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Full text of "Theologische Studien und Kritiken, in Verbindung mit D. Gieseler, D. Lücke ..."

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Bars, Google 


GV 


Tr. 14198 ©.228 
1662 





Dita, GOOglE 
8 


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Tr. 14198 ©.208 
1082 


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Theologiſche 
Studien und Kritiken. 


"Kine Zeitſchrift 
für 
das gefamte Gebiet der Theologie, 


begründet von 
D. €. Ulmenn und D. F. W. 6. Umbreit 
und in Berbindung mit 
D. &. Baur, D. W. Beyſchlag, D. 3. A. Dorner uad D. 3. Wagenmann 
Bernegacen 
CORE, D. 3. Köftlin 23 D. E. Riehm. 
6G0Do: )) W 


2 
Ron 







1883. 


Sehsundfünfzigfier' Jahrgang. 
Erfter Band. 





Gotha. 
Triedrih Andreas Perthes. 
1883. 


Theologiſche 
Studien und Kritiken. 


Fine Zeilſchrift 
für 
das gefamte Gebiet der Theologie, 


begründet von 
D. C. Ullmann und D. F. W. €. Umbreit 
und in Verbindung mit 
D.6. Baur, D. W. Beyſchlag, D. 3. A. Dorner D. 3. Wagenmann 
herausgegeben 


D. 3. Köflin um D. E. Riehm. 
— ’ 
Jahrgang 1883, erſtes Heft. j 






€ ORE Rey 
"BODL:LieR.- 
I. %, 
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Gotha. 
Briedrih Andreas Perthes. 
1883. 


Abhandlungen. 


1. 
Über die Zuſammenſetzung der Liturgie im achten 
Buche der Apoſtoliſchen Konftittionen. 
Bon 
8. Brüder. 





Unter dem reihen Schag von alten Liturgieen, der uns aus 
den erften Jahrhunderten der chriftlichen Kirche überliefert iſt, 
nimmt die fogen. Clementiniſche oder Apoftolifche, die wir im achten 
Buche der apoſtoliſchen Konftitutionen finden, in jeder Beziehung 
eine Hervorragende Stellung ein. Alles, was dag Studium der 
alten Liturgieen überhaupt anziehend und lohnend macht, bietet fie 
befonders reichlich: fie giebt und nicht nur Aufſchluß über eine 
Menge einzelner Punkte und Fragen der alten Kirchengeſchichte, 
fondern fie zeichnet uns auch ein deutliches und, weil gleichfem von 
der Kirche felbft entworfenes, möglichft objektives Bild der gottes- 
dienftlichen Gebräude und Einrichtungen und, was mehr ift, des 
Sinnes und der Bedeutung, die die Kirche denfelben beilegte. Dazu 
kommt, daß uns ihre Überlieferung im adjten Bude der Konftitue 
tionen eine gewiffe Burgſchaft für ihr beträchtliches Alter von 
vornherein bietet. Ihr Inhalt ift ein überaus reicher; aber weil 
fie in Marer, nad) den Stufen des Gottesdienſtes georbneter Dispo⸗ 
fition vorwärts fchreitet, fo macht fie im ganzen bei allem Reich» 
tum doc; nicht den Eindruck bes Überladenen. Daneben fällt aller 
dings auf den erften Blick fofort auf, daß fie nicht weniger als 
drei Fürbittenformulare Hat, in Kap. 10. 12 und 13, mas bei 


8 Brüdner 


der bedeutenden Ähnlichkeit diefer Gebete als eine unnötige Wieder 
Holung erfceinen möchte. Solchen Beobachtungen gegenüber muß 
ſich die Frage erheben: wie gliedert ſich diefe ausgedehnte Liturgie ? 
Iſt fie ein Werk aus einem Guß, oder ift fie eine Zufammen- 
fegung aus mehreren einzelnen liturgiſchen Stüden oder Formu—⸗ 
laren? Diefe Tragen find natürlich für die Beurteilung unferer 

- Liturgle von großer Wichtigkeit, ihre Beantwortung ift namentlich 
unerläßlih, wenn man daran gehen will, das vielumftrittene Alter 
der Liturgie feftzuftellen. Dennoch hat unter den vielen, welche 
fih mit der Liturgie befchäftigt haben, wie Renaudot, Dreh, 
Bunfen, Probft u. a., nur Probſt diefen Punkt in den Kreis 
feiner Betrachtungen gezogen. Doch glauben wir, daß die von 
ihm gefundenen Refultate bei einer eingehenden Prüfung aller 
Punkte und Andeutungen, die hierbei in Betracht kommen, erheblich 
teils zu mobifizieren, teils zu erweitern find. 

Auf den erften Blick fehen wir, daß die Liturgie felbft ſich 
deutlich in drei Teile gliedert, welche der ganzen fchriftftellerifchen 
Anlage des achten Buches der Konftitutionen entſprechend verſchie—⸗ 
denen Apofteln zugefchrieben werden: der erfte Kap. 4 und 5, die 
Ordination eines Biſchofs behandelnd (Petrus), der zweite von 
Schluß des Rap. 5 bis Kap. 11, die missa catechumenorum 
enthaltend (Andreas), und der dritte Kap. 12—14, die missa 
fidelium behandelnd (Jakobus). 

Betrachten wir hiervon zunächſt den erften Teil, Rap. 4 und 5, 
fo ift nicht zu überfehen, daß von unferem Urteil über diefen Ab- 
ſchnitt die Auffaffung von Zweck und Beftimmung der ganzen 
Liturgie abhängt. Finden wir nämlich, daß diefes Formular für 
die Ordination des Biſchofs urjprüngli und von Anfang an mit 
den übrigen Kapiteln zu einer Liturgie verbunden war, fo müffen 
wir annehmen, daß die ganze Liturgie nur für den Tag einer 
Biſchofsweihe, d. h. bei einer außerordentlihen und jeltener vor- 
kommenden Gelegenheit benugt wurde; erfennen wir aber, baß 
Rap. 4 und 5 erft vom DVerfaffer des achten Buches der Kon- 
ftitutionen oder von einem anderen Sammler mit der Katechu⸗ 
menen- und Gläubigenmefje verbunden wurde, fo können wir uns 
bedenklich die folgende Liturgie für die gewöhnliche, alljonntäglich 





Über die Zuſaumenſetzung der Liturgie 2c. 9 


von der Gemeinde gebrauchte Halten. Man wird aber bei ges 
nauerer Prüfung ſich mit Sicherheit für die legtere Annahme ent- 
feiden müffen. Denn während Kap. 4 in Übereinftimmung mit 
can. 1 der canones apostolici mehrere Bifchöfe ) als bei der 
Biſchofsweihe anwefend voransjegt, finden wir diefe in den fol« 
genden Kapiteln nirgends wieder erwähnt, obgleich doch an Stellen, 
wie 3. B. Anfang des 12. Kapitels: „os mogssßürego: ix dekwr 
avrod xal 2E edwriumv ormeerwou x. r. 4“, nicht bloß bie 
Möglichkeit, fondern felbft die Notwendigkeit ihrer Erwähnung ges 
geben war. WI man aljo nicht zu den doch höchſt unwahrſchein⸗ 
lichen Annahmen greifen, daß die Übrigen Biſchöfe überhaupt nicht 
dem Gottesdienft beigewohnt hätten, fondern fofort nach Beendigung 
der Ordination nach ihren Kirchen zurüdgefehrt wären, ober gar, 
daß fie fid unter die Menge der Gemeinde, alfo der Laien, ger 
mischt Hätten, fo kann man ſich der Einficht nicht verſchließen, daß 
der, welcher zuerft die Kap. 5 (Schluß) bis 15 niederfchrieb, dabei 
feine Rücficht auf die Ordinationsliturgie Kap. 4 und 5 genommen 
hat, fondern daß diefe Iegtere erft von dem Verfaſſer des achten 
Buches vorangeftellt ift. Auch läßt fich noch eine Spur und Ans 
deutung diefer Zufammenfchiebung aufzeigen. Während nämlich bei 
allen Gebeten, die der Biſchof in der Katechumenenmeſſe fpricht, 
diefer immer einfach „ö Zuloxomos“ genannt wird, Heißt er bei 
dem erften derfelben, dem über die Katechumenen „o xegororn- 
delc Inloxonos“. Dffenbar hat hier der Sammler durch Hinzu- 
fügung des Wortes „zegorormIeis“, das in der Drdinationd- 
Liturgie wiederholt vorfommt, die beiden von ihm vereinigten Litur⸗ 
gieen wie mit einer Klammer zufammenhalten wollen 2). 

Aber auch die folgenden Kapitel Haben nicht von Anfang an 
eine Liturgie gebildet. Dies folgt namentlich aus dem Anfang 
von Kap. 12, einer Stelle, auf die ſchon Probft aufmerkſam ge- 


3) Jedenfalls mehr als vier, denn wir leſen: „eis zav ngestam Enioxd- 
navy äua zal dual» Er 6gous dorus, zav Aunav Emoxönov za) np&s- 
Bureguv sw meoseuyoutvan,“ 

2) Ähnlich, wie der Redaktor der Genefis c. 2, 4 zu dem Gottesnamen 
APR? den im vorangehenden Kapitel herrſchenden Namen DW Hinzufügt. 


1 Belidner 


macht Hat. Er fagt darüber ): „Sehen wir und nämlich dem 
Schluß der Katechumenenmeſſe an, fo wird die Erteilung der pax 
genau befhrieben. Der Anfang des Danfgebete® Kap. 12 enthält 
die Worte: ‚daß feiner gegen den anderen, daß feiner in Heuchelei‘. 
Bar aber nah dem Schluß von Kap. 11 der Friedenstuß fon 
erteilt und felbft die Oblation vorüber, wie daraus zu ſchließen, 
daß der Subdiaklon dem Prieſter Wafjer über die Hände gießt, 
wozu dann noch der Ruf des Diakons, der feinen Play vor und 
bei dem Friedenskuſſe hatte? Man hat darum die Wahl, entweder 
den Schluß von Kap. 11 für einen Zufag zu Halten, dann fließt 
fih an das Amen des bifchöflichen Gebetes Kap. 11 der Ruf des 
Dialons: ‚daß feiner aus den Katechumenen u. f. w.‘ richtig 
und fahgemäß an; oder man muß bie Katechumenenmefje für ein 
eigene® Formular halten, das der Sammler aufnahm und diefem 
en zweites Formular, welches Kap. 12 enthält, anreihte. Wir 
entfcheiden ung für die erfte Annahme, weil die Oration über die 
Gläubigen in den Fürbitten des Kap. 12 fo Hervortritt, daß beide 
Teile einem und demfelben Formular angehören müffen, und weil 
der Schluß von Kap. 11 die Signatur eines fpäteren Zufages an 
der Stirn trägt.“ 

Hier Hat Probft ganz richtig erfannt, dag der Anfang von 
Kap. 12 mit dem, was vorangeht, nicht in Einklang fteht, fo daß 
auf feinen Fall von Anfang ar beide „Stellen zufammen in ber- 
felben Liturgie fich befunden Haben können. Über er Hat weſeut ⸗ 
liche Punkte, in denen die beiden Stellen unvereinbar auseinander⸗ 
gehen, überfehen und infolge deſſen nicht den richtigen Schluß aus 
jenem Mangel an Übereinftimmung gezogen. Denn wenn man 
auch zugeben muß, daß aus den Worten „wir zara Tvog, unrıs 
dv oͤnoxoloer“, auf welche Worte wir unten noch zurückkommen 
müffen, ſich ein genügendes Argument ableiten läßt, fo läßt ſich 
doch aus einer anderen Stelle noch viel evidenter der Beweis 
führen, daß der Anfang von Kap. 12 nicht bloß mit dem Schluß 
von Kap. 11, fondern mit allen vorangehenden Kapiteln 


1) Probſt, Liturgie der drei erften qriſtlichen Jahrhunderte (Tübingen 
1870), ©. 276. 


Über die Zufammenfegung ber Liturgie 2c. 1 


in Widerſptuch fteht. Es Handelt fi nämlich um die Worte: 
„6 dubxovog Myn' unzıs Tv xarngovulvwr ' uns Tür üxgo- 
wudror * une Tüv ünlorwv * wiss ww Eregodöken * ob wi 
ngarne og edxöusvor ngolidere“'). Diefe Aufforderung des 
Diakons muß nad) dem Vorangegangenen fehr auffallen. Denn 
in ber Katechumenenmeſſe haben wir ja gefehen, daß alle die, 
weldje Hier ermahnt werben, der heiligen Handlung fern zu bleiben, 
längft entlaffen, und daß überhaupt nur noch die Gläubigen an⸗ 
weſend find. Wozu alfo noch eine folhe Mahnung des Diafons? 
Man lönnte vielleicht meinen, daß, obgleich die Katechumenen u. |. w. 
ſchon früher entlaffen worden find, doch gerade an diefer Stelle, 
wo das Heiligfte Myſterium der Ehriften, die Eucjariftiefeier, be» 
ginnt, jene Ermahnung fo zu fagen zur Sicherheit nochmals wieder- 
Holt worden fei. Iſt diefe Auskunft aber ſchon an fi wenig 
wahrſcheinlich, fo fpricht dagegen noch insbefondere der Umftand, 
daß die, welche der Euchariftie nicht beimohnen follen, hier weder 
in ber Anzahl, noch in der Reihenfolge, in der fie vorher entlaffen 
find, aufgezäßft werden. In ber Katechumenenmefje werden näms 
lich zuerft die axgompero, und ämıoror (Rap. 5), dann die xar- 
xoduerer, darauf die repyosueror, Yarıköuso, ol dv TH uera- 
vola (welche fämtlih an unferer Stelle vom Diakon gar nicht er» 
wähnt werden) entlaffen; Hier dagegen werden die xurnxodueron, 
Angodusro, änıoro, Erepadoko: aufgezählt. Da aljo weder Zahl 
nod Ordnung der zu Entlaffenden übereinftimmt, und es höchſt 
unwahrſcheinlich ift, daß biefe Ermahnung zum Weggehen erft dann 
ſollte wiederholt worden fein, wenn ſchon ein Teil (Rap. 10 und 11) 
des Tediglih für die Gläubigen beftimmten Gottesdienſtes vorbei 
war, fo ftehen entfchieden die Worte urrıs Wr xarmyoyubwv 
bis untıs or Erepodökor mit der Katechumenenmefje in Wider: 
ſpruch. 

Noch deutlicher zeigt ſich dieſer Widerſpruch in den folgenden 
Worten: „ol zrv moWrnv suxgip eugöneyo ngoidere“, Daniel 
hat die Schwierigfeit, die hierin Liegt, bemerkt, und bringt daher 


1) Sg. de Lagarde, Constitutiones apostolicae (Lipsiae 1862), 
©. 248, 3. 11-14. 


22 Brüdner 


in einer Anmerkung eine oder eigentlich drei Erklärungen für die⸗ 
felbe 1): „Böhmer. c., p. 371: , Der Diakon fügt hinzu: od x» 
modem» euxnv euxonevoı ngofAdere‘. Augufti, Denkwürdigkeiten 
VII, 111 giebt da8 zgo&AHere mit: ‚Entfernet euch‘, die newer 
zöyny von dem ‚allgemeinen Sirchengebete, welchem auch die Ka- 
tehumenen und Fremden beimohnen durften‘, verftchend. Die 
Wahrheit diefer Erpofition ift zweifelhaft. Wie die Phrafe npw- 
To eögnw auf das erfte von den Gläubigen per silentium ge- 
fprochene Gebet, welchem die Katechumenen und Fremden nicht beis 
wohnen durften, fich beziehen fan: fo das zg0fFere darauf, daß 
diejenigen, die dieſes Gebet gefprochen Hatten, zum euchariftifchen Akte 
hinzu« (ober vor-)treten follten. Hierzu harmoniert vortrefflih, daß 
die Konftitutionen, nachdem fie das Gebot erteilt haben: ‚Die Kin- 
der nehmet zu euch, ihr Mütter!‘ die Paränefen vortragen laffen: 
‚Daß nicht jemand wider einen anderen, daß nicht jemand in der 
Hppokrifie feil Bei dem Herrn mit Furt und Zittern aufrecht 
ftehend mögen wir opfern!‘ „Et mihi placet Boehmeri inter- 
pretatio neque indiget scriptorum testimoniis vox mgodexe- 
03, accedere. Tamen cum supra sine dubitatione signi- 
ficet discedere (V, VI, VII) neque consentaneum sit, ean- 
dem vocem in eadem liturgia duplicem tenere sensum, hoc 
loco malim legere no05#A9ere. Docet varietas lectionis a 
Cotelerio exhibita, codices in hac liturgia voces meo&Asere 
et moog@Adere persaepe confudisse.“ In diefer Anmerkung 
find drei Erflärungsverfuche (von Augufti, von Böhmer und 
von Daniel) enthalten, aber keiner derfelben ift unferer Anficht 
nad imftande, die Schwierigkeit aus dem Wege zu fhaffen. 
Denn Augufti ſpricht zwar in der von Böhmer angeführten 
Stelle von „einem allgemeinen Kirchengebet, dem auch die Kater 
chumenen und Fremde beimohnen durften“, Täßt fi aber durchaus 
nicht genauer über bie Beſchaffenheit diefes „allgemeinen Kirchen⸗ 
gebetes“ ans. ES ift auch nicht wohl einzufehen, welder Art 
und welchen Inhaltes dasfelbe gewefen fein, fowie welche Stelle 
es im Gottesdienst gehabt haben follte. Denn was foll denn ein 


1) Daniel, Codex liturgicus eccles. univers. IV, 60. 





Über die Zufammenfegung der Liturgie ac. 18 


„allgemeines“ Gebet anderes enthalten, als eben das, was wir in 
Rap. 10 und 11 finden, Bitten für die Kirche, für ihre Stände, 
die chriſtlichen Brüder, das Heil der eigenen Seele u. f. w.? 
Daß aber diefen Gebeten nicht einmal die Katechumenen, ger 
ſchweige denn Fremde beiwohnen durften, zeigt ja unfere Liturgie 
ganz unzweifelhaft. Auch in ben SKirchenvätern, die Hierbei in 
Frage kommen, ift von einer derartigen Einrichtung nichts zu 
finden ?). 

Was nun ferner die Erffärung von Böhmer betrifft, fo wird 
niemand, foweit bie Wortbebeutung in Frage kommt, beftreiten, 
daß mooloxeoda: heißen fann „herzutreten“, „vortreten“. Aber 
mit vollem Recht hat fon Daniel biefe Überfegung zurück⸗ 
gewieſen, weil es nicht wahrſcheinlich fei, daß ein und basfelbe 
Wort in derfelben Liturgie kurz Hintereinander einen ganz verfchier 
denen Sinn habe, oder vielmehr, wir konnen fagen, weil dies eine 
reine Unmöglichkeit iſt. Jedoch der Ausweg, den er ſelbſt vor⸗ 
fchlägt, bietet nicht geringere Schwierigkeiten. Denn es ift kein 
Grund abzufehen, warum wir annehmen follen, daß an diefer 
Stelle ſämtliche Handfchriften ohne Ausnahme fäljhlih mooAsere 
für mgogerdere gefchrieben haben. Denn wenn auch zuzugeben 
ift, daß bisweilen eine Handſchrift der Apoſtoliſchen Konftitutionen 
an einer Stelle, wo bie anderen mroo@AFere haben, gog@AFere lieft, 
oder umgelehrt, fo wird doh Daniels Behauptung erft aufrecht 
erhalten werben Tönnen, wenn eine Stelle nachgewiefen wird, an 
der fämtliche Handfchriften offenbar und zweifelsohne fich geirrt 
Haben. Daß aber in den legten Worten von Kap. 9 „wrzs 
Tov um duraubvu ngoAsErw“, wo nad) Bunfens Anficht für 
das goaAsrw der Handſchriften moogergerm forrigiert werden 
foll, eine ſolche Stelle gefunden fei, muß entſchieden in Abrede 
geftelit werben ). Demnach Tann es an unferer Stelle (Anfang 


1) Bgl. Hierzu namentlich Kliefoth, Die urfprüngfiche Gottesdienftord- 
nung, ®b. I nnd DO. 

3) Left man wir zov u duvaudvur ngoeAEre, fo ermahnt der 
Diakon an dieſer Stelle die Gläubigen, die allein noch übrig find, daß feiner 
von ihnen hinausgehe, „daß feiner von denen, welche nicht Tönnen (melden es 
nicht erlaubt ift) weggehe“. Man Könnte dagegen fagen, daf die Worte rar 


14 Brüdner 


von Rap. 12), wo alle Handfhriften einftimmig wg 0 46re Tefen, 
nicht zweifelhaft fein, daß mit diefen Worten ber Diakon, die 
Katechumenen und die übrigen den Gläubigen nicht Gleichgeſtellten 
zum Weggehen auffordert, — eine Aufforderung, bie mit ben vor⸗ 
hergehenden Kapiteln ſchlechterdings nicht zu vereinigen ift, da nach 
diefen bereits alle nicht zu deu Gläubigen Gehörigen längſt ent 
laſſen find. Auch ift ferner zu beachten, daß ju Rap. 12 die 
Mütter aufgefordert werden „ra maıdla nooskaußaveode", wäh 
end in Kap. 11 die Vorſchrift gegeben war „ri naudla de orn- 
x&w ngös ro Aruarı“. Doch ift diefer Differenz nur geringeres 
Gewicht beizulegen, weil die Erflärung nicht ausgeſchloſſen bleibt, 
daß jenes (Kap. 11) von den größeren, diefes (Rap, 12) von ben 
Heineren Kindern zu verftehen fei. 

Haben wir fo den Widerfpruc erfannt, in dem ber Anfang 
von Kap. 12 mit den vorangehenden Kapiteln fteht, jo können 
wir unmoglich zu feiner Erklärung denfelben Ausweg wie Brobft 
einfchlagen. Denn da wir gefehen Haben, dag niet nur die Worte 
uhrıs x0ra Two, pr Tg dv Umoxploer, ſoudern auch die diefen 
vorangehenden mit Kap. 511 unvereinbar find, fo würde die 


uij Jeraytvom wicht Überjeigt werden können: „benen es nicht erlaubt ift“. 
Diefer Schwwierigktit eutgehen aber die, welche die Lesart ändern, auch wicht, 
da divacdas offenbar ganz in derfelben Bedeutung ſteht, wenn id fage 
xurnyouuevos ol „Füvaras““ moosegyeoda, wie wenn ih fage ovdels 
av mioreudvruv „ivaras“ mgocpyeose. Sprachlich alſo if gegen bie 
Xesart der Handichriften nichts einguwenben. Daß ober eine derartige Mah- 
nutg an die Gläubigen keineswegs unnäg oder überflüffig war, ſchen wir ans 
dem neunten (zehnten) ·der apoſtoliſchen Canonts (vgl. Bunſen, Hippolyt 
und feine Zeit, Bd. II, ©. 69). Auch iſt zu beachten, daß ber Diakon ſofort 
nad den Worten wris x. ©. 2, fortfährt: G0 o. nuoroi xAlvwuer y6vo und 
ebenſo ndvreg auvrovug napuxehkampev, welde beiden Ermahnungen noch - 
mals augbrüdtich hervorheben, daß die Gefamtheit ber Gläubigen ohne Aus- 
nahme fi an der nun folgenden Heiligen Handlung beteiligen fol. Wir halten 
allo die Lesart der Haudſchriften m g02APErw durchaus für die richtige, weil 
fie nad) Sinn und Zufammenhang volftänbig paft und ſprachlich nicht ſchwie ⸗ 
tiger iR, als Bunfens Konjektur mooseAßery. Übrigens in Drey berfelben 
Anficht, denn er fagt: „jo mahnt der Diakon, daf von ben übrigen Anweſenden 
niemand bie Berfammlung verlaffen fol“. (Meue Unterfuchungen über die 
Konftitutionen und Canones der Apoftel, Tübingen 1832, S. 107,) 


Über die Bufammunjegung der Liturgie ıc. % 


Scwisrigfeit doch nicht bejeitig werden, auch wenn wir mit 
Brobft die legten Worte von Kap. 11 (FFriedenskuß) als ein 
Einſchiebſel ftreichen wollten). Mir ziehen daher bie Auskunft 
vor, die Probft zwar angedeutet, aber verworfen hat. Wir 
nehmen nämlich an, daß an hiefer Stelle zwei verſchiedene litur⸗ 
giſche Formulare aneinandergefhoben find, Denn der Einwurf, 
den Probſt gegen diefen Ausweg erhebt, daß „die Oration für 
die Gläubigen in den Fürbitten des Rap. 12 fo herportritt, dag 
beite Teile zum und demfelben Formular angehören wählen“, 
trifft nicht zw; im Gegenteil Läßt ſich gerade aus der großen Ar 
Tichkeit der Gebete in Kap. 10 und 12 ein ftarfer Beweisgrund 
für unfere Anficht entnehmen. 

Vergleichen wir nämlich das Fürbittengebet in Rap. 12 mit 
dem in Rap. 10, fo muß uns fofort die erſtaunliche Ähnlichteit 
nicht bloß im Juhalt, fondern aud in der Form auffallen. Wir 
laſſen zuſammengeſtellt die Stellen folgen, wo ber gleiche Inhalt 
wit gleichen oder doch hödft ähnlichen Worten ausgedrückt iſt. Es 
wird gebetet: Kap. 10: Unze zug üylas, nadolwris xal dnoozo- 
Ang dekmalag Tg ano negasuv Eug negarov;, Rap. 12: entg 
zus üylas ou Inxhmolus Tg imo negazwr Ins megarwv. Rap. 
10: önug 6 xigug Aasıosov ri zul anudururer dupa- 
Men ... eye ug ouviehdag Too almvog; Zap. 12: Omas 
wire duupuldäng assorov zul Axkvöriorov ya Tig ourre- 
Aslag roũ alövo. Rap. 10: img mung dmeoxonis ... For öp- 
Soropeörzur Tov Aöyov zig ons Adeos; Kap. 12: ümdp 
naong Enwxonng zig 0g9orouobang vor Aöyor vi aundeloc. 
Rap. 10: önto züv moeshurdgir 7 Amar ... ünio räs dv Kor 
a dunxorlag ... intg ivayrworur, wahrür, magdtrwr, xr 
Kap. 12: önig dınnövov, Unoduuxdre , Wwayyuorur, 
yalrüv, nogIbvwv, yngüv. Rap. 10: dnde zur dv aukuylaus 
al zenvoyorlug; Map. 12: Undp or dv osurois yanoıg zei 
tewoyorius. Rap. 10: ändo zwv dv üppwerla Feralonlvur; 
Rap. 12: imip zur dv üdgworlus. Rap. 10: dmg zur mlsbr- 





1) Ob dieſe Worte in der That interpofiert ober urſprünglich ind, werden 
wir umden noch gemauer zu umerhuchtn haben. 





16 . Brädner 


zuv xal Ödonogedvrwv, önto tüv dv uerahhorg zul Loglas ... 
Undo züv dv muxgü dovklg xaranovovubvov, und ExIgov zal 
ioodrruw ũc, Into züv Öwxövswv us dia Tb braun Tov 
xvolov, Önws 6 xUguog nonivag zov Fuuov arrüv dunoxedaon 
ziv x09° For deyio " Unio tüv Fo Ovswv xul nenkarnulvor, 
önws 6 xugiog adroög dmorgkym; Rap. 12: ündo züv iv mıngi 
dovhslg, Undg zur dv Zoglug ... Und Tüv miörrw xal 6 
domogovrzwv ... Uno Tüv mooiviww ruüs xol dunnbrror 
ũc dià To dvoua oov, Unto tüv YEw Ovrwv xol nenkarnulvav, 
Onwg dmiorgkyns avrods el üyadıv zul Tv Iyubv avzav 
nraurnS. 

Daß diefe zahlreichen wörtlichen Übereinftimmungen in beiden 
Gebeten Höchft auffällig find und einer Erklärung bedürfen, wird 
niemand leugnen. Ganz unmöglich ſcheint uns aber die oben ans 
geführte Anficht von Probft, der diefe Übereinftimmung „ein 
Hervortreten der Oration für die Gläubigen in ben Fürbitten des 
Rap. 12“ nennt, alfo wohl an eime fchriftitellerifche Abficht des 
Verfaſſers denkt. Denn gefegt, wir fänden die beiden fraglichen 
Gebete nicht in einer Liturgie, fondern in irgendeinem anderen 
Werfe eines Schriftftellers, jo wirben wir es ſchon da ganz un⸗ 
glaublich finden, daß zwei Gebete, die doch für ganz verfchiedene 
Zwecke beftimmt find, vom Verfaffer in faft diefelben Worte ge 
Heidet worden wären. Wir würden uns mit Recht wundern, daß 
ein Schriftfteller, dem doch unlengbar ein gewiſſer Reichtum won 
Gedanken und namentlich eine veiche Fülle des Ausdrudes zugebote 
ftehen, fo ungefchieft alles mit denfelben Worten wiederholen wide. 
Und doch ließe fi in diefem Kalle immer noch zur Erklärung 
oder Entſchuldiguug anführen, daß er nicht abfihtlich, fondern un⸗ 
willkurlich für diefelben Dinge aud in diefelben Ausdrücke ver- 
fallen jet. Hier aber handelt es fih um eine kirchliche Liturgie, 
in der das, was dort ſchon fehr auffällig wäre, völlig unmöglich 
iſt. Denn das ift jet ziemlich allgemein zugegeben, daß ber, 
welcher unfere Liturgie niederfchrieb, dies nicht zwedlos that, fon- 
dern entweder, weil er fie bereits im kirchlichen Gebrauche fand, 
oder in der Abficht, dag fie in Firchlichen Gebrauch fomme. Nun 
hieße es aber doch wirklich die Ehriften der erften Jahrhunderte 


Über die gZuſammenſthung der Liturgie 2c. 1? 


einer großen Geiftesarmut ober eiftesträgheit zeifen, wenn man 
glauben wollte, daß fie jahraus jahrein, Sonntag für Sonntag in 
ein und bemfelben Gottesdienft ohne eine Unterbrechung durch Prer 
digt, Schriftvorlefung u. dgl. zweimal für diefelben Dinge mit 
denfelben Worten — dem nur dies ftellen wir in Abrede — 
gebetet hätten. 

Wir haben jegt ferner den Schluß von Kap. 11 zu betrachten 
und zu prüfen, ob er in der That, wie Probſt behauptet, „die 
Signatur eines fpäteren Zufages an der Stirn trägt“ und alfo 
als interpofiert zu betrachten ift. Probſt Hat für feine Behaup- 
tung folgende Gründe angeführt X); „Von der Trennung der Ge 
ſchlechter beim Friedenskuß und darum im Gottesdienft überhaupt, 
weiß Tertullian noch nichts. Die Nennung der Subdiakonen nebft 
dem ihnen zugewiefenen Geſchäfte ift gleichfalls ein Zeichen einer 
fpäteren Zeit. Daß der genannte Schluß ein Zufag tft, den der 
Sammler machte, folgt ferner aus den Worten: Diakonen follen 
an den Thüren der Männer, Subdiakonen an denen der Frauen 
ftehen. Diefer Sag enthält einen Widerfprud. AS es nämlich 
Subdiakonen gab, ftanden die Diakonen nicht mehr als Wächter 
an den Thüren, und fo Lange die Diakonen die Thüren bewachten, 
gab es keine Subdiakonen.“ Bon bdiefen drei Gründen verdient 
nur der dritte eine eingehende Erwägung, dem erften und zweiten 
dagegen ift von vornherein alle Beweiskraft abzuſprechen. Denn 
wer nicht nach einer vorgefaßten Meinung, fondern nach dem Sach⸗ 
verhalt felbft urteilen will, darf nicht fo zuwerke gehen, daß er 
alles für unecht oder interpofiert erklärt, was zu der Zeit, in die 
feiner Überzeugung nach die Liturgie fallen muß, nicht ſtimmt. 
So ift aber Probft verfahren, indem er bie angeführten Gründe 
beibrachte. Wenn die Trennung der Männer von den Frauen 
und die Erwähnung der Subbiafonen mit den Verhältniffen zu 
Tertullians Zeit in Widerſpruch fteht, fo Haben wir daraus durch⸗ 
ans nicht zu jchliegen, daß diefe Stellen interpoliert find, fondern 
vielmehr daß die Liturgie erft nad) diefer Zeit abgefaßt ift, — falls 
uns nicht (mas Probft nicht gethan Hat) vorher nachgewieſen ift, 


2) Probſt a. a. O., ©. 276. 
Deol. Stud. Yahız. 1085. 2 


18 Brüdner 


dag alle anderen Punkte mit zwingender Notwendigkeit auf ein 
hoheres Alter unferer Liturgie hinweiſen *). Der dritte Grund 
dagegen verdient eine eingehende Prüfung, weil, wenn wirklich die 
Worte unter ih im Widerſpruch ftehen, dies in der That eine 
Zuterpolation Höchft wahrſcheinlich machen würde. Mber die Be- 
Hanptung, daß die Diafonen niemals gemeinfom mit ben Sub⸗ 
diafanen die Thüren follten gehütet Haben, ift feineswegs erwieſen. 
Wir Tefen nämlich im zweiten Buche der Konftitutionen 2): or⸗ 
xhwon dd al ni» muAmgol eis Tas elkdous Tüv Avdomv, 
oi dE dıazavos als Tas vum yurasmv. Daß diefe Stelle intere 
poliert ſei, Hat weder, fo viel wir wiflen, bis jet jemand be- 
hauptet, noch wird ſich dies leicht behaupten laſſen, weil fie zu 
feft In den Zufammenhang eingegliedert ift. Wir erfehen ans ihr, 
daß die Diakonen auch noch zu einer Zeit, wo fie bereits eine 
durchaus nicht untergeordnete Stellung im Gottesdienft einnahmen 
— benn in bemfelben Kapitel fehen wir den Diakon ein Gebet 
(neogeugry) verrichten — und wo es bereit für die nieberen 
Dienfte beftimmte Kirchliche Beamte gab, mit legtem gemeinfam 
jene nieberen Funktionen verwalteten. Ob biefe niederen Kirchen⸗ 
biener nun „rulwgol‘“ oder „uroduaxovo:“ gemannt werden, iſt 
hierfite gleichgültig: denn wenn feftfteht, daß die Dinfenen mit 
den Thurhütern zuſammen einen Dienft verrichtet Haben, fo muß 
zum mindeften die Möglichkeit zugegeben werben, daß fie dasfelbe 
auch mit Subdiakouen geihan Haben. Diefe Möglichkeit wird aber 
darch unfere Stelle, gleihviel ob bie Vorſchrift über die Sub ⸗ 
biafonen urſpruuglich ober interpofiert iſt, zur Gewißheit erhoben, 
Denn wie Hätte doch im legten Falle irgenbjemanb auf ben Ge- 
danten Tommen können, die einfache Vorſchrift „deizoro: ierdode- 
oav el Tüs Hong“ (Brobft, ©. 277) zu ändern nicht in 
„inodesxoro: ioracdwon als züs Iugag“, ſondern viel me 


4) An der Stelle, wo Probf über das Alter der Litergie ſpricht, zeigt 
ex, baß nichts uns hindere, dieſelbe für jehe alt zu halten, da bie Stellen, im 
denen Subdialonen vorkommen, interpoliert feien. Weshalb aber müfjen fie 
interpofiert fein? Weil die Erwähnung der Subdiakonen auf eine fpätere 
Zeit hinweiſti 

3) Apoſtol. Konft. II, c. 67. 





Über die Zufammenfegung der Liturgie ıc. 19 


ftändlicher in of de dıaxovo ioruodwoav is Tag zur ivdgr 
Icons, xal ol ünodurzovor es Tas Tor yuramdıv“, wenn nicht 
eben biefe Ordnung zu feiner Zeit beftanden Hätte? Darin alfo, 
dag den Diafonen und Subbiafonen in unferer Stelle diefelbe 
Verrichtung zugeſchrieben wird, ift durchaus feine Hiftorifhe Un— 
möglichkeit und fomit auch fein Beweis für die Interpolation des 
Schluſſes von Kap. 11 zu finden. Es ift demnach Probft nicht 
gelungen, die Smterpolation des Schluffes von Kap. 11 mit zu⸗ 
reichenden Gründen nachzuweiſen. Namentlich aber ift er durchaus 
eine Erklärung ſchuldig geblieben, mit welcher Abficht wohl jemand 
am Schluß von Rap. 11 follte eine Befchreibung des Friedend« 
kuſſes interpoliert Haben, wenn doch in Kap. 12 bei den Worten 
„ARTS xora Tiwog x. 1. m“ ſchon eine ſolche Befchreibung ge⸗ 
geben war. Wir Haben auf diefe Frage unten nochmals zurüd- 
zulommen. Es bleibt demnach das Reſultat, daß der Schluß von 
„Rap. 11 jedenfalls im wefentlihen urfprünglih, d. h. nicht 
erft vom Redaltor des achten Buches oder einem noch fpäteren 
Sinzugefügt iſt. 

Noch eine weitere Stelle ift in unferer Liturgie zu finden, wo 
fofort die bedeutende Verfchiedenheit der vorangehenden und der fol- 
genden Gebete auffällt, nämlich der Anfang von Kap. 13. Auch 
auf diefe Stelle Hat Probſt aufmerffam gemacht. Er fagt ?) 
darüber: „Sollten num bie Zürbitten zweimal geſprochen und das 
zweite Mal vom Diakon wiederholt worden fein? Das ift an 
fich unglaublich und läßt fi aud bei feinem Kirchenvater eine 
Spur ſolchen Verfahrens finden. Man könnte annehmen, diefes 
Gebet ſei das II, c. 59 angezeigte, von dem es Keißt: der Diafon 
betet u. f. w. Allein zwei Bedenken erheben ſich dagegen. Erſtens 
tommt in den ürbitten des Kap. 18 ein Memento für die Ver⸗ 
ftorbenen vor, von dem in dem Gebete über die Gläubigen II, 
c. 59 feine Rebe ift, und zweitens, wie fol der Sammler fo 
ungeſchickt gewefen fein, hier ein Gebet einzufchalten, das an den 
Schluß der Katechumenenmeſſe gehörtel” Dann führt er feine 
eigene Anfigt dahin ans, dag die Worte „zul € dusxorog xnguo- 


1) Brobft a. a. O., ©. 277. 
2* 


2a Brüdner 


olsw nd“ (Ende von Rap. 12) nicht zu verbinden fein mit 
dem Gebet, welches in Kap. 13 baranf folgt, da „xmgvaoer““ 
vom Vorbeten nicht gebraucht werde und in ber missa fidelium 
der Diakon feine wirklichen Gebete habe verrichten dürfen; fondern 
daß biefes Gebet und alles Folgende aus einem zweiten Formular 
entnommen und hier an unfere Liturgie angehängt ſei. Diefer 
Anficht müffen wir im weſentlichen beiftimmen, namentlich weit 
Rap. 13—15 fich ſchon dadurch deutfih von Kap. 12 abheben, 
daß in Kap. 12 der Biſchof alles allein verrichtet, während in 
Kap. 13—15 alle Gebete des Biſchofs vorbereitet werden durch 
Ermahnungen und Aufforderungen des Diafons, wie wir fie in 
der Katechumenenmeſſe gefunden haben. Ausführlicher werden wir 
diefe Differenz noch weiter unten nachzuweiſen Haben. 

Überbliden wir demnach das Reſultat der bisher angeftelften 
Unterfuchungen, fo haben wir gefunden, zunächſt, daß der Anfang 
von Kap. 12 zu der Katechumenenmefje nicht paßt; fodann, daß 
die Fürbitten diefes Kapitels wegen ihrer bis auf bie Worte fich 
erftredenden Ähnlichkeit mit denen in Kap. 10 nicht von Anfang 
an mit legteren fönnen in einer Liturgie geftanden haben; endlich, 
daß ſich die Rap. 13—15 deutlich von Kap. 12 unterſcheiden und 
abheben. Bevor wir jedoch daran gehen fünnen, uns auf Grund 
diefer Ergebniffe ein Urteil über die Art und Weife zu bilden, 
wie die Liturgie des achten Buches zufammengefegt worden ift, 
Haben wir noch zu unterſuchen, ob nicht kleinere Stellen, d. 5. 
einzelne Bezeichnungen, Vorſchriften u. f. w. im Gegenfag zu 
ganzen Abfehnitten und Zeilen der Liturgie, als interpoliert und 
fomit einer fpäteren Zeit angehörig ſich kenntlich machen. Es 
Handelt fich Hier zunächft um die Erwähnung der Subdiafonen. 
Diefelben kommen an vier Stellen unferer Liturgie vor: zweimal 
am Schluffe von Kap. 11 (248, 6. 8), einmal in Kap. 12, in 
dem Gebet für die Verftorbenen (257, 7), und einmal Kap. 13 
(259, 20), in der Vorſchrift, welche die Ordnung der einzelnen 
Stände beim Empfang des Abendmahles angiebt. Was nun zu« 
nädft die beiden erften Stellen, am Schluſſe von Kap. 11 an⸗ 
Tangt, fo glauben wir oben ſchon gezeigt zu Haben, daß Hier durch 
die Erwähnung der Subdiakonen durchaus feine hiſtoriſche Un—⸗ 





Über die Zufammenfegung der Liturgie 2c. 21 


möglichkeit und kein Widerfpruch im Zufammenhang ſich ergiebt. 
Trotzdem fönnen wir ihre Erwähnung bier jo wenig wie in Kap. 
13 für uefprüngfich Halten, fondern müffen diefelbe dem Redaktor 
der Liturgie zufchreiben. Wir lefen nämlich in den Fürbitten des 
Rap. 10, nachdem für die Bifchöfe und Presbyter gebetet iſt: 
„ung naong ns br Xoro dınxovlag xui Unmpeolas denFüper, 
Onwg 6 xUgog Ausumtov avrois iv draxovlav nagsoxnrau * 
ündo üvayvworüv, yalröv, napFtvav, xngüv te xal Ögpardv 
demdiper“, und ebenjo Kap. 13: „uno ndong dnuoxonig, 
nursög nosßBureglov, nions vis dv Xgiori dunxovlas al Unnge- 
alas“. Wir fehen daraus deutlich, daß diefe Gebete noch nichts 
von einem Stande der Subdiafonen wiffen, fondern an der Stelle, 
wo diefer Hingehören würde, die kanotola nennen. Denn es ift 
keineswegs richtig, wenn Probft!) meint: „die vmmgsois werde 
fpecifiziert durch Sektoren und Kantoren, und ihnen die Sungfrauen, 
Witwen und Waifen beigefügt; denn fie gehörten zu der kirchlichen 
Dienerfhaft". Schon dies Legtere kann nicht zugegeben werben, 
da doch wenigſtens bei den Waifen entſchieden ein anderer Gefichts- 
punft als der der ünmgeolo vorliegt. Vielmehr bezeichnet dmmge- 
ola die Gefamtheit der Unmgkra und diefe imngfra waren eine 
ganz beftimmte, unter den Diakonen, aber über den Vorleſern und 
Sängern ftehende Ordnung der niederen Kleriler. Dies folgt aus 
einer Stelfe des 6. Buches ?). Es Heißt Hier, nachdem von den 
Biſchöfen, Presbytern und Diakonen, welche zufammengenommen 
werden, die Rebe gewejen ift, weiter: „Lanokroc 2 zul yarro- 
dods zul ivayrıorag xal mukmgorg xol aurodg uovoyauovs eva 
xehedouer“®). Wenn alfo in den Gebeten von Rap. 10 und 


1) Brobft a. a. O., ©. 280. 

3) Konftitutionen VI, c. 17. 

3) Diefe Stelle, welche neben den „unngerm“ die „mudogoi“ nennt, 
widerlegt bie Behauptung von Drey, „baf beide Wörter dasfelbe Amt be» 
deuten“. Höchftens konnte man gegen unfere aus der Stelle gezogenen Fol - 
gerung geltend madjen, daß mit „Unngeras“ die Sänger, Borlefer und Thür⸗ 
hüter zufammengefaßt felen, alfo mit za) yaarpdods eine Appofition zu 
Ünneeras anfange. Sollte dies aber verftändlich fein, fo mußte da za vor 
yarrpdous fehlen. 


2 Brüdner 


Kap. 13 nur die Önmgeola, d. h. die ünmekrar, nicht die Sub- 
diafonen erwähnt werden, diefe letzteren dagegen in Vorſchriften, 
die zu derfelben Liturgie gehören, vorkommen, fo folgt daraus, daß 
die Stellen, in denen fie vorkommen, fpätere Zufäge find. Es 
bleibt dabei dahingeftelit, ob der Aebaktor die Vorfchriften, die- ben 
Subbiaforien gegeben werden, ganz neu Hinzugefügt, oder ob er, 
was wahrfcheinlicher ift, diefelben vorgefunden und nur überall für 
Önmoeran ümodıaxovor geſchrieben Hat. Probſt Hält in Rap. 18 
nicht nur das Wort „ürodıcxovor“, fondern die ganze, die Reihen- 
folge des Abendmahlögenuffes regelnde Vorschrift, alfo die Worte 
von „Zrera ol nossßüregoı zul ol didkoror u. |. w. bis werd 
aldoũc xal eulußelus üvev Fopupov“ für einen fpäteren Zufag. 
Er begründet dies damit, einmal, daß es kurz darauf heißt: „war- 
nös dE Asyl Ay dv Ti neralaußivew mavrag roüg Aoı- 
rovs“, während doch ſolche „Aomo/“ nach dem vorigen Sape 
nicht mehr vorhanden feien; fodann daß neroluuparer nicht in 
demfelben Sinne vom Volle wie vom Biſchofe gefagt werden könne. 
Dies letztere trifft gar nicht zu, da weraluußaver durchaus unters 
fehiedslos für den Empfang des h. Abendmahles gebraucht wird, 
wie ſchon die Stelle aus dem zweiten Buche der Konftitutionen !) 
beweift: „nerolapßavtrw Exaoın rakız xa9° davrv“. Die von 
Probſt bemerkte Ungenauigfeit im Gedankenfortſchritt ift aller» 
dings zuzugeben, indes ließe ſich diefelbe doch auch aus einer recht 
natürlichen ?) Nacläffigkeit des Ausdrudes erklären. Die Inter⸗ 
polatton der ganzen Vorſchrift ift alfo nur als eine nicht ganz 
unwahrſcheinliche zu bezeichnen, gewiß aber ift, daß in derfelben 
das Wort Subdiafonen nicht geftanden Hat. Auffallend allerdings 
ift e8, daß der Redaktor in den Vorſchriften zwar geändert, in den 
Gebeten felbft aber den älteren Ausdrud „oͤnnocrau“ gelaffen hat. 
Wir können uns diefes Verfahren nur aus feiner Pietät gegen die 
durch ben Gebraud der Kirche geheiligten Gebetsformulare erklären. 


1) Ronftitutionen II, c. 57 (gegen Ende). 

3) Der Verfaſſer giebt freilich gleich zu Anfang die Ordnung der Feier 
ans indem er aber den Hergang und die Form derſelben beſchreibt, verſetzt er 
ſich unwillkürlich wieder in den Anfang derſelben. 





Über die Zuſammenſetzung der Liturgie 2c. 23 


Eben darum aber Fönnen wir auch nicht annehmen, daß bie Er- 
wähnung der Subdiafonen in dem Gebete für die Verftorbenen, 
(Kap. 12) ihm zuzuschreiben fei, fondern müſſen diefelbe für ur. 
fprünglich Halten. Denn hätte er Hier ein Gebetsformular inter 
poliert oder Korrigiert, warum hätte er nicht dasfelbe in den Für« 
bitten Kap. 10 und Rap. 13 thun follen? 

Nachdem wir fo die, unferes Erachtens fehr geringfügigen, Zur 
thaten des Redaltors aufgezeigt haben, kehren wir zu unferer Haupte 
unterfuchung über die Zufammenfegung der Liturgie zuruck. Es 
handelt fich jegt nämlich weiter um die Fragen: wieviel urfprüng« 
lich felbftändige Formulare find in unfere Liturgie Hineingearbeitet, 
welches war die urfprüngliche Geftalt diefer Teile und wie iſt der 
Sammler bei ihrer Zufammenftellung zuwerfe gegangen? Um 
die Antwort auf diefe Fragen vormegzunehmen, fo glauben wir 
uns die Entftehung der im achten Buche der Konftitutionen vor» 
liegenden Liturgie folgendermaßen denken zu müflen: Der Samm« 
er hatte zwei liturgifhe Formulare vor fi, die 
beide den ganzen Gottesdienft umfaßten, d. h. missa 
catechumenorum, $riedenstuß, missa fidelium, 
in deren erfterem aber die Katehumenenmeffe voller 
und reiher befhrieben war, während in dem zweiten 
die Gläubigenmeſſe eine ausführlihere Behandlung 
gefunden Hatte. Beide enthielten den Friedenstuß 
und deshalb ſchob fie der Sammler an diefer Stelle 
an einander. Es ift alfo Kap. 5—11 mit der Katechu— 
menenmeffe aus dem erften, Kap. 12 mit der Eucha— 
riftie aus dem zweiten Formular entlehnt Mit 
Rap. 13) ließ der Sammler dann den zweiten Teil 
des erften Formulars, aus dem er die Katehumenen- 
meffe genommen Hatte, folgen. Sehen wir zu, womit wir 
diefe Annahme beweifen lonnen. 


2) &o brüden wir uns ber Kürge halber Hier und im Folgeuden aus: 
genauer beginnt biefer neue Zeil ſchon vorher, S. 258, 3. 9 mit „ae 6 
änloxonog el ndrw x. r. A,“, wie das Wiebereintreten ber Bezeichnung „Ent 
0xorsos“ beweift, vgl. unten. 


4 Brüdner 


Zunächft ift es Mar, daß die erften Worte von Rap. 12 einen 
ſchon vorangegangenen Teil der Liturgie vorausfegen, ebenfo klar 
aber auch, wie ſchon oben gezeigt, daß die Katechumenenmeſſe, wie 
wir fie in Rap. 5—11 leſen, diefer erfte Teil nicht fein Kann. 
Aus den Worten „ur tüv xurnyovubowr, uns Tüv &xgo- 
aulvar, urrıs rov Eregodofwr. ol zmy nowenw eg EuXöne- 
vor ngo&dere“ erjehen wir einmal, daß vorher ſchon für die, 
welche zum Weggehen aufgefordert werden, gebetet worden ift; fo 
dann daß noch fein Gebet für die Gläubigen ftattgefunden Hat, 
dem nur diefe beimohnen durften, denn vor, nicht nach demfelben 
mußten felbftverftändfic die Katechumenen u. ſ. w. entlaffen werben; 
endlich ift e8 nach den Worten zum mindeften höchſt wahrſcheinlich, 
daß die Gebete für die Katechumenen u. ſ. w. nicht einzeln der 
Neihe nach für jeden Stand, fondern für alle zufammen zu gleicher 
‚Zeit verrichtet worden find, weil doc, wenn einzelne Stände fchon 
entlafjen wären, der Diakon fie nicht alle zum Weggehen aufs 
fordern würde. Hieraus fünnen wir und ein ungefähres Bild 
bon der erften Hälfte, der Katechumenenmeſſe, diefes zweiten For⸗ 
mulars machen; mehr darüber erlauben und die Worte nicht zu 
fließen. Daß aber der Friedensfuß auch in diefem zweiten For- 
mular vorfam, folgt aus den Worten: „urzıs xara Tıvog, yenrıs 
& vmoxgloa“. Daß diefe Worte vor Erteilung des Friedens» 
kuſſes gefprocden wurden, ergiebt ſich ſchon aus der Natur der 
Sache und läßt ſich aus dem zweiten Buche der Konftitutionen 1) 
beweifen. Da nun diefe Worte bier im 12. Kapitel ohne alle 
weitere Erflärung, ohne irgendeine aus dem Zufammenhang zu 
entnehmende Veranlaſſung ftehen, fo können wir mit gutem Recht 
annehinen, daß auch hier nad) den Worten „urzıs zara zıvog x. 7.2.“ 
eine Vorſchrift über den Friedenskuß geftanden hat 2), die aber ber 

1) Konftitutionen II, c. 57. Im dem übrigen Liturgieen haben wir die 
Formel nicht gefunden, vgl. jedoch in ber Liturgie des 5. Markus (Daniel, 
Codex liturg. IV, 149): „xardmsuyo» iv dwgsav zod mvsinaras, önus 

.. donaouueda dArdous ... ar 89 Ömoxglası“, und in ber Liturgie 

des 5. Jatobus (Renaudot, Collectio liturgiarum oriental., T. II, 
p. 29: „ut ab omni dolo omnique acceptatione persona- 
rum mundati salutemus invicem“, 

2) Dasfelbe ſcheint — denn er brüdt ſich nicht ganz beutlih aus — 


Über die Zuſammenſetzung ber Liturgie ac. 3 


Sammler, weil er die Beſchreibung des Friedenskuffes ſchon aus 
dem erſten Formulare gegeben hatte, einfach wegließ. 

Es fragt fich jegt weiter, ob auch das erfte Formular, das bis 
zum Friedenskuſſe in unfere Liturgie aufgenommen ift, einen zweiten 
Zeil gehabt hat, und wie diefer Teil beſchaffen geweſen ift. Ver— 
folgen wir das achte Buch der Konftitutionen weiter, fo finden 
wir in den Kapiteln 35—39 Vorſchriften über Früh- und Abend- 
gottesdienſte, die nur in Gebeten beftanden und in denen man das 
Abendmahl nicht nahm ?). Hier leſen wir im 35. Kapitel: „xud 
nera To dmdnvon Tor Inıkugvıov Yahöv ngospwrnas 6 dıdxo- 
vog ünto Toy xarmgovulvor xol yenaloubwv xol Tüv pwriLo- 
ulvar xal tüv dv usravolg, &s mgoelmonev * era Ö2 TO dnohv- 
Ivan, 6 dukxovos dpi" door nuorol, dendWuer Tor xvolov * zul 
Hera TO moospwvijou aurov Tu Tg moweng eaxis doei" Zicor 
xul &vaot700v nnäs, 6 Heög, dia To) Xoro 0ov * üvaorurres 
olrmowuede 7a in zov xvplov....“ Nach diefen Worten ift 
volftändig Har, da in diefen Früh- und Abendgottesdienften die 
Gebete für die Katechumenen, Beſeſſenen u. ſ. w. in eben der 
Form, wie wir fie Kap. 5—11 finden, verrichtet wurden, was 
beftätigt wird durch Ausdrücke wie „as zgoelmouer“ (Rap. 35), 
„ba un nal Myapev zu arsa“ (Rap. 37). Nur der eine 
Bunkt höchſtens Könnte, wenn man bloß Kap. 35 ins Auge faßt, 
zweifelhaft erfcheinen, ob in den Worten „era 70 moospwwnou Ta 
Täs neWwrng sögäs“ aud) das Gebet für die Gläubigen (Rap. 10) 
einbegriffen tft, fo dag alfo die Worte „avaozurres x. . 1.“ 
diefem Gebete ſich anfchließen, oder ob diefe Worte überhaupt an 
die Stelle jenes Gebetes treten follen. Daß das erftere aber ges 


Probſt zu meinen, ba er bie Beſchreibung bes Friedenskuſſes am Ende vom 
Kap. 11 für interpoliert Hält und trogdem auf ©. 291 fagt: „Den frier 
denskuß berichtet in gleicher Weife Iuftin, wie die Liturgie“ Aber um 
fo unmöglicer wird die behauptete Interpolation des Schluffes von Kap. 11, 
zumal gar wenn man Kap. 512 für ein Formular hält. Denn daun hätte 
ja ber Interpolator die vorhandene Beſchreibung des Friedenskuſſes geftrichen, 
um fie dann fofort an einer anderen Stelle zu interpolieren! 

1) Inden Worten Rap. 7: „ederüs medsdete ıny suzagıorlav jur“ 
Hat „edzagioria“ offenbar, bie urſprungliche Bedeutung „Dankfagung“. 


» Brüdner 


meint ift, erfehen wir deutlich aus Kap. 37 (gegen Ende), wo 
vorgeſchrieben wird: „mepepdrw uera To" 0W00v aurodg xui 
üyaornoov, 6 Heög, iv Ti Xagırl oov " alrmouueda x. r. 4.“ 
Ob es ſich mit dem Gebet, das der Biſchof fpricht (Rap. 11) 
ebenfo verhielt, oder ob diefer nur die Gebete aus Kap. 37 und 
Rap. 38 ſprechen follte, ergiebt fi zwar nicht aus den Worten, 
doch ift das erftere höchſt wahrfcheinfih. Nach dem Gebet des 
Biſchofs wird die Gemeinde fofort mit den Worten des Diakons 
„ngodkdere &v eignen“ entlaffen. Wir fehen alfo, daß die Kirche 
das Formular für die Katechumenenmeſſe in felbftändigen Gebets⸗ 
gottesdienſten brauchte. 

Indeſſen können wir uns nicht bei der Annahme beruhigen, 
als habe die Kirche dieſe Liturgie nur bei derartigen Gottesdienſten 
benutzt. Denn läge die Sache fo, fo wäre es höchſt auffallend, dag 
der Zufammenfteller der Liturgie des achten Buches in diefe, die 
doch offenbar für die Euchariftiefeier beftimmt ift, follte Gebete 
aufgenommen haben, die die Kirche in einem ganz andersartigen 
Gottesdienfte zu brauchen pflegte. Auch würden wir nicht einfehen, 
auf welche Art der Friedenskuß an das Ende von Kap. 11 follte 
gefommen fein, der in jenen Gottesdienften feine Stelle Hat, und 
den wir doch nicht als fpäteren Zuſatz zu erfennen vermochten. 
Daher müffen wir annehmen, daß Kap. 5—11 nur der erfte Teil 
einer gleichfalls für die Euchariftiefeier beftimmten Liturgie ift. 
Diefe Annahme ſchwebt nicht in der Luft, denn der zweite Teil 
zu jenem erften Liegt uns in Kap. 13—15 vor. Dies folgt 
daraus, daß die Tegtgenannten Kapitel in ebenfo vielen Punkten 
ſich ſcharf und deutlih von Kap. 12 unterfcheiden, wie fie ander- 
feit8 mit Kap. 5—11 eng zufammengehören. 

Zunädhft nämlich ift die ganze Anlage und Einführung der Ges 
bete in Kap. 5—11 und Rap. 13—15 eine ganz andere, als in 
Rap. 12. In dem genannten Kapiteln gefchieht alles durch den 
Bifhof und den Diakon, indem alle Gebete des Bifchofs vor⸗ 
bereitet und eingeleitet werden durch Gebete des Diakons, wie wir 
es finden in Kap. 6. 7. 8. 9. 10. 13.) 14. 15. Der Anfang 


1) Es iſt nicht erfichtlich, wie Probft meinen ann, das erſte Gebet in 





Über die Zufammenfegung der Liturgie ıc. a 


fämtlicher Gebete des Bischofs ift eine Anrufung Gottes, die in 
reicher Auswahl und mit erhabenen Ausdrüucken die herrlichen Eigen- 
ſchaften Gottes nennt, fo in Rap. 6. 7. 8. 9. 11. 13. 15. In 
der SKatechumenenmefje find die Gebete des Biſchofs „euRoylar““ 
(„xavare xol eühoyiode“ Rap. 6 und die folgenden), ebenfo 
fegnet der Biſchof in Kap: 15, nachdem er Dank gefagt hat, die 
Gläubigen („xAlvare xui evAoyeioIe“). Dagegen in Kap. 12 
finden wir keine Aufforderung, fein Gebet, vom Diakon gefprochen, 
da ber Biſchof alle Gebete allein verrichtet. Werner iſt auch dies 
zu bemerken, daß der Biſchof, wo er, Gebete ſprechend, eingeführt 
wird, in Kap. 12 immer „agyıegevs“ genannt wird („edEauevog 
odv x09° Eavtöv 6 deyugeic üm rois kegevon“, „aal 6 apxu- 
geig ' ürw Tor vow“, „ö dogıgeds Eng Aeykro‘‘), während 
wir ihn in der Katechumenenmeſſe und in Kap. 13—15 vor den 
Gebeten ftets „Zuloxonos“ genannt finden, fo „eukoyeirw 6 Znt- 
oxomog“ Rap. 6, „ô Inloxonos Znevglodw“ Kap. 7, „ö ini- 
oxonoc Asykım“ Rap. 18, „ö Inloxonog eugapioreitw“ und Ähtte 
liche Stellen 1). 


Rap. 13 (von Erı za Erı bis nagasuuede) fei nicht vom Diakon, fondern 
vom Biſchof verrichtet worden (S. 277), obwohl er zugiebt, daß alles Fol⸗ 
gende eimer Liturgle angehört. Denn gleich Hinter „napasojuedn“ leſen 
wir „zab 6 dntoxomos Asydrw“, fo daß alfo das vorangehende Gebet nicht 
aud von ihm geſprochen fein fan. Darum iſt das „xad d dudxovos an 
Qvootro aciay“ allerdings mit dem darauf folgenden Gebete zu verbinden, 
befonder8 weil fein Grund zu erdenken ift, warum der Redaktor weder biefe 
Worte ganz geſtrichen, noch das dazu Gehörige follte beigefügt haben. Das 
Wort xngvoce aber (= wie ein Herold ausrufen) paßt durchaus für dem 
Diakon (gegen Probſt, S. 277). Bgl. au Bingham I, 311. 

3) Wir find nicht etwa ber Meinung, daß „agzugeis“ und „Enloxo- 
nog“ etwas Verſchiedenes bedeuten, auch entgeht uns nicht, daß es am Schluß 
von Rap. 11 Heißt: „unodidxovos dıddrw anöggvyw zugav vos bs- 
@eöos“ und Rap. 12: „ol duizovos mgosaykrasar zo Ensoxdnp...“ 
Aber die erflere Stelle beweift nichts, weil in ihr „Umoduizovos‘ vorkommt, 
fie alfo vom Redaktor Herrühet oder doch von ihm geändert ift (j. oben) und 
in ber fetsteren kann der Rebaktor recht wohl aus bemfelben Grunde „dnioxo- 
nos“ für „aeyuegesc“ geändert haben, ans dem er oben zu dnlaxomos 
„xugoroyndels“ Hinzugefügt hat. Daß in Kay. 15 flieht „vous Fegsis 
auoswous diapudasor“ Kommt nicht in Betracht, weil bier mit einem an« 


3 Brüdner 


Ebenfo wie in der äußeren Anordnung weicht Kap. 12 in 
Ausdrucsmweife und Gedankenfubftanz von den übrigen Kapiteln ab. 
Während wir nämlich in fämtlichen Gebeten der Katechumenen- 
meſſe und der Kapitel 13—15 bei allem Edeln und Reichen, das 
der Ausdruck hat, eine große Einfachheit in den Gedanken und in 
der Sprache finden, ftoßen wir in Kap. 12 auf nicht wenige 
Stellen, wo die Worte gewählter, um nicht zu fagen gefuchter, 
die Gedanken mehr ſpekulativ find, wo überhaupt die ganze Rede 
weife eine faft philofophifche Färbung annimmt. So 3. B. gleich 
im Anfange: „ror dvrwg dvra Hebv, Tv mod Tüv yervırzam 
dvra, IE 00 näoa nargıa tv ogurid zal dm vis Övondberu 
Toy wövov üybyrrov xal üvagyov xal üßuolkevrov zul adlono- 
Toy, Tov üverden, Tov narrög ayason xognybv, Tov nkons a- 
tlog xal yerloews xgelrtova, Tor nivrore xara Ta avra ol 
cuituc Exovra, IE od za ndvra, xuddmeg Ex Tivog üpermolas 
ds 70 eva mogmader“; ober nad dem Tols üyıov: „Xguords, 
ös ds nòyru Ünmgernoanevös oo: To Ich airou zul mazgl, ık 
Te Önmovpylar dıüpopov xul ngovom xuruhmkov, od rregıeide 
Tö ybvog avdgumwr dmoAkuusvor, GM pera gvorxov voor, 
Hera von nugalyeow, per& ngogmtxoüg Alygovs xal Tüg 
Toy üyyiav Inwruolus, nugapdeigorrow adv To Sera xui 
Tor puomdòy voor zul vis urhung Lönßalhovruv Tov xuraxır- 
opbv x. 7.8.7.2.“ Diefe Erfcheinung dürfte nicht hinreichend 
erklärt fein, wenn jemand behaupten wollte, daß durch die Würde 
und Heiligkeit des Saframentes gerade für dieſen Teil der Liturgie 
auch eine größere Gewähltheit, Kraft und Fülle im Ausdrud be 
dingt gewefen fei. 

Der dritte und ftäckite Grund aber für die Zufammengehörig- 
keit der Kap. 5—11 und Kap. 13—15 gegenüber Kap. 12 liegt 
in der großen Zahl einzelner Nedewendungen und Ausdrücke, die 
jenen Kapiteln gemeinfam find. Sole Wendungen find Kap. 6: 


deren Wort ſamtliche Geiſtliche, Biſchöfe, Presbyter und Dialonen nicht zu- 
fammengefaßt werben konuten. Jedenfalls, das ſteht zweifelsohne feſt, daß der 
Biſchof, wo er betend eingeführt wird, in Kap. 12 ſtets „dezuegeus“, 
in allen anderen Kapiteln flets „‚drtoxonos“ genannt wird. 





Über die Zufarmmenfegung der Liturgie 2c. 2 


Eavrods TO uövw ayevsnew Ich dia Tod Xgıorod aurou napd- 
9092; Rap. 13: Eaurodc zo He dık toi Xgorod aörod maga- 
Icueda; Rap. 14: TO növp dyyerizp Ju xal TO Xgroro 
evrod nupnIwuedn. Kap.:6: xAlvare xal erAoyeiode; Rap. 8: 
Gvaorayızs ru In dia tod Xgiorov adrov xAlvare; Rap. 15: 
To Ied dia rov Xgıorod aurov xMvure xal euhoyeiode, Kap. 11: 
dv Xoro 7O ÜB oov movoyerei, ıo Ic zul awrzgı Aumv " 
dı od 00: döka zul aEßug dv üylı nveinarı vüy xol del xol elc 
robc alövag rar aldvan " Ayurv; Rap. 15:  Xaor "Inao zö 
xvolo jur, ue9° od 00 d6En, zum zul Las zul To üylıo 
aveöuarı " Gurv und örı 00: dokn, alvos, ueyahongeneu, 08- 
Bus, nos xövgos xol ıo 0m mul ’Imoov zo Xgrorw oov, 
TO xvolo zudv al Feb al Race, xul TW üylp nveunarı 
viv sol del xal eis Toüg alivag Tür aluva. Kap. 6: xa- 
Iaglon dE avrovs dmo navsög uoAvouov oapxös xal mveuuarog; 
Rap. 13: zurablmoor xuFagovg yYeroubvous ind mavrog nohv- 
ouod oapxds xal mreunarog‘). Kap. 10: owoov xui dvasın- 
00 mög, 6 Heos, a Ad oov; Kap. 13: ardormoor nuäc, 
6 Heös, iv ıF zupıl om. Kap. 10: into Tüv veopw- 
zlorwv den>üuer, Onws 6 xupıog ornolän adrods xal Beßauwdor; 
Rap. 13: ind rwr veogurlorws dendwuer, inus BefuwIucıw 
dv in nloreı. Rap. 6: euloyrom rüs elsodous airüv xal Tag 
:Eödous; Rap. 15: rag eisodous aurür zul Tüg ZEodous Pgor- 
enoov. Rap. 11: Da dow üyıoı owner xol yuxj; Rap. 13: 
ayııoag jusv TE oWuera xol T7v yuxrv. 

Es Tiefen ſich noch mehr Beifpiele anführen, doch dürften die 
gegebenen ausreichen, um die nahe Verwandtſchaft, die zwiſchen 
Rap. 5—11 und Kap. 13—15 befteht, zu erweiſen. Die große 
Ahnlichteit der beiden Stüce ift aber nicht eine derartige, daß da- 
durd ein Nebeneinander beider Stüde in einer Liturgie ausge 
ſchloſſen wäre — was wir oben inbetreff der Fürbitten von 

"Kap. 10 und Kap. 12 urteilen mußten. Denn ift auch in Kap. 
13—15 alles demſelben Gedankenkreife und Wortvorrat entnom⸗ 
men, den wir in Rap. 5—11 finden, fo ift doch nicht Gleiches 


1) Dies ift allerdings ein Eitat ans 2Kor. 7, 1. 


80 Brüduer 


mit völlig gleichen Worten ausgedruct, fondern felbft bie ähnlicher 
Wendungen, die wir angeführt Haben, gehen in Kleinigkeiten aus 
einander. 

Sollen wir es ſchließlich begreiflich machen, wie der Sammler 
fi) veranlaßt fehen konnte, zwei verfchiedene Formulare in eine 
Liturgie zuſammenzuarbeiten, fo möchten wir auf bie große Ähn- 
lichleit beider Formulare, wie fie namentlich in den Fürbitten des 
Rap. 10 und des Kap. 12 fo epident herportritt, hinweiſen, ja 
wir mochten faft die Behauptung wagen, daß bie beiden Form 
lare nur verſchiedene Entwidelungsftufen derfelben Liturgie dar- 
ftelen. Sind nämlich unfere oben gefundenen Nefultate richtig, 
fo fällt daraus auch ein Licht auf bie Frage nach dem zweiten, 
d. h. in der missa fidelium, vor der Kommunion wiederholten 
Zürbittengebet, das wir in alten Riturgieen und fo quch in Kap. 
12 und in Rap. 13 finden. Diefe Wiederholung ift den aller- 
erſten Jahrhunderten ber Kirche wubefaunt. Denn wenn aud 
Juſtinus Marthr in feiner Apologie !) von den Gebeten, die der 
Borfteher der Gemeinde vor dem Abendmahl verrichtet, jagt: „,ui 
6 mpasorig euyüs inolwg al euxagsarlag, 00m divayız 
arp, Aranluna“, jo ift doch aus dieſen Worten nicht zu 
ſchließen, daß biefe Gebete ſowohl Donkgebete ale Fürbit ten 
geweſen ſeien. Vielmehr, wenn wir die übrigen Stellen bei Juſtin, 
die von dieſen Gebeten handeln, vergleichen *), fo können wir nich 
im Zweifel fein, dag die obengenannten Worte vielmehr unter 
fheiden wollen zwiſchen dem Danfgebet für die Wohlthaten der 
Schöpfung und Erlöfung einerfeits und der Angmnefe und Kon 
ſelkration anderjeits °). Erſt zur Zeit Eyprians fing die Kirche 
an, daB allgemeine Fürbittengebet, das feine Stelle in der Ku 
tehumenenmefje Hatte, in der Gläubigenmefje zu wiederhoten ®). 


1) Juſtinus Mart. Apologie I, c. 67, ©. 83 (Hagae Comitum 1742). 

2) Iufin, Apologie I, c. 65: „alvov zai dufa 1) nazpi dvandu- 
ne“ und Kap. 66. 

3) Probſt, ©. 100f., beſonders aber vgl. Harnad, Der chriftlich 
Gemeindegottesbienft (Erlangen 1854), S. 261—274. 

4) Bol. Probſt, ©. 226 und namentlich Kliefoth, Die urſprünglich 
Gottesdienſtorduung (Liturgiſche Abhandlungen [Schwerin 1868] I, 481). 





Über die Zuſammenſetzung ber Liturgie 3c, 8 


Denn im Laufe der Zeit Hatte in der Kirche mehr und mehr die 
Anfiht Raum gewonnen, als hätten die Gebete vor Gott mehr 
Kraft und Erhörungsgewißheit, die während ber Darbringung von 
Leib und Blut Chrifti verrichtet wurden. Es Bing diefe Auffaffung 
mit dem feit und durch Cyprian bedeutend veränderten Begriff der 
Euchariſtie aufs engfte zuſammen ). Diefe Wiederholung der 
Gebete mußte zur notwendigen Folge haben, daß die Gebete der 
Katechumenenmeſſe, die vor dem Friedenskuß ftattfanden, immer 
mehr an Bedeutung verloren und bald beinage nur noch als ein 
Anhängfel der Predigt erfchienen, wofür fi denn in der That 
auch Anzeichen in den Homilien des Origenes finden 2). Wie fih 
nun diefe ganze Veränderung und Entwidelung vollzog, davon 
geben uns eben unfere beiden liturgiſchen Formulare ein deutliches 
Bild. In beiden (Kap. 12 und Kap. 13) finden wir bereits das 
Fürbittengebet vor der Kommunion in der Gläubigenmefje, aber 
die Form dieſes Gebetes ift eine verfchiedene: in Kap. 13 wird 
nur mit ganz kurzen Worten wiederholt, was fchon in Kap. 10 
ausführlich gefagt war; in Kap. 12 dagegen enthält das Für⸗ 
bittengebet alles, wofür nur jemals die Kirche zu beten pflegte. 
Diefer Verſchiedenheit der Fürbitten in der Gläubigenmefje ent 
fpricht wiederum die Verjchiedengeit der Gebete vor dem Friedens⸗ 
ug, wie wir dieſelben für Kap. 13 in Kap. 5—11 vorfinden, 
und für Kap. 12 und aus den erften Worten diefes Kapitels oben 
Eonftruiert Haben: während ſich für diefe legtere das Reſultat ers 
gab, daß in ihnen feine Fürbitten für die Gläubigen, denen bie 
Katechumenen nicht beiwohnen durften, enthalten waren, finden wir 
in Rap. 5—11 ausführliche und reichhaltige Gebete nicht nur für 
die Katechumenen, Energumenen u. f. w., fondern auch für die 
Gläubigen. Diefe Gebete ftehen aljo im umgefehrten Verhältnis 
wie die in ber Gläubigenmeffe; fie find erheblich reduziert in dem 
Formular, welches ein ausführliches Fürbittengebet in der Gläu- 
bigenmefje Hat (Rap. 12), fie find dagegen voll und reich ent 
widelt in dem Formular, welches das Würbittengebet in der 


1) Bl. hierüber Harnad a. a. O., ©. Allfi. 
2) Siehe bei Kliefoth a. a. O. I, 482 ff. 


82 Brüdner, Über die Zuſammenſetzung der Liturgie 2c. 


Gläubigenmeffe nur mit ganz kurzen Worten giebt. Hiernach 
Tann fein Zweifel fein, wie die Sache liegt. Das eine, der Zeit 
nad frühere Formular (Kap. 5—11 und Kap. 13—15) zeigt 
uns den Anfang jener Entwicelung, welche den Schwerpunft des 
ganzen Gottesdienftes immer mehr in die Gläubigenmefje drängte: 
das allgemeine Fürbittengebet wird zwar noch nicht völlig aus der 
Katechumenenmeſſe in die Gläubigenmefje verlegt, aber doch dort 
fon mit furzen Worten wieberholt. Das zweite, etwas fpätere 
Formular führt uns ſchon auf einen weiteren Punkt der Ent⸗ 
widelung; wozu dort der Anfang gemacht war, das ift hier Mar 
und fonfequent durchgeführt. -Ein Iebiglih für die Gläubigen bee 
ftimmtes Fütbittengebet in der Katechumenenmeſſe giebt es nicht 
mehr, dasfelbe ift vielmehr faft unverändert (vgl. die oben ange 
führten bedeutenden Berührungen zwifchen Rap. 10 und Kap. 12) 
in die Glaubigenmeſſe hinüberverfegt und hat feinen Play zwiſchen 
Epitlefe und Kommunion gefunden. Der Redaktor der Liturgie 
des achten Buches der Konftitutionen ftand mitten in diefer Ent 
widelung und nahm darum beide Formen auf. Es ift dies um 
fo natürlicher, als die zweite Form (Kap. 12) unmöglich durd 
einen langen Zeitraum von der erften getrennt fein konnte, weil, 
wenn einmal der erfte Schritt gethan war, die Fürbitten in der 
Gläubigenmefje zu wiederholen, die völlige Verlegung der- 
felben an dieſe Stelle ſich als das einzig Konfequente bald ergeben 
“mußte. 


Bemerkungen zur Kompofition der Elemensfiturgie. 38 


2. 


Bemerkungen zur Kompofition der Clemens⸗ 
Liturgie, 
Bon 


Dr. ®. Kleinert. 





Indem die verehrlihe Nebaktion diefer Zeitſchrift mir bie 
Freude macht, vorftehende Erſtlingsarbeit eines hieſigen jungen 
Theologen zum Abdruck zu bringen, giebt fie mir zugleich den 
gern benugten Anlaß, durch Hinzufügung einiger ergänzenden Be⸗ 
merfungen etliche Punkte weiter auszuführen, die ich in meiner 
zweiten Abhandlung zur praftifchen Theologie ) nur andeutungs · 
oder anmerkungsweiſe berühren konnte. 

Unter den Reſultaten der Brucknerſchen Abhandlung erſcheinen 
mir zwei von Wert und Belang: das eine die relative Selbftändig- 
keit der eigentlichen Gottesbienftfiturgte im 8. Buch der Apoftoltfchen 
KRonftitutionen — ed. Lagarde, ©. 239, 8ff. — gegenüber dem 
voraufgehenden Formular der Biſchofsordination; das andere die 
Zufammenfegung jener Liturgie aus mindeftens zwei Formularen 
verfchtedenen Urfprungs; fo zwar daß die Anaphora mit Zubehör 
Kap. 12 aus dem umgebenden Rahmen ſich als ein ſelbſtändiges 
Stüd heraushebt. Beide Nefultate Halte ich für richtig; die Ber 
weisführung ber Verſtärkung, das Bewieſene genauerer Beftim- 
mungen fähig. j 

Daß das Ordinationsformular des Biſchofs Kap. 4. 5 (236, 
22 — 239, 8) mit der vorliegenden Geftalt der anfchliegenden 
Liturgie Feine folidarifche Einheit bildet, Läßt fich außer den inneren 
Gründen, welche Brückner dafür anführt, auch durch den Hinweis 
auf den formellen Zufammenhang mit den nachfolgenden Ordi⸗ 
nationsformularen Kap. 15ff. und duch den Befund der Texte 


1) ©. Heft 1 des Jahrganges 1882 der Studien u. Kritifen, namentlid, 
©. 59. 88f. 
eol. Stud. dahrg. 1888. 3 


u Kleinert 


überlieferung erhärten. Der Text der Statutenfammlung, welche 
als dinraksis rregd xscoroicõu und unter ähnlichen Titeln 
aus dem Birchlichen Altertum überliefert iſt ) und den Grundftod 
bet recept& in Const. apost. VII, 4—46 darbietet, giebt 
das Orbdinationsformular ohne anſchtießende Liturgie. Mit ihm 
ftimmt der Orforder codex Baroccianus des achten Buchs der 
Konftitutionen felbft, welcher nad) dem Zeremonial der Biſchofs⸗ 
weihe, in dem er mit ret. 286, 20 — 237, 18 zufammengeht, 
und nad dem Weihegebet, zu welchem fi 237, 18 — 239, 2 
als eine erweiternde Ausführung verhält, unmittelbar zu Kap. 15 
(261, 27) übergeht ?2). Der koptiſche Paralleltert, den Kanon 
65 u. 66 ber fogenannten koptiſchen Konſtitutionen bieten, und 
defien Übereinftimmung mit feiner fahibifgen Vorlage Tattam 
aus Vergleihung mit den erhaltenen Fragmenien ber letzteren ver- 
figert, Hat mit dem griechifchen den obenbezeichnsten Zeremonial- 
paſſus gemeinfam, erwähnt dann das Weihegebet und ſchließt 
daran allerdings wie die recepta aud eine Liturgie, welche aber 
mit diefer nur die Stüde 239, 5—15; 247, 28 — 248, 9. 
11. 25; 259, 19 — 260, 4. 9. 33 — 261, 2. 24 gemein 
hat ). Bon den euchariſtiſchen Gebeten erwähnt der Kopte nur 
die Epilleſe und die folgenden; und mit der griechiſchen recepta 
unterfcheidet er die dem Ordinationsformular angefchlofjene Gottes» 
dienftordnung von jenem felbft durch die Schlußformel 261, 
25—27 (von der ihm nur die Worte jueis ol drrdorolo 
fehlen) als eine Anmweifung megl ris gvazsxijs Amrgelas. 
Wäprend im Ordinationsformular der Text großenteils und das 


2) Sqhon feier durch ben Abdruck in Fabricius' Ausgabe der Opera 
Hippolyti (Hamburg 1716) befannt, find biefe dearafers wekerdinge von 
2agarde (in den Reliquise jur. eccl. ant.) und, mit reichfter Überfid)t der 
haudſchriftlichen Bezeugung, von Pitra veröffentlicht worden. ©. Pitra, 
Juris ecelesiastici graecorum historia et monumenta (Romae 1864) 
I, 495gg.; ef. p. XXIX sg. 

%) Bol. Bunsen, Anslecta äntenicaena (London 1854), T. II, 
p- 3775q. und dazu die Bemertung Lagardes, ib. p. 35. 

% H. Tattam, The apostolieal constätutions iu eoptic. (Rondon 
1848), S. XIV und 117—125. 





Bemerlungen zur Kompofition der Elemensliturgie. 8 


Schema völlig bei recepta und dem Kopten kongruiert, find bie 
Abweichungen der Liturgie des letzteren von der der recepta derartig, 
daß fie aus bloßer Abkürzung höchſtens teilmeife erklärt werben 
könnten. Weniger Gewicht möchte ich für die relative Selbftäns 
digkeit der Liturgie gegenüber von Kap. 4. 5 auf die fcheidenden 
Einfügungsformeln legen, durch welche Kap. 4f. als Berordnung 
des Petrus, Kap. 6ff. als Berordmung des Andreas, wie nachher 
noch Rap. 12ff. als Verordnung des Jacobus bezeichnet werben. 
Der Kopte hat dieſe zaxonimosies !) des letzten Redaltors noch 
nicht gekannt. 

Für die Selbſtandigleit des Anaphoratriles Kap. 12 gegen⸗ 
über von den anderen Stücken ber Liturgie läßt fi den von 
Brückner vorgetrogenen Argumenten hinzufügen, baß bei einheit- 
lichem Charakter der Gefammtlonzeption ſchon die Umformung des 
Grußes am Gingang der Katechumenenmefle (7 xagıs zoü 
xoglov juwv I. X, xal ij dyanım Ieod zei 7) zomwenla cod 
dylov nmweiparog udre nadvemv Öucv 239, 11f.) in bie 
teinitarifch geordnete Geftalt 248, 27. (N x. toc marsoxgd- 
Togog Gsoü.x. 1 dyamm ev... I. X. xalı) zowanie 
xrh.) am Eingange der Euchariſtiefeier ſchwer begretflich fein 
würde. Dem völligen Zurädtreten des Diakonus in den liturgiſchen 
Stüden des 12. Kapitels ſteht ein ebenfo bezeichnendes Hervor- 
treten desfelben in den übrigen gegenüber. Während feruer die 
Auaphoragebete Kap. 12 trotz des chriſtozentriſchen Charakters ber 
Brömmigfeit, welde fie ausbrüden, fih genau im Schema des 
altticlichen, nachgehends auch ftatutarifch fanfttonierten Ufus Halten, 
daß die Anrede im feierlichen Altargebet immer an den Vater zu 
gehen Habe *); während fie daher vom Sohn und h. Geiſt nur 
in der dritten Perſon reden, enthält die ftattliche Gebetsreihe der 
Katechumenenmeſſe in der Benediftion des Biſchofs über die 


1) So find fie ſchon, allerdings keineswege aus Gründen hiftorifder Kritik, 
bei Photius, Bibliotheca, cod. 112. 118. Par. 1611, p. 289 bezeichnet. 
2) Justin, Ayol. I, c. 65: aivov zul dia» mi are) ver Ölen 
dvanfunaı x. 1. A. c. 67: sVAoyoduss Tov momsg saw nimmer die 
08 vlod avrod I. X. Su. Carthag. (897) can. XXI: Quum altari ad- 
sistitur semper ad patrem dirigatur oratio. 
3* 


8 . Meinert 


Energumenen Kap. 7 (241, 22 ff.) — welche Hier nicht, wie Kap. 
12 (257, 23) xesualöusvor, fonbern dvegyovuevos heißen — 
ein direkt an Chriftum gerichtetes Gebet. Ebenda ift dem 
Vorwurf des Arionismus, ber gewiffen antenicänifchen Unbefangen- 
heiten des altliturgifchen Ausdrucks leicht erwuchs, durch die Ein» 
fegung der, wenn nicht johanneiſchen, fo doch ficher nicänifchen 1) 
Anrede movoyevi; Ied 242, 8 vorgebeugt, welche Kap. 12 auch 
nicht einmal als Ausfage, überhaupt fonft in den Konftitutionen 
nur in B. VII und beim Interpolator ber älteren Sammlung 
begegnet ?). Endlich fteht dem durchſichtigen Aufbau der Anaphora- 
gebete, welcher eine öfumenifche Idee in der einfachften und aus 
der Natur der Sache geborenen Folge ihrer Momente zum Aus« 
drud bringt, der Ausbau des gottesdienftlichen Teils, der zwifchen 
der Predigt und dem erften Fürbittengebet eingefügt ift, fehr eigen- 
artig gegenüber. Er Hat in Gebet und Segnung fir die 
gywrılönsvors ein Stüc, für weldes das Altertum feine liturgiſche 
Analogie bietet. Diefes weiß von Gebeten für die catechumeni und 
poenitentes (Conc. Laodic., can. XIX, Chrys. etc.), auch wohl für 
die energumeni (Orig., Chrys.), aber nicht von einer Abſcheidung 
der yaorıLöusvor von ben zaengouusvos In den Gebeten ber 
Vormeſſe ®). Auch der zuverläffige Jalob von Edeſſa ©), der die zu 
feiner Zeit bereits anttquierte altfyrifche Liturgie, und zwar mit 
ausdrücklich bezeugter Kenntnis nicht bloß der fyrifchen, fondern 
aud der ausländifchen Lokalpraxis beſchreibt, weiß wohl von 
Katehumenen, Energumenen, Pönitenten, aber nicht von Photi— 
zomenen an biefer Stelle. 


2) Bgl. Harnad in Schürers Litteraturzeitung 1876, S. 546 (nad 
Hort, Two dissertations, Cambridge 1876). 

2) 1. VOL, c. 88. 48. 1. II, 17; V, 20. 

3) Wenn Bona (Rerum liturgicarum libri duo Romae 1671, II, 12, 
4. p. 895) in einem alten Saframentar der Königin von Schweden in ber 
Liturgie des dritten Paffionsfonntages eine befondere oblatio für die Tänflinge 
fand, fo if} einerfeits dies ein singulare der befonberen kirchtichen Zeit, bie 
dem Zauftermin voranfging; anderſeits if die Gebetform der oblatio fein 
Stüd der Katechumenenmeffe. 

4) Jacobi Edesseni epistola de antiqua Syrorum liturgia, syr. et 
lat, bei J. 8. Assemani Bibliotheca orientalis I, 479sqq. 





Bemerkungen zur Kompofition der Efemensliturgie. 37 


Es prägt fih in dieſem Formular, das der Predigt ale 
Katechumenenmeſſe angefügt ift, der eigentümliche Zahlenfinn aus, 
der auch fonft in den Apoftolifchen Konftitutionen nicht felten an 
den Elohiften im Pentateuch erinnert; nur daß Hier die Zahl 4, 
nicht wie dort 7 oder 10, die Kunftbauten beherrfcht. Man vers 
gleihe mit unferer Vierzahl der Gebetsobjefte — Katechumenen, 
Energumenen, Bhotizomenen, Ponitenten — die Vierzahl der Lektionen 
hier 239, 9f.*) fowie l. II, c. 59; V, 19; ebenfo die merk— 
witrdige Erfceinung, daß, um eine Vierzahl gottesdienftlicher Haupt 
alte herzuftellen, II, 59 nicht bloß zwifchen Lefung der Propheten 
und Berkündung des Evangeliums unterfchieden, fondern auch die 
Abendmahlsfeier in das Opfer und die Kommunion als zwei felb- 
ftändige Akte neben einander zerfällt ift. Während der Liturgie in 
Kap. 12 derartiges fremd ift, kehrt es in den anderen Stüden 
derfelben auch da wieder, wo der an die Katehumenenmefje an⸗ 
ſchließenden Interceſſion des Diakonen das Gepräge einer Her- 
kunft aus unmittelbar nadapoftolifher Zeit durch Nennung von 
vier traditionellen Geftalten diefer Periode aufgedrüdt wird: 
Jakobus von Jerufalem, Clemens von Rom, Euodius von An« 
tiohien, Annianus von Alerandrien. (245, 13 ff.) Andere hieher 
gehörige Erfcheinungen werden uns weiter unten begegnen. 

Die Unterfheidung zwifchen dem Anaphorateile und den vor⸗ 
aufgehenden und nachfolgenden Stüden ift fo burchgreifend, daß 
es nicht nötig fein wird, zur weiteren Erhärtung derſelben auf die 
Inkongruenz der Formel od zmyv ngWemm eugv suxonevor 
rg08Adere am Cingange ber erfteren (248, 13) den Trrupuföfen 
Nachdruck zu legen, mit dem Brückner fie erörtert. Wer von 
der handſchriftlichen Bezeugung des Konftitutionentertes nähere Notiz 
genommen, wird die notwendige ZTertänderung rgossAders, bie 
übrigens wenigftens auf eine Handſchrift (Vat. 2.)2) ſich berufen 
Tann, am unferer Stelle ebenfo wenig bedenklich finden, als an 
anderen, wo das Handfchriftlihe Zeugnis für zrgosisere und 
zrgogekdere gleihwiegt. Zudem gehört der Sag zu den Ein 


1) Der koptifche Tert Spricht bier nme vom Evangelium. Tattam, p. 117. 
3) Bgl. die Fritifhe Note f bei Pitra a. a. D. I, 399, 


8 Kleinert 


ſchiebſeln, deren Urfprünglichleit von uornherein zweifelhaft if, 
weil fie in einer fonft mit dem Kopten gemeinfamen Strede von 
diefem nicht geboten werden. Um fo nachdrüclicher allerdings 
wird die Wichtigkeit jenes anderen von Brückner betonten Moments 
für die Quellenſcheidung urgiert werden müffen, daß nämlich das 
Mittelftüct der Liturgie durch die ausſchließliche Bezeichnung bes 
celebrierenden Biſchofs mit dem Titel apxsegsds ebenfo fignifilant 
harakterifiert ift, wie die anberen durch ben ebenfo ausſchließlichen 
Gebrauch) des Titels Alcxoroc für denfelben. Denn in ber 
That Handelt es fich Hier um diftinkten Sprachgebrauch in ber 
techniſchen Bezeichnung eines und desfelben Objekts, wie ſchon der 
Kontinuierliche Verlauf der Handlung ergiebt. Wenn in fpäteren 
Liturgieformularen das Würbtttengebet den @exssgeus als eine ber 
fondere NRangklafje von dem Errioxorrog unterſcheidet 1), fo kann 
eine folche Unterfcheibung der fungierenden Hauptperfonen hier 
ſchon deshalb nicht vorliegen, weil gerade hier die Fürbittengebete 
noch nichts von bderfelben wiffen. Das den Archiereusftücen felbft 
angejchlofiene kennt neben der du ovderku des Betenden nur 
noch Presbpter, Dialonen, Unterbeamte und Awos, zeigt alfo, 
daß der betende daxssgeds mit dem Irrloxorsos zuſammenfallend 
gedacht wird 256, 26ff. Das des Diakonen vor dem Friedens⸗ 
tuß weiß ebenfo nur von drioxdnoss, mresshvregois, Diakonie 
und HHperefieen 245, 12ff. Es würde demnach unzuläffig fein, 
etwa ‚in dem als z@v mgeisov Emioxonew (237, 14; vgl. 
6 nedxgimos av Aoımav &. 236, 27) des Drdinationd- 
formulars eine Vorandeutung finden zu wollen, daß in der nach⸗ 
folgenden Liturgie neben andern drsaxorross und im Unterfchiede 
von ihnen auch ein «gxssgedg fungieren werde. Ganz abgefehen 
davon, daß, wenn man felbft über die relative Unabhängigkeit der 


1) 3.8. Markusliturgie (bei Hammond, Liturgies eastern and western, 
Oxford 1878, ©. 172), wo der agyisgeus Hana, alfo ber Patriarch von 
den Bifhöfen unterjdjieden wird. Noch voller die nämliche Mürdebezeichnung 
im der ägyptiichen Gregoriusfiturgie (bei Renaudot, Coll. litt. orr. I, 107): 
dgzıegeis ABBa nena marguiggns. Parallel in der Bafiliusfiturgie (bei 
Migne, Patrologia, series graeca XXXI, p. 1640): deyısnlazonos &Bßa 
ndna xa) nargidgyns. 





Bemerkungen zur Kompofitiog der Elemensliturgie. » 


Liturgie vom Ordinationsformular himwegfähe, auch dann noch die 
Verſchiedenheit der Bezeichnungen (sic vv zug. Er. — aexisgadc) 
auf Quellenverfchiebenheit Hinweifen würde, Der Archiereus und 
der Epiſtopos der Liturgie find, mie der nächſte Augenſchein und 
wie jede eingehendere Prüfung zeigt, identiſch, und die Lonſequenz 
in der Scheidung der Ausdrucksweiſe giebt das Recht, bie Doppelr 
heit der großen Maſſen, welche in berfelben zuſammengeſetzt er⸗ 
fcheinen, nach dieſem prägnanteften Merkmal durch die Bezeichnung 
von Arhiereusftüden (A.) und Epifloposftüden (E.) zu 
figieren. Bon Hier aus ergiebt ſich zugleich die Notwendigkeit, 
welche fich fofort weiter bewähren wird, das große Mittelftüc im 
Kap. 12, welches in fortlaufender Reihe die Hauptmaffe der 
Archierensftücke entHäft, nicht mit Brückner bereit 248, 10, fondern 
erft 248, 24 beginnen zu laſſen. Anderſeits ebenfo bie Not⸗ 
wenbdigfeit, zu dieſer Hauptmaffe auch das Archiereusgebet, das vor 
dem Friedenskuß in ifolierter Stellung erſcheint (246, 29 — 247, 25), 
als berfelben Duelle zugehörig Heranzuziehen, wie es denn in Art 
und Formung mit den Archiereusſtücken in Kap. 12 augenfällig 
übereinfommt. 

Überbficen wir den bargelegten Sachverhalt, fo ergiebt fich 
als Grundlage unferer Liturgie ein kurzes Ritual für den regel⸗ 
mäßigen Sonntagmorgen-Gottesbienft, welches ber dem 8. Buch ber 
Apoftol. Konftitutionen einverleibten Sammlung von Orbinationd- 
tanones im Anflug am die Bifchofsweihe als biefenige inferiert 
worden tft, welche der Regel nach (236, 26f.) am Sonntag ftatt- 
zufinden Hat. Die einfachfte, der Grundform nächſte Geftalt 
dieſes Formulars bietet der koptiſche Text, deſſen Beſtand baher 
turzweg als Vorlage (V.) bezeinet fein mag. Sie umfaßt 
folgende Stüde: V.1: Perifopenlefung. V.2: Salutation und 
Antwort. V.3: Predigt. V.4a: Ausflug ber Ungläubigen. 
V. 4b: Fürbitten für die Kranken m. a. V.5: Sriebenstuß. 
V.6: Orbnende Funktionen der niebern Kleriler. V.7: Hände 
waſchung der Priefter. V.8: Zurüftung der Euchariſtie. V.9: 
Funktionen der Diakonen und Presbyter bei derſelben. V. 10: 
Anaphoragebet mit Epiffefe. V. 11: Diftribution unter Pfalm- 
geſang. V.12: Danfgebet des Dialouen. V. 13: Danfgebet des 


40 Kleinert 


Biſchofs. V.14: Schlußſegnung. V.15: Schlußentlaffungsformel. 
Gebetöftellen werden markiert, an Gebetsformularen nur eins mit» 
geteilt, da8 Dankgebet des Diakonen V.12. Dies Dankgebet 
muß, wie beiläufig zu bemerken, als eins der älteften und univer- 
feltften Liturgifchen Stücke erachtet werden. Mit dem Ergänzungs- 
gedanken, den es im äthiopiſchen und griechiſchen Paralleltert hat 
— daß das 5. Mahl den Genießenden nicht zu Schuld und DVer- 
derben, fondern zur Stärkung Leibes und der Seele gereichen 
möge —, begegnet es ebenfo in der Konſummationskollelte der alt- 
galliſchen Liturgie im Sacramentarium Bobbiense, und. als 
KRommuntongebet des Prieſters im ambrofianifchen und römischen 
Miſſale ?). 

Diefe Grumdgeftalt erweitert fich in dem Text der fogenannten 
Clemensliturgie, wie ihn die griechiſchen recepta des achten Bude 
der Konftitutionen bietet, durch zweierlei Einfüge. Zu der einen 
Kategorie, den Arhierensftüden, gehört zunächſt A.1: ein 
Gebetsformular des Bifchofs, welches vor dem Friedenskuß (V.5) 
eingefehaltet ift: allgemeines Gebet um Heiligung und Erlöfung 
der feiernden Gemeinde. Die übrigen Stüde dieſer Gruppe ftellen 
einen in fich gefchloffenen Titurgifchen Ausbau von Nummer 10 der 
Vorlage dar. Diefer vollendet fi in folgenden Stüden: A. 2: 
Stilles Gebet des Biſchofs. A.3: Salutation mit Antwort. 
A. 4: Antiphonie zum Präfationsgebet. A.5: Präfationsgebet; 
zunächft Preis für die Wohlthaten Gottes als Schöpfers, Erhalters, 
Negierers der Welt und feiner Offenbarungen in ihr und an fie, 
ausmündend ins jeſajaniſche Sanltus. A. 6: Preis der Ber 
föhnung durch Ehriftum, anfchließend die Recitation der Inftitutions- 
worte der Eudjariftie. A.7: Gebetöformular der Oblation (uegrn- 
usvoi) und Epiklefe; woran ſich ohne befonderen Eingang A. 8: 
das große Fürbittengebet mit Dorologie ſchließt. . 

Biel felbftändiger bewegen ſich die Einſatzſtücke der zweiten 
Art, die Epiſko pos ſtücke. Ihre Hauptmaffe (E. 1—4) 
füllt. eine Stelle aus, die in ber Vorlage des Kopten gar 
nicht als offene erſchien, die fie ſelbſt erſt fi öffnen, und 


1) Bei Hammond a. a. O., ©. 361. 350. 


Bemerkungen zur Kompofition der Elemensliturgie. 4 


war zwiſchen V. 4a und V. 4b. Nämlih E. 1: Diakongebet 
und Biſchofsſegnung über die Katechumenen und Entlafjung der 
felben. E.2: Gebet, Segnung, Entlafjung der Energumenen, 
E.3: Gebet, Segnung, Entlaffung der Photizomenen. E.4: Ges 
bet, Segnung, Entlaffung der Pönitenten. Dazu E. 5: Ausflug 
der für das Folgende Unbefähigten und E.6: ein großes Fürbittens 
gebet des Diafonen, durch welches die kurze Andeutung V.4b erfeht 
iſt. Fernerhin wird Nummer 5 der Borlage weiter ausgeführt, ins» 
befondere — E.7 — durch ein mredoyapev bes Diafonus und 
Salutation des Biſchofs eingeleitet. Zwiſchen V.10 (= A. 2—8) 
und V. 11 fügt fi) E. 8 eine weitere Salutation des Biſchofs mit 
Refponfum ein; ferner E.9 das dritte Fürbittengebet, welches der 
Diaton Hält, und nad welchem er durch die Gebetsaufforderung 
E. 10 zu dem Bifcgofögebet E. 11 um würdigen Empfang der 
heiligen Gaben hinüberleitet. Daran fließt fi E. 12 das 
medoyapsr mit dyıa dyloıs, als dyıos, Gloria in excelsis 
und Hosianna. Zu V. 11 wird E. 13 die nähere Anweiſung 
gegeben, daß der zu fingende Pfalm ber 3Afe ſei. Die V. 13 
markierte Gebetsftelle wird E. 14 durch ein Formular ausgefüllt, 
und ebenfo die Stelle V. 14 durch das formulierte Segensgebet 
des Biſchofs E. 15. 

So fomponiert ſich die weſentliche Geftalt der Liturgie in der 
recepta, abgefehen von den nachträglich eingetragenen Formeln 
apoftolifcher Anordnung. Wenn ich in diefem Kompoſitionsſchema 
den Rahmen, dem fid die großen Einfagftüce einfügen, im Ans 
ſchluß an den koptiſchen Text desſelben dargeſtellt habe, fo iſt 
bertits vorhin angedeutet, daß ich dabei nicht von der unbeweis⸗ 
baren Vorausſetzung ausgehe, daß dieſe Geftalt der Vorlage die 
urfprüngliche felbft jet, fondern nur dieſes annehme, daß fie der 
urfprünglichen fehr nahe ſtehe. Während dies letztere aus der 
Bergleihung mit den Zufägen der griechiſchen Parallelabſchnitte 
fich ergiebt, muß dem erfteren gegenüber ich aus mehreren Gründen 
für wahrſcheinlich Halten, daß beide Geftalten der Vorlage, die 
toptifche wie bie ber recepta einverleibte, auf die gemeinfame 
Grundfage einer dritten, felbftverftändfich griechiſchen zurückgehen. 
Denn nicht überall verhält es ſich fo, daß die Abweichungen der 


4 Meinert 


Neeepta ſich fofort als Zufäge zu dem koptiſchen Ritual darſtellen, 
fondern ſtellenweiſe divergieren bie parallelen Ausführungen fo, 
daß fle von einander nicht wohl abhängig fein künnen. Ganz 
vornehmlich gilt dies von dem Paſſus, betreffend die Thürwacht, 
248, 5—7. Daß bier ſchon im der urfprünglichen Vorlage 
etwas über bie Hut der Ihren während der Eudhariftie ange 
ordnet fein wird, fehließe ich aus dem Gewicht, das altherkämmfic 
anf dieſen Punkt gelegt wurde. Das bezeugt ſich dadurch, daß 
die abgelürzte Formel Auges! Ivoxs! in einigen alten Liturgieen 
fih im diefer Strede des Titurgifchen Rituale als unverſtändliche 
Ruine erhalten Hat, nämlich in ber Tonftantinopofitanifchen Chry⸗ 
foftomusfiturgie und in der armentfchen; Hier fogar ala Mefponfum 
der Präfationsantiphone ’). Daß aber die Ausführungen biefer 
urfprüngfichen Vorfchrift in der recepta und beim Kopten gegen 
einander felbftändig find, erhelft daraus, daß fie betreffs der Ver⸗ 
teilung der Thürwacht an die Diafonen und Subdiakonen das 
diametral Entgegengefegte anordnen. Bei beiden ift ber Paſſus, 
wie er vorliegt, ficher nicht das Urfprüngliche, fondern verhäftnis- 
mäßig fpäte Ausführung bes Urfprünglichen; das beweift bie 
Nennung der Subdiafonen mit biefem Titel. Wie die Einführung 
derfelben beim Wafferaufgießen (gr. sing., fopt. plur.) nicht gar 
alt fein Tann, da noch bei Cyrill von Jeruſalem diefe Funktion 
den Diafonen obfiegt (Opp. ed. Touttee, p. 325), fo auch nicht 
die Thürwacht. Daß aber der Kopte — allerdings nur an diefer 
Stelle?) — zu felbftändiger Formung des Paſſus gelangte, wird 
nicht wundernehmen, wenn wir die befondere Pflege des Sub⸗ 
diakonats grabe in ber Äghptifchen Kirche berückſichtigen. Nirgend 
erhält man eine fo Mare Einficht in die Funktionen desſelben, als 
aus dem arabifchen Schlußftic des koptiſchen Orbinationsformulare 
ber Subdiafonen, weldes Morinus nad Kirchers Überfegung aus 


1) Bei Neale, History of the holy eastern church (£ondon 1859) 
I, 456; II, 530. 

2) Denn an der anderen Stelle, wo bie recepta in ber mit dem Kopten 
gemeinfamen Vorlage die Unodıcxovor einführt (259, 20) nennt er nach ben 
Diakonen nur „den übrigen Klerus“. Tattam, p. 128, 


Bemerkungen zur Kompofition der Elemensliturgie. “ 


einem alten Koder der Propaganda in Rem mitteilt 1). Da tft 
ihr Amt zweiteilig: einmal die Bedienung der Diakouen, dann die 
Bewahung der Thüren. Beides ftimmt zu Titel und Funktion 
der Öramgdras im can. 43 der Laodicenifchen Synode ). Aber 
daß diefe Synode eben Subdiakonen noch nicht kennt, fondern 
Ürmgsrer, daß mit ihr darin die älteren Bücher der Apoft. Kon⸗ 
ftitutionen zufammentrefjen — vgl. auch in dem älteren Fürbitten« 
gebet unferer Liturgie 245, 24: unmesote —; daß diefe älteren 
Bücher bei der Thurwacht von zrvAmgos, nicht aber von Subdia⸗ 
tonen reden: das alles Hindert, mit der Entftehung unferes Paſſus 
über die letzten Jahrzehnte des vierten Jahrhunderts hinaufzugehen. 
Anderfeits freilich wird man auch nicht tiefer hinabgehen dürfen. 
Denn von dem Dienft, der bereit8 Const. ap. VII, 21 den Sub» 
diafonen an den heiligen Gefäßen zugewiefen wird, leſen wir in 
uuſerer Liturgie noch nichts. 

Nicht bloß für den vorliegenden Punkt, fondern überhaupt 
bietet eine ſehr bemerkenswerte Illuſtration zu dem oben Ausge 
führten der üthiopiſche Paralleltert, welhen I. Ludolf im 
commentarius ad historiam aethiopicam, Frankf. 1691, 
P. 3055qg. bietet. Er bildet die 21ſte unter den fogenannten 
„71 Verordnungen der Apoſtel“, von denen Ludolf a. a. O. bie 
erften 23 nach einem vatifanifchen Cober ®) mitteilt. Auch bier 
fügt fich die Liturgie, wie im 8. Buch der Konftitutionen, einer 
Reihe von Ordinationsformularen in unmittelbarem Anſchluß 
an die Biſchofsweihe ein, fo jedodh, daB von allem, was an 
Katechumenenmeſſe erinnern könnte, hier völlig abgefehen ift. Ins 
dem daher von dem ganzen Nitualverlauf, den ber Grieche 
zwiſchen 239, 8 und 248, 24 mit dem Kopten gemein hat, 


4) J. Morinus, Commentarii de sacris ecelesise ordinationibus 
(Antv. 1695), p. 4438q. 

2) Bgl. denſelben mit den Bemerkungen des Zonar as in befien Com- 
mentariis ad canones apostolorum et conciliorum ed. Quintia (Paris 1617), 
p. 356. 

3) Bol. über denfelben W. Felt in feiner Edition der Canones apostoli 
aethiopice (Lips. 1871), p. 6sq. Die 56 bzw. 57 apoftolifchen Eanones 
ud übrigens mit den 71 „Beroronungen® micht zu verwechſeln. 


4 Kleinert | 
| 


(V. 1-9; inel. E. 1—7. A. 1) völlig gefchiwiegen wird, beginnt | 
nad dem Ordinatiousgebet fofort die Salutation des Bifchofs, 
bier aber nicht in der ausführlichen Form nah 2Kor. 13, 13 
(A. 3), fondern in der kürzeren: „Der Herr mit allen“, melde 
auch die Markusliturgie an der nämlichen Stelle hat. Der Tert 
fährt fort mit der Präfatio und den Anaphoragebeten; diefe in 
gewiffen gemeinkirchlichen Grundformeln mit denen der Archiereus⸗ 
ftüde verwandt, aber in geringerer Ausbildung. Es fehlt die 
Lobpreifung Gott Vaters mit dem Sanctus: kurze Streden Laufen 
zu A. 6.7 (gr. 255, 19 — 256, 11) parallel. Bon den beiden 
euchariftifchen Zürbittengebeten des Griechen (A. 8. E. 9) findet 
ſich nichts, dagegen bietet der Äthiope felbftändig eine Reihe 
fräftiger und inniger Gebete von direkter Kommunionbeziehung. 
In den gemeinkirchlichen Stüden &yı= dyloss, ls &yıos ftimmt 
er mit E.12, wogegen in den Dank» und GSegensgebeten des 
Schluſſes wieder nur einzelne Wendungen, verſchieden verteilt, 
beiden Texten gemeinfam find. 

Das Ganze trägt das Gepräge hohen Altertums, eines höheren 
wenigftens, als die griehifche recepta. Die hierurgifchen Be 
ziehungen, deren beginnendes Eindringen man in biefer ſtellenweis 
wahrnimmt, fehlen ihm gänzlich. Sehr beachtenswert ift namentlich, 
die direkte Beziehung aller Formulare auf Feier und Empfang des 
h. Abendmahls als ſolchen: noch drängt ſich nicht jegliches gottes- 
dienftliche Vedürfen der Anbetung und ürbitte, des Belennens 
u. f. w. in der Euchariſtie zuſammen. In alte Zeit weift es, 
daß unmittelbar zur Weihe der Abendmahlselemente die des Ols 
binzutritt; die Oblation der Gaben durch die Gemeinde, welde 
nicht bloß die Abendmahlselemente umfaßt, bildet noch die Voraus: 
fegung des Ritus. Fern fteht noch die Zeit der nicänifchen 
Kanones, deren achtzehnter dem Diakon es unterfagt, den höheren 
Amtsftufen das Sakrament zu reichen: hier wird grade, daß er es 
dem Bifchofe reiche, als Firchlihe Ordnung bezeichnet. Probſt 
allerdings will (S. 239) das fpätere Alter dieſer Liturgie durch 
angebliche Anfpielungen auf ben Neftorianismus erhärten, Tann 
aber nichts dafür beibringen als den Sag: misisti eum (sc. 
Christum) de coelo in uterum virginis, welden er mit ber 





Bemerkungen zur Kompofition der Clemensliturgie. 4 


tendentiöfen Anderung Deum ftatt eum citiert. Wie Hammond 
(p. LVII) bei Wiederherftellung der richtigen Lefung die 
„savours of a time later than Nestorius“ aufrecht erhalten 
mag, ift mir unverftändlid. 

Unter ben belangreiheren Schlüffen, welde fi aus Ber- 
gleihung biefes Rituals ergeben — Details find ſchon vorher ans 
gezogen unb werben noch weiter in Betracht kommen —, genüge 
es, drei hervorzuheben. Erftlich: auch diefes fehr alte Formular, 
nahe verwandt mit dem koptiſchen, Hat bereits wie biefes ein 
Meformular in Verbindung mit der Biſchofsordination. Ganz 
ebenfo verhält es fih mit bem arabifchen Formular in ben 
Canones des Abulides *); ebenfo mit dem britten Kanon jenes 
arabiſchen cod. Baroccianus, deſſen Bunfen Erwähnung thut ®). 
Es ergiebt fi, daß die Kombination fehr alten Herkommens ift ®). 
Dadurch wird die Selbftändigleit der Geftalt, in der die Liturgie 
in den Apoft. Konftitutionen erfcheint, nicht berührt; micht aber 
möchte ich angefichts des Obigen das yaıgorosndels 239, 11 
für reine Zuthat erft des letzten Redaltors halten. Dafür, daß 
es ſchon der Vorlage angehörte, fpricht auch, daß das Wort Hier 
noch, dem älteren Sprachgebraud gemäß, im Sinne der Wahl, 
noch nicht im Sinne der Ordination gebraucht erfcheint (vgl. 
namentlih 237, 17), während doch diefer letztere Sprachgebrauch 


1) Haneberg, Canones Hippolyti arabice (Monachi 1870), can. 
2. 3, p. 275g. And) für bie (loptifce oder griechiſche) Borlage diefer Ca- 
nones wird ein hohes Alter durch den Umſtand erwieſen, daß fie mit der eu» 
chariſtiſchen Weihe micht bloß die des Ols, fondern aud) die der von der Ger 
meinde dargebrachten Erſtlinge in unmittelbare Verbindung fegen. 

3) Bunsen, Analecta antenicaena IH, 41dsqg. Bgl. auch Tattam 
a. a. O., p. Blsgg. 

8) Auch der in ber erſten Hälfte des 6. Jahrhunderts geſchriebene Eoder 
des fränfifchen Meßbuches, deffen bezügliche Formulare Morinus a. a. O., 
p. 212sgg. mitteilt, nimmt auf die der Biſchofsordination anſchließende Meffe 
direft Bezug, und ebenfo daB alte griechiſche Formular des Barberini-Eoder 
ebenda, p. D2sgg. Bemerkenswert, aber nicht ofne Analogieen, If} der Nach 
deu, der in dem letzteren auf das bifdöflicie Furbitiengebet gelegt wirb, das 
ſich fofort der Ordinetion anſchließt. 


4 aleinert 


bereits in den kanoniſchen Briefen des nämlichen Baſilius herrſcht %), 
der die Subdialonen nur noch als Örmescas lennt. — Zweiteno: 
Der äthiopiſche Text, wie ebenfo der in den canones Abulidis 
ift einerfeit8 mit der Geftalt der Vorlage beim Kopten und ber 
recepta jo nahe verwandt, und anderſeits doch wieder fo felb- 
ftändig emtwidelt, daß wir auch von hier aus zu dem Poſtulat 
einer Tegten Grundform der Vorlage der Liturgie gelangen, der 
der Kopte ſehr nahe fteht, ohne fich doch mit ihr völfig zu decken. — 
Drittens; Mit dem Kopten und Abulides ftimmt gegenüber dem 
Griechen das äthiopiſche Formular darin überein, für die großen 
Gebete, die der letztere am Anfang des Gottesdienftes Hat, keine 
Lucke zu laſſen. Wir werden alfo das Alter ber Vorlage im 
Gegenfag zu den Epiffoposftüden ber Liturgie über die Anfangs 
bfüte des Katechumenats hinaufzurücken haben ?). — 

Lußt fich über Herkunft und gegenfeitiges Verhältnis der Ein- 
fagftüdte in der griechifchen recepta etwas ausmachen? Die Ant« 
wort wird durch die eigenartige Beſchaffenheit der Liturgie erſchwert. 
Durchaus richtig bemerkt Neale (a. a. O. I, 318) bei feiner 
trefflicgen Gruppierung ber Liturgiefamilien inbetreff der unferen, 
daß fie eine Familie für fich bilde. Das liegt im Vergleich mit 
alten übrigen vorhandenen Kiturgieformularen nicht bloß im ihrer 








1) Bgl. den Abdruck derfelben bei Pitra a. a. O., z. B. ©. 588, 
3.27; ©. 608, 3. 5. Über den Übergang der älteren Bedeutung im die 
jaugere vol. Zonarad a. a. O., p. 2. 

2) Die Yiefige Köuigl. Bibliothet beſizt das äthiopiſche Synodikon, in 
welchem die 71 Verordnungen ber Wpoftel bie erſte Stelle einnehmen, in zwei 
Dendichriften; dgl. die Beſchteibung derſelben bei Dillmann, Verzeichnis ber 
abeffinifchen Haudſchriften der Königl. Bibliothet zu Berlin (1878), ©. 15[. 
17 Ich Hoffe, gelegentlich au anderem Orte aus denfelben einige Atargiiche 
Nebenfragen zu erledigen, welche die fragmentarifche Veröffentlichung bei Ludolf 
offen laßt, wie das Verhältnis der gleichnamigen Verordnung 52 zu ®. 21 
u. a. Erwlunſchter noch wäre es freilich, wenn eine auf dieſem Gebiet kon ⸗ 
genteierte Kraft die von Wansleib am Ende des 17. Jahrhundrets bereits 
uaternounnene, aber nicht veröffentlichte Arbeit mit den Mitteln heutiger Lin- 
guifit und Diſtorit wieder aufnchme and diefe ganze ägnptifdesrabiich-äthio- 
piſche Kanoulirteratur zu einer überfechtlien und allgemein zugäugliden Dar · 
ſtellung verarbeitete. 


Bemerkungen zur Kompeftion der Elemenstiturgie. [ci 


eigenartigen Zufammenjegung, fondern euch in dein Gepräge bes 
überragenden Alters, durch welches das fo zufammengefete Ganze 
von jenen unterfchieden iſt. So Menig fiy die Annahme einiger 
Neueren durchführen läßt, daß dieſes Formular das im zweiten 
und dritten Jahrhundert in der ganzen Kirche offiziell gebrauchte, 
nub daß es apoftolifcher Anordnung fer — Verſicherungen, für 
welche zu der monſtroſen Begründung gegriffen werden muß, daß 
das „jtarre Feſthalten am Überlieferten“ der Grunddarakter des 
Kultus in den eiften chriſtlichen Jahrhunderten gewefen, und dag 
judiſche Rituale den Upofteln die Typen für dieſt ausführlichen 
Kaltusanorduungen geliefert 2): — das bleibt beftehen, daß dies 
liturgiſche Ganze in feinem Richtwiſſen von Monchen, von Par 
triachen und ähnlichen Characteriſticis des vierten und der folgen⸗ 
den Jahrhunderte; in feiner völligen Freiheit von Hagiolatrie und 
Mariolatrie, von befonderen liturgiſchen Ausprägungen der Würde 
und Ahfonderung des Opferpriefter6 von der Gemeinde, in feiner 
mar ganz ſporadiſchen Beruhrtheit von Zeichen ber nachnicänifcen 
Kepftallifation des Dogmas u. a. gegenüber den uns vorliegenden 
Gejtalten der andern großen alttirchlichen Litungieen gar fehr für 
fi geht. Und wenn es umleugbar mit derjenigen Geftalt der 
Liturgie, welche aus den Schriften des Cyrill v. Jeruſalem, des 
EHrpjoftomus and and dem Briefe des Jatob von Edeſſa über 
die altſyriſthe Liturgie fich rekonſtruieren läßt, und welche mit der 
fogenannten Jatobusliturgie nachftverwandt ift, vielfache Mer 
ruhrungen aufzeigt, fo fehlt doch auch dieſen Analogieen gegenüber 
es nicht au ſehr charakteriſtiſchen Eigentümlichkeiten. Was aber 
vom Ganzen gilt, wird immer mehr oder weniger auch vom den 
Zeilen geften. 

Was zunähft die Archtereusſtuckt angeht, die fih ale 
kompakte Maſſe aus dem Ganzen Herausheben, fo bieten fie in 
den Eonftitutiven Stüden der Euchariſtie mit Präfation, weuer- 
psvor, Epitleſe ꝛc. Beſtandtelle, die ihre Anknüpfung fo ſehr im 
liturgiſchen Gemringut dor alten Kirche haben, daß für ihre Zu⸗ 
weifung an beftimmte Orts» und Zeitverhältniffe der Entjtchung 





1) Probſt, ©. 251. Bidell, Defie und Pula, ©. 28. 37. 


48 Kleinert 


nur ſehr wenige und wenig fichere Anhaltepunkte ſich ergeben. 
Während bie übrigen Beziehungen auf bie Heilsgeſchichte im 
Anaphoragebet die biblifchen Quellen, auf denen fie fußen, überall 
leicht erfennen Laffen, gilt ein Gleiches nicht von dem merkwürdigen 
Paſſus über Adam 252, 3f: xedv rgös OAyov avsov xor- 
ulduc Ögxp sis nalıyyevsctaev Exälscaus, Ögov Iavarov 
Adcas Lunv SE avaoıdasng drenyysllm. Es liegt nahe, an 
eine Bezugnahme auf die Bewegung zu denken, melde nad bem 
Zeugnis des Srenäus (adv. haer. I, 28; II, 28), Hippolyt 
(Elenchus VIII, 16), Tertullian (de praescript. haer., c. 52) 
duch die Behauptung Tatians in der Kirche hervorgerufen war, 
daß Adam ewig verdammt fei. Außer der Zeitlage aber, daß der 
Vaſſus eheſtens gegen Ende des 2. Jahrhunderts formiert fein 
kann, wird aus biefer Beziehung nichts Weiteres gefolgert werben 
können. Wie fon die Namen der Zeugen, bie zugleich Gegner 
find, beweifen, ift jene Beziehung, wenn fie anerkannt wird, keines⸗ 
wegs ein Characteriſticum für Entſtehung des Gebets in Syrien, 
dem Baterlande und auch legten Aufenthalt Tatians; und ganz 
fiher bat der Paſſus Feine Anknüpfung an die orientalifchen 
Abamlegenden, die in dem fogenannten Adambuch *) zuſammen⸗ 
geftellt find; von jenem Ögxos erwähnen biefelben nichts. (her 
tonnte die eigentümliche Beziehung diefes Buches auf die Kriftliche 
Euchariſtie (Dillmann, ©. 61), fowie bie bis zum Übermaß ger 
bäuften Tötungen und Wieberbelebungen Adams in demfelben als 
ein Zeichen dafür in Anfpruc genommen werden, daß gerade an 
dem Gebrauch jenes gleichoiel wo geprägten, aber weithin in Ge- 
braud; genommenen Paſſus in der Abendmahlsliturgie ſich die 
dichtende Phantafie zur Produktion jener Legenden entzündet Hat. 
Bon dem, was in Übereinftimmung mit dem Adambud Au» 
guftin als kirchlichen Gemeinglauben feiner Zeit berichtet, daß 
Chriſtus den Adam aus der Hölle erföft, weiß die Liturgie noch 
nichts; fie würde fonft das die Xgsoroü, das fie bei der 
Schöpfung und bei der Pflanzung des Paradieſes fo forgfam ein» 


1) Bgl. dasfelbe in Dillmanns Überfegung aus dem Äthiopiſchen bei 
Ewald, Jahrbücer V, 1ff. 


