit der Nedaction enger verbunden gewefen 
fie durch Rath, und That unterftügt Haben; als folcher hat er z 
an der Conferenz Theil genommen, auf welcher Ullmann, Rit 
und Sad, Müller und Kling im September 1835 in ] 
burg über den gedeihlichen Fortgang des damals noch jungen Uı 
nehmens Berathung pflogen. Schon der erfte Jahrgang en 
einen Beitrag von feiner Hand; feine Abhandlungen „kritiſche 
leuchtung einiger dunklen und mißverjtandenen Stellen ber altt 
mentlichen Textgeſchichte“, die für die letztere, ſoweit es ſich 
die äußere Tertgeftalt handelt, eine epochemachende Bedeutung 
wonnen haben, find eine Zierde der „Studien“ (Jahrg. 1 
und 1837); und eine im Jahrg. 1861 befindliche Abhandl 


D. Hermann Hupfeld und Hupfeld, die Palmen. 


idete, dag auch in fpäteren Jahren fein Intereſſe für un 
chrift (ebendig geblieben war. — Wenn wir trogdem unſ 
t8- und Dankespflicht gegen den Entfchlafenen bisher n 
erfüllt Haben, fo lag der Grund davon lediglich darin, | 
mterzeichnete Mitherausgeber, dem als Schüler, Freund ı 
gen die Erfüllung derfelben vorzugsmeife obgelegen hätte, | 
Ausarbeitung eines ausgeführteren Bildes des Lebens ı 
end Hupfeld's beichäftigt war. Daſſelbe liegt nun vor, ı 
ef ich mich Hier darauf befchränfen, in wenigen Worten : 
Gedãchtnißſchrift hinzuweiſen. 

er äußere Lebensgang Hupfeld's war ein einfacher ); mi 
abe beftand daher vorzugsweiſe in der Veranſchaulichung 
tn Reichthums feines gefunden, kräftigen und ganz dem Die 





Echoten am 31. März 1796 in Marburg, erhielt Hupfeld feine Sc 
idung theils durch, feinen Vater, der Pfarrer in Dörnberg bei Holzay 
ann in Melſungen und zufegt Metropolitan in Spangenberg war, 

inen mütterlichen Oheim, den württembergiſchen Pfarrer Sigel in € 
ingen, theils auf dem Gymnaſium in Hersfeld. Bon Oftern 1818 
um Herbft 1817 ſtudirte er in Marburg, vorzugsweiſe unter Arnolt 
tung. Nachdem er die Univerfität ala D. phil. verlaffen Hatte, wı 
: zuerft zweiter Major an ber Stipenbiatenanftalt in Marburg, dann 
rühjahe 1819 Profeffor am Gymnaſium in Hanau. Durd, Kränklid 
it Aufgabe feiner Stelle genöthigt, Tag ex vom Herbft 1822 an wi 
inen theologiſchen, namentlid) altteftamentlichen und orientafifchen Stu 
b, zuerft im Efternhaufe, dann in Halle unter der Leitung von Gefeni 
jier habilitirte er ſich im Herbft 1824 in der philoſophiſchen Facuftät, 
te aber im Frühjahr 1825 nad) Marburg über, wo er im Herbſt deſſe 
jahres zum außerorbentlichen Profefjor der Theologie, im Frühjahr 1 
um Ordinarius für die orientafifhen Sprachen und im Herbft 1830 
lech zum Ordinarius in der theofogifchen Facultät ernannt wurde. 

ipril 1832 verehelichte er fi mit Marie Suabediffen, der ältı 
ochter des befannten Philoſophen, die ihm 3 Töchter und 3 Söhne ſchen 
Rad} dem Tode, von Geſenius trat er Herbft 1843 als deſſen Nachfo 
1 die tBeofogifche Facultät zu Halle ein, von der er auch ſchon 1834 ; 
). theol. ernannt worden war. Kurz nad) der Ueberſiedelung (San. 1E 
taf ihn der ſchwere Schlag des Todes feiner edlen Gattin, der zwei J 
päter auch fein jüngftes Töchterchen nachfolgte. In dem neuen grc 
Birkungsfreife erfüllte er im rüftiger, auch im höheren Alter ungeſchwäc 
oft unb mit gewiffenhaftem Eifer mehr al 23 Jahre lang unun 





186 Riehm 


ber Wahrheit und des Rechtes geweihten Lebens und in der 
gehenden Charakteriftif feiner mehr als AOjährigen Wirkſa 
während deren er fih in allem Wechjel der Berhäftniffe und 
ſchenden Strömungen als ein ftets ſich jelbjt treu gebliebener ı 
after Vertreter beftimmter wiſſenſchaftlicher, Kirchlicher und 
tiſcher Grundfäge und Ueberzeugungen bewährt Hat. Seinem L 
gange entfprechend mußte meine Darftellung in drei Abſch 
zerfallen: die Zeit der Entwidlung, die der Marburger und d 
Halle'ſchen Wirkfamfeit. Die mir von der Familie über 
volftändige Sammlung der Briefe, die er von feinem 13. € 
jahre an an feinen Vater und an feinen Oheim Sigel gefd 
hat, haben e8 mir möglich gemadt, im erften Abſchnitt ei 
ich hoffe aufchaufiches und Tebendiges Bild feiner inneren Cı 
fung zu geben. 

Daffelbe kann vielleicht Manche, namentlich unter unfern | 
Theologen zur Orientirung über die in der Schriftbetradhtun 
«Behandlung vorhandenen Gegenfäge dienen; denn es fpiege 
darin der Entwiclungsgang, den dieje im Ganzen und Gro| 
den legten zwei Jahrhunderten genommen hat. Der bur 
Oheim in Hupfeld’8 Herz gepflanzte Bibelglaube hat anfang 
ftreng fupranaturaliftiihe Form; er kommt aber immer m 
peinlichen Conflict mit den Wahrnehmungen, welche Hupfe 
feinem von offenem und unbeſtechlichem Wahrheitsfinn gel 
Studium der heiligen Schrift über deren wirkliche Beſchaf 
und über das Verhältniß. ihres Inhaltes zu demjenigen a 
Denfmäler des Altertfums gemacht hat; und dod fann er 
feinen Bibelglauben aufgeben, noch ohne Verleugnung ber We 
den eingefchlagenen Weg ftreng gefhichtliher und kritiſcher € 
forſchung verlaffen. Da eröffnet ihm zuerft Herder das Ver 
niß für das menschlich Schöne im A. T.; und indem € 
num mit Liebe und Begeiſterung weiter in die Heiligen ©: 


brochen die Pflichten feines Berufes, bis ihm im Frühjahr 1866 an 
abend feines 70. Zahrestages eine Bruftfellentzündung auf das & 
lager ftredte, in Folge deren am 24. April um bie Mittagsſtu 
Gehirnſchlag feiner Wallfahrt ein Ziel fette. 


D. Hermann Hupfeld und Hupfeld, die Pſalmen. 187 


eft, enthüflt fich ihm mehr und mehr in dem menfchlich-gejchichte 
ı Entwifungsgang des. ifraelitifchen Volkes und feiner Religion 
Walten des göttlichen Geiftes; es tritt ihm in demfelben zus 
) eine fortgehende das erwählte Volk durch das Wort begeifterter 
esmänner und durch eigenthümliche Inſtitutionen und Füh— 
en zu feiner weltgefchichtlichen Beftimmung erziehende Wirkſam⸗ 
de8 lebendigen Gottes, und in den nad Form und Inhalt echt 
chlichen bibliſchen Schriften zugleich ein ewiger göttliher Offene 
ngeinhalt in überzeugungsfräftiger Mlarheit vor Augen; und 
m gilt ihm die kritiſche und geſchichtliche Schriftforfchung, 
e weil fie den menschlichen Charakter der heiligen Schrift 
ländiger in's Licht ftellt, zugleich auch als der Weg zur kla— 
 Erfenntniß der Offenbarung Gottes in ihrer geſchichtlichen 
tät und in ihrem wahren Charakter. 

für den zweiten und dritten Abſchuitt ftanden mir als 
len außer den Schriften und Abhandlungen Hupfeld’8 die zahl- 
m Briefe zu Gebote, die er mit feinem vertrauteften Freunde, 
Staatsrath Bickell, von 1832—1848 gewechſelt hat; und 
1850 an fonnte ih auf Grund eigenen, theils mündlichen, 
ſchriftlichen freundſchaftlichen Meinungsaustaufches berichten. 
hatte hier nicht blos feine academiſche und fachwiſſenſchaftliche 
igleit zu harafterifiren; denn bei allem Eifer in den müh— 
en und oft entlegenften Detailunterfuchungen und bei der pünft- 
n Gewiffenhaftigfeit in Erfüllung der nädjften Berufsaufgaben 
Hupfeld zugleich voll Lebendiger Theilnahme für die Angelegen- 
des öffentlichen Lebens und Hatte einen jtarfen Trieb, feinen 
gungen in demfelben Geltung zu verfchaffen. Darum tritt 
nem Leben und Wirken aud die thätige Theilnahme an den 
ben des Firchlichen und des politischen Lebens bedeutſam hervor. 
gerade für die hierauf bezüglichen Partien meiner Darftellung 
hte ich, daß fie auch in weiteren Kreifen Beachtung fänden. 
wird aus dem einfachen Referat über feine kirchliche Wirk— 
it (5. 43—48. 58—74. 100—103 und 116—119) die 
tzeugung gewinnen, daß er mit gleicher Energie für die freie 
ftforf hung gegen die Autorität des Buchftabens und der Tra- 
', wie für das Heiligtum des echt evangelifhen Glaubens 














188 . Nichm 


und das Befenntniß der Kirdye gegen Naturalismus und Bert 
aufflärung eingetreten ift, und zwar letzteres in einer Zeit, we 
weder Protection von oben, noch der Beifall zahlreicher Gefint 
und Barteigenoffen dazu ermunterte; man wird finden, daß er 
entſchieden die Freiheit und Selbitändigfeit der Kirche, die 2 
Berftellung einer der Gemeinde zu ihrem Rechte verhelfenden 8 
verfaſſung und die Gewährung voller Freiheit zur Bildung 
refigiöer Gemeinjchaften forderte, als er innerhalb der evangı 
Kirche das gute Recht des ihre Grundlage bildenden Glaubens 
die Schwankungen der Theologie und die Gefahren einer jch 
loſen Lehrwilllũr gefichert wiſſen wollte; und als Grundtri 
feiner ganzen kirchlichen Thätigfeit wird man das innerlich] 
Iebendigfte Intereſſe für eine wahre Erneuerung der evangı 
Kirche durch den Geift des Tebendigen, gefunden und tapfern Gla 
der fie in ihren Anfängen beſeelt hatte, erfennen. — Die V 
lungen aber über feine politijchen Meinungsänßerungen (©. 53 
91. 94. 103—106) und über jein mannhaftes Auftreten m 
der Sturmjahre von 1848—1851 (S. 106—116) zeigen it 
einen Mann, der mitten im Kampf der Parteien nad) A 
aftteftamentlichen Propheten das Panier der ewigen ſittlichen 
nungen hochhielt, der ohne Menſchenfurcht und Menfchengefä 
nad oben wie nach unten, und bald gegen die eine, bald gen 
andere Partei für Recht umd Wahrheit eintrat, und auf | 
feiner durchaus von fittlich-refigiöfen Grundüberzeugungen getr: 
und beftimmten Weltbetradhtung ſich faum jemals über ben n 
Charakter der Zeitbeftrebungen täufchte und oft in überrafe 
Weife ihren Ausgang vorausfagte. — 

Einen Hauptwendepunkt in jeiner Halle'ſchen Wirkfamteit 
der Anfang der entjchiedenen politiſchen und kirchlichen Reac 
periode; denn von da am zog er fich nicht nur von ber th 
Betheiligung am den Angelegenheiten des öffentlichen Leben 
zurüd und widmete feine Zeit und Kraft faft ausſchließlich 
nächſten Berufsaufgaben und der Literärifchen Arbeit in feine 
fonderen Fache; fondern er führte fortan auch, durch die verän 
Berhältniffe in eine andere Stellung gedrängt, fein ſcharfes © 
vorzugsweife im Kampfe gegen diejenigen, welche mit dem An 





D. Hermann Hupfeld und Hupfeld, die Pſalmen 189 


nen Wächter der Kirche und ihres Bekenntniſſes zu fein, 
it, Gefundheit und Wahrhaftigkeit der. Schriftforfchung 
n. Gerade in diefem Kampfe hat er bis in feine letzten 
: hinein am meiften Verfennung erfahren. Seinen in« 
otiven und legten Zielen nad) wird man denfelben nur 
ig würdigen, wenn man beachtet, daß er feinen Proteft 
Reaction in der Kirche und Theologie, ebenfo wie einft 
die falfche Aufklärung „von den anerkannten Grundfägen 
n biblifchen Chriſtenthums und den ewigen Grundlagen 
gion aus“ erhebt. Man wird dann gewiß auch den Eins 
innen, daß die rückſichtsloſe Schärfe, mit welder er 
das angriff, worin andere unentbehrliche Stügen und 
en des Glaubens erfennen zu müffen meinen, eine Folge 
Ueberzeugung war, daß bie göttliche Wahrheit ein Heilige 
das als folches auch gegen allzu zudringliche Freunde und 
e Bertheidiger gewahrt werden müffe, und daß die Stüßen 
glitter, mit denen Menfchenkunft und Menſchenwitz fie 
zu müffen ‚glaubt, die ihr eigene Kraft, fich felbft den 
id Gewiffen zu bezeugen, nur zu beeinträchtigen vermögen. 
Bericht über fein Ende habe id) eine gedrängte Charakters 
vorausgehen lafjen; man wird finden, daß ich hier, wie 
nzen Schrift, bei aller liebe- und pietätsvollen Hervor⸗ 
iner vorbildfichen Charaktereigenichaften auch die Einfeitig- 
Schranken, welde ihm wie jedem anderen anhafteten, 
hwiegen habe; denn das Bewußtſein, dag der Vollendete 
volle Wahrhaftigkeit in unerbittlicher Strenge zur Pflicht 
aben würde, hat mic) von Anfang bis zu Ende nie ver- 
- Möge das Büchlein etwas dazu beitragen, daß manchem 
eitgenoffen in Hupfeld’s Leben und Wirken die Bewährung 
hlſpruchs: „der Kampf für Wahrheit und Recht ift nichtig 
hrhaftigfeit und Gerechtigkeit“, lebendig vor Augen trete. 
Zeit der Parteiungen und des Kampfes ift es nöthig und 
as Vorbild folder Charaktere, die, unzugänglid für die 
er perfönlichen und dev Parteiintereffen, nur jenen höheren 
t folgen, wohl im Gedächtniß zu behalten. 
nüge diefe Gelegenheit, um auch auf den zu Anfang diefes 








190 Richm 


Jesr:s im zweiter Aoil:ge vom wir berandgegebenen erfte 
des Fiolmencommentares Sevieid's, der als jein 
gröteres egrgeriches Sert die Bedeatang eines Bermäctni 
die Ihrolog:ih - wiiienibaitlihe Beit gewonnen hat, aufmer 
maden. Die wiſſenſcaftliche Bedentung des Werkes iſt a 
anertannt: das Fundament zu einem Ichenevollen Berftän 
Pialmen, — die umbejangene ftreng methodiſche, die verji 
exegetijchen Möglichkeiten mmjihrig erwägende, mit fer 
Grundlichteit auf alles Einzelne eingehende, über feine © 
feit taſch hinwegeilende, die Ergebniſſe ſcharf und bejtim 
ftellerde und jorgiältig begründende Erläuterung des Wo 
— ift darin fo jolid und volljtändig gelegt, wie in feinem 
Bjalmencommentare; und fein anderer enthält jo viele g 
amd genane Erläuterungen der biblijchen Begriffe, Bilder ı 
ftellungen. — Was das Berhältnig der zweiten Auflage 
erften und meinen Antheil an jener betrifft, fo jtand mir ve 
Herein der leitende Grundſatz feſt, dab dem Werke in Zn 
Form fein eigenthümlidhes Gepräge bewahrt bleiben, daß at 
befonders durch jorgfältige Berücjihtigung der unterdeffer 
nenen Literatur, den jegt vorhandenen Bedürfniſſen und 
derungen Rechnung getragen werden müfle. Weiner Uebera 
waren hierdurd bejtimmte Schranten gezogen. Nicht zum g 
Theile war fie eine weſentlich nur redactionelle. Es waren 
vor allem die eigenhändigen Bemerkungen, Berbejjerungen 
füge des verewigten Verfaſſers, die ſich theils am Rand 
Handerempfares, theild in feinem Collegienhefte fanden, 
Text bineinzuverarbeiten ; ihre Zahl war fo beträchtlich, 
zweite Auflage eine „großentheil® von dem Verfaſſer fel 
befjerte und vermehrte“ genannt werden fünnte. — ferne 
in Ausführung der Intention des fel. Hupfeld die einleiten 
terfuchungen über das Pſalmbuch von dem Ende des legten 
an den Anfang des ganzen Werkes zu rüden, und innerh 
felben eine fleine Aenderung in der Paragraphenordnung 
nehmen. enes bedingte eine Verweifung der legten Pfalı 
drei erften Bände in den je folgenden Band, weshalb d 
Band nunmehr nur noch 18 (ftatt 21) Pſalmen enthält. 


D. Hermann Hupfeld und Hupfelb, bie Palmen. 191 


eine jorgfältige Nevifion der Citate das Werk von einer 
en Anzahl von Druckfehlern gefäubert; durch Weglaſſung 
hrlich gewordenem und durch Kürzungen, namentlich in 
tischen Ausführungen, ift Raum für die nöthigen Zufäge 
worden; und da und dort ift auch die Darftellung im 
der Deutlichteit und Ueberfichtlichfeit mehr oder weniger 
t worden. J 
die Ueberarbeitung nicht blos redactioneller Art iſt, ſon— 
Jerichtigungen der Ausführungen Hupfeld's und in ergän— 
fägen befteht, ift fie, als lediglich auf meine Rechnung 
durch Einſchließung der betreffenden Stellen in eckige 
1 gefennzeichnet. Es verfteht fi) von felbft, daß ich dabei 
richten mußte, überall, wo id) dem Urteil meines feligen 
ei aller Uebereinftimmung in den Hauptfachen, nicht beie 
1, "meine abweichende Anſicht geltend zu machen. Dagegen 
mir auch nicht mwohlgethan, mid) eigener Berichtigungen 
ı enthalten. Es ift fchwer, darin das rechte Maß zu 
Ich habe mid) in der Einzelerflärung wenigftens beftrebt, 
zu befolgen, daß, wo in der Hauptſache nur der exeger 
t und das Spracgefühl zwiſchen verfchiedenen exegetifchen 
ten entfcheidet, mit einem etwaigen Diffenfus zurückzus 
) dagegen Gründe, deren Gewicht jeder abzumägen ver—⸗ 
Anficht Hupfeld's entgegentreten, die Berichtigung vorzu- 
dabei aber auch feine Anſicht ſammt ihrer Begründung 
mitzutheilen ſei. — Dagegen gehört die confequente 
ung der jogenannten negativen (de Wette'ſchen) Pfalmen- 
vefentlich zum Charakter des Werkes Hupfeld's, daß ich 
verpflichtet hielt, diefelbe unverändert zu belaffen; nur in 
n, bei Pi. 7 und 18, glaubte ich ausnahmsweiſe auch 
jenen etwas abweichenden Standpunkt vertreten zu dürfen. 
diefe und andere von mir herrührende Zuthaten mwohl- 
waren, ober befjer weggeblieben wären, darüber werden 
urtheifen haben. Das Werk felbjt aber, die gereifte 
1e8 der gründlichen und gemwiffenhaften Erforſchung des 
geweihten Lebens, wird gewiß noch vielen, denen e8 um 
egründetes Verftändnig des Pfalters zu thun ift, gute 





192 Hand 


Dienfte Teiften. Der Preis iſt, obfchon der erfte Band 
zweiten Auflage vier Bogen ftärfer geworden ift, von dei 
lagshandlung nicht erhöht worden. Der zweite Band w 
kurzem nachfolgen. 


D. Eduard Rich 





8 


Theologijcher Jahresbericht. Unter Mitwirkung naı 
Theologen herausgegeben von Wilh. Haud, en. 
Riechheim (Sachjen- Meiningen). Wiesbaden, bei 
Nieduer (in Duartalheften). 





Es gibt bdreierlei Arten von Recenſionen; ſolche, aus de 
Autor etwas lernen kann, folche, aus denen das Publikum 
fernen kann, und folhe, aus denen Beide nichts Ternen 
Eine Recenfion der erjten Art wird gefchrieben von einem 
der den vom Autor behandelten Gegenftand ebenfogut und 


ſtudirt Hat; eine Recenſion der zweiten Art kann auch gef 


werden von einem Manne, der bei dem Autor Belehrung 
felbjt gefucht und gefunden und den Autor verftanden ho 
Recenſion der dritten Art ſchreibt jeder penny-a-liner, nac 
in die nur Halb aufgefchnittene Novität ein paar Blickeg 
und Vorrede und Inhaltsverzeichniß gelefen hat. 

Die Bücheranzeigen, welde in Hauck's theologiſchem Jahre 
und geboten werben, gehören ber ehrenhaften zweiten Cla 
und wenn fie fi nicht in die erfte verfteigen, fo gefchieht t 
Willen und wohlbewußter Abfiht. Denn nicht eine w 
ſchaftlich-theologiſche Zeitſchrift will die obengenannte f 
dem Sinne, daß die Wiſſenſchaft felber durch fie meiterg 
und Fragen und Probleme derjelben entſchieden oder de 


Theologiſcher Jahresbericht. 1 


näher geführt würden; ſondern dem größeren Publiku 
(em den Dienern der Kirche, will fie dienen durch ı 
des und treues Referat über fümmtlihe neue Erich 
uf dem wiſſenſchaftlich- wie praftijch= theologifchen Gebi 
ine Abfiht ſpricht der Herausgeber in dem Vorwort 
| Worten aus: 

wollen über die auf dem Gebiete der evangelifchen Th 
jährlich erfcheinenden Schriften möglichſt ſachlich g 
e Referate liefern, in der Weife, daß wir die Gru 
der Schriften und ihre Nefultafe kurz und erſchöpfe 
‚und fo ein lebendiges Gefammtbild von dem Stand u 
tt der evangelifchen theologiſchen Wiſſenſchaft und Literat 
t ermöglichen. Wenn aud das, was man Heutzuti 
er Recenfion zu nennen pflegt, unferer Tendenz fern lie 
ir nur den Zweck verfolgen, jedem Werke nad fein 
jen Inhalte gebührend gerecht zu werden, fo verfteht 
von felbft, daß bei einem unbefangenen liebenden Gi 
in den Inhalt dennoch, ein beftimmtes, orientirendes Urt! 
felben zu Tage treten.muß, umfomehr, als wir weit dat 
find, von dem Gefichtspunft einer völlig indifferenten V 
igsloſigkeit zu Werke zu gehen, vielmehr ganz entſchie 
andpunkt eines Iebendigen Chriſtenthums auf pofttiu 
feſthalten.“ 

innere Einrichtung des „Theologiſchen Jahresberichtes“ 
: Erfte Abteilung. 1) Einleitungswiſſenſcha 
jlich der geographiſchen, hermeneutiſchen, bibliologiſch 
u. ſ. w. Literatur. 2) Eigentliche Exegeſe: A. A 
nt; B. Neues Teftament. — Zweite Abtheilung. Hifi 
Theologie: 1) Bibliſche Geſchichte; 2) Kircht 
hte, einschließlich Patriftit, Meiffionsgefchichte, Biograph 
; 3) Dogmengeſchichte. — Dritte Abtheilung. € 
ifhe Theologie: 1) Dogmatik, A. Biblif 
atit; B. Kirhlihe Dogmatik mit Symbolik, Ap 
Bolemit und Srenit; CO. PHilofophifhe Dogma 
it. — Vierte Abtheilung. Praktiſche Theolog 
miletit; 2) Katechetik; 3) Liturgik; 4) Baftor 
. Stud. Jahrg. 1868. 18 








194 Hand 


theologie; 5) Praktiſche Hülfswilfenfhaften; 6) 
chenrecht. — Fünfte Abtheilung. Kirchliche Kunſt 
Literatur: A. Poeſie; B. Muſit; C. Literatur 
Sechſte Abtheilung. Ascetiſche Schriften: 1) Predi 
A. Sammlungen; B. Einzelpredigten: a) Bibelgeſellſchaft, C 
Adolf» Verein, Miſſion, Synode, Gedächtniß- und andere 

betr.; b) Sonftige Predigten. 2) Katehismen. 3) Ge 
buchsſache. O Gebete, fromme Betrahtungen, V 
ſchriften m. f. w. 5) Gelegenheitsfhriften: A. 

meinen Inhalts; B. Perfönlichen Inhalts. — Siebente Abthı 
Vereinswefen. Zeitfgriften: 1) Wiſſenſchaftliche 
ſchriften; 2) Praftifch-theologifche Zeitſchriften; 3) Kirchenzeit 
4) Blätter für Mijfion: a) äußere Miffton, b) innere M 
e) für Miſſion überhaupt; 5) Guftav-Adolf-Verein; 6) Ki 
Anzeigen, Oemeinde- und Bolfsblätter u. ſ. f. 

Wenn wir nun hienach den „Theologiſchen Jahresbericht“ 
Zwede nad zu den wiſſenſchaftlichen Zeitſchriften nicht re 
fo werden wir ihm doch, was die Mittel und die Ausfüh 
betrifft, das Lob wifjenfhaftlicher Behandlung nicht ver 
Wiſſenſchaftlich tüchtige und durchgebildete Männer find «6, 
hier dem größeren theologifchen Publitum den Dienjt feiften 
zu veferiren über den Stand und Fortſchritt der theologifche 
ratur, und von allen diefen Referaten iſt anzuerkennen, daB 
eine gewiffenhafte Lectüre des anzuzeigenden Werkes vorangeg 
ift, von den meiften, daß der betreffende Referent auch den C 
ftand, den das Werk behandelt, genügend fennt. In letzterer 
fiht fehlt es freilich nicht ganz an Ausnahmen; fo würde 
der Referent von Mückeberg's „J. Weftphal und J. Cal 
wenn ihm die beiberfeitigen Quellen in vollem Umfang b 
gewejen wären, in feinem Lobe fparfamer, in feinem Tadel 
ſchiedener geweſen fein, und das, was er aus dem Buche rei 
von dem, was gefchichtlich erwiefene Wahrheit fei, auch dur 
Form der Rede deutlicher unterfjchieden haben. Indeſſen i 
ung weder möglich noch unfere Abficht, Necenfionen der ein; 
Anzeigen zu fchreiben; wir beſchränken uns auf die freudige 3 
tennung, daß der nun vollftändig vorliegende erfte Jahrgang 





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Beriätigungen zu Jahrg. 1867, deit & 


©. 700, 3. 11 vn für „Satos“ fies „Iyateo“. 

„ 719, „ 7 u. 6 v. u. für „die aus Stafien Lommenden“ Ties ui 
Italien Stammenden“. 

” 719, 30. m für „uoch dem griechiſchen Lerifon“ Ties „nad 
griegiigen Lerikon“. 


BPerthes? Buchdruderei in Gotha. 


Theologifche 
dien und Kritifen. 


Fine Beitfhrift 
für 
efammte Gebiet der Theologie, 


begründet von 
"1.6. Ullmann md D. F. W. C. Umbreit 
s 


und in Verbindung mit 


R,itzſch, D. 3. Müller, D. W. Beyſchlag 


herausgegeben 
. ©. 8. Hundeshagen um D. €. Riehm. 


Dahrgang 1868, zweites Heft. 


Gotha, 
bei Friedrich Andreas Perthes. 
1868. 





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Abhandlungen. 


14% 


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202 Riggenbad 


Romang über den gleichen Gegenftand in den Stud. u. | 
1867, I. II. Es iſt intereffant, ign mit der Behandlung zu 
gleichen, welhe Döllinger der gleichen Frage angedeihen lie 
feinem prächtigen Buch: „Chriftentfum und Kirche in der Zeit 
Grundlegung“ (1860, S. 180ff.). Begegnen wir hier e 
Kathofifen, bei dem die Polemik gegen den Proteftantismus 
in den Hintergrund tritt, weil er hier durchaus als bibfifcher 2 
Loge fchreibt, der eben deswegen neben einigen Partien, wi 
Lehrform feiner Kirche durchſcheint, in andern beinahe prote 
tifcher ald Romang, der Protejtant, ſich ausfpricht; fo ijt Hin 
diefer vor Allem befliffen, als Anwalt des gemeinverftändigen 
wußtfeins , ber rationellen Bildung, der Vernunftwiſſenſchaft 
eine Gejtaltung der Lehre Hinzuarbeiten, die dem heutigen Bild 
ftande mehr als die aftfirchliche Kehrart Rechnung trage. € 
handelt die Frage mehr als Philofoph, denn als Theologe. 

dem, was theologifches Herfommen jei, ſcheint er feine g 
Stüde zu haften. Wir verlangen’s auch nicht, obwohl wir bi 
fein möchten, ob das gemeinverjtändige Bewußtſein für feine fc 
Erörterungen foviel mehr als für die gewöhnlichen theolog 
werde zugänglich fein, fo ſehr wir es um ihres hohen € 
willen wünfchen möchten. 

Die Thatjahe, von welcher Romang ansgeht, Tiegt umbeitr 
vor, die Entfremdung nämlich fehr Vieler in unferer Zeit 
Kirche und kirchlichem Chriſtenthum, die weite Verbreitung 
Mipftimmung gegen Alfes, was Dogma und Dogmatik Heißt. 
Heilmittel empfehlen uns Manche eine Volkskirche ohne Dei 
von der ed mehr als zweifelhaft ift, ob fie noch Kirche zu E 
verdienen würde; denn mit Recht erinnert Romang (S. 52) 
ohne irgendwelche Uebereinftimmung der Lehre und Ueberzen 
in den Hauptpunkten keine Kirche beftehen könne. Jene aber ı 
die der Kirche entfremdeten Gebifdeten durch Conceffionen gewi 
die bis zum Preisgeben aller Grundlagen des Evangeliums 
würden, ohne Jemanden wirklich zu gewinnen. Sie verjude 
Kinder der Zeit ju bereden, wie fie unbewußter Maßen, fo zu 
anonymer Weiſe, viel beffere Chriften feien, als fie je gedacht hi 
Am entjciedenften hat fi jener franzöfifche Pfarrer, der auf 


Daun, Google 





204 Riggenbad 


hat Chriftus für uns und ohne uns vollbracht; diefes, unfere 9 
fertigung, die wirkliche Verfegung aus dem Stande der Sünde 
des göttlichen Mißfallens in den Stand der Erneuerung und E 
ift erft möglich geworben durch jene That der Verföhnung, 
ift das, mas Ehriftus in uns und mit uns vollbringt.“ Auf 
Boden werden wir gern mit Döllinger treten. Und aud Ro 
Tegt allem Heil die Gnade Gottes in Chrifto zum Grunde, eri 
wie Kant uns befehre, daß der Menſch, von Natur mehr bö 
gut, der Erlöfung und Sühnung bedürfe (S. 56), beton 
Nachdruck, daß alles Gute nur von Gott gewirkt werde, 
einen Aft Gottes, der nicht bedingt fei durch irgend ein ve 
gegangenes Thun oder Verdienft des Menſchen (S. 57); 
fi) nicht vor dem Ausdrud, es Handle fih um eine nicht 
menfchlicher Weife denfbare, nicht durch) menſchliches Thur 
creatürliche Mittel zu vollziehende Sähne für die Sünde, un 
übercreatürfiche göttliche Vermittlung und That, um etwas 
rationales oder Hyperrationales (S. 64); und wiederholt es 
dies mehr als einmal, daß nicht nur im Anfang, fondern auf 
Punkt unferer Entwicklung die göttliche Thätigfeit unferer m 
Tichen vorausgehe (S. 66 u. a.). Da. ift alfo von bem, 
man Pelagianismus nennt, feine Rede. Ueberhaupt, wo bie 
nunftwiffenfchaft jo ernft und tief Grund legt, da werben n 
nicht ablehnen, uns mit ihr zu verftändigen, und uns aud 
daran aufhalten, mit ihr zu procediren, woher fie denn jene 2 
heit habe. J 
Unſer gemeinſamer Ausgangspunkt alſo iſt die Gnade Gi 

Gnade, die nach Röm. 5, 21 durch Gerechtigkeit herrſcht, das 
alſo: eine volllommene Sühnung wirkt und darbietet; Gnad 
ſeres Herrn Jeſu Chriſti. Gern wollen wir uns dabei 
Romang erinnern laſſen (S. 65), daß es bei dem durch diefe € 
bewirkten Heil nicht blos auf den Straferlaß anfomme, fo 
ebenfojehr oder noch mehr auf Befreiung von der Sünde 
(beſonders da ja Sünde die ſchwerſte Strafe der Sünde ift), 
nit nur auf eine von außen fommende Seligkeit, fondern auf 
Theilhaftigwerden einer innerlichen Vollkommenheit. 

"Bon Gottes Gnade in Chriſto kommt dieſes Heil; wie wit 


ber die Rechtfertigung durch den Glauben. 205 


angeeignet? Die Reformatoren fagen, dem Apoftel Paulus folgend: 
durh den Glauben. Dem tridentinifchen Katholiciemus und dem 
Kıtionalismus will das nicht einleuchten. Es ift aud wohl be» 
greiflich, wenn man den Glauben nur al eine theoretische Funktion, 
time Art von Wiffen, ein bloßes Fürmwahrhalten. anfieht, daß man 
ihn nicht kann für genitgend erkennen. Darum erffärt das Triden- 
tinım (Sess. VI, cap. 7), wenn nicht Hoffnung und Liebe zum 
Glauben Hinzutrete, könne er uns nicht mit Chrifto vollklommen 
vereinigen, und fprict in Canon 9 das Anathema über Den, der 
kehaupte, durch Glauben allein ohne Mitwirkung von irgend etwas 
Anderem, ohne Vorbereitung durch die Bewegung des Willens werde 
dr Gottloſe gerechtfertigt. 

Der Protejtantismus darf es als einen Mifverftand ablehnen, 
wen vom Glauben geredet wird, als fei demfelben eine Bewegung 
ds Bilfens fremd, und als müßten Hoffnung und Liebe erft zu 
dmjelben Hinzutreten. Von folder kümmerlichen Auffaffung ift 
Dillinger frei. Ihm gilt der Glaube als dem Keime nad) alle 
Araft der Werke in ſich enthaltend (S. 187), und als bibliſcher 
Theologe fpricht er es runder und entfchiedener als felbft Romang 
ms, daß die Aneignung des göttlichen Gnadenwerks nicht durch) 
das Gefeg und deffen Werke, fondern durch den Glauben gejchehe. 
‚Die von Adam Sünde“, Iefen mir (©. 182), „jo geht von 
Ehriftus Gerechtigkeit auf Alle über; das Organ aber der Auf- 
nahme und Aneignung ift der Glaube.“ 

Auch Romang ift übrigens ferne davon, den Glauben jo dürftig 
afzufaffen wie das Tridentinum. Zwar daß ein Firwahrhaften 
dazu gehöre, darauf dringt er mit Recht (S. 73). Keine vefigiöfe 
lleberzeugung, fagt er, ift möglich ohne Fürwahrhalten, und daß 
der Glaube unberührt bleiben könne bei der durchgreifendften Um— 
witaltung der Lehre, kann nicht im Ernft behauptet werden. Wir 
ſegen z. B.: daß ein lebendiger, feiner ſelbſt und feines Wertes 
Imußter Gott fei, dag Chriſtus, der gefreuzigte und auferftandene, 
mier Tebendiger Erlöfer jei — ob ich das für wahr oder aber 
für unwahr Halte, das ift doch wahrhaftig aud für mein Vertrauen 
richt einerlei. Aber alferdings diefes praftifche Moment des Ber- 
tranend auf den Gott der Wahrheit haben unjere Reformatoren 





206 \ Riggenbach 


für die Hauptſache im ſeligmachenden Glauben’ erklärt. Miore 
trauen, pwWyed, ſich feſt auf etwas ſtützen, dieſe bibliſchen 
drücke find dafür ſprechend genug. Ya es läßt ſich ein Uebe 
finden vom Fürwahrhalten zum Vertrauen. Wie die Aug 
in Art. 20 fagt: die rechte fides fei diejenige, quae eredi 
tantum historiam, sed etiam effectum historiae, fo get 
Fürmahrhalten, daß’ Gott und jein Erlöſungswerk jei, zu 
Fürwahrhalten weiter, daß e8 für ums vorhanden fei; d 
das Gleiche, was der Heidelberger mit dem Ausdrud bez 
(Br. 21): ein Herzliches Vertrauen, daß nicht allein andern 
dern auch mir Vergebung der Sünden, ewige Geredhtigfei 
Seligfeit von Gott gefchenft fei, aus lauter Gnaden, allei 
des Verdienftes Chrifti willen. Sehr ſchön bejchreibt den © 
auch die hefvetijche Confeffion (Art. 16): es fei derfelbe nic 
menſchlicher Wahn oder Beredung, fondern ein fteif veft Bert 
Verlaſſen oder Vertrauen, ein richtiges und beftändiges Zi 
oder Mitftimmen des menfchlichen Gemüths, ja eine gewiſſ 
greifung und Annehmen göttlicher Wahrheit — — und ( 
felber, als des einigen ewigen oberften Guts, und füraus 
göttlichen Verheißung und Chrifti, welcher aller Verheißung ( 
Hanptfumma ift. 

Gegen diefe Säge follte Döllinger kaum etwas einzun 
haben, wenn wir vergleichen, wie er 3. B. ©. 195. 196 
Glauben redet. Und auch Romang definirt uns (S. 79f. 
Glauben, der diefen Namen verdiene, ale eine Ueberzeugthei 
welcher der Mensch mit der ganzen Kraft feiner Seele fomol 
theoretifchen Inhalt des ihm Verkundigten, Verheifenen in t 
tifcher, al& die wirkliche Sache nach Möglichkeit in praktiſche 
thätigung ergreife. Der religiöfe Glaube namentlich (denn es 
vom Glauben auch in weiterem Sinne geredet werden) nehm 
Mittelpunkt des perfönlichen Wejens ein, in welchem alle © 
thätigfeit, Erkennen und Wollen ſich concentrirt. Und fo i 
Glaube theoretiſch und praktiſch ein Verzichten auf das eigene © 
reine, vom tiefften Gefühl der eigenen Bedürftigkeit durchdru 
Hingebung an den Gnade anbietenden Gott und Erföfer. 
durch eigenes Vermögen wolle der Gläubige das Heil wirten, 





über die Rechtfertigung durch den Glauben. 207 


km inwiefern er dabei doch eines Thuns fähig fei, gehe er darauf 
as, es zu empfangen. Alſo können wir die bisher gewonnene 
Iebereinftimmung mit deu Worten bezeichnen: Das Heil geht aus 
vn der Gnade Gottes in Chrifto und wird angeeignet durch Teben- 
igen Glauben. Aber wie gejchicht diefe Aneiguung? Hier ber 
‚mt das Zufammengehen umjerer Wege fi zu lockern. 


2. Rehtfertigung nur dur den Glauben. 


Bern Glauben ſoviel ift als Vertrauen, worauf ſtützt fich 
ofielbe? Auf Chriſti Gerechtigkeit, fagen unfere Reformatoren. 
Betonen fie aber mit Nahdrud, daß diefe eine dem Sunder von 
then zufommende fremde Gerechtigkeit fei, fo erhebt fich dagegen 
de ntionafiftifche Denfart noch mehr als die fathofifche und be 
pet: eine fremde Gerechtigkeit Fönne uns nicht zu Gute fommen, 
fondern nur unſere eigene. Wir wollen nicht in Abrede ftellen, 
di die Broteftanten im Eifer, alle Selbftgerechtigfeit abzufchneiden, 
fer und da anf bie fremde Gerechtigkeit in einer Weiſe Gewicht 
Blegt haben, daß es fcheinen konnte, fie fei auch eine fremd blei— 
ende, was doch nicht die Meinung war. Und doch wäre nur 
ie ſolche Rechtfertigung unbegreiflich, die uns folfte zu Theil 
xrden um einer Gerechtigkeit willen, welche uns fremd wäre und 
liebe. Romang anerkennt, daß diefer Vorwurf die proteftan- 
Abe Kircheulehre nicht trifft. Daß die vor Gott geltende Geredj- 
gfeit, jagt er, als eine dem Menſchen zunächſt äußerliche gefaßt 
ird, ift nicht anzufechten ; denn beftünde fie bereits in uns, fo 
Aten wir fchon gerecht md bedürften Feiner Rechtfertigung (©. 64). 
WWilt das nichts Anderes, als was er auch fonft wiederholt ein- 
Aunt, daß unfer Heil aus göttlicher Initiative jtanıme, vo: Oben 
Amme, nicht von uns abhängig fei, zunächſt ohne unfer Zuthun 
wirft werde. Wir unfererjeits widerſprechen nicht, wenn er nad) 
m angeführten Worten weiterfährt: Aber wenn wir wahrhaft 
et werden follen, jo wird die Gerechtigkeit wirklich die unfrige 
den müffen. Die Frage, auf die es anfommt, ift nur: wie 
Yihieht das? wie wird die Gerechtigkeit Chrifti ung zugeeignet? 
Die Reformatoren fagen: durch die Rechtfertigung als durch 
Ann gerichtlichen Aft, oder wie es Röm. 4 erklärt: durch Zur 











208 Riggenbad 


rechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit. Dem ijt nun R 
abgeneigt. Er meint, das Wort dixasodr fünne ebenfogı 
Katholifcher Deutung „gerechtmachen“ heißen, nämlich die Gere 
mittheilen, eingießen, als nach proteftantifcher „für gerecht ert 
und es habe auch unzweifelhaft bei Paulus felbft beide 
tungen. Ich kann nicht umhin zu glauben, daß es ihm 
fallen würde, diefe Behauptung zu beweifen. Auch der $ 
Döllinger ift nicht feiner Meinung. Er ift ein zu guter b 
Theologe, um nicht hier den Bann feiner firchlichen Trabi 
durchbrechen und anzuerfennen (S. 187), daß Paulus de 
drud von dem Urtheile Gottes über den Menfchen gebrauc 
rechtfertigt werden, fagt er, heißt bei ifm: von Gott für 
erklärt werden. Aber, fügt er bei, das Urtheil Gottes | 
der Wahrheit, Röm. 2, 2. Auf das letztere werden wir 
eingehen, heben aber gern zuvor noch einmal hervor, daß ! 
fichtige Katholik die aftproteftantifche Auslegung von dixauc 
ftätigt. Es ift auch umfomehr daran fejtzuhalten, da bie 
Rom. 4, wo und die Bedeutung der Rechtfertigung als , 
nung bejonders flar entgegentritt, nicht etwa vereinzelt daft 
welchem Fall man fagen könnte, fie fei von minderem ( 
jondern recht eigentlich al8 sedes doctrinae zu bezeichn 
Der Glaube Abraham’s, von dem dort die Rede ift, hat auch 
wegs nur als piychofogifche Funktion den gleichen Charaft 
der chriſtliche Glaube, fondern er richtet ſich auch auf den 
Gegenſtand, den Segensfamen, wenn auch natürlich erſt 
Form der Verheißung. Das allein möchte bei Döllinger ein 
Nachwirkung feiner kirchlichen Ueberlieferung fein, daß er ü 
4, 5; 5, 6 unter &osßys nicht den Menſchen überhaupt in 
Gottentfremdung, fondern nur den ‚Heiden verftehen mödht 
auch Abraham nur als gemefenen Gögendiener (S.195); ı 
zu eng und äußerlich, eine Abſchwächung des Begriffes. 
Nach einer andern Seite geben wir Romang völlig Recht 
er eine gewiffe .ungehörige Vorſtellung vügt, die man fich bi 
von der Zuredinung made, ſei's Webertragung der Schul 
Sünder auf den Bürgen, fei’s wiederum Zuficherung der Si 
als ginge das Alles jo äußerlich und unperſönlich vor ſich n 


über die Nechtfertigung durch den Glauben. 209 


ünſchreiben eines Schuldpoftens von einem Blatt auf das andere. 
Aber man kann doch nicht fagen, daß mit einer ſolchen höchſt äußer« 
iten Borftellung von Zurechnung und Uebertragung zugleih auch 
ie Auffaffung der Rechtfertigung als einer Gerechterklärung ſtehe 
ker falle. Wie nun die Zurechnung vermittelt zu denken fei, für 
i Gerechterllärung fommt e8 nur daranf an, daß das Urtheil 
An unwahres und darum ungerechtes ſei. Gegen die Art, wie 
Dillinger an Röm. 2, 2 erinnert, haben wir umſoweniger ein- 
anenden, da er es nicht ausdrücklich polemiſch thut. Wenn aber 
domang, was man fo oft gegen die reformatorifche Rechtfertigungs- 
dire vorgebracht hat, auch feinerfeits wiederholt: einen Sünder, 
ken Sünder wäre, fir gerecht erflären, wäre eine Ungerechtig- 
kt, ein unwahres Urtheil, fo ift ja das freifich wahr, aber es 
Imst u fo ehr auf der Hand, und wenn es eine Einmwendung 
gen die proteftantifche Nechtfertigungstehre fein foll, fo Tann fie 
Fehr jeder Schüler machen, daß uns ſchon dadurch die Erwägung 
we gelegt wird, e8 werden die denfenden Männer, die gleichwohl 
i det proteftantifchen Rechtfertigungslehre blieben, auch ihrerfeits 
auf gelommen fein, es fönne aber diefe Lehre und müffe in 
lehrheit fo verftanden werden, daß fie von diejem' Einwurf nicht 
froffen wird. 

Die Dentweife, als deren Anwalt Romang auftritt, hat auch 
hft zuviel Mißtrauen und Vorurteil gegen alles Richterliche, 
widiiche, wobei man vergißt, daß auch die unvolifommene menfch- 
he Rechtspflege eim irdiſches Abbild des Waltens göttliche Ge 
Hrigfeit if. Und vor den Richterſtuhl Gottes, der freilich zum 
ihter auch Vater ift, ftelit uns der Ausdrud dixasodv. Romang 
Igt übrigens in der Abneigung gegen den blos deklaratoriſchen 
k wie in fo vielen andern Stüden den Spuren Schleiermacher's. 
t findet das bloße Gerechterflären befremdlich unter fo vielen 
dern Aten, die fämmtlic Alte des göttlichen Wirkens feien; fo 
hricht, fo geſchieht's, das gelte von Gott; und fo müßte auch 
in Gerechtſprechen als eine wirffame Gnadenerweifung, Heilsver- 
itlung, Heilswirkung, Gerechtigfeitsmittheilung verftanden werben 
3.69). Wir ftellen nicht in Abrede, daß in dem göttlichen 
etechtſprechen auch ein Wirken unferes Gerechtwerdens verborgen 





210 Riggenbad 


fei; es fragt fi nur: wie? und darauf antworten wir, t 
deutung von dıxasodv feithaltend, die einzig Tann erhärtet ı 
indem Gott den Glauben wirft, jo wirkt er, daß er ung k 
gerecht erklären. 

Weit mehr berechtigt, in der That fehr beherzigenswert 
die Rügen Romang’s, daß Mauche ſich der Glaubensgere 
rühmen und ji dabei zu leicht hiuwegſetzen über die Urg 
keit de8 Lebens (S. 54); daß bei Vielen nur eine Uebe 
der Rechtfertigung veranlaßt werde, die von feiner wahren | 
Umwandlung begleitet fei (S. 75), und daß man nicht 
forgfäftig genug geweſen fei, diefe möglichen nachtheiligen Wi 
abzuwehren. In der Neformationgzeit langen die Vorwü— 
gröber und maffiver: das Heiße ein tolles und viehifche 
pflanzen, wenn man die Leute lehre, fie können in allen 
leben, falls fie nur glauben, fo fei Alles wieder gut; oder 
Heidelberger diefe Schmähungen ausdrüdt: folde Lehre mad 
loſe und verruchte Leute. Das war num vorwiegend, ſei's bejd 
ſei's böswilliger Mißverſtand, wie ſchon Paulus in Röm. 
dagegen zu fümpfen Hat. Aber es ift nicht zu leugnen, da 
dem Mißverftand auch der Mißbrauch möglich, und Leider 
fach wirklich geworden ift. Man fann fi auf die Ger 
durch den Glauben fteifen in einer Weife, dag man ſich im 
bequem und träge gehen läßt, gegen Fleifh und Sitnde I 
übt, in feiner rechtgläubigen Lehre bedenklich ficher ift un 
die leifefte Abweichung von derjelben hart zelotifch auftritt 
find Gefahren, gegen die wir ale wachen müſſen. Es fr 
nur: wie wird denfelben auf die vechte Weiſe begegnet? 

Das find alfo die Punkte, bei denen wir Nomang ein 
daß er uns auf eine Aufgabe richtig aufmerkſam made: 
die Rechtfertigung durch den Glauben als Gerechterffärun 
bejchreiben, daß das göttliche Urtheil nicht als ein unwah 
ungerechtes erfcheine; und es gilt ſowohl dem Mißverftand ( 
Mißbrauch der Rechtfertigungslehre fo zu begegnen, daß ein 
werde, wie wenig fie einem fleifchlichen Wandel Vorfchul 
Hier aber gehen unfere Wege nun mehr auseinander. 


, Über die Rechtferttgung durch ben Glauben, au 


3. In welhem Sinn Reätfertigung durd 
den Glauben? 


Romang ift geneigt, die proteftantifche Rechtfertigungslehre durch 
he Erklärung zu erfegen:" der Glaube in der Siebe oder auch die 
Kbe im Glauben vechtfertige den Menſchen. Diefe von einem 
weichenen Katholiken aufgeftellte Lehrart entſpreche dem wicht 
Wologifch, aber aligemein rationell gebildeten Bewußtſein auch bei , 
m Broteftanten beffer (S. 88). Möchte das nicht daher rühren, 
38 «8 bei vielen vationell Gebildeten an Verfiändigung und Ver- 
Vdniß fehlt über das, was die Schrift, was infonderheit Paulus 

Hl unter Glauben als unter Rechtfertigung begreift? Ich 
br mic zwar, hervorzuheben, wie viel Treffliches die Ausführung 
Kfımang (befonders S. 90ff.) enthält über die enge und ums 
Wire Zufammengehörigfeit von Buße, Glauben, Liebe und 
Bet. Ex zeigt, wie das eine zum andern unaufpaltfam weiter- 
De, wie in der ganzen Entwidlung das gleiche Streben, der 
hide Trieb vorhanden fei, der von Stufe zu Stufe ſich weiter 
Nolte. Speciell zwiſchen Glauben und Liebe weift er die innigfte 
Kmadtfhaft nad. Iſt der Glaube Vertrauen, fo bricht im 
Aetrauen bereits die Liebe durch. Vertrauen ift ihre erfte Geftalt. 
b find Liebe und Glaube in ihrem tiefern Wefen Eins. Liebe 
tits anderes als die in eine intenfivere Energie (dev felbit- 

Hingebung) übergegangene Entwidlung des Gleichen, was der 
be feinem Wefen’ nad if. Romang bezeichnet darum auch 

93) die Liebe als des Glaubens reale. Wefenheit und Kraft. 
hoffe nachher deutlich machen zu können, daß es nicht nur ein 
hrtftreit ift, wenn ich fage: viel eher könnte ich beiftimmen, wenn 
Hi umgefehrt ausgebrüdt hätte: der Glaube fei die reale We— 
Meit und Kraft der Liebe. Er aber erinnert uns zuletzt an das 
kitolifche- Wort vom Glauben, der durch die Liebe thätig fei, 
Ran das andere von der Liebe, ohne welde wir nichts wären, 
Dit weun wir allen Glauben Hätten, und findet es ſchwer begreif- 
b, wie man bei der teten Berufung auf Paulus dies nicht mehr 
achten fönne, bejonders da im jenem erften Ausſpruch geradezu 
Ü Bezug auf die Rechtfertigung gefagt werde; der Glaube gelte 


212 Riggenbad 


nichts ohne die Xiebe (S. 95). Wir unfererfeits halten ihr 
gegen, daß Paulus freilich jenes Wort vom Glauben geja: 
der durch die Liebe thätig ſei — nicht ganz in folder Bez 
auf die Rechtfertigung, wie Romang will, wir werden e8 fel 
und daß er ebenſo jenes andere Wort gejagt hat, wodurch 
wiffer Beziehung die Liebe fo entſchieden über den Glauben 
wird — e8 wäre unrecht, das zu überfehen; aber nicht 
‚ unrecht wäre es, für nichts anzufchlagen, daß der gleiche | 
nirgends fchreibt: jo werden wir nun durch die Liebe gerecht 
fondern immer wieder: durd den Glauben, ohne des ( 
Werke. Das muß doch, fagen wir, feine Urjache haben. 
das iſt's alfo, wogegen wir uns ausfprechen, daß Roma 
engen und unauflöslichen Zufammenhang von Buße, ©) 
Liebe und Werken betont; auch Calvin thut ſolches und zeigt z 
wie wenig Rechtfertigung und Heiligung zu trennen feien 
Instit. 3, 11, 6). Aber indem er es ablehnt, diefelben zu fi 
verfäumt er doch nicht, zu unterfcheiden, worauf e8 für bie 
fertigung anfomme. 

Um zu erkennen, was uns von Romang trennt, müffen vn 
Apoftels Lehre von der Rechtfertigung ſchärfer in's Auge 
und zu verftehen trachten, in welchem Sinn er diefe dem € 
zuſchreibt, und warum nur dem Glauben und weder der Liet 
den Werfen. Im Verlauf diefer Erörterung wird fich un 
felbft ergeben, wie wir im Sinne des Apoſtels jenen do 
Vorwurf abzulehnen haben, daß das Urtheil Gottes ein um! 
wäre, wenn er den Sünder nur um des Glaubens willen 
fertigte, und daß aus der Vertröftung auf die Olaubensgerer 
eine fchlaffe fittliche Praxis folge. 


a. Rechtfertigung durch den Ölauben ift fein unma 

B Urtheil Gottes. 

Die Rechtfertigung, fahen wir, ift nad) Paulus unftrei 
nädjft ein richterlicher Akt, ein Zurechnen des Glaubens zı 
rechtigfeit. Aber doch nicht nur ein richterlicher. Das geh! 
daraus hervor, daß der wiederkehrende Ausdruck nicht ift dexa 
Evarıov Hsod, jondern dixasoovyn Heod, einmal fogar (Phil 


über bie Rechtfertigung durch den Glauben. als 


& Jeod. Was in dem legtern Ausdruck unmißverftändlich vore 
fiegt, das ift der Sinn aud) des einfachen Yeod, nicht ein bloßes 
Gelten vor Gott, wie Luther überfegt, fondern ein Stammen aus 
Gott, ein Gewirktfein von ihm; aber wie? Darauf führt befon- 
ders eins, worauf Döllinger wiederholt hinweiſt, während mande 
Proteftanten es eher zurüdjtellen; daß nämlich mehr als einmal 
von Paulus nicht nur der Kreuzestob Chrifti, fondern ebenfo die 
Auferftehung als Gegenftand des’ Glaubens und Kraft der Recht 
fertigung Hervorgehoben wird (Röm. 4, 25; 10, 9. 1Cor. 15, 17). 
Darin liegt ein’ Zwiefadhes: für’s Erfte nad) der Seite des gött⸗ 
üben Sühnungswerkes jagt der Apoftel, Chriftus fei um unferer 
Einde willen dahingegeben, das will fagen: um für unfere Sünde 
de Sühnung zu leiften, die dmoAvrgwars, das heißt den Loskauf 

u bewirlen. Diefer Loskauf aber geht auf den Fluch, der und 
Einder im Teiblihen und geiftigen Tode feſthält. Die Löfung 
diefes Fluches ift erſt dann vollbracht, wenn wir num von Rechts 
gen dürfen in das Leben des Auferftandenen eingehen. Wie 
widieht aber dies? Das führt uns auf das Zweite. Erſt als 
er Auferftandene wird Chriftus im vollen Maße Lebensquelle, 
pendet den Heiligen Geift und wirkt durch denjelben den Glauben, 
ur den wir ihn ergreifen und der Rechtfertigung theilhaftig 
xrden. 

Denn der Glaube ruht auf einer Wirkung Gottes, auf welche 
reilich der Menſch eingehen muß. Wie der Menſch feine Sünde 
ihrer ganzen Gottwibrigkeit nicht anders zu erfennen vermag, 
18 wenn ihn der Geift Gottes von derfelben überführt, jo kann 
t auch nicht ander8 zum Glauben kommen, als dadurch, daß der 
deift ihm Chriftum verflärt. Das Innerfte der Sünde vom erften 
Infang bis zur Vollendung ift Unglaube, Sichverſchließen gegen 
dort, Mißtrauen gegen feine Xiebe, Abkehr von ihm, Gottloſigkeit; 
arum eben ift unter dem «oeßrs nicht nur der Heide zu verftehen. 
Biederum ift der Glaube nichts anderes, als nachdem der Menſch 
m Licht der göttlichen Gnade ergriffen ift, die Antwort auf diefen 
zug des Vaters, das Ergreifen Gottes in Chrifto mit heilsbegies 
iger Seele, ein Eingreifen, das zum innigjten Einswerden mit dem 
Irgriffenen führt, das ein Zuihmſem und Inihmerfundenwerden 

Theol. Stud. Jahrg. 1868. 16 





214 Riggenbach 


zu Stande bringt (Gal. 2, 20. Phil. 3, 9). In Chriſto 
wir dixaoodın Heod (2Ror. 5, 21); er felber, Chriftui 
durch den Glauben unfere Gerechtigkeit (1Kor. 1, 30). 
beruht es, daß Gottes Urteil über uns fein unwahres ift. 
fieht unfer Einsgewordenjein mit Chrifto an. Wenn die Con 
formel, durch die Polemik gegen Ofiander veranlagt, beftrei 
die Einwohnung Gottes der Rechtfertigung zum Grunde fie 
behauptet, daß fie erft auf dieſe folge (S. 695), fo ift i 
Theologendiftinction, worin ſich bereits der Unterſchied zwifı 
fpäteren Lehrentwidlung der Lutheraner und der Reformin 
kündigt, die und bejondere Schnedenburger’s Scharffinn vo 
hat. Luther felber aber in der Schrift von der Freihe 
Chriſtenmenſchen geht durchaus auf jener Bahn, das Rechtfer 
urtheil Gottes auf die Vermählung der Seele mit Ehı 
gründen. 

Auch Dölfinger geht infoweit durchaus mit ung einig, | 
ſchreibt (S. 193f.); „Der Menſch glaubt an Chriftus, üı 
in feine Gemeinfdaft tretend Genoffe feines Todes und feir 
erftehung wird, d. h. der Sünde fo abftirbt, daß diefe i 
mehr ihrer Herrſchaft unterwerfen kann, und indem er du 
Wiedergeburt und geiftlihe Zeugung ein Glied an dem Leibı 
und damit des von ChHriftus ſich ergießenden Lebens theilha 
Sobald auf diefe Weife das Princip der Sünde durch 
Gerechtigkeit in ihm verdrängt und diejes legtere, in ihm th 
kräftig iſt, verwirklicht fih an ihm das göttliche, ihn ale 
anerfennende Urtheil.“ Hier ift abermals die Rechtfertig 
ein Richteraft Gottes anerfannt. Inwieweit die angeführte 
doch auch einen Anfag enthalten zu einer, wie wir urtheilen 
nicht ganz richtigen Wendung der Lehre, das wird mit 9 
zur Sprade fommen. 

Verftehen wir die dixasoouen coõ in der angedeutetei 
fo wird fofort offenbar, wie diefe Lehre gar nicht eine ausfı 
panlinifhe zu nennen ift. Die neubegnadigte Gemeinde 
Gerechtigkeit vom Heren, ſpricht der Prophet, und zwar e 
vechtigfeit aus lauter Onaden, denn fie kauft, was ihrer 
ſtillt, ohne Geld und umjonft (Jeſ. 54, 17; 55, 1). Di 


über bie Rechtfertigung durch den Glauben. 216 


ſelbſt, fagt ein anderer Prophet, ift ihre Gerechtigkeit (Jer. 23, 6). 
Ja bis auf den Wortlaut trifft mit der Lehre des Paulus zu- 
ſammen das Wort der Bergpredigt (Matth. 6, 33) von der di 
aaloovn aurod, das heißt ja Yeov. 


b. Reätfertigung durch den Glauben leiftet der fittliden 
Schlaffheit feinen Vorſchub. 

Iſt es richtig, daß dieſe Rechtfertigungslehre von dem Vorwurf 
nicht getroffen wird, fie laſſe Gott ein unwahres Urtheil fällen, 
fo wird auch das andere Bedenken dahinfallen, als ob fie der fitt- 
lihen Schlaffgeit Vorſchub leiſte. Wir fagten bereits, dag Röm. 
3u. 6 ums zeige, wie ſchon Paulus fic ähnlicher Vorwürfe zu 
wehren Habe. Aber es ift Ichrreih, zu betrachten, wie er es 
Au, Nicht fo nämlich begegnet er jenem Vorwurf, daß er bie 
Rehffertigung noch an etwas Anderes außer dem Glauben Enüpfte; 
fmern: wiſſet ihr denn nicht, was Glauben ift? im dieſe Frage 
finnte man feine ganze Verantwortung zufammenfaffen. Die Recht - 
fertigung aber ſchreibt er nach wie vor nur dem Gfguben, zu. 
Barum das? es ift nöthig, auf diefe Frage etwas näher einzu- 
geben. 

Paulus führt und nicht darauf, zwifchen Buße, Glauben, Liebe, 
Werlen, an deren inniges Zufammengehören, wir erinnert wurden, " 
eine Trennung zu behaupten. Dennoch knüpft er unter Allen Glies 
dern diefer Kette allein an den Glauben die Rechtfertigung. Nicht 
an die Buße. Das will aud) Romang nicht (S. 74. 82). Wenn 
in der Buße Erkenntniß der Sünde ift, weiter Traurigkeit über 
diefebe, ein Streben von der Sünde und Unjeligleit loszukommen, 
ein Verlangen nad Erlöfung, Vergebung, Entfündigung, fo fann 
man dies als den negativen Anfang eines Strebens bezeichnen, das 
aus dem Geiſte Gottes ftammt. Aber nur in oberflächlicher und 
fentimentaler Weife könnte man fagen: ſchon durch die Thräne der 
Reue ſei der Menſch gerechtfertigt. Wer es -tiefer und ernfter 
nimmt, kann nicht die Gerechtigkeit fuchen wollen in dem, was die 
Ueberführung von unſerer Ungerechtigfeit ift. Unfer Hunger zeigt 
wohl, daß wir für Nahrung empfänglich find, aber Niemand fättigt 
den Hungrigen mit feinem Hunger. Ich könnte davon abbrechen, 

16* 





216 Riggenbad 


wenn ih es nicht für paſſend hielte, noch mit einem Wort 
erinnern, wie wenig der herfümmliche Begriff von Buße und 
biblifhe von meravo ſich dede. Letztere ijt Sinnesänder 
nit im Sinn eines Zlid- und Stückwerks diefer und jener 

gewöhnung, fondern im Sinn einer Umkehr der Grundrihtung a 
Denkens und Trachtens. Ging diefe Grundrichtung beim na 
fichen Menfchen von Gott hinweg auf die Welt hin und auf 
Waide des Ich in der Welt, fo richtet fie ich jegt bei dem 
Gott ergriffenen Menjchen aus der Welt hinweg und aus 

Suden ded Ich in der Welt zum lebendigen Gott. Die ( 
gemäße Traurigkeit (2 Kor. 7, 10) ift nur die eine negative € 
diefer Bewegung; peravora als Ganzes ift umfafjender; 

während man zur Buße nad) gewöhnlicher Vorftellung den Gla— 
fügt al das zweite pofitive Stüd zum erften negativen, ift 
der Sinnesänderung vielmehr zu fagen, daß der Glaube die € 
derjelben fei. Umfoweniger find wir bibliſch veranlaßt, aud) 
zu fragen, ob man nicht für die Rechtfertigung die Buße mit 
Glauben verbinden follte. 

Biel näher Tiegt es, in dieſer Beziehung die Liebe mit 
Glauben zu verknüpfen. Wie nothwendig der Trieb, der im Ola: 
lebendig ift, ſich weiter zur Liebe geftalte, Hat, wie wir ſchon 
mähnten, Romang trefflich gezeigt. Und nicht weniger fhön ı 
Döllinger davon (S. 206): „Indem der Menfch erkennt, 
Gott uns zuerft geliebt, da wir noch Sünder und ihm entfrei 
waren, wie er durch den Opfertob feines Sohnes den erhaber 
Beweis dieſer Liebe gegeben Hat, und in die Betrachtung d 
unverdienten Huld und Liebe, diefer zum Vergeben und Geben 
bereiten Gnade ſich verfenft, entzündet ſich in feinem Herzen 
Gegenliebe, und damit erfüllt ji die große Beftimmung 
Glaubens. Durch den Glauben Ieben Heißt nur: durch den Glaı 
fieben und in dieſer Liebe gehorchen und dulden. Der in 2 
thätige Glaube, das ift die fürzefte Befchreibung des ganzen Chrij 
thums.“ Offenbar denkt Döllinger nicht fo niedrig vom Glau 
wie frühere katholiſche Lehrer, die ihn erft durch Hinzutreten 
Liebe laſſen Geftalt gewinnen; fondern ber Glaube ift nach 
das Ergriffen- und Entzündetwerden von der Liebe Gottes zu ı 


über die Rechtfertigung durch den Glauben. 217 


und erft daraus erwächſt unfere Gegenliebe. Er fagt daher weiter: 
„Den heiligen, den gerechten und die Sünde haffenden Gott fann 
die fhuldbeladene Seele des Menſchen noch nicht Tieben; aber den 
Tiebenden, ben mit der Menſchheit verfühnten, den zur Vergebung 
bereiten, die Fülle feiner Gaben anbietenden, oder mit einem Worte: 
den durch Chriftus ſich offenbarenden Gott kann fie Tieben.“ Dem 
Allem würde fein Proteftant widerfprehen. Nur wenn Dölfinger " 
jagt: der in Liebe thätige Glaube, das ſei bie fürzefte Beſchreibung 
des ganzen Chriftentyums, möchten wir dagegen erinnern: aber 
nicht die kürzeſte Beſchreibung der Rechtfertigung. 

Döllinger freilich liebt es, zu wiederholen, der in Liebe thätige 
Glaube fei es, duch den wir gerechtfertigt werden; und Romang 
geht noch weiter als er und bemerft (©. 95):- „Bei der Recht: 
ferfigung gilt der Glaube nicht ohne die Liebe. Und wenn er nur 
sit, infofern die Liebe dabei nicht fehlt, fo ift eben die Liebe das 
Moment, von welchem felbft die declaratorifche Rechtfertigung ab» 
hängig ift. Geſetzt das andere, das auch zum Glanben gehört, 
dürfe nicht fehlen, fo ift doch die Liebe das Entfcheidende.“ Aber 
das ift durchaus nicht fo Mar, als Romang meint, des Apoftels 
Lehre. Vielmehr ift ja doc gewiß vor allem zu beachten, daß 
Vaulus nicht in Gal. 2 u. 3, wo er ausdrücklich von der Recht⸗ 
fertigung redet, in folder Weife die Liebe mit dem Glauben ver- 
bindet, fondern erft in Cap. 5, wo er von der Gfaubensgerechtig- 
feit die Anwendung auf's Leben macht. Beſtehet in der Freiheit, 
heißt e8 Hier. Fallet nicht aus der Gnade, indem ihr melnet, durch 
Beſchneidung das Gefe zu erfüllen. Im Geifte durd) den Glauben 
harren wir auf die Hoffnung der Gerechtigkeit. Mar kann diefes 
Wort verfchieben verftehen. ebenfalls aber ift die Hoffnung, auf 
die man harrt, foviel al der Gegenftand der Hoffnung. Alſo 
fagt der Apoftel entweder: Wir Harren auf den Gegenftand unferer 
Hoffnung, die darauf geht, gerechtfertigt zu werden; nämfich ſchließ⸗ 
lich, endgültig, da man ja aus der jegigen Nechtfertigung zeitweilig 
wieder Herausfallen könnte; ober er will fagen: wir harren auf 
den Gegenftand unferer Hoffnung, welcher in Gerechtigkeit befteht; 
oder endlich es könnte ein Genit. possess. fein, und die Bedeutung 
wäre: wir harren auf den Gegenftand unferer Hoffnung, welder 


218 Riggenbad 


der ldurch den Glauben zu Stande gefommenen] Gerechtigkei— 
fommt. Wie man aber den Genitiv nehmen möge, beadjtens: 
tft, daß hier, wo von Gerechtigkeit die Rede ift, ala das M 
wodurch fie menfchlicerfeits zu Stande fommt, der Glaube 
nichts ale der Glaube genannt wird. 

Heißt es nun weiter .im folgenden Vers (6): in Chrifto ve 
(loyveı) weder Beſchneidung etwas noch Vorhaut, fondern Gl 
welcher durch Liebe thätig iſt, jo ift es unberehtigt, wenn 
turzweg ergänzt: vermag etwas‘ zur Rechtfertigung; da vie 
die richtige Ergänzung ift: vermag etwas zur rechten dem | 
gefälfigen Erfüllung des Gefeges; wie im, Gegenfag zur fa 
Erfüllung dur die Beſchneidung bald darauf V. 14 fagt: 
ganze Geje wird in einem Worte erfüllt, in dem: Liebe t 
Nächten als dich felbft. Unfere Auslegung wird durch die 
gleihung von 1Kor. 7, 19 beftätigt, wo der Apoftel jagt: 
ſchneidung iſt nichts und Vorhaut iſt nichts, ſondern Halteı 
Gehote Gottes“; und doch iſt er gewiß ferne davon, irgendn 
lehren, daß durch Halten der Gebote Gottes die Rechtfert 

komme. Sondern die durch den Glauben Gerechtfertigten ge 
ihm, wenn fie in Kraft ihrer Rechtfertigung die Gebote Halte 

Steht es fo mit dem Ausſpruch Gal. 5, 6, wo es noch 
einigen Schein haben Fonnte, als ſchreibe Paulus der Liebe zufe 
dem Glauben die Rechtfertigung zu, fo fällt bei der andern € 
die man auch anführt, 1%or. 13,2, genauer angefehen felbft 
Schein hinweg. Denn freilich ift hier von einem Gfaubeı 
Rede, einem großen Glauben fogar, bei welchem man nichts 
kann, weil die Liebe fehlt. Aber die Schilderung zeigt, daß 
nit vom Glauben die Rede ift im Sinn des Ergriffenfeine 
Gottes Liebe, fondern vom Glauben in einer befondern Rich 
vom heroiſchen, Wunder mwirfenden Glauben. Heißt es nun 
diefem: wir feien trotzdem nichts, wenn uns die Liebe mangl 
fann man wohl fagen: bin ich nichts, fo bin ich auch nicht ge 
fertigt. Aber daraus folgt nicht, daß es alfo die Liebe fei, wol 
die Rechtfertigung erft zu Stande fomme. Sondern darum 
ich nichts, weil die Siebe fehlt, und darum bin ich bei fehl 
Leibe nicht gerechtfertigt, weil diefes Fehlen zeigt, bag mein Gl 


über die Rechtfertigung durch ben Glauben. 219 


nicht mehr der echte, lautere Heilsglaube ift, der ällein die Recht⸗ 
fertigung empfangen Tann. Daß diefe der Liebe zu Theil werde, 
iſt auch Hier nicht gejagt. 

Auch in Luk. 7, 47 ift das nicht der Fall, einer Stelle, welche 
fon in der Confutatio gegen die Augsburger Confeffion im rö- 
mifchen Sinne geltend gemacht ward. Melanchthon in der Apofogie 
(S. 87 ff.) proteftirt dagegen, ohme die wahre Deutung genügend 
ins Licht zu ftellen, wie fie von Bengel, Stier, Meyer, v. Hof⸗ 
mann u. A. vertreten wird. Wenn man nämlich obenhin leſend 
meint: hier werde ja doch Har gefagt, der Sünderin feien ihre 
Sünden vergeben, weil fie viel geliebt Habe, alſo ihre Liebe fei die 
Urfahe der Rechtfertigung, fo überfieht man, wie man durch folde 
Auslegung das vorangegangene Gleichniß von den zwei Schuldnern 
geradezu auf den Kopf ftellt. Diefes verlangt gebieterifh, daß das 
Shenten der Schuld die Urſache und das danfbare Lieben die 
Birfung fei; und wenn das Caufalitätsverhäftnig in B. 47 ſcheint 
ds umgefehrte zu fein, fo ſcheint es nur fo; in Wahrheit aber 
fagt der Herr, mit einer alten Paraphrafe zu reden: ihr müſſen 
viele Sünden vergeben fein, was man daraus fieht, daß fie jo 
diel geliebt hat. Alſo nicht: ihr ift vergeben, weil fie geliebt Hat; 
jondern daß ihr vergeben ift, Tann ich dir fagen, weil man ja fieht, 
wie fie geliebt hat. ergeben aber ift ihr, weil fie geglaubt hat, 
jagt uns V. 50 ausdrücklich. Alſo das ift ja freilich wahr, daß 
techter Glaube unfehlbar Liebe Hat. Aber nicht durch diefe Liebe 
tehtfertigt er uns, fagen wir einftweilen dem Apoftel folgend. 
Barum er fo lehrt, das wird ſich und bald enthüllen. 

Ebenſo Har ift endlich, dag nach dem Apoftel der Glaube zwar 
nothwendig gute Werke Hervorbringt, daß aber Paulus wenigftens 
bie Rechtfertigung des Sünders niemals an die Werke knüpft. 
Yatobus thut es, und wir werden fpäter unterſuchen müffen, ob 
und wie er mit Paulus zu vereinigen fei. Für einftweilen bleiben 
hir bei diefem al® dem Hauptapojtel, der die Nechtfertigung vers 
fündiget, ftehen. Nun ift auch hier wieder anzuerkennen, wie treff» 
fit) und tiefdringend Romang den Zufammenhang darftellt, wie 
wiſchen Glaube und Liebe, fo aud weiter zwiſchen Liebe und 
Werlen (S. 96ff.). Und zwar hebt, er vor allem das innere 





220 Riggenbad 


Thun und Wert, die Selbftüberwindung, bie Energie des in 
Bewegens, Regens und Strebens hervor als das, worauf « 
tomme, was vorhanden fein-Könne, wenn auch von außen 
mächtige Hinderniffe der Verwirffihung des Thuns im Wege ft 
während dagegen die Liebe kraftlos wäre, wenn fie nicht nad 
Maß der äufern Mönlicjfeit zur Verwirklichung triebe. Zei 
uns fo die Werke als das notäwendige letzte Glied in der 
der Heilsverwirklichung, fo ift er doch ferne vom Pelagianit 
infoweit er nicht daran deuft, die Werfe als Verdienft des Me 
Gott gegenitber zu ftellen; vielmehr find fie ihm nad) vern 
wiſſenſchaftlicher Erkenntniß nicht anders, als nad) des Xp 
Wort (1Ror. 15, 10) nur die legte reiffte Frucht der gött 
Gnade, nur das Heraustreten der göttlichen Wirkjamfeit in 
als menschliches Thun ericheinende Wirkung (S. 97. 102). 
Alles nehmen wir dankbar an. Daß der Glaube, wenn eı 
ift, Werke haben müjfe, hat der Proteftantismus nie in 2 
geftellt. Aber die Rechtfertigung Hat er darum doch nicht a 
Werke geknüpft, und wenn es Romang thut, fo weicht er 
vom Apoftel Paulus ab. 

Döllinger hält ſich Hier abermals näher an die apoftolifche 
Das Wort: wir werden gerechtfertigt durch den Glauben ohn 
Geſetzes Werke (Rom. 3, 28) ift ihm zu ſtark. Und zwar cı 
er ſich der Ausflucht, welche hier katholiſche Ausleger - man 
gebrauchten, zu jagen, es feien darunter nur die Werfe des jüd 
Ceremonialgeſetzes verftanden. Er ift ein zu guter biblifcher & 
Toge, um nicht zu willen, daß das Geſetz ein Ganzes ift, von 
uns der Apoftel nicht geftatten wiirde, einen ſolchen einzefnen 
heranszufchneiden. Er fagt vielmehr (S. 186): „Nicht aut 
Werten des Gefetes, das hieß: aus Werfen, welche allein in 
des Gefeges, fraft der bloßen geſetzlichen Erkenntniß und 
vollbracht werden. Alles, was der Jude fraft des mofai 
Bundesgeſetzes, der Heide fraft des von ihm im Gemiffen erfaı 
Sittengeſetzes thut, fei es auch ein moraliſches, dem Buchft 
des Geſetzes ganz entſprechendes Werk, das ſchließt Paulus 
der Rechtfertigung aus.“ Und fpäter fügt er bei (©. 2 
„Gnade und Werke find bei Paulus entgegengefeßt, eines hebt 


über die Rechtfertigung durch den Glauben. 221 


andere auf. Gerechtfertigt, fagt er, wird nicht der, welcher (in 
gfeglichen Leiftungen) werfthätig ift, fondern der Glaubende; Gott 
effärt au den, der ihm bisher als Heide ganz entfrembet war 
wenn er nur gläubig wird, fr gerecht.“ 

So fteht e8 alfo mit der Rehre des Apoſtels: wenn gegen fein 
Gnadenevangelium der Vorwurf erhoben wird: das fei für die 
Einder eine Ermunterung, weiter zu fündigen, auf daß die Gnade 
mächtiger werde, fo weift er das mit Nachdrud zurüd; aber nie» 
mals fo, daß er fagen würde: bedenkt doch, daß der Menſch nicht 
durh den Glauben allein: gerechtfertigt wird, fondern durch ben 
Vlauben nur, wenn er im Liebe thätig ift, nur wenn er Werke 
rorbringt. So redet er nicht. Sondern feine ganze Verant- 
Rertung (Röm. 6) kann man mit den Worten umfchreiben: wiſſet 
iit dun nicht, was Glaube ift? welch ein Abgeftorbenfein ber 
Eine, welch ein Eingetretenfein in den Dienft des Gehorfams 
zur Gerechtigkeit? Ein Glaube dagegen, bei welhem man forglos 
fortfündigen wollte, da® wäre ja gar fein Glaube mehr. Alfo 
mie der Heidelberger (Fr. 64) folchen Vorwurf ablehnt: denn es 
unmöglich ift, daß die, fo Chrifto durch wahren Glauben find ein- 
oflanzt, nicht Frucht der Dankbarkeit follen bringen. Oder wie 
Nelanchthon in der Apofogie fagt (S. 86): „Quare fides illa, 
quae aceipit remissionem peccatorum in corde perterrefacot 
et fugiente peccatum, non manet in his, qui obtemperant 
apiditatibus, nec existit cum mortali peccato.‘“ 


© Der Glaube niht als Tugend, fondern als 
Ergreifen Chrifti. 

Hier aber werden wir auf einen letzten entjcheidenden Punkt 
führt. Wenn der Apoftel lehrt, der Glaube werde uns zur Ges 
tötigkeit angerechnet, jo will das richtig verftanden fein. Es ift 
chet nicht richtig, wenn man meint, das gefchehe, weil der Glaube 
fe Gott wohlgefällige Gefinnung und Willensrichtung fei, oder 
til er dem Keime nad) den ganzen äußern Gehorfam, der daraus 
machfen werde, ſchon im fich ſchließe; alſo Gott rechne dem 
Menſchen den Glauben als das Princip des neuen freien Gehor⸗ 
fans, als die Bürgſchaft der nicht ausbleibenden Heifigung, mit 








222 Riggenbad 


einem Wort: er rechne ihm den Glauben ale 
zur Gerechtigkeit. So ehrt Dölfinger (S. 18 
es auch Romang an, und will eben deswegen 
bleiben. Nun ift ja freilich der Glaube im hi 
gefällig; denn er ift ein Gott die Ehre geben, « 
Gottes Kraft (Röm. 4); er ijt das Grundmwerl 
der Seele (1 Theſſ. 1, 3. 2Theſſ. 1, 11. Vgl 
in Lange's Bibelwerf X, 2. Aufl, ©. 107); 
akt des Gehorſams gegen Gottes Ordnung (Röm. 
oder wie e8 Döllinger treffüch ausführt (S. 1' 
Menſch zur Gerechtigkeit glaubt oder im Gfaı 
macht er von feiner Freiheit den ftärkjten und e 
brauch, deffen er fähig ift; er nimmt demüthi 
das ihn für einen ohnmächtigen Sünder erklärt u 
Sünden vergibt; er entjagt aller eigenen Gere 
Streben darnach; er erkennt an, daß Gerchtig 
ift, und er nur von dorther fie empfangen kann 
völlig dem Willen und widmet fein ganzes L 
Gottes. Und jo liegt im Glauben die ganze En 
und Chriftus gerichteten Willens.“ 

Das ift völlig wahr und fhön gefagt. U 
nicht die Urſache, warum uns der Glaube zur Ge 
wird, und ift die Vergleihung mehr ſcheinbar 
treffend, wenn Döllinger fagt (S. 186), e8 wer! 
als Gerechtigkeit angerechnet, wie der Haß al 
Tüfterne Blick als Ehebruch. Das ift doch nicht 
Der Apoftel, aud wo er ausführen will, wi 
Kraft des neuen Gehorfams fei, läßt doch das 
(Röm. 6, 11): Afo aud ihr haftet end di 
Sünde geftorben feid und lebet Gott in Chriſto 3 
Aoylleode &avrovs, wie Gott Aoylleıa. € 
lichkeit das Ziel, daß die Sünde todt ımd ab fe 
erreicht, gleichwohl haltet euch dafür, denn ihr ge 
der euch in Chrifto anficht; und durch diejes 
Muth, daß ihr nun auch unverbroffen gegen t 
in der That. Alfo liegt auch. Hier dem Thatgeh 





Über die Rechtfertigung durch den Glauben. 228 


rigtfein bereit zum Grunde, nicht umgefehrt, auch nicht in ber 
Beife der Anticipation. 

Ein ſprechendes Beiſpiel zur Erläuterung deffen, worauf es 
tommt, können wir einem Abſchnitt entnehmen, der ein Heilungs- 
under berichtet; aber wie ber Herr das gleiche Wort: dein Glaube 
tdi gerettet, zu fo manchem Geheilten und nicht minder zur 
Finderin gefprochen hat, jo Täßt fi auf unfere Frage mit Necht 
menden, was Petrus aus Anlaß einer Heilung fagt: Was ſeht 
mauf uns, als hätten wir dieſen wandeln gemacht durch unſere 
gene Kraft oder Frömmigkeit? Vielmehr auf Grund des Glaubens 
tinfih.unferes Glaubens) an ben Namen Jeſu hat diefen, ben 
richt und kennet, geftärft Sein Name, und der durch Ihn 
Om) gewirfte Glaube (der im Rahmen gemirfte) hat ihm die 
Delle Sefundheit verliehen (Apg. 3, 12. 16). Diefer Gegenfag 
Münferft fprechend. Nicht unfer Glaube als Tugend der Fröm- 
Mgfit (B. 12) ift die. heilende Kraft gewefen, fondern unfer 
Haube als Ergreifen de Namens Jeſu, wodurch auch in dem 
hanfen ein gleiches Vertrauen auf diefen Namen entzündet wurde 
8.16). Es ift eins der Meiſterſtücke von Verdeutſchung, mie 
tung bei Luther fo oft begegien, wenn er in V. 12 edosßeıe 
it, Verdienſt⸗ überfegt. Dadurch tritt in Wahrheit der Gegenfag, 
in den es fich handelt, in das Hefffte Licht. Und auch in Bezug 
F die Rechtfertigung wird es wahr fein, wenn wir fagen: nicht 
A den Glauben als Verdienft und Tugend fommt es an, ſondern 
hf den Glauben als Ergreifen Chriſti. Alfo wie ber Heidel- 
her (Fr. 61) den Sinn des Apoftels trifft: Warum fagft du, 
HE du alfein durch den Glauben gerecht feieft? Antwort: Nicht, 
38 id) von wegen der Würdigfeit meines Gfaubens Gott gefalle, 
Iern darum, daß allein die Genugthuung, Gerechtigkeit und 
Niigfeit Chriſti meine Gerechtigkeit vor Gott iſt, und id} diefelbe 
itt anders denn allein durch den Glauben annehmen und mir 
xignen kann. 

Hier tritt das, was ung von Romang und auch von Döllinger 
feınt, am klarſten zu Tage. Sie laffen das Rechtfertigungsurtheil 
"dasjenige ſich beziehen, was von neuem chen im Menfchen 
“tits entftanden und Bis auf einen gewiffen Grad entwidelt fei, 





224 Riggenbach 


und zwar iſt Romang, der ſich weniger « 
Schriftwort hält, philoſophiſch unftreitig cı 
(S. 95) aufſtellt: je mehr des Guten im 
Stande gefommen, je intenfiver die Energiı 
ihm fei, defto weiter fei auch die Nechtferti, 
alfo bei der Liebe weiter als beim Glauben 
kräftiger Werkthätigkeit weiter, als bei einer! 
Verwirkfihung ihrer Gefühle bringe (vgl. ı 
das ift es nicht, worauf fi) nach Paufus 
Sünder bezieht. Es ift ja wahr, vor Go 
weifige wirkliche Eriftenz des Menden (S. 
den wirklichen Zuftand eines jeden nicht an 
Wahrheit ift (©. 68). Aber er fieht, m 
fertigung Handelt, nicht auf das, was Gutı 
wickelt das Gute in mir zu Stande gefomn 
ide dixcioovvn nämlich, fondern einzig d 
mein eigen, ob Chriftus meine Gere 
fei (1Kor. 1, 30). Das hängt aber nid 
durch Gotted Wirkung das Gute im mir fche 
wirkende Sündenneigung ſchon befiegt fei, uni 
oder Schwäche meines Glaubens ift es nid 
ift wie ein Senfforn, wen er nur ein laute 
liches Aufnehmen Chrijti und der in feinen 
gewirkten Gnade ift, fo habe ich in ihm V 
Befreiung von ihrer Tyrannei, Frieden m 
Gottes, oder was der Apojtel nennt (Rön 
fertigung des Lebens. Und fei auch die En 
rung noch ſchwach und blöde, der Zueignur 
darf ich mic, auf fein Wort getröften. 

So wird auch erfüllt, maß die helvetifche Co 
Darzu möchten weder unjere Werke noch Lie 
fie gefhähen von dem Ungerechten ober Unfre 
wir zuvor fromm und gerecht ſein, ehe denn ı 
gerechte Werke thun. Nun erinnert uns f 
wenn Jeſus denfelben. Sinn in das Gleichni 
Baum könne gute Früchte tragen, von einen 


über die Rechtfertigung durch den Glauben. - 225 


Rede fei, nicht von einem faulen, von dem nur erklärt werde, 
fei als ein guter anzufehen (S. 98). Aber diefer Einwurf ift 
he beftechend als wirktich treffend. Wie ein fauler Baum könne 
a guten werden, das will uns Jeſus in jener Gleichnißrede gar 
K lehren. Alfo haben wir darin aud) gar feinen Aufſchluß über 
Glauben zu erwarten und wie er wirfe, fei e8 als Tugend 
tals Ergreifen Chriſti. Romang felbft aber, der jo ausdrüd- 
‚wie wir es vernommen haben, das Srrationale oder Hyper⸗ 
ionale im Sühnungswert Eprifti anerkennt, ſollte nur noch den 
un (oder großen?) Schritt weiter thun, diejes Irrationale oder 
perrationale auch in der Art und Weiſe der Aneignung einzu— 
Bien; id) meine das im guten Sinn Myſtiſche, das Gcheimniß 
x Ootfeligkeit, die Vermählung der Seele mit Chrifto durch den 
Mauben, wodurch es zu Stande kommt, daß wir an Ihm, dem 
kin Grrechten, Antheil haben, und Gott uns nicht mehr in un 
m mtürlichen Geftalt anfieht, fondern in Ihm, defjen Glied 
? geworden find. 

Das ift Luther's Lehre, wie Dorner fie darſtellt (Gedichte 
proteftantifchen Theologie, 1867, ©. 232f.): „Won dem an= 
menden Glauben gilt, wenn Luther fagt, er fei ein herzlich, 
Rltig Vertrauen auf Chriftus; er gebe Gott jeine Ehre, er fei 
fülung des Grundgebots, feine Abgötterei zu treiben, ja er fei 
Keim die. Erfüllung aller Gebote Gottes, er fei der wahre 
fesbienft und daͤs wahre Opfer. Bon dem Glauben, der ver» 
md genommen Hat, aber fagt er, er fei im fteten Stande 
Beſſerung; er fei jchon fromm und felig, gefalle Gott fo wohl, 
ler feinen Glanz, von Chrifto erhalte, wie Chriftus Gott ge» 
8, jo gefallen die Gläubigen Gott; denn die Seele wird durch 
Aftus wieder Gottes Ebenbild, dem Worte gleich, daran fie 
gt. Dem nehmenden Glauben wird zu Theil die Befreiung 
1 Schuld und Gefeg, die Wiedergeburt, die Erlöfung von Strafe, 
ie, Tod. So iſt der Glaube alfo rechtfertigend, aber nicht 
atlıh an ihm felber um feiner Kraft oder Tugend willen, ſon⸗ 
Aum deffen willen, der nun zu ihm gehört und gerechnet wird, 
A, Nicht die Kraft des amnehmenden Vertrauens ift der 
und der Rechtfertigung, fondern aud ein ſchwacher Glaube ift 








226 . Riggenbad 


Glaube, wenn er zitternd den Inhalt erfaßt, der rechtfe 
Kraft Hat. Ebenſo befteht Rechtfertigung und Wiedergebi 
nicht im Fühlen und Empfinden der Seligfeit, jondern a 
wir ſolche Gefühle nicht haben, kann doc eine Gewißheit 
im Vertrauen auf Chriſtus.“ 

Damit ftimmen aud die reformatorifchen Bekenntniſſe. 
bier auf die befannteren nur hinweifen, jei es den kurze 
bündigen Art. 4 der Augsburger Confeffion, fei es die ausf 
elaffiihe Frage 60 des Palatinus. Hingegen ſei Hier ı 
weniger allbefaunte und doch jo ſchöne Artifel unferer erften 
Confeſſion, der die Aufigrift führt: „Vom Glauben und V 
in jeinem ganzen Wortlaut wiedergegeben: Wir befenner 
laffung der Sünden durch den Glauben in Jeſum Chriſt 
Gekreuzigten. Und wiewohl diefer Glaube ſich ohne Unterle 
die Werke der Liebe übet, hervorthut, und alſo bewähre 
jedoch geben wir die Gerechtigkeit und Genugthuung für 
Sünde nicht den Werfen, jo des Glaubens Früchte, fonder 
dem wahren Vertrauen und Glauben in das vergoffene & 
Lammleins Gottes. Denn wir frei befennen, daß uns in 
der da ift unfere Gerechtigkeit, Heiligkeit, Erlöfung, Weg, U 
Weisheit und Leben, alle Dinge geſchenkt jeien. Darum di 
der Gläubigen nicht zur Genugthuung ihrer Sünden, jonder 
darum gejhehen, daß fie damit Gott dem Herrn um bi 
Gutthat, uns in Chrifto bewiefen, ſich etlicher Maßen 
erzeigen. 

Verftehen das nur die Theologen, wie Romang dafür zu 
ſcheint? Ich will nicht davon reden, daß ich einigermaßen 
— ohne dem verehrten Mann zu nahe zu treten —, ob 
meinverftändige Bewußtſein wirklich jeine philoſophiſchen 
rungen jo viel leichter und beffer verjtche. Aber das gie 
fagen zu dürfen: den Kern der protejtantijchen Rechtfertigur 
haben von Alters her verftanden und verſtehen jegt mod 
Sünder, nicht nur in den Zuchthäufern, fondern überhauf 
von fich felbft abgefommen find und immer gründlicher abfe 
auch folhe, die mit Paulus jagen fünnen: ich bin nad) dx 


rechtigkeit im Geſetz geweſen unjträflih, die aber wit | 











über die Rechtfertigung durch den Glauben. 227 


aben, was ihnen Gewinn war, um Chriſti willen für 
ud Koth zu achten (Phil. 3, 6ff.). 

obe des Gefagten wird fein müffen, was auch bei Romang 
6 der Unterfuchung bildet (S. 294 ff.), die Beantwortung 
ob einmalige oder allmähliche Rechtfertigung; wobei aud) 
ihung zwiſchen Paulus und Jakobus wird müffen zur 
ommen. 


(mählih wachſende oder ganz angeeignete 
Rechtfertigung? 
teht fich, daß Romang’s Ausführung auf allmähliche Rechte 
hinauslaufen muß. Zwar unterjucht er ernftlih, ob es 
, irgendwie einen Anfangspunft des neuen Lebens, das 
einer neuen Potenz in die Entwicklung eines Menfchen 
ers wichtig und entjcheidend nachzuweiſen. Sein Ergebniß 
3.306 ff.), daß es kaum angehe, einen einzelnen Moment 
Hung als jo ausgezeichnet wichtig zu fallen, weder vor 
n Gott, der ja das Einzelne nicht in feiner Vereinzelung 
dern im Zufammenhang mit dem ganzen Verlauf; noch . 
den Menfchen, infofern der Nachweis der Grenze, wo 
denſch aufhöre, der meue beginne, nur fehr relativ gelinge 
elten fo deutlich wie bei Paulus vorliege. Ueberhaupt 
lich, zwei Menfchen innerhalb eines Menſchen zu unters 
jährend doch eine Perjönlichteit die beiden in ſich befaffe. 
durch theologifche Borausjegungen beftimmte Wiſſenſchaft 
darauf gekommen und könne aud) eine ſolche Darftellung 
ren (©. 313). Wir könnten erwidern: eine gar nicht 
logische Vorausſetzungen bejtimmte Wiffenfchaft wäre wohl 
folhe, die gar nicht durch das Chriſtenthum beftimmt 
darum begreiflich auch auf die Thatfache der Wieder 
ie Ruckſicht nähme; die ſollte aber Hier ein entjcheidendes 
t Haben. Wir fünnten weiter erinnern, daß es doch 
i, die Wahrheit, die in jener Unterfcheidung gemeint ift, 
allgemein gebildeten Bewußtſein in ergreifender Weife 
ringen. Ich will hier nicht ſowohl auf Kant's Religion 
der Grenzen der bloßen Vernunft hinweiſen, als auf 











228 Riggenbad 


Chamiſſo's Gedicht: „Die Erſcheinung“. 2 
Poeſie, ‚und zwar der Form nad) phantaftijc 
moglich fein, die erfehütternde Wahrheit, die 
einer Geiftergefchichte vorgeführt wird, au 
ſchaftlicher Weife zu erörtern. Bei Romaı 
anders zu erwarten, wenn er doc die Recht 
nung des im Menfchen bereit thatjächlid 
anfieht, als daß er nun auch lehren müffe: 
Wachſen diejes Guten im Menfchen fei auch 
eine ganz allmählich wachſende zu denken (€ 
Aljo kann fie auch eine abnehmende fein. 
eine allmählich wachſende ift, fo ift fie eine nie 
noch mangelhafte; aljo im Grund, je ftreng 
fi) felber nimmt: eine immer noch höchſt zn 
damit beim "Tridentinum angelangt, das i 
contra inanem haereticorum fiduciam 
„Nam sicut nemo pius de Dei misericordi 
deque Sacramentorum virtute et effice 
‘sie quilibet, dum seipsum suamque pı 
et indispositionem respieit, de sua gratis 
potest; cum nullus seire valeat certitı 
potest subesse falsum, se gratiam Dei 
Dos ift freilich der entſchiedenſte Gegenſatz 
mit welchem Ofevian, der eine ber Väter de 
und fo viele andere Proteftanten ftarben. 
Nun wollen wir nicht leugnen: ein Warn 
heit kann nöthig fein. Es kann ein certiss 
auf das Dogma vom Glauben, jtatt auf d 
felber ſich ftügt; wo die justitia imputativ 
wird. Man fann ſich auf die Glanbensgerei 
vertröften, als brauchte e8 ein Kind Gottes 
genau nicht zu nehmen, fünnte gar im gre 
und doch auf die Rechtfertigung durch den 
doch als wäre jeder ftrengere Eruft der Zud 
jeder entſchiedene Heifigungseifer, ja als m 
Paulus ermahnt, das Schaffen der Seligkeit 


über bie Rechtfertigung durch den Glauben. 229 


echte Gefetzlichleit oder ein Mangel an Glauben. Aber 
andern Seite gibt es doch ebenfo umleugbar, wo der Troft 
bensgerechtigfeit ſich verdunkelt, ein unfeliges Sichlafteien, 
ftqual ohne Ende im Zweifel über den eigenen Gnaden⸗ 
on ſich Derjenige, der nicht auf feine eigene Wirdigfeit, 
uf Wort und Werk Jeſu traut, in Gnaden befreit weiß. 
darauf ankommen, dur fcharfe Entwicklung der zweis 
n Wahrheit zu zeigen, wie beide Klippen gemieden werden. 
atholiken Haben, um die Menſchen nicht allzu troſtlos zu 
je Lehre von der justitia infusa, inhaerens, habitualis 
. In dem frommen Menfchen fomme, wenn aud noch 
ige Gerechtigkeit, fo doch ein ſolches vorwiegend gutes 
zu Stande, daß das Vorherrfchen der guten Willens- 
tönne für eine vollfommene Gerechtigkeit angenommen 
Romang zeigt mit Recht (S. 300), wie nahe dieſer 
m 2ehrart die Anfhauung moderner Proteftanten komme, 
e Rechtfertigung durch den Glauben darauf gründen, daß 
be als Potenz des Lebens aus Gott dafür angenommen 
18 ftehe er der actuellen Entwidlung glei, die daraus 
erde. Es ift wahr, das ift im Grunde die katholiſche 
habitualis. Und es ift weiter wahr, daß man gegen 
ichſtellung von Potenz und actueller Entwicklung gegrün- 
enfen erheben kann, wie Romang thut (©. 303f.), indem 
an das” Kind erinnert, deſſen potenzielle fittliche Exiftenz 
Mannesreife nicht gleichftehe, theils an den faulen Knecht, 
tgrabene® Pfund nicht anerfannt werde als Erfag für die 
Entwilung, die aus jener Potenz hätte follen erwachſen 
ir werden freilich fagen dürfen, daß Romang damit nur 
art widerlege, die auf gleicher Vorausfegung mit feinen 
Anfchauungen beruht; mit andern Worten, dag er nur den 
führt, wie feine eigenen Prämiffen die Rechtfertigung in 
ige Ungewißheit auflöfen. ine Lehre Hingegen, welche 
ıben, wo ſich's um Rechtfertigung handelt, nicht als Potenz 
en im Menfchen, nicht als Tugend der edosßeıa, fondern 
Eprifti willen, den er ergreift, in Anfchlag bringt, wird 
en Einwürfen nicht getroffen. 

. Stud. Jahrg. 1868. 16 





230 Riggenbad 


Immerhin, was er befämpft, das befämpft er mit Recht. 
nur die fathofifhen peccata venialia propter levitatem 
verwirft er, fondern auch Schleiermadern ſollte man nicht 
fehen nadjfprechen, dag die Sünde im Wiedergebornen imm: 
noch als verſchwindende anzufehen fei, die ihre Vergebung 
mitbringe, weil fie fofort wieder bereut und befämpft werde 
zu lehren fei ſowohl praftifch bedenklich, als theoretifch ur 
(S. 315). Im höchſt beherzigenswerther Weife dringt R 
(S. 314ff.) auf Wahrhaftigkeit in der Selbftbeurtheilun 
verwirft die falfchen Ausreden, als falle dem Menfchen dat 
nicht zur Saft, wohin ihn alte Gewöhnung geriffen habe ohr 
ftimmung feines Willens; als berühre den neuen Menſchen 
was ber alte noch thue. So dürfe man fi) nicht entſchu 
denn es fei eine Perfon, die jo Handle und fo ſich aus; 
verfuche. Ya weit entfernt, daß Sünden, die der Wieder, 
thue, leichter anzufchlagen wären, feien fie ihm vielmehr 
ſchwerer anzurechnen, weil ihm ſchon Beſſeres zuzumuthen 
Und ob es denn auch nur wah: ſei, daß die Sünde bloß nı 
verfhwindende vorhanden fei? „Bei den Meiften geht e 
langſam und zweifelhaft mit diefem Verſchwinden. Sell 
Frömmeren find im Alter nicht wefentlich freier davon gen 
als früher in ihren beffern Zeiten. Nicht die Schlechtefter 
den Alten wuͤrden dies befennen. Das Ausbleiben mander 
begangenen Sünden ift weit mehr die Folge der Erfchlaffu 
ſinnlichen Triebe und der Abweſenheit der Reizungen, als di 
fung einer ſittlichen Erſtarkung, die dagegen aushalten w 
(S. 317.) In diefer Ausführung fpürt gewiß ein Jede 
fage es mit Freuden, den Ernft des Proteftanten, dem ein 
entwickeltes Gefühl der eigenen Verantwortlichkeit inwohnt. 
macht nicht gerade die, wenn nicht ein Verzweifeln am He 
Ende fein foll, die Nothwendigfeit der wahrhaft evangelifchen 
fertigungsfehre beſonders einleuchtend ? 

Um bdiefelbe nach der Richtung, die uns hier befchäftigt 
Auge zu faffen, fragen wir; wie geht denn überhaupt, we 
einmal ernſtlich begonnen hat, die Weiterentwicklung des Ch 
lebens vor fih? Ein fefter Ausgangspunkt muß de fein, 


über die Rechtfestigung durch den Glauben. 281 


die Rechtfertigung im früher entwidelten Sim. Den 
jortgang bezeichnen die Proteftanten als bie Heiligung. 
nach katholischer Art Rechtfertigung und Heiligung identir 
wendet ein: Paulus erwähne das Geheiligtwerden nur 
Verbindung mit dem Gerechtfertigtwerden, und da laſſe 
rhergehen (1 Kor. 6, 11); ein andermal in Aufzählung 
er der. Heilslette knüpfe er am die Mechtfertigung fogleich 
Verherrlichung, ohne dazwifchen dev Heiligung zu erwähnen 
‚ 30). Er has die wichtige Stelle 1 Kor. 1, 30 über 
Die erfte von ihm genannte erklärt ſich daraus, daß 
n Ausdrud zulegt ftellt, worin ſich der Gegenfog zum 
var (B. 9) am fhärfften zufpigt. Uebrigens kaun man 
zugeben, dab die Schrift ayselew, ayıaouos gar nicht 
der Weife brauche, daß der Begriff des Allmählichen 
in der proteftantifchen Kirchenlehre vorfchlage. Wenn 
e Lefer feiner Briefe als Heilige anrebet, fo meint er 
durch einen entfcheidenden Akt von der Welt ausgefondert, 
Dienſt gewonnen feien. Aber wenn ſich auch der Unter- 
hen Rechtfertigung und Heiligung nicht ganz geftaltet 
ſchulgerechten proteſtantiſchen Lehre, darin hat diefe doch 
; fie als beftimmmte unterjchiedene Momente das Eintreten 
nadenſtand und das weitere Wandeln in bemfelben here 
Jenes Eintreten aber, und damit der Ausgangspunkt für 
tere iſt eben bie Mechtfertigung des Sunders vor Gott 
en, durch den Glauben an Chriftum. " 
ıther dies aufgefaßt und ergriffen habe, ſchildert Dorner 
S. 359): „Zum Impuls des eigenen neuen Lebens 
bens in Heiligung wird die Kraft Chrifti, an welcher der 
ntheil erhält, vor Allem durch die Erkenntniß und Er⸗ 
er Liebesgabe, welche nicht eine nur ftüchweife, oder erft 
gen und Stufen des innem Wachsthums abhängige ift, 
ehe ganz und voll dem Menſchen ſchon jegt in alt feiner 
menheit gilt. Das ift die Erfahrung des innern - Zeug- 
) heiligen Geiſtes vom der Vergebung des Sünden und 
em mit Gott, kraft deffen auch unfer eigenes Herz und 
eben Tann, daß wir Gottes Kinder find. Das ift der 
16* 

















232 Riggenbach 


fröhliche, ſelige Hintergrund unſeres zeitlichen, wachſender 
immer unvollkommenen Lebens, die ewige Ergänzung u 
vollfommenheit zur Gerechtigkeit vor Gott, jo wir nur ir 
bleiben.“ Diefen Ausgangspunkt hatten wir im Auge, « 
abfehnten, mit Romang (S. 93) die Liebe zu bezeichn 
reale Wefenheit und Kraft des Glaubens. Es ijt diefe 2 
im Zufammenhang feiner Gedanken durchaus begreiflid; 
hat die Triebkraft im Sinn, die im Glauben und Vert 
unvolffommener, in Bingebender Liebe erft vollfommener 
kundgibt. Wir aber, wenn wir umgefehrt den Glauben 
und Kraft der Liebe bezeichnen, verftehen darunter, daß das 
und Erfülltfein von der Liebe Gottes zu uns (das if 
Glaube) die allein nachhaltige Triebtraft unferer Liebe | 

Iſt Gott für uns, wer mag wider ung fein? wenn | 
gangspunft da ift, wie geftaltet fi dann der weitere 
Das Normale ift, daß es ein Wachſen fei. Aber dat 
ann aud) eintreten, nämlich ein Abnehmen. Oder dat 
lichſte wird fein ein Schwanfen zwiſchen Beiden, eir 
zwiſchen Fallen und Aufftehen. Wer will es abwäge 
und der Fehltritt leichter oder fehwerer fei? ob er un 
Umftänden eine größere, unter jenen eine kleinere Verſch 
dinge? ob die Gefammtentwiclung überwiegend gut od 
verlaufe? Ueber das Alles ein ficheres Urtheil zu f 
jeweilen jhwierig, oft unmöglich fein. Jedes Fallen ı 
das feheinbar unbedeutendfte, ift ein Mangel an Wadh| 
beziehungsweife ein Abnehmen. Und wenn aud die vor 
Strömung eine gute ift, immerhin wird der Gläubige 
was gut an ihm ift, nicht ſich, fondern Gott die Ehre 
Betreff des Böfen aber, das ihm immer noch anklebt, n 
wahr fein: daß er durch Uebung leichter den Ruckweg 
und Glauben findet, und daß er fich auch die Leiferen Uebt 
ftrenger anrechnet. Denn nimmermehr wird er fich gel 
mit der noch zurücbleibenden Sundenneigung leicht zu 
Ze mehr er aber zu Zeiten entdedt, daß die Sünden 
ſelbſt verſchwinden, je mehr er fich zuweilen in das St 
glimmenden Dochts von neuem verfegt findet, befto mef 


fiber die Nechtfertigung durch den Glauben. 238 


ingen zu neuer Umkehr in die Buße zu Gott, zu neuer 
gung durch nichts als den Glauben. Aber nimmermehr 
des Erfchlaffens und des falfchen Glaubenstroftes. Denn 
nm erfährt er's ja von Neuem, daß Glaube nur ift die 
des Sünders, dem feine Sünde leid ift, zum lebendigen 
8 Herausgehen aus ſich felbft und Sichwerfen auf Ehriftum. 
ber fchlaff würde, wo ihm feine Sünde nicht mehr Leib 
daher die Heiligung in's Stoden geriethe, da würde das 
u der Heiligung rüdwärts erweifen, daß fein echter Glaube 
t auch feine Rechtfertigung mehr vorhanden wäre. 

ud den günftigen Fall gefegt, daß die Entwidlung vor- 
in Wachen im Guten fei, fo ift fie es doch nicht in der 
ſich's eine falfche.und unffare Vollkommenheitslehre vor- 
8 Wachſen iſt Fein fteigendes, "ununterbrocdene® Vorwärts⸗ 
in gerader Linie aufwärts zum Ziel. Das Tridentinum 
es (Sess. IV, cap. 11) als Verſtoß gegen die Wahrheit, 
‚ daß der Gerechte in jedem guten Werf wenigftens läßlich 
er) fündige, und daß Gottes Gebote für einen Geredht- 
unmöglich zu erfüllen feien. Denn Gott gebiete nichts 
es. Und diefen legten Sat wiederholt auch die metho- 
Bolffommenheitslehre, und fügt hinzu: die dritte Bitte fei 
liche Bitte, und es hieße der Ehre Chrifti abbrechen, 
ın behaupten wollte, er könne fein Werk in einem Menfchen 
n Ziele bringen. In Wirklichkeit fcheuen ſich doch die 
vor dem Frevel, zu behaupten, fie hätten ſchon in biefer 
die Vollfommenheit wirklich erreicht. Ihre Lehre bleibt 
ie unfruchtbare Theorie, und die Pragis nöthigt fie, nach 
rſtändniß zu fuchen, wie bei der noch immer nicht befiegten 
„keit unferes Thuns das Gebot Gottes, die Erhörlichkeit 
ets und die Ehre Chrifti gleichwohl beftehe. So Iernt 
aß das Zunehmen im Guten nicht ſowohl durch rafches 
öfteigen, als durch tieferes Niederfteigen und Unterſichwachen 
mit welchem doch fein Mattwerden und fein Verzichten 
Ziel gemeint ift. In der That, fo wenig es den Anfchein 
wahr ift e8 doch, daß gerade die ftrenge, ſcheinbar allen 
impfende Lehre des Heidelbergers (Fr. 114. 115) mehr 








234 Riggenbad 


Förderung in ber Heiligung enthält, ale eine unklare Be 
heitöfehre. Es Heben auch die Allerheiligften, fo Lange jie 
Leben find, nur einen geringen Anfang des Gchorfams, 
daß fie mit ernftlihem Vorfag nicht allein nach etliche⸗ 
nach allen Geboten Gottes anfangen zu leben. Hat e 
nächſt die Wirkung: daß wir unfer ganzes Leben lang ur 
liche Art je länger je mehr erkennen und fo viel defto 
Bergebung der Sünden und Gerechtigkeit in Chrifto 
führt es doch weiter dazu: daß wir ohne Unterlaß uns 
und Gott bitten um die Gnade des heiligen Geiftes; unl 
Art werden wir je länger je mehr zu dem Ebenbild Gotte 
bis wir das Ziel ber Volltommenheit nad; dieſem Leben 
Das ift alfo der Weg des Wachſens; mehr und mehr 
zu wiffen, daß man muß‘ bemüthig fein und von Gn 
fondern wirklich demüthig zu. werben und von nichts ı 
zu leben. Und dazu dienen chen die Erfahrungen im, 
Uebungen bes Glaubens. Inſofern find auch die Werke 
Bedeutung, nit nur als Erweifungen des Glaubens, for 
wirfend als Förderungsmittel deffelben. Wie durch Nid 
machen von den Kräften des Glaubens in der That d 
felber allmählich verfümmern und abfterben müßte, jo m 
tehrt das Gebrauchmachen förderlich auf ihu wirken, und | 
des Glaubens werden Mittel zur Stärkung beffelben. 
harten und härteren Proben muß er beftehen lernen; 
wir dabei gerade durch die Uebung im Werk die Gebrı 
unferer Werke Irbendig inne werben; wenn wir es mit 
ſchämuug fpüren, wie unſere beften Werke nie ganz Iı 
wie unfere Liebe fo gar mangelhaft ift, wie Bewegg 
Selbftfucht jo unvermerkt fih einmifchen und unfer Thu 
wenn wir fo das fündliche Verderben immer tiefer erfı 
bei wachſender Wahrhaftigkeit und Lauterfeit auf alle Be 
deffelben verzichten, fo ift e8 eine Ruckwirkung ber Werl 
Glauben, daß biefer immer entſchiedener Chriftum allei 
So geht es immer mehr Hand in Hand, dag der Mei 
tm Gewiffen, milder gegen Andere, ftrenger gegen ſich fe 
und immer völliger damit Ernft macht, bie Gerechtigkeit 





über bie Rechtfertigung durch den Glauben. 235 


en als im Glauben an Ehriftum. Das ift apoftolifcdhe 
menheitslehre. In jedem Augenblid, wenn ic) jegt fterben 
wüßte ich: durch meinen Glauben, der Chriftum Hat, bin 
Gott in Gnaden, und was id) erlebe und thue, führt mich 
ner tiefer da hinein. Meine Vollfommenheit fteht darin, 
von Ehrifto ergriffen bin, darauf ſtellt auch Romang ab 
2), und wir fügen nur Hinzu, daß diefem Ergriffenfein von 
das Ergriffenhaben Ehrifti entfpricht, wenn es auch für 
fönliche Vollkommenwerden immer noch beim Nacjagen 
nd nie, fo lange wir im Fleiſche find, dahin gelangt, daß 
ſchon ergriffen hätten (Phil. 3, 12—14). 

können den Gegenfag zwifchen der römifchen und der evan⸗ 
Lehre in fürzefter Weife zufammenfaffen, indem wir auf 
Seite den Ausſpruch des tridentinifchen Belenutniffes ftellen: 
cati — per observationem mandatorum Dei et Ecclesiae , 
justitia per Christi gratiam accepta crescunt, atque 
justificantur‘“ (Sess. IV, cap. 10); auf die andere 
denjenigen eines der proteftantifchen Väter: „Sanctificatio 
ificatio quotidieiterata.“ Dort allmählihes Zus 
n, bier tägliches Neuaneignen. ebenfalls follte 
r fein, wie dieſes, recht verftanden, durchaus fein faljches 
tröften ift. 

ebenfofehr befeitigt e8 die faljche Selbſtquälerei und bringt 
ten evangelifchen Troſt; denjenigen, worin ſich Furcht und 
des Apoſtels mit der apoftolifchen Freudigleit verbindet: 
l uns fcheiden von der Liebe Gottes? Es war eine katho— 
usflucht: diefe triumphivende Gewißheit fei durchaus nur 
nahme kraft befonderer apoftolifcher Erleuchtung. Es thut 
u fehen, wie Döllinger fern davon ift, in folcher Art auszu— 
. „Alles verbürgt den Gläubigen“, fagt er, „daß fie wirklichen 
haben an der Liebe Gottes, wirklich in Gemeinſchaft ftehen 
tiftus. Sein Geift ift nad) dem Ausdrucke des Apoftels 
egel und Aufgeld in unferen Herzen, welches uns von der 
it des mit ihm gefchloffenen Bundes, der Wahrheit und 
geit feiner Verheißungen überzeugt“ (S. 209). Nicht als 
gleich triumphirende Gefühl bei allen und immer vorhanden 





236 Riggenbad 


wäre. Ja das gerade wäre der Anfang des Gerathens in St 
ten und peinfiches Zweifeln, wenn man anfangen wollte, a: 
Intenfität des Gefühle, überhaupt von neuem auf den « 
Zuftend des Menfchen das Augenmerk zu richten umd das 
trauen zu gründen, ftatt immer von neuem aus fich felbit h 
zugehen und ſich auf Gott und feine Gnade in Ehrifto zu m 
Niemand kann mic ans Gottes Hand weißen, nur ich felbft 
mein eigener Feind fein. Gott aber wirfet Wollen und Vollbr 
und gerade darum, weil er das tut, ziemt mir Furcht und ; 
einzig darüber, daß ich Könnte von dem, was Gott wirft, 
treuen Gebraud machen; dagegen aber ift das mein Troſt 
wenn nicht mein lauter Triumph, doch meine ftille Gewißheit 
Auguftin betend fagt (Conf. 10, 5): „aliquid de te scio, 
de me nescio“. Alſo nicht: ich weiß, daß ic) einen Glauben 
der es aushalten Tann; aber: ich weiß, daß ich einen Gott 
der mit der Verfuhung aud den Ausgang ſchafft, dag n 
können ertragen. (©. die Ausführung in den apologet. Bei 
von Gef und mir, 1863, ©. 230ff.). Der große Haller 
die Schärfe der Selbſtbeobachtung oft zur tiefen Niedergefd 
heit führte, denn er fand fi viel zu unrein für den Hi 
ſchreibt doch an Bonnet in Genf: „Ich fühle in meinem « 
Herzen, daß, fobald id an der Genugthuung Ehrifti zweifl 
nicht mehr als ein Heide bin, ein Chinefe, der ſich einbildet, 
angenehm zu fein durch einige gute Eigenfchaften, verbunde 
taufend Fehlern, und daß ich die ewige Verwerfung des ; 
vergeffe, die von der Reinheit und Heiligkeit Gottes unzertre 
ift.“ Da fehen wir, wie er Gebrauch macht von der Rechtfert 
durch den Glauben an Ehriftum. 

Selbſtverſtändlich ift es für dem enangelifchen Ehriften, daß 
jedes Berdienft des Menfchen vor Gott dahinfällt. Hier fre 
uns, Romang mit größter Entſchiedenheit ſich ausfprechen zu | 
In durchaus feiner Beziehung wird von DVerdienft des Me 
vor Gott die Rede fein fönnen (S. 57); nicht nur nicht im 
Anfang der Heilsverwirffihung, fondern auch in ihrem w 
Fortgang nit (©. 66); und ausdrücklich wird gejagt, de 
nicht nur vom cpriftlichen, fondern auch vom vernunftwiflen] 


über bie Rechtfertigung durch den Glauben. 297 


tandpuntt aus gelehrt werden müffe (S. 97). Alfo auch 
mie wir es ſchon in jener Strenge der Selbftbeurtheilung 
ift Romang durchaus Proteftant; und wenn er in nicht 
en Punkten von der Lehre feiner Kirche weicht, fo bringt 
die Confequenz, womit er es thut, den Vortheil mit fi, 
hum deutlicher bloszulegen, als wenn er auf halbem Weg 
iebe. 
öffinger Hingegen thut es un feid zu fehen, daß er in 
ztück der Tradition feiner Kirche zu viel nachgegeben hat. 
und getrene Knecht, fagt er, wird der Ehre würdig ober 
die Seligkeit des Reiches der Herrlichkeit und Vollendung 
f.). Er beruft fih auf Offb. 3, 4: fie find es würdig, 
Stellen, die vom Himmlifchen Lohne reden; aber nicht 
t. Denn würdig erfunden werden, nachdem Gott’ und 
emacht hat, und belohnt werden, indem Gott feine Gnade 
> felbft unfer großer Lohn wird, ift etwas Anderes als die 
verdienen. "Döllinger felber mildert den Begriff von 
dahin, dag er ihm dem der moralischen Befähigung gleich 
d von dieſer jagt, fie fei felbft wieder Gottes gnädige, 
iſtus verdiente Gabe. Ya in einer früheren Stelle (5.199) 
och entfchiebener das Heil bezeichnet „als Gottes freie 
in völlig unverdientes, nicht ein durch Leiſtungen von vor— 
den Werfen bedingtes Geſchenk. — Alles wird im Sinne 
nfonft und aus Gnade gegeben. Wie Gott dem Menjchen 
ı Glauben feine Sünden vergibt, fo reinigt er auch fein 
) heifigt ihn durch den Glauben. Wie unfere Losſprechung 
den nicht ans den Werfen, fo ift auch unfere Heifigung 
den Werfen. Denn Gnade fein und aus den Werfen 
> find entgegengefetste,. fich wechjeljeitig aufhebende Dinge. 
3 vermöge der Werke gegeben wird, das wird nach Pflicht 
tdienft gegeben.“ Diefer Definition von DVerdienft und 
ig diefer Ablehnung des Verdienftes hätte Dölfinger bie 
de treu bleiben folfen. Bedenken wir, welches Unheil die 
e Verdienſtlehre und Ablaßpragis ſchon 'geftiftet Hat, fo 
ie nur mit Thierſſch fagen (Döllinger's Auffafjung des 
nthums, ©. 12): „Auch fo (mie Döllinger die Lehre mil- 








238 J Riggenbach 


dert) bleibt es beklagenswerth, daß man von einer Lehrweiſ 
laßt, in welcher, fo lange fie fortbeſteht, unevangeliſches 
immer wieder feine Stüge und Beftätigung finden wird.“ 


5. Paulus und Jakobus. 


Bon dem erreichten Punkt aus fünnen wir nun noch eine 
auf Jakobus und feine keineswegs ftroherne Epiftel werfe 
war eine merkwürdige Erfahrung, die ein proteftantifcher Mi 
in Oberindien machte, daß ihn Muhammedaner höhnten: ihr 
ja felbjt nicht an die Bibel! und als er den Beweis ve 
ihm vorhielten: ewer Meifter Luther hat ja felbft gejagt, de 
Jakobi fei eine ftroherne Epiftel. So zu reden Hatten fie 
liſche Priefter inftruirt.. Das wird auch Dölfinger nicht 
und wir unfererfeits haben nicht Urſache, das voreilige 
Luthers wie ein befonderes Kleinod werth zu Halten. Tret 
ſelber auf den Jakobusbrief ein. Nicht dag wir ung in al 
troverſen darüber einlaffen möchten; auch in die nicht, ob He 
berg Recht Habe, in den von Jakobus befämpften Gegnei 
Heidendriften, Anfänger der aufgeblafenen Gnofis zu fehe 
uns mehr als zweifelhaft ſcheint. Vielmehr will ih nur ir 
die eigene Auffaffung entwideln. 

Die Rechtfertigung ans den Werken und nicht aus dem € 
allein, die Jakobus lehrt (2, 24), verftößt hart bie im den 
laut hinaus nicht ſowohl gegen Paulus felber, als gegen 8 
Meberfegung von Röm. 3, 28, wo er meinte, zur Verjd 
de8 Sinnes das Wörtlein allein beifügen zu müffen. Zr 
lage der Römifchen auf Verfälfchung der Schrift ijt unbe 
Im Zufammenhang des Nömerbriefes, wenn die Geſetzeswer 
der Rechtfertigung ausgefchloffen werden, bleibt der Glaube 
auf dem Plan. Aber der Zufag ift doch unnöthig und ü 
infofern mißlich, als er leicht den Gedanfen wedt, den 9 
fo ernſtlich und mit Recht abwehrt, als fei von einer fid 
Nede, die nicht nur sola fei in der Rechtfertigung, fonder: 
nachher solitaria bleibe, nämlich ohne Frucht der Werke. 
miffen. daß folches des Paulus Sinn nicht ift. Wir wife 
aud er einen Glauben kennt und tadelt, der mächtiger und 


über die Hechtfertigung durch ben Glauben. 239 


als da8 Sagen, man habe den Glauben, wogegen Jakobus 
einen Glauben, der fogar Berge verjeßt, und bei dem man 
nichts fein kann. Solchen Leuten, wie fie Jakobus bes 
würde wohl Paulus nad Röm. 6 antworten: wifjet ihr 
it, was Glaube ift? das, was ihr fo nennt, iſt gar nicht 
Jakobus dagegen läßt ihm den Titel, fpricht ihm aber 
en ab, nennt es einen todten Glauben, einen ſolchen, der 
Leichenantlig des Glaubens habe. 
ehrt kennt auch Jakobus den Glauben, der feine Echtheit 
der durch die Anfechtung geübt, erprobt, geläutert wird 
der die Kraft ift des ungetheilten Gebets (1, 6); durch 
Wort und zum Samen der neuen Geburt wird (1, 18); 
heraus wir Chriftum als den Herrn der Herrlichteit be- 
2, 1); durch welchen das Gebet dem Kranken Heilung, 
der Vergebung erfleht (5, 15ff.). Ja bis in Stellen 
ſtreckt ſich das, wo man faum darauf zu achten pflegt. 
ı er 4, 17 fagt: „Wer da weiß Gutes, Schönes, Edles 
und thut es nicht, dem ift es Sünde“, fo hat biefer alls 
Ausſpruch doc feine nächſte Beziehung auf das eben 
jangene: „Das prahlerifche Reden ift böfe, und zwar ift die 
de, die der Prahler begeht, feine andere als bie, daß er 
Ehre zu geben verfäumt, und nichts Anderes ift das xaAdv, 
nterlaffen hat, als eben dieſes Gott die Ehre geben.“ Das 
nach Röm. 4, 20 das Wefen des Glaubens. Wir ſehen 
1 hier: wenn zwar die beiden Apoftel fich einer zum Theil 
nen Terminologie bedienen, hauptſächlich weil fie verfchie- 
jner vor ſich haben — Werkheilige Paulus, wifjensftolze 
ıbige Jakobus — fo ftimmen fie dod im. tieferen Weſen 


ft auch in Betreff der Werke der Fall. Bon Zeya vouov, 
Baufus ausfchliegt, vedet Jakobus gar nicht, fondern von 
die nichts find al8 eine Kundgebung der Energie des 
6, alſo deffen, was Paulus Röm. 4 an Abraham’s Bei- 
furzen Zügen fo mächtig befchreibt. Nichte Anderes thut 
obus, wirklich nichts Anderes, man achtet oft viel zu wenig 
Was ift denn das Werk Abraham’s, wovon er redet, ab» 





40 Riggenbad 


gefehen vom Glauben, nad) feiner äußeren Erſcheinung? ein 
des Wahnfinns wäre es, der Schwärmerei, des äußerften Fr 
von ferne nicht mach gewöhnlichem Maß gemefjen ein fi 
Verf. Nur wenn wir den Trieb erfannt haben, aus dem e 
vorgeht, fo verftehen wir, wie es ein Beweis ift, ja der 
Beweis in feinem ganzen Leben: welch energifche Kraft in 
Glauben lag, welch entfchiedener Ernft e8 ihm damit wa 
fern fein Glaube war von bloßeng fraftlofem Sagen: er ha 
Glauben, weil er etwa die rechte Lehre vom Glauben gehabt 

Und die Hure Rahab, die Heidin, die Sünderin, was | 
für ein Werk? wiederum eines, das nad) Menfchenmaßftab 
triotifch wäre, ein Verrath an ihrer Vaterftadt, eine Rettung f 
Spione, und durch welches Mittel? durch eine Züge, die m 
fehr unbefriedigend mit dem zweibdeutigen Namen ber N 
würde zu entjchuldigen fuchen. Diefes Werk von fittlich fo ; 
haftem Charakter, wenn man auf die Außenfeite der Erfd 
blickt, wird dennoch fo Hoc) geftelft, warum? nur wegen des 
bens, aber allerdings mächtigen Gfaubens, der darin pulfirte. 
Heidin, diefe bisher laſterhafte Frau ift offenbar tief ergriffeı 
etwa von Feigheit, fondern von einem Heiligen Schreden v 
lebendigen Gott. Ihr Blick ift geöffnet, fie merkt: es g 
uns zu Endel es fommt über uns das Gericht! unfere 
find nichts, vor dem Gott Iſraels aber erbebet das Erbdreic 

ſie flieht nicht von ihm weg, fondern zu ihm hin. Das 

Glaube; aber allerdings nicht nur ein Reden vom Glauben 
mächtig in der That, fondern ein Iebendiger, gewaltig durdht 
der Trieb, mit ihrer ganzen Vergangenheit zu breden, fic 
und gar auf den Gott Iſraels zu werfen. Weil diefer le 
Trieb vorhanden ift und ſich fundgibt in ihrer That, wi 
der unlautern Aeußerungsform, die in Betracht ihres bie 
Lebens mehr als natürlich war, in Gnaden abgefehen. Gott 
das Herz an. 

Was hätte wohl Paulus nur im geringften gegen biefe 
Wahrheit einzumenden? Nur die Terminologie, mit der J 
das ausgedrüdt hat, ift anders gehalten als wir fie bei 9 
erwarten würden. Daß Abraham, daß Rahab aus ben & 





über die Rechtfertigung durch den Glauben. 21 


rtigt wurden, fo hätte ſich Paulus nicht ausgebrüdt. Man 
ı auch diefe Differenz auszugleichen, zwifchen diıxsodv bei 
und dixauodv bei Jakobus zu unterfcheiden verfucht., Aber 
nmt nicht weit damit. Zwar fo viel ift wahr, daß, wie 
Lebensproceß verfchiedene Stationen und Stufen zu untere 
find, ein Aehnliches fich auch hier wiederholt. Es gibt ein 
ertigtiwerden beim erften Eintritt in’8 neue Leben und gibt 
sten Abſchluß deffelben, wenn es an's Ziel gelangt, erprobt 
ährt ift, mit Hofmann zu reden: daß Gott den Glauben 
n'8 recht gewerthet habe. Auf dieſes Ziel blidt hier und 
Paulus Hinaus; fo in der früher befprocdenen Stelle 
5; oder wenn er Röm. 5, 19 fagt: durch den Gehorfam 
en dixamcı xuraoradnjoovra od nollol. Das muß 
fie werden als thatſächlich nach ihrer eigenen Beſchaffenheit 
ewordene daftehen, ebenfo thatjählich, wie Adam’s Söhne 
liche Sünder daftehen, nicht nur als Sünder vermöge einer 
ing. Ebendahin gehört auch die Art, wie Paulus Röm. 5, 9 
undlegenden dixammdnvaı das ſchließliche wIjcsoda 
x ſtellt. So will nun auch Huther in feinem Commentar 
«odcder bei Jakobus auf das zufünftige Gericht beziehen, 
dem Menſchen ſchließlich die Curnolce zu⸗ oder abgejprochen 
und das geſchehe ja auch laut Paulus nach den Werken 
2, 6. 2Kor. 5, 10). Uber Döllinger erinnert dagegen 
ht (©. 212. 214), daß im Grunde der Begriff des di- 
bei Jakobus fein anderer als bei Paulus fei, nämlich der 
echterfunden- und Erflärtwerdens in dem Urtheile Gottes. 
ge (in feinem Commentar zu Jakobus) hat Recht mit 
wendung, es antieipire Huther unpafjend das Forum des 
Gerichts. Und wenn man erinnern könnte, es beſtehe doch 
fenunterfchied zwifchen dem erften dixaodv des doeßys, 
, und demjenigen, wo das rAmewsivn (al. 2, 23) 
ten fei, fo entfpricht doch gerade jenem erſten das Beifpiel 
e Rahab. Wenn irgendwo, fo liegt hier ein erftes dixauodv 
:Brjs vor, und doc auch diefes nach Jakobus e Zoywr. 
wie dag? Nicht EE Zeywv vönov, fondern EE Zgywv, 
nur ein folder Glaube, dem es rechter Ernſt ift, den 








242 Riggenbad 


Tebendigen Gott und in ihm das Heil ergreift. Aber auch | 
ſchreibt die Rechtfertigung Abraham's feinem anderen als 
ſolchen Glauben zu. Wenn alfo auch die Ausdrucksweiſe verjc 
das Weſen der Sache ift bei Beiden das gleiche. Jakobus 
der Glaube ift behilflich zu den Werken (2, 22); denn id 
den Dativ nicht verftehen: er Hat mit den Werfen gemirt 
wären dieſe wie für fich beftehend und der Glaube wie ihr 
arbeiter vorgeftelit; fondern ich nehme ihn gleichbedeutend d 
bei Paulus (Röm. 8, 28); und wiederum durch die Wer 
denen der Glaube half, wird der Glaube vollendet, das heiß 
nur vollends erwiefen, fondern vollends ausgereift; und jetz 
erfüllt, jegt tritt in volle Kraft und Berwirklihung — ı 
Schriftwort? fein anderes als: Abraham glaubte Gott, ui 
ward ihm zur Gerechtigkeit gerehnet. Schon das | 
Glauben führte zum Gerechtfertigtwerden. Set, da ber ( 
in ſchwerſter Probe bewährt hat, daß er am lebendigen Go 
feiner Verheißung fefthält, ergeht der Urtheilsſpruch zum 
Mal. So geht es im der Glaubensgerechtigkeit von Sti 
Stufe bis zur Vollendung. Nicht mehr und mehr werde 
gerechtfertigt, fondern immer neu, und fo, daß die Beftä 
immer feſter wird. Aber fehon die Hure Rahab war geredt 
ohne daß etwas daran fehlte. Haben wir Ehriftum, fo fi 
gerechtfertigt. Es ift alfo nicht richtig geredet, wenn Hengſt 
(a. a. O., ©. 1123) fagt: die frühere Rechtfertigung fe 
eine vorläufige, unvollftändige, unvollfommene. Nein, get 
nach Jakobus auch die Rahab ganz gerechtfertigt, hat Go 
fi, wer will wider fie fein? Das fchließt Bewährung des 
bens in immer ſchwereren Proben und fo eine Bewährun 
Befejtigung im Stand der Nectfertiguug nicht aus. 
Weniger ift dagegen einzuwenden, wenn Sengftenberg 
(S. 1117): „Wenn unter dem Glauben der wahrhaftige 
dige Glaube verftanden wird und unter den Werfen die wahrh: 
aus dem Glauben hervorgehenden, fo fann ohne Widerſpru 
Rechtfertigung aus dem Glauben und aus den Werten g 
werden. Die erftere Fafjung ift die angemeffene, wo man e 
folgen zu thun Hat, die mit todten Werfen umgehen, die I 


über bie Rechtfertigung durch den Glauben. 243 


f gegen den todten Glauben, die bloße Glaubenseinbildung.“ 
That werden wir fagen müffen: wenn wir nicht Luther's 
eit folgend die ftroherne Epiftel verwerfen wollen, fo 
ie auch nicht ein Lehren, das fih an Jakobus anſchließt, 
pönen können, obwohl feftzuhalten ift, daß fich des Paulus 
eſtaltung völliger eignet, die Meinung abzufchneiden, als 
uns die Werke, als wiirde uns fogar der Glaube ale 
oodem zugerechnet. Und jedenfalls wer wie Jakobus 
U, bei dem werden wir umfomehr darauf dringen müffen, 
öllig Ernft made, von Glaubenswerken im Sinne des 
zu reden, alfo von ſolchen Werken, durch welche das Wort 
rd: fein Glaube ward ihm zur Gerechtigkeit gerechnet. 





nicht gut, über die Rechtfertigung durch den Glauben zu 
Denn wie Jakobus jagt (3, 18): der Gerechtigkeit Frucht 
rieden gefüct denen, die den Frieden Halten. Die Männer 
denen wir theilmeife gegenübertraten, werden hoffentlich, 
diefe Zeilen leſen folten, den Eindrud befommen, daß es 
um Zanf zu thun war, fondern um etwas Beſſeres. 
ftändigung eignet fi, wenn irgend etwas, das Wort von 
(S. 326), wo er zwar ablehnt zu fagen, die Gereditig- 
ie durch den Glauben allein, aber mit Nachdruck darauf 
komme durd die Gnade allein. Für Dölfinger 
in Gegenfag, denn er fagt (S. 185F.): Heil nur durch 
ben, das heißt: Heil mm durch Gottes Gnade. Und wir 
um und fagen: die Art, wie wir in jedem gegebenen 
t in der Gnade wurzeln, das ift eben der Glaube. Oder 
mang (a. a. D.) fagt: Daß wir die Gewißheit der Liebe 
ewonnen haben, darauf fommt es an im Leben und im 
fo fagen wir: ja, und fügen nur die Frage bei: was 
anders, als daß wir glauben? Auf diefem Grunde find 
. 


244 Groos 


2. 


Der Begriff der zoioıs bei Johannes, 
eregetifch entwickelt, 
ein Beitrag zur neuteftamentlihen Lehre vom Ge 


Bon 
Divifionsprebiger D. Groos in Coblenz. 


Wie das ftellvertretende Leiden, der ftellvertretende Tod 
Auferwedung von den Todten: fo gehört zum Begriff di 
menschen gleich wefentlih die weltrichtende Macht in 
müthern, im fittlichen Bewußtſein der einzelnen Menſcher 


8) Wenn ic hiermit den Lefern diefer Zeitſchrift eine Studie über ı 
neifchen Vegeiff der xginıs vorlege, fo fehe ich mich veranfaf 
merfung vorauszufchiden, daß mir ein folder Verſuch umſowen 
Rechtfertigung zu bedürfen ſchien, als fi) ſowohl in den Biblif 
gifchen wie in den exegetiſchen Werken neuerer Zeit eine eingehen 
widfung jenes Begriffs, wie eine ausführlide Erörterung der 2 
bisher vermiffen ließ. Schmid bietet nur Weniges (Bibl. The 
N. Es, ©. 246 u. 247); aud) Lutz berüßet die johameiſche 
beiläufig. Die Erörterungen von Frommann und Köftlin 
Dorftellungen des johanneiſchen Lehrbegriffs“ Laffen wie an K 
an unbefangener Objectivität der Auffafjung viel zu wünſchen 
noch geringerem Grade eignet letztere der befannten Schrift von 
feld, die ihre tendenziöfe Färbung kaum zu verdeden vermag. 
jeder Hinficht gediegene gründliche und erihöpfende Darftellung ve 
wurde dem Berfaffer dieſes Aufſatzes leider erſt nach Vollendung 
zur Benutzung zugänglich; ec weiß ſich nicht blos im Weberein 
mit der Auffaffung von Weiß in den weſentlichen Punkten, fi 
Hatte auch um ber Befriediguug halber, die ihm die genannte € 
währt, bereits den Gedanken wieder aufgegeben, feinen Aufſatz 
veröffentlichen, und ift erft neuerdings wieder durch theologiſcht 
dazu ermuntert worden, 

















über den Begriff der zglous bei Johannes. 245 


ng der Weltgefchichte und in der großen Weltfataftrophe, 
dem gegenwärtigen Menfchendajein umd Zuftand der Dinge 
gefegt ift, und die in dem großen definitiven Scheidunge- 
dem „letzten oder jüngften Gericht”, ihren Abſchluß findet. 
den des Herrn wie die der Apoftel weiſen auf eine xgioss 
durch das perfönliche Auftreten des hiftorifchen Chriftus 
i feiner Erſcheinung im Fleiſch herbeigeführt ward, deren 
it geichichtliche wie geiftige Wirkungen beim Eintritt des 
in die Welt fofort begannen uud feitdem in immer fteir 
ʒrogreſſion ſchon durch zwei Jahrtauſende fortgedauert haben! 
(fter, beftimmtefter, zufammenfafjendfter Ausdrud der rich» 
Thätigkeit Chriſti erſcheint die Unterſcheidung der avd- 
lons und dvdoradız xgloewg, wie fie uns im johan- 
Lehrbegriff vorliegt. Derfelbe Evangelift aber gibt uns 
ı eine Reihe höchft bedeutfamer Ausfprüche, die fich gegen- 
Mären und ergänzen und uns einen Maren Blick in das 
den Umfang und Gegenftand der „xgLoss “ gewinnen laſſen. 
zunächſt unfere Aufgabe fein, diefe johanneiſchen Stelfen 
Weiſe zu erörtern, daß ſich daran eine bibliſch-theologiſche 
ung der neuteftamentlichen Lehre von der xgloıs wird an- 
fünnen, die wir einer weitern Darftellung vorbehalten. 
wir jedoch zu dem mehr exegetifchen Gefchäfte fchreiten, 
8 angemefjen, im der Kürze die allgemeinen Grundzüge des 
ı Begriffs der xgloss vorauszufciden. Was ift zelaıs? 
sonderung des Ungfeichartigen, und diefe ift mım einmal 
inere, die ethifche xglors, d. h. die. Herbeiführung einer 
tſcheidung fomohl der fir das-Wahre und Gute, für Offen» 
und Mittheilung Gottes Empfängfichen, als ber durch ver- 
zeſinnung dafür Unempfänglichen, einer Selbftentfcheidung, 
die bisherige jcheinbare Harmonie aufgehoben und ihr 
BVerhältniß an den Tag gebracht wird; ſodann cine 
e, nämlich die Scheidung beider in Anfehung ihres äußeren 
es oder der Verfegung der Einen und der Anderen in die 
neren Qualität entſprechende äußere Situation. Gott, ale 
ter aller Welt, richtet durch Chriſtum (Joh. 5, 22. 27. 
), 38; 17, 31); die ethiſche einig follte durch die Er— 
- Stud. Jahrg. 1868, 17 





246 Groos 


ſcheinung Chriſti eingeleitet, angebahnt und durch feinen Geif 
zogen werden; fie iſt eine von Chriſto ausgehende, in feiner | 
Liebesmacht beruhende, ein durch alle Zeiten fortſchreitender | 
Proceß (Matth. 10, 34. Joh. 9, 39; 3, 19; 16, 8ff. U 
39ff. 1%0h. 2, 19); fie ift mad) der andern Seite begrüi 
der göttlichen Weltregierung, durch deren Fügung jest Diefi 
Jener zu Chrifto fich Hingezogen fühlt (oh. 8, 37; 6, 4 
Entſcheidung felbft aber ijt eine Wirkung der Liebesmacht d 
löfers, der durch fein Wort und feinen Geift den Menfchen 
sieht (Joh. 12, 32). Die Äußere.xgFoss aber ift zunächſt X 
der göttlichen Vorſehung und geht als ſolche im Kleinen und 
immer fort; aber die ganze Manifeftation und Thätigkeit de 
lichen Vorfehung Hat ja wiederum Chriſtum zu ihrem Bi 
und das von ihm gegründete Gemeinleben der Menfchheit 
lebendige allwirtfame Gentrum der Weltgefhichte. Die gan; 
wicklung der Geſchicke, welche jene xgloıs in fich jchließt 
daher mit Recht aud auf Ehriftum als ihr vermittelndes | 
bezogen. Beiderlei zgioıs aber zieht ſich nicht nur durch di 
dieffeitige Entwicklung der Menſchheit hindurch, fie erſtreckt fi 
in die jenfeitige Exiſtenz. Nach dem Tode findet xglou 
(Hebr. 9, 27) zuvörderft infofern, als der ſcheinbare Wide 
zwifchen innerer Befchaffenheit und äußerem Zuftand auf 
und jedes Individuum in die jeiner Beſchaffenheit adäqua! 
gefegt wird und infofern eine ftrenge Sonderung zwijchen M 
von entgegengefegter fittlicher Lebensrichtung vollzogen wird. 
die ethifche xglass entwidelt ſich weiter; Vieles, was im ir 
Leben unentſchieden ift, kommt dort zur Entſcheidung, und 
die äußere zgloss, die allen Schein des Wohlergehens der 
entfremdeten und des Uebelergehens der Frommen entfernt, 
die innere xgloıs mächtig fördern, wie dies aud in biefem 
uuleugbar ftattfindet und überhaupt. eine auf die andere wir 
ihr Vorſchub leiſtet; es vollzieht ſich jene innere xglors una 
in der Seele jedes einzelnen Menſchen, und muß diefelb 
einem längeren oder fürzeren Verlauf fittliher Kämpfe un 
ruflih und für immer der Subftanz des Guten, des ewigen 
und der Gemeinfchaft des Gottesreiches einverleiben oder i 


über ben Vegriff ber xglors bei Johannes. 247 


der Sünde und des Todes hinabftürzen. Das Gericht 
en wir jagen, der nothwendige Abfchluß der freien Selbſt⸗ 
ng des Menſchen als einer fittlichen Perjünlichkeit; er 
berhaupt nicht al8 Perfon behandelt, wenn er nicht einem 
unterworfen würde, wenn ihm nicht gegeben würde, was 
ent hat. Dadurch, daß feine Handlungen gewogen unb 
rechnet werden, wird erft der Werth wie die Freiheit feiner 
hfeit vollſtandig anerfannt. Welchen andern Abſchluß follte 
twicklung fonft aud) Haben? Durd die Sünde tritt eine 
onie und Verworreuheit in das gefammte Sein und Leben 
hen; dieſe Trübung, dieje Alterirung feiner Perfönlichkeit, 
nerjten Weſens, kann zulegt nicht anders aufgehoben werben 
) ein endliches Gericht, durch welches der Menſch das, 
iöher nur approrimativ war, ganz und voll wird. Ein 
bſchluß, nach welchem alles Halbwefen und Stückwerk wie 
ıtjchiedenheit aufhört und Jeder ganz und voll bis zur 
usgeftaltung wird, was er innerlich, wenn auch nur exft, 
ihon war, Tiegt ebenfowohl in der Idee der göttlichen 
feit als der creatürlichen Perſönlichkeit als ſolcher. Die 
xeioıs enthält darum nothwendig ſchon in fich die Idee 
ixcquotc, des zardxgiua. Das Gute ijt zulegt das ab⸗ 
thwendige, darauf ruhen die Grundfäulen der Welt, ja 
n Gottheit, des höchſten Wefens felbft. Dann aber muß 
ih das Böfe in feiner Energielofigfeit und fein Dafein 
revel gegen die heilige Majeftät Gottes und feiner Welt» 
ſich erweifen, muß „gerichtet“, verdammt werden. Chriſtus 
das gottgewollte, gottgeordnete Centrum der göttlichen . 
ung, der Zielpunft, dem nad) dem heiligen Willen Gottes 
gegenftreben, die Macht, unter die fich Alles beugen foll. 
t aber verwirft ihn, negirt diefe feine abſolute Autorität. 
denn das Weltgericht Chrifti feine abfolute Rechtfertigung 
Welt, wie es andernfeits die Erweifung feiner abfoluten 
von dem Böen, von dem Zufammenhang mit ihm und 
ngtheit durch daffelbe iſt. AL der freie Weltrichter wird 
Hechthinige ewige Nichtberechtigung alles Böfen, feine innere 
it und Selbftauflöfung, Selbftvernichtung zur Erſcheinung 
17* 











248 Groos 


bringen, wie er als der befreiende Weltrichter Diejenigen, 
haben ſammeln, auswählen laſſen von dem xdamos, vi 
Zuſammenhang, aller Berührung mit dem Reich des B 
loſen wird. 

Es ift aber dieſe richterfiche Thätigfeit Gottes in Ch 
vornherein ſchon eine fondernde, feheidende, wie die im 
des xolvsıw ja mitgefegt ift, und indem fie das Dief 
Jenſeits umfaßt, hat fie wie die Parufie Chriſti felbft ihre 
worin fie befonders erkennbar und auffallend ift. Eine letzt 
epoche wird diejenige fein, welche durch den Eintritt des 
jährigen Reichs“ bezeichnet wird; die alsdann erfolgend 
xgloss muß auc auf eine ausgezeichnet eclatante Weife t 
xelcıs fürdern, fo daß Alles reif wird für eine große a 
Scheidung und Entſcheidung (Matth. 25, 31ff.; 16, 27 
4, 5. 2Ror. 5, 10. 2Cheff. 1, 6-10. 2 Tim. 4, 8. 
4, 13. Joh. 12, 48. 190h. 2, 28; 4, 17. Offb. 20, 1 
&s ift dies das Endgericht, der Asfchtug der langen xg 
deren feierliche Manifeftation in ihrem ganzen Umfang 
Entfheidung nun hat jenen ganzen Scheidungsproceß 
Vorausfegung und ift fein notäwendiger Schluß; fomit | 
Eine mit dem Andern nicht im Widerſpruch, nod wird 
durch das Andere entbehrlih. Was Gott in Eprifto in 
genen, inneren Gerichten und in erfannten äußeren Geri 
dahin gewirft und gefügt hat, tritt alsdann in vollfommeı 
heit für Alle hervor und wird feierlich betätigt und ı 
Es werden offenbar die Heuchler, welche ſcheinbar für d 
Gottes wirkten, in Wahrheit aber eigener Neigung fröhn 
ihre eigene Verherrlihung wirkten und kämpften, aber nid) 
Jö&a zod Isoö, die Lieblofen, die in einem todten Glaube 
gingen, die Nachläffigen und Saumfeligen, die Ungetre 
Ruckfälligen, endlich alle beharrlich Unbußfertigen, die i 
göttlihem Sinn verharrten und in der Sünde ſich verfef 
welchen die erlöfende Liebe, die ihnen im Mittler und jeine 
und Geifte kräftig nahegetreten, fpurlos vorübergehen mußte 
7,21; 24, 43; 25, 1ff. u. 14ff.; 11, 20ff.; 25, 3 
12, 48. 2Theſſ. 1, 8). Ebenſo werden offenbar bie ı 


über ben Begriff der xglaıs bei Johannes. 249 


en und Frommen, alle Berfennung wie aller ungünftige 
ber fie verhüllt; alfe Verdunklung und Beeinträchtigung 
ihrhaft fittlichen Werthes durch Schwachheiten, Gebrechen 
iner Art hat aufgehört; ihre vielfach verborgene Treue, 
jeduld kommt an das Helle Tageslicht und fie treten in das 
vollfommene Leben ein, welches freies, wirffames Walten 
chließt (Röm. 5, 17. Matt. 24, 21. Lut. 19, 17. 19). 
Offenbarwerden beider in ihrer wahren fittlihen Grund» 
als einer diametral entgegengejegten, dieſes Entſcheidungs- 
älft zufammen mit der Auferftehung der Einen und der 
und der Qualität ihrer Auferftehungsfeiber; bei den Gott- 
ten ift der Verleiblichungsproceß in eben dem Grade auf 
ninationspunft gelangt, wie bei den Seligen die Bervoll- 
ig, und in der Leiblofigkeit Jener ſtellt ich ebenfo dar ihre 
fein aus dem Heilsgebiet, wie in der der Gläubigen das 
Reben. „Was ift demnach“, jagt Nitz ſch, „das ganz All- 
an dem Auferftehen und an dem Gericht? Am Gericht 
durch das endfchaftliche Verhältniß jedes einzelperfönlichen 
zum Sohn des Menſchen der perfünliche Werth oder Un- 
ſſelben ſchlechthin geoffenbart werden foll, und am Auf 
daß derfelbe Erfolg und Widerfprud in der Ieiblichen 
ng feliger und unfeliger Wefen fich vollzieht.“ 
diefen allgemeinen Vorbemerkungen über die xgioıs nad) 
jentlicher Lehre wenden wir und nun zu den einzelnen 
hen Jeſu felbft, um nach deren Analyfe eine klarere Einſicht 
Weſen, den Grund und den Gegenftand der xglaıs zu ge 
Bekanntlich haben nun die meiften Ausfprüce Jeſu feine 
und fein Kommen zum Heil, zur Mittheilung des Lebens, 
gleit zum Object, fo beſonders auch die Stelle Joh. 3, 
: „00 ya dnsorsılev 6 Heös Tov viov adrod eis 
nov, va xglın Tov xoonov, aAR iva GwI) Ö x00u0g 
occ. Wenn er aber unmittelbar darauf Hinzufügt: „eur 
ji xcloic Örı To ps EAjAudev els Tov x00uov x.5.1.“, 
fen zuvörderſt diefe Worte umfomehr einer Aufklärung, als 
id der Wahrheit fich nicht kann widerfprochen haben. Es 
0 gewiß Beides wahr fein, einmal, dag er nicht gekommen 


5 B Groos 


ſt, um die Welt zu richten, ſodann aber auch, daß dadurch 
nit feinem Kommen ein Gericht anhebt. Iſt das das 
aß das „Licht in die Welt gefommen“, hat das Komm 
ichts in die Welt ein Gericht zur nothwendigen Folge, fo ii 
in neues, vor dem Kommen des Lichts noch nicht vorh 
deriht. Iſt num aber Gott als der Heilige und Gered 
!derzeit der Richter der Menſchen gewefen, fo hat es au 
‚or dem Kommen des Lichts in Chrifto ein Gericht gege 
ange ald Sünde in der Welt war, und fo hat der Altı 
ıon jeher über alle Menjchen, weil alle der Sünde hi 
varen, auch fein Gericht geübt. in allen feinen ftrafenden u 
eltenden Gerichten, die er über den Ungehorfam und bi 
ofigkeit der Menfchen hat ergehen laſſen, fowohl äufer 
nnerlich, ſowohl unter dem jüdifchen Wolfe als unter den 
owohl in äußeren Strafgerichten wie duch fein Wort ı 
Stimme des Gewiſſens. Wie Alle Sünder waren und keir 
vor Gott gerecht, jo waren fie auch Alle dem Gerichte 
verfallen, und diefes war da® Gericht, welches nicht erft 
nußte, fondern überall und immer ſchon da war. Aber w 
a feiner Barmherzigkeit bejchloffen hatte, diefen Baun dei 
neinen Berdammniß zu löfen, fo jollte num der neue B 
er Bund der Gnade aufgerichtet werden; wie „Alle un 
Sünde beſchloſſen waren“, fo wollte ſich Gott Aller er 
Dazu jandte Er feinen Eingebornen. Es follten die Menſch 
ur Rechenſchaft gezogen werden wegen ihrer Sünden, t 
Uen Guade, Vergebung, Verföhnung mit Gott, Leben und 
eit durch den einigen Mittler angeboten werden. Wie nu 
ıenn aber gleichwohl das „Kommen des Lichts“ ein Ger 
jolge? Hier haben wir uns zuerft zu verftändigen über de 
es Ausdrudg Irı 70 pas EAmjivdev sis ToV xo0wor; b 
ft, wie Chriftus ſich felbft das Ficht und die Wahrhei 
ichts Anderes als Chriftus felbft. Warum nennt er ſich al 
Gicht etwa, um irgend eime einzelne Eigenſchaft oder T 
u bezeichnen, nicht nur ſich damit als den Lehrer der M 
arzuftellen, fondern er bezeichnet mit diefem Ausdruck nichte 4 
18 die in und mit ihm den Menfchen gewordene Erſcheinu— 


über dem Begriff der «glass bei Johannes. 251 


arung Gottes, wie denn Johannes in feinem Briefe jagt: 
arm adın 1) dyyeıla jv dmxoauev dn’ adrod ünı 6 
püs dor zul oxorla &v aird ovx Borıv ondeula“; 
ber Heißt ein Licht im Gegenfage zu allem ungöttlichen 
vornehmlich als der Heilige, als das von alfem Böſen freie 
es Böfe haſſende Weſen; er heißt fo als die ewige Wahrheit 
t, als die ewige Seligfeit. Wie num Gott ſich auch „ehe 
ort Fleiſch ward“ den Menfchen offenbarte, fo heißt es von 
Üihte: „ev aeg Lan 79 xal 7 lum 17V 10 yas av 
nuv' xl zo yas Ev ıfj axorig gyalvsı xal 1; axorla 
u xariraßerv“, d. h. der Ewige Hat fich in der Offen- 
feiner Wahrheit und Heiligfeit niemals den Menfchen ent- 
iondertt wo irgend ein relativ wahres menſchliches Leben, 
ich in noch fo ſchwachen Regungen fich zeigte, fo war es 
; ewige göttliche Licht, in welchem es feinen Grund und 
g hatte; aber wiewohl leuchtend in der Finfterniß, wurde 
von den Menfchen, die der Finfterniß, dem ungöttlichen 
rgeben waren, begriffen, ergriffen, feftgehaften, fondern 
nur in vorübergehenden Strahlungen. Nun aber erfchien 
Iivov Yüs, 70 Yäs Tod x00nov, dazu beftimmt, die 
n ber Finfterniß zu entreißen und fie dem Lichte zuzuführen. 
ver heißt doch nichts Anderes, als daß in Chrifto Gott felbft 
Menſchen gefommen, daß die Quelle ihres Lebens, ihres 
ich ihnen offenbart hat. Aber ift nun darum der Heifige 
n Sündern als ein Richter erfchienen? Keineswegs: „ovᷣ 
rsorenltv 6 Heds Tov viov auto) iva xelım ToV xd- 
ar iva ws 6 x00nog“; aber weil „die Menfchen 
terniß mehr Tiebten als das Licht“, fo hatte fein Erſcheinen 
es Gericht zur Folge für Diejenigen, die fi Gott und 
Licht nicht zugewandt, fondern von demſelben abgewandt. 
bgleich ihnen angeboten wurde, allem Gerichte entnommen 
en, übergaben fie ſich felbft einem neuer und fehwerereit 
. Wären Alle dem Ruf der göttlichen Gnade von Anfang 
den heutigen Tag gefolgt, fo gäbe es fürder fein Gericht 
denn e8 gäbe dann, wenn auch noch mit Sünde behaftete 
m, doch feine Strafe, fein richterliches Einſchreiten, keine 


Groos 


mehr, weil die den Gläubigen noch anhaftende 
ht der angeeigneten Gnade gebrochen wäre und 
würde, und es wäre alsdann das Reich des 
nd Wahrheit in ungehemmter und ungetrübte 
zu feiner abfoluten Vollendung fortgefchritten 
der Menſchen ſich felbft ausgeichloffen haben v 
Neibt der Zorn Gottes über ihnen“, fie verfall 
das ift das Gericht, welches mit dem Komm 
iſto in die Welt gefommen ift. Che das «Ar 
‚ waren Licht und Finfterniß gleichſam in eine 
tifchten Zuftande, und wir können fagen: der; 
jen Lebens vor Chrifto glih der Dämmerun 
iterniß in einer unentfchiedenen Vermiſchung ve 
die Signatur der Indifferenz, es ift no n 
e zwifchen beiden gefommen. Da erfchien das 
icht, das auch vor der Menfchwerdung des ( 
icht und Leben der Menfchen geweſen, dasjenig 
alle vereinzelten Spuren des Wahren, Guten, 
Gedanken und alle Höheren Regungen, die je ir 
ıft lebten, ftammten. Niemals war e8 noch in 
Reinheit, in feiner vollen ungeſchwächten Kr 
n, in feines Menfchen Inneren hatte es noch 
nem Glanz gefeuchtet, noch den Durchbruch des 
bt; als es aber erjchien, da bewirkte es auch 
valtige, tiefgreifende Veränderung und Entjcheid 
welt und der innern Welt‘ des Menfchen. 

im Glauben dem Lichte zu, das ihnen entgegenft 
rden nicht gerichtet; denn fie fehloffen ſich im & 
Lebensprincip an, nahmen e8 in ſich auf, lie 
en und ihr Leben mußte nothwendig in ber 
Gemeinschaft mit dem wahrhaftigen Licht und 
u immer höherer und volffommenerer Stufe des 
ı dafjelbe Verhältniß findet auch jegt noch ftatt 
e gefagt werden kann, daß Einer ſchon ganz ud 
8 Lichtes angehöre, fo ift doch fo viel gemiß, | 
er Finfterniß und damit dem Gericht für imme 


über den Begriff der zofors bei Johannes. 258 


bleibt. Andere dagegen entziehen fi ganz und gar den 
n de8 Lichts und dieje bleiben nicht nur was fie find, 
weil fie fi dem von Gott gefandten Fichte 'widerfegen, fo 
immer tiefer in die dunkle Tiefe der irdifhen Natur und 
fentfremdung, die das Gericht zur Folge hat. — Das 
roße feindliche Gegenfag, der durch das Chriftenthum und 
jelben in die Welt eingetreten ift, der ſchon an und für 
xolois, eine Scheidung ift und in dem implicite eine 
‚gioss Liegt, die immer beſtimmtere Dimenfionen annimmt. 
(ich tha:fächlich ftellt fich diefer Gegenfag dar in der Ges 
Jeſu felbft, wie in der feines Reichs und es entwickelt ſich 
egenfag im ganzen Verlauf der Welt: und Menfchen- 
‚ und da, wo er am ftärfften und jchärfften hervortritt, 
n auch immer entjcheidende Zeiten im Reich Gottes, Krifen, 
N. 
wir aber nun weiter nad) dem Umfange und den Grenzen 
chts fragen, das mit dem Erſcheinen Chrifti in die Welt 
1, fo fällt diefe Frage im Grunde mit der andern zu— 
„wie kommen die Einen an das Licht und warum bleiben 
n beinfelben entfremdet?* Diefe Frage nad) ihrer ethiſchen 
tologijchen Seite beantwortet ung diefelbe johanneifche Stelle, 
wir ausgegangen find. Es heißt nämlich weiter 3, 20. 21: 
20 ö yadla ned00wv nice To Yüg xal odx Egyerau 
ps iva um EAeyyI va Egya avroü‘ 6 de nowv 
Yaıav Eoysraı neo To Yüs va yarsgudj aurod 
örı Ev VeB Eariv eioyaausva“. Wenn hier die Rede 
inem Thun der Wahrheit, fo ift ein Thun der Wahrheit 
ten de8 Subjects gemeint, noch ehe das Sicht Chrifti dem⸗ 
'he tritt und erfcheint, es berührt. Es ift ja außer allem 
daß Keinem, dem Gott, der Vater der Geifter und des 
ine vernünftige Seele gegeben, das Licht verjagt ift, dns 
he Licht“, und Johannes jagt ja ausdrücklich: jenes Licht 
Licht und Leben der Menſchen, wie denn durch das Ge— 
a8 Geſetz, das Gott dem Menfchen in’s Herz geſchrieben, 
enbarung defjelbigen Lichtes ift; diefes Licht Teuchtete in 
ch fo unvollfommenen Aeußerungen und Geftaltungen der 


Sroos 


in allen noch fo befehränften Anfängen der ( 
Ver nun nach Maßgabe des ihm immanenten 
ie „Wahrheit thut“, wer fie Tiebt, wer fie fud 
nmten Lebensrichtung der Wahrheit gemäß | 
äußerlich die Wahrheit und Klarheit Tiebt ı 
die Täuſchung meidet, gegen fich felbft treu if 
tren ift und aus folder Gefinnung Heraus | 
> notwendig ben Trieb zum wahrhaftigen 2 
‚ der hat den Zug zum Glauben, fühlt fich ve 
d „ommt an das Licht“. Wie die Blume a 
und von demſelben ihren Farbenſchmuck empfä 
) das Lichtverwandte im Menfchen und das 
Menſchen den Strahlen des himmliſchen Lich 
leuchtet, die Seele erfennt in Chrifto das „wah 
fie fonft überall vergeblich jucht, fie erfennt 
oraus fie felbft ihren Urfprung genommen, a 
das unauslöfchliche Bedürfniß nad) Licht und V 
Stande ift, fucht darum Vereinigung mit de 
var e8 auch, was alle edleren und befferen Ge 
) fehnten und feufzten nach dem Iebendigen Ge 
ſchaft mit ihm dürftenden Herzen zu dem Ci 
och Hinzieht, weil fie in ihm ihre Lebensfonne e 
n ihr eigentliches Lebenselement, ihren Lebens: 
; das war es, was Diejenigen, die die erften 
us in ſich eingefogen, nun and mit einer u 
walt daran fefthtelt und fejtfnüpfte, weil und 
n eigenen Leben lafjen mußten. So fommen 
yeil fie das Licht fuhen und fieben, und fie 
dazu; immer reicher, immer wirffamer un 
1 fie es in fih auf, und je mehr fie «6 
defto mehr wird die Sünde gebroden, der 
8 gelöft, defto ficherer bleiben fie dem Geric 
chdem fie ein Gericht über fich haben ergehen 
hrheit thun, find ja nämlich nicht etwa Solc 
digem Wefen wären — denn im Licht der gi 
m Keiner, der wahr ift gegen fich felbft, als 





über den Begriff der xolouc bei Johannes. 255 


1 erjcheinen, — vielmehr find e8 Solche, die von einer aufs 
ernften Empfänglichkeit für das Licht befeelt find und die 
n Maß ihrer Erfenntniß und ihres Vermögens ſich redlich 
, zu beim Fichte Hindurdzudringen und im Licht zu wandeln, 
pi meıvövres zal diyavrss ııv dixauoovvnv, ol ewxol 
vuore, es find Diejenigen, in Bezug auf welche Chriſtus 
gt: æciy vis HEAn To Ielmue aurod morsir, yvaoeras 
is didayns möregov &x tod Heod Eorlv, weil eben Dies 
die ſchon eine natürliche Hinueigung und Liebe zu dem 
Gottes haben, auch in der Lehre Chrifti den wahrhaftigen 
illen erkennen, es find folhe dAnIos "TogemAlaı Ev ols 
Zorı; es find ſolche Naturen, die ohne Vorbehalt und 
ichtliche Verfchleierung ihres Inneren mit einem fchlichten, 
einfältigen, für die Wahrheit offenen Sinn zu ihm kommen, 
ri E9vsı ol yoßovusvor FEdv xal Egyalöuevor dızaso- 
Apg. 10: ol övres dx is dimdelas dxovovaw adrod 
wis; fie, die aus der Wahrheit find und feine Stimme 
viffen es aber jelbft, daß fie ſich einem gewiſſen Gerichte 
fen müffen; haben fie fich bei ihrer unvolltommenen Er— 
für gut, für frommer oder gerechter gehalten, als fie 
find, und fommen fie num dem wahrhaftigen Licht nahe, 
es in ihr Inneres und vertreibt e8 alle Finfterniß aus 
erzen, dan wird aud) ihnen das Verderben ihres Herzens, 
rrungen und Vergehungen ihres bisherigen Wandels, die 
heit ihrer bisherigen Lebensrichtung enthüllt und aufgedeckt, 
em fie „das Licht mehr Lieben als die Finfterniß“, fo 
fie nicht zurück vor feinen heilſamen Strahlen, fühlen 
die Gewalt der erbarmenden, zu ihnen fich herablaffenden 
ottes, und im Spiegel der Heiligkeit und Liebe Chrifti ihre 
jaftigkeit und Sünphaftigkeit erfennend und jede Selbft- 
g in ihren Inneren enthüllend und ihr nachfpürend, öffnen 
Herz dem befeligenden Ruf der Gnade und „kommen nicht 
Gericht“. Wo dagegen die Gewalt der Finfternig die Ober: 
wanu, wo die Seele durd) die dunffen Triebe der irdiſchen 
jefeffelt ift, da mendet fich der Menſch der betrüglichen, 
den Gewalt folgend von dem Nichte ab, entzieht ich jeinen 





256 Groos 


Einwirkungen, verſchließt ſich ihm, weil er mit einem g 
Schauder fühlt, daß er ſich einem Gericht unterziehen muß, 
feine YeöRa Feya geſtraft werden würden; wo die Wer 
find, wo der Wille des Menſchen auf das Böfe gerichtet 
fündigen Wefen und Treiben ſich verfeftigt hat, da findet de 
feinen Zugang, da. bleibt der Menſch der Finfterniß und al 
dem Gericht preisgegeben. So fühlbar groß ift die Gem 
Sünde, dag aud das Wort des Lebens fie nicht zu übe 
vermag, fo mächtig die Finfterniß, daß auch das göttliche 2 
Gnade und Wahrheit fie nicht ‚zu erhellen vermag. Wel 
alfo der tiefere Grund diefer Erfceinung? „Die Menfchen 
bie Finfterniß mehr als das Licht.“ Wer Arges thut, wu 
Yüs xal ovx Egysraı rgos To Yüs, va un Eieyy 
Eoya avcod. Wäre alfo in unferer Stelle und a. a. D. ı 
verdienten Strafen für die Sünde im gewöhnlihen Sir 
Wortes die Rede, fo wäre es wohl erklärlich, daß Diejenic 
ſich derfelben jchuldig fühlen, nicht an das Licht kommen 
fondern lieber, wenn fie e8 vermöchten, dem ftrafenden 4 
zürnenden Richters entrinnen möchten; aber es ift bei der 
fprodenen xeloıs überhaupt von feiner Strafe mehr bi 
fondern nur von einer Offenbarung und Enthüllung ihrer 
nur davon, daß folhe Offenbarung derfelben fie an's Licht 
folten, daß fie die Sünde follten erfennen und bereuen und 
Gericht entrinnen. Aber das ift die verfinfternde und verf 
Gewalt der Sunde, daß die Menfchen darum das Licht der 
heit, daß fie die Nähe und Gemeinfchaft Gottes ſcheuen, f 
fliehen, weil es nicht anders fein kann, als daß fie in jene 
die ganze VBerwerflichkeit ihres Treiben, die ganze Verf 
ihres Sinnes erkennen müffen. So werden fie, wenn das ri 
ftrafende Licht der Wahrheit ihnen nahe tritt, in neuen Bet 
Sünde verſtrickt und kommen nicht an das Licht, aber weil e 
nahe war und fie fi) von ihm abgewandt, find und bfeil 
dem Gericht verfallen. Das aljo ift das gerechte und heili 
richt über Diejenigen, welche die Finfternig mehr Tiebten — 
Licht, und fomit iſt e8 Fein Widerſpruch, wen Chriftus ı 
einen Seite erklärt, daß er nicht gefommen fei, die Welt zu 


über den Begriff der xgleıs bei Johannes. 267 


f der andern Seite es ausfpricht, daß fein Kommen ein 
zur Folge Habe. Daß er feine erlöfende Thätigkeit nad) 
weifachen Seite bezeichnet, Tag aber fehr nahe, da ſchon die 
9 des in ihm erjcheinenden Lichtes während feines Lebens 
en in diefem Sinne eine doppelte war. Deshalb ſtellt er 
fo einander gegenüber. Der Sünde muß ihr Recht ange 
den; dies gefchieht entweder durch das über das Subject 
e verbammende Gericht oder dadurd), daß an biefem, wenn 
der Erlöfung hingibt, die Sünde gerichtet, von ihnen in 
erdammlichfeit erkannt, negirt und ausgejtoßen wird. 

rhellt ſomit, daß fich jene Ausfprühe Joh. 3, 17 u. 19 
3 nicht ausfchliegen oder widerſprechen. Nach der göttlichen 
nie wirken ja Gericht und Heil in abgemeffenem Fortſchritt 
n, erjt nebeneinander in der Weife, daß eines dad andere 
ft und begründet, bis es ineinandergeht im Gipfel- und 
ınft der xgloss, von wo aus es ſich entjcheidet, weldyes im 
für den fündigen Menſchen ſich auflöft, bis fie völlig aus- 
treten zur Vollendung des Heils und Vollendung des Ge- 
das Gerichtliche ift ein conſtituirendes Moment im gött- 
jeilsplan, das Heilmittel ein ſolches im Gerichtsbeſchluß 
menſchliche Sünde, das Ganze ein ebenfo heile» als rechtes 
Proceß, wodurch dem, was als wiedergenejen und geſund 
tfertigt, wie dem, was als unheilbar fich jelbft verurtgeilen 
in Recht widerfährt. 

nun die anderen Ausjprüce des Herrn über die xgioss 
annes angeht, jo ift wohl zunächſt im Anfchluß an das 
Sntwicelte Joh. 9, 39 zu berücfichtigen. Zwar Heißt e8 
; xgiue Eyd eis Tov xdauov zodrov mAdov; zolum 
fich hier nicht auf ein Zufünftiges, fondern auf ein Gegen» 
; aber auch diefe Worte wollen nicht jagen, daß er gefom- 
‚ein Gericht zu halten, fondern daß fich eine Entſcheidung 
,„ nämlich durd der Menjchen Selbſtentſcheidung für oder 
jefum im Glauben oder Unglauben, zum Heil oder Gericht; 
iicht felbft bleibt demnach immer noch ein zufünftiges. Was 
: vollzieht, ift die xgloıs (3, 18. 19) als eine gegenwär⸗ 
jobei ſein verurtheilendes Gericht als äußerlich geſchichtliche 





258 Groos 


Realiſirung des jetzt innerlich ſich vollziehenden immer noch 
der Zukunft bleibt; denn eis xoiue heißt es, und nicht eis 
alfo nicht, daß er ein Gericht als Act vollziehe, jondern | 
ein gerechtes Gericht als Reſultat herausſtellt. Auch die 
12, 31 Kann diefe Auffaffung nur beftätigen: vüv xeian 
Tod xÖönov zovrov, eine vichterliche Entfcheidung über d 
vollzieht fid) von nun an. Hierin liegt nicht blos Verur 
des x0onog als x6owog, jondern auch Rettung Derer, we 
demfelben wollen entnehmen laſſen. Diefe ſcheiden de 
dung hat von num am ftatt, fie iſt in der Geſchichte Jeſu 
(ogl. 16, 11). Auf Grund des Gerichts, das über den 
diefer Welt ergangen ift, wird die Welt überführt, daß es 
gibt, nämlich für fie, d. h. ſofern fie „Welt“ und Her 
gebiet des Argen ift, auch einer xgloıs anheimfält. Daru 
es, da Jeſus am Eingang ded Todes fteht, exgırau. 

wird die Welt überführt, welche xgroıs ihrer wartet. 

Auch die Stelle Joh. 5, 22ff., wo es Heißt: oda 
rare xgiveı oddeva x. v. A., diefes Wort von ungel 
Tragweite, in dem ſich eine ganze Welt von Gedaufen der 
und erhabenften Art verbirgt, enthält nicht blos eine Ver 
auf die Zukunft; Jeſus weiß, indem er es ausfpricht, | 
Gericht in dem Augenblict felbjt, in welchem er fpricht, fi 
zieht (B. 25, vgl. 12, 31), ja, daß es von Anbeginn d 
an ſich vollzogen hat; er weiß aud), daß fein perfünliches A 
den Knotenpunkt der Weltgefhichte bildet, von wo an de 
was bisher im Verborgenen geſchah, immer Helfer und ge 
an den Tag treten wird. Jeſus ift gefommen theild zum 
theils zur Mittheilung des Lebens. Es wird durch ihn m 
Menſchen ein Gericht geübt, die Einen erfennen ihn an, die 
nicht, die Einen ergreifen feine Erſcheinung, die Andern n 
ſcheidet fih an ihm die ganze Menschheit und an Gef 
ſcheidet fich fiir einen Jeden, was er it und was er ſein 
darum hat ihm der Vater das Gericht übergeben über alle DL 
das er auch im fräftigen Gericht über alle Menjchen üben 
Del. Lut. 10, 22: al oVdeis yırdazsı zig Erw 6 vi 
pa) 6 nermg, xal dig Eorıv Ö naug, ei un à vids 





über ben Begriff ber xglass bei Johannes. 269 


vantas 6 vios arroxaldıyaı, feine Erfcheinung faſſen und 
en kann ein göttliches Werk genannt werden, die Erfenntnig 
von Gott gewirkt und Jeſus braucht fid nur zu zeigen, 
einen, jo entfteht und vollzieht fid) das Gericht. — Zeus 
ih Joh. 5 a, a. O. für die innige Lebenseinheit zwifchen 
) dem Vater, nach welcher ſowohl er, der Sohn, Alles 
thue dem Vater „abjehe“, als auch andererfeits der Vater 
un dem Sohn „zeige“ und durd) ihn feine Werke, auch die 
1, außrichte. Den Yubegriff diefer Werfe faßt hierauf Jeſus 
wei hochwichtigen Stüde zufammen, in Lwororeiv und 
- beide find in der Weife nebeneinandergeftellt, daß deutlich 
vie nach Gottes gerechtem Willen alle Kinder Adam's ohne 
ne unter Jeſu ftehen und ſchlechterdings als den Einen 
den Anderen, entweder als Heiland oder ald Richter haben 
inne werben follen, daß dem Sohn gleiche Ehre wie dem 
ebühre; hiernach befinden ſich alle Menſchen unter dem 
ner Nothwendigkeit, dem fie nicht ausweichen können und 
Selbſtentſcheidung drängt. Dies beruft aber auf nichts 
als darauf: & yag dv dxeivos na tedre xal 6 
olwg rrossi und B. 20: 6 yag rang yılzl zov div 
ra delxvvow auıo & autos nosel. 

wiß ſich nun damit alles meffianijche Wirken, wie e8 fein 
on entwickelt und der Meffias für alle Menfchen jetzt 
[8 das helfe Licht und Beifpiel, wie das göttlich » menfch- 
n fein ſoll, uud als der Offenbarer der höchften Wahr- 
er dieſes, wonach alles Thun der Menſchen von jegt au 
werden muß, wird fich eben diejes jein Wirken nun inner= 
menſchlichen Geſchichte nie wieder verlieren, fondern, je 
fortfchreitet, nur deftomehr als das göttliche Gericht über 
tentiren, und derfelbe, welder vormals als leicht verkenn— 
rblicher Menſch unter Menfchen ftand, wird aud) der un- 
Nichter über alles Menfcliche werden. Der Beweis aber 
göttliche ihm eignende Nichterqualification gipfelt in V. 21: 
yag 6 naıng Eyeigeı Toos vergods xai Lwonori 
6 vis oös Helsı Lworrori, woran ji aufs engfte 
ittelbarfte anfchließt oude yag 6 mrarıjg xgiveı ovdsva, 


260 Groos 


alle ınv zeloıv n&car dedwxe ro dup. Eiguet 
ihrer Art einzige Function der Todtenerweckung am jüngfte 
dem Sohn wie dem Bater, muß er als ſolcher wie der 2 
ehrt werden, fo ift fein Gericht überhaupt ſchon als ein ı 
der Welt immanentes, ein ſich als gerecht legitimirendes, m 
Auftreten als Bevollmächtigter Gottes ſchon eingetretene 
rag iſt aljo am diejer Stelle entjcheidend: wenn der Sohn 
maden muß, fo muß er aud Richter fein, das Eine } 
Andern; er ift es aber wirklich und zwar fo, daß ihm a 
lich das Gericht übergeben ift: &&ovaie» (wie 1, 12: 2 
Net; eben dur die Erſcheinung, die ihm Gott gege 
vloc x. v. A., hat er das Recht erhalten, die große Scheit 
beizuführen) Zdwxev adzo (B. 27) zal xgioıw moseiv 
avseunov Eoriv; weil in Jeſu das deal der gott 
Menſchheit erfcienen, fo kann aud er, allein der Ri 
Menſchen fein ; denn diefe werden gerade gerichtet nach il 
hältniß zum Ideal der Menjchheit. Gerade als „Meenic 
als zur Menfchheit gehöriger, ift Jeſus, der Sohn Got 
EEoxv geeigneter Richter der Menſchen, zu deſſen gerec 
billigem, alle ihre Umftände und Zuftände berüdfichtigende 
‚fie alles Vertrauen zu faffen Urſache haben, fo daß aud) 
der Con ausſchließende xgloıs als abfolut gerecht erjcheine 


a) Wenn Weiße in feiner philoſophiſchen Dogmatit jagt: „Das 
wird an dem Ganzen des Geichfechte und an jedem einzelnen fe 
vollzogen durch den Sohnmenſchen, d. h. durd die Idee dee 
Geift, von der Willensjubftanz der Gottheit durchdrungenen, mit 
der Gottheit organifh gemengten und in der Perfon des g 
Heilands zum Maren Vewußtfein feiner ſelbſt und feines göttlich 
feiner überfinnlichen Gegenftändlichkeit Hindurchgedrungenen Meuſc 
fo ift dies eine ſpiritualiſtiſche Berflüchtigung der bibfifchen Lehre 
unhaltbar als die in derfelben Schrift ausgejprodjene gewagte B 
Nicht in gleicher Weife wie durch eigne perjönfic;e Uebernahme 
und Todes der geſchichtliche Chriftus die Hobepriefterfiche Yu 
ewigen Sohnmenfchen zu der feinigen machen fonnte: micht 
Weiſe kanu er auch die königliche That des Weltgerichts nur 
zueiguen wollen mit Ausſchluß feiner Sünger — er würde dure 
artige wildphautaſtiſche Selbſtüberhebung die fittfiche Bedeutung 


über den Begriff der zglaıs bei Sohannes. 261 


1 alfo nad) der eben behandelten Stelle 5, 22—27 ber 
em Sohn das Gericht übergeben Hat, fo kann aud) damit 
| Widerfpruch ftehen wenn er 3, 17 (vgl. 12, 47) ver- 
nicht gefommen zu fein, um zu »glvew. Der Gegenfag 
er unmißdeutbar, der Zwed feines Auftretens unter den 
n fei nicht der geweſen, ein ftrafendes Urtheil, vielmehr 
jeil über fie Herbeizuführen. Wenn er aber das Urtheil als 
it8 gefälltes Hinftelft, indem nur ein Maßftab, wie Gott ihn 
ı habe, angelegt werden dürfe: fo liegt hierin theils, daß 
Chriſtus einft zu fällende Urtheil nicht ein willkürliches, 
en damit ein folches jein werde, welches bereits ſchon Jeder 
ur der Sache nad) ſich würde fällen fünnen. Endlich aber 
‚gloıs und das Ertheilen der Lam) aiwveog nicht eine Thä- 
hrifti, welche am jüngften Tage nur als eine bisher nicht 
jervortreten wird; fondern namentlich die wur aiuwıog 
8 etwas dem Keime nach hier in den Menjchen Gelegtes 
t, kraft defien der Tod ihm (feinem wahren Weſen nach) 


Demuth, des jelbftverleugnenden hingebenden Gehorfams bis zum Tod 
gu vereitelt Haben. 
aumgarten-Erufius im Commentar zu diefer Stelle fagt örı 
9wzros, weil er von Menſchenart ift, — zur Todtenerwedung gehört nur 
jöttliche Kraft, zum Gericht neben jener die Menjhennatur, Menfchen- 
und zivar vielfeicht nicht in dem Sinn, in welchem der Hebräerbrief 
Nothwendigkeit auffafst, daß Epriftus Menſch geweſen fei: fühlend ud 
md und ertvagend mit den Meufchen, fondern jo, daß jenes Gericht 
n unmittelbare, beftimmte, volle Einwirkung auf die Menfchen erfor- 
Eine feine und richtige Bemerkung, gegen welde Luthard ohne 
nd polemifirt (ogl. Schmidt, Bibl. Theologie, S. 122 und befonders 
145): „Alles Gericht hat der Vater dem Sohn übergeben und fo auch 
Macht, Tebendig zu machen, wen ex will. Die pofitive Thätigfeit ift 
oft bei Johanues erwähnt oder erörtert: das Leben geben. Daß aber 
Menſchliche in diefer Thätigkeit nicht ausgeſchloſſen ift, erhellt nicht 
daraus, daß der Herr ſich überhaupt als Menfchen und Menſchenſohn 
et, fondern namentlich eben in Cap. 5 fih als den Menſchenſohn 
net, ja ausdrücklich jagt, der Vater habe ihm die Macht gegeben, 
icht zu halten, weil er Menſchenſohn ift.. ... . Dazu ift er vom 
mel Herabgelommen, um der Welt das Leben zu geben, und felbft das 
icht vollzieht er deshalb, weil er dev Menſcheuſohn geworden iſt.“ 
Stud. Jahrg. 1868. 18 





262 Groos 


nichts anhaben möge (Joh. 6, 46. 50; 11, 25); gleichwohl 
deun doch die Harften Stelten bei Johannes völlig umgedeute 
die zeloıs und Lur alwvıog als etwas je in dem Leben 
genwart bei jedem Einzelnen ſich gauz Vollendendes gefak 
wollte. Stets wird ein jenjeit der gegenwärtigen Geſtal 
Laufs der menfchlichen Dinge liegender Zeitpunkt angenon 
welchem im Gegenfag zu dem, was die Gegenwart ve 
oder verwirklichen läßt, die richteude Thätigfeit Chrifti 
ſolche ſich rechtfertigen wird, welche durd) Zuerfennung | 
ftimmten Looſes und die Vollziehung diefer Zurechuung A 
gleichend der Idee der Heiligkeit und Gerechtigkeit Gotte 
ordnet. 

Wir wenden und nun zu Joh. 12, 47. 48. Auch di 
prägnante Stelle weift völlig unzweidentig auf eine günf 
mauenz der Gerichtshaudlung hin (vgl. 1 Joh. 3, 14); f 
will Jeſus jagen, ift ſchon jegt die kritiſche Macht; 9 
das Wort jet eben dadurch, daß es den Glauben ermöglid 
dem es nahe kommt, Jedem, der „an das Licht kommt 
der Wahrheit ift“. Es iſt aber ein über den Menfchen 
Zufunft ſchlechthin entfcheidendes Gericht, weldes das Q 
weil Jeſu Wort durhaus nur das Wort des Vaters ift | 
ganzen Umfange. Zu vergleichen ift in diefer Beziehung 
bei Matt. 7, 24—27: Nachdem Jeſus der falſchen ph 
Theorie [gegenüber] jeine Rede (5, 21—48) und der 
Pragis [gegenüber] feine Ermahnung entgegengefegt Bat 
7, 23) bezeichnet er geradezu und ausdrüdlich diefe fei 
al8 die entfcheidende xgloss für das gefammte jüdif 
(5, 24— 27T). Es fteht aljo bevor — das ift die P 
welche Jeſus eröffnet — ein Gericht, welches den Gri 
irdifchen Beftandes antaftet, und einen Halt, der gegen die 
ftürzende Macht aushielte, gibt es in dem Bisherigen nicht. 
erſehen wir, daß Jeſus fein Wort, feine Rede zum Pr 
Gentrum einer nenen Weltordnung einjegt; er kann dies 
türfih nur unter der Vorausfegung, daß in feiner R 
Berfönfichfeit enthalten ift, daß das Wort der Träger jei 
jönfichkeit ift und deshalb Niemand jeine Rede von feine 


über ben Begriff der xgloıs bei Johannes. 283 


fönne und daß in feiner Perjönlichteit Gott felbft rede; 
Wort nım feine Perfönlichkeit involvire, jo habe aud die 
ag dieſes feines Wortes dafjelbe Gericht zur Folge, wie 
tung feiner Perfon. Daher heißt es nun 12, 47: xal 
uov dxovon av Ömudtwv xal um) nuoredon, .dya 
» avzov, d. h. von mir felbt geht feine Verurtheikung, 
erben nicht aus, fo daß id) gleichfam gegen das gefliffent» 
oriren meiner Perſon, die nicht überfehen werden faun, 
8 Beleidigen und Verachten derſelben Vergeftung übend, 
5 berbeiführte (vgl. 5, 45); denn ich bin nur zum Retter 
t, zu der ein folder gehört, gelommen, bei mir ift fein 
an Rache, aber ein ſolcher hat gleichwohl feinen Richter, 
erurtheilt und verdammt: 6 Adyog öv EAdina, Exsivog 
vrov Ev ıH Eoxarn Tusog; dies beruht aber darauf, 
ottes Wort ift, was er nicht annimmt; was er daher 
anerkennen will, troß aller naheliegender überführender 
‚ da8 wird dann umverfennbar flar als göttlich hervor 
d daran feine Verdammungswürdigkeit ald eines Ver 
des göttlichen Wortes einleuchten; es wird alsdann auf 
telbarfte Weije erkennbar fein, daß feine andere ‚Weisheit 
t zur Seligfeit der Seele ausfchlagen konnte, Die Frage 
3 den Menfchen einft richten wird, deckt ſich mit der an- 
h dem Richter; die Verachtung des Wortes zieht das 
ach fich, Chriſtus iſt aber jelbft das fleifchgemwordene Wort 
ieht ſchon jett in feinem Wort ein Gericht, wie anderer⸗ 
Wort einft den Menfchen, der. e8 verworfen, richten wird; 
Worte wird ja die den Menſchen in Chrifto erfchienene 
Snade und Wahrheit verachtet. Daher fagt Jeſus Luk. 
-33 (vgl. Matth. 12, 42): Baotlısoa Nörov dyso- 
&v ⁊ñ xgloeı xal xaraxgıvei avcods; fie verachteten 
he Weisheit Chrifti, die mrAsior Zolouwvos vor zei 
vevi dvanınoovraı &v zj xglası xal xaraxglvovorv, 
teten die göttliche Gnade, die in der Predigt Ehrifti an« 
urde, die die von einem Jonas geprebigte unendlich über« 
0) xolvo aurov heißt e8 aber, „ich ſelbſt“, will er 
verfündige nur den Menjchen den gnadenvollen Rathſchluß 
18° 


264 Grooé 


Gottes zu ihrer Seligkeit; ich werde einen Solchen, der m 
davon verachtet, nicht richten, weil es ja meines Gerid 
bedarf ; denn wer mein Wort hört und doc) nicht glaubt, 
verachtet und mein Wort, den richtet ſchon das Wort, dat 
nommen hat, eben diefes Wort wird ihn richten am jüngfte 
Zu dem Worte aljo, das ein Jeder vernommen, fpricht a 
der Richter zu ihm; denn je nachdem die Menfchen das 2 
nehmen und daran glauben oder es von ſich weiſen, 
ſpricht es ihnen ja Seligfeit oder Verdammniß zu. W 
nun näher dieſes Wort? es ift das allgemein einladende, 
berufende, welches er auf die mannichfaltigfte Weife ur 
verfchiedenften Geftalt ausgefprochen, fowohl wenn er fi 
über fein Verhältniß zu den Menſchen, als in einzeln 
rungen, das Wort, daß Alle zu ihm fommen, um ihn 
meln, an ihn fih anfdliegen ſollen, daß er gefommen 
Welt das Leben zu geben; es iſt im Zufammenhang die 
das Wort, welches er kurz vorher noch hier geredet: &r 
xeövov 16 pas Ev Öuiv soriv, neginareire Zus 
Eyere, bva ur) oxorla Önäs xaralaßpn; B. 46: &yo 
zo» x0owov Enjlude x. v. A; dieſes Wort wird ein 
richten, d. 5: er wird es erfennen, erfahren, daß er ebe 
de8 Fichte des Lebens beraubt wird, weil er fid) nicht 
zugewendet, daß er eben darıım an der GSeligfeit feinen 5 
Das fagte der Herr, ald er im Begriff war, fein öffentfi 
zu beſchließen, als fein einladendes Wort au die große I 
Menjchen nicht mehr ergehen fonnte. War aber das U 
er redete, das göttliche Wort, fo war es ein umvergäng! 
nicht an den Augenblict gebunden, nicht gebunden an feine 
im Fleiſch, fondern. wie e8 einmal in die Welt gefommen, 
es nicht wieder aus derfelben verſchwinden. Als er die ( 
laſſen, wurde daſſelbe Wort verfündigt durd den Mu 
Zünger, und nod) immer ergeht es an Alfe, und denen, di 
nehmen ımd vernommen haben, fteht es immer wieder zi 
und wenn fie das Ohr ihrer Seele öffnen wollen, wird e 
Innere derjelben dringen und das rettende jeligmachende ‘ 
Erföfung in ihnen beginnen: 6 dd dderav dus xal um 





Über ben Begriff der zgiaıs bei Johannes. 265 


6juard mov &yes vov xglvovra avrov; die um Aauı- 
; find alfo diejenigen, die fi in offenen und entfchiedenen 
ich gegen dafjelbe fegen, die, weil fie „Arges thun, nicht‘ 
icht kommen“ und das Licht nicht wollen an ſich fommen 
leichwohl tragen fie in dem Worte, wie wenig ihnen 
n zu Ohren gefommen, wie wenig es auch in ihr Herz 
fein mag, ihr Gericht in fih. Iſt es einmal in die 
Menſchen gelangt, fo kann e8 nicht anders fein, als daß 
r unauslöfchliher Funke in ihr brennt und nicht aufhört 
ı und zu ftrafen, zu überführen und zu richten und wenn 
icht eine Zeit lang unterdrückt, endlich zur „Flamme der 
niß auflodern ober ein „Gericht: des Todes zum Tode“ 
ird ). 
on dieſen entſchiedenen Verächtern des Wortes, die ſich 
eiſe fein Gericht zuziehen müſſen, bis zu Denjenigen, die 
nem Sinn einer Verachtung ſchuldig machen, gibt es noch 
Zwifchenftufen Solcher, denen das Wort, wenngleich in 
em Grade, nicht zur Rechtfertigung, fondern zur xgioss, 
theilung gereichen muß. Sohannes berichtet nämlich Kurz 


Schulz, Die dogmatifche Bedeutung der neuteſtamentl. Anſchauung 
oppelten Auferftehung, in: Jahrbücher fir deutiche Theologie 1867, 
2: „...in jedem Fall aber muß ſich in jeder menſchlichen Perfön- 
Leben oder Tod auswirken: das Leben kann ſich für die Menfchen 
ı Zufammenhang mit dem gottmenfchlichen Leben, mit Chrifto aus- 
— der Tod wird fich nicht eher quswirken nad, Gottes Gnade, 
8 die Freiheit der Creatur das Heil fr immer von fi geftoßen 
damit den Ungläubigen gleich gemacht hat. Die allgemeine. xgiaıs 
ganze Menſchheit ift gegeben, wenn bei Todten und Lebenden die 
Hung vollendet ift — wenn in deu verſchiedenen Nichtgläubigen das 
Chrifti oder das Leben der Welt das allein herrſchende geworden .. . 
Gericht geht aus von Chrifto und den Seinen, Denn an dem 
jen Leben, wie e8 menſchlich geworden ift und fich entfaltet Hat in 
ille der Individuen, muß ſich offenbaren, ob ein menſchliches Leben 
ttliche Leben des domos, weldier vergeht, in ſich trägt. Nur mer 
Leben im fih trägt, hat im menſchlichen Leben das göttliche. Es 
ich ſchliehlich nur darum Handeln, ob fid) an der Perſönlichteit Jeſu 
und der Seinen bie Lebensrichtung des Einzelnen als eine berfelben 
mote oder abgemandte erweiſt.“ J 


266 Groos 


vorher: Öumg uevros 8x Tv doxövrem moAlol Eniorev 
avrov‘ dAld. die Todg Yagıcalovs ovy WuoAsyovv 
'anoovrayayoı yEvayıaı Tyanmnoav ydg ımv dökar ı 
Yonnwv uälkov Tree ınv dögav tod Feod; es glaub 
an ihn, ihr Inneres konnte diefem Menfchen, der gewaltig 
und ji in Allem, was er redete und that, als den darſt: 
mit dem Geifte Gottes gefalbt war, eine gewiffe gläubi 
fenntnig nicht verfagen, aber die Furcht vor weltlichem 
und zeitlihem Nachtheil Hielt fie zurück, ihren Glauben: zu | 
fie waren zwar feine ausgefprochene Verächter des Herrn ui 
Wortes, aber fo lange fie in feiger Zurückhaltung ve 
konnten auch fie von jener Verachtung nicht freigefprocher 
und im Licht des göttlichen Wortes mußten fie fich ſelbſt 
theil ſprechen; auch auf fie alfo findet jenes xgiveiv j 
wenbung, vollends aber auf alle Diejenigen, die fi fo ı 
eine folhe Stellung zu Chrifto und feinem Wort anuehn 
wäre das ewige Wort nicht Fleifch geworden, als wäre 

in die Welt gefommen, der ausdrücklich erklärt, er fei | 
der Welt, er fei dazu geboren und in die Welt gekommen, 
Wahrheit zu zeugen, und der Bater habe ihm Macht gege 
alles Fleifh und Niemand komme zum-Bater als durch il 
überfehen kann er ja nicht werden; haben fie alſo feiner 
nicht die Aufmerkſamkeit und Beachtung geſchenkt, die es 
ſpruch nimmt, fo tragen aud fie das Urtheil in fich, | 
und fein Wort verachtet zu haben, und wenn fie in fold 
achtung beharren, wird das Wort ihnen zum zaraxgına 

am jüngften Tage. Worauf gründet ſich nun diefes Ger 
inwiefern ift es eim gerechtes? Gehen wir zurüd auf 5 
Steht der Meffias nad ‚5, 22 einmal als der gottgefandte 
da und beginnt mit feinem Wirken ein doppeltes Gericht, 
einen Seite zum, höhern Leben, vön der anderen Seite zu 
derben, fo folgt ja, und Jeſus erklärt es auf das Beſt 
V. 24, örı 6 10V Aöyov mov dxoiwv xal niorevwv re 
Yavrl us !yeı Lonv alavıov xai eis xgloıw oux E 
invofoirt aber das Hören und Annehmen des Worts den ( 
an Jeſu göttliche Sendung als Mittler, Tann eins das 


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268 Groos 


auf das Wort, das er redet, eben weil er nur das rede, 

vom Vater gehört habe. Darum will und fordert er, 

Menſchen vor allen Dingen zuerſt auf fein Wort achten | 
die Juden einft fragen „wer bift du“, ba erwidert er: „erft 
der ich mit euch rede“, denn er vede aus Gott, mit feinen 
gelalbt. Kennt aber, wie Chriftus fagt, Niemand den Ba 
der Sohn und wen es der Sohn will offenbaren, fo gibt 
feinen anderen Glauben an Gott den Vater, als den, zu 
die Menſchen durch Vermittlung des Sohnes gelangen. 
der einzige Glaube an Gott, der zur Gemeinſchaft mit ihr 
vom Gericht errettet, der einzige Glaube, von dem gejagt 
fan, daß der Menſch in ihm das ewige Leben habe. W 
der Apojtel Jeſu Ehrifti von einem Glauben redet an © 
auch die Teufel hätten, aber fie zitterten, fo ift das eben der 
der das Leben nicht zu geben im Stande ijt, in welchem 
welchem vielmehr der Tod haftet, die Unfeligkeit, die im 
des Gerichts erjcheint. ragen wir aber, was liegt zwifchen 
zwifchen folhem Glauben und dem Glauben an den Vater, 
den, der feinen Sohn gefandt in die Welt, auf daß die We 
ihn felig werde, fo müffen wir fagen: nichts Anderes, a 
unfelige Schwanfen des menfhlichen Herzens zwifchen dem 
und Unglauben, in welchem das ewige Leben nicht ift. Der 
an Gott als den Urheber und gewaltigen Regierer der W 
alfein kann das Herz des Menfchen nicht felig machen; de 
jenige, was der Keim, die Wurzel und der Quell der U: 
ift und darum dem Gericht verfallen muß, verſchwindet dat 
Nur alfo, wenn die Menjchen ihm erkennen und an ihn 
als an Denjenigen, der auch der Unfeligfeit ein Ende mac 
dann ift in dem Glauben an ihn das ewige Leben, und a 
andere Weife fonnte und wollte Gott diefe Unſeligkeit a 
als indem er feinen Sohn in die Welt fandte, daß, wer 
‚glaube, nicht gerichtet würde, nicht verforen werde. Und au) 
andere Weife gelangen die Menfchen zu folhem Glauben an 

Bater, der feinen Sohn gefandt hat, als wenn fie das Wort des 
hören. Darum fonnte er fagen, wer fein Wort höre, es ni 
achte, der habe da8 ewige Leben und komme nicht in das 





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270 Groo8 


an, ober ift Beides im chriſtlichen Bewußtſein fo ineinand 
der Chrift in demfelben Verhältniß, in welchem er das 
Gottesbewußtfein hat, auch das ewige Leben hat?“ Baur 
wortet die Frage, wie ſich erwarten läßt, dahin, daß unftrei 
Letztere die Lehre des Evangeliums Johannis fei und d 
darin erft vollends die hohe Eigenthümlichkeit feiner Anſche 
weife aufgeht; es gebe überhaupt feine das Jenſeits umd de 
feits trennende Kluft; das ewige Reben jei aus der Aeußt 
eines nur fünftigen Zuftandes in die Innerlichkeit der Ge 
verlegt; ift aber die Zufunft der Gegenwart immanent, fi 
ineinander, fo dürfe die Ejchatologie nichts enthalten, was ni 
diene, beide auseinander zu halten. Die Auferftehuug fäl 
in das diefjeitige Leben und ber Zeitpunkt der Auferftehung 
der des Gerichts, aber. auch das Gericht wird nach Baur’ 
vom Evangelium ebenfo aus der Zukunft in die‘ Gegenwart 
Wir müffen geftehen, daß wir vergebens nad; feften Anhalte 
für eine foldhe Behauptung uns umgefehen; es ſcheint un 
eine folche Annahme gerade „die hohe Eigenthümlichteit“ ber 
neifhen Anſchauungsweiſe in ihrem innerften Kerne verlı 
afterirt, und die ganze Conftruction erfcheint uns verſchober 
die Vorftellung einer doppelten Auferjtehung? Bei Johan 
rade könnte man, dinft uns, am allerwenigiten eine ſolche 
feln *). Joh. 5, 28. 29 ſcheint mit feiner Annahme einer 
a) Bol. Schulz a. a. O., S.126, und Weiß, S. 187: „Wenn 
deutlich die Vorſtellung einer noch zufünftigen Auferweckung Tiegt, | 

fid) daran V. 29 durch die Vorftellung einer doppelten Auferftehun 

das Schiefal der Menſchen endgültig entſcheidet und fomit zu de 
Endgericht überleitet ..... Es iſt Mar, daß aus Allem bie 

das Geringfte gegen die Borftellung von einem Endgericht im ei 
Sinn folgt. Will man and darauf den Sag anwenden, daß der‘ 
nicht in das Gericht fommt, fo Hat das fein gutes Recht, infofe 
Zuverficht, mit der der Gläubige dem Gerichtstag entgegenficht 

4. 17) ihn völlig über die Situation. im welcher noch eine doppe 
ſcheidung für ihm möglich ift, Hinauahebt. Aber diefes Gericht a 
Tage bleibt darum doch ein ganz anderes als das ſchon gegen 
denn bei diefem hängt Alles vom Glauben ab, bei jenem vom pe 


aeg.“ 





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272 ‚ .  Groos 


‚nur bie dee eines fehon gegenwärtigen Gerichts eine © 
oder wenigften® von weſentlicher Bedeutung ift *). 

Mit Berufung auf Joh. 3, 19—21 und 1, 12. 13 | 
endlich, wie ſchon erwähnt, im Evangelium die Grundan 
von einem „ethiſchen Dualismus“ finden wollen (Georg 
Tubing. Jahrb. und Andere, fo bejonders Hilgenfeld a. 
eine Annahme, die, wäre fie irgend ftichhaltig, allen efchate 
teleologiſchen Momenten, namentlich aber dem Begriff dei 
die Spige abbrechen würde. In der That behauptet m 
johanneifche Evangelium habe eine dem gnoſtiſchen Dualisn 
analoge Weltanficht; die Xehre von einer Verfchiedenheit der 
lichen Natur im Johannes fünne nur dann geleugnet werd 
man den Muth Habe, alle diejenigen Stellen, die den Gege 
Guten und Böfen, des Lichts und der Finſterniß in feine 
Schärfe darftellen, das verfchiedene Verhalten der Menſche 
über der hriftlichen Offenbarung auf eine objectiv begründ 
wenbigfeit zurüdführen, einen principiellen Unterfchied vi 
herein in der menſchlichen Natur. Hinwegzuerffären. Nur 
ftellung einer von entgegengefegten Principien herrührenden ı 
lichen Verfchiedenheit der menſchlichen Naturen laſſen ſich 
drüde des Evangeliums einreihen, in welchen von dem | 
unter den Menjchen die Rede ift.. Indem man dann ı 
hiermit geſetzte Verſchiedenheit der menſchlichen Naturen 
Eonfequenzen auffaßte, wollte man auch dem Yohannes-Ev 
diefelbe Dreiheit der Principien zujchreiben, auf welche ! 
ftifer ihren Dualismus zurüdführen. Es ift hier nicht 
auf die Widerlegung diefer wunderlichen Hypotheſe näh: 
gehen. Wir haben vergebens nad) einem Schein von We 
fichfeit gefucht. Eine principielle Verfchiedenheit der Menf 
fi in feiner Weife aus irgend einer Schriftftelle debuc 
Berfchiedenheit des Verhaltens aber gegenüber der ihnen | 
und nahegetretenen Offenbarung zu erflären, müſſen wir 


a) Der Gegenftand iſt zum Theil ausführlich zur Sprache gekomm 
ſchiedenen Auffägen von Zeller, Plant, Baur, Georgi in 
logiſchen Jahrbuchern von 1842, 1845, 1847, 1848. 


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274 Wahl 


Beziehung zu einander iſt das beſtändig wiederkehrende 
feiner Predigten (S. 91, Z. 24); er ſagt es ausdrüclich, daß 
den eigenthümlichen Act der myſtiſchen Selbſterkenntniß di 
fenntniß Gottes gegeben iſt, welche mit dem realen Beſitzen 
zufammenfällt (S. 382, 30). Dies ijt möglich, weil für i 
Seele der Coincidenzpunktt des Creatürlichen und Göttlic 
(©. 95, 24; 306, 10). Um nun diefe Sdentität Gott 
der Seele zu erflären, muß zunächſt die Stelle aufgezeigt v 
wo in der Gotteslehre Meiſter Echart's die Seele ihren 
wendigen Plag hat. 

Wenn unferem Myſtiker Alles, was da ift, als in beftä 
Fluß erſcheint (S. 514, 29), jo muß es doc einen feiten 
geben, von mo diefer Strom ausgeht und wohin er zurü 
Diefe erfte Sache ift Gott (S. 313, 34; 528, 33). 

Das Erfte muß im Gegenfag gegen das Bedingte um 
das Unvollfommene ftehen, es muß das ſchlechthin fid 2 
mende fein. Daraus folgt für Edart, daß dieſes Abjolut 
was es fei, wieder auch nicht fei.” Er ift darum bemith 
Namen, die es jont gibt, von Gott fern zu halten, felbft de 
drud „Weſen“ (S. 82, 37; 83, 15). Das Abfolute i 
nur feiend, nicht etwas Beſtimmtes feiend, es it „nihi 
(©. 620, 3) *). 

Bei der abjoluten Einfachheit Gottes ala des bloßen „1 
ift aber nicht ftehen zu bleiben, deehalb muß er fi Gott a 
actualifirend denfen, als fi zum abfoluten Proceß erweitert 
zwar indem er feine Indifferenz aufhebt und ſich von fid 
unterfcheidet, indem er fich feiner felbft bewußt wird, denkt. „ 
fagt Echhart, „ift ein lauter Weſen, ein lauter Verftändni 
verfteht ſich felber in ihm felber“ (S. 593, 22). Durd 
Act des Sichfelbftdenfens tritt Gott nothwendig als Subje 


&) Es fol zur Verherrlichung Gottes dienen, wen fo bie Abſolutheit 
in die Verneinung aller pofitiven Beſtimmungen gefet, Gott fo fi 
als der Ueberweſentliche gefaßt wird, daß er nicht ſowohl der Seit 
der Nichtjeiende if. Zu Grunde Tiegt hierbei die platoniſche Trans 
der Gottesidee, die ja auch ben beſtimmenden Gedanken der Theolo 
Dionyfins Areopagita ausmacht. 


über bie Seelenlehte Meifter Echar's. 275 


useinander, als Vater und Sohn (S. 527, 15). Hiermit 
die innergöttliche Selbftentfaltung nod nicht vollendet. 
id Sohn ftehen zueinander in einer Spannung, die nur 
n Willen Beider, zufammen zu jein, was fie find, aus- 
wird. Diefer Wille ift der heilige Geift (S. 94, 6). 
er Weife ergibt ſich die dreieinige Selbftentfaltung des 
ten Lebens in Gott mit Nothwendigfeit. 
je, dem orthodoxen Syſteme angepaßte Eonftruction der 
fließt fi) aber bei unferem Meifter die Schöpfung 
ft nur felten und weniger zu feinem Syjtem ftimmend 
498, 10; 391, 15; 529, 17; 513, 1; 496, 4). Sie 
h häufiger aus einer anderen Gedanfenwendung. Es wird 
ein Zwiefaches geſetzt, Weſen und Wiederfehen. „Nach 
efen ficht Gott nichts Anderes, denn in fein bloßes Weſen 
jet fich felber da innen nach aller feiner Kraft, und da 
ſich blos ohue den Sohn und ohne den heiligen Geiſt 
et da nichts als Einigkeit ſeines ſelben Weſens“ (S. 608, 9). 
väre aljo in Gott ewiger Stillftand, ewige BVetrachtung 
bit in unendliher Eintönigfeit. Hierbei verzehrte fich die 
Potenz in fih felbft. Darum muß in Gott eine Bes 
jedacht werden, die ihn aus ji Heraustreten läßt, und 
eine Minne (S. 272, 31; 145, 17; 145, 35). Minne 
r nur da fein, wo fie Gleiches findet (S. 196, 24). 
findet nun Gott, indem er fi wieder ſetzt in der Geburt 
nes, der ewig it wie Gott, da die Minneluft Gottes als 
rünglic innemohnend gedad;t wird und da fie niemals 
fan. Damit wäre jedodh das Weſen der Güte nicht 
Ahr Eigenthümliches ift ja, daß fie anderen Weſen 
e mittheilen, fie ſich gleih maden muß (S. 196, 24). 
mt es aber zu diefen? Dadurch, daß mit diefer ethiſchen 
{heit der Liebe zugleich in Gott ein Verendlihungstrieb 
; Gott muß nicht blos altes Das fein, was ift, fondern 
alles Das werden, was nicht ift. Sobald als Gott ſich 
t in dem Sohne, hat er auch damit alle Dinge gefegt 
, 22; 528, 40); aber er läßt diefelben erft allmählich 
ität fommen dadurch, daß er zeitlich auseinander treten 





276 Baht 


fäßt, was ewig in ihm egiftirte. Nur fo ift die Herſtellun 
Organismus niöglic, der im Verlauf feiner Entwidlung ni 
Gott ift, fondern nur approximativ ſich ihm nähert. Desf 
zeichnet unfer Myſtiker die Schöpfung der Welt am Lieb 
dem Ausdrud „Ausfliegen“ und vergleicht diefelbe fehr ani 
mit concentrifhen Kreifen im Waffer, von denen immer ei 
andern erregt, nachdem zuerjt durch einen Wurf die Di 
begonnen worden ift (S. 165, 15; 98, 38). Wie ei 
durch den andern hervorgebradht wird, fo entfteht eine Schö 
fphäre aus der andern, und er unterfcheidet beſonders eir 
weltliche Engelregion und eine innerweltliche, durch erftere 
telte Exiſtenzweiſe des Geſchaffenen. 

Diefes Creatürliche ift, weil in der Entwicklung begriffen 
Gott, oder, da Gott allein das wahre Etwas ijt, es ift „' 
„Alle Greaturen haben fein Wefen, denn ihr Wefen ſchw 
der Gegenwärtigfeit Gottes“ (S. 136, 23). Während a 
das Gejchaffene an ſich „Nichts“ ift, ift es doch von Gott 
gelegt, daß es fein Wefen aufnehmen kann, d. h. es if 
(©. 250, 21), und zwar find die Geſchöpfe in einer A 

zur Vollkommenheit hin für die Aufnahme des göttlichen 
organifirt (©. 514, 29). Der Menſch iſt die vollko— 
Entfaltung göttlicher Herrlichkeit in creatürlicher Seinsfor 
in ihm das Gottesbewußtfein zum Durchbruch fommt (©. : 
Jedoch auch auf diefer höchſten kosmiſchen Dafeinsftufe ft 
Gottes Wefen zunächſt in feinem Individium voliftändig | 
auch nicht in den vielen Individuen als Gefammtheit betrac 
die Menfchheit in ihnen immerfort in der Entwicklung 
werden muß, alſo nie ein in jich vollendeter Abjchluß, in 
Gottes Wefen fein Genüge fände, ſich herausſtellt. Käi 
zu dieſem göttlichen Emanationsproceß nicht ein anderer Ac 
fo fände nur ein ewiges ſich Entleeren Gottes ftatt, ein 
hörliches Außfliegen Gottes ohne Rückfluß. Deshalb mu 
eingreifen und dem ganzen Schöpfungsfluß eine rücläufige 
gung geben. Da nun das von Gott Gedachte, die Selbi 
virung Gottes, der Sohn, allſogleich ſich in die Welt aufl 
muß in derfelben, wenn fie wieder zu Gott fommen ſoll, 


Daun, Google 


278 Wahl 


irgendwie gehindert wird, da wird die Naturkraft zur 
heruntergebrückt, fpeciell bei der Zeugung wird unter dem 
folder Störung anftatt des Mannes ein Weib. Damit wi 
au Ende, die Natur brächte es nicht weiter und müßte ruh 
das Leben nicht aufhören zu laffen, ift alfo ein neuer Im— 
Seiten Gottes nöthig, und zwar muß diefer da wirken, 
BPaffivität eingetreten ift, im Weibe, fo dag aus ihr dor 
das zeugende Princip hervorgehen fan. Aber noch nad ı 
deren Seite muß Gott mit der Natur cooperiren, damit 
feelter Meuſch werde. Da die Natur Nicht - Gott ift, jo 
es in ihrer unvollendeten Entwicklung nicht zu dem ben 
in fid) vollendeten Gottes bringen, was ja doch die Seele 

fie fäme nicht weiter als bis zum feelenfofen Embryo, : 
feeren Gehäufe. Alſo muß Gott abermals eingreifen und 

in den Körper ſchaffen. Und zwar jegt unfer Myſtiker 
Thomiften dafür einen beftimmten Termin, den vierzigf 
Mit diefem „zeitlofen Nu“, in welhem die Seele im 

hineingeſchaffen wird, ift dann eine geiftfeibliche Vereinig 
geitellt, die gauz unlöslid ift und für die Ewigkeit dau 
(©. 237, 6). 

Aus einem zwiefachen Grunde ift die Seele in dem Leibe 
feits nämlich ift die Seele durch den materiellen Yeib für | 
tut das Mittel, in Gott zurücgenommen zu werden (©. 1 
andernfeits ift die materielle Welt durd) die Leiblichteit, die 
Proceß verflochten ift, für die Seele felbft ein nothwendi 
mient, da diefe ſonſt das, was fie potentia ift, nicht in | 
vität zu fegen vermöchte (S. 264, 14). Um num die 
wirkung zwifchen Gott und Natur in der Seele möglich zu 
find nach Edhart zwei Dreiheiten von Seelenfräften geord 
ſprechend der göttlichen trinitas (S. 319, 40), die einen 
Direction zu Gott hin, die andern mit der Richtung auf 
türlihe. Damit find aber ſogleich zwei Stellen gegeben, 
aus ſich die Lebensbewegung abnorm gejtalten fann, fofern 
die fünf miedern Sinne, die Leibesfinne, unterfchiedlos Gi 
Böfes, wie fie e8 in der Ereatur wahrnehmen, der Seele ; 
und fofern zweitens in der Seele felbft eine Gegenfüglict 


über die Seelenlehre Meifter Echart's. 279 


wo die auf Gott gewandten und die.auf die Ereatur ger 
Kräfte concurriren. 

chten wir zunächft die niedern Kräfte. Die Aufgabe 
: muß, foweit fie der Welt zugewendet ift, im Allgemeinen 
1: den Stoff, welchen die leiblichen Sinne zuführen, fo zu 
, daß er wahrhaft mit ihr verſchmolzen, in den religiös- 
Proceß der. Gotteinung mit aufgenommen werden fann 
‚39; 183, 7). Hiermit, mit dem Verflochtenſein der 
die Welt, tritt die Möglichkeit der Sünde ein, deun 
örtliche und zeitliche Vertheilung der Dinge entftehen Ger 
d. 5. eine Auflöfung des einheitlich Seienden, „wo das 
Weſen ift“. Zu dieſen „Widerfagungen“ gehört unferem 
um auch das Böfe, die Sünde, welde er als zn) 6v faßt 
6; 327, 17). Es ift die Sünde eine privatio boni, 
richt Wefen, fondern fie beraubet Weſen“ (S. 613, 3). 
alle Eindrücke, welche die unvollendete, in der Entwidlung 
auseinander Haffende Welt auf die fünf Sinne macht, 
tichied den niedern Seelenkräften mitgetheilt werden, jo 
diefe charakteriftifh fein das Schwanken und Wählen 
Sutem und Böjem, Leiden durch das phyſiſch Mächtige, 
he Unvollfommene, was ihnen zugeführt wird (©. 356, 35). 
8 ganz platonifch gedadht, daß die Seele, da fie mit 
verbunden ift, auch Theil erhalten muß an den Berner 
id Veränderungen des Yeibes. Dadurch ift fie dem Vers 
zugewendet und kann fi nur durch beftändiges Zuftrö- 
ten, fie bedarf immer Neues und begehrt dies ihrer Er- 
egen. Daher nennt Plato den niedrigften Beſtandtheil 
das Begehrliche, EriYvpmeixöv. Ohne Zweifel ift dies 
vas Meijter Chart mit „gerung‘“, concupiscibilis, be- 
5. 383, 10). „Was das Auge fieht und das Ohr Hört, 
fie zu Hand . 
„gerunge“, man fönnte fagen dem finnlichen Ber- 
effen Eigenthümliches es ift, mur zu haben, jedes Ding 
als einzelnes. Die „gerunge “ ift alfo weſentlich dazu 
en Stoff zu ordnen. „Sites dann eine geordnete Sache, 
ie es jofort der andern, die heißet . 

19* 





280 Wahl 


2) eine „betrahtung‘“ (©. 383, 14). Diejelbe 
telnde Stellung, welche Plato die dämonifche Kraft, den 
einnehmen läßt, indem diefelbe das Sterbliche und das 
in der Seele, das Begehrliche und die Vernunft verbind 
unfer Myſtiker der .„‚betrahtung“ zu, die er auch z 
iraseibilis nennt. Wir erinnern uns hierbei, daß Plat 
zweiten Theil der Seele als eigenthümlich alle die Thätigk 
legt, welche Beſtrebungen zur Handlung und zur Verw 
der in der Seele angelegten Begehrungen (zürnerin, etı 
Eifer), oder vernünftigen Ideen enthalten (betrahtunge 
Ivnös ift jedoch ohne das Göttliche der Vernunft zu de 
hat nur die Beſtimmung, der Vernunft als Helfer zu dier 
die finnlichen Begierde. -Erfahrungsmäßig ift dem Plato 
daß diefe zweite Kraft der Seele oftmals fi auflehue | 
finnlie Begierde und im Streite der Seele mit ſich 
Partei der Vernunft ergreife. Diefer. Erfahrung fi) anf 
mag auch unfer Meiter feine zürnerin zuweilen gerade; 
nunft“ nennen. Ebenſoſehr fteht aber dem griechiſchen Pf 
feit, daß Eifer und Muth etwas Untergeordnetes iſt, auc 
Kindern, felbjt in den Thieren ſich zeigt, und daß auch 
gebildeten Menjchen dev Muth fich oft fortreißen läßt oh 
denfen über das Bejjere und Schlechtere und dann von 
nunft geftraft wird. Dieſe 

3) „Vernunft“ iſt alfo eine von den andern gefonder 
etwa die Mare Ueberlegung. Sie Heißt bei unferm Mei 
„bescheidenheit‘‘, weil fie weiß, was ſich gebührt, ober 
licheit *, welches Wort befanntlid) im MHD. denfelben ©: 

Diefe drei genannten niedern Kräfte der Seele find 
Natur, der Ereatur, zugewandt, von den drei höheren Kräf 
es aber ausdrücklich, daß fie Gott zugefehrr find. Hier 
"ein Gegenfaß in der ‘Seele, der von ihr jelbft nach den i 
thümlichen Kräften nicht überwunden werden kaun, dem die 

* heiten höherer und niederer Vermögen haben verfchiedene 3 
nad) oben und nad) unten. Um diefe Kluft zu überbrücke 
etwas Drittes hinzukommen, wodurd die obern Kräfte 
niedern verbunden und mit ihnen in Harmonie gejtellt 


Über bie Seelenlehre Meifter Echart's. 281 


Ein ſolches ſoll nach einer Stelle (S. 397, 26) auch gleich bei 
dr Schöpfung des erften Menſchen vorhanden gewejen fein, alſo, 
um fholaftifch zu veden, ein donum supernaturale, welches fo- 
mohl die Leiblichkeit ſtets normal erhielt, Unfterblichkeit wirkte, als 
ad) eine göttliche Einwirkung auf die höheren Kräfte den niedern 
sermittelte, fo daß auch fie dem göttlichen Lebensfluß von oben her 
kin Hinderniß entgegenftelfen konnten. Hier ift ein offenbarer 
Biderfpruch in Meifter Eckhart's Vorträgen. Einmal nämlich be» 
went er ſich der Firchlichen Lehre von der justitia originalis an, 
wit öfter aber läßt er diefen Zwiefpalt nothwendig durch die 
Schöpfung gefegt fein. Er faßt dann die Sünde als für. den 
Neſchen fubjectiv nothwendig, als Entwicklungsmoment des Geiftes; 
wer wird leugnen, daß dies für fein Syſtem das Conſequente 
in Er beruft fich dann darauf, daß dem Menfchen zur Heraus» 
fing der Sittlichkeit, des jelbftbewußten Willens, die Ueberwins 
hung eines Hindernifjes, welches in ihm felbft Liegt, nothwendig 
R, und daß eben in diefer Nothwendigkeit der fündigen Neigung 
"leih mit der Anlage zur Spontaneität der Unterfchied des gott- 
denbildlichen Menſchen von der bemwußtlofen und darum nicht-fitt- 
den Natur begründet liegt (S. 551, 34). Es iſt damit keines⸗ 
98 die Sünde felbft entfehuldbar gemacht, denn die Neigung dazu 
tja eben zugleich mit dem Willen des Menfchen da. Wer alfo 
ittlich zur Sünde kommt, der kommt dazu durch feine Schuld 
5. 551, 33). Und wenn aud der Menſch, weil er in das Na— 
Irfiche verflochten ift, als nothwendig fündigend gedacht werben 
nß, fo Hindert doc nichts, ihm zugleich die Sünde beftändig über» 
indend zu denken, fo daß die Befiegung der Sünde troß jeder 
glichen Niederlage das Charakteriftifche für ihn werden Tann, 
xshalb fagt Edhart: „Sünden haben gethan ift nit Sünde, ob 
t leid find. Gott ift ein Gut der Gegenwärtigfeit: wie er dich 
ndet, fo nimmt er di und empfängt did), nicht was du gemefen 
ft, fondern was du jegt bift.* (©. 557, 21.) 

Es entfteht num aber das Bedürfniß, genauer nachzuſehen, mie 
e Sünde im Menfchen von Seiten Gottes überwunden werden 
m, eine Frage, welche für den Myſtiker unendlich wichtiger ift, 
6 die andere, inwieweit die Selbftthätigfeit des Menſchen dabei 


282 Wahl 


in Betracht komme, inwiefern Spontaneität vorhanden fi 
müffen zunächſt allgemeinen Gedanken Meiſter Eckhart's 
„Es iſt eine Kraft in der Seele, und nicht allein ei 
mehr, Wefen, und nicht allein Wefen, mehr, es löfet W 
die ijt fo lauter und fo hoch und fo edel in ihr felber, | 
nicht mag feine Ereatur, fondern Gott allein, der wohn 
(S. 258, 18; vgl. 4, 26; 5, 1; 63, 28). Ge 
hiernach “in der Seele felbft ein Coincidenzpunkt göttl 
menfchlihen Weſens gegeben, von wo aus der Menſch 
werden ann. Eben darum , weil hier Göttliches und J 
Greatürliche® auf einer Achſe fteht, fo iſt diefe Seine 
Creatur überhaupt nicht unter einen Ausdrud, der eine | 
Exiftenzform bezeichnet, zu bringen, fondern auf Seiten 
dies der Ort, wo er feine Natur wieder fegt, auf € 
Deenfchen der Ort, wo das Wefen feiner felbft ruht, di 
heit (S. 56, 13), welde die Fülle aller .concreten Exfd 
wie fie ſich in der gefchichtfichen Entwidlung der Welt 
mögen, in ſich ſchließt. Diejer Mifrofosmus im Menfd) 
faltet wie er ift, ift eben darum „einig“ (nicht etwa ı 
teres unterfchiedlo8 eins) mit Gott, denn Alles, was fid 
in die Entwidlung und Bewegung, in Zeitlichkeit und Ri 
ſich vertheilt, ift dadurch befhränft, „in der Entwicklung 
fchied der Kräfte“. Alles Unvollfommene muß aber Go: 
fein; foll .alfo eine Gongruenz mit Gott in der Seele | 
fo muß hier weder ſchon eine Selbftthätigfeit Gottes, « 
gehen feiner jelbft in die Entwicklung fein (Stille, S 
noch darf die Seele felbft da ſchon fchöpferiihe Moment 
entwideln, fie muß „unschepfelich jein, eine einfäftige ( 
Unbeweglichteit· (S. 484, 30; 193, 16). Alfo die € 
von Gott nur vollftändig durddrungen, infoweit fie nod) 
der abſtrakten Allgemeinheit ihres Begriffes herausge 
EG. 135, 29): umgefehrt empfängt die Seele Gott au 
feiner unentwidelten Allgemeinheit ohne allen öfonomifch 
ſchied, mit ihm aber folder Weife den Herd'alles Leb 
(©. 313, 13; 46, 34). Dieſes Sichzurücdnehmen © 
des Menschen in ihren ewigen Naturgrund, wo alle Se 


über bie Seelenlehre Meifter Echart's. 288 


feime fiegen (©. 59, 16), nennt unfer Meifter die Geburt des 
Sohnes. „Geht dein Selbft allzumal aus durd Gott, fo geht 
Gott des Seinen allzumal aus durch di. Da diefe zwei aus— 
gehen, was da bleibt, das ift ein einfältiges Ein. In diefem Ein 
gebiert der Vater feinen Sohn in der innerften Quelle“ (S.142, 34). 
Den Punkt, wo Gottgeitliches und Menfchheitliches zufammenfallen, 
nennt Echart mit verfchiedenen Namen: Hütte bes Geiftes (S. 46, 7), 
&iht (S. 193, 16), Fünkfein, aud) wohl die gewissen (S.383, 24); 
foll er aber ohne Bild davon reden, jo nennt er es „ein Was, 
das ift höher über dies und das, als der Himmel über ber Erde“. 
„Cs ift von allen Namen frei und von allen Formen ‚blos, ledig 
md frei zumal.“ Diefes Gebären des Sohnes in der Seele ift 
an aber nichts Anderes, als nur das immer wiederholte Selbft« 
Ihnen Gottes, welches vorher als ein immanenter Act Gottes 
aht wurde (S. 205, 7). In derſelben Weiſe, wie Gott der 
Kater ein vollfommenes Einfehen in fich felber hat, gebiert er feinen 
Eon in der Seele Grund; und es ift dies Eingebären die ewig 
nothwendige Selbfterhaltung Gottes in dem Strudel der Mannich- 
faltigket (S. 44, 23). Gott gebiert fih in jedem Menfchen mit 
Natutnothwendigkeit (S. 60, 16); fein Wefen ift es, ſich ſolcher⸗ 
geftalt in der menſchlichen Seele zu fegen (S. 145, 35). Um- 
gefehrt ift jeder Menfch auf die Gottfohnfchaft angelegt und kann 
derfelben nicht derfuftig gehen, auch der Verdammte in der Hölle 
hat dieſen Keim- und Quellpunkt der Sefigkeit noch (©. 113, 34; 
11, 30), weil er ja mit dem zufammenfällt, was ihm feine Exiftenz 
nod erhält, mit feinem allgemeinſten Wefen, das Gott bejtändig 
in ihm fett. 

Hier erklärt fi) nun, wie von Gott aus.die Sünde über 
bunden werden kann, indem. nämlich non dem Univerfellen der 
Seele jeder einzelnen Kraft, insbejondere der Dreizahl der niedern 
Kräfte ein Ueberſchuß zukommt, der ihrer Schwäche aufhilft. Es 
lann auf. diefe Weife ein Strom göttlichen Lebens von den oberften 
Sinnen in die niederften und von da in den äußern Menjchen ges 
fangen,.. der ihm befreit von dem fündeerregenden Einfluß der Zeit⸗ 
fihfeit und Mannichfaltigfeit. 

Es ‚erhebt ſich aber jegt eine andere Frage, auf die Meifter 





284 Wahl 


Eckhart ſelbſt führt: Wenn nämlich der Grund der Natur in 
Menſchen gleich ift, fo müßte ja von hier aus Gott in alle 
Gfeihe, aljo die Vergottung wirfen? Darauf antwortet e 
neinend, indem er von dem Sünder fagt, er fünne das gi 
Licht nicht empfangen, welches von diefer Geburt „fi au 
und in die Kräfte überflieget“, noch wäre er feiner würdig 
er mit Sünde und Bosheit erfüllt fei (S. 11, 32). Er 
alfo doch eine Spontaneität in die Seele legen, wonach fie fi 
göttlichen Impuls im ihr auch nichtwollend entgegenfegen 
Ausdrücklich jagt er (S. 453, 5), Gott Habe uns unfern 
Willen gegeben, daß wir mögen thun das Beſte und lafl 
Aergfte. Diefer freie Wille fann in den niedern Kräften 
Tiegen, da diefe überhaupt noch in das um 6% verflochten fi 
muß vielmehr, wenn irgendwo, in den höheren Kräften, von 
er ferner redet, zw finden fein. Wir gehen deshalb zunäd 
diefe über, um den Proceß des von dem gottmenſchlichen C 
punfte wirkenden Lebens zu befchreiben. 

Die drei höheren Kräfte find fonderlich ein Bild di 
ligen Dreifaltigteit, fte heißen gehügede (gehügnisse), ver 
nisse ober vernunft und der wille (frie wille) (S. 383 
und werden zufammengefaßt unter dem Namen muot (S. 35° 
Was die niedern Sinne verarbeitet und vorgearbeitet haben 
wird von den höheren, geiftigeren Kräften ergriffen, nadd 
Kluft zwiſchen den beiden Dreiheiten der Seelenfräfte dun 
über alle Seelenfräfte hinaus wirkende Natur der Seele übe 
ift (S. 383, 18). Der Seele Kraft nimmt, was die ı 
Sinne darbieten, „fonder Gleichniß und fonder Bilde und tr 
auf in die oberften Kräfte“. Yon diefen ift 

1) zu nennen „gehügnisse“, etwa Erinnerung, Einbif 
kraft ꝛc. „Sie ift eine behaltende Kraft alles deſſen, we 
andern Kräfte in fie bringen“ (S. 383, 37). Darum wi 
auch memoria genannt. Was die beiden erften niedern Sin 
getragen, was der dritte gefichtet und geläutert hat, das wir 
diefer erften höheren Kraft feitgehalten. Sie ift nicht un Zei 
Raum gebunden, fondern reproducirt frei und ideal, deshalb 
aud mit der Einbildungsfraft gleich zu fegen (S. 270, 11) 


über die Seelenfehre Meifter Edhart’s. 285 


Die andere höhere Kraft ift 

2) die „verstantnisse‘“, intellectus (©. 383, 39). Zur 
Acht geht ihre Richtung auch auf die geichaffenen Dinge. „Es 
ft jih aus und hört und vernimmt, darum beſcheidet es und 
wret und ſetzet.“ Hierbei wird ihr aber ihre Beſchränktheit, 
terfaupt die creatürliche Begrenztheit offenbar, fie erfennt etwas 
ber fih, was fie nicht zu ergründen vermag. Deshalb aber ges 
ade bahnt ſich auch in biefer zweiten Kraft.ein Umſchwung der 
Sefemfräfte nach Gott zu an, fie ift die „auffriegende Kraft, ira- 
ebilis“. Es ift dies jedoch nicht ander möglich, als wicder durch 
ie „Hilfe“ (S. 384, 17) ®), die von der einheitlichen Natur ber 





a Life „Hilfen“ , welchen wir fchon mehrere Male begegneten, in ihrem 
Aılammenhange machen eigentlich) da® aus, was Edhart mit dem Namen 
‚Snabe“ bezeichnet. Der allgemeine Gedanfe, worauf fich dieſe fuper- 
uturalen Acte inmitten feines pantheiſtiſchen Syſtems gründen, ift der 
E. 327, 37): Das Wefen ber Gnade (d. 5. eben Gott felbft, wie er an 
fd if) kann natürlich in feiner Ereatur fein, deshalb wird die Gnade 
Äbernatürlic; in der Seele Weſen als ein „anefal“ geichaffen, deshalb 
werden auch Glaube und andere göttfiche Tugenden ber Seele übernatürlich 
tingegoffen. Die Notäwendigfeit einer folden Annahme leuchtet ein. Da 
Gott nach Edhart’s emmanatiftifcer Anſchauung in die Welt ſich auflöſt, 
fo muß er, fol er fich nicht unaufhaltſam verenbfichen, biefelbe durch um- 
beichränfte Acte immer wieder in ſich mvfichreifgen. Hat aber die „Gnade“ 
für unfern Muſtiker diefe Bedeutung, fo ergibt fi von felbft, daß er von 
Gnadenmitteln im kirchlichen Sinne nicht veden kann. Ihm kann es 
nicht beikommen, bie irdiſchen Efemente fo Hoch zu achten, daß er an fie 
beionbere göttliche Wirkungen gehnüpft dächte. Sagt er dennoch (S. 380, 16): 
„Die Tanfe ift ein Fundament aller der Heifigkeit und des Heils, fo 
an den Menfchen fallen mag“, fo geht aus dem Zufammenhange Mar 
hervor, daß er fo nur fpricht, um die Berbammung der Juden und Un« 
chriſten (ein für ben gewöhnlichen Berftand feiner Zeit unveräußerliches 
Dogma) nicht aufzugeben. Er hat vorher das Leiden als den reiten Weg 
zum wahren Leben gepriefen; nun kann er das großartig tragifce Ver 
Bängniß des Judenvolkes nicht leugnen, fie Teiden wirklich. Werden fie 
alſo doch nicht felig, fo muß dies daran Tiegen, daß fie die Taufe nicht 
befommen haben. Ebenſo benußt er bie transsubstantiatio, um dadurch 
die Verwandlung der Seele in Gott Mar zu machen (S. 205, 21). Dies 
beweiſt aber nicht, daß diefe Lehre für ihn. Werth Hat. Wenn er auch 
ſogar (©. 334, 12) gegen die ſich ereifert, welche die Brodverwandlung 
nicht glauben, fo ſucht er ſelbſt das Wunder doch nur dadurch begreiffich 


286 Baht 


Seele, von ihrem fpecififch göttlichen Herde ausgeht und 
das Verſtändniß über ſich felbft Hinaus gerifjen wird. D 
heren Zug der Seele nennt unjer Myftiker „ Glaube“ | 
21; dgl. auch ©. 171, 31; 380, 38), und er iſt d 
zwiſchen der zweiten und der dritten Seelenkraft, näm 
„Willen“ (S. 384, 2). Aud dazu muß die Natur 
wieder helfen, daß 

3) der wille diefe göttliche Zvsgyesm, melde im Ve 
angeregt ift, aufzunehmen vermöge, dadurch aber ift er 
in dem die Rüdfehr der Creatur zu Gott in erfter Inſtan, 
Sofern er nur gleichjam eine Yortfegung der zmweiten | 
wird ihm ale erſtes Werk beigelegt 

a) Begehrung (©. 106, 30). In dieſer Begehri 
die zweite Kraft noch nad), und deshalb ijt diejelbe nad) 
Seite hin mehr als der Wille. Aber an fich betracht 
Wille dod) höher, da er direct in Gott eingreift (©. 
Er ift das eigenthümliche ögyavor Annzıxov der Seel 
Göttliche, während die weitere Vermittlung des durch it 
nommenen den übrigen höheren Sinnen, befonders dem Bi 
aufbehalten bleibt. Das zweite Werk des Willens ift da 

b) die Minne (S. 108, 13). Nachdem die Begel 
Seele fo hoch) gehoben Hat, daß fie Gott in feiner Weſenh 
hat, jo kommt fie hier zur Ruhe und zur Freude des 
fie hat nun das. erreicht, worauf fie angelegt ift. Wo aber 


zu machen, daß die Ratur alle Dinge werben kann. Durd; € 
fie ihm wirklich Alles geworden (S. 356, 5), aber freilich m 
fie durch feine Leiblichkeit in die unterfchiedfofe Einheit zurüchen 
An Chrifto iſt jedoch die Leiblichteit nur ein ganz verſchwindende 
wie ſollie deshalb fein verflärter Leib beim Saframente noch eh 
fein können? Das Wort Gottes ferner, :als: die heilige Sch 
wenig ein Gnadenmittel, daß Alles darin einen verborgenen 
ungleich dem ift, was Gott iſt (S. 332, 3). Der Schläffel 
mur durch die unmittelbare Offenbarung im Innern der Ger 
In dem Worte der Predigt wird für ihn darum ganz conſequent 
abgeſchwächt, indem der Prediger ein „Mitwirker Gottes“ ift, | 
Gnade, da fie durch ihn als unvollfommenes Medium geht, ni 
empfangen (6.201, 1). 


über die Seelenlehre Meifter Eckhhart's. 287 


gemacht oder gefunden ift, da ift Minne (S. 196, 35; 197, 7). 
Beide zufammen, Verſtänduiß und Minne, find alfo der fruchtbare 
Schoos, aus welchem das ‚Göttliche in die Greatur hineingeboren 
mird, von hier aus ‚geht? der Proceß göttlichen Lebens, welcher alle 
bezwingend die übrigen Kräfte vergottet und die fündlichen Begeh— 
tungen, welche in die Seele von der Endlichkeit aus eingetragen 
werden, aufhebt. Es erübrigt nur noch eins, nämlich daß zu den 
genannten Kräften, höheren und niedern, in ihrer Gefammtheit hinzu⸗ 
trete die der Seele immanente Lebensenergie, die ihr von ihrem 
Weſen aus zuflicht; diefe „gewissen“ (©. 383, 24) faßt alle 
gräfte in Einigkeit, fo daß fie num unterſchiedlos das find, was 
fe von oben Her durch verfchiedene Acte geworden find (S. 384, 39), 
nd damit ift die Geburt Gottes. in der Seele vollzogen. 
du Beachtenswerthe ift mın, daß Meifter Echart einmal diefes 
Öntgeborenwerden als einen Proceß auffaßt, der ſich von dem 
Filihen Zeben aus (S. 385, 24) durch die feelifchen Kräfte hin- 
durch in die Ewigkeit hinein immer mehr vollendet (S. 386, 29), 
md daß er dann wieder, während die Seele nod) .im Leibe ift, 


fih einen ähnlichen Vorgang als möglich denkt, wonach die Seele. 


über ſich ſelbſt hinaus entzüdt und rudweife in Gott geführt wird 
(2. 50, 12). Dadurch kommt der Menfc aber doch nur in den 
„umberinc ‘ der Ewigkeit, nur zu der höchften Offenbarung Gottes, 
Aber nicht im feine innerfte Natur. Das Hiermit Gemeinte (die 
Ehitafe) wird durch volljtändige Weltentfagung möglich gemacht 
(S. 462, 30). Mit dem Leibe fteht es dann fo (©. 481, 8): 
„Der Leib ift in einer ſtillen Ruhe, daß er feine Bewegung mag 
haben aller feiner, Glieder, denn die oberften Kräfte haben die nie» 
drigften eingeholt und das Wefen der Seele hat die oberjten Kräfte 
fingeführt, und das fteht Alles in einer ſtillen Ruhe.“ 

Die ſich unfer Moftifer diefe Efftafe in einem einzelnen Falle 
denkt, zeigt ums ein Beifpiel in dem Traktat „Schwefter Katrei“ 
(©. 448 f.). Diefe Schmefter, gewiß nur eine ideale Figur, hat 
% durd ihre vollfommene Weltentfagung dahin gebracht, daß fie 
alles Irdiſche vergeffen Hat (S. 462, 30). Dadurd) ift ihre äußere 
Setalt jo verwandelt, daß fie nicht erfannt wird, man häft fie für 
fin Engelweſen (S. 463, 30). Nach den furchtbarſten Kämpfen 


288 Baht 


mit ihrem vergängfihen Theile ift jie endlich fo meit ge 
daß jie zu ihrem Beichtiger fagen fann (©. 465, 1): 
freuet euch mit mir, ic) bin Gott geworden“. Er antworte 
fei Gott gelobet! Geh wieder von allen Leuten in deine 
Dleibeft du Gott, ich gönne dir ihm wohl.“ Sie ift ber 
tiger gehorfam und geht in die Kirche in einen Winkel. „ 
fie dazu, daß fie des vergaß, das je Namen gewann, u 
alfo ſehr gezogen aus ihr felber und aus allen gefchaffenen 
dag man fie aus der Kirche mußte tragen und lag bie 
dritten Tag und hielten fie ſicher für tobt.“ ALS fie endfi 
zu ſich fommt, fragt der Beichtiger: „Haft du Alles, 
willſt?“ Darauf antwortet fie: „Ya, id bin beweret‘“ | 
de8 Meinigen gebracht). Nachdem die Schwefter nun fo d 
Punkt der Gotteinung gefunden hat, ift fie das rechte M 
Natur in Gott zuriczuführen. Deshalb gibt ihr auch de 
tiger den Rath: „Möchteſt du (S. 473, 39) genießen al 
turen, das ſollſt du billig thun, denn welche Greatur du | 
die trägft du auf in ihren Urfprung.“ Sie will aber dave 
wiſſen, fie zieht es vielmehr vor (und das iſt jedenfalls 
Eckhart das Höhere), ein armer Menſch zu bleiben bie in 
Ihm felbft väth fie freilich davon ab und zum richtigen ( 
der Natur, „damit er nicht rafenb werde" (S. 475, 2 
verschließt fi alfo dem Myſtiker Hier doch die Wahrhe 
daß die abfolute Vereinigung mit Gott, welde dur) | 
Abtödtung und durch Weltflucht erreicht werden will, Teichtl 
endet, daß der überfpannte Geiſt in das Gebiet der 3 
Phantaſie Herabfintt. 

Wir haben bis Hierher den Proceß des göttlichen Leben 
Seele dur alle Kräfte hindurch befehrieben, aber nirgends 
ſich ſelbſt beftimmende Freiheit eine Stelle gefunden. 1 
war auch nicht anders zu ‚erwarten, denn wo Freiheit ſ 
muß auch Willkür fein, fo, oder anders zu wollen; dieſe 
ſetzt aber eine relative Selbſtändigkeit voraus, wie ſie unſer 
dem Geſchaffenen nicht zugeſtehen kann. Ihm iſt vielme 
Greatürlihe abſolut bedingt, und auch die Seele, fo lang 
den Weltlauf verflochten iſt, muß deshalb durch irgend etw 





über die Seelenlehre Meifter Edhart’s. 289 


ihr gebunden fein, wäre e8 auch Vernunft, oder Minne (S. 260, 7). 
Nur in dem ganz abjtraft gedachten Urgrund aller Dinge ift für 
Edhart ein Wollen feiner felbft, eine Freiheit möglih. So lange 
die Creatur in dem Urfein latitirt, ift fie allerdings für ſich ſelbſt 
mbefhränft, will fie das, was fie ift. Dies Hört jedoch auf mit 
dem Schöpfungsproceß, damit tritt vielmehr das Wechfelverhäftnig 
dr gegenfeitigen Bedingtheit Gotte® dur die Ereatur und der 
Greatur durch Gott ein,. dabei geht aber ſowohl für Gott wie für 
die Greatur die Freiheit verloren. Bon Freiheit kann nur erft 
dann wieder nach Meifter Eckhart die Rede fein, wenn Gott bie 
Sratur vollfommen in ſich zurücgenommen hat (S. 281,. 20). 
Dennoh muß Eckhart notwendig den Bann feines Determiniss 
at, der ſich zumeilen bis zu den ftarrften Confequenzen verfteigt 
WS. 487, 16; 487, 28), durchbrechen, jobald er auf das 
fitlige Leben, welches eine ‘Folge der Gotteinheit fein joll, 
a ſprechen kommt. Es ift ihm damit ein fo heiliger Ernft, er 
hm fih jo wenig mit einen jelbftlofen Handeln genügen faffen, 
RB er in feinen Predigten Häufig ‚genug Crmahnungen ergehen läßt, 
ronach er annehmen muß, die Seele habe die Fähigkeit, jih in 
ih jelbft zu concentriren (3. B. ©. 454, 40), ſich fo zu vers 
merlihen, daß der Proceß des wahren Lebens in ihr fi voll- 
iehen fan. Die: fittliche Aufgabe, welche er Hiermit dem Menſchen 
lit, nennt er nach der fubjectiven Seite Hin „Ruhe“ (S. 152, 10) 
md erklärt diefelbe durch die mannichfaltigften Bilder. Wie in 
tinem, ruhigem Waffer der Menſch fein Antlig unverftellt fieht, 
9 fann ſich Gott in der ruhenden Seele rein wieberbilden. Dem 
Io ruhenden Menfchen erſcheinen die Dinge nur von ihrer ewigen 
Fit. „Alle Dinge (S. 29, 6) werden dir bei diefer Geburt 
auter Gott, gleichwie einer, der die Sonne lange angeblickt hat, 
ieſelbe überall fieht (S. 29, 6). Er nennt dieſes Aufgehen in 
dort wohl auch ein „Zodtfein" (S. 106, 37), nämlich ein Ab- 
“hiedenfein von allem Weltlichen und Greatürlichen. „Der Erea- 
ar Eigenthümlichkeit ift, daß fie von etwas etwas made, aber 
hettes Eigenthümlichfeit ift, daß er von nichts etwas mache, darum, 
ol Gott etwas in dir, ober mit dir machen, jo mußt du vorher 
u Nichte geworden fein“ (S. 189, 28). Für eine ſolche abger 








290 Bahı 


ſchiedene Seele gibt es nun auch fein Leiden, denn „was de 
leidet durd Gott und Gott allein, das macht er ihm I 
füß“ (S. 45, 35). Der Menſch ſoll deshalb auch u 
weiter bitten, als um Gott, denn in Gott hat er Alles, 
gehrenswerth ift (S. 32, 38). 

Das fittlichereligiöfe Ziel, welches die Seele erreichen 
objectiv da8 wahre Leben. Danach ftreben unbewußt 
wußt alle Menſchen; das wirffiche Leben aber ift Gott 
(S. 204, 4). Dies fol der Menfh haben, nicht bios 
danken oder die Phantafie damit beſchäftigen. Eckhart 
deshalb, der Menſch folle einen „gewesenden‘‘ Got 
(S. 548, 29), Gottes „Iſtigkeit“ folle des Menfchen 
werden (S. 204, 21). Da in Gott allein, ganz ohne 
tur, das wahre Sein ift, fo foll, wer ein Sohn Gotte 
will, ſich felbft verleugnen (S. 197, 17), in feiner Ereat 
(S. 223, 3). Jedes Ding foll er nur fo viel begehren, 
in demfelben wohnt; Gott ift aber nur die reine Weſenh 
foll man an den Dinge. aud nicht dies oder das Gu 
jondern die Güte (S. 197, 21). Wan fol jelbft Gott ni 
um das, was er gibt, fondern um die Güte, die er ift (©. ] 

Ein folches Leben in Gott muß vor Allem demüthig un 
fein (S. 155, 18; 119, 29); der Menſch muß allen Ei 
laffen und trogdem er von dem mächtigſten Begehren | 
ewigen Gute getrieben wird, doch voft aller Leidenfchaftli 
frei Halten (S. 178, 9). Es fordert unfer Meifter eine fa 
Ruhe (S. 182, 9; 41, 32); diefe Ruhe ift aber daı 
feine ftarre, bewegungsloſe, fondern nur frei von niedern 
wie in Gott fein Zorn und feine Betrübniß ift, ſondern 
und Freude (©. 42, 5). 

Die Einheit mit dem göttlichen Wefen ift das hoöchſte 
Menfchen; die Vollziehung derfelben ift die Tugend. 
liche Forderung des Myſtikers geht aber auch noch über di 
hinaus. „Die Tugend foll in mir mejentlid fein, und 
über der Tugend mein Wejen haben“ (S. 182, 31). 

Die wahre Gotteinigung muß zu rechtem Handeln 
Welt treiben. „Gott meint in der Einigkeit der Scha— 


über die Seelenlehre Meifter Edharr's. 291 


frudtbarkeit der Wirkung“ (S. 18, 32). Wenn der Menſch Gott 
sgriffen Bat, der gut ift, fo muß er aud) das mitzutheilen fuchen, 
ns er dadurch geworden ift, denn „gut ift das, was ſich allgemein 
ucht; den Heißen wir einen guten Menſchen, der gemein und nüge 
t (©. 269, 21). Darum ift gerade das Geben und zwar das 
jingeben des Größten und Beſten, was man hat, an Andere ein 
prafteriftiiches Merkmal: bes Guten. So iſt es ja auch bei Gott; 
tine Natur ſchwebet daran, daß er große Dinge gebe (S. 135, 23). 
Inf diefe Weife zeigt unfer Meifter energifcher fogar als die ihm 
adfolgenden Myſtiker aus quietiftiiher Ruhe und Selbtverjunten- 
at hinaus auf das Handeln in der Welt, nur daß er dabei nicht 
tt genug betonen kann, man möge ſich in aller Ungleichheit und 
Amupe der Welt die ewige göttliche Gleichheit des Gemüthes er- 
kim (S. 548, 2). Auf Erfolge, auf Lohn oder Dankbarkeit 
darf der wahrhaft Gute nicht rechnen. Aller Lohnfucht wird die 
Bırzel abgefchnitten, alle Werfgerechtigkeit vernichtet; man ſoll 
Beiigfeit nicht fegen auf ein Thun, man foll fie jegen auf ein 
in, die Werke Heiligen und nicht, fondern wir follen die Werfe 
fligen (©. 546, 22; 190, 19). Lob, jofern es eine Belohnung 
in foll, Tadel, fofern er ungerecht ift, foll den Menſchen nicht 
rühren (S. 106, 19). Was in ber Welt gewirkt wird, foll 
m zu Gottes Ehre gethan werden, nicht um Nunferes Vortheils 
en, ja nicht einmal um der edelften fubjectiven Bedurfniſſe 


ilen, auch nicht wegen der eigenen Seligkeit (vgl. die ganze Pre» 


gt über 2 Moſ. 32, 11, ©. 54ff.). Es fpigt ſich dieſer Pro- 
ft gegen die Lohuſucht jo zu, daß Eckhart überhaupt das Warum 
Am Handeln bejeitigt wiſſen will, denn man joll das Gute aus 
m innerjten Wefen heraus thun, weil man nicht anders fann, 
«il man von Gott dazu getrieben wird (©. 66, 5). Der mit 
ht geeinte Witte iſt es allein, worauf es anfommt, mag er fi 
Alifiren können oder nicht, denn Gottes Zwede müffen ſich un- 
Bingt durchfegen und find in Gottes ewiger Schauung fehon volle 
tacht (S. 56, 40; vgl. 487, 28; 190, 30). Die Kehrfeite 
iervon iſt, daß man äußeres Gut und Befig für nichts achte; vor 
em abjoluten Rechte der Innerlichteit, vor der fchlechthinigen Ger 
undenheit an den göttlichen Centralpunkt find alle äußerlichen Ver— 


292 Wahl 


pflichtungen und alle zufälligen Werke verſchwindend nebe 
Selbſt die ſieben Sacramente (280, 27), die Ponitenzien 
lichen Uebungen, die Kloſtergelübde (S. 340, 30) hindern 
an dem wahrhaftigen innern Leben. Eb läuft alle A 
Eckhart darauf hinaus, daß man fich felbft als an fidh ı 
greift, um dadurd das wahre Sein zu gewinnen, Mo 
göttlichen Tebensprocefjes zu werden. „Wenn wir uns 
fennen wollen, fo follen wir erfennen, daß wir nichts | 
ein Rüftzeug Gottes, daran die Heilige Dreifaltigkeit 
wirfet. Darum follen wir mit Fleiß uns hüten, daß wiı 
hindern feines der Werke, die der hohe Werfmeifter an ur 
will zu feiner Ehre, und follen uns aljo halten, daß das 
ohne Unterfaß bereit fei dem Werkmeifter, feine Werke a 
wirfen.“ 

Es frägt fid endlich zum Schluß diefer Erörterungen, wi 
Chart über den Tod und den Zuftand der GSeee n 
Tode denkt. Schon im Leben der Natur fennt er fein | 
fondern nur ein Aufgehobenwerden in etwas Höheres, n 
nur fo, wie Speife und Trank in Fleiſch und Blut v 
werden. Im Menſchen, dem Mittelpunkt der Schöpfung 
alfe der Vergänglichkeit verfallenen Dinge wieder, indem 
und mit dem Leibe in Geift verwandelt werden, der ( 
Menfchen aber in den erften Urſprung zurüdfließt (S. 1 
473, 39) in einem ewigen Proceß, der eben deshalb, weil 
ift, nie ein vollftändiges "Aufgehen in Gott wird. 

Allerdings muß unfer Myſtiker confequent mit dem % 
allen weiteren Fortgang bedingende Entſcheidung eintrete 
denn da Leib und Seele untrennbar zufammengehören (©. 
und zwar fo, daß beide nur in- und miteinander fich w 
wideln fönnen, der Leib aber durch den Tod der Materie 
und der Einwirkung der Seele jchlechthin entzogen ijt, jo m 
Eintritt des Todes die Stellung der Seele principiell 
(S. 639, 18; 498, 18). Entweder fließt dieſelbe von 
immermehr in Gott, oder fucht immermehr aus ihm | 
treten und fällt dadurch der Vergänglichfeit anheim, wir 
mehr zum Nicht (S. 471, 3; 65, 20). 








über bie Seelenlehre Meifter Echart's. 298 


Verfolgen wir zunächſt genauer den Proceß der Gott abgewandten 
See in ihrer Depravation. Den Böfen denkt fid Eckhart zwar 
ud dem Tode als fich ſtets weiter von Gott entfernend; nie aber 
Immt e8 jo weit, daß er feine Subfiftenz, die er an Gott hat, 
tlöre, ganz gottlos würde und damit ber Vernichtung anheim⸗ 
ie (S. 11, 30). Die Seelen, welche fid mehr und mehr mit 
zatürfihen Dingen bejchäftigt Haben, fo daß diefelben ihr Weſen 
poorden find, geraten nur immer intenfiver in das widerſpruchs 
ple Dafein, Gott als ihre Grundlage nicht entbehren zu können 
mb do in dem an ſich Weſenloſen ihr perfönliches Leben zu führen. 
Dein Zuſtand, nicht etwa einen beftimmten Ort, nennt Edhart 

und vergleicht denfelben in fehr treffender Eremplification 
* eines böswilfigen Verbrechers, der in eines Königs Thurm 
gen gehalten wird (S. 471, 29). „Der Mann ift in des 
Big Hof, denn der Thurm ift ebenfowohl in des Königs Hof, 
Pic Saal, da der König ift mit feinen geliebten Freunden und 
verfteht ihr wohl, daß ihre Weſen ungleich ift.“ Die eigen 
liche Qual des Gottlofen nad) dem Tode befteht alſo darin, 
Ber mit ungöttlicher Lebensrichtung doch fih von Gott nicht 
b8 beeinflußt, fondern gezwungen weiß, daß er mit feinem ganz 
hmägtigen, im eigentlichſten Sinne knechtiſchen Willen von Gottes 
ke übermögendem Willen vollfommen eingeſchränkt und regiert ift. 
Bir fteht es aber mit Denen, bei welden ber Proceß ber Ein« 
ung in Gott während ihres irdiſchen Lebens nicht zu Stande 
bommen ift, trogbem daß ihr Streben auf Gott gerichtet gewefen? 
ind fie von einer weitern Entwidfung ausgeſchloſſen, oder gibt 
für fie noch eine Möglichkeit der Gotteinung? Darauf ant« 
tet Eckhart durch feine dunkle Lehre vom Fegefeuer (vgl. 
471, 37 ff.). Echhart ſcheint hiernad anzunehmen, daß Die- 
igen, welche Hier ein tugendfames Leben in Treue und Liebe 
kren, im Augenblick des Todes durch eine befondere Gnaben- 
tung Gottes den Umſchwung von der Ereatur zu Gott Hin er⸗ 
ren. Gott muß ſich nothwendig über fie erbarmen, „daß ihnen 
zde eine rechte Reue in Minne und in Erfenntniß, daß fie fih 
ben außer ihnen felber und außer allen gejchaffenen Dingen. 
a wird rechte Minne ihr Wefen, alfo, ob fie Länger leben ſollten, 
Vol. Stud. arg. 1868. 20 


204 Wahl 


daß ſie nimmer Gebreſten ſollten üben und Alles das wollt 
wegen rechter Minne, das unfer Herr Chriſtus gelitten 
alle feine geliebten Freunde.“ Es tritt Gott bei ihrem % 
der Grenze von Zeitlichkeit und Ewigkeit, mit feiner dure 
den Macht ein und nimmt in dem Anfang ihres got 
Seine glei) die weitere Entwicklung mit voraus, fo de 
eben deshalb nicht verfinfen läßt in den Zug, der die b 
immer tiefer in die Materie bineinführt. Der Zuftand | 
feuers ift alfo ein Stillftand; weiter ſich entwideln Tan 
bewanbte Seele nicht, fie ift no in die Materie mit ih 
wenn auch nicht in diefem und in organijcher Verbindung 
verflochten, jie befindet fich daher in einem Zuftande des | 
und was fie erhält, ift nur noch die Hoffnung, welde 
gibt. Dadurch wird fie noch an Gott geknüpft, „diefe 
iſt ihr Wefen“. Indem alfo in ihr der Zug nach ober 
wird, bleibt ihr die Möglichkeit, wenn der große Läutern 
der Welt vollendet ift, zugleich mit dem Leibe vergottet 3 
Einfacher zu begreifen ift der Fortgang göttliher €: 
bei der Seele, im welcher es ſchon hier zur wirklichen G 
Sohnes gelommen if. „Die Seele hat ein Fortgehen 
Edelleit in die andere, zu welcher Stunde fie ſcheidet non 
in demſelben Punkte wird ihr geöffnet das ewige Leben u 
Oeffnung wird fie umfangen von einem göttlichen Kid 
dem Befängniffe des göttlichen Lichtes wird fie gezogen 
bildet in Got (S. 386, 29). Jedoch geht die Seele da 
in Gott volllouunen auf, fondern es bleibt ihr das Sell 
. fein. Es gehört nämlich für Edhart zum Begriff eines 
tigen Weſens, „daß es fich verfteht mit ihm felber“. | 
das creatücliche Selbftbewußtfein allerdings dadurch, de 
Erkenntniß des Ewigen in fi aufnimmt, ſich unendlic 
aber es kann nicht überfchlagen in das Selbftbemußtjei 
ohne fich felbft zu vernichten. Deshalb nennt er es 
meifteg Weſen, doß fie ihren Schöpfer nicht durchgrür 
(S. 387, 3). Es tritt hier der nothwendige Selbftw 
der Myſtit offen zu Tage, welcher darin liegt, daß der 
in feiner Gottinnigfeit alles Erentürliche aufheben wöckte, 


Bber die Seclenlchre Meiſter Ccharra. 2% 


fin EntRbnunfehn nicht hingeben Tann, da es fi mit abſoluter 
Gemißpeit als den umendfichen Hoentitätepuntt des Göttlichen und 
Gratürlichen weiß. 

Die es mit dem Leibe ftcht, während die Seele in Gott ein. 
xyangen ift, darüber gibt und eine Stelle aus dem Traftat „Schwefter 
dattei· Auskunft (S. 472, 18). Es foll hier die Entrüdung 
x Johannes erflärt werden als eine Vorausnahme deſſen, was 
Am am jüngften Tage gefcgehen wäre. „Der Leib, der in der 
Isde ſollte zu Nichte geworden fein, der ward verzehret in der Luft, 
ij nichts mehr in Gott kam, als das Wefen des Leibes, das doch 
ir Seele gefolget wäre am dem jüngften Tage. Alfo geſchah 
fen und allen Denen, von denen man faget, daß fie mit Leibe 
Gott find gekommen.“ Abgefehen von den Entrüchwugen, wobei 
vergeiftigte Leib (S. 472, 10) durch eimen göttlichen Allmachts ⸗ 
) ‚eine Hilfe”, der Sphäre des Materiellen entzogen wird, tft 
dies das Schidfal des Leibes, daß er fich zwar in die Materie 
it, foweit er ſtofflich ift, aber aud nur foweit, denn das 
Metihe, was von oben ber, von den höheren Kräften in ihm 

Yugt ift, bleibt zwar gebunden in der Sphäre des Creatutlichen, 
8 dies fi felbft zu feinem von Gott ihm geftedten Endziel ent- 
hielt Hat, wird jedoch beim Abſchluß diefer Weltentwicklung frei 
d vereinigt ſich mit der vorausgeeilten Seele. Der jüngfe Tag 
5. 470, 40), an welchem dies geſchieht, ift nicht als Gerichtstag 
dacht, fonderm nur als Vollendung aller kosmiſchen Entwicklung, 
ken Mittelpunkt die Vergottung der Seele ift.- Es iſt aber dieſe 
hanifche Wiedervereinigung von Seele und Leib zugleich ein Aufe 
hen der Materie im den Geift durch den vergeiftigten Leib. An 
dift diefelbe dann zergangen und zernichtet, aber fie Het, durch 
Leiblichteit des Menſchen aſſimilirt, ihr höheres Dafein gewon- 
1. „Welche Speiſe und Trant der Menſch empfängt, da wird 
8 Fleiſch und Blut an ihm. Sehet, fo ift des Chriften 
imbe, daß derſelbe Leichnam zum jüngften Tage erftehen folk, 
erftehen alle Dinge und nicht an fich felber, fondern an dem, 
: fie in fi gewandelt Hat. — — Darin ift zu prüfen, daß 
e jegliche Ereatur etwas Ewiges hat in menfchlicher Natur.“ 
Hl. auch ©. 473, 39.) 






296 Wahl, über bie Seelenlehre Meiſtet Echart's. 


Ob auf diefe Weife von Korperlichkeit noch die Rede | 
ift eine Frage, die ſich allerdings nur verneinend beantwo 
Es tritt auch hier wieder der Grumdfehler des Platoni 
unfern Meiſter beeinfluffend auf, daß nämlich Geift und 
Geiſt und Fleiſch, obgleich das Eine nicht ohne das A 
tann, doch fo wejentlich verfchiedene Principien find, daß 
letztlich doc immer wieder den Drang in fi) hat, ſich 
Materie zu befreien umd von allem Körperlichen und F 
ſich loszureißen. Ohne daß aber das immanente Verh' 
Geift und Leib richtig gefaßt ift, iſt auch feine fortichre 
Lich » religidfe Entwicklung möglih. So ftart der Myſ 
auch betont, und fo epochemachend er dadurch für die fünf 
logie und Philoſophie ift, fo wenig kommt jie doch be 
ihrem Rechte. Alles, was neben der Geburt des Sohn 
noch exiftirt, ift doc nur ein blindes Auf- und Abwogeı 
türlichen ; die Vergottung felbft iſt aber entweder vollftä 
überhaupt noch nicht da, in ihr ift deshalb auch feine 
möglich. Wer noch aufgehend und zunehmend ift am ( 
an Licht, der kam noch nie in Gott (S. 80, 20). € 
ift auch in dem abfoluten Geifte eine wahre Bewegun 
ſoll fi Gott zur Dreieinigfeit entfalten vor der Wel 
Welt foll durch die Öppoftafen erft möglich werden, aber 
werden diefe doch nur mit ber Welt, fpeciell mit der Seele ( 
Wo anders gefchieht fermer diefes fich auf fich ſelbſt 
Wirken Gottes in der Seele, als da, wo die abfolute Rı 
wird, in dem Innerften der Seele, dort in ber unten 
Einheit des Nicht, fo daß von dem ganzen Trinitätsverh; 
nicht einmal der Name übrig behalten wird. 


Gedanten und Bemerkungen. 


;oogle 
Google 


1. 


Zur johenneifhen Logoalehre. 
Bon 


Lie. R. Rohricht in Berlin. 





Philo und Iohannes. 


Seitdem duch Grotius, Clericus, Gfrörer, Dähne, Keferftein, 
Ereger, Großmann, Niedner und Undere das Stubium des Philo 
ind der übrigen Alerandriner in größere Aufnahme gelommen, 
ben fi die meiften Ausleger des Johannes und Forſcher auf 
km Gebiete des N. T.’8 (außer Earpzov, Lampe, Hofmann, Lut⸗ 
ardt, Dorner) der Meinung angefchloffen, daß die philoniſche Lo⸗ 
logie die Quelle der johanneifchen fei. In Folge deffen ift auch 
arüber Streit ausgebrochen, ob der Logos des Phil ale perſön⸗ 
id oder unperſonlich (modaliſtiſch) zu faffen fei, wenngleich die 
thtere Unficht, durch Dorner und Niedner vertreten, gefiegt zu 
aben ſcheint. Beide Tragen find jedoch am beften vor der Hand 
hseinander zu halten und bei der Beurtheilung des philonifchen 
Anfluffes die Frage nach der Subftantialität feines Rogos bei Seite 
ılaffen, da der Kombination immer erft die Diftinetion voran⸗ 


ehen muß. 





Daun, Google 


zur johanneiſchen ogoslehre. soi 


aeaoyoꝛoc (I, 308, 28; 427, 3.4; 653, 24 — oh. 1, 18), 
alein doch eben nur in dem allgemeinen fchöpferifchen, aber nicht 
hen Sinne zugleich. Der Logos heißt fernerhin Feog (I, 655, 
17. 28), aber katachreſtiſch; dmwoögyos (I, 175, 16; 560, 18 
- Joh. 1, 3), aber ebenfalls im bloßen creatürlichen Sinne; 
Wumreös (I, 436, 20; 437, 1. 10; 438, 6 — Joh. 1, 18), 
ter im intellectuellen Sinne; roumv (I, 308, 30; 596, 18 — 
dh. 10, 12), aber im Sinne von Baasledg wie my (mov 
& Homer). Er tritt gegenüber der &rmsdune (I, 110, 41; 
1 350. 40 — ꝙoc und oxorle, G&gE), aber nur als pſycho⸗ 
wid höhere Größe; er heißt doüs adyis (I, 52, 30), Yös 
1%, 15; 59, 9; 132, 23) und {or (I, 209, 11. 18 — 
WW. 1, 4), aber die Beziehung der Begriffe von Licht, Leben, 
Weunft, Sprache aufeinander ift nicht blos philoniſch oder johan- 
wi, fondern geht fo weit das Gejeg der Ideenaſſociation geht, 
Malik durch faft alle Sprachen *). Ebenfowenig beweiſen Stellen, wie 





Sl. Schlegel, Iudiſche Bibfiothe IT, 28.—288; Benfey, Griechiſches 
Wurzelwörterbuch II, 108, 127; beſonders aber bie fchöne Ausführung 
3. Grimm’s, „Ueber den Perſonenwechſel der Rebe”, S. ba ff. (Abhandl. 
d. Berl, Mad. 1856). Aehnliches ſprach ſchon Grofmann aus (II, B6ff.). 
Ueberhaupt irrt man fehr häufig, wenn man anf Achnlichkeit oder Gleichheit 
don Begriffen und Urtheilen bei verjchiedenen Autoren ohne Weiteres fih 
zum Schluffe auf ein Abhängigteitsverhättniß Beider beredtigt glaubt. Die 
Ehinejen erfauden vor den Europäern ben Porzellan und das Schießpulver, 
das letztere felbftändig madjerfanden. I. Böhme und Gkotus Erigena 
haben nicht gewußt, daf ihre Säge ſich auch in der hinefifchen und Sanfe 
hya · Philofophie finden; der Aftronom Adams löfte daffelbe Problem auf 
gleiche Weife, ohne zu wiffen, dafs deverrier es ſchon gelöft; Leibnitz erfand, 
wie jetzt durch Boiffon feftfteht, ſelbſtändig die Rechnung des Unendlichen, 
ohne Newton's gleiche Entdeckung zu kennen. Wir erinnern endlich noch 
an den gleichen Zug, ber durch die Satisfactionslehre des Nicolaus von 
Methone und Anfelm, durch die Reformatoren Luther und Zwingli geht, 
ohne daß fie vorher fich darüber geeinigt. Jeder Gelehrte wird ſchon viele 
mal dieſelbe Entdedung an fich gemacht Haben, daß in dem ſalomoniſchen 
Sprache „ES gibt nichts Neues unter der Sonne” viel Wahres enthalten 
if. (BL Zödler in den Jahrb. f. deutſche Theol, 1864, &. 714 Aum.; 


308 Rögriät 


I, 213, 22sq.; 241, 1, wo ber Logos Manna gem 
(ob. 6, 31 — 35), oder die Bezeichnung des Logos al 
xAncos (Gfrörer, Philo I, 275. 280. 281 — Yoh. 
denn erftere Stellen haben mit ber johanneifchen dieſelb 
Tage, das U. T. und letztere Benennung bezieht fich ja 
bei Johannes auf den Logos, fondern das nveöue &yio 

Wollte daher Johannes die philonifche Logoslehre ben 
blieb ihm nichts Geringeres übrig, als fie ganz umzugleß 
Benugung müßte dann in der Sprache ſich zeigen; fie wi 
nicht fo leicht und ſchwer, flüfftg und feft fein, wie fi 
Haltung und der Charakter des Werkes felbft ſchwanken, 
Elarheiten, Mißverſtändniſſe fich einfchleichen, wie man 
unfelbftändigen Werfen genugfam bemerken kann. Ebenfo 
der Styl und der Charakter des Evangeliums, fpricht di 
dualität des Evangeliften entfhieden gegen die Abhängi 
Philo. Johannes war ja der Schliler, der an des Her 
gelegen, der tiefere Blide in die d6E« feines Meifters u 
gethan, wie ein Anderer, von ihm nur bewegt und c 
erleuchtet und erwärmt wurde, wie der Planet von de 
Wie können wir von ihm meinen, daß er bei Philo d 
geſucht und gefunden Habe, um das Bild feines Herrn ; 
er, der zugleich jenen Geift der Heiligen Schroffheit beſaß 
den Namen des Donnersfohnes gab und im Evangelium 
liegt in der Schärfung und Spigung der Gegenfäge, wi 
x00w05 ein fittliches Tohu, die Tovdatos eine Teufelsbr 

Weifen wir alfo bie Möglichkeit eines materialen 
der philonifchen Logoslehre auf die johanneifche ab, fo trit 
die Frage, ob nicht vielleicht wenigftens ein formaler zu 
fei. Diefe Meinung erfreut fih ziemlich allgemeinen Beife 
aber je eine firicte Begründung erhalten zu haben. WIE 
Gegner derjelben wollen wir eine folche in einigen Fet 
verſuchen. Eine jede Philofophie hat einen gewiffen tern 


Ewald, Bibl. Jahrb. 1858, &. 220 oben; Bleek, Einkeit. i 
S. 127, Zeile 9-15; Hengftenberg, Chriſtol. WMa, ©. 16° 


zur johanneiſchen Logoslehre. 808 


hm ihe Syſtem wenn auch nicht angelt, aber doch in beftimmter 
Beftalt erſcheint. Wir erinnern an die termini: sldos, sub- 
kantia, fategorifcher Imperativ, Humanität, abjolute Identität, 
itfie Weltordnung u. f. w., bie in kürzerer Zeit bie in entlege- 
wre Kreiſe Himabdringen und ſich dort fortpflangen. Wir Haben 
nfür einen Beweis an indischen PHilofophemen *). Ebenfo gehört 
herer, daf die Sprüche des Menander, Aratus und Epimenides 
denfalls auch auf diefem Schleichwege in Pauli Gedächtniß ges 
hamen jind )). So wäre denn auch ber Rogos als ein damals 
I Philoſophen⸗ Stichwort auch dem Johannes befannt worden 
dieſer habe es, das einfache Wort, herübergenommen. Allein 
fe Analogie Hat wenig Schein von Wahrſcheinlichkeit; denn das 
ige phifofophifche Leben läßt fi nicht im Entfernteften ver» 
mit dem Indiens, wo, wie befannt, eine fo große literas 
Bewegung herrſcht, wie fie noch heute felten fogar bei euro- 
Völkern ftattfindet. Sodann leiſtet uns ja die Annahme 
folgen formalen Einflufjes gar nichts; denn man nimmt ihn 
be für den Prolog zu Hülfe, während das Wort Adyos noch 
kr denn dreißig Mal im Evangelium wieder -vorfommt... Warum 
hd man nicht confequent auf alle Stellen, wo Aöyog fteht, ben 
Imolen Einfluß ausdehnen, der in weiter nichts befteht, als daß 
\ 





%) Baſelet Diff. Magaz., April 1865, ©. 188: „Sind doc; bie Refultate 
der Spentitätsphilofophie dort (im Indien) ſchon feit Jahrtauſenden Gemein- 

ı gut der Schulen geweſen und ihre Stichwörter bie in bie niebrigften Kreiſe 
edrungen“. 

b) Wir ſielldg noch Hierher die Bezeichnung des Adyos bei Philo ale eizav 
905 (I, 561, 15 — 2or. 4, 8), al duvanıs (I, 560, 18 — Eph. 
6,14), zegpaAr (I, 640, 20 — ph. 5, 28), der ople als dxgorouos 
nerge (I, 82, 15 — 1Ror. 10, 4), des Geſetzes als A6yos Öpıziwds 
(l, 516, 19 — 1Tim. 1, 10), Gottes als uövos wopds (I, 885, 25 
— 1Xim. 1,17) u. ſ. w. Siernach wäre das Verhäftniß von Paulus 
iu Philo auch zu unterſuchen. Dan vergleiche endlich noch dem Sinne 
nad; Jat. 3, 7 und Soph. Antig. 343—348 und fpradjlic den zedyos 
yariseng Jat. 8, 6 mit dem orphiſchen rooxos yandasms (Tobed, 
Aglaopp, S. 798 f.), eine ſptachliche Merkuitebigfeit, bie noch nicht bekannt ift. 





804 Nöohricht 


das Wort Aöyog von Philo entlehnt ſei! Auch können 
nicht recht denen, daß Johaunes follte fo viel Gelegenhe 
haben, den philoniſchen Terminus fo oft zu hören, daß 
ſchließlich ganz geläufig wurde; denn wir irren wohl ſ 
wenn wir annehmen, daß die Richtung feines fpäteren w 
ganzen Lebens durchaus eine innerliche einerfeits und 
bende andererſeits gemwefen fei. Feſte, gewaltige Geifter, 
hannes und in feinem Alter laſſen fich nicht in einen Co 
mit fraufen, leicht beweglichen und modischen Floskeln ein 
ihnen beftehen, deren formaler Gebrauch fie ſchon abfto 
weil er nur an eine beftimmte Zeitrichtung erinnert, mäl 
Sinn auf das Unvergängliche fteuert. 

Es bleibt daher dem Eregeten, da auch die Annahme e 
fluffes der Targumim *) überaus problematiſch ift, nid 
als die im A. T., der geſchichtlichen Grundlage der neu 
entwicklung, gegebenen Anhaltepunfte zu unterjuchen. 


Iohannes und das Alte Teftament. 


Von formaler ‚Seite tritt und hier die Lehre vom 177 
copla, fowie anderer Begriffe, die die Manifeftationsact 
umfcpreiben, entgegen. Dit dem Wort ®) vollführt Gott 


8) Bgl. Schöttgen, Lighfoot in den Horis; Bertholdt, 
Judd., p. 180sq.; Keil, Opp., p. 523sgq.; Rittangel 
p. 87sq.; Lange, Dissertat. de Targg. [Hal. 1720] unt 
teeffliche, nod; nirgends genannte Abhandlung: Disceptatio de 
Sermone Dei.... apud Paraphrastos Chaldaeos, Ireno) 
(63 Seiten.) 

b) Dos Wort ift die vollendetfte Geberde, die Emanation der ve 
(ogl. Stimme — Stimmung; Buxtorf, Lex. Talm., p- 4 

Dur mo und Ywrij, Gal. 4, 20) und bem freien Geiſte ſe 
dig, wie die Thräne dem gedrückten; denn Reben ift ein laut 
ON» Atyeıy, gdoseı bei Hom., vgl. Philo II, 271, 36; 
Das Wort if Fleifh, d. h. laut gewordener Geift, ber kräfti— 
barungsact des Innern und. der einzige Weg, ſich als Perjon | 
erben: indem ich als Subject mic als Object höre und begr 


dur johanneifchen Logosiehee. ‚ 306 


vi ($f. 83, 9; 105, 31. 34; 107,25; 148, 5), fo die Welt» 
Bipfung (1 Mof. 1. Bi. 33, 6. Sir. 9, 1. 4Ejra 16, 59. 
ybt. 11, 3 vgl. Sir. 39, 22). Durch das Wort beftimmt er 
en Geftirnen die Bahnen (Sir. 43, 11. 4Ejra 16, 57), die 
nung des Naturproceſſes (Sir. 43, 14. 25) und deffen Unter 
mhungen (Hiob 9, 4 vgl. Matth. 4, 3; 8, 8.16; vgl. Horft, 
huberbibfioth. I, 88, 89; II, 28, 64 ff). Auf dem Worte 
maht die Gemeinfchaft, die Gott mit Iſrael begründet. Es ift 
® Gejeg, das Gott durch Moſes (5 Mof. 34, 10. 4 Moſ. 42,8) 
Ker Zeichen und Wundern (5Mof. 4, 36) offenbart, das Wort 
Ewigkeit (Pf. 119, 89. Gef. 40, 8), in dem das Volt wan⸗ 
Ud (2Moſ. 19, 68; 24, 3—5; 34, 1. 27 ff.) eben (2 Moſ. 
‚12. 5Mof. 32, 47. Ezech. 33, 5), Licht (Pf. 119, 105. 
6, 23) und Rath (2 Kön. 1, 16. 2 Paral. 18, 4; 1 Sam. 
1) hat. Gegenüber diefer feften Gejtalt erfcheint das. Wort 
als bewegliche fortgehende Kraft der Offenbarung bei den 
hopketen (mg, "by, Ada 1Sam. 3, 7. 1Rön. 8, 31; 
8,22. Jeſ. 34,4. Ser. 1,4; 26,1. Ezech. 1,3; 7,1. 
Wi, 1. Dagg. 8, 1. ngl. 1Moſ. 15, 1. oh. 10, 35), die 
WLolE theils durch Verheigungen erheben, theild durch Drohungen 
müthigen follen *). Als zweite Analogie erſcheint im U. T. die 
® (oople)®). Sie ift nad dem locus classicus Spr. 8, 


%) Die Rabbinen haben an diefe altteftamentlichen Stellen das Theologumenon 
der dip MD angeiponnen (vgl. Joh. 12, 3Bff. Matih. 17, 5. Apg. 
10, 3. Matth. 3, 17. Dan. 4, 28). Bgl. Hollander, Goldbach, 
Nunfter: De filia vocis [Hafn. 1666]; Ugolini, Thes. I, 244; 
It, 786; III, 888; Buxtorf, Lex. Talm., p. 820; Hottinger, 
Thes. II, 1, sect. 4, p. 515; Meuschen, Nov. Test. ex Talm., 
p. 3508q.; 445sgq.; Tract. Berachot Babyl., deutſch von Pinner, 
©. 22ff.; Lubkert in ben Stud. u. Mrit. 1885, II, 684647. Aus 
dem A. T. dürften zur Erklärung der Genefis diejes Theologumenons noch 
au rechnen fein: Bj. 29, 8. 4.5.7. 9; 104, 7. Hiob 37,2. Jer. 28, 20. 
Joel 2, 1. (Eyed. 1, 24. LXX). 

») Bol. Brettfchneider, Syſtemat. Darftellung der Dogmatik d. Apokryphen. 
6.194— 276; Dähne, Zub. alegandr. Religionspbil. II, 126ff.; 176ff. 


306 Röhr icht 


22-3832 (von Philo De temul. 244 e led. Freof.] benugt) 
Erſchaffung der Welt bei Gott (bye, woher die Kabbala 
Gottes nbssn nennt, nad Jellinek, Cabbala II, 27, 
wird bezeichnet in den Apofcyphen als ovupßlwosw Yeoi 
(Weish. 8, 3) es 7) 0;v Hgdvar magsdgos (Weis. | 
Sir. 24, 4 und Nägelsbach, Nachhomer. Theof., ©. € 
Sie ift Gott nicht dweovarog, fondern von ihm geſcha 
Sir. 1, 4 (vgl. B. 9) und 24, 3; fie wird als druis 
— duvdnsws xai dnößhoıe Tis Tod navsoxgarog 
silızgwis (Weish. 1, 7. 25), als dnavyaope Yard 
zal Eoonıgov dxmlldwvov zig Tod Feod Evegyelaz 
vgl. V. 29) bezeichnet. Durch fie ſchuf Gott die Welt 

22-32; 3, 19. Pi. 104, 24. Jer. 10, 12; 51, 15 
7,22; 8, 5; 9, 1ff. Sir. 24, 3. 5 vgl. Targ. Hieros 
1, 1. Philo I, 101, 12; 560, 18) und ordnete die W 
28, 25ff.; 38, 4 — extr. vgl. Weich. 7, 23. Sir. 
Hiftorifch hat fie ſich offenbart dadurch, daß fie dem Me 
Sprache verliehen (Sir. 17, 4—6), damit zugleich die | 
über alle Ereatur, fpeciell im Gange der Heildentwidlung 
(Weish. 10 u. 11), wo fie ihre ax» für immer aufı 
(Sir. 24, 8 vgl. 11).. Einem Jeden bietet fie fih als 
und Lehrerin an (Sir. 4, 11; 14, 23; 15, 2ff. Weish. 

7, 17-21; 15, 6); benn fie weiß Alles (Weish. 9, 

daher, wer fie als OuußovAov befigt! Im N. T. find di 
dieſes Theologumenons äußerft ſpärlich *). Nur die befaunte 
Matth. 11, 19. Luk. 7, 35, wozu man vielleicht noch 8 


a) Die Kirdenväter ibentificirten, wie leicht erflärlich und fehr beat 
if, Aöyos und aveöua (Dorner, Ehriftologie I, 1. S. 226 
A. X. auch häufig 12} (Hiob 9, 4; 12, 13. Ser. 51, 18) 
ihm fonongm ift und auch Philo beide miteinander oft bermed 
I, 506, 4; 690, 34. 37. 41; vgl. Grossmann, Qua 
I, 67), wenngleich; auch wieder auf der andern Geite der Ad 
soplas (I, 560, 31) heißt. Philo nennt die vopke auf) ; 
:öamov (I, 562, 14; 361, 42; 202, 1) — alfo ſchon biete 
fimmtere Berfonification als in den Apokryphen Die Eabbaliften 





zur johanneifchen Sogoelehre. 


7 


IRor. 3, 21. 24 zählen könnte, ftehen damit einigermaßen in Ber - 
indung. Hingegen kann man einzelne Stellen ber Apofryphen mit 
Ötellen des N. T.'s zufammenftellen, 3. B. 


Belt. 15,8: 70 yag dnteraadat 


? ööaAngos dizmoaden zul el - 


Yu 16 xgiros aov dla dhava- 
das. 
‚Beil 2,18: 4 ya dam Ö di. 
vlds 9oö, dvrikjyperan auror 
n foern aroy. 
"Bit, 5,17: Arperas mavonMlav 
de filov avroõũ. 
|B.18: Inddonras Iulgaxa dixaio- 
zul negudrjssrus xögude zpl- 
ireaözgizor. 


N 
Ray: mugavvorsan eönogoı fo- 
dergameiv. 


Wett. 6,3: Ira Ed0dn magd voö 
Non H agernaıs duiv zul f du- 
wwreia nage Uplorov xra. 

Bis. 6, 18: dydan H rignas 
Ihar ach, memoyi fi vöun pe- 
kuss dpdagaias. 

Beish. 7, 18: doyiv zui TeRas 
— yedvav zgomav dAde- 
is zal ueraßolds xcuoc⸗. 

Bıish. 7,26: [rople deriv] dnav- 
ua pands dikion, 

Beish. 11, 24: dyangs yag ze 
ba. 

Cr. 6, 24: zul elatveyxov rols 
Was aou eis zis nedas zal eis 
Wald» Aneie row TeagnAdr von. 





Ich. 17,8: aüım da Zorw  ali- 
vus Zui, Ira ywuoxwal ae tor 
uövor dAndıwöv Sedv zul. 


Matth. 27, 45: nemodev ini zov 
Heov: Gwadadw vür adrov, ei la 
adrov. 

Eph. 6, 11: &rdicasse rıjv na- 
vonAlav toi Seo. 

B. 14: bvdvadueron riv Iagaza 
vis disamaivn. 8. 17: zai iv 
mepızepalmay Tod awenglov d6- 
Zaods xrA. 

V. 16: & d dwiasade ndrıa 
z0 Bllm ToU novngod za nenwgw- 
ubva oßlamı.. . 

Nöm. 18, 1: od yag Eazıw dfoe- 
ale ei u dnd Heod (Joh. 19, 11). 


Joh. 14,21: 6 Zyur rac dvroäds 
Aov zal engov aurds Exsivds dorıs 
d dyandv we. 

Sat. 1, 17: map’ oux Erı ne 
QuAay # rgomis dnooxlaaue. 


Hebr. 1, 3: ös (ze) dr daei- 
yaoya rüs dings... 

Ih. 3, 16: odrw yag nydnnaer 
89. 7. zöguov, 

Matth. 11, 29: ügare ro⸗ Luyd» 
nov Ey" Aus weh, 


in bie Zah der MID oder MMPD (vgl. Gfrörer U, 18— 52; 
200— 272; Hofmann, Schriftbeweis I, 90— 95; Lüde, Johannes 


1, 264 ff). 


308 Röhrig 


©ir. 4,12: Ödyandv aurivdya- Yoh. 6, 47: d nusreni 
nd Luip zai ol og9elfovses ngis Eye Lwiv airıor. 
adeıv duninadrsortes eipgosuvng. 

Sir. 24, 21: ok dosiorsks us Erı Ioh. 6,35: 6 Epyduero 
newdoaoı xai ol mivovres us Er ou um newdon zei d nu 


dupioovaı. dus 0) dupian nuinore. 
Weis. 12, 12: zig yug Egei ri Möm. 9, 20: pn dat 
dnolnaas ; To nkdoarıı- ri ne dmoin 


Stellen von geringerer Bedeutung find: Weish. 5, 
Offb. 2, 10. Jat. 1, 12); 9, 14 (vgl. Röm. 11, 34) 
(vgl. Joh. 6, 33). Sicher ift, daß aus allen diefen S 
ähnlich fie auch aneinander zu Elingen fcheinen, jedenfalls 
fitio geſchloſſen werden darf auf eine Kenntniß bei den heilige 
ftelfern von dieſen Schriften; daß aljo au eine Entlehn 
Umarbeitung des coyla *)-Theologumenon® von Yoha 
bedenklich anzunehmen ift. 

Beachtenswerther ijt aus dem A. T. für unfere Theol 
die 1127 (oder nyypn) ®). Gott offenbart ſich durch jie 
(5Mof. 12, 5. 46. 4 Moſ. 14, 10; 16, 19; 9, 16 
9, 23. 2Moj. 16, 10; 33, 9; 34, 5; 40, 34ff.), in 
der Stiftehütte und dem Tempel (2 Paral. 7, If. 1 Ku 
Sie gibt (nad) Gal. 3, 19 der weodens) das Geſetz (2 Moj 
erſcheint in Vifionen (Ezech. 1, 28; 8, 24; 10, 4; : 
44, 4) und zu Gerichte (2Mof. 15, 7. Jeſ. 2, 10. 19 


8) oopia. bald im ethiſchen (1 Rön. 2, 9), bald im intellectu 
(Siob 12, 15; 9, 4 vgl. Spr. 15, 8. 1Xim. 1, 17) gen 
dem Aoyos (Weish. 9, 10. Jeſ. 11, 3. 2Mof. 28, 3) um 
(4Mof. 24, 2. Jud. 6, 34; 18, 25. Jeſ. 59, 21. 2Gam. | 
1&am. 16, 23; 19, 9. Weish. 2, 17; 7, 22. Sie. 1, 9ff. 
fononyem (ogt. mg [by] 397 Lam) mm). 

b) Im der rabbin. Theologie entfpridht ihr NMING ober NIP> 
bei Ontelos), mit NNED (4 Mof. 28, 11; 18, 21; 11, 
23, 14; 31, 8. Onf.) und MM verbunden (Tract. Beracl 
Dgl. darüber Rittangel, Jezirah, p. 82sqg.; Ugolini, 
XXIV, 171sqq.; Meuschen, N. T.ex Talm., p. 422394. ' 
Bertholdt, Christolog. Judd., p. 121sgg.; Buxto 
Talm. s. r. 








zur johanneiſchen Logoslehre. 309 


ht. 23, 20. Matth. 16, 27; 19, 28); ift felbft vom Mofe nicht 
aufgauen (2Mof. 33, 24). Sie iſt andererfeits im Himmel 
bMoſ. 33, 26 vgl. Pf. 68, 35), nimmt in Zion (mie oben die 
role) ihren Platz (Jeſ. 4, 5. Pi. 68, 35) und offenbart fich 
n der ganzen Schöpfung (Ser. 26, 15. Jeſ. 6, 3. Pf. 104, 31). 
die ift fpnonym dem oy (Gef. 59, 19 vgl. Micha 5, 3), dem 
W2Theff. 1, 9), mio (Matth. 6, 13. Röm. 6, 4. 2 Chef. 
‚19 vgl. Bf. 57, 6. 12; 108, 6)*). Der Tip oder der Ber 
Ahnung Gottes, daß er Gott iſt, ift analog die Bezeichnung 
dottes, daß er tft, durch og ®); denn erft der Name fegt eine 
xrſon (daher auch das Ehriftenfind in der Taufe benannt wird, 
4 den Gebrauch von xzaieioIaı Matth. 5, 9. 19. Joh. 3, 1. 
Ir. 5, 1; 7, 18ff. Hebr. 11, 18). Der apm dy, ober of 
(BBıf. 24, 11ff. 5Mof. 28, 58. 1Paral. 13, 6 vgl. 2Mof. 
%Uf. Buxtorf, Lex. Talm., p. 497) ift ſchrecklich (65 Moſ. 
%,58ff.), feine Läfterung ift eine Zäfterung Gottes (vgl. Gesen., 
des. 8. v. 2py und pm). Er ſchlagt in der Gtiftshütte feine 
dohnung auf (5Mof. 12, 5. 11. 21. 23; 16, 2. 6. 11; 
6, 2) wie die 1139, oder im Tempel (1 Kon. 8, 27. 2Rön. 
3, 27. 2Paral. 20, 9; 33, 4. 2Sam. 6, 2. Pf. 47, 7) auf 
und göttlicher Verheißung (1Kön. 8, 29. 2Mof. 20, 24) und 
Mt im zu (2Mof. 23, 21 vgl. Offb. 19, 13). Seines Na⸗ 
md wegen wird Gott angerufen (1 Sam. 12, 22. 1Nön. 8, 41. 
1.54, 3; 79, 9. Jeſ. 14, 21) um feines Namens willen ver- 
fiht Gott Geduld (ef. 48, 9. Ezech. 20, 9. Pi. 138, 2), 
ber preißt man feinen Namen (5Mof. 10, 8. Pf. 61, 9); 





) Im N. T. bezieht ſich der Begriff der ddfa (namentlich bei Joh. 2, 11; 
11, 14. 40; 12, 41; 17, 22) faft nur auf die Herrlichkeit bes Lebens 
und der Thaten Chriſti; parallel if fie dev Amosdela (1 Theſſ. 2, 12 vgl. 
Hebr. 2, 10. Matth. 6, 18), owrngfa (2 Tim. 2, 10) und Ieovos (NY 
®B. 11, 4; 47, 9; 89, 5. 15. 30. 37. Jeſ. 66, 1. Sir. 44,7 — Matth. 
5, 24; 19, 28. Hebr. 7, 49; 8, 1). 

) Zur rabbiniſchen Lehre darüber vgl. DW bei Buztorf. Eifenmenger, 
Entd. Sud. I, 154. 162. 176. 351. 358. 879ff.; II, 882; Horfl, 
Zauberbibliothet III, 136 ff.; IV, 180ff. 168 ff. 

Theol. Stud. Jahrg. 1868. 21 


s10 ° Röpriht 


Giebt (Pf. 5, 12), fürdtet (Pſ. 61, 6) ihn; baut auf 
20, 2; 88, 21; 124, 8. Spr. 18, 10), dankt ihm (Pi 
ſchwört bei ihm (1Sam. 20, 42), beſchwört (1 Kön. 
feguet (1 Paral. 24, 13) und flucht in ihm (2 Koön. 2, 
ift daher nur eine Umfchreibung Gottes, eine Bezeichnun 
in feiner perfönfichen Einheit, der 1127 parallel (Pf. 102 
der ya (Bf: 54, 3), Gott (Pf. 66, 4; 68, 5; 76,2 
145, 1) und feiner duvamıs (Apg. 4, 7 vgl. 2Mo 
Mit 1122 und 497 verbunden kommt er Pf. 79, 9 vo 
gehört Hierher aber auch noch ‚der Begriff der og, der 
Gerov (bei Clem. Alex. Paedag. I, 7 heißt Ehri 
re60wror), oder wie öyıs, facies (Plat. Phaedr., 
Gic. de Offic. I, ö, 1) die Perſan bezeichnet (ogl. 1Kor 
Pſ. 34, 6. Jer. 5, 3. Ezech. 2, 7). Man fleht zu 
(1&am. 13, 12. 1Kön. 13,.6. 2Rön. 13, 4) un 
(2 Sam. 21, 1. 2Paral, 7, 14). Jehovah fümpfi 
(2 Baral. 32, 2. Jer. 21, 2; 44, 11. Ejech. 13, 1° 
15, 7. ®. 21, 13..3Mof. 17, 10) und bringt Hül 
4, 87. Bf: 42,6). Ihm ſynouym ift die mia oder x 
4, 37. 1Baral. 16, 11. 2Theſſ. 1, 19). Ste ift in | 
(Bi. 68, 25). bei Gott (2 Paral. 20, 6. Dan. 2, 20) 
ſynonym der 127 (Pf. 96, 7; 68, 35. 1Chron. 16, 
1, 3. Matt. 24, 30), dem my (Mia 3, 8. Qu. 1 
4,14. Apg. 1, 18), der vopie (Weish. 7, 25 vgl. Hic 
und.Gott felbft (Matth. 26, 64; 6, 13. Apg. 8, | 
6, 14. 2Ror. 13, 4. ®f. 59, 10. 17. 18; 105, 4 
40, 10; 51, 5) wie aud) das or Gott ſynouym ift (P 
105, 4). Der nr endlih ſchafft die Welt (1Mof. 

33, 6 vgl. Joh. 1, 3) und die Menſchen (Hiob 33, - 
104, 30), feitet die Frommen (Bf. 143, 10) und tri 
Wort (337) an die Propheten heran (4Mof. 24, 2; 27, 
2, 15. 2Baral. 15, 1. Jeſ. 11,2; 59, 21; 61,1. & 
2Tam. 23, 2), ift ſynonym der vopie (2Mof. 28, 3. | 
Weich. 7, 7), wäßrend wieder das Wort parallel m (C 
11, 5; 4, 5. 1Rön. 18, 46 vgl. Pf. 109, 27. Matt 


zur johanneifehen Logoslehre. u 


&t. 11,20), der dövanıs (Hebr. 1, 3) und Gott felbft (Bf. 56, 
3.12). Außer diefen allgemeinen Ausdrüden, die die Thätigfeit 
und das Sein Gottes bezeichnen, ift noch zu erwähnen, daß das 
LT. aud) einer anderen Reihe von beftimmteren Ausdrücken gött- 
iger Eigenfhaften das Prädicat der Ewigkeit vindieirt, z. B. außer 
era (Bi. 104, 31), der Macht (Dan. 7, 14), dem Geſetz 
Eir. 1, 5. Bar. 4, 1 vgl. Tract. Pesach., c. 4. Tholud, 
zhetulat. Trinit., ©. 41ff.); dem Wort (Pf. 119, 89; 111, 8. 
%. 40, 8. 1Betri 1, 23), dem Namen (2Mof. 3, 15. Bf. 
185,13. ef. 63, 6) auch der Güte (Pf. 118; 138, 8), der 
Jude (Pf. 100, 5; 106, 1; 107, 1; 117, 2; 118), ber Ge 
gteit (Pf. 111, 3. Jeſ. 54, 8), dem Erbarmen (Sir. 40, 17), 
ia Wahrheit (Sir. 40, 12. Pf. 100, 5; 119, 40) ). Soweit 
Sr demnach augenblicklich urtheilen dürfen, ift der Logos des Jo— 
hans daher auch eine ſolche Umſchreibung Gottes, als eines 
Uletthin fich offenbarenden, thätigen. Doch widerftrebt einer folchen 
kfung, die augenblicklich vein mobaliftifch erfcheint, nicht auf's 
arfte der Ausdrud 6 Adyos mv mods 70V Yacv? Dies 
Ürt ung darauf, diefen Ausdrud näher zu unterſuchen, als es 
m den Exegeten bisher gejchehen ift. 

Daß zunächft reös c. acc. fo viel ald wage c. dat. bebente, 


®) Als materiale Grundlage des Logos hat man (Hengftenberg, Chriſto- 
fogie III, 26. ©. 60-86) den ISO des . TS berbeigezogen (ogl. 
Ruck, Geſch. des Alten Bundes I, 144—160), allein der Beweis für bie 
Berechtigung und Nothwendigleit dazu ſcheint uns weder im exegetiicher 
noch dogmatifdier Beziehung Hinveichend. Auch ift diefes Theofogumenon 
fo dunkel, daß die Acten des Streiteg darüber wohl nie werden geſchloffen 
werden Können, alfo auch eine fefte Erfenntniß für unfer Theologumenon 
ju gewinnen nicht möglich ſcheint. Weber die rabbiniſche Lehre darüber 
vgl. Meuschen, N. T. ex Talm., p. 709sqg.; Grätz, Gnoflicism., 
©.44f.; Bertholdt, Christol. Judd., p. 1205qg.; Hengſteuberg, 
Chriſtoi IT, 2. S. 78ff; Lighfoot, Hor. Hebr., p. 738; Eifen- 
menger I, 18; II, 20. 375; Buxtorf, Lex. Talm. s. v. NbDıD; 
Ugolini, Thesaur. VIII, 261 sqq.; Schmieder, Interpretatio, loci 
Gal. 3, 19, p. 4lsgg.; Dillmann, Henoch XLIsg.; Erſch und 
Gruber?s Enchelopädie: „Zuben“, S. 41 Anm. 

21* 


812 Roͤhricht 


iſt aus einer Reihe von neuteſtamentlichen Stellen (vgl. 
zu Mark. 6, 3) erſichtlich, fo daß ſich nicht begreifen 
Baur (Dreieinigkeit I, 97) und Meyer nod ein M 
Bewegung heraus» resp. Hineindeuten können. Der Aust 
zıva ebvar fommt im A. T. ziemlich) Häufig vor, und 
nächſt da, wo zwei Perfonen oder Saden im localen 2 
zu einander ftehen (1Mof. 23, 4; 27, 44), oder im c 
und temporalen (1Mof. 18, 23. 25. Hiob 3, 14; 9, 2 
40, 15. ®f. 73, 5; 89, 18; 120, 4. Kohel. 2, 16) 
juridiſchen (1Mof. 29, 25. 30), im religiöfen (1&aı 
Bi. 18, 24), freundfchaftlihen und ethifchen (1Moj. 
28, 10; 21, 22; 31,5. 4 Moſ. 24, 2. 5Mof. 31, 17 
17, 2. 2Paral. 25, 17; 31, 21; 32, 8. 2 Rn, 3, 
40, 10. ®j. 89, 25 gl. Joh. 14, 9. 16; 16, 4. 32) 
aber wird der Ausdrud by, My, .oy mo and 
Perſon gebraucht, um eine geiftige Thätigleit zu bezeich 
1Rön. 8, 17. 1Paral. 28, 2. 2 Paral. 6, 7; 24, 

8, 5. Jeſ. 59, 12 (vgl. LXX dazu), Hiob 9, 35; 12, 
10, 13 (vgl. 2 Paral. 1, 11); 14, 5; 27, 11 (vgl. 9 
50, 11; 16, 11; 51, 5; 69, 20; 73, 22. 23. 30 
2 Petri 3, 8), und zwar fpeciell eine intellectuelle 

bie wieder theils als Thätigkeit allgemein in Betracht Ton 
als ſolche, die die Einheit des Berfonenbewußtfeins, das 
wiffen vermittelt. Andererſeits fällt eine zweite Reihe v 
in's Gewicht, wo ımfer Ausdruck gebraucht wird, um der 
(merkwürbigerweife im A. T. nur von Gott gebraucht) 
ethifher Kraft und Thätigfeit zu vindieiren, 3. B. 
13. 16 (vgl. Pf. 78, 11); Pf. 130, 5, 7 (vgl. Bf. 
36, 10 (vgl. Jer. 17, 13. Pf. 68, 27); Dan. 2, 22 
1, 17); Spr. 8, 30 (vgl. Weish. 9, 4. Sir. 1, 1) 
alfo der Ausdrud: bei Gott fein logiſch daſſelbe ift, ale 
fein; denn nur dadurch, daß Etwas in einer Perſon ift, 

Befiger des Etwas, hat es durchaus und nothwendig *). 5 


a) Man vergleiche im Deutſcheu: es fieht bei mir; bei, mit, 


| 
! 
zur johanneiſchen Logoelehre. 818 


noch Marer und exegetiſch unumſtößlich dur den Sprach⸗ 
rauch. Dan vergleihe 5Mof. 30, 14, wo by ganz beftimmt 
das folgende 7 erflärt wird (Röm. 10, 8), ferner Hiob 6, 4. 

al. 28, 12. Pf. 3, 3 (ogl. Hiob 12, 16); Jat. 1, 17. 

Bf. 78, 11 (vgl. Hiob 12, 13) fowie Gesenius, Lexic. 8. v. 
177. Ebenfo fpricht der nenteftamentliche Sprachgebrauch für 
uſere Behauptung; denn Aoyilsogas rreög Savsods (Mark. 11, 
3. Cut. 20, 11. 14), oder ag’ davrois (Matth. 21, 25 vgl. 
Moſ. 23, 21. 2Sam. I, 9. Apg. 20, 10) ift daffelbe wie dv 
arois (Matth. 16, 7) ober Asysım Ev Savrois (Ruf. 3, 8; 
3,4. Matth. 9, 3. 21; 21, 38)*). Damit ift num gewonnen, 
ns olfo das Verhältniß zwifchen Aoyos und Feog das ift, daß 
er in letzterem ruht, daB er von ihm umfaßt wird als das 
Spieliere, Beftimmtere von dem Allgemeinen, und wir fehließen, 
Wi den diefes Allgemeine (eos) ſich ſpeciell als Aöyos beſtimmt. 
Der Schluß iſt ausgeſprochen in dem Satze 8oc 7v à Adyos, 
+. Gott ift eben der Logos, ein Sag, der einen Fortfchritt zum 
ktimmteren herbeiführt. Diefe Art im Gedanken fortzuſchreiten 
tim A. T. gewöhnlich (vgl. Pf. 130, 7 — Bi. 59, 18; 36, 10 





ſprechen, es wohnt ihm fein guter Geift bei, laß dir dies nicht be ikom · 
men; bei Verſtande fein; ferner Xenoph. Memorab. I, 2, 10: r5 
Big nedasow EySom zei xivdwvo; ibid. 1, 8; 2, 84; Corn. Nep. 
Themist. 7: penes quos; Livius IH, 3, 87; IV.4, 3 apud in ahn - 
fihen Sinne. Der philoniſche Sprachgebrauch klingt allerdings auch an, 
à B. I, 298, 11: mods dAnseav eivas; aber Stellen, wie I, 35, 3; 
1, 193, 4; 199, 8 u. f. w. entfernen fi) weit. Mit 9x DY+ MR für 
7 wedifelt im A. T. mitunter auch ON ab, 3. B. Bi. 3, 9 (vgl. 8.3); 
7,12; 28, 7; 144, 2; 68, 8 gl. 42, 5; 50, 16; 9,20; 15, 3. Eech 
33, 19. SJeſ. 42, 5; 38, 16). Dieſes Schwanken ber Präpofitionen ift 
eine nicht nur in ber hebräiſchen Sprache, fondern überhaupt bei allen 
Vöftern oft Hervortretende Erſcheinung. Wie großer Werth aber gerade 
auf der feharfen Beſtimmung ber Bräpofition Tiegt, ift 3.8. bei ber Hegel’« 
[hen Logik deutlich. Wie lönnen wir aber den Sinn unferer in frage 
fiehenden Präpofition erfaffen, wenn nicht in der verſuchten Weife? 
) Häufig vertritt auch Mit» d die Präpofition 5 c. gen., 3. ©. Siob 
12, 18. Hofea 1, 9. vgl. Eye. 16, 8. Pi. 118, 6. 2Tim. 1, 5. 18; 
3,1. 10. 


Das, Google 


Necenfionen. 


D 


„Google 


1. 


der Hirte des Hermas. Ein Beitrag zur Patriftit von 
D. Ernft Gaab, Pfarrer. Baſel 1866. 





Ban man die zahlreichen und ausführlichen Beſprechungen auch 
ar theilweiſe überblict, welche in den letzten Jahrzehnten den 
Ieten des Hermas nad; Seiten feiner geſchichtlichen Bedeutung, 
iner Lehre umd feines Textes zum Gegenftand gehabt Haben, fo 
eht man an biefem in feiner Art einzigen Denkmal der älteften 
irhe fih im fteigendem Maße dns Wort des Dichters erfüllen: 
Bas wir verftehen, fünnen wit nicht tadeln.“ Während die an 
gende Kritik des "vorigen Jahrhunderts ihre Geringfchägung gegen 
"8 gefehmacklofe Buch nicht Hart genug ausdrücken konnte, während 
’% Jachmann in dem nadten Gerippe, das er aus demfelben 
Nparirte, das Buch als ein geiftlofes Werk gezeichnet zu haben 
aubte, das fich weder durch Neuheit der Gedanken, noch durch 
khönheit der Form auszeichne, vielmehr reich fei an ſeichten Bes 
erfungen und abgeſchmackten Bildern, ohne Einheit des verbin- 
aden Gedankens, eine Schmarogerpflanze der Apokalyptik, welche 
Dft ſchon ein Auswuchs, ein Stieffind ber alten Prophetie ges 
den“), fo hören wir jegt faft überall die edle drAdens rühmen, 
he das Buch ſelbſt fo oft empfiehlt, die naive Freimüthigfeit . 
ns vom Geiſt geweckten Bußpredigers, wie er troß feines Ju⸗ 
iitmus auch der alternden Kirche der Gegenwart noch zu wunſchen 





3) &,56F. feiner Schriſt über den Huten des Gerums, 





320 Gab 


wäre *). Einen bedeutenden Schritt auf diefem Wege 
Anerkennung würde man zu thun haben, wenn es ber vorg 
Schrift gelänge, ihre Auffafjung des Buches geltend zu 
Sie ift eine frembartige Erfcheinung unter den neueren 
über den Gegenftand und feheint ſich felbft einer günfti 
nahme bei den Vorgängern und Mitarbeitern nicht zu 
Der Verfaſſer wendet ſich daher bei alfer Ausführlichkeit 
einanderfegung mit biefen wiederholt und vorwiegend an die , 
noch auf der Schwelle kirchenhiſtoriſcher Studien ftehend 
Togen“, denen er eine zu weiterem Forfchen anregende € 
in das Studium des Hirten bieten möchte, etwa das, 
ſelbſt einft für Tertullian Haffelberg’s Schrift geweſen ift. 
man zu biefer nicht unrichtigen Parallelifirung Hinzu | 
Hervorhebung der kirchenhiſtoriſchen Verdienfte von H. W. J. 
welchem der Verfaffer auch in unwefentlichen und unrichtige 
folgt, und endlich das apoftolifhe Wort, mit welchem er 
To nveüne um oßevvurs, rgoymrelas un &Eovdeveire 
fo möchte die Gefammtanfhauung, von welcher die Unt 
getragen ift, einigermaßen bezeichnet fein. 

Das Gefühl einer felbftändigen Stellung zu den Fi 
älteren Kirchengefhichte und das Bebürfnig, derfelben Au 
geben, welches ber Verfaffer ausfpricht, werden durch bie 
nicht nur befundet, fondern auch als berechtigt erwiefen, 
erbetene Zeugniß, daß er durch liebende Hingebung an be 
ftand deſſen eigenthümliche Art und Weife in's Licht zu ft 
fucht Habe, ſoll ihm Hier wenigftens nicht verfagt werde 
andere Frage ift es, ob gerade für diefe Stellung zum € 
die gewählte Form der Behandlung die natürliche und fü 
nannten, ja überhaupt für jeden Zwed der eingefchlagene 
geeignete war, welchen ber Verfaſſer den Hiftorifc -ritifd 
und einer „mehr dogmatifchen Behandlung“ oder einer , 
ftellenden Behandlungsweife* gegenüberftellt. Es entwidel 
eigene Auffaffung an dem Faden einer Gedichte der Be 
des Hirten von der Zeit feiner Entjtehung bis auf die 


8) 3. B. Hilgenfeld, Ap. 8. 127. Herm. pastor. proleg. X 





der Hirte des dermas. 321 


Handlungen von Lipſius. Es ergibt ſich dadurd) nicht blos für 
den Recenfenten die eigenthümliche Aufgabe, eine Reihe immerhin 
ingehender Recenfionen vecenfiren zu follen, fondern es wird auch 
gerade Denen, welche erft durch diefe Schrift mit dem Stoff und 
finer Literatur befannt gemacht werden follen, in hohem Grade 
erihmwert, einen einheitlichen Eindrud von den Dingen felbft, wie 
von des Verfafjers Urtheil über diefelben zu gewinnen. Kein Ju- 
ſaltsverzeichniß, feine fortlaufenden Ueberſchriften, kein Regiſter 
leihtert die mühjame Arbeit des Suchens z. B. aller der Stellen, 
m das Verhäftniß des Hermas zum Montaniemus befprochen 
wird, weil faft alle Eritifirten Vorarbeiten Anlaß gaben, darauf 
iiugehen. „Die kritiſchen Verhandlungen über den Hirten“, durch 
welhe der Verfaffer auf feinen Weg gedrängt zu fein glaubt, for« 
km unferes Bedünkens den davon Unbefriedigten zu einer ganz 
abern Arbeit auf, zu einer vollftändigen Behandlung de Mar 
krnls nach fachlicher Ordnung umd zu. einer mit beftändiger An« 
Yang des Ganzen verbundenen Einzelerklärung eindringenderer 
it, als dem Buch bisher zu Theil geworden ift. Es würde diefer 
ormellen Seite hier nicht fo ausführlich gedacht fein, wenn nicht 
hen daraus ſich manche auch fachliche Unebenheiten der vorliegen» 
im Arbeit erklärten, und wenn nicht, was noch mehr zu bedauern 
t, die Beweiskraft auch der richtigften Erkenntniſſe ſich dadurch 
iſplitterte. 

Es ſind deren nicht wenige, und es iſt der Muth zu ehren, mit 
dem der Verfaſſer in mehr als einem Punkte geradezu herr⸗ 
kenden Vorurteilen entgegentritt, vor allem in der Frage nad) 
m Verfaſſer und der Abfaffungszeit des Hirten. Ober ift es 
wa nicht eine Verirrung bes kritiſchen Gefhmads, wenn man in 
er Hinficht den Hirten mit dem vierten Buch Eſra, den Tefta- 
enten der zwölf Patriarchen oder den apokryphiſchen Apofalypfen 
oftofifchen Namens zufammenftellt? Wan möchte diefe Frage 
meinen, wenn man fieht, mit welcher Einjtimmigfeit und Zur 
tſicht die befonnenften Forſcher fo gut wie diejenigen Gelehrten, 
{de fi vorzugsweife den kritischen Beftrebungen widmen, katho— 
Ge wie proteftantifche Theologen das Buch des Hermas für 
ie Fiction aus der Mitte des zweiten Jahrhunders erklären. 


322 Gab 


Während Bleek 1819 noch ungeftraft jagen durfte, daß 
feine inneren Spuren einer abfichtlichen Uuterſchicbung 
trage *), und Neander es nur für fehr zweifelhaft erflär 
Schrift von dem „apoftolifhen Hermas“ ftamme, wir 
trog vereingelten Einſpruchs als eine feines - Beweifes 
Thatfache. behandelt, daß der Verfaſſer für den „apoftolifchen 
(Röm. 16,.14) gelten wolle, ohne es zu fein d). 

Die im weiteren Sinne geſchichtlichen, die Situation di 
ftellers zeichnenden Elemente einer Schrift, welche Erzeu 
beftimmten, wohl erfennbaren Zeit fein, im Falle einer F 
Jahrzehnte oder Jahrhunderte Hinter ihre wirkliche Gege 
rüdbatirt fein will, find entweder 1) im vollen Sinne g 
oder fie find 2) der Ueberlieferung über die Zeit un 
welcher die Schrift fäljchlih angehören will, entnommen 
find 3) reines Gedicht. Im erften Fall ift das Unbe 
für unfer Verftändniß der Schrift Gleichgültigfte, oder 
den fpätern Leſer Unverftändlichfte gerechtfertigt; und | 
uns die genannten Eigenſchaften entgegentreten, erregen 
ftärtfte Vorurtheil der Geſchichtlichkeit der davon behaftete 
und damit ber Echtheit der Schrift. Ein zurüdgelaffene 
eine medicinifche Anweifung für den ſchwachen Magen eines 
Notizen über Perfonen, deren fehr gebräuthliche Eigennan 
berühmten Träger aufzuweijen haben und feine fymbolifch 
zufaffen, find Züge, die man ſchwer für erfundene ausg 
Der zweite Fall, in welchem die erzählenden Züge das 
Mittel zur Bewirkung der Illuſion find, ift in dem Mi 
zu erfennen, als es uns ſchwer ift zu beftimmen, was ü 
ftehungszeit der Schrift an Ueberlieferung über die Zeit, aı 
fie ftammen will, vorhanden war. Aber zum Beweife, 
Ball vorliege, gehört vor Allem, daß gezeigt werde, wi 
liegenden gejchichtfichen Elemente überhaupt Inhalt ein 
tieferung, gleichviel ob einer richtigen oder falfchen, feiı 


2) Theolog. Zeitfchrift von Schleiermacher, de Wette, Lüe 
©. 148. 
b) &o wieder Lipfins in d. Zeitfehe. f. wiffenfch. Theol. 1865, 


der Hirte de Hermas. 823 


ner Ueberlieferung, welche im Gedächtniß einer fpäteren Generation 
io feft Haftete, daß fie dadurch trügficher Weife in die frühere Zeit 
prüdverfegt wurde. Der dritte Fall tritt bei Schriften ber ge- 
annten Art wohl niemals rein auf. Cr findet ſelbſtverftündlich 
gr nicht ftatt, wenn die Schrift wirklich Ausfage der Gegenwart 
it, deren Schein fie am ſich trägt, und auf welche fie wirken will. 
Aber auch die Ahficht, für das Erzeugniß einer früheren Zeit er 
kannt za werben, Tann eine Schrift durch rein erdichtete Züge nur 
reihen, fofern diefelben mit mehr oder weniger Geſchick ſich an- 
nen an hiſtoriſche oder ‚fagenhafte Elemente, und wären es auch 
a ein paar Namen, welche in der Ueberlieferung verbunden waren ; 
Kb. nur der Hiftorifche Roman kann den Schein der Gefchicht- 
ühleit erregen. Aber es ift bei der Annahme einer ſolchen Miſchung 
KR dorderung zu ftellen, daß Alles, was nicht aus dem Zwed der 
kaiihtigten Illafion, alfo als Beſtandtheil der vom Dichter ber 
age Tradition erflärt werden fann, aus dem Zwed der Schrift 
Abit, welchem die Fiction nur zur Stüge dient, erklärt werde, 
MW auf dieſer Forderung ift um fo beharrlicher zu beftchen, je 
aufiher die ernfte Abficht einer praftifchen Einwirkung Hervortritt, 
!meniger das Ganze den Charakter abfichtslofer Dichtung trägt, 
id je weniger die fraglichen Züge ein in ſich verftändliches ‚und 
Miehendes Bild Tiefern. 

Legt man diefe Maßſtäbe, deren Selbftverftändlichkeit leider ihre 
xtvorhebung nicht überfläifig macht, an den Hirten des Hermas 
1, fo ſtellt fich die Unmöglichkeit der Annahme einer Fiction bald 
mg heraus. Niemand wird leugnen, daß die Situation, welche 
4 der Verfaſſer des Hirten, der von Anfang bis zu Ende in 
fer Perſon redende Hermes gibt, eine für Leſer, die nur durch 
* Schrift felbft damit befannt find, in hohem Grade undeutliche 
1, daß fie alfo auch nicht zu dem Zweck gezeichnet fein kann, um 
(hen Lefern, die alfo mit uns in dieſer Hinficht auf gleicher 
tufe ftänden, einen anſchaulichen gefehichtlihen Hintergrund für 
* berichteten Biftonen zu jchaffen. Diefe Notizen und Andeus 
ugen, welche immer nur gelegentlich und zum größten Theil fichte 
h ohne alte Abficht Hiftorifcher Belehrung oder dichterifcher Täu- 
jung gegeben find, fegen bei den erften Leſern des Buchs, welche 





324 Saab “ 


der Verfaffer im Auge hatte, eine größere Kenutniß der 
voraus, als wir fie befigen. Nur mit großer Mühe gewi 
aus biefen Anzeichen eine ungefähre Vorftellung von dei 
verhäftniffen des Hermas; jeder Verſuch, fie auszufpreden 
gleich folgende, wird fih auf Widerſpruch gefaßt mache 
Es ift dies völlig begreiflich, ja das eigentlich Natürlid 
ein Schriftfteller zu feinen Mitbürgern, zu den Gliede 
eigenen Gemeinde redet, welche ihn und feine einfache 
fennen, und nur in zweiter Linie an Lefer anderer Orte, 
gar nicht an Leſer fpäterer Zeiten denkt. Will aber der 
durch diefe Züge den Schein hervorrufen, baß er ein vor ı 
zwei Menfchenaftern ®) dagewefener Mann ſei, fo muß eı 
der Ueberlieferung feiner Gemeinde, jeines nächſten Leſerkr 
nommen haben, und diejenigen Züge am meiften, weld 
Form der Erzählung vorgetragen find. Sehen wir fie 
einmal an! 

Der Hermas, welder ſich mit diefem Namen als € 
göttliher Offenbarungen einführt, ijt entweder in der 
geboren oder früh in diefelbe gerathen, dann von dem $ 
deffen Haufe er aufwuchs ®), an eine in Rom lebende Frai 
Rhode verkauft worden. Er ſcheint darnad nicht in Nor 
zu fein). Während fein früherer Herr ſchwerlich ein 
weſen ift — denu driftliche Herren werden ihre Scla 
verkauft haben —, jcheint Rhode eine Ehriftin zu fein; 
dem Moment, in welchem die Viſionen des Hermas beg 
ſcheint fie ihm vom Himmel her, in den fie aufgenomme 
zeichnet ſich als feine Verklägerin vor Gott und mahn 
Hriftlicher Buße. Zwiſchen jenem Verkauf an Rhode 


2) Wenn man Röm. 16, 14 um 58, den Hirten um 140 geſchriebe 

b) Denn ein Bater oder Bormund (d Ipeyas us) wird nicht I 
Sohn verkaufen, zumal ein jübifdher; die Sprache des Hermi 
daß er durch Geburt und Erziehung, ober durch Ießtere allein, 
war. 

c) Es Hönnte das eds Pulp auch nach vis. 2, 4 (eis Tavım 
ef. sim. 1) erffärt werden „in Rom“. Aber bie Erwähmmg | 
namens fpricht dagegen. 


der Hirte des Hermas. 825 


Jugend und dem Augenblick, in welchem bie Offenbarungen be» 
ginnen, liegt ein Tanger Zeitraum, deffen Inhalt fehr umdeutlich 
Meist). Ob fie ihn noch bei Lebzeiten freigelafien, oder ob er 
et nach ihrem Tode, der dann ſchon längft erfolgt ift, frei ger 
worden iſt; ob er ſchon Chriſt war, als er zu ihr fam, oder ob 
es in ihrem Haufe geworden ift, im Haufe ber beften Frau, 
die er ſtets als Herrin und Schwefter geehrt Hat, läßt ſich nicht 
jagen. ebenfalls hat er nach längerem Dienftverhäftnig längft 
fie felbftändige Stellung gewonnen. Er hat wahrſcheinlich durch, 
dandelsgeſchäfte ein bedeutendes Vermögen erworben, nicht ohne 
hädigung feines geiftlichen Lebens (Vis. II, 6. Mand. 3; 
4,2; 10, 1) und BVernadhläffigung der nöthigen SKinderzucht 
{is I, 3). Die Folge davon war, daß feine Kinder mißriethen 
Wihn und feine Frau, wie es fheint, bei einer Verfolgung der 
‚Dirgteit verriethen, und überhaupt ein ſchlimmes Leben führten 
(fs. I, 3; I, 2. 3). Es ift die Strafe feiner Verwiclung in 
wtlihe, auch wohl unredfie (Mand. 3) Geſchäfte, und, wie es 
heint, unmittelbare Folge feiner mangelhaften Findererziehung, daß 
hm fein Reichthum genommen ift, wohl durch Confiscation feiner 
Püter , welche bei einer Verfolgung ihn traf und durch jenen Ver⸗ 
ah feiner Kinder veranlagt wurde d). Sogar fein Haus ſcheint 





4) Bergebfich ſucht man auch bei Gaub eine Erklärung des Buchanfangs, 
welche doch für die Einführung der „jüngeren Theologen” jo nöthig wäre. 
Die älteren, noch auf der lateiniſchen Vulg. beruhenden Angaben bei Jach- 
mann und dilgenfeld find antiquirt. Wenn man auch jet ſich nicht ver- 
anlaßt fieht, etwas zu jagen, fo ſcheint man ſich die Schwierigkeit der 
Sache zu verbergen. Was Heißt hier dveyvwgundunv, da doch von einer 
Trennung des Hermas von feiner xvola Nichts geſagt iſt, und wie ift die 
Tiberfeene zu erflären, da doc „nach einiger Zeit”, ohne baf von bem 
inzwijchen erfolgten Tode ber Mhode gelagt wird, biefe als im Himmel 
befindlich, alfo chriftlich geftorben angejehen wird? Muß dann nicht die 
Scene im Tiber ſchon eine viſionäre, gleichfalls dem Tode Rhode's erſt 
folgende fein, und dann auch der Cod. Lips. mit feinen Zgovos moAdol 
Recht behalten? 

b) Vis. I, 3; III, 6; auch Vis. I, 3 wird nad) dem Zuſammenhang das 
GÜ zarspddens dnd Tüv Auwrexev odkeov vom Verluft zu ver⸗ 
eben fein. 

Theol. Sind. Jahrg. 1868. 22 


326 Saab 


er verloren zu haben (Sim. 7 fin.). Er gehört zu den 9 
bei denen es zum vollen Martyrium nicht fam (Sim. 8, 
falls aber ift er in eine gefahrvolle Lage gerathen, in ı 
fig um „Abfall von dem lebendigen Gott“ handelte (Vi 
Geradezu verarmt ift er nicht. Hermas hat draußen vor 
feinen zehn Stadien von der Via Campana gelegenen 9 
IV, 1), wo er felbft Aderbau treibt *). Aber es hat ſich 
feine Tage auch geändert. Sein Weib zwar macht ihm 

durch feine böje Zunge; feine Kinder bedürfen noch vieler : 
er fol den Schmiebehammer des täglichen Mahnworts u 
ſchwingen (Vis. I, 3). Aber im Verlauf der Offenbaru 
fie ihr Unrecht gründlich eingefehen; die Noth, welde 

willen auf Haupt und Gliedern des Haufes noch laftet, 
mehr eine Uebung im Leiden and) für jene (Sim. 7). 
ift ein Laie; auch ein Prophet im apoftofifchen Sinne d 
ein Prophet, wie er ihn felber ſchildert (Mand. 11), il 
Daß er Offenbarungen empfängt, ift ihm felbft überra 
macht ihn noch nicht zum Propheten, da Hierzu Bifione 
forderlich find, wohl aber die vom Geift getragene öffen 
Im Haufe zwar gebraucht er das freie Wort, auf die 
und ganze Kirche aber wirft er wefentlich durch Mittheil 
weiſe eigene Vorlefung der jchriftlichen Aufzeichnung fei 
niffe. Wenn er auch mündlich die Vorfteher und ande 
der Gemeinde ermahnt, fo ift das ein voudszeiv gewef 
auch der Grapte aufgetragen wird (Vis. IL, 4), d. h. e 
Tefung der ſchriftlichen Aufzeichnung beftehendes, jedenfalls 
fußendes. Zur Verbreitung derfelben in auswärtige 

bedient er ſich des mit diefem Verkehr beauftragten Clen 
ebenjo der ſchon genannten Grapte zur Mittheilung an d 
und Waifen. Nehmen wir nod Hinzu, daß ein gewiffer 
der in einer Verfolgung verfeugnet hat, unter Hinweis 
große neue Verfolgung gewarnt wird, fo haben wir alle 
Züge beijammen. Und durch diefe fol ſich der Verfaſſer, 
der römifchen Gemeinde um die Mitte des zweiten 


8) Darauf führt das Zondereis des Cod. Sin. (Vis. M, 1). 


der Hirte des Hermas. 8237 


derts ), den Schein gegeben Haben, der „apoftofifche Hermas“ zu 
fin! Da fich nicht annehmen läßt, daß der Verfafjer bei der zu 
dem Ende gefchaffenen Situation meiften® aus der Rolle gefallen 
fi und etwa einen zu feiner Zeit Iebenden Marimus und eine 
gleichzeitige Grapte und dergleichen mehr eingeführt habe, wodurch 
der erjte befte Lefer in Rom, jedenfalls aber Marimus und Grapte 
felbft, auf die Täufchung aufmerfjam geworden wären; ba ferner. 
fait alle thatfächlichen Verhältniſſe recht im Gegenfag zu der fon- 
fügen Breite des Buches nicht befchrieben, erzählt und erklärt find, 
fondern ihre Kenntniß vorausgefegt wird, jo müfjen fie der Tras 
dition der römifchen Gemeinde angehört Haben und zwar in viel 
größerer Ausführlichkeit, als wir fie erkennen. Hilgenfeld, der diefe 
wderderung im Prineip anzuerkennen ſcheint (Ap. ®., ©. 161), 
hitxänkt den traditionellen Stoff in einem Maße, in welchem er 
‚bez erffärende Thatſache unerflärt läßt. 

dit dag 16. Eapitel des Nömerbriefes, wie fo vielfach angenom- 
an wird, unecht, vielleicht an einen anderen Ort adreffirt, fo hat 
8 unferes Wiſſens zur Zeit des Apoftel® Paulus in Rom gar 
kinen Chriften Namens Hermas gegeben, von welchem ſich achtzig 
Rhre lang eine Weberfieferung Hätte erhalten können. Es hätte 
ich erft auf Grund der fälihlih an den Romerbrief angehängten 
Zrüße die irrthumliche Meinung gebildet, daB mit den vielen dort 
von Paulus gegrüßten Perfonen auch Hermas der römifdhen Ge 
zeinde angehört habe. Warum man fi dennoch diefen nadten, 
die Origenes fo richtig bemerkte, durch nichts ausgezeichneten Namen 
ver allen anderen als feften Stod der umftändlichen Sagenbildung 
md zwar einer fo harmlos häuslichen Sagenbildung, wie die Refte 
ie erfennen laſſen, follte erwählt Haben, wäre unbegreiffih. Und 
% hätte dies längft vor Abfaffung des Hirten geſchehen müſſen, 
o dag der Verfafjer deffelben nur mit wenigen leifen Strichen an 
vn Helden der Sage hätte zu erinnern brauchen, um für ihn zu 





¶) Diefer Zeit hat ſich and) Hilgenfeld (Herm. prol. XX) genähert, wäh. 
rend er früher eine Abfaffung fogar noch in den letten Zeiten Trajan’s 
fir möglich hielt (po. Bäter, ©. 160) und die Zeit vom 120— 180 
annahm (Zeitiche. f. wiffenfh. Theol. 1858, ©. 440). 

. 22° 





328 ©aab 


gelten. Aber gejegt auch, jene Grüße waren nad) Rom | 
wie Hilgenfeld meines Wiffens auch jegt noch annimmt; 
alfo dort ein gemiffer Herma, den man nur nicht einen 
ſchüler oder apoftolifh nennen ſollte, weil einmal ein Apo 
Gruß an ihm gerichtet hat; ift denn das, was unfer & 
feinem Hermas fagt und andeutet, irgend geeignet, Inhalt 
lange andauernden Gemeindetradition zu fein? Konnte f 
Schriftfteller, welcher fi nad) einem ehrwürdigen Na 
apoftofifchen Zeit umfah, um unter deſſen Schirm feine W 
und Weiffagungen in die Gegenwart einzuführen, feinen 
finden? Es ftehen Röm. 16 doc glänzendere Namen, | 
es auc ohne dies Gapitel fein würden, uud folhe, die 
dronifus und Junias und alle Folgenden hier von Paulu 
erhalten. Wenn aber auch die Beſcheidenheit ihn trieb, 
fheinbarften zu wählen, was, wie Ga&b richtig bemerkt 

der Weiſe folcher pfeudonymen Scriftfteller durdaus wit 
wollte er bei aller Befcheidenheit feinen Zwed erreichen, 

er andenten, daß er der dort Genannte fei. Er mußte 

fomehr thun, je weniger auffallend der Name war. € 
nicht nur noch einmal zur Zeit des Biſchofs Pins vor, er 
abgejehen davon, daß er als dorifche Form neben Hermes 
Verwechſelungen Anlaß gab, nad) Ausweis der Wörterb 
gar nicht feltener. Er mußte, wenn er überhaupt für ein 
der apoftolifchen Zeit gelten wollte, ohne es zu fein, Be 
zu irgend einem Apojtel fingiren. Bekanntlich wird in 
Buch weder die Zwölfzahl der Apoftel, noch einer der Zu 
Paulus genannt, und auf den Römerbrief insbefondere 

an einer einzigen Stelle Rüdficht genommen *). Das 

Abrede Geſtellte Kiejt man zwar Häufig, z. B. bei Baur (C 
u. 8. der drei erſt. Jahrh. ©. 135), Hilgenfeld (2. 
wiſſenſchaftl. Theol. 1858, ©. 439; Herm. proleg. XV 
fonderbarer Weife auch bei Gaab (S. 102). Aber daru 
nicht jo. Die einzige Stelle, auf welche man verweift (Sim. 


a) Die Berüheung mit Röm. 2, welche Gab anfühet, if mi 
(©. 118). 


ber Hirte des Hermas. 829 


ſtelt nur die für die Kirche beftimmte Menfchheit unter dem Schema 
kr zwölf Stämme vor und läßt diefen durch die Apoftel den Sohn 
Gottes geprebigt fein, fagt aber nichts über, die Zahl der Apoftel. 
Die Zahl „der Apoftel und Lehrer der Predigt vom Sohne Gottes“, 
welche überall als einheitliche Maffe erfcheinen, ohne dag zwiſchen 
Kpofteln im engeren Sinne und kirchengründenden Lehrern der erften 
Generation unterfchieden würbe (Vis. III, 5. Sim. IX, 15. 16. 25), 
wird vielmehr (Sim. IX, 15) auf 40 angegeben. Wer gibt uns 
tin Recht, diefe Zahl in 12 und 28 zu theifen, oder im 17. Ca— 
Pit eines Gleichniſſes die beiden vorigen vergeffen zu haben? 
Bern man hier (Cap. 17) den Hirten das Wort drrdarolos in 
ken befannten engerew Sinne und zwar mit abfichtlihen Ausſchluß 
Uderer auf die zwölf Apoftel anwenden läßt, fo bitrdet man ihm 
wenteuerliche Meinung auf, daß diejenigen Menfchen, welchen 
At einer der zwölf Apoftel, fondern irgend einer der erften „Lehrer 
Me Predigt vom Sohne Gottes“ das Evangelium gepredigt habe, 
Im dem ſymboliſchen dodsx&gyvAov auszuſchließen feien. 

Der Name des Hermas hat auch beim Erſcheinen des Buches 
m nicht die Meinung erwedt, baß es von dem „apoftolifchen 
jermas“ ftamme. Man wird dies doch nicht daraus ſchließen 
vollen, daß Irendus es als „Schrift“ citirt. Jrenäus möchte 
ine apoftofifche Begrüßung ſchwerlich als Bedingung der Inſpi—⸗ 
ationsfähigfeit betrachtet haben. Es ift ferner nicht richtig, daß 
er muratorifche Canon bdiefer Meinung entgegentrete, wie auch 
ib fagt. Er tritt lediglich dem von Etlihen oder Vielen erho- 
men Anspruch entgegen, daß dieſe Schrift im öffentlichen Gottes- 
ienft gleich den prophetiſchen und apoftolifchen Schriften vorgelefen 
verde. Er begründete feinen heftigen *) Proteft dagegen durch die 
Imerfung, daß das Buch erft fürzlich unter Pius von defien 
Jruber geſchrieben fei. Man fieht nur das aus diefer Begründung, 
08 die Vertreter der von ihm befämpften Forderung das Buch 
it weit älter hielten. Deutlich aber zeigt die erfte uns befannte 
inmbination. des Verfaſſers des Hirten mit dem „apoftolifchen 
jermas“, daß da8 Buch nicht zuerft in diefer Meinung aufgenoms 





a) Das fpricht ſich jedenfalls in dem in finem temporum aus, 


330 Saab 


men ımd nicht in Verbindung mit biefer Meinung verbreitet 
tft. Origenes gibt diefe Combination ganz befcheiden als 
feinem Kopf aufgejtiegene Bermuthurig *), und keineswegs, ı 
Gaũub (S. 6) meint, auf Grund einer „conftanten Tre 
Daß und wie aus alerandrinifchen Vermuthungen kirchliche 
entftanden, zeigt „der Presbyter Johannes“. Auch das ifi 
tige Auslegung, wenn Gaäb die Worte des Origenes: „a qı 
pore opportuno Christo rursus deberet offerri“, auf ei 
Tradition feftftehendes Martyrium dieſes Hermas deutet. 
wenn au die Märtyrer als Gott dargebrachte Opfer | 
werden fünnen, fo geftattet.doch ein oflerre, welches den & 
zum Subject hat und durch das dabeiftchende rursus als 
aufhebung des positus erat sub angelo poenitentiae | 
folche Deutung nicht. Auch das ift wenigſtens nicht genau 
daß unfer Buch) feinen Hermas als noch nicht reif zum SM 
bezeihne (Gaäb, ©. 6, 40), worin man immer fon e 
weifung auf das von Ga&b wiederholt behauptete ML 
(©. 69) deffelben erbliden könnte. Es bezeichnet ihn viele 
einen Mann, dem noch Vieles fehlt, einen Ehrenfig einne 
Tönnen, wie ihn Märtyrer erhalten; es fehlt ihm dazu n 
das Martyrium, fondern vor Allem die pofitive Lebensger 
(Vis. II, 2). Diefe Erfenntniß in ihm zu wirken, dient t 
Scene. 

Es mögen Andere vor und nad Origenes unabhängig 
daffelbe vermuthet haben, aber feine Bemerkung beweift, 
fpätere, mit feiner Vermuthung übereinftimmende, von 
bejtrittene Annahme nicht traditionelle Fortfegung des erfi 
drucks geweſen ift, welchen das Buch bei feinem Erſcheinen 
hat. Wenn alfo der Verfaſſer dennoch die Abficht gehal 
fo Hätte er fie zum gerechten Lohn feiner Außerften Ungefi 
des vollen Gegentheils der ihm neuerdings nachgerühmten 
dernswerthen Gewandtheit“, nicht erreicht. Ober follte 
gerathener fein, ihm ein pfychologifch fo unerflärliches V 


a) BeiHilgenfeld, Herm. proleg., p. XI: „Puto tamen, quod 
iste sit scriptor libelli illius, qui Pastor appellatur.“ 


der Hirte des Hermas. 881 


nicht zuzufchreiben und fomit auch die Strafe zu erlaffen? Uber 
Hermas will ein Angehöriger der apoftolifchen Zeit fein, oder, wie 
wir bei dem fehwanfenden Charakter jenes Begriffes beffer jagen, 
er will jeine Offenbarungen empfangen haben zu einer Zeit, als 
Clemens noch Tebte, deffen Tod man gewöhnlich auf das Jahr 101 
ſeht. Clemens erfcheint als derjenige [Gemeindevorfteher], dem der 
Verkehr mit den auswärtigen Gemeinden übertragen ift, und ift 
uch für uns als Verfaffer des Briefes an die Korinther Hin» 
teichend bezeichnet. Es lönnte diefe dem Clemens zugejchriebene 
Stellung eine Fünftliche Abftraction aus dem viel gelefenen Briefe 
deſelben jein ); aber was wäre dagegen zu fagen, daß in der That 
de römische Gemeinde wegen ihrer Bebentung fehon am Ende bes 
ofen Jahrhunderts in häufigerem Verkehr mit anderen Gemeinden 
kat, und daß es gerathen fhien, einem dazu befähigten Presbyter 
‚& ſolches Commiffarium zu geben, wodurch anderweitige regel- 
ige Verwerthung feiner Kraft nicht ausgefchloffen war? Wenn 
llemens auch nur ein, zweimal vor oder nach Abfafjung des Briefes 
in die Korinther, der feine Begabung dazu bekundet, eine Eorre- 
hondenz im Namen der römifchen Gemeinde geführt hätte, wäre 
kt Ausdrud des Hermas erklärt. Nicht erklärlich aber ift es, 
nf Hermas, wenn er fälihlih für einen Zeitgenoſſen des Elemens 
rlten wollte, durch nichts ein näheres Berhältniß zu ihm andentete, 
aß er ihm nicht einmal deutlich nach feiner amtlichen Stellung 
xxichnete, und daß er außer ihm nur folhe Namen nannte, die 
übt nur nicht berühmt, fondern unferes Wiffens überhaupt fonft 
übt genannt find. Weder eine Grapte, noch ein Maximus ift 
tgendwo aufzutreiben. Und wenn im Gedächtniß der römifchen 
Bemeinde 50 Jahre nach dem Tode Domitian’s ein Maximus fort- 
niebt Hätte, der in jener Verfolgung verleugnet Hatte, es bliebe 
‚oc unverftändlih, was die abgeriffene Warnung deffelben an fo 
feutungsvoller Stelle (Vis. II, 3) heißen follte. Durch den ger 
Äufigen griechifchen Frauennamen Rhode aber konnte man ſich doch 
mr fo lange mit einigem erträglihen Schein an Apg. 12, 13 
innern laſſen, als fie die Sclavin war. Seitdem fie durch Sin., 





2) Bot. Ritſchl, Atkath. Kirche, 2. Aufl, ©. 4407. 





©aab 


et aeth. zu einer Sclaven haltenden Herrin 
ft, fonnte man im zweiten Jahrhundert fo w 
e Magd im Haufe der Maria zu Jeruſalem d 
Ihrigen die gelegentlichen Bemerkungen, wonach 
ce Apoftel und der mit ihnen zufammengehörigen 
er im Großen und Ganzen als bereits dahin, 
a wenigen Vertretern nod vorhanden bezeich 
5. Sim. IX, 15. 16. 25). Zwar Teugnet Hil; 
d nimmt dadurch dem Verfaffer das Einzige, 
inmaligen Nennung des einen Clemens an M 
te, um fi in das erfte Jahrhundert zurück; 
fon von jenem Standpunft aus nicht gerathe 
»dem anderen erlaubt fein, es nicht zu verfteh 
tung, daß überhaupt noch Biſchöfe, Lehrer ı 
d), bedeuten fol. Es wird deren fogar m 
nehr gegeben haben. && kann alſo auch hier 
eren Stelfen deutliher ft, nur von der apof 
ründenden Generation erfter Prediger des Eva 
in. Den Clemens felbft mag er dazu gerechn 
ilexandriniſcher Namensverwandter einen dr 
Und warum follte Hermas nicht auch nad 
m? Jedenfalls paßt die ganz gelegentliche B 
der ebenfo gelegentlichen Erwähnung des Efemeı 
ad Cor. 1) von plöglichen und wiederholten : 
igenen Gemeinde redet, welche fie bisher gehind 
rinthiſchen Gemeinde ſich anzunehmen, fo fegt 
n voraus, in welchen Einige fchlecht beftant 
felbft weder Märtyrer noch Verleugner gewort 
ermögen empfindlich geftraft worden ift. Her 
ıben die Beunruhigungen der Chriften unter 2 
Während diefer noch unmittelbar aus denjelber 
apfängt Hermas feine Offenbarungen in einer 


B. ©. 134 Anm, 159. Herm. prol., p. XV. 
rı övzes, Vis. II, 5. 
genfeld, Ad Clem. ep. ad Cor, cap. 1. 


der Hirte des Hermas. 388 


bigen Zeit, weift aber hin auf eine demnächſt bevorftehende große 
Berfofgung, im Vergleich zu welcher alles bisher Erfebte nur eine 
Borübung. ift. 
Der Verfaffer des Hirten gibt ſich aljo nicht den Schein, der 
opoftofifche Hermas“ zu fein, fondern tritt auf als ein Glied der 
imiihen Gemeinde, Namens Hermas, welches nad den domitia- 
ijhen Unruhen, aber vor dem Jahre 101, etwa unter Nerva 
ker in den allererften Jahren Trajan's Offenbarungen empfangen 
ıben will. Da ſich nun gezeigt hat, daß die von ihm vorgebrachten 
Aihtlihen Züge weder der dritten, noch der zweiten der oben⸗ 
wannten Arten angehören, noch eine Mifchung beider darbieten, 
duird man zu der erften Art greifen müfjen, Hermas wird der 
h. wofür er fich ausgibt, und fein Buch der Zeit angehören, 
ohne alle Künfte, aber auch ohne alle verrätherifche Fehlgriffe 
kuimidit. Wenn man fi hiervon als der einzigen Möglichkeit 
lexigt Hat, wird man mit Zuftimmung die Erinnerungen Gaub's 
8.597.) an ben ethifchen Charakter des Buches leſen, mit welchem 
heine pia fraus befonder8 wenig vertrage, und den Nachweis 
t Gründe, welche die Verwerfung der Echtheit des Buches ver 
daft Haben (S. 15ff. 60ff. u. ſ. w.), im Ganzen zutreffend 
den. Oder find etwa erhebliche Gründe vorgebracht worden, 
{he und das nad) dem bisher Gefagten Unwahrfcheinlichfte glaub» 
ft machen könnten? Dan gefteht ziemlich allgemein zu, daß die 
meinbeverfajfung weſentlich auf derfelben Stufe ftehe, auf welcher 
t fie am Ende der apoſtoliſchen Zeit finden *). Die Hinwei- 
en auf gnoſtiſche Regungen find fo allgemein gehalten, daß 
dit Eipfius, der doch den Hirten mehr noch als Hifgenfeld herab- 
üden möchte, gegen deſſen Preffung unbeftimmter Warnungen 
d Magen Verwahrung einfegt ®). Aber auch die wenigen Stellen, 
welhen Lipfius um fo unzmweifelhafter den Gnoſticismus ber 
it um 140—150 berührt findet, geben trog der dort gegebenen 
fen Paraphraſe kein Refultat, ftatuiren fein anderes Verhältniß 





BL. Hilgenfeld, Apoſtol. 8, ©. 16i ff. Ritſchl, Alttathol. Kicche, 
©. 402. 


>) Beitfehe. f. wiffenfhaftl. Theol. 1865, ©. 284. 


334 Bash 


zwifchen jenen Erfcheinungen und de 
Spftemen, als das des Allgemeinen 
regenden Neigung zur ausgebildeten, 1 
von Gaũub (S. 105 ff.) dagegen Ben 
Verhältnig zum Montanismus wirde 
gebniß gefährlich werden, wenn die 
würde, daß der Hirte antimontanifti 
Berwandtfchaft, weldes nur von 
es Lipfius Hinaufgejchraubt hat, wied 
braucht einer richtigen Würdigung d 
Was Gaäb in diefer Hinficht bemer 
entbehrt bei allem Wahren, was gef 
beweisträftigen Schärfe, weil der V 
exegetifche Unterfuhung des Thatbefi 
meinere Erwägungen vorzieht, welche 
Ausfchlag geben mögen, aber nicht 5 
lichen Beſprechung zu entfcheiden. €: 
der Verfaffer S. 178 fagt: „Die t 
mus laſſen fi im Hirten nicht nad) 
wieſen fein. Es Handelt fih um t 
welchen ſich die empirifche Kirche dem 
ihm zuerft mit allen Epuren des % 
figend, nach der Deutung des Buches 
weil der Geift der angerebeten Chriſte 
kraftlos ift in Folge ihrer Verweich 
gleichen Greifen, die nichts mehr ı 
Schon der doppelte Vergleih mit t 
und franfpafter Leibesſchwäche, mehr 
Vergleichs gebrauchten Ausdrüde rugsı 
vov und Enalewödnte, machen die 
möglich, wonad damit einerfeits „die 
Hifftofigkeit“ dargeftelft werden fol 
durch ihre Verwicklung mit der Welt d 
©. 300), und doch andererſeits „di 
Dafein der Kirche überhaupt beginneı 
Geiſt ſchon verwellt fei, fagt doc, | 


ber Hirte des Hermas. 835 


fo nachdtucllich hervorgehobene Greifenafter fegt eine Jugend voraus. 
Pit Wehmuth blickt Hermas wiederholt auf eine beffere Zeit der 
Ringe zurüd, auf die nun dahingeſchwundene Zeit der erften Ver⸗ 
ändiger de8 Sohnes Gottes in aller Welt und die erften Leiter 
er neugegrünbeten Gemeinden, welche heilig und uneigennütig ihren 
Dienft gethan haben (Vis. III, 5. Sim. IX, 25, aud 27). Auch 
xnn die Mutterfirche den Chriften, ihren Kindern, bezeugt, daß 
k diefelben Ev moAlj anidımu xal dxaxig xai veuvörmz 
Kferzogen Habe, meint fie damit nicht den Sinn, welden fie felbft 
ai gehabt Habe, fondern den anfänglichen Sinn der Chriften, fo 
ine fie ſich noch von ihr erziehen liegen. Wenn fich diefe Aufe 
ing nicht von felbft verftünde, würbe die weiterhin folgende Klage 
den gegenwärtigen böfen Stand der Gemeinde beweifen, daß 
Sgenfag hiezu jene Eigenschaften genannt waren (Vis. III, 9). 
ht alfo die durch die erfte Erfcheinung der Frau bezeichnete 
nichts zu ſchaffen mit der montaniftiihen Meinung, daß 
x Apoſtel um der Schwäche des Fleiſches willen manches noch 
haltet Hätten. Die doIeveim der Kirche bei Hermas, an welchen 
wen, übrigens nur in einem zweiten Bilde gebrauchten, Ausdruck 
bins fich vornehmlich zu halten ſcheint, ift eine Entfräftung der 
kenden Kirche; die infirmitas carnis bei den Montaniften ift 
ie noch nicht vom Geift überwundene jugendliche Unreife. Es 
agt allerdings die lage über die dermalige Beſchaffenheit der 
iche nicht, wie wenn fie eben erft und plögli in diefen Zuftand 
fathen wäre, fondern, wie mit jeder Erfchlaffung, fo iſt's auch 
# diefer; fie erſcheint als ein ſchleichendes Gift, welches auch die 
tſten zu ergreifen droht; die ganze Kirche erfcheint dem Hermas 
diefer Gefahr zu fehmeben. Die zweite Geftalt ftellt die in Folge 
Fan Hermas ergangenen Offenbarung geſchehene Erneuerung des 
tmes, zunächft feines eigenen, aber auch feines Haufe und der ‚ 
meinde, dar. Wie er mit feinem Haufe durch das ganze Buch 
Much der Typus, das zur Demonftration dienende Exemplar 
t Öemeinde ift, und wie er überhaupt über den Erfolg feiner 
Bätigteit an der Gemeinde nur ganz gelegentliche Andeutungen 
acht, fo darf uns auch das Fehlen einer hiſtoriſchen Benachrich- 
Ang am Schluß der erften oder Anfang der zweiten Vifion nicht 





836 Saab 


hindern, der deutlichen Erklärung (Vis. III, 12) zu glau 
zwifchen beiden Vifionen, während des dazwifchen Tiegende 
(Vis. II, 1) eine gewiffe Erneuerung und Ermannung | 
des Hermas, fondern aud der römischen Gemeinde fta 
hat. Allerdings gelten die Ermahnungen der erften Bifio: 
dem Hermas und feinem Haufe. Aber fon bie ef 
Verkündigung, derem Ende ihm allein im Gedächtniß bi 
über diefen privaten Kreis hinaus *) und muß ihn veranlı 
in der Gemeinde davon zu reden. Wenn das aber aus 
natürlich wäre, wie es ift, fo würde bie beftimmte © 
(Vis. III, 12) dennoch nöthigen, es anzunehmen. Als $ı 
erften Wirkung der Offenbarung, ale Lohn diefer Erma; 
Gemeinde, wird die Offenbarung des Thurmbanes bezeid 
nicht ganz genau ift, aber ungefährlich, da das zwifchen d 
and dritten Vifion Liegende nur eine Fortfegung jener 

iſt. Es ift alfo unberedtigt, die zweite Geftalt als ‚S 
ganzen Periode von der neuen Offenbarung an bis zur 9 
faffen, wenn anders die Deutung der Bilder an die aus 
Angaben des Buches felbft ſich zu Halten hat. Noch u 
ift die Deutung der dritten Geftalt auf die Zeit der V 
denn auch diefe Geſtalt wird (Vis. III, 13) vom Buche 
die in Folge der wiederholten Offenbarungen ſich fteig 
hebung der Gemeinde gedeutet. Schon an den grauen H 
Frau (Cap. 10) feheitert die Erklärung von Lipfius. 

bleibt dann die nierte, Geftalt (Vis. IV, 2), welde dod 
mit ber dritten nicht identiſch ift, die gefhmüdte Braı 
auf diefe Schilderung paßt, was Lipfins von der dritt: 
-präbicirt, daß fie völlig jugendfich fei. Die rolges As 
nicht wie die zofges ngeOßUreges der dritten Viſion 3 
Alters, die der Braut fehlecht anftehen würden; fondern 
wie das Kleid und die Sandalen ift auch der natürliche 
des Hauptes ®). Die vierte Gefialt wird nicht gedeutet, 
nad) den früheren Erklärungen fofort von Hermas als 


a) Vgl. befonders Vis. I, 4: „rois dızaiog ... rois Even zei 
rar“, 


b) Bol. Offb. 1, 14, wo Ehriftus auch nicht ale Greis dargeftellt ı 


ber Hirte des Hermas. 837 


rlannt wird, und weil fie ſich durch ihre diesmalige Erſcheinung 
jnteichend charalteriſirt als die zum Empfang des Bräutigams 
ertite Braut, als die Kirche unmittelbar vor der Paruſie. Das 
mfentliche Erfordernig für den damit gezeichneten Zuftand ber 
irhe hatte Hermas foeben typiſch dargeftellt in dem Glauben, 
ihn vor dem There, dem Typus der legten großen Drangfal, 
mahrt hatte. Das in den drei vorigen Geftalten ſich Darftellende 
Reine während des Verlaufs der Vorgänge, deren Urkunde unfer 
Jach ift, ſich vollziehende allmähliche Erhebung der Gemeinde, aber 
per folchen, welche die Sehnſucht nach der Kirche der Vollendung, 
16 der Erneuerung Himmels und der Erde (Vis. I, 3) nidt 
it. Den hier geltend gemachten Aeußerungen des Buches jelbit 
Rmiber darf das nicht irre machen, daß bei fpäteren Offen 
gen die Gemeinde keineswegs als auf dem dritten Standpunkt 
erfcheint, fondern durchweg wieder auf dem erften. Gleich 
Anfang der vierten Vifion wieder fteht neben dem Danf auch 
um Buße für Alle. Es find ſolche lobenden und anklagen— 
hdusfagen ihrer Natur nach relativ, und es hiefe den Charakter 
t Bußpredigt überhaupt wie unferes Buches insbeſondere völlig 
cheſſen oder verfennen, wollte man aus ſolchen Ausfagen ein 
igionsgefchichtliches Schema bilden. Die anfänglich ſcheinbar ganz 
mentane Erlaubniß zur Buße dehnt ſich noch im Verlauf der 
fenbarungen zu einer Tängeren Periode aus, während welcher 
Tmas und die Gemeinde unter dem Engel der Buße ftehen. 
' heißt zwar auch jegt noch immer: Bald wird der Bau voll- 
xt! Eilt mit der Buße! Aber es ift doch mit fteigender Deut« 
keit, befonders im adjten und neunten Gleihniß, vor die Thurm⸗ 
lendung eine &voxn von echt apofalyptifcher Dehnbarkeit ge- 
tm, eine von der Langmuth Gottes gewährte Zeit des Wartens 
d der Erziehung zur Buße. Der Bußruf jegt aber immer den 
h nicht ermeuerten Zuftand voraus. 


Die Meinung, daß Sim. IX, 11 die Sitte des jungfräuficer 
fammenlebens gedacht werde, behandelt Gaäb (S. 56—59) fait 
vorfichtig, folgt auc gewiß mit Unrecht Anderen in der Meinung, 
mad erhalte Vis. IT, 2 den Befehl, mit feinem Weibe fortan 


838 Saab 


nur noch als Schweſter zufammenzufeben. Die Wort 
Bl cov zij weAlovon Gov ddeAyij jagen doch nicht 
als daß fie einft, nämlich im fünftigen Aeon, nur 
Schwefter fein werde (Matth. 22, 30); und eine ande 
ftige Uebertragung auf die Gegenwart bezeichnen die i 
adeApjv 0ov*) auch nicht. Unferes Wiſſens neu und 
werth ift die Bemerkung des Verfaſſers, daß gerade aı 
ftand und Mißbrauch der Stelle Sim. IX, 11 die 

gebildet habe. Es ift ein folder Einfluß des vielgel 
hochgeehrten Buchs glaublicher, als der Einfluß auf di 
Gebetsfitte, den nach dem Zeugniß Tertullian's (De c 
ganz äußerlicher ad ordinem narrationis, non ad in 
plinae erwähnter Umftand geübt hat. 

Auch der Behauptung, daß die Verfolgungen, wie f 
als vergangen vorausfegt, nicht die meronifche und d 
fein können, hätte der Verfaſſer mit größerer Beftimmthe 
treten dürfen, als es ©. 67ff. geichieht; und es war 
mehr veranlaßt, da Hilgenfeld früher, als noch ein: 
den pfeudepigraphifchen Charakter des Buches nothmwen! 
(Ap. V., ©. 159f.), diefen Punkt allein ſchon für 
hielt und eigentlich auch allein mit einigem Nachdruck geli 
Es werden aber in der ziemlich weitläufigen Darlegung 
lich zwei Ausfagen des Hermas als beftimmte Hinwe 
fpätere Zeit gefaßt, die Worte (Vis. III, 2): uaory 
xäs, Yalıyeıs weydias, oravgovs, Imgla Svsxe vod 
tod Feod, welde eine Verurtheilung zum Thierkam 
fegen, und die Stelle (Sim. IX, 28): öoos Er’ e£o 
Hevres EEmracdncav zul odx jevjoavıo x. €. A, 
„geordnetes inquifitorifches Verfahren“ zeigen follen, ı 
dem befannten Refeript Trajan's an Plinius nicht vi 
fei. Man könnte zwar diefen Bedenken, deren erftes fid 
von Neander geäußerten Zweifel gründet, während da& | 
ends nnerweislich ift, einfach die Forderung gegenitberf 
durd) die Schrift des Hermas, wenn anders feine e 


a) Bol. Vis. I, 2 mit 1Ror. 9, 6. 





der Hirte des Hermas. 839 


Gründe gegen ihre Entftehung um das Jahr 100 fprehen, eines 
beſſeren belehren und unfere dürftigen Quellen über bie Vorgänge 
ter Nero und Domitian vervollftändigen zu Taffen. Aber das 
Benige, was wir wiffen, genügt zu völliger Rechtfertigung diefer 
die aller übrigen Ausfagen des Hermas über das Martyrium 
finer näheren und ferneren Vergangenheit. Da eine eingehende 
Ärörterung der Art und des Umfanges der Neronifchen Verfolgung 
der, was damit faft gleichbedeutend ift, eine Erklärung der von 
kn Philologen ziemlich mannichfaltig auegelegten Tacitusſtelle 
Ann, XV, 44) bier nicht gegeben werden kann, fo muß die Frage 
beantwortet bleiben, ob nicht unter den gravissimae poenae, 
m welchen Tacitus nur die legten unerhörten Erfindungen vaffi- 
er Graufamkeit nennt, um zu erflären, wie in der heidnifchen 
Ri trog des Haſſes gegen bie Chriften Mitfeid Habe entftehen 
Bi,” auch die in der Kaiferzeit faft zum Bedürfniß gewordene 
Beet. Calig. 27. Dio C. 59, 10) Verurtheilung ad bestias 
ietommen fei. Es möge auch unerörtert bleiben, ob der Zu- 
mmenhang es geftatte, unter dem circense ludierum ein bloßes 
dagenrennen zu verftehen, oder vielmehr eines jener combinirten 
Maufpiele erfordere, in welden blutige und unblutige Kämpfe 
ander folgten. Aber, auch ganz abgefehen von diefen mehr oder 
iger disputablen Fragen, find die Worte des Tacitus: „pereun- 
bus addidit ludibria, ut ferarum tergis contecti laniatu 
anum interirent, aut crucibus affixi etc.“ ein völlig ge- 
igender Commentar zu der Ausfage bes Hermas, daß er Mär- 
ter im Himmel vwifje, welche neben und nad) anderen Quälereien 
ih oravgodg xal Imole erduldet haben. 

Bas aber die Vorausfegung eines inquifitorifchen Verfahrens 
gen die Ehriften anlangt, fo werden ſchon durch den Brief des 
finius ſelbſt, auf welchen Trajau antwortet, bie erhobenen Ber 
afen völlig gehoben. Che Trajan eine die Chriften als ſolche 
treffende Verfügung getroffen Hatte, murden dem bithynifchen 
tatthalter Chriſten in großer Zahl vorgeführt, mit welchen er ein 
ehör veranftaltete; e8 gab delatores, es wurde gegen Sclaven 
tdolter angewendet, e8 wurde bie Zumuthung geſtellt, dem kaifer- 
hen Standbild Hulbigung zu ermweifen, e8 kamen bie verjchiedenen 


Daun, Google 


der Hirte des Hermas. 341 


tmeber nach meinen Gefegen oder gehe aus meinem Rande“, 
a8 nur der chriftliche Widerhalf beffen, was bie befannte 
„bis Dio Caffins (67, 14) berichtet. Noch ift für das 
des Römers, namentlich des nach dem judiſchen Reichthum 
"pen Kaiſers, das Chriftenthum nicht aus der Schale des 
‚Möums gelöft; noch wird der Gegenſatz deſſelben gegen das 
chum als der Gegenfag einer fpröden Nationaffitte gegen das 
Staat umentbehrliche Nivelliren des Gefeges gefaßt; und 
en diefe kaiſerliche Auffaffung Tann Hermas von feiner Auf 
des Chriſtenthums aus als des dem wahren Chriſten im» 
m Gefeges einer obern Stadt in feiner ſchönen erften Pa- 
ingehen. 
nun fo Alles ungezwungen zufammenftimmt, den Hirten 
NMachtes Erzeugniß der Zeit darzuthun, der er angehören will, 
"BB man nicht mehr dem Ungewiſſen das Gewiffe opfern dürfen. 
de auch die Abneigung gegen den Inhalt und Charakter 
Schrift ſchwerlich mächtig genug gewefen fein, die hier bes 
Annahme zur Herrihaft zu bringen, wenn fie nicht an dem 
schen Kanon und den damit zufammenhängenden apofrhphen 
ten eine auf den erften Blick biendende Beftätigung befäße. 
ie Unficherheit des Zeugniffes befennen faft Alle, welche dann 
nit einigen Beſchränkungen fich defjelben bedienen. Die That 
felbft ift oben ſchon richtiggeftellt. Der Fragmentift verräth 
feinen Eifer, daß die Meinung von einer früheren Entjtehung 
Zuches, auf welche fih, nad) feiner Entgegnung zu fehließen, 
on ihm abgemiefene Forderung gegründet haben muß, nicht die 
ung einiger Wenigen ift.. Die Forderung felbft, daß nämlich 
dirt dem kirchlichen Kanon einverfeibt und im Gottesdienſt 
en werde, mag vereinzelt aufgetaucht fein; aber nicht blos in 
‚ auch anderwärts wurde fie geftellt und abgelehnt (Tertull., 
pud. 10). Wenn Tertullian in feiner Heftigen Weife der That 
der Nichtaufnahme in den Kanon das inter apocrypha et 
a judicari fubftituirt, fo ift das natürlich feine genaue Wie- 
be des Sinnes, in welchem jenes gefhah. Nicht einmal der 
mentift fcheint fi darüber ar geworden zu fein, daß fein 
eft mit ſolcher Begründung das Buch zugleich u einem Falſi⸗ 
heol. Stub. Jahrg. 1868. 













842 Goab 


ficat made. Mögen ihn dogmatiſche Anſichten feindfid 
Bud) geftimmt Haben, ober andere Gründe, jedenfalls 
Halbheit feiner Polemif gegen den Hirten ein Hohes | 
Buches in der römiſchen Gemeinde aud) bei Denen, wei 
gerade im öffentlichen Gottesdienft vorgelejen haben woll 
rend er diefen Legteren ſcharf eutgegentritt, erlaubt er ı 
deren Seite nit nur die Privatlectüre, fondern erfent 
Nothwendigkeit und Pflicht folder Benugung an (leg 
Einen Werth hat num feine Behauptung der Abfafjung 
durch den Bruder des Biſchofs Pius offenbar nur dan 
eine für ihn in ihrer Nichtigkeit zu erhürtende gejchid 
ift. Wäre fie aber dies geweſen, er würde es ſchwerl 
fo nadten Behauptung haben bewenden laſſen. Ver 
daher, wie faft allgemein geſchieht, darauf, in dieſer 
eigentlich geſchichtliche Nachricht zu erkennen, Hält u 
Gründen, die mir nicht beweifend fein würden, für um 
ſehr unwahrſcheinlich, daß der Bruder des Pins unf 
ſchrieben Habe, fo follte man auch nicht mehr von- eine 
haltenen richtigen Erinnerung reden, welche der An 
Abfaſſung um die Mitte des zweiten Yahrhunderts 
diene *). Stelle man fi doch ben hierzu erforderlid 
lungsgang ber Kunde des Buches vor! Um 150 t 
der römifchen Gemeinde auf mit dem offenbaren Anfpı 
Erzeugniß der Zeit um da8 Jahr 100 zu gelten. Es 
der Erfolg zeigt, mit diefem feinem Anſpruch fofort d 
das Anfehen als eines faft heiligen Buches, welches 
bis 40 Jahre nachher, wie in Nom, fo in den Gemeir 
und Galliens genoß und welches der Sragmentift in eir 
ten Zufpigung befämpfte, hat unfer Buch nur auf € 
gewinnen können, daß ihm fofort und völlig gelang, 
gelten, wofür e8 fi ausgab. Wie unbequem dieje Vo 
wie gerne man es, um fie natürlicher zu machen, fä 
Bud) nicht gerade aus berfelben Gemeinde ftammen wi 
es fi zunächſt einführt, und aus fo naher Zeit, de 


») So 5. B. Lipfius a. a. O., ©. 283. 








der Hinde des Hermas. 848 


kate noch deutlich erinnerten, man muß fie gleichwohl vollziehen. 
die Frage nach der kritiſchen Befähigung jener Zeit. bleibt. hier 
unz außer. Betracht. Es iſt mw daran zu arimnern, daß bie wielen 
Hungenen pias fraudes jener Zeit zeigen, wie ernftlic man ber 
ogen fein wollte, und wie fern wenigftens die leſende und hörende 
Menge won ber Höhe des literariſchen Stanbpunftes war, auf 
elder man ſich die weligiöfen Schriftfteller feuer Zeiten vielfad, 
thend denkt. Es iſt alfo ſchon fchmer zu denken, daß außer bes 
erfoffer ingend Jemand um die wahre Eutftehungsgeit des Buches 
mad wußte. Aber geſetzt, es hätten wenige Eiugeweihte darum 
mußt und Hätten nicht geſchwiegen, jo müßte ihre doc jedenfalls 
m beftimmte Kenntniß im Lauf von etwa vierzig Jahren ſich 
Kid ihrer Beſtimmtheit entkleidet haben, fo daß nur..die vage 
Böuung bfieb: „Es ift nicht fo alt, wie die Menge meint“, und 
en wieder die neue Beftimmtheit angenommen haben, daß 28 der 
kur des Pins gefchrieben habe. Iſt nun diefe Entwidlung 
worſtellbar und namentlich unwahrſcheinlich, daß auch das Letztexe 
ion Inhalt der vom Fragmentiſten benußten Ueberlieferuug war, 
dies vielmehr Gonjectur auf Grund der Namensgleihgeit, fo 
nicht abzufehen, warum ein Dann, der eine.fo Fühne Canjectur 
3 Hiftorifche Thatſache behauptete, überhaupt noch für feine Auf- 
kungen eines fo ſchwachen Anhalts bedurfte, wie fie ihm jene 
beſtimmt gewordene Grinnerung geboten hätte. Wir. haben es 
o gewiß mit einer bloßen Eonjectur zu thun und zwar mit einer 
sthlofen. Auch ben Anhalt, welchen Gaäb der Behauptung bes 
agmentiften an ben fpäteren apofrhphen Nachrichten gibt, wird 
im nicht Zugeftehen dürfen. Es iſt zumächft nicht richtig, daß 
mdotertullian dem Bruder des Pins ein Buch über das Paſſa 
Ihreibe *); denn die Verje fagen nur, daß jener Hermas durch 





)& Gaab, ©. 13, oder follte bieg nur eine momentane Verwechſelung 
mit dem Lib. pontifie. fein? Solcher Berfehen find mehrere zu beklagen“ 
Das ungriechiſche Wort S. 166, 3. 5, iſt leider auch night als. einer ber 
{ehr zahlreichen Drucfehler zu erllären. ‚Auch iſt zu vügen, daß der Ber 
faffer, dem die ſchöne Ausgabe in Hilgenfeld’s Nov, Test. e. can. rec. 
noch nicht vorlag, bald griechiſch, bald lateiniſch, eiumal (H. 6) ſogar nach 
der Seitenzahl der Ausgabe von Hefele eitirt. 

23* 





Daun, Google 


der Hirte des Hermas. 345 


ches aus Mikverftand des Briefes entftand und darum wohl 
m Anderen, welche im Hirten vergeblich nach dem Paffamandat 
fuht Hatten, wieder entfernt wurde, wenn fie nicht von Anfang 
eine Interpolation ift; endlich da® neue Mißverftändniß, daß 
tLib. pontif. ein Buch De celebrando paschate erwähne. 
Es bleibt alfo dabei, daß die Behauptung des Fragmentiften, 
de feinen Werth hat, wenn fie nicht eine genaue gefchichtlidhe 
ahricht iſt, und in der That feinen hat, da fie dies nicht ift, 
im übrigen inneren und äußeren Gründen gegenüberfteht, welche 
son Gnäb vertretene Urtheil über DVerfaffer und Abfaffungss 
t charten. Es iſt erfreulich, daß der Verfaffer fein Refultat 
Mt wieder durch Heranziehung des Röm. 16, 14 erwähnten 
Ämues unficher macht (S. 145, während nach anderen Stellen 
ibefajfer erft im Verlauf der Arbeit fid darüber Mar geworden 
Men ſcheint), und ebenfomenig durch die von Thierſch vertretene 
knme einer Weberarbeitung des alten Buches durch den fpätern 
mod. Das bisher befprochene. Urtheil des Verfaſſers, deſſen 
gründung, wie diefe Bemerkungen zu zeigen fuchten, mannich« 
ker Berichtigung und Vervollftändigung bedürftig ift, erſcheint 
das Werthvollſte feiner Arbeit. Zu unbeftimmt und fragmens 
id find feine Auslaffungen über die theologifchen Lehren des 
mas, um weſentlich fördernd auf den Gang der Unterfuchung 
wirken zu können. Weder in der chriftologifchen Frage, noch in 
nach dem Verhältniß des Hermas zum Judenchriſtenthum und 
a Paulinismus wird er feine Vorarbeiter überzeugen oder auch 
t bedenklich machen, vor Allem deshalb nicht, weil er über wid. 
fe Bunte felbft zu einem feften Reſultate nicht gekommen iſt *), 
dweil micht eine auf vollftändiger exegetiſcher Unterfuchung 
jende Anfchauung der anderen entgegentritt. Manches Licht hätte 
ner der Erflärung des Hirten zu Theil werden können, wein 
dem Verfaſſer gefallen Hätte, die Unterfuhung über das Ver» 
ig des Hirten zu den neuteftamentlichen Schriften voffftänbiger 
d minutiöfer zu führen, als es ©. 113—124 geſchieht. Er 
de bei diefer Gelegenheit auch Lipſius' fehr richtige Hinweiſung 





»6&.%. 8. ©. 86 dgl. mit 92; ferner S. 181. 196, 


6 Gasb 


auf die Hebraifirende Diction des Hermas etwas wert 
finder haben, als er es tut (S.171). &o, mie die U 
jetzt vorliegt, Tann fie nur als Erinnerung an die Aufg 
Das eigentliche Intereſſe des Berfaffers iſt einer tiefe 
rigeren Frage zugewendet, als die bisher berührten 
Hermas, wenn er ber ift, für den er fich ausgiebt, aud 
was er erlebt haben will; hat er wirklich die Viſione 
deren Inhalt er aufzeichnet, oder fingirt er fie? Zw 
Hängt diefe Frage mit ber Echtheitsfrage nicht zufamme 
Verfaſſer am Schluß es darſtellt, wenn er fagt, men 
Hirten trog innerer und äußerer Zeugniffe für „ein 
fpäterer Zeit“ erklären, wenn man am eine urchriftlich 
nicht glaube, „wenn man alles Derartige, was mit der 
auf Inſpiration, Bifton, Prophetie nach dem Hingang 
auftritt, a priori für Fälſchung, fraus pia oder imy 
©. 200). Wie gewiß nad) dem Sprüdwort der Satz 
def, wer einer auf Täuſchung beredjneten Fiction übe 
nicht. mehr Glauben verdient, wenn er göttliche Offenbarun 
fo verkehrt ift e8 doc zu fagen, daß, wer in einem 
Punkte, in welchem man ihm mißtraute, gerechtfertigt 
auch für alles Andere, was er behauptet, für etwas fo 
Ernftes, wie Offenbarungen der unfichtbaren Welt, Gla 
ſpruchen könne. Es fatın etwas ein Machwerk fein, 
fpäteren Zeit anzugehören; es kann Jemand ebenfog: 
Jahr 100 al® um 150 den unbegründeten Anfpruch er! 
pfänger göttlicher Offenbarung zu fein, und felbft das 
nit im Voraus beftimmen, ob nicht ſchon damals in 
lichen Kirche dies umlautere Mittel der Darftellung e 
Töbfichen Zwecke gedient habe. Auch das Urtheil der zeit 
und der zurtäcjtfolgenden Firchlichen Generation bindet 
gelifhen Theofogen nicht in feiner Entjcheidung darilbet. 
innere Gründe Haben darüber zu eatſcheiden. Ich fage 
es der Verfaſſer an inneren Gründen für ſeine entſchie 
nung jeder Fiction ganz fehlen laſſe. Aber er erſchwer 
liche Loſung des Problems außerordentlich, indem er die 
als ziemlich gleichbedeutend behandelt: Hermas hat wirkl 








der Hirte des Hermas. da⸗ 


vefihert, Bifionen gehabt; Hermas war inſpirirt ober ein Prophet; 
m die Schrift des Hermas ift infpirirt, aber darum noch nicht 
mouiſch ). Man kann dem erften Say beiftimmen, was ih 
iermit ihne, und dennoch dem zweiten, vollend® den dritten ver“ 
xrfen. Viſion ift nicht Inſpiration. Wie es dem Propheten nicht 
nfentlich ift, Bifionen empfangen zu haben, ehe er redet ober 
freibt, fo macht der Empfang oder das Erleiden von Biflonen 
oh nicht zum Propheten. Hermas felbft will, wie ſchon oben 
och wohl richtig bemerft wurde, fein Prophet fein; er nimmt für 
ine mündliche und ſchriftliche Mittheilung ®) der empfangenen Ein» 
füde nur vedlichen Willen und Wahrhaftigkeit in Anſpruch, feines 
ng8 göttliche Einwirkung oder auch nur natürliche Geſchicklichleit. 
Ben wir ihn felbft ſchon nicht Änfpirirt und einen Propheten 
han werden, fo noch weniger feine Schrift deshalb eine inſpi⸗ 
ik, weil fie Bericht von empfangenen Bifionen iſt, wenn anders 
it eine Schrift infpirirt nennen, um diejenige, bei ihrer Entſtehung 
üffame Providenz Gottes zu bezeichnen, weiche fie geeignet macht, 
a Bert Gottes an die Gemeinde zu fein. Auch damit ift noch 
itt gefagt, daß fie kanoniſch ſei; denn «8 kann ein Buch in der 
nannten Weife entftanden fein und dod vom Gelft der ben Kanon 
mmelnden Kirche mit Recht ausgeſchieden fein, weil es vor nur 
omentaner Bedeutung mar. Indem der Berfaffer be Schrift 
v Hermas infpiriet nennt umd gegen bie vom Thierfch gewollte 
eibung bes göttlich Gegebenen und menfhlicer Zuthat Einſpruch 
hebt, ſtellt er ſich im Grunde die Aufgabe, den ganzen Lehrgehalt 
$ Hirten af8-fchriftmäßig und wahr zu erwelſen. Er zeigt ſich 
uch einmal (&. 146) geneigt, das menſchlich Mangelhafte auf 
bmerfälligen Styl und gewiſſe überfommene Begriffe zu rebuciren; 
ber, wie auf den anders urtheilenden Leſer Dioapofogetifche Darſtellung 
r&chre des Hermas in vielen Punkten nicht überzeugend wirkt ®), 





3) ©. 5. 10f. 42. 146 ff. 153, 202. 

b) Ich fehe ab von der Schrift Vis. IT, 1sq., welche nicht den Bericht non 
einer Bifion zum Inhalt hat, fondern ſelbſt Inhalt einer Viſion ift. 

9 Daß 3. B. Hermas die bibfifche Engellehre nicht überihreite S. 148ff., 
daß der Engel im fünften Gleichniß das Faſten als ascetiſches Hiffsmittel 
empfehle &. 287, wird Niemand jugeben dürfen. 


348 Saab 


fo ift der Verfaffer ſelbſt Hierin feiner Sache nicht ga 
doch fam für die Aufrechthaltung feiner Thefe hierauf 
Es zeigt ſich diefe Unficherheit nicht blos in der Erlaubni 
uns gibt, dod noch eine Scheidung anzuftellen, Jo oder äl 
Thierſch es that (S. 152); deutlicher noch in der wi 
Berufung auf die Unantaftbarfeit der Regel Gal. 1, 

©. 42. 146 Anm.). Paulus fegt dort, indem er über 

bis zu einem Engel im Himmel auffteigt, die ſehr abftra 
lichkeit, daß ein folder Lüge verfündige, was nicht der 
fann, ohne daß er aufhört, ein guter Engel zu fein. 9 
Berfaffer diefen Sag auf den Hirten angemendet wiſſen 
es ſchwerlich feine Abficht, die Frage zur Discuffion zu 

zur Zeit des Hermas eine große Revolution der Art in 
welt ftattgefunden habe, oder nicht; fondern der Sinn | 
innerung Tann nur der fein, daß aud in die Berührun 
Vifionärs mit der unfihtbaren Welt Trübendes fich 

tönne, und daß dies auch dann ftattfinden könne, went 
fegung in den efftatifchen Zuftand, das yereadaı Er 7 
weder ein Produkt eigenmwilliger Schwärmerei, noch eine 
dämonifcher Kräfte, fondern eine Wirkung Gottes mit 

Zwed ift. Iſt aber dies zugeftanden, fo darf die Altern 
mehr ‚lauten: göttliche Offenbarung, oder Betrug? ſond 
der Viſion ein mittlerer Charakter zuzufchreiben, wel 
höheren ober niederen Grad der Reinheit ſchon der erften 

Conception, ein fei es willfürliches, fei es inftinctives F 
des vom Geifte Gottes ausgegangenen Anſtoßes zuläßt. 

innerlihe Gonception fällt noch nicht zufammen mit d 
ſtelleriſchen Conception des Buches, das davon erzähl 
fon der Weg „aus dem Auge durch den Arm in de 
des Malers, dem fein Original figt, lang ift und viel de 
Toren geht, wie viel länger und gefährlicher der Weg au 
ftänden der Entzücung bis zum ſchriftlichen Ausdrud eines 
Mannes, deffen Gedächtniß oft nicht reiht, um den An 
Biſion mit ihrem Ende in Einklang zu erhalten! Der 
wird auch diefen unvollftändigen Bemerkungen in etwas 
Sinne feinen Sag entgegenhalten (S. 145): „Man u 


der Hirte des Hermas. 39 


nicht, was echt und urfprünglih, und was unecht und fpäterer 
Zuſatz iſt“. Wir wiſſen es nicht a priori; aber in diefer Lage 
befinden wir uns oft genug gegenüber jehr wichtigen Dingen; in 
diefer Sage befand fich die Kirche auch gegenüber den fehriftlichen 
Greugniffen, welche fpäter ihren Kanon bildeten; in derjelben auch 
xgenüber allem Vifionären und Elſtatiſchen, fo lange es in ber 
Kirche ſich regte, und es bleibt die Frage offen, ob fie immer bie 
Adtige Antwort gegeben hat. Es ift died Element nicht in ber 
Reife aus dem kirchlichen Leben verfhwunden, daß an die Stelle 
Bttliher Juſpiration und gottgewirfter Elſtaſe das reine Nichts 
wer die bämonifche Karrifatur trat, fondern fo, daß ein allmäh- 
ühes Nachlaſſen der Uebermacht des Geiftes über die Natur feiner 
Deyane ftattfand. 

der „troftlofen Evacuation“ der Geſchichte von allem Ueber⸗ 
würlichen will der Verfaſſer an feinem Theile auch auf dem pas 
kffihen Gebiete entgegentreten; es Liegt da ohne Zweifel eine 
fenfhaftliche Aufgabe; es werden noch inanche Berfuche zur 
yrſtellung eines. wahrhaft Hiftorifchen Standpunftes für die Beur- 
xilung der älteften chriſtlichen Literatur gemacht werden müffen; 
ber es wird ber Verfafler dem zuftimmen, dag man bei ſolchem 
kftreben bie Vertreter einer anderen Gefchichtsauffaffung vor Allem 
n Atribie übertreffen muß, wenn man mit ihnen verhandeln will. 


Göttingen. 
Lie. th. Th. Zahn. 


0 Grat 


2. 


Die geſchichtlichen Bücher des Alten Teflament! 
hiſtoriſch⸗ kritiſche Unterſuchungen von Karl Heiuri 
Dr. theol. und phil., Profeſſor an der Königl. 
ſchule zu Meißen. Leipzig, T. DO. Weigel. 
VIO und 250 SS. 8°. 





Während der von demfelben Verfaſſer im Jahre 1862 | 
Verlage erfchienene Commentar zu Jeremias, w 
durch gefunde Exegeſe, befonnene Kritik und liebevolles 
auf den Inhalt und Geiſt der Weiſſagungen Jeremia'sc 
die verdiente Anerkennung in weiteren Kreiſen gefunden I 
der Ungunft, mit welcher in unferen Tagen die hiftorif 
Erforfhung des A. T.'s betrachtet wird, zu fürchten, 
Wenige der vorftehenden Schrift die ihr gebührende 
ſchenken werden. Umfomehr ift es Pflicht, auf ihre 
aufmerffam zu maden, zumal fie geeignet wäre, bie, wie 
in's Stoden gerathene Kritik des Pentatenh® und be 
hiftorifchen Bücher des A. T.'s wieder in Fluß zu brin 

Sie befteht aus zwei felbftändigen, aber innerlich in 
zu einander ftehenden Abhandlungen. Die erfte Hat « 
weife mit dem Pentateuch, die andere-mit ber Ch 
tun. In jener Hat fi der Verfaffer die Aufgabe gefte 
Deuteronomium ausgehend ben verfchiederen Theilen der 
Gefeggebung ihren Pla in der Geſchichte anzumeifen ur 
ſammenhang damit darzulegen, wie fih von der Ueberarb 
älteren Werkes durch den fogenannten Jehoviſten an die 
heit diefer Bücher durch Erweiterung und Fortfegung geſte 
Der Gang der Unterfuhung ift Mar, überfichtlih und zı 
Seinen Ausgang nimmt der Verfaſſer vom Deuteronomi 
deffen Entftehung in der Megierungszeit Joſia's für A 
ernſtlich auf Kritik eingehen, ein fefter Punkt fei. Dar 


bie gefchichtlichen Wirher des A. Ts. st 


er gerade die Zeit Joſia's nennt, wollen wir wicht mit ihm rechten, 
da es file die weitere Unterfuchung eine mwefentfiche Bedeutung hat, 
ch man das Deuteronomium einige Jahrzehnte oder auch gegen 
ein Jahrhundert Höher hinaufrückt oder nicht. — Nach einem 
jedenfalls beachtenowerthen Verſuch, die urfprungliche Geftalt des 
Denteronomium zu ermitteln, weiſt num ber Verfaſſer eingehend 
38 Verhältniß nach, im welchem dafjelbe zu den voransgehenden 
Büchern des Pentateuchs fteht. Zunächft führt er viel vollftän 
der und mehr in das Detail eingehend, als es bisher gefchehen 
f, den Beweis dafir, daß die Geſchichtserzählung der drei 
mittleren Bücher des Pentateuchs dem Deuteronomifer ſchon vor» 
Klıgen hat. Zu diefem Zweck ſammelt er die im Deuteronomium 
velommenden Ruckbeziehungen auf die dort berichteten Geſchichten, 
weht anf die Freiheit aufmerkſam, mit welcher ber Deuteronomiler 
A ielen Einzelheiten won jener Erzählung abweicht, aber auch auf 
hs auffallende Zufammentreffen im einer Reihe charakteriftifher 
Ansorüdte und Redewendungen, und folgert Hieraus mit guten Necht, 
as derfelbe trog jener Abweichungen, nicht aus der mündlichen 
Iberlteferung oder aus anderen fehriftlichen Quellen, fondern nur 
29 der uns vorliegenden Gefchichtserzählung geſchbpft Haben kann. 
Beifäuftg werben zugleich manche Belege dafür beigebracht, daß der 
genannte Jehodiſt mit dem Deuteronomiker nicht identiſch fein 
amt. Diefe ganze Beweisführung gehört zu ben forgfältigft. aus» 
dührten und überzengendften Partien des Buches; nur hätte viel⸗ 
ticht noch beftimmter nachgewieſen werden Tünnen, daß die Ger 
Hihtebarftellung der Mittferen Bucher des Pentateuchs gerade 
n ber uns vorliegenden Zufammenarbeitung ans den 
Beftandtpeilen verfäiedener Quellenſchriften for 
em Deuteronomiter vorlag, ein Nachweis, der namentlich ans der 
hezugnahme auf die Kundſtchaftergeſchichte (5 Mof. 1, 86. 88), 
us 5Mof. 1, 9—-185vgl. mit 2Mof. 18, 13ff. und 4Mof. 11, 
u 8 Moſ. 9, Gwll. 18 vgl. mit 2Mof. 24, 18 und 34,28 
mb aus ber Urt und Weife, wie der Deuteronomifer bie vierzig 
Büftenjahre unterzubringen fucht, geführt werden kann. — Der 
berfaſſer beweift ſodann, daß ebenfo auch die in 2 Moſ. 20—23. 
34 und 13 enthaltenen Geſetze dem Deuteronomiler vorgelegen 








Daun, Google 


die gefhichtfichen Bücher des U. Te. 858 


das jehoviftifche Stüd 5Mof. 27 einfchaltete umd überarbeitete und 
5Mof. 29 und 30 beifügte. Den übrigen Theil des jehoviftifchen 
Werkes von 5Mof. 31 bis 1Köon. 10 überarbeitete er und fchrieb 
jelbft was noch im Buch der Könige folgt, mit Ausnahme der 
Shlußverfe 2 Kön. 25, 22—30, die erft fpäter hinzugefügt wurden. 
Der Verfaffer ift geneigt, den Propheten Jeremias mit diefem 
Schriftſteller zu identificiren. 

Auch der Prophet Ezechiel hat verſchiedene Gefegesaufzeich- 
nungen ausgehen laffen; dahin gehören die Stüde 3Mof. 18—23. 
% und 26 und das Sabbatsgeſetz in 2Mof. 31; unter ihnen 
fd 3Mof. 18 und 3Mof. 20 Aufzeichnungen weſentlich derjelben 
beſete, die aber für verſchiedene Anfragende beftimmt und von 
öunder unabhängig waren. Es Bieten dieſe Geſetze ein befon« 
Ins Buch 8 Moſ. 18—26. 

Im der Zeit Eſra's und wohl von Eſra jelbft wurde dann die 
beeggebung des Pentateuchs ergänzt, theils durch Aufnahme des 
ben erwähnten, die Ezechiel'ſchen Stücke enthaltenen Buches, theils 
uch die vielleicht von Eſra felbft und jedenfalls in der Zeit des 
weiten Tempels gejchriebenen Stüde 2Mof. 12, 1—28;43—51; 
5—31; 35—40. 3Mof. 1—16 (morunter nur in 3Mof. 11. 
in älteres Geſetz); 24, 10—23. 4Mof. 1, 48— 10, 28; 15—19; 
8-31; 35, 16 — 36, 13; jedoch ift bei einzelnen diefer Stüde 
on geſchichtlichem Inhalte, wie bei 4Mof. 16 und 31, nur Ueber» 
zeitung einer älteren Grundlage anzunehmen. 

Seinen letzten Abſchluß erhielt das Werk jedoch erft in der Zeit 
ald nah Eſra (S. 75), in welder noch Zufäge wie 2 Mof. 
0, 11ff. 3Moj. 27, vieleiht auch 2Mof. 36, 8— 38, 20 
Md einige andere (S. 87 Anm.), gemacht wurden. 

Vorftehendes Ergebniß ift von dem Verfaſſer nicht in allen feinen 
Theifen neu begründet worden; mit den früher erfchienenen Untere 
uchungen der Mitforfcher genau befannt, fußt er vielfach auf diefen, 
ad fegt Mandes unter Hinweis auf die von Anderen gegebenen 
deweisführungen voraus; darunter auch Manches, was nad) meiner 
Ieberzeugung nicht haltbar ift. Dahin gehören Annahmen wie die, 
05 der fogenannte Jehoviſt ein bloßer Ergänzer und Ueberarbeiter 
ft (möchten ſich doc einmal diejenigen, welche diefe Anficht immer 


6864 Sraf 


noch vertreten, mit den in Hupfeld's „Quellen ber Gei 
entgegengeftellten Juſtanzen gründlich auseinanderjege 
daß die Ueberarbeitung der Altefsen, den Büchern Richter, 
md 1Kon. 1—10 zu Grunde liegenden Quellenſchriften 
berrührt; umd ebenfo die Annahme, daß es der Deute 
war, der auch diefe Bücher überarbeitet und das Uebri 
Büchern der Könige gefchrieben hat. Judeß Haben wir 
Streitpundte Hier nicht weiter einzugehen. Wir befchrä 
anf den eigentlichen Kern der Unterfuhung, auf das e 
fichfte und am eingehendften begründete Ergebniß berjelben 
die Gefeßgebung des Leniticus und was and den 
Exodus und Numeri zu ihr gehört, betrifft. Dieſe Ge 
wird von den meiften.Keitifern in der Hauptſache als 
elohiftijchen Werkes, alfo als Beſtandtheil der älteften ( 
des Pentatenhs, und als viel älter denn das Deuterono 
trachtet. Der Verfaſſer kehrt das Verhältnig um, inde 
Geſetzgebung erft der Zeit des zweiten Tempels zuweiſt; 
wird zugeftehen müffen, daß diefe Anficht über das Verh 
deuteronomifchen zu der levitiſchen Gefeßgebung hier in 

ftalt und einer Begründung vorliegt, welche fie viel am 
erjcheinen läßt, als fie fi bei Batfe, von Bohlen und 
darſtellte. Jedoch kann ich nicht verhehlen, da trotzdem 

ſuchung unſeres Berfaſſers mir nicht vorſichtig genug € 
Schritt vorwärts zu ſchreiten ſcheint; die Tragweite der ar 
Argumente ift oft nicht gehörig ermeſſen; da und dort 

die betreffenden Gefegesftellen nicht genau genug exegetif 
ſucht. Bon der Nichtigkeit des Ergebniffes vollends Habe 
nicht überzeugen. können. 

Freifich muß die große Schwierigfeit anerfanıt werde 
der gewöhnlichen Anficht dadurch bereitet wird, daß die v 
Geſchichte fo überaus wenige Zeuguifje von dem Dort 
der in der levitiſchen Gefeßgebung beſchriebenen Inſtituti— 
weift, dagegen vielfach Verhältniſſe vorausjegt, die nid 
paffen. In der Zeit des zweiten Tempels dagegen ift die 
Geſetzgebung in's Leben getreten. Da ift es denn ehr E 
daß das Beſtreben, aud ihr einen beftimmten Plag in 


die gefhichtlichen Bacher des A. Ts. 865 


f#ihte anzuweifen und dadurch eine Hare und in fig wehlzufam- 
merhängende Anſchauung von dem Entwidfungsgange der Inſti⸗ 
tutienen und der Religion Iſraels zu gewinnen, zu der von dem 
Lerfaßfer vertretenen Anficht führen kann. Jene Schwierigctlt ift 
damit befeitigt; aber es fragt ſich, ob man ſich nicht babei in neue 
md größere werwidelt, und ob nicht entfcheidende Inſtanzen eine 
folde Löfung des Problems verbieten. 

Vorab fei in aller Kürze darauf Hingemwiefen, daß die Zeit Eſra's 
und die zumächitfolgende Zeit durchaus nicht mehr in dem Maße, 
wie gewöhnlich angenommen wird, den Charakter einer Reſt au⸗ 
tations periode an ſich trüge, wenn ein fo bedeutender Theil des 
Gejegbuches damals erft entftanden wäre. Die Grundlage der 
ptesdienftlichen unb bürgerlichen Ordnungen der Gemeinde des 
jeiten Tempels wäre gerade in ben Theilen, welche den Charakter 
un Vollslebens und der Religion Iſraels von der Zeit Eſra's an 
vorzugswelſe beftimmt Haben, nicht das alte Gefeg, wie es in 
finem fchon als heilige Urkunde geltenden Schriftwerke verzeichnet 
war, ſondern eine durch ihren Tevitifch priefterlichen Geift von der 
pur Zeit Joſia's eingeführten deuteronomifchen fehr merklich fich 
mterfcheidende nene Gefeßgebung geweſen; die Autorität des ger 
Iriebenen Gotteswortes und feine Heilighaltung hätten alfo auch 
am der Ansgeftaltung diefer letzten Entwicklungsphaſe der ifraeli- 
tiſchen Religion einen beträchtlich geringeren Antheil, als man ihr 
gewöhnlich zuſchreibt. Nun darf man allerdings die von unferm 
Berfaffer (©. 71f.) angeführten Zengniffe über die Art der Wirk— 
ſamkeit Efra’s und Nehemia's nicht überfehen; aber doc; ift dieſe 
durchaus getragen von dem Anſehen, welches Eſra als geſetzes⸗ 
kundiger und geſetzeseifriger Schriftgelehrter genießt; 
mb dies wäre kaum begreiflich, wenn Eſra ſelbſt an der Zuſam⸗ 
menftellung und Abfaſſung des Geſetzbuches in ſo bedeutendem 
Maße betheiligt wäre. Mir wenigſtens ſcheint dadurch das Vor⸗ 
handenſein eines im Weſentlichen abgefchloffenen ,Buches bes Ger 
fees Moſis“ vorausgeſetzt zu werden, deſſen göttliche Autorität 
und Verbindlichkeit im Allgemeinen anerfannt wurde und immer 
dollere Anerkennung fand (vgl. bei. Neh. 8). Ich begnüge mic 
hierauf Hingedeutet zu haben. 