Bemerkungen zur Rompofition ber Elemensfiturgie. 49 


trägt (249, 21; 251, 17) an der vorliegenden Stelle ſicher nicht 
ausgelafjen haben. 

Am eheften Könnte man ſich verfucht fühlen, von dem Gebrauch) 
der Bezeihnung dgxesgsös für den celebrierenden Biſchof felbft 
einen Auffhluß zu erwarten. Es ift befannt, daß diefer Schmud- 
titel des Biſchofs weiterhin in der griechiſchen Liturgie ganz 
herrſchend geworden ift ). Uber ber Schluß, daß unfere Quelle 
diefer fpäteren Zeit zuzuweifen, würde ein voreiliger fein. Auch 
in den älteren Büchern der Konftitutionen begegnet uns bereits 
diefe Vertauſchung von drtoxomos mit dexssgeds (vgl. 5. B. 
DL, 20. 25. 57), und der Ausgangspunkt für diefelbe wird in 
jenen erften Zügen eines nach altteftamentlihen Vorbild gedachten 
Aufriffes kirchlicher Organifation zu finden fein, welchen der (erfte) 
Clemensbrief Kap. 41. 42 giebt. Hat auch Lipfins recht, dag 
an diefer Stelle felbft der dexsegeds noch nicht der Biſchof, 
fondern Chriſtus ift, fo zeigt doch die Litteratur der nächften Zahr« 
Hunderte deutlich, daß man ihre Konftruftion weiter ausdentend 
früh genug den Biſchof in die Stelle des Hohenpriefters einrücken 
ließ; vgl. namentlich die inftruktive Ausführung Const. app. IL, 
©. 54, 5ff. Auch in Rom felbft wird das gefchehen fein; als 
Überfegung eines dgxsegeus der vorlatinifchen Periode bortiger 
Kirchenſprache begreift fih am leichteften die Biſchofstitulatur 
princeps sacerdotum, welde in der lateinifchen zeitig eintritt ®). 
Iſt es nun zufällig, daß auch fonft unter den im ganzen fpär« 
lichen Wortbeziefungen zwifchen dem erften Glemensbrief und 
unferer Liturgie die meiften und gerade die fignififanteften ſich 
auf die Archiereusſtücke der letzteren Tonzentrieren? gl. Const. 
app. 246, 30: ürors dv vypmdols zaromdv, dys 


4) Bgl. beifpielsweife den Kommentar über die Isla Asırovpyia, den 
Aug. Mai im Spicilegium Romanum IV, 31ff. als ein Werk des So- 
phronius don Serufalem abgedrudt hat, — im übrigen ohne Zweifel ein 
ebenfo unechtes Machwerk, wie die angebliche Schrift des Proclus von Kon- 
ftantinopel zrepl nagadöaswns zig Helas Asırovgylas, mit der man neuerdings 
wieder bie alte Liturgiegefcichte zu verwirren begonnen hat. 

3) gl. Mamachi, Origines et antiquitates christianae (Romae 
1762) IV, 295. 

eol. Stab. Yahız. 1888. 4 


do aleinert 


à dyloig dvemavöpeve mit Cl. I, 59, 3: daliorov & 
Öyloross, dyıov Ev dylois dvanavdusvov; C. a. 251, 6f.: 
od uövov zov x0onov Sdnmoveynoas dAld zul zov dr. 
Ionnov Ev adıa dnolmoas xdanov zdonov dvadslkus mit 
CL I, 33: 6 dnmiovgyos av dnavıav — — 6 aiguos 
yols adröv xoounijgac Exden, dabei an beiden Steffen das Citat 
Gen. 1, 26f.; C. a. 247, 11; 257, 18: BomIods za dveılı- 
nero mit Cl. I, 59, 4: Bondös zul avsslinewg; C. a. 
254, 4 das jefnjanifche Trishagion wie Cl. I, 34, 6. 
Es wäre ja fhöriht, auf die überlieferte Berkettung, welche die 
Apoſtoliſchen Konftitutionen im alfgemeinen und unſere Liturgie 
im befondern mit dem Nomen des Clemens verbindet, einm 
Schuß bauen zu wollen. Dem wehrt nicht bloß die große Aus 
dehnung diefer orientafifchen „Clemens“ -Litteratur *), fondern auch 
die ftarfe Selbftändigkeit gerade des liturgifchen Stüdes Kap. 59 
bis 61 im erften Elemensbriefe gegenüber von unſerer Liturgie; 
und ebenfo der Umſtand, daß immer noch die Frage offen bleibt, 
inwieweit bei diefer Überpflanzung des Namens Clemens in 
den Orient eine Verſchmelzung des römiſchen mit dem aleran 
driniſchen Clemens ftattgefunden Hat *). Immerhin, anf eine bloße 
Berwechſelung kann diefe Verſchmelzung nicht reduziert werden: 
dem wehrt ſchon der Umftand, daß gerade bie beiden dem römiſchen 
Clemens zugeeigneten Briefe neben den 27 Schriften, die auch wir 
im Kanon des Neuen Teftamentes Haben, bem äthiopiſchen 
Kanon desfelben einverleibt find ®). Und auf ulle Fälle Tiegt ein 
rtirchengeſchichtliches Problem in der Überpflanzung ber Namen der 
Römer Clemens und Hippolytus in bie Altften Monumente, die 


4) Bol. Eotelier in ben Noten zu feiner Ausgabe der patres apostolic 
(Antw. 1698) I, Blbsg. Die dort gegebene Aufzählung ift keineswegs vol- 
fändig. Es fehlt z. B. die Efemensliturgie der Syrer (bei Renandot II 
186 ff.); übrigens ein ſpätes Fabrikat, das mit unferer Liturgie in den Apofor 
liſchen Konftitutionen nichts zu ſchaffen hat. 

9) Die von Probft allegierten Beziehungen zwiſchen unferer Liturgie und 
dem ngorgenzixös des Elem. Alex. (vgl. beſonders S. 1375.) find der Be 
achtung wert. 

8) Canones aethiopici, can. 56 bei Fell a. a. O., S. M. 


Bemerkungen zur Kompoſition ber Elemensfiturgie. 4 


wir von ber Lituegiegefchichte der Nillande befigen ; einer Wanderung, 
welcher fich manche andere Beziehungen gerade zwifchen römifcher 
und ägyptifcher Kultusgefchichte zur Seite ftellen. Ohne etwa im 
Vorbeigehen diefes ſchwierige Problem erledigen zu wollen, fei es 
doc geftattet, als Beitrag zu feiner Löſung etliche Anzeichen zur 
fammenzuftellen, welche mir bei wiederholter Erwägung immer 
wieder bie Vermutung nahelegen, baß die Archiereusftiicte der Clemens ⸗ 
liturgie mehr einen Niederfchlag altoccidentalifcher als altorientaliſcher 
Kultusſitte darftellen. Wenn der fachkundige Jakob von Edeſſa 
(a. a. O. ©. 482) betreffs des Präfationsgebets bemerkt; „mit 
wenigen Worten“ bejchreibe der Betende die ganze Abficht der 
göttlichen Gnade; wenn die Vorlage und der üthiopifche Kanon 
von der Ruckſicht auf die vorchriſtliche Olonomie in diefem Gebet 
nichts wiffen; wenn anderſeits Juſtin aus Auſchauung des 
römifchen Kultus von diefem Eingangsftüd der Anaphora berichtet, 
daß ber Luurg in der Gebetsbarbringung an dieſer Stelle drzi noAd 
seossizen, daß er bete dan duvanıs adca, fo lehrt ein Kurzer Blick 
auf umfere Liturgie (A. 5), daß nicht jener, fondern dieſer Eultifchen 
Sitte hier entſprochen ift. Nicht als ob Juſtin unfer Formular 
als verlefen voransfegte — wie behauptet worden ift —, er ſetzt 
augenſcheinlich freies Beten voraus; aber was Hier kryſtallifiert 
ift, veflektiert die freie Gebetspraxis in der Geftalt, wie fie Yuftin 
beichreibt. Bon der älteften befannten Liturgiegeftalt des fyrifchen 
Dfteng, die wir in der fogenannten Adäus- und Marisliturgie befigen, 
unterfcheidet die Archiereusquelle ſich durch den Beſitz der dort 
fehlenden Yuftitutionsworte beim Heiligen Abendmahl; wiederum 
von ber altpaläftinenfifchen dur das Fehlen des Vaterunſers, 
das in der Liturgie -Satechefe des Cyrill eine bedeutende Stelle 
einnimmt. Anderfeits fehlt ihr ebenfo, wie allen Liturgieen des 
Weftens der im Orient weit verbreitete Cherubhymnus (od re 
xegovßiu nvorweög eixovifovies xuA. in Lit. Marci, Jacobi, 
Chrysostomi, Basilii); und nur mit der mozarabiſchen teilt fie 
die Präbdizierung Gottes als rarroxgacwg in der Salutation der 
Anaphora. Ganz im Charakter des für den Weften fo bezeichnenben 
Kolleltenſtils ift das Archiereusgebet vor dem Briedenstuß (A. 1) 
gehalten. Mit der Formulierung &vo =0v voöv, wofür Cyrill 
4 


52 Kleinert 


v. Jer., Chryſ. umd die Markusliturgie dvo sas xugdias 
bieten, fteht der Archiereus faft völlig vereinfamt ?); das für den 
Oſten weiterhin fo harakteriftijche oröpev xuAwg fehlt Hier gänz: 
lich. Unter den zahlreichen Berührungen unferer Liturgie mit 
Kirchenvätern des zweiten und dritten Fahrhunderts, welche Probft 
zufammengeftelit, betreffen die evidenteften den hippolytiſchen und 
novatianiſchen Schriftenkreis einerfeits und die Archiereusftücke auf der 
andern Seite. Züge, die fpezifiich in den Often wiefen, trägt bie 
Quelle nicht; bie Ehrenftelle, welche fie der Epiklefe zuweiſt, kann 
als ein folder nicht angefehen werden. Selbft die römifchen Liturgiler 
erfennen an, daß das Fehlen derfelben im römischen Meßtanon 
eine Verftümmelung desfelben aus früßerer Bollftändigfeit ift, und 
find bemüßt, in dem supplices rogamus bdesfelben einen Überreft 
der früheren Epikleſe aufzweifen. (Bgl. 3. B. Binterim IV, 3, 
951.) Auch die Beziehung auf Adam hat, wie wir fahen, ihre 
ftärkften Anknüpfungen bei den erften Kirchenpätern des Decibents. 

Damit fügt fi zufammen, daß gerade den Archiereusftüden 
ein hohes Alter zuzuſprechen die Gründe die triftigften find. 
Die dogmengefgichtliche Begründung, welde Drey für das ok 
Alter der Elemensliturgie gegeben und deren Schwergewicht gerat 
auf die Archiereusftüdte fällt, weiter auszuführen und zu verftärten 
würde an diefer Stelle zu weit führen. Es ließen fich fonft Be 
merkungen häufen, wie die daß die juftinifch = tatianifche Wendung, 
Gott habe den Sohn BovAjası zal dyascımnı zul duvapeı ge 


4) Der Araber der Hippolytlanones, der die griechiſchen Formeln der 
BPröfationsantiphonie im übrigen ziemlich kenntlich transſtribiert, bietet on 
dieſer Stelle neben Gſ (Evw) das nonsens (yeal, welches ſicher nicht. al 
xugdlas hinweiſt. Bol. Hanebergs Ausgabe, ©. 29, 3.7 v. u. Han 
berg will «8 (S. 65) für eine verftämmelte Transſtription von ayaper 
halten. Da wäre allerdings eine Berftümmelung aus une z0v voor min 
deftens ebenfo nahe Tiegend, zumal der Kanon das 7 des griechiſchen Ar 
titels auch fonft durch So wiedergiebt. Am einfachften aber ſcheint die Ar 
nahme einer Transpofition für el aurv, fo daß ausgefallenes zus zur 
Itas zu ergänzen wäre, Mehr Gewicht Hat der Umftand, dafs die Jalobus⸗ 
liturgie mit ihrem ävo zov voiw xal Tas xapdias auf beide Älteren Gr 
ſtalten als von ihr vorgefundene zurückweiſt. 


Bemerkungen zur Kompofition der Elemensfiturgie. 58 


zeugt (249, 18) ſchwerlich noch zu Athanafins’ Zeiten formuliert 
fein würde (vgl. deſſen Orat. IV contra Arianos); daß ebenfo 
auf Hohes Alter die emanatiftifche Formel weift, dag aus Gott 
Ta ndvıe zaddneg Ex zwvog dypsrnglas eis vo elva mag- 
FAder u. a. m. Die Ausführlichkeit der Gebete, die kaum nennens⸗ 
werte Beteiligung des Diakonen an denſelben ftimmt mit der Ber 
ſchreibung Juſtins und ift kein Zeichen von Jugend. So wenig 
haltbar die Behauptung Hammonds (S. XLIII), daß für das 
Hohe Alter der Liturgie ſchon ihre Ausftattung mit Apoftelnamen 
Tpreche, jo richtig ift feine Beobachtung, daß der ältefte Liturgifche 
Fortſchritt nicht von kurzen Wechjelftüden zu längeren Zufammen- 
hängen ftattgefunden habe, fondern daß umgekehrt längere Zu- 
fammenhänge in die Mannigfaltigkeit kürzerer Wechſelſtücke zerlegt 
worden find (S. XL). Macht in einigen Liturgieen galliſchen 
und oftfprifchen Urfprungs es unftreitig den Eindruc Hohen Alter- 
tums, daß dem Opferungsaft des Priefter8 am Altar ein eigener 
Oblationsalt der Gaben durch die Gemeinde mit liturgifcher Aus- 
prägung vorangeht, jo wird man doch nicht fagen dürfen, daß die 
Zufammenziehung beider Akte in unferer Liturgie überall fpäten 
Datums fei: biefe Weife ftimmt näher zu Zuftin, wie jene andere *). 
Möchte man auf den erften Blick meinen, die Salutation A. 3 
ſei jüngeren Urfprungs, wie die am Eingange der Liturgie V. 2, 
weil Teßtere die Formel 2 Kor. 13, 13 einfach wiedergiebt, während 
jene fie trinitarifch nach der Reihenfolge: Vater, Sohn, Geift um—⸗ 
ordnet, fo legt liturgiegefchichtlihe Erwägung vielmehr die Auf- 
faffung nahe, daß die Übereinftimmung von V. 3 mit 2 Kor. 
13, 13 auf Repriftination beruft, während die Umftellung bes 
reits früher in Gebraud; genommen war. Denn zu ber letzteren 
ftelit fi die ältere Yalobusliturgie, zu jener erften die jüngere 
Baſilius- und Chryfoftomusliturgie. Es wäre ein übereilter 
Schluß, daraus dag wir die Archiereusſtucke als eingetragen in 
eine Vorlage erfannt Haben, folgern zu wollen, fie felen ihrer 
Entftehung nach jünger, als die Vorlage in der Geftalt, mie fie 
beim Kopten oder im der Nedaktion der griechiſchen recepta vor- 


1) Bol. auch Lenciusbei Zahn, Acta Joannis (Erlangen 1880), ©. 242f. 


54 Kleinert 


liegt. Eher möchte anzunehmen fein, bag gerade diefe Stüde 
ober wenigftens ihr Kern, das Oblationsgebet felbft (A. 6. 7; 
vgl. V. 10) auch ſchon vom Kopten bei feiner Vorlage gefunden 
aber abbreviert worden find. Ich wüßte fonft nicht zu erflären, 
wie er darauf gelommen, gerade Hier den Terminus Loxıegsdc ein 
zuſetzen ?), während er doch font überall die Bezeichnung Errlexorros 
wiebergiebt. 

Das einzige Stüc, weldes man auf den erften Bli der 
Archiereusquelle zuzuweiſen geneigt fein möchte, und das doch 
Spuren füngerer Bildung am fich trägt, ift das große Fürbitten- 
gebet nah der Opferung, A. 8. Nicht bloß die allgemeinen 
Gründe, welche der Feftlegung der großen Interceſſion an diefem 
Platz jüngeres Datum zuweifen, aud nicht bloß das Fehlen feiner 
Erwähnung beim Kopten und Athiopen beweifen für feinen Charakter 
als Spätling in der Liturgie. Vielmehr ift auch dies ſchwerlich 
zufällig, daß die Bezeichnung Chrifti als Buosdleds xal xUgso; 
ndans von xal aloInjs Yyucsas im Anaphoragebet 
(249, 22) bier (258, 31) umgefegt ift in Seds nedang eh. 
(ogl. dagegen VI, 26); daß ebenfo die durch die ganze Liturgie 
herrſchende Form der Schlußdorologie, daß „mit (und durd) 
Chriftus Gotte Ehre und Preis fei im heiligen Geifte“ (239, 1 ff.; 
24}, 8ff.; 242, 11ff.; 243, 1ff.; 244, 1ff.; 247, 23ff.; 259, 9ff.; 
260, 32ff.) Hier umgejegt tft in die dogmatifch Torrektefte: daß 

- „Ehre und Preis dem Vater fei und dem Sohne und dem Heiligen 
Geiſte“ 258, 6ff. Und fo ftimmt auch dur die Nennung der 
Subbiafonen (257, 7) gerade dies Fürbittengebet mit jenen Ein- 
fügen der Vorlage zufammen, welche uns oben in die Ausgänge 
de8 4. Jahrhunderts wiefen. Aber fehon oben ift darauf Hin 
gewieſen, daß es ohne Eingangsformel trog feines felbftändigen 
Charakters den Archiereusftücken Außerlich angefügt ift. Sch bin 
nicht im Zweifel, daß, wenn irgendein größeres Stüd der Liturgie, 
fo gerade dies der Hand des legten Redaktors zugemiefen werden muß. 

Schwieriger noch ftellen fi die Spezialfragen betreffs ber 
Epiftoposftüde. Denn der einheitliche Charakter, welcher ber 


1) Tattam a. a. D, S. 121, 3.80. u. 





Bemerkungen zur Kompoſition der Elemensfiturgie. [2 


Arciereusftrede mit Ausnahme des angehängten Fürbittengebets 
anbaftete, fehlt bier. Gefegt, daß eine und bdiefelbe Hand dieſe 
Stüde redigiert, fo wird man dod anerkennen müffen, daß die 
felbe mit ihrem eignen Gut, weldes vornehmlich in dem eigen 
artigen Aufbau der Katechumenenmeſſe (E. 1—4) zu erbliden ift, 
aud andere, zum Teil fehr alte Beftandteile mehr oder weniger 
öfumenifchen Charakters verbunden Hat. Zu diefen gehört vorab 
das Eyım dyloıg wit der zugehörigen Gemeindeantwort: als dyıog 
xuA,, deſſen weite Verbreitung in der alten Kirche bekannt iſt, 
deffen Fehlen aber in der Vorlage nicht zufällig fein wird. Denn 
aud die koptiſche Eyrilfusliturgie hat es nicht. Es muß aller- 
dings bemerkt werden, daß das eis dysos, weldes bei Cyrill 
von Zerufalem einfad den Wortlaut: als dysog xugios I. X. 
hat, Hier in E. 12 bereit durch das zweite eis vor xugsog er» 
weitert ift, wie ebenfo in den Liturgieen des Jakobus und Ehrufoftos 
mus. Immerhin hat es noch nicht die trinitarifche Form (unus 
pater sanctus, unus filius sanctus, unus spiritus sanctus), 
in welcher es mit der altigrifchen (Adäus und Maris) und der 
Markusliturgie auch der äthiopifche Paralfeltert bietet. Auch die 
Beltimmung des Pf. 34 (E. 13) zum Abendmahls - Hymnus ift 
alter und weiter Erftredung: mit Zertullian, Cyrill v. Jer., Hiero- 
nymus zeugen dafür die griechiſche und fyrifche Jalobusliturgie, bie 
mogarabifche und die armenifche. Älteren Datums ift nicht minder 
das große Fürbittengebet Kap. 6, das diefe Quelle vor der 
Anaphora bietet, und deſſen Vergleihung mit dem varhin her 
ſprochenen bei mannichfaltiger Analogie doch unzweifelhaft der 
Form bei E. das höhere Alter zuweiſt. Hier belegt es feine 
urfprünglie Stelle. Denn da, vor der Anaphora, hat es wie 
Juſtin fo bie Meßordnung Const. app. II, 57; ebenda bie 
ätteften fyrifchen *), ſowie bie altgallifchen Liturgieen, ja wie Neale 
richtig gefehen Hat, auch die ältefte uns erfichtlihe Form der 
römischen Liturgie). Sieht doc felbft Prabft (©. 314) ſich 


1) Über den ſcheinbaren Widerſpruch Ephraems vgl. Neale a. a. O. 
I, 822f. — Bal. aud) Syn. Laod., can. XIX. Bei Cyrill von Jeruſalem 
iſt es allerdings ſchon in die Euchariſtiefeier hinübergepflanzt. 

3) Reale I, 506f. 


56 Kleinert 


genötigt, die observationes sacrodotales für die Kirche, für alle 
Stände, für die Ungläubigen, Keger, Schismatiter, Juden, Lapfı, 
beren Papft Cöleftin + 432 in feinem Schreiben an die gallifchen 
Bischöfe gedenft ?), dieſer Stelle im nächſten Anfchluß an bie 
Katechumenenmeſſe zuzuweifen, wie fehr er fonft bemüht ift, die 
füngere Sitte der euchariſtiſchen Interceffion als das Urfprünglice 
zu behaupten. Neben den Dank» und Segenögebeten am Schluß 
der Liturgie iſt dies Fürbittengebet (E. 6 vgl. V. 40) das einzige, 
von dem wie bei dem Oblationsgebet A. 6. 7 die Spur eine 
Vorhandenſeins bereits in der Vorlage des Kopten wahrgenommen 
werden kann. Vgl. Tattam, ©. 117. 119. 

Charakteriftifche Zeichen landſchaftlichen Urfprungs, welchen 
man Beweisfraft zufprechen könnte, find bei E. noch fpärlicher, als 
bei A., was mit der eben beſprochenen Berfchiedenartigkeit und 
dem teilweife öfumenifchen Charakter feiner Beftandteile zufammen: 
hängt. Ift diefen mit der ägyptifchen Liturgiefamilie die Hervor- 
ragende Beteifigung des Diakonen an der Liturgie gemeinfam ?), 
fo anderes nit. Statt der bifhöflichen Salutation der Vorlage 
(239, 11ff.) und der Archiereusquelle (248, 27ff.) führt unfer | 
Quelle eine dritte Form ein: 258, 9ff. Es ift die nämlide 
fürzefte, welche die Markusliturgie gebraudt, welche auch Chry 
foftomus (Hom. III in ep. ad Col.) als bie allein gebraudte 
tennt, und ebenfo Theodoret ep. 146°), welcher, dem Sachver⸗ 
halt entſprechend, die Formel als ökumenifc gültige (dv wracas 
sais Exxamalars) bezeichnet. Mit feiner Einfügung des Gloria 
(E. 12) fteht E. unter den überfommenen Liturgieformularen des 


1) Bol. Bong a. a. D,, S. 818ff. und dazu die alten Inteinifchen Bor- 
mulare, welche Bingham VI, 289ff. mitteilt. — Ob die merkwürdigen Par 
rallelen in den Gegenftänden ber Fürbitte und zum Teil aud in der Reihenfolge 
derfelben, welche gerade unfer Fürbittengebet mit dem Sabbatmorgengebet der 
Synagoge verbinden, und welche Bickell (Meffe und Paſcha, S. 94ff.) mit 
großem Nachdruck urgiert, chronologiſch irgendetwas ausmachen fönnen, lafit 
ich bafingeftellt. 

3) Nach den Analogieen E.10 und E.13 (258, 30f.; 260, 7f.) muß auf) 
bie GebetSaufforderung von A.1 (246, 27 ff.) als Einfag von E gefaßt werben. 

%) Opp. Par. 1642, T. II, p. 1082. 


Bemerkungen zur Kompofition der Clemensliturgie. 57 


Orients, unter denen nur neftorianifche dies Stüc haben, ziemlich 
verlaffen (vgl. jedoch Ehryfoft.: Hom. III in Coloss.); ebenfo 
aber trennt ihm dom Decident die Erſcheinung, daß Hier überall 
Gloria und Hosianna, die er dem Unus sanctus beigiebt, dem 
jeſaianiſchen Trishagion des Präfationsgebetes zugewieſen find *). 
Durchaus orientaliſch, und ein ſpezifiſches Characterifticum 3. B. 
der ſyriſchen Jakobusliturgie ift das jogenannte Katholiken, die dritte 
Interceſſion, das Fürbittengebet des Diakonen bei der Diftribution 
E. 9. Kurz, darf etwas gejagt werden, fo wird es dies 
fein, daß die Zeichen orientalifher, näher alexandriniſcher und 
ſyriſcher Kirchenfitte in den Epifloposftücden die vorwiegenden find, 
ohne doch ausſchließend genannt werden zu künnen. 

Wenn wir oben eine Reihe älterer Stüde der Epifloposquelle 
von dem eigentlichen Gut derfelben, der breiten Ausgeftaltung der 
Katechumenenmeſſe bis zur Entlaffung des Pönitenten, abzuſcheiden 
Anlaß fanden, fo wird doch auch diefem eigenften Gut der Quelle 
eine zu fpäte Entſtehung nicht zugefchrieben werden dürfen. Ans 
geſichts des verhältnismäßig frühen Zuſammenſchrumpfens gerade 
dieſer Strecke der Liturgie, für welches neben der Geftalt fo ziem⸗ 
lich aller andern überlieferten Liturgieterte das ausdrückliche Zeug⸗ 
nis des Jakob vom Edeffa vorliegt, werden wir die Entftehung 
diefer eigenartigen Formulare von der erften Hochblüte der Kater 
umenatseinrihtungen im 4. Jahrhundert nicht abrüden dürfen. 
Bieten doch auch fie neben einzelnen Spuren nachniceniſcher Zur 
fpigung des dogmatifchen Ausdruckes (f. o. ©. 36) aud andere, 
die auf die älteren Zeiten dogmatifcher Unbefangenheit in der 
liturgiſchen Sprache hinweifen. Wenn Lagarde in feiner Ausgabe 
der SKonftitutionen 240, 28 der Lesart d Tod Magaxkıjrov 
zrgoßolsus den Vorzug geben zu müffen geglaubt Hat, fo kann 
fein Zweifel fein, daß Hier die wohlbezeugte Lesart 6 Heds Tod 
zragaxkrfrov die urfprüngliche ift ?). Sie ift Hier wie das analoge 
6 Tod mvenarog zugiog 272, 6, von fpäterer Hand in das 


1) Ct. Lit. Ambros. Gallic. Mozarab. hei Hammond, ©. 324f.; 
fowie den canon Gregorianus des ottoboniſchen oder bei Muratori Opp. 
XII, 2. p. 491. 

2) gl. auch Pitra 1. c., p. 894, nota n. 


ss aleinert 


dehnbare rrgoßoAsds abgeändert worden, um der Liturgie Den 
Vorwurf des inzwifchen awfgetretenen Macedonienismus zu er- 
fparen. Der dominierende chronologiſche Typus der Liturgie, ein 
im Laufe des 4. Jahrhunderts gebuchter Niederfchlag alther⸗ 
gebrachter und gleichzeitiger Kirchenfitte zu fein, wird durch Die 
Epiftoposquelle nicht alteriert. Es fheint fogar angezeigt, noch 
einen Schritt weiter gehen und fagen zu dürfen, daß man in dem 
Schriftfteller, der die Epiſtoposſtücke teils ans altem Kirchen- 
gebraud) zufammengeftelft teils men kompouiert Hat, zugleich den | 
Redaktor zu erblicen haben wird, der dem Ganzen der Liturgie 
die entfcheidende Geftalt gegeben, welche nachgehends nur noch durch 
die Kakoplaftie der apoſtoliſchen Aufträge und einige andre Ein- 
fügungen bereichert worden ift. Betrachten wir nämlich dies 
Ganze, wie es vorliegt, fo trägt es bei aller Anerkenntnis, daß die | 
einzelnen Stücke und auch größere Zufammenhänge innerhalb ded« 
felben nicht willkürlich gemacht, fondern lirchlichem Gebrauch ent« 
nommen bzw. nachgebildet find, doch deutlich den Charakter der 
literarischen Kompilation. Es muß troß alledem, was neuer- 
dings dagegen vorgebracht worden, bei dem Ausſpruch Neales (I, 
319) fein Bewenden behalten, daß diefe Liturgie ald Ganzes never 
was used by any church. Insbeſondere muß jeden Lefer bie 
Inkongruenz der Präffufionsformeln ſtoßen, welche gliedernd ins 
Ganze eintreten, und die, als ausgeführt gedacht, liturgiſchen 
Widerfinn enthalten würden. Es werden präffudiert nad) der Predigt 
die dxgodusvos und drnıoros 239, 18; nad dem Pönitenten- 
gebet — alſo nachdem Katechumenen, Energumenen, Photizome- 
nen, Pönitenten ausbrüdtich entlaffen find — die ur) duvaneor | 
299, 27; vor der Anaphora nochmals die dxgoniusvor, zum 
xodwevor, Örsocos, unb außer ihnen die &rsgddo&os 248, 11. 
Zufommengehalten aber mit dem, was wir oben (S. 40) über 
das architeltoniſche Prinzip der Epifloposquelle zu bemerken fanden, 
ſcheint die Wahrnehmung beachtenswert, daß durch diefe wunder 
lichen Wiederholungen dem Ganzen der nämliche Schematismus 
der Vierzahl aufgeprägt ift, den jene Quelle im einzelnen mit 
Vorliebe herftellt. Das Ganze zerfällt durch diefe Ausſchließungs⸗ 
formeln in vier getrennte Strecken: Schriftlefung mit Predigt; 


Bernertungen zur Kompoſition der Elemensliturgie. 5» 


Gebetsteil für den weiteren Gemeinbefreis; Gebetsteil für die 
Gläubigen; Euchariſtie. Um der ſymmetriſchen Architektonik willen 
bat der Komponent die Tautologie der fcheidenden Formeln nicht 
geſcheut, welche bei jeder Ausführung fofort Täftig fühlbar werden 
mußte. Er kennzeichnet ſich dadurch nicht als Praktiker, fondern 
als Schriftfteller; und am wahrfcheinlichften doch als den nämlichen, 
der mit der derfelben Architektonit in ber Epifloposquelle entgegen- 
tritt. Wird doch auch das micht zufällig fein, daß gerade ber 
Zuwachs diefer Quelle es ift, welcher die Zahl der Salutationen 
in der Liturgie auf vier gebracht hat, indem er zu den den Gotted- 
dienft felbft und bie Euchariftiefeier einleitenden (V. 2; A. 3) 
die beiden vor dem Friedenskuß und nach der Konſekration (E 7; 
E. 9) hinzufügt. 239, 11; 247, 25; 248, 27; 258, 9. 

Daß diefer Redaktor die Archiereusſtücke bereits in derjenigen 
Geftalt der Vorlage vorfand, die er feinem Bau zugrunde Legte, 
möchte ich außer dem bereits vorhin dafür Angeführten auch 
daraus fchliegen, daß ihm dieſe Stucke bereits als ein noli me 
tangere galten. So wird ſich's doch wohl am einfachften erklären, 
daß er das Gloria und Hosianna, welche Stücke überall, wo fie 
erſcheinen, dem jefaianifchen Trishagion der Präfatton angefügt 
find, Hier erft dem von ihm eingefügten unus sanctus beigefügt 
bat. Ob freilich diefer Redaktor zugleich ber des achten Buchs 
der Konftitutionen gewefen, das möchte ich nicht entſcheiden. Nach 
dem, was oben über die Inſertion der Mpoftelaufträge (S. 35), 
über die Differenz zwiſchen VIII, 11 und VII, 21 (©. 43), 
über die nachträgliche Beigabe des Fürbittengebets nach der Konſe⸗ 
fration zu bemerfen war (©. 54), wird in dem Schlußrebaftor 
des achten Buchs, auf den diefe Nachträge zurüdzuführen fein 
werden, eine fpätere Hand erblickt werden müffen. 


60 Schultz 
3. 
Religion und Sittlichleit in ihrem Verhältnis 
zu einander. 


Religionsgefhihtlid unterſucht 


von 


Hermann schultz 


in Göttingen. 





1. Religion und Sittlichkeit find fir jedes unbefangene Mit: 
glied der chriſtlichen Gemeinde ungertrennlich verbundene Begriffe. 
In allen chriſtlichen Parteien ift man darüber einverftanden, daf 
niemand religiö® genannt werden Tann, der fein Leben nicht auf 
unter fefte fittliche Grundfäge ftellt, und daß es feine wahre 
Sittlichkeit giebt, welche nicht auf religiöfem Boden wädft. ie 
ſchon die altteftamentliche Urkunde „vor Gott wandeln“ und 
„rechtſchaffen fein“ als Einheit zufammenfaßt, fo bezeichnet unfer 
deutſcher Sprachgebraudy mit dem Worte „Fromm“, weldes auf 
ſittlichem Boden gewachſen ift, gerade die refigidfe Bethätigung. 
Aber bdiefer Zufammenhang ift weder zu allen Zeiten anerkannt 
gewefen, noch herrſcht in der Theologie und Philofophie der 
Gegenwart Übereinftimmung über die Thatſache und ihre Trap 
weite. Ich brauche nur an bie Urteile zu erinnern, melde 
Schleiermacher, Kant und Fichte über das Verhältnis beider Br 
griffe ausgefproden haben, oder auf den Gegenfag Binzumeifen, 
in weldem fih Strauß und v. Hartmann in diefem Punkte ber 
finden, um fofort den ganzen Umfang der Streitfrage ins Gr 
dächtnis zu rufen. Und von welcher einſchneidenden Wichtigkeit 
die Frage für die religiöfen Gegenfäge der Gegenwart ift, das 
zeigen die beiden trefflichen neueften —— derſelben in 
größerem Zuſammenhange *). 

1) Raftan, Das Wefen der chriſtlichen Religion (1881), Vorzüge 
©. 124f., und „Der chriſtliche Glaube und die menſchliche Freißeit” (Gothe 
Feledr. Andr. Perthes, 1880). 





Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. 6 


Ich beabfichtige die Frage rein vom religionsgefchichtlichen 
Standpunkte zu behandeln, fowie mich auch Unterfuchungen religions⸗ 
geſchichtlicher Art allein auf diefelbe geführt haben. Ich will ohne 
jeden aprioriftifchen philofophifchen Verſuch einfach barftellen, wie 
fich im Laufe der religiöjen Entwidelungsgefchichte der Menfchheit 
Religion und Sittlichfeit zu einander verhalten Haben. Wenn ſich 
dabei die im Chriftentum hervortretende Stellung beider zu einander 
auch als die in fi vollkommene ergiebt, fo wird damit zugleich 
ein Beitrag zur Apologie des Ehriftentums geliefert fein. 

Ich Habe der eigentlichen Aufgabe nur wenige Bemerkungen 
vorauszuſchicken, teil® um meinen Sprachgebraud zu erläutern, 
teils um möglichen Mißverftändnifien vorzubeugen. Sittlich 
nenne ich nur dasjenige Handeln, welches fi auf das Gemein- 
ſchaftsleben der Menfchen bezieht und in ihm begründet ift. Sitten⸗ 
gefeg nenne ich die Gefamtheit der diefes Handeln beftimmenden 
Normen, fittlihe Güter die aus dem genannten Handeln her- 
vorgehenbden Geftaltungen des menschlichen Zufammenlebens, fitt« 
lie Zugenden die erworbenen Sertigfeiten zum  fittlichen 
Handeln, und fittlihe Pflichten die Aufgaben, welche aus 
dem Sittengefege für den Menfchen Hervorgehen. Innerhalb der 
fittlichen Pflichten Heben fih die Rechtspflichten als diejenigen 
Aufgaben Heraus, deren Erfüllung die organifierte Gefellfchaft von 
dem Einzelnen eventuell durch Gewalt erzwingt. Dagegen nenne 
ih religiöfes Handeln alle Bethätigungen, welde unmittele 
bar aus dem Verhältniſſe zur Gottheit folgen und dasfelbe zum 
Zwede haben. 

Daraus ergiebt ſich der Begriff der religtöfen Tugenden 
und Pflichten von felbft. Ebenſo ift klar, daß unter Umftän- 
den auch die veligiöfe Pflicht Aechtöpfliht fein Tann. — Man 
ann natürlich das religiöfe und das fittliche Handeln, wie es 
Rothe und in Anlehnung an ihn Kaftan thun, unter einen gemein. 
famen Artbegriff zufammenfaffen, indem man etwa fittlihes und 
moralifches Handeln von einander unterſcheidet. Aber der Verlauf 
der Unterſuchung wird zeigen, warum das bei einer geſchicht⸗ 
lich en Behandlung diefer Frage nicht möglich ift, ganz abgefehen 
davon, daß es mir überhaupt bedenklich erfcheint, Worte wie fitt- 


® Säulg 


lich, moralifh und ethiſch, die an ſich ganz gleichbedeutend find, 
willkurlich in verſchiedenem Siane zu gebrauchen. 

Wenn ich ferner bie Raturreligionen, ſowohl die elementaren 
als die zur Kulturftufe erhobenen, den Prophetenveligionen gegen- 
überftelle, fo will ich mit dem Worte „Propetenreligionen“ nichts 
weiter ausfagen, al8 daß biefelben aus religidfer Genialität, nicht 
aus phifofophifchen, priefterlihen, ftaatsmännifchen oder dichterifchen 
Tendenzen entfprungen find, und daß fie demzufolge nicht bloße 
Entwidelungen der ihnen zugrunde liegenden Naturreligionen, 
fondern Reformationen berjelben find, geboren aus der Kraft 
der religiöfen Überzeugung von der ſchlechthin übermeltlihen Art 
des göttlichen Lebens. 

Endlich will ich mit der Reihenfolge, in der ich die Religionen 
behandle, keineswegs behaupten, daß die niebrigfte Stufe, mit der 
ich beginne, wirklich ber gefchichtliche Anfang aller menſchlichen 
Religion gewefen fei. Zu einer ſolchen Behauptung fehlt es an 
genügenden Beweismitteln. Und wenn es einerſeits innerlich wahr. 
ſcheinlich erſcheinen muß, daß die geiftige Entwidelung der natür⸗ 
lichen Menfchheit auch auf dem religiöfen Gebiete von unten bes 
gonnen hat, jo zeigt uns anderfeits die uns zugängliche Geſchichte 
edlerer Stämme, 3. B. der Inder und Ägypter, in den aller- 
fernften Urzeiten eine verhältnismäßig fehr Hohe religiöfe Stufe, 
die ſogar gegenüber der fpäteren Entwickelung etwas Ideales Hat. 
Alſo kann man die Möglichkeit nicht beftreiten, daß die Religion 
bei eimzelnen Völkern nicht auf der unterften Stufe begonnen habe. 
Ich behaupte nur, daß die Religion der „Naturgeifter“ ‚die niedrigfte 
uns gefehichtlich befannte iſt und nehme fie deshalb zum Aus⸗ 
gangspunfte der Unterfuchung. Dabei habe ich nie nad) der that⸗ 
ſachlichen Sittlicfeit in den Völkern zu fragen, fondern nur nad 
der prinzipiell bei ihnen geltenden. Wir dürfen den Islam fo 
wenig nad ben türkiſchen Effendis beurteilen, wie den Buddhis⸗ 
mus nach den chineſiſchen Buddhiſten, ober das Chriftentum nach 
abeſſiniſchen Zuftänden. 

2. Die Religion iſt, wie Kaftan religionsgeſchichtlich ganz richtig 
hervorgehoben Hat, ihrem Weſen nad eine praktiſche Angelegenheit 
des menfchlichen Geiſtes. Sie ruht auf der Stellung zur Welt, 


Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. [1 


die wir als lebendige Wefen mit den in uns wirkenden Intereſſen 


nehmen; darum ift veligtöfe Erfenntmis niemals aus dem Triebe ' 


zu theoretifcher Erkenntnis des Überſinnlichen entftanden (Meta- 
phyfil), fondern ans der Empfindung von Wirkungen des Gött- 
lien auf unfer perfönliches Leben (Glauben, Heilserfenntnis). 
Und zwar handelt es fi in der Religion zunächft nicht um das 
Gute, fondern um Güter, nit um volffommenes, fittliches 
Leben, fondern um Leben überhaupt. Das Verlangen nad) 
Seligkeit, Sicherheit und Leben, für welches die eigene Macht des 
Menfchen innerhalb der weltlichen Verhältniſſe feine Befriedigung 
bietet, fucht feine Erfüllung durch eine Höhere, das weltliche Leben 
beeinfiußende Macht Hinter der Welt. Alle Religion ift urſprüng⸗ 
lich das Verlangen nad diefer Sicherung und Beſeligung bes 
perjönlichen Lebens, — mag ſich dasſelbe num auf die einzelnen 
Hoffnungen und Befürdtungen des täglichen Lebens richten, oder 
anf das eine Gut, in welchem alles befchloffen iſt. Ym Anfange 
ſucht die Religion felbftfüchtig einzelne weltliche Güter und ſucht 
weltlichen Übeln vorzubeugen. Am Ende fucht fie in völliger Hin⸗ 
gabe an Gott das ewige Leben, in welchem die Freiheit und bie 
Herrſchaft über die Welt beſchloſſen Tiegen. 

Die niedrigfte Stufe menſchlicher Neligion tritt uns im der 
Verehrung der elementaren Naturgeifter entgegen). Sie 
ft die ältefte Religion der turaniſchen Völker gewefen, in 
deren verfprengten Reften fie noch jegt ein Schattendaſein führt. 
Aber nicht wefentlich verfchiebener Art ift die Religion vieler afri« 
Tanifcher Völler, der Sübfee-Infulaner und ber roheren Indianer- 


1) Bol. zu dem Folgenden ©. Klemm, Mllgemeine Kulturgeſchichte der 
Menſchheit (1844), Bd. II, ©. 74ff. 151. 208. 808ff.; Bo. II, ©. 64ff. 
126. 194ff. Sb4ff.; Bd. IV, ©. 298ff. 861ff. John Lubbock, The 
origin of civilisation, Ed. 2 (1870), C. 1, 3—7. €. Tylor, Anfänge 
der Kultur, überf. von Spengel und Poste (1873), Bd. I, c. 8. 4, 
Bd. DO, c. 18. 15. 18. 19. Fritz Schulge, Fetiihiemms (1871), c. 2.4. 
©. Rostoff, Das Religionsweien der roheften Naturvölfer (1870), bie Reife- 
berichte von F. Wrangel über Nordfibirien, Ad. Baſtiau über San Eal- 
vador, Wilfon, „Weſtafrika, feine Geſchichte, Zuſtände und Ausfichten” (Lon- 
don 1856), vorzüglich aber die Anthropologie der Naturvöller von Theodor 
Wait (Leipzig 1860), TI. I-IV. 


64 Sqchultz 


Stämme. Und es iſt gewiß richtig, mit Waig !) auch die ſo⸗ 
genannte Fetifchrefigion Hieher zu rechnen. Denn der Fetiſch ift 
wie das Amulet nur ein Gegenftand, an welchen die Wirkung der 
Naturgeifter gebunden gedacht wird. Auf diefer Religionsftufe er 
feinen die einzelnen Naturdinge, welche fürdernd oder Hemmend 
in das menſchliche Leben eingreifen, von geiftigen Mächten belebt, 
die der Menſch keineswegs ſchlechthin überfinnlich denkt (auch der 
Geift erſcheint nur als fublimierte Subftanz), aber doch als feinen 
Simmen nicht wahrnehmbar. Er fühlt fi nicht von einer einheit- 
lichen Ordnung der Welt bedingt, fondern von einzelnen, willlür⸗ 
lichen und rätfelpaften Kräften derfelben, gegen welche er of 
mãchtig ift, die er aber weder verfteht, nod) liebt. Der Charaltır 
der Frömmigkeit ift ſchlechte Furcht und Aberglaube. Hier gilt 
das Wort: Timor et ignorantia fecerunt Deos. Die Götter 
erſcheinen perſönlich, wie alles Wirkende, aber gleich den 
einzelnen Äußerungen des Naturlebens launiſch, willkürlich, unbe 
rechenbar, fpufgaft und grauenhaft, ohne Individualität und fit: 
lichen Charakter. Eine innere Beziehung zu ihnen ift unmöglid; 
denn die Natur ift nur im ihrer einheitlichen Ordnung, nicht in 
ihren Einzeläußerungen, dem inneren Vernunftleben des Menfchen 
verwandt. Das religiöfe Streben geht weſentlich in Zauberei auf, 
das heißt in der Bemühung, durch geheimnisvolle Handlungen dit 
üblen Wirkungen ber Geifter unfhädlih zu machen und ife 
Macht in den Dienft der eigenen Intereſſen zu zwingen. 

In biefen Religionen geht noch gar feine Sittlichkeit unmitte- 
bar aus den religiöfen Motiven hervor. Wohl aber entfteht ſchen 
auf diefer niederen Stufe der Gefittung eine elementare Form di 
fittlichen Gefeges mit Notwendigkeit aus den Bedurfniſſen de 
gefelligen Zufammenfebens. Wenn der Menfh überhaupt mit 
feinesgleihen zufammenfeben will, wenn er gefelligen Genf, 
Sicherheit des Eigentums und der Familie erftrebt, alfo nicht mehr | 
bloß auf die rohe Gewalt fih ftügen kann, und nicht auf alle | 
Gemeinfchaftsleben verzichten will, fo entfteht notwendig eine Br 
ſchränkung der freien Bethätigung der finnlichen und felbftfüchtigen 


2) a. a. ©. I, 862 ff.; I, 1675. 


Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. & 


Neigungen der Einzelnen durch beftimmte große Regeln, auf welche 
die Geſellſchaft fih gründet, und in welchen zunächft Rechte» und 
Sittengefeg noch in völliger Einheit erfcheinen. So iſt es nicht 
fowohl der Egoismus der gleichfam perfonifiziert wirkenden Ge» 
ſellſchaft, welcher den Egoismus des Einzelnen bändigt (v. Jhe⸗ 
ring, Zwei im Recht, Bd. IT), fondern der dem Menfchen 
innewohnende Trieb nach Gemeinſchaft, d. 5. die elementare, ich 
möchte fagen noch rein antmalifche, Grundform der Liebe, welche, 
als Naturtrieb beginnend, in einem perjönlichen Bernunftwefen 
notwendig zum fittlichen Triebe wird und zur höcjften perfünlichen 
Liebe (dem Suchen nach Gemeinſchaft im höchſten Zwede) Hinftrebt. 
Darum ift die Liebe das fittliche Prinzip felbft; denn fie ift allein 
Gemeinſchaft ftiftend und Gemeinschaft erhaltend. Und darum 
liegt in aller fittlichen Gemeinſchaft als folder trog aller Sünde 
und Verderbnis immer ein an fi Gutes und die Richtung 
zum ſchlechthin Guten (vgl. Genefis 2, 18. Röm. 13. 1 Petr. 
2,13 x.). 

Die Sittlichkeit erfcheint zunächft keineswegs als etwas alle 
Menfchen in ihren Beziehungen zu einander gleihmäßig Verpflichtens 
des; fondern das Handeln der Menfchen wird nur unter beftimmten 
gefelfcgaftlihen Bedingungen geordnet. Wie man fih dem 
Fremden gegenüber verhalten fol, kommt zunächft nicht in Frage. 
„Hilfreich, treu ihrem Wort, wahrhaftig und ehrlich, find die 
Neger gewöhnlich nur den Ihrigen gegenüber" (Waig II, 217 u. 
219). Ebenſo üben die Nutlas, gutmütig unter einander, an 
Kriegsgefangenen Rannibalismns (II, 333). Wie der Mann in 
der Familie feinen Willen geltend macht, wie er dem nicht Gleich⸗ 
berechtigten, 3. B. bem Sklaven, entgegentritt, dieſe und taufend 
ähnliche Fragen werden zunächſt gar nicht in das fittliche Gebiet 
aufgenommen. Auf den Südfee-Infeln z. B. galt Schamlofigkeit 
und geſchlechtliche Ausſchweifung ſchlechthin für ſittlich indifferent 
Gaitz I, 178 und 858); Kindesmord und Abortus galten als 
geftattet (a. a. O. ©. 170ff. 182. 352, vgl. 124); Lug und 
Trug erfchienen abgefehen von Vertragsverhäftnifien ganz ſelbſtver⸗ 
ftändlih (S. 353). Die Polygamie herrſcht überall auf diefer Stufe 
und das Weib wird als Eigentum des Mannes angeſchen. Für 

Tpeol. Etsb. Sahrz. 1888. 


% Schultz 


ig allen iſt auch bie eheliche Trexe des Meibes von Intereſſe 
(vgl. Wais IL, 114ff, 118. 388). So iſt es überall auf den 
ichrigften Stufen der Geſellſcheft (Waig IL, 108ff. 194, 388ff 
114 ff.; II], 106. 309). Dagegen gelten üherall als die Küchften 
Tugpuden Tapferkeit und Freigebigkeit (Miaig II, 163; IL, 159) 
— Brigkeit wird Bei den Mjehanth mit dem Tode beſtraft — als di 
Grundbedinguvgen bey Gichenbeit und bed Wohlſeins der Geſell 
hof. Die Hendiungen. welche dem Geweinweſen Ehre un 
Vortell hringen, Ceſcheinen als fittlich, die, melde feinen elta | 
bedrohen ader ſchwäachen, alg unfittlich, — fa. Bertragebruch 
Untrxeue im Wumdennerhäftniffe, Feigheit, Unerduung. Ms die 
Brundiagen der Gemeinſchaft werden Eigentum, Ehe, Sicherhen 
dar Perſon angeſchen (Waitz ILL, 129), und zmar gilt die Gider | 
Gel bes Gigeniums weiprünglig weht, als hie deq Lebeng. Die: 
fast wird Härter beftraft ala Mord (Waitz IT, 109. 397). 

Sa ift nicht unſere Aufaabe, auf die Entwichlung der fül 
lichen Ideen durch die Fortbildung der gefellfchaftlichen Bepürfnik 
und Gewehnhaiten bier einzugehen. Nux das muß bemerkt worden, 
daß dieſ Gntwirtetung thotfachlich van eine Menge her verſchieden 
fien Bedingungen heſtinmt iſt: Dan der Naturenlage eines Volles, 
dem Klima und der Art ſeines Landen, des Beſchäftigung wid 
Neigung, dar Einfachheit und Verfeinesung Und daß thatſächlich 
dig fittlche rtwickelung Ara Einzelnen und ganzer Kreiſe non den 
in, ihnen hewußt vorhaudenen Grade der Religioſitat durchaus unab⸗ 
Gängig fein Yang, laßt ſich wicht hezweifeln. Unter den modernen 
Unslauhigen gieht es Menſchen vom fahr entwidelter Sittlichlei 
und bie ſittlichen Zußindg in dem Rom des Cincinatas u 
Scipiq waren zmeifehlgs in vielen Ruckſichten heſſer als in dem 
Lonſtantinohel der. rechtalaubigen Kaiſer oben im dem modernt 
Roria und Petenahurg. Aher wir haben es ice mit dem tft: 
ſachlichen Zuſtande her Sittlichteit, fonheam mit dem prinzipiellen 
Verholtniſſe non Religien und Sittlichteit zu thun. 

Dis den Auerkennung fittbcher Regtln beginnt guch dag, mad 
char, ſpatere refletgerende Zeit das „Tittliche Gewiſſen“ mean, 
und es entwickelt ſich mit der Entwidelung des ſitzlichen Gemehh⸗ 
bemaßtſeins. Den Menſch fuhlt fh inrerlich game, ſih 


Religion und Sitlichfeit in ihrem Verhältnis zu einander. 67 


felber nad den ringe um ihn als feitftehend geltenden Normen 
der Gefellfgaft zu beurteilen. Er findet es nicht bloß gerecht, 
wenn die Gefellfchaft ihrerfeits ihn nach denfelben richtet, fondern 
er kann nicht/ umhin, fi von dem Ideale, weldes in feiner Ge- 
ſellſchaft Lebt, innerlich felbft richten zu laſſen, mit derfelben in 
der Weife eines Naturtriebs fich aufdrängenden unmittelbaren Ge- 
wißheit, wie fie den Urteilen über Luft und Unluft, angenehm 
und unangenehm innewohnt. Aber diefes fittliche Gewiſſen greift 
nicht über die vorher geſchilderten Schranken hinaus. Es ift im 
Grunde nur eine Beugung des inneren Lebens unter die Autorität 
der Gefellfchaft, d. h. der öffentlichen, fittlihen Meinung. Und 
nur infofeen das Gemeinfchaftsleben als foldes auf das Gute 
gerichtet fein muß, hat das Gewiſſen neben feinen wandelbaren, 
mit der fozialen Entwickelungsſtufe zufammenhängenden Normen 
auch wirklich unvergängliche Mafftäbe des Guten und Rechten 
in fig. 

Auf diefer Stufe der Religion geht von ber Religion jelbft 
zunädft noch gar fein unmittelbarer Einfluß auf die Sittlichkeit 
ans. Gelbft von den Indianern, in deren Religion ſich doch diel- 
fach Höhere Elemente einmifchen, fagt Waig IH, 161: „Die 
Vorftellung, daß die Forderungen der Moral zugleich folde der 
Religion fein, oder daß der Wille des großen und guten Geiftes 
felbft ihre Erfüllung verlange, jcheint dem Indianer, wenn auch 
nicht völlig fremd geblieben, doch nicht zur Klarheit gekommen 
zu fein.“ Sind doch fogar ſolche fittliche Gebiete, wie die Che, 
Häufig gänzlich ohne religiöfe Beeinflugung (a. a. DO. S. 105). In 
viel entjchiebenerer Weiſe aber tritt da8 im Schamanentum hervor. 
Die Naturgeifter haben ja feinerlei Zufemmenhang mit den Ges 
fegen des menſchlichen Zufammenlebens, „Ordnung und Sitte 
kennen fie nit“. Die einzelnen Außerungen des Naturlebens, 
die fchäblichen wie die mohlthätigen, treten dem Menfchen ale 
ſchlechthin willlürlich, ſchrankenlos und zufällig entgegen. Wer 
alfo die Ordnungen der menſchlichen Gefellfchaft verlegt, der ſetzt 
ſich dadurch nicht in Widerfprud mit dem Willen der Götter. 
Er begeht ein Verbrechen, aber nicht eine Sünde. 

Dagegen erzeugt die Religion auch auf diefer Stufe notwendig 

B* 


68 Schultz 


eine Menge von Handlungen, die wir als religiöſes Handeln 
aufammenfaffen. Wäre freilich die Meligion eine Summe von 
metaphyſiſchen Anfichten, fo wäre nicht einzufehen, wie fie zum 
Handeln treiben könnte. Alle Verſuche, vom Standpunkt vatione- 
liſtiſcher oder philofophifcher Metaphyſik aus einen lebendigen Kultus 
im Dienfte ſittlicher Geſellſchaftsintereſſen zu geftalten, haben von 
der inefifchen Religion und den ftoifchen Reſtaurations ⸗Verſuchen 
an, bis zu den Mäglich geſcheiterten Nultuserperimenten ber fran⸗ 
zoſiſchen Aevolution notwendig mißlingen müfjen). Aber die 
Religion als praktifche Thätigkeit unferes Geiftes und im Gefühle 
wurzelnd, muß ein Wollen und Handeln produzieren. Wo wirt 
lich Religion und nicht bloß ihre Phantafle-Nahahmung ift, da 
entfteht notwendig das Beſtreben, ſich des begehrten religibſen 
Gutes handelnd zu verſichern. Und mie das Gefühl in feinen 
Äußerungen, fo beobachtet man jebe Religion zunächft in ihrem 
Kultus. Auf der unterften Stufe der Religion find die Beweg 
gründe zu diefem Handeln lediglich Furcht und Eigennutz 
Man möchte fih vor ſchädlichen Machtwirkungen der Gottheit 
fügen und ihre geheimnisvolle Macht dem eignen Nuten dienft 
bar maden. So ift der Kultus im meiteften Sinne des Wortes 
zunächft keineswegs Selbftzwedt, — am menigften ein darſtellendes 
Handeln, welches mit innerer Notwendigkeit ber religiöfen Stimmung 
Ausdrud geben fol. Er ift wirkjames Handeln, Mittel zum 
feloftfüchtigen Zwede. Das religidfe Handeln erfcheint in den 
3 Formen des Opfers, der Asfefe (mit Einfchluß des Gebets) und 
des Mofteriums (Zauberei). Man vermeidet was, wie man meint, 
den Naturneigungen und Saunen ber Gottheit zuwiderläuft (vgl. 
Speifegebote, Neinigkeitsvorfchriften). Man giebt ihr, was ihrer 
Genußſucht und Ehrliebe ſchmeichelhaft fein fol. Man demütigt 
fi und Legt ſich der Gottheit zu Ehren Schmerz und Entbehrung 
auf, um der Eitelkeit und dem Wachtgefühle des Gottes zu 


4) Die wunderlichen neueften Träume im diefer Beziehung vgl. bi 
Auguste Comte, Systöme de politique positive, ou trait& de s- 
eiologie, instituant la religion de P’humanit6, 4 Bbe., Paris 1851 bie 
1854. (Bgl. Bünjer in Jahrbb. für protefl. Theologie 1882, ©. 3.) 


Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. 6o 


ſchmeicheln. Man naht ihm wie der Sklave feinem Furſten, der 
nicht zu ihm aufblicen, nicht ohne Dolmetfcher mit ihm reden 
darf (Waig I, 128). Und man verfuct durch zauberifche 
Sprüde und Formeln, dur Efftafe und durch Eingehen in bie 
rätfelhaften Zuftände des Naturlebens in eine geheimnisvolle &e« 
meinſchaft mit den Göttern zu gelangen und fie dadurch dem 
eigenen Willen dienftbar zu machen. Befonders intereffant ift in 
diefer Beziehung ba8 Erwerben des Schutzgeiftes durch den 
„Lebenstraum“ bei manden Indianern (Waig II, 118. 206). 

Diefes ganze Handeln erſcheint in gewiſſem Sinne dem fitt- 
lichen analog. Es wird mit wenigſtens ebenfo großer Energie 
als Pflicht empfunden. Und wer diefer Pflicht nicht genügt, fühlt 
fi) mit derfelben Notwendigkeit gerichtet, wie der Übertreter der 
fittlihen Ordnungen. So bildet fi ein religiöfes Gewiffen 
neben dem fittlichen. Aber mas diefes Gewiſſen verurteilt, das 
ift nicht mehr Verbrechen, fondern Sünde (Verlegung ber 
Forderungen der Gottheit), und fteht im Widerfpruche, nicht mit 
der Sittlichkeit, fondern mit der Heiligkeit. Auch diejes 
religtöfe Handeln erfcheint von der Rechtspflicht mit umfchloffen. 
Denn da8 Intereſſe der Geſellſchaft fordert ebenfo gebieteriich, daß 
man keinen Götterzorn auf fie herabziche, als dag man ihre eignen 
Ordnungen achte. So tritt uns zunächſt die Gefamtheit der 
Pflicht als Rechtspflicht entgegen, welche religiöfe und fittliche 
Pflicht gleichmäßig umfaßt. 

An ſich aber iſt das religiöfe Handeln vom fittlichen voll» 
ftändig verfchieden. Es erſtreckt fich großenteils auf Gebiete, 
welche rein dem Naturleben angehören, alfo fittfih ganz indifferent 
find. Ya, es Tann etwas, was fittlih als verwerflih erkannt 
wird, zugleich veligid® gefordert erfcheinen, und in biefem alle 
wird ber fittlihe Anfprud dem religiöfen weichen. Denn die 
Gottheit erſcheint als die ftärkere und gefährlichere Macht. Sitt- 
liche Abfichten aber werden der Gottheit, weil fie als reine 
Naturmacht von geſellſchaftlichen Banden nicht gehalten wird, über⸗ 
haupt nicht zugetraut und am ihre Anſpruche wird ein fittlicher 
Moßftab nicht gelegt. So kann die Religion das fittliche Handeln 
aud geradezu forrumpieren. Und fie muß jedenfalls die vechte 


70 Schultz 


Auffaſſung der Sittlichkeit verdunkeln, weil ſittlich Gleichgültiges 
ebenſo entſchieden als Pflicht auftritt, wie das ſittlich Wertvolle. 
So wirken die Religionen der Naturvölker, wie Waitz ganz richtig 
fogt (I, 456 ff.) nicht als Kufturmittel, fondern fe Tähmen den 
Antrieb zum Denken und zur Anſtrengung. Es mag genügen, 
auf einzelne Hervorftechende Beifpiele für diefe Behauptungen Hin- 
zumeifen. Bei dem Schlangenfulte in Wida wird Unfittlichkeit, 
welche fonft verwerflich erfcheint, kultifch gefordert, und der Kultus 
fordert das Menfchenopfer in großer Ausdehnung (Waig II, 
180. 192ff. 197f. 202Ff.; vgl. IH, 207). Der Kamtſchadale 
wagt aus Furcht vor den Göttern nicht, einen Ertrinfenden zu 
retten (Tylor, Bd. 1, 109). Das religiöfe Handeln bei Negern, 
Turaniern und Indianern ruht wefentlih auf Zauberei, ſchweren 
Selbftpeinigungen und Büßungen, feltfamen QTänzen und Feſten, 
fowie Opfergaben aller Art (Waig II, 200—13. 188ff. 
196ff.; I, 4595f.). Tätowieren und Bejchneidung find Weihen an 
die Gottheit (Waiy II, 438). Der Kamtfchadale hat ein böfes 
Gewiffen, wenn er eine Kohle mit dem Meſſer auffpießt, der 
Mongofe, wenn er Eifen ins Feuer Legt, oder ſich auf eine Pritfche 
lehnt ?). Das Martern der SKriegsgefangenen, fowie das Eſſen 
von Menfchenfleifch, erjcheint durchſchnittlich religibs bedingt. 
(®aig II, 156ff; V*, 189; IV, 309). Daneben mag darauf 
Hingewiefen werben, daß die unzählbaren abergläubifchen Gebräuche, 
die ſich mit unvertilgbarer Kraft auch in den europäiſchen Kultur— 
vöffern bis auf unfere Tage erhalten Haben, die Auszeichnung ber 
ftimmter Tage, Farben und Speifen, die Befhwörungsformeln und 
alles, was dahin gehört, — deutlich zeigen, wie wenig das religiöſe 
Handeln urfprünglid mit dem fittlichen zu thun Hatte. Der 
Zauberer ift bei ben Völkern der Naturgeifterreligionen nur ein 
Gegenftand ber Furt und des Grauens, wie der Hexenmeifter 
des Mittelalters, — niemals gilt er als eine fittlich Hochftehende 
Perſonlichkeit ). Ya die Götter felbft erſcheinen ebenfo oft als 
„böfe“, wie als gute Götter ). 

1) Klemm I, 328. 

3) Waitz I, 188Ff. 106ff. 412ff. 

3) Bait I, 487. 


Aeligion uud Gittlichteit in rein Verhältnis zu einander. a 


Einen unmittelbaren Zuſammenhang Habe alfo auf dieſet 
unterften Stufe vefiglöfes und fittkiches Handelt Aberhaupt Mich. 
Wohl uber beginnt mit Notwendigkeit ein Mittelbastt Bir 
ſammenhang. Derfelbe fhließt fich allerdings hit, mie man 
denken follte, ar den Glauben an eine Fortdauer had) dem Tobe. 
Denn obwohl diefer Glaube mit der Raitirgeifterreligion faft ohne 
Ausnahme verbustben ift und verbunden fein muß, weil das im 
Menſchen wirkende Leben den Raturgeiftern weſentlich gleichartig 
gedacht wirb, fo wirkt er doch faft nirgends auf die Sitllichteit Eiir. 
Die Berftorbenen werden gefürchtet und find der Gegenftand von 
allerlei Aberglauben. Aber dag ihr Zuſtand mit Ihrer ſittlichen 
Stellung auf Erden zuſammenhänge, kommt nicht zum Bewußtſein. 
(®aig I, 462; II, 165. 182). Und felbft wo man etwas 
derartiges glaubt, wie bei manchen Indianern (Waig II, 1975 
V =, 194) werden die Konſequenzen aus dieſem Glauben nicht ger 
zogen. Dagegen greift die Religion auf andere Weiſe in das 
fittliche Gebiet Hinüber. Denn 1) kommt die Ehnſchtunkung der 
Selbſtſucht, des Geizes und ber natürlichen ſinnlichen Neigungin 
— welche man fi aus religlöfen Gründen wenn auch zunäcft nur 
ans Furcht und Eigennutz auflegt — doch notwendig der fittlichen 
Bildung zugute. EI entfteht eine Schule elementarer Selbftzudt. 
Die Gewalt des auf ein unfichtbares Ziel gerichteten Willens über 
die Natur wird geftählt, und die Kraft wird gebt, dem nimmittel» 
baren Egoismus höheren Zwecken zun Opfer zu brlugen, vorzug ⸗ 
lich wo die Weiden für die Gottheit mit fo rückſichteloſer Härte volle 
zogen werben, wie bei manchen Indianetftämmen (Watt LIE, 203 ff. 
vgl. 386). 2) Der refiglöfe Aberglaube und bie Furcht wor den 
Gottern treten in den Dienft der fittlichen Zwecke ber Geſellſchaft. 
Der Fetiſch, an eine Hütte gelehnt, fichert vor Diebſtahl, — natürlich 
nur als abergläubifch gefürchteter Wächter (Baftian San Sals 
vador, ©. 78. 80; vgl. Waiy II, 388). Denfelden Dienſt thut 
der Schutzſetiſch Totem in der Sudſee. Das Tabu — die primitive 
Form der Heiligkeit — ſchutzt Beftimmte Orte‘). So nimmt 
bei allen dieſen Vollern — auch bei den Butäten und Dft- 


2) Baig IL, 176. 


72 Schultz 


jaken, — die Geſellſchaft durch den Eid und die Ordalien den 
religiöſen Aberglauben in den Dienft ihrer Zwecke (Waitz I, 460 ff. 
II, 440; V®, 179). Man fängt früh an, den Friedensſchlüſſen 
und felerfihen Staatshandlungen einen veligiöfen Charakter beizu 
legen (Wait II, 164; III, 149. 513). Auch die Ehe wird bei 
manchen Indianern und Negern religiös geweiht und mit religiöfer 
Furcht umgeben (Waig II, 116; III, 105). Die Abiponer 
halten ben Ausgang einer Schlacht vom Zauberer abhängig (Waig II, 
476). Wenn alfo auch im allgemeinen die beftändigen Ein 
wirkungen der Religion auf das ganze Leben nicht fittlichen, fondern 
abergläubifchen Charakter an fih tragen (Waig II, 172), fo 
tommen fie doch nicht felten auch als Hilfe für die Sittlichkeit 
in Betracht. Und ſchon der Umftand, dag die religiöfen Handlungen 
von der Geſellſchaft als Rechtspflichten gefordert werben, ſchließt 
beide Gebiete für ihre Weiterentwidelung notwendig zufammen. 

3. In alten Höher entwickelten Naturreligionen beginnt eine 
engere Verbindung von Religion und Sittlichkeit. Schon bei 
Negern und Indianern finden fich vereinzelt Beweiſe dafür 1). Um 
fo weit wir in das Heibentum der Semiten und Indogermanen 
zurückblicken Können, finden wir einen viel innigeren Zufammenhang 
beider Gebiete. Wohl Haben die ſemitiſchen Völker die Gott: 
heit al8- die furchtbare, dem fittlichen Maße nicht unterworfene, in 
ihrer Heiligkeit tötende Macht empfunden, und die belebende wit 
verzehrende Glut des Himmlifchen Feuers als ihr Symbol ver 
ftanden. Sie haben nicht an Schranken und Ordnungen in dem 
göttlichen Willen geglaubt, fondern denfelben als einen unerflär 
lien und unwiberftehlichen angefehen, dem man fich unbedingt zu 
beugen hat. Dem femitifchen Gott find die Greuel der Kinder 
opfer geweiht und er fordert bie Austilgung der feindlichen Völler 
im Religionsfriege. 

Aber die Gottheit der Semiten ift doch nicht mehr mit den 
unheimlichen gefpenftifchen Geftalten der turanifchen Naturgeifter 
zu vergleichen. In allen Gottesnamen der Semiten Tiegt der Be 
griff der Herrſchaft, des Königtums zugrunde (EI, Elohim, Mil: 


1) Wai II, 178. 180. 810. 845. 


Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. 73 


tom, Moloch, Kamoſch, Baal, Affur, Aziz, Adonai u. f. w.). Und 
jedes diefer Völker weiß fich feinem befonderen Vollsgotte durch 
das Band der Unterthanentrene verpflichtet. Der Orientale aber 
empfindet für den Despoten, wenn er in großartigem Stile Des⸗ 
pot ift, eine gewiſſe Begeifterung. Und der Selbftherrjcher eines 
Vollkes, auch wenn er fehledhterdings ohne Schranken und Reden 
ſchaft ift, kann feine unwiderftehliche Allmacht do im großen und 
ganzen nur in der Richtung der Gejellichaftszwede äußern. So 
empfängt bie Geſellſchaft mit ihren fittlichen Grundforderungen 
notwendig ein refigiöfe® Gepräge. Der menſchliche Vollskonig ift 
der Vertreter und die Offenbarung der Gottheit. Die Sitten 
und Geſetze des Volkes erfceinen als heilig. Die Vollskriege 
werden zu Heiligen Kriegen. Man kann nicht fromm fein, ohne 
ſich aud zum fittlihen Handeln innerhalb der angedeuteten Grenzen 
verpflichtet zu fühlen. Das fittliche Handeln, 3. B. die Tapferkeit 
im Kriege und die Liebe und Achtung fir die väterlichen Sitten, 
empfängt religiöfe Färbung und nimmt an der Kraft der Ber 
geifterung teil, welche jedem religiös beftimmten Handeln zu eignen 
pflegt. Ya, je mehr die Gottheit partikulariſtiſch als Volksgott 
angefehen wird, defto intenfivere Kraft giebt die Religion dem fitt- 
lichen Handeln. Und umgekehrt kann man natürlich nicht fittlich 
fein, ohne im religiöfen Handeln gemiffenhaft zu fein. Die 
Kultuspflicten find Burgerpflichten. Es giebt feine Kirche; 
fondern der Staat felbft vollzieht bie religiöfen Funktionen. 
Opfer, Kultus, Faften, Asfefe, Myſterien find ebenfo unbedingt 
bürgerlich vorgefchrieben, wie die Staatsgeſetze. So beginnen ſich 
die Begriffe: Sünde und Verbrechen, Heilig und gerecht, mit 
einander zu verbinden. Das religiöfe und das fittliche Gewiſſen 
werden in vielen Stucken einheitlich empfunden, — und ein Sünden» 
bemußtfein, wie es die alten aſſhriſchen Pſalmen *) zeigen, ergiebt 
fi notwendig aus diefer Verbindung. Doc beſchränkt fi) das 
Gebiet, auf welchem beide Richtungen zufammentreffen, auf die 
großen Grundzüge des Staatslebens und eine Anzahl don Außer 
lichen Lebensfitten. Ein wahrhaft fittlihes Handeln des Menfchen 


2) Bgl. bei Schrader: „Die Höffenfahrt der ar”, Anhang. 


u Schultz 


gegen den Menſchen als ſolchen kann aus folder Religion über 
haupt nicht Hervorgehen. Ya, es wird durch die Verehrung de 
Nationalgottes cher gehemmt. Wirklich innerliche Motive det 
fittlichen Handelns kann diefe Religion, welche nur rückfichtsloſe 
Unterwerfung unter den Willen der Gottgeit kennt, nicht hervor⸗ 
rufen. Das ſittliche Gefühl wird durd die Gleichſtellung Anfer- 
licher Sitten mit fittlichen Grundfägen eher getrübt. Und aus 
dem Glauben an die verzehrende Allmacht der Gottheit kann ein 
fittliches Prinzip fich überhaupt nicht entfalten, außer dem elemen 
tarften, dem Gehorfam. 

Im einer viel Höheren Weiſe feinen Sittlichfelt und Religien 
bei den indogermaniſchen Völfern verbunden gemefen zu fein, 
wenigftens wenn wir bie älteren Lieder des Rik⸗Veda als Zeup 
niffe für eine primitive Stufe diefes Volkslebens gebrauchen bürfen. 
Die Götter find freilich bei ben Ariern an ſich ebenfo wenig 
ethisch gebacht, wie bei den Turaniern. Sie find Naturgeifter, — 
Berlörperungen der Mächte und Erſcheinungen bed Naturlebens, — 
und als folche gleichgültig gegen dem fittlichen Gegenfag von gıt 
und böfe. Aber indem fie als die lichten, Himmlifchen Mädte 
verehrt werben, vor denen die Gewalten der Finfternis, ber Dürr 
und Kälte unterliegen, find fie doch, als Gefamtheit betrachtet, für 
die Menfchen der Ausdruck des Gütigen, Hellfamen und Treudigen, 
fo wenig ſich auch die einzelnen Göttergeftalten und ihre einzelnen 
Bethätigungen an ein fittliches Maß binden. Und die Götter 
werden von ber fruchtbaren poetiſchen Schöpferkraft dieſer Stämmt 
zu lebendigen, menfchenartigen Perſonlichkeiten verkörpert. Darin 
Liegt allerdings auch eine ſchwere Gefahr. Denn mas den Natur 
gewalten felbftverftändlich zuftcht — bie fchrantenlofe Luft der 
Zeugung, die rückfichtslofe Wildheit der Vernichtung —, das wird 
in menſchenartigen Geftalten zu einem immer fchrofferen Wider⸗ 
ſpruche gegen die Höher ſich entfaltender Begriffe von Sitlliqh- 
teit?). Aber anderjeits denkt num die Frömmigkeit diefe Götter 
wandelnd und kümpfend, leidend und ſich freuend mit den Menſchen. 


1) Id) erinnere an den Konflikt in dem Eharakter des Zeus und Herallt, 
wie ihn die geiehtfche Philoſophie empfand. 





Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. © 


Der Menſch fühlt fih den Göttern innerlich verwandt und legt 
ihnen das bei, was für das menfchliche Zufammenleben das Wichtigfte 
ift. Nicht Furcht, fondern frendige Sympathie ift Hier die Grund» 
ftimmung ber Religion. Mit Heiligen Liebern und dem Goma- 
Tranke will man bie Götter erfreuen, ihre Kraft fteigern, ihren 
göttlichen Heldenzorn weden. Und die lichten Götter, welde alle 
Lebensfräfte der Natur entbinden und Tod und Finſternis ver» 
treiben, erſcheinen auch als die Förderer alles Heila in der menſch- 
lichen Geſellſchaft. Sie fpenden häuslichen Segen und Reichtum, 
fie geben ben Sieg. Eid, Ehe und Gaſtrecht find ihmen geweiht 
und Heilig. Feiges, treulofes Handeln und ungefegliche Willtür, 
Verlegung der Pietät und der Billigkeit wiberftreben ihrem Willen. 
So kann in diefen Religionen feine Srömmigfelt gedacht werben, 
ohne dag im großen und ganzen der Wille auf das fittlich Gute 
und Rechte gerichtet wäre. Denn die Götter erfcheinen als Wächter 
des Guten 1), obwohl zwiſchen natürlich und ſittlich Gutem durch⸗ 
aus nicht Mar gefchieden wird. Dagegen ift bei diefen Völkern das 
teligiöfe Handeln keineswegs fo emergifch "wie bei den Semiten 
in die geſellſchaftlichen Grundbedingungen des Vollslebens einge 
ſchloſſen. Nur wenige Handlungen den Göttern gegenüber erſcheinen 
als Stantspflicht. Die meiften werden dem perfünlichen Ermefjen, 
dem Bedurfniſſe ber Srömmigfeit überlaſſen. Es hängt das bar 
mit zufammen, daß die einzelnen Götter in biefer Religion nicht 
wie die Gottheit der Semiten den Charakter des Abfoluten an fid) 
tragen und ſchlechthin Abhängigfeit fordern. Die Einzel» Götter 
find relativer Art, und das Abfolute fteht Hinter und über ihnen. 
So kommt «8 denn, daß, während bei den Semiten die Gefahr 
vorliegt, daß das religiöfe Handeln das fittliche abforbiere und der 
Glaube das Wiffen, — bei den Indogermanen die Gefahr droht, 
daß das fittliche Handeln das religiöfe entwerte und die Philo- 
fophie ben Glauben. Aber in den Zeiten naiver Frömmigkeit liegt 
biefe Gefahr noch fern. 

Daß auf biefer Entwidelungsftufe des religiöfen und gefell- 
ſchaftlichen Lebens eine große Menge von Gebieten, welche wir 





I) RB. 2, 27. 7,89. 


76 Schultz 


der Sittlichkeit zurechnen, noch ganz in das Belieben des Einzelnen 
geftellt war, und daß zwifchen dem Glauben an die Gottheit un) 


dem Bewußtſein von den einzelnen Aufgaben der Sittlichfeit nod | 


keinerlei unmittelbarer Zufammenhang ftattfand, das verftcht fd, 
ebenfo fehr von felbft, wie daB das religiöfe Handeln auch, ſowei 
es mit zu ber bürgerlichen Pflicht gerechnet wurde, doch immer 
nur als Mittel 'erfehien, um die Segenswirkungen der Gottheit 
auf den Einzelnen und die Geſellſchaft herabzuziehen, alfo an fid 
ſchlechthin gar feinen fittlichen Charakter an fich trug. Und dee 
Sündenbewußtfein gegenüber der Gottheit tritt im großen un 
ganzen noch durchaus naiv als das Bewußtſein auf, die Gottheit 
perfönlich verlegt zu Haben, ohme bag ſich damit ein fittliche 
Schuldbewußtſein verbinden müßte"), — wenn fi auch Spurm 
des Übergangs finden ?), So ift das Verhältnis noch ein durde 
aus unvollkommenes. Aber es trägt bie Keime ber Entwicelung 
in fi. 

4. Biel verwidelter wird das Verhältnis, fobald wir auf den 
Boben der heidniſchen Rulturreligionen treten, d. 5. di 
höher entwickelten Heidentums, wie es im Zuſammenhange mit 


YR-B. 1,25: „Ob wir and) oft, o Baruna, verlegten dein Gebot, 
© Gott, wir Menſchenkinder Tag für Tag“ 7, 86: „Wie dann zu Barum 
hinein ich dringen? Wird ohne Zorn er meine Gab’ empfangen? Wie fc 
ich reinen Sinns den Guadenreichen? Nach meiner Sünde forfchte ich ber 
gierig. O Baruna, die Weifen ging id) fragen. Dasfelhe flets verkünden mir di 
Seher: Barıma if e8 wahrfid, der dir zurnt. 

2) 8, 18. 21 verglichen mit 2, 27. 28: 
„D, Baruna fag, welde Sünde war's, 
Daß du den alten frommen Freund verfolgft . . - 
Erlaſſe uns die väterlichen Fehle 
Und die wir ſelbſt mit eigner Hand begingen 
Entlaß, o König, diefen Sänger freundlich, 
Wie einen Dieb, ja wie ein Kalb vom Strange. 
Nicht war es eignes Thun, ein Straucheln war es, 
Ein Trunk, ein Zorn, ein Würfel, ein Bergefien. 
Ein ültrer naht, den Jungern zu verführen, 
Ja ſelbſt der Schlaf beſchutzt und nicht vor Übel.“ 
10, 37. 4: 
„Mad, du uns frei von Schuld bei Menſchen und bei Göttern.“ 





Religion und Sittlichkeit in ihrem Verhältnis zu einander. 77 


der fteigenden Zioififation unter dem Einfluffe priefterlicher Wiſſen⸗ 
Schaft oder dichteriſcher Geftaltungskraft, oder bes Staatsgedankens 
fich geftaltet Hat. Allerdings werben wir erwarten müffen, auf 
diefem ganzen Gebiete jene innere Gleichgültigkeit des veligiöfen 
gegen das fittliche Handeln zu finden, welde mit dem Nature 
charalter der Gottheit unzertrennlich verbunden ift, und wir werden, 
da wir von der eigentlich philoſophiſchen Ethik abzufehen Haben, 
nirgends eine einheitliche, allen Menfchen gegenüber geltende fittliche 
Geſinnung gefordert finden. Beides ergiebt ſich von jelbft, weil 
die firtlihen Grundfäge fi) aus dem konkreten Bedürfniſſe der 
Geſellſchaft, alſo auch mit Beſchränkung auf die Zwecke dere 
ſelben, entwideln. Die Sittlichkeit bleibt auf dieſer ganzen Ent 
widelungsftufe im Grunde Bürgertugend, Gehorfam gegen Gefek 
und Sitte des Gemeinwefens. Und davon hat bie Ethik fich ſelbſt da 
nicht frei gemacht, wo fie doch — wie bei den helleniſchen Philo- 
ſophen — danach ftrebt, aus allgemeinen Prinzipien, 3. B. dem⸗ 
jenigen ber Gerechtigkeit, die Sittlichkeit einheitlich zu verftehen. 
Zum Beweife mag auf die Anſchauung von der Sklaverei und 
den zu ihr geborenen Barbaren bei Wriftoteles und auf bie 
Unterordnung der Ehe und Familie unter ben Staatszweck bei 
Plato Hingewiefen werden. Iſt doch thatſächlich auch bei den 
Germanen das Weib gekauft und bie Tötung des Neugebornen 
erlaubt. In Sparta wird die Heiligkeit der Ehe dem Stantd- 
Intereſſe unbedenklich untergeordnet. In Athen gilt Verlegung der 
Frauenehre nur als Beleidigung des Mannes oder des Vaters 1). 
Aber einerfeits hat das Bewußtſein des fittlichen Gefeges fich doch 
unter dem Einflufje der jteigenden Bildung bei vielen Völkern, 
vor allem bei Griechen, Römern und Ägyptern zu einer be 
wunberungswürdigen Klarheit und Tiefe entfaltet. Und damit hat 
fich anderfeits auch die Erfüllung der Göttergeftalten mit fittlichem 
Inhalte weit über die naiven Anfänge heidniſcher Mythologie er⸗ 
hoben. 

Am wenigften volltommen ift das Verhältnis in der hal» 
daiſchen Priefterreligion. Die Gottheiten, in welden ſich 


1) Waitz I, 379. 


W \ Schultz 


die Urtraft des Naturlebens männlich und weiblich offenbart, 
tragen noch ganz den unethifchen Charakter des Naturlebens u 
fih. Das religiöfe Handeln Hat feinen Höhepunkt in dem or 
giaſtiſchen Eingehen der Perfünlichkeit in bie Geſchichte der Natır. 
In den Saklaen wird bie geſellſchaftliche Ordnung zur eier da 
Naturgottheit geradezu für einige Zeit aufgehoben. Die bachantiſch 
Menge erlebt in durchaus widerfittlihem Thun das Schwindu 
und Sterben der Lebenskraft in der Welt und ihr Wiederaufleben 
In den Heiligtümern und an den Prieſtern bildet fi in m 
züchtigen Greueln das Weiblich-werden der männlichen Naturkraft 
ab, welchem zu Ehren die Gejchlechter ihre Attribute und uk 
tionen vertauſchen. Das ftete Erneuern der Schöpfungsfraft da 
Welt wird in geheiligtem Inceſt nachgebildet, und der Zeugung 
kraft der Notur wird die Ehre ber Yungfrauen zum Opfer gr 
bradt. Im diefer Religion ift alfo eis bedeutender Beſtandtel 
des reftgiäfen Handelns von dem fittlichen Handeln, welches guy 
anderen Gefegen folgt, ſchroff geſchieden; veligiöjes und fittliht 
Gewiſſen folgen ganz verfdiedenen Grundfägen. Die Ympull, 
welche die Sternenverehrung und der Dienft der Göttermutter den 
Handeln geben, können ja am fich nicht vom fittlicher Art fein 
fondern müfjen im beſten Fall auf fittlich gleichgültiges Thu 
hinauslommen. Nur in ber Stellung de Könige als des irdilde 
Bertreters der Gottheit, in der Heifigung des Vaterlaudes und u 
dem religiöſen Charakter der Kriege tritt wirklich eime veligilt 
Färbung der Sittfichkeit hervor *). Aber auch fie dient mehr dazu 
ten Defpotismus und bie graufame Leidenfchaft des Eroberung 
krieges zu nähren, als einen wirklich fittlichen Fortſchritt zu begründen. 


1) Eine Verbindung bes veligiöfen Gündengefühles mit dem Bewußtſen 
fetficher Schuld, wobei aber daS erfie durchans bie Oberhand Hat, Mingt ms 
den ſchon ermähnten Bußpfalmen in Aſſur ⸗ banipals Sammlung: „Ber niät 
fürchtet feinen Gott, wirb dem Rohr gleich abgeſchnitten; wer bie far mit 
verehrt, deffen Stärke ſiecht dahin. Gleich dem Stern des Himmils zieht m 
ein den Glanz, gleich Waffern der Nacht ſchwindet er.” „Gert, meiner Br 
gefungen find viel, groß find meine Sünden. Der Herr in feines denn 
Zorn haufte Schmach auf mid. Der Herr in feines Herzens Strenge über 
waltigie mid). Iftar ließ fih auf mid) wieder, machte bitteren Kiumunt mie“ 





Religion und Sittlichkeit in ihrem Verhältnis zu einander. 70 


Biel hoher ſteht für unfere Frage die brahmaniſche Prieſter⸗ 
religion). Sie zeigt ihren indagermanifchen Urſprung in ihren 
Wirkungen, melde van unvergleichlich ibealerer Art und höherem 
füttfihen Charakter find. Bei den brahmauiſchen Indern find 
die einzelnen Naturgötter Längft von der Naturſeele ahforbiert, die 
im ihnen zur Erſcheinung kommt. Auf das Armä, dns Selbſt, 
und das Om, das wahrhaft Reale, richtet fid der eigeufte Trieb 
der Religion, und der Fromme ſucht es in feiner eigenen Seele *). 
Aus der Scheinmwelt, mit der alles Elend zufammenhängt, fih in 
Dies ewig Meale zu reiten und frei zu machen, das ift das religidfe 
Ziel. Und ſo verfteht es ſich leicht, daß bier alle Bethätigungen des 
Lebens — auch die ſittlichen — duch und durch von religiöfen 
Geifte getragen werden. Der Leib den Gottgeit iſt das Geſetz, 
und der Menſch in feinen immer ſich ermenernden Schidjalsge- 
falten ift ſtets das Geſchöpf feines eignen Thuus und Wallens. 
„Die, welche die Pflichten jeder Kaſte und jedes Ordens volle 
bringen und fich genau an das heilige Geſetz Kalten, die find’g, 
welche diefe Erde erhalten. Ahnen ift die Sorge für diefelbe an. 
vertraut.“ ®) Es giebt in diefer Religion Tein fiktlich wertvolles 
Thun, welches nicht als Wille der Gottheit uud deshalb als 
religiöß hegrundet erfeptene. Auch die Hochhaltung des Hausherren 
ftandes umd feiner Pflichten, — welche aus ber altariſchen Ger 
wohnheit her wech bie und da durdillingt — ©), wird auf gött- 
lichen Befehl gegrlindet. Und als göttliche Vorſchrift für alle 
Kaſten gelten die Tugenden der Geduld, Wahrhaftigkeit, Mäßig- 
keit, Reinheit, Freigebigleit, Selbftbeherrfhung, Aufrichtigkeit, 
Gaſtlichteit, der Enthaltung von Zorn, Züde und Mord, des 
Gehorſams und des Mitleids, alſo lanter fittliche Kardinal 
Tugenden 5). 

2) M. Müller, Sacred books oftheeast. ®d. I: the Upanishads 
Küberf. von Miller), Bd. IL: Die Gefete Apaſtambas und Gautamas; Bd. VEL: 
the instätutes of Vishau (über. von Jolly). 

3) Inst. of Vishn. 98 (M. 7). 

3) Inst. of. Vischn. (M. 7), 1fj. 20ff. 

4) Instit. of. Vischn. (M.7) 28, 56, 194. Gefehb. Gaut. 300 u. 301 
M. 2). 

‘ > Jast. of. Vinch. (M. 7) 84, 47, 67. Gefehb. Apast, 116 (M. 2). 


so Sqult 


Aber dieſem Fortſchritte gehen entſcheidende Ruckſchritte zu 
Seite. Das Ethiſche als ſolches iſt im Grunde völlig emtwerkt 
und von dem Weligiöfen abforbiert. Das geſellſchaftliche Zu 
fammenleben der Menfchen, und die Güter, welche es hervorbringt, 
haben keinerlei felbftändigen Wert. Sie gehören der Welt iu 
Scenes an. Wer aus diefer Welt frei werden will, der darf 
freilich felbftverftändfich nicht gegen die Gebote diefer weltliche 
Sittlichteit verſtoßen, welche ja gleihfam das niedrigfte Map dr 
Vorderung der Gottheit darftellen. Aber damit hat er doch nır 
ben erften Schritt auf der unterften Stufe gethan. Die wirklich 
Höhe wird auf ganz anderem Wege erreicht. Und ein pofitines 
Interefje an den Aufgaben der Sittlichkeit Liegt in diefer Religin 
naturgemäß überhaupt nicht vor. Es handelt fih nur um Ber 
bote, — um ein Gefeg, welches der fündlichen Verſtrickung in 
Schein und Selbftfucht wehrt. — Das eigentlich wertvolle Handel 
befteht in Askefe und Kontemplation. Denn da die wahre Got: 
heit das in allem Erſcheinenden Bleibende, Einheitliche ift, ohn 
perfönliche Befonderheit und ohne perfünliche Ziele, fo muß det 
refigiöfe Handeln natürlich wefentlich dahin ftreben, daß der Merſt 
fich zur Einheit mit diefer Gottheit erhebe und daß er alle dieir 
Einheit widerfprechenden Schranken zerbreche. Die alten Opfer 
lieder und heiligen Opferformen der Veden Haben ihre urſprünglich 
Bedeutung ganz verloren. Sie find mehr und mehr zu unverftandenm 
Formen geworden, in denen die innere Gemeinſchaft mit der Gall 
heit fi verwirklicht. Sobald aber Askeſe, Einfiedlertum, Au 
wendiglernen ber Heiligen Lieder und philoſophiſches Denten dt 
das wertvollfte Handeln erfcheinen, muß notwendig das eigentfih 
fittliche Gebiet verblaſſen und zur bloßen Anfängerftufe werden 
Der eheloſe Einfiebler iſt allein ber vollkommene Mann dielt 
Religion. Endlich aber Hängt dieſer Religion aus ihren Urfprünge 
nod) eine unüberfehbare Menge von Formen, Reinigkeitsregeln un 
Ordnungen inbetreff der äußern Geftalt des Lebens an, und dt 
Verfchiedenheit der Kaften, welche als eine unabänderliche, durh 
die Geburt gefegte Ordnung gilt, macht ein wirklich ſittlichel 
Verhalten der Menſchen zu einander an fich ſchlechthin unmöglich) 

1) Durch die Macht des Gebetes umd das Auswendiglernen ber heilig 


Religion und Sittlichkeit in ihrem Verhältnis zu einander. 8 


Die Brahmanen haben ein ganz anderes Maß von Rerht uud 
Sittlifeit als die anderen Kaften. Die Würde der menſchlichen 
Perſou geht diefen Kaſtemmterſchieden gegenüber völlig verloren. 

So erreicht es diefe Religion wohl, alle Gebiete des ſittlichen 
Lebens irgendwie mit in das religiöfe Handeln einzufchliegen. 
Aber die unvergleichlich größte Menge des religiöfen Handelns 
iſt nicht fittlich. Im, die Religion macht eine wahre Sittlichkeit 
unmöglich, indem fie einerfeit6 die perſbuliche Würde der fittlichen 
Berfönlichkeit durch ihre Auffaffung von der Bedeutung der Kaften, 
anderſeits die fittliche Freudigkeit durch die Entwertung alles auf 
208 irdifche Leben gerichteten Thuns und durch die Scheu ver 
allem Natürlien zugrunde richtet ?). 

Bon allen Kulturreligionen des Heidentums, welche durch 
Vrieſterweisheit entwidelt find, Hat die äghptiſche das Verhältnis 
von Religion und Sittlichkeit am vollfommenften durchgebifdet 2). 
Schon in uralter Zeit erſcheint eine hochentwickelte Sittlichfeit im 
Nilthale. Gererhtigkeit, Milde, Billigkeit, Gaftfreundfchaft, Pietüt 
in der Familie, Mäßtgfeit und Mitleid gegen die Leidenden treten 
uns in den Zufammenftellungen des fittlihen Ideals entgegen, 


Terte will man bie Götter zwingen und Reinigung von ben Sünden gewinnen. 
Inst. of Visch. (VIM), 35, 55. Gef. Gaut. (II), 291. Die Speifegebote 
find viel ſtrenger als im levitiſchen Gefege. Gef. Ap. IL, 6off. Das Trinken 
von etwas, das beraufchen Tann, ift todeswürdig. ©. 79. Man darf in fein 
Land reifen, wo die vier Kaften nicht egiftieren. Inst. of Visch. VII, 84. 
Ein Beifiges Tier zu töten, gilt dem Menfchenmorbe gleich. Gef. Gaut. H, 
282. Bor bem älteren Bruder zu heiraten und etwas von beim Beda · Text zu 
vergefien, gilt dem Ehebruch und Morde glei. Inst. of Visch. VII, 35. 

2) Ic) verweife noch Beiläufig auf die fpätere Korruption diefer Religion 
in dem wilden Siwa ⸗Kult, in der Sekte der Thugs und in dem „inken“ 
Kultus der Sakti, welche wohl mit dem Eindringen nicht ⸗ariſcher Elemente 
aufammenhängt. 

2) Bequem und überſichtlich: „Vorleſungen über Urfpruug und Entwide 
lung der Religion der alten Ügypter“ von P. Le Page Renouf (autor. Überftg., 
Leipzig 1882). Bol. fonft zu d. ff. Lepfins, Auswahl der wichtigſten 
Urkunden des ägyptifcgen Aitertums, Leipzig 1842 Dümiden, Die Infhr. 
von Abu Simba. Ziele, BVergelylende Gefchiebenife van de Egyptiſche en 
Meſopotamiſche Godsdienſten 1868. Roug&, Revue arch6ologique IX, 385. 
Chabas edit. der Stele d. Beka u. d. Papyr. Louvre. 

Theol. Stub. Dahrs. 1888. 6 


32 Säulg 


welche die Grabjchrift von Abu Simbal, die Inſchrift von Beni 
Haffan, der Papyrus des Pta Hoteb und v. a. Denkmäler des 
Altertums uns zeigen ?). Und diefe hochentwickelte Sittlichkeit hat 
den Naturgättern — die urfprünglih aud in Ägypten nur die 
Kräfte und Entfaltungen der einen göttlichen Naturkraft find — 
einen entfchieden ethischen Charakter aufgeprägt, welcher vorzüglich 
in dem Ofiris- Mythus zum Ausdrude kommt, in Ofiris dem 
guten Gott und Horus, feinem verfüngten Ebenbilde, in Ma, der 
Gerechtigkeit, Neb, der ordnenden Herrſchaft, die zugleich Götter | 
und Attribute der Gottheiten find. Vor allem aber greift bei den 
Ügyptern zuerjt der refigidfe Glaube an Unfterblidjkeit und Auf 
erftehung wirklich entfcheidend in die fittlichen Auffafjungen ein ?). 
Der Geftorbene, ehe er zum Ofiris werden fann, muß ins Gericht, | 
in die Halfe der Wahrheiten, wo Horus die Wage Hält, md 
Toth das Urteil ſchreibt. Das fittliche Unrecht ift dort zugleih 
Sünde gegen die Gottheit. Die Fragen der 42 Totenricter, 
nad denen ſich das Urteil entfcheibet, gehen ihrem Hauptinhalte 
nad) auf die Bewährungen der Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Mähig 
keit, Billigfeit und Güte im Gefellfchaftsleben 3). Dazu kommt 
dann, daß im Ägypten noch entjchiedener als im Babylon der 
Staat religiös aufgefaßt wird. Der König, welder als Sohn 
der Gottheit das Prädikat Ra in feinem Titel führt, iſt den 
Unterthanen die Offenbarung des göttlichen Willens. Wir fehen 
ihn auf den Bildwerfen feinem eignen Standbilde Opfer bringen, 
d. 5. als Individuum beugt auch er ſich vor der göttlichen Maje 
ftät des Geſetzes, deffen Ausdrud er ſelbſt ift 9. 

So wirken Hier viele Momente zufammen, um dem fittlichen 
Handeln religiöfe Triebfedern zu geben, und es über den Wert 


3) Die Ahnlichteit mit dem Idealbilde Hiob 81 iſt auffallend (Tielt, 
©. 159; Renouf, ©. 68; Dümichen a. a. O.). 

3) Bgl. das ägyptifce Totenbuch bei Lepfins a. a. O. 

3) So wird 3. B. nach bem Überbitrden des Arbeiters, nad) der Verleum- 
dung von Sklaven, nad; dem Betrüben bes Nächften gefragt. Faulheit, Hintere 
HR, TotenfGändung, Lüge, Betrug, Ehebrud, find Hauptfünden. Ein Haupt 
geroidht fällt auf die Pietät der Kinder (Kenouf, S. 126ff.). 

4) Renonf, ©. 154. 


Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. 8 


eines bloß geſellſchaftlichen Handelns zu der Bedeutung eines 
innerlich notwendigen und göttlich beſtimmten Handelns zu er⸗ 
heben. Aber um fo weniger ift e8 auch biefer Religion gelungen, 
von dem religiöfen Handeln den Charakter des ſittlich Gleich⸗ 
güftigen und Zufälfigen abzuftreifen, der ihm in allen heidnifchen 
Neligionen von Haus aus eignet. Neben den Geboten der Sittliche 
keit entfcheidet über ben Wert des Menfchen eine Unzahl von 
Geboten veligidfer Art. Die Pflege der Heiligen Tiere, die 
Neinigfeitsfagungen, die Speifegebote, bie unzähligen höchſt ver» 
wickelten Formen von Feften, Opfern und Progeffionen, zeigen 
den urfprüngfihen Naturcharafter der Religion. Den Göttern 
zu Ehren kämpfen die äghptiſchen Gaue im Bürgerfriege mit ein⸗ 
ander, weil fie verfchtedene Heilige Tiere ehren. Dem Gott zu 
Ehren Hat der Ägypter den Fremden und tötet in wilden Fana— 
tismus typhonifche Menfchen am Fefttage des Gottes. Ya, die 
endgültige Wirkung diefer Religion auf die Volksmaſſen tft offen- 
bar eine fchlechthin nicht fittliche gewefen. Aberglauben, taufende 
fache Zeremonieen, leidenſchaftlicher Fremdenhaß, fanatifche Ver⸗ 
ehrung der Heiligen Tiere, die faft am Fetiſchdienſt ftreift, — 
das war das Ergebnis, zu welchem dieſe Hoch angelegte Religion 
ſchließlich gelangt ift. 

Es mag hier nur in der Kürze daran erinnert werben, daß 
die Rulturreligionen Amerikas in diefer, wie in vielen anderen 
Beziehungen, fehr lebhaft an haldäifche und noch mehr an ägyptifche 
Verhaltniſſe erinnern. Die Ermahnung des toftefifchen Vaters an 
feine Tochter ?) erinnert Tebhaft an die Infchrift von Abu Simbal. 
Der theofratifche Staat der Inkas — der Söhne der Sonne — 
mit feinen Zempeljungfrauen, feiner Beichte und feinen Faften 
und dem Glauben an Vergeltung nad) dem Tode, hat ganz 
äghptifchen Charakter ). Bei den Merikanern wie bei den Pe 
ruanern wird das fittliche Leben überall eng an das religiöfe ger 
ſchloſſen. Geburt, Ehe, Tod, empfangen religiöfe Weihe, und der 
Glaube an eine Vergeltung nad dem Tode wirft auf das fittliche 


-2) Waitz IV, 124ff. 
3) 0. 0. D, ©. 404. 447. 486. 461. 
6* 


4 Sqchultz 


Handeln im Diesſeits zuruck!. Aber ih brauche nur an die 
Menſchenopfer der Aztelen und Majas, an die Feſte der Peruaner 
mit ihren kultiſchen Ausſchweifungen und an das Gewebe von 
Zeremonien zu erinnern, weldes auch bier das Leben überzog 2), 
um zu zeigen, daß auch Hier diefelbe Unvollkemmengeit in dem 
Verhältniffe von Religion und Sittlichkeit zurückgeblieben ift, melde 
alien Entfoltungen der Naturzeligion anhängt. Ein einheitliches 
Gewiffen, welches wirklich nach feiten Grundfägen den Einzelnen 
um feiner fitlicden Pflicht willen mahnt, ift überall Hier noch 
nicht möglih. An feiner Stelle ſteht die ererbte veligiöfe Sitte 
und die fittliche Gewohnheit, demen fih des Menſchen Selbſtbe⸗ 
wußtfein wie einer unverftandenen aber abfoluten Autorität unter 
ordnet. 

In anderer Weiſe — aber ohne einen vollfommeneren Er⸗ 
folg — treten Religion und Sittlichleit in den Kulturreligionen in 
Beziehung zu einander, welche dem Geifte der Künftler umb 
Dicter ihre höchſte Ausbildung danken: der Religion der Edda 
und des Olympus. Wo ber feei ſchöpferiſche menſchliche Geift 
die Geftalten der alten Naturgeifter zu einem Kreiſe menfchens 
ähnlicher und menſchlich wit einander verfehrender göttlicher Per⸗ 
fönlichkeiten ausbildet, da wird er notwendig auch das Höchfte und 
Wertvollſte des menſchlichen Lebens — bie Ergebuiffe der fitt- 
lichen Entwidelung und ihre mehr und mehr zu Axiomen ge 
wordenen Grundſätze — mit in den Kreis der Götter hinein ⸗ 
legen. Die Götter müfjen zu Vertretern und Wahrern guter und 
heilfamer menfchliher Sitte werden, — und fobald das gefchehen 
ift, muß wieder der Gedanke an den Zorn der Götter über Vers 
letzungen der fittlichen Pfligt zu einem Motive des fittlichen 
Handelns werden. So erſcheint in der Edda °) der Weltunter 


i) a. a. O., ©. 129. 415. 466. 

3) 0.0.0, ©. 154. 158. 160. 309. 461. 465. 

%) Bei Karl Simrod, Handbuch der deutſchen Mythologie 2c. (2. Aufl. 
1864), vgl. S. 50ff. 124ff. 153Ff. 505ff. Die mannigfachen religiöfen Hand 
lungen, welche das ganze Öffentfiche Leben der Germanen durchzogen und ber 
ſtimmten, find 3. B. bei Giefebrecht, Geſch. der deutſchen Kaiſerzeit, Bd. I 
A. 5), ©. 5. 7. 8. 9 im Kurze zu dergleichen. 





Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. 8 


gang herbeigeführt durch Meineid und Goldgier. Mord, Meineid 
und Ehebruch wachſen in dem „Beilalter, Schwertafter". Das 
Abnehmen der Pietät gegen die Toten macht das Totenſchiff flott. 
Die höcfte Bürgertugend — die Tapferleit — Öffnet den Weg 
zu den Göttern ). Und die rechten fittlihen Menſchen, d. H. die 
wehrhaften, tüchtigen und getreuen Helden, kämpfen ben großen 
Weltlampf ber Götter gegen das Böſe und den Tod mit. Und 
dag Lift, Leidenſchaft, Jühzorn und Verfuchberfeit auch in den 
Söttergeftalten der Edda — vor allem in Odin — uns entgegen 
treten, dad beweift nur, daß das fittlihe Ideal noch unvolllommen 
ift, — nicht daß Religion und Gittlichfeit auseinander fallen. — 
Aber der urfprüngliche Naturcharakter der Gottheit läßt fich nicht 
verwifchen. Die einzelnen Götter mit Ausnahme des Tichten 
Balbur, find keineswegs reine Vertreter defien, mas von den 
Menſchen als fittlih gut erkannt wird. Durch die Form des 
fittlich / perfönlichen Lebens bricht immer wieder bie ſchranken ⸗ und 
gefeglofe wilde Gewalt des Naturlebens, melde feine Ordnung 
und Sitte Iennt. Meimeid, wilde Habgier und Genußſucht find 
auch in den Götterfreis eingedrungen und machen bie „Götter 
dämmerang“ nötig. Neben Thor und Odin fehen wir die Ger 
ſtalt Lokis, des ſchlechthin nicht fittlichen, und die Geſchlechter der 
Wanen. Zwifhen Joten und Aſen waltet nicht bloß Erbfeind⸗ 
ſchaft, fondern auch vielfache Blutsverwandtſchaft. Die fittliche 
Idee ſchwebt über den Göttern als das vergeltende Geſchick. 
Und das Handeln, welches von der Religion ummittelbar hervor⸗ 
gerufen wird, ift Zauberſpuk und blutiges Opfer, au Menſchen⸗ 
opfer, — alfe ein Handeln, daB anf eigennügigem Verhältnis von 
Mengen und Göttern beruht, und des fittlichen Charakters völlig 
entbehrt. b 

Es kann uns nicht verwundern, daß die foviel Höhere und 
feinere Durchbildung aller Gebiete des menſchlichen Lebens, welche 
wir bei den Griedhen finden, auch das Verhältnis von Religion 
und Sittlichteit viel mannigfaltiger und intereffanter geftaltet Kat, 


I) Diefe einfeitige Belohnung der Krieger-Tüchtigfeit iſt natürlich nur ber 
Widerſchein der gefamten fittfichen Anfchauung. 


86 Schultz 


als bei den Germanen. Daß auch in Griechenland die Auffaſſung 
der Sittlichfeit feine gleichmäßige und volffommene ift, weil ihr 
das hochſte menſchliche Ziel verborgen ift, dag die Willkür im 
Genuß, die Verachtung der Barbaren, die Betrachtung des Sklaven 
als eines bloßen Werkzeuges und als eines zur wahren Sittlichfeit 
unfähigen (Odyſſee XVIL, 322), die Auffafjung der Ehe als eines 
weſentlich nur dem Staatszwecke dienenden Natur» und Eigentums 
verhältniffes, auch bei den edelſten Vertretern griechiſcher Ethil 
vorkommen, das hat mit unferem Thema unmittelbar nichts zu 
thun, weil wir nur von dem Verhältniffe der thatſächlich vor⸗ 
handenen fittlichen Grundfäge zur Religion zu reden Haben. Wohl 
aber wird man nicht verfennen können, daß diefe Unvolllommen⸗ 
heit überhaupt erft da endgüftig überwunden werden fann, wo bie 
richtige Stellung von Religion und Sittlijkeit gefunden ift. — 
Innerhalb gewiffer Schranken aber tritt und bei den Hellenen ein 
reiches Wechfelverhältnis beider Gebiete entgegen. Die olympifchen 
Götter, welche bie titaniſchen Gewalten der Natur in die. Nacht 
de8 Tartarus geworfen haben, find in ihrer Gefamtheit die Ber- 
treter von Maß, Ordnung und Schönheit in ber Welt, wenn auch 
die letzte entſcheidende Macht über ihnen ſchwebt, wie über den 
Göttern von Walhalla. Der Zeus bes Homer, Pindar und 
Sophokles ift der Schlüger des Gaftrechts, der Rächer des Mein 
eids und des Frevels, der Wahrer der Sitte, das Urbild könig⸗ 
fiher Würde und Hoheit, — dem Themis und Metis zur Seite 
ftehen. Der delphiſche Apollo verkörpert alles Freudige, Lichte 
und Schöne, alle Kultur und Poeſie, all’ die erhabene, freie und 
heitere Kunft bes Lebens, durch welche der Hellene fih mit Stolz 
von der wüſten Maplofigkeit der Barbaren geſchieden weiß. Die 
Athene der Akropolis ift die Vertreterin der befonnenen Thatkraft, 
durch welche eine Stadt in Krieg und Frieden gedeiht. Die alten 
Naturmpthen haben fich mit ethiſchem Gehalte gefüllt. Der Sonnen 
heros Herakles iſt zum duldenden Gottesfämpfer auf Erden ge 
worden. In dem Geſchicke der Niobiden und der Häufer des 
Tantalus und Lajus tritt das große fittliche Gefeg von dem Maße 
der Dinge in unvergänglicher Großartigfeit uns entgegen. Die 
alten Naturgöttinen der Indogermanen find als Mufen und Char 





Religion und Eittlichfeit in ihrem Verhältnis zn einander. 87 


viten zu Göttinnen ber Harmonie und Schönheit geworden, als 
Erynnien zu den furchtbaren Wächterinnen der großen Grund⸗ 
ordnungen, auf welchen die menfchliche Geſellſchaft ruht. 

So hat die Sittlichteit der Griechen überall religiöfe Motive. 
Ich Tann für den ausführlichen Beweis diefer Behauptung auf 
Schmidt, Die Ethik der alten Griechen (Band I, 1882) ver- 
weifen, wo die religiöfen Motive der griechifchen Sittlichteit 
©. 47—155 eingehend erörtert find (vgl. aud ©. 163ff.). Ih 
will nur einzelne bezeichnende Punkte hervorheben. Der Grieche 
Handelt ftetS mit dem Bewußtjein einer göttlichen Gerechtigkeit, die 
ſich im Schickſale vollzieht. Der Vertragsbruch und die Ber- 
Tegung des Gaftrechts führen den Sturz von Troja herbei. Der 
Übermut der Freier ruft die Rache ber Gottheit auf fie herab. 
Daß Zeus die Unredlichkeit ftraft und das Gaſtrecht wahrt, ift 
felbftverftändfiche Vorausfegung bei Homer). Nach Hefiod find 
die Götter Erhalter der fittlichen Weltordnung. Solon weift die 
Frevler auf die unfehlbare Strafe des Zeus Hin. Pindar (4 Pyth.) 
nennt die Gottheit den Schug des tugendhaften und maßvoll ges 
finnten Mannes, indem fie gegen Hybris, Neid, Zorn, Graufam- 
keit und allzu wilde Rache das fittliche Maß vertritt (vgl. Soph. 
Oed. rex 851 8q. 875; Antig. 127 ff.). Es ift ein griechiſches Wort: 
„Der Götter Mühlen mahlen fpät, aber ſcharf.“ Wer die uns 
verrüdbaren Schranken der Familienliebe und des Naturrechts 
verlegt Hat, ben jagen die Erynnien ruhelos burd) die Welt, bie 
er durch der Götter Gnade entfühnt ift?). Alle Vertreter der 


3) Odyffee I, 378; II, 65; VI, 207; VII, 164f. 181; IX, 269; 
XII, 212ff.; XIV, 67. 88. 283f. 389. 405; XVI, 422f.; XVII, 487; XIX, 
395; XX, 215; XXI, 89. 418; XXIII, 63. Ilias I, 238 (die Fürften 
wahren im Namen Kronions das Heilige Recht); III, 278ff. 860ff.; XIII, 
624; XIX, 258fj.; XXI, 595. Bol. Kichyl. Agam, ®. 150ff.; Choeph., 
8. T1ff. 384. 895 („Hab alle Welt zu Feinden, nur die Götter nicht“); 
Sieben vor Theb,, 8. 571; Schutfl,, ®. B7ff. 218 ff. 844. 417. 717. 875. 
1017ff. Sophot. Oed. r., V. 640. 646; Antig., ®. 127. 6541.; Trach. 
2. 287 ff. 274. 

2) Odyffee II, 185f.; XI, 280; XVII, 475. Ilias IX, 454; XV, 
206. fh. Agam, B. 437ff. 724f.; Choeph., B. 404 ff. 647. 917. 
985ff. 1017ff. 1042. 1047. 1065; Eumen. 184 ff. 261ff. 300ff. 322. B16ff.; 


88 Schultz 


edleren Gefinnung in Griechenland haben dahin geſtrebt, dieſe der 
Sittlichkeit forderliche Einwirkung des religibſen Lebens zu ſtärlen. 
So vorzüglich, wie Schmidt S. 128 hervorhebt, das delphiſche 
Orakel. So Pindar, Äſchylus und Sophokles („warn ſahſt du 
Frevler von den Göttern je geehrt?“ Antig. 288). Und anders 
feits ift and das religiöfe Handeln unter dem Ginfluffe diefes 
Strebens vielfach fittlih wertvoll geworben. In den heiligen 
Beftfpielen bet das griechiſche Bolt feinen Göttern die Blüte 
örperficher umd geiftiger Bildung und Schöngeit, um fie damit 
zu erfreuen. Und wie der moralifh Unreine, der Mörder, bie 
Ehebrecherin, die Hetäre, nicht am Feſte teilnehmen oder beim 
Heiligtum weilen dürfen, ja fogar die anſtecken, welche unter 
gleichem Dache fich befinden (Schm. 125f. 119. 121), — fo 
gilt es als felbfiverftändfih, daß niemand ber Gottheit mit einer 
Bitte um fittlich Böfes nahen darf (Schm. 164. 288) 9. 

So dürfen wir nicht verfennen, daß für das Gefühl der 
Griechen Religion und Sittlichkeit vielfach mit einander verbinden 
gewefen find, Gaftfreundfchaft und Rechtsſinn erfcheinen von 
frommer Gefinnung unzertrennlich (Odyfjee IX, 175.) Wohl hat 
die Ruckſicht auf jenfeitige Vergeltung im ganzen wenig auf 
die griechifche Sittfichleit gewirkt. Nur in extremen Fällen ber 
Götterfeindf—haft dachte man am jenfeitige Strafen, — und bie 
fteigende Rüdficht darauf, wie fie vor alfem in den Myſterien 
genäßrt wurde, gehört nicht mehr eigentlich zur griechifchen Religion 
(Schm. 97ff. 99. 105f.). Aber die Rüdfiht auf die Götter, 
auf Ate, die Tochter des Zeus, auf bie Nemefis, die hinter dem 
öffentfichen Gewiffen fteht, hat ohne Zweifel vielfach als Motiv 
der Sittlichkeit ſich erwieſen (S. 161ff. 187. 228)°), — fo 


Sieben vor Theben, 8. 657. 710ff. 862; Schubfl., B. 806 f. 6961. Sopt 
Ant., ®. 1060; Eklir., ©. 112. 475ff.; Aj. fur., ®. 800ff.; rad, 
B. 7975. 

3) Es finden ſich nit felten Äußerungen, welche bie fittfidhe Reinheit 
für wichtiger als die Titurgifche erfläcen (Schu. 182), und Außerungen, 
wie Heltors Wort: „Ein Wahrzeichen allein ift gut: treu firmen bie Heimat.“ 
Ilias ZI, 243 führen nad; derfelben Richtung Bin. 

3) Odyffee I, 40ff. 263; IT, 135; XI, 73. Aſch. Agam., B. 56ff. 
364f.; Sieben vor Th, V. 69f. 637 fl. Soph. Ant. V. 108 ff. 


Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. 80 


gewiß auch die kraftigſten Antriebe zur Sittlichkeit für den Griechen 
immer in der Ruckficht auf den Staat, auf die väterlichen Sitten 
und auf den Beifall und Unwillen der Mitbürger, aljo in ber 
Richtung des Gemüts auf Ehre zu finden waren. (©. 168ff. 
185ff. eldos und alegven.) (Ilias VI, 351.) Und wo fih 
die von Frömmigkeit getragene Achtung vor dem ewigen Geſetze 
der Humanität und Pietüt gegmüber den Willfirfagungen augen. 
blicklicher menſchlicher Gewalt fo großartig äußert wie in Soph. 
Ant., V. 735. 448 ff. 521, da ift gemiß ein Schritt zur höchften 
Einheit von Sittlichkeit und Religion gethan. 

Aber neben diefen Schritten zu einer wahren innerlichen Ber» 
bindung beider Gebiete, tritt uns ungeheilt und unheilbar der 
urfprüngliche heibnifche Gegenjag derſelben auch bei dem Griechen 
entgegen. Ob auch die Götter in ihrer Gefamtheit die fittlichen 
Intereſſen fügen, in dem einzelnen Göttergeftalten bleibt unzer⸗ 
ftörbar der alte Naturcharakter und tritt nur um fo greiler in 
Widerſpruch mit dem feiner werdenden fittlichen Urteil. Was het 
der lichten Himmelogottheit nur eine finnige Deutung von Natur 
vorgängen ift: daß fie die finfteren Mächte, demen fie entftammd, 
in das Dunkel zurüdfchlendert und mit unerfchöpfter Lebens ⸗ und 
Zeugungskeaft immer neuen Geſtaltungen fi verbindet und immer 
neues Leben hervorruft, — da® wird in der perjönlichen ethiſchen 
Geſtalt des Zeus zur Auflchnung gegen den Water und zum wilden 
Lebensgenuffe ohne Ruckficht auf Ehe und Berwandtihaft, — 
welde dem Schüger fttlicher Orbsung wenig anftehen, und dem 
Blato und Zenophanes nicht wentger Ärgernis bereitet haben als 
ben chriftlichen Apologeten. Schwerlich konnte ſolche Göttergeftalt 
ganz ohne Schaden für die fittliche Entfaltung bleiben. Und ebenfo 
iſt's mit Herafles, in melden die wilde. Wut des aſiatiſchen 
Sonnenheros ſeltſam die hohe. ethiſche Geſtalt des „Erlöfers“ ent- 
ftellt. So erjeint Hermes als Schußgott der Diebe und Bes 
teüger, Aphrodite entfchuldigt eheliche Untreue (Odyffee IV, 261 ff.) 
und Ares die wilde Kriegsfurie (Iltas V, 888 ff.) (Schm. 136); 
die Götter geben fich gegenfeitig ihre Schüglinge preis, um ihrer⸗ 
jeits ihrer Rache zu genügen (Ilias V, 40ff.; vgl. Aſch. Prom. 
557 ff. 735 ff.). Während die anderen Götter das Gaſtrecht fügen, 


” Schultz 


ſtraft Poſeidon die Phäaken für ihre edle Ausübung desſelben 
(Odyffee VIII, 565f.; XIII, 173ff.), weil fie feiner perſönlichen 
Rache im Wege fteht. Apollo wie Artemis laſſen für Kränkungen 
ihrer perfönlicgen Eitelfeit furchtbare Rache über Marfyas und 
die Niobiden, laſſen Rache über alle Hellenen um Agamenmons | 
willen ergehen (Schm. 95; vgl. Odyſſee I, 9. 19. 59. 68; 
V, 341; XI, 377fj.; XIII, 128ff. Sfies I, 8ff.; IX, 634 ff. 
XXIV, 29. 601 ff. Aſch. Agam. 128. 189. Soph. Dt. 
Kol. 962Fff.). Die Götter fordern als Suhne Dinge, melde 
menſchlicherſeits als Frevel empfunden werden (Äſch. Ag. 191ff. 
205f.), während Prometheus für Wohlthat bußt (Aſch. Brom. 
Tff. 28ff. 107f. 232f. 255. 267. 442 ff. 475ff. 1087). Um 
auch wenn wir auf die „homerifhen” Züge der Gottergeſchicht 
weniger Wert legen wollten, weil fie allerdings ſchwerlich von 
den Ebferen in fpäterer Zeit als eigentlich religiöfe Wahrheiten 
angefehen worden fein werden, fo begegnet uns doch der Eins 
fluß dieſes „unethiſchen“ Zuges in den Göttern auch fonft um 
verfennbar und häufig (Soph. Trad. 490f. Aſch. Cum. 
611; Prom. 149f. 186. 402. 969f.). Die eigenen Vergehungen 
fcreibt man dem Geſchicke oder den Reizungen der Götter und 
des Dämon zu. Auch die Apate ift eine der Himmliſchen 
(Schm. 251)?. Die Gedanken an Neid, Graufamkeit und Mip 
gunft der Götter find nicht geeignet, fittlih zu wirken, Ja 
wenn die Götter doch wefentlich mar den „Übermut*, auch ben 
hochgeſinnten, ftrafen®, — wenn fie ftrafen, auch wo unbewuft 
und unfreiwillig die Bande der Ordnung zerriffen find (Soph. 
Oed. r. 94ff. 101. 419ff. 1155 ff.), wenn der Menſch zweifeln 
kann, ob die Götter eine Frevelthat wollen joder fie verbieten 
(Odyffee XVI, 402 ff.; vgl. Soph. Ant. 914f.), jo muß das eher 
die wahren fittlichen Impulfe lähmen, als fie ſtärken. (Schm. 79, 


__ ) Odyffee IV, 261fj.; XXIII, 228. Ilias XIX, 87ff. vgl. B. 126 
Ah. Ag, B. 366f. (dev Me Kind, Peitho) 1432. Sophoff. Tri, 
8. 1266. 