156 Sraf 


Ebenſo will ich auf ein gewichtiges Bedenke 
ver entgegengefegten Seite aus gegen die An 
hebt, nur furz hinweiſen. Nach ihm Hätte 
Hrifhdes Pentateuchs, als das von dem Jel 
Berk, aljo der Pentateuch in feiner vor 
deftalt, nur äußerjt wenige Stücke 
jalts enthalten, nämlich außer dem Bundes 
wer 1Moſ. 17. 2Mof. 13 und 34. Eing 
Befegesaufzeihnungen neben einer ſchon ſehr b 
amfeit in Aufzeichnung der nationalgefchichtlid 
te doch anderwärts länger als die geſetzlich 
Rechtögewohnheiten der fchriftlihen Fixirufg zu 
von Mund zu Mund fortgepflanzt zu werden | 
cheinlich und gegen die Analogie der Literatu 
Böffer, auch mit Stellen wie Hof. 8, 12. 2€ 
venn ber Palm nicht von David herrührte) 
Sodann fordert der Charakter der Grundfd 
jeradezu die Annahme, daß diefelbe eine größ 
Befegen enthalten habe. Die Beftandtheile un 
hr wirklich ‚angehören, zeugen deutlich) davon, | 
md jummarifcher Gejchichtebericht in einem di 
teht zu dem Bericht über die Feſtſtellung ber reı 
stenftlichen Ordnungen in dem Gottesreihe, a 
aſſer fein Augenmerk hauptſächlich gerichtet ha 
od von vornherein jede Epoche duch ein th 
eſſen Feſtſetzung gleihjam das bleibende Erg 
sie Schöpfungsepodhe durd) die Heifigung des € 
luthsepoche durch das Verbot des Blutgenufjes 
ver Heiligkeit des menſchlichen Lebens, und die 
nıcch die Einfegung der Beſchneidung; und w 
tellung, abgejehen von den Hauptepodhen, nur 
veitläufig, wo, wie in 1Moſ. 23, fein rechtöge 
u da8 Spiel fommt. Da erfceint e8 mir de 
heinfich, daß fein Werk über die durch Mofe: 
ichen und gotteedienftlihen Ordnungen nit n 
oll als jene wenigen Stüde; namentlich Hinficht 


bie geſchichtlichen Bücher des U. Ts. 857 


xdnungen "Tann einem Schriftfteller, der in 1Mof. 17 fo aus- 
ihrlich von der Befchneidung Handelt, die compendiarifche Kürze, 
a weldher diefelben bort behandelt find, ſchwerlich genügt haben. — 
dazu kommt noch ein Anderes: anerfanntermaßen find eine bes 
rätliche Anzahl der Gultusgefege des Leviticus in ber 
Yeritellung und Ausdrudsmweife, namentlich in einigen charal- 
riſtiſchen Ausdrücken und Redewendungen der Befhneidungs- 
erordnung (1Mof. 17) fo ähnlich, dag man barin von 
ker einen‘ ftarfen Beweis dafür erfannt hat, daß auch jene der 
kundfhrift angehören; am meiften aber gilt dies von dem Peſach⸗ 
He (2Moſ. 12,.1—28 und 43—50). Iſt es nun wahrſchein⸗ 
4, dab von, diefen einander fo ähnlichen Gefegen das eine wirklich 
rülteren Gefeggebung, die übrigen aber erft der nacheriliſchen 
di angehören? Unfer Berfaffer ſucht ſich (S. 92F.) dieſer 
diunz durch die Annahme zu entlebigen: in jenem Pefachgefeg 
das Beichneidungsgefeg der Grundfgrift unmittelbar berüd- 
Migt; und ebenſo Habe letzteres bei der nad Alterthümlichem 
Senden Formulirung der Gefege im Exil und nad demfelben 
1 Vorbild gedient, oder die Verwendung derfelben Formeln ſei 
aus zu erffären, daß diefelben in gewiſſen Kreiſen priefterlicher 
Htölchrer zu jeder Zeit gebräuchlich waren. Allein diefe Aus- 
ft kann nicht befriedigen: denn angeſichts der Thatſache, daß 
t Ausdrügke und Redewendungen in der deuteronomifchen Geſetz⸗ 
ung ſich nicht finden, theilweife auch durch andere, ebenfo ftehenb 
tauchte Formeln erſetzt find (3. B. das pam no WR ON 
ch yv v9 Hm), und daß fie ebenfo theilweiſe den Gejeg- 
mlungen 2 Mof. 20—23. und 3 Moſ. 18—20 fremd find, 
Heint ſowohl ‚die Annahme, daß diefelben zu jeder Zeit übliche 
fegestermini waren, als die andere, daß bie Geſetzesaufzeichner 
nachexiliſchen Zeit, denen aud die eben genannten größeren Ges 
teſammluugen vorlagen, ihre Ausbrudgweife vorzugsweiſe nur 
d ienem Beſchneidungsgeſetz gebildet Haben, unzuläffig.. Mebrigens 
delt es fih auch nicht blos um die von unferem Verfaffer 
- 93) angeführten Formeln, fondern um den ganzen Charakter 
Shreibart; ‘und auch von einzelnen Formeln laſſen ſich mehs 
: anführen, darunter auch folde, melde die Levitifchen Cultus⸗ 
Test. Stud. Jahrg. 1868. 24 


358 j ö Graf 


geſetze mit anderen Stucken der Grundfehrift (außer 
gemein haben; 3. B. das umftändfiche „und fie that 
Jehova befohlen Hatte, alſo thaten ſie“ (1Mof. 6, © 
7,6; 12, 28. 50; 39, 32. 43; 40, 16. 4Moſ. 1, 
8, 20; 9, 5; 17, 26); die Formel 3 ara oyy> (13 
17, 23. 26. 2Mof. 12, 17. 41. 51. 3Mof. 23, 1 
29. 30. 5Mof. 32, 48); „er und feine Söhne mit ihn 
6, 18; 7, 7. 13; 8, 16. 18; 9, 8. 2Mof. 28,1. 4 
3Mof. 8, 2. 30; 10, 9. 14. 15. 4 Moſ. 18, 1.2. ' 
ferner die in 3Mof. 11 vorkommenden Ausdrüde der E 
PD, 37 (außerdem auch 3Mof. 5,2; 22, 5), by ( 
25, 6), woy u. f. w. — So erheben ſich alfo aud 
Seite Her gewichtige Bedenken ‚gegen das Ergebniß ui 
faſſers. 

Prufen wir daſſelbe num aber etwas eingehender ve 
ihm feldft gewählten Ausgangspunkt, dem Deuterono: 
Nur mit den Gefegen 2Mof. 13. 20—23 u. 34 fol 
teronomifer befannt gemefen fein, nicht aber mit den lev 
tusgefegen. Nun ift es allerdings richtig und auch v 
erfannt worden *), daß da, wo die Gefege des Leviticu 
älteren Gefegen im Widerſpruch ftehen, bie deuteronor 
ftimmungen fih an die letzteren anfchliegen, und daß g 
der erfteren im Deuteronomium nicht berückſichtigt für 
gegen ift e8 für mich zweifellos, daß die Behauptung ı 
faſſers viel zu weit geht, daß vielmehr eine Bela 
des Deuteronomilers mit manden anderen 
des Leviticns unmöglich in Abrede geſtell 
kann, und feine Gefeggebung im Vergleid 
Tevitifchen fi im Ganzen und im Einzelne 
jüngere ermweift. 

Unter den Belegen für dieſe Befauptung ſtellen wir 
Speiſegeſetz (5Mof. 14, 3—21) voran. Daß dies 


a) Val. meine „Gefehgebung Mofis im Lande Monb*, ©. 
©. 54 Anm. 8, ©. 72. 
b) gl. ebendaſ., S. 11. 


bie geſchichtlichen Becher des A. 28. 9 


affelbe Geſetz iſt, welches etwas ausführlicher auch in 3Moſ. 11 
& findet, iſt sei dem Zuſammentreffen in Inhalt, Anordnung und 
urolteriftäjchen Ausdrucken nicht zu bezweifeln. Nach der gewohn⸗ 
den Anfiht nun hat der Deuteranomiler aus dem vellftändigeren 
teren Geſetz das, was ihm am wichtigften war, ausgezogen, unb 
u Ende noch eine audere Speifefagung, die fih in der Älteren 
eſetgebung am anderer Stelle zweimal findet (2Moſ. 23, 19; 
426), Hinzugefügt. Unſer Verfaffer will mngefeprt annehmen: 
!fürgere deuteranomiſche Faſſung des Geſetzes ſei die ältere und 
ſprüngiche, sie in 3Mof. 11 dagsgen eine fpätere, durch Bei⸗ 
kg genauerer Beftimmungen vermehrte Reproduction (©. 66f.). 
haen lonnte ihm der undeuteronomiſche Charakter der Formu⸗ 
ug nicht eutgehen, und er gefteht daher zu, daß ber Deutero⸗ 
wie feinerjeits „Bielleicht“ ſchon ein älteres Verzeichniß benutzt 
&(S. 22. 67). Man vergegenwärtige ſich num ben Sachner- 
in 8 Moſ. 11 iſt das Geſetz Beſtandtheil einer Gefehes- 
wlung, deren charalteriſtiſches Gepräge auch ihm eigen iſt; im 
attronomium ſteht es dagegen in einer Geſetzſammlung, deren 
alteriſtiſches Gepräge ihn fo fremd iſt, daß die Annahme ber 
khaung aus einer älteren Urkunde nicht abzuweifen ift. Dazu 
wit, daß mehrere der für die Foramlirung des Geſetzes charak⸗ 
Ren Ausdrüce (bie im Deuteronomism eben nur is ihm 
tommen) der aus ber Genefis wohlbelannten Schreibweiſe des 
faſſers ber Gruudſchrift angehören (ſ. oben). Wie unnatürlich 
jeint da meben der einfachen Annahme, daß 8 Moſ. 11 ein Ber 
dtheil der Grundſchrift und daher dem Deuteronomiler befanut 
„die Hypotheſe des Verfaſſers, die und zumuthet, nah ein 
es ültese® Verzeiggniß anzunehmen, das eigenthimlicher Weiſe 
ſo auffallend mit der Schreibweife der Grundſchrift bexuhrte! — 
figtlich des Einzelnen, was der Verfaffer für die Unfpränglich- 
der deuteronomiſchen Gefepesgeftalt geltend macht, bemerke ich 
3 68 eniſpricht ganz dem ſouſtigen Berfahren des Deuterono⸗ 
18, daß er bas ältere Geſetz auf der einen Seite nur in aus⸗ 
artiger Kürze, und zwar ziemlich forglos, reprodueirt, und 
der anderen Seite doch auch wieder einige Zufäge macht, von 
n ber mirtigfte, die Einnlaufzählung der efharen Vierfüßer 
ur 


860 


(5Mof. 14, 4. 5), nich 
dem aus 3Moſ. 11 herü 
Beftimmungen erforderlich 
alſo ala fpäterer Zufag k 
Geſetzes von 3Mof. 11,: 
weife darin feinen Gru 
unreinigung durch Berü' 
er fi darauf befchränfen 
werden ſoll (5Mof. 14, 
Herübernahme: der Worte 
willkurlich Zeugniß davon 
Geſtalt auch jene andere! 
Die Erlaubniß, die Heuf 
ihm die Sade nicht wid 
erft in fpäterer Zeit Sit 
mit unferm Verfaffer. dei 
von Sohannes dem Täuf 
geſſen Yabe!! Ganz um 
mung über das Effen 
11, 40 und 17, 15 ei | 
mäßigung; denn fon 3 
das Eſſen von dem Gefi 
mäßigung ift vielmehr ı 
= das Eſſen von dem 
Stellen dem 4 diefelbe $ 
Hfraeliten. Dieje Gleit 
und Rechten ift auch n 
gehöriges, fondern fomr 
vor (2Mof. 20, 10; 
bie erft Ezehiel (47, : 
Art. — Auch daß ber 
Bodlein In der Milch fei 
zweifellos aus 2:Mof. 2 
Geſetz bei ihm nicht in 
Geſtalt vorliegt. 

Hat nun dem Deute 


bie geſchichtlichen Bilder des A. %6. 881 


ıegen, fo wird man dies auch Hinfichtlich der übrigen zu jenem 
Hörigen Reinigfeitögefege 3 Moſ. 12—15 annehmen müffen., Und 
n Beleg dafür Liegt ja in 5Mof. 24, 8 vor; allerdings ‚wird 
er nicht das gefchriebene Ausfaßgefeg, fonbern die von den Prieftern 
gebende Unterweifung ausdrücklich erwähnt; allein ſchon die Wort» 
tbindung ny2g7=y3y, die fonft nur in 3Mof. 13 und 14 vor- 
mmt, umd noch mehr die Hinmweifung auf von Jehova den 
tiefteen gegebene Befehle (onmy ix), wie folche eben 
3Mof. 13 und 14 verzeichnet find, beweifen, daß der Deutero- 
mifer jenes Gefe doch vor Augen hat. Darauf, daß die ſpe⸗ 
fe Beftimmung 5Mof. 23, 12. die allgemeinere in 3Mof. 
3, 16 zur Borausfegung hat, wollen wir fein Gewicht Iegen: — 
Raıgen ift die Bevollmächtigung, nad Belieben in den einzelnen 
fürn Thiere zu ſchlachten und zu effen, in 5Mof. 12, 15f. 
32 durch den Gegenfag zu den in Zerufalem zu haltenden 
Wer, Zehnt- und Erftgeburtsmahlzeiten für ſich allein kaum ge⸗ 
gend motivirt; man wird wohl eine ausbrüdliche Aufhebung des 
ausführbar gewordenen, älteren Gefeges 3Mof. 17, 3ff. darin 
ben müſſen *), umfomehr, da auch das beigefügte Verbot des 
utgenufjes und befonders deffen Motivirung in 5Mof. 12, 23 
Hinblick auf 3 Moſ. 17 (vgl. bei. V. 14) gefchrieben zu fein 
eint. — 

Bon den Satzungen in 3Mof. 18—20 kommen zwar einzelne 
h in verfchiedenen Stellen des Deuteronomium vor, aber meift 
anderer Formulirung, fo daß ein Abhängigfeitsverhältnig damit 
jt zu ermeifen ift; mar bie Stellen 3Mof. 19, 19 und 5Mof. 
‚9—11, fowie 3Mof. 19, 13 und 5Mof. 24, 14f. find ein- 
der fo ähnlich, daß die eine von der andern abhängig fein muß; 
beiden Fällen ift der fecundäre Charakter der deuteronomifchen 
tmufirung unverkennbar; denn die in.3Mof. 19 ift kürzer, wäh— 
!d der Deuteronomifer namentlich in der zweiten Stelle in feiner 


D., &. 29. — Auch ber Berfaffer ſelbſt findet darin bie Auf 
ten Brauche“; vgl. feine Abhandlung „Zur Gefchichte des 
Stammes Levi” in Merz’ Archiv für wiſſenſchaftliche Erforſchung des 
A. Ts, Heft 1, 1867, ©. B1f. 

















862 er 777; 


rhetoriſchen Manier paraphraftrt *); m 
im Deuterondmium das unverſtandlich 
durch den Zuſatz „Wolfe und Leinen zu 
wie det Verfaffer 3. B. die alte Sagın 
24, 7 durch den Zufag „von deinen 
Iſtaels“, oder das Gebot 2 Moſ. 28, 
gewöhnlichtre, leichter verftändliche Fo 
vn pa 2Moſ. 12, 6 In 5Mof. 
Untergang der Sonne“ erläntert. 

Ob die Beſtimmungen 5Mof. 15, 
22, 21ff. fußen, mag bahingeftelft I 
Belanntfhaft des Deuteronomiters m 
leten Bucher des Pentateuchs nicht zu 
Halt er ſich ſachlich und im Unsbruc 
gefege in 2Mof. 23. 34 und 13. 
kommt in diefen Gefegen nur 2 Mof. 
in einer im Hinbfid auf das Peſach 
nommerten fpäteren Umformung des @ 
bis Verbindung "5 op niyy, ftammt 0 
9, 2-14; "sollende die Uebertragun 
ganze fiebentägige Opfer» und Feſtfeler 
hier die jüngfte Formulirung der Feſt— 
Beftgefetge Handeln nämfich ganz gefoni 
von dem Mazsotfeft, ohne irgend wel 
zudeuten; benn in 2Mof. 12 ift bie | 
geſetzes in das Peſachgeſetz anerkannte 
und nichts Urfprüngliches. Noch in 8 
28, 16ff., wo beiderfei Feierlichkeiten 
gereiht werden, wie fie zeitlich aufeins 
die Pefachfeier vom dem Mazzotfeft no 
ber Deuteronomiler hat, was dort oh 
fteht, zufammen verfchmolgen, indem er 
macht, von der er, nicht ohne mit untı 


a) Auch 5Mof. 25, 13—16 darf man woh 
Hofung von 3Mof. 19, 35f. anfehen. 





bie gefchichtlichen Bücher des U. Ts. 888 


deücke gebraucht, die fich nach ihrem urfprünglicen Sinne theils 
af die eine, theis auf die andere Feier bezogen. — Seine Bes 
tnntfhaft mit dem Peſachgeſetz in 2Moſ. 12 verräth er auch 
bach die Entlehnung des Ausbruds Inpn7 aus 2Mof. 12,11 °) 
md die daraus und wohl aud aus 2Mof. 12, 34. 39 abgeleitete 
Baeihnung des ungejänerten Brobes durch yy und, welche ber 
Bedeutung, die dafjelbe fonft hat, wiberftrebt. Und auch bie auss 
widihe Erflärung: das Peſach konne nicht im jeder beliebigen 
Stadt geopfert werden, verbunden mit der fonderbaren Ermäch- 
igung, am Morgen nach der Pefachfeler dürfe man in feine Zelte 
en (5 Moſ. 16, 5. 7), kann wohl nur im Hinblid auf 2Mof. 12 
Mörteben fein, im Gegenfag zu welchem Gefeg ber Deuteronomifer 
bs Opfer nach Serufalem verlegen will, während er das Eſſen 
" ungefäuerten Brodes im Wohnfig eines Jeden (vgl. 2Mof. 
3,20) zu vermehren, einen Grund hat, und darum die. Heim- 
bir ſchon am Morgen nad der Pefachfeier erlauben zu wollen 
Beint, — Der Ausdrud nyyy, aber für die gottesdienftliche Ver⸗ 
mung des fiebenten Tages in 5Mof. 16, 8 ift gewiß aus 
Moſ. 23, 36. 4 Moſ. 29, 35, wo die Schluffeier des Laube 
üttenfefteß fo Heißt, entnommen; denn auch der beuteronomifche 
tame des letzteren Fisgm am (5 Mof. 16, 13. 16; 31, 10) Tann 
ar aus 3Mof. 23, 34 entlehnt fein (in 2Mof. 23 und 34 heißt 
dpa 30); die fiebentägige Beier ift ebenfalls noch nicht in den 
vftgefegen des Exodus, fondern erft 8 Moſ. 23 erwähnt; und 
uch in der deuteronomifchen Beſchreibung berfelben erinnert ber 
lusdruck in V. 14 und 15 an 3Mof. 28, 39—4l. Daß nämlich 
» diefen Punkten das umgefehrte Abhängigkeitsverhältniß ftattfinde, 
ann man bei der fonftigen Abhängigkeit des -beuteronomifchen Feft⸗ 
eſetzes von älteren Vorlagen nicht wohl annehmen. 

Es dürften dieſe Belege ausreichen als Beweis dafür, daß dem 
Deuteronomiler nicht blos der Geſchichtsbericht, fondern auch die 
deſetzgebung ber mittleren Bücher des Pentateuchs ſchon vorlag; 
md fo werden wir auch in der Erwähnung der aus Alazien- 


&) Der Berfaffer nimmt ©. 36 ſchr unwahrſcheinlich an, daß der Ausdrud 
in der Erodusfielle aus bem Deuteronomkum entlehnt fei. 





Daun, Google 


die gefchichtlichen Büdjer des U. T.'s. 865 


eine andgebilbete Gerichtsorganifatton vorausgefegt ift? . Und was 
den andern Punkt beteifft, fo verſuche man es doch einmal, ob 
+ 8. das Zehntinftitwt ber levitiſchen Geſetzgebung als eine in 
m Kimmerlicgen Zeiten der Gemeinde des zweiten Tempels erft 
entſtan den e Umgeſtaltung bes bdeuteronomifchen Zehntinftituts 
xſchichtlich zu begreifen iſt! Mußte fich dann nicht auch in erſterem 
thend eine Spur ber deuteronomiſchen zweifachen Verwendungs⸗ 
veiſe des Zehntens (Zehntmahlzeiten und dreijähriger Zehnte) er⸗ 
nlten Haben? Und wenn die eigenhändige Denkſchrift Nehemia's 
m Reh. 13, 12f. vgl. 529 und Mal. 3, 10 bezeugen, daf zur 
zFeit des zweiten Tempels der Zehnte nach Ferufalem in bie 
Umpelvorrathstfammern zum Unterhalt der dort Dienft 
Wenden Priefter und Leviten abgeliefert wurde, warum. wäre denn 

der Tevitifchen Geſetzgebung alfen Leviten ohne Unterfchied das 

hren des Zehntens an jedem beliebigen Orte verftattet, 
ib nur bie Ablieferung bes Zehntene vom Zehnten an bie Priefter 
boten, warum nicht jene den Berhäftniffen und Bebürfniffen der 
echeriliſchen Zeit viel mehr entfprechende, auch in einer Beziehung 
ger an die deutersnomifche Zehnteinrichtung ſich anſchließende 
5Mof. 12, 17.) Abtieferungs- und Verwendungsweiſe beibehalten 
meden? — Daß fi dagegen umgekehrt das beuteronomifche 
fehntinftitut als Umgeſtaltung des levitiſchen jehr leicht begreifen 
Ift, glaube ih (a. a. O., ©. 45 ff. u. bei. ©. 120ff.) nachge⸗ 
Hefen zu haben. — So wird es wohl auch Hinfichtlih der deu 
tonomifchen Geſetzgebung bei dem Ausfpruc be Wette’s (Opusce. 
heol., p. 160) bfeiben: „Deuteronomium prioribus libris tam- 
kam fandamento niti quaevis pagina docet.“ 

Die von unferm Berfaffer gegebenen Erflärungen über bie 
eſchichtliche Eutſtehung der levitiſchen Eultusgefege 
us den Verhältniſſen der exiliſchen und nacheriliſchen 
Jeit find auch großentheils fehe unbefriedigend. Arm meiſten gilt 
ies von dem, was ©. 34ff. über das Pefachgeſetz in 2Moſ. 12 





3) Die Stellen Neh. 10, 31—40; 12, 44—47, nach welchen ganz dem älteren 
Zehntgefeg gemäß verfahren worden fein foll, gehören zu den von dem 


Chrouiſten hertichrenden Zufägen zu der Denkſchrift Nehemia's. 


Daun, Google 


bie gelchichtlichen Witcher des A. Ts. 887 


weshalb bie Werkgerechten fih auch Jeſ. 58, 2ff. nur auf bie 
Verdienftlichkeit ihres Faſtens, nicht wie in der vorerififchen Zeit 
auf die ihrer Opferdarbringungen berufen. — Nod ein Beifpiel! 
Rah ©. 63 foll die Anordnung 2Mof. 30, 13ff. nebft dem 
Bericht über ihre Ausführung 2Mof. 38, 26 aus ber Zeit nach 
Era Herftammen, weil laut Neh. 10, 33 erft in der Zeit Eſra's 
und Nehemia's die jährliche Abgabe von einem Drittel Schekel zur 
Beitreitung der Koften des Gottesdienftes eingeführt und erft fpäter 
af einen halben Schefel (Matt. 17, 24) erhöht wurde. In 
ken Erodusftelfen ift aber gar nicht von einer jährlichen Ab- 
gabe die Mede *), fondern nur von einem Sühngeld, welches bei 
Volkszählungen oder vielmehr bei Aufnahme der waffenfähigen 
\Bannfchaft entrichtet werden follte; und diefe Anordnung ruht auf 
x alterthumlichen BVorftellung, daß folde Zählungen den Zorn 
der Gottheit rege machen, die im U. T. auch durch 4Mof. 31, 
ff. und 2Sam. 24 bezeugt ift. Mit der richtigen Auffafjung 
des Sinnes jener Stellen fällt die Kombination des Verfaffers von 
felbft dahin. — Vergeblich fuchen wir auch nad) einer Antwort 
af die naheliegende Frage: wie denn eine in der Zeit des zweiten 
Tempels entftandene Gefeßgebung die damals angejehenfte Leviten⸗ 
daffe, die der- Sänger und Muſiker, fo ganz unberücjichtigt 
laſſen konnte, daß fie auch nicht von ferne auf eine derartige Function 
der Leviten hindeutet. Hier tritt recht deutlich an den Tag, mie 
wenig es angeht, die Geſetzgebung des Leviticus als ans den ge⸗ 
ſchichtlichen Verhliltniſſen der Zeit des zweiten Tempels hervor⸗ 
gewachſen, anzuſehen. 

Gegen die Anſicht des Verfaſſers muß auch das bedenklich machen, 
daß er zu ihrer Durchführung die Ueberarbeitung einer Reihe von 
geſchichtlich en Abſchnitten des Pentateuchs in der Zeit des zweiten 
Tempels annehmen muß. Eine nähere Prüfung der Geſchichtserzäh— 
lung dürfte zudem herausſtellen, daß dieſe die in die nahegififche Zeit 
verwiefenen Geſetze in noch beträchtlich weiterem Umfang voraus» 





®) Erſt der Chroniſt Hat die Stelle‘ fo anfgefaßt, ohne Zweifel gemäß dem 
zu feiner Zeit ſchon herrſchend gewordenen Brauch, bie Tempelfteuer von 
äinem halben Scheel zu entrichten; vgl. 2Chr. 24, dff. 


368 Graf 


feßt, und daß man fi durch Ausſcheidu 
ftandtheife in das Bodenloſe verliert. 
Auch die Außeren Zeugniffe, meldı 
für feine Anfiht -geftend macht, Tann ih 
Denn wenn auch in Amos 5, 25 voraus 
während der vierzigjährigen Wüftenwander 
bracht Habe (wozu Hof. 5 vgl. 4Mof. 9, 
daraus noch nicht, daß die Opfergefege bes 
noch nicht vorhanden waren, fendern nur 
Annahme der geregelte Opfercultus erft nc 
naans eingerichtet wurde, und daß der Pe 
vorhanden war, noch nicht als eine von M 
tifche Urkunde des Geſetzes Jehova's Heilig 
aud noch mit feiner Darftellung im Wi 
ditionen Tebendig bleiben und als unter dem 
gefegt werden Eonnten. Und mehr wird m 
nicht folgern dürfen, wenn man den Wor: 
Täffig ift, urgiven will. ebenfalls näml 
weſentlich darauf an, daß nicht die Forderu 
nur die des Gehorfams die Grundlage wı 
mit den Vätern zur Zeit ber Ausführung 
abgefchloffen Hat, kraft deſſen er ihr Got 
follten; und dies ftimmt nicht nur zu d 
Deuteronomiums *), fondern aud zu der 
Bücher des Pentateuchs, nach welchen der 2 


a) Zu biefen Borausfegungen des Deuteronomin 
— wie unfer Berfaffer S. 70 vgl. ©. 11f. 
Gebote am Horeb geoffenbart wurden. Deur 
fagt nad; dem Zuſammenhang nur, daß Gott 
Berfon am Verfammlungstage (5 Moſ. 9, 1 
Beuer und Wolkendunlel heraus dem Bolfe n 
Yund gemacht Habe, während, wie twieberhoft ı 
5Mof. 4, 13f.), weitere Offenbarungen din 
Dagegen betrachtet ber Deuteronomiler aller 
ſelbſt verfündeten Worte als Grundlage t 
Bundes. “ 





die geſchichtlichen Bücher des A. T.'s. 369 


ehe die Opferthora gegeben wurde (2Mof. 19, 5; 24, 3ff.). — 
Denn nun auch Jeremias von der Vorausfegung ausgeht, daß der 
geregelte Opfercultus erft inr heiligen Lande eingerichtet worben ift, 
und wenn auch er ben Pentateuch noch nicht weſentlich anders ans 
ſieht, als die älteren Propheten, fo konnte er ſich wohl fo aus⸗ 
drüden: das Wort und Gebot Jehova's an die Väter zur Zeit des 
Auszugs aus Egypten habe nicht Brand» und Schlachtopfer betroffen, 
fondern Jehova habe Gehorfam gefordert. Die den Wortlaut ur- 
girende Folgerung, daß Jeremia und feine Zeit von einer von Gott 
am Sinat gegebenen Opfergefeßgebung überhaupt nichts gewußt 
habe, dag aljo auch noch fein Buch vorhanden gewefen fein könne, 
in welchem eine ſolche verzeichnet war, fann ſchon darum nicht 
uichtig fein, weil das (von Jeremias allerdings faſt ausſchließlich 
kangte) Deuteronomium das Vorhandenfein der levitiſchen Geſetz⸗ 
gung vorausſetzt; wie denn auch ſchon Jeſaias in Jeſ. 4, 5 
moerfennbar die Stelle 2Mof. 40, 38 vor Augen hat, Jeremias 
feloft feine Bekanntſchaft mit der levitiſchen Gefeggebung wenigftens 
nicht ganz verleugnet (vgl. Jer. 2, 3 mit 3Mof. 22, 10. 12. 16. 
Jer. 32, 7. 8 mit 3Mof. 25, 25ff. Ser. 34, 8 mit 3Mof. 
25, 10. 40), und fein Zeitgenofje Ezechiel diefelbe vielfach befundet 
(ogl. 3. B. &. 4, 14; 22, 26). 

Die Abweichungen der von dem letzteren Propheten in Cap. 42—48 
für das neue Gottesreich entworfenen Gottesbienftordnungen und 
Priefterfagungen von der levitiſchen Geſetzgebung bemeifen ebenfalls 
nur, daß dieſe noch nicht das Anfehen einer für alle Zeiten gül- 
tigen Heiligen Urkunde gewonnen Hatte; wogegen ihr Vorhandenſein 
gerade auch durch diefen Entwurf bezeugt wird; denn feine einzelnen 
Beftimmungen find vielfach eine ganz unverfennbare Wiederholung 
oder Umgeftaltung jener Gefegesfagungen, wie 3. B. die Berbren- 
mung des Sundopferfarrens an einem befonderen Ort des Haufes 
außerhalb. des Heiligthums (Ey. 43, 21) an die Stelle der Ver⸗ 
brennung defjelben ‘außerhalb des Lagers tritt, wie die Priefter- 
fagungen (Ez. 44, 21ff.) die des Gefeges nur In einzelnen Punkten, 
beſonders hinfichtlich der Erlaubniß, eine Wittwe zu heirathen, vers 
ſcharfen u. f. w.; aud) werden mande Gefegesvorjchriften voraus» 
gefegt, ohne wiederholt zu werden, z. B. Ez. 44, 26 die über die 


8To Graf 


Neinigang der au Leichen Verunreinigten 
46, 17 die über das Jobeljahr (3 Moſ. 
Unfer Verfaſſer will ſich hier freilic 
Ezediel felbft zum Verfaffer der 
25. 26, fowie des Sabbatgeſetzes 2 Moſ 
und Bertheau Hat biefer Anficht weg 
diefen Capiteln hervortretenden Uebereinftis 
des Sprachgebrauche mit denen Ezechiels 
ſchenkt *). „Wie wäre es denkbar“ — m 
vom ganzen Pentatenche und feiner Gefek 
Capitel nachgeahmt, ja nach ihnen feine 
In der That kann auch nicht in Abrede 
auffallend viele charakteriftifche Ausdrucke 
Ezechiel wiederfinden. Aber es haben au 
Hheten au andere Beftandtheile des Pen 
fluß geübt; jo gebraucht er z. B. bie 
Ay Dim oyyy in 2, 3; 24, 2; 40, 1 
die Formel rip a in 6, 18; 16, 19; 
druck Brod Gottes“ vom Opfer in Ey 
in Ezech. 46, 13; die auch von Jeremia 
nommene Formel „und ich werde euch Ge 
Bolt fein“ in Eye. 11, 20; 14, 11; 
23. 37; ferner mpg dx mug Myn in 
2Mof. 26, 3; in Ejech. 4, 5f. iſt Ge 
4 Moſ. 14, 34 gebildet; in Ezech. 28, 1 
bar 2Mof. 28, 17 f. vor Augen; der A 
42, 20; 44, 23 ftammt aus 3Mof. 16 
46; 44, 8. 14. 15. 16; 48, 11 ten 
Numeri hänfige Nedensart nyguio ax 
auf I3Mof. 10, 9 zuräd, Ezech. 44, 
Exech. 44, 29 auf 4Moſ. 18, 9. 10 
wäre leicht, noch manche Belege dafür 
aus der Ievitifchen Gejeßgebung überhaupt, 
bezeichneten Capiteln, fich Vieles angeeign 


a) Bol. Zahrbuchet für deutſche Theologie 186 


bie geſchichtlichen Wider des A. Ts. er 


o, ft es danu zu verwundern, daß er, ber WPriefter, gerade mit 
em Brieftergefeg 3Mof. 21—22, 16, er, ber in's heiduiſche Land 
Beggeführte, mit bem vor dem Thun der heidnifchen Egypter und 
ianaaniter warnenden (3Mof. 18, 2; 20, 23) Geſetzesabſchnitt 
Moſ. 18— 20 umd mit der dem Volke für den Fall der beharr- 
den Widerſpenſtigkeit ſolches Geſchick anfündigenden Drohrede 
Moſ. 26 (die aber auch fchon ber Deuteronomiter und Jeremias 
men), fowte mit den für die Erulanten doppelt wichtigen Sabbats⸗ 
tboten ſich ganz befonders vertraut gemacht hat, fo daß fie den 
theutendften Einfluß anf feinen Ideenkreis und feine Ausdruder 
xiſe geübt Haben? Dagegen ſcheint mir die Annahme, daß er 
Kft diefe Eapitel gefchrieben Habe — von Anderem abgefehen — 
Men durch die fehr bedeutenden Abweichungen der Priefter- und 
Meinungen Ezehiel’8 von denen jener Geſetzesabſchnitte ausge⸗ 
Wollen gu fein. Man bedenke z. B. nur, daß bei Ezechiel nirgends 
a einem Üohepriefter die Rede ift, was gewiß nicht zufällig ift, 
dern wohl mit der an Ser. 3, 16 erinnernden Nichterwähnung 
= Bundeslade zufammenhängt, wogegen in 8 Moſ. 21 in Ueber⸗ 
aſtimmung mit der fonftigen levitiſchen Geſetzgebung für den Hoher 
fefter befondere Satzungen aufgeftellt werden. Und wie fehr 
ht doch was Ezechiel über die Feſte beftimmt von der Felt 
nung 3Mof. 28 ab, auch abgefehen von dem aus einem Ernte 
ieh eitigefchalteten Abſchnitt 3 Mof. 23, 9I—22. — Wir wollen 
ich nicht gang übergehen, daß vom ben Formeln, welche unfer Ver⸗ 
fer als Ezechiel und den ihm zugefchriebenen Abſchnitten des Pen- 
teuchs gemeinfam anführt, einige auch fonft in der levitiſchen Ge⸗ 
Webung vereinzelt vorkommen: fo das na mm an nicht bios 
1 dee Spige des Dekalogs, fondern auch 3Mof. 11, 44. num 
pn“ ng auch 4 Moſ. 19, 20 vgl. 3Mof. 15, 31; umd daß 
idererſeits fo charalteriſtiſche Spracheigenthümlichleiten von 3 Mof. 
8—20 Ezerhiel fremd find, wie 3. B. ya ober ıpı vom Land, 
% feine Bewohner ausfpeit. — Wir können diefen Erörterungen 
folge in den Berührungen Ezechiel's mit den bezeichneten Pens 
iueuchabſchnitten einen Verweis nicht für deren Abkunft von Ezechiel, 
indern nur fir ihr Vorhandenfein zur Zeit Ezechiel’s erkennen. 
- Hinfichtlih der Stelle Eſra 9, 11, in welder der Verfaſſer 








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die gefehichtlichen Bilder des A. Es. 878 


von, da neben ihm und jeinen Söhnen auch noch Andere des 
rieſteramts gepflegt haben *). Es gilt dies namentlich auch von 
Ahen Abfchnitten, deren Zugehörigfeit zur Grundfchrift anerfannt 
, 3 8. 4Mof. 20, 22ff., wo aud eine befondere Amtstracht 
nors erwähnt ift; vgl. 4Mof. 27, isff. 

Aber auch in der ganzen folgenden Zeit bis zum Erik finden 
it wenigftens am Centralheiligthum, in Silo, Nob und 
Yerufolem, nur Yaroniten im Beſitz des mit dem Mittleramt 
t die gefammte Nation betrauten Prieftertfums (vgl. Richt. 
1,28. 1 Sam.’ 1, 3 vgl. 2, 28; 14, 3; 21, 1ff.;.22, 20ff. 
Sum. 8, 17; 15, 24ff. 1Rön. 2, 26f. 35), während nicht- 
Knitijhe Leviten nur an anderen Heiligthümern priefterliche 
tionen verrichtet zu haben ſcheinen; auf diefen Sachverhalt deutet 
Rh Czechiel in Ezech. 44, 10. 12 vgl. 15 hin, — Der Wider 
had, zwiſchen den gottesdienſtlichen Verhältniſſen der voregififchen 
it und der Gottesdienftordnung des Leviticus ift namentlich auch 
dutch gejteigert worden, daß man aus der Nichtermähnung mancher 
Mödienftlicher Einrichtungen auf ihr Nichtvorhandenfein ſchloß; 
4 diejeg argumentum e silentio halte ih, wo nicht andere 
Dihtige Beweisgründe hinzufommen, für trügerifch. Wird doch 
kr im Geſetz felbft der Zehnte, obſchon feine Entrichtung ſicherlich 
wie auch der Verfaffer S. 48 anerfennt — ein alter Brauch 
t, erft in 3Moſ. 27 erwähnt; und Haben doch fait alle Er— 
Amungen einzelner gotte&dienftlicher Gebräuche in den vorderen 
vpheten nur den Charakter des Zufälligen und Gelegentlichen ®). 





Daß in 2Mof. 24, 5 „die Süngfinge der Söhne Iſraels“ als Priefter 
fungiren, und in 2Mof. 19, 22. 24 proleptiſch ſchon Prieſter erwähnt 
werden, Tann Hier ebenfowenig in Betracht Tommen, als daß Yaron in 
2Mof. 4, 14 auch einmal „der Levite“ genannt ift; denn felbftverftändlich 
iſ bier die Zeit vor Errichtung des Prieſterthums aus dem Spiel zu 
laſſen. 

Umſoweniger ſollte man fo unzweideutige Zeugniffe, wie das für das Bor- 
Handenfein von zu heiligem Gebrauch beftimmten filbernen Trompeten in 
28ön. 12, 14 dgl. 4Mof. 10, 1ff., fo gering tagiren, wie unfer Berfaſſer 
S. 88 zu thun ſcheint. 

Bol. Stud. Jahrg. 1868. 26 


974 Araf 


Immerhin aber bleibt der wicht in Abı 
ſchied der vorezilifchen gottesdienftlichen Verl 
dienſtordnung des Lehiticus noch bedeutend | 
auch unſer Verfaſſer, wiewohl er die ganzı 
in die Zeit verweilt, in welcher man auf’ 
Alles dern Geſetzbuch gemäß zu ardnen, ı 
von Gefegen anerfennen, die nicht zur A 
men find? Co bemerlt er ©. 23, daß 
Auſicht fon in der Grundfchrift des Pentat 
eich über die Freilaſſung der hebräijchen Le 
Dienjtjahre (2Moſ. 21, 2 ff.) „micht zu ı 
geforamen“ , und daß ebenfo die Anordnun 
(AMof. 23, 11) „nie in's Leben getreten 
weift er auch ©. 26 ff. darauf Hin, daß, n 
fo auch bei den Iſraeliten, die ftaatlichen 
tungen viel mehr durch Herkommen, alte E 
dige Ueberfieferungen, als durch gefchriebene ( 
und daß ed — wie er, 34, 8ff. zeige - 
Einrichtungen, die nicht auf uralter Gitte 
das Privatrecht eingriffen, durchzuführen, u 
als heilige Pflicht dargejtellt und geboten ı 
in die Zeit des Erils, resp. des zweiten T 
fegen muß er für eines, die Anorduung des 
daß fi) von feiner Ausführung auch in dei 
eine Spur finde (S. 80), — Wenn wi 
aus welchem die levitiſche Gottesbienftordr 
hervorgegangen ift, die Priefterihaft am C 
trachten haben, kann es auffallen, wenn mı 
nicht zur Durdführung fam? wenn nameı 
und Forderung einer einzigen Opferftätte | 
zur Zeit Hiskia's die eingewurzelte, dem 
20, 24ff. entfprechende Praxis, an verfchiedi 
Landes zu opfern (devem weitere Ausbildu 
Hohencultus war), wicht befeitigen Tonnte, u 
der aaronitiſchen Priefterfchaft in vieler Bezi 


die gefichtlichen Bäder des A. Te. 875 


ad eben nur am Centralheiligthum felbft gewahrt werden fonnten? 
rat auch die ganze Geſetzgebung als Aufzeichnung der auf Mojes 
widgehenden Gefegesüberlieferungen auf — und zwar infofern 
it gutem Grund, als fie im Ganzen und Großen theils auf mor 
iſchen Einrichtungen und Anordnungen beruhte, theil® eine weitere 
merete Detailausführung und Anwendung mofaifcher Principien 
ar — ſo konnte ihr dies doch nicht zur Üeberwindung entgegen« 
thender gotteßdienftlicher und rechtlicher Gewohnheiten verhelfen, 
kun e8 fehlte eben dem Geſetzbuch noch die Anerkennung, daß es 
me authentifche Aufzeichnung jener Ueberlieferungen und in allen 
nen Beftimmungen die Kundmachung des Geſetzes Jehova's ſei. 
# folche Anerkennung konnte e8 auch nicht gewinnen, fo Lange 
köundmahung und immer neue Bezeugung des Geſetzes Jehova's 
Mi borzugsmeife in der Predigt der Boten, die Gott fort und 
zu feinem Volke fendete, in dem lebendigen Wort der Offen- 
fung durch die Propheten, erfannt und anerkannt wurde; und am 
tigften Tonnten die einzelnen detaillirten und in allerlei Aeußer— 
keiten ſich verlierenden Satzungen eines gefchriebenen Geſetzes 
! Anerfennung ihrer göttlichen Verbindlichkeit rechnen, während 
anerkannten Prediger des göttlichen Geſetzes alles Gewicht nur 
’ die wefentlichen Grundforderungen des geoffenbarten Gotted+ 
lens legten. So kam «8, baß die levitiſche Gottesbienftorbnung, 
Hon fie großentheils ſchon in der Grundſchrift des Pentateuchs 
tichnet war, während der vorerififhen Zeit in Allent, worin 
mit der herrſchenden Praxis im Widerſpruch ftand, nur ſo viel 
trfennung und Durchführung fand, als die Reiter 
d Machthaber, namentlich die Könige, ihre Grund- 
de geltend zu maden ſich angelegen fein ließen, wie 
nentfich Hisklia den Grundfag der einheitlichen Opfercultftätte 
die ganze Nation zur Geltung brachte. So fonnte es and 
men, daß die jüngfte Gefeßgebung, bie deuteronomifche, die nad 
Veife und in dem Geifte der Propheten das Geſetz Jehova's 
eugte, und in ihren Gottesdienft- und Rechtsordnungen ben bes 
jenden Verhältniffen, Gebräuchen und Gewohnheiten in manderfei 
odificationen der Älteren Gefeggebung Rechnung trug, durch das 
25* 





376 Graf 


Zufammenwirken der Propetie (Jeremiat 
thums und des Priefterthums am früheften 
fand, und durch den Eifer und die Ener, 
Königs durchgeführt wurde; wogegen die 
gebung mit ihren mancherlei Sagungen er 
diger in dad Leben trat, ald man nad} den 
das gefhriebene Geſetzbuch als die Ki 
Jehova's zu betrachten und heilig zu halte 
noch auf eine bedeutende Gegenmwirkung di 
gottesdienftlichen und rechtlichen Gewohnheit 
Lebenskraft im Exil gebrohen war — al 
fegesbeftimmungen gemäß ordnen konnte, 
So dürfte der Widerftreit der gottesbi 
der voreriliſchen Zeit mit der levitiſchen C 
wirklich vorhanden ift, die Kritik feineswe, 
gebung der mittleren Bücher des Pentateuc 
ftehenden Inſtanzen, für jünger als bie 
ein Product der Zeit des zweiten Tempels 
Weit mehr als mit dem Inhalt der er| 
ferent mit dem der zweiten einverftanden. 
ſich der Verfaſſer hier geftellt Hat, ijt eine V 
der Ehronif in Inhalt und Darſtellun 
ſchichtsbüchern zu dem Zwecke, fein Verhi 
feinen Werth als Quelle der Geſchichte 
klareres Licht zu fegen. Cine neue Unterju 
ftand war fehr am Plage. Denn feit bir 
tiſchen Urtheils de Wette's und Gramb 
der Chronik und das Verfahren des Chron 
ſelben, als habe er nämlich nur die Bi 
Könige benutzt und alle ihm eigenthümlicheı 
eigener Erfindung oder Combination Hinzu, 
Kannt ift, haben auch kritifche Geſchichtsforſe 
den Werth der Chronik als Gefchichtsgu 
indem fie allzu geneigt waren, die Abweichi 
Geſchichtserzählung als aus älteren Quell 


die geſchichtlichen Bücher des U. Te. 877 


taten, wodurch oft der Hiftorifche Werth der vorderen Propheten 
ı ungerechtfertigter Weife herabgedrüdt wurde. Weberhaupt find 
od) fehr unklare Vorftellungen über das Verfahren des Chroniften 
breitet, wie denn z. B. was Bleek in feiner Einfeitung (zweite 
uflage, S. 401 ff.) darüber fagt, nicht von ferne ahnen läßt, mit 
eher Freiheit der Chroniſt oft die älteren Ucherlieferungen den 
nfSauungen feiner Zeit, feinem levitiſchen Intereſſe und feinem 
wänetiihen Zwecke gemäß umgeftaltet hat. Unter dieſen Ums 
inden ift eine fo gründliche und erfchöpfende Unterfuchung, wie 
unſer Verfaffer hier darbietet, doppelt dankenswerth. Auf der 
lichen Vorarbeit, welhe Bertheau in feinem Commentare 
liefert hat, fußend und unter öfterer Verweifung auf dieſen Com- 
tor ftellt er eine bis auf das Detail der Darftellung und des 
berudds fich erftredende kritiſche Vergleihung der Chronit mit 
3 Büchern Samuelis und der Könige an, wobei er ganz zweck ⸗ 
mög von dem zweiten Buche ausgeht, darauf die Kritik der Ger 
ichte David's (1Chron. 10—29) folgen läßt, umd zufegt die 
ſchiedenen Verzeichniſſe (1 Chron. 1—9 u. 23—27) einer ein 
renden Prüfung unterzieht. Ueberzeugend hat er durch diefe Ver⸗ 
ihung in das Licht geftellt, dag der Chroniſt unfere Bücher 
muelis und der Könige nicht nur als Hauptquelle und Grundlage 
ies Werkes benugt, fondern auch ihren Text fo weit und fo 
iſtändlich wörtlich beibehalten hat, als es fein Zwed erlaubt, 
i er dagegen, wo biefer Text nicht mit den Anfchauungen oder 
gottesdienftlichen Gebräucden feiner Zeit übereinftimmte oder ' 
ı einem Könige ein anderes Bild darftellte als das, welches 
‘5 die Umgeftaltung ber nie ruhenden Sage feinem Jahrhundert 
Augen ſchwebte, denfelben durch willfürliche Aenderungen aller 
: mit diefen Anfhauungen, mit den aus fpäteren Quellen ger 
ipften Erweiterungen und mit feinem Lehrzwede in Ueberein⸗ 
mung gebradt hat. Zu den auffälligften Beiſpielen folder 
igeſtaltungen gehört, neben der Erzählung über die Thronbeſtei⸗ 
g Salomo’s in 1Chron. 28 u. 29 vgl. 18K0n. 1, die Erzähr 
ig von dem Sturze Athalja's 2Chron. 23 (Graf, ©. 148ff.). 
: faft allen abweichenden Darftellungen und Zufägen weift der 


378 b Graf 


Verfaſſer aus dem Charakter der Erzählungen und bej 
dem Sprachgebrauce nach, daß fie, auch wo der Stoff 
Quellen entnommen fein muß, in ihrer uns borliegen 
von ber Hand des Ehroniften herrühren, fo daß deffen ci 
ſtelleriſche Thätigeit eine viel bedeutendere ift, als gem 
genommen wird, wie die auch Bertheau (Jahrb. f 
1866, &. 159) dem Verfaſſer zugeftanden hat. — 
hierin das Ergebniß der Unterfuhung wieder mehr 
de Wette's, fo Hat der Verfaffer doc andererfeits auch 
niges herausgehoben, was ber Chromift aus ben net 
vorderen Propheten von ihm benußten Quellen entnon 
muß; darunter auch eine Reihe von Nachrichten, die 
rein ammaliftifchen Charakter ihren Urfprung aus ben | 
under über die Geſchichte der Königszeit befunden (vgl 
zeichniß der im zweiten Buch enthaltenen derartigen 
©. 187f.), während allerdings die Onelle, ans welche 
nift das meifte, und aus welcher er unmittelbat gefchör 
beträchtlich jüngere if. — Wenn Referent auch in m 
zelnen mit dem Berfaffer nicht einverftanden ift, fo erke 
in dieſer detaiffirten kritiſchen Sonderung deffen, was in 
ans für uns verlorenen Quellenjchriften entnommen, vo 
als eigene Zuthat des Chroniften zu betrachten ift, ei 
brauchbare und wmeift zuverläſſige Grundfage für eine n 
und feiteren Grundfägen verfahrende Verwerthung der 
Geſchichtsquelle. 

Auch mit dem, was der Verfaſſer über die in dem 4 
Ehronit citirten Quellenſchriften bemerkt (S. 188 ff 
mic, faft durchweg einverftanden erflären, fowohl dam 
verfchiedenen Citate fait alle auf ein und daſſelbe Wer 
als damit, daß diefed Wert, „da® Buch der Könige | 
Zuba’s“, wie es am häufigften genannt wird, weber ı 
Konigsbuch, noch mit den in dieſem citirten Bücher: 
geſchichte der Könige Juda's und Iſrael's (deren CHaral 
treffend gefäjildert iſt) identifh fein fann, vielmehr ı 
Zufammenarbeitung der letzteren fein muß, in welche 


bie geſchichtlichen Gucher des U. 2.8. 878 


Bereiherungen, namentlich) mancherlei Prophetengeſchichten, aufge⸗ 
ımmen worden waren. Nur in Betreff des Verhältniſſes unſeres 
Rönigsbuches zu diefem Sammelwerfe muß ic) von der Anficht des 
derfaſſers abmeihen, da mit viel fiir die Anficht zu ſprechen ſchelnt, 
aß auch unfer Königebuch, adgefehen von 1Rön. 1 m. 2 und ber 
Weichichte Elias" und Elifa's, das vom dem Chroniften eitirte Buch 
er Könige Iſrael's und Juda's zur Grundlage hat, indem der 
derfaffer einzelne Stüde davon, wie-1 Kön. 12. 20. 22. 2 Fön. 
. 10. 18—20 unverändert mittheilte, fonjt aber einen feinem 
wecke entfprechenden Auszug daraus machte. Wer diefe Anficht, 
ren Begründung bier nicht gegeben werden kann, theilt, wird auch 
a dem Eitat 2Chton. 9, 29 eine Hinmelfung nicht anf unſer 
Wigsbuch (Graf, ©. 189), ſondern, wie in den Übrigen theile 
wie ahnlichen Citaten, auf das Buch ber Rönlge Ifrael's und 
rs finden. 

Zum Schluſſe konnen wir nur wünſchen, daB auch dieſe zweite 
uſterhaft gtundliche Unterſuchumg geblihrende Beachtung finde, 
d daß durch fie richtigere Anſchauungen Über den Charakter nd 
a Siftorifchen Werth det chroniſtiſchen Geſchichtsetzuhlung vet» 
ätet werben möchten. . 


Ed. Riehm. 


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Appendix cod. celeberr. Sin. Vat. Alexandrini. 381 


Herausgabe deſſelben nach Art des Sinaiticus, wozu ſich Tiſchen⸗ 
dorf auf eigene Koften erbot, lehnte Pins IX. ab, meil er 
eine ſolche ſelbſt in's Werk fegen wolle. Tiſchendorf aber „Hatte 
allen Grund, damit zufrieden zu fein, daß er dem lange gefühlten 
Bedürfniffe einer wirklich kritiſchen Behandlung des vaticanifchen 
Tertes nachkommen konnte, wenn er auch auf ein zweites fo pracht⸗ 
volles Werk, wie fein Sinaiticus, verzichten mußte“. „Er machte 
äh) denn auch voll Eifers daran, nicht nur die Handſchrift Zeile 
fir Zeile zu vergleichen, indem er dabei feine Aufzeichnungen über 
Me ihm aufgeftoßenen verdächtigen Stellen in den Mai'ſchen Aus- 
nben und den verfchiebenen Vergleichungen beftens benugte, fondern 
ind diejenigen Seiten, die ein befonderes Intereſſe für Paldo- 
wohie darboten, oder auch des Textes felber wegen vor allen 
Wirren wichtig waren, wie 3. B. das 5. Gapitel des 1. Johannis- 
kries, ferupulds abzuſchreiben“. Dies ruhig und glücklich zu 
Äibe zu führen, war ihm nicht vergönnt; denn etwa in der Mitte 
finer Arbeit erhob ein auf die wiſſenſchaftliche Ehre der römischen 
inrie eiferfüchtiger Jeſuit an allerhöchſter Stelle die Anklage, daß 
äfgendorf doc; eine Ausgabe nach Art des Sinaiticus vorbereite. 
ie nächſte Folge war ein Verbot der meiteren Communication 
% Code. Indeſſen gelang es Zifchendorf, über feinen Wider 
ker zu triumphiren und feine Arbeit zu vollenden, wenn auch 
Merdings zu der bisherigen Scrupulofität in der Detailvergfeihung 
fe im zugemeffene Zeit nicht ausreichte. Das Hauptergebniß 
at im Nov. Test. Vatic. vor, welches gleichzeitig mit dem 
ppendix erſchien und womit Tifchendorf „endlich eine fritifche 
iusgabe des nächſt dem Sinaiticus wichtigften Codex geben wollte“. 
m Appendix aber haben wir die ſämmtlichen Abfchriften vor 
lugen, welche Tifchendorf ſelbſt anfertigte. Die zwanzig Platten 
der Seiten) find mit den Lettern des Sinaiticus gedruckt, wobei 
it Interpunction und die oft ihre Stelle vertretenden Teeren Zwiſchen⸗ 
iume forgfältig wiedergegeben find, und die verfleinerten Buchſtaben 
Mm Anfang der Zeilen beobadhtet werden. Nehmen wir zu dieſen 
vanzig Seiten noch die am Ende gegebenen Facfimiles Hinzu, von 
men drei mit größtem Fleiße folchen Stellen entnommen find, die 


882 Tiſchendorf 


von der die ganze Schrift umfaſſenden ſpäteren Aufftiſr 
betroffen wurden, jo haben wir nunmehr endlich ein zu 
Abbild der Urfchrift, welches eine are Anſchauung von i 
rafter gibt. Bon Allem, was Tijchendorf in den Prolegor 
die Handſchrift ſchreibt, ift am Überrafchendften, was er 
Alter und den Schreiber derfelben mittheitt. Das vati 
N.T. ift nämlich von demfelben Schreiber gef 
deffen Hand auch das finaitifhe N. T. ſchrieb. 
dorf, der biefen in feinen Ausgaben der Sinaihandfehrift 
beweift feinen Sag ſowohl aus den Schriftzügen, ben 
und den befonderen graphifchen Eigenthümlichkeiten, als c 
ders ſchlagend aus der Orthographie beider N. T. 
3. B. immer Ioayns ftatt Joavıns. Demnach gehört 
ticanus gleich wie der Sinaiticus in's vierte Jahrhunder 
ift aber nicht gefagt, daß ber Schreiber D beide Mo 
Original copirte -— dann wären beide Codices, der Va 
Sin., ja identifh! — das find fie keineswegs, fondern 
entfloß einer anderen Quelle. Zur Entſcheidung der Bra; 
von beiden entfloß der reineren, älteren Quelle? wirt 
Zifchendorffche Editio VIII des N. T.s gewichtige 
geben. Man fehe nur die drei bis jegt erſchienenen 
‚ver Evangelien an, und vergleiche fie mit irgend einer 
Ausgabe: welde tiefgreifende Veränderungen gehen da v 
Jetzt kommen wir zur dritten Gabe, welche ıms T 
ſcharfes Auge und unermüdliher Fleiß im Appendix 
ift der neue genaue Abdrud des Clemens v 
Den Hohen Werth diefer Schrift — bekanntlich eine d 
apoftolifchen nad) der Heiligen Schrift felbft — kennt je 
fhaftliche Theologe und weiß, warum am dreißig Aut 
Ueberjegungen des Briefes an die Korinther erfchienen; 
wohl auch, daß alle bisherigen Abdrüce des Textes un 
und unvollkommen find. Weder in Bezug auf die Li 
in Bezug auf die Lesarten ber bekanntlich einzigen | 
des Codex Alexandrinus, wußte man bisher ficher 
Dies erfennend und überdies erwägend, daß ber fehr 


Appendix cod. oeleberr. Sin. Vat. Alexandrini. 388 


Coder nicht Länger der immer wiederholten Antaftung ausgeſetzt 
merden dürfe, entfchloffeh ſich die Verwalter des Brittiſchen Mur 
jums, die ganze Handſchrift photographiren zu laſſen. Das 
jeſchah, aber der Zuftand der Handfchrift ift der Art, dag eine 
Photographie (melche überdies nur in wenigen Exemplaren exiftirt) 
feineswege in allen Fällen ausreicht. Denn tHeils iſt die Schrift 
vielfach unleferlih, das Papier vergilbt und verwittert, theils ift 
nd durch eine Galfapfeltinetur, welche man zur vermeintlichen 
Auffeifchung über den. Tert ausgoß, vieles fo entſtellt und ver 
mnteft, daß die Photographie öfters nur dunkle, unentzifferbare 
dchatteninſeln darbietet. So war es denn ein Glück, da Tiſchen⸗ 
nf mit feinem geübten Blick die Handſchrift forgfältig und genau 
ajtern und ganz nad) Wunſche benugen durfte. Er durchſchaute 
m die verdunfelten Stellen, unterfuchte "die faft erlofchenen 
Efriftzüge, und fah gar Manches, was felbft fehr forgfältig 
infhenden Gelehrten, wie z. B. einem Jacobſon, bei wieder« 
‚ter Bemühung entgangen war. So gewann er fir bie Kritik 
es Clemens von Rom in Wahrheit glänzende Nefultate. Ich 
kife nur einige wenige derjelben mit. 

Ep. I, ce. 49, p. 52 Hilgenfeld las man bisher allgemein 
he Arg: 10 neyadsiov vis xallovig adrod vl; dgxeidg 
des elrreiv; — Tiſchendorf fand, daß vielmehr dafteht: zis 
exsrög Ebsıneiv! — Yet wundert man ſich freilich, daß 
tiemand an dem Zdss Anſtoß genommen hat. 

Ep. I, c. 2, p. 6 fteht im Eoder: auaumao. Das aber 
t auvnolxexoı, da das ap, wie fo oft, aus Verſehen verdop⸗ 
at iſt. 

Ep. I, c. 13, p. 16 vermuthete ich längſt, was Tiſchendorf 
bt ganz feftftelit. Es ift nämlich, nicht davrodg egüg zu leſen, 
dern Savrods sis. Denn das unpaffende eos überſchrei— 
t aud den Raum: nicht vier, fondern drei Lettern mur 
inden da. In derfelben Weife find ohne Zweifel viele Stellen 
u zu umnterfuchen und zu berichtigen, und eine ganz neue Text» 
gabe ift ein dringendes Bedürfniß. Iſt doch auch das viel» 
‚fprochene zul Erri To Tegua wis does endlich mit Bejtimmt- 


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Vrogramm 
der 
Hunger Geſellſchaft zur Vertheidigung der chriſtlichen Religion 
für das Jahr 1867. 


Directoren der Haager Gefellfchaft zur Vertheidigung 
der hriftliger Religion haben in ihrer Frühlingsverfamm- 
ung im Monat April d. J. ihr Urtheil ausgeſprochen über zwei 
jochdeutſche Abhandlungen, die Frage betreffend: 

„Zudem über die Gefegmäßigfeit und Nothwendigkeit der Todes- 
trafe, beſonders auf juriftifchem Gebiete, für und gegen geftritten 
ft, berufene Theologen aber dieſen Gegenftand noch nicht hinreichend 
handelt Haben, fo verlangt die Gefellihaft, ganz befonders 
vie Religion und die theologifche Wiffenfhaft in’ 
Kuge faffend, eine ‚Abhandlung über die Todesftrafe‘.“ 

Die eine Abhandlung, mit dem Wahlſpruche: Wenn die Ge- . 
:ehtigfeit untergeht u. f. w., befürwortete die Todesſtrafe, 
ie andere, mit dem Motto: Der Buchſtabe tödtet u. f. w., 
nftritt fie. Obgleich Directoren der erftgenannten Abhandlung 
a8 Rob nicht verfagen konnten, daß fie manche wifjenswerthe Ein- 
elnheiten enthält, waren fie dod ber Meinung, daß die zuleßte 
nannte in mancher Hinficht den Vorzug verdiente. Nichtsdeſto— 
veniger fühlten fie fich gedrungen, ſowohl diefe als jene Abhandlung 
nbefrönt bei Seite zu legen, weil, ihrem Urtheile nach, die ver- 
dienftfichjte den Mangel der Einfeitigfeit hatte, und die andere zu 
oberflächlich gehalten war; beide aber dies miteinander gemein hatten, 


386 Programm 


daß fie zwar Licht über die Gefchichte des Ge 
aber in felbftändiger Beantwortung der Fre 
die Religion und die theologiſche 
Auge faffend, Hinter den Anforderungen 

Bon diefem Urtheile wurde baldmöglichfi 
tifhen Kirhenzeitung eine kurze Na 
Verweifung auf das diesjährige Programm. 

In ihrer Herbftverfammfung, im Monat 
rectoren ihr Urtheil ausgefprodhen .über dr: 
eingelaufene Antworten auf ausgefchriebene 
zwei hochbeutjche, betreffend die Frage: 

Im Hinblid auf den heutigen Materiali 
Unterſuchungen auf anthropologifchem Gebiete 
„Kann die dualiftifhe Anſchauung 
als ein aus Leib und Seele zufamm 
auch jegt noch aufredt erhalten wer 
moniftifhe ihre Stelle einnehme 
Monismus vertheidigen ohne Schal 
ben an die perſönliche Unjterblichle 

Die eine hatte zum Wahljpruh: Yn’s ! 
u. ſ. w. ber, ohne noch Ruckſicht zu ı 
falſchen Theſen und andere darin enthaltene 
die Verfammlung der Meinung, daß ein 
Auffag, der im Drud nicht einmal zwei 2 
nit den Namen einer Abhandlung verdiene, 
eine fo fchwierige und vielumfaffende Frage 
zweite, mit dem Motto: Zr Tod ögarod 
mit mehr Anerkennung geurtheilt. Directo 
feitigen Kenntniffe, das philoſophiſche Studir 
des Urtheils, wodurd fie fich auszeichnete, a 
tonnten fie auch diefem Verfaſſer den ange 
zumeifen, weil es ihm, ihrem Urtheile nac 
mögen, die Einwürfe gegen feine Löſung d 
zu befeitigen, wie er denn auch unter An 
Erſcheinungen im organifchen Leben des Pi 
bindung diefer mit feiner geiftigen Thätigleit 








der Haager Geſellſchaft 4, Vertheid. d. chriſtl. Religion. 887 


Die dritte zur Tafel gebrachte Abhandlung war eine Inteinifche, 
mit dem Wahlfprudj: “Erormor da del migos dmoloyiav, die 
Droge betreffend: „Die Gefeltfchaft verlangt eine apologetifde 
Abhandlung über ben bleibenden Werth des Chriften« 
hums.“ 

Directoren fanden darin einen Aufſatz, der, aus Mißverſtändniß 
ur Frage, fich großentheils außerhalb des Gegenftandes bewegte, 
ud viel zu unbedeutend war, als daß fie an Belrönung Hätten 
enlen Können, 

Die Geſellſchaft Hat befchloffen, die zwei obenbenannten Fragen 
wimald auszufgreiben; die eine etwas umgeändert, die andere 
ait einem Zufage verfehen, wonach fie jegt aljo lauten: 

1 „9m Hinblid auf den Heutigen Materiolismus und bie 
Baiften Unterfuhungen auf anthropologiſchem Gebiete fragt die 
Silihaft: Kann die dualiftifhe Anſicht über den 
Renfchen, als ein aus Leib. und Seele zufammen- 
tſetztes Weſen, aud jegt noch aufreht erhalten 
erden, oder ift fie durch die moniftifdhe, in einer 
jrer Formen, zu erfegen? Und kann diefe Erfegung 
attfinden ohne Schaden für den Glauben an bie per» 
inlige Unfterblichleit des Menfhen?“ 

I „Weil Etfihe in unferen Tagen fich erfühnen, das Chriften- 
nm, es fei mit ober ohne Anerkennung feiner Verdienfte für frür - 
ne Jahrhunderte, als völlig antiquirt zu erklären, Andere dagegen 
mtwährend noch Manches zu handhaben ſuchen, mas im traditior 
len Chriſtenthum wirklich antiquirt ift, fo verlangt die Gefell- 
hit: Eine apologetifhe Abhandlung über den bleis 
enden Werth der hriftlihen Religion.“ 

Auch die folgende Frage wird auf's Neue ausgefchrieben: 

II. „Zudem über die Gefegmäßigfeit und Nothwendigkeit der 
odesſtrafe, bejonders auf juriftiihem Gebiete, für und gegen 
ftritten ift, berufene Theologen aber diefen Gegenftand noch nicht 
nreihend behandelt haben, fo verlangt die Gefellfhaft, ganz 
:fonders die Religion und die theologifche Wiffen- 
haft in's Auge faffend, eine Abhandlung über die Todes. 
:afe.“ 


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der Haager Gefellichaft 3. Vertheid. d. chriſtl. Religion. 889 


Bor dem 15. December dieſes Jahres wird noch Antworten 
nigegengefehen auf die Fragen über die Askeſe, den Baro- 
ismus, den Wunderbegriff der Berfaffer des N. Ts, 
ie Zufunft des Herrn, die Trennung von Staat und 
'irhe und den Krieg, um in ber Herbftverfammlung des Jahres 
868 beurtheilt zu werden. 

Säriftfteller, die fi) um den Preis bewerben, werben darauf 
machten Haben, daß fie die Abhandlungen nicht mit ihrem Namen, 
mbern mit einer beliebigen Devife unterzeichnen. in befonberes, 
tamen und Wohnort enthaltendes und gut verfiegeltes Billet 
de fobann diefelbe Devife auf der Abreffe. 

Die Abhandlungen müffen in holländifcher, lateinischer, fran« 
Kider oder deutſcher Sprache abgefaßt, und die in deutfeher Sprache 
x Inteinifchen Buchſtaben gefchrieben fein, widrigenfalls fie bei 
Site gelegt werben. \ 

Ueberdies wird den Verfaffern auf's Neue in Erinnerung gebracht, 
2 auf gedrängte Behandlung großer Werth gelegt wird. Auch 
itfen die Verfaffer nicht vergeffen, wie ſehr fie ſich felber fchaden, 
enn fie bei ihren Antworten auf die Fragen der Geſellſchaft die 
übere Form vernachläffigen. Directoren machen darum auch jet 
ven feften Beſchluß bekannt, daß fie Abhandlungen, deren Schrift 
ich ihrem einftimmigen Urtheile undeutlich ift, der Beurtheilung 
ht unterziehen werden. 
derner fei aufs Neue zur Warnung daran erinnert, daß es 
jne Bewilligung der Geſellſchaft nicht erlaubt ift, feine gefrönte 
bhandlung herauszugeben, weder einzeln, nod in einem anderen 
derfe, . 

Auch werde im Auge behalten, daß die eingereichte Handfchrift 
ner abgewiefenen Abhandlung das Eigenthum der Gejellfchaft 
leibt, es ſei denn, daß diefe fie freiwillig cedire. 


sl. Stud. Jahrg. 1868, 26 





Im gleichen Berlage ift erſchienen: 


Neander, Dr. A., Werke, 13 Bände 
Tholucdt, Dr. A., Werte, 9 Bände . 
Ullmann, Dr. C., Werke, 5 Bände. B 
Reander, Dr. A., Kirchengeſchichte. 4. Aufl. 9 Die. 
— — Apoſtelgeſchichte. 5. Aufl. 
— —. Leben Jeſu. 6. Aufl. . . 
Ullmann, Dr. C., Gregorius v. Nazianz. 2. Aufl. 
— — Reformatoren vor der Reformatior 
2. Aufl. 2 Bde.. 
_ —  Sündlofigfeit Jeſu. 7. Aufl., 2. Abdi 
Hupfeld, Dr. H., Die Palmen. 2. Auflage, herausgegebe 
von Dr. €. Richm. 1. Band . . 
(Der 2. Band erfKeint in wenigen Bogen) 
Fabri, Dr. Fr., Kirchenpolitifche Frage. 3. Aufl. 
Krigler, H. Humanität und Chriftenthum. 2 Bde. . 
Gremer, Dr. H., Bibliſch-theologiſches Wörterbud) . 
(Durch endfiches Erſcheinen der zweiten Hälfte iſt dieſes be 
deutende Buch volfftändig geworden.) 
ütterodt, Graf Ludwig: Erneſt Graf zu Mansfelt 
1580—1626. Mit einem Anhauge: Originalbrief 
Mangfeld’8 und Tilly's . . 
Müde, Dr. Auguft, Die Dogmatik des 19. gehrhundert 
Schulze, Dr. 2, Vom Menſchenſohn und vom Logos 
Schmidt, Dr. G., Juſtus Menius, der — Thü 
ringens. 2 Bände 
uch dieſes Werk ift duch Erſchinen des weiten Bande 
jest zum Abſchluß gekommen.) 
Böttiger, Geſchichte von Sachſen. 2. Aufl. Derautgegebe 
von Dr. Th. Flathe. 1. Bd. oo. 
NReander, Dr. A., Ueber den _ Julianus und ch 
Zeitalter. 2. Aufl. . 
Brandt, M. ©. W., Erinnerungen an 1 Carl Daniel Sur 
Rein zu Nonnenweier 
Daffelbe, mit Portrait und Bootographie 
Pröle, Dr. H. A., Andreas Proles, Vicar der Kuga 
ein Zeuge der Wahrheit vor Luther . . . . 


@ 


Studien 


FH 

das gefammte 
D. €. Ulmen 

umt 

D. €. 3. ,Nitzſch, ] 
D. ©. 8. Hmm 
cinun 


bei Friedr 


Theologiſche 
Studien und Kritiken. 


Line Zeitſchrift 
für 
wgefammte Gebiet der Theologie, 
begründet von 
D. €. Ullmann und D. 3. W. €. Umbreit 
und in Berbindung mit 
. €. 3. NRitzſch, D. 3. Müller, D. W. Veyſchlag 
Herausgegeben 


vom 


D. ©. 8. Hundeshagen um D. €. Riehm. 





Jahrgang 1868, drittes Heff. 





Gotha, 
bei Sriedrih Andreas Perthes,. 
1868. v 





Abhandlungen. 





250, Google 


1. 


Am fünfzigjährigen Stiftungstage der evangelifhen Union. 





Geftrede, 
Yhlten am 31. October 1867 in der Aula der Univerfität Halle-Wittenberg 


von 


D. Willibald Benfhlag. 


Hocherehrte Verſammlung! 


Am heutigen Tage, dem vierthalb-hundertjährigen Gedenktage der 
formation, feiert auch die Stiftung des legten Neformationd- 
biläums, die evangelifhe Union, ein fünfzigfägriges Beſtehen. 
fe theologische Facultät von Halle-Wittenberg hat es für recht 
achtet, diefen Tag auch ihrerſeits nicht ohne feſtliche Begehung 
! laffen, und ich habe mic) dem Auftrag, biefer Feier zum Organ 
dienen, gern unterzogen. Wenn ic) demfelben doch nicht mit 
em freudigem Feftgefühl gegenüberftehe, fo liegt das nicht daran, 
8 ich zu der Sache, welcher es gilt, ein ſchwankendes Verhältnig 
te; es kann Niemand unter und klarer und wärmer zu ihr ftehen 
8 ih. Was mir vielmehr befehwerend auf dem Herzen Liegt, 
8 ift die Gefchichte der Union in diefem halben Jahrhundert 
tes Beſtehens. Nein, die evangelifche Union Hat keine Urſache, 
efe ihre fünfzigjährige Geſchichte zu feiern! 

Indeß, die Union hat eine ältere, größere Geſchichte als die von 
817 an; fie hat eine Vorgeſchichte von Anbeginn der Reformation, — 


898 Beyſchlag 


der Reformation, deren ganze Entwicklung der Unionsgedante mie 
ein guter zum Weg des Friedens rufender Engel — freilich, nen] 
einem anderen und nad) anderer Seite Hin lockenden Geifte — 
begfeitet. Und wenn ein Gedanke in der Anlage einer nod) uner⸗ 
ſchöpften geſchichtlichen Entwicklung, in einem Haren Plane göttliher 
Weltregierung feine Stelle hat, dann macht's wenig aus, ob einmal 
der Wind eines Menſchenalters ihm widerwärtig ift und unte 
entgegengefeßt auffehäumenden Wellen die wahre gefchichtliche Strö 
mung ſich vorübergehend verbirgt: „was Er fi) vorgenommen ur 
was Er haben will, da8 muß dod endlich kommen zu feinem Zi 
und Ziel“. — Erheben wir uns, meine Freunde, über die Hai 
Schwankungen und widrigen Eindrüde der Gegenwart zu je 
Höhe geſchichtlicher Betrachtung, zu welcher der Doppelcdaraktı 
dieſes Tages als eines Reformationd- und eines Unionsjubiläum 
uns einlädt, und verfolgen wir den rothen Faden der Union durd 
die Gefammtgefchichte der evangefifchen "Kirche! 

Freilich, ehe wir das verfuchen fönnen, gilt es noch eine 
frage zu erledigen. Die Spradverwirrung diefer Zeiten brig 
mit fi, daß, wer über Union reden will, immer erft fagen 
was er unter derfefben verfteht. Num, ich verftehe unter Uns 
ganz dafjelbe wie der fönigliche Aufruf von 1817, der fie bei 
in's Dafein gerufen Hat. Nicht eine Alfermeltsfirche, im der A 
zufammenflöffe mit alleinigem Ausfchluß des Papſtthums, denn 
wäre feine evangelifche Einheit, feine Einigung der beiden re 
formatorifhen Kirden. Nicht einen bloßen „Geift der M 
Bigung und Milde“, der zwei getrennt bleibende Confeſſionen durd 
wehen ſollte, denn diefer Geift Hat feine firchenrechtliche Greifbartt 
und weht gottlob auch außerhalb der Union. Auch nicht ein 
bloße Combinirung diefer beiden Eonfeffionen, die nur die beider 
feitigen Bekenntniſſe addirte unter Subtraction der Differenzpunttt 
denn wenn die Befenntnißfchriften in allem Anderen abfolute Br 
rechtigung haben, fo haben fie dieſelbe aud in ihrer Differen; 
Sondern, wie e8 im Unionsaufruf von 1817 heißt, die 
einigung der beiden getrennten proteftantifchen Kirchen, der rı 
mirten und futherifchen, zu Einer evangeliſch⸗chriſtlichen“; die mırt 
ide Bereinigung, — die natürlich vorausfegt, daß man der 





Feſtrede am fünfzigjähr. Stiftungstage ber evangel. Union. 399 


beiten Sondergebilden aud in feinem einzigen Punkte mehr ein 
objoutes echt zuerfenne, fondern auf die einheitlichen Principien 
derfelben zurüchgehe und auf deren Grund ein wirklich Neues werden 
Iaffe, aus altem und jungem Material, in reicher Mannichfaltigkeit 
md lebendiger Einheit. Sagt doch auch das Wort „Union“ 
tbendied und nichts Anderes. „Union“, Einigung, das ift ein Proceß, 
in den wir beiderfeits eingetreten find, ein Proceß, der feine mehr 
ser minder fortgefchrittenen Stadien haben kann, in dem jedes 
Stadium mit Freiheit erreicht und mit Geduld abgewartet werden 
nill, deffen endliches Ziel aber nichts anderes fein kann, als die 
sirffihe Einheit. Nur eben nicht die katholiſche Einheit, die 
miforme, die feine Berfchiedenheiten duldet, fondern die enangelifche, 
de ſich derfelben freut, weil jeder lebendige Leib ans allerlei ein- 
ik dienenden Gfiedern beftehen muß. 

Und, meine Freunde, — mußte nicht ebendas auch fchon die 
Irhfihe- Idee der Reformation fein? Das Joch der geſetz-⸗ 
ihen Kirche wollte man abthun und die evangelifhe Freiheit der 
deniffen Herftellen: konnte man da die evangeliſch erneute Kirche 
sederum auf ein ſtarres Gefeg, auf ein Gefe der Lehre gründen 
oollen? Die apoftolifche Kirche wollte man wiederbringen: aber 
ren denn die Apoftel "Petrus, Johannes, Paulus in der Lehr- 
orm einig geweſen? Einig waren fie im Glauben, in dem Halten 
a dem Einen Heildgrumde, der gelegt war, in den großen Prin- 
ipien des neuen Wefens in Chrifto, und auf diefe Einheit hatten 
ie fi) die Hand der Gemeinſchaft gereicht (Gaf. 2, 9), unbeforgt, 
5 der eine auf jenen Grund Gold, der andere Silber oder edle 
Steine baute, oder aud einmal einer dem andern Holz, Stroh, 
Stoppeln darauf zu bauen ſchiene (1 Kor. 3, 11f.). So mußte 
ac die Kirche der Reformation ein einheitliches Fundament haben, 
enn wie wäre Kirche, d. 5. Glaubensgemeinfchaft, möglich ohne 
in ſolches? mit nichten aber mußte und konnte auch der Lehrbau, 
er auf diefem einheitfichen Glaubenggrunde ſich erhob, ein in voller 
Finhelfigfeit ſich entwidelnder, alle Differenzen ausfcjfießender fein. 

Darum, als nun die Reformation nicht blos an Einer Stelle, 
ondern an zweien zugleid, auftrat, in zwei gleich felbftändigen Per— 
Önficteiten, denen es ſich fofort anfehen fieß, daß ihre Geifter nicht 


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Feſtrede am fünfzigjähr. Stiftnngstage ber evangel. Union. 401 


wo fie es nicht Können mit mir Halten.“ Allerdings bedeutet ihm 
dies Dulden noch nicht die volle brüderliche Anerkennung; behufs 
biefer drängt er bem Bucer in Wittenberg faft mehr ab, als diefer 
jugeſtehen kann, aber immerhin hat er dabei über eine wenn auch, 
untergeordnete Lehrdifferenz Hinmeggefehen, und nod; mehr, — als 
jernach die Schweizer ihm ihre Nichtübereinftimmung mit dem 
Bucer'ſchen Zugeftändniß offen erffären, kündigt er ihnen doch die 
wihloffene Freundſchaft nicht auf, erläutert ihnen vielmehr feine 
Doctrin auf's aflermildefte und will es „göttlicher Allmächtigkeit 
kfohlen fein laſſen, wie Ehrifti Leib uns gegeben werde“. Es ift 
an ſchönes, noch Heute beherzigenswerthes Wort, das er hiebei gegen fie 
mefpricht: „Nicht ift mir die ganze Zeit des aufgegangenen Evangelii 
dröhlicheres widerfahren, als daß ich nach dem Häglichen Zwiefpalt 
ai eine Eoncordiam Hoffen, ja fehen fann; denn die Zwietracht 
beber mir noch jemands geholfen, fondern vielen Schaden gethan, 
nf freilich nichts Nützliches noch Gutes darin zu hoffen gemeft, 
uch noch ift.“ 

Es ift wahr, Luther hat den Hauptgrundfag unferer heutigen 
Inionsdoetrin, daß Unterjchiede der Lehre bei weſentlicher Zuſam— 
tenftimmung im Glauben fein Hinderniß kirchlicher Gemeiuſchaft 
ilden follen, nie förmlich anerkannt: für feine heroifche Natur, 
ie im Kampf mit einer Weltmacht und Weltgefchichte der unbe 
ingten inneren Gewißheit bedurfte, gab es nichts Schwereres, als 
tgend etwas, das ihm in heißen Kämpfen feſt geworden war, irgend- 
de wieder dahingeftellt fein zu laffen. Dennoch, wenn ich fein 
erhältnig zu Melanchthon anfehe, von dem er's erlebt, daß er 
ein Abendmahlöbefenntniß verläßt, ja eine andere, auch den Schwei— 
ern annehmbare Faſſung in's Augsburger Bekenntniß hineinfegt, 
— wenn ich fehe, wie Luther mit diefem im Punkt des Abend- 
iahls anders denkenden und Ichrenden Melanchthon doch Sonntag 
m Sonntag zum Tiſche des Herrn geht, fo muß ich fagen, 'er 
nt in diefem Verhältnig die Union auch in unferem heutigen Sinne 
hatſächlich ohne Wandel gehalten und immer wieder von Neuem 
ollzogen, und es ift unfaßbar, wie es Heute lutheriſch fein foll, 
ieſelbe Abendmahlsgemeinſchaft, die Luther mit Melanchthon hielt, 
nem wie Melanchthon Denfenden zu verfagen. Aber es hat be» 














 _ Beylchtag 


kanntlich zwiſchen Luther und Melanchthon noch eine andere Lehr 
differenz beſtanden, indem Luther im Punkte der Gnadenwahl fein 
gegen Erasmus ausgeſprochene Auguſtiniſche Anſicht — die nadı 
malige Calviniſche Kirchenlehre — zeitlebens feſthielt, Melancht 
dagegen die Realität der menſchlichen Freiheit und die Bedingthe 
des göttlichen Rathſchluſſes durch diefelbe — die nachmalige luth 
riſche Kirchenlehre — vertrat. Wenn demnach die beiden Häu 
der deutſchen Reformation in den beiden nachmaligen Hauptdifferenz 
punften der proteftantifchen Confeffionen wechſelsweiſe verjdje 
denfen, jeder in einem diefer Punkte reformirt, in bem ber art 
die nachmalige Tutherifche Kirchenfehre vertritt, — ift denn da 
volfe kirchliche Gemeinfchaft, in der fie beffenungeachtet bis x 
Tode miteinander geftanden Haben, eine Gemeinf—haft im Sin 
unferes modernen Confeffionalismus, oder ift fie eine Gemeinihek 
im volfften freieften Sinn der Union? 

Dennoch, als die damals noch flüffige Kirchenbildung der Ref— 
mation nad; Luther's Tode fih zu verfeftigen begann, mar 
Ergebniß feine Kirche, in welcher Luther und Melanchthon eint 
tig miteinander hätten wohnen können: ftatt der Eintrachtsfir 
haben wir die Eintrahtsformet erhalten und mit ihr bie befieg 
tirchliche Zwietracht. Gewiß, e8 ift eine gefchichtliche Nothmendi 
feit in dem Gange, den die Dinge nach Luther's Tode nehm: 
wie hätte er fonft fich durchjegen können trog einem Melandit 
trog einem Calvin, den großen Häuptern auf beiden Seiten, di 
in der reinften Unionsgefinnung verbunden dennoch das von % 
fenden mit bfutendem Herzen Empfundene nicht aufzuhalten ver 
mögen. Die Epigonen der Reformation wußten fic feinen anderem 
Rath, die Errungenfchaften der Heroen ſicherzuſtellen, ale die Au 
prägung berfelben zum Lehrgeſetz, die Begründung der Kirche af 
die Spige de8 Dogma's: aber der eherne Gang gefchichtlicher Roth 
wendigkeit, den fie gingen — über die Leiche Melanchthom's, dit 
Märtyrers der Union —, die echte Nachfolge, die wahrhaftige dort 
fegung der Reformation war er nit. Er war ein Uebergarg 
wie einft aus dem Zeitalter der Apoftel in das der Kirdennäter, 
welches auch mit gefchichtlicher Nothwendigkeit Herauffteigt, welttet 
auch von einem reichen Erbtheil des apoſtoliſchen zehrt, und jet 

















Feſtrede am fünfzigiähr. Stiftungstage der evangel. Union. 408 


m gegenüber feine eigenthitmliche Größe hat, aber das dennoch 
m der vorangegangenen Höhe und Reinheit immer weiter herab⸗ 
mmt, immer ftärfer ein zugemifchtes falſches Princip der Geſetz- 
heit offenbart, — denn das Evangelium ift nun einmal fein 
djeg, weder ein Gefe der Werke, noch ein Gefeg der Dogmen. 
ı den Früchten, Heißt e8, erkennt man den Baum: mas waren 
ı Bergleih mit den Früchten der Reformation die Früchte jener 
mmatiſtiſchen und darum unionsfeindlichen Zeiten? Daß die beiten 
bensfäfte der beiden evangelifchen Eonfeffionen fich nach der offenen 
unde zogen, um dort in Zank und Haß zu vereitern, daß das 
ift der confefftonellen Polemik die Predigt, ja den Unterricht der 
mündigen zerfraß und verzerrte, daß die menerfchlojjene Bibel 
Mm Buch mit fieben Siegeln, die Rechtfertigung durch deu Glauben 
mRuhefiffen fittlicher Trägheit ward, daß der Anhänger Calvin's, 
vdoh anerfanntermaßen die Augsburger Eonfeffionsverwandtfchaft 
log, dem Lutheraner fremder und verhaßter ward als felbft 
t Bapift; endlich, daß über dem inmerevangelifchen Hader der 
ainfame Erbfeind furchtbar wieder zu Kräften fam und der 
formation die Hälfte des ihr willig zugefallenen Gebietes ge- 
ltſam wieder entriß. Wenn wir und fragen, woher doch unfer 
tiches Volk, deſſen Herz um die Mitte des fechzehnten Jahr 
nderts und noh am Schluß deffelben unter dem Evan— 
ium der Reformation faft ungetheilt entgegenfchlug, heute in der 
#ift, feine verlorene innere und äußere Einheit ohne Zu- 
in von Neligion und Kirche zu fuchen, wir werden vor Allem 
en Geift confeſſionellen Haders anzuklagen Haben, der dem fpa- 
Gen Orden und der ſpaniſchen Dynaftie bei ihrer Zerreigung 
eutſchlands fo gründlich in die Hände gearbeitet hat. Ich weiß, 
emand in unferer Kirche will. heute noch die confeffionellen Zu— 
ade jener Zeiten. Aber wenn ihr die Früchte nicht wollt, — 
anzt auch die Bäume nicht, die fie tragen! 

Aber auch im jenen vom Geift der Zwietracht beherrfchten 
iten hat es der Union nicht an Wahrheitszeugen gefehlt. Einmal 
d die Spuren Melanchthon's in Deutfchland dod nicht auszu— 
gen geweſen; fie dauern fort in jenen lutherifchen Gebieten, die 
d der Goncordienformel erwehren, in jener Heffifchen Kirche, von 





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Feftrebe am fünfzigjähr. Stiftungstage der evangel. Unton. 405 


iemit auf vechtem Wege ift, wie Heute wieder jo Mancher meint, 
enn wenigſtens die offenbar felbftgewiffere,. in ihrer Sondergeftalt 
ſtere und fprödere Eonfeffion, die lutheriſche, hiemit eine gefunde, 
male Entwicklung vollzieht, — nichtwahr, fo muß in dem Maaße, 
8 fie ihre Beſonderheit durchbildet, auch die innere Kraft der 
onfeſſionslirche wachſen, die geiftige Macht, mit der fie ihr Volt 
tchlich umfaßt, ſich fpannen und fteigern? Aber fiehe da, das 
egentheil gefchieht: gerade als die Confefjionskirchen die Aus⸗ 
Rung ihrer Sonderegiftenz fo weit als möglich gebracht Haben, 
agen fie an zu verwelfen und abzudorren wie Bäume, denen ber 
nit ausgeht. Cine wunderliche Lähmung durchfährt das kirchliche 
fen zumal der [utherifchen Seite; dem ftreitbaren Theologen ent» 
Mt das Schwert der Polemik, von Geifterhand daniedergefchlagen; 
x Beift des Yahrhunderts will das nicht weiter, er hat ſich ab» 
andt von diefer ganzen Art und Weife der Kicchlichkeit, und 
mächtig, ein dumm gewordenes Salz, fteht die Kirche dem fich ihr 
tzichenden Genius des deutſchen Volfes gegenüber. O daß doch dies 
attesgericht des achtzehnten Jahrhunderts endlich verftanden, endlich 
erigt würde von Denen, welche den Geift des neunzehnten Jahr⸗ 
uderts mit denfelben Mitteln zu zwingen meinen, die ſchon am 
tzehnten kläglich verfagten; als ob der Genius unferes Volkes nicht 
Is für allemal erklärt hätte: in eurer engen Klaufe fann und 
Kid fürder nicht wohnen! Aber, wird man mir. antworten, 
! denn diefer Geift des deutſchen Volkes nicht damals auch mit 
nChriftentfum, mit dem Evangelium der Reformation gebrochen, 
dem ihn zurückzuführen doch unfere unbebingte Aufgabe ift? 
ohl, ich weiß recht gut, daß damal8 mit der ungeniebar gewor- 
ien Schale taufendfältig auch der gute göttliche Kern weggeworfen 
wden ift: wer war daran mehr ſchuld, als wer denfelben ohne 
ſe Schale nicht bieten wollte und konnte? Doc) ift’8 die Meinung 
fereg Volles bekanntlich nicht gewefen, mit dem Chriftenthum, 
t der Reformation zu bredien, als es mit der Kirchenlehre brach, 
d wenn es fo- unklar darüber war, was Chrijtenthum, was Re— 
mation fei,. wer hatte, als das ganze Volk noch gläubig in die 
chliche Schule ging, verfäumt, es beifer zu lehren? Dann aber 
iht ja fofort inmitten der allgemeinen Verwirrung und Veröbung 








406 Beyſchlag 


wahrhaftiges evangeliſches Chriſtenthum aus den Tiefen des deut! 
ſchen Lebens quellfriſch wieder hervor in einem Klopſtock, Hamam, 
Herder, Claudius, Novalis, Schleiermacher, und erftarkt in dm 
Tagen betenlehrender vaterländifcher Noth zu volksthümlicher Matt, 
— aber freilich, es ift formlos, undogmatifch, heterodor, es il 
weder Iutherifch noch veformirt, und dennoch evangelifch, denod) 
— mas doch das einzig Nothwendige ift — lebendiges Chriſten- 
thum! 

Und dieſes neuerwachten evangelifchen Chriſtenthums fire 
Ausdrud, Firchenbildende That war die am dritten Neformations 
jubiläum beginnende evangelifche Union. Nicht ein fürftlicher Einfall 
oder eine That dynaftifcher Kirchenpolitit; wiewohl ich denfe, dah 
gerade nach der Verfaſſungsgeſchichte der deutfchlutherifchen iu 
ſolch eine fürftliche Initiative wohlberehtigt war und daß es den 
Hohenzollernſchen Haufe wohl auftand, feinen Beruf, dem großen 
Anliegen nationaler Entwicklung thatkräftig entgegen zu komm 
auch Hier zu bewähren. Was ein in Gottes Schule gegangen 
Fürſt auf dem Tichten Höhepunkt feiner Laufbahn zur freien 
Schließung feines Volkes gewendet ausſprach, — er nahm es fei 
Volke, feinem Zeitalter von den Lippen; wäre e8 ander® gemeit 
fein Wort wäre fpurlos verhallt, anjtatt taufendftimmiges, un: 
theiftes Echo zu finden. Auch nicht eine That des LUnglauben 
und der Gleichgültigfeit: die Tage der Aufklärung und des Indif 
rentismus waren vorübergegangen, ohne daß fie e8 der Mühe wert 
geachtet Hatten, die brüchige Scheidewand der Confeffionen adj 
brechen, deun was lag ihnen an den Confefjionen überhaupt? Erſt 
der wiedergefehrte heilige Ernft und fromme Glaube empfand der 
Trieb kirchlicher Reform, fuchte und ftiftete ſich ein kirchliches Weien, 
in dem er fi) daheim fühlen Konnte, Entfpringend an dem wahr 
und warm gefeierten Gedenktag der Reformation war die Uniont 
bewegung wahrlich nicht befenntnißlos, vielmehr lautes Bekenntnis: 
„Wir wollen vom Glauben der Väter nicht laſſen, wir wollen un 
neu erbauen auf unfern alten evangelifchen Glauben.“ Aber freilid 
auch die deutliche Erklärung: „Wir wollen und neu auf ihn baucı, 
wir wollen nicht den jungen Wein it die zerriffenen alten Schläutt 
faffen, wir wollen dem Glauben unferer Väter nachfolgen, nicht 





Feſtrede am fünfzigjähr. Stiftungstage der enangel. Union. 407 


ihrem Glaubens zank und »ftreit; wir wollen einen einheitlichen 
Reuban aufrichten aus der alten baufälligen Doppellirche, mit Ber 
zendung jedes guten alten Baufteins, der ſich findet, aber auch mit 
wen Mitteln, wie der Geijt fie uns gibt, und vor Allem nad 
inem neuen Bauriß, — nicht mehr eine Kirche des Lehrgefeges 
md des Lehrftandes, fondern eine Kirche des freien lebendigen 
aubens und der Iebendigen gläubigen Gemeinde.“ Und ich denke, 
ver Ohren Hat zu hören, der Tann auch Heute noch inmitten alles 
detümmels der Parteien dieſe Herzensmeinung unferes beutjch- 
dangelifchen Volkes deutlich vernehmen. 
Es war ein ſchöner Sonnenaufgang, ein Lichtbli, wie er nicht 
ft im Leben eines Volkes vorkommt, diefer 31. October 1817, 
er ſchien eines guten Tages Verheißung, eines Tages voll 
hen und Segen. Aber die freundliche Sonne hat fi bald 
Water düfter auffteigenden Wolfen verborgen, und jene gute Morgen- 
hmde, fie ſollte — wenigftens bei uns in Preußen — bie einzige 
te Stunde bleiben, von der die Union bis Heut zu fagen weiß. 
tahdem der große edle Gedanke in Volt und Zeit hineingerufen 
nr, hat man verfäumt, den einzigen Weg zu eröffnen, auf dem 
sjelbe zu voller freier Verwirklichung kommen konnte, die Mündige 
dung der Gemeinde. Statt deffen jene unfelige Verwicklung 
* Unions⸗ und der Agendenfache und das noch unfeligere Zwangs⸗ 
fahren gegen Die, welche in der unveränderten Weife ihrer Väter 
jott zu dienen begehrten, — ein Unrecht, in deſſen Gefühl man 
an auf den Weg jener wie halbe Widerrufe Elingenden Unions- 
tlorationen gerieth. Inzwiſchen war überhaupt mit dem frühe 
Gen nationalen. Gefühlsaufſchwung auch der religiöfe und Kirchliche 
aurig gedämpft; die überwunden geglaubten verneinenden Geiſter 
8 achtzehnten Jahrhunderts erhoben in neuen erfchredenden Ges 
alten und Waffenrüftungen wieder ihr Haupt, und dem gegenüber 
reitete, beſonders im geiftlichen Stande, jene troßige und verzagte 
degenftrömung ſich aus, welche mit kirchlichen Reftaurationen die 
Beifter der Zeit zu bewältigen meint. Von dieſer wachfenden Ge- 
enftrömung eingefhüchtert, hat das Kirchenregiment — wir fagen 
8 offen — feither zur Erhaltung der Union wenig, zu ihrer För- 
verung fo gut wie nichts zu thun gewagt, während es zu ihrer 
Theol. Stud. Jahrg. 1868. 28 


408 ö Beyſchlag 


Verkummerung und Unterwühlung Vieles geſchehen ließ. Und fo 
ſind wir in dieſe Stunde gekommen, in der wir uns des befeſtigten 
Beſtandes der Union feſtlich erfreuen ſollten, und in der die Sorge 
um ihre Aufrechterhaltung die Kreiſe ihrer Freunde wieder und 
wieder durchſchleicht. 

Dennoch, auch am Ende dieſes halben Jahrhunderts voll Ungunſt 
ſteht unfere Sache günftig genug! Achten wir doch, wie der Heiland 
felbjt uns mahnt, auf die Zeichen der Zeit! Was erbliden wir 
denn in dem kirchlichen Leben diefes Jahrhunderts? Lutheriſche 
Gemeinden, die nad} reformirter Kirchenordnung begehren, reformirte, 
die fi) an Tutherifchen Liedern und Gebeten erbauen. Blügende 
evangelifche Liebeswerfe, wie die Zeiten des Confeſſionalismus fie 
nie gekannt, Liebeswerfe, denen man den confeſſionaliſtiſchen Chas 
tafter höchſtens nachher anzufränfeln vermochte, während ihr gefunder 
Urfprung weder des Lutherthums noch des Calvinismus Gepräge: 
trägt. Eine Schriftauslegung, eine Theologie, die in jeder Leben 
frifchen Hervorbringung über den Gegenfag von reformirt 
lutheriſch hinaus ift, die nach ihres höchſten Meijterd Gebot 
ihrem Schage Altes und Neues hervorträgt, Neues, das med 
lutheriſch noch calviniſch und dennoch evangefifch ift. Endlich cn 
Gefchlecht von Geiftern, das, wo es von religiöfen Fragen bewegt 
wird, mit ganz anderen und weit gewaltigeren Problemen ringt,s 
als den alten confeffionellen Differenzpunften. Noch mehr, wir | 
fehen dem gegenüber einen Confefftonalismus, der fo gut mit 
nirgends die Gemeinden hinter ſich Hat, der in jedem feiner Wort 
führer gegen fein eigenes orthodoges Richtmaaß verftößt, der, fo oft 
er in antiunioniftifcher Nichtung ſich fortzuentwideln ftrebt, ent 
weder fectirerifch oder Tathofifirend zu werden genöthigt iſt, ber, 
wo er einmal den Verfuch einer reinen altlutherifhen Kirdens 
bildung unternimmt, vor Subjectivismus wieder auseinanberfährt 
und in ultrareformirtem Independenthum endigt. Meine Freunde, 
deuten diefe Zeichen der Zeit auf einen Untergang der Union? 

Oder unterſchätzen wir etwa die Gegnerfchaft, die fich gegen fie 
erhoben hat? Wir denfen es nicht und wollen es nicht. Mehr 
als die Macht und Lift, die man von Zeit zu Zeit wider die Union 
aufzubieten geſchäftig ift, imponirt uns die unleugbar große Zahl 











Gekoede am fünfsgiähe. Stiftungetage: des, eonmgel.. Union, 400. 


Afiher, frommer Herzen, die ihr eutfremdet find, treuer Diener 
er re, die den zu hütenden Schag göttlicher Gnade und. Wahr- - 
at nur in den altererbten Gefäßen meinen unverfürzt erhalten, zu 
innen, herzlicher Freunde unſeres deutfch-evangelifchen Volkes, die 
ı fürchten, e8 möchte irgend etwas von dem Erbtheil einer großen 
agangenheit durch die Aufhebung des Sanderkirchenthums dieſem 
olfe verloren gehen. Aber wenn fie ung zurufen, diefe redlichen 
nonägegner, „ihr wollt ja den Frieden, — fo laßt doch das 
ttrennende Einigungswert um des Friedens willen fallen“, wir 
iffen ihnen antworten: „Hier ftehen wir, wir können nicht anders, 
et helfe uns!“ Wie die Vertreter des nationalen Einheits- 
Aunfens, wenn man ihnen vor zwei, drei Jahren zugerufen hätte: 
kit ihn doch fallen, diefen Einigungsgedanten; ihr feht ja, daß 
keriwirrung und Zerfpaftung immer größer wird“ —, hätten 
Morten müffen: „wir können nicht, denn diefe deutſche Zer- 
ſenheit hängt zufammen mit alfen Krankheiten unferes nationalen 
kens und es ift für feine derfelben eine Heilung zu hoffen, wenn 
bt diefe8 Uebel gehoben wird, — es gibt für unfer deutfches 
HE feine Zukunft, e8 werde denn einig“, — ganz ebenfo müßten 
5 wir antworten im Namen umferen ebangeliſchen Kirche. Und 
! die Baterlandsfreunde Hätten fortfahren können nnd fprechen: 
ki unfer deutſches Volk eine Zukunft haben muß und wird, 
handelt ſich's nicht darum, ob der Einheitsgedanfe zu Stand 
d Weſen kommt, fondern alfein darum, ob er dazu fommen foll 
jſanftem, ebenem Wege, ober durch eine gewaltige, Alles erſchüt⸗ 
nde, Manches zerftörende Krife“, — fo fünnen aud wir nur 
men und jagen: „kommen muß und kommen wird die ver— 
'gte und geeinigte deutſch-evangeliſche Kirche, aber helfet doch, 
3 fie im Frieden komme und nicht im Sturm, nicht durch eine 
Nice Maſſenauflehnung der Gemeinden gegen eine clericale Strö- 
ing, die ihre tiefften Bedürfniffe und berechtigtiten Anſprüche ver» 
at; damit nicht Vieles, was euch und uns lieb und theper iſt, 
Sturme mit vergehe und verwehe.“ 

Darum, halten wir die Fahne hoch, zu der wir uns befennen, 
ine Freunde! Wir tragen fie nicht aus eines irdiſchen Könige 
md, wir tragen fie aus der Hand des höcften Könige, des 

28* 


410 Beyſchlag, Feflede am fünfzigjähr. Stiftungstage d. enang. Union. 


Königs der Wahrheit und der Liebe, in deffen Namen allein Hrit, 
“amd deffen Sache der Sieg gewiß ift. Er, der in ber Nacht feines 
Leidens auf fein Heilandsherz, das da brechen follte fiir die fün- 
dige Welt, auch diefe unfere Sache genommen, und die Einigung 
der Seinen erbetet hat als das größte Zeugnig für feine götilicht 
Sendung, — „auf daß fie Alle eins feien, gleichwie Du, 
Bater, in mir und ihin Dir, daß aud fie in ung eind 
feien, auf daß die Welt glaube, Du habeſt mid gt 
fandt* —, Er gibt uns das Recht, au im Namen der evan 
gelifhen Union das alte Siegesfied der Reformation anzuftimmen, 
„Ein? fejte Burg ift unfer Gott: — das Neih muß uns di 

bleiben!“ Amen. 


2. 


Calviu's Instituto nad Form und Inhalt, 
in ihrer geſchichtlichen Entwicklung 


von 


D. 2. Köln. 





Zweiter Artikel. 


So weit die fortjchreitende Entwicklung der einzelnen Lehrtheil 
durch die verfchiebenen Ausgaben der Institutio hindurch * 
fortgeſetzten Ausgeſtaltung des geſammten Werkes und Syſt 

zuſammenhing, Hatten wir auch von jener ſchon im vorigen Ab 
ſchnitte zu ſprechen. Die allgemeinen, in ber Zeit jedesmal vor ⸗ 
Tiegenden Anläſſe, Bedürfniffe, Antriebe, welche bei den verfciedenen 
neuen Redactionen des Werkes einmwirkten, machten ſich uns vor 
nehmlich bei diefen und jenen einzelnen Teilen bemerklich. Dot 





Köfllin, über Calvin’s Institutio. 41 


Streben Calvin's nad Vervollftändigung und fyftematifher Ord⸗ 
nung des Ganzen zog auch einzelne Theile vor anderen in die er» 
mweiternde und umformende Arbeit hinein. Jetzt Haben wir bie 
wichtigſten einzelnen Lehrſtucke für fich noch einer fpecielleren Be⸗ 
trachtung zu unterziehen. Und zwar muß biefe fi hauptſächlich 
auf diejenigen Seiten und Elemente des Inhaltes beziehen, in 
welchen wir befondere Eigenthümlichkeiten des calvinifhen Stand⸗ 
punktes — namentlich auch gegenüber von dem eines Melanchthon's 
amd Luther's — ausgeprägt finden. Es verfteht ſich von felbft, 
A eine fpecielle Hinkehr der Aufmerkfamkeit auf ſolche Eigen- 
kiten für eine Betrachtung der Theologie Calvin's überhaupt Er⸗ 
jerderniß iſt. Es wird aber für eine richtige Auffaffung feiner 
Inmatifchen Eigenthümlichkeiten namentlich eben aud der Hinblid 
danuf, wie fie in den verfchiedenen Ausgaben feines dogmatiſchen 
hauptwerkes hervortreten oder nicht Hervortreten, von Werth fein. 
Bir müffen erwarten, daß fie in demſelben ſchon frühe um fo 
kftimmter zum Ausdrude gekommen fein werden, je unmittelbarer 
ie mit feinen Grundprincipien zufammenhingen oder gar felbft zu 
haen gehörten. , Wo jenes nur erft wenig, faum oder gar nicht 
vr all ift, dürfen wir zwar hieraus nicht fofort fchliegen, daß 
ie damals bei Calvin überhaupt noch nicht vorhanden geweſen 
ten, wohl aber, daß fie für ihn jedenfalls nur fecundäre Bedeu 
ung gehabt haben. — Im Nachfolgenden werden wir ber Kürze 
nlber die Ausgabe von 1536 als Ed. 1, die von 1539 als Ed. 2, 
ter Ed. 2a, die von 1543 als Ed. 2b, die von 1550 ale 
&d. 2e, die von 1559 als Ed. 3 bezeichnen. 

Gleich der erfte fehr wichtige Abſchnitt num, welchen die Aus⸗ 
yoben feit 1539 ung darbieten, gehört erft der geſchichtlichen Ent- 
sidlung des Werkes an, fofern er im der urfprünglicien Geſtalt 
ffelben noch ganz gefehlt hatte: es ift jener Abfchnitt über bie 
dotteserkenntniß, über die Quellen und Normen der 
‚eligidfen Wahrheit. Während aber Calvin diefes Lehrſtück 
erſt für Ed. 2 ausgearbeitet Hat, ift Hier die Ausarbeitung auch 
jogleich recht eingehend, in allen ihren Grundziigen fon fertig und 
tif. Offenbar Hatten ihm dabei nicht blos die Veranlafjungen, 
don welchen wir oben fprachen, fondern auch befondere, in feinem 








410 Beyſchlag, Feſtrede am fünfigiähr. Gtiftungstage d. evang. Union. 


Königs der Wahrheit und der Liebe, in deſſen Namen allein Heil, 
“und defjen Sache der Sieg gewiß ift. Er, der in der Nacht fein 
Leidens auf fein Heilandeherz, das da brechen follte für die fün 
dige Welt, auch diefe unfere Sache genommen, und die Einigung 
der Seinen erbetet hat als das größte Zeugniß für feine göttlick 
Sendung, — „auf daß fie Alle eins feien, gleichwie Da, 
Bater, in mir und ihin Dir, daß aud fie in unseind 
feien, auf daß die Welt glaube, Du Habeft mid gr 
fandt* —, Er gibt uns das Recht, aud im Namen ber a 
geliſchen Union das alte Siegeslied der Reformation anzuftimmt 
„Ein’ fefte Burg ift unfer Gott: — das Neih muß uns d 
bleiben!“ Amen. 


2. 


Galin’s Institutio nad) Form und Juhalt, 
in ihrer geſchichtlichen Entwicklung 
von i 


D. 9. Köflın. | 


weiter Artikel. 
So weit bie fortfchreitende Entwicklung der einzelnen Lehrthei 
it 


durch die verſchiedenen Ausgaben der Institutio hindurch mit 
fortgefegten Ausgeftaltung des gefammten Werkes und Syſt 
zufammending, Hatten wir aud von jener fchon tm vorigen 
ſchnitte zu fprechen. Die allgemeinen, in ber Zeit jedesmal vi 
liegenden Anläffe, Bedürfniffe, Antriebe, welche bei dem verfchiedenn 
neuen Redactionen bes Werkes einmwirkten, machten fi uns ve 
nehmlich bei diefen und jenen einzelnen Theilen bemerklich. De 





Köfllin, über Ealvin’s Institutio. 4 


Streben Calvin's nach Vervolfftändigung und ſyſtematiſcher Ord⸗ 
ung de Ganzen zog auch einzelne Theile vor anderen in die ers 
veiternde umd umformende Arbeit hinein. Jetzt Haben wir die 
sichtigften einzelnen Lehrftüde für ſich noch einer fpecielleren Be— 
tachtung zu unterziehen. Und zwar muß biefe fi hauptſächlich 
uf diejenigen Seiten und Elemente des Inhaltes beziehen, in 
schen wir befondere Eigenthümfichfeiten des calviniſchen Stand- 
unftes — namentlich) auch gegenüber von dem eines Melanchthon's 
ad Luther's — ausgeprägt finden. Es verfteht ſich von felbft, 
af eine fpecielle Hinkehr der Aufmerkfamkeit auf folhe Eigen- 
eiten für eine Betrachtung der Theologie Calvin's überhaupt Er- 
mderniß ift. Es wird aber für eine richtige Auffaffung feiner 
mmatifchen Eigenthümlichkeiten namentlich eben auch der Hinblick 
kruf, wie fie in den verfchiebenen Ausgaben feines dogmatifchen 
xuptwerles hervortreten oder nicht hervortreten, von Werth fein. 
Bir müffen erwarten, daß fie in demſelben ſchon frühe um fo 
ftimmter zum Ausdrude gefommen fein werben, je unmittelbarer 
ie mit feinen Grundprincipien zufammenhingen oder gar felbft zu 
nen gehörten. . Wo jenes nur erft wenig, faum oder gar nicht 
er Fall ift, dürfen wir zwar Hieraus nicht fofort ſchließen, daß 
2 damals bei Calvin überhaupt noch nicht vorhanden geweſen 
äien, wohl aber, daß fie für ihn jedenfalls nur fecundäre Bedeu⸗ 
ng gehabt haben. — Im Nachfolgenden werden wir der Kürze 
alber die Ausgabe von 1536 als Ed. 1, die von 1539 ale Ed. 2, 
der Ed. 28, die von 1543 als Ed. 2b, die von 1550 ale 
2. 2e, die von 1559 als Ed. 3 bezeichnen. 

Gleich der erfte fehr wichtige Abſchnitt nun, welchen die Aus- 
aben feit 1539 uns darbieten, gehört erft der gefchichtlichen Ent- 
idlung des Werkes an, fofern er in der urfprünglichen Geftalt 
eſſelben noch ganz gefehlt Hatte: es ift jener Abfchnitt über die 
dottegerfenntniß, über die Quellen und Normen der 
eligidfen Wahrheit. Während aber Calvin diefes Lehrftüd 
ft für Ed. 2 ausgearbeitet Hat, ift Hier bie Ausarbeitung auch 
ogleih recht eingehend, in allen ihren Grundzügen fon fertig und 
if. Offenbar Hatten ihm dabei nicht blos die Veranlaffungen, 
von welchen wir oben ſprachen, fondern auch befondere, in feinem 





42 ad ſtlin 


gauzen theologiſchen Standpunkt liegende innere Antriebe geleitet. 
Mit den Grundzligen, die er fo als der Erfte unter dem protejten: 
'tifchen Theologen Hier entfaltet hat, trifft dann nachher auch dir 
Darſtellung der orthodoren lutheriſchen Dogmatifer zuſammen, alt 
fie gleichfalls -das Bedurfniß fühlten, die dahin gehörigen Fragen 
umfaffender und fchärfer, als anfänglich im Tutherifchen Proteſtan 
tismas geſchehen war, zu erörtern: auch ſie finden, indem fie die 
Schriftoffenbarung den der gefallenen Menſchheit nicht mehr gmi« 
genden allgemeinen Offenbarungen Gottes in der Schöpfung u. |. m. 
zur Seite und gegenüber ftellen, das ‘entjcheidende Moment fü 
unſeren Glauben an die Göttlichkeit der heiligen Schrift in jen 
unmittelbaren Zeugniffe des göttlichen Geiſtes und unterfcheiber 
-baffefbe micht blos von den äußeren Kriterien, wofür fie wie Calbu 
namentlich das Zeugniß der Kirche und Märtyrer gelten lajle, 
foridern auch von den inneren Kriterien, worunter fie mit Cal 
die Majeftät der Schriftfprache, die Hoheit der in der Schrift 
haftenen Dinge, die Harmonie des Inhalts u. ſ. w. auffü 
Charatteriſtiſch ‘aber ift fr Calvin eben dies, daß er, tie Mi 
der deutfchen Neformatoren, gleich die erite größere Bearl 
“feines chriftlichen Unterrichts mit diefer Ausführung einleitet. 
fehen bei ihm ein befonderes: wiſſenſchaftliches Streben, bei jeir 
Dringen auf bie Schrift und. die in ihr :geoffenbarte Wahrheit uw 
gleich das Verhältniß der Naturoffenbarung und des alfgemeinm 
natürlichen refigiöfen Sinnes hierzu, zu beleuchten. Und wir 
kennen in jenem Dringen auf die Schriftoffenbarung felbft des 
große Gewicht, welches ihm auf das Formalprincip des cum 
gelifhen Glaubens und auf eine befondere eingehende Erörterung 
defjefben fiel: namentlich hierdurch unterfcheidet fich feine Institution 
fon fo frühe von den Lehrdarftellungen eines Melanchthon ur 
Luther. 

So feſt und zuverfichtlich als möglich ſtellt num Hier Cafıit 
jenes ſichere, entfcheidende Zeugniß des Geijtes für die Schrift 
wahrheit voran. Er ftellt es entgegen derjenigen Autorität ir 
Kirche, auf welde die Katholiken pochten. Er weift nicht mine 
mit demjelben die Enthufiaften ab, deren angeblicyer Heiliger Get 
über die Schrift ſich erheben wollte: denn es fei ein Zeugniß dee 










über Calvin’s Institutio. . 418 


Geiftes eben für bie höchſte, bleibende Geltung der Schrift ſelber; 
das Schriftwort wolle der Geift in feinem eigenen Kommen nicht 
abthun; fondern derfelbe Geift, in deſſen Kraft und das Schrift 
wort dargereiht worden fei, ſolle das Wort und befräftigen (Ed. 2, 
Vol. XXIX, p. 302) °). Er ordnet der Macht diefes einen, uns 
mittelbaren, göttlichen Zeugniffes auch alle jene einzelnen Kriterien 
anter, in deren frommer und denfender Betrachtung unfer Glaube 
m die Schrift und ihren Inhalt fich weiter „vermitteln möge, könne 
and folle. Auch die Wunder nehmen unter den Beweiſen für die 
Höttlichleit der biblifhen Offenbarung, wie Niedner ®) mit Recht 
hemerft, „mehr nur eine Nebenftelle ein“; wir fügen bei, daß 
Safoin fie Hier überhaupt erft in Ed. 2e eingeführt, übrigens 
dann in Ed. 3 den fie betreffenden Abſchnitt noch erweitert hat. 
& ſchätzt darum ſolche Kriterien und Beweisführungen nicht gering; 
e felbjt wollte fi, wie er inEd. 3 (Vol. XXX, p. 59) beifügt, 
trauen, auch Hartnädige Gegner mit ihnen zum Schweigen zu 
hingen; aber die Gemißheit, welche der Glaube Haben follte, könne, 
agt er, überhaupt nicht durd) Disputiren erreicht, fondern nur 
ch jenes Geifteszengniß gewirkt werden. 

Zum erften Male alfo finden wir hier bie Lehre von jenem 
Zeugniffe, die fo wefentlich zur evangelifchen Principienlehre gehört, 
nit folder Beftimmtheit dogmatifh fixirt. An die Art jedoch, 
vie dies bei Calvin, und zwar gleich bei feiner erften Darftellung 
n Ed. 2 gejchehen ift, knüpfen ſich für uns fofort noch meitere 
Bahrnehmungen in Betreff der Eigenthümlichkeit feiner Theologie. 

Neben jenes Zeugniß finden. wir bei Calvin die vorhin erwähnten 
Ainzelnen Kriterien gejtellt, und zwar namentlich diejenigen, melde 
n der Schrift felbft vorliegen, ihre Erhabenheit über alle blos 
menschlichen fiterarifchen Producte, die jedem Lefer von felbft ſich 
aufdrängen müſſe u. ſ. w. Wir möchten da wohl aud) einer in= 
neren Beziehung nachgehen zwiſchen diefen Eindrüden vom Cha- 





a) Bgl. Dorner (Geld. d. proteft. Theologie, S. 377) darüber, wie Calvin 
im Unterſchied von Zwingli beide Geiten, das äußere und das innere 
BVort, fefter zuſammengeſchloſſen Habe. 

b) Bhifofophier und Theologiegeigigte, S. 341 Anm. 2. 








44 Kain 


rafter, von der Redeweiſe, von dem Inhalt der Schrift und zwiſchen 
jenem höchſten unmittelbaren Zeugniffe des Geiftes für fie. Wirkt 
ja doch auch in ſolchen Eindrüden, die wir in unferer reffectirenden 
menſchlichen Betrachtung uns auseinander Iegen und ben Gegnem 
disputirend vorzulegen und bemühen, Gott felbft, der Urheber ber 
Schrift, auf uns; und iſt's doch Bedürfniß für und, anbererfeits 
auch jenes höchſte Zeugniß bei aller feiner Unmittelbarkeit fo weit 
als möglich noch für uns zu analyfiren und mit unferem übrigen 
Erfahrungen und Beobachtungen in Betreff der Schrift zu vers 
mitteln, des Ganges, wie Gott vom Einen zum Anderen weiters! 
führt, uns bewußt zu werden. Darauf aber geht Calvin gerade 
nicht weiter ein; er ftellt Beides nebeneinander und einander gegen 
über: „etsi (scriptura) reverentiam sua sibi ultro majestats 
conciliat, tunc tamen serio nos afficit, quum per spiritum 
obsignata est cordibus nostris“ *); er führt nicht auch innerff 
vom Einen zum Andern hinüber. Er thut dies aud nicht in Ed. }} 
wo er noch eingehender von der Macht, mit welder das Wort Mi 
neuteftamentfichen Zeugen feine göttliche Hoheit fundgebe, begei 

geredet Hat. Das Zeugniß des Geiftes tritt jo bei Calvin ab 
herein. Mittelft deijelben wirft dann der Geift den echten Glauben, 
welchen die Schrift aud mittelft jener ihr felbft innemohnende 
Kriterien noch nicht in göttlicher Gewißheit feſtzugründen vermag; 
und zwar wirft er ihm nicht bei allen Denen und will ihn nidt 
bei allen Denen wirken, welchen die Schrift mit jenen Kennzeichen 
dargeboten ift, fondern, wie der Abſchnitt von der Prädeftination 
weiter zeigt, nur bei den von Ewigkeit her Erwählten. it dem 
zuletzt Gefagten find wir indeffen fehon zu dem Zuſammenhang der 
Calviniſchen Auffaffung des Formalprincips oder der Schriftautoritit 
mit der Auffafjung der Gnadenmittel weitergegangen. In diefer 
Beziehung trat dann die Lehre des Lutherthums ihm entgegen. Mit 
Bezug auf da8 zuvor Gefagte aber finden wir nicht, daß die Ir 
therifchen Dogmatifer, als aud) fie beftimmter mit dem Test- 
monium spiritus $. für die Heilige Schrift fi) befchäftigten, daffelk 
lebendiger mit der Wirkung jener Kriterien auf den menſchliche 


a) Vol. XXIK, p. 295. Vol. XXX, p. 60. (Ed. 8, Lib. I, c. 7,55. 





über Calvin's Institutio, 415 


Heiſt vermittelt haben. Im Luther's eigener Anfhauung war dies 
ne Zweifel mehr der Fall; eine wiffenfchaftlihe Ausführung Hat 
t aber darüber überhaupt nicht gegeben. 

Zudem wir von dem Zeugnig des Geiftes für den göttlichen 
Irfprung und die göttliche Autorität der Schrift hören, werden 
ir ferner fragen müfjen nad dem Verhältniſſe diefes Zeugnifjes 
a einer inneren Erfahrung, welche der Ehrift in Kraft des Heiligen 
heiſtes auch von dem in der Schrift ihm verfündeten Inhalte jelbft 
at, — von der Verſöhnung, Lebenskraft, Bejeligung, die er 
ier mit göttlicher Gewißheit zu genießen befomme, von dem Herrn 
nd Heiland, der ſich mit der Kraft feines Todes und feiner Auf- 
tehung ihm unmittelbar zu erfahren und zu erfennen gebe. Geht 
Beides im Werden und Beſtand wahren Glaubens miteinander 
hend im Hand? ober geht das Eine, und zwar das Erftere, dem 
Inderen, Leßteren, voran? Und ſoweit Jenes ber Fall fein 
ilte, wird fich weiter fragen, ob der Glaube, welcher im Lichte 
3 Geiftes den rechten Mittelpunkt und Zufammenhang des Ins 
tes der in der Schrift geoffenbarten Heilsmwahrheit erfaßt Hat, 
ht Recht und Anlaß Habe, von da aus auch gegen einzelne Bes 
andtheile des Schriftkanons felbft noch eine innere Kritik zu üben, 
dem er eben auch jenes Zeugniß des Geiftes für dem göttlichen 
sfprung der Schrift doch bei näherer, gemifjenhafter Prüfung nicht 
ir alle einzelnen Bücher des Kanon gleihmäßig eintreten fehe. 
Bir kommen Hiermit auf das Verhältniß zwifchen der formalen 
ad materialen Seite des evangeliſchen Grundprincipe. Und wir 
men dabei an das Verhältniß, in welchem beide miteinander bei 
uther ſich darftellen und vermöge defjen für ihm feine befannte 
ritik namentlich gegen den Jakobusbrief möglich war. Auch Calvin 
un will von einem Zeugniß des Geiftes nicht blos mit Bezug 
uf bie Schrift reden, will jenes Zeugniß des Geiftes für die Schrift 
icht ifofirt Haben. Er führt nachher, wo er vom Glauben an 
en heifbringenden Inhalt des Evangeliums redet, eben aud ihn 
aranf zurüc, daß der Geift den Inhalt des Wortes uns. im 
jerzen verfiegle (Ed. 2, Vol. XXIX, p. 456sqq.; p. 4685q.; 
siter in Ed. 3, Lib. IH, c. 2). Er hat aud dem Abfchnitt 
ber die heilige Schrift und das Zeugniß des Geiftes für fie in 





416 abſtlin 


Ed. 2,0 noch einen befonderen Satz beigefügt, in welchem er aus 
drücklich darauf vermeijt, daß er unten noch weiter von einem ſolche 
Zeugniß des Geiftes zu reden haben werde, und vom * 
überhaupt erflärt, daß dazu eine Verſieglung des göttlichen Geih 
gehöre (Vol. XXIX, p. 296). Ohnedies mußte er für die 6 
wißheit der einzelnen Chriften von ihrem perfünfichen Erwähltſeu 
auf ein ſolches Geifteszeugniß ‚zurüdtommen. Allein zunädit — 
und dies ift wieder gerade für Calvin das Charakteriftiihe — 
handelt er doch die Lehre von dem göttlichen Urfprung und 
göttlichen Autorität der Schrift und von dem Zeugniß des Geil 
biefür ‚ganz für fi ab. Die Darftellung geht fo bei ihm dab 
daß der Geift zuvörderft den Glauben an diefen Charafter 
Schrift fertig hervorbringe und daß der ſchriftgläubige Chriſt 
demgemäß aus der Schrift den Inhalt mit allen feinen einzelas 
Beitandtheilen als göttlich wahr zu entnehmen habe, wernglei 
dann auch diejes Entnehmen und diefes Glauben an bie ein 
Momente der Wahrheit keineswegs bios Sache des menjcl 
Dentens fein, vielmehr unter fortwährender Erleuchtung und 
währender Berfieglung des Juhaltes im Herzen dur den 
Geiſt ſich vollziehen fol. Auch wenn er dazwifchen die „Wahı 
der Schrift das nennt, was wir in Kraft des Geiftes zu fü 
befommen, fo meint er hiermit in dem Abſchnitt, an welchem 
ftehen, einen abjoluten Wahrheitscarafter, der von vornherein 
Schrift im Ganzen beigelegt werden müffe und von uns in 
mit der Göttlickeit der. Schrift überhaupt empfunden werde. 
ſtellt fi die Sache gleid) in Ed. 2 dar. Gott, fagt Calı 
(Vol. XXIX, p. 2925sqg.), ift der menschlichen Schwäche, wi 
aus feiner Schöpfung ihn fo wenig mehr erfannte, mit dem bei 
deren, wirffumften Mittel feines Wortes zu Hilfe gekommen. 
war um derſelben Schwäche willen höchſt nöthig, daß dieſe ki 
göttliche Lehre ſchriftlich aufgezeichnet und Hierdurch vor Corrupti 
verwahrt werde. Auch dafür hat Gott geforgt. Er hat in 
heiligen Schrift und nur in ihr feine Wahrheit niedergelegt. Ti! 
Schrift hat für uns eine Autorität, als ob in ihr Gottes lebendt 
Stimme felbft zu hören wäre. Und wo nun feftftcht, daß, ne 
uns vorgelegt wird, die Rede Gottes fei, darf ja Niemand jo jr 















über Ealoin’s ‚Institutio. 417 


fein, dem Redenden den Glauben zu verweigern. Die Gewißheit 
aber, dag der Schrift wirklich folche Autorität zukomme, beruht 
für ung nicht auf der Autorität der Kirche, fondern eben auf jenem 
Zeugniffe des Geiftes. Calvin bezieht ſich dabei auch auf die ein- 
jenen Bücher der Schrift; .er weiß, daß die Geguer ‚fragen, wie 
man ſich denn ohne eine Vorfehrift von Seiten der Kirche davon 
überzeugen follte, welches Buch mit Ehrfurcht aufzunehmen, weldes 
som Kanon abzuweifen fei; er felbft führt dagegen auch Hier keine 
imdere Inſtanz an, als das Testimonium spiritus: die Gefammt- 
pit der Schriften erſcheint bei ihm durch dieſes gleichmäßig, fo zu 
gen en bloc, göttlich legitimirt. Die Ed. 3 *) verftärkt noch 
ie Säge über den göttlichen‘ Urfprung der Schrift und über das 
Bricht, welches hierauf zu Tegen fei: „(scripturae) non alio 
be plenam apud fideles autoritatem obtinent, quam ubi 
Hatuunt e.coelo fluxisse, ac si vivae ipsae Dei voces 
lic exaudirentur®); — tenendum..., non ante stabiliri 
Ioctrinae fidem, quam nobis indubie persuasum sit, autorem 
us) esse Deum; itaque summa scripturae probatio 
ussim a Dei loquentis persona sumitur.“ Die Ausfagen 
falbin’8 über das von den Propheten und Apofteln geſprochene 
Bort, welches diefe mit Recht für Gottes Wort erklärt Haben, 
then hierbei ohne Weiteres . über in Ausfagen über die heilige 
Schrift ale ſolche und in ihrer Gefammtheit; mit dem Sage 
‚legem et proöpketias et evangelium a Deo manasse“ wechſelt 
tt Sag „a Deo esse scripturam“ — wovon eben das Zeugniß 
8 Geiſtes und gewiß macht. Aus den „manifesta signa lo- 
iwentis Dei‘, welche man in der Schrift erfenne, wird jo ges 
ofgert, „coelestem esse ejus (scripturae) doctrinam “. Und 
at nachdrücklichen Sägen, welche gleichfalls der Ed. 3 eigens 
agehören, macht dann Calvin die Annahme des in biefem Gottes- 


)Lib.1,0c.7n,81.84 

b) Die in dieſem Sat gefperet gedructen Worte find erft in Ed. 3 beige 
gefügt; Die folgenden Säge gehören ganz erſt ihe an. 

©) Unter „ejus‘ iſt übrigens noch nicht (wie Dorner a. a. O., ©. 380 
Anm. 2 erfärt) die scriptura felbft zu verftehen, ſondern einfach die 
doctrina. 


418 Körlin 


wort vorgelegten Inhaltes zur Sache unbebingten Gehorfams. Shen 
in Lib. I, c. 6 hat die Ed. 3 im Alfgemeinen erflärt: „omnis 
recta Dei cognitio ab obedientia nascitur“. In e. 7,84 
erffärt fie weiter: „prophetae et apostoli... sacrum Dei 
nomen proferunt, quo ad obsequium cogatur totw 
mundus“. Mit Dorner (a. a. O., ©. 380), ja nod mt 
ſchiedener als er es thut, müffen wir nad alle dem bemerken: „ci 
bfeibt die formale Seite des proteftantifhen Princips bei Calbi 
im Uebergewicht über die materiale, womit zufammenhängt,; daß 
in der heifigen Schrift vornehmlich Offenbarung des Willens Go 
fiegt, den er durch die heiligen Schriftiteller den Meenfchen dieti 
hat“. Und dieſe Richtung tritt bei ihm in dem fortfchreit 
Ueberarbeitungen feiner Institutio nur noch ſtärker hervor. 
Auffaffung des formalen Principe hat fo aud einer Kritif, 
fie Luther gegen einzelne Theile des Kanon übte, feinen Raum 
laſſen. So fehr er übrigens nad) diefen Seiten Hin von Lut 
Glaubens und Lehrart fich unterfceidet, fo wenig war dod 
nachfolgenden fogenannten orthodor lutheriſchen Dogmatik 
gegeben, fih in diefer Beziehung des Luthertfums zu 
Gerade auf den Weg, auf welchem wir hier fhon Calvin 
bat vielmehr auch fie fich begeben und ift darauf weitergegangn. 
Unter den Lehren, welche nach Calvin den Inhalt eines fr 
gemäßen chriftlichen Unterrichts bilden müſſen, fehen mir bei i 
beſonders die Lehre von der Trinität einfah auf das 
und die Autorität der Schrift gegründet, obgleich er daneben ni 
unterfäßt, auch auf die Beziehung aufmerkſam zu maden, in wel 
der Inhalt der Lehre zum Mittelpunkte unferer hriftlichen Eri 
rung, unferes fittlich religiöfen Bewußtſeins und Lebens fteht, 
hiermit auf die. Bedeutung, welche ihm auch in praftifcher Bezieh 
zufommt. Zugleich fteht ihm fon in Ed. 1 feit, daß mir zwar 
alle unfere Gedanken und Ausfagen über Gott, den Vater, ka 
Sohn u. f. w. nad) der Schrift regeln müffen, daß aber die luch 
lichen Termini der odole, Önoordesig, essentia, personae N 
Sinn der Schrift felbft ausdrücken, daß die Häretiker unberedtigter 
Weife „dawider bellen“, daß auch foldhe neue Wörter zum Schux 
ber Wahrheit gegen häretifche Angriffe und Kunftgriffe dienen dürfe. 























über Calvin's Institutio. 419 


ab auch die „Homoufte“ des Sohnes von Arius nicht verworfen 
orden wäre, wenn er der Schriftlehre von der Gottheit des Sohnes 
ahrhaft treu hätte bleiben wollen, daß ſolche Namen nicht unbe» 
achtſam (temere) erfunden feien und daher auch nicht unbedacht- 
ım abgewiefen werden dürfen. Er findet fogar hinſichtlich jener 
mini, daß darin planioribus verbis ausgefprochen werde, 
uae captui nostro perplexa in scripturis impeditaque sunt ®). 
Ran hätte wohl von der evangelifchen Reformation erwarten mögen, 
38 fie in freier Uebung ihres Formalprincips und zugleich von 
= Beziehung des ganzen Glaubensinholtes auf ihr Materialprincip 
8 auch -jene ganze Lehre von der Trinität neu durcharbeiten und 
alten werde. Sie hat e8 nicht gethan; fie hat vielmehr im 
Ienfage zu denjenigen Umgeftaltungsverfuchen, welche Einzelne 
etfich machten, welche aber bei ihnen zu einer Erſchütterung der 
Bttlihen Grundlagen des Heiles zu führen drohten, nur die alten 
Kenntniß- und Lehrformen neu für berechtigt und bezichungsweife 
othwendig angenommen. So hat Melanchthon gethan in den wei 
ten Ausgaben feiner Loci, nachdem in der erften Ausgabe jenes 
Rpfterium als ein mehr anzubetendes, denn zu erforfchendes, zu 
ir feinem Gegenſtande dogmatiſcher Ausführung gemacht worden 
ar und es hierbei immer noch möglich fcheinen konnte, daß ber 
vongelifche Dogmatifer, wenn nachher doc das Bebürfniß einer 
hen Ausführung fih ihm aufdränge, diefelbe in einer neuen, 
rien Weife anfaffen werde. Und fo hat nun alfo Calvin auf ' 
nen derartigen Verſuch in feiner Institutio fchon von Anfang an 
richtet. Was dann aber feiner Darftellung unter der der 
deren, gleichzeitigen evangelifchen Theologen vorzugsweiſe eignet, 
t da8 umfichtige, vorfichtige Maßhalten, womit er hierbei doch auf 
ie einfachften Grundformeln der Kirchlichen Lehrfaſſung ſich befchränft 
"d feinen Schritt weiter, als ihm dur die Abwehr alter und 
euer Gegner, der Gottheit des Erldſers und Heiligen Geiftes be- 
echtigt erfcheint, über die einfachen Schriftfäge hinaus zu einer 
ogmatifhen Formulirung oder gar zu fcholaftifchen Fragen und 
Intworten weiter gehen will. Ja da fügt er jenem Sage, daß 





a) Vol. XXIX, p. bosqq. 


420 Köplin 


man die erwähnten Namen nicht unbedachtſam zuridtweifen dürfe, 
fofort den andern Satz bei: „utinam sepulta essent (nomina), 
constaret hoc modo inter omnes fides, patrem, filium et 
spiritum S. unum esse Deum, nec tamen aut filium patren 
esse aut spiritum S. filium, sed proprietate quadam esse 
distinetos“ *). Während ferner Melandthon dann aud die 
älteren Speculationen wieder aufnahm, welche den Logos als is 
vom benfenden Vater fich gegenüber geftellte Ebenbild feiner ſelbſt 
zu begreifen fuchten, Hält Calvin aud vom Wege menfchlicher Spe— 
eulationen und Analogieen ſich zurüd. So viel allerdings meint 
doch auch er über das Verhältniß der drei Perfonen gemäß der 
heifigen Schrift jelbft beifügen zu dürfen, dag man dem Bater beis 
zulegen habe prineipium agendi rerumque omnium fontem & 
originem, dem Sohne sapientiam et consilium agendi, dm 
Geiſte virtutem efficaciamque agendi: fo in der erften und ia, 
den fpäteren Ansgaben. Man fann jo mit Gaß (a. a. O., ©. 10) 
die calvinifhe Expofition der Trinität die umfichtigfte nennen # 
den Schriften der Neformatoren, indem fie den ganzen Umfang 
Dogmas überfehe und, ohne der Sache Etwas zu vergeben, 
Wortgefecht vermeide. Wir finden aber jo in ihr auch am m 
nigften Triebe, den Inhalt der Lehre felbftändig meu zu durde 
dringen und in lebendiger weiterer Entfaltung der chriftlichen Cr 
lenntniß näher zu bringen. 

Eine gewiſſe Fortentwidlung bieten dann auch für diefe Lehre 
die folgenden Ausgaben der Institutio dar, und zwar ſchließt dir 
felbe vollends mit einer befonders entfchiedenen Behauptung der 
tirchlichen Lehrform ab. — Die Ed. 1 Hat ſich noch ungemein 
kurz gefaßt. Für die Wahrheit, daß Ein Gott fei und daß zugkid 
der Bater, der Sohn und der Geiſt Gott ſei, ftellt fie als Ein 
Argument, das für taufend gelten könne, mit Berufung auf Eph. 4,5 
„das voran, daß der Einheit der Taufe und des Glaubens dir 
Einheit Gottes entſpreche, zugleich ja aber die Taufe nach M 
Schrift auf den Namen jener Drei erfolge und die Drei zugleit 
Gegenftand des Einen Glaubens feien, demnach die Drei aud alt 





a) Vol. XXIK, p. 62. 





über Calvin's Institutio. B 421 


n Gott anerkannt werden müfjen *); einen Nachweis der inneren 
edeutung der Dreie zugleich und eines jeden Einzelnen von ihnen 
t den heifbriigenden Glauben und das Heilsleben, worauf jene 
enthümliche Deduction Leicht hätte führen können, gibt Calvin 
ft. Es folgt eine kurze Zufammenftelfung weiterer Schrift 
Sprüche, dann die oben angegebene Erffärung in Betreff der 
ımen substantia, personae ı. f. w. Zu einer weit eingehen- 
en Begründung des Glaubens an die Gottheit von Vater, Sohn 
d Geift, an die Einheit ihres Weſens und an ihre Unterſchiede 
ıfih, wie wir ſchon im erften Theil unferer Abhandlung ber 
ttten, Calvin in Ed. 2 veranlaßt. ingehend führt er da ®) 
bibliſchen Belegftellen vor, — zuerft und vornehmlich diejenigen, 
a welchen die Gottheit auch des Sohnes und Geiftes, dann die, 
Knelchen ihre Unterfheldung erhelle; dabei betont er die Ber 
kung der Gottheit des Sohnes für die Zuverficht, welche wir 
ihm und durch ihn zum Vater Haben dürfen, und für die Mit— 
Hung der göttlichen Gaben durch ihn an und: dieſe „Practicä 
ätia“ fteht ihin fefter als jede „,otiosa speculatio“ ; deögleichen 
ter beim Geifte hervor, wie wir durch dieſen Gottes theilhaftig 
den und felber feine febendigmachende Kraft fühlen; die Beru— 
g auf die Taufe läßt er Hier erft folgen. Den Gebrauch 
fhliher Analogien für das Verhältniß der Drei zueinander, 
hen feit 1535 auch Melanchthon in den Locis wieder verjucht 
fe, erwähnt jetzt duch er, weiß jedoch nicht, ob derſelbe fromme; 
fürdtet, man möchte durch Kühnheit darin Anfaß geben zu bos— 
ten Verläumbungen ober zu „rohen Halfucinationen“. Hitie 
tÜich jener in der Kirche üblich gewordenen Namen glaubt er 
t für den der Hypoſtaſe auch ein Schriftwort, Hebr. 1, 3, ans 
ten zu dürfen. Eigenthümlich aber finden wir num bei Ed. 2 
! Bezug auf jene Ausdrücke vielmehr das, daß er doc, angeles 
ih ſich verwahrt gegen ein Streiten über ſolche „nudas vo- 
a3‘ und gegen eine verfehrte Strenge, womit man fie Anderen 
drängen möchte. Er erinnert jet daran, daß aud die Alten, 





ı Vol. XXI, p. 58. 
) Vol. XXIX, p. 481sgg. 


422 ° Köflin j 
beſonders die Griechen und Lateiner, keineswegs Alle miteinander 
im Gebrauch der Namen zufammengeftimmt haben, Er warnt „ne 
confidenter veluti censorio stilo protinus notemus eos, qui 
in verba a nobis concepta jurare nolint‘“; ſolche Leute, jagt 
er, folle man freundlih auf das Bedürfniß, welches jene Ausdrüke, 
gefordert habe, verweiſen; er fließt: wofern fie nur nicht in Ar 
rede ftellen, daß, wenn wir vom Einen (Gott) hören, an die Einpeil 
der Subftanz, wenn wir von Dreien hören, an die Dreiheit 

Eigenfchaften *) in dem Einen Wefen zu denfen ſei, fo Liege u 
weiter an den Worten (verba nihil moramur). Hatte ja Cali 
auch ſich felber kurz vorher noch gegen den mehr als — 
stilus Caroli's hinſichtlich des Gebrauches der kirchlichen Forı 

über die Trinität verwahren müſſen. Dagegen tritt nur umſonch 
das Gewicht hervor, welches endlich in Ed. 3 hinſichtlich der 
mulirung der Trinitätslehre doch auf die andere Seite fällt: 
neuen Gefahren des Anitrinitarismus Haben hier vollends den i 
wiegenden Einfluß auf Calvin gewonnen. Er ftellt da dem 
nicht blos die Schriftzeugniffe in ausführlicher Polemik en 
Er ſucht jegt auch in der von ihm vorangeſchickten pofitiven 
legung mit einer Beftimmtheit, welche in Ed. 2 noch nicht 
hatte, aus Hebr. 1, 3 zu beweifen, daß nad dem Zeugniä 
„Apoftels“ drei Hypoſtaſen in Gott feien, und fieht Trotz 
wenn man über die Uebertragung von „Hhpoftafe* in „Peri 
ftreite. Er ſtellt jegt ferner (Lib. I, c. 13, $ 6. 8 20) weiter 
ftreng formulirte Säge über die relationes, die proprietates, da 
ordo in der Trinität auf. Er wiederholt zwar ($ 5) jenen far 
heren Abfchnitt mit dem Ausfprud, „Utinam sepulta essent etc“ 
mit der Warnung vor dem „censorius stilus“ u. f. w., mit da 
„Verba nihil moramur‘“; aber er fügt bei, daß bie hier ım 
ihm empfohlene Milde Denen nicht gelten dürfe, die trogig ul 
boshaft widerfpredhen; und er läßt dem „ Verba nihil moramar' 










&) „trinitatem proprietatum considerandam esse“ in Ed 2 (Td 
XXIX, p. 495); dafür heißt es in Ed. 8 (Lib. I, c. 18, $ 6): „per 
sonas notari‘; fibrigens hatte auch die Ed. 2 ummittelbar vor ja® 
Sage von „personarum trinitas in una esgentia“ geredet. 


über Calvin's Institutio. 423 


zum Schluß die Erffärung folgen: „Sed expertus pridem sum 
et quidem saepius, quicunque de verbis pertinacius litigant, 
fovere occultum virus, ut magis expediat eos ultro provo- 
tare quam in eorum gratiam obscurius loqui.‘“ 

Die Lehre der Institutio vom göttlihen Weſen und von 
ven göttlichen Eigenfhaften und ihrem Verhäftniffe zu 
inander Fönnen wir deswegen nicht fo, wie ihre Lehre von der Tri- 
ntät al8 ein Ganzes darftellen und verfolgen, weil Calvin felbft, 
sie wir früher erwähnten, fie nirgends fo al8 ein Ganzes ausein- 
mdergelegt hat. Eben auch das übrigens, da er dies unterläßt 
md daß er auch in feiner fortgejegten Arbeit feinen weiteren Schritt 
au thut, wird nicht ohme Bedeutung für die Eigenthümlichkeit 
finer Betrachtung Gottes jein. Calvin erflärt: Das unendliche Wefen 
Öhttes könne der menjchliche Geift nimmermehr faffen; wir müſſen 
Iott die Erfenntniß feiner felbft überlaffen; wir dürfen ihn nur 
d auffaffen, wie er fich felbft uns offenbare, dürfen nur in feinem 
igenen Worte Kunde von ihm ſuchen (Vol. XXIX, p. 480). 
lber bietet uns nicht eben diefe Offenbarung und diefes Wort eine 
intfaltung des göttlichen Weſens in Eigenfhaften dar, die als ein- 
eitliches Ganzes von uns aufgefaßt werden können und follen? 
Ne hriftliche Lehre Hat, wie Calvin fagt, nicht mit froftigen Spe- 
dotionen darüber zu thun, was Gott fei, quid sit Deus; ihr 
gt vielmehr daran, zu wiſſen, qualis sit, zu erfennen, was zu 
ner Ehre diene, ihm kennen zu lernen in feiner Beziehung zu 
16, damit wir ihn verehren und alles Gute von ihm erbitten 
men (Ed. 3, Lib. I, c. 2). Allein mit der Frage, qualis sit, 
mmen wir auch wieder auf die vorhin aufgeworfene Frage, und 
ade auch von den Beziehungen aus, in die er zu uns fich fegt, 
töhten wir zurüdhliden können auf einen einheitlichen Charakter, 
in ihnen fich bethätigt. Sollte gerade dies bei Calvin zur 
igenthümlichkeit feines dogmatifchen Standpunftes mit gehören, 
af er die verfchiedenen Momente und Beftimmungen dieſes Cha- 
alters, welche in Gottes mannichfaltigem und verfchiedenartigem 
erhalten zu den Menfchen ſich bethätigen, nicht auch an ſich nad, 
rem inneren Verhältniß zu einander bdarzuftellen wagt, vielmehr 
ine ſolche Darſtellung für etwas Unzuläffiges anfieht, das über 

Dheol. Stud. Jahrg. 1868. 29 





















44 Körlin 


bie von Gott gefegten Schranken unferes Verſtehens unbgerf 
Hinausliege? Es wird hierbei befonders in Betracht kommen da 
Verhaltniß des Machtwillens, der Gerechtigkeit und der Liebe Gotte 
zu einander. 

Für eine genauere pofitive Betrachtung und Würdigung 
Sottesbegriffes der Institutio find wir alfo auf diejenigen &e 
ftüde angewiefen, welde ung Gott in feiner Thätigfeit auf 
Menfchen, fpeciell bei feinem Heilswerle, darſtelleu; befonders wi 
ift natürlich ihre Prädeftinationslegre. Erft von dort aus geſiat 
fie ein beſtimmteres Urtheil darüber, welche unter den angedeutt 
Eigenſchaften oder Seiten des Gottesbegriffs etwa ein Ueberge 
bei Calvin behaupte, — ob und. in welcher Weife bei ihm, 
man ihm wohl vorgeworfen hat, eis Dualismus göttlicher 
eigenſchaften eintrete, — und welcherlei Unterfchiede etwa auf 
diefer Beziehung die durch die verſchiedenen Ausgaben fortfchreit 
dogmatifche Arbeit Calvin's darbiete. 

Es gehören übrigens Hierher auch ſchon allgemeine Aeuße 
Calvin's über Weien und Inhalt des religiöſen Verhältniſſes, 
das Verhalten, das und gemäß Gottes Stellung zu uns ihm 
über obliegt, über das Verhalten, das mir von ihm gegen 
erwarten follen. Die Hauptmomente, um welde es bei die 
Verhältpigfe ſich handelt, faſſen fich zufammen in den Sägen: Oi 
ſei unfer Herr, der und gefchaffen, und unfer Vater, von dem 
Gute komme; ihm gebühre daher Ehre und Herrlichkeit, ihm bi 
und Vertrauen. Wir follen, Heißt es bei der Erklärung bes 
talogs in Ed. 1 ebenfo wie in Luther’s Katechismus, Gott „fürdif 
und lieben“. Die göttliche Offenbarung in der Heiligen Schi 
wie in der Schöpfung leitet uns nad Calvin vor Allem zur Fur 
Gottes, dann zum Vertrauen auf Gott au; fie will uns ihn ge 
horſam verehren und dann ganz von feiner Güte abhängen Lehren *). 
Wie aber verhalten fih bei Calvin beftimmter die beiden Suiten 
zu einauder, die bier außgehoben ſind nnd die wir desgleichen and 
3. B. bei Luther zufammengefaßt finden, ja in jeder gefunden Be 
trachtung der Religiofität zufammengeftelft finden werden? wie dem: 


a) Vol. XXIX, p. 30. 34. 288. 304; Vol. XXX, p. 78 (kb. I, c. 10,82 





über Caloim’s Institutio. 5 


aach auch in Gott felbft die beiden Seiten, vermöge beren er einer⸗ 
jeits Gegenftand ber ehrerbietigen Furcht, andererjeits Gegenſtand 
x Vertrauens und der vertrauensvollen Gegenliebe für uns ift? 
Bir finden in ber Institutio und zwar namentlich in Ed. 3 Aus- 
prüche, in welchen die zweite Seite vorangeftellt erſcheint. Calvin 
ffärt nicht blos, die Erkenntniß, daß Gott von Allen verehrt 
verden müffe, fei ungenügend ohne die Ueberzeugung, daß er bie 
Quelle alles Guten fei; fondern er fährt fort: bis die Menfchen 
er väterlichen Furſorge Gottes und feiner Urheberfchaft alles Guten 
ame geworben feien, werben fie fich ihm hie mit freiwilligem Dienft 
mterwerfen; wenn fie wicht feſt im ihn ihte Glüchſeligkeit fegen, 
werben fie fi ihm mie ganz ergeben. Ja für die erfte Stufe 
ar Frömmigkeit erflärt er, in Gott den Vater zu erfenmen, der 
ws jhüge und pflege bis zur endlichen Aufnahme in fein Reiche- 
re, wie denn auch eine Heilbringende Erkenntniß Gottes ohme 
ihriſtus nicht möglich fei. Er definiert die pietas al$ „conjun- 
tam eum amore Dei reverentiam, quam beneficioram ejus 
otitia conciliat.“*) Man könnte hiernach bei Luther und den 
utheranern da8 Moment der Furcht in der Frömmigkeit noch mehr 
18 bei Galoin betont finden, fofern ja doch jene die Belehrung zu 
dott von Gindrüden der Furcht, von Schreden des Gewifjens 
-f. mw. ausgehen faffen. Und im Zufammerhang hiermit bes 
wefen wir aud fon, wovon umfen weiter zu reden feim wird, 
aß nad) dem Lehrftück Calvin's De poenitentia der Glaube der 
huße und Abtödtung ded Sündenmenſchen in uns vorangehen fol. 
ein, werm es auch die väterliche Liebe Gottes ift, auf deren 
afahrung die chriftliche Neligiofität von Anfang an ruhen muß, 
iſt Hiermit doch noch nicht gejagt, wie weit dieſe Siebe reiche, 
Nefern fie allen Menſchen ſich zu erfahren geben oder etwa nur 
af eine abgeſchloſſene Zahl Auserwählter ſich beſchränken wolle, 
sefern jie mit dem ethifchen Weſen Gottes eins nnd in alfem 
Ainem Verhalten das Grundbeftimmende fei oder neben ihr amdere 
Ägenfhaften walten, vor welchen fie werigftens theilweife in Gottes 
3erhaften zur Menfchheit zurücktreten müffe. Jene Ausfagen laſſen 





»Lb.Le2,91;506,84. 
29° 


426 Köflin 


Raum genug für eine fchroffe Prädeftinationslehre und für alle 
Confequenzen, welche wir von einer ſolchen aus für die Auſchauung 
von Gott und feinen Eigenfchaften zu ziehen haben. Solden Er: 
ärungen über bie Liebe, wie bei Luther, wonach fie gleichſam den 
Grund des Herzens Gottes ganz erfüllt und wonach Gott in jenem 
Grregen von Furcht und Angft eben noch gar nicht fein eigentficee 
Werk treibt, Können wir doc) bei Calvin nichts zur Seite ftellen. 
Terner ift mit jenen Ansfagen auch darüber noch Nichts ausgemadt, 
wie weit in jener Frömmigkeit ſelbſt, melde ohne die Erfahrung 
der göttlichen Liebe nicht bei uns entftünde, num eben bie Liebe oder 
doch die mit ihr verbundene Ehrfurcht das Uebergewicht erhalten, | 
wie weit der Fromme im vollen freien Genuß jener göttlichen Liebe 
leben oder überwiegend in ehrfurchtsvollem Gehorfam feine Gefin- 
nung gegen den Vater zu bewähren haben werde. Und da erinner 
wir an den Nachdruck, mit welchem befonder® die Ed. 3 gegenüber 
von der göttlichen Offenbarung den Gehorfam unfererfeits gefordet 
hat. Ebenſo führt diefe Ausgabe, und zwar in einem men auf 
gearbeiteten Abſchnitte (Lib. IH, c. 20, 8 42), den Begriff W 
Reiches Gottes, bei welchem Luther (vgl. 3. B. im Gr. Katıh) 
die erlöfende, befeligende Thätigfeit und Mittheilung Gottes voraw 
ſtellt, fogleih auf die Herrſchaft Gottes über die ſich felbft vr: 
Teugnenden und der Gerechtigkeit ſich ergebenden Menfchen zurüd. 
Auch feine Definition von religio (Lib. I, c. 12, $ 1) ift hie 
zu erwähnen; er fieht‘ darin den Gegenfag gegen vaga licentis 
bei der Gottesverehrung ausgebrüdt: „pietas sese intra fines 
suos relegit“. Dod wir wollen nur vorläufige Bemerkungen 
hiermit gemacht haben. 

Treten wir in ben conereten Lehrinhalt der Institutio weiter 
ein, fo haben wir hier überalf die Beziehung auf den Mittel 
punft der Kriftlihen Heilswahrheit in's Auge zu faſſen 
und im Auge zu behalten. Auf Gottes Verhalten zur Welt und 
Menſchheit, abgefehen von der Erföfung und Erlöfungsbedürftigkei, 
ift, wie wir fahen, Calvin überhaupt erft feit der Ed. 2 allmäh- 
lich ausführlicher zu reden gefommen. Und auch darauf ficht man 
dann bei ihm ſchon jene Beziehung einwirken. Durch das, was 
wir als Ehriften aus der Heilswirkfamfeit Gottes über fein Ber- 








über Calvin's Institutio. 427 


hältniß zu und erfahren, wird bei Calvin auch ſchon feine Auf- 
jaffung vom Verhältniß Gottes zur Welt überhaupt beftimmt, 
wenngleich wir gerade bei Calvin werben fragen dürfen, wie weit 
virflich die chriftliche Erfahrung von Gottes Liebe und Liebesdar- 
Hetung bei ihm in ihrer ganzen Tiefe und vollen Confequenz zur 
Geltung gefommen fei, oder ihr gegenüber doch zugleich ſolche all» 
jemeine veligiöfe und metaphyfifche Anfchauungen einwirkten, welche 
ht völlig von ihr durchdrungen waren. — In jener Hinficht 
rinnen wir auch daran, daß er feinen Abfchnitt über das all» 
jemeine Walten der göttliden Providenz bei une 
Renfen urſprünglich, nämlid in Ed. 2, erft dann eingeführt 
nt, nachdem er zuvor das Heilswirken und den Heilsrathſchluß 
dottes mit der Prädeftination gemäß, den Schriftzengnifjen wollte 
gehandelt Haben. Wenn Gaß (a. "a. D., ©. 106) bemerft, 
a5 der Abfchnitt von der Vorſehung fich Deutlich als theologifche 
Interlage der Prädeftination zu erkennen gebe, fo trifft dies zu 
ir Ed. 3; nur umfoweniger aber darf überfehen werden, daß das, 
28 hier als Unterlage fich darbietet, doch anfänglich nur als An- 
ang zu dem Anderen eingeführt worden war. Anbererfeits ift 
brigens auch ſchon in dem Abfchnitte der Ed. 2b von Gott als 
em allmächtigen Schöpfer befonder8 ber Nachdruck zu beachten, 
vomit er bei aller Vermittlung bes göttlichen Wirkens durch crea- 
ürfihe Werkzeuge doch die Unfelbftändigkeit diefer Wert- 
euge und die vollkommene Umnbedingtheit Gottes ihnen gegenüber 
xhauptet. Und noch weitere und ftärfere Erklärungen gibt dann 
arüber die Ed. 3. Gott, fagt Calvin, flöße den Werkzeugen rein 
ach feinem Willen Kräfte ein und Ienfe fie; und Gott könnte, 
va8 er fo duch fie, 3. B. durch die Sonne wirft, ebenfo Teicht 
uch ohne fie vein durch fich felbft wirken. Gott, fagt er in Ed. 3, 
affe uns ordentlicher Weife dur Brod ernähren; und doch lebe 
iach der Schrift der Menfch nicht vom Brod allein: denn nicht 
ie Füllung mit Speife nähre uns, fonbern die göttliche Segnung, 
owie umgekehrt Gott (Jeſ. 3, 1) auch drohe, die Stüge des 
Brodes zu zerbreden *). Wir Haben Hierin auch ſchon allgemeine 


a) Vol. XXIX,'p. 510; Vol. XXX, p. 145g. 150 (Lib. I, c. 16,8 2. 7). 





28 Röklin 


Brämiffen für den fpeciellen Gebrauch, melden dann Gott nad 
Ealoin für fein Heilswirken vom Wort und von den Sacramenten 
mad). 

Jemehr wir bei Calvin in bie direet aufs chriſtliche Heil 
bezüglihen Dogmen eingeführt werden, befto mehe müfjen wir dan 
auch erwarten, biejenigen Eigenthümlichfeiten beftimmt ausgeprägt 
zu finden, welde den calvinifchen Lehrtypus vom Intherifd: 
deutſchen unterfheiden, und müffen mit Bezug auf fie wieder 
feine eigenen drei Hauptausgaben untereinander vergleichen. Und 
wirfli bietet gerabe in dieſer Beziehung ein folcher Vergleich der 
drei fehon bei einer alfgemeinen Weberficht ein hohes gutereſſe dar. 
Sehen wir den Fall, daß die Institutio in ihrer erften Gejtalt 
mit allen ihren Beftandtheilen, auch mit ihren Abfchnitten üüber- die : 
Sacramente im Allgemeinen und über die Taufe, nur den ſpecich 
vom Abendmahl handelnden Abfhnitt ausgenommen, einem Forſcher 
in ber reformatorifchen Theologie vorgelegt witrde und daß diefe ; 
hierbei den Namen bes Verfaſſers noch nicht kennte und zug 
die fpäteren Außgaben feiner vergleichenden Betrachtung entrilt 
wären, fo würde diefer fchwerlich irgend welchen Aulaß finden, da 
Wert einem anderen Boden, als bem der deutſch- evangeliſchen 
Lutherifchen Theologie zuzumeifen. In ben Abſchnitten über de 
Sacramente im Allgemeinen und über bie Taufe würde er wohl 
befondere Verwandtſchaft mit demjenigen Standpunkte finden, meiden 
Melanchthon's Loci in ihrer erften Ausgabe repräfentiren. In 
anderen Abfchnitten, wie in ber Ausführung davon, daß Ehrijtus 
ganz das Unfrige angenommen habe, um das Geinige uns zuzu⸗ 
theifen, daß Chriftus, das Leben, den Tod verfehlungen habe, dak 
Chriſtus mit feiner ganzen Perſon und Leiftung, feinem Geherjam 
und Schuldtragen, für uns eingetreten fein. f. w. (vgl. unten), 
würde er innige, fpeeielle Verwandiſchaft mit Yuther, gerade auch 
im Unterfchied von Melanchthon, gewahr werben. Bon Ansfagen 
über hie Prädeftination würde er Nichts antveffen, was nicht Luther 
auch damals noch hätte vortragen können. Ex möchte wohl die 
jenige wolle Darftellung vom GCinsgewordenfein des Göttlicen und 
Meufchlichen, welche Luther zu geben bemüht war, vermifjen, jedoch 
auch auf Leinerkei Widerſpruch gegen diefelhe ftoßen.. Belime er 


1 








über Calvin’s Institutio.} 29° 


alsdann den ſpeckellen Abfehmitt über’s Abendmahl bazır in bie Hand, 
fo würde er darin einen Mann erkennen, der in diefer Beziehung, 
unbeſchadet feiner fonftigen Gemeinfchaft mit Luther und Meland- 
thon, den ſogenannten oberländifchen Theologen, ben Urhebern der 
Confessio Tetrapolitana vom Jahre 1530, ſich anſchließe, ber 
kdoch auch in dieſer Hinficht durch Betonung und tiefe Auffaffung 
der im Abendmahl den Seelen, wenn auch nicht bem Munde dar- 
gebotenen göttlichen Gabe. eine Gemeinfchaft mit Jenen nad) Kräften 
xwinnen und befeftigen wolle und ber hierfür in ber That eine 
jedeutendere theologifche Leiftung als alle die oberländifchen Genoffen 
vorlege, Nachher erft, in Ed. 2 und vollends in Ed. 3, kommen 
nit der weiteren Entfaltung des geſammten Lehrftoffes bie von der 
Intherifchen Lehrform abweichenden, beziehungsweiſe ihr entgegen- 
Hegten Eigenthitmlichteiten Calvin's erfentibar genug zum Ausdruck. 
Bir aber fehen nun nicht bloß, wie biefe für ihm felbft dort noch 
d ganz Hinter dem Gemeinfamen zuricktraten, welches fir ihn auch 
ein das Fundamentale war und über welches ihn das Bebürfniß 
hriftliher Unterweifung für die bei der erften Ausgabe in's Auge 
ſefaßten Leſer nicht Hinausführte; -fondern wir fehen auch, wie das⸗ 
enige, worauf er bier fich beſchränkte, wirklich im fich felbft zu 
men Ganzen fich zuſammenſchloß — ohne eine Spur von Künſtelei 
rer von bdiplfomatifchen Wendungen und Verhüllungen. In der 
päteren Ausführung des Werkes fobann weifen allerbings jene 
jervortretenden Eigenthümlichkeiten deutlich genug auch auf einen 
ewiſſen Unterſchied der criftlichereligtöfen Grundanſchauung zurüd, 
mie wir ja einen folchen auch fehon bei Calvin's Auffaſſung des 
ormalen Princips bemerflich gemacht Haben; und man kann dann 
ragen, ob fie, mit allem Gewichte betont und conſequent verfolgt, 
iicht auch noch zu einer viel tiefer greifenden abweichenden Faſſung 
erjenigen einzelnen Dogmen hätten führen müſſen, welche zunächſt 
18 ganz gemeinfame erjchienen: fowie in der Dogmatik fplterer 
Calviniſten ſolche Unterſchiede theils wirklich, theils wenigſtens 
aach der ſcharfſinnigen Darſtellung mancher Theologen, beſonders 
Schneckenburger's, eingetreten find. Allein das werden wir doch bei 
Safoin keineswegs jo, wie man hiernach erwarten möchte, beftätigt 
finden. Und die Urfache hiervon werden wir nur in dem Weber- 





430 Köplin 


gewichte fehen können, welches bei ihm doch fort und fort das &e- 
meinfame eines echt evangelifhen Standpunktes behauptet, wenn 
aud die divergirenden Elemente nicht zu voller Einheit damit ge⸗ 
bracht find und überhaupt eben nicht Diejenige durchgreifende Einheit 
und Confequenz der dogmatiſchen Anfhauung und des Syſtems, 
welche Freunde und Gegner dem Calvin oft nachrühmen, von ihm 
wirklich erreicht worden ift. 

Die Sünde, von welder wir Exlöfung bei Chriſtus ſuchen 
follen, iſt durch alle Ausgaben hindurch ganz in der Weiſe der 
deutſchen lutheriſchen Predigt und Theologie aufgefaßt. Namentlich 
ift dem gegenüber von Zwingli'ſchem Einfluß feine Spur. Tie 
ſtarken Säge über die Macht und den Fluch der Sünde erhalten | 
theifweife in Ed. 3 noch beftimmteren Ausbrud als vorher. Solche 
Ausdrüde zwar, nach welchen es feheinen müßte, als ob der Wil 
des natürlichen Menſchen ganz aufgehört hätte Wille zu fein, hält « 
Calvin immer von feiner Darftellung ferne: fo bie Bezeichnung } 
des Menfchen als eines Klotzes. Für die Sache aber, nämlit 
dafür, daß der Menſch und fein Wille gar keine wahrhaft gab 
gemäße, ihrem Princip nad gute Thätigkeit, Strebung und Be 
wegung mehr habe noch aus fich produciren könne, macht dies gar 
feinen Unterfdied. Und für das Maß, in weldem die Menjcen 
und zwar ſchon die Kinder vom Mutterleib Her von dieſer Ber 
derbnig umfangen und durchbrungen feien, gebraucht Calvin in allen 
Ausgaben auch Ausdrücke, welche man ſelbſt flacianifch hätte deuten 
tönnen: „tota eorum natura quoddam est peccati semen“; 
die Concnpifcenz erfülle und verunreinige Alles im Menſchen, In- 
telligenz und Willen, Seele und Leib: „aut, ut brevius absol- 
vatur, totum hominem non aliud ex se ipso esse quam cor- 
cupiscentiam‘“‘ *). Auch er fieht in diefer Sünde Wiberftreit und 
Feindſchaft gegen Gott, pofitiv Selbſtſucht. Auch ihm ift mit ihr 
und zwar ſchon für die Kinder Abfchen von Seiten Gottes und 





a) Vol. XXIX, p. 118 (Ed. 1) p. 310. 968 (Ed. 2). Vol XXX, p. 183. 
Lib. D, c. 1, 5 8 (dazu wird hier im dem nen Hinzugelommenen 5 9 
noch weiter polemifch gegen bie Lehre katholiſcher Theologen von der fleiih 
lichen Luſt ausgeführt, da „arcem ipsam mentis occupavit impietas. 
ad cor intimum penetravit superbia ‘“). 





über Calvin's Institutio. 431 


erdammniß gefeßt; wir find dadurch ſchuldig des göttlichen Zornes. 
urch das Prädeftinirtfein der Gottlofen ſoll ihre Schuld keines— 
:96 aufgehoben, noch gemildert fein. Daneben erkennt zwar Calvin 
m auch bei Heiden eine edle Begabung und fchöne Leiftungen auf 
m Gebiete der Künſte und Wiffenfchaften, des bitrgerlichen Rechtes, 
3 Staatslebens u. ſ. w. an. Eine lebhafte Anerkennung dafür 
den wir ja aber nicht blos auch bei Melanchthon, fondern auch 
Luther umd nur durch Mißverftand wird fie öfters bei diefem 
erſehen oder unbegreiflich gefunden (vgl. in meiner „Theologie 
ter“ II, 373. 487). Und andererjeits ift auch nach Calvin " 
rum doch die Grundrichtung des Willens oder die innere Ge— 
mung bei ſolchen Heiden keineswegs gut und gottgefällig, Wie 
tter zwifchen den „‚res inferiores, rationi subjectae “ und den 
giritualia “, unterfcheidet and) er zwiſchen „res mediae, quae 
ücet nihil ad regnum Dei pertinent “ und zwifchen der „vera 
ztitia, quae ad spiritualem regenerationem refert“ (Vol. 
UX, p. 318; Vol. XXX, p. 190; Lib. II, c. 2, $ 5), ober 
iſchen „res terrenae“‘ und „res coelestes“ (Vol. XXIX, 
325; Vol. XXX, p. 197; 1. c. $ 13). Auch bei jenen 
enſchen führt er ihre Begabung und Thätigfeit auf ein Wirken 
tlichen Geiftes zurück; es fei aber, erflärt er, nicht der Geift 
Heiligung, durch welchen die Menſchen ſelbſt Gotte zu einem 
inpel geweiht werben (Vol. XXIX, p. 327; Vol. XXX, p. 199, 
116). Weiter nod geht dann Calvin in der Anerkennung von 
8 natürlich Gutem auch bei unerlöften Menfchen: es habe, 
ter, jederzeit Etliche gegeben, die nicht blos durch einzelne 
aten ſich ausgezeichnet, fondern auch mit ihrem ganzen Leben 
ter Leitung der Natur nad Tugend geftrebt Haben. Er jagt 
m in Ed. 2 (Vol. XXIX, p. 337): „exempla ista nos mo- 
nt, ne hominis naturam in totum vitiosam putemus‘“. Er 
eint Bier doch mehr zuzugeben als Luther zugab, und mehr auch 
; mit feinen eigenen oben aufgeführten Sägen verträglich erſcheint. 
ein er erflärt fogleich weiter: auch bei ſolchen Perſonen fei die 
gemeine Verderbniß keineswegs geheilt oder in Heilung begriffen, " 
tde vielmehr nur durch befondere göttliche Fürforge in Schranken 
yaften, während fie, wenn Gott den eigenen Lüften den Zügel 


452 Köfklin 


ſchießen ließe, bei ihnen fo arg wie bei Anderen wieder losbrechen 
würde; und als Motive, durch welche Jene fo weit fich im Zaum 
haften Laffen, nennt er Furcht vor den Gefegen, Rückſicht auf den 
von einem ehrbaren Wandel erwarteten Vortheil, die Abficht, An 
dere durch die eigene Erhabenheit ſich unterwürfig zu machen; man 
fieht, für wahre Tugendhaftigfeit läßt auch er jene „Qugenden“ 
teineswegs gelten. Säge, welche die Ed. 3 den bisher — 
beifügt, erflären vollends über die beſten Helden bes Heidenthu 
turzweg: „ut praestantissimus quisque fuit, eum semper i 
pulit sua ambitio, qua labe foedantur omnes virtutes, 
coram Deo gratiam omnem amittant‘“; e8 fehlt ihnen 
das Streben, Gott zu verherrficen; ihre Tugenden haben Lob u 
„in foro politico et in communi hominum fama“ (Lib. I 
c. 3, $ 4)*). Und jenen Sag „Exempla ista nos mo nent etc“ 
hat die Ed. 3 recht bedeutſamer Weiſe verändert in: „Exem 
ista monere nos videntur“ (l. c., $ 3). Wie gan 
ders hat ein Zwingli die Tugenden, mit melden Gott 
Heiden ausftette, gewürdigt haben wollen. Wir Haben vie 
doch wefentlich nur denjenigen Standpunkt, auf welchem Me 
thon, mit Luther einverftanden, in der erften Ausgabe feiner 
die Tugenden eines Sokrates, Zeno u. |. w. felbft auch aus 
Selbſtliebe abgeleitet und darum für Lafter erklärt hat. — %ı 
die Prädeftinationslehre bringt für diefe Auffaffung der men 
lichen Verderbniß und Erföfungsbedürftigkeit keine Modification nd 
ſich. Gott iſt in ſeinem Willen und Rathſchluß, jener zu Ben 
unbedingt frei. Aber er felbft Hat ſich mit feiner wirklichen, cr 
fenden und Heiligenden (nicht blos zügelnden) Thätigkeit auf de 
Erlöfung durch den menfchgewordenen und zuvor im altteſtamem— 
lichen Worte geoffenbarten Chriftus unbedingt befchränt. *or| 
nehmlich eben hierin wich Zwingli fo fehr ab. Und von cc) 
anderen Seite her hatte auch Melanchthon feither in feiner zwem] 
Ausgabe den Gedanken angeregt, ob nicht vielleicht Gott trefflicer 
Heiden auch ſchon eine gewiſſe Erfenntniß der freien Barmperzigtet, 





a) Ferner vgl. ſchon in Ed. 2: Vol. XXIX, p. 756; in Ed. 8: Lib. Il 
14,88. 





über Calvins Institutio. 433 


w Sündenvergebung und bes wahren Gottesdienftes durch befon- 
me Wohfthat gewährt habe (Corp. Ref., Vol. XXI, p. 385). 
aloin nähert ſich foldhen Gedanken fo wenig als Luther. Man 
innte ferner mit der Prädeftinationslehre die Vorftellung verbinden, 
6 den in Chriſto Erwählten, wie fie ſchon vor ihrer Geburt 
wählt ſeien, fo auch fchon von ihrer Geburt an ein guter Keim 
ı Unterfhleb von den nichterwähften Sundern mitgegeben werde, 
t unter dem Sundenſtand fatent bleibe, um dann auf den Ruf 
8 Evangeliums Hin fich zu entfalten. Calvin Hat, fobald er in 
d. 2 feine Prädeftinationslehre ansführte, auch diefe Vorftellung 
mähnt, aber nur um fte ganz abzıtweifen; auch Jene, jagt er, 
m, fo viel an ihnen fei, bis zu ihrer Berufung und Belehrung 
kirrende Schafe, fi) mälgend im Gränel der Sünde: „quale 
ie, amabo, electionis semen in is germinabat etc.?“ 
'l. XXIX, p. 883. 885; in Ed. 3: Lib. IH, c. 24, 8 11.) 
Sollen wir weiter nad) Eigenthümlichem in Calvin's Auffaffung 
t Sünde und des Sündenftandes forfchen, fo bürfen wir wohl 
& anmerken, daß er in der menfchlichen Sünde befonders gern 
ı Hochmuth betont. Diefer bleibt ihm, wie wir fehen, nament- 
) auch die Grumbdfünde jener befferen Heiden. Melanchthon pflegt 
fündhafte Selbftfucht, welche das Grundweſen ber Erbſünde 
mache, mehr nur als Liebe zum eigenen Selbſt, als philantia, 
bezeichnen, — als Selbftliebe im Gegenfage zur Hingabe an 
t in Vertrauen und Gottesliebe. Der Nachdruck, welchen Calvin 
f die Selbftüberhebung, superbia, ambitio, legt, entipricht dem 
ichdruck, mit welchem er bie rechte Gefinnung zu Gott vor Allem 
die vollkommene Selbftbeugung unter Gottes Majeftät fett. — 
Ährend ferner Calvin dem Menfchen, um ihn zur Anerkennung 
' reinen Gnade Gottes zu treiben, fo fräftig- das Sundenelend 
d die Sundenſchuld vorhäft, überfehen wir nicht, wie er zugleich 
ch ſchon abgefehen von der Sünde die Schwäde und 
ürftigkeit des Menſchen und feine fchlechthinige Abhängigkeit von 
es Macht und Gnade anerfannt haben will. Die Betonung 
fer Seite iſt Luther'n befonders in feiner früheren Periode eigen, 
er mit Anſchluß am die Myftit bie völlige Nichtigkeit der Ereatur 
jenüber vom Schöpfer hervorhebt. Bei Calvin macht fte in der 








4 Körlin 


weiteren Ausführung ber Institutio noch mehr als früher fih 
geltend. Schon in Betreff des Urzuftandes leitet er aus Adams 
Geſchaffenſein nad) Gottes Ebenbild nicht etwa ab, daß derjelbe 
demnach auch mit einer gewiſſen Selbftändigkeit von ſich aus Härte 
Gutes Teiften können, fondern vielmehr, daß demnach fein Gutes 
nicht fein eigen gewefen, daß er nur Dei participatione felig g- 
weſen fei; die Ed. 3 fügt bei, daß ohnedies ſchon fein Entnommen 
fein aus Erde und Koth allen Hochmuth bei ihm Habe zlgen 
müffen (Vol. XXIX, p. 313; Vol. XXX, p. 134. 186; Lib. 
c. 16, $ 1; Lib. Il, c. 2, $ 1). Vollends kommt dieſe Set 
zu einer Alles umfafjenden Geltung in Calvin’ Ausführung it 
die Prädeſtination und allwaltende göttliche Providenz. — 
minder weift Calvin die Rechtsanfprücde, die Anfprüche auf 
dienft und Lohn, die ein Menſch vor Gott erheben möchte, nad 
drüucklich umd unbedingt auch ſchon wegen des allgemeinen Berhil 
niffes des Menſchen zu Gott, noch abgefehen von der Sündheft 
keit defjelben, zurüd. Er ftügt ſich dafür allgemein auf den © 
von den unnügen Knechten uf. 17, 10 (Vol XXIX, p. 
Vol. XXX, p. 580; Lib. III, c. 15, $ 3). Nebenbei v 
er fich auch gegen die, wie er fagt, von gelehrten und from 
Männern vorgebradhte Meinung, als ob wenigſtens Gaben fi 
irdiſche Leben verdient werden könnten durch gute Werte (Vol) 
XXIX, p. 772; Vol. XXX, p. 582, $ 4). Selbſt Luther ja 
mit weniger Strenge und Aengftlichkeit, und zwar auch im Kaum 
mit Katholiken, fogar auf irdifhe Gaben, melde Gott den oe 
erwähnten Heiden um ihrer Tugenden und Leiftungen willen jr 
tommen lafje, den Begriff der remuneratio oder retributio ar 
zuwenden jich wicht geſcheut *). Vollends erſcheint wieder bei dr 
Prädeftinationslehre Calvin's ein jedes Recht des Menſchen vm 
Gott ausgefchloffen. — Auch die Art, wie Calvin bei der gort- 
pflanzung des Verderbens von Adam her über die Urſache der 
felben fich äußert, ift für die ſpecifiſch Calviniſche Auffaffung ir 


















8) Bgl. meine „Theologie Luther's“ a. a. D.; Luth. opera Ed. Jen. 155. 
Tom. H, p. 425 (im der Confut. ration. Latom.). Op. exe. Hi 
Erlang., Vol. I, p. 166. 





über Ealoin’s Institutio. 435 


Ügemeinen Berhältniffes zwifchen Gott und Menfch bezeichnend. 
ir erffärt ſich hierüber fchon in Ed. 28, umd zwar dahin: man 
taude nicht über Traducianismus zu disputiren; es genüge für 
u, daß, wie Gott die der menſchlichen Natur beftimmten Gaben 
i Adam niedergelegt, fo Adam diefelben für uns Alle verloren 
ibe. Seit ber Ed. 2° leſen wir weiter: nicht in der Subftanz 
% Fleiſches und der Seele habe die Auſteckung. mit Erbfünde 
ven Grund, fondern einfach eben in der Verordnung Gottes, daß 
rerfte Menfch fo jene Gaben aud für feine Nachkommen ver- 
men ſollte. Entſcheidend erfcheint fo dafür am Ende einfach der 
itlihe Wille, dem wir nicht weiter nachzufragen berechtigt find. 
a der Ed. 3 jtellt dann Calvin diefe Verordnung Gottes mit 
» horribile decretum der Prädeftination auf Eine Linie: die 
Are können doch auch Die nicht Teugnen, welche am letzteren ſich 
en; Mar fei ja, daß jener Verfuft des Heiles fir Viele durch 
# Einen Schuld nicht natürlicherweife (naturaliter) erfolgt, ſon—⸗ 
m aus einem wunderbaren Rathichluffe Gottes hervorgegangen 
; 8 fei gar zu abfurd, daß jene Patrone ber göttlichen Gerech— 
keit, welche doch den Rathſchluß der Prädeftination beftreiten, 
er Balken ſich wegfegen und doc über einen Halm nicht weg⸗ 
amen Tönnen ). 

Erlöſung aus ben Banden der Sünde und Rettung vor den 
igen Strafen ift dann alfo auch nad Calvin ſchlechthin nur bei 
a menſchgewordenen Gottesfohne. 

Zwifhen der Ealvinifchen und der Lutherifchen Auffafjung der 
fung ift der Unterſchied gemacht worden, daß dieſe dort mehr 
; Befreiung von der den Willen bindenden Macht der Sünde 
7 als Mittheilung neuen fittlihen Lebens an's Subject, 
t mehr als Tilgung der Schuld und als Herftellung eines neuen 
ectiden Verhältniſſes für den Menſchen zu dem die Schuld rich⸗ 
den und nunmehr vergebenden Gott aufgefaßt werde. Hält man 
) aber an das, was Calvin in den Ausgaben feiner Institutio 
d auch fonft überall wirklich fagt, fo wird man in diefer Be— 





» Vol. XL, p. 310; Vol. XXX, p. 182; Lib. II, c. 1, $ 7. p. 704; 
Lib. HI, c. 28, 8.7. 


46 zönlin 


ziehung Höchftens einen Unterſchied ſehr relativer und ſchwebender 
Art herausfinden. Und zwar bleibt ſich feine Lehrweiſe Hier durch 
alle Ausgaben gleich. Für Calvin's Eigenihmlichkeit kommt da 
allerdings gleich diejenige Ueberſicht Über die Bedeutung des Weſene 
und Wirkens Chriſti, des Heilsmittlers, in Betracht, welche er der 
ausführlicheren Entwidlung vorangehen läßt (Vol. XXIX, p. 645gq 
617 8q.3 Vol_XXX, p. 341 qg.; Lib. H, c. 12, $ 1-3). Gu 
fagt er, ift, während unfere Sünden wie eine Wolfe zwiſchen 
und uns ftanden, felbft zu uns Herabgeftigen; Gottes Sohn in 
Menſch geworden, um und zu Gottes Sohnen und aus 
der Hölle zu Kindern des Himmelreichs zu machen, indem er 
Unfrige annimmt, das ihm von Natur Eigene aus Ghaden 
uns überträgt, den Tod verfchlingt, die Sünde beſiegt m. j. 
Erſt als zweites Hauptſtück unferer Erlöfug (alterum redı 
tionis nostrae caput; Ed. 3 fegt ftatt redemt.: reconeiliationi 
nennt dann Calvin das, daß Ehriftus genugthuenden Gehoche 
geleiftet und die Strafen für die Sünden abgetragen habe. GC 
hat fo mit dem, was er hier voranjtelit, gleich von vornherein 
die von Chriftus> ausgehende Lebensmittheilung im Auge ge 
Allein die Aufeinanderfolge der beiden „eapita“ Hat doch wi 
etwa den Sinn, ald ob das zuerft über Chriftus Ausgeſagte 
auf die Lebensmittkeilung im Unterſchied von der Verfühnung 
Sündenvergebung ſich beziehen und als ob jene die Prierität 
diefer erhalten ſollte. Es war vielmehr. Calsin darum zu th 
zuerſt, ehe er auf das befondere genugihuende Wirken usb Lei 
des Mittler einging, die umfaffende heilsmittleriſche 
feiner ganzen gotimenfchlicgen Perſon hervorzuheben; und bei diei 
faßt er zunächſt Alles, die Verföhnung und Vergebnug fammt 

Zedensmittheilung, in Eins zufammen: jene gehört wejewtlich mi 
zum Befiegen der Sünde; und fo weit ja nachher auch ber bi 
ftimmtere Ausdrud der Ed. 3 „alterum recuneiliationis caput- 
darauf zurüd, daß es auch bereitö bei dem erften um eine durdi 
reconciliatio ſich vollziehende redemtio ſich Kandel. — Exil 
der Ed. 28 wurden fodann, wie wir fehon früher erwähnten, de 
Abfchnitte über Buße, Wiedergeburt und neues Leben vor dem be 
fonderen Abſchnitt über die Nechtfertigung entwidelt; es wird aus 





















„Aber Eatbin’e Trank 437 
es nicht ohne Bedeutung für die ſpecifiſch Calviniſchen Anſchauun⸗ 
n fein; zugleich werden wir dort auch auf eine unterſcheidende 
igenthämlichkeit Calvin's in Betreff der im Qutherifchen Lehrtypus 
wongeftelften terrores incussi conscientiae zu reden fommen. 
Mein wir Haben aud ſchon bemerkt und merden mod) weiter zu 
merken Baben, daß man aus des Ordnung jener Abfchnitte nicht 
viel folgern darf ). Im Abfchnitte von der Rechtfertigung zeigt 
5 jodann Mar, daß gerade auch Calvin ganz bejonders von der, 
attifhen Trage darnach bewegt war, wie wir zu dem neuen, der 
culdhaft entgegengefegten Verhältniß zu Gott gelangen, wie wir 
t dem göttlichen Gericht oder Forum beftehen, wie die von der 
guld geängftigten Gewifjen geftillt werden Können. Kaum ir 
ꝛdwo fonft redet Calvin mit jo ernſtem Pathos, wie hier davon, 
dman zu Gottes Richterftußl die Augen erheben müfje, daß das 
wiffen erregt werde und der Satan anflage, daß man da ganz 
müthig und arm allein bei Gottes Barmherzigkeit vermöge der 
t und eintretenden Gerechtigkeit Chriſti durch Zurechnung biefer 
fehtigfeit Rettung finden könne. Und nicht blos für's fubjective 
durfniß fällt nad) Calvin auf diefe Momente ein ſolches Gewicht. 
ıh an fi ift ihm (Vol. XXIX, p. 737; Vol. XXX, p. 533; 
b. III, c. 31,8 1) ®) die prima gratia die, daß wir „Christi 
iocentia Deo reconciliati pro judice jam propitium ha- 
amus in coelis patrem‘; „regeneratio secunda est gratia‘“. 
Diefer ganzen Betrachtung aber über die Auffaffung des Heiles 
Calvin und über die höchften Intereſſen, die ihm Hierbei be» 
gen, mäffen wir num das noch beifügen, daß ihm über allem 
teren die Anerkennung der Ehre und abfoluten Majeftät Gottes 
bit fteht und daß ihm in diefer Beziehung auf Seiten des Menſchen 
e zum Glauben gehörige abfolute Selbftvemüthigung das Wich-⸗ 
fe ift. Vor Allem, über Allem und in Allem handelt es ſich 
a darum: ut domino illibata constet sua gloria (vgl. Vol. 
XIX, p. 751; Vol. XXX, p. 559; Lib. ID, c. 13, $ 1). 
fi der weiteren Ausführung der Institutio nach der Ed. 1 tritt 


) Dies gift auch gegen die meuefte Darfiellung bei Philippi, Kirchliche 
Glaubensl, Th. 5, Abt. I, ©. 121f. 

) Bel. die ſchon im unferem erſten Artikel gegebene Ueberſicht über bie Aus- 
gabe von 1539. 


















438 Köplın 


diefer Geſichtspunkt noch immer ftärker hervor: vollends in de 
Lehre von der Präbeftination, auf welche dann von der gegenmär: 
tigen Zutheilung des Heiles aus zurüdgegangen wird. Wir jet 
die Intereſſen nicht fo wie‘ bei Luther darin geeint, dag Gott fi 
felbft erſt recht verherrlicht in der Offenbarung der fein Herz er 
fülfenden Liebe, und dag die Menfchen ihm erft recht ehren im Anı 
nehmen eben diefer Liebe, wofür freilich die tieffte Selbfterniedrig 
Vorausfegung ift. — Wie wir ferner oben von der Sünden 
derbniß aus bei Calvin auch ſchon auf eine Schwäche und Dürfti 
keit des urfprünglichen Menſchen zurüdzufhauen hatten, fo 
nun nad Calvin der Menſch, auch wenn er fih von Sünden 
erhalten hätte, doch zu niebrig gemwefen, um ohne einen Mittler | 
Gott dringen zu fönmen: „humilior tamen erat ejus condi 
quam ut sine mediatore ad Deum penetraret“. Es iſt a 
Sag, den erft vollends die Ed. 3 (Lib. II, c. 12, 8 1) ausſpriti 
während fie ſich doch zugleich ftreng gegen die Meinung ver 

als ob wirklich, auch abgefehen vom Zwed der Erlöfung der Si 
eine Menſchwerdung Chrifti Hätte eintreten follen ($ 4800.). 
greift hier wieder auch jene allgemeine Auſchauung vom Berk 
zwifchen Gott und Menſch ein. 

Zn der Darftellung der Perfon des Mittlers zeigen W 
verfehiedenen Ausgaben, mit einander verglichen, weder ein fortcrk 
tendes Eindringen in das dogmatifche Problem, noch eime vol 
Entfaltung der einmal aufgeftellten Grundlehre. Die Erweiterug 
welde der Abſchnitt befonders in Ed. 3 noch erfahren hat, 
nur ber negativen Abwehr von Srrlehrern, befonders 
Ehenfowenig fühlt Calvin gegenüber von der bereits überli 
auf der chalcedoniſchen Seftftellung ruhenden Naturenlehre ci 
Beruf, Neues zu geftalten. Einestheils zeigen uns fehon die ober 
angeführten Ausfagen Calvin's über Chriftus als den Mile) 
zwiſchen Gott und den Menfchen, wie viel ihm daran gelegen ja 
mußte, die Einheit der beiden Naturen in der Einen Perſon u 
behaupten. Er redet auch gleich in der erften Ausgabe ohne Be 
denfen oder Claufeln von der „communicatio idiomatum “. ort 
möge deren die Schrift das der Gottheit Chrifti Eigene jene 
Menschheit beilege und umgefehrt. Und dazu fett in Betreff de 





über Calvin's Institutio. 489 


Säriftausfagen, welche das an Ehrifti Menfchheit Gefchehene auf 
ie Gottheit übertragen (wie Apg. 20, 28), die Ed. 2 und Ed. 3 
ti: e8 gefchehe dies uneigentlicherweife, doch „non sine ratione‘“ ®). 
(6 beſonders wichtige und deutliche Erffärungen über das Wefen 
hriſti ſtellt ferner Calvin namentlich feit der Ed. 2 diejenigen 
usfprüche hin, in welchen beide Naturen zufammengefaßt feien: 
af Ehrifti Gottheit und Menſchheit zugleich gehe 3. B. das, daß 
: die Macht habe, Sünden zu vergeben, die Todten zu erwecken, 
8 Gericht zu Halten, Gerechtigkeit und -Seligfeit auszufpenden 
ſ. w. Dazu warnt er in ber Ed. 22, während er die ver- 
hiedenen, der wahren Gottheit oder Menſchheit Chrifti gefährlichen 
rlehren abweifen will, ganz fpeciell (Vol. XXIX, p. 522) vor 
m Irrthum des Neftorius. Er fteht infoweit, was die Diffe- 
a zwiſchen einem Luther und Zwingli betrifft, fehr entfchieden 
1 Jenes Seite. Anderentheils aber macht er doch weder früher 
x jpäter einen Verſuch, das Wie? des Geeintjeins beider Naturen 
febendiger Darftellung zu bringen, aus jenen beide Naturen 
Naffenden Ansfprüchen weitere dogmatifche Eonjequenzen zu ziehen, 
er die „ratio“, welche für- jene „communicatio idiomatum “ 
ıtthabe, näher darzulegen. Es genügt ihm, darauf zu dringen, 
$ man den Unterfchied der Schriftftellen, welche von der einen 
er von der andern Natur oder von beiden zufammen reden wollen, 
Hl beachte und in den eigenen, auf die Schrift zu grümdenden 
hrausfagen recht ſorgſam Alles gleichermaßen fernhalte, wodurch 
tmeder die Einheit der Perjon oder die Wahrhaftigfeit jeder der 
den Naturen geleugnet würde. Er fommt fo in feinen eigenen 
gmatifhen Beftimmungen über die allgemeinen Formeln, in 
alchen ſowohl jene Einheit, als diefe Integrität der Naturen bes 
uptet wird, nicht hinaus. Und zwar haben wir für dieſes fein 
halten ohne Zweifel zujammen in Betracht zu ziehen die ihm 
‘4 fonft eigene Vorficht, mit welcher er den göttlichen Dingen 
genüber auf das Schriftwort und die hiermit im Einklang von 
m erfundenen kirchlichen Formeln ſich beſchränkt und welche wir 
ıd bei jeiner Trinitätslehre wahrnahmen, — die ihm eigene, über 
a Vol. XXIX, p. 521; Vol. XXX, p. 354 (Lib. II, c. 14. $ 2). 

Theol. Stud. Jahrg. 1868. 30 








0 Köklin 


diefe Objecte mehr verftändig reflectivende, als lebendig intuitive 
oder fpeculative Geiftesrihtung, — endlich, wieder jene Grund 
anfgauung vom Berhältuig des Göttlichen zum Menſchlichen un 
Creaturlichen überhaupt. Fu der Ed. 2b tritt dann meben jene 
fpecielle Warnung vor Neftorianiemus eine ebenfolde vor Euty: 
dianismus. Zunächft hatte Calvin hinſichtlich einer Vermengug 
der Naturen hauptjächlic die Servet'ſche und anabaptiftifche Kehren 
im Auge. Seit Ed. 2 tommt dazu in der Abendmahlslehre cin 
offener Kampf für die wahre Menſchheit Ehrifti gegen die luthe⸗ 
rijche Ubiquität des Leibes, durch welche jene aufgehoben werk. 
Es Handelt ſich Hier übrigens wirklich für Calvin um ein et 1 
ligiöſes Interefje, nämlich vor Allem darum, daß nicht mit dem 
wahrpaften Fleiſche des erhöhten Chriſtus für ung Menſchen die 
daran ſich fnüpfende Hoffnung auf die Auferftehung unſeres eigenm 
Fleiſches verloren gehe *), keineswegs blos um die Wahrung de 
Unterfdjiedes zwiſchen Gottheit und Menſchheit oder um die ir 
habenheit jener über diefe. Zugleich werden wir Calvin bei jene 
Abendmahlslehre befonders jeit Ed. 2 in eigenthünlicher 2 
darnach ringen jehen, eben au für die Menfhheit uud Mi 
Fleiſch Chrifti eine umfafjende und bleibende heilsmittleriſche dr 
deutung zu gewinnen: die Menſchheit Ehrifti joll nicht bios Be 
deutung haben für das Verfößnungswerf, das Chriftus als Mernſch 
gehorfam, leidend und jterbend ein- für allemal vollbracht ku, 
fondern durch Chriſti Fleiſch fol auch fort und fort die Zutheilung 
des Lebens vom erhöhten Ehrijtus aus an die Menſchheit ſich ver 
mitteln. Dies ift das eigenthümlichjte pofitioe Moment in der 
chriſtologiſchen Lehrentwicklung Calvin's, obgleich er e& in dem vor 
Eprifti Perjon überhaupt handeluden Abſchuitt nicht mit verarbeitt 
hat. Er Hat es übrigens in der Ed. 3 nicht blos bei der Abend- 
mahlslehre, fondern auch bei der Xehre von der Rechtfertigung 
gegenüber von Ofiander beigezogen: Chriftus rechtfertige und made 
febendig als Gott und Menſch, — auch als Menſch, fofern nämlic 
Gott das, was in Gott verborgen und unbegreiflich ſei, in im 
uns offenbare, ihn für uns zur Quelle mache und jo durch iin 
a) Vol. XXIX, p. 1005; cf. Vol. XXX, p. 1029 (Lib. IV, c. 17, 52. 
v 





über Calvin's Institutio. 441 


aus dem verborgenen göttlichen Urquell uns ſchöpfen Yaffe; im 
Fleiſche ChHrifti ruhe für uns, wie die Sacramente lehren, die 
materia justitiae et salutis (Lib. III, c. 11, 8 9). © 
Calvin's Antwort auf die Frage, wodurch Chriftus Er- 
löjung für uns gebradt babe, ijt ihren Hauptmomenten 
nad ſchon in dem enthalten, was eben (©. 436) aus den von 
ihm jelbft vorangeſchickten überfichtlihen Sägen ®) ift mitgetheift 
worden. Für's Erfte alfo fpricht dort Calvin ganz umfafjend aus: 
der menfchgeiwordene Gottesfohn made uns aus Menfchenföhnen 
zu Gottes Söhnen, indem er das Unfrige an ſich nehme, das Sei⸗ 
nige auf uns übertrage; darum Haben wir die Zuverficht, Gottes 
Söhne zu fein (Ed. 1: „haec spes nostra est etc.“; Ed. 2 
md 3 genauer: „hac arrha freti — confidimus), weil der 
Gottesfohn fich Fleiſch von unferem Fleiſch u. j. w. beigelegt habe 
(Ed. 1 u. 2: „composuit“; Ed. 3: „aptavit“). Daß unfer 
Erlöfer wahrer Gott und Menſch fei, habe ferner diefe Bedeutung 
für uns (Ed. 1 u. 2: „sic nostra referebat, verum esse 
Deum ete.“; Ed. 3: „apprime utile fuit hac etiam de 
ausa ete.“; vgl. auch die franzöfifche Ueberfegung): er habe den 
Tod verfchlingen jolfen (absorbere, engloutir), — und wer anders 
habe dies vermocht als das Reben? er habe die Sünde befiegen follen, 
— und wer anders habe dies vermocht, als die Gerechtigkeit ſelbſt? 
®er aber fei das Leben und die Gerechtigkeit als Gott allein (dafür 
Ed.2 u. 3: „penes quem vita est aut justitia aut potestas 
nisi penes etc.“)? Für's Zweite erflärt dann Calvin dort: zur 
Eriofung (Ed. 3: Verſöhnung) gehöre, daß der Menſch, der fi 
durh Ungehorjam in's Verderben geftürzt, jtatt defjen jegt Gehor- 
faın leiſte, der göttlichen Gerechtigkeit (Ed. 3: dem göttlichen Gericht) 
genugthue, die Sündenftrafen abtrage; fo jei nun Chriſtus an 
Adam's Stelle getreten: „ut patri se obedientem pro eo ex- 
hiberet (Ed. 3: ‚ut ejus vices subiret patri obediendo‘), 
ut carnem nostram in satisfactionem (Ed. 3: ‚in satisfa- 
ctionis pretium‘) justitiae Dei statueret (Ed. 3: ‚justo Dei 
judicio sisteret‘), ut in carne nostra peccati poenam (Ed. 3: 


a) Vol. XXIX, p. 65. 517sg.; Vol.XXX, p. 341 (Lib. IL, c. 12, $ 2), 
s0* 


442 Körlin 


‚poenam, quam meriti eramus‘) persolveret.“ — Das Erit 
haben die fpäteren Ausgaben nur wiederholt, mit den angegebenen 
Modificationen einzelner Säge, ohne es weiter zu entwideln. Dar 
Zweite wird ſchon im Ed. 1 bei der Ausfage des apoſtoliſchen 
Symbolums über Chriſti Leiden weiter befprochen und dann in den 
folgenden Ausgaben noch immer eingehender erörtert. Zugleich 
fehen wir, wie jene Säge, in denen es zunächſt zufammengefaßt iſt, 
in Ed. 3 noch auf fchärferen Ausdrud gebracht find: noch ſchärfer 
ift darin ausgebrüdt die Beziehung auf Gottes Gericht mit Chriſti 
Stellvertretung vor demfelben für uns Menfchen. — Das Erfte 
erinnert, wie id) ſchon oben bemerkte, fehr an zuſammenfaſſende, 
myſtiſch geartete Darftellungen Luther's — nicht etwa blos aus 
feiner frühereh Zeit, wie in der „Freiheit eines Chriſtmenſchen“, 
fondern aud 3. B. im großen Commentar zum Galaterbriefe 
Aud im zweiten Stüd aber, in diefer. Zufammenftellung des Gr 
horſams und des Strafleidens Chrifti, trifft Calvin zumeit 
eben mit Quther zujammen. Schnedenburger *) Hat gegen Guerik 
mit Recht bemerft, daß derfelbe in Hinficht auf die Anerfennug 
des activen Gehorjams Chriſti den Reformirten fälfchlich ein mins 
anrechne, als ob bei ihnen dieſes Dogma erſt jpäter als bei dm 
Zutheranern in ihren Belenntniffen einigermaßen. angedeutet werk, 
daß fie es vielmehr längft vor der Eoncordienformel in Bekenm- 
niffen vortragen und daB es ſchon Calvin anerfenne. Wir dürfen 
noch mehr jagen. Ich müßte außer den Schriften Luther's und 
außer der Brandenburg- Nürnberger Kirchenordnung vom Jahre 
1533 ®) feine Darftellung von Seiten Intherifcher Theologen zu 
nennen, wo zu jener Zeit die beiden Momente ſchon mit jolder 
Beitimmtheit nebeneinander vorgeführt würden, wie in Calviu'd 
Institutio ſchon feit ihrer erften Ausgabe. Dagegen vermijjen wir 
die Hervorhebung diejer Bedeutung des activen Gehorfams bi 
Melanchthon, ſowohl in feinen Locis als in den von ihm verfapten 
daupitclenutniſſen der lutheriſchen —— und als Urſacht 


Fa kirchlichen Chriftologie, Lehre vom doppelten Stande Ehrifti u. |. m. 
. 65. 


b) Fasten, Evangel. Kirchenordnungen I, 186f. 





über Calvin's Institutio, 443 


dafür müffen wir bei Calvin einen auf's Ganze der Perjon und 
v8 Werfes Chrifti gerichteten umfaffenden und ſyſtematiſchen Blick 
nerfennen, in welchem iym Melanchthon nicht gleichtam. — Für 
je weitere Ausführung der beiden Seiten, des Gehorfams und des 
!idens Ehrifti, find dann befonders noch die Erweiterungen bes 
Tertes in Ed. 3 wichtig. Hinſichtlich der Verſöhnung durch Chriſti 
Schorfam führt er Hier (Lib. II, c. 16, $ 5) weiter aus, wie 
au der „ganze Kauf feines Gehorſams“ gehört habe; er bezieht 
ierauf Röm. 5, 9. Gal. 4, 4, das Wort Jeſu Matth. 3, 15, 
en Ausſpruch PHil. 2, 7. Zum Leiden Chrifti hat er von Anfang 
m ganz befonders die Seclenleiden gerechnet, in welchen derjelbe 
ie ſchwerſten Kundgebungen des zürmenden Gottes erfahren und 
© Drange der Angft das Wort Matth. 27, 46 gerufen habe, 
Aleich freilich Gott wider den geliebten Sohn felbft nie zornig 
mein fei. Deshalb Hält er aud) feft am Artikel von der „Höllen- 
ihrt· Chrifti, indem nämlich derjelbe eben auf dieje inneren Leiden 
 Duldenden und Sterbenden zu deuten fei. Auch das fegt er 
od weiter in Ed. 3 (a. a. O., $ 11f.) auseinander: der Sohn 
hottes fei umfangen gewefen von Schmerzen, bie Gottes Fluch 
nd Zorn erzeuge, aus welchem der Tod hervorgehe; in Angft 
wor babe Jeſus nach Hebr. 5, 7 zu Gott geſchrieen; in Geth— 
mane habe fein Hinabfahren zur Hölle begonnen; hiernach könne 
an die ſchrecklichen Qualen ermeffen, die. er habe erleiden müffen, 
quum se ad tribunal Dei reum stare cognosceret nostra 
usa“; dabei Hatte ſich Calvin jegt (in Ed. 3) zu verwahren 
r dem Vorwurf böswilliger Gegner, daß er Chriſtum Herabfege, 
dem er ihm Furcht um das Heil der eigenen Seele beilege. Diefe 
usjagen der Institutio über die beiden Seiten, über den Gehor- 
m als folhem und über das Leiden, gehen nun bald mebenein- 
ider ber, bald faufen fie ineinander über. Hin und wieder erſcheint 
6 Leiden felbft wejentlich unter dem Gefichtspunft eines ethifchen 
ite6: z. B. an der vorhin angeführten Stelle Ed. 3, Lib. II, 
16, 8 5; es legt fih uns die Auffafjung nahe, daß es zur 
erjöhnung diene weſentlich eben als höchfte fittliche Leiftung des 
orfams, der Gottergebenheit, der Liebe gegen Gott und die 
denſchen u. |. w. Dann aber wirb es auch wieder für fi in 


Ad Köplin 


Betracht gezogen: der Nahdrud wird auf dasjenige gelegt, war 
auf Chriſtus gelaftet, was vor Gottes Gericht an umferer Statt 
ihn getroffen Habe; wie tief Ealvin das Strafleiden überhaupt 
nahm, zeigen genugfam fon die angeführten Säge aus allen dem 
Ausgaben ; gern verweift er befonders auch auf den pauliniſchen 
Ausſpruch, dag Ehrijtus für und „zur Sünde“ gemacht worden 
ſei. Wenn Schnedenburger a. a. O. weiter bemerkt, daß das 
Dogma vom activen Gehorfam bei den Reformirten von jeher an 
erfannt, jedoch allerdings „in charalteriſtiſch unterfcheidender Geftalt* 
anerfannt gewefen jei, und wenn er num die Richtung Hier dahin 
gehen fieht, den leidenden Gehorſam jelbft in den thuenden zu ver- 
wandeln, fo läßt fi doch bei Ealvin ein weiterer Schritt zu eine 
folhen „Verwandlung“ Hin durchaus nicht nachweiſen. Die ver 
ſchiedenen Seiten feiner Auffafjung Haben alle namentlich aud bi 
Luther ſelbſt ihre Parallelen *), obgleich allerdings die hier in Be 





tracht gezogene Seite bei ihm noch mehr als bei Luther ſich geltab | 


madt: wir Können au Hier nur von einem fehr relativen Unte 
fchiede reden. — Zu ber. Genugtuung, welche Ehriftus mit ſeim 
Gehorfam und Leiden für uns geleiftet hat, kommt endlich ds 
Thätigfeit des erhöhten Erlöfers. Hier mm gewinnt diejenige Ti- 
tigfeit, mit welcher er fein Leben den glänbigen Subjecten inner 
lid mitteilt, entfchieden die Hauptbedeutung bei Calvin. Un 
zwar tritt diefelbe mit der gefchichtlichen Entwicklung der Institutio 
noch beftinmter hervor. Mit unbeftimmteren Ausdrücken Hatte dir 
Ed. 1 von dem erhöhten Chriſtus ausgeſprochen, daß er uns mit 
geiftigen Gaben ausjtatte, heilige, vegiere, beim Water beftändig für 
und eintrete, bei uns mit feiner unfihtbaren Hülfe und Madt 
gegenwärtig fei u. f. w. (Vol. XXIX, p. 70sq.). Seit Ed.?» 
folgt auf Erklärungen über Chriſti Interceſſion vor Gottes Ange 
fit, die jegt gleichfalls ſchärfer gefaßt find, mit harakteriftifgen 
Ausdrud die Erflärung über jene mittheilende Thätigkeit: „in er 
celsis sedet, ut transfusa inde ad nos sua virtute in vitan 
spiritualem nos vivificet etc.“ (Vol. XXIX, p. 534; Vol. XM. 
p. 383; Lib. II, c. 16, $ 16). Dazu haben wir dann weiter 


a) Belege in meiner „Theologie Luther's“ LI, 419. 





über Colin’ Listitutio. 48 


ud das zu ziehe, was wir in Betreff der Bedeutung des Fleiſches 
Irifti für Calvin oben erwähnt haben. Wir jehen übrigens zu- 
feich, wie entſchieden doch Calvin als Vorausjegung für diefe 
Rittheilung das objective Verſöhnungswerk fefthäft, zu welchem 
sit dem vorangegangenen Gehorfam und Leiden Ehrifti auch noch 
ieje fortgeſetzte Interceſſion gehört. 

Als befondere dogmatifche Leiſtung Calvin's pflegt man zu ber 
achten, daß er die Gefammtheit des Werkes Chrifti unter dem 
defihtspunfte der drei Aemter entfaltet und zufammtengefaßt 
abe. Zugleich findet in diefer Beziehung ein großer Fortſchritt in 
ner eigenen Arbeit ftatt, der eben auch zeigt, wieviel ihm wirk⸗ 
4 an der Durchführung diefer Betrahtungsweife gelegen war 
dabei beimerft übrigens er jelbft Ed. 3, Lib. II, c. 15, $ 1, daß 
un die Namen auch im Papfttyum Habe, daf die rechte Erkennt» 
5 des finis et usus die Hauptfache fei). In der Ed. 2 (Vol. 
XIX, p. 513sqgq.) knüpft er diefe Betrachtung nur an den 
damen „Chriftus“ an, und zwar noch ehe er auf Chrifti Menſch⸗ 
verdung felbft und auf die Bedeutung derſelben in den oben mits 
etheilten zuſammenfaſſenden Sägen eingegangen ift. Und babei 
»det die kurze Einzelausführung der Aemter in Ed. 2a nur vom 
!önigthum und Hoheprieftertfum, nachdem nur bei der „Salbung* 
berhaupt auch die Anfündigung des Gefalbten als eines Pro- 
heten erwähnt worden war; erft die Ed. 2e fügt darnach noch 
nen fpeciellen Sag über dus Prophetenamt bei. Dagegen wird 
ı Ed. 3 die Lehre von den drei Aemtern zu einem bejonderen 
iapitel erweitert (Lib. II, c. 15). Und diefes erhält feine Stelle 
wiſchen der Lehre von Chrifti Menſchwerdung und beiden Naturen, 
n welche bereits auch die erwähnten zufammenfafjenden Sätze über 
ie Annahme des Unfrigen durch ihn u. f. w., fowie über die Be— 
eutung feines Gehorfams und Leidens ſich wieder angeſchloſſen 
aben, und zwifchen denjenigen Abjchnitten, welche mit Anfchluß an 
em Artikel des Symbolums von Ehrifti Tod, Auferftehung und 
Irhöhung fein Verſöhnungswerk weiter entwideln. Allein Calvin 
ft nun doch nicht wirklich dazu gefommen, die Lehre von den drei 
Iemtern ſyſtematiſch im Zufammenhange feiner Chriftologie zu 
verarbeiten oder die ganze Lehre won Chrifti Thätigkeiten in jie 


432 Körlin 


hießen ließe, bei ihnen fo arg wie bei Anderen. twieber loebrehen 
würde; und als Motive, durch welche Jene fo weit fich im Zuu 
halten Laffen, nennt er Furcht vor den Gejegen, Rüdfiht aim 
von einem ehrbaren Wandel erwarteten Vortheil, die Abſicht, Int 
dere durch die eigene Erhabenheit fich untermürfig zu machen; he 
fieht, fir wahre TugendHaftigfeit läßt auch er jene „Tugenden 
teineswegs gelten. Sätze, melde die Ed. 3 dem bither cr 
beifügt, erffären vollends über die beften Helden des Helbenti 
turzweg: „ut praestantissimus quisque fuit, eum semper 
pulit sua ambitio, qua labe foedantur omnes virtutes, 
coram Deo gratiam omnem amittant‘; es fehlt ihnen q 
das Streben, Gott zu verherrlichen; ihre Tugenden Haben Lob 
„in foro politico et in communi hominum fama“ (Lib. 
c. 3,8 4)*). Und jenen Sag „Exempla ista nos monente! 
hat die Ed. 3 recht bebeutfamer Weife verändert in: „Exem 
ista monere nos videntur“ (l. c., $ 3). Wie gm 
ders hat ein Zwingli die Tugenden, mit welchen Gott 
Heiden ausftatte, gewürdigt Haben wollen. Wir Haben bi 
doch wefentlich nur denjenigen Standpunkt, auf welchem Mi 
thon, mit Luther einverftanden, in der erften Ausgabe feiner 
die Tugenden eines Sofrates, Zeno u. ſ. w. felbft auch aus 
Selbftliebe abgeleitet und darum für Lafter erklärt hat. — 

die Prädeſtinationslehre bringt für diefe Auffaſſung der mei 
lichen Verderbniß und Erlöfungsbedürftigkeit feine Weodification 
fi. Gott ift in feinem Willen und Rathſchluß, jener zu ſteu 
unbedingt frei. Aber er felbft Hat fich mit feiner mirfficen, : 
fenden und Heifigenden (nicht blos zügelnden) Thätigkeit aui 
Erlöfung dur den menſchgewordenen und zuvor im altteftum 
lichen Worte geoffenbarten Chriſtus unbedingt befchräntt. u 
nehmlich eben hierin wich Ziwingli fo fehr ab. Und von m 
anderen Seite her hatte auch Melanchthon feither in feiner — 
















Ausgabe den Gedanken angeregt, ob nicht vielleicht Gott teffl 
Heiden auch ſchon eine gewiffe Erfenntniß der freien Barmperji 


a) Ferner vgl. ſchon in Ed. 2: Vol. XXIX, p. 756; im Ed. 8: Ih. 
14,88. 





über Calvin's Institutio. 433 


er Sündenvergebung und des wahren Gottesdienftes durch befon- 
ere Wohfthat gewährt Habe (Corp. Ref., Vol. XXI, p. 385). 
infoin nähert fich ſolchen Gedanken fo wenig als Luther. Man 
Innte ferner mit der Prädeftinationslehre die Vorftellung verbinden, 
5 den in Ehrifto Erwählten, wie fie fon vor ihrer Geburt 
wählt felen, fo auch fchon von ihrer Geburt an ein guter Keim 
1 Unterfehteb von den nichtermählten Sundern mitgegeben werde, 
t unter dem Siünbenftand fatent bleibe, um dann auf den Ruf 
® Evangeliums hin ſich zu entfalten. Calvin hat, fobald er in 
d. 2 feine Prädeftinationslehre ansführte, auch diefe Borftellung 
wähnt, aber nur um fte ganz abzumweifen; aud Jene, fagt er, 
en, fo viel an ihnen fei, bis zu ihrer Berufung und Belehrung 
kirrende Schafe, ſich wälzend im Gräuel der Sünde: „quale 
ke, amabo, electionis semen in üs germinabat ete.?“ 
dl. XXIX, p. 883. 885; in Ed. 8: Lib. IH, c.24, 8 11.) 
Sollen wir weiter nad Eigenthümfichem in Calvin’ Auffaffung 
: Sünde und des Sündenftandes forfchen, fo birfen wir wohl 
& anmerken, daß er im der menfchlichen Sünde befonders gern 
Hochmuth betont. Diefer bleibt ihm, wie wir fehen, nament- 
auch die Grundfünde jener befferen Heiden. Melanchthon pflegt 
fündgafte Selbftfucht, welche das Grundweſen der Erbſünde 
/mache, mehr nur als Liebe zum eigenen Selbft, als philantia, 
bezeichnen, — als Selbftliebe im Gegenfage zur Hingabe an 
ft in Vertrauen und Gottesliebe. Der Nachdruck, welchen Calvin 
die Sefbftüberhebung, superbia, ambitio, legt, entjpricht dem 
hdrud, mit welchem er die rechte Gefinnung zu Gott vor Allem 
die volffommene Selbftbeugung unter Gottes Majeftät fett. — 
hrend ferner Calvin dem Menfchen, um ihn zur Anerkennung 
reinen Gnade Gotte® zu treiben, fo fräftig- das Sündenelend 
die Sundenſchuld vorhält, überfehen wir nicht, wie er zugleich 
ch ſchon abgefehen von ber Sünde die Schwähe und 
rftigleit des Menſchen und feine ſchlechthinige Abhängigfeit von 
tes Macht und Gnade anerfannt Haben will. Die Betonung 
er Seite ift Luther'n befonders in feiner früheren Perigde eigen, 
er mit Anschluß an die Myftit bie völlige Nichtigkeit der Creatur 
müber vom Schöpfer hervorhebt. Bei Calvin macht fte in der 











434 görlin 


weiteren Ausführung der Institutio noch mehr ale früher fi 
geltend. Schon in Betreff des Urzuftandes leitet er aus Adam‘ 
Geſchaffenſein nach Gottes Ebenbild nicht etwa ab, daß derſel 
demnach aud mit einer gewifjen Selbftändigfeit von fich aus hätt 
Gutes leiſten können, fondern vielmehr, daß demnad fein fin 
nicht fein eigen gewefen, daß er nur Dei participatione felig gr 
weſen fei; die Ed. 3 fügt bei, daß ohnedies ſchon fein Entnomme 
fein aus Erde und Koth alten Hochmuth bei ihm Habe zügelt 
müffen (Vol. XXIX, p. 313; Vol. XXX, p. 134. 186; Lib. 
ec. 15, $ 1; Lib. Il, c. 2, $ 1). Vollends kommt dieſe Sei 
zu einer Alles umfafjenden Geltung in Calvin's Ausführung il 
die Prädeftination und allwaltende göttliche Providenz. — Ni 
minder weift Calvin die Rechtsanſprüche, die Anfprüche auf 
dienft und Lohn, die ein Menfch vor Gott erheben möchte, n 
drüdlich und unbedingt auch ſchon wegen des allgemeinen Verf 
niffes des Menfchen zu Gott, noch abgefehen von der Sümdhafth 
keit defjelben, zurüd. Er ftügt ſich dafür allgemein auf den ©: 
von den unnügen Knechten Su. 17, 10 (Vol. XXIX, p. 7 
Vol. XXX, p. 580; Lib, III, c. 15, $ 3). Nebenbei ve 
er fich auch gegen die, wie er fagt, von gelehrten und fr 
Männern vorgebrachte Meinung, als ob wenigſtens Gaben fi 
irdiſche Leben verdient werden Eönnten durch gute Werke (Ti 
XXIX, p. 772; Vol. XXX, p. 582, 8 4). Selbſt Luther 

mit weniger Strenge und Aengftlichkeit, und zwar auch im Lat 

mit Katholiken, fogar auf irdifche Gaben, welche Gott den ol 
erwähnten Heiden um ihrer Tugenden und Leiftungen willen zu 
tommen lafje, den Begriff der remuneratio oder retributio « 
zuwenden ſich nicht geſcheut *). Vollends erſcheint wieder bei 

Präbeftinationslehre Calvin's ein jedes Recht des Menſchen ve 
Gott ausgeſchloſſen. — Auch die Art, wie Calvin bei der Fott— 
pflanzung des Verderbens von Adam her über die Urſache kr’ 
ſelben ſich äußert, iſt fr die ſpecifiſch Caloiniſche Auffaſſung = 












a) Bgl. meine „Theologie Luther's“ a. a. D.; Luth. opera Ed. Jen. 15° 
Tom. I, p. 425 (im der Confut. ration. Latom.). Op. exg. E 
Erlang., Vol. D, p. 166. 





über Calvin's Institutio. 435 


gemeinen Verhältniffes zwifchen Gott und Menſch bezeichnend. 
Fr erffärt ſich hierüber fchon in Ed. 28, und zwar dahin: man 
tauche nicht über Traducianismus zu disputiren; es genüge für 
ne, daß, wie Gott die der menfchlichen Natur beftimmten Gaben 
a Adam niedergelegt, jo Adam diefelben für uns Alle verloren 
abe. Seit der Ed. 2° leſen wir weiter: nicht in der Subftanz 
18 Fleifches und der Seele habe die Anfteelung mit Erbfünde 
nen Grund, fondern einfach eben in der Verordnung Gottes, daß 
m erfte Menſch fo jene Gaben auch für feine Nachkommen ver- 
even ſollte. Entfcheidend erfcheint fo dafür am Ende einfach ber 
Rtliche Wille, dem wir nicht weiter nachzufragen berechtigt find. 
hi der Ed. 3 jtellt dann Calvin diefe Verordnung Gottes mit 
i horribile decretum der Prädeftination auf Eine Linie: bie 
Mere können doch auch Die nicht Teugnen, welche am Iegteren ſich 
Wen; klar fei ja, daß jener Verluſt des Heiles für Viele durch 
$ Einen Schuld nicht natürlicherweife (naturaliter) erfolgt, fon- 
m aus einem wunderbaren Rathſchluſſe Gottes Hervorgegangen 
; 8 fei gar zu abfurd, daß jene Patrone der göttlichen Geredh- 
fit, welche doch den Rathſchluß der Prädeftination beftreiten, 
er Balken ſich wegfegen und dod über einen Halm nicht wege 
amen können ). 

Erlöfung aus den Banden der Sünde und Rettung vor den 
igen Strafen ift dann alfo auch nad) Calvin ſchlechthin nur bei 
a menfchgewordenen Gottesfohne. 

Zwiſchen der Calviniſchen und der Lutherifchen Auffafjung der 
fung iſt der Unterfchied gemacht worden, daß diefe dort mehr 
3 Befreiung von der den Willen bindenden Macht der Sünde 
er als Mittheilung neuen fittlihen Lebens an's Subject, 
v mehr als Tilgung der Schuld und als Herftellung eines neuen 
ketiven Verhäftnifjes für den Menjchen zu dem die Schuld rich- 
den und nunmehr vergebenden Gott aufgefaßt werde. Hält man 
) aber an das, was Calvin in den Ausgaben feiner Institutio 
d auch fonft überall wirklich fagt, fo wird man in diefer Ber 





u Vol. XL, p. 310; Vol. XXX, p. 182; Lib. II, c.1, 8 7. p. 704; 
Lib. III, c. 28, 8.7. 


486 Körlin 



















ziehung höchſteus einen Unterfchied fee relativer und ſchwel 
Art herausfinden. Und zwar bleibt ſich feine Lehrweiſe hier dı 
alte Ausgaben gleich. Für Calvin's Eigenthümlichkeit fommt 
allerdings gleich diejenige Weberficht über die Bedeutung des 
und Wirkens Chrifti, des Heilsmittlers, in Betracht, welde er 
ausführliheren Entwicklung vorangehen läßt (Vol. XXL, p. 6450 
517 q.; Vol. XXX, p. 341sqg.; Lib. H, c. 12, 8 1-3). Gh 
fagt er, ift, während unfere Sünden wie eine Wolfe zwifcgen i 
und uns ftanden, ſelbſt zu uns herabgeſtiegen; Gottes Gofn i 
Menſch geworden, um uns zu Gottes Söhnen wud aus Rind 
der Hölle zu Kindern des Himmelreichs zu machen, indem er 
Unfrige annimmt, das ihm von Natur Eigene ans Ghaden 
uns überträgt, den Tod verſchlingt, die Sünde beſiegt u. |. 
Erſt als zweites Hauptftüd unferer Erföfung (alterum red 
tienis nostrae caput; Ed. 8 jegt ftatt redemt.: reconeiliationi 
neant dann Calvin das, daß Ehriftus genugthuenden (eheri 
geleiftet und die Strafen für die Sünden abgetragen habe. €: 
hat jo mit dem, was er hier voranftelit, gleich von vornherein 
die von Chriftus> ausgehende Lebensmittheilung im Auge g 
Allein die Aufeinanderfolge der beiden „eapita“ Hat dog 
etwa den Sinn, als ob das zuerft über Chriftus Ausgeſagie 
auf die Lebensmittkeilung im Unterfdied von der Verfühnung 
Sündenvergebung ſich beziehen und als ob jene die Prierität 
diefer erhalten follte. Es war vielmehr, Ealsin darum zu ti 
zuerft, che er auf das befondere genugihuende Wirken und Lei 
des Mittlers einging, die umfafjende heilsmittleriſche 
feiner ganzen gotimenfchlicgen Perſon hervorzuheben; und bei di 
foßt er zunächſt Altes, die Verföhnung und Vergebung fanmıt 
Ledensmittheilung, in Eins zufammen: jene gehört wejentlich wi 
zum Beflegen der Sünde; und fo weiſt ja nachher auch der be 
ftimmtere Ausdrud der Ed. 3 „alterum recunciliationis caput” 
darauf zurüd, daß es auch bereits bei dem erften um eine durh 
reconeiliatio ſich vollziehende redemtio ſich haudelte. — Ca 
der Ed. 22 wurden fodann, wie wir ſchon früher erwähnten, di 
Abjchnitte über Buße, Wiedergeburt und neues Leben wor dem be 
fonderen Abfchnitt über die Rechtfertigung entwickelt; es wird as 





über” Calvin’e Institutio. 437 

” —J 
ies nicht ohne Bedeutung für die ſpecifiſch Calviniſchen Anſchauun⸗ 
m fein; zugleich werden wir dort auch auf eine unterſcheidende 
igenthumlichteit Calvin's in Betreff der im Lutherifchen Lehrthpus 
xangeftellten terrores incussi conscientiae zu reben kommen. 
Kein wir Haben aud ſchon bemerkt und werden noch weiter zu 
merken Haben, daß man aus der Ordnung jener Abfchnitte nicht 
: viel folgern darf ®). Im Abfchnitte von der Rechtfertigung zeigt 
$ jodann Mar, daß gerade auch Calvin, ganz befonders von der 
attiichen Frage daruach bewegt war, wie wir zu dem neuen, der 
cuildhaft entgegengefegten Verhältniß zu Gott gelangen, wie wir 
w dem göttlichen Gericht oder Forum beftehen, wie die von der 
qquld geängftigten Gewiſſen geftilit werden können. Kaum ir- 
ao fonft redet Calvin mit fo ernſtem Pathos, wie hier davon, 
iĩ man zu Gottes Richterftuhl die Augen erheben müffe, daß das 
wiſſen erregt werde und der Satan anflage, dag man da ganz 
müthig und arm alfein bei Gottes Barmherzigkeit vermöge der 
t uns eintretenden Gerechtigkeit Chriſti durch Zurechnung diefer 
tehtigfeit Rettung finden könne. Und nicht blos für's fubjective 
Mirfniß fällt nach Calvin auf diefe Momente ein ſolches Gewicht. 
ich an ſich ift ihm (Vol. XXIX, p. 737; Vol. XXX, p. 533; 
b. III, e. 311,81) ®) die prima gratia die, daß wir „Christi 
iocentia Deo reconciliati pro judice jam propitium ha- 
amus in coelis patrem‘“; „regeneratio secunda est gratia‘“. 
Diefer ganzen Betrachtung aber über die Auffaffung des Heiles 
Calvin und über die höchſten Intereſſen, die ihn Hierbei ber 
gen, müffen wir num das noch beifügen, daß ihm über allem 
deren die Anerkennung der Ehre und abfoluten Majeftät Gottes 
dit fteht und daß ihm in biefer Beziehung auf Seiten des Menfchen 
© zum Glauben gehörige abfolute Selbftdemüthigung das Wich- 
fte ift. Vor Allem, über Allem und in Allem Handelt es fich 
a darum: ut domino illibata constet sua gloria (vgl. Vol. 
IX, p. 751; Vol. XXX, p. 569; Lib. III, c. 18, $ 1). 
A der weiteren Ausführung der Institutio nach der Ed. 1 tritt 
) Dies gift auch gegen die neueſte Darftellung bei Philippi, Kirchliche 
Glaubensl, TH. 5, Abth. 1, ©. 121f. 
) Bgt. die fehon im unferem erſten Artikel gegebene Ueberfücht über bie Aus- 
gabe von 1589. 





438 Köflin 
























diefer Geſichtspunkt noch immer ftärker hervor: vollends in 
Lehre von der Prädeftination, auf weiche dann von der gegenmir, 
tigen Zutheilung des Heiles aus zurückgegangen wird. Wir je 
die Intereſſen nicht fo wie‘ bei Luther darin geeint, daß Gott fi 
felbft erſt recht verherrlicht in der Offenbarung der fein Herz er 
fülfenden Liebe, und dag die Menfchen ihn erft recht ehren im 
nehmen eben diefer Liebe, wofür freilich die tieffte Selbfterniedrigu 
BVorausfegung ift. — Wie wir ferner oben von der Sünden 
derbniß aus bei Calvin auch ſchon auf eine Schwäche und Dürftk 
feit des urfprünglichen Menſchen zurüdzufchauen Hatten, fo 
nun nad Calvin der Menſch, aud) wenn er ſich von Sünden 
erhalten Hätte, doc) zu niedrig gewefen, um ohne einen Mittler 
Gott dringen zu können: „humilior tamen erat ejus condi 
quam ut sine mediatore ad Deum penetraret“. Es it 
Sag, den erft vollends die Ed. 3 (Lib. II, c. 12, $ 1) ausjpri 
während fie ſich doch zugleich ftreng gegen die Meinung ve 
als ob wirklich, auch abgefehen vom Zwed der Erlöfung der Ei 
eine Menſchwerdung Eprifti Hätte eintreten follen ($ 4sqg.). 
greift hier wieder auch jene allgemeine Anjchauung vom Berl 
zwifchen Gott und Menſch ein. 

In der Darftellung der Perſon des Mittlers zeigen 
verfchiedenen Ausgaben, mit einander verglichen, weder ein fort 
tendes Eindringen in das dogmatifche Problem, noch eine vol 
Entfaltung der einmal aufgeſtellten Grundlehre. Die 
welche der Abſchnitt beſonders in Ed. 3 noch erfahren hat, 
nur der negativen Abwehr von Irrlehrern, befonders 
Ebenfowenig fühlt Calvin gegenüber von der bereit überli 
auf der chalcedoniſchen Feſtſtellung ruhenden Naturenlehre &i 
Beruf, Neues zu geſtalten. Einestheils zeigen uns ſchon die obal 
angeführten Ausfagen Calvin’ über Chriftus als den Meilen 
zwiſchen Gott und den Menſchen, wie viel ihm daran gelegen ſcu 
mußte, die Einheit der beiden Naturen in der Einen Perjon # 
behaupten. Er redet auch gleich in der erften Ausgabe ohne & 
denken oder Claufeln von der „communicatio idiomatum*. MM 
möge deren die Schrift das der Gottheit Chriſti Cigene jet 
Menschheit beilege und umgekehrt. Und dazu fegt im Betreff da 





über Ealvin’s Institutio. 489 


Shriftausfagen, welche das an Ehrifti Menfchheit Gefchehene auf 
ie Gottheit übertragen (mie Apg. 20, 28), die Ed. 2 und Ed. 3 
ei: es gefchehe dies umeigentlicherweife, doch „mon sine ratione‘ ®). 
118 befonder8 wichtige und deutliche Erffärungen über das Wefen 
ihriſti jtellt ferner Calvin namentlich feit der Ed. 2 diejenigen 
lusſprüche hin, in welchen. beide Naturen- zufammengefaßt feien: 
uf Chriſti GottHeit und Menfchheit zugleich gehe 3. B. das, daß 
: die Macht habe, Sünden zu vergeben, die Todten zu erwecken; 
1 Gericht zu halten, Geredtigfeit und -Seligfeit auszufpenden 
‚fm. Dazu warnt er in der Ed. 22, während er die ver⸗ 
fiedenen, der wahren Gottheit oder Menfchheit Chriſti gefährlichen 
Imlehren abweifen will, ganz fpeciell (Vol. XXIX, p. 522) vor 
m Irrthum des Neftorius. Er fteht infoweit, was die Diffe- 
m zwifchen einem Luther und Zmingli betrifft, fehr entjchieden 
ıf Jenes Seite. Anderentheils aber macht er dod weder früher 
’ jpäter einen Verfuch, das Wie? des Geeintſeins beider Naturen 
! febendiger Darftellung zu bringen, aus jenen beide Naturen 
nfaffenden Ausfprüchen weitere dogmatifche Conjequenzen zu ziehen, 
vr die „ratio“, welche für: jene „communicatio idiomatum “ 
ıthabe, näher darzulegen. Es genügt ihm, darauf zu dringen, 
6 man den Unterſchied der Schriftftellen, welche von der einen 
er von der andern Natur oder von beiden zufammen reden wollen, 
ohl beachte und in den eigenen, auf die Schrift zu gründenden 
hrausſagen recht forgiam Alles gleichermaßen fernhalte, wodurch 
tmeder die Einheit der Perſon oder die Wahrhaftigkeit jeder der 
iden Naturen geleugnet würde. Er kommt fo in feinen eigenen 
gmatifchen Beftimmungen über die alfgemeinen Formeln, in 
alchen ſowohl jene Einheit, als diefe Integrität der Naturen bes 
uptet wird, nicht hinaus. Und zwar haben wir für diefes fein 
erhalten ohne Zweifel zujammen in Betracht zu ziehen die ihm 
ich fonjt eigene Vorficht, mit welcher er den göttlihen Dingen 
genüber auf das Schriftwort und die hiermit im Einklang von 
m erfundenen kirchlichen Formeln fich befhränft und welche wir 
ıh bei jeiner Trinitätslehre wahrnahmen, — die ihm eigene, über 
a) Vol. XXIX, p. 521; Vol. XXX, p. 354 (Lib. II, c. 14. 8 2). 

Theol. Stud. Jahrg. 1868. 30 





a40 oſtlin 


dieſe Objecte mehr verſtändig reflectirende, als lebendig intuitie 
oder ſpeculative Geiftesrichtung, — endlich wieder jene Grund: 
anſchauung vom Verhältniß des Göttlihen zum Menſchlichen und 
Greatürligen überhaupt. In der Ed. 2b tritt dann neben jm 
fpecielle Warnung vor Neftorianismus eine ebenfolde vor Euty: 
chianismus. Zunächſt hatte Calvin hinſichtlich einer Vermengung 
der Naturen hauptſüchlich die Servet'ſche und anabaptiſtiſche Lehren 
im Auge. Seit Ed. 2 kommt dazu in der Abendmahislehre eu 
offener Kampf für die wahre Menfchheit Ehrifti gegen die luthe 
riſche Ubiquität des Leibes, durch welche jene aufgehoben werk. 
Es Handelt ſich Hier übrigens wirklich für Calvin um ein et ı- 
ligibſes Intereſſe, nämlich vor Allem darum, daß nicht mit dem 
wahrhaften Fleifche des erhöhten Chriſtus für uns Menſchen die 
daran fich knupfende Hoffnung auf die Auferftehung unferes eigenen, 
Fleiſches verloren gehe *), keineswegs blos um die Wahrung de 
Unterfdiedes zwiſchen Gottheit und Menſchheit oder um die Cr 
habenheit jener über diefe. Zugleich werden wir Calvin bei jene 
Abendmahlsichre befonders jeit Ed. 2 im eigenthümlicher N; 
darnad ringen jehen, eben auch für die Menfhheit und W 
Fleiſch Ehrifti eine umfafjende und bleibende heilsmittleriſche ds 
deutung zu gewinnen: die Menſchheit Chrifti ſoll nid)t blos de 
deutung haben für das Verföhnungswerf, das Chrijtus als Meujd 
gehorfam, leidend und jterbend ein- für allemal vollbracht ha, 
ſondern durch Chriſti Fleiſch fol aud fort und fort die Zutheilung 
de8 Lebens vom erhöhten Chriſtus aus an die Menfchheit fid ver 
mitteln. Dies ift das eigenthümfichjte pofitive Moment in dr 
chriſtologiſchen Lehrentwicklung Calbin's, obgleich er es in dem vom 
Ehrifti Perfon überhaupt handelnden Abſchnitt nicht mit verarbeitt 
hat. Er Hat es übrigens in der Ed. 3 nicht bloß bei der Abend: 
mahlefehre, jondern auch bei der Lehre von der Nechtfertigung 
gegenüber von Ofiander beigejogen: Chriftus rechtfertige und mad 
lebendig als Gott und Menſch, — aud als Menſch, fofern nämlis 
Gott das, was in Gott verborgen und unbegreiflich fei, in ihm 
uns offenbare, ihu für und zur Quelle made umd jo durd ib 

8) Vol XXL, p. 1005; cf. Vol. XXX, p. 1029 (Lib. IV, c. 17, 58 

v 





über Calbin's Institutio. 441 


aus dem verborgenen göttlichen Urquell uns ſchöpfen Laffe; im 
Fleiſche Ehrifti ruhe für uns, wie die Sacramente lehren, bie 
materia justitiae et salutis (Lib. III, c. 11, 8 9). © 
Calvin's Antwort auf die Frage, wodurch Ehriftus Er— 
löſung für uns gebradt habe, ift ihren Hauptmomenten 
nad; ſchon in dem enthaften, was eben (S. 436) aus den von 
ihm felbft vorangeſchickten überfichtlihen Sägen *) ift mitgetheift 
worden. Für’s Erſte alfo Spricht dort Calvin ganz umfaffend aus: 
der menfchgemordene Gottesjohn made uns aus Menfchenföhnen 
ju Gottes Söhnen, indem er das Unfrige an fi nehme, das Sei- 
nige auf uns übertrage; darum haben wir die Zuverſicht, Gottes 
Eöhne zu fein (Ed. 1: „haec spes nostra est etc.“; Ed. 2 
'md 3 genauer: „hac arrha freti — confidimus), weil der 
bottesſohn ſich Fleiſch von unferem Fleiſch u. f. w. beigelegt habe 
(Ed. 1 u. 2: „composuit“; Ed. 3: „aptavit“). Daß unfer 
Ertöfer wahrer Gott und Menſch fei, Habe ferner diefe Bedeutung 
für ıms (Ed. 1 u. 2: „sic nostra referebat, verum esse 
Deum ete.“; Ed. 3: „apprime utile fuit hac etiam de 
causa ete.““; vgl. auch die franzöfifche Weberfegung): er habe den 
Tod verfchlingen folfen (absorbere, engloutir), — und wer anders 
habe dies vermocht als das Leben? er habe, bie Stunde befiegen follen, 
— und wer anders habe dies vermocht, als die Gerechtigkeit jelbft? 
Ber aber fei das Leben umd die Gerechtigkeit als Gott allein (dafür 
Ed. 2 u. 3: „penes quem vita est aut justitia aut potestas 
nisi penes ete.“)? Für's Zweite erflärt dann Cafoin dort: zur 
Erloſung (Ed. 3: Verſöhnung) gehöre, daß der Menſch, der ſich 
durch Ungehorjam in's Verderben geftürzt, jtatt defjen jegt Gehor- 
ſam leiſte, der göttlichen Gerechtigkeit (Ed. 3: dem göttlihen Gericht) 
genugthue, die Sündenftrafen abtrage; fo ſei nun Chriftue an 
Aam’s Stelle getreten: „ut patri se obedientem pro eo ex- 
hiberet (Ed. 3: ‚ut ejus vices subiret patri obediendo‘), 
ut carnem nostram in satisfactionem (Ed. 3: ‚in satisfa- 
stionis pretium‘) justitiae Dei statueret (Ed. 3: ‚justo Dei 
judicio sisteret‘), ut in carne nostra peccati poenam (Ed. 3: 


a) Vol. XXIX, p. 65. 5175q.; Vol. XXX, p. 341 (Lib. II, c. 12, $ 2), 
s0* 








442 Köflin 


‚poenam, quam meriti eramus‘) persolveret.“ — Das Erf 
haben die fpäteren Ausgaben nur wieberholt, mit den angegebean 
Modificationen einzelner Säge, ohne es weiter zu entwideln. Dit 
Zweite wird fchon im Ed. 1 bei der Ausfage des apoftoliicen 
Symbolums über Ehrifti Leiden weiter befprochen und dan in de 
folgenden Ausgaben nod immer eingehender erörtert. Zugleit 
fehen wir, wie jene Säge, in denen es zunüchſt zufammengejaft if, 
in Ed. 3 nod auf ſchärferen Ausdrud gebracht find: noch ſchärfer 
ift darin ausgedrückt die Beziehung auf Gottes Gericht mit Chriſi 
Stellvertretung vor demfelben für uns Menfchen. — Das Erir 
erinnert, wie ich ſchon oben bemerkte, ehr an zujammenfaffent, 
myſtiſch geartete Darftellungen Luther's — nicht etwa bios aus 
feiner früheren Zeit, wie in der „Freiheit eines Chriftmenfge‘, 
fondern auch 3. B. im großen Commentar zum Galaterhriet. 
Auch im zweiten Stüd aber, in diefer. Zufammenftellung des Gr 
horfams und des Strafleidens Chrifti, trifft Calvin zumit 
eben mit Luther zujammen. Scnedenburger *) hat gegen Gueri 
mit Recht bemerkt, daß derjelbe in Hinficht auf die Anerkennug 
des activen Gehorſams Chriſti den Meformirten fälſchlich ein mins 
anrechne, als ob bei ihnen dieſes Dogma erft fpäter als bei du 
Zutheranern in ihren Befenntnifjen einigermaßen. angedeutet werk, 
daß fie es vielmehr längft vor der Concordienformel in Belennt: 
niffen vortragen und daß es jchon Calvin anerfenne. Wir dürfen 
noch mehr fagen. Ich wüßte außer den Echriften Luther's un 
außer der Brandenburg- Nürnberger Kirdenordnung vom Jahrt 
1533 ®) feine Darftellung von Seiten Iutherifcher Theologen y 
nennen, wo zu jener Zeit die beiden Momente ſchon mit jolder 
Bejtimmtheit nebeneinander vorgeführt würden, wie in Galins 
Institutio ſchon feit ihrer erften Ausgabe. Dagegen vermiffen mir 
die Hervorhebung dieſer Bedeutung des activen Gehorjams bi 
Melanchthon, ſowohl in feinen Locis als in den von ihm verfaftt: 
Deupthetemtiſſen der Reformation. Und als Urſack 


"N Fi tirchlichen Chriftologie, Lehre vom doppelten Stande Chriſti u. 1. n. 
©. 65. 


b) Richter, Evangel. Kirchenorduungen I, 186f. 





über Ealvin’s Institutio. 43 


dafür müffen wir bei Calvin einen auf's Ganze der Perjon und 
des Werkes Chrifti gerichteten umfaffenden und ſyſtematiſchen Blick 
anerkennen, in welchen ihm Melanchthon nicht gleichtem. — Für 
die weitere Ausführung der beiden Seiten, des Gehorfams und des 
leidens Chrifti, find dann beſonders noch die Erweiterungen bes 
Tates in Ed. 3 wichtig. Hinſichtlich der Berföhnung durch Chriſti 
Gehorſam führt er hier (Lib. II, c. 16, 8 5) weiter aus, wie 
zu der „ganze Kauf jeines Gehorfams“ gehört habe; er bezieht 
Nerauf Röm. 5, 9. Cal. 4, 4, das Wort Jeſu Matth. 3, 15, 
ven Ausſpruch Phil. 2, 7. Zum Leiden Ehrifti hat er von Anfang 
m ganz befonder8 die Seclenleiden gerechnet, in welchen derſelbe 
ve fhwerften Kundgebungen des zürnenden Gottes erfahren und 
m Drange der Angft das Wort Matth. 27, 46 gerufen Habe, 
Ahpleich freilich Gott wider den geliebten Sohn felbft nie zornig 
eweſen fei. Deshalb Hält er auch feſt am Artikel von der „Höllen- 
Art“ Chriſti, indem nämlich derfelbe eben auf diefe inneren Leiden 
# Duldenden und Sterbenden zu deuten fei. Auch das fegt er 
od weiter in Ed. 3 (a. a. O., $ 11f.) auseinander: der Sohn 
hottes fei umfangen gewejen von Schmerzen, die Gottes Fluch 
nd Zorn erzeuge, aus welchem der Tod hervorgehe; in Angft 
wor habe Jeſus nach Hebr. 5, 7 zu Gott geſchrieen; in Geth— 
mane habe fein Hinabfahren zur Hölle begonnen; hiernach könne 
tan die ſchrecklichen Qualen ermefjen, die. er habe erleiden müffen, 
quum se ad tribunal Dei reum stare cognosceret nostra 
ausa“; dabei hatte ſich Calvin jest (in Ed. 3) zu verwahren 
x dem Vorwurf böswilliger Gegner, daß er Chriſtum herabſetze, 
dem er ihm Furcht um das Heil der eigenen Seele beilege. Dieſe 
usſagen der Institutio über die beiden Seiten, über den Gehor- 
m als folhem und über das Leiden, gehen nun bald nebenein- 
ter her, bald laufen fie ineinander über. Hin und wieder erſcheint 
18 Leiden felbft wefentlich unter dem Gefichtspunft eines ethifchen 
ctes: z. B. an der vorhin angeführten Stelle Ed. 3, Lib. II, 
16, 8 5; es legt ſich uns die Auffafjung nahe, daß es zur 
erföhnung diene weſentlich eben als Höchfte fittliche Leiftung des 
horfams, der Gottergebenheit, der Liebe gegen Gott und bie 
tenjhen u. ſ. w. Dann aber wird es auch wieder für fih in 


[773 Köptin 


Betracht gezogen: der Nachdrud wird auf dasjenige gelegt, was 
auf Chriſtus gelaftet, mas vor Gottes Gericht an unferer Statt 
ihn getroffen Babe; wie tief Calvin das Straffeiden überhaupt 
nahm, zeigen genugfam fehon die angeführten Säge aus allen den 
Ausgaben; gern vermeift er befonders auch auf den pauliniſchen 
Ausſpruch, dag Chriſtus für und „zur Sünde“ gemacht worden 
ſei. Wenn Schnedenburger a. a. O. weiter bemerkt, daß dar 
Dogma vom activen Gehorfam bei den Reformirten von jeher an 
erkannt, jedoch allerdings „in charakteriftifch unterfcheidender Geftalt* 
anerfannt gewefen jei, und wenn er nun die Richtung Hier dahin 
gehen fieht, den leidenden Gehorfam felbft in den thuenden zu ver- 
wandeln, fo läßt fi) dach bei Calvin ein weiterer Schritt zu einer 
folhen „Verwandlung“ Hin durchaus nicht nachweiſen. Die verr 
ſchiedenen Seiten feiner Auffaffung haben alle namentlich aud bei 
Luther ſelbſt ihre Parallelen °), obgleich allerdings die Hier in Be 
tracht gezogene Seite bei ihm noch mehr als bei Luther ſich geltend ” 
macht: wir fünnen aud) Bier nur von einem fehr relativen Untm; 
ſchiede reden. — Zu der. Genugtfuung, welche Chriftus mit feine 

Gehorfam und Leiden für uns geleiftet hat, kommt endlich de} 
Thatigleit des erhöhten Erlöfers. Hier num gewinnt diejenige The | 
tigkeit, mit welcher er fein Leben dem glänbigen Subjecten inner 

lich mittheilt, entſchieden die Hauptbebeutung bei Calvin. Um 
zwar tritt diefelbe mit der gefchichtlichen Entwidlung der Institutio 

noch beftinmter hervor. Mit unbeftimmteren Ausdrücken Hatte die | 
Ed. 1 von dem erhöhten Chriftus ausgeſprochen, daß er uns mit 
geiftigen Gaben ausjtatte, heilige, vegiere, beim Vater beftändig für 
und eintrete, bei. uns mit feiner. unfichtbaren Hüffe und Madt 
gegenwärtig fei u. f. w. (Vol. XXIX, p. 70sq.). Seit Ed.2» 
folgt auf Erflärungen über Chrifti Interceffion vor Gottes Ange 
fit, die jegt gleichfalls ſchärfer gefaßt find, mit charakteriſtiſchem 
Ausdrud die Erklärung über jene mittheilende Thätigfeit: „in er 
celsis sedet, ut: transfusa inde ad nos sua virtute in vitam 
spiritualem nos vivificet etc.“ (Vol. XXIX, p. 534; Vol. XIX 
p. 383; Lib. II, c. 16, $ 16). Dazu haben wir dann weiter 





3) Belege in meiner „Theologie Luther's“ 1, 419, 





über Eaföt’d Tästitutio. [23 


ud das zu ziehen, was wir in Betreff der Bebentung des Fleiſches 
Eprifti für Calvin oben erwähnt haben. Wir jehen übrigens zu- 
eich, wie entfchteden doch Calvin als Vorausſetzung für diefe 
Rittheilung das objective Verſöhnungswerk fefthäft, zu welchem 
nit dem vorangegangenen Gehorfam und Leiden Chrifti auch noch 
ieſe fortgeſetzte Interceſſion gehört. 

As beſondere dogmatiſche Leiſtung Calvin's pflegt man zu ber 
raten, daß er die Gefammtheit des Werkes Chrifti unter dem 
Sefihtöpunkte der drei Aemter entfaltet und zuſammengefaßt 
abe. Zugfeich findet in diefer Beziehung ein großer Fortſchritt in 
finer eigenen Arbeit ftatt, ber eben auch zeigt, wieviel ihm wirk⸗ 
ih an der Durchführung diefer Betrachtungsweife gelegen war 
(ubei bemerkt übrigens er ſelbſt Ed. 3, Lib. II, c. 15, 8 1, daß 
km die Namen auch im Papftthum Habe, daß die rechte Erkennt 
iij des finis et usus die Hauptfache fei). In der Ed. 2 (Vol. 
IX, p. 513sqg.) Mipft er diefe Betrachtung nur an den 
Namen „Chriftus“ am, und zwar noch ehe er auf Chrifti Menfch- 
erdung felbft und auf die Bedeutnng derfelben in den oben mit 
beilten zufammenfaflenden Sägen eingegangen ift. Und babei 
det die furze Einzelausführung der Aemter in Ed. 2a nur vom 
tonigtfum und Hoheprieftertfum, nachdem nur bei der „Salbung“ 
berhaupt auch die Ankündigung des Gejalbten als eines Pros 
beten erwähnt worben war; erft die Ed. 2c fügt darnach noch 
inen fpeciellen Sag über dus Prophetenamt bei. Dagegen’ wird 
n Ed. 3 die Lehre von dem drei Aemtern zu einem bejonderen 
Sapitel erweitert (Lib. II, c. 15). Und diefes erhält feine Stelle 
wifhen der Lehre von Chrifti Menfchwerdung und beiden Naturen, 
m welche bereits auch die erwähnten zufammenfaffenden Säge über 
ie Annahme des Unfrigen durch ihn u. f. w., fowie über die Be- 
wutung feines Gehorfams und Leidens ſich wieder angeſchloſſen 
„ben, und zwiſchen denjenigen Abfchnitten, welche mit Anſchluß an 
m Artikel des Symbolums von Chrifti Tod, Auferftehung und 
Ichögung fein Verföhnungswert weiter entwickeln. Allein Calvin 
ft mm doch nicht wirklich dazu gefommen, die Lehre von den drei 
Aemtern ſyſtematiſch im Zufammenhange feiner Chriſtologie zu 
verarbeiten oder die ganze Lehre won Chrifti Thätigkeiten in fie 


" Halt des Königthums ausmacht, zur Vorausfegung und Grundlage 


48 Körlin 


hineinzuarbeiten. Mußte nicht in unferen Abſchnitt von den drei 
Aemtern, wenn er in Ed. 3 fo gewichtig vorgetragen wurde, mit 
Alarheit und Beftimmtheit eben auch das hineingearbeitet werden, 
was die früheren Ausgaben einfach nach dem Gange des apoite: 
liſchen Symbolums entwidelt hatten und was mun in derſelben 
Weiſe, nur noch ausführlicher, auch die Ed. 3 nachbringt? Die 
Hauptmaffe defien, was fo nacgebradt wird, gehörte zur hohe⸗ 
priefterfichen Tätigkeit Chriſti: vielleicht hat Calvin eben aud mit 
Bezug hierauf in dem Eapitel von den drei Aemtern das Hohe 
priefterliche zulegt beſprochen, weil unmittelbar darauf weiter vom 
verföhnenden Thun und Leiden gehandelt werben follte, — und 
ohne Zweifel deswegen auch nur fehr kurz, weil das dahin Gehe 
ige im nächſten Abſchnitt weitläufige Ausführung fand; an dr 
Maren Beziehung aber zwijchen dem, was ſchon unſer Capitel bringt, 
und dem, was nachfolgt, fehlt es. Weiter kommt ſodann das for 
gende Gapitel bei der Erhöhung Cprifti auf diejenige Stellung un 
diejenigen Thätigkeiten des Herrn, mit welchen der Juhalt dr 
Lehre vom Königthum Chrifti in unferem vorangegangenen Capd 
zufammentrifft, während abermals jene Beziehung zu vermiffen ft 
Und überdies erhebt ſich zugleich innerhalb unferes Capitels jet 
gegen die Aufführung des Töniglichen vor dem Hohepriefterlicer 
Amte die Einwendung, daß nicht blos in den folgenden Abjchnitten 
vielmehr die zum Hoheprieftertfum gehörigen Momente den aufs 
Tönigliche Amt bezüglichen voranftehen, jondern daß auch nad ir 
ganzen übrigen Darftelfung Calvin's das dem Hohepriefter eigene 
BVerfühnen und Intercediren demjenigen geiftigen Walten, Aus 
fpenden und Herrſchen Chrifti, das nad) unjerem Eapitel den Ju 


dient. Diefe fyftematifchen Mängel müßten uns bei einem Geiſt 
wie Calvin fehr befremden, wenn wir blos feine legte Ausgabe 
Tennten. Sie erklären ſich aus der gefchichtlichen Entjtehung dr 
ſchließlichen Ausgabe: fo wichtig der neue Abſchnitt dem Berfafler 
warf, fo hat er ihn doch nur eingefchaftet, ohne in ftrenger Be: 
ziehung auf die hier betonten Geſichtspunkte die bisherige Anlage 
des Stoffes durchgreifend umzugeftalten. 

Von der ganzen heilsmittlerifgen Wirkfamkeit Jeſu aber müſſen 





über Calvin's Institutio. 447 


vir zurückgehen auf das Berhältniß, in welchem fie zu dem ewigen 
dot Vater fteht, — auf den göttlichen Willen und Rathſchluß, 
us welchen ſie felbft hervorgegangen ift. Ganz beſonders bei 
jafoin müffen wir auf diefe Beziehung unfer Augenmerk richten, 
emäß der Umbedingtheit, mit welcher er jene Wirkfamfeit auch 
son wit allen ihren Erfolgen bei den einzelnen Subjecten im 
dathſchluſſe der göttlichen Prädeftination geſetzt fein läßt, überhaupt 
emäß dem Nachdrucke, welchen er auf die Unbedingtheit und Un- 
andelbarkeit des göttlichen Wollens und Waltens legt. Man 
hınte zweifelhaft werden, ob nicht für Calvin von diefer Seite her 
onſequenzen fich ergeben möchten, wornach e8 eines heilsmittleriſchen 
itlichen Wirkens Jeſu in der Richtung anf Gott hin, oder einer 
inenden, verfühnenden Thätigleit gegenüber von Gott gar nicht 
ar bebürfte, noch Raum für eine ſolche bliebe. Nur umfomehr 
fen wir jedoch anerkennen, daß in Wirklichkeit Calvin's Meinung 
id Abficht keineswegs dahin geht. Er geht auf. diefen Gegenftand 
i ber Lehre von Chrifti Verſöhnungswerk feit der Ed. 2b aus» 
Adlich ein *). Er bemerkt Hier, dag die Schriftausfagen, nad) 
elchen Gott den Menfchen bis zum fühnenden Tode Chriſti feind 
weſen fei, fich unferer Faſſungskraft und unferem Bedürfniß an- 
quemen, um uns dejto Fräftiger zur Anerkennung des Elends, in 
m wir ohme Gottes Barmherzigkeit wären, zu bringen. Er felbft 
tont dem gegenüber, daß doch Gottes eigene Liebe zuvorgefommen 
i und felber die Verſöhnung geftiftet habe. Allein er löſt den 
Siberfpruch, den man Hier finden könne, nicht anders, als es auf 
rund der ausdrücklichen Schriftzeugniffe wie der auch von ihm 
geführten Stellen Joh. 3, 16. Röm. 5, 10 und gemäß dem 
nen Wefen der göttlichen Liebe und göttlichen Defonomie eine 
* evangelifhe. Dogmatik thun mußte und thun muß, fobald fie 
verhanpt beſonnen diefe Frage vorgenommen hat®). Die zuerft 
mähnten Ausfagen, fagt er, feien doc; keineswegs falſch. Gottes 
he, vermöge deren wir wieder zu Gnaden angenommen werden 
len, rege ſich um deswillen, weil wir troß unferer Sünde doch 





a) Vol. XXIX, p. 52459.; Vol. XXX, p. 868g. (Lib. II, c. 16, $ 2sq,). 
b) Bol. befonders auch wieber bei Suther, meine „Theologie duther's“ II, 307f. 





448 " KöRlin 


noch Gottes Gefchöpfe bleiben und Gott nicht zum Tod, fonden 
zum Leben uns gefchaffen Habe. Als Sünder aber haben wir aller: 
dings in uns, was Gottes Haß auf fich ziehe und um beffen willen 
wir felbft wahrhaftig „in offensione Dei“ (en la haine de Dieu) 
fein. Diefes nun tilge Gott durch den fühnenden Tod Chrift, 
vermöge deffen er es uns nicht mehr zurechne. Das hier’ Audge 
führte faßt an einer fpäteren Stelle (Lib. DI, c. 17, 8 2) die 
Ed. 3 furz fo zufammen: „Deus ineffabili quodam modo, quo 
tempore nos amabat, simul tamen erat offensus nobis, done 
reconciliatus est in Christo.‘ So fährt denn Calvin auch jonft 
fort, unbefangen und ernſtlich die Ausdrücke zu gebrauchen, deh 
Gott felbft verfühut worden fei; Chriftus, fagt er am einer jden 
oben angeführten Stelle der Ed. 3 (Lib. II, c. 16, 8 5), hie! 
durch den ganzen auf feines Gehorfams für und die Gerechtiget‘ 
erworben, „quae Deum nobis faventem ac benevolum red«' 
deret“. Die Sache ftellt ſich demnach bei Calvin fo dar, 

‚durch die im Lauf der Zeit von Ehriftus geleijtete Sühne auch 

Gottes eigene Stellung zu den Menfchen eine Aenderung bewi 

daß gleichſam eine Schranfe aufgehoben worden ift, welche aud 

Gott felbft mit Bezug auf die Hinkehr feiner Liebe zu dieſen 

ſchöpfen vermöge feiner zürnenden Heiligkeit und Gerechtigkeit 

ftand, daß aber eben feine eigene Liebe diefe Schranke hat tilge 
wollen und zu diefem Behufe Chrijtum die Sühne hat vollbringe 
laſſen. Auch der vorzeitliche Liebesact der Erwählung ift dam 
hiernach ſchon dadurch bedingt, dag wirklich nad) Gottes Verordium 
diefe Sühne vollbracht werden follte, auf welche Hin Gott ek 
wirklich Gemeinfchaft mit den zum Genuß feiner Liebe beftimmte 
Menſchen eingehen konnte: fo fagt Calvin im Zufammenhang jenr 
Haupiſtelle der Ed. 2b und Ed. 3 weiter, daß auch die dirk, 
mit der Gott nah Epheſ. 1, 4 uns “fon vor Schöpfung der 
Welt umfaßte, auf Chriftus fich gegründet Habe. Davon, da ir 
fühnende Tod Chriſti dann doc nicht allen Menſchen zu gute kommen 
folfte, hat Calvin in diefem Abſchnitt und überhaupt bei jeiner Lehre 
von Chrifti verfühnendem Gehorfam und Leiden ganz abgefehr. 
Gemäß dem Gefagten ift nun klar genug, daß, wenn Calvin Chriftun 
ein Pfand der göttlichen Gnade für uns nennt, dies nach Calirt 








über Calvin'e ‚Institutio. 49 


igemer Abficht nicht fo verftanden werden follte, als ob Chriſtus 
iefe Gnade uns nur verbürgt oder gar nur irgendwie manifeftirt, 
nd nicht vielmehr mit Bezug auf’ fie auch felbft Etwas gewirkt 
m zwar vor dem der Sünde zürnenden Gott fr uns gewirkt 
itte. — Allerdings aber erhebt fi nun noch von einer anderen 
fite her eine wichtige Frage gegenüber von der Bedeutung, welche 
aloin dem Gehorfam und Leiden Ehrifti beilegt. Wodurch Hat 
hriſti Leiſtung folches Gewicht? Bekanntlich wendet die Qutherifche 
Jogmatif Hierfür die Lehre von der communicatio idiomatum 
1: jene Seijtung hat nach ihr ſolches Gewicht, weil in Ehrifti 
den feine Gottheit mit dabei war umd weil er vom Gefege, das 
tin activem Gehorfam erfüllt, vermöge der communicatio idio- 
wium auch als Menfch frei und vielmehr Herr des Geſetzes war. 
kin, den wir oben gleichfalls von communicatio idiomatum 
i den Schriftausfagen über das Leiden des Gottesfohnes reden 
ten, kennt doch eine derartige Ausdehnung und Anwendung der 
Den nicht. Jene Frage nun macht: er zum Gegenftand befonderer 
trterung überhaupt erft in Ed. 3 (Lib. II, c. 17), nachdem 
wiſſe „verkehrt ſcharffinnige“ Menſchen an einem „Verdienſte“ 
kifti Anftoß genommen hatten und in Chriſtus ſtatt des Lebens⸗ 
ten ein bloßes Werkzeug hatten fegen wollen: er meint den 
ilius Sozinus und deffen Landsmann und Geiftesgenofjen Ca— 
illus; wie diefer den Sag, daß Chriftus Etwas verdient habe, 
8 unbiblifch beftritt, fo hatte jener an Calvin felbft mit einer 
afrage darüber fich gewendet, wie Gott durch ein Verdienſt Chriſti 
fimmt worden fein follte, wenn er doch mit feinem eigenen freien 
Yilen die Menſchen gerecht zu machen befchloffen Habe; und Calvin 
te ihm darauf 1555 eine Antwort ertheilt, die er dann auch in 
ine Institutio 1559 aufnahm °). Da erflärt er denn: „equi- 
m fateor, si quis simplieiter et per se Christum opponere 
ılet judicio Dei, non fore merito locum, quia non reperie- 
ir in homine dignitas quae possit Deum promereri.“ Unb 
a num nachzuweiſen, daß Ehriftus dennoch, wie in den Ausfagen 





4) &gl. Illgen, Vita Laelii Socini 1814, p. 39sq.; Responsio D. Cal- 
vini ad aliquot L. Sosini Senensis quaestiones, Genevae 1555. 


450 Köflin 


der Schrift wirklich Tiege, uns die Gnade habe verdienen können, 
recurrirt er nicht auf jene Idiomenlehre oder darauf, daß bei Chrifti 
Leiftung eben aud feine eigene Gottheit betheiligt geweſen fei, ion 
dern einfach darauf, daß es Gott jo verordnet, daß der Wille orte 
dem Gehorfam und Opfertod Eprifti diefe Wirkung gegeben habe: 
„Christus non nisi ex Dei beneplacito quidquam ne 
reri potuit ete.“ Ebenſo weift er den Einwand, daß die Rruft 
zu rechtfertigen (virtus justificandi) weit über das Vermögen ver 
Engel und Menden und fomit auch Chrifti als eines Menjcen 
hinausgehe, an einer fpäteren Stelle, im Streite gegen Ofianter, 
einfach damit zurüd': „hoc non ex dignitate creaturae cujus- 
quam, sed ex Dei ordinatione pendet‘“; die Engel, ſagt a 
vermöchten es deswegen nicht, weil fie eben nicht dazu beftimat 
feien (Lib. IH, e. 11, $ 12). In nod ganz anderem Sim 
als demjenigen, in welchem es auch innerhalb ber lutheriſchen Di 
matif gefchehen konnte, bezeichnet demnach Calvin (c. 17, 8 1) 

göttliche „„ordinatio‘‘ als „prima causa‘“, durch welche wir 

Heil erlangen, und daneben das Verdienſt Ehrifti nur als 

„subalternum “; der Meinung, daß Chrifti Berdienft und © 

Barmherzigkeit einen Widerfpruch mit fich brächten, ſtellt er W 
gemeine Regel entgegen: „quae subalterna sunt, non pugnare“. 
Bon Hier aus find wir nun allerdings berechtigt zu fragen: behält 
demnad für Cafoin Chrifti Gehorfam und Tod überhaupt nad in 
ſich felbft eine verföhnende Bedeutung, Kraft und Wirkung? und 
wenn ihm eine folche Lediglich durch eine freie, nicht im Wefen ir 
Sache begründete göttliche Wilfensbeftimmung und Willenserklärung 
beigelegt wird, — würde man dann nicht beffer einfach fagen, Gott 
habe jegt nach feinem unergründlichen Rathſchluß feinem eigenm 
Zürnen Einhalt thun wollen, und würde dem Thun und Leiden 
Chriſti ftatt jener Bedeutung fr den zürnenden Gott mar nd 
eine Bedeutung und Kraft in Beziehung auf uns zuſchreiben? 
Für diefe Beziehung. küme dann in Betracht die objective Mari: 
feftation des nicht mehr zürnenden, fondern Gnade und Vergebung 
darbietenden Gottes in Chrifto, und weiter nad) Calvin die innert 
Einwirkung Chrifti auf uns und Selbftmittheifung an uns. Tier 
Gedante an ſolche Eonfequenzen bietet fi uns, wie gefagt, dat. 








über Ealoin’s Institutio. 451 


dahe fiegt ohnedies bei jenen Süßen Calvin's der Uebergang zur 
minianifchen Ucceptationstheorie. Allein Calvin ſelbſt thut doch 
ı diefer Richtung feinen Schritt weiter. Klar genug ift auch neben 
nen Sägen bei ihm überall das Streben, dennoch eine wahrhafte, 
en durch Chrifti Gehorfam und Leiden erfolgte DVerfühnung zu 
haupten, — keineswegs etwa blos wegen bejtimmter Schriftaus- 
gen, fondern aus dem tiefften Intereſſe des Glaubens heraus; 
x Allem eben darauf, daß Chriſtus nad 1 Joh. 4, 10 Maouöc 
worden fei, verweiſt er den Glauben und begründet eben damit, 
5 Chriſtus nicht bios causa formalis des Heiles Heigen dürfe, 
j vielmehr in ihm die materia salutis nostrae zu ſuchen fet 
0. O., 8 2). Wir ftehen Hier bei einem Problem, das er, 
k wir fahen, erft fpäterhin fhärfer erörtert und auch dann nicht 
Kine ftrengen fyftematifchen Abſchluß gebracht Hat. Wir müffen 
Üingeftelft Laffen, wie weit, wenn er e8 ferner verfolgt hätte, den 
gedeuteten Conſequenzen das anderweitige dogmatifche Grund⸗ 
ereife bei ihm entgegengewirkt und ihn zu neuen Löſungsverſuchen 
tieben haben würde. Daneben darf mit gutem Grund die Frage 
keit werben, ob etwa jene Lutheriſche Theorie, die ohnedies bei 
her jelbft noch nicht zur orthoboren Form ſich firirt hat, ihrer 
8 ſchon dem Problem genügt habe. ' 
Bas Calvin fo von der wirklichen Bedeutung des Gehorfams 
Todes Chrifti behauptet hat, zielt, wie wir fehen, alle darauf 
‚ die Gläubigen alfein eben in diefem Chriftus jene Vergebung 
Sünden, jene prima gratia, jene Gerechtigfeit vor dem götte 
en Richterftuhle fuchen zu lehren. Mit Bezug auf das Recht⸗ 
ttigungsdogma felbft hat nun Calvin's Darftellung in Ed. 1 
Eigenthümliche, daß fie den Begriff der Rechtfertigung nicht 
ciell neben dem der Vergebung, der angeeigneten Verſöhnung u. f. w. 
ut, ihm auch nirgends ausdrücklich definirt, daß fie feruer, wie 
früher von und gegebene Ueberficht zeigte, ein befonderes Ca- 
| diefer Lehre nicht gewidmet hat. Allein.nur umſomehr ift 
leich zu beachten, wie fehr fie dod in materieller Hinficht mit 
Lehre der folgenden Ausgaben und nicht minder mit der Lehre 
deutſchen Aeformatoren zufammentrifft. Wird diefem Lehr: 
enftand fein fpecieller Abſchnitt zugewiefen, fo kommt er befto- 


158 > oßlin 












mehr im ganzen Verlauf der chriſtlichen Unterweiſung als ihr Haupt: 
* gegenjtand zur Entfaltung. Und mit Beftimmtheit und Nadoru 
werden fchon Hier diefe Hauptmomente aufgeftellt: während 
eine Gerechtigkeit durch Werke oder eine Geſetzesgerechtigkeit nimmer 
mehr erlangen können, vielmehr vermöge des Geſetzes dem göttli 
Zorne verfallen feien, erlangen wir Vergebung der Sünden au 
reiner Gnade, wenn wir die Barınberzigfeit Gottes in Chrifto du 
den Glauben ergreifen; während wir felbft Sünder feier, fei Ehrift 
unfere Gerechtigkeit; fein Verdienft trete für uns ein. Ebenſo heil 
es: Gott rechtfertige uns, indem wir feine Barmherzigkeit glaubt 
ergreifen. Schon vernehmen wir auch die beftimmter formuli 
Säge: „Christi justitiam imputatione nostram fieri; ita n 
vere nos esse justos sed imputative, vel non esse justos 
pro justis imputatione haberi.“ Dabei wird vom Glauben nık 
drücklich erklärt, daß er nicht ein bloßes Fürwahrhalten, ſondes 
eine völlige, fefte Zuverficht zu dem Einen Gott und Chriſtus ud 
zu jener göttlichen Barmherzigkeit jei und an das Wort und 
mentlih die Gnadenverheigungen Gottes jejt fih halten 
von ſelbſt ergibt fich hier aud) feine Beziehung. auf das Verſöhm 
werk, den Gehorjam und Tod Ehrifti*). Im der Ed. 28, 
Inhalt auch in allen folgenden Ausgaben ſich erhalten md 
noch mehr erweitert hat, wird dann eine‘ förmliche Definition 
Justificatio vorangeftellt. Und zwar wird diefe jo ſcharf und 
im forenfijhen Sinne genommen, wie es Melanchthon nod mi 
in der Augsburger Eonfeffion und Apologie, fondern erſt in 
zweiten Ausgabe feiner Loci (1. c.. p. 421) gethan hatte; 
hat den Begriff überhaupt nic jo ftveng auf den blos forenfit 
Gebrauch befchränft ®). Die Ed. 2a erffärt: gerechtfertigt wi 
„qui judieio Dei et censetur justus et acceptus est ob su 
justitiam “; wirkliche Rechtfertigung aber erlange der Ehrift al 
dadurch, daß er Chrifti Gerechtigkeit durch den Glauben crgreil 
















a) Vol. XXIX, p. 465g. 51. 78. 81. 60. 56sgg- 

b) Bgl. meine „Theologie Luther's“ II, 447f.; gegen die hier anfgehelie] 
Ergebniffe find mir, jo wenig fie zu herkömmlichen Boransfegungen ite| 
Auther’s Lehrweiſe flimmen, doch tod) keinerlei Einwendungen zu Gehk! 
gelommen. 


über Eoloin’s Institutio. 458 


und, in fie gekleidet, vor Gottes Angeficht „tanquam justus‘“ 
arſcheine. Seit der Ed. 2b find die Alles zufammenfafienden Säge 
xigefügt: „‚justificationem simpliciter interpretamur acceptio- 
ıem, qua nos Deus in gratiam receptos pro justis habet‘“; 
‚eamque in peccatorum remissione ac justitiae Christi im- 
ntatione positam esse dieimus‘ °). Das Wefen jenes Glau- 
ens entwidelt Calvin im gleichen Sinne, nur weit ausführlicher, 
vie früher. Ebenſo bleibt ihm das Object defjelben ganz das 
leiche; namentlich rechnet er hier auch jet, fo gewichtig er jetzt 
u fpäteren Abfchnitten feine Prädeftinationslehre vorträgt, doc nicht 
twa auch ſchon das individuelle Erwähltfein zum Gegenftande des 
echtfertigeuden Glaubens als ſolchen. Weit behauptet er fo die 
Restfertigung Sola Fide. Er fließt hiermit aus die Werte, 
Fir Rechtfertigung zwar, welche ohne gute Werke bejtünde („quae 
ie is constet‘“), will Calvin nicht lehren; denn Chriſti Gerechtig ⸗ 
it fönne man nicht haben, ohne Chriftum zu haben, und Chriftum 
ine man nicht befigen, ohne auch feiner Heiligung theilhaftig zu 
den: Chriſtus rechtfertige Einen nicht, ohne zugleich Einen zu 
äligen d). Allein nimmermehr darf nad Calvin, wie ja das eben 
ich in diefen Sägen liegt, unfere Gerechtannahme vor Gott auf 
eſe Heiligung und ihre Früchte geftügt werden. Vollends kann 
ht die Rede fein von einem „Verdienfte“ der Werke. Wir haben 
hon oben gejehen, wie ftreng und allgemein gerade Calvin jeden 
afpruch eigenen Rechtes oder Werthes abweift. Ya er drüdt, 
dem er die Schriftausfagen über eine Bedingtheit des ewigen 
viles durch Werke als „‚causae inferiores‘“ zu erörtern hat, an 
rrſchiedenen Stellen fon jeit Ed. 1 ji fo aus, daß jede innere 
kziehung, in welche man das Heil zum inneren Werthe der.Hei- 
gung und der guten chriftlihen Werke vor dem das Gute wür- 
genden Gotte jegen möchte, entfernt zu fein und ein Zuſammen⸗ 
ng zwifchen Beidem nur darum ftattzuhaben ſcheint, weil Gott 
nun einmal fo wolle und verordnet habe; jene Heiligkeit des 


a) Vol. XXIX, p. 787 0. et. Ed. 3. Vol. XXX, p. 588. (Lib. U, c.11.) 
b) Vol. XXIX, p. 742. 776; Vol. XXX, p. 5485q. (c. 11, $ 19). 586 
(«. 10). 


464 Köflin 






















Lebens fei der Weg — nicht welcher führe, fondern auf 
Gott die Erwählten führe zur Herrlichkeit, weil es fein guter wi 
fei, die von ihm Geheiligten auch zu verherrlichen; jene 
ausfagen zeigen nicht fowohl „causam“ an, als vielmehr 
„ordinem consequentiae‘; Gott führe die Erwählten dat 
durch einen Lauf in guten Werfen zum Beſitze des ihnen vorht 
beftimmten Lebens, um in der von ihm beftimmten Ordnung il 
Wert an ihnen zu volfführen *). So find dann nad; Calvin 
Werte der Wiedergeborenen ein Zeugniß, durch welches fie i 
Beruf gewiß machen und nach welchem fie wie Bäume nad 
Früchten beurtheilt werden; fpeciell fieht Calvin laut der fünf 
Bitte des Vaterunſers in unſerer Willigkeit, Anderen zu verge 
ein Zeichen für uns, das uns ber Vergebung unferer eigenen Sin! 
von Seiten Gottes vergewiſſere; ähnlich übrigens haben über 
Bedeutung der Werke Luther an verfehiedenen Orten und Me 
thon namentlich in der Apologie der Augsburger Confeſſion 
ausgedrückt ®); ja jene Erflärung Calvin’® beim Baterunfer 
fo auffallend mit der Luther's im Großen Katehismus zujam 
daß man denfen möchte, er habe diefe vor Augen gehabt. Dafi 
„Sola Fide‘ und diefelbe Auffafjung vom Wefen des Gfaut 
behauptet Calvin gegen eine Begründung der Rechtfertigung 
die Liebe ſchon feit Ed. 1 und weiter gegen die Lehre von 
Fides caritate formata jeit Ed. 2°). Nicht minder 
er fih gegen die Meinung, daß der Glaube durch feine eig 
Würdigkeit die Gerechtigkeit verdiene, wofür man fälſchlich 
die Bezeichnung des Glaubens als Werkes Joh. 6, 29 ſich bi 
Der Glaube, erflärt er, redhtfertige nur quia instrumentum 
quo Christi justitiam gratis obtinemus 4). Wir finden 

a) Vol. XXIX, p. 55. 768. 792q.; Vol. XXX, p. 578 (c. 14, 6 M 
604 (c. 18, $ 1). 

b) Vol. XXIX, p. 775. 767; Vol. XXX, p. 585 (c. 16, $ 8). 564 
(c. 14, $ 1889); Vol. XXIX, p. 97. 982; Vol. XXX, p. 672 (c& 
$ 45). Bgl. meine „Theol. Luther's“ II, 458; abol. Conf. Aug. Art.Iil 
$ 154sq. 

c) Vol. XXIX, p. 80. 472; Vol. XXX, p. 40359. (c- 2, $ 8sq.). 

d) Vol XXIX, p. 799sgg.; Vol. XXX, p- 6105gg. (c. 18, $ Bagg. 


über Calvin's Tüstitutio. 486° 


duther und bei Melauchthon (vgl. Apol. d. Augsb. Eonf.) ‘öfters 
eine Bezeichnung des Glaubens als Gehorſams gegen Gottes Grund» 
gebot, ans der man — freilich mit Unrecht — fchliegen möchte, 
Voß durch fie jener Meinung Raum gegeben werde; in Calvin's 
Institutio find, wohl nicht ohne Abficht, derartige leicht mißver- 
Rändliche Aeußerungen durchaus vermieden. Mit dem Glauben, 
welcher vechtfertigt, muß ferner,. wie die Erzeugung pofitiver Früchte, 
d vor Allem die Abkehr von der Sünde, die Abtöbtung des alten 
Benfchen, fich verbinden. Nicht Hierauf aber, fondern einfach darauf, 
nf der Glaube die Gerechtigkeit Ehrifti ergreife, wird von Calvin 
berall die Rechtfertigung dur; den Glauben zurücgeführt. Dazu 
mt, daß Calvin, wie wir unten noch näher fehen werden, diefe 
ktödtung felbft erft aus dem Glauben hervorgehen läßt. Bei 
Weir ihrer Stellung erfcheint fie nicht bios nicht als Grund der 
Rehtfertigung, fondern vielmehr ala Etwas, dem mit dem Glauben 
ad fon die Rechtfertigung vorangehen müſſe oder das wenigftens 
Mt neben der Rechtfertigung aus dem Glauben hervorgehe: die 
ergebende Gnade Gottes ift nad) Calvin's ausdrüdliher Erklärung 
a8 „eigentliche Object“ des Glaubens, aus dem auch die Abtödtung 
ımmt, und die gratia prima, auf welche die Abtödtung mit dem 
cuen Leben folgt, und erſcheint demnach als das Erfte, was ber 
dlaube erlangt *). Schnedenburger (a. a. O. II, 11) zeigt mit 
ieſen Sägen Caloin’s feine Belanntfchaft; nur werden wir aller 
ings unten eine gewiſſe Unffarheit über diefe Stellung der Ab- 
tung und contritio auch bei Calvin felbft finden. Die innere 
Imwandfung und Heiligung des Menfchen wird endlich gemirft 
uch den Heiligen Geift, und man könute hiernach noch fragen, ob 
iht der Glaube wenigftens vermöge des Geiftes rechtfertige, 
er dem Gläubigen mitgetheilt werde. Auch die aber verwirft 
jaloin ausdrücklich: „Christi justitia imputatione communi- 
atur; evanescit argumentum illud, ideo justificari hominem 
de, quoniam illa spiritum Dei participat, quo justus reddi- 
ur; quo nihil magis est contrarium superiori doctrinae; 


a) Vol. XXIX, p. 6855. 694. 787; Vol. XXX, p. 488g. 450 (c. 8, 
$ 1. 19). 583 (c. 11,9 1). —— ws 


Weol. Stub. Jahrg. 1868. 3 


«“ Körlin 


neque enim dubium, quin sit inops propriae justitiae, qü 
‚justitiam extra se ipsum quaerere docetur.“*) Ma 
hat es charalteriſtiſch für die veformirte Lehre gefunden, daß fie den 
Glauben felbft ſchon als Product der wiedergebärenden Heil 
thätigkeit betrachte und fo der durch den Glauben Wiedergeborent 
für fie Gegenftand der rechtfertigenden Thätigleit Gottes werd, 
während bei den Lutheranern, wie Schnedenburger (S. 13) meint, 
erft die reformirt mobdificirten unter der Wiedergeburt „ganz refor- 
mirt“ die Donatio fidei verftehen. Gerade Luther aber iſt &, 
der fehr häufig eben auch ſchon den Glauben durch die Wieder- 

. geburt“ zu Stande lommen läßt, während Calvin vielmehr die 
„regeneratio‘‘ mit ‚der „poenitentia“, welde erſt auf ben 
Glauben folgen fol, geradezu identificirt B). 

So hat Calvin ausführlich gelehrt, Längft che die Ofiandrifde 
Nechtfertigungslehre aufgetreten war und auch folche proteftantiide 
Theologen, welche vorher noch nicht mit gleicher Beſtimmtheit den bit 
forenfiichen Sinn der Glaubensredhtfertigung behauptet hatten, p 
ſchärferer Faſſung ihrer Säge antrieb. Calvin trat ihr entgye 
von demjenigen Standpunkte aus, den er ſchon bisher fo entichiem 
einnahm; von ihm aus hat er ihr auch einen befonderen polemifde 
Abſchnitt in Ed. 3 der Institutio gewidmet. Da erwidert er dem 
auf Oſiander's Vorwürfe gegen jene Lehre vom objectiven Werk 
Chrifti, durch welches wir verföhnt, und von der objectiven Gr 
rechtigleit Chrifti, durch deren Zurechuung wir gerechtfertigt werden: 
„Wir fehen darum doch Chriſtum nicht in der Ferne aufer und 
an, damit feine Gerechtigkeit und zugerechnet werde“ ; „Sed quia 
ipsum induimus et insiti sumus in ejus corpus, unum deni- 
que nos secum efficere conatus est, ideo justitiae societatem 
nobis cum eo esse gloriamur“ (Lib. II, c. 11, $ 10). In 
diefem Sage hat man nun doch gerade auch bei. ihm. eine weſentlich 
ofiandriftifche Anfchauungsweife von dem, was vor Gott uns gerecht 
mache, jehen wollen: er müßte alfo zu ihr übergegangen jein feit 





a) Vol. XXIX, p. 745; Vol. XXX, p. 552 (c. 11, $ 28). 
b) Vol. XXIX, p. 690; Vol. XXX, p: 440 (c. 8, $ 9: „Um rerbo 
poenitentiam interpretor regenerationem.“ 





über Ealvin’s Institutio. “7 


der Herausgabe der Ed. 2c. Allein geinäß beim ganzen Zuſammen ⸗ 
hang, innerhalb deffen der Sat eben aud in Ed. 3 fteht, können 
mir darin nur das angelegentlichfte Streben fehen, Ghriftum, wäh« 
rend feine objective Gerechtigkeit und zugerechnet wird, zugleich in 
die inmigfte Lebensbeziehung zum gläubigen Subject feldft zu ſetzen, 
ohne welche fir diefes auch jene Zurechnung nad; Gottes Ordnung 
nicht ftatthaft wäre; und barin trifft er namentlich wieder mit 
@uther zufammen, bei welchem aud) fehr viele Aeußerungen, wenn 
nicht feine übrige Lehre entgegenftünbe, ganz im gleichen Sinne ſich 
deuten ließen; wie Calvin im Oſiandriſchen Streit, fo erflärt Luther 
3. 3. in den Verhandlungen mit den Katholiken, daß wir um des 
Sohnes willen, der im Herzen wohne, vor Gott gerecht heißen *). 
Reineswegs aber will nad) dem ganzen Zufammenhaug Calvin 
davon Etwas fagen oder hören, daß die Gläubigen das ihnen 
imerlich Mitgetheilte als ſolches, alfo den neuen Keim ſittlichen 
Lebens u. ſ. w., vor jenem Richterſtuhle Gottes zum Behuf ihrer 
Rechtfertigung geltend machen follen oder fünnen. Er hat jdon 
wor (a. a. O., & 5. 6) dagegen gefämpft, daß Oftander mit 
der durch Eprifti Gehorfam und Tod erworbenen Gerechtigkeit ſich 
nicht begnüge, fondern die Gläubigen qualitate infusa wolle gerecht 
werden laſſen; er hat erflärt, dag Gott, obgleich er die zu Gnaden 
Angenommenen zugleid, mit feinen Geiftesgaben ausftatte und inner» 
lich erneuere, doch nicht duch dieſes Wiebergebären, ſondern einfach 
durch Vergeben rechtfertige, fo wie man bei der Sonne Licht und 
Wärme nicht trennen könne und darum doch die Erleuchtung der 
Erde nicht von ihrer Erwärmung herleiten dürfe. Er erklärt dann 
gleich) nach jenem Sage ($ 10. 11) die Meinung, dag Gott „ju- 
stitiam suam nobis inspiret, qua realiter simus cum ipso 
justi“, für ein befonders gefährliches Gift. Er widerlegt den 
Einwand, dab Gott Menſchen, welche gottlos bleiben, nicht für 
gerecht erflären könne, nur mit dem Hinweis darauf, daß ja freilich 
von der redhtfertigenden Gnade die wiedergebärende nicht abgetrennt 
werben dürfe, während doch beide zu unterfcheiden fein, — ferner 
mit der Bemerkung, daß ja auch nad Dfiander’s Belenntniß die 


a) Beiteres in meiner „Theologie Luther6* IL, aba f. 
sı 





468 22.. Kößlin _ 


* Gläubigen wegen der neben ihrer Gereihtigkeit fortbeftchenden Säuden 
noch einer ‚freien Vergebung durch Imputation bebürfen, und mit 
der Frage, auf weldes große oder Heine Stüd nun wohl: nad 
Dflander die Sünder diefe letztere Gnadenaunahme ausdehnen jollten, 
— endlich mit der den ganzen Einwand abſchneidenden Berufung 
darauf, daß Gott „fi erbarme weſſen er ſich erbarme* (2 Moſ. 
33, 19), daß jeder Vorwurf gegen den frei vergebenden höchſten 
Richter Anmaßung fei; er fchließt den Abfchnitt mit dem Sage, 
daß die durch Ehrifti Gerechtigkeit gededten Gläubigen — „dum 
se ipsos merito damnant, justi extra se censeantur“. 
Weiterhin ($ 23) wiederholt er aus Ed. 2 namentlich aud die 
oben angeführten Säge über jenes „nugamentum ‘“; er verfchärft 
fie nur noch, fofern er ftatt der Worte „quo nihil magis est 
contr. sup. doctr.‘ jet fagt: „quod magis contrarium est 
sup. doctr., quam ut conciliari unquam quest.“ So wenig 
hat Calvin in Ed. 3 trog Oftander feinen Standpunft geändert. 

Es erhellt hiernach, wie ‚verkehrt e& wäre, wenn wir folgen 
wollten, das rechtfertigende Urtheil Gottes werde für Calvin g 
einem Urtheil secundum veritatem, fofern es die dem Gläubiga 
ſelbſt ſchon eigene fittliche Rechtbefchaffenheit als ſolche anerkemt. 
So fehr ihm jenes Dringen auf eine innere Einigumg mit Ehriftus, 
die fofort ein neues, heiliges Leben erzeuge, eigen ift, fo ftrenge 
beharrt er doch auch neben dem, was der Chriſt hiermit felber hat 
und wird, auf jeiner Grumdfehre, daB vor Gottes Richterſtuhl bie 
Menſchen ſchlechterdings auf Nichts, was fie in fich felbft aufweiſen 
können, einen Anfprud; begründen oder ihre Zuverſicht ftüten dürfen. 
Weit eher find wir berechtigt, von anderen Elementen der Cal⸗ 
viniſchen Theologie her Bedenken gegen die Rechtfertigungslehre zu 
erheben, die wir hier als die feinige anerkennen mußten. Bir 
blicken zurüd. auf feine Lehre von dem .objectiven Verſöhnnngswerl 
und zugleich wieder vorwärts auf feine Prädeftinationslehre. Mir 
tonnten dort zweifelhaft werden an der von Calvin gefehrten objer ⸗ 
tiven Bedeutung jenes Werkes Chrifti, wenn doch die Geltung, dir 
es haben folle, eigentlich nur in einer Willensverordnung Gottes 
beruhe und nicht im Werfe felbft begritndet fei. Wir könuten jekt 
aud fragen: würde nicht zur. Aufnahme der Gläubigen in.die ver: 





über Catvin's Institutio. 40 


gebende und heiligende Gnadengemeinſchaft mit Gott und Chriſtus 
das einfache „ miserebor cujus miserebor “‘ genügen, mit welchem 
Calvin den Oſiander abgemwiefen Hat, ohne daß es Hierzu jener 
Imputationstheorie bebürfte? Und ferner noch: weshalb wird über- 
haupt ein folder Nahdrud auf den zeitlichen, durch den Glauben 
der Subjecte bedingten forenfiichen Nechtfertigungsact Gottes gelegt, 
wenn die Gnade Gottes, welche ſchon vorher den betreffenden Sub- 
jecten ſich zumenden wollte, zum Behuf ihrer Mitteilung an fie 
eigentlich nicht erſt einer objectiv wirffamen Leiftung Chriſti und 
einer Imputation an diefelben bedarf, wenn vielmehr die Schranke, 
welche ihr zuvor in Gottes Strafrecht und Zorn gejegt erfchien, 
ägentfich ſchon von voruherein durch den bloßen Willen Gottes 
gehoben war? Calvin ſelbſt erflärt, nachdem er die Rechtfertigungs- 
tre abgehandelt Hat, in nachfolgenden Abſchnitten der Ed. 2 noch 
weiter, mit Bezug auf Röm. 8, 30: „vocatio et justificatio 
nihil aliud est quam divinae electionis declaratio“ *). Und 
den Glauben, welden er als Werkzeug zur Erlangung der Ger 
rechtigkeit Chrifti bezeichnet Hatte, nennt er nachher in Ed. 3 
(Lib. DI, c. 22, $ 11) ein Pfand: „fidem singulare esse 
paterni amoris pignus, filiis, quos adoptavit, reconditum “. 
Bird ihm nicht confequenterweife das Verſöhnungswerk Chriftt zu 
einer bloßen Manifeftation des ewigen Gnadenwillens im Allge- 
meinen, die Rechtfertigung aus einem objectiven göttlichen Acte zu 
einer bloßen Manifeftation diefes Gnadenwillens für das einzelne 
Subject, und der Glaube aus einem Werkzeug zum Ergreifen jener 
Gerechtigkeit zu einem bloßen Iunewerden diefes Gnadenwillens von 
Seiten des Subjectes werden? Wird nicht dies der richtige Aus- 
deu für jenen Heilsproceß fein, während dagegen die Darftelfung 
beffelben in der obigen Rechtfertigungslehre blos aus ber Accommor 
dation an ein gewiſſes fubjectives Bebürfniß der religiöfen Per: 
fönfichfeiten hervorgegangen ift, welde im gegenwärtigen Moment 
die Schreden des Gerichtes fühlen und ein losſprechendes Urtheil 
für ſich erfehnen, zu einer adäquaten objectiven Auffafjung des 


a) Vol. XXIX, p. 539g. 865.'877; Vol. XXX, p. 686. 7I1 (c. 21,8 7; 
© 24, 81). Bol. auch fon in Ed. 1:. Vol. XXIX, p. 73. 





460 Köflin 


Herganges aber ſich noch nicht zu erheben vermögen? Gewiß find 
die Eonfequenzen, welche man in dieſer Beziehung für den Eal- 
vinismus Hat ziehen wollen, nicht ohne Grund. Allein nur um 
fo nachdrücklicher müffen wir, ebenfo wie oben bei der Berfühnunge 
Ichre, darauf hinweifen, daß doch bei Ealvin durchaus feine weitere 
Andeutung folder Confequenzen, ja keine Ahnung derfelben an den 
Tag kommt. Und gewiß ift gerade dies wieder charafteriftifch für 
ihn und für diejenigen Gefichtspunfte und Intereſſen, welche doch 
durchweg bei ihm überwiegen. 

Die genauere Erörterung der Stellung von Glanbe und 
Buße zu einander, wobei nach Ealvin diefe ans jenem hervor 
sehen, obgleich der Zeit mad) nicht von ihm getrennt fein foll*), | 
haben wir uns bis hierher vorbehalten. Zunörbderft ift hierfür der | 
Sinn der Calviniſchen Säge, der nicht immer richtig aufgefaft | 
worden ift, feftzuftellen. Unter dem Glauben, fofern er die Wurzel 
der Buße fein fol, verfteht Calvin nicht etwa ®) blos den allge 
meinen Glauben an Gott als den Allmächtigen, Heiligen u. f. m. 
worauf erft hernach der Glaube zum Glauben an das Heil in 
Chriſto werden ſollte (das wirde ganz der Kutherifchemelandzthon’fchen 
Lehrweife entſprechen). Der Gegenftand des Glaubens ift vielmehr 
Schon Hier beftimmt das Evangelium vom Heilande Ehriftus: mit 

der guten Botfchaft, fagt Calvin °), gebiete Je. 40, 3 den Anfang 
der Predigt zu machen; der Menfch könne der Buße fich nicht 
ernftlich befleißigen, che er erkannt habe, daß er Gottes fei (se Dei 
esse); die Ueberzeugung aber, Gottes zu fein, könne Einer erft 
haben, wenn er vorher Gottes Gnade ergriffen habe. Hierzu fügt 
Ed. 3 bei: Diejenigen, welde die Buße voranftellen, mögen des 
wegen auf diefen Irrthum geraten fein, weil allerdings Viele, 
ehe fie die Gnade erfannt, ja verſchmeckt haben, durch Schreden 
des Gewiſſens gezähmt und zum Gehorfam herangebifdet werden; 
hier handle ſich's aber nicht um eine folche Vorbereitung; rechte 
Gefinnung fei jedenfalls nicht möglich, wo der Geift Chriſti noch 


a) Vol. XXIX, p. 685egg.; Vol. XXX, p. 434sgg. (c. 9). 
b) So ſcheint e8 and Dorner (a. a. O., S. 282) aufzufaffen. 
©) Vol. XXIK, p. 686 qg.; Vol. XXX, p. 4Bösgg. (c. 3, $ 204. 





über Cafoin’s Institutio. 4 


nicht regiere; wahre Gottesfurdt fei nicht möglich ohne die 
Zuverfiht, daß Gott Einem gnädig fei, gemäß dem Pſalmwort 
®. 130, 4: „apud te est propitiatio ut timearis“. Weiter 
erffärt dann Calvin: die Buße, umter welcher er ausdrücklich die. 
ganze negative und pofitive inmere fittliche Umgeftaltung befaßt Haben 
will, müſſe von der ernftlichen Gottesfurcht ausgehen und beftehe 
in „veteris hominis mortificatione et spiritus vivificatione ‘; 
da findet er denn mit Bezug auf jene Furcht nothwendig, daß der 
Menſch erregt werde durch den Gedanken”an Gotte® Gericht, und 
weiter Haben wir hierfür beizuzichen, was er vorher bei der Lehre 
vom Gefeg über deu Vorhalt der Sünde und Verdammungs- 
würdigkeit durch dieſes gefagt Hat *); erwedt werden foll jedoch 
hiermit eine ſolche Traurigkeit, die nicht blos vor den Strofen fih 
fhte, fondern die Sunde felbft haſſe, und Haß der Sünde ift 
mr, wo vorher Liebe zur Gerechtigkeit ift ®), welche Liebe denn 
wieder nah Calvin's Lehrzufommenhang auf eine ſchon vorans 
tegangene Onadenerfahrung uns zurückweiſt; die mortificatio ferner 
ſoll ſelbft ſchon, wie vollends die vivificatio bei uns eintreten 
ex Christi partieipatione. Das find die Hauptfäge Calvin's mit 
Bezug auf jenes Vorantreten der Gnadenbotſchaft und des Glaubens. 
Um ſodann das Eigenthümliche diefer Lehre zu firiren, haben wir 
fie beſonders mit der Luther's zufammenzuhalten, aud die letztere 
übrigens Hierbei genauer, als häufig geſchieht, in's Ange zu faffen ©). 
Abgemacht ift auch nach Luther die Buße oder innere Abtödtung 
kineswegs mit derjenigen Gewiffenserregung, welde dem das Evans 
gelium ergreifenden Glauben vorangeht: im Gegentheil würde fie 
ohne diefen zu einer bloßen Kainsbuße; und wahre, ernftliche Buße 
tommt auch nad; Luther erſt aus einer die Gnadenerfahrung ſchon 


a) Vol. XXIX, p. 429sq.; Vol. XXX, p. 257g. (Lib. II, c. 7. $ 654.). 
Man beachte Hier auch Calvin's Verhältuiß zu Agricola: er feheint mit 
biefem übereinzuffimmen, fofern aud er mit dem Gnadenruf, Gnadenzug 
und Glauben den Anfang macht, weicht aber dann fehr entichieden vom 
ihm ab, foferm er gerade auch mit Bezug auf die von der Gnade ergriffenen 
Subjecte ein Strafamt umd (vgl. unten) Lehramt des Geſetzes behauptet. 

b) Vol. XXIX, p. 695; Vol. XXX, p. 451 (Lib. III, c: 3, $ 30). 

©) Meine „Theologie Luther’e“ II, 440f. 





462 KöRlin 
























voraußfegenden Liebe zur Gerechtigkeit. Der Unterſchied beftct 
- vielmehr in dem Nachdruck, womit Luther dennoch darauf dein 
daß jene Gewiſſensſchrecken als Anfänge der Buße den erft auf fi 
folgenden Anfängen des Glaubens Bahn machen müfjen, und zma 
nicht blos bei „Vielen“, fondern allgemein und wejentlich. — Vol 
Klarheit kann ih num, wie ich ſchon oben gejagt, bei Calvin i 
den hierher gehörigen Ausführungen nicht finden. Die vorhin en 
widelten Säge find der Ed. 2 u. 3 entnommen, wo Calvin üb 
haupt erjt mit Veftimmtheit in die Frage eingegangen ift. 
Ed. 1, in welcher dies noch nicht der Fall ift, Hat nicht bios 
Boranftehen des Glaubens noch nicht betont, ſondern legt viel: 
theilweife auch eine entgegengefegte Auffaffung nahe. Sie zieht m 
nicht jene Folgerung aus der Sefaiasftelle. Anknüpfend an Feſ— 
Worte Mark. 1, 15 findet fie zwar, daß Hier zuerft die Schü 
der Barmherzigkeit aufgeſchloſſen werden, weiter aber, daß darı 
bin Buße und „tum postremo ‘“‘ Zuverficht zu Gottes Verheißung 
gefordert werde. Indem fie ferner die Buße als mortificatio 
zeichnet, jagt fie zwar, daß man in Gemeinjchaft mit Chriftus 
feinem Tod abfterben müfje dem alten Menſchen nad, zugleich al 
diefe Buße eröffne ung „primum ad Christi cognitionem i 
gressum“*). Iu Ed. 2 und vollends inEd. 3 Hat dann Cain 
jene andere Auffaſſung durch die oben mitgetheilten, an Jeſ. 
und Pf. 130 anfnüpfenden Säge, welche er Hier in dem Capi 
von der Buße neu eingefügt und an bie Spige geftelft hat, 
drücklich abgewiefen. Im weiteren Berlaufe jedoch Kat er ad 
wieder die Säge der Ed. 1 von der „‚postremo‘ geforderten Zu 
verficht zu den Verheigungen und von der Buße als „primus 
ingressus etc.“ aufgenommen: ftatt „Buße“ nennt er Bier be 
ftimmter den „Haß der Sünde“, welcher der Anfang der Buße fi, 
ohne zugleich auch hier zu bemerken, daß doch diefer Haß ſchon den 
Genuß der Gnade vorausfege d). Er hat ferner beim vorange- 
ſchickten Capitel vom Gefeg, in welchem er die Grundgedanlen 
darüber aus Ed. 1 wiederholt, nicht‘ felber auch darauf aufmerkſam 





a) Vol. XXIX, p. 149g. 
b) Vol. XXIX, p. 693q.; Vol. XXX, p. 449g. (c. 3, $ 1924.) 


über Ealoin’s"Ihstitutio. 463 


macht, daß doch jenem Vorhalt der Sünde und Verdammuiß 
arh'& Geſetz bei der Buße jchon eine Erfahrung der Gnade voran⸗ 
en müffe. Auch in demjenigen Abſchnitt der Bußlehre, wo die 
d. 2 u. 3 die Furcht vor dem Gericht einführen, vermiffen wir 
ne Mare Zurückbeziehung auf bie jet vorangeftelften neuen Säge 
ver den Ausgang der Buße vom Glauben: die Darftellung ift 
er einfach wieder in den Gang der Ed. ‚1 übergegangen. — 
tdenfalls fehlt es den fpäteren Ausgaben hier wieder, wie auch 
anderen Fällen, an einer genauen Durchbildung bes feit Ed. 1 
ibehaltenen Stoffes von denjenigen Gefihtöpunften aus, welde 
: jelbft erft neu mit ‚Beftimmtheit eingeführt haben. Nichtsdeſto⸗ 
miger bleibt für uns der Nahdrud, mit welchem er die neuen 
üge vorträgt, bedeutfam. Und zwar war es ihm hierbei ohne 
wifel hauptfächlich um den Gegenfag gegen eine Meinung zu 
wm, welche mit einer Voranftellung der Buße oder contritio vor 
m Glauben fich leicht verband, — gegen die Meinung nämlich, 
0b irgend Etwas auf Seiten des Menſchen, das feiner, erft 
th den Glauben fich volfziehenden Einigung mit Chriftus voran» 
jen würde, zum Behuf feiner Rechtfertigung vor Gott in Ber 
ht kommen dürfte; er erwähnt fo polemifch auch Diejenigen, 
Ihe einen, dem Glauben vorangehenden, initialis timor ſchon 
ter die Tugenden rechnen (Ed. 3 1. c., $ 2). Allein daß der⸗ 
ihen Meinungen mit jener Boranftellung keineswegs nothwendig 
bunden feien, konnte ja Calvin Mar genug in Luther's Erxflä- 
ngen fehen, wonach jenen terrores conscientiae noch keinerlei 
htfertigende Kraft zufommt; und andererfeitS feugnet ja doch auch 
nit, daß wenigftens bei „Vielen“ ſolche pavores vorangehen, 
dag man durch fie ſchon zum Studium pietatis und zu Chriſtus 
bit Hingezogen werde (vgl. weiter in $ 2). Der Grund ders 
igen Differenz, die dennoch zwifchen der Calviniſchen und Luthe— 
hen Lehrweiſe beftehen bleibt, wird fo noch anderswo zu fuchen 
a: die Schuld und das Schuldbewußtſein Hat für Calbin, 
diel Gewicht er darauf legt, dennoch im Verhäftnig zum pofi- 
en Zug der Gnade und Gnadenbotfchaft nicht diefelbe Bedeutung 
e für Luther; fo findet er eine kräftige Erregung des Schuld» 
vußtſeins vor dem Innewerden der Gnade doch nicht bei Allen 


44 Köflin 


nothwendig, findet es auch nicht nöthig, davon in feiner Darftellung 
des Gnadenweges eigens zu handeln; ja er würdigt bie pavores 
a. a. DO. auch nicht einmal beftimmt unter demjenigen Gefichtsı 
punft, unter welchem Luther fie fo betonte: er bezeichnet fie “ 
beftimmt als Schreden über die Schuld, unter welchen man zu 
Greifen nach der Schuldvergebung bereitet, fondern nur — 
wodurch man gezähmt und zum Gehorſam herangebildet 
folle. Wir könnten auch die wieder zu jenen Fragen über Wi 
wirkliche Bedeutung einer objectiven Vergebung und Nechtfertigu 
welche nad Calvin erft im zeitlichen Verlauf eintreten foll, in 
siehung fegen, wenn wir hiermit nicht wieder ganz über: Dasjni 
Hinausfchreiten würden, was Calvin felbft fagt und dent. 
Auch auf das neue fittlihe Leben überhaupt, defien he 
negative Seite die Abtödtung des alten Menjchen ift, richten 
endlich noch einmal unfere Aufmerfjamteit. Calvin Hat, wien 
fahen, feit der Ed. 2 die Lehre von der Buße nach ihrer pofii 
fowohl als nad; ihrer negativen Seite und ſowohl nad) it 
Anfang, als nach ihrem fortgefegten Verlaufe, eben damit die 
gemeine Lehre von der Wiedergeburt und fortgefegten Heil 
ſchon vor dem bejonderen Capitel über die Rechtfertigung 
delt und hat dazu in Ed. 3 auch ſchon die concrete Ansfül 
über die „Vita Christians‘, welde in Ed. 2 das Wert jä 
gezogen. Wir Haben nicht minder ſchon gefehen, daß er di 
doch keineswegs die Rechtfertigung auf biefe innere Erneuerung 
ihre Früchte, die Werte, hat gründen wollen. So madit er 
auch zum Motiv des chriftlich-fittlichen Verhaltens, Strebens 
Wirkens in Feiner Weife eine ſolche Beziehung der Rechtferti 
auf die. eigene Rechtbeſchaffenheit. Ja er betont als Motiv ii 
auch nicht fo, wie man meinen möchte und gemeint Hat, daß M 
Erneuerung und die Werke ein Zeugniß des Heilsſtandes fei 
Er ſtellt vielmehr als die wirffamen praftiven Motive nur 
fammen: die Abfiht, Gott zu verherrlichen, welche, mie er Tat, 
eigentlich ſchon ganz genügen follte, und für die Menſchen, mei 
dur den Gedanken an Gottes Ehre noch nicht fo kräftig ench 
werden, das dankbare Gedächtniß der Wohlthaten Gottes in Ehritt: 
das fttliche Streben fol, wie er ein ander Mal erklärt, ausgein 

















über Calvinꝰs Institutio. 466 


son, daß Gott uns ermahne heilig zu fein wie er felbft, und 
jes zur Ehre Gottes (gloria Dei) gehöre, mit der Unreinigkeit 
ie Gemeinfchaft zu Haben, — und um uns hierzu noch beifer 
uregen, wird und Gott als Bater vorgehalten, der, wie er in 
tiſto ſich und verföhnt hat, fo in ihm fein Bild uns barftellt, 
b welchem wir uns geftalten ſollen *). Auf biefen Grundlagen 
bt Calvin mit dem ftrengften fittlichen Exrnfte zur Zucht, Selbft- 
igung und chriſtlichen Thätigleit an. Charakteriftiich fir Calvin 
rift es num allerdings, wie mit der Sorge um das Heil, die 
öhnung, die Heilsgewißgeit bei ihm unmittelbar, von vornherein 
ı mit gleichem Nachdruck dieſes Dringen auf die fittliche Lebens⸗ 
altung, auf bie Heifigung vor dem Beifigen Gott, auf die Dar⸗ 
lung der neuen Perfönlichkeit zu einem Opfer an Gott u. f. w. 
}rerbindet. Eben aud) darum hat er, wie wir im Eingang des 
ineren Hanptftücdes von der Nechtfertigung leſen, dieſes felber 
!nachfolgen laſſen wollen: man ſollte ſchon von vornherein ers 
sem, dag der Glaube, durch welden allein man die Gerechtigkeit 
reife, nicht müffig fei zu guten Werfen. In der Betonung biejer 
ite ift auch die Ed. 2 wefentlich über die Ed. 1 fortgefchritten: 
ift ein Fortſchritt in der Iehrhaften Entfaltung des ſpecifiſch 
viniſchen Geifted. Und eigenthümlich ift für Calvin weiter, daß 
ihm dieſes neue fittliche Verhalten und Wirken, obgleich es im 
Hfertigenden Glauben wurzeln foll, doch nicht in demfelben inneren 
ı wefentlichen Verhältniß zu diefem, wie namentlich bei Quther, 
8 Licht tritt. Bei Luther Tieße ſich eine ſolche Stellung des 
ihnitte von der Rechtfertigung darum nicht- denken, weil bei ihm 
? aus dem Junewerden der Vergebung und Rechtfertigung felbft, 
dem freien, freudigen Geift ber Berföhnung und Gotteskind⸗ 
it 018 ſolchem die fittlichen Bewegungen und Früchte des Wieder» 
orenen fließen. Bei Calvin erfcheinen die „erfte” Gnade, die 
Vergebung, und die zweite, die der fittlichen Erneuerung, viels 
dr als nebeneinander ftehend, — beide als nebeneinander hervor⸗ 
end aus der Beziehung des Glaubens auf den Erlöfer, bei 





) VeL XXIX, p. 777. 1124sqg.; Vol XXX, p. 588 (c. 16, $ 3). 
502594. (c. 6). 











466 V Köhlin 


welchem analog bie verſöhnende unb bie heiligende Thätigkeit uche 
einander geftellt wird. Hiermit hängt denn zufammen, daß auf 
feiner Betrachtung des fittlichen Lebens ſelbſt wirklich eine arde 
Seite als bei Luther überwiegt, wenngleich auch diefer Unterjie 
deſſen wir fon oben gedacht haben, von manchen —A 
übertrieben worden iſt. Derſelbe gibt ſich gleichfalls ſeit Ed.2 
ſchieden kund. So ſehr nämlich auch Calvin im Capitel von 
chriftlichen Freiheit betont, daß die Chriſten nicht mehr vom Zum 
des Gefeges getrieben werden, fondern, dem Joche des Gi 
entnommen, freiwillig Gott gehorchen, fo herrſcht doch in jei 
Darftellung der chriſtlichen Sittlichkeit nicht fo wie bei Luther j 
erhaben freie und freudige Geift der mit dem Vater verſt 
zu ihm gleichſam fehon in den Himmel gehobenen und nun in 
„herniederfahrenden“ Kinder. Im Charakter der Kinder wird 
ſogleich das Gehorchen als ſolches betont, Gott und Chriſtus il 
als mahnendes Vorbild vorgehalten, ihr fittliches Leben vor 
vornehmlich unter den Geſichtspunkt der Selbftverleugnung 
(vet. „De vita Christiana‘). Mit Beſtimmtheit trägt fo 
von Anfang an auch ſchon den Tertius usus legis im 
ftüd vom Gefege vor. Es ift bei Luther zum mindeften 
haft, ob er dem Geſetz für die. Wiedergeborenen eine andert 
deutung gebe als fofern auch fie noch Sünder find und darum 
immer das Strafamt des Geſetzes nöthig Haben; erft bi 
Intherifchen Dogmatikern wird beſtimmter auch der Didactic 
legis usus als folder feftgefteltt. Bei Calvin wird eben ii 
fon von Ed. 1 in dem genannten Abſchnitt ausgeführt. 
nach Ed. 2 ift diefer Gebrauch des Gefeges für bie Gfäufi 
in welchen der göttliche Geift ſchon Iebe und herrfche, der „ 
praecipuus et qui in proprium legis finem propius spectat“ 
Erft nach diefer Betrachtung des Heilsweges und Heil 
gehen wir dazu über, auch eigens die ewige Erwählung derjeri 
Berfonen zu betrachten, welche auf dem bezeichneten Werte 
Glaubens und der Wiedergeburt von Gott — und zwar er ü 
Folge der ewigen Gnadenwahl — zu dieſem Heile gebradit 



























a) Vol. XXIX, p. 50. 433; Vol. XXX, p. 261sq. (Lib. I, c. 7,51 


über Calvin’s Institutio. 481: 


em gegeniiber fteht die Menge Derjenigen, welche der ewige Rath⸗ 
uß Gottes der Verdammniß preisgegeben Hat. Bei Jenen hängt 
wer mit der Lehre von ihrer Erwählung auch die Lehre von der 
jarrlichkeit zuſammen, die Gott feinen Erwählten verleiht und 
nöge beren fie, einmal gläubig und wiedergeboren, des Glaubens 
heifigen Geiftes nicht wieder verluftig gehen können. Calvin 
ftift e8, der das Lehrftüd von der Bräbdeftination ſammt 
probation u. f. w. in der von uns innegehaltenen Reihen» 
€ einführt. . 

Rerkwitrdig ift für uns überhaupt bei Calvin's Prädeftinationg- 
t [bon von vornherein die Art, wie er fie, die, fir ihn fo hohe 
Siigfeit Hatte und für fein Syftem ſo charakteriſtiſch ift, in die 
Mihrungen feine® Syſtemes durch die .verfchiedenen Ausgaben 
het) eingegfiedert Hat. Eingehend, nachdrücklich und mit aller 
Mumtheit trägt er ſie fehon in Ed. 20 vor. Man kann bei 
furzen Zeit, welche zwifchen Ed. 1 und Ed. 2a liegt, nicht 
men, daß fie für. ihm ſelbſt erft in der Zwiſchenzeit ſich fo 
? feftgeftellt haben, zumal da er fie ja auch gar nicht erft neu 
fih zu erzeugen, fondern nach ihren Grundzügen und gerade 
mit den Härten, die fie bei ihm Hat, ſchon bei den Häuptern 
Reformation, namentlich in Luther's berühmten Buche gegen 
mus, ja aud in Melanchthon’s Locis bis 1535 vorgefunden 
% Was er Hierhergehöriges in feiner Ed. 1 vorbringt, läßt 
auch jehr einfach bereits als Beftandtheil der fpäter von ihm 
ausführlicher vorgetragenen Lehre auffaffen. Dennoch bringt 
a Ed. 1 mit Bezug auf fie nur ſolche allgemeine Säge vor, 
ein Anderer, wie etwa ein Melauchthon von feinem eigenen 
ren Standpunlte aus, Leicht auch in anderem Sinn hätte deuten 
m. Er wibmet ihr hier Keinen befonderen Abſchnitt: und zwar 
wegs in der Weife, wie dies hier auch mit der Rechtfertigungs- 
e der Fall ift, auf melde umfomehr durch's Ganze hindurch 
Blick gerichtet: bleibt, vielmehr fo, daß er auf jene überhaupt 
von gewifjen einzelnen Punkten aus zurücdjchaut. Fragt man, 
iin Ed. 1 als Gentraffehre ſich darftelle, fo kann man dafür 
‘Herdings nur die Lehre vom Heil bezeichnen, fofern es auf 
md der von Gott in Chrifto geftifteten. Verſöhnung in, ber 





468 Kalte 


Gegenwart durch ben Glauben augeeignet werde. Gr 
(Vol. XXIX, p. 51) die ewige Ermählung im Gegenfag zu 
Begründung des Heils auf bie von dem Ehriften ſelbſt zu 
benden Verdienfte, indem er das Heil vielmehr allein darauf gri 
daß wir vor der Weltihöpfung ohne Werdienft nach Gottes 
gefallen erwählt, durch Ehrifti Tod erlbſt, in Chriſto von 
zur Sohnſchaft angenommen fein u. ſ. w:, und er erflätt 
demfelben Gegenfage gegen das eigene Verbienft das heilige 
der Chriften nur für den Weg, auf welchem Gott die 
zur Herrlichkeit führen wolle (p. 55 vgl. oben). Eigens von! 
Erwählung redet er dann bei der Lehre von ber Kirche, dem „ 
versus electorum numerus‘‘ (p. 72sqgq.), befchräntt fi j 
auf die allgemeine Lehre, daß Gott Die, welche er erwählt 
berufe, die Berufenen rechtfertige u. f. w., und daß Reine 
Herrlichkeit eingehen werde, ber nicht fo berufen und gerecht 
worden fei. Nach Denjenigen, welche Gott nicht erwählt 
frägt er hier gar nicht. Diejenigen, welde, mit der 
der Gnade in Ehrifto ſich nicht begnügend, fürmwigig in de 
grund der göttlichen Majeftät eindringen wollen, warnt er, u 
nicht Gottes Zorn Herausfordern. Bei ber Lehre Don ber 
Gottes, der Alles in Allem wirte (p. 63), nimmt er hierm! 
Sünde einfach aus, die vielmehr unferer Schlechtigkeit zuzurie 
fe. Im einer beiläufigen Bemerkung (p. 60) redet er auf" 
einem Wirken Gottes „in reprobis‘, führt aber das Böfe 4 
auf die Wurzel in ihrem eigenen Inneren zurück, fagt von 9 
blos, daß derſelbe ihrem eigenen böfen Willen Erfolg und Ar 
gebe, erwähnt nichts von ihrem Dahingegebenfein in's Böfe de 
einen uranfänglichen Rathſchluß Gottes felbft. Nur tritt zu ja 
allgemeinen Ausfagen über die Ermählung ſchon jet in Ber 
der Perfeverang der charakteriſtiſch caloinifhe Sat, daß, I! 
Kirche das Bolt der Erwählten fei, wahre Glieder der Kirk ı 
moglich mehr ſchließlich verloren gehen können (p. 73) °).— | 
») A. Schweizer (Die proteft. Ceutraldoguen u. ſ. w. I, 150f.) tt 
VBerbienfl, wohl zuerſt wieder in Erinnerung gebracht zu haben, daß ü 
uerſt nur fehr beſcheiden dieſe Lehre fo, wie fie ſchon vor ihm 
breitet war, belasmte*. 


über Cofotr’s Institutio. 469 


m folgenden Ausgaben fah ſich dann aljo Calvin veranlaßt, die 
chre, die ex theilweife auch bei evangelifch Gefinnten gefährdet ſah, 
inerſeits defto jhärfer nad) ihrem ganzen Inhalte zu entfalten. 
ur deſto mehr fällt dann aber auch auf, daß er ihr dennoch erft 
e Stelle Hinter jenen anderen Lehrſtücken zuweiſt. Man ſollte 
nten, er habe bei der Eingliederung derfelben ebenfo freie Hand 
habt, wie bei der des neuen befonderen Hauptſtückes von der 
ehtfertigung und von der Buße. Zudem ändern die Ed. 2b 
d die Ed. 3 noch die Stellung derfelben, — aber nur um vor 
t auch noch die Lehre von der chrijtlichen Freiheit umd weiter die 
am Gebet und vom chriftlichen Leben durchzunehmen. — Wir 
men biefe Behandlung der Prädeftinationslehre im Syſtem der 
atitutio nur begreifen, wenn ber erfte und nächfte Gegenftand 
Krefigiöß« hriftlichen Intereſſes für Calvin eben nicht der ewige 
Michlug ſelbſt war, auf welden der ſeligmachende Glaube ſich 
hen müffe, fondern vielmehr immer die gegenwärtige Heilsdar- 
Wung in Ehrifto mit der gegenwärtigen Heilserfahrung und die 
enwärtigen Erweifungen Gottes überhaupt an das Subject, oder 
3, was das Subject von dem gegenwärtig wirkenden Gott inne 
id; wir fönnen fie ferner nur begreifen, wenn Calvin es nicht 
# für die Sache einer hriftlich-populären Untermeifung, fondern 
h für die Aufgabe einer chriſtlich-wiſſenſchaftlichen Dogmatik 
fh, von dem auszugehen und zunächft ganz bei dem zu verweilen, 
s jenes Intereſſes näcjfter Gegenftand fei. Bon hier aus erft 
aut er zurück anf jene ewige Willensbeftimmung in Gott. Un 
d aber ift diefelbe allerdings für ihn die nothwendige Prämiffe, 
f welcher der ganze Inhalt unferer gegenwärtigen chriftlich » refis 
Hen Erfahrung nicht blos an und für ſich ruhe, fondern welche, 
mit diefer Inhalt. für ung Wahrheit und Gewißheit Habe, auch 
: die gläubige Erkenntniß feftgeitelit und feitgehaften werden müſſe. 
id zwar ift eben ihm der befondere Eifer eigen, womit er darauf 
t Ed. 2 der Institutio dringt und beharrt. Man erkennt in 
jem Fortſchreiten oder Rückſchreiten von der gegenwärtigen Er» 
ung aus zu ihrer Begründung im ewigen Rathſchluß einen 
At fühner Conſequenz. Zugleich aber wird von da aus auch 
iteres Licht zurüdfallen auf die befondere Art, wie ſchon jene 


470 Köplin 


gegenwärtige Erfahrung jelbft und das gegenwärtige Verhältniß 
awifchen Gott und Menſch überhaupt ſich ihm vermöge der Eigen: 
thumlichkeit feines religiöfen Geiftes darftellte. 

Betrachten wir jedoch, ehe wir weiter über’ die Stellung dei 
Prüdeftinationgfehre in der Institutio reflectiren, erſt näher nodı 
ihren Inhalt, wie er feit Ed. 2 vorliegt. Wir haben uns gehütet, 
in die zuvor erörterten Lehren vom geſchichtlichen Berföhnungswerte, 
von ber zeitlichen Heilsdarbietung durch's Evangelium, von der 
zeitlichen Heilsaneignung durch den rechtfertigenden und wiedergebät 
renden Glauben ſchon weiter, ald Calvin jelbft es thut, bie Rüd 
fiht auf den ewigen, unwandelbaren Willen Gottes hereinzuzichen 
Wir müffen uns nicht minder Hüten, das, was er nachher ü 
diefen Willen vorträgt, abzuſchwächen. Auch jetzt verweift er 
jenigen, welde mit Gottes Rathſchluß ſich befchäftigen, anf 
Wort, durch weldes Gott den Gnadenrathſchluß vollziehen walk, 
auf den Verfühner Ehriftus, in welchem Gottes ewige Liebe 
und gegenwärtig darftelle: Chriftus fei der Spiegel, in melden 
wir unfere Erwählung betrachten ſollen *). Jetzt aber wird zuge 
nachdrucklich und rückhaltslos erklärt, daß, wie die gläubige An— 
Eprifti und des Evangeliums ſchlechthin nur durch das freie Wir 
des göttlichen Geiftes in den Subjecten hervorgebracht werde, i6 
aud einer unzähligen Menge von Subjecten diefe Gnadenwirtug 
vorenthalten und hiermit die Annahme des Heiles unmöglich bleibe, 
und daß das zweite wie das erfte von Ewigkeit her in Gottes m 
bedingtem Rathſchluſſe feftitehe: wie bei den Erwählten dann m 
der Berufung und Rechtfertigung die ewige Gnadenwahl fih m 
erkennen gibt, fo bei deu Verworfenen das für fe beſtimmte Gericht 
darin, daß Gott fie von der Heilserfeuntnig und von feinem Geil 
der Heiligung ausſchließt ). — Da genügt denn für Die, melde 
ihres Heiles gewiß werden ſollen, aud nicht mehr jener Hinweiu 
auf die objective Darbietung des Heiles in Ehrifto und dem Heilt 
worte, wonach fie glaubend greifen follen: es fragt fid ja no, 
ob Gott felbft diefes Glauben nach feinem Rathſchluß ihnen ver 













a) Vol. XXIX, p. 880; Vol. XXX, p. 7l5sq. (Lib. UI, c. 24, $ 5). 
.b),VoL XXIX, p. 865; Vol. XXX, p. 686 (c..21,.8 7). 





über Calvin's Institutio. 471 


leihen wolfe oder verliehen Habe, umd zwar ein nicht blos ſchein⸗ 
bares und mit Selbfttäufchung verbundenes Glauben, wie e8 nad 
Ealoin auch bei Verworfenen ftatthat, fondern ein wahrhaftes, 
feftes, umverrüdbares Anhängen an Chriftus. Hierfür erſcheinen 
mm bei Calvin die Gläubigen weiter auf ein unmittelbares indivi» 
welles Innewerden des Geiftes als eines ihmen felbft ſchon mit- 
jetheilten verwiefen. So vermweift er in Sägen, welde die Ed. 3 
Anfügt, auf 1905. 3, 24: „inde agnoseimus nos esse filios, 
x spiritu quem dedit nobis“ *). Wir bemerken indeffen, dag 
lalvin felbft auch im Abſchnitt von der Präbeftination diefe Re— 
krion der Gläubigen auf ihren eigenes? inneren Zuftand zum Behuf 
ber Vergewiſſerung von ihrem wahrhaften Heilsbeſitze doch nicht 
R, wie es uns confequenterweife nöthig feheinen möchte, betont und 
iefolgt; er wiederholt für Chriften, welchen das Myſterium der 
kideftination bange macht, doch mehr nur — ähnlich wie Luther — 
ft allgemeine Mahnung, an Gottes Offenbarung in Chriſtus 
ih zu halten, ohne Zweifel vorausfegend, daß, wenn diefelben er. 
aahlt feien, Gott eben auch dieſer Ermahnung Kraft geben und 
ach das Wort von Chriftus fie auch zur wahren inneren Sicher- 
eit thatfächlich bringen werde. Nicht überflüffig wird gegenüber 
on neueren Darftellungen des reformirten Shftems nebenbei auch 
ie Bemerkung fein, daß die guten Werke, welche wir im Abfchnitt 
om der Rechtfertigung als Zeugniffe der Berufung und Kindſchaft 
Beichnet fanden, doch von Calvin gerade bei der Prädeftinationd« 
hre felbft nicht wieder in biefer ihrer Bedeutung hervorgehoben 
verden: fo fern bleibt Calvin davon, auch nur wenigftens die ſub⸗ 
etive Gewißheit des Heils weſentlich auf fie zu ftügen und dann 
wa dies zum Hauptmotiv für das Ueben der guten Werke zu 
tahen. — Andererſeits, mit Bezug auf die Vermworfenen, erhebt 
ch das Bedenken, wie jenes unbedingte Decret über fie mit Gottes 
hiſchem Charakter ſich vertrage. Und mit Bezug hierauf fpricht 
4 jest die igenthümlichleit des Calviniſchen Standpunftes in 
d. 2 und nod) weiter in einzelnen Sägen der Ed. 3 unverhüllt 
18. Er bleibt feineswegs nur bei der Antwort ftehen, daß fie ja 


a) Vol. XXX, p. 718 (c. 24, $ 8) cf. Vol. XXIX, p. 8785qq. 882, 
Theol. Stud. Jahrg. 1868. 82 


[77 Köflin 


dvermöge ihrer eigenen, ihnen angeerbten Sünde verdammungsweri 
feien. Gr hatte ja jet, wie wir oben fahen, auch das, daß vm 
Adam aus die Sünde auf fie fid) vererben follte, einfach auf den 
Willen Gottes felbft zurüdgeführt. Die Berufung auf dieſen Willen 
genügt ihm auch gegen alle Bedenken über die Neprobation: dem 
jeder Einwurf gegen denfelben ift Frevel wider die göttliche Majeftät. 
Der Frage, warum Gott Jenen die Gnade vorenthalte, jtellt die, 
Ed. 3 in new eingefügten Sägen die frage entgegen, ob er dem 
nad) der abjoluten Freiheit feines Willens nicht auch Ochſen, Ciel 
oder Hunde hätte ans ihnen machen können. Und ſchon die Ed.? 
ftelft den Hauptſatz auf: ‚„‚Quidquid Deus vult, eo ipso, quod 
valt, justum habendum‘“ ®). ° Unter den Gefichtspunkt der bri⸗ 
deftination ſtellt er endlich fhon in Ed.2 aud den Fall Adams; 
auch von ihm fagt er: „„Deum non modo praevidisse sed ı- 
bitrio quoque suo dispensasse“. Wenn er daneben dem 
betont, daß — „cadit homo Dei providentia sic ordinantg, 
sed suo vitio cadit“, fo läßt doch hierfür meines Erachtens I 
ganze Zufammenhang feiner Lehre nicht etwa nod die Auffofag 
zu, daß Adam’st Uebertretung „nur als eine für Gott g 

Größe in die allgemeine Weltordnung (ordinatio) mit aufgenomat 
ſei“ (Dorner, Geſch. d. prot. Theol., S. 389). Calvin king! 
vollends in Ed. 3 beſtimmt gegen Die, welche meinen, Gott hir 
es in dem freien Willen Adam’ geftelit, fein Schickſal fich zu g 
ftalten, und Habe nur bejchloffen gehabt, ihn nad) feinem Berdienk 
zu behandeln. Dazu haben wir beizuziehen, was er in Ed 3) 
Zuvor, in den neuen Abfchnitten vom Urzuftand, über Adam au 
gefagt hat. Hier will er die Frage nad) der Prädeftimation aus 
drücklich noch fernhalten und äußert zugleich, Adam Hütte ſteher 
können, wenn er gewollt Hätte, und fei mur durch feinen eigen 
Willen gefallen. Aber er fügt bei: Adam fei deswegen, weil ihm 
die constantia perseverandi nidjt verlichen geweſen fei, jo litt 
gefallen; und weiter hören wir hier: Gott Habe ihm auch eins 
binfälligen Willen (volunt. caducam) gegeben, „ut & 





4) Vol. XXX, p. 687 (c. 22, $ 1); Vol. XL, p. 870; Vol. II. 
p- 700 (c. 28, $ 2). 


über Calvin's Institutio. 478 


ilius lapsu gloriae suae materiam eliceret“. Suchen wir 
diefer ganzen Anſchauung Calvin's eine über feine ausdrüdlichen 
Borte hinausgehende Ergänzung zu geben, jo kann es, wie mir 
ſcheint, nur diefe fein: Adam fei allerdings durch feinen eigenen 
Bien gefallen und diefe feine Willensbeftimmung fei keineswegs 
pofitid von Gott gewirkt worden; wohl aber fei biefelbe bei ihm 
deshalb nicht blos leicht, fondern in Wahrheit unvermeibficherweife 
ingetreten, weil fein Wille vermöge des natürlichen, creatürlichen 
Mangels an fittlicher Kraft und vermöge des Fehlens jener Gottes» 
yabe der Beharrlichkeit der Verfuhung nicht Stand zu Halten vers 
nocht Habe, und fo fei es ergangen eben nach dem ewigen Rath⸗ 


Muß Gottes zum Zwed feiner Verherrlichung; es ift dies fo eine, 


Kffaffung vom Falle Adam's, welche weſentlich mit der Luther's 
Rker Schrift gegen Erasmus zufammentrifft. In diefem Sinne 
ht dann Calvin in Ed. 3 auch ben Sag Anguftin’s fich ange 
Ignet: „Deum sic ordinasse angelorum et hominum vitam, 
# prius ostenderet quid posset liberum arbitrium‘ deinde 
uid posset gratiae suae benefieium justitigeque judieium “ ®). 
fa eben auch der Fall der Engel wird nach Calvin nicht anders 
ufgefaßt werden können. Erſt Ed. 3 läßt auch auf ihn vollends 
t diefer Beziehung ein Licht fallen: wie am der eben angeführten 
Stelle, jo noch beftimmter in c. 23, $ 4, wo es im Gegenjag 
ı dem guten, „auserwählten“ Engeln (1Xim. 5, 21) von den 
nderen Heißt: „Aliorum defectio arguit fuisse derelictes; 
ujus rei causa non potest alia adduci quam reprobatio, 
uae in arcano Dei consilio sita est.“ 

Sehen wir nun aber von Bier aus wieder auf das Syſtem im 
Janzen, fo werben wir jet doch das gewöhnliche Urtheil über 
alvin's Eonfequenz als eine ſyſtematiſch durchgreifende und um- 
ngfame weſentlich einſchränken müſſen. Mußte ihn nicht eine ſolche 
onfequenz, wenn fie ih fo weit führen mußte, auch noch weiter 
eiben? Warum, wie wir bereits am Schluffe des erften Artilels 
agten, hat er nicht wenigftens in der Ed. 3, wo er — auders 


a) Vol. XXIX, p. 873sq.; Vol. XXX, p. 70459. (c. 28, 8 78q.) 148 
(Lib. I, c. 18,8 9). 
32* 


| u 


474 Köplin 


als früher — eine ausführlichere Erörterung über Adam's Fell 
ſchon dem 1. Buch eingefügt hat, hierbei auch ſchon des göttfihen 
Decretes gedacht, durch welches derfelbe nad) dem 3. Bud ver- 
ordnet war, vielmehr dieſes hier ganz unmotivirterweife noch aut 
dem Spiel lafjen wollen? Warum hat er nicht die ganze Ent 
wicklung der Menfchheit durch Sünde und Gnade, wie fie ihm durch 
dieſes Decret gejegt ift, jet auch von Anfang an als Vollziehung 
deſſelben dargeftellt, ja wohl gar auch ſchon den erften Eintritt der 
Simde in ber Engelwelt unter eben diefem Gefictspunfte voran 
geftellt? Dazu erinnern wir an jene Confequenzen, die von feiner 
Prädeftinationsfehre aus für die vorher von ihm entwickelte Ver⸗ 
ſohnungs⸗ und Rechtfertigungslehre fich zu erheben droßten. Welch 
ganz andere Geftalt hätte fo fein Syſtem erhalten können! — 
Betrachten wir ferner das unmittelbare chriftlich-religiöfe Bewußt⸗ 
fein, auf deſſen Grund er nach jenen ewigen Nathichlüffen Gotth 
zurücſchaute, fo hört man wohl häufig fagen, das reformatoridt 
Grundberbußtfein von der freien Erbarmung Gottes treibe ae 
fequenterweife zu jener ftrengen Prädeftinationstheorie. Aber je 
dem daffelbe nicht noch andere Seiten in ſich, welche eine an 
Löfung fordern, und war jene nicht für Calvin blos deswegen gr 
fordert und überhaupt möglich, weil in der Eigenthümlichkeit feintt 
teligiöfen Grundanſchauung diefe Seiten weniger Gewicht hatten, | 
als fie es fr andere evangelifche Theologen haben und wohl uud 
nad dem evangelifchen Princip felbft haben follen? Gehört dam 
nicht and eine ſolche Auffaffung der fittlichen Perfönlichkeit und 
zugleich des Gegenfages Gottes gegen das Böje, welche wenigitert 
jene Auffaffung vom urfprünglichen Sündenfall ausſchloß? und hat 
wohl nicht eben ein Gefühl hierfür auch Calvin felbft abgehalten, 
noch beftimmter über diefen fich zu erflären und mit jenem Decret 
Gottes den Anfang zu machen? Cr geht hierbei aber doch fo meit, 
als wir ihm gehen fahen, weil er gegenüber vom abfoluten Gott 
die Creatur ſchon an ſich fo umfelbftändig und ſchwach meint denten 
zu müffen: ob vermöge des ſpecifiſch evangeliſchen Princips, — 
wäre eben erft noch die Frage. Es ift ja ferner nicht blos Frei- 
heit ber göttlichen Liebe, was diefes Princip lehrt, ſondern es it 
vor Allem bie Liebe ſelbſt als Grunbbeftimmung in Gott. C* 





über Ealvin’s Institutio. 475 


fragt fich, ob nicht von hier aus der Conjequenz, welche man aus 
iener Freiheit ziehen möchte, dennoch gewehrt wird. Bei Calvin 
aber kommen wir jo darauf zurüd, daß bei ihm diefer Liche in 
Gott etwas Anderes -ungeeinigt und mit einem gewiſſen Uebergewichte 
gegenüber ftehen bfeibt. Und zwar meinen wir mit biefem Anderen 
weniger die göttliche Strafgerechtigfeit, die er allerdings felbft ihr 
gegenüberftellt, deren Gewicht und aber zur Erffärung feiner Lehre 
noch nicht genügt, da fie ja doch auch ſchon durch Chrifti Straf» 
feiden befriedigt erfcheinen konnte. Wir meinen weit mehr noch das 
Alles überwiegende Bewußtfein von der abfoluten göttlichen Sou- 
veränität, Willensfreibeit und Willensmacht als folder: fie ift’s, 
die bei Calvin über dem Walten der Liebe und der verdammenden 
Gerechtigkeit fteht, die eben darin, daß fie rein nach freier Wahl 
tils begnadigt, theils verwirft, ſich felbft bethätigt und in ber 
gähmäßigen Durchführung diefes verfchiedenen Wirkens ſich ſelbſt 
vderherrlicht, die endlich eben vermöge ihres Weſens auch alle im 
ſittlich- veligiöfen Bewußtſein des Menſchen wider fie auffteigenden 
Fragen als Verlegung der ihr ſchuldigen Ehrfurcht verwehrt und 
serdammt. — Charalteriſtiſch bleibt freilich für Calvin fein Streben 
aach ftrenger Conſequenz und nach Einheit des Syſtemes. Nicht 
ninder charateriftifch aber ift e8 gewiß für ihm, daß er, während 
er doch die letzen Conſequenzen nicht zu ziehen fich berufen fühlt 
und zu einer wirklichen inneren Einigung der verfchiedenen Seiten, 
Motive und Intereſſen des evangelifchen Principe doch nicht ger 
fangt, an den Schranken,welche er fich hierfür geſetzt findet, mit 
einfacher Entfagung vor der göttlichen Majeftät ſich beugt und die 
gleiche Entfagung Alten zur Pflicht macht. Und gerade in der 
fortfchreitenden Entwicklung der Institutio fommt auch diefe feine 
Eigenthümlichkeit immer mehr nod zum Ausdrud, 

Auf die bisher beſprochenen Lehrſtücke bin ich fo weit, wie hier 
geliehen ift, eingegangen, weil mir vornehmlich die hier hervor- 
tretenden, beziehungsweife nicht Hervortretenden Eigenthümlichkeiten 
Calvin's gerade auch nad) den verfchiedenartigen darauf gerichteten 
Arbeiten neuerer Theologen noch einer genaueren Unterfuchung zu 
bedürfen ſchienen. 

Beſtimmt, wie es bei jenen Lehren nicht der Fall war, liegt 


\ 








416 Köplin _ 


num feine Eigenthümlichkeit in Betreff der Gnadenmittellehre 
oder wenigftens Abendmahlslchre uns fchon im der eriten 
Bearbeitung der Institutio vor: ſowohl der Unterfchied von ver 
lutheriſchen Theorie, als zugleich das Streben, dennoch eine tiefe 
Bedeutung des Sacramentes für die Heilsdarbietung Gottes an 
uns feftzuhalten. In der geſchichtlichen Entwielung der Institutio 
aber verdient vornehmlich das unſere Aufmerkjamteit, daß zumeift 
eben diefes Streben in den folgenden Ausgaben und zwar auch 
noch in der Ed. 3, welcher ſchon der Heftige Bruch zwifchen Calvin 
und den Zutheranern vorangegangen war, mit fortjchreitender Stärk 
ſich bethätigt und zu weit volleren Ausfogen als in Ed. 1 führt, 
während freilich aud jene andere Seite unverrüdt beftehen bleibt 
und uns für mande jener Ausfagen die Frage nahe legt, ob Calvin 
nicht zu viel, nämlich mehr, als er jelber eigentlich wolle, wit ihnen 
anszufagen ſcheine. Wie er ſchon in Ed. 1 darauf gedrungen hat, 
daß der Glaube feinen Gegenftand, feine Grundlage, feinen Halt 
u. f. w. im Worte habe, fo ſpricht er nachher aus, dag Got 
immer Denen, die er zu fich ziehen wolle, durch's Wort id 
vergegenwärtige, findet im Worte (inesse in verbo) die „ek 
caciam vitae‘‘, vergleicht weiter in Ed. 3 die Nothwendigfeit da 
Wortes für den Glauben mit der Nothwendigkeit der Lebendign 
Wurzel des Baumes für die Früchte, nennt gleichfalls im einem 
Zufag der Ed. 3 das Wort einen unvergänglichen Samen, deſſeu 
Keimfraft in den Gläubigen nie ganz verdorre *). Bon den Sr 
cramenten hat ſchon die Ed. 1 erklärt, daß durch fie, diefe Pfänder 
der göttlichen Gnade, der Glaube genährt werde, wie Gott dur) 
Brod unfern Leib nähre. Die Ed. 2 gibt zu: „Dominum prae- 
sentissima spiritus sui virtute suae institutioni adesse‘‘. Di 
Ed. 2b fügt bei: Chriſtus jelbft jei die Subftanz der Sacrament, 
und die Kraft und Wahrheit derfelben an fi folle vom Zuſtande 
des Empfängers nicht abhängig gemacht werden. Gleichlautend 
wie bei Luther werden das Wort und die Sacramente um deswillen 
für Kennzeichen der Kirche erflärt, weil fie „nirgends fein fönnen, 

a) Vol. XXIX, p. 57. 455; Vol. XXX, p. 402 (Lib. IH, c.2,$6. 

422 ($ 31). 415 ($ 21). 





über Calvin's Institutio. 47 


ohne daß fie Frucht brächten“ *). Dazu faßte Ealvin die inneren 
Vorgänge felbft, fir welche die Sacramente zu Pfändern, ja eben 
hiermit auch zu Werkzeugen dienen follten, in tief myſtiſcher Weife 
af. Es ift Abtödtung, Neubelebung und Mittheilung aller Gaben 
Ihrifti, um was es bei der Taufe für ihn fich handelt. Dabei 
findet er eine gewiſſe geheimnißvolfe erleuchtende Einwirkung der 
jöttfihen Gnade auch fehon in den neugeborenen Täuffingen möglich, 
vbgleich er feit Ed. 2% und weiter feit Ed. 2 vorſichtig beifügt: 
r wolle hiermit in Betreff diefer Kinder nicht behaupten „,eadem 
se fide praeditos quam nos experimus, aut (fo feit Ed. 2) 
mnino habere notitiam fidei similem‘“, wolle vielmehr dies 
dahingeſtellt fein laſſen. Hinſichtlich des äußeren Actes der Taufe 
Mit er Schon feit Ed. 1 neben den Sag, daß jene Gnadengaben 
m Sacramente nicht eingefhloffen feien, den anderen, daß mir 
erzeugt fein follen, Gott übe doc fo gewiß, al& der äußere Act 
rellzogen werde, jene Gnadenwirkungen in uns. Während er ferner 
in Ed. 1 bei jenem erften Sat auch das verneint hatte, „quod 
#cramentum organum aut instrumentum sit, quo [gratiae 
Ilse] nobis conferantur‘, hat er feit Ed. 2 die gegen ben Be— 
zriff des Werkzeuges gerichteten Worte gejtrichen: er redet polemifch 
ur noch von einem ſolchen Eingefchloffenfein der Gnadengaben im 
Sacrament, wobei dieſes vermöge eigener Kraft fie mittheilen 
ollte; und Ed. 3 fügt dazu weiter den pofitiven Sag: „Dominus 
welher uns im Sacrament ein Pfand feines Willens gebe) in 
tem praesentem nos adducit et, quod figurat, efficaciter 
mul implet‘“ ®). Die geiftlihe Gabe oder Speife für bie Seele, 
ım die es beim Abendmahl fich handeln foll, hatte die Ed. 1 zu> 
jammenfaffend ausgedrüdt in dem Sage: daß Chrifti Leib und 
Blut unfer werde, Heiße fo viel, als daß wir den ganzen für ums 
jefreuzigten Chriftus befigen und aller feiner Güter theilhaftig 
werden. Eben im diefe reale Mittheilung oder in das Eſſen felbft, 





®) Vol. XXIX, p. 1045q. 950; Vol. XXX, p. 954 (Lib. IV, c. 14, 8 17); 
Vol. XXIX, p. 544; Vol. XXX, p. 754 (Lib. IV, c. 1, $ 10). 

b) Vol. XXIX, p. 982; Vol. XXX, p. 990 (c. 16, $ 19); Vol. XXIX, 
p. 115. 965; Vol. XXX, p. 970 (c. 15, $ 16). 








478 . Köflin 


das nicht mit dem Glauben eins, fondern des Glaubens Folge id, 
ſucht dann die Ed. 2 noch in weit vollerer Darftellung einzuführen. 
Und zwar hat fi Calvin jet erft ganz fpeciell und in fichtlichem, 
angelegentliyem Arbeiten und Ringen des dogmatijchen Gedankens 
mit der befonderen Bedeutung befchäftigt, welche in der allgemeinen 
Mittheilung Eprifti feinem Leibe oder Fleiſche zukomme. Jetzt erit 
trägt er die ihm eigenthümliche Auffaffung derfelben vor, melde 
er ausdrüdt in dem Bilde: wie man Waffer aus einer Duelle 
durch Canäle auf die Felder Leite, fo ftröme das Fleiſch Chrifti 
das aus der Gottheit ihm zuquellende Leben auf uns über, indem 
es felbft einer reichen, unerſchöpften Quelle gleiche. Indem fein 
Leib und dargeboten werde, in welchem er allen Gehorfam zum 
Behuf unferer Gerechtigkeit erfüllt habe, werden wir zuerjt mit 
ihm felbft Ein Leib und genießen dann, feiner Subftanz theilpaftig 
geworden, auch feine Kraft in der Gemeinfchaft aller feiner Güter. 
Eine Erflärung der Ed. 1, wonad uns „nicht die Subftanz de, 
Xeibes oder (seu) der wahre und natürliche Leib Chriſti, fondeni 
alfe von ihm in feinem Leib geleiteten Wohlthaten“ zugetheilt 
ſollen, ift feit Ed. 2 weggefallen. In dem auf diefe Ausgkr 
folgenden befondern Libellus de coena Domini gebraucht Ealıa « 
im Gegentheil vollends den Ausdrud: „Christum nobis veran 
propriamque corporis et satguinis sui ‚substantiam nobi 
dare.“‘ Andererfeits jagt wiederum die Institutio in Ed. 3 ne } 
genauer; „Christum e carnis suae substantia propriam 
in nos vitam diffundere, quamvis in nos non ingrediatur 
ipsa Christi caro.“*) Zugleich übrigens Täßt jegt Calvin ſeit 
Ed. 2 jene Gemeinfhaft mit Ehrifti Leib für uns durd den 
Geift ChHrifti vermittelt werden; er vergleicht mit der Art, wie 
fie uns durch diefen zu Theil werde, die Art, wie die Sonne ver- 
mittelft ihrer Strahlen gewifjermaßen ihre eigene Subftanz br 
Erde zulommen laſſe; er nennt aud den Geift gleichſam einen 
Canal, durch den Alles, was Chriftus fei und habe, uns zufliege?). 


a) Vol. XXIX, p. 120sq. 1000sqg.; Vol. XXX, p. 1007 qq. (beider 
e.17,8 9); Vol. XXIX, p. 123. 1010; Vol. XXX, p. 10925q. ($ 3). 
Libell. de coena: edit. Gener. 1545, p. 28. 

b) Vol. XXIX, p. 1008sq.; Vol. XXX, p. 1011. 1009 ($ 12. $ 10) 













— 4 


über Calvin's Institutio. 479 


tan wird nun gutes Recht Haben zu Zweifeln darüber, ob Calvin 
og aller feiner Bemühungen einem hier die erforderliche Klarheit 
währe, — ob nicht eben auch diefes Verhältniß des Geiftes, der 
1 Canal für Ehrifti Leib, und wiederum des Leibes, der ein Canal 
t das göttliche Geifteswefen Chriſti fein fol, eine große Unklar⸗ 
it in ſich ſchließe, — ob ein ftrengeres Denken überhaupt mit 
er Mittheilung des Leibes jelbft in Calvin's Syftem Ernft machen 
me und nicht vielmehr von hier aus doch immer wieder nur auf 
n Genuß der von Epriftus im Fleiſch vollbrachten Leiftungen 
d zugleich auf eine den Glauben ftärkende Betrachtung der wahren 
id fortwährenden Menfchheit des Mittlers werde zurückkommen 
üffen. Aber Calvin felbft ift es jedenfalls hoher Ernft damit, 
t Realität jener ganzen Mittheilung feitzuftellen. Er erklärt au) 
M, daß er mit allem Neden dem Gegenftand noch nicht zu ge» 
im ſich bewußt fei, und ermahnt die Leſer, noch viel höher 
maufzufteigen, als“ er jelbft fie zu führen vermöge. Er durfte in 
etreff jener Lehren den Gegnern, welche ihm Rationalismus vor⸗ 
arfen, mit vollem Recht entgegnen: ob er etwa alles Das durch 
+ Bernunft ſich habe ehren laſſen *). So befennt er denn endlich 
4 mit Bezug auf die Frage, wie die Darbietung jener Gabe 
!facramentalen Acte vor ſich gehe, feit der Ed. 2b: das 
eheimniß fei zu tief, als daß et es zu faffen oder auszufprechen 
mödte. Eben unter den Symbolen, jagt er dann, follen wir 
m Leib nehmen umd effen. Eben im Abendmahl, jagt er in 
d. 3, wolle Chriftus feinen Geift wirken Laffen, um zu’ erfülen, 
26 dort im Zeichen verheißen fei. Und gerade noch in der Iegten 
gabe fügt er vollends bei mit Rückſicht auf die Unwürdigen: 
t Leib werde auch ihnen „nicht minder wahrhaftig gegeben“ ale 
nÖläubigen, während freilich, wie der Regen von hartem Geftein 
fliege, fo jene durch ihre Härtigfeit die Gnade Gottes zurück-⸗ 
en, daß fie nicht zu ihnen eindringe d). — Allein während 
albin's Ausfagen nad) diefer Seite hin fortwähren und fi noch 





%) Vol. XXIX, p. 1000; Vol, XXX, p. 1028 ($ 24). 
b) Vol. XXIK, p. 104. 943sq.; Vol. XXX, p. 947 (C. 14, $ 8); Vol. 
XXIK, p. 1010; Vol. XXX, p. 1032. 1009. 1085 ($$ 32. 10. 33.) 








480 Köklin 
























verftärfen, bleiben doch nad) der bereits oben bezeichneten anderen 
Seite Hin feine Erflärungen deutlich und kräftig genug ımd fordern, 
daß nicht mehr, als mit ihnen ſich vertrage, im jene gelegt werde. 
Nicht blos nicht eingefchfoffen foll die Wirkſamkeit Gottes in die 
Gnadenmittel fein; fondern während wir alle die bisher er« 
wähnten Erflärungen vernehmen, wird doch immer wieder neben- 
einander geftellt: das Lehren des Wortes, die Bekräftigung di 
die Sacramente, und dann erft („postremo") die Wirkfamtei 
des Geiftes, welche die Herzen öffne *). Und einestheil® vedet ba: 
Calvin trog jenem Sage, daß Gott immer durch's Wort ziel 
beifäufig auch von „Vielen“, denen Gott durch ben Geift 
Predigt des Wortes feine Erfenntniß geſchenlt habe. Anderentheilt 
— was für und die Hauptſache fein wird, — erklärt er ſchon v 
Ed. 1 her, daß die Gnadenmittel den Geift nicht Allen zufüh 
fondern der Herr ifm nur „peculiariter suis ſchenke“ ®); 
dies muß vollends feit Ed. 2 für Calvin's Gnabenmittellehre 
vornherein und durchweg in Betracht gezogen werben, nachdem 
ihr hier jene ausführliche Lehre von der Präbeftination Hat vı 
gehen laffen. Da fagt denn Calvin in Betreff der Taufe 
nur von den Erwählten umter den Kindern, daß Gott, was er 
der Taufe begonnen, bei ihnen nachher weiter vollziehen und 
ſchon nad; der Kaufe verftorbenen doch auch jo, wie er es gut 
erneuern werde °). Und in Betreff jener hartherzigen Empfän 
des Abendmahls müffen wir nad Calvin’ Sinn beifügen, M 
Gott felbft die wahre Aufnahme feiner Gabe ihnen nicht mögli 
machen wolle. Wenn Calvin doc diefe Werkzeuge Gottes fi 
unfere geiftige Ernährung mit dem Brod und anderen Werkzeug 
für unfer natürliches Leben vergleicht, fo darf Hieraus ſchon 
deswillen defto weniger gefolgert werben, da er ja jet (vgl. obr 
©. 427) eben auch auf die Unabhängigkeit Gottes von diefen m 
törfichen Werkzeugen fo lebhaft dringt. Füglich fragen wir, wit 
weit hiernach die Sacramente auch nur noch für fihere Pfändet 


a) Vol. XXIX, p. 981; Vol. XXX, p. 989 (c. 16, $ 19). 
b) Vol. XXIK, p. 107. 960; Vol. XXX, p. 954 (c. 14, $ 17). 
©) Vol XXIK, p. 988sg.; Vol. XXX, p. 91 (c. 16, 8 21). 





über Caloin's Institutio. 48 


a Alle, welchen Gott fie fpenden läßt, gelten können. Calvin 
ft aber geht auch Hier auf die Confequenzen nicht, wie wir's 
warten und wünfchen möchten, ein; es fehlt auch feiner Ausfüh- 
ung über die Gnadenmittel, und zwar aud noch in Ed. 2 u. 3, 
ne durchgreifende Beziehung auf die Präbdeftinationslehre, 

In diefer Weife alfo umd innerhalb diefer Grenzen betont und 
folgt Calvin bei den fortgefegten Bearbeitungen feiner Institutio 
e Bedeutung der objectiven, äußeren Hülfsmittel (subsidia, Lib. 
J. ec. 1, 8 1), deren Gott zu feinem Wirken in den Gläubigen 
d bedienen wolle. So ftellt er denn unter diefen Gefichtspunft 
ih mehr und mehr die Kirche, welcher eben jene Gnadenmittel 
xrtragen find. Ja in feiner anderen Beziehung zeigen die ſpä⸗ 
mu Ausgaben der Institutio ein ftärferes Fortſchreiten, als in 
mNahdrud, womit er dieſe anftaltlihe Seite im Wefen der 
Inge betont. Die Ed. 1 hat die Kirche wefentlich als den „uni- 
sus electorum numerus ‘‘ betrachtet, wie fie ja in diefem Ab⸗ 
mitt auch ihre Hauptfäge über die Erwählung felber vorgetragen 
t; hier, fagt fie, genießen die Erwählten in ihrer Gemeinschaft 
tinander aller Güter; von dieſer Kirche fagt fie dann auch, daß 
t, in ihren Leib aufgenommen, die Vergebung der Sünden er= 
gen, und daß außer ihr fein Heil fei, fo wie fie felbft auf der 
sgebung der Sünden beruhe. Bon demfelben Begriff der Kirche 
* Calvin aud in Ed. 2 aus und knüpft daran den Sag, daß 
unfere Mutter jei, wir in ihrem Schooß empfangen, in ihrem 
Hoofe gehegt werden müffen u. f. w.; fofort aber geht er jegt 
timmter und ausführlich zur fichtbaren Kirche über, zu ihrer 
torität und feit Ed. 2b zu dem ordo gubernandi ecclesiam. 
ı der Ed. 3 ftelft er gleichfalls noch jenen Begriff voran, fpricht 
= hiervon nur kurz und handelt weiterhin ganz von der externa, 
übilis ecclesia, führt auch erft mit Bezug auf fie, und zwar 
t mit gefteigertem Nachdruck, die Bedeutung der Kirche ald un⸗ 
er Mutter ein*). Und hier macht nun bei ihm in Ed. 2 und 
llends in Ed. 3 noch ein anderes Moment als bei den oben 
geführten Sägen über die Onadenmittel mit Macht ſich geltend- 


» Vol. XXIX, p. 725qg. 5878gg.; Vol. XXX, p. 74ösga. (c. 1). 





482 Köflin 


Neben den Gefichtspunft der Gnade, welche in der Kirche und den 
Gnadenmitteln ſich darbiete, ja beziehungsweiſe über denfelben tritt 
jetzt der Gefichtspunft des gebietenden göttlichen Willens, der cn 
an die hier von Gott geftifteten Ordnungen uns gewieſen hat. Zu 
ienen Gnadenmitteln, die man eben in der fihtbaren Kirche ge) 
brauchen foll, kommen ferner die Ordnungen der Zucht und de 
Selbftheiligung der Kirche, welche nach Gottes Willen zu üben i 
fammt den geordneten Einrichtungen, welche überdies für ein 

meinleben als foldes Bebürfnig find. Was hier zur befonde 
Geltung kommt, ift die dem Calvin eigene praftifch = fittliche 
fittlih-fociale Tendenz, mit der Hinkehr des Blickes auf Gott 
den heiligen Herrn und Gefeggeber, und zugleich mit einem gewiſſ 
gefeglichen Charakter. Und fie kommt fo zur Geltung ofi 
unter dem Einfluß der praftifhen Kämpfe, welche Calvin ſe 
als Organifator der ſichtbaren Kirche zu beftehen hatte. Zu di 
Kirche mit ihrer äußeren Predigt des Wortes und überhaupt 
den „vehicula‘, durch welche hier Gott uns zu ſich ziehen m 
follen, fagt die Ed. 3, ſich Alle ebenſo Halten, wie einft Je 
zum Einen Heiligtfum. Seit Ed. 2b erhalten wir eine einge 
pofitive Darlegung von einer potestas ecclesiae, "welche b: 
in doctrina, in jurisdietione und in legibus ferendis. 4 
diefes dritte Stüd (das übrigens die Ed. 2b erft im nachfolgent 
Gapitel De traditionibus humanis ausführt) wird fo mit da 
beiden erften zufammengeftelft: die Kirche bedarf folcher Grit 
wie jede menfchliche politia, nur müfjen fie einfach aus den cn 

















14, 40 angedeuteten Rückſichten, nicht aus Tatholifchem Aberglaubt 
hervorgehen. Mit Bezug auf alle diefe Stüde wird dann gedru 
auf die Autorität der Kirche, auf den Gehorfam,. welchen Alte ik 
ſchuldig feien *). Die Uebung aller diefer Thätigfeiten endlid «| 
ſcheint niedergelegt in die Hände der kirchlichen Amtsträger, der 
ministri. Indem die Ed. 3 ihr 4. Buch „De externis medis 
vel adminiculis ete.“ mit dem Hinweis auf unfer Bedürfri 
folger Hilfsmittel eröffnet, ſtellt fie gleich als Erftes hin die Be 
a) Vol. XXX, p. 751 (c. 1, $ 6); Vol. XXIX, p. 6285qg. 857599. 5: 
Vol. XXX, p. 8465gg. (c. 8, $ 1sgq.) 8875qg. (c. 16, $ 27sag.r 








über Calvin's Institutio. 488 


kllung don Hirten und Lehrern durch Gott und die Autorität, 
ait welcher er diefelben ausgeftattet Habe; dann nennt fie die Sa- 
samente u. f. mw. Die Bedeutung folder Menfchen, weichen Gott 
28 Regiment der Kirche übertragen, ſetzt Calvin ſchon in Ed. 2b 
amentlich auch darein, daß wir fo noch mehr, als wenn Gott un— 
üttelbar fpräche, in der Demuth geübt werden follen; noch mehr 
ttont er dieſes, examen obedientiae ‘“ und „jugum modestiae “ 
ı Ed. 3. Auf die Grundlage eines allgemeinen Prieſterthums 
ıt er dieſes Amt nie, wie Luther, zurücbezogen, fondern blos eine 
ktgeifigung der Gemeinden an der Wahl der Amtsträger gewünfcht, 
brigens vor 'einer Hingabe der Wahl an die Menge gewarnt, ber 
untlih auch unter den Genfer Verhältniffen mit einer nur ganz 
Directen, ja in Wahrheit nicht mehr fo zu nennenden Betheiligung 
m Gemeinden ſich begnügt. Und ohne Bedenken vergleicht er in 
4.3 die Lehrer ſelbſt mit ben altteftamentlichen Prieftern, aus 
en Munde dort das Volk den wahren Sinn des Gejeges Habe 
fragen follen *). — Zu den Trägern des kirchlichen Amtes ge» 
sten nun für Calpin mejentlih au die Saienälteften. Wir 
üffen indeffen mit Bezug auf diefes befondere Moment der Cal» 
niſchen Lehre eine Wahrnehmung vorausfchiden, welche wieder hei 
t geſchichtlichen Entwicklung der Institutio ſich und darbietet und 
elche theils zeigt, daß das genannte Inſtitut für Calvin feines- 
18 ſchon von Anfang an fo hervorragende Bedeutung hatte, 
eils auch, daß feine Theorie feineswegs, fo wie man häufig meint, 
t Praxis, dem Drange des praftifchen Bedürfniſſes oder auch 
ir wenigftens der praftifchen Gefeßgebung voranſchritt. Wir leſen 
m dem Inſtitute noch nichts in Ed. 1, während damals in Bafel 
reits die Zuziehung von Laien zur Sittenzucht durch Oekolampad 
npfohlen und in gewiffem, wenn auch nur beſchränktem Umfang, 
"geführt worden war. Ja Calvin bejpricht daſſelbe auch noch 
Hin Ed. 28 vom Jahre 1539, während er doch inzwiſchen 
ber ſchon in Genf auf eine ſolche Beiziehung von Laien gedrungen 





#) VoL XXX, p. 744 (c. 1, $ 1); Vol. XXIX, p. 561; Vol. XXX, 
p. 760. 752 ($$ 5. 6). — Vol. XXIX, p. 570. 579sg.; Vol. XXX, 
?- 7768q. 796 (c.8, $14aq.; c. 4, $ 12); Vol. XXX, p. 780 (c. 1, $5). 





484 Köftlin 


Hatte und während in dem genannten Jahr ſchon die heſſiſche Kirch 
zuchtordnung erfßien, welche nad; der „alten Ordnung des heili— 
Geiſtes, wie wir die in dem apoftolifchen Schriften haben“, 
Aclteftenamt aufrihten wollte *). Wir müffen Hierauf umſome 
aufmerffam machen, da der ſonſt fo zuverläffige Richter (Gef 
der evangel. Kirchenverfaſſung, S. 167 ff.) die Säge Calvin's 
das Aelteſtenregiment ſchon auf die Ausgabe von 1539 zurücfii 
er hat mit diefer die Ausgabe von 1543 verwechfelt, wie wir a 
fonft aus feinen Citaten fehen. Auch die von einem „Presbyteriu 
redeude Schriftftelle 1 Tim. 4, 14, welche Calvin mit Bezug 
die dort ermähnte Handauflegung anführt, veranfaßt ihn in EA. 
und Ed. 2% nicht, über Laienälteſte fi zu äußern: er meint 
„presbyterium “ werde da beffer vom „ministerium*“ (Rehra 
als von einem „coetus seniorum‘‘ verftanden; feit Ed. 2b 
er dann biefe Bemerkung weggelaffen. Unter dem ,‚gois 
pevos“ Rom. 12, 8 verfteht er in Ed. 1 politifce „, 
fecturas“. In Ed. 28 erfennt er bei diefer Stelle, obgleich a 
mit auf „omne praefecturae genus‘ beziehen will, dod 
daß fie „eigentlich“ vebe de senatu gravium virorum, wie ji 
Männer von der alten Kirche für die Zucht aufgeftellt wi 
fein, und daß bafjelbe Amt 1Kor. 12, 28 xußegvjasss 
wendet imdeffen nicht auch den Presbpternamen darauf an und 
anf das erwähnte Amt felbft nicht weiter ein®). Erſt nad 
das Genfer Confiftorium mit feinen aus dem Rathe ber St 
hervorgegangenen Aelteften gemäß den ordonnances eccl&siastiqus 
vom Jahre 1541 bereits in's Leben getreten war, gibt Cal 
aud in der Institutio vom Sabre 1543 feine Theorie über folk 
Aeltefte. Und zwar führt er fie hier ein eben mit Berufung af 
jeme Ansfprüde Röm. 12, 8. 1Kor. 12, 28 über die gubernatie 
ecelesiae, — als „seniores e plebe delectos, qui censurse 
morum et exercendae disciplinae una cum episcopis prae 
essent“. Dabei ftehen fie eimerfeits entſchieden ben Leitern, 
nämlich den Dienern des Wortes, nah. Auch hat Calvin noch u 















a) Richter, Kirhenordnungen I, 290. 
b) Vol. XXIX, p. 190. 1094. 281. 1108. 


über Catviuo Institutio. 486 


an mmittelbar vorangehenden Abfchnitten den bibliſchen Namen 
presbyteri“ als ibentifh mit pastores, episcopi, ministri 
w auf die Diener im Wort ausgedehnt, nur auf dieſe die Aus- 
rüde Tit. 1,5. 7. Phil. 1, 1. Apg. 20, 28 bezogen; auf diefe, 
ter, gehe auch der Ausfpruc von den Hirten Eph. 4, 11, und 
merkt ſchließlich: bis Hierher Habe er die Aemter aufgezählt, weiche 
ı Dienft am Worte beftehen. Bon da aus geht er dann mit 
erufung auf die erwähnten Stellen des Römerbriefes und erften 
wintherbriefe® zu den „seniores“ über, welde Jenen für die 
thenzucht zur Seite ftehen ſollen. Erſt in einem jpäteren, ſpe⸗ 
4 von der Eirchlichen Zurisdiction handelnden Abſchnitte fügt er 
diefen beiden Stellen auch bie 1Tim. 5, 17 und findet num 
u doppelte „presbyteri“, von denen ihm die einen mit dem 
m genannten „seniores“ identisch find. Diefelbe Darftellung 
tät in Ed. 3°). So wenig ift hier ſchon diejenige Lehre ſpu—⸗ 
nt, befonders ſchottiſcher Calviniſteu durchgebildet, melde der 
men Theorie vom Ritchenamt von vornherein den Begriff ber 
ssbyteri als einen gleichermaßen für die Laienälteften und die 
itmer des Wortes geltenden zu Grunde legt. Andererſeits ftehen 
mm bie seniores ſammt den Dienern des Wortes durchweg als 
tager eines göttlich verordneten Amtes mit der Autorität folchen 
ateö über der Gemeinde. Dieje foll auch zu ihrer Wahl beis 
jogen werben, bat aber auch Hierauf in Genf fo gut wie ver« 
ten müffen. 

& Hat Ealoin, während er gegen das fchriftwibrige katholiſche 
irchenthum kämpfte, nicht minder eifrig die Herſtellung eines recht 
ften, objectiven, gottgemäßen Kirchenthums und Amtes erftrebt 
id hat im feiner Lehre von der Kirche mehr und mehr auf diefe 
kite alfen Nachdruck gelegt: das ift hier für ihn — namentlich 
nz anders als für einen Luther — das Charakteriftiiche. Da» 
en bfieb nun aud) für ihn die Irrthumsfahigkeit der Amtsträger, 
* Möglichkeit ihres Falles, eben Hiermit die Frage, wie die 
Mäubigen, die Mitglieder des numerus electorum, fich Hiergegen 





9) Vol. XXIX, p. 5665q. 648.; vgl. auch p. 572; Vol XXX, p. 782 
(© 3,88). 892 (c. 11, $ 1); vgl. and) p. 788 (c. 4, $ 1). 








486 Köflin, über Calvin's Institutio. 


wahren follten. Daneben mußte ferner in den Bekennern der 
evangelifchen Grundlehren, wie gerade Calvin diefe vortrug, der 
Drang bleiben, auch fo weit fie nicht Träger diefer Aemter fein 
und namentlich; bei Beftellung diefer Aemter ſelbſt dem im ihnen 
felber Lebenden Geift praktiſch geltend zu machen. Cine genligende 
Vermittlung jener Seite aber mit den ragen und Anfprücen, 
welche von hier aus ſich erhoben, wird man in der Institutio, m 
gerade auch in ihrer legten Bearbeitung, nicht finden. 

Nah Allem, was wir in diefer Darftellung ausgehoben hal 
wird es feines weiteren Beleges dafür mehr bedürfen, dag a 
bei Calvin und feiner Institutio trog aller Feſtigkeit jeines 
fprünglichen Standpunftes eine Entwiclung ftatthatte, nur bei 
bedeutender aber erſcheint eben auch in ihr fein geiftiges Arbeitak 
Nicht minder dürfen wir wiederholen, daß er bei aller Arbeit jei 
fyftematifchen Geiftes, mit der er für feine Zeit Einziges gelei " 
bat, ein mit voller Strenge durchgeführtes, harmonifches, in 
abgejchlofjenes Syſtem uns doch auch in der ſchließlichen A 
des Werkes nicht darbietet. Nur deſto reicher aber find bie 
ſchiedenen Elemente, die er darin zufammengefaßt hat, nur 
reicher die Anregungen, welche darin einer weiteren Entwin 
der Dogmen und kirchlichen Grundfäge nach verſchiedenen 
bin gegeben waren, ja auch noch für die Zukunft gegeben ft 
werben. 
















Steitz, die Tradition v. d. Wirhamkeit d. Apoſt. Johaunes in Cpheſ. 487 
3. 
Die Tradition 


von der 
Wirkſamkeit des Apoſtels Johannes in Epheſus. 


Von 


D. Georg Aduard ZSteitz. 





Unter allen Ueberlieferungen der alten Kirche über die ſpüteren 
idfale der Apoftel galt bisher als die ficherfte und glaubwür- - 
dhe die Tradition von der Wirkſamkeit und dem Tode des Apoftels 
Mannes in Ephefus. Zweifel, wie die von Reuterdahl (De 
ntibus historiae ecclesiasticae [Eusebianse [und 1826], 
24), ob biefelbe nicht wielleicht ebenfogut wie die von der 
ebannung nad) Patmus aus der Apofalypfe entftanden fei, konnten 
gen die alfgemeine Ueberzeugung nicht auffommen. Die Tübinger 
chule Hielt daran feft wie an einem unbezweifelbaren hiftorifchen 
ogma, und Baur konnte wahrhaft unwillig werben, wenn Jemand 
w einen leifen Berdacht gegen dieſen Fundamentalartifel feiner 
nihauung des apoſtoliſchen und nachapoftolifchen Zeitalter zu 
Bern wagte. Erft Herr D. Keim’ Hat in dem erften Bande feines 
agft erfchienenen Buches: „Geſchichte Jeſu von Nazara“ (Zürich 
867), den Glauben an diefe Tradition nicht blos zu erfchüttern, 
andern bis in bie Wurzeln zu zerftören verſucht. Er will un 
verzeugen, dag der Apoftel Johannes ſchon Tange vor Ablauf des 
ften Yahrhunderts geftorben, daß er nie in Kleinaſien gewirkt, 
18 die bezügliche Sage von ihm nicht älter als Jrenäus fei, daß 
eſer den Presbyter Johannes, den Lehrer des Polykarp und Papias, 
it dem Apoſtel verwechſelt und die Nachrichten, die er als Knabe 
: Meinaften über den Erfteren gehört, irrthümlich mit dem Les 
ten verfnüpft und fo der kleinaſiatiſchen Kirche zu dem Befig 
nes zweiten Apoſtels neben Paulus verholfen habe, einem Sonder 
fig, den fie nicht mit Rom zu theilen Hatte. Sein Nachweis 
Theol. Stud. Jahrg. 1868. 33 


ass Steig 


bildet den Abfchluß feiner Unterfuchungen über das vierte Evangelum 
und hat den offen ausgeſprochenen Zwed, der Abfafjung deſſelben 
durch den Zebedaiden den legten Halt wegzuziehen. Ich Habe die 
mir von einer der erften theologifchen Zeitſchriften angetragene Re- 
cenfion des Keim’fchen Werkes ans manden Gründen abgelehnt. 
"Auf diefe einzelne Parthie im rein hiſtoriſchen Intereſſe näher ein- 
zugehen, fonnte ich mir nicht verfagen, weil fie mit meinen neueften 
Studien über Papias (Theol. Studien u. Krit. 1868. I, 63—95) 
in zu unmittelbarem Zuſammenhzange ftcht. 

1. Die erfte Vorausfegung, auf die Keim's Beweis fic ſtü— 
ift die Annahme, daß zu Ende des erften Jahrhunderts fämmtlic 
Apoftel längft igren Lauf und ihr Wirken beſchloſſen Hatten. „ 
ein, Apoſtel“, fragt er ©. 156, „damals noch gelebt, wenn 
ſchon die Offenbarung Johannis um das Jahr 70 und das Er 
gelium Lutas- Markus 80 — 100 an den Hingeng der Apalid 
glauben?“ Mir laffen die letztere hronalogifhe Beſtimmung af 
fi berußen, da fie den Gegenſtand unferer Unterfuchung nicht m 
mittelbar berührt. Wir beftreiten zuerft, daß aus den ker 
©. 156, citirten Stellen Offb. 18,20 u. 21,14 Keim’s Annie 
erfebloffen. werden foun. In der erjten wird unter dem zei 
nur das die Verfolgung über die Heiligen, Apoftel und Prophen 
d. 5. über die gefammte chriſtliche Gemeinde verhängende Urtkl 
Noms verftanden merden können; denn erft V. 24 ift von da 
wirklich vergofjenen Blute von Propheten und Heiligen (ohne Artitd 
und ohne. Erwähnung der Apojtel) die Rede. Ihre zwölf Name 
auf den zwölf Grundfteinen der Mauer des neuen Jeruſalems u 
der zweiten Stelle bezeichnen die Apoftel ſyuboliſch als die grund 
legenden Träger des Gottesreiches, aber weder als Lebende, nah 
als Abgeſchiedene. 

Segen die Zuläffigfeit der letzteren Annahme ſprechen Math. 
16, 28. Luk. 9, 27 und Mark. 9, 1. Zwar haben die beiten 
jungeren Synoptifer deu Schluß bei Matthäus: „Wahrlih, ih 
fage euch, daß Einige Hier ftehen, welche. den Tod nicht [med 
werben, bis fie des Menfchen Sohn in feinem. Reiche kommen fehen‘, 
abgefürzt. Lukas jagt nur: „bis fie das Reich Gottes fehen‘; 
Markus: „bis fie kommen fehen das Reich Gottes in Kraft‘ (— 





die Tradition v. d. Wirkſamkeit d. Apoft. Fohannes in Epheſ. 489 


dvvansı). Man Hat darans auf eine weit fpätere Zeit der jim⸗ 
gern Evangelien, auf das Ermatten der efchatologifchen Hoffnungen, 
auf die Erwartung der Hiftorifchen Barufie an der Stelle der eſchato⸗ 
logiſchen, auf den Uebergang zu der johanneifchen Borftellung des 
Kommens Yefu im Geifte gefchloffen; Keim findet darin ©. 71 
den Gedanken angedeutet, „daß die Nähe des Neiches auch ohne 
den Reichsheren immerhin auch noch den Urapofteln ihre Ausfichten 
gebe und fie noch über ihr Wirken hinaus im der Perſon der Nach⸗ 
jolger, eines Paulus und feiner Gehülfen, eine Welternte hoffen 
haffer. Allein diefes Wort Chriftt redet von einer Kataſtrophe, 
don der nicht mehr alfe, fondern nur einige überfebende Apoftel 
roch Augenzeugen fein werben. Dies kann die Wirffamteit des 
Paulus und feiner Gehülfen ſchon deshalb nicht fein, weil mit 
nahme des Fudas- md des älteren Jakobus die übrigen Apoſtel 
Wfelbe wohl noch alle mit Augen gefehen Haben; wenigſtens be» 
:htigt 1 Kor. 9, 5 zu ber Annahme, daß etwa ein Jahr vor der 
thten Reife des Paulus mach Sermjalem die Urapoftel no in 
hrer vollen Miſfionsthätigkert begriffen waren, und auch Ent. 21, 16 
savarascovoı SE vᷣueõv) laßt vorausfegen, dag nur Einige 
on ihmen in den DVerfolgungen, die der Zerftörung Jerufalems 
orhergingen, umgekommen feien, ®. 20 aber, daß die Mebrigen 
de Belogerumg noch mit Augen fahen (drav da Idnrs zuxlov- 
urm uno oreasonedaov TIsgovoakru). Das Kommen des 
Reiches Chrifti muß demnach bei Lukas und Markus einen andern 
dinn haben. In der großen eſchatologiſchen Rebe Luft. 21 (Matth. 24. 
Rarf. 33) Tiegt die Enthüllung. Jeſus läßt die den Weltlauf 
liegenden Ereigniffe ſich fucceffiv in drei Stufen vor den Jüngern 
nahen: erft eine Periode der Kriege, der Trübfale und Ver⸗ 
olgungen (im denen nur einige Apoſtel den Tod finden, die ans 
eren fich mit Erfolg verantworten); dann dem Greuel der Ver- 
süftung an Heiliger Stätte (bei Lukas die Zojumoıs der Stadt 
is zum Ende der xaıgoi Evo B. 22— 24); endlich nah 
Jeichen am Himmel und auf Erden die ſichtbare Erfcheinung des 
MNenſchenfohnes in den Wolken: mit Herrlichteit und Kraft (dyovras, 
wa Akten gleichmäßig feitgehalten, bejegt wicht, daß die Apeitel 
eine Erſcheinnng nicht mehr fehen, fordern daß fie von allen 
J 33* 


40 Steig 


‚Menfchen mit Augen wahrgenommen wird, denn nad; Matth. 8. 31 
und Mark. V. 27 kommt er, um durch feine Engel alle Aut 
erwählten auf der Erde zu fammeln). Wie an dem Hervorbreden 
ber Feigenblätter die Nähe des Sommers erkannt wird, fo ſollen 
die Jünger an der Stufenfolge diefer Ereigniffe erkennen, daß dr 
Menſchen Sohn vor der Thüre (Matth. V. 33 und Mark. V. 29) 
oder daß das Reich Gottes nahe fei (Ruf. V. 31: örs Eyyus dom 
7 Baoılele voö ®eod). Da mit der Nähe des Reiches Gottes 
auch bei Lukas nur die Nähe des Leiten Ereignifjes, der Erfcheinug 
des Menfchenjohnes, gemeint fein Tann, fo ergibt ſich, daß auch der 
Begriff des Reiches Gottes, das nach Luk. 9, 27 noch einige 
Apoftel fehen follen, nicht Hiftorifch, fondern nur eſchatologiſch 
gemeint und daß diefem Evangeliften fein Anbrud; dem Sinne nad 
ganz mit dem Kommen des Menjchenfohnes a 7 Baasksig aus 
ibentifch iſt; felbft der Ausdrud Mark. 9, 1: Zus dv Idum 
iv Baoılslav voü Gsod EAnivdeiav Ev dvvapeı, fin 
feine Erklärung in der duvanss zal do&n old, worin uf 
alfen Synoptifern (Matth. 24, 30. Marf. 13, 26. Lu. 21, 
der kommende Menfchenfohn ſichtbar gefchaut werden wird. OR 
zwingenden Grund aber fhließt man aus dem Umftande, di 
Luk. 21, 25 das eudewng des Matih. 24, 29 vor der dritten Ste 
der Ereigniſſe ausläßt und nad der Zerftörung vom Jeruſalen 
die zaıgoi Z9vw» eintreten läßt, welche die Anderen nicht haben, 
auf einen fehr langen Zwiſchenraum zwifchen der Abfaffung de 
Matthäus und des Lulas und auf eine „unbeftimmbar große Pr 
riode der Trümmerlage Jeruſalems unter dem ehernen Tritt der 
Heiden“ ; die mAjgwaıs vor zagav Eävov braucht Lukas, defim 
Evangelium auch Holgmann (Spnopt. Evang., S. 410) höchſtent 
fünf bis zehn Jahre nach 70 gefchrieben dent, noch fange niht 
mit umferem Augenmaße berechnet zu haben, die Auslafjung ds 
eidg aber bei Lukas bezeugt ebenfowenig feine Gewißheit, dıf 
die Apoftel jenen Tag der Erjcheinung des Menfchenfohnes nicht 
mehr erleben werden, denn gerade die Apoftel warnt Jefus bi 
demfelben Evangeliften (Luf. B. 34): „Hütet euch, daß micht jener 
Tag plöglih Über euch (&y’ dus) komme.“ Wenn ferner Keim 
aus Luk. 21, 28 fehr frei folgert, die Apoftel follten mar den 





die Tradition v. d. MWirkfamfeit d. Apoſt. Johannes in Epheſ. 491 


Anfang des Endes, nicht das Ende felbft mehr fchauen, fo fagt 
umgekehrt Jeſus in dieſen Worten nur: fie follten ſchon beim Ans 
fange diefer Ereigniffe ihre Häupter in der Gewißheit erheben, daß 
ihre (der Apoftel) Erlöfung, nämlich in der unmittelbar vorher 
erwähnten Erſcheinung des Menfchenfohnes, nahe. Schließlich tritt 
noch die gleichmäßige Verfiherung bei Matthäus (8. 34), Markus 
(8. 30) und Lukas (B. 32) ein: Wahrlich, ich fage euch, das 
gegenwärtige Gefchlecht (zu welchem auch die Apoftel gehören) wird 
nicht vergehen, bis das Alles gefchehen, d. h. bis die ganze Ent 
widlung diefer Ereigniffe ihr Ziel umd ihren Abſchluß gefunden 
haben wird *). Nach allem dem merben wir wohl zu ber An— 
nahme berechtigt fein, daß, als Lukas und Markus fchrieben, noch 
immer Apoftel am Leben waren und daß man fich die Parufie 
uch vor Ablauf des erften Menfchenalters nach Chrifti Tod ein- 
fretend dachte; denn im andern falle würden ſich biefe beiden Syn⸗ 
optifer in den Parallefftellen 9, 27 und 9, 1 nicht mit einer 
fo unbedeutenden Variante begnügt, fondern ben ihnen nothwendig 
anſtößig gewordenen Ausſpruch Jeſu ganz beſeitigt haben. 

Wir beſitzen aber auch noch ein poſitives Zeugniß des zweiten 
Jahrhunderts vor Jrenäus, das unſere Anſicht augenſcheinlich aus 
den alten Erinnerungen ber Kirche beftätigt, nämlich des Hege- 
fippm®, der im Anfange des Epiffopates des Eleutherus (um 176) 
feine Denkwürdigkeiten fehrieb. Diefer fagt bei Eufebins (III, 32, 7), 
daß die Kirche bis zu Trajan's Zeit im tiefen Frieden gelebt habe 
und eine reine Jungfrau geblieben fei, weil biß dahin Diejenigen, 
welche darauf außgingen, die gejunde Heilsverfündigung zu verderben, 
fich im Dunkel verbergen mußten. „Sobald aber der heilige Kreis 
der Apoftel nach und nad das Ziel des Lebens erreicht und das 
Geflecht Derer, die mit eigenen Ohren die göttliche Weisheit 
gehört Hatten, dahin war, da (rmvixzöra) fing der gottloſe Irr⸗ 


8) Wir haben nad) dem Zweck unferer Abhandlung nicht zu unterſuchen, ob 
Jeſus diefen Ausſpruch in einem andern Sinne gethan und bie Apoftel 
ihn mißverftanden haben (vgl. Holgmann a. a. D., &. 410), fondern 
nur zu fragen, wie ihn die Evangefiften nad; dem Wortlaut und Zufam- 
menhang, worin er bei ihnen ſteht, gefaßt haben, 





492 Steig 


tum an, fi durch den Erug der Irrlehrer zu erheben, weil 
nämlid Seiner der Apoftel mehr übrig war, nad mit 
unverhülltem Hanpte wagten Jene der Wohrheitspredigt bie fälſch- 
lich ſo gemannte Guoſis entgegenzuftellen.“ Es ift Hier deutlich 
gelagt, daß das gleichzeitige Abfterben der letzten Apoftel und Er- 
löfchen der erften Generation mit dem offenen Hervorbrechen der 
Gnofis in fo unmittelbarem caufalem Zuſammenhang ftand, dei 
diefe Ereigniffe fo gut wie in einem Zeitpunkte unter der Regierung 
Trajan's zufommentrafen. Bis zu diefer hatte es alfo nad Hege 
fipp Apoftel gegeben. Es fteht im fchneidendften Widerfpruge mit 
biefem Zeugniffe, wenn Keim S. 156, Anm. 1 fagt, Hegeſipp 
habe einen überlebenden Apoftel überhaupt nicht gefannt, an folde 
habe man erft in der Zeit des Irenaus geglaubt Wenn er dann 
weiter zufügt, die Upoftel und Augenzeugen feien dem Hegeſipp 
ſchon damals im Beginne der Blüthe der Gnojis wefentlich aus 
geftorben, fo ift dies nur unter der Vorausfegung richtig, daß man dieit 
Ereigniffe als ziemlich gleichzeitig denkt (demn erft mit dem Tode br 
letzten Apoftel fiel die Schranke, welche die bereits vorhandene Gnoß 
bis dahin gehindert Hatte, an das Licht zu treten); daun aber ft 
Hegefipp im vollen Einklang mit Irendus, der die Lebeusdaut 
wenigftens bes Johannes bis in die Zeit des Trajan Herabrüdı, 
und im Widerfpru mit Keim, der ſich darauf ftügt, daß ud 
den Zeugniffen des N. T.'s und des Hegefippus ſchon geraum 
Zeit vor Ablauf des erften Jahrhunderts fämmtliche Apoftel dasin 
geweſen feien. 

2. Keim hat mit großer Unbefangenheit die Zeugniffe für den 
frühen Gebrauch des vierten Evangeliums geprüft, und, während 
noch jüngft Scholten denfelben vor dem Jahre 170 unerweisbet 
und beftreitbar fand, ‚die Ueberzeugung ausgefprochen, daß von Bar⸗ 
naba® on (nad ihm um 120 n. Chr.) bis auf Irenäus eine fult 
ununterbrochene Reihe von Zeugen für feine Exiſtenz und Benupung 
auftritt. Er ift, wie er felbft faft mit Verwunderung gefteht, 
nahezu der eifrigfte Vertheidiger feines Alters geworden, denn aud 
für die Synoptiler fennt er feine. befjeren und älteren Zeugniſſe 
Um fo auffalfender muß es erſcheinen, daß er dem Papins, „ber 
doch der uralte Schriftfteller nicht war“, für den man ihn lang 





die Tradition v. d. Wirtſandelt d. Apoft. Johaunes in Epheſ. 498 


halten Hat, ben Gebrauch dee Edangellums noch immer auf das 
mfthiebenfte abfpriht (&. 140). Gewiß fatın er bamit nicht 
zinen, daß Papias daſſelbe nicht gefannt habe, denn mie follte 
iefem ein Buch unbelannt geblieben fein, das fehon der Barnabas⸗ 
rief, Suftin der Märtyrer, Baſtlides, Valentin und von da an 
aft alle Kivchenlehter benuden. Affein wenn ans nun S. 145 
ie Amahme empfohlen wirb, daß Papias es nicht nur vetſchwiegen, 
mdern möglichermeife fogar laut getabelt habe, fo iſt das doch 
re etwas zu ſtatke Zumuthung. Die wenigen Fragmente, bie 
ns von des Papias Werk erhalten find, fegen uns wahrlich nicht 
ıden Stand, Mit dieſer Sicherheit zu entfcheiden, was et ver⸗ 
wiegen Hat, noch weniger, wag er verfchtweigen wollte. Auch daß 
Infebins uns zwar feine Traditionen über den Markus und Mat 
Nas mtitthelit, aber feine feiner Yeußerungen über das Evangelium 
xhannis, beweiſt noch nicht, daß Vapias biefes nicht benutzt habe; 
im nur von dem beſtrittenen erſten Johannis- und erſten Petrus · 
xief und von der gleichfalls beſtrittenen Apokalhpſe unterläßt 
nebius grandſätzlich (h. e. III, 24, 18) nicht zu bemerken, welche 
Shriftfteller daraus Zeugniſſe 'entlehnt Haben, aber in Beziehung 
af das Johannisevangelium hat er dies nie gethan, weil er ſelbſt 
Ane Authentie wicht bezweifelte und es innerhalb ber Kirche zu 
iner Zeit unbeſtritten unter die Öuoloyounera geftellt wurde. 
18 Schweigen des Eufebius iſt darum fein Argument; wir Bönnen 
maus höchftens fehließen, daß Papias fich über feine Abfaſſung 
icht fo umſtändlich als über die Entftehung des erften und dee 
seiten Evangeliums geäußert habe, und dies würde gerade dann 
m leichteſten ſich erflären, wenn die Tradition von bem Aufent ⸗ 
alte des Johannes zu Epheſus gejchtchtlchen Grund Hat, weil er 
(8 Meinafiate gewiß zunächft für Kleinaſien ſchried und feinen 
lnlaß Hatte, fi über Dinge weiter zu verbreiten, an denen im 
Anen Kreiſen Niemand zweifelte. Ich fürdte, wenn die. Schrift 
8 Paptas aus dem Grabe taufendjähriger Verborgenheit wieder 
uferſtünde, es wurde einem Theile unferer Krititer ähnlich damit 
tgehen, wie bei der Auffindung des Ottobonianiſchen Coder der 
Sementinifchen Homilten; auch diefen hat die Tübinger Schule ja 
ie Kenntniß und den Gebrauch des vierten Evangeliums fo Lange 





1 Steig 


abgefprodhen, bis der wieberentdedite Schluß der 19ten (c. 22) unwider⸗ 
leglich bewies, was man bis dahin Hartnädig geleugnet Hatte. Noch 
auffallender ift Keim’ andere Bermuthung, Papias habe das Evange- 
lium Johannis möglicherweife getadelt. Er hält es nämlich a. a. O. für 
moglich, daß Papias unter die Berbreiter apofryphifcher Reden Jeſu 
(08 ı& noAle Asyovres, ol zas dllorgiag Evrolds wunpo- 
vevovres), denen derſelbe feine Presbyter als Träger und Ber- 
mittler echter Tradition entgegenftellt, den Verfaſſer des vierten 
Evangeliums gerechnet habe (S. 145, Anm. 1). Aber Keim weih, 
daß Papias den erften Johannesbrief hochgeſchätzt hat, er hält ſelbſt 
(©. 149) an der. Ueberzeugung des älteften Kritikers Dionpfint 
von Alerandrien feft, daß der Brief dem Verfafjer des Evangeliums 
gehört; er findet in ihm diefelben Ideen wie in dem Evangelium, 
nur in anderer Form, nämlich polemifch, vertreten (&. 107); mie 
hätte unter diefen Umftänden Papias ſich auf die Anctorität da 
Briefe berufen, aber das Evangelium al apokryph verfchieige: 
oder gar tadeln follen? Etwa weil er die darin Jeſu in den Mh, 
gelegten Reben oder die von ihm berichteten Thaten nicht in je 
monie mit Matthäus oder Markus fand? Da hätte er ein A 
tifer der neueften Schule fein müſſen und als folden Hat er fi, 
in feinen Traditionen wahrlich nicht verrathen. Keim's Anſicht i 
in diefem Punkte um Fein Haar empfehlungswürdiger, als die om 
Schwegler und Köftfin, die feiner Zeit in den Verbreitern op« 
Trpphifcher Traditionen bei Papias den Paulus und die Pauline 
zu erfennen meinten; doch läßt er darin eher mit ſich handeln; ı 
gibt (S. 145, Anm. 1) wenigftens als möglich zu, was ums immer 
als das Nächftliegende und Ungezwungenfte erfehienen ift, daß „Diet 
Worte nur auf die Gnofis zu deuten“ find. Man vergleiche doh 
nur, wie Jrenäus im Prodmium des erften Buches mit wenigm 
Worten bie Gnoftiter darakterifirt: Ögdioveyoüvres a om 
xugiov, dinynrai xaxol rüv xaläs elgmusver yırönevon, nl 
man wird nicht mehr fragen können, in welcher Abficht Papiet 
den echten Aoyloıs xugiaxois nachgegangen ift und feine exijmox 
derſelben verfaßt hat. 

3. Was Keim nicht zu einer unbefangenen Würdigung des Pa 
pias und der Heinafiatifchen Kirche fommen ließ, ift die Zägiglei, 








bie Tradition v. d. Wirfamteit d. Apoft. Johannes in Epheſ. 495 


womit er noch immer an dem Judaismus des Papias (S. 51) 
feſthält. Ich Habe feit Jahren die Fragmente des Papias oft und 
bis in das Sleinfte erwogen, aber diefe traditionelle Anſchauung 
der Tübinger Schule nirgends beftätigt gefunden. Allerdings hat 
er große Stüde auf die Apofalypfe gehalten und iſt Ehiliaft ges 
weſen. Aber hat er dies nicht völlig mit feinem Zeitgenoffen 
Juſtin gemein? Hat nicht auch diefer die Apofalypfe für ein Werk 
ns Apoftels Johannes gehalten? Hat er nicht an die fichtbare 
Barufie und die Errichtung des taufendjährigen Reiches auf Erden 
xglaubt ? Und doch repräfentirt er entfchieden den Standpunkt ber 
Attathofifchen Kirche in feiner Zeit! Es iſt daher aud ein Irr⸗ 
!ım, wenn Eufebins (III, 39) den Papias zum Urheber des Ehi- 
issmus macht. Keim fieht felbft (S. 164), daß von Zuftin dem 
Märtyrer bis auf Irenäus und die großen Väter die Apofalypfe 
% Buch des Apoftels anerfannt geweſen fei; wir bürfen daher 
uch annehmen, daß, was ſich von efhatologifchen und chiliaſtiſchen 
Borftelfungen bei ihnen findet, meift aus dieſer Quelle gefloffen 
ei, und haben ebenfomenig Grund zur Erklärung derfelben den 
ngeblihen Judaismus ihrer Landesfichen zu Hülfe zu nehmen, 
8 aus dem BVorhandenfein folder Vorftellungen fofort auf Ju—⸗ 
aismus zu fehliegen. Keim will foger (S. 139, Anm. 1) auf 
Irund von Stellen, wie Ap. I, 66. Tryph. 103. die Möglichkeit 
"3 Glaubens Yuftin’s an die johanneifche Abfaffung des Evan- 
yeliums zugegeben wiffen. Mir ift es fehr wahrſcheinlich, daß die 
atholiſchen Väter diefer Zeit den Apoftel Johannes für den Ver- 
affer beider Schriften, des Evangeliums und der Apofafypfe, hielten 
nd ſich dabei der differenten Anfchauungen Beider fo wenig bewußt 
jeworden find, daß fie diefelben unbefangen nebeneinander gebrauch⸗ 
en, baher auch durch das Evangelium in ihrem apofalyptijchen 
Thiliasmus ſich nicht beirren liegen, Erſt der Widerſpruch gegen 
sven Chiliasmus der Meontaniften hat den Zweifel an der Authentie 
ver Apokalypfe (zum Theil aber auch des Evangeliums) hervor⸗ 
gerufen und ihm ein handgreifliches Intereſſe geliehen. Mit dem- 
ielben Rechte, womit man von dem „jndaifirenden Papias“ fpricht, 
tönnte man auch von dem judaifirenden Juſtin, Irenäus und Ter- 
tullian reden. Die beliebte Annahme des Judaismus der Hein 





1% Steig 


afatifgen Kirche gründet fich vornthmlich auf bie Tübinger Auf⸗ 
faffung des Bafrhaftreites, der gegeniiber id noch immer die meinige 
aufrecht Halte, und zwar unter Zuſtimmung nicht blos kuchlih 
fteengerer, fondern auch entfchieben freifinniger Theologen. Wem 
daher Leim meine Scheinbeweiſe ımb Kunfteleien durch feel ') 
gewürdigt, von Baur und Hilgenfeld aber gelehrt md glänen 
widerlegt glaubt, fo macht mir das wenig Kummer; ich finde es 
im Grgentheil ebenfo begreiflüh, als er es (©. 167, Anm. 1) 
begreiflich fand, dag Riggenbach Zahn's Anficht von bem Pred⸗ 
byter Johannes fofort zuftimmte, obgleich bekanntlich Riggenbach 
diefer Anficht ſchon mehrere Jahre vor Zahn beigetreten ift. 