3) Obyffee IV, 181; XX, 201. 

#) Odyifee IV, 504. Aſch. ug, B. 352ff.; Perfer, ©. 718ff. Soph 
el. 8. 550f.; Aj. für., ®. 197ff. 730f. 





Religion und Sittlicheit in ihrem Verhältnis zu einander. 9A 


93. 127.) Die griehifhen Götter laſſen „den Armen ſchuldig 
werden“. Sie zwingen den Oreft, bes Vaters Räder zu werden, 
und dann heften die Erynnien fi an des Muttermörders Füße t), 
Die Götter verführen und ftrafen dann (Schm. 221. 239). 
Ihnen gilt in gleicher Weije als unrein, wer in gerechtem Kampfe 
den Räuber tötet, und wer felbft verbrecheriſch mordet (Schm. 128). 
So fümpft die Religion mit der Höher ſich entwidelnden Ethik, 
und ſolche verfühnende Züge, wie daß die Erinnyen als Eumeniden 
im Lande bleiben, nachdem ihnen die Macht genommen ift, in alter 
Wildheit das Naturrecht zur Geltung zu bringen (Aſch. Eum. 851), 
begegnen ung felten (vgl. Soph., Oed.r. 425qq.) Ein wirklicher 
Ausgleich ift bei dem Naturcharakter der Götter unmöglih. Die 
Ethik muß ſich zulegt als philofophifche ganz von der Religion 
Tosringen, und aus fich felber entfalten. 

Und ebenfo ift das religiöfe Handeln auch bei den Hellenen 
völlig unfähig, im großen und ganzen von fittlichem Inhalte durch 
drungen zu werden. Was den Göttern vor allem am Herzen 
Tiegt, ift, daß ihre Ehre nicht angetaftet werde (Soph. 
Phil. 1400ff.; Aj. fur. 132). Unter frommem Handeln wird 
man ſchwerlich in Griechenland je etwas anderes verftanden haben, 
als was Homer Odyffee XIV, 420ff.; XIX, 364ff. und Jlias 
IV, 47Tff. beſchreibt. Es geht durch die Religion eine beftändige 
Angft vor Beleidigung der Götter und vor Verunreinigung auch ohne 
ſittliche Schuld ?). Man fucht alles, was den Göttern wiberwärtig 
fein kann, von ihrem Auge fern zu halten, und man denkt dabei 
das im Naturleben Unſchöne oder Hemmende im wefentlichen 
gleichbedeutend mit dem fittlih Böfen (Schm. 118ff. 122ff. 
130ff.). Dan will mit Opfern und Gaben dem perfönlichen 
Eigennuge der Götter und ihrer Eitelfeit wohlgefallen ®), oder 


2) Hd. Choeph., 8. 10. 125. 275. 288. 917f. 1017f. 10475; 
Cum, 8. 84. fl. . 

3) Obpffee LU, 139ff.; IV, 862ff. 377{. 4721. 1074. Ilias], 20. 
S14fj.; VI, 266f.; VII, 448; IX, 534ff.; XI, 6. Soph. Od. Kol, 8. 224ff.; 
Ant, 8. 771. 1001; Phil, 8. Sf. 

®) Odyffee I, 26. 67; II, 273; V, 101f. SliasI, 64ff.; VE, 448; 
VII, 208. 238; XX, 299; XXIL, 168; XXIII, 216ff. 863fj.; XXIV, 88. 


» Schultz 


fe begütigen, wenn man fürdtet ihr Mißfallen erregt zu 
haben *),. Man trat einzelnen Männern die Kenntnis heiliger 
Formeln zu, melde bloß dur ihren Zauberklang oder ihren 
Ritus den Zorn der Götter befänftigen follen (Schw. 131, 
Epimenides). Man fucht durch Gebete und Opfer Rache an 
ben Feinden (Schm. 85). Und au vor dem Menfchenopfer 
ſchreckt dieſe Religion in befonderen Fallen wicht zurück. Kur 
das religibſe Handeln bfeibt im wefentlihen, was es im Heiden⸗ 
tume von Anfang an ift: fittlich gleichgliltiges Wirken auf die vor 
ausgefegten Privat» Neigungen der Götter, um fie dem eigenen 
Privat · Nutzen dienftbar zu machen. Und der religibſe Glaube 
bietet für das fittliche Handeln weder reine noch voliftändige 
Motive, und er ift am wenigften imftande, der Sittlichteit 
ein Prinzip zu bieten, aus welchem ſie ſich zu einem voll 
tommenen Gemeinjhaftshandeln allen Menſchen gegenüber entwideln 
tünnte 3). 

Es bleiben und von den heibwifhen Kulturreligienen nur noch 
diejenigen zu betrachten, welche fi unter dem überwiegenden Ein 
fluſſe des Staatsgedantens entwickelt haben, die römiſche 
und die hinefifhe. Die römische Religion ®) ruht auf der 
naiven und lebendigen altitefifehen Raturreligion, welde außer 
halb der großen Stadtmittelpunkte gewiß völlig unverändert bis 
in die fpäte Kaiferzeit fortbeftanden hat. Aber ihrer eigentümlichen 
Art nach hat fie die alten Natur» Gottheiten, fomeit das möglich 
war, zu Mächten des Staatslebens fortentwidelt. Der Jupiter 
vom Capitol erinnert nur noch ſchwach an ben alten Bliggott der 


67. 425. Aſch. Choeph., V. 260ff. 484ff.; Eum., ©. 106ff.; Sieben vor 
Theben, ©. 94f. 161. 195. 207ff. 255ff.; Perjer, B. 5OBf.; Schutſt, 
®. 176ff. 429. 

1) Ilta® IX, 4994. Aſch. Cum, B 272. 421 ff. 449; Perſer, 8. 
187f. Soph. Ob. Kol, ©. 465ff.; Aj. fur., 8. 178f. 

2) Die eigentlich philoſophiſche Fortbildung der Ethik und ben im ber Ston 
ſich entwidelnben beſonderen Begriff des perſönlichen Gewiſſens kann ich fie 
nicht berüdfichtigen. 

8) Breller, Römilhe Mythologie (2. Aufl. 1862), vgl. ©. 93ff. 552 
bis 61a. 





Religion und Sittlichfeit in ihrem Verhältnis zu einander. s 


Latiner. Cr ift in Wirklichkeit der Ausdruck der Mat, Ordnung 
und Weisheit der weltherrfchenden oma. Und die Juno bewahrt 
wohl etwas mehr den Eharafter der Leben und Fruchtbarkeit bes 
wirkenden Mondgottheit, aber vorwiegend iſt doch auch fie die 
Schutzerin der weiblichen Würde und Zucht und der Heiligfeit der 
Che. Das ganze Gebiet der Stantsordnungen ift bis ins einzelne 
von religtöfen Gedanken und Handlungen, durchwebt, und die 
großen Tugenden des Bürgers erfcheinen in biefer „Neligion des 
Zweds“ zu Göttergeftalten verkörpert, So Honos, Libertas, 
Eoncordia, Pubicitia, Fides, Fortuna, Victoria, Salus Pub» 
Tica u. f. w. Deshalb ift es nur folgerichtig, daß als der Staat 
Monarchie ward, der Genius des Kaiſers als Gottheit der eigent ⸗ 
liche Ausdrud des religiös angefhauten Staates ward. Dem 
Genius des Kaifers opfern und feine Bildfäule aufftellen, das 
war das entjcheidende Zeugnis für die Unterwerfung unter die 
in Rome Größe ſich offenbarende Gottheit. So war die Reli» 
giofität des Nömers im Grunde nur bie eine Seite feiner Ger 
feglicleit. Und mit Recht fand Plutarh in der Frömmigkeit 
das Geheimnis der Erfolge Roms); denn in ihr kam die ger 
wiffengafte und unbedingte Hingabe an das Vaterland und fein 
Geſetz zum Ausdrude, welche Rom groß gemacht hat ®). 
Natürlich ift deshalb in diefer Meligion das fittliche Handeln 
im weiteften Umfange von religiöfen Motiven getragen und bes 
ſtimmt. Das Öffentliche wie das Häusliche Leben trug in Rom 
bis ind einzelnfte veligiöfen Charakter an fih. Und bas religtöfe 
Handeln zeigte überall Beziegungen auf die Zwede der Geſellſchaft 
und. des Staates. Aber die eigentimliche Art diefer Verbindung 
von Religion und Sittlichleit auf der Grundlage einer Nature 
religion mußte ein wirklich volllommenes und heilſames Zufammen« 
wirlen beider unmöglih maden. Die religiöfe Schätzung des 
Staates wußte die Entfaltung der Sittlichteit zur wirklichen 
menſchlichen Sittlichleit hemmen. Denn weil der höchſte Zweck 


2) De vit. Marcelli I, 405ff. 
3) Im der Weiße der Decier und des Curtius an bie bunfelen Gott - 
heiten — den Peinben zum Verderben — tritt das beſouders plaſtiſch hewor. 


9 Schultz 


in dem einzelnen Partikularſtaate ſelbſt liegt, welcher die auderen 


Vöolker und ihre Zwecke negiert oder ausbeutet, kann ſich das fitt⸗ 
liche Ideal nicht über den engen Begriff der Bürgertugend erheben, 
welche weder eine Schägung der Menſchenwurde an ſich noch wahre 
Gerechtigkeit und Humanität zuläßt. Die Religion wird im bie 
Greuel der Eroberung, des nationalen Egoismus und endlich des 
Cäfarenwahnfinns verſtrickt. Und wo die Philofophie — vorzüg« 
lich die ftoifhe — das fittliche Ideal Höher und menſchlicher 
auffaßte, da mußte fte die eigentümliche Kraft und Gejchloffenheit 
römischer Religion und Sittlichkeit innerlich auflöfen. So ſchuf 
diefe Religion allerdings das tüchtigfte und Träftigfte Volk des 
Altertums, aber auch das felbftfüchtigfte, gewaltfamfte und wahrer 
menſchlicher Bildung am meiften verfchloffene. Sobald von 
Griechenland aus höhere Kultur in Rom eindrang, da zerfegte 
ſich das römiſche Wefen und ging in Fäulnis über. Sobald durd 
das Chriftentum ein alfgemein menſchliches Ideal einzudringen 
verfuchte, da entftand ein Kampf auf Tod und Leben. 

Und wie die religiöfe Beftimmung des fittlichen Handelns in 
Rom nicht über die Helfighaltung der gefeglichen Bürgertugend 
Hinausführte, fo blieb anderfeits das religidfe Handeln, obwohl 
auf die fittlichen Zwede des Staates bezogen, doch feinerfeits ſelbſt 
gänzlich ohne fittlihen Charakter. Das refigiöfe Intereſſe des 
alten Römers ging wie das des modernen in Kultus und Zeremor 
nieen auf. „WReligiöfe“, d. h. gewiſſenhafte Beobachtung der 
Leiftungen, welche jede Gottheit beanfpruchen konnte, bildete eine 
Hauptforge der Stants-Verwaltung. Aufzüge, Schaufpiele, Sühne ⸗ 
gebräuche, Heilige überlieferte Gebets- und Zauberformeln, Ber 
obachtung aller Vorzeichen, ftrenge Wahrung der Ehre und der 
befonderen Anfprüche, die von alter&her der einzelnen Gottheit 
zuftanden, — das ift der Charakter des relipiöfen Handelns. in 
Rom. Man wollte weder „abergläubig“ zu viel und Unbes 
gründete thun, noch irgendetwas unterlaffen. Man Heß ſich zu 
diefem Zwede feinerlei Mühe und Aufwand verdrießen. Wenn 
ein böfes Vorzeichen oder ein den Göttern verhaßter Anblid 
— wie 3. B. ber eines zum Tode geführten Verbrechers — ein 
glänzendes Schaufpiel unterbrah, fo wurde dasfelbe als nichtig 





Religion und Sittlichfeit in ihrem Verhältnis zu einander. % 


betradtet und ganz aufs neue begonnen. ber auf den fittlichen 
Charakter diefer Handlungen felbft am ſchlechthin gar nichts an. 
Zu tief war die Heidnifche Anſchauung von den Göttern ein« 
gewurzelt, als daß man gezweifelt hätte, ihnen auch mit umfittlichen 
Leiftungen mwohlgefallen zu können, wenn fie nur dem Triebe der 
Götter nach Befriedigung ihrer Ehrfucht und Eitelkeit entgegen« 
Tamen. Mit unzüctigen Poſſen und der grauenhaften Roheit der 
Fechterfpiele hoffte man den Göttern ebenfowohl zu gefallen, wie 
mit unberftändfihen, nach halb vergefiener Überlieferung fort« 
gepflanzten Liedern, Gebeten und Gebräuden. 

In allen diefen Beziehungen hat die Staatsreligion der 
Chineſen eine höhere Stufe erreicht). Im Staate fpiegelt fi 
nach chineſiſcher Auffaffung die Ordnung des himmliſchen Lebens 
wieber. Es ift die Aufgabe aller Bürger, vorzüglich des Kaifers 
als des Himmelsfohnes, die fittlichen Verhältniſſe in folder Har- 
monie zu haften, daß fie ein Abbild. der ewigen Ordnungen des 
Himmels find, Wo biefe Pflicht verfäumt wird, da kommen 
auch die Naturorbnungen aus ihrem Geleife. So erfcheint der 
Staat, — vor allem der Kaifer, — als verantwortlich auch für 
das äußere Gebeihen der Welt®). Die Fundamental» Tugend ift 
deshalb die Achtung vor aller Ordnung, vorzüglich der Gehorfam des 
Kindes gegen die Eltern ®). Demut und kräftiges Eintreten für das 
Recht — fei es auch gegen den feiner Pflicht vergeffenden Herrfcher — 
werden im Schu-fing und Schi-fing vor allem gepriefen. So werden 
die religiöfen Motive unmittelbar in den Dienft der Geſellſchaft ge— 
ſtellt, und zwar nicht in den Dienft eines gewaltfamen Eroberer» 
ftaates, fondern der bürgerlichen Gerechtigkeit, Bildung und 
Sitte. Cong⸗fut⸗ſe war ein praftifch rationaliftifcher Volfserzieher, 
und ftatt anderer Offenbarung gilt ihm bie Autorität der alten 
Volksſpruche und Weisheitsregeln, die er gefammelt hat. 

Aber diefer Zug zur Betonung des Sittlichen hat die Religion 


1) M. Müller, The sacred books of the East. ®b. III: Shu-King, 
Shi · King, Hfiao-King, überf. v. Legge. 

2) Schu⸗King IV, 8. ©. 91; V, 6. S. 156. 

5) Hfißo-Ring (III, 464ff. bei M.). 


% Schultz 


als ſolche entleert und abgeſchwächt. Wenn noch im den ala 
heiligen Büchern der Himmel wirklich als Lebendiger Gott in de 
Weife der höher gebildeten turaniſchen Religion erſcheint *), fo in 
er in der gegenwärtigen chinefiſchen Meligion im Grunde nit 
auderes, als das Symbol einer ewigen Ordnung und Geſetzlichkeit der 
Dinge. Das religiöfe Handeln als ſolches .ift zu völlig ſchatten 
haften ſymboliſchen Handlungen herabgefhwunden. Höchſtens in 
Ahnentultus lebt ein Reſt der alten turanifhen Frömmigleit 
An die Stelle der alten Weisfagungen find Kalenderberechnungen, — 
an die Stelle der alten Feſte das Kalenderfeit des Neujahrs ge 
treten. — Und das Prinzip der in der Welt fich offenbaren 
Ordnung und Gefegmäßigkeit erweift fi anderſeits als um 
genügende XTriebfeder für eine höhere fittliche Entwickelung. & 
fehlt ein höchſtes Ziel, aus dem eine ſchöpferiſche Sittlichkeit ik 
Kraft gewinnen könnte. Denn ein foldes Ziel kann nur aus ein 
lebendigen Gottheit ftammen. So fehlt der Sittlichteit die var 
wärt6 treibende Kraft. Wohl entfaltet fich eine ſchöne und Humax 
Justitia civilis. China ift das Land der Schulen, Brüden un 
Spitäler, — der unverrüdbaren Ordnungen, der höchſtentwidelin 
Eindfichen Ehrfurcht und Pietät; aber es ift zugleich das Land it 
Stiltftandes, der Staatd-Omnipotenz, der nüchternen Mittelmäfig 
keit, der Mandarinenklaſſen und der Eramina. Die dinefiik 
Sittligleit — deren Ideal Gefeglickeit und Ordnung find — 
ann die höchften Mannestugenden, vor allem die Tugenden ir 
Menfchenliebe nicht weten. Knechtsſtun, rohe Granfamteit, aut 
hochſte geſteigerte Habſucht und die im Kindesmorde hervortretent 
NRüdfichtslofigkeit der Selbſtſucht bilden die Schatten im den fit: 
lichen Zuftänden Chinas. Hier Hat der rationaliſtiſche Moralis 
mus und .der Kultus des Staats als des Höchften Zweces fin 
Ziel erreicht und fein Gericht gefunden, } 
So Haben wir in kurzen Zügen die heidniſchen Religionen uf 
das Verhältnis von Religion und Sittlidkeit geprüft. Bi 
fanden zuerft ein religiöfes Handeln ganz ohne ſittlichen Charaktt, 


1) Säu-Ring IV, 5, 99; 6,101; 10, 120. V, 18, 212 3. ug. 1,4 | 
52; 8, 56. II, 3, 55; 2, 77. IV, 8, 87. V, 9, 169. 





Religion und Sittlichfeit in ihrem Verhältnis zu einander. n 


und ein elementares fittliches Handeln ganz ohne, religiöfe Motive. 
Wir fahen dann, wie mit fteigender Bildung der Geſellſchaft und 
mit höherer fittlicher Entwicelung die Gottheit überall Beziehungen 
zu den fittlihen Gütern der Gefellfchaft gewann, — wie dadurch 
wiederum der religiöfe Faktor zu einem, wenn auch feinesiwegs 
dem einzigen ober auch nur dem wichtigſten, Motive ſittlicher 
Entwidelung ward, und das fittliche Handeln in feinen Grunde 
zügen religidfe Triebfedern und religiöfe Färbung empfing, — und 
wie anderſeits das vefigiöfe Handeln auf die gefellfchaftlichen 
Zwede bezogen und hie und da auch fittlich gefärbt ward. Aber 
wir haben gefunden, daß im Weſen der Naturgötter die Unmög« 
lichkeit lag, dem religiöfen Handeln feinen zufälligen gegen Sitt« 
lichkeit gleichgiftigen event. derfelben feindfeligen Charakter grund⸗ 
Tich zu benehmen. Es blieb im Grunde immer eigennügiges, auf 
Privatlaunen der Gottheit berechnetes Handeln. Und ebenfo un. 
möglich war es, aus der Religion auf diefer Stufe genügende Motive 
für eine einheitliche, humane und ſchöpferiſche Sittlichleit zu ger 
winnen. Die höchften Maßftäbe, welche die Religion der Sittlich« 
teit darbot, waren die Ordnung des Staatslebens, die ſchöne und 
Harmonische Entfaltung des Dafeins in den Grenzen des einzelnen 
Gemeinwefens, die Abbildung der ewigen Gejegmäßigkeit der Welt 
in den gefellfchaftlihen Verhältniffen. Ye mehr ſich aber diefe 
beſchrankten Gefichtspunfte erweiterten, deſto mehr ward entweder 
wie bei den Indern das Sittliche durch das Neligiöfe überwuchert 
und entwertet, ober wie bei den Chinefen das Religidfe durch das 
Moraliſche entkräftet und zum moraliftifhen Nationalismus ab⸗ 
geſchwächt. 

5. Eine entſcheidende Veränderung in der Auffaſſung des frag« 
lichen Verhaltniſſes finden wir in den Brophetenreligionen. 
Denn fo verfchieden diefelben ihrem Charakter und Werte nad 
aud fein mögen, und fo mannigfach fie mit den Naturreligionen 
zufammenhängen, deren Reformation fie find, fo tritt doch in 
ihnen allen die Gottheit als ein nicht in die Natur verſtricktes 
und nicht von Naturbedingungen beherrfchtes, fondern ſittlich freies 
und perfönliches Weſen auf, welches die Welt fegt und einen Zwed 
in ihr hat, und diefen Zwed dur die Propheten der Gemeinde 

Theol. Stud. Dahrg. 1988. 


Ki Schultz 


offenbart, damit er in ihr das Leben und Handeln beſtimme. 
Die abſolute Abhängigkeit des Willens und des Urteils von dem 
offenbar werdenden Zwecke der Gottheit iſt es ja allein, welche 
das Werk eines Propheten ermöglicht, und eine Gemeinde um ihn 
fammelt, und die Naturreligion in ihr überwindet. Sobald das 
aber gejchieht, muß alles fittlihe Handeln innerhalb einer ſolchen 
Gemeinde als Verwirklichung des göttlichen Zweckes erfcheinen; 
die fittliche Norm muß alfo als Geſetz Gottes auftreten. Und 
wenn auch zunächſt in dem offenbar werdenden „Gotteswillen“ 
nod eine Menge von bloßen Naturzuftänden ohne fittlihen Wert 
mit eingefchloffen erfcheint, fo muß doch der Natur der Sache 
nad) die fittliche Ausgeftaltung der menfchlichen Geſellſchaft mehr 
und mehr als der Mittelpunkt diefes Gotteswillens erfcheinen. 
Der Zweck der Gottheit muß in einer prophetifchen Religion im 
Testen Grunde mit dem Ideale des „Guten“ zufammenfalfen. 
Und wenn diefes göttliche Gefeg zunächſt auch nur auf ein einzelnes 
Bolt bezogen erfcheint, fo liegt es doc in dem Gottesbegriffe ſelbſt 
begründet, daß der Wille des ber Welt ihren Zweck fegenden 
Gottes im legten Grunde für die ganze menfchliche Gemeinfchaft 
gelten und für fie pafjen muß, ob auch im verfehiedenen Maßen 
und Abftufungen. Mit diefer Richtung auf das volllommene Ver⸗ 
Hältnis aber treten in den Prophetenreligionen zugleih Gefahren 
für die Sittlichkeit wie fir die Religion auf, welche in den niederen 
Religionen in diefer Form unbefannt find. 

Die indogermanifchen Völker haben zwei prophetifche Religionen 
erzeugt. Die eine geht aus der frifchen und naiven Sichtreligion 
der Arier veformatorifch Hervor und ift eng an ihre Voraus 
fegungen und partifulariftifhen Schranken gebunden: die Licht⸗ 
religion de8 Zarathuftre. Die andere ift eine Reformation 
der philofophifch durchgebildeten und zum alosmiſtiſchen Panthei- 
mus gewordenen Brahmanenreligion, rein univerfaliftifg, 
idealiſtiſch und peffimiftifch: die Religion de8 Buddha. — 
Die perſiſche Lichtreligion *) Hat die Heidnifchen Vorausfegungen 

ı) Mar Müller a. a. O., Bd. IV. Zend -Aveſta, Bd. I. Benbibad, 


über). von Darmefteter. F. Juſti, D. Bundeheſch, zum erſtenmal Heraus 
gegeben 1868. 





Religion und Sittlichkeit in ihrem Verhältnis zu einander. 90 


in den entſcheidenden Punkten überwunden. Der eine Gott, 
welchem allein Verehrung gezolit wird, und als deſſen Offen- 
Barung diefe Religion gilt, Ahura-Mazdao, ift der gute, lebendig 
machende Geift, aus welchem alles fittlih und finnfich Gute in 
diefer Welt ftammt. Seine Geifter find gute Gefinnung, Heilige 
keit, Herrſchaft, Heimat, Gefundheit, Unſterblichteit. Wer ihn 
„das Reich geben will“, der muß die großen und Heilfamen 
Ordnungen des Lebens fördern: Haus, Familie, Staat, Bürger 
arbeit. Er fprah zu dem Menfchen: „Seid Menſchen, feid die 
Eltern der Welt. Ihr feid von mir volltommenen Sinnes, als 
die beften Geſchöpfe gefchaffen. Gefeglihe Werke verrichtet. 
Denkt gute Gedanken. Sprecht gute Reben. Thut gute Hand« 
Lungen und verehrt nicht die Devas.“ (Bundeheſch 15). Und 
alles fittlih Böfe ftammt wie das finnlich Verderblihe von dem 
fchlagenden Geifte Afigro-Mainyus, gegen den der Fromme im 
Bunde mit dem guten Geifte zu fämpfen hat). Aus dem böfen 
Geifte ftammen die böfen Mächte: Zorn, Lüge, Betrug, Unzucht, 
Hochmut, Veradtung, Armut, Verkrüppelung. Und wie der Fall 
der Menſchen mit der Verehrung der böfen Geiſter und mit ber 
Züge beginnt (Bundeh. 15), fo laffen böfe Thaten die Dämonen 
fruchtbar werden, — während gute Thaten die Frucht derfelben 
töten. (end. 18). So folgt bei den Perfern aus der Religion 
felbft der Haß gegen alles unfittliche Handeln, alle Lüge und alles 
Zerftören (Bend. 4, 5). Und mit der größten Energie wird 
der Glaube an die Vollendung und an den Sieg des Guten 
— überhaupt der eschatologifhe Faktor — in den Dienft der Sitte 
Tichkeit geſtellt. Nach-der ſchönen Schilderung Jaſht 22 begegnen 
die guten Thaten des Menfchen feiner Seele, wenn fie nad) dem 
Tode den Leib verläßt, als Tiebliche Jungfrau, welche fie begrüßt 
und in die Seligfeit einführt. So erſcheint hier bie gefamte 
fittfiche Pflicht des iraniſchen Volkes als göttliches Gefeg, alſo 
religids begründet und von den DBegeifterungsfräften des Glaubens 
getragen. Die fittlicde Arbeit des Menfchen und die Güter, 


4) Die Ahnlichkeit mit der Auſchauung ber Edda, ſowie der viel Höhere 


Wert der perfifchen Auffaffung braucht nur erwähnt zu werben. 
7% 


100 Sqhultz 


welche fie hervorbringt, erſcheinen religiös als der göttliche Zived, 
in welchen ein jeder eingehen muß, der fih im Glauben diefer 
Religion anfchließt. Niemand kann fromm fein, ohne das fittlih 


Boſe zu haſſen und zu befämpfen und das fittlih Gute zu | 


fördern. So tritt Hier der große und für unfere Frage ent 
fcheidende Gedanke des Reiches Gottes, als des Reiches 
volltommener Sittlihkeit, unverkennbar hervor. 

Aber es find doch nur die erften Schritte auf dem richtigen 
Wege gethan. Der urfprünglihe Charakter der arifhen Natur 
religion macht ſich überall durch die Höheren Tendenzen hindurch 
fühlbar. Dem Willen des guten Gottes widerfpricht nicht bloß 
das fittlih WBöfe, fondern ebenfowohl auch alles natürlich Um 
erfreuliche. Große Gebiete des natürlichen Lebens erfcheinen an 
fi) als unrein, und als Schöpfungen der böfen Macht. So ent 
fteht eine verhängnisvolfe Gleichſtellung von fittlihen und Natur 
Verhältnifien. Der Begriff der Heiligkeit ift noch keineswegs 
folgerichtig aus feinem urfprüngfichen Naturdarakter in den fitt- 
Tichen übergegangen. Unzählige Vorfchriften und Sagungen, bie 
fich bloß auf das fittlih an ſich gleihgültige Naturgebiet beziehen, 
werben mit gleichem Nachdrude wie die fittlichen Vorſchriflen als 
Wille Gottes geltend gemacht. Und wo es fo ift, da wird nad 
der natürlichen Neigung des äußerlichen Menfchen thatſächlich 
immer dad Zeremoniale dem Sittlihen an Bedeutung übergeordnet 
werben. Es geht eine entfegliche Angft vor Verunreinigung durch 
diefe Religion. Die von dem guten Gott geſchaffenen Naturdinge 
zu verlegen ober mit unreinen in Berührung zu bringen, erjcheint 





als ebenfo fchwere Sünde, wie die Verlegung der großen Grund | 


füge des geſellſchaftlichen Handelns. Die heilige Flamme zu 
nähren, Bäume zu pflanzen u. dgl. ift heilige Pflicht und Ber 
dienft. Und zwar nicht aus Motiven gefellfchaftlicher Wohle 
thätigfeit. Die Erde, das Waffer und das Feuer durch Berührung 
mit Unreinem, 3. B. Totem, zu entehren, ift ſchweres Verbrechen 
Gend. 3). Die Gefchöpfe des böfen Gottes auszurotten iſt 
Pfliht. Die Tiere des guten Gottes zu ſchädigen ift ſchwere 
Sunde. Vor allem ift e8 verboten, den Hund, den Wächter des 
Haufes, zu verlegen, und mit noch fchwererer Buße wird die 


Religion und Sittlidjfeit in ihrem Verhältnis zu einander. 101 


Tötung des Wafjerhundes, des Bibers, geahndet). So Bat das 
Gottesreich noch eine Menge von Naturzweden in fi. Und dem 
entfpricht es, daß Iran eigentlich der einzige wirkliche Schauplag 
dieſes Reiches ift und daß die Sranier nach ihrer natürlichen Ab⸗ 
ftammung Kinder dieſes Reiches find (Vend. 1), während der 
Kampf gegen die turanifhen Devaverehrer religiöfe Pflicht iſt. — 
So kann e8 uns nicht verwundern, daß ein Höchft verwickeltes 
religiöfes Handeln ohne fittlichen Wert bei den Perfern, wie bei 
den Vollern ber Naturreligionen, als die nächte Konfequenz ber 
Frömmigkeit erfcheint. Der Apefta legt den größten Wert auf 
Opfer, vorzügfih das Haomaopfer, auf Wafhungen, Zauber 
formen und Gebete, die ſchon durch ihren bloßen Klang das 
Böfe vertreiben und die Schuld fühnen?). So trägt dieſe 
Religion noch die Feſſeln der Naturreligion an fih. Und weil 
das ganze Gebiet des religiöfen Handelns als göttlihe Offen- 
barung und göttlihes Geſetz neben den fittlichen Geboten 
fteht, weil alfo diefe ganze ungleihartige Maffe mit dem Stempel 
des göttlichen Willens als gleichwertige Pflicht bezeichnet wird, fo 
entfteht eine neue Gefahr für die fittliche Entwickelung: bie Ges 
fahr der Selbſtgerechtigleit auf Grund von Gefegeswerten und 
des religiöfen Fanatismus für heilige Formen ®). 

Auf einer ganz anderen Seite liegen die Vorzüge und Fehler 
des Buddhismus *) in Beziehung auf das in Frage ftehende 
Verhältnis. Das Werk des Buddha ift hier wie in alfen Stüden 
von der brahmanifchen Weisheit abhängig, als deren Reformator 


1) A. Hovelacque, Le chien dans l’Avesta, 1876. 

2) Vorzüglich das Ahuna-vairya, duch weldes Ahura den Feind in bie 
Unterwelt geftürgt hat, und das Ajdem-Bohtt (Hagna 27. 14, 18. Vend. 9, 19). 

8) In einem von biefer Prophetenreligion beherrfchten Staate wird dann 
diefe gefamte veligiöfe und fittfiche Pflicht zur Nechtspfliht, und fo wird der 
Begriff des Rechtes durch maßloſe Steigerung feiner Anwendung torrumpiert, 
und bie perſonliche Freiheit des Menſchen unfelig unterbunden. Der Staat 
leiht der Rechtgläubigkeit und Frömmigkeit fein Schwert und nimmt religidſe 
Zeremonien als Staatsgefeg auf. 

4) Bl. 9. Oldenberg, Buddha, fein Leben, feine Lehre, feine Gemeinde 
(1881), ©. 292—337. M. Müller a. a. D., Bd. II. The Buddhist 
Buttas, über]. von Rhys · Davids. 


102 Schultz 


Gakya-Muni auftrat. Und fo gilt vieles von dem, was ©. 80f. 
gefagt ift, auch vom Buddhismus. Das gefamte Handeln der 
Belenner dieſer Religion wird ausnahmslos von dem religiöfen 
Gefichtspunkte beftimmt. Die vier Wahrheiten von dem Schmerze 
des Dafeins, von der Leidenſchaft als feiner Quelle, von ber 
Vernichtung des Schmerzes durch Unterdrücung der Leidenschaft, 
und von der Erkenntnis al® dem Wege dazu, geben der ganzen 
Lebensführung und allen Geftaltungen der menſchlichen Gefell- | 
ſchaft eine beftimmte und eigenartige Färbung. Es wird ein | 
religiöfer Maßftab an den Wert und die Aufgaben des ganzen 
Lebens gelegt. Und gegenüber den Gefegeswerken der brah— 
maniſchen Büßer ift ein wahrhaft evangelifher Zug in Diefer 
Religion. Weder die Leiftungen der Askeſe noch philofophifches 
Grübeln und myſtiſche Kontemplation führen zum Heile, fondern 
der Glaube an das Evangelium von der Welterlöfung, welcher 
das Gemüt mit Frieden und Kraft erfüllt, und eine milde, er- 
gebene und fefte Gefinnung hervorruft, deren Ausdrud die 6 
großen Tugenden find: Mitleid, Mäßigung, Geduld, Tapferkeit, 
Beſchaulichkeit und Weisheit. Die Lichtglorie um das Haupt des 
zum Gott gewordenen Religionsftifters befteht aus den Tugenden, 
die er in diefem Glauben fich felbft zueigen gemacht Hat. Und 
die religiöfe Liebe zu ihm erzeugt in den Seinen fittlihe Kraft. 
„Nicht dur himmliſche oder irdifche Ehren wird Buddha richtig 
verehrt, fondern der Bruder oder die Schwefter, die vollftändig 
und beftändig die großen und Heinen Pflichten erfüllen, und richtig 
wandeln nach dem Gebote, fie ehren, verehren und Heiligen den 
Buddha mit der richtigen Verehrung.“ 1) In diefer Religion 
follen die einzelnen Sagungen nur eine Gymnaſtik für die Arbeit 
der Selbfterlöfung darbieten. Won einem Rechtsgeſetze als dem 
Mittelpunfte der Sittlichfeit ift feine Rede. Ya, viele Sprüde 
Haben, wie längft anerkannt ift, etwas von dem genialen Idealis- 
mus der Bergpredigt Jeſu. „Wer nicht nad feinen Worten thut, 
iſt wie eine fchöne Blume ohne Duft.“ „Ein Weg geht zum 
Reichtum, der andere zu Nirwana.“ „Gieb, wenn man did 


A) Buddh. Sut. 11, 87. 


Religion und Gittlichfeit in ihrem Verhältnis zu einander. 108 


bittet, von dem menigen, was du Haft." „Habe Mitgefühl mit 
allem Lebendigen.” „Suche feine Freude durch anderer Schmerz.“ 
„Haue nieder den ganzen Wald der Luft, nicht dem einzelnen 
Baum.” „Wer geduldig ift mit den Ungeduldigen, mild mit den 
Tadlern, leidenſchaftslos mit den Leidenfchaftlihen, den nenne id 
in Wahrheit einen Brahmanen.“ „Haß Hört durch Haß nimmer 
auf, Haß hört durch Liebe auf." „Wie die vier Ströme, wenn fie in 
den Ganges fallen, ihren Namen in dem heiligen Strome ver 
Tieren, fo wer zu Buddha fommt, hört auf, ein Brahmane, Kſchatrya, 
Vaiſya, Sudra zu fein“ u. f. w. 

Aber der Buddhismus kennt jo wenig wie der Brahmanismus 
einen Gott, der die Welt für feine Zwecke fegt. Alles, was in 
diefer Erſcheinungswelt Geftalt gewinnt, ift vielmehr ſchlechthin 
zwecllos und nichtig. Wie der Trieb zum Dafein felbft die Quelle 
alles Elends ift, fo ift alles Dafeiende eitel, — ja fchlimmer 
als eitel. Das Dafein ift Trennung von dem einzig Werte 
vollen, der Ruhe des aus der Welt freigewordenen Geiſtes. Die 
eigentliche Gottgeit ift das moralifche Gejeg der Vergeltung, 
welches ruhelos die Wefen in immer neue Erfcheinungsformen 
bannt, deren jede da8 Ergebnis des moralifhen Wertes in einer 
früheren Exiftenzform ift. Aber diejes moralifche Geſetz ift fein 
ſchaffendes. Es bezwedt nicht ein Reich volltommener Sittlich⸗ 
feit in der Welt. Es ift vielmehr nur ein Verhängnis, deſſen Er« 
gebniffe immer wieder völlig wertlos find. Won den Höllen bie 
zum Götterhimmel ift derfelbe Schmerz des Dafeins, troß der 
unendlichen Verfchiebeneit der Loſe. Erft wenn der Geift durch 
die Macht des Evangeliums aus der Kraft des Dafeins frei ges 
worden ift, erft wenn er aufhört zu begehren, zu wirken, ja für 
fich felber zu exiftieren, hat er ein wertvolles Ziel gefunden. So 
iſt nicht die fittliche Bethätigung, fondern das Freiwerden von ihr 
das höchſte Ziel diefer Religion. 

Deshalb kann es auch eine wirklich religiöfe Auffafjung der 
Sittlichkeit im Buddhismus nicht geben. Denn alles das, was 
für das gefelffchaftliche Leben das wertvollfte ift, gilt für bie 
Religion als etwas Wertlofes und Hemmendes. Wohl ergiebt fi, 
die negative, befchränfende Seite des fittlichen Gejeges mit Note 


104 Schultz 


wendiglkeit aus den religiöfen Grundſätzen. Es verſteht ſich von 
ſelbſt, daß, wer den Banden der Welt entfliehen will, weil er in 
der Leidenſchaft den Grund des Elends ſieht, — fih um fo mehr 
hüten muß, die Schranken, melde die geſellſchaftliche Sittlichkeit 
der Leidenfchaft gezogen Hat, zu verlegen. Daß man Leben, 
Eigentum und Ehre des anderen nicht antaften darf, — daß man 
ſich alles deffen enthalten muß, worin Leidenfhaft und Begier in 
ſchrankenloſer Weife ſich geltend zu machen ftreben: — das ver« 
fteht fi von felbft. Aber bei allen diefen Geboten handelt es 
ſich in erfter Linie nicht um die fittliche Rückſicht auf den Nächten, 
fondern um das Streben, die eigne Seele nicht in die Bande der 
Sinnlichkeit zu verftriden. Für die pofitive fhaffende Seite der 
Sittlichkeit fehlen die religiöfen Motive ganz. Aus dem Glauben 
tann fein Trieb zur Gemeinfchaft hervorgehen. Denn jede Gemeinfchaft 
bedarf gemeinfamer Zwede. Hier aber ift nur gemeinfame Zweck⸗ 
loſigkeit. In dem einzigen wirklichen Zwede aber fteht der einzelne 
Geift völlig für ſich allein. In Nirwäna giebt e8 feine Gemeinfchaft. 
So ift die höchſte Geſinnung gegen ben Nächften nicht Liebe, 
fondern Mitleid. Es ift eine impotente, im beten Falle weibs 
liche, Sittlichkeit, welche aus diefer Religion geboren wird. 

Wenn die ganze Erfcheinungswelt notwendig als Stätte bes 
Schmerzes aufgefaßt wird, d. h. wenn die Welt nicht bloß, wo 
fie Welt bfeiben will, fondern auch als das Subftrat fitt- 
licher Zwede vom Übel if, — wenn es fein wirkliches Ziel im 
irdifchen Gemeinfchaftsleben giebt: — dann wird der Sittlichkeit 
das Bewußtſein ihres Wertes und der freudige Diut genommen. 
Arbeit, Erwerb, Ehe und Staat haben für den Frommen feine 
eigentliche Bedeutung. Die wirkliche Konfequenz der Religion 
führt zu einer Schule von Bettlermönden, welche alle weltlichen 
Dafeins - Bedingungen, bie nicht ſchlechthin unvermeidlich find, 
verneinen. Die Ehe ift für den wahren Buddhiſten ein uner⸗ 
trägliches Verhältnis. Jeder Fortſchritt der Kultur und Kunft 
iſt ihm eine Thorheit. Und die Maffe, welcher dns monchiſche 
Leben unzugänglich ift, kann nad buddhiſtiſcher Vorftellung etwas 
wahrhaft wertvolles nur tun, wenn fie der „Kirche“ Unter 
ftügung und Almofen fpendet. Das einzige Ergebnis des ganzen 





Religion und Gittlichkeit in ihrem Verhältnis zu einander. 105 


Apparates der menſchlichen Sittlichkeit find einfame Seelen, die 
fih von der Welt löfen und in Nirwäna eingehen. 

Und wenn fo das fittlihe Ideal von dem religiöfen ver 
fümmert und ertötet wird, fo ift im Buddhismns anderſeits auch 
dem religiöfen Ideale die rechte Lebenskraft gelähmt. Wohl weiß 
er nichts von dem ſchlechten religiöfen Handeln des Heidentums, 
in welchem der Menſch finnlich -jelbftfüchtige Gottheiten beftechen 
und ben eigenen Zwecken bienftbar machen möchte. Geber wahre 
Arhat fteht Höher als die Götter und vor Buddhas Standbild 
neigen ſich anbetend die Himmlifchen. Aber dafür fehlt dem 
Buddhiſten überhaupt die freudige Kraft des refigiöfen Handeln, welde 
nur aus dem Glauben an einen lebendigen, zwedjegenden und ſich 
offenbarenden Gott entfpringt. Ein jeder muß fich felbft erlöfen, 
und er hat dabei nicht mit Gott, fondern mit den Kräften ber 
eigenen Seele zu rechnen. So ift, was wir oben eine religiöfe 
Beſtimmtheit des Handelns nannten, dod im Grunde nur eine 
philoſophiſche, man fann jagen metaphyſiſche, Beftimmt- 
heit desjelben. Nicht an die religiöfe Kraft der anderen Propheten« 
religionen, fondern an die Begeifterung des ftoijchen Philoſophen 
werden wir im Buddhismus am meiften erinnert. Und wo fi 
das Bebürfnis der Frommen im Buddha wieder einen Tebendigen 
Gott gefchaffen Hat, wie vorzüglich in Thibet, da dringt auch 
teligiöfes Handeln im Stile des Heidentums unaufhaltfam ein. 
Dazu kommt noch eine befondere fittlihe Gefahr in diefer Religion. 
Bei der ganzen Beurteilung der Lebensaufgabe muß notwendig 
die äußere Lebensform, in welcher die Vollfommenen zur ewigen 
Ruhe ftreben, ale das Ideal dee] fittlihen Handelns an ſich er- 
feinen. Denn die Volksmenge denkt naturgemäß nicht fo ſehr 
an den Inhalt eines folchen Lebens, als an feine äußere Ge» 
ftaft. Ehelofigkeit, Armut, harte Zucht des Leibes gelten bald 
als die Volffommenheit felbft, und fo empfängt diefe Religion, 
ganz gegen die Abſicht ihres Gründers, wieder eine fehr” große 
Zahl äußerlicher Lebensregein, welche das fittliche Ideal ver- 
fälſchen. Auf die Stellung bei der Meditation, auf die Stunde 
der Mahlzeit und ihre Beftandteile, auf Kleidung und Gefpräche- 
form, vor allem aber auf Almofen» Geben und Nehmen, richtet 


106 Schultz 


ſich in ſteigendem Maße die Aufmerkſamkeit der Buddhiſten. Alſe 


Verhaltniſſe, die ſittlich in ſich völlig wertlos find, treten im den 
Vordergrund, während die wahren fittlihen Aufgaben verblafjen. — 
So bieten die beiden Indogermanifchen Prophetenreligionen feine 
befriedigende Antwort auf die Frage nah dem Verhältnis von 
Religion und Sittlickeit. — 

6. Die Prophetenreligion in Zsrael!) beginnt mit einer 
Auffaffung unferes Verhältnifjes, welche der perſiſchen ſehr ähnlich 
tft. Einesteils Konnte aus dem Glauben an die ausſchließliche 
Heilsftellung Gottes zu feinem Volke unmittelbar nod kein An- 
trieb zu einem alle Menfchen umfaffenden fittlihen Handeln her⸗ 
vorgehen, fondern die religiöfen Einflüffe auf die Sittlichkeit be 
ſchränkten fih darauf, das israelitiſche Vollsleben mit feinen ge 
jellfcaftlichen Bedingungen zu heiligen. Israel ift Gottes heiliges 
Bolt, fein Eigentum, fein erftgeborener Sohn. Darum muß fein 
Vollksleben in allen Beziehungen dem Weſen dieſes Gottes ent 
ſprechen, d. 5. heilig fein. Und da Gott nicht wie eine an bie 
Welt gebundene, naturartige Kraft erfcheint, fondern als der 
ſchlechthin Überweltliche, als der im fich ſelbſt Ruhende (Jahve), 
und als der in feinem Willen auf das ſittlich Gute gerichtete — ge 
vet, treu, gütig, wahrhaftig, dem Böfen zürnend —, fo muß 
die Heiligkeit feines Volkes fih in erfter Linie darin äußern, daß 
es in allen feinen gejellfchaftlihen Beziehungen ſich dem rechten 
ſittlichen Maße als dem Willen Gottes unterwirft. Das Sitten 
gefeg wird zum göttlichen Gebote, und zur Bundesbedingung, an 
welche das Volk für feine Neligion gebunden ift. Aber das Ges 
feß richtet fih an Jsrael als Volk und beanfprucht nur diefem 
Volke als unwiderſprechliche Norm zu gelten. 

Andernteils trägt auch diefe Religion, wie die perfifche, eine 
Menge von religiöfem Handeln in fi, welches ohne fittlihen In⸗ 
halt nur als Erbteil aus der in Israel Überwundenen, ſemitiſchen 
Naturreligion zu verftehen ift. Zwiſchen reinen und unreinen 
Speifen wird ebenfo forgfältig unterfchieden, wie zwifchen Recht 


3) Bol. meine „Altteftamentfiche Theologie” (2. Aufl.), Kap. 10. 20. 21. 
22. 23. 25. 29. 





Religion und Sittligjkeit in ihrem Verhäftnis zu einander. 107 


und Unreht. Jede Berührung mit Dingen, an welche der Tod 
feine Hand gelegt hat, verunreinigt vor Gott, fo gut wie die 
Sünde. Die Gefege über das Schuldopfer zeigen deutlich, wie 
fehr da8 Sindenbewußtfein in Israel noch diefe unklare Mifhung 
von finnlihen und fittlihen Maßftäben in fi trägt. Wie fchon 
die älteften Propheten zeigen, hat fich in Israel, wie in den femi« 
tifchen Heidenvölfern, ein großer Teil des religiöfen Lebens⸗ 
interefjes um Zefte und Heilige Tage, Wafchungen und Reinigungen 
gedreht 1). Und auch in Israel bat man das Opfer in allen 
feinen bei den Heiden üblichen Formen, hat man Gelübde und 
asfetifche Werke vorgenommen, um ben Willen der Gottheit mit 
dem eignen felbftifchen Willen in Übereinftimmung zu bringen, um 
Gottes Angefiht zu „glätten“ und ihn duch den mohlgefälligen 
Duft fetter Opfer den eigenen Wünfchen geneigt zu machen 2). 
So haftet auch am der Religion des Alten Teftamentes im 
Anfange noch ein großer Reſt der heidniſchen Auffaffung unferes 
BVerhältniffes. Und je entjchiedener die ganze Lebensordnung 
Israels als göttlihes Geſetz aufgefaßt wurde, defto größer 
mußte die Gefahr fein, daß man auch diefe zeremoniale Seite des 
religiöfen Handelns für einen Teil des ewigen Willens Gottes 
mit den Menfchen Hielt, und meinte, daß berfelbe für Gott als 
ebenfo wertvoll gälte, wie die fittlihen Gebote. Ja wenn der 
Menſch nad feinen eigenen Neigungen urteilte, mußte er meinen, 
daß diefe Dinge für Gott die ſchlechthin wertvolferen feien, weil 
fie perfönlicher empfunden würden. Gerade die Auffafjung diefer 
Ordnungen als einer Summe von unmittelbaren göttlichen Gefegen 
ſchließt die Gefahr der fanatifhen Überfhägung folder äußeren 
Lebensformen ein. Und der Glaube an die Identität des göttlichen 
Weltzweds mit den Volkszwecken Israels barg die Verfuhung, 
in allen diefen Volkszwecken widerſprechenden Neigungen und 
Intereffen der anderen Völker eine Feindſchaft gegen den Willen 
Gottes zu fehen, und fi von den anderen Nationen ftolz abzu⸗ 


2) Dabei iſt es ganz gleichgültig, wie weit ſich die Anerkennung biefer 
Heiligen Formen ſchon zu feften fchriftfichen Geſetzen verdichtet hatte. 
Y)a.a.0D, S. 416 ff. 


1068 Säult 


fondern, — eventuell fie mit dem glühenden Haſſe zu verfolgen, 
welchen nur die Mifhung von nationaler und religiöfer Leiden 
ſchaft Hervorruft. So wirft die Religion auch Hier feineswegs 
ansfchließlih fürdernd und im Sinne der Hinleitung zu der 
höchiten Humanität auf die Sittlichkeit. Gerade in ihrer Groß 
artigkeit und Kraft liegen fittliche Gefahren, welche unvolllommneren 
Religionen fern bleiben. 

Aber fo entſchieden wir diefes Clement in der israelitifchen 
Religion zugeftehen müffen, fo entfdieden treten ung in ihr alle 
Bedingungen zur höheren und wahren Entfaltung von Anfang an 
entgegen, und zwar in einer viel vollfommeneren Weiſe als bei 
den Perfern. Gemäß dem Charakter der femitifchen Religion, aus 
welcher Israels Entwidelung hervorging, erſcheint Gott hier in 
einer viel folgerichtigeren Weife ans den Zufammenhängen des 
Naturlebens frei gemacht als bei den Perfern. Er erjcheint als 
ſchlechthin unvergleihlihe und unwiderſtehliche Perſönlichkeit, aus 
deren Willen alles in der Welt ohne Ausnahme hervorgeht, und 
vor deren Willen ſich alles ohne Widerftand zu beugen hat. 
Die mojaifche Religion weiß nichts von Naturgebieten, die aus 
einer anderen, Gott widerftrebenden, Macht hervorgegangen wären. 
Alles Dafein ift gut vor Gottes Augen. Er verwirft nur die 
Sünde. Und fein Leben ift im Widerſpruche mit ihm, fondern 
allein der Tod. Darum ift in diefer Religion im Grunde feine 
Veranlafjung gegeben, vorauszufegen, daß bloße Naturunterfchiede, 
fo weit fie nicht Symbole des fittlihen Unterfchiedes find, das 
göttliche Wohlgefallen oder Mißfallen hervorrufen können. Und 
damit iſt eigentlich das Urteil über alles zeremoniale Handeln 
ſchon geſprochen. Es kann mit den fittlihen Leiftungen fchlechthin 
vor Gott nicht gleichwertig fein, fondern es muß nach Gottes 
Willen bejtimmt fein, zum Symbole fittliher Verhältniffe zu werden. 
Diefes richtige Verftändnis der Schöpferftellung Gottes bewahrt 
die altteftamentliche Religion davor, anf den asketiſchen Abweg 
zu geraten, und fo bie fittlichen Aufgaben durch die religiöfen Ziele 
zu entwerten. Denn alles Natürliche ift eine gute Schöpfung 
Gottes, und jede Ausgeftaltung des Natürlichen zu fittlichen Gütern 
liegt in der Richtung des Schöpferwillens Gottes. Wohl wider 





Religion und Gittlichleit in ihrem Verhältnis zu einander. 109 


fett fi das Alte Teftament mit entfchloffenem Ernfte jedem Ver⸗ 
fenten der Perfönlichkeit in dem Taumel des bloßen Naturlebens 
und allen Berfehrungen der gefunden fittlichen Ordnung, welde 
fich an den Wechfel der Naturverhältnifje im vermeintlichen Dienfte 
der Gottheit anfchliegen. Bon den Greueln kultiſcher Unzucht und 
maffenhafter Menfchenopfer, worin die chamitiſche Kufturreligion 
ihren Höhepunkt findet, ivendet ſich das Geſetz Israels mit rück⸗ 
ſichtsloſer Entrüftung ab, und der Nafiräer, fomie der ftrenge und 
ernfte Prophet find die fittlihen Idealbilder des Alten Bundes. 
Aber Israel weiß nichts von der faljchen Furcht vor dem Natür⸗ 
lichen. Die Ehe ift ihm Gottes urfprüngfiche Heifige Einrichtung, 
Kinder ein Geſchenk Gottes, Wohlftand und reiner Lebensgenuß 
ein Segen vom Himmel, die Obrigkeit göttliher Art, Bürger 
pfliht und Krieg für das Vaterland ein Gottesbienft. — Endlich 
ift auch in ber Auffafjung der einheitlichen Abftammung aller 
menfdlihen Stämme und in der Hoffnung auf den Sieg des 
Reiches Gottes in aller Welt die Möglichkeit gegeben, trog des 
Vartikularismus der Gegenwart den Willen Gottes als einen alle 
Menfchen umfafjenden fittlichen Willen anzufehen. Und wenn 
wir auf diefe Seite des Sachverhaltes fehen, fo finden wir die 
Keime einer durchaus neuen und vollkommenen Auffafjung des 
DVerhältnifjes von Neligion und GSittlichleit. Der offenbare 
Gotteswille Hat ein fittlides Gemeinwefen zum Zwede, — 
zunächft in Israel, der Idee nach aber in der ganzen Menfchheit. 
Altes fittlihe Handeln innerhalb dieſes Gemeinwefens, ift zugleich 
religiöfes Handeln. Denn es ift Gehorfam gegen ben offenbar 
gewordenen Gotteswillen und die grundlegende Bedingung der Ger 
meinfhaft mit Gott. Ya, es iſt nichts anderes als die note 
wendige Konfequenz des religiöfen Glaubens. Denn die Bes 
dingungen der menſchlichen Sittlichteit — Gerechtigkeit, Treue, 
Güte, Mitleid und Barmherzigkeit — find ja nichts anderes als 
das Eingehen auf die Geſinnung, melde Gott felbft im feiner 
Dffenbarung gegen fein Belt bewährt. Darum muß auf die 
Bewährung dieſer dem göttlichen Willen entiprechenden Gefinnung 
im Grunde das Hauptgewicht fallen, — nicht auf die Einzelheiten. 
des äußeren Handelns (Gefegeswerke). So ift wohl aud in Israel 


110 Squlte 


die urfprüngliche Erſcheinung ſowohl des ſittlichen als des refigiöfen 
Geſetzes das Rechtsgeſetz. Aber die Sittlichkeit treibt — ver 
möge ihres religiöfen Faktors — über dasfelbe hinaus, zu einem 
pofitiven „Gefege der Freiheit“, in welchem nur das Gewiffen 
der Richter fein kann. — Und das religiöfe Handeln erfcheint 
freilich zunächſt ohne fittlihe Färbung, als ein von Naturverhält- 
niffen beftimmtes Handeln, und als ein Verfuh, in felbftifchem 
Intereſſe auf den Willen der Gottheit einzuwirken. Aber weil 
die ganze Natur ohne Unterfchied Gottes Werk und gut vor ihm 
ift, und weil Gott als überweltlich und Heilig d. 5. ohne Be 
durfnis und Mangel und Teinem Machteinfluffe unterworfen er- 
Kannt wird, muß notwendig das zeremoniale Handeln zum Sym ⸗ 
bole verblafien, und alles Opferweien, wenn e8 Wert vor Gott 
haben fol, zum Ausdrude des demütigen, banfbaren oder renigen 
Herzens werden. So liegt in diefer Religion allerdings ein Weg, 
der ins Heidentum zurüdführt, daneben aber ein anderer, welder 
aufwärts führt zur wahren Religion des Reiches Gottes. 

Auf den Weg, welcher rücwärts führt, tft da8 Judentum 
feit Esra!) mit immer fteigender Einſeitigkeit eingetreten. 
Nicht als ob jemals die großen Grundlagen religiöfer und fitte 
licher Wahrheit verloren gegangen wären, welche feit Mofes in 
Israel gelegt waren. Davor mußte ſchon der Schag der pro- 
phetifchen Schrift bewahren, welcher in diefem Volke als unan» 
taftbares Heiligtum galt. Aber anderfeits war gerade die Feſt⸗ 
ftellung des Kanon feit Esra nicht ohne verhängnisvolle Folgen 
für das Verhältnis, weldes wir in Betracht ziehen. Seit Esra (?) 
den Pentateuch abgeſchloſſen Hatte, indem er bie priefterlicen 
Ordnungen des letzten großen Gefegesfchriftftellers (W.) zum 
Mittelpunkte und zur Grundlage des ganzen Werkes machte, trat 
nun die ganze Maſſe gefeglicher, bürgerlicher und zeremonialer 
Vorſchriften, welche bei U., E. und dem Deuteronomifer vorliegen, 
mit einer überwältigenden Wucht als die Hauptſache in der Offen- 
barung Gottes an Israel Hervor, — ein Verhältnis, wovon die 
prophetifchen Männer vor dem Exil keine Ahnung haben. Der 


3) Altteſtamentl. Theol., Kap. 55. 


Religion und Sitilichteit in ihrem Verhaltnis zu einander. 111 


geoffenbarte Wille Gottes für fein Volt hat nun die Geftalt eines 
umfangreichen und bis in die Heinften Verhältnifje durchgebildeten 
Geſetzbuchs empfangen. Die großen fittlihen Gebote, in melden 
Gott feine Zwede mit Israel offenbart Hatte, verſchwinden faſt 
neben der Maffe von Vorſchriften über Opfer, Prieftertum, Feſte, 
heilige Kleider, reine und unreine Speife und taufenderlei Dinge 
zeremonialer Art, ja zum Teil rein bürgerlich polizeilichen Charakters. 
Dies alles galt nun einheitlich al® der unumftößliche Wille 
Gottes, von deſſen Erfüllung die Gerechtigkeit Israels abhänge. 
Und die religiöfe Jurisprudenz der Schriftgelehrten ſuchte die 
Geſetze diefes Buches bis ins Kleinſte zu zergliedern, zu erklären 
und durch ergänzende Vorfchriften zu fichern. Die ganze Macht 
der Gottesfurht und der Begeifterung für Gottes Ziele mit 
Israel wurde in den gläubigen jüdijchen Kreifen dem Gehorſam 
gegen dieſes verwickelte Geſetz dienftbar. Und gegenüber feinen 
Außerlichkeiten traten notwendigermeife die wirklich fittliche Gefinnung 
und die Humanität zurüd. Das ift die falſche Richtung des 
fpäteren Judentums, deſſen glängendfte Vertreter im Guten wie 
im Argen die Pharifüer find. Das ift der Geift, der feit der 
Zerftörung Jeruſalems für lange Jahrhunderte in der ſich gegen 
das Chriftentum verfchließenden jitdifchen Nation herrfchend ger 
worden ift. 

In diefem Judentume ift das ganze fittlihe Handeln aus» 
ſchließlich von religiöfen Gefichtspunften getragen. Alle Be— 
ziehungen des ganzen Lebens werden bis ins Einzelnfte durch den 
göttlichen Willen beftimmt. Jede Verfehlung gegen diefe Ord⸗ 
nungen wird religiös als Sünde empfunden, melde der Sühne 
Gott gegenüber bedarf. „An Dir allein hab ich gefündigt und 
das Böfe vor Dir gethan.“ Und die leitenden Motive für alles 
fittlihe Handeln werden aus der Furcht vor dem göttlichen Ger 
richte und aus der Sehnſucht nad) der Gerechtigkeit vor Gott, dem 
Vergelter und dem König Israels abgeleitet. Weil aber der 
Wille Gottes in einer Summe von Einzelgeboten offenbart gedacht 
wird, muß das fittlihe Handeln den Charakter des Gejegestums 
annehmen (yecuuc). Nicht eine freudige Entfaltung des Lebens 
aus großen, fittlichen Grundfägen, unter dem Richterauge bed 


112 Schultz 


Gewiſſens, iſt hier möglich. Sondern eine Zerſplitterung der 
ſittlichen Arbeit in tauſend Einzelheiten, aus deren Zuſammen⸗ 
ftellung doch nie ein lebendiges Ganzes werden Tann. Nicht große 
fittfihe Ziele, die jeder in feinem Berufe zu verwirklichen hat, 
rufen bier eine ſchöpferiſche Sittlichkeit Hervor. Sondern Taufende 
von Schranken und Verboten lähmen das fittliche Leben, und 
laſſen ftatt einer individuellen fittlihen Schönheit nur die negativ 
tabellofe, gleichförmige Gefeglichkeit übrig. Der Menfch lernt 
die fittlich gleichgüftigften Lebensformen mit gleihem Ernfte als 
Willensäußerungen Gottes verehren, wie die großen Grundfor- 
derungen der Güte und Treue. Und fo korrumpiert der refigiöfe 
Faltor den fittlihen. Denn ſobald der Maßſtab für das Wefent- 
liche im menſchlichen Handeln verloren geht, liegt der fleifchlicen 
Natur des Menfchen die Verfuhung mhe, fih in dem Stüdwerke 
äußerer Leiftungen und Lebensformen zu genügen, welche auch den 
natürlichen Kräften nicht unerfüllbar find, ja fogar leicht das 
Gefühl des Wohlgefallene an einer erfüllten Pflicht Hinterlaffen. 
„Sie verzehnten Münze, Til und Kümmel und laſſen dahinten 
das Schwerfte im Gejeg; nämlich das Geriht, die Barmherzig- 
feit und den Glauben.“ Das letzte Ergebnis einer ſolchen Richtung 
aber Tann nur der Schein äußerer Gerechtigkeit bei innerer Uns 
gerechtigkeit fein, d. h. Heucelei. Diefe Entwertung und Ber 
falſchung der Sittlichleit wird dadurd noch verfchärft, dag in 
diefen Kreifen die urfprünglih durchaus natürliche Beſchränkung 
des Gotteswillens auf Israel als Volksgemeinde nun abſichtsvoll 
gegenüber den zur Humanität führenden Zügen des Alten Tefta-⸗ 
mentes künftlich feftgehalten wird. Während fich auf chriſtlichem, 
islamiſchem und bubdpiftifchem Religionsgebiete längſt die nationale 
Schranke des fittlichen Ideals gelöft Hatte, beharrt da® Yudentum 
darauf, nur Israels Volksleben als Gegenftand des füttlichen 
Gotteswillens anzufehen, — und weigert fi, in dem Nächften, 
welcher Objekt des fittlihen Handelns fein foll, einen anderen ald 
den Volfsgenofjen oder Profelyten anzuerkennen. 

Indem ferner die gefamte bürgerliche Einrichtung bes Volkes, 
alfo das, was an fi nur äußerliches Rechtsgeſetz ift, ebenjo 
gut als unmittelbarer Ausfluß des göttlichen Willens erſcheint, 





Religion und Sittfichfeit in ihrem Verhältnis zu einander. 118 


durchſchneidet dieſe religiöfe Anffaffung der wahren fittlichen 
Entwicdelung den Lebensnerv. Denn die bürgerliche Ordnung 
eines Volls fowie die äußere Geftalt feiner geſellſchaftlichen Zus 
ftände kann nur gefund bleiben, wenn fie offen bleibt für jede 
durch die Weiterbildung und Veränderung der Bedürfniſſe und 
Anſchauungen nötig werdende Vervolllommnung, wenn fie fid) die 
Freiheit bewahrt, Veraltetes abzuftreifen und neuen Bebürfniffen 
entgegenzufommen. Sobald alſo diefes Gebiet wie ein ein- für allemal 
dur göttlichen Willen feftgeftelles angefehen wird, ift damit einem 
ſolchen Volle der Charakter der Bildungsfeindlickeit, des falſchen 
und verberblihen Konjervativiemus aufgedrüdt. „Es muß veralten 
und aufgehoben werden." 

So tft allerdings alles fittliche Handeln im Judentume durchs 

aus religiös beftimmt, — aber in einer Weiſe, die feine Gefund- 
Heit und Wahrheit ſchwer gefährdet. Das religiöfe Handeln jedoch 
Üt nirgends unter einen ſittlichen Geſichtspunkt geftellt; es hat 
keine andere Begründung, als in dem perfönlichen Willen Gottes, 
der hier nicht mit dem Willen des Guten zufammenfält. Nein 
watürliche Berhältniffe, Leiftungen auf dem Gebiete des äußeren 
Lebens „Anfangsgründe weltlicher Art“ find’s, in denen ſich ein 
großer Teil des dem Israeliten vorgefchriebenen Handelns bewegt. 
Und dies ganze Gebiet des religiöfen und des fittlihen Handelns 
wird als von Gott befohlen in der Form eines Merhtögefeges zur 
fommengefaßt, und müßte, wenn die Umftände es erlaubten, mit 
den äußern Zwangsmitteln ber Geſellſchaft durchgeſetzt werden. 
Dean das Rechtsleben der Geſellſchaft kann in diefem Volke nur 
beftimmt fein, der Weligion zu dienen. Der Staat muß Then 
tratie fein. Und fo korrumpieren fih Religion und Recht 
gegenfeitig, indem jedes in das Lebensgebiet des anderen über 
greift. 
. Der Zslam, dieſe anachroniftifche Weltreligion, geboren aus 
den religköfen Gedanken des Judentums, wie fie fi unter den 
Bedingungen des arabijchen Geifteslebens umgeftaltet ‚hatten, ift 
freifih dem rabbiniſchen Judentume inbezug. auf bie Auffaffung 
des Verhältniffes von Sittlichkeit und Religion .ebenfo weit über« 
fegen, wie fein Stifter, ein prophetifch anoelaier Mann, im 

Ziel. Etnb. gehrs. 1888. 


11 S qult 


prattiſchen Leben bewährt, unverbildet durch Aberwitz der Schule, 
und mit ſtaaisbildender Kraft ausgeſtattet, über den Schriftgelehrten 
der arabifhen Juden mit ihrer in der Bücherſtube geſchaffenen 
Schattenwelt von religiöfen Gedanken und Formen fand. Wie 
im Buddhismus und im Chriftentume ift auch im Islam die 
nationale und partifulare Bejhränfung des göttlichen Zweds völlig 
abgeftreift, fo Hug aud Mohammed in einer Menge von äußeren 
Sitten und Einrichtungen den Vorurteilen und Neigungen feiner 
Nation entgegenzufommen und ihren nationalen Stolz in den 
Dienft feiner Religion zu ſtellen wußte). Der Koran offenbart 
einen Gotteswillen, welcher den Bewohnern Zentral⸗Afrikas ebenfo 
gift, wie den hochgebildeten Kulturvöllern des europätfchen Südens. 
Und fo fann an fi im Islam das gefamte fittliche Verhalten 
der Menfchen religiös beftimmt und dur Gottes an Mohammed 
geoffenbarten Befehl geordnet aufgefaßt werden. — Ferner hat 
Mohammed fein Abfehen auf ein kriegeriſches, im vollen Leben 
ftehendes Volk gerichtet. Er Hat ſich gehütet, dem Leben einen 
erdrückenden Ballaft zeremonialer Formen zuzugefellen. Was er 
in dieſer Beziehung fordert, find einesteil® die einfachften und 
volfstümlichiten Sagungen der altteftamentlichen Heiligkeit, die er 
mehr auf die Autorität der früheren Offenbarungen Hin beibe- 
halten hat, als daß fie ihm ſelbſt von Hervorragender Wichtigfeit 
erfchienen wären), — andernteils Vorſchriften, zu denen ihn, 
wie zu dem Verbote des Weine und der Glüdsfpiele, fittlide 
Reflektionen veranlaßt Haben ®). Es finden fi im Koran Sprüche, 
in denen ganz großartig und folgerichtig ausgeſprochen wird, wie 
folge äußere Sagungen keinen felbftändigen Wert haben, fondern 
nur als Heilfame Wegelungen des äußeren Daſeins betrachtet 
werden wollen, 3. B. Sure 2, 272: „Nicht das iſt bie Frömmig ⸗ 
teit, daß ihr euer Untlig wendet nach Morgen oder Abend, 
fondern die Srömmigfeit ift, wer an Gott glaubt und den jüngften 
Tag und die Engel und die Schrift und die Propheten, und giebt 


4) Mektas Stellung, Wallfahrt, Ehegefege zc. 
3) Sure 2, 168; 5, 1; 16, 116. 
8) Sure 2, 216; 6, 92. 





Religion und GSittlickeit in ihrem Verhältnis zu einander. 115 


feinen Verwandten und den Verwaiften und Armen und Pilgern» 
den und Bittenden und Gefangenen, und das Gebet aufrecht hält 
und Almofen giebt und die Verträge Hält und geduldig ift in Unglücks⸗ 
fällen“ 1). In diefem Punkte fteht der Islam meit über dem 
rabbiniſchen Judentume. Und feine Religion kann mit größerer 
Entſchiedenheit den religidfen Charakter der GSittlichfeit betonen, 
als der Jslam es thut. Nicht bloß daß umaufhörlich der Gedanke 
an das legte Gericht und die Freuden des Paradiefes als Motiv 
für den Gehorfam gegen Gottes Willen gebraucht wird. Es wird 
auch ausbrüdtich betont, daß Teinerlei Werke ber Ungläubigen 
(d. h. ber Gögendiener, die von feiner göttlichen Offenbarung 
wiffen), irgendeinen fittlichen Wert Haben *). Alfo nur die auf 
Erfüllung des Gotteswillens gerichtete und von Frömmigkeit ge⸗ 
tragene Sittlichkeit ift wertvoll. 

Diefe Vorzüge des Islam müfjen unbefangen anerkannt werden. 
Und darum hat der Islam, wie jede Prophetenreligion, in feiner 
Blütezeit wirklich eine begeifterte Sittlichkeit hervorrufen können. 
Und noch jegt muß die am Koran genährte Frömmigkeit Ehrfurcht 
vor ben Eltern, Billigfeit in den Mechtöverhältniffen, Mitleid gegen 
die Armen und Schuglofen und Abſcheu vor Zuchtlofigkeit und 
Willkur hervorrufen 9). Aber wir müffen trogdem den Islam für 
unfere Frage im großen und ganzen auf eine Stufe mit dem 
rabbinifgen Judentume ftellen, ihn alſo als eine Sorrumpierung 
der urfprünglichen altteftamentlichen Gedanken betrachten. 

Der göttliche Wille, deſſen Offenbarung der Koran fein will, 
richtet ſich feineswegs in erfter Linie auf die fittlichen Zwecke der 
Menſchen, obwohl er. diefelben, foweit fie für den damaligen 
Rufturftand Arabiens in Betracht kommen, mitumfchließt. Der 
erfte und alles andere überragende Zweck ift vielmehr die aus⸗ 
ſchließliche Verehrung Gottes felbft in Bekenntnis, Kultus und 
heiligen Sitten. Und zwar kommt Gott dabei nicht ala das 
Prinzip des Guten in Betracht, deſſen Verehrung an fich auch als 


3) Bal. Sure 2, 59ff. 116ff. 172; 5, 70; 42, 85; 98. 
%) Sure 5, 40; 10, 55; 24, 89. 
8) Sure 17, 24. 82; 24, 80, 

8* 


116 S quitz 


ſittliches Motiv wirken konnte, — auch nicht als die zu wirklichet 
Lebensgemeinſchaft mit den Menſchenkindern offenbarend fich er⸗ 
fließende Perſonlichteit. Es iſt der in fich verſchloſſene um 
ſchlechthin unerkennbare, allmächtige Willkurwille, in den mar 
ſich glaubend ergicbt *), — es iſt die deſpotiſche Herrfcherperfön 
lichteit, welche Anerkennung und Verehrung fordert zur Befriedigung 
ihres individuellen Selbftgefühls. 

Aus der Hingabe an diefen Gott kann eine einheitliche auf 
Prinzipien ruhende, freie Sittlichleit überhaupt nicht entftehen. 
Der Menſch kann fi nur in unbebingtem Gehorfam ben Ge 
boten dieſes Gottes fügen, ob er fie verfteht und ihnen innerlid 
in feiner Geſinnung zugewendet ift, ober nit. Und da Gett 
feinen Willen im Koran in durchaus fupranaturaler Weiſe kund⸗ 
giebt, in der Form feft ausgeprägter Einzelgebote und Satzungen, 
welche wie unveränderliche Reichsgeſetze ein« für allemal veröffent- 
licht werden, fo muß die Sittlichleit in diefer Religion wie im 
Zudentume zu Geſetzeswerlen werden ?). Was der Koran gebiete, 
ob es eine Vorſchrift über die Formen der Wallfahrt oder de 
Faftens im Ramadan ift, ober ein Gefeg über Erbteilung um 
Handel, oder eine Anordnung über die fittlichen Grundgebiete des 
Geſellſchaftslebens, — es ift eins wie dad anbere güttliches un 
veränderliches Gefzg, fo lange diefe Religion befteht. Und diefer 
Gefegeöcharakter der Willensäußerungen Gottes im Islam wird der 
Sittligpfeit befonders durch bie fittliche Oberflächlichteit Mahammes 
verberblich, welche mit feinem Gottesbegriffe eng zuſammenhängt 
Das einzige wirkliche Herzensanfiegen Gottes ift nach Mohamı 
meds Überzeugung die Anerkennung feiner Made und Cinzigteit. 
Jede Sunde gegenüber biefem Gebote ift umverzeihlich und ver 
nichtet alle anderen guten Werke. Aber wo biefe Grundforberumg 
erfüllt iſt, da zeigt der Gott des Koran bie fittliche Unfolge⸗ 
richtigkeit und Launenhaftigfeit, welche dem beipotifchen, an kein 


1) Im biefer Refignation gegenüber bem Kismet Tiegt and; eine ftttlich eur 
nervende Macht (8, 148; 4, 80; 9, 51. 122; 15, Aff.; 85, 12; 86, 9. 79: 
41,47). oe . 

9) Dem entfpriht, daß Im Islam, was Sünde if, auf bürgerlid 
geſtraft wird, und mas geſellſchaftliches Unrecht iſt, auch Sunde gegen Gott if. 





Religion und Sittlichkeit in ihrem Verhältnis zu einander, 47 


fittliches Prinzip gebundenen, Willen zu eignen pflegen. Er ift 
weit davon entfernt, ſich mit der fittlichen Idee zu indentifizieren 
und ihre rückfihtelofe Durdführung bis in die Gefinnung des 
Herzens hinein zu verlangen. Er ift der „Önädige und Ber« 
zeihende“ d. h. er ift bereit, wenn eine allgemeine justitia civilis 
vorliegt, fonftige Berfehlungen zu überfehen. Er geftattet feinen 
Gläubigen, vor allem den Reichen *), durch äußere Werke, wie 
Almoſen, Faſten und Wallfahrten, die Vergehungen gegen das 
fittliche Gebot abzufaufen 2). Er ift nachgiebig gegen die Neigungen 
des natürlichen Menſchen, fobald fie nur in den Schranken der 
äußeren Sitte bleiben. Kurz diefer Wille Gottes ift völlig un⸗ 
geeignet, das Prinzip wahrer Sittfichkeit für feine Bekenner zu 
werben. . 

Ia, der Koran muß geradezu zum Hemmfchuhe der fittlichen 
Entwidelung und dadurch zum Unfegen für die Bildung und 
innere Gefundpeit der von ihm beherrſchten Völler werden. Denn 
die gefamte Rechtsorduung, die Vollsſitten und Qebensgemohnheiten, 
welche Mohammed gemäß feiner Fürftenftellung anordnete, erfcheinen 
im Koran ale durch göttliche Offenbarung ein- für allemal feſt⸗ 
geſtellt. Nun ift nicht zu leugnen, daß dieſe Anordnungen, mit 
dem Maße der Kultur und Sittlichkeit gemeffen, weldhe Mohammeb 
in Arabien vorfand, im ganzen große Anerkennung verdienen. 
Selbſt feine Eheordnungen find ein großer Fortſchritt gegenüber 
der arabifchen Sitte. Und meiſtens geht ein praktiſcher Zug echt 
ftaatsmännifhen Sinnes durch Mohammeds Anordnungen. Uber 
ſchon für die damalige Zeit ftellte diefes ganze Gefe einen ent 
ſchiedenen Rüchſchritt dar, gegenüber dem, was anderswo erreicht 
war. Und wäre das auch durchaus nicht der Fall geweien, fo 
ift es ſchon an ſich verhängnisvoll, wenn man die äußeren Lebens⸗ 
formen eines Volkes für alle Zeiten als durch göttliche Offen⸗ 
barung feftgeftellte, gegen jeden Fortſchritt abſchließt. Denn auch 


2). 8. 5, 91. 96. 

%) Die Berufung auf diefe Nachſicht Gottes, die das Leichte und nicht das 
Schwere will, find zahllos im Koran. Spezialerlaubniffe, um 3. B. dem 
Propheten felbft die fittlichen Leiftungen leichter und angenehmer zu machen, 
vgl. 3. B. Sure 88, 49; 49, 3; 59, 6ff. 





118 Schultz 


im ſittlichen Leben, geſchweige denn im äußerlich geſellſchaftlichen, 
konnen nur die Prinzipien dieſelbigen bleiben. Ihre äußere Form 
wandelt fi mit neuen Bebürfniffen und Anfhauungen. Was einft 
ein Segen gewefen ift, wird zum Fluche. Der Islam bindet feine 
Belenner unerbittlih an die Kulturftufe eines vohen Volles. Er 
laßt für wahre Wiffenfchaft und Kunft, für würdige Entfaltung 
der Ehe und des gejellichaftlichen Lebens, fir freie und gefeglice 
Staatsentwidelung feinen Raum. Und er bietet feinen Erfag dafür 
durch Stärkung und Reinigung der fittlichen Prinzipien. Die 
fittlihen Gebote werden nicht auf ihre fittliche Notwendigkeit ge- 
gründet, fondern als Willfürgebote der Allmacht hingeftellt, die 
feine Prüfung zulaffen und den Frommen an fi verpflichten. 
Und in noch höherem Grade ift das natürlich bei den Geboten 
der Tall, welche äußerliche Lebensformen oder religiöfe Handlungen 
zum Gegenftande haben. So forrumpiert der religiöfe Faktor im 
Islam wie im Rabbinismus die Sittlihkeit. Sie wird zum 
äußerlihen Werktun um Lohnes willen oder aus Furcht. Sie 
bewegt ſich vorwiegend in Formen oder in Verboten. Sie nimmt 
auf die Gefinnung nur beiläufig Rücfiht und fennt als legten, 
entſcheidenden Faktor nicht das ſittlich durchgebildete Gewiſſen des 
Einzelnen, fondern den Buchſtaben des Gebotes. Und das religiöfe 
Handeln, obwohl es im Islam lange nicht fo ſehr wie im 
rabbinifhen Judentum das fittliche überwuchert, bleibt doch neben 
ihm und ohne innere Verbindung mit ihm beftehen, als eine 
Summe von fittlich gleichgüiltigen und innerlich unverftändlichen 
Leiftungen. 

7. Den Weg, welcher von’ den Anfängen der altteftamentlichen 
Religion zu einer vollfommenen Berbindung von Religion und 
Sittlihkeit führt, fehen wir in der prophetiſchen Entfaltung 
diefer Religion betreten, und fein Ziel finden wir im Ehriften« 
tume erreicht. Bon der altteftamentlichen Entwidelung foll nur 
mit kurzen Worten geredet werden, um zu zeigen, daß fie in der 
That aud auf diefem Gebiete die unmittelbare Vorbereitung chriſt⸗ 
licher Gedanken ift !). Gegenüber der Gefahr, die Sittlichkeit 


2) Bol. Altteftamentl. Theologie, ©. 322 ff. 


Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. 119 


durch die Maffe des religiös beftimmten zeremonialen Handelns 
au erftiden, Haben die Propheten mit einer oft paradogen Be— 
ftimmtheit geeifert. Gott begehrt nicht Opfer, Feſte und Gaben. 
Er will nicht die Gebärden äußerlicher Selbftdemütigung. Er will 
Gerechtigkeit, Zuverläffigkeit und Güte, unparteiliche und mutige 
Rechtſchaffenheit, demütige, danfbare und gläubige Herzen. „Es 
ift dir gefagt, Menſch, was gut fei, und was fordert der Herr 
von dir? Nur recht thun und Güte Lieben und demütig wandeln 
vor deinem Gott.“ Wenn die Propheten den Zorn Gottes über 
fein Volk verkünden, fo begründen fie diefen Zorn faft ausſchließ⸗ 
lich durch die fittlichen Frevel, welche fie im Volke rügen: Ro— 
heit, Graufamfeit, Üppigkeit, Unredlichkeit, — vor allem in der 
Rechtspflege, — Gewaltthat und Unbarmherzigkeit. Alſo die Sünde 
gegen Gott wird in erfter Linie in ber Übertretung der fittlichen 
Ordnungen der Gejellfchaft gefunden. Die Verlegung der Heiligen 
Formen kommt dabei nur als Auflehnung gegen die Ordnungen 
und Sitten des israelitiſchen Vollslebens in Betracht. Die Über- 
tretung fefter Volksfitten muß ja in einem Volke, deſſen Leben 
wejentlih auf das Anſehn der „Sitte“ begründet ift, immer wie 
eine Verlegung der Rechts- und der Bürgerpflicht erfcheinen. Und 
wenn die Propheten den Willen Gottes verfündigen, dann weifen 
fie immer auf die Güte und Gerechtigkeit hin, melde Gott in 
feinem eigenen Verhalten feinem Volke gegenüber gezeigt hat, und 
welche er dem entſprechend auch zu der feiten Norm des Handelns 
der Israeliten unter einander machen will. So fließt die fittlihe 
Gefinnung unmittelbar aus dem Glauben an Gottes eigne Offen« 
barung, und das eigentlich wertvolle Handeln ift nichts als die 
freie Entfaltung und Bewährung diefer Gefinnung, in welche 
natürlich die ehrfurchtsvolle und gewiſſenhafte Beobachtung der 
Heiligen Lebensgewohnheiten des Volkes Gottes eingejchloffen ift. 
So gewinnt das Handeln in Jsrael mehr und mehr den Charakter 
einer. wirklich einheitlichen Sittlicjkeit. Und neben dem negativen 
Prinzip des fittlichen Handelns, der Gerechtigkeit, tritt immer mehr 
das pofitive, gemeinfchaftsbildende Prinzip felbft, die Liebe, in 
den Vordergrund, je mehr auch in Gottes Offenbarung feine das 
Volk ſchaffende und erhaltende Liebe als das Wichtigfte verftanden 


1% Schult 


wird. Und wenn auch zumächft nur das ſittliche Handeln in 
Israel unter diefen Gefihtspunft fällt, fo kennt die Prophetie 
doc gegen den in Israel wohnenden Fremdling (Ger) in fehr 
weitgehendem Maße biefelben Pflichten der Liebe umd Treue. a, 
felbft der eigentliche Vollsfremde — obwohl in der Gegenwart 
noch aus der fittlichen Gemeinſchaft ausgejchloffen — erfcheint doch 
in dem Idealbilde des Reiches Gottes in biefelbe aufgenommen. 
Alfo der fittliche Zweck Gottes umfaßt feiner Abficht nach die 
ganze Menfchheit. Die Religion diefes Gottes ift demnach das 
ausreichende Motiv für eine einheitliche, univerfale und humane 
Entfaltung der Sittlihkeit. Selbſt der Sklave und der Feind 
werden nicht mehr als außerhalb der fittlichen Gemeinſchaft 
ftehend betrachtet, — und die ganze bürgerliche Sitte -wirb von 
einem ſchönen Geifte der Milde, Mäßigung und Menſchlichkeit 
getragen. 

Aber wir werden beffer thun, das, was im Alten Teftamente 
dod immerhin nur werdend und mit unvolltommenen Elementen 
gemifcht vorliegt, in feiner hriftlihen Vollendung zu ber 
trachten. 

Jeſus iſt in ſeinem Volke mit der Predigt von dem Reiche 
Gottes aufgetreten, welches mit ihm in den Boden dieſer Erde 
eingeſenkt wird, um einft in überweltlicher Herrlichkeit von Gott 
geoffenbart zu werden. Und er Hat ald das gemeinfame Prinzip 
alles Handelns in diefem Reiche die ſchlechthin von keinen welt- 
lichen Bedingungen abhängige Liebe Hingeftellt, welche in 
der Feindesliebe ihren eigentümlichften Ausdrud empfängt. In 
diefem Reiche offenbart ſich Gott ala der Water der Reichsge⸗ 
moffen. Seine Vollkommenheit ift die Liebe, welche über Gerechte 
und Ungerechte Segen ausgießt (Matth. 5, 45ff.). Und als 
die Junger ChHrifti in ihm felbft die Offenbarung Gottes, und in 
feinem Heilswerke die Offenbarung des vollkommenen Gotteswillens 
erfannten, da wurden fie gewiß, daß das eigenfte Weſen der 
Gottheit in dem Kreuzedtode Chrifti zur Erföfung der Brüder 
offenbar geworden fei. Gott ift die Liebe. Mit diefer Er⸗ 
kenntnis empfängt die Sittlichleit ans der Religion ihr Höchftes 
mögliches Motiv. Die Liebe in ihrer elementaren Form ift, wie 


Religion und Sittfichteit in ihrem Verhältnis zu einander. 121 


wir geſehen haben, das alle fittliche Gemeinſchaft überhaupt erſt 
ermöglichende Motiv als ſolches; denn Liebe ift „Gemeinſchaft 
ſuchen“. Die Liebe im Reiche Gottes aber, weit fie ſchlechthin 
ohne weltliche Bedingungen und Grenzen ift, kann nicht aus 
weltfihen Zweden hervorgehen. Sie kann nur refigiöß entftehen, 
unter dem Eindrude der ſich offenbarenden göttlichen Erlbſerliebe. 
Erft diefe Liebe aber ift das rechte Prinzip aller Sittlichleit, — 
diefe Viebe, melde Gemeinfhaft mit jedem Menſchen fucht ohne 
Unterfchied der weltlichen Bedingungen, — und zwar eine @er 
meinfchaft nicht weltlich-felbftiicher Zwede, fondern de8 Guten an 
ſich, — eine Gemeinfhaft um der Gemeinſchaft willen, — eine 
Gemeinſchaft in dem einen göttlichen Zwede, der allen Menfchen 
gilt. — Denn nur diefe Liebe tft fähig, alle Verſchiedenheiten des 
Intereffes, alle fi miderftreitenden Sonberzwede, duch einen 
höheren Gemeinſchaftszweck feft und harmoniſch zu überwinden. 
So wird das fittliche Handeln erft im Chriftentume im voll» 
fommenften Sinne religiös beftimmt unb bedingt. 

In dem Glauben an die Erlöferliebe Gottes und an das 
Reich der Liebe als feinen eigenen höchſten Zwed, ift zum erften« 
male in der Menſchheit der Partikularismus in der Sittlichkeit 
wirklich überwunden. In Ehriftus ift fein Heide noch Jude, kein 
Dann noch Weib, kein Knecht no Freier. Der Samariter wird 
zum Näcjften des Juden. Uber keineswegs werden die vom der 
Natur und Geſchichte gefegten Verſchiedenheiten in der Menfchheit 
durch diefes vefigiöfe Prinzip aufgehoben oder undeutlich gemacht. 
Denn der eine göttlihe Wille (daß wir Gemeinfchaft im höchiten 
Zwecke fuchen follen), geftaltet ſich notwendig zu verjchiedenartigen 
Pflichturteilen, je nachdem bie Bedingungen für biefe Gemeinſchaft 
vorhanden find, oder je nachdem noch befondere Aufgaben der 
möglihen Gemeinſchaft einen eigentümlichen Charakter geben. 
Gegenuber demen, melde auch ihrerfeits ſchon deufelben Zweck 
erftreben, d. h. den Brüdern, empfängt die Biebespflicht eine ber 
fondere Innigkeit. Gegenüber den durch andere fittliche Verhält- 
niſſe mit und Verbundenen, den Genoffen der Nation, der Bamilie 
u. dergl., beſtimmt fid bie Siebespflicht eigentümlich. Uber es 
bleibt daS gleiche fittliche Prinzip in allem Handeln. Und biefes 


12 Schultz 


Prinzip kann nicht anders als religiös gewonnen werden. So gickt 
es im Chriftentume feine Sittlichkeit, die nicht religiös beftimm 
wäre. Der Glaube ift es, der ſich durch Liebe äußert. Die 
Werke find des Glaubens Früchte. — 

Das Reich Gottes erfcheint nicht als ein einzelner Zwei 
Gottes neben den anderen, ſondern als der Gotteszweck fchlechthin. 
Die Welt ift auf Chriftus Hin und in EHriftus geworden. Der 
Geiſt in der Gemeinde ift Gottes eigener Geift, in welchem er 
fi erfennt. Und die Glieder des Gottesreiches wiſſen fich von 
Ewigkeit zu Herren der Welt beftimmt. Darin liegt eine religiök 
Kraft für das fittliche Handeln, welche der unreligiöfen Sittlichkeit 
ſchlechthin fehlen muß, — die Gewißheit, mit Gott und feinem 


weltfegenden Willen gemeinfam zu wirken, die Giegesgewißkeit, | 


Seligkeit, Geduld und Zuverficht, welche dem fittlichen Lebenswerk 
erft Wert und ausreichende Grundlage geben. Darin liegt aber 
zugleich, daß der Chriſt von feinem anderen für ihn geltenden Wille 
Gottes wiffen kann, als von dem Willen, dem er in der Sittlich⸗ 
keit nachkommt. Der Wille Gottes richtet fih an feine Kinde 
nicht mehr als ein unverftandenes ihren blinden Gehorſam fordern 
bes Machtgebot; — fondern er” offenbart ſich als Prinzip eind 
Handelns, in weldem fie mit Gott gemeinfam wirken. Gott mil 
von den Gliedern feiner Gemeine nichts anderes, als das Arbeiten 
im Reiche Gottes d. h. die hriftliche Sittlichleit. Und der Menfd 
feinerfeits Tann in feinem auf Gott bezüglichen Handeln nicht 
anderes erftreben, als teilzuhaben an diefem Reiche, in welchen 
die Gemeinfchaft mit Gott, Leben und Seligleit gegeben fin. 
Nicht mehr mannigfache endliche Güter, fondern das eine höchſt 
Gut ſucht Hier die Religion. So wird im Ehriftentume dat 
fittlich Gute wie das religiöfe Gute einheitlich verftanden un 
beide werben in ihrem tiefften Wefen eine. Das höchſte Gut 
iſt zugleich das Höcfte Gute. Und alles, was von Gutem und 
Gütern wirklich Geltung behalten foll, muß in biefem einen 
Höchften zu finden fein. Eins iſt not. 

Damit ift die Trennung des veligiöfen vom dem ſittlichen 
Handeln endgültig aufgehoben. Niemand kann meinen, das Wohl 
gefallen Gottes durch Handlungen zu erwerben, die fittlich indiffe 


Religion und Sittlichteit in ihrem Berhäftnis zu einander. 13 


rent oder gar unfittlih find. Denn Gott hat feinen anderen 
Willen offenbart, als den im Gottesreiche beſchloſſenen. Das 
einzige Opfer, welches er will, ift die Perſönlichkeit, wie fie 
fi) in den Dienft feiner fittlichen Zwecke ftellt (Hebr. 10. Röm. 
6 u. 12). Es giebt feine andere wirkſame Äußerung der Liebe 
zu Gott, als in der Liebe zu ben Brüdern. Und da Gott der 
Schöpfer aller Welt und Geift, Licht und Leben ift, fo hat er 
weder ein Bedurfnis gegenüber weltlichen Dingen, noch irgendwelche 
auf weltlichen Unterſchieden beruhende Abneigung oder Zuneigung. 
Alles bloß veligiöfe und zeremoniale Handeln beruht aber auf 
der Fiktion, daß natürliche Unterfchiede für das göttliche Wohlges 
fallen Bedeutung haben. So fällt bie ganze Summe ber Ge 
fegeswerte als „Schatten“, al® nur ben Unmündigen geziemend, 
für die Kinder des Gottesreihes dahin. Sie konnte nur Geltung 
behalten, fo lange fie als ein Beftandteil der gefeglichen Ordnungen 
im israelitiſchen Volle die Vollsgenoffen zum Gehorfam ver⸗ 
pflichtete. In diefem Sinne Hat fih Jeſus, wie feine erften 
Jünger, biefen Ordnungen nicht entzogen. Sobald aber das 
Chriftentum mit dem organifierten Vollsleben Israels nicht mehr 
zufammenfiel, mußte diefes ganze Gebiet folgerichtig ausgeſchieden 
werden. — Wohl bleibt auch im Chriſtentume refigiöfes Handeln 
übrig. Uber es will nicht mehr ein auf die Veränderlihkeit und 
die befonderen Neigungen Gottes berechnetes wirkſames Handeln 
fein, welches feinen Willen dem menschlichen, fleifchlihen Willen 
dienftbar zu machen ftrebt. Denn wer ein Glied des Gottesreiches 
ift, der will, daß der Wille Gottes ſich in ihm erfülle, wie in 
anderen, und er glaubt, daß Gott ihn ſchon an fich mit der Höchften 
Kiebesgefinnung in Chriſtus umfaßt, und daß er weiß, was wir 
bedürfen, ehe wir ihn bitten. So wird bas religiöfe Handeln im 
Chriftentume zur Hingabe des eigenen Lebens an ben Gotteswillen, 
um ed mit den Kräften biefes Willens erfüllt wiederzunehmen, — 
zur Verſenkung in das Geheimnis der göttlichen Liebesoffen- 
barung, um bie Kräfte der himmlifchen Welt zu empfangen, bie 
darin verborgen Liegen, — und zur Bethätigung ber fteten Lebens⸗ 
und Liebesgemeinfchaft mit Gott, auf welder das Reich Gottes 
ruht. Diefes ganze Thun aber ift nicht mehr ein dem fittlichen 


14 Schultz 


Leben fremdes Gebiet. Es läßt ſich auch ſittlich als die ne 
wendige Bereitung und Kräftigung der Perfönlichkeit zum Dienfe 
Gottes an den Brüdern bezeichnen. Das Wort Heilig empfängt 
im Chriftentume fittlichen Charakter. Die Heiligen d. h. die fir 
Gott Geweihten, find zugleich die „zw guten Werken Gezeugten“ 
Die Heiligung, d. 5. die Aneignung ber Perfönlidjkeit an da 
Dienft Gottes, ift zugleich die ftete Vorausſetzung alles wahra 
fittlichen Handelns. Und alle veligiöfen Mittel zur Heiligun 
treten in den Dienft der Sittlichkeit. Ya auch dasjenige religiäk 
Handeln, welches wir als Kultus der Gemeine bezeichnen könne, 
{ft im Ehriftentume ein Teil der Sitilichteit. Denn es ift ke 
notwendige Bethätigung bes Chriften innerhalb ber befondem 
fittlichen Gemeinſchaft, die den refigidfen Zwecken der @ejellihef 
dient, und ift ebenfo innerlid; verftändfich, wie die fittlichen Auf 
rungen in der Kunſt oder im Rechtsleben. Es will nicht, wien 
den niederen Religionen, eine Wirkung auf Gott ausüben, ſonden 
es will die religiöfe Stimmung, welche in der chriſtlichen Gemex 
vorhanden ift, zum Ausdruck bringen, und dadurch natürlich auf 
— wie durch alles darftellende Handeln — biefe Stimmung be 
leben und krüftigen. So giebt es im Chriſtentume fein religiöd 
Handeln mehr, welches nicht als Quelle ober als Ausflug ii 
fittlihen Handelns verftanden werden Lönnte, 

Das gefamte Gebiet bes chriſtlichen Handelns erfcheint durh 


den von Gott geoffenbarten Willen geregelt, wie im ala 


prophetifchen Religionen. Aber nicht durch ein mannigfaltiges und 
doc) ſtets unzureichendes Syſtem von Geboten und Verboten, it 
von jedem einzelnen im vorgejehenen falle die gleiche Art ii 
Handelns fordern, — nicht durch ein göttliches Rechts mi 
Sittengefeg, — fondern dadurch, daß das ‚gästliche Ziel da 
menfchlichen Handelns und die göttliche Beurteilung der Dip 
geoffenbart werden, woraus fi für jeden in jedem Falle die gerak 
ihm geltende Pflicht mit Notwendigkeit ergiebt. Au die Stelle de 
Buchſtabens tritt der Geift. Chriſtus ift bes Geſetes Ei 
&o kann jeder Chriſt nur felbft ſich das Pflichturteil im einen 
Falle bilden. Er thut nicht als Knecht ein fremdes Gebot, ji 
bern erfüllt als Kind des Vaters Willen. Darum fann fig w 


Religion und Sittlichkeit in ihrem Verhältnis zu einander, 125 


Ehriftentum allein wirklich auf refigiöfem Grunde die individuelle 
Beftalt der Sittlichfeit entfalten, wie fie fonft nur der hellenifchen 
Philoſophie als Ideal vorgeſchwebt Hat. Jeder muß nach feinen 
Anlagen, Gefahren und Berufsaufgaben ſein Handeln geſtalten 
und das Kunftwerk eines Lebens ſchaffen, welches feinem anderen 
Menfchenleben ganz gleich, und doch jedem gleichwertig ift. Darum 
tommt auch im Ghriftentume das Gewiſſen erft zur vollen 
Geltung, werm auch von ben neuteftamentlichen Schriftftellern nur 
die am helleniſtiſchen Sprachgebrauche orientierten das Wort ſelbſt 
öfters gebrauchen. Sittliches und religiöjes Gewiſſen find für 
den Eheiften ſchlechthin eins. Wer ſich durch das fittliche Ideal 
des Chriftentums gerichtet fühlt, fühlt fich aud von Gott gerichtet, 
und wer diefem Ideale nicht widerfpricht, hat auch ein gutes Ge⸗ 
wiffen vor Gott. Das Gewifjen wird dem Chriften zur Stimme 
Gottes (avveldnass Isod). Und weil das fittliche Ideal iu 
ber Form eines einheitlichen Prinzips gegeben ift, und feine 
Anwendung ſchlechthin nur von ber einzelnen Perfünlicteit felbft 
ausgehen Tann, fo tritt das Gewiſſen zugleich im gegebenen Balle 
in einen bewußten Gegenfag zu der Meinung der anderen, ja 
ſelbft event. zu ber öffentlichen Meinung, Es fällt ein Urteil 
über einen beftimmten Menſchen, — welches für diefen fchlechthin 
giftig und unwiderſprechlich iſt, — für andere aber in vielen 
Fullen durchaus nicht maßgebend fein kann, ja von ihnen vielleicht 
als Urteil eines irvenden Gewiſſens erkannt wird, wenn der Ber 
treffende das chriftliche Ideal noch nicht rein verftanden hat ?). 
Das Reich, Gottes ift ein Reich von überweltliher Art, 
und fein Prinzip ift ein übermweltlihes. So folgt aus der 
triftlichen Neligion die fittlihe Aufgabe der Weltverneinung, 
infofern die Welt ihre eigenen Prinzipien gegen bie göttlichen aufs 
recht erhaften will (vag& — xdouos). An die Stelle der 
zjeremonialen Vermeidung beftimmter Naturgegenftände tritt. die 
Aufgabe, die Natur als Natur niemals herrſchen zu laſſen, — 
bie Seele zu verlieren, um fie zu gewinnen, und feinerlei Roms 
promiß mit den Grundfägen des Wleifches einzugehen. In diefer 


3) Bas nicht aus dem Glauben ift, iſt Sünde (vgl. überhaupt Röm. 18. 14). 


18 Säulg 


grundfägli—hen Verneinung der weltlichen Motive für die Sittlich 
keit wirft die chriſtliche Frömmigkeit ähnlich wie bie buddhiftiſche 
Aber in dem Glauben der Ehriften au Gott den Vater, melde 
feine ewigen Zwedte fchaffend in der Welt offenbaren will, Kiegt 
der grumbfägliche Gegenſatz beider Religionen. Aus diefem Glauben 
gehen pofitive fittliche Ziele Hervor. Das Reid der Liebe ift ein 
ſchopferiſches Ideal, und gerade weil dieſes Gottesreich micht von 
dieſer Welt ift — d. h. als ſolches feine äußerlich ſichtbare Er⸗ 
ſcheinung in dieſer Welt Haben kaun —, wirkt die religiöfe Be 
ftimmung der Sittlickeit im Chriftentume nicht als Korrumpierung 
ober Entwertung des fittlihen Handelns. Die Vollkommenheit if 
im Epriftentume nicht eine befondere Form der weltlichen Leben 
führung, etwa in Askeſe und Weltflucht. Das Handeln aus Liebe 
vollzieht fich nicht in befonderen Leiftungen, etwa in Almofengeben 
ober in religiöfer Befchäftigung. Sondern das Reich) Gottes kann 
nur im den fittlihen Gemeinfchaften zum Ausdrucke Lommen. 
Und jede Gemeinſchaft ift hriftlich wertlos, im welcher diefes 
Reich nicht gewirkt wird. Aus dem Motive der hriftlichen Lich 
ann man überhaupt nur innerhalb der Pflichten des gemeinſchaft- 
tigen Lebens handeln. Und jedes pflihtmäßige Handeln ift chrift 
lich wertlos, wenn es nicht aus diefer Liebe geſchieht (1 Kor. 13). 
So wird die Sittlichkeit durch den religidfen Faktor nicht erbrüdt, 
fondern vollendet und geadelt. Der Eprift weiß, daß er die Kraft 
zu wirffiher Sittlicfeit nur religiös, d. 5. aus Gnaden im 
Glauben, empfangen kann. Und weil er glaubt, daß die Welt 
von Gott fir feinen göttlihen Zweck erſchaffen ift, fo gilt fie ihm 
als Grundlage für diefen Zwed überall als ſchlechthin gut. 
Da ferner der göttliche Zweck das fittliche Gemeinſchaftsleben der 
Menſchen voransfegt und ohne basfelbe gar nicht zur Exrfcheinung 
kommen fan, fo find alle wahren menſchlichen Gemeinſchaften 
Gottes heilige Ordnungen und wirklihe Güter. Sie 
werden nur da verwerflih, wo fie mit dem Geifte des Himmel 
reihe in Widerſpruch ftehen und ihm als dem hödften Zweck 
fi widerfegen. So ift das Chriftentum von jeder falfchen As 
keſe und Weltverneinung entfernt. Alles Natürliche gilt als rein, 
d. 5. als fähig, dem göttlichen Zwede zugeeignet zu werden. Ehe, 





Religion und Sittlichleit in ihrem Verhältnis zu einander. 127 


Staat, Recht, Bildung find Gottes Ordnungen, die man um des 
Gewiſſens willen zu achten Hat. Uber der Wille Gottes ſchreibt 
ihnen feine beftimmte äußerlihe Form vor, fondern läßt Raum 
für jede Entwidelung, vorausgefeßt, daß fie für den Geift des 
Himmelreichs offen fteht und ihm nicht ausſchließt, daß fie alſo 
gegenfeitige wahre Förberung der Menfchen geftattet. Umd wo dem 
Ehriften eine feftftehende Rechtsordnung entgegentritt, wo alfo eine 
Rechtspflicht fir ihn vorliegt, da hat er fie ale Gottesordnung 
zu achten. Sie ift ihm nicht mehr eine äußerlich ſich aufzwingende 
Ordnung, fondern ein fittliches Gut, das er zu wahren und zu 
fördern Hat. — So wird die Rechtspflicht zur wahrhaft fitt- 
lichen Pflicht, und beide gemeinfchaftlih werden zur religiöfen 
Pflicht. Das gefamte fittlihe Handeln ift religidfes Handeln, und 
es giebt fein religiöfes Handeln, welches fi nicht aus der fittlichen 
Pflicht verftehen und auf fie Hinleiten ließe. 

So ift der Gang der Entwidelung durchmeſſen. Religibſes 
und fittlihes Handeln find eins geworden, — und die hriftliche 
Ethik lann beides einheitlih aus dem gleichen Grundprinzipe ent» 
falten. Die Sittlichkeit beginnt ganz ohne religiöfen Charakter. 
Sie wird zufegt vollftändig von der Meligion getragen und 
empfängt ihr oberftes Prinzip und ihre Motive aus ber Offen- 
barung Gottes, — Sie beginnt mit den notbürftigen Regeln, ohne 
die ein gemeinſchaftliches Leben nicht möglich ift, und überläßt 
alles andere der Willür. Sie kennt fein Prinzip, fragt nad 
feiner Gefinnung und fennt feinen anderen Richter, als die öffent 
liche Meinung und das Geſetz des Staates. Sie endet bamit, 
die Gefamtheit alles möglichen Handelns allen Menſchen gegenüber 
aus einem einheitfichen überweltlichen Prinzip, der Liebe Gottes 
felbft, auszugeftalten, und fennt dann Leinen anderen Richter als 
die Gewiffensftimme in der eigenen Bruft, die zugleih Stimme 
Gottes ift, und weiß vom nichts, was ſittlich gleichgültig und nur 
ber Willkür überlaffen wäre. — Das fittlihe Handeln beginnt 
als Unterordnung unter das Rechtögefeg, unter Sitte und Sagung 
des Volks, ganz gleihgültig dagegen, ob biefelben dem Einzelnen 
innerlich verftändlich find oder nicht. Es endet als ein Handeln 
in volltommener Freiheit, im welchem der Menfch wohl alle ger 


123 Schultz 


ſetzliche Ordnung achtet, aber das Geſetz ſeines Handelns doch nur 
in dem göttlichen Prinzipe ſelbſt Hat, und es event. auch gegen die 
Meinung der Menſchen und die Gewohnheiten des Zuſammen⸗ 
lebens geltend machen muß. Alſo e8 giebt gar fein bloßes echtes 
gefeg mehr, ſondern alle Rechtspflicht ift auch als wahrhaft fitt⸗ 
liche Pflicht, alle fittliche Pflicht auch als religibſe Pflicht erkannt. 
Wenn im Anfange fittlih nur war, was bie Rechtspflicht vor- 
ſchrieb, fo ſchreibt jegt die Rechtspflicht nur vor, mas als fittlich 
verftanben wird. — Gegenftand der fittlichen Pflicht ift zuerft nur 
der Uingehörige eines beftimmten geſellſchaftlichen Kreifes. Zuletzt 
wird jeder Menfch, ale zum Reiche Gottes berufen, Gegenftand der 
Liebespflicht. 

Und das religtöfe Handeln beginnt ganz ohne Zuſammen⸗ 
hang mit ber Sittlichkeit, ja es kann im gegebenen alle ihr 
widerfprehen. Es ift zuerft eine Summe von eigennüßigem 
Handeln, mit welchem man auf die Laune und Schwäche der 
Gottheit einzuwirfen meint, und ein Gewebe von Formen, die aus 
dem vorausgefegten Naturchavafter der Gottheit folgen. Es endet 
damit, daß man den eigenen Willen an Gottes offenbarten Willen 
Hingiebt in dem allein Gott wohlgefälligen Opfer der ganzen 
Perfönfichkeit an Gottes fittlihen Zwed. So wird es eins mit 
dem fittlihen Handeln, und aud ba wo es als ein befonberes 
Gebiet hervortritt, iſt es nur die notwendige Weihung und 
Stärkung der Perſonlichkeit für die fittliche Arbeit, und der freie 
und freudige Ausdrud der religiöfen Gefinnung im Kunſtwerke 
des Kultus. Das Opfer wird zum vernünftigen Opfer des 
Lebens. Das Gebet zur fortwährenden Hingabe des Herzens an 
Gott. (Betet allezeit!) Die Askefe zur fittlichen Freiheit von 
den weltlichen Motiven. Die Zauberei zum Empfange ber. relis 
gibſen Heilskräfte im Sakrament. Die Efftafe zur andächtigen 
Verſenkung in die Offenbarung der Gnade Gottes. Das Ber- 
ſtricken des Lebens in Zeremonien zur Weihe alles Natürlichen 
an ben hödften Zwei. Der gewinnfüchtige Kultus zum Aus⸗ 
drucke der Frömmigkeit im Geifte und in der Wahrheit, — zum 
Weihrauche auf dem vernünftigen Opfer der Perfönligjkeit. 

Ohue Zweifel Liegt in diefer wirklich chriftlichen Auffaffung 





Religion und Sittlichkeit in ihrem Verhältnis zu einander. 12 


des in Frage ftehenden Verhältniſſes auch feine Vollendung. Das 
gefamte Handeln ift eingeitlih, frei und aus einem gemeinſchaft ⸗ 
chen Prinzip verftändfich geworden. Ein höheres Prinzip aber 
für die Sittlichleit ift undenkbar — denn die Liebe ift das ſitt⸗ 
liche Prinzip an ſich — und die fittliche Kraft, welche aus dem 
religiöfen Charakter dieſes Prinzips und aus der Gemißheit des 
gemeinfamen Handelns mit Gott folgt, ift die allein zureichende 
und ſchlechthin unerfhöpflihe Kraft. Die Sittlichkeit ift zur 
vollen Humanität geworden, und zugleich hat fe aufgehört, Satzung 
zu fein, und bietet die Burgſchaft für volle Freiheit und Ger 
wiffenhaftigfeit des Einzelnen. Alle gute fittliche Ordnung erhält 
vollen Wert als Ordnung Gottes, und doch giebt es eine Stimme 
Gottes im Gewiffen, die im gegebenen Falle höher gilt als alle 
äußere Ordnung. Keine Sagung Bindert den freien Kulturforte 
Tritt, — feine falfche Weltverneinung entwertet Güter und Aufs 
gaben dieſes Lebens. Und doch werden fie alfe in ber rechten 
Welt-Berneinung rüdfihtslos dem überweltlihen Zwede Hinger 
geben. Das Leben ift frei geworden von dem Dienfte geifte 
tötender Formen und heuchleriſchen Gottesbienftes. Und doch ift 
jeder Moment des Lebens auf Gott bezogen und ihm gemeißt, 
und das ganze Leben ein Gottesdienſt. Jede Selbſtgerechtigkeit 
iſt durch den religiöfen Charakter des fittlihen Prinzips und 
durch die überweltliche Vollkommenheit des fittlichen Ideals aus⸗ 
geihloffen, — und doc ift in dem Bewußtſein der gemeinfamen 
Arbeit mit Gott unferm Vater dem Handeln eine felige Ges 
wißheit ewigen Lebens gegeben und jede Knechtsfurcht genommen. 
Ebenfo deutlich aber ift, daß ſich von diefer Betrachtungsweiſe 
aus ein Urteil über mancherlei im Chriftentume wieder aufgelebte 
heidniſche und judiſche Anſchauungen vollziehen muß. Ich will 
darauf Hier nur mit kurzen Worten hindeuten. Wo man an eine 
ſchon im Neuen Teftamente hie und da durchklingende dualiftifche 
Auffaffung des Natürlichen anſchließend die irdiſchen Erſcheinungs⸗ 
geblete des fittlichen Handelns entwerten und in ber Weltver⸗ 
neinung die Vollkommenheit ſuchen will, — wo man das befondere 
tefigiöfe Handeln, wie ein Gott beeinfluffendes, dem fittlichen 
Handeln als ein Höheres gegenüberftellt und die Kid mit ihren. 
Zpesl. Stad. Yahız. 1888. 


[1 Schultz, Religion und Sittlichteit zc. 


befonderen Aufgaben mit dem Reiche Gottes und dem Arbeiten an 
demfelben ibentifiziert, — wo man in Gebet und Gaframent 
ein wirffames, den göttligen Willen umgeftaltenbes religiöfes Chun \ 
beabfichtigt, — wo man in befonderer Askeſe, oder in ſchwärme⸗ | 
riſchem Warten auf eine Umgeftaltung ber äußeren WBeltverhätte | 
niffe, ben Willen Gottes wieder von Naturbedingungen abhängig 
machen will, — wo man das Heil am „Geſetzeswerle“ ſchließt, 
ober nicht verfteht, daß alle Sittlichkeit, die nicht von dem religiöfen 
Baftor getragen wird, unterhalb des chriftlichen Zieles Bleibt: — 

da — und in vielen anderen Fullen — fteigt man von der 
im Chriftentume erreichten Höhe. herab, und verfällt wieder in bie 
Unvolitonmenheiten, die uns bei dem Gange durch die Religions 
gefchichte begegnet find. 


Gedanlken und Bemerkungen. 


1 


Die galatiichen Gegner des Apoſtels Paulus. 


Bon 


Lie. &. $. Franke, 
Weiyatbogent In Halle, 





„Das war das Verhältnis des judaiſtiſchen zum pauliniſchen 
Evangelium, als num die Judaiſten, ficher von Serufalem Her, 
den Kampf wider den Paulus umd fein Evangelium aud in die 
Heidengemeinden Galatiens trugen.“ 

Mit diefen Worten befchließt Holften in feinem „Evangelium: 
des Paulus“ (S. 53) die Unterſuchung über „die Verftörer der 
Gemeinden Galatiens und ihr Evangelium“. Jenes „ficher“ aber 
ift wohl zunächft gegen Hausrath gerichtet, welcher in feinem 
„Apoftel Paulus“ (2. Aufl., ©. 261f.) wenigftens die Zuläfftg- 
keit der Annahme, daß es Paulus in Galatien mit Gegnern zu 
thun gehabt, welche ihm aus den dortigen judenchriftlichen Kreiſen 
erwuchfen, ausgeſprochen und begründet Hat. 

Uns fcheint, daß die Bemerkungen Hausraths, auch wenn fie 
der Kritiker ſtrilterer Obfervanz; a limine abgewieſen, auf ein 
wirklich vorliegendes Problem hingewieſen haben. Und die Frage 
nach Heimat und Art der galatifchen Gegner des Paulus iſt 
wegen bes Lichtes, das vom ihrer richtigen Beantwortung aus nicht 
nur auf Vorgefehichte und Erflärung des Galaterbriefes und auf 
das Verhältnis des Apoftels zu feinen Gemeinden, fondern 
auch auf die Urgefchichte des Ehriftentums überhaupt fällt, wide 


Bars, Google 





1 


Die galatiſchen Gegner des Apoſtels Paulus. 


Bon 


Lic. X. $. Franke, 
Welvatbozent In Halle. 





„Das war das Verhältnis des judaiftifchen zum pauliniſchen 
Evangelium, als num die Judaiften, ſicher von Serufalem her, 
den Kampf wiber den Paulus und fein Evangelium auch in die 
Heidengemeinden Galatiens trugen.“ 

Mit diefen Worten beſchlleßt Holften in feinem „Evangelium 
des Paulus“ (S. 53) die Unterfuhung über „die Verftörer der 
Gemeinden Galatiens und ihr Evangelium“. Jenes „fiher“ aber 
ift wohl zunächft gegen Hausrath gerichtet, welder in feinen 
„Apoftel Paulus“ (2. Aufl, ©. 261f.) wenigftens die Zuläffig« 
keit der Annahme, daß es Paulus in Galatien mit Gegnern zu 
thun gehabt, welche ihm aus den dortigen judenchriftlichen Kreiſen 
erwuchſen, ausgeſprochen und begründet hat. 

Uns fcheint, daß die Bemerkungen Hausraths, aud wenn fie 
der Kritiker firifterer Obfervanz a limine abgemiefen, auf ein 
wirklich vorliegendes Problem hingewieſen Haben. Und die Frage 
nad) Heimat und Art der galatifchen Gegner des Paulus ift 
wegen des Lichtes, das von ihrer richtigen Beantwortung ans nicht 
nur auf Vorgefhichte und Erklärung des Galaterbriefes und auf 
das Verhältnis des Apoſtels zu feinen Gemeinden, fondern 
auch auf die Urgefchichte des Ehriftentums überhaupt füllt, wich⸗ 


184 Srante 


tig genug, um ihre eingehende Erörterung an dieſer Stelle zu 
rechtfertigen. 

Es ift ja nie in Zweifel gezogen, daß es Judaiſten, Gefeged- 
menſchen waren, gegen deren Treiben in feinen Gemeinden der 
Apoftel den Gafaterbrief richtet; noch Tann es je bezweifelt wer» 
den. Zweiunddreißigmal gebraucht im Briefe der Apoftel das 
Wort vowos, und zwar ausſchließlich im ftrikten Sinne vom mo- 
ſaiſchen Gefege, während die fünfundfiebzig Male, welche das Wort 
in ben fechzehn Kapiteln des Römerbriefes auftritt, ſich auf fehr 
verfchiedene Bedeutungen verteilen. Zwar ift dur nichts im 
Briefe angebeutet,, baf bie bekumpfien Gegner nicht auch die Hei⸗ 
den auf Grund des Glaubens an Chriftum als in eine gewiſſe 
Gemeinſchaft mit Gott getreten anerkannten. Ebenſo wenig wer« 
den fie die Notwendigkeit des Glaubens zum Heil für Juden wie 
Heiden geleugnet haben. . Tritt jedoch der Heide duch fein Be 
kenntnis zu Chriſto in ein Verhältnis zu Gott, jo muß er diefem 
auch feinem Willen gemäß zu bienen bereit fein. Seinen Willen 
aber Hat Gott in der Offenbarung vom Sinai, im Gefege des 
Mofes ausgeſprochen. Was der Glaube begonnen, muß das Gejch 
vollenden (Kap. 3, 3). Nur ber Gerechtigkeit ift der Lohn der 
oornela verheißen (ngl. die paulin. Untithefe Kap. 5, 5). Ge 
rechtigkeit, Lebensgerechtigkeit aber ift nicht denkbar ohne die Norm 
des Geſetzes (Kap. 2, 21), wenn aud gewiß fein Chriftusgläubiger 
jener Zeit die große Süßne, wie fie Paulus und die Urapoſtel 
einmitig (vgl. ĩ Kar. 15, 3. 11. Gal. 2, 16) ala in Chrifti 
Tode vollzogen predigten, Herabzufegen bie Abſicht Hatte. Der 
Wille Gottes aber ift, wie Gott felber, unwandelbar. Das Geſetz 
ift fomit ein endgültiges Statut (vgl. dagegen Gal. 3, 15ff.). 
Die Gottesoffenbarung in Jeſu Ehrifto, meit entfernt, dasſelbe zu 
abolieren, Hat es nur beftätigt, denn Chriſtus erſchien yerdpevos 
oͤno vönon (vgl. Gal. 4, 4). Ebenſo wenig aber, wie wahre 
Gottesgemeinſchaft, ift volle Gemeinſchaft der Meffinsgläubigen 
möglich, ohne daß die Heidenchriſten fi zum Leben nach dem Ges 
fege entfliehen (Rap. 4, 17). Wirklich Hatten bie Briedenftöcer 
«3 nach des Paulus Ausfage (Rap. 4, 10) dahin gebracht, daß 
ſich die Gemeinden Galatiens zum Befolgen des jüdiſchen Feſt⸗ 


Die galatiſchen Gegner des Apoftels Paulus. 185 


lalenders entfchloffen. Ihr Abfehen ging nun dahin, auch noch 
die Annahme der Beſchneidung, des Siegels vollen Brofelytentums, 
ſeitens der Heidenchriſten durchzuſetzen. 