4. Reim bant anf die Mittheilungen des Papias wech andere 
Schlüffe. Er findet es (©. 169) bedenklich, daß im ber Reihe 
der fieben Apoftel, die er (Euseb. II, 39, 9) aufführt, Johannci 
nahezu in legter Linie genauut wird, den Kleinaſiaten fo ferne ge 
rüdt, wie Matthäus, von deſſen Beziehungen zu SMeinafien die 
Kirche nie etwas gewußt Hat. Schon biefer Umftand erwedt item 
Zweifel, ob Johaunes jemals in Kleinaſien gemefen fein tum; 
Bis jetzt hat noch Niemand danach) gefragt, warum Papias in R 
Aufzählung der Apoftel zuerft fieben d): den Andreas und Pen, 
dann den Phifippus, den Thomas und den Jakobus umd zuleht 
erft den Johannes und Matthäus nacheinander mit Namen auf 
führt, die Uebrigen aber unter ber Bezeichnung: „oder fonft Ein 


a) Glaubt ewwa Keim, ſeine Behandlung des johanmerichen Eoamgeftume, oder 
fein „Sefns von Nazara“ Uherhanpt wurde vor Mies Forum gerät 
erfunden worden fein? Die Vorſicht und Mengftfichteit meines alten Befrerd 
in ſolchen Fragen ift befannt. Einſt fogte mic mein feliger Freund Kıtk: 
„Ich vermag mir Ihre Auffafjung des Pafchaftreites noch amueigun, 
dem ich bin nur ein Decennium älter als Sie; Bleek vermochte es nich 
mehr, deun bie zwanzig Jahre, die er vor Ihnen voraus hat, maden ir 
dieſem Alter und in folden Dingen oft viel und feihen der wiſſenſchaſtlicen 
Tradition eine ungleich ftärkere Macht.“ 

b) In meiner Abhandlung (Stud. u. Krit. a. a. D., ©. 71) Habe ih 3.15 
dv. u.) nad) einer die Worte F =6 Pldsmezrog irrthitmlich ausgelaſſen m 
demnach (3. 7 v. u.) nur von ſechs Apoſteln geredet. Das Richtige ſude 
fich aber auch dort ©. 76. Auch ©. 88 iſt InterpoTatiom fr Inter 
pretation (3. 12 v. u.) zu Iefen. 








die Tradition v. d. Wirkſamleit d. Apoft. Johannes in Epheſ. 497 


7 Zänger des Herrn“ zufammenfaßt. Die Synoptifer heben ale 
ertraute Zefa nur den Petrus, Jakobus und Johannes hervor; 
dartus reißt diefen einmal (13, 3) auch den Andreas an. Sonſt 
ird derfelbe nur als Bruder des Petrus in beffen Gefolge ges 
yentlih erwähnt, aber nirgends von ihm ein fpecieller Zug er 
bit, Hier aber wird nicht nur Andreas in auszeichnender Weiſe 
nannt, fordern auch Philippus und Thomas, deren Namen 
? Spnoptifer nur in den Apoftellatalogen, fonft aber nirgends 
ben. Audreas wird fogar in erfter Linie dem Apoftelfürften 
Arus, Philippus und Thomas aber werden den Söhnen des Zr 
Mus vorangeftellt. Was gibt ihuen diefe Wichtigkeit in der 
Gägung des Papias? Ich kenne Hier nur eine Antwort: Ans 
md, Philippus und Thomas haben erft durch das Evangelium 
Munis eine Geftalt und einen feften Charakter in dem Bewußt⸗ 
in des nachapoftolifchen Zeitalter8 gewonnen, fie werden in biefem 
angelium nicht mur öfter erwähnt, fondern auch redend und 
nelnd eingeführt. Man vergleiche fr Andreas Joh. 1, 41. 45; 
8. 9; 12, 22; fir Phifippus 1, 4446. 49; 12, 21. 22; 
‚8.9; für Thomas 11, 16; 14, 5; 20, 24—29; 21, 2. 
maus erklärt fi) auch das Intereſſe, welches die alte Kirche 
ignen neben Petrus, Johannes und Paulus nahm und daß fie 
ige über ihr fpäteres Leben Nachrichten fammelte; dem Philippus 
es das zweite Jahrhundert bereits feinen Wirkungsfreis in Hiera- 
8 an, dem Andreas das dritte Jahrhundert in Schthien und 
n Thomas in Parthien (Drigenes bei Euseb. III, 1). Die 
genannten Apoftel aber, die unter der Bezeichnung 7 us Eregos 
v cod xvglov uasmeav verborgen Liegen, find die vier Anderen, 
em Namen bei den Spnoptifern nur in den Apoftelfatalogen 
tommen, aber in dem Evangelium Johannis nirgends erwähnt 
tden. Schon diefe auszeichnende Hervorhebung jener drei Jünger 
ht e8 mir mehr als unwahrfcheinlih, daß Papias das vierte 
vangeliung nicht gefannt ober gar abfihtlich verfchwiegen Haben foll. 
Aber auch die Neihenfolge, in der bei Papias die ſechs erſten 
t Namen hervorgehobenen Glieder des Apofteltreifes aufgezählt 
ten, ift haarſcharf diefelbe, in welcher diefe Namen in dem 
sten Evangelium nacheinander auftreten. Der Erfte, der mit 


16 Steig 


afatifgen Kirche gründet fich vormehmfic auf bie Tübinger Anfe 
faflung des Pafıhaftreites, der gegenüber ich noch immer die meinige 
aufrecht halte, und zwar unter Zuftimmung zicht blos kirchlich 
ftrengerer, fondern auch entfchieden freifinniger Theologen. Wem 
daher Keim meine Scheinbeweiſe ımb Künfteleien durch feet») 
gewürdigt, von Baur und Hilgenfeld aber gelehrt und glänzend 
widerlegt glaubt, fo macht mir das wenig Kummer; ich finde € 
im Grgentheil ebenfo begreiflih, al8 er es (S 167, Anm. 1) 
begreiflich fand, dag Riggenbach Zahn's Anficht von bem Pre 
byter Johannes jofort zuftimmte, obgleich bekanntlich Riggenbach 
diefer Anficht ſchon mehrere Jahre vor Zahı beigetreten iſt. 

4. Reim bant anf die Mittheilungen des Papias much andere 
Schlüffe. Er findet es (S. 162) bedenklich, daß im ber Reihe 
der fieben Apoftel, die er (Euseb. II, 39, 4) aufführt, Johannch 
nahezu in legter Linie genannt wird, ben Kleinaſiaten fo ferne ge! 
rüdt, wie Matthäus, von deſſen Beziehungen zu SMeimafien bi‘ 
Kirche nie etwas gewußt Hat. Schon biefer Umftand erwedt ikea 
Zweifel, ob Johaunes jemals in Kleinaſien gewefen fein fm, 
Bis jet Hat noch Niemand danach gefragt, warum Papias in W 
Aufzählung der Apoſtel zuerft fieben b): ben Andreas und Petr, 
dann den Philippus, den Thomas und den Satobns und zuit 
erft den Johannes und Matthäus nacheinander mit Namen auf 
führt, die Uebrigen aber unter ber Bezeichnung: „oder fonft Eint 





a) Glaubt etwa Reim, ſeine Behandlung bes johanneiſchen Eoangeltums, ode 
fein „Jeſus von Nazara“ Überhaupt würde vor Bleeka Forum geht 
erfunden worden fein? Die VBorficht und Aengſilichleit meines alten Behret 
in folden Fragen if befanmt. Einſt fagte mir mein feliger Freund Rothe: 
„Ich vermag mir Ihre Auffafjung des Paſchaſtreites noch amzueigen, 
bem ich Bin nur ein Decennium älter als Sie; Bleek vermodjte es nicht 
mehr, deun bie zwanzig Jahre, die er vor Ihnen voraus hat, machen i 
dieſem Alter und in ſolchen Dingen oft viel und leihen der wiſfenſchaftlicher 
Tradition eine ungleich ſtärkere Macht.“ 

b) In meiner Abhandlung (Stud. u. Krit. a. a. O., ©. 71) Habe ih (3.13 
d. u.) nad) eimev die Worte A z4 Scamnoſ irrthümlich amsgefaffen md 
demnach (3. 7 v. u.) nur vom ſechs Apofteln geredet. Das Richtige findet 
ſich aber auch dort ©. 76. Auch S. 88 if Interpolation für Jake 
pretation (3. 12 v. m.) zu leſen. 





die Tradition v. d. Wirfamkeit d. Apoft. Johannes in Ephef. 497 


7 Jinger des Herrn“ zufammenfaßt. - Die Synoptifer Heben ale 
ertrante Jeſu nur den Petrus, Yalobus und Johannes hervor; 
tarfus reiht diefen einmal (13, 3) auch den Andreas an. Sonft 
itd derjelbe nur als Bruder des Petrus in deſſen Gefolge ge» 
yentlich erwähnt, aber nirgends von ihm ein fpecieller Zug er⸗ 
ft. Hier aber wird nicht nur Andreas in auszeichnender Weife 
nannt, fondern au Philippus und Thomas, deren Namen 
: Spnoptifer nur in den Apofteltatafogen, fonft aber nirgends 
ben. Audreas wird fogar in erfter Linie dem Apoftelfürften 
aus, Philippus und Thomas aber werden den Söhnen des Zur 
Hus vorangeftellt. Was gibt ihnen diefe Wichtigkeit in der 
Higung des Papias? Ich kenne Hier nur eine Antwort: An» 
ws, Philippus und Thomas haben erft durch das Evangelium 
maunis eine Geftalt und einen feften Charakter in dem Bewußt⸗ 
a des nachapoftolifchen Zeitalter gewonnen, fie werden in diefem 
ungelium nicht nur öfter erwähnt, fondern auch redend und 
Heid eingeführt. Man vergleiche für Andreas Joh. 1, 41. 45; 
8. 9; 12, 22; für Philippus 1, 4446. 49; 12, 21. 22; 
‚8.9; für Thomas 11, 16; 14, 5; 20, 24—29; 21, 2. 
waus erklärt ſich auch das Intereſſe, weldes die alte Kirche 
ihnen neben Petrus, Johannes und Paulus nahm und dag fie 
he über ihr fpäteres Leben Nachrichten fammelte; dem Philippus 
8 das zweite Jahrhundert bereits feinen Wirkungsfreis in Hieras 
is an, dem Andreas das britte Jahrhundert in Schthien und 
n Thomas in Parthien (Origenes bei Euseb. II, 1). Die 
jenannten Apoftel aber, die unter der Bezeichnung 7 zus Eregos 
v cod xuglov auonreõv verborgen Liegen, find die vier Anderen, 
m Namen bei den Synoptifern nur in den Apojtelfatalogen 
tommen, aber in dem Evangelium Johannis nirgends ermähnt 
tden. Schon diefe auszeichnende Hervorhebung jener drei Jünger 
cht es mir mehr als unwahrſcheinlich, daß Papias das vierte 
angelium nicht gelannt oder gar abſichtlich verſchwiegen haben foll. 
Aber auch‘ die Neihenfolge, in der bei Papias die ſechs erften 
: Namen Hervorgehobenen Glieder des Apoſtelkreiſes aufgezählt 
ven, ift haarſcharf diejelbe, in welcher diefe Namen in dem 
tten Evangelium nacheinander auftreten. Der Erfte, der mit 


498 Steig 


dem ungenannten Junger *) des Täufers fih Jeſu anſchließt, if 
aud bier Andreas; buch dieſen wird als Zweiter fein Bruder 
Petrus ihm zugeführt; als Dritten beruft Jeſus felbft den Bhi- 
lippus (Cap. 1)®). Erft vom 11. Gapitel an wird Thomas 
genannt. Der Lieblingsjünger, der an des Herrn Bruſt Ing, tritt 
vom 13. Eapitel an namenlos auf; in genauerer Bezeichnung aber 
werden er und fein Bruder Jakobus erft in dem Nachtrag (Cap. 21) 
als od od Zeßsdaiov eingeführt; Papias ftellt den Jakobut 
vor Johannes, wie er bei den Synoptifern (mit Ausnahme vor 
Luk. 8, 51; 9, 28) ftetS diefe Stelle einnimmt. Wenn er abe 
mit Johannes noch unmittelbar den Matthäus, der in bei 
vierten Evangelium nie erwähnt wird, verfnüpft, fo mag dies fein 
Grund darin haben, da ihm Beide als Verfaffer von apoſtoliſcha 
Denlſchriften gegoften Haben °). Nach meinem Urtheil bleibt Li 





&) Bon des Drigenes Commentar zum Joh. ift 1, 19—51 verloren. Ehrl 
ſoſtomus (Hom. 18 [17] in Joann., c. 8) bemerft, Einige hätten 
Ungenaunten für den Evangeliften gehalten, Andere für einen Fünger 
geordneten Ranges (ovy) rer dnionuor). Er entſcheidet ſich fir 
Legtere, denn auch bie Namen der 72 fein uns nicht überfiefert. 
Catene des Corderius wiederholt biefe Erklärung wörtlich unter dem 
des Theodor von Mopsveftia und fo hat fie denn auch Fritsche in 
Exegetifchen Reliquien zum N. T. (S. 24) aufgenommen; er hätte 
bemerfen dürfen, daß fie dem Chryſoſtomus angehört. Euthymins Zu 
benus hat die von Chryſoſtomus geäußerte Anfidht nur im Aızszuge wie 
gegeben. Xuguftin (Tractat, VII in Joann., $ 9) und Theopäulatt 
ich auf diefe Unterfachung gar nicht ein, 

b) Nathanael ſcheint der alten Kirche nicht als Apoſtel gegolten zu hat 
Eufebius erwähnt ihn in der 8.-©. nirgends. Im vierten 
beſtritten (nad) Fabricius, Cod. apoer. N. T. II, 787) Ehryfoft 
Gregor von Nyſſa, Auguftin, fpäter noch Gregor d. Gr. und Andere 
druclich, daß er Apoftel geweſen; Epiphanius ſah im ihm dem Genie 
des Kleophas auf der Wanderung nad) Emmans; noch Pſendo - Ati 
ermähnt ihn nur als folden, der Jeſu nachgefolgt und in feiner Gemeinitetl 
mit Philippus geblieben fei. Nur in den apokryphiſchen Duse viae ne| 
judicium Petri, die alferbings ſchon Elemens Alex. Tennt, wird Nattund 
als Apoftel aufgeführt, aber freilich and Kephas neben Petrus (Hi 
genfeld, Nor. Test. extra canon. recept. IV, 95. 97. 98). 

©) In den erwähnten Dune viae (a. a. D., ©. 95) werben gleichfalle de 
Hannes und Matthäus verbunden, aber in erfte Linie gericht. Higef: 





bie Zrabition v. b. Wirkfamfeit d. Apoſt. Johannes in Epheſ. 499 


m eine Wahl. Entweder ift die Reihenfolge der Apoftel bei 
apias eine gedanfenlofe Zufammenwürfelung von Namen, wie fie 
m gerade der Zufall eingab, und dann find auf die Voranftellung 
8 Einen und die Zurückſtellung des Anderen überhaupt feine 
Hlüffe zu bauen, auch die nicht, welche Keim gezogen hat; oder 
je Reihenfolge ift durch einen leitenden Gefichtspunft beftimmt, 
d dann weift fie uns deutliche Spuren auf, daß Papias das 
te Evangelium nicht nur gefannt, fondern auch benugt und hoch⸗ 
ſchatzt Haben muß. 

5. Damit find wir bereits in die Keim'ſche Beweisführung 
neingetreten, daß ber Apoftel Zohannes nie in Kleinaſien geweſen 
; die erfte Inſtanz find auch hier wieder argumenta ex silentio, 
türlich mit wegwerfender Abſchätzung Derer, die in ſolchen zwar 
mn Grund zu Bedenlen finden, aber ihnen feine durchſchlagende 
Wweiskraft beifegen Tönnen. „Das N. T. bis zu den. erften Aus» 
ıfern, im Voraus die Apoftelgefchichte, felbft ſchon fo fange (7) 
4 der Zerftörung Serufalems, ſchweigt gänzlich ſtille“ (S. 161). 
ne das N. T. Hat mur den Ausgang des älteren Jakobus ber 
htet (Apg. 9); die Apoftelgefcichte begleitet fogar den Paulus 
t bis Rom; fie erwähnt bie Urapoftel zum legten Mafe bei dem 
mvente zu Jeruſalem; — was fann unter diefen Umftänden das 
Ämeigen gegen den Aufenthalt des Apoſtels Johannes in Klein . 
en bedeuten? „Es ſchweigen noch lange über die Mitte des 
eiten Jahrhunderts die Ignatiusbriefe, die drei und bie fieben, 
ht blos der Brief an Smyrna, auch der an Polylarp und Epher 
3; es fchweigt auch Polykarp im Phifipperbrief und die ſmyr⸗ 
iſche Leidensgejchichte unter Marc Aurel von einem Apojtel For 
mes in SMleinafien, überhaupt von einem Apoftel Johannes, 
Üter dem theuerften Befig der Kirchen, welche vorerſt bis 170 
w den Namen des Paulus zu nennen und zu hören verftehen.“ 
08 nimmt fih auf den erften Bli allerdings bedenklich aus, 
er diefe Bedenken ermäßigen ſich bei näherer Prüfung um ein 
edeutendes. Schon das Eine, daß überhaupt von dem Apoftel 





bemerft bayın ©. 105: „Primi recensentur illi duo apostoli, quorum 
erangelia in N. T. leguntur, Joannes et Matthaeus“, 








500 Steitz 



















Johammes in dieſen Urkunden wicht die Rede iſt, macht es une 
denllich, daß fie von feinem Aufenthalte in SM feinafien fchmeig 
Ein großer Theil der Literatur der nachapoftolifchen Zeit ift ve 
foren gegangen, darunter gerade folche Werke, die wie die des Pa 
Pins und bes Hegefippus uns vielleicht am erften noch Auffchlü 
über ältere Perſonlichleiten geben konnten. Was von Scriftftür 
auf und gekommen ift, hat einen ausfchlieglich apologetifchen, 
metifch=polsmifchen und poräuetifchen Inhalt. Weber die U 
und das apoſtoliſche Zeitalter finden wir darin fo gut wie fri 
Naceichten; felbft die neuteſtamentlichen Schriften werden mei 
ohne die Namen der Berfaffer citirt, und dieſes Schweigen 
weder befremben, noch zu unberechtigten Schlüffem verleiten, 
man firieb im Kampfe um bie Eriftenz ber Kirche unter den 
folgungen des Staates: und dem Andrängen haretiſcher Sperulati 
man ſchrieb über brennende Fragen für die unmitielbarjten 
dürfniffe der Gegenwart, nicht für die Wihbegierde der Nacı 
zumel man bei dem zerrütteten Weltzuſtande das Ende meh 
wartete. Daraus erklart fi ebenfo leicht der auffalfende. Din 
an Jutereſſe für folhe Kunde, als die Möglichkeit apokryphiſe 
Sagenbildung neben glaubwürdiger Tradition. Clemens 
zuerſt das Martgrium des Paulus und. Petrus; Papias 
einige Notizen über Petrus, Phifippus und Matthäus. Des B 
und deo Petrus gedentt Ignatius in bem Briefe.an die Nö 
im Hinblick anf die auctoritatioe Stellung, die fie zu dieſer S 
meinde einnahmen; des Paulus: wiederum im Briefe an bie ji 

weil er ihre Stadt den Durchgang der Heiligen zum * 
nennt; deſſelben Apoftels Polykarp im Briefe aw die Philipi 

wo er den pauliniſchen Brief an diefe Gemeinde citirt; ein Mal 

Babei ben Johannes zu nermen, war bei dieſen fpeciellen Bun 
nicht geboten, auch nicht in dem. igwatiawifchen Briefen narh Sy! 

md an Polykarp, weil diefe fich Kediglich im dogmatifchen frau 
amd der Befprehung beftehender Verhältniffe bewegen Das Rum 
ſchreiben der Gemeinde von Smyrna über die Berfolgungen ıd 
den Tod des Polyfarp ift jo erfüllt von dem Drange ber cm 
erlittenen Noth, daß es nur bei ihrer Schilderung verweilt und ſit 
jeden Rücbliet in die ältere Vergangenheit verſagt; es iſt außerder 





die Tradition v. d. Wirkjamteit des Apoft. Johannes in Epheſ. 501 


an benachbarte Gemeinden gerichtet, denen max, wenn ber Apoftel 
Johannes wirklich in Epheſus verweilt Hatte, umſoweniger erft 
davon Kenntniß geben durfte. Auch von ber Exiſtenz des Press 
byters Johaunes, des Jüngers des Herrn, wiffen wir mar durch 
tin zufällig erhaltenes Fragment des Papias; mit Recht fordert 
Reim, daß der geſchichtliche Wahrheitsfiun am ihr uicht zweifle, 
dogleich Die iguatianifchen Briefe, die drei und die ficken, der 
Brief des Polylarp und die ſuhrnäiſche Leidewägefchichte von. einem 
Bresspter Johannes in Sleinefien, je von einem Presbyter Jar 
pnneg überhaupt, fchweigen, to der eminenten Bedeutung, bie 
2 rach Reim foger für die kommenden Geweratiouen haben mußte. 
Erſt um das Jahr 160 hat die fühnere Erhebung der Härefie 
mw ihr Andringen in mountcfoltigeren Verzweigungen und Ger 
bien das Vebürfwiß zum Bewußtfein gebracht, nicht nur eine 
Bgre Berkindung aller Laudeslirchen enzubahnen (des Polyfarpus 
kife wach Nom; exfte Synodeu gegen die Mantanijten in Aſien 
60-170, Euseb. V, 16, 10), wodurch audz die einafintifce 
tt in Ishhafteren, Verkehr mit dem Abenblande trat, ſondern auch 
xx opoftolifchen Tradition in dem. apoſtoliſchen Gemeinden jeibit 
achzugehen und fie durch den Nachweis der apoſtolijch-biſchöftichen 
quecajſion außer Zweifel zu ſtellen. Die Reife (um. 157—168) 
nd die Schrift (um 176), des Hegeſippus verfolgte für Serufalem, 
Yin vud Rom diefen Zoeck. Mit dieſer Tendenz hängt ohne 
weifel auch die erweiterte Notiz des gleichzeitigen Biſchoſs Dio- 
yius. ven. Korinth zuſammen, daft; Paulus und Petrus die beiden 
hemeinden zu Rovinth und Rom gepflangt und: in Rom um bie 
leiche Zeit den Zeugentod erlitten Hätten, obgleich wir ihr Inhalt 
wenigen auf geſchichtlicher Erinnerung zu ruhen, ald dur; Com⸗ 
inalion aus dem, arten Rorinther» und: dem erfen Chemens ⸗ Briaſe 
jhloffen, ſcheiat. Irenaus ſtellt der römiſchen Sucaffion, die eu 
m Petrus und Paulus auf Eleutherus Herabführt, die kleinafiatiſche 
a die Seite, die ſich von dem Apoſtel Johannes durch Polylarp 
uf dig Preabpter feiner. Zeit. fartleitet: (Iren. IH, 8), Exf Herr 
cum bat es unternommen, den Urfprung den leteren aus eineme 
Ainen Mißverſtändniß zu erläxen, um damit ber johanusifchen Ab⸗ 
Yung-des. werten Epangeliumg dem allerlegten Halt megzuzichen. 





502 Steig 


6. Seine Argumente haben anf den erften Blic etwas Ueber- 
tafchendes, Imponirendes, Biendendes. Zu den Schweigenden 
tommt ein Nebender. Nah Zrenäus war Papias Fremd und 
Zeitgenoffe Polyfarp’8 ; er Hat von 80 oder 90 bis 161 oder 163 
gelebt; obgleich Leidenfhaftlicher Sammler ältefter Tradition, hat 
er einen Apoftel Johannes in Meinafien weder perfünlich gekannt, 
noch vorausgefegt, fondern nur den Presbyter Johannes, deſſen 
Zuhörer er noch geweſen war: folglich kann auch Polykarp nicht 
mehr mit Jenem verkehrt haben. Irendus hat erft dem Yohannes 
als Apoftel Kleinafiens feit etwa 190 n. Chr. proclamirt; wie er 
ihn aber mit dem Presbyter verwechfelt, wenn er den Papias einen 
Zuhörer des Apoftels Johannes nennt, fo irrt er auch darin, daf 
er den Polyfarp für einen Zuhörer des Apoftels und nicht des 
Presbyters Hält, welchen Legteren er daher auch nie nennt. Die 
Vieldeutigkeit des Prädicates: „Junger des Herrn“, welches Pa 
pias auch dem Legteren gibt, hat das Mißverftändniß veranlaßt, 
das ſich ſchon dadurch verräth, daß Frenäus in feinem. Werke mit 
demfelben Namen meift den Apoftel bezeichnet. Die Begierde . 





dem Befig von Apofteln als Bürgen und Träger reiner Uebem 
lieferung gegen die Gnoſis hat es befördert und feine raſche Aus⸗ 
breitung begünftigt. Auch die Apofalypfe, ale Werk des Apoſten 
anerkannt und deutlich genug auf Kleinaſien und Ephefus hinweiſend, 
hat Helfend mit eingegriffen. Eufebius hat den Irrthum des Frenäus | 
in Betreff der vermeintlichen apoftolifchen Schillerfchaft des Papicd , 
durchſchaut, zur Löſung des letzten Irrthums, der Apoſtelſchüler⸗ 
ſchaft des Polykarp, fehlte ihm der Muth. Aber dieſe letztere if 
eine Unmöglichkeit neben ber Thatſache, daß fein Zeitgenoſſe, Nadr 
bar, Freund in PHrygien ohne Verbindung mit dem Apoftel un 
trog des nahen Zeugen Polylarp ein ganz mühfeliger Sammler 
vereinzelter Weberlieferungen über die Apoftel geweſen iſt. „Die 
apokalyptiſchen und chifiaftifchen Träumereien des Papias hat Eu 
febins quellengemäß auf Ariftion und den Presbpter ohanns 
zurückgeführt; Srenäus feinerfeits datirt diefelben Reden bei Bapiet 
von Johannes, dem Apoftel. Endlich der Johannes des Papiet 
wie der Johannes des Polykarp lebt in Stleinafien, lebt als Greie 
bis in die Tage Trajan's, bis an das Ende des erften, vielleicht 





die Zradition v. d. Wirkfamfeit des Apoft. Johannes in Epheſ. 508 


is in die Anfänge des. zweiten Jahrhunderts; — wie fönnte fonft 
Bapias fein Zuhörer geweſen fein? Alſo fallen die. jeltfamen 
doppelgänger im Namen, im Titel, im Alter, in der Zeit, in der 
'oealität, in den Grundfägen fo rein zufammen, daß nur bem 
Inverftand oder dem Eigenfinn ber Sag übrig bleibt, die 
eiden Doppelgänger haben im Ernſte nebeneinander exiſtirt.“ 

S. 164—169). 

Die Möglichkeit diefes Sachverhaltes wird zum Voraus kein 
derftändiger Teugnen; aber um uns zu veranfaffen, nach Art der 
Abinger Schule diefer Möglichkeit fofort die Wirklichkeit zu 
ıftituiren, müßten diefe Argumente doch etwas zwingender fein, 
8 fie fich bei näherer Prüfung ausweiſen. Daß die angebliche 
üferftellung des Papias zum Apoſtel auf.einer Verwechſelung 
&renäus beruhe, ift allerdings von Eufebius erkannt, Heutzutage 
on allen Unbefangenen zugeftanden und auch von mir gegen Zahn 
getan worden. Daß die Zweideutigfeit des Präbicates „Zünger 
3 Herrn“, welches gleichmäßig dem Presbyter und dem Apoftel 
igelegt wird, aud) andere Mißverſtändniſſe derfelben Art bei Jrenäus 
tonlaßt haben kann, ift ebenfo unbedenklich einzuräumen. Vielleicht 

feine Nachricht über das Zufammentreffen des Apoſtels mit 
inth in Epheſus (Iren. II, 3, 4. Euseb. III, 28, 6) nicht 
inder als das Gleichniß vom Weinftod ans derſelben trüben Quelle 
floffen, und gleiche Verwechfelungen find mit untergelaufen, obgleich 
venäus bei jener Nachricht nicht wie bei dem Gleichniß auch das 
dert des Papias citirt, Eufebins aber für die „einigermaßen ber 
emdlichen Parabeln des Erlöfers“ nicht den Presbyter Johannes 
$ Gewährsmann des Papias nennt, fondern fie nur auf unge 
jriebene Ueberlieferung zurüdführt und feinen Chiliasmus aus der 
hftäbfichen Auffaffung myſtiſch d. h. ſymboliſch gemeinter Dies 
fen der Mpoftel ableitet. Es ift dies umfomehr zu beachten, da 
ich Eufebins Papias die Zeugniffe des Presbyters und des Ariftion 
it ihren Nomen anzuführen pflegte und Euſebius es nicht unters 
ſſen Hat, die Ueberlieferung über Markus ausdrücklich als von 

m Erfteren herrührend zu bezeichnen. Aber daß die Verwechss 
ng des Irendus fo eminente Dimenfionen angenommen, daß fie 
radezu den Presbpter in den Lange vor ihm ſchon verftorbenen 
Theol. Stud. Jahrg. 1868. 34 





[03 Steig 


mb niemals nach Kleinaſien gelommenen Apoftel trensformirt habe 
und daß Alles, was Örenäns über dieſen aus dem  perjänfice 
Umgang mit Polykarp vernommen heben will, nur vom Jeuen 
gelte, ift doch eine gewiß nicht allein mir, ſondern auch vielen Anı 
deren fehr zweifelhafte Bermuthamg, wie denn Ewald (Göttinger 
Anzeigen 1867, 41. St.) geradezu meinte, der Werfaffer kin 
nicht ernftlich gefonnen fein, biefelbe zu vertheidigen. - 

Bas Keim zur näheren Begründung feiner Vermuthung anführt, 
koante nur dazu dienen, mich von ber Verſchiedenheit unferer fra 
tiſchen Grunbfäge und Methode zu Überzeugen. Daß * 





einem Apoſtel Johannes in Meinafien nichts gewußt und 
ſolchen überhaupt nicht vorausgeſetzt habe, Täßt ſich doch aus 
wenigen Sragmenten, bie won jeinem Werke erhalte find, wicht 
Sicherheit darthum. Daß er keinen der Apoftel mehr perjönld 
getannt habe, ift mir zwar durch meine Unterjuchung (a. a. O4 
©. 78) in hohem. Grade wahrjheinlid geworden u 
ich Habe dies als das Höchfte bezeichnet, was ſich in fo bunte 
Fragen erreichen laßt: weiter zu gehen und auf Bahrfcpeinficheim 
Beweife zu bamen, hatte ich allerdings nicht den Muth, und if 
freue mich deſſen. Ans der wahrfcheintichen perfönlicen Um 
belanntjchaft des Papias mit dem Apoftel Johannes ließe ſich da 
Gleiche für Polylarp nur dar folgern, wenn feftftänbe, daß bat 
Zeitgenofjen auch Alterögenoffeu gewejen find. War aber Polytı 
(geboren fpäteftens 80 n. Chr., cf. Euseb. IV, 15, 20) 
nur zehn Jahre älter als Papias (geboren fpäteftens 90 u. Chr 
ſo ift fahr wohl möglich, daß euer noch vor Ablanf des er 
Jahrhunderts als Yüngling mit dem Apoſtel verkehrt, diefer i 
aber nicht mehr geßannt, dagegen noch mit dem Presbpter Lmgay| 
gepflogen und bei ihm directe Exfundigungen augeftellt Hat (ml. 
meine Abh. a. a. O., S 79ff.). Woher weiß Herr. Keim, dej 
Papins trotz des nahen Zeugen Polylarp ein fo mühſamet 
Sammler wereingelter Uebenlieferungen über die Apoftel geweſa 
HP Seine Worte bei Eufebius machen im Gepentheil den Gr 
dend, daß ihm die Befragung von Apoſtelſchulern noch in reden 
Maße zu Gebote ftand, und gewiß wird er in Palyfarp einen fein 
werläffigften Gewährsmänner sd eine der ergichigſten Queiea 





bie Trabition v. d. Wieffemfeit b. Apoſt. Johannes in Ephel. 505 


opoſtoliſcher Tradition gefunden Haben. Uebrigens ift er nicht 
Ueberlieferungen über die Apoſtel, ſondern Herruworten nad» 
gegangen; ben fpäteren Schidfalen der Apoftel hat er, ſoviel wir 
aus den vorhandenen Beifpielen ſchließen dürfen, nur fomeit nach⸗ 
geforiht, als er an ihnen die Erfüllung von Weiffagungen Jeſu 
nachweiſen kounte. 

„Ein Boden von Unmöglichkeiten“ iſt mithin die Tradition des 
Irendus keineswegs. Über ſie ſteht genauer angeſehen auch nicht 
einmal im Widerſpruch mit Papias und Hegeſipp. Zwar ſpricht 
Frenäus im echt griechiſcher Weiſe mit großer Ueberſchwänglichkeit 
bon dem reichen apoſtoliſchen Verkehre ſeines verehrten Lehrers 
Bolglarp. Bald hat er „mit Johannes, dem Junger des Herrn, 
md den anbern Apofteln“, bie er noch gekannt (Euseb. V, 24, 16), 
Kl „mit Johannes und den Uebrigen, die den Herrn gefehen haben, 
lebt“ (V, 20, 6), bald ift er „nicht nur von Apofteln 
belehrt worden und mit Vielen, die Chriftum noch 
pefehen haben, umgegangen, fondern aud von Apofteln in 
ioch jugendlichen Alter zum Biſchof von Smyrna eingefegt worden“ 
(W, 14, 3. Iren. adv. haeres. II, 3, 4). Man kann fi ver- 
fuht fühlen, einen oder den andern Zug von diefer Schilderung 
18 rhetorifche Ueberfülle in Abzug zu bringen: ein fefter Kern 
Heißt unauflöslich zurüd und wird anderweitig beftätigt.@ Jreuäus 
weiß, daß Polykarp nicht allein mit Apofteln, fpeciell dem Fohanyes, 
jondern auch mit Anderen verfehrt Hat, die den Herrn noch gefehen 
ben: an wen foll man dabei anders denken ald an Männer wie 
Ariition und den Presbpter Johannes, „die Jünger des Herrn“, 
die den Apoftelfreis noch überlebt, die Papias noch gefannt, bei 
denen er bie echten. Herenworte gefucht, von denen er noch zu Pos 
Iglarp’8 Zeit gefchrieben Hat, nicht wie Jrenäus ein Vierteljahr. 
hundert Äpäter? Findet ‘nicht überdies diefe Ausſage des Irendus 
ihre unbefangene Beftätigung in dem Zeugniffe des Hegefippus, 
daß die Tegten Apoftel und die legten Obrenzeugen in ber 
Zeit Trajan's unmittelbar vor dem Emporkommen der Gnofis 
etloſchen feien und daß in ihnen eben die Schranke fiel, welche 
bisher dieſes Emporfommen niedergehalten hatte? Stimmt endlich 
nicht mit den eigenen Erklärungen des Papias äber den Zweck und 

34* 





506 Steig 


das Ziel feiner Traditionenfammlung überein, was Irenäus (Euseb. 
V, 20, 6) weiter von Polykarp berichtet, er habe die Worte Derer, | 
welche Chriſtum gefehen, in treuer Erinnerung behalten, und mes 
er von ihnen über den Herrm gehört, über feine Wunderthaten und 
feine Lehren, das habe er Alles, als von ben Autopten des Lebens 
empfangen, verfündigt nad) feinem vollen Einklang mit ber Schrift? 

Ueberhaupt verliert die Hypotheſe des Herrn Keim in dem Mojt 
am überzeugendem Cindrud, als man fi) die näheren Voraus⸗ 
fegungen Mar macht, unter denen fie vollzogen werben muß. Irenäut 
hat feine Jugend in Smyrna verfebt, er hat mit Polykarp Umgang 
gehabt und will fich noch der Worte, die er geredet hat, erinnern 
— follte, ja muß er nicht in biefem Berfehre and) von der Eziften, 
jenes Presbyters, den Papias, der Freund des Polylarp, fo genau 
gefannt, und den jedenfalls aud Polylarp gelamıt haben muf, 
gehört haben und zwar als von einer mit dem Apoſtel gleichnamigen, 
aber von ihm verfciebenen Perfönlickeit? *) Iſt es alfo denkbar, 
daß er in die Lage gelommen fei, Beide 5is zu dem Punkte zu 
vermengen, daß er den Presbpter, wie heutzutage Guericke, Zahn 
und Andere, in den Apoftel auflöfte, deffen Fuß nie Kleinaſicn 
betreten haben fol? Ya, erjcheinen nicht die Verwechſelungen, die 
im Einzelnen nicht zu bejtreiten find und deren Umfang die Kritif 
noch ſchatfer zu unterfuchen hat, erft dann vollfommen begreiflic, 
wenn zwei Männer räumlich und zeitlich mit denfelben Namen, 
Titeln, Jahren und Prädicaten fo nebeneinander eziftirt haben, das 
man unwillkürlich Gefahr “ef, Züge des Einen auf den Anderen 
zu übertragen? 

Aber gerade dieſe Goezifteng ſcheint Keim fo ungereimt und un 
möglich, daß er es nur dem Unverjtand und Eigenfinn anheimgeben 
fann, das verneinende Reſultat feines im fiheren Giegesgfühle 
geführten Beweiſes zu bezweifeln. Allein, laffen fich nicht ganz 





a) Allerdings hat er feinen Namen nicht ausdrüdfid genanut, aber fon GaE 
(Art. „Johannes Presbyter“ in Herzog’s Realencyti. VI, 764) weit deraui 
bin, daß für Icenäus, der gern bie höchſten Auctoritäten auffucht, der 
Evangeliſt feinen gleichzeitigen Mamensgenoffen in den Hintergrund geht 
and mit feinem Glanje verdunkelt habe. 


bie Tradition v. d. Wirtſamleit d. Apoſt. Johannes in Epheſ. 507 


ähnliche Parallelen auffinden? Ich erinnere nur an bie beiden 
Anaftafius, die fih am Wendepunfte des fechften und fiebenten Jahr⸗ 
hundert auf dem Batriarchenftuhle zu Antiodien fuccedirten und 
zu denen nod) ein dritter Namens» und Zeitgenoffe, ber Verfaſſer 
des ödnyog, der Monch und Presbyter vom Sinai, kommt. Auch 
bier waren Berwechfelungen möglich und find, wenn auch erſt Jahre 
hunderte fpäter, wirklich vorgekommen. Nicephorus Calliftus hat 
(Hist. eccles. XVII, 44) nicht allein den Märtyrertod des 
Zweiten (f 608), fondern aud den Namen des Sinaiten auf den 
&rften (F 599) übertragen und in ihm den Verfaſſer des ödnyds 
sefehen ; Gretfer ift ihm darin gefolgt, und bis Heute ift die Ver⸗ 
wirrung über diefen Gegenftand noch nicht völlig gelichtet. Gleich⸗ 
bohl geftatten noch die vorhandenen Quellen, uns über die Dreis 
Mil der Doppelgänger zu orientiren; aber über des Presbyters 
Aufenthalt in Meinafien berichtet nur ein vereinzelte Fragment de& 
Bapias, über den des Apoftels, wie es feheint, erft Srenäus. Läßt 
fh da mit Keim fo raſch und kurzweg entſcheiden? Doc brauche 
# noch nicht einmal ‚fo weit zurückzugreifen; ſelbſt in der nächften 
Bergangenheit, in meinem eigenen Lebensfreife bietet ſich mir ein 
Ühlagendes Beifpiel dar. Bor einem halben Jahrhundert ftarben 
1 Frankfurt zwei Rathsglieder meines Namens, deren Lebenslauf 
md Amtsführung in den wichtigften Wendepunften die auffalfendfte 
Uebereinftimmung zeigt. Der Jüngere, mein Großoheim, war 1756, 
mei Jahre nach dem Weiteren, geboren, wurde 1801, zwei Jahre 
nad ihm, Senator und jtarb 1819, wiederum zwei Jahre nad 
Im. Beide waren urſprünglich Kaufleute, find im gleichen Alter 
von 45 Yahren Senatoren der Reicheftadt geworden, verwalteten 
während der Primatifchen Zeit die ftädtifchen Angelegenheiten, haben 
fh um die Finanzen namhafte Verbienfte erworben, find gleid 
kitig 1816 auf die Schöffenbanf gerüct, Haben ihren Genatoren- 
und Schöffenfig Jeder achtzehn Jahre innegehabt und find Beide 
63 Jahre und einige Monate alt geworden. Sie waren zudem 
nicht Brüder, nicht einmal nahe Vettern, fondern im dritten und 
dierten Grad verwandt und gehörten zwei verfchiedenen Linien an, 
die ſchon ein Jahrhundert vor ihrer Geburt auseinandergegangen 
Daren. Auch diefe beiden Doppelgänger fallen in Gefchlechtename, 





808 Steig 


Localität, Zeit, Lebensalter, Dauer und Grundfäßen der Amts- 
führung haarſcharf zufammen. Gleichwohl haben fie in Wirklich- 
keit nebeneinander eriftirt; ich felbft habe fie vor 48—50 Yahren 
noch als Kind gefehen; ältere noch jegt lebende Mitbürger haben 
fie noch aus perfönfihem Umgang gefannt; erft in biefem Jahre 
(1867) wurde die legte Tochter des Aelteren begraben, nod in 
zwanzig Jahren werden Leute übrig fein, deren Kindheit ſich mit 
ihren legten Jahren berührt hat. Es iſt eine alte Klage und ein 
unfere locale Geſchichtsforſchung fehr erſchwerendet Umftand, daß 
man bei ung wenig aufzeichnet; Hiſtoriler wie Friedrich Böhmer 
haben fogar die verhäftnißmäßige Flüchtigkeit unferer reichsſtädtiſchen 
Traditionen unverhohlen bedauert: „Ein Geflecht von geftern treibt 
fih auf und ab; keine Memnonsſäule ragt mehr aus der uniformen 
Fläche!“ Auch über die beiden Doppelgänger meines Geſchlecht 
iſt faft nichts aufgezeichnet, nur über meinen Großoheim eriftirt u 
wenigen Händen eine ala Manufcript gedrudte Broſchüre von einem 
Bogen, in der der Andere nicht einmal erwähnt ift. Es kann daher 
einft, wenn auch troß der Flüchtigkeit unferer Traditionen erſt nad 
Ablauf des Jahrhunderts, eine Zeit fommen, die von ihnen nichs 
mehr weiß, als die Bunfte, auf.denen ihre 2ebenslinien fo wunder 
bar zufammentrafen; würde fie im Rechte fein, wenn fie durch den 
Scarffinn ihres kritiſchen Spürtriebes fi auf den Einfall feitn 
Tiege, daß nur def. Eine in Frankfurt wirklich gelebt, der Anden 
aber erft im der verdunfelten Erinnerung der nächften Generation 
aus dem mejenlofen Schatten defjelben fich zu feinem mythiſchen 
Doppelgänger condenfirt habe? wenn fie ſich von der überrafchenden 
Wahrſcheinlichteit ihres Bundes fo bienden ließe, daß fie den Sah 
Beide hätten im Exrnfte nebeneinander exiftirt, nur „dem Unverftandt 
ober dem Eigenfinne“ anheimgeben wollte? Man täuſche ſich nicht! 
Solde Beifpiele zeigen deutlich, wie lange nod in 
der Erinnerung der folgenden Generationen die Spu— 
ven eines Menfhenlebens fortlaufen, das fig in 
größeren oder Heineren Berhältniffen wirkfam un 
in ausgezeichneter Stellung ‚betätigt hat, und mie 
viele Zeit darüber hingehen muß, bis fie fich völlig 
verwifchen. Man halte damit die Tradition von dem 





die Tradition v. d. Wirkſanueit d. Apoſt. Johannes in Epheſ. 508° 


lufenthälte des Apoſtels Johannes in Kleinaſien 
uſammen, und der Schluß, zu dem dieſe Vergleichung 
rängt, wird ſich von felbft ergeben. 

7. Noch weniger begreift. fih, was Keim über die vafhe Ber 
reitung der angeblich fo jungen Gage uns glaublich machen will. 
% man nämlich in Ephefus ebenfo begitrig nach Apofteln geweſen 
4, als in Rom und Korinth, fol fofort Kleinaſien aus der vor 
rilhaften Selbfttäufhung des Irendus Capital gemacht haben. 
!i6 Beleg dafür muß der Brief des Polyfrates von Epheſus an 
Nietor im zweiten Paſchaſtreit „mit den fiir das kritifche Auge 
icht entdedbaren Blößen feiner Rhetorik· dienen (Euseb. V, 24, 
8). „Was er gibt, find doch nur phantaftifche Wilder, aub 
a Evangelium und der Offenbarung aufgeleſen: den Philippus 
ter gegen die älteften Zeugen zu einen Mpoftel gemacht und das 
hab einer feiner Töchter für Epheſus anıtectivt, während Phi⸗ 
Mus neben feinen vier Tochtern nach Proclus in Hierapolis ruhte 
Euseb. II, 31). Endlich hat er doch: nicht den Muth, Fohannes 
men Apoftel zu nennen; er Hat ihn wunderfam Philippus, bem 
Ipoftel, und feinen vier Töchtern nachgeſtellt, bagıgen dem Poly« 
mp, Thraſeas, Sagaris, Papirius, Melito, jüngeren, ja ganz 
mgen Zeitgeſtalten nahegerüct, weshalb auch fehön"Higig und 
Biefeler die Verwechſelung mit dem Presbpter Johannes vermütget 
Sen“ (S. 165). Was zunächſt den Philippus betrifft, fo 
eutet allerdings die Erwähnung feiner Töchter und. ber Grabftätte 
1 Hierapolis unverkennbar auf den Apg. 21, 8. 9 ermähnten 
Aiebenmann und ich habe darum auch ftets eine Verwechſelung mit 
ieſem vermuthet. Aber ausgemacht ift bis zur Stunde noch nicht, 
uf weicher Seite der Irrthum liegt, ob in der Angabe des Poly- 
sated oder in der älteren Mpoftelgefchichte. Giefeler hat ihn 
ı der letzteren gefucht und V. 9 die Notiz Über die vier weiffa- 
enden Juugfrauen fir eine ſchon an ihrer Abgeriffenheit kenntliche, 
uch die Erwähnung geiftbegabter Menfchen und ihrer Weiffagurigen 
eranlaßte Gloſſe eines alten Leſers gehalten (Stud. u. Krit. 1829, 
5. 139f.). Er Hält aljo B. 8 an dem Diakonus Phifippus feft. 
zeller (Die Apoſtelgeſch, 1829, S. 154) nimmt zwar die Glaub⸗ 
dirdigfeit der Apeſtelgeſchichte Hier gegen Polykrates in Schuß, 





-510 Steig 


Mann fic dabei aber doch nicht verhehlen, daß die Worte 21, 8: 
‚Övsog dx vor Enca mit ihrer deutlichen Rücbeziehung auf Gap. 6 
fi) als Zufag des Bearbeiters zu dem Berichte des Augenzeugen 
zu verrathen fcheinen, während die Genauigkeit in den Angaben vs 
Bolyfrates ein günftiged Vorurtheil für die Ueberfieferung, ber m 
gefolgt ift, erwede. Hilgenfeld (Vaſchaſtreit, S. 189.) find, 
daß es mit der ausdrüclichen Angabe des Polyfrates nod) int 
wege jo ſchlecht ftehe, daß fie der Apoſielgeſchichte nothwendig gr 
opfert werden müſſe. Auch ich glaube, daß, wenn in der Apoitd| 
gefchichte ein mißverftändliher Zufag des Bearbeiters anzunehmen if, 
derfelbe in B. 8 voransgefegt werden muß; nicht blos die Work 
õvroc dx reõy eᷣarci, fondern aud die Bezeichnung des Philippu 
als 6 sueyyelsorns ijt verbädtig, denn abgefehen davon, di 
edayyelsoral im ganzen N. X. nur Eph. 4, 11 und 2 Tim. 4,5 
in vielfach angezweifelten Briefen vorfommen, fo kann das Ant: 
eines ſolchen doch nach Apg. 6, 2. 3 ſchwerlich mit dem Diakon 
verbunden geweſen fein; 21, 8 aber fcheint, wie das Prädicat da 
Siebenmannes aus 6, 3. 4, fo die Vorftellung des Phifippus als| 
Evangeliften aus 8, 12 zu ftammen, wo bon den Samariten, 
uuter denen der Diakon während ber Verfprengung der Urgemente 
eine vorübergehende, rein perfönfiche Wirkſamkeit (8, 5 u. 8, 14) 
geübt, aber kein Amt bekleidet hat, gejagt wird: Entorsvoer si 
Bilinnp evayyelılonusvo zegl vis Bacılelas von se, 
und aus 8, 35: eunyyelloaro auch (v5 evvodxw) zov 'Inooir. 
Sind diefe Zweifel gegründet und beide Epitheta als Gloſſen ii 
Bearbeiters anzufehen, der irrthümlich den Philippus zu Gäfere 
für den Dinfonus und erften Miffionsprebiger, Samariens hl, 
dann braucht man auch V. 9 nicht weiter mit Giefeler anzuzweifeln 
fondern ann die Stelle von Philippus und feinen weiffagende 
Töchtern auf den Apoftel beziehen. Bon diefem läßt fich ohne 
leichter begreifen, wie er zu einer Zeit, wo felbjt Paulus in Je 
rufalem feinen Apoftel mehr fand, fondern nur den Jakobus un 
die Preöbyter (21, 18), weil Jene durch ihre Miſſion auswärt 
befchäftigt waren (1 Kor. 9, 5), einen dauernden Aufenthalt un 
ein Haus zu Cäfaren haben konnte, al von dem gleichnamigen 
Diakonen, der in der Urgemeinde ein ftändiges Ant bekleidet. 








bie Tradition d. d. Wirkſamkeit des Apoft. Johannes in Epheſ. 611 


Das ift es, was ſich zu Gunften ber Angabe des Polyfrates fagen 
fäßt. Papias und Proclus aber können’ in biefer Frage nicht ent« 
ſcheiden, Jener nicht, weil wir nicht feine eigenen Worte haben, 
fondern nur das Meferat des Eufebins, der überdies die Nachricht 
auf den Apoftel bezieht (III, 39), Proclus nicht, weil er nur 
von Philippus fpricht, ohne ihm näher zu bezeichnen *). 

Bei diefem zweifelhaften Stand der Frage Tann das Zeugniß 
ver Apoftelgefchichte nicht als kritiſche Inſtanz gegen Polykrates 
venugt werden. Noch weniger der angebliche Widerſpruch zwifchen 
Broctus und Polykrates in ihren Angaben über die Töchter. Denn 
wenn Jeuer von pier weiffagenden Töchtern des Philippus fpricht 
md dann zur Legitimation feiner Kunde von ihnen auf ihr Grab 
a Hierapofis und das ihres Vaters Hinweift, jo läßt fih aus 
Kefer ganz allgemein gehaltenen Bemerkung ebenjowenig mit Sicher⸗ 
rit fliegen, dag alle Töchter des Philippus in Hierapolis be— 
toben Tagen, als aus ber ebenfo allgemeinen Notiz des Clemens 
on Alexandrien, Philippus habe feine Töchter an Männer gegeben, 
ab alle verheiratet waren (vgl. den Ausdrud od Aoınoi ano- 
zoloı 1Ror. 9, 5 und de Wette dazu); Hier macht vielmehr bie 
Ingabe des Polykrates, daß zwei derfelben im hohen Alter als 
jungfrauen geſtorben und im Hierapofis begraben Liegen und die 
ndere, die im Heiligen Geifte gewandelt, zu Epheſus ruhe, den 


a) Allerdings könnte man aus ben Worten feines Gegners Cajus bei Eufebius 
U, 25, 6: &y@ da rd 1gomaia züv dnoaröAuv Eya deita, darauf 
fließen, daß entweder Proclus nicht den Apoftel Philippus gemeint, oder 
doch Cajus ihn micht ale Apoftel Habe gelten Iaffen wollen. Allein ich 
zweifle, daß Cajus die römifchen Apoftelgräber des Petrus und Paulus 
fo direet dem hierapolitaniſchen Grabe bes bloßen Diakonus entgegengeftellt 
hat, denm wäre überhaupt in feiner Schrift der Amtscharakter des Phir 
fippus zur Erörterung gefommen, fo hätte Eufebius unter bem Eindrude 
diefer Berhanblungen IT, 81, -2 wohl fÄhwerlich die Angaben des Poly 
frates und des Proclus fo gleichmäßig auf den Apoftel beziehen und 
dann in harmloſer Naivetät den Aufenthalt des Paulus bei dem Sieben- 
mann und feinen Töchtern zu Cäſarea aus ber Apoſtelgeſchichte als be 
Rätigendes Zeugniß anfügen Können. Au Schmwegler (Montanismus, 
©. 283) ſah in ben Berufungen ſowohl des Proclus als des Cajus Ap- 
pellationen auf die Apoftolicität der betreffenden Kirchen. 


72 Ex 


Euteuf sr gig Gesaugfer, umiemche, da mar in Epheſus 
after moße, m üt 2er Bes Genh amer Diefer Töchter befand 
Dar nie Zn wire Grambe uber Soll dab Zeuguih des Procus, 
2 cmer Domes In Simemuhmet, größeres Gewicht haben, du 
Tem Mir inmmit iber Aut Beh Bekyfrases Sinaufragt, fondern 
4er rue jimger angry werben Bari? “) Keim's Behauptung, 


2, De Erreiürse: Scxios zıb Möfizere werben in ben Fragmenten der 
Doler orimmmmitnier Srsore- gar wide, fonbern erfi in ben unedite 
Gehcimer ie Tenor c 50 omäßet. Ad. Valentin. c. 5 führt 
yew Le-ufker WER — den Befrritern des Balentic 
er ch zıh uub Iaint, Sein Gegner Ci 
Mich geyex due Zune: dem Eitanene et Zephgrinns (Euneb. II, 25, 
 zwiier BG. ze %:, wie Euiebins (a. a. D.: Hozip &y; 
rem; dels Saher Jusäoyes III, 32, 4] und dmi Pospuns ng 
Beszles ů— #eryes algismıs Fmeguayoüvra zexwnudros 
20, 3, im EicF- gürafı, deutet ofme Zooeifel anf bie Heichzeitig 
beider Mämerr zu Snjeng des drittem Jahchunderte. Proclus je 
(Euseb. III, 31, 4,: pere r de neopimdes reoaages al #| 
Ainnor yerörgree dr Teganödes 75 zen rip alay" 8 vogos anıin, 
der izei zei 6 res warpos errar; Clemens von Alerandrien — 
€. 30, 1; Serum. VI, 5%: Aduraos de α 
ddduze; Fobzkıaten (1,24, 9): Hisnov zör vv duldexa dneozölen, 
ös Tegancins, zui due Suyariges aured yeyıgerial 
nagdere zei j Erien are Ieyürmo dr dylp nveiuarı no 
sauern Prüdicat der Propetim, dgL 5 5 und Balefins zu der Im 
Stelle), dranerieren. Da Polytostes die dritte in Epfet 
begrabene Tochter wur ale Propketin bezeichnet, aber micht als mapdrm, 
wie die beiden Wnderem, Darf man jehliehen, daßz fie verheiratet mar. 
ex enbfich in dem Berzeiaiffe der im Meinafien Beſtatteten bie vierte nid 
aufähft, fo läßt ſich amnehmen, bafı fie außer dieſem Lande ſich verkelit 
Sat und geftorben if. Papios hat mod Töchter des Phifippns in Gin 
polis gefammt, ſcheint aber ur im Allgemeinen von ihnen gerebet zu faba 
(Euseb. HI, 89). Die Wet amd Weiſe, wit der antimontaniftifde Aaoı- 
mans, als wahre Propetem, die nicht in Bewirßtlofer Effefe gemeiffont, suh 
dem Agabus (Apg. 11, 28; 21, 10), Judas und Silas (15, 32) m 
deu Töchtern des Phifippus (AL, 9) ſofort bie philadelphiſche Mama m) 
den Onadratise nennt (Euseb. V, 17, 2), geigt, daß er nur meniehemen: 
Hide Notizen mit der rchlichen Tradition verknüpft hat. nd die dr 
leitenden Worte: zes woöres in dem Fragmente bes Procius (mh 
Schtwegler wäre au Quadratus dder, was ich fils richtiger halte, ax eina 

















die Tradition v. d. Wirkfamkeit d. Apoft. Johannes in Epheſ. 813 


olhlrates Habe „ein diefer Gräber für Epheſus „annectirt“, bat 
rum nur den Werth einer Vermuthung. 

Geradezu in der Luft aber fteht die Beſchuldigung, auch Poly 
18 habe nicht den Muth gehabt, den Johannes wie vorher 
n Philippus einen Apoftel zu nennen, als ob nicht die Bezeich⸗ 
ng: 6 m 6 0rj9og Tod xuglov dvaneouv fo deutlich wäre, 
5 fie jedes Mißverftändnig geradezu ausſchlöſſe! als od fie nicht 
it jtärfer wäre als das „rev zur dudsxe dnoozoiwv“ und 
nit matt, überflüffig und geradezu lächerlich geweſen wäre, 
an er nach jenem höchften Prädicate noch) etwas derart zugeſetzt 
te! als ob der Ton und die Sprache diefed ganzen Actenſtückes 
4 nur irgendwie die Unficerheit des böfen Gewiſſens, das zag⸗ 
fe Bewußtſein möglicher Selbfttäufchung oder gar abfichtlicher 
Möung verriethe! Endlich hätte ſich Herr Keim ohne großen 
harfſinn fagen Fönnen, auf welchen Grunde die Reihenfolge ber 
kt, in der Polhkrates die großen Gejtirne feiner Landeskirche 
führt. Es werden ja lauter Entjchlafene genannt, die in Afiens 
de ruhen und die Auferſtehung am Tage der Parufie bes Herrn 
arten: in erfter Linie Philippus, offenbar als ber zuerft Heim» 
angene, in zweiter Stelle Johannes, den die Tradition der alten 
he die. übrigen Apoftel überleben Täßt, hierauf Polylarp, den 
feinen Schüler und Hörer nennt, dann erft eine Reihe von 
Ännern, meift Märtyrer, bis-auf Melito, der noch im laodis 
iſchen Pafchaftreite (um 170) Wortführer geweſen war, Ale 
ıe Ausnahme nit nur jüngere Zeitgenoffen des Polykarp, bie 
nicht um ein ober zwei Jahrzehnte überlebt haben werden, und 
ere des Polykrates. Mit welchem Rechte fagt denn Herr Keim, 
Iptrates habe dem Johannes eine Reihe jüngerer, ja ganz junger 
tgenoffen nahegerüct, da doc feine Aufzählung den Eindrud 
interbrochener Continuität macht und ihr offenbar die Abſicht zu 
unde liegt, einerſeits das Alter, andererfeits die Allgemeinheit 


der von dem eben genannten: Anonyme vorher genannten Männer ber 
Schrift zu denken) machen es mir wahrſcheinlich, daß auch diefe Notig nicht 
aus eigner focaler Kunde, fondern gleichfalls aus der Apoftelgefchichte und 
der lirchlichen Tradition zuſammengeſchweißt ift. 

















55 Fhmeige er anf wor Vavias, auf dem er ſich ohne Zweifel 
sewidher Necte wir er die Anderen berufen konnte. Man 
Beher auch Terz Grrad, dereıf Ebfäfje zu gründen, daß er 
Arolzurs mu Erit’ämweiger übergeht; es wäre fogar nicht 
mögt:h, dah Dirier wach gefcht hat, zumal wenn dieſes Actenfti 
wie mau gewiie!ih exummt, bald nad) Bictor’s Amtsantritt 
des Jahr 190 werizät in. 

Irenäns wer Zeugenoije des Polylrates; er hat unter dem 
flepate des Eleutheras (177—190) jein Werk gegen die Härci 
werfagt (Euseb. V, 5, 9), er hat nod im großen Paſche 
feinen Brief an Bictor geihrieben; Keim läßt ihn etwa feit 


uud wir follen mm ganz beruhigt annehmen, Polyfrates habe jo 
im Jutereſſe feiner nady dem Befige von Apofteln begierigen Lanı 
firche diefe Proclamation mit beiden Händen ergriffen, fie friſcht 
anf ihr Bauner geheftet und zu ihrem Loſungsworte gemadit; fl 
er habe, an diefer fühen Frucht, die ihm unverhofft iu den © 
fiel, noch nicht erfättigt, obendrein den Diafonus Bhilippus 
dem ange eines Apoftels beffeidet, das Grab einer feiner Ti 
unbedenklich für Ephefus annectirt und alle Blößen diefer Annerio 
mit dem Flickwerk prunfender Rhetorik zugedeckt. Keim nimmt 
Hilgenfeld 166 als Todesjahr Polykarp's an *); Polyfrates fi 
um oder bald nach 190, er habe 65 Jahre in dem Herrn: er 
alfo, wenn wir diefes After von feiner Geburt und nicht erft dm) 
den Anfängen feines Chriftentjums an beredinen, bei Polylar 
Tod etwa vierzig Jahre alt geweſen; er muß ihn wohl perfönlid, 


2) Diefe Annahme ſtutzt fich anf die djeomologikie Wetig am Schlufſe d 
Martyriums, beren Unechtheit von mic (Fahrb. f. D. Aeel VI, 12613 
mit Gründen nachgewieſen worden ift, die ich durch Kilgemfelb’s Gtgre 
bemerfungen (im feiner geitſchrift IV, 289) nicht für emtfiäftet Halten far 





die Tradition v. d. Wirkſamleit d. Apoſt. Sohannes in Epheſ. 515 


id zwar nicht wie Irenäus als Jungling, ſondern in der vollen 
eife der Manneszeit noch gekannt — und er ſoll niemals von 
m erfahren haben, mit wem er eigentlich in feiner Jugend ver⸗ 
it hat, ob mit dem Presbyter Johannes allein, oder auch mit 
m Apoftel Johannes? Er foll wohl gar nicht darnach gefragt 
ben, in einer Beit, wo man bereit8 in ben apoftolifchen Gemeinden 
ıen ficheren Anhalt gegen die wuchernde Gnofis an ber Feſtſtellung 
: apoftolifchen Tradition und der bifchöflihen Succeffion zu ge» 
men fuchte und wo Hegefippus in diefem Intereſſe feine Neife 
57—168) von Paläftina über Korinth nad Rom anftellte; in 
ır Gemeinde wie Epheſus, die unleugbar als apoftolische Pflan- 
ng ſchon von Paulus Her galt? Auch ihm foll das zweidentige 
fdicat „Zünger des Herrn“, das Papias gleihmäßig dem Pres⸗ 
fr und dem Apoſtel beilegte, denfelben Selbftbetrug wie dem 
mäus in Gallien gefpielt oder er fol fogar den Presbyter mit 
ſem Gewiffen als Den, der an der Bruft des Herrn geruht, 
eichnet und darum nicht den Muth gehabt haben, ihm unums 
inden das geringere Prädicat des Zwölfboten beizulegen, und es 
te ſich in ganz Kleinafien, in dem ganzen Lebenskreiſe des Por 
arp, der noch nicht völlig ausgeftorben fein konnte, Feine Seele 
2 fo viel Wahrheitöliebe gefunden, um dem Irrthum oder der 
pe zw widerfprechen? Endlich noch die fieben Männer, die aus 
ner Familie das biſchöfliche Amt in Kleinafien befleidet, die alle 
“its als Heimgegangene von ihm bezeichnet werden (joay Eni- 
oro), die noch ſämmtlich Zeitgenofien des Polykarp und des 
wias gewefen fein müffen, auf deren Ueberlieferung (regadoous 
iy Guyyevay mov) er fih als der Erbe diefes ihres geiftigen 
hatzes fo feierlich beruft, auch von ihnen foll er nichts Verläffiges 
er eine Frage, welche für die Zeit eine der brennendften war, 
hr erforfcht und vernommen haben? In der That, man macht 
) wunderfame Illuſionen über die flüchtige Dauer der Tradition, 
hrend man ihr doc) wieder in anderen Fällen eine unvertilgbare 
isigfeit der Erinnerung vindicirt, jenes freilich, wo es gilt „der 
faſſung des Evangeliums durch den Zebebaiden den letzten Halt 
tzuziehen“, dieſes, wo man das entgegengefeßte Intereſſe verfolgt, 
Dionpfins von Alerandrien, Eufebins, Hieronymus und den 








sıs Steig 


apofioliſchen Eonftitutiouen wech fpäte Zeugen für die unverwiſch 
baren Spuren der Exiſtenz und Wirfjamsfeit des Presbpters Jo 
hannes in der Erinnerung Kleinagfiens aufzuftellen, weil er 
einmal der Schlaſſel fein muß, der das ganze Rathſel löft, 
Arioduefaden, der ans dem Irrgewinden diejes Labyrinthes 
ficheren Ansgang verheißt. Und dech Haben alle dieſe angeruj 
Zeugen keine Traditionen mehr über den Presbter gehabt: Du 
unfins glaubt (Euseb. VII, 25, 16) nur aus dem beiden Je 
Hamisgräbern zu Epheſus ſchlichen zu dürfen, daß es in dir 
Stadt noch einen andern Mam (EAlov zıva) dieſes Namens 
geben Habe, weiß aber von feiner Perſon nichts mehr; Cujeh 
hat feine ganze Keuntniß von dem Presbpter lediglich aus 
Werke des Papias gejhöpft (II, 39, 7), Hieronymus aber 
Enfebius; die Fabel der apoftolifgen Conftitutionen (VII, 4 
endlich von dem durd den Apoftel Johannes zu Epheſus ea 
gefegten Biſchof Johannes nad dem paulinifhen Zijcof Ti 
thens legitimirt ihren Urfprung und ihren Werth ſchon durch 
Erwähnung des fmprnäifchen Biſchofs Arijtion. Wie kann d 
Kritiler da von der Zähigfeit der Tradition reden! 

8. Bon dem Jahre 192 an batirt man die Adhpriftftelleri 
Thätigkeit des alerandrinifchen Clemens. Auch er tritt als } 
für die Wirkſamkeit des Apoftels Johannes in Rleinafien auf, 
wenn er damit zugleich die Sage von feiner Verbannung nah 
Inſel Patmus verbindet, ſo erflärt fi) dies daraus, daß er ch 
wie Origenes die Apolalypfe für das Werk des Evangeliften 
haften Hat. Aber er erzähft auch bereits (Quis dives. salv. $ 
bei Euseb. III, 23) „eine Sage, bie ihm nicht Sage, fon 
Geſchichte ift“, von dem unter Räubern gefallenen und in 3e/ 
brechen verhärteten, aber durch ‚die Liebesmacht des Lieblingsfünget 
geretteten Juüngling, und verjichert, daß Manche noch den Rama] 
der Ephefus benachbarten Stadt und Gemeinde zu nennen wie 
wo es gefchehen fei. Iſt wohl wahrſcheinlich, daß die fo jur 
Runde von dem .erft feit 190 in Gallien proclamirten Apotıı 
Meinafiens in einem oder zwei Decennien ſich nicht nur Kt 
Alegandrien verbreitet, fondern hier aus ihrem  frudtbare 

Schooße neue Sagen zur Befriedigung des Chrgeizts bes tv 








die Tradition v. d. Wirkſamteit d. Apoft. Johannes in Epheſ. SIT 


Nitionslofen und doc fe trabitionsfüchtigen Geſchlechtes erzeugt 
hätte? ö 

9. Doch wir find nicht auf Wahrſcheiulichkeitsgrunde allein au⸗ 
gewiefen. Keim felbft gibt und eime Waffe in die Hand, fcharf 
ynug, um das leichte Gewebe feiner Weweisführung mit einem 
Scäuitte amfzuböfen, und wir wundern uns nur, daß er dieſen kri⸗ 
iſchen Maßſtab für feine Entdeckung nicht beſſer zu verwerthen ver⸗ 
tanden hat. Er berichtet uns ©. 164: „Mpollonius um 1170—180 ) 
sußte (Euseb. V, 18, 14) von einem Zobterr im Ephejus gu 
sühlen, den Johannes, zwar nit der Apoftel, aber ber 
Kpotalyptiter, aufermedte“, — und das bietet er uns im aller 
Darmtlofigkeit unmittelbar, ja ganz unmittelbar nad; ber Ver⸗ 
Üherung: „von Suftin dem Märtyrer bis auf- Srenäns und die 
Bogen Väter fei die Offenbarung Johannis als Buch des Apoftele 
werfanat“ gewefen! Alſo Wird wohl auch Apollonigs in Johanmes, - 
rn Berfafjer der Apofaiypfe, den Apoftel gefehen haben, oder 
dere Keim nenne uns doch gefälligft wor Dionyſtus von Alepan⸗ 
wien am 260 einen einzigen Water, ber die Apofalypfe für eis 
Berk des Johannes, aber nicht des Apoftels, ſondern eines An- 
eren dieſes Namens gehalten hätte! Much Eufebius hat in feinem 
Refevate über Apollonius fein Wort non dem Apolalyptiler Far 
ames als einer von bem Apoſtel verſchiedenen Perfönlichleit, er 
agt nur: „Apollonius hat auch Zeugniffe aus der Apokalypſe For 
annis angeführt und erzühlt, daß ein Todier durch göttliche Kraft 
om Ihchanues ſelbſt (meös asnod AImarvem — 18 ſteht nick 
Inmal: mgös «od wirod I.) in Ephefus auferwedt worden ſei.“ 
kein Umbefaugener wird verfennen, daß hier der Apoſtel gemeint 
ft und allein gemeint fein fann. Die Unterſcheidung Keim's 
wiſchen ihm und dem Apokalyptiker, der Zeit des Apollonius vbllig 
remd, iſt auch nur die Ausflucht der Verlegenheit and hat das 
Intereffe an dem Bedenklichen, mas in dieſer Augabe für feine 
Anfiht von hem Verlaufe der Dinge liegt, den Veſer licht mund 
amerfüd voräberzuführen. Aber wie ſchneidend ritt mun dieſes 





a) Ueber die chronologiſchen Verhältnifſe vgl. Valeſtus zu Eufebins (V, 10) 
und Keim ſelbſt (@. 154, Aum. 2). 


518 . Steig 


Zeugniß feiner Anſicht entgegen: Apollonius, der Beftreiter des 
Montonismus ſchon zu der Zeit, da derſelbe noch im Phrygien 
feine erfte Blüte entfaltete (V, 17, 1), umd nach dem Yudzügen 
des Euſebius aus feiner Streitjchrift zu urtheifen, felbft fiat, 
kennt ſchon um 175 den Aufenthalt und die Wirkjamfeit des Apoftels 
in Ephefus und weiß einen fpeciellen Zug von ihr zu erzühler. 
Aljo hat aud nit erft Irenäuß feit dem Jahre 190 
den Apoftel Kleinafiens proclamirt; diefer kann nit 
erft aus feiner Berwechſelung mit dem Presbyter, dem 
Zünger des Herrn, als trügerifhe Phantasmagorit, 
als weſenloſe Quftfpiegelung anfgeftiegen fein; dieid 
Ueberlieferung, gewiß nit erft von Apollonius ers 
funden, ift älteren Datums; Yrenäus, beffen ir 
Kleinajien verlebte Knabenzeit Keim wohl etwas jı 
fpät in die Jahre 150—160 fest, hat fie ohne Zweifel 
von dort, wo er fie bereits vorfand, mit nad Galfit 
gebradt und als früh empfangene Runde in feine 
Werke und feinen Briefen an Florinus und Victor 
niedergelegt. 

Doch wenn auch Apollonius ſchon von ber fchriftftekferijcen 
Zhätigkeit des Irenäus und unabhängig von ihm die Wirffamfit 
des Johannes in Epheſus bezeugt, wäre es nicht dennoch benfher, 
daß ſchon bei ihm diefe Nuchricht Iediglich aus einer Verwechſelung 
des Presbpters und des Apoftels entftanden fei? Auch diefer Eir 
wurf, den wir uns im Intereſſe der Gründfichkeit felbft mac, 
hebt fi, wenn man fih nur die Mühe nehmen will, die nähe 
Bedingungen zu erwägen. Apollonius zeigt ſich als einen namentih 
in Ephefus mit allen Verhältniſſen vertrauten Mann, denn er vr 
weift feine montaniftifhen Gegner auf das öffentliche Archiv fir 
Aften, das ſich in diefer Stadt befand (V, 18, 9). Er wird alt 
auch in Epheſus feine Kunde über den dortigen Aufenthalt de 
Johannes empfangen und fie muß dafelbft in dem Munde der üb 
teren Leute gelebt haben. Er hat etwa zehn Fahre nach Polylarpe 
Tode gefchrieben, reicht alfo noch felbft in deffen Lebenszeit hin’ 
und darf als jüngerer Landes- und Zeitgenoffe ihm unbedenllit 
nahegerüdt werden. Jedenfalls wirkten, als er ſchrich, deſſta 





bie Tradition d. d. Wirhamkeit d. Apoſt. Johannes in Epheſ. 519 


Traditionen bei den Vielen, die ihm noch perſönlich gekannt Hatten, 
ı volfer Frifche fort. Wenn darum fon Apollonius die Wirk- 
ıumfeit des Apoſtels in Epheſus bezeugt, fo ift dies zu einer Zeit 
heben, in der unter dem frifchen Eindrud diefer Traditionen 
ne Verwechſelung des Presbyters und des Apoftels, die Ein- 
eidbung des Einen in das Gewand des Anderen, noch nicht denkbar 
t. Je weiter ſich aber die Egiftenz diefer Tradition in bie Zeit 
% Polykarp und des Papias zuruckzieht, deſto entfchiedener wird 
eſe Verwechſelung, die Hypotheſe des Herrn Keim, zur reinen 
nmöglichteit. 

Hier ift der Ort, wo wir auf den Brief des Irenäus an ben 
Imifden Victor (Euseb. V, 24) etwas näher eingehen müffen. 
7 enthält unter Anderem den Bericht über Polykarp's Reife nad) 
dm und feine Verhandlungen mit Anicet in Betreff der Paſcha⸗ 
Hferenzen. Wenn fich der römiſche Biſchof für die Obfervanz 
iner Kirche auf die conftante Gewohnheit feiner Vorgänger bezog, 
olykarp dagegen die Berufung auf Johannes, den Junger des 
ern, umd auf die übrigen Apoftel einlegte, mit denen er einft 
tlehrt umd das Paſchanach kleinaſiatiſchem Brauche begangen 
itte, fo kann man vielleicht die Erwähnung mehrerer Apoſtel als 
agenauigkeit des rhetoriſchen Ausdruckes dem Referenten zur Laſt 
jen (doch vgl. Adv. haeres. II, 22, 5 in fine), obgleich auch 
olyfrates auf die apoftolifche Auctorität des Philippus appellicte, 
me daß ihn die Kritif darin des Irrthums zeihen könnte; aber 
ird man auch den apoftolifchen Umgang des Polyfarp überhaupt 
8 eine bloße Verwechſelung, als einen reinen Gebächtnißfehler und 
ae handgreifliche Unrichtigkeit des Jrenäus beurtheilen wollen? 
ch will keinen Nachdruck auf die immer diſputable Frage legen, 
wohl das Zeugniß des Presbyters Johannes, einer im Abend⸗ 
nde jedenfalls volllommen unbekannten Perſönlichkeit, ein großes 
1b entfcheidendes Gewicht in Rom Haben fonnte zu einer Zeit, 
o man fchon auf den apoftolifchen Urfprung der Gemeinde und 
ter Traditionen fo hohen Werth legte, daß damals Hegefippus 
diefem Intereſſe an Ort und Stelle die Succeffion der römifchen 
hifchöfe aufzeichnete, ich frage ftatt deffen nur: Würde man es 
ohl in Rom fo ftillfchweigend und rußig Hingenommen haben, 
Theol. Stud. Jahrg. 1868. 3 





520 Steik 






















daß Irenäns Apoftel und vor Allem den Johannes als ii 
Gewährsmänner des Polykarp für feine Heimifche Feſtſitte aufruft 
wenn Bolyfarp felbft dem Anicet nur den Bresbpter zu nenn 
gewußt Hätte? Die Pafchafrage war eine drängende geworden 
Seit Polykarp's Beſuch hatte man zwar von Seite Roms di 
Verfchiedenheit der morgenländiſchen Sitte bis zum Aufang 
Epiflopates Victor's mit Enger Nachficht geduldet, aber gewiß ni 
aus dem Auge verloren und die Verhandlungen zwifchen Anicet 
Polykarp ſicherlich in treuem Gebäctnig behalten. Dajzu bei 
man auch alle Mittel. Als Hegefipp in Rom weilte, war n 
feiner Ausfage (Euseb. IV, 22, 3) Eleutherns Diakon Anicet‘ 
derjelbe Eleutherus beftieg nach Soter den römiſchen Bifchofeft 
er war der unmittelbare Vorgänger des Bictor geweſen und di 
hatte jedenfalls fchon unter feinem Epiflopate ſich mit ben 
ſchwebenden kirchlichen Fragen vertraut gemacht. Sogleich nad 
Wahl des Elentherus, noch im Jahre 177, finden wir den Frenũ 
damals noch Preöbyter, als Ueberbringer eines Schreibens 
lugdunenſiſchen Märtyrer in Rom (Euseb. V, 4), und gewik 
er mit dem römiſchen Bifchofe und feinem Clerus auch über di 
BVerhäftniffe, die feinem Intereſſe fo nahe lagen, da fie mit fei 
früeften Jugenderinnerungen zufammenhingen, fich verſt 
Noch konnten, denn es war kaum 30 Jahre Her, im römif 
Presbyterium nicht alle Männer ansgeftorben fein, die unter Ari 
ein Kirchenamt beffeidet hatten und ſelbſt Zeugen der mit Poly 
gepflogenen Unterhandlungen gemwefen waren). Im Rom mi 
man alfo fo gat wie in Lugdunum wiſſen, auf welches Zau 
fich Polykarp geftiigt Hatte, ob auf ein apoftofifches oder ein nid! 
apoftofifches, und würde gewiß nicht verfäumt haben, einem etwaigm, 
in dem fehwebenden Streite fo präfubicirlichen Irrthum des Irenau 


a) Der Berfoffer gehört ſchon über ein Vierteljahrhundert dem Meiniflerim| 
in Sranffurt en und würde im Stande fein, Aber alle kirchlichen Bargist 
und Berhanbfirngen während biefer Zeit verläffige Auskunft zu geben; m 
feiner Collegen könuten es aus einem Zeitraum von 82—34 Jahren; cẽ 
dritter iſt die lebendige Chronik alles Deffen, was während eines halber 
Säculums im Collegium gejdjehen ift und erzählt davon mit aller Tr: 
und Friſche. Denkt man fi, darin jene Zeiten vielleicht anders? 





die Tradition d. d. Wirkſamkeit d. Apoft. Johannes in Epheſ. 621 


ofort mit allem Nachdruck zu begegnen. An Roms Widerſpruch 
ätte daher eine Selbfttäufchung in dieſem Punkte, wenn fie über 
aupt denkbar wäre, nothmendig zu nichte werben müffen. Ober 
ill man Tieber zu der Annahme greifen, die ganze zweite Hälfte 
eſes Jahrhunderts: Irenäus in Gallien, Clemens in Alerandrien, 
pollonius und Polykrates in Kleinafien, Anicet und Victor in Rom, 
am Ende Polylarpus felbft, feien ohne Ausnahme demfelben 
xrthum erlegen und hätten, geblendet durch das neckiſche Prädicat 
Jünger des Herrn“, den Presbyter für den Apoftel gehalten? 
denn nach Schopenhauer eine richtige Hypotheſe „nur der wahre 
» vollftändige Ausdruck der vorliegenden Thatſache ift“, wie fie 
t Denker „in ihrem eigentlichen Weſen und inuerem Zufammen- 
ge intujtio aufgefaßt hat“, wenn insbefondere die hiftoriſche Hypo⸗ 
He darin ihr Kriterium Hat, daß fie die gefchichtliche Thatſache in 
t Totalität aller ihrer Momente zu ihrem treffenden Ausdrud 
d ihrem überzeugenden echte beingt, fo darf gewiß die neue 
thüung, um welche Keim die johanneiſche Frage bereichert Hat, 
a Anfpruch auf diefen Namen nicht erheben. Dagegen halte ich 
trotz feiner Zweifel (S. 166) für ein wirkliches „Zeichen hiftor 
{her Kritik“, daß die Tübinger Schule wenigftens am „Apoftel 
einaſiens“ unerſchütterlich feftgehalten ‚hat. 
Ich kehre noch einmal zu Apollonius zurüd. Ich kann nämlich 
Bermuthung nit bergen, daß die von ihm berichtete Auferweckung 
es Todten durch Johannes zu Ephefus nur eine andere Verfion 
* Sage von dem bei Ephejus durch Johannes geretteten Jüng- 
9 ift; denn noch in der Erzählung des Elemens von Alerandrien, 
der Referent ausdrüdlic als eime überlieferte und im Gedächt⸗ 
; bemwahrte (Aoyor napadedouevov zal urrjun Trepvkayuıs- 
v) d. h. als eine alte bezeichnet, wird von dem gefallenen und 
lorenen Jüngling gefagt: „Er ift geftorben, er ift Gott geftorben“, 
segen ber gerettete ein Merkmal wahrer Palingenefie, eine von 
hannes aufgeftellte Trophäe der ſichtbaren Auferjtehung (yvo- 
rue nallıyyereolas, veoneov dvaordaswus Blemousuns) 
annt. Ich wage fogar zu glauben, daß im ber letzteren Sage 
urfprüngliche Wurzel zu fuchen ift, aus der erft die Geftalt, 
der fie bei Apollonius auftritt, als fecundäre Formation ſich 
36* 


522 Steig 


entwidelt hat *). ft meine Vermuthung begründet, dann verliert 
ſich die Tradition von dem Aufenthalte des Apoftels Johannes 
in Ephefus in eine fehr frühe Zeit zurück und ihr Alter wird kaum 
zu bezweifeln fein. 

10. Ich darf zum Schluffe mir wohl noch die Frage erlauben, 
was nad) Abzug aller „Scheingründe“ umd BVelleitäten von Herm 
Keim's Unterfuhung noch ftehen bleibt? Ich glaube, höchſtens eirig 
Verwechſelungen des Presbyters und des Apoſtels Johannes, die 
dem Irenãus in Einzelheiten begegnet fein mögen, und die Thatſaqhe 
daß wir in den Fragmenten des Papias nur die Wirkfamteit 4 
Presbyters in Kleinafien ausdrückl ich bezeugt finden, bei 9 
näus nur die des Apoftels. Diefe Tängft bekannte Thatſache br 
rechtigt nicht zu einem jo weitgreifenden Schluffe, wie ihn Keim ge 
zogen hat, zumal Srenäus mit Bapias nicht in directem Widerjpru 
fteht, fondern felbft die Stelfe bietet, an welcher fich die “r 
nicht erwähnten unmittelbaren Gewährsmänner des Papias, Arifie 
und der Presbpter, ohne Zwang und Künftelei einfügen (oben Nr. 6) 
Jene Verwechfelungen aber, um die man gleichfalls läugſt gewrh 
hat, erffären fih um fo leichter, wenn zwei Objecte räumlid 
zeitlich nebeneinander exiftirt haben, die man verwechjeln fon 
Da aber die Anwefenheit des Apoftels in Ephefus ſchon vor 
fchriftftellerifchen Thätigkeit des Irenäus durch Apollonius Bi 
ift, deffen Leben noch bis in die Zeiten des Polykarp und Bari 





&) Papias ſcheint die ephefinifche Todtenerweckung des Johannes noch = 
gelannt zu haben; er Hätte fie fonft ficher mit der hierapolitaniſchen # 
Vthilippus als Erfüllung des Adyıov zugaxdy (Matth. 10, 8) werhune 
da beide die zwei in der Tradition fo enge verbundenen Mpoftel Kleine! 
gleihmäßig verherrlichen, und Eufebius hätte fi dann für jene The: da 
Johannes dewiß nicht erft auf das fpätere Zeugniß des Apolloniut, 
dern fehon auf das frühere des Papias geftügt. Iſt fomit der 
Urfprung der Sage außer Zweifel und doch nicht anzunehmen, daß ft 
den zehn bis zwölf Jahren zwiſchen dem Tode des Papias und dem & 
richte des Apollonius rein aus der Luft gegriffen worden jei, jo laßt ir 
ihre Grundlage and nur in ber Erzählung vom geretteten Jüngli 
Wahrſcheinlichteit nachweiſen und diefe, die bereits Clemens als alt 
dition bezeichnet, wird als die äftere und urjprünglide Form beurtie: 
werben muſſen. 












die Tradition d. d. Wirkfemfeit d. Apoſt. Johannes in Ephef. 528 


jinaufreicht, fo fällt jeder ſcheinbare Grund weg, ben Jrenäus für 
sen Urheber der von ihm befolgten Weberlieferung zu halten und 
ht den Charakter alter Erinnerung abzufprechen. Wir fehen uns 
fo noch immer auf demfelben Punkte, auf dem wir uns vor 
deim's Unterfuhung wußten. Wir ftehen allerdings nur einer 
Icherlieferung gegenüber, von der wir vor dem Jahre 160 feine 
öpur finden, weil man vor diefem Zeitpunfte nichts über bie 
Ipoftel fchrieb oder das Wenige, was man von ihnen gelegentlich 
moöhnte, meift aus dem N. T. fchöpfte, die aber als die glaub» 
sürdigfte beurtheilt werden darf, welche wir über einen Apoftel 
«figen, und von diefer Zeit an durch die übereinftimmenden Zeug« 
üffe der Thatſachen und Urkunden beftätigt wird. Einen größeren 
Infpruch darf man an die Glaubwürdigkeit von Traditionen nicht 
mäen, als daß die zweite oder dritte Generation einftimmig für 
% eintritt und daß fie von den gleichzeitigen ſchriftlichen Aufzeich- 
ungen feinen Widerſpruch erfahren. Argumenta ex silentio haben 
gen fie Fein Recht, denn wenn fie durch gleichzeitige Schriftftelfer 
Stätigt wären, würden fie eben feine Traditionen mehr fein. Diefe 
Tradition Hat aber noch überdies die ftarfe Stüge, daB wir in 
zolytarp die einfache Vermittlung Fennen, durch melde fie der 
olgenden Generation zugefommen ift. 

Benn Herr Keim (S. 167) mit den Worten fhließt: „Wir 
aben den Doppelgänger hiermit aufgelöft, und es bfeibt abzumarten, 
d man wagen will, ihm wieder aufzumeden und den Text des 
Bapias aufs Neue zu mißhandeln“, fo fpricht er damit ein Ber 
oußtſein von Unfehlbarfeit aus, um das ihn kein Forfcher beneiden 
oird, der die Schwierigkeit der zu Töfenden Aufgaben und Probleme 
‚ne Unterfcägung fennt. Wenn er ferner ſiegesgewiß ausruft: 
‚So ift der Abfaffung des Evangeliums durd den Zebedaiden auch 
er allerlegte Haft weggezogen“, fo verräth er damit das Intereſſe, 
yurch welches er die Richtung feiner Unterfuchung beftimmen lich, 
ind der „Muth“, der ihn trogdem nicht verlaffen Hat, ift umfo» 
nehr zu bewundern. Wenn er endlich an dem befcheidenen fleigigen 
Zahn die Mahnung richtet: „Möchte er Talent und Fleiß beſſer 
verwenden!“ fo feheint auch das nur zu den „Iebhaften Front» 
felfungen“ zu gehören, die fid) nach der Vorrede fogar Naheſtehende, 





524 Steig, die Trab. v. d. Wirkjamt. &. Upoft. Sch. in Epbef. 


wie Holgmann und Weizſacker, zurechtlegen follen, die ſich aber 
gegen Fernerſtehende geradezu in Urtheilen, wie „Unverftand, Eigen- 
fun, Sindereien, Verjcjrobenpeit“ und dergleichen breit machen. 

Was das Keim'ſche Buch überhaupt betrifft, fo weiß ich mid 
frei von jeder Antipathie gegen die darin niedergefegten Forſchungen 
and bin weit davon entfernt, feine Bedeutung zu unterfchägen. Daf 
es bie Refultate vieljeitiger und gründlicher Studien enthält, daf 
es des Neuen, Intereſſanten und Belehrenden viel bietet, daß « 
ragen anregt, die nicht gewiſſenhaft genug erwogen werben können, 
daß insbefondere feine Anſchauung von Jeſu, obgleich nur vom ren 
geſchichtlichen Standpunkte ausgehend, eine fittlich ernfte und durchau— 
würbige ift, werden alle Beurtheiler, die fich felbft ehren, anerkennen, 
auch wenn fie ſich mit der kritiſchen Methode des Verfaſſers miht 
immer befreunden können. Wo nicht die Tendenz und das Bor 
urtheil ihn befangen macht, ba zeigt er meiſt ſcharfen Blick, vor | 
ſichtige Befonnenheit und ficheres Maß. In dieſer Unterfuchug 
Haben ihn feine ſchützenden Mächte verlaffen. Ich bin ihr entgegen» 
getreten, nicht im apologetifchen Intereſſe für die johanneifche Ab | 
kunft des Evangeliums — eine Frage, beren Schwierigkeit ich femme ı 
und die ih bis jegt nach ihrem Für oder Wider noch fiir ungelöl 
halte —, fondern in dem Wunfche, dazu beizutragen, daß die Un 
befangenheit, ohne welche der Wiffenfchaft ihre Köfung unmöglih 
gelingen Tann, nicht durch Schwierigkeiten verwirrt werde, die af | 
reiner Fiction beruhen und nur dazu dienen können, das Urtheil 
zu verrüden und irvezuleiten. 


Nachtrag: Wenn der Verf. unter Nr. 2 den 1. Yohannes- un 
den 1. Petrusbrief „beftritten“ genannt hat, fo muß er dies be 
richtigen: auch Eufebius ſtellt fie unter die Ömodoyodpera; abe 
um fo auffallender erſcheint es, daß er den Grundfag, den er 
IH, 3, 3 für die «vsslsydueva anfündigt, nämlich anzugeben, 
welche Schriftfteller fie benutzt Haben, gerade an diefen Briefen ebenio 
conftant zur Anwendung bringt, al an der Apofalypfe, deren Au 
thentie ihm zweifelhaft war. 





Gedaufen und Bemerkungen. 


1. 


Nohmals über Galater 2, 6 


von 


Diet. D. Buck in Schw. - Hall. 


Der Erklärung von Gal. 2, 6, welche ich im vierten Hefte bes 
Jahrgangs 1865 diefer Zeitfchrift der öffentlichen Beurtheilung 
vorfegte, Hat im dritten Hefte des Jahrgangs 1866 Herr Profeſſor 
Märcker in Meiningen einige Einwendungen entgegengehalten, 
welche eine Rechtfertigung meiner Auffaffung als nicht überflüffig 
erſcheinen laſſen. 

Die erſte Einwendung iſt eine ſprachliche, daß nämlich rgogavs- 
Hevro bie von mir angenommene Bebeutung: „fie Haben Hinzugefügt“, 
‚noch dazu aufgelegt“, nicht haben könne, welche vielmehr nur dem 
Activ dieſes Wortes zukomme, daß auch bei diefer Erklärung die 
Beziehung von mreogavsdsvro zu avedeunv B. 2 unberüchichtigt 
bleibe. Die zweite Einwendung betrifft den Gebanfenzufammenhang. 
Mit meiner Auffaffung, wonach die Gegner Pauli, wenn fie auch 
feine Autorität nur als eine abgeleitete gelten laſſen, doc zugeben, 
daß er von den Urapofteln anerkannt worden fei, foll der Umftand, 
daß fih Paulus V. 7—9 fo fehr bemühe, feine Anerkennung durch 
jene drei Apoftel erſt nachzumeifen, im Widerſpruch ftehen. 

Es fragt ji, ob diefe Einwendungen von folhem Gewichte find, 
daß dadurch die von mir gegebene Erklärung unmöglich gemacht wird. 

Gern geftehe ich zu, daß fich weder in der claffifchen, noch in 
der fpäteren Gräcität eine Stelle findet, in welcher das Medium 
ngogavartIscHaı die Bedeutung „hinzufügen“ Hätte. Ebenſo⸗ 
wenig aber ift mir eine Stelle befannt, wo es „noch Hinzu vor⸗ 








528 Butt 


legen“ hieße in dem von Märder angenommenen Sinne: „eine 
weitere Belehrung ertheilen“. Vielmehr ift die Bedeutung des 
Mediums: „fih Einem anvertrauen, ihn um Rath fragen über 
etwas“, 5. B. moogavarldsadaı vois navreoı. Ebenfo in un⸗ 
ferem Briefe 1, 16; alfo: „Belehrung ſuchen“, nicht: „Belehrung 
ertheilen“. Auch das einfachere und häufigere Verbum ara 
909er hat in den beiden nenteftamentlichen Stellen, in denen es 
vorfommt, Apg. 25, 14 und Gal. 2,2, nicht die Bedeutung „er 
manden über etwas Mitteilung machen“ im Allgemeinen, oder gır 
um ihm Belehrung zu ertheilen, fondern: „etwas der Beurtheilung 
der Entſcheidung Jemandes vorlegen“ (vgl. Apg. 25, 26). Def] 
aber diefe Bedeutung „Semand etwas zur Entfcheidung vorlegen‘ 
an unferer Stelle nicht paffe, ift an fih Mar, auch Hat meins 
Wiffens noch fein Ausleger diefelbe Hier geltend gemacht. Da man 
alfo nicht umhin kann, eine vom fonftigen, geficherten Sprachgebrauch 
abweichende Bedeutung hier anzunehmen, fo dürfte es im der Thu 
am nädjften liegen, die Medialform im Sinne des Activs zu faſſen, 
"was auch, bei einigen anderen Stellen des N. T.'s nothwendig ift 
(ſiehe die Beifpiele bei Winer, ©. 299). Ja gerade das Medium 
dvarideodaı hat auch in der claffischen Gräcität hin umd wieder 
die active Bebentung: „aufladen“; vgl. Xenoph. Cyr. 8, 5, 3: 
dvarldevraı &lloı ca oxedn Ent sa Önoldyie, und Ansb. 
2, 2, 4 ebenfalls vom Beladen der Laftthiere. 

Hiernach beftätigt auch der Sprachgebrauch die Anficht, meld 
fi) mir bei meiner früheren Arbeit aus dem Gedantenzufam 
menhang bes Briefes ergab, daß „bei rgogavsderro fchwerlih 
mit Meyer an Belchrungen zu denken fei*. Ich fagte abſicht 
lich ſchwerlich, denn ala unmöglich möchte ich die Meher'ſche 
Auffaffung nicht bezeichnen. Ich Tann aber auch nicht zugeben, 
dag „meine Erflärung an der gegebenen Auslegung von zrpogere 
sevro ftreng fefthalten müffe, um ihre Haltbarkeit zu behaupten“. 
Selbft wenn Meyer's Auslegung von gosarederro bie richtig 
wäre, fo wäre deshalb meine Erklärung von od doxoünres elru 
zu nicht unhaltbar. Der Sinn des DVerfes wäre dann: „on 
Seiten ber Geltenden etwas, d. 5. ein Berkündiger bes Evangeliume, 
zu fein, von ihnen mein Evangelium zu haben, darauf lege ih 
feinen Werth (wie etwa die Irrlehrer thun), denm mir haben dir 





nochmals Aber Gal. 2, 6. 529 


Beltenden Keine weiteren Belehrungen ertheilt“. Auch fo wäre ber 
ag mit ya eine paffende Erfäuterung zu dem Sage: dnd — 
hepsgss. 

Gehen wir mın über auf das, was Herr Profeffor Märder in 
achlicher Beziehung gegen meine Erflärung geltend .madt. Wir 
werden hier am eheften zu einer Entſcheidung kommen, wenn wir 
on der Frage ausgehen: weldes ift die Untithefe der Gegner, 
gen welche ſich Paulus in unferem Abſchnitte verteidigt? Märder 
ndet diefelbe in dem Sage, die von Paulus vorgetragene Lehre 
iuneht und unvollftändig. Paulns weife nun nad, feine 
tre fei echt, weil die. drei Urapoftel fie gebilligt; fie fei voll- 
ändig, weil fie ihm feine ergänzenden Belehrungen mitzutheifen 
Yabt haben. 

Hiegegen Habe ich zunächſt das Bedenken, daß Paulus in Eap. 2 
oh nicht von der von ihm vorgetragenen Lehre redet, fondern 
x, wie im eriten Gapitel, von feiner Perfon, wie ſchon die 
ch Zrresze dd vermittelte enge Verknüpfung beider Eapitel zeigt. 
rt mit bem dritten Capitel, wo ſichtlich ein neuer Abſchnitt be⸗ 
amt, wird auf die Lehre übergegangen. Sodann wird zwar ®. 2 
8 Umſtandes erwähnt, daß Paulus den Urapofteln fein Evan- 
fium zur Beurtheilung vorgelegt; aber gerade das, worauf nad) 
lärder das Hanptgewicht fiele, dag nämlich die Apoftel dafjelbe 
nem Inhalte nach gebilligt, ift gar nicht ausgejprochen. . Endlich 
ire offenbar bie Behauptung, daß ihm die Urapoftel feine weiteren 
elehrungen erteilt, eher ein Beweis gegen, als für die Voll» 
indigkeit der Lehre des Paulus. Handelte es fi ja doch um 
ı Sat, daß feine Lehre jegt volfftändig fei, nicht daß fie es 
n Anfang gewefen. Für jenen Sag aber hätte er den Beweis 
einer für bie Gegner ficherlich viel überzeugenderen Weife geführt, 
nn er. hätte erflären können: „was mir anfangs noch mangelte, 
3 haben die doxoüvres durch ihre Belehrungen ergänzt". Der 
1: „fie Haben mir feine weiteren Belehrungen ertheilt“ (es ift 
hl zu bemerken, daß es nicht Heißt: fie Hatten mir feine Bes 
tungen zu ertheilen), mußte ja den Gegnern den Einwurf 
he legen: eben deshalb ift Deine Lehre unvoliftändig. 

Kann alfo die Antithefe der Gegner nicht wohl die von Märder 
genommene fein, handelt es ſich überhaupt Hier zunächft nicht 


so Bart 


um bie Lehre, fondern wm bie Perfon, fo ift nur ein Zweifachel 
möglich: entweder die Gegner behaupten: „ein Verkundiger Ds 
Evangeliums, ein Apoftel in weiterem Sinne, ift nur Derjenig, 
welcher feine Vollmacht auf die Urapoftel zurüdführen kam; dl 
tauaft Du wicht, afjo erfennen wir Dich nicht als berechtigten Ba 
Kündiger des Evangeliums an“; oder ihre Einrede lautete: „u 
Apoftel ift mar, wer unmittelbar von Gott und Chrifto berufe 
ift; das ift bei Dir nicht der Fall, da Du vielmehr erft durch N 
Auertennung der Urapoftel Deine Würde erlangt haft; alfo erle 
wir Di, wenn aud; vielleicht als einen untergeordneten Leb 
des Evangeliums, doc; nicht als mit apoftofifcher Yuctorität 








ſtellten, ſcheint mir 1, 11f. und bie ganze Entwidlung von 1, 
an zu beweifen. Denn hätten fie dem Paulus vorgeworfen: | 
Urapoftel haben Dir feine Vollmacht gegeben“, wozu braucht 
dann eben diefen Umftand, daß er zu den Urapofteln im feine 
ziehung getreten ſei, fo ausführlich nadhzumeifen, wie er am 
nannten Orte thut? Seit dem fogenannten Apoftelconcil har 
es ſich bei Paulus gegenüber von feinen Gegnern nicht ſowohl 
feine Anertennung durch die Urapoftel — dieſe lag als unmi 
fprechliche Thatſache vor —, als vielmehr um feine unmitt: 
Berufung dur‘) Chriftum und die darauf ſich gründende 

liſche Würde im engeren Sinne. Das fehen wir u. A. aus 1 
9, 1. 2Xor. 10, 7. Wir müffen überhaupt die Meinung, ale 
diefe Irrlehrer in einer fo nahen Beziehung zu den Urapofteln 
flanden, oder auch nur eine ſolche vorgegeben hätten, aufge 

Beyſchlag hat in feiner Arbeit „Ueber die Epriftuspartei ind 
rinth· (Stud. u. Krit. 1865, IL.) treffend gezeigt, wie die U 
handlungen Apg. 15 „ein unabhängigeres, von der Autorität I 
Urapoftel losgelöſteres Auftreten der ftrengeren Judaiſten“ nad i 
zogen. „Sie hörten, ohne fid von der Verbindung mit jenen And 
täten loszufagen, auf, die Sache des Judenthums lediglich auf de 
Namen zw ftellen.“ Sie meinten, wenn Paulus, ohne zu! 
Zwölfen zu gehören, „in eigenem Namen lehren und wirken dir? 
fo Haben fie mindeftens dafjelbe Recht. Daher fuchen fie, wır: 
ich ſchon in meiner früeren Arbeit hinwies, ihren Ruhm in a 


nochmals über Gal. 2, 6. 581 


sen Apoſtel verfeinernden Bergfeihung mit ihm (6, 4). Cine ſolche 
wäre ihnen aber gewiß ferne gelegen, 'wenn Paulus ihnen als in 
ieder Beziehung unberechtigt gegolten hätte. Wenn fie ſich als 
Solche Hinftellen wollten, die Etwas find (6, 3), indem fie ſich mit 
m vergleichen; fo müffen fie zugegeben haben, daß aud er Etwas 
a; nur als einen durch feine apoftolifche Würde vor ihnen aus—⸗ 
geihneten Mann wollten fie ihm nicht gelten laſſen. 

Demnach hatte Paulus bei Bekämpfung feiner Gegner nachzu⸗ 
wien, daß er, wie diefer Gedanfe ja gleich an die Spige des 
zriefes geftellt wird, feine "Autorität nicht von Menfchen habe, 
mdern ein durch Chriftum und eben darum durch Gott felbft be⸗ 
ifener Apoftel fei. Das wird im erften Capitel aus der Geſchichte 
her Berufung erwiefen. Das zweite Capitel Liefert fodann den 
Whweis, daß auch die Beziehungen, in welche er fpäter zu den 
tapoſteln getreten jei, feine Abhängigkeit von denſelben, ein Aufs 
ben feiner unmittelbar apoftolifchen Würde in fich ſchließen. „Es 
ndelte fich“, zeigt er ®. 1—10, „dabei nicht darum, daß ich von 
ter Seite her etwas erjt geworden wäre, mir eine Würde von 
sen verleihen oder ein? Verpflichtung durch fte Hätte auflegen 
: Ten, fondern nur darum, daß fie meine apoftolif—he Würde, welche 

als etwas von Gott Anvertrautes ſchon Hatte. (man beachte 
% Berfelt merrioreynes) und welche ber des Petrus völlig coor⸗ 
tiet iſt (adess), auch anerkannten.“ 

Paulus bemüht fih alſo V. 7—9 nit, feine Anerkennung 
rc die Urapoftel nachzuweiſen, vielmehr das will er nachweiſen, 
8 diefe Anerkennung nichts weiter gewejen fei, als eben nur die 
ierkennung eines thatfächlich ſchon beftehenden Verhältnifjes. „Die 
tige Verpflichtung“, fährt er fort, „welche ich dabei übernahm, ift 
!, der Armen zu gedenken. Daß aber Hierin feine Verleugnung 
ner Selbftändigfeit Tag, geht ſchon daraus hervor, dag ich eben 
% fchon vorher aus eigenem Eifer gethan hatte.“ Nur bei dieſer 
ung erklärt ſich das adrd zodro in V. 10 auf ungezwungene 
kife. Daß aber der Xorift namentlich im Relativfage das Plus- 
iomperfeft vertritt, darüber fiche Winer (S. 318). Und daß 
aulus ein Recht hatte zu der Behauptung, er habe ſchon vorher 
frig der Armen in Jeruſalem gedacht, fehen wir aus Apg. 11, 29f. 
fe in B. 10 mit novov eingeführte Verpflichtung, welche offen- 








832 Burt 


bar eine Einſchränkung des mit odddv reocavederso anägeip: 
henen Gedantens enthält, ift uns überdies ein weiterer Beweis, 
daß es fi; and, bei dem letzteren Ausdrucke nicht um Belehrungen, 
fondern um ein mit der Webertragung einer Würde verbundene 
Auflegen einer Berpflichtung handelt. 

Mit B. 11 geht der Apoftel dann einen Schritt weiter, indem 
er zeigt, daß die doxonvsss nicht nur, wie er B. 2 erklärt hatte, 
za’ ldlav feine Gleichberechtigung anerkannt haben, fondern da 
er biefelbe au Zumgoosev navswv (8.14) thatſächlich erwieſen 
habe, indem er dem Petrus, wie einft den WerdadsApor, gegenüber 
die dAjdeıa Tod evayyelov geltend machte (vgl. B. 5 mit 13, 

Hiermit glaube ich nachgewieſen zu haben, dag meine Auslegun 
von B. 6 dem Gedanfengange des Apoſtels wohl entjpricht, un 
füge nur noch bei, daß bei der eben dargelegten Auffaffung dieie 
Gedanfenganges eine doppelte Schwierigleit fich hebt, welde mir 
bisher nicht in befriedigender Weife gelöft worden zu fein ſcheim 
Warum legt Paulus (1, 19f.) ein fo großes Gewicht darauf, daf 
er in Serufalem nur Petrus und Jakobus, den Bruder des Herrn, 
gefehen habe? Und warum erwähnt er, wenn, wie jet wohl als 
ermiefen gelten darf, 2, 1ff. von der Apg. 15 berichteten Reit 
nach Jeruſalem handelt, nicht auch derjenigen, welche Apg. 11, 291.‘ 
angeführt wird? Wer von ber Auficht ausgeht, Paulus molk | 
nachweiſen, daß ihm die Urapoftel feine ergänzenden Belehrungen| 
ertheilt haben, Tann diefe beiden Fragen nur im gezwungener Zeit 
beantworten. Belehrungen hätte er in ber That von Petrus 
und Jakobus ebenfogut erhalten Können, wie von ſämmtlichen Apofteln, 
und zu Belehrungen hätte die Apg. 11, 29. erwähnte Anwefenhri 
in Serufalem ebenfogut Gelegenheit geboten, wie die Cap. 15 be 
richtete. Er konnte alfo diefelbe, wenn fie wirklich ftattfand, gar 
nicht mit Schweigen übergehen, ohne den Verdacht zu erweden, 
gerade damals feien die Belehrungen, die er in Abrede zieht, erfolgt. 
Daher bleibt Denen, die an Belehrungen denken, nichts übrig, ale 
entweder die Glaubwürdigkeit der Apoftelgejchichte preiszugeben, oder 
ſich mit der Ausflucht zu Helfen, bei der (Apg. 11, 29) erzähfter 
Veranlaffung fei Paulus gar nicht nach Jeruſalem, fondern nur 
in bie jüdifchen Landftädte gelommen. 

Ganz anders ftellt fi die Sache, wenn man annimmt, daß & 





nochmals fiber Gar. 2, 6. 633 


ih von der Webertragung einer Witrde Handelte. Eine ſolche 
onnte der Natur der Sache nad) nur von der Gefammtheit des 
Apoftolat8 ausgehen und nur in feierlicher Berfammlung der Apoftel 
eſchehen; fomit war an fie weder bei der Beſprechung mit einem 
der dem anderen Mpoftel (1, 18ff.), noch bei einer bloß gelegent- 
ichen, fonft nicht erwähnten Anweſenheit in Jeruſalem (Apg. 11, 29) 
u denfen; wohl aber mochte an die Anmefenheit Pauli bei der fo 
ochbedeutſamen Verfammlung (Apg. 15) von feinen Gegnern der 
zorwurf gefnüpft werden, erſt damals ſei ihm feine amtliche Autos 
ität übertragen worden. Dies der Grund, weshalb er einerjeits 

1, 19f.) ausdrüdlich verfichert, außer Petrus und Jakobus feinen 
Ipoftel gefehen zu Haben, andererfeits die Reife (Apg. I1, 29) 
merwähnt laffen kann. 

Darf id mir zum Schluffe nod) einige Bemerkungen über die 
om Herrn Profefjor Märder aufgeftellte Erklärung von 2, 6 er- 
ben, fo bleibt der Uebelftand, welcher mir alle bisherigen Ans- 
gungen dieſes Verſes als unbefriedigend erfcheinen läßt, daß nämlich 
m Ausbrud ol doxodvses elval vu beſonders bei Vergleihung 
it 6, 3 etwas Wegwerfendes habe, auch bei der feinigen beftehen, 
nd wenn er dagegen ter Hinweiſung auf Meyer erklärt, in dem 
nannten Ausdruc liege nicht die geringfte Herabfegung, fo geftehe 
d, daß mich in diefem Punkte Meyer’s Nachweis nicht befriedigt, 
ad daſſelbe Gefühl fcheint der Aeußerung des Herrn Profeſſor 
zeizſacker zu Grunde zu Liegen, daß die Art, wie fich Paulus Hier 
ber die Urapoftel anbdrücke, mit feiner im Uebrigen 'gegen fie be- 
iefenen Haltung contraftire. 

Zu diefer Schwierigkeit, welche die Erflärung Märcker's mit alfen 
“üheren gemein hat, fommt dann aber noc) eine ihr eigenthümliche. 
Yie von ihm vertheidigte Verbindung der Worte arrd — — elvai zı 
it dem Vorhergehenden feheint mir nämlich manchen Bedenken zu 
aterliegen. Der Gedanke: „wir gaben den falfchen Brüdern nicht 
ach, damit die Wahrheit des Evangeliums dauernd bleibe bei euch, 
as aber freilich nur möglid war durch die Autorir 
it der doxoövres“, wäre doch ein weit hergeholter. Jeden— 
48 dürfte der vermittelnde Gedanke nicht fehlen: „wie wir nicht 
adgaben, fo fegten wir aud einen entfprehenden Be— 
Hluß der doxoövres durch, damit fo dur ihre Autorität 


534 Burk, nochmals über Gal. 2, 6. 


die Wahrheit des Evangeliums danernd bliebe bei Euch“. Wo ift 
ferner in den Worten des Apofteld der von Märcker eingeſchaltet 
Gedanke: „was aber nur möglich war“, auch nur amgebeutet? 
Ebenfowenig vermag ich dann in der zweiten Hälfte des Verſes 
einen Beweis dafür zu finden, „daß Paulus in der apoſtoliſchen 
Würde jenen Dreien ganz gleich ſtehe“. Daß die Worte oͤnoloi 
note 70av ovdey or dsapsgsı nothwendig den Gedanken voraus: 
fegen: „ich ftehe mit ihnen auf gleicher Höhe“, möchte ich bezwei 
fein, Auch Einer, der ſich feiner niebrigeren Stellung wohl bewußt 
ift, kann von einem Anderen jagen: „feine Hohe Stellung ift für 
mich von feinem Belang“. ebenfalls durfte der Hauptfag, ım 
- den es ſich Handelt, doch nicht blos vorausgefegt, er mußte auf 
ausgefprochen werden, wenn er durch das folgende yag begrüntt 
werden wollte. 

Auch ſprachliche Härten ſcheint mir diefe Erklärung zu haben 
Daf einem bereits vollendeten Sage eine Beftimmung mit de a. 
gefügt wird, kommt freilich häufig genug vor; daß aber diejes d 
die Bedeutung „aber freilich nur“ Haben könne, wird fich faum 
nachweiſen laſſen. Namentlich aber ſcheint mir die Verbindung vor 
dieusvew mit dred eine allzugewagte. Wohl hat drro die Br 
deutung: „von Seiten“, ober „durch die Autorität“, und Verbin 
dungen, wie elval zı do zıvog, massiv drrö zıvos haben burdus 
nichts Auffallendes. Dagegen weift Winer (S. 444) mit Recht 
darauf Bin, dag drrd nie daftehe, wo ber Inhaber (oder Urheber) 
als unmittelbar felbftthätig zu denken fü. U dAndeim dass 
ano cv doxovvr@v Tünnte alfo etwa bedeuten: „vermöge ihre 
Urfprungs von den doxodvres hat die Wahrheit Beftand“, nidt 
aber: „durch eine einzelne That bewirken die dox. den Fortbejtan 
der Wahrheit“. — Dieſe letztere Bedeutung aber müßte nad) Hern 
Profeſſor Märder’s Auslegung für unfere Stelle poftulirt werden. 

Ob bie ſprachlichen und fachlichen Schwierigkeiten, melde der 
Auffaffung meines geehrten Herrn Gegners entgegenftehen, gering 
find als diejenigen, welche er der meinigen gegenüber geltend gemadt 
hat, oder ob am Ende wir Beide mit dem traditionellen Anakoluth 
uns zufrieden zu geben Urſache hätten, mögen Andere entfcheiben. 








Reeeuſionen. 


Theol. Gtub. Jahrg. 1868. 3” 


1. 


Franzisen Hernandez und Frai Frauzisco Ortiz. An- 
fänge reformatoriſcher Bewegungen in Spanien unter Kaiſer 
Karl V. Aus Driginalacten des Juquiſitionstribunals 
zu Toledo bargeftellt von Eduard Böhmer. Leipzig, 
Häffel. 1865. 8°. 


Eine Sqandſaule hat in Valladolid Jahrhunderte fang die Stätte 
vr Wohnung der Cazallas bezeichnet. Sie war verdammt worden, 
üedergeriffen und dem Boden gleichgemacht zu werden. Denn hier 
voren die lutheriſchen Keger zufammengefommen, um Berfamm- 
ufigen zu halten gegen den heiligen, katholiſchen Glauben und die 
ötmifche Kirche. Das Geſchick dieſes Haufes bildet das Schidfal 
eformatoriſcher Negungen in Spanien ab. 

Es war Anfangs Juni 1523, als feben Tage lang Morgens 
ind Abends ein Mönd an das Haus pochte; immer ward er ab- 
ewieſen. Frai Franzisco Ortiz war der Bittende. Sohn des 
Mayordomo beim Gefandten Rojas in Toledo, war er von ben 
edeutenden Theologen Elemente, Carrasco, Ziruelo, Miranda zu 
Mcala in die Scholaftit eingeführt. Bon Jugend an geneigt, 
Nenſchen zu fliehen und ſtill zu (eben, nahm er das Franziscaner- 
leid. Schon früh wurden ihm Predigten Übertragen. Das Volt 
son Alcala liebte ihn und folgte feinem mächtigen Wort. Niemand 
hätte gewagt, Bifchöfen zu fagen, was er furchtlos ausſprach, über- 
jengt, wie er war, auch die Berggipfel könne das Feuer des Welt- 
fine und der Eiferſucht rühren. Dabei ift er unermüdet in Werfen 

. 36* 


538 Böhmer 


tatholiſcher Srömmigteit. Meilenweit wandert er um das Glüd, 
eine Meffe zu leſen. Alle, die fi trennen vom Willen Gottet 
und vom Gehorfam der katholiſchen Kirche, verabſcheut er, zumeift 
die verdammte Iutherifche Secte, die behaupte, jeder Laie könne 
Meſſe lefen wie ein Priefter. 

Aber unbefriedigt von feinem Wiffen und Können ſchmachtete r 
nad) der Erfahrung eines erwedten, inneren Lebens. Führer day 
hatte er gefucht. Allen, die der Ruf ihm mannte, wer er nadr 
gegangen. Das Gemwünfchte war nicht erſchienen, das Verlangen, 
die Wahrheit zu erfahren, um ihr zu folgen, unbefriedigt. Ma 
wies ihn nad) Valladolid zu Franzisca Hernandez, der großen &cl 
rerin des inneren Lebens. Gr reifte hin, fuchte die Wohnung ie 
Cazallas auf, die Franzisca theilte, und erbat lange umfonft Einlaf. 
„Gr ift ein großer Prediger, der ſchon im Generalcapitel zu vom 
hatte“, bemerften fürbittende Freunde. „Wenn er das ift, fo gt 
er auf die Kanzel“, erwiderte die Gebetene. Endlich empfing ji 
ihn mit den Worten: „Ihr könnt Euch verſichert halten, daß Ik 
durch Gottes Hand Hereinfommt.“ 

So ftand ihm in zarter, einfacher, ſchlichter Erfcheinung de 
Mädchen gegenüber, von dem das Gerücht fagte, es fei von Kin 
auf eine Dienerin Gottes gewefen,.nie habe fie eine Todſünde be 
gangen. Franzisca Iebte als Laienſchweſter, ohne Gelübde, von 
ihrem Vermögen, in ftiler Umgebung. Ehrfurchtsvoll wie ei 
Heiligen nahte man ihr, um irgend gine Yeußerung ihres reiche, 
inneren Lebens zu empfangen. Sie war Myſtikerin wie die heilig 
ZTerefa. Durch die Gnade war in ihr das Vermögen mächtig em 
widelt, die Kraftwirkung der dem Geifte unmittelbar nahe gebradta 
Wahrheit zu erfahren. Nicht dur discurfives Denken, ſonden 
in unmittelbarer Anſchauung erfannte fie den dargebotenen Schi 
inhalt, liebte und genoß das unmittelbar Gefchaute. Diefes Cr: 
kennen, diefer Genuß gab ihr eine umvergleichliche Herzensgemißkeit 
von ben göttlichen Dingen, enthüllte, ihr den vollen Inhalt der 
Thatſachen, durch die die göttliche Liebe fi uns fund gethan hat, 
und fie verfegte ſich mit denfelben durch beftändige Vergegenmär 
tigung in Lebensgemeinſchaft. Was füme an Innigkeit, Warne 
und Tiefe diefem Erleben glei)? Welde Erkenntniß erreidtt 








Frangisca Hernandez und Frai Franzisco Ortig. 539 


ſolches Fichte, umfaffende Durchfchauen des Wortes Gottes? Fran- 
zisca fah fich in eine neue Welt verfegt, ald die Gnade das Ver⸗ 
mögen unmittelbaren Anfchauens, Genießens und Erfennens entband, 
als ſie damit die Schriftwahrheit ſich aneignete. Die Süßigfeit 
der freien Liebe zu dem angefchanten Kleinod pries fie mit begeifterten 
Worten. Durd den Eindruck des mit ganzer Kraft wirkenden 
Gutes fühlte fie fich von Heiliger Liebe entflammt. Beftändig 
waren ihr die größten Liebesoffenbarungen Gottes gegenwärtig. 
Nicht im Schatten der Vergangenheit ſchwebten fie, blieb Ehriftus 
und die Thatfachen feines Lebens. Sie leuchteten dem’ unmittelbar 
anfhauenden Geiftesauge, übten unverrücktt ihre Wirkung, alles Leben 
des Herzens in der Liebe zu Jeſu zu concentriren und zu feftigen. 

Die innere Herrlichkeit durchleuchtete Franzisca's Aeußeres. Einen 
mauslöſchlichen Eindrud ließ fie zurüd. Wer einmal mit ihr ver- 
khrt, den führte ein mächtiger Zug ihr wieder zu. Man fühlte 
von ihrem Herzen eine Anziehungsfraft ausgehen, die fo eigen- 
thümlich erquicte, dag man ftets fich darnach ſehnte. Suchende 
Seelen Hatten bei ihr das Gefühl, e8 gäbe feine größere Wahrheit 
anter dem Himmel, als die fie verfünde, wenn fie vom inneren 
eben vede, wenn fie die Schrift erfläre. Hoc und tief war ihre 
Auslegung. Fehler gegen die Grammatik famen vor, aber die Sub- 
ſtauz der Stellen ſprach fie mit wunderbarer Klarheit aus. In 
drei einfachen Worten, ohne Stroh und Staub, legte fie dar, mas 
die Doctoren mühjfelig zufammenquäften. Wo fie die Bibel auf 
ſchlug, ward ihr Alles lebendig. Ohne anzuhalten, ohne über den 
Ausdruck nachzuſinnen, ſprach fie fih in Hinftrömender Rede aus. 
Diefe Lehrerin fehien ihren Zuhörern der Inbegriff aller Güter. 
Einzelne Haben den Boden gefüßt, auf dem fie ſtand. Sie riefen: 
„D Sehora, hätten die Türfen gefehen, was wir, jie würden hier 
niederfnieen!" Auch Naturen wurden ergriffen, die im Welttreiben 
gegen den perſönlichen Ausdruck Hoher Frömmigkeit abgeftumpft 
waren. Franzisco de [08 Angeles, der General der Franziscaner, 
geftand: nie fei ihm in Spanien und Stalien eine ähnliche Er- 
ſcheinung begegnet. Ein in gelehrten Studien und diplomatifchen 
Geſchäften ergrauter Doctor dankte Gott mit Thränen, daß er 
Solches in Spanien habe erleben dürfen. 








540 Böhmer 


Groß war ihre Macht über die Herzen. Ihre Worte durch 
drangen die Seele und riffen fie von Allem los, was nicht Gott 
iſt. Leichtfertige Menfchen brachte ihr eindriugliches, ja zermalmen- 
des Mahnen zur Befinnung. Neugierigen, die in der Erwartung 
unerhörter Offenbarungen zu ihr famen, fagte fie nur, wir follten 
Gott lieben, und damit wir's könnten, ihn um Liebe bitten. So 
wurden fie entlaffen ohne entdect zu Haben, daß Franzisca Briefe 
las, ohne fie zu öffnen, daß ihr Gedanken Anderer offenbar waren, 
daß die Nähe eines unlautern Meuſchen ihr Schmerzen und Op 
macht erregte, daß fie Kranke durch Gebet Heilte. Ein Franzis, 
canerguardian fandte ihr feine Wende. Er rühmte den Erfol 
Sie glänzten unter den Uebrigen wie foftbare Steine durch Demuth, 
Gehorſam, Siebe zu Gebet und Schweigen. So ergreife die Rein 
heit und Seelengröße in dem Heinen Perfünden. Franzisca kenn 
die Schranfen ihrer Einwirkung: „Ich weiß, wer nicht von Gott, 
zu mir geführt wird, findet in mir nichts, als was ihm Anftof 
geben muß." Warum? wegen ihrer Oppofition gegen den firde 
lichen Pharifäismus. Alte, die fo viel Weſen von den Ceremonia 
machten, mußten ſich an ihr ärgern. Auf die Liebe Gottes tum 
ihr Alles an. Ohne die fei Niemand heilig. Fromm fein könn, 
wer in grobem Zeug gehe, fo gut, als wer Brocat trage, wer mit 
Waſſer und Brod zufrieden fei jo gut, als .wer alle Tage Putr 
und Blancmanger efje. Ebenſo heilig werde man lachend wie 
weinend, ſpreche nd wie ſchweigend, wenn man nur das Gnade 
leben der Seele durch die angelegentlichfte Sorge, Gott zu lieben, 
nähre. Sie ahnte nicht, daß fie mit diefen Lehren Keulenſchläge gegu 
die. gemeine, von der Kirche gedufdete Werkpeiligkeit führte. Um je 
unbefangener ſprach fie fi) aus. Warf ihr Strafwort Harte Sünder 
auf die Kniee, wie hätte ihrem geiftlichen Liebeswort die Wirkung 

. fehlen können? Unbedenklich ftellten Einzelne fie neben Franz vo 
Aſſiſi. In diefen efenden Zeiten fei fie gefandt, die in Yeufer- 
Tichfeit Berfunfenen zu erweden. Sie approbirten das Urtheil ie 
Juan VBaldez, der eine Seele der Hölle zuweift, die ſich rühmt: 
„Ich empfing die Taufe, die Firmung, communicirte, beichtete ale 
Vierteljahr, Hielt alle Feſte, außer den kirchlichen Feſttagen noqh 
ſelbſterwählte, die Bigilien unferer lieben Fran bei Brod und Waſſer. 





Framgisca Hernandez und Frai Framisco Orti. su 


Fäglich Hörte ich Meſſe, zahlte für Meſſen, betete die Yanonifchen 
Stunden und viele andere Andachten. Ich machte Wallfahrten mit, 
euntägige Andachten, betete einen vom Papft gefegneten Roſenkranz, 
ab Almofen, ftenerte Waifen aus, baute drei Mlöfter, that unzählige 
te Werke, nahm eine päpftliche Bulle, in der er mid a poena 
t culpa in articulo mortis abfofvirte, trug ein Bußkleid, ftarb, 
n vom Papſte gemeihtes Licht in der Hand, Tieß mid im Fran⸗ 
scanerffeide begraben, und machte zahllofe fromme Stiftungen in 
keinem Teſtament.“ — Auf die Frage der Werkheiligen, warum 
ie Kirche die guten Werke auflege, wenn fie nicht Helfen, ward 
wibert: Gebete, Faſten, gute Werke find Mittel zur chriftlichen 
jolllommenheit. Wer für fie die. Seligfeit als Preis begehrt, 
kicht einem Kämpfer, der in voller Rüftung während des Kampfes 
4 im Zelte verborgen Hat, dann aber, wenn der Feind fort ift, 
en Lohn fordert, weil er ja die Rüftung getragen hat. 

Franzisca übte, was fie lehrte. Alles Kokettiren mit frömmeln- 
m Formen floh fie wie die Peft. Nur ihre treuherzige Raivität 
8 fie walten. Da war feine Spur von Aengftlickeit und 
eſchnürtem Wefen. Ein paar Mönchen, denen fie zu begegnen ſich 
eute, fiel fie um.den Hals. „Aber Schweiter, fo auf offener 
Straße fich zu umarmen?“ ' „Nun Jeſus“, meinte fie, „was ift 
mn daran!“ Es erregte Entjegen, wenn die Frommen hörten, dieſe 
veilige laſſe ihren Gäften das Befte auftragen, und nöthige zum 
ſſen mit der Berficherung, fie wolle felbjt eſſen wie ein Wölfchen. 
inſt fand fie vor der Thür ihres Zimmers eine Schüffel Blanc- 
tanger, von einer befreundeten Dame gefendet. Alles ward den 
irmen gegeben. „Nun“, feherzte fie, „werden die Empfänger Pagen, 
wie voll Blancmanger muß diefe Fromme fein, da ihr fo viel 
ir uns übrig gebfieben ift.“ Die Vereinbarkeit frömmfter Inner- 
chteit mit Erfüllung häuslicher Pflichten zeigte fie an ſich felbit. 
Bährend fie ſechzig Ducaten weggeben konnte, als wären es Stroh- 
alme, durfte in ihrem Haufe nichts umlommen. Nach Tiſch widelte 
ie felbft die Brodrefte ein, um fie aufzuheben. Kindlichkeit durch⸗ 
ang ihre Aeußerungen. Kindliche Empfäuglichkeit für Freude blieb 
hr eigen. Die Heinften Liebeszeichen beglücten fie und wurben in 
ühften Ehren gehalten. Koftbare Geſchenke machten fie traurig; 


542 Böhmer 


Berfonen von hohem Range haben fie knieend gebeten, Etwas an⸗ 
zunehmen. Briefe von Ordensprälaten, die überfloffen von Ber- 
fiherungen der Hochachtung, konnte fie lachend Iefen und verbrennen, 
dagegen über Schreiben von wenigen, einfachen, aufrichtigen Worten 
wunderbare Freude haben. So war dieſe Lilie im Thal, dieſe 
geborne barmherzige Schwefter in spiritualibus, zu der der beharr» 
liche Ortiz endlich durchgedrungen war. 

Bei dem erften Befuche bfieb er fünf Stunden. Er ſchied mit 
der Ueberzeugung, fie fei ihm von Gott zur Mutter umd Herria 
gegeben. Gott habe in feine Seele für fie gelegt er wiſſe nicht m 
und er wifje dor das, er könne es fühlen aber nicht fagen. = 
er im Orden gefucht, hatte er in ihr und durch fie gefunden, Leben 
mit Gott. Die Mutter, die ihn in das Thränenthal geboreg) 
nannte er gegen fie nur die Kleine. Franzisca hat gefagt: „Würde| 
ich in einem Dornbuſche befonders erwedt, Gott zu erfennen 
zu lieben, dann trennte ich mich nimmer davon.“ Ortiz mei 
nicht Teben zu können ohne ben Verkehr mit feiner geiſtliche 
Freundin, wie Diepenbrod geglaubt hat jterben zu müffen, me 
man ihn von Sailer trenne. Ein Freibrief vom Orbdensgen 
gebot: Niemand dürfe Ortiz am Verkehr mit Franzisca hind 
So entjtand ein geiftliches Verhältniß, wie zwifchen Franz von Salt 
und der Chantal, zwifchen Angelica Arnauld und Saint» Eyran. 
Nur waren hier die Frauen vorwiegend die Nehmenden. Etwa di 
heilige Tereſa Hat ähnlich gebend zu Baltafar Alvarez, ihrem 
Beichtvater, geftanden, wie Franzisca zu Ortiz. Er empfing dei 
innerlichen Geſchmack der wahren Weisheit. Ju zwanzig Zu 
gab ihm diefe Schule mehr, als zwanzig Jahre in Paris. Nik 
Paris, nur das Paradies könne folhe Gaben fpenden. Seht 
der angejeheufte Gelehrte von gefundem, demüthigem, auf Gott 
gerichtetem Sinne müffe, wenn er Franzisca über die Schrift 
reden höre, die Ueberlegenheit der von Gott in eine heilige Seele gr 
legten Weisheit über die Büchergelehrſamkeit einräumen, die de 
Geſchmackes der Erfahrung mangelt. Im Beſitze diefer Weishei 
habe Franzisca die Aufgabe von Gott, durch Gebet, unmittelbare 
Einwirkung, Worte voll Wahrheit und tugendhafte Werte Denn 
Strahlen der Klarheit zu geben, bie aufrictigen Sinnes und der 















Franzisca Hernandez und Frai Franzisco Ortiz. bas 


mäthigen Herzens, wohl vorbereitet, mit ihr verlehrten. Enthuſiaftiſch 
childert Ortiz die Wirkung davon in feinem Herzen. Er könne feinen 
Namen der Liebe nennen, fo ausgefucht er fein möge, um aud nur 
um hundertften Theile genügend die himmlifche Liebe zu. bezeichnen, 
ie fo rein, lauter, füß, ftark, groß, voll Segen Gottes und zum 
jerfhmelzen des Herzens und der Seele ihm von Gott geſchenkt 
A durch feine wahre Mutter und Herrin. Diefe hielt dafür, die 
dorge für das Seelenheil ihres Freundes Liege ihr ob. Sie wies 
m auf feine Fehler Hin, die er vorher eingefchlürft hatte wie Wafler. 
Are Weifungen, ihre urſprüngliche, frifche, gefunde Frömmigkeit 
mahrte ihn vor den Verirrungen ber Erwedten. 

Diefe lebendig Frommen Hatten ſich im Gegenfage zum Schein- 
nitenthum der Mafjen verbunden. Mehr als Schein und Schatten 
m die Religion bei Unzähligen nicht. Wir vernehmen die Klage: 
r Kern der Frömmigkeit, die Kleinode find verloren. Statt der 
lechen nennt man, wie die Spechte im Walde, die Namen. Mit 
den hriftlicher Tugenden, die fie in ihren Seelen nicht dulden 
ollen, die fie aus dem Leben vertreiben, umhängen fie fi, um 
ht verlacht zu werden, falls fie ſich Chriften nennen. Gefpenfter 
id Fragen fegt man an die Stelle des inneren hriftlichen Lebens. 
8 erfogene, zum Trug erfundene Treiben wird von den Außer, 
h prächtigen, des Lebens, der Wahrheit baren Masten der 
ömmigfeit zugededt. So verhößnt die Mafje Chriſtum. Nir- 
nd war die Verhöhnung ärger als im Gebet, man mochte 
f die Gegenftände der Anbetung ſehen, oder auf die Weiſe, 
ie fie geſchah. Welche Blasphemie, zu den Bildern von Mont- 
at und Guadelupe zu beten, die durch die Lüfte fuhren, um 
te Verehrer ans Gefängniffen zu befreien! Welche Schmach für 
n Gefreuzigten, das Erucifiz in San Auguftin zu Burgos ans 
teen: „Pues teneis todo el poder del Dios padre en 
ıestra mano, Crucifixo soberano, venid nos a socorrer.“ Der 
fäubige ward ermahnt: „Sege Deine Hoffnung auf Gott und 
8 Crucifix von Burgos, das meilenmweit gegangen ift, um eine 
odte zu erwecken.“ Und die Antwort: „O heiliges Crucifix, 
barme dich, uud erwede dieſes Kind vom Tode.“ So groß war 
© Zahl der Auferftandenen, daß man fragte, warum das Crucifix 


544 Böhmer 


fich nicht ſelbſt Lebendig made. Von anderu Gebetsformeln wird 
verfichert, wer fie fpricht, ſtirbt in feiner Todſunde nub fieht di 
Tage vor feinem Ende ſicher die heilige Jungfrau. Diefe Gchett 
greuel, Ausgeburten der Hölle, trieben die Frommen zur beſondern 
Pflege des Herzenögebets. Dem äußerften Mechanismus, der g 
baften Verweltlichung im Reden der Seele mit Gott fetten fie de 
bhöchfte Spiritualität entgegen. Einige nicht ohne Ueberſpannur 
Die Gelaffenen verſchmähten felbft die Arbeit, den Gedanten 
Teufen; in der Ruhe volllommener Paſſivität wolkten fie fid 6 
laſſen. Die Gefammelten drangen auf die Arbeit der Er 
des Herzens, der Ausftopung fremder Gedanken. Ortiz hielt 
für bfind, ihren Zuſtand der Ruhe für Starrframpf. Er übte 
Sammlung nad) den Weifungen Bonaventura’8 und Gerſon's; 
herumirrende Anhänglichkeit an das Sichtbare, die umberfchweif 
. Gedanten übermältigte er durch Erhebung zu Gott, frei von 
Peftilenz der Gelafjenheit. Dem inneren Gebet gab er vor 
mündlichen den Vorzug, Wer auf's Dad; fliegen Tann, bi 
freilich. keine Leiter. Wer noch gehen muß, foll die Leiter des mis 
lichen Gebets benugen, Stufe nach Stufe hinauffteigen, fich an 
Wänden halten und an Den, der ihm die Gnade gibt. 
Verirrte wies er nad Valladolid; Franzisca werde fie aus 
Verblendung reißen. Sie rügte die Täufchung der armen Gelafjen 
die wahre Sammlung fei ihnen fremd. Zu ihr ermunterte fie Ort 
mochte er auch wie Jeder, der ſich nicht in Aeußerlichkeiten 
ftreuen wollte, als Alumbrado verdächtigt werden, 

Noch mehr verdankte er ihr für feine Predigten. Das %ı 
das fie nicht ſelbſt Hatte, führte fie burd ihn. Er ward ihre Zu 
in der Kirche. Sie machte ihn zum König der Prediger. In if 
Umgange ſammelte er die Speife, die er ben Hörern bot. 
übertrat die Ordensregel, um in ihrer Nähe zu weilen. Bar 
von ihr entfernt, fo leitete fie ihm brieflih. Ihre Zufchriften g 
fie zu vernichten, denm nicht Papiere gefallen Gott, aber in 
Herz fchreiben was frommt, ihm zu dienen. Das Andeufen ai 
fie war ihm die Magnetnadel, an der er fih im Thun umd Lafer 
orientirte. Er bedurfte die Roſeukranzperlen nicht, die Frarzien 
wohl Soden als Andenten an die gemeinfam durchlebten heilige 























Feanziscn Hernandez und Frei Franzisco Ortig. 545 


domente fchenkte, die fie in aufrichtigem Sinne befuchten. Ihre 
iſtlche Nähe erfüllte ihm oft fo überſchwänglich, daß hundert 
ujend Städte nicht eine Stunde dieſes Troftes bezahlt Hätten, 
t fein Herz fo in Vergeſſen alles Irdiſchen tauchte, daß er nicht 
pe derfelbe zu fein ſchien. Welten hätte er ihr zu Füßen gelegt; 
» fie erfreuen konute, fandte er. Reiſte er nach Valladolid zurüd, 
‚überwand die Sehnſucht körperliche Schwachheit. Er machte 
touren in einem Tage, die den Genoſſen lebensgefährlich ſchienen. 
Franzisca's reiche Anregungen machten Ortiz die Vorbereitungen 
‚den Predigten leicht. Er ftellte an fich große Forderungen, 
figens ein nachjichtiger Krititer Anderer. Der gute Wille, den 
! Prediger zeigte, Erlenntniß und Liebe Gottes zu erweden, ge 
Keim, um ſich zu erbauen. Ueber das Unbedeutende in ber 
Wit fchwieg er. Gutes Hob er hervor. Mühe genug hatte ihm 
R die Vorbereitung gemacht. Das Studium einer ganzen Woche 
te die Predigt. Nach feiner Ummandlung kam es vor, daß er 
amtliche Faſtenpredigten in vierzehn Tagen fehrieb. Seine Hülfe- 
%[ waren die ungloffirte Bibel und das Andenken an Frauzisca's 
te. Ex erfuhr, was der heilige Bernhard erzählt, durch das 
denen an einen heiligen Menſchen fei die andächtige Stimmung 
: in Wellenfchlägen über ihn gefommen. Die Gedanfen flofjen 
t zu. Nie wieberholte er Predigten, jo groß war der Reichthum. 
: bat er um Berjegung anderswohin, wie die Prediger pflegten, 
hdem fie drei bis vier Jahre eine Kanzel innegehabt. Was er 
„ſtach freilich gewaltig gegen die gewöhnliche Kanzelfpeife ab. 
in war in den Predigten an den rhetorifchen Schwulſt der Ritter« 
same, am den Bombaft des Seneka gewöhnt. Nur viele fremde 


drücke, geſchraubte Sentenzen, Hochtönende Gleichniffe, bei den‘ 


aren zum Thema herangefchleppte Ausführungen, endlofe Ueber⸗ 
gel Bald wurde das Profane in gemeinfter Weife eingemifcht, 
» die Wunderfucht von der Kanzel mit Gedichten genährt, die 
die Scenen der Romane erinnerten. Was lag daran, wenn die 


ter ftatt der Worte des Lebens Gras und Blumen des Feldes 


ımen, und die ſchlaftrunkenen Augen auf den Kirchenbildern 
ten, Ja ignorancia del pueblo, la ganancis del clero. Wie 
ogenes nach einem Menjchen, mußte man nach dem Prediger 


546 Böhmer 
























fuchen, der ernft und freimüthig Chriftum, nicht ſich predigte. 
Reden der Meiften waren Grabreden für fie ſelbſt über den Tert 
„Du haft die erfte Liebe verfaffen.“ In einer Schrift des Valtı 
die kirchliche Schäden aufdeckt, tritt ein berühmter Prediger auf 
Stolz wie ein Satan fhreitet er daher. Er’ verfichert, nur 
überfüllten Kirchen habe er gepredigt. Denn während er den 
Tigen fpielte, richtete er feine Rügen doch fo ein, daß fie die 
weſenden nicht trafen. Niemand wolle die Wahrheit. Hätten 
getroffen, fo märe vielleicht die Belehrung der Hörer die Folge 
weien. Diefe hätte auch den Redner gezwungen, fich zu befe 
davor wollte ich mich wohl hüten. Als Beichtvater gehörte er‘ 
Denen, die man fuchte unter dem Vorwand, fie fennten die Si 
gut. Eigentlich war der Grund, man fonnte mit ihnen ungen 
von den Sünden reden und hatte feinen Stab „Wehe!“ zu fün 
Es könnten doch Diejenigen nicht die Stirn haben, die Sünden 
tadeln, denen fund fei, daß die Beichtfinder die noch größeren Si 
der Beichtväter kennten. 

Bon all diefen Kanzelfünden hielt Ortiz fih frei. Einft [7 
er etwas darin gefucht, viele trockene Speculationen vorzulegen, 
mehr die Menge über die Subtilität des Redners ſtaunen fi 
als die Gewiffen ergriffen. Nun war diefe Spielerei aufg 
Wenn er oft unter Thränen über die Zungen des Geiftes in 
die Kanzel bejtieg und mit Feuer zu reden begann, zielte er 
Frucht bei den Hörern, auf das Entflammen ihres Willens 
Gott, Wie es Wahnfinn fei, das Heilmittel an der Ferſe 
wenden, wenn die Krankheit im Kopfe ftede, fo fei es umji 
den Ohren zu predigen, da doch das Uebel im Herzen wohne. 
hielt auf Bibelauslegung. Nach tüchtiger Arbeit mit ber 
gefchentten Gnade gab er viele katholiſche und nügliche Erklärm 
die man bei feinem Doctor gefehrieben fand. Gegen kirchli 
Pharijäismus ging die Polemit. Den Schlaffen ward alle 
Tegenheit entzogen, ihre Schlechtigkeit zu bemänteln ; taufend Dial 
es, Werke ohne Liebe Gottes feien nichts, do konnten die Sim 
menſchen ſchließen: gut, fo laßt uns fehwelgen ftatt zu 
in der Liebe Gottes. Gegen die Blindheit hat er geeifert, 
Gott allein in Steintempeln ſuche, uneingedenk des Wortes CHrift 


Franzisca Hernandez und Frai Franziseg Ortiz. 547 


Das Reich Gottes ift inwendig in Euch.“ Allezeit und allent- 
{ben fei Gott zu fuchen, um ihn defto würdiger in den Kirchen 
d Sacramenten zu finden. Der mächtige Strom gläubigen 
bens in. biefen Predigten traf die Herzen. Unerhört war der 
drang. Abends zuvor nahm man die Kirchenpläge ein für 
1 folgenden Morgen. So viele Gefuhe um Saftenpredigten 
n Ortiz liefen bei feinem Guardian ein, daß dieſer meidifch 
d ärgerlich die zarte Gefundheit des Predigers als Ablehnungs- 
and vorfchügte. Der Erzbiſchof hätte ihn gern beftändig ger 
tt. Die Kaiferin öffnete ihm die Kanzel des Palaftes. Hatte 
da zu predigen, fo verbarg er ſich bis zum Heraußtreten zwifchen 
1 Orgel und der Wand, um nicht, wie bie meiften Mönche, die 
‚en Paläften der Großen lebten, der Eitelkeit zu verfallen. Sie 
x ihm fern. Hätte er vor einem Hohen Auditorium prebigen 
len und wäre mit der wohlftudirten Predigt auf dem Wege zur 
mel geweſen, und ein anderer Prediger träte ihm mit dem 
orten entgegen: „Sch Habe zu predigen, nicht Ihr“, — er würde 
a die Füße Füffen und mit Freuden zuhören. Karl V. bot ihm 
Stelle eines Hofpredigers an. Franzisca entſchied: fie möge 
ht, daß er Prediger des Kaifers werde, er folle Prediger Jeſu 
eifti fein. Sie wollte auch dem Volke den Glauben nehmen, 
Freund Tiebe diefe vielgefuchten Eitelfeiten. 

„Invidia virtutis comes“ lautet die Inſchrift auf dem Grabe 
Benito Arias Montano, eines der größten ſpaniſchen Gelehrten 
ſechzehuten Jahrhundert. Wie wahr fie fei, erfuhr Ortiz bald. 
w Bifhof von Mondonedo hörte ihn predigen und bemerfte: 
Nefer Pater ſchafft Frucht, doch Hat er Nebenbuhler unter den 
Öncen, die ihn verfolgen; er nehme fich zufammen und thue im 
ben der Franzisca nicht zu viel.“ Unter diejen Feinden, die ſchon 
1 ten des Inquiſitionsproceſſes ſprachen, bevor die Inqui⸗ 
ion daran dachte, fehen wir den Guardian Guinea. Theologiſche 
ntniffe waren nicht feine Stärke. Sein Lieblingedogma lautete: 
Inquifition fönne niemals irren. In dem, was Ortiz von 
: Riebe Gottes predigte, fand Guinea die Irrlehre der Franzisca. 
" möge doch nüßlichere Dinge abhandeln. Monche, die das Echo 
* Öuardians waren, wiederholten: „Ortiz kann ſich paden mit 





548 Böhmer 




























feiner Gottesliebe. Bon Franzisen’s Lehre wußte Guinea, wie a 
geftand, nichts. Doc Habe ihm ben ſchlechteſten Eindrud gemacht 
was er von ihrer Lebensart gehört. Aber aud von ihrer eben 
weife wußte er nichts, als daß fie oft unzugänglich fei. . Ortiz m 
feine Freunde wies er aus dem Kloſter. Mit einer folden u 
lenzerſecte wolle er nichts zu thun haben. Gil Lopez hielt je 
eigenen Predigten für bie beften feit der Apoftelzeit. Ortij 
dunfelte ihn. Nachdem Jener mit großem Beifall über das da 
des Evangeliften Johannes gepredigt, rügte Lopez acht Tage fi 
auf der Kanzel, daß man die Prediger fo viel lobe. „Unb mai 
tobt Ihr fie? weil Einer über das Leben des Johannes gefp 
dat? Aber welche Lafter und Schmaufereien hat er getabelt?“ 
letzte Aeußerung fpielt auf das freie Leben der Franzisca an. Ynl 
Gegner flüfterten: Ortiz gehöre zu den Alumbrados, die den 
gefunden hätten, in Kurzer Zeit, ohne alle guten Werke, volitom 
zu werben. In einer Predigt Habe er gefagt, Chriftus fei 
tommener in der Seele der Gerechten, als im Sacrament 
Aktars. Ein Bischof war von Ortiz gebeten: Se. Guaden mi 
das Gute in Erasmus’ Schriften fo fehägen, daß er midt d 
Schlechte darin gutzuheißen ſcheine. Er rachte fich. Unerkö 
Weife nenne Ortiz die Franzisca eine benditisima Dienerin Go 
indeß Engel und Apoftel Maria nur die Gejegnete hießen. & 
Eorrectur war nicht geeignet zu verſöhnen: benedieta in mul 
bus heiße befanntlich fo viel al8 super omnes, wie das s 
vor dem Namen des Paulus noch etwas mehr ſage als sa 
tissimus in der Titulatur der Prälaten. 

Die stulta superbia und aemulatoria fatuitas wandte 
aud) gegen Franzisca. Einft ftand fie vor dem heiligen, © 
Aber Hadrian VI. hatte als Großinquifitor entſchieden: es liege rit 
Erhebliches vor, was dem Glauben präjudicire. Sie war gefte 
„Es heißt, Ihr könnet Geifter unterſcheiden, ob fie zum gl 
zur Hölle, zum Himmel gehen.“ Antwort: „Sah id 
ſchlecht leben und hörte feinen ſchlechten Ruf, fo weinte ich 
ihm bei feinem Tode.“ Cardinal Hadrian hatte nur das Bedenſ 
fie Habe fo mumtere Augen und lache fo viel, das -zieme ſich mi 
für eine Dienerin Gottes. Mit leichten Poenttenzen mar fie durh 


Framisca Hernan dez und Frai Franzisco Ortiz. 549 


kommen, „Mix ift Alles recht“, verfegte fie, „doch, die das 
than, müflen Gott Rechenſchaft geben.“ Papſt Habrian hat 
üter, am Steuer des Gchiffleins Petri figend, feine papſtliche 
erfon und das Regiment der ganzen Kirche der Fürbitte Frau⸗ 
xa's empfohlen. Was einft nicht gelungen war, nahmen jegt 
lenſchen wieder auf, denen igre Perfon und ihr Wirken ein ber 
indige® Strafgericht war, Da erzählten die Klätſcher: die Hei⸗ 
e weife die Armen ab, beute die Reichen aus. Mönche made 
dem Gelübde untren, Minatello nenne ſich mit vollem Munde 
en unwürdigen Diener der Verlobten Ehrifti, lehne aber Ordens⸗ 
iden ab. Den Befuchenden fage fie wohl, man folle Gott Lieben 
d ihm dienen ; dann aber Liegen fie ſich's wohl fein, äßen gut, 
xichen fehlecht über Andere, aud über. die Prälaten, ohne ſich 
Die Obedienz zu kehren. Wie eine Heilige laſſe fie ſich ver- 
km. Fur Guinea war jede diefer Verleumdungen unwiderlegliche 
hatſache. Auf Grund derſelben vieth er; die Berfon in ein Kloſter 
fteden ober fonft wohin, damit die Irrlehre nicht fo großen 
chaden ftifte- Franzisca wünfchte nicht von den Dißpofitionen 
uinea's abzuhängen. Sie verließ Valladolid und zog nach Caftel 
Tejeriego. Hier lebte fie zurückgezogen; aufgefordert, fprad fie 
er das Wort Gottes wie Raterina von Siena und Angela von 
Migny. Ortiz ward in der Verfolgung fefter, wie ein Nagel, je 
tier man auf ihn Schlage, um fo tiefer in der Mauer ftedde. Er 
lam vom Prälaten den Befehl, jeden, auch fchriftlichen Verkehr 
t Franzisen abzubrechen. Bleibe es dabei, lautet fein Beſcheid, 
werde er Rarthänfer, das geftatte fein Gelübde. In beftändigem 
der mit den Oberen wolle er nicht leben. Dies bemühten ſich 
: Sranziscaner zu verhüten. Sie mißgöunten den Karthäufern 
Erbſchaft des Ruhmes, den Ortiz bisher feinem Orden gebracht. 
n leichter Unsweg fand fi. Ortiz berief ſich für die Recht⸗ 
Aubigfeit feiner Lehrerin anf das Urtheil der Inquiſition, die fie 
t fieben Jahren unbehelligt gelaffen habe. Gelang e8 jegt, ihre 
rurtheilung durchzufegen, jo war Ortiz gefchlagen, mußte -fie 
fgeben und blieb dem Orden. 

Man hoffte mit Recht auf die Allmacht der Inquiſition. Das 
ige Gericht war in Spanien die Säule, die Staat und Kirche 

























73 Böhmer 


trug. Sie lehnte ſich an die beiden fpanifchen Heiligthümer, Kein: 
heit des Glaubens und des Blutes. Aber alle Leidenjchaften, die 
im dunklen Grunde der Seele ruhen, nahm fie, Befriedigung ver- 
heißend, in ihren Dienft. Der Mordluft, der Rachſucht, der Hıb 
gier bot fie als treue Helferin die Hand. Ihre entfeglichen That) 
wußte fie in Gottesdienft, den Mord in heilige Feier zu Hüllen 
Niemand Konnte wie fie das fill gegebene Wort löfen, das 
fchenkte Vertrauen belohnen. Mit geiftlichen und weltlichen Wıf 
zugleich ſchlug fie nieder. Karl V. hätte eher einen Theil fi 
Staaten verloren, als Etwas gegen die Ehre Gottes und die Me 
der Inquiſition geduldet. „Oderint dum metuant“, war 
Wahlſpruch. Der Guardian Guinea war feiner Sade v 
gewiß. „Man muß Franzisca verbrennen; ich werde dafür for 
daß fie in's euer kommt.“ Den Großinquiſitor Manrique 
er fo einzunehmen, daß er auf Ortiz’ begeifterte Vertheidigung 
erwiderte: „Der Guardian hat Recht, fie verdient den Scheit 
haufen.“ Es erfolgte eine Citation nad Toledo. Freundlich 
heiter empfing Franzisca die Beamten. „Wäret ihr fo fiher 
dem Befehlen, wie ich beim Gehorchen, jo wären wir beiderfei 
recht ficher.“ Gefragt, weß Weib fie fei und was fie befige, fpı 
fie: „Ich bin eine Verlobte Jeſu Chrifti; ich Habe nichts und 
mangelt nichts durch Gottes Barmherzigkeit." Zwölf Tage mil 
fie, Alles entbehrend. In Toledo fah Ortiz fie wieder. Als 
an die heiteren Mienen erinnerte, womit fie einft vor dem Zril 
geſtanden, fagte fie: „Bittet Gott, daß ich nicht lache, wenn i 
fehe, welche Dinge fie fagen und fragen.“ Ob fie etwas bei 
hieß es: „Ich brauche hier nichts und von Niemand zu erbil 
und folite ich noch taufend Jahre hier bleiben mit Gottes Hülfe‘ 

Der Franziscanergeneral Hatte dem Großinquifitor gejagt: .. 
habe geglaubt, an Franzisca Hernandez fei etwas Gutes, aber H 
fehe doch, es ift möthig, fehr aufzupaffen. Fanget ung die Fü 
die Meinen Füchje, die den Weinberg verderben.“ Diefer Mat 
gehorfam, fandte das Officium die Geiftesverwandte der heilige 
Terefa in's Gefängniß. Handhabe bot ein Brief, worin Orth 
geſchrieben: „O meine Herrin, meine reinfte Liebe, mein gejegneiits 
Innerſtes, mein Herz, mein Auge, Leben meiner Seele“ ; fie mix 


Framisca Hernandez und Frai Franzisco Ortig. 551 


dr feine blinde Mutter bitten; Habe fie doch den wahren Arzt fo 
1 fi, daß fie nur Ja zu fagen brauche, um das Erbetene zu em- 
fangen. Er unterzeichnet: „Geringer Sohn und Diener Euer großen 
Inaden, der Euren Heiligen Fuß bald in tieffter Ehrfurcht zu kuſſen 
langt.“ Die Ausdrüde erinnern etwas an den Amabis und 
e Schäferpoefie, aber was wäre Häretifhes an diefem geiftlichen 
ebesbriefe mit ſpaniſchem Colorit? Der Verfaffer ſah die Stunde 
fommen, durch eine fühne That fein Wort zu befiegeln, als Ritter 
sanzisca’8 dieſen Mönden eine Ohrfeige zu geben, an bie fie 
jenslang denken folften, und leichten Herzens Gloria in excelsis 
fingen. 

In der Zaftenzeit Hatte Ortiz viel geprebigt. Oft war der Kaifer 
iter den Hörern geweſen. Andächtig las er Mefjen; nur noch 
Rüge, wußte er, werde er Halten. Unter Gebet und Thränen 
ritete er ſich auf feine lebensgefährliche That. Mit unausfprede 
ber Freude erfüllte ihn der Bli auf die nahe Verfolgung um 
t Liebe Gottes willen. Heiter dent er an bie Trennung vom 
Äern und Studien, an die Stille des Kerkers. Hier könne er 
a Staub von den Füßen fehütteln, mit dem die Arbeiten des 
ftlihen Amtes ihn bedeckten. Dazwiſchen quälte ihn Angſt, die 
ehnte Stunde des entfcheibenden Wortes nicht zu erleben. Götts 
jes Feuer durdglühte ihn, als er bie Kanzel von San Juan 
rat. Eine vornehme Zuhörerfcaft war verfammelt. Die Ge 
Bheit, er werde in Stüde geriffen die Heilige Stätte verlaffen, 
:ad) er im Eingang der Predigt aus. Er beginnt heroiſch: „Ich 
!ige, als wäre dies meine letzte Predigt. Höret, als müßtet ihr 
tben, wenn fie endet.“ Der Tert war da8 Wort des Propheten: 
der Löwe brüllt, wer follte ſich nicht fürchten; Gott der Herr 
Acht, wer folfte nicht weiſſagen?“ — „Man muß Gott mehr 
jorchen als den Menſchen“, diefes Thema führte er aus. „ch 
ll fagen, was ich weiß, und nicht fagen, was ich nicht weiß.“ 
amit ging er zu dem ihm bewegenden Greigniß über. „Ich bin 
n Prophet und fein Prophetenfohn, ich weiß nicht, ob Gott eine 
oße Sünde, die in diefer Stadt begangen ift, noch in diefer Welt 
afen wird. Diefes, ich wiederhole es, weiß ich nicht. Was ich 
er weiß, iſt, daß, die fehr ſchwere Sünde, die kurzlich in Toledo 
Theol. Stud. Jahrg. 1868. #7 


so2 " ‚Böhmer 


begangen wurde, bie ich offentlich nenne, weiß fle öffemtfic geſcheh 
die Verhaftung der Franzisca Hernandez ift." — Als Münde u 
larmen begannen, rief er im großer Bewegung: „Schweigt, Got 
Heißt mich reden. Der Name biefer Dienerin Gottes ift weit be 
fannt. Fur fie ging ich zum hochwürdigſten Erzbiſchef von Geville, 
wie einen Engel nahm er mid auf — — —“. Weiter konn, 
er nicht fprechen. „Laßt doch den Heiligen reden!“ rief ein Ga 
licher weinend. Umſonſt. Man rig Ortiz von der Kanzel, fin 
Digte ihm Yuguifktionshaft an.. „Ein Freudengeſchenk verdient I 
Für fo gute Botſchaft“, entgeguete er. Froh trat er den Mey] 
dem Kerker an, in dem Franzisca litt. 

Sein Gefängniß ift if heilig und gefeguet. An einem heie 
Orte der Marheit und des Friedens fei eB erbaut. Das — 
Treiben von Toledo reiche dahin nicht. Durch Jeſu Guade fung 
er hier an, ein wahrer Minorit zu ſein. Ihm ſei die ar 





treuzigt und er der Welt. Ohne Bulle von Rom, ohne Einfp 
der Pralaten ſei er jet Karthäufer. Keime beſſere laufe bi 
die Hallen von Sevilla, als diefe Zelle, wo er nur zwei Gm 
fangenwärter fehe. — Hörte er draußen aber einen Armen für du 
Eingelerkerten beten, jo ließ er wohl fein Theil Brod hinausreiche 
und faftete. Ein Freund drängte ihm, die Predigt zu widerrufe 
Aergerniß habe fie erzegt, wie mie ein Wort, dad er gefpraden 
Die Kanzel fei ihm dadurch verfchloffen, dem Volke, das ihn m 
met mehr hören koune, wmabfehbarer Schaden gebracht. Er hai 
wicht wifſen Lönwen, ob der Erzbiſchof nicht auf Grund neuer 2. 
ausjagen die Verhaftung verfügte. Mit Unrecht nenne er = 
eine Öffentliche Simde, alſo die Inquiſitoren üffentliche Sin, 
und bejchäbige ihren Ruf. Saft häretiſch fei es, die kirchliche Ou⸗ 
nung durchbrechend, den Erzbifchof anzugreifen. Auf feine im 
Freudigleit möge ex ſich nicht berufen, die Habe auch Huß gehett 
Ded Gewiffen, mit dem er die Predigt gehalten, möge er ablegm: 
leicht fei es, unbeſonneue, umrichtige Weuferumgen zu revodsm. 
DOrtig Amipfte den Widerruf am feine beffere Einſicht im den be 
-gangenen Fehler. 

Die Anklagen nahmen größere Dimenfionen an. Er habe ba 
Eczbiſchof beleidigt, der als Generalinguifitor in Spauien die zweit 





Frangisea Hernandez und Frai Framised Ortiʒ. ss 


Perfon nach dem Papfte fei, alſo ben Papft feibft, um ein Weib 
m erheben, defſen Gemeinheit man kenne. Diefem ‚gemeinen Weibe 
laube er mehr als der Kirche. Um des Weibes willen habe er 
1 fo vornehmer Verſammlung dem Erzbifchef werlegt, jeinen Oberen 
en Gehorfam aufgefagt. Gegen ben Willen berfelben fei er’ auf 
er Kauzel geblieben, habe viele Tage und Nächte in der Wohnung 
1 Franzisca zugebtadt, ihr Geſchenke gemacht, verliebte Briefe 
iſchrieben. Beide Hütten newen Irrthum auftifchen wollen, um 
R uppiges Leben zu reditfertigen, um Iedere Mahlzeiten, Bantette 
ılten und müßiges Geſchwätz treiben zu können. Seine früheren 
ken Predigten nenne Ortiz, der Gnfpirirte, der Prophet, ‚der 
Iner auf Gottes Geheiß, Narrheiten zum Aerger der Stadt 
leala und ber Magiſter der Umiverfität. Wie ein Alumbrabo 
Be er Dinge gepvebigt, die Großen und Cavalieren auftögig 
weſen; diefe edlen Hörer feien aus der Kirche hinausgepredigt, 
m überdied ganz Spanien geärgert mit Irrlehren, zu deren 
xgründung er die Schrift gemißbraucht, wie die: Gott fei voll⸗ 
ennener in ber Seele des Gerechten, ala im Sacrament; bie 
kichte ſei micht göttlichen Rechts. Er käftere, wenn er ſich die 
!ben Gaben des Heiligen Geiftes beilege. Er frevle, wenn er 
an Tod für die Lüge empfehle, duch Wunder Lügen beweijen 
elle, für feine Predigt fi großer Ehre nor Gott nnd Menjchen 
erth achte, fein tollfühnes Wort für ben größten Dienft erkläre, 
n er Gott geleiftet, in feiner inneren Heiterkeit ein Wunder fehe, 
therlicherweiſe fich einbilde, Gott laſſe ihm in Meer Sache nicht 
ten, mit dem, was er im Gemiffen fühle, könne man fein Ketzer, 
in Todfünder fein. Verbrecheriſch habe’ er das Leben der Ehriften 
gefüllt genannt mit verfluchter Lauheit und Schlafiheit, und von 
? Inquifition gefagt, durch Franzisca's Verhaftung fei fie um 
te Heiligkeit gekommen, enblid) gedroht, fielen auch noch fo Viele 
m Erzbifchofe zu, er niemals. Ueberhaupt verhöhne ex den geift- 
Gen Stand, die Strenge bes Möndjlebens, die Kirchenlehrer, 
ı er Franzisen höher ftelle als zehntaufend Dortoren. — Es 
ar nicht ſchwer, das Gemiſch von Lügen und Wahrheiten in den 
lagen zu fondern. Ortiz thut e8 in Briefen an den Groß- 
iquifiter. „Aus dem jehe Heiligen und geliebten Gefängniß der 
37” 


554 Böhmer 


Inquiſition zu Toledo“ fehreibt er ihm wiederholt, um Zranziea 
zu verteidigen, über die fcandalöfe Sünde der Verhaftung eier. 
Bei der Anklage gegen eine Heilige Dienerin Gottes wäre mit der 
größten Sorgfalt vorzugehen Pflicht geweien. Der Prälat 
fich dafür eine befondere Offenbarung‘ erbitten follen. Wie 
möglich fei, daf er die Wunder für dämoniſche Illufionen 
da ſich doch Frauzisca's Heiligkeit und Reinheit darin bezrug‘ 
Wie es möglich fei, daß er den Guardian ermuthige, fie auf 
Sceiterhaufen zu bringen? — Die vorliegenden Zeuguiſſe rei 
zur Einterferung einer Dirne nicht Hin. Webrigens habe der Erzbijt 
die Unterfuchung ebenfogut führen können, hätte die Gefangene in ci 
angefehenen Haufe in Balladolid gewohnt. Weshalb die Gemal 
wodurch Schwache am geiftlichen Leben irre und beide Gef 
wie Ketzer von der Mefje ausgefchloffen würden? Nicht 
ftreng ſpricht Ortiz mit den Inquiſitoren. Sie follen fich mi 
durch das Wohl ihrer eigenen Ehre verhindern laſſen, Unrecht 
zu machen. Erft hinaus mit dem Balken ans ihrem Auge, 
mögen fie ben Splitter in dem feinigen berühren. „Demüthig b 
End dem Gotteögerichte, das der unerforſchliche Weltregierer 4 
diefer Sache über End verhängt. Seid Inquifitoren Eures cignd 
Herzens. Die Denuncianten Franzisca's Hört das erfte Mal, [| 
zu fehen, wo das hinaus will. Das zweite Mol zeigt ihnen tik 
gutes Geſicht, das dritte Mal werft fie zu den Teufeln der Hälg 
die in ihren Seelen wohnen. Aber leiht Eure Ohren micht dieie 
Abſchaum der Hölle, diefem ſchwarzen Pech, das befudelt, beji 
anfhwärzt, ſich feitjegt, um das Feuer der Hölle zu nähren.“ 
pört fprict er vom Guardian. Seine Stimme zum Guardi 
babe er ihm nicht gegeben, aber jegt gebe er ihm das Votum: 
„Gefangen werben mögen die Füße, die fo böfe Schritte ginge, 
ein Knebel fefjele die Zunge, die fo verderbliche Lügen gefproden| 
möge er hier noch feine Sünden erkennen und bemeinen, um a 
Abgrunde der Hölle zu entgehen.“ Er vertheidigt Franzisca's car 
gelifche Freiheit als durch die reine Liebe zu Gott gegeben, jer 
Liebesworte mis entraias mit dem Vorgange des Apoftels, der de 
Onefimus mea viscera nenne. 


In den Berhören vor den Inquifitoren erſcheint Ortiz bejcheide 















Frangisca Hernandez und Frai Franzisco Ortiz. 555 


ft, der Rechtsformen kundig. Sein Wunſch ift: das Heilige Offi⸗ 
um möge ebenfo bereit fein, die Schuld abzutragen, die es, wie 
: mit Gottes Hilfe zu zeigen hoffe, auf ſich geladen, wie er bereit 
i, in Allem und Jedem für die Sünde genug zu thun, die man 
m in feinem Vorgehen zeigen werde. Bisweilen war er fröhlich 
n Gefängniß, denn man müſſe fi in diefen Mühjfeligkeiten. doch 
ch etwas Heiteres erholen. Sein Gebet lautet: „Mein Herr! 
me Franzisca Hernandez Haft Du mich erfchaffen, ohne fie mich 
loſt, ohne fie mir viel Gnade erwiefen. Siehe auf mich, belehre 
ich, worin ich irrte, ob ich glaubte, Dein Geift bewege mich, und 
) war mein eigener. Gib mir Licht zu erkennen, es fei Deine 
Ängebung nicht geweſen, durch die ich predigte, falls fie es nicht 
nr.“ — Aber immer fefter ward feine Ueberzeugung. Franzisca 
egifterte ihn im Traum zu umfajjenden Vertheidigungsfchriften. 
don Feuereifer fühlt er fich zur Vertheidigung: feiner Predigt durch⸗ 
fungen. Er fei der Daniel diefer neuen Suſanna. Ohne öffent 
he Chrenerflärung für fie und ihn nehme er die Freilaffung nicht 
. Gott ſei in jeinem Augapfel verlegt. Nur Reftitution könne 
18 fühnen. In den dem Gerichte vorgelegten Schriftftüden ber 
urrt ber Verfaſſer dabei, die Verhaftung ohne genügende Aukläger 
i Unrecht. Mit Recht Habe er fie fo nennen müffen, denn nad 
iner UWeberzeugung fei fie der evangelifchen Wahrheit, die er ge⸗ 
redigt, nicht conform. Das Volt Habe daraus Anlaß nehmen 
innen, feine Lehre zu verwerfen, die dod nicht fein, fondern Jeſu 
hrifti ſei. Da habe er dem Erzbifchofe widerftehen müffen, wie 
zaulus dem Petrus. Wunder bezeugten die göttliche Sendung 
ranzisca's. Ohne Theologie zu verftehen, lege fie meifterhaft die 
Schrift aus, leſe die Gedanken Anderer. Ihm und Anderen ſei 
e wie der Heilige Franz abweſend erfchienen. Unbeftreitbar feien 
ie Gebetswunder. In ihrer Nähe wären ihm feine Predigten ge- 
ungen. Un fie gebentend Habe er ein Licht zum Erkennen feiner 
fehler, einen Anfang der Gottesliebe, eine rechte Andacht. Endlich 
var ihm ein großes Zeugniß, daß er, der ſchwache Mann, den 
Muth erlangt Habe, in dieſer Sache fein Leben einzufegen, alles 
teiden zu ertragen. Er könne nicht widerrufen. Wüßte er auch, 
ın feinem Widerrufe hänge Franzisca's Leben, tanfend Tode werde 





56 Böhmer 


ex fie ſterben laſſen, che er Gott, der ſich feiner ſo Barmfenig 
angenommen, babund beleidige, daß er gegen fein Gewiſſen handck. 
Die Inquiſitoren erwiberten: Alles ziehe ſich im den Punkt zu 
fammen, er behaupte göttliche Zeugniffe fär ben. göttlichen Berui 
zu jener Predigt zu haben. Die Kirche könne über Verborgens 
wit richten. Born Meufchen müffe die Sache gerichtet werden, 
Bon Rechtewegen feien fie nur dann verbunden, feinen Morten ja 
glauben, wenn er fie durch Wunder beftätige. Er möge ein Wunder 
than. Ortiz verwies auf das Wunder, daß er im Gefängng| 
munter, heiter, fröhlich und zufrieden fei, Tag und Nacht voll dl 
gegen Gott, der ihn gewürdigt Habe, für feinen Namen zu lie 
und in ſehnlicher Erwartung des Todes und der Krone des Sehen. — 
In ſolcher Weiſe bewegten fih Anklagen und Verantwortungs, 
Lange Paufen, berechnet, den Gefangenen abzumatten md zum Ge 
ftändniffe zu zwingen, trennten die Verhüre. Sieben Monate uf 
der Verhaftung legte der Fiscal die Anklage vor gegen Ortiz 
Apoftaten, den Beförderer und Verteidiger von Härefien, den Bei 
leidiger und Feind des Officiums, ber dem weltlicden Arme 
überliefern fei. Mit großer Verſchlagenheit war die Ace 
Hundert Augen, wie Argus, mußte man haben, um auf Alles ai 
worten zu können. Das Material hatten Klatſchereien uud var| 
drehte Stellen aus Predigten geboten. Laugathmig fpasın der Prod) 
ſich fort. Das Heilige Gericht erlaubt Alles, was ihm nützlich ii 
Es verjchmäht die elendeften Kunſtgriffe uicht, um zum Bid a 
kommen. Gegen Ortiz wurben ſchlechte Zeugen zugelaffen; fe R 
do dein Zäger der elendefte Hund willlommen, wenn auch su 
zum Anzeigen der Beute. Mit der Bemerkung, man mäfje Heim 
Gedächtnißfehlern der Zeugen doc; nachhelfen, deckte man die Schin⸗ 
lichteit zu, ihnen das Gegentheil ber Ausfogen in den Mund # 
legen. Entlaſtungszeugen wurden möglicft ſpät angeführt. In 
bedenklich votirten die Richter, ohne die Vertheibigung des Angeklager 
auf anchträgliche Beſchuldigungen gehört zu haben. Die Sek 
war ſpruchreif, als die Raiferin ſich für Ortig verwandte, Si 
wimſchte aus einigen guten NRüdfichten die Freilaſſung des & 
fangenen, bat und beauftragte Die ehrwürdigen Inquiſiteren de 
Stadt und des Erzbistkums Toledo, zu ihrem Dienfte Anecbum 








Franzisca Hernandez und Frai Franzisco Ortig. 57 


a treffen, daß mit geößtmöglichfter Kurze bes Ortig Sache erledigt 
erde, in Anbetracht der Quafität feiner Berfon, bes Ordens, der 
mgen Zeit der Haft, und beffen, daß fein Bruder, Doctor Orthz, 
af Befehl der Kalferin nach Rom, gehe in einer Sache, bie fir 
m Dienft des Kaiſers, der Kaiferin umd das Wohl der ganzen 
rifllichen Religion ſehr wichtig ſei. Deshalb wunſche fte, daß 
e ſchwebende Angelegenheit vor der Ankunft des Geſandten erledigt 
erde, denn damit werde ihr gedient fein. — Das Gericht beeifte 
h nicht. Dreiundſechzig Netractationsartikel legte es Ortiz vor. 
e unterwarf ſich in Sachen des Glaubens und der Sitten dem 
ttheile der Gelehrten, er konne irren, aber fein Keher fein. Wo 
fich um Thatſachen Handele, ſtelle er fein Erfahrungswiſſen iiber 
t Ausſpruche der unkundigen Doctoren. Er blieb bei feinen Aus⸗ 
Mm über die Wunder der Frauzisca und das an ihr begangene 
keit, über das von aller damoniſchen Illuſion freie Zeugniß 
bes Gewiffens für den Befehl der göttlichen Majeſtät zur Prebigt, 
er die Wahrheit und die Verdienftlichleit feiner Mede, den Irr⸗ 
um des Erzbiſchofs, die Realität der ihm im Kerker verlichenen 
miden, die erfahrene Einwirkung Franzisca's, die von ihr erhals- 
ie reine Subftanz bes Evangeliums, und fein Recht zum Verkehr 
it ihr, mochten auch Mofterceremonien verfäumt werben. Zurüd« 
nommen hat er die Behanptungen: alle öffentlichen Sünden dürfe 
" Prediger bffentlich rügen; es ſei Tobfünde, Franzisca im Ge— 
agniß zus behalten; das gemößnfiche Leben der Chriften ſei voll 
tfluchter Lauheit; es ſei ungerecht, ihn gefangen zu halten und 
16 Bolt um die geiſtliche Speiſe ſeiner Predigten zu betrügen, 
id ähnliches. Fur den Fall vollftändigen Widerrufes hatte das 
wicht die Strafe bereits feftgeftellt. Die ftrengften Doctoren 
unſchten ein abſchredendes Exempel zu ftatuiren. Sie fordern, 
htiz Habe Predigt und Irrlehren bffentlich zu widerrufen, ſich 
m Verdacht. der Ketzerei durch einen Reinigungseid zu befreien, 
itfe nie predigen, Beichte hören, zwei Jahre nicht Meſſe leſen, 
& nie öffentlich zeigen, mit Niemand außer dem Kloſter verkehren 
we reden. Dieſes Strafmaß erfcheine gelinb; man berückſichtige 
ibei die Ehre des Branziscanerordens; das Mecht heiſche ewiges 
Müngeiß. Die mildere Serdenz, der ſich die Majoritüt der. Nichter 


5858 Böhmer 


zuwandte, verhängte Abſchworung, Suöpenfion vom Predigen af 
ein Jahr, Zellenhaft in einem SFranziscanerflofter, wo er nicht 
öffentlich, fondern nur in der Eapelle Meffe leſen dürfe. Seu 
Pralat möge ihm geiftliche Poenitenzen auferlegen, hinſichtlich der 
törperlichen mild fein. Verftimmt wiefen die Inquiſitoren den A: 
geflagten in feinen Kerker, als er völligen Widerruf unbedingt 
weigerte. Ein halbes Jahr lang hat er ihm nicht verlafien. Dr 
Proceß ftand till. 

Spaniſche Romanzen ſchließen wohl mit dem Refrain: für ji 
ift von der Gefchichte weiter nichts mehr zu erzählen, und wer ng 
mehr wiflen will, fehe, wie er es erfahre. Die Stelle in Onf 
Leben, an der wir ftehen, erinnert an jenen Spruch. Die Urfuna 
ſchweigen über die Motive des jet erfolgenden, ganz umermwarkem 
Scrittes. Er widerruft Alles. Ob im Bli auf den nahen Schi 
terhaufen, ob in fatholifchem Gehorfam gegen das Gebot des Grip 
inquiſitors, ob unter fremden Einflüfen, ob nad} ſchweren Kämpfe, 
wir wiſſen davon nichts. Genug, er erbat ſich eine Audienz, a 
der er geftand, eine ausdrückliche Offenbarung Gottes, zu predige, 
habe er nicht gehabt, nur einen Antrieb dazu, den er für götlih 
gehalten. Da es eines der größten Opfer ber Diener Gottes je, 
ihr eigenes Fühlen und Meinen zu verleugnen, eine Unterwerfung, 
wie fie der heilige Bernhard letztwillig von feinen Mönchen ur- 
lange, wie fie in Franziscus geftrahlt habe, fo verlengne er fen 
Urtheilen und Wollen und bringe es dem Herrn Jeſu zum Opfe 
dar; er retractire, was er gepredigt, nehme alle Strafen über fi, 
nicht aus Todesfurcht, fondesn um ſich um Gottes willen zu wm 
leugnen. Den Erzbiſchof bat er um Vergebung; unverftändigt 
Eifern fei der Grund feiner Bermeffenheit. Auf den Kuieen mok 
er dem Prälaten dienen, wie er dazu verpflichtet fei, fo lange m 
Iebe. — Das vorbereitete Urtheil ward gefällt. In Procfim 
309 Ortiz vom Gefängniß zur Kathedrale und ſchwor ab. E— 
mußte geloben, Franzisca nie wieder fehen zu wollen. So it 
geichehen. . 

Im Madonnenklofter Tordelaguna verlebte er feine Graf 
Nie Hat er es wieder verlaffen. Fromme Uebungen, einjame Br 
trachtung fühlten feine Tage. Seinen Studien war er wiedergegeben 





Framisca Hernanbez und Frai Framisco Orti. 559 


Schzehn Bände umedirter Arbeiten hat er handſchriftlich Hinterlaffen, 
adletiſche Tractate, Predigten, Abhandfungen geſchichtlichen, patriftie 
ihen, cafuiftiihen Inhalts. Als Gewiſſensrath war er geſucht. 
Den Admiral von Caftilien bereitete er auf fein Ende vor. Nur 
u gern Hätte biefer ihm bei fich gehabt. Aber Ortiz Iehnte alle 
Befuche ab. Bon jenen zwei Zeiten, deren Salomo gebenfe, fei 
ne des Schweigens für ihn gekommen. Die Menge der Yahre 
verurfachte ihm feinen Ueberbruß, der Hunger, fein Winkelchen zu 
genießen, nahm zu. Zurüdgezogenheit und Stille hatte man ihm 
18 Poenitenz gegeben. Gott wandelte fie in füße Befriedigung 
m. Die reihe Einfamteit bot eine Fülle von Gelegenheiten zur 
Belbfterkenntniß, zur Verſenkung in das unermeßlice Meer der 
Bite Gottes. Schon früher hatte er oft mit Neid auf Solde 
Pogeblickt, die in der Stille durch ihre Gebete für die Kirche Gottes 
ten durften; unglaubliche Frucht könne eine Seele bringen, bie 
8 verftehe, allein zu fein. Set war ihm ein ſolches Gebetswirken 
gönnt. Aufgefordert zur Uebernahme eines Amtes verfegte er: 

Will Gott mein Amt noch gebrauchen, fo werde ich fagen, gelobt 
i Er, und ihm anhänglich folgen. Will Gott Hier mein Leben 
aden, fo fage ih, hochgelobt ſei Er, denn nur Tod iſt's, was endet.“ 
ir konnte es fagen im Jahre 1546. Beſchäftigt mit Anmerkungen 
1 einem Buche von Alejo Venejas über den Tod, überrafchte ihn 
in Ende. _ 

Verloſchen war jein Andenken. 1813 tauchte es wieder auf. 
in den Debatten der Eortes von Cadir über die Abfchaffung der 
Inguifition ward er unter den Opfern des Tribunals genannt, 
(8 Meifter myſtiſcher Berebfamteit, als Mufter erften Ranges für 
ie fpanifche Sprade. Wenig wußte man von feinem Leben. Dürf⸗ 
ge Notizen gaben eine fragmentarifche Kunde von der Wirkjamfeit 
iefes frommen Mannes in elenden Zeiten, die leer gewefen an Korn 
nd reich an Stroh und verdammter KHeuchelei. ' 

Nun hat fich eine reiche Duelle der Belehrung aufgethan. Aus 
em Lande der Manuferipfe ftammt fie, in dem das Handſchriften⸗ 
eſen während des fechzehnten Jahrhunderts blühte wie im Mittel 
Iter, wegen der Seltenheit ber Verleger, der Koftfpieligfeit des 
Irudes, ber Eenfur der Inquifitton. Ein in Spanien erworbener 


560 Ba hmer 


Handſchriftenband bietet Proceßacten, Briefe von Ortiz an Ftan⸗ 
zioca, an den Erzbiſchof von Sevilla und Andere, Bertheibigungt: 
ſchriften, Zeugenansfagen und ähnliches Material. Er ift in die 
rechten Hände gefommen. D. Böhmer gehört zu ben grundlichſten 
Kennern der romaniſchen Literatur. Das einzige Buch, das wohl 
jemals ei deutjcher Gelehrter in Dante’ Sprache gefchrieben hat, 
ift von feiner Hand. Seine Ansgabe von Valdez' Eonfiberationn 
hat bie verdiente Anerkennung gefunden. Sie zeigte, wie heimiid 
er ift in den Arcanis alter, feltener Bücher. 

Er Hat fich die Aufgabe geftellt, das neuentdeckte Material pr 
Geſchichte feiner Helden volljtändig zu verwerthen. Keine Mir 
der Quellenforſchung ift gefreut. Die koſtbarſten Schriften alır 
ſpaniſcher Literatur find zu Mathe gezogen, Werke, von bmm 
vielleicht nur ein Gremplar in Europa exiſtirt, daneben neuere Un 
kandenpubficationen, die den behandelten Zeitabſchnitt berühren 
Nur wer Zugang zu großen Bibliotheken hat, kann jo nad Hm 
zensluſt Kloſterchroniken, Orbensgefhichten, genenlogifche Wert, 
Topographien, Neifebefchreibungen, Stüdtegefchichten durchſuchen 
Freilich muß er zu Haufe jein im banoniſchen Rechte wie ir 
den Myſtitern, wenn er ed darauf anlegt, über Alles, was af 
feinem Wege Liegt, quellenmäßige Information zu geben. | 
ſollte -folcher Fleiß nicht viele neue Kunde zu Tage fördern? Mu 
wird durch fie oft genug überrafcht. Die Anhänge find Zeugriſt 
feltener Gelehrfamfeit. Lange überlieferte Irrthumer werben u 
ihnen berichtigt, neu aufgejtellte Gefichtspunfte begrümdet. De 
größte Excurs gibt einen trefflich gearbeiteten Auszug aus da 
Meinod der fpanifchen Myftit, Oſuna's Abecedar, einer Anleitung 
zum Gebete, die die heilige Tereja geführt Hat. Das Bud ma 
faft verſchwunden, jegt iſt es und wiedergegeben. Bühmer’s Bat 
ift aus vergilbten Arten gearbeitet. Wer jemals foldes Materul 
in Händen hatte, kennt die Gefahr, eine farbloje, trodne Arder 
zu liefern. Der Autor ift ihr entgangen. An dem Buche ift nichs 
Bergilbtes, als das dem Pergament ähnliche prächtige Papier, af 
dem es gedruct wurde. Bucherſtaub Hat fi nicht anf bie Dar: 
ftellung gelegt. Sie ift friſch, zeichnet in beftimmten, feften Züge 
bewaltigt ben fpröben Stoff, verteilt mit chriftlicer Gympalhs 





Franziscn Hernandez und Frai Franzisco Ortiz. r se 


ücht und Schatten, durchwebt die Thatfachen mit finniger Reflexion. 
Man kann darüber ftreiten, ob richt Einzelne®, das zuerft in den 
Acten mitgetheilt wird, beffer in die Darftellung verflochten wäre. 
Dann Hätte die Gefahr gedroht, entweder ſich zu wiederholen, oder 
ie Actenſtücke zu ſehr ihres fefjelnden Inhaltes zu berauben. Der 
derfaffer kennt die Wirkung diefes Details fo gut, und Hat fi 
gar im Nebenpunkten jo ſorgſam darım gemüht, daß man gewiß 
fin kann, er habe and in der Bertheilung dns Rechte getroffen. 
Es ift eine Erquickung, ſolche Heilige Seden in dem Lande 
nutreffen, wo die Mabonnenbilder Ströme von Thränen ver- 
offen und verfauften, wo das Wohlergehen des Königs nad) Leib“ 
m Seele von der angemeffenen Beſetzung der Stelle eines 
koginquifitors abhing. Die Maffe freilich kennt diefe Freude 
Mt. Der große Meenten jagte: „Die Welt hat nur Auge und 
Ban für das, was auf dem Schauplage der Gelebrität gefchieht, 
ir das Leben der großen und Meinen Menfchen, die da Leben 
Nefen, Leben träumen, Leben dichten; für das wahrhafte, göttliche 
eben göttlicher Menſcheu hat fie, fo lange fie in der Welt find, 
in Auge, feinen Sinn, wie viel weniger, wenn fie nicht mehr in 
= Welt find.“ Alle aber, die den Herrn lieb Haben, lauſchen 
ern jedem neuen Zengnifje dafür, daß Er fein Volt auch da Hat, 
o unfere Augen aur Finfternig und Schatten des Todes jehen. 
he ftärken fi an der Anfchauung ſolcher Menfchen der Sehnfucht, 
zen Ziel und Bahn, troß mancher Schwachheit, fich in die Wolfe 
ner Zeugen verliert, deren die Welt nicht werth war. 

Bien. . B 
D. theol. Wiltene. 


562 Ehrenfeuch ter 


2. 


Aus dem Nachlaß von Eruſt Friedrich Fink, weiland Dochr 
ber Theologie und Pfarrer an der Heilanftalt zu Ilenau. 
Nebft einem Abriß feines Lebens. Herausgegeben vn 
D. Friedrich Ehrenfeuchter. Heidelberg, C. Winters 
Univerfitätsbuchhandlung. 1866. 8°. 318 SE. 


Dem am 25. Juni 1863 Heimgegangenen D. Fint hat a 
obiger Schrift die kundige Hand feines Schwagers ein Denkmi | 
geſetzt, das nicht blos den Dank der perſönlichen Freunde Finte) 
verdient, fondern aud bie Beachtung weiterer Kreife der enang 
liſchen Kirche in Anfpruch nimmt. Auch die „Studien und Kritiken 
haben in früheren Jahren mehrere Arbeiten von Fink gebracht. Neben 
feiner außgebreiteten und heute noch von Vielen gefegneten Wit! 
ſamleit an der Illenauer Anftalt und jeiner Thätigkeit im den Ari 
gelegenheiten feiner Landeskirche während einer ereignißreichen Zei, 
wußte er nicht minder der fortdauernden Pflege der theologice ! 
Wiſſenſchaft, als der eingreifenden Mitarbeit an der Förderung ie | 
chriſtlichen Lebens auf den verfchiedenen Gebieten der inneren Diff | 
feine Kraft zuzuwenden. Dieſe Vielfeitigleit, welche bei ihm ri 
zur Zerfpfitterung führte, weift einerjeits auf eine feltene und reif 
natürliche Begabung Hin, andererjeit® auf die Kraft des Glauben 
und der Liebe, die er von oben empfangen hatte und im Dienit 
der Gemeinde Chriſti mit voller Hingebung. verwerthete. Es it 
nad) dem Vorwort des Herrn Herausgeber „das Beiſpiel ein 
Lebens, worin ſich Glauben, Dienen und Studium fo innig m 
zugleich fo anſpruchslos verſchwiſterten. Möge diefes Beiſpiel fir 
die Amtsbruder des Heimgegangenen nicht verloren fein, umfowenige, 
je mehr der Ernſt unferer Tage perſönliche Weberzeugung verlangt 
die nicht ohne eine gründliche wiffenfchaftliche Ausbildung gemonnr 
werden fan.“ 








aus dem Nachlaß von Ernft Friedrich Fink. 588 


Ernft Friedrich Fink wurde den 24. October 1806 zu Kandern 
geboren. Sein Bater war Beamter, zuletzt Kreisrevifor in Mann- 
heim; erzogen aber wurde Fink bei feinem Großvater, Pfarrer 
Higig in Wollbach, und befuchte fpäter die Schulen in Lörrach, 
Müllpeim und Freiburg. Auf der Freiburger Univerfität begann 
r feine philofophifchen und felbft feine theologifchen Studien, fegte 
ie fodann in Halfe, Berlin und Heidelberg fort, und beftand im 
Jahre 1828 fein Candidateneramen. Auf feine theofogifche Ueber- ' 
eugung hatten vornehmlich Schleiermacher und Abegg in Heidelberg 
ingewirkt; den Mittelpunft feines Glaubens und feiner theologiſchen 
Neberzeugung bildete die Perfon Ehrifti, von welcher er die fein 
yanzes Zeben beftimmende Erfahrung machte: „Herr, Du haft Worte 
"8 ewigen Lebens!“ Die folgenden Jahre brachte er in Wertheim 
ad Heidelberg, theils in wiffenfchaftlicher, teils in unterrichtender 
md in praltiſch kirchlicher Arbeit zu; eine Zeit lang trug er ſich mit 
um Wunſch, in das afademifche Lehramt, fei es in theologifchen 
»der in philofophifchen Fächern, einzutreten, ging aber dann, da 
id, fein Weg zur Verwirklichung diefes Wunſches zeigte, mit voller 
Yiebe im das pfarramtliche Leben über, als Pfarrverweſer zu Leutes- 
eim (unweit von Straßburg) im Jahre 1833. Mit feltener Treue 
uchte er die ihm befohlene Gemeinde nicht nur in Predigt und 
datecheſe, jondern auch auf manchen anderen Wegen, welche die 
fiebe Chriſti auffindet, zu Ehrifto Hinzuführen. Der Herausgeber 
at diefen Abſchnitt in Fink's Leben mit befonderer Liebe gezeichnet 
mb damit ein erweckliches Bild der Haushaltertreue im chriftlichen 
Predigtamt und vorgeführt. Dem Pfarrer von Leutesheim genügte 
icht die Außerliche Erfüllung vorgeſchriebener Pflichten; jede Be— 
ufsthätigfeit, felbft bis in die firhlichen Ankündigungen, wußte er 
nit Geift und Leben zu erfüllen, in Seelforge, Eonfirmationde 
mterricht, Armen» und Krankenpflege fuchte er den Einzelnen nahe 
u fommen. Befonders zog ihn die Kinderwelt an. Er errichtete 
nit jeiner ihm gleichgefinnten Gattin, Friederike geb. Eichhorn, im 
Jahre 1839 eine Kleinkinderſchule in feinem Haufe. Beide Ehe- 
jatten hielten die Schule allein, bis Frau Jolberg, die Wittme 
ines Arztes, im Jahre 1840 nad Feutesheim kam und die Anftalt 
ien organifirte, bald zugleich als Bildungsfchule für Kinderlehrerinnen, 








564 Etzren feuchter 


die noch jetzt zu Nounenweier im Segen blüht. Spaziergänge, die 
mit den Kindern des Dorfes gemacht wurden, bejonders auch Abend- 
ftunden bald für Männer, bald für Frauen und ältere Mädqen, 
bald fin die Confirmanden, gehörten in den Kreis diefer Wirkfam 
keit. Mifftonsftunden, damals noch etwas Seltenes, wurden ein- 
geführt. Fink's Miffionsbichlein in Katehismusform (Heidel 
berg 1840) Hat viel zur Weckung des Miſſionsſtnnes in abe 
beigetragen. 

Dos Jahr 1842 führte Fink als Hausgeiſtlichen im die we 
erbaute Irrenauſtalt Illenau bei Achern. Für einen folchen Diaw 
war dies die rechte Stelle, und hier hat er durch eim glücklica 
Zufammentreffen in inniger Berufs- uud Lebensgemeinfchaft uk 
den übrigen NAnftaltsbeamten, beſonders mit dem Director, de 
hochverdienten Geheimrath Dr. Roller, und dem Geheimen Hofraf 
Dr. Hergt bis zu feinem letzten Athemzug gewirkt. Seine Liebe ha 
dort im Dienen an den Kranken, und nicht minder an den Wärien 
und Wärterinnen eine Stätte gefunden, wo man am wenigſien mit 
Außerlicher Pflichterfüllung ausreicht, fondern wo allein die freie 
Hingebung etwag vermag. Sie ging and) Denen nad, die als Ge 
nefene in ihre Heimath zurückkehrten, und je länger fein Wirtai 
an der Anftalt dauerte, defto mehr erweiterte ſich der Kreis Derer,' 
die mit ihm im perfönlichen, oft aud) fchriftlichen Verkehr blichen,: 
was freilich den Umfang feiner Arbeit dergeftalt fteigerte, daß mri 
die genauefte Zeiteintpeilung und fortgefegte Anftrengung ihm in da] 
Stand fegen konnte, der wachjenden Aufgabe nachzukommen. DE 
war feine Gefundheit angegriffen, und fein plöglicher Tod # 
57. Lebensjahre mochte wohl die Folge feiner im Dienfte jrh 
aufgeriebenen Lebenskraft fein. 

Zn einem Schriften, das er dem Vorſteher der Anftalt is 
Zahre 1852 zu deſſen 25 jähriger QJubelfeier übergab, „Die ei 
anftalten von ihrer Firchlichen Seite“, find die Ergebniffe fein 
Erfahrung und feines Nachdenkens über die Stellung des Geijtlike 
an einer Heilanftalt niedergelegt. Seine grundlegenden Gedanter 
find (©. 52f.): Seelenftörung oder Krankheit der Seele — die tt 
aber lieber nad) dem Vorbild der holländiſchen Sprache Krud: 
finnigkeit nennen möchte — ift ihm eime auf leiblichen und geiftigen 








aus dem Nadiaf von Ern Friedrich Fink. 565 


Grund ermachiene Störung bee natürlich perfönlichen Lebens, ſomit 
ver geordneten. Gemeinfchaft zwijchen Körper und Geift, Leib und 
Seele, wo die leibliche Berftimmung und Berderbnig dem Geifs, 
ie geiftige Unordnung bem Leibe in feinen verfchiedenen Syſtemen 
id, eingebildet haben. „Die Heilung kann aljo nicht zunächſt nur 
arm beftehen, daß auf die Sünde gewirkt, dag Buße und Glaube 
eweckt und gemahnt werde, fondern das natürliche und das geiftige 
Birten muß beifammen fein. Anftalten fir Seelenfrante find ſo⸗ 
ut ein Werk des Staates und der Familie zugleih. Aber auch 
ie Kirche kaun nicht aufhören, die Kranken als ihre Glieder und 
18 Gegenftände ihrer rettenden Thätigleit zu betrachten, um fie 
rem Beruf ale Menſchen und Chriſten wiederzugeben. Wie die 
kilanftalt eine Kirchliche Seite Hat, jo muß überhaupt der Sim 
R Anftalt, der ſich in der ganzen Einrichtung fund gibt, chriſtlich 
Am“ Er nennt dann weiter Gebet und ort Gottes als bie 
jonptmittel der Einwirkung des Geiftlichen. 