Bir haben es alſo in Galatien mit einer energiſch und erfolge 
reich betriebenen jubaiftifchen Propaganda zu thun. Aber auch daf 
die Unruheſtifter geborene Juden, nicht, wie mehrfach angenommen 
wurde, gefeßgeseifrige Profelyten waren, läßt fih aus dem Briefe 
wahrſcheinlich machen. Dem nit nur um die Ehre und dauernde 
Geltung des Geſetzes ift e8 ihnen zu thun, fondern ganz beſonders 
auch um bie pribilegierte Stellung, welche Israel, dem leiblichen 
Samen Abrahams, der Berheifung gemäß dauernd zukommt. Die 
Argumentation des Apoſtels, oft belächelt, mit welcher er Kap. 
3, 16 auf den Singular zai so onsguast co» hinweiſt, diefen 
von Ghrifte beutend, gewinnt mit eimem Schlage an lebensnoller 
Beyiehung, wenn man in dem Gage: 7@ de Afgaau Edicdn- 
vay ai enayyeklaı xal 6 onsgnarı adson, eines der oft 
wiederholten gegueriſchen Schlagwörter erfennt, mit denen fie die 
Emigfeit der Privilegien Israels darthaten. Sie waren eben keines⸗ 
wegs der Meinung, daß das meſſianiſche Reich den Adel der Theo- 
frotie aufzuheben beftimmt fei. In verfejiedenen Formen muß es 
deshalb Paulus ihnen gegenüber ausſprechen, dag in Chriſto Jefu 
kein Judenum noch Hellenentum mehr gilt (Rap. 3, 28; vgl. 
5, 6; 6, 15). Und wenn fo bas zwar meffiasgläubig gewordene, 
aber in feinem natienalen Stofz, feinen Vorurteilen und Anſprüchen 
nicht innerlich überwundene Judentum fich zum Störer und Ber 
ftörer einfach gläubiger Gemeinden aufwarf, fo geſchah wieder, 
was urbitdlich in Zerael und Iſaak vorgegangen: «8 verfolgte der 
nach dem Fleiſch Gezeugte den nad) dem Geiſt Geborenen (4, 29). 

Sind wir bereditigt, aud) in dem Werte des Apoftele (Kap. 
4, 26) von dem oberen Jeruſalem, das unfere Mutter ift, eine 
Untithefe zw erbliden gegen ein anderes Schlagwort ber Ver⸗ 
führer? — „Jeruſalem ift unſere Mutter!“ fo mochten diefe 
ſegen. „Site lebt in Kuechtfchaft mit ihren Kindern!“ fo lautete 
des Apoſtels Antwort. Jedenfalls wäre das ein Beleg mehr dafür, 
deß wir in den Verſtörern ſtammesftolze Juden zu erbliden Haben. 

Aber würbe nicht eben ein ſolches Wort in ihrem Munde exit 


186 Srante 


dann befonder& voll wiegen, wern es wahrhafte Judäer, Kinder 
gernſalems, Gfieder der Urgemeinde waren, die fi) mit demfelben 
einführten? — Ohnehin liegt es ja fo nahe, an Judäa als And 
gangspnnft zu denken, wo immer wir in ber weiten Welt jubaiftie 
fen Störungen aufblühender Heidengemeinden begegnen. Dort, 
in Jeruſalem insbejondere, um den Herrnbruder Jakobus, den 
Vertreter der Legitimität, geſchart, fort und fort im Eifer um die 
Nation und die Geltung der theofratifchen Einrichtungen fich über 
bietend, durch Emiffäre und die manderlei Verbindungen mit der 
Diafpora weit und breit einen ansgebehnten Gefichtökreis beherr- 
ſchend, war man gewiß nicht gleichgültig und in weiten Streifen 
wicht ungeteilt froh über eine Bewegung unter den Heiden, die, 
von Paulus insbefondere ihre Richtung und in immer neuen Uns 
ternehmungen immer nene Impulſe empfangend, eine freie Heiden» 
tirche hervorbrachte, welche die urfprünglich allein beftehende innere 
halb Israels bald in Schatten zu ftellen drohte. Nachweislich it 
Störung der Eintracht in Antiohien wie in Korinth von der jur | 
daiſchen Urgemeinde ausgegangen. Warum follte das in Galatin | 
anders geweſen fein? 

Dazu kommen eine Reihe von Judizien, welche uns auf Judäa 
als Ausgangspunkt der Störung zu verweiſen feinen. In Kap. 
1, 11ff. verwahrt fi der Apoftel gegen jede Abhängigkeit feiner 
apoftolifchen Thätigfeit, wie de8 Evangeliums, das er verkündet, | 
von Serufalem, von den Urapofteln insbefondere. Eine ſolche war 
alfo behauptet worden. Wer aber Hatte mehr Intereſſe an und 
mehr fcheinbares Recht zu folder Behauptung, als wer felbft diefem 
Kreife der urfprünglichen Chriftuszeugen nahe ftand? Denn eben 
auf die Ehre, die Genoffen des Erdenlebens des Meſſias gewejen 
zu fein, welche jene vor Paulus infonderheit voraushatten (Gal. 
2, 6), Hatten die Verführer hingewieſen, Hatten von dem Anfehen 
geredet, in welchem diefelben bei der alten Gemeinde ftänden, bei 
allen zu ftehen Anſpruch Hätten (od doxoüvrss B. 2. 6. 9), und wie 
eben fie EHriftus zu Säulen der Wahrheit im Haufe Gottes ber 
ftimmt Habe. Und wenn Paulus (5, 10) fagt: 6 de vagdoner 
inäs Baoraceı so xelua, Sorıs dv y, — ſcheint er dann nicht 
zuletzt doch Hinter dem Unterfangen der Sriedensftörer eine Pers 


Die galatifchen Gegner bes Apoſtels Paulus. 187 


fönlichfeit zu erbliden, die doch wohl ſchwerlich im Kreife der von 
ihm Belehrten, über dem er mit fo viel Selbſtbewußtſein fchaltet, 
gefucht werden darf (vgl. 2, 12)? Und wenn wir endlich faft 
gleichzeitig auf anderem Boden, dem Torinthifchen, denfelben An⸗ 
griffen gegen Paulus und fein Apoftolat, berfelben Erhebung je 
ruſalemiſcher Autoritäten im Munde von Yudäern begegnen, wie 
ſollten wir bei den galatifchen Wirren auf die Einmiſchung pa« 
läftinenfifcher Juden verzichten wollen | 

Dennoch wäre es unferes Erachtens ein höchſt übereiltes Ver⸗ 
fahren, das fich bei dem bisher gewonnenen Reſultate wollte ge⸗— 
nügen laſſen, um nun die Störung des Friedens in Galatien 
einfach Angehörigen der Urgemeinde fehuld zu geben. Wir Haben 
nämlich längſt noch nicht alle in Betracht Tommenden Momente 
in Erwägung genommen. Und was bleibt, ift meift derart, daß 
es das gewonnene Nefultat fogar erfhüttern zu können feinen 
mödte. Schon die leiste und höchſte Forderung der Yudaiften, 
die der Befchneidung, erregt Befremden, wenn von Mitgliedern, 
wohl gar Vertretern der Gemeinden Jeruſalems ausgehend. Wenn 
das Abkommen, welches Paulus doch auch nach Gal. 2 mit den 
Autoritäten von Jeruſalem getroffen, irgendeinen Sinn hatte, fo 
muß es den Apoftel davor fichergeftelft haben, daß fi von Jeru⸗ 
ſalem aus nicht, womöglich offiziell, ein Vorgehen wiederholte, zu 
welchem, ohne Autorifation, blinder Eifer und Voreingenommenheit 
ſeinerzeit (og. Apg. 15, 1) Einzelne Hingeriffen Hatte. 

Freilich lag zwifchen jener Übereinkunft und den In Mede ſtehen⸗ 
den Ereigniffen jener Vorgang in Antiochien, welchen Paulus ſelbſt 
Gal. 2, 11ff. erwähnt. Und eben diefer hat ja nach dem Urteil 
der Kritit das Tiſchtuch zwifchen Paulus und den Urapofteln auf 
immer zerriffen, da8 Signal zu einem dauernden Bruch und zu 
erbittertem Kampfe gegeben. Wäre dem fo, dann wäre nichts 
dagegen einzuwenden, daß man mun auch von beiden Seiten die 
Übereintunft von Zerufalem, als ein Hindernis in energiſcher Bes 
lampfung des Gegners, fallen gelaffen Hätte. Aber man ſollte bei 
folder Behauptung nicht vergeffen, zu bemerken, daß man da 
Hopothefen vorträgt, noch dazır ſchwer zu begründende. Denn ber 
Beweis, den man in Offenb. 2, 2 hat finden wollen, ift zu faden⸗ 


18 Erante 


ſcheinig und zumeift auch aufgegeben, um ziehen zu können. Und 
was in der Darftellung des Paulus von feiner Verhandlung mit 
den Säulen der Gemeinde deutet darauf. hin, daß das Reſultat 
derfelben unterdeffen aufgegeben wäre?!) Ya was würde, unter 
folcher Borausfegung, die ganze Darftellung für die Galater noch 
bedeuten: fie ift doch nicht eigens für den Hiftoriter des 19. Jahr⸗ 
Hundert Hier eingeführtl Und was den Vorgang in Untiodien 
betrifft: deutet etwa Paulus mit einem Worte an, daß ihn ven 
nun an eine unüberfteigliche Kluft von Petrus gefchieden Habe? 
Lieſt fie ſich wicht vielmehr fo, als habe Petrus, der ohne bewußte 
Direktive gehandelt, ſich die Zurechtweifung des Paulus gefallen 
laſſen müffen und gefallen laſſen; ja gewinnt nicht erjt unter dieſer 
BVoransjegung der Vorfall die Bedeutung, welde ihn der Abſicht 
des Paulus, dad gleiche Recht feines Apoſtolates von Gottes Gna⸗ 
den mit bem des Petrus geltend zu machen, dienlih machte? Die 
Anficht, melde den Petrus infolge der empfangenen Rüge gekrüult, 
ja erbittert, dauernd erbittert von Antiodien fcheiden läßt, denkt 
doch gar, zu gering von der Geiftesart desjenigen Jüngere, welchem 
der Herr die Leitung feiner Gemeinde vor anderen ambeimgeftellt 
Hatte. Petrus Hat fih zurehtführen Laffen, wie fi „die übrigen 
Juden“, welche mit ihm gleicher „Henchelei“ verflelen, zurecht ⸗ 
fügren ließen. Den Barnabas, welchen der Jeruſalemit Markus 
begleitete, finden wir bald nicht nur nach Apg. 16, 39, ſondern auch 
nach 1Kor. 9, 6 auf neuen Miſſionsuuternehmungen; den Paulus 
aber begleitet (Apg. 15, 40; vgl. 2 Kor. 1,19) Silas, doch wohl 
der Apg. 15, 22 bezeichnete dyng Tyodmanog dr vol adeAyoks, 
zu neuer Predigt freier Gnade für alle auf die zweite Mikfiong« 
reiſe. 

Doch wie dem auch ſei: zur Unterſtützung ihrer Anſicht Hütten 
unſere Gegner ſich wenigſtens auf ein Beiſpiel von der Urge⸗ 
meinde ausgegangener Beſchneidungspredigt aus jener Zeit zu ber 


1) Daß Paulus ſelbſt von einem Aufgeben der Abmachungen von Zeru - 
ſalem nichts weiß, bezeugt fein fortgehenber Vetrieb ber Kollefte für Sernfalem 
auch in Galatien (1Ror. 16, 1) in Geimäfßeit des mit den Urapoflehr Bere 
einbarten (Gut. 2, 10). 


Die galatiſchen Gegner des Apoftels Paulus. 189 


rufen. Aber da fehlte. Gewiß Tann man fein fhärferes, fein 
tränfenberes, fein verwerflicheres Vorgehen von Judaiſten denen, 
als das, welches ſich der Schlimmften einige in Korinth gegen 
Paulus und fein Werk erlauben. Dennod feine Spur von Bes 
fneidungsagitation. Die einzige Stelle der, Korintherbriefe, welche 
don der Beſchneidung Handelt (I, 7, 18f.), thut dies unter fehr 
allgemeinem Geſichtspunkt, indem fie ebenfo fehr dem Beſchnittenen 
das dnıordoIas, wie dem in der Vorhaut Berufenen die Beſchnei⸗ 
dung wehrt. Freilich follen nah Baurs Urteil die Judaiſten 
nach den galatifchen Erfahrungen in ihrem Angriff gemäßigter, aber 
planvoffer vorgegangen fein. Ohnehin Tonnten fie ja den gebil⸗ 
deteren Korinthern nicht zumuten, was fie bei den roheren Gas 
latern durchjegen zu können hofften. Sie ließen deshalb die For⸗ 
derung der Befchneidung zunächft fallen, oder doch beifeite. Aber 
{ft denn der jwbaiftifche Angriff auf Korinth fo viel fpäter als 
der auf Galatien unternommen, daß die in Galatien gefammelten 
Erfahrungen ihm gleich anfangs wären zugute gefommen? Und waren 
denn biefe Erfahrungen wirklich fo entmutigende? Zur Zeit, wo der 
Apoftel den Brief an die Galater ſchrieb, gewiß nicht, Über die Bil 
bung des Gros feiner Forinthifchen Gemeinde aber weiß der Apoftel 
ſelbſt (1 Kor. 1, 26f.) nicht viel zu fagen. Außerdem aber kam 
einer judaiſtiſchen Agitation in Korinth, und zwar nicht nur nad 
dem Berichte der Apoftelgefhichte über ihre Gründung (18, 1ff.), 
fondern z. B. auch nach der angeführten Stelle über Beſchneidung 
und Berhaut, ein Umſtand zuftatten, der in diefem Umfange gewiß 
für Galatien nicht zutraf: das Vorhandenfein eines bedeutenderen 
mationaf-jdifchen Kontingentes in der Gemeinde. 

Bleibt nun aber ſchon das im Vordergrunde des judaiftifchen 
Treibens in Galatien ftehende Drängen auf den Vollzug der Bes 
ſchneidung befremdlich, fo rüden auch weitere Punkte bei genauerer 
Betrachtung in ein neues Licht. So hat es ja as ſich nichts Aufe 
follendes, wenn der ſich zum Geſetze Israels wendende Heide ge⸗ 
wiſſenhaft auf die in demfelben vorgefchriebenen heiligen Zeiten 
hielt. Auffallen aber muß, daß Paulus, um den Galatern au 
Thatſachen ihren Abfall zum Gefege nachzuweiſen, gerade nur biefen 
Punkt hervorhebt. Das Halten auf Tage erſcheint da wie das 


140 Franke 


einzige, bis dahin zum Vollzug gekommene geſetzliche Lebensmoment, 
auf deſſen Durchſetzung die galatiſchen Judaiſten das größte Ge⸗ 
wicht müſſen gelegt haben. Daß auch fonft jubäifche Gegner bes 
Paulus gerade diefen Punkt in den Vordergrund geftelit Hätten, 
laßt ſich nicht belegen (vgl. z. B. die ruhige Erledigung desfelben 
NRöm. 14, 5f.). Zu beachten ift ferner die Verbindung, in wel 
her der Apoftel (Gal. 4, 10) auf das ragarngeiogas ber hei- 
figen Zeiten kommt. Er begründet mit demfelben der Galater 
Rückkehr unter den Dienft der dasevj za) nrwya ovosgeia 
Tod xdonov, zu einer Knechtſchaft, von der die Galater doc zum 
Kindfchaftsverhältnis gegen dem lebendigen Gott fortgefchritten 
waren (4, 6ff.). 

Daß der Apoftel erwartet, mit feiner Ausdrucksweiſe von den 
Galatern verftanden zu werden, liegt auf der Hand. Und wir 
unferfeits halten es für nicht fo ſchwer, in ihr Verftändnis eine 
zudringen. Die von Paulus V. 10 gewählten Ausdrücke klingen 
deutlich an Gen. 1, 14 LXX an, mo den zu erfchaffenden Hims 
melstörpern die Beftimmung gegeben wird, zu fein ls amueia, 
zul eis xugos, zal eis jusgas, zal sis diavrods. Sie 
ſollen die Zeiten geradezu „regieren“ (Foxew wis Tjusgag zul 
Ts vvxroc V. 18). Unter jenen leuchtenden Geftalten aber, 
welche das Altertum als belebt ſich vorftellte, fand ſowohl das 
ungezählte Heer der Engel wie der Dämonen feine Stelle. Ge 
hörten nun jenen die agxes (vgl. LXX 1. c. V. 16: at aggai 
wos jusgag ... rñg vuxcds) und EFovoles an, welche, wie bie 
davayıj des Geſetzes ihr Werk geweſen (Cal. 3, 19), nun auch 
die Wächter feiner Autorität waren (Kol. 2, 14f.; vgl. Gal. 4, 
3. 5), legteren aber die Götter der Heiden (1Ror. 10, 19f.), fo 
hatte wirffich der von Chrifto zum Geſetz ſich wenbende Heide ſich 
wieder unter die Herrſchaft derfelben Klaſſe von Mächten geftelit, 
der er durch die Belehrung zu Ehrifto entgangen war (Kol. 2, 20): 
er blieb, was er gewefen, gefnechtet unter die Elemente der Welt 
(Sal. 4, 3). Daß der paufinifche Ausdrud nur perſönlich wirt 
ſam gedachte Mächte bedeuten Tann, geht daraus hervor, daß die 
felben Gal. 4, 8f. als ein. anderer Ausdrud für die pass ur 
Öyres Heol eintreten, deren Dienft dem des wahren Gottes ent- 





Die galatifhen Gegner des Apoftels Paulus. 141 


gegenfteht; wie fie denn auch Kol. 2, 8 die Autorität find, melde, 
Ehrifto gegenüber, die Überlieferung der Menfchen bedingt (vgl. 
aud die Idee der @yyeloı xoouoxgarogss Eph. 6, 12). Sein 
nun aber auch die arosgeia, was fie fein mögen: die Einhaltung 
der mannigfachen xasgos auf ihre Autorität Hin (beachte das ols 
dovisdev Hehsre) flieht unſeres Erachtens ihre Faſſung als 
Lefrelemente aus und giebt jenem Geſetzestum einen gewiſſen ſpe ⸗ 
lulativen Charakter, wie er zum ſchlichten Buchſtabentum der Pa⸗ 
(äftinenfer nicht recht ftimmen will. 

Die größte Schwierigkeit aber für ben, welcher Judäer zu 
Urhebern der galatifchen Wirren macht, bildet unferes Ermeſſens 
der Umftand, daß die Verführer den Galatern nicht die buchſtäb⸗ 
fie Erfüllung des ganzen Gejeges Haben aufbürden wollen. Denn 
daß dies der Fall geweſen, beweift zur Genüge die von Paulus 
(5, 3) mit fo viel Emphafe und wiederholt Hervorgehobene Ver⸗ 
pflichtung des Beſchnittenen zum Halten des ganzen Geſetzes, 
wege er auch 3, 10 mit Berufung auf das dnixaragarog 
nüg Ög odx dunevss n&cıv vols yeryganısvorss de Geſetzes 
felbft (Deut. 27, 26) Hervorgebt. Wie num? ubüer, welche 
in Gefegesfanatismus die von den Säulen der Gemeinde des⸗ 
abouierte Forderung der Befchneidung follten Paulus gegenüber aufe 
tet erhalten Haben, fie follten zugleich doch nur ein eklektiſches 
Halten des Gefeges für befehnittene Profelyten für nötig erklärt 
haben? Das wäre allerdings mehr Politik geweſen, als fi doch 
wohl auch mit einem an das Geſetz gebundenen Gewiffen vertrug, 
zugleich mehr Schlauheit, als bei folhem Eifer zu beftehen pflegt. 

Aber es war feine Politik; vielmehr entſprach der eklektiſche 
Charakter diefer Gejegespredigt dem eigenen Standpunkte der Pre⸗ 
diger. Oddd yag ol regiseuvöusvor aurol vönov Yuldo- 
covou, fagt der Apoftel von ihnen (6, 13)%). Und diefes Urs 
teil lann nicht daraus erflärt werden, daß ja doch die forgiamfte 





1) Wenn es nad) 6, 18 ausdrüclich bie Anftifter der Beſchneidungsbe - 
wegung find, welche ber Apoftel mit dem Ausdrud ok megsreuvöusvo, belegt, 
fo daun im diefem nur ein akumindſer Ausbrud für Juden gefehen werben, 
als bei denen bie Prazis der Beſchneidung fort und fort geübt wird. 


142 Franke 


Befolgung des Geſetzes immer noch Lücken offen laſſe. Der 
Apoſtel Hätte ſich ſelbſt dann mit ganz anderem Mage gemeſſen, 
wenn er fich Phil. 3, 6 als zard dixasoasenv zw Er von 
yevönevos Auswreros darftellt (vgl. Inf. I, 6). Nein, der 
Mpoftel, welcher Gal. 1, 14 mit einem gewiſſen Selbftbewußte 
fein fein rgodzonsov dv z@ Tovdatous Uredg nollods ovm- 
Ammdras dv TÖ yavaı mov, megiooordgus ImAmejs Unde- 
xuv zov nargıxev nov nagaddoswv aueipricht, ſieht ſich, den 
alten Pharifäer (Phil. 3, 5), einer Klaffe von Inden gegenüber, 
welche bei allem Nationalitätsdünfel und Gefegeseifer Mittel und 
Wege fanden, fi und ihre Sünger mit den orderungen des 
Geſetzes abzufinden. 

Wo aber haben wir dieſes etetifge Judentum zu ſuchen? 
Gewiß nicht in Paläftina und bei Paläftinenfern, in Jeruſalem 
und bei feinen Eiferetn, urfprünglichen Pharifüern (Apg. 15, 5), 
om allerwenigften. Es konnte nur da ſich bilden, wo das Juden 
tum, in andauernder Berührung mit dem griechifchen Heidentum, der 
Kritik und der Bildung desfelben gegenüber felbft eine Umgeftaltung 
erfahren mußte, welche, wenn fie Yeinen Verzicht auf feine Anſprüche 
bedeuten durfte, doch die Art ihrer Geltendmachung weſentlich vers 
ündern mußte. Der Bhilofophie der Griechen fegte nun der Jude 
fein Geſetz als die udeywaıs wis yvdcsns xal wis dAmdelas 
(Röm. 2, 20) entgegen. Das Geſetz in der Hand unternahm er 
es, bie Welt der Heiden feinem Gotte zu Füßen zu legen, und fe 
den hohen Traum feiner Nation, die Herrſchaft über bie Welt, 
auf dem Gebiete des Geiftes zn venlifieren. Dem unter dem 
Einfluffe Hellenifher Bildung Aufgewachfenen entzog ſich dabei, 
welche weitgehenden Sonzeffionen er bei Auslegung und wer 
dung bes Geſetzes an den Geift de3 Griechentums, alfo der Welt, 
des alav odros, machte. 

Leider iſt es nur eine einzige Provinz dieſes Hellenismus, der 
Aerandrinismus, welche uns duch eine reichhaltige Litteratur 
feiner Produfte hinreichend Mar vorliegt. Aber, was ohnehin in 
der Natur der Sache lag, dürfen wir um fo mehr der Ber 
ficherung Philos glauben, daß überall in der Zerftrenung das 
Judentum mit ihm gleiche Gefichtöpunfte, gleiche Ziele verfolge. 


Die galatifchen Gegner des Apoſtels Paulus. 148 


Bas aber Philo im Gefege findet und anpreift, das ſpricht er 
gleich im Anfange der Schrift über die Schöpfung ans: die Ans 
weiſung zu einem vollfommen naturgemäßen Leben. Der Mann 
des Geſetzes (6 vonsuos Ave) iſt zugleich der wahre Kosmopolit, 
der es verftcht ads =d Aodinne vis Yicans, 209° Fv zei 
ö odunas xdowos diowehsai, vas nedäeis dnnsuddvsv (De 
op. mundi 1. c. 1). Was die Ston ale deal aufftelite, das 
öuoloyoyasvas dijy, der Mann des Geſetzes weiß es zu reali⸗ 
firen. Denn Mofes, der Philoſoph ſchlechthin (pulocoglac dr’ 
av pIdaas dxgdeme 1. e. c. 2), dem Offenbarung bie 
genaweften Zuſammenhänge der Natur erſchleß (Xemomois ze 
nolld xal avvexsindrare zöv sis pics dvadıdaydek), 
hat es vermocht, Die innigfte Harmonie zwiſchen Gefeg und Welt 
herzuſtellen, zod x0auov vo vd al Tod vouov TE dumm 
owvgdovsos, 1. C. c. 2. Go gewinnt denn die Beziehung des 
Sefees auf die arosgeie vod xdamov ihr volles Licht. Und 
daß diefe jüdifche Gnofis, wie fie und bei Philo entgegentritt, auch 
in Kleinaſien heimiſch geweſen, dafür bürgt und. der Koloſſerbrief, 
nach dem es bie jubaiftifche Philoſophie“ eben mit den arosgele 
Tod xdanev zu thun hatte (2, 8. 28). 

Sind wir bis dahin nicht fehl gegangen, fo wird nun auch 
dagegen nichts Können eingewandt werben, wenn wir den Ausgang 
der Irrlehrer Galatiens nicht zunächſt in Jeruſalem oder Balk- 
fine, fondern innerhalb ber Kreiſe des kleinafiatiſchen Hellenismus 
ſuchen. Und da konnen es naturlich nicht Juden geweſen fein, 
welche, ſelbſt nicht dem Kreiſe der meſſiasglaubigen Gemeinde an« 
gehörig, ſich mit der Predigt von der Gültigkeit bes Geſetzes und 
dem Werte ber Beſchueidung im die heidenchriſtliche Gemeinde ein» 
geführt Hätten. Wir find vielmehr. an eine Evolution innerhalb 
des gafatifchen Gemeindelebens feldft verwiefen. 

Daß die Gemeinden Galatiens, wenn aud feine Stelle des 
Briefes unmittelbar davon zeugt, von Anbeginn auch judiſche Ele⸗ 
mente in fich beſchloſſen, lüßt fih zwar zugunften gewiſſer Theor 
teme Teugnen, nicht aber durch irgendetwas Thatſüchliches be⸗ 
reiten. Es folgt, da es in Galatien nicht am Juden fehlte, aus 
dee ftetigen Mifflonspragis des Mpoftels, für welche uns nicht 


144 Franke 


allein die Erzählungen der Apoſtelgeſchichte, ſondern auch das ftän- 
dige Tovdalo Te noWrov des Mömerbriefes (1, 6 u. f. w.), 
ganz beſonders aber fein Grundfag Röm. 11, 13f. (vgl. auf 
1Ror. 9, 19ff.) Zeugnis bieten. Unter diefer Woransfegung 
aber hat unferes Erachtens Hausrath a. a. D. das Auflommen 
seiner jubaiftifchen Bewegung innerhalb der galatifchen Gemeinden 
Har und einleuchtend bargeftellt. " 

Wohin der Apoftel kam, das Evangelium Ehrifti verkündigend, 
und wo immer ſich um ihn und fein Wort Gemeindlein und Ge 
meinden zufammenfchloffen, dahin brachte er auch die gottgegebene 
Sammlung der ygayal, für ihn das Offenbarungswort nicht nur 
des alten, jondern auch des neuen Bundes (vgl. 3. B. Gal. 
3, 8). Um diefes Wort verfammelte die neugegründete Gemeinde 
ſich zu gegenfeitiger Erbauung (Gal. 4, 21). Wer anders aber 
Tonnte, wenn der Apoftel felbft mit feinen Genoffen das neu ge 
brochene Feld verlaffen, der gewieſene Erflärer dieſer Schriften 
fein, als diejenigen, welde, im Alten Teftamente aufgewachſen, 
von Jugend auf in demfelben unterwiefen waren? Und wenn aud 
vielleicht unter den Bekehrten Galatiens ein Schriftausleger, wie 
Apollos (Apg. 18, 24), und fein Shynagogenvorfteher, wie Kris⸗ 
pus (18, 8), ſich befand: das Wort Pauli Röm. 2, 17ff. zeigt 
deutlich genug, mit welchem Anſpruch auf Autorität der Jude der 
Zerftreuung dem Heiden entgegentrat. Und wenn gerade des Paulus 
Schriftauslegung uns fo manden Einblick in feine ſchriftgelehrte 
Vergangenheit geftattet, was Wunder, daß auch andere Juden mit 
ihrer Schrifterflärung im Banne ber Vergangenheit ftanden! 

Daß ſich auf diefe Weife an taufend Punkten judaiftifche Ele⸗ 
mente, durch des Paulus geiftesmächtige Predigt zwar zurüdge 
drängt, aber doch noch nicht aus dem Bewußtfein jüdifcher Gläu- 
bigen ausgefchteden, geltend machen konnten, liegt auf der Hand. 
Was dafür forgte, daß fie zum Ausdrud kamen, hat Paulus felbft 
Hervorgehoben. Poſitiv und negativ Hat er es 6, 12f. ausge 
fproden, was die der Beſchneidung Unterliegenden, alfo jüdiſche 
Mitglieder der Gemeinde, dazu bringe, auch den Heidenchriſten die 
Beſchneidung aufzubrängen. Sie thun es uovov Iva zo oraugs 
roũ Xgiorod ur didxovsas und beweiſen fich dadurch als Leute, 


Die galatifchen Geguer des Wpoftels Paulus. 185 


welche sungovonnoar Hulovas Ev vagxl, Sie waren alfo 
Leute anderer Art als Paulus, welcher Verfolgung und Not era 
duldet wegen des Ärgerniſſes, welches eben das Judentum (1 Kor. 
1, 23) an feiner Kreuzespredigt nimmt, ohne daran zu denken, 
denfelben den einen Punkt zuzugeftehen, durch welchen er aller Not 
fih entziehen zu Können wohl bewußt war: sd zregszoumv Eus an- 
eiooo, vl Erı didxonas; dom xarıjeynsaı zo uxdvdalor 
«od osavgod (Gal. 5, 11). Sie Hatten, eben unter dem Ein« 
drude der paulinifchen Kreuzespredigt, fich bereit finden laſſen, 
unter Verzicht auf die Vorteile und Vorurteile ihrer Nationalität 
eine Lebensgemeinſchaft mit Heiden einzugehen, mit denen fie fi 
eines Helles erfrenten. Diefer Schritt aber aus der Gemein« 
ſchaft ihrer Volls- und Glaubensgenoffen heraus in die Gemeinde 
Iefu Chriſti ſchloß einen Bruch in fi, der fih dauernd um fo 
febhafter empfindlich machen mußte, als er eben ein Brud mit 
allen bisherigen Lebensbeziehungen war. Und als die erfte Zeit 
der Begeifterung vorübergegangen war (vgl. 4, 15), als die erfte 
Erbitterung der Vollsgenoſſen einem Syftem von Anfeindung, 
Kränkung und Verfolgung (4, 29; 6, 12) Play gemacht, da ver⸗ 
mochten einige den Verzicht auf Behaglichkeit und Anſehen nicht 
durchzuführen. Sie wußten fo gut wie Paulus felbft, auf was 
es anfommen würde, um bie Stellung eines Ausgeftoßenen in 
Jerael mit der eines Hoch Angefehenen zu vertaufchen (6, 12f.). 
Gelang es ihnen, die Heibnifche Gemeinde zur Annahme des Ge 
feges und der Befchneidung zu bringen, fo Hatten fie ein zauynue 
on deren Fleifhe. Und war nicht das zugleich der Weg, um 
auch die Volksgenoſſen mit dem Kreuze Chrifti zu verfühnen? 
Und wenn fie doch wußten, daß die Urgemeinde, dag Gemeinden 
im weiten Kreiſe Paläftinas mit dem Glauben an ben Meſſias 
das Leben unter dem Gefee verbanden, warum follten fie gerade 
auf dasfelbe Verzicht Leiften? Leiſteten fie nicht bamit zugleich 
auch anf alle Gerechtigkeit des eigenen Wandels Verzicht und 
machten fich der Greuel heidniſchen Lebens teilhaftig (vgl, 2, 15)? 
Und wie follte Chriftus das Geſetz abgethan haben, er, der doch 
ſelbſt unter das Geſetz gethan war (vgl. 4, 4)? 

So einte fi bei dem galatifchen mefiaegtänbigen Juden fein 

Zpesl. Etzb. Safız. 1888. 





146 Brante 


Intereſſe mit allen feinen früheren, immer noch in ihm fortwir 
tenden Anfchauungen, um ihm zum Prediger des Geſetzes für bie 
nenen Glaubensgenoffen zu machen, mie es der Zube ber Zer⸗ 
ſtreuung für die ihn umgebende Heibenfchaft zu ſein pflegte. 

Unb bei der bloßen Predigt blieb es nicht. Indem fi die 
Indenſchaft in der Gemeinde zu einer befonderen Gemeinſchaft zu⸗ 
fammtenfchloß, wie die ernemerte Beobatchtung des Geſetzes es not 
wendig mit ſich brachte, kam es zu einer Abſonderung vom dem 
dem pauliniſchen Evangelium verbleibenden Teile der Gemeinde, 
weiche einen Ausſchluß der letzteren ans der Gemeinſchaft bedeutete 
(4, 17). Und der Apoftel weiß fehe gut, wie gerade eine ſoiche 
Mafregel dazu angethan ift, auf unbefeftigte Gemüter Eindruck zu 
machen: er felbft hatte dergleichen im Antiocien mit angefehen 
(2, 12ff). Was wunder, daß der Apoftel ſolchen Berſahrens 
Motive mit dem allerftrengften Maßſtabe mißt (4, 17)? 

So ſcheint denn unfere Unterſuchung bei einem doppelten Her 
fultate anzulangen. Nachdem mir die Wirkfamleit jerufalenmlicher 
Einflüffe in Galatien, ſel es zugeftanden, ſel es nachgewieſen, haben 
wit nunmehr die Entſtehung der Wirren innerhalb bes galatifchen 
Gemeindekreiſes felbft wahrfheinlic gemacht. Uber eben biefer 
Dirpfizität des Charakters der Bewegung bedürfen wir, nm und ben 
Berlauf derfelben erffären zu önnen, welchen der Brief vorausfept. 

Es Tann ja nicht in Frage geftellt werden, dag dem Briefe 
bes Apoſtels an die Gemeinden Galatiens ein zweimaliger Aufente 
Daft des Apoſtels dafelbft voransgegangen war. Hatte Bei feiner 
erften Anweſenheit der Upoftel, felbit am Leibe gebrochen (4, 13), 
die Pflanzung der Gemeinden im reinen Geifte des Evangeliums 
Herrlich gedeihen ſehen, fo Hatte er bei dem zweiten Befuche die 
Loge fchon bedeutend verändert gefunden. Schon damals joh er 
fich gendtigt, mit der Wahrdeit rhcchaltlos vorzugehen, much. aaf 
die Gefahr Hin, jemandes Empfindungen zu verisgen (4, 16). 
Dem Ebklekticismus des helleniſtiſchen Juden gegenüber Hab er die 
Berpflihtung zur buchſtablichen Einhaltung des ganzen Gefeges 
für jeden Beſchnittenen hervor (b, 3: Magsugapas dd ui), 
fein Zeugnis mit dem Worte der Schrift feibft belegend (8, 10). 
Konnte nichts beffer als dies imſtande fein, den Heiden vom um. 


Die galatifchen Geguer bes Apoſtels Paulus. m 


bedachten Eintritt in den Bann des Geſetes abzuſchreden, fo wies 
der Apoftel nun aud nach, daß eine Verquidung des Evangeliums 
mit gefetzlichen Elementen eine fundamentale Anderung ſei und bee 
legte, göttichen Selbftbemuftfeins voll, einen jeben, welcher ben 
Häubigen Chriſti ein anderes Evangelium predigen wilrde, als 
das von ihm geprebigte, feierfih mit dem Fluche (1, 8f.). 

Es mar die jndaiſtiſche Bewegung, wie fie fi Innerhalb des 
gafatifchen Gemeindekreiſes felbft entwickelt Hatte, gegen welche der 
Apoftel bei feinem zweiten Beſuche auftreten mußte. Nichte vom 
allem, was ſich auf dieſen Seſuch des Apoftels bezieht, deutet auf 
eine ſchon ſtattgehabte jeruſalemitiſche Beeinfluſſung der Gemeinden. 
Ja, eine folche tft pofitiv andgefchloffen. 

Wenn es dem aufmerffamen Lefer bes Briefes nicht entgehen 
tanın, daß Paulus in demfelben mehrfach Punkte behandelt, welche in 
feiner mundlichen Predigt noch nicht ausgeführt vorlagen, fo gilt 
dies Infonberheit von dem erften Abſchnitte deoſelben (1, 11ff. 
und 2), it welchem der Apoſtel feine Beziehungen zur jeruſalemi⸗ 
ſchen Gemeinde und iheen Autoritäten barlegt, um dadurch bie 
Angriffe der Gegner anf die Göttlichkelt und Selbſtändigkeit feines 
Apoftolate und Evangeliums abzuweiſen (vgl. fogleih den Eine 
gang: yrogiio da Univ, ferner ©. 20 u. ſ. w.). Hat aber 
für den Apoftel noch bei feinem zweiten Aufenthalt in Galatien 
keinerlei Anlaß vorgelegen, fein Verhältnis zur Urgemeinde zu er⸗ 
Örtern, fo bleibt eine Anmefenheit .von friebeftörenden Elementen 
derfelben in Galatien bis zu jenem Zeitpunkte durchaus ausge 
ſchloſſen. Es müßte denn angenommen werben, daß jene erſten 
Unetheftifter fich zunädft ihrer wirkfemften Argumente gegen 
des Pauls ntorität und Evangelium den Gafatern gegenüber 
nicht ſollten bedient haben. Wirklich ficht bie Sache fo ans, wenn 
Holften, der doch auch eine doppelte Phafe des Judaiemus in 
Galatien ſtatuiert, diefelben Gegner ihre zweite Bearbeitung dee 
Gemeinden „mit wirkſameren Kräften" durchführen laßt (a. a. O. 
©. 54). Sie follen jegt erft „alle Gründe in den Kampf ge= 
führt Haben, mit denen die Indaiften das Evangelium des Paulus 
umd vor allem fer Apoſtelrecht im Geifte und im @emüte der 
Galater untergraben Lonnten“. 


10* 


188 Frauke 


Aber diefe Zurücdhaftung mit ihren ſicherſten Waffen tft, wenn 
man bedenkt, daß es fich um judaiſtiſche Eiferer handelt, fo un. 
wahrſcheinlich; fie ift ferner, wenn wir auf den Umſtand blicken, 
daß überall, wo es fih um judaiſtiſchen Angriff handelt, vom 
Galaterbrief bis Hinab zu ben Clementinen, biefelben Argumente 
gegen Paulus und fein Evangelium wieberfehren, fo von aller 
Geſchichte verlafien, daß wir der Auffafjung Holſtens das Urteil 
entgegenfegen bürfen: bei Annahme ber gleichen jubaiftifchen Gegner 
des Paulus vor und nach feiner Anmefenheit erklärt fi der mit 
fo erſtaunlicher Geſchwindigkeit auf die Legtere gefolgte (1, 6) 
Abfall der Galater nicht. 

Denn das ift nach unzweidentigen Anzeichen im Briefe über 
allen Zweifel gewiß, daß mit der Form des Judaismus, welde 
der galatifche Gemeindekreis aus ſich Heraus erzeugt Hatte, Pau⸗ 
{us bei feiner zweiten Anweſenheit wohl fertig geworden war. Noch 
war ja nad unferer Darlegung ber Sachlage feine apoftolifche 
Stellung und Autorität in keiner Weife erſchüttert. Nur dur 
ihn waren ja die Galater, was fie waren; und um das fehwere 
Wort des Anathems gegen jede Predigt eines anderen Evangeliums 
zu ſchleudern, bedurfte der Apoftel nicht, wie fpäterhin im Briefe, 
des gefchichtlichen Erweifes feines göttlichen Rechtes. Seine herz⸗ 
bewegliche Zufprache, von der er felbft fehr wohl weiß, was fie 
vermag (4, 20), brachte es dazu, daß von neuem „in gutem 
Sinne geeifert wurde“ und das Gemeindeleben aufs neue in 
richtigen Geleiſen ſich fortbewegte (4, 18; 5, 7). 

Solfte dennoch eben jenes Wort des Anathems für jeden, der 
ein anderes Evangelium einzuſchmuggeln verſuchen ſollte (1, 8f.), 
eine Andeutung enthalten von einer Gefahr, die auch der Apoftel 
fon wider die Gemeinde Heraufzichen jap? Uber dann hätte er 
gewiß nad; Kräften vorgebeugt. Vielmehr ſcheint der Sag 4, 18 
mit feinem Tone voll Indignation es auszufprechen, daß der 
Apoftel die Gemeinde verlieh mit den beften Hoffnungen für ihr 
ferneres Gedeihen. Stellen, wie 1, 6; 3, 1; 5, 7 beftätigen 
das. Anderfeits dürfte man ſchon ein Necht haben, aus Fragen, 
wie der 4% duäs SBdoxaver (3, 1), aus den Inveltiven gegen die 
„gewiſſen“ (zivds), welche die Gemeinden verwirren, das Evangelium 


Die galatiſchen Gegner des Apoſtels Paulus. 149 


verkehren wollen (1, 7; vgl. 2, 12), und den Ungenannten, welder, 
ſei es Hinter ihmen fteht, fei e8 von ihnen vorgefchoben wird 
(5, 10) darauf zu ſchließen, daß unterdeffen neue Feinde mit neuen 
Mitteln auf dem Plane erfienen find. Ohnehin ift es ſchwer 
denkbar, wie ohne ſolche Hilfeleiftung von außen die ſoeben erft 
niebergeworfene Geiftesrichtung ſich fo raſch Hätte fieghaft konnen 
aufs neue erheben. 

Daß aber diesmal es Paläftinenjer, Glieder der Urgemeinde, 
waren, welche den Angriff erneuten, ift teile oben aus bem Briefe 
nachgewieſen worden, teil® bedarf es, weil unbeftritten, feines Be⸗ 
weiſes. Wie fie kamen, ift eine fat müßige Frage. Sei es, daß 
die judaifierende Richtung (ob in ihrem Auflommen öder im Unter» 
Gegen, wer kann's fagen?) ſich dorthin um Hilfe gewandt, ſei es, 
dag die Zerufalemiten, vom Eifer der galatifchen Brüder um das 
väterliche Geſetz erfahrend, aus eigenen Stüden zur Stelle waren, 
den Löblichen Eifer zu fehen und zu ftärfen: jedenfalls iſt beides 
glaubhafter, als daß wildfremde Judäer, von nichts als Geſetzes⸗ 
eifer und Paulushaß getrieben, in einer rein heidniſchen, für ihren 
Stifter begeifterten (4, 14ff.) Bemeinde follten Eingang gefunden 
und mit ihrer Predigt Erfolg gehabt Haben. Freilich fanden jene 
bei ihrer Ankunft die Sache des Judaismus nichts weniger als in 
Blüte. Paulus Hatte foeben die Stätten verlaffen. Aber nicht 
nur die gemeinfame Nationalität, auch bie gereizte Stimmung, 
welche die rüdhaltlofe Geltendmachung der evangelifchen Wahrheit 
feitens des Mpoftels bei manden, infonderheit ben auf das eigene 
Anfehen bedachten (6, 12f.), mochte Herborgerufen und hinterlaſſen 
haben (4, 16), brachte es bald zu einer Allianz der alten und ber 
neuen Feinde des Gemeindefriedens (5, 15). 

Damit war denn freilich die ganze Situation mit einem Schlage 
verändert. Was jenes erfte Mal die auflommenden jubaiftifchen 
Tendenzen fo erfolgreich niebergefchlagen, die apoftolifche Autorität 
des Paulus, eben das bot den Judäern den alfergünftigften Ans 
griffopunkt und wurde der Hauptgegenftand ihrer Yuseinandere 
fegungen. Je weniger Paulus felbft, weder ſich zu rühmen (6, 14. 
2Kor. 11, 30 u. f. w.), noch fh zu empfehlen gewohnt (2 Kor. 
3, 1m. f. w.), darauf bedacht gewefen war, die Stunden, die ſich 


1260 Frauke 


ihm zur Predigt des gekrenzigten Chriſtus boten (3, 1), mit Er⸗ 
zahlungen von ſich und feiner Vergangenheit zu füllen, — um fo 
leichter mußte es jenen werden, diefelbe umter einem für feine Autos 
zität bedenklichen Lichte erſcheinen zu laſſen: als er noch Verfolger 
Eprifti und feiner Gläubigen geweſen war, da beftanden biefe 
ſchon, das wahre IJsrael in Joraels Mitte, unter der von Ehrifto 
jelbft geſetzten Leitung der 12 Apoftel und des. leiblichen Bruders 
des Here. Weun fih Panlas nachher belehrte, jo Hatte auch er 
biefe Autorität anzuerkennen. Thatſächlich konnte er auch von nie 
mand anders das Evangelium empfangen, das er nachher als das 
feine vexfündigte, als von jenen Augenzeugen usb Genoffen des 
Lebens des Herrn. Daß man in diefem Sinne des Mpoftels 
Befuche in Yerufolem, infowdergeit wohl den erften, iu ganz an« 
derem Lichte erſcheinen zu laſſen ſich bemühte, als mit der Wahı- 
heit in Einklang ftaub, beweift bie Verfigerang des Paulus Gel. 
1, 20. Bor bie Apoftel und Autoritäten der Urgemeinde — fo 
möchte man ferner entwiceln — Kat Paulus auch Angelegenheiten 
und ragen der außerhalb Paläftinas gelegenen Gemeinden zum 
Entſcheid gebracht. Endlich mögen immerhin die "Gegner des 
Apoftels auch darauf verwiefen Haben, wie Paulus, als er es in 
Antiochien gewagt, feinen Staudpuuft dem des Petrus gegenüber 
zur Geltung zu bringen, von allen Chriften aus ber Bejchneibung, 
felbft von Barnabas, feinem urfprimglicen Arbeitsgenofjen, fei im 
Stich gelaffen worden. So war bean fr den Galater ein Ber 
daffen der Fahne des Paulus und ein Übertreten in das Qager der 
Beſchneidungsleute felbft Durch ben Namen eines Barnabas gedeckt. 
Wider jenen mochten fi die Verführer ſelbſt eines haheren Alters 
im Glauben rühmen können. Und wenn es das ftrenge Wort des 
Paulus Gal. 5, 10 auch zweifelgaft Laßt, ob die Autorität, auf 
welche fie ſich beriefen, wirklich hinter ihnen ſtand, fo ſah ſich doch 
wohl Paulns felbft durch ihr Erſcheinen an hie sunds ano Tand- 
Kov erinnert (2, 12), welde früher einmal ihm ſelbſt wie dem 
Petrus glei ungelegen gelommen waren. 

Obenein vergifteten die Antömmlinge den ganzen Streit, als 
fe Maffen der Verleumdung zur Bekämpfung bes Gegners nicht 
verſchmahten. Denn anders lann es ja ſchwerlich gebeutet werden, 





ish 
Hu 
Hi 
Hp 
Hi: 
le 


ii 
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HN 


! 
F 
1 
V 
5: 


ff 


if haben bie Jeruſelemiten and in Hinſicht der bibliſchen 
Begründung des gefegeötvenen Evangeliums das Ihrige dazu beie 
geiragen, zu den vom Paulus abgewieſenen Argumenten uene diu ⸗ 
zujufügen. Jiſonderheit werben es die dauernden Vriollegien 6r 
raels geweſen fein, auf welche fie dem Tom zu legen beliebten uud 
denen gegenüber Paulus das Aufhdren aller ſarkiſchen Verſchieden⸗ 
Seiten in Chriſto zu betonen füg nötig fand (8, 28; 5, 6; 6, 16). 
So mag immerhin die Predigt der Helleniften mehr Geſetzeopre ⸗ 
digt, die der Judäer mehr Prebigt von den ewigen Gnaben 6 
raels geweſen fein. Aber ſolche Umerſchiede, vielleicht von ben 
Wirrern ſelbſt nicht empfunden, konnten am wenigſten eine verſchle ⸗ 
bene Aktion begründen. Und hier, wo die judaiſtiſche Forderung 
don Anfang an auf Beſchueidung gegangen war, fanden auch bie 
Lerunſalemiten am aflermenigften Grund, einem bem Gott unb dem 
Ceirge Israels fi zuwendenden Heibmifchen Gemeindelreiſe den 
Weg zu verlegen, den fie felbft am anderen Orte vergeblich zu 
führen bemüht geweſen waren (Apg. 15, 1). 

Es Liegt, ftreng genommen, ſchon außerhalb ber uns geftedten 
Aufgabe, wenn wie ben Erfolg diefes zweiten Auftretens des Js 
daionms im galatifchen Gemeindekreiſe darftellen wollten. Wenn 


152 Srante 


derfelbe ein fo durchfchlagender gewefen wäre, wie e8 nach manchen 
Stellen (vgl. fogleih 1, 6ff.; 3, 1f.) des Briefes den Anſchein 
hat, zumal der Apoftel durchgehende fi) an die ganze Gemeinde 
Hält, fo könnte uns das nad dem Ausgeführten gar nicht groß 
wundernehmen. Uber daß es keineswegs ſchon dahin gekommen 
war, daß die Gemeinde als folde -fih zu dem neuen Evangelium 
befannt hätte, geht nicht nur aus der Erwähnung des noch mit 
aller Bitterfeit fortgeführten Streites (5, 15 vgl. ®. 20. 22), 
fondern ganz befonders auch aus der Zuverficht des Apoſtels 
auf die Treue und Einficht feiner Gemeinde Hervor (5, 10), an 
welcher derfelbe trog der Gewaltfamfeit feiner Erregung (1, 6; 
3, 1), troß feiner Indignation über den Wankelmut der Galater 
(4, 18), ja momentaner Verzweiflung (4, 11. 20; 8, 4) fefthäft. 
Ya nah 5, 9 ſcheint e8 nur ein Meiner Teil geweſen zu fein, 
deffen Abfall zu befürchten ftand. Aber auch diefer Hatte wenig. 
ftens dem entfcheidenden Schritt der Beſchneidung noch nicht gethan. 
Ehe die DVerführer‘ es dahin gebradt, war Paulus zwar nicht 
wiederum felbft auf dem Plane, aber wohl ein Brief von ihm in 
den Händen der Gemeinde, welcher, auf die neu geſchaffene Sach ⸗ 
Inge ruckhaltlos eingehend und Punkt für Punkt die Argumente 
der alten, wie der neuen Gegner entfräftend, diefe felbft nach allen 
Seiten Hin richtet und bloßſiellt. 

Der Apoftel, welcher bei aller Berwunderung und Indignation 
dennoch feithält an der Liebe zu den Verirrten als feinen Sindern, 
und ihnen gegenüber mitten in den fehneidigften Auseinanderfegungen 
die füßeften Worte der Liebe findet (4, 12ff. 19f.), für feine Gegner 
hat er gleich Im Anfang nur Spott (1, 7) und Fluch (1, 8), die 
fi in der Verwünfhung 5, 12 vereinigen. Feierlich citiert er 
fie vor Gottes Gericht (5, 10), alle die Wirrenftifter. Sie find 
Feinde des Evangeliums Chrifti (1, 7) und der Wahrheit (5, 7) 
und, wie Lügenpropheten, jo auch Zauberer (8, 1). Sie mögen 
ihr Bild erfennen- in jenen Eindringlingen und falſchen Brüdern, 
welche, des Geſetzes Diener, nur als Spione wider chriſtliche 
Freiheit in die Reihen der Chriſten ſich gemengt haben (2, 4). 
Zn ſelbſtſüchtigem Trachten nach Wohlleben und Anſehen befangen, 
wollen fie einen Chriſtenſtand erfinden, den das Kreuz Chriſti 


Die galatifchen Gegner des Apoſtels Paulus. 158 


nicht mehr drüdt (6, 12f.), und entziehen dem Apoſtel feine Ge- 
meinde, um fich felbft an deren Spige zu fehen (3, 17). 

So Hält der Apoftel über feine Gegner Gericht. Dasjelbe 
erinnert noch an die Art, wie altteftamentliche Sänger über Gottes 
und ihre Feinde zu reden pflegen. Der Apoftel Hatte eben mit 
feinen Gegnern die gleiche geiftige Heimat gemein: das Alte Tefta- 
ment. 

Ob es ihm gelungen, mit dem Brief an: die Galater den Ju⸗ 
daismus, wenigftens für Kleinafien, niederzuſchmettern? Wohl 
fcheint er ihm die Herrſchaft über die Gemeinden Galatiens ent- 
riffen zu Haben (dgl. 1Kor. 16, 1): der fpefulative Judaismus 
aber, wie er in den jübifchen Kreifen der galatifchen Gemeinden 
ſich gebildet Hatte, er bleibt, wie die fpäteren Briefe mit Hein 
aftatifcher Adrefje beweifen, nach wie vor der ſchlimmſte Feind und 
Berwüfter der heidenchriſtlichen Kirche Kleinaſiens. 


2. 


Die alten hriftlichen Infchriften nach dem Text 
der Septnaginta, 





(Zu Jahrgang 1881, ©. 692Ff.) 





In mehreren der Abweichungen dieſer Inſchriften vom ber 
kömmlichen Text fieht Dr. Böhl willkürliche Veränderungen, 
welche in der Natur der Sache liegen und ganz irrelevant feien. 
Zu großem Teil find fie nicht einmal ſolche Veränderungen. 

In Le Bas 2068 = Pf. 21, 1135. 8. fei yaozeoa ftatt 
»olsac eine „erlaubte Sreiheit“. Über 100 der von Holmes · 
Parſons verzeichneten Pfalterien ftimmen darin mit der 
Inſchrift gegen ben textus receptus überein; ebenfo ber 
Korrektor des Sinaiticus. 


164 Die alten qhriftlichen Juſchriften ac. 


Zu Le Bas 2652 = Pf. 32, 22 bemerft Bohl: „Das zugis 
iſt, im Unterſchied zum Geutigen Text, vor wo eAsog on gejekt, 
mas tm Affelt der Aurede das Paflendfte iſt und auf keine 
befondere Lesart zurkdgeht“. Genau fo leſen 106 Pfal- 
teeien bei Holmes-Parfons, darunter auch A, cbenſo 82. 

Le Bad 2677 = Pi. 33, 9 maxagıoo avdgwmoo ftatt u. 
© ayne wird wenigftens von einer Handſchrift geteilt. 

Le Bas 2661 = Pf. 117, 26. 27 mit bem fehlenden Vers⸗ 
glied 26d, das ebenfo in mehreren Handſchriften und Eitaten fehlt. 

Le Bas 2654 = Pf. 90, 9. 10 naosı$ ovx ayyısı av u 
Geyvanazı "cov. Died 89 Haben mit ber Juſchrift gegen ben 
textus receptus 76 Handſchriften gemein. 

Falls das Wragment Le Bas 2653 [9⸗]00 swyupoo . 
we... wirklich, wie —— glaubt, auf Jeſ. 9, 6 qurächgefen 
ſollte, könnte man fett . . va vermuten, als Überveft 
des an genannter Stelle —EE auf xvooo folgenden Wortes 
Javuaoroo Bovins; vum ift im Griechiſchen feine gewöhnliche 
Buchjftabenverbindung. 

Durch diefen engen Anſchluß an bie handſchriftliche Überlie⸗ 
ferung gewinnen die Infhriften nod mehr an Intereſſe. 

Münfingen (Württemberg). &$. Akte. 


Uftert, Öfolampabs Stelung zur Kinbertaufe. 12 


3. 
Otolampads Stellung zur Kindertaufe, 


Bon 


Hof. Aarlin After, 


Marrer in Hiuweil. 





Wie Zwingli wurde auch Dfolampab erft durch die Angriffe 
gegen bie Kindertaufe veranlaßt, eine felbftänbige Überzeugung von 
her eigentlichen Bedentung des Taufſakramentes fich anzueignes. 
Es find Daher auch feine theoretiſchen Erürterungen alle beherrfcht 
won dem praltiſchen Intereſſe, ſich über das gute Recht ber 
Rindertaufe klar zu werden und dasſelbe, auch in Ermangelumg 
eines direkten Nachweiſes aus der Schrift, auf Grund einer wahre 
daft bibliſchen Anſchaunng von der Taufe überhaupt, einleuchtend 
darzulegen. 

Ob Okolampad jemals ebenſo ernftliche Bedenken gegen bie 
Kindertaufe gehegt wie Zwingfi, ift ungewig. Als B. Hubmeyer 
fh im Jannar 1595 mit ihm ins Einvernehmen fegte, that er 
8 in der beſtinnmitu Erwartung, bei ihm Sympathie für feine 
Anſchaunng zu finden Gr winfcht mer eine bentlichere Sprache: 
„bisher Habe kolamıpad uur verfchkeiert und fehr vorfichtig ſich 
ausgedructt, wie 23 die Umftäube ja erfordert, jetzt aber ſei es am 
der Zeit, mit ber Sprache Heranszurüden“. (Oecol. et Zu. 
Epist., ed. Bikliander, lib. I sm Auf.) Wohl möglich, daß 
fi diefe Bemerkung anf gelegentlich ihm zugetragene Äußerungen 
in Predigten ober Unterrebungen bezieht; etwas Schriftliches, das 
fie beftätigen wiirde, ſcheint nicht vorguliegen. Möglich aber auch, 
dag Hubmeyer ohme einen beſtimmien Arpaltspanft bei Ololam ⸗ 
pad ähnliche Bedenken vorausfegte, wie er fie bei defien Freund 
Zwingli von früher Her kannte 1), und dag er, weil er auf den 
letzteren nicht mehr zählen konnte, um fo zudringliher an ben 





1) Schelhorn, Act. hist. eccles. I, 121sq. 


156 Uferi 


erfteren fi) machte. Wahrſcheinlicher ift, daß Okolampad fih 
bisher der Beftreitung der Kindertaufe gegenüber, foweit fie ihm 
zu Ohren fam, zwar nicht wegwerfend, fondern ernftlih prüfend, 
aber immerhin eher abwehrend verhalten. Er konnte die Gegner 
verftehen, ihnen aber durchaus noch nicht beiftimmen, war aber 
immerhin von der Sache innerlich bearbeitet und wunſchte eine 
ausführliche Erklärung von Zmingli *). 

Doch bildet bei ihm im Gegenfag zu letzterem eine Haupt ⸗ 
inftanz gegen das Fallenlaſſen der Kindertanfe feine noch ziemlich 
tatholifierende Auffaffung des Saframentes. ALS Grund, warum 
er noch nicht beiftimmen könne, fhreibt er feinem Freunde in 
Zürich noch am 21. Novbr. 1524): „Auguftin Hält mich noch 
bei feiner Anficht feft: wenn das Saframent den Kindern auf 
fremden Glauben Hin gegeben werde, fo Helfe es ihnen dazu, daß 
ihnen die Erbfünde nicht angerechnet werde“. Das war nun freis 
lich nicht in dem üngftlichen, fuperftitiöfen Sinn der römischen 
Kirche gemeint, welde die Seligfeit vom Empfang der Taufe 
fchlechthin abhängig machte und darum mit deren Vollzug fo ſehr 
eilte, fonft Hätte Okolampad nicht, als er einft Thomas Münzer 
zum Gaft Hatte und dieſer ihm eröffnete, er taufe zwar die Kinder, 
aber nicht jedes einzelne gleich nad) der Geburt, fondern in Tängeren 
Zwifhenräumen von etlichen Monaten größere Kinderfcharen zu⸗ 
fammen, um der Handlung deſto mehr Weierlichkeit zu geben, — 
Okolampad hätte dies Verfahren nicht billigen Können, wie er doch 
that, „weil es bie hriftliche Kirche in feiner Weiſe beeinträchtige" °). 
Immerhin ift e8 ihm völlig Ernft mit der Annahme eines ftelle 
vertretenden, gnabenwirtenden Segens bes elterlichen und des Ge 
meinde · Glaubens, und man kann nicht umhin, darin einen Einfluß 
der Tatholifchen Lehre von der empfehlenden und fitrbittenden Liebe 
der Kirche, als Baſis der Kindertaufe, und von ber Tilgung der 
Erbfünde und der Infusio Sancti Spiritus, als deren Segnungen, 


1) Zw. Opp. VII, 869. 

2) Zw. Opp. VII, 869. 

3) Hagenbad, Bäter und Begründer ze. Lehen Otol's 72. Herzog 
Leben Oiol's I, 801f.; I, 2727. 


Okolampads Stellung zur Kindertaufe, 157 


zu erbliden. Denn in der „tumultuario‘‘ abgefaßten Antwort 
auf das am 16. Januar 1525 empfangene offene Schreiben Hub- 
meyers, darin, diefem unlauteren Charakter entſprechend, eine ges 
wiſſe Keckheit mit affektierter Demut Hand in Hand geht 1), führt 
er den Gefichtspunft noch weiter in feine Sonfequenzen aus: „Auch 
in den Kindern ift die Erbfünde, und fo lang diefe nicht verziehen 
ift, bleibt ihnen das Himmelveich verfchloffen. Nun weiß man 
aber, dag Gott ſchon Kinder von Gläubigen im Mutterleib gehei⸗ 
ligt und fogar zu feinem Dienft auserlefen Hat, um fie fpäter zu 
Wohnungen feines Geiftes zu machen. Wenn nun die Gemeinde 
der Gläubigen um ber Kinder Heil gläubig bittet, fo ift nicht an⸗ 
zunehmen, daß Gott dies Gebet verſchmäht. Heiligt er fie aber 
auf der Eltern und der Kirche Flehen hin, warum foll man fie 
nicht taufen? Auch nad Erod. 20 haben nicht nur die Kinder, 
fondern fogar die erwachſenen (alſo actu fündig gewordenen) 
Nachkommen einen Nugen von der Eltern Glauben. Ungetauft 
wären ja wirklich Chriftenfinder übler daran, als am achten Tage 
bejchnittene Judenkinder, an beren Gnadenftand niemand zweifelt“. 
Man kann freilich nicht fagen, daß Okolampad Hier mehr flatutert, 
als Zwingli und fpäter bie ganze reformierte Kirche ebenfalls 
lehrte. Man könnte im Gegenteil in dem Mitgeteilten einen klaſſi⸗ 
ſchen Ausdruc eines ihrer Lehrfäge finden, daß nämlich die Kinder 
nicht darum zu taufen find, damit ihnen die Erbfünde verziehen 
und der Gnadenſtand verliehen werde, fondern deshalb, weil jene 
ihnen ſchon verziehen ift, und weil fie ſchon vermöge der Ver⸗ 
heißung: „Sch will dein und deines Samens Gott fein“ im 
Gnadenſtande ſich befinden. Allein Okolampad ift fic ja feiner 
Übereinſtimmung mit Auguftin bewußt, und in dem, was weiter 
folgt, wird denn doch von dem um des ftellvertretenden Glaubens 
der Eltern willen gefegneten Taufakt die Infusio Sancti Spiritus 
in einer Weife Gergeleitet, wie fie der veformierten Anſchauung 


4) Der weſentliche Inhalt diefes Briefes ift ſchon in der Abhandfung über 
Zwinglis Taufiehre ffiggiert. Beiſpiel affeftierter Demut; „Wenn Öfolampad 
ihn ans Gottes Wort wiberlegen könne, fo werbe ex gern 600 Naden, wenn 
ex ſolche hätte, darunter beugen.“ 


158 Uferi 


fonft völlig fremd ift, mag immerhin eine Geiftesmitteilung an 
Angerwäßlte ſchon im Mutterlelb, bei Zwingli, bei Calvin und 
fpäter noch, ſporadiſch auftretende Lehre geweien fein. Otolauwad 
tft nämlich bei getauften Kindern, au wenn Lange feine Frucht 
der Wiebergeburt ſich zeigt, doch nicht vom Ausbleiben det Geiftes ⸗ 
wirkung und vom angel des Glaubens überzeugt; fordern ba 
wagt er von einem „nur tot ſcheinen den Glauben zu reden, 
der nichtöbeftoweniger Gott lebe“. So ſei's auch, mern wir 
ſchlafen: „Unfer Glaube entbehre eben nur gerade jet der Werke, 
libe aber Gott und jei nicht tot“ 1). Alſo nicht nur der objeltive 
Gnadenſtand, durch die ZTanfe bezengt und dem Gemüt verfiegelt, 
fonbern etwas Subfektives, namlich ein latenter Glaube, temporär 
gewirkt beim Taufalt und als befondere verborgene Gnadengabe 
dem Kinde verliehen um bes Glaubens und ber Füurbitte der 
Eltern und der Kirche willen, das iſt's, worin ſich erft nad) Ols⸗ 
lampad die Bebentung des Zanffaframentes erſchöpft. 

Um Tag nah Empfang des Hubmeherſchen Schreibens, alfe 
om 17. Januar 1525, wendete fich der basleriſche Reformator 
brieflich auch an den zurcheriſchen, teilte ihm dem weſentlichen In⸗ 
halt von jenem mit und fügte den Entwurf zu einer einläßfichen 
Antwort bei). In dem feinen Gefühl, daß ber in ber „eilfer- 
tigen“ (tumultuario) Antwort in den Vordergrund geſtellte Ge⸗ 
fichtspuntt Zwingli weniger zufagen werde, verſchweigt er ihm Bier 
zwar nicht, laßt ihm aber doch fehr zurücktreten, da er ihn erft in 
vierter Linie folgendermaßen geltend macht: die „significantia “ 
der Taufe, alfo ihr geiftiger Inhalt, gehe den Kindern nicht ab, 
wie Hubmeyer behauptet, denn fie Hätten den 5. @eift empfangen, 
wie er überzeugt fei ®); fie felen rein und aus Kindern des Zornes 
zu Kindern Gottes und ded Reiches geworden; Gottes Segens⸗ 
vergelßungen erftrechen fich ja auf Kinder und Kindeskinder, ja 
(Erod. 20) bis Ins tanfendfte Geſchlecht; Abrahams Glaube habe 


1) Das ganze Schreiben in Zw. et Oecol., Epist., p. 296. 

2) Zw., Opp. VIL, 888. 

8) „Spiritum Dei assechtis ut pläne mihi persuadeo‘‘, ffimmıt ganz 
zu der oben entwidelten Auſchauung vom ſchlummernden Glauben. 


Otolampads Steßung zur Kindertaufe. 160 


der ganzen uuſchuldigen Nachtommenſchaft genügt. Vorher aber 
führt er andere Geſichtspunlte auf, die fehr an Zwingli erinnern, 
wie er denn auch auf einen früher empfangenen Brief Zminglis 
fich beruft; nämlich erftens: nirgends ſei geboten, fo ängſtlich nad 
dem Glauben zu forſchen, fondern man habe für forgfältigen 
Tugendunterricht zu forgen. Zweitens: wenn Hubmeher fage, die 
Taufe ſei nicht zu betrachten als ein „signum nudum“, fondern 
als ein „symbolum praegnantibus et augustissimis verbis & 
Christo institutum (sc. in nomine Patris etc.)“, und dieſe 
Worte feien dur die Einfegung mit dem Zeichen unzertrennlich 
verbunden, fo daß, wer dieſes feines Inhaltes entleere (alſo es 
folgen erteife, welchen die „significantia‘“ nicht zufommt), auch 
jenen einen Schimpf anthue, fo fei zu entgegnen: Man fei an diefe 
Worte nicht abjofut gebunden, wenn man mir die 5. Trinität 
nicht verwerfe, auf jeden Fall dürfe mit ifmen keine Superftition 
getrieben werden; bie Mpoftel hätten auch nur auf den Namen 
Eprifti getanft. Drittens: Die Kinder feien in der Eltern Ge 
walt, und ihr Blut werde bon diefen gefordert. Daher fei es 
tein Unrecht gegen Gott oder Ehriftus, wenn die Eltern, ſelber 
gläubig geworden, im Glauben ihre Kinder taufen laſſen. 
Wirklich ſchrieb dann Okolampad — wohl nad Einpfang einer 
Wegleitung gebenden Antwort vom Zwingli 2) — an Hubmeyer im 
angebeuteten Stme ?), doch fo, daß im der Weglaſſung jenes ihm 
eigentümlichen Geſichtspunltes Zwinglis Einfluß deutlich zu erfennen 
if. Die Geiſtesmitteiluug wird Hier dadurch ganz von der Taufe 
abgelöft, daß letztere als überflüffig bezeichnet wird, wo erftere 
ſchon ftattgefunden, aljo bei gläubig gewordenen Erwachſenen, für 
bie überdies auch ohne die Taufe gar Feine Gefahr mehr ſei. 
Doch darf dies wohl nicht fo verftanden werben, ald wäre eine 
Taufe Erwachſener ähnlich wie in der apoftolifcken Zeit ganz ohne 
Wert, und als käme ein folder nur der SKindertanfe zu, fondern 
Dfolampad meint bloß, es fei fein Grund vorhanden, mit der 
Taufe zu warten, bie das durch fie fo tröftlich DVerheißene ſchen 


%) 68 ſqheint dieſelbe wicht diehr vorhauden zu fein. 
3) Zw. et Oec., Epist., p. 800. 


160 uſt eri 


vollſtändig eingetreten ſei und das Gnadenleben feinen Höhepunft 
erreicht habe; und namentlich macht er mit Recht auf die Schwie- 
tigkeit aufmerffam, bie wahre Erleuchtung bei Erwachfenen mit 
Sicherheit zu erleunen. In Ermangelung eines pofitiven Schrift 
beweifes begnügt er ſich mit dem negativen, daß die Bibel die 
Kinbertaufe wenigftens nicht verbiete, und betont, daß das von H. 
angezogene „Solcher ift das Himmelreich“, das allerdings von den 
Erwachſenen die kindliche Unſchuld fordere, doch eben burchblicen 
laſſe, daß die Kinder Gott angenehm feien und zu den Geheifigten 
zu rechnen. Auffallend ift nur der Schluß bes Briefes mit der 
Bemerkung: „Der Ritus, den du in der Gemeinde beobachteft 
(servas), gefällt mir aus der Maßen. Möchte er bei allen Bei⸗ 
fall finden.“ Es feheint fich dies auf die in Waldshut eingeführte 
Vorftellung vor der Gemeinde zum Zwecke der Füurbitte zu ber 
ziehen *), wodurch Hubmeyer ben Leuten einen Erſatz für die von 
ihm aufgegebene und nur auf befonderen Wunſch noch „ſchwacher“ 
Eltern vollzogene Taufe der Kinder bieten wollte. Diefen neuen 
Brauch Hatte er in feinem Brief Okolampad zur Kenntnis ger 
bracht, und es ift daher nicht eben wahrſcheinlich, daß diefer in 
feiner Antwort unvermittelt auf einen ganz anderen, in jenem 
Schreiben nicht berührten Gegenftand abgefprungen. Man begreift 
nur nicht recht, wie er einem Nitus zuftimmen fonnte, mit dem 
9. ausgefprocenermaßen die Kindertaufe allmählich verdrängen 
wollte; denn auf die Praxis bei glaubensſchwachen Eltern Tann 
der Ausdruc ritus body nicht wohl bezogen werden. Möglich, 
daß Okolampad, damit zufrieden, das gute Recht und den Gegen 
der Kindertaufe nachgewiefen äu haben, jenen Gebrauch, der ja die 
Vornahme derfelben nicht ausſchloß, fondern ſich fehr wohl damit 
verbinden Tieß, um des Ergreifenden und Erwecklichen willen, das 
darin Ing, und das ganz geeignet gewefen wäre, die Teilnahme der 
Gemeinde zu beleben und aud dem liturgifchen Akt neues Leben 
einzuhauchen, mit edler Unbefangenheit würdigte und ihm feinen 
Beifall zollte. Schon jenes Zugeftändnis an Münzer beweift ja, 


1) Das Nähere ſchon in ber Abhandlung über Zwinglie Lanfehme: Stab. 
u. Krit. 1882, Heft 2, @. 286. 





Okolampads Stellung zur Kindertaufe. 19 


daß er von jeher dem Beftreben hold war, die Taufe der Kinder 
zu einer erhehenben Gemeindefeier zu machen, 

Das unlautere Treiben der Wiedertäufer, wie e8 je länger je mehr 
sum Vorſchein kam, war am beften geeignet, Otolampad lebhafter 
noch für die Sache zu intereffteren. Am 8. Auguft des Jahres 
1525 ſchreibt er an Haller in Bern von der neuen, in der allger 
meinen Kirche bisher ganz unerhörten Doftrin der Anabaptiften, bie 
bei weiterem Umſichgreifen recht bedenkliches Unheil anrichten würde. 
Es ſei indefjen Anmaßung und nicht Offenbarung (praesumtio 
non revelatio). Origenes, Eyprian und Auguftin bezengen, daß 
die Sitte, Finder zu taufen, von den Apoſteln herrühre 1). 

Um diefelbe Zeit machten die Wiedertäufer Ofolampad felber 
in Bofel viel zu ſchaffen, und noch in den Yuguft des Jahres 
1525 mag das „Geſpräch etlicher Prädilanten zu Baſel, gehalten 
wit etlichen Bekennern des Widertaufs“ fallen, darüber Okolam⸗ 
pad am 1. Septbr. einen Bericht im Drud herausgab ?). Hier 
iſt nicht mehr von Tilgung der Erbfünde die Rede ®), fondern die 
Kindertaufe wird ganz im Zwinglifhen Sinne als Zeichen der 
Zugehörigkeit zur äußeren Kirche aufgefaßt. „Die Taufe“, fo Heißt 
es, „ist nicht nötig zur Seligkeit, fondern fie ift um des Nächten 
willen da. Sie ift ein öffentliches Zeugnis der Gemeinſchaft mit 
Chriſto, reſp. feiner Kirche. Wenn jemand wäre in einer Wuſte 
und hätte den rechten Tebendigen Glauben, ſo bedürfte er der 
Taufe nicht. Wer annimmt die hriftlichen Zeichen, den zelen wir 
für einen Chriften, er fei glich gfund oder ungfund, großen oder 
Uginen Glaubens. Will er dann fpäter Fein Chriſt fein, fo hat 
man Mittel, ihn für folden Ungehorfam auszuſchließen, bis er 
fich bekehrt.“ +) Es ift bemerkenswert, wie ſich Okolampad gleich 

1) güßti, Beite. V, 488. " 

2) Über das Geſchichtliche ſ. Hagenbad a. a. D., ©. 74 und Herzog, 
Leben Öfolampads I, 808 fi. 

8) Hubmeyer warf daher in einem Brief dem Okolampad vor, er 
leugne die Exbfünde und fei überhaupt nicht felbftändig, fondern von Zwingli 
inſpiriert (Öfol. an Zw., 19, Juli 1627, Zw. Opp. VII, 80). Wie wenig 
Wahrheit in beiden Anklagen, zeigen am beften die unten fligzierten größeren 
Dindihritten Dlolampade. 

4) Ofolampab weift hier und fpäter wiederholt auf bie gunnnullacha 

Theol. Stud. Dahrg. 1888. 


162 Uftert 


im Anfang des Geſprächs ganz auf den Standpunkt der Hifto- 
rischen Kontinuität ftellt, die Beſchneidung als beweifendes Ana» 
logon Herbeizieht, bie älteften Kirchenväter für die Kindertaufe als 
von den Apofteln Her üblichen Brauch in Anfpruh nimmt und 
die Frage aufmirft, ob denn die Taufe der unzähligen Kinder in 
der katholiſchen Kirche ungültig geweſen ſei. „Wie madet ihr 
Chriſti Reich fo eng und ſchmal!“ wirft er den Gegnern vor. 

Und in der fpäteren Schrift gegen Hubmeher fagt er am 
Schluß, es fei undenkbar, daß die ganze Kirche fo viele Hundert 
Jahre im Irrtum gewefen. 

Am 2. Oftbr. 1525 überfandte Okolampad Zwingli das Hub» 
meyerfche Buch „Vom chriſtlichen Tauf der Gläubigen“ mit den 
begleitenden Worten: „Mir feheinen die Wiedertäufer die Liebe 
außeracht zu laſſen, welche uns Klarheit giebt, was in äußerlichen 
Dingen zu beobachten fei“ (Zw. Opp. VII, 415). Das ift der 
Geſichtspunkt, unter welchem Okolampad von da an am liebſten, 
und wirklich nicht ohne Wahrheit, die Wiedertaufe verwirft und die 
Kindertaufe verteidigt. Er tritt in den Vordergrund in den beiden 
im Drud herausgegebenen Schriften: 1) „Unterrichtung von dem 
Wiedertauf, vom der Obrigkeit und vom Eid“, auf Earlins N. 
Wiedertäufers Artikel. 2) Antwort auf „Balthafar Hubmeyers 
Büchlein wider der Predifanten Gefpräh zu Bafel von dem Kin⸗ 
dertauf“, Auguft 1527 (über deren Beranlaffung ſ. Hagenbach 
a. a. O., ©. 108ff.). Die erfte Schrift, in dialogifcher Form 
abgefaßt, war aus einem vom Basler Nat verlangten fchriftlichen 
Gutachten hervorgegangen und wurde jenem gewidmet. Im Ein« 
gang bemerkt Okolampad, es könnte mandem feinen, man follte 
fih „an dem langwierigen (d. h. alten) Brauch ber Kindertaufe* 

"genügen laffen und fih nicht mit Widerfegung der voralters ſchon 
Widerlegten jo viel Mühe geben. Aber Gott Habe der Obrigkeit 
ein fo aufrichtiges Gemüt gegeben, daß fie auch die langwierigen 
Bräuche prüfen wolle, ob fie begründet fein. Okolampad bittet, 
ſich nicht daran zu ärgern, wenn er nicht ganz fo Iehre, wie es 


Hin. Über die Hierin zwiſchen ihm und Zwingli obwaltenden Differenzen vgf. 
m. a. Zw. Opp. VIII, 99. 


Otolampads Stellung zur Kindertaufe. 168 


noch vor furzem bräuchlich gewwefen, und wenn er nun denen oppos 
niere, die „von ihnen ausgegangen“. Auch Chrifto und den 
Apofteln fei ſolches begegnet. 

1. Carlin nennt den Sindertauf einen Greuel und eine Abs 
götterei. Okolampad entgegnet: „Solches verdient diefen Namen, 
wodurch Gott bie Ehre entzogen wird. Gott will durch Ver—⸗ 
trauen und Liebe geehrt fein. Aus diefen Gefinnungen entfpringt 
eben der Kindertauf. Der Wiebertauf Hingegen beruht auf Selbſt⸗ 
vertrauen, als ob das, daß einer ſich vorbereitet, ihm zum Chriften 
machte und nicht Gottes Erbarmen und Ermählung. Es ift nicht 
gleichgültig, wie man das Zeichen in Ehren hält.“ Kame dieſes 
weg, fo würde man bald den Kindern ben Gnadenftand abſprechen 
und fie für „Böcke“ achten. Auch verftößt der Eifer gegen die 
Kindertaufe gegen bie chriſtliche Breiheit, die kein ſolches Gebot 
duldet, jondern die äußerlichen Dinge zur Ehre Gottes, zur Er- 
bauung und zum Nuten des Nächften gebt wiffen will. Die 
Verwerfung des Kindertaufes führt alfo zu „Geiftgefangenfchaft“, 
ift ein Greuel und wider das pauliniſche: „Alles ift euer“. los 
lampad bemerkt: „er Habe im ſolchen äußerlichen Dingen nie fein 
Verbot aufgeftellt, fondern er wolle es ber Liebe befehlen und 
möcht wohl leiden, daß der Tauf. verzogen würd (mie Gregor von 
Nazianz riet) bis anf das dritte Jahr, wann nit fo vil Gfährd 
jegt zur Zeit baruf ftünde *). Aber Carlin made ohne Schrift 
grund ein Verbot daraus, das ‚eine Pflanze fye nit vom Vatter‘.“ %) 


1) Diefe freimütige Bemerkung warf katholiſcherſeits Staub anf: der Do- 
minifanee Profeffor Ambrofins Pelargus gab Opera contra Anabaptistas 
herans (Coloniae 1534), darunter in Eleutherobaptistas, qui recens est 
error, und Refutatio consilii Oecolampadiani de differendo parvulorum 
baptismo usque in eam aetatem qua jam lallare incipiant (Fußli 
a. 0. O. V, 454). 

2) hnlich Otolampad in einem Brief an bie Berner vom 28. April 
anno ?: „es beſtehe allerdings fein Geſetz, daß man bie Kinder folle taufen, 
aber auch feines, daß man es umterlaffen folle. Wir beſtimmen nichts 
über Tag und Jahr, verlangen aber von ben Gegnern basfelbe. 
Eine folde externa res fei lege caritatis dispensabilis ad aedificationem 
proximi. 

ı1* 


164 Uferi 


Chriftus Habe freilich die Taufe eingefegt, da er felbft fih taufen 
ieh, aber er habe nicht wie ein gewöhnlicher Geſetzgeber genaue 
Vorſchriften über die äußerlihen Dinge aufgeftellt, ſondern das 
Geſetz bes Geiſtes in unfere Herzen gegeben, famt ber Salbung, 
die uns Ichre, im Geift der Liebe zur Erbauung folge 
Dinge zu verwalten. 

2. Einen weiteren Beweis gegen die Finbertaufe nimmt Carlin 
daher, daß er fagt: „Wer das Geſetz Gottes Äbertritt, bebarf ber 
Wiedergeburt. Kinder ‚übertreien‘ noch nicht, brauchen alſo auf 
wicht wiedergeboren zu werden.“ Okolampad entgegnet zuvörderft, 
daß nicht das irdiſche Waffer, fondern nur der Geift und „das 
Waſſer, welches Ehriftus giebt“, bie Wiedergeburt wirke 1). Übri- 
gend werde doch Carlin nicht leugnen wollen, da auch die Kinder 
mit der Erbfünde behaftet und der Wiedergeburt bebürftig feien. 
Warum ihnen dann aber das Zeichen verweigern? Carlin werde 
nun zwar jagen: Wenn fie „verfehen“ (präbeftiniert) feien, werben 
fie doch felig. Und gewiß, für Gott fei die Taufe nicht nötig; 
vor ihm gelte nur die neue Kreatur, der durch die Liebe thätige 
Glaube, kein äußerlich Wert als ſolches. Aber die Taufe fe 
nötig zur Aufnahme in die Zahl der Efriften, „zur Einfchreibung 
in da6 eich der Himmel, d. 5. im die Zahl derjenigen, die dem 
Chriftenuamen tragen und bie chriftlichen Saframente empfangen 
Haben“ ; fie werbe auch nit unterlaffen werden, wo der durch bie 
Wiebe wirkende Glaube ſei. (Das heißt body wohl: er ift’s, ber 
alferdings der Taufe auch Wert vor Gott giebt.) 

3. Carlin will in bekannter Weife aus Matth. 28 die Predigt 
als das ber Taufe notwendig voransgehende prius ableiten. Olo⸗ 


2) Darin denkt Olblampad fo enfchieden und Mar wie Zwingli, wenn er 
auch nicht immer fo ängffid), ja peinlich, vor myſtiſch Aingenden, mißverſtänd - 
lnqhen Webensarten fich Hüte. So ſchreibt er 4. B. unterm 16. San. 1830 
au Galler: „Ih möcht am meinem Ort nicht lengnen, ba das Tanfwefier 
fi ‚aqua regenerans‘, ben Zäufling in einen Sohn der Kirche umwandelud, 
während er vorher von ihr nicht als folder anerfaunt wurde. Natüre 
Ui ſei bie veinigende Kraft zicht dem Wafler, fondern dem Binte Eheifti um 
dem 5. Geifte zuzufchreiben. 


Öfolampads Stellung zur Kindertaufe. 165 


lamyad kam aber in jener Stelle nicht die Einfegung der Taufe 
erblicken, fondern geht auf die Johannestaufe und auf das anfäng- 
lie, bloß auf den Namen Jeſu ftattfindende Taufen der Apoftel 
zurüd. Zweierlei Taufen anzunehmen, gehe aber durchaus nicht 
an, fonft hätte Ehriftus nicht biefelbe Taufe empfangen wie wir. 
Man dürfe auch nicht fagen, vor Chriſti Leiden Habe man es aller« 
dings mit dem der Taufe vorausgehenden Unterricht fo genam nicht 
genommen, und es jei „de Fragens und Unterfuchens wicht fo 
viel geweſen“, nachher aber fei hierin größere Strenge eingetreten; 
denn je reichlicher die Gnade, um fo freier und offener müfle auch 
der Zugang zu berfelben fein. (1) Und wielang man denn eigent⸗ 
lich zuvor lehren follte? Es gebe ja mande, die den Glauben fo 
fangjam faſſen, dag man wohl 30 Jahre ohne großen Erfolg 
prebigen fönnte. (1) Und was für einen Glauben man denn eigent⸗ 
lich fordern wollte, „einen wahren oder geftifteten?“ (ſoll wohl 
heißen: einen urwüchſig Tebendigen oder bloß angelernten?). Die 
Apoftel jelber feien, als fie zu Jeſu Zeit tauften, noch fehr ſchwach 
im Glauben und Berftändnis geweſen, fie werden aljo auf jeden 
Fall nicht angſtlich anterſucht haben, wer der Taufe würdig ſei; 
das Hätte auch den freien Zugang zum Herrn gehindert, die Blöden 
hätten fich nicht getraut, zu antworten. „Der Lauf iſt eine Thüre; 
ob man ſchon vor derſelben micht lehrt, gung ift, daß man drin 
lehrt, und daß der Thorwart alle einläßt, von denen Hoffnung ift, 
daß fie gelehrt mögen werden.“ Bei den Kindern, bie fih ja noch 
ziehen laſſen, könne man dieſe Hoffuung Haben. Es ift Yanm zu 
feuguen, daß hier das praftifche Jutereſſe der Erhaltung ber Volles 
fire & tout prix die Darftellung allzu einfeitig und offenkundig 
beeinflußt, als daß fie auf die Gegenpartei einen überzeugenden 
Eindruck Hätte machen können. Um fo weniger werden folgende 
Ausführungen anzufechten fein: es fei Wahn, eine reine Kirche 
herſtellen zu wollen, darin keiner mehr einen Fall thut. Statt 
durch Einfügrung der Wiedertaufe die Gewiſſen zu beſchweren mit 
folgen merfullbaren Forderungen (fi von der Sünde ganz rein 
iu erhalten) und fie dadurch kleinmütig zu machen, folle man lieber 
bei der Kindertaufe bleiben und die Umſtehenden zu chriſtlicher Er⸗ 
diehung ermahnen. „Richt Baptiften feid ihr“, jo ruft Ofelampad 


166 Ufteri 


den Gegnern zu, „fondern, wie die Alten ſchon dieſes Irrſal 
nannten, Satabaptiften, d.7H.5Ertränfer; denn ihr bringt die edlen 
Seelen und guten Konfeienzen in eurem Tauf um.“ Wer fih 
wiedertaufen läßt, weiß nicht, was er thut, ober er giebt dem 
Waſſer zu viel zu. „Gern befchwert der taufendliftig Tüfel unfere 
Gewiffen“ wegen auf äußerliche Dinge bezüglicher Zweifel und 
Bedenken und läßt uns in innere Unruhe geraten, ob wir wirklich 
die rechte Taufe haben, und ob ihr nichts zu ihrer Wirkung fehle. 
Hm Ernft billigt Okolampad, daß Athanaſius zwei Knaben, die, 
die Chriften nahahmend, einander tauften, nicht noch einmal taufte, 
fondern fie nur fragte, ob fie im Eruft wollten Chriſten werden. 
„Der Zauf fei ja im des Herrn Worten gefegnet gewejen“ ?). 
Er befürwortet aljo in der That „den freiften Zugang zu dem 
mildeften Herrn“, will jede hemmende Schranke befeitigt und allerlei 
Bolt „zu dem großen Abendmahl, d. 5. zu der Verfammlung der 
Ehriften“, Herzugetrieben wiſſen. 

4. Carlin wendet ferner ein, daß in der Apoftelgefchichte kein 
Beifpiel von Kindertaufe anzutreffen fei; aber Okolampad ente 
gegnet, daß, wenn man einen volllommenen Glauben fordern mollte, 
dies zu immer neuem Aufſchub und am Ende zu gänzlichem Unter 
bleiben der Taufe führen müßte. Won den Kindern könne man 
das Beſte Hoffen. Und wenn man nun dem durch die Taufe 
einen Ausdrud gebe, fo fei folhe „Anzeigung ihrer Berus 
fung, wie fie viel Tauſenden nicht. widerfahre, eine ſonderliche 
Gnade Gottes“, deren fie als Chriftenkinder gewürdigt werden. 
So wenig e8 verboten fei, Kinder zu taufen, fo wenig verftoße 
es gegen den Glauben, gegen die Erbauung und gegen die Liebe. 


3) Bor. über diefe Handlungsweiſe, die auch Luther billigt, Steig bei 
Herzog, Real-Enc., Bd. XV, ©. 472. Sie beruhte jedenfalls, wenn über 
Haupt die Sage hiſtoriſchen Wert Hat, auf ganz anderen, ben Ololampadiſchen 
gerade entgegengeſetzten Lehrvorausſetzungen von der „objektiven Wirkſamkeit ber 
in gehöriger Form erteiften Taufe”. Wenn fpäter fogar ein Thomas von 
Aquino unter deutlicher Bezugnahme auf diefe Sage lehrt, bie Wahrheit bes 
Saframentes werbe geradezu aufgehoben, wenn jemand nicht dasſelbe im Gruft . 
verwalten, fondern ein Spiel treiben wolle, jo Hätte Otolampad jedenfalls mins 
deſtens ebenfo viel Urſache gehabt, die richtige Intention zu poftulieren. 





Dfolampads Stellung zur Kindertaufe. 187 


Aus Beispielen aber, wie fie Carlin aus der Apoftelgefchichte zu 
Ungunften der Kindertaufe herbeiziehe (Kämmerer x.), fei kein 
Geſetz und fein Verbot abzuleiten ?). 

5. Wenn endlich Carlin betont, bie Taufe waſche feine Sünde 
ab, fondern fei ein Bundeszeichen mit Gott, dadurch das Gewiffen 
die Verpflichtung auf fi nehme, das Fleiſch zu dämpfen und nad 
empfangenem Zeichen, als mit Chriſto auferftanden, unfchuldig zu 
feben, fo kann Okolampad im allgemeinen und. namentlich mit 
Bezug anf das erfte völlig beiftimmen; nur Hält er es nicht für 
überflüffig, nachdrücklichft zu erinnern, daß aud das zweite (dem 
neuen Wandel) nicht der äußere Tauf, fondern nur der h. Geift 
wirte, und daß das Zeichen als bloßes Erwedungs- und Er» 
innerungs mittel und infofern als Werkzeug des Geiſtes zu 
betrachten fei; an und für fich aber Habe weder der Tauf noch 
der Wiebertauf folhe Kraft. Möge immerhin in der Apoftel« 
eeihichte kein Fall von eigentliher Kindertaufe erzählt fein, fo 
wiſſe man doch, daß die Getauften oft erft Hinterdrein gründs 
lich belehrt und ermahnt worden fein. — Und wenn ſchließlich 
ſich Carlin auch noch gegen „des Papftes verzaubertes Taufwaſſer“ 
ereifert, fo teilt Okolampad durchaus feine Entrüftung über 
das abergläubifche Beiwerk und bemerkt, daß er ſchon vor zwei 
Jahren dagegen geprebigt; aber er läßt darum doch nicht gelten, 
daß die bisherige Taufe eine Taufe auf des Papftes Namen und 
alfo ungültig geweſen fei. Und am Schluß redet er nochmals 
unter Hinweis darauf, daß Abraham fogar Sklaven beſchnitten, 
der größten Weitherzigleit da8 Wort, denn „denen, welchen Chriftus 
die Enden ber Welt zum Erbteil gegeben, müſſe der Zugang zu 
feiner Lehre und Gnade Hochgefreiet fein“. Man fieht deutlich, 
die Taufe wird Dfolampad unter der Hand aus einem Sakrament 
der Wiedergeburt zu einem Satrament der Berufung. 
Er wilf fie betrachtet wiffen als einen mit möglichiter Liberalität 
zu fpendenden Erftlingsgruß der univerfalen Gnade Chrifti. 

Nicht minder entſchieden nimmt Dfolampad den Standpunkt 


2) Im der Schrift gegen Hubmeyer erinnert Okolampad am Schluß an 
die apoſtoliſche Prazis, bier und da ganze Häufer zu taufen. 


2168 Uferi 


evangeliſcher Freiheit und Innerlichkeit in der anderen Schrift 
gegen Hubmeyer ein !). 

Wenn Hubmeyer behauptet, in Sachen, welche die Ehre Gottes 
amd unfere Seligfeit betreffen, entfcheibe noch nicht der Mangel 
eines Verbotes, fondern es fei geradezu ein Gebet erforderlich, 
denn nach Offenb. 22 fei auch auf das „Hinzuthun“ ein Fluch 
gelegt, und in jenem Worte Jeſu Heiße es: ede Pflanze, die 
mein himmliſcher Vater „micht gepflanzt”, und nicht „die er ver- 
boten Hat“, — fo entgegnet Okolampad, das hebe alle chriſtliche 
Freiheit auf, und auch der Salbung, von der 1%Yoh. 2 fiche, daß 
fie alles lehre, bleibe dann nichts mehr zu lehren übrig, Das 
eine, das not thue, ſei das Werk Gottes, daß wir glauben (Joh. 
6, 29); fei durch dies Inwendige der Grund gelegt, dann dürfe 
über das AÄußerliche die Liebe zu Gott und zum Nächten ent» 
ſcheiden. Alle Lehre, die dem Glauben und ber Liebe ent» 
fprede, fei, wenn auch nicht buchftäblich in der Schrift ente 
Halten, dennoch eine Gottespflanzung, fo gewiß als Glaube und 
Liebe aus Gott, und ihr Privilegium die Salbung. „Ein armes 
Leben“, ruft Okolampad aus, „mern alle nügliche Gewohnheit 
und Ordnung aufhören follte, fofern nicht ausdrücliches Schrift 
wort fie ſchutzte; wer möchte da felig werden? Dann wäre der 
Himmel der Schriftgelehrten allein!” — Man miffe zugeben, daß 
betreffend die Zudienung des Taufſakramentes noch mandes 
nicht normiert, ſondern der Freiheit anheimgeftellt fei. Am wenige 
ften verdiene die Kindertaufe den Vorwurf ber EIeAoFgnaxela (Kol. 
2, 23), als etwas, das dem Glauben und der Liebe gemäß, dem 
Nächften nüglich und Gott mohlgefältig fei; eher treffe jene Anklage 
die Wiedertaufe. Inſtruktiv fei das Beiſpiel des Paulus, der der 


1) Beranlafjung zw derfelben war das Ausgangs 1526 (vgl. „nuper“* 
in einem vom 1. Dezbt. batierten Brief an gwingu, Zw. Opp. VIE, 687) 
ihm in bie Hände gelommene Büdjlein „wider der Predilanten Geſpräch zw 
Bafel*. Yan kurzen Vorwort bemerkt Ölolampab, Hubmeher bewähre ſich ganz 
ale der Alte und ſei aljo des Mitleids nicht wert geweſen, das er für ihn 
empfunden, ba er „Bitger zu Wellenberg* gewefen (. h. im Mellenberg in 
Zürich eimgekerkeet). ¶ Er macht ihm zum Borwutf, da er nicht aufrichtig zu⸗ 
werfe gehe, fondern feine Worte derſtümmle. 





Hlolampads Stellung zur Kindertaufe. 168 


Zunwtung, den Titus zu befdmelden (Gal. 2), fi wiberfeigte und 
doch fpäter felhft (Mpg. 16) den Timotheus befcnitt, „damit 
weder mit Gebot noch mit Verbot chriftliche Freiheit Aberladen 
werde“. Der apolalyptiſche Fluch anf jegliches „Hinzu- oder Hin⸗ 
wegthun“ beziehe fih nur auf diefes Weisfagungsbuch und wolle 
der Verfalſchung desſelben durch eigene Trämmereien wehren. So⸗ 
gar die römifchen Zeremonien Könnten geduldet werden, ſofern fein 
Aberglaube damit getrieben würde, und fofern fie chriſtlicher reis 
heit anheimgegeben wären '), Gegen ben Sauerteig der Selbſt ⸗ 
gerechtigkeit kehrt ſich Ofolampab mit der treffenden Bemerkmg, 
ein Sakrament ſei mehr „eine Bezeugung des Gegenwärtigen (d. 5. 
des objektiven Gnade) als ein Gelubde und Verſprechen von Zn. 
fünftigem“ ; wo letzteres zu ſehr hervortrete, da erfolge entweder 
ſtolzes Selbſtverttauen ober Verzweifluug, anf jeden Ball Anlaß 
zu geſetzlichem Weſen, „zum Gezwang und Gedrungenheit, ſolche 
Gutheit zu them“, und dus fel vor Bott wertlos. Dem Dringen 
auf ein Mares Schriftwort Hält Okolampad die Brommen vor 
Mofes entgegen; und am wenigften foll denjenigen Mangel an 
Glauben vorgeworfen werden, die überzeugt find, daß das Leiden 
Chriſti and Eräftig genug für die Kinder fei, „welche dem neu ⸗ 
geborenen Chriſtus mit threm Blut fogar zuerft Zeugnis gegeben“. 
Huömeyer jet ein Buchſtabendienet, und dabei Höre „alle Ber 
Heihung von Geiftlichem mit Geiftlidem* (1 Kot. 2, 13), aller 
Fortſchritt in der Erkenntnis durch die Salbung auf. 

Hatte Ofolampad ſich früßer über bie fiellvertretende Kraft 
des elterlichen Gluubens zum mindeften etwas mißerftändfich aus 
geſprochen, fo lehnt er jegt mit Entſchiedenheit die Anffaffung ab, 
als ob fremder Glaube (ſei's der Eltern, fers der Zengen, ſel's 
der Kirche) ein Kind felig made. Die Taufe bedinge die Yuf- 
nahme in Die Kirche, die Segnungen ber letzteren aber feien Iedig« 
lich in Chriſti Berdienſt begründet; umfromme Eftern feien ihren 


3) Ghavattechfifg, für ben feriecen Gtandpuntt, den Okolampad einteitmant, 
Manch bie das Nachtmahl betreffeude Bernerkang, datz durchaus nicht alle, 
tweidhe 08 zwat mac romiſchem Metns, aber bemody mit glänbigem Wırkangen 
au Chriſto genlepen, zu verbatmmen fein; „wenn er ſelbſt vor 6 Zuhren mer 
ſtorben wäre, ex wirche deshalb keiue Furcht Haben“. 





m. Ufteri 


Kindern kein Hindernis, indem ja doch ber objektive Kirchenglaube 
befannt und in Kraft der Verheißung die Gnade garantiert werde, 
Daß man Taufzengen nehme, fei zwar eine finnreiche Zeremonie 
und bedeute, daß das Kind fortan ben irdiſchen Vater laſſen und 
dem himmlifchen anhangen folle, wolle aud für genügende Ga- 
rantie hriftlicher Erziehung forgen, aber am Ende könnte auch ein 
Vater felbft fein Kind aus der Taufe heben. 

Auch Okolampad rekurriert auf bie „Firfefung“ (Prädeſti⸗ 
nation) und zeigt, wie dieſe ewige Huld, die dem Glauben, ihrem 
Ausfluß, voransgehe, die Kindertaufe vollftändig rechtfertige, 
miewohl erwählte Kinder, auch wenn fie vorher ftürben, durchaus 
keinen Nachteil Hätten 1). Wie Mein müßte die Zahl der Chriſten 
werden, wenn man nur Erwachſene mit vollkommen gewiſſem 
Glauben taufte! Allerdings bedeute die Taufe Verzeifung ber 
Sünde, aber fie empfangen, heiße Iediglich in das Volt aufge 
nommen werden, mit welchem Gott einen Bund gemacht, daß er 
feiner Sünden nicht wolle gebenfen. Das Waffer nehme feine 
Sünde weg. Noahs Glaube befchirmte auch das ohne Glauben 
in die Arche eingelajfene, nur nicht widerfteebende Vieh; follte es 
nutzlos fein, unmündige Kinder durch die Taufe in die Kirche eine 
zulaſſen? Hubmeyer Habe übrigens ſchon durch Zwingli „und 
ach ihm durch den Baderus* *) deutlichen Beſcheid bekommen. 
Warum er nicht nach Mark. 16 „auch bie Wunderzeichen, bie den 


1) Es zeugt von ber fehonenden Milde, mit ber Dfofampab das frommt 
Gefühl behandelte, wenn er nichtedeftoweniger in einem Briefe am Haller vom 
16. Januar 1530 ſchreibt: „IH möchte es nicht als einen Meiberaberglauben 
bezeichnen, mit ber Taufe kranker Kinder zu eilen, nur möchte ich auch den 
Gefichtspunkt und das Urteil der Kirche nicht geringachten“ (pro nihilo habere 
caleulum et judicium ecelesiae). Zw. Opp. IV, 198. 

2) Okolampad kannte alfo die in einem fpäteren Auffat zu ſtigierende Schrift 
Babers; der Geſichtspunkt des „nicht Widerſtrebens“ mag aus ir entlehnt fein. 
Den gleichen Gefihtspunkt betont Öfolampab in einem ungefäh gleichzeitigen 
Briefe: Zur Taufe ſei nur nötig das „non refragari (nicht fich widerſetzen) et 
(sc. dadurch) approbare, se in numerum conscribi fidelium“. Die Kinder 
folle man zufolge der Taufe für Brüder Halten, bis das Gegenteil zum Bor 
fein komme. Bel Kindern von Gläubigen bikfe man jebenfalls das Bete 
Hoffen (Oecol. Johanni Grelo in Kilchberg, 16. März 1527). 


Ololampads Stellung zur Kindertaufe. 171 


Gläubigen nachfolgen ſollen“, in feine Stufenfeiter 1) aufnehme? 
Wenn er auf den Einwurf, es feien auch nicht alle von dem 
Apofteln Getauften recht gläubig gewefen, ſchnell bereit antworte: 
„Dean fehe nicht an, was gefchehen fei, fondern was recht fei“, 
fo ſchlage er mit diefem Axiom ſich felbft; Exempel Hätten aller» 
dings noch feine Beweiskraft, weder für ein Gebot, nod für ein 
Verbot 2). 

Doch nicht nur gegen den Glauben, fondern auch gegen die 
Liebe verftoge das Verbot der Kindertaufe. „Es ftinke nad 
Hoffahrt“. Ob man fich denn für beſſer Halte, als unfchuldige 
Kinder? Warum man ihnen mit dem Zeichen auch die Sache 
felbft, nämlich Chriſti Verdienft, entziehen wolle? Was e8 fchade, 
wenn fie fo früh in Chrifti Schule kommen? Die Kindertaufe 
habe jedenfalls die gute Frucht, daß man das Zeichen Chriſti an 
den Kindern ehren und fie recht zu erziehen -befliffen fein werde, 
Auch bei den Kindern felbft werde eine Erinnerung daran nicht 
ohne fegensreiche Wirkung fein. 

Zn einem zweiten Teil der Schrift betont Okolampad zuerft, 
daß die Verheißung in alle Fälle dem Glauben voransgehe und 
fih um weniger Gfäubigen willen (Abraham ꝛc.) auch auf folde 
erſtrecken könne, die noch nicht glauben ®). Wenn Hubmeher ur« 


2) S. in der Abhandlung über Zwinglis Tauflehte a. a. O., ©. 263. 

2) Ähnlich Zwingli in der Schrift über Dr. Balthaſars Taufbüchlein. 

3) Wenn alfo auch Ölolampad nicht mehr einem gewiſſermaßen ftellvertre- 
tenden Glauben der Eltern nnd Zeugen eine unmittelbare Gnadenwirkung für 
das Kind beimißt, weil fonft die Kinder unfrommer Eltern, wiewohl aud in 
der Kirche geboren unb getauft, einer ſolchen verluftig gingen, fo refurriert er 
doch auf den Glauben Abrahams und auf die demſelben gegebene Verheißung, 
wodurch die Kirche gegründet und allen Geſchlechtern im derfelben Heil ger 
worden. Es ift alfo eigentlich diefe auch die Nachtommenſchaft umfaſſende Ber- 
heißung, melde für alle Zeiten bie Bundesgnabe der Chriftenheit garantiert, 
und welche, wie man, dem partifularen Ratſchluß unvorgreiflic, anzunehmen 
berechtigt iſt, jedes Ehriftenfind angeht, an welche auch die Kirche glaubt und 
mit ſolchem Glauben (event. in Verbindung mit feommen Eltern und Taufe 
zeugen) einſtweilen für die Kinder eintritt. Ähnlich Beza, Quaest. et Resp. 
DI, 126. 127, wo für letzteres der Ausdruck intervenire gebraucht, eine im- 
putatio alienae fidei aber beſtimmt abgelehnt wird. 


17 uſteri 


giert, daß Jeſus ſage: „folder“, nicht „ihrer“ iſt das Himmels 
reich, fo fragt Oktolampad, ob eine Ungleichheit in der Belohnung 
ftattgaft fet, wo doch Gleichheit in Tugend und Gnade beftehe; 
unb ob es nicht Höheren Wert habe, daß Ehriftus die Kinder zu 
Onaden angenommen, als wem ifmen duch Menſchenhand die 
Taufe erteilt werde? Okolampad räumt, auch hierin unbefangener 
als Zwingli und Calvin, ein, daß die Sohannesfünger zu. Epheſus 
(Apg. 19) zweimal getauft worden; aber weil es ja doch nicht 
zweimal „auf den Namen Chriſti“ geſchehen, finde fich Hier durch⸗ 
ans keine Analogie für die Wiedertaufe. 

Am Schluß refünmert Okolampad über die Bebeutung der 
Kindertaufe folgendermaßen: Man dürfe zwar guter Hoffnung fein, 
daß Chriftenkinder durch die Gnade, welde noch feine böje Ge 
wohnheit in Frage ftelle, ſchon im Mutterleib gereinigt werden; 
aber den Chriſtennamen befommen fie erft durch die Taufe. Hier 
acceptiert Öfolampad den Zwingliſchen Sag: „Die Taufe wird 
um des Nächſten willen empfangen“ 1). „Willſt du, Balthafar, 
die als Kinder Getauften nicht als Ehriften anertennen, fo Können 
wir dich und die Deinen auch nicht anerkennen. Inwendig näm- 
lich kennt nur Gott uns alle.“ 

So entſchieden Okolampad in diefen beiden Schriften für die 
Kindertaufe einfteht, jo verbirgt fich doch nicht ganz eine zwiſchen 
ihm und Zwingli beftehende Differenz, bie ſich auf den kürzeſten 
Ausdrud bringen läßt, indem man fagt: Zwingli beweift: man 
muß die Kinder taufen, Okolampad Hingegen: man darf die Kinder 
taufen. Am beiten erhelit die Differenz aus der abweichenden 
Stellung, die Okolampad laut brieflihen Außerungen zu dem von 
den Straßburger Predigern protegierten, von Zwingli aber mit miß« 
trauiſchen Augen angefehenen und in der That zum Anabaptismus 
hinneigenden Martin Keller 3) einnahm. Am 22. Auguſt 1527 


1) „Die Taufe lehrt weder Gott etwas, noch die Kinder, ſondern erinnert 
bie auderen Anwefenden, daß dem Kiude die Guade Gottes gelte.“ (Ofelam- 
pad an Haller, 16, Jan. 1530.) Zw. Opp- IV, 198. 

2) Über ihn vgl. Baum, Capits med Buck (im der Semmlung „Leben 
und Schriften der Väter und Begründer“ ıc.), ©. 380. 





Olelampade Stellung zur Kinbertaufe. 178 


ſchreibt Okolampad über biefen an Zwingli (Opp. VI, 86): 
„Si liberum asserit baptismum parvulorum salvo cAritatis 
imperio (d. 5. doch wohl: wenn er die Kindertaufe für zuläffig 
erffärt und alfo das Regiment der Liebe nicht beeinträchtigt) dam- 
natque catabaptismum (das that Feller Damals nad der Aus⸗ 
fage der Straßburger) nen video quid periculi?). Peceavi- 
mus et nos in eo, Nunquam enim ausi sumus 
praeceptum baptizandiparvulos docere, sed ca- 
ritatis instinetu id officii pios minime praeteri- 
turos affirmavimus. Et quae nunc sub prelo 
sunt contra Balthazarem?) eadem loquentur: 
nelim enim ita baptismum parvulorum d@dıayo- 
00» haberi ut ea, quae nihil ad religionem atti- 
nent, sed ne in ullo libertati praejudicet (b. h. 
„ſondern nur, daß er (Balthafar) nicht in irgendetwas der chrifte 
lichen Freiheit vorgreife“ ; Ofolampad will weder ein die chriftliche 
Freiheit beeinträchtigendes Verbot der Kindertaufe, noch daß man 
fie für ein völlige Adiaphoron halte und dadurch entwerte). 
Porro modis omnibus, cum nobis unum cor sit et eadem 
in Christo omnia, enitendum, ne adversarii quippiam dissi- 
dii, ne dicam simultatum, suspicari possint, alioqui totus 
mundeas in nos saevit; non ut conniveamus ad ullum men- 
dacium vel extrarium dogma, sed ne austeriores in amicos 
quam in hostes simus, quibus innumera condonare cupimus 
et cogimur.“ Dieſes Briefegcerpt ift ſowohl für die richtige 
Erfaffung des Standpunktes, den Okolampad einnahm, fehr lehr⸗ 
reich, als auch für feine edle Gefinnung ein ehrenvolles Zeugnis. 
Auch ſpricht es für feinen richtigen theologifchen Takt, daß er 


3) AÄhnlich ein Jahr fpäter in einem Briefe vom 6. Auguſt an Zwingli, 
worin er ihm mitteilt, daß Eapito, ber durch Keller beeinflußt eine Seit lang 
eine zweideutige Haltung eingenommen, zwar immer noch die Abfchaffung ber 
Kindertaufe wünfche, aber doch num wieder „libertatem in externis, qua li- 
cet baptisare infantes“ beftimmt verteidige. „Nihil ultra exigimus 
ab illo“, fügt Öfofampab bei (Zw. Opp. VII, 211). . 

3) Eben bie oben egcerpierte Druchſchrift. 


174 Ufteri, Ololampabs Stellung zur Kindertaufe. 


meint, man follte fih damit begnügen, die Zuläffigleit und das 
gute Recht der Kindertaufe eriiefen zu haben unb anerkannt zu 
wiffen ?). 


ı) Man fann daher fügfich zu obigem Befenntnis „Peccavimus et nos 
in eo“ eim Fragezeichen ſetzen. Mag ein federes Behaupten mehr Erfolg 
Haben, feine Zurüdhaltung war nicht ein Fehler, fondern gereicht ihm zur 
Ehre. — Hier am Schluß möge noch als Ergänzung zu den ©. 161 u. 164 
mitgeteilten Ausfagen Öfolampads über die Notwendigkeit des Taufvollzugs 
bie intereffante von Prof. Stähelin in Baſel im Vollsblatt f. die ref. Kirche 
der Schweiz (1882, Nr. 24, ©. 94) beigebrachte Briefftelle vom 15. Mär 
1527 (Oecol. et Zw. Epist., Bafel 1536, p. 81) Platz finden: „Wir werden 
durch den Glauben gerechtfertigt, und wo wir im Glauben fiehen, ba bleibt 
uns nur noch ein Geſetz, das Geſetz der Liebe; aber diefes ift fo wichtig, daß 
ohne die Liebe auch der Glaube unnüg und eitel ift, und alle Werke, mögen 
fie auch einen noch fo Hohen Schein vom Heifigleit Haben, keinen Heller wert 
find. Die Liebe num gebietet, daß wir durch bie äußeren Zeichen, mit denen 
der Here die Gemeinſchaft in einem und bemfelben Glauben vereinigen wollte, 
unferen Glauben und unfere Liebe bezeugen. Aus biefem Grunde ift auch bie 
Taufe geboten. Die fi alfo nicht wollen taufen laffen, die wollen aud feine 
Gemeinſchaft mit den Chriſten eingehen; bergeftalt eutblößt von Liebe und 
Glauben, welches Heil können fie Hoffen? Sonft freilich ift unfer Heil nicht 
an die Saframente gebunden; es fei nur das Bekenntnis des Glaubens auf- 
richtig und feſt, fo wird bie Thl des Paradieſes offen ſtehen.“ Ahnlich im 
Kinderbericht: „Wenn aber jemand den Glauben Hätte, und ein frommes Leben 
führte, er wäre aber nicht getauft, wollte fi aud nicht taufen Taffen, 
hielteſt du ihn auch nicht für einen Ehriften? Antwort: O nein; benz wer 
wahrhaft an Ehriftum glaubt, der wird ſich auch taufen laſſen, wenn er noch 
nicht getauft if, damit er zu ber Zahl ber Ehriften gehöre.” (Hagenbad 
a. a. O., ©. 299.) 


Nezenjionen 


1. 


Der Brief des Jakobus, erklärt von D. David Erd⸗ 
mann. Berlin 1881. VII u. 383 ©. 

Aritiſch· exegetiſches Handbnd über den Brief des Iako- 
bus. Bon Dr. J. E. Huther. 4. Auflage. Um⸗ 


gearbeitet von Dr. W. Beyjchlag. Göttingen 1882. 
VIu 242 ©. 





Die beiden genannten Werke, in weniger als Yahresfrift einander 
gefolgt, bilden ſowohl durch die individuelle Verſchiedenheit der 
Methode, wie durch ihre Übereinftimmung in den Grundfragen eine 
‚erwünfchte Bereicherung ber exegetifchen Litteratur. Der zuerft er⸗ 
ſchieuene Erdmannſche Kommentar, den Beyſchlag noch Hat benugen 
tonnen, gehört feiner Form nach der reproduzierenden Methode an. 
Er ift glatt und durchfichtig gefchrieben ; die Zerlegung des Briefes 
im Meine, durch befondere Überfchriften markierte Abſchnitte er- 
Teichtert die Lektüre ebenfo wie der zufammenhängende Flug der 
Dorftellung innerhalb jedes Abfchnittes. Mit den Hauptfächlichften 
neueren Erklärungen fegt fi) der Verfaſſer auseinander, ohne auf 
Bollftändigket im ber Geſchichte der Exegefe auszugehen. Der 
Hauptzwed ift offenbar die Darlegung des Gedankengehaltes; bie 
lexilaliſch⸗ grammatiſche Seite tritt zurüd; ebenfo die Tertkritit, hin⸗ 
ſichtlich deren das Nöthigfte in Anmerkungen gegeben tft. Daß der 
Verfaſſer das gelehrte Material beherrfcht, war bei ihm nicht mur 
voranszufegen, fondern ergiebt fih auch aus dem Werke. Aber 
wenn er aud ausdrücklich betont, daß er nicht eine fogen. praltiſche 
Erklärung geben wolle, Hat er doch augenſcheinlich nicht ſowohl der 

Zieol. Einb. Iaıg. 1288. 


178 Erdmann, Der Brief des Jalobus. 


eigentlich gefehrten Forſchung, als vielmehr dem weiteren Kreiſe 
theologijch gebildeter Lefer dienen wollen, melden es auf die Re⸗ 
fultate der eigentlich gefehrten Arbeit und auf ein fahliches 
Verftändnis des Briefe ankommt. Dagegen bewahrt die von 
Beyſchlag bearbeitete neue Auflage des Hutherichen Kommentars 
den Charakter des Meyerfchen Werkes, welches in erfter Linie der 
eigentlich gelehrten Detailarbeit dienen follt. Die philologiſche 
Seite der Auslegung ift umverfürzt geblieben; die gloffatorifche 
Methode mit Recht beibehalten, da fie nicht nur für dies Werk in 
geihictlichem Recht ift, fondern auch für den Zweck desfelben die 
durchaus angemefjene. Dem Bearbeiter ift das um fo mehr ale 
Verdienſt anzurechnen, al er wohl nit weniger wie fein Mit- 
arbeiter Weiß feiner Individualität und Neigung damit ein Opfer 
abgewonnen Hat. Dabei ift aber doc der Kommentar viel les— 
barer geworden, als er früher war. Die Friſche und plaftifche 
Art der Darftellung, welche den jegigen Bearbeiter auszeichnen, 
haben die „Unfebendigkeit“ der Hutherſchen Art, über welde die 
Vorrede mit Recht Hagt, in hohem Maß überwunden. Dies tritt 
nicht nur in den ganz neu gearbeiteten Abſchnitten, befonders in 
der Einleitung und dem Exkurs zu 2, 14—26 Hervor, fondern 
macht fich auch bei der Detaiferflärung vielfach angenehm geltend. 
In formeller Hinficht möchte ih mir zwei Wunſche für die nächte 
‚Auflage erlauben. Erftens, daß die tertfritifchen Bemerkungen, 
welche ihre frühere Geftalt formell und materiell bewahrt haben, 
nad der von Weiß, Heinrici, Wendt mit Necht bevorzugten Me- 
thobe, ftatt am Anfang jedes Kapitels zujammengedrängt zu fein, 
Tieber an die einzelnen Abſchnitte derfelben verteilt wurden; auch 
würde eine materielle Neubearbeitung ihnen nicht ſchaden *). Zweir 
tens würde ich wünfchen, daß in Anmerkungen eine Überficht über 
bie einſchlagende Litteratur gegeben würde. Hinfichtlich der bes 
augten Kommentare ift dies wenigftens für die Neuzeit am Schluß 
gefchehen und dadurch einem mehrfach ſchon Hervorgehobenen Mangel 


V In einer Reihe von Stellen ift Tiſch. VII herangezogen, wo ich 
— wie bei der Lesart mosyalıdes 4, 4 — den Grund nicht einfehen Tann, 
warum wicht die VIII wenigflens mitgenaunt iſt. 





Beyfhlag, Kritiſch-eregetiſches Handbuch zc. 179 


der Meperfchen Kommentare abgeholfen. Aber dasfelbe möchte ich 
auch für bie Einzelfragen empfehlen. 3. B. würde eine Zufam- 
menftellung der einzelnen Vertreter der verfchiedenen Auffaffungen 
bei der Trage über die Perſon des Jakobus mit Angabe der 
Schriften, wo fie niedergelegt find, in usum tironum fehr er⸗ 
wunſcht fein; ebenfo eine Überficht über die Litteratur zu Jat. 
2, 14ff. Die bebeutendften Namen kommen ja im Sontert der 
Darftellung vor, aber teils nicht alle neueren Arbeiten — 3. B. 
nit Iſenberg, Rechtfertigung dur den Glauben; Preuß, 
Rechtfertigumg des Sunders; Godets Auffag in feinen Bibel 
ſtudien; Schanz' Auffag in ber Tübinger Ouartalfchrift 1880.—, 
teils ift es doch eine große Erleichterung, wenn man bie Litteratur 
nicht erft mühfam ſich zufammenfuchen muß, fondern fie zufammen- 
geftellt findet. Dasfelbe gilt von der Erflärung einzelner Stellen, 
wobei fchon Meyer felbft in ben legten Auflagen. anmerfungsweife 
die betr. Sitteratur zufammenzutragen. pflegte. So mürde z. B. 
bei 2, 23 ber Aufjag von Ronſch bei Hilgenfeld 1873, bei 
4, 5. 6 der von Grimm in den Studien und Pritifen 1854 zu 
nennen fein. 

In den Einfeitungsfragen tft es erfreulich, beide Verfaſſer faft 
durchweg in Übereinftimmung und badurd den Chor der in biefer 
Hinfiht Einmütigen verftärft zu fehen. Sowohl in ber allzu 
fange durch dogmatifche Boreingenommenpeit gedrücten Frage über 
die Perfon des Jakobus wie hinſichtlich der Zeit der Abfaffung 
unferes Briefes ſcheint fi mehr und mehr ein ftarker Konfenjus 
herauszuftellen. In erfterer Hinficht bedanere ih nur, daß Bey- 
ſchlag das DVerhör der älteren Kirchenväter, das Huther angeftelit 
Hatte und aud Erdmann giebt, fortgelaffen Hat. Allerdings genügt 
ſchon das von Beyſchlag Beigebrachte, um ein richtiges Urteil zu 
geminnen, und an fi muß man jedem Verfaſſer bie Freiheit laſſen, 
felbft zu entfcheiden, wie viel geſchichtliches Material er aufnehmen 
will. Aber gerade bei dem Meyerſchen Kommentar fteht es doch 
anders. Weil er dad Grundbuch für alle unfere jungen Theologen 
ift, Haben dieſe, ſcheint mir, ein Recht, darin folhe Fragen in 
ihrer ganzen Ausdehnung behandelt zu finden. Sachlich ift mir 
zweifelhaft, ob Beyſchlag mit Recht den Jakobus „aus der Inner» 

12* 


180 Erdmann, Der Brief des Jakobus. 


luchften, fo zu fagen ſchon evangeliſchen Richtung bes Zuben- 
tums zum Chriſtentum gelangen läßt (&. 19). Wäre er von 
vornherein fo gerichtet geweſen, wie ift bann zu erffären, dag er 
bet Lebzeiten Jefu nicht an ihn glanbte? — Sehr lichtvoll und 
überzeugend ft ber Abſchnitt über die Briefempfänger gearbeitet. 
Bumächft wird mit Recht betont, baf durch die geſchilderten Ver⸗ 
Hältniffe ausgeſchloſſen wird, daß die Lefer ſich in gemifchten Ges 
meinben befinden. Wie wäre unter biefer Annahıne das Fehlen 
jedes Grußes an die heidencpriftlichen Brüder zu erflären? Das 
wäre doch nur auf Grund eines judenchriftlichen Fanatismus mög« 
Gi, von dem unſer Brief keine Spur enthält. Ferner weiſen 
Erdmanun amd Beyſchlag übereinftimmend mit Recht die Annahme 
zurüd, daß bie „Reichen“ in umferem Briefe Heiden oder Heiden⸗ 
hriften find (befonders burechichlagende Bemerkungen gegen letzteres 
bei B., ©. 10). Dagegen kann ich Beyſchlag nicht beiftimmen, 
wenn er auch 1, 10 die Reichen von unglänbigen Juden ver 
fteht, wie dies ja freilich an ben übrigen Stellen der Ball ift. Er 
felbft erlennt S. 11 unter Berufung auf 4, 13 an, daß eingelme 
Wohlhabende in den Gemeinden vorhanden geweſen fein. Auf 
diefe 1, 1Off. zu beziehen, fcheint mir der Zuſammenhang zu ges 
bieten. Nicht nur iſt e8, wie Erdmann bemerkt, das Natürlichfte, 
das zu beiden Subjelten (oͤ rancivoc ımd 6 rrAodasog) gehörige 
Berbum xaug&odeo beide Male übereinftimmenb zu fallen und 
nicht das eine Mal ernftlih, das andere Mal ironiſch; fondern 
auch das d ddaAyos ö ramewogs führt darauf, daß der rAov- 
asog gleichfalls ald Bruder zu denken ift. Und der Sinn, ber 
bei biefer Faſſung entfteht, iſt den Werhältnifjen des Briefes fo 
amgemefjen wie möglid. Die armen Ehriften fichen umter dem 
Druck der reihen Juden, von welchen fie fozial abhängig und 
deren Vexationen eben darum außgefegt find (5, 4). Diefer Drud 
fällt bei den reicheren Ehriften, die eine felbftändige Exiftenz haben, 
fort mad fo ift diefe Art von resgeanol, von der Jakobus Hier 
redet, für fie micht vorhanden. Wenn nun der Brief diefe resgeo- 
pol als Grund zur Freude und zum Rühmen hinſtellt, weil fie 
zu chriſtlicher Charafterbildung beitragen, fo ſcheint der Reiche über 
bie Berfchonung mit jenen Anfedtungen als über eine religibſe 


Beyfchtag, Reitifrersgeides Handtuch 1 ısı 


Benachteiligung ſich beklagen zu können. Dem gegenüber fagt der 
Berfaffer, auch der Reihe, der in der Gegenwart wegen gün⸗ 
figer äußerer Lage jenes Erziehungsmittels entbehrt, könne in der 
Erwartung, daß die bevorftchende, bei den dolores Messiae er» 
folgende Kataftropge ihm feinen Reichtum nehmen, ihn alfo in bie 
gleiche Lage mit feinen armen Brüdern bringen werde, ſchon jetzt 
in Hoffnung an bem Ruhme der Armen fich beteiligen. Bei 
diefer Auffafjung wird man nicht nur die für mein Gefühl gerade 
an diefer Stelle ftörende Jronie los, fondern hat aud den Vor⸗ 
teil, daß V. 12 fi ummittelbar an das Vorige anfchlieft, ine 
dem er refjummierend dns allgemeine Ehriftenlos der rusgaano), 
welches früher ober fpäter jeden Chriften trifft, preiſt. Die 
Schäden der Gemeinden werden von Beyſchlag wieder fehr treffend 
gezeichnet, nur daß ich den Ansdrud, es Liege „eine gewifſe Der 
moralifation“ vor (S. 14), für viel zu ſtark halte. Derſelbe 
beruft wohl anf dem allerdings fehr ungünftigen Eindruck, den 
man aus 4, 1—10 gewinnt. Es darf aber, um gegen die Lefer 
gerecht zu fein, nicht überfehen werden, dag Jakobus immer 
die bdeaftifcheften und ftärkften Ausdrücke liebt. Beyſchlag felbft 
erkennt die Bildlichkeit der Vorwürfe in jener Stelle an: „ihr 
führt ja förmliche Kriege und Schlachten auf“, — „es ift ein 
wahrer Feldzug in euren Gliedern“, — „es findet das reine 
Morden unter euch ſtatt“. Das alles will doch nur fagen, daß 
bie Selbftfucht, das Trachten nach irdiſchem Gut, bei den Lefern 
noch nicht gebrochen ift, daß fie im rüdjichtslofer Weiſe ihren 
eigenen Vorteil verfolgen, ftatt immer den ber Brüder in erfter 
Linie ins Auge zu faffen, daß fie diejenigen beneiben, die in glück⸗ 
licheren äußeren Berhältnifien fich befinden. Wäre ber Brief an 
eine einzelne Gemeinde gerichtet, fo könnte man glauben, daß bei 
ihr im beſonders hohem Grabe Uneinigkeit und Streit herrſchte. Aber 
bei dem enepflifchen Charakter des Sendſchreibens läßt fi doch 
nicht annehmen, daß in allen Gemeinden biejelben Mißftände in 
gleichem Grabe herrſchten; ja wenn es ber Fall geweſen wäre, 
nnte ber Verfaffer das doch nicht wohl gewußt haben. Was er 
feinen Leſern zum Vorwurf macht, ift überall der Ball und eben 
darum kann er es ganz allgemein bei allen vorausſetzen: es find 


182 Erdmann, Der Brief des Jakobus. 


Sünden, welche im Gefolge der Armut immer auftreten, und bie 
ftarfen Ausdrücke, bie gebraucht werben, follen nur darauf Hin= 
weifen, daß auch die feineren, gar nicht vom legalen, fondern vom 
moralifhen Standpunkt aus verwerflihen Zuftände fehlieglich auf 
die Übertretung des fünften und fiebenten Gebotes heraustommen, 
daß jedes Hangen an und Trachten nad) weltlihem Gut und Genuß 
ſchon Ehebruc gegen Gott ift. Ebenſo fteht es auch mit dem 
Vorwurf, daß fie feine Werke Haben. So gut noch heute jeder 
Chriſt ſich den betreffenden Abfchnitt gern gefagt fein läßt und fich 
in irgendeinem Maß davon getroffen fühlt, fo gut auch damals. 
Mit einem Wort: ic glaube, man verfennt die plaſtiſche und 
draftifche Darftellungsart des Verfaſſers, wenn man feinen Leſern 
ganz befondere und hochgradige Sünden ber gerügten Art zum 
Vorwurf macht, ftatt die ausgefprocdenen Rügen auf Mängel zu 
beziegen, welde ben judenchriſtlichen Gemeinden damals überall 
nahe lagen, und die der Verfaſſer durch möglichft pointierte Dar- 
ftelfung ihnen als fündfich zum Bewußtfein zu bringen fucht. — 
Völlig einverftanden bin ich mit unferen beiden Kommentatoren, 
daß die merkwürdige Allgemeinheit der Adrefje fih nur in der 
frügeften Zeit der Kirche begreifen Täßt, wo fie durch die gejchicht- 
lichen Verhältniffe von felbft die nötige Beftimmtheit befam, fofern 
es damals nur jubendriftliche Gemeinden und biefe nur in den 
Baläftina benachbarten Ländern gab. Unnötig und ohne geſchicht⸗ 
lichen Anhalt fcheint mir Erdmanns Hypotheſe zu fein, Jakobus 
habe neben der Leitung der Muttergemeinde beſonders bie oberhirte 
liche Pflege der riftlichen Diafporagemeinden gehabt, während die 
Apoftel die Pflege der paläftinenfifchen Gemeinden und die Miffions- 
thätigkeit fich angelegen fein liegen (©. 61). Eine ſolche einheitliche 
Organifation und büreaufratifche Amterverteilung ſcheint mir nad) 
allem, was wir von der Urzeit ber Kirche wiffen, ganz unwahr- 
ſcheinlich. Daß zur Zeit der Abfafjung unferes Briefes das 
Ehriftentum ſchon über die nüchfte Umgebung Paläftinas hinaus - 
ſich verbreitet Hatte, ift Erdmann zuzugeben; dennoch wird man 
mit Beyſchlag bie fyrifchsciliciichen Gemeinden als den nädften 
Leferkreis anzunehmen Haben. Vortrefflich macht legterer den Ju⸗ 
Halt von 2, 14ff. für die frühzeitige Abfaſſung des Briefes gel 


Beyſchlag, Kritiſch-exegetiſches Handbuch ze. 188 


tend. Die Naivetät, mit welcher das Beifpiel des Abraham vom 
Verfaſſer für feine Meinung geltend gemacht wird, als wenn gar 
feine andersartige Verwertung desſelben möglich wäre, ift entſchei⸗ 
dend. „Seit wann ift es denn Vernunft und Sitte, etwas Kon⸗ 
troverfes, das ein Anbersdenfender zu feinen Gunften benutzt 
dat, als etwas für bie entgegengefeßte Thefis ſelbſtverſtändlich 
Sprechendes in triumphierendem Frageton vorzuhalten?“ (S. 36.) 

Gehen wir von den einleitenden Fragen zu der exegetiſchen 
Einzelbehandlung, fo erregt ja immer die Stelle über Glaube und 
Bere das nächfte Intereſſe. Beide Ausleger haben hier nicht 
dasſelbe Refultat gewonnen, und Referent kann feinerfeits ſich mit 
feinem] von beiden völlig ibentifizieren. Am weiteften weiche ich 
von Erdmann ab. Nach feiner Meinung ift dem Jakobus der 
wahre Glaube Prinzip für die Werke. „Der rechte Glaube 
Hat das Lebensprinzip in fi, aus dem die Werke hervorgehen 
müffen“, fagt er mit Neander (S. 180). „Die Werke find die 
maturgemäßen Auswirkungen und VBethätigungen des in dem 
Glauben vorhandenen Lebens“ (S. 181). Konfequentermeife ift für 
€. daher der Glaube der getadelten Leſer „feinem innerften Wefen 
nach bloßer Mundglaube und reiner Scheinglaube“ (S. 179), und er 
gebraucht davon fogar einmal das Wort Heuchelei (S. 175). „Der 
Begenftand ber Polemik ift ein Glaube, der ſich mit theoretifcher 
Erkenntnis (®. 19) und mit.dem Herr-Herr-Sagen begnügen will“ 
(&. 181). €8 Handelt fi alfo nah €. in unferer Stelle um 
zweierlei Begriffe vom Glauben (S. 218). Ein Widerſpruch zwie 
ſchen Jakobus und Paulus ift natürlich bei diefer Auffaffung nicht 
vorhanden, fondern fie betonen nur verfchiebene Seiten der Wahr⸗ 
heit je nach Bedürfnis (S. 219 ff). Mit diefer ganzen Darftellung 
ſcheint mir der Verfafjer die Meinung des Jakobus nicht zu treffen. 
Daß diefer von zweierlei Glauben, einem wahren und einem 
aur vermeintlichen, rede, fheitert an jedem Verſe. Wo ift auf 
diefen Gegenfag nur mit einer Silbe Hingewiefen? Im Gegen« 
til. Gleich V. 14 fäneldet der Sag ur) divarıı 7 nlorıs 
coom adsov; biefe Faffung ab. Freilich „nimmt der Artikel 
einfach den vorangegangenen Begriff wieder auf“ (S. 176), und 
fagt, daß der Glaube, den der Leſer von ſich prädiziert, ihn nicht 


184 Erdmann, Der Brief bes Jalobus. 


retten fönne; aber wenn Jakobus meinte, daß eine andere Art 
von Glauben dies vermöge, fo müßte er das unbedingt durch ein 
den ober Fosaden markieren. Wenn ferner von einem ovveg- 
yslv des Glaubens V. 22 die Rede ift, fo mag man das Ber- 
bum faflen, wie man will: jedenfalls ift nicht gejagt, daß der 
Glaube fi in den Werken erpliziert, fondern daß er bei ihnen 
(oder bei der owerneie) Fonturriert, aljo ift offenbar eine 
doppelte, wirxkende Potenz geſetzt. Die Werke, von denen Jakobus 
vebet, find allerdings nicht ohne Glauben möglich (vgl. Beyſchlag 
S. 135), aber der Glaube ift uur ein Moment dabei. Endlich 
menn es V. 24 Heißt, der Menfch werde nicht aus Glauben 
allein gerecht, fo tft am Tage, daß nicht gemeint ift, der Menſch 
werde nicht durch eine falſche Art des Glaubens allein gerecht, 
fondern daß von dem Glauben fchlechthin verneint wird, daß er 
Gerechtigkeit wire, wenn nicht ein zweites Moment hinzulomme, 
ohne welches aber der Glaube immer noch Glaube ift. Fur feine 
Auffaffung, dag Jakobus den Lefern den (wahren) Glauben eigent- 
lich abftreite, beruft ſich E. auf den Vergleich ©. 15. 16. „Dort 
ein (bloße) Reben vom Befig des Glaubens, Hier ein Reden 
vom Befig der Liebe (S. 178f.). Diefer Sinn der Paraliele ift 
möglich, aber nicht der einzig mögliche. E. ficht in dem Ber 
halten, das Jakobus tadelt (3. 14), Olaubenslofigkeit, V. 15f. 
Lieblofigfeit. Uber es ift bie andere Möglichkeit vorhanden, daß 
bie in V. 15. 16 gefchilderten Menfchen wirkliches Mitleid wit 
ben Armen Haben, daß die Wünſche, die fie ihnen ausfprechen, 
nicht bloße Medensarten, fondern ernft gemeint find, — nur bleibt 
es bei den frommen Wünfchen und fie thun nichts zu deren 
Verwirklichung. Diefe Herzensitellung Tann als Mangel an Liebe 
eharafterifiert werden, und fo würde Paulus genrteift haben. Aber 
fie kann auch als eine Liebe dargeftellt werden, der e8 an dem 
Hinzutretenden Moment der Energie des Handelns fehlt: niel 
Gefuͤhl und kein Wille. Und daß es fo von Jakobus aufgefagt 
iſt, zeigt eben der Geſamtinhalt des Abſchnittes. 

Die Fehler, die ich bei Erdmann in ber Beftimmung des 
ialobiniſchen Glaubensbegriffs zu erkennen meine, hat Behſchlag 
in bebeutendem Maß vermieden. Er ftelit wiederholt den richtigen 


Beyſchlag, Kritifchregegetifciee Hanbbud; 2c. 185 


Ausgangspunkt feft, daß der Glaube der Leſer auch für das Urs 
teil des Jakobus wirklich Glaube fei (z. B. ©. 198 Aum.). Ya» 
tohns made, was für dem ganzen Abſchnitt bemerkenswert fei, 
feinen Unterſchied zwifchen echtem und unechtem Glauben (S. 119). 
Der Glaube der Lejer fei fein bloß theoretiſcher, nuda notitia 
— alfo au nicht, wie E. meint, reiner Mundglaube —, fondern 
enthalte dad Moment des Vertrauens (ebd.). Den eigentlichen 
Kernpunkt trifft B. mit dem Sag, Alorie bezeichne bei Jakobus 
das religiöfe Rechtverhalten des Menſchen, Zora das ſittliche 
in ſeinem ganzen Umfange (ebd.). Aber eine Unklarheit kommt in 
dieſe richtigen Beſtimmungen durch Beyſchlags Auffaſſung von 
3. 19. Auf Grund desſelben findet er „als grundlegendes 
Moment“ in dem Glaubensbegriff des Jakobus „bie innere 
Gexwißheit von gewiſſen überfinnlichen Thatſachen und Wahrheiten“ 
(S. 129). Zunachſt muß fonftatiert werden, daß dies „grundlegenbe* 
Moment in fämtlichen übrigen Stellen des Briefes gar nicht ber» 
vortritt. Nah 1, 6 ift der Glaube, welcher Beftimmtheit des 
Gebetes fein fol, gerade nach Beyſchlags vortrefflicher Erklärung 
gar nicht die Überzeugumg, daß Gott Gebete erhört, fondern „im 
Gegenfag zu dem zwifchen Gott und Welt geteilten Wefen des 
Zweiflers die ungeteilte, vertrauensuolle Hingebung des Gemütes 
an Gott“. Ebenſo 5, 15. Ferner 2, 5 bildet Jakobus ben 
Gegenfag zwiſchen irdifcher Armut and Reichtum dv zlorss. Da 
kann ꝓcoric nicht die „Gewißheit von überfinnlihen Wahrheiten“ 
fein, als wenn ber Reichtum des Ehriften in einer Summe von 
Lehrfägen beftände, fondern es ift Ausdrud für die religibſe 
Beftimmtheit des Menſchen, welde ihm ftatt der irdiſchen 
Güter die Teilnahme an den übernatürlichen des Gottesreiches 
vermittelt. Ebenſo ift 2, 1 nicht gemeint, die theoretiſche Über» 
zeugung. daß Chriſtus der Verherrlichte fei, ſchließe Prosopolepfle 
aus, denn jene theoretifche Überzeugung hatten bie Leſer und waren 
doch rgoownoijreres, fondern die auf diefe Thatſache ſich 
grünbende religidfe Beftimmtheit bes Ehriften reime fich 
nicht mit einer Beurteilung der Menſchen nad; ihren irdiſchen Ver» 
hältwifjen. Diefelbe Bedeutung von 7x. liegt 1, 8 vor, wenn es 
dort echt ift. Diefe Anwendung von 7x. bei Jalobus ift durch⸗ 


186 Erdmann, Der Brief des Jakobus. 


aus die gemein-apoftolifche, die wir bei alfen neuteftamentlichen 
Schriftftellern, auch Paulus, als die Grundlage finden, von der 
aus fie den Begriff verfchieden nuanciert haben. Weil nämlich 
das Vertrauen auf Chriſtus oder auf die von ihm gebrachte Heils⸗ 
botſchaft das harakteriftiiche Merkmal für den Chriften ift, wird 
zelorıs die zufammenfaffende Bezeichnung für die chriftlichereligiöfe 
Beftimmtheit, für die eigentümliche chriſtliche Religiöfität und 
zuotevovre; terminus technicus für die Ehriften. Von diefem 
Sprachgebraud aus redet Jakobus, und das Moment des assensus 
tritt daher ganz bei ihm zurüd. Das ift nun V. 19 ganz 
anders. Denn indem Mer der Glaube, dag einer Gott ift, ale 
ein dem Chriften mit den Dämonen gemeinfames Merkmal Hin- 
geftelft wird, ift dad Wort Glaube in einem ſchlechthin außerrefigiöfen 
Sinne gebraucht; der Glaube der Dämonen ift ja fo wenig eine 
religiöfe Beftimmtheit, daß er vielmehr die irreligiöfe Kon—⸗ 
fequenz des pglaceıv hat. Je mehr nun Beyſchlag recht Hat, 
daß es dem Glauben der Lefer nicht an dem religiöfen Merkmal 
des Vertrauens fehlte, je weniger konnte Jakobus billigerweije ihren 
Glauben mit dem der Dämonen paralfelifieren. Die Lefer konnten 
mit vollem Recht erwidern, daß zwifchen beiden ein himmelweiter 
Unterfchieb ſei. Freilich Hat es ja zu allen Zeiten eine Orthor 
dorie gegeben, welche bloßer Verftandesglaube ohne jede ‚innere Res 
Iigiofität ift, und diefer mag man ben Vorwurf machen, fie habe 
denfelben Glauben wie die Dämonen. Aber e8 giebt auch eine 
Religiofität, welche eine wirkliche Gemeinſchaft mit Gott ſucht, 
und in Gebet und Vertrauen auf Gott ſich äußert, aber es an 
fittlicher Energie fehlen läßt; und von ihr Täßt fich ohne die höchſte 
Ungerechtigkeit nicht fagen, daß ihr Glaube dem der Dämonen 
gleiche, Letzterer Art ift auch nach Beyſchlag der Zuftand der 
Lefer, und darum kaun Jakobus nicht den 19. Vers ihnen ent 
gegenhalten. Alles Gefagte führt darauf, daß der Standpunkt des 
3. 18 eingeführten und auch in V. 19 noch redenden Interloku⸗ 
tors (zig) nicht der des Jakobus felbft ift, — eine Annahme, 
die ſchon an fih durch die Einführung einer dritten Perfon als 
die nädhftliegende fich darftellt. Erdmann und, ihm beiftimmend, 
Beyſchlag begründen ihre Meinung, der britte teile des Jakobus 


Beyſchlag, Kritiſch-exegetiſches Handbuch ıc. 187 


Standpunkt, mit der Neigung des Verfaſſers zu dramatiſcher Ver⸗ 
anfhaulihung. Diefe Erklärung müßte man fich gefallen Lafien, 
wenn feftftände, daß ber dritte die eigenen partes des Jakobus 
agierte. Wenn aber der Inhalt des Folgenden zeigt, daß dies 
wicht der Fall ift, fo fann man ſehr zufrieden fein, jener immerhin 
prefären Begründung nicht zu bedürfen. Vielmehr geben V. 18f. 
die Konfequenzen, welder ein britter aus dem Verhalten der 
Leſer ziehen könnte, — Konfequenzen, die zwar ungererht find, 
und die Jalobus felbft ſicher nicht vertritt, die er aber anführt, 
um den Lefern zu Gemüte zu führen, welde üble Mißdentung ihr 
Ehriftentum von anderer Seite erfahren fann. Der Standpunkt 
des dritten kennzeichnet ſich als der eines bloßen Moralismus. 
„Du ſagſt, daß du ein eigentümliches religiöſes Verhältnis zw 
Gott (rrlasıs) Haft; darauf mache ich nicht Anſpruch; aber prak⸗ 
tiſche Sittlicheit habe ich, und die ift meine Religion (7 rrlorıg 
uov). Der fittlihe Menſch ift als folcher der religiöfe, die Sitt- 
lihteit an fich ſchon Beweis der Religiofität (dx vv Zeyav uov 
self cos z7v rlorıv mov). Dagegen du haft nicht nur mir 
gegenüber ein Defizit in fittlicher Beziehung, fondern bift auch 
ganz außerſtande, dad von dir behauptete religiöfe Verhältnis zu 
Gott zu fonftatieren. Dein Glaube kommt (®. 19) auf ein 
bloßes theoretifches Furwahrhalten hinaus.“ Das alles ift nun 
freilich ſchief. Es ijt nicht wahr, daß die Werke in jedem Fall 
den Glauben, d. 5. Sittlichfeit die Religiofität beweiſe; es ift 
nicht wahr, daß ohne fittliche Energie bloß ein assensus für bie 
Religion übrig bleibt. Mit diefem Sat beweift der Önterlofutor, 
daß er gar kein Verftändnis für das Weſen der riorss im chriſt ⸗ 
lichen Sinne, al des Bewußtſeins der Gemeinfchaft mit Gott, 
eines Lebens in der Luft der Ewigkeit, hat. Aber es ift ein Miß⸗ 
verftändnis, gegen das die Leſer fich ſchlechterdings nicht ſchützen 
Können: wie wollen fie ohne die eye die Realität des von ihnen 
in Anſpruch genommenen Verhäftnifjes zu Gott beweifen? Sie 
ſelbſt verfchulden durch ihre fittlihe Schlaffpeit diefe Mißdentung 
des Ghriftentums, wie denn bis auf diefen Tag der Inhalt von 
8. 18. 19 fortwährend von folden, die ohne Verftändnis für das 
Weſen ‚des Glaubens find, gegen denfelben geltend gemacht wird. 


ii _ m 


188 Erdmann, Der Brief des Jakobus. 


Daß aljo der ri; einen anderen Standpunkt als Jakobus und 
als feine Leſer vertritt, daß er ein Nichtchriſt ift, daß feine Worte 
über V. 18. 19 fich erftreden und in ®. 20 Jatkobus felbft mit 
der erneuten Anrede wieder auf demfelben Punkt einfegt, auf dem 
8. 17 die Sache ftehen geblieben ift: das halte ich für das Rich⸗ 
tige an der Auslegung Stiers, während ich ihm den pharifäifchen 
Juden gern ſchenke. Die vorgeſchlagene Faſſung fheint mir das 
Verftändnis des ganzen Abſchnittes zu fördern: für die Einführung 
des vis ijt ein fachlicher Grund vorhanden; die beiden Verſe ordnen 
fih dem Gedanfengang organifh ein; ber vom allen amberen 
Stellen des Briefes abweichende Glaubensbegriff V. 19 ift vers 
ftändfih, da er aus ganz anderem Munde ſtammt; die Unkfare 
Beit, die fonft durch V. 19 in den eigenen Glaubensbegriff bes 
Jakobus kommt, ift vermieden, und das Schwanken, weldes Bey 
ſchlag ©. 148 ihm vorwirft, ift nicht vorhanden, 

Damit ift auch ein anderes Schwanfen, das nad Beyſchlag 
bei Jalobus fich findet, in Wegfall gefommen. Derſelbe ſoll näms 
lich (S. 148) bald den Glauben als Tebendigen Grund der guten 
Werke anfehen (2, 18), bald, weil ihm die fittliche Verpflich⸗ 
tung, das Gewiffen, eine jelbftändige Triebkraft im Menſchen 
iſt, als bloßen Mitarbeiter des fittlihen Gehorſams (2, 22). Die 
unbefangene Anerkennung des letzteren Punktes ift der große Vor⸗ 
zug der Beyſchlagſchen Exegefe vor derjenigen Huthers und Erd⸗ 
manns, die durchweg den Glauben als Prinzip und alleinigen 
Quell der Werke anfehen. Aber meines Erachtens ift bie letztere 
Anfhanung nirgends bei Jakobus vorhanden, da V. 18 gar 
nicht feinen eigenen Standpunkt enthält. Die Trage, um die es 
ſich ſchließlich in dem ganzen Abſchnitt Handelt, ift: wie verhält 
fich bei dem Chriften die Religiofität (mdorss) zur Sittlickeit 
(dey@)? Die Entſcheidung des Jakobus beruht auf der Beobach⸗ 
tung, daß die zeiosıs weientlih ein Berhältnis zu Gott if, 
alſo Zuftändficfeit, die Zgya ein Verhalten zu Gott, alſo Als 
tioität. Das legtere ift nun das Ausſchlaggebende, aber fo, daß 
das Verhalten des Chriften fein Verhältnis zu Gott zur Voraus⸗ 
fegung hat: es iſt dem Jakobus ſelbſtverſtandlich, daß Abraham 
glänbig war, aljo ein Verhältnis zu Gott Hatte (B. 23); der 


Beyſchlag, Kritifcj-eregetiiches Handbuch zc. 189 


Glaube ift auvegyds (8. 22); wenn die Rechtfertigung oux dx 
ntorews wdvo» erfolgt, fo ift damit gegeben, daß die rlazıs 
irgendeine konkurrierende Stelfung dabei Hat. Aber anderfeits muß 
das doyaleodas hinzulommen, und zwar folgt aus bem Begriff 
des ovvapyaiv, daß jenes nicht bloße Selbftfolge des Glaubens ift, 
fondern ein zweites neben dem Glauben. Die bloße religiöfe Zu⸗ 
ſtandlichleit, die miozıg Heißt, ift an fidh etwas Ruhendes, Paſſi-⸗ 
vität. Zur Mftivität gelangt fie nur durch Hinzutritt eines von 
ihr unterfchiedenen Prinzipes, nämlich der Willensenergie. Im 
Glauben ift der Menfch (religiös) beftimmt, in den Werfen 
beftimmt er anderes, wirkt beftimmend auf anderes ein. Somit 
fieht Jalobus allerdings in Religioſität und Sittlichkeit zwei unter» 
ſchiedene Prinzipien vertreten. Dennoch aber ftehen fich beide nicht 
ſpröde gegenüber, fonbern es findet zwiſchen beiden ein Wechfel- 
verhältnts ftatt, wie V. 23 ausfagt: da die Werke chriſtliche, von 
einem Chriſten gefchehende find, fo ift die religiöfe Beftimmtheit 
des Betreffenden für fie maßgebend, ovvsgysi 7 nlorıs vos 
Zoyoıs, dieſe können ohne jene nicht gedacht werden; anderfeits 
gewinnt duch die Werke der Glaube feine zeislnass, indem er 
erft fo eine in das Leben eingreifende und es befttmmende Macht 
wird. So kann Yakobus fagen, Gott Hat den Abraham in An- 
betracht feines Glaubens gerechtfertigt, denn damit war ein Mo- 
ment geſetzt, ohne das es gottgefählige Werke nicht giebt: es war 
eine Rechtfertigung auf Hoffnung; er Tann fagen, die Rechtferti⸗ 
gung erfolge aus Glauben und Werk (odx dx m. udvor), denn 
& find in der That zwei von einander nicht nur begrifflich unter« 
ſcheidbare, ſondern auch in der Praxis oft genug nicht verbundene 
Momente; er kann fagen, die Nechtfertigung trete auf Grund ber 
Werke ein (ohne daß der Glaube erwähnt wird), denn da es fich 
von Werken der Chriften handelt, ift der Glaube felbftverftändfice 
Vorausfegung; er kann endlich jagen, der Glaube an fidh fei tot, 
d. h. bloße Paffivität, wirkensunfähig; denn die Rechtfertigung ift 
nicht von der bloßen Zuſtändlichkeit des Menfchen abhängig, fon« 
dern vom beffen fittlichem Charakter, der aber bei dem Epriften feine 
Religiofität, d. h. fein Verhältnis zu Gott, zur Vorausfegung hat. 
Demnach fcheint mir Jakobus in allen Stellen eine durchaus in 


190 Erdmann, Der Brief des Jakobus. 


ſich übereinftimmende Anſchauung zu vertreten: nirgends ift ihm 
der Glaube Prinzip der Werke, alleinige Kanfalität berfelben, 
wohl aber einer der beiden Faktoren chriſtlichen Handelns: reli⸗ 
giöſe Beftimmtheit des Menfchen umd Ungeregtheit des Willens, 
die auf einander wirkend fich gegenfeitig durchdringen. müfjen. Das 
vefigiöfe Befigen und Genießen muß zum Thun werden: dann erft 
ift der Menſch gerecht. Sollte von diefer Auffafjung aus nicht 
aud die merkwürdige Vergleihung V. 26 Licht erhalten? Daß 
Leib und Geift hier nicht als das Äußere und Innere in Betracht 
Tommen, ift Harz aber die Annahme, „daß Jakobus nicht die ein⸗ 
zelnen Glieder feines Vergleiches mit einander, fondern nur den 
Zuſtand ber entjeelten am ſich mit ber Befchaffenheit des werke 
loſen Glaubens vergleichen“ wolle (Beyſchlag, S. 146), thut doch 
dem Verſe nicht Genüge, wie Beyſchlag ſelbſt durch die Wendung 
„man wird annehmen müſſen“ dies Gefühl bekundet. Der Ber- 
gleich kommt aber zu feinem Rechte, wenn man riorıs als reli⸗ 
giöfe Zuftändlickeit faßt. Dann ift nad diefer Seite nlazıs 
in der That mit dem Leib zu vergleichen, der an fh auch bloße 
Zuſtändlichkeit ift und erft durch die Zoym, welche auf dem Willen 
beruhen, aus diefer Zuftändfichkeit erlüft wird. Diefer Wille ift 
das rreöue. Go ift der Gebanfe alſo, daß auch die bloße reli- 
giöfe Zuftändlickeit ein wirkensunfräftiges, d. 5. das Heil nicht 
ſchaffendes Moment ift und erft das fittliche Thun eintreten muß, 
das Prinzip der Spontaneität hinzufommen muß, um biefe bloße 
Zuftändfichfeit zu überwinden und das religiöfe Prinzip zu voll» 
enden (TeAsıöaas). Der fittlihe Trieb ift die notwendige Er- 
gänzung der refigiöfen Beftimmtheit, wenn diefe von Heilsfolgen 
begleitet fein fol. Ob dieſe Auffaffung des Verhältnifjes von 
rlorıs und Egya bie einzig mögliche, ob fie die abfolut richtige 
und durchfchlagende ift, ift nicht die Frage. Aber daß fie über- 
Haupt möglih ift und von Jalkobus vertreten wird, feheint mir 
beweisbar. 

Für die übrigen Zeile bes Briefes muß ich mich mit einzelnen 
Bemerkungen über die beiden Kommentare begnügen. Beyſchlag 
nimmt 1, 2—12 als den erften, 1, 13—27 als ben zweiten 
Abſchnitt. Nichtiger erfcheint e8 mir, mit Erdmann den erſten 


Beyſchlag, Kritiicj-eregetifches Handbuch ac. 19 


Abſchnitt bis 1, 18 gehen zu laffen. Denn 1, 2—12 und 1, 
13—18 ftellen die richtige Beurteilung des resgaapoi nad) zwei 
verfchiedenen Seiten dar: 1, 2ff., wozu diefelben von Gott bes 
ftimmt find; 1, 13ff., wie fie nicht aufgefaßt werden dürfen. 
Die äußere Lage ift von Gott herbeigeführt, um die chriſtliche 
Charafterbildung zu fördern; dagegen wenn fie zu einer Reizung 
zum Böfen führt, ift das des Menfchen, nicht Gottes Schuld. In 
B. 17 liegt der ganze Nahdrud auf dya9n und zelsıov: alles, 
mas gute Gabe und vollfommenes Geſchenk ift, kommt von 
Gott, d. h. nur dies, nichts Schlechtes. V. 18 ift dann nicht mit 
B. als höchſte Konfequenz, fondern als das durchſchlagendſte 
Beifpiel dieſes Satzes gemeint. — „Wie kann der Gott, der ung 
aus freiem Willen (BovAnIsis) die höchſte Wohlthat erwiefen hat, 
‚ans zum Böfen reizen wollen?“ — 1, 21 nehmen €. und 8. 
negiooste al8 „Überfchwang“, „das Überfhäumende“ ; das paßt 
aber doch ſchlechterdings nicht in den Zufammenhang. Die Lefer 
follen doch nicht nur vor einem Hohen Maß von xaxix, fondern 
vor diefer fchlechthin gewarnt werden. Warum ſoll regiooel® 
nicht diefelbe Bedentung haben können wie rregloosvue (Mark, 
8, 8) und «0 negioosdov (Matth. 14, 28): id quod restat, 
was an xaxle noch in euch als Reſiduum geblieben ift? 2,1 
nehmen beide Ausleger vis döfns als nähere Beftimmung zu 
dem ganzen Ausdrud 6 xUgros numv I. X. Ich möchte auf 
die don meinem Herrn Kollegen Kloſtermann vorgeſchlagene Er» 
Härung (Evang. K.⸗Ztg. 1880, ©. 283) aufmerffam maden: 
„Der Glaube an den Heren Jeſus als verherrlichten Ehriftus“, 
wobei er fich auf den Ausdrud xegovßein v. do&ns (Hebr. 9, 5) 
beruft. Allerdings ift es mißlich, bie ftändige Verbindung I. X. 
auseinanderzureißen, aber gerade bei einem jubenchriftlichen Ver⸗ 
faffer ift es am eheſten begreiflich, daß er Xe. als Appella- 
tivum gefaßt ‚hat, und fachlich Hat diefe Erklärung viel Einneh⸗ 
mendes. 2, 4 laffen beide Ansleger das xad vor od fort und 
nehmen od diazgldnse als Nachſatz. „Zweifeltet ihr da nicht 
in euch felbft, d. h. waret ihr da nicht mit eurem Glauben in 
Widerſpruch geraten?“ (B., ©. 104.) ber zweifeln ift doch 
etwas anderes als in Widerfpruch geraten oder „im Glauben 


192 Erdmann, Der Brief bed Jalobus. 


fGwantend werden“ (Erdmann). Die Unechtheit des x ift doch 
durchaus nicht fiher; Beyſchlag felbft bemerkt, bag bie Fortlaſſung 
des x viel erflärlicher ſei, als feine Einfhiebung. Ich möchte 
glauben, daß fahlih B. 4a zum Vorderſatz gehört, indem ein 
durch bie Zwiſchenreden ®. 3 veranlaßtes Anakoluth vorliegt. Der 
Berfaffer Hat vergefien, daß er mit dev angefangen hat, und fährt 
V. 48 fort, als hätte er fein Beiſpiel in einem Hauptſatz ein« 
geführt. B. 4% giebt die Spige der Verſchuldung: nicht einmal 
gezweifelt haben fie bei ihrem Thun, sc. ob es auch recht je. 
V. 4b giebt dann das Urteil Über ihr ganzes Benehmen; Bier 
alfo würde bei regelmäßiger Konftrultion erft ber Nachſatz bes 
gimmen. „Und fo feib ihr xgirad deeloy. movnemv geworden.“ 
Wie ein xguens adızlas ein folder ift, in dem Ungerechtigkeit 
it, fo ein xg. diek, re. ein folder, in dem böfe Gedanken find, 
Diefe beftehen darin, daß der Reiche ihren als höchſt wertvolle 
Acquifition, der Arme als ganz gleichgüftiges Subjekt erfcheint. 
Bon diefen Gedanken aus haben fte fih zu Richtern über ihren 
Wert aufgeworfen, ihr Urteil geftaltet. Auf den dunfeln Ausdrud 
vgoxös e. yardasms 3, 6 läßt fih E. nicht näher em, fondern 
begnügt fich mit ber Bemerkung, es fei bildliche Bezeichnung des 
in ſtetem Kreisumlauf begriffenen perfönlichen Dafeins. B. nimmt 
vgoxös von ber Peripherie. „Jalobus ſcheint die Zunge mit der 
Achſe, das gefamte Übrige Dafein des Menfchen, dem gamzen 
Bandel, mit dem Nabe zu vergleichen, das von ber Achſe aus 
bewegt wird.“ Die erftere Erflärung fheint mir einfacher zu 
fein. Hinfichtlich des zweiten Kreuzes der Auslegung 4, 5. 6 
ſtimmen in der grommatifchen und Begriffe-Erklärung in B. 5 
beide Ausleger Aberein; nur verzichtet B. darauf, Hier eine alt- 
teftamentliche Stelle cittert zu finden, und nimmt an, daß ein ber 
tannter frommer Spruch fpäteren Urfprunges irrig als bibliſche 
Remiuiſcenz betrachtet ſei; €. rekurriert auf Jeſ. 48, 8—11. 
Letzteres ff auch mir unwahrſcheinlich. Sollte etwa Sad. 8, 2 
die dem Verfaſſer vorſchwebende Stelle geweſen fen? Dort heißt 
es: ty bye mm · · · aꝰ map mar rpm mern gg rove Wie 
ua yinp ya. Dort ift nicht nur der Gedanle des brennenden 
eiferfüchtigen Verlangen® Gottes nach feinem Volk enthalten, fondern 


Beyſchlag, Kritiſch-eregetiſches Haudbuch 2c. 18 


auch das rragoixeiv oder rragoixdLaım der Fakobusftelle findet ſich 
Hier, und der ganze Unterſchied ift fachlich, daß ftatt von Gott 
hei Jatobus von feinem Geift geredet ift als dem im Menſchen 
wohnenden, d. 5. daß die Stelle ins Neuteftamentliche überfegt 
iſt. Sehr erfreulich ift es, da Beyſchlag gegen Huther und Erd⸗ 
mann die einfache, den Worten allein gemäße Erklärung von 5, 12 
als einem abſoluten Berbot jedes Schwures mit Einfluß des 
Schwures bei Gott verfiht. Wie man fi das mit dem im 
Alten Teftamente geradezu gebotenen Eide (Erdmann) reimen will, 
wie mit der allgemein chriſtlichen Praxis, ift für die Exegeſe 
gleichgültig: bie Ausdrücke Ants &AAov zıva Ögxov und ro iumr 
=0o vai vor xui. find zu Mar und deutlich, als daß man ber die 
Meinung des Verfaffers im Zweifel fein könnte. „Alles über dag 
einfache Fa und Rein Hinausgehende ift nur ein Produkt der unter 
den Menfchen Herrfchenden Unwahrhaftigkeit und Unzuverläffigkeit ; 
dem Gotteskind aber geziemt anftatt der nur ausnahmsweiſe, beim 
Eid, eintretenden heiligen Scheu vor der Lüge jedes Ja und Nein 
eidlich zu nehmen“ (Beyihlag, ©. 228). Auch. Hinfichtlic des 
Salbens mit Ol (5, 14) gehen beide Yusleger auseinander. 
Erdmann nimmt mit Huther dasfelbe als Mittel zur Linderung 
ber Schmerzen, ſtellt es alſo unter den mediziniſchen Gefihtspuntt; 
Beyſchlag faßt es als mit dem Gebet zufammenmwirkendes Agens 
bei der wunderbaren Heilung, ftellt es alfo unter beu religiöfen 
Gefihtspuntt. Das legtere erſcheint mir als das Richtige, nur 
daß ich noch ftärker die rein ſymboliſche Bedeutung des Salbens 
hervorgehoben fehen möchte: es ift ebenfo wie die Handauflegung 
a. dgl. weder magifche noch medizinifche Vermittelung der Heilung, 
fondern ähnlich, wie wenn Ehriftus des Taubftummen Ohr und 
Zunge berührt, ein Sinnbild der Geiſtesmacht, welche im Gebet 
ihren Wortausdrud finde. Beyſchlag geht ©. 234 auf bie 
Scwierigkeit ein, daß die Heilung hier unbedingt vorausgefegt zu 
werben ſcheint. Mit Recht weift er Huthers Bemerkung als un 
genügend zurüc, daß, auch wenn die leibliche Heilung nicht ein« 
getreten ſei, in höherem Sinne das Gebet erhört werde. Diefe 
Erfiinug macht die ganze Lehre von ber Gebetserhörung zu einer 
wächfernen Naſe und ftimmt durchaus nit mit I Einfachheit 
Xbecl. Ein. dehte. 1888. 


14 Erdmann, Der Brief bes Jakobus. 


und UnbedingtHeit ber Schriftlehre von derſelben. Sachlich Halte 
ih Beyſchlags Erflärung für richtig, daß, wo man den Willen des 
Herrn erkannte, feinen Diener abzurufen, ber Verſuch der Heilung 
nicht gemacht fei. Nur Halte ich es für unnötig, das als eine 
notwendige Borausfegung zu bezeichnen. Vielmehr ift es ein- 
fache Konfequenz des Ausdrudes sry zig nlorens. Das ift 
nämlich) ein Gebet, welches aus der unbebingten Einigung des 
menschlichen Willens mit dem göttlichen Heroorgeht, das alſo nur 
eintreten Tann, wenn der Gegenftand des Gebetes dem göttlichen 
Willen entfpriht. Es ift, wie bie Gebete des Herrn, nicht eine 
Frage an Gott, die befahend oder verneinend beantwortet werden 
Tann, fondern eine göttlich kaufierte Gewißheit, daß fo und nicht 
anders der göttliche Wille laute. Dazu fommt aber nod ein 
Moment. Die ganze Schilderung des Jakobus macht den Eindrud, 
daß der Kranke in feinem Zuftend nicht bloß eine äußerliche 
Schickung, fondern eine göttliche Zornheimfuhung erfennt. Eine 
folche aber foll e8 in der Gemeinde Chriſti nicht geben. Indem 
er in dieſe Gemeinde ſich Hineinftellt — denn die Älteften kommen 
nach Beyſchlags richtiger Bemerkung als Vertreter der Gemeinde 
in Betracht —, gewinnt er Anteil an dem Grundgut der Gemeinde, 
der Vergebung der Sünden, dem Bemußtfein, nicht mehr dem 
Zorne Gottes unterftellt zu fein. Die leibliche Heilung kommt 
alfo in diefem Fall genau wie Matth. 9, 6 nur als Berbürgung 
dieſes Onadenftandes in Betracht, und in diefem Zufammenhang 
mit dem tiefften religiöfen Moment hat der Glaube die Gewißheit, 
daß fie Gottes Willen gemäß fei. 

Ich fürdte faft, dag der Widerſpruch, den ih im einzelnen 
vielfach gegen die beiden Kommentare, namentlich den Erd» 
mannfchen, erhoben habe, den Eindrucd machen könnte, als wenn 
ich ihn unterfchägte. Ich will daher abjchließend wiederhofen, daß 
ich mich nicht nur perfönlih an beiden in hohem Maße erfreut 
habe, fondern auch überzeugt bin, daß jeder von ihnen ein ſehr 
tüchtiger Beitrag zum Verftändnis dieſes praftifch fo überaus wert» 
vollen neuteftamentlihen Schriftftüces ift. 

Ric. D. $. Haupt. 





Boͤhl, Ehriftologie des Alten Teſtamentes. 1% 


.2. 


Böhl, Chriſtologie des Alten Teſtamentes oder. Ans- 
legung der wichtigſten meſſiauiſchen Weisfagungen, 
Wien (Braumüller) 1882. 





Ein Buch von Boͤhl wird jeder, der ihn als einen Mann 
von Gelehrfamkeit und eigenen Gedanken, ſowie von aufrichtiger 
Verehrung gegen das Wort Gottes aus feinen bisherigen Schriften 
kennen gelernt hat, mit der Erwartung in die Hand nehmen, es 
werde an Anregung und Belehrung durch die Leftire nicht fehlen, 
Jene fchägenswerten Eigenfchaften verraten fi auch in der eben 
erfchienenen Chriftologie des Alten Teſtamentes; aber mander 
Lefer wird vor Mißtrauen und Unbehagen nicht zur Freude an 
ihnen kommen. Die meiften werden ein Gefühl der Unficherheit 
darüber haben, ob fie zu der Gemeinde gehören, welche ber Verf. 
fi vorftellt. Denn bald erfcheint diefelbe als eine Verſammlung 
von unwiſſenden Studenten, denen gejagt werben muß, daß 
jittenem von nathan Herfomme, aber nicht erklärt zu werden 
braucht, weshalb das ſchwangere Weib Mid. 4, 9 mit „Freund“ 
angeredet wird, weil fie jeden Gedanken, der dem Lehrer bei einem 
Bibelterte kommt, im Gefühle ihrer eigenen Leere unbeſehens 
verfchlingen; bald als eine Sefte, die, felbft unverworren mit der 
Wiſſenſchaft draußen, um der erbaulichen Gedanken willen, bie er 
ihr fpendet, ihrem Haupte dankbar und vertranensvoll auch da zu⸗ 
hört, wo er ihr feine wiſſenſchaftliche Begründung derfelben nicht 
vorenthält. Wer außerhalb dieſer Kreife fteht und feine Bereit- 
willigkeit zu lernen nach dem Gewichte der Begründung einrichtet, 
welches der Autor feinen Aufftellungen giebt, wird finden, daß es 
dem Berf. doch gar zu fehr an Selbſtkritik und an Methode fehlt. 
Hätte er jene geübt, fo würde er nicht ©. 289 durch bie Vor⸗ 
ftelung der Saftigkeit eines Sproffes fich Haben verleiten laſſen, 
die Lage Joſuas in Sad. 3 dürr zu finden, ober durch bie 


unberechtigte Identifizierung der Buchrolle in Pf. 40 mit dem 
13% 


1% Böht. 


Pentateuch, zu fagen die Opferthora fei ſchon jegt Gott miß ⸗ 
fällig (S. 139), oder &. 141 durch eine ferige Deutung von 
Hebr. 10, 5, den Ausdruck zu wagen, für den Hebräerbrief fei 
der 40. Pfalm: das Vehikel, durch welches Eheiftus in die Welt 
armen, Es Mingt doch. für ‚den einfachen Berftand zu fonber- 
bar, wenn es ©. 235 heißt: „nicht dieſer pber jener Mann aus 
dem Haufe Davids, nein, die Jungfrau wird es tun“, nämlich 
ſchwanger werden und den Immanuel gebären, namentlih wenn 
nachher ganz richtig betont wird, daß bie Jungfrau (nicht Männern, 
fondern) nerehefigten Frauen gegenüberftehe, oder wenn das 
heute“ in Pf. 2 ©. 151, trogdem es das Geftern und Morgen 
ausſchließen foll, ein fprecgender Beweis für das ewige Sohnes⸗ 
verhältnis zu Gott genannt wird, oder wenn ©. 116 den Schrift⸗ 
worten Dt. 15, 15ff., welche einen Propheten wie Mofe ver- 
beißen, die Bemerkung vorangeftellt wird, es werde da ausdrüd- 
lich ein gnderer, größerer, der Herr dem ungenügenden Mofe 
als einem bloßen Diener gegenüberftelit. 

. Man foll aber nicht bloß bei der Wahl des Ausdruckes, fondern 
auch bei der Eutſcheidung für nene Behauptungen Selbſtkritik 
üben, indem man ſich in die Seele ber wiſſenſchaftlichen Berufs⸗ 
genoſſen verfegt und den von dort kommenden Bedenken gegenüber 
die eigene Vermutung erft erprobt. Auch das Hat unfer Verf. 
unterlaffen, felbft wo er fo kühne Deutungen vorträgt, wie daß 
die Worte: „Adam ift geworden mie unfereiner“, von der Wieder« 
herſtellung ber urfprünglicden Gottgleichheit durch den Glauben 
zu verftehen fein (S. 69), ober daß das Eſſen von Butter und 
Honig in Jeſ. 7, 14 einen gefegneten Zuftend des Landes be 
deute (ogl. dagegen ®. 21 —25), der Knabe in V. 15 aber 
Schear Jaſchub und nicht Immanuel ſei (S. 238), oder daß die 
7 Augen Sad. 3, 9 von den 7 Verwundungen Jeſu zu deuten 
feien (S. 292), mobei noch die Geſchmadloſigkeit unterläuft, daß 
die non der asketiſchen Litteratur gezählten 5 eigentliczen Wunden 
des Gelreuzigten durch Hinzunahme fo geuereller Mißhandlungen 
wie Geißelung, Dornenkrone auf die Siebenzahl gebracht werden. 
Hätte der Verf. ſich als Leſer einen handfeſten Theologen gedacht, 
der nur amimmt, was ihm als notwendig dargethan ift, jo 


Chriſtologie des Alten Teftamentes. in 


würde er vor vielen Phansaftereien bewahrt geblieben fein. Die 
ziemſiche Rückſicht auf ben Leſer zeigt ſich nicht bloß in der vom 
Verf. abgelehnten Streitverhandlung mit den litterarifhen Vor ⸗ 
güngern, welchen ber Leſer bisher zugehört Hat, ſondern vor allem 
in ber Innehaltung einer allgemein gültigen wiſſenſchaftlichen 
Methode. Und diefe läßt der Verf. Leider über Gebühr vermiffen, 
Sonft würde man doch erfahren haben, weshalb Jeſ. 24—385, 
trogdem daß Gef. 28 als Erklärungsmittel von Sad. 3 nadhıträge 
fi erwähnt werden muß, ferner Jeſ. 50 und der ganze Jeremia 
übergangen find, weshalb Ezechiel mit einer Seite abgethan wird, und 
warum nicht im Hohenliede fo gut wie im Pf. 45 eine meſſianiſche 
oder „foterologifche“ Weisfagung gefunden morden iſt, ober wes⸗ 
halb ber Berf. zum Beweiſe für bie mefflanifche Auffafjung bes 
Alten Teftamenses durch die Apoftel zwar die hiſtoriſchen Bücher 
des Neuen Teftamentes citert, aber nicht die Briefe, welche doch 
allein direkte Äußerungen über das Prinzip enthalten, nad dem 
bie Apoftel.bas Alte Teftament gebrauchten. Die ridjtige Methode 
muß dem Leſer dafür bürgen, daß der Stoff nach feinem vollen 
Umfange und nad feiner Natur, nicht nach zufälliger Auswahl 
and willkurlichem Gefichtspunft zur Darftellung tommt. Cie birgt 
ferner für die richtige Auslegung der DBibeltexte, indem fie «6 
unmoglich madt, bie Weisfagungsworte aus ihrem Zuſammen- 
ange herauezureigen und nach den Ideen zu deuten, bie man 
felbft gerade im Kopfe Hat, aber nicht die Propheten und ihre 
Zuhörer; fie leidet es nicht, daß man die vereinzelien Ausdrücke 
and Bilder des Tertes mit eigenen Einfällen zuſammenmijcht, ftatt 
ihnen durch Kervorhebung des geſchichtlichen Hintergrandes unb 
des litterariſchen Zuſammenhanges ihr Leben fo wicberzugeben, daß 
fie felbft zn Lefer reden. Dazu wäre bems freilich erforderlich 
geweſen, daß des Verf. felbft zuvor eine Hare Anſchauung über den 
rsihtligen Zufammenkang des Alten und Neuen Teftamentes 
fowie über ben Unterſchied beider Offenbarungen, und über bas 
Weſen ber Weisfagung in pfycholeghhcher und geſchichtephlloſophiſ cher 
Hinficht gewonnen hätte. Das Buch macht den Einbrud, daß 
dieſes wicht der Fall fei. Denn weder begegnen wir in ihm einer 
prinzipiellen Erörterung dieſer Dinge, noch ſuͤmmen bie zufälligen 


198 Bohl 


Bemerkungen über die Erfüllung der Weisſagung mit einander 
überein. Bald wird fofort von ber letzteren mit beiden Füßen 
ins Neue Teftament Bineingefprungen und die Züge der Weisfagung 
reell im dem BHiftortfchen Detail der Erfcheinung des Heilandes 
wiedergefunden, bald wird eine erfte Erfüllung in der Geſchichte 
des jüdifchen Volles, eine zweite in der Jeſu, eine dritte im der 
chriſtlichen Kirche, eine vierte in der Parufte geſucht, und je nad 
Bedarf fpiritualifiert. Aber einen Fortſchritt der Weisfagung kann 
es kaum geben, wenn im Protevangelium ſchon das Werk und die 
Verſon des Heilandes nach feinen beiden Naturen gegenwärtig ift. So 
ſehr der Verf. Luther lobt, fo erfcheint feine Vorftellung von ber 
Hoentität des aftteftamentlihen Meffinsbildes mit dem Chriſtus 
unferes Glaubens als eine Nachwirkung derjenigen calviniſchen 
Anſchauung, welde, konſequent durchgeführt, fir das Verföhnungss 
wert Eprifti und die Belehrung zum Glauben nur noch die Ber 
deutung einer Abſchattung deſſen übrig Täßt, was ewig in Gott 
vorhanden war. Charakteriftiih ift die Bemerkung S. 171, mit 
welcher die Gottheit des „Salomo-Mefjias“ in Pf. 45 begründet 
wird: „Wußten die Alten überhaupt etwas vom Meſſias, fo wird 
ihnen die Hauptfache, daß er Gott geweſen (sic), nicht neidiſch 
vorenthalten fein. Vorenthalten könnte man (sic) dem Meffins 
den Namen Gott nur im Intereſſe einer fingterten hiſtoriſchen 
Entwidelung des Meffiasbegriffes. Als ob das Brot des Lebens 
ſich entwideln könnte und nicht qualitativ ſtets dasſelbige von 
Adam bis zum letzten Menſchen fein müßte.“ Hier ſieht man die 
Berwirrung. Der Heiland ift das Brot des Lebens, nicht ber 
Hellandsbegriff. Diefer kann fi darum immerhin entiwiceln, 
dhne daß der Heiland ein anderer wird. Die Apoftel haben bald 
Mil, bald fefte Speife gegeben, in beiden aber das Brot des 
Lebens trotz der Verfchiedeneit der Begriffe, die durch jene ber 
deutet werben. Das beredhtigte Intereſſe, die causa salutis 
überall als diefelbe erfcheinen zu laſſen, Hat den Verf. zu dem 
anerlaubten Streben verleitet, dem Meſſias des Alten Teftamentes, 
aud wo der Tert nichts davon fagt, die Gottheit zu vinbizieren, 
die wir von Jeſu befennen. Dieſe Auskunft war unnötig, da 
der Berf. jelbft neben meſſianiſchen fogen. foterologifche Weisfagungen 


Chriſtologie des Alten Teſtamentes. 10 


nachweiſt, nach welchen Jahve felbft das Heil bringt. Daß biefer 
tommende Jahve und ber menſchliche Meſſias in dem einen 
Gottmenfchen Jeſu Ehrifto gegenwärtig gemprden find, das ift der 
Iuhalt des Evangeliums und das Spezifiſche unſeres chriſtlichen 
Glaubens. Beide in Einheit der Perfon zu fegen war für das 
Alte Teftament unmöglih. Gleichwohl ift der befeligende Glaube 
des altteftamentlihen Frommen dem Wefen nad) kein anderer, ale 
der des menteftamentlihen, denn auch jener ging auf den Gott, 
der feinem Volke unter anderem durch einen menfchlichen Mittler 
helfen und zuletzt ſelbſt kommen will, um bie Geſchichte ber Welt 
zu vollenden; dieſer geht auf den Gott, der feinen eingeborenen Sohn 
in der Geftalt eines menſchlichen Heils- Mittlere für die ganze 
Menſchheit gefandt und durch feine Erhöhung zu dem Gotte ge= 
macht hat, der in Offenbarung feiner. Herrlichkeit fommen wird, 
um bie Welt an ihr ewiges Ziel zu bringen. 


Dr. Kloſtermann. 


8. 


U. Kloſtermann, Korrekturen zur bisherigen Erklä- 
rung des Römerbriefes. Gotha, F. U. Perthes, 1881. 





Die von dem werten Verf. gewählte Form für feine Beiträge 
zur Exegeſe fpricht den Berichterftatter befonder an. Längft ift 
es fein Wunſch, daß mancher Gelehrte an Stelle eines volfftändigen 
Kommentare Arbeiten ſchriebe, welche kritiſche und weiter führende 
Beiträge im einzelnen bringen. Selbſtverſtändlich müffen für die⸗ 
jenigen, welche nicht im ftrengen Sinne mit fortarbeiten, von Zeit 
zu Zeit Zufammenfaffungen des inzwiſchen Gewonnenen dargeboten 
werden; aber die eigentlich wiffenfchaftliche Erörterung wird mehr 
durch Beiträge gefördert, melde dem Nachfolgenden die Täftige 
Müpe erfparen, das nicht felten an Umfang und Gewicht gering- 


b.\] Koßermann 


Fügige Neue ans der Maſſe altbelannter Darlegungen Heranszu 
ſuchen. Gerade unter dieſem Gefichtspunkte ift im biefer Schrift 
das Mögliche geleiftet. Der Berf. giebt nur in der Hauptſache 
tnapp bemefjene Ausführungen feines Verſtänduiſſes einzelner 
Stellen und fagt in dem fuuf erften Abhandlungen am Schluſſe 
die Abweichungen feiner Auslegung von der gangbaren ausdrücklich 
in beftimmt gefaßte Borderungen zufammen. Klingen biefe Zus 
ſammenfaffungen etwas peremptorifch, wie auch ber Titel des 
Ganzen in dieſem Sinne (niht mir) aufgefallen ft, fo ift auf 
beiden Wegen im Grunde nur offen amegebrüdt, was jeder Berf. 
meinen und wünfhen muß, daß in feiner Leiftung ein Fortfchritt 
ftege, den man fortan nicht unbeachtet lafjen dürfe. 

Erflärt doch der Verf. im Eingange befcheiden, daß er nur 
Anregungen geben wolle, wie fie von jemand kommen können, ber 
in der theologischen Eregeſe dieſer Schrift ein Laie fe. Man 
wird ja freili dieſe Selbftbezeichnung wie im Rücblick auf 
frügere Arbeiten fo unter Hinweis auf die vorliegende zu beſcheiden 
finden; fie dient auch hauptſächlich dazu, den Verf. von der 
obfervanzmäßigen Auseinanderfegung mit der vollftändigen Ge 
ſchichte der Auslegung zu entbinden. Wenn er mit einzelnen Vor⸗ 
gängern, zumal v. Hofmann,. verhandelt, gefchieht es meiftens 
nur zur befferen Herausftelung feiner Faſſung; feltener, weil 
diefe ſtch kritiſch an der beſprochenen entwidelt hat und darum 
and; am leichteften vor dem Leſer entwickela Saft. Bash hat 
das Abfehen von der egegetifchen Überlieferung mit ihrer Überfülle 
von Einzelfragen etwas Förderndes, um einmal wieder den Text 
als ſolchen unbefangen anzufehen. Und Hierin diirfte auch die 
eine Stärke dieſer Arbeit Liegen, daß fie fich des Herfönmlichen 
ganz entfclägt, um es einmal mit vollig neuen Wegen zu vers 
ſuchen; fo Hat ja auch v. Hofmann viele Anregungen dargeboten. 
Diermit verbindet ſich eine mutige Nüdfichtötofigkeit in Beziehung 
auf die Herfömmfiche Verwertung der apoftoliſchen Ausſagen as 
dogmatiſcher Belegftellen; nur der nachfte Zufammenhang der Ger 
danfenfügung, feltener der weitere mit der gefamten Entwickelung 
des Briefes, kommt In Betracht. Nicht einmal die Anslegumg aus 
der Analogie des Schriftftellers felbft Hat eine erlleckliche Ber 


Korrekturen zur bisherigen Erklärung des Römerbriefes. 201 


beutang. Der Brief wird gelefen, wie er vom denen gelejen 
wurde, welde Paulus weder in Perfon noch als Schriftfteller 
Iaunten; den Unterfchied darf nur der Umſtand bilden, dag jene 
Leſer griechifch dachten, und wir uns diefe Fähigkeit durch klaſſiſche 
Philologie ergänzen muſſen. Im übrigen regiert nur die Logik. 
Und in der That verwendet der Verf. dieſes Zuchtmittel energiſch 
and mit Wirkung. Im Zufommenhange mit diefen Beftimmt- 
heiten feines Verfahrens fteht da6 amdere Hauptverdienſt feiner 
Arbeit; dieſelbe ftellt mit außerordentlicher Schärfe die Mängel 
und Bedenfüicjkeiten der bisherigen. Auslegungen heraus und nötige 
zu einer ernftlihen Sichtung. Und diefe Seite der Arbeit wird 
auf alle Fülle jeden Ausleger des Paulus zwingen, fich gründlich 
mit dieſen „Korrekturen“ auseinanderzufegen; fie werden fürdern, 
ſollten auch ihre beſtimmten Ergebniſſe wicht durchweg Beifall 
finden. 

Die Ausleger dürfen ſich nicht dagegen ſträuben, wenn ihnen 
collegium philologieum et logieum gelefen wird; und fo ſollte 
3. DB. feiner die Ausführungen über Röm. 7, 24. 25. im Ber» 
haltniſſe zum vorhergehenden Abjchnitte ohne genaue Prifung, auch 
ber eigenen Auslegung, leſen oder gar ungelefen laſſen. Doch 
wird jener exegetiſche Kanon von der Verfegung in die erften 
Leſer einer Ergänzung bedürfen. Daß ſelbſt diefe den Apofiel 
nicht fo ganz leicht verftändlich fanden, davon ift und fogar eine 
gefchichtliche Kumde geblieben 2 Petr. 3, 15f. So kommt denn die 
Dunfelpeit doch vielleicht nicht allein auf die Rechnung der theolor 
gifden Vorurteilt und eregetifchen Mißgriffe. Überdem Hat der Verf. 
Fefbft in feiner fehr beachtenewerten Entwickelung über 3, 24f. 
©. 83f. dargelegt, wie reichlichen Anfchauungsftoff Paulus bei feinen 
Entwidelungen im Syistergeunde Hält. Daß feine Ausfogen. über 
«rolvsgwors und ilaasigior fich an bie Jobelgeſetze aufchlichen, 
wat diefehben unter dieſer Vorausfegung erft ganz genau vet⸗ 
ſtandlich; darf man annehmen, daß bie erften Leſer fie fo durch⸗ 
ſchauten, wie der Ausleger? Daß, wenn fie dies ohne weiteres 
vermecten, die Erinnerung an dieſe Beziehung tragdem nad 
ihnen ſo ganz verloren gegangen wäre? Doch follen dieſt Be- 
merkangen durchaus nicht den Stachel abſchwachen, der in den 


a2 Klofermann 


Ausführungen des Korreftors liegt; die Ausleger follen immer 
tiefer in die Gebankengänge fi Hineinverfenken, deren Ergebnifje 
die lebhaft fortfereitenden Säge des Apoſtels bilden, und ſich 
nicht fo bald unter dem Hinweis anf feine fpringende Denkweife 
von dem Nachweis der deutlichen Verknüpfung der Gedanken ente 
binden; fie follen immermehr aus der Schrift felbft heraus aus⸗ 
Tegen lernen und nicht ans einer oft genug dogmatifch, fo oder fo, 
beeinflußten biblischen Theologie heraus. Es wird immer foörder⸗ 
lich fein, die zwei möglichen Wege der Auslegung auch getrennt zu 
befchreiten, um hernach biefelben durcheinander in ihren Ergeb⸗ 
niſſen zu kontrollieren; daß man nämlich das eine Mal an die Schrift 
herantrete, als wiſſe man von ihrem Verf. und ihren Vorausfegungen 
nichts — was ja freilich über die Lage der erften Leſer weit 
hinausgeht —, und das andere Mal von der umfafjendften Belannt- 
ſchaft mit den gefchichtlihen Vorausſetzungen diefes Schriftftüdes 
aus es zu verftehen fucht. Ich will nicht leugnen, daß die ber 
ſprochene Schrift erft die Hälfte diefer Arbeit angreift und ein- 
feitig den erften Weg innehält. 

Die Einzelpeiten müffen in der Schrift felbft gefunden werben, 
umd es ift nach dem Obigen ja nicht ſchwer gemadt. Doch muß 
die Anzeige menigftens auf das Wichtigſte aufmerfjam machen, 
wenn fie auch nicht in die eigentliche Erörterung eintreten kaun. 
Es wäre unbefcheiben, dieſen ernfthaften Unterfuhungen andere 
ohne die gleiche Gründlichkeit an die Seite zu ftellen; folde ift 
aber durch die Grenzen einer Anzeige ausgefchlofien. Flechte ih 
einige Bedenken oder Fragen ein, fo jet im voraus ber Auſpruch 
geleugnet, daß diefelben ſchon als ausreichende Widerlegung gelten 
follen. 

Es find nur einzelne Abfchnitte, welche der Korrektor behandelt; 
doch Laffen ſich aus ihnen einige Grundgedanken über dem ganzen 
Brief erſchließen. Er entnimmt aus 1, 13—15, daß Paulus feinen 
Brief als einen notgedrungenen vorläufigen Erſatz für die eigene 
Predigt in Rom fehreibt. Weiter deutet er als deſſen Grund⸗ 
gedanken an: die Darlegung der fittlihen Regenerationskraft, 
welche dem Evangelium eignet, das auf Glauben rechnet. Die 
Entfaltung dieſes Grundgedaukens findet er dann in einer Gelbft- 


KRorrefturen zur bisherigen Erklärung des Römerbriefes. 208 


befinnung der Ehriften auf ihren Lebensbeftand vollzogen, welche 
der Apoftel in einem Gefpräde mit feinen Leſern vorführt, vgl. 
©. 30. Es handle fich nicht fowohl um Darlegung gefchichtlicher 
Zhatfahen, als um die Erinnerung daran, wie das Evangelium 
uns Chriften diefelben anfehen und ſchätzen gelehrt Habe. So 
zeigt z. B. 1, 18f. nicht die Zornoffenbarung Gottes in der 
Heidenwelt auf, fondern erinnert daran, wie fie dem Chriften fich 
dur das Evangelium (drroxalunzeras sc. did Tod sdayyellov 
sive dv zö norsdovzs) enthüllt habe, fo daß er ihrer nun inne 
wird. War fon ehedem darauf hingemwiefen, Paulus entwidele 
1, 18—3, 20 nicht ſowohl die allgemeine Sündhaftigfeit als bie 
Sculdverhaftung der Menſchen, fo ift e8 ein Schritt weiter in 
derfelben Richtung, wenn der Verf. hier gar nicht mehr allgemein 
menſchheitliche Thatſachen behandelt ficht, fondern ausdrücklich nur 
an der griechiſch⸗römiſchen Kulturwelt erempfifiziert, und zwar fo, 
daß eben der Ehrift nun in das Leben zurüchlidt, dem er ente 
nommen ift und welches er num ganz anders beurteilt, ald da er 
darin ftand. Die Andeutungen über den Gedankenfortſchritt 1, 18f., 
wie fie S. 32f. gegeben werden, find überaus fefjelnd. Diefer 
fo zu fagen mehr fubjektiven Faſſung entſpricht es, wenn 5, 1f. 
nit die Fruchte der Rechtfertigung, fondern „bie Gemüts- 
ftimmung des gerechtfertigten Chriften“ darftellt. In derfelben 
Linie Tiegt die zuletzt behandelte Stelle 7,24 — 8,2. Hier Liegen 
Fingerzeige vor, melde der Erwägung gewiß wert find. Dabei 
regt fi der Wunſch, der Verf. möge die Probe am ganzen 
Briefe verfuhen. Ein Kommentar kann ihm erjpart bleiben; 
aber er Lönnte in der Weife von Schott, oder noch fummarifcher, 
darlegen, wie fi ihm der Grundrig des ganzen Baues in feiner 
Gliederung darftellt. Das ift für fich der Mühe fehr wert, auch 
ohne genaueres Eintreten in die Frage über den Leferkreis des 
Briefes. 

Die Eigentümlichkeit der Arbeit tritt zunädft an dem philo« 
logiſchen Verfahren im engeren Sinne hervor. Der Verf. fchlägt, 
darin v. Hofmann verwandt, bisher unerhörte Konſtruktionen der 
Satzgefüge vor. Dabei begünftigt er Einſchübe und erreicht der» 
geſtalt Verknüpfungen ziemlich fern von einander ftehender Satzteile. 


204 eloſtermanu 


1, 13f. geſtaltet ſich hiernach ſo, daß od Im Önks ayvosiv 
zum Objelt einen Satz von xads bis sdayyellcacdar erhält, 
in weldem xccſcic ſich vorbereitend auf odeng bezieht, zo 
agdIvwov als eigentlihes Objelt zu ayvosiv bie Satzausſage 
enthält und "ZAAyoı bis eds einen Einfhub bildet; dr V. 13 
heißt „weil“ und va hängt von od 9020 xa. ab unb giebt bie 
eigentliche Abficht an. So gewinnt Kloftermann in diefer Periode die 
deutliche Angabe über den Zwed des Schreibens und bamit das 
andere Stüd der Einleitung neben dem rgdro» B. B. — Ein 
eben ſolcher Einfhub begegnet in 2, 14, über welchen hier ofrıves 
V. 15 unmittelbar an od zomrai V. 13 anſchließt. Ebenfo ge» 
hört 4, 2 dA ou eos Iedv nach der Parentheſe als ein 
facher Sagteil zu Aßgacp xa. V. 1. In der unbequemen 
Stelle 3, 9 wird od navswg naveas aA. zuſammengenommen 
und ugoys. bis Faamiac parenthefiert. Ebenda begegnet au 
die andere mehrfach angemandte Konftruftionshilfe, nämlich ein 
Frageſatz, der als ſolcher nicht beftimmt angedeutet ift, und auf 
beffen ausgelafjene verneinende Beantwortung nur bie folgende Ber 
gründung des Gegenteiles vom dem hinweift, was die Frage anf 
fagte: „Iſt die Meinung, daß nicht durchaus — denn wir haben 
bisher ja nur Juden und Griechen angeſchuldigt — alle unter 
der Sünde fein? Gewiß nicht. Denn bie Schrift ftellt alle 
darunter.“ Diefelbe Wendung findet ſich 7, 24 — 8,2. Aus der 
geſchilderten Knechtſchaft Hebt fi der Schrei nach Erlöfung von 
der Todesrealität *), unter ber man fteht. Ihm antwortet die 
Dankfegung für die Erlöfung. Dann folgt die abzuweiſende faljche 
Konfequenz in zwei Fragen: „Darf denn der einzelne Chriſt mit 
feinem verftändig refleftierenden Bewußtſein göttlichen Gefege 
denen und im übrigen feinem Fleiſche den Bügel ſchießen laffen7 
Gilt es (mas daraus folgen würde) daß es für den Chriften Seine 
Art von Verdammmis mehr giebt, auch wenn er fündig? Gewiß 
nicht! Darum iſt er ja befreit, um nun bie. Verantwortung haben 
zu können; vgl. 8, 12f.“ Mich befremden bei Paulus biefe Wendun⸗ 
gen, der fo oft ſolche Fragen aufwirft und ebenfo oft «8 weber at 





3) So foßt Moftermann seuw, wit auch 6, 6. 


Korrelturen zur bisherigen Erflärung des Römerbriefes. 26 


der Kennzeichnung des Satzes als Frage, noch an der ausdrücklichen 
Abweiſung fehlen läßt. Mich befremden auch fo kunftvoll ges 
ſchlungene Satzgewebe, wie die oben bezeichneten. Da ſie indes 
in der That Unebenheiten auszugleichen vermbchten, bedarf es all» 
feitiger Erwägung. i 

Der Korrektor felbft wird fich nicht verhehlen, dag man zu 
manden feiner Auslegungsmittel wohl ein Fragezeichen fegen Tann, 
das ‚nicht minder berechtigt ift, als feine philologiſchen und Logifchen 
Ausrufungszeichen neben den herkömmlichen Saffungen. Iſt 3. B. 
folgende Faſſung von auroc &y@ einleuchtend: „Es foll einfach 
markieren, daß bier fih ein anderer, eben jener „Du“ des 
Berfes 8, 2 dem Apoftel entgegenftellt“ ; aber da eben dieſer 
Apoftel bisher in erfter Perfon redete, wie undeutlich wäre diefe 
Entgegenftellung ohne das fonftige &gsös ou» oder dgeh zus! zumal 
bie Anrede an dies yes doch erft nachfolgt, auch wenn man der Lesart 
os für ne beifällt (wofür Kloſtermann Gewichtiges beibringt), 
und wie mißverftändfich ift nach dem Vorangehenden der Konjunk⸗ 
tin dovkedo. Zweifelhafter noch dürfte bie Tertherftellung im 5. 
Kapitel fein, wo V. 6 eis vl yo gelefen und V. 8 6 Iadc ger 
fteichen werben fol, um dann den Gay drı x4. als Subjelt von 
avvioznos, zu faffen ). — Auch das fet noch bemerkt, daß fi die 
Grenzen zwifchen Logik und Rhetorik oft nicht haarſcharf ziehen 
laſſen, die Entfaltung rhetorifcher Wendungen aber etwas Indi⸗ 
viduelles Hat. So ſehr die lebhaften Ausſpruche des Korrektors 
gegen. zerftückelte Vergleichung einzelner Buchſtaben bei der Texte 
fritit und gegen Üußerliche Anwendung der Grammatit meinen 
Beifall Haben, muß ich doch daran erinnern, daß bei der lebendigen 
Verfegung in den Schriftfteller e8 doch eben der Ausleger bleibt, 
welcher ſich verfegt und daher auch das befte Teil von fi) mite 
aimmt. Und ift e8 den meiften Auslegern von Kap. 7. 8 fo 
ergangen, daß fie unmillfürfi aus ber eigenen chriftlichen Er⸗ 
fahrung auslegten — daher ſtammt die unfterbliche Kontroverſe, 


1) Die Tilgung von eögrxeves 4, 1 ift mir wenigſtens nicht durch bie 
Vermutung empfohlen, man habe mgonaroganuww entziffert: mganuovsu- 
enzeron, 


206 Kloftermann 


ob Kap. 7 vom „Wiedergeborenen“ handle —, jo ſcheint es doch 
auch dem Verf. nicht ganz erfpart geblieben zu fein bei feiner 
durchſchlagenden Grundauffaſſung. Seine Auffafjungsweife oder 
auch Herfümmliche Gebankenwendungen ſchieben ſich doch gelegent ⸗ 
lich auch in feinen Entwickelungen unter, ſtatt einer erft geprüften 
Erhebung der Urt, wie Paulus felbft darüber zu reden pflegte. S. 216 
ſollte der Sat „was er (Paulus) fonft Wiedergeburt nennt“, doch 
wohl lauten: „was wir namentlich feit den Erweckungszeiten fonft 
Wiedergeburt nennen“; denn Titus 3, 5 reicht wohl in feinem 
Betrachte für das „fonft“ aus, fofern diefes Wörtchen doch nur 
anmerken kann, hier bezeichne Paulus nicht fo beftimmt, was er im 
übrigen gangbarer und durchfichtiger mit dem gemeindhriftlichen 
Namen zu nennen pflege. — Dod wir find ſchon über das rein 
Sprachliche Hinaus. 

Die fachlichen Ergebniffe angehend, fo wird die Umfehr von 
8, 1 im das Gegenteil der bisher angenommenen Bedeutung 
mandem frommen Bibellefer ſchwer fallen; doch das darf nicht 
entfcheidend ins Gewicht fallen. Indes, Hat die bisherige kategorifche 
Faffung nicht immer noch ihren Halt im weiteren Zufammenhange 
8, 3ff.? Es fei nur bemerkt, um daran zu erinnern, daß zur 
endgültigen Entfcheidung doch auch über den nüchſten Zufammens 
hang Hinaus verglichen werden muß. Im übrigen iſt mir die 
Ungenüge der Auslegung der dem odv, &ga vüv und des yag 
7,25 — 8,2 längft fehr peinlich gewefen; und gerade die Bes 
Handlung diefer Stelle wird gewiß nicht ‘ohne Nachwirkung bleiben. 
Auch hier tritt jene Grundauffaffung wirkſam ein, welche von der 
teformatorifchen abweicht, indem fie den Ton nicht auf bie Ges 
wißheit der Sündenvergebung, ſondern auf Begründung und Ber» 
pflichtung für das neue fittliche Leben legt. Demgemäß bezeichnet 
dixasoadvn Heod 1,17 und 2, 22 midt den Stand des 
dixasodels, fofern er Vergebung der Sünden hat, fondern „eine 
fittliche Sebensbefhaffengeit in immer zunehmender Fülle“. Den 
Zufag entnimmt der Verf. der anfpredenden Fafjung. von de 
nloreng sis nlorıv. So wird nit nur don dem in der 
Exegeſe Hergebrachten, fondern auch von dem abgewichen, was 
der Kirche lange gewichtig war; ba Hat denn die Abgeriſſenheit der 


Korrekturen zur bisherigen Erklärung bes Römerbriefes. 207 


Bemerkungen etwas recht Unbefriedigendes, denn dieſe Faffung 
fteht Hier doch als Heiſcheſatz, fofern keine Auseinanderfegung mit 
den anderen Stellen ftatthat, ohne welche diefer Begriff ſchwer⸗ 
ich mit Sicherheit in des Apoftels Sinn feftgeftellt werden kann. 
Wie verhält ſich zu dieſer Scheidung zwiſchen dixasoavvn und 
dixmovoder 3, 22. 24 die Zuſammenfaſſung 4, 4 vgl. 2. 6. 
22 — 25? ber eigentümfichen Wendungen 9, 30f., zu ge« 
ſchweigen. — In denfelben Gedankenzug biegt die Faſſung von 
5, 1f. ein, wenn fie, der Lesart Zxamer ehgrivm» folgend, das 
geziemende Verhalten entwidelt. Hier wird im Verfolg die Eigen« 
tumlichteit der Wendung zur Geltung gebracht, indem V. 6f. 
nicht in herfümmlicher Art der Ton auf die objektive Leiftung, 
vielmehr auf die perfönfiche Stellung Gottes und Eprifti in ber 
Liebeserweifung gelegt wird. Auch in dieſem Zufammenhange 
dürfen die Hinweifungen auf Altteſtamentliches zu exxiyuras 
V. 5 und dyrov jucv dadevav Fr B. 6, wie bie erwähnten 
zu 3, 24 nicht überfehen werden. 

Bejonderer Anfmerkfamfeit fei noch die Behandlung der Formel 
Tovdulo ve ngwrov zal "EAdnvs empfohlen. Daß nah 1, 14 
“Ellnves nicht für 2997 ftehe, wird anerfannt werden müffen, und 
daß — freilich gegen alle bisherige Auslegung — nreWrov wegen 
ud xl auch zu "EAlnves gehöre, ift nicht von vornherein abzus 
weiſen. 

Zuletzt darf ich wohl einer etwas genaueren Auseinander⸗ 
fegung über die Stelle 2/ 14—16 nicht aus dem Wege gehen, 
da der Verf. in meine Auseinanderfegung mit Miceljen 1) forte 
führend eingreift. Er vertritt die Anficht deöfelben, daß unter den 
299m das Geſetz erfüllende Heidenchriften zu verftehen feien, unter 
Preisgebung der von mir widerlegten Annahmen in einer neuen 
Faffung. Dieſelbe ftügt ih im engften Sinne auf den Nachweis, 
daß fi) olrıves V. 15 Logifcherweife nicht mit V. 14 verbinden 
Taffe und dag man der Anknüpfung von B. 16 au dvdekwurres 
in dem Mafe nicht gerecht werde, als man dieſe Erweifung in 
der Gegenwart firiere. Gewiß find Hier die Unebenheiten ſcharf 


3) Im dieſer Zeitſchrift 1874, S. 261f. 


28 Mofermann 


gefaßt, deren befriedigende Befeitigung bisher, wie ich germ geftehe, 
nicht gelungen fein mag. Auch wird Kloſtermann darin wohl recht 
behalten, wie er bie Behandlung der hypothetiſchen Periode B. 14 
grammatifch korrigiert. Doch wird er auch zugeftehen, daß fich 
über bie einzelnen Werbindungen erft dann etwas Entſcheidendes 
feftftellen läßt, wenn die Geſamtauffaſſung feftfteht; gar zu leicht 
argumentiert man nämlich am einander vorbei, weil ja. die Vor⸗ 
ausfegungen verſchieden find). Kann id nun Hier nicht ins 
Einzelnfte gehen, fo befehränfe ich mich bilfig auf einige Eins 
wendungen rüdfictlich der Hauptpunfte, denen zufolge ich der vor» 
geſchlagenen Auslegung nicht ohne weiteres beifallen kann, ofne 
daß ich darum die Frage für entfchieden ausgeben wollte. 

Die Faffung des V. 14 als Parenthefe ſcheint mir unthuulich. 
Die angeführten Beifpiele 1 Kor. 7, 11 (15, 25?). Gal. 2, 8 
ziehen nicht, weil bier die SKonftruftion unweigerlich die Vers 
bindung des aufgefparten Periodentelles mit ber Parenthefe ver« 
bietet; auch 2Xor. 12, 2—4 fann! der Lefer mur bei oberfläch⸗ 
lichſtem Überfliegen dr mit Fsög older verknüpfen; während in 
unferer Stelle der Anfchluß von ofrıwes an odeos nicht nur unan ⸗ 
ftößig, fondern durch das Präſens — wie die bisherige Geſchichte 
der Auslegung zeigt — faft unvermeidlich erſcheint. So haben denn 
auch die mehrmals wiederkehrenden Andeutungen bei Kloftermann, 
V. 14 gehöre Hinter V. 16 umd fei vom Rande hierher geraten, guten 
Grund. Ein das Folgende mit ycio motivierender Einſchub ift 
bier in ber That verwirrend. — Indes fei dem fo; dann wire 
der Sag aus dem Konterte zu verweiſen. Er ift ja im Grunde 
aud für Kloſtermann nur ftörend, denn bie Beziehung auf Heiden⸗ 
chriſten ift abgefehen von V. 14 gar nicht nötig; ®. 15 „paßt 
auf Juden und Chriften gleichermaßen" &. 62. Bielleiht ift 
3. 14 und bie ganze Beziehung auf Helden ober Heidenchriſten 
bier ebenfo die Nachwirkung einer vorgefaßten Auslegung, wie der 
Zufag vol; ur xard odgxe neginerovow 8, 1. 


1) So fdeint es mir Kloftermann mehrmals in der Kritik meiner um« 
fehreibenden Einſchübe widerfahren zu fein, bie auch mit immer genau aufe 
gefaßt und wiedergegeben find. - 


Korrekturen zur bisherigen Erklärung bes Römerbriefes. 29 


Weiter handelt es fich eben um das Berftändnis des Abfchnittes 
im größeren Zufammenhange; Kloſtermann geht dafür von B. 17£. 
aus. Hier ift vom Juden (nit vom Judenchriſten) die Rebe; 
aber der au bemfelben hervorgehobene Widerſpruch ſoll nicht geftellt 

- fein auf Beſitz des Gejeges einer⸗, ausbleibende Erfüllung andere 
ſeits; vielmehr table Paulus an ihm eine pharifäifche, am Buchſtaben 
haftende Erfüllung an Stelle einer folchen mit Herzensbeteiligung, 
wie fie bei dem Judenchriſten V. 29 und bei dem Heidendhriften 
8. 26 ftattfindet. Beherrſcht nun dieſer Gegenſatz des Legalis- 
mus und ber Herzensſittlichteit den Zuſammenhang, dann kann 
man fih auch V. 13 nicht mit dem einfachen Gegenſatz der 
&xgorral und mosmeet begnügen, fondern Anerkennung vor Ge 
richt kann nur die legte Gattung der omsel finden; deshalb 
muß V. 15. 16 diefelben näher beftimmen. Diefe Beftimmung 
muß nun die Herzensfittlicgleit ausbrüden. Demgemäß iſt das 
yoarsrorv dv reis xugdiaıs Folge von und Beweis für die 
Herzensbeteiligung bei der Vollziehung des Zgyov ©. v. Die 
Evdsidis aber vollzieht ſich V. 16 am jüngften Tag und zwar 
vermittels bes Gewiſſenszeugniſſes, welches „Teldft mitten (zus 
usrafd) unter der gegenfeitigen Verklagung und Entjhuldigung 
der Gedanken“ für die anzuerkennende Individualſittlichkeit eine 
treten wird. Diefem Grundzuge folgt felbftverftändfich auch die 
Faffung von davrois siolv vonog; denn das „Sich-⸗normieren“ 
wird je nad) dem Zufammenhange theoretifch oder praftijch gefaßt 
werben Können. Ein folder Hinweis auf bie zweifellos der Aner- 
Zennung vor Gericht würdige KHerzensfittlichteit fhlägt am ent 
ſchiedeuſten jeden eingebildeten Legalismus wieder. 

Ich belenne, daß ich die pofitine Seite dieſer Ausführung nicht 
ſo durchſchlagend finde als die geübte ſchneidende Kritik. Ob dieſe 
Gedantkenreihe in den Gang des Paufus hinein paßt, muß ſich doch 
darin bewähren, baß fich die von ihm gewählten Wendungen leichter 
verftehen laſſen als unter anderen Boramsjegungen. Allein ich 
Am das in ‚Beziehung anf V. 18f. nit finden. Hier fteht 
nichts von einer Beobachtung des Geſetzes, wenn auch buchſtäb⸗ 
licher Urt, zu (ofen, von einem „eingebildeten Geſetzesthater“, 
vielmehr nur von einem Hoffärtigen Geſcheste nner ꝛ nichts won 

Theol. Gtub. Dahrs. 1888. 


210 Moftermann 


dem „Suchen, den Buchftaben mit der That zu bekennen“, fondern 
von Thaten der Übertretung; wie denn auch die Ausbrüde 
xAsnreig, noryedsig, begoaväsis nicht auf „Gelüften, von denen 
das Herz ftrogt“ bei Außerlicher Legalität deuten. Für jene ans 
geblich von Paulus gemeinte buchſtäbliche Kegalität fpricht auch dick 
rodunaros V. 29 gar nicht, ba es fo wenig wie die rege- 
sonis eine Modalität des Thuns als folden bezeichnen kann; 
es jind Vorausfegungen für das in feiner Mobalität als offen» 
tundiges (B. 24) rragapalverv beftimmte Thun. So ift auch 
Ev nveinarı ol) yoduparı V. 29 nicht eine müßige Wieder- 
holung des Gegenfages von Innerlichkeit "und Äußerlichkeit neben 
xgundv und gavegdv, fondern die Formel erinnert an die 
Ordnungen der göttlichen Okonomie und die in denfelben bes 
ftimmenden Mächte, vgl. 7, 26. 2 Kor. 3. — Führt nun ſchon der 
eigentliche Sig der Faſſung Moftermanns nicht auf fein Verftändnis, 
fo will es ſich vollends V. 13 an die vorangehenden einfachen 
Worte. nicht fnüpfen laſſen. Der Gegenſatz axgoarat und 
nromees ift doch einfach der von Theorie und Praxis und führt 
den Lefer, der V. 17 f. noch nicht mit Kloftermanns Augen gelefen hat, 
nicht auf den Gegenfag einer äußerlihen Praxis und einer Praxis 
mit innerer Beteiligung. Gegen dieſe Beftimmung von dxgoazı]s 
ſpricht auch noch Überdem, daß es ja anfnüpft an: doos dv voup 
Auagrov, welde Worte doch gewiß nicht auf Geſetzesbeob⸗ 
achtung deuten. Die Faffung wird nur durd den engen An- 
ſchluß von ofrswes möglich. Unter Beibehaltung der Parenthefe 
®. 14 hat aber Paulus alles gethan, um ihn zu hindern. Denn er 
hat weder eine Vorausmweifung beigefügt, die bei dem im Zu- 
fammenhange ohnedem in fi völlig Haren Gegenfage &xgoaras und 
sromzal unentbehrlich erfcheint, noch auch V. 15 fo geftaltet, daß 
die enge Anlehnung herausträte, wie wenn er Particip Futuri ange 
wendet hätte; bleibt body das Präfens Evdeizv. zwiſchen dixasmsnj- 
covres und xgivei immer befremblih. Kloſtermann findet freie 
lich diefen Hinweis in dem an ſich neben dixamı agu cü Heu 
überflüffigen dixauwInoovras; allein dies ift nicht überflüffig, und 
der. Sag ohne dasſelbe wäre falſch; denn bei dUxaos ift nur 
elotv zu ergänzen, ſofern ja, wenn's bloß aufs Hören anfäme, 





Korrekturen zur bisherigen Erflärung des Römerbriefes. 211 


mit diefem auch ſchon alles fertig wäre; dagegen, wo das Thun 
für die Anerfennung erforderlich ift, kann diefe erft in ber Zur 
tunft eintreten, im welcher das zwoseiv abgefchloffen wird. Die 
Juden pochen auf das, was fie find als Befiger der Geſetzes⸗ 
keuntnis; ihnen wird vorgehalten, daß es fi darum handelt, als 
was fie auf Grund ihres Thuns erfcheinen werden. — Laßt 
man aber ®. 14 fallen, fo wird ja die Verbindung notwendig, 
wenn. fie auch nicht fo eng zu faflen fein möchte. Dann ift 
mir indes die Schilderung V. 15 immer noch befremdlich. Freilich 
mußte ja bei Mloftermanns Berftändnis da8 Zoyov jener momral 
ausdrüdlih als ein innerlich geartetes bezeichnet werden; weniger 
einfeuchtend iſt es, weshalb davon eine Eydeikis nicht nür fiir Gott, 
den „Herzens⸗ und Gemifjensfündiger“, fondern „im göttlichen 
Berhöre und Gerichte“ für fie felbft vor Gott (S. 56. 62) 
verheißen wird. Gott weiß das doch wohl ſchon jegt; und das 
Selbftbewußtfein ‚gerade im künftigen Gerichte wird doch ſchwer ⸗ 
lich gemeint fein; bezieht doch Paulus fein Gewiffenszeugnis fonft 
auf die Gegenwart, und zwar mit Ruckſicht eben auf nicht herzens⸗ 
Lündigende Menfchen, Röm. 9, 1. 2 Kor. 1, 12 (erft ©. 14 
wird von der jusga xuglov die Rede), und iſt nicht eben ge» 
neigt, vor Gottes Gericht fih auf fein Bewußtſein zu fügen, 
1 Kor. 4, 4. — Nach diefen Hauptanftänden bemerfe ih nur 
noch nebenher den Unterfchied der Ausdrüde: va dixausuare 
=. v. puldoosıy, vov v. zeisiv B. 26. 27 fowohl von 8, 4 
als namentlich von r@ Tod v. rossiv; bezweifele, daß Paulus 
die Chriften ald vowo» wur) Exovess bezeichnen konnte, wenn er das 
von Profelyten nicht ausfagte, da fie doch alle die Geſetzesvor⸗ 
ſchriften nicht nur dur innere Eingebung kennen lernten; bean⸗ 
ftande die Auslegung von gYvaes fachlich gleich mreinarı vgl. 
V. 27, ſelbſt wenn Hier der Jude ſich den Heidenchriften anfehen 
ſoll; bezweifele, daß „geichrieben im Herzen“ der natürliche Aus— 
druck für Herzensbeteiligung und nicht für Unvergeßlichkeit und 
Unanstifgbarkeit fei, wenn es fih um Leiftungen Handelt; und 
verftehe nicht, wie am jüngften Tage neben einem Gemwifjenszeug- 
niffe für ein eimheitfiches das Geſetz erfüllendes Lebenswerk 
von innerftem Triebe aus noch ein Gedankengewirre mit dor» 


22 Klofermann, Korrekturen ıc. 


wiegender Anklage und etwa auch dazwiſchen Tommender Ber 
teidigung laut werden foll. 

So laſſen fi mir die Bedenken nicht allein durch Ausftogung 
von B. 14 befeitigen, und der Eindrud, daß die Erörterung von 
3. 12 ab nur der negativen Seite des Gerichtserfolges zugewandt 
je, iſt nod nicht verwiſcht. Stellen fih nun auch für dieſe 
Faffung dunkle Punkte und ungelöfte Knoten ein, die ſich in 
exegetiſchen Gewaltſamkeiten verraten, fo Liegt für mich bie 
Nötigung noch nicht vor, derſelben beizufallen. Gern aber ge 
ſtehe ich ein, daß ich die Wucht der Korrektur meiner Auslegung 
fpüre. Und obwohl die weiteren Zufammenhänge, in welche mir 
die Stelle in meiner Abhandlung über das Gewiſſen getreten: ift, 
nicht geriffen find, fo follen fie mich doch nicht abhalten, der 
Korrektur beizufallen, fo bald ihre Poſitionen nicht minder einleuchten 
als ihre Kritiken. 

Ich Hoffe, wie ich es wunſche, daß der Verf. auch aus dieſer 
Beſprechung die Gewißheit gewinne, er Habe feine Korrekturen 
wicht umnſonſt gefchrieben, und daß er noch recht viele gelchrige Leſer 


Finde. . 
a. Kölle 


Drud von Beier. Unde. Perthed in Gotha. 


Theologiſche 
Studien und Kritiken. 


Fine Seiifärif 
das gefamte Gebiet der Theologie, 


begründet von 
D. €. Ullmann und D. F. W. C. Umbreit 
und in Verbindung mit 
D. 6. Baur, D. W. Beyſchlag, D. 3. A. Dorner moD. 3. Wagenmann 
herausgegeben 


D. 3. Köflin um D. E. Riehn. 


Jahrgang 1883, zweites Heft. 


Zst: — 
"(BODL!LIBR) ‘| 
S 

Sr” 


Gotha, 
Sriedrih Andreas Perthes. 
1883. 


Abhandlungen. 


Dita, GOOgle 
8 





1. 
Über das Weſen der Neligion. 


Bon 


Brof. X. Dorner 
in Wittenberg. 





Unfere Abhandlung, welde fih mit dem Wefen ber Religion 
bejchäftigen foll, zerfällt in zwei Teile, einen Eritifchen, welcher die 
verfchiedenen in der Gegenwart vertretenen Anfichten über die Ne 
figion beſpricht, und einen zweiten, welcher auf Grund der kritiſchen 
Refultate die Grundzüge des Weſens der Religion darzulegen hat. 
Einfeitend fehiten wir einige Bemerkungen über die verfchiebenen 
Methoden religionsphiloſophiſcher Forſchung voraus. 


L Ariliſcher Teil. 
a) Über religionsphiloſophiſche Methoden der Gegenwart. 

Es haben die neueren Forſchungen auf dem Gebiete der Re—⸗ 
ligionswiſſenſchaft der empiriſchen Richtung der Zeit entfprechend 
neue Methoden hervorgebracht, oder ſchon bisher geübte modifiziert. 
Es find der Hauptſache nach befonders vier Methoden, welche her⸗ 
vortreten: bie Hiftorifche, die pfychofogifche, bie fpefulativsgenetifche, 
die fpefufativ-Eritifche. 

Die rein hiſtoriſche Methode faßt die Neligion als eine em⸗ 
Pirifch gegebene Größe auf, welche im verfchiedenen gefchichtlichen 
Formen vorliege, unterfucht die verfchiedenen Religionen, vergleicht fie 
auf ihre Apntichfeit und Unähnlichkeit Hin und fucht fo einen gemein» 


218 Dorner 


famen Begriff Hervorzubringen, welcher das Weſen der Religion 
bezeichnen foll: „Das Wefen der Religion ift die Summe der 
Merkmale, welche den gefchichtlichen Religionen gemeinfam find.“ ?) 
Allein wenn man auch Tebigli von der Gegebenheit ausgeht und 
das Wefen der Religion durch Vergleihung der empirifch gegebenen 
Religionen verftehen will, fo ift e8 doch volffommen einfeitig, wenn 
man lediglich bei der objektiv gewordenen hiſtoriſchen Religion ftehen 
bfeibt und nur objektive Religion, nur religiöfe Gemeinfhaft aner- 
fennt ®). Hier fehlt ein für alle Religion weſentliches Moment, daß 
fie ihren Verlauf nicht bloß in ber Gemeinschaft, fondern in den 
Subjekten hat. Es ift daher die pſychologiſche Methode, melde 
den Verlauf des religiöfen Prozeſſes in den Subjelten verfolgt, 
die notwendige Ergänzung diefer Methode. Obgleich fih Kaftan 
gegen bie ebenfalls von der refigiöfen Empivie ausgehende pfydos 
logiſche Methode erklärt und Tediglich gefchichtlih verfahren will 
(worin die Unterdrücung der Bedeutung des frommen Subielts 
für die Religion liegt), bleibt er in der Ausführung feinem Grund- 
fag nicht treu, da er felbft im weentlichen auf pſychologiſchem Wege 
das Wefen der Religion zu verftehen fucht, und da gerade feine 
Auffafjung der Religion am allerwenigften ein Abfehen von dem 
frommen Subjeft möglich macht, weil fie der Lebensbefriedigung, 
dem Wohl, das doch niemand als das Subjeft empfinden kann, 
dienen fol. Mit einer bloß gefchichtlichen Betrachtung, ohne die 
piychologifche Hinzuzunehmen, kann man nie das Wefen der Religion 
verſtehen, da die Äußerungen der Religion immer Folgen innerer 
Vorgänge find. Die pſychologiſche Methode muß alfo jedenfalls 
mit zurate gezogen werben ), da bie Religion es mit frommen 
Subjelten, nicht blog mit einer frommen Gemeinſchaft zu tun 
hat. 


2) Kaftan, Das Wefen der Hriftfichen Religion, ©. 5. 

%) Darauf kommt auch Laffon Hinaus: „Über Gegenſtand und Behand- 
Kungsart der Religionsphilofophie*. 

3) Wie Pfleiderer in feiner „Religionsphilofophie” mit Recht hervor · 
Gebt (&. 807 f). Über die pſhchologiſche Methode vgl. Dorner, Yahrbüder 
f. deutſche Theologie XXL, 177. 





Über das Weſen der Religion. 219 


Bedarf Hierin die rein Hiftorifche Methode einer Ergänzung 
durch die pſychologiſche, fo zeigt fie nach anderer Seite hin einen 
Mangel, den auch die pſychologiſche Methode nicht ergänzen Tann. 
Sollen nur „die Merkmale abfteahiert werden, welche allen Relie 
gionen gemeinfam find“, um das Wefen der Religion aufzufinden, 
fo thut man, als ob alle Religionen einander gleichgeftellt wären. 
Hier ift der der Geſchichte eigentümfiche Charakter der Entwicklung 
völlig außeracht gelaffen. Ein fehr wefentliches Merkmal der Religion 
ann in einer niedrig ftehenden Religion in völlig verfrüppelter 
Geſtalt vorlommen. So wird man dann gerade das, was durch 
die Entwicklung erft als Moment der wahren Religion fich heraus⸗ 
geſtellt Hat, nit als zum Wefen der Religion gehörig anfehen 
Lönnen. Betrachtet man alle Religionen als gleichberechtigt und 
abftrahiert aus ihnen einen Allgemeinbegriff, fo ergiebt ſich ein 
negativ-abftrafter Begriff der Religion, mit dem man wenig an⸗ 
fangen Tann 2). Gerade die fonfreten Elemente muß man dann 
als nicht zum Wefen der Religion gehörig anfehen, weil diefe in 
den verfihtedenen Religionen ſehr verſchieden find). Man muß 


3) Zu dieſer Beziehung if Herbert Spencer Intereffant, der ſchließlich 
bei ähuficher Methode als Weſen der Religion nur das Bewußtfein von der 
Tetsten unbefaunten Urſache anerfennt. (Bol. „Grundlagen ber Philoſophie“, 
©. 1-46. 97—122.) Der Mafftab für die Beurteilung der Religion wäre 
Hier fchießlich bie Megation alles Kontreten. Die Vollendung ber Religion 
wäre bier der Rückgang auf ein unbeflimmtes Gefühl von einem höchſten Sen, 
womit ſich übrigens eine empiriſtiſche Anerkennung ber gegebenen Refigionsform 
als vorübergehende Borftufe verbinden Tiefe. 

2) Wie inbezug anf das Verhaltnis ber Giftorifchen Methode zur pſycho 
logiſchen, fo befindet fid; Kaftan auch in einigem Dunkel über feine hiſtoriſche 
Methode ſelbſt. Einmal feeint er mad; Art H. Spencers auf dem Wege ber 
Abftraftion der allen Religionen gemeinfamen Merkmale das Weſen ber Re 
figion feſtſtellen zu wollen. Allein im vichtigen Gefühl bes Ungenügenben dieſer 
Methode ſucht es Remeburen anzubringen. Er bemerkt nämlich, bie Erſchei-⸗ 
nangen auf dem Naturgeblete laſſen Gleichförmigkeit zu, Dagegen werbe „das 
den Religionen gemeinſame Merkmal je nad rt der beſtimmden Religion 
einen ganz anderen Inhalt gewinnen“ (©. 7). MWllein dem iſt entgegemu- 
halten, baß in dem Maße, als man auf diefen befonderen Juhalt Wert legt, 
jener Allgemeinbegriff der Religion ihr Weſen nicht ausdruct. Drüdt er 
aber das Weſen aus, fo ift das Spezififche untergeordneter Art. Gehe ich 


22 Dorner 


alfo die Hiftorifche Entwickelung berlicfichtigen, Tann dann aber 
nicht gleicherweife ans dem Derfrüppelten oder Unentwidelten, wie 
aus dem Entwidelten das Weſen der Religion erkennen wollen 9). 
Damit find wir auf die ſpekulativ⸗genetiſche Methode gewieſen. 


recht, fo tendiert er dahin, der empiriſtiſchen Exkenntnistheorie entſprechend an- 
zunehmen, daß die erfennende Vernunft nur ganz unbeſtimmte, abgeblaßte AL- 
gemeinbegriffe bilden könne. Dadurch fol das Konkrete, alſo auch die konkrete 
Offenbarung, als das eigentlich Wertvolle Hingeftellt werden. Und da es feinen 
Idealbegriff, ſondern nur einen abſtrakten Allgemeinbegriff der Religion giebt, 
fo Tann man auch nicht an bemfelben meffen, inwieweit eine pofitive Religion 
demfelben entfpricht. Man Hat dann einfach; die pofitive Religion als Offen- 
barung zu acceptieren, gerät aber, um das Schredgeipenft für die Schufe, von 
der Kaftan ausgeht, den Nationalismus, zu vermeiden, in reinen Poſitivismus 
und willfüclihen Autoritätsglauben. Dabei will Kaftan aber auch nicht 
bleiben. Bielmehr tritt anderſeits ſehr deutlich der Gebanfe hervor, daß der 
Fortſchritt der Religionen von dem Fortſchritt der Kultur abhängt. So werben 
die Religionen, welche eine Höhere Kulturentwidelung vorausſetzen, für bie 
Höheren gehalten. Allein Hiermit wird als der Maßſtab, nad; dem die Re— 
Tigionen beurteilt werden, die Kultur angefehen. Damit fällt er aber gänzlich 
aus der Rolle pofitivififdier Offenbarungsgläubigkeit. WIN man einerfeits 
Teugnen, daß es einen konkreten Idealbegriff der Religion giebt, an dem man 
die Religionen mißt, umd anderſeits doch wieber nicht vein einpiriſtiſch einer 
beliebigen Religion zufällig den Borzug geben, fo kann der Mafiftab, nad 
dem die Religionen gemefjen werben, nicht das Weſen ber Religion, fondern 
nur etwas außer der Religion Liegendes fein, das Berhältuis derfelben zur Kul- 
tur, zur Sittlichfeit, die Art und Weife, wie fie das Streben nad; Eudämonie 
befriedigt, das aber felbft von dem Kulturzuftand abhängt. (Bgl. 3. B. ©. 70.) 
Da wird bie Religion nad; einem fremden Maßſtab gemeſſen. Nicht ale ob 
nicht Höhere Religionen, befonders das Ehriftentum, eine beftimmte Kulturſtufe 
vorausſetzten, nur Tann der Maßſtab für den Wert einer Religion nicht im der 
ihr entſprechenden Kultur Tiegen. So ift Kaftan teils empiriftifch-fkeptifch, fo- 
fern er der Vernunft die Fähigkeit, Idealbegriffe zu bilden, abſpricht, teils 
pofitiviftifch autoritätsgläubig, teils rationaliſtiſch, foweit er die Kultur zum 
Maßſtab für die Beurteilung der Religion macht. Seine hiſtoriſche Methode 
ſcheint bald darauf gerichtet, aus allen gegebenen Religionen einen abſtrakten 
Allgemeinbegriff zu bilden und biefen durch eine konkrete pofitiviftifche Aner- 
kennung einer beflimmten Religion zu ergänzen, bald darauf, auch der Hifto- 
riſchen Entwidelung gerecht zu werden und dann bie Religionen nad) dem 
ihnen entſprechenden Kulturzuftand zu ſchätzen, von dem es abhängt, melden 
Gütern die Religion dienen foll. 

ı) May Müller bezeichnet zwar als den für alle Religionen gleichmäßig 





Über das Weſen der Keligion. 21 


Auf die geſchichtliche Entwicelung hat befanntlich die Methode 
der Hegelfchen Religionsphilofophie fehon großes Gewicht gelegt, 
welche die hiftorifchen Religionen als Stufen in dem Prozeß des 
religiöfen Bewußtſeins erfaßt Hat. Unter ben Neueren ſchließt 
ſich Pfleidverer am meiften diefer Methode an. Er empfiehlt die 
„genetiſch fpefulative" Methode, welche aus der Entwickelung bes 
Vrozeſſes felbft das Weſen der Religion erkennt, indem man „zus 
ſchaut, wie in der objektiven Logik der Gefchichte der religiöfe Geiſt 
der Menfchheit am fich felbft den Prozeß der dinlektifchen Reinigung 
der Wahrheit durchgemacht habe“ *). Diefe Methode hat zur Vor⸗ 
ausfegung, daß die Entwidelung einem Seal zuftrebe, das fi 
am Schluß Herausftellt und als Reſultat des Prozeſſes wirklich 
wird, und nad welchem alle Stadien der Entwickelung des reli⸗ 
giöfen Bewußtſeins abgefchägt werden. In der Anerkennung diefes 
den Prozeß bejtimmenden Ideals Tiegt das fpefulativsteleologifche 
Moment. Das Bedenken, das fidh hier erhebt, ift dies, daß diefe 
Methode nur unter der Vorausfegung möglich ift, daß der ger 
famte Prozeß nach Art eines, wenn auch teleofogifchen, Naturpros 
zeſſes mit Logifcher Notwendigkeit verläuft, fo daß alles Wirkliche 
als vernünftig an feinem Ort gift. Hier ift zwar ein Ideal der 
Religion anerkannt, und das ift dem Empirismus gegenüber ein 
großer Fortſchritt. Allein vollkommen ift doch auch hier der Ge⸗ 
danke des Ideals nicht durchgeführt. Daß es auch für die reli« 
giöfe Entwidelung felbft möglicherweife ein Ideal geben konne, 
wird nicht in Rechnung gezogen. Streng genommen fegt biefe 
Methode voraus, daß es Feine religiöfen DVerirrungen gebe, da 


geltenden Begriff der Religion bie Wahrnehmung des Unendlichen. Allein in« 
bem er zugleich die „Biftorifche Enttwidelung ber Wahrnehmung des Unend- 
lichen“ betont (vgl. „Borkefungen über den Urfprung der Religion“, S. 36), 
alfo die Bedeutung des hiſtoriſchen Prozeſſes anerfennt, wird fein Religions - 
begriff doch zu einem Idealbegriff, den er nicht überall, fondern nur auf deu 
höchſten Stufen der Entwicelung vollfommen tealifiert findet, den er, metho- 
diſch amgefehen, als Mafftab der Beurteilung verwenden kann. Eben daher 
Tann er einen Fortſchritt anerkennen, tie er denfelben im Verlauf der indiſchen 
Religion nachweiſt, und einen Berfall, den er im Fetiſchismus ficht. 

2) Bgl. a. a. O., ©. 309. Methodiſch ähnlich Hartmann, Das re 
Kigiöfe Bewußtſein der Menſchheit, foweit er nicht Peſſimiſt ift. 


m Dorner 


dieſelben als Durchgangspunkte fir ebenfo logiſch notwendig, alfo 
vernünftig gehalten werben, wie die normalen Entwickelungen. 
Ein Unterfchied zwifhen dem, was fein fol und was ift, wird 
bier für die Entwickelung nicht gemacht; empiriſch ift beides 
gleich gegeben, das Verkehrte wie das Gute, nur daß das Ber 
kehrte durch logiſche Notwendigkeit ſich felbft anfhebt, aber freilich 
durch diefelbe Togifche Notwendigkeit, mit der es auch geworben ift. 

Es ift daher nicht zu veriwundern, wenn noch eine fpekulative 
Methode vertreten iſt, welche im wefentlichen ohne Niückficht auf 
die geſchichtliche Entwickelung das Ideal der Religion darſtellt oder 
die Religion ihrem Wahrheitögehalt nad) fpefulativ zur Dars 
ftellung bringen will. Das erfte Hat auf feine Weife Schleier- 
macher in feiner Ethik verſucht; Loge in feiner Religionsphiloſophie 
verfucht das letztere ). Bon bdiefem deal oder von dem Wahr- 
heitsgehalt der Religion aus Kann dann kritiſch die Hiftorifche Ent- 
wickelung der Religion betrachtet werben, ohne daß man gerade 
die letztere fir die einzig mögliche, notwendige Entwickelung erflärt. 

Faſſen wir das Refultat zufammen, fo fordert die „hiſtoriſche“ 
Methode zur Ergänzung die „pfychologiſche“. Beide genügen nicht, 
weil beide das Weſen der Religion nicht zur vollen Erkenntnis 
bringen, da bie letztere bei der bloßen Subjeltivität ftehen bleibt 
und die Religion gegen den Verdacht bloßer Illuſion nicht ſchützen 
fan, die erftere aber als bloß hiftorifch vergleichende Religions 
wiſſenſchaft völfig des Maßftabes entbehrt, um ben Wert der ver- 
ſchiedenen Religionen zu beurteilen und das Ideal der Religion zu 
finden, und noch dazu mit ihrer bloß Hiftorifchen Betrachtung über 
die Wahrheit des religidfen Inhaltes auch nichts auszufagen 
weiß). Sie welfen deshalb auf die fpefulative Methode Hin. 
Wenn es Aufgabe der geſchichtlichen und pfychologifchen Methode 
ift, den religiöfen Thatbeſtand feftzuftellen, ohne das Weſen der 
Religion völlig zu begreifen, fo ift es vielmehr die Aufgabe der 
Religionsphiloſophie als fpefulativ-kritifcher, diefen gegebenen Thatber 


2) Bol. Loge, Grundzüge der Religtonsphilofophie, $ 1. 
2) Bgl. Loge a. a. O., ©. 1: „Die Entfichungsgefchichte einer Bor- 
ftellungsmeife kann mie über deren Richtigkeit enticheiden“. 





Über das Weſen der Religion. 228 


ftand von dem Idealbegriff der Religion aus (mie diefer aud ge» 
wonnen werde) zu beurteilen und, ſoweit es möglich, ſpekulativ⸗ 
genetifch zu begreifen, ohne den empirifchen Verlauf des Prozeſſes 
mit dem normalen Verlauf ohne weiteres zu identifizieren (mas 
empiriſtiſch fein wide). Doc wir haben fchon zu lange bei der 
Methode verweilt, die ſich doch immer erft in der Anwendung zu 
bewähren pflegt. Betrachten wir daher die hauptſächlichſten Auf⸗ 
faſſungen vom Wefen der Religion in der Gegenwart! 


b) Berfhiedene Auffaffungen des Wefens der Religion. 


Dem Zug ber neueren Zeit ift es durchaus entjprechend, daß 
man die Religion auf rein immanentem Wege zu erflären fucht. 
Dem immanenten Wege ftehen die Auffaffungen entgegen, welde 
zugleich die Tranfcendenz anerkennen. Betrachten wir zuerft die 
auf die immanente Auffafjung zurüdgehenden Anfichten! Auf 
immanentem ?) Wege Tann man die Religion entweder fo erffären 
wollen, daß man auf die fubjeftive Seite fieht (mag man dabei 
immerhin auch die Gemeinſchaft der Subjelte und die gefchichtliche 
Entwidelung der Religion betonen) — oder fo daß man bie obs 
jeftive Immanenz Gottes in der Welt anerfennt und von da aus 
die Religion zu verftehen fucht. Wir rechnen daher zu den Vers 
fuchen, die Religion auf immanentem Wege d. 5. nur aus dem in 
der Welt gegebenen Zufammenhange zu verftehen ſowohl die, welche 
die Religion nur von dem Subjeft aus zu erklären ſuchen, mögen 
fie dabei auch zugeben, daß wir uns Gott in theiftifcher Weife 
vorstellen, ohne freilich feine objektive Exiftenz erkennen zu 
können, als aud die, welche die Religion aus der objektiven Im⸗ 


4) Das Wort „Immanent”, auf immanentem Wege die Religion erklären, 
wirb bier im etwas umfafjenberem Sinne genommen als gewöhnlich; es be» 
deutet nicht bloß auf pantheiſtiſchem Wege, fondern überhaupt nur aus Ur 
ſachen, welde fid in der Welt finden, bie Religion erllären. „Im ⸗ 
manent” alſo ift Hier gleichbedeutend mit: „jede tranfcendente außerweltliche 
Urfade für die Erklärung der Religion anschließend“. Bol. auch Euden, 
Geſchichte u. Kritil der Grundbegriffe der Gegenwart. „Immanent (kosmiſch)“, 
S. 79—%. 


24 Dorner 


manenz Gottes in der Welt ableiten wollen. Wir betrachten zu⸗ 
erft jene anthropologiftifchen Verſuche. Diefe Können teils auf die 
natürliche, eudämonifche, teils auf die moraliſche Seite des Sub ⸗ 
jelts zurückgehen. 

Beginnen wir mit den erſteren, welche ſich mehr an bie eu⸗ 
dämonifche Seite Halten! 

Wie ſtark das naturaliftifche Bewußtſein die Zeit erfüllt, ift 
befannt. Zu verwundern ift e8 daher nicht, wenn wir nicht bloß in 
der Methode der Erforfhung die Religion nach Art eines Natur- 
objekts unterfucht finden, fondern auch Verſuche mannigfaltiger Art 
ſich zeigen, die Religion auf dem empirischen Wege aus dem der 
Seele innewohnenden Trieben zu erklären. Der Prototyp für diefe 
Verſuche ift Feuerbach 1), an den fie mehr oder weniger anlehnen. 
Nah ihm ftellt fi der Menſch mit feinen Wünfchen ber Natur 
gegenüber, von der er ſich abhängig weiß, und zwar fo, daß er, 
um fih ihr gegenüber mit feinen Wünfchen zu behaupten, Wefen 
profiziert, welche über die Naturgegenftände oder über die ganze 
Natur die Herrſchaft Haben, auf die er Einfluß ausüben zu können 
glaubt, um vermittel derfelben die Naturhinderniffe zu überwinden. 
Die Religion entfpringt Hier alfo dem Triebe nad Eudämonie und 
ift rein ſubjektiver Art. Ich vermag nicht zu fehen, daß, wenn 
die Erhebung über die Natur als das Motiv der Religion bei 
Lipfius) angegeben, und wenn zugleich eine objektive Erkenntnis 
Gottes geleugnet wird, daß Hiermit diefe Gedankenlinie weſentlich 
überfchritten fei. Der Skeptiker Lange, deſſen Skepſis auf feiner 
empieiftifchen Erfenntnistheorie ruht, läßt der Religion belanntlich 
auch nur eine Stelle im Reiche der Phantafte, welche einem Ber 
durfnis ihrer Natur gemäß dichtend die Grenzen unferer Erkennt ⸗ 
nis überſchreitet. Soll die Religion Tediglich der Erhebung über 
die Natur dienen, fo ift eine abfolute Gottheit anzunehmen über: 
flüffig, da Gott immer nur mächtiger zu fein braucht als die ber 
ftimmte Natur, von ber wir beftimmte Dienfte erwarten, damit 


1) Bgl. „Über das Wefen der Religion”, „Über Philofophie und Ehriften- 
tum“, „Über den Unterfchied chriſtlichet und Heibnifcher Menfcpenvergötterung“. 
2) Bol. befonders fein „Lehrbuch der Dogmatit“, $ 21. 


Über das Wefen der Religion. 22 


er die Macht habe, fie zu veranlafjen, uns zu dienen, oder wenigjtens 
uns von ber Natur unabhängig zu ftellen. Mag aud) diefer Ger 
danke eine edlfere Form annehmen, indem man die Religion auf 
das Bedürfnis des Menfchen nad Troft im Leib 2c. zurückführt 
und fie als die Troftfpenderin in Not preift u. f. w., es bleibt 
der Grundzug immer derfelbe: Die Gottheit wird vom Subjekt 
projiziert oder poftuliert, damit durch Gott das Subjekt in feinem 
höheren ober niederen Wohljein gefördert werde. Im Prinzip 
differiert Hiervon auch nicht die Auffaffung Kaftans. Auch er 
ſchließt fih dem Sag an. „Wie die Wünfche der Menfchen, fo ihre 
Götter.“ 1) Ausdrüdlic bemerkt er, wie der Buddhismus beweife, 
daß in der Religion etwas anderes weſentlicher fei als der Gottes- 
glaube, es komme nämlich an auf die Wertbeurteilung der Welt ?); 
gegen Max Müller bemerkt er, daß es ſich in der Religion primo loco 
nicht um Wahrnehmung, um theoretifche Erkenntnis Handle, fondern 
um Werturteil und zwar aud nicht um ein moralifhes Soll, 
fondern um das natürliche Werturteil, das fi auf die Förderung 
des Lebens beziehe. Der in der Welt nicht befriedigte Anſpruch auf 
Leben fei das Motiv der Religion (S. 60f.), und es Hänge nun von 
der jeweiligen Entwicelungsftufe ab, ob dasfelbe in irdifchen Gütern, 
die mit Hilfe der Gottheit erlangt werden, oder in einem überirdifchen 
Gut, im myſtiſchen Genuß der Gottheit als Nichtwelt, oder in den 
fittlichen Gütern, welche unferem Wohl, Genuß dienen, und welche 
die Gottheit garantieren foll, gefunden werde. In der Religion foll 
die Gottheit dazu dienen den Lebenstrieb des Subjekts zu ber 
friedigen. Wir wollen uns nicht dabei aufhalten zu zeigen, wie 
durch diefe Beftimmung am Ende das ſittliche Leben in ben 
Dienft der Eudämonie geftellt und die Sittlichfeit, wenn auch In 
verfeinerter Weife, in dem letzten Motiv egoiftifch beftimmt wird °). 


U a. O., S. 66f. 96f. 108. 

2) A. a. O., ©. 40. 41. Es verſchlägt nichts, wenn er ſpäter dieſe dha- 
ralteriſtiſchen Säte mobifiziert. 