Die Stellung des Hausgeiftfichen zur Anftalt faßte Fink mefent- 
ch als eime dienende auf. Daß er ſich in die Gefammtarbeit des 
auſes einglieberte und unterordnete, hat dem Erfolg feines Wirkens 
inen Eintrag gethan, und gerade biefes felbjtverkengneude Zufam- 
ienwirlen in Hingebung em die Kranfen hat Illenau gehoben und 
ı der Anftalt einen Geift walten laffen, deſſen wohlthuender Ein» 
uß neben und mit den anderen SHeilmitteln eine Heifende Kraft 
währte. „Der Geiftliche darf“ — fo urtheilt Fink (S. 53) — 
im alteme feinen Wirken nicht vergeffen, daß nicht er die Leitung 
ibe, fondern der Vorfteher, der ein Arzt iſt. Der Geiftliche ift 
nerhalb der Anſtalt weſentlich dienend, alfo muß er auch bie 
ıfere Ordnung feines Wirkens von dem Vorfteher annehmen und 
uß das erfte Beifpiel de Gehorfams geben. Daß er hierbei 
tht im eine mechaniſche Abhängigkeit komme und wicht das Weſen 
ines Dienftes aufopfere, wird am beiten dann verhütet fein, wenn 
r Director felbft die Bedeutung des geiftlichen Amtes und die 
sie Bewegung diefer Thätigfeit zu würdigen verjteht.“ 

Seine VBoransfegung, daß man von Seiten der Anftalt die vide 
ge Wirffamfeit des Geiftlichen würdigen müffe, fand Zink in Illenau 
füllt. Der Director der Anſtalt, Dr. Roller, hat ſich darüber in 


566 Ehrenfeudter 


einer neueren Schrift ausgefproden *): „Man Hat die frage, ıb 
Geiftliche an einer Irrenanſtalt mitwirken ſollen, davon abhängig 
maden wollen, ob dadurch Irre geheilt werden können. Natir- 
licher erfcheint e8 wohl, wenn man fragt, ob die Irren aud der 
Seelforge bebürfen, und Hier wird die Entſcheidung geradefo aut: 
fallen, wie in der übrigen Welt. Deshalb, weil manche Menidı 
die geiftliche Seelförge für unnöthig halten, ift fie noch niht dk 
geichafft worden. Gewiß ift, daß viele Pfleglinge fie fehmerid 
vermiffen würden, umd daß fie an Vielen fich Heilfam ermeit‘ 
(S. 15). Die von Fink eingenommene Stellung wird (©. 19 
fo charalteriſirt: „Wei der Stellung eines Geiftlichen an einer Ja 
anftalt feheinen uns zwei Abwege möglich. Entweder Läßt fih 
Geiftliche von dem mechanischen Getriebe verfchlingen, das zur 
Haltung der Ordnung einer großen Anftalt nothwendig, aber ud 
nur das äußere Gerüfte ift, Hinter dem fich das eigentliche © 
verbirgt. Es find das leicht nur die gejelljchaftlichen Intert 
in deren Bewegung er ſich verflehten läßt. Oder entgegenge 
faßt der Geiftliche feine Aufgabe in einer myftifchemagifchen Weil 
er ſieht ſich als Träger übernatürlicher Kräfte an, mit denen 
gegen die Krankheiten der Seele, bie er dann gern nur als Ci 
wirkung dämonifcher Mächte faßt, ankämpft. Fink vermied ki 
Weiſen. Sein Hauptgefihtspunft war, in der Zufammenfaj] 
alter Bewohner Illenau's, der Gejunden, der Beamten umd Di 
der Anftalt, wie der Kranken, eine chriftliche Gemeinde zu erbli 
der er nad den weſentlichen Grundjägen zu dienen Habe, wa 
natürlich auch unter gegebenen Modificationen, wie eine Ehrifte; 
gemeinde überhaupt zu bedienen fei. Dieſer Chriftengemeinde Fr 
diger, Lehrer und Hirte war er; Verfündiger der ewigen Wahrkt 
und Liebe mitten unter aller krankhaften Störung und Berfehrtfeit” 

Es möge überhaupt bei diefem Anlaß auch einmal in einer tr 
logiſchen Zeitfchrift auf diefe von fittlihen und zwar driftid 

















3) „Illenan. Gedichte, Bau, inneres Leben, Statut, Hausordnung, Ber 
aufwand und finanzielle Zuftände der Anſtalt. Herausgegeben von Mi 
Divection der Großherzogl. Heil- und Pflegeanftalt FM enan.“ Eier 
Ch. Th. Groos. 1865. 141 SS. 





aus dem Rachlaßz von Ernſt Friedrich Fin. 567 


ttlihen Grundgedanken getragene Arbeit hingewiefen werben, die in 
llenau fchon über 25 Jahre eine Stätte gefunden hat und deren 
tfolge wahrhaft überrafchende find. Ohne daß dem Sag: „Seelen- 
ärungen find Krankheiten und bedürfen deshalb ärztlicher Behand- 
ng“, zu nahe getreten wird, hält man in Illenau viel auf die 
ychiſchen Heilmittel; und das wirkſame Princip in der pſychiſchen 
ehandlung wird nicht der inteflectuellen Sphäre entnommen, fon 
m wird als wefentlic auf dem fittlichen Gebiete liegend anerkannt. 
ich der eben erwähnten Schrift (S. 69) find dort von 1842 
3 1864 in der Anftalt 4753 Kranke aufgenommen worden, von 
sen (Ende 1864) 1854 als genefen, 1209 als gebeffert, 892 
3 ungebeffert entlafjen, und 670 als geftorben bezeichnet find. 
® find leuchtende Zahlen auf einem Gebiete, welches erft feit 
ang diefes Jahrhunderts für die chriftliche Liebe erobert worden 
: Im wel rühmlicher Weife aber die badifche Regierung den 
gen biefer Heilanftalt den Landesangehörigen (es befinden ſich 
effen immer auch ausländifche Kranke in der Anſtalt) zugewendet 
:, geht daraus hervor, daß 3. B. im Jahre 1861 bei einem 
anfenftand von 447 Perfonen 170 (darunter 31 Penftonäre und 
in ber erften @lafje) ihre Verpflegungsfoften ganz bezahlten, 
hrend fiir 263 Kranke die Koften nur theilweife bezahlt und 14 
3 auf Koften der Unftalt verpflegt wurden; von jenen 268 
anten aber gehörten 235 der dritten ober niederften Elaffe au, 
welche ein durchſchnittlicher Werpflegungsbeitrag von nur 
Gulden 3 Krenzer im Jahre entrichtet werden mußte. 
Diefem engeren Berufskreiſe Fink's in Illenau ſchloß ſich bald 
weiterer Kreis chriſtlicher Liebesarbeit und kirchlicher Thätigkeit 
ſeinem Vaterlande an. Fink war der hervorragendſte Vertreter 
inneren Miſſion in Baden. Er ging, wie D. Ehrenfeuchter 
. 60ff.) ausführt, dabei von dem Gedanken der chriſtlichen 
meinde aus. „In die Gemeinde follte alle chriftliche Riebes- 
tigkeit Hineingeftellt werden, ohne in die vorhandenen kirchlichen 
‚men aufzugehen.“ Zur Organifation der vielfach zerfplitterten 
ſtlichen Liebesthätigkeit Tieß er im Jahre 1845 ein Schriften 
gehen: „Der evangeliſche Verein. Ein Aufruf an die 
meinde“ (Heidelberg, C. Winter). In der Gemeinde wollte er 


Heol. Gtub. Jahrg. 1868, 36 


568 Ehreufeuchter 


eine Vereinigung gebildet ſehen, welche mit ihrem Wirken in die 
von den Aemtern des Staates und der Kirche unerreichbaren innern 
und äußeren Lebensgebiete innerhalb der Ehriftenheit hineingreifel 
ſollte, in freier Hingabe zum Dienft des Staates ımb ber Kirche 
Die Arbeitögebiete dieſes Vereins gliederten ſich ihm folgendermaßen 
1. Erziehung (1. Kinderpflege: Waifen, Findellinder, Blinde, Tu 
ftumme, Eretinen; 2. Jugendpflege: die Sonntagsfchulen, Lejejid 
für Handwerler, Dienſtmädchenſchule). II. Unterftügung (3. Armaı 
pflege: Leihverein, Sparkaſſe; 4. Kranfenpflege: Spitäler, Siehe] 
bäufer). III. Zucht (5. Befferung: Rettungsanftalten, Arbes 
auſtalten; 6. Gefängnißpflege: Züchtlinge, entlaffene Sträflig| 
IV. Bibelverbreitung. V. Guftav-Adolf-Verein, fir deutfche u 
angrenzende Glaubensgenofjen. VI. Eoloniftenpflege (in hen 
VII. Miffion. — Jetzt reiht freilich dieſes Schema nicht m 
für das der immeren Miſſion zugewieſene Gebiet Hin, weil die 
deutung der focialen Frage vor 20 Jahren erft anfing erfamt 
werden. Als den Ausgangspunkt diefer Vereinsthätigkeit dachte 
Fink die Krankenpflege, und insbefondere Bildungsſchulen für Pl 
und Pflegerinnen. „In Demuth und Stille“, ruft er aus, 
heiligem Geijte fei das Wert angefangen; nicht als eine Sad 
NRührung, der Prunkſucht, der Parteiung werde fie betrieben, | 
dern als eine Sache des Herrn und feiner Gemeine. Auf 
Herrn foll die Sache ftehen, und die ſämmtlichen Kreife der 
tigfeit ſich vereinigen in der Gemeinfchaft der Kirche, die da for 
und fördert die freien Werke eines Vereins der chriſtlichen & 
erwachſen aus Gottes Heiligem Evangelium.“ Dur mil 
Anregung und Korrefpondenz wirkte Fink uuermüdlich für 
Sache und war auch bei der Gründung des badifchen Larl 
vereins für innere Miffion, der 1849 entftand, vorzugsweiſe tät 
Er ſuchte diefen Verein. nad) den vorhin erwähnten Grundgeit 
zu geftalten und mußte in der Nähe und Ferne für ſolche Atta 
anzuregen. Auch dann noch, als das Intereſſe für die inm 
Miffion Hinter die kirchlichen Fragen zurädtrat, hat Fink biefe Sek 
vertreten, und vom Jahre 1853 — 1860 die „Blätter für im 
Miffton im Großherzogthum Baden“ herausgegeben. Cine wit 
Verwirklichung feiner Idee hat er nicht fehen dürfen; allein ie 

















ans dem Nachlaß von Ernſt Friedrich Fink. 569 


ielen iſt durch diefe Anregungen das Bewußtfein um die Ver- 
ichtung zur chriftlichen Siebesarbeit geweckt worden und Hat zu 
jegneter Arbeit geführt. Hervorzuheben ift noch Fink's Thätig- 
t für die äußere Miſſion und für die evangelifche Diaſpora; 
Diafporagemeinde in Bühl verdankt ihm ihre Sammlung. 
An den eigentlich, kirchlichen Fragen Hat deſſenungeachtet Fink 
en fehr vegen Anteil genommen, fowohl an den heimathlichen 
an den allgemeinen. Die Theilmahme an den Jahresverfamm- 
gen des Kirchentages und des Guftan-AdolfeBereins, brieflicher 
rehr und Reiſen dienten dem in ihm wohnenden Trieb, als ein 
mdiges Glied der Kirche der deutfhen Reformation fi an ihren 
mden umd Leiden zu betätigen. Alle bebeutenderen Regungen 
b Erfcheinungen in dem Leben feines badifchen Heimathlandes 
ddes ganzen deutfchen Waterlandes Hat er innerlich mit durch ⸗ 
it, Zu Allem ſuchte er fich eine Stellung zu geben, doch war 
nichts weniger als ein Parteimann. Furchtlos trat er für feine 
iifhe und refigiöfe Weberzeugung ein, doch nie verfegend, den 
zner vielmehr achtend und von ihm geachtet. Wit feiner irenifchen, 
) im Gegner nod das Gemeinfame möglichft anerkennenden, 
t im bibfifchen Glauben feft gegründeten Perſönlichkeit brachte 
ein ſchätzbares Element in die kirchlichen Verhandlungen anf 
‚ferenzen und Synoden. Ihm widerftrebte jeder Confeffionalis- 
3; mit Ueberzeugung trat er namentlich für das göttliche und 
xriſche Recht der Union in Baden ein. Ein eigentlicher Kirchen- 
in war er nie; dafür war ihm zu fehr die gegliederte chriftliche 
neinde in ihren freien, von Gott gewirkten Lebensäußerungen 
Ausgangspunkt feiner Beftrebungen. Unter den Mittheilungen 
feinem Nachlaß, welche D. Ehrenfeuchter gegeben, find wohl 
Bedeutendfte die Gedanken über diefe Fragen, welche ſchon in 
„Skizze einer Ueberficht über das Syſtem der Theologie“. 
181 —204), dann aber hauptſächlich in „Leben und Geftalt 
Sriftlichen Gemeinde“ (S. 205—225) niedergelegt find, und 
) in einer anderen Arbeit „Vom Indifferentismus in ber evan- 
ihen Kirche" (S. 235— 248) zum Vorfchein kommen. Was 
jierüber gibt, das find vortreffliche und für die Organifation 
Gemeinde brauchbare Gedanken. Sie jegten ihn allerdings auf 
39° 





570 Ehvenfeugter 


der Generalſynode des Jahres 1861, auf welcher er wie auf ber 
vom Jahre 1855. Abgeordneter war, in Widerfpruch mit der dar 
mals beratgenen Kirchenverfaſſung. Sein Votum über die legten 
ift durch den feitherigen Verlauf der Dinge in hohem Grade ge: 
rechtfertigt worden; denn bei aller ihm eigenen ſchonenden Mil 
des Urtheils mußte er jih (S. 83) dahin erflären: „Ich ſehe m 
den Beitimmungen der neuen Berfafjung gar viel Fremdartigu 
neben dem, was aus dem Geifte Chrifti fommt, ich ſehe in 
Durdfliprung der richtigen Grundgedanfen von der Freiheit 
Selbjtändigfeit der Gemeinde bis zu den höchften Stufen hiuf 
Manches, was der Einheit der kirchlichen Dienfte, der ftetigen, (de 
digen, organifchen Gliederung und Thätigkeit der Gemeinde 
den Hiftorifchen Grundlagen der Verfafjung unferer umirten Ri 
auf bedenkliche Weife mibderjtreitet. Deshalb, und weil id ri 
verfennen kann, daß die rafche und unruhig bewegte Zeit aud ih 
Autheil an diefer Verfaffung Hat, kann ic) meine Befürchtut 
nicht unterdrüden, «8 möge ftatt der von Herzen gewünſchten 
derung der Freiheit, Einigkeit und Ordnung in der Kirche ti 
anderes Schlimmeres entftehen. Darum vermag ich für m 
Perjon. die Annahme diefer neuen Verfaſſung weder zu empfel 
noch zu verantworten.“ 

Fügen wir diefem Votum noch einige Grundgedanken aus ji 
Theſen über „Leben umd Geftalt der hriftlichen Gemeinde“ 
Die Gemeinde ift ihm vor Allem ein Organismus miit beſtit 
Gliederung, gemäß der in ihr beftehenden Verſchiedenheit nad) Cu! 
Kräften und Dienften. Die Einheit der Glieder befteht darin, 
fie alle ohne Unterfchied follen von Gott gelehret fein, als m 
Gott in Chriſto vereiniget freien Zugang zu Gott haben und i 
Andere beten und opfern; ‚Alle follen mithelfen, in priftlicher € 
und guter Zudt den göttlichen Wandel Aller zu fördern (allgem 
Vrieſterthum). Als eine natürliche Ungleichheit aber zeigt jid 
nächſt der Unterſchied zwifchen Mündigen und Unmiündigi 
(nicht zu verwechſeln mit dem zwiſchen Gläubigen und Ungläubiga 
Die Mündigen find diejenigen Glieder, welche mit eigener Erfei 
niß den Glauben haben und bezeugen, mit eigener Liebe Got © 
Chriſto bewußt ſich opfern, mit eigener bewußter Hoffnung in! 















aus dem Nachlaß von Ernfi Friedrich Fink. 571 


ukunft ſchauen und wirken, Alles in frei hewußter und gewollter 
ebereinftimmung mit der Gemeinde. Die Unmündigen find über- 
igend nur von dem alfgemeinen Leben der Gemeinde getragen, 
it weniger eigener Betheiligung, weniger freibemußtem Mitempfin- 
n, Mitdenfen und Mitwollen. Außer diefem Gegenfag befteht 
nerhalb der Miündigen noch der zwifchen leitenden und geleiteten 
Kigfiedern, fedoch fließend, an feinen befonderen Stand gebunden. 
icht jeder Mundige ift zur Leitung befähigt und berufen, fondern 
rt, welcher vorher gedient und im Dienen ſich erprobt hat. 
der Mündige aber fol und muß dienen mit feinen Gaben an 
nem Ort. Wo der vom heiligen Geift geweckte Trieb, dem 
anzen zu dienen, und bie von Gott verliehene Gabe zuſammen⸗ 
Hen mit dem erkannten Bedurfniß der Gemeinde und einer darin 
den Aufforderung, da wird auch eine Verordnung der Ge 
inde zu einem Dienft erfolgen. Die Berufung und geordnete 
bindung der Gemeindeglieder zu Belenntniß und Lehre, Gottes: 
nft und Liebesdienft, Sitte und Regierung, ift die Organifation 
rÖfiederung der Gemeinde im engeren Sinne. Der vom Herrn 
ordnete und in der Gemeinde geordnete Dienft heißt auch Amt. 
cht jeder Dienft ift ein Amt. - Bei „Dienft“ waltet die: frei: 
lige Hingabe vor, bei „Amt“ die Verordnung zu etwas und die 
macht; bei jenem das Perſönliche, bei diefem das Sachliche. 
te Gegerüberftellung von Dienft und Amt auf der einen: Seite, 
meinde auf der anderen, hat bei einer lebendigen Anfchauung 
ven Play. Auch gibt e8 eigentlich weder begrifflich- noch wirklich 
Srüher. Im Herrn war Dienft und Gemeinde weſentlich zu⸗ 
ih gefaßt. Früher als die Gemeinde waren nur die Apojtel, 
r ſchon der zwölfte Apoftel geht aus der, freilich noch nicht 
figen, Gemeinde hervor. „Amt vor der Gemeinde“ gilt nur 
ı der Miſſion. Es muß zur Vermeltlihung der Kirche gerechnet 
den, wenn irgendwo (Mittelafter) der Begriff des. Amtes über 
des Dienftes hervorgeftellt wird. Die Gliederung der Diener 
Gemeinde nach den Dienften, die fie nach ihren Bebürfniffen 
ihre Glieder erfordert, -wird diefe fein: Es gibt Diener, die 
zur Beſorgung der natürlichen Bedürfniffe der Gemeindeglieder 








572 Ehreufeuchter 


durch den Dienſt ihrer Liebe verordnen und verordnet werden. € 
gibt Diener, welde die verfchiedenen Thätigfeiten, die zum Lader 
der Gemeinde gehören, vertretca und verwalten (nicht als Vertreim 
der Gemeindeglieder, fondern der vom Geift geweckten Thätigfeiten) — 
Gemeindeverwalter, Vorfteher, Aeltefte nach den Seiten des Einzl 
Werkes Eprifti als Lehrer, Priefter, Hirten. Endlich gibt «8 m 
türlih in der Gemeinde auch ſolche Diener, welche ihre Cini 
und den Zufammenhang mit dem großen Ganzen darſtellen — 
Biſchöfe. — Diefe Gliederung wird nun gefehichtlich in der Ari 
lien Kirche nachgewieſen, am Diafonen-, Aelteften- und Bijhp, 
Amt. Die reformatorifhen Grundfäge Halten die Berchtigg 
und Berpflichtung Aller feft, in Glauben, Liebe und Hoffnung z 
Belenntniß, Feier und Sitte, zur Erhaltung und Ausbreitung 
Lehre, der Liebeöbienfte und der Kirchengewalt mitzuwirken, ei 
die Nothwendigkeit einer Gliederung, nur daß fie alle Ordnung, 
die gemacht find, nad) Umftänden, die der heilige Geift zum 
deihen der Gemeinde weifet, für veränderlich anfehen. Nach 
Berfaffung der lutheriſchen Gemeinfcaft ruht die chriſtliche be 
ſtaltung der Einzelgemeinde weſentlich in dem geiſtlichen Amt, dd 
in ‚Einer Perſon erſcheint, welcher die Lehre, Spendung ber Sarg 
mente und Verwaltung ber Kirchenzucht übertragen ift; bie Ein 
regierung, die biichöfliche, tritt mehr hervor, die Gemeinde dd 
deren Vertreter werden nur hülfsweiſe in’s Mittel gezogen. de 
Berfoffung der reformirten Gemeinſchaft ftellt das Amt m 
Lehre nur als eines der Gemeindeämter bin und hat neben 
Ishrenden auch regierende umd dienende Glieder; daher die collepi 
presbpteriale Form mehr hervortritt, und die gegliederte Gemen 
den Ausgangspunkt bildet. 

Aus allen diefen Orundfägen leitet Fine zum Weiterbau dr 
Verfaffung und zur Förderung des chriftlichen Lebens folgende &r 
forderniffe der Gliederung unferer Gemeinden ab: 1) Sichere Ge 
winnung wirklich wmiündiger Gemeindeglieder; fie wird durd le 
Vorbereitung zur Eonfirmation und durd Offenbarung und Uebux 
chriſtlicher Lebensthätigkeit vollzogen. Ohne -fpätere Confirmatin 
im fünfzehnten bis ſechzehnten Jahre, ift eine wirkliche, Tchendin, 








aus dem Nachlat von Ernſt Friedrich Fint. 518 


achhaltige Cingliederung in die Gemeinde nicht zu erwarten. Die 
jollendung der Miündigkeit muß mit dem Eintritt in die Ehe oder 
m Alter von fünfundzwanzig Jahren zufammenfallend angenom- 
en werden; diefer Eintritt aus der Zahl der LXeiftenden in die 
r Leitenden geſchieht durch Aufnahme in das Verzeichniß der zur 
dithulfe bei Ordnung des chriftlichen Lebens berechtigten Mitglieder. 
) Richtige Befegung der Gemeindedienfte. Wenn zu den Mit- 
iebern. Alle gerechnet werden, die fich nicht thatfächlich und an⸗ 
fanntermaßen vom Chriftenthum losgefagt, fo muß von den in 
e Leitung der Gemeinde als verordnete Diener zu berufenden na» 
wich mehr verlangt werben; fie müffen in ihrem chriftlichen Sinn, , 
Yandel umd Wirken amerfannt fein, - ein geiſtliches Stenercapital, 
zen in Bewegung befindlichen Grundſtock chriſtlicher Gaben und 
häfte befigen. Sie werden aus Denen genommen, die ſchon frei- 
ige Leiſtungen vollbracht Haben. Die Erneuerung des Helfer» 
tes neben dem Amte der Aelteften ift ein nothwendiges Erfor- 
miß richtiger Ordnung der Gemeindedienfte. Für das Helferamt 
ähft der Aelteftenrath die tauglichften Leute aus, und aus ber 
ihl der Helfer, die ſich durch mehrjährigen Dienft bewährt haben, 
trben durch die felbftändigen Gemeinbeglieber bie Aelteften ermählt. 
ı Die geordnete Einfügung der Gemeinde in das Ganze der Kirche; 
: gefchieht durch Kenntnißnahme ber Gefammtheit von dem Stande 
rt Einzelgemeinde in der Bifitation und durch Theilnahme der 
hgeordneten der Gemeinde an der kirchlichen Verfammlung des 
tzitkes. Zwiſchen ber Heineren Bezirksſynode und der Landes» 
node muß eine Kreisfynode ftehen zur Vorbereitung der Verhand- 
ngen der Landesfynode. Die Mitglieder der höheren Synode 
erden aus ber Zahl der Mitglieder der andern bei beren Ber- 
mmlung gewählt, fo daß die, bewiefene Liebe und Sachkenntniß 
t niederen greife zur Mitarbeit im höheren befähigt. 

Auch von Fink's wiſſenſchaftlicher und ſchriftſtelleriſcher Thatig ⸗ 
it gibt ung der Herr Verfaſſer ein Bild (S. 83—87), das als 
n mahnendes und ermunterndes Zeugniß gelten Tann, wie auch 
n vielbefchäftigter praftifcher Geiftlicher auf diefem Gebiet rüftig 
tzuarbeiten vermag. Neben dem fleißigen Studium und der 








574 Ehrenfeudter 


Excerpirung der bedeutenderen theologifchen Erfcheinungen, betheiligte 
er fih auch producirend theils durch Heinere Schriften, z. B. die 
Biographie feines Freundes, des verftorbenen QJudenmiffionare 
J. A. Hausmeifter in Straßburg; ein Sendſchreiben an Statt: 
director Burger in Freiburg aus Anlaß des Conflicts zwiſchen der 
babifchen Regierung und dem Erzbifchof von Freiburg, — teils durch 
Arbeiten in theologiſchen Zeitfriften und Kircdhenzeitungen. Ju 
den „Studien und Kritiken“ ift außer Früherem in den Leiten Jeh⸗ 
ren eine Abhandlung von ihm erſchienen: „Die reformirte Kirk 
der Niederlande und die Groninger Schule". Der Piper’fche % 
Tender hat mehrere Biographien von ihm. Bejondere Sorge 
‚verwandte er auf die Herausgabe ber Hauskirche“ (Heidelben 
1850 u. 1852); fie enthält im erſten Theile einen Bibellalendet 
und Gebete, namentlich ein Kranfenbüchlein und eine Krankenbikk; 
im zweiten eine Chriftenlehre und Chriftenlieber, worin er eina 
auf dem Studium der bisherigen Katechismen ruhenden Katechismu— 
gibt. Manche Arbeiten von ihm find im Manufcript gebliche, 
von welchen uns der Herr Herausgeber eine Auswahl mittheil 
Wir finden bei diefer, außer dem ſchon Erwähnten, und zwar u 
Thefenform, Philoſophiſches, „Stellungen“ (über die Stellung de: 
DMenfchen zur Welt und zu Eprifto), fodann „Menfchentgum un 
Chriſtenthum“, 75 Säge zum Nachweis, daß das Meenjchentkum ı 
im Chriſtenthum verflärt, das Chriſtenthum die höchfte Form &# 
Menſchenthums ift, und daß, wer Menſchenthum will, auch Chriſten 
thum wollen muß. Aus dem perfönlihen Bedürfniß, alles Eir 
zelne im Zufammenhang mit dem Ganzen anzufhauen, ift dir 
feine Gedankenarbeit auf philofophifhem und theologiſchem Ga 
hervorgegangen und trägt darum auch das eigenthümliche Geprüg 
feiner Gebanfenwelt. Für Andere werden ſich die von ihm af 
geftellten Kategorieen nicht immer mit den Sachen dedfen. Deſſen 
ungeachtet wird Jeder in der „Sfigze einer Ueberſicht über dat 
Syſtem der Theologie“ eine Iehrreiche und anziehende Frucht find 
ſinnenden und ordnenden Geiftes erfennen. Es umfaßt hiernad die 
Theologie die Chriſtenthumslehre oder philofophifche Theologie (Apr: 
Togetit, Thetit und Polemik), die Kirchenthumslehre oder hiſtoriſcht 








aus bem Nachlaß von Ernſt Friedrich Fink. 575 


Theologie, und die Kirdjlichkeitlehre oder praktiſche Theologie 
Kirchenpflege, Kirchenverwaltung und Kirchenrecht). Außer den 
anderen ſchon angeführten theologifchen Arbeiten find noch abgedruckt 
sier Abhandlungen über Union und Abendmahl, über die Predigt 
m Kirhenjahr, über die Behandlung der Unterſcheidungslehren im 
Tonfirmationsunterricht umd über kirchliche Ausfichten aus dem 
Jahre 1847; endlich etliche Predigten, in denen ſich fein Verhäft- 
tß zu den Gemeinden in Leutesheim und Illenau wieberfpiegeft. 
Im Jahre 1856 Hat ihm die theofogifche Facultät zu Heidelberg 
& Gelegenheit der Jubelfeier zum Gedächtniß der Reformations- 
inführung in Baden den theologifchen Doctorgrad honoris causa 
ttheilt. Sein Antwortfchreiben an bie Facultät enthält fein theo- 
siihes Glaubensbekenntniß, in welchem er unter Anderem fagt: 
MS die Aufgabe der Theologie erfcheint e8 mir, die Frömmigkeit 
nd den Glauben in ihrer Einheit mit dem Wefen der Menfchheit 
s erfennen, die heiligen Urkunden der Cpriftenheit mit Verſtand 
nd Gemüth zugleih in freier wiſſenſchaftlicher Forſchung zu er⸗ 
ründen und immer neu darzuftellen, die Kirche in ihrer Tebendigen 
eblichfeit anzufhauen, und die in der Entwicklung hervorgetretenen 
Jegenfätge ber Lehre und des. Lebens nicht durch Verſchärfung noch 
fter, vielmehr in ihrer Einheit: dem Leben des Ganzen dienftbar 
ı machen, und in der kirchlichen Ausübung‘ darauf zu wirken, daß 
18 Chriſtenthum, ftatt nur eine Sache des Denkens und der Schule, 
elmehr eine Sache des Gewiſſens und Lebens werde, eine That 
r Tebendigen Gemeinde in allen ihren Gliedern“ (©. 71). 
Einen hervortretenden Zug in Fink's Perfönlichkeit vepräfentiren 
ih die S. 97—146 mitgetheilten Gedichte. Tiefe finnige 
edanken, Glaubensfreudigkeit und ein Herz voll Liebe ſprechen 
18 aus denſelben an, neben einer großen Formgewandheit. Diefe 
iabe berührte ſich bei ihm mit einer ausgefprochenen gefelligen 
habe, welche ihn nicht blos im Verkehr liebenswürdig und heiter 
feinen ließ, fondern auch in reichem Maße der Anftalt zu gut 
m, an welder er arbeitete. 

Der Lebensabriß Fink's umfaßt zwar nur 94 Seiten, allein der 
err Herausgeber hat es verftanden, auf diefem Meinen NRaume 





876 Ehrenfeuchter, ans dem Nachlaß von Ermft Friedrich Fiul 


das Gefammtbild diefer reich und mannichfaltig ausgerüſteten Ber 
ſonlichkeit fo wiederzugeben, daß man alfe Züge derfelben in trenr | 
und dem anfpruchslofen Sinn bes Heimgegangenen entſprechender 


Dorftelfung wieberfindet. 


Seht TI, ©. 208, 3. 5». 
von 28, „20. 
»nn20,,. Ivo 
vn» 221,22 0 
„nn 2338, „ Bo 
on im Td 


[3 
u. lies 
[3 


Oberkirchenrath 8. Mühlhäußer, | 
Pfarrer in Wilferbingen. 


Beridfiguugen. 
u. fies: mäfle fatt müßte. 
: Ergreifen. 
Grundzng ſtatt Grundjag. 
orterrefacte. 
: Unterfiäwadien. 
Ges: Han» reißen. 









verther· Bucdrnderei in Gotha. 


Im gleichen Verlage ift erfdjienen: 


kremer, Dr. H., Biblifch-theologifches Wörterbuch der 
neuteftamentlihen Gräcität . 

Hier, Dr. ©., Zur Arbeiter- und Dienftboten -groge. 
Ein chriſtl. Wegweifer f. Arbeitgeber u. Arbeitnehmer 
NB. 100 Erempiare dieſer Schriſt, in ften Pappbedel ge- 
bunden, Tiefere ich an Vereine ıc. für fieben Thaler, 
Hbemeifter, Dr. €. H., Joh. Georg Hamann's, des 
Magus im Norden, Leben und 

Schriften. 5. Band. 

Daffelbe compfet. 5 Bände 

— — Briefwechſel Johann Georg Hamann's 


mit Friedrich Heinrich Jacobi. 


ds Spedter Fabeln mit engliſchem Text, überſetzt von 
Sophie Klingemann . 
Daſſelbe in Eallio. . . 
_ — mit franzöfifchen u Meet von 
Cuvier . . . 
Daffelbe in Gallien . 
Übergallerie aus Hey» Spedter Fabeln . 
apfelb, Dr. ® Die Pfalmen. 2. Auflage, Grrausgegeben 
von Dr. E. Riehm. 2. Bad... 
1. und 2. Band 
loſtermanun, Dr. A., Die Hoffnung künftiger Erlöfung 
aus dem Zope b bei ben Srommen des Alten 
Zeftaments. . . - nen 


3 


1% 
* 


Otto, Fr., Das Abendmahlsopfer der alten Kirche 
Negiſter der Theolog. Studien und Kritiken über die Jahr- 

gänge 1858—1867 . . . .. .. . — 16 
Tholud, Dr. A., Das Alte Teftament im Neuen. 6. Aufl. — 1 
Trümpelmann, Aug., Die römiſche Frage vom firhlid-e 

nationalen Standpunkte. Zweiter Abdruf . . — lo 
Unvergãngliche, Das, in den Beʒehungen Bein 

und Philofophie . . . . —9 


Unter der Preffe befindet fich und iſt der Vollendung nahe: 


Bobemaun, Fr. W., Die Verbreitung chriftliher Schriften, injon- 
derheit die chriſtliche Colportage. 

Die Jugendjahre des Prinzen Albert von Sachſen⸗Coburg⸗ Gothu 
Prinzgemahls der Königin von England. Unter Anleitung 
J. Maj. der Königin Victoria zufammengeftellt von General: 
Lieutenant Hon. Charles Grey. Ins Deutfche übertragen 
von Dr. Zul. Free. 

Chriſtern, Dr. Wilh., Verfuc einer pragmatifchen Bildungs: un 
Entwicklungsgeſchichte der Evangelien. 

Meyeringh, 3., Zum Kampf und Frieden. Vier academifche Bor- 
träge und funfzig Aphorismen von Dr. J. %. van Ooſterzee 
Prof. der Theol. zu Utrecht. Ein Beitrag zur Charatterift! 
der gegenwärtigen Bewegungen auf theologiſchem und fird- 
lichem Gebiete. 

db. Polenz, Dr. ©., Der franzöjische Calvinismus. 5. Band. 

Schulz, Dr. C., Die Union. Eine gefhichtliche und dogmatiſcht 
Unterſuchung. 

Winter, Die Ciſtercienſer des nordöſtlichen Deutſchlands bis zum 
Auftreten der Bettelorden. 

Zahn, F. M., Ein Gang durd die heilige Geſchichte. 





Juhalt der Theologiſchen Studien und Kritiken. 
Dahrgaug 1865. Zweites Heft. 
Abhandlungen. J 
Riggenbach, über die Rechtfertigung durch den Glauben. 
. Gr008, über den Begriff der xgloıs bei Johanues. 
Wahl, über die Seeleulehre Meifter Eckhart's. 
Gedanfen und Bemerkungen. 
‚ Röhricht, zur johanneiſchen Logoslehre. 
Necenfionen. 
Gaab, der Hirte des Hermas; rec. von Zahn. 
„Graf, die gejchichtlichen Bücher des Alten Teftamentes; rec. von Riehm. 
.Tischendorf, Appendix codicum celeberrimorum Sinaitici Vaticani 
Alexandrini etc.; rec.;von Laugent. 
Miscellen. 
hogrammı der Haager Geſellſchaft zur Vertheidigung der qriſtichen Religion 
für das Jahr 1867. 


Inpalt der Zeitjgrift für die hiſtoriſche Theologie, 
Dahrgang 1868. Zweites Heft. 

D. Beiträge zur Holläudifchen Kirchengeſchichte. Bon F. Nippold. 

IV. Die Familie Calas und Voltaire, der Retter ihrer Ehre. Dargeftellt von 
Dr. Herzog in Erlangen. 

V. Die Verfolgung des Jeremias Braun von Bafel, Prediger in der Sand- 
ſchaft Toggenburg (St. Gallen), im Jahre, 1663. ‚Ein Beitrag zur 
Geſchichte der Verfolgungen der Proteftanten in ber Gchweiz. Bon 
J. R. Linder, Pfarrer in Regoldswyl in Bafelland. 

VI. Die Bedeutung Johann Tennhardt's. Bon Friedrich Klemme, Pfarrer 
zu Kirchhaiu in Kurheſſen. " J 

U. Eine Bemerkung zu Luther's Briefwechſel. Bon Lic. Foerſter, Prediger 
und Infpecior am aan Domeandibatenfift zu Berlin. 




















Beiis von Rudolf Befler in Gotha. 


dahrbücher für deulſche Vheologie 


1868. Band AXIII, Seit 
"alt: Steitz, die Abendmahlslehre der PA Kirge in ihrer geſchicht · 
lachen Tutwickelung. (Fortfegung) —. Kitſchl, Geidichtlihe Studien 
zur griſtlichen Lehre von Gott. (Bieiter Artitel.) — Pfleiderer, über 
die Compofttion der efdjatologifchen Mede Matih: 24, Aff. — An- 
zeige von 19 neuen Schriften. 


Verbag von 9. A. Brockhaus in Keipig. 


Soeben erigien: 
ibel- Sexikon. 


Realmörterbud zum Handgebraud 


für Geifttige und Gemeindegließer. 
In Verbindung mit Dr. Bruch, Dr. Bieflel, Dr. Dlmann, Dr. Feikfee, 
Dr. &af, Lie. Yausrath, Dr. Bikig, Dr. Yolgwmann, Dr. Wein, Dr. Yipfe, 
Dr. Acrr, Dr. Weuf, Dr. Hoskoff, Dr. C. Schwarz, Dr. A. Idee 
und andern der nambaftefen Bibelforſcher 
herausgegeben vom 
Kirchenrath Profeffor Dr. Baniel Schenkel 
Mit Karten uud in den Wext gebrudten Abbiſdnugen iu Bolzſchuit 
" Erſtes Heft. 8. Geh. 10 Nor. 
Das erfte Heft nebſt Proſpeet ift im allen Buchhandlungen vorrätig, 
und werden dafelbft Unterzeichnungen angenommen. 





In der Dieterich’schen Buchhandlung in Göttingen x 
erschienen: 
Müller, H., Rustiei Eipidii Carmen de Christi Jon 
Beneficiis. gr. 4. 8 Ngr. 





Im Verlage von Gerh. Stalling in Oldenburg erſchien: 
Gedanfen und Anlagen 
zu Predigten 
über Pericopen und andere Texte, ſowie zu Gelegenheit 
reden, zum Gebrauch, für Geiftliche und Lehrer, aud fir 
Zuhörer zur Erinmrung, 
don 


A. 3. €. Wallroth, 
gr. 8. geh. 1 The. 17%: Ser. 





Ian Berlage von S. ©. Lielching in Stuttgart erfhien forben: 


: Kirchliche Glaubenslehre. 


on 
Dr. 3, A. Philippi, 
Vrofeffor der ‚Theologie in Roflod. 


Fünfter Band. Die Zueiguung ber Gottesgemeinſchaft. 
Erfte Abtheilung: Bie Jehrt von der eilsordnung. 
gr. 8. Geh. Preis 1% Thlr. 

Bei dem in der Natur dee Sache begrfimbeten langſamen Vorſchreiten dieſes 
ichtigen Werkes ift dem Käufern defielben das Erſcheinen einer neuen Abthel- 
mg doppelt willfommen, und es freut uns, für das Jahr 1868 abermals 
am weiteren Band in Ausficht ftellen zu fönnen. 

Im vorigen Jahre ift daneben auch der zweite und dritte Band in 
weiter durchgeſehener Auflage erſchienen. 

Bir geben nachſtehend eine Ueberficht der außer obigem bis jet erichienenen 
Yeife: 

L Grundzüge oder Prolegemena. Zweite verbefierte und durch Ereurſe 
vermehrte Auflage. 1 Thlr. 18 Sgr. 

1 Die uriprünglice Gottesgemeinfhaft. Zweite Auflage. 1Thlt. 20 Sr. 

Gotteögemeinfaft. A. u. d. T.: Die Lehre von 

om Satan und nom ode. Zweite Auflage. 
1 The. 24 Sgr. 

Y, 1. Die Wiederherſtellung der Gnttesgemeinfäeft. 1. Hälfte: Die Tehre 
von der Erwählung nnd von Chrigi Perfon. 2 Thlr. 4 gr. 

VJ, 2. Die Wieberherfiehung der Gottesgemeinſchaft. 2. Hälfte: Die Tehre 
von Ehrifi Werk. 1 Thle. 24 Sgr. 











In der Fr. Wagner'ſchen Buchhandlung in Freiburg i. B. 
ſchien foeben: \ 

Wörter, Dr. 3. Zurückweiſung der jüngften Angriffe 
auf die dermalige Vertretung der Tatholifchen Dogmatik 
an ber Univerfität Freiburg. 

Preis broſch. 10 Ngr. oder 36 &r. 





Im Verlag von Heyder & Zimmer in Frankfurt a. M. if erfchienen: 


Die Weltaufhauung des Glaubens 


in einer praftifchen Auslegung des Hebräerbriefes 
von 
Dr. H. ®. Andrea. 
XII u. 419 ©. in 8. broch. 20 Ngr. 
nDiefe praktiiche Auslegung des Hebräerbriefes ift der Empfehlung würtig, 
einmal, weil fie im Ganzen und Grofen wirtlich die „Weitanſchauung da 
Glaubens“, gegenüber der „mobernen“ des Unglaubens, vertritt; fodanı, md 
fie aufs forgfältigfte den inneren Zufammenhang ber einzelnen Theile une 
einander darlegt und in ber Auffafjung des forticreitenden Gebanfengung 
manches Eigenthümliche, oder bisher wenig Beachtete, bietet; endlich, weil jr 
ſich bemüht, den Leſern die Ueberzeugung mitzutheilen, daß das ganze alte Zr 
ſtament erſt im neuen feine rechte Erfüllung und jein richtiges Berftänbniß fie 
Einer gamz befonders eingehenden Behandlung ift das elfte Kapitel umterjogm, 
weldjes nad) diefer Auslegung in der That als eine wahre Glaubeneihuk 
erſcheint.“ Rubelbad u. Gueride's Zeitſchrift 1867. 
Das Bud) ift ferner günftig recenfirt und empfohlen: im Oeſſiſchen Kiräe 
Blatt, Rei Gottes, Badiſchen Kirchen⸗ und Bollsklatt, Matäufins Belt 
Blatt und von Prof. Hundeshagen im Theologiſchen Jahresbericht. 








Perthes Bucbruderei in Gotha. 





Theologiſche 
ztudien und Kritiken. 


Fine Zeilſchrift 
für j 
as gefammte Gebiet der Theologie, 
begründet von 
D. 6. numann a D. F. W. 6. Nkreit 
und in Verbindung mit 
). €. 3. NKitzſch, D. 3. Müller, D. W. Feyſchlag 
herausgegeben 


D. C. B. Dundehayen und D. E. Riehm. 


Dahrgang 1868, viertes Heft. 





Gotha, 
bei Sriedrih Andreas Perthes. 
1868. 


Abhandlungen. 


1. 


Neber die Lehrweiſe der böhmiſchen Brüder 


In Betreff der Redtfertigung durd den Glauben 
und der Werke des Glaubens. 


Bon 


D. Hermann Flitt, 


Yufpector des Seminars ber Brübergemeinde in Gnabenfelb. 





Wir richten die Aufmerkfamfeit der Lefer hier auf ein Gebiet, 
elches im Ganzen nocd wenig genauer dogmengefchichtlich erörtert 
orden ift, die Lehreigenthümlichkeit der böhmischen Brüder-Unität, 
eſer nad) Luther's Worten einzigen Zeugin reiner Lehre in den 
kten Jahrhunderten vor der Reformation. Diefe fpät gereifte 
ruht aus der Märtyrerfant des Johannes Hus wird weniger 
achtet, theils weil jenes Kirchlein in diefer Geftalt vom Schau- 
a ber Gejchichte verſchwunden ift, theils weil fo manche Quellen 
r ihre Geſchichte und Lehre nicht Allen gleich zugänglich find. 

An und für ſich aber nimmt dieſe Erfheinung gerade als vor» 
formatorifche immer ein befonderes Intereſſe in Anſpruch, und 
18 gegenmwättig umfomehr, da fie in umferer Zeit wieder mehr in 
18 Gedächtniß der Firchlichen Welt gebracht und ihrem Verftändnig 
iganglicher geworben ift. Dies theils durch die Geſchichtsdarſtellung 
8 fatholifchen Theologen Gindely, wie durch die Arbeiten von 


» 


582 Britt 


D. v. Zezſchwitz ) u. A., theils und hauptſächlich dadurch, deß 
in Folge der im Proteftantenpatent von 1861 gewährten größeren 
Freiheit der Evangelifchen des öſterreichiſchen Kaiferftantes in den 
Mutterlanden der alten Brüder -Unität das Andenken an fie und 
die Liebe zu diefem nationalen ſlaviſch-evangeliſchen Kirchlein viel: 
fach angeregt worden ift und in Folge davon deſſen Name auf 
den Kreifen. verfchiedener evangelifcher Länder und Kirchen öfters 
entgegentritt, welche in thätiger Liebe ber bebürftigen Glaubens 
‚genoffen Böhmens und Mährens fich annehmen. Dazu komm, 
daß gerade das Jahr 1867 für die Gefchichte der böhmischen Br, 
derfirche ein Säcularjahr ift. Vor vierhundert Jahren, 1467, 9 
fich diefoßpe nach whnkihrieom Meitehen al freierer Verein zu 
als felbftändige Kirche conftituirt durch Wahl und Weihe eigent, 
Geiftlicher. Anderthalb Jahrhunderte Kat fle unter der Pflege ihret 
in ihrer‘ Mitte forgfam erzogenen Diener, deren gar manche da 
Namen apoftolifcher Zeugen verdienen, geblüht und Früchte getragen! 

So wird e8 nicht unangemeffen fein, auch im Kreife der deutj 
evangelifchen Kirche und Theologie eben jest einmal aufs New 
von diefer Arche zu reden. Wir thun bies, mach den gefhidh 
lichen Arbeiten Anderer, bier unter theologifch - dogmatiſchem Ges; 
ſichtspunkt. 

Indem wir es Andern üherlaſſen, eine umfaſſende Darftellug 
der geſammten Lehrweiſe ber bohmiſchen Brüder zu geben, greife 
wir für diesmal nur dep einen Hauptpunlt heraus, um melde: 
fich die Hauptſtreitigkeiten der Kirche im Meformationszeitalter br 
wegten, bie Lehre von der Mechtfertigung durch den Glauben a 
den Werken des Glaubens, ein Punkt, an welchem die befonke 
Eigenthumlichkeit des Lehrtropus der böhmiſchen Brüder in m 
Uebereinſtimmung wie im Unterſchied von dem reformatoriſcheu 
deutlich zu Tage tritt. Zugleich find wir der Meinung, daß dabe 
gewiffe Seiten der evangslifcen Wahrheit in Frage kommen, wel 





a) Siehe diffen Meine Schrift „Die Katechismen der Waldenſer und bohmiſen 

"Brüder u. ſ. w.“, Erlangen 1868; ferner deſſelben Artikel „Lulas ver 

"Prag und die bohmiſchen Brüder” im 20, Bande von Herzog’s Ein 
clopãdie. 





über bie Lehriveife der bohmiſchen Brüder. [3 


ac für den gegenwärtigen Standpunkt der evangelifch » kirchlichen 
ehrentwicklung Beachtung verdienen und von wefentlicher praftifcher 
hedeutung find. 

Die Lehre der böhmischen Brüber in Bezug auf biefen Gegen» 
tand erfcheint am meiften mit dem Lehrtypus der deutſchen Res 
mmation, zumtichft Luther's, übereinstimmend in ber Coufeſſion 
on 1535, wie fie ſich bei Köcher findet in einem Abdruck freilich 
ft vom Jahre 1558 *). 

Nachdem Art. 4 de peccato et ejus fructu ac sui 
psius oognitione gehandelt Kat, ganz im pauliniſch- luthe ⸗ 
den Sinne (docent ex scripturis, quod homines agnoscere 
ebeant propter hanc sui ipsorum depravationem ae corrup- 
dam et propter peccata ab hac radice nascentia dignam 
ii imminere perditionem, formidabilem Dei vindietam im- 
indere, et dignam suis factis gehennae poenam propositam 
se —), heißt es ſchon ba weiter: ad haec dooent, necessa- 
um esse, ut animadvertant omnes ac norint infirmitatem 
uam extremamque inopiam et mala, in quae ob peccata 





3) Im diefem Jahre Tief Vergerius die Confeffion wieder abdrucken nad) 
Köcher, „Ölaubensbelenntniffe der bbhmiſchen Brüder“ (Leipzig 1741, 
©. 45) und Gindely, Fontes rerum Austriacarum I, 454 sub 22. 
In feinem Geſchichtswerk (I, 496) nennt der Letztere fie (sub 14) „uriprüng« 
lich böhmiſch, wohl von Augufta verfaßt” —, „weder bie Böhmische Urſchrift 
noch die damalige deutſche Ueberjegung, in der fie wohl an Ferdinand über- 
veicht worden, ift zu finden. Die Tateimifche Ueberſetzung wurde 1535 
ſchon verfaßt, aber erſt 1538 in Wittenberg gedrudt. Sie ift unter den 
Brüberconfeffionen bie berüßmtefte geworden und verleitet mit Unrecht zu 
der Annahme, als ob fie der genaue Ausdruck des Vrüberglaubene fei. 
Weit genauer und aufrichtiger find die früheren Bekenntniſſe.“ Ferner 
©. 232. „Alles war auf den Beifall Luthers berechnet (I) 
— nur bie Bedeutung der Werke war nicht verhehlt — man 
ſollte die Confeſſion als einen Appendir der Augsburger 
betrachten.“ — Zu beachten ift jedenfalls, daß bie erfie Geftalt auch 
dieſer Eonfeffion bei Luther gerade im Punkt von der Rechtfertigung 
Widerſpruch fand — fiehe bei Gindely ©. 238. — und die Brüder 
daraufhin diefen Artikel (mebft dem vom Eölibat als zweitem beanftan- 
detem) „in einer Weiſe neu ſtiliſirten, daß fie nicht mehr dem früheren 
Zabel begegnen mußten“, 








bs⸗ plitt 


conjecti sint, quodque se ipsos nullo modo servare, nullis- 
que suis operibus aut studiis justificare possunt. Nee quic- 
quam habere praeter Christum solum, cujus fiducia a pec- 
catis, Satana, ira Dei .et aeterna morte sese redimant et 
liberent. 

Darauf folgt Art. 5 de poenitentia. Docent, poeni- 
tentiam esse, quae ex peccatorum et irae divinse agnitione 
nascitur, quae per legem Dei, primum dolores et ter- 
rorem conscientiae incutiat ete. Interim docent, 
ne sic pavefacti et territi desperent, sed ut ad Deum ts 
corde redeant, et fide in Christum, quae pars qw 
que poenitentiae est, misericordiam apprehendant de 
lentes, se peccasse. Etsi enim omni justitia vacui sint, die 
vinam tamen gratiam et clementiam implorent, ut sibi ipsi. 
misereatur et peccata condonet propter Christum ejusgus 
meritum. 2%or. 5, 21. (Diefe Buße, heißt e8 weiter, mi 
durch da8 ‚ganze Leben fortgehen „cum opus est“.) Eos etiam, 
qui sic resipiscunt, docent, quod apud Esajam scriptum est, 
ut desinant perverse agere, discant autem benefacere. Iden! 
et Johannes, praecursor Domini: facite inquit dignos fruct 
poenitentiae. Consistit autem in hoc maxime poenitentia, 
ut mortificetur vetus homo ac deponatur cum actis et con- 
cupiscentiis suis, induaturque novus, qui secundum Deun 
ereatus est (Rof. 3). Sodann werden die poenitentes an da 
Priefter gewiefen, ihm ihre Sünden zu befennen, obgleich nicht ſt 
alfe aufzuzählen, und von ihm kraft der Schlüffelgewalt nach Chr 
Einfegung die Abfolution zu empfangen, und deren Ausitbung ſi 
zweifellos vollfräftig wirkfam zur Vergebung der Sünden. Be 
nicht ſolche Buße bei Lebzeiten thue, gehe ohne allen Zweifel ver. 
foren nad) Chrifti Wort (Luk. 13, 3). Wer nad) gethaner Bußt 
wieder in den Siündendienft zurücfalle, gehe dem gleichen Schichel 
entgegen (Hebr. 10, 26). Für den rechten Bußfertigen aber get: 
fundamentum et omnem virtutem poenitentiae in merito 
mortis Christi consistere, ö 

Hierauf Handelt Art. 6 de Christo Domino et fide 
in ipsum. Chrifti Berfon als des wahren Gottes und Menfden, 
















über bie Lehrweiſe der bohmiſchen Brüder. 585 


mb fein ganzes Werk von der Geburt bis zur Wiederkunft find 
ie Grundlage unferer Erlöfung und werden durch Wort und Sa— 
rament uns mitgetheilt. Chriftus ift zwar bis zu feiner Wieder- 
anft nicht mehr Teiblich und ſichtbar auf Erden, wie er es vor 
inem Tode und nach der Auferftehung bis zur Himmelfahrt war, 
leichwohl ift er Christus ipse, verus Deus et verus 
omo, auch jegt bei uns, ratione invisibili, insensibili, sed 
nen vera et ad: salutem nostram necessaria; per hunc 
nodum] enim is in nobis operatur, ut nos in illo et 
»se in nobis sit, idque per Spiritum Sanctum et dona 
sius, quem suae visibilis essentiae. loco se missurum eccle- 
ae suae recepit (? praecepit?), per quem potentia, gratia, 
mitate et, veritate sua, qua sibi obedientes salvos reddit, 
et in ea cunctis diebus usque ad consummationem seculi. 
%. 16 und 14: Non relinguam vos orphanos, veniam ad 
s — per hunc sc. Spiritum veritatis. 

Porro docent per Christum homines gratis fide 
ı Christum per misericordiam justificari, sa- 
ıtem et remissionem peccatorum consequi, citra 
lum humanum opus et meritum. Solam itemque ejus 
ortem ac sanguinem ad abolenda et expianda omnia omnium 
minum peceata sufficere docent (Apg. 4, 12 u. a. ©t.). 
Docent ad haec, ut omnes homines ad solum Christum 
o venia et remissione peccatorum suorum, pro salute et 
ıavis alia re impetranda per omne suae vitae tempus ac- 
dant (Hebr. 4). Item docent (in eo uno fiduciam omnem 
spem defigendam esse —), quod nemo fidem hanc 
ıis viribus, voluntate et arbitrio habere potest; 
ınum equidem Dei est, qui ubi et quando illi 
sum est, eam per Spiritum Sanctum in homini- 
ıs operatur, ut ad salutem quidquid iis per verbum 
ternum et Sacramenta a Christo instituta rite fuerit ad- 
inistratum, pereipiant (Joh. 3, 27; 6, 44). 

Pergunt docendo sola fide seu fiducia in Jesum Christum 
stificari homines coram Deo, sine ullis eorum studiis, me- 
is et operibus, sicut Paulus dieit (Röm. 4, 6; 3, 21). 


586 Britt 


Et hie sextus articulus apud nos omniem maxime prin- 
eipalis habetur ut qui totius christignismi ae pietatis 
summa est. 

Art. 7 handelt dann de bonis operibns. Die aus Guaden 
durch den Glauben Gerechtfertigten follen die von Gott gebotenen 
guten Werle tun nach Matth. 28, 19, Und zwar richt, um die 
Rechtfertigung, das Heil und bie Vergebung ber Sünden ſich de 
durch zu verdienen, denn wir fpllen ſprechen: wir find unnie 
Kuchte, auch wenn wir Alles gethan haben (vgl, Röm. 3, 20), 
1. Sed facienda ideo bona opera docent, ut par ipsa appıe 
betur fides, sunt enim bona opera certa testimonia, sigug 
cula et indices latentis intus vivae fidei et fruetus ejusde 
per quos dignoseitur arbor bona aut mala (Matth. 7) 
2. Item, ut per ea firmam certamque efficiant suam vo 
tionem atque in ea sine peccatis rerventurp (2 Betr. 1, 51! 

3. Hanc etiam ob causam bona opera fieri docent, ut abı 
subministretur introitus in aeternym regnum atque inde 
piosior merces a Deo referatur (ibid.). 

Dem Inhalt nad) find es weſentlich Werke der Riebe (eit, Luf. 
und Matth. 25) und haben als ſolche ihren Werth vor Gut 
operg ergo in fide facta placent Deo et suam zneı 
habent in hac- vita et in future. Aber die reiten guten 
find eben auch nur diefe im Namen Chrifti durch dem 
gethanen, nad) Joh. 15; sine me nihil potestis facere, se. qı 
Deo gratum vobisque ad salutem profyturum sit. 

Item docent, fidem et charitatem, quae dilectio est um) 
Dei tum proximi, fontes esse omnium virtutum et honora 
operum, (In der deutſchen Ausgabe ift dies jo wiedergegeben; 
Im Namen Chrifti aber gute Werke thun, heißt Ddiefelben thu 
im lebendigen Glauben an ihn, dadurch wir find gerechtfertigt; 
auß Liebe, welche durch den heiligen Geift in unfer Herz as 
gegoffen. Nämlich dag ung Gptt liebet, und wir wiederum Geil 
den Herrn und unfere Nächten), Zuletzt heißt 68; 

Docent präeterea, neminem esse, qui praesepta a De 
opera faotis explegt. Neminem item esse, qui non pecret 
qualibet studiose se in bonis operibus et lege Dei exerceat: 















Über bie Lehrweiſe ber böhmiſchen Brüder. 667 


icut scriptum est: Non est homo ullus in terra, qui ope- 
etur bonum et non peccet. Unicuique igitur in Christo 
esu perfectio legis, vita, justitia, salus ex merito et gratiæ 
jus per fidem petenda est. Quicunque enim Christum ap- 
rehenderint ac in eum se abdiderint et inclinarint, qui pro 
ani credenti legem impleyif, omnia eorum per ejus san- 
ünem eluuntur peccata, ‚sient transgressiones legis non 
»ssunt damnare credentes (Röm. 8, 1. 1Ror, 1, 30). 
Art. 10 De verbo Dei heißt es: Docent tenere discri- 
en inter vim !egis et Evangelii, quod illyd quidem sit ad- 
inistratio mortis, hoc autem administratio vitae et; gloriae 
r Christyum (2Ror. 8. Job. 6, 63). Concedunt insuper, 
wi nemg yergm fidem assequi potest, nisi verbum Dei 
Yiat (Röm. 19, 17). 
Die pentfche Ausgabe der Confeſſion von 1573 ift nur formell 
finderf aber night wejentlich, theils im befierer Ordnung der ein» 
nen Lehrfäge innerhalb der Artikel, theils durch hie und da reis 
te Ausführung und Erläuterung derſelben. Sp wurde z. B. 
Art. 4 die Sünde beſſer claſſificirt, nach „Stuffen und Glieden“: 
der pofitive Ungehorſam Adam's, „die allererſte größeft und 
wereſt fünd, deswegen der Tod über Alle herrſcht, auch über die, 
wicht gefündigt haben mit gleicher Uebertretung“ (Röm: 5); 
die angeborne Erbfünde, darin wir Alle empfangen und auf 
fe Welt geboren werden (Pf. 51, 7. Eph. 2, 3); „diefer Erb⸗ 
he Kraft ſoll erkannt werden an ber Schuld, au der böfen Art, 
igung und Pen; 3) nennet man die wirklichen Sünden, welde 
d Früchte der angebornen Sünde, jo durch die Kräft und Glieder 
Menſchen innerlich und äußerlich heimlich und offentlich aus- 
hen in Uebertretung der göttlichen Gebpt oder Verbot, dazu in 
erlei verdammlicher Blindheit und Irrthum,“ 
In Art. 5 wird von der Buße gejagt, daß fie „eigentlich aus 
hter Erfenntnig der Sünden und Zornes Gottes komme und 
veft werde, beide durch die Gefegeöpredigt von der fehuldigen 
rehtigfeit Gotted und durch die Predigt des Glaubens 
Chriſtum Jefum und feiner Heiligen Buße, bie er 
uns mit Schmerzen getan“. Ferner, daß „diefe heilſame 


588 plitt 


Bekehrung — weit von Eſau's und Judas' Buß unterſchieden — 
Habe eigentlich ihren Urſprung und Ankunft aus der Gab Gottes 
“und jtrafpredigt göttliches Worts wider die Sünde und fei herz 
liche Furt und Schreden für Gott und Entfegung mit Reu und 
Leid für feinem wahrhaftigen ftvengen Gericht und ernfter Rad.“ 
Aber es wird auch — in Beziehung auf das. zweite, evangeliſche 
Moment — bezeugt, „daß Ambrofins fage: Keiner kann rechi⸗ 
ſchaffne Buß thun, er Hoffe denn Gottes Erbarmung". 

In Art. 6 wird auch das Wefen des Glaubens näher 
ftimmt, als „ein willig Herz gegen alle göttliche Wafre: 
heit im Evangelio verfündigt, dadurch der Menſch 
finn und gemüth erleuchtet wird, auf daß er feinen Gott, den 
Jeſum Ehriftum, recht erkenne, für feinen einigen Heiland anneh 
auf ihn als den rechten Fels feine Seligkeit gründe, ihn 
liebe, nahfolge, genieße, in Ihm allein feine Hoffnu 
und Bertranen ſetze, fi dadurch aufrichte und der tröftli 
Zuverſicht fei, daß er um feiner und feines Verdienftes willen ei 
gnädigen, gütigen und milden Gott habe u. f. w.“ 

„Diefer einige Glaube und das Herzliche Vertrauen auf —F 





Jeſum unſern Herrn rechtfertigt oder macht gerecht den Menſt 
vor Gott ohn all fein Zuthun, Werk oder einig Verdienſt.“ „U 
diefe Rechtfertigung ift die Vergebung der Sitnben] 
die Benehmung der ewigen Bein, fo Gottes ftreng 
Gerechtigkeit erfordert, die Bekleidung im Ghril 
Gerechtigkeit oder derfelben Zurehnung, die Ba 
fühnung mit Gott, die Annehmung zu Gnaden, du 
welde wir find angenehm gemadt in dem Gelicht 
und Miterben werden des ewigen Lebens. — Darad, 
des zur Beftätigung und neuen Geburt, das Pfand des heilige 
Geiftes und andere Gaben gefchenft und gegeben werden, aus ur 
endfiher Gnaden um Chrifti, feines Todes, Blutvergießens un 
Auferftehung willen (Röm. 4. Gal. 4).“ „Denn melde Gm 
rechtfertigt, denen gibt er den heiligen Geift und neugebieret fe 
anfänglich durch denſelben (Ez. 36, 26).“ 

Der Paffus über Chrifti gegenwärtige Verhältniß zu den Seinen 
bildet hier den zweiten Theil, eingeführt durch die Worte: ‚is 





Über bie Lehrweiſe der böhmifchen Brüber. 589. 


eſem Artikel lehret man fonderfich und nothwendig, zu umgehen 
el ſchädliche, antichriftifche Verführerei, von der Gegenmwärtigkeit 
heifti — und weiterhin wird noch beftimmter aud) das geleugnet, 
Ber jegt gegenwärtig fei auf Erden „in dem verklärten Weſen, 
{des er im der Auferftehung überfommen, darin feinen Jüngern 
fhienen, und am vierzigften Tag nach feiner Auferftehung offent- 
h dor ihnen gen Himmel gefahren ift“. 

Art. 7 von den guten Werken ift wefentlich übereinſtim- 
md, nur mehr ausgeführt. 

Sieht man dieſe unter dem Einfluß der deutfchen Reformation 
Htandenen Belenntniffe an, fo würde man, wäre ung weiter nichts 
halten, gar nicht begreifen, wie, befonders nach Gindely, Lukas 
x Prag am Anfang der zwanziger Jahre ſich fo an Luther’s 
Nifertigungsehre könne geſtoßen haben, daß die nähere Verbin— 
ng zwifchen beiden Theilen zehn Jahre lang nicht zu Stande 
n, und das umfoweniger, da berjelbe Lukas nach demfelben Gin- 
4 früher im den achtziger und neunziger Jahren gegen bie Heine 
ztei und ihre Lehren im Geift des Peter von Chelziz diefelbe 
Ötfertigung duch den Glauben allein fo eifrig Habe verfechten 
men (vgl. Gindely I, 62f., Synode zu Brandeis 1490; - 
S. 188f.). Zum Mindeften müßte man auf eine große Un- 
erheit und Unfelbftändigleit des Standpunftes der alten Brüder 
dieſer Beziehung fchliegen. Denn hier ift faft das einzige, 
8 von dem veformatorifch-Tutherifchen Lehrtypus abweicht, . die 
tonung des Werthes vor Gott und der Bedeutung für unfer 
il, welche die im Glauben gethanen guten Werfe der Wieder⸗ 
orenen Haben; indeß findet dies wenigftens in dem Philippismus 
er Zeit einige- Anfnüpfung. Cf. Melanchthon, Loci theol. 
1558 de bonis opp., p. 257sqq.; de tertia quaestione — 
omodo placent Deo bona opera? — per fidem ob media- 
em; wo nur das, was die Brüder an den Schluß ftellen, daß 
e Werke in fich ftets durchaus ungenügſam und durd die Sünde 
tört feien, nachdrucksvoller voranfteht; und de quarta quae- 
»ne — propter quas causas facienda sunt bona opera? — 
269sqgq.): necessitas a) mandati, debiti; b) retinendae fidei 
£.190h. 3); c) vitandi poenas, — wobei es heißt: ac repudiatur 


590 Britt 


illa frigida cavillatio, qua reprehenduntur benefacta metu poe- 
nae; facilis est responsio piis, qui sciunt, ejusdem facti multas 
esse causas et ordinatas; dies nimmt den größten Raum ein. — 
dignitas, niet daß die Werke in fic) eine ſolche Hätten, Be 
gebung der Sünden brächten oder „pretium ‘“ sint vitae aeternae, 
ſondern weil der Glaube dadurch bewährt und Gott im der Menſch 
heit verherclicht wird. — praemia, spiritualia et corpotala 
in hac vita et post hane vitam, abet nicht die Seligkeit 
felbft, weder zeitlih nod ewig. 

Gleichwohl zeigt fich ſchon Hier der Unterſchied, dag bie Brüig 
eben auch das Heil felbft als jenſeitiges mit bedingt 
laffen dur) die nova obedientia. Hier weichen fie auch 
Melanchthon ab. Und dies ift ber Punkt, von dem fir 
und Leben, auch in geſchichtlicher Hinfiht, nach allen. Seiten 
ein klares Licht ſich werbreitet. Doctor Philippus and die Bi 
find fih nahe gerüdt, aber won dogmatifd urfprängli 
verſchiedenen Standpunften aus. Melanchthon Kat 
vom der wofpränglichen futherifchen Bofition des sola fide 
mühfem durchgerungen zu der fo ſtark verffaufulirten Merk 
der Nothwendigkeit und Wichtigkeit der nova obedienitia, bei 
opera; die Brüber weichen gerade in biefem Punkt nie ganz u 
einem ihnen urfprünglich tiefeigenen Sag und haben ſich von ih 
früheren Anſchauungen and) ihrerfeits nur allmählich und nicht 
Kampf durchgerumgen zu den Ausfagen, welche wir fie hier ü 
das sola fide thun hören. Darm hat Melanchthon, was 
Leben betrifft, die von den Brudern in der lutheriſchen Kirch i 
ſchmerzlich vermißte diseiplina nicht hervorgerufen und Berdorris 
Können, während fe diejelbe nur wider Willen durch die Macht id 
Zeitgeiftes nach und nach auch Ar ihren Kreife etlahmen und endlid‘ 
entſchwinden ſahen. Eben die hereinbrechende fleifchkiche Zreihet 
de8 Lebens hatte feiner Zeit einen Lulas, der den Römijchen ut 
ber gejeßglichen „Heinen Partei” gegenüber das sola fide verfodt. 
nachdem er damit durchgedrungen war, bedenklich gemacht, auf dieies 
Wege fortzugehem, mb dadurch war auch be) dogmatiſchen Stant: 
punfd der Brüder-Unität, fire die Zeit ihrer felbftändiger Aus 
bildung zumal (15001532), eine ehr beſtimmte und eigenthüm 



















über die Lehrweiſe der bohmiſchen Brüder. 591 


ihe Färbung gegeben, welche' in dem foeben Hervorgehobenen Lehr⸗ 
unkte auch fpäter fich immer noch deutlich durchfühlen läßt. 

Die möthige Mlarheit tiber biefe ältere Geftalt der Lehre der 
Iräder» Unität in Betreff der Rechtfertigung geben uns bie Con- 
ffionen ans der bezeichneten Periode. ö 
In dere Belennttiiß an Konig Wladislaw ) von 1504 heißt es 
gen das Ende des Eingangs: Viva fides — am die göttlidhe 
zahrheit, wie fle durch den Heiligen Geift offenbart, danm in der hei- 
gm Schtift durch deufelben Heiligen Geift niedergelegt, im apofto- 
ſchen Symbotum zufammengefaßt, von der Kirche bewahrt, und 
währt im Lehre und Leben, befonders durch das nicäniſche Concil 
der Athanaſius und duch deſſen Nachfolger weiter ausgeführt 
kb vertheidigt iſt — universale est fundamentum salutis hu- 
Inae, quae fides dono Spiritus Sancti meritoque gratiae 
htisti prineipaliter Jargitur (?), in ecclesig vero voce evan- 
jica ac veritatis verbo ministerialiter annuntiatur, sacra- 
entis quoque ecclesiasticis exemplariter confirmatur. — 
ieſer Tebendfge Glaube wird dann in alfen Artikeln aufgeführt 
der von den Schofaftifern, 3. B. dem Lombarden, her gebräud;- 
hen dreifachen Zorm: credere de Deo — Deo — in Deum; 


») Bol. bei Lydius, Waldensia II, 1sqg. Diefe Eonfeffton gehört in 
das Jahr 1504. Denn im vierten Theil des fpätesen Apologie (1588), 
der dom Sacrament des Altars handelt und auf bie früheren dahin ein- 
ſchlagenden Zeugniffe der Brüder Bezug nimmt, leſen wir (bei Lydius, 
p. 256): „Sub annum vero Domini 1504 ad Wladislaum Bohemiae 
et Ungariae etc. Regem in hunc modum .... confitemur etc.“ Um " 
die darauf folgenden Worte ſtimmen ganz genau überein mit denjenigen 
über die Euchariſtie im achten Artikel dev Confeffion, von welder wir 
Hier ſprechen (cf. Lydius II, 10). Dagegen ſtinunt jenes Citat nicht mit 
den Stellen über die Euchariſtie in der Oratio excusatoria Regi Wla- 
dislao missa von 1507 — dies Jahr wird a. a, D. bei Lydius p. 296 
genannt — und in der Excusatio contra bins Hiteras D. Augustini 
(1508). Bol. bei Lydius bie erfte Stelle II, 26 qq., die zweite p. 66sgg. 
Ich zweifle daher, daß v. Zezſchwitz mit dem Recht Bat, was ex in feiner 
Schrift über den Katehismus der Brüder (S. 91), über die Titelver- 
wechſelung ber Eonfeffionen von 1504 und 1507 fagt und wonach die erfte 
in das Jahr 1503, die zweite in 1504 fallen foll. 


592 vlitt 


das erſte in Bezug auf die Wahrheit feines Weſens, das zweite 
in Bezug auf die Wahrheit feines Offenbarungswortes, das dritte 
in Bezug auf die Bedeutung und die Abſicht diefer Offenbarung, 
indem wir uns das aneignen, was Er uns gibt, und ung Ihm 
hingeben in Herz und Leben. So z. B. in Art. 2: 1) De 
Christo sapientia aeterna credimus, verum unicum Deun. 
aequalem in divinitate patri ac spiritui sancto potestate 
sapientia et bonitate, vitam aeternam esse, perpetua gene 
ratione ex patre procedere, per quem fecisse et secula hand 
ambigimus etc. 2) Christo Jesu annuimus, dummodo jus 
ejus, quae nos ad credendum in eum, fidendum, diligendur 
que pro vita gloriae adeunda obligant, vera ac fidelia die, 
mus esse. 3) In Christum autem credimus, quomodo Deut 
et salvatorem nostrum cognoscentes, omnes ejus —*8* 
plena fide amplectimur, ipsum quoque perfecta cha, 
ritate diligentes, cum fidis ejus membris in fidı 
amore copulamur. — Hier ift der „lebendige Glaub‘ 
der Liebes glaube und zwar in der Doppelbeziehung des Geh 
Ehrifti, gegen Gott und die Brüder; der Begriff der „perfect 
charitas“ wird ohne Arg gebraucht. Ganz nach ſcholaftiſch 
Ausdrud wird diefer Glaube in Art. 4 (von der Kirche) aud al 
fides formata bezeichnet: Eadeın formatae fidei plenitudin 
eredimus ete. —, wobei die Kirche doppelt beftimmt wird: a) 
numerus omnium &leetorum "aller Zeiten (nah J. Hus) di 
ift fie ratione fundamenti fidei vivae. Dagegen b) ratis 
ministeriorum dispensatorumque ift. fie congregatio omniı 
ministrorum (der Begriff des Clerus im römifchen Sinn) » 
populi obedientia subjugati. In jenem Sinn ecclesia nen 
nem damnandum continet, in biefem Sinn, als ecclesia mistı 
servat ad tempus praefinitum judicii extremi eos, qui ei 
maligno prodierunt etc. 

Wenn hierauf (Art. 5 u. f. m.) von den Ministeriis ecelesia 
gehandelt wird, fo ift zuerſt das Evangelium Chrifti als das pri- 
mum potissimumgue ministerium ecclesiae catholicae bezeidhne:. 
ſowohl al das Wort vom Kreuz, oder vom Heilswerk Chrift. 
wie auch als die gefunde Lehre von unferer Aneignung dieſe: 








über bie Lehrweiſe der böhmischen Brüder. 598 


3ahrheit zum Heil durch den Glauben (verbum sani dogmatis, 
ao veritas salutifera „in sensu fidei cognoscitur“, 
x qua notitia homini boni desiderii vita gratiae 
loriaeque administratur). Dann folgen die fieben Sacra- 
ente als für die Kirche heilſame Inſtitute, quibus populo cre- 
alo promissa Dei impleta esse significantur ete. — Nach- 
m dieſe Artt. 6—12 abgehandelt find (Art. 11 de poenitentia 
psorum betont die richterliche Entſcheidung und Wirkſamkeit des 
rieſters kraft der claves Christi fehr ſtark, dringt aber ebenfo- 
hr auf wahre Herzensbuße), folgt Art. 13 Communio san- 
oram, wo biefelbe definirt wird als -gemeinfamer Genuß der 
itlichen Gnade und gegenfeitige Handreihung in Kraft derfelben 
m Seiten der electi verae fidei, gratiae, justitiae 
Chriſto, wogegen den malis „informis fidei‘ alle äußer- 
de Teilnahme an Kirche und Sarramenten nichts nügt. 
Art. 14 handelt de remissione peccatorum, furz fo: 
tedulitate Christi gratiae libere enuntiamus, quod qui vi- 
wi fidei communicat, eo ipso veritatem relaxationis vitio- 
ım in Christo assequitur, simulque, quia sacramentis ec- 
esiae participat, solutionem criminum in eadem fide et 
rtitudine adipiscitur; qui, si in finem vitae perduravit, 
tam gratiae hic extremi quoque tempore judicii in beata 
surrectione glorificationem animae consequetur. Amen. 
Die Oratio excusatoria ad Regem Wladislavium vom Jahr 
07 *) (Gindely, Fontes, Nr. 7) —* nichts in dieſen Lehr⸗ 
ſammenhang Einſchlagendes. 
Die Excusatio fratrum contra binas uteras D. Augustini 
| regem von 1508®) (Gindely, Fontes, sub 8: „Apologie 
© Zedermann?“) Handelt S. 52 de purgatorio, weldes ein 
eifaches fei: eins in dieſer Zeit, bibfifch begründet und gewiß 
n quo se purgant ad immortalia corpora“, das andere 
bliſch unbegründet und ungewiß, wie aud; noch Auguftin bezeuge; 
t Spätere, wie Thomas Aquinas, hätten das hervorgebracht. 


1) Bei Lydius, p. 2lsgg- . 
») Bei Lydius, p. S4sgq. 
Deol. Stud. Jahrg. 1868. 40 





5 Britt 
j 


Ben dem erfteren dagegen heißt 68: Ex his manifestatum est) 
quod nullus alius locus est principalis certi purgaterü nisi 
Dominus Christus, qui purgationem peccatorum facien 
sedet ad dextram majestatis in excelsis, atque ipse est fon 
aquae salientis in vitam aeternam. Omnis, qui salvabitur 
oportet eum de hoc fonte sumere pleno justitiae et aequi 
tatis, oportet eum sumere per amorem gratize sui merü 
pro gratin Spiritum Sanctum (das heißt wohl: er muß in & 
zu der durch Chriſti Werdienft uns erworbenen Gnade ald 
legte und fundamentale ſolche Gnadengeſchenk den heiligen Ga 
nehmen und empfangen), qui de amore suo transfundit in 
fideium; ex- sola gratia per donum fidei quisd 
salvandus venit ad purgatorium per Christum Jesum, ut di 
Sanctus Paulus (Rom. 3, 28): „Non justificatur homo ed 
operibus legis nisi per fidem Jesu Christi“, et nosi 
Christum Jesum credimus, ut justificemur & 
fide Christi et non ex operibus legis. Chris 
dieit: Qui credit in me, habet vitam aeteraam. Et ille lt 
prosus dixit ex fide: Domiae si vis, potes me mundare. 
Domiaus dixit: volo, mundare. Et iterum: fides te aalı 
fecit. Et Sanctus Petrus: fide purificans corda eorum. D 
dilectione dicit Dominus ad Mariam (?): Remittuntur ı 
peccata multa. De charitate dieit Sanctus Johannes Ü 
Charitas operit muititudinem peccatorum. Et de obe 
dientia ceharitatis dieit Sametus Petrus: animas ven 
* castificantes in obedientia charitatis (? — veritatis). Et} 
spe dicit Dominus: Confide, fili, remittuntur tibi peca: 
et Sanctus Paulus: Spes autem non confundit. Et de vir 
tute hujus fidei (des febendigen Glaubens, deſſen Bollberi 
nad) dem Borigen Liebe, der Gefinnung wie der That, us 
Hoffnung einfhließt) dicit Sanctus Petrus: Ministrate : 
fide vestra virtutem — scientiam — abstinentiaın. Hax 
enim si vobis adsint etc. De poenitentia dicit Deus X 
Prophetam: Impietas impii non nocebit ei, in quacangi 
die conversus fuerit ab impietate sua etc. De operibı 
misericördiae: Nolite judieare, et non judicabimini ete. (Lit.t 


über die Lehrweiſe der böhmiſchen Brüder. 505 


Consilium datum est Nabuchodonosor, quod eleemosynis 
redimat peccata sua (Dan. 4, 24), Et sic devota 
oratio et munda cum fide purgat, quando cum ea 
est viva fides et humile cor: hujus est exemplum de 
publicano et peccatore. Dies ift ganz jatobifh (Kap. 2, 22): 
7 Alorıs Ovvigysr vois Zgyoıs — aber gleichwohl finden 
wir feine Berufung auf diefen Apoftel, vielmehr lenkt 
das Belenntniß fogleich tiefer zuräd auf den johanneiſchen 
Grund: Sed quod poenitentia mundat hominem in Christo 
fundatum fide vel poenitentia, dieit Dominus Jesus: 
Ego sum vitis etc. (Joh. 15, 1). Et de verbo dieit Deus 
per Ezechielem: Effundam super vos aquam mundam, et. 
mundabimini ab omnibus inquinamentis vestris. Et Do- 
sinus Jesus: Jam estis mundi propter sermonem meum 
(Joh. 15, 3). Et de testimonio baptismi, quod simul 
kt cum fide: Qui crediderit et baptizatus fuerit, salvus erit. 
Et Sanctus Paulus: Accedamus cum vero corde in pleni- 
tudine fidei aspersi corde a conscientia mala et abluti corpus 
aqua munda. Habemus nunc spem firmam et confessionem 
sostram, quod sumus habituri pargatorium in tertio inferno? 
Non, sed vitam aeternam. Nam diecit Dominus: qui perse- 
reravit usque in finem, hie salvus erit. Et cum his verbis, 
wuae robur in se habent, mundat hic ecclesiam et purgat 
ıd vitam gloriae etc. 

Wir haben Hier eine umfaffende Zufammenftellung ber in der 
Schrift an verfchiedenen Orten genannten fubjectiven Bedingungen 
mb objectiven Vermittelmgen der Beguadigung, ohne Unterfcheidung 
»es A. und N. T.'s (obwohl nicht das Geſetz, ſondern die Pro- 
’heten, und dieſe meift mit evangelifchen Zeugniffen citirt werden), 
ohne Unterfchieb auch der ſynoptiſchen Ausfprüce und der pau- 
iniſchen; beide vermittelt durch ſolche allerdings centrale Worte, 
wie die bei Johannes (Cap. 15). Man fieht, wie der Lehrtypus 
ich an der Hand der Schrift und Erfahrung von dem ſcholaſtiſchen 
runde, mit dem er gefthichtli und formell noch zufammenhängt, 
immer mehr Toszulöfen jucht, ohne aber noch entſchieden und Mar 


ben einen Punkt finden zu können, auf welchen Hier Alles ankommt 
. 40* 


596 Blitt 


und den Paulus und Luther fo ſcharf hervorheben. Die Begu 
digung ift den Brüdern Reinigung (purgatorium, mundari) 


- von der Sünde; zwar auch Befreiung von ihrer Schuld, Ber: 


gebung der Sünde, aber untrennbar davon ebenfo auch von ihrer 
Macht und Herrſchaft, Neugeburt in ethiſcher Hinficht; und das 
nicht nur im principiellen Sinn, wo dieſer neue ethijche Lebens: 
fame ebenfalls nur rein receptiv vom gläubigen Herzen aufgenom- 
men werden fann, fondern fie verbinden damit in der Weiſe dr 
ſynoptiſchen Ausſprüche Chrifti auch die ethiſche Reproduction 
Cogl. das Eitat uf. 6 und Dan. 4). Iſt in dem erften nur de 
Mangel der begrifflichen Unterſcheidung zu tadeln, die Sa 
an fi) aber biblifch tief begründet, fo ift das zweite in diefer Zora 
wirklich unvolltommen und nicht die lautere nachpfingſtliche Wahr⸗ 
heit. Ein einigermaßen innerliher Romanismus könnte damit 
fich alfenfalls noch verföhnen, wie die Lehrbeftimmungen des Tir 
dentinumß felbft zeigen. Die Brüder ſchieden eben auch hier nid 
genug zwifchen erfter Begnadigung, Eintritt in den Gnabenftad 
und enblicher Befeligung beim Gericht. Aber weil in dieſer Br 
ziehung ihre Anfchauungen wiederum bibliſche Wahrheit haben, blich 
ihr innerfter praftifher Glaubensftandpunft- doch von dieſer 
Fehler weſentlich unverlegt, und fie konnten fpäterhin im Lichte dr 
Reformation in Bezug auf die erfte Begnadigung oder Wiedergeburt 
eine andere Stellung nehmen, ohne zu meinen, daß fie ihren Pri- 
cipien untren würden. 

Die Eigenthümlichkeit diefes ihres älteren Standpunftes gel 
endlich fehr Mar hervor aus der ausführlichen Apologie von 
Yahre 1538 *). Eine vermittelnde Stellung nimmt die Cor 
felfion von 1532 ein, indem die accurat lutheriſch "beftimmtz 
Ausfagen über die Rechtfertigung durch den Glauben allein, meld 
die Eonfeffion von 1535 hat, fich fo nicht finden, aber andererjeit 
auch nicht die ungehörige Art, wie in der Apologie, der Begrif 





8) Giche bei Lydius II, 92-867; die umfangreichfte aller diefer Ca 
feifionen bei Gindely, Fontes, Nr. 19. &ie wurde in den Jahr 
1536—1538 bohmiſch abgefaßt, in dem letztgenanuten in's Latriniſche über 
fegt und im Wittenberg unter Luther's Beihtilfe mit der von 1685 gehraft 





über die Lehrweiſe der böhmijchen Brüder. 897 


ver Rechtfertigung in extenso erläutert wird. Aber aud fo bleibt 
zum einmal die Differenz zwiſchen den beiden 1538 edirten Zeug- 
üffen ftehen, und diefe Apologie mit diefem ihrem Drudjahre zeigt 
uf das einleudtendfte, wie fehr der ältere Standpımft aus der 
jeit des Lukas noch in Kraft war. Bon diefer Apologie jagt auch 
indely (I, 239): obwohl fie als eine neue Ausgabe der Eon- 
fion von 1532 für den Markgrafen von Brandenburg bezeichnet 
ourde, fei fie von diefer doch im Inhalt vielfah, in der Form 
anzlich abweichend. Und dies ift wirklich richtig. 

Bon der Sünde handelt im zweiten Theil der dritte Artitel 
©. 147) ebenfo ftreng als die andern Zeugniffe. Der. vierte 
©. 149) ift im Text überſchrieben: De misericordia Dei 
jratuita erga hominem tam misere delusum, deque pro- 
tisso liberatore filio suo; dagegen (&. 96) in der Einfeitunge- 
berficht: De justificatione et promissionibus. Dies ift 
m fo auffallender, da danıı erft sub 8 de poenitentia, 9 de 
vangelio, 10 de bonis operibus geredet wird; aber es ift nicht 
fällig, noch dem Sprachgebrauch der Schrift felbft fremd. Denn 
1 diefem vierten Artifel wird der Quell des Heil im Gnaden- 
ath der göttfichen Barmperzigfeit und im fünften die Ausführung 
es letzteren, Chrifti große Gnadenthat, als zwiefacher Ausdrud 
er höchften Liebe Gottes gegen die gefalfene Sünderwelt gepriefen. 
)er ftrenge Begriff der Satisfaction tritt dabei weniger hervor, 
modern bei Chrifto mehr feine Heilige und Heil wirkende priefter- 
he Selbftopferung. Siehe die ſchöne Stelle (S. 152): Vitae 
utem sanctimonia inculpatus, a peccatoribus longe segre- 
atus repertus est, quatenus dignus et idoneus, pro totius 
ıundi peccatis sacrificus et 'sacrificium esset. Ubi vero 
nmineret hora illius, nihil moratus neque cunctatus passioni 
e parat et sanguinem suum pro peccatis nostris fundit ac 
acrificat, pontifex simul et hostia factus, quo qui- 
em passionis sacrificio morteque obita aeternam nostram 
ıortem abolevit ac vitam aeternam nobis mercatus est, de- 
icto illo, qui mortis habebat imperium, hoc est Diabolo: 
:t sanguine suo mundissimo peccata et iniquitates multo- 
um emendavit ac omnino in totum sustulit. Sic quoque 





508 vlitt 


in carne carnis peccatum erucifixit, per passionem a passiv 
nis aeternae poenis nos liberavit, per mortem mortis im- 
perium atque ipsum mortis tyrannum devieit et nos ab 
ilius tyrannide in pristinam libertatem et dignitatem ad- 
seruit. Atque hae unica sui oblatione sanctificatos reddidit 
in perpetuum, promerita nobis gratia, redemptione, sancti- 
ficatione et vita aeterna, sc. omnibus in se credentibu. 
Unter diefen Früchten des Werkes Chriſti für die Gläubigen it 
die justificatio nicht genannt, fordern ihre Stelle nimmt der Aus 
drud redemptio ein. Der herrſchende Gedanke ift auch hier da 
umfafjendere der freien Gnade überhaupt, wie denn der Xridl 
ſchließt: Sic dooemus, Christum esse solum totius mundi sı 
vatorem, cui & patre eoelesti ommia donata sunt, in ge 
solo tantum salus est, atque adea, ut eam nemo usquam 
alias adepturus sit, etiam nullis factis 'seu operibus, vel sus 
vel alienis (cit. Apg. 4, 13. Röm. 10, 13. 1or. 3, 11). - 
Die Zueignung des Heil ift vielmehr ein Werk des Heiligen Geiſta 
(Art. 6), wobei ebenfalls bezeugt wird, daß itidem Spiritus Sar- 
ctus nullis hominum operibus aut factis demereri potest: 
vielmehr gratuito exque pura Dei donatur misericordia ill. 
quem Deus salvandum in Christo praedefinivit, 

Nachdem dann Art. 7 von der Kirche gehandelt hat *), Hank 


a) Die Definition lautet: Est autem ecclesia seu major seu minor ett 
dentium in Christum per evangelium collectorum numerus juxta i 
Christi: Matth. 18, 20. Cum enim Deus promulgatam jam a# 
exhibitamque in Christo misericordiam, mentibusque humanis ir 
pressam, ratam hominibus et fieri et haheri per Spiritum Sancın 
vellet, placuit in id muneris certa quaedam exteriora media ments 
itidem suam declarantia constituere, quibus id apud suog effidst 
quatenus tam benignae Dei erga se voluntatis eertissimi sint. Ia- 
que constituit ministros — verbum seu evangelium - 
sacramenta seu ritus evangelio — accommodos... 
his mediis Deus fideles suos in ecelesia ordinat, regit, provide & 
conservat ad vitam aeternam ..... Quapropter quieunque vet 
veram fidei salutisque rationem adsequi et habere, certissimusgi 
de Christi erga se favore deque meritis ilius, num scilieet eorıs 
particeps sit, reddi, hunc oportebit ejusmodi ecelesiae incorporani..- 





über die Lehrmeife der böhmiſchen Brüder. 599 


ftt. 8 .de poenitentia alfo, daß diefes Lehrftüc fich auf's 
ngfte. am das vorige anſchließt; denn es wird da bezeugt, daß 
ur in dieſer Kirche Chrifti, deren Kennzeichen ſoeben genugfam 
angegeben felen, wahre Buße und Vergebung der Sunden ftatt- 
nde; dieſe rechte ans Gottes Wort hervorgegangene Buße führe 
ie Menſchen in die Kirche hinein, und wenn fie gefallen feien, 
vieber in dieſelbe zurück. 

Das Wefen diefer wahren Buße (oder Belehrung) wird dann 
» beftimmt, daß fie ein reines Gnadengeſchent von Gott fei, kraft 
eſſen der Menfh im Glauben an Gottes Wort fih als 
mndserdorbenen Sünder und Zornesfind erfonne und von Schmerz 
nd Angfi darüber erfülkt werde — von Furcht vor dem Zorn 
jottes, aber dies vorzüglich deshalb, weil er als untreuer Sohn 
a diefem feinen fo gütigen Vater abgefallen el. Aus biefer 
hkenntnig und Empfindung geht aber nun auch eine neue Willens⸗ 
ihtung hervor: tum posthac audito tam laeto, evangelico 
rius irati nuntio, quo favor illifus?] in Christo annunciatur, 
er fidem totus assurgit confidenter, "mutatur 
a melius, decernitque apud se, non ultra ex 
onfesso ac studio peccandum, quin potius pre ar- 
itrio Dei patris sui bono, ad quod creatus est, vitam tran- 
igendam. Atque interim misericordiae Dei per ministerium 
'vangelii oblatae ac receptae totus innixus eam conse- 
ui ac per Christum justificari summopere oupit. 
‚tque haec est illa apud nos poenitentiae et origo et ratio, 
c quoque Christus eam omnibus praedicari voluit, scilieet 
a fide sua, h. e. illius misericordiae nostri gra- 
uito miserentis habenda fiducia. 

Diefe Buße, wird dann weiter gelehrt, twete jederzeit wieder ein, 
» oft der Gläubige etwa in einen Irrthum oder eine Todſunde 
arückgefallen fei; denn, heißt es, homo peccati lege corruptus 


Spiritus enim, Sanctus per ministros administrationesque illorum sa- 
lutem operatur, et Christus prope legis jure id a suis exigere vi- 
detur dicens: Amen amen dico vobis: qui accipit si quem misero, 
me acoipit; qui autem me adelpit, eum, qui me misit, accipit. 





00 Blitt 


et vitiatus in multos variosque lapsus etiam nolens in- 
eidit. Aber es ift dies immer das Nichtfeinfollende, Fall und 
Krankpeit; denn Diejenigen, welche gratiae Dei vere partieipes 
sunt atque bonum illius sentiunt, hi ex animo peccare mi- 
nime possunt, summo enim odio prosequuntur peccatum, 
et si quando contingat, eos decipi, seu labi in pecca- 
tum protinus resurgunt, resipiunt et ad se redeunt, ut 
Petrus et alii, et modis omnibus cavent ea, quibus Deum 
offenderent. Die poenitentia ift hiernach die ueravom im 
Sinn der Evangelien und der Apoftelgefcichte, die Bekehrun 
des Menſchen im Glauben an die Gnade Gottes im Chris 
und als ethifhe That, freie Hingebung in den Gehorſan 
des Glaubens und der Liebe, die Belehrung nach der Seite, nad 
welder fie eo ipso ber Anfangspunft des fortgehenden perſönlichen 
Heiligungslebens ift. Und doch ift derfelbe Vorgang fo beftimm 
nad) Urfprung und Weſen als Werk Gottes, feiner Gnade ım 
feines Geiftes, im Menſchen bezeichnet, daß allem pelagianifce 
Sichfelbftbefehren der Raum genommen ift. Das Eharakteriftiid 
ift nur dies, daß jenes beftimmte Moment, welches bei Pauls 
am meiften unter den Apofteln jelbftändig Hervortritt und dm 
der Reformation in gleicher Weife, ja faft bis zur einfeitigen Ans 
fchließficgfeit betont wurde, bie Vergebung der Sünden, de 
Aufhebung des Schulbbanns der Sünde, zwar keineswegs feilt, 
aber doch nicht fo allbeherrſchend auftritt. Eutſprechend fehlt dr 
Begriff der justificatio, den man gerade bier durchaus er 
warten würde, zwar nicht ganz, aber er kommt jelten und nicht in 
beftimmt ausgeprägter Bedentung vor. 

Diefer gefammte Standpunkt zeigt ſich zunächſt ſchon darin deut 
lich, daß der nächſte (Ne) Artikel handelt: de foedere pomi- 
tentis vere et ex animo cum Deo ineundo —, und dam 
fogleih der 10te de bonis operibus folgt. — Im 9ten mir 
gefagt, daß der durch die evangelifche Gnadenbotfchaft wieder auf 
gerichtete Büßende nun feines Antheils an diefer Gnade götllit 
gewiß zu werden wünfche, und dies geſchehe durch das Bundet 
verhältniß, in welches er im Glauben mit Gott trete. Dadurh 
werde die vor Alters gegebene Berheigung Gottes erfüllt und je 





—ñ 


über die Lehriweife ver böhmifchen Brüder. so 


wohl Gott mit uns als wir mit Gott offenbarlih und zweifellos 
serföhnt. Von Gottes Seite beftehe diefe Bundſchließung darin, 
»aß er, nachdem er einmal in feiner grundfofen Barmherzigkeit in 
Sprifto das Heil begründet und beſchloſſen Habe, uns daſſelbe durch 
en heiligen Geift unter Vermittelung des dazu eingefegten Amtes 
uzueignen, fi num dem Sunder bundmäßig verpflichtet, „obligat, 
'emissurum se illi peccata eumque justifican- 
lum‘. Ob biefe beiden Begriffe Hier gleichbedeutend fein follen, 
der als verfehiedene nebeneinander geftellt find, erhellt nit. Im 
folgenden finden wir Stellen, die für das Eine, aber auch ſolche, 
ie für das Andere ſprechen. Wahrſcheinlich war eben der Sprad- 
chrauch in Bezug auf den terminus „justificatio‘‘ den Brüdern 
uch nicht ſcharfer feftgeftelft, fondern ſchwankte zwifchen der pau⸗ 
luiſch⸗ veformatorifchen und der auguftinifch - römiſchen Saffung, wie 
ih daſſelbe ja auch bei Luther in der früheren Zeit nachweiſen 
it. — Bon des Menfchen Seite befteht die Bundſchließung in 
er Hingebung feiner jelbft an Gott, devotio sui ipsius Deo, prin- 
ipio (1) per veram indubitatamque cordis fidem, per evan- 
elii integri praedicationem adeptam (?), perque (2) liberri- 
ıam in eadem fide sui ipsius consecrationem Deo, demum 
3) per oris confessionem publicam sive solemnem cum re: 
ignatione totius impietatis. Auf dies öffentliche Bekenntniß der 
teubefehrten vor dem Wolle Gottes und den Dienern der Kirche 
gt dann ‚durch deren Handauflegung das göttliche Siegel ber Ab- 
ilution und Erlangung der Gnade Ehrifti. Dadurch wird die 
sch die Taufe auf Ehriftum ihnen ſchon Tängft bezeugte Ver⸗ 
bung der Sünden offenbarlich erneuert und nun erſt dem Gläu- 
igen — als ſolchem — zu feinem perfünlichen Befig und freiem 
jebrauch übergeben, wodurch er zum vollberechtigten Gliede am 
eibe Chrifti, der Gemeine, eingefegt wird (er. 31, 31. 34. Röm. 
0, 10. 1Tim. 6, 12 [„ad Titum‘“J. 1Theſſ. 4, 3. 1 Petri 
‚21. Macc. 16, 16.) 

Im 10. Artikel Heißt e8 dann weiter: Docemus, post conse- 
rationem sese Deo, tam in nos propitio, per adeptam sic 
emissionis peccatorum gratiam, ut Deo confoederati, quis- 
ue pro sua,virili, bonis operibus sese aceingat. — Matth. 








602 Britt 


28, 19: Docete — baptizantes — docentesque eos servare 
omnia quaecunque praecepi vobis. Haec 'autem omnia ma- 
xime consistunt in fidei exercitio et in imptetione 
mandatorum Dei. Ante omnia enim de fide dieit: hoc 
est opus Dei, ut credatis in eum, quem pater misit; atque 
hinc patet, fidem esse primariam ac Jignissimam omniun, 
laboriosissimum utilissimumque opus, ex quo omnia reliqua 
opera non secus atque ex optima arbore optimi fructus «- 
piosissimi salaberrimique prodeunt, et sunt Deo acceptissim 
haec opera gratissimaque. 

Atque de hujusmodi [operibus] dieitur: Qui vult ingreä 
vitam, servet mandate. Sic Apostoli ex mandato magisti 
sui se gesserunt, quod scilicet ad fidem susceptos ac bapi- 
astos docebant, ne in vanum hoc est mihil operanten 
gratiam Dei reciperent. Ea vero ipsa bona vpera ob 
id facienda docemus, prima ut voluntati divinae ma 
a nobis geratur. Namque ipsius, inquit Apostolus, sumui 
figmentum, conditi in Christo Jesu ad bona opera, ut in ds 
ambularemus. Haec enim post aoceptam gratiam certum | 
est illi grata esse et saluti hominym conducere. Secundı 
ut per bona opera firmam vocationem et electionem effce | 
remus (2®etri 1). Tertio ut per ipsa bona opera in adepa | 
jam misericordia Dei conservari valeamus, neve per eorun 
missionem in pristina peccata relaberemur ete. Quarte; 
ut in gratia Christi magis ac magis profigeremus et augere 
mur, atque hinc ut certius divini favoris erga nos habente 
argumentum, majorem fiduciam et consolationem ac speu 
in diem adventus Domini nobis colligeremus. 

Postremo docemus, quod bona opera citra Jesı 
Christi fidem, quantumvis magna, quantumvis in specien 
facta, non justificant coram Dgo, qui ad oceulta cor- 
dium intuetur, novitque omnia..... bona opera externs 
Deo non satisfaciunt neque gratiam seu favorem promt- 
rentur..... E diverso in fide Jesu Christi omnis open 
etiam exigui ponderis in speeiem sunt acceptissima, salı- 
taria, benedjcenda et fructum allatura, ob id, quia sanch“ 








über die Lehrweiſe der böhmifchen Brüder. 608 


cationeın suam per Christum assequuntur et eertam pro» 
ıissionem mercedis et gratiae habent. 

Nachdem hievanf der 11. Artikel von der Waffenrüftung Gottes, 
nd der 12. von der rechten Art des Kampfes gehandelt hat, ſpricht 
"13. de fiducia in Christum, quod scilicet per fidem 
| adhaerentibus et non secundum carnem versantibus nulla 
t condemnatio. Die unvermeidliche Süudigfeit und Schwachheit 
r Glaubigen, heißt «6, hat die Folge, daß oft das Gemüth nieder 
beugt wird und dann des Troſtes im Glauben an Ehriftum bes 
if, in quo (Christo) et peccatorum condvnatio et defectuum 
t imbecillitatum nostrarum perfectio, denique omnis 
ostra justificatio reposita est. Der Begriff der justi- 
catio geht hier, felbft wenn er den der condonatio peccatorum 
it einbegreift, jedenfalls auch auf die perfectio, die endliche Durch- 
Aligung der Gläubigen. Weil aber jene immer das Erfte und 
undamentale ift, wird mit allem Naddrud darauf hingewieſen, 
iß wir in feftem Glauben Ehrifto anfangen follen, gewiß, daß 
m feinet- und feiner Vertretung beim Vater willen über Den- 
nigen feine Verdammniß mehr fei, welche ihm durch den Glauben 
gepflanzt find. Denn dann haben wir ihn zu unferm Für— 
weher, der zur Rechten des Vaters fteht und die Verfühnung ift 
ie ale unfere Gebreden und Schwachheiten. 

Aber Hier wird nun auch darauf hingewieſen, dag nicht jede 
Sünde fo unter der Gnade Chrifti ftehe,. fondern daß es auch 
ne Sünde gebe, fr welche feine Vergebung zu hoffen jei: Do- 
mus, peccata bifariam dividi, in irremissibilia et remissi- 
ilia: remissibilia (seu ut aliqui volunt venialia) esse ea; 
uae ex lege peccati, quae in carne est, exque naturali cor- 
uptione omnes actus nostros sequuntur. Qui autem dicit, 
e peccatum — in diefem Sinn — non habere, hic fallit 
8 ipgum, Joannis testimonio, et veritas in eo non est, quin 
otius cascus est, qui neque se ipsum, neque inhabitans in 
e peccatum agnoseit. Et quamquam pii ac fideles malum 
oe, quod oderunt, designant, aeque ut alii, non tamen id 
x animo aut studio seu ex perversitate, neque etiam de- 
ectantur seu gaudent eo, sed magis id accidit illis invitis, 


604 Britt 


siquidem malum hoc in se ipsis summe detestantur ac ex 
eo gravissime dejiciuntur animis etc. Qui ejusmodi sun 
jam non illi hoc malum operantur sed inhabitans in ilis 
peccatum. Atque ob id ejusmodi peccata, quantumcunque 
etiam enormia, docemus quod sunt venialia sive remissibilia. 
quia Christus pro illis hostia sacrificiumque patri adsistit 
(1908. 2, 1. 2. Röm. 8, 1). 

Atque hic est ipsissimus et efficacissimus locus, immo et 
summa extremaque animorum dejectorum ob eam corruptic- 
nem assiduamque peccabilitatem necessitas coenae scili- 
cet extremae institutio etc-*) 


a) Mit beredten Worten bezeugen bie Bekenner hier aus lebendiger Exfahrun 
die göttliche Kraft dieſes zweiten Sacraments, in welchem bie ganze Fül 
der duch Chriſti blutigen Verſöhuungstod eröffneten Gnade Gottes üb 
die Seinen von biefen in dem unter der fichtbaren Geftalt des Brodes un 
Weines dargereichten Leib und Bfut Ehrifti empfangen, das Gewiſſen ei 
wuhigt, und ewiges Heil gotteaftäftig ihnen zugeeignet wird. ide fie 
da an bem äuferen Prunk der Ceremonie, wenn die Herzen boch todt um 
umerpfänglich feien. Die aber, deren Herzen Gott mit feinem Lebenshusd 
angeweht habe, daf fie verfichen, was ihnen hier verliehen wird, feiern k 
in innerer Anbetung Gottes und Chriſti und werden mit fo überfchmän: 
licher Freude und tiefer Beugung erfüllt, daß fie ſich nicht Laffen fon, 
jondern oben müffen, preifen und danken und verfünbigen alfenthafer 
wie freundlich der Herr ift. Mögen daher Andere dies hochheilige Cam 
ment zu einem Anlaß todten Formdienftes und tödtenden Geplärres mads 
— Luthers „Lören uud Tönen“ —, wir fireiten hier mit ihnen nik 
weiter. Das aber follen fie wiffen, daß wir arme geringe Leute vom dicke 
unferen Belenntniß über das hochheilige Gacrament und beffen hädfer 
ehrerbietiger Werthihägung niemals Laffen werben. Daffelbe ift unſer bei, 
theuerfter Schatz, in dem das Heil, das ewige Leben, die Vergebung u 
ſerer unzählbaren Sünden und Schwachheiten uns nicht durch fchmaht 
Menſchenwort, fondern duch die ewig gültige Einfegung des allınädtige 
Gottesfohnes ſicher verbürgt if. Hier ſtehen wir; daranf wolle 
wir feben und fterben. Das wollen wir noch mit dem letter 
Athemzug dem Tode, der Hölle, dem Teufel und allen Bir 
den entgegenhalten, die mit Chriſto au's Kremz geheftt! 
und getöbtet find. Dort mag unfer ewiger Feind, ber Zeuftl, 
unfere Sünden uns vorwerfen, wir find geborgen in der 
offenen Seite Iefu Ehrifi 





über bie Lehrweiſe der böhmiſchen Brüder. 805 


Sodann heißt e8 weiter: Irrcmissibilia haec esse docemus: 
ncredulitatem sc. verbo Dei, sancto Evangelio, 
um omnibus, quae ipsum amplectitur, obdurativnem 
ıervicacem in malo, contradictionem veritati studiosam 
t ex professo — sive ob vanam gloriam, sive alicujus di- 
nitatis seu favoris obtinendae gratia, aut ex suimet ipsius 
omplacentia — apertissimae sc. illi probatissimae ac invic- 
issimae veritati, usque etiam ad blasphemiam tum illius 
am etiam eorum, qui amplectuntur eam. Et ad hanc 
ntentionem irremissibilia sunt omnia idololatriae peccata 
t alia quaeque contra Deum et proximum admissa. *) Item, 
i quis post adeptam hujus Evangelicae veritatis cognitio- 
em, quibuscungque occasionibus sive causis suapte sponte 
st consulto ab ea exciderit et nec admoneri sustinet, 
fin etiam in admonitores fertur hostiliter, et peccata sua 
xtenuat, tuetur et excusat etc. Haec atque iis similia ir- 
emissibilia diserte pronunciamus, nam an non recte huc- 
eratur illud Joannis: Est, inquit, peccatum ad mortem; 
on dico quod aliquis oret pro eo. Et ad Hebraeos: Vo- 
mtarie, inquit, peccantibus nobis post acceptam notitiam 
eritatis jam non relinquitur pro peccatis hostia, terribilis 
utem quaedam exspectatio judieii et ignis vehementia, qui 
evoraturus est adversarios. Et Christus: Qui dixerit, in- 
ut, blasphemiam in Spiritum Sanetum, is non habebit re- 
issionem, sed dignus erit igni aeterno. 

Schließlich Handelt der 14. Artitel de confidentia per- 
everantiae in Christi gratia usque ad vitae 
inem. 

Hier heißt es: Docemus, ut fideles certissima fiducia Deo 
ihaereant, in gratia ejus ad finem vitae perseveraturos et 
»st hanc vitam habituros aeternam perfectamque resur- 
ectionem ac nunquam finienda gaudia in locis amoenissimis 
»elestis patriae, cujus quidem firmissima extant testimonia 
Joh. 10, 27. 28. 1 Petri 5, 10. 11). Isto decimo quarto 





„») Diefer Satz fehlt in der Eonfeffion von 1582. 





806 Blitt 


Articulo perinde ac certissimo desideratissimoque ac prac- 
cedentium oolophone sub certa spe oonstituimus et stabili- 
mus fideles, ut ea velut. firmissima jacta anchora secure 
potiantur ac innitantur, trajicientes videlicet ad ea usque. 
quae sunt intra velum, ubi praecursor noster ingressus eit. 
Jesus Christus. Amat enim Deus quod aequum est ne 


“ unquam sanctos suos deserit sed perpetua custodia fie 


eos. Porro id cum primis necessarium ducimus, ut populs 
fidelis de salute sua reddatur certissimus, non modo in 
principio conversionis et medio, sed etiam d 
fine, ut vera cordis pace gaudeat eo quod certo rei 
quod Deus, qui in eo coepit operari salutem, idem et pt 
ficiet et certissimam dabit perseverantiam usque in fin 
vitae et posthac ad aeternam salutem perducet; id ven 
totum ob solum Jesum Christum, in quo totius hujus cw- 
solationis summa plenamque gaudium dependet. Cui | 
laus et gloria! 

Hiermit ſchließt das eigentliche Belenntniß über die Hauptlet: 
punkte, zunäcft der zweite Theil der ganzen Schrift. Es fee! 
aber noch einige wichtige und chärakteriftische Bemerkungen alle) 
meinen und principielen Inhalts in Betreff des gefammten a 
geitellten Kehrgebäudes und der Wichtigkeit, melde gerade deu) 
Ganzen als folgem und der gehörigen Gliederung) 
deffelben in feine einzelnen Theile zukommt. Mehrfache u 
wichtige Urfachen, heißt es, dringen zur forgfältigen Weobaditei 
dieſes ordo seu methodus docendi. Erſtens, daß inmitten te 
vielgeftaltigen Lehrweiſen der Zeit da8 Gemüth in Allen, was W 
Hal angeht, Haren und ſicheren Grund habe. Zweitens, daß i 
nachtheilige Verwirrung der Lehre vermieden werde, melde an da 
Anfang ftellt was an's Ende gehört und umgefehrt, wodurd de 
einzelne Lehrwahrheit ihre ganze Bedeutung und Kraft, die ihr ıw 
rechten Pla im Gefammtorganismus eignet, verliere. Dada 
werden denn oft gefährliche Irrthümer und feichte Lehren unter des 
Borwand der Schrift und ihrer Wahrheit eingeführt. (ine joler 
Zerreißung des rechten organiſchen Yehrzufammenhangs fei der & 
fundheit der Lehre ebenfo nachtheilig wie ein gleiches Verfahren m 





über die Lehrweiſe der böhmiſchen Brüder. 7 


Bezug auf den menfchlichen Leib. Wollte man deſſen einzelne Glie⸗ 
der auseinander ſchneiden und abjondern aus dem Gejammtzufan- 
menhang des Leibes, fo wäre derfelbe, ob auch feines der Glieder 
fehlte, doch aller feiner urfprünglichen Harmonie beraubt, und jedes 
Glied für ſich unfähig gemacht zu der Wirkfamkeit, welche es dem 
Ganzen zum Dienft und zum Schmud ausüben foll. 

In Anwendung diefes treffenden Gleichniſſes Heißt es dann weiter: 
Quidam sunt, qui arrepto mordicus aliquo fidei seu religio- 
ais articulo, puta de sola fide, aut de bonis operibus; 
sic etiam de aliquo sublimiore vitae genere, aut de 
libertate Christiana; aut etiam de sacramentis 
deque .coena Domini maxime, sive itidem de pote- 
state sublimiore, adque id genus quocunque e scripturis 
dvinis extracto, tum hoc solo pro summa totius religionis 
srepto, magnas movent: in ecclesia Dei tragoedias .... 
perinde atque in eo, quod sic tumultuese exagitant, totius 
salutis salutarisgue doctrinae puppis ut ajunt et prora pen- 
deat, aliis articulis ac sententiis, non parum multis aeque 
huic negotio necessariis, immo vero longe utilioribus intactis 
relietis. Fit itaque, ut hoc truncato ac confuso docendi 
genere ac eorum, quae coherere sibi invicem debuerant, 
divulsione nihil aliud quam etiam simultas et odium sup- 
pullulet et alatur, veraque interim pietas salutarisque doc- 
ins, quin etiam germarus illius sensus corrumpatur et 
Bxtinguatur. 

Hier waltet unverkennbar eine pofemifche Tendenz, und zwar, 
wie's ſcheint, nicht blos gegen die römiſche Kirche, auf welche Artt. 
2. 3. 6 ſich beziehen, fondern auch gegen die lutheriſche Lehrweiſe, 
welche Artt. 1. 4. 5 treffen. Hierin feheint deutlich der Standpunkt 
des Lukas in der Zeit von 1522—1528 nachzuklingen. Der ihm 
nachgeruhmten, Unklarheit“ könnte auch die wunderliche Reihenfolge 
diefer Punkte zugefchrieben werden. Oder wäre es Politik — um 
die Polemit mehr als eine’ allgemeine theoretifche erjcheinen zu 
laſſen? Wahrſcheinlich aber follen die Ertreme in drei Paaren 
einander gegenübergeftellt werden, nur daß dann im zweiten Paare, 
abweichend vom erften und dritten, das katholiſche Schiboleth zuerft 


608 Blitt 


genannt wäre, und das dritte Baar feinen Gegenfag in ſich [hlöfe, 
fondern nur je einen von beiden Seiten befonder& hervorgehoben 
und polemifch geltend gemachten Lehrpunft aufführte. 

Hiermit fchließt der zweite Theil der Apologie, der wie der 
exfte zu den urfprünglichen Beftandtheifen der Eonfeffion von 1532 
gehört, nur daß die Apologie in Allem viel ausführlicher ift. E 
folgt nur noch eine Rechtfertigung der Autoren (bei Lydius, 
P. 176), daß fie hier nicht die altgewohnte Zwölfzahl von Ar 
tikeln beibehalten hätten (auch diefe kurz in der Confeffion von 
1532), wie fie fi) in dem früheren Schriften der Brüder fink, 
u. a. auch in der lateiniſchen Apofogie, welche (olim) zu Nürnben 
gedrudt worden jei (utcunque inerudito stilo scripta). Did 
ift nad) ©. 296 im Jahre 1511 geſchehen. In diefer Ausyık 
miüffen wohl die zwölf Punkte hervorgehoben worden fein; deu 
in. der „Apologie“, welche Lydius unter dem Titel Excusatio fn- 
trum Valdensium contra binas literas Doctoris Augustin 
datas ad Regem vom Jahre 1508 (II, 34sqq.) mittheift, finkt 
ſich diefe Einteilung nit; und doc feheinen beide im eat: 
lichen .diefelbe Schrift zu repräfentiren, denn Gindely führt die 
„ Exeusatio “ nicht an, fondern nur diefe „Apologie für Jedermann' 
sub 1508 (Fontes, No. 8.). 

Der dritte Theil Hat die Ueberſchrift: Quo ordine ac nitu 
in ecclesia nostra administratio salutaris fiat apud nos, qus 
que pacto et forma in eam exteri recipiantur, quis denique 
usus clavium (p. 177—188 bei Lydius) — entſprechend 5 
der Eonfeffion von 1532 ebenfalls dem dritten Theile. 

Neu Hinzugefügt bei Abfaffung diefer Apologie ift num aber ei 
fpätere Erörterung über die Rechtfertigung oder Heilsaneignum, 
welche die Apologie von 1538 innerhalb des vierten Theile 
gibt (Lydius, p. 189sqgq.: De ministris ecclesiae nec non 
ei administrationibus Christi, quae sunt verbi Dei & 
sacramentorum, im Uebrigen ebenfalls dem vierten Theile in br 
Eonfeffion von 1532 entfprechend). So fagt aud) ein Bericht ir 
Brüder bei Gindely (Fontes, p. 27), daß die Brilder fih da: 
mals ausführlicher über ihre Lehre von der Nectfertigun 
ausgeſprochen Hätten. Das ganze Stüd de excellentissima verbi 





über die Lehrweiſe der böhmifchen Brüber. 609 


Dei administratione ift fehr ausführlich (bei Lydius, p. 205— 255), 
während das entjprechende erfte Stüd des zweiten Abfchnitts im 
dierten Theile der Confeffion von 1532 ziemlich kurz ift und nur 
Inhalt und Bedeutung des Wortes Gottes zur Seligkeit oder zur 
Berdammniß einfach Hinftellt. Hier in der Apologie Hören wir 
S. 221), daß das Wort Gottes, rein nach der Schrift verfünbigt, 
us bie drei für uns hochnöthigen Stüde lehre: principio poe- 
ıitentiam, mox fidem, postremo dignam vocatione vi- 
‚am. Die erftere durch Vorhaltung der Schuld und Strafe der 
Sünde, die zweite durch Bezeugung der unausdenklichen Gnade 
Bottes in Ehrifto gegen diefe Sünderwelt; die dritte durch Auf- 
forderung zu den rechten fructus justitiae, ut jam justificatos 
decet. Der erfte Punkt wird dann S. 223— 227 ausgeführt, 
der zweite S. 227—231, ber dritte S. 231—234, und von da 
his S. 236 folgt die Schlußzufammenfajjung, daß diefes dreifache 
Zeugniß treu und lauter darzubieten der Zweck des evangelifchen 
Predigtamtes fei. Dann folgt ©. 236 ganz im Sinn der ben 
ingeführten Lehrprincipien ein nachdrückliches Zeugnig, daß 
Yiefe vollftändige Lehre des Wortes Gottes nicht zerſtückelt 
verden dürfe, und eine Rechtfertigung, weshalb die Brüder, 
Ihe die beiden erften Stüde zu vernachläffigen, die dritte operatio 
rerbi divini befonber® betonten bei Denen, qui jam pridem a 
nultoque tempore adepti sunt divini favoris per fidem gra- 
iam peccatorumque remissionem seu justifica- 
ionem in Christo Jesu, quandoquidem hujus 
:onditionis major pars nostri populi sub nostra 
pastura sit, mit feharfer Verwahrung, daß fie deshalb die 
Seligkeit auf die Werke gründen wollten, wie wohl Manche diefen 
Verdacht gegen fie hegten: nescientes miseri, quod in evacua- 
tionem quin etiam contemtum Evangeli recta ferantur, qui 
docent, quod nemo placere Deo possit, nisi prius plenus 
bonis operibus fuerit. 

Damit ift denn eine neue und fehr ausführliche Erörterung über 
Rechtfertigung, Glauben und Werke eingeleitet, welche den übrigen 
Theil des Abfchnitts füllt, und von der die Eonfeffion von 
1532 Nichts hat. Die Iektere Handelt im zweiten Theile, dem 

Theol. Stud. Jahrg. 1868. 4 


610 Blitt 


eigentlichen Glaubensbelenntniß, sub 8 von der Buße, und zub9 
von dem Önadenbund Gottes mit den Gläubigen, ebenfo wie die 
Apologie, aber ohne den Begriff der Rechtfertigung ſchärfer hervor: 
zuheben oder beftimmt zu erläutern. Dies foll die Apologie nun 
nachholen, aber fie thut es in fehr eigenthümlicher Weiſe. 

Hier nämlich tritt der Begriff der justificatio nicht in der enger 
Verbindung mit der remissio peccatorum auf, wie in den am 
geführten einzelnen Stellen früherer Belenntniffe und uoch zug 
diefer Apologie felbft, jondern wird (S. 237) mit salus („salıs 
sive justificatio *“) gleich gejegt, und dem Begriffe eine dreifadt 
Bedeutung gegeben. Erftens bedeutet er die ewige, unbedim 
Guadenwahl, melde der dreieinige Gott vor aller Zeit üht 
die Seinen beſchließt und innerlich vollzieht, wodurch er eim 
Solhen „apud semetipsum et.per semetipsum solum pr 
suo non alterius arbitrio justificat, favore suo digaum 
faeit ..... nullo jure aut debito, aut etiam illius favori 
sensu et notitia ulla, tanto minus absque quibusvis merits 
illius hominis, vel etiam cujusvis alterius .... . quande- 
quidem omnes homines nihili et peccatis corruptissimi et re 
fertissimi sunt. In der Zeit aber macht Gott nun durd de 
Sendung des Sohnes und das Zeugniß des Heiligen Geiftes did 
freie Gnade den Erwählten fund und fegt fie für fie in Mit 
Alſo in der objectiven Heilsbegründung, theil als vorzetis j 
ewiger, theils als zeitlich geſchichtlicher, beſteht diefe erjte just: 
ficatio. Diefe justificatio, quae ita pendet in favore illo De 
patris, in meritis filii Dei et in donationibus seu illationibw 


üs in mentes nostras Spiritus Sancti wird dann bezeichnet alt 


die substantialis justificatio, seu justificatio ex parte 
Dei, ob id, quod in solo Deo sit et „extra hominee 
tota“ et extra omnia alia. Ohne diefen allein von Gott gr 
legten Grund der freien Gnadenwahl, wird dann weiter verfidert 
könne nichts Anderes, es fei was es wolle, den Menfihen vor Got 
gerecht machen (justificare apud Deum), neque ipsum verdur 
solum, neque itidem sacramenta illa, sed neque poenitenüs 
aut quantumeungue magna opera bona, neque ipsae afflictio- 
nes neque item misericordia et quaevis beneficia in proxinos 





‚über die Lehrweife ‚der böhmifchen Brüder. 61 


quin immo ne fides ipsa quidem hominis (damit ſoll 
wahrſcheinlich ein „‚propter fidem‘‘ im pelagianifchen Sinn aus- 
geigloffen werden) aut etiam virtutes, in summa nihil, quod 
vel in coelo vel in terra inveniri potest, tanto minus in in- 
feris vel purgatorio. 

Zweitens aber wird gelehrt (&. 242), quod salus seu justi- 
ficatio est et etiam sit (fein fol?) ex parte hominis sub- 
stantialis, et haec quoque quod consistat et dependeat 
in novitate creaturae, aut in divina ista spiri- 
tuali regeneratione, quam ipse Deus in homine opera- 
tur eo tempore, quo illi libitum fuerit, — ut possit ad ex- 
ternum fili sui verbum resonare jam suum echo: illi 
eredere, obsequi, parere, eo regi, poenitentiam seriam agere, 
idem, spem et charitatem ceterasque virtutes adipisci, in 
is adolescere, proficere et aedificari juxta vim a Deo sibi 
donatam . ... Quae quidem regeneratio jam non fit neque 
agitur extra hominem ut illa prima... sed est circa ho- 
minem et in ipso homine; non tamen aliunde quam ab illis 
jam dictis substantialibus. influentiis divinis (Hier lingt der 
ſcholaſtiſche Begriff der gratia infusa bdeutlih nad) procedit, 
atque citra omnem meritorum vel cujusvis dignitatis hu- 
manae, ut in prioribus, 'respectum; ex quibus (influentis) 
quidem, velut e fonte aquarum viventium rivuli isthaec 
(? gemeint find die vorhergenannten Gnadenfrüchte, der Glaube, 
ber Gehorfam u. ſ. w.) procurrunt suavissimi ad hominis con- 
solationem et futurae vitae delibationem, sed et ad certitu- 
dinem et argumentum filiationis et electionis Dei evidentis- 
simum. — Diefe zeitlih-fubjective justificatio alfo, als 
Neugeburt im dynamifhen Sinn, regeneratio zu Buße 
und Glaube, Liebe und Gehorfam gibt den Begnadigten theils den - 
Vorſchmack des ewigen Lebens, der fünftigen Geligfeit, theild das 
Thatzeugniß und Siegel jener vorzeitlichen justificatio sive electio. 
Sie kommt zwar nit zu Stande ohne geordnete Bermittelung 
durch die Kirche und ihre Diener, melde das Wort von Ehrifti 
Mittlerſchaft und die Sacramente verwalten, aber die Seligkeit und 
Heilszuverſicht beruht für den Begnadigten doch weniger auf dieſem 

41° 


612 Blitt 


objectiven Zeugniß von Ehrifti objectiver Sühnthat — welde fir, 
wie fonft auch, verhäftnigmäßig fehr zurüctritt gegen den allgemei- 
neren Begriff der innata filii in nos benignitas, propensissims 
filii bonitas etc. — als vielmehr auf der fubjectiven Er: 
fahrung des Erneuerungswerkes Gottes im Herzen, der [inchoata]| 
novitas des Menſchen. 

Gehört dazu num freilich auch jene remissio peccatorum, welche 
dem bußfertigen Glauben zu Theil wird, fo ſchließt dieſer Begrifi 
doch nicht: jo wie bei den Reformatoren alles Uebrige, „Leben un 

. Seligfeit“ bereits in fih, und wenn mit demſelben der andere de 
justificatio verbunden wird, fo bedeutet diefer Ausdruck im Zr 
fammenhang diefer Erörterung vielmehr eben das zu dem jwribifce 
Moment der Gnade hinzugehörige Dynamiſche. Die justitia 
welche dem Menfchen fo in der Zeit zu Theil wird, — salıs, 
iſt nicht eigentlih, am wenigften ausſchließlich, eine justitia im- 
putata, forensis, fondern vielmehr weſentlich eine justitia infusa 
inhaerens, das justificare ift ein justum facere. 

In diefem Sinn heißt e8 ©. 243 weiter: Opus quoque hot 
Dei intrinsecum in homine recte et aptissime ac propris- 
sime et dici et haberi, ac quidem esse re ipsa et actu sa- 
lutem seu justificationem ipsissimam. Hic enin 
jam homo non solum occulte ac secreto apud Deum et in 
Deo justificatur aut armatur (?) vel in deliciis Dei es. 
verum etiam et apud semet jam ipsum in corde et in ips 
sua conscientia, scienter et sensibiliter sibi ipsi, e salvands 
esse se omni certo certius habet, sed et apud homines ... 
quin et juxta ipsam veritatis sententiam.... pro tali ju 
stissime pronunciatur ac justus justissimo Dei judicie 
effieitur. 

Die Anſchauung ift eine ähnliche wie bei Oſiander, wenn er 
erftens an Chriſti Kreuz die allgemeine Vergebung der Sünde voll: 
zogen werden läßt und dann zweiten® jeden Ginzelnen zu feiner 
Zeit gerecht gemacht werden durch feine Einpflanzung in Epriftum: 
nur daß das erfte Moment noch weiter zurüd verfolgt ift bie in 
feine Telgte Wurzel in der vorzeitlichen Gnadenwahl Gottes, worin 
dann ein Anfnüpfungspunft mehr für die reformirte Kirche un 





über bie Lehrweiſe der böhmifchen Brüder. 13 


deren Lehre von der Heilszueignung liegt. Das biblifch -paulinifche 
Schiboleth der Intherifchen Kirche: Chrifti objective Verföhnungs- 
that und die Rechtfertigung durch den Glauben an diefe allein ale 
actus forensis, ift zwar nicht geleugnet oder ausgeſchloſſen, aber 
unverkennbar ſehr zurüdgeftellt. Dagegen fehlt wiederum jedes 
Element der pelagianiſchen cooperatio, durch melde die römifche 
Lehre ihre infusio gratiae sive justitiae unterbaut; ber allgemeine 
bibfifche Begriff der freien fchöpferifchen Gnade im Sinn von 
Eph. 2, 8—10 und Röm. 8, 29. 30 ift unverfümmert im Recht 
gelaffen, und der ganze Vorgang diefer zeitlichen regeneratio wird 
in biefem Sinn (S. 244) ausdrüdfich nach Joh. 3 mit ber phy⸗ 
figen Zeugung verglichen: siquidem Deus hominem prius, 
non secus atque in utero matris vivificat, componit 
et denuo recreat (quod jam apud Deum justitia est), 
quam ab extra illuminat, cum juxta promissorum suo- 
tum fidem aufert ab eo cor lapideum .... et tradit illi vim, 
quae illud mollificet et carneum faciat, ut sit alacre, obse- 
quiosum etc. In diefer Beftimmung berührt ſich der Lehrtypus 
vielmehr mit dem der fpäteren Tutherifchen Dogmatifer, wenn fie 
fraft der Taufe die regeneratio bereits eintreten laſſen, ehe die 
iubjectid bewußte Glaubensaneignung des Verdienftes Chrifti, die 
justificatio im engeren und entfdeidenden Sinn, erfolgt, Uber 
die Brüder nennen folche recreati eben bereits justificati, nad) 
ihrem Begrifiszufammenhang, und zwar ſchon zu einer Zeit, wo 
diefe renovatio ihnen nur erft dem göttlich objectiven Anfang nad 
zu Theil geworden, in das are fubjective Bewußtſein aber noch 
leineswegs eingetreten ift, fo daß fie certum de se ipsis judi- 
cium hac in parte facere nesciant, scilicet illine ipsi sit,n 
an alii electi Dei et ejus regni fili, plane ut neque ipse 
noviter natus infantulus ad longam usque aetatem potest 
debite judicare, quamquam et audiat et videat ac sensibus 
utatur, fruatur sole auraque aetherea et aliis rebus sibi con- 
venientibus. Geradeſo ift e8 auch mit diefen „ex electorum 
albo‘“; verum post, ubi’adoleverint, tempore suo sunt ist- 
haec cognituri — namlich die in Wort und Sacrament inzwiſchen 
ſchon immer van ihnen genofjenen Gnadenfpenden — ii citius, 


614 Britt 


illi posterius, pro modo et ordine dispensationis divinae. 
So, heißt es, fei e& bei den Apofteln vor dem Pfingftfet 
auch geivefen, die damals des Heilands Wort und Werk noch fein 
wegs wirklich verftanden und doc Erwählte und Begnadigte ge: 
weſen ſeien, und fo ſei es mehr oder weniger bei Allen: plane 
non nascitur perfectus et consummatus homo, ut juxta car- 
nem, ita ne juxta spiritum quidem, verum pusilli prineipio 
eduntur in lucem, infantuli demum paulatim succrescunt 
quoad in viros perfectos adolescant. Wenn ſolche Kinder in 
Chriſto und Anfänger auch fterben, jo werden fie doc) felig frıt 
der justificatio durch Wahl und Geift Gottes; wer aber länge 
lebt, der reift in der Schule Gottes. nach dem Worte Eprift: 
„Wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe“, md 
nad) dem Gleichniß vom Himmelreich (Mark. 4): „Der Sm 
mächfet Tag und Nacht, ohme daß der Menſch es merkt.“ 

Dabei verwahren fi die Brüder aber ausdrücklich gegen dir 
Folgerung, welche fcheinbar aus diefen Sätzen hervorgehen künnt, 
als wären bie äußeren Gnabenmittel, Wort und Sacrament, fir 
diefe recreatio gleichgültig, und gefchähe diefe unabhängig vo 
jenen als blos finnlichen Dingen. Dagegen hätten ihre Vorfahrt 
ſchon genügend geftritten. Allerdings aber. haben, fie in dieſen 
Zufammenhang mehr nur vorausgejegt und furz erwähnt, ald br 
ſtimmter betont, daß diefe Gnabenmittel die media jeien, durh 
welche Gott die recreatio bewirfe; und auch im folgenden Abſchrin 
der von den Sacramenten im Allgemeinen handelt, wird diefm 
ſammt dem Wort zwar die heilswirkſame Sräftigkeit zuerkannt, 
aber doch ausdrücklich nur befehränft auf die „electi* (©. 257). 
Dies fteht in Uebereinftimmung mit der Faſſung der justificatio 
a parte Dei == electio aeterna. Die auf urfprünglic huſſi⸗ 
ſchem Grunde (die ecclesia als coetus electorum) ruhen 
Geiſtesverwandtſchaft mit der reformirten Kirche tritt auch fir 
in's Licht zu einer Zeit, als bie Brüder ſich derſelben ifrerfeitt 
noch faum bewußt waren. Denn die nähere Bekanntfhaft mit 
derfelben fällt für fie erft in das Jahr 1540. 

Der Begriff der justificatio erfhöpft ſich den Brüdern aber 
nod) nicht in den genannten zwei Momenten: dem göttlichen, aufer- 





über die Lehrweiſe ber böhmifchen Brüder. 615 


zeitlichen, grundlegenden und dem beziehungsweife menſchlichen, in 
der Zeit ausführenden und verwirklichenden, fondern es gehört zum 
Vollbegriff ihrer justificatio, wie befonderd S. 248° in furzer 
Ueberficht ausgefprochen wird, aud das Moment der ſich auswir⸗ 
fenden Heiligung. Da heißt es: Declaramus, quo modo et 
quid de justificatione hominis lapsi sentiamus, quo scilicet 
pacto Deus hunc sibi justificet, scilicet (1) apud semetipsum 
tacite, secreto ac incomprehensibiliter, posthac (2) et apud 
ipsum hominem, ipso nondum id agnoscente, tum ac tan- 
dem etiam (3) cum ipsius ac aliorum quoque certo 
et evidente testimonio ac sensu, perinternam hujus 
ritae corroborationem assiduamque, quam Deus, ut regene- 
tavit, ita educavit ministerio ecclesiae, quae quidem crescit 
& augmentatur de die in diem, in agnitione Dei ex fide 
prodeunte, de qua ad Phil. 3: non habeo, inquit Paulus, 
astitiam, quae ex lege est, sed eam, quae ex fide Jesu 
Christi est, quae ex Deo est justitia®), ut eum scilicet 
ıgnoscam et vim resurrectionis et societatis sive communio- 
is afflietionum illius, cum adsimilor morti ipsius. 

Alfo Erwählung, Neugeburt und Heiligung zufammen, 
sie eine aus der anderen herborgehend, erfüllen erſt den Begriff 
er justificatio, des justum facere. Zu diefem Sinn heißt es, 
anächft mit Beziehung auf dieſes dritte Moment, weiter: Quam 
wi habet, certissimum apud se habet testimonium, quod sit 
justus apud Deum, gratus illi filius et haeres vitae aeter- 
nae; et quanto magis in hac vita et justificatione 
— dem neuen Heiligungsfeben — creseit, ae seipsum per vir- 
‚utem Spiritus Sancti Dei opera agentis exercet, satagitque 
n omni opere Deo placere, tanto semper majorem justi- 
ieationis suas apud Deum certitudinem hujus, scilicet 


a) Das mi 7 ziores wird übergangen, alfo jedenfalls nicht im Luther's 
Sinn von einer dem Glauben „jugerech neten“ Gerechtigkeit verſtanden, 
fondeen richtig fo, daß das dd dem vorhergehenden du weſentlich parallel 
iſt, und durch beide die menſchlich fubjective Bermittelung (per) und Bor- 
ausfegung (propter) bezeichnet wird, welche die Ertheifung der dexameuen 
von Seiten Gottes bedingt, 


616 Britt 


beneplacentis et perfectae voluntatis Dei erga se assequitur 
habetque. Hier erſcheint allerdings dies dritte Moment, die gott- 
gewirfte Heiligung, hauptſächlich immer als das Mittel unſerer 
Bergewifferung über ein tieferes und entjcheidendes prius, da 
jastum esse apud Deum — coram, &vairuıov, Röm. 3, 20 —, 
und ber Inhalt des Teteren wird übereinftimmend mit der Er- 
Täuterung, welche Paulus und die Neformatoren dem Begriff der 
dixamoss sive justificatio geben, beftimmt als das gratum 
esse filium Dei et haeredem vitae aeternae — 
viossole, xingovönov alas —; aber bei alledem tritt dieid 
beftimmte juridifche Moment nicht fo hervor wie dort, beherrik 
nicht Alles, fondern ift mehr nur vorausgefegt und amgebeukt 
Wir finden auch, was charalteriſtiſch ift, faft gar feine Citate au 
dem Römerbrief, am wenigften aus dem erften und Kaupttkil 
deffelben, welcher Hierher eigentlich gehört. Aber freilich, was fer 
zu beachten ift, und von uns ſchon oben bemerft wurde, nun auf 
nicht etwa eine Berufung auf Jakobus und deſſen von ber par 
liniſchen abweichende Darftellung des Verhältnifjes von Glaube 
und Werken und Rechtfertigung, fonbern neben den Berufunge 
auf Worte Chrifti aus den Evangelien und Zeugniffen des Panlıt 
ans anderen Briefen befonders Häufige Eitate aus Johannet 
So heißt e8 an der angeführten Stelle gleich weiter: Atque huc 
recta id 1 Joannis 8 tendit: filioli mei, inquit, non dil- 
gamus verbo seu lingua sed ipso actu ac opere et veritate. 
Per hoc, inquit, cognoscimus, quod e veritate prognati sı 
mus et in conspectum ejus suadebimus cordibus nostris. 
Quoniam si condemnet nos cor nostrum, major corde nostro 
Deus est et omnia novit. Carissimi, si cor nostrum nos 
non condemnaverit, fiduciam habemus erga Deum, et quic- 
quid petierimus, accipimus ab eo, quoniam mandata illius 
servamus et ea, quae placita illi sunt, coram eo facimus 
Et inferius: Per hoc; inquit, novimus, quod in Christo ma- 
nemus et ille in nobis, quod e spiritu suo impartitus est 
nobis. . 

Hier wird nun jenes fich nahe anfchliegende Wort des Paulıt 
aus Röm. 8 damit verbunden: Quod et Paulus diserte tests 





über die Lehrmeife ber bohmiſchen Brüder. 617 


ur ad Romanos dicens, quod ille ipse spiritus testimonium 
eddit spiritui nostro, quod simus filii Dei. Aber baffelbe 
chäft in diefer Stellung und Verbindung eine beftimmtere Bezie- 
ung auf das Zeugniß der Werke, als es dort eigentlich Hat. Zwar 
t ber Zufammenhang von Röm. 8, 16 mit V. 12—14, wo bie 
tsifche Forderung und Vorausfegung bleibender Gotteslindſchaft fo 
zergifch ausgefprochen wird, nicht fo zu überfehen, wie von pro⸗ 
ftantifcher Seite, namentlich bis auf die Zeit des Pietismus, meift 
eſchehen ift; dennoch aber ſcheint Paulus gerade in ber angeführten 
ätelfe bei diefem testimonium Spiritus Sancti — ſchon wegen 
3. 15 und im Zufammenhang mit feiner in den vorigen Eapiteln 
itwickelten Lehre von der Rechtfertigung — zunächſt doch an das 
mittelbare innere Wort des Geiftes, an das menjchliche Herz, 
a denken. Der Standpunft, den die Brüder hier einnehmen, ift 
icht ein unbiblifcher, aber er ift mehr ein johanneifcher als der 
xciell pauliniſch⸗ reformatoriſche, und zwar ift es ein Johanneis- 
ms, der noch nicht gehörig durch das pauliniſche Zeugniß unter⸗ 
aut und ſcharf beſtimmt iſt; alſo wenn man eine ſolche Unter⸗ 
heidung, wenigſtens dogmatiſch genommen, machen kann, mehr 
och der Standpunkt des Evangeliums des Johannes als der der 
driefe (vgl. beſonders 1 Joh. 1, 7.8). Namentlich unterfcheidet 
: fi) von dem fpecififch- reformatorifchen am meiften, ber doch 
jer feinerfeits in feiner Polemik gegen das römifche Werkweſen 
eilich auch dem Paulus felbft gerade nach der ethifchen Seite Hin 
icht vollftändig gerecht wird. Dies ift hier bei den Brüdern mehr 
er Ball, wie ſich gleich im Folgenden zeigt, wo auf ſchöne Weife 
it Verwerfung alles felbfteigenen Gutesthuns, doc die fortwähr 
ende ethifche Bedingtheit des gottesfindlichen Gnadenſtandes ganz 
ach dem einftimmigen paufinifch-johanneifchen Zeugniß betont wird: 
Et e diverso, quisquis eum spiritum Christi — qui ho- 
ıinem Christo adsimilat tum cum corpus peccati mortificat 
richtige Ergänzung von Röm. 8, 13 aus 6, 6 und Kol.’ 3, 5), 
onficit, destruit, et loco hujus novam vitam implantat et 
‚enerat ac etiam aedificat seu promovet — non habet in 
'e manentem et hospitantem (im Sinn von Röm. 8, 8 u. |. w., 
08 aber nicht citirt wird), is evidentissimum testimonium et 





sıs . Britt 


clarım argumentum hinc habet, quod penitus non sit, Christi. 
sed adversarii illids, plenus peccatis, etiamsi bene operari 
videatur. Et qui peccat, inquit Joannes, ex diabolo est, 
qui vero ex Deo est, is facit justitiam et quidem hanc, 
quod verbum Dei propensissimo corde audit, in 
se recipit ac rapit potius, id custodit, ne elabatur facil. 
Ea propter beatus et justus est, hacscilicet ju- 
stitia, quae fidei est, non ex'se ipso sed ex Deo, 
qui eum sibi ipsi justum fecit principio apud semetipsun 
ante secula olim futura, Christi redemtione, et Spiritus Sant 
horum omnium in cor instillatione et illuminatione, ac tr 
dem tempore suo hujus spiritus fidei, velut certissimi huja 
pignoris donatione. Siquidem leges suas in corda suorım 
dat pro certissimo favoris et participationis sive 
justifieationis suae signo et symbolo, quibus scilicet in 
posterum vivant, non sibi ipsi in concupiscentiis carnis sed: 
‚pro arbitrio illius, qui eum vocavit et ad regnum fili sd 
adscripsit. Cui quidem jam is — der Berufer — omnia 
quaecunque sic contulit aut donat assiduo, cum totis fruct- 
bus hine prodeuntibus imputat et habet pro justitia, 
ob Christum*), nihil aestimatis omnibus prioribus peccs- 
tis, sed ne quidem adhuc praesentibus eorum reliquiis, imms 
ne etiam tam frequentibus obmissionibus et defectibus s 
pleno debito hujus jam justitiae et spiritus et corporis at 
membrorum, a quibus tamen juxta Apostoli dogma expur- 
gare se assiduo oportet, 2Cor. 7, ut sunt ignorantiae, obli- 
viscentiae et multifariae imbecillitatis nostrae, sed et ab 
omnibus malis hine manantibus assiduo, usque etiam ab 
ipsis externis corporis membris (?); fidelibus etsi non sit 
possibile, nedum membra externa in totum sibimet subjicere 
(quamquam a Deo regenerati sint), iis quoque pro arbitris 


a) Wohl im Sinn von Röm. 4, 4. 5: Gott rechnet dem Erwählten dir: 
gefammten von ihm ſelbſt verfiehenen Gnaben und Gaben, Glauben, Lich. 
Gehorfam u. ſ. w., als Gerechtigkeit an, d. h. fieht fie, obwohl fie ct. 
empiriſch genommen, nicht find, um Chriſti willen als vollſtändig an. 





über die. Lehrweiſe der böhmischen Brüder. 619 


ivino, h! e. prout justitia illius exigit, uti et in officio de- 
nere, sed ne ipsum quidem spiritum suum, in quo isthaee 
'generatio incepta est fieri. 

Nam an perfecte, ut debent, Deo ex totoque corde fidant 
omnibus, an, ut par est, revereantur et timeant, an, ut 
nentur, eum et ex eo natos diligant‘, an illum veritatem- 
te illius in omnibus, ut meretur, glorificent, ne multis, 
ı in omnibus cum eo unius spiritus sint? — 
lane non. 

Relinquitur igitur, ut aliunde quam ex se ipsis 
ıstificationem habere .et ea se tueri et omnia 
ereri (nad) dem im vorreformatorifchen Zeitafter häufigen wei⸗ 
ten Sirme des Wortes hier — erlangen) eos oporteat, 
ie. a Deo, sic ut isthaec nominata et alia id genus, scita 
;ignorata, illis non imputentur ab eo, et quaecungue 
sunt adhue, et ad haec omnia quaeque aut habent aut 
wrantur ut suppleantur, perficiantur et conse- 
'entur gratuito ob Christum et Spiritum San- 
;um illius, quo donati sunt, pro quibus quidem ab omni- 
is sanctis oratur et orari debet in tempore opportuno: 
ıter noster, dimitte nobis debita nostra, sicut et nos di- 
ittimus debitoribus nostris. Et id ipsum sacrae scripturae 
went diligentissime. — 

Hier zeigt ſich Har und lebendig, wie wenig die Brüder eine 
jene Gerechtigkeit der Gläubigen aufrichten wollen. Sie ſprechen 
ht wie die Neformatoren direct von einer imputatio meriti 
hristi, wie davon auch Paulus nicht fpricht, fondern was fie von 
ır justitia imputata und von peccata non imputata ob 
hristum fagen, ruht ganz auf dem, was der Apoftel Röm. 4, 4 
st von dem Aoyksıw mv riiorıv sis dinasoodvnv, und V. 6 
m dem od ur) Aoylleoda duagslav. Wie Hier der erfte 
undlegende Glaubensact, fo wird im Lehrzuſam⸗ 
enhang der Brüder hernach um Chriſti und ſeines 
'eiftes willen das durch dieſen im gläubigen Herzen 
ngefangene gute Werk — die wefentlihe, dem wieders 
tborenen Herzen inhärent gewordene Gerechtigkeit — 





620 Britt | 
angerechnet, als wäre es fhon vollendet und voll! 
ftändig, und dies umfonft aus freier Gnade und Güt 
Gottes. 

Denn, beißt es etwas fpäter (S. 252), darum ift Chriftus 
der ewige Hohepriefter, nachdem er unſere Schwachheit an fid m 
fahren und Barmherzigkeit gelernet hat, zur Rechten der Majeftü 
in Gottes Thron erhöhet worden, ut hinc succurrat et auxile 
tur ejusmodi peccatoribus justis, quandocunque et qui 
cunque operibus illius beneficis eguerint et eum —e— 
Et hanc justificationem, quae dependet in recreatione 
Spiritus Sancti renovatione, consuevimus ab olim voum! 
substantialem seu essentialem ex parte hominis ad. differa- 
tiam illius prioris, quae in Deo est et ex eo pende 
aeterno. Quandoquidem in confesso est, scripturas 
de utraque hac justificatione loqui, jam per se, quad 
parte Dei, jam quae ex parte hominis, jam de utraque coy 
junctim, immo et pro evitandis erroribus id facimus. 

Nach einem Fräftigen Zeugniß, dag fie demmad nicht zu Dei 
jenigen gehören, welde das Heil oder bie Rechtfertigung gerad 
ber jelbfteigenen Werfgerechtigfeit ober irgend welchen Verdienſ 
zuſchreiben, oder biefelbe doch auf den Glauben und andere 
genden weſentlich und in erfter Linie gründen — denn in ® 
Sinne ruhe die Gerechtigkeit allein auf der freien Gnade Ga 
des Vaters, auf dem Verdienft unferes Herrn Jeſu Eprifti wid 
den Gnabenwirfungen des Heiligen Geiftes — erflären bie kai 
daß in jener faljchen Lehre der römischen Kirche vielmehr nic 
Anderes zu fehen fei, als die Erfüllung der Weiffagungen Chrif 
und ber Apoftel von der Verkehrung der Wahrheit im den Ley 
Zeiten durch falfche Propheten und Irrlehrer nach dem Willen da 
Fleiſches und der Menge. Sie fließen mit dem Bekenntniß, dei 
feitdem Gott die Herzen des böhmiſchen Volkes hauptſächlich durt 
feinen Heiligen Blutzeugen Johann Hus zu dem reinen Wort dc 
Wahrheit wieder zurüdgeführt und befehrt Habe, ihre Vorfahr 
und fie ſelbſt daffelbe fo ergriffen Hätten, daß fie ihm, diefem In 
teren Worte Gottes, allein anhangen, fi und all? das Ihre all 
danach richten und daran fefthaften wollten. Zugleich aber erfärt 





über die Lehrweiſe der böhmifchen Brüder. 621 


ie fich freudig bereit, wenn fie noch in irgend einem Stüde Mangel 
aben ober irren follten, wie das Menſchen nicht anders: ergebe, 
bwohl fie fich deffen nicht bewußt feien, fo wollten fie darüber 
ı feiner Weife halten und ihren Irrthum vertheidigen, vielmehr 
ern aus dem allerheiligften Worte Gottes fi des Beſſeren be- 
hren laſſen. Denn fie hätten feinen größeren Wunfc als den, 
eſem Heiligen geoffenbarten Worte Gottes von ganzem Kerzen 
izupflichten und gehorfam nachzuleben. 

Diefe Willigkeit weiter zu lernen, Haben die Brüder durch die 
hat bemiefen, wie die anfangs angeführten Stellen des Belennt- 
fies vom Jahre 1535, 1558 herausgegeben, und befonders die 
utſche Ueberfegung defjelben von 1573 zeigen. Da haben fie 
18, was ihrem älteren Standpunfte fehlte, den pau— 
miſchen Begriff der justificatio als dıxalwoıs im 
tundlegenden rechtlichen Sinn, nahgeholt und diefem 
legriff die gebührende Stellung im Lehrfyftem an- 
:wiefen. Ihre umfafjendere Beitimmung des Begriffs der 
stificatio nad den drei angeführten Beziehungen Haben fie aufs 
geben, weil diefelbe, obwohl an und für fi, mas den Gedanken» 
halt betrifft, nicht unbiblifch, doc, die Terminologie des N. T.'s, 
nächſt die des Paulus, nicht für fi Hat. Paulus gebraucht 
yar den Ausdruck dixasog, dixaoodvn auch im ethifchen Sinn 
r die Heiligung, ebenfo Jakobus und Johannes, aber wie Paulus 
rade das dem lateinifchen justificatio. entiprechende dixaiwoıg 
id dixasodv nur im juridifchen Sinn hat, fo hat Johannes 
inerfeit8 diefe Ausdrüce gar nicht, ann alfo jedenfalls auch nicht 
8 biblifher Gewährsmann für jene Bezeichnung des ganzen Be— 
igungswerkes Gottes als justificatio angeführt werden. Am 
enigſten paßt diefe Bezeichnung für das erfte vorzeitliche Moment; 
r das zweite, die neue Geburt aus dem Glauben, hat auch Luther, 
dem er diefelbe mit der diıxafwaıs in eins faßt, den Ausdrud 
ters ®) gebraucht, aber doc; fpäter nur felten, "und die ausgebil- 
tere Terminologie der confeffionellen lutheriſchen Dogmatik unter- 


a) und zmar and; in fpäterer Zeit noch; vgl. 9. Köflin, Luther's Theo- 
Togie II, 446ff. 


622 plitt 


ſchied ausdrücklich die regeneratio und die justificatio. Daſſelbe 
gilt von dem dritten Moment, der sanetificatio, welche ſich ala 
fortgehender Prozeß noch beftimmter von dem dem Begriffe nach 
einheitlich fundamentalen Act unterfcheidet, welchen jene beiden Aus 
drüde nur nad feinen beiden Seiten, der dynamiſchen und der ju⸗ 
ridifchen, bezeichnen. Daß die alten Brüder diefen dogmatifch und 
praftifch jo wichtigen Unterſchied zwifchen dem Grunde und de 
Folgen, der Wurzel und den Früchten, nicht klar und ficher erfaſt 
haben, ift und bleibt das Mangelhafte ihrer Lehre in diefem Stid. 
Hierin Hatten fie etwas Wefentliches zu Iernen von der deutide: 
wie von der ſchweizeriſchen Reformation. Denn Hier find Liter 
und Calvin durchaus einig auf dem fejten Grunde des paulinijce; 
Zeugniffes. 
Aber wie vorher bemerft wurde, fie haben Hierin willig gelernt 
„Nur der eine Unterfheidungspunft des beiderfeitigen 
Lehrtropus blieb ftehen, daß die Brüder auch fpäte 
hin der Heiligung als Frucht der Redtfertigung I 
Neugeburt eine beftimmte ethifhe Bedeutung zu 
ſchrieben. Nicht nur gewifje höhere praemia im ewigen & 
knüpften fie an einen treuen Heiligungsgehorfam der Liebe ü 
Glauben, wie dies Luther und namentlich auch Meelanchthon 
thaten, fondern derſelbe war ihnen aud ein in zweiter Liri 
mitbedingender Grund der Erlangung des ewigen ei 
bens felbft, die ethifch-organifche Verknüpfung zwiſchen 
der zeitlihen Begnadigung durd den Glauben un 
dem endlihen Beftehen im Geridt. Dies wird, m 
Gindely richtig Hervorhebt, auch in der Coufeſſion von 153 
(Art. 7 de bonis operibus) nit verſchwiegen, und in der deu 
fen Ausgabe von 1573) wird zu der Berufung auf 2 Petri 1 
noch eine Reihe anderer neuteftamentlicher Stellen Hinzugefügt, a 
welchen der Herr in diefem Sinne ſpricht (Luf. 6, 36. 38; 12, 33: 
14, 13. 14. Matth. 25, 35. 36. 40. 34) und dann gefglojle: 












a) Siehe Köftlin a. a. D., ©. 466 ff., und Giefeler, Kirchengeſtitnn 
&b. II, Abth. 2, ©. 236 in ben responsiones ad Bavaricos artieu)- 
b) Bei Köder, ©. 199. 


über bie Lehrweiſe der bohmiſchen Brüder. 623 


‚Hieraus ift Mar und, richtig, daß die Werke, fo aus dem Glauben 
eichehen, Gott wohlgefallen und reichlich begnadet werden mit aller- 
Gütern und Segen, beide, in dieſem und zufünftigen Leben.“ 

Erſcheint ſchon hier diefer den Brüdern fo wichtige Punkt in 
er ſpäteren deutſchen Ausgabe mehr betont als in der älteren la— 
anifchen, fo zeigt jene auch im vorhergehenden 6. Artikel: vom 
Hauben an Ehriftum, mehr als die legtere die nothwendige Baſis 
es fraglichen Lehrfages in der Faſſung des Glaubensbegriffes ſelbſt. 
dachdem nämlich beide Schriften bezeugt haben, daß der rechtferti— 
mde Glaube nicht des Menfchen felbfteigenes Werk, jondern ein 
Inadengefchent Gottes fei, geht die Tateinifhe gleich über zu der 
anz lutheriſch gefaßten Lehre von der rechtfertigenden Kraft folchen 
Haubens, umd die deutſche hat diefen Artikel nachher ganz ebenfo; 
cher aber fchiebt fie noch die Definition des Glaubens ein, 
weiche wir oben herausgehoben haben, und in welder „da® wil- 
ige Herz gegen alle göttliche Wahrheit im Evangelio verfündigt“ 
orangeftelit und gefagt wird, daß dadurch der Menfc „auf Chriſtum 
:8 den rechten Fels feine ganze Seligfeit gründe, ihn liebe, 
adhfolge, genieße und in ihm allein fein Hoffnung und Ber- 
auen fege“ u. f. w. Im Zufammenhang damit heißt es etwas 
äter: „Denn welche Gott rechtfertigt, denen gibt er den heiligen 
ieift und neugebieret fie anfänglich durch den heiligen 
teift (Ez. 36, 26), damit, wie zuvor in ihnen die Sünde und 
x Tod geherrichet, alfo wiederum herrſche die Gererhtigkeit zum 
vigen Leben durch Jeſum Chriftum. Und das ift die Ge— 
teinfchaft der Gnaden Gottes des Vaters, des Ver— 
ienjtes unferes Herrn Jefu Ehrifti und der Heilir 
ung des Geiftes. Das ift das Gefeg des Glaubens, das 
eſetz des Geiftes und Lebens, geſchrieben durch den heiligen Geift.“ 
In diefem Begriff des gläubig Liebenden Vertrauens, der 
eugeburt duch den heiligen Geift und der Gemeinfhaft mit 
jott in Ehrifto zu Gehorfam und Genuß findet das ethiſch 
mamiſche Moment neben dem rein juridifchen im Begriff des 
Haubens feinen Ausdrud, durch welches die guten Werke des 
laubens erſt ihre Lebendige pſychologiſche Baſis, und fo die Hei— 
gung ihre organifche Verknüpfung mit der Rechtfertigung befommt. 


624 Pitt 


Darin werden wir ein Zurüdgehen auf die urfprünglichen An- 
ſchauungen der Brüder wohl nicht verfennen fönnen, und es er⸗ 
ſcheint die als ein neuer Beleg für den accommodativen Charakter 
der Eonfeffion von 1535. Dagegen ift nicht zu überjehen, dai, 
was dieſe von der reinen paulinifch = Iutherifchen Rechtfertigungstehre 
fo nadhdrüdfich aufgenommen hat, in der Schrift von 1573 nich 
weggelaffen oder verfürzt ift, fondern mit aller Anugelegen- 
heit und voller Begründung aus dem N. T. wiederholt. Dies it 
den Brüdern aljo wirklich zum bleibenden und (ebendigen Beenntuir 
eigenthum geworben, und nur auf eine bibliſch und dogmatiſch if 
begründete Weife mit dem Wahren ihres älteren Standpurk 
organijch verbunden. So ift auch der Artikel von der Buße ie 
wie dort als fünfter vor den vom Glauben geftelit und micht mag‘ 
wie in den Befenntniffen von 1532 und 1538 als achter erſt nd 
dem von der Kirche, worin die Correctur durch die reformatoriide 
Xehre deutlich vorliegt. 

Dagegen finden wir in diefem Artifel von der Buße 1573 eina 
Zug, der 1535 fehlt, nämlich daß diefelbe durch die Doppelt] 
Predigt erweckt werben folle: 1) von der Gerechtigkeit Gottes nf 
dem Gefeg, 2) von „dem Glauben an Jeſum Epriftus] 
und feine Heilige Buße, die er für ung mit Schmerj 
gethan“. Wenn die Brüder in dem vorher erwähnten Puntt 
der Neugeburt zur Lebensgemeinſchaft mit Gott, die ihnen mit da; 
Rechtfertigung unmittelbar verbunden ift, die Wahrheit mehr 
der herrſchende reformatorifche Lehrtypus zur Anerkennung g 
Haben, welde A. Oſiander — und fie felbft früher — nod a 
unrichtiger Weife vertreten hatten, fo ftreift ihr Zeugniß Hier a 
die weiland von Joh. Agricola ebenfalls in einfeitiger Webertreibuz 
vorgetragene Lehre von der Buße aus dem Evangelium. Aus 
bier gilt, daß durch die Verbindung dieſes pofitiven Moments mi 
dem negativen, der Buße durch die Gejegespredigt, der Borgay 
erft zu feiner biblifchen und pfychologijch » ethiſchen Erfüllung gebratt 
wird. Doc ift dies Moment von den Brüdern nicht befondrt 
herausgehoben und betont worden. 

Dies hängt vielleicht damit zufammen, daß fie ein anderes De 
ment aus ihrer älteren Lehrart in diefer Schrift von 1573 i 















über die Lehrweife der böhmifchen Brüder. 635 


venig als in der von 1535 zur Geltuwug bringen, welches man 
ingern vermißt, und durch deſſen Wiederhervorhebung ihre fpätere 
'chre noch nad) einer anderen verwandten Seite hin gegenüber dem 
errſchenden proteftantifchen Lehrtypus zur billiſchen Bollftändigkeit 
oinde gebracht worden fein. 

Dies ift die Betonung des Begriffs der freien Selbſthin— 
ebung, der in Gottes Gnadenzuge wurzelnden ethiſchen That 
desjenigen, welcher in bußfertigem Glauben ſich zu Chriſto bekehrt. 
dies Heben die Schriften von 1532 und 1538 im 9. Artikel 
nter dem Begriff der Bundſchließung zwiſchen Gott und den 
Nenfchen, und zwar ausdrücklich als beiderfeitiger, Heraus. 
jierin findet jener Begriff der reformatorifchen Orthodorie vom 
Renfchen in der Erneuerung als subjectum mere passivum jeine 
lfame Berichtigung und Ergänzung und damit die biblifche und 
ogmatifche Wahrheit ihr Recht, welche Melanchthon und feine von 
en Gegnern als Synergiften bezeichneten Schüler, wie befonders 
3. Strigel gegenüber Flacius, fo nachdrücklich und mit innerfter 
ieberzeugung vertraten *). Man kann e8 in der That nur bedauern, 
aß die Brüder nicht auch in diefem Stüd das Gute, das ihre 
ktere Tradition ihnen bot, ſich erhalten oder wieder zugeeignet 
ıben. 

Und das umfomehr, da fie für bdiefen wichtigen Lehrpunft im 
ren früheren Lehrfehriften auch eine tiefere Baſis hätten finden 
Innen in der nachdrücklichen Unterfcheidung, welche diefelben madjen 
vifchen den zwei Arten von Sünde, „ber vergeblichen und uuver- 
eblichen“ (Art. 13). Dies ift abermals ein Moment, welches 
n Gebiet der veformatorifch- proteftantifchen Lehre nicht genug zu 
techt gefommen ift. Aber e8 nimmt allerdings auch bei den Brü— 
ern infofern noch nicht die bedeutende Stelle ein, welche ihm eigent- 
ch zukommt, als auch fie die allgemeine Sindhaftigfeit der ada- 





a) Bgl. die ſchöne und reiche Darftellung der „Weimarer Disputation von 
1560 bei Ruthardt, Die Lehre vom freien Willen, ©. 207ff. Befon- 
ders Strigel's in al’ feiner Verlegenheit dem Heftigen Widerfacher gegeu- 
über doc; unerſchütterliches Bekenntniß: „Der gute Wille müffe, wie Gottes, 
fo auch unſer fein.“ ©. 214. 

Theol. Stud. Jahrg. 1868, 42 





626 Plitt 


mitiſchen Menſchheit als bereits ohne Uuterſchied Alle zur Hölle 
verdammende Sünde darſtellen und den erwähnten Unterſchied erit 
fpäter geltend machen, wo es ſich darum handelt, die Sünde der 
Gläubigen aud) im Önadenftande und die Sünde der Ungläubige 
und Widerfacher des Evangeliums oder Derer, melde aus der 
Gnade gefallen find, in verfchiedene WertHbeftimmung zu bringen. 
Für die Frage nad dem Verhalten und der Stellung des Menſchen 
bei der Belehrung kommt es aber gerade auf die Faſſung an, 
welche man der Lehre von der natürlichen Sündhaftigkeit der Menſchu 
als ſolcher gibt. 

Dagegen Haben die Brüder nun in. der Betonung ber Bedeu 
der aus dem Glauben geborenen Werte der Gottesfinder für ts 
Erlangung der ewigen Seligkeit ſehr beftimmt das Moment fir 
gehalten, welches auf Lutherifcher Seite ©. Major in älterer Zi 
vertreten hatte, welches Melanchthon mehr als Luther hervorkeh, 
aber doch auch er nicht in dem Sinn und mit der Beſtimmihet 
wie die Böhmen. Wir haben aus alleın bisher Mitgetheilten a 
tannt, wie tiefe Wurzeln diefe Lehreigenthümlichkeit bei ihnen hal 
in der vorwiegend ethiſch⸗praktiſchen Grundrichtung der böhmiſchu 
Brüderunität von Anfang an. Wir mögen gern, ja wir müle 
in der Art und Weife, wie fie diefe Wahrheit ausdrücken, in da 
Vermiſchung von Rechtfertigung und Heiligung ein Merkmal du 
Urfprungs bdiefer Verbindung in. der vorreformatorifchen mitıd- 
alterlihen Kirchenzeit erfennen. Aber wir dürfen ums auch dagegen] 
nicht verfchließen, daß fie, wenn fie nun auch im hellen —8 
evangeliſch⸗ reformatoriſchen Wahrheitserlenntniß gerade von dieſe 
Wahrheit nicht laſſen, gewichtige Gründe Haben, dies zu thur. 
Und das find nicht nur die äußeren, daß es eben ihre Lehrtraditin 
fo mit ſich brachte — fie haben fonft an dieſer willig gebeffert — 
noch daß die von ihmen fo hoch geſchätzte Disciplin des kirchlicher 
Lebens dies zu fordern ſchien. Daß fie diefe fo Hoch Hielten un 
jo feſt bewahrten, als jie vermochten, war zum mindeften ebenic 
ſehr Folge jener dogmatifchen Weberzeugung. Und was fie in x 
lutheriſchen Kirche ihrer Zeit in Betreff des Lebens fo Vieler fahr. 
könnte fie nur in der Ueberzeugung beftärten, daß die durch der 
Proteft gegen römische Verdienftlehre Hervorgerufene Gleichgültiglen 





über bie Lehrweiſe ber böhmifchen Brüder. 27 


gen die „guten Werke“, die Furcht, der wahren Heiligungstreue 
gend eine Bedeutung für die Erlangung der ewigen Seligkeit zu- 
ichreiben‘, doch auch ihr Bedenkliches habe und Viele zur Nach: 
iffigkeit, ja zum Leichtfinn führe. Aber die Hauptſache war, dag 
ſich durch die Schrift dazu genöthigt fanden, hier anders zu 
teilen. Mag aud) das ftehend von ihnen angeführte Wort aus 
Betei 1 Hier noch nicht allein genügen, möchte felbft gegen die 
wermittelte Verwerthnng einzelner unter den angeführten fhnop- 
ben Ausfprühen Jeſu Einwand erhoben werden fünnen, das 
ite in dieſer Reihe von Zeugniffen, das Wort des Herrn in 
datth. 25, hat einen fo ftarfen Hintergrund an den parallelen vom 
eichte handelnden Stellen felbft bei Paulus (wie 2Kor. 5, 10. 
im. 2, 6ff.; 8, 13. 17. 18or. 10, 1—12. Gal. 5, 6. 15. 21; 
‚710. 15. 1Tim. 6, 18. 19. 2Zim. 2, 10—12; 4,7. 8), 
nen fich noch andere verwandte bei Petrus und Johannes an« 
fiegen (1 Petri 1, 14—17. 1860h. 2, 28. 29; 3,18 u. f. w.), 
5 bier der ſichere Schriftgrund der in Rede ftehenden Lehre Har 
tigt. Wir fanden aud von diefen Worten einige weitere an- 
führt in der Apologie von 1538. 

Selbſt Luther Hatte fich dem Gewicht dieſer Zeugniffe nicht ganz 
liegen Können. Wie er einerfeits, abweichend vom fonftigen, 
mentlich fpäteren, orthodor proteftantifchen Lehrtypus, mitunter 
nennt, daß die Lebendige Heiligungefrucht uns auch als ein 
ugniß gelten folle, daß wir Gottes Kinder find, in demen er das 
erk angefangen hat und auch volfführen wicd *), fo ſpricht cr et 
h aus, daß diefelbe ihre Bedeutung habe für das Beſtehen im 
dgericht ®). Er macht da zwar eine einfchränfende Unterfcheidung, 
em er hinzufügt, die Früchte des Glaubens gälten da wohl vor 
at, wider den Teufel und alle Feinde, aber „nicht bei oder 
der Gott felbft zwifchen mir und ihm allein, da liege 
les allein und zu aller Zeit am Glauben“. Gr meint da offen» 
t, wenn Gott mit der aus feinem Weſen herfließenden For⸗ 
ung einer vollkommenen, abfoluten Heiligkeit uns gegenüber: 





RAT in, Luther's Theologie II, 469ff. 
) Bol. ebenda ©. 467 ff. 
42* 





628 Blitt 


trete, könne Keiner vor ihm beftehen. Und dies ift eine tiefe un 
unzweifelhafte Wahrheit. Aber abgefehen von der frage, ob dern 
Gott wirtlid Denen, die einmal in Chriſto find, um 
jüngften Tage fo entgegentreten wird, oder ob es ſich eben him 
nicht um eine nur begriffliche Abftraction handele, muß doch vo 
Allem gefragt werden, wo fih in der Schrift diefe Unteride 
- dung finde, und wie Luther ji an der angeführten Stelle u 
1Joh. 4, 17 berufen fünne? Man befommt vielmehr durdus 
den Eindrud, daß er hier nicht fowohl aus dem Worte, ſonden 
aus feinem individuell und zeitlich bedingten Erfahrungsbewußi 
heraus rede. In diefem bildete aber der Gegenfag gegen jr 
Schatten oder Schein des Verdienftes jo fehr den Mittelpuch. 
daß andere Seiten der Schriftwahrheit dagegen zurücktreten mußten 
Bei den Brüdern war dies nicht in demfelben Mae der fu 
und die in den Gonfeffionen von 1532 und 1538 emtwiden 
veifen theologijchen Grundfäge über die Pflicht, nad) — 
der ganzen Wahrheit in ihrer organiſchen Gliederung un 
Zufammengehörigfeit zu traten, mußten fie noch mehr u 
hindern, das sola fide einfeitig zu betonen. Dies letztere hat 
protejtantifche Orthodorismus hernach zum Schaden der Kirde i 
Leben und Lehre noch mehr gethan, und Ullmann hat feiner 
mehrfach darauf hingewieſen, daß, kirchengeſchichtlich betrachtet, 
heilſames Eorrectiv dagegen aus den Schägen der vorreformas 
tischen deutſchen Myſtik mit ihrer Innerlichkeit und ethifchen Tieh 
zu gewinnen fei. Diefes Charisma ift den böhmifchen Brüberz 
ſchon weil fie Slawen waren, nicht in dem Maße eigen. Ce 
haben eher etwas Nüchternes, durch und ducch Praftijches. At— 
gerade nad) diefer Seite Hin, im Blick auf treue, im Glauben und 
der Gnade gegründete Lebensheiligung dürften doch auch aus der 
Theologie diefer anderen vorreformatorijchen Erſcheinung der mit: 
alterlichen Kirchengeſchichte fruchtbare Winfe zu entnegmen fein *: 
den immer volfendeteren Ausban der evangelifchen Lehre vom fi 
Der Spenerifche Pietiemus auf Grunde der evangeliſchen Mif 
eines Joh. Arndt Hat in diefer Richtung bereits gearbeitet. T: 
gegenwärtige evangelifche Theologie ſucht dies im manchen ihre 
Strömungen auch wiſſenſchaftlich in verſchiedener Weife zu t- 








über bie Lehrweiſe der böhmiſchen Brüder. 629 


defchieht dies auch nicht alfenthalben auf reine und richtige Weife, 
> daß das tiefe biblische Grundprincip der Reformation wirklich 
verlegt bleibt, jo ift doch die allgemeine ethifch= perfönfiche Ten- 
enz unferer Theologie eine tief berechtigte und ein fegensreiches 
wien der Zeit, in welchem veiche Kräfte für die Zukunft der 
che verborgen liegen. Wer hiervon Tebendig durchdrungen ift, 
r wird dann aud das, was jene alten Zeugen der Wahrheit nad) 
ren Kräften in diefer Richtung gethan umb gelehrt haben, der 
keahtung werth Halten. Um der lauteren Grundtendenz willen, 
elche fie dabei beftimmt, wird er gern über die formellen Unvolf- 
nmenheiten ihres wiſſenſchaftlichen Apparats und ihr unbeholfenes 
atein hinwegſehen, und im Stande fein, auch unter den mandherlei 
gmatifchen Mängeln und Unklarheiten, welche ihre Arbeiten älterer 
pit zeigen, .dod) das Moment der Wahrheit, welches fie vertreten, 
ı würdigen. 


2. 


Zur Tertlritit der Pfelmen. 
Bon " 
Prof. D. Sb. Schrader in Zürich. 


Die Pfalmen gehören bekanntlich. zu den in tertfritifcher Hinficht 
teniger gut erhaltenen altteftamentlihen Büchern. Der Grumd 
fer Erfheinung kann nicht zweifelpaft fein. Als das Gefang- 
nd Gebetbuch. der alttefiamentlichen Gemeinde wurde der Pfalter 
> häufig durch Abfchrift vervielfältigt, wie kaum ein anderes. alt: 
‚ftamentliches Buch; bei der Abfchrift felber aber war man weniger 
orgfältig, als bei derjenigen anderer Schriften des Kanons, als 

B. bei der Abfchrift des Pentateuchs; gehörten doch die Pfalmen 
u den fogenannten Fetubim, d. i. zu denjenigen Schriften des alt= 








680 Schrader 


teftamentlichen Kauous, die, wie fie am jpäteften zu dem Ran— 
tanoniſcher Schriften gelangten, auch noch fpäter in Hinfiht a 
ihre höhere Schägung Hinter denjenigen des erften und zweite 
Theiles des Kanons zurückſtanden *). Wielleicht trug zu der 
Beren Corruption des Textes auch noch der. Umftand bei, daß bi 
Pfalmen vielfach den Abſchreibern im Gedächtniß waren ; fo koun 
es denn kommen, daß der Abfchreiber ftatt der im Texte vorgefm 
denen Wörter oder Phrajen folhe einfügte, bie ihm gerade ander 
weit im Gedächtnig waren. Etwas Achuliches wiederholt ſich ſpin 
belanutlich noch einmal bei der lateiniſchen Ueberfegung des Pit] 
ters d). Bei einer ſolchen Befchaffenheit des Textes num aber m 
der Ereget mehr als bei irgend einem anderen altteftamentlhe] 
Bude bei dem Pfalter wie das Recht fo auch die Pflicht Haba 
bei dunfeln Stellen vor Allem auf Herftellung des urfprüngli 
Wortgefüges Bedacht zu nehmen und, wenn nöthig, zu verſuthe 
ob ſolches nicht durch Conjectur zu erzielen ſei. Es ift dieſes de 
auch feit Houbigant (geftorben 1783) bereits bei einer Reihe u 
Stellen und vielfach, mit Glück geſchehen. Indeß dürfte dod m 
diefe oder jene Stelle im Pfalter übrig fein, wo man, meinen ” 
namentlich auch, ftatt ohne Weiteres grammatiſche Anomalien 5 
ftatuiren, vielleicht gut thäte, die Stelle einmal darauf an 
ob nicht etwa ein Textgebrechen vorliege, das Heilung heiſche. © 
ift der Zweck dieſes Auffages, mehrere ſolcher Pfalmitellen, m 
meinen wir, die Corruptheit des Textes evident und aud ig 
Verbefferung des ſchadhaften Wortgefüges nicht allzufchwer ſtu 
dürfte, einer eingehenderen Betrachtung zu unterftellen und zur Be 
befferung der Textſchäden Vorfchläge zu machen; vielleicht fin 
der eine oder andere derſelben bei competenten Beurtheilern Beijıt. 
Wir werden aber bei Beſprechung der verfchiedenen Stellen nid 
die für unjern Zweck zufällige Reihenfolge der Pſalmen im Pak 
beobachten; fondern diefelben gruppenweife behandeln, gleiharig 
Fälle in der Erörterung mit einander verbindend; wir gewinnen is 
deu Vortheil, daß die eine Stelle der anderen zur Erläuterung bi 


a) Bgl. Dillmanın in den Jahrbb. f. deutiche Theol. (1858) II, 482f: 
b) Siehe Beet, Einl. in's A. T. (1860), ©. 783b. 786. 








zur Tertlritit der Pſalmen. 681 


Wir beginnen die Erörterung mit ein paar Stellen, wo, nach un⸗ 
erer Anficht, die nicht urfprüngliche Textesfesart veranlaßt ward durch 
in in ber Nähe ftehendes ähnlich ausfehendes Wort. Einen 
fall, wo biefes ziemlich evident fein möchte, bietet Pf. 74, 19. 
der Bers lautet im Hebräifhen: ray mn In vos mıma ınn br 
nsıb roWin dr. Die traditionelle Ueberſetzung diefer Worte ift: 
Gib nicht den Thieren Preis die Seele deiner Taube; des Lebens 
einer Elenden vergiß nicht in Ewigkeit.“ Die Schwierigkeit Tiegt 
ier in der erſten Vershälfte. Nun wäre an dem Gedanken felber 
irchaus nichts auszuſetzen; tritt er und dod in dem im Ausdrude 
ah font mit dem unfrigen ſich berührenden Pf. 79, 2 ent 
gen, wobei indeß doc zu beachten, daß dort das beftimmtere 
en „Sleifh“ ftatt wos „Leben“ fteht; auch findet fid dort neben 
an nn das bdefinivende ph, das man auch Hier erwarten würde, 
Bas aber gerechte Bedenken erregt, ift, daß in unferm Pfalme 
x st. constr. nın jteht, während man den st. abs. mm erwartet, 
ı ja ein das Wort definivender Genitiv nicht folgt. Man hat 
un freilich wohl verfucht, diefen anomalen st. constr. fyntaktifch 
ı rechtfertigen, indem man fih auf 2Kön. 9, 17 berief und 
‚inte, der st. const. jei hier im „Fluſſe der Rede“ beliebt, und 
var um die Form dem folgenden nır gleich zu machen. Allein 
> nicht auch 2 Kön. 9, 17 ein Textfehler vorliege, wie Ewald 
lches als möglich Hinftellt *) und Maurer, Gefenius u. A. geradezu 
mehmen, fann zum mindeften gefragt werden; die Möglich 
:it einer Verfchreibung war durch das vorhergehende nynd 
enigftens unendlich nahe gelegt. Der in Rebe ftehende Fall unter 
peidet fi von demjenigen im Konigsbuche zudem auch noch da= 
rd), daß der unfrige die weitere Unzuträglichleit bietet, daß dem 
‚m unmittelbar hinter einander eine verfchiedene Bedeutung eignen 
ürde; das eine Mal die Bedeutung „Thier“, das andere Mal 
e Bedeutung „Leben“. Aus eben diefem Grunde dürfte auch die 
aheliegende Conjectur, daß hinter dem erften min ein pre (vgl. 
ſ. 79, 2) ausgefallen wäre, ſich wenig empfehlen ; durch diefe 
jenderung würde zudem die in die Augen fpringende äußere Gleich 


a) Ewald, Hebr. Sprachlehre, $ 173. 





632 Särader 


heit der Glieder zerftört. Beide Gründe Laffen auch die Annahme 
Olshauſen's und Anderer unmahrfcheinlich erfcheinen, daß das be⸗ 
treffende Wort hier, wie zuweilen fonft im A. T., im Sinne von 
„Schaar“ zu nehmen fei, und daß Hinter demfelben ein Wort aut: 
gefallen fei, das „bie Feinde“ bedeutete. Eine Verbindung aber wie: 
derum wie we) nın „Gierfchaar“ oder „Gierleben“ (Gefeniut, 
Maurer, Hengftenberg, Delitzſch) ift gegen altteftamentlichen Sprat- 
gebrauch, indem we) nie fo abjolut, wie Bier erforderlich wir, 
im Simme von „Gier“ gebraucht wird; es eignet dem Worte dift 
Bedentung nur, wenn ein Genitiv folgt, dem eine folde wi # 
kommt. Diefer letztere Umftand hindert und auch, der im Uebrin 
finnreihen und einfahen Conjectur Hupfeld's unfere Zuftimmm 
zu ertheilen, der nämlich nın und we) die Stelle wechſeln fit 
und überjegt: „Gib nicht der Wuth Ipreis] das Leben Dein 
Taube.“ Es wird auf andere Weife zu helfen fein. Wir biidw 
auf den Parallelvers: „Vergiß nicht de8 Lebens Deiner Elend’, 
ein ähnlicher Gedanke fteht auf jeden Hall im erften Gliede 1 
erwarten. Einen ſolchen bot auch der urjprüngliche Text. Da 
Dichter ſchrieb ftatt mind vielmehr mygb, alfo: „Gib nicht da 
Tode preis die Seele Deiner Taube.“ Nunmehr entſprechen fd 
beide Glieder vollfommen und jeder Anftoß ift befeitigt. Dit 
mob na wie Pf. 118, 18. Ez. 31, 14. Das dem nın in feinm 
zweiten und dritten Confonanten fo ähnliche, bezüglich "gleiche nr 
aber ift aus dem zweiten Gliede in das erfte eingedrungen, m 
ftatt des urfprünglihen Inn] ande 2 Sam. 22, 5 das Imol ıır 
Pſ. 18, 5 aus dem dyder⸗ »bam des folgenden Verfes im den vor 
hergehenden fünften Vers verfchlagen ward (fiehe die Ausll. zu de 
Stelle), jo daß zur Erklärung der Entftehung des Tertfehlers © 
nicht einmal noch der Annahme, daß ein Abfchreiber das in feinem 
Exemplare theilweis corrumpirte mo aus dem folgenden nın ſit 
ergänzt Habe (der im Uebrigen nichts entgegenftände), zu bebirit: 
ſcheint. — Einem ähnlichen Falle glauben wir zu begegnen Pf. 68,2° 
Hier Tefen wir zuoörderft mit fämmtlichen alten Berfionen im erfter 
Gliede ftatt pby ps vielmehr ofby mix, indem mir für de 
weitere Begründung diefer Aenderung der maforetifchen Lesart auf 
Ewald (Dichter des A, B.'s, 3, Ausg, Bd. II, ©. 424) m 





zur Tertkritik der Palmen. 638 


weifen (zu vgl. auch Hupfeld und Olshauſen zu der Stelle). Iſt 
danach V. a. zu überfegen: „Entbiete, o Gott, Deine Kraft“, fo 
macht nun wieber Schwierigkeit im zweiten Hafbverfe (av ey 
vd pay m) das erfte Wort my. Man hat ſich gemeiniglich dabei 
beruhigt, das Wort als einen Imperativ mit h. parag. anzufchen 
= „jei ſtark“. Aber wo bleibt in diefem Falle das Subftantiv, 
auf welches ſich das ı1 zurückbeziehen könnte, da ombn (de Wette) 
olches nicht fein Tann, kraft deffen, daß dyd nie fo abſolut vor 
immt im Sinne von: handeln, wirken (Hitzig). So hat man 
nehrfach my als tranfitiven Imperativ im Sinne von „befeftige“ 
der ähnlich nehmen wollen; eine folche Bedeutung ift aber ohne 
Beleg (Hupfeld); zudem ift nicht blos die script. plena my ftatt 
yy bei dem Imperativ, fondern diefe Form des Imperativs der 
Verbb. med. gem. überhaupt analogielos (Higig). Mit der im- 
xrativiſchen Faſſung diefes my wird fomit überall nicht zurecht 
u fommen fein. So ift alfo any wohl nur andere (Feminin-) 
jorm für iy, wie pp neben pr ſich findet? D. Hitzig trägt 
ein Bedenken, folches zu ftatuiven, und überſetzt danach den ganzen 
Bers: „Entboten hat Dein Gott Deine Madıt, die Gottesmacht⸗ 
jilfe, fo Du uns geleiftet.“ Diefer Auffaffung haftet num aber 
wächft die Schwierigkeit an, daß der Berfaffer des Pſalmes müßte 
Nier den st. constr. auf 7— ftatt auf n— haben ausgehen Laffen, 
oahrend er doch fonft (W. 13. 31) denſelben ganz regelmäßig 
ildet. Sodann muß Anftoß erregen die Poftulirung einer weib- 
ichen Form my meben der fonft ausschließlich ſich findenden 
nännlichen ſy, wie nicht minder, daß nun gerade die durch das 
Antreten der Yemininendung zufammengedrängte erfte Sylbe follte 
lene (mit Vav) gefchrieben fein, während doch in einem ganz 
ihnlichen Falle unmittelbar vorher bei derfelben Sylbe befective 
Schreibart fich findet. Für das erftere kann man ſich aud nicht 
vohl auf mprı berufen, da bei diefem Worte die männliche und die 
veibliche Form unendlich oft wechfeln; während in unferem Tale 
ticht nur das Gegentheil jtattfindet, fondern die männliche fogar 
anmittelbar vorher ſich findet. Sehen wir und fo in der Lage, 
sie beſprochene Auffaffung ablehnen zu müſſen, fo hat D. Hitig 
indererfeit8 darin gewiß Recht, daf er vor dem aba ein Sub⸗ 


684 Schrader 


ſtantiv poſtulirt, auf welches das ı im Folgenden ſich zurüd- 
beziehen müſſe. Welches nun war dieſes unzweifelhaft in dm 
my ſteckende Subftantio? — Ein Fingerzeig wird und jedenfalls 
die ſeltſame Plenefchreibung des betreffenden Wortes fein mühe. 
Woher diejes auffallende Vav? Wir meinen, es ift Reit eins 
urfprünglichen I, und der Dichter ſchrieb nichts anderes ald mn 
— „[entbiete] die Hüdfe, o Gott, die Du ung geleiftet“, d.i 
feifte ung den Beijtand, den Du uus früher (vgl. V. 8ff.) hit 
zu Theil werden lajjen. Der Abfchreiber wußte mit dem us 
Resch verdorbenen Vay nach dem 1 nichts anzufangen; das vor: 
hergebende zzu veranlaßte ihn wie zu der Umftellung der Cw 
fonanten Vav und Zain, fo zu der Ausſprache app, fees, 
er dabei an ein Subftantiv in der Bedeutung von ip, fie, 
daß er an einen Imperativ mit h. parag. dachte. — Vielleiti 
war ein ähnlicher Umftand auch Urfache des Teptfehlers in eine 
Stelle, an welcher die Exegeten ſchon vielfach fich abgemüht haben. 
Pſ. 58, 2 leſen wir in unferem maſoretiſchen Texte: obx now 
DIR 92 1DBWn Dinehn pınaın pr. Daß die vorliegende Punc- 
tion des ſchwierigen od nicht die richtige und einfach in An 
logie von Pf. 56, 1 gemacht ijt, dürfte als allgemein anerfamt 
gelten. Man Hat fic) jegt gemeiniglich bei der Ausfprade oir 
beruhigt, indem man unter den „Göttern“ die Handhaber der gön 
lichen Obrigkeit auf Erden, infonderheit die Richter verith. 
Allein daß die Richter im A. T. fo ohne Weiteres als „Götter 
bezeichnet feien, möchte doch nicht jo feitftehen, als man gemöhnli 
annimmt (fiehe Hupfeld zu Pi. 82; Higig, Palmen IL, 13: 
Jedenfalls hätte der Verfaſſer es nicht unterlaffen dürfen, im Eon 
texte jelber irgendwie anzudeuten, daß num hier unter den „Göttern“ 
nicht etwa überirdifhe Weſen, fondern. vielmehr Lediglich iride 
Beamte zu verftehen feien; vgl. Hitzig a. a. D.: „als Subjede 
begriff durfte der Verfaffer die Götter nicht aufftelfen, ofne un 
über die Kategorie zu verjtändigen.“ Wir möchten geradezu de 
haupten: hätte der Verfaſſer bei den „Göttern“ am Erdeuridtt 
gedacht, jo würde er es ſicher nicht unterlaffen haben, etwa in dm 
Parallelverſe, irgendwie diefe Elim näher zu definiren oder akt 
fonft, daß unter den Elim nicht wirkliche Götter, viele Rider 





zur Tertkeitit der Pſalmen. 635 


zu verftehen feien, irgendwie anzubenten (vgl. Bf. ß, 6.7). Durch 
das im Parallelverfe ftehende on v2, das etwa als Anrede zu 
faffen wäre, kann ber Dichter diefes nicht wohl gethan haben, da 
dieſes denn doch ein gar zu allgemeiner und unbeftimmter Begriff. 
Zudem eignet fih das „bie Menfchenfinder“ weit beffer zum Ob» 
jecte denn zum Subjecte de8 Verbums *). Diefer legtere Umftand 
dürfte auch D. Hitzig's Vorſchlag, ober auszufprechen und diefes 
= Soch Leute zu nehmen, nicht empfehlen; da in diefem Falle 
Dix 2 nicht wohl etwas anderes denn Subject fein könnte; außer 
dem möchte denn doc eine Umftellung der Confonanten bei einem 
fo gewöhnlichen Worte anzunehmen, bedenklich fein. Wir meinen, 
auch Hier Tiegt ein einfacher Tertfehler vor. Wir vergleichen Joſ. 
7, 20: son von mon. Folgt hier auf die Betheuerungspartifel 
und zwar im Beginnen einer Rede ein Pronomen, fo fteht vielleicht 
an Gleiches auch in unjerer Stelle zw erwarten. Wir meinen, 
der Berfaffer ſchrieb ftatt obx vielmehr oms, und der Anfang des 
Blalmes lautete einfah: „Sprechet wirklich ihr Recht, richtet in 
Billigkeit die Menfchenkinder?“ Die Urfache der Verſchreibung war 
biefelbe, die unfere jegige, jedenfalls falfche, Punctation veranlaßte: 
die Nähe des dem Abfchreiber im Gedächtuiß haften gebliebenen 
or Bi. 56, 1. 

Eine weitere gewöhnliche Entjtehungsweife von Textfehlern ift 
befanntlich, daß ein Abfchreiber aus DVerfehen ein Wort ausließ 
und diefes daun fpäter, als er des Irrthumes inne ward, nmach— 
brachte: daß ed an einem unrechten Orte ftehe, vielleicht irgendwie 
andeutend. Manchmal aber wird er ſolches auch unterlaffen haben, 
und indem dann ein Späterer den in Folge der Verſtellung eines 
oder mehrerer Wörter finnlofen Text einigermaßen fich zurecht zu 
legen fuchte, famen noch weitere Abweichungen von dem urfprüng- 
lichen Wortgefüge in den Text, fo daß es jegt oft ſchwer Hält, 
den urfprüngfihen Wortlaut wiederherzuftellen. Einem ſolchen 
Valle glauben wir zu begegnen Pf. 74, 20 (über V. 19 f. o.). 
Der betreffende Vers lautet im maforetifchen Texte jegt: urı2 
don min) ya aunD anbo 39 nina, zu überjegen etwa: „Blicke 


a) So aud Ewald, Palmen, ©. 190. 191; Hupfeld II, 9. 


636 Schrader 


auf den Bund; denn voll find geworden die Verſtecke des dandes 
von Dertern der Gewaltthat.“ Es ift ein Vierfaches, woran hier 
Jeder fofort Auftoß nehmen wird. 1) überrafcht die Ungleichheit 
der BVersglieder: das erjte enthält zwei, das zweite ſechs Wörter; 
die Ungleichheit ift um fo auffallender, als gerade dieſer Palm 
fonft Gleihmäßigkeit im Bau der Versglieder in feltenem Make 
zeigt; — 2) ift feltfam die Phrafe: „Blicke auf den Bund!“ ui 
einen Bund, den man gefchloffen, blikt man nicht, fondern deiin 
erinnert man fi; das im Hebräifcen zu erwartende Verbum it 
nicht 0937, fondern 391°), fo 1Mof. 9, 9. 16. 2Mof. 2,4 
3Mof. 26, 15. Bf. 105, 8; 106, 45; 111,5; — 3) überruik 
die ganz furze Bezeichnung: „der Bund“ (mar), während di 
vorher von einem Bunde überhaupt keine Rede, man erwartet: 
der Bund, den Du mit Deinem Volke gefchloffen, oder aber wenig: 
ftens „Dein Bund“ oder fonft eine nähere Bezeichnung bejjelben: 
endlich 4) ift ein Angefültfein von Verfteden oder Schlupfwinker 
mit Dertern der Gewaltthat einfach ein logiſch umvolfziehbarer 
Begriff. Wohl kann ein Land, ein Raum, d. i. ein Ganzes, a 
gefüllt fein mit Einzeldingen, mit einzelnen Oertern; nie und nimmer 
aber können einzelne Derter (Verſtecke, Schlupfwinkel) angefül: 
fein mit einzelnen Dertern (Hitzig, Hupfeld). Diefem letzten Uebel: 
ftande entgeht der erftere, wenn er fcharffinnig unter Vergleich von 
4Moſ. 32, 11. 12 in den Worten den Sinn findet: „Die Va— 
ſtecke des Landes find vollends geworden zu Dertern der Gewalt 
that“, nur dag doc auch diefer Gedanke wenig einfach und natit- 
lich fein dürfte, und andererfeits die citirte Stelle im Bude Nu 
meri für diefen Gebrauch des Verbums bu feine ausreichen: 
Analogie bietet; ein 5 miwnb ober zum mindeften eim 5 hätte jchmr 
lich fehlen können, umfoweniger, als diefer Gebrauch des Verbuue 
bon, abgefehen von der Redensart mm ırız dp, überhaupt im 
ganzen A. T. ſich nicht findet. Sodann möchte die auch fonjt mr 
den Exegeten hier poftufirte Bedeutung „Schlupfmwinkel, Berfted‘ 
für uno überall erſt noch zu ermeifen fein. Wo das Wort font 
im A. T. ſich findet, fteht es entweder in der abftracen Ben- 


a) Bol, Hitzig a. a. O., ©. 139, 








zur Tertkeitit der Palmen. 637 


tung „Binfternig“ (fo Jeſ. 29, 15; 42, 16. Pf. 88, 19) oder 
in der concreten „Unglüdsort, Hölle“ (fo Pi. 143, 3. Klagl. 3, 6 
vgl. 88, 7); die Bedeutung „Verſteck, Schlupfwinkel“ fteht nicht 
zu belegen. — Wir nahmen oben Anjtoß an der Ausdrucksweiſe: 
„Dli auf den Bund“. Auch diefe Schwierigfeit ſucht D. Higig 
in fcharfjinniger Weiſe zu befeitigen. Er ſchlägt nämlich vor, den 
Ausdrud „Bund“ concret zu fajfen und unter Vergleich von 
Dan. 11, 28. 30. 22. 32 unter dem Bunde zu verftehen das 
Bundesvolf, das Bolt Iſrael. Allein dort gibt fi die Be— 
zeichnung des Volfes Iſrael als „der Bund“ als ganz friſche Ab- 
türzung aus der volleren: Heiliger Bund, mit welcher die fürzere 
au jenen Stellen wechfelt. Iſt dort fomit die Bezeichnung des 
Volkes Iſrael al des „Bundes“ begreiflich ſowohl als unmißver- 
ſtändlich, jo würde fie in unferer Stelle ebenfo feltfam ale ſchwer 
zu erklären fein. Auch durch diefen Erklärungsverfuc dürften fo 
mit die obigen Anftöße nicht befeitigt fein; es bleibt zudem noch, 
die Ungleichheit der Versglieder. Wir meinen, auch bier werde 
ein Tegtgebrechen vorliegen. Wir nahmen oben hauptſächlich Anſtoß 
an dem Unlogiſchen der Ausdrudsmeife V. 6. Hupfeld nennt 
das Angefülltfein von Dertern mit Dertern eine phrasis hybrida; 
es fteht zu vermuthen, daß ſich V. 6 ein oder mehrere Wörter zu 
viel finden. Da nun „angefüllt fein mit Oertern der Gewalt- 
that“ am ſich eine unbedenfliche Ausdrudsweife, fo wird ſich unfer 
Verdacht gegen das yıx vawrın *) rühten. Nehmen wir nun an, 
beide Wörter jtänden hier am unrechten Orte, feien irrthümlich 
hierher verfchlagen, und transponiren wir fie in's erfte Glied, jo 
gewinnen wir zuoörderft vollfommene äußere Gleichheit der Glieder; 
ein jedes der beiden Versglieder enthält nunmehr vier Wörter. 
Schon diefer Umſtand wird unferer Bermuthung einen hohen Grad 
von Wahricheinlichkeit geben. Aber wo ift nun in V. a das Ber- 
bum, von dem die Statusconftructus-Verbindung abhängig? Man 
tonute an var denfen; von diefem ift ja aber das nn abhängig ? 
So ftect am Ende in diefem Worte felber, das und oben fo große 
Schwierigkeiten machte, das zu poftulivende VBerbum? So meinen 


8) woran aud) Ewald (a. a. ©, ©. 444) Auftoß nimmt, 


638 Schrader 


wir, indem wir uns an ef. 42, 18 erinnern, wo wir ein, eben: | 
falls imperativifhes, mixy5 una lefen. Wie aus urfpränglichem | 
Mmanb ein mımab, fei es durch falſches Leſen, fei es durh Gon-| 
jectur eines Abſchreibers (fiehe unten) entftehen konnte, bedarf feiner 
Auseinanderfegung. Selbftverftändlich ift nunmehr ftatt des, wie 
wir meinen, durch die Verfegung bes Plurals vun veranlaften 
Plurals bo der weibliche Singular nbo (auf por zurüchu— 
beziehen) zu fefen, und ber —— Text lautete: nid on 
Dem mısa maybg 92 pam szumo d. i. „Blicke Bin und ſiehe de 
Landes Finfterniffe; denn voll ift ri bon Dertern der Gewaltthar 
Die Finfterniffe des Landes find feine Leiden, fein unglückice 
Zuftand; Ten ift in derfelben tropiſchen Bedeutung gebraudt, in 
welcher fo oft Iyn vorlommt. Und wie entftand das Tertgebreden? 
Das rreörov ayeödos war offenbar die Verfegung des pas ins 
aus der erjten in die zweite Vershaälfte *). Diefe hatte weiter zur 
Folge einerfeitd die Ummwandelung des nunmehr incorrecten ne 
in den Plural do, andererfeitS die Veränderung des nunmeht 
objectöfofen und fomit unverftändfichen Verbums mind in dar 
Subftantiv mad. Der legte Grund des Textſchadens war fomit 
ein einfaches Verſehen (Berftellung zweier Wörter); die übrigen 
Veränderungen des urſprünglichen Wortgefüges find durch das Be 
ftreben verurjacht, dem in Folge der Verftellung ſinulos gewordenen 
Wortgefüge ein Berftändniß abzugewinnen. Auf den Tegteren Bunt 
ſcheint man immer noch zu wenig fein Augenmerk gerichtet zu haben, 
und doch lehrt ja ſchon eine Vergleihung der uns erhaltenen pa 
rallelen altteftamentlichen Texte, wie oft eine Abweichung von dem 
urfprünglidhen Wortgefüge fofort andere nad) ſich zog; unten werden 
wir noch) zwei weitere Belege Hierfür zu verzeichnen haben. 

Wir gehen zur Betrachtung einiger Pſalmſtellen über, wo die Ber- 
derbtheit des Textes ihren Grund hat in falſcher Wortabtheilung 
Wir beginnen die Erörterung mit Pi. 85, 14. Der Vers laute 
im maforetif—en Texte: way 7b nimm hm manb ps." B. 2 
ift klar; derfelbe ift zu überfegen: „Gerechtigkeit wandelt vor ihn 

8) Bgl. den umgelehrten Fall Pi. 35, 7 (fiehe Oupfeld und ditzig je 

der Stelle). 





zur Tertkritik der Pfalmen. 639 


(dem in der zufünftigen Zeit fein Volt fegnenden Jahre) Her“. 
Die Gerechtigkeit wird hier gleichſam als die Vorhut Jahve's auf 
ieinem Zuge vorgeftelft, feine Ankunft und Gegenwart verfündend. 
der Sinn der Phrafe ift fomit: überall wird die Gerechtigkeit in 
xes ſich offenbarenden Gottes Nähe fein. Schwierigkeit macht nun 
ber V. b. Man überfegt wohl: „und fie (die Gerechtigkeit) ſetzt 
nf den Weg ihre Tritte“ (Rofenmüller, de Wette u. A.), und 
egt diefen Worten dann den Sinn bei: fie gehet frei umher; fie 
ft thätig und wirkſam in der Melt. Aber wie matt und ungeſchickt 
väre diefer ohnehin wenig poetifche Gedanke ausgedrüct! Wie ganz 
mder8 Tanten da die zur Vergleihung herangezogenen Stellen 
Jeſ. 59, 14. Amos 5, 7! Dazu führt doch der Gegenfag, in 
velchem das ınyD zu dem vorhergehenden ob fteht, gewiß zu 
üererft darauf, das Suffix auf Gott zu beziehen (Hupfeld); aber 
ieſes Forſchers eigener Meinung wiederum («8 fei zu überfegen: 
ie macht zum Wege feine [Gottes] Tritte) dürften faum minder 
toße Bedenken entgegenftehen. Denn wenn dies fo viel heißen 
oll als: fie mahht zu ihrem Wege Gottes Wege — fie folgt Gott 
ach, jo hätte doch wohl ſchwerlich das auf pas bezügliche Suffix 
wi dem 777 fehlen dürfen; der Dichter hätte in diefem Falle gewiß 
No gefchrieben. Allen diefen und ähnlichen Auffafjungen klebt 
udem die Unzuträglichkeit an, daß dann der Optativ dirz genom⸗ 
nen werben müßte im Sinne des Verb. fin. oxipy; denn optativifche 
jaſſung ift ſichtbar unangemeſſen. Ein Schreibfehler wird vor- 
iegen. Man rücke nur die beiden Schwierigkeit: bereitenden Wörter 
ng zufammen, jo ergibt ſich das urfprüngliche Wortgefüge von 
über ; der Dichter fhrieb: vayr 717 Toy — und hütet feiner 
Gottes) Tritte Weg“ d. i. weicht von diefem nicht ®), oder aber 
dgl. Hof. 4, 10. Sad. 11, 11): „und Hat Acht auf feiner 
Schritte Richtung“. Die Tertverderbnig beruht folglich Hier auf 
alſcher Wortabtheilung und (auch jonft befauntlich häufiger) Ver— 
sechjelung von 4 und 5. — Noch ein anderes Beijpiel der in 
Rebe ftehenden Entftehungsweife der Textverderbniß bietet uns ber 
35. Pſalm. V. 4b lefen wir in einer Anrede an Gott: mia 


a) Bol. Emald a, a. D., S. 460. 


640 Schrader 


zes rap. Ueber den Sinn des Satzes kann gemäß dem Zu- 
fammenhange ein Zweifel nicht obwalten; er ift zu überfegen: „Du, 
Haft geftillt Deine Zornesgluth.“ Auffallend und analogielos iſt 
nun aber bei der uns hier entgegentretenden Nedensart die Ver 
bindung des tranfitiven Hy mit der Präpofition jo. Kraft feiner 
activen Bedeutung Hat das Hiphil rin und zwar gerade in bier] 
Nedensart ausnahmslos den Accujativ nad) ſich (vgl. 4 Mof. 25, 11. 
Pſ. 78, 35; 106, 23. Spr. 24, 18. fra 10, 14). Man fir 
tuirt Bier gewöhnlich eine Verſchmelzung der Eonftruction des tra 
fitiven Hiphil Hu mit derjenigen des intranfitiven Kal Id (w 
Hupfeld). Allein da, wie bemerkt, das Hiphil des betreffen 
Verbums fonft ausnahmslos den Begriff Zorn oder Zomt: 
gluth im Accuſativ ſich unterordnet, fo muß diefe Annahme dern 
doch gerechte Bedenken erregen. Auch die Berufung auf Ez. 14,6; 
18, 30. 32; 21, 35 (de Wette u. A.) dürfte nichts verſchlagen 
Wie die erfte der angeführten Stellen beweift, ift die Redensan 
jo Dun erft eben aus ber an jener felben Stelle noch vollſiändiz 
ſich vorfindenden Nedensart jo ı9p Din verfürzt. Nur wo jene 
195 dem Sinne nad) zu ergänzen ift, wie eben Ez. 18, 30. 32°, 
alfo nur ſcheinbar, eignet dem Hiphil intranfitive Bedeutung. Te 
große und wefentlihe Unterfchied jener Stellen im Buch Ezehi 
und der in Rede ftehenden ift der, daß an letzterer ftatt eines ur 
fprünglic zu erwartenden Accufativs die Präpofition jo ſich find, 
während in jenen Stellen im Bud Ezechiel das betreffende Cut 
ftantiv fo wie fo mit der Präpofition jo zu verfehen war; u 
der Accufativ hätte deshalb dort überall nicht gefegt werds 
können. An jenen Stellen ift die Urfache der fcheinbaren tranii 
tiven Bedeutung des Verbums nun die Ellipfe eines Accujatio:, 
de8 mp; daß aber eine ſolche Ellipfe in der Pfalmftelle nicht r 
ftatuiren, fieht Jeder ohne Weiteres. Denn lautet die entjpredent 
Nedensart im Buch Ezechiel: „Ich wende mein Antlig von’: 
mandem ab“, und ward diefe durch Ellipfe des: „mein Antlig‘ 
verfürzt in: Ich wende ab von Jemandem, fo wäre die zu erwar 
tende analoge Verkürzung der Pfalmenphrafe: „Ich wende meint 


a) Ueber Ez. 21, 35 vgl. Hitzi g zu der Stelle, 








dur Terttritit der dſalmen. 641 


Zornesgluth von Jemandem ab“ offenbar ebenfalls: Ich wende 
ıb von Jemandem, bei Leibe aber nit: Ich wende ab von der 
Zornesglutö! Die angezogenen Stellen bei Ezechiel bieten fomit 
n Wirklichkeit feine Analogieen “). Unfere Stelle tritt vielmehr 
änzlih aus fonft herrſchendem Spracdgebrauche heraus — wie 
oir meinen, in Folge eines Schreibfehler und falſcher Wort- 
theilung. Das o ift als 7 zum vorhergehenden Worte zu ziehen 
ad es ift zu lefen: Tpx par mmmuin; fo ift da8 betreffende Berbum 
sie fonft ausnahmslos auch Hier mit dem Accufativ conftruirt. 
ste Urſache des Textgebrechens war wohl, daß der Abjchreiber 
n die Plenefchreibung der Endung der zweiten Perfon Masculini 
Gingularis nicht dachte und fo das  ald v zum folgenden Worte 
og. Wie leicht zudem m und v verwechfelt wurden, ift befannt; 
ir unferen befonderen Fall Liefert ein fchlagendes Analogon 2 Sam. 
!6, 11, wo ftatt des maforetifchen nm die LXX lafen omım 
ed Eosode. — Wir haben nun aber im Pfalter noch einen, 
em erörterten wie ein Auge dem anderen ähnlihen, Fall eines 
urch Verwechſelung von n und v am Schluffe eines Wortes und 
che Worttrennung entftandenen Tertfehlers; einen Tall zudem, 
»0 die Entftehung des Fehlers womöglich noch eclatanter fein dürfte. 
Ne Stelle ift Pi. 89, 45a. Die betreffenden Worte Tauten im 
ebraiſchen Texte: yn Haya. Der Sim ift unzweifelhaft: 
Du (Gott) Haft ein Ende gemacht feinem (Iſraels) Ganze.“ 
Boher aber kommt das jp vor dem Subftantiv, da das Verbum 
an fonft ausnahmslos mit dem Accufative conftruirt wird, wie 
a8 ohnehin die tranfitive Bedeutung des Hiphils: zur Ruhe, zu 
inde bringen, gebieterifch fordert? Man Hat die verjchiedenften 
Inftrengungen gemacht, das im Texte ftehende p zu erklären; allein 
aß es eine auffallende Anomalie, wird fi kaum in Abrede ftellen 
iſſen, und wenn D. Delitzſch ſich mit einigem Schein auf Ez. 16, 41; 
4, 10 beruft, fo ift zu bemerfen, daß in beiden Stellen der eben 
ier zu poftulirende Accuſativ ausdrücklich fich gejegt findet, bie 
gezogenen Stelfen fomit keine ausreichende Analogie bieten. Wir 


a) wie dieſes and; de Wette felber ſchon fühlte (ogl. defien Bemerkung zu 
der Stelle). x 
Teol. Stud. Jahrg. 1868. 4 


62 Sqhrader 


erinnern uns der eben gemachten Beobachtung, leſen rw mach 
und laſſen das betreffende Hiphil wie fonft ausnahmslos mit dem 
Accufative des Objects conftruirt fein. Sollte in diefem zweiten 
Falle Jemand an der Richtigkeit der Conjectur noch zweifeln, jo 
möge derfelbe nur drei Worte weiter leſen: dort findet er zum 
Ueberfluß in dem parallelen Gliede das entſprechende Verbum pp 
gerade fo, wie wir es für das Verbum des erften Hafbverie 
poftulirten, in der zweiten Perfon mit m im Auslaute ge: 
ſchrieben; ic) dächte, mehr kann man bilfigermeife nicht verlange. 
Laffen wir unfere Beobachtung fofort noch einer Stelle außerhah 
des Pfalters zu Gute fommen, die den Eregeten kaum geringe 
Schwierigkeiten bereitet hat, wie die eben befprochenen. 5Moj. 3 
lejen wir im Gegen Mofis (B. 3 c. d): gr yozy mn 
ram. Im Anfchluffe an V. a. b (Auch liebt er [Gott] ie 
Stämme; alle feine Heiligen leiteft Du) ift zunächft V. c zu übe: 
fegen: „fie aber folgen demüthig Dir nad)“. Was aber bejag 
2. d? Man überfegt wohl (de Wette): „fie empfangen Dein 
Worte“. Aber wie fteht. diefe Ueberfegung zu vedhtfertigen? woht 
da8 zn vor dem Subſtantiv? Hat diefes etwa partitive Beh 
tung = etlide von Deinen Worten? Das würde aber dad 
den Gedanken ungemein abſchwächen; und woher kommt zudem dt 
Singular win, da doch ein Jeder nach dem fo ausdrücklich gejegtn 
om gewiß Hier den Plural des Verbums erwarten wird? De 
Schwierigkeit entgeht Knobel, wenn derjelbe V. d zum Folgerda 
zieht und ald Subject des xir Mofes nimmt — „aus Deins 
Neden nahm, gebot ein Gejeg uns Moſes“; jener Schwierigkeit. 
fage ih, entgeht fo Knobel, aber nur um neue Unzuträglichleite 
ſich zu ſchaffen. Denn einerſeits wird durch diefe Abweichung vos 
der maforetifchen Versabtheilung der ſchöne viergliedrige Parallel 
mus des dritten Verſes zerftört, und andererfeits ift bie Thon 
denn doch wohl nicht ein Theil der in Ausficht genommenen Wort 
Gottes zu Mofe, fondern — biefe felber! — Wir ziehen dei 
ftörende » als ı zum vorhergehenden Worte und leſen: yr1z7 wer 
Mit einem Schlage gewinnen wir den durch das nachdrucsvel 
voraußgeftellte om gebieterifch geforderten Plural des Verbs un 
den allein zu erwartenden Accufativ des Nomens. Wir hätten hie 





zur Tertkritik dev Pfalmen. 643 


alfo textfeitifch genau benfelben Fall wie 1 Sam. 10, 10, wo die 
LXX, and) Syrer und Araber ftatt des maforetifchen oy a 
in ihrem Texte ein of Non lafen (fiche Thenius zu diefer Stelle). — 
Die zuletzt befprochenen «Stellen waren ſämmilich folde, wo ein 
urfprünglich zum vorhergehenden Worte gehöriger Buchſtabe durch 
Verſehen zu dem folgenden gezogen ward; den umgefehrten Fall 
bietet die Stelle Pf. 94, 20. Der Bers lautet im Hebräifchen: 
pn Syn, bay Ab mia pp miggys; zu überfegen: „Iſt mit Dir 
derbündet der Thron de Verderbens, der Frevel finnet wider Recht?“ 
Aber wie kann wohl von einem Throne, einem Stuhle gejagt 
werden, daß er ſich mit Jemand verbünde? Man beruft fich wohl 
(v. Sengerte u. A.) auf Pf. 125, 3, wo von dem Stabe (Scepter) 
der Ungerechtigkeit ausgefagt werde, daß er nicht ruhen werde auf 
dem Looſe (Rande) der Gerechten. Allein was dort von einem 
Stabe, Scepter ausgefagt wird (daß er nämlich ruhen. werde ma) 
ift etwas, was von einem Ieblofen Dinge, wie einem Stabe, Stode 
überall ausgefagt werden konnte. Wie ganz anders bier, wo etwas 
rein Menſchliches (ein Sich = verbinden mit Jemandem) einem leb⸗ 
Tofen, fich gar nicht regenden und bewegenden Dinge beigelegt wäre! 
Auch die Verweifung auf Jeſ. 22, 23 (Hitig) dürfte nicht ause 
reihen, da an jener Stelle n2> no Prädicat ift eines per- 
ſönlichen Subjects; Hier ein perfönliches Subject (die Frevler) 
durch eine Sache und zwar ein fo ſchwer perfönlich vorftellbares 
Ding, wie einen Stuhl, einen Thron, vertreten wäre, was denn 
doch ein wefentliher Unterfchied. Nicht minder kann ich die Frage 
ſelber: Iſt der Thron des Berderbens, d. i. die Frevler, mit Dir 
(Gott) im Bunde? wenig angemefjen finden; man würde eher das 
Umgekehrte erwarten: Bift Du (Gott) etwa im Bunde mit den 
Frevlern? Ein ſolcher Gedanke, eine ſolche Frage ſcheint mir aber 
ohnehin in diefem Pjalme, der durchaus das vollfte Vertrauen zu 
Jahve athmet, wenig am Plage; infonderheit ftimmt fie weber zu 
B. 7ff., noch zu V. 14 und 17; ganz ungehörig aber feheint fie 
mir zwiſchen V. 19 und ®. 22. Zum mindeften fehr Hart endlich 
ift die Conſtruction des Verbums "ar mit dem Accufatio, die bei 
der Texteslesart zu ftatuiren wäre; ſonſt wird. beregtes Verbum 
ausſchließlich mit einer Präpofition (dx oder dy) conftruirt, Die 
48* 


644 Schrader 


gewöhnliche Verweiſung auf die Conſtruction von ma mit dem At⸗ 
cuſativ (Pf. 5, 5) ſcheint uns nicht hinreichend, jenen Ausnahme: 
fall zu erklären, da einerfeits bei den Verbis des Wohnens, Weilens, 
Sihaufpaltens der Accufativ als Acc. loei ſchon an fid eher er⸗ 
träglich, anderſeits jene accufativifche Verbindung bei dem angejo- 
genen Verbo auch fonft fi findet, während Hier diefelbe etwas 
durchaus Singuläres fein würde. Ein Tertfehler dürfte vorliegen. 
Wir fehlagen vor, das > als d zu dem folgenden Worte zu ziehen 
und unter Vertauſchung von x und m zu lefen ): Anm gap "ann 
pr »op boy an — „Dürfen ſich verbünden fie, die verbergn 
frevle Abfiht; Unheil finnen wider Recht?“ Beide Halbverfe zu 
ſammen würden etwa den Gedanken geben: „Dürfen fich verbünde 
fie, die im Geheimen Unheil finnen wider Recht?“ Gegen wen? 
fagt der folgende 21. Vers. Diefer wäre dann wohl am einfachſien 
als Fortfegung der Frage zu faſſen = „Dürfen fie fich zufammen 
rotten wider das Leben des Gerechten“ u. f. w.; doch würde auh 
pofitive Ausfage am Plage fein; zu vgl. fteht nach Form un 
Inhalt B. 3—T. Welches der letzte Grund der Textverderbrij 
war: ob die Verlefung des » in > (vgl. 2Sam. 22, 28 um 
Ewald zu Pf. 18, 28) oder die Verwerhfelung von m und x 
(ogl. die Anmerkung), wird fi ſchwer entfcheiden laffen. Jeden 
falls aber wohl hat das eine Verſehen das andere erft im Gefolge 
gehabt (fiehe oben). Zu dem Gebrauche von mo> in ber hier er 
forderlichen Bedeutung vgl. Spr. 10, 18; zum Gedanken Pf. 5, 10. 

Wir haben im Vorhergehenden lauter Fälle erörtert, im denen 
das Tertgebrechen faft Tediglich durch ein bloßes Verſehen des A 
ſchreibers entftanden war. Es kann nun aber aud der Fall ein- 
treten, daß in dem Manufcripte, das der Abjchreiber vor fich hatt, 
ein oder mehrere Wörter Hinter einander entweder gänzlich verlöſcht 
waren, oder aber folches wenigftens biß zu dem Grade, daß nur 





a) Ständen der vom Terte gebotenen Lesart IM nicht bie oben aus: 
führten Bedenken entgegen, fo wurde es noch näher liegen, einfach Re 
(Part. Kal) zu leſen; im dieſem Falle Hätten wir im hebräiſchen Tert 
genau diefelbe Verwechſelung, welche den LXX bei Spr. 12, 23 begegueit, 
wo diefe umgefehrt urfprüngliches 1}, beziehungsweiſe NRD, vielmehr NEE 
laſen (fiehe Hitzig zu der Stelle). 


zur Tertkritik dee Pſalmen. 645 


noch einzelne Buchſtaben oder Buchitabenrefte zu erfennen waren, 
die dann nach befter Meinung gedeutet und zu Wörtern ergänzt 
wurden. Einen ſolchen Fall haben wir Pf. 71, 3b. Was zur 
nächſt die erften drei Verſe diejes Pfalmes im Allgemeinen betrifft, 
fo find diefelben anerkanntermaßen nichts weiter denn eine und 
zwar wörtliche Reproduction von Pf. 31, 2—4 a. Die Abweichungen 
haben fichtlich feine andere Bedeutung als diejenige von Varianten 
(wie etwa zwiſchen Pf. 18 und 2 Sam. 22). Nur an einer Stelle 
ift diefe Abweichung bedeutender, und hat man deshalb mehrfach 
hier Anftand genommen, fie für eine bloße Variante zu erklären; 
man meinte vielmehr, daß dort die Verſchiedenheit des Textes eine 
mehr oder weniger urfprüngliche,. von dem Dichter des 71. Pſalmes 
felber Herrührende fei. Die Stelle findet fich in dem zweiten Gliede 
des dritten Verſes, wo wir nämlich ftatt des: myh mu »b mim 
wind nimsp np — „fei mir ein Schutzfelſen, eine Felſen- 
burg, mic, zu retten“ des 31. Pfalmes vielmehr leſen: »b nm 
pure ng yon tab jyp mu — „ſei mir ein Wohnſtatt- 
felfen, Hineinzutreten immerfort, befohlen Habend, mich zu retten“. 
Hier alfo meinte man, fei der Dichter mit Bewußtſein von dem 
ihm vorſchwebenden Texte des 31. Pfalmes abgewichen, und hier 
ginge unfer Palm nicht auf den 31ſten zurüd. Allein Jeder fühlt 
bier das Ungelenke und zubem Abgeblaßte des ganzen Ausdruds. 
Sofort wird Zeder Anftoß nehmen an dem „Wohnftattfelfen“. 
Denn einen Felfen wählt ja Niemand zum Wohnorte; berfelbe 
ift ihm vielmehr ein Zufluchtsort, dorthin vor Feinden ſich zu 
retten. Hervorzuheben fteht jomit bei dem Felſen, daß er diefen 
Schu gewährt, daß er ftatt einer Burg, ftatt einer Feſtung ift, 
daß er. ift ein nyo 3; nur diefes kann fomit auch unfer Dichter 
wie ber ältere Pf. 31 gefchrieben haben. . Sodann geht man ja 
nicht in einen Felſen Hinein (40), jondern man fteigt auf einen 
folgen, vettet fih auf ihn; davon ift offenbar die Vergleihung 
Gottes mit einem Felfen Hergenommen; in einen Felſen wie ein 
niedres Thier verfriecht fi der Schuldbewußte, befallen vom Schrecken 
Gottes (Jeſ. 2, 10). Und num gar das apwhnb mns! Schon 
rein äußerlich ordnet fich der ganze Ausfpruch möglichft ungeſchickt 
in das Saßgefüge ein. Sodann aber: was foll diefe Ausfage, daß 








6846 Schrader 


Gott geboten habe, den Dichter zu retten, Rettung ihm alſo zu⸗ 
geſagt habe, hier, wo der Dichter — um Rettung erſt fleht? — 
Etwas Urſprungliches kann dieſes doch wohl nimmermehr fein | 
(vgl. auch Ewald, Hitzig, Hupfeld zu der Stelle). Der befproden 
Text unferes Pfalmes wird vielmehr nichts anderes fein als ein 
aus einem mit dem von Pf. 31, 3 identifchen Wortgefüge, ver: 
derbter. Und Hierfür, meinen wir, haben wir ben Beweis fogır 
noch in den Händen, in ber Ueberfegung nämlich der LXX. Zu 
vörberft geben fie V. 3a wieder durch: yevod nos sis Ber 
Önegaorıor;v, genau fo, wie fie Pf. 31, a überfegen. Si 
laſen ſomit fiher in ihrem Texte noch: myg sb ftatt pyo. 9 
B. b weiden fie zunächft im Wortausdrude von ihrer Ueberſetzung 
von Pf. 31, 3b ab, zum beutlichften Zeichen, daß fie nicht etwa 
einfach ihre eigene frühere Weberfegung reproducirt haben. Sit 
bieten Hier num aber: al eis zomov Öxugöv Tod Owaaı ne. 
D. Higig, der im Uebrigen unſere Anficht von der Stelle theilt, 
meint *): die fege im Hebräifchen ein 'ın mAsao ma ftatt msn 2 
wie der 31. Pfalm bietet, voraus. Nun wird allerdings Dan. 11,15 
msn ıy von den LXX durch moAsıs Oxugds wiedergegeben; 
Jer. 48, 41 aber wird durch dxvewpera gerade das im 31. Pfalm 
ung entgegentretende mmyo ausgedrüdt. Es ſcheint fomit, ftatt 
mmso nı2, wie Pf. 31, 3 bietet, als urfprünglicen, den LAN 
vorgelegen gewefenen Text nıas20 MD zu poftuliren, fein genür 
gender Grund vorhanden (vgl. aud Ewald, Die Dichter der 
a. B.'s II, 3. Ausg, ©. 311). Wir gelangen fomit zu dem 
Nefultate, die beſprochenen Worte unferes Textes find wirklich nichti 
anderes als (Higig a. a. DO.) „Auffriſchung des vergilbten und 
verwiſchten Grundtertes“: mmso mob nyo. Veranſchaulichen wir 
uns ſolches noch etwas näher, indem wir die beiden Texte noch 
etwas mehr im Einzelnen vergleichen und zu diefem Zwecke dieſelben 
unter einander ftellen. Es Tautet: 


$. 71, 3b: mus Ton mob pyo 
Pſ. 31, 3b: mas on ob nyD 


a) Siehe defien Pfalmen, neue Ausgabe IL, 107. 





zur Tertkeitit der Palmen. 7 


Wir begegnen Hier zuvörderſt an beiden Stellen im Wefentlichen 
denfelben Confonanten mit Ausnahme von zwei in Pf. 71 nen 
hinzugefommenen, nämlid eines x in ma und eines » in mon; 
außerdem findet ſich Pf. 71 ein 3 aus 1 verborben, ſowie zweimal 
(in 002 und in nns) » und », wie fo oft, vertaufcht. Ferner be» 
gegnet uns im Wefentlichen diefelbe Reihenfolge der Eonfonan- 
tn; jedoch nicht überall: in dem legten Worte des Textes "von 
®. 31 fand eine Umftellung der Laute ns in ı37 ftatt. Mit 
dulfe diefer Umſtellung fesbarer, Ergänzung‘halb lesbarer (7 und 1) 
md Hinzufügung ganz neuer Zeichen (x und ,) ftellte ſich ein Ab» 
hreiber aus feinem verderbten Exemplare unfern Text in Pf. 71 
yr>). Daß er den urfprünglichen verfehlte, daran war wohl 
ornehmlic, der allerdings eigenthümliche Ausdrud ninso na Schuld, 
der ſich befanntlich im A. T. in diefer Weife fonft niemal® wieder 
Ändet. Auf fein-Twon ward der Abfchreiber geführt wohl durch 
»as im Pfalme ſelber mehrmals (®. 6. 14) erfcheinende Ton, 
vie mit Recht fhon Ewald a. a. O. vermuthet hat. — Treten 
dir nummehr mit den gemachten kritiſchen Beobachtungen an eine 
indere Stelle im Pfalter heran, melche zu ben dunkelſten defjelben 
jehört: Pf. 89, 51. Diefelbe lautet jet im maforetifchen Texte: 
ap aasg por Masiy mau, nenn ve Sat. V. a iſt deutlich; 
sie Worte find zu überfegen: „Gedenke, o Herr, der Schmach 
Deiner Knechte.“ Was nun aber befagt V. b. c? Man über 
etzt wohl: „daß ich trage in meinem Buſen alle bie vielen Völker“, 
»der: „die ich trage in meinem Bufen, all der vielen Völker“, und 
ihnlich; alfein alle diefe Weberfegungen find ſichtlich nur gemadjt, um 
iberhaupt den Worten nothdürftig einen Sinn abzugewinnen; gram⸗ 
natifc rechtfertigen möchte fich feine einzige von ihnen lafjen. Wo 
väre wohl je der Infinitiv mit Suffie in diefer Weife in einem 
Relativfage gebraucht? wo der Genitiv oıny om 5> von dem re 
sierenden Nomen (nenn) in dieſer Weife durih einen ganzen Sag 
getrennt, von einem Nomen zudem, das felber bereits mit einem 
Benitiv verfehen?! Auch möchte zu bezweifeln ftehen, daß der 


a) fo daß es felbft der Annahme, daß menigftens das MY eingeſchoben fei, 
zu der Hupfeld, der im Uebrigen eine ganz richtige Anficht von der 
Stelle Hat, ſich ſchüießlich Hinmeigt, nicht bedarf. 





48 Schrader 


Hebräer die Redensart pına nt fo gebrauchen konnte, wie Hier 
gefchehen fein würde; wo der Ausbrud fonft ſich findet (vgl. z. B 
4Moſ. 11, 12. Jeſ. 40, 11), fteht derfelbe von der Tiebenden 
Sorgfalt, mit der Jemand etwas hegt und pflegt (Olshauſen), 
eine zugefügte Schmach hegt und pflegt aber nicht Jemand im 
Bufen, fondern fie ruhet einfach in demfelben, wie der Ummwile 
im Bufen des Thoren (Pred. Sal. 7, 9) *). Zu diefen Bedenken 
gefellen ſich noch andere. Unerhört ift gleich im A. T. die Zr 
bindung ony on 55 mit, dem Nomen vorausgeftelltem, mn 
Hinter 55. Ez. 31, 6 findet ſich das on) Hinter dem om du; 
das ift erträglich; die betreffenden Worte Haben im Deutfchen em 
einen Sinn wie: all’ die Völker, die vielen. Das Umgefehrte i 
unerhört (Higig, Hupfeld). Eine Voranftellung des Adjectivs on 
ift zudem überall nur dann gerechtfertigt, wenn auf bemfelben cn 
Nachdruck liegt; fo Pi. 32, 10. Spr. 31, 29. Neh. 9, %; 
zwiſchen 55 und dopy aber mitten hineingeftellt muß Dꝛ felhi 
verftändlich jedes Gewicht verlieren. Auffallend ift ferner dar 
plögliche Hervortreten der Perſönlichkeit des Dichters hier in diejem 
Zufammenhange, wo er jihtbar nur das Gefammtfchicjal di 
Volles im Auge Hat (Hupfeld) ; dies umfomehr, al in dem gana 
großen 51 Verſe umfaffenden Pfalme, vom Eingange abgeſehen 
diefelbe vollftändig zurlicktritt (daß V. 48, wie 51, Im jtatt m 
zu leſen, darf als ausgemacht gelten; ſiehe Ewald, Hitig, Hupfel, 
Olshauſen zu der Stelle). Sodann, wie höchſt unmahrfcheinid 
ift e8, daß der Werfajfer, der im folgenden Verſe ſich micht che 
unmittelbar hintereinander das Pronomen relat. zu fegen, ger 
hier bei Beginn der Periode und noch dazu in einem ſchon am fi 
möglichft unklaren Sage diefes Relativ follte nicht beigefügt hab? 
Ferner kann fi doch wohl das "wir in dieſem zweiten Sage dm 
Sinne nad nur auf ein nenn in ®. 51 beziehen; wie aber wur 
diefes möglich, wenn nicht ſchon ein ausdrüdlich auf jenes nor 
(8. 51a) bezogener Sag voraufging? Und wie endlich ftimm: 
diefe gezwungene und gewundene, grammatiſch Höchft zweifelhaft 


a) In der mehrfach, zum Vergleich herangezogenen Stelle Ser. 15, 15 ft: 
gerade das hier Anftoß bietende Prri2. 





zur Tertkritik der Pſalmen. 649 


Ausdrucksweiſe zu der fonftigen überaus Haren und durchfichtigen 
Dictton, welche uns und zwar durchweg in diefem Pfalme entgegen- 
tritt? Wir follten meinen, wenn irgendwo ein Fehler im Texte 
fteett, fo hier (vgl. Olshauſen und Hupfeld zu der Stelle). D. Hitzig 
ſucht nun dadurch zu Helfen, daß er das b> bis auf das 5 tilgt 
umb diefes dem Drop 121 als Präpofition vorfegt. Dadurch würde 
allerdings das Nachklappen des Genitiv einigermaßen erträglich 
jemacht und zudem die abnorme Zufammenftellung 12) 5> befeitigt 
fin; es würden jedoch die übrigen beregten Schwierigkeiten bleiben. 
Auf den erften Blick anfprechend ift Hupfeld's Vorſchlag, durch 
Einfchiebung eines nern hinter dem b> die Schwierigkeit zu heben 
tgl. den Chald.). Allein es bleibt zuvörderſt, wie ſich auch 
d. Hupfeld nicht verſchwiegen Hat, die Unzuträglichkeit der Voran— 
kellung des 2; wir behalten nicht minder die gar nicht Hierher 
snfjende Redensart pına ira; wir behalten endlich die in diefem 
Zufammenhange ftörende erfte Perfon. Wefentlich das Gleiche fteht 
u erinnern gegen den Verfuh Böttcher's, den Anftoß, den die 
Stelle bietet, zu bejeitigen, nämlich durch Ergänzung des do zu 
inem neh? zu helfen (Neue exeg.-krit. Achrenlefe IL, 283). Alter- 
ings würde fih, da das ſubſtantiviſche na jet von 91 ab» 
jängig gemacht werden könnte, Verbindung mit dem Vorhergehenden 
erſtellen und aud) die folgenden Relativfäge nicht mehr in ber 
uft ſchweben. Allein es bleibt die in der Zeit der Entftehung des 
zſalmes, die jedenfalls von 586 an abwärts Liegt, ungerechtfertigte 
Hervorhebung der Vielheit der Iſrael bedrängenden Völker; 
enn daß die betreffenden Worte nicht den Sinn haben können: 
die Schmähung] Vieler — ganzer Völfer! bedarf feiner Ausein- 
nderfegung.. Es bleibt nicht minder das unmotivirte Hervortreten 
er Perfönlichkeit des Dichters; es bfeibt endlich die hier unanges 
neffene Redeweiſe pıma wis. Es wird auf andere Weiſe dem 
Schaden abzuhelfen ftehen. Es fommt num aber gemäß dem Er» 
wterten vor Allem auf ein Vierfaches an: erftens die Abnormität 
‚er Verbindung Dr 5> zu befeitigen; nicht minder zweitens das 
der gänzlich unpaſſende prri2 xws zu entfernen; ferner drittens den 
Anſtoß der erften Perfon zu Heben; endlich viertens Verbindung 
nit dem Vorhergehenden herzuftellen. Um zum Ziele zu gelangen, 


6850 Schrader 


erinnern wir uns, daß unſer Pſalm ſich im Ausdrucke mehrfach 
mit Pf. 74 berührt; vgl. V. 40 b mit 74, 7, ſowie den Anfang 
unferes Verſes mit 74, 22; derjelbe gibt fih nur als eine Er 
weiterung des zweiten Theiles (B. b) von 74, 22. Es fteht jo- 
mit für den zweiten Theil unferes Verſes im Allgemeinen das 
Gleiche zu erwarten. Dem 573 74, 22 entfpridt num ſofort 
89, 51 das Spy; nicht minder dem b> dort das b> hier. Nahe 
liegt nunmehr die Bermuthung, dag in dem 27 au das mm 
des 74. Pſalmes ſtecken und der Pfalmift gefchrieben haben werk, 
Dmy Dt. Die Vermuthung, daß in unferm Texte urſprin 
lich ebenfalls ein rn do ftand, gewinnt an Wahrfcheinlichtel 
fofern diefer Ausdruck noch in einem anderen Pfalme, nämliq 
102, 9, bei dem Verbum mn fich findet; ja zur Gewißheit dürfte 
diefelbe werden dadurch, daß in dem folgenden 52. Verſe unferes 
Pfalmes wie dort ein yarie won fo Hier ein zuge aD erfchallt. 
Wenn Pf. 74, 22 und 102, 9 bei fonftiger innigfter Berührung! 
im Ausdrud mit unferer Stelle beide Dale ein Dorn 52 ung ent 
gegentritt, fo wäre es denn doch gewiß feltfam, wenn gerade ar 
unferer Stelle, welche im Uebrigen größtmöglichite Fülle des Aue- 
druckes aufzeigt, diefer Begriff: „beftändig, immerfort“, nicht aus 
gedrct wäre. Und wenn von den ſechs Buchſtaben des on 
vier (Dvb5) mit vieren der Wortgruppe Dıyı 5> einfach ſich deden: 
die Entftehung eines 4 aus 7 durch DVerlöfchen des Tinten Geiter- 
ftriches unmittelbar einleuchtet; die Annahme der Ergänzung db 
2 aus dem vorgefundenen » ober y ebenfall® Feine Schwierigkeit 
machen wird: fo glaube ich, dürfte wie fachlich, fo formell von 
gegen unfere Conjectur Gegründetes nicht einzuwenden ftehen. Wit 
num aber weiter? Zuvörderft leuchtet ein, daß das Gubftantie 
Doy durch ein Berbum müffe in den Zufammenhang eingeordnet 
gewefen fein, durch ein Verbum, zu welchem es fei es Suble, 
fei e8 Object war. Wir vergleichen abermals eine Stelle in dem 
mehrfach angezogenen 74. Palme, nämlich 74, 18. Hier finden 
wir in einem mit 91 beginnenden Verfe neben dem, dem ont; 
entjpredenden collectivifhen mn das Verbum mn, zu melden 
a8 Subject. Unfer Droy würde ſonach den Plural rn erfor: 
dern — der fich ohne Schwierigkeit aus dem pin unſeres Tertet 





zur Tertkeitif der Palmen. 651 


, 
zftelfen läßt. Die beiden Jod find Reſte eines urfprünglichen 
av und Resch, und bie Verwechſelung von p und D nicht ftärter 
am diejenige von p und np 1&am. 22, 5 (LXX) oder aber bier 
ige von p und » 1b. 6, 34 (LXX). Hätten wir jegt die 
inormität an 5> befeitigt, nicht minder zu dem Swy das 
erbum Hergeftellt, fo eritbrigt nunmehr noch einzig, Verbindung 
t dem vorhergehenden Verſe zu erzielen, zugleich das Object zu 
m Berbum zu gewinnen. Beiden Erforderniffen wird entſprochen, 
mm wir unter Statuirung einer auch fonft häufigen Verwechſe— 
ng von m und 7, fowie unter Annahme einer ftattgehabten Ber- 
zung zweier Buchſtaben das vom Zerte gebotene nxtw herftellen 
urſprünglichem win, fo daß wir, indem wir in Bezug auf die 
firenden Buchſtaben > und » annehmen, daß es mit ihnen eine 
iche Bewandtniß haben werde, wie mit den Buchftaben x und > 
der oben beſprochenen Stelle Pf. 71, 3, als urfprünglichen 
ortfaut der verdorbenen Stelle gewinnen würden: yon Wie 
my Dr. Der ganze Schluß des .89. Pſalmes würde danach 
ſprünglich gefautet haben: 

2. 51. Gedenke, o Herr, der Schmad Deiner Knechte, 

mit ber immerfort ſchmähen die Nationen ; 
8. 52. mit der ſchmähen Deine Feinde, Jahre, 
mit ber fie ſchmähen bie Ferſen Deines Gejalbten ! 

Gewiß ein des "großen erhabenen Liedes würdiger Schluß. 
:eimal kehrt derfelbe Gedanke wieder, ehe er völlig zum Abſchluſſe 
angt; aber immer ift die Wendung eine etwas andere und jedes⸗ 
l wird nod ein neues Moment hinzugebracht. Spricht V. 51 
Schmad des Volkes, deren Jahve gedenfen möge, aus als eine 
ternde, fo bezeichnet V. 52 a die Schmäher des Volkes zugleich 
Feinde Jahve's; fo bringt endlich V. 52 b das Object nad), 
nit erſt da8 Ganze vollendend. 

Blicken wir nochmals auf unfere Unterfuchung der Stelle Pf. 89,51 
üd, fo fehen wir, daß es mit derfelben in kritiſcher Hinficht ſich 
au fo verhält, wie mit der Stelle Pſ. 71, 3. Das BVerhält- 
unſerer Tertesfesart zu dem, durch das von uns eingejchlagene 
fahren wieder hergeftelften urfprünglihen Wortgefüge ift genau 
Telbe, welches uns entgegentritt zwifchen Pf. 71, 3b und der 


682 Schrader, zur Zertteitif der Pſalmen. 


Driginafftelle Pf. 31, 3. Wie in Pf. 71, 3 der nur trümmet 
haft erhaltene Grundtert von dem Abfchreiber nach beftem Meine 
ergänzt wurde, fo aud derjenige von Pf. 89, 51. Augenfcheinlit 
lagen dem Abſchreiber an legterer Stelle vollfommen lesbar ni 
vor die Wörter 5> und Sopy; von ben drei anderen waren u 
noch einzelne Buchftaben lesbar, wie da8 m von eur (in wel 
das Dh] von om (in DO); das wir endlich vom ok (i 
NW); alle übrigen Zeichen waren mehr oder weniger verbli 
Indem nun ber Abfchreiber aus diefen Wort» und —— 
einen einigermaßen lesbaren Text ſich herzuſtellen verſuchte, 
es, vergleichen wir den ganz gleichen Fall Pſ. 71, 3, nicht se 
nehmen, daß er ben urfprünglichen verfehlte; kann es auf 
weiter auffallen, daß er, um einen erträglichen Sinn zu gewima 
zumal wenn ihm vielleicht das nom des vorhergehenden Lrril 
eine Stelle wie Ser. 15, 15 oder Pf. 79, 12 in's Gedäd 
tief, fein Bedenken trug, ganz wie wir e8 Pf. 71, 3 haoamn 
ſei es eine Verſetzung von Buchſtaben (wx in x) vorzunehne 
ſei es, für den Sinn ihm nothwendig erſcheinende Buchſich 
6 und >) hinzuzufügen *). Fir den Iegteren Punkt darf id) ſchl 
lich andy nod auf die Stelle 2Sam. 22, 28: Dow by . 
doyrd verweiſen, wo die Verleſung des von der Paralleit 
Pi. 18, 28 gebotenen und unftreitig urfprünglichen Du: i 
pay ®) zur weiteren Folge hatte, daß der Abſchreiber die Prim 
fition dy einfügte und das Femininum mar in das Dasculind 
Don umänderte, fihtbar nur, um dem verderbten Texte wenigied 
eine Art von Sinn abzugewinnen. 


3) Wir ſetzen zu noch deutlicherer Veranſchaulichung biefer Art der Entfetes 
unferer jegigen Terteslegart (b) aus der urfprünglichen (a) beide Ir: 
wie oben untereinander: 

- a1 
b. owy mm 53 ypına nm 


1% 
a Dmy Dun 55 par Un 
b) Bgl. Ewald, Dichter d. U. B. (3. Ausg.) II, 60. 


Linder, ber Unionsverſuch des Duräus in der Schweiz. 653 


3 


Der Unionsverfud des Duräus in der Schweiz 
in den Sahren 1654, 1655 — 1662. 
Bon 
Pfarrer Finder in Regoldswil (Bajelland). 





Unter den verfchiedenen Uniorsverſuchen zwifchen dem Lutheranern 
d Reformirten nimmt, was vornehmlich die ſchweizeriſchen Kirchen 
rifft, derjenige des Duräus eine wichtige Stelle ein, fowohl in 
heficht der Art und Weife, deren er fich bediente, nämlich nicht 
f dem Hohen Streitvoffe eines Andreä, fondern mit fanfter Be— 
Mamfeit, mit einer Schmiegfamkeit und Gemandtheit, wie feiner 
ner Vorgänger fie aufzuweiſen vermochte. Ganz befonders ver- 
nt and die Beharrlichkeit hervorgehoben zu werden, welche 
bei diefem Zriedenswerfe an den Tag legte. Der Zeitraum, 
ı er diefen Verſuchen in der Schweiz widmete, umfaßt die 
ihre 1654— 1655, doch treffen wir denfelben im Jahre 1662 
d 1666 wieder an, jedoch nur auf kurze Zeit. Er Hoffte Hier 
n fo eher Anklang zu finden, als die veformirte Schweiz von den 
fitifchen Bewegungen, welche damald Europa in großer Span- 
ng erhielten, unberührt geblieben war, glaubte auch durch die 
npfehlung des Protector Olivier Cromwell dafelbft einen feiten 
tand zu gewinnen und ahnte nicht von ferne, daß gerade fein 
:rhältniß zur Hinrichtung Karl's I. und zu Cromwell ihm die 
ößten Hinderniffe bereiten würde. 

Diefer Unionsverfuch erinnert uns zugleich an diejenigen, welche 
: Erſcheinung de8 Duräus in der Schweiz unmittelbar voran= 
zjangen waren. Wir erwähnen den Verſuch des ©. Ealizt, der 
mmtliche. hriftliche Glaubensparteien auf die einfachen Grund» 
pen des apoftolifchen Symbolums zurüdführen wollte; alfein, ſo— 
it wir aus den Acten erfehen konnten, war derjelbe von ges 
gem Erfolg. 








654 Linder 





















Später, im Jahre 1651, erfhien in Zitrich ein Abgeordneter 
der Königin Chriftina von Schweden mit dem Auftrag, bei den 
ſchweizeriſchen Kirchen die Union zu beginnen. Der Magiftra 
von dort empfahl diefe Angelegenheit dem Rath zu Baſel mit ie 
Bemerkung, daß der Beginn eines Unionsverſuches bei den jeher 
zerifchen Kirchen von Seite der erlauchten Königin denſelben j 
großer Ehre gereihe. Der Rath zu Bafel verlangt hierüber um 
dem Kirchenconvent ein Gutachten, welches fich jedoch fehr zurüd: 
haltend äußert. Darin heißt es: Eine folche Vereinigung fei 
zu wünfchen als zu hoffen; diefelbe fei ein Gefchäft, melde 
gleicher Zeit auch die reformirten Gemeinden Deutſchlands anpk, 
deren Gutachten einzuholen wäre. Mit den Tutherifchen 
fei wegen ihres ftreitfüchtigen Wefens nichts anzufangen, fi 
e8 müßte den Fürften und Obrigfeiten, welche der iſ 
Religion beipflichten, die Sache mitgetheilt und von ihnen eine 
ferenz angeſtellt werden. Zu einer wirklichen Vereinigung ſei keit 
Hoffnung vorhanden, da da Maulbronner Gefpräc (1564 
die Mömpelgarder Disputation (1586), fowie diejenigen 
Thorn und Danzig, bei welcher legtern die reformirten ZI 
Togen zu nachgiebig gewefen, zu Nichts geführt Haben. Es mi 
darin auch des Schmidlin's Buch (Eoncordienformel, zu Wi 
berg im Jahre 1580 verfaßt) erwähnt, worin die Lutheraner 
Reformirten geradezu die Bruderſchaft aufgefündigt Hatten. 

In demfelben, Gutachten wird fchon des Duräus ermähnt, 
im Jahre 1633 umfonft Zeit und Mühe aufgewendet und mi 
denn Haß und Spott geerntet habe. 

Das Schreiben an die Königin von Schweden, das von a 
reformirten Ständen an fie abging, war zugleich ein Gratulatins 
fchreiben bei Antritt ihrer Regierung und enthielt nach ehrenoin 
Erwähnung ihres Waters Guſtav Adolph folgenden Wunjd: a 
möchte in der gefammten evangelijchen Chriftenheit vertramlict 
Weſen gepflanzet, fonderlich alles empfindliche Reden, Schrehta 
und Predigen geftillet ımd ein gutes Verftändniß ftabilirt und x 
Kirche gegen jo manche wiberwärtige Praktiken gefichert werden. 

Daß nun auch in Bezug auf diejes Pacificationswert Duris 
mit der Königin von Schweben in näherer Verbindung ftand, fi 


der Unionsverfucd; des Duräus in der Schweiz. 655 


kannt, und wir möchten faft annehmen, fie Habe ihren Hofrath 
Relfer, der von Zürich ftammte, dahin abgefandt, um ihm ben 
Beg zu bereiten. 

Indem wir num eine Gefchichte feines Unionsverfuches in der 
Schweiz folgen laſſen, legen wir hier eine Relation feines eigenen 
Tngebuches zu Grunde, welches enthält initium et progressum 
neorum in tota Helvetia tractatuum et praesertim illum 
um fratribus Basileensibus. Zu einer ſolchen Relation war 
ce durch ausgeftreute Gerüchte, welche den Bafeler Theologen Nach⸗ 
geil bringen konnten, veranlaßt. Daß wir da vorzüglich bei den 
Interhandlungen mit Bafel verweilen, Tann nicht befremden, indem 
erade an der Bedenklichfeit der Baſeler Theologen das Werk der 
Inion fcheiterte,. während von allen anderen veformirten Cantonen 
va noch Genf ausgenommen) zuftinmende Gutachten erfolgten. 

Im Jahre 1654 den 15. Mai gelangte Duräus über Straß- 
urg nach Bafel, wo er aber incognito durchreiſte und nad) Zürich 
lte. Doafelbft übergab er dem Rath das ihm von Cromwell aus. 
eſtellte Ereditiv, worin er in den wohlwollendften Ausbrücen dem 
Ragiftrate empfohlen wurde — ut illi omnibus humanitatis, 
micitiae et benevolentiee officis adsint, faveant et ipsi 
ıppeditent, quae viris bonis, doctis bonique publici studiosis 
ebentur. 

Ein ähnliches Schreiben wurde ihm von der Orforder Univer« 
tät zur Empfehlung mitgegeben, worin zuerft der Danf gegen Gott 
18gefprochen ift, daß er die englifche Kirche wie aus einem Feuer⸗ 
cand errettet habe. Die Pflicht der Dankbarkeit gebiete aber etwas 
ı tun, was ihm und den Brüdern zur Ehre gereiche. Nun habe 
Juräns aus freien Stüden ihnen feine Dienfte zu einem Unions—⸗ 
erfuch zwiſchen den Lutheranern und Neformirten angeboten und 
» werde er von ihnen empfohlen — ut ei fidem adhibeant in 
3 rebus, quae ad hunc scopum nostro nomine proponet et 
am isto consilio sua communicent. 

Gegen diefe beiden Actenftüde wurde fpäter von den Bafeler 
:geologen ein Verdacht erhoben, da der ſchweizeriſchen Kirche darin 
it feiner Sylbe erwähnt wurde und überdies in denfelben das 
wöhnliche Inſiegel fehlte, " 


656 Linder 


Ueber feine Ankunft in Zurich meldet Antiftes Stucki an den 
jenigen zu Bafel, Duräus fei erſchienen cum praeclaro il, 
jam nobis cognito et ab omnibus bonis in Anglia denuo ap 
probato ampliore proposito ad eandem societatem nostris 
cum ecclesiis ineundam. Er hoffe um fo eher einen günftigm 
Erfolg feiner Bemühungen, als der Protector mit verſchiedenn 
Staaten futherifher und reformirter Eonfeffion im Bunde ftek, 
fo daß zum wenigften doch, was am meiften Noth thue, die gegr- 
feitige Toleranz könne erwirkt werden. 

Wie fpäter in Bafel, fo verlangte er auch hier in Zürich ki 
Anlaß der Ueberreihung feines Creditivs, es möchten vom Rak 
etliche professores und theologi, fowie aud Diener des göttliäs 
Wortes, zu dem Behuf bezeichnet werden, um mit denfelben w 
Präliminarien zur. Bermittelung des Friedens feſtzuſetzen, jonk 
überhaupt feine Friedensvorfchläge mit ihnen zu befprechen. 

Zu diefem Zwecke hatte Duräus drei von ihm verfaßte Schriften 
mitgebracht, von denen die erfte den Titel führt: scopus Ireni- 
eorum, — bie zweite: de mediis ad scopum evangelicae univ- 
nis obtinendae requisitis, — die dritte: de modo procedendi 
quo inter Evangelicos unio obtineri possit. 

Die erftere enthält eine dringende Aufforderung am Lutherane‘ 
und Neformirte, ſich einander in Rückſicht der von Seite der Fi 
piften drohenden Gejahr die Hand zum Frieden zu bieten, wie der: 
aud in jo bedenflichen Zeiten die Gemeinden von Gottes Wort ur 
gewiefen feien, als Glieder Eines Leibes Freud und Leid miteinanda 
zu tragen, damit durch diefe Gemeinſchaft des Geiſtes der gu 
Ban in einander gefüget wachſe zu einem Heiligen Tempel in da 
Herrn. Am Schluſſe enthält diefe Schrift folgende ſchöne Stelk: 
Nunc obtestamur vos, ad quos hoc scriptum pervenie. 
quotquot estis ecclesiae Dei praepositi sive praecones site 
patroni, sive Doctores sive rectores politici — vos inquau: 
omnes coram Christo, qui in illo die judicabit vivos et mor- 
tuos, obtestamur et per viscera Christianae caritatis, ® 
qua est publici status et communis aedificationis cura et 
sollicitudo, rogamus et oramus, ne velitis huic aratro ma 
num subtrahere aut qui vocati estis ad sanctam in regiv 





der Unionsberſuch des Duräus in der Schweiz. 657 


Dei communionem ad mundum respicere aut qui consilio 
ıdesse potestis, ilud muto et causam proditorio silentio de- 
inere, sed ut illud communicetis cum is, quorum opera le- 
time et ad alios fructuose propagari possit. 

Das zweite Actenſtück, welches die zur Union führenden Mittel 
wfpricht, enthält zwei Theile, von welchen der erfte de fide, ber 
dere de caritatis praxi handelt. 

In dem erjten Theile nennt er als Mittel, welches zur Fort 
Mlanzung des Glaubens von Gott ſelbſt geordnet ift, die nur 
nder Schrift geoffenbarte und von Irrtfum unver 
ehrt erhaltene Wahrheit. Heilswahrheit ift jedoch nur die- 
enige, welche in den Herzen der Menfchen wahren Gehorfam des 
Hanbens pflanzt und ohne welche fein folder denkbar ift. Jede 
Birhe Habe zwar ihr Bekenntniß, hiermit follten die gemeinfamen 
undamentalen Glaubensartifel zufammengeftellt und alle Belennt- 
iſſe mit den Symbolis der erften chriftlichen Kirche in völlige 
Iebereinftimmung gebracht werden. Daneben foll auch bei jedem 
Ylaubensartifel der vornehmften Pflichten als praftifcher Folgerungen 
‚dacht werden. Um aber die Wahrheit vor Verfälſchung und 
erthum zu felgen, folfe eine Anleitung (methodus) ausgearbeitet 
verden, wie man die Heilige Schrift zu erflären hat, damit allem 
aenfchlichen Vorwitz in Auslegung derfelben gefteuert werde. 

Der zweite Haupttheil de caritatis praxi enthält drei Unter- 
Ötheilungen: 1) wie eine concordia in Wahrheit an- 
uftellen fei; 2) wie der Friede nad erlangter con- 
sordia zu befeftigen, und 3) wie nad geſchloſſenem 
frieden die Schismata abzuſchaffen und zu befeitigen 
eien. 

ALS Mittel zur Erreichung diefes Zwedes werden unter andern 
gegeben: Man folle jeder Kirche eine harmonia fidei, worin mit 
Auslaſſung aller adiaphora nur die Fundamentalartifel zufammen- 
jejtelft find, überreichen und ihre Zuftimmung zu- erlangen fuchen. 
Sollte von Seiten der Lutheraner gegen irgend einen Artikel Pro- 
ft erhoben werden, fo wäre diefe Sache dur Geſpräche und 
Disputationen nad dem Vorgang derjenigen zu Leipzig zu erledigen. 
Ferner fei eine Schrift abzufaffen, worin die Nothwendigkeit einer 

Teof. Stad. Jahrg. 1868. ‚ 44 


668 Linder 


Vereinigung unter den evaugelijchen Gemeinden auf's gründlichfte 
dargethan umd zu erweiſen fei, daß Die, welche ſich zu einem 
Glauben befemen, aud die gleiche Affection gegen einander 
haben ſollen. Beiderſeits fei der Genuß des heiligen Abendmahls 
frei zu laffen, was durch „feine“ Correfpondenzfchreiben zu er 
reichen fei. 

Zu Bezug auf den zweiten Puuft: wie der Friede zu befeftign 
fei, bemerft Duräus weiter, müßte der Gebrauch der verhaftn 
Namen Lutheraner und Calviniſten aufgehoben, die Clamanten m 
unrubigen Köpfe, fowie alle Die, welde Schmähſchriften ausge 
laſſen, zur Verantwortung gezogen werden. Es fei überhaupt ur 
die Sache als die Perfon anzufehen. Ueber ji allfällig erhebt 
ftreitige Punkte fei das Gutachten gelehrter Theologen einzuholn 

Es folgen dann noch einige untergeordnete Punkte, wie j. 
von der gemeinen Erbauung (de communi aedificatione) 
oder von der Miffionsthätigfeit nach innen durch gegenfeitige fügı 
liche Vermahnung nad 1Theſſ. 5, 14; ferner von der Belek 
rung der Ungfäubigen ober die Miffionsthätigfeit nad) aufn, 
3. B. nad Oftindien, New England; dabei foll auch der Juda 
und der Türken nicht vergefjen werden, ſowie der griechifchen Kirk, 
mit welcher legteren durch den englifchen Gefandten bei der „Dit 
manifchen Pforte“ eine Correfpondenz anzuftellen fei. And die 
tatholiſchen Papiften fol man trachten zur Erfenntniß der Wahr 
heit zu bringen, zumal da Gott doch an ihnen die Macht fein 
Gnade und der Menſchen Unvermöglichteit viel mehr als frük 
geoffenbart habe. Zuletzt folgen noch zwei Artikel von der Auf— 
hebung der Aergerniffe (de scandalorum abolitione), dır 
Vermahnung der Straffälligen nah Matth. 18 und überhar 
durch Aufftellung einer gemeinfamen Kirchenzucht; von der dr 
ſchirmung der Gemeinden vor Atheijten, Papiften, welche mit 
Tyrannei und Aberglauben die Gewiſſen beſchweren, und vor folät, 
welche Fundamentalfehler auf die Bahn bringen, welche den Ölauk: 
und Gehorfam in den Herzen ſchwächen. 

. Endlich werden im dritten Actenſtück de modo procedendi sl 
unionem Evangelicorum obtinendam folgende Rathichläge ertfeik: 
Sollen ſämmtliche Schriften, welde über die Unionsſache geſchrichen 





der Unionsverjuc des Duräus in der Schweiz. 659 


vorden, gefammelt, die vornehmften Beweggründe zu einer Ver 
inigung zufammengeftellt und in Drud gegeben werden, Bei frü- 
eren Verſuchen diefer Art fei genau zu unterſuchen, welde Hin- 
ernifje einen günftigen Erfolg vereitelten und wie diefelben übers 
sunden werden können. Sodann hätten die Reformirten unter ſich 
ber ftreitige Punkte fogenannte Sensa auszuarbeiten, und nad) 
egenfeitiger Mittgeilung derfelben ſich zu verftändigen. Hierauf 
ätte man die Zuftimmung der Lutheraner einzuholen, was allerdings 
hwer, aber nicht unüberwindlich fei, wie es fi in den Jahren 
636 und 1637 in Schweden zur Genüge bewiefen habe. Zu 
em Behuf, jowie um der Sache ein größeres Gewicht zu ver- 
haffen und von vornherein ftreitfüchtigen Lutherifchen Theologen 
hür und Thor zu fchlieen, fein Fürften nd Magiftrate futher 
ihen Gfaubensbefenntniffes zu gewinnen und anzugehen, unter 
orſitz ihrer Gefandten einen Convent von folden Theologen zu 
zanftalten, die einer Vereinigung nicht abgeneigt feien. Diefe 
itten dann über ſolche ftreitige Artikel zu berathen, welche zur 
ten Uebung der Gottfeligkeit und der chriſtlichen Liebe nothwen- 
9 find. Sofern man darin zu einer Uebereinftimmung gelangt 
äre, hätte dann eine weitere Mittheilung an die Profefforen und 
heologen, fowie an die Kirchendiener zu gefchehen, um fie über 
re allfälligen Scerupel in diefem oder jenem Punkte zu befragen, 
orauf diefelhen aufs Neue in dem Convent beſprochen werden 
Iiten, bis auf diefe Weife eine gemiffe Verftändigung (consensus) 
$ Werk der Union abfdjliege. Nach Fejtftellung des consensus 
äre eine Störung deſſelben nad der Strenge des Geſetzes zu 
ftrafen. 

Es ift vielleicht nicht unintereffant, neben den Hier erwähnten 
riedensvorſchlägen als Seiteuſtück die bei der Pacification der 
wwediſchen Kirche in Form von Thefen aufgeftellten Präliminarien 
8 die Grundlage zu einer Vereinigung folgen zu laffen: 

1) ut sit plenus in omnibus articulis fidei fundamentalibus 

consensus; 
2) ut errores, qui fundamentum evertunt, aut ad ejus ever- 
sionem tendunt, rejiciantur; 
3) ut in ritibus et rebus adiaphoris sit mutua tolerantia: 
44* 


680 Linder 


4) ut inter unitas partes candor observetur, ne errore 

ambiguis loquendi formulis occultentur; 

5) ut pace constituta nemini sit licitum rejectos error 

defendere, excusare aut ulterius spargere; 

6) ut ambitiosae et non necessariae disputationes utrin 

que et logomachiae inhibeantur; 

7) ut praeteritarum exprobrationum et injuriarum sit am 

nestia ; 

8) ut regimen ecclesiasticum secundum normas apostolitsi 

constituatur. 

Sollen wir uns über diefe Friedensvorfchläge ein Urtheil: 
lauben, fo fönnen wir nicht umhin, der offenen, redlichen 8: 
finnung des Durgus, welche diefelben wie ein goldener at 
durchzieht und die eben nicht allen nachgerühmt werden kann, welt: 
auf diefem fchmierigen Gebiet gearbeitet haben, unfere volle X: 
erfennung auszufprechen, müfjen aber doch auf den Mangel eind 
einheitlichen Zufammenhanges in denſelben fowohl nach ihrer the 
retiſchen (Aufftellung eines gemeinfamen Glaubensbekeuntniſſes) dk 
praftifchen Seite aufmerffam machen, und es darf daher nicht a 
fallen, wenn namentlich in Bezug auf letztere die Weitfchroeifigte 
in Anwendung der Mittel den bedächtlichen Baſeler Theolo;: 
keineswegs entgangen ift, wie wir bald fehen werden, und die Hef 
nung auf einen günftigen Erfolg vereitelte. Die Aufjtellung er 
harmonia confessionis fidei betreffend, ift die Bemerkung Herts 
(Herzog's Real» Encytlopädie) richtig, es ſchwebte dem Durit 
der Gedanke vor, „daß das Chriſtenthum nicht ſowohl eine Lehr 
als eine Xebensmittheilung fei, und daß Hinter den verjcieder. 
Sprachen fich doc zulegt ein gemeinſames Bewußtſein verber« 

Am ſchicklichſten laffen wir Hier das bei Anlaß einer wüt- 
ren Erörterung diefer vorgejchlagenen Mittel von Meosheim ir 
Duräus gefällte Urtheil folgen: „Der Mann“, fagt © 

"zeichnete fid aus dur eine wahre Srömmigfeitur- 
befaß eine tiefe Gelehrſamkeit, aber weniger Einjit: 
in Beurtheilung der Zeitverhältniſſe.“ Aehnlich lau 
das Urtheil Shrödh’s (V, 201): „Der gutmüthige un 
fromme Mann kannte weder fein Zeitalter nod di 





der Unlonsverſuch des Duräus in der Schweiz. 661 


irhen genugjam, welde er miteinander verbinden 
ollte.“ 
Im Juni 1654 ſetzte Duräus den in Aarau verſammelten 
eſandten der reformirten Cantone feinen Zweck weitldufig aus— 
tander und, ſei es in wirklicher Hoffnung eines günftigen Erfolgs 
er um des Anfehens des Protector Cromwell willen, erhielt 
Zuſich erung ihrer Mitwirtung, se professoribus et eccle- 
ie ministris mandaturos, ut qua ratione opus tam prae- 
arum promoveri possit, in medium consulant, ipsos quo- 
ıe consilio et autoritate sua viri optimi conatibus non de- 
turos esse. Zugleich wurde ihm die Erlaubniß ertheilt zum 
eſuch der verfchiedenen reformirten Kirchen behufs einer näheren 
eſprechung über die Union. , 
‚Bald nad) feiner Rückkehr nad) Zürich reifte er nad) Bern, wo 
ſowohl von Seite des Raths als der Geiſtlichkeit die freundlichfte 
nahme fand umd gaſtlich bewirthet wurde. Seine Friedens-⸗ 
rſchläge Hatten da fo ungetheilten Beifall erhalten, daß das von 
rofeffor Lüthard im Namen der Geiftlichkeit abgefaßte Judicium, 
alches wir fpäter mittheilen werden, in allen Theilen zuftimmend 
atete. 
Auf eine Einladung des Autiſtes Zwinger, nach Baſel zu kom— 
a, traf er in Begleitung des Pfarrer Hummel Anfangs Sep» 
uber 1654 dafelbft ein. Den 3. September überreichte er dem 
ürgermeifter fein Creditiv nebft einem ganz befonders an Bafel 
richteten Schreiber Cromwell's, fowie die ihm mitgegebenen offi- 
en Empfehlungsſchreiben der Oberftpfarrer zu Züri und Bern. 
ie fchriftliche Erklärung, welche Duräus, um die Bafeler feines 
glofen Zweckes zu verjichern, vor Beginn einer Unterhandlung aus⸗ 
ftellen hatte, lautet folgendermaßen: In pacis ecclesiasticae stu- 
0 hoc tempore restaurando Johanni Duraeo propositum est: 
eo Opt. Max. juvante, ministros verbi pie doctos in ecelesiis 
theologos in scholis conscio cujusque loci magistratu adire 
imque iis de consiliis evangelicae veritatis conservandae 
: eoncordiae inter ecclesias propagandae agere: ut rebus 
mnibus ad evangelicorum pacem et schismatis abolitionem 
vectantibus, rite praeparatis communio sanctorum inter 


662 Linder 


Protestantes efflorescat et ad mutuam fidelium aedificationen! 
constanter excolatur et ad aliorum conversionem propagetur. 
utque sub auspieiis supremi in quolibet loco magistratus. 
offensiones, quae cursum evangeli liberum hactenus impedi- 
verunt, e medio tollantur et communis evangelicorum causı 
adversus communes hostes communibus consiliis et studis 
spiritualibus defendatur et promoveatur: Atque hunc sibi et 
non alium scopum unice hic et alibi propositum esse, manus 
suae subscriptione coram Domino cordium scrutatore test 
tur Joh. Duraeus V. D. M. 

Nachdem die Sache vorher in einer vorberathenden Sigung k. 
ſprochen worden, wurde ein allgemeiner Convent angeftellt, ü 
welchem auch Duräus beigezogen wurde. Zum Sprechen auje- 
fordert, begann derfelbe mit dem Entſchluß, den er gefaßt hak, 
fein ganzes Leben dem Pacificationswerke unter den Evangeliſchen 
zu widmen. In Schweden Habe er daffelbe angefangen, hernd) 
in Holland und Dänemark fortgejegt. In Folge der eingetretenen 
pofitifchen Bewegungen in Britannien Babe er es für feine Pflich 
gehalten dahin zurüczufehren und unter den ftreitenden Parteien 
den Frieden zu vermitteln. Nachdem dafelbjt zu einer ſolchen Ver 
mittefung eine ſichere Grundlage gelegt worden, habe er ſich wiedc 
nad) Belgien und Deutfchland begeben und dafelbft viele Gemei;t 
heit gefunden. in ganz befonderes Augenmerk habe er auf die 
ſchweizeriſchen Kirchen gerichtet, als welche zwijchen den gallijcer. 
franzöfifchen und deutfchen in der Mitte Liegen und gleichſam de: 
Centrum bilden. Seine Verſuche zu einer Union habe er über: 
bei den Reformirten begonnen, weil er bei ihnen am meiften Ir 
Hang gefunden habe. Ein Einverftändniß mit denfelben merke 
feinen Verſuchen bei den Lutheranern um fo größeren Nachdruc 
verſchaffen. Speciell die ſchweizeriſchen Kirchen betreffend, äußerte 
er ſich, halte er fie zur Mitwirkung in dem Pacificationswerte vo: 
andern für geeignet, weil er das Intereſſe derfelben wahrgenomme 
habe, das fie in Beilegung religiöfer Streitigleit an den Tag & 
legt hätten, was fid) namentlich auch bei den zerrütteten kirchliher 
Zuftänden in Britannien gezeigt habe (guod de rebus in Br- 
tannia afflictis et perturbatis restituendis eas prae ali: 





ber Unionsverſuch des Diräus in ber Schweiz. 663 


ollicitas observaveram), woraus mit Recht auf das Borhanden- 
ein einer ganz befonderen Geneigtheit für die Unionsfache gefcjloffen 
verden könne. Werner Hätten die ſchweizeriſchen Kirchen ftets die 
Rechtgläubigfeit durch Gottes Gnade bewahrt und trog der Ver⸗ 
Hiedenheit kirchlicher Gebräuche brüderliche Liebe gegeneinander ger 
bt. Endlich fein in deren Archiven viele Schriften enthalten, 
yelche zur Beilegung kirchlicher und religiöfer Streitigkeiten die 
eſte Anleitung geben künnten. 

Diefe Relation veranlaßte Profeſſor Buxtorf zu der Bitte, der 
zerſammlung über den gegenwärtigen Zuftand der orthodoren Kirche 
1 England Bericht zu erftatten, da man erft jüngft mod) von der 
aplichen Lage, in der fie ſich befinde, Kunde erhalten habe. 

Duräus fuchte natürlich) diefelbe fo günftig als möglich darzu— 
kffen und rühmt, wie Vieles gejchehen fei ad ecclesiae non 
do conservationem sed etiam reformationem, de recto in 
rdine cultu, de disciplinae ecclesiasticae moderata autori- 
ate, wie die Commiſſarien ſich angelegen fein ließen, ungläubige 
nd Aergerniß ftiftende Leute vom Kirchendienft zu entfernen, da= 
nit die Kirche feften Beſtand gewinne. 

Ohne befonderen Scharffinn zu befigen, fühlt man es ber 
anzen Relation ab, welche Mühe es Duräus koftete, der Ver— 
ammlıng über die Lage der englifchen orthodoren Kirche, ſowie 
ber fein fpecielles Verhältniß zum Protector befriedigende Auf- 
Hlüffe zu geben. 

Im Weiteren wurde der Inhalt feiner Schriften de mediis 
d scopum ev. unionis obtin. requisitis und de modo pro- 
edendi bejproden. Er gab hierüber einige Erläuterungen und 
achte gemachte Einwendungen zu widerlegen. Den Schluß bil- 
eten einige Worte der Ermahnung, welche er an bie Berfamm- 
ag richtete. 

Am 16. October wurde das Judicium der Bafeler Geiftlichteit 
em Duräus überreicht und zwar bei Anlaß eines Gaſtmahls, wo— 
at ihn diefelbe bemirthete, fo dag ihm zum aufmerkſamen Durch⸗ 
jen die Zeit mangefte, um den darin gemachten Einwürfen fo 
leich zu begegnen. 


664 Linder 


Wir tHeilen nun den wefentlichen Inhalt diefes Judicium’s, das 
auch dem Rath in deutſcher Sprache überreicht wurde, hier mit 
und werden behufs einer näheren Vergleihung aud die von an: 
deren Cantonen ihm überfandten Judicia folgen Lafjen. 

Was den Zwed des Herrn Duräus anbetrifft, fo finde man 
denfelben trefflih, Herrlich und gut, als welchen er bei ſig 
felbft gefaßt Hatte aus einem friedfertigen und Tiebreichen Herm. 
Belangend aber die Mittel finde man aud fie „an ſich felb: 
ften zwar gut und bedädtlid, aber von ziemlide 
Weitläufigkeit und. befonders wenn fie auf einmal in gem 
wärtiger Zeit follten practicirt werden“. Obwohl wenig Hoffen 
des Gelingens zu faſſen fei, fo ſolle man doch nicht die Hand un 
Pflug abziehen. Das Beſte jei wohl, wenn die Reformirten nt: 
ſich felbft eins würden; dann erft könnte man „allmählich u 
ftaffelweis“ aud mit den Lutheranern handeln. Wie in pol 
tifchen Fehden dem eigentlichen Frieden ein Waffenftillitand voran: 
gehe, fo möge es auch Hier geſchehen, daß man vorerft die Feim⸗ 
feligfeit und Schmähfucht einftelle. Es fei nicht gerathen, ein 
Schrift jegt ſchon in Druck ausgehen zu laſſen, befonders wen 
diefelbe nur von Schweizer Theologen abgefaßt würde; man könn 
da leicht den Zweck unterfchieben, man Habe die Lutherifchen Zürftn 
und Obrigfeiten wider ihre Prediger „verhegen“ wollen. 

Hierauf verließ Duräus Bafel und gelangte den 20, Oktokr 
nah Schaffhauſen, wo er ein Schreiben an den Oberftpfarter 
Schalch richtete, worin er feine Angelegenheit ihm dringend empfahl. 
Gott Habe bei den Lutheranern, fo äugert er fich, ſchon folde Vor 
bereitungen getroffen, daß, wie ein nicht ganz unfruchtbares Erdreih 
bei günftiger Witterung nur noch des Pfluges bedarf, Hier mr 
die Anwendung feiner vorgeſchlagenen Mittel nöthig fei. 

Er beſpricht die Anzeichen und Vorboten eines günftigen Erfolge 
näher und nennt eine Anzahl von ntherifchen, einer Union gr 
nicht abgeneigten Furſten. Dringend warnt er die Schaffauit 
Brüder, nicht in, den gleichen Irrthum zu fallen wie die Battle. 
Es fei durchaus nicht feine Meinung, alle Mittel auf einmal in 
Anwendung zu bringen, fondern er habe jie zufammengeftellt, un 





der Unionsverſuch des Duräus in der Schweiz. 665 


daraufhin ein Gutachten zu verlangen, inwiefern die vorgefchlagenen 
Mittel dem Zwecke entfprechend feien. Es ftehe ja Jedem frei, 
davon diejenigen auszumählen, zu deren Anwendung er von Gott 
am meiften begabt worden fei: non omnia simul et semel ad- 
hiberi, omnia tamen diversis in locis et temporibus, apud 
alios et alios homines, ab aliis et aliis simul forsan usurpari 
poterunt. Indem ferner die Schrift erft nad) allgemeiner gegen» 
feitiger Beſprechung herausgegeben werde, falle jene Bejorgniß ber 
Bafeler dahin. 

Das hierauf abgefaßte Sutadten der Schaffhaufer Geiſtlichkeit, 
welches fehr pathetijch gehalten, beginnt vorerft mit einer Dank 
bezeugung gegen Gott, der in einer Zeit, wo es von Spaltungen, 
Anathemen wimmle, wo das Lutherthum wegen einiger falſchen 
Neinungen (propter quasdam falsarum opinionum fundamento 
superaedificatas stipulas) verdamme, verurtheile, unter den 
Aufpicien des Protector Englands den Friedensvermittler Duräus 
erweckt Habe, im den Herzen beider Parteien die erfaltete Liebe 
wieder zu entflammen und ben Triumph des Feindes (xaxod dei- 
uorog veusonOavrog Tols av Xgoriaviv dyagois) zu Schan- 
den zu machen. Die vorgefchlagenen Mittel ſeien, obgleih (ut 
per angusta ad augusta tendendum) ſchwer, dod möglich 
(possibilia), dabei pia et decentia, sanctam vocationem nostram 
et aptitudinem suam evidenter prae se ferentia. Nur müfje 
in günftiger Augenblick gewählt werden, um nicht den Streit über 
den Synkretismus durch eine voreilige Veröffentlichung einer Schrift 
auf's Neue zu erwecken. 

Das Züriher Judieium, abgefaßt von Studius, anerkennt in 
zolfem Maße die Bemühungen des Duräus um den Kirchenfrieden, 
jelobt auch die Auswahl der Mittel, die alle auf diefen Zweck ger 
richtet feien, jo daß. fie wie Ringe an einer goldenen Kette in ein- 
ınder gefügt feien. Wie jedod feine gute Sache ohne fonderbare 
Mühe und Arbeit zumege gebracht würde, fo müſſe auch hier mit 
unverdroffenem Fleiß, Treue und Standhaftigkeit verfahren werden. 
Im Mebrigen fei ein günftiger Erfolg zu hoffen: 

1) „weil die Reformirten und Lutheraner in den Reichsfrieden 


666 Linder 


eingefehloffen und es daher unnöthig fei, weiter von der Augt- 
burgijchen Confeffion zu disputiren, ob nämlich die Reformirten 
aud zu diefer Societät gehören. Es werden Hinfort die Refor- 
mirten ihre Uebereinftimmung mit der Augsburgijchen Eonfeijion 
mit weniger Scrupel der Qutheraner treiben können: denn diefe (die 
Zutheraner) haben die Unfrigen jederzeit in Verdacht gehabt, alt 
wenn fie nicht aufrichtig handelten, fondern nur unter dem Bar 
wand der Augsburgifchen Konfeffion fuchten des Friedens im Reh 
zu genießen und das nicht aus Gyaden, fondern vermöge ie 
Gerechtigkeit, weil fie Augsburgiſche Confeſſions-Verwandte fein: 

2) „weil in jegiger Zeit alle Evangelifchen außer dem Ritt 
durch ein gemeinfames Band zujammengefnüpft find, es fei da 
Band politiich oder geiftlih, oder beides zugleich. Durch ein p- 
fitifches Band feien die Engländer mit den Schweden verbunden, 
welches auch die Dänemärker herzlich wünſchen, dies trage viel ki 
zur Toleranz. Ein geiftliche® Band finde fich jetzt auch zwiſchen 
der englifchen, fchottifchen, niederläudiſchen, franzöfifchen und er 
genöffifchen Kirche, deren Bereinigung bekannt ſei“; 

3) „weil die Qutheraner nod nie fo entzweit und zertrennt gr 
weſen als jet und daß das Haupt des einen ftreitigen Theile, 
Ealigt, gerade an dem Concordienwerk arbeite und untereinandt 
das Argument fürnehmlich treiben, daß Diejenigen, fo von Gott 
Angeficht Brüder find und Glieder der unſichtbaren Kirche, billige 
maßen zu einem fihtbaren corpus der Kirche Gottes erwachſen fallen‘: 

4) „daß die politiei und großen Leut unter den Lutheranern di 
Ungelegenheit, fo aus dem zänfifchen Disputiren der Theologe. 
erwachjen, mehr und mehr zu Gemüthe ziehen.“ 

Das Berner Judieium, abgefaßt von Lüthard, Profeſſor, mit 
unterfehrieben von Venner, Dekan, anerkennt ebenfalls in hohem 
Maße die Zwemäßigfeit der vorgefchlagenen Mittel, „die mi 
foldem Scharfſinn erfunden und mit foldem Ber 
ftand disponirt feien, daß man nicht fehe, was fern. 
dazu möchte defiderirt werden, ob man die Sadıe oder 
die Berfonen anfehe, mit denen zu progzediren jei". 
Die Berner verſprechen ihre Mitwirkung in der Zuverſicht, di 





der Unionsverfud des Duräus in der Schweiz. 667 


Gott der Herr, der dem Abraham aus den Steinen Kinder erwedte, 
auch die Herzen Derer zu einigen wiſſen werde, welche er berufen 
hat von der Finfterniß zu feinem wunderbaren Lichte. 

Am 14. November 1654 verließ Duräus in Begleitung bes 
Pfarrers Meyer und des Stadtſchreibers Stodar Schaffhaufen, 
„wo alles glüdlich abgelaufen war“, und-begab jich wieder 
nad Züri, um fid) mit den dortigen Theologen über fernere 
Schritte in diefer Angelegenheit zu berathen. . Auf den Rath der— 
jelben befuchte er nun auch die öftlihen Cantone St. Gallen und 
Graubünden, kehrte nah Zürich zurüd und eilte nach Bern, um 
von da aus auch nad Lauſanne und Genf zu reifen, was er wirf- 
lich ausführte. Ueber Bern fehreibt er: magno fuit mihi ad- 
jumento opera et prudentia senatus Bernensium, und in 
Yaufanne fand er an Pfarrer Melfet in Orou einen treuen Ge— 
hülfen, der ganz in feine Gedaufen einging. 

Ueber diefe Rundreife in der Schweiz jpricht fi Duräus fol- 
gendermaßen aus: „Tres in Helvetia circuitus absolvi, primus 
füit quatuor civitatum praecipuarum, secundo orientales, 
tertio occidentales Cantonum confoederatos peragravi, de 
quibus hoc testari debeo, omnes quasi certatim et me et ne- 
gotium ipsum amplexos esse et quamvis maximus ubique 
erat quoad scopum inter omnes animorum consensus, atta- 
men si nulla accessisset ad consiliorum communicationem 
solieitatio, aut de successu desperabundi nihil unquam ten- 
tassent sed intra vota substitissent, aut si quid tentare 
voluissent, diversissimas vias iniissent.“ Ein folder Beſuch, 
fagt er weiter, fei unumgänglich notwendig gewefen, um in Bezug 
auf die Mittel zu einer Vereinigung ſich mit den veformirten Ges 
meinden zu verftändigen, bevor den Lutheranern Vorfchläge zu 
einem Vergleich gemacht werden könnten. 

Wir haben nun noch das Genfer Judicium mitzutheilen, das 
wie kaum ein anderes die Schwierigkeiten betont und zur größten 
Vorſicht mahnt. Daffelbe ift im Jahre 1655 (9. Februar) ab- 
gefaßt worden und von Tronchin im Namen der reformirten Geift- 
(ichteit Genfs unterzeichnet. Sein weſentlicher Juhalt iſt folgender: 





668 Linder | 


So erwünſcht allerdings eine Bereinigung wäre, fo hätten dd | 
die Vorgänge in früheren Jahren dargethan, wie folche Verſuche 
oft noch größeren Zwiefpalt veranlagt hätten, jo daß man Gefahr 
Taufe, beide Seiten des Leibes Chrifti den feindlichen Schlägen der 
Papſtlichen preiszugeben. Man habe ganz bejonder® darauf zu 
achten, daß man nicht aus allzugroßem Eifer für eine Union 
der Wahrheit etwas entziehe, wodurch Andere wieder geärget 
würden. Nur wo die Wahrheit den Sieg erhalte, könne die wahr 
Liebe herrſchen (mit Anführung der Stelle Pi. 85, Geredtig 
keit und Friede werden ſich küſſen). Wie leicht könne man it 
da des Syufretismus ſchuldig machen, welche Sünde ebenfo ht 
anzufchlagen fei, als wie wenn Einer Chriftus mit Belial, dr 
Bundeslade mit dem Dagon der Philifter, die Braut Chriſti mit 
einer Ehebrecherin vereinigen mollte. Gott fei Dank, daß de 
Kirche bis dahin bewahrt worden fei; aber auch in Zufunft müft 
man bei der Wahrheit bleiben, als dem erften und vornehmftn 
Band, das die Gläubigen vereinige. — Was die von Duräut 
vorgefchlagenen Mittel betreffe, jo müffe, bevor man zu derm 
Anwendung ſchreite, ein aligemeiner Waffenſtillſtand gebote 
werden, daß das gegenfeitige Schmähen und Läftern aufhöre, ſonſ 
würde fid) des Apofteld Wort Gal. 5, 15: „So ihr aber unter: 
einander beißet 2c.“ erfüllen, wovor ſchon Calvin gewarnt: ne 
igitur nobis eveniat quod denuntiat Paulus ut in vicen 
mordendo nos et lacerando consumamur, abstinendum potiu: 
& certamine quam ut communi ecclesiae jacturä vulnus 
augeatur. " 

Schließlich erflehen fie dem Duräus den Segen Gottes un 
verfpredyen ihre Mitwirkung in feinem BPacificationswerfe. 





Es war num unſchwer einzufehen und es ergibt ſich aud aut 
der Vergleichung der verfchiedenen Gutachten, daß das Bajeler Ju- 
dieium, weldes die Unzwedmäßigfeit der vorgefchlagenen Mitte. 
befonders wein fie auf einmal zur Anwendung fommen follten, 
rügte, dem gauzen Pacificationswerfe leicht hiuderlich werden Fon. 


der Unionsverſuch des Dirräus in ber Schweiz. 669 


Dies veranlaßte denn auch den Pfarrer Meyer, welcher Duräus 
auf feiner Aückreife von Schaffgaufen nach Zürich begleitete, ihm 
den Rath zu ertheilen, fih um ein Judicium commune, das 
von allen Kirchen der evangelifhen Gantone unterjchrieben würde, 
zu bewerben. Denfelben Wunſch äußerte zu gleicher Zeit Profeffor 
Luthard gegen Studi von Züri. In der That noch vor der Rüd- 
kehr des Duräus von St. Gallen hatte Jener bereits ein ſolches 
abgefaßt. Es führt den Titel: „„Judieium ecclesiarum et aca- 
demiarum : Helvetiae reformatorum de studio pacificatorio 
Venerandi et clarissimi D. Duraei“ und enthielt folgende Vor- 
ſchläge:. 

1) daß alle Prediger und Theologen in ihren Predigten und 
übrigen Verrichtungen der Sitte ihrer frommen Vorfahren gemäß 
(piorum suorum decessorum more) ſich alfer bitteren Worte 
gegen Andersdenfende enthalten und das Bekenntniß der Wahrheit 
und die Einheit des Geiſtes im Bande des Friedens fefthalten ſollen; 

2) daß fie auch alle benachbarten evangelifchen und befreundeten 
Staaten zu diefem Werke ermuntern follen, damit das gegenjeitige 
brüderliche Zutrauen unter den Gleichgeſinnten wachſe und ſich bes 
feſtige; 

3) daß dies Friedenswerk der Fürbitte der evangeliſchen Kirchen 
empfohlen werde, und 

4) daß auch in brieflichen Verbindungen mit anderen Kirchen 
Nichts folle verfänmt werden, mas zu diefem Heilfamen Gefchäfte 
erſprießlich fein könne. 

Ebenfo wurde eine fogenannte Declaratio abgefaßt, welche von 
den weltlichen Behörden ausging und den Titel führt: „, Declaratio 
amplissinorum Helvetiae reformatae Magistratuum super 
negotio pacificatorio Rev. et clariss. D. Duraei.“ 

Sowohl das Judieium commune als die Declaratio wurde 
nun an den Rath zu Bafel gefandt mit der Bitte um die Unter- 
ſchrift der Declaratio und Empfehlung des odielum an den 
dortigen Kirchenconvent. 

Während dieſer Unterhandlung war aber der bisherige Antiſtes 
bereits auf feinem Sterbebette, und für ihn führte nicht nur wäh— 


670 Linder 


rend feiner Krankheit, fondern auch noch während eines mehr als 
einjährigen Interregnums Profefior Joh. Burtorf den Vorfig | 
im Rirchenrathe. 

Bon ihm verlangte num der Rath ein Gutachten ſowohl über 
die Declaratio als das vorgejchlagene Judicium commune, jı 
deffen Unterfchrift er die Theologen Baſels nach dem Wunſch von 
Zürich bewegen follte. In dem erfteren tadeln fie den Ausdrud 
judieium unum imprimis omnium commune und 

. verlangen, daß Nichts darin enthalten fein foll, was dem einen un 
dem anderen Ort präjudicirlih fein möchte und die ſchweizeriſte 
Kirche in diefem Geſchäft zu weit obligire. Sie würden ſich de 
ftreben, jederzeit gute Gorrefpondenz zu halten, wie der zweite Ar 
tilel verlange; follte aber der Sinn darin liegen, daß fie mit und 
neben Duräo bei Andern helfen und das Geſchäft als actores um 
mediatores anbringen, treiben und führen, fo fünnten fie ſich nicht 
dazu verftehen, auf einer Achjel mit ihm zu tragen. 

Ju dem Judicium commune rügen fie die Worte piorum 
decessorum more, da bie Lutheraner fagen würden, das wär 
feitens der Neformirten nicht beobachtet worden. Wie man ein 
Judicium commune abfafjen könne ohne vorherige Befpredung 
und Uebereinkunft, wie weit man ſich in die Sache einlafjen wolle? 
Das Bafeler Judicium habe die vorgefchlagenen Mittel unpraci- 
cabel genannt und gezeigt, durch wen und bei wem und wie dat 
Wert follte angebracht werden; dies‘ alles werde in dem Judiciun 
commune verfchwiegen und eine Unterfchlagung ihres Particular- 
Judieium’s tönnten fie nicht dulden. Aehnlich fiel aud die Ant 
wort des Raths von Zürich aus: „Ob uns fehon viel lieber gr 
weſen wäre, D. Duräus hätte die Löblihen Orte damit verfchont, 
fo wolle man democh die Declaratio genehmigen, wenn diefelbe jo 
abgefaßt würde, daß weder die evangelifchen Orte noch deren 
Theologen zu weit engagirt werden. Man möge erwarten, wur 
andere reformirte Stände thun werden, und benachbarte evangelijct 
Staaten zur Förderung dieſes Werkes nur infoweit dispomiren, 
quoties ansa dabitur ad idem propositum suscipiendum. Dat 
Verſprechen endlich: postremo ut in correspondentia super hac 





der Unionsverfuc) des Duräus in der Schweiz. 671 


re cum aliis pacificis religiose procuranda, fovenda et propa- 
ganda nihil, quod a nobis proficisei possit, negligatur, follte 
man mit den Worten: „suo tempore et loco“ limitiren. 

Am 20. Januar 1655 lief von Zürich ein neues Schreiben ein, 
worin die Anzeige enthalten war, dag Bern und Schaffhaufen die 
Annahme des gemeinfamen Judicium’s .erflärt hätten, und enthielt 
zugleich eine neue und dringendere Aufforderung an den Rath zu 
Bajel, dem Beitritt der dortigen Theologen zu erwirfen. Dabei 
wurden noch zehn Gründe in's Feld geführt, „warum die Herren 
Theologi zu Bafel jid von den übrigen Kirchen, ein 
sommune scriptum dem Herrn Duraso einzuhän- 
digen betreffend, nit jündern follen“, umd unter den— 
jelben ganz beſonders ein politijcher, auf welches Gebiet übrigens 
bie Züricher die Sache gern hinüberfpielten, nämlich quia ami- 
eitiam Anglorum omnibus honestis modis ambiendi et reti- 
nendi urgentes habemus causas, hoc imprimis tempore, quo 
nova Pontificiorrum Electorum et Principum et ipsius Cae- 
saris liga magis magisque percrebesecit. 

Das von den Theologen neuerdings verlangte. Gutachten über 
ven Beitritt emthielt ungefähr diefelben Gründe und ſpricht das 
fernere Beharren bei ihrem Particular - Judieium aus. Herr 
Duräus, heißt es ferner darin, habe gefpürt, daß wir in unferem 
Indieium aus feinem gefaßten Geleis gefchritten, und er fuche uns 
ed) ein Univerfal- Judieium wieder darein zu leiten. In Bezug 
if jenen politifchen Grund äußern fie fi, der Name der enge 
iſchen Republik und Kirche könne der Sade mur-mehr „Ungunft“ 
ningen, beſonders bei den Fürften in Deutſchland, welche dem 
ıbgefebten Könige zugethan waren. Am Schluß erbieten. fie fi 
ur Abfaffung -eines Judicium commune, wie dafjelbe von Baſel 
Önnte unterfchrieben werden, und wirflih findet fi die Form 
!ines folchen vor, worin die Mängel der von Duräus vorgefchla- 
jenen Mittel gerügt und ganz befonder® betont wird, daß, che man 
ur Anwendung derjelben jchreiten fünne, ein allgemeiner Waffen- 
tillſtand (armistitium) erwirft werden follte. 

Zum dritten Mal auf Zurichs Antrieb vom Rath angegangen, 


672 "Rinder 


führte die Baſeler Geiftlichkeit, in deren Namen Joh. Bugtrf, 
in einem weitläufigen Schreiben eine noch freiere Sprade. Nich 
nur fette fie Zweifel in die Echtheit der von Duräus vorgelegten 
Creditive Cromwell's und ber englifchen Academie, fondern aus 
überhaupt in das praktifche Geſchick dieſes Mannes, der zur Für 
derung eines ſolchen Werkes nicht geeignet fei. Indem der Pr 
tector und ber Name der englischen Kirche Vielen verhaft fei un 
in der legteren, weil ohne eine felbftändige Gonfeffion, viel Cn- 
fufion und Verwirrung herrſche, fo fei es höchſt bedenklich, we 
dem Wunſche des Duräus ſich mit ihnen zu verbinden und ai: 
engfte zu vereinigen. Dieß Hieße mit ihnen auf einer Mi 
tragen. Wenn Zürich glaube, daß das Bafeler Judicium, de. 
wie fie fagen, dem Protector viel Maß und Ordnung gebe, in 
feicht offendiren könnte, fo fei dies ja gefchehen per modum ca- 
silii et suasionis. Der Schluß lautet folgendermaßen: „Bleik: 
alfo nochmalen beftändig und unveränderlich bei unferer gefaitt: 
und Euer Önaden neulich gegebenen Meinung, daß wir uns u 
dem gemeinen von Zurich überſchickten Judicio nicht verftehen fünner, 
in der unzweifelihen Hoffnung, Ener Gnaden werden unjere Ft 
fofution uns nicht alfeinig nicht verargen, fondern Ihnen auch gni- 
digſt belieben laſſen.“ 

Naheren Aufſchluß über dieſe gereizte Stimmung der Balelr 
Theologen gibt un der Umſtand, den und Duräus in feiner R- 
Tation mittheift, daß nämlich dieſes Anbringen der Züricher durö 
ihn veranlaßt worden fei, da ihm doch von Allem, was vorgin. 
Nichts befannt war. Erft nad) feiner Rücktehr von Bern wurk 
{hm jene gewechſelten Schreiben vorgelegt und er war nicht wer: 
erftaunt, daß, da man nicht über die Sache felbft (de unione) 
fondern nur de modo rei proponendae verjchiedemer Anfigt war. 
dieß der Anlaß zu einem Zerwürfniß zwifchen Zürich und Bat 
werden follte. Er juchte daher die Sache wieder beizulegen un 
erhielt auch wirkfich von Profeſſor Burtorf die beruhigende 3: 
fiherung mit den Worten: In praesenti tuo negotio hactens: 
sincere et bona conseientia versati sumus et porro versali- 
mur neque ex actionibus nostris aliter judicari vel sinistrae 





der Unionsverſuch bes Diräus in der Sehweh · 673 


inde (quasi negotio tuo minime faveremus) elici et praeter 
mentem nostram nobis injungi debent consequentiae etc. 

Nach Empfang des von allen reformirten Kirchen der Schweiz 
(Bafel ausgenommen) unterfehriebenen Judicium commune reifte 
Duräus von Züri ab und kam am 28. Mai nah Bafel. Hier 
vurde ihm vom Magiftrat ein Gegencreditiv an Cromwell zugeftellt, 
snbei in Bezug auf ihn erfannt: „Solle mit den Theologieis geredet 
verden, Herrn Duraeum fo bald wie möglich abzufertigen; man ſoll 
ud das Koftgeld für ihm bezahlen, wo es nicht lange währt.“ 

Indeſſen wurde noch den 4. Juni ein Convent gehalten, zu 
velhem auch Duräus eingeladen wurde. Bei diefem Anlaß ver- 
angte er noch die Anficht der Bafeler über das Judicium com- 
une und eine Schrift mit dem Titel: De correspondentia re-. 
lgiosa inter ecclesias instituenda, zu erfahren. Die Antwort 
ourde theils in zuftimmendem, tHeils in ablehnendem Sinne ertheilt. 

Schließlich erklärt Duräus feine Zufriedenheit mit dem Erfolg 
einer Arbeit in der Schweiz und warnt noch die Bafeler Geift- 
ihen auf's dringendfte, fie möchten fih von Vorurteilen frei 
thaften und Gerüchten, die feine Thätigfeit im eim ſchiefes Licht 
Ieffen, feinen Glauben ſchenken, indem fein Zweck kein politiſcher, 
andern eim rein theologiſcher fei — und er von Niemand eine 
juſtimmung verlange, die derfelbe nicht mit gutem Gewiſſen geben 
inne. Auch bei den Sutheranern fei da8 in modo procedendi 
ine Regel, quod intra consultationis theologicae terminos 
‚nis mea tractatio consistet nec unquam ad disputationem 
ertrahetur. 

Hierauf verabfchiedete fih Duräus von Bafel und begab ſich 
ach Deutſchland, verfehen mit einem im Namen alfer evangelifchen 
Ite unterfchriebenen Empfehlungsfchreiben an den Ehurfürften von 
Irandenburg und der Pfalz, ſowie an den Landgrafen von Heſſen. 

Es findet fi nun in den Acten eine von Duräus felbft ver- 
ste Relation über feine Unionsverfuche in Deutfchland und in 
en Niederlanden, die günftigen Erfolg hatten. Befriedigt kehrte 
t im Jahre 1657 nach England zurück, wo indefjen der im Jahre 
658 erfolgte Tod Cromwell's und die darauf eingetretene Mer 

Theol. Stud. Jahrg. 1868. 45 


en Rinder 


ſtauration auf einige Zeit feinen Beſtrebungen bebeutende Kinder: | 
niſſe bereitete. Er benußte indefien diefe Zeit, um mit den en 
liſchen Kirchen in Amerifa und Neu Englaud Hierauf bezüglide 
Berbindungen anzufnüpfen, und hat von ihnen eine „zu diefen 
Werke ſehr dienſtliche“ Antwort erhalten. Vom Nachfolge 
Cromwell's mit einem Empfehlungsfchreiben verfehen, veifte er in 
Jahre 1661 wieder nach Deutſchland, um nun fein Wert ad 
bei den Lutheranern zu beginnen. Erwähnung verdient das vm 
Duräus veranftaltete Geſpräch zwiſchen den Marburgijchen The 
logen einerſeits und lutheriſchen Tpeologen zu Rintern anderjäd, 
wobei allerdings auf Grund der Ausfcheibung der Fundamend: 
artilel von den Nebenlehren eine Art Vereinigung zu Stande fm 

Bon Straßburg. aus, wo er mit dem Intherifchen Theolon 
D. Dannhauer einen. ſchweren Kampf zu beftehen hatte, wie dem 
überhaupt die Theologen diefer Stadt fi zu der lutheriſchen Em 
feffton befannten, reifte er wieder in die Schweiz und zwar nd 
Zürid, um, wie er fi in einem Schreiben an den dortigen 
Magiftrat ausdrüdte, das ganze Geſchäft in feinen Cd 
zu werfen und ihn zu bitten, daß felbiger mad) dem gemohun 
gottfeligen Eifer dafjelbe mit den übrigen evangeliſchen Stände 
und Orten beherzigen und ihr wohlweiſes Gutachten hierüber ite 
großgünftig ertheilen wollen mit geneigtem Anerbieten, mo derſehe 
fernere Information des vorhabenden wichtigen Gefchäftes halt 
begehrte, felbige mündlich abgeben zu wollen. 

Hierauf richtete der Rath zu Zurich ein Schreiben an denjenige 
zu Bafel, worin cr meldete: Duräus habe feit 1655 in dem drie 
densgefchäft mit befanntem Eifer gearbeitet, er fei nun wieder be 
ihnen angelangt und fuche auf's Nene die Unterftügung der hoher 
Regierungen nad), die bei dem ginftigen Erfolg feiner Beftrebunge 
in Deutſchland um fo wünfchenswerther fei. Das Schreiben ſchlei 
mit dem Wunfhe: Der allmädtige Gott verleihe ji 
diefem Gefhäft feinen frugtbarlihen Beijtand un 
Segen! 

In Bafel ſelbſt war indeffen dur die Wahl von Yulat 
Gernler an die oberfte Pfarrſtelle, der im Geiſte Buptorft 





der Unionsverſuch des Duraus in der Schweiz. 675 


fortfuhr, fi den Unionsverfuchen des Duräus zu wiberfegen, 
hierfür noch eine ungünftigere Wendung eingetreten. 

In einem von den Theologen an den Rath eingegebenen Gut⸗ 
achten erklären fie, von dem vor acht Jahren überreichten Ju- 
dieium nicht abgehen zu Können; es follte in dem ganzen Werke 
allmählich und ftaffelmeife und auch nicht durch Theologen, ſon⸗ 
dern durch friedfertige Fürften gehandelt werden. Der bisherige 
Erfolg bei den Sutheranern fei nur ein fheinbarer, indem Duräus 
fih nur mit den theologis Calixtinis befproden habe, die aber 
den wahren Qutheranern ebenfo verhaßt feien als die Calviniſten. 
& Habe ja der Churfürft feinen Theologen zu Heidelberg jede 
Sonferenz mit Duräus unterfagt. Es feine endlih, als molle 
xrjelbe, weil er feinen andern Herrn mehr Habe, das ganze Ger 
fHäft in den Schooß der evangelifchen Stände werfen und fo an 
Men Orten im Namen und Autorität berfelben gleihfam als ihr 
Abgeordneter dafjelbe treiben und fortführen, was Höchft bebent- 
id fi. 

Diefem gemäß antwortete der Rath nad) Züri, daß man ihm 
darüber. nichts weiter zumuthen möchte, indem man ſich mit diefem 
Geſchäft nicht mehr beladen werde. 

Es wandte fih hierauf Duräus felbft an den Rath mit dem 
Vorſchlag, zur Vermeidung eines unnöthigen Hin- und Herreifens 
ın einem beftimmten Orte, als welchen er das Städtchen Brugg 
m Aargau bezeichnete, eine Verfammlung von Abgeordneten der 
wangeliſchen Cantone, die mit binlänglichen Inſtructionen verſehen 
ein müßten, abzuhalten und die Frage in Beratung zu ziehen, 
Das und in wie weit und auf welde Weife und Form man 
jefonnen wäre in dieſem Geſchäft zu handeln, damit man zu 
'iner einmüthigen „Reſolution“ gelange. Auch Täßt er den Ge— 
Yanken durchblicken, daß man vielleicht diefe Vereinigung mit ben 
dutheranern nicht auf Grund der Wittenberger Concordienformel 
bewerfftelligen könne. 

Die Antwort der Theologen an den Rath erfolgte in abfehnen- 
dem Sinne, indem man weder die Zwedmäßigfeit noch die Noth- 
wendigkeit einer folhen Conferenz einfehe, zu deren Beranftaltung 

45* 


676 Linder 


überdied Duräus ohne irgend ein amtliches Creditiv weder einen 
ordinären noch ertraordinären Beruf Habe. „Es ift nämlich zu 
beforgen“, jo Tautet die Antwort weiter, „man wurd ſchwerlich in 
ſolch Berfamblung des Einen werden und fich einer fatten Meinung 
vergleichen können, dann man gefpürt, daß der Mann andere jhen 
eingenommen; wurd alsdann fpöttlic lauten, wenn man fügen 
müßt, man wäre zufammengelommen, die ganze evangelifche Kirk 
zu vergleichen, und der vier Orten Theologen hätten fich nicht vr: 
gleichen können. Wir haben aud um fo viel weniger Luft x 
diefer Eonferenz, weil, wann man fi einmal an diefen Mar 
laſſen wird, man fein und nimmer feheh wird; dann er den Brak 
Hat, daß er nicht gleich anfangs fagt, was er will, fondern k 
gehrt erftlih nur ein Geringes, und fo er das Hat, geht ar 
länger je weiter u. ſ. w.“ 

Zürich nahm den Gebanken des Duräus, auf Grund der For- 
mula concordiae Wittenbergensis mit den 2utheranern zu trat 
tiren, wieder auf und fehrieb deshalb an den Kath zu Bajel (dr 
Schreiben datirt vom 25. September 1662). Aber auch darf 
antworteten die Baſeler in ablehnendem Sinne, da der Unterjcit 
der beiden Confeffionen nicht in Ceremonien und Mitteldingen be 
ftehe, jondern auf wirklicher Contradiction in unterfchiebfichen Glau 
benspunften berufe. Wenn man einen Consensum in doctrin 
auf diefem Wege erzwingen wolle, da müßte jedweder Theil wr- 

ſtummelt und ein gut Theil fallen gelaffen werden, oder man müft 
fih mit auf Schrauben gefegten Worten behelfen. Jeder mit 
feinen befonderen sensum behalten und Niemand ſollte zwei Feim 
unter einem Teppich verbergen wollen. 

Dabei erinnern die Theologen Bafels an hiſtoriſche Thatſachen wir 
an die allzu große Nachgiebigkeit Martin Bucer’s im Sacramen: 
‚Streit (1536) und an die Art und Weife, wie man vor 90 Jahr 
(1580) mit Hüffe diefer Formula unter Simon Sulzer, dam 
ligem Antiftes, da® Lutherthum in Bafel einführen wollte, fer 
am eine Aeußerung Calvin's (Schreiben Calvin's an Weitphal‘: 
„Die Lutheraner zeigen einen folchen Haß gegen die Reformirter. 
daß fie eher mit Papijten und Türken Bruderfdal! 





ber Unionsverſuch des Duräus in ber Schweiz. 677 


jalten würden, als daß fie mit jenen aud nur einen Waffen 
tillſtand eingehen würden“, und ebenfo an eine Aeußerung des An- 
iſtes Grynäus von Bafel: „Waffer und Feuer Laffe fi 
her vereinigen als Reformirte und Lutheraner.“ 

Schließlich bitten fie den Rath um die Mittheilung an Züri, 
nan möge fie von da aus nicht durch weiteres Anbringen in diefem 
ergeblichen und unfruchtbaren Geſchäft von ihren Berufsgeſchäften 
bhalten. 

Allerdings bemerkten auch die Baſeler Theologen in eben erwähn- 
em Schreiben: Duräus gehe mit Bafel und Züri politiſch um, 
ndem es ihm am Ende nur um „ein Collect“ zu thun fe. Dar- 
ter, ſowie daß die Geiſtlichkeit fi mit der Angelegenheit gar 
icht befaffen wolle, beſchwerte ji Duräus in einem Tateinifch 
hgefaßten Schreiben (datirt vom 10. December 1662) beim Rath 
u Baſel: „Etiamsi in negotio irenico clerus vester nihil 
iequam agere velit.... me in Helvetiam venisse hoc fine, 
ıt solis helveticarum ecclesiarum sumptibus et auctoritate 
ıegotium cum Lutheranis tractaretur.‘“ 

Unterdeffen Hatte Duräus die Schweiz wieder verlaffen und die 
eformirten und *Iutherifchen Gemeinden in Deutfchland beſucht. 
don Neu-Hanau aus Mnüpfte er die Correſpondenz mit Profeffor 
Iuztorf aufs Neue am und beklagt ſich, daß das Gerücht, als 
6 die Bafeler Theologen dem Friedenswerk gänzlich abgeneigt feien, 
!inen Beftrebungen großen Eintrag thue. Er habe oft Anftand 
enommen, das Werk weiter zu führen; doc lege ihm fein Ge— 
ide die Pflicht auf darin fortzufahren. 

Ohne Zweifel war es der Wunſch, die völlige Zuftimmung der 
dafeler Theologen zu erhalten, welcher ihn zum dritten Dal (1666) 
2 diefe Stadt führte. Obgleich er perfünlih in den dortigen 
fonvent eingeladen wurde und feine Sache warm vertheidigte, fo 
varen feine Bemühungen dennoch von fo geringem Erfolg, daß 
t fpäter ſich mit der Bitte an den Rath wenden mußte, ihm 
tliche Abgeordnete zu bezeichnen behufs einer näheren Verftän- 
igung in der Frage: quatenus concurrere velint cum ecclesis 
um helveticis, tum reformatis aliis in deliberationibus de 


678 Linder 


promovenda pace in genere et in specie de harmonia con- 
fessionum. Eine jolde Verftändigung fei um fo dringender ge: | 
boten, als dadurch allein die „Inconvenienzen“ beſeitigt 
werden, welche fi nach feiner Abreife aus der Schweiz erheben 
Könnten, befonder8 wenn er feine andere „Refolution“ erlangen 
tönne, als die ihm bisher mitgetheilt worden ſei. 

So weit wir aus den Acten, namentlich aus einem Schrtiben 
des Bafeler Convents an die Züricher, entnehmen konnten, Hat diee 
Zufammenkunft nicht ftattgefunden und Duräus mußte unverrig 
teter Dinge Bafel wieder verlaffen. 

Bon Meifenheim aus, wo er fich eine Zeit lang aufhielt, ride 
er ein neues Schreiben (datirt 10. Juni 1667) an den Kathy 
Baſel, worin er fi bitter über die zwei Doctoren Gernler m 
Zwinger beflagt, er Halte jie für untüchtig, an diefem Frieden 
wert zu arbeiten, fte hätten, wie ihm der Herzog zu Zweibrücu 
mitgetheilt, in feinem Lande, im Herzogthum Simmer, u 
anderswo die Gemüther präoccupirt; durch dieſe Zwei werde dr 
Frucht feiner vieljährigen Arbeit verloren gehen. Vernehmen wi: 
noch zum Schluffe, was Duräus über fie an den Prinz Bid 
Amadeus von Anhalt» Bernburg berichtete: . 

„I y a deux docteurs en theologie à Bäle (Gernler a 
Zwinger), jeunes gens, qui ont. des opinions singulitre 
touchant la negotiation pacifique, qu’ils ont congues ! 
Popiniätret6 des Lutheriens acad&miques. Ils ont persusit 
au magistrat de leur r&publique, que l’aflaire est impe 
sible, d’autant que Vaccord des églises luth6riennes & 
des autres n’a jamais eu lieu en aucun endroit du mond. 
Ils emp&chent leur magistrat de concourir avec les autrs 
magistrats de la Suisse réformée, de vouloir autoriser leur 
minist®re en chaque Canton, de considerer l’harmonie ds 
confessions de la foi protestante, qui leur fut presentee eı 
une assemblöe de Deput6s à Bruck en Janvier 1666. (eu 
de’Zuric, de Berne et de Genève sont entiörement consentant 
à ma demande..... Peut-Etre ces docteurs s’estimentik 
infaillibles.... Une de mes dissertations aurait du &ir 





der Unlonsverſuch bes Duraus in ber Schweiz. 679 


imprimée & Bäle. Le docteur Wetstein y avait consenti 
»„mme doyen de la facult&, mais l’un de ceux-ci étant 
Recteur, supprima le livre de sa seule autorité, après 
ue plusieurs exemplaires en aveient deja &t& vendus. Le 
nagnifique Recteur ne voulait pas qu’un écrit contraire & 
‚on opinion füt imprime... Cette r&publique (de Bäle) 
t Peglise sont deux gouvernements diff6rens, qui semblent 
itre en 6tat de crise, & cause des factions qui y sont. A 
moi peut-ötre le premier chef du Ministere, qui gouverne 
es autres ecelesiastiques à la baguette contribue quelque 
hose“ — etc. 

Beiläufig bemerfen wir, daß der bier angeführte D. Zwinger 
oahrſcheinlich der nachmalige Profeffor Zohannes Zwinger, ein 
Reffe Buztorf’s, war, welcher auch das Flagellum pontificiorum 
enannt wurde, — eine Notiz, welde wir Heren Profeſſor Ha- 
enbach verdanfen. 

Fragen wir num nad) den Motiven, welche die Bafeler Theo» 
ogen bemogen Haben mochten, diefen Unionsverfuch abzulehnen, jo 
ng allerdings, wie auch der erft angeführte Gelehrte meint, diefes 
nrte und von Mißtrauen geleitete Benehmen derfelben im Geifte 
es Zeitalters und findet darin feine Entfchuldigung. „Aber immer- 
in“, äußert ſich hierüber derfelbe, „bleibt es auffallend, dag noch 
m Jahre 1662, als Duräus noch nicht alle Hoffnung aufgegeben 
nben mochte, der fogenannte Syllabus controversiarum erſchien, 
md kaum kann man ſich des Verdacht erwehren, daß die Ver— 
affer deffelben, Buxtorf und Gernler, blos darum die Capitulation 
nit der Tutherifchen Kirche vermieden haben, weil fie ſchon da— 
nals im Stillen an dieſem Bollwerk arbeiteten, wodurch fie ſich 
m die Befeftigung des Baſel'ſchen Zions verdient zu machen 
laubten.“ 

Allein fragen wir weiter, was war denn wohl die Veranlaſſung 
ur Ausarbeitung dieſes Syllabus controversiarum, in welchem 
sie ftreitigen Lehrpunkte gegen alle befannteren Häretifer entweder 
ıffirmativ oder negativ erörtert werden? Ohne Zweifel waren 
8 die bitteren Erfahrungen, welche Baſel unter Antiftes Simon 


680 Linder, der Unionsverfuc; des Diräns in der Schweiz 


Sulzer, der durch Transaction das Luthertfum einzuführen fuchte, 
gemacht Hatte, ſowie die öfteren bedauerlichen Eonflicte mit dem be- 
nachbarten Markgrafenland Baden, das dem Iutherifchen Belennt- 
niß Huldigte. Denn dag Bafel dem ferner gelegenen Zürich und 
Bern gegenüber in einer ausnahmsweiſen Stellung fich befand, 
wird Niemand leugnen. 





Gedanken und Bemerkungen. 


oran, Google 





1. 


Sargon nnd Salmanajfar. 
Bon 


D. Ad. Riehm. 





Als ich aus Anlaß meiner Vorleſungen über Jeſajas den Com— 
mentar des Herrn D. Delitzſch auf's Neue verglich, fiel mir 
(S. 236) die Bemerkung auf: „Es kann jegt als feſtſtehendes Er- 
xebniß der Dentmalforfchung gelten, daß Sargon der Nachfolger 
Salmanaſſar's war.“ In einer Note ift noch der Sag beigefügt: 
„Von Hoentificirung Sargon's mit Salmanafjar kann hiernach 
eine Rede mehr fein.“ Die Beftimmtheit, mit der diefe Angabe 
yemacht iſt, veranlaßt mich, meine durch die neueren Publicationen 
son Oppert und Rawlinfon in feiner Weife erjchütterte, ente 
zegengefeßte Anficht Hier kurz zu begründen. 

Der Name des affyrifchen Könige Sargon kommt bekanntlich, 
außer der Stelle Jeſ. 20, 1, im A. T. nirgends vor, und eben- 
fowenig nennt ihn einer der alten Gejchichtfehreiber, welche uns 
son affyrifchen Königen Kunde geben. Dagegen wird fein feld- 
jerr Tartan, ben er gegen Asdod fandte, noch 2Kön. 18, 17 
18 Feldherr Sanherib's erwähnt. 

Es ift daher fehr begreiflich, daß die judiſche Ueberlieferung, — 
die fie fon von Hieronymus und in dem Seder Olam, c. 23 
‘©. 64 ber Ausg. von Joh. Meyer, Amfterd. 1699) bezeugt, 


684 Kichm 


und von Raſchi, Aben Eſra (der jedoch zu dem Namen Sauerib’s 
vorfihtig ein ms in beifügt) und D. Kimchi vertreten ift, — 
Sargon mit Sanherib (der nach Hieronymus fieben, nach Kimchi 
acht verſchiedene Namen geführt haben ſoll) identifcirte, und die 
Expedition gegen Asdod in das vierzehnte (oder auch in das zmöffte) 
Regierungsjahr Hiskia's verlegte. Diefe Annahme blieb bei dm 
älteren chriſtlichen Commentatoren die Herrfchende, und ift z. 8. 
noch durch Calvin, Grotins, Piscator, Jac. Usher (in den Ar- 
nales V. et N. T.), 3. 9. Midaelis u. A., zulegt von Keil 
(BB. d. Kön., ©. 461) vertreten. — Daneben fam, wies 
ſcheint zuerft duch Marsham und Perizonius, die Anficht ai: 
Sargon fei vielmehr mit Aſſarhaddon zu identificiren, mofir 
namentlich geltend gemacht wurde, daß der Name diefes Königs u 
Tob. 1, 21 Zuysgdovög oder nad) anderer Resart Zaxegdır 
(Cod. Alex.) und in der ſyriſchen Ueberjegung Sarchedonsır 
laute. Für fie Haben fi 3. B. Clericus, Kalinsky (Vatieinis 
Chabacuci et Nachumi ete. Breslau 1748) und J. D. M 
chaelis entjchieden. — Beide Anfichten find ſchon von Bitringe 
ausreichend widerlegt worden; dagegen begrimbet er die Annahmt, 
Sargon fei mit Salmanafjar identiſch, und die Expedition gegen 
Asdod falle in das zweite Jahr nach Eroberung Samariens, das 
fiebente Regierungsjahr Hisfia’s. Als feine Vorgänger nennt m 
Sanctius (Comm. in prophetas majores et minores Mog. et 
Lugd. 1615 et 1619) und Jungmann (Proph. Dan., Cassel 1681), 
und ihm ſchloß ſich namentlich Eichhorn, auch W. Hupfeld (De rebus 
Assyr., p. 51) an. — Indeſſen ſchien es doc am nädjften je 
liegen, Sargon von den fonft genannten aſſyriſchen Königen zu 
unterſcheiden (was ſchon Aben Eſra ſich offen gehalten hatt; 
dann aber konnte er nicht der Vorgänger, fondern nur der Nadr 
folger Salmanaſſar's umd der Vorgänger Sanherib's fen, 
wie ſchon in den Annotations upon all the books of the 
0. and N. T. (London 1657) von Gataker nachgewicſen. 
und von Seb. Schmibt (1693) am wahrfcheinlichften befunden 
wurde. Auch Vitringe erwähnt diefe Anficht als eine mögfiht, 
wendet aber ein, daß die Zwiſchenzeit zwiſchen Salmanafjar nd 
Sanherib gar zu kurz fei, und daß in der Stelle Tob. 1,15 





Sargon und Salmanaffar. 685 


Sanherib ausdrücklich als Sohn und Nachfolger Salmanafjar’s be 
zeichnet werde; daß der dort erwähnte Zvenerode oder Evenaoodg 
Salmanaffar ift, kann feinem Zweifel unterliegen *), und fo würde 
diefe Stelle in der That einen entfcheidenden Beweis für die Anficht 
Vitringa's abgeben, wenn dem Buche Tobi in Hiftorifhen Dingen 
eine gewichtige Autorität zufäme. Aber ſchon Vitringa hat mit Recht 
beigefügt: etsi pondus hujus auctoritatis non sit grave. Es 
iſt daher nicht zu verwundern, daß fi die Anficht Gataker's, troß 
diejer, zudem meift ignorirten Inftanz, feit Ende des vorigen Jahr⸗ 
hundert eines faft allgemeinen Beifalls erfreute (Hensler, Paulus, 
Gefenius, Winer, Rofenmülfer, Maurer, Higig, Umbreit, Hendewerk, 
Meier, Ewald, Knobel u. A.). Man nahm ziemlich allgemein an, 
dag Sargon einige Jahre lang in der Zeit zwifchen der Zerftörung 
Samariens und der Thronbefteigung Sanherib’8 regiert habe, etwa 
von 718—715 ober von 716—713. 

Yu ein ganz neues Stadium ift die Verhandlung über dieſe 
Trage feit der Wiederaufdelung der Palaftruinen Ninive's und der 
wenigſtens theilweifen Entzifferung der zahlreichen dort gefundenen 
aſſhriſchen Keil» Infchriften getreten. Die Perfon des aſſyriſchen 
Königs Sargon trat in das helle Richt der Geſchichte. Er erwies 
fi) als der Vorgänger und Vater Sanherib’8 und als der Er- 
bauer des prachtvollen Balaftes von Khorsäbäd an der Nordoftede 
Ninive's; und zahlreiche Yufchriften diefes Palaftes verfprachen 
volfftändigen Aufſchluß über die Gedichte feiner Regierung. Aller- 
dings unterfiegen die bisherigen Entzifferungsverfuche im Einzelnen 
noch fehr gegründeten Bedenken. ALS gefichertes Ergebniß derfelben 
darf man aber, ohne in Leichtgläubigkeit zu verfallen, betrachten: 
daß der Name des Könige Sargana, Sargina oder Sar-kin 
(Sarkien) lautet, daß er ein Emporlömmling und Begründer einer 


a) Wenn Jules Oppert in feiner mod) öfter zu erwähnenden Schrift: Les 
inscriptions assyriennes des Sargonides et les Fastes de Ninive, 
Versailles 1862, p. 9 in Enemefjar den Namen des Generale finden 
will, welcher den in Ninive anerfannten vehtmäßigen Nachfolger Sal- 
manaffar’s entthront, und als König den Namen Sargon angenommen 
Habe, fo iſt dies nur eine bon bem Teicht hingeworfenen und nicht gehörig 
erwogenen Behauptungen, deren in dieſem Buche mande vorkommen. 


686 Richn 


neuen Dynaſtie war, daß er (nicht 3 oder 4, fondern) minde- 
ftens 15 Jahre vegiert*) und im biefer Zeit viele kriegeriſche 
Expeditionen, befonders gegen Elam, Babylonien, Armenien, ©: 
vien, Philiftän und Aegypten unternommen hat, und daß er ſich 
namentlich auch der Gefangenführung der Sfraeliten und der Zer: 
ftörung Samirina's d. i. Samariens rühmt d). — Gerade über 
das Verhältniß Sargon's zu Salmanajjar aber gaben die Ju 
ſchriften keinen Maren, ausdrüdlichen Aufſchluß; denn der Name 
Salmanaffar’s wurde als Königename in der Hier in Berndt 
kommenden Periode der aſſyriſchen Gefchichte auffallenderweile x 
den Juſchriften nirgends entdeckt. Man mar alfo in Bezug wi 
diefe Frage auf Folgerungen und Combinationen angewiejen. Ti 
fielen Anfangs fo aus, daß die Anficht Vitringa's wieder zu Ehen 
zu kommen ſchien. Schon Rawlinſon Hatte ſich dafür aut 
gefproden, daß Sargon und Salmanafjar ein und dieſelbe Perion 
fein müffe‘). Schr einleuchtend ift dann diefe Anfiht von 
Joh. Brandis begründet worden 9); umd auf ihm geftügt hal 
fie Marcus von Niebuhr Geſchichte Aſſur's und Babel, 
©. 37. 129ff. 160) als „wohl faum einem Zweifel unterliegen" 
bezeichnet. „Nachdem“ — fagt er — „diefe Identität in älter 
und neuerer Zeit vielfach behauptet worden, kaun man bei dm 
jegigen Stande der Forſchung fie als ficher anfehen, bis die Jr 
ſchriften -Lefung das Gegentheil mit Gewißgeit ergibt.“ °) Dagegm 


a) Nach Oppert zuerft 4 Jahre vor und dann 15 Jahre nad; feiner dl 
gemeinen Anerfennuug, von 721—702; vgl. a. a. O, ©. 1. 7. 18[. 0 

b) Saft unbegreiflich ift, wie Knobel nod; im Fahre 1861 (im ber hit 
Auflage feines Commentars zu Jeſajas) von der Möglichkeit reden lu: 
daß PAD in Jeſ. 20, 1 durch irgend ein Abſchreiberverſehen ans j0* 
(Hof. 10, 14) entflanden fei. Sind ihm die Entzifferumgen der affyrifkt 
Infhriften unbekannt geblieben, oder Hat er denjelben allen snd je 
Glauben verſagt? 

» c) Im dem Journal of the Asiatic Soc. XI, 2, p. 419 (vgl. Mg. Fi 
tung 1852, Nr. 105, Beil. ©. 1675, und Miündjerier Gelehrte Amee 
1850, Nr. 83). 

4) Joh. Brandis: Ueber den hiſtoriſchen Gewinn aus ber Entzifferung M 
aſſhriſchen Inſchriften (Berlin 1856), &. 48 ff. 58. 
©) Schon vor Brandis Hatte ſich DO. Strauß (Nahumi Vaticinium [185 





Sargon und Gelmanaffar. 687 


at Jules Oppert wieder die Anfiht geltend gemacht, Sargon 
fei vielmehr für Salmanafjar’s Nachfolger zu Halten; und in augen 
fälliger Abhängigfeit von feiner in der ſchon angeführten Schrift 
enthaltenen Ausführung ift ihr auch Rawlinſon jegt beigetreten *). 
Es fragt fi nun, ob e8 Oppert gefungen ift, die für die Identi— 
tät Sargon's und Salmanaſſar's geltend gemachten Gründe zu 
entfräften? ob er Haltbare Gründe für feine Anficht beibringt? 
und ob diefe wirklich als „Ergebniß der Denkmalforſchung“ und 
zwar als ein „feitftehendes“ zu betrachten ift? 

Es find vier Gründe für jene Identität geltend gemacht, bie 
wir als heſonders gewichtig hier näher in Betracht zu ziehen haben: 

1) Als Vorgänger Sanherib's nennt das A. T., von Jeſ. 20,1 
abgejehen, nur Salmanafjar, während die aſſyriſchen Infchriften 
Salmanaſſar gar nicht erwähnen, dagegen den Vorgänger und 
Vater Sanherib’8 immer Sargon nennen; beide Namen fcheinen 
alfo diefelbe Perfon zu bezeichnen. — In Betreff diefes Punktes 
ift die Denkmalforſchung inzwifchen zu feinem anderen, auch nur 
einigermaßen zuverläjfigen Ergebniß gelangt. Allerdings fanden die 
Afgriologen mehrere Könige, welde den Namen Salmanaſſar 
führen; allein fie gehören ſämmtlich früheren Perioden der aſſy— 
tiſchen Geſchichte and). Dagegen ift ein. Salmanafjar, der von 
726— 721 regiert hätte (nach Rawlinfon der vierte, nach Oppert 
ver fünfte diefes Namens), auch jet in den Inſchriften noch nicht 
autdedt worden. Zwar will Oppert (a. a. O., ©. 9) in einem 
Ramen, der ſich nach dem fechzehnten Namen Tiglatpileſar's findet, 
nd den Rawlinſon zmweifelnd Bil-kas-bilussar (08, Salmanafjar 


p- LV, No. 6) dafür ausgeſprochen. Auch M. Dunder und neuerdings 
Keil (Bibl. Comm. über die Bücher der Könige [1865], S. 305) haben 
ſich zu diefer Anficht befannt. 

a) George Rawlinson: The five great Monarchies of the ancient 
eastern world, vol. II (London 1864), p. 401 qq. 406 sqq. 

b) Nach Ramlinfon regierte Galmanaffar I. von 1290-1270, Salına- 
naffar IT., dem die Iſraeliten unter Jahua d. i. Ichu, dem Sohn Khumris 
d. i. Omri's, Tribut entrichtet haben (a. a. D., S. 364f.) von 859—824, 
Salmanaffar UI. von 781770. — Dppert bezeichnet jenen Sale 
manaffar II. als den III. und läßt ihm von 899870 vegieren, Salma- 
nafjer IV. aber von 822—814 (a. a. O., S. 6 u. 15f.). 





688 Richm 


erwähnt finden; aber er gewinnt diefes Nefultat nur durh du 
Annahme, daß die betreffende Keilgruppe eine ideographiſche, fein , 
phonetifche fei, d. b. auf einem Wege, ber zwar bei der Cntzifie: 
rung der Eigennamen, wie es ſcheint, Öfter eingejchlagen mern 
muß, der aber aud der Wilffiie am meiften Spielraum Täßt, un 
— wenn andere Belege fehlen — nur zu den unfiherften un 
unzuverläffigften Ergebniffen führt *). Es wird daher diefer Eır 
dedung fein höherer Werih zugeftanden werben Können ala dr: 
jenigen, welche früher de Saulcy gemacht zu haben glaubte, da 
den Namen Salmanaffar ald Beinamen Sargon’s gefune 
haben wollte. Jedenfalls ift fie nicht geeignet, jenen erften Gm 
für die Identität Sargon's und Salmanaſſar's zu entfräften. 
2) Derfelbe gewinnt aber erft durch den zweiten fein vol 
Gewicht. Nach den Inſchriften Hat Sargon mindeftens 15 Jah 
fang regiert. Nun hat nad 2 Rdn. 18, 10ff. (vgl. 17, 5f! 
Salmanaffar im vierten Jahre Hiskia's Samaria zu belagern b- 
gonnen, und im fechften Jahre Hiskia's wurde die Stadt erobert; 
in fein vierzehntes Jahr fällt aber nach 2Kön. 18, 13 die Ex 
dition Sanherib’8 gegen Juda und Jeruſalem. Sehen wir nın 
auch vorläufig davon ab, ob Salmanafjar felbft Samaria aut 
erobert hat, und bringen wir auch nicht in Rechnung, daß das vier: 
zehnte Jahr Hiskia's ſchon das dritte Sauherib's ift, jebenfalt 
fehlt zwifden dem Anfang der Belagerung Samariens und dr 
Expedition Sanherib's die Zeit, um eine 15 jährige Regierung 
Sargon’s unterzubringen; es muß alfo Sargon und Salmanajjar 
identiſch, und jenes der von dem Könige felbft geführte Nam, 
dieſes dagegen der Name, unter welchem er den Juden gemeiniglih 
befannt war, gewejen fein. Hält man die gerade bier nicht dem 
geringften kritiſchen Verdacht unterliegende biblifche Chronologie fit, 
fo ſcheint diefe Folgerung unausweichlich zu fein. Wie Hilft ih 
nun Oppert? Nach ihm hat Salmanaffar V. von 726-1, 
Sargon von 721 — 702 und Sanherib von 702— 680 regien 
Im diefer tiefen Herabriidung des Regierungsanfanges Sanferiis 
folgt er Hinds, indem er ſich mit diefem darauf ftügt, daß ah 





a) Bgl. Brandis a. a. O., ©. 26ff. 


Sargon uud Salmanaffar. 689 


vom Zeugniffe ber Inſchriften Sauherib ſchon auf feinem erften 
jeldzuge Belib als König in Babylonien eingefegt, diefer aber nad) 
em ptolemäifchen Kanon von 702—699 regiert hat ). Nach der 
ibfifchen Chronologie zog aber Sanherib ſchon im vierzehnten Jahre 
Ji8fia’8 gegen biefen, d. i. im Jahre 711; er müßte alfo ſchon 
13 den Thron beftiegen haben. Oppert verfhmäht nun das 
rüber verfuchte bedenkliche Auskunftsmittel ®) einer Berichtigung 
er biblifchen Chronologie durch Reduction der (55) Regierungs- 
‚re Manaſſe's (2 Kön. 21, 1), will jene vielmehr als richtig 
ftgehalten wiſſen. Dagegen will er fi durch die Annahme 
fen: es falle zwar die Erkrankung und Wiedergenefung Hiskia's 
ad die Geſandtſchaft Merodach-Baladans in das vierzehnte 
jahr Hiskia's (vgl. 2Kön. 20, 6), die Expedition Sanherib's 
agegen erft in fein neunundzwanzigftes, d. i. fein letztes Regie⸗ 
ungsjahr, und demgemäß Hätten auch die Eapitel Jeſ. 38 u. 39 
je Stelle urfprünglich vor Jeſ. 36 u. 37 gehabt (a. a. D., 
5. 10 Anm.), alfo auf 2Rön. 20, 1—19 vor 2Kon. 18, 13 
819, 37. Gewiß ein Kühner Gewoltſtreich! und dabei fo Leicht 
usgeführt, als ob er ganz unverfänglich wäre! Aber wer — außer 
dawlinſon, der auch Hier der Autorität Oppert's fich beugt und 
ar ftatt des neunundzwanzigften Regierungsjahres Hiskia's das 
tbenundzwanzigfte vorzieht (a. a. D., ©. 434) — wird fich das 
tonologifche Datum in 2Rön. 18, 13 — Jeſ. 36, 1 fo leicht⸗ 
n wegcorrigiren lafjen? Bedurften diefe Behauptungen überhaupt 
ner Widerlegung, fo wäre auf 2Kön. 20,6 — Jeſ. 38, 6 
nzuweiſen, wonach bie dem Franken Hiskia gegebene Verheißung 
h anf’® unzweidentigfte auch auf die Jeruſalem von bem Heere 
anherib's drohende Gefahr bezog. — Hält man die Annahme, 
8 Sanherib erft 702 den Thron beftiegen hat, duch die Com— 
ination der den Regierungsantritt Belib's auf das Jahr 702 
tirenden Angabe des ptolemäifchen Kanons und der Juſchriften- 
bricht, dag Sanherib ſchon auf feiner erften Expedition Belib 


*) Auch Brandis (a. a. D., ©. 44—47) tam nad) Hinds, aber unab- 
hängig von ihm, zu dieſem Ergebuiß. Bol. auch ©. 73 f. 

d) Niebuhr: Kleine Schriften I, 208 Anm. Brandis a. a. D, ©. 46. 

Theol. Stud. Jahrg. 1868, J 46 


60 Richm 


als König Babyloniens eingefett Habe, für geficherter als die and 
drücklichen und miteinander in vollem Einklang ftehenden dhrone| 
logiſchen Daten der Bibel, jo bleibt in der That fein anderer Aus: 
weg möglich als die Reduction der Negierungsjahre Manaſſel 
Wir können num bier die Frage unentſchieden Laffen, ob diefefk 
wirffich vorzunehmen ift *); denn aud wenn Sanherib erſt 70, 
und Hiskia, deffen vierzehntes Jahr mit dem dritten Sanheribs 
aufammenfällt, demzufolge erft 713 den Thron beftiegen Hätte, I 
würde damit daran gar nichts geändert, daß Salmanafjar in 
vierten Jahre Hiskia's die Belagerung Samaria's begann (dr 
nad) diefer Berechnung inf Jahre 710), und Sanherib in Hieiit 
vierzehntem Jahre feine Expedition gegen Juda und Serujdm 
unternahm (alfo nach diefer Berechnung im Jahre 699), und Ki 
fomit zwifden beiden für eine mindeftens 15jährige Regie 
Sargon's die Zeit fehlt. Darum eben Haben ſich Oppert mil 
Rawlinſon zu jenem halsbrecheriſchen Auskunftsmittel entfchlofe. 
Es ift alfo keineswegs ein Ergebniß der Denkmalforſchung, ſonden 
ein an dem biblifchen Bericht verübter kritiſcher Gewaltftreid, 


a) Kann man fih zu ihr nicht entſchließen, und hält man demgemäß das Jr] 
713 als das Jahr der Thronbefteigung Sanherib's feft, fo Bleibt nik) 
übrig, als entweber das durch ben Ptolemätfchen Kanon bargebotene Datz] 
für den Regierungsanteitt Belib’s oder die Richtigkeit ber Entzifferung ke 
Inſchriftennachricht vorerft noch in Frage zu ſtellen. Letztere ift allerup 
von den verſchiedenſten Seiten her (auch ſchon von Brandis) anerkı: 
und daß der Feldzug Sanherib's nad; Babylonien, in welchem Met 
Baladan befiegt und Belib eingeſetzt worden fein foll, im dem Anfang r 
Regierung Sanherib’s fällt, ſcheint dadurch gefichert, daf feine anf eir? 
Thoncylinder ftehenden Annalen mit dem Bericht über diefe Epedic 
beginnen. Auch ſcheint es fich dadurch zu beflätigen, daß ihn mt 
feiner dritten Erpedition gegen Syrien, iu welcher der Conflict mit fit: 
eine Epifode bildet, die vierte wieder nach Babylonien führte, wo er X 
abtrünnig gewordenen Belib gefangen nahm, und feinen Sohn Afımaz 
(Aſſarhaddon) zum Bicekönig machte; denn diefe Infchriftennachrichten fir 
men auffallend überein mit den Nachrichten des Berofus und mit derit 
gabe des Ptolemätfchen Kanon, daß Belib 3 Jahre regierte und da ır 
ihn Aparanadios oder Aparranadifos (morin man längft unter Bergleide: 
des Osnappar in Eſra 4, 10 eine andere Namensform für Aſſathadeet 
erfannt, oder geradezu Affaranabinos emendirt hat). folgte. 





Sargon und Salmanaffar. 6A 


mittelft deſſen fie diefes Argument für die Identität Sargon’s und 
Salmanaffar’8 entfräften wollen. 

3) Der dritte Grund für diefelbe ift: Nach den bibliſchen Nach- 
rihten Hat Salmanafjar Samaria belagert und erobert; und auf 
den Inſchriften des Palaftes von Khorsäbäd rühmt ſich Sargon, 
Samirina erobert und das Beth-Khumri (Haus Omri's) in die 
Gefangenſchaft geführt zu Haben. — Oppert will num beiden 
Nachrichten durch die Annahme gerecht werden: Salmanafjar habe 
Merdings die Belagerung Samariens begonnen, fei aber vor Sa— 
naria geftorben, worauf fein in Ninive anerfannter legitimer Nach⸗ 
olger *) durch den Tob. 1, 15 genannten General Enemefjar ent- 
front worden ſei, welcher als König den Namen Sargon ange» 
vmmen Habe; diefer erft habe Samaria erobert, und fei 4 Jahre 
uch der Ufurpation ber Herrſchaft als König allgemein anerkannt 
vorden (a. a. O., ©. 8f. 19f.). — Ganz ähnlich nimmt jegt 
ud Rawlinſon (a. a. O., ©. 404ff.) an, dag Salmanafjar die 
Belagerung Samariens zu feinem glüclichen Ende geführt Habe, 
md daß feine längere Abweſenheit von der Hauptftadt, welche diefe 
Anternehmung, fowie die gleichzeitige gegen Tyrus, mit ſich brachte, 
erhängnißvoll für ihn geworden jei, indem Sargon fie zur Ufur- 
ntion des Thrones benußte; diefer habe dann in feinem erften 
tegierungsjahre Samaria erobert. — Es ift num aber immer 
in äußerft bedenfliche® Verfahren: wenn ein und dafjelbe Ereigniß 
ı zwei verfchiedenen Quellen berichtet ift, um einer Differenz 
n einem einzelnen Punkte (hier die verfchiedene Angabe des 
fiprifchen Königenamens) willen durch Kombination eine dritte, 
on beiden urkundlichen Nachrichten verfchiedene Darftellung des 
zerlaufs der Begebenheiten Herzuftellen, und diefe für die gejchicht- 
he auszugeben; jedenfalls iſt nad) den fonft gültigen Grundfägen 
a) Er foll nad) Oppert (S. 7) Ninip- Fluya geheißen haben. Wie wenig 

verläßlich diefe Angabe fein Tann, vermag auch der Laie in der Keilfchrifte 

entzifferung zu ermefjen, wem er bedenkt, daß die ganze Gefdjichte von 
dem vor Samaria erfolgten Tode Salmanaſſar's zugeftandenermaßen nicht 
aus den Iufchriften erhoben if, fondern auf bloßer Kombination beruht, 
ja daß aud nur eine Erwähnung dieſes Salmanafjar in den Inſchriften 


änferft zweifelfaft if. 
46* 


92 Richm 


kritiſcher Geſchichtsforſchung in einem ſolchen Falle die Annapme | 
bei weitem vorzuziehen, daß die nur einen einzelnen Puntt bettef- 
fende Differenz auf eine Verſchiedenheit nicht im dem geſchichtlichen 
Tatfächlichkeiten, fondern nur der Ueberfieferung zurückzuführn 
ift. — Wir könnten in unferm Falle nur dann anders urteilen, 
wenn auch ber altteftamentliche Bericht irgend eime fichere Epır 
‚davon enthielte, daß die Eroberung Samariens nicht ſchon Sıl- 
manaſſar, fondern erft feinem Nachfolger gelang. In der Tyt 
will Oppert eine ſolche gefunden haben. Sie foll darin beftee, 
daß zwar Salmanafjar in 2Rön. 18, 9 ausdrücklich genamt ft 
als Belagerer Samariens, dag es aber dann in B. 10 mir 
Heißt: „und fie nahmen e8 ein* (Tiahn), womit die Eroberm 
wicht ihm, fondern feinem Heere zugefchriehen werde, wie denn auh 
in B. 11 die. Gefangenführung der Bewohner des Zehnftämme 
eich nur überhaupt dem König von Affyrien, nicht Salmanajlır 
insbefondere zugejdhrieben wird. Herr D. Delitzſch erkennt di 
Bemerkung ald eine mohlgegründete an. Allein, wenn man anf) 
zugeben mag, daß in ihr eine Möglichkeit aufgezeigt ift, ohne mir 
den bibfifchen Nachrichten in Wiberfpruch zu treten, die Oppertic 
Combination zu vollziehen, Beweistraft kann ihr in feiner Weit 
augeftanden werden. Wir mollen fein befonderes Bericht darf 
legen, daß es nur die überlieferte Ausſprache des ort 
addon iſt, auf weiche Oppert fi ftügt, und daß man ebenjo gut 
ayabn ausſprechen könnte. Aber offenbar wird von ihm aus dem 
fo natürlichen und leicht ſich darbietenden Subjectöwechfel eine ve 
zu weit gehende Folgerung gezogen, zumal ein wirklicher Gegenja 
zwiſchen Salmanaffar und feinem Heere durchaus nicht amgedente 
ift, und ein Subjectswechjel ganz gleicher Art auch anberwärt 
vorfommt (vgl. Yof. 10, 34f. 36f. 2 Chron. 22, 9, aud 4 Moſ 
21, 32). — Vollends unhaltbar erſcheint aber die Annahme, 
ienes „fie nahmen ein“ folle amdenten, daß Salmanaffar ©: 
marien nicht mehr jelbft erobert habe, wenn man die Parafleljti: 
2 Kön. 17, 1—6 vergleicht, wo keinerlei derartige Andeutung j: 
finden, vielmehr einem und bemfelben affyrifchen Könige die drer 
jährige Belagerung und die Eroberung zugejchrieben ift (8. 5 u. 6 
vgl. V. 3, wo derfelbe Salmanafjar genannt ift). — Des Cr 








Sargon und Sclmanaffar. 698 


ige, worauf fich die Auſicht Oppert's wirklich ftügen, und was 
nan gegen obiges drittes Argument für die‘ Identität Sargon’s 
md Salmanaſſar's geltend machen kann, ift die Angabe, daB nad) 
en Infchriften Sargon ſchon auf feinem erften Feldzuge Sa- 
naria eingenommen zu Haben fi rühme (Oppert a. a. O., 
5.8.19; Rawlinfon a. a. O., ©. 406). Allein es ift fehr 
u bezweifeln, daß wir hier ein gefichertes und „feitftehendes Er⸗ 
tniß der Denkmalforſchung“ vor und Haben. Denn alle Angaben 
ber die Inſchriften, welche dle Wände des Palaftes Sargon’s als 
kläuterung zu den Basreliefs bedecken, ftimmen darin mit ein- 
nder überein, daß im denfelben zuerft über einen Feldzug des 
önige gegen Elam berichtet ift, deſſen fiegreiger Ausgang auch 
t Unterwerfung der Chaldäer Herbeiführte*). Da erſcheint es 
mn ſchwer glaublih, daf der Zug gegen Samarien und die Ein- 
ahme der Stadt ebenfalls ſchon dem erften Feldzug zugehören foll. 
ad.der Zweifel an der Nichtigkeit diefer Angabe wird noch da> 
ach verftärkt, daß ſowohl nach Oppert (S. 23) ald nad) Raw- 
nfon (S. 410) Samaria wieder erſcheint unter den Verbündeten 
ahubid's oder Zlubid’s, des Könige von Hamath, gegen welchen 
jargon feinen zweiten Feldzug unternommen, und den er in einer 
ichlacht bei Khar-khar (nah Rawlinfon: eine von den Städten, 
e den Namen Arver trugen) befiegt haben foll. — Ich kann 
iger nicht umhin, auch diefen Grund für die Identität Sargon’s 
id Salmanaſſar's als noch unwiderlegt anzufehen. 

4). Eine Beftätigung derſelben fand man endlich auch noch darin, 
iß nach Menander (bei Jos. Antt. IX, 14, 2) Salmanafjar’s 
fte Expedition gegen Phönicien, welde die Unterwerfung aller 
pnicifchen Städte, mit Ausnahme von Infeltyrus, Herbeiführte, 
ch eine Sendung Salmanafjar’s zu den Kittiern, die fich gegen 
n tprifchen König Eluläus empört hatten, und von diefem wieder 
ıterworfen worden waren, vorbereitet wurde ®), zufammengehalten 


3) Bol. Brandis, ©. 51; Oppert ſelbſt ©. 19 u. 21; Rawlinfon, 
©. 409f. 

b) Das ni zovrovs neuyas it ſchwerlich von einer krieteriſchen Expedition 
nad Cypern zu verſtehen (Brandis, ©. 58; Niebuhr, ©. 161; 


694 Riehm 


mit dem Umftaud, daß auf dem Boden des alten Kittion ein je] 
in Berfin befindliche Standbild Sargoms mit einer langer 
Inſchrift gefunden worden ift. Da fein Zweifel darüber iſt, 
dies Standbild wirklich Sargon darftellt, und da Salmanafjar de 
einzige aſſhriſche König ift, von welchem eine Verbindung mit ba 
Kittiern oder eine Expedition dahin gemeldet wird, fo ſcheint aller 
dings die Identificirung beider auch durch diefes merkwürdige du 
fammentreffen empfohlen. Bon größerer Wichtigkeit aber ift, vi 
die kurze Regierungszeit, welche Oppeft und Rawlinſon Salmandir| 
laffen, nicht ausreicht, um darin die beiden von Menander ernik- 
ten phönicifchen Expeditionen deſſelben unterzubringen; denn mi 
dem glänzenden Seefieg der Inſeltyrier wurden diefe 5 Jahre Im 
durch aſſhriſche Wachtpoften verhindert, fi aus dem Fluſſe (Leontt‘ 
und den Wafferleitungen Trinkwaſſer zu holen; die Regierungsyit 
Salmanafjar's aber ſoll im Ganzen nur 5—6 Jahre (726-721) 
gedauert haben. — Rawlinſon (S. 405 f.) legt ſich nun bie Sahı 
fo zurecht: Salmanaſſar's zweite phönicifhe Expedition falle u 
diefelbe Zeit wie die Unternehmung gegen Samaria, und die 5jll- 
tige Abfperrung der Infeltyrier vom Seftlande habe fich, wie die 
Belagerung Samariens, noch bis in das zweite oder dritte Jahr, 
feines Nachfolgers erſtreckt. Das Standbild Sargon’s aber jü 
erft viel fpäter, im Jahre 708 oder 707, in welchem die Cpprier 
diefem Könige Huldigungsgaben gefandt hätten, dahin verbradt und 
dort aufgeftelft worden (S. 420f.). Indeſſen, von anderem al: 
gefehen, weder in dem Berichte Menander's, noch in dem. mat 
Joſephus beifügt, findet fi irgend eine Spur, die darauf hir 
deutete, daß inzwifchen ein Herrfcherwechfel ftattgefunden hatte; mt 
daher Hat Oppert gewiß wohl daran gethan, einen anderen Ey 





Delitzſch zu Icfaj., ©. 266); denn zu einer folden wäre eine it: 
erfordeefid) gewefen, an der es den Alſyrern fehlte, weshalb fie ihnen ut 
bei der Unternehmung gegen Inſeltyrus von den übrigen Phönicern 5 
ſtellt werden mußte. Man Hat vielmehr an eine Gefandtfcaft zu dere 
welche bie Kittier wieber aufwiegeln, ihnen gegen Anerkennung ber afrilte 
Hoheit den Schutz des affgrifcgen Königs anbieten und ein Einperfläntit 
zu gemeinfamen Operationen gegen Eluläus herſtellen follte. Die Ems 
dation Rawlinſon's (S. 405) dml voöror ift nicht Hinveidhend motiist * 


Sargon und Salmanafar. 695 


zur Löfung der Schwierigkeit einzufchlagen. Nad ihm (S. 19) 
hat nicht Salmanaffar, fordern Sargon die Expedition gegen Inſel⸗ 
tyrus unternommen, und der Anfang jener Sjährigen Abfperrung 
der Tyrier vom Lande fällt in die Zeit nad) der Eroberung Sa— 
mariens und an das Ende feines oben erwähnten ‚gegen den König 
von Hamath gerichteten zweiten Feldzuges. Außerdem erwähnt er 
für da6 Jahr 708 einen befonderen Feldzug Sargon’s (feinen 
dreigehnten) gegen Eypern. — In der That nennt Menander in 
feinem Berichte den afjyrifchen König nicht mit Namen; denn den 
Namen Zeluavaodg vor d z@v Acoveiwv Baaıksds hat Zoe 
ſeph Scaliger in den von ihm als Anhang feiner Schrift De emen- 
datione temporum (Genf 1629) herausgegebenen Veterum Grae- 
rum fragmenta selecta nur aus der lateinifchen Ueberfegung 
Rufin’s in den griechifchen Text Herübergenommen; und wie wenig 
Rufin in folhen Dingen verläßlich ift, ift aus feinem millfürlichen 
Berfahren mit dem Texte des Eufebius bekanut genug *); mit Recht 
ft darum jener Name in die Ausgaben der Werke des Joſephus 
ht aufgenommen worden ®). Der Bericht Menander’s, für ſich 


3) In Fl. Josephi Opera quaedam Ruffino presbytero interprete etc. 
(Basileae 1524), p. 279 lautet die Stelle: „contra quos denuo Salma- 
nasar Assyriorum rex insurgens cunctam Phoenicem invasit“; und 
Sealiger felbft bemerft (a. a. D., ©. 46): „Nomen Salmanasari quod 
& Graeco aberat, huc ex fuga retraximus indice Ruffino.“ Ohne 
Zweifel iR ſowohl Rufin als Scaliger zur Einfügung des Namens durch 
die Worte des Joſephus zo de övoue Tovzov zod Busıkdwg dv Tois 
Tugiwv deysios dvay&ygancaı beftimmt worden, da diefelben fih auf 
ö ov 4oavgiav Baoıeds im vorhergehenden Sätzchen zu beziehen ſcheinen, 
und daher eine Erwähnung des Namens des aſſhriſchen Königs erwarten 
laſſen. Indeſſen läßt der angeſchloſſene erläuternde Satz Eorgarevag yap 
Eni Tigov Buoılsüovrog atois Eioviatov (Rufin: Hylyseus oder He- 
lisaeus) und der Anfang des Eitats aus Menander: Kal EAovicios övo- 
wa EBaoldevoev Ern rolaxovre EE Teinen Zweifel darüber, daß jener 
Schein nur auf der nachläffigen Ausdrucksweiſe des Joſephns beruht, und 
daß jene Worte auf den Namen nicht des aſſyriſchen, fondern des tyriſchen 
Königs, zu deffen Seit die Expedition ſtattfand, zu beziehen find. 

b) Er fehlt nicht nur in der Ausgabe Imman. Befter’s (1855), fondern auch 
in der nad) der Haverlamp’ichen und — angefertigten von Ober⸗ 
tür (1782), 





896 Riehm 


allein betrachtet, kann alſo mit gleichem Rechte auf Salmanaſſar 
oder Sargon als Nachfolger deſſelben bezogen werben. Anderer | 
ſeits aber fteht feft, daß Joſephus nicht ander® wußte, als daß es 
Salmanajfar, der Belagerer und Eroberer Samariens, war, welder 
jene phönicifhen Expebitionen ausführte; und er kaun daher in dem 
Werke Menander’s Nichts gefunden haben, was ihn auf die An 
nahme hätte führen können, daß noch ein anderer König zwiſchen 
Salmanafjar und Sanherib den affyrifhen Thron eingenommen 
habe, und daß der Bericht Menander’s von ihm handle. Und jo 
erfcheint die Annahme, daß Menander von dem Nachfolger Sa 
manafjar’8 Sargon rede, und der damit ftatuirte Widerfpnd 
zwiſchen Menander und Joſephus als eine bloße Hypotheſe, da 
— wenn man nicht ſchon zuvor von der Verſchiedenheit Salm 
naſſar's und Sargon's überzeugt iſt — jede Begründung fehlt, 
und die nicht gerade wahrſcheinlich ift. Jedenfalls aber Hat hir 
Oppert felbft anerkannt, daß wenigftens der Salmanaffar 
des Joſephus, foweit es ſich um die phönieifchen Expeditionen 
Handelt, ein bloßer Doppelgänger Sargon's ift; und im 
Mebrigen hat er unfer viertes Argument wieder nicht durch Er- 
gebniffe der Denkmalforfchung, fondern nur durch jene unbewicſene 
Annahme, daß Joſephus was Menander von Sargon beridtek, 
irrtümlich auf Salmanaffar bezogen Habe, zu entkräften gefudt. 
Die Frage, ob das Standbild Salmanafjar- Sargon’s ſchon bi 
Gelegenheit feiner phönicifchen Expeditionen nad; Eypern verbradt 
worden ift, oder erft fpäter aus Aulaß einer in fein dreizehntt 
Regierungsjahr fallenden zweiten Berührung mit den Cypriern 
fönnen wir unerörtert laffen, da fie fir umfere Unterſuchung fein 
wefentliche Bedeutung hat. 

Als Reſultat unferer Prüfung dürfen wir nunmehr hinftellen: 
die Anficht, daß Salmanaffar und Sargon zwei verfchiedene Namen 
eines und defjelben afiyrifchen Königs find, ift durch die Denkmal: 
forſchung noch keineswegs widerlegt; zur Entkräftung der gemid 
tigen Gründe, auf welche fie ſich ftügt, ift überhaupt nut ein 
Ergebniß der Dentmalforfchung geltend gemacht worden, daß nämlid 
Sargon fi rühmt, jhon in feinem erften Negierungsjahre ©: 
marien erobert zu. haben, ein. Ergebniß, das aber noch ziemlih 





Sargon und Salmanafjar. 697 


zweifelhaft erfcheint; ſonſt find ihnen mar unfichere und zum Theil 
ganz unwahrfcheinliche Combinationen und unbewiefene Hypotheſen, 
md ein an dem altteftamentfichen Texte verübter kritiſcher Gewalt- 
ftreich entgegengeftellt worden. Man wird demnad die Identität 
Sargon’s und Salmanaffar’s noch immer als weitaus am wahrs 
igeinfichften feftzuhalten haben, bis die Denkmalforſchung das Gegen- 
teil in zuoerläffigerer Weife, als es bis jet der Fall ift, er⸗ 
viefen Hat*). Es wäre ja auch in der That fehr auffallend und 


a) Das noch weitverbreitete Mißtrauen gegen bie Exgebniffe der Inſchriften - 
entzifferung ift jedenfalls theilweiſe nur allzu gerechtfertigt. Wir Haben 
Gelegenheit gehabt zu fehen, was 3. B. Oppert dem Glauben feiner Leſer 
zumuthet. Ein anderes Pröbchen feiner Leicht hingeworfenen Behauptungen 
mag Hier noch beildufig Erwähnung finden. In den Infchriften Sanherib's 
lommt ein Stabtname vor, der Amgarron gelefen wird, und im dem are 
dere Affyriologen, wie Ratofinfon und Hinds (in Heidenheim's Deutſcher 
Bierteljahresſchrift für engliſch- theologiſche Forſchuug, 1862, Nr. II, 
©. 889), eine Bezeichnung ber Philifterflabt Efcon erkeunen. Oppert 
(&. 40) behauptet dagegen: es fei vielinehe das in ef. 10, 28 (n. 1 Sam. 
14, 2) erwähnte Migron. Dabei macht es ihm feinen Serupel, daß 
Migron eine Meine judäiſche Stabt auf der Route von Ai nad Milhmaſch 
war, während feinen eigenen Angaben zufolge in den Infchriften San- 
herib's ein König von Amgarron (dev von beffen Bewohnern als affy- 
riſcher Schütfing an Hiskia ausgeliefert, dann aber auf Sanherib's Ber- 
langen Tosgelaffen und von biefem' wieder eingejegt worden fein foll) er- 
währt, und daß Amgarron einmal zwiſchen Asdod und Gaza und 
ein anderes Mal nad Gaza und Askalon und vor Byblus und 
Aradus genannt ift (vgl. Oppert, ©. 44. 45. 58). Wer mit derartigen 
Behauptungen vor feine Leſer tritt, und fi ihnen im dem, was fie con- 
troliren Tönen, fo wenig bewährt, der darf ſich nicht wundern, wenn fie 
alle Mittheilungen, deren Eontrofirung ihnen nicht möglich ift, nur mit 
der mißtrauiſchſten Vorficht aufnehmen. — Auch in fprachlicher Beziehung 
erweden die Angaben Oppert’s vielfad; gar wenig Vertrauen. Wenn er 
3 3. (©. 8) den Namen Sar- Kin durch roi de fait (the established 
king, wie Rawlinſon fich ausbrüdt, {. S. 408 u. 88) ertlärt, und wenn 
wir dabei Binfichtfich der Sylbe Kin einfach auf den hebräif—en Stamm 
YO verwiefen werden, fo macht dies den Eindrud eines bloßen Einfalls, 
der vor dem von Brandis (S. 58), daß der Name „Herr des Gartens” 
(19) bedeute, nicht viel voraus hat, nicht aber den Eindrud eines Ergeb- 
niffes fofider Sprachforihung. Aehnlic verhält es fi mit anderen Na- 
menserflärungen, 3.8. Esar-chaddon, Assur-ach-jiddin = Affur Hat 


698 Kichm, Sargon und Selmanaflar. 


taum begreiflih, wenn Sargon, der fo viele fiegreidhe Kriege im 
Oſten und Welten geführt und die Macht des aſſhyriſchen Welt: 
reich® auf ihren Höhepunkt gebracht, ja der Samaria erobert und 
zerftört und die Bewohner des Zehnftämmereihs in die Gefangen 
ſchaft geführt Hat, in der altteftamentlihen Weberlieferung nur die 
vereinzelte Spur in Jeſ. 20, 1 zurüctgelaffen hätte, und im Uebrigm 
ganz durch feinen nur kurze Zeit regierenden und viel unbedenten 
deren Vorgänger Salmanaffar verdunfelt worden fein ſollte. Du 
gegen Hat es gar nichts Unwahrſcheinliches, daß der große Erobern 
von den Iſraeliten gewöhnlich Salmanaffar genannt wurde, obſchu 
er felbft feinen ſolchen Beinamen geführt zu Haben ſcheint *). Ude 
den Namen eines Königs der Aſſyrer, dieſes yrouı ap YpRı c. 
ya pas vie au konnte leicht ſchon bei der erften Kunde vm 
ihm vermöge einer Verwechſelung oder eines Mißverftändnifies (er 
möglicherweife in Nachwirkung der Erinnerung an den Galme 
naffar, welchem Zehn Tribut entrichtet) eine irrthümliche Angabe 
unter den Iſraeliten ſich verbreiten, und dann auch, wenn der Küng 
dem ifraelitiihen Volke einmal unter diefem Namen befannt wat, 
“in der gewöhnfichen Ueberfieferung fid behaupten; dagegen erſchen 
es faft unmöglich, daß diefe einen tief in die Geſchichte Ziruls 
verflochtenen Mann von der Bedeutung Sargon’s fo gut ald gan 
ignorirt haben follte. 


einen Bruder geſchenkt u. dgl. (Zeitfchr. d. D. M. ©. X, 290) Ih 
term man num fieht, daß andere Aſſyriologen, wie Rawlinſon, folde &r 
fälle unbejehen hinnehmen und nachſprechen, fo kann man gerechte Bedenle 
gegen ihre Methode in der Erforſchung der aſſyriſchen Sprache und de 
Verdachi, daß manche Ucbereinftimmung in den Ergebniffen auf conventiond 
getvordenen, aber darum keineswegs ſicheren Annahmen berugen, wicht 
tücdrängen. Wann wirb endlich ein vorfichtiger und zuverläffiger Forkt 
ſich finden, der die bisherigen Entzifferungsverfuche der aſſyriſchen Infchrfes 
einer gründlichen Teitifchen Reviſion unterwirft, nachdem es Brandis ki 
einem bfoßen Anlauf dazu hat bemenben laffen ? 

a) So muß mau urtheilen, theils weil bisher unter den Beinamen Sarg 
der Name Salmanaffar nicht gefunden worden ift, theils weil berebe Ir 
Königen der früheren Zeit als eigentlicher Name, wicht als Beinamt, vor 
lommt. 








Märder, über die Zahl 666 in Offb. 13, 18. 699 
2. 


Ueber die Zahl 666 in Offenbarung 13, 18. 


bon 


Profeffor J. WMärdier in Meiningen. 





Es ift durd) die neueren Forſchungen außer Zweifel geftellt, 
dag das Thier in Offb. 13, 1, von welchem der größte Theil 
von Cap. 13 und ein großer von Cap. 17 handelt, das römische 
Weltreich bedeute. Die vom Schriftfteller felbft in 17, 9—12 
gegebene Erflärung, daß die fieben Köpfe des Thieres fieben Berge 
(ie fieben Hügel Roms), aber auch fieben Könige bedeuten, von 
denen fünf (Auguftus bis Nero) gefallen feien, der eine (Veſpaſian) 
gegenwärtig fei und der noch übrige (fiebente) erft kommen werde,‘ 
bei welcher Zählung Galba, Otho, Vitellius als zu kurze Zeit 
tegierend weggelaſſen, gleich darauf aber in der Erffärung ber zehn 
Hörner berückſichtigt find, bezeichnen zu genau das römiſche Kaifer- 
reich, als daß man irgend eine andere Deutung zulafien dürfte. 
Die Deutung der zehn Hörner (17, 12) auf die volle Zehnzahl 
der Kaiſer, von denen drei nur fehr kurze Zeit regieren (dEovaiav 
ös Baoskeis ulav ügav Aaußavovos) hat wegen des Wortes 
vurrw, das aus od rranveg corrumpirt ift, Widerfprud erfahren, 
welcher durch genannte Emendation fich fofort löft, indem nun zu 
den Worten: „fie empfangen auf eine Stunde die Macht wie 
Könige“, als Subject od od Aaßovses Bavıkslav aus Baoıkslav 
oo navıes Zaßov dem Sinne nad, heranszunehmen ift. 

Wäre nun die Deutung auf die erften zehn Kaifer Roms noch 
irgend einem Zweifel unterworfen, fo müßte derfelbe dadurch be— 
feitigt werden, daß bie Anfangebuchftaben der Namen jener zehn 
Kaiſer als Zahlzeichen betrachtet und zuſammenaddirt die in 13, 18 
aufgeftelfte ‚geheimnißvolle Zahl 666 geben. Hierbei ift jedoch zu 
bemerken, daß der zehnte noch zufünftige Kaifer, auch wenn Jo— 
hannes an Titus dabei dachte, nicht mit einem Namen bezeichnet 
werben durfte, ſondern als der Zehnte (d dexaros) gedacht und 
mit dem Zeichen der Zahl 10, mit einem « angedeutet wird, 





700 Märder 


Die Rechnung ift folgende: 





Oxraßıavös. . ... 70 
Tißsgos . .» . . - 300 
Teiog . —— 3 
Kievdiog = 20 
Neoav . = 5 
Telßa = 3 
’odur . . = 70 
OviteAhiog . = 70 
Ovsonauıwmis .... = 70 
ö dexasog .i/= 10 

x” = 666 


So ſchön dieſes paßt, fo ift doch noch nicht ganz dadurch a: 
geflärt, was in der Stelle 13, 17 als der Name des Zhierr 
(10 ovone ou Imelov) zu denken ſei. Jedenfalls muß die 
Name für Rom harakteriftifch fein. Der römiſche Uebermuth und 
zugleich die ungeheure Größe des römischen Reichs werben jehr 
pafjend durch das Wort Syxos bezeichnet, welches fomohl „Hoffart“ 
als auch eine. „große Maſſe“ (moles) bedeuten kann. Das fp- 
cifiſch Romiſche wird bekanntlich oft durch das Hauptkfeibungsftid 
der Römer, die Toga, fymbolifirt, jo daß togatus geradezu „Römer“ 
bedeutet. Das Wort toga ohne Weiteres in's Griechiſche alt 
zoyn aufzunehmen, würde den Schriftftellern des N. T.'s, wem 
fie in die Lage gefommen wären, die. Toga nennen zu müſſen, ebeı- 
fowenig Scrupel verurfacht haben wie die Aufnahme der Wörtr 
rgaıtaigıov, xevruglov, oovdagsov unb anderer. Hiernach il 
es nicht unwahrſcheinlich, daß das Wort Oyxozoyıov „Hoffärtigs 
Toga- Ungeheuer“ , welches aus den ‘oben aufgeführten zehn Bud: 
ftaben: 0, 7, y, x, v, y, 0, 0, 0, ı, die als Zahlzeichen betradirt 
bie Zahl 666 zur Summe geben, zufammengefegt ift, als Namt 
des Thieres gedacht werden muß. Dann ift fowohl jenes Bart 
0 övona zod Srglov (13, 17), als auch die Zahl 666 oa 
Yuög Tod Övönerog adrod. ne 

Außer der nachgewiefenen Deutung auf das römifche Weltreih 
gibt unfer Schriftfteller von dem Imglov noch eine andere Er 
Märung, ebenfo wie er in 17, 9—12 die fieben Köpfe des Zhirt 
doppelt deutet, erſtens auf die fieben Hügel Roms, zweitens ehr 
aud) auf die fieben Kaiſer, bie, wenn man Galba, Otho, Bieliet 





über die Zahl 668 is Offb. 13, 18. 701 


übergeht, die erften waren. Nach 17, 11 nämlich ſoll der auf die 
fieben Kaifer zunächſt folgende, alfo der achte Kaifer, das Thier 
felbft fein, wa® nur fo verftanden werben fann, daß alfes von dem 
Thier ausgefagte Schlechte fich in diefem Kaifer comceentrire. Wahr 
ſcheinlich ift nicht mit Düfterdied, dem übrigens in ber Hauptfache 
jedenfalls Recht gegeben werden muß, Domitian als Derjenige 
anzufehen, welchen unfer Berfaffer ſich als jenen Achten dachte, ſon⸗ 
dern man kann (mit Ewald, de Wette u. A.) Riemanden als Nero 
dafür Halten, der, wie z. B. Tacitus (Histor. II, 8) berichtet 
(ungefähr vom Sabre 69 an), längere Beit hindurch als noch lebend 
und feine Wiederfunft zum Throne vorbereitend von Dielen gefürchtet 
wurde. Was gegen die Deutung auf Nero von Düfterdied, der bie 
jene Befürchtung betreffenden Stellen felbft auffühet, geltend gemacht 
wird, daß man dem Apokalyptiker einen folhen Aberglauben, Nero 
werde aus der Unterwelt als Antichrift wieder herauf kommen, nicht 
zutrauen dürfe, ift zwar an ſich ganz richtig, aber nichts gegen die 
Annahme bemeifend, daß Johannes mit unzähligen Anderen der 
Meinung wor, Nero fei nicht tobt, fondern ftrebe im Verborgenen 
wieder nad) dem zümijchen Raiferthron. Das Gelingen diefes Stre- 
bens konnte dann dichterifch fehr wohl als ein Herauffteigen des 
Thieres aus der Unterwelt (17, 8) bezeichnet werden, weil nur ber 
als Kaifer Herrfchende Nero mit dem Thiere ibentifteirt wird, von 
dem es heißt: 99 zei odx Zorı xab wagsorm. Das nv und 
regsoraı nämlich gehen auf feine vergangene und feine zukünftige 
Herrfchaft, das odx Farı aber auf fein gegenwärtiges, nad) Johannes' 
Meinung im Verborgenen, aber nicht in der Unterwelt, geführtes 
Leben. Duſterdieck räumt felbft ein, daß das zum Tode verwunbete, 
aber wieber geheifte Haupt (13, 3) kein anderes als das fünfte, 
welches Nero bedeutet, fein Tann, ſo daß mit jenem Bilde die ger 
nannte Befürchtung von Nero's noch fortdauerndem Erdenleben 
deutlich genug bezeichnet ift. Entſcheidend aber für die Deutung auf 
Nero find die Worte (17, 11): 10 Imglov, 6 17V xl ovx Zar, 
xal aurög dydoös Eorı zal &x z@v End Eorı, worin das dop- 
pelte xai eine innige Beziehung des Umſtandes, er fei der Achte, 
zu dem Umftande, er gehöre zu den Sieben, anzeigt, welche beiden 
Umftände feheinbar in Widerſpruch ftehen, aber ſich dadurch vers 
einigen, daß der Fünfte nochmals, und zwar als der Achte, zur 


702 Märder, über die Zahl 666 in Offb. 18, 18. 


Regierung kommt. Duſterdieck muß bei feiner Deutung auf Do- 
mitian &x cv ned ori erklären: „er hat feine Herkunft aus 


den Sieben“ (als Sohn Veſpaſian's), was, wenn man auch von | 


der Sonderbarkeit des Ausdruds („er ſtammt von den Sieben“, 
ftatt „von Einem der Sieben“) abfehen wollte, Hier doch ein völlig 
müffiger Zufat fein würbe. 

Iſt nun Nero als römischer Kaifer das Thier felbft, fo fragt 
es fih, ob aud dann noch bie Zahl 666 als 6 dgıdpuös zoi 
svöpearos avroũ angejehen werden könne. Nimmt man den voll: 
ftändigen Namen Nero's: KAaddsos Negwv Kaivag Jonas; 
4g00005 Tegwavızds, fo kann man mit Hilfe von Abkürzungen 
wie fie bei Inſchriften ſich häufig finden, ebenfalls die Zahl 666 
heraus bringen, auf folgende Weife: 








K. Cauũdioc) . x 20 

N. (ee) . .. - v 50 

KR. (aloag) . x 20 
[4 4 ‘ 

6 70 

Hope. (1wvö). . . \W—= 40 

(= 10 

. 7 = 300 

4. (000005). . = 4 

. Y-3 

Teen. (avıxös) . { e u 100 

= 40 

xE —= 666 


Will man das hebräifche Alphabet zu Hülfe nehmen, fo gik 
op. 1773 (vgl. Holgmann, Judenthum und Chriſtenthum, ©. 707) 
eine fchöne Zöfung. Doc paßt diefelbe nur auf Cap. 17, nidt 
auf Cap. 13, wo die Zahl 666 aufgeftellt wird. Denn Bier er: 
ſcheint Nero noch gar nicht als das Thier, fondern nur ale dat 
eine Haupt des Thieres, für deffen Namen eine nähere Beziehung 
auf das römiſche Weltreich hier unerläßlich ift. 





Necenfionen. 





1. 


Lie. Aug. Kloftermann, Das Markusevangelium nad 
feinem Quelfenwerthe für bie evangefifche Gefchichte. Göt- 
fingen. Vandenhoeck und Ruprecht's Verlag. 1867. 





Zum erften Male, feit die neuere Evangelienkritit dem Markus- 
wangelium wieder eine fo hohe Bedeutung beizufegen begonnen Bat, 
erhalten wir in dem bier zu befprechenden Buche eine eingehende 
Bearbeitung dieſes Evangeliums, wie fie nachgerade ein dringendes 
Bedürfniß geworden war. Eine forgfältige Analyfe defjelben, welche 
dem Zwecke der ganzen Gompofition und der Bedeutung jedes Ein- 
zelnen in ihr mit eindringendem Scharffinn nachgeht und dabei die 
Bunkte aufzufpüren fucht, an welchen ſich das Verhältniß des Ver⸗ 
faſſers zu feinen mündfichen und ſchriftlichen Quellen verräth, bildet 
den überwiegenden Haupttheil de8 Buches. Dabei geht daſſelbe 
aber vielfach felbft in exegetifche und textkritiſche Details ein, und 
da der Verfaffer einmal hierin viel mehr gethan Hat, als fein 
nächfter Zwed erforderte, fo Hätten wir nur gewünfcht, er wäre 
nod einen Schritt weiter gegangen und hätte eine fortlaufende Er- 
Härung des Evangeliums in feine Unterfuchung verflochten, die 
nun auch über Alles, was zum Verftändniß deſſelben gehört, die 
nöthige Auskunft gäbe. Wir hätten dies umfomehr gewünfcht, als 
feine Exegefe vielfach ebenfo große phifofogifche Sorgfalt wie feinen 
hermeneutiſchen Tact berräth und das Verſtändniß unferes Evans 
geliums ohne Zweifel weſentlich gefördert Hat. Das ſchließt freilich 
nicht aus, daß diefelbe fich auch oft und nicht blos wo die Durch⸗ 

Theol. Stub. Jahrg. 1868. 47 








706 ° Kofermann 


führung der eigenthümfichen Anfchauungen des Berfaffers über da 
Plan des Evangeliums ihn dazu verleitete, in Künfteleien verim 
oder, von dogmatiſchen Vorurtheilen befangen, ſich Gewaltfamtit 
erlaubt, die mit feiner fonftigen Akribie in ſeltſamem Contıi 
ſtehen. 

Fur den erſten Vorwurf verweiſen wir beiſpielsweiſe auf ie 
Erklärung von 4, 10ff. (S. 85ff.) Nur von feiner kritiſta 
Anfhauung aus, wonach aud Hier Mattgäus benutzt fein Id 
(S. 368), tonnte der Verfaſſer darauf kommen, die Frage hr 
Zünger auch bei Markus darauf zu beziehen, was die Parakl 
überhaupt wollen und wozu fie taugen; denn fo gewiß es da 
Evangeliften allerdings vor Allem auf die allgemeine Erklär 
Jeſu über „das jonderliche Verhältnig, in welchem feine Jünge 
zu ihm Hinfichtlich der Erfenntniß ftehen“, anfommt, fo folgt deh 
daraus keineswegs, daß er, der mach der lebendigen münbfice 
Meberfieferumg erzählt, diefe Erklärung, welche Jeſus der Antwort 
auf die Frage nad) dem Sinn der Parabeln vorausſchickt, bereit, 
wie ber erfte Evangelift, durch eine entjprechende Frage der Jünger 
ausdrücklich provocirt fein läßt. Wie künſtlich aber deutet der Ber: 
fafler dann das Myſterium des Gottesreiches mittelit eines angeb 
fihen genitivus epexegeticus von dem Geheimniß, in meldet 
gehüllt das Gottesreich in feiner Perſon erfcheint, und weldes ihnen 
unmittelbar verrathen ift, weil fie in Jeſu den gottgefandten An- 
fänger des Gottesreiches erfannt haben, während doch der Zufn- 
menhang lediglich auf das Geheimniß führt, in welches feine Gleich 
nißrede das Wefen des Gottesreiches verhüllt hat. Warum jolm 
ferner die of Z&w die außerhalb des Gottesreiches Befindkicen fein, 
da ja nad) 4, 10 die od rsgi aueov wirklich einen Kreis um ihr 
bilden, außerhalb defjen die Volfsmenge, die ihm nicht in die Ein 
famteit folgt, ftehen bleibt? Wenn aber nun &v ragapolais si 
nevra ylveras überfegt wird: „das Gottesreich wird ihnen in jeder 
Hinficht zu Räthſeln“, fo fträubt fich doc dagegen jeder geſunde 
exegetifche Tact. Freilich ſoll se ravra, als Subject gefaßt, or 
nähere Beftimmung widerfinnig fein; aber es ift doch Hier mt, 
wie unzäpfig oft, der Fall, daß das allgemeine z= marse uf 
dem Context feine nähere Beftimmung empfängt, die hier auf alt 





das Markusevangel. nad; feinem Quelleuwerthe f. d. evang. Geſch. 707 


von Ehrifto zum Wolfe über das Wefen des Gottesreiches Geredete 
geht. Freilich. foll ylvsras als „wird mitgetheilt“ zu faſſen uns 
möglich fein; aber wenn das, was einem zu Theil wird, einem 
b nagaßokais d.h. in einer bejonderen Lehrweife zu Theil wird, 
fo verfteht fich ja von felbft, daß es ſich Hier nur um ein Zutheil- 
werden durch Ichrhafte Mittheilung handelt. Die gewichtpolle Bor⸗ 
anftellung des Mvossjgsov erklärt ſich aber bei der gangbaren Aufr 
faffung ebenfogut, da es den Gegenfag bildet zu feiner Ber 
hüllung in Gfeichniffen, und feine Abſcheidung von dem Genitiv 
bedarf einer Erklärung überhaupt nur bei der unnatürlichen Aufe 
faffung deffelben als gen. epexegeticus. Was hilft es nachzu⸗ 
weifen, daß za ndvsa für xard ra navra und ylyvsodaı: dv 
In der angenommenen Bedeutung ftehen könne, da eben hier das 
hatürfiche Subject des Satzes erſt fünftlich verworfen werden muß, 
um ein anderes zu erzeugen, das im Parallelfag gar nicht in Sub» 
jeetsſtellung auftritt, und ⸗ nagaßokais anders genommen werden 
muß, als e8 eben 4, 2 da war? Seit wann aber heißt denn zaga- 
Polo „Räthfel“ fchlechthin, oder wie kommt es zu diefem Ginne 
in einem Zufammenhange, in welchem mragaßolat überall die von 
Chriſto geſprochenen Gleichnißreden find? Dies ift nämlich ohne 
Zweifel aud 4, 13 der Fall, wo der Verfaſſer wieder gegen. die 
richtige Meyer’fche Erklärung ganz unnöthige Schwierigkeiten erhebt. 
Wenn Markus Jeſum die einzige Parabelerflärung, die er bei ihm 
gibt, Hier nicht nur dadurch motiviven läßt, daß die Jünger die 
einzige bisher gefprochene Parabel nicht verftehen, ſondern dadurch, 
daß fie überhaupt alle feine Parabelreden felbftändig zu verftehen noch 
nicht im Stande find, fo ift das bei ihm umfoweniger auffallend, da 
er bereits 4, 10 angedeutet hat, daß diefelben ihn in diefer Weiſe 
überhaupt, wenn er in Parabeln geredet, nad) ihrem Sinne fragten, 
und Tegt den Jüngern keineswegs „ein Verlangen nach dem Ver- 
ftändniß aller möglichen Parabeln bei“. 

Aber auch für unfern zweiten Vorwurf müffen wir ein fchla- 
gendes Beiſpiel beibringen. In der Analyfe der großen Parufie- 
rede ift über die Tendenz und den Gedankengang derſelben viel 
Treffliches beigebracht; aber um fo jchärfer müffen wir die Art 
derurtheilen, wie fich der Verfaffer mit dem ſchwierigſten Paſſus 

47° 


708 Aloſtermaun 


derfelben (Mark. 13, 14ff.) abfindet (S. 251ff.). Wir wollu 
nicht über die Auffaſſung des Adelvyue wis Fommösens vom 
perſönlichen Antichrift rechten, obmohl wir diefelbe für eine hoöcht 
unglüdfiche Halten; wir fragen nur, wie der Verfaſſer es möglie 
gemacht hat, diefer Auffaffung die Erklärung des Folgenden anı- 
poffen. Da ſoll mın die Flucht, die Jeſus fordert, nichts andered 
fein als das Mittel, wodurd man -fich der von dem Antichrift gr 
forderten Anbetung entzieht. Aber wie Tann Bier an eine fymbe: 
liſche Bedeutung des Yedysıw gedacht werden, wo die Landihet 
Judäa und das ferne Gebirge ausdrücklich als Ausgangs m 
Endpunft der Flucht genannt werben, wo das Hinabſteigen it 
Haus und das Umfehren vom Ader als Verzögerungen der Find, 
wo Schwangerfhaft und Mutterpflichten als Erſchwerniſſe derichn 
genannt find? Mit Recht wundert ſich der Verfaffer, dag 13, 18, 
wo er völlig unnatürlic ‚nicht da8 Ysuyew, ſondern das Auftreten 
des Antichrift als Subject denkt, der Bitte um Abwendung einer 
Flucht zur Winterszeit nicht durch einen parallelen Sa der Chr 
rafter der Bildlichkeit gefichert werde. Aber wenn auch der Pu 
rallelfag aus Matth. 24, 20 daftände, jo ift doch die Streng 
der Sabbathobjervang ebenſo eine mwirfliche Behinderung einer wirt 
lichen Flucht, wie die Winterfäfte, und die bildliche Umdeutung dt 
Sabbaths mindeftens ebenfo unnatürlich. Der Verfaſſer freilic 
findet in V. 15. 16 Andeutungen, wodurch wenigſtens der bih⸗ 
Tiche Charakter von B. 14 gefichert werde; aber worin folte 
diefe wohl Liegen? Offenbar verwechſelt er die Eigenthümlidkt 
der Rede, wonach die Schnelligkeit der Flucht in popufär plaftiice 
Weife dur Züge illuftrirt wird, welche, an fich felbft willlürle 
gewählt, mur ſoweit Geltung haben, als fie eben jenen Charaftt 
der Flucht veranfhaulichen follen, mit demi bildlichen Charakter Mr 
Rede. Und doc; beweift gerade die Wahl folder Züge, daß di 
Flucht, um deren Schnelligkeit es ſich Handelt, feine Bifdfice jr 
kann, weil es zwedwidrig wäre, die Flucht vor der Verfeitung zur 
Sünde in einer Weife zu illuftriren, welche deutlich auf wirfide 
Flucht hinweiſt. Kaun nur durch eine fo contertwidrige Umbdeutun 
die Beziehung des Adekvyue wis Eenuuoews gerettet werden, I 
ift fie eben augenſcheinlich unhaltbar. Der Verfaſſer, der jehr wohl 





das Markusevangel. nad; feinem Quellenwerthe f. d. evang. Geſch. 709° 


rtannt hat, daß das zaöre in 13, 29 nad) der ganzen Anlage 
er Rede nur auf die mit dem Eintreten des Adelvyua =. Fonu. 
erbundenen Creigniffe gehen kann, hat eben darum die Kataftrophe 
ı Judäa in die Erfcheinung des Antichrift umgedeutet, um die 
jerbindung der Parufie mit jener zu entfernen und hier die escha- 
Hogifche Perſpective des zweiten Theſſalonicherbriefes hineinzu⸗ 
"gefiren. Diefer Annahme zu Liebe muß dann jchließlich die yerca 
dm (13, 30) nicht die gegenwärtige Generation, fondern das 
deichlecht fein, welches das adra ysvoneva erlebt. Bei dem 
derfuch, diefe Erklärung zu rechtfertigen, überficht der Verfaſſer 
ar, da, wenn im Unterjdiede von dem Gefchlecht, -zu welchem 
kfus redet, eines gemeint fein ſollte, das einer unbeftimmten Zus 
ft angehört, dieſes eben nur yevec. Exeivn heißen könnte, daß 
ber eim foßcher Unterfchied überall gar nicht gemacht fein kann, 
eil Jeſus feine Zuhörer als Diejenigen anredet, welche Gelegenheit 
aben werden, das Gleichniß vom Feigenbaum anzuwenden, und daß 
ei feiner Erklärung das Tadsa navra, deſſen Erleben der yaveı 
den zugefagt wird, unterſchieden werden muß von dem zadza, durch 
fen Erleben fie (B. 29) charakterifirt wird, während doc) jenes nur 
28 13, 29 erwähnte raör« jelbft mit allem, was nad der 
ortigen Ausficht die unmittelbare Folge fein wird, bezeichnen kann. 
Es kann aber unfere Abficht nicht fein, die Exegefe unferes Buches 
m Einzelnen einer Kriti zu unterziehen. Es kommt uns vor 
em darauf an, zu fragen, wieweit Zwed und Plan des Markus- 
dangeliums hier zu einem richtigen Verſtändniß gebracht find. Daß 
er Verfaſſer demfelben mit unermüdliher Sorgfalt und einem 
Anen Spürfinn in alfen Eden und Winkeln des Evangeliums nad- 
eforſcht hat, bleibt das große Verdienft deffelben, das dadurch nicht 
eſchmälert werden faun, wenn wir feine Auffafjung im Großen 
md Ganzen wie in vielem Einzelnen als zu künſtlich verwerfen 
tüffen. Ihm ift begegnet,. was Leider jo oft gefchieht, daß, wenn 
aan zu ſcharf auf einen Punkt hinfieht, es allmählich vor den 
Augen zu. flimmern beginnt, und man die tanzenden Bilder des 
egenftandes, die das Ange erzeugt Hat, nicht mehr von dem ein- 
aden Gegeuſtande ſelbſt unterfheiden kann. Der Berfaffer hat zu⸗ 
Nee Abficht gefucht, um die wahre Abficht des Verfaffers zu finden, 





710 KXloftermanz 


amd darum feine oft geiftollen und finmigen Reflexionen über die 
Erzählungen des Evangeliften mit den Gedanken des Leiteren jelbit 
verwechſelt. Aber darum hat er doch vieles ſcharf gejehen um 
aud wo er nicht richtig gefehen, doc vielfach die richtigen Mo 
mente aufgebedt, welche zur Entfcheidung der Frage’ nad) dem Plan 
des Evangeliums beitragen. können. Da die etwas ermüdene, 
umfaſſende Wiederholungen erfordernde Methode, nach welcher kr 
Berfaſſer bie Lefer die ganze Unterfuchung mitmachen läßt, zum 
ber Berfauf derfelben vielfach von exegetifchen, tert» und quela 
kritiſchen Unterfuchungen und oft fehr weit ausfchweifenden fr 
flegionen des Verfaſſers durchbrochen wird, nur ſchwer zu cm 
Gefammtbilde von feinen Rejultsten gelangen läßt, fo glauben nt 
unfern Sefern einen Dienft zu leiften, wenn wir unfere Keitit fe 
Auffafjung von Zwei und Plan des Evangeliums am eine hr 
Darftellung derjelben anknüpfen. 

Indem der Berfaffer unzweifelgaft richtig 1, 1 vom dem di 
genden abtrennt, faßt er doch diefe Worte nicht als Bezeichnut 
davon, daß Hier die in der folgenden Schrift enthaltene frohe Bor 
ſchaft von Jeſu Chriſto als dem Gottesfohne beginnt, fondern als 
Ueberfhrift des ganzen Werkes, welche deſſen Inhalt als den gr 
ſchichtlichen Urſprung der in der Gegenwart des Verfaſſers wirt 
famen evangeliſchen Botſchaft von Eprifto dem Gottesfohne dark: 
terifiren und damit als Zweck defjelben anzeigen fol, vorzufühte, 
was das Wachsthum des Evangeliums zu feiner jegigen Geſul 
als einer Öffentlichen Macht in der Welt hervorgebracht Hat. Die 
Geſichtspunkt ift nun freifid weit genug, um dem ganzen Ju: 
des Evangeliums ihm zu unterftellen. Man braucht eben nur da 
Anhalt der apoftolifhen Botſchaft in den Bli zu faſſen, der ht 
natürlich Alles, was unfer Evangelium von Chrifto erzäfft, mi 
einfließen muß, fo ift eine Beziehung aller einzelnen Abſchuin 
zu ihm leicht Herzuftellen. Dann aber ijt mit jener Charakterifirun 
feines Inhalts gar nichts Eigenthümliches ausgeſagt, was nicht auf 
in der einfachſten Faſſung der Ueberfchrift, wonach das Wert felht 
das Evangelium vom Gottesfohue ift, lage. Soll dies der del 
fein, wie des Verfaſſers eigentliche Meinung ift, jo muß nicht ir 
wohl an den Juhalt der Botſchaft als vielmehr an das Borkı 





das Markusevangel. nad} feinem Quelleuwerthe f. d. evang. Gef. 711 


denfein derſelben gedacht werden, und da unfer Evangelium aller» 
dings in befonderem Sinne ein Füngerevangelium genannt werden 
faın, das von der Auswahl, Ausrüftung, Ausbildung und Auss 
fendung der Jünger viel zu erzählen weiß, jo läßt ſich Hier Manches 
aufweifen, was mit der apoftolifchen Verfündigung als ſolcher in 
Verbindung gebracht werden fann; aber um diejen Gefichtspunkt 
durch das ganze Evangelium durchzuführen, muß der Verfaſſer 
theils vielem ‚Einzelnen auf's fünftlichjte eine Beziehung darauf 
aufzwingen, theils benfelben immer wieder mit jenem ganz andern 
bertaufchen, ohne daß er jelbjt den mefentlichen Unterſchied beider 
fih Mar gemacht. zu Haben ſcheint. Nur durch ein ſolches Quid- 
proquo vermag der Verfaſſer gleich die Einleitung des Evangt⸗ 
ums, die von Johannes dem Täufer handelt, mit dem angeblichen 
Grundgedanken der Schrift in Beziehung zu fegen; denn jo Mar 
es ift, daß alles hier Erzählte nur auf das Auftreten des Gottes⸗ 
ſohnes vorbereitend Hinweift, jo wenig hat es mit der apoftolifchen 
Verkündigung von ihm direct etwas zu thun. 

Daß 1, 14—45 und 2, 1 bis 3, 6 bie beiden erſten Haupt⸗ 
abſchnitte des Evangeliums bilden, daß der erſte ein Bild der un. 
gehemmten, ihm raſch 'eine unerörte Popularität gewinnenden Wirk 
famfeit Chrifti, und der zweite ein Bild der beginnenden umd raſch 
ſich fteigeruden Oppofition der religiöjen Leiter des Volfes gibt, 
hat Kloſtermaun rihtig erfaunt und vielfach treffend nachgewiefen. 
Aber ſchon die Behauptung, daß der erfte Abſchnitt zeige, wie die 
Öffentliche Verkündigung Jeſu ſich ausgenommen Habe im: Gegen- 
fag zu der des Täufer (S. 30), läßt ſich nicht begründen, und 
gar nicht zu begreifen .ift, wie dadurch Anfang und Urfprung 
der evangelifchen Verkündigung als einer öffentlichen Macht dar 
geftelit werden fol. Höchjftend läßt fich darauf Hinweifen, daß die 
Erzählung mit der Berufung der erften Apoftel begiunt; aber ger 
rade dies läßt ſich doc bei der Vorgusfegung Moftermann’s über 
die Quelle des petrinifchen Markus fehr viel einfacher erklären, und 
wenn er nachher wiederholt nachweiſt, daß die Erzählung hervor- 
hebe, was die Jünger in der Nachfolge Jeſu erlebt Haben (S. 25.28), 
fo fallt diefer Gefishtspunft Thon beim fetten Stüde ganz fort 
(1, 4045) und die Sache jelbft erflärt ſich ja ohne jede fchrifte 





712 Klofermann 


ftellerifche Yutention einfach genug daraus, daß der Evangelift Hier 
großentheild aus den Erinnerungen des Augenzeugen berichtet. Wenn 
Mlloftermann aber andererfeitS überall die Lehrthätigkeit Jeſu zur 
Hauptſache zu machen ſucht und die Heifthätigkeit als eine ihm faft 
nur abgenöthigte erjcheinen Täßt, um die Botſchaft Jeſu als Anfang 
der apoftofifcen in den Mittelpunkt zu ftellen, fo ift das dog 
durchaus unberedhtigt einem Abſchnitt gegenüber, der drei Heilung 
ausführlich erzählt, zahlreiche andere fummarifch berichtet und (1,39) 
ausdrüdlid die Thätigfeit Jeſu zwiſchen Lehren und Heilen theil 
Bollends aber der richtig gefaßte Gefihtspunft, unter melden k 
Erzählungen des zweiten Abſchnitts zufammengeorbnet find, hat de 
fichtlich mit dem angeblichen Grundgedanken des Evangeliums gır 
nichts zu thun; denn wenn bie mannichfaltigen Selbftzeugniffe Jeſu 
die hier zufammengeftellt find, zeigen follen, auf welchen Urfprun 
die apoftolifche Verkündigung zurüdgeht (S. 64), fo läßt fid das 
ja von Allem, was irgend ein Evangelium von Thaten oder Worten 
Jeſu mittheilt, fagen. Was hat es aber überhaupt für einen Sinn, 
in der Zufammenftellung diefer Selbſtzeugniſſe einen ſolchen leiten⸗ 
den Gedanfenfaden nachzumeifen, wie der Verfafier S. 59 thut? 
Hat denn der Evangelift diefe Ausſprüche erfunden? Oder hat er 
nicht vielmehr eine Reihe ihm überlieferter Vorfälle zufammengeftellt, 
in denen fi, wie Kloftermann jelbft treffend nachweiſt, die Sti- 
gerung ber Feindfeligfeit gegen ihn kundgibt? Dann aber waren 
ja die bei diefen Gelegenheiten provocirten Selbftzeugniffe Jeſu ihn 
gegeben und das etwaige durch geiftreiche Combinationen gefunden 
BVerhältniß derfelben hat jedenfalls mit feiner ſchriftſtelleriſchen In⸗ 
tention nicht® zu thun. Zu welcher unnatürlihen Künſtlichkeit win 
aber diefe einfache Schriftftelferei hinaufgefchraubt, wenn num nad 
©. 64—65 das legte Stüd des erften Abſchnitis den Webergum 
zu den Selbftzeugniffen des zweiten bilden und was dort (1, 43) 
über die Stimmung Jeſu gejagt, dem Hier (3, 5) Gefagten 
abſichtsvoll entſprechen ſoll! 

Den dritten Hauptabſchnitt begrenzt Kloſtermann mit 6, 13. 
Nach einer Einleitung, welche zeigt, in welcher Umgebung die Jünger 
Jeſum vorfanden, als fie zu Apofteln beftellt wurden (3, 7-12), 
wird dieſe Beſtellung ſelbſt erzühlt und was fie num in feiner Gr 





das Markusevangel. nad} feinem Ouellenwerthe f. d. evang. Geſch. 713 


neinfhaft von Verkennung und Läfterung feiner Perſon erfahren, 
vogegen er ihnen fein Zeugniß über ſich felbft und über ihr Ver⸗ 
altniß zu ihmen gibt (3, 13—35). Wir rechten nicht über die 
uch des Verfaſſers Gründe ficher nicht motivirte Auseinanders 
eifung von 3, 20. 21 und 3, 31. Aber wenn diefer Abfchnitt 
Artfih den Zweck hätte, die beginnende Ausbildung der zu Apofteln 
erufenen Jünger darzuftelfen, fo müßte zunächft die Vertheidigungs- 
te Jeſu an fie und nicht an die Schriftgelehrten (3, 23) gerichtet 
iin und der Ausfpruch im legten Stück müßte über fie, nicht aber 
ber die Jüngerſchaft im weiteren Sinne (3, 32. 34) ergehen. 
In demfelben unklaren Doppelfinn der Bezeihnung uasnzat jchei- 
rt des Verfaſſers Auffaffung von der Parabelrede im vierten Ca⸗ 
itel. Er urgirt das Zdıos wadmzei 4, 34 (S. 98), behauptet 
um aber doch, daf dajjelbe auf 3, 34. 35 zurückweiſe, wo nicht 
m den Apofteln, fondern von den gläubigen Anhängern Jeſu 
berhanpt die Rede ift. Wenn nun die Sprüde 4, 11—25 mit 
tüdficht auf das Werden der evangelifchen Verkündigung zufammen- 
ftellt jein follen, fo fagt ja 4, 10 ausdrüdlich, daß fie nicht zu 
n Zwölfen allein, fondern zu Allen, die fich lernbegierig um ihn 
harten, gefprochen find. Dann aber kann auch das ganze vierte 
apitel nicht unter den durch die Apoftelernennung indicirten Ge⸗ 
Htepunft geftellt fein, fofern es ſich nicht um eine ſonderliche 
kfehrung der zu feinen bleibenden Genojjen erwählten Jünger 
5. 121), fondern um bie tiefere Belehrung aller Gläubigen im 
egenfage zu dem für dieſe Belehrung unempfänglichen Volke han⸗ 
lt. Eher könnte man mit dem Berfaffer (S. 97) in der Zus 
inmenftellung der drei Parabeln, die ja wahrſcheinlich theilweife 
1 Wert des Evangeliften ift, eine Daritellung der Begründung, 
8 Wachsthums und Zieles des Evangeliums finden. Aber wenn 
tarkus Jeſum felbft den Samen im erften Gleichniß vom Wort 
t Verkündigung deuten läßt (4, 14), wer gibt uns ein Recht, 
" Samen des zweiten und das Senflorn des dritten ebenfalls 
f das Evangelium zu beziehen, während diefelben doch 4, 26. 30 
sbrücfich auf das Gottesreich bezogen werden und der Gedanfe, 
B „das Gottesreich als Evangelium beginne“, diefe willfürliche 
mdeutung nur ſchwach verkleidet? 