8) Es iſt nicht zu vermundern, wenn Kaftau mindeftens den Schein 
nicht vermeidet, als ob er doch auch das fittliche Soll, das er anerkennen will, 
in letzter Imftanz aus dem Lebenstriebe als fozialem ableiten wollte. S. 158; 


22 Dorner 


Es kommt uns bier vielmehr darauf an, doß jo die Religion 
gänzlich in den Dienft des Subjelts tritt, da bo in der That 
nicht die Gemeinschaft der Subjekte, fondern nur jedes eingelne Sub⸗ 
jeft diefen Lebensgenuß empfinden will und empfinden kaun 2), 
Wenn nun Kaftan Lipfius gegenüber betont, dag der Gottes⸗ 
glanbe und die Gotteserfenntnis objektiv fei (ugl. ©. 111. 114), 
fo ift das zwar gut gemeint, aber fehwerlich gemligend begründet. 
Denn wenn das praftifche Motiv des Glaubens nur Erhöhung 
des Lebensgenuffes ift, fo Bann daraus, daf wir unjeren jedes⸗ 


Der Beftand der Güter, um die es ſich handelt, hängt Teimeswege von der 
Erfühung der eutſprechenden ſittlichen Forderungen in jedem einzeluen 
Fall ab. Jeder kommt in Lagen, wo er das Gebot umgehen kann, ohne daß 
dadurd für ihm ber Genuß jener Güter fraglich wird, welde im großen 
und ganzen allerdings an bie Erfüllung der fittlichen Forderungen ger 
bunden find. Eben dieſe indirekte Beziehung zum Gut läßt Raum für das 
fittliche Gebot, das um fein felbft willen gelten will, und durch hefien An - 
eignung das Gewiffen eutſteht. Darin wurzelt das Sollen im Unterſchied 
dom Mögen wie von allen Marimen ber Klugheit.” Wenn ich recht fehe, 
wird Hier das Sittengebot auch auf den Trieb zum Leben zurücgeführt. 
Denn es beruht darauf, daß bei näherer Überlegung doch ſchließlich der in bie 
begeichnete Lage Hineingeftellte erkennt, daß er, wenn auch nicht unmittelbar, fo 
doch mittelbar durch ein dem „Sol“ entgegengejeistes Handeln der Cudämouie 
ſchade. Das Soll ſcheint alfo lehlich durch die Eubämonie beſtimunt zu fein. 
Das iſt Ähnlich, wie Strauß im „Alten und neuen Glauben“ ausführt 
(S. 233f.), daß duch Erfahrung der Menſch dahin komme, zu erkennen, 
daß es feine Pflicht fei, als Einzelner auch ba, wo er nicht unmittelbaren 
Vorteil fieht, dem Ganzen zu dienen, weil er merkt, baß er fo in Wahrheit 
doch für die Endämonie am beften ſorgt. 

2) Scheint es eine Zeit lang, als ob er der Religion eine ſelbſtändige 
Stellung gegenüber der Moral geben wollte, indem er als Motiv der Religion 
den in der Melt nicht befriebigten Anſpruch auf Leben Kinftellt, und „das 
mit Ehrifto in Gott verborgene Leben der Seele”, alſo eine, wenn auch Gott 
zum Genußmittel machende Myſtik auſtrebt (S. 76), fo wird dieſer Anſatz 
durch die fpäteren Ausführungen wieder aufgehoben, nach denen Gott weſentlich 
zur Erlangung der fittlichen Güter dient (©. 167f.), die zwar überweltlich 
genannt werben, in Wahrheit aber nur übernatärlich genannt werden können 
amd am Eude, da es fid doch Hier in letzter Inſtanz nur um Lebensgenuß, 
um Wohl umd Wehe Handelt, doch auch wieber nach feiner eigenen Definition 
natürlich (im Unterſchied vom Sittlichen) genannt werden mäffen (ogl. &. 68). 


Über das Weſen der Religion. 2a 


maligen Wünfcgen entſprechend einen- biefe befriebigenden Gott vor» 
ftellen auf die Objektinität Gottes ſchlechterdings kein Schluß ger 
macht werden. Denn der Sat, daß, wer Gott deshalb annehme, 
damit er irgendwie fein Leben fürdere, aud an in als objektiven 
glauben muſſe, ift an fich Lediglich pſychologiſch; er zeigt, daß es aller- 
dings im Intereſſe der Religion Liegen muß, einen objektiven Gottes: 
glauben zu haben; aber aus biefer pſychelogiſchen Begründung folgt 
nichts mehr als Offenbarung im Lipfinsfchen Sinne. Es ift äußerft 
harakteriftifch und bezeichnet bie aus der empirifchen Erfenntnißr 
theorie fommenbe Furcht vor jeder Metaphyſik, daß Kaftan die 
ſchlechthinnige Abhängigkeit von Gott nicht als das objektive Funda⸗ 
ment der Religion aufieht. Vielmehr zeige diefe Abhängigkeit fich 
immer nur in einem Gefühl mangelnder Lebeusbefriedigung: d. h. 
das Abhängigfeitögefühl ift mach ihm ein rein ſubjeltives Gefühl, das 
immer nur auf unfer Wohl und Wehe bezogen wird; er fommt nicht 
darüber hinaus, Gott Tediglih in den Dienft der Eudämonie des 
Subjekts zu ftellen. Bon einem wirklich objektiven Gottesgefühl 
Tann aber nur bei ſchlechthinniger Abhängigkeit die Rede fein. 
Sollte wirklich Ernft gemacht werden mit der Objektivität Gottes, 
fo mußte gezeigt werben, wie unfere Bedürftigkeit ald Beweis für 
unſere objektive Abhängigkeit von ®att fich verwenden laſſe. Aber 
das wird nicht gejagt. Vielmehr bleibt der letzte Gedanle auch hier nur 
die Erhebung des Subjelts über die Abhängigkeit von der Natur, 
überhanpt über bie feinem Lebenstriebe entgegenfschenden Hinder⸗ 
niffe mittels der Worftellung von Gott. Daß Schleiermacher bie 
Raufalität Gottes?) anerkennt, in der wirklich Gott objektiv 
anfgefaßt wird, wird getadelt. Man mag hiernach bemeffen, was 
es mit diefer Objektivität der Gotteserfenntnis auf fich Hat. 

Die Theorie über die Religion, welche Kaftan aufftellt, kommt 
über einen fubjeltiviftifchen Eudämonismus kaum hinaus, mag 
anch in eoncreto viel Gutes und Schönes über das Chriftentum ge- 
ſagt werben, freilich ohne fteifte Konfequenz *). Es ift notwendig 


6. 118. 
%) Bielen mag «8 genügen, wenn ein theologiſcher Schriftſteller Schließlich 
nur zu „pofitiven“, womöglich volltommen kirchlichen Refaltaten ſich bekennt, 


28 Dorner 


darauf Hinzumeifen, welche Gefahr in diefer Theorie Tiegt, welde 
in legter Inftanz das Subjelt auf den Thron erhebt, jo daß ihm 
aud Gott dienen muß; je weniger dies die betreffenden Ver⸗ 
treter völlig zu durchſchauen feinen, um fo nötiger ift es, dies 
hervorzuheben, daß, mag das Subjeft noch fo große Opfer bringen, 
der Iegte Zwed immer nur ift, Gott zum Mittel für die Be 
friedigung des Lebensgefühls zu machen ?). 

Trotz alledem ſprechen wir biefer Theorie nicht alle Wahrheit 
ab. Wie Kant bemerkt, daß der Widerftreit der natürlichen Triebe 
die Vernuft veranfaffe, als Schiedsrichterin hervorzutreten, fo ift 
auch das Verhältnis des Menſchen zur Natur die Beranlaffung 
für das Auftauchen des religiöfen Bewußtſeins. Uber fo verkehrt 
es wäre zu behaupten, das fittliche Leben fei nichts als der all» 
mähliche Ausgleich der verſchiedenen Triebe auf natürlichem Wege, 
und die jelbftändig wirkende praktiſche Vernunft zu leugnen, fo 
verkehrt ift die Behauptung, das Wefen der Religion gehe darin 
auf, Lebensbefriedigung zu ſuchen. Wir ftellen nicht in Abrede, 
dag mit der religibſen Erfahrung ein Gefühl der Lebenserhöhung 
gegeben fei; aber wir leugnen — und diefe Leugnung ift jpäter 
pofitiv zu begründen —, daß die Religion darin aufgehe, Mittel 
für das Wohlbefinden des Subjekts zu fein. Wenn Frömmigkeit 
eine Tugend ift, ift fie auch Pflicht und nicht bloß nüglich, fon- 
dern vernünftig und in ſich wertvoll. 

Gegenüber diefen an Feuerbach erinnernden Anſichten über das 
Weſen der Religion, giebt e8 eine andere Auffafjung, welche eben» 


gleichgültig, wie gut oder ſchlecht diefelben wiffenfchaftfich begründet feien. Allein 
derartige Urteile entwerten bie Wiſſenſchaft im ſcheinbaren Intereffe der finde 
lichen Praxis. Bol. 3. B. das Urteil im „Beweis des Glaubens” (Januar 
1882), wo Kaftan gelobt wird, „weil er entſchieden Pofition nimmt gegen 
Pfleiderer, Lipfins, Schweizer ꝛc.“ und „bie Perfönlickeit Gottes 
betont“. Wo bfeibt denn aber die Begründung einer folchen otteserfenntmis? 

1) Die ſchlagende Kritit Schleiermadjers gegen allen Eudämonismus grober 
und feiner Art in feinen Grundlinien der Kritik der bisherigen Sittenlehre 
verdient mehr Beachtung, als fie augenbliclich findet (S. 78-91), das um 
jo mehr, als Schleiermacher inbezug anf die Eubämonie von dem Kantifchen 
Rigorismus fern iſt. 





Über das Weſen der Religion. 9 


falls von dem Subjeft ausgeht, aber nicht an die eudämoniſche 
Seite des Subjelts den Religionsbegriff anfchliegt, fondern an die 
moraliſche. Sie wird im Anflug an Kant vielfach vertreten, 
indes micht ohne bedenkliche Einfeitigkeiten. Es ift hier das Be⸗ 
wußtfein des Sittengejeges, an das angelnüpft wird. Das Sitte 
liche ift übernatürlih, „überweltlich“; man erhebt fid) durch das 
fittlihe Bewußtſein über die Natur; als Grundfag wird hier 
die Unterfheidung zwifchen dem moralifchen und dem Natur 
Erkennen aufgeftellt, und es ift Axiom, daß jedes metaphufiiche Er- 
Tennen durchaus naturartig fei. Das Auszeichneude des Moralifchen 
fol fein, daß es fi hier um Werte handle, während das andere 
Erkennen gegen allen Wert vollkommen gleichgültig ſei. Das 
Moraliſche Hat in der Vorftellung des Subjekts Allgemeingüftige 
Teit und dem entfprehenden Wert. Diefes Moralifche wird num 
in der Religion als Gottes Wille aufgefaßt, und es ift darafte- 
riſtiſch für diefen Neufantianismus, daß wir auf feine Weife als 
durch die Vermittelung des moraliſchen Bewußtſeins mit Gott 
ſollen zu thun haben. Der Inhalt der Religion läuft zurück auf 
Wertbeurteilung der Welt, feiner ſelbſt, und auf moraliſches 
Handeln. Gott ift Hier nur durch die Vermittelung des moralifchen 
Bewußtſeins als der Hort des Moralifcen erfaßt. Religion ruht 
Hier durchaus auf der Altion des moralifchen Subjekts. Es beurteilt 
die Welt von dem Gefichtspunft des Reiches Gottes aus, d. h. 
von ber Liebesgemeinfchaft der Menfchen aus, in der Gott feinen 
Selbftzweck fieht, bie religiös als Gottes Bolt vorgeftellt wird; es 
beurteilt ſich felbft als Glied diefes Reiches, dag es mehr wert fei 
mals bie ganze Welt“ (deutlicher: als die Natur). Bon diefem Be⸗ 
wußtfein wird da, wo wir nicht Handeln Können, Gott als die Bor» 
fehung vorgeftelit, welche alles zum Ziel Leitet, und es ergeben fich 
hier neben den moralifchen Tugenden religiöfe Tugenden (befonders 
Demut), die eben in der Anerkennung der Vorſehung gipfeln, aljo 
wieder in der Aktion des Subjefts, durch die wir uns über den 
empirifchen Weltlauf erheben, indem Gott hier als der vorgeftelft 
wird, welcher das moraliſche Reich zum Ziele führt. Hier ift alle 
Moftit ausgefchloffen. Der Widerſpruch zwiſchen der fittlichen 
Beftimmung des Menſchen und feiner Unterwerfung unter die Ges 
Tieol. End. Yahıg. zuss. 16 


20 Dorner 


fee der Sinnenwelt ift da8 Motiv der Religion. Gott wird bier 
zuhilfe gerufen, damit der Menſch mit Hilfe der Gottesidee fih 
über diefen Widerſpruch erheben könne ?). 

Unfer Bedenken gegen diefe Auffaſſung richtet fich zunächft darauf, 
daß Gott Hier kaum mehr als Hilfsmittel für die Moral ift; der 
Standpunkt ift durch und durch anthropologiftiih. Eben daher 
ſchreibt fich die beharrliche Ablehnung aller Metapkufit. Gottes 
Sein an fi ſoll mindeftens nicht erkennbar fein. Wiſſenſchaftlich 
amgefehen iſt er eine Hypotheſe ). Hier tritt die Religion ale 
Hiffemittel der Moral auf; Gott ift wieder im Dienft des 
Menſchen, fein „Selbſt zweck“ ift fein Reich. Natürlich! denn e6 
Handelt fi nit um Gott jelbft, fondern um Gott als Poſtulat 
im Dienfte der Moral! Und welcher Moral! Einer überwiegend 
negativen, einer Moral, deren Einfeitigfeit Schleiermacher in feiner 
Kriti der Sittenlehre ſchon gründlich offenbart hat, einer Moral, 
welche ſich nicht der Natur bedienen, fondern nur über fie er- 
heben will, welche die Natur als etwas für das Sittliche völlig 
Gleichgultiges wenn nicht Schaͤdliches Hinftellt, wie die Natur 
erkenntwis ®). Wenn man nachträglich doch wieder Anfäge macht, 
die Natar pofitiv dem Geifte unterzuordnen und in feinen Dienft 
zu fielen, fo ift das ein Poftulat, das die Prämiſſen fchlägt. 
Dam nichts ift Harer als daß, wenn man alle Metaphufit für 
die Ethik abthun will, man auch gar nicht mehr imftanbe ift, die 
Natur und den moraliſchen Geift in em pofitives Verhältnis zu 
einander zu fegen. Es tt eben Hier eine boppelte Vorftellung von 
dem Berhältnis von Natur und Moral: einmal find beide im 
Widerſpruch mit einander, bie Natur Hemmuis des Geiftes, 


1) Befonders deutlich if im Anſchluß an Kant diefer Standpunkt durch- 
geführt von Herrmann, Die Religion im Verhältnis zum Welterfennen und 
zur Sittlichteit. 

2) Bgl. Ritſchl, Die chriſliche Lehre von ber Rechtfertigung und Ber- 
fügwung, Bd. HI, $ 29. 

) Das Evangelium ber armen Seele vertritt in einer dualiſtiſch gefärbten 
Myſtik einen ähnlichen Standpunkt. Gott hat mit der Natur nichts zu 
ſchaffen; wir Können uns zu ihm erheben, um un® von der Liebe des göttlichen 
Geiſtes beleben zu laſſen. 


Über das Weſen ber Kefiglon. 21 


daraus ergiebt ſith eine negative Ethik; das andere Mal erinnert 
man ſich, baß doch Kant bei diefem Widerfpruc fi nicht wohl 
gefühlt hat, und ſucht der Kritik der Urteilskraft entſprechend 1) doch 
wieder, wenn auch zögernd, ein pofitives Verhältnis Herzuftellen, 
indem man nachträglich die Allmacht Gottes und die Benügung der 
Notur zugefteht 2). Es ift, wenn man dasfelbe nach der Kategoriech- 
lehre ausdrüdt, wie Weiß ®) mit vollem Recht Hervorgehoben hat, 
ein Dualismus zwiſchen der causa efficiens und der causa 
finalis, „zwiſchen der Ontologie und der Teleologie“, angenommen, 
der ſich daher fchreibt, daß man diefe causa finalis auf ein ſub⸗ 
jeftives Werturteil reduziert und ihr wohl Allgemeingältigkeit in 
der Vorftellung des Subjelts zuſchreibt, aber nicht objektive All⸗ 
gemeingftigfeit; in letzterem Galle müßte fie felbft als eine zugleich 
metaphyfifche Große betrachtet werden. Wertvoli wird immer in 
dem Sinne genommen: für das Urteil des Subjekts wertvoll. 
Allein died müffen wir beftreiten. Wenn die Hegeliche Phildſophie 
den Wert vom allem nur darin jah, ein Moment der Idee zur 
Darftellung zu bringen ohne Rüdficht auf das Wohl des Subjefts 
zu neben, fo ift Lotze, dem fich die bezeichneten theologiſchen 
Moratiften Hierin anzufchliegen feheinen, in der Vertretung der Ab⸗ 
Hängigfeit des Wertbegrifjes von dem Werturteil des Subjekts (das 
doch immer nur als Luſtgefühl ſich Tundgeben kann) wieder ein- 
feitig geworden. Das Moraliſche ift nicht Bloß für das Subjekt 
und fein Urteil wertvoll, fondern e8 ift eine in fi notwendige, 
ſchlechthin vernünftige Idee, melde Realifierung fordert. 
Dieſer Punkt ift außerordentlich wichtig. Für Kant hatte, wie 
befonders Harms betont, die ptaktiſche Vernunft die Bedeutung 
des wahren Dinge an fi. Das moralifche Geſetz war für ihn 
nicht bloß ein von dem Subjekt als allgemeingültig worgeftefltes, 
fondern ein ſchlechthin für alle Vernunft geltendes, durchaus un. 


3) Bel. Harms, Die Philofophie feit Kant, ©. 268f. 
3) Wie Herrmann am Schluß feiner Arbeit zugiebt (S. 445), vgl auch 
Ritſchl M, 192. 
) „Uber das Weſen des perfönliien Chriftenſtandes“ in dieſer Zeitſchrift 
1881, ©. 387. 393f. 396. 
16* 





22 Dorner 


bebingtes und die Freiheit war ihm eine volle Realität. Hingegen 
n dem Neufantianismus wirb das Werturteil als ein fubjektives 
bezeichnet und droht auf das Niveau eines pfychologifchen Vorgangs 
herabgedrüct zu werden. Denn fonft wäre die Oppofition gegen 
alle Verbindung der Moral mit der Metaphufit, d. h. doch ihres 
Übergreifens über den bloß fubjektiven Zuftand hinaus nicht eine 
fo energifche. Eben Hierdurch aber droht die Unbedingtheit des 
Moralifchen in Frage geftellt zu werden. Es ift fr das Subjekt 
wertvoll, weil es dasjelbe über die Natur erhebt, weil es ihm das 
Bewußtſein von feinem Werte verleiht, und dies Bewußtſein ift 
in der That fehr angenehm. Hierin aber ift ſchon Kant gegen- 
über ein eudämoniſtiſches Element enthalten. Für dieſe Schule ift 
es harakteriftiich, daß Gott fo vorgeftellt wird, daß er einfach das 
Abweichen von dem GSittengefege verzeiht; es ift das Bewußtſein 
von dem abfoluten Wert des fittfich Guten Hier gebeugt. Wenn 
nicht Gott den Menſchen, die das Gute verlegen, zurnt, fo be 
trachtet er das Gute nicht als ein unbedingt wertvolles oder viel- 
mehr, wenn Gott fo vorgeftellt wird im Intereſſe der Moral, 
fo ift das moralifche Gute nichts fehlechthin Heiliges, Unverleg- 
liches, unbedingt Wertvolles; daß das Abweichen von dem Geſetz 
als etwas Verzeihliches angefehen werden kann, ift dann wohl 
verftändlih, wenn die Moral in Wahrheit nur Mittel für die 
Eudämonte ?) ift. Denn dann fann ihre DVerlegung nicht eine 
Schädigung der Eudämonie zur Folge Haben, der doch die Moral 
nur dient. Wenn das auch nicht klar ausgeſprochen ift, fo ift doch 
die Vernachläſſigung des abſolut wertvollen Charakters des Sitt- 
lichen, die fih Kant ®) bekanntlich nicht Hat zufchulden kommen 
Taffen, ein Zeichen davon, daß die Moral, von der Hier geredet 
wird, ihren abfoluten Charakter, den fie bei Kant hatte, eingebüßt 
bat. Das Bewußtjein des Wertes ift mehr vom Gefichtspunft 


1) Man wird an bie Theorie von Grotius erinnert, die prudentia rec- 
toria, die aber doch wenigſtens noch für das verlegte Gute ein Strafegempel 
ſtatuiert. 

2) Bol. „Religion innerhalb ber Grenzen ꝛtc.“ (2. Aufl), ©. 94f., ber 
fonders ©. 99. 


Über das Weſen der Religion. 28 


der Erhebung über die Natur aus aufgefaßt, als von der des 
poſitiv Sittlichen als des unbedingt Wertvolfen. Erhebung über 
die Natur kann aber ebenfo gut auch im Intereffe der Endämonie 
gefucht werden, wie die oben berührte Ausführung von Kaftan 
zeigt ?). 

Ein weiterer Bunt, der diefe Auffafjung der Religion charakteri⸗ 
fiert, ift die Beziehung zur Gefhichte. Gegenüber dem Rationa- 
lismus wird mit befonderem Eifer die Beziehung auf die ges 
ſchichtliche Stiftung des Gottesreiches Hervorgehoben, und die Moral 
wird auf diefe Gemeinſchaft mit Vorliebe bezogen. Allein bei 
der angedeuteten Stellung zur Natur ift eine Betonung der Ger 
ſchichte und der Gemeinfchaft faft unmöglich. Denn beide find 
ohne Natur undenkbar. Was das Hiftorifche *) insbefondere an⸗ 
seht, fo fragt fi: wodurch Hat Chriftus das Gottesreich ger 
ftiftet? da Tann entweber auf die hiſtoriſche Erſcheinung Chriſti 
als moralifcher Perfon Gewicht gelegt werden — d. 5. auf bie 
Darftellung des Guten in feiner Perfon, was doch nur möglich 
ift mittels der Natur, die er hat. Der Zuſammenhang des Guten 
mit der Metaphyfit und Natur muß voraus gefegt werden, wenn 
das reale Sein und Erſcheinen des Guten in der Perfon Chriſti 
betont wird, das für die folgenden Zeiten muftergliftig und durch 
das er der Urheber des moralifch religiöfen Reiches geworben fei. 
Allein das ift gegen die Vorausfegung, daß auf das Sein be 
Guten da8 Gewicht gelegt wird. — Ober es Tann bei der Hiftorifchen 
Erſcheinung Chrifti fih nur um die Mitteilung einer Idee handeln, 
die jeder, nachdem fie gedacht ift, nachdenken Tann. Und auf das 
Tegtere wird es wohl weſentlich ankommen, wenigftens ift das 
alfein konſequent; Chriftus theilt mit, daß Gott verzeihender 
Vater fei, und befreit von dem Irrtum, Gott anders vorzuftellen. 
Entweder ift num dieſe Einficht in ſich vernünftig; dann Tann fie 


1) Weun auch don dem Reiche der Liebe bie Rede ift, fo kommt es be 
Yanntfich eben anf den Inhalt der Liebe au, ob er fich bloß auf das Wohl ber 
sieht, das man andern gönnt, oder auf ihre fittliche Würbigkeit. 

2%) Herrmann legt befonberes Gewicht auf bie äußere Offenbarung, 
©. 3667. 328. 


4 Dorner 


von jedem erfannt werden, nachdem fie mitgeteilt ift. Oder fie 
laßt fi nicht ans dem moralifhen Bewußtſein folgern; dann 
ift fie allerdings übervernünftig, und wir find am die diefelbe ver⸗ 
fünbigende Autorität gewiefen, um fie auf Treue und Glauben 
von ihr Hinzunehmen. Allein dann ift das Fundament, von dem 
man ausging, das moralifhe Bewußtſein, um des willen Gott 
vorgeftellt wird, völlig verlaffen. Iſt wirklich Gott bloß vorge 
ſtellt oder poftuliert im Intereſſe der Moral, wie doch diefe An- 
ſchauung will, da fie jede unmittelbare Offenbarung Gottes im 
Innern wie jede metaphyfifche Ausfage über Gott leugnet, fo 
kann nicht von einer Offenbarung Gottes die Rede fein, die nicht 
in letzter Juſtanz wieder auf die Moral zurücgeführt, als Poftulat 
des moraliſchen Subjelts, als moralifches Bedürfnis nachgemiefen 
würde. Mit anderen Worten: es kann keine aus der Moral nicht 
ableitbare Offenbarung geben, fondern es kann nur eine moraliſche 
Wahrheit, die mit der Gottesibee in Verbindung gebracht wird, als 
Offenbarung Gottes vorgeftellt werden. Giebt es dagegen wirklich 
Offenbarungen, weiche nicht als Poftulate der Moral nachweisbar 
find und fich niet aus der Moral ableiten laſſen, fo Heißt das in 
der That nur: es Laffe ſich nicht die Religion auf die Moral bafieren, 
Es müßte alfo entweder gezeigt werben, daß die Idee, daß Gott Lieben 
der, verzeihender Vater fei, vernünftig fei; dann aber fann fie — bes 
ſonders wenn fie einmal ausgefpradenift — jeder Kraft feiner Vernunft 
auch Hervorbringen, d. h. fie muß entweder in der Konfequenz des mora⸗ 
liſchen Bewußtfeins Liegen; oder das letztere ift nicht der Fall. Sie 
if eine neue Offenbarung Gottes; dann muß man auch zugeben, 
daß die Religion nicht auf Schlüſſe der Moral, fondern auf Gottes 
That zu bafieren fei. Dann aber muß doch Gott vor allem exiftieren, 
muß Sein haben, um Offenbarungsthaten vollziehen zu Fönnen. Dam 
hat man bie ſubjektive Baſis, von der man ausging, verlaffen. Es 
könnte dann wohl no phänomenologifch von der Moral zur 
Religion aufgeftiegen, aber nimmermehr die Religion in Kantifcher 
Weiſe auf die Moral begründet werden. Es ift ein Zeiden für 
die Konſequenz des großen Denkers, dag Kant ſich auf folde 
widerſpruchsvolle Verſuche, wie fie feine Nachfolger beginnen, nicht 
eingelafjen Hat, fondern die Offenbarung nur als Jutroduktions⸗ 


Über das Weſen der Religion. 235 


mittel der Moral gelten laſſen und rein nad) ber Moral normiert 
wiſſen will ?), wie es feiner Vorausfegung allein entipricht. 

Ganz ähnlich ift e8 mit der Gemeinfhaft. Die modernen 
Moraliften betonen nicht das einzelne Subjekt für fi, fondern 
die Gemeinfchaft der Subjekt. Vor allem wird auf die Liebes- 
gemeinſchaft, die fich befonders im Beruf bethätigt, ein großes 
Gemicht gelegt, und mit Recht Hervorgehoben, daß das Chriften- 
tum eine Kulturentwidelung voransfegt, welche die fittliche Ges 
meinfchaft der Familie, die des Volkes im Staate, die Verbin⸗ 
dung mehrerer Völker im Weltreich umfaßt®). Allein es ift 
nicht zu verftehen, wenn die Ethik naturlos fein foll, wenn fie 
nichts mit Metaphyſik zu thun Haben foll, wie man zu etwas 
anderem kommen könne, als zu einem Reich Gottes, das im 
Bewußtſein des Subjekt eriftiert, zu dem Gedanken von Siebe, 
zur Liebe von vorgeftellten Subjekten; aber zu einem wirkfichen 
Gottesreiche kommt man fo nicht, wie fi denn fragt, ob nicht 
die Hiftorifche Stiftung desfelben einfach als die Einführung feiner 
Idee in das Bewußtſein der Menſchen aufzufaffen ift. Wenig⸗ 
ftens wäre das von der Vorausfegung aus allein konſequent. 
Wenn es an fid nur zu billigen ift, da von der Einſeitigkeit 
der Pflichten und Tugendlehre abgegangen und auch die Güterlchre 
berüdjichtigt wird, fo fehlt Hierfür dod in der That die Vor⸗ 
ausfegung. Wie foll denn Gemeinfchaft zuftande kommen durch 
bloßes Erheben über die Natur. Spmbolifierendes Handeln in 
der Natur ift die Vorausfegung der Gemeinfhaft. Kant ift da» 
her auch Hier wieber Tonfeguenter, infofern feine Ethik Überwiegend 
fubjeftiven Charakter trägt. Man kann nicht Kant und Schleier- 
macher fo verbinden, daß man den Kantifchen Dualismus zwiſchen 
Natur und Geift anerkennt oder doch zum Hintergrund der ganzen 
Theorie macht und dann auf einmal im Ethifchen verfährt, als 
fei eine Einheit von Natur und Geiſt da, die ohne ein metay 


1) Bol. „Religion innerhalb der Grenzen 20“, S. 145f. 161f. Dal. 
andy meine Schrift „Über die Prinzipien der Kantiſchen Ethik“, S. 112f. 
Bol. Weiß a. 0. DO. in biefer Zeitfchrift 1881, ©. 415. 

3) Bol. Ritſchl a. a. O. II, 267. 


L Dorner 


phyſiſches Band gar nicht denkbar if. Die Moral muß über 
den fubjeftin-pfychologif—hen Charakter hinausgehoben werden; fie 
muß eine fubjektiv-objeftive Größe, eine Weltmadt fein, fie 
muß mit der Metaphyfit Verbindung eingehen, wenn von einem 
fittlihen Handeln in der Gemeinfchaft die Rede fein foll. Diefe 
Borousfegungen find bei Schleiermacher vorhanden, aber nicht bei 
den neueren Moraliften, welche das moraliſche Bewußtſein weſent ⸗ 
lich nur als ein pſychologiſches Faktum gelten laſſen. Ebendaher 
ſteht auch die kirchliche Gemeinſchaft bei ihnen in der Luft, ſie 
ſchwankt zwiſchen Idee uud Wirklichkeit). Konſequenterweiſe 
könnte hier nur von der Vorſtellung der Kirche die Rede ſein, 
die das Subjelt Hat. 

Es ift übrigens durchaus begreiflih, daß ein Schwanken 
zwifchen der Subjeftivität und der Gemeinſchaft ſich auch inbezug 
auf die Gemwißheit geltend madt. Die Selbftgewißheit wird 
auf der einen Seite betont, das Bewußtſein „mehr wert zu fein 
als die ganze Welt“ auf der andern Seite die Abhängigkeit 
der Gewißheit von der Gefamtheit ?) behauptet. Kant ift es 
nie eingefallen, zu jagen, daß die moralifche Gewißheit von ber 
Gemeinschaft abhänge. Diefe Differenz zwiſchen Kant und ben 
Neukantionern ift aber wohl verftändlih, wenn man bedenkt, daß 
für Kant die praktiſche Vernunft eine unbedingte Größe, eine 
Realität war, hier Hingegen das moralifche Bewußtfein nur ein 
Urteil des wertfcägenden Subjefts, alfo ein pfychologifcher Vor⸗ 


1) Diefer ſchwankende Charakter tritt ganz beſonders deutlich bei Krank 
hervor; dgl. meine Rezenfion feiner Schrift „Das proteftantifhe Dogma von 
der unfihtbaren Kirche” in den Jahrbüchern f. deutfche Theol. XI, 520f. 

2) Bol. Herrmann, ©. 403. Es iſt eim großer Unterſchied, ob man 
anerkennt, daß die Gemeinſchaft die Bedeutung habe, in uns das moraliſcht 
oder religidſe Bewußtſein anzuregen, zu beleben, zu pflegen, oder ob man bie 
moraliſche und religiöfe Gewißheit letzthin in der Gemeiuſchaft begründet 
fein läßt. Wenn Herrmann einerſeits behauptet, nur in der Form ſittlichen 
Handelns werde das religiöſe Gut genoffen, fo wird, fo viel ich verſtehe, die 
Heilsgerwißheit von unferem Handeln abhängig, Tann alfo nur Selbſtge ⸗ 
wißheit fein (&. 402) — mag das Handeln immerhin feine Borausfegungen 
in ber Gemeinfchaft haben —, während wir anderſeits doch wieder mit unferer 
Gewißheit an die Gemeinfchaft gebunden fein follen (S. 408). 





Über das Mefen der Saigon. 37 


gang iſt; da iſt es allerdings notwendig, fi in der Gemeinſchaft 
davon zu überzeugen, daß das Sittiche wirklich eine empirifche, 
nicht bloß eine pſychologiſch vom Subjekt vorgeftellte Allgemein 
güftigfeit Habe, d. h. daß viele diefelbe Überzeugung haben. 

Je mehr nun zugleich hervorgehoben wird, daß die fittlichen Ideale 
wechſeln, um fo mehr wird der unbedingte Charakter des Sittlichen 
‚zurüdtreten. Es zeigt fich das 3. B., wenn der Verfaffer der Schrift 
„Der hriftliche Glaube und die menfchliche Freiheit“ das Chriften« 
tum nur in der Weife zu verteidigen wagt, daß er die höchfte unter 
ben empirifch vorhandenen Formen der Sittlichkeit als Im Ehriften- 
tum wurzelnd zu erweifen ſucht. Hier ift, wie es feheint, der 
Charakter des Unbedingten für das Sittliche preisgegeben, und das 
muß in dem Maße ftattfinden, als dasfelbe nur als ein empiriſch 
piychologifches Faltum angefehen wird !). 

Wenn ſchließlich die bezeichneten Richtungen teilweiſe theiftifch 
zu fein behaupten, fo kann das nur in bedingtem Sinne gelten. 
In Wahrheit find fie anthropologiftiich, und Gott wird im Inter 
effe des Menſchen teils feiner Eudämonie teils feiner Moral vor« 
geftelit. Das beharrliche Ableugnen aller Beziehung zur Metas 
phyfit hindert Hier, im Ernft von einem Gotte zu reden, der wirk⸗ 
lich iſt. Er ift vorgeftellt, geglaubt; foll der Weg, Gott im 
Intereſſe der endämonifchen oder der moralifchen Seite des 
Menſchen zu poftulieren, nur phänomenologifch fein, jo hat er ger 
wiß feine begrenzte Berechtigung. Allein es will uns nicht ſcheinen, 
daß dies die Meinung der genannten Theologen fei. Wir hören 
viel von Selbftbeurteilung, Weltbeurteilung, moraliſchem Handeln, 
Anerkennung der Vorfehung, Einheit von dem Inhalt unferes 
Willens mit dem Inhalt des göttlichen, von der Tendenz mit 
Hilfe der Religion fi) über die Natur zu erheben ?). Aber das 


4) Daß freilich Hier ein ſchweres Problem vorliegt, den Charakter des 
Unbebingten für das Sittliche mit ber Wandelbarkeit der empiriſch gegebenen 
eonereten fittlichen Ideale zu veimen und daß es eine Ergänzung von Kant 
bildet, wenn hierauf hingewieſen wird, ift nicht zu leugnen. Nur wirb der 
Charakter des Sittlichen abgeſchwächt, wenn man bie Unbedingtheit desfelben 
aufgiebt. 

2) Bol. Weiß a. a. O. in dieſer Zeitichr. 1881, ©. 388. 896. Weiß 
findet Hierin Deismus. ” 


2 Dorner 


alles beweift nicht, dag wir es wirklich mit mehr als mit einer 
Hilfevorftellung von Gott im Interefje unferer Eudämonie oder 
der Moral zu thun haben. Diefer Theismus trägt alfo jedenfalls 
durchaus fubjektive Färbung, Wenn mit biefem Urteil bem be— 
treffenden Theologen unrecht gefchehen follte, fo kann fi das nur 
darauf beziehen, daß fie vielleicht mehr erreichen wollen. Alfein 
von ihren Vorausfegungen Läßt ſich in ber That ſchwerlich mehr 
erreichen. Gott bleibt hier Mittel für das Subjelt. Auch wird 
das Gefagte beftätigen, daß dieſe Theorieen als Theorien der 
Immanenz im bezeichneten Sinne anzufehen find, infofern fie es 
wefentfich nur mit der Welt immanenten Größen zu thun Haben, 
mit den Subjeften, welche Gott vorftellen. (Vgl. o. ©. 223.) 
Sie find anthropologiftifh und bafieren die Gottesvorftellung auf 
den Menfchen. Dagegen wagen fie nicht den Schritt, Gott ob- 
jeftive Eriftenz zuzufchreiben, da fonft die ganze Theorie erft darin 
ihren Abfchluß fände, daB Gott als objektiv feiender als die letzte 
Quelle auch für die Vorftellung, die von ihm gebildet wird, auf» 
gefaßt wird umd nicht in uns der legte angebbare Grund für die 
Vorſtellung Gottes gefunden würde 1). 

Es ift durchaus natürlich und-eine wefentliche Ergänzung diefer 
Auffaffungen, wenn von dem immanenten Standpunkt aus in 
irgendeiner Weife Gott als der objektive Grund des religiöfen Ber- 
haltens und dem entfpredend and) als der immanente Weltgrund 
anerkannt wird. Es find auch Hier verfchiebene Betrahtungsweifen 
möglich, und in der Gegenwart mehr oder weniger vertreten, eine 
äfthetifche, eine intelfeftualiftifche, eine ſolche, die praftifches und 
inteffeftuelles Iutereſſe verbindet. Die Afthetifche fand fich in 
fpekulativer Weife bei dem älteren Schelling, der die Welt als 
ein göttliches Gedicht auffaßte, der den Weltprogeß in den Ozean 
der Poeſie einmünden ließ. Auch bei Schleiermader in den Reden 
über Religion ift es das Unendliche, das Univerfum in feiner Einheit 
und Harmonie, deſſen der Fromme inne wird. Religion ift Sinn und 


1) Wenn hier von Offenbarung die Rede ift, kann es nur eine borgeftellte 
Offenbarung fein, oder eine willkürlich als objektiv angenommene, aber nicht 
eine in ihrer Objektivität wiſſenſchaftlich begründete. 





Über das Weſen der Religion. 2 


Geſchmack für das Unendliche. Sie ift das Gefühl der Abhängigkeit 
von dem Unendfichen, aber doc nicht bloß nackte Abhängigkeit; es 
ift vielmehr in diefem Gefühl zugleich ein Gefühl des Innewer⸗ 
dens ber Harmonie des Univerfums. in Nachklang davon zeigt 
fich bei Strauß, wenn er das Univerfum und feine Harmonie als 
Gegenftand der Verehrung !) anfieht, freilich ohne irgendwie diefen 
Nachklang mit feinem empiriftifhen Materialismns zu reimen. Bei 
anderen tritt mehr die intellektuelle Seite hervor und auch diefe 
Auffaffung ift bafd mehr empiriftifch gewendet bald jpelulativ, das 
erftere 3. B. bei Max Müller, der ?) die „Wahrnehmung des 
Unendlichen“ als das Wefen der Religion erfaßt, die fich mit der 
Entwickelung des Geiftes immer reiner herausarbeitet, in etwas 
anderer Weife bei Herbert Spencer °), der als die allem zugrunde 
liegende Urkraft das Unbefannte anficht, die unbefaunte Kauſalität, 
aus welcher alles Hervorgeht, deren Erfcheinung alles ift und bie 
unter den verfehiedenften Formen in den Religionen geahut wird. 
Das Wefen der Religion wäre hienach das Ahnen einer unerkenn⸗ 
baren Kaufalität, welche alles Endliche als feine Erſcheinung hat *). 


1) Bgl. „Alter und neuer Glaube”, S. 123. 147. 243. Infoweit kanu 
man Ritſchl zuflimmen, wenn er in feiner Schrift über Schleiermachers 
Neben über Religion Strauß als von Schleiermacher beeinflußt bezeichnet, 

2) Bgl. a. a. D., S. 24f. bof. 

3) Bgl. „Die Grundlagen der Philofophie“, S. 25—46. 97 f. 

4) Die Religion im Erkennen des letzten Grundes zu finden, liegt auch 
der Anfiht Stuart Mills zugrunde, nur daß er vom feinen empiriſtiſchen 
Borausjegungen glaubt, ein fidherer Schluß auf Gott fei nicht möglich, und 
bei einem Mittelwefen als einem wahrſcheinlichen fiehen bleibt, das wmädtig, 
gütig u. f. m. fei, aber nicht allmächtig, allgütig u. f. w., da bie empirifche 
Gegebenheit nicht ausreiche, dies zu erſchließen. Hingegen läßt ex im praf- 
tiſchen Intereſſe zu, daß wir die durch die Refigion begründete Hoffnung, 
wenn fie auch theoretifch bezweifelt wird, als Phantafieinhalt, der uns zum 
Handeln anfpornt, feſthalten. Inſofern er das letztere ganz befonders Bervor- 
hebt (vgl. „Über Religion“, &. 204f.), flatuiert er auf dem empiriſtiſch ſtep - 
tiſchen Grunde einen Dualismus, der dem Langes beraubt iſt, zwiſchen dem 
Zweifel an einer objektiven Gotteserfenntnis und der Anerfennung der veligiöfen 
Borftellungen für bie Phantafie im praltifhen Intereſſt. Es ift das in flär- 
kerer Form derſelbe Dualismus, der auch non fieptifcer Vorausſetzung aus 


240 Dorner 


Undere, mehr fpekulativ, ſchließen fih an Hegel an und fehen das 
Weſen der Religion darin, dag die an fich feiende Einheit zwifchen 
dem abfoluten und endlichen Geifte in unferem Bewußtſein vollzogen 
werde. Das gefchieht in der Religion in einer duch ſinnliche 
Vorftellungen noch verworrenen Art, während in der Philofophie 
dieſes Bewußtſein rein vollzogen wird. Religion iſt Volksmeta⸗ 
phyfil. So Hartmann, foweit er von Hegel beeinflußt ift und 
nicht duch feinen Peffimismus diefer Auffaffung noch die eigen- 
tümliche Färbung giebt, daß das Einswerden mit dem Abfoluten 
das Mitfühlen aller feiner Leiden in all feinen Erfheinungen zur 
Folge hat und den Entſchluß zu dem Aufhören diefes Leidens mit⸗ 
zuwirken, wo freilich dann die Religion völlig aufhört in dem 
Sage: Ich lann Gott erlöfen‘). Unter den Theologen, welche 
ſich eingehend mit dem Wefen der Religion befaffen, ftehen der 
Hegelichen Auffaffung der Religion Pfleiderer und Biedermann am 
nädften, wenn fie die Religion finden in dem: „fi in Gott 
wiſſen und Gott in fi, in Gott eins mit ber Weltordnung und 
durch Gott frei von der Weltſchranke“ 2). Aber diefe Theologen 
unterfcheiden fi) dadurch wefentlih von Hegel, daß fie bemüht 
find, der Religion in der Myftit eine felbftändige Stelle zu laſſen. 
Die Religion ift nicht bloß dem Gebiete der Vorftellung angehörig, 
das in das Wiffen überzugehen beftimmt ift; fie foll den ganzen 
Menschen umfaſſen. Es Handelt fih nicht bloß um Theore- 
tifhes, fondern aud um Praktiſches in der Religion. Aus 
dem Streit von Freiheit und Notwendigteit geht ſie hervor. Sie 
ift die Löſung diefes Streites, indem Selbft- und Weltbewußtfein, 
Freiheit und Abhängigkeit im Gottesbewußtfein geeint find. „Reli⸗ 
gion iſt nicht Gottesbewußtſein, fondern der Zufammenfchluß des 


(die dem Empirismus entflammt) fich bei all denen findet, welche ein objeftives 
Erkennen Gottes ausfchfießen, aber im praktiſchen Imtereffe die Vorſtellung 
Gottes, den Glauben fordern. 

1) Bol. meinen Aufjag über Hartmann in biefer Zeitſchr. 1881, 9. 1, 
©. 77f. 54f. Über Hartmanns inzwiſchen erfhienene Arbeiten: „Das 
religidſe Bewußtfein der Menſchheit · und „Die Religion des Geifes“ vergleiche 
meine Anzeige, die in diefer Zeitfchrift erſcheinen wird. 

3) Bfleiderer a. a. O., ©. 258. 


Über das Wefen der Religion, 41 


Selbft« und Weltbewußtfeins in Gottesbewußtſein“ 2). Der In. 
halt der Religion tft Hiernah, was bei Biedermann beſonders 
hervortritt, die Gottmenfchheit. 

So richtig und notwendig es ift, der Religion in Gott eine 
objektive Bafis zu geben, fo fehr es auf Halbem Wege ſtehen 
bleiben Heißt, wenn man von einem refigiöfen Bedürfnis redet, 
ohne für dasfelbe einen anderen als pfycologifchen Grund anzu⸗ 
geben, fo lobenswert e8 ferner ift, daß die Religion als Sache des 
ganzen Menfchen aufgefaßt wird, fo find doch auch hier noch Ber 
denfen übrig. Wenn von Gott ausgefagt wird, daß er zwar Geift 
fei, daß aber fein Selbftbewußtfein mit feinem Weltbewußtfein eins 
fei, letzteres nur die entwickelte Totalität des Inhalts des erften 
bilde *), fo ift Hierin noch eine Nachwirkung Hegels, welche im 
Prinzip den Unterſchied zwiſchen Gott und Welt wieder hinfällig 
werden läßt, was Pfleiderer ja freilich nicht will ®). Denn wenn 
Gottes Selbftberwußtfein erft in feinem Weltbemußtfein entwidelt 
ift, fo kann man auch umgekehrt fagen, das endlihe Bewußtſein 
Mann ſich kaum feines Unterfchiedes von Gott Mar bewußt 
bleiben. Denn der Menfch kann ſich in der Einheit mit Gott eins 
mit der Weltordnung und frei von der Weltfchranfe wiſſen, weil 
er fi eben in der Einheit mit ihm über feine Endlichkeit erhoben, 
als einen Teil des göttlichen erpfizierten Selbſtbewußtſeins weiß. Und 
dadurch wird doch ſowol die endliche Stellung des Menfchen als auch 
die Abſolutheit Gottes alteriert. Ja konſequenter Weiſe müßte aner- 
fannt werden, daß der ganze Zwiefpalt zwiſchen Freiheit und Not« 
wendigfeit ein Zwiefpalt Gottes mit ſich felbft fei, da ja fein 
Weltbewußtſein, in dem er von diefem Zwieſpalt doc wilfen muß, 
ja ihn zeitlich begleitet 4), fein entwiceltes Selbſibewußtſein ift. 
Daß ferner das Wiſſen nicht in Hegelfcher Weife die Alleinherr- 


2) Bgl. PBfleiderer a. a. O., ©. 2575. Lipfins, ſoweit er von 
Biedermann beeinflußt ift, ſtimmt Biermit zufammen (a. a. O., $ 28). 

3) PBfleiderer aa. DO, ©. 418. 

®) a. a. 0, S. 412f. 

4) Daß Gott mit feinem Wiffen bie Weltentwickelung begleitet, if übrie 
gens an ſich ein berechtigter Gedante (©. 419). 


2 . Dorner 


ſchaft hat, daß die Neligion in das Gemüt verlegt und mit bem 
Wiſſen von Gott nicht identifiziert, und daß doc zugleich anerkannt 
wird, daß es ein Wiffen von Gott gebe, verdient zwar durchaus 
Beifall. Allein in der Meinung, dag die Religion von ihrem Ur- 
fprung aus eine Entwidelung durchlaufe, in welder Vorftellung 
und Phantafie diefelbe verbunfeln, bis am Ende durch den Prozeß 
eine gereinigte Myftit entftehe, an die fi die Spekulation an 
fchließe, fcheint mir doch der Gedanke Hegels nachzuwirken, daß 
es die Religion mit der Vorftellung zu thun Habe. Nicht das 
ift zu leugnen, daß thatſächlich die Phantafie in falſcher Weife fih 
einmifcht, fondern die Meinung, als ob die Phantafie mit Not 
mendigfeit fäljchte. Denn barin fcheint mir die Anficht enthalten 
zu fein, daß die Phantafie nicht ein dem übrigen gleich berechtigtes 
Oeiftesvermögen fei, was mit der Meinung zufammenhängt, daf 
alles Sinnlihe an ſich nicht imftande fei, Geiftiges rein darzuftellen. 
Die Konfequenz diefer Anficht muß dahin führen, daß wir auch in 
der Sprade bie Gotteserfenntnis nicht ausſprechen können, da in 
der Geftaltung ber inneren und äußeren Sprade die Phantafie 
ſtets mitwirlt, jedenfalls aber die Sprache durch die finnliche 
Schranke begrenzt ift. Die Gotteserkentnis will Pfleiderer mit 
Recht nicht preisgeben. Allein Lipfins wird fo lange mit feiner 
Stepfis recht behalten, bis zugeftanden wird, daß die Phantafie 
eine Geifteskraft fei, welche nicht der Wahrheit entgegen fein, nicht 
ihrer Natur nach mit der Vernunft in Streit fein muß, daß über⸗ 
Hanpt das Sinnliche verſtändliches Symbol des Abfoluten fein 
fönne. Denn nur dann ift Gotteserfenntnis fir uns keine Un 
möglichkeit. Hier wirkt alſo der ibealiftifhe Zug Hegels bei 
Pfleiderer und Biedermann noch ungünftig nad. Auch daraus, 
daß die religiöfe Erkenntnis zunächft praktiſch bedingt ift, folgt 
nit notwendig, daß fie teilweife falſch ift; Pfleiderer nimmt 
an, daß die von praktischen Intereſſen geleitete Phantafie die Er 
kenntais der Religion verfäljche, fo daß biefefbe erſt in eine 
rein theoretifche Erkenntnis durch den religtöfen Erkenutnisprozeß 
müffe umgefegt werden ). Auch Hier ift nicht zu leugnen, daß 


2) Bgl. a. 0. O, ©. 271f. 





Über das Weſen ter Religion. 43 


fich thatſachlich im praltiſchen Intereſſe vielerlei Vorftellungen in 
die refigiöfe Erkenntnis einfcpleichen, die fich als unhaltbar erweifen. 
Allein gerade Pfleiderer, der geltend macht, daB das praftifhe In—⸗ 
tereſſe jelbft eine objektive Gotteserkenntnis fordere, was er Lipſius 
gegenüber betont, fcheint mir mit der Annahme einer notwendigen 
Verfälihung der religiöfen Erkenntnis durch das praktische Intereffe 
mit ſich in Wiberfpruch zu geraten. Wenn nach ihm die Art des 
phantafiemäßigen Vorftellens das Naturgemäßere für die relis 
giöfe Erfenntnisart ift, weil ſich die Phantafie ungebundener 
über die Weltwirkfichleit erheben kann als der durch die Gefege 
der Logik und der Erfahrung gebundene Verftand, fo möchte 
man hiernach faft fchließen, daß die fpefulative Gottes— 
ertenntnis ber Religion fremd, alſo ein Dualismus zwifchen dem 
vefigiöfen phantafiemäßigen und bem fpefulativen Erfennen kaum 
zu vermeiden fei. Wenn ferner die religiöſe Phantafie durch ſchöne 
Bilder, die fie uns vorzaubert, über die Schwierigkeiten ber Wirk⸗ 
lichteit Hinwegtäufcht, fo ift das nur fo Lange fittlich zu rechtfertigen, 
als man fich zugleich deſſen bewußt ift, daß man es mit einem 
ſchönen Schein zu thun Hat, der den Wahrheitsfern umhüllt. So- 
bald man aber um des eubämonifchen Intereſſes willen das in 
der Form der Phantafie Vorgeftellte auch mit diefer Form 
ſelbſt für Wahrheit nimmt, fo ift bierin eine eudümoniſche 
Selbfttäufhung enthalten, die mir weniger ein Fehler der Phan- 
tafie als ein fittlicher Fehler zu fein fcheint, ein eudämoniftiſcher 
Mißbrauch der Phantafie. Ye zarter Hier die Grenze zwifchen 
Sittfihem und Verwerflichem ift, um fo leichter Tann Bier die 
Phantaſie gemißbraucht werden. Allein man wird hier anzuerkennen 
haben, daß es fittliche Aufgabe ift, das Intereſſe der erfennenden 
Vernunft und der äfthetifch bildenden Phantafie auch inbezug auf 
den Inhalt de8 unmittelbaren religiöfen Bewußtſeins zu harmoni⸗ 
fieren 1). Die Meinung Pfleiderers, daß die Religion, weil fie 


2) Das zeigt ſich beſonders darin, daß der Kultus der Hikfe der Phantafie 
taum entbehren Tann, wie Bfleiderer felbft fieht. Die Phantafie iſt nicht 
bloß eine pfychologiſche Vorſtufe der rein logiſchen Erkenntnis, fondern eine 
dem Denken glei berechtigte Geiſteskraft. 


244 Dorner 


empirisch Irrwege durdläuft, diefelben durchlaufen müſſe, erinnert 
auch an Hegel. Denn bie oben (S. 222) erwähnte Methode, für welche 
fich Pfleiderer entfcheidet, Teidet an dem Mangel, daß der empirische 
Prozeß als der logiſch notwendige, vernünftige Prozeß angefehen 
wird, der fi ja nad Hegels Meinung durch Widerfprüche hin- 
durch fortbewegt. Allein es fragt fich, ob die empiriſch vorhandenen 
Irrwege wirklich logiſch notwendig find und nicht Irrationales ent ⸗ 
halten, was voll nur dann anerkannt werben fan, wenn man fich 
entfchließt, das Weltbewußtfein Gottes von feinem Selbftbewußtjein 
grümblich zu unterfcheiden. Denn ohne diefe Unterfcheibung wird es 
ſchwer fallen, die in der Welt vorhandenen Irrungen des religiöfen 
Bewußtſeins ernftlich als ſolche anzuerkennen und fie nicht dod am 
Ende an ihrer Stelle als notwendige Durchgangspunkte durchaus 
berechtigt zu finden *). 

Wir Haben bisher ſolche Anfichten betrachtet, welche die Religion 
der Hauptfahe nad auf immanentem Wege zu erflären fuchen. 
Unfer Refultat ift folgendes: Während in den zuerft berüßrten 
ſubjektiviſtiſchen Auffaffungen der Religion ein ſtark anthropo- 
logiſtiſcher Zug ſich zeigte, fofern Gott Hinter das Subjekt zurüd- 
trat, in deſſen Intereſſe er vorgeftellt wurde, fo tritt in dem letzt⸗ 
genannten Richtungen, infoweit fie noch auf dem Boden ber 
Immanenz ftehen, eine mehr dem Pantheismus zumeigende Anficht 
hervor. Da aber weder die fubiektiviftifche noch die objektiv - pan- | 
theiftifche Sorm der Immanenz im obigen Sinne (S. 223. 224) zur | 
Erflärung der Religion genügt, fo läßt fi) der Standpunft ber | 
bloßen Immanenz, welche die Religion aus den der Welt felbft imma | 
nenten fubjeltiven Urfachen oder zugleich aus der immanenten ob⸗ 


2) Das zeigt ſich auf das flärkfte in Hartmanns Methode, bie aber am 
Ende dazu führt, daß es feinen im Prozeß auftretenden Standpunkt giebt, 
der nicht an feiner Gtelle als berechtigt, ebenſo aber auch Im weiteren Verlauf 
als unwahr fd erweiſt. Dieſe Methode leiſtet aber im der That dem Empi- 
rismus Vorſchub, weil nicht eine abfolute Erkenntnis, fondern nur hiſtoriſch 
an ihrer Stelle, alfo relativ berechtigte Standpunkte anerfannt werden. Das 
führt ſchliehßlich zur Skepſis, weil nur das Werden zur Geltung kommt. 
Vol. meinen Auffag über Hartmann in dieſer Beitfcheift 1881, Heft 1, &. 69. 
72f. Bol. auch Harms, Die Philofophie feit Kant, &. 454. 459f. 


Über das Weſen der Religion. Ab 


jettiven letzten Urſache zu verftehen fucht, überhaupt nicht feft- 
halten. Es wird vielmehr notwendig, die Transcendenz Gottes 
im Verhältnis zur Welt mit der immanenten Erflärung zu vers 
binden. 

Es ift der fpätere Schleiermacher, welder für die neuere Zeit 
grundlegend inbezug auf den Neligionsbegriff gewirkt Hat, infofern 
er die Religion urfprünglic als abfolutes Abhängigfeitsbemußtfein 
anfieht. Hiedurch wird einmal einer Vermifhung des Ich und 
Gottes vorgebeugt. Denn fo viel man Schleiermacher Pantheis- 
mus vorgeworfen hat, das ſchlechthinnige Abhängigkeitsbewußtjein 
fchließt denfelben völlig ans *). Denn das endliche, fich ſchlecht⸗ 
hin abhängig wiſſende Subjekt kann ſich nicht irgendiwie mit dem 
identifizieren, von dem es ſchlechthin abhängt. Durch die abfolute 
KRaufalität Gottes ift ein Unterfchieb zwifchen Gott und ben 
Menschen begründet und zwar fo, daß jeder mit feinem indie 
viduellen Selbftbewußtjein das abfolute Abhängigfeitsbemußtfein 
verbindet und indem er fich mit der Welt von Gott fchlechthin 
abhängig weiß, die Allgemeingüftigkeit der Abhängigkeit mit der 


1) Wenn Gott nur als Subjekt aufgefaßt wird, if ohne das ſchlecht ⸗ 
Hinnige Abhängigkeitsbewußtſein eine Vermiſchung Gottes und der Welt nicht 
prinzipiell ausgeſchloſſen, wie 3. B. Pfleiderers Anficht beweift, der Gott 
Subjekt nennt. Mindeftens müßte Gott Subjekt ⸗Objekt genannt werben, wie 
Schleiermacher dahin tendiert, Gott als „Subjett-Objelt“ zu faflen. Bol. 
Entwurf eines Syflems der Sitteniehre ed. Schweizer, ©. 16. Nennt 
man Gott nur Subjekt, fo ift noch nicht ausgeidloffen, daß er zum vollen 
Bewußtſein feines eigenen Inhaltes erſt duch die Welt komme; denn ein felb- 
fändiges Bewußtſein Gottes von ſich kann nur mit der Formel voll ausge 
drückt werden, baf er Subjet-Objett fei. Das Subjeft braucht zur Ergänzung 
das Objekt; wird Gott nur Subjekt genannt, jo ift die Welt das ergänzende 
Objekt und erſt im Zuſammenſchluß mit der Welt wird er Subjekt ⸗Objekt, 
Tommt er zu vollem „expliziertem“ Selbſtbewußtſein. Läßt man den Gag 
Ritſchls als eine objektive Ausſage über Gott gelten (mas, wie gejagt, 
infonfequent wäre), Gott Habe feinen Selbftzwedt in feinem Reiche, fo wäre 
nnter der Kategorie des Zweces Bier dasſelbe gegeben, daß er erſt durch fein 
Reich, d. h. durch die Aktion der Menfchen dazu kommt, feinen Selbftzmed 
zu erreichen, ſich felbft als Zweck objektiv zu werden. Iſt aber Gott Subjekt- 
Objiekt, fo ift auch die Welt von ihm unterſchieden und Tann, wenn er abſolut 
iſt, nur ſchlechthin von ihm abhängig fein. 

Theol. Etud. Dahrg. 1888, 17 


a6 Dorner 


befonberen Abhängigfeit feines Einzel-Jch im unmittelbaren Bewußt⸗ 
fein geeint iſt. 

Wie aber das abfolute Abhängigfeitsbewwußtfein den Unter⸗ 
ſchied des Ich von Gott garantiert, To ift eben durch dasſelbe 
anch allen fubjektiven antgropologiftiichen Einfeitigleiten die Spike 
abgebrochen. Denn wenn wir mit ber ganzen Welt von Gott uns 
ſchlechthin abhängig willen, fo ift ber Gedanke einfach unmöglich, 
daß Gott lediglich ſubjeltive Vorftellung fei. Durch das ſchlecht⸗ 
hinnige Abhängigkeitsbewußtſein iſt jeder Gedanke daran völlig aus 
geſchloſſen, weil es unvernünftig wäre anzunehmen, daß dieſes 
Bewußtſein lediglich eine Projektion von ums felbft ſei. Indem 
wir Gott als den wiffen, von dem mir abfolut abhängig find, 
wiffen wir Gottes Urfächlichkeit ftets in unferem Bewußtſein 
gegenwärtig — und das ift gegen ben anthropelegiftifchen Deis- 
mus!) gerichtet. Es muß bier von einem „Getroffenfein * von 
Gott gerebet werden. Es ift bie Bedeutung Schleiermacers, baf 
es ihm gehlückt ift fowoht die (deiſtiſche) ſubjeltiviſtiſche Einfeitig- 
keit in der Auffaſſung der Neligion als auch die objeftiv-pantheiftiiche 
zu überwinden. Wenn ich das Hervorhebe, fo foll damit keines⸗ 
wegs gefagt fein, daß fich bei ihm nicht Unebenheiten finden auch 
inbezug auf diefe prinzipielle Stellung. Ich habe früher ausge 
fügrt %), wie feine Darftellung in der Dialektik, nach welcher Gott 
in dem Gefühl ſein fol, weil das Gefühl die Indifferenz dar- 
ftelle und Gott ſelbſt die abſolute Identität fei, ſich ſchwer mit 
feiner Definition der Religion als ſchlechthinniges Abhängigleite- 
bewußtfein reimen laſſe. Nicht minder aber kann man jagen, daß 
feine rein pfychologifche Ableitung aller göttlichen Eigenfchaften 
außer der Allmacht wieder jener Auffaſſung Gottes als einer bloß 
fubjettiven Vorftellung Vorſchub Teiftet ®). Allen das hindert 

1) Wenn ich den Authropologiemus als Deismus bezeichne, fo geſchieht 
das infofern, als derſelbe Gott Hinter die Zutereſſen der Perfon zucüdftelit, es 
ihm wicht umn Gott ſelbſt zu chun Aft, fondern um bie Inteveffen des Subjektes. 
Gott if als Mittel für diefelben zurlicgebrängt. 

%) Bol. Jahrbücher f. deutſche Theologie: „Die Bedeutung ber inneren 
und äußeren Offenbarung für die Erkenntnis von Gott“, ®b. XVII, ©. 288 f. 

®) Wenn er indes Gott als Subjet-Objeft faffen will, fo geht er doch baräber 
Hinaus, Gott bloß als Kaufalität zu denken, wie er andy in der „Dialektit“, 


Über das Weſen der Religion. a7 


nicht, anzuerkennen, daß in feiner Definition der Religion als ab- 
folutes AbHängigkeitsbewußtfein, ſowohl die Unterfheidung des 
Subjelts von Gott als aud der Zuſammenſchluß besjelben mit 
Gott, anerkannt ift. Wuc der Gedanke, daß ber Menſch in dem 
Bewußtſein der abfoluten Abhängigkeit über den Gegenfag von 
relativer Freiheit und Notwendigkeit (Abhängigkeit) Hinausgehoben 
werde, daß eben dadurch fein Bewußtſein erft einheitlich ab» 
geſchloſſen und vollendet werde, daß er eben deshalb in ber 
Religion fi über die relative Abhängigkeit von ber Welt er- 
hebe, infofern alſo ihr gegenüber frei werde, was fi in dem von 
der Religion ausgehenden ethiſchen Impuls zeigt, daß er eben 
hiermit auch ein höheres Luftgefühl Habe, mit einem Worte, der 
Gedanke, daß in dem fehlechthinnigen Abhängigfeitsbewußtfein jeder 
in feiner Eigentümlichkeit fi fo zu fagen beftätigt fühlt, das 
Subjekt alfo nicht von bdemfelben erdrüdt, fondern durch dasſelbe 
gehoben werden foll, verdient allgemeine Anerkennung. So finden 
wir aljo bei Schleiermacher die Tendenz mit der Immanenz Gottes 
in der Welt die Transcendenz Gottes zu verbinden 1). 

In noch ſtärkerem Maße ift das von den tHeiftiichen Auffaffungen 
verfucht worden, melde die Unterſcheidung zwiſchen Gott und der 
Welt noch beftimmter durchzuführen fuchten, indem fie Gott ein 
von der Welt unterſchiedenes Selbftbewußtfein zuſchrieben und ben 
Begriff der Kaufalität jo verwendeten, daß Gott als verurſachen⸗ 
der Wefen Hervorrufe, welche felbft verurſachen können, ſekundäre 
Kaufalitäten find, ohne daß fie deshalb die Immanenz Gottes in 
der Welt, den unmittelbaren Verlehr der frommen Subiekte mit 
Gott, die Gotteserfahrung preisgeben wollten. Wir wellen dieſe 
verſchiedenen tHeiftifchen Verſuche, die teile mehr ſpekulativ, teils 
mehr empiriſch ) begründet werben, nicht im einzelnen weiter der⸗ 


©. 136 Anm. ſagt: „Die hoͤchſte Urjach Tamı man wirt denken als Smbifferemg 
von Bewußtſein und Bewuftlofigkeit“, und wenn er in ber „Dogmatit” fagt 
8 167: „Gott iſt bie Liebe“, fo hat man wenigſtens gemeint, daß er hiermit 
auch das objektive Weſen Gottes beſchreiben wolle. Allein gegen bie Blichtige 
keit diefer Auffaffung laffen fi gegründete Bedenlen erheben. 

1) Gott and Welt find „Correlata“. Dialekit, $ 219. 224. 225. 

2) Auf der fpehufativen Seite ſtehen an Schelliug anliefenbe Theiſten, 

17 


us Dornet 


folgen, da e8 uns Bier weniger auf bie Ausführung der Gotted- 
lehre als auf die Beftimmung des Religionsbegriffes anfommt. 


IL Pofitive Erörterung des Religionsbegriffs. 

Unfere bisherige Entwicelung Hat uns zu der Überzeugung 
geführt, dag die Religion als ſchlechthinniges Abhängigfeitsbemußt- 
fein aufgefaßt werden muß, da Gott nicht bloß „für ung“ fein 
tann, als vorgeftellter, fondern als die abfolute Kaufalität felbft 
der urfprünglic Seiende und die Quelle alles anderen Seins ift. 
Wenn aber Gott ald der Urheber ber Welt zu benfen ift, fo 
Kann auch die Religion felbft urfprünglih nicht aus menfchlicher 
Aktion hervorgehen, fondern muß auf göttliher That ruhen, der 
auffeiten des Menfchen Empfänglickeit entipriht. Das ergiebt 
ſich mit Notwendigkeit aus der Annahme der göttlichen Trans 
cendenz. Es find zwei durchaus zufammengehörige Säge, daß bie 
Religion Bewußtſein ſchlechthinniger Abhängigkeit ſei und daß die 
Religion auf einer That Gottes ruhe, da eben dies Abhängig 
keitsbewußtſein nicht aus uns ftammen kann. Bevor wir das 
abſolute Abhängigkeitsbewußtſein noch etwas genauer betrachten, 
wollen wir uns durch einen Bli auf die Religionsgefchichte da- 
von überzeugen, daß ohne dasfelbe feine Religion vortommt, mag 
es aud) in unvollkommener Geftalt erfcheinen. 

Daß die monotheiftifchen Religionen alle die Gottheit als die 
allmächtige verehrten, ihnen alſo das ſchlechthinnige Abhängigkeit 


wie Beders, € F. Fiſcher, Martenfen, an Baader und Schelling 
8. Hoffmann, an Schelling und Hegel Weiſſe und Rothe, in Verbindung 
mit Herbart und Schelling ſtehend Fichte d. J., an Herbart nicht ohne Selbftän- 
digkeit aulehnend Loge, im Zufammenhang mit Schleiermader Ritter u. a. 
Eine Verbindung von Schleiermacher und Hegel, jedoch fo, daf das Ethiſche als 
der abfolute Zweck gefaßt und eben dadurch der Hegeliche Pautheismus vermieden 
wird, erfireben Chalybäus (Philofopkie und Ehriftentum, ſpekulative Ethik, 
hochſt beadhtenswert!), Dorner, Chriſtliche Glaubenslehre u. a. Eben durch 
die ſtärkere Betonung bes unbedingten Charakters bes Sittlichen und bie daraus 
fich ergebenden Konfequenzen fir den Religiousbegriff unterſcheiden fich dieſe 
Denker von Biedermann und Pfleiderer, welche ihrerſeits auch eine 
Verbindung von Hegel und Schleiermacher anftreben. Auf der empiriſchen Seite 
ſtehen Männer wie Ulrici, Gott und die Matur, Gott und der Menſch. 





Über das Weſen ber Religion. Ao 


bewußtſein zugrunde liegt, wird man ſchwer in Abrede ſtellen 
Können. Der Buddhismus aber baſiert auf dem Brahmanismus, 
welcher, ſoweit er ſich über ben Polytheismus erhebt, die Gottheit 
als das abjolute Sein erfaßt, aus bem alles Endliche hervor 
quillt, und in das alles wieder zurücgeht. Das Endliche hat dem 
Brahm, dem Seienden gegenüber Teinen Beftand; die Abhängigfeit 
geht hier bis zur Vernichtung des Endlichen. Wenn das unendliche 
Sein bier eigentlich nur das nichtendliche ift, fo ift es nur eine 
andere Wendung besjelben Gedanken, wenn in dem Buddhismus 
die endliche Welt als dem Gefeg der Verkettung unterworfene als 
ein bloßer Schein behandelt wird, an dem zu hängen Leiden her⸗ 
vorbringt, während die Befreiung nur gefunden wird in dem 
Übergang aus dem Endlichen in das Nichtendliche, das, weil es 
nichts Beftimmtes ift, ebenfo wie ald Sein auch als Nichts *) an- 
gefehen werben kann. Wenn ferner fon in dem Geſetz der Ver- 
fettung ſich die unentrinnbare Abhängigkeit des Menfchen von dem 
Schickſal oder fofern dieſes Gefe zugleich als Geſetz der Vergeltung 
gefaßt wird, von der Vorfehung, mit einem Worte von dem 
Weltgefeg der Kaufalität ?) zeigt, fo ift der Bubdhismus als Reli» 
gion befanntlich auch keineswegs bei jener Verſenkung in das Nirwana 
ftehen geblieben, in ber felbft fi) doch auch nichts anderes aus⸗ 
fpricht, als die Nichtigkeit alles Endlichen gegenüber dem Nichts 
endlichen. Buddha felbft ift als fortlebend von der fpäteren Ge⸗ 
meinde vorgeftellt; e8 werben ihm immer mehr göttliche Prädilate 
zugefchrieben, und vor allem das der Allmacht ®). Übrigens fiel 
der Bnddhismus, foweit er nicht ſich als Philofophie erhielt, auch 
wieder in den Polytheismus zurück; und harafteriftifch ift für das 
Gefühl feiner eigenen Unvollkommenheit, daß er felbft ſich bie 
Dauer feines Lebens begrenzt vorftellt. 

Die polytheiftifcden Religionen feinen ſich auf ben erften 


1) Bol. Oldenberg, Buddha, S. 273f. 290. „Führt der Weg aus 
der Welt in ein neues Sein? führt es in das Nichte? Der buddhiſtiſche 
Glaube hält fi auf der Meſſerſchneide zwiſchen beidem.“ 

%) Bgl. Oldenberg a. a. D., ©. 257. 248f. 

8) Koeppen, Die Religion des Buddha I, 555. 4305. 


o Dorner 


Blick in keiner Weiſe aus dem ſchlechthinnigen Abhängigkeitsbe⸗ 
wußtſein begreifen zu laſſen. Allein abgeſehen davon, daß kein 
Menſch behaupten kann, daß ſich die polytheiftifche Frömmigkeit der 
monotheiſtiſchen an Wert gleich ftellen laſſe, daß bie polytheiftifchen 
Religionen felbft ein Gefühl ihrer Unvolltommenheit haben, das 
fi in dem Bewußtſein des Unterganges ihrer Götterwelt vielfach 
ausfpricht, 3. B. in der griechiſchen und nordiſchen Mythologie, 
finden wir in verfchiedenen Formen eine Annäherung an das mono⸗ 
theiſtiſche Bewußtſein, teils indem ein oberfter Gott, ein Water 
ber Götter angenommen wird, unter deſſen Herrihaft und Macht 
die übrigen Gottheiten und die Menſchen ftehen, oder ein Schichſal, 
das allmächtig ift, über der Götterwelt ſchwebt. Ebenjo aber ift 
aud in dem frommen Moment ſelbſt eine einzelne polythei- 
ftifche Gottheit als die erfaßt, von ber der Menſch allein abhängt, 
wird alfo als die ſchlechthinnige Macht angefehen. Beſonders 
deutlich Hat diefe Thatſache Mar Müller Hervorgehoben; er be 
zeichnet dieſe Erſcheinung als Henothelsmus ). Damit ein Menſch 
ſich ſchlechthin abhängig wiſſe, iſt durchaus nicht nötig, daß er for 
fort zugleich fich mit der ganzen Welt unter dem Abhängigkeitds 
bewußtſein zufammenfaffe. Von einem befonderen Ereignis ber 
Natur kann feine empfängliche Vernunft angeregt werden, fo daB 
er für diefen Fall, wenn aud nicht für alle Fälle fi von einer 
hinter der Natur ftehenden unbedingten Macht abhängig fühlt, for 
bald buch den Gegenfag von Selbjt- und Weltbemußtfein, der 
duch eine Naturerfcheinung Yebhaft erregt wird, zugleich die Em- 
pfänglichkeit für eine den Gegenſatz harmoniſierende Macht in ihm 
erwacht ift. Es ift durchaus der Art der Entwicelung ber Ver⸗ 
nunft, alfo auch der für Gott empfänglichen Vernunft, entfprechend, 
daß nicht fofort das Bewußtſeln des Unbedingten überhaupt ent, 
fteht, fondern daß zunächft im Zufammenhang mit einem beftimmten 
Ereignis die Ahnung des Unbebingten ſich erhebt?) 3. B. bei 
irgendeinem auffalfenden Naturereignis der Menſch die Hinter dem⸗ 


1) Bol. 3. B. a. a. D. die beiden Hymmen am Indra und Varuna, 
©. 324. 327. 
2) Ähnlich iſt es auch mit dem Erwachen des fittfien Bewußtſeins (f. u.) 





Über das Wefen der Religion. 31 


felben ihn und das Naturobjelt beherrſchende unbedingte Macht 
ahnt, ohne daß er fofort imftande wäre von biefem Natureindrucke 
das Bemuftfein des Unbebingten völlig abzuldfen, und das Bes 
wonßtfein des Unbedingten überhaupt zu erreichen. Aber wenn in 
vielen einzelnen Fällen diefelbe Ahnung oft wiederfehrt, dann lann 
die Vernunft auch den Schritt tun, ein Unbedingtes überhaupt 
zu ahnen. Ober beffer ausgebrüdt, die Empfänglichkeit des Mens 
ſchen fchliegt fich zuerft in Konfreten Fällen auf, und da kann Gott 
feinen Strahl in die Seele fallen laſſen, fo daß für den einzelnen 
Tall die Ahnung des Unbedingten entfteht. Aber es fegt eine 
Tängere Entwidelung voraus, bis der Menſch imftande ift, diefe 
Ahnung von ben konkreten erregenden Fällen völlig abzulöfen, bis 
Gott ſich ihm als den allmächtigen ſchlechthin offenbaren Tann. 
Denn ſchwerlich wird man leugnen Können, daß anfangs ein zu 
fammenhängend monotheiftifches Bewußtſein kaum vorhanden fein 
tann, was freilich noch nicht notwendig Polytheismus vorausſetzt. 
Denn wenn in konkreten Fällen Hinter einer gegebenen Erfcheinung 
3. B. der Sonne eine unbedingte Macht geahnt wird, fo folgt 
daraus noch nicht, daß mit diefer Erfcheinung notwendig das Un⸗ 
bedingte felbft beftimmt identifiziert wird, wenn es auch noch nicht 
völlig Mar von derſelben unterfchieben ift. Im Gegenteil findet bei 
einer anderen Erſcheinung, 3. B. dem Gewitter, biefelbe Ahnung ftatt. 
Ob nun der Fortſchritt dahin geht, in all diefen Erſcheinungen 
ſchließlich dasfelbe eine Unbebingte zu ahnen und zwar mit bem 
Bewußtſein, daß es dasſelbe eine fei d. h. bewußt das Unbe⸗ 
dingte von den einzelnen Erſcheinungen völlig abzulöfen, oder ob 
vorher, ehe es dazu kommt, die Ahnung bes Unbedingten mit der 
Erfcheinung jelbft vermifcht wird und fo allmählich die Ahnung 
des Unbebingten verendlicht wird, das ifl eine Frage, die wir hier 
nicht entfcheiden wollen. ebenfalls find von dem Anfang aus 
beide Wege möglich und nur eine gefchichtliche Unterfuhung Tann 
darauf antworten, ob auch beide wirklich geworden find. Aber 
jedenfalls muß eine Ahnung des Unbedingten da fein, wenn es 
mit dem Endlichen fol vermifcht werden können. Daß der Poly- 
theismus das Bewußtſein der göttlichen Allmacht aufweift, ift eine 
Thatſache, die nicht aus dem bloßen Gegenſatz von Gelbftberoußt- 


232 Dorner 


fein und Natur erflärt werden Tann. Denn bie Natur zeigt fih 
uns gegenüber nie allmächtig. Sondern nur, wenn im Meenfchen 
eine Anlage für das Innewerden des Unendlichen, Unbedingten ift, 
iſt es verftändfich, daß biefe durch den im Verhältnis zur Natur 
entftehenden Gegenfag von Selbft- und Weltbewußtfein, von Frei⸗ 
heit nnd Abhängigkeit gewedt wird. Alfo auch der Polytheismus 
weift da8 Bewußtfein unbedingter Abhängigkeit, wenn auch in un 
volffommener Weife auf, während die volllommene Form des Be- 
wußtſeins unbebingter Abhängigkeit nur die fein Tann, dag dasfelbe 
nicht bloß in einzelnen Fällen aufleuchtet, ſondern ftetig ift, alfo 
die monotheiftifche Form *). Die Unvollkommenheit des poliptheis 
ſtiſchen Bewußtſeins ift im der mangelhaften Empfänglichkeit 
des Menſchen begründet, der den Strahl ber göttlichen Wirkfam- 
feit nur in gebrochener Geftalt aufnimmt; aber anderfeits ift 
ohne dieſe göttliche Wirkfamfeit eine Ahnung Gottes ale des un- 
bedingten Allmächtigen, wie fie aud ber Polytheismus aufweiſt, 
nicht erflärlih. Was endlich den fogenannten Fetiſchismus ans 
geht, fo verdient diefer faum Berückſichtigung. Denn die Theorie 
des Urfprungs ber Religion aus Fetiſchismus feheint mir durch 
die neueren Unterfuchungen von Mar Müller ?), fowie von Hap- 
pel ®) abgethan zu fein, fo daß der Fetiſchismus nur als eine Ver⸗ 
zerrung ber Religion anzufehen ift, ‚die nicht einmal Anſpruch 
darauf erheben Kann, als eigene Religion zu gelten. „Daß zus 
fällige Objekte“, fagt Mar Müller, „wie Steine u. f. w. einen 
theogonifchen Charakter Haben, d. 5. für ſich allein zur Ahnung 
von etwas Überſinnlichem und Unendlichem Hinführen, ift nie ber 


1) Mon mag Hieraus abnehmen, daß die Differenz gar nicht fo groß ift, 
wie es auf den erſten Blick ausficht, zwiſchen einer Auffaffung, welder Gott 
als der Unbebingte nur in einzelnen Fällen in Verbindung mit beſtimmten 
Weltgeſtalten erſcheint in polytheiſtiſcher Weife und dem Verhalten, welches das 
monotheiftifche Gottesbewußtfein nur teilweiſe in einzelnen Momenten pflegt, 
im übrigen aber fid in die Welt verfenft. Im erſten wie im zmeiten Falle 
kommt Gott nur auf Momente, nicht ftetig zum Bewußtſein. 

2%) A. a. O. in der zweiten Vorleſung. 

3) „Die Anlage des Menfchen zur Religion“, vgl. die Anzeige von Klei- 
nert in dieſer Zeitfchr. 1879, ©. 549 ff. 





Über das Weſen der Religion. 33 


wiefen worden, während die Thatſache, daß alle wilden Bölfer, 
nachdem fie einmal zur Ahnung des Göttlichen fich erhoben, 
Tpäter die Gegenwart desſelben auch in rein zufälligen Objekten 
zu finden meinten, überfehen ift.“ Nach BPfleiderer a. a. O. 
©. 319 „gehören die Fetifche in die Klaſſe der fatramentafen 
Kultusobjelte“. 

Die empiriſche Geſtalt der Religion alſo beſtätigt unſere Ans 
nahme, daß das abſolute Abhängigkeitsbewußtſein für die Religion 
fundamental ift, und wo basfelbe gar nicht vorhanden iſt, iſt 
auch feine Religion, wo es unvollkommen fich zeigt, ift auch die 
Religion unvollfommen. Denn in ber Religion muß das Grund» 
verhältnis Gottes und des Menfchen zum Bewußtſein kommen. 

Damit ift freilich nicht gefagt, daß die Religion nicht auch 
noch anderen Inhalt haben könne. Im Gegenteil ift dieſes Grund» 
verhältnis fo umfaffend, daß, ſobald es richtig begriffen ift, alle 
Mobifitationen des religiöfen Verhältniſſes fi als nähere Bes 
ftimmungen desfelben auffaffen laſſen. Ja man kann fagen, bag 
eine Religion, welche bei dem bloßen abjofuten Abhängigfeitsbes 
wußtfein ftehen bliebe, Höchft unvolltommen wäre. Vollkommene 
Religion ift nur da, wo das abfolute Abhängigkeitsbemußtfein kon⸗ 
Tret beftimmt ift. So ſehr man daran feftzuhalten hat, daß das 
abfolute Abhängigfeitsbemußtfein das Fundament des religiöfen 
Verhältnifjes bildet, fo wenig Tann man dasfelbe für ſich ſchon 
als vollfommene Religion anfehen, wenn es nicht konkret bes 
ftimmt ift. 

Wir Haben hiernach noch zwei Aufgaben: einmal bedarf das 
abfolute Abhängigkeitsbewußtfein bei feiner fundamentalen Be— 
deutung felbft noch einer genaueren Analyfe. Sodann aber müffen 
wir die konkreten Beftimmungen desſelben betrachten. 


a) Analyfe des abfoluten Abhängigkeitsbewußtfeins. 


Auf den erften Blick ſcheint der Begriff des abfoluten Ab- 
hangigkeitsbewußtſeins einen Widerſpruch zu enthalten‘). Denn 


1) Bol. Hierzu die Ausführungen in meiner Abhandlung Jahrbücher 


24 Oorner 


um meine Abhängigkeit zu wiſſen, muß ih wiſſen; um zu wiſſen, 
muß ih in Aftion fein; wenn ich aktiv bin, bin ich aber jeden⸗ 
falls, ſcheint «8, nicht ſchlechthin abhängig. Wenn ich mich alfo 
ſchlechthin abhängig wiſſen fol, fo fol ich mich zugleich wiffen, 
bin aber im Wiffen aftio, ſoll mich alfo auch aftiv wiſſen und 
doch zugleich ſchlechthin abhängig, d. 5. paſſiv wiffen. Um diefer 
Schwierigfeit zu entgehen, Könnte man an Stelle des abfoluten 
Abhängigkeitsbemußtfeins die Einheit mit dem Abfoluten fegen 
wollen. Allein es kommt nicht nur auf die Einheit an, fondern 
darauf, daß im Bewußtſein der Einheit mit Gott auch das Selbft- 
bemwußtfein erhaften bleibt, daß zugleich der Unterfhied von Gott 
ſich im Bewußtfein erhält. Betrachtet man das Verhältnis Gottes 
und des Menſchen objektiv, fo ift jehr wohl denkbar, daß Gott 
Wefen Taufiere, die felbft wieder kauſieren können, auf Grund 
ihres Kauſiertſeins. Inbezug auf das unmittelbare Bewußtſein 
aber wird man annehmen müffen, daß es ſich hier nicht etwa bloß 
um eine Schranke des Denkens handelt, fondern daß der Menſch 
mit feinem ganzen Bewußtſein, fofern er feiner eigenen Einheit 
und Realität inne wird, alfo da, wo er vollfommen als Totalität 
in fi ift, die abfolute Schranfe fühlt, welche ihm entgegentritt. 
Das Ich empfängt den Eindrud, dag es in Beziehung auf fein 
Sein überhaupt ſchlechthin beſchränkt ſei und dag alle Aktionen, 
die es ausübt, diefe Schranke nicht befeitigen Lönnen, vielmehr nur 


f. deutſche Theologie, Bd. XV, ©. 247—251. Wenn ich den Ausdrud 
mabfolutes Abhängigfeitsbeuußtfein“ brauche, fo ift damit midht bloß ein 
einfeitiges Wiffen gemeint, fonbern das unmittelbare Bewußtfein ber 
Perſon ſelbſt; das Ich in feiner Totalität fühlt ſich abhängig, es ſtellt fih 
nicht bloß fo vor; fondern das Mbhängigfeitsbewußtiein if zugleich das Ger 
FÜHL dev Abhängigkeit der ganzen Perfon in ihrer Totalität, alfo auch in ihrer 
vollen Realität. Der Sit dieſes ſchlechthinnigen Abhängigkeitsbewußtſeins ift 
das Gemüt; denn im Gemüt ift der Menſch im feiner Totalität, im feinem 
Zentrum. Wenn ih ſtau „Möhängigkeitsgefühl“ „Abhängigkeitsberoußtjein“ 
fage, fo it das alfo keineswegs einfeitig intellektualiftifch gemeint, fondern es 
ift das unmittelbare Innewerden bes ganzen Selbft oder Ich als feiner Eriftenz 
nad) ſchlechthin abhängigen gemeint. Der Ausdrud „Gerüst“ ift nach anderer 
Seite Hin mißverftändlic, als ob es dabei primo loco auf Zuft und Unfuft 
anfäne. 





Über das Weſen der Religion. 2 


unter der VBorausfegung diefer Schranke gefchehen. Auf der 
anderen Seite aber vermag doch das Subjekt auch biefer Schranke 
gegenüber fi zu behaupten; ſchon in dem Innewerden der Schrante 
Tiegt, daß es eine Reaktionskraft befist, ohne bie e8 den Eindrud 
der Schranke gar nicht zum Bewußtfein bringen könnte; es muß 
fi fhon der Schranke gegenüber behaupten, um überhaupt von fich 
zu wiſſen. Die abfolnte Abhängigkeit Tann alſo nur feftgehalten 
werden, wenn das Subjekt auch diefe Fähigfeit der Selbftbehauptung, 
wie feine Aftionsfähigfeit überhanpt wieder in Gott begründet weiß, 
aber fo, daß diefelbe nicht aufgehoben, fondern beftätigt wird. Das 
heißt nichts anderes als, daß Gott nicht als bloß negative Schranke, 
als das Unendliche, das alles Endliche aufhebt und vernichtet, nicht 
als „schlechte Unendlichkeit“, fondern als eine zugleich pofitiv 
wirkende, das Endliche anerfennende Schrante empfunden wird, 
als die abfolute Macht, welche jedem feine Schrante fegt und 
jeden in feiner von ihr befehränften Exiſtenz erhält. Es ift kein 
Widerſpruch, fi abfolut abhängig zu wiffen, wenn bie relative 
Freiheit in die Abhängigkeit mit aufgenommen wird. Diefer Sad. 
verhalt fpricht Fih nun im unmittelbaren Bewußtſein vollfommen 
aus, ohne daß die einzelnen Momente auseinandergelegt wären. 
Kurz, die ſchlechthinnige Urfächlichkeit muß für alles die ſchlecht - 
hinnige Schranke fein und muß als folde empfunden werben; 
aber fie ift zugleich Hervorbringende Kraft. Alles, was fie her⸗ 
vorbringt, verdankt nur ihr fein Dafein: aber es kann fo her⸗ 
vorgebracht fein, daß es felbft Faufieren kann. Seine Schranke 
aber ift eben darin begründet, daß es nur kaufieren Tann, weil 
Gott es in feiner Eriftenz, in feiner Fähigkeit zu kaufieren 
erhält. Dem entſprechend weiß nun auch das Subjekt fich feiner 
Eriftenz nad mit all feinen Fähigkeiten ſchlechthin von Gott ab» 
hängig, aber fo, daß ihm gerade Hierdurch der Gebrauch feiner 
Fähigkeiten, feine relative Aktivität umd freiheit garantiert iſt. 
Übrigens ift auch durdaus natürlich, daß, obgleich das Sub⸗ 
jett in feiner Totalität unmittelbar diefe Abhängigkeit inne wird, 
es doch biefelbe nicht Mar erfafien Tann, bevor der Gegenfag von 
Welt⸗ und Selbſtbewußtſein hervorgetreten ift, da, bevor dies ger 
ſchieht, die relative Abhängigkeit von der Welt von der fhlecht- 


26 Dorner 


hinnigen Abhängigfeit nicht Tann unterfchieden werden. Hingegen 
ft es für das Auftauchen des fchlechthinnigen Abhängigkeitsbe- 
mußtfeins nicht nötig, daß der Menfch ſchon die ganze Welt als 
Einheit auffaffe, um ſich mit dem zum umfaffenden Weltbewußt⸗ 
fein erweiterten Selbftbewußtfein fchlechthin abhängig zu wiffen. 
Vielmehr Tann aud in einem konkreten Falle, wo in konkreter 
Weife da8 Selbft- und Weltbewußtſein auseinandertritt, die Em- 
pfänglichkeit der Vernunft für das Innewerden der abfolnten Raus 
falität Hervortreten. Denn das ift die Art, wie wir uns ent 
wickeln, daß die allgemeinen Wahrheiten nicht fofort in ihrer vollen 
Allgemeinheit und in ihrer ganzen Tragweite uns zum Bewußtfein 
kommen, fondern das Allgemeine zunächft in einem konkreten Falle 
ſich offenbart. 

Wenn die Duplicität von Welte und Selbſtbewußtſein zu einer 
Einheit zurückgeführt werden foll, Tann es entweder nur in ber 
Form gefchehen, daß das Selbſtbewußtſein und die mit ihm ver- 
bundene Freiheit das Weltbewußtfein und die mit ihm verbundene 
Abhängigkeit aufgeht — allein das führt zu dem reinen Anthropolo⸗ 
gismus, jelbft bis zum Solipfiemus —; oder daß das Weltbewußt⸗ 
fein das Selbſtbewußtſein verfchlingt — das gefchieht in panko⸗ 

miſtiſchen Formen des Pantheismus; da ift der Menſch nur 
Durhgangspunft des Weltprogeffes, eine vorübergehende Erſcheinung 
der allgemeinen Natur u. ſ. w. Da auch dies nicht haltbar ift, fo 
bleibt nur die Vereinigung, welche in dem abfoluten Abhängigteite- 
bemußtfein gegeben ift, übrig, welches die Welt und das Ich 
gleihmägig Gott unterordnet und eben damit auch die Möglich. 
keit einer Harmonie des Ich mit der Welt in Ausſicht ſtellt, da 
beide aus einer Iegten Quelle ftammen, ohne daß das Ich oder 
die Welt, die dem Ich gegenüber fteht, negiert werden müßte. 
Das abfolute Abhängigfeitsbewußtfein, weit entfernt in ſich wider⸗ 
ſpruchsvoll zu fein, führt das Bewußtſein zur vollen Einheit und 
Harmonie. 

Das wird ſich befonders Mar erweifen, wenn wir noch die 
fonkeeten Beftimmungen des abfolnten Abhängigfeitsbewußtfeins, 
ober objektiv ausgedrüct bie fonkret beftimmte göttliche Kaufalität 
etwas genauer betrachten. 


Über das Weſen der Religion. 37 


b) Rontrete Beftimmungen des abfoluten Abhängig- 
keitsbewußtſeins. 


Wenn das abſolute Abhängigkeitsbewußtſein die Abhängigkeit 
des Menſchen in all feinen Grundfunftionen von Gott umfaßt, wenn 
objektiv ausgedrückt, Gott der Urheber all diefer Funktionen ift, 
fo werden die Beftimmungen des abfoluten Abhängigkeitsbemußt- 
feins weentlich diefen Funktionen entfprechen. Als dieſe Grund⸗ 
funktionen find aber die des Erfennens, des Wollens, der Phan⸗ 
tafie und des Gefügls anzufehen. Gott wird dem entfpredhend 
als Urheber des Wiffens, des Sittlihen, und ber die Phantafie 
und das Gefühl befriedigenden Harmonie angefehen werden, das 
abſolute Abhängigfeitsbewußtfein wird inteffeftuell, ethiſch, äſthetiſch 
beftimmt fein ?) 


a) Die konkrete Beftimmtheit des abſoluten Abhängigfeits- 
bemußtfeins burd das Wiffen. 

Gehen wir von der anfänglichen Entwicelung des Menfchen 
aus, fo kann der Umftand, daß Hier der Menfh in einem Zur 
ftande unbefangenen Strebens nah Eudämonie ſich befindet %), 
doc nicht den Schluß geftatten, daß er hier überall auf feine Eu- 
dämonie allein bedacht fei. Sol man ben Menſchen auch auf 
diefem Standpunkte als Menſchen denken, fo beginnt doch bei ihm 
die Unterſcheidung zwifchen Welt» und Selbftbewußtfein, und zwar 
zeigt fich dieſe Unterfcheidung ſchon in der finnlichften Borm ale 
Unterfceidung von Wahrnehmung und Empfindung. Nur wenn 
ein Objeft objektiv wahrgenommen wird und davon der Eins 
drud, den dasfelbe auf das Wohl oder Wehe des Subjefts macht, 
unterſchieden wird, ift ein menſchliches Bewußtſein vorhanden. 


1) Wenn wir hier von ber fubjeftiven Seite, den Funktionen des Subjeftes, 
ausgehen, fo ift doch nicht die Meinung, daß eine diefer Funktionen ohne Be- 
siehung zur Außenwelt, zur Natur, zu ben Menſchen und ihrer Gemeinfchaft 
aktiv wird. Wir gehen bier von der fubjetiven Seite aus, weil es ſich um 
das Abhängigkeitsberwußtfein des Subjektes zunächft Handelt. 

2) Wie Chalybäus ausführt: „Syſtem der ſpekulativen Ethik“, Bd. I, 
Bud 8, Tl. J. 


28 Dorner 


Nicht anders aber verhält es ſich mit der Neaftion gegen die 
äußeren Eindrüde. Sie findet nicht bloß ftatt durch die Aktion 
nad) außen, welche aus der Empfindung hervorgeht und zunädhft 
dem Wohl oder Wehe dient; fondern fie findet nicht minder ftatt 
in der objeftivierenden Phantafie, welche Vorftellungen bildet und 
verbindet. Diefes Sihraufbauen einer eigenen Welt in der (wenn 
auch zunächft fubjektiv, individuell und finufich) projizierenden Bhan- 
tafie, welche ſich übrigens an bie Objekte der Wahrnehmung Hält, hat 
zunäcft nichts mit dem Wohl und Wehe zu thun, ſondern ift die 
Befriedigung des erwachenden Erkenntnistriebes. Von Vorftellungen 
und deren Syntheſe wird er zu Begriffsbilbungen fortfchreiten, und 
indem ber Menfch fi fo immer im Zufammenhang mit der 
Außenwelt, die er wahrnimmt, feine eigene innere Welt aufbaut, 
bethätigt er feine Selbftthätigfeit gerade fo gut, als indem er durch 
die Empfindung veranlaßt zunächft durch Aktion nach außen feinen 
empfundenen Bebürfniffen Befriedigung zu verfchaffen ſucht. Es 
till mir num durchaus nicht feinen, dag man jene erfennende 
Funlktion einfach der praftifchen unterorbnen Kann. Im Gegenteil 
erweift fi eben mit dadurch der Menfch auch in den Anfängen 
feiner Entwidelung als Menſch, daß er nicht alles feiner Eubä- 
monie unterorbnet, daß er vielmehr, wie er Wahrnehmung und 
Empfindung anfangs unterfcheidet, fo fpäter auch einen auf bie 
objektive Wahrheit gerichteten Sinn hat. Schon in jener Thätig ⸗ 
feit der Phantafte zeigt fih die Gabe, das Mannigfaltige zu Ein- 
heiten zu verknüpfen, zeigt fich der das Viele umfafjende, univer- 
felle Charakter des Erkennens. Mag immerhin die Erkenntnis im 
Intereſſe der Eudämonie verwendet werben, ihre Bedeutung geht auch 
im Anfang darin nicht auf. Wenn nun die Religion im Menfchen 
entfteht, jo wird fie keineswegs bloß dem Bewußtſein des Wehes, das 
ihm vonfeiten der Natur angethan wird, ihr Dafein verdanken; — die 
Religion ift nicht bloß aus Furt entftanden, was Pfleiderer mit 
Recht beftreitet, — aber auch nicht nur dem Bewußtfein des Wohle, 
da8 3. B. der Menſch von der Sonne empfindet und das ihn 
nun einen Wohlthäter Hinter diefer Erſcheinung ahnen läßt, übers 
Haupt nicht bloß dem von der Natur erregten Lufte und Unluftges 
fühl, das wohl Anlaß, aber nicht letzter Grund des religiöfen Ber 





Über das Wein der Religion. 2 


wußtfeins fein kann, fondern in ihr ift zugleich der Rückgang 
auf eine objektive Einheit, welche zwifchen dem Weltbewußtſein und 
Selbftbewußtfein die Harmonie Herftellen fann. Und diefer Drang 
nach einer letzten abfchliegenden Einheit ift keineswegs blog durch dem 
praftifchen Gegenfag von Freiheit und Abhängigkeit hervorgerufen. 
Sondern «8 ift auch das Bebürfnis der alles in einer Einheit zu⸗ 
ſammenfaſſenden theoretiſchen Vernunft, das über die Gegenfähe 
hinansführt, und in dem abfoluten Abhängigkeitsbewußtfein feine 
Befriedigung ſucht. Auch das Erkenntnisbedärfnis wird in dem 
abfoluten Abhängigfeitsbemußtfein befriedigt, in dem alles auf eine 
einheitliche legte Urfache zurüdgeführt wird; mag immerhin an- 
fangs das praktische und theoretifche Intereſſe nicht rein ausein⸗ 
andergehalten werden, das hindert nicht, daß boch beide vorhanden 
find und an gewifien Punkten fich auch geltend machen, wie auch 
die Erfahrung beftätigt. Der Weg zum Monotheismus, wie ihn 
die Griechen und die alten Juder ) durchlaufen haben, weiſt keines. 
wege bloß auf die praftiiche Seite der Cudämonie als Motiv hin; 
es ift vielmehr zugleich das Bedürfnis des Erkennens, des Findens 
einer legten Einheit hier wirlſam und das fo fehr, daß man viel- 
fa tadelt, daß bei den Griechen die Erkenntnis einfeitig hervor- 
trete. Aber auch ſchon die Mythologie giebt teilweiſe die deut⸗ 
lichſten Beweife, daß es ſich in ihr micht überall um eine unmittel« 
bare Beziehung auf das Praftifce handelt. Die Naturprozeffe 
werden verfinnbildlicht, ohne dag man die Abficht erfennen könnte, 
durch ſolche Dichtungen irgendwie dem Wohl oder Wehe der Men- 
ſchen zu nügen. Die Theogonieen und Kosmogonieen der My- 
thologie, wie der Schöpfungsbegriff des Alten Teftamentes, weiſen 
nit auf ein direltes Intereſſe am Wohl und Wehe Hin; es 
zeigt ſich in ihnen jedenfalls auch das objektive Intereſſe, die 
Welt in ihrem Urfprung zu verftchen. Es ift ein Moment des 
Erlennens ebenfo in der Religion enthalten, wie ein praftifches. 
Der Fromme glaubt, daß die Gottheit fo fei, wie er fie ſich 
vorftefit, daß wahr fei, was ihm von derfelben verkündet werde, 





2) Bol. Zeller, Vorträge und Abhandlungen: Die Entwidelung des 
Monoihersimns bei den Griechen, S. 9—29, und Mar Mäller a. a. ©. 





30 Dorner 


Mon kann ja nun freilich diefe Erſcheinung fo zu erflären ver 
fügen, daß der Menſch, um vom der Gottheit irgendwelde 
Hilfe für feine Eudämonie oder auf höherer Stufe für fein mora- 
liſches Handeln erwarten zu Können, fie auch als objektiv vorftellen 
müffe. Allein alles würde fofort fih in Stepfis auflöfen, wenn 
die unabhängige Erkenntnis einfähe, dag das nur eine aus bem 
eubämonifcen oder moralifchen JIntereſſe Hervorgehende Bor« 
ftellung fei, mas er als objektiv anſieht. Ich ftelle natürlich 
nicht in Abrede, daß diefe Erflärung im einzelnen oft genug zu 
trifft; was ich bezweifle, ift nur, daß das allgemeine Streben ber 
Religion nach Wahrheit auf dem praktischen Wege genügend zu er 
Mären fei. Überall in den höheren Religionen finden wir den Trieb 
der Erkenntnis felbftändig ausgebildet und das Anſchauen Gottes, das 
Verftehen der religiöfen Offenbarung ift für ſich felbft Gegenftand 
von lebhaften Intereſſe. Auch derjenige, welcher meint, daß der 
Erfenntnistrieb nicht felbftändig, fondern nur in untergeordneter 
Form hier zur Geltung komme, daß er bier ſtets mit dem praf- 
tiſchen Intereſſe vermifcht, daß ein mirfliches objeftives Erkennen, 
da8 ohne damit verbundene Nebenabfiht rein um fein felbft ge 
trieben werde, in der Religion nicht zu finden fei, wird keinen 
falls Tengnen können, daß fich in der Religion Ausfagen über Gott 
finden, die mit dem Anfprucd wahr zw fein verfündet werden, und 
daß ebenfo der Erfenntnistrieh für fich die Tendenz Hat, ſich zu 
einer unbedingten legten Einheit zu erheben. Mag es nun immer- 
hin Entwidelungsftadien geben, wo die Erfenntnis ſich der Religion 
gegenüber relativ felbftändig entfaltet. Es bleibt doch die Frage, 
ob nicht der Rückgang auf die letzte unbebingte Einheit, auch wie 
ihn da8 Erfennen mittelft der von der Vernunft entwickelten Gotteö- 
idee vollzieht, ſchließlich auf einer That Gottes im Inneren, auf 
einer Gotteserfahrung ruht, ob nicht die in der Vernunft vor: 
handene Idee des Unbedingten auf eine göttliche Offenbarung im 
Inneren zurüdweift. Wenn man diefe Trage bejahen muß, fo 
giebt es eben im Erkennen einen Punkt, wo dasfelbe urſprünglich 
mit der Religion Loincidiert, und man kann dann jagen, daß die 
transcendente Seite des Erkennens in dem refigiöfen Bewußtſein 
urſprunglich feine Befriedigung finde, daß in dem religiöfen Ber 





Über das Weſen der Religion. 31 


wußtſein aud ein prinzipielles Erkennen der letzten Einheit 
gegeben fei, das niemals durch den Erkenntnisprogeß, der fpäterhin 
folgt, überflüfftg gemacht werben kann, weil es auf einer mit» 
teilenden That Gottes ruht. Aber jene obige Frage müflen wir 
bejahen. Die Vernunft verhält ſich zuerft empfanglich; denn fie 
tann die dee des Unbebingten nicht urfprünglich, fondern nur 
fefundär produzieren, wenn Gott ſich als unbedingten im Bes 
wußtſein geoffenbart Hat. Die abjolute Kanfalität, welche der 
letzte eingeitliche Duell von allem ift, wenn .fie gedacht wird, 
fann nur auf Grund des unmittelbaren Innewerdens durch eine 
That des Abſoluten felbft gedacht werden. Das ift im Begriff 
des Unbebingten felbft enthalten, daß es aud der letzte Urheber 
feines Begriffs im Menfchen ift. Diefes unmittelbare Innewerden 
aber ift religiös. Der Erkenntnistrieb wird alfo in feinem Drang 
nach Einheit urfprünglich religibs befriedigt werden, weil nur 
durch Ruckgang auf die letzte Einheit, aus ber alles hervor⸗ 
geht, demfelben genügt werden kann. Man müßte wieder dahin 
Tommen — was wir als unhaltbar erfannt haben —, daß das 
religtöfe Erkennen gar feinen objektiven Charakter Habe, daß es 
nur ein Erkennen fei, das den praftifchen Intereſſen des Sub⸗ 
jetts dient, wenn man leugnen wollte, daß auch der Erkenntnis⸗ 
trieb in der bezeichneten Hinficht urſprunglich religids befriedigt 
werbe. 

Bir Tönnen aber eben Hier noch einen Schritt weiter ' gehen. 
Wenn nur durch das ſchlechthinnige Abhängigkeitsbemußtjein der Drang 
des Erlenntuistriebes nach Einheit befriedigt werden kann, weiß auch 
der Menfch feinen Erfenntnistrieb ſelbſt als von Gott ftammend. 
Inſofern num Gott Urheber bdesfelben ift, der die Einheit von 
Denken und Sein, von Subjett und Objelt vorausfegt, muß in 
Gott diefe letzte Einheit gegeben fein, durch die allein Wiffen mog ⸗ 
lich ift. Gott muß alfo in dem Abhängigleitsbewußtfein als bie 
Quelle alles Wiffens gewußt werden. Die göttliche Kaufalität 
objektiv ausgedritdt, wird als Subjeft-Objett, als Urwiſſen aufs 
gefaßt, von dem alles Wiffen ftammt. Der alles Schauende ift 
Gott, der Allwiſſende, von dem alle Wahrheit und Erkenntnis 
kommt, die Quelle der Weisheit, das urviſſen. 

feel. Stad. Jahrs. 1888. 1s 


a B Dorner 


Eben Hierdurch tft nun aber zugleich das abfoluie Abhängig. 
keitsgefuhl nach einer Seite Hin näher beftimmt. 

Aber dadurch iſt nicht ansgefchloffen, daß aud die praktifchen 
Intereſſen in dem refigiöfen Bewußtfein zum Abſchlug kommen. 
Denu es iſt ſchlechterdings nicht einzufehen, warum von vornherein 
nicht theoretiſche und praktiſche Intereſſen ſollen vereinbar fein. 
An fich iſt doch beides nicht notwendig widerſprechend. Es ift 
vielmehr möglich, daß in dem abſeluten Abhängigteitäbewußtfein 
beides Hoineibiert. Das theoretifche Bebkrfuts nach Harmonie 
des Welt- und Gelbftbewwußtfeins, nach einer Die Erkenntnis ab- 
ſchließenden Einheit, wie des praktiſche Bebrfnis der Harmonie 
von relativer Freiheit und Abhängigkeit. 


P) Die konkrete Bekimmtheit des abſoluten Abhängigkeits- 
bewußtfeins durch das Sittliche. 

Gehen wir auch Hier von dem anfänglichen Zuftande aus, fo 
wird Hier, wo es fich um Praltiſches handelt, allerdings bie Reli⸗ 
gen, wenn fie hervortritt, zumädft mit ber Gubämonie in Ver⸗ 
bindung treten. Allein es will mir nicht ſcheinen, als ob man 
diefe Verbindung fo auffaffen Kännte, Laß der Menſch die Götter 
ober die Gottheit aus feinem Bewußtſein Heraus profiziere, meil 
er die Natur nicht beherrſchen kann, menjenähnliche Weſen als 
Herrſcher der Natur vorſtelle, um fie durch Gebete zu bexeben, 
duch Gaben gaudig zu ftinamen, damit fie ihm als Herrſcher 
über Beftimmte Naturgebiete feine Wunſche erfüllen. Denn abge 
fügen von dem Fetiſchismus und. Gchamanentum, bie doch ver⸗ 
tommene Geftalten im religibſen Leben find, findet ſich ber Haube 
nicht, daß. der Menſch die Gottheit, die einer Raturiphäre vor 
fteht, in feiner Gewalt Habe, alfo mittelft ihrer wirklich feine 
Zee figer erreichen könne, was dach der Ball fein müßt, 
wenn der Menſch die Gottheit zu diefem Zwecke profigierte. Daß 
allerdiugs der Menſch die Gettheit ale Mittel fir ſeive eudamo ⸗ 
alien Wanſſche verwenden möchte, iſt eine nicht zu Tengmende 
MWatſache, die aber in der That fich volllommen erklärt, wenn 
man dns Berwußtfein ber ſchlechchinnigen Abhängigkeit von der 
Gottheit vorausfegt. Dean dann ift €& wohl Degneiflich, daß her 








Über das Welen der Religion. 2 


Menſch die über hn Herrfchende Gottheit gnäbig zw ſtimmen ſucht, 
um feing eudämoniſchen Zwecke durch ihre allmächtige Gunſt au 
erreichen; daun allein iſt aber auch begreiflich, daß der Menſch 
derartige Verſuche macht, ohne deßzhalb zu glauben, über die Gottheit 
wirtlich Gewalt zu Haben, worin ihn die Erfahrung auch nur in 
geringem Maße beftärken könnte. Man denke z. B. an das Sciejet 
bei den Griechen und den damit zufammenhängenden Begriff der 
Üßess: dag find gewiß feine im Intereſſe der Eudämonie erfundene 
Vorftellungen. Auf dem endämopifchen Stanbpupfte befigt der Menſch 
nqch nicht genug Euergie, um gegenüber der Natur ſelbſtändig 
zu handeln. Go lange er guf ber Stufe ber naturlichen Eubir 
monie ſieht, befinhet er ſich in großer Abhängigkeit von den Ob⸗ 
jelten, die er genießen will. So lange er nur unbefangen der 
Cubämguig lebt, ift bie Fhpffrgft gering. Daher die eubimonifche 
Stufe das Erwachen des abfoluten Abhängigkeitsbewußitfeins in der 
Form des Ergehung brgünftigt. Fijr den eubämonifc—hen Trieb bleiht, 
wo dag Handeln, das etwa gemagt wird, nichts erreicht, mur die Fr⸗ 
gebung übrig. Denn bie Verſuche, durch allerhand eulfifche Hand- 
hungen dje Gottheit gnäbig zu ftimmen, mm fo beu gewünſchten 
Erfolg zu erlangen, find an fi ſchon weit weniger Thaten der 
Treigeit gls Bepeiſe der Anerkenuung der Abhängigfeit ynb 
fordern, da fie die Sicherheit des Erfolges nie verbiirgen kbnnen, 
im Bringp Ergebung in die göttliche Fugung. Und hierin iſt 
allerdings auf der eudämoniſchen Stufe ber letzte —— ge⸗ 
gehen, indem das enbämonijche Streben des Subjektg fi in dem 
Bewußtſein abfoluter Ahhängigkeit mit dem Wiherftand, den es 
ponfeiten der Natur findet, ausſöhnt. weil er auf bie hochſte Macht 
aunhdgefübrt ift, was natürlich auch innerhalb polgtheiftijcher Porr 
ftelfyngen geſchehen kann, da man fich in den Wiffen, des Äber- 
uaähtigen Gnttes fügt, auf drffen Hilfe may pffe. 

Allein per eudamoniſche Gtanbpunft " ar im Anfang der 
Entwickelung berechtigt. Denn wenn man aud mit Chalybäus 
diefen als die erfte Stufe menſchlicher Entwidelung au betrachten 
Hat, fo wird doch auf derjelben der Menſch nicht verharren können. 
Kant Hat ſchon darauf Hingewiefen, daß bie Triebe (melde durch das 
Verhältnis zur Natur In Aftion geſetzt werden .und zu einander in 

18* 


264 J Dorner 


Gegenfag treten) die praftifche Vernunft zur Aktion veranlaffen. 
Sowohl das Auseinandertreten der menſchlichen Triebe und Ber- 
mögen als and) das Auseinandertreten von Welt- und Selbftbe- 
twußtfein ſowie von Handelndem und leidendem Ich gegenüber der 
Natur fest die Vernunft als die einigende Kraft in Thätigkeit. 
Nicht fofort im allgemeinen, aber in einzelnen Fällen macht die 
Vernunft ihre Forderung geltend. Es ift die praftifche Vernunft 
des individuellen Subjeftes, welche inbezug auf Einzelnes ihre Ent- 
ſchluſſe ausübt, die aber doch an ſich ſchon das allgemeine Gefeg in 
fich enthalten, bis durch Längere Thätigkeit hindurch endlich die Vernunft 
aud das allgemeine Geſetz für ſich als foldhes in das Bewußtſein 
erhebt *). Iſt aber das Geſetz in das Bewußtſein getreten, fo ift 
damit auch ein Wiſſen von der unbebingten Forderung, dem unbe» 
dingten Soll (gegeben. Es giebt dann ein fittlihes Ideal, das 
zwar keineswegs nad allen Seiten Hin vollkommen ausgebildet zu 
fein braucht, das aber fo befchaffen ift, daß jeder wenigftene weiß, 
was feine momentane Pflicht fei, und daß mit der Erfüllung der» 
ſelben das unbedingt Sein-follende gefchehe. Daß diefem Soll die 
Eubämonie untergeordnet werden muß, daß das Soll, da8 Geſetz 
darüber beftimmen müſſe, was in jedem Moment gefchehen fol, 
verfteht fi vom felbft. Es ift ganz vergeblih, das Bewußtſein 
des unbedingt Wertvollen aus der eudämonifchen Seite abzu⸗ 
leiten, die am fich nichts Unbedingtes Hat. Die fittlichen Giiter, 
welche hervorgebracht werben, find keineswegs bloß deshalb fittliche 
Güter, weil fie Luft bringen, fondern weil fie vernünftig find, und 
das zeigt fi daran, daB man bei dem Genuß derfelben nicht 
ftehen bleiben Tann, daß vielmehr jedes Gut wieder im fittlichen 
Prozeß zu verwenden iſt. Das fittliche Produzieren zum Mittel 
für die Eudämonie zu machen, die doch immer endlicher Art ift, 
da immer noch eine höhere Stufe der Luft denkbar ift, hieße das⸗ 
felbe feines unbedingten Charakters entlleiden, der eben in der 
inneren unbedingten Notwendigkeit und Vernünftigfeit des Guten 
liegt und fi durch das mit der Erfüllung der Pflicht unmittelbar 


1) Diefen Gedanken hat H. Ritter befonders in feinen Paradora aus- 
geführt. 





Über das Weſen ber Religion. 5 


verbundene Höhere Luſtgefühl als unbedingt wertvoll erweift, das 
qualitativ eigentümfich ift und das eben nicht entfteht, wenn man 
die Luft zum legten Zweck macht, fondern nur wenn man das 
fittlich Vernünftige thut. Wenn hiernach alfo, fobald der fittliche 
Standpunkt voll erreicht ift, die Unterordnung der Eudämonie 
unter das Sittliche gefordert werben muß, fo kann auch die Reli» 
gion vollends nicht für fi der Befriedigung des eudämoniſchen 
Triebes dienen, da ſie fonft der fittlichen Aufgabe, welche bie 
Unterordnung des Eubämonifchen unter das Sittliche fordert, ent⸗ 
gegemarbeitete. 

Iſt nun aber wirklich im Sittlichen ein unbebingt Wertvolles, 
fo bleibt nur möglich, entweder auf die abfolnte Autonomie zur 
rüczugehen ober das Bewußſein bes unbebingt Wertvollen auf 
Gott zurüdzuführen (Theonomie). Die abfolute Autonomie läßt 
fi aber im der That nicht Halten, die Vernunft felbft ift nicht 
unbedingt in jeder Hinfiht. Der Urheber der Annahme der Un- 
bedingtheit ber praftifchen Vernunft hat fie thatfächlich durch feinen 
moraliſchen Gottesbeweis fallen lafjen !). Wenn man dabei ftehen 
bleiben könnte, daß das Sittliche in der praltiſchen Vernunft für 
fich feine volle Eriftenz Hätte, fo würbe man auch einen Ruckgang 
auf Gott nicht nötig haben. Allein das Sittliche kann nicht bloß 
in ber Gefinnung fein; es foll zugleich realifiert werden. Eben 
das ift feine Forderung. Ein Sittliches, das nicht vermittelft der 
Natur realiſiert wird, ift fein wirkliches Sittliche. So ift zwar 
die Forderung unbedingt. Aber die Erfüllung fegt ein Beftimmt- 
fein der Natur für dem fittlichen Geiſt voraus. Die moraliſchen 
Beweife für das Dafein Gottes, welche von der faltiſchen Dis⸗ 
harmonie zwiſchen ſittlichem Soll und Sein auf eine das Soll 
zum Sein führende göttliche Kaufalität ſowohl inbezug auf bie 
eigene fittliche Kraft des Handelns als inbezug auf bie Überwindung 
der äußeren Widerftände ſchließen, wollen wir nicht näher bes 
leuchten. Der Beweis ferner, welder von Kant geführt wird, 
daß die änfere Eubämonie dem fittlichen Verhalten entſprechen 
müfje, würde mit dem Gedanken zu verbinden fein, daß das 


4) Bol. meine Schrift über die Primgipien ber Kautſchen Ethik, &. 102. 


5% Borker 


Natürliche williges Organ des Sittlichen fer milffe; dem ſobalb 
die Natur von der fittlichen Vernunft volffommen durchdrungen 
wird, ergiebt fich die damit zufammenhängende natürliche Eudämonie 
ganz von felbft und braudjt gar nicht erft beſonders poftuliert zu 
werben. Jedenfalls aber wird man anerfennen müffen, ba, wenn 
das Sittlihe wirklich unbedingten Wert hat, dasfelbe in dem Un⸗ 
bedingten letztlich gegründet fein muß, da der Menſch nicht gegen- 
über der Natur ſich zu ſchlechthinniger Freiheit erheben katin 1), 
vielmehr ein Geordnetſein der Natur für das Sittliche vorausſezen 
muß. So führt gerade das Sittliche auf Gott zurüd. Der 
moraliſche Beweis kann alfo nur fo aufgefaßt werden, daß die 
Erſcheinung des Moralifhen als Thatfache, phänometidlogiſch als 
causa cognoscendi auf Gott zuruckweiſt, während dasſelbe in 
Gott begründet fein muß. Der Menſch ift hiernach erft durch 
göttliche Thätigkeit ein fittliches Wefen, fofern die Möglichkeit, 
fittlich zu fein, von Gott ſtammt, das Sittliche Hat in ihm fein 
letztes abfolutes Fundament. 

"Das Sittiche laßt ſich ferner gar nicht als unbedingt Wert⸗ 
volles fefthalten, werm es immer nur Forderung bleibt. Dem 
ein Sittliches, das ſtets Forderung bleibt, ift ein Widerſpruch in 
fih. Nur wenn dasſelbe in Gott ſchon ein boilendetes Sein Hat, 
kann es in der Welt als Aufgabe in feinem unbebingten Charakter 
feftgehalten werden. So werben wir alſo annehmen, daß and) das 
Sittliche auf die letzte Duelle, auf Gott als Urheber zuruckzu⸗ 
fügen fei. 

Allein wein auch der unbedingte Charakter des Silllichen for- 
bert, daß es von Gott felbft ftamme, daß er felbft der letzte Be⸗ 
grüner desſelben fei, wenn es auch unbedingt richtig ift, daß, 
falls Gott der ſchlechthinnige Urheber des Menſchen tft, er auch 
der Tegte Ürheber des Sittlichen ſei, fo iſt doch das Sittliche 
durch den Charakter des unbedingt Wertvollen ausgezeichnet. Eben 
weil nun das Sittlidhe durchaus Selbftthätigkeit betvußter-Art-vorauss 
ſetzt, und weil die ſittliche Perfon ſchlechthin wertvoll, Selbftzweck 


4) Sonft müßte man bei Fichte ankommen, der die Natur als Produkt 
des Ich anfah. 





Über das Beten der Religion. Ku 


iſt, wird man dabei bleiben müffen, daß ber Menſch, wenn auch 
von Bott ſchlechthin abhängig, zugleich weil und fofern ſittlich, 
ſchlecchin wertol, Selbſtzweck ſei. Es ift unmöglich, die fittliche 
Autonomie völlig der abjoluten Abhängigkeit gu opfern, wenn 
überhaupt Sittliches fein fol. Denn fittlih Tann niemand fein 
als der, welcher unbedingt Wertvolles realifiert. Der Menſch 
mn wiffen, daß das Sittliche abfolut wertvoll iſt; fonft Hat «6 
feinen Wert, wenn er es realifiert. Zu dem Wertvollen gehört 
das Bewußtfein bes Wertes. Sobald aber diefes Bewnktfein vor» 
handen ift, ift der Menſch zugleich relatio antonom; denn er will 
das Gute nicht bloß, weil er von Gott fich abhängig weiß, ber es 
will, fordern weil er feihft den unbedingten Wert desfelben ein» 
fieht. Eben dadurch iſt er frei. Und bier entfteht num eine 
Antinomie. Denn fofern der Menſch fih fhlehthin abhängig 
weiß, fell er das Gute molfen, weil ‚Gott es will, fofern er ver- 
nünftig ift, foll er e8 wollen, weil er feinen Wert felbft einficht. 
So wird das fittlihe Motiv zwiefpaltig. Werner foll er ſelbft 
das Gute wollen. Dazu braucht er Freiheit und do fol er auf 
der anderen Seite ſchlechthin abhängig fein. 

Allein was das erfte angeht, fo iſt das Giktlihe doch nur 
dann vernünftig, wenn es realifierbar iſt; denn fonft ift es eine 
unbedingte Forderung, die nicht erfüllbar ift, alfo ein Widerſpruch. 
Diefe Realiſierbarkeit hängt aber Teineswegs bloß von unferem 
Willen ab, ſondern ift nur dur Gott garantiert. Alfo nur wenn 
wir Gott als den Urquell des Sittlichen wiffen, Können wir es 
als fchlechthin vernünftig anfehen. Das Motiv für das Sittliche 
iſt alfo einmal feine Vermünftigkeit. Aber dieſe Bernünftigfeit ver⸗ 
bürgt ſich uns ferner dadurch, dag Gott feine Realifierung ver- 
bürgt als Urquell des Sittlichen. Unfer letztes ſittliches Motiv 
alfo ift nicht ſchlechthin autonom, fondern wir wiffen unfer Sitte 
liches in Gottes fittlichem Weſen begründet und eben dadurch 
wiffen wir e8 als realifterbar und deshalb auch ſchlechthin werwoll 
und vernänftig. Durch dies Bewußtſein aber wird das Motiv 
nicht zwiefpaltig, fondern im Gegenteil erft recht kräftig. Wir 
haben ‚oben zu geigen geſucht, wie ſich die Vernunft als empfäng ⸗ 
liche entwidtele, um den Eindrud von Gott aufzunehmen. Hier 


3 Dorner 


Haben wir gefehen, wie in der Vernunft das Bewußtſein bes un 
bedingt Wertvolfen entfteht, welches durch bie menſchliche Ar 
tion realiſiert werden foll 1). Beides Täßt fih vereinigen; 
denn das Unbedingte des Sittlichen weiſt auf feinen Urfprung 
in Gott. 

Die Freiheit aber, welche zu der Realifierung desfelben in An» 
ſpruch genommen werben muß, fchließt das ſchlechthinnige Abhängig- 
keltsbewußtſein nicht aus; vielmehr muß diefelbe als eine ſtets von 
Gott Taufierte gedacht werden, aber fo Tauftert, daß fie felbft kau⸗ 
fieren kann. Die abfolute Wbhängigkeit nad) oben verträgt fich 
mit der Freiheit der Welt gegentiber. Mit einem Worte: fo wenig 
es fich widerſpricht, daß wir gefchaffen find und daß wir als 
Weſen gefchaffen find und erhalten werben, die zugleich durch ihre 
Attion ſich zu Selbftzweden erheben follen, die auf Grund ihres 
Geſetzt⸗ſeins ſich felbft durch ihre Altion zu dem machen follen, 
wozu fie beftimmt find, da im Gegenteil Gottes abfolute Kauſa⸗ 
litat um fo großartiger ift, je felbftändiger die Weſen find, die er 
Taufiert, und je wertvoller fie find, fo wenig wiberfpridt das 
Bewußtſein abfolnter Abhängigkeit dem Bewußtſein, von Gott 
als Selbftzweck gewollt zu fein, das Bewußtſein abjoluter Ab- 
hangigleit dem Bewußtſein fittlicher Autonomie in dem bezeichneten 
Sinne, da dieſes letztere in das abfolute Abhängigleitsbewußtſein 
Tann aufgenommen werden, indem man fich von dem Gott fchlecht- 
Hin abhängig weiß, der ethiſch iſt und ethifche Weſen will, alfo 
Weſen, welche zwar Gott als den Begründer und Hort des Sitt⸗ 
Tichen wiſſen, aber eben darum zugleich das Sittliche nicht etwa als 
etwas ihnen Fremdes, fondern als etwas durch fie Realiſierbares 


1) Wenn wir fagen, bie Vernunft erzeuge das Bewußtſein bes unbedingt 
wertvollen Sittlichen, fo ſchließt das natäclid nicht aus, daß das fittfiche 
Bewußtſein ber Anlage nach ſelbſt von Gott flanımt. Aber das Tann nicht 
zum Bewußtſein kommen, bevor nicht es ſelbſt aktiv wird; gerabe fo wie daS 
religidſe Beronftfein nicht da fein Tann, bevor bas Vewußtfein ſich Bis auf 
einen gewiffen Grad entiwidelt bat, was aber ebenfalls nicht ausſchließt, daß 
die Empfänglichkeit fir göttliche Einwirkung von Gott ſtamme, wie das auch 
geroußt wird, fobalb das Bewußtſein fid fo weit entwidelt Kat, um für Gottes 
Eimirkung empfänglid) zu fein. 





Über das Weſen der Religion. 2 


und darum erft recht ſchlechthin Wertvolles wiſſen. Hier iſt das 
abfolute Abhängigkeitsbewußtfein zugleich mit dem Gefühl des 
Dantes gegen ben verbunden, der uns fo hoher Stellung ger 
wurdigt Hat 2); das Bewußtſein des ſchlechthinnigen Wertes, an 
dem wir teilhaben follen, giebt Hier dem Abhängkeitsbewußtfein 
eine befondere Färbung, ſchließt dasfelbe aber keineswegs aus, da 
es Hein Widerſpruch ift, ſich feiner Eriſtenz nad) von Gott 
abhängig zu wiffen und zugleich fi als gottgewollten Selbft- 
zweck zu wiſſen. Selbſtzweck zu fein verträgt fi mit dem Ger 
fchaffen-fein; ja erft dann Hat das Schaffen feine volfendete Ber 
grundung, wenn in ſich Wertvolles gejchaffen wird. Gefchaffenes aber 
bedarf fteter Erhaltung, ift alfo ſtets feiner Eriſtenz nach ſchlechthin 
abhängig. Wenn der Menfch feine Freiheit als eine von Gott 
ftammende weiß, fo ift darin feine Aufhebung derfelben, aber wohl ein 
Impuls, fie recht zu benugen. Die fittliche Freiheit, welche ſich ber 


1) Wenn Ritſchl bie Anerkennung unferer Abhängigkeit betont, fo ift 
das infofern ficherlich berechtigt, als das Bewußtfein ber Möhängigfeit nicht 
bloß ein naturartiges fein foll, fondern and) ein von dem Willen angeeignetes. 
Frömmigkeit IR auch eine Tugend. Much; das if richtig, daß in ber Muere 
kennung ber Abhängigkeit bie Bethätigung der Freiheit enthalten ſei. Allein 
wenn biefe Anerkennung Wahrheit fein fol, fo muß ihe ein objektives Ber- 
hãltnis zugrunde liegen, eben bie ſchlechthinnige Abhängigkeit, bie abfolute 
Kaufalität Gottes, und biefe muß der Menfch erfahren. Erſt zu diefer Er- 
fahrung Tann er Stellung nehmen, Lan biefelbe pflegen oder vernachläffigen. 
Wenn nie bie Abhängigkeit wirkfich als eine ſchlechthinnige erfahren ift, kann 
er fie auch nicht anerkennen. Das erfte aber muß doch bie göttliche That fein. 
Ferner muß diefe Abhangigkeit als ſchlechthinnige auch bie Freiheit mmfaffen 
und bie Anerfenmung berfelben auch Anerkennung beffen fein, daß auch bie 
Freiheit felbft Gabe Gottes fei. Nur wenn, bie ſchlechthinnige Abhängigkeit 
umd die abfolute göttliche Kauſalität zugegeben, das fchlechthinnige Abhängig · 
keitsbewußtſein als auf einer bie menſchliche Empfänglichteit erfüllenden That 
Gottes, auf einem „Getroffen-fein” von Gott ruhend amgejehen wird, Tann 
wirklich von einer Auerkennung dieſes objeftiven Berhältniffes, aljo von Demut 
bie Rebe fein. Denm nur dann ift ein objeftives Verhältnis da, das anerkannt 
wird. Die Freiheit bes Auerkeunens aber fehlt and; nicht, da ja das Bewußt · 
fein ſich als frei von Gott geſetzt und als zum Zweck freier Aktion erhalten 
weiß. Das Genauere vgl. in meiner Abhandlung Jahrbb. f. deutiche Theol., 
2b. XVII, ©, 250. 


as Dorner 


ftimmt weiß, unbebingt Wertvolles zu temifleeen, in Verbindung 
mit der Abhungigleit, die fie von dem Weltzuſammenhang er 
führt, karm ihren legten Stutzpunkt nur in Gott finden, Der ale 
der unbebingte Hort des Sittligen gewußt wird. Wort felbft 
wird als das Weſen erfahren, von dem allein andy wahre menſch- 
liche Sittlichleit ftammen Tann. Gerade wenn wir Gott als 
den letzten Hort bes Sittlichen wiffen, kaun uns fein Zweifel an 
dem unbedingten Wert besfefben auflommen. Er felbft ift ber un⸗ 
bedingt Wertvolle, nicht bloß foferu er menſthliche Sierfichkeit reali · 
fieren Hilft, fondern an fich ſelbſt. Gott bloß zum Mittel für 
menſchliche Sittlichleit zu machen, ift unmöglih. Ja er kann 
fogar nur dann, wenn er jelbft abfolut real⸗ſittliches Ideal, der 
abfelut venfrethifche Gott iſt, die Burgſchaft für die Realifierbar- 
feit der fittfichen Forderung leiften 2) und eben dadurch auch das 
kreaturliche Sittliche ermögfichen. Er muß, wenn er felbft Ur- 
heber und Hort?) des Sittlichen tft, Selbftzwed fein und fann 


4) Um die Keafifierung des Sitilichen zu ermöglichen, genügt nicht etwa 
die Annahme einer unbewußten fittlichen Weltorbuung, welcher bie Natur- 
ordnung untergeorbnet fei. Denn emtweber wurde diefe ſittliche Weltorduunug 
ſelbſt wieder auf den ethiſchen Gott gurüdgeführt und als feine Vorſehung 
aufgefaßt. Oder wenn fie pantheiftiich gemeint if, wurde fie dem uubedingten 
Sharakter des Sittlichen ‚nit garantieren, weil in biefer Welt thatſächlich 
das Sittiche nicht vol realiſiert iR, die fittliche Weltordnung alfo fich wicht 
ſchlechthin discchführt. Das zeigt ſich and fo, daß viele fagen, fie gelte nur 
für die Evolution des Abfoluten in biefer endlichen Welt, aber nicht für das 
Abſolute ſchlechthin. Chen baher if unfere Meinung auch nicht, dag ſich mit 
dem Sittlichen nur eine nähere Beftimmung des ſchlechthinnigen Abhängigkeite 
bewußtſeins ergebe, die für Gott felbft Feine Geltung hätte, etwa fo, daß er 
nur als Urheber des Sittlichen ober der ſittlichen Weltorbnung gewußt wilcde, 
ohne ſelbſt ethiſch zu fein. Denn dann wäre der unbebingte Wert bes 
Sitilichen eben nicht garantiert. 

3) Was für den Fall der Verlegung bes Sittlichen aus feinem unbebingten 
Bert fi auch für das religidſe Verhältnis ergiebt, if hier nicht genauer ame 
zuführen. Das Sittlice if notwendig wie probuftio, fo ſich felbft erhaltend. 
Oder vielmehr Gott als der Urheber des Sittlichen iR auf bie Erhaltung 
feines unbedingt wertvollen Charakters bedacht. Das Heißt nichts anderes als: 
wenn das Sittliche verlegt wird, fo muß fein unbedingt wertvoller Charakter, 
ber verlegt iſt, erhalten werden. Das mubedingte Recht des Guten auf Eyiften 


Über das Wehen ber Religion. 21 


feinen Seld ſtzweck wicht Bloß in feinem Reiche, d. 5. in der ſitt⸗ 
lichen Gemeinſchaft der Menſchen finden, er muß abfoluter Selbft- 
zweck fen, von dem alle andern wertvollen Weſen erft ftammen. 
Chen dieſe Gefahr, Gott bloß in den Dienft der fittlichen Sub⸗ 
Fette zu ſtellen, iſt durch die Verbindung des fittlichen Bewußtfeins 
mit dem ſchlechthianigen Abhängigkeitsbewußtſein befetigt, vhne 
daß dadarch die für das Sittlihe notwendige relative Autonomie 
und Freiheit aufgehoben wäre, die vielmehr Gott denen, die er als 
fittliche Weſen wollte, al Vermögen muß verlichen Haben und 
erhalten, dh8 fie altualiſteren können. 

Rarz, wir Haben gefehen: eimmal, daß das Gittliche ſelbſt, 
dem, fobald es zum Bewußtſein gefemmen ift, die Enbämontie 
umergeordnet werden maß, auf das abfofnte Abhängigkeitsbewußt · 
fein hinweiſt, ſodann, daß das Freiheitsbewußtſein und die Autor 
nomie nicht durch dasfelbe darf beſeitigt wenden, endlich, dag die 
relative Autonomie und das Bewußtfein Selbftzwert zu fein, fi 
mit dem abfoluten Abhängigfeitsbewußtfein vereinigen läßt. Das 
Reſultat iſt hiernach: Gott ift der Urheber und Forderer des 
Sittlichen; er tauftert eben deshalb unbedingt wertvollen Inhalt 
habende Perfonen, oder fubjektio ausgedrüdt: Das abfolute Ab⸗ 
Hängigteitsbewußtfein umfaßt das Freiheitsbewußtfein und die fitte 
liche Autonomie als eine derivierte *). 


muß fid offenbaren. Gott kann nicht, wo das Gute verlegt ift, nur anderes 
mene Gute hervorbringen. Bielmehr die Erhaltung des Guten iſt hier bie erfle 
Aufgabe, d. 5. die Erhaltung feines unbedingt wertvollen Charakters gegenüber 
dem, ber es antaflet. Die weiteren Ausführungen Fönnen Hier nicht gegeben 
werben. Hier ſetzt die chriſtliche Religion als Werföhnungs- und Erldſungs · 
religion ein. 


1) Wenn wir das Berhältnis von Sittlichkeit und Religion uäher im 
einzelnen beftimmen wollten, mäßte ausgeführt werben, wie das fittfiche Ber 
wußtjſein eben dadurch fich mit dem ſchlechthinnigen Wbhängigkeitebewußtfein 
vereint, daß es bie Frömmigkeit, d. 5. die Pflege der Empfänglicleit für bie 
göttfiche Einwirkung, des Verlangens nad; Gott (des weiteren auch die Pfiege 
ber frommen Gemeinſchaft) ale Pflicht auffeßt, deren Erfüllung Wert in ſich 
ſelbſt Hat; fo daß Hier das ſittliche Berhaiten in der Frömmigkeit einmünbet. 
Zu der Frömmigkeit gehört aber auch das Bewußtſein, daßz das Sutliche jelbft 


a2 Dorner 


Hiermit feheint mir zugleich eine Einfeltigkeit überwunden, in 
welche die Entwickelung der Religionsphiloſophie teilweife geraten 
iſt. Schleiermacher Hatte die abfolute Kauſalitut Gottes betont 
und alle näheren Beftimmungen für Gott felbft abgelehnt. Um⸗ 
gefehrt Ichnen jegt viele die causa efficiens als auf Gott an 
wendbar ab und wollen bloß die causa finalis für ihr gelten 
Tafjen, wobei nit die causa, fondern ber Zwedigedanfe im ben 
Vordergrund tritt. Während bei Schleiermadjer die Gefahr droht, 
über der gleichen ſchlechthinnigen Abhängigfeit von allem zu über: 
fehen, daß bie Superiorität des Sittlichen auch in Gott begründet 
fein muß, fo feheitern die Neueren an ber Klippe, daß fie Gott 
nicht als causa efficiens betrachten. Allein Gott hat Natur und 
Geift gleichmäßig begründet, und das ſpricht ſich in dem alles ums 
faffenden ſchlechthinnigen Abhängigkeitsbewußtfein aus; aber er hat 
bie Natur dem legten Zwecke untergeordnet, und das fpricht fich 
derin aus, daß wir und von ihm als dem Ethiſchen ſchlechthin 
abhängig wiſſen ). 

Wir brauchen nur das Gefagte noch zufammenfaffen, um zu 
erfennen, daß Gott auch als ber Urheber der Harmonie empfunden 
werden muß. 


in Gott begründet fei; ja man wird fagen Tönen: da die Frömmigkeit ale 
Empfänglichfeit in der Gotteserfahrung, Gottesgemeinſchaft erſt gefättigt if, 
und Gott als ber ethifche erfahren wird, fo wird durch die Refigion das Gitt« 
liche nicht nur fundamentiert, fondern im ber Testen Wurzel der Gefiunung 
immer aufs neue belebt. Wie aljo die Sitilichteit in bie Frömmigkeit ein - 
münbet, fo geht auch von ber Frömmigkeit wieder ſittliches Leben ans. Bol. 
hierüber bie trefflichen Ausführungen Köſtlins im biefer Zeitſchrift 1870: 
„Religion und Sittlichteit“, &. ba f. 

2) Das iſt eigentlich auch die Gedantenlinie, weldie von Schleiermachers 
Ethik ans infofern ausgehen müßte, als er bie Natur ber Vernunft unterzu- 
orbnen als die ethifche Aufgabe anficht. Denn wenn bie Bernunft thätig, die 
Natur Teidend fein foll, fo kann bei dieſer Unterordnung ber Natur unter bie 
Bernunft Gott unmöglich als Identität aufgefait werben, im welcher ber 
Gegenfag von Vernunft und Natur gleichmäßig verſchwindet. Denn in 
diefer Ioentität iſt die Superiorität dee Vernunft nicht begründet. Bgl. übri- 
gens „Über bie wiffenfhaftlice Behandlung des Tugendbegriffs“ Schleier- 
machers Werke, Abtl. IT, Bd. 2, ©. 377. 378, wo bie ethiſche Seite im 
Gotteobegeiff Mar hervortritt. 





Über das Weſen der Religion, 278 


y) Die konkrete Beftimmtheit bes abfolnten Abhängigfeits- 
bewußtſeins durd das Äfthetifche. 

Wir haben gefehen, wie das religidfe Bewußtfein im Zu. 
fammendang mit der durch äußere Anregung ber Natur mit ber 
dingten Entwidelung des Menfchen als Einigungspunft der ver⸗ 
ſchiedenen Gegenfüge, melde im Lanfe der Entwidelung des 
Menſchen fich erheben, allmählich zu feiner vollen Höhe gelangt. 
Welt» und GSelbftbewußtjein, fofern fie für das Sittliche in 
Betracht kommen, find durch dasfelbe zur Einheit verbunden, 
ohne durch dasſelbe aufgehoben zu werden. Denn das indivie 
duelle und das univerfelle Bewußtfein find Hier geeint. Der 
Fromme weiß fi als diefe Individualität ſchlechthin abhängig, 
aber eben damit zugleich durd Gottes Urfächlichfeit beftätigt, was 
eine Hebung ded Selbftbewußtfeins zur Folge hat; aber er weiß 
zugleich, daß diefe Abhängigkeit für alles gilt, und darin Tiegt die 
Begrenzung feines individuellen Bewußtfeins, und das ſchützt ihn 
davor, in feinem „Überweltlihen" Bewußtſein ſich über die Welt- 
ſchranke, bie er aud von Gott gewollt weiß, einfach wegzuſetzen, 
fich bloß negativ über die Natur zu erheben. Vielmehr, indem Gott 
als der Urheber des Sittlichen gewußt wird, ift in dem religibſen 
Bewußtſein auch die Harmonie von Natur und Geift prinzipiell ges 
geben, indem erftere dem fittlichen Zwecken des letzteren nach göttlichem 
Willen untergeordnet und dienftbar ift. Und eben damit ift auch 
der Konflikt zwiſchen der natürlichen Eudämonie und- Sittlickeit 
prinzipiell aufgehoben. Denn da der Menſch die Natur als 
Objelt feiner fittlihen Tätigkeit durch göttlichen Willen ſich unter 
geordnet weiß, hat er aud die Garantie einer durch feine Aktion 
zu erreichenden Harmonie beider, womit die äußere Eudamonie 
von felbft gegeben ift, ohne daß er fie um ihrer felbft willen er» 
ftrebt. So ift in dem religiöfen Bemußtfein prinzipiell ber Gegen- 
fag von relativer Freiheit und vefativer Abhängigkeit fo geeint, daß 
die Abhängigkeit von der Natur nur fo weit reihen muß, als die 
Abhängigkeit der fittlihe Zwedce vealifieenden Freiheit von den 
Mitteln reicht, deren fie bedarf. Ebenſo ift aber auch das Be 
wußtfein des unbedingt Wertvollen, die relative Autonomie, in 
das ſchlechthinnige Abhängigkeitsbewußtfein mit aufgenommen. Fer⸗ 


Kr 3 Dorner 


ner ‚trägt. aber. bie Ginheit des Welt» und Selbſibewußtfeins im 
abfoluten Abhängigfeitebewußtfein auch theoretifhen Charakter, 
indem das Bedürfnis einer einheitlichen Grfenntsie in dem 
frommen unmittelbaren Bewußtfein in unmittelbarer Weiſe be 
friedigt wird, in welchem ein unmittelharen Wiſſen von der 
Einheit der letzten Gegeufäge in Gottes abſoluter Kauſalität eu 
halten ift, welder ſelbſt zugleich als das. Urwiſſen ber Urquell 
unſeres Wiffens iſt. Endlich aber ift auch in dem konkret be 
ftimmten ſchiechhinnigen Abhangigkeitsbewußtfein das Sittüche mit 
dem Wiffen prinzipiell geeint, in ihm der letzte Einheitspunft für 
beides gegeben. Weil beides hier in unmittelbarer Weiſe anf fein 
legte Quelle, auf Gott zurüdgefüßet wird, iſt ein prinzipielle 
Widerjprudy von beiden ausgeſchloſſen, da Gott nicht Bott if, 
wenn er mit fih im Widerſpruch wäre; ex ift letzte Quelle des 
Wiſſens mie des Ethiſchen, und das Wiſſen iſt, fofeen es mit 
dem Sittlihen in Harmonie fein muß, in ihm ethiſch hebingt. 

Wenn fo prinzipiell in dem frommen Bewußtſein alle Gegen⸗ 
füge geeint find, fo iſt im ihm and die Harmonie des Memnkt 
ſeins vollendet. Somit wird anch dns ebſolute Ahhzängigleitsbe⸗ 
wußtfein ſchließlich durch das Bewußtſein der Harmonie laute 
bejtimmt und Gott wird als die Quelle aller Harmonie empfunden, 
die wir durch die anſchauende Phantafie und das wit ihr perbur⸗ 
dene Gefühl erfaffen, und bie ebenfalls in ihm ethiſch bedingt if: 
Und auch bier wird man fagen muſſen, Gott ift der Qrund der 
Harmonie, weil er felbft abfolnt harmoniſch if. Denn de wir 
genötigt find, in ihm Willen und ethiſchen Willen, und ehraı 
Allmacht zu unterſcheiden, ſo kann bie Harmonie nicht in Gott in 
der abſoluten Identität, ſandern nur in der mpliendeten Einheit der 
Unterſchiede gefunden werden. 


* 
4 


So ift alſo in dem religidſen Berouftjein die Einheit aller 
Begenfüge in uumittelbarer Weiſe gegeben, wenn datzſelhe voll ab 


gefupd entmistelt ift. Und Pas it möglich, weil der Menſch in 
dem frommen Bewußtfein ſich nicht hloß als wiſſender merhäl, 


Über das Weſen der Religion. 


ſondern hier in feiner unmittelbaren Totalität ſich gegenmärtäg ift, 
und in feiner Totalität von Gott fi getroffen fühlt. Daher men 
mit Recht fagen kann, daß der Sit der Religion das Gemüt fei, 
wenn man unter bemfelben dieſen legten Einheitspunft, in welchem 
ale einfeitigen Vermögen zur Einheit zufammenlaufen, veuftehen 
will, das Zenteum des Geiftes. Do das wollen wir hier wicht 
weiter auaführen, ebenfowenig auch dies, wie ans dieſer zentralen 
Stütte der Gotieserfaßrung heraus die einzelnen Funktionen des 
religiöfen Lebens ſich entfalten und wie fich weiterhin dem reli⸗ 
giöfen Leben gegenüber die übrigen geiftigen Thätigkeiten, welche 
ethiſch bedingt find, zu relativer Selbftändigkeit erheben, weil fie 
als von Bott in Ihrer Gigentümlichleit gewollt und beftätigt ge- 
wußt werden. 

Nur darauf fei noch hingewiefen, daß, wenn fi die Religion 
als die leiste Einheit inbezug auf alle bie genannten Gegenſätze 
erweift, die Thatſache durchaus begreiflih wird, daß urſprüng ⸗ 
Ad, ſobald das vefigidfe Beben erwacht war, alle menſchlichen 
Thatigleiten im engften Zuſammenhang mit der Meliglon geübt 
murden: es iſt aber ebenfo verftändlich, dag, je mannigfaltiger die 
Eotwideluug wurde, die einzelnen Gebiete des Handelns und Er⸗ 
kennens fi um fo mehr zu selativer Selbftändigkeit erhuben, one 
daß heahalb ihre prinzipielle Einheit im veliglöfen Bewußtfein aufs 
gegeben werden Könnte, 

Faſſen mir unfer Reſultat zuſammen, fo tft die Religion zu⸗ 
nachſt als fubjektine Meligion zu hegreifen. Sie iſt Gott gegeu⸗ 
über weſentlich empfängliches Verhalten, welches fi überall auf 
das feplerhtäismige Abhängigfeitsbemußtfein grundet, welches intellef- 
tuell, ſittlich, Afthetifch näher beftimmt ift, indem wir und mit 
unferem Wiſſen, unferem fittlichen Wollen, unferer Harmonie han 
Gott abhängig wiſſen, den alfmärhtigen Bott als die Quelle des 
Wahren, Guten, als die Quelle aller Harmonie erfahren, indem 
Gott die Empfänglichkeit erfüllt. Hier kommt alfo das Wahre 
alfee der einfeitig vertretenen Anſchauungen zur Geltung, welche 
im erften Teile befprochen wurden. Denn das fittliche, wie bas 
äfthetifche und das intellektuelle Zehen, endlich auch die dem Sitt ⸗ 
lichen untergeorbnete Eubämonie haben in dem religiöfen Bewußte 


276 Dorner 


fein ihren letzten Einheitspunft, indem fie in letzter Juſtanz als 
der göttlichen Quelle entftammend gewußt, auf Gott als den al» 
möchtigen Geber aller guten Gabe zurückgeführt werden, auf die 
göttliche Liebe. \ 

Wenn die Religion auf dem Verhältnis zu Gott ruht, welchet 
zuerft Gegenftand des unmittelbaren Bewußtfeins ber Perfonen if, 
fo erhellt Hieraus, daß es unmöglich Ift, ans der gefchichtlic anf 
tretenden objektiven Religion primo loco das Wefen der Religion 
zu verftehen, betrachte man nun als die objektive Religion die 
veligidfe Gemeinfchaft oder die äußere Offenbarung. Dem die 
refigidfe Gemeinſchaft kann gar nicht gedacht werden one die 
gemeinfhaftftiftende Fromme Perſon. Diefe Meinung wäre mr 
haltbar bei einer Anſicht, welche den unmittelbaren Verkehr mit 
Gott zurüdftellte und die Religion in dem Innewerden des Gr 
meinfhaftögeiftes fände, was nur von einer Theorie der Immer 
nenz aus verftändlih wäre. Und felbft dann bedürfte es def 
Immer nad) Analogie aller menfchlihen Entwickelung ſolcher Perſo⸗ 
nen, in welchen zuerft der Gemeinfchaftsgeift zum Bewußtſein käme, 
Die Gemeinfhaft fann Immer nur das Sekundäre fein‘). All: 
dings läßt fi denken, dag, wenn in den Maſſen das religidit 
Leben ſchwach ift, fich diefelben damit begnügen, ihren religiöfen 
Sinn dadurch zu befunden, daß fie fi an die zur Inſtitution 
gewordene Gemeinfhaft Kalten, und diefe als Vermittlerin zwiſchen 
Gott und ber Menſchheit betrachten. Allein als urfpränglic laßt 
fich diefer Zuftand nit denken. Denn einmal muß die Ge 
meinſchaft von Perfonen ausgehen, welche Gott erfahren haben 
und welche zugleich das Bedurfnis empfinden, ihre Gotteserfahrung 
mitzuteilen, und fobann muß in denen, welche der Gemeinſchaft 
zugehbren wollen, doch irgendwie ein religibſes Bedürfnis vor 
handen fein, das doch mur auf einer urfprünglichen eigenen Gottts⸗ 


i) Im Proteſtantiemus wird dies dadurch ausgeſprochen, daß begriff 
primo loco bie Kirche Gemeinſchaft der Glaubigen ſei. Dieſe Wahrkit 
darf nicht unter den Scheffel geſtellt werden. Mit beſonderer Schärfe wird 
fie hervorgekehrt von Köſtlin, Der Glaube, ©. 803f. und Dorner, Chriſ- 
liche Glaubenelehre II, 2. ©. 788. 


Über das Weſen der Religion. 27 


ahnung ruhen kann. Ohne ein eigenes, wenn auch noch fo 
ſchwaches Gottesbemwußtfein wäre nicht begreiflich, wie fie zu der 
frommen Gemeinfchaft gehören wollen. Man kann alfo wohl aus 
dem frommen Bewußtfein, das auf einer Gotteserfahrung, auf 
einer Gottesthat ruht, die Gemeinfchaft begreifen, aber nicht um⸗ 
gefehrt die Religlon aus den gejchichtlic gewordenen refigidfen Ger 
meinfdaften für ſich verftehen. 

Aber ebenfo unmöglich ift es, aus Äußerer Offenbarung die 
Religion urfprünglich abzuleiten. Denn um fromm zu fein, muß 
man Gott innerlich erfahren haben. Es ift wohl wahr, daß bie 
äußere Natur der Anlaß ift, durch defien Anregung bie religiöfe 
Empfänglichkeit geweckt wird, welche Gott erfüllt; aber von Religion 
tanı erſt die Rede fein, wenn wirklich ein göttlicher Strahl in 
die Seele gefallen ift. Alle äußeren Medien von den Offen« 
barungen Gottes in der Natur an, den gewöhnlichen und ben 
aufergewöhnlichen bis zu den Offenbarungen Gottes durch einzelne 
Menſchen an die übrigen, fönnen nur die Bedeutung Haben, die 
inneren Offenbarungen Gottes vorzubereiten, die Menfchen für 
Gott felbft umd feine Einwirkungen empfänglich zu machen. Frei⸗ 
lich ift nicht in Abrede zu ftellen, daß die Neigung, das, woran 
ſich eine Erregung des Gottesbewußtſeins anfchließt, mit Gott 
jeloft zu identifizieren, die fi im Polhtheismus zeigt, in den 
höheren Religionen in mannigfachen Formen fi wiederholt, von 
der Meinung an, daß es am ſich Heilige Dinge gebe, denen man 
Verehrung erweift, weil in ihnen das Göttliche gegenwärtig fel, 
5i zu der Annahme der Mittlerſchaft der Kirche, die an Gottes 
Stelle geſetzt wird, der „Gottheit der Kirche“. 


Theol. Gtnd. Sahız. 1388. 19 


278 Ryffel 


2. 
Ein Brief Georgs, Biſchofs der Araber, an den 
Presbyter Jeſus. 
Mit einer Einleitung über fein Leben und feine Schriften. 
Eon 


Lic. theol. Dr. 9. Ruſſel, 
Welvatbogent in Leipzig. 





Zu der Zelt, wo im Abendlande infolge der allgemeinen Zer⸗ 
ſtörung durch die Stürme der Völkerwanderung, in denen auch bie 
Werte des Maffifchen Altertums bis auf geringe Überrefte ver⸗ 
nichtet worden waren, bie Pflege der Wiſſenſchaften faſt ganz 
darmieber Ing und bie gelehrten Beſttebungen nur Hinter Kloſter⸗ 
mauern ein Tärgliches Dafein frifteten, bfüßte in Syrien, dem 
Mittelpunkte des hriftlichen Morgenlandes, ein teges wiffenfchafte 
liches Leben, und es entftand auf Grund einer genauen Kenntnis 
ber antiken und chriſtlichen griechiſchen Kitteratur eine neue ſyriſche 
Litteratur, welche, obwohl ausfchlieglich dem Dienfte der Kixche ges 
widmet, doch duch ihre Wielfeitigkeit, durch ihren ſtreng toiffen- 
ſchaftlichen Charalter und durch die eigenartige DVerfchmelzung 
des altgriechifchen Geiftes mit Kriftlichen Elementen unfer ganzes 
Intereſſe in Anfprud nimmt. Ins Leben gerufen wurde biefes 
wiſſenſchaftliche Leben vor allem durch bie vielfahen Beziehungen 
der fprifchen Kirche zu der Kirche des oftrömifchen Reiches, weihe 
durch die Zugehörigkeit Syriens zum römiſchen Staate bedingt 
waren und den regen Verkehr der fyrifchen Kirche mit den Bifchöfen 
und Gemeinden der öſtlichen Reichshälfte — 3. B. durd bie 
tirchlichen Verfammlungen griechiſcher und ſyriſcher Biſchöfe — 
zur Folge hatten, wodurch zugleich ein Austauſch der allgemeinen 
und der ſpezifiſch chriſtlichen Anſchauungen hervorgerufen wurde. 
Diefer Iebhafte Verkehr zwifchen der fyrifchen umd griechifchen 
Kirche Hatte für die ſyriſchen Chriften die Kenntniß der griechiſchen 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 279 


Sprache zur Vorausſetzung, und fo wurden benn nicht bloß nach 
dem Vorbilde der alten fyrifchen Bibelüberfegung aud die Kirch» 
Tichen Gefege und andere wichtige Werke der chriſtlichen Litteratur 
ius Syriſche übertragen, fondern es wurden auch in allen größeren 
Städten, die zugleich Biihofsfige waren, befondere Männer an« 
geſtellt, welche alle für die firchliche Amtsführung wichtigen grie- 
chiſchen Schriften zu überfegen hatten. Aber diefe Beziehungen ° 
zwiſchen der ſyriſchen und griechiſchen Kirche wurden auch die Ver⸗ 
anlaffung zur Gründung der berühmten fyrifchen Alademieen, auf 
welchen man ſich mit der Litteratur des klaſfiſchen Altertums und 
befonders mit den Werken der bedeutendften griechiſchen Philoſophen 
teils auf Grund der griechiſchen Originale, teils nad) Überfegungen 
und Kommentaren befchäftigte, um den Geiftlichen und Mönden 
eine auf allgemeiner Grundlage berugende tiefere Vorbildung zu 
verfchaffen; und ebenfo wurden begabte Zünglinge zur Ausbildung 
geeigneter Lehrkräfte nach den altberühmten Bildungsſtätten der 
griechiſchen Kirche gefandt, wie umgelehrt auch durch die auf den 
Heimifchen Afademieen gewonnene Kenntnis der griechiſchen Sprache 
und Litteratur die Fortfegung und Ausdehnung der begonnenen 
Studien im griechifchen Auslande weſentlich erleichtert wurde, 
Außerdem begann man damals in Syrien an den theologiſchen 
Hochſchulen, den Biihofsfigen und in den Mlöftern wertvolle Bib⸗ 
liothelen anzulegen, in denen man neben den Werfen der dhrift- 
lichen Nationallitteratur der Syrer auch die widtigften Werke der 
griechiſchen Maffiter und Kirchenfchriftfteller in den Originalen 
und im guten Überfegungen anfammelte und aufbewahrte. 

Auch die politifchen Verhältniſſe Syriens, wenngleich fie ſich 
infolge der Schwäche des oftrömifcen Neiches traurig genug ger 
ftalteten, waren doch für die Pflege der Wiſſenſchaften nicht. uns 
günftig. So lange Syrien noch unter der Herrfchaft der griechiſchen 
Kaifer ftand, waren die Bewohner des Landes zwar auch den Ver- 
folgungen ansgefegt, welche infolge der fortwährenden Schwankungen 
der veligiöfen Überzeugung am Hofe zu Konftantinopel bad diefe, 
bald jene kirchliche Partei trafen, aber fie hatten doch wegen der 
größeren Entfernung vom Mittelpunkt des Reiches weniger unter 
diefen religiöfen Bedruckungen zu leiden, als die griechifch redenden 

19% 


2o Ryſſel 


Chriſten, die der Arm des Kaiſers leichter erreichen konntt. 
Ebenfo ftörten die das Reich nur zu oft erfchütternden politischen 
Wirren, die Tpronftreitigleiten, die zu blutigen Bürgerkriegen 
führten, den Frieden diejes weit entfernten Grenzlandes meift nır 
in geringerem Maße. Freilich war Syrien um fo mehr dem un- 
geftümen Anprall der gerade diefe Reichsgrenzen vor allem be⸗ 


- drohenden feindlichen Nachbarvölfer ausgefegt, und alle die Kämpfe 


zwifchen dem nad der Vernichtung des parthifchen Reiches ge 
gründeten neuperfifchen Neiche und den römischen Kaifern ſowohl 
vor wie nad) der Teilung des Reiches wurden auf ſyriſchem Boden 
ausgefochten. Aber anderſeits wurde durch die vereinzelten Ein 
fälle der Perfer und bie Kriegszüge der römifchen Kaiſer der 
Friede meift nur vorübergehend unterbrochen, da diefe Kämpfe 
teils infolge der Schwäche oder Ohnmacht der römifchen Kaifer, 
teils infolge bald eintretender gegenfeitiger Erfhöpfung gewöhnlich 
nicht Tange andauerten. 

Und als durch den ſchimpflichen Frieden, den Kaifer Jovian 
nad dem Tode Julians 363 mit dem Perferlönige Sapor II. 
abſchließen mußte, ein Teil von Mefopotamien und das dur 
Diocletian 298 eroberte ausgedehnte Gebiet am Zigrisufer an die 
Perſer abgetreten wurde und fomit die fprifchen Chriften jener 
Landftriche des öftlichen Syriens an das perfifche Reich kamen 
— dem fie durch den von König Jeſdegerd I. (399—419) abge: 
fchloffenen 100jährigen Frieden, der die Kämpfe mit den Römern 
vorläufig beendete, dauernd einverfeibt wurden —, da fanden diefe 
Syrer unter ber perfifchen Herrſchaft Duldung und freie Religions 
übung, indem die perfifchen Könige diefer Zeit mehr die Politil 
als die Religion im Auge Hatten, obwohl auf die Wiedereinfegung 
der altiraniſchen Religion des Zoronfter das neuperfifche Reich ge 
gründet war. Wenn aber gleichwohl einzelne perfifche Könige die 
Ehriften ihres Reiches verfolgten, befonders dann, wenn wieder 
Kriege mit den griechiſchen Kaifern ausgebrochen waren, fo trafen 
diefe Bedrüdungen meift nur einen Teil der ſyriſchen Chriften. 
Als nämlich die ſyriſche Kirche im 5. Jahrhundert durch die 
neſtorianiſchen Streitigkeiten in zwei einander feindliche Teile ges 
fpalten wurde, wirkte Barfumas (Bar-faume), Biſchof von Nifibis, 





Ein Brief Georges, Biſchofs der Araber zc. 281 


ungehindert für die Ausbreitung des Neftorlanismus im perfifchen 
Reiche, indem König Piruz (CF 488) infolge der Bemühungen des 
gewandten und einflußreichen nifibenifchen Biſchofs die Neftorlaner 
entfchieden begünftigte, während er allerdings die Katholiken wegen 
ihres Zufammenhanges mit dem griechiſchen Reiche blutig ver 
folgte. Ja, als die Lehrer der berühmten theologischen Schule zu 
Edefja, die fon früher einmal durch den Biſchof Rabulas von 
Edeſſa, einen Parteigänger des Chrill von Alerandrien, gefprengt 
worden war, fi aber nad) dem 435 erfolgten Tod bes Rabulas 
zu neuer Blüte erhoben Hatte, abermals auf Befehl des Kaiſers 
Zeno im Jahre 489 vertrieben wurden, nahm man bdiefe Gelehrten 
in Perfien mit Freuden auf. An Stelle der edeffenifchen Schule 
entftanden die berühmten Akademieen von Nifibis und Gandifapor, 
und 498 fagte ſich die ganze perfifche Kirche von der orthoboren 
Kirche des oftrömifchen Reiches los. So bradte denn au die 
Groberung des weftlichen Syriens durch Chosru I, der feit 540 
erfolgreiche Kämpfe mit ben oftrömifchen Kaifern führte, ganz 
Syrien plünderte, die wichtigſten Städte famt Antiochien eroberte 
und fein Neid bis an das Mittelmeer ausdehnte, den Neftorianern 
feinen Nachteil. Und fo fehr Hatten fie es verftanden, fich in der 
Gunft der perfichen Herrſcher feftzufegen, daß Chosru II. 
(591 — 628) im Anfange feiner Regierung alle übrigen Chriften 
feines Reiches zwang, zum Neftorianismus überzutreten, wiewohl 
er fie fpäter bedrüickte, weil fie ſich bei der Wahl ihres Patriarchen 
nicht feinem Willen gefügt Hatten. 

Als dann endlich im Jahre 635 ganz Syrien von den Arabern 
erobert wurde — die übrigens ſchon weit früher einzelne nach der 
Wüfte Hin gelegene Teile des römiſchen Syriens fi unterworfen 
Hatten —, da waren es wiederum die Neftorianer, die ſich der 
Gunft der Kalifen und wichtiger Vergünftigungen zu erfreuen 
hatten; ja, zwei Kalifen des 10. und 11. Jahrhunderts beftimmten 
foger, daß nicht nur die Neftorianer, fondern auch die Katholiken 
und akobiten den neftorianifchen Patriarchen unterworfen fein 
follten. Und wenn auch der Sonnenſchein der Gunft der moham- 
medaniſchen Herrſcher nicht felten plöglich einem Unwetter wid, 
fo waren es doch mur vereinzelte und fchnell vorübergehende Be- 


22 Ryſſel 


druckungen, welche die Neſtorianer unter den Kalifen zu erdulden | 
hatten. 

Nicht fo gut freilich erging es den frifchen Monophpfiten. 
Schon alle oftrömifchen Kaifer außer Zeno und Anaftaftus waren 
ihnen feindlich gefinnt gewefen, und wenn fie auch unter Juſtinian, 
der fie vergeblich zur katholiſchen Kirche zuriichzuführen fuchte, durch 
die raftlofen Bemühungen des zum Biſchof von Edeffa und all 
gemeinen Oberhaupte aller Monopäyfiten des Orients ernannten 
Jakobus Barabäus (} 538), nach deffen Namen fie fich Hinfort Ja⸗ 
kobiten nannten, zu einer eigenen wohlorganifierten Kirchenpartei 
unter einem eigenen Patriarchen fich zufammenfchloffen, die durch 
den 629 erfolgten Übertritt der Neftorianer von Chaldäa, Aſſhrien 
und Mefopotamien zum jakobitifchen Glauben noch bedeutend ver- 
ftärkt wurde, fo ſchützte fie dies doch nicht vor mannigfachen Be⸗ 
drüdtungen vonfeiten der griechifchen Kaifer der fpäteren Zeit, und 
auch unter ben Kalifen hatten fie, da dieſe ihre Gunft ben Nefte 
rianern zugewandt hatten, vielfach Schweres zu leiden. 

Aber alle die religiöfen Streitigleiten zwifchen den einzelnen 
Parteien der Syrer, den Neftorianern, Jakobiten und Katholiken, 
fo fehr ſie auch bie ſhriſche Kirche erfchlitterten und die chriſtliche 
Gefinnung ſchädigten, da vom jeder Seite mit einer Erbitterung 
und einem Haffe fondergleichen gelämpft wurde, trugen doch zu 
gleich mit dazu bei, das miffenfchaftliche Intereſſe zu beleben, in- 
dem jede Partei beftrebt war, ihre befonderen Anfcanungen mit 
allen Mitteln wiſſenſchaftlichen Scharfſiuns als bie allein be 
rechtigten zu erweiſen; und auf biefe theologifchen Streitigkeiten 
fonzenteierte ſich fpäter um fo mehr das allgemeine Intereſſe, ald 
die Herrſchaft der andersgläubigen Kalifen den Ausbruch offener 
Teindfeligkeiten verhinderte. 

So haben denn verfchiedene günftige Umftäinde diefe hehe 
Blüte der theologifchen Wiffenfchaft in Syrien Herbeigeführt: vor 
allem bie Kontinuität des Stubimms ber antiten wie ber aftdhrifte 
lichen griechiſchen Litteratur, fobann die trog aller inneren und 
äußeren Kämpfe doch fir das wiſſenſchaftliche Leben vorteilhaften 
politifchen Verhältniſſe, durch melde aud der Sortbeftand ber 
Bildungsmittel, der Schulen und Bibliotheken, gefichert wurde, und 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 23 


außerdem noch einzelne andere Momente, bie gleichfalls dem Streben 
nad theologiſcher Gelehrfamkeit zur Förderung dienten, wie bie 
Eiferfucht zwiſchen den kirchlichen Parteien. 

Au ber Pflege der theologiſchen Wiſſenſchaft iu der fyrifchen 
Lirche haben aber bie Neftorianer wie die Jalobiten gleichen An⸗ 
teil gehabt, uud aus den Kreifen beider kirchlichen Parteien ift eine 
fattfiche Reihe namhafter Gelehrter zu nennen, die jedem Lande 
und jeder Zeit zu hoher Zierde gereichen Lönnten. Den neftoria- 
niſchen Gelehrten ftehen ebenbirtig zur Seite die jakobitifcen, 
die jene an Vielſeitigkeit ihrer gelehrten Beſtrebungen wohl noch 
übertreffen. Unter ihnen find In erfter Linie bie berügmten Über» 
feger Sergius von Raf-‘ain, der Patriarch Athanafius IL. und der 
ad als Ereget rühmlichſt bekannte Jakob von Edeffa zu nennen, 
welde die klaſfiſche Literatur, und befonders die Werke der 
griedhifchen Philoſophen is muftergäftigen Überfegungen dem 
hrifcgen Gelehrten übermittelten, ferner die Kirchenhiſtoriler For 
hannes von Ephefus und Dionyfius vom Tellmachre, dazu nam⸗ 
bafte Dogmatiker, wie der Vorkämpfer des ſyriſchen Monophpfitis- 
mus Reuajas oder Philorenus von Mabug, der auch im Jahre 
508 die nach ihm benannte Überjegung des Neuen Teftamentes 
und der Pſalmen anfertigen ließ, welche fpäter Thomas von Heraflea 
(Harkel) im Anfange des 7. Jahrhunderts (616) zu Alexandrien 
neu bearbeitete, und außer dieſen noch verfchiedene andere namhafte 
Sqriftſteller, welche die Auslegung der Heiligen Schriften des 
Aten und Nenen Teſtamentes durch Kommentare uud Monographien 
über einzelne ſchwierige Fragen ber Exegeſe und Realerklärung 
fürderten oder bie gottesdienſtlichen und kirchlichen Ordnungen bei 
den Jalobiten zu beſonderen Gefegesfommlungen zufammenftellten 
und als berechtigt zu erweiſen fuchten ober für den rituellen Ge⸗ 
btauch und zur Erbauung die Lehren der Kirche dichteriſch bes 
handelten. Der Abſchluß zu dieſer reichen und vielſeitigen Litte⸗ 
tatut der jalobitiſchen Syrer wird von dem beruhmteſten ihrer 
Vertreter, von Gregorins Barhebräus (} 1286), gebildet, der nicht 
mr auf allen Gebieten der theologiſchen Litteratur der Syrer 
ſhriftſtelleriſch tHätig war, fondern auch alles, was feine Vor- 
gänger in den verſchiedenſten Disziplinen geleiftet Hatten, in 


23 Ryffel 


muftergültigen Werken zuſammenfaßte und ſo gewiſſermaßen die 
Frucht der wiſſenſchaftlichen Arbeit feiner Kirche im gedrängter, 
kompendibſer Darftellung der Nachwelt überlieferte. 

Ihm gleich fteht an Vielſeitigkeit und wiſſenſchaftlichem Ernſte 
Georg, Biſchof der Mraber ?), neben Barhebräus und dem Zeit- 
genoffen George, Jakob von Edeſſa ( 708), einer der namhafteften 
Gelehrten der Jakobiten, deſſen fchriftftellerifche Bedeutung durch 
dieſen Aufſatz in ein helleres Licht gebracht werden ſoll. Dieſer 
jakobitiſche Biſchof, deſſen Wirkſamkeit als Schriftſteller und Biſchof 
in das erſte Viertel des 8. Jahrhunderts fällt, kann ſomit als 
typiſcher Vertreter der geſamten theologiſchen Wiſſenſchaft der 
Syrer gelten, wie ſich dieſelbe um das Jahr 700 — alſo etwa 
in der Mitte zwiſchen ihren Anfängen und ihrem Abſchluſſe durch 
Gregorius Barhebräus — ausgebildet Hatte. Dies aber ift zw 
gleich auch die Zeit ihrer Höchften Blüte, 

Zwar ftehen ung nur wenige und bdürftige Nachrichten über 
den äußeren Gang des Lebens Georgs zur Verfügung, aber wir 
vermögen doch die Zeit und den Ort feines Wirkens in einem 
hohen Kirchenamte näher zu beftimmen. Dagegen ift uns ein 
großer Teil feiner zahlreichen Schriften erhalten, unb wenn auch 
von den noch vorhandenen Erzeugniffen feiner ſchriftſtelleriſchen 
Thätigfeit bis jegt nur der Heinfte Teil gedruckt ift, fo genügen 
doch die veröffentlichten Schriften George und die reichlichen 
Notizen, welde Aſſemani und Wright über feine Werke geben, um fih 
ein Bild von feiner miffenfchaftlichen Bedeutung zu verſchaffen. 
Es ift übrigens anzunehmen, daß wir mit der weiteren Ber 


3) Über Georgs Lehen und Schriften ift zu vergleichen J. G. E. Hoff- 
mann, De hermeneuticis apud Syros Aristoteleis (Lipsiae 1869), 
P. 148—151, der fi im weſentlichen auf die Angaben von J. 8. Asse- 
mani, Bibliotheca Orientalis, T. I: De scriptoribus Syris orthodoxis, 
Cap. XVI, p. 494 (vgl. T. II: Dissertatio de Monophysitis, art. IX) 
Mügt. Ein Urteil über Georgs ſchriftſtelleriſche Bedeutung hat de Lagardı 
ausgefprodjen, indem er in dem Programm: De geoponicon versione syriaca 
commentatio (1855), p. 20, Anm. 1 (wieder abgebrudt in den „Geſammelten 
Abhandlungen“, ©. 142, 6) fagt: „Georgium episcopum Arabum erunt 
multi, qui adamaturi sunt, hominem maxime et acutum et circum- 
spectum.“ . . 





Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 3 


öffentfihung der wichtigften feiner Schriften nicht nur unfere Kennt⸗ 
nis feiner außgebreiteten Gelehrſamkeit erweitern, fondern auch neue 
wichtige Angaben über fein Leben und feine Wirkſamkeit als Biſchof 
erhalten werden. 


Über die Zeit, in welcher der Araberbiſchof Georg Iebte, find 
bir von verſchiedener Seite berichtet. Nach Barhebräus firiert 
Afemant ) die Zeit feines biſchöflichen Wirkens auf die Jahre 
686— 724. Während wir aber über das Jahr feines Todes nur 
die eine Notiz Haben, daß er in dem Jahre, wo er den Athanafius II. 
(# 740) zum Patriarchen ordiniert Hatte, geftorben ſei 2), liegen 
und über das Jahr feines Amtsantrittes drei einander widerſprechende 
Angaben vor. Nach Barhebräug ®), dem Affemani folgt, ift Georg 
im Jahre 687 orbiniert worden, zwei Monate nad) dem Tode 
des Patriarchen Athanaſius II. von Balad, der angeſichts feines 
Todes dem Sergius Zätünäjä, dem Erzbiſchof von Kartamin 4), 
die Wahl George zum Biſchof anbefohlen Habe; Athanafins II. 
aber ftarb 998/687. Es fragt ſich fehr, ob wir berechtigt find, 
diefe ganz beftimmte Angabe des Barhebräus zu bezweifeln, und 
war auf Grund einer Bemerkung des — Ende des 8. Jahr⸗ 
hunderts, alſo freilich viel früher al8 Barhebräus lebenden — Patri⸗ 
arhen Dionyfius von Tellmachre, der den Tod des Athanafius erft 
in da8 Jahr 1015/704 verlegt, aber die Ordination George im 
Jahre 961/650 geſchehen fein läßt o). Cine dritte Notiz über das 





4) Bibl. Or. II. Diss. de Mönoph. IX. De episcopis Jacobitarum : 
sv. Hirta. Catal. bibl. Vatic. II, 402. 

3) Bibl. Or. II, 338 und Chronicon ecclesiasticum edd. Abbeloos 
et Lamy, ®b. I, ©. 308, vgl. Note 4. 

3) Chron. ecel. I, 294. 

4) Barh., Chron. eccl, p. 285. Cr war Mapfrian (d. i. Metropolit) 
der Jakobiten und Hatte als folder auch den Titel Erzbiſchof. 

5) Bibl. Or. II, 103. Bor Georg wird Johannes (617—650) als 
Biſchof von Hirta genannt; ein Vorgänger diefes war Theodor, den Dionyſius 
(im Chronicon ao. 862/551) erwähnt (B. O. I, 167). Bgl. hierzu die Lifte der 
jalobitiſchen Bifchöfe zu Hirta in dev Bibl. Or. (f. 0. Anm. 1) und bei Le Quien, 
Oriens Christianus, T. II (1740), p. 1585: Ecclesia Hirtae Naamanis. 


% Ryifer 


Jahr des Amtsantrittes George findet ſich in der Hydragiolota 
des Antonius Marfilius Columna, der da, wo er non der Segnung 
des Waſſers nad) ſyriſchem Ritus Handelt, auf Grunb eines alten 
ſyriſchen Coder berichtet, daß Georg bereits 647 ordiniert worden 
ſei 1). Überdies empfichft ſich die Angabe des Barhebräus auch 
noch dadurch, daß eine biſchöfliche Wirkſamkeit von 74 oder von 
77 Jahren doch wenig Wahrſcheinlichkeit für ſich hat. 

Aber daß Georg wirklich gegen Ende des 7. und im erften 
Biertel des 8. Jahrhunderts Biſchof der chriſtlichen Araber war, 
wird uns indireft auch noch anderwärts beftätig. So wird er 
bei Barhebräus ) als Zeitgenoffe des berühmten Jakob von Edeſſa 
bezeichnet, der etwa 684 (nicht aber 641, wie Pfeifer ©. 164 
nad) der Bibl. Or. fagt) Biſchof von Edeſſa wurde und im Jahre 
708 ftarb. Augenfcheinlich wollte Barhebräus, Indem er fagt, 
daß zu der Zeit beider Männer ein gemiffer Chrinus, Sohn des 
Manſur — d. 1. Johannes Damascenus — die Gefänge, die 
griechiſch Kanones hießen, erfunden Habe *), für feine ſyriſchen 
Leer den Anfang bes 8. Jahrhunderts als die Zeit der Er- 
findung diefer kirchlichen Hymmen angeben. Ein unzweifelhafte 
Beftätigung aber, daß Georg im erjten Viertel des 8. Jahr⸗ 
hunderts Biſchof der hriftlichen Araber war, erhalten wir durch 
ihn felbft, Indem wir eine Reihe genau batierter Briefe von ihm 
befigen, welche er in den Jahren 714 (1025) bis 718 (1029) 
als Biſchof und im Alter, wie fih aus dem Inhalte ergiebt, 
geſchrieben Hat (f. u. ©. 300ff., vgl. ©. 305, Anm. 1). 

Georg gehörte der jakobitiſchen Kirche Syriens an. 
Zwar zählt ihn Afjemani *) den orthodoren Schriftftellern zu; dab 
er aber Jakobit war, geht daraus Hervor, daß er von dem jafo- 
bitiſchen Erzbiſchof Sergius Zuͤthunaja auf Befehl des Patrir 
archen der Jakobiten zu Antiochien Athanafius II. zum Biſchof 


1) Bibl. Orient. I, 469; vgf. I, 167b. 

2) Ethica, cap. 4, f. Bibl. Or. I, 494. 

3) ©. Herzogs Realenchkl., Art. „Sohemıes von Damaskus“. 1. Aufl. 
Bd. VI, ©. 746; 2. Aufl. 8b. VO, ©. 39. 

4) Bibl. Or. 1, 494. 








Ein Brief George, Biſchofs der Araber 2c. 8 


orbinkert wurde. Aber auch aus feinem Briefe an den Presbyter 
Jeſus, der unten im Auszug mitgeteilt werden foll, laſſen ſich 
meßrfache Zeugniffe dafür anführen, daß er der jafobitifchen Kirche 
angehörte. Wir erwähnen hier uur den einen Umftand von durch. 
Ihlagender Beweiskraft, daß er im 8. Briefe (f. u. ©. 362f., vgl. 
©. 357 u. 358ff., ſpez. ©. 365) die „Adyos drıIgonon‘“ des 
berühmten monophyſitiſchen Patriarchen Severus von Antiochlen 
(612—518) als maßgebende Quellen für die reine Lehre citiert. 
Dazu tommt, daß er auch direkt als „Georg der Jakobite“ bes 
fihnet wird 1), 

Seinem Kirchenamte nad; war Georg „Biſchof der arabifchen 
Vller“, oder, wie er häufig auch einfach genannt wird, „Biſchof 
der Völler“. Beiläufig ſei bemerkt, daß ein Lobredner der Jalo⸗ 
bien, der biefe abgekürzte Bezeichnung mißverftanden Hatte, ihn 
deshalb zum Patriarchen aller chriſtlichen Voller macht?). Sehr 
oft werden auch die arabiſchen Stämme genannt, über welde ex 
als Biſchof geſetzt war, indem er bald als Biſchof der Tanuͤchiten, 
Tüten und “Aghliten (ſ. u. ©. 305), bald ale „Biſchof der 
Ma addener 3) bezeichnet wird 4). Won biefen arabiſchen Stänmen 
find die Aquliten benaunt nad) der 5 Tagereifen von Bagdad ente 
fernten Stadt Küfa am Euphrat, deren alter ſyriſcher Name 
Ale war. Es iſt dies biejelbe Stadt, die, im 7. Yahıe 
hundert gegründet, eine Zeit lang Refidenz der Kalifen war, durch 
das Aufblühen von Bagdad aber in Verfall geriet und jegt in 
Trümmern Liegt. Die Tanüchiten find der bekannte Stamm, ben 
fhon Ptolemäus (Geogr. VI, 7, 28. cl. 21) unter dem Namen 
Havovicas oder Oavicas erwähnt und der nad) Barhebräus ®) 
auch um Haleb Herum oder, wie er am einer anderen Stelle fagt, 


)&. Renan im Journal asiatique, Bb. XIX, Jahrg. 1852, ©. 824 
Rote. Bol. 3. B. noch ©. 300f. 

2) Bibl. Or. I, 494. 

3) Elias von Niſibis, De anni computatione, in Land 8 Anecd. I, 473. 

4) Bol. über diefe arabiſchen Stämme Th. Nöoldeke, Geſchichte der 
Perfer und Araber zur Zeit der Saſaniden (1879), ©. 23f. böff. 67. 148. 
318 n. 833]. 

6) Chron. Syr., p. 188, 6 u. 144,8 v. u, 


28 Ryſſel 


am Fluſſe Kuwek bei Haleb in Zelten wohnte. — Die an dritter 
Stelle genannten Tu'iten laſſen fich nirgends nachweiſen, weder in 
den geographifchen Wörterbüchern, wie in dem großen Werke Juͤquts, 
no im Dämüs. — Während diefe Völfer gewöhnlich mit einander 
aufgezäglt werden, fteht diefer Beziehung die andere entgegen, wo⸗ 
nad) Georg Bifchof der Ma’addener genannt wird (f. o.). Diefer 
arabifche Volksſtamm nomadiſierte ſchon von 524 am füblic und 
öftlich von Hirta ) und erftredte fi im Jahre 772 zugleich mit 
den Tha labiten bis nach Moful Hin. Nach Barhebräus ?) gehörten 
auch die Taghlibiten zu den Hriftlichen Nomaden. Darnach war alfo 
Georg Bischof der nomadifierenden Araber, die ihre Züge bis nad 
dem nörblicheren Teile von Mefopotamien Hin ausdehnten und dem 
jatobitifchen Glauben angehörten. 

Wann nad) diefen Gegenden das Chriftentum gekommen ift, 
Täßt fi) nicht genau fagen. Nach Eufebins *) Hat das Evangelium 


in Arabien etiva felt dem Anfange des 3. Jahrhunderts, wahrfcein: 


lich aber ſchon früher, Eingang gefunden. Ein Bistum Arabien gab 
es aber erft feit der Zeit des Biſchofs Maruthas von Tagrit (um 
430). Dasfelbe war dem Maphrian von Tagrit untergeben, indem 
es eine der 12 Diöcefen bildete, die unter diefem ftanden %), umd war 
in 2 Teile geteilt: in das eigentliche Arabien, wo der Biſchofsſit 
gewöhnlich in Aquula war — und zwar, wie wir umten zeigen 
werden, nicht in dem befannten “Agüla am Euphrat, das bei den 
Arabern den Namen al-Küfa führte — und in das ffenitife 
Arabien d. h. das Gebiet der fog. Skeniten 4) (Aſſemani: Arabes 
Taalabenses Scenitae, d. 5. der nomadifierende Araberftamm 
der Taghlibiten, f. o.), wo der Sig zu Hirta des Naaman war. 


1) Bibl. Or. I, 364 u. 365, vgl. Anm. 1. 

2%) ©. Bibl. Or. II, 419. 

s) Hist. ecel. VI, 19; vgl. jedod) auch V, 10 das über Pantänıs Ge- 
fagte, was auf Arabien zu beziehen ift. 

4) Stephanus führt den Namen auf eine Stabt der Araber im für 
lichen und wüften Arabien, Namens ai Zxnvet (Strabo, lib. 16) zuräd, 
womit Hirta gemeint ift. — Nach der gewöhnlichen Bezeichnung find diefe „Ste 
niten“ der Byzantiner die Bebuinen vom Stamme Belr-Wäil. 


Ein Brief George, Biſchofe der Araber zc. 239 


Diefe Skeniten (griech. Zxpviras und ſyr. AA usa d. i. Zelte 
moßner, oder auch arab. Kay d. i. Beduinen, für. u⸗ Jori 
Wüftenbewohner), die das Gebiet des wuſten Arabiens an den 
Grenzen Syriens, Mefopotamiens und Chaldäas 1) bewohnten und 
ſich bis an den perfifchen Meerbufen erſtreckten, waren ſchon im 
Jahre 320 dur die Biſchöfe von Edefja und Seleucia befehrt 
worden 2). Später wurden noch die Bewohner von Hirte, Matt, 
Maifhän (Bafra) und Jamuma bekehrt, wiedenn auch von den Königen 
von Hirta verfchiedene Chriften waren. Diefe Tagplibiten refp. 
Steniten, die zu dem Reiche der Könige von Hirta gehörten, hatten 
auch in Hirta ihren Biſchof, der nad; Seleucia gehörte. Später hatten 
die Neftorianer und Jakobiten unter diefen arabifchen Chriften ihre 
behre ausgebreitet. So gab es in der Stadt Hirte (für. Tlzam 
Hertä, arab. ill), die nur 3 Meilen von Kafa entfernt war ®) 
und nah Nomän, dem Sohne des chriſtlichen Araberfürften 
Mundäir, der hier feinen Sig hatte, benannt war (daher genauer 


a Vu oder as Ann} Was), ſowohl einen Biſchof 
der Neftorianer als auch der Jakobiten. Und zwar find mit allen 
denen, die don Dionyſius von Tell⸗machre und Barhebräus ein 
fach als Biſchöfe der Araber bezeichnet werden, wie Theodorus, 
Johannes und Georg (f. o. ©. 285, Anm. 5), fowie auch Achu⸗ 
demes, der fpäter der erfte Maphrian der Jakobiten (feit 559) wurde, 
nicht die Biſchöfe des eigentlichen Arabien, die in Aqula und fpäter 
in Balad ihren Sig hatten, gemeint, fondern immer die Bifchöfe 
in Hirta, wie es uns auch ausbrüdlic bezeugt wird, daß der 
jalobitiſche Biſchof der Zaghlibiten, die auch Sfeniten genannt 
werden, in Hirta feinen Gig Hatte‘). Daß der Araberbifchof 


1) Arabia deserta, auch Zxenvizis genannt, teilte man feiner Lage wegen 
in die ſyriſche Wüfte, in die Wüfte von Gefica d. i. Mejopotamien und von 
Irat d. i. Chaldäa. Bel. Bibl. Or. III, II. p. 553. 

%) Sozomenus I. II, c. 17; 1. VI, c. 34. 

3) Abulfeda, Tab. geogr. num. 270. 

4) Dionyfins im Chron. zum Jahre 862/661, wo der oben erwähnte 
Theodor birelt als Biſchof von Hirta des Naaman bezeichnet wird. Dal. noch 
Bibl. Or. I, 494b. 


20 Ryfſſel 


Georg, obwohl zugleich Biſchof der Aquliten genaunt (ſ. o. 
©. 287), ebenfalls feinen Sig nicht in Aqula, ſondern in Hirta 
hatte, geht noch aus einer anderen Notiz Hervor. Da nämlich, 
zu derſelben Zeit, wo Georg Biſchof der “Agüliten war, in 
Agdıla ein gewiffer Bacchus Bifchof war !), der dieſes Bistum 
unter dem feit dem Fahre 999/688 im Amte befindlichen Mapkrian 
Denha erhalten und bis etwa drei Jahre vor der Ernennung des 
Vatriarchen Elias im Jahre 706 inne hatte, fo fann Georg zu 
diefer Zeit nicht Biſchof von Aqula gewefen fein. Er muß alfı, 
obwohl dies nirgends ausdrüdlid erwähnt wird, in Hirta feinen 
Sit gehabt haben, während Bacchus als der andere Araberbiſchof 
in ‘Agüla wohnte. Da übrigens unter ben arabifchen Stämmen, 
deren Biſchof Georg war, auch “Agdliten genannt werden, fo ift 
anzunehmen, daß das “Agüla, mo Bacchus feinen Sig Hatte, nicht 
die befannte Stadt diefes Namens ift, ſondern höchſt wahrſcheinlich 
das ‘Agdla (genauer Dair ⸗Aqula), das in der Nähe des Ligrie- 
ufers nicht weit von Bagdad entfernt Ing. Diefe Vermutung er- 
Hält eine indirekte Beftätigung dadurch, daß bie Bifcöfe vou 
Aqula fpäter die Doppeldiöcefe Tel “ofür und Abü marjah, ſowit 
Balad und Dairk d-mu‘allag inne Hatten. Diefe Didcefen Tagen 
aber mehr in dem nördlichen Teile von Mefopotamien, zu welchem 
auch Dair⸗Aqula gehört (f. Bibl. Or. II, s. v. Arabia). 

Noch fei in Kürze darauf hingewieſen, daß Abbeloos in feiner 
Biographie des Jakob von Sarüg, Biſchof von Batnän (geb. 451, 
geft. 521) ®), zwei Uraberbifchöfe Namens Georg unterfcheidet. 
Indem Abbeloos vermutet, daß ber Verfaffer einer der beiden 
Biographien des Jaklob von Sarüg, des einem gewifen Georg zu⸗ 
gefchriebenen Carmen panegyricum, der „Araberbijhof Mar 
Georg“ ift, von welchem Barhebräus im Chronifon ®) erzählt, daß 
Zalob von Sarüg eine Auslegung ber 6 Bücher der Kirchenge ⸗ 


1) Barhebräus (tm Chronicon) erwähnt dieſen Biſchof Baechns von 
Aqdla, der nach Abfegung des Mapkrian Denha von dem Patriarchen Julian 
zum Primas des Orients eingefegt wurde. S. B. O. II, 430. 

2) De vita et scriptis 8. Jacobi Batnarum Sarugi in Mesopotamis 
episcopi (Lovanii 1867), S. 86f. u. ſpez. ©. 87 Anm. 

8) Bibl. Or. II, 822. 


Ein Brief Georgs, Bliſchofs der Araber zc. 21 


ſchichte des Evagrins auf die Bitte diefes feines Schillers verfaßt 
habe, jo wird er, da jener Lobredner des — wie noch Abbeloos 
meint — orthodogen Jakob von Sarüg ſicher au dem orihe- 
doren Glauben angehören muß, zu der Annahme veranlaßt, dag 
& zwei Araberbifchöfe Namens Georg gegeben habe, von denen 
der eine, der Verfaſſer des Paneghrikus, der Schüler des Jakob 
don Serüg geweſen fei, der andere aber unſer Georg, der, wie ſchon 
erwähnt, Zeitgenoffe bes Jakob von Ebeffa (+ 708) wart). Aber 
es ift doch einfacher, in jener Stelle des Chronikon eine Verwech⸗ 
felang des Schülers Jakobs von Sarug mit dem Zeitgenoffen des 
Yatob von Edeſſa anzunehmen; vielleicht andy, daß ein Abfchreiber 
dem Namen Georg das Beiwort „[Bifhof] der Araber“ Hinzu 
fügte, eben weil er am unferen Georg dachte, der zu Jakob von 
Ehffa in einem ähnlichen Verhältnis ftand, wie jener Georg zu 
Yatob von Sarüg (f. u. ©. 299). Es ift nicht unmöglich, daß 
die oben erwähnte Stelle auch ber Grund geweſen ift, warum 
Afemani den ‚Mar‘ Georg ber Araber unter die orthodoren 
Schriftftell er ftellte. 


Die ſchriftſtelleriſche Thätigkeit des Araberbiſchofs 
zeugt vom großer Vielſeitigkeit dieſes Autors, und feine Werke um⸗ 
faſſen neben feiner Überſetzung Ariſtoteliſcher Schriften die ver- 
ſchiedeuſten Zweige der theologiſchen Wiſſenſchaft. Außer einer 
Anzahl Auslegungswerke, die allerdings faſt ganz verloren gegangen 
find, Hat Georg auch dogmatifche Schriften, chronologiſche Abhand« 
fangen und verfchiebenartige Gedichte verfaßt; von befonderem In⸗ 
tereſſe find aber feine Briefe, weil fie uns nicht bloß näher mit feiner 
Perfönlichkeit bekannt machen, fondern uns auch zeigen, welche 
wiſſenfchaftliche Aufgaben in jener Zeit die Geiftlihen und Mönde 
hauptſächlich befchäftigten, welche dogmatiiche Tragen mit Vorliebe 
diskutiert wurden und wie die kirchliche Gefeßgebung im Leben der 
Kirche zur Ausführung gelangte 2). 











1) Olernach iſt die Notiz in Herzogs Real-Enc. (2. Aufl, Art.: „Jakob 
dv. Sarng”) zu berichtigen, daß nach Abbeloos der Panegyritus dem Zeitge- 
offen Jalobs von Edeſſa zuzuſchreiben jet. 

2) Byl. zu dem Folgenben das Verzelchnis der Schtiften Georgs dei Bar« 


22 Ryſſel 


Wir beginnen unſere Darſtellung der litterariſchen Produktien 

1 Georgs mit feiner berügmten Überfegung eines Teiles des 
Organon von Ariftoteles mit Einleitungen, Anmerkungen und 
Kommentaren (Brit. M. cod. DCCCCXV aus dem 8. oder 9. 
Jahrh., ſ. Wright, ©. 1163F., vgl. Renan im „Journal asia- 
tique“, Bd. XIX, April 1852, ©. 324). Diefe Überfegung um 
faßte 1) die zehn Kategorieen, 2) die Abhandlung reg? Egpmvelas 
und 3) die Analytica priora, die er in zwei Büchern überjegte. 
Da dies ausdrücklich bezeugt ift, fo ift anzunehmen, dag er die 
Analytica priora ganz überfegte, — was infofern von Intereſſe 
ift, als die Alten nur die erften fieben Kapitel, welde die 
einfageren Arten von Spllogismen behandeln, zu überſetzen 
pflegten ). Jeder diefer drei Teile zerfällt in drei Abteilungen: 
in die von Georg verfaßte längere Einleitung, in ben eigentlichen 
Text, der von Anmerkungen begleitet .ift, und in den ausführlichen 
Kommentar, welcher jedoch bei der Schrift regt Seunvstas fehlt. 
Das Ganze ift der umfangreichfte Ariftotelifche Kommentar, den 
wir im Sprifden befigen (Renan a. a. O.). Wie Hoffmann, 
der diefe Überfegung als „optimum Georgiani nominis ınonu- 
mentum‘ bezeichnet, gezeigt und durch Beiſpiele erläutert Hat ?), 
zeigt Georg fein Geſchick als Überfeger befonders dadurch, daß tr 
nicht fllavifch einen Terminus, eine Konjunktion und Partikel oder 
ein Kompofitum immer mit demfelben ſyriſchen Ausdruck wieder 
giebt, fondern je nad) dem Zufammenhang mit dem Ausbrud ab ⸗ 
wechfelt; auch Hat er die von Ariftoteles angeführten Beiſpiele 
nicht mit neuen, dem ſyriſchen Verſtändnis angepaßten vertauſcht. 
In beider Hinſicht unterfcheidet er fich vorteilhaft von anderen 
ſyriſchen Überfegern, deren Überfegungen nicht ſelten durch ſtlaviſcht 
Nahakmung des griechiſchen Wortlautes dem ſyriſchen Spradgr 


fatibäu® (Bar Slib2), Bibl. Or. II, 188 u. befonders aud; W. Wright, 
Catalogue of the Syriac manuscripts in the British Museum. 

3) Über die orientalifchen Bearbeitungen der Analytica priora ſ. Stein: 
ſchneider, Al-Faräbi (M&moires de l’Academie imperiale des sciences 
de St. Pötersbourg, 1869. VII sec. T. XIII, No. 4), ©. 28ff. 

2) De hermeneuticis apud Syros Aristoteleis (1869), ©. 18 ff. 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber 2c. 28 


braud Gewalt anthun und unverftändlich werden oder auch duch 
willturliche Änderungen beweifen, daß fie nicht die nötige Achtung 
vor dem Wortlaute des Originals Haben. Bis jegt ift von dieſem 
großen Überfegungs» und Auslegungswerfe nur ein Heiner Zeil 
veröffentlicht, und zwar jo viel von der Überfegung der Schrift 
zesgi öpumveiag erhalten ift, nämlich ein Stüc ganz (Rap. 16, 
f. die Ausgabe von Bekker S. 16—17, 3. 36, die Parifer Aus« 
gabe ©. 24—27) und von den übrigen Teilen diefer Überfegung 
Heine Bruchſtücke 1). 

Mit dem Zwede und der Anlage des an erfter Stelle er- 
mwähnten Werkes Georgs find nahe verwandt die Schofien zu 2 
den Homilieen des Gregor von Nazianz (Brit. M. cod. 
DLXII aus dem 10. oder 11. Jahrhundert, ſ. Wright, ©. 
441f.), nur daß er die Überfegung der Homilieen nicht felbft an- 
gefertigt Hat und auch die eigentlichen Scholien nicht von Georg 
verfaßt, fondern nur zufammengeftellt find. Jeder Homilie geht 
eine kurze Einleitung voraus, welde einen Abrig des Inhalts und 
eine Lifte der darin eitierten Schriftfteller enthält %). Daß Georg 
der Verfaffer oder richtiger der Kompilator diefer Schofien ift, die 
er wahrſcheinlich der üfteren, neſtorianiſchen Überfegung des Gregor 
von Nazianz entnahm, ſoweit fie von Daniel, dem Schüler bes 
Rabban Benjamin, verfaßt waren, zu denen aber noch die von 
Aitallãhã (zur 1. Homilie) und von dem jafobitifhen Patriarchen 
von Antiohien Athanafins II. von Balad verfaßten hinzukamen, 
ift zwar nicht ausdrücklich gefagt; es geht diefes aber daraus her⸗ 
vor, daß er der Zeitgenoffe und Freund bes Athanafius von 
Balad ®) war, zu deſſen Lebzeiten 4) die Werke Gregors von Nazianz 
von dem berühmten Jalob von Edeſſa überfegt wurden. Diefe 
Vermutung wird dadurch beftätigt, daß gegenüber einer Stelle, wo 


2) ©. Hoffmann a. a. O., S. 22—28, ferner ©. 30. 38. 4b. 53. 

3) In den Schofien finden ſich auch folgende Eitate: Sokrates, Hist. ecel. 
I, 315g. 85. 38; II, 17. 26; II, 14. Theodoret, Hist. ecel. IV, 2. 82. 

8) Daß Georg anf Befehl des Athanaſius IL zum Biſchof ernaunt wurde, 
AR ſchon oben (&. 285) erwähnt worden. 

4) S. Gregorius Barhebräus in der Bibl. Or. II, 807; I, P. I, 
©. 23 Anm. 

eol. Stad. Safız. 1888. 20 





[3 Rnfier 


der Kommentator von ſich in ber erften Perfon rebet, der Name 
„Georg, Biſchof] der Völler“ an dem Rand beigefchrieben ift. 
3 Weiter meldet uns Affemani !), dag Georg Kommentare 
zur heiligen Schrift verfaßt Habe, und fpeziell wird ein 
Kommenter zum Evangelium bes Matthäus erimähnt, 
von dem fich ein Fragment in einem ber ſyriſchen Codices dis 
Affemani (ood. 3, p. 316) erhalten Hatte, wie auch ein unbelannter 
Autor einer ſyriſchen Katene häufig Erläuterungen aus eimm 
Kommentar Georgs zu den vier Evangelien anfhhrt (cod. ms. 
Syr. Vat. 16). Auch bemerkte Affemani *), daß Barhebräus in 
feinem großes Auslegungswerke ausar raze (d. i. „Schag ber 
Geheiwniſſe“) mehrfach, Kommentare von Georg citiert. Prüfen 
wir aber die Mitteilungen näher — fo weit bies ohne Eiaſich 
der Handſchriften, die dem Afjemani vorlagen, möglich ift —, fo 
ergiebt ſich ein weentlich anderer Sachverhalt. — So enthält zw 
nüft eine Handſchrift der Vatilanijchen Bibliothek *) unter ver- 
ſchiedenen Scholien, bie einer and verfihiedenen griechiſchen und 
ſyriſchen Kommentaren zu Matthüus kompilierten Auslegung dei 
erften Evangellums angehängt: ſind, auch ein Scholion des Mraber- 
biſchofs Georg; in welchem bangelegt ifi, wie die Gotießgebärerin 
Maria veB der unfructbaren Anna gehoren und im. Tempel det 
Herta zu Jeruſalem dargeſtellt worden fei, „gleichwie auch bie 
Hanna, bie Mutter Samuels, des größten Propheten, unter Thräuen 
und. Gebeten und Gelübben ihn empfängen Hatte“ +). Weiter bat 


1) Bibl. Or. I, 494; II, 160. 

%) Bibl. Or. II, 288. 

%) ©. Catalogus bibliothecae Vaticanae IM; 22; cod. CHI, die ä- 
tefle Gandfchrtft, enthaktenb Konmentare zum ten und Neuen Xeftament, 
darunter unter Nr. 49 dieſe kurze Auslegung zum Evangelium. Matthäi. 

4) Diefe felbige Stelle iſt mögtichermeife auch in einer Cabena patrum 
tert, in welcher Annsfprüche der Kichemoäter von einem ebeffeniſchen Mönch, 
Rumens, Severus, im Jahre 861 fo meinendergeräiht And, ba fie einen 
fortlaufenden Kommentar zu einen guößeren Zeile des. Akten, und Neuen Tefta - 
mentes bilden (Brit. M. cod. DOCCLEIE aus tem Jahre 1392/10861). Hier 
ich, uutet Ns. 8 (Wright, S. 900b) zu Luh 1, 86: „Gott ift Fein Ding 
unmöglich“, mit ber gewöhnlichen Einführungsformel auch ein Ausſprnch George 


Ein Brief George; Biſchofs der Araber zc. 2% 


Dionyſius Barfalibäus, Biſchof von Amid, Im feiner Auslegung 
der Enanigelten ) bei der Beſprechung der tage, warum in ber 
Genealogie des Matihdus die drei Könige Ahasja, Joas unb 
Amazia weggelaffen find, außer den zahlreichen gewöhnlichen Er⸗ 
Härungsverfuchen der Kommentatoren auch zivei von Syrern vor⸗ 
gebrachte Erklärungen erwähnt, von bene bie eine von Georg 
ſtammt. Es Heißt Hier: „Georg, der Biſchof der Völler, meins, 
jene drei Perfonen felen weder von Matthäws ausgelaſſen, noch 
ſei die Summe der Generationen verändert worden, mm 14 flatt 
17 zu erhalten; fondern weil er an die Juden fein Evangelium 
ſchtieb und die meiften Juden fich ldamals] der griechlſchen Sprache 
bedienten, in welcher n, y, x nicht mie im Hebrätfchen und 
Sytiſchen ausgedruckt werden können, da das griechiſche Alphabet 
feine Gutturalbuchſtaben Hat. Deshalb gaben es die Überſetzer, 
die das Evangelium aus dem hebrälſchen Originale ins Griechlſche 
äberteugen, im folgender Weife wieder: FJoram zengte den Ochezia, 
Ochoʒia den Joas, Joas den Ofia. Die Abſchreiber dieſes grie⸗ 
chiſchen Textes nun kamen aus Verſehen von dem einem Satze: 
Joram zeugte den Ochozia, in den anderen und ſchrieben: Joram 
zengte den Ozia, mit Auslaſſung ber Mittelglieder, indem ſie durch 
die Ähnlichteit der Namen irre wutben, und mit Veränderung des 
einem Buchſtabens x, was ißnen, ohne daß fie es inerkten, begegnet 
fein farm. Wenn aber nicht, jo muß man annehmen, daß die 
Zahl vierzehn der Generatisnen deshalb von ihnen worgezogen worden 
ift, weiß bie je fiebente Generation und bie Siebenzahl bei den 
Iubengjrifieh im befonderem Anſehen ftenden. Die auf dieſe Weiſe 
fehlerhaft gewordenen Handſchriften find daun zu allen Bölkern 
verbreitet worden“ Dieſe Erörterung Georgs wird auch von 
Barhebrãus in feinem „Schatz der Geheimmniſſe“ zu Matthäus, 
Rap. 1, B. 8 citiert ), indem er fagt: „Und Georgius, (Bifchof) 


angefühet, ber leider nicht mitgeteilt iſt, aber in Rüchicht auf den Inhalt der 
behandelten Stelle recht wohl mit bein oben angeführten ibentifd} fein Tann. 

1) ©. Bibl Or. II, id6sgq. Die citierte Stelle fieht S. 160. 

2) Gregorii Alulfarag bar Ebraja In Evangelium Matthadi Scholia 


e recognitione Johannis Spanuth (1879), p. 8. 
20* 


26 Ryſſel 


der Voller, meint, daß ber erſte Abſchreiber fi verſah infolge der 
Ahnlichkeit der Buchſtaben und, ftatt Ahasja zu ſchreiben, Ufie 
ſchrieb; mich aber überzeugt diefe Auffafjung nicht, weil es mit 
diefen drei Berfonen ſiebzehn Geſchlechter find; und wenn dieſe nicht 
[bereit] von dem Evangeliften außgelaffen wurden, wie kommt es 
da, daß er nicht fiebzehn, fondern [nur] vierzehn zählt; deshalb it 
[die Zahl] vierzehn nach Origenes beabſichtigt.“ Wenn wir num 
erwägen, daß fonftige Stellen aus Auslegungsichriften George in 
dem Thefaurus des Barhebräus nicht citiert werden — wenigftend 
nad dem, was fi) mir bei einer Durchſicht fümtlicher auf der 
Leipziger Univerfitätsbibliothel vorhandenen Publikationen aus Gre⸗ 
gors Werke ergeben hat —, fo wird wohl anzunehmen fein, daf 
Georg nicht einen fortlaufenden Kommentar zu ben heiligen 
Schriften verfaßt Hat, fondern daß er nad) der Sitte feiner Zeit 
einzelne, ihn beſonders intereffierende oder von anderen aufgemworfent 
ragen in befonderen Scholien behandelte. Wenigſtens erjceint 
diefe Annahme angefihts der Thatſache, daß nur folche Heinere 
Auffäge citiert werden, als das Wahrſcheinlichſte. 
Wir wenden und nun zu den bogmatifchen Schriften George. 
4 Hierher gehört eine kurze Erläuterung der Saframente 


ber Kirche, welde die Taufe, das Heilige Abendmahl und die 


Weihe des Salböls behandelt. Diefer „Kommentar“, der fid in 


demfelben Codex findet, der auch die Briefe Georgs enthält (j. u. | 


©. 300), beginnt mit den Worten (©. 985): „Weil num die Lehrer 
der Kirche eine Erläuterung der Sakramente (‚Myfterien‘) in aus 


führlicher und eingehender und erhabener Weife verfaßt Haben, Haupt | 


ſachlich aber der Heil. Dionyfius, der Schüler des Apoftels Paulus, 
einer von den Richtern des Areopags, welder Biſchof der Stadt 
Athen wurde, jo Habe auch ich in Kürze zum Stublum für die, bie 
Belehrung lieben, und zwar befonders für die, welche unfere niederen 
Amtsgenoſſen find und denen es nicht möglich iſt, immerwährend 


die Bücher (eig. ‚Tafeln‘) der Heil. Väter zu Iefen, ſei es, weil | 


fie ihnen nicht zur Hand find, fei es, weil nicht jeder den er- 
habenen Sinn der Väter verftehen Tann, — darum Habe ich mit 
kurzen Worten das, was von dem heil. Lehrern verfaßt und fo 
wohl von Dionyſius als von anderen in ſcharfſinniger Weiſe 


Ein Brief George, Biſchofs dee Araber etc. 3 


gefagt worden ift, in Teicht verftändficher und einfacher Darftellung 
behandelt, damit es jeber verftehen kann, der es nötig Hat, bie 
Kraft (ddvaıs) der Heiligen Sakramente zu erfennen.” — Aus 
diefer Schrift ift möglicherweife das Citat genommen, das fi in 
einem umfangreichen Werke, beftehend aus einzelnen Abfchnitten 
über den Körper und feine Teile, über bie Seele, über die Auf- 
erſtehung, über die Menſchwerdung, über das Heilige Abendmahl 
und die Taufe u. f. m. borfindet 1), — vorausgeſetzt, daß das 
Citat in den letzterwähnten Abfchnitten fteht. 

Ob Georg eine kirchliche Gefegesfammlung verfaßt 5 
dat, wie man nad) verfehtebenen Eitaten in dem „Liber directio- 
num‘ des Barhebräus, einem Auszuge der kirchlichen Kanones und 
der weltlichen Gefege 2), angenommen hat, ift fehr zweifelhaft. 
In diefer Schrift ſtellt nämlich Barhebräus Zeugniffe aus den 
Apoſtoliſchen Konftitutionen, aus griechiſchen und ſyriſchen Vätern 
Afammen. Ob man nun bereditigt ift, aus ber Anführung vers 
ſchiedener Entſcheidungen George °) zu fließen, daß er auch 
Kanones niedergefehrieben Habe, ift zum mindeften fraglich; es 
lönnen auch Stellen aus den Schriften George, melde Ent 
ſcheidungen über Fragen der Kirchenleitung enthalten, wie fich folde 
mehrfach in feinen Briefen vorfinden (f. u. ©. 336 u. f. w.), von 
Barhebräns als Zeugnis Herangezogen fein. 

Ferner finden fi auch hronologifhe Abhandlungen unter den 
Werfen Gregors, fo ein Ehroniton*), das er ſelbſt citiert in 6 
feinem Brief an den Presbpter Jeſus (f. u. ©. 320; vgl. La- 
garde, Anal. Syr., p. 115, 19). Diefes Chronifon oder Kalen- 
darium war ein Gedicht, im zwölffitbigen Metrum abgefaßt, in 
dem Jakob von Sarg feine Sermones ſchrieb. In 24 Kapiteln 


1) Wright, Catal, ©. 1006 4. 

%) Bibl. Or. II, 2995qq,, ſpec. ©. 230f.; vgl. cod. Berol, Peterm. 

%) &. Ecclesiae Antiochense Syrorum Nomokanon Gregorii Bar- 
hebraei (bei Mai, Scriptorum veterum nova collectio, T. X, P. II, 
p 1268). Die „Canones‘ Georgs finden fi p. 12. 14. 16. 18. 28. 
3.83 n. 58f. 

4) Bibl. Or. I, 495. S. aud) Cat. bibl. Vatic. II, 532 (cod. CCXLV 


vom dahre 1640). 


26 Ryſſel 


der Voller, meint, daß der erſte Abſchreiber ſich verſah infolge der 
Ahnlichkeit der Buchſtaben und, ſtatt Ahasja zu ſchreiben, Uſia 
ſchrieb; mich aber überzeugt dieſe Auffaſſung nicht, weil es mit 
diefen drei Perſonen fiebzehn Geſchlechter find; und wenn dieſe nicht 
[bereit] von dem Cvangeliften ausgelaffen wurben, wie kommt «3 
da, daß er nicht ſiebzehn, fondern [nur] vierzehn zählt; deshalb ift 
[die Zahl] vierzehn nach Drigenes beabſichtigt.“ Wenn wir nun 
erwägen, daß fonftige Stellen aus Auslegungsichriften Georgs in 
dem Thefaurus des Barhebräus nicht citiert werden — wenigften 
nah dem, was fi mir bei einer Durchficht ſämtlicher auf ber 
Leipziger Univerfitätsbibliothet vorhandenen Publikationen aus Gre 
gors Werke ergeben hat —, fo wird wohl anzunehmen fein, daß 
Georg nicht einen fortlaufenden Kommentar zu den heiligen 
Schriften verfaßt Hat, fondern daß er nad der Sitte feiner Zeit 
einzelne, ihn beſonders intereffierende oder von anderen aufgeworfene 
Tragen in befonderen Scholien behandelte. Wenigſtens erfceint 


diefe Annahme angefichts der Thatſache, daß nur folche MHeinere | 


Auffäge eitiert werden, als das Wahrſcheinlichſte. 
Wir wenden und nun zu den dogmatiſchen Schriften George. 
4 Hierher gehört eine Eurze Erläuterung der Sakramente 
der Kirche, welche die Taufe, das Heilige Abendmahl und bie 
Weihe des Salböls behandelt. Diefer „Kommentar“, der ſich in 
demfelben Cober findet, der auch die Briefe George enthält (ſ. u. 
©. 300), beginnt mit ben Worten (©. 985): „Weil num die Lehrer 
der Kirche eine Erläuterung der Saframente (‚Myfterien‘) in aus 
fürliher und eingehender und erhabener Weife verfaßt haben, Haupt 
ſachlich aber der Heil. Dionyfius, der Schiiler des Apoftels Paulus, 
einer von ben Richtern des Areopags, welcher Biſchof der Stadt 
Athen wurde, fo Habe auch id in Kürze zum Studium für die, die 
Belehrung lieben, und zwar befonders für die, welche unfere niederen 
Amtsgenoſſen find und denen es nicht möglich ift, Immerwährend 
die Bücher (eig. ‚Tafeln‘) der Heil. Väter zu Iefen, ſei es, weil 
fie ihnen nicht zur Hand find, fet es, weil nicht jeder den er ⸗ 
habenen Sinn ber Väter verftehen Tann, — darum Habe ich mit 
kurzen Worten das, was vom den heil. Lehrern verfaßt und fo 
wohl von Dionyſius als von anderen in ſcharfſinniger Weiſe 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber 2c. 29 


gefagt worden ift, in Teicht verftändficher und einfacher Darftellung 
behandelt, damit es jeder verſtehen kann, der es nötig Bat, bie 
Kraft (ddvamıs)' der Heiligen Sakramente zu erkennen.“ — Aus 
diefer Schrift ift möglicherweife das Citat genommen, das fi in 
einem umfangreichen Werke, beftchend aus einzelnen Abfchnitten 
über den Körper und feine Teile, über die Seele, über die Auf- 
eftehung, über die Menfchwerbung, über das Heilige Abendmahl 
und die Taufe u. f. w. vorfindet ), — vorausgeſetzt, daß das 
Eitat in den Tegterwähnten Abfchnitten fteht. 

Ob Georg eine kirchliche Gefegesfammlung verfaßt 5 
hat, wie man nad) verſchiedenen Eitaten in dem „Liber directio- 
num“ des Barhebräus, einem Auszuge der kirchlichen Kanones und 
der weltlichen Gejege ), angenommen Bat, ift fehr zweifelhaft. 
In diefer Schrift ftellt nämlich Barhebräus Zengniffe aus den 
Apoſtoliſchen Konftitutionen, aus griechiſchen und fyrifchen Vätern 
ufommen. Ob man num berechtigt ift, aus der Anführung ver- 
ſchiedener Entſcheidungen Georgs ®) zu fehließen, daß er auch 
Ranones miedergefchrieben Habe, ift zum mindeften fraglich; es 
können auch Stellen aus ben Schriften George, welche Ent» 
ſcheidungen über Fragen der Kirchenleitung enthalten, wie ſich folde 
mehrfach in feinen Briefen vorfinden (f. u. S. 336 u. f. w.), von 
Barhebräus als Zeugnis Herangezogen fein. 

Ferner finden ſich auch chronologiſche Abhandlungen unter den 
Berten Gregors, fo ein Ehronitont), das er felbft citiert in 6 
feinem Brief an den Presbyter Jeſus (j. u. ©. 320; vgl. La- 
garde, Anal. Syr., p. 115, 19). Diefes Chronikon oder Kalen- 
darium war ein Gedicht, im zwölffifbigen Metrum abgefaßt, in 
dem Jakob von Sarüg feine Sermones ſchrieb. In 24 Kapiteln 


1) Wright, Catal, ©. 10068. 

%) Bibl. Or. II, 299gg., fpec. ©. 230f.; vgl. cod. Berol. Peterm. 

%) &. Ecclesiae Antiochense Syrorum Nomokanon Gregorii Bar- 
hebraei (bei Mai, Scriptorum veterum nova collectio, T. X, P. II, 
p 1268). Die „Canones“ George finden fich p. 19. 14. 16. 18. 28. 
3.53 u. 58. 

4) Bibl. Or. I, 495. S. aud) Cat. bibl. Vatic. III, 532 (cod. CCXLV 


dom Jahre 1840). 


298 Ryſſel 


handelte eq über die Epafte!), über die Auffindung der being: 
lichen Fefte, über den Sonnen- und Mondchllus, über die Monate 
und Wochen, und über anderes, was zur kirchlichen Berechnung 
gehört, und giebt eine „ebenfo Turze als genaue“ Methode an, 
Der Titel der Schrift ift: „Ein Gedicht im Metrum des Mar 
Jakob, verfaßt von Georg, dem Bifchofe der Völker, über die 
Zeitberechnung (chronicon).“ Der Anfang, welcher lautet: „Dr 
einer von den Heiden in ftolzem Übermute ſich mit ihren Dichten 
brüftete u. f. w.“, weift auf die Veranlafjung zur Abfafjung bes 
Gedichtes Hin. Als nämlich ein Araber den Geift der arabif—en 
Dichter fo hochſtellte, daß er daneben die Dichter anderer Völler 
für nichts achtete, beſchloß Georg ihm durch die That zu beiveifen, 
daß die fyrifchen Verſe mehr Eleganz zeigen als die arabiſchen. 
Nach diefer Einleitung beginnt er dann feine Abhandlung über die 
Zeitrechnung wit einer Berherrfihung der Güte und Vorſehung 
Gottes, welche die Araber als Heiden leugueten. In ähnlicher 
Weife Hat auch Ebedjefu, Metropolit von Rifibis, fein „Bud des 
Baradiefes“ den weltberühmten Malamen Hariris als ein muſier⸗ 
gültiges ſyriſches Sprachkunſtſtück gegenübergeftellt %). 

7 Chronologiſchen Inhalts ift any die Tafel über die Neur 
monde, genaner: „Tafel zu erkennen, an welchem Tage und u 
welcher Stunde der Mond wieder zuzunehmen anfängt.“ Dieſt 
Tafel findet fich ſowohl in der Vaticana als im Britifhen 
Mufenm 9); in letzterer Bibliothekl innerhalb eines Bandes, der 
nur Abhandlungen über die Zeitberechnung enthält, unter dem 
Titel: „Berechnung des Anfanges der Mondmonate aus dem 
Chronikon oder Kalendarium bed Georg“, woraus hervorgeht, daß 
diefe Tafel nur einen Zeil des Chronifons bildete. Bewerkt ſei 


1) Die Epaktenrehnung, die zur Ducchführung des nötigen Korrektion im 
Mondeyklus bient, ift bie Berechnung nach bem Alter, welches der Wond am 
1. anna bat. 

9%) ©. Pins Zingerle, Uber das ſyriſche Buch des Paradieſes wen | 
Chebjefu, Metropolit vom Niſibis, in der Zeitſche. der DMG., Jahrg 1875 | 
Bd. XXIX, ©. 496ff. | 

®) Oatal. codd. bibl Vat. IL, 402: cod. LXVEI, und Rosen et 
Forshall, Cat. codd. orient. in$Mus. Brit., p. 88. 








Ein Brief George, Biſchefs der Araber ıc. 2. 


noch, daß Georg auch verſchiedene Briefe chronologiſchen und 
aſtronomiſchen Inhalts geſchrichen Hat (j. u. ©. 303). 

Die übrigen Gedichte, die wir von Georg beftgen, behandeln 
andere Gegenftände. So vollendete er das „Hegaemeren“ S 
des Yalob vom Edeffa, indem er dad fiebente, letzte Buch diefes Ge⸗ 
digen zum Abſchluß brachte. Dasſelbe Handelt „über den Men⸗ 
fen, welchen Gott nad feinen Bilde ſchuf und bildete und zw 
einer großen und wunderbaren Welt inmitten diefer einen Welt 
machte" iy. Dos ganze Gedicht bilbet dem erften Teil des cod. 66 
der Leydener WBiblioihel ?), der von einer jafobitifäun Hand eiwa 
des 13. Jahrhunders geferieben ift. Der 7. Traltat umfaßt 
fol. 63 r. bis fol. 82, wovon ber Inhalt von fol. 68 r. bis 
79 r. von Jalob felbft verfaßt ift, ber Neft dagegen von Borg ®). 
Des von letzterem Hinzugedichtete begiant mit ben Worten: „Us 
die Darftellung des weiſen Lehrers bis Hierher ſich erfiredt 
hatte, da endete fein Leben und fo ward auch feiner Darftellung 
tin Enbe bereitet; 68 fügte aber das Folgeude Hinzu ber Fromme 
und heilige Mar Georg, Biſchof der Völter, fein Zeitgenoffe.“ +) 

Ein anderes Gedicht, dus mehrfach; Hanbjehriftiig überkiefert 
ih, trägt den Titel: „Über die Konfelration bes Salb- 9 
d16*, Dasfelbe beginnt: „Reines und Heiliges Salböl, Ehriftus 
Fefus, du Herr, veinige und heilige unfere Leiber wie unſere Seelen; - 
füßer und angenehmer Duft des verborgenen Vaters, gieb auch uns 
Teil an der Lieblichteit und Sißigkeit“, und iſt im zwölffilbigen 
Metrum abgefaßt, weshalb es auch dem Jakob von Sarüg zuge 
färieben worden ift 5) (f. 0. ©. 297). Erhalten ift uns biefes Gedicht 
in einer Haudſchrift des Britiſchen Mufeums (cod. DOCCKXXV, 


1) Der Menſch wird alfo als der Makrokosmos betrachtet, wie auch fonft 
in der orientafifchen Literatur. 

2 &. Land, Anecdota Syriaca I, 4. 

) Afo hat ©. Hoffmann (a. a. O., ©. 150) wicht recht, wenn er 
kt: „lbrum septimum addens“. 

4) Mit der „Geſchichte der Schöpfungen ()" (. Weight ©. 7978, 
%L. S. 1275) Lönnte das Heraemeron gemeint fein. Doc; fragt es fich, ob 
‚Seorg ber Monch“ mit dem Acaberbifdjof Georg ibentifih if. 

5) BibL Or. I, 882; vgl. jebod) p. 860. 


30 Ryffel 


aus dem Jahre 1326/1015, Nr. 78; |. Wright ©. 848), welde 
Feſtſermone und andere Reben für das ganze Jahr enthält; ferner 
in einer Handſchrift der Vaticana (cod. CXVII, Nr. 188), welde 
- ebenfalls Homilteen und Gebichte, befonder8 von Jakob von Sardg, 
enthalt 1); auch ift es wahrfcheinfich identifch mit dem von Renan 
— aus den Papieren von Renaudot in der Pariſer großen Biblio 
thet — angeführten „sermo de chrismate“. Schließlich wird 
noch in einer von einem Monophyfiten kompilierten Abhandlung 
gegen die Neftorianer ?) ein Mimra von dem Heiligen Presbuter 
Georg dem Mönd; gegen Severus und Julianus citiert. 
Außer diefen Werken verfchiedenen Inhalts iſt uns mod eine 


10 Sammlung von Briefen in einem Coder des Britiſchen Mufeums 


(cod. DCCCLX, Nr. 35, ©. 986—988) erhalten. Diefer Coder 
gehört dem Ende des 8. oder bem Anfang des 9. Jahrhunderts 
an und enthält 1) eine Verteidigung des orthodoren und apoftos 
Ufchen Glaubens — gemeint find die monophyſitiſchen Doftrinen — 
gegen die Neftorianer, unter dem Titel: ZZAngopople, 2) eine 
Abhandlung zu demfelben Zwecke, unter dem Titel: Beweiſe 
— oder Darlegungen — über die olxovonule Chriſti, und 3) Aus 
züge und ausgewählte Stüde aus den Schriften verfchiebener Väter, 
manche von ihnen nur dem Sinne nach wiebergegeben. In biefem 
dritten Teile finden ſich neben Stellen aus Schriften des Hippo 
lytus, DOrigenes, Athanafius, Dionyfins des Areopagiten, Cyrill 
von Alerandrien, Chryfoftomus u. a. auch Briefe des Araber 
biſchofs Georg, welche ſämtlich die Antwort auf einzelne, an ihn 
gerichtete Fragen verfchiedenen Inhalts enthalten. Wir zählen diefe 
Briefe auf in derfelben Ordnung, in der fie ſich in der Handfchrift 
vorfinden: 1) „Antworten in Kürze auf 22 Häretifche Anfragen, 
die unten (db. 5. innerhalb des Briefes felber) angegeben find“; 
der Brief ift adreffiert am den Abt des KM lofters von Tell⸗-Adẽä, 
Namens Märi, und hauptſächlich gegen die Neftorianer gerichtet; 


1) Der Anfang Tautet allerdings ein wenig anders: „Reines Galböl, das 
bie Kirche erfüllt; füßer Duft u. f. m.” . 

2) Brit. Mus., cod. DOCXCVII aus dem Ende des 9. Jahrhunderis; 
ſ. Wright, S. 7978. Doch f. 0. ©. 299, Anm. 4. 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 3 


datiert it er aus dem Mai des Jahres 1028/717. Als Anhang 
find diefem Briefe folgende Schriftftüde von gleicher Form 
md verwandten Inhalte angefügt: a) „Schwere neftorianifche 
Fragen und Gegenfragen*, d. 5. Antworten auf Fragen, die von 
Neſtorlanern den Monophyfiten vorgelegt wordenwaren; b) „wiederum 
Biretifhe Fragen aus dem zweiten Brief des Succenfus an ben 
heiligen Cyrill Evon Alexandrien] *) und Gegenfragen“; und c) die 
Beantwortung einer „Frage des gottlofen (d. h. ketzeriſchen) Probus, 
die er richtete an die Mönche der Stadt Antiochilen“. — Hierauf 
folgt: 2) „Antwort auf eine ihm von dem Diakon Bar» had- bes 
ſcabbã des Heiligen Mofters von Beth-Melũtã oder TEIHE vor⸗ 
gefrgte häretiſche Frage“ (im Syriſchen fteht das Diminutivum); 
datiert Januar 1026/715. — Ferner mehrere Briefe an ben 
Preebyter Mar Jeſchũat, den Mausner aus der Stadt "Anab: 
3) „Antwort auf eine andere häretiſche Frage, die ihm vorgelegt 
ward von dem Presbyter Mar Zeichn‘ u. f. w.“; diefer Brief 
üt, wie im Codex ausbrüdtfid, bemerkt wird, einem anderen Blatte 
entnommen, als die vorausgehenden Briefe, aber nicht vollftändig 
mitgeteift, wie aus den auf bie Überfhrift folgenden Eingangs» 
orten: „um. vieles hinter dem Anfange“, hervorgeht; — 4) „Ante 
wort auf 9 Fragen des Presbyters Yefchün‘“ ; diefer im Jahre 
1025/7114 gejchriebene Brief ift von de Lagarde in den Ana- 
leeta Syriaca veröffentficht worden, bis jegt die einzige Publifation 
aus den Werfen Georgs, auf Grund deren wir im Folgenden (S. 305 ff.) 
eine Überfegung des Briefe geben; — 5) ein Brief an benfelben 
Kihtie‘, enthaltend Antworten auf 3 Fragen und datiert Dezem ⸗ 
ber 10297718. — 6) Ein Brief an den Presbyter Jakob, feinen 
Syncellus, die Auslegung einer Stelle in einer der Homilien des 


I) Die Briefe des Cyrill von Alexandrien an ben Succenfus find uns 
ebalten (j. Migne, ®b. LXXVII, Op. Cyrilli X, 227 u. 237: Nr. XLV 
 XLVN). Nach denfelben Hatte Succenfus, welcher Biſchof von Diocäfaren 
in Haurien war, an Cyrill verſchiedene chriſtologiſche ragen gerichtet, die 
Cyrill in feinen Briefen beantwortet, Nach Wright (Catal., p. 608) wird 
diefer Succenſus aud in einer monophyfitiſchen Abhandlung über die zwei 
Naturen Chriſti eitiert, welche von Elias, bem Patriarchen von Antiodjien, 
gegen dem Biſchof von Harrän, Leo, gerichtet if. 


we Ryffel 


Gregor von Nazianz *), in welcher er auseinanderſetzt, welches die 
erſte Pflicht eines Seelenhirten fei (Opera, T. I, p. 18 C: 
Hotoy uiv di) vodso, dv almansv sölußsiodar dio, pi) 
gyamdusda zjs Iaynaolag dgerjs xaxoi Loygapor, näher 
dA Luygdymr od yavkar Taus, üv dd nolliv yadlov do- 
xsrunov‘ 7 zos napomias m röggn Idwpsv, dldous 
bargeveıy Inıysigoüvsss, eurer Bodovrss EAxsos) enthaltene. 
Außerdem findet fi am Ende eine Kurze Erläuterung einer Stelle 
in ber Leichenrede auf feine Schwefter Gorgonia (Opera, T. ], 
p. 2185qq.). An benfelben Presbyter Jakob, feinen Syncellus, 
hat Georg noch andere Briefe geſchrieben, die ung aber nit er- 
halten find. Dies geht hervor aus einem Citat, das ſich in einem 
Briefe des Styliten Johannes von Litharb findet, der am einen 
Priefter des arabifchen Stammes der Tüten (ſ. 0. ©. 287), 
Namens Daniel, gerichtet ift und in demſelben Coder unmittelbar 
Binter den Briefen Georgs mitgeteilt wird, In diefem Briefe, 
der die Frage behandelt: „wie, wo und wann fi) die Weisfagung 
des Erzvaters Jalob erfüllt hat: «8 wird die Herrſchaft nit 
von Juda meiden (Gen. 49, 10)“, wird außer den Kirchen⸗ 
hifterifern Euſebius und Andronifus, außer Chryſoſtomus, Cyrill 
von Alerandrien und Hinpofyt, außer Ephräm, Severus Sabocht, dem 
Biſchof von Kinnesrin, und Jalob von Edeffa and Georg, Biſchof 
der Araber, imit folgenden Worten citiert (S. 989): „Der heifige 
Mar Georg, unfer gemeinfamer Vater und Euer Bifchof, ſchrich 
auch in der Antwort auf die 10. Frage an Jakob den Presbyur, 
feinen Syncellus.“ — Die folgenden vier Briefe find wieder an 
ein und dieſelbe Perfon gerichtet, an Johaunes den Styliten, der, 
wie man aus dem eben erwähnten Briefe desſelben erficht, under 
die Botmäßigfeit Georgs gehörte, aber nicht bloß mit Georg und 
deffen Diöcefanen ®), fondern aud mit Jakob von Edeffa, dem Lehrer 


1) Im der Mawrinerausgabe, nad ber im Folgenden citiert ift, die zweite, 
nad) früherer Zählung die erſte Rede (cap. 18). 

2) Daß unter den Didcefanen George eim veges wiffenſchaftliches Lrben 
herrſchte, geht daraus hervor, ba mehrfach chriftfiche Gelehrte vom dem arabi - 
fen Stamme ber Tüiten, die unter der Botımäßigfeit des Biſchofe Georg fan 


Ein Brief George, Bijſchofs der Araber 2c. 3% 


George (f. a. ©. 299), in einem regen wiſſeuſchaftlichen Briefe 
wechſel ftand (f. bei. Wright, Catal,, ©. 595ff.), alfo zu dem 
Kreife gelehrter Männer gehörte, mit denen Georg feine theos 
logiſchen Anfchauungen austaufchte und feine wiſſenſchaftlichen 
Intereffen beriet. Die vier an Johannes gerichteten Briefe find 
fer verfchiebenen Inhalts: 7) „Antwort auf 8 Fragen, welde 
ihm zugefandt wurden von dem Presbyter Johannes dem Styliten 
im Mofter von Litharb“. Diefe 8 Fragen betreffen chronologiſche 
und aftronomifche Stoffe; datiert ift der Brief aus dem Yuli 
des Jahres 1025/7145; — 8) „Brief an bdenfelben, enthaltend 
Antworten auf 7 Fragen: über einige ſchwierige Stellen in den 
Briefen des heiligen Jakob von Edeſſa“; datiert ift der Brief 
Anfang März 1026/7115; — 9) „Brief an denfelben als Ant 
bort auf 3 Fragen über chronologifche und aftronomifche Stoffe“ ; 
datiert März 1027/7165 — 10) „Brief an denfelben über einen 
Zwift, der in einer Berfommlung von Mönden und Geiftlihen 
ausgebrochen war, indem einige behaupteten, daß die Sünden in- 
folge der Gebete der Priefter vergeben würden, andere, daß die 
Sünden nicht vergeben würden außer infolge von Werfen der 
Buße)“. In diefem Briefe, der aus dem März des Jahres 
10297718 datiert ift, werden die Werke Dionyſius' des Arco» 
pagiten mehrere Male citiert. — 11) Der Iegte Brief, der fi 
von Georg in jenem Sammelbande findet, ift an einen gewiſſen 
Abrafam ?) gerichtet und behandelt eine Stelle aus einer der Mas 


den (ſ. 0. ©. 287), in ſyriſchen Schriften erwähnt werben: außer bem oben 
genannten Daniel aud ein gerwiffer Abraham (ſ. u. Anm. 2). 

2) Bekanntlich Hielt bie alte Kirche daran feft, daß bie Sünbenvergebung 
buch ernftliche Buße, die fih auch in guten Werken kundthun müſſe, bedingt 
fi (ogl. 3. ®. Origenes, Hom. in Ley. II, 4). Später wird bie Sün- 
denbergebung von der Ausübung ber Schlüffelgerwalt durch das allein dazu ber 
tehtigte Merikale Prieftertum abhängig gedacht, wie 3. ©. Leo d. Gr. fagt, 
daß ohne Smterceffion ber Priefter leine Vergebung zu erlangen fei (ep. 82 
al. 108 ad Theod., cap. 2: „ut indulgentia nisi supplicationibus sacer- 
dotum nequeat obtineri“). Wie man aus obigem Briefe erfehen kann, ſtan - 
dem im ber ſyriſchen Kirche noch zur Zeit George beide Anſchauungen neben 
einander. 

2) Bielleicht iſt diefer Meier an den Abraham gerichtet, der auf einem 


804 Ryſſel 


draſchen des Ephrüm über den Glauben, welche lautet: „Es werden 
widerlegt bie Frechen und zum Schweigen gebracht die Grübfer') 
und fehen ein, daß von Natur niemand genügen kann“ (?). 

Bon den Briefen, welche diefe Antwortfchreiben Georgs vers 
anlaßt haben, Hat ſich nichts erhalten, auch fonft finden ſich nirgends 
Briefe, die an den Araberbifchof Georg gerichtet find. Da fih 
zwifchen den Briefen des berühmten Jakob von Edeſſa an ben 
mehrfach erwähnten Johannes den Styliten ein Brief am einen 
Diakon Georg ?) vorfindet, jo könnte man zwar bei dem nahen 
Verhältnis, in welchem ber Araberbifchof Georg zu beiden Männern 
ftand, zu der Vermutung kommen, daß biefer Diakon Georg, an 
welchen Jakob von Edeffa über eine Stelle in der 25. Madräfde 
des Ephräm ſchrieb, der fpätere Araberbifchof fei; aber der Name 
Georg kommt doch zu Häufig vor, als dag man biefe Vermutung 
mit einiger Sicherheit ausſprechen könnte. 

Nachdem wir im Vorausgehenden einen Überblick über die 
ſchriftſtelleriſche Thätigkeit Georgs im allgemeinen gegeben Haben, 
wenden wir ung nun zu einer genaueren Darlegung des Inhalts feines 
Briefes an den Presbyter Yefhu'a ®), indem wir bdenfelben teils 


Tofen Blatte (f. Wright a. a. D., ©. 1195) als ein Araber von dem gläu- 
bigen Wolle der Tü'iten bezeichnet wird. 

3) Der ſyriſche Ausdrud bezeichnet eigentfich „die Nachforſcher“, d. h. bit 
jenigen, welde neugierig die göttlichen Dinge genauer erkunden wollen, und 
ſteht manchmal direkt in der Bedeutung „Häretifer“ (3. B. Bibl. Or. TIL, P.l, 
pP. 29 not.). 

2) S. Wright, Catalogue, p. 596. Bon ben ©. 595—604 ber 
ſprochenen Briefen Jalobs von Edeffa an Johannes den Styfiten, von benm 
einige beſonders intereffante Fragen behandeln, find drei veröffentlicht: ber erfe 
von R. Schröter in der Zeitfchrift der DMG. Bd. XXIV, ©. 261 und der 
elfte und zwölfte in dem Journal of Sacred Literature, 4. Series, vol. X, 
p- 430 (vgl. and; Zeitjchr. der DMG., Bb. XXIV, ©. 280. 290 u. 296). 

3) Der ſyriſche Tert dieſes Briefes iſt mit ber befannten ausgezeichneten 
Alribie und Sachkenntnis abgedrudt in de Lagardes Analecta Syrisce, 
©. 108, 3. 28 — ©. 134, 3. 8; die drei erſten Kapitel des Briefes, welche 
auf Aphrantes, den „Perfiichen Weifen“, Bezug haben, hat auch Wright in 
feiner Ausgabe der Homifien des Aphraates, S. 19ff. zum Abdruck gebracht 
Da die Abweichungen beider Ausgaben des ſyriſchen Zertes nur Kleinig - 





Ein Brief George, Biſchofe der Araber zc. 506 


wörtlich, teils im Auszuge mitteilen und einige kurze Erläuterungen 
beifügen. Dem Briefe felbft, der in 9 Abſchnitte oder „Kapitel“ 
jerfält, in welchen Georg einzelne an ihn gerichtete Fragen ver⸗ 
ſchiedenen Inhalts beantwortet, geht eine Kurze Einleitung voraus, 
in der er fi mit den üblichen Worten der Entſchuldigung, wie 
bir fie aud aus vielen anderen Briefen jener Zeit kennen, an den 
Empfänger feines Briefes wendet. 


Des heiligen Georgios, Biſchofs der Tanüciten und der Cüiiten 
ad der Agüliten, Antwort auf neun Scagen, welche der Pres- 
byter Jeſchn a der Klausner an ihn richtete, 

Dem Freunde und Verehrer Gottes, dem geiftlichen Bruder und 
in dem Heiland Geliebten, dem Mar Jeſchu'a, dem Presbyter 
und Klausner in der Stadt "Anab, jagt Georg, der gering ift in 
dem Herrn, feinen Gruß (wörtlich: fih zu freuen — xalgsı). 

In der nun folgenden @inleitung zu feinem Briefe ent 
ſchuldigt fich Georg wegen feines langen Zögerns; nicht aus Miß- 
ahtung Habe er bis jegt auf die Beantwortung bes Briefes, den 
ihm der Mausner Zefa durch feinen Vetter und geiftlichen 
Bruder Georg zugefandt Hatte, warten Taffen, fondern wegen feiner 
vielfachen Geſchafte in und außerhalb des Kloſters, fowie wegen 
der immerwährenden Krankheiten des Leibes, die freilich ganz begreif» 
lich feien 2); da er aber augenblicklich von feinen Leiden aufatmen 
Tonne, fo wolle er nad) feiner ſchwachen Kraft, die Gott — wie 


teiten betreffen, die auf den Sinn und Zufammenhang Keinen Einfluß haben, 
fo gehen wir nicht näher auf biefelben ein; der Tert if im ganzen recht 
lorrelt (f. jedoch ©. 315, Anm. 2; ©. 817, Anm. 1; S. 824, Anm. 2, und 
©. 331). — Eine teifiweife Üserfegung des Briefes Findet fich in den „Syriac 
Miscellanies“ von Eowper (&. 6lff., vgl. Wright, Catal., p. 987), 
welder das 1. u. 5. Kapitel vollftändig und das 2. u. 8. nur zum Meinften 
Zeile (bisweilen fehlerhaft) überfegt hat. 

1) Georg meint, wie fid) auch aus verſchiedenen Äußerungen im 9. Kar 
pitel des Briefes (f. u. ©. 866 f.) ergiebt, bie Gebrechlichkeiten bes Alters, woraus 
erfichtfich iſt, daß er bereits bejahrt war, als er diefen Brief ſchrieb. Da num 
der Brief vom Jahre 714 datiert iſt, ſo wird Georg etwa um 650 geboren fein. 


36 Ryiiel 


er hoffe — ftärfen werde, auf die Fragen in einzelnen Sapiteln 
der Reihe nach Antwort geben, ohne bie Fragen ihrem Wortlante 
nach zu wiederholen; denn: „Darin befteht die Trefflichkeit ber 
Rede, fagt der in göttlichen Dingen weife (d. 5. ber gelehrte Theo 
log) Baſilius, daß du mit wenigem vieles kund thueſt )“. 


Da die drei erften Kapitel das Leben des alten ſyriſchen 
Kirchenſchriftſtellers Aphrantes und verfchiedene intereffante Stellen 
aus feinen gegen die Mitte des 4. Jahrhunderts geſchriebenen 
Homilieen zum Gegenftande Haben, fo ſchiden wir zunädiit zur 
Orientierung das Wichtigfte über die Homilten des Aphraates und 
ihre Abfafjungszeit voraus, indem wir im übrigen auf die 1878 
erſchienene Promotionsfchrift des (am 3. Juli 1880) früh ver 
ftorbenen Orientaliften Franz Saffe (geb. d. 15. März 1855 in 
Rheine): „Prolegomena in Aphraatis sapientis Persae ser- 
mones homileticos“, verweifen ?). 

Die Homilieen ®) des „perfifchen Weifen“, Namens Aphranted, 
nehmen fowohl durch ihr Alter als durch ihren durchaus originellen 
Inhalt in der fyrifchen Literatur einen „Hohen Rang ein. Zroß 
dem aber waren fie fchon fehr früh faft vollftändig der Vergeſſen⸗ 
heit anheimgefallen. In der ganzen fyrifchen Litteratur, abgeſehen 


1) Üpnliche Ausiprüdje finden ſich bei den Sahriftſtellern der alten Lirch 
ſehr Häufig. Bei Bafilins Yönnte man eine Anfpielung Georgs auf die 313 
nfuragefaßten Vorſchriften“ (gl. 3. B. Parifer Ausgabe, Bd. I, ©. 41451) 
denfen, wenn nicht dem Wortlaute nad; anzunehmen wäre, daß ein mörtficee 
Eitat aus irgendeiner Schrift des Bafilius gemeint iſt. 

2) Über das Leben des Aphrantes |. die Einfeitung zu Wrights Aus 
gabe der Homikieen (Bonbon 1869), zu welcher die Ameige von Th. Röfdele 
in den „Göttingifchen gelehrten Anzeigen”, Jahrg. 1869, ©. 1521ff., zu ver 
gleichen iſt. S. auch die „Einleitung über Leben und Schriften des Apheantes“ von 
Biel in ber Kemptener Bibliothek der Kirchenwäter: Ansgewählte Schriften 
der ſyriſchen Kichenväter Aphraates, Rabulas und Jſaak vor Rinive (1874). 

®) Es find 28 Honnlieen, deren Namen bei Saffe (a. a. O., © 10), 
Bidelf (a. a. O., ©. 18ff.) und in den Ausgaben derfelben (f. vor. Aum 
und ©. 311) zu vergleichen ſind. Außer den Homilieen hat Mphranter 
nichte geſchrieben (f. Saffe, ©. 14f.). 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber zc. 3 


von einzelnen bürftigen Rotigen $päterer Litteraturhiſtoriler, ift von 
den Homilieen des Aphraates nicht die Rede und nur bei zwei 
ſyriſchen Schriftſtellern — von denen überdies der eine den Namen 
des Verfaſſers nicht erwähnt, der andere aber ihn ſchon nicht mehr 
kunt — konnen wir eine Belanutſchaft mit denſelben nachweiſen: 
bei Jſaak von Antischien (geft. um 460), der die Homilie des 
Aphrantes über das Faften feinem Gedichte über den nämlicen 
Gegenſtand *) zugrunde gelegt und zwar jo ausgiebig benutzt hat, 
daß viele Gedaulen und Ausdrücke wörtlich übereinftimmen, und 
bei dem Araberbiſchof Georg, der als den Verfaſſer der Homilieen 
den „ogemmmaten perfifchen Weifen“ nennt und über die Lebens⸗ 
verhaltniffe desſelben auch nicht das Geringfte anzugeben weiß. 
Der hauptſãchlichſte Grumd, warum die Schriften des Aphrantes 
fon früh im Vergeſſeuheit gerieten, war wohl der, daß fi in 
ihuen gewiſſe fonderbare Meinungen vorfanden, die mit dem chriſt ⸗ 
lichen Glauben, wenigftene mit dem dogmatiſch formulierten 
Glauben der fpäteren Zeit unmereinber oder bach nicht übereinftinumeud 
erſchienen und namentlich ben Monophyſiten anftößig erſcheinen 
mußten %), ein Umftand, ber amd fonft vielfach die Beranlaffung 
wurde, daß man Einzelne Schriften, ſelbſt von befnnnten terhte 
gläubigen Vätern, in den Hintergrund ſtellte oder abſichtlich der 
Vergefjenheit anhrimgab *). Zwar find bie Anſichten, bie Aphraa⸗ 
tes in feinen Homilieen verträgt, nicht eigentlich als heterodex zu 
bezeichnen und betreffs der wichtigſten Glaubenslehren, z. B. der 
Chriſtologie, ſtimmt er mit ber Kirchenlehre überein (ſ. Saſſe 
0.0. ©. 18), aber „man begegnet bei ihm einer wirklich 
vderwunderlichen Naivetät, weiche felbft bei der von dem Araber 


1) Es iſt das erſte der zwei von Bickell überjegten Gedichte über das 
Foften, die fich beide fpeziell anf die AOtägige Faſtenzeit beziehen (ſ. „Aus- 
gewählte Gedichte der ſyriſchen Kirchenvüter Eyrillonas, Waläns, Jiaak von 
Antiochten tenb Jakob von Sarng“, S. 171—181. Bel. auch G. Bickell, 
8. Isaaci Antiocheni opera omnia. 

2) S. Nöldeke in den „Göttingifcjen gelehrten Anzeigen”, Jahrg. 1868; 
©. 1522 m. 1525. 

3) &. meine Schaft: „Gregorius Thaumaturgus; fein Leben und feine 
Säriften, S. Sf 


308 Ryffel 


biſchof Georg zur Berückſichtigung empfohlenen Iſoliertheit dieſes 
Schriftſtellers und dem Mangel an jeglicher chriſtlicher Litte⸗ 
ratur und theologiſcher Schulung nur ſchwer erklärlich ift“ *) (vgl. 
©. 325. 328 u. 329). 

Ein weiterer Grund, weshalb in den folgenden Jahrhunderten 
das Intereſſe für die Homilieen des Aphraates ſchwand, lag darin, 
dag fid in denfelben auch viele rabbinifche Meinungen fanden. So 
berichtet Aphrantes, daß die Römer von Eſau ftammten (Hom. V, 
8 18), daß Hiram, ber König von Tyrus, 440 Yahre regiert 
habe (ſ. Wright, ©. 84, 3. 2 v. u.), daß Kain wegen ber Er- 
mordung Abels die Flüche von fieben Generationen (vgl. Gen. 4, 15) 
empfangen Babe (a. a. DO. ©. 183, 2f.); ferner ſchließt er fih 
bei der Berechnung folder Zeiträume, die in der Bibel nicht 
näer beftimmt find, an bie rabbiniſchen Traditionen an ?), wie 
fon der Araberbifhof Georg richtig bemerkt (gegen Ende dx 
3. Kapiteld feines Briefe an den Presbyter Jeſchũ'a, f. u 
©. 330); ja, aud die auffälligen pſychologiſchen Anfhanunge, 
die auf dem Boden ber chriſtlichen Litteratur ohne Analogie find 
und deshalb fon zur Zeit George Anftoß erregten, gehen auf 
judiſche Vorftellungen zurüc, wie ich im Anflug am George 
Kritit im 3. Kapitel feines Briefes zeigen werde (f. u. ©. 339). 
Diefe eingehende Kenntnis der jüudiſchen Tradition hängt bei 
Aphraates damit zufammen, daß er in der Belämpfung des Juden 
tums durch Schrift und Wort eine ber wichtigften Aufgaben feines 
Lebens fah; denn nicht nur, daß zwei feiner Homilieen — die 18. 
und 19. — direlt gegen die Juden gerichtet find, fondern er lieh fih 


auch zur Verteidigung des chriſtlichen Glaubens und ber kirchlichen | 


Gebräude öffentlich in Disputationen mit den jüdifchen Gelehrten 


1) So Schönfelder (in ber „Theofogifhen Quartalſchrift“, Jahrg. 1878, 
©. 195—256 und fpeiell S. 289), weicher befonders bie Auffaffung der 
meſſianiſchen Stellen bei Daniel, die Aphraates gelegentlich feiner Polemil 
gegen die Juden auslegt, ſowie einzelne Paragraphen aus dem XVI. Zrattat: 
„Berveis, daß Ehriftus der Sohn Gottes ift“, behandelte. 

3) Außer den von Saffe (a. a. D., ©. 11, Rote 6) angegebenen Brir 
fpielen dgl. die von Georg behandelten Fälle (j. u. ©. 388). 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber zc. 809 


ein, wie wir aus dem Anfang der 21. Homilie erſehen 1). Diefe 
Bolemit gegen das Judentum nötigte aber den Aphraates, fi mit 
der judiſchen Schriftgelehrfamfeit, deren Pflege damals gerade in 
Edeſſa, Nifbis, Neharden und anderen dem Wohnorte bes 
Aphraates nahe gelegenen Städten bfühte *), befannt zu machen. 
As aber fpäter mit der Bedeutung und dem Einfluffe der Juden 
in jenen Gegenden das nterefje für ihre Bekämpfung aufhörte, 
fo ſchwand auch das Intereſſe fir die diefem Kampfe vorzuge- 
meife gewibmeten Homilieen. Übrigens finden ſich auffällige Be 
tügrungen mit jübifchen Anfichten und Bräuchen außer bei Aphra« 
ales auch bei Ephräm und befonder& bei dem an wiſſenſchaftlichem 
Sinne mit Hieronymus ®) vergleichbaren Jakob von Edeffa, wie 
bir überhaupt in der ganzen alten Kirche die Beobachtung machen, 
daß manche chriftliche Väter bei allem Haß gegen die Juden doch 
ſehr geneigt waren, aus Mefpeft vor deren alter Überlieferung 
Weisheit und Thorheit von ihnen anzunehmen 4). 

Ein dritter und letzter Grund lag in der Sprache des Aphra- 
ates, die durchaus rein ſyriſch und frei von allerlei unechter Ver- 
brämung mit fremdländifchen Wörtern und Konftruktionen ift, aber 
eben deshalb den fpäteren Syrern und zumal ben an die Ver- 
tenkung der Mutterfprache nach griechiſchem Mufter und an maffene 
haftes Einmifchen griechifcher Wörter gemöhnten Monophyſiten 
nit gelehrt genug erfchien 6). 

Während aber alle dieſe Umftände die Homilieen des Aphraates 
in Vergeſſenheit braten, mußte noch ein eigentümliches Mißge⸗ 
ſchick den Namen des Aphraates der Nachwelt in ein undurde 


1) Bel. auf Assemani, Bibl. Or. T. I, prolegg. p. magg. 

2 6. Herzogs Real-Enc. (1. Aufl., Art. „Bolt Gottes”), Bd. XVII, 
©. 320ff.) und Erſch m. Gruber, Allgemeine Encykl., Art. „Juden (Ger 
chichte)“, 2. Sektion, 27. Zeil, S. 184 ff. 

3) Betreffs der Einwirkung der jübifhen Tradition auf Hieronymus, ber 
auch in diefer Beziehung mit Jakob von Edeffa zu vergleichen if, |. M. Rah- 
mer, Die hebräiſchen Traditionen in den Werfen des Hieronymus. 

4) Bgl. Nöldete im „Literarifchen Bentralblatt”, Jahrg. 1875, ©. 1608. 

5) Bgl. Nöldeke in d. „Oöttingifchen gelehrten Anzeigen“, Jahrg. 1869, 
©. 1522. 

Apeol, Gtub. Salz. 1888. 21 


0 Ayiiel 


dringliches Dunkel Hüllen. Schon der Araberbiſchof Georg, der 
exfte und legte fyrifche Schriftfteller, der eine eingehende Kenntnis 
der Homifieen verrät und auch ausdrücklich bezeugt, weiß wer 
den Namen noch fonft das Geringfte über die Lebeneuerhäftift | 
des „perfifchen Weifen“ anzugeben, — ausgenommen das, was 
er aus feinen Schriften über bie Zeit feines Lebens und feiner 
ſchriftſtelleriſchen Wirkfamteit, jowie über feine Lebensſtellung in jcharf- 
finniger Weiſe nachweiſt. Und wenn auch einzelne ſyriſche Litte 
vaturhiftoriter, Elias Barfinäus (km 11. Jahrhundert), Gregorius 
Barebräns (f 1286) und Ebedjeſus von Soba (+ 1318)°) 
übereinftimmend melden, daß der perſiſche Weife Aphraates geheißen | 
Habe, fo blieben doch feine Homilieen aus dem Geduchtuis feine | 
ſyriſchen Landsleute gefhwunden. Umgelehrt verlor fich in Ar⸗ 
menien, wo bie Homilieen allgemein bekannt waren und in Hohen 
Unfehen ftanden, jede Notiz über ihren Verfaſſer, da fie hier unter 
dem Namen des Jakob von Nifibis, des Lehrers des Ephräm?), 
verbreitet wurden. Daß diefer beräfnmte ſyriſche Kirchenlehrer bie 
Homilieen auf Beranlaffung des Apoftels ber Armenier Gregorins 
Illuminator (} 382) und für im verfaßt habe, wird bereits in | 
der vielgebraudten armeniſchen Überfegung gelehrt, deren Abfaffung j 
Safe (a. a. O. ©. 24ff.) in die zweite Hälfte des 5. Jahr 
hunderts, des „goldenen Zeitalters der armeniſchen Sitteratur“, 
verlegt, in welchem auf Anregung von Iſaak dem Großen und 
Meſrop auch die Werke des Ephram und griechifcher Autoren, 
melde die zu diefem Behufe ins Ausland geſchickten Fünglinge 
heimbrachten, ins Armeniſche überfegt wurden. Wie bald diefer 
Irrtum weitere Verbreitung fand, geht daraus hervor, daß Geuna⸗ 
dius, der ıgegen Ende des 5. Jahrhunderts den Autozenkatalog des 
Hieronymus fortfegte, als den Werfaffer ber Homilieen ebenfalls 
den Jakob von Mifibis nennt ®). Unter diefem Namen wurden 

1) ©. die Einleitung gu Wright, The homilies of Aphraates, p. 1309- 

2) Wenn der Araberbiſchof Georg in feinen Briefen ausführlich nuseimandere 
ſetzt, daß Aphraates Fein Schüler des Ephräm geweſen fein Kanne (j. m 
©. 316), fo tut er dies jedenfalls ohne Rückſicht auf biefe Verwechfelung 
bes Verfaſſers mit Jakob von Nifibis, von ber er-Teine Kunde haben Tonmie. 

'$) Bol. die Stelle-bei Migne, Patrol. IMII, 10609q9.; 1. au Saſſe 
a. a. O., S. 28f. 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber zc. 81 


fie au im Abendlande befannt, indem Nikolaus Antonellus im 
Hahre 1756 dem Text ber armeniſchen Überfegung mit einer 
lateiniſchen Überfegung und Anmerfungen herausgab !). 

Diefer feit dem 5. Jahrhundert allgemein verbreiteten irrtüm ⸗ 
lichen Angabe über den Verfaſſer der Homilieen Liegt eine Ber« 
wechſelung zugrunde, die dadurch hervorgerufen wurde, daß Aphra- 
ates beim Antritt feines Kirchenamtes dieſen feinen urjprünglichen 
Namen mit dem ſpezifiſch cHriftlichen Namen Jakobus vertauſchte. 
Died geht aus einer vom Wright (Katal, S. 401b) mitgeteilten 
Notiz anf dem Rande einer ſyriſchen Handſchrift Hervor, wo ae 
ausdrücklich heißt: „Der Weife Aphraates ift Jakobus, der Biſchof 
des Nlofters des Mar Matthai.“ Da nun in den Handfchriften 
a8 Verfaſſer der Homilisen Mar Jaqub angegahen war), jo 
lunte es Jeicht geſchehen, daß ‚ber armwenifche Überſetzer — ober 
dielleicht auch ein fpäterer Abſchreiber ber armeniſchen Überjegung —, 
der den Jakob Aphraates nicht kannte, an den bei den Armeniern 
im höchſten Anfehen ftehenden Jakob von Nifibis date, zumal 
da diefer ebenfalls den Beinamen des Weifen Hatte und gleich 
dem Verfaſſer der Homilieen, der, wie ihr Inhalt zeigt, Biſchof 
gemefen fein mußte, die Bifhofswürde inne Hatte. Aus demfelben 
Grunde Hatte Joſ. Sim. Affemani die Homilieen anfänglich dem 
Yatob von Sarug zugefehrieben ®); nachdem er aber mit ber 
armentfchen Überfegung befannt geworden war, bezeichnete er and 
den Jakob von Nifibis als Verfaſſer, wie ebenfo wahrſcheinlich 
Gennadius ober fein Gewährsmann auf Grund der armenifchen 
Überfegung der gleichen Anficht war. 

Was nun weiter die Zeit des Lebens und die näheren Lebens⸗ 
verhaltniſſe des Aphraates betrifft, fo können wir uns nur bem 
anſchließen, was bereits Georg aus dem Inhalte der Homilieen 


3) Den armenifcen Tert und die lateiniſche Überfegung her Ausgabe von 
Antonellus Hat Gallandins in feiner „Bibliotheca veterum patrum‘“ 
(Bemedig 1769) V, B—164 unter Weglaffung der Anmerkungen und Abtür- 
dung der ‚Einleitung wieder ahgebrndt. 

3) Auch in den älteften Handſchriften der Werle des Aphraates, ‚bie uns 
tchelten find, wird der ‚Berfafier einfach Mar Sakap genaunt. 

#) ©. Bibl..Or. I, 28sqg., bl. p. 887. 

aı* 


312 Ryſſel 


nachweiſt. Wir teilen deshalb im Folgenden das erſte Kapitel 
feines Briefes mit, in dem er dieſe Fragen eingehend behandelt, 
und fügen dann die wenigen Notizen aus anderen Quellen hinzu, 
mit denen wir die Ergebniffe der Unterſuchung Georgs zu ergänzen 
imftande find. Um aber zugleich eine harakteriftifche Probe für 
die echt wifjenfchaftliche Methode George und feine hiſtoriſche 
Kombinationsgabe zu bieten, geben wir den Wortlaut feines Briefet, 
aber unter Hinweglafjung des umfangreichen litterarifchen Materials, 
mit dem er feine Darlegungen und Berechnungen im einzelnen 
bemeift. 





Erftes Kapitel, Über den fogenannten perfifden 
Beifen, von welhem aud eine Schrift in Briefen‘) 
über verfhiedenartige Dinge verfaßt worden ift. 


Wer diefer perfiiche Weife war, d. 5. welches feine Würde 
oder auch fein Rang in den kirchlichen Ämtern (wörtlich: Klaſſen) 
oder welches fein Name oder der Ort feines Aufenthaltes war, 
konnen wir nicht mit Zuverficht fagen; denn weber beantwortet er 
felbft diefe Fragen oder wenigftens eine davon am einer Stelle 
feiner Schrift, noch haben wir an einem anderen Orte bie jegt 
Auskunft darüber gefunden, auch Haben wir es nicht von einem 
Manne, der es genau wüßte, erfahren, — und aufs Geratewohl 
etwas zu fagen und zu erdichten, wovon wir nicht genau überzeugt 
find und was wir nicht wenigftens einigermaßen beweijen können, 
ziemt fi nicht, wie mir und jedem Freunde der Wahrheit düntt. 
Daß der Mann aber von Natur fharfjinnig war und auch, je 
weit möglich, die Heiligen Schriften gelefen und ftubiert hatte, be 
weit feine Schriftftellerei. 

Daß er ferner auch ein Mönch war und dem kirchlichen Klerus 
zugehörig, ift aus feinen eigenen Worten zu erkennen 2); zunädit, 


1) Gemeint find die Homilieen, die zum Teil an eine beftimmte Adrrfft 
gerichtet find (gl. die 14, 18. und 19,, f. Bidell ©. 18) und deshalb alt 
Briefe“ bezeichnet werben. 

2%) Bol. aufer den von Georg angeführten Stellen auch noch $ 11 der 
7. Homilie (j. Wright, The hom. of Aphr., p. 161, lösgg.) u. a. 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber 2c. 318 


dag er ein Mönch war, thut er Hund in dem Briefe, welcher 
überfhrieben ift: Darlegung über die Bundesbrüder 1) — denn 
fo wurden damals die Mönde benannt, zugleich aud mit dem 
Ansdrude Einſiedler“ —, indem er darin alfo fehreibt: „Des⸗ 
halb ift biefer Nat pafjend und gut, den ich mir felbft wie auch 
Cud gebe, meine Geliebten, die Einſiedler, welche nicht Weiber 
nehmen, und die Jungfrauen, die feine Männer haben, und die, 
welde die Heiligfeit lieben: vecht und billig und paſſend ift es, daß 
der Menſch, auch wenn es ihm Zwang foftet, eig.: auch wenn er 
dadurch in Zwang ift, d. i. wenn e8 ihm beſchwerlich fällt, doch allein 
fi; und affo ift es für ihn pafjend zu wohnen, wie es gejchrieben ift 
bei dem Propheten Jeremias (Thren. 3, 27f.): ‚Heil dem Manne, 
der Dein Joch in feiner Jugend auf ſich nimmt und allein wohnt 
md ſchweigt, weil er auf fich Dein Zoch genommen Hat‘; denn fo 
ft es paffend, meine Geliebten, für den, welcher das Joch Ehrifti 
af fih nimmt, dag er fein Joch in Reinheit bewahre.“ Diefe 
Stelle zeigt, dag der fogenannte perfifche Weife ein Mönd war; 
daß er aber dem kirchlichen Klerus (duch Ordination) beigeordnet 
war, zeigen meiner Anficht nach die Worte, welche er am Anfange 
feines Briefes oder Traktates gefehrieben hat, der überfchrieben ift: 
nüber den Streit umd die Spaltungen, welche an jeglihem Orte 
eutſtanden find infolge des Stolzes und Hochmutes, und über den 
Bettftreit um bie Herrſchaft“ %); dieſelben lauten alſo: „Wir alle, 





1) Es ift die 6. Homilie (Bidell: „Über den Orbeneftand“); die aus der« 
Ittben eitierte Stelle, die wir im Wortlaut mitteilen, weil Bickell biefe Ho- 
mifie nicht mit überfeßt Hat, findet fi) bei Wright (The Homilies of 
Aphraates), ©. 111, 3. 17fj. Der Ausdrud Yeaao wı> (wörtl.: „Söhne 
des Bundes“) bezeichnet die Mönche als folde, die einen befonderen Bund mit 
Sort gemacht haben, und fteht häufig im Gegenfag zu „Laien“. Bemerkt fei 
noch, daß diefe Homilie deshalb von Intereffe für uns ift, weil fie eine gewiſſe 
Drganifation bes Möndtums für jene Zeit im öſtlichen Syrien vorausſetzt. 
8. Herzogs Real-Enc, 2. Aufl, VI 449. 

3) Gemeint tft das Ermahnungsfchreiben im Auftrage des Konzils von 
Seleucia (j. Bickell ©. 18), das fid unter ben Homilieen an 14. Stelle 
findet; das Citat bildet den Anfang des Schreibens (S. 245 bei Wright). 
Daß Aphraates diefes Schreiben der Synode feinen Homilieen einverleibte, er⸗ 


814 Ryfiet 


indem wir hier verfammelt find, Haben uns eutſchloſſen, diefen 
Brief an alle unfere Brüder, die Kleriker an jeglichem Orte, zu 
f&reiben, wir, die Biſchöfe und Presbyter und Diakonen und die 
ganze Kirche Gottes mit allen ihren Kindern an jeglichem Orte, 
bie Bei und find. Umfern geliebten mnb verehrten Brudern, m 
Bifäfen und Presbytetn und Diakonen, zufamt allen Kindern 
ber Kirche, die bei Euch find, und dem ganzen Wolfe Gottet, It 
zu Salq (d. i. Seleucia) und zu Oteflfün (d. 1. Ktefipkon) und 
an jeglihem Orte ift, durch unſeren Herrn und unferen Gott 
und unſeten Xebenöfpender, der durch feinen Meſſias uns lebendig 
gemacht und uns mit fi" verſöhnt Hat: vieler Friede )1 

Siehe, hierdurch thut er kund, daß er bem Klerus beigenrinet 
war, wie wir gejagt haben. Wo er aber lebte, in ber Stadt 
Niſibis, wie einige gefagt haben, eder am einem atideren Orte in 
jenen Gegenden), thut er ganz und gar nicht kund. 

Wenn aber, wie Deine brüderliche Liebe ſchreibt, einige fagen, 
daß er ein Schüler des feligen Mar Efrett ſei, fe ift dies niht 
wahr. Denn nicht gleicht der Charakter feiner Lehre der des Heiligen 
Mar Efrem. Auch erlaubt es die Verſchiedenheit der Zeiten ihter 
Lehtthatlgkeit nicht, dies zu behaupten; Denn dieſer fogenamit 
perfifche Welfe ſchrieb, wie wir wiſſen, im Jahre 648 der Griechen, 
d. ü der Ara Meranders, und ebenſo im den Jahren 655 und 
656 ber Griechen und zwar die erſten 10 feier 22 alphabetifh 
geordneten Traftate im Jahre 648/337, ferner die zwölf folgenden 
655/344 und dann noch ben „Traktat Über die Traube‘ im Jahre 


tlärt ſich daraus, daß es eben nur formel ein Synodalſchreiben war, thatfäh- 
lich aber den Aphraates ziem Werfaffer Hatte, der es auch als feine eigme 
Arbeit ertsähnt. 

4) Aus demſelben Ermahtuitgefcjteibett der Synode don Seleucis geit 
auch hervot, daß Aphraates Biſchof war, weil er barin (f. Wright ©. 26, 
3. 16ff.) von der Prieſterwelhe als ton einer „Heiligen Handanflegung, bie die 
Menſchen von uns empfangen“, fpricht; vgl. auch die 10. Homilie, im der et 


vom den Pflichten derer, bie „Hirten Ber Herde“ find, redet (a. a. O., S. 191,1). | 
2) Dies letztete iſt das Richtige, wie unten gezelgt werben wirb €f.&. 318), | 


da Aphraates pwar inuethalb bes altchrifſtlich- ſhriſchen Tigrislandee, aber nicht 
in Niſibis als Biſchof lebte. ©. and Röldeke a. a. O., ©. 1598. 








Ein Brief George, Biſchofs der Araber 2c. [1 


636/345, — wie dies hervorgeht aus einer Stelle in dem ‚Trab 
tat über den Tod und die letzten Zeiten‘ und aus einer Stelle 
in dem Tralktat über die Traube‘). — Es war aber das Jahr 
648, in melchem er, wie er ſelbſt ſagt, die 10 früheren Traktate 
ſchtieb nud vollendete, das 12. Jahr nad der Heiligen Synode 
in der Stadt Nicha, d. t. ein Jahr mad dem Hinſcheiden des 
gläubigen Könige Konftantin; — deum cd verfammelte ſich die 
beilige Synode zu Nicda nach den kirchlichen Berichten im Jahre 
636 der Griechen und etwa im 20. Jahre der Regierung Kon⸗ 
ftantins, der im ganzen 31 Jahre regierte; wenn wir nun von 
648 Jahren 636 abziehen, fo bleiben 12 Jahre übrig, wie wir 
gelagt haben; und wenn wir ferner die 20 Jahre, nach deren 
Berlauf ſich die Synode von Richa verfammelte, von den 31 Jahren 
der Regierungszeit des Konftantin abziehen, fo bleiben uns 11 Jahre, 
folglich ift das Todesjahr des Konftantin das Jahr vor dem, im 
welchem diefer Schriftfteller feine erften zehn Traltate vollendete?). — 
Wenn num 12 Jahre nad) der Synode von Niche und ein Jahr 
nach dem Hinfcheiden des Königs Konftantin dieſer perfiiche Schrift- 
ſteller die Abfaſſung der erften Traktate vollendete, fo ergiebt 
fich darans, daß er auch in den Jahren vor 648, alfo während 
ber Lebenszeit Konftantins, an den Zraftaten ſchrieb. Es ergiebt 
fi aud daraus, daß er — nad der eben angegebenen Stelle — 
die zwölf folgenden Zraftate im Jahre 655, aljo 7 Jahre fpäter 
dolfendete, den Traktat über die Traube aber im Jahre 656, alſo 


1) Die erfiere Stelle (f. Wright ©. 440, 3. 15fj.) if von Bidelt 
(a. a. ©., ©. 149) mitgeteilt worden; in der zweiten (f. Wright ©. 507, 
3.105; vgl. Bickelle Einleitung, S. 12) fpricht er von der ſchrecklichen 
Gprißenverfolgung unter dem perfien Könige Sapor, der in bemfelben Jahre, 
in welchem Aphraates feine Homilieen vollendete, die Einrelßung ber Kirchen 
and Hinrichtung vieler Märtyrer anorbnete, — d. 1. im Jahre 344, dem 
35. Regierungsjahre Sapors. Bermerkt fei noch, daß der Titel des zuletzt er- 
wäßnten Trakiates: „Über die Traube, welche wegen der geiegneten Veere nicht 
vertifgt werben fol“, in Rüdficht auf gef. 65, 8 gemählt ifl. 

3) Im diefem Gate des ſyriſchen Textes, wie ihn be Lagarbe (©. 111, 
3. 25) und Wright (©. 28, 3. 11) darbieten, fehlen verfchiebene Wörter, 
die ich Im Obigen dem Zufammenhange nad) ergänzt habe. Bol. Hoffmann 
2. 0. D., ©. 150, Rote 87. 


316 Ryfſel 


8 Jahre fpäter ſchrieb, fo daß er alſo in 8 Jahren dieſe 13 
anderen Traftate verfaßte. Wir bringen aber im ganzen von der 
Synode von Nicka bis zum Jahre 656/345 zwanzig Jahre zu 
fammen, und dies ift die Zeit, während welcher der perfiſche 
Schriftſteller fchrieb, wie wir, fo weit es möglich ift, aus feiner 
Schrift nachgewiefen haben. 

Was aber die Zeit vorher, und fpeziell vor dem Sabre 
648/337, angeht, fo finden wir in keiner Weife, daß Mar Efrem 
damals lehrte und ſchrieb, ſo dag wir fagen könnten, er fei ein 
Vorgänger dieſes perfifchen Schriftftellers oder er fei fein Lehrer 
oder fein Meifter. — Die Zeiten aber, in denen der jelige Mar 
Efrem befanntermaßen ſchrieb, find zu erkennen aus der Kirchen 
geſchichte des Theodoret von Kyros: aus dem 31. Kapitel des 
2. Buches und dem 29. Kapitel des 4. Buches !), aus denen 
hervorgeht, daß Efrem gegen Ende der Regierung des Konftun 
tius bei der Belagerung von Nifibis durch den Perferlönig Schäbör 
zugegen war und daß er zur Zeit des Valens in Edefja „gegen 
die der Wahrheit feindlichen Lehren ſchrieb“ — Juden wir nun 
die Mittelglieder, um nicht zu weitſchweifig zu werden, übergehen, 
fo finden wir, indem wir die beiderfeitigen Angaben vergleichen, 
daß zwiſchen ber früheren Zeit, in welcher ber perfifche Schrift: 
fteller die 10 erften Traktate ſchrieb, und derjenigen Zeit, in der 
der felige Dear Efrem jene Lehren befämpfte — d. i. nad) der Er 
oberung von Niſibis durch die Perfer und feiner Überfiebelung 


1) In der erften der beiden Stellen, bie Georg ihrem Wortlaute nah 
mitteilt, wird erzählt, wie Efrem von Jakob, dem Biſchof von Nifibis, ger 
beten worden fei, auf die Mauer zu fleigen und auf die Barbaren — d.h. 
auf die die Stadt belagernden Perſer — Geſchoſſe von Verwünfchungen zu 
ſchleudern. Gemeint ift von ben drei vergeblichen Belagerungen von Rifibie 
durch Sapor II. d. Gr. in ben Jahren 388, 846 und 350 wohrſcheinlich die 
letzte. — Im der Ausgabe von Schulze finden ſich die zwei citierten Stellen 
Bud) 2, Rap. 26, und Bud) 4, Kap. 26 (©. 906 u. 1008; vgl. Migne, 
Patrol, ®b. LXXXII). Eher flimmt bie Kapiteleinteilung Georgs mit der deß 
Stephanus, des Balefins und ber Baſeler Ausgabe überein (II, 30; IV, 29). — 
Aus der Kirchengefchichte des Theodoret finden ſich aud zwei Eitate (1. IV, 
c. 22; 1. IV, c. 2) in den Scholien George zu den Homilieen des Gregor 
von Nazianz. 





Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 317 


nad Edeffa —, nahezu 50 Jahre find; denn wenn wir annehmen, 
daß dee perfifche Schriftfteller die 10 früheren Traktate in den 
[legten] 8 Jahren vor dem Hinfcheiden des gläubigen Königs 
Lonſtantin ſchrieb, und zu diefen 8 Jahren die 25 Jahre, welche 
Ronftantins herrſchte, und die drei des Julianus und des Yovia- 
aus famt den 14 von dem König Valens hinzuthun, fo bringen 
vir 50 Jahre zufammen, wie wir gefagt haben. Wie lange aber 
ein jeder von dem genannten Künigen regiert hat, ergiebt fih aus 
folgenden Stellen: Sokrates, Kirchengeſchichte I, 40; II, 45; 
IN, 16; III, 20; IV, 35 *). — Indem nun etwa 50 Jahre zwiſchen 
der Blüte der Lehrthätigkeit de perfiichen Schriftfteller® und ber 
de Mar Efrem zwifcheninne fiegen, wie kann da jemand fagen, 
diefer perfifche Schriftfteller fei ein Schüler des Mar Efrem ger 
weſen? Es iſt dies unwahrſcheinlich, wie aud die Prüfung, die 
wir oben angeftellt Haben, zeigt, — wenn auch Efrem vielleicht 
irgendeine Zeit Tang gleichzeitig war mit dem Leben des perfiichen 
Schriftfteller8 oder auch mit dem Leben und der Lehrthätigkeit, 
aber doch nur fo, daß Efrem noch ein Knabe war, als ber 
perſiſche Schriftfteller ſchon Tängft ein Greis war. — So haben 
wir denn betreffs des jogenannten perſiſchen Weifen in Kürze ges 
zeigt, daß fein Name uns nicht befannt ift, auch nicht fein Rang 
und der Ort feines Aufenthaltes, wohl aber dies, daß er ein 
Möndh war und dem kirchlichen Klerus zugeordnet, fowie daß er 
nicht der Schüler des Efrem geweſen tft. 


1) In der Ausgabe ber Kircheugeſchichte des Sokrates von Huffey ſtehen 
die Eitate Georgs, die übrigens nur die Angaben über die Regierungsjahte der 
Kaiſer von Konftantin bis Balentinian enthalten, an folgenden Stellen: I, 40; 
11, 47; II, 21. 26; IV, 38. — Im dem zweiten Citate ftehen ſtatt 13 Jahren 
der gemeinfamen Regierung bes Konftantius mit feinem Vater fälſchlich 3 Jahre, 
wos ſchon mad} den anderen Zahlangaben zu berichtigen ift. Die Überfegung 
George iſt ganz wörtlich; nur hat er einige Male Namen eingefetst, two fie im 
Zuſammenhange des griechiſchen Textes nicht nötig gewvefen waren. — Aus ber 
Kirhengefchichte des Sokrates finden fich auch in den Schofien Georgs zu ben 
Homifieen Gregors von Nazianız verfchiedene Eitate: I, 38; I, 35; II, 17. 26; 
IL, 14; I, 31 u. 32. 


8 Ryffel 


Diefer Rekapitwlatten des Ergebniſſes der auf Grund ber 
Homilieen des Aphraates von Georg angeftellten Forſchungen über 
dad Lebe diefes „perfiichen Weifen“ haben wir nur wenig 
hinzuzufügen. Verfchiedene Steffen, welche außer den von 
Georg mitgeteilten dazu dienen, obige Notizen über die 
Lebensperhältwiffe des Aphraates zu erhärten, Haben wir ber 
reits in den Anmerkungen angeführt. Das wenige aber, was ſich 
fonft noch aus anderen Quellen über Aphraates feſtſtellen käßt, 
ift etwa Folgendes: Nach einer bereits erwähnten Rotiz auf dem 
Rande einer ſyriſchen Handfchrift war er „Bischof des Kloſters 
des heiligen Matthäus“, welches anf dem Berge Elpheph im ber 
Nähe von Moful gelegen war, desfelben Kloſters, das fpäter, nade 
dem der Maphrian die Didcefe von Nintve oder Moſul zu feiner 
Diöcefe von Tagrit hinzugenommen hatte, der Sig eben dieſes jafo- 
bitifhen „Primas des Oftns“ war). Da er übrigens au dem 
Möndäftande angehörte, fo tft anzunehmen, daß er zugleich Abt des 
erwähnten Kloſters geweſen if. Daß Aphraates die Chriftenver- 
folgung durch Sapor mehrfach erwähnt und bisweilen nad) Jahren 
der Regierung dieſes Königs rechnet (f. 0. ©. 315, Anm. 1), ferner 
daß er als Beauftragter einer in den perſiſchen Hauptftäbten Seleucia 
und Ktefiphon verfammelten Synode eine Enchklila ſchrieb (ſ. o. 
©. 313, Anm, 2), ſowie daß er ald Bifchof der Diöcefe non Moſul 
im öftlichen Syrien, innerhalb der altchriftlic-fyrifchen Tigriolande 
lebte 2), — alles dies weißt darauf Kin, daß er unter perſiſcher 
Herrfchaft ftand, woraus ſich zugleich die Benennung erklärt, unter 
der ihn Georg allein kennt und nennt, Da er übrigens im Jahre 
648/337 bie erften 10 feiner Homilten-Sammlung vollendete und 
feine ſchrifiſtelleriſche Thätigkeit im Jahre 656/345 abſchloß und 


1) ©. Bibl. Or., T. II: Diss. de Monophysitis. Xgl. über das Klofter 
Mär Mathai auf dem Berge Elfef reſp. Alfef ©. Hoffmann, Auszüge aus 
ſyriſchen Akten perfifcher Märtyrer. ©. 19, S. 175 (Anm. 1871) u. ©. 194. 

2) Eine indirefte Beſtätigung bafür, daß Aphrantes im öſtlichen Syrien 
lebie, liegt auch darin, daß er die arianifche Ketzerei, die damals den ganzen 
Oecident beunruhigte, nirgends erwähnt, dagegen die gnofifchen Sekten ber 
Marcioniten, Balentinianer und Manichäer, die damals hauptſächlich in Eyrin 
bluhten, aufs heftigſte befämpft (f. ©. 51, 3- 6ff). 


Ein Brief George, Biſchefs der Araber ıc. 3 


da er bie Homilleen als Bifchof und fomit, wie aud aus dem 
Inbatte derfelben Hervorgeht, als gereifter Mann geſchrieben Bat, 
fo wird er etwa um 280 a. Chr. geboren fein. Seine Homilien 
gehören mit zu den fruheſten Dentmülern fyrifcher Literatur ; von 
ifrem in mehrfacher Hinſtcht intereffanten Inhalte handelt Georg 
Weiter in den zwei folgenden Kapiteln. 





Zweites Kapitel. Über die Anſicht des perfiſchen 
Shriftftellers, daß nah Beendigung von 6000 
Fahren biefe Welt untergehen werde. 


Betreffs deffen aber, was Deine brüderliche Liebe fehreibt, 
do dieſer perfifche Schriftfteller gefagt Hat, es werde, fobald 
6000 Jahre zu Ende wären, für diefe Welt das Ende eintreten, 
will ih dir mitteilen, daß auch viele andere Ehriften aus ber 
Zeit nach dem Erdenleben Chriſti diefe Meinung hatten — dem 
eutſprechend, was ihre eigenen Ausſpruche darthun —, von denen 
bir, mit Übergehung der meiften, wenigftens einige wenige, wie 
zur Beftätigung unferer Behauptung, anführen wollen. So 
ſchreibt Bardaizan (d. i. Bardeſanes), der ehrwürdige und in ber 
Ertenntnis der Dinge berühmte Mann, in einem von ihm ver» 
fasten Werke „Über die gegenfeitigen ouvodos der Sterne des 
Himmels“ 7) alfo; „Zwei Umläufe des Saturn find 60 Jahre, 
fünf Umläufe des Jupiter 60 Jahre, 40 Umläufe des Mars 
60 Jahre, 60 Umläufe der Sonne 60 Jahre, 72 Umläufe der 
Venus 60 Jahre, 150 Umläufe des Merkur 60 Jahre, 720 Um⸗ 
läufe des Mondes 60 Jahre, — und dies iſt eine auvodos 
ihrer aller oder die Zeit einer ovvodog von ihnen, fo daß in» 
folge deſſen 100 derartige ouvodos 6000 Jahre ausmachen, 
alſo: 200 Umläufe de8 Saturn 6000 Fahre, 500 Umläufe des 
Jupiter 6000 Jahre, 4000 Umläufe des Mars 6000 Jahre, 


3) Unter ben „gegenfeitigen auvodos“ find, wie aus dem folgenden here 
vorgeht, bie ſynodiſchen Umlaufzeiten der Planeten gemeint — €s ift vielleicht 
m die im Fihriſt ermährtte Schrift des Bardefanes „Das Bewegliche und 
Fee” zu denken, bie auch von den Planeten haudelte. 


820 Ryfſſel 


6000 Umläufe der Sonne 6000 Jahre, 7200 Umläufe der 
Benus 6000 Jahre, 12000 (?) Umfäufe des Merkur 6000 Jahr, 
72000 Umläufe des Mondes 6000 Jahre“; und zwar rechnet 
Bardaizan dies aus, um zu zeigen, dag nur 6000 Jahre diefe 
Welt beftehen werde. — Auch der heilige Hippolytus, der Biſchof 
und Märtyrer, fagt alfo in dem 4. Auffage über den Propheten 
Daniel ?): „Das erfte Auftreten (megovaia) unferes Herrn im 
Fleiſche gefchah zu Bethlehem in den Tagen des Auguftus im 
Jahre der Welt 5500; er Titt aber im 33. Jahre [mach feiner 
Geburt]; e8 miüffen aber notwendigerweife 6000 voll werben 
(AmoIrvaı), damit der Ruhefabbat (26 Zeßarov) komme, 
[j xaranavaıs, j user ij dyla], an welchem „Gott ausruft 
von alfen feinen Werfen, [die er (wörtlich: Gott) angefangen hat 
zu thun]“; — und kurz darauf: Von der Geburt Chrifti nun 
muſſen wir rechnen [und hinabgehen] die übrigen 500 Fahre bis 
zu dem Ende (eis ovunikfgwoıw) der 6000 Jahre, und fo wird 
da8 Weltende (70 z#Aos) fein." So zwar lautet diefer Ausſpruch, 
in dem auch der Heilige Hippolytus ganz deutlich gefagt Hat, dag 
diefe Welt nur 6000 Jahre beftehen werde; man muß aber wiſſen, 
daß diefem feinem Worte nach in dem gegenwärtigen Jahre 1025 
der Griechen diefe Welt bereit6 215 Jahre untergegangen fein 
follte. Denn wenn 500 Jahre nad dem Kommen Chrifti, wie 
er fagt, das fechfte Jahrtaufend und diefe Welt zu Ende gehen 
werden, von dem Kommen. Chrifti aber bis zu dem gegenwärtigen 
Sabre 715 Jahre find — denn im Jahre 310 nehmen wir an, 
daß der Heiland geboren ift, wie wir an einem anderen Orte?) 
ausführlicher gezeigt haben —, wenn wir daher von 715 Jahren 


1) Beide Stellen finden ſich in Fragmenten feines Kommentars zu Daniel, 
die Migne in feiner Patrologia Graeca, Opera Hippol. X, 645 u. 618 
(in Kap. 6) zum Abdruck gebradt Kat. Was Georg — oder der Berfafier 
der ihm vorfiegenden Überfegung — Hinzugefügt hat, ift durch edige Mlammern 
fenntlich gemacht; ebenfo die griechiſchen Wörter, die in ber Überſetzung weg- 
gelaffen find. 


2) Gemeint iſt wohl das „Chronifon“, über welches zu vergleichen if, 
was oben (S. 297) in dem Verzeichnis der Schriften George gefagt wurde. 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber ꝛtc. 821 


500 abziehen, nach dem, was Hippofytus fagt, fo bleiben ung 
215 Jahre übrig, wie wir bereitö gejagt haben. 

Außer diefen beiden führen wir aber auch den Heiligen Mar 
Ju’güb den Lehrer ) an, welcher ebendiefelbe Meinung vorträgt, 
indem er im 6. der von ihm über das Seraemeron verfaßten 
Sermone alfo fagt: „1000 Jahre werden von Gott als ein Tag 
gerechnet, da 1000 Jahre in den Augen Gottes ein Tag find; 
und die 6 Tage, in denen die Erfchaffung (im Syr. plur.) zu⸗ 
ftande lam, find die Fahre der Welt, welde fon 6 ZYahrtaufende 
befteht; aber im fiebenten Zaufend Hört die Welt auf, und es 
zuben die Umläufe, und es entfteht Ruhe, wenn der Lauf des 
feßften beendet iſt.“ Und kurz darauf: „Es ruhete Gott am 
fichenten, indem er anbentete, daß er die Welt nur 6 [gahr⸗ 
tauſende] Taufen laffen werde; am 6. Tage war zu Ende die 
Grigaffung aller Geſchöpfe, damit die Welt lernen foll, daß fie 
in ſechs entfteht und im ſechs vergeht.“ Und kurz darauf wiederum: 
‚Nicht iſt der Here deſſen bedürftig, daß er ausruhe, indem er 
nicht ermüdet, fondern er will nur ein deutliches Gleichnis bon 
dem Weltende geben, daß nämlich die Weltſcheibe, fobald fie 6 
Rhyrtauſende gelaufen ift, im fiebenten vergeht und ſich nicht mehr 
dreht.“ 3) — Und zwar Haben fie dies fo gejagt und behauptet, 
indem ein jeder von ihnen irgendein Gleichnis Hergenommen hat 
aus den Verhältniſſen der Dinge (d. 5. Erfcheinungen), die näm- 
(ih am Himmel ober.auf der Erde oder an beiden ſich ereignen. 

So Hat auch diefer perfiſche Schriftiteller gethan; denn er 
fogt in dem Zraftate über die Liebe, gleich wie auch Deine brüder- 
fie Liebe alſo ſchreibt 2): „Stoße Dich nicht, mein Geliebter, 





1) Gemeint ift Jakob von Sarug, Biſchof von Batnä (F 521), der den 
Ehrennamen malpänä, d. i. Lehrer, gleid) dem 5. Ephrem und Iſaak von 
Intiohien führt (ſ. o. ©. 290, Anm. 2). Seltener wird auch Daniel von 
Sala) als der „göttliche Lehrer“ bezeichnet. 

2) Bgl. Bickell, Ausgewählte Gedichte der ſyriſchen Kicchenväter Cy - 
rillonas, Baläus, Iſaak von Antiodien und Jalob von Sarug (in der Kemp- 
tener Bibliothet), ©. 221. 

®) Betrefis des Zuſammenhanges biefer Stelle (j. Wright a. a. DO, 
©. 36, 3. 15), die fouft, befonders im Anfang, dunkel und unverftäudfid) if, 


32 Ryſſel 


an dem Worte, das ih Dir geſchrieben habe, daß Gott wäßend 
einer Hälfte feines Tages Jeruſalem vergeben habe; denn fo ftht 
geſchricben bei Dabid im 90 Pfalm: 1000 Jahre find in dm 
Augen des Herrn wie ber Tag, der geftern vergangen ift. Und 
auch unfere weifen Meifter ſagen alſo, daß, gleichwie in 6 Tag 
die Welt von Gott erfchaffen ift, fo ah am Ende van 6000 
Jahren die Welt fih auflöfen und der Sabbat Gottes eintreim 
wird, mtfprechend dem Sabbat nad den 6 Tagen.“ ) — 36 
aber, wenn ih Geringer unferen Erlöfer und unferen Bott und 
anferen Heren Zeus EHriftus zu feinen Züngern fagen höre, dis 
Sie ihn nach feiner Auferftehung von den Toten fragten, ob er 
in diefer Zeit das Königtum Perael wieberherftellen werk: 
„Nicht iſt dies eure Sache zu wiſſen Zeit oder Zeiten, melde der 
Bater nach feiner Willkür beftimme Hat“ 3), fo fage ih Un 
wiffender, daß weher in der Zeit non Anfang der Welt bis jet, 
nod in der Zeit von jet bis zum Ende der Welt, noch vom 
Anfang der Welt bis zw ihrem Ende einer von allen Menfäen 
iſt, der es gewußt hat oder weiß oder wiſſen wird; und daß ich 
noch Wichtigeres fage: auch nicht bie Engel, wie ‚mir ſchaint, kennen 
die Zeit des Endes der Welt; wie unfer Hem vor feinem Leihen 
und feinem Tode und feiner Auferftehung van den Toten zu feinen 
Züngern gejagt Hat: „Die Stunde weiß niemand, auch nicht der 
Sohn und auch nicht die Engel im Himmel.“ ®) Denn menn er 
auch non fich ſelbſt in Ruckſicht auf feine menſchliche Natur 
(wörtl, olxovopsxös) und uneigentfih ſagt, daß er es nicht wiſſe, 
während er es doch meiß, fo bridt er ſich jedoch betreffs der 
Menſchen und Engel nicht uneigentlich, ſondern wirklich und eigens 
lich (xvolwc) aus, wie mir ſcheint. Und darum iſt die Trage, 
ob nad; 6000 Jahren oder nach 7000 Jahren oder nad) wie vie 


vgl. Bidell (a. a O., ©. 44), der den ganzen Traktat fiber die irbe 
G. 83—51) mitteilt. 

1) Andere Beifpiele ſolcher allegoriſchen Anslegung des Schriftwories bi 
Apbrantes |. Saffe a. a. O., ©. 17. 

2) Ang. 1, 7. 

8) Matth. 24, 86. Mark. 18, 32. 


Ein Brief George, Biſchofs ber Araber ꝛtc. 323 


Fehren das Ende dieſer Welt eintritt, die Sache des Vaters allein, 
lleichwie auch der Sohn geſagt hat; die Sache des Sohnes aber, 
veſſen alles iſt, was des Vaters ift, und die des heiligen Geiſtes, 
ber alles ergründet und auch die Tiefen der Gottheit, iſt es, dies 
deutlich zu verlundigen. Und dies ift, was ich betreffs deſſen, daß 
der perfifche Schriftfteller jagt, nad) 6000 Jahren werde die Welt 
vergehen und aufhören — worliber deine bruderliche Liebe in 
Zweiſel geraten war —, zu fügen hatte. 





Diefe Erwartung des Weltendes, welche mit den chiliaſtiſchen 
Anfhauungen nahe verwandt ift, aber doch nicht mit ihnen ver» 
wechſelt werden darf, geht auf eine Miſchung won allegauischer 
und budftählicher Auffaffung des Schriftwortes zur, indem man 
von ‚den 6 Zagen der Schöpfung nad) allegorifcher Auslegung in 
Anlehnung an Palm 90, 4 auf eine Weltdauer von 6000 Jahren 
ſchloß, fodann aber an der Zahl 6000 buchſtäblich fefthieit. Das 
bei verlegte man entweder, wie Hippolytus (f. 0. ©. 320), bie 
Geburt Chrifti ins Jahr 5500, oder man dachte fi, wie im 
ganzen Mittelalter, das erfte Weltalter von 5000 Jahren mit der 
Geburt Chriſti abgefchloffen. Aber während verſchiedene ältere 
Kirchenlehrer — aufer ben von Georg angeführten aud re» 
näus 5, 28, 3, der ſich fait wörtlich fo wie Jakob von Sarüg 
und Aphrantes (f. o. ©. 321f.) ausdrädt, — auf Grund diefer 
Erwartung bes Weltenbes nach Ablauf von 6000 Jahren den 
Hifioftifchen Erwartungen eines 7. Jahrtauſends, eben des taufend- 
jährigen Reiches entgegentraten, ‘haben andere wieder an die Er 
wartung des am Ende des 6. Jahrtauſends eintretenden Welt⸗ 
fabbats (vgl. 3. B. auch Barnabas, c. 15) die Hoffnung auf 
eine taufendjährige Endzeit ‚allgemeinen Friedens ‚gefnüpft, indem 
fie die Ruhe diefes Weltſabbats nicht als ein Aufhören des Welt 
laufes, fondern als ein Aufhören des duch das Boſe in die Welt 
gelommenen fittlich»veligiöfen und politifchen Unfriedens faßten 
(fiehe z. B. auch Lactant., Inst. VII, 14: „et rursus, quoniam 
perfectis aperibus requievit die septimo eumgque benedixit, 
necesse est, ut in fine sexti millesimi anni malitia omnis 


8324 Ryſſel 


aboleatur e terra et regnet per annos mille iustitia, sitque 
tranquillitas et requies a laboribus, quos mundus iam diu 
perfert“). Daß übrigens diefe chiliaſtiſchen Erwartungen eines 
7. Zahrtaufends auch dem Araberbifchof Georg nicht fremd waren, 
geht aus der Bemerkung am Schluffe des Kapitels hervor, wo er — 
etwa in der Weife, wie Irenäus (a. a. O.: „non licet allegori- 
zare ... non in supercoelestibus intelligendum‘) — ausein 
anderfegt, daß der Menſch nicht darnach forſchen folle, „ob nad 
6000 Jahren oder nad 7000 Jahren oder nad wie viel Jahren 
das Ende ber Welt eintreten werde“. 





Drittes Kapitel, Über die Anfiht des perfifgen 
Säriftftellers, daß, wenn die Menſchen fterben, 
der ſeeliſche Geift (70 veöne woxıxov) zugleich mit 
(eigentlich: innerhalb, in) dem des Bewußtjeins be 
raubten Leibe begraben wird. 


Betreffs des anderen aber, was Deine brüderliche Liebe ſchreibt, 
daß der perfifche Schriftfteller in feinem Traktate „über die Yun- 
desbrüder“ gejagt hat 1): „Denn bei der erften Geburt werden 
die Menſchen geboren mit dem feelifchen Geifte, [der im Menfchen 
erfchaffen wird] *) umd nicht fterblich iſt — gleichwie es haft, 


2) 6. Wright a. a. O., ©. 125, 3. 9-16. Das Boransgehak 
Tautet von Anfang des 18. Kapitel® an folgendermaßen: „Darum, mein Lieber, 
haben auch wir von dem Geiſte Ehrifti empfangen, und Chriſtus wohne in 
uns, gleichwie geſchrieben fteht, daß biefer Geift durch den Mund des Propferm 
gefogt hat: Ich will in ihnen wohnen und unter fie gehen (2 Kor. 6, 10) 
Laßt uns daher unfere Tempel vorbereiten auf den Geift Chriſti und ife 
nicht betrüben, damit er nicht von und weiche. Geid eingedenk deffen, mat 
euch der Apoſiel lehrt: Vetrubt nicht ben f. Geift, durch den ihr Derfegelt 
feid auf den Tag der Erlöfung (Eph. 4, 80). Denn aus ber Kaufe em 
pfangen wir den Geift Ehrifti; denn zu ber Stunde, wo bie Priefter den Gein 
aneufen, öffnet er den Himmel und fteigt hecab und ſchwebt über dem [Taufe] 
Waſſer und es ziehen ihn am bie, welche getauft werben. Denn von alle: 
Kindern des Leibe iſt der Geift entfernt bis zu der Zeit, wo fie lonmen 
zur Geburt des Waſſers und bann dem Heiligen Geiſt empfangen.“ 


2) Die eingelammerten Worte fehlen bei de Lagarde (©. 117,30 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber 2c, 826 


daß Adam zu einer lebendigen Seele warb (Gen. 2, 7) —; und 
bei der Wiedergeburt der Taufe empfangen fie den Heiligen Geift, 
der gleichfalls nicht fterblich ift; wenn nämlich bie Menſchen 
ſterben, jo wird der feelifche Geift mit dem Leibe begraben, indem 
Bewußtfein von ihm (dem feelifchen Geifte) hinweggenommen ift, 
und der himmlische Geift, den fie empfangen haben, geht zu feiner 
Natur, zu Chriftus; und dies beides tut uns der Apoftel kund, 
denn er fagt: „Der Leib wird begraben ſeeliſch (adv.) und fteht 
anf geiftig (adv.)**); und der Geift wiederum wird zu Chriftus 
gehen zu feiner Natur, denn gleichfalls fagt der Upoftel: ‚Wenn wir 
abſcheiden aus dem Leibe, werben wir bei unferem Herrn fein‘ ®): 
denn zu unferem Herrn geht der Geift Ehrifti, der, den die Geifte 
lichen (d. 5. bie uvsuarıxod) empfangen, und der feelifche Geift 
wird begraben in feiner Natur in dem Leibe, indem das Bewußt- 
fein von ihm genommen ift“, — betreffs deſſen darf die Weisheit 
Deiner brüderlichen Liebe den perfiſchen Schriftfteller nicht zu den 
erprobten und durch erprobte Schriften ausgezeichneten Schrift» 
ftellern Hinzunehmen und hinzurechnen, alfo daß Du Did; infolge deſſen 
in Deinen Gedanken abquälteft und in Deinem Sinne Dich abmüpteft, 
namlich zu erfafen und zu erkennen den Sinn (eg. duvanıs) 
aller der Worte, die er in feinem Homilieenwerke gefagt hat. Denn 
wenn er auch, wie wir oben gefagt Haben, ein von Natur ſcharf ⸗ 
finniger Mann war nnd die Heiligen Schriften ftubiert Hatte (ſ. o. 
S. 312), fo gehört er doch nicht zu denen, die die bewährten Lehren 
der bewährten Lehrer gelefen haben; deun er war auch zu feiner 
Zeit gar nicht in der Lage, fie zu beachten und feine Gedanken und 
feine Worte nach denen jener zu richten, und darum find auch 
viefe Fehler und viele dunkle Stellen in jenem Werke für den, 
der weiß und verfteht, was er Kieft, fo wie es gefchrieben ift. 
Zu ſolchen Worten gehören auch die, worüber Deine brüderliche 


md Wright (©. 81, 3. 16); daß fie aber zum Terte gehören, geht ſchon 
darans Hervor, daß das „und“ fonft finnlos if. Sie find ans dem Urtegte 
der Homilieen des Aphraates (j. Wright ©. 125, 3. 10) reſtituiert. 

1) 1Ror. 15, 44. 

3) 2Ror. 5, 8. 

Theol. Stid. Yahıg. 1883. 22 


828 . Ayffel 


Liebe jetzt in Zweifel geraten if. Denn indem er den göttlichen 
Apoftel Baulns fagen Börte: „Es wird gefüet ein ſeeliſcher Le 
und ſtehet auf ein geiftlicher Leib“ ), mmd nicht die Bedeutung und 
den Sim des Wortes erfaßte, fo fam er dazu zu fehreiben un 
zu fagen, daß, wenn die Menfchen fterben, der feekifche Geift mit 
dem Leibe begraben und Bewußtſein vom ihm genommen werde, un 
der himmliſche Geift, den fie empfangen, zu feiner Natur m 
Shriftus gehe, und daß der Apoftel uns dieſes beides kundgethaa 
babe, da er ja fage, der Leib werde ſeeliſch begraben und fick 
geiftlich auf, — indem er (d. i. Aphrantes) „begraben werden 
an Stelle von „gefät werden“ fagt, ſei es gemäß ber Hand 
ſchrift, die es damals vor fich hatte, oder indem er wielleicht die 
Besart Ändern wollte entiprechend dem Sinne, dem er für richtig 
Bielt %), d. 5. daß begraben wird ber ſeeliſche Geiſt im dem Reihe, 
infofern es ihm nicht ganz angemefjen war zu fagen: „Es wird 
gefät ein feelifcher Geift in dem Leibe und Bewußtſein if von 
ihm hinweggenommen.“ Was ift für ein Sinn oder Verſtaud 
in dieſer Anfiht 9)? Denn feelifcher Geift ohue Bewußtfein 
findet fich auch nicht bei irgendeinem von allen Gefchöpfen, außer 
allein bei deu Saaten und den Gräfern und den Bäumen und bi 
den Kindern im Miutterleibe vielleicht; denn das, was fie (it 
Pflanzen) wachfen und zeif werben läßt, ift ohne Bewußtſein und 
ohne die Fuhigkeit ſich von einem Orte zum amberen zu bewegen. 


V Die bibliſchen Eitate des Aphrantes find infofern von großer Zötdtige 
keit, weil aus ihnen hervorgeht, daß die Peſchittä, da fie von Oſtſyrern, d. $ 
von Syrern unter perfiicher Herrſchaft, wie Aphraates, ebenfo gebraucht murk, 
wie von den mit den Oftfgrern in gar Keiner engen Beziehung ſtehenden Syretu 
im rönrifchen Reiche, ſchon von altersher als der eigentlich chriſtliche Tert be 
teachtet wurde. Denn die Peſchittã des Aphraates zeigt, wie die des Cyfräm, 
Bereits bie Spuren langen Gebrauches und zwar in der Eßraugelo-Scheift. ©. 
Th. Nöldete im Liuerariſchen Sentrafblatt* (Jahrg) 1875, &. 1505, und 
Saffe a. a. O., ©. 34ff. Bemerkt fei noch, daß Aphrantes, wie Zahn 
(„Göttingifcje geiehrte Anzeigen” 2877, ©. 188f.) geyeigt Hat, feine Evan 
gelkeneitate aus Tatlans Diateffaron fejöpfte. 

3) Pristeres iſt giweifelsofne das allein Fidtige. ©. u. ©. 834. 

8) Gemeint iſt bie Anficht, daß der ſeeliſche Geiſt im menfehfichen Beide 
reſp. Leichname feine Empfindung Habe. 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. [4 


Denn wie nad ber Ansfage der Philoſophen die Subſianz () 
weten) ſich teilt in Korperliches und Unkörperlies, fo teilt fich 
and das Körperliche in BVefeeltes und Unbefeeltes, und das Bes 
fiefte teilt ſich wieder in Tier (eig. lebendes Weſen, animal), in 
Tierpflanze (Ieöyvsov) und in Pflanze. Tier nun iſt alles das, 
mas lebt und ſich vom einem Orte zum amberen bewegt, entweder 
in der Luft oder anf dem Trodenen oder in bem Meere; Tier 
pflanze aber bie Schwämme und die Schnecken, deren es ſehr viele 
giebt, und alle die Tiere, melde, obgleich Re an einen Ort fiziert 
find und mcht freiwillig von ihm fich entfernen Türmen, doch leben 
und empfinden, wenn ſich etwas nähert und fie berihrt — und 
das Kennzeichen, daß fie Leben, ift ja außer dem, daß fie empfinden, 
and das, daß von ihnen Blut ausſtromt, wenn fie zerſchnitten 
werden —; die Pflanze aber iſt das, merkt, indem es friert und 
eingepflanzt iſt and an eimem Orte fich befindet, eine empfinbunge« 
loſe Seele ift, welche fie (die Pflanze), zugleich mit Erde und 
Waſſer und der Furſorge des Schöpfers, wachſen und gebeihen 
laßt. Der Art dieſer Pflanzenferle vergleicht der perſiſche Schrift 
fteller die Menſchenſeele, von ber eu ſagt, daß fie im dem Leich⸗ 
nam, der ohne Bewußtſein if, nach dem Tode mit begraben 
wird. — Aber auch, daß bie mit bem Leibe der Manſchen begsabene 
Seele geringer iſt als bie der Pflanze, wied vom ihm behauptet. 
Denn fo Lange bie Seele der Pflanze in derfelben ift, iſt fie (bie 
Pflanze) frif und erhalt ſich und gebeigt fröhlich; und erfcheint den 
Augen wie etwas Lebendes; ſobald fie (die Gere) aber ans ihr 
herausgeht, wird fie dürr und vertrodnet und vergeht und erfcheint 
den Augen wie etwas Totes. Die Seele aber, die nach Ausſage 
des perſiſchen Schriftftellere in dem menfchlichen. Leibe nach dem 
Tode mit begraben wied, kaun ihn auch nicht einmal drei ganze 
Zage lang erhalten ohne Auflöfung und Zerſetzung und Verweſung 
innerhalb des Grabes. — 

Und. auch bie aubese Behauptung, daf ber Heilige Geiſt, den 
bie Menfcen. bei der Taufe empfangen, fobald fie erben, zu 
feiner Natur zu: Chriftus geht) — d. 1. „zu unſerem Herrn geht 


1) ©. Wright a. a. O., ©. 125, 3. 16, vgl. ©. 126, 3.22. De 
29% 


828 Ryſſel 


der Geiſt Chriſti“, indem ich nicht wüßte, wen er mit „unſerem 
Herrn“ außer Chriſtus meinen könnte —, ift voll Dunkelheit und 
ohne ftäbtifche Gelehrfamteit (d. i. wiſſenſchaftliche Schulung). — 

Ebenſo auch die Meinung, bie er fpäter äußert. Ex ſchreibt 
nämlich kurz darauf: „Denn der, welcher den Geift Gottes in 
Reinheit erhält (eig. bewahrt), zu dem fagt er (dieſer göttliche 
Geift), warn er zu Chriftus geht: „Der Leib, zu dem ic ge 
tommen war und der mich umkleidet Hat feit dem Waſſer der 
Taufe, Hat mich in Heiligkeit bewahrt“, und der Heilige Geiſt 
bittet bei Chriftus um die Auferftehung des Leibes, der ihn rein 
(adv.) bewahrt hat, und der Geift verlangt, wieder mit ihm (dem 
Leibe) vereinigt zu werben, damit der Leib in Herrlichkeit aufs 
erftche. Der Menfch aber, welcher den aus dem Waſſer (der 
Taufe) empfangenen Geift betrübt, — aus bem geht er heraus, 
noch ehe er fticht und geht zu feiner Natur zu Chriftus und ber 
Hogt fi über den Menfchen, der ihm betrübt hat. Und wenn die 
Zeit der fhlieglichen Vollendung eintritt, und es naht die Zeit der 
Auferftehung, fo empfängt ber heilige Geift, der in Reinheit ber 
wahrt worden ift, große Kraft von feiner Natur und kommt vor 
Chriſtus und ftellt fi auf die Pforten der Begräbnisftätte, dem 
Orte, wo die Menfchen begraben Tiegen, welche ihn im Reinheit 
bewahrt haben, und wartet auf den Schall des Hornes; und wenn 
die Engel bie Pforten des Himmels vor dem Könige aufthun, 
dann ruft dad Horn und die Pofaunen erſchallen, und es Hört es 
der Geift, der auf den Schall wartet; und eilends öffnet er bie 


ganze Stelle, aus der mir erfehen, wie Aphraates durch Kombinierung 
mehrerer Bibelftellen feine Anficht zu beweiſen fucht, if von Georg am Ar 
fange dieſes Kapitels mitgeteilt worden (j. 0. S. 325, 3. 615). — Duhin 
dem ſyriſchen Ausorude Tanaasn (f. 0. ©. 325, 3.95) 


das zweite Wort, „Chriſtus“, dem erſten, „Natur“, Loorbiniert if, geht midt 
nur aus bem Zufammenhange hervor, fondern auch aus dem parallelen Aus- 


drudt go a... ans (f. 0. ©. 825, 3. 14); denn mit hin 
der Leib als bie Natur, d. h. das Grunbelement, des „feeliihen (b. i. anime 


Hifdjen) Geiſtes. bezeichnet wird, fo it Chriſtus als der Urguel bes „Hmm 


luſchen Geiftes“ angefehen. 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber zc. 829 


Gräber und laßt die Leiber auferftehen und das, was im ihnen 
mit begraben ift *). — Und furz darauf: „Und diefer Geiſt, mein 
Öefiebter, den die Propheten empfangen haben und fo auch wir, 
findet fi nicht immerwährend bei feinen Empfängern, fondern 
bald geht er zu dem, der ihm gefendet hat, bald kommt er wieder 
zu denen, die ihn empfangen Haben. Höre auf das, mas unfer 
Herr fagt: „Verachtet nicht einen von dieſen Meinen, die an mic 
glauben; denn ihre Engel im Himmel ſchauen zu jeder Zeit das 
Antlig meines Vaters ®)‘, d. h. der Geift geht zu jeder Zeit und 
ſtellt ſich vor Gott hin und ſchaut fein Antlig; der aber, welcher 
den Tempel ſchädigt, in dem er wohnt, — über ihn beflagt er ſich 
vor Gott.“ 

Bemerfft du, o unfer Bruder, die Unbeholfenheit (wörtlich: 
das Bäuerifche) diefer Ausfprüche und welche Ehre fie dem Heiligen 
Geiſte (d. h. dem göttlichen Geiſte, der in dem Menſchen Wohnung 
nimmt) zuteilen und wie er die Engel der Gläubigen auffaßt, 
bon denen umfer Herr fagt, daß fie zu jeder Zeit das Antlig 
feines Vaters fehen? Dieſe Anficht äußert er auch in der Stelle 
gegen Ende des Traktats über die Auferftehung der Toten, bie 
ih wegen ihrer Länge mich ſcheue Hier anzuführen °). 


ı) Wright a. a. D., ©. 126, 3. 4—21. Diefe Stelle ſchließt ſich 
unmittelbar an bie in der voransgehenden Anmerkung citierte an. Wir fügen 
noch die Worte Hinzu, die zwiſchen ben beiden von Georg Bier angeführten 
Gtaten fiehen, fo daß dann diefe ganze Partie der 6. Homilie (Wright, 
©. 124, 3. 19 bis ©. 127, 3. 15) teils im Text, teils in den Anmerkungen 
mitgeteilt if. Diefelben Iauten (Wright, ©. 126, 3. 21 bis ©. 127, 
3. 7): „Unb ex (dev Geift) bekleidet ihm (dem Körper) mit der Herrlichteit, bie 
mit ihm ſelbſt kommt, und ec iſt inwendig (in dem Körper), um ben Leib zu 
trwecken, und bie Herrlichkeit ift auswendig, um ben Leib zu ſchmücken; und 
der feelifche Geift wird verſchlungen von dem himmliſchen Geifte, und der ganze 
Menſch wird geiftig, weil fein Körper in ihm (dem Geifte) if. Und es wird 
verfchlungen der Tod durch das Leben, und der Leib wird verfchlungen durch 
en Geift, und ber Menſch ſchwebt Infolge des Geiftes empor dem Könige ent- 
xgen; und er empfängt ihn mit Freude, und Chriſtus danft dem Leibe, ber 
einen Geift rein bewahrt Bat." — Hieran ſchließt ſich dann das zweite, ab« 
chließende Eitat George (Wright, ©. 127, 3. 7—18). 

2) Matth. 18, 10. 

3) Die Stelle findet fi bei Wright, ©. 172, 3. 20 bis ©. 173, 


L} Ryſſel 


Zudem wir dieſe Stellen, in denen die „Geiſter“ in der 
oben augegebenen Weile aufgefaßt worden find, beifeite laſſen, 
Tommen wir zu jenem anderen YAusfprude, den Deine brüder- 
liche Liebe in Erinnerung gebracht Hat. Er fagt nämlich in dem 
Traltat über die Traube 1), dag Noah bis zu dem 58. Jahre ds 
Lebens des Abraham Iebte und daß er in Ur der Chaldäer wohnt 
und dort ftarb und begraben wurde. Werner fagt er aud von 
Sem, daß biefer bis zu dem 52. Jahre des Lebens des Jeleh 
lebte. — Wiſſe deshalb, o Du Freund der Belehrung, daß der 
perſiſche Schriftftelfer nach der Überlieferung der Schriften dr 
Juden alle feine Bexechnungen machte und nicht nach ber Über 
lieferung der LXX oder nad) der Überlieferung der Samaritaner, 
wie Du auch felbft vorher gefchrieben Haft. Du aber ſchließe Dich an 
die Überlieferung mad) der Überfegung der LXX an und fol 
diefer, und zwar beſonders in Müdficht auf die Jahre der Ey 
väter, weil die maßgebenben (wörtlich: weifen) Schriftfteller be | 
zeugen, daß fie wahrer ift als die anderen, indem Du von Adam 
bis zur Flut 2242 Jahre annimmft (eig. Haft, feftpättft), und von 
der Flut bis Abraham 943, und von Adam bis Abraham 3185; — 
und von Abraham bis zum Auszuge der Kinder Israel aus 
Ägypten 515 und von dem Auszuge bis zum Anfange des Tempel⸗ 
baues 480 Jahre, wie es im Buche der Könige gefchrieben fickt, 
und von dem Anfange des Tempelbaues bis zu feiner Ber 
brennung durch Nebuladnezar 441 Jahre, und von ber Ber: 
brennung des Tempels bis zum Anfange der Jahre der Griechen 
280 Yahre; im ganzen aber find von Adam bis zum Anfang 


3. 9 und lautet folgendermaßen: „Sei aber eingebent, mein Geliebter, dah ih 
über dieſen Gegenftand did; in dem Traftate über die Einfiebler dahin belehrt 
Habe, daß der Geift, ben die Gerechten empfangen, zu unſerem Herrn zu ſeiun 
himumliſchen Matur geht, bis zur Zeit dev Anferfiehung, wo er kommt, um 
anzuziehen den Leib, in bem er gewohnt hat; und immerfort bittet er für ihn 
vor Gott und bemüht ſich um bie Auferſtehung des Leibes, in dem er gemohut | 
hat, gleichwie der Prophet Jeſaias über bie Rice aus den Heiden jagt (Rap. 62, 
6. u, 7): ‚Immmermährend ſtehen beine Furſprecher und gönnen fich nicht Ruhe 
Die Gottlofen aber Haben feinen Fuͤrſprecher vor Gott, weil der heilge Grit 
fern von ihnen ift, da fie ſeeliſch find und ſeeliſch (ady.) begraben werben.” 
2) S. Wright, ©. 463 m. 464. 





Ein Brief George, Bifchofs ber Araber 2c. ss 


ber Jahre der Griechen 4901 Jahre und von Adam bis zu dem 
gegenwärtigen Jahre, dem 1025. der Griechen, find 5926 Jahre, 
indem an 6000 fehlen 74 Jahre. 

Wenn aber beine brüberliche Liebe weiter gefragt hat — da⸗ 
mit and dies nicht unbeantwortet bieibe —, warum Noah feine 
Beitgenoffen nicht ermahnte, das Bild des Kenan, des Sohnes 
des Arpachſchad, nicht anzubeten, und Sem nicht die feiner Gene 
ration Angehörenden, die Gögen nicht zu verehren, fo geben wir 
in Kürze zur Antwort: wegen ber Freiheit und ber felbftändigen 
Verfügung, die Gott dem Menfchengefchlehte verliehen Hat, ver» 
möge deren jemand entweber fünbigen oder ſich als gerecht erweiſen 
mil. Auch Haben die Leute der damaligen Zeit in ben 100 Jahren 
dor der Flut, als fie ſahen, daß Noah Zedern pflanzte und zer» 
fügte und die Arche baute, um ſich zu retten, weber Reue empfun« 
den, noch find fie von ihrem böfen Lehen umgelehrt, ſondern fie 
ofen und tranfen und heirateten und verheirateten, bis daß bie 
dlut kam und alle vernichtete gemäß dem Wort unferes Herrn. 
Aber and) nach ber Flut wollte fi weder Kenan, der, wie ges 
fagt wird, ein großer Zauberer und Böſewicht war und des⸗ 
halb vergättert wurde, noch alle die Zeitgenoffen des Noah und 
des Sem von ihrem böfen Leben abhalten laſſen, wenn anders fie 
dazu von dieſen beiden ermahnt wurden. Es giebt jedoch auch 
einige, bie da jagen, daß die Menfchen in den Tagen de Serug 
onfingen, Bilder zu machen und Göten zu verehren. Wenn bies 
mn wahr ift, fo reichten aljo weder Noah noch Sem, fein Sohn, 
an jene Zeit heran, da es ja von der Flut bis zu Serug — 
felbftoerftändlich gemäß der Überjegung der LXX — unter Hin 
zurechuung der 130 Jahre des Kenan 794 Jahre find. Noah 
lebte aber nach der Flut 350 (im fprifchen Terte 330) Jahre, fo 
daß an 794 Jahren 444 fehlen; Sem aber Iebte nach der Flut 
500 Jahre, fo daß. von den 794 Jahren bis Serug 294 
(im fyrifchen Texte 494) fehlen. — Alles das, was in biefen 
3 Kapiteln fteht, bezieht fich auf die ragen, die Deine Liebe zu 
Gott betreffs des perſiſchen Weiſen und einiger Ansſpruche in 
feinee Schrift an uns gerichtet Hat. 





332 Ryſſel 


Unter den verſchiedenen Fragen, die Georg in dieſem Kapitel 
behandelt, fteht die erfte, die auf die pſychologiſchen Anſchauungen 
des Aphraates Bezug Hat, auch an Wichtigkeit oben an. Wie aus | 
den von Georg angeführten Stellen hervorgeht, unterfcheidet Aphro | 
ates von dem feelifchen Geifte im Menfchen, d. 5. der vermunft- 
begabten menfchlichen Seele, den himmliſchen Geiſt oder — wie 
er ihn auch nennt — ben Beifigen Geift oder den Geift Eprifti, 
der dem Menfchen in ber Taufe durch die göttliche Gnade zuteil 
wird. Während nun diefer himmlifche Geift beim Tode der guten 
Menſchen zu „Ehriftus, feiner Natur“, alfo zu feinem himm⸗ 
liſchen Urfprung zurüdkehrt, aus den böfen Menſchen wegen ihrer | 
Simden aber ſchon vorher weicht, fo wird nad der Anſchauung 
des Aphrantes die menfchliche Seele, „der feelifche Geiſt“, zugleih 
mit dem Leichnam begraben und bleibt in bemfelben ohne Bewußt⸗ 
fein bis zum Tage ber Auferftehung; an jenem Tage aber wird 
der himmliſche Geift Leib und Seele des Guten aus dem Grabe 
auferwecken und durch feine Herrlichkeit fo verflären, daß der ganze 
Menſch geiftig zum Himmel ſich erhebt, dagegen werben die, melde 
den himmlischen Geift verloren Haben und deshalb nur ſeeliſch 
auferftehen, durch die Schwere ihres Leibes daran gehindert, zur 
Höhe emporzufchweben, fo daß fie in der Erde bleiben und zur 
Hölle Hinabfteigen *). Den Zuftand der Seele im Grabe bezeichnet 
Georg felbft an einer anderen Stelle als einen fchlafähnlichen Zu 
ftand ohne Bewußtfein, indem er den Seelenſchlaf der Gerechten 
als einen füßen Schlaf fehilbert, dem nad erquicender Ruhe am 
Morgen ein Herrliches Erwachen folgt, den ber Böſen aber ald 
einen ſchweren und unrubigen, dem nach fieberühnlicher Beängftigung 
ein ſchreckliches Erwachen folgt ®). 











2) S. Wright, ©. 181, 3. 22 bis ©. 188, 3. 10. 
) Die Stelle Wright, ©. 170, 3. 5—15) Iautet folgendermaßen: 
„Die Gerechten ſchlafen, und ihr Schlaf iſt ihnen fÜR bei Tage und bei Rad, 
und dieſe ganze lange Nacht fühlen fie nicht, fondern wie eine Stunde er 
ſcheint fie in ihren Mugen; denn bei der Nachtwadie des Morgens erwachen 
fie und freuen fi. Aber der Gottlofen Schlaf ift unruhig, und fie gleichen 
dem Manne, ber durch heftiges und tiefes Fieber hin · und hergemorfen wird 
und fi auf feinem Lager hierhin und dorthin wälzt; und ſchredlich if die 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 888 


Obwohl ſich nun eine ſolche Unterſcheidung zwiſchen der Seele 
(Yoyf) und dem Geiſte (mvsüne sc. äysov), der dem Menſchen 
durch die göttliche Gnade zuteil wird, auch bei anderen Kirchen⸗ 
ſchriftſtellern der erften Jahrhunderte findet, z. B. bei Jrenäus 
(adv. haer. 1. V, c. 7—13), Origenes (Comm. in Matth., 
T. 16, ser. 57. 62) und Didymus von Alerandrien (de trin. 
UI, c. 20), fo ſcheint doch die ganze weitere Ausführung biefer 
behre, die Schilderungen vom Seelenfchlaf und der bereinftigen 
Auferweckung, auf eine andere Quelle zuridzugehen und gleich fo 
vielen anderen Anfchauungen des Aphraates (f. 0. ©. 308) ber 
jũdiſchen Theologie entlehnt zu fein. Im der That findet ſich im 
Talmud ganz die nämliche Anfchauung, wie bei Aphraates, indem 
8 Schabbath 152b Heißt, dag dem Leichnam ein Bewußtſein eigne, 
welches nach der Meinung einiger fo lange währt, bis der Leib 
derweſt ift, aber mit dem Unterſchiede, daß die Leiber der Ge⸗ 
tehten und der Mittelmäßigen im Srieden ruhen, die Leiber ber 
Gottloſen aber feinen Frieden Haben; und in einem fpäteren Werke, 
der Schrift“Abodath haggodesch des 1531 verftorbenen Rabbi Meir 
ben Gabbaj findet ſich ) ein Citat aus dem Midrasch Ruth 
hane'elam, wo es heißt ®): „Der Rabbi Alexander fagt: zur Zeit 
wenn der Menſch von der Welt abfcheidet, geht die Seele (WR) 
dem Leibe nach und bfeibt in demfelben, der Geift (m) aber 
füehet von demfelben Hinweg In das Paradies und befucht ftets 
den Ort der Seelen und muntert diefelben auf u. |. m.“ Hierzu 
bemerkt R. Meir ben Gabbaj: „Dreierlei Seelen find in dem 


ganze, ihm langſam vergehende Nacht, und er fürchtet ſich vor dem Morgen, da 
fein Here ihn verdammt. Unfer Glaube aber Iehrt, daß die Menfchen, wenn 
fie in dieſem Schlafe Tiegen, feft fhlummern und nicht Gutes 
don Böfem zu unterſcheiden wiffen, und daß die Gerechten nicht ihre 
berheißungen erhalten und bie Gottloſen nicht ihre Strafe, bis daß der Richter 
ommt.* 

3) Ya zweiten Teile (1139 phn), im Anfange des 28. Kapitels; fol. 46, 
ol. 2. 

2%) Der Midrasch Ruth hane’elam ift ein aus kabbaliſtiſcher Überlie - 
ung geichöpfter fpäterer Zufag zu dem den jüngeren Midraschim zugehören« 
en Midrasch Ruth. Der Titel ſchon bezeichnet den Inhalt als myſtiſche 
ahypr eigentl.: verborgen) Auslegung. 


BB Ryffel 


Menſchen: die wpy (d. h. die menſchliche Seele), der mm und bie 
mogy, d. 5. die Seele, welcher herrlicher ift als die erfte, die we 
beißt. Wenn nun der vollkommene Gerechte von ber Welt ab 
ſcheidet, jo fährt die Du: wieder ohne jeglichen Verzug hinauf an 
ihren Ort und der mm geht in das untere Paradies; die ur 
aber bleibt bei dem Leibe, bis daß er verweſet und das Fleiſch 
verzehrt ift (maıpo dir nbıy mowam nbıym yo Supa Bbum prusmem 
2) manaw unmon 315 mob yıp ya bie mob mm SnDıp an 3ba 
an baynn DB3 1y man by MANWD WEM) ....; und bie wm, 
welche in dem Leibe bleibt, bis er verweft, wird von dem m 
während diefer Zeit befucht . . . . Wenn aber das Fleiſch wieder 
zu Staub geworden und verweft ift . . . ., alsdann ruht der ım 
in dem Paradiefe aus von ber Befuhung (mrrpon d. 5. von dem 
Akt des Befuchens und der Innewohnung), durch melde er ben 
Leib, fo Lange er noch ganz (d. 5 umnvertweft) war, wegen der bei 
demfelben übriggebliebenen wpy beſucht Hat, und alsdann verbindet 
ſich die wpy mit dem ma und der mm mit der may.“ ) So 
ergiebt fi denn aus den angeführten Stellen, daß Aphraates auch 
feine pſychologiſchen Vorſtellungen den religiöfen Anfchauungen der 
damaligen Juden ®) entlehnte, und fomit iſt auch die von im 
vorgetragene Lehre vom Seelenfhlaf nicht etwa auf eine abweichende 
Lesart feiner Bibel⸗ (d. H. Peſchitta⸗) Handſchrift zurückzuführen, 
wie Georg für möglih Hält (f. o. ©. 326), fondern Aphraates 
Hat vielmehr den Ausdrud der mehrfach erwähnten Stelle 1.%or. 
15, 44 geändert, um feine Lehre biblifch begründen zu Fünnen. 


1) Gemeint ift der oben erwähnte Midrasch Ruth hane’elam. 

2) Obwohl die Schrift des R. Meir ben Gabbaj, ber biefe Stelle ent- 
nommen Äft, aus einer viel fpäteren Zeit ſtammt, fo ift doch die im derſelben 
vorgetragene Lehre als eine altjüdifche zu bezeichnen, wie ja auch aus ber er- 
wähnten Talmudſtelle hervorgeht. 

3) Eine weitere Ausführung dieſer Anſchauung vom Verweilen der 
Seele im verweſenden Leibe im Anſchluß an Hi. 14, 22 ift die Vorſtellung 
daß die Seele den Verweſungsprozeß ſchmerzhaft empfinde (f. Berachoth 18°: 
„der Wurmfraß ſchmerzt den Toten gleich Nadelſtichen“). — Eine natürlich war 
rein phantaftifche Schifderung von ben Schmerzen ber mit bem Leibe ber 
weſenden Skele finbet fidh in Immermanns Epigonen (2. Aufl. III, 96f.. 





Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. L 


Nicht minder gehen auch die Aufftellungen des Aphraates über 
die Zeitrechnung der Genefis auf jüdifhe Tradition zurüd, wie 
Georg richtig bemerft (f. o. ©. 330)'). Anderfeits ift es 
durchaus den damaligen Berhäftniffen entſprechend, daß Georg die 
Chronologie der LXX empfiehlt, wie ja bekanntlich nicht bloß die 
Väter der alten Kirche ſich übereinftimmend an die LXX an 
geichloffen Haben, fondern auch die römiſche auf Grund der Vul⸗ 
gata an dem Wortlaute der griechiſchen Überfegung fefthätt. Auch 
im Oriente, wo dergleichen Berechnungen beſonders beliebt waren, 
hat man der Überlieferung der LXX den Vorzug gegeben, fowohl 
vonfeiten der gelehrten Muhammedaner (vgl. befonders die Licht» 
volle Darftellung des Verhältniſſes ber drei Berechnungen in der 
von Fleiſcher herausgegebenen Historia anteislamica des Abulfeba 
©. 4ff.), als aud bei den Syrern. Wie vertraut man aud) bei 
den fprifchen Gelehrten mit diefen Fragen war, davon giebt 
3. B. die Tabelle einen Beleg, die einem von Rand in feinen 
Anecdota Syriaca herausgegebenen fyrifchen Werke ?) beigegeben iſt 
und ſich in nichts von ben unferen heutigen Sommentaren zur 
Geneſis beigegebenen Tabellen über das gegenfeitige Verhältnis ber 
Chronologie de8 hebräif—hen Textes, der famaritanifchen Überfegung 
und der LXX unterfcheidet ®). 

Auch die Frage, weshalb Noah feine Zeitgenoffen nicht vor 


1) Mit den „Schriften der Juden“ meint Georg, wie ſich aus ben Zu- 
fammenhange ergiebt, das hebrätfche Original der altteftamentlichen Schriften. 
Da es aber nicht wahrſcheinlich ift, daß Aphraates des Hebräiſchen fo mächtig 
war, daß er den hebräifchen Tert ſelbſtändig benugen Konnte, fo ift anzunehmen, 
daß er die Kenntnis diefer Zeitrechnung, wie fo vieles andere, aus der judiſchen 
Tradition ſchöpfte, etron in ber Weife, wie wir es von Hieronymus wiffen, 
d. 8. indem er fi von einem Rabbiner unterrichten ließ. 

2) ©. Land, Anecdota Syriaca III, 6—15 u. ſpeziell ©. 18. Die 
Tabelle berücfichtigt nicht die Chronologie ber ſamaritaniſchen Überfetgung, 
während Abulfeda in dem oben angeführten Werke and; baranf näher eingeht. 

9) S. 3. B. ben Kommentar zur Genefis von Tuch, 2. Aufl, S. 9 
u. 223, von Deligfch, 4 Ausg, ©. 189 u. 273, von Knobel-Dill- 
mann, &. 122 u. 219. Im den angeführten Kommentaren iſt auch das 
Nähere ber das gegenfeitige Verhältnis dieſer drei verſchiedenen Chronologieen 
einzuſchen. 


886 Ryſſel 


der drohenden Kataſtrophe gewarnt habe, iſt bekanntlich vielfach im 
Oriente diskutiert worden, und die Sage von der Sendung dr 
Noah zu feinen Zeitgenoffen, die ſich aud in den Tegendenhaften 
Berichten des Koran kryſtalliſiert hat — wo Noah nicht weniger 
als 25 mal als großer Prophet und „Warner“ erwähnt wird !) —, 
ift jedenfalls aus dem Wunfche hervorgewachſen, daß neben der 
göttlichen Gerechtigkeit, die das Strafgericht Herbeiführte, aud) die 
göttliche Langmut nicht fehle, die dem Strafgericht eine eindringe 
liche Warnung vorhergehen läßt. 





Biertes Kapitel. Über den orthodoxen Presbyter, der 
einem häretifhen Diakon Abfolution erteilte. 


Betreffs der Angelegenheit (ÖrroIenıs) des orthodoxen Pres⸗ 
byters aber, von dem Deine britderliche Siebe geſchrieben hat, dab 
er einem Diakon Abfolution erteilte... . . 3) oder (sive) Chal⸗ 
kedon, höre in Kürze: „Wenn der Diakon, indem er frank und 
bettfägerig ift und ihn Angft und Furcht dor dem nahen Tode 
beunruhigen, bittet und fleht, von feiner Ketzerei, bevor er ftirht, 
entfündigt zu werden, es ift aber fein Biſchof (wörtlich: Ober 
priefter) oder Kurator ®) da, ihn zu entfündigen, aber eim ortho- 


1) Zu dee warnenden Predigt des Sem vergleiche man die Propheten 
thätigfeit des Had (d. 1. Eher), melde der Koran der des Noah am bie Seite 
ſtellt. 

2) Die Luce, die der ſyriſche Tert hier aufweiſt, iſt ungefähr fo ausıu- 
füllen: „... mie die Beſchlüſſe des Konzils zu... .. ober Ehalcedon 
geftatten.” Obwohl die Jakobiten die Beichlüffe des vierten dkumeniſchen Kom 
zils von Chaleedon (451) verwarfen, werben doch bie Beichlüffe des Chalet - 
donenſe nicht felten angeführt. Der erſte Name Iautete vielleicht Ephefns, da 
beide Konzilien gervöhnlich hinter einander genannt werden. Wegen bes „sive“ 
bes ſyriſchen Tertes, das allerdings eigentlich Identicität beider Namen voran 
fegen Täßt, an bie Synode meds zuv deiv 408 zu denken, bie ja ebenfo 
als Synode von Chaleedon bezeichnet werben Tönnte, ba dieſe Synode von 
einer Vorſtadt Ehalcedons, Namens „ad quercum‘, benannt ift, ift wohl 
wegen der geſchichtlichen Verhaltniſſe nicht ftatthaft. 

8) Mit dem „Kurator“, oder bem „Kurator ber Gegend“, ober bem „Kur 
vator der Eparchie“ iſt ein Chorepiſtopus der Provinz (d. h. des biſchöflichen 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 887 


doger Prieſter nahe, fo iſt es geftattet, daß der Priefter den 
Diolon entfündige, wenn der Presbpter auch nicht die Erlaubnis 
vom Biſchof Hat, von Ketzerei zu entfünbdigen, weil die Notwendig« 
feit ihm erlaubt zu entfündigen, wie dem Presbyter, welcher 
gegeffen Hat, zu taufen. Und wenn er ihn entfündigt Hat, fo 
gaiemt es fich für ihn zu dem Biſchof zu gehen oder zu dem 
Rurator der Gegend, und wie es diefem gut bünft, wird 
er feines Amtes walten. Wenn der Diakon aber, indem er 
gelund ift umd gehen Tann, inftändig bittet von feiner Ketzerei 
entfündigt zu werden, fo ift es dem Preöbpter ober dem 
Klausner ober dem Styliten, wenn er feine Erlaubnis dazu 
dat, nicht geftattet, ihn zu entfündigen, auch wenn der Diakon 
durcht vor dem Tode Hat infolge der Geſchwulſt (Beulentrante 
kit), die er hat, fondern es geziemt fi für ihn, wenn er um 
feine Seele beforgt ift, zu dem, der die Befugnis zu entfindigen 
bat, zu gehen und durch feine Hand die gefeglihe und vollfommene 
Abſolution won Gott zu empfangen. Wenn aber der Presbpter 
ſchon vor Tanger Zeit fich erdreiftet Hat, nämlich den Diakon zu 
entfündigen, fo ift ihm nicht geftattet, fein Priefteramt weiter 
zu verwalten (wörtlich: miniftrieren), bis er zu dem Biſchof oder 
dem Kurator der Eparchie gegangen ift, und wie es dieſem 
gutbünft, wird er feines Amtes walten. — Daß aber ber 
vresbyter, welcher den entfündigten Diakon entfündigt Hat, ihm 
erlaubt Hineinzugehen in den Altarraum '), das iſt ganz und gar 





Sprengels) gemeint. Bon Landbiſchöfen des biſchöflichen Sprengels Tann man 
infofern reden, als diefe Zwgertoxonos unter dem Biſchof flanden. Der f- 
tiſhe Ausdruck Wal bezeichnet wörtlich den „Geihäftsfährer“ und findet 
fih in der Peſchitia (1 Petr. 2, 25) für dntoxomos (rdv Yuyar), jo daß 
„Rurator der Gegend“ eine ganz wörtliche Überfegung von zwesntaxonos 
iR. Das daneben fiehende rn aauz bezeichnet eigentlich den „Hauptpriefter“, 


(ade Yard „Priefter” von A „Presbpter”, eigentl. „Alter“, unter« 
ſchieden wird); gemeint iſt mit biefer Bezeichnung, bie ſich auch fonft in der 
ſyriſchen Litteratur findet, der Biſchof (j. Bernfteins Lexikon, ©. 483). 

1) Der wörtlice Ausdruck im Syriſchen lautet: „In das Haus bes W- 
iars“; gemeint ift der Chorraum, das „Heiligtum“ ber Kirche. 





888 Ryfſet 


ungeſetzlich und ftrefbar; und nicht iſt es geſtattet, daß es ohne 
Erlaubnis des Biſchofs (wörtlich: Oberprieſtero) gefchieht, auch 
wenn es ber Kurator iſt, der ihn entſundigt hat, — zumal wer 
er nicht von einem orthodoxen Biſchof, fondern von einem häretiſchen 
zum Diakon gemacht worden ift. Denn der Bifchof Hat Gebete 
über ihm zu ſprechen, und dann erft kann er das Heiligtum ber 
treten und feines Diafonenamtes warten (mörtlich: fich bedienen), 
felöftverftändfih aber erft, nachdem er beendet Hat bie Zeit der 
Buße, die ihm von dem Biſchofe zuerlannt worden ift.“ 1) Died 
war in Kürze hierüber zu fagen. 


Die in diefem SKapitel enthaltenen Beſtimmungen finden fd 
dem Wortlaute nach in feiner der Konzilienfannnlungen 2). Doch 
giebt es verſchiedene Befchlüffe befannter Konzilien, in denen ähm 
liche Beftimmungen getroffen werden betreffs dieſes Reſervatrechtes 
der Bifchöfe, wonach nur fie befugt fein follten, durch Hand 


auflegung die Wiederaufnahme (reconciliatio) reuig in den Schoß | 


der Kirche zurücktehrender häretiſcher Kleriler zu bewirken. ©e | 
heißt es in dem 8. Kanon der Synode von Niche, daß häretiſhe 


Kleriker nad erfolgter Handauflegung im Klerus verbleiben (ni 
vew Ev To Age) dürfen, alſo in ihrer priefterlichen Wurde 
anerfonnt werben (vgl. can. XIX hetreffs ber Pauligianer) 9), und 
in dem 2. Kanon der Synode von Ancyra 314 wird rüdfichtlig 
ber Diakonen beftimmt, daß die, melde geopfert Haben. zwar ihre 
Würde behalten follen, dag fie aber nicht zum SKirchendienfte zu⸗ 


1) Es iſt übrigens micht ausgeſchloſſen — weder durch den Zufammen 
hang, noch durch den Wortlaut —, daß diefe Beſtimmuungen auf feinen Kon 
zilsbeſchluß zurücgehen, fondern zu ben „Ramones“ des Georg gehören (. u. 
©. 297f.). 

3) Eingeſehen wurden außer der Pariſer rnilienfammlung (Acta con 
ciliorum et epistolae decretales, Parisiis 1714) auch bie Bibliotheca iuris 
canonici und Affemanis Bibliotheca juris orientalis canonici et civilis 
(1762), bie leider keinen Regifterband hat; ferner Thomassin, Vetus ac 
nova ecclesiae diseiplina; Barbosa, De: ofhcio et potestate episcopi; 
Bingham, Origines ecel.; Hefele, Komiliengefchichte, 

®) ©. aud) Aurelian. I. a. 511. can. X, 





Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 2 


gelaffen werden dürfen (cessare vero debent ab omni sacro 
ministerio, ita ut nec panem nec calicem offerant nec pro- 
auneient) ; doch Kat der Biſchof das Recht weitere Verfügungen 
zu treffen. In den erwähnten Fälfen ift die Entfcheidung ausdrück⸗ 
Üih den Bifchöfen veferviert; dagegen find für den Fall befonderer 
Gefahr und der Befürchtung nahenden Todes freiere Beftimmungen 
Hinzugefügt worden. Während aber im 1. Kanon der Synode von 
Dranges 441 nachgelaſſen wird, daß in Abweſenheit des Biſchofs 
ad Presbyter dem Tode nahe Häretifer, die in die Kirche aufe 
nommen werden wollen, durch Salbung und Benediltion kon⸗ 
fonieren dürfen‘), jo wird in den von Georg citierten Ber 
fölaffen diefe auf häretiſche Laien bezügliche Beftimmung auch 
uf bie Kleriler ausgedehnt, indem es zwar den Preöbhtern ge⸗ 
fattet wird, in Abweſenheit des Biſchofs einem Diakon die 
Abſolution zu erteilen, wenn derfelbe dem Tode nahe oder 
durch ſchwere Krankheit an das Lager gefefielt ift, nicht aber 
in dem Falle, wo der häretifhe Diakon ſich an den Biſchof felbft 
wenden Tann; keinesfalls aber dürfe eim folder von einem 
vtresbyter wieberaufgenommene Diakon feinen kirchlichen Dienft 
ausüben, ohne daß der Bifchof feine nachträgliche Genehmigung zur 
der von dem Presbyter erteilten Abfolutien und der dadurch bon 
ihm vollzogenen Wiederaufnahme gegeben habe. 





Fänftes Kapitel, Über Gregor, den Bifchof, der die 
Armenier lehrte. 


Gregor, der Lehrer der Armenier, o Freund des Belehrung, 
war, wie aus den Worten feiner Lebenshefchreibung zu erlennen 
ift, feinem Geſchlechte nach ein Römer ?), aber ſchon als Kleines 


i) S. auf Bibl. Jar. can., p. 145: Syn. apud Carthaginem Africa- 
ıorum VII, vgl. ©. 886. 

2) Nach Agathangelns und Moses Chorenensis war Gregor ber Sohn 
tines parthifchen Firften, Namens Auag (Anaens) und wurde zu Caſaren in 
Cappadocien chriſtlich erzogen, wohin er durch feine Amme, eine Ehrifftn, gebracht 
worden war, die ihn gerettet hatte, als ber won ſeinem Water toͤdlich ver · 


30 Ryffel 


Kind in das Land der Armenier gekommen, ſei es infolge der 
Dioffetianifchen Ehriftenverfolgung, ſei e8 aus irgendeiner anderen 
Veranlaffung, die uns nicht befannt ift. Und als er aufgewachſen 
war in dem Lande der Armenier und ihre Schrift und Sprade 
gelernt Hatte, breitete fich fein Name aus und wurde befannt, jo 
daß er einer von der Umgebung und den Hausbenmten des Künigs 
Tiridates wurde, der damals über die armenifchen Gebiete herrſchte. 
Und obwohl er an feinem Chriftentum fefthielt, fo war dies doch 
nur wenigen befannt. Als es aber dem König Tiridates durd 
einige von ihnen mitgeteilt wurde 1), berief er den Gregor zu fih 
und fragte ihn und erfuhr von ihm, dag er ein Chriſt fei; da 
wandte er die verfehiedenartigften Schmeiceleien und Drohungen 
and Martern gegen ihn an, damit er von feinem Chriftentume 
ablafjen folte, und als er nicht wollte, fo Tieß er ihn ſchließlich 
ergreifen und im eine Eifterne werfen, welche mit giftigem Ge 
wäürm angefüllt war. Und nachdem er dreizehn Jahre in ber 
Eifterne, in die man ihn geftürzt Hatte, gewefen war, wie es 
in der Lebensbeſchreibung heißt — oder, wenn es Dir vet iſt, 
wollen wir nur drei Jahre annehmen —, 309 der König aus 
zum Vergnügen und zur Zierjagd. Und es fehidte Gott plöglih 
einen böfen Geift Über ihn, und er ward wahnfinnig und verlor 


wundete König Choſrov, der Bater des Terdat, die Hinmeßelung ber ganzen 
Familie feines Mörders befahl (vgl. Moses Chor., edd. Whiston, ©. 1% 
u. 203). Bgl. v. Gutſchmid: „Agathangelos“, 3. d. DME. XXI, ©. 31. 
1) Nach Agathangelus war Gregor in den Dienft des Königs Tiridates 
(armen.: Terdat) getreten, um die Blutſchuld feines Waters möglichft zu fühnen. 
Schon vorher hatte ſich Gregor, als er feines Vaters That erfahren hatte, nah 
Rom begeben. Nach demfelben Berichte (c. III, $ 21) erfuhr der König Ti 
ridates den chriftlihen Glauben des Gregor, als er ihn beauftragte, auf den 
Altar der Schußgöttin Armeniens, Anahit, Blumenkränze zu Iegen, nachdem 
Tiridates mit Hilfe des griechiſchen Kaiſers das Reich feines Vaters wieder 
erobert hatte. Auch im Folgenden weichen die gewöhnlichen Berichte vom den 
Angaben Georgs ab. So wird von Agathangelus ausbrüdlic erzählt, dab 
eine fromme Witwe ben Gregor während feines 13jährigen Aufenthaltes in 
ber Grube ernäßrt habe, und nicht das Weib, ſondern die Schwefter des Königs 
Habe ihn auf Gregor aufmerkſam gemacht, nachdem fie durch ein Traumgeficht 
erfahren Hatte, daß Gregor noch am Leben fei und ihn allein heilen könne. 





Ein Brief Georgs, Biſchofs der Araber ıc. A 


feinen Berftand und zerbiß fein Fleiſch; da erinnerte er ſſich des 
Heiligen durch die Sorge feines Weibes und er fandte in, ihn 
aus der Eifterne herauszuholen, und als Gregor über ihm betete, 
ward er geſund. Da dies gefchehen war, kamen num auf Befehl 
des Königs und duch die Furſorge des Heiligen die Gegenden 
Atmeniens zum Chriftentum. Hierauf, weil fie durchaus einen 
Biſhof brauchten, fandte der König angefehene Männer, bie er 
berufen und dem Gregor beigegeben Hatte, mit diefem zu Leontius, 
dem Biſchof und Metropofiten von Cäfaren in Cappadocien, damit 
er den Gregor zum Biſchof defigniere. Als diefer die Männer 
aufgenommen und ihren Wunſch erfüllt Hatte, entließ er fie in 
Frieden und in Freude von fit). Indem der Heilige num bie 
Gegenden Armeniens verwaltete, baute er feitdem Kirchen und 
After auf Befehl des Könige und mit eifriger Unterftügung 
der Großen feines Reiches, und er defignierte und ftellte an ihnen 
0. $. den Kirchen) Presbyter und Diakonen an, indem er ihnen 
auch Geſetze und Verordnungen gab, wie es ihm gutbünfte. Und 
naher, als fich die Heilige Synode zu Nicha verfammelte, kam 
ud er hinauf zur Synode mit dem heiligen Leontius, ber ihn 
um Biſchof gemacht Hatte. Dies iſt der einfache und ſehr ver» 
fürte Bericht über Gregor, den Lehrer der Armenter. 

Es ziemt ſich aber, wie wir meinen, um unferem Berichte 
größere Glaubwürbigfeit zu verleihen, daß wir auch einige wenige 
Borte aus der Lebensbefchreibung diefes Mannes anführen 2), 
welche alfo lauten: „LZur Zeit, als Diotletian über die Römer 
berrfchte, gleichzeitig aber auch Tiridates über die Parther und 
Armenier], da Hörte Tiridates, daß Lin feinem Palafte ein Mann 
mit Namen] Gregor Ljei, welcher die Götter nicht verehrte, fondern] 


1) Uber die Weihe Gregors zum Bifchof durch Leontius |. v. Gutſchmid, 
Ayathangelos, a. a. D. ©. 59, vgl. ©. 56. 

%) Um Raum zu fparen, teilen wir nicht den Wortlaut des griechi ⸗ 
Men Originales mit, fonbern begnügen ung mit eimer Kenntlichmachung ber 
wörtlich übereinfimmenden Stellen durch Ausſcheidung alles beffen, was in 
den fyeifehen Gitnten George Hinzugefägt iR, indem wir biefe Bufäge in ecige 
Rammern einfließen. Fehlen bagegen Im ſhriſchen Terte Limelne Worte 
ip. Satze, jo iſt dies durch Punkte angedeutet. 

Tpeol. Stab. Dahrg. 1883. 23 


2 Ryıter 


von der Religion der Ehriften ſei. Diefen fuchte er, lals er iin 
zu ſich gerufen Hatte], durch viele Drohungen zu erſchüuttern 
(eontinuo coepit increpare variisgue modis indignationem 
suam ostendere).* 1) — Und turz darauf: „Da begann der Künig 
zu ihm zu fagen: Als ein Frembling und Heimatloſer bift du zu 
uns gelommen [und bift vieler Ehre und Anszeihnung von uns 
gewürdigt worden]; wie kannſt du jetzt wagen, den Gott zu ver 
ehren, den ich nicht verehrte." 2) — Und viel fpäter: „Der Selige 
aber blieb in der Eifterne Doon bösartigem Gewurm], in welche er 
geworfen worden war, dreizehn (quatuordecim) Jahre [indem er 
vor dem bbſeu Gewürm bewahrt wurde durch Die Güte Gottes] *)." — 
Und nad) anderem: „Und es befahl det König, fein Heer zu ber 
Sammeln, daß fie zur Jagd hinauszögen. Als dies aber geſchehen 
war und die Wagen angefpannt Waren und er auf feinen kouiglichen 
Wagen fieg, um fich zu ſetzen, . . . da ward der Zorn (ca 
stigatio) Gottes über ihn geſchickt, und es ſchlug ih der böle 
(immundus) &eift und flürzte ihn ans feinem Wagen auf das 
Angefiht zut Erde, und er firg an zu raſen und vom ſeinem 
Fleiſche mit ſeinen Zahnen [zu zerflelſchen und] zu eſſen (wei vos 
ldiæc adigxag zanedHew)." ) — Und weiter unten: „Der Heilige 


1) &. Acta Sahıctorüm, Sept., T. VIII, p. 880sgg. “Die Stelle finde 
fich tm 8. Rapitel (8 17) der Biographie des Agathangelub (geieditkher Lai 
mit lateiniſcher Überfegung). Die Ahrweidiungen des fyoifhen Eitates am Kar 
fange gehen jedenfalls nicht anf einen anderen Text zusüd. Bielmehr fügte 


u die einleitenden Worte Hinzu, um ben Zufammenhang herzuftellu | 


fo fheint er auch am Schluffe willtürkich den Mortreichtum feiner nee 
vermindert zu Haben, wie aus einer Vergleichung wıtt ben beigeſetzten Worten 
dee Originals Herborgeft. So kurzt Georg $. B. and die Schlaßphreſe det 
von ihm unten (f. ©. 344) citierten Berichtes aus Euſebins (Hist. ecd. 
VII, 28) ab, indem er einfach fagt: „unb viele andere, welche amfgmählen 
niemand vermag*, indem er ſich dabei mit Ruſinus: „ques longum est enu- 
merare per singulog“ berührt. 

2) A. 0. ©. cap. II, 8 22. 

9.0 O. cap V, 6 

4) A. a. O. cap. VIEL, $ 69. Mer Anfang ber Stelle, den Gregor wieder 
zuſammengezogen Hat, lauitt folenbetumfien: „,Deinde veludt exire ad vens- 
tionem cum agmine (srgarauuem) sao: Cumque pedites line pararat et 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber ꝛtc. us 


Gregor aber . . . beugte feine Kulee zur Erde und flehte Bott 
dm Allmärhtigen an, daß er dem Könige Heilung verleihe. Und 
fihe, eine Stimme vom Himmel ward bei ihm vernommen, welche 
ſprach: Gregor, ſei ſtark und ermanne dich, da ich mit bir bin 
6 and Ende; du follft mir Kirchen bauen und mir eine Wohn ⸗ 
flätte meiner Heiligen errichten und ihr Horn erhöhen; und die⸗ 
mil du vor mir gebetet Haft, fiehe, fo Habe ich dich erhört und 
deine Bitte, bie du don mir erbateft, fiche, Habe ich dir gewährt. 
Und als dies zu dem Heiligen gefagt worden war, wandte er ſich 
m dem Könige und berüßete feiie Hände und feine Füße und 
brachte ihn zur richtigen Menſchermatur zuruck durch die Kraft unferes 
Herrn Jeſus Chriſtus.“ 1) — Und nach anderem weiter: „WIE es 
aber der König Hörte, freute er fich und lobte Gott und befahl, daß 
fd die Erfahrenen und Ehrwürdigen unter den Satrapen und 
Broßen des Reiches verfannmeln folkten und mit dem feligen Gregor 
n das Land Cappadocien nu der Stabi Caſarea gehen, damit 
der ſelige Sregor ſchnell bie pricfterliche Warde empfange und 
nach dem Lande Armenien gurüdtchre. Und nachdem fie auf ihrem 
Bege nach Eäfaren gekommen waren, erſchlenen fie dor dem feligen 
Leontius, dem dortigen Biſchof; und als fie ihm dies vorgetragen 
hatten, machtt er den Gregor zum Biſchof, indem er die unter 
ihm fichenben Biſchbfe verfammelte und zu fich berief.“ *) 


disvesetri essent Ad venationem in extapum ... rex currum suum uaeren · 
dt“ m. ſ. w. Das Folgende ftimmt wörtlid; überein. 

2) Die Stelle findet fi Mile in ber MWioguaphle des Agathanselud, 
teils im der Mirgeen Biogtaphie, die nur Jateinif vorhanden if. Da die 
Übereimfinsrmung deine wöstfidhe iR, fo Seifen wir bie paralleien Stellen nit: „et 
u, inquit, confide, confortare et secarum te redde, quia opus ad ınamus 
was pervenit ...; sedificabis autem templam Dei nomine in loce tibi 
tenso“ (Agath., cap. X, $ 120, p. 379); dagegen aus ber Enten. Väta: 
‚et cam complesset orstionem, apprehendans maaum regis signo orueis 
acto eum a dsemonio Hberavit‘“ (op. IH, & 86, p. 411). Sm ber Dar⸗ 
kung bes Wgothangelius 5 194 1. 127) iR viel von dem Heiligen Marthrern 
ie Rede; auch ift der Heilungsbericht weiter ausgeführt; jeboch berichtet auch 
t von einer Biſion, von der Gregor ſelbſt Mitteilung ınncht. 

2) Auch dieſe Stelle Hat Meer Parallele mt in ber geöferen (. cap. XID), 
more in ber Miogere fatein. Tita, wo «8 (cap. IV, 5 88, p. 412) heit 

23 


84 . Kyſſel 


Dieſes wenige haben wir aus der ausführlichen Lebensbe ⸗ 
ſchreibung über Gregor bier angeführt; das aber, daß er einer 
von den 318 Bifhöfen auf der Synode zu Nicha war, wird 
aus den Alten (merrgayusva) der Synode erkannt, in welhen 
auch von Leontius von Cäfaren und Cappadocien berichtet wird, 
daß er der Synode beimohnte. Die Anweſenheit des Leontius 
wird aber auch durch den Heiligen Gregor den Theologen bezeugt, 
welcher in feiner Rede bei der Beerdigung feines Vaters )) fügt, 
daß Leontins der Große, als er an Arianzus vorüberreifte, um 
nad Nicha gegen den Wahnwig des Artus zu gehen, feinen Bater 
lehrte und ihn taufte und ihn zum Chriften machte. 

Aus dem, was wir über den Armenier Gregor und über die 
Zeit, in welcher er lebte, gefagt Haben, geht weiter auch das unferer 
Meinung nad hervor, daß er nicht einer von ben drei Heiligen 
Gregoren war — wir meinen weber ber Wunderthäter, noch der Biſchef 
von Nyſſa noch der Theologe —, fondern daß er jünger ber Zeit nad 
ift als der Wunderthäter, aber älter als die beiden anderen, wit 
wir im Folgenden zeigen werben. Gregor ber Wunderthäter näm 
lich, welcher Biſchof der Stadt Neocäfaren in der Landichaft Pon- 
tu8 war, ‚lebte befanntlich zur Zeit des Kaiſers Aurelianus und 
war einer von den Biſchöfen, welche fi in der Stadt Antiochien 
gegen Paulus von Samofata verfammelten, wie dies Euſebius 
im 27. und 28. Kapitel des 7. Buches feiner Kirchengeſchichte 
meldet 9). Es find aber von Kaiſer Aurelianus und der Syhuode, 


„Tune rex ingenti gaudio et exsultatione repletus cum omni gloria et 
honore 8. Gregorium ad Leontium venerabilem praesulem Caesarese 
delegavit ... Caesaream in paucis diebus ... pervenit. Quo cum per 
venisset, tam a Leontio venerabili archiepiscopo, quam ab omnibus c- 
vitatis illius hominibus cum ingenti honore ... susceptus est ... Mittens 
ergo archiepiscopug per universam dioecesim guam legatos, omnes epi- 
scopos suse ditioni subiectos in Caesarea congregari mandavit ... 
Quibus congregatis in unum et manum super caput ipsius ponentibus, 
B. Gregorius ... potestatem ligandi et solvendi cum honore pontificatus 
accepit.“ 

1) Greg. Naz. Oratio XVII. Funebris in patrem, c. XII. 

2) Im dem von Georg aus Eufebins im ganzen wörtlich mitgeteilten 
Titate iſt befonders auffällig, daß er ſchreibt: „Gregorius und Theodor, 


Ein Brief Georgs, Biſchofs der Araber ıc. 35 


welde den Paulus von Samofata exkommunizierte, bis zu dem 
gläubigen Kaiſer Konftantin und der Synode zu Niche 55 Jahre °); 
und ebenfo find von der Synode zu Nicha bis zu ber heiligen 
Spnode der Eingundertfünfzig, welche ſich verfammelte zu Kons 
fantinopel in den Tagen des großen Kaiſers Theodofius 2), ber« 
felben, auf welcher das göttliche Baar — wir meinen Gregor, den 
Viſchof von Nyſſa, und Gregor den Theologen, den Biſchof von So— 
fing und Nazianz — war, wiederum 55 Jahre, woraus ganz Mar 
hervorgeht, daß diefer Gregor der Armenter ein anderer iſt als bie 
brei übrigen obengenanuten, wie wir auch oben gejagt haben. 
Betreffs des legten aber, was Du gefragt haft: „Wenn dieſer 
Gregor rechtglaubig war, was iſt das dann für eine Anficht, die er 
die Armenter lehrte, daß fie nicht Waffer mit Wein in ben Kelch des 
Wendmahles gießen ſollten?“ — fo wiſſe, daß er dies, daß fie nicht 
Baffer in den Wein gießen follten, feinen Untergebenen befehlen 
fonnte, wenn er vechtglänbig war und wenn er nicht rechtgläubig 
bar; denn das, daß er befichlt, Waffer in den Wein zu gießen 
oder nicht zu gießen, kennzeichnet ihn nicht als einen Rechtgläubigen 
der als einen Nicht ⸗Rechtgläubigen, da es auch heutzutage viele 
Niht-Mechtgläubtge giebt, welche Wafler in den Wein des Abend- 
mehlskelches gießen. Werner aber hat ihnen Gregor gar nicht bes 
fohlen, daß fie nicht Waffer in den Wein gießen follten, oder daß 
viemand das Abendmahl nehmen ſollte außer am Heiligen Feſte 
der Auferftehung — die Presbyter und Diafonen und der Knabe 


welche Brüder waren”. Da nun feine einzige geiedjifche Handſchrift diefe 
%sart Bietet, fo müfjen wir annehmen, baß Georg Hier flüchtig, vielleicht aus 
dem Gebächtniffe, citiert Hat, indem er dabei den Namen des Bruders Gre⸗ 
gors, Athenoborus, mit dem urſprünglichen Namen Gregors felber, Theodorus 
\ Euseb. Hist. eccl. VI, 80), ben diefer nad) der Gitte feiner Zeit bei ber 
Taufe mit dem Namen Gregor vertaufcht hatte, verwechſelte (j. meine Schrift 
Gttgorius Thaumaturgus“, ©. 1). Bl. ©. 342, Anm. 1. 

2) Die einzelnen Poften der Berechnung von Aurelians Regierungsbeginn 
270, alfo eim Jahr nach ber 269 abgehaftenen Synode zu Antiochien gegen 
Paulus von Samoſata) an find richtig, nur Täßt Georg auf Diokletiau (bis 
’08) fogleich Konftantin (von 306 an) folgen. 

3) Gemeint ift die zweite öfnmenifche Synode (881). 


bas Ryſſel 


allein ausgenommen —, oder daß fie nicht Bilder in ihren Kirchen 
machen follten, wenngleich fie dies von ihm berichten. em 
aber Gregor auch ihnen dies als Geſetz auferlegte, wie fir 
fagen, fo Haben fie zu bedenken, daß ihr Gregor nicht größe 
und vorzüglicher iſt als die heiligen Mpoftel, welche beinahe in allen 
Kirchen unter bem Himmel überliefert haben, daß man Baflır 
mit dem Wein im Abendmahlgkelche zufammengießen folle, nämlid 
Petrus und Paulus in Antiochien und in Rom und im ihren Ge⸗ 
bieten, Paulus aber und Johannes in Gphefns und Byzanz und 
in ihren Provinzen, Lukas aber und Markus in Alexandrien und 
in Ügppten und in allen umliegenden Gegenden; und won ihren 
ward fortgepflanzt und verbreitet die Überlieferung in alle Kirchen 
der übrigen Chriften bis heute. So Haben mir nun vier Par 
triarchenſtuühle, welche hezengen, daß man Waſſer in den Wein im 
Kelche des Abendmahls gießen fall; fie aber Haben micht einen 
Zeugen — außer das Herkommen, das bei ihnen befteht, — Und 
wenn von Dir, wie Du fehreibft, ein Armenier verlangt hat, Du möt- 
teft ihm aus dem Evangelium nachweiſen, daß Waſſer in dem Beier 
war, den unfer Herr feinen Süngern gab, oder daB es für und 
fich geziemt, Waffer in den Kelch zu gießen, fo Könnte ebenſo ah 
verlangt werben, man möge aus dem Goangelium nachweiſen, dab 
nicht Waffer in dem Kelche war oder daß es micht für und ge 
ziemt, Waffer in den Abendmahlskelch zu gießen. Aber viellecht 
konnte er ſagen, es ſtehe im Evangelium, daß unſer Here zu ſeiuen 
Jungern geſagt Habe: Wahrlich, wahrlich, ic ſage Euch, daß id 
nicht wiederum von dieſem Gewüchs des Weinſtocks trinken werk, 
bis daB Ich es neu trinke mit Euch im Reiche Gottes 1), und darıt, 
daß er ſage: „Gewächs des Weinſtocks“, fei Mar, daß reiner Wen 
in bem Becher gemwefen ſei und nicht mit Waffer gemifchter Erin. 
Aber er möge weiter Hören. WI man etma behaupten *), dej 


1) Matt. 26, 29; vgl. Mark. 14, 25. Luk. 22, 18. 

2) Worilich lautet der ſyriſche Ausdrud: „Was mm?” (vgl. vi ol), 
um auf bie falſchen Konſequemen Binzuweifen, welche fiih aus einer jo mir: 
lichen Auffoffung der eimelnen Anpbrüde des Schriftwortes Matth. 26, 3 
ergeben. 


Ein Brief Georgs, Viſchofs der Araber ıc. M 


er „in dem Meiche Gottes“ — d. h. in der Zeit nach feiner Hufe 
erſtihung, als unfer Erlöfer af und trank mit felnen Jungern in 
menſchlicher Weiſe (olxovonixus, |. 0. ©. 322, 3. 25), um feine 
Auferftehung zu beftätigen, während der vierzig Tage, die er bei 
ifnen hlieb, wie gefegrieben fteßt — mit feinen Züngern unge 
miſchten (dxggsorv) Wein getrunken Habe, fo oft fie aßen und 
tranfen? Und wer ift fo abfurd, daß er dies behaupten wollte, — 
anögenommen etwa der, welder behauptet, daß in dem Meder, 
den unfer Here unter Lobpreis und Segenefpruch nahm und aus 
dem feine Jünger tranten (ſ. Watth. 26, 27), niet Waffer war, 
fordern nur Wein? Aber wenn jemand, fo wie es ſich geziemt, 
diefe veriwerfliche Meinung und ihre anderen, bie ich oben angeführt 
babe, widerlegen wollte, fp würde er viele Worte und eine bes 
ſendere Darlegung nötig Haben; wir aber wollen diefe Trage jetzt 
berlaffen, um zu einem anderen von Deinen Kapiteln überzugehen. 


Obſchon wir aus dem kurzen Berichte, den Georg über das 
&ben des Mpoftels her Armenier giebt, nichts Neues erfahren, fo 
iſt doch feine Darftelfung wegen ber aus