714 Mofermann 


Die Stüde 4, 35 bie 5, 43 werden nun unter den Ge— 
fichtepunft der Selbftoffenbarungen der munderbaren Heilandt- 
macht Jeſu geftellt; zugleich aber foll gezeigt werden, wie ii 
Erleben diefer Wunder die Apoftel für ihren Beruf der Berti 
digung Jeſu ausgerüftet habe (S. 121). Es zeigt fih abe 
au bier jofort, daß diejer Geſichtspunkt nicht amsreicht; dem 
wenn der Berfaffer S. 122 bemerkt, fie folten für dieim 
Beruf erzogen werden, fowohl was die Art und Weife, ala md 
den Inhalt der Verkündigung betrifft, fo liegt am Tage, daß ni 
legterem nur wieber der Geſichtspunlt verſchoben wird, ſofern ki 
Evangelium dann nicht mehr die Ereigniffe als Vorbereitungen d 
die apoftolifche Verkündigung, fondern die Ereigniffe wie fie dene 
halt derjelben und darum auch jeder Evangelienfchrift bilden, du: 
ftellt. Sehen wir aber die Behandlung der einzelnen hier zujan 
mengejtellten Erzählungen an, jo ift ihnen doch oft der vermeintlih 
ihre Zufammenftellung leitende Geſichtspunkt nur ſehr Künftih 
aufgezwungen. Gewiß follte die Stillung des Seejturms die Gl 
benszuverficht der Jünger zu dem gekommenen Errettet jtärke: 
aber nicht, weil fie „auf den ihnen von Jeſu gewiefenen Berufe 
wegen“ waren (S. 101), wurden fie gerettet, fondern meil fi 
Jeſum bei ſich hatten. Damit fällt aber jede Beziehung der &r 
ſchichte auf den fünftigen Apoftelberuf. Wie bier „die toben, 
den Menfchen unbezwinglich fcheinenden Fluthen“, fo ſteht im in 
genden Stüd „der tobende, von Menfchen unbezwungene Krul 
Jeſu gegenüber" (S. 103). Was follen eigentlich folde & 
flegionen, deren ſich unzählige in unferem Buche finden? je 
Markus die Stüde um diefes Parallelismus willen zuſamm 
geftellt? Unmöglich; denn der Verfaſſer felbft gibt ja ganz ann 
Motive igrer Zufammenftellung au. „Oder hat Markus desfalb it 
Unbezähmbarfeit des Tollen fo ausführlich gefchildert? Aber mt 
haben doch wahrlich fein Recht, unferm Cvangeliften folge Et 
Tereien aufzubürden, zumal dieſelben zufegt auf einem Wortipi 
beruhen, das zunächſt nur unfere Redeweiſe darbietet. Das & 
eigniß in Gadara felbft aber foll lehren, wie ſich die Yünger ul 
Widerftand gegen das den Menſchen gebrachte Heil gefaht made 
und darum fich begnügen ſollen, Einzelne zu gewinnen, welche di 





das Markusevangel, nad) feinem Quellenwerthe f. d. evang. Geſch. 715 


Runde vom Heil im Schwange erhalten (S. 112). Ohne Zweifel 
kann fie das lehren, fo gut wie Alles, was Jeſus thut oder 
erfährt, für die Nachfolger in feinem Werk vorbildlich ift. Aber 
ben darum handelt es ſich, ob der Verfaffer diefe einzelne Geſchichte 
unter dieſen Gejichtspunft geftellt hat, und dafür hat der Verfaffer 
auch nicht den leifeften Beweis beigebracht. Und geſetzt, fie ſollte 
es wirklich lehren, jo erhellt do immer nicht, warum der Evan- 
pelift gerade zwei Gejchichten zufammenftellt, von denen die eine 
Zuverficht auf Gott, die andere felbftverlengnende Genügfamteit die 
Yünger lehren follte. Hat aber die Zujammenftellung der Ge— 
ſchichten andere Motive, dann fällt eben jeder Grund fort, die 
Ausräftung für den Apoſtelberuf als den leitenden Gefichtspunft 
dieſes Abſchnitts anzufehen. Die beiden folgenden Gejchichten vom 
blutflüffigen Weibe und von Jairus' Töchterlein haben freilich mit 
den beiden vorigen das gemein, daß hier alle menfchliche Hülfe zu 
Ende ift; aber wenn fie die Jünger lehren. jollen, als was fie 
Jeſum dem Glauben verheißen follen, dann befagen fie eben nichts 
mehr und nichts weniger, als was alle Verkündigung von Jeſu 
felbftverftändlich beſagt, d. h. aber fie geben über den eigenthüm ⸗ 
lichen Zweck unferes Evangeliums feine Auskunft. Die Verwerfung 
deſu in Nazareth, die den Jüngern ein Typus jein fol von der 
Berwerfung bes Evangeliums feitens der Juden (S. 126), leitet 
van ſchließlich über zu der Probeausfendung der Zünger (6, 6—13), 
nit welcher diefelben wirklich Genoſſen feines Werkes wurden und 
mn das zuerft von Jeſu allein begonnene Werk durch fie volle 
wacht wird. Damit ift denn das erfte Buch des Evangeliums 
veichloffen, fofern damit gezeigt ift, was Jeſus mit jeinem bis⸗ 
jerigen Wirken erreicht Hat (S. 132). Wenn diefe „erfte“ Aus-⸗ 
endung, wie Kloftermann fagt, weil er, gewiß mit Unrecht, an⸗ 
ımmt, daß derjelben noch mehrere gefolgt feien, für unſere Evans 
yeliften eine fo ganz befondere Bedeutung hätte, dann wäre freilich 
‚riefen, daß der Evangelift den Urjprung der apoſtoliſchen Predigt 
vejonders hervorheben wollte; aber jenes ift doch eben nicht erwiefen. 
luch die andern Synoptiker erzählen die Ausfendung, Lukas ſogar 
mei, Matthäus gibt die Ausfendungsrede ‚viel umfafjender, und 
üchts ſpricht dafür, daß Hier ein fo bedeutungsvoller Abfchnitt des 





"716 Aloſtermann 


Evangeliums vorliegt, als die Eiutheilung, welche der Verjaſſet 
von feinem Gefichtspunfte aus gemacht hat. Der Beweis dafür, 
daß dies der Geſichtspunkt des Evangeliften fei, dreht ſich aljo im 
Cirtel. Wir glauben daher behaupten zu können, dag der erfie 
Theil de Evangeliums weder die von Kloftermann vorgeſchlagen 
Auffafjung der Ueberfchrift rechtfertigt, noch daß er aus ihr die 
Zufammenftellung der drei Hauptabfchnitte diejes Theils und in- 
befondere der einzelnen Stüde des dritten in einer anſprechenden 
Weiſe erflärt hat. 

Wie nun das erfte Buch des Evangeliums durd die Schilder 
der Wirkjamteit des Täufers, fo wird das zweite Durch die um 
Lebensende des Täufers eingeleitet, umd nun fucht der Berfaf 
darzuthun, wie Alles, was vom Tode und Begräbniß des Täufer 
erzählt wird, in einem theilweife antithetifhen Parallelismus zu 
dem Tode und Begräbniß Chrifti fteht, worauf es alſo als auf 
den Höhepunkt des zweiten Buches hinweiſt (S. 137. 138). Dit 
Barallelifirung ift aber nicht etwa ein flüchtiger Einfall, fie fer 
in der Analyfe der Leidensgeſchichte mehrfach fehr ausführlich wieder 
und wird mit Nachdruck betont als der eigentliche Schlüffel zum 
BVerftändnig des zweiten Buches. Trogdem können mir diefe geilt- 
reihe Spielerei nur für eine dem nüchternen ſchlichten Charakter 
neuteftamentlicher Geſchichtsſchreibung durchaus fremdartige halten; 
hätte fie irgend einen Grund in den fchriftftellerifchen Jutentionn 
der Evangeliften, fo würde fie nur die Gefchichtlichkeit deſſelben 
auf's hüchfte gefährden; es wäre kaum glaublich, daß bei ir 
Durchführung folder Parallelen die Geſchichte nicht ihnen zu Lich 
zurecht gemad)t wäre. Aber wo gibt denn der Evangelift die Leiji 
Andeutung, daß er eine ſolche Parallele beabfichtigt? Etwa dadurt, 
daß Jeſus 9, 12. 13 jagt, auch fein Borläufer habe nad ir 
Schrift Teiden müffen, wie er felbft es werde? So meint Kfoftr- 
mann wirflih S. 188. Aber ift denn damit gejagt, daß Beider 
Leiden in einem ſolchen Barallelismus jtehen werden? Ober de 
durch, daß er diefe Erzählung an die Spitze feines zweiten Bude 
ftellt? Aber unfer Verfaffer hat ja das zweite Bud nur hir 
beginnen laſſen, um dieje Erzählung als Einfeitung deffelben zu 
gewinnen ; denn daß von hier an ſich alles auf den Tod Jeſu zur 





das Markusevangel. nach feinem Quellenwerihe f. d. evaug. Gef. 717 


ſpitzt, kann man ja ‚durchaus nicht fagen, da vor ber erften Todes- 
meiffagung (8, 31) noch nichts auf denfelben Hindentet. Ya, da 
der ganze Abſchnitt 6, 14—29 zwifchen die Ausfendung ber Junger 
and ihre Rücklehr eingefchaltet ift, alfo für jede natürliche Betrach⸗ 
tung in der Erzählung unferes Evangeliften eine Epiſode bildet, 
fo ift e8 ganz undenkbar, daß er mit diefer ein zweites Buch ber 
ginnen und fomit Ausfendung und Rückkehr der Jünger in ver- 
fhiedenen „Büchern“ erzählen follte. Endlich ift auch das Ende 
des Täufers nicht einmal nad) Kloftermann’s Einteilung wirklich 
die Einfeitung des zweiten Buches. Ihr geht (6, 14—16) eine 
Erzählung von den verfchiedenen Urteilen über Jeſum vorauf, 
welche nach S. 136 den Evangeliften erft veranlagt, den Tod des 
Täufer zu erzählen, und welche nach S. 135 die Einleitung bildet 
pn dem folgenden Abjchnitte, der Jeſum als Gegenftand befonderer 
Aufmerffamkeit und als ein Räthſel, an deſſen Auflöfung jeder 
acht ganz Abgeftumpfte ſich den Kopf zerbrach, vorführen will. 
Wir erinnern uns nicht, diefen Gefihtspunft im Folgenden irgend 
ingehend durchgeführt gefunden zu haben, und können das nicht bes 
auern, da er uns in’ der That als ein ziemlich unfruchtbarer 
fein. Dagegen werden nun die drei folgenden Abſchnitte 
6, 30 bis 7, 37) unter den Geſichtspunlt geſtellt, daß die hier er- 
äfften Greigniffe bebeutfam find für den fünftigen Beruf der 
Kpoftel (S. 163). Um diefen Geſichtspunkt durchzuführen, greift 
er Berfaffer zu einer Allegorifirung der bier erzählten Wunder- 
eſchichten, die wir wieder nur prineipiell für durchaus unzuläffig 
tffären tönnen. Daraus, daß die Speifungsgefchichte ſich an die 
Rüdfehr der Jünger anfchließt, was ja dod feinen Grund lediglich 
a der gefchichtlichen Situation hat, daraus, daß die Sünger bei 
er Austheilung der Speifen mithelfen müffen, was doch in ber 
Ratur der Sache liegt, kann unmöglich gefolgert werden, daß dieſe 
Speifung eine Beziehung auf den fünftigen Beruf der Jünger hat. 
Richt einmal aus dem Sammeln der Broden kann dies folgen, 
umal die Beziehung derfelben darauf, daß ihre felbftverlengnende 
dienftleiftung gegen die Menge für fie felbft einen überfließenden 
Segen abwerfe (S. 141), doch nur eine ſehr gefünftelte ift. Voll- 
nd8 aber die Deutung des Seewandels auf die Wiederfunft Chrifti, 


718 Klofermann 


deren die Jünger im Kampf mit der Welt in Geduld und Glauben 
zu warten haben (S. 144), ziemt ſich wohl im Zufammenhang 
der Strauß'ſchen Wundererflärungen, hier ift fie durchaus unmot 
virt und unbegründet. Bon dem Abfchnitt 6, 55—56 gefteht der 
Berfaffer felbft, daß derfelbe im diefem Zufammenhange verhältuij⸗ 
mäßig undurchſichtig bleibt. Der Streit über das Händewaicen 
(7, 1-32) im zweiten Abſchnitt foll zeigen, daß die Junger eine 
Gemeinde bilden werben, deren auf dem Glauben an Jeſum be 
ruhende Heiligkeit und Lebensſitte fie in directen Gegenſatz zu dar 
nicht gläubigen Iſrael ftellen und feiner Anfeindung ausſetzen nid 
(S. 163). ber wenn nun der erfte Abfchnitt fie „Macht m 
Weſen der ihnen anvertrauten Botfchaft“ Kennen lehrte und x 
zweite „Orund und Ziel des von ihnen zu begründenden Gemeint 
Tebens“ (S. 155), fo find das doch wieder zwei fo ganz heier- 
gene Dinge, daß durch die gemeinfame Beziehung auf die Belehrung 
der Jünger die Zufammenordnung diefer Abſchnitte noch keineswent 
erffärt wird. Das zeigt fi) am Marften daraus, daß der folgenk 
Abſchnitt (7, 2437) nun wieder den Geſichtspunkt der fünftign 
Yüngermiffion aufnimmt, welcher doch jedenfalls eine unmittelbar 
Verbindung mit dem erften nach der Deutung des Verfaſſers vid 
näher legen würde. Wenn Hier die Gefchichte von der Cananderu 
als eine Weiffagung auf die Vereitihaft der Heiden zum Glauben 
gefaßt wird (S. 159), fo könnte man fich das noch allenfalls gr 
falfen laſſen; aber wenn dann ber geheilte Taubftumme ein Bib 
des ftumpffinnigen ifraelitifchen Volles fein und das Verfahren mi 
ihm die Nothwendigfeit der langen Wirkſamkeit Jeſu unter ind 
abbilden fol (S. 161), die Einzefne aus ihm zu Zeugen des fit 
befähigt (S. 162), fo hat das wieder für Jeden, der die Tu 
Rellung des Markus fur geſchichtlich Hält, gar feinen Sinn, un 
daß Markus diefe Ereigniffe um diefer ihrer Bedeutung willen zu 
fammengeftellt hat, ift wahrlich dadurch nicht erwiefen, daß man in 
feine durchaus objective Darftellungsweife fubjective Nefleyionen 
hineinträgt, von denen er nichts andeutet. Dagegen hat der Ber 
faffer treffend gezeigt, wie die Erzählungen 8, 1—21 mar jur 
fammengeftellt find, um das ftrenge Urtheil Jeſu über die Berftänd- 
nißſchwäche der Jünger (8, 17. 18) zu motiviren (S. 170. 1, 





das Markusevangel. nad) feinem Quellenwerthe f. d. evang. Gef. 719 


nd mern dies Urtheil ſich von ſelbſt als die höchſte Steigerung 
er Urtheile 6, 52; 7, 18 darſtellt, fo thut fich Hier doch ein 
iel einfacherer Gefihtspunft für die Zufammenordnung dieſer Ab⸗ 
hnitte auf, den Kloſtermann (S. 163) nur nachträglich an den 
on ihm hauptſächlich verfolgten angefügt hat. Wenn er aber nun 
ie Heilung des Blinden (8,-22—26) als fymbolifhen Ausdrud 
m Art, wie Jeſus feine Jünger zum vollen Verjtändniß bringt, 
Märt (S. 173), fo iſt dies ein ebenfo willkürliches Allegorifiren, 
ie wir es ir diefem Theile des Buches wiederholt tadeln mußten, 
MD die gefünftelte Darftellung der folgenden Geſchichte als einer 
Muftration dazu (S. 176) kann dafjelbe wahrlich nicht empfehlen. 
Ueber die Bedeutung des Abſchnitts 8, 27 bis 9, 29 im dem 
Iganismus uuſeres Evangeliums Tann kaum ein’ Zweifel fein. 
Ar falſch müffen wir es nur erflären, wenn nad ©. 186 in 
em Petrus = Bekenntniß den Jungern die Erkenntniß aufgeht, daß 
kius der Ehrift fei, und bei ber Verflärung, daß Jeſus der Sohn 
dettes jei, da beides bei Markus ohne Zweifel ſynonyme Bezeih- 
ungen des Meffins find, was der Verfaſſer zu 3, 11. (S. 68) 
a Grunde felbft zugibt, und wenn Kloftermann der Heilung des 
pileptiſchen (S. 195) allegorifirend eine Beziehung auf die zu» 
mftigen Schickſale der Junger gibt. Selbft bei diefer Deutung 
ver zeigt ſich Har genug, daß diefe Erzählung nicht erft von Markus 
fr angereiht fein kann, da fie immer unter den Gefichtspunft, 
tter welchem er die beiden vorigen fo geflifjentlich (9, 2) verband, 
ht paßt. Sofern in jenen den Süngern eine neue -Erfenntniß 
Ütgetheift wird, mag man immerhin die vorigen Abſchnitte, in 
nen die Verftändnißfchwäche der Junger getadelt wird, als eine 
orbereitung darauf anfehen (S. 315). Aber um mit Mloftere 
ann (S. 317) den Abfchnitt 6, 30—56 als das fpecielle Pen« 
nt zu unferm anzufehen, dazu bietet doc wahrlich die Aehnlichteit 
n 6, 14—16 und 8, 27. 28 feinen genügenden Grund. Selbft 
& feiner völlig unzuläffigen Deutung bietet jener Abſchnitt noch 
neswegs ein von ben Jüngern unverftandenes Räthſel dar, das 
n den Offenbarungen bier fein Licht empfängt, oder zum minr 
ten nicht mehr und nicht weniger als Alles, was auf den künfe 
en Dienft der Apoftel de erhößten Herrn hinweiſen foll. Hbch⸗ 


720 Kloßermaun 


ſtens könnte man die in die Geſchichte vom Seewaudeln, wie von 
Epileptiſchen Hineingetragene Beziehung auf die Parufie ld Au- 
logon anführen. Noch weniger entſprechen ſich die Abſchn 
7, 1—23 und 9, 30 bis 10, 31. Daß bier Gefpräche über u 
Verhalten der Chriften untereinander, über Ehe, Kinder und nd: 
lichen Befig unter einem fachlichen Geſichtspunkt zufanmengitlt 
find, ift Mar; der Gedanke aber, daß Jeſus der Gründer un Ge 
ſetzgeber eines neuen Iſtael ift (S. 317), Liegt darum fo ma 
darin, wie er 7, 1—23 die unverftandene Borausfegung vr. 
Der ganze angebliche Parallelismus der Abjcpnitte feheitert ar 
daran, daß nun 7, 24 bis 8, 26 das Pendant der Leidensgeft 
fein fol, die von 10, 32 an wefentlid ununterbrochen for | 
fol. Glaubt man einmal an jolde Künfteleien der ebangelita 
Schriftſteller, die einen derartigen Parallelismus der einzelnen I 
ſchnitte zweier Haupttheile hervorbriugen könnten, fo muthe mu 
ihnen wenigftens nicht noch das Ungeſchick zu, einem Abſchuitt vor 
40 Berfen ein Pendant von 6*/s Tangen Capiteln zu geben. Kr 
aber überall die Reibensgefchichte den Gedanken in's Licht fegen il 
daß die Verkündigung von dem Gelreuzigten bei den Heiden leidır 
Eingang finden wird als bei den Juden, daß die Jüuger fid ver 
pharifäifcher Selbſtgerechtigleit und heibnifcher Unſittlichleit fri 
erhalten follen und in der Gemeinfchaft mit dem erhöhten Sit 
alfer Sorge überhoben fein dürfen (S. 317), das geftehe ic, uh 
bei den fühnften Combinationen, an die unfer Verfaſſer und g- 
wohnt hat, nicht zu begreifen. 

Es ift ſehr bezeichnend für feine verfehlte Auffafjung des rs 
gebanfens unferes Evangeliums, wenn Kloſtermann, der font 
Anordnung des zweiten Buches durch Zertheilung in kurze ükt 
fichtliche Abſchnitte anſchaulich macht, deren 6, 14 bis 10, 31 ai 
weniger wie fünf enthält, alles Uebrige in einen Abſchnitt zum 
menfaffen muß, den er nur mit dem Beginn von Gap. 14 me 
in zwei Hälften theilt. Bier, wo der geſchichtliche Pragmatismt 
der Darftellung auf der Hand Tiegt, läßt ſich natürlich der Cr 
fihtspunft, dag nur Solches dargeftelft werden foll, was das Wahr 
tum des Evangeliums zu einer öffentlichen Macht herbeigefühtt 
Hat (S. 14), unmöglich mehr durchführen. Der Verfaffer md 





das Martusevangel. nad) ſeinem Quellenwerthe f. d. enang. Geſch. 721 


auch nur noch ſchuchterne Verſuche dazu. Den ergiebigſten Boden 


dafür fand er noch bei der Verfluchung des Feigenbaumes, wo . 


wirklich einmal eine Handlung Jeſu unzweifelhaft ſymboliſche Ber 
xutung hat. Aber daraus zu folgern, daß das folgende Wort 
Jeſu über das Gebet fich auf die Wieberherftellung Iſraels bezieht, 
velche die Jünger dur das unabläffige Glaubensgebet der barm- 
wrzigen Liebe herbeiführen follen, das ift doch um fo feltjamer, 
8 der Berfaffer (©. 229) felbft naiver Weife gefteht, daß Markus 
ieſen urfprünglihen (?) Sinn der Rede Jeſu einigermaßen ver- 
vifht hat. In Wahrheit hat er ihn, wenn er wirklich vorhanden 
väre, dadurch völlig ausgejchloffen, daß er dieſe Worte Jeſu zur 
Intwort auf die Verwunderung des Petrus über das Verdorren 
es von ihm verfluchten Zeigenbaumes gemacht hat. Ebenſpwenig 
ann natürlich der wiederholte Hinweis darauf, daß die Jünger in 
en legten Schickſalen Jeſu feine Weiffagungen ſich erfülfen oder in 
en begleitenden Worten Jeſu ihre heilsgeſchichtliche Bedeutung fi 
tſchließen fahen (S. 314) beweifen, daß diefelben mit Bezug auf 
ie Begründung der apoftolifchen Predigt erzählt find. Wenn aber 
er Verfaſſer endlich, nachdem er die Unechtheit des Schluffes 
andig nachgewiefen, feine Vermuthungen über den intendirten Schluß 
usſpricht (S. 315. 318. 320), fo find diefelben eben erft aus 
ner Auffaffung des Grundgedankens abgeleitet, und künnen alfo 
he für diefen nichts bemeifen. 

Zufegt verbreitet fich ber Verfaſſer über das Verhältniß der beiden 
Jucher, in welche er das Evangelium getheilt Hat, und von denen 
28 erfte die Vorbereitung des zweiten bilden foll. Weil der Evan- 
ft den Anfang und Urfprung der evangelifchen Botſchaft als 
ner Öffentlichen Macht aufzeigen will, darum bildet im erften 
huch die Apoftelwahl, im zweiten die Erkenntniß Jeſu als des 
hrift und Gottesfohnes den Höhepunkt, barum ift in beiden das 
uftreten und das Ende des Täufers der Anfang, die Ausfendung 
er Junger das Ende, darum ift die Erfenntniß des heilebedin- 
mden Werthes Jeſu im erften nur in Jeſu eignem Bewußtſein 
Irhanden, während fie im zweiten dem Bewußtſein der Junger 
ngepflanzt wird (S. 320). Auf wie ſchwachen Füßen die ganze 
intheilung in diefe zwei Bücher und die Annahme der Höhenpunfte 
Theol. Stud. Jahrg. 1868. 48 


— 


722 B Kloftermann 


in denfelben fteht, glauben wir gezeigt zu Haben, daß aber die @r 
ſchichte Jeſu von feiner Selbftbezeugung zu immer vollerer Ar 
eignung derfelben durch die Jünger fortfchreiten muß, liegt fo ſch 
in der Natur der Sache, daß daraus ein Präjudiz für die Bar 
nahme auf die künftige Verkündigung derfelben wahrlich nicht mt: 
lehnt werden kann. Wir müjfen demnach leider geftehen, daß kr 
BVerfaffer den richtigen Gefihtspunft für die Compofition uns 
Evangeliums nicht erfaßt und daß er, durch feine ſinnvollen, abe 
wilfürlihen Combinationen irregeleitet, die Eigenthümlichkeit ir 
felben nicht aufgehellt, fondern vielfach in ein faljches, ja für 
geſchichtlichen Charakter ſchwer gefährdendes Licht gefegt Hat. de 
Berfaffer hat zu viel gewollt und daher was er wollte nicht errti. 
Das Markusevangelium ift ohne Zmeifel ein planvoll angelegte 
BWert;”aber nur in dem Sinne, daß es feinen Stoff nad) eins 
leitenden Hauptgefichtspunften gruppirt. Aber weder ift «& ei 
fo prämebitirte, in allen Details kunſtvoll arrangirte Schöpfung, 
wie der Verfaſſer es ſich denkt, noch läßt ſich aus diefen Hau 
gefichtspunften alfein die Aufnahme, Anordnung und Darftellung alt: 
Einzelnen erklären. Letzteres hat der Verfaffer wohl erkannt, ab 
ohne fich dadurch zu der Selbftbefcheidung führen zu Laffen, weide 
der Aufweifung eines einheitlichen ſchriftſtelleriſchen Plans die redtm 
Grenzen ftedt. Nur in diefem Sinne wird fich eine einfade m 
natürliche Auffaffung von dem Plane unferes Evangeliums ur 
mitteln laſſen, und hier wird vor Allem die auch von dem Kr 
faffer wohl erfannte Bedingtheit der ganzen Compoſition durch d 
dem Govangeliften vorliegenden Quellen in Rechnung zu ziehen ie 
Sp gewiß die Quellenfritif von einer unbefangenen Analyie # 
Evangeliums für ſich wird ausgehen müfjen, fo gemiß wird x: 
auch ihr Nefultat wieder zum abſchließenden Urtheil über die Ca 
pofition des Ganzen mitwirken müſſen. Es iſt daher nicht mer; 
gethan, daß der Verfaffer die einzelnen Andeutungen, die er bei de 
Analyfe gibt, nicht gleich bis zum Abſchluß des Eritifchen Urthere 
verfolgt, fondern dies einer abgefonderten Betrachtung vork: 
haften Hat. . 

Der andere Hauptzweck unferes Buches ift nun, aus den dur: 
die Analyfe gewonnenen Anhaltspunlten das Urtheil über den Ur 





das Markusevangel. nad; feinem Onellenwerthe f. d. evang. Geh. 723 


prung und die Quellen des Evangeliums feftzuftellen. Die zweite 
lbtheilung ift dem Nachweis gewidmet, daß wir in ihm den Markus 
es Bapias vor und haben. Wir erhalten hier eine fehr ausführ- 
ie Erörterung des papianifchen Zeugnifjes, das der Verfaffer mit 
Jahn auf den Apoftel Johannes zurückführt. Nach ihm ift Markus 
ben durch dies Schreiben feines Evangeliums der Hermeneut des 
zetrus geworben und hat darum Einzelnes nicht genau nach der 
rflihen Zeitordnung erzähft, weil er, der felbft fein Jünger bes 
jeren geweſen war, es fo erzählte, wie Petrus zum praftifchen 
Jedürfnig es dargeftellt Hatte und wie er es nad dem Tode des 
jetrus im treuem Gedächtniß aufbewahrte. Es fann nicht unfere 
fit fein, über alles Einzelne in diefer Auffaffung uns auszus 
wehen. Nur Eines hat und gewundert, daß die ſchon wieberhoft 
ellend gemachte, noch neuerdings von Steig (Theol. Stud. u. 
"it. 1868, I) vertretene Anficht, wonach der zweite Theil diefes 
jugnifjes von odre ya Nxovos an nicht mehr ein Wort feines 
jeugen, fondern eine gelehrte Reflexion des Papias felbft ft, nicht 
inmaf befprochen wird, während dieſelbe doch das Ganze in ein 
st anderes Licht ftelt. Damit hängt denn die Frage zufammen, 
»elche Tags gemeint ſei. Iſt die zweite Hälfte eine Reflexion 
es Papias, wie mir vollfommen feftfteht, fo fann darüber fein . 
weifel fein, daß diefer wenigftens an die Ordnung im hebrätfchen 
Natthäus dachte, da er ja mit dem ox Woneg Ovvrakıw av 
veraxoy rrosodusvog Aoylov fo deutlich wie möglich auf die 
poſtoliſche avvradıs c@v Aoylov, von der er ſelbſt berichtet, 
inweift. Iſt nun des Papias Zeuge wirklich der Apoftel Jo— 
annes, fo fünnte derfelbe ja allerdings an die wirkliche Zeitordnung 
dacht Haben. Aber die Erörterungen von Steig (a. a. DO.) werden 
en Verfaſſer vielleicht überzeugt haben, daß die Unterfudungen 
om Zahn hierüber doc noch feineswegs fo „abſchließend“ find, 
die der etwas fühne Ausdrud des Freundes es barftellt. So 
Ange diefe Frage nicht wirklich „außer Zweifel“ geftellt ift, müffen 
dir dabei ftehen bfeiben, daß bei der za&ıs nicht am die wirkliche Reis 
jenfolge der Ausfprüche und Ereigniffe gedacht fein könne, die nur 
in Augenzeuge und auch diefer doch nur fehr theifweife vergleichen 
onnte, fondern nur die Reihenfolge derfelben in der Schrift eines 
48% 


724 Kloftermann 


Augenzeugen und als eine ſolche fonnte mit Markus nur der apo- 
ſtoliſche Matthäus in Vergleich geftellt werden. Dagegen ſtimmen 
wir Moftermann volllommen bei, daß das Zeugniß des Papier 
auf unfern Markus bezogen werben fann und muß, und wenn auf 
die Vermuthung, bag Markus felbft der 14, 51. 52 auftreten 
Füngling ift, und mehr nod) bie andere, daß Jeſus in feinem Eltern 
Haufe das Paſſah gehalten hatte, mit etwas zu großer Sicerhi 
aus der Erzählungsweije unferes Evangeliften gefolgert wird, jo 
bleibt doch jene wenigftens immer eine fehr wahrſcheinliche. 

Mit feinem Sinn und großem Geſchick Hat der Verfaffer ki 
der Analyje des Evangeliums alle diejenigen Punkte in's Lidz 
itellen gefucht, in welchen ſich Spuren augenzeugenfchaftlicher Kur 
in unferm Evangelium zeigen, und in&befondere folche, die mi 
Petrus als feinen Gewährsmann führen. Manches dürfte er di 
freilich überfhägt haben, was für Solche, die unfere Borausfegun 
über den Urfprung des Marfusevangeliums nicht theilen, wenig 
Beweiskraft hat. Ich will ganz abfehen von folchen Fällen, wo 
erft die Anfchauung von der Bedeutung des Einzelnen, die dr 
Verfaſſer fih nach jeiner Anficht von dem Plan des Ganzen ger 
bildet hat, die Entfcheidung gibt; denn Hier bewegt fich der Beweie 
eigentlich im Cirkel, fofern ja die Anfhauung über den Plan un 
Urfprung des Evangeliums in gleicher Weife erft aus der Analyie 
gewonnen werden joll. Man kann dem Verfaſſer zugeftehen, da 
nur ein Augenzeuge ‘auf den Gedanken konnte, daß ber geheilt 
Blinde (Mark. 8) jein und der übrigen Jünger Bild fein folt 
(©. 174); aber daß das Heilverfahren Jeſu im diefem Falle wir 
lich ſolche ſymboliſche Bedeutung Hatte, das hat ber Verfaſſer er 
aus feiner Auffafjung von der Bedeutung diefer Gejchichte im Or- 
ganismus des Evangeliums erſchloſſen. Wenn wirklich der Evan 
gelift (3, 7—35) nur Solches hat erzählen wollen, was die br 
rufenen Apoftel in ihrem Zufammenfein mit Yefu erlebt habe, 
fo ift es freilich wahrſcheinlich, daß er diefes aus dem Munde ein 
derfelben gehört hat (S. 69. 81); aber daß jener Abſchnitt wirt: 
lich unter diefen Gefichtspunft geftellt fei, haben wir oben aus dem 
Eonterte ſelbſt beftreiten müfjen. Indeß aud) abgefehen von dieſen 
Fällen, find die Spuren augenzeugenfchaftliher Kunde, welde vr 





das Markusevangel. nad) feinem Duellenwerthe f. d. evang. Geſch. 725 


Berfafjer gefunden Haben will, doch oft fehr ſubjectiv und oft ſehr 
ünſtlich ausgedacht. Warum foll ſich denn 6, 52 ganz wie ein 
Sefbftbefenntniß eines der Zwölfe ausnehmen (S. 144) und nicht 
infah eine Reflexion des Evangeliften jein? Wie es fih auch 
nit der etwas Fünftlichen Deutung des raganogsdccdau die 2, 23 

&. 52) verhält, immer ift es doch fehr gewagt, zu behaupten, 
aß fo nur Einer erzählen konnte, dem die Situation ganz genau 
or Augen ftand (S. 53. 55). Ganz unerweislich aber ift es, 
ab der Erzähler (7, 25—27) feinen Standpunft in der Seele 
er Begleiter Jeſu nimmt (S. 157), denn daß die Nationalität 
es Weibes erſt berichtet wird, wo es zum Verftändniß der Antwort 
Jeſu auf die Bitte des Weibes notwendig ift, bemerkt ja der Ber- 
affer richtig felbft, und das 7, 25 vorangefchidte dxodoace ift 
ine Reflerion des Erzähfers, die, wenn derfelbe wirklich von dem 
usgegangen wäre, was die Begleiter Jeſu zunächſt fahen, eben- 
als erft Hätte nachgebracht werden müffen. Ueberfünftlich aber ift- 
ie Art, wie 9, 14ff. aus dem Gange der Erzählung erſchloſſen 
erden ſoll, daß fie von Einem Herrührt, der mit Jeſu dom Berge 
erablam (S. 189), da derſelbe ja gar fein Anderer fein konnte, 
sen der Evangelift, der eben die Gefchichte Jeſu erzählt, feine 
irzählung nicht auf's Ungefchiettefte unterbrechen wollte, um Dinge 
orauszunehmen, die fofort ans dem Laufe des Greignifjes von 
ft klar werden mußten. 

Ueberhanpt aber fucht der BVerfaffer durch, feine Analyſe eine 
dorftellung von der Gebundenheit des Evangeliſten an die münd- 
ihe Erzählung des Petrus zu. begründen, die ich unmöglich für 
atürlich Halten kann. So foll Petrus. nad) ©. 32 erzählt haben: 
Bir gingen in unfer Haus“ und darum der Evangelift, der das 
kdouzv in 7AFov umfegte, uerd Taxcoßov zei Ioavvov hinzu 
efügt Haben, um bemerflich zu machen, daß das „wir“ nicht wie 
08 in Zluwvog xal Avdgeov umgefegte „unfer“ den Jakobus 
"d Johannes ausſchließe (1, 29). Aber was war denn natür- 
Ger, als daß der Evangelift den Pluralis 7AIov, den nad) der 
Ingabe der Cigenthümer des Hauſes Jeder zunächft auf Jeſus 
nd die beiden erftberufenen Jünger beziehen mußte, nun auch durch 
as nera auf das andere Brüderpaar ausdehnt? Wo ift hier 





726 Koftermann 


auch mır das Leifefte Motiv für jene fünftliche Annahme vorhanden, 
die fi ja dadurd von felbft aufhebt, daß fein Leſer wiffen fon, 
er Habe ein „unfer“ in die Namen Zlumvos xai "Avdgsou ın 
gefegt? Ebenfo foll der Gang der Erzählung 3, 14—16 vr 
verftändlich fein, wenn Petrus erzählt hätte: „und er beftellte us 
Zwölf und gab mir den Namen Petrus“, wo denn ber Evangelit 
nur rouc dudexe für „uns“ und cö Zuwvı für „mir“ fit 
(S. 72). Aber durch diefe Vermuthung wird ja die Schwierigkit 
der Stelle um nichts verringert; denn dieſe Fiegt nicht darin, da 
die Wahl des Simon nicht ausdrücklich erwähnt wird, weldeis 
nad dem Zufammenhange für Jeden von felbft verftand, jone 
daß der Erzäßfer (B. 17) fortfährt, als Hätte er fie erzählt u 
knüpfe nun die Namen der anderen außer ihm Erwählten an, ud 
das bfeibt eine eben ſolche Ungenauigfeit, wenn wir die Erzählung 
mit Kloftermann in die Rede des Petrus zurück überſetzen. Chr: 
fowenig bedarf es bdiefer Annahme, um die Stelle 9, 38ff. ji 
erffären. Daß die Erzählung an dem Punkte anhebt, wo Feſu 
in dieſelbe eingreift, erffärt fi wie oben beim Herabfommen von 
Berge einfach daraus, daß eben feine Gefchichte erzählt wird, un 
wenn Petrus vorausfegen konnte, die Hörer würden fein „mir 
verſtehen, wann e8 die Jünger allein und wann es Jeſum u: 
die Jünger bezeichnete (S. 198), fo ift gar nicht abzufehen, warım 
nicht Markus feinen Sefern bei feinem „fie“ ebenfoviel Verſiand 
zugetraut haben fol. Geradefo verhält ſich's endlich mit ie 
Stelle 10, 32, wo nur noch das Sonderbare ftattfindet, daß dr 
Berfaffer zur Erklärung des ſchwierigen of dxoAovsoünres, N 
er für urfprünglich Hält, den Petrus fagen läßt: „die ung de 
folgten“ (S. 218), umd dabei überfieht, daß dann bei der Un 
fegung in die dritte Perfon gefagt fein müßte ol axoAovsoire 
avrois, was aber eben nicht dafteht. Was foll man fid akt 
überhaupt für eine Vorftellung von der Selbftändigfeit eines Schrin 
ſtellers machen, der fih anerfanntermaßen durch prononeirte ftilifiitt 
Eigenthümfichfeit auszeichnet und der nun fic darauf verlegt, = 
folchen Minutien ſich an den Wortlaut feines Zeugen zu bintn? 
Wie kann man meinen, daß Papias oder fein Gewähremann, ni: 
er die Sorgfalt des Markus rühmt, mit der er feine Erinnerung? 





das Markusevangel. nad; feinem Quellenwerthe f. d. evang. Geſch. 727 


ın die Vorträge des Petrus wiedergegeben habe, an folche Silben- 
techereien gedacht haben folfte? (S. 341.) Ebenfowenig aber folgt 
ws dem papianifchen Zeugniß, daß Alles, wodurch im Markus- 
vangelium den Worten Chrifti eine allgemeinere Faffung oder eine 
rbaufiche Wendung und praftifche Anwendung gegeben wird, bie 
ie urſprunglich nicht Hatten, bereits von Petrus herrühren muß, 
veil Markus aus feinen Lehrvorträgen dieſe Neben her hatte. 
Benn man nad) ©. 34 die Anwendung des Wortes über die Ches 
cheidung (10, 12), oder die praftifche Erläuterung des Wortes 
vom Reichthum (10, 24), oder die Schlußanwendung der efchator 
ogiſchen Rede (13, 37), oder die Faſſung der Weiffagung (9, 1) 
vereitd auf Petrus zurücführen will, fo läßt fich freilich nichts 
vofür, aber auch wenig dagegen anführen; aber wenn man nun gar 
olche. Zufäge, wie da8 era diwyuav (10, 30), Evexev vod 
æyysMov (10,29; 8, 35), ñ Exzıoev 6 Fedg (13, 19), oder 
rs EEsAekaro (13, 20), die Erweiterung des Eitats 11, 17 oder 
»n8 Xosozod Eore in 9, 41 bereitd auf Petrus zurückführen foll, 
jo fett das eine fflanifche Abhängigkeit des Markus von der münd« 
chen Weberlieferung des Augenzeugen, deren ftereotype Form (©. 325) 
doch eine bloße Hypotheſe ift, voraus, welche ben, grelfften Contraſt 
bildet zu der weitgehenden fchriftftellerifchen Freiheit, deren fich der 
Evangeliſt gegenüber der fchriftfichen Weberlieferung eines Augen- 
yeugen, die er außerdem benutzt, nachweislich bedient Hat. Nun 
ſcheint aber unfer Verfaſſer noch weiter zu gehen. Er fcheint auch 
die einzelnen Erzähfungsreihen, in welchen die Ereigniffe, abweichend 
von ihrer wirklichen Folge, nad; beftimmten fachlichen Gefichtspunften 
zufanmengeordnet find (S. 340), theilweife wenigitens auf die 
Reihenfolge, in der fie Petrus in feinen Lehrvorträgen gelegentlich 
mittheifte, zurüdzuführen und beruft ſich auch hierfür auf das Zeug- 
niß de8 Papias (S. 334). Aber wenn diefes ‘den Mangel an 
tags bei Markus daraus erklärt, daß derfelbe die Thaten und 
Reden de8 Herrn nur von Petrus gelegentlich und daher nicht in 
ihrer rechten za&&es mittheilen gehört habe, fo fagt er doch damit 
keineswegs, daß er num diefe Ereigniffe in der Reihenfolge gegeben 
habe, in der ſie Petrus gelegentlich mittheilte. Es fteht eben nicht 
da, daß er Einiges fo niederſchtieb, wie er es durch Anhören „ge- 





728 Kloftermann 


lernt hatte“, wobei man allenfalls zugleich am die Reihenfolge 
denten könnte, die er fich abfichtlich eingeprägt Hatte, fondern, wie 
er es im Gedächtniß Hatte, und da dies fein Gedächtniß nır 
auf gelegentliche Anführungen des Petrus zurücging, jo konnte c 
den Ereigniſſen nicht die rechte za@&ıs geben. Nur um die on 
safe, aber nit um den Urfprung ber bei Markus vorliegenden 
rcixis handelt es ſich ja in der Stelle des Papias. Aber ud 
abgefehen von diefer falſchen Begründung ift jene Annahme völiy 
unverträglih mit dem fchriftftellerifchen Charakter umferes Evan 
geliums. Ye mehr unfer Verfaſſer die Planmäßigkeit deſſela 
überfhägt Hat, um jo unbegreifficher iſt es, wie er durch 
Annahme einer folgen Abhängigkeit von dem Wortlaut und ſehn 
der Berfnüpfungsweife der Petruserzählungen jede freie fchriftftelt: 
tifche Bewegung, welde doch die Grundbedingung einer wohldurd: 
dachten Eompofition ift, lahm Legen konnte. 

Nun aber geht der Verfafjer noch einen Schritt weiter, und da: 
mit fommen wir auf den dritten Hauptpunft, der in feinem Bude 
behandelt wird. Nachdem er nämlich bereits in der Analyfe des 
Evangeliums immer wieder die Spuren nachzuweiſen geſucht hat, 
daß unfer Evangelium auch eine ſchriftliche Quelle vorausjege, ge: 
Tangt er in der dritten Abtheilung zu dem Refultat, daß baffelbe 
im Großen und Ganzen an unfer gegenwärtiges Matthäusean: 
gelium in der Afoluthie und Auswahl der Erzählungen fich anfhlic. 
Wie nun bei diefer doppelten Abhängigkeit noch von einem felh: 
ftändigen Plan, ja überhaupt noch von einer fchriftftellerifchen Eigen: 
thümfichkeit feines Evangeliums die Rede fein foll, das geftche ih 
nicht zu begreifen, wenn man nicht unfer Evangelium zu einen 
wahren fchriftftelferifchen Kunftftüd machen will. Wenn ber Ber 
faffer ſich auf mich dafür beruft, daß eine folche Abhängigkeit um 
einer fhriftlihen Quelle mit den Ausfagen des Papiaszeugniftt 
wohl vereinbar fei (S. 343) und wenn er meint, die Vorftellung 
von dem fchriftlichen Evangelium, das Markus bereits bemußt hat, 
in der von mir eingefchlagenen Richtung fortgebildet zu hahm 
(S. 381), fo muß id) nad) beiden Seiten Hin gegen alle El: 
darität mit der Anfhauung des Verfaffers mich verwahren. Nein 
Vorſtellung von der dur Markus bereits benugten ſchriftüchen 





das Martubevangel. nad; feinem Quellenwerthe f. d. evang. Gef. 729 


uelfe ift nicht nur graduell, fondern fpecififch von der unſeres 
herfaſſers verſchieden. Eben weil ich mir das ältefte Evangelium 
ach der Befchreibung des Papias als eine reine Stofffammlung, 
. 5. als eine noch zu feiner pragmatifchen Darftellung verbundene 
vrakıs von Sprüden, Reden und kurzen Erzählungen, die ſich 
ieiſt um einzelne Worte des Herrn drehen, denke, Halte id; es für” 
iöglich, daß Markus, obwohl er ſich in einzelnen Erzählungen an 
en in ihr gegebenen Typus anfchloß und einzelne Worte, die er 
on dorther kannte, in feiner Darftellung verwerthete, dennad auf 
drund der mündlichen apoſtoliſchen Ueberlieferung den im Wefent- 
den felbjtändigen erften Verſuch eines Bildes der meſſianiſchen 
Birffamfeit Jeſu geben und dabei fo viel Neues aus eigener Er- 
merung an die Erzählungen des Petrus Hinzubringen fonnte, daß 
Japia8 ober fein Gewähremann nur die Iegtere Seite an feinem 
wangelium in's Auge faßte. Mit einer fo faft durchgängigen Ab- 
ängigfeit von Matthäus, wie fie Kloftermann annimmt, vermag 
h weber bie Tradition über feinen petrinifchen Urfprung noch die 
hriftftellerifche EigentHümlichkeit unferes Evangeliums zu vereinigen. 
da ich aber durch die angebliche Fortbildung meiner Anficht in 
ner Richtung, welche den Hauptgewinn der neueren Evangelien» 
tif, die evident erwiefene Urfprünglicfeit des Markus gegenüber 
nferm Matthäus, wieder aufgibt, da8 Moment der Wahrheit 
ı der gegentheiligen Anficht, die unferm Matthäus die Urfprüng- 
chleit vindicirt, welches ich gegen Holtzmann und Weizfäder geltend 
ı machen verſucht Habe, auf's ſchlimmſte gefährdet ſehe, jo muß 
) mir erlauben, auf diefen Punkt etwas ausführlicher einzugehen, 
n zu zeigen, wie unhaltbar die Gründe find, welche ‘der Verfaſſer 
r feine Anficht beigebracht hat. Ich Tann dies umfomehr, meil 
tfelbe fi in der That überwiegend an Eingelpeiten gehalten hat. 
tatt bei der Analyje des Evangeliums Schritt für Schritt fein 
erhältniß zu Matthäus in den Bli zu fafjen, wird erft nach⸗ 
ägli an einzelnen Stellen die angebliche Priorität des Matthäus 
ıhrfcheinlich gemacht und daraus dann ſchlechtweg über ganze große 
oſchnitte abgeurtheilt, während ein Buch, das mit folder Sorg- 
it in die Detailerklärung des Markus eingeht, diefe kritiſche An- 
ht auch in alfen Details durchführen mußte. Daß e8 nicht ſchwer 


730 Mloftermann 


iſt, ſelbſt wo die Abhängigkeit eines Shriftftellers von dem andırı 
evident iſt, diefe oder jene Stelle aufzufinden, die fich mit einigm 
Scharfſinn leicht fo beleuchten Täßt, daß fie file das Gegentheilz 
fprechen jcheint, wird Feder willen, der ſich mit diefen Unterfudurg: 
befchäftigt hat. Das Zmwingende für das kritiſche Urtheil liegt hr 
gerade in der Continuität, mit welcher fich die Indicien für ir 
beftimmte Anfhauung aneinanderreihen, bis fie zuletzt zur ungerei- 
baren Kette werben, und wenn ber Verfaſſer ſich in einen jo it 
gehenden Widerſpruch zur Markushypotheſe ſetzen wollte, jo hit 
man von einem fo fleißigen Durchforſcher und fo feinen Beobatr 
unferes Evangeliums wohl erwarten können, daß er ung Ct 
für Schritt die Probe für fein Reſultat vorlege. 

Wenn irgendwo die Urfprünglichfeit des Markus evident ift, ir 
ift es im der Leidensgeſchichte (Cap. 14—16). Daß hier aud de 
Grenze liegt, über die ich nach meiner fritifhen Grundanfidt rt 
Hinausfomme, ift ebenfo Mar. Es kann wohl eine Erzählung wit 
die Salbung in Bethanien in der apoftolifhen Quelle geſtande 
haben, aber die Zeidensgefchichte, die fich nur in fortlaufender Cr: 
zähfung darjtellen ließ, Tann die Sammlung der Aöyız, von der 
Papias erzählt, unmöglich enthalten haben. Darum hat Kiofter: 
mann recht daran gethan, hier gleich feinen Hebel anzufegen, um 
die Markushypotheſe aus den Angeln zu Heben (S. 3453. 
Er beginnt damit, daß Markus gegen feinen fonftigen Gebrat 
von 14, 1 an über die legten Tage Jeſu in zufammenhänge: 
fortfaufender Erzählung berichtet, und Tann das nur daraus erklärt: 
daß er eine ſolche bei Matthäus vorfand. Aber er überficht, de 
Markus doch wenigftene 1, 21—38 über den erften Tag in & 
pernaum ebenfo in fortlaufender Erzählung berichtet und daß ch: 
die Leidensgefchichte in anderer Weife gar nicht erzählt werden konar 
Wir übergehen die Salbungsgeſchichte, von der ich allerdings glaukt. 
daß fie bereits in der apoftofifchen Quelle ftand; aber wenn I 
Verfaſſer ohne Beweis behauptet, daß das zo evayyehior rad: 
(Matth. 26, 13) urfprünglich fei, jo Hätte er wenigftene mei: 
entgegengefegten Bemerkungen in dieſen Blättern (1861, ©. 53) 
berüdjichtigen fönnen. Erſt bei dem Abſchnitte 14, 18-21 ir 
der BVerfaffer mit feinem Beweife ein. Hier foll nun das elz 








das Markusevangel. nad} feinem Quellenwerthe f. d. evang. Geſch. 781 


:5v dedexe (14, 20) eingeſchoben fein, um das Mißverftändniß 
ıbzuwehren, als fei mit Matth. 26, 23 der Verräther direct be— 
eichnet. Aber dies ift fein Mißverftändnig, fondern wegen des 
Aoriſt d Zußayes das einzig mögliche Verftändniß, das durch 
B. 25 als unzweifelhaft richtig beftätigt wird. Dann aber fpringt 
m die Augen, daß der Bericht, welcher die indirecte Bezeichnung 
8 Verräthers in die directe verwandelt und die unglaubliche freche 
Frage des Judas jammt der direct bejahenden Antwort Chrifti 
hinzufügt, der ſecundäre ift. Wenn der Verfaffer hier wie ſchon 
5.272 behauptet, die Verbindung dur uev — ds (8.21) komme 
jonft bei Markus nicht vor, fo ift dies, auch abgefehen von 1, 8, 
aach 12, 5; 14, 38 einfach unrihtig *). Bei der Gethfenanefcene 
(14, 32—42) fommt der Berfaffer darauf hinaus, daß die voraus“ 
gefchiefte Indirecte Formulirung des Gebetsinhalts (V. 35) von 
Markus aus Matt. 26, 39 entlehnt ift, um dem bildlichen Auss 
drude (B. 36) feine Erflärung zu fihern und der Angabe der 
Worte beim zweiten Gebet ſich zu überheben, wo er denn lediglich 
Matth. 26, 44 anticipivte, und dag nun 14, 36 die doppelte Bitte 
in eine einzige zufammengezogen iftd). Die Sache Tiegt aber viel- 
mehr fo, daß, wenn Markus nur zum erften Mal überhaupt Ges 
betsworte mittheilt, beim zweiten Male nur hervorhebt, daß Jeſus 





2) Dagegen bat Kloſtermann nicht erwähnt, daß fi Matth. 26, 22—24 
Thon durch die Hinzufügung von apedge, ei, xugıe (das er für aus- 
gelaſſen von Markus hält, der e8 doch 7, 28 aus der apoſtoliſchen Duelle 
aufnahm), dmoxgudels, ip yeige, ovrög ne nagadasoeı, durch Berän- 
derung des ungewöhnlichen eis 208” eis in eis Exwarog, durch die Yufe 
nahme des dem Stil des Markus eigenthümlichen Feterro, zaAov Tv, 
und x&9s, das fiebenmal bei Markus und nur dreimal bei Matthäus 
in parallefen Stellen ſteht, als ber fecunbäre Text kundgibt. 

b) Wenn Koftermann Hewvorfebt, dah das row avrv Adyov einuv (14, 39) 
aus Matthäus fein müffe, weil d «vrds bei Markus nicht vorlommt, fo 
hat ev unerwähnt gelaffen, daß d adros mit einem Subftantiv aud 
bei Matthäus nur in der Parallele fi findet, während fonft noch viermal 
das neutriſche 76 auro für ſich vorkommt. Dagegen ift das wiederholte 
ndAıv und das 7oav c. partie. ganz im Stil des Markus, das EAdav 
flatt Unosrgeyas bei Matth. 26, 43 Conformation nad; V. 40 und das 
Tore-ngös Tods uudmras V. 45 Zufa zum Markustert. 





72 Mıtcmazı 


Arche gebemet, 2 das Deore Merl ze; wem dem Gebete Ghrifi 
iferz, Rue am cd ce jr ec ebe Berftümmelung eins 
Ber: wäre, iz wedem dert obersarte ausdrũcllich erzät 
waree, deẽ Auzeger dem um freibemter Bericht nichts näher In, 
ts fir der ieiher arsygelremer Witten Gebeisact die Wort 
"aus Morf. 14, 39 ja werwender ırı2 am deren Stelfe beim zweiten 
Gehetzon mız Barız zı ’eger, welhe dm Ausörud der Ergebung 
der bei Mırkas MAea in der erker Bicze Img, noch ſteigerten, jı- 
mal dam der Ausazınf der Irma Werte im Baterunfer (6, 10 
io gee: Set ĩchiea 26, 42°. Im Aolge deifem mußte dann ke 
amt Martas ertlehntz wirterhelte eier durch Ex devregor m 
#2 roirer wech riber Yet werden Dagegen fan Mit. 
4, 36 gar eidt als Zuicmmerjiefeng der beiden Bitten bei Mu— 
thans auigefaft werden, da Ne der zweiten eigenthümliche Br: 
meinung der Möglichkeit des mageideir, weldye die Ergebung ft: 
gert, bei Murfns gır nicht bermdiichtigt wird. Wie foll ferner de 
Analogie von Marf. 9, 23; 10, 27 beweilen, daß 14, 36 nidt 
der uriprünglice Wortlam der Bitte vorfiegt? Natürlich Tonne 
an fich der Berfaiier dieien ihm gelänjigen Ausbrud ebenjogut 
dem Anedrud feiner Quelle jubftitwiren, wie ihn felbftändig ſchrei 
bend gebrauchen. Allein wenn jelbit Ausleger wie de Wette un 
Berk diefe Berufung anf die göttliche Allmacht unpafjend fanden, 
jo dürfte dieje Faijung als die ihwierigere wohl nad) alfen kritiſche 
Grundiägen uriprüngficher fein, als das & duwaror Eur, vi 
dem ſecundãren Evangeliften ſich ohnehin ame Mark. 14, 35 dardet 
Daß aber, wie Moftermann meint, die Verwandlung von magei 
Ice in mageveyzs ben heidenchriftlichen Lejern den Gedanken ı: 
ein umperjönliches Fatum entfernen follte, ift doch eine Außerft ge 
fuchte Bermuthung, während nad) unferer Anſchauung das mwagel 
Yeiv fich ebenfalls ans 14, 35 dem erften Goaugeliften dar. 
Endlich bemerfen wir noch, daß 26, 39 nur mit Weglaffung des dem 
Markus eignen aramätjchen Ausdruds Gott reireg angeredet wir? 
(vgl. Tiſchendorf ed. 8), während 26, 42, wo der Evangelift eb: 
ftändig ſchreibt, mareg mov ſteht. Aber auch die Vermuthun, 
daß 14, 35 den bildlihen Ausdrud in B. 36 verftändfic macen 
wolle, fällt zufommen, wenn man beachtet, daß ber Enangeit 





das Markusevangel. nad} feinem Quellenwerthe f. d. evang. Geh. 788 


0, 38. 39 diefen Ausbrud feiner Erklärung bebirftig achtet, viel- 
iehr umgelehrt einen noch viel dumkferen, den er daneben ftellt, 
inen Lefern zu verjtehen zumuthet. Und ift denn nicht das ab» 
lute 7 Sge an fid einer Erklärung noch ungleich bedürftiger als 
18 einfache Bild vom worngor? Wer die umftändlihe Erzäh— 
ingsweiſe des Markus kennt, wird fich an diefer vorausgeſchickten 
Mmhaltsangabe nicht ftoßen, zumal nad Kloſtermaun's treffender 
jemerfung die Imperfecta zeigen, daß es fich hier um die Angabe 
ines andauernden Gebets handelt. Dagegen fpricht auch Hier der _ 
nfachſte kritiſche Grundfag dafür, daß die nun ſcheinbar tauto- 
ıgifchen Verſe (®. 35. 36) in Matth. 26, 39 zufammengezogen 
meben und nicht die einfache Darftellung hier zu jener ſchwer⸗ 
ilfigeren erweitert. Ebenſo wird wahrlich eher das ſchwierige 
reyeı (14, 41) vom erften Evangeliften weggelafjen, als die 
tede vom zweiten „um ihre Kuappheit gebracht fein“. Dagegen 
t 68 Mar, daß das nur relativ zu nehmende 7Ase» im erften 
vangelium richtig durch 7yyıxev erläutert und darum das Zdov 
3r diefes Wort gefetst ift, weil dafjelbe doch fonft auf etwas un. 
ittelbar Gegenwärtiges hinzuweiſen pflegt, während nicht abzufehen 
t, wie nach Kloftermann die Einfhaltung des arexeı die Um— 
lung diefes Wortes motiviren follte. Daß die Erläuterung zei 
ix ndessar sl anoxgısücıw air@. (14, 40 vgl. 9, 6) ebenfo 
m Markus zugefegt wie vom erften Evangeliften weggelaſſen fein 
am, ift zuzugeben; aber darum eben können folde Momente an 
h nichts entfcheiden *). 

Auffallend dürftig find die Yudicien, aus welchen Kloſtermann 
der Berhaftungsfcene die Urſprünglichkeit des Matthäus erſchließt. 
uch Hier geht der Verfafjer über alle gegentheiligen Indicien 
gl. nur Matt. 26, 50a. 52—54) mit Stillſchweigen hinweg 
id Hält fich ausfchlichlih an 14, 44. 45—50. Die Darftellung 
ð Markus nun hat Moftermann ſelbſt (S. 279) fo treffend er- 





a) Wir Haben uns abſichtlich auf die von Kloſtermann in Betracht gezogenen 
Momente diefer Geſchichte beichränkt; fonft wäre gerade an der Einfeitung 
14, 32—84 und an den Verſen 14, 37. 38 am leichteſten darzuthun, 
daß Hier Markus den uefprünglichen Tert Hat. 


734 Kloftermann 


fäutert, daß wir nichts Hinzuzufegen müßten; nur über feine Be: 
wunderung über das 6 rragadıdods adrov (B.44, vgl. ©. 28 
müſſen wir uns billig verwundern, da es ja doch völlig natürid 
war, daß, nachdem V. 43 nur der Name des Judas genannt, a 
nun als fein Ueberlieferer charakterifirt wird, da eben die Art, m 
er dieſes megadıdövan zu vollziehen verfprochen Hatte, etzihl 
werden fol. Wir bedürfen darum wahrlich der Annahme, da c 
es aus Matth. 26, 48 entlehnt Hat, nicht, und wenn der ek 
Evangelift die nachträgliche Bemerkung über das verabredete Zeite 
in eine an Ort und Stelle gejchehende Verabredung verwandelt ki, 
fo liegt ja der Grund Har genug daran, daß er für das ofnta 
dem Markus eigenthümlihe zul eusewg rrgoseAdcr feine % 
fnüpfung fand in dem Plusquamperfectum des B. 44, wenn ı 
nit das für den Stil des Marfus ebenjo charakteriftifche wie fr 
feinen Stil unerhörte &AIy — nrgogeAdav aufnehmen wollte. Bir 
tönnen alfo auch bier nicht den Markustert für eine Verbeſſerum 
des Matthäus halten, zumal ja das Ompweiov bei diefem ſichtlit 
eine Erflärung des felteneren odoanuor ift. - Während aber ki 
Matth. 26, 56b für jede einfache Tertvergleihung das zore oi 
nasmral ein erklärender Zufag des erften Evangelijten ift, ſuct 
uns Kloftermann einzureden, dad nednzat fei von Markus mg 
gelaffen und ravres an’8 Ende geftellt, um die folgende Geſchitu 
vom veavloxos anzubnüpfen. Es liegt aber auf ‚der Hand, di 
diefer Jüngling, der erft nah B. 52 floh, als man ihn greila 
wollte, gar nicht in die zr&vres, deren Flucht bereit eine abx 
ſchloſſene Thatſache der Vergangenheit war (bemerke den Yon: 
Epvyov) eingeſchloſſen fein Tann. 

Aus der ganzen übrigen Leidensgefchichte erwähnt der Verfaſſer u 
noch einige vereinzelte Momente. Daß der zweite Evangelift Matt 
27, 3—10. 52. 53. 62—66 an fic) übergehen konnte, wie ber erit 
Mark. 14, 13—15. 51. 52; 15, 21 überging, wollen wir zugeben, 
obwohl es durch die Rüdjicht auf Heidenchriſten, die Moftermann gi 
tend macht, durchaus nicht erklärt ift, und ihr viel bedeutungavollt 
Inhalt eigentlich feinen Vergleich mit den im erften Evangelium über: 
gangenen Marfusnotizen duldet, wie denn auch die Zahl der bei Markt 
fehfenden Zufäge des erften Evangeliums ſich noch ſehr beträdtit 





das Markusevangel. nach feinem Quellenwerthe f. d. evang. Geſch. 785 


vermehren läßt. Wenn Kloſtermann Mark. 14, 30. 68. 72 für 
ine Berichtigung des Matthäus hält, fo wird die umgefehrte An⸗ 
icht, wonach der erſte Evangelijt die in der Ueberlieferung gangbar 
ewordene einfachere Faſſung des Wortes fubftituirt, die ja felbft 
‚08 Fohannesevangelium beibehielt, immer die weit wahrfcheinlichere 
leiben. Eine der Scenen, wo die Urſprünglichkeit des Markus 
ım heliften in die Augen fpringt, weil nur aus ihr der Hergang 
virklich verſtändlich wird, ift die Scene mit Barrabus, wo 
8 erfte Evangelium mit feinen Zufägen in 27, 19. 24. 25, 
nit feiner von vornherein dem Volke proponirten Alternative und 
einen bis in's Einzelnfte nachweisbaren Tertänderungen feine Abs 
längigfeit Schritt für Schritt verrät. Ueber alles diefes geht 
dloſtermann mit Stillfhweigen hinweg, indem er den „eigenthlims- 
ihen Charakter“ des Markusberichts aus der Bedeutung dieſes 
Stüds im Organismus des Evangeliums, d. h. aus dem von ihm 
Nneingelegten Parallelismus mit der Herodiasgejchichte, erklärt 
‘©. 291), und begnügt ſich damit zu bemerken, daß Mart. 15, 8 
18 undeutlihe Ovvnyusvov avcov (Matth. 27, 17) verftändfich 
nahe und die Beſchreibung des Barrabas (V. 7) bereits auf den 
Hegenſatz zwifchen ihm und Jeſus reflectire. Don letzterem kann 
iber gerade bei Marlus, wo in der ganzen Verhandlung nirgends 
d wie im erſten Evangelium Jeſus und Barrabas ſich gegenüber— 
wftelft werden, nicht die Rede ſein und daß das Volk die Initiative 
griff (Mark. 15, 8), konnte aud) der feinfte Exeget aus dem 
‚undeutlihen“ ovryyu. auzwv nicht Herauslefen. Schließlich ber 
uhigt fi Kloftermann damit, daß jedenfalls das bei der Analyfe 
erklärt gebliebene eAdup (15, 19) nur dur) Matth. 27, 29. 30. 
eine Erklärung finde. Aber wenn der Berfaffer es (S. 292) fo 
uuffällig findet, daß xdAawos nud nicht beßdos als Werkzeug 
»es Schlagens genannt werde, fo ift doch dazu gar fein Grund 
vorhanden, da ja aud) 15, 36 die Soldaten ein Rohr in der Hand 
jaben, und daß. e8 der erjte Evangelift gewejen ift, der dies Rohr 
em Heiland als Scepter in die Hand geben läßt, um den fpöttijchen 
Konigsaufputz zu vollenden, dafür ſpricht dod) wohl deutlich genug, 
daß er die rogyuga zur gAruds xoxxivn, den dxawivos ard- 
yavos zum Kranz aus Dornen näher beftimmt, das end emjv 





736 Mofermann “ j 


zegahsjr erlänternd Hinzugefügt, bie Rede ausdrüdlich als Br: 
Trans Garakterifirt und, um die Mißhandlung von der Beript 
tumg zu fondern, die jpöttifch-huldigende Kniebeugung voraufgenm: 
men hat. Daß die Bezeichnung der @Aln Maple (Matth. 27,61; 
28, 1) im Bergleich mit der bei Markus (15, 47; 16, 1) nik 
urfprünglic erſcheint, gibt Mloftermann ſelbſt zu; aber wen m 
daneben fein Wort darüber fagt, wie er der fo durch und durt 
fecundären Darftellung Matth. 28, 1—8 die Urjprünglichkeit gegn- 
über von Mark. 16, 1—8 vindieiren will, fo erinnert das dh 
faft an das Wort vom Mückenſeigen und Kameeleverfchluden. 
In der That, wenn diefes die einzigen Indicien find gegen k 
Urfprüngfidjteit der Leidensgefchichte bei Markus, mit welder di 
Markushypotheſe fteht und fällt, dann glauben wir gezeigt zu han, 
daß fie von Kloſtermaun nicht erfcüttert ift. Und wenn felbit in 
diefem Abſchnitt Markus auf die Erzählung des Matthäus fo dur: 
gängig Rückſicht nehmen fol, daß er „im Ganzen meift bis auft 
Wort mit dem entſprechenden Terte des Matthäus übereinftimmt‘, 
dann ift doch Mar, daß die von Moftermann angenommene Ab: 
bhängigteit des Markus von Matthäus jede Zurücführung feine 
Evangeliums auf die unmittelbare petrinifche Weberlieferung aut 
ſchließt. Denn daß ein Schriftfteller, der die Leidensgefchichte ve | 
Herrn von einem Augenzeugen hatte erzählen hören, fid in if 
Darftellung ganz einer jchriftlichen Quelle ſollte angeſchloſſen un 
mit Ausnahme einiger unmotivirten Auslaffungen ſich faft nur ai 
einige ftiliftifche Aenderungen, die dazu nicht immer glücklich au 
fielen, follte verlegt haben, das müſſen wir eben einfach für ıw 
mögfich erffären. Iſt aber auch nur fir die Leidensgeſchichte da 
umgefehrte Verhältniß conftatirt, fo kann natürlich von einer 
hängigfeit des Markus von unferm erften Evangelium ober einm 
ihm im Wejentfichen gleihen Urmatthäus nicht mehr die Rebe fe. 
Der BVerfafjer betrachtet fodann rückwärtsſchreitend den Abjchnitt 
Mark. 10, 32 bis 13, 37 (©. 349— 353). Daß hier in da 
Langen eſchatologiſchen Rede und auch in den fonftigen Redeſtücen 
die apoftofifche Quelle benugt ift, Habe auch ich zu erweiſen geſucht 
wenn ich auch keineswegs unfern jegigen Matthäustert für identid 
damit Halte und mir alfo die Beweisführungen Kloſtermann's vielfad 








"das Markusevangel. nach feinem Ouellenwerthe f. d. evang. Gef). 737 


ct aneignen farm. Allein Mloftermann fucht zu beweifen, daß 
ie ganze Zufammenftellung diefer letzten Reden und Geipräde in 
nferm Matthäusevangelium bereits dem Markus vorlag und hat 
och dafür nur den Grund, daß eine Bufammenftellung diefer 
Streitreden von der Anlage feines Buches (wie fie nämlich Kloſter⸗ 
nann falfch, d. h. einem von ihm aufgeftellten Gefichtspunfte gemäß, 
er auf ſolche Abfchnitte, wie Cap. 11—13, gar nicht paßt, beftimmt 
at) weit abliege, und daß 12,1. 38 auf eine ausführlichere Meder 
ammlung hinweift, aus welcher Markus fchöpft, woraus ja aber 
urchaus nicht folgt, daß unfer Matthäus diefe Nedefammlung 
dar *), zumal der Verfafjer felbft gefteht, die Eriftenz von Matth. 25 
a der Duelle des Markus nicht nachweiſen zu können (S. 380). 


a) Wenn der Berfaffer noch Mark. 12, 85 Hinzufügt, fo gehört das gar nicht 
hierher, da wir mwenigftens nirgends einen größeren Zuſammenhang nade 
weifen Lönnen, in welchen dies Wort Iefu uriprünglich Gineingehörte; 
denn ber Zufammenhang bei Matthäus ift ja ganz derſelbe wie bei Markus, 
nur daß im erften Evangelium noch kunſtvoller mit dieſer Gegenfrage 
Chriſti der Uebergang von feiner Defenfive zur Offenfive in Cap. 28 ger 
macht wird. Daß N loftermann Mark. 11, 11—25 für eine Correctur 
der Zeitfolge bei Matthäus und das ausführlichere Citat Mark. 11, 17 
für das fecunbäre ausgibt, Tann bie gerade in ber Einzugsgeſchichte fo 
zahlreichen Iudieien von dem fecunbären Charakter unferes erſten Evan- 
geliums, über bie er alle mit Stillſchweigen fortgeht, nicht entkcäften. 
Charalteriſtiſch ift aber die Art, wie er am ausführfichfien bei Mark. 10, 46 
verweilt, um bier gleich am Anfange des Abſchnitts feinen ſecundären 
Charakter zu conflatiren. Er bat nämlich ſchon S. 821 darauf aufmerl · 
fam gemadit, da ze) z0V nadıraiv avtod xai öykou Ixavod fi ganz 
wie eine glofſematiſche Erweiterung eines anderen Textes ausnehme, und 
fucht diefen nun in Matth. 20, 29 nachzuweiſen. Allein Hier erhebt ber 
Berfaffer doch wieder ganz unnöthige Schwierigleiten, die nur die. Tendenz 
Haben können, fein kritiſches Reſultat vorzubereiten. Wer in aller Welt 
Tann, wenn er die Markuserzählung unbefangen Tief, daran nur den mine 
deften Anſtoß nehmen? Feſus ift mit feinen Jüngern von Peräa (10, 1) 
nad) Ierujalem aufgebrogen (10, 32). Ste lommen üher Ierigo, und 
da nun bei der Blindenheilung, die beim Auszuge aus Jericho vorkommt, 
ſowohl die weitere Umgebung Jeſu (V. 48) als die nähere (®. 49) han- 
delnd aufteitt, fo wird ®. 46 ausbrüdlich hervorgehoben, daß Jeſus bei 
diefem Auszuge von den Jüngern und außerdem von viel Volks begleitet 
war. Im der That aber kann Matth. 20, 29 gar nicht der Tert fein, 


Deol. Stud, Jahrg. 1868. — 





758 Mofermanz 


Achnſich ſteht es mm mit dem Abſchnitte 9, 30 bu 10, 3 
(S. 353—356), wo ebenfalls nur von Koftermann's Kafhanıy 
. über den Pla des Markus aus die Zufammenfteffung der Wide 
dei ihm wicht. urfprüngfich erfiheint. Im Einzelnen müffen wir d 
auf’S beftimmtefte in Abrede ftellen, daß Mark. 9, 3841 in 
Zufammenhang von Mutth. 18, 5. 6 unterbricht, da mir in kn 
Fahrbb. f. d. TH. 1864, ©. 100 machgemiefen haben, daß diſe 
Zufanmnenhang auf einer Umdeutung des Spruches von dem Anı 
gern der Kleiner in der apoſtoliſchen Quelle beruft; ebenfo, Ki 
Mark. 10,1 aus Matth. 19, 1. 2 entlehnt ift, wo erft bunt 
Hlnzufügeng des Abſchieds von Galilda der Schein entfteht, # 
beginne Hier die fehte Feſtreife, wo das ſchwierige mregmr si 
"Togd. nur aus Markus verſtändlich wird und das Lehren ind 
Heilen umgeſetzt wird, weil im Folgeuden wohl eine Bliudenheilung 
aber feine Bolfsrede berichtet wirb; und endlich daß die Being 
tung der Darftellung in Mart. 10, 10. 1 (©. 208) irgend dm 
degen die Urfprünglichteit des Markıs beweifen Tann. 

Es kann nicht unfere Abficht fein, das kritiſche Kaiforinemment de 
Verfaſſers Punkt für Punkt mit unferer Antikritik zu begleiten 
Daſſelbe gründet ſich immer wieder auf die Reſultate, die er übt 
den Organismus des Markusevangeliums gewonnen, zur haben met, 
und. wie unficher diefe Grundlage fei, Haben wit nachgewieſen. & 
häft ſich ferner immer wieder an Einzelheiten und übergeft ir 
widerfpredjenden Indicien mit Stillſchweigen. Daß in vielen I 
fchnitten Markus einen fecundären Tert Bat, geben wir zn, che 
nicht weil er unfern Matthäus benußt Hat, fonders weil er ie 
Tert der apoſtoliſchen Quelle freier wiedergibt als der erſte koc⸗ 
geliſt. Wenn ſich der Verfaſſer dabei vielfach auf Andentune 





in den jene Worte gloſſematiſch eingeſchoben find, da dort fü drmger 
Akvam aray fcht umd der Sykos ebenfalls erwahnt Mt. Elm mi 
über dem feinen Kenner des Sprachgebraucht bei Marks erſt dar m 
inneen, daß Srmogeveodes tn der Erzähfung ſechennul Ber Mach, kr 
Matthäus dagegen nur Hier und 8, 5 in eintr Puruüleifteiie vorfut 
and daß das dem erſten Evangelium etgenthinnticht rpedAoudyeer uirt 
&y%ol noMot nut ler durch ben Singutar erſedt iſt Der utſe geil: 
Haft atıt Markus entichnt-exicheint? 





das Markusevang. nad; kimem Ouellacderthe f. d. enang. Geſch. TBB 


wu, Deich in biefen Bluttern (18681) gegeden habe, fü diuß 
ch daran rriunern, daß ich vickes davon ia den Siheblchern won 
865, S. 300 ausdrücklich retoittich habe. Wuhhrend der Ver⸗ 
fer meint, bie von mir eingeſchlagene Richtuug in der Abgrenzung 
38 Befprängfkhen und Sehunbänen bei Marlus zu verfelgm (S. 3813, 
ak mich dielmehr die eindtingendert Deräilferfcimg gelehrt, ‚ba 
8 nothwwendig fei, Die Urſpruuglichteit des Markus noch Höher zu 
rrau lagen, abe ich es Anfangs meinte thun zu Büren. Hier 
Wit Rh uber die Einzelunterſuchnng dft mm durch ein fa wanfaffen- 
78 Gingehen in alle Details zum Abſchluß bringen, daß ed mr 
nögtip wäre, im dem Bier wir geftmttethe Deine die Mſultate 
erſelbeu gegen Mioftermann ze echärten. Dies gilt insbtlondere 
on beim Abſchnitte 6, 14 bis 9, 29 (©. 856-363). Ich wi 
arum nur bring hiaweiſen, wie vollig wergekfich der Verfehſer 
ich bemuht, die fur die Urfpelluglichttet des Marks in der Kine 
auptangeheſchichte bes Tänferö beigebradykei Indielen zu entlsäften. 
38 bleibst durchaus unnaiſirtich, dah Markus, um feine dar paldfi 
ienſijchen Verhaltniſſen ferner ftehenden Böfer nicht zu verwirren, 
Im Hoerodes colftant Aweskeik; genimt haben folk, bm. erſt durch 
Nefe Bezeichmmg eine Berwirrung ewftehen lonnie. Wenn Dagegen 
ie evfte Evamnyeliſt, win Verwechſelungen zu verhüten, dan Herodes 
W var occexne einfiheie, jo hatie er sd auch 14, 9 aeikeit, wenn 
* von einer andern Durſtellung wiebtfngin ſchrieb, da Das an⸗ 
xbliche Beftreben, der popaaren Bezeichaungsweite ſich at bedienen, 
bei ihm eben nuch 14, 3 vom dem Streben nach Gennuigleit aber· 
wegen wurde, Rum kommt aber hinze, daß gerade in dieſem Veeſe 
m® Lonyoeca nicht mir einen ſcheinbaren·, ſondern einon witi⸗ 
lichen Wiberſpruch mit B. 5 bifbet, det ben eineza ſelbetündig Arte 
beuden Shijtſtelier ſchlechthin unerkiäufidz iſt und Daß das de — 
vobc Ovrarazısvoos bei Ihm unmotdirt iſt, währrud es bei 
Monte in 6, 21 bereits vorbeveitet wor. An fh if es gattzt ⸗ 
Kıh mügtid, daß amd: ein ſetundürer Schrijtſteller eine derardige 
Ungenamigkeit. erft omtfeunte, aber daß er dam ſchon den Ausdruc 
ol awerassındvos in ®. 22 snticipist Haben ſollie, ift um jo 
umvabefdjeinikcher, «it derſelbt bi Watchäas Mur noch 9, AO vor · 
Werict, we er cenfallu aus Markus untlehns ift. 
4. 











710 Klofermanı 


Endlich beſpricht der Berfaffer den Abſchnitt 1, 158 6,8 
(S. 364—378), wo felbjt nad) Mloftermann von einer Benni 
der zufommenhängenden Matthäusdarftellung gar nicht mehr k 
Nide fein kann, wohl aber davon, daf einzelne Erzählungen or 
Deden bei Markus einen bereits ſchriftlich figirten Typus vous 
Tegen. Aber daß der Evangelift diefelben nicht aus unferm Dat 
thaus Hat, dafür bürgt am entfchiedenften, daß gerade in ben pi 
matijchen Ginleitungen ſich überall der erfte Evangelift von Markt 
abhängig zeigt. Moftermann beftreitet das freilich z. B. bei Dat, 
13, 1.2, aber mit welden Gründen? Schon ©. 82 hat er behaum, 
die gefliffentliche Hervorhebung des Gegenfages von Ialaoca m 
75 (Dart. 4, 1) nehme fi ganz fo aus, als wolle Markus cm 
minder genauen Erzählungstypus zuredhtftellen. Aber woher? di 
denn nicht dieſe Situationsmaferei ganz in dem wohlbelannten Ch 
rafter des Diartus? Nun aber fol diefe Correctur nad) ©. 368 Ki 
bei Matthaus mögliche Mißverftändniß ausſchließen, als ob ledigſit 
das xadnadas und Eornxevar Jeſum und die Volksmenge gegen 
überftelle und das rAorov ein auf's Land gezogener Kahn fi. 
Daß aber der Artikel vor rAoiov fid) nur bei Markus aus 3,9| 
erffärt, alſo im erften Evangelium aus ihm herübergenommen il! 
daß das auffalfende räs 6 öxAos nad) dem eben dagemejen, | 
dem Matthäus eigenthümlichen 6xAos zroAAof nur aus Dart | 
herrühren fan, daß die Wiederholung des za I7aIas nad di 
Irro (Matth. 13, 1) fi nur aus Markus erklärt, hat Koftr 
mann nicht beachtet und da der Gegenfag des dr rör alyıalir 
(Matth. 13, 2) jedem .verftändigen Leſer andentete, daß der KıF 
nit and) am Ufer ftehend gedacht war, fo ift das vermeintikt 
Mißverftändnig, dem Markus Hier vorgebeugt Haben fol, er 
müſſige Erfindung des Kritilers. Dafjelbe gilt von der Einfeitm | 
der Erzähfung Marl. 3, 1. 2. Kloſtermann Hat freilich [de | 
©. 60 behauptet, hier werde voransgefegt, daß der Vorfall u 
bemfelben Sabbath, wie der vorige ftattfand; aber diefe Unterftellung 
äft wieder nur gemacht, um (S. 371) num finden zu Lönnen, di | 
diefe Vorausfegung aus Matth. 12, 9 entlehnt ift. Der Berfaflt 
überficht dabei, daß Mark. 2, 24 das Zdorzes, welches ber ef 
Goangelift zufegt, fehlt, alfo die Verhandlung iiber die Cabal: 








das Markusevangel, nad} feinem Quellenwerthe f. d. evang. Geſch. 741 


bferdanz der Juünger gar nicht ausdrücklich anf den Tag geſetzt 
ft, an mweldem der vermeintliche Sabbathbruch der Jünger ſtatt⸗ 
ſefunden Hat, daß Mark. 3, 1 aber nad) der allgemeinen Bemer⸗ 
ung 1, 21 als felbjtverftändfich vorausgeſetzt ift, daß, wenn Jeſus 
n bie Synagoge ging, es am Sabbath geſchah (U. 2), und endlich, 
aß das Subject zu magseigovv (8. 2) bei Markus um fo 
tichter als befannt vorausgefeßt werden Konnte, als er im dieſem 
anzen Abfchnitt lauter Verhandlungen mit der Jeſu feindfeligen 
Ippofition erzählt. Iſt aber meine in diefen Blättern (1861, S. 77) 
eäußerte Bermuthung über das avröv (Matth. 12, 9) nicht Halte 
ar, wie Kloftermann meint, fo ift dies nur um fo gewiffer ein 
Beweis, daß der erfte Evangelift dadurch, wie durd das ihn fo 
läufige weraßes &xsidev, die Darftellung des Markus näher 
eftimmt hat. Se mehr aber die Zufammenftellung der einzelnen 
Irzählungen in biefem Abſchnitt durch den von Kloſtermann felbit 
tfannten Plan des Markus bedingt ift, um fo unwahrſcheinlicher 
ft e8, daß er diefe Stücke bereits in einem ſchriftlichen Evangelium 
heifweife verbunden vorfand (S. 374). 

Wir müffen nad} alfe Diefem den vergleichenden Abſchnitt, welcher 
as Verhäftniß des Markus zu unferm Matthäus feſtſtellen foll, 
ür die ſchwächſte Parthie unferes Buches erklären, nicht etwa nur 
veil wir mit feinen Refultaten durchaus nicht übereinftimmen können, 
onbern weil die Unterfuhung hier fo deſultoriſch und, felbft wen 
nan im Einzelnen mit dem Verfaſſer übereinftimmen könnte, fo 
venig erfchöpfend geführt wird, daß es und nicht wundern kann, 
venn derfelbe endlich doc über das Verhältniß der beiden erften 
Foangelien .nicht zum völligen Abſchluß kommt (S. 381). Wir 
Önnen es nicht billigen, daß der Verfaſſer ſchließlich eine felbftäns 
ige Analyfe auch der anderen Evangelien vor der Quellenunter⸗ 
uchung empfiehlt. Es ift das vielfach doch nur Schein, da, wie 
bir aus manchen Beifpielen gefehen haben, die Benterfungen des 
Berfaffer8 bei der Analyfe mehr als einmal fihtlih von der In⸗ 
ention geleitet find, für feine fpätere Quelfenkritif Anhaltspunkte zu 
geiinnen, und felbft für feinen Zwed würde fi Vieles in einem 
ngleich gewinnenderen Lichte dargeftellt Haben, wenn er die Quclfens 
prüfung in die Analyfe verflochten hätte. Da wir nun aud) dem 


Guimmidtung des Zmjemmenhonges cine bleibende Bedeutung bil, 
Fb wenn ihr wetürfich wicht in allem Einzelnen beipfühen 
au. Mit großer Spannung jchen wir der verſprocheren Ih 
des Berfajferb über den Lutas entgegen, bei der wir eine unlih 
größere Uebereinftiimmung mit igren Reſultaten erwarten ira, 


i Unteaſachang des Sulas im dazu Güßern wird, 28 gm 


gelingt, fi fermch und materiell eatmas auchr von der cigenthiu- 
lichen, ivat ihrer Drigimaliti und Feinheit einen ahefangs 
Behendbmo der Goangefisn wicht eben ‚gänftigen Gnfrrannite 
Suterpreiationseiie heci 38 machen. 

D. 8. Weiß 





Sad, Geſchite der Predigt. 748 


2. 


Beſchichte der Predigt in ber deutſchen enangelifchen Kirche 
von Mooheim bis auf bie letzten Jahre von Schleiermacher 
und Menken. Bon D. Carl Heinrich Sat, Heidelberg, 
Carl Winter’s Univerfitätsbuchandlung. 1866. VI 
und 384 SS. 





Die Zeit der Herrſchaft des Nationalismus hält Heute nicht Teicht 
Jemand für eine Wlüthezeit im Leben unferer beutfchen Kirche. 
Im Gegentheit, die hohe Meinung, welche fie felbft von ſich Hatte, 
iſt ſchon vor geraumer Zeit mit einer ziemlich allgemein verbrei⸗ 
teten Geringihägung vertaufcht worden. Das Schiboleth ihres 
Selbſtruhms „Aufklärung“ ift in dem Munde von Taufenden jetzt 
geradezu ein Schlagwort der Verfpottung, mit dem fi die Vor⸗ 
ftellung des Seiten und ZTrivialen, des Mittelmäßigen und Obers 
fläglichen, des Langweiligen und Abgeftandenen verknüpft. Das 
heutige Intereſſe an der Zeit der Aufllärung ift beinahe ganz ein 
pathologiſches. Die meiften unter den jett lebenden. Theofogen 
bürften bie Hauptwerfe des Rationalismus kaum anders als aus 
abgeleiteten Quellen kennen, wie Literaturfreunde unfere vorclaſſiſche 
Literatur, die Bodmer und U; und Ramler, ja felbft Klopſtock 
ſchon, .nur. aus der Literaturgefchichte zu Fennen pflegen, ‚im Alle 
gemeinen nicht unrichtig, aber doc mangelhaft umd ohne eigenes 
Urtheil. Auch von der Predigt des rationaliftifchen Zeitafters 
find unter unferen Predigern, Candidaten und Theologie-Studirenden 
Borftellungen verbreitet, die im Großen und Ganzen zutreffend 
fein mögen. Uber es werden ſchon Wenige fein, die auch nur 
eine Predigt von Röhr, felbft von Reinhard, oder gar weiter 
thinauf von Spalding gelefen haben. Eine gerechte Würdigung kann 
dabei ſchwerlich beftehen. Die achſelzuckende Kritit über einft ger 
feierte Ranzelgrößen mag ſehr entfchieden auftreten, aber es fehlt 
bie geſchichtliche Wahrheit und Billigkeit. Ein wahres, gerechtes, 





lennen, empfehlen möchten, in ausgezeichnetem Maße geeignet, 

Der ehrwürbige Maum, der die theologiſche, imfonberfeit di 
Predigerwelt damit beſcheult, hat die Stille feines Lebensabend 
feit Jahren darauf verwandt. Daß fein Buch die Frucht Längen, 
mit Liebe gepflegter Studien ift, bezeugt es felbft durch rm 
reichen, durchweg aus den urſprunglichen Quellen geſchöpften Ithil 
wie durch feine abgerundete gefällige Form, die mehr Spuren k 
Jagendfriſche als der dem Alter eigenthümlichen Schwerbemegliätt: 
an fich trägt. Wer auf dem Gebiete, dem das Buch angefön, 
fi umgefehen Hat, weiß außerdem von mancherlei Vorarbeiten dei 
Herrn VBerfaffers, die feit Fahren theils in dieſer Zeitfehrift, teilt 
in Herzog's Real-Encyelopäbie, theils in eigenen Eleineren Schriften 
an’s Licht getreten find. Denn jene feine comparative Eharakterifit 
Schleiermacher's und Albertini's, deren ſich die äfteren Lefer de 
„Studien und Lritifen“ nod gern erinnern, die Auffäge über dit 
Bäter feiner Familie, Spalding, Auguft und Friedrich Sad, jeht 
die Heine Monographie Über Saurin find fo zu fagen Prodmien zu 
diefer Gefchichte der Predigt von Mosheim bis Schleiermahe, 
die das Teiften, was gute Brodmien leiſten ſollen, fie ſchaffen kin, 
welche attenti, dociles, benevoli find. 

Der Herr Verfaſſer leitet feine Arbeit (©. 1-9) mit einer 
kurzen Darlegung der Grundſutze ein, von welchen ex babei mt 
gegangen ift. Sie haben ihre Wurzel in feiner weife bemefjma 
Faſſung des Begriffs der Predigt und der eben fo hohen als & 
ſcheidenen Würdigung ihres Werthes, worüber er ſich befondens af 
©. 4 u. 6 treffend ausfpridt. Wer mit diefen, wie uns dirk, 
evangefifch Maren und proteftantifch keuſchen Beftimmungen ibt 
die Bedeutung der Predigt übereinftimmt, wird im allem Weſen 
lichen auch die aufgeftellten Grundfäge anerkennen. Der Berfafft 
iſt ihnen in feiner Gefchichte durchweg treu geblieben. Der Ju 
Halt der Predigt, ob dem göttlichen Worte im der Schrift mt 
nommen und in Gemäßheit des Glaubens der wahren Kirde bi 





Sefclite ber Brebigt. 25 


derrn ftehend oder nicht, das ift ihm überall das Erſte. Das 
Zweite das Maß von Weisheit und Kunſt in Anwendung des 
Prebigtftoffes auf. den kirchlichen Zeitpunkt und die Bebürfniffe der 
demeinde. Das Dritte die fprahlihe Behandlung. Das 
ierte die von der gefchilderten Predigerthätigfeit ansgegangene 
Birfung. Mit einer kurzen Motivirung der Begrenzung ber 
Aufgabe auf den etwa humdertjährigen Zeitraum von 1730—1830 
Mosheim’s Blüthezeit bis zum Tode Menken's und Schleiermacher's), 
vie der Theilung deffelben in die beiden Perioden bis und feit 
Ende des erften Jahrzehents des 19. Jahrhunderts ſchließen die 
inleitenden Bemerkungen. 

Die Predigtgefhichte des 18. Jahrhunderts bis in 
ven Anfang des 19ten nimmt emtfprechend dem ungleich größeren 
Umfange dieſer Periode etwa zwei Drittel des Buches ein 
S. 10—261). Vorausgeſchickt wird eine kurze allgemeine Cha⸗ 
:afterzeichnung der Predigt diefer Periode, und zwar bezeichnet der 
Berfaffer als das ihren Höhepunkt belebende Princip das echt 
Braftifche, nämlich das (allmählich freilich degenerirende) Beſtreben, 
den Inhalt des Evangeliums -in feiner Bedeutung für Gefinnung 
und Handfungsweife der Chriften zu entfalten. Er gliedert biefe 
Periode in drei Zeiträume, für deren Grenzen er felbft eine gewiſſe 
Beweglichkeit in Anfprud nimmt: der erfte (1740 bis c. 1785, 
nad; der Inhaltsangabe aber 1730—1770) umfaßt die älteren 
praftifhen Supernaturafiften, die unerfehüttert am Grunde 
ber bibfifchen Offenbarung und den Grundlagen des evangeliſchen 
Bekenntniſſes feſthaltend, bemüht find, den Tauſchungen des Ortho- 
doxismus und Verirrungen des Pietismus mit dem ganzen Ernft 
ber Wahrheit und der ganzen Kraft der Liebe entgegenzutreten. 
Den Uebergang zu diefem Zeitraum bezeichnet der Berliner Propft, 
Reinbed; feine Hauptrepräfentanten find Mosheim, Auguft 
Sad, Eramer, Yerufalem, Spalding, denen noch bei 
gezählt werden der Biihof Fr. Sam. Gottfr. Sad, Abrah. 
Teller, Sturm. Eine kurzere Erwähnung finden an diefer 
Stelle noch Joh. Eb. Silberſchlag, Joh. Ad. Schlegel, Gottfr. 
Le umd wieder ausführlicher der Schweizer Joh. Tobler. — 
Den zweiten Zeitraum (etwa 1785—1795, nad der In⸗ 





2) Sad 


Yaktsangehe aber 1770—1790) zepräfentiven die Prediger, weht 
durch tremeres Anſchließen an das Schriftwort der ſchu 
auhebenden Trockenheit in der Predigt abzuhelfen ſuchen: Herder, 
Lavater, Oetinger, Joh. Jak. Heß, im derm Mitte ud 
Zoh. Ludw. Ewald, der in Proſa und Poeſie nufererdeuih 
fruchtbare ascetiſche Schriftfteller, aufgenommen ft. Der britte 
Zeitraum endlich, die beiden Decennien der Wende des 18. ud 
19. Zahrhunderts umfaffend, wirb als der Zeitraum der mh 
und mehr in eudamonuiſtiſchen und pelagianiſchen Madionakisud 
Übergegenden Morafpredigt bezeichnet. Seine bedeutendſten Br 
präfentanten find: Zollitofer, Henke, Marezoft, Ammn, 
eben denen noch Häfeli, Roſenmuͤller, Bartels, Beilledter, A 
aufgezählt werben. Als eine wohlthuende Exfchrimug in beim, 
den Kern der Schriftfehre bis zu einem gewiffen Grabe yangıkr 
ben Zeitalter wird der Nürnberger Zoh. Gottfr. Schöner g 
nannt, der jenen Kern einfach feſthält und ihn zugleich ganz peetiid 
zu machen weiß. In toferem Anflug werben dann uch de 
Wittenberger €. 8. Nitzſch und die Berliner Pröpfte Ribbel 
amd Hanftein genammt und kurz charalteriſirt. Als Geikenjiid 
zu den Moxalpredigern erfahren demmächſt noch die Natuapre 
diger, welde Töllner’s „bewegliche Bitte an alle ewangelifge 
Lehrer“ erfüllten, eine befondere Darſtelluug. Der Frankfuc 
Moſche, der Halberftädter Kerenner yad der ſchon genaur 
Ewald werden als Repräſentauten der Naturpredigt aufgeflfrt 
Den Schluß der Predigtgeſchichte dieſes Zeitraumes wie die 
ganzen erften Periode bildet die wieder ausführlichere Schilder 
des ehrwürbigen, ſchon beu Uebergang zu einer neuen, wurdwallaa 
Predigtbahn bezeichnenden Reinhard. 

Bei ber zweiten Periode wird, wie hei ihrem geringen Wr 
fange (kaum ein Vierteljahrhundert) natürlich ift, von einer ne 
texen Zeittgeilung abgeſtauden. Die Guiederung iſt eine fmhüh 
perſonliche. Die Repräfentanten der vorgehmften Probigtrichtuuge 
‚werben ‚Gier meiſt paarweiſe vorgeführt, was zu intereffanten cur 
Harativen Charakteriſtiken Veranlaſſung gibt. Zur eubeldun 
ber tief ‚perabgelommenen Predigt im enangefifchen Deutichland vu 
die philoſanhiſche Gmtiwickung (her Kriticigmuß sd die gti 





Geſchichte der Predigt. 7 


philoſophie ) ebenfowenig bei wie die gleichzeitige Romantik; bie 
Erneuerung des religiöfen Geiſtes durch bie romantiſche Schule 
war ‚mehr Schein als Wefen, und ging an ber Predigt vorlber. 
Ungleich, wirkſamer war die durch die mächtige Hand Gottes ver⸗ 
mittelſt vationaler Leiden berbeigeführte Sehnſucht nad Hülfe im 
Seelen · und Sittenleben, von wicht geringer Bedeutung auch die 
Wiedereröffnung des Verkehrs zwifchen Deutfchland und England 
nach dem Befreiungskriege. Aber den wirklichen Anfang diefer 
Neubelebung brachte das, vorfehungsvoll durch göttliche Gnade und 
Weisheit geordnete, gleichzeitige Auftreten zweier fo epochemachenden 
Prediger mie Schleiermaher und Menken zu Stande 
(&. 262815); Neben diefen beiden, mit Vorliebe in treffenden 
Zügen geſchilderten, Koryphäen treten zunächft, als fie ergänzend, 
tesp. ihnen entgegengeſetzt, Schleiermacher’8 Yugendfreund Alber- 
tini, die aus Terſtengen's Samen hervorgegangenen Ber giſchen 
Brepiger, und befonders Daniel Krummader af 
(©. 316— 329). Es folgen als Urheber neuer Anregungen in 
Nord und Suddeutſchland Elaus Harms und Ludwig Hof- 
acker, auch Me zuerſt jeder für fich, und dann comparativ charaf- 
kuiftet (&. 829-346). Sodann unter der Ueberfärift „Mediek 
wirlung ber literäriſchen Gultur des Zeitalter und bes Beſtre⸗ 
bens, die Pradigt men zu beleben“: Dräfele und Theremin 
(8. 347366). Mit vielfsgender Kürze wird noch auf fünf 
Seiten des ſich, reagirend gegen die neue Wendung in der Ent⸗ 
wicklung der Predigt, nodmals. aufraffenden Nationalismus des 
geſunden Menſchenverſtandes gedocht; unſer Verfaſſer begnügt ſich 
damit, einen einzigen honnletiſchen Vertreter deſſelben, Röhr, vor⸗ 
anflgen. und jchließt dann feine Homiletenxeihe mit den beiden, 





@) Wie richtig dies Im Betreff der Woentitätephiloſophie iſt, beweiſen bie ans 
Tores Sqhult Geronrgegangenem Prebigten 43. 9. von Joh. Schulſze, 
eipyig KOM), welde. von poetiſcher MHfit durchweht find, und Weligion 
sa Opmärhesraltation erfheinen Iafien, Die im gatholiciemus mehr ale 
ins Broteſtantismus ihre Rechnung finde. Vergleiche die fehr intereffanten 
Berneikumgen Dyſchirner's (Briefe, veranlaßt durch Reinhard's Geftänbniffe, 
S..47--08) über dat Barhaltniß dieſer Pilofephie zur Predigt. Ihm 
"habe feine mehr verſprochen und weniger gehalten. 


148 Ed 


in die Gegenwart hineinreichenden, großen Theologen, Immannel 
Nigih und Tholuck. Auf weitere kritiſch- geſchichtliche Dar 
ſtellung der noch im Werden begriffenen Prebigtzuftände verzichtet 
er, fügt aber auf den Testen Blättern feines Buches noch beachten 
werthe, von einem mit der Pragis und Theorie, der Kritik un 
Geſchichte der Predigt fo vertrauten Manne zwiefach germ gehärt 
Andentungen und Weifungen Hinzu, die ihm aus der Wanderum 
durch das Predigtgebiet feit Mosheim refultiren. Durch diefe legten 
Blätter geht ein befonders wohlthuender Hauch milder Begeifterung. 
Der Lefer bekommt den Eindrud: der diefe Winke ertheilt, bus 
achtet, von ftiller Warte aus, die Bewegungen in der Kirche jene 
Zeit mit Iebendigfter Herzenstheilnahme, aber mit freiem Bft, 
den er fi durch die fefte Richtung auf die von dem Herrn de 
Kirche geſteckten Ziele ungetrübt erhält. Wir Heben von fein 
homiletiſchen Schlußwinfen nur zwei hervor, deren Bedeutung für 
die Gegenwart fein Kundiger unterfehägen wird, ben einen: Haupt 
zweck der Predigt ift die Weiterbauung ber Kirche, nicht die Ber 
friedigung der Welt der Gebildeten, dem anderen: man 
Hüte fich vor dem Wahne, duch ausfhließlihe Behauptung 
des menfhlihen Wefens in Chriſto den Charakter und 
da8 Werk des göttlichen Meifters am beften zu begreifen. Wohin 
diefe Bemerkungen zielen, ift ebenfo erkennbar als beachtenswerth 
daß die Quelle, aus der fie fliegen, einer Beimifhung von Bil: 
dungsfeindfchaft oder von fteif confervativem Dogmatismus under 
dachtig ift. 

Zur Ergänzung unſeres Berichts über die Anlage des Sad’ide 
Buches fei nur noch bemerft, daß der Charakteriftit der einzeln 
Homileten kurze biographifche Notizen vorausgeſchickt und Probe 
ihrer Predigtweiſe beigegeben find, letztere bei dem Predigern ber 
älteren Zeit reichlicher, bei den neueren ſparſamer. Wie dieſe Un 
gleichheit nur angemeſſen erſcheinen Tann, fo muß die Auswahl der 
Broben für eine im Allgemeinen fehr glückliche gehalten werben. 
Sie war gewiß nicht Leicht, diefe Sammlung von Lefefrüchten a 
einer umfangreichen Lectüre, von der wir dem Herrn Verfafler a 
gern glauben, daß fie auch nicht durchweg anziehend war. Die 





Geſchichte der Predigt. 2) 


erbauliche Wirkung. diefer Proben wollen wir nicht ganz in Ab⸗ 
rede ftellen, ſchlagen fie indeffen nicht fehr hoch an, da nur felten 
ein Leſer diejer Predigtgejchichte als folcher in einer dafür gerade 
empfänglichen Stimmung fein wird; wohl aber wird das erreicht, 
daß der Lefer einigermaßen in den Stand gefegt wird, ſich felbft 
an der Kritit zu betheiligen. Was die Eharafterifti der einzelnen 
Homileten betrifft, fo ift vor Allem die große Schwierigkeit ber 
Aufgabe in Anfchlag zu bringen. Verkennen wird diefe Keiner, 
der jemals bemüht geweſen ift, unter nahe verwandten gleichzeitigen 
Geiftesproductionen eines und beffelben Stoffgebietes, und zumal 
eines fo beftimmt begrenzten, vergleichungsweife auch formell fo 
gebundenen, wie das der Predigt, fich der dennoch unterfcheidenden 
Eigenthümlichfeiten noch anders als blos im Gefühl bemußt zu 
werben. Nach unferm Dafürkalten ift die Aufgabe durch den in 
Uebung gefchärften Blick unferes homiletifchen Kritikers, und feine 
feine Beobachtungsgabe hier im Großen und Ganzen vortrefflic 
gelöft; es find comerete, farbige, neben und gegen einander Stellung 
nehmende Geftalten, welche diefer Prediger - Bortraitmaler zeichnet. 
Unahnlich dem Original haben wir, fo weit wir urtheilen können, 
keines gefunden. Ueber einen und den anderen Zug wird es frei 
ftehen, hie und da zu rechten. Unparteilichfeit und Gerechtigkeit 
des Urtheil® wird nirgend vermißt. Seinen reformirten Stand« 
punft macht D. Sad faum in einer anderen Form geltend, als in 
der einer gerechten Freude daran, daß zu der Auswahl bedeuten» 
derer und epochemachender Prediger der gefhilderten Zeit ein in 
der That nicht Heines Contingent von feiner Kirche geftellt ift. 
Die Thatſache ift zu augenfälig, um verfannt oder für zufällig 
erklärt werben zu können. Sie zeigt fich nicht durd die ganze 
Geſchichte der evangelichen Kirche hindurch, fondern nur feit dem 
Berfall der Predigt nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts. 
Unfer Verfaſſer deutet einige Male gelegentlich an, daß in ber 
teformirten Kirche das kirchliche Gemeindebewußtſein nie 
fo eingefchlafen iſt als in der lutheriſchen. Er weiſt damit ohne 
Frage auf eine der wejentfichften Grundlagen gedeihlicher Predigt 
Hin. Außerdem erinnert er, 3. B. bei Reinhard, an den unnatiir« 


Li} B KIT 3 


lichen Peritopenpwang. Daß derfelbe, bid zu eimterit Verbet um ben 
Oberhefprediger in Dresden, von den herkömmſichen Eangein 
abzuweichen, ausgedehnt, wohl verlummernd wirken bönme, wirkt 
müffe, wird auch wicht im Abrede zu ſtellen fein. Doch mar in 
BVorübergehen, und wo die Gelegenheit es mit ſich bringt, gehn 
D. Sad ſolcher comfejfionellen Befonderkeiten Hönsileiphet Art. 
Ein Punkt, wo wir uns nit durchuus in Tiebertinftiaum 
mit dem Herra Verfaſſer finden, ift fein Urttell über die halb 
oder ganzratiomafiftifche Predigt. Wusgehemb wor ein 
berechtigten, auch aufererſeits ſchon anerfannten, apologetiſchen 9 
terefe für Homileten wie Spalding u. A., die fange geung m 
verfannt al gefammt, ungebührlich in den Winkel, wenn nik 
uoch übler placirt worden find, nimmt D. Sad diefeiben md 
unferm Dofürgalten gegen die vulgare Mißachtung zu viek in Gäu 
Bas er (S. 2). kommen ſieha, „Die geredhtere und theilnehmerden 
Beurteilung“, if} in gewiflen reifen unſerer Zeitgenoſſen, weihe 
für „NRettungen* eine leidenſchaftliche Vorliebe Haben, ſo ſehr ſchea 
da (fängt bie nenefte Kirchengeſchichteſchrelbung doch ſchon an, fih 
für den Berliner Allgenteinen Bibliothefe Nicolai zw ertointen), 
daß bereits vor allzu großer Gerechtigkeit zu warnen am ber Zeh 
zu fein ſcheint. So meinen wir, das Urtheil (S. 13) über „de 
älteren praftifchen Superuturaliften“ werde limitirt werden mlffen 
Seldft von Spalding tragen wir Bedenken, ein utterfchäittechcet 
Feſthalten an dem Grumde ber bibliſchen Offenbarung und ba 
Grundlehren des edauheliſchen Vekenntniſſes zu präbiciren. Cem 
fieht der Mann fehr würdig auf dem Poften feinte Zeit; mi 
Wärme, mit Begeifterung und im Segen die damals hast ang: 
focgtenen Wahrheiten der natürlichen Religion, umd mit ihnen ex 
wat Stüd Chriſtenthum vertheibigend. Seine perſonliche Eier 
haftigleit und Liebenswürdigleit, dieſer vebliche WBorfehungglink, 
dies fromme Gottoertrauen, diefet tiefe ſitiliche Eruſt, bieſe herr 
Ge Anhanglichteit an Jeſu, welche er und feine Genoſſen in fd 
uud Anderen Gegen und pflegen, find Hoher Auerleunung wei; 
ja ruhrend und befchäsmend iſt die Treue und Cewifjinpaftigft, 
mit der diefe Männer als Chriſten und Prebiger ihr Pt ne 





Geſchichte Ber Predigt. [23 


waltet Haben, aber — jenes grumdfägliche Anffichberngenfaffen ſolcher 
für unpraktiſch und nicht nutzbur erflärten, Barum von der Predigt 
außgefchkofferten Lehren, wie Trinität, die beiden Naturen in Chriſto, 
Genugthuung, fa ſelbſt der Fundamentallehre won der Rechtfertigung 
durch der Glauben ohne bie Werke kann nicht mehr umerfehütters 
fies Fefthalten am evangelifchen Belenntnig genannt werden. 
Bar die Predigt, welche am diefen Grundfehren unerfchütterlich 
feſthtett, damaks großenthells vetknöchert und verſteinert, fo wun ⸗ 
dern wir ans Meinen Augenblick, wenn die damalige Zeit vum der 
Spaldingſchen Prebigt ben Eindruck ber Frifche und des Lebens 
empfing, daran eine Freude Hatte wie am neuentdeckter Wahrkeit, 
und davor wie trech lang eingeathmeter Kellerluft den Geruch eines 
grunen Feldes einfog, ja mir nehmen nitht Anftend, fie fubjetio 
ala einen Fortſchritt zu bezeichnen; aber Männer wie Ernefti um 
Herder erhoben duch eben darum Widerfprinh gegen bie Spafdting’- 
fen Grundſätze, weil fie darin das Gegentheil von unerfchilttertem 
Veftgalten am evangeliſchen Bekenntniß fahen. Noch mehr hätte 
bei Ferufalem der Eorfliet zwiſchen Chriftentkum und natur ⸗ 
tier Refigion, den er zu überwinden außer Stande wur (je möchten 
wir die uwerſöhnten Elemente lieber bezeichnen, al® mit D. Sack 
af S. 56 „Verftandesstldung und Gefirhleteben, die nicht wahr ⸗ 
haft Eins geworden"), mach unferem Dafitchaften anerkannt werden 
ſollen. Befonders aber ftoßen wir umd an Abraham Telter’s 
Einreihung unter die „Älteren praktiſchen Supernaturuliſten“. Wir 
nehmen bed Herrn Verfaſſers eigene Schilderung diefes auf &. 366 
mit Zollikofer zuſammen als Bahnbrecher der rationaliftiſchen Pre ⸗ 
digt angefehenen Urhebers des, man darf doc, wohl ſagen, berüch ⸗ 
tigten Wörterbuches über das N. T. gegen dad Recht jenes Platzes 
in Anfpruch. Daß Teller in der Predigt nicht gegen die Kirchen⸗ 
Ihre polemiſirt Habe (S. 98), Tantı nicht hoch angefehlagen werden. 
Das war üͤberhaupt nicht Ste Meife der chrenhafteren, zumal in 
Höheren Kechenümtern flehenden Prebiger der Bolt; ſolches Ware 
gehen verbot die hochgehaltene prudentia pastoralis. Wenn von 
Derder hervorgeheen wird, daß er einmal ſchonungelofer gegen 
den Orthodoxismus in der Predigt auferat, fa iſt za bedenlen, daß 


762 Sad 


er damals 27 Jahre alt war. Die Nachbarſchaft, in melde Tel 
mit Predigern wie Sturm und Tobler gebracht ift, zeigt recht ea 
tant die große, dem Verfaſſer natürlich durchaus nicht unbekanm 
Differenz zwiſchen Teller und diefen wirffihen Supernaturalifte. 
Für die Erinnerung an den heute in Deutfchland wohl fehe fremd 
gewordenen Tobler, ben treuherzigen ſchweizeriſchen Prediger un 
ascetiſchen Schriftfteller, der aber unferes Wiſſens nicht 1719 in 
Züri, fondern 1732 zu St. Margarethen im Rheinthal geborm 
iſt, fei beifäufig dem Herrn Verfaſſer Dank gefagt. Und da wir 
Tobler hier mit Sturm fo zufammengeftelft fehen, fo möge 
erlaubt fein, einen in der Zeit einigermaßen überrafchenden Zu 
confeſſloneller Feindſchaft zwifchen Beiden anzuführen. Beide lic 
gleichzeitig Erbauungsſchriften für Communicanten ausgehen. Stum 
findet in der Vorrede zur zweiten Auflage der feinigen: „Heilig 
Betrachtungen eines Communicanten“ angemeffen zu bemerfs: 
„Sch Tann bei diefer Gelegenheit nicht umhin, einer Schrift Er 
wähnung zu thun, welche beinahe zu gleicher Zeit mit meinen Be 
trachtungen an das Licht getreten: Ehriftliches Nachdenken, auf ver 
nünftigen und. andächtigen Gebrauch des heiligen Abendmahls gu 
richtet. 2. Abh. Zürich 1763 +). Blos die Liebe zu dem Glauben, 
den zu befennen ich fo glücklich bin, bewegt mich, dag ich mein 
Leſer erſuche, ſich nicht durch das verborgene Gift der focinianifgen 
Irrthümer, welche in diefen wenigen Bogen enthalten find, ver 
führen zu laſſen. Meine Schrift ift diefen Betrachtungen gan 
unähnlih, und ich freue mi, daß ich dies mit Wahrheit foge 
Kann. Der barmherzige Gott verhüte dies Unglüd bei mir, di 
ich nicht ein Läſterer feines Namens und feiner Geheimniffe, os 
ein heimlicher Verächter feiner Heiligen Sacramente werde.“ 
Doch — es werde und vergönnt, unfere obigen kritiſchen Br 
merkungen wieder aufzunehmen. · In der Beurtheilung der „Hrif: 
Tihen Moralprediger“ feines dritten Zeitraumes zeigt de 
verehrte Herr Verfaſſer und zu viel Gunft, und gegenüber de 


a) In Tobler's ſammtlichen Ebenaugelqritten Garich 1776) fieht fr = 
weiten Bande, ©. 79—160. 





Geſchichte der Predigt. 758 


leeren Nüglichkeits« und der abgefchmadten Naturpredigt zu viel Glimpf 
und Schonung. Es fei ferne, den Veillodter's und Marezoll's das 
Brädicat „hriftlih“ im jedem Sinne abzuſprechen; fie mögen es 
fogar in einem volleren Sinne tragen, als in dem, ben fie felbft 
G- B. Marezoll in feiner Schrift von der Beftimmung des 
Kanzelredners, wo er die Frage: was ift Hriftlich? des Breiteren 
beantwortet) damit verbinden. Aber fo gefliffentlich ihnen verliehen, 
tie etwas ihnen unterſcheidend und eigenthümlich Zugehöriges, ober 
doch in vorzüglichem Mage Gebührendes, Hat das Prädicat etwas 
Srrefeitendes. In welcher Losgeriſſenheit von den hriftlichen Lebens« 
wurzeln die „Tugend“ bei Marezoll auftritt, Hebt unfer Herr Ver⸗ 
faffer felbft hervor. Es fei uns geftattet, auf feine beiden An- 
dachtsbucher, bie hier wohl ben Predigten gleichgeftellt werden birfen, 
u verweifen. Das eine unter dem ftolzen Titel „Das Chriſten- 
tum ohne Geſchichte und Einkleidung, ein Andachtsbuch für nach⸗ 
denfende Chriften“, fehrieb er als 24jühriger junger Menfch, freilich 
anonym; das andere „Andachtsbuch für das weibliche Gefchlecht, 
vorzüglich für den aufgeflärten Theil deſſelben“ ein Jahr fpäter. 
In der Vorrede zu jenem, das er in bie vier Abfchnitte getheilt 
bat: von Gott, von der Vorfehung, von der Verehrung Gottes 
dur die Tugend und von der Unfterblichleit, meint er, „daß ben» 
fende Ehriften, die fich doch immer mehr an das Geiftige, Unver- 
änderliche und Praktiſche beim Chriftentfum halten, ganz vorzüglich 
folhe Schriften nöthig haben, wo fie die Hauptwahrheiten der Mer 
figion, welche keinem Zweifel und keinen Streitigkeiten unterworfen 
find, worüber ſich alle Parteien vereinigt haben, und welche un⸗ 
mittelbar zur Tugend, zur Ruhe des Herzens, zur Volllom- 
menheit und Gfücfeligkeit hinwirlen, von Gefchichte, Meinungen 
und Einffeidung ununterbrochen vorgetragen finden“. Darin ift 
doch Bewußtfein des Widerfpruhs mit dem wirklichen 
Chriſtenthum nicht zu verfennen. Denn das wirkliche Chriftens 
thum ift ja wohl unter der Gefchichte und Einkleidung zu verftehen. 
Der Tebendige Ehriftus, defien Wort: „ohne mich Könnt ihr nichts 
tun“, feine Junger fort und fort als gültig erfennen, ift das 
Mittel, der Aufenthalt und das Hemmniß, mit defien Umgehung 
Theol. Stud. Jahrg. 1868, 60 


Tu DIT 


der junge Marezoll bie denlenden Chriften unmittelbar zur 
Tugend u. f. w. führen wird. Man fage nicht, das fei die Nr 
eines unreifen Junglings. Nein, dies grüne Holz hat, ala a 
bürrer wurde, dem lebendigen Chriftus, der Geſchichte fein 
Lebens, Leidens und Sterbens feinen anderen Platz gemäßrt. Dice 
Anmaoßlickeit und Selbftzufriedenheit, mit welcher dieſer jngendlict 
Candidat fi aufmacht, für nachdenkende Chriften und für den anf 
gelärten Theil des weiblichen Geſchlechts Andachtsbücher zu wr 
fertigen, um ein bisher unbefriedigte® Bedürfniß der Dienfhkit 
damit zu erfüllen, ift ein hervortretender unangenehmer Family 
im Angeficht des damaligen Rationalismus. 

Wenn wir nun ſchon diefe Moralpredigt als Verirrung fcärfe 
bezeichnet gewünfcht hätten, fo vermifjen wir nach mehr ftrenge 
Worte des Tadels, ja des Zornes gegenüber jener tiefften Ens 
fremdung der Predigt von ihrer durch unjern verehrten Verfaſſer 
bei jeder ſich darbietenden Gelegenheit tremlich feitgehaktenen Anl 
gabe, wie fie auf dem Gebiete der Natur- unp Nützlichkeits⸗ 
predigt erfchredend zu Tage tritt. Den vollen Eindund von der 
Tiefe des ſeit der Reformation beifpiellofen Verfalls der Predigt, 
aus welchen bie Hand des Herrn durch feine erwählten Werke, 
Schleiermacher, Menken und die Anderen, unfere evangeliſche Kirk 
auferftehen ließ, empfängt der Lejer aus D. Sach's Bude vicht 
Wir erkennen die edle Gefinnung, das feine Pietätsgefühl du 
theuren Verfaffers gern an, momit er das Gebiet, defien Greyn 
er berührt hat (S. 241), fchleunigft verläßt, es weder für be 
lehrend noch erfreulich erachtend, von Solchen zu reden, die fd 
noch weiter bis zu Vorträgen über Blatternunpfung verlgren. & 
wiß, es gibt in geſchichtlichen Darſtellungen eine verwerfliche Ba 
Hiebe für die parties honteuses des beſchriebenen Gebiets, m 
gleihdar dem Wohfgefallen an der chronique geapdaleuse ia 
gemeinen Leben. Gin evangelijcher Geſchichtſchreiber der Prag 
unferer Kirche, ber ſich zur Aufgabe ſetzte, dieſe pndenda bericht 
mit behaglicher Ausführlichkeit aufzudecken, wärdg uns ſcheiuu 
etwas dem Vergehen Ham's Verwandtes zu thun. Aber in Mr 
Geſchichtſchreihung muß doch auch das Unerfreulichſte deine Eid 





Geſchichtz des Predigt. FOR 


Reben, menn ap im der eichichte einngl wirllich feine Ftelle hatte: 
Kemen fie bo mit pichten fa vereinzelt vor, jene Predigten au 
Befrderuug der, landwirthſchoftlichen Wehlfohrt u. dol., wurden 
ſſe doch nicht guwa vom den, Wortirerg. der Zeit perhorregeirt. 
In dem Han fo wemhaften Predigexn, mie Zeller und Laöfflar, 
bennmsgegehsuen Megen Magazin für Prediger finden ſich ſolche 
Wrehigten wir „nom munprüchligen Waden! aber „pie auz #8 für 
cum Tagelbhuer iff, wenn ex mehr ala gine Arbeit yerrichten 
hama“ u. ſ. m, mid yon dem exſten Redacteur dieſes Magaziva 
Bad. Gottl. Beyer, erſchien sin Ichsanug VPyedigten üher 
Gegenſtunde aug bes Natur nah den eygngeliſchen VPerikoyen. z. B 
em auften heiligen Pfingſitoge „Über die Luft“, am Trinitatiefeſte 
übe das Nicademusenangefiug: „pas Windee, am seien Gpuntang 
nach Triwitatig gelegenklich ded reichen Mose und armen Yazarıg 


vom Feuer“, om zweiten Sonutag un Triritatzz ni Grund 


des Enangeliums nom großen Abendmahl, wie ſchr Gott auf digſer 
Erde gefargt habe, daB fein Gas well wende“, am dreinhnten 
Sannjage nach Trivitatis „dag Del und Wein zwei wichtige Ger 
ſchenle der Vatue Selen“, am dreiundzugnaäigſten Senntage nach 
Trinitatie vach dem Bindgrofihenenangelune „vom Gelde“, am 
vierundzwamiaſter Corsage nach Tyzivitstjg auf Bexaplaſſung her 
Grweclung non Yairk Türbtrafein „nam Schlgfe“. Abgewandten 
Nugefichts folgen tatalen Banferut qufdecken, um hama ben durch 
Gottas Guahe ſich wieder hehenden Wohlſtand her Predit yir 
Darftektung zu bringen, ſcheinn, um im Bilde weiter au gehen, mit 
den Mietöt her beſſeren Naahsſohne mohl uarrinher. 

Ein andeser Punkt, bei des uns sin paax Gegenhexerkungen 
wergäunk fein mögen, iſt hie won dem Garn Barfakler feiner Ger 
ſchichte zu Grunde gelsgte Pexjodiſirung. sn ſchon die 
Grundtgeitung in mei ſa ungleiche Parinhen von achtzig Id Han 
monde Jahren nichts Sefäliges kat, und wir nersichen wurden, 
deren drea aufaußellen, nämlich sine des noch vorherrſ zendan 
Subernaturalismusß hig @. 1775, hie zweite des hart⸗ 
[Senden Rationaliomus bis 4, 1810, hie dritt, der Na⸗ 
beichung der Predigs bis 6, 1884, jo tneffen unisre Bedenlen 

09° 


756 Sad 


doch vorzugsweiſe jene fpecieflere Zheilung ber erften Periode ne 
bie drei Zeiträume bis 1770 (die älteren praftifchen Supernati- 
fiften), bis 1790 (die Schriftbegriffe hervorhebende Prediger), i 
1810 (Morafprediger u. ſ. w.). Im Wirffichfeit find ſich ih 
Richtungen nämlich fo zeiträumfich nicht gefolgt. Am wenigen 
ift des in jeiner Qualität als Zwiſchenjeit · fo ftarf betonte Jr 
zehend von 17801790 ein Zeitraum bibfifcherer Predigt, wir # 
nad) diefer Theilung unfehlbar erjcheinen muß. Die vornehuin 
Repräfentanten dieſer „Zwifchenzeit”, Lavater, Herder, 3. J. hi 
find ebenfogut Zeitgenoffen der Teller, Sturm u. j. w., aldas 
der Zollilofer, Rofenmüller u. f. w., während fie bier jenuy 
folgen, dieſen voranzugehen feheinen. Die beiden zwiſchen Here 
bis Lavater und Heß eingefchalteten Ewald und Detinger halten wit 
dort theils fachlich, theils zeitlich nicht an ihrem Plage. Bon if 
fann unmöglich gejagt werden (S. 160), daß fie ſich an Lavak 
und Herder angefchloffen Haben. Nah unferm Dafürhalten it 
Ewald pafjender mit Sturm zufammen zu ftellen; feine Nat 
predigten charafterifiren ihn. Der alte Detinger gehört ar 
entfchieden in den vorigen Zeitraum, perührt er doch faum mit 
dem Ende feines Lebens den Anfang diefer „Bwifchenperiok'. 
Auch die Geſellſchaft, in der wir ihn auftreten laſſen würden, wirk 
eine ganz andere fein. Welche? erlauben wir uns fpäter furz a: 
zudeuten. Auch für Zollikofer wünfchten wir eine andere Stlk; 
trogdem was von feiner unterſcheidenden Eigenthümlichkeit gefag 
wird, erfcheint er doch von feiner natürlichen (Zeit- und Gefinmung:‘ 
Genoffenfchaft zeiträumlich getrennt. Daß er fpecielfere ethiſte 
Themen behandelt, macht feinen großen Unterfchied, und aud Tee 
liebte ſehr fpecielle Themen. Neben bdiefem dürfte Zollifofer = 
paffendften ſtehen; er it ihm durch feine Anficht von der Bikl 
und ihrer Transponirungsbedürftigkeit aus dem Hebräifchen in dat 
Germanifche (wie unfer Verfaffer auch S. 189 Hervorhebt) nk 
verwandt, wenn auch vednerifch ungleich mehr begabt, ja unter Alt: 
diefer Zeit Mosheim an Clafficität der Rede am nächſten ſteher 
theilweife vieleicht ihm übertveffend, ein Redner, von dem Gem 
fagte: „er empfand tief und fah kalt aus“, der Jeinem Aubitoriem 





Geſchichte der Prebigt. 787 


amer. imponirte, auch wenn er, wie in den Tegten vier Jahren 
ines Lebens ausnahmslos *), feine alten Predigten wiederholte. 
Ohne Frage wird fir die nähere Gruppirung bei folder Ge» 
Hichtsdarftellung die Subjectivität ihr Recht behalten, und uns 
mmt es nicht in den Sinn, hierfür Maßgebendes aufftellen zu 
sollen. Aber was wir nach dem eben Angedeuteten hier für In—⸗ 
onvenienzen nad) diefer Seite halten, ließe fich vielleicht durch eine 
nder& gegliederte Periodifirung vermeiden. Wir würden innerhalb 
er drei von und vorgefchlagenen Perioden auf eine weitere Zeit» 
ntheilung zu derzichten für zweckmäßig Haften, und in der erften 
jeriode (1740 bis c. 1775) unterfcheiden: a. Epigonen der Or- 
jodoxie (wenige bedeutende Nepräfentanten, aber doch von Leipzig 
nd Tübingen aus fi contingentirend: Erneſti, Morus, Storr); 
" Epigonen des Pietismus (Phil. Srefenius und die Würtemberger 
Steinhofer, Carl Friedr. Hartmann, Carl Heinr. Rieger, Flattich, 
Nagnus Friedr. Roos und bie Theofophen Oetinger und J. 8. 
zricker); c. Reaction gegen dieſe abfterbenden Richtungen, und 
Beftreben, die Predigt dem Bebürfnig der Gegenwart anzupaffen, 
nit Feſthaltung des evangefifchen Bekenntniſſes (Mosheim, Cramer, 
Ing. Sad u. A.); d. Ueberwiegen de reagirenden Elementes, der 
Jeitbildung, mit beginnender Indifferenz gegen das evangelifche 
Befenntniß, die mehr und mehr dem Preisgeben deſſelben fich nähert 
Spalding u. 4. — Teller, Zollitofer); e. Singuläre Geſchmacks- 
ichtungen, tie die fentimentale Predigt im Young’fchen Geſchmack. 
Die beiden erften Richtungen unter a. und b. in feine Gefchichte 
ufzunehmen, Tag nicht im Plane des Herrn Verfaffers (vgl. Vor⸗ 
de, ©. V); aber es ift nicht zu verfennen, daß ihre Darftellung 
ücht blos in eine Prebigtgefchichte des Jahrhunderts von Mosheim 
38 Schleiermacher hineingehört, fondern ohne diefelbe der Lefer 
eicht den unrichtigen Eindrud empfängt, ald wenn diefe älteren 
homiletiſchen Strombetten mit Mosheim’s Auftreten fofort verfiecht 


a) Dies berichtet ein enthufiaſtiſcher Verehrer Zollikofer's, der ihn gerade 
in biefer Zeit regelmäßig hörte, in einer Meinen, übrigens höchſt unbeden- 
tenden, Schrift: „Gejchichte meiner Bildung zum Prediger”. Suizbach 1820. 





788 Sa a 


waren. Hier Be d. erhält nm auch Ortinger feine Yitige Su 
lung Ad Geſellſchaft. Damit wird denn auch Sibbeitfäähb, m 
un namhaften Domcleien der mit Moshelm anthebenden Bildes: 
limte, anf welche D. Sal es eigentlich faft ausſchließtich abyrfia, 
auffalleud arm Ft, mehr auf den Plan yebradht. 

.  Bötdudzufchideh wurden wir fir anhenteſſen Halten ein fen: 
marifehe Darftellung des Predigtzuftandes, den Mocheim vorfen 
Bequuem ließe ſich ſolche an Reinbeck, den theslogiſchen Wolfe, 
hit welchem and D. Süd den Uebergang ans der alten Zi 
die mit Mosheim auflommende neue dezeichnet, eben dein dt 
3.3. Rambach zu nemmen, vom jenem erkennbat derſchan 
doch durch verftändigen Gebranch der Wolf'fchen Phitefppäk ft 
die Predigt verwandt, anſchließen. Auch bie Atigfich piehfftt 
Berdtonang Hot 7. April 1739, deren unſet Verfafſer Etwühnun 
het, ohne Höfer auf fit einzugeheit, iſt fehr brauchdar yet Chr 
ralieriſtit fire die Vrebigtiweiſt, die damals gang und gabe wi. 
Ste dringt auf logtſche Ortung, präcpen Ausdruck, paffende mb 
ohne Auwelldung von BIbeeieh, Enthaltung won bitktelt 
gwishen Redensarten und üllegeriſchen Ausdrucken. Sch 
ftachtbar Meike dazi verglichen wetben Be Verbrdnung daB dur 
furſilich ſuchfiſchen Oberebuſtſiorinms vorm 16. Noventher 174, 
needed Getenlheil einſchürft, ſich des Phil bſ ophirens mi 
ber Rangel zu euthalten, uad die verwandte, geharniſchee Inſtrurin 
far Schleswig⸗ Holftein, welche bie unnkgen Berbeistään 
in der Predigt vetbietet und die bittiſche Begrundung drin 
utenplehtt. Man ficht: bas alſo wat um die Zeit des Auftren 
Moehenns Wer hetrſchende homtetiſche Gegraſcch, wicht mehr 
Ef Die reif Where (Lelpziger) und die piriſtſe 
Gaͤlleſche) Predigt, ſondern bie ſozenununte phildſophiſche und ir 
fozenanutte bibliſche Predigt, fee in trottene unfruchthure Dein 
fwatronsfucht werfäutenb, vicfe ent Eento Bla Bihelſpruchen der 
ſtellend, ſalbadernd ohne Gedankenzucht, beide an Gefegmadiefiks 
miteinander wetteifernd. In ſehr bezeichnender Webereinftimmm 
damit fermulirt denn auch der Göttinger Philolog Gesner das fe 
mitetiſch Reformatoriſche im Moeheim fo: „Uebekur illi matt 





Geſchichte des Predigt. " 79 


in melius coneionandi ratio, illa media et utrinque redactä, 
hine ab ipsa corradendi sine more modoque, quidquid 
cohvenit vel non convenit, intemperantia; hine a sicco 
ilo et exsangui genere demonstrandi, cujus operä, 
quae apparebant omnibus, fiunt obscura, et quae indubia 
erant, convelluntur, illa, inguam, quae sine spinis dialecti- 
corum vim omnem demonstrationis et amplius quiddam, 
nempe persuasionem in animis hominum exserit“., Man fah 
deshalb in Mosheint, der die Predigt, im Unterfchiede von jenen 
beiden Richtungen, der einen fo gut wie ber anderen, wieder unter 
dem Tünftlerifchen Gefichtspunfte faßte, ganz beſonders aud den 
Wieberfyerfteller des guten Gefhmads, als melden ihn z. B. 
Gellert preift. 

Die zweite Periode von 1775—1810 würden wir etwa im diefe 
Abſchnitte zerfallen laffen: a. Fortſchreiten der DVerfümmerung des 
edangeliſchen Kerns in der Predigt (Marezoll, Veillorter u. A.); 
b. Negirung deſſelben, tieffter Predigtftand (die leere Moral und 
Nutzlichteitspredigty; c. Reaction gegen die herrſchende Strömung, 
theils vom evangelifchen, theils vom äfthetifchen Standpunkte. auß 
(Herder, Lavater, Reinhard); d. Nachwirkung älterer homiletiſcher 
Ricgtungen (Schöner, H. Haſenkamp u. A.). 

Für die dritte Perlode von 1810—1834 hätten wir erhebliche 
Defiderien in Betreff der Gruppivung nicht. Freundlicher Ermä- 
gung anheimgeben möchten wir die Frage, ob die Zufammen- 
ftellung von EI. Harms und 2. Hofader als Ermedungs- 
prebiger („Evangeliften“) eine ganz zutrefferide ift. Im Hofader’- 
ſchen Sinne ſcheint uns CL. Harms fein Erweckungsprediger zu 
fein; ihm fehft durchaus die methodiftifche Ader. Viel mehr fordert 
ans Dräfele und El. Harms zu einer Zufammenftellung auf; 
beide find fehr original, beide arbeiten fih aus einem gemäßigten 
und gemuthvollen NAutionalismms heraus, wenn auch jener viel 
langſamer; beide find geiftreich, meitherzig, ſprachgewandt. Was 
Dräfete betrifft, fo Hätten wir eine ftrenger durchgeführte Son- 
derung feiner früßeren und fpäteren Zeit gewünfdt. Die mehr 
als wunderliche Licenz von Bibelterten eigenfter, von Luther feltfam 


769 Sad 


mauthwillig abweichender, Ucberfegung gehört ganz der früheren Zeit 
an. Als pofitifcher Prediger fähen wir ihn gern mit Schleiermader 
in Paralfele, die freilich fehr zu Gunften diefes ausfallen würk. 
Der feinere Tact, die größere Befonnenheit, die maßvollere Leiden 
ſchaftsloſigkeit, das reiner bemahrte Gepräge der religibſen, kr 
kirchlichen Rede, der Predigt find auf Schleiermacher's Seite. Bir 
ftimmen D. Sad mit Freuden bei, der diefe Schleiermacher'ſchen 
Predigten „großartige“ nennt. a, fie waren ein wirffamer Facır 
in der Gefcichte der Zeit, wir wagen zu behaupten; Berlins gi 
ftige Phyfiognomie in jenen Tagen würde ohne Schleiermahet 
Predigten eine andere gewefen fein; fie find ung ein immermik 
rendes Mufter, das wir heute wieder ſowohl Denen vorhalte, 
die auf der Kanzel tactlos politifiren, als auch Denen, die Tategos 
riſch fagen, die Predigt habe ein für alle Mal mit Politik niht 
zu ſchaffen. Der Unglimpf, welden Dräſeke am Abend fein 
Lebens erfuhr, thut auch uns weh; aber erfuhr er ihn ohne Pro 
vocation von feiner Seite? Dräfele war überhaupt eine provo- 
eirende Erſcheinung; Neigung, Bewunderung, ſchwärmeriſche Glori⸗ 
fication, aber auch Berftimmung, Verdroffenheit, ſtarke Abneigung 
provocirend. Seine Perſon trat ebenfo gewaltig hervor. Uns 
- ft. fein bedeutender geiftlicher Nebner vorgefommen, der fo vice 
angehende Prediger, namentlich wifjenfchaftlih weniger tüchtige, zur 
Nachahmung reizte. Sie ſahen durch Dräfele’s Predigten augen 
bliclich eclatante Eindrüce hervorgebracht, und leiteten dieſe aus 
dem Augenfälligften an ihnen, der ftomatifchen und ſomatiſchen 
Begabung und ihrer Verwendung Seitens des großen Redners db; 
diefe Begabung bei ſich jelbft entdeckend, oder fo gut es ging m 
weckend, meinten fie Achnliches zu vermögen; fie irrten ſich übe 
den Sig der eminenten Predigerbegabung bei dem Meifter, und 
ihre Nachahmungsverſuche fielen Häglih aus. — El. Harms 
anlangend, fei und vergönnt zu bemerken, dag wir ihn im Ganzen 
günftiger anfehen, als unfer Verfaffer ihn anzufehen ſcheint. Bir 
konnen auch nicht zugeben, daß es beſonders ſchwer jei, das Eigen 
thumliche feiner Predigten darzuftellen und ihm gerecht zu bear: 
theilen. Wir meinen, das gerechte Urtheil über ihm wird das fen, 


« 





Geſchichte der Predigt. 781 


weiches ihn extra legem ſtellt und ihm in feiner Originalität, 
zu der auch das Paradore gehört, fein eigenes Recht läßt. Harms 
hat wirffich ein Privilegium, mit feinem Maß gemeflen zu werden. 
Bon feinem merhwirdigen Auffage: „Mit Zungen reden, lieben 
Brüder“ unter dem Motto aus Plinius „nec sum contentus 
eloquentia saeculi nostri“ (Stud. u. Krit. 1833), ift bei einer 
Darftellung des Predigers EI. Harms nicht wohl abzufehen; er 
ift die Incarnation der dort aufgeftellten Säge. Unfer Herr Ber- 
faffer gedenkt des Auffages nicht, wie er grundfäglic die Theo» 
tie der Predigt von feinem Buche ausgefchloffen Hat. Er 
verzeihe uns, wenn ums feine Motivirung diefer Ausichliegung, die 
er aber zu unferer Freude, und daß wir fo fagen Genugthuung, 
factifch keineswegs durchführt, nicht überzeugt Hat. Wie der ger 
nannte Auffag von CI. Harms nebft dem bezüglichen Theile feiner 
Baftoraltheologie zur homiletifchen Charakteriftil diefes originellen 
Zungenrebner8 das Ihre beizuftenern im Stande ift, jo auch The⸗ 
temin’® „Beredtfamfeit eine Tugend“ für die Charakteriftil diefes, 
antike, franzöfifche und deutfche Redeeigenthümlichkeiten in fich eini- 
genden Prediger. Die Predigten ftatt aus ihnen felbft, nad den 
Theorieen der Prediger zu beurtheilen (S. 358), wäre darum nod 
nicht die Pflicht des kritiſchen Gefchichtfchreibers, der auch die Pre⸗ 
digttheorie grundſätzlich in feine Darftellung aufnähme. Die geringe 
Zahl vorzüglicher theoretifcher Werke Homiletifchen Inhalts in dem 
befchriebenen Zeitraum (S. IV) ſcheint uns aud fein ftichhaftiges 
Motiv für ihre Nichtberüdfichtigung. Nehmen wir übrigens zu den 
genannten die bezüglichen Spalding'ſchen, Herder'ſchen, Reinhardt’ 
ſchen, Schott'ſchen, Schleiermacher'ſchen Schriften Hinzu, fo ift ihre 
Zahl auch fo-gering nicht, und die Fluth von „Anweifungen zur 
geiftlichen Beredtſamkeit“ in Rofenmüller’fcher und Ammon'ſcher 
Manier enthält gerade fo viel Vorzügliches als die entſprechenden 
Leiſtungen auf bem Gebiete der Predigt. — Die durd; Röhr ver 
tretene jrationaliftifche Predigt führt unſer Verfaſſer als 
Reaction gegen bie mit dem zweiten Jahrzehend auftretende evans 
geliſch neubelebte Predigt ein. Iſt es nicht naturgemäßer, fie ale 
Vortfegung des breiten Prebigtftroms der vergangenen Zeit anzu» 





ven LIT} 


fegen? Milerbings tritt, je mehr die bibliſch· und kirchſcc · guch 
Prebigtrichtung erftarft, and die rationafiftifde polemiſch anf; dr 
jur Reachion feine jinfenden Sräfte famtmeind fchen wir ben ih 
ganz in bie Defenfive gerathenen Rationalienmd erft in fpätm 
Zeit, feit 1840, auf den Plan treten. Schon äußerlich gikt fä 
Nöhr als Erbe des Teller - Löffler - Antnien’fchen Nationales m 
erfehnen, indem er ihr Prebigermagazin fertfegt. Der Ratiencin 
mus fühlte fi damals noch entidjieden im Poffeß, und wir mim, 
va ſich eher die Predigt Tholuck's u. A. als Reaction gegen Kr 
talionaliftiſche bezeichnen laffe. Seiner Löblihen Weiſe ttm, k 
den minder erfreulichen Partieen in der Geſchichte der Prebitt ui 
breite Vollſtandigkeit zu verzichten, nennt ber Herr Verfaſſer, vi 
ſchon erwähnt, Röhr allein als Vertreter diefer ſpateren ratiom - 
uuſtiſchen Predigt. Wenn nur dieſer Lakonismus manchen Leſer anf 
tzier nicht zu der Meinung verleitet, der Weimar'ſche Genitel- 
fuperintendent habe im dritten Decenmbm unferes Jahrhumdern 
eine gar vereinfattte Stellung eingenommen. BVielleicht erwattet 
Mancher in einer Geſchichte der Predigt, die bis in das Wirte 
Decennium unferes Jahthunderts hineinteicht, doch eineh Namen 
wie Schmalz u. A. Ucberhaupt, werm Verfaſſer auch feht Fakt 
hat (S. 7), Mic bie bedeutenderen Männer auf dem Gebitte der 
Vredigt zur Darftellung bringen zu wollen, und fein Gier bechech 
tetes Maß anf allgemeine Zuſtimmung zu rechnen Hätte, fo vet⸗ 
amiffen wir dennoch manchen Namen. So erſcheint uns die Ucher 
gehung Zinzen dorf's durd die Bemerfangen S. 316 nid 
gerechtfertigt; wenn vor Albertini nicht bezweifelt wirb, dag er af 
die Predigt außerhatb Herrnhut's eingewirkt babe, fo iſt dies m 
Zingendorf noch viel weniger zu bezweifeln. Welche wunderden 
Gewalt Haben feine Berliner Heben in weiten Kreiſen audgeikt, 
als fie gehalten wurden. Anftatt des Kitchenhiftorilers Kertle, von 
dem eine einzige Caſualrede vorjuliegen Füheint, hätten wir eh 
ertwartet, Prediger wie Tzſchirner, Löffler, Rlefeder 
Joh. Frieder. Krauſe zu begegnen. — Die ©. 329 Auf 
gezählten hätten wir gern an ihrem Orte eitgerdiht gefehen, ſo den 
trefflichen, auch ſchon menig mehr gekaunten Daniel Mäslin 





Geiätäte der Predigt. vos 


neben Reinhard, Eylert und Ehrenberg nem Kanften und 
Ribbeck, Ooßbach atben feltten Lehtet Schlelermacher, Rudel⸗ 
bach und Stier nah dem Abſchnitt, Neue Anregungen“. 

Ja wir geheft, was die freilich ſchwer zu begrenzende, und wir 
funmren ganz bei, fehe ſubjertive Forderung der Volfftänigfelt 
anbetrifft, noch eitten Schritt weiter, und möchten für die Geſchichte 
der Predigt außer ber in gedruckten Predigtſammlungen vorliegenden 
Literatur noch weitere Quellen in Anſpruch nehmen. Eine 
Geſchichte des Drama's ſetzt fi zufammen aus der vorliegenden 
drammatifchen Literatur, und doch wird auch fie über die Bücherwelt 
hinausgehenb, um die tHentralifche Aufführung, um die Aufnahme 
beim Publikam fich zu kummern haben. Eine Gefchichte des Kirchen⸗ 
ledes, um lit näher liegendes Beiſpiel zu wählen, wird geichtpft 
aus dert Hin und Her verbreiteten Liederſammlungen, doch wirb auch 
fie der muhſamen Unterſuchung fich nicht entichlagen können, das 
blos In den Buchern Deponirte von dem tm Herzen der Gemeinde 
Lebenden, das in den Beſitz Aller Uebergegangere von dem zu 
feiner Zeit und in feinen beſchrunkten Raumgrenzen Blühenden zu 
fordert. Mit der. Prebigt aber ift es noch etwas Beſonderes. 
Daß fie noch eine andere Bubfichtion erfährt als bie des Lebetrdigen 
Vortrags in der Getmeinde, iſt ihr nicht weſentlich. Im Ganzen 
ift wohl darauf zu rechnen, daß die Prebigt der Meifter in ber 
Yonitetifjen Lunft, ober Derer, die ihrer Zeit dafiir galten, ben 
Weg in He Preſſe findet. Unkehren freilich darf man den Say 
ja nicht. Andererfeits wer keunt nit eine und bie andere bedeut⸗ 
ſame, telch geſegnkte, Ptedigerwitkſamkeit, von deren homiletiſchen 
Lelftüngen, ſei es wegen ihrer, fo zu ſagen, ſtegereiflichen Beſchaf- 
fenhelt, ſei es burch die Beſcheibenheit ihrer Urheber, oder wegen 
der Stille aid Verbotgenheit ihres Schauplatzes, oder ans welchen 
urſachen ſonſt wenig wber nichts über die guttesdienftftche Stinbe 
und Aber die Setlen der Höret Hmaus firirt wird. (Aus after Zeit 
erintaen wit an Calbin, der wahrlich viel und wefflich geprodigt 
Bat, won deſſen tauſtnden Ptedigten aber wenig gebruckt iſt; aub 
ſpatetet Zeit om Whitefiels und Wesley!) Melk ein Meint und 
zufalliger Theil der geſummten Wrebigt if doch, was als homile ⸗ 


16 Sae 


tijche Literatut gedruckt, wenn and maſſenhaft, vorliegt. bot 

quod non est in actis, non est in mundo. Sehr wohl. Rır 

daß wir die gedrudten Predigten nicht für die einzigen Acten erfen- 

nen. Bifitefionsrecefje und ähnliche Urkunden in Synodal- und Eon: 

fiftoriafarcjiven — wer fie fich zugänglid machen Fönnte — mühten 
manchen Quellenbeitrag zur Predigtgefchichte Tiefern. Nicht weniger 
die Special- und Rocal-Rirchengefchichte, Flugfchriften, Briefe, Tage⸗ 
büder, Biographieen von Predigern. Sollte die Ausbeute aus dieſen 
Quellen nicht erheblich fein, um die Bilderreihe der großen Humi- 
leten mit ganz neuen Namen zu bereichern, fo erweifen fie ih 

vielleicht um fo ausgiebiger für eine vollftändigere, allfeitige, g- 
ſchichtlich treue und farbenreiche Charakteriftit von predigtgefchiht- 
lien Zeiträumen, von homiletiſch eigenthümlichen Kreifen. Auch 
in diefem Jutereſſe ift die Heutige regfame Thätigfeit auf dem bie- 
graphiſchen Gebiete, namentlich der quellenmäßigen Predigerbiogro- 
phieen, wie fie Ledderhoſe, Ehmann u. 9. neuerlich geliefert haben, 
mit Freuden zu begrüßen. So ift beifpielsweife da8 von Ehmann 
(Tübingen 1864) gezeichnete Lebensbild des württembergifchen Pre 
digers Joh. Ludw. Fricker (f 1766) fehr viel mehr als bios 
das Lebensbild diefes einen Mannes; es bietet überrafchend viel 
und intereffantes Material zur Charakteriftit der fpäteren pietiftifchen 
Predigt vornehmlich Schwabens, aber auch des unteren Rheinlandes 
Homiletifche Fragen von fundamentalfter Bedeutung werden dort 
zwifchen Fricker und feinen Freunden in einer Weife verhandelt, 
welche geeignet ift, das im Allgemeinen ſchwerlich mit Unrecht un⸗ 
günftige Urtheil über diefe fpätere pietiftifche Predigt nicht unbe 
trächtlih, und zwar zu ihren Gunften, zu mobificiren. Wir nr 
nigften® find überrafcht worden durch das Maß von homiletiſcher 
Kritit, das diefe in der Literatur meiften® ungenannten, frommen 
Prediger üben, und wie fie ſich das Brauchbare in den Zeittendenzen, 
3 B. aus der Wolf'ſchen Philofophie, zu Nute gemacht haben 
Und felbft bei Homileten, von benen eine Binlängliche Zahl gedrudter 
Predigten vorliegt, würden neben biefen weitere Hülfsquellen 
zur Bervollftändigung ihres Charakterbildes möglicht 
zu fuchen fein, Ueber die immerhin erft in zweiter Linie wichtig, 





Geſchichte der Predigt. 768 


darum boch nicht unweſentliche Seite an der Predigt, den Vortrag, 
über die Aufnahme, welche fie fanden, fagen uns ohnehin die ge— 
drudten -Predigten nichts. Wir denken an Herder. Nach den jehe- 
undzwanzig Predigten, welche von ihm in feinen fämmtlichen Werten 
vorliegen, hat unfer Verfaſſer uns ein Bild von ihm als Homi- 
feten entworfen, dem es an Leben, und wie wir meinen auch an 
Wahrheit nicht fehlt. Wir geben namentlich auch darin dem Ber- 
faffer Recht, daß er die ſchroffe Differenz, welche von Manden 
zwiſchen Herder's früherem und fpäterem veligiöfen Standpunfte 
gefunden wird, mildert (vgl. au H. Erdmann, Herder als 
Religionsphiloſoph, 1866), wiewohl ein Aermerwerden an religiöfen 
Gehaft uns doch übrig zu bleiben fcheint, ebenfo wie bei Jeruſalem, 
Zollikofer, Häfeli, während, harakteriftifch genug, in der fpäteren 
Periode an Predigern wie Dräfele, Harms, Schleiermader und 
vielen Anderen das erfreulichere Gegentheil fich zeigt. Aber, da 
aus Weimar fo gut wie nichts gebrucktes Homiletifhes von Herder 
dem Herrn Verfaſſer vorlag (fiehe indeſſen die homiletiſche Zeit- 
ſchrift „Die Predigt der Gegenwart“ 1864, welde ihren Lauf 
mit einer homiletifchen Reliquie von Herder, einer Predigt aus der 
früheften Weimarer Zeit, 1777, eröffnet Hat), fo haben wir eigent ⸗ 
ich nur ein Yugendbild des Predigers Herder. Ueber den Ein 
druck, den Herder’8 Predigten hervorbrachten, jagt D. Sad (S. 168): 
„Viele feiner Zuhörer wird er aus dem Schlummer herfümmlicher 
Anfihten, aus der Lauheit ihres religiöfen Gefühls herausgeriffen 
haben." Gewiß ift das mit Fug und Recht anzunehmen. Aber 
wie Hoch erwünſcht wären darüber gefchichtliche Zeugniffe. Ein 
paar Andeutungen dazu gibt ein Nachwort zu jener „homiletifchen 
Reliquie“ (Predigt der Gegenwart, 1864, ©. 10ff.). Es fieht 
im Uebrigen fo aus, als Habe Herder in Weimar, zulegt wenigftens, 
weder viel noch gern gepredigt. In ben foeben veröffentlichten 
(Grenzboten 1867, Nr. 21) Briefen Hagt Herder’s Wittwe un 
mittelbar nach feinem überrafchend eingetretenen Tode gegen Garlieb 
Merkel, daß ihr feliger Mann in Actenarbeiten (alfo wohl vor- 
nehmlich Eonfiftorialpräfidiums » Gefchäften) untergegangen fei. Sein 
Sinn ftand damals ganz nad literariſcher dichteriſcher Tätigkeit. 


TER J Ratht 


Die Wittwe ſchreibt 16. Januar 1804: „ — Bit viel au 
gute Gedanlen wollte er noch ansführen — und mußte kei X 
heiten und Eindrücen, die nicht für feise jortfühleuhe Seele warm, 
zu Orumbe gegen! wenn ich daran denle, fo ‚bricht mir dad. Gm, 
Ach, daß in Deutſchland nicht ein, ein Fürſt mar, der ihm ie 
Hand reichte, und ihn dem Hohen Beruf feinen Geiftes won Herzen, 
allein zu Ieben, erhielt!“ — Wie anders Schleiermacher, dan ji 
Vredigerberuf fo viel Befriedigung gewährte! 

Indeffen mit diefen geringeu Audeutungen hrechen wir ah. Bir 
Saben den fir eime kriiſche Anzeige der Sodſchen Cefchiiit ir 
Predigt nus zugewiefenen Raum wohl mehe als. erfüllt. Das dr 
terefje am der treffichen Arbeit, für welche wir mit Bielen dapfı 
find, hat uns meiter geführt, als wir un worgefeit hatten. K 
zweifeln nicht, daß fie, abgeſehen nom ihrem unmittelbar helskerng 
Inhalt, anregeud wirken und verwanhte Studien fürdem wir 
Bär unfere auſpruchslos und wet Herzlichen Rejpect gegem den had: 
verehrten Herrn Verfaſſer gemachten Vemerkungen hitten wir wa 
wohlwollende Aufnahme. 

Profefjr D. ©. Enid. 


— — 


8. 


N. Rothe, Theolagiſche Ethil. 2. Auflage. Wi 
berg 1867. Band J. u. H. 





Nur die beiden erften Bände der neuen Auflage ſeines smfany 
reichen Werkes hat der Berfaffer ſelbſt nach beforgen Können; willen 
in der Arbeit an der erneuten Darftellung der Ergebniffe feines 
Denkens, die er felbft im ber Vorrede als „eine Art vom mil 
ſchaftlichem Teftoment* bezeichnete, ift her treffliche Dann vor u 
genommen worden, viel zu frühe fir Theologie und Kirche, meiden 
gerade jegt Männer, mie er, hochnöthig mären, bie, ihren Gian- 





theoloxſche Ct. m 


must außer und über ben einzelnen kampfenden Parteien wihlend, 
or Anderen zu Briedenswittleen berufen find. Eines ſolchen 
Mannes wiſſenſchaftliches Teftament muß ber ganzen theologiſcheu 
Belt theuer und merth fein; denn gu da, wo man nicht unmit ⸗ 
elbar ihm folgen kann, bietet das Werk der fruchtbaren Anxegungen 
enug und eröffnet die träßtliche Ausſicht auf veue MWahnen then 
ogiſcher Wiſſerſchaft, dir über die ausgefohrenen Geleiſe der alten 
barteien igenbmie hinauszuführen verſprechen. 

Da es möglich: unfere Aufgabe fein Tan, dem ganzen reichtu 
Inhalt dieſer zwei Bande hier darzuftelfen, umſoweniger als der⸗ 
isthe hen Leſern der erſten Auflage ſchon ber Hauptjache nach her 
anut it, fa beſchränken wir uns darauf, einige Hauptpuukte und 
befonbers auch ſolche, in welchen die zwgite Auflage vom dem erſten 
abweicht, zu beſprechen. Zwar wird fi, jeder Leſer, der an biefe 
zweite Auflage mit der. Erwartung berantvitt, in ihr etwas we⸗ 
jentlich Anderes zu finden als in ber erſten, eutſchieden enttäufcht 
finden. Mt in doch das farwale Princip, die Methode der 
inseufatipen Conſtruetion, ganz das gleiche geblichen. Es 
foU ganz uur „wit Begriffen gerechnet werben"; „das Denken 
ichließt, fo lange es ſpeculirt, fein Auge nach außen ſchlechthin und 
ſchaut nur in ſich ſelbſt hinein, es folgt nur der dioleltiſchen Mir 
thigung, wit welcher jeder Begriff ans ſeiner eigenen Fruchtbarkeit 
wieder nene gebiert“. Auf den Einwand, der Rothe van yerſchie⸗ 
denen Seiten gemacht wurde, daß ein Denken, welches nicht anf 
bie Wirklichkeit vefleetirt, eben auch nur Unwirkliches, Lere Him- 
gefpinfte produeire, entgegnet er, daß die Meflexion auf die Wirl⸗ 
lichteit nachträglich freilich zur Speswfation hinzufommen müſſe, als 
Bropbe, ob letztere richtig couſtruirt habe, nur dürfe ſie wicht in die 
Urheit des Speeulirens ſelbſt ſich eiamifcgen; damit ift freilich jener 
Einwand nicht erledigt, dem es handelt ſich eben darum, oh ein 
rein aprioriſches fpontaues Produciren des wenſchlichen Deulens 
uͤbexhaupt möglich ſei, ob #8 wicht vielmehr zu feiner Thatigkeit 
ſelbſt ſchon ber Wechfelwirkung mit ber gegebenen Wirklichkeit ſchlecht ⸗ 
bin bedürftig fer; und wenn der Verfaſſer auf die Wirklichkeit 
feiner Spanifation als: deu ſchlagendtten Beweis für hie Möglich 





768 Rothe 


lelt de8 Speculirens Hinweift, fo wäre eben bie Frage, ob mit 
die Begriffe, die vorgeblih „aus der eigenen Fruchtbarkeit ds 
reinen Begriffs heransgeboren“ fein follen, im Wahrheit nur A 
ftractionen aus der Erfahrungswelt find, die dem unfruchtbar fir 
fenden Denken als Wechfelbälge untergefehoben und dann von ihm 
als eigene Erzeugniffe anerfannt und ausgegeben werden. Weitn 
hin gibt der Verfaſſer auch das zu, daß man nicht mit leerm 
Kopf zur Speculation hinzutreten dürfe, fondern möglichft viel vn 
der Welt ſchon müffe in fein Bewußtſein aufgenommen he 
Allein was ſoll diefe Erfüllung des Bewußtſeins mit conere 
Inhalt nugen, wenn dann doch der Ausgangspunkt des fpeculati 
Denkens nichts anderes fein darf ald „der Act des reinen Di 
zumächft nur nad; feiner formalen Seite; das menſchliche Beni 
fein in feiner abfolnten Reinheit, nad) vollftändiger Abftraction u 
jedem beftimmten Inhalt, die reine Bewußtfeinsfunction‘ ? Cm 
fequent ift dies zwar vom Standpunkt des apriorif—hen Specufiri 
aus; wir erinnern daran, daß der confequentefte Idealiſt, 9.6 
Fichte, eben auch von dieſem reinen Bewußtſeinsact, Ich — 
ausging; aber er konnte von da eben auch nie zur wirklichen 
tommen! Doppelt fatal aber wird dieſer leere Ausgangspunlt ft 
für eine theologiſche Speculation. Diefe beftimmt der Bd 
foffer im Unterfchied von der philofopgifchen Speculation fo: I 
das Zchgefühl unmittelbar zugleich Gottesgefühl ift, fo hat N 
Urtatfache des reinen Denkens zwei Seiten: einerfeits ift fie Bel 
siehung bes Ichbewußtſeins, andererfeits des Gottesbewußtjein 
nach jener Seite ift fie Ausgangspunkt der philofophifchen, nal 
dieſer — der theologiſchen Speculation; und zwar ftehen fich kit 
Ausgangspunfte an unmittelbarer Gewißheit ganz gleich, denn „Du 
Ichbewußtſein ift — wenigftens innerhalb der Theologie, mit 
Vorausſetzung der unmittelbar frommen Erfahrung — als Gotti 
bewußtſein ebenfo unmittelbar feiner felbft gewiß wie als rei 
Ichbewußtſein“. Wir find nun am wenigften gemeint, zu beftreit 
daß der Ausgangspunkt bes theologif—hen Denkens das if 
fromme Selbſtbewußtſein fein müfle; aber das leugnen wir, 
diefes chriſtlich fromme Selbftbewußtfein identiſch fei mit der 


theologifche Ethik. 269 


thatſache des reinen Denkens, mit der reinen (rein formalen) Be— 
wußtfeinsfunction nach volfftändiger Abftraction von jeden beſtimm⸗ 
ten Inhalt. Es ift je vielmehr eine fehr conerete Beſtimmtheit 
des Selbftbewußtfeins, eine innere Erfahrungsthatſache, die, weit 
entfernt, an die.Spige einer apriorifchen Eonftruction geftellt werden 
zu dürfen, vielmehr wie jede Erfahrungsthatfache durch Wahrneh- 
mung und Reflerion (nämlich auf das eigene und fremde fromme 
Selbftbewußtfein) erfannt werden muß. Damit hängt dann aber 
auch zufammen, daß das Gottesbewußtfein keineswegs, wie, Rothe 
will, dem Selbftbewußtfein in der Art coordinirt ift, daß von ihm 
eine der philofophifchen parallel Laufende theologiſche Speculation 
ausgehen Lönnte; das ottesbewußtfein it vielmehr nur eine 
(wenn auch centrale) Beftimmtheit am Selbſtbewußtſein und ſonach 
lann fich die theologische Speculation zur philofophifhen, die es 
mit dem Selbftbewußtfein überhaupt und nah allen feinen 
Beftimmtheiten zu thun hat, nur verhalten wie der Theil zum 
Ganzen, nämlich wie die Neligionsphilofophie zum Syſtem der 
Philoſophie. Wir können uns hiefür fogar auf eine Aeußerung 
‚Rothe’s ſelber berufen; er fagt einmal (II, 172 Anm.), Gott 
fünne ebenfomenig für das erfennende Handeln des Menfchen un- 
‚mittelbares Object fein als für fein bildendes Handeln; die fo 
‚genannte „unmittelbare Erfenntniß Gottes“ fei nur „ein denfendes 
“Erkennen von ſolchen pſychiſchen Vorgängen in uns, welche Wir- 
kungen unmittelbar Gottes felbft in unſerer Seele find“ ; alfo ift 
das Gottesbewußtfein zunächſt ein pfycifcher Vorgang in uns, der 
“andern pſychiſchen Vorgängen coordinirt, dem Selbftbewußtfein aber, 
das alle diefe verjchiedenen Vorgänge in feiner punktuellen Einheit 
h mfammenfaßt, notwendig fubordinirt ift. Daraus würde ſich dann 
"auch, eine von der Rothe'ſchen Speculation wefentlich verſchiedene 
Methode ergeben: ift das Gottesbewußtfein zunächft eine pfycifche 
Wirkung Gotteg in uns, fo ift und zunächſt offenbar nicht Gottes 
Weſen an fi), fondern eben nur feine Gotteswirfung in ung ger 
geben; nur diefe ift das unmittelbar gemiffe; von ihr nur muß 
nach dem Schluß von der Wirkung auf die bewirkende Urſache erft 
auf Gottes Weſen zurüdgefchloffen werden und jo ift alfo der 
Dhedl. Stud. Jahrg. 1888. 5 














770 Rothe 


Gottesbegriff als wiſſenſchaftlicher, d. H. bie Erkenntniß des git 
lichen Wefens Reſultat, aber nicht Vorausfegung und Ausgam- 
punkt, aus dem ſich das Syſtem mit logifcher Sicherheit herum 
fpinnen ließe. B 

Gehen wir mun auf da8 Materiale feiner Speeulation ein, Io 
ift e8 zunächſt der Gottesbegriff felbft, was zu beachten if. 
Wie in der erften Auflage, fo wird auch jet wieder das abjkıt 
Sein, ald reines, beftimmungslofes, ſich felbft verber 
genes Wefen, bloße Indifferenz oder Potenz des beftium 
ten Seins als das Promotore in Gott bezeichnet; nur ift es mt 
unmittelbar aus dem Begriff des „Abfoluten“ gewonnen, form 
mittelft eines Heinen Ummegs, der ala Verbeſſerung bezeitn 
werden muß. Nicht unmittelbar im Begriff des Abfoluten fat 
der des beftimmungslofen Seins (mie es nad) der erften Auflag 
ſchien), jondern e8 liegt darin vielmehr der des fchlechthin Durd- 
ſichſelbſtbeſtimmtſeins, eausa sui. Trefflich wird Hierbei ausgeführt, 
wie der — jedenfalls unvermeibliche — Begriff eines urfpräng 
fichen, durch ſich felbft feienden Seins nur dem Vollkommenen und 
nicht dem Unvolitommenen als Prädicat zukommen fönne, da dat 
Nichtvollkommene in irgend einer Beziehung durch Anderes caufırt 
fein mußte. Nun aber wird ans dem Begriff causa sul in 
Schelling'ſcher Weife weiter argumentirt, daß er ebenfomohl dr 
Nichtjein als ein Sein, ebenfowohl eine Möglichteit als eine Wit 
Tichfeit in Gott fege, und zwar fo, daß der Caufalität naf dit 
Möglichkeit oder das bloße beftimmungslofe Sein als der Wirth: 
feit voransgehend zu denfen fei. Während num in der erften Alf 
lage aus diefem göttlichen Wefen fich zuerft die göttliche Mut 
entwidelt Hatte und diefe durch Goncentration in ſich felbft die Pr 
fönfichfeit als das abjchließende Moment des göttlichen Selbfrr- 
wirffichungsproceffes aus ſich herausſetzte, jo ſoll jetzt die gättliht 
Perſonlichteit ausdrücklich das Erjte im actuellen Sein Gottes fi 
und foll dem meiteren Verlauf des Sichauffchliegens des göttfih 
Weſens als das treibende und Richtung gebende Princip vorftehe: 
näher aljo ſoll die göttliche Natur nicht die canjale Baſis für # 
Perfönlickeit, fondern das von der Perfönlichfeit im göttlihe 





theologiſche Ethit. am 


Befen gefegte Product fein. Was damit beabfichtigt wird, iſt Harz: 
8 fol .der bei der früheren Darftellung naheliegende Schein ver- 
nieden werden, als ob die Perfönlichkeit und mit ihr die freie 
Selbftbeftimmung Gottes abhängig, bedingt und beſchränkt fei durch 
ine ihr vorausgefegte Natur, als ob die perfünfiche Freiheit in 
Hott eine unperfönlihe Naturnotäwendigfeit über ſich Hätte, wie 
Zeus das Fatum über fich hat. Die Abficht diefer Neuerung wäre 
jewiß loblich; das Mißliche daran ift nur, daß uns damit diefer 
Selbſtverwirklichungsproceß Gottes vollends rein undenkbar wird‘ 
orher Hatte er doch wenigftens die genaue Analogie des Werdens 
ver endlichen Perfönlichkeit aus ihrer Naturbafis Heraus für ſich; 
eat aber — was follen wir uns dabei denfen, wenn göttlicher 
Berftand und Wille, und zwar in ihrer Einheit als Perfönlichkeit, . 
plötzlich, man weiß nicht wie, hervorbreden aus dem verborgenen 
und fehlechthin beftimmungslofen göttlichen Wefen, jenem reinen 
Sein — Nichts, „in welchem fie zugleich mit allem andern Sein 
verfehloffen wären?“ Genetifch erklärt ift hiermit die göttliche Per⸗ 
fönfichkeit wahrhaftig nicht; warum alfo nicht lieber diefelbe einfach 
boftuliren und auf alle Erflärung als auf ein Ding der Unmög- 
lichkeit ſchlechtweg verzichten? Zudem kommt DVerfafjer mit diefer 
Schein-Deduction der göttlichen Perſönlichkeit in mißlihen Conflict 
mit feinen eigenen Vorausfegungen, wonach nicht das Unvollkom⸗ 
mene das Urſprüngliche und Grund des Vollfommenen, fonbern 
umgelehrt diefes der Grund von jenem fein muß; was aber iſt 
volffommener als die Perfönlichkeit und was unvolllommener als 
ein beftimmungslofes Wejen? 

Ein weiterer Hauptpunft ift die Weltfhöpfung. Es war 
ein Hauptoorwurf gegen die frühere Rothe'ſche Darftellung derfelben, 
daß fie nicht ein freier Act des göttlichen Willens, fondern ein für 
Gott naturnothwendiger Proceß fei, fofern Gott unmittelbar mit 
feinem Ich auch fein Nichtich deuten und fegen mußte, nämlich als 
die reine Materie, welche er ſonach uranfänglich als unvermeidliche 
Schrante feines Ich ſich gegenüber Hatte. Dadurch ſchien ſowohl 
die göttficge Freiheit dev Welt gegenüber beſchränkt, als auch feine 
Abſolutheit durch einen dualiſtiſchen Gegenſatz aufgehoben. Rothe 

dr 


73 Rothe 


gibt die Berechtigung diefer Vorwurfe gegenüber feiner frühere | 
Darftellung zu und fucht ihnen nun dadurd) die Spitze abzubredk, 

daß er unterfcheidet zwifchen dem göttlichen Denken und Gera 

feines Nichtih. Erfteres war zwar nothwendig mit dem Denken 
und Segen des ch gegeben, nicht aber auch letzteres; daß Gott 
das von ihm Hothwendig gedachte Nichtih auch fette, war ein 
Act feiner freien Selbftbeftimmung, die feinen phyſiſchen Zwang, 
wohl aber allerdings moralifche Nothwendigkeit in ſich ſchloß, fofern 
Gott das an ſich Vernünftige vermöge feiner eigenen moraliide 
Vollkommenheit nicht unterlaffen kann; e8 war die Nothwenbigkit 

der Liebe, vermöge welcher Gott nicht anders konnte als fein Nidih 
fegen, um es fofort in feiner reinen Gegenfäglichkeit aufzuhche 
und zum alter ego feiner Selbft zu erheben. Und eben dies Let 
tere iſt's, worin die eigentliche Schöpferthätigfeit Gottes beftck, 
die wir aber fo wenig als einen einmaligen vergangenen Act denfen 
dürfen, daß fie vielmehr eine jet noch nicht vollendete, fondern in 
fucceffivem Fortſchritt durch alle Zeiten der Menſchheitsentwiclung 
hindurchgehende ift, die erft mit der fchließlichen Vergeiftigung der 
Menschheit ihr Ziel gefunden Haben wird. Aber auch mit dieſer 
relativen Vollendung fteht fie nicht ftill; nur eine ihrer Sphärn 
ift damit adgefchloffen; aber da die hiermit erreichte Volllommen⸗ 
heit im Verhältniß zur göttlichen Abfofutgeit immer noch umvol- 
tommen bleibt, fo geht die Schöpferthätigkeit über fie hinaus zu 
einer höheren Weltftufe, einer neuen Sphäre creatürlichen Dafeint 
und nad) deren Vollendung wieder zu einer neuen und fo fort in 
infinitum; immer reicher wird die Welt der Geifter, immer Ice 
diger und mannichfaltiger ihre Wechfelbeziehungen unter einande, 
immer völliger ihre Gemeinſchaft mit Gott, der in diefer creatär 
fichen Geifterwelt ſich felbft, jein anderes Ich findet und fomit ein 
immer reicheres kosmiſches Sein durch feine Einwohnung in den 
Geſchöpfen erreiht. Das find gewiß große und höchſt frudjtbere 
Gedanken! Wie lebendig geftaltet fich Hier die Beziehung Gott 
zur Welt in jedem Augenblict ihrer zeitlichen Entwidlung! ®& 
einfach fügt ſich in diefen Gedankenzuſammenhang die Lehre m 
der göttlichen Offenbarung ein, die Hier ganz wie vom felbft fd 





theologiſche Ethil. m 


ergibt als ein organiſches Glied in der ununterbrochenen Kette und 
in dem woohlgeordneten Laufe göttlicher Schöpfungsthätigkeiten; 
während fie nad der gewöhnlichen dogmatifchen Anſchauung fo ab» 
rupt, wie ein deus ex mathina, auftritt und fo wunderlic hinter 
der abgefchloffenen Schöpfung nachhinkt, daß fie faft nothwendig 
den Eindruc macht, als ob der Meifter feine anfänglich überhudelte 
und daher unſolide Arbeit durch nachträgliches Flickwerk wieder 
ausbeffertel Und dann die Theodicee, mit welcher freilich die ges 
wöhnliche Dogmatif durd ihre Lehre vom Fluch Gottes über die 
Erde nach dem Sündenfall jo überaus leicht fertig zu werden glaubt, 
die aber ernftlich denfenden Männern fo gewaltige Schwierigkeiten 
bietet, daß z. B. ein Denfer wie Loge an ihr verzweifelt, wie 
einfach geftaltet fie fich hier bei der Vorausſetzung, daß eben Alles 
noch erft im Werden, noch erft „in proviſoriſchem Zuftand“ ſich 
befindet, daher unmöglich ſchon fo fein fann, wie es feiner Idee 
nach fein fol! 

Endlich die Lehre von der enblofen Reihe der Weltfphären, durch 
welche die Schöpferthätigfeit in infinitum fortgeht, welche groß- 
artige Berfpective öffnet fie dem ahnenden Blick in's Jenſeits! 
Wie erhellt, belebt und bereichert fie jenes Gebiet, das in der ger 
wöhnfichen Dogmatik unter der Rubrik: „ewiges Leben“ durch feine 
öde Leere uns mehr erſchreckt als beruhigt! Diefe Vorteile fcheinen 
mir jo gewichtig, daß ich um ihretmwillen mich faft entfchließen könnte, 
mit bebenklichen Punkten, die damit zufammenhängen, mic, zu ver= 
fühnen, vorausgeſetzt, daß fie wirklich mit jenen Vortheilen unzer⸗ 
trennlich im Zufammenhang ftünden, was doch noch fehr in Frage 
ftehen dürfte. Als unparteiiſcher Beurtheiler darf ich dies Bedenk⸗ 
ie nicht ganz mit Stillſchweigen übergehen. Es Tiegt hauptſäch- 
lich in der Lehre von der Materie in ihrem Verhäftnig zu Gott, 
die fomohl von Logifch-metaphufifcher als von theologisch-dogma- 
tifher Seite aus anfechtbar ift. In erfterer Beziehung ift Rothe 
felber ehrlich genug, die Schwierigkeit zu erwähnen, wenn er bie 
Frage ſich aufwirft: ob denn das Nichtich Gottes als ein contra= 
dietorifcher Gegenfag. gegen ihn, d. h. als reines Nichtfein und 
Nichtsſein, Überhaupt fegbar fei? Cr entgegnet ziemlich kurz: „was 


77a "Rothe 


Gedanke ift, ob auch rein negativer, ift auch fegbar“. Aber in 
dem Gedanken des Nichts liegt ja eben bie Negation des Geſct 
feins, d. 5. Dafeins, Wirklichſeins; wie fann man nus alſo pr 
muthen, das gedachte Nicht» Dafein doch zugleich als dafeiend zu 
denken? Dies ift nicht etwa blos unvorftellbar, fondern es ift als 
einfacher logiſcher Widerjpruch undenkbar; was aber an fich undeat- 
bar ift, das kann jich auch nicht durch den Titel eines göttlichen 
Thuns legitimiren. Es will uns feinen, als ob hier dem Ber 
faffer das befannte Quidproquo begegnet wäre, das im fpealr 
tiven Syftemen fo häufig vorkommt, dag nämlich eine Togifhelk 
ftraction in Gedanken hypoſtaſirt und diefe rein nur Logifche He 
ftafe dann ohne weiteres als metaphyfiiche Realität und Subiten, 
ausgegeben wird, welche Urſache realer Wirkungen fein könnte. € 
ſoll hier die reine Materie, d. h. das geſetzte (Logifch = Hypoftafik) 
Nichts, die fubftantielle Baſis abgeben, aus welcher umd unter derm 
Bermittlung fofort Gott die Gefchöpfe Hervorbilde; und zwar ein 
Baſis von fo reeller Subftantiefität, von fo fpröder Widerſtande⸗ 
kraft ift dies reine Nichts mun auf einmal geworden, daß Gott nır 
ganz allmählich feinen Widerftaud zerfegen und aufheben kann, daß 
von ihm alles Defecte in der gejhöpflichen Welt, was ſich al 
Uebel fühlbar macht, Herftammt, daß es im perfünlichen Leben fih 
ſelbſt affirmiren und dadurd aus einem blos contradietorifchen zu 
einem conträren Gegenſatz gegen Gott geftalten kann, daß endlih 
bei der Vollendung der irdiſchen Welt dies zähe Element als Schladt, 
als caput mortuum zurücbfeibt, um fofort als materia prims 
der nächſten Weltiphäre verwendet zu werden! Und hier find wi 
zugleich auch auf die Punkte gekommen, gegen welche die theoir 
gifchen Bedenken ſich erheben. Die Anklage auf Dualismus juht 
nun zwar Rothe dadurch zu entkräften, daß er geltend macht, die 
Materie fei ja ihrerfeits amd fehon Geſchöpf Gottes umd jur 
(dies nach der neueren Darftellung) Geſchöpf feiner unbedinge 
freim Selbftbeftimmung. Allein jo ganz im felben Sinn, wie fr 
anderen Geſchöpfe, kann denn doc die Materie nicht. wohl Gefhi - 
Gottes heißen ; ſchon Deswegen nicht, weil nach Rothe diefe ak, 
fowie auch die Welt im Ganzen, ale Eompler der einzelnen Ge 





theologiſche Ethil. 776 
ſchöpfe, einen Anfang haben und überhaupt dem göttlichen Schaffen 
die Zeitlichkeit weſentlich zukommt, die Materie dagegen, als Einheit 
von Raum und Zeit, nicht felbft zeitlich gefhaffen ift, fondern an- 
fangslos. Dies fheint nun faum anders zu benfen als fo, daß 
vor dem Anfang der eigentlich ſchöpferiſchen, d. h. geſchöpfebildenden, 
organifirenden Thätigkeit Gottes eine Zeit war, und zwar eine 
anfangslofe, aljo a parte ante unendliche Zeit, in welcher es 
außer Gott reine Materie gab. Bedenken wir num, daß die reine 
Materie der ſchlechthinige Gegenſatz gegen Gott ift, fo dürfte die 
Confequenz kaum abzumehren fein, daß Gott eine a parte ante 
unendliche Zeit hindurch dualiſtiſch befchränft war. Doc ginge das 
vielleicht noch an, wenn der unaufgehobene Gegenjag blos a parte 
ante beftünde; dann könnte die Abfolutheit Gottes dadurch gemahre 
erſcheinen, daß er ja felbft die Macht wäre, um bie felbitgefegtt 
Schranke fchlieglich wieder aufzuheben; der Zweckgedanke der end- 
lichen Wiederherftellung würde über die anfängliche Beſchränkung 
der Abfolutheit hinmwegheffen. Aber das Mißliche ift, daß auch. 
a parte post der Gegenjag unaufgehoben bleibt, ſofern auf jeder 
Creationsſtufe die Materie als irrationaler Reſt zurück bleibt, mit 
welchem Gott die alte Arbeit aufs Neue beginnen muß. Dem 
gegenüber dürfte die Anklage auf Dualismus doc auf ihrem Rechte 
beftehen. Uber wie? hängt denn nun nicht diefe Unüberwindlichkeit 
der Materie mit dem oben gerühmten Gedanken einer endlojen 
Reihe von Weltfphären und endlos fortgehender göttlicher Schöpfer» 
thätigfeit ungertrennlich, wie Grund und Folge, zuſammen? Nach 
Rothe ſcheint dem allerdings fo zu fein, denn er fagt ausdrücklich 
($ 457, Anm.), daß jede fpätere Einzelfphäre der Schöpfung an 
dem zurücgebliebenen Niederfchlag der ihr zunächft vorhergegangenen 
ihren Keim habe, durch den fie mit jener in organiſchem Zufam- 
menhang ftehe, und nur fo bleibe die Continuität des Welt undurd- 
löchert, welche durch den Begriff der Schöpfung, als einer von 
Gott verurſachten Entwidlung der Creatur aus fich felbft heraus, 
gefordert werde. Ich geftehe, daß ich mich durch diefe Argumen- 
tation nicht überzeugt fühle. Die Continuität der Schöpfungsftufen 
ſollte durch ‚die zurücgebliebene reine Materie, in welcher gar feine 


776 Rothe 


Präformation der fpäteren Geſchöpfe liegt, fonbern bie bloße di. 
ftracte Möglichkeit, die noch rein bejtimmungslofe Potenz für du 
göttliche Formiren berfelben, befjer und ficherer gewahrt fein a 
durch den idealen Zufammenhang ber göttlichen Schöpfungside, in 
welcher doch nothiwendig die einzelnen Weltftufen wie Glieder cms 
in fich einheitlichen Syftems zufammenbefaßt und von Emigfeit her 
auf einander geordnet fein mülfen? Und menn die Gontinuität 
nicht blos im idealen Schöpfungsplan, fondern auch in der gefhägfe 
lichen Welt irgendwie gewahrt fein foll: ift dies micht ſchou ir 
durch gegeben, daß ja nach Rothe felbft die vollendeten Geifter fie 
früheren Weltfphäre bei der weiteren göttlichen Schöpferthätigtet 
irgendwie beteiligt find, daß aljo der Verlauf einer fpäteren Wet 
ftufe nicht ohne den mitwirkenden Einfluß aller früheren fich vol. 
zieht, ihr Reſultat aber jedesmal einmündet in die allumfaſſende 
Gemeinfchaft des ganzen bis dahin gewordenen Geiſterreichs? Oder 
würde e8 am Ende ohne das immer zurücbleibende Reſiduum von 
unbezwungener Materie an Stoff zu neuen Bildungen fehlm? 
Bei Rothe fieht es allerdings fo aus; wir aber werden die Ga— 
rantie für das Nieftilleftehen der fchaffenden Lebendigkeit Gottes 
lieber in feiner eigenen unerfchöpffichen Lebensfülle als in einer ihm 
gegenüber unbezwingfihen Widerftandsfraft der Materie ſuchen 
Demnad dürfte die geiftreiche Eſchatologie Rothe's doch nicht ger 
radezu ſolidariſch ftehen oder fallen mit feiner Lehre von der Materie. 
Und dafjelbe wird auch der Fall fein bei den andern Worzügen, 
die feiner Schöpfungsfehre nachzurühmen find. Jene Succeffivität 
des göttlichen Schaffens, welche ein fo lebendiges Verhältniß Gottt 
zur Welt begründet, welche die Theodicee fomohl als die Lehre om 
der Offenbarung fo wefentlich begünftigt, ift bei Rothe allerdingt 
bafirt auf die fpröde Natur des Arbeitsmaterials, auf welches Gott 
einwirkt, der Materie; allein ſchwerlich ift dies bie einzige denkbar 
Borausfegung zur Begründung eines fucceffiven Schaffens. Die 
kann ja feinen Grund ebenfogut wie in dem zu bearbeitenden Br 
‚terial auch in dem zu bewirfenden Zweck haben; der Zweck x 
göttlichen Schaffens find zugeftandenermaßen die creatürlichen Geifte: 
diefe aber können ihrem Begriff nach, als freie ſich felbft beftimmen« 





' theologiſche Ethil. 7 


Weſen, nicht mit einem Schlag in's fertige Dafein geſetzt werben, 
ſondern nur ihre Anlage kann gejchaffen werden, bie Verwirklichung 
derſelben aber muß ihnen felbft überlaſſen bleiben, und dazu bebarf 
es der Zeit, und zwar nicht blos eines kurzen Zeitraums, fondern 
der ganzen langen Gefchichte der Gattung; befteht nun aber voll» 
ends das ganze Geifterreich aus verjchiedenen Gattungen und Stufen 
von Geiftwefen, fo ift damit fhon gegeben, daß die auf diefen 
Zwed gerichtete göttliche Schöpfungsthätigkeit als eine fucceffive, 
nie abgefchloffene, daher als eine nie rein volllommene, fondern 
immer nur für ihre jeweilige Stufe, fonah relativ, volltom« 
mene gedacht werben darf. Hiermit ift, wie mir ſcheint, auf 
teleologiſchem Wege einfacher und ungefährlicher dieſelbe Schöpfungs- 
Tehre deducirt, welche Rothe aͤtiologiſch durch feine Lehre von der 
Materie begründet. 

Daffelbe, was für Gott der Gegenftand feines fuccefftiven Schaffens 
ft, die Aufhebung der Materie in ihrem Gegenſatz zur Berfönlich- 
feit ober Aneignung der Materie an die Perfönlichkeit, Vergeiftigung 
der Materie, daffelbe bildet auch die fittlihe Aufgabe für die 
Thätigfeit der creatürlichen Perfönlichkeiten. Man Hatte auch hier- 
gegen einen ähnlichen Vorwurf erhoben wie gegen die Rothe'ſche 
Schöpfungslehre: wie diefe mehr ein phyſiſch-nothwendiger als ein 
ethiſch⸗ freier Act Gottes zu fein fchien, fo machte man auch gegen 
den Begriff des Sittlichen als „Zueignung der materiellen Natur 
an bie menfchliche Perfönlichkeit“ geltend, daß damit nur das natürs 
liche Thun des Menfchen befchrieben, nicht aber feiner freien Selbſt⸗ 
beftimmung in der dee des fittlich Guten ein Geje vorgehalten 
fei. Und bis auf einen gewiffen Grad gibt Rothe auch Hier die 
Berechtigung diefes Vorwurfs zu und fucht nun den Mangel zu 
verbeffern durd die Unterfheidung des Sittlihen vom 
Moralifhen. Die moralifche Aufgabe ift die: ſich schlechthin 
ſelbſt, nämlich als Perſönlichkeit und fomit auf perfönliche Weife, 
zu beftimmen, oder: in alfen Functionen fi denkend und wollend 
zu verhalten; das aufgegebene moraliſche Gut ift demnach „der 
Menſch in feiner abfoluten Selbftmacht oder Auterufie, die fchlecht- 
hin vollendete irdifche Perfon“. Dies ift mun aber zunächſt eine 


778 Rothe 


bloße Formbeſtimmtheit des menſchlichen Handelns, wobei vom 
Object noch ganz abgejehen ift, die deswegen auch durchaus leer ü 
und fomit ein Materialprincip zur Ergänzung bedarf. Und dieit 
lann nur genommen werden aus den Objecten, auf welche fich das 
menfchliche Handeln richtet; es find die zwei Verhältniſſe ds 
Menſchen zur irdifchen Natur und zu Gott, aus welchen ſich die 
zwei Seiten des Handelns ergeben: erftens das fittliche und zwei 
tens das religiöfe; beide find unter ſich coordinirt, aber dem gene: 
riſchen Begriff des Moraliſchen (d. h. Freiheitlichen, durch Selh- 
beſtimmung Gewordenen) ſubordinirt; fie bilden den conenm 
Inhalt, ohne welchen es zu feinem wirklichen Handeln fün; 
das Moralifche aber bildet die nothwendige Form, ohme meld 
das Handeln fein freies, alſo auch wieder fein eigentliches Han 
dein wäre. Durd die Voranftellung des „Moralifchen“ ift es 
erreicht, daß das ſpecifiſch Ethiſche in feinem Unterfchiede vom blos 
Natürlichen ausdrüdlic gewahrt ift. Manche werden freilich aud 
wieder in diefer Beftimmung der moralifchen Aufgabe und des 
moralifchen Guts den wahren Begriff des fittlich Guten ale eine 
Geſetzes für das Handeln vermiffen. Ich geftehe, ihnen nicht bei⸗ 
ftimmen zu können; das ſittliche Gefeg muß ja doc gewiß im 
Menschen jelbft liegen, und was kann es dann anders fein als eben 
der eigene Begriff des Menſchen, das, was ihn zum Menjchen 
macht? und dies ift ja doc wohl eben nichts anderes als feine 
Berfönlichkeit? Daß in dem richtig gefaßten Begriff derfelben auf 
ſchon das richtige Verhältniß zur materiellen Natur, zur menfd- 
lichen Gattung und zu Gott mitgefeßt ift, dafür wird die pſyche 
logiſche Subftruction der Ethik ſchon ſorgen; wie denn aud bi 
Rothe mit dem normalen Verhalten: des Menschen zu ſich felbit 
als Perſonlichteit die Normalität des Verhaltens zur Natur und 
zu Gott unzertrennlich zufammenhängt. Daß von dem Berhäktuis 
zu Gott nicht unmittelbar auszugehen fei, fondern die Morafität 
zumächft auf die Idee des Menſchen und erſt von diefer ans mit 
telbar auf die Idee Gottes zu bafiren ſei, das „gehört“ allerding 
„mit zu der unveräußerlichen Errungenfchaft ber gegenwärtige 
Bildung“. Zu kurz kommt darum das veligiöje Verhältniß doch 


entogifäe Chi. 7” 


keineswegs; denn vermöge des Verhältniffes der creatürlichen zur 
göttlichen Perſonlichkeit (als das Abbild zum Urbild) kann der 
Menſch, wie Rothe trefflich ausführt, feine eigene Perſönlichkeit nur 
durch Hingabe an die göttliche volllommen verwirklichen, fo daß fie 
ihrer eigenen Idee wirklich und materialiter entſpricht. Die Aute- - 
zufie der Selbftbeftimmung, welche moralifche Aufgabe ift, wider» 
fpricht alfo ber Abhängigkeit von Gott jo wenig, daß fie vielmehr 
nur zu Stande fommt mittelft des Sichvongottbeſtimmenlaſſens. 
Gewiß wird der proteftantifche Theologe diefe Beftimmungen über 
das Verhältniß des Religiöfen zum Moralifchen nur billigen können. 
Mißlicher fteht e6 aber um das Berhältniß bes Religiöſen 
zum Sittliden (im engeren Sinn — aneignendes Handeln auf 
die Natur). Zwar darin hat Rothe freilich Recht, daß es ein 
religiöfes Handeln rein als foldhes nur in abstraeto gebe, in 
Wirklichkeit aber nur mit und an dem fittlichen Handeln, nämlich 
als fittliche Behandlung (Bearbeitung) der Welt, welche das einzige 
Object eines Handelns fein kann, mit Beziehung auf den refigiöfen 
Zwed, nämlich auf die Zueignung der Welt an Gott oder auf das 
Reich Gottes in der Welt. Allein, wenn num daraus weiter ge- 
folgert wird, daß die Frömmigkeit nirgends ſonſtwo wahrhaft 
da fei als in der Sittlichleit, nämlich in dem concreten fittlichen 
Arbeiten an der Welt, dag nur in diefem der Gebanfe der Gemeins 
ſchaft mit Gott zum Dafein komme, daß es fein anderes Gott 
lieben gebe als die unbedingt Bingebungsvolle Arbeit am fittlichen 
Zwed, fo ift diefes Alles entfchieden chief und beruft augenfcheins 
lich auf einer Verwechſelung des frommen Handelns mit der Fröm⸗ 
migfeit ſelber; die Frömmigkeit geht ja aber nicht auf im religiöfen 
Handeln (im praftifchen fo wenig al8 im theoretiſchen), fondern 
ift etwas Befonderes für fi), das jenem zwar zu Grunde Tiegt 
und in jenem ſich äußern muß, das aber doch auch eine eigenthüm⸗ 
liche LebenstHätigkeit für ſich ift und darum auch in eigentHlimlichen 
Erfgeinungen fich bethätigen darf und muß, nämlich im Cultus, 
und das einen eigenthümlichen Kreis gemeinſchaftlicher Bethätigung 
fi bilden darf und behalten muß, nämlich die Kirche. Die nicht . 
mit Unrecht viel angefochtene Lehre vom Aufgehen der Kirche im 


oo Rothe, Ieslogiide Ei. 


Staat und des Cultus in allgemein fittlicher Gefelligkeit und Kt 
beruht zuletzt auf der Nichtunterfcheidung der Frömmigkeit von 
refigiöfen Handeln; und biefe Nichtunterſcheidung war frühe 
nahegelegt dadurch, daß Rothe das Ethifche nur auf das aneignenk 
Behandeln der Natur befchränfte; nun er aber im Begriff da 
„Moralifchen“ einen tieferen, innerlicheren Begriff des Ethik 
aufgeftellt und dieſem das fittlihe Handeln ausdrücklich fubordinit 
hat, wäre es, wie mir ſcheint, nur confequent geweſen, auch fir 
die reine Frömmigkeit einen ihr eigenthümlich zugehörigen Orts 
Geiſtesleben abzuſtecken und damit den anjtößigften Punkt des guy 
Syſtems zu befeitigen. 


O. Bfleiberer. 





Smbalt des Sohrgange 1868. 7 


Inhalt des erften Heftes. D 





Abhandlungen. ö Seite 
1. Köflin, Calvin's Institutio nad Form und Inhalt (1. Artitel). 7 
2. Steig, des Papias von Hierapolis „Auslegung der Reden des Herrn“ 
nach ihren Quellen ꝛcc. 68 
3. Hollenberg, Bonaventura als Dogmatiter — .. 86 
Gedanken und Bemerkungen. 
1. Rüetfchi, exegetiſche Bemerkungen zu den Spruchen Salomo's.. 188 
2. Laurent, ber Pluralis maiestaticus in-den Theffalonicherbriefen . 160 
NRecenfionen. 
-1. Baur, Borlefungen über die chriſtliche Dogmengeſchichte; rec. von 
Möller . 22 Eee 169 
2. Riehm, D. Herrmann Hupfeld, und Hupfeld, die Prime. sr, 
heransg. v. Riehm); Selbftanzeige von Riehm . . . 184 
3. Haud, theologiſcher Jahresbericht; rec. von Ebrard. . . . . 195 


Inhalt des zweiten Heftes. 





Abhandlungen. 
1. Riggenbad, über bie Rechtfertigung durch den Glauben . . . 201 
2. Groos, über den Begriff der zeig bei Johannes. . . . . . 244 
3. Wahl, über die Seeleulehre Meifter Edhart'8 . . 2. ..... 273 
Gedanken und Bemerkungen. 
1. Röohricht, zur johanneiſchen Logoslehte . 2. 2 000 u 299 
Necenfionen. 
1. Gaab, der Hirte des Hermas; vec. von Zahn. » 2.2.“ 319 


» 


. Graf, die geſchichtlichen Bücher des Alten Feftamentes; rec. von Riehm 350 

8. Tischendorf,-Appendix codicum celeberrimorum Sinaitici Va- 

ticani Alexandrini ete.; rec. von Laurent. ©. ......... 380 
Miscellen. 


Programm der Haager Gefellfchaft zur Berebigung der chriſtlichen Re- 
Baion für das Sub 1867 2 2 0 0 ne 386 





762 Inhalt dee Zehegeugs 1888. 


Iuhalt des dritten Heftes. 


Abhandlungen. Saite 
. Beyihlag, Feſtrede am fünfzigjährigen Gtiftungstage der evange- 
liſchen Un . o 2 200 . 397 
2. Köftlin, Calvin’s Institutio nach Form und Infalt; 2 Letter . 410 
8. Steig, die Tradition von der Wirffamfeit des Apoſteis vehamna in 


— 


Epheſus* 481 
Gedanken und Bemerkungen. 
1. Burk, nochmals über Sal. 2,6. . © 2 > 2020 527 
" NRecenfionen. 
1. Böhmer, Beanziscn Hernandez und Frai Franzisco Ortiz; rec. von 
Wilkens— 537 
2. Ehrenfeuchter, aus dem Nachlaß von Ernfl — Bit; m 
von Mahlhäußer 2 2 22er 2. 562 
Inhalt des vierten Heftes. 
Abhandlungen. 
1. Plitt, über die Lehrweiſe der böhmiſchen Brüder ı. . » . . . 881 
2. Schrader, zur Tegtkeitit dee Pjalmen. . . » 0.» 
3..Cinder, der Uniousverſuch des Duräus in der Schweiz 1654-1662 6 
Gedanken und Bemerkungen. 
1. Riehm, über Sargon und Salmanaffat . » » » » - a 6868 
2. Märder, über die Zahl 666 in Offb. 18, 18 . LE) 
’ Necenfionen. 
1. Klofermann, das Markusevangelium nad feinem Duellenwerthe 
. für die evangelifche Gef ichte; vec. vom Weib - 2. +.» 706 
2. Sad, Geſchichte der Predigt in der deutſchen evangelifhen Kicche 2c.; 
ve. von Eofad . on. FE ee 718 
3. Rothe, theologiſche Ethik; rec. von O. Rfleiderer . . 0... 766 
— 


verthes· Buchdruckerri in Gotha. 








Im gleichen Berlage ift erſchienen:; 


Die Jugendjahre des Prinzen Albert von Sachſen⸗ 


Coburg: Gotha, Prinzgemahls der Königin von Eng- 
fand. Unter Anleitung J. Maj. der Königin Victoria 
zuſammengeſtellt von General-Lieutenant Hon. Charles 
Grey. Autorifirte Ueberfegung. . .» - gehefet 
Daffelbe gebunden . 
ZTrümpelmann, Aug., Die romiſche Frage vom m ürchüich— 
nationalen Standpunfte. Zweiter Abdruck 
Tüllner, Dr. G., Zur Arbeiter- und Dienftboten- Frage. 
‚Ein hriftl. Wegweiſer f. Arbeitgeber u, Arbeitnehmer 
NB. 100 Exemplare diefer Schrift, in feften Pappdedel ge- 
bunden, liefere ich an Vereine 2c. für fieben Thaler. 
Tholud, Dr. A., Das Alte Teftament im Neuen. 6. Aufl. 
Otto, Fr., Das Abendmahlsopfer der alten Kirche 
Unvergängliche, Das, in den Beziehungen zwifchen Religion 
und Philoſophie Pa Pe RE Fr 
Schulz, Dr. ©;, Die Union. Eine gefcichtliche und dog« 
matifche Unterfuchung . . 
Zahn, F. M., Ein Gang durch Die heilige Geſchichte 
53 Betraditungen über die Hauptfectionen des Filder 
Bibelfalenders . 


Bobemann, Ir. W., Die Verbreitung qhriſtüicher Schriften, 


infonderheit die chriſtliche Cofportage ein —9 
Bedurfniß der Gegenwart . . . . .. 


10 


4% 
Brandt, M. G. W.: Carl Daniel Zuftus an Pre 
zu Nomnenweier. 2. Aufl... . . — ui 
Daſſelbe, mit Photographie. . . — 2 
Ooſterʒee, Dr. 3. J., Zum Kampf und Frieden. Vier 
academiſche Vorträge und fünfzig Aphorismen. Aus 


dem Holländif—en von F. Meyeringh. . . . .— 16 
Chriſtern, Dr. Wilh., Verſuch einer pragmatifchen Si 

dungs- und Entwiclungsgefhichte der Evangelin . — 16 
Gremer, Dr. H., Biblifch -theologifches Wörterbuch der 

neuteftamentlichen Gräcität . . . 3 - 


Gildemeiſter, Dr. €. H., Joh. Georg Hamann's, des 
Magus im Norden, Leben und Schriften. 5 Bände 10 28 
Hupfelb, Dr. H., Die Pfalmen. 2. Auflage, herausgegeben 
von Dr. €. Riehm. 1. und 2. Band. . . 4 — 
Aloſtermaun, Dr. A., Die Hoffnung fünftiger Erloſung 
aus dem Todeszuſtande bei den Frommen des Alten 
Teſtaments... 1 — 
Negiſter der Theolog. Studien "und Rritifen über die abe: \ 
gänge 1858/1867. . . . — 16 
Die früheren Regifter über 1828/1887, "Tasgyısar, 1848/1857 
find ebenfalls noch zu haben. 


Unter der Preffe befinden fi: 


. » Polenz, Dr. G., Der franzöfifhe Calvinismus. 5. Band. 
Winter, Die Eiftercienfer des norböftlichen Deutſchlands bis zum 
\ Auftreten der Bettelorden. 
Lehmann, Dr. Joh., Die clementinifhen Schriften mit befonderer 
NRücficht auf ihr literarifches Verhältniß. 
Krauß, Dr. A., Die Lehre von der Offenbarung, ein Beitrag zur 
Philoſophie des Chriſtenthums. 
Gars, Dr. 3., Geſchichte von Polen. 3. Band als Staaten 
geihichte. 35. Lieferung. 
Zahn, Dr. Th., Der Hirte des Hermas. 





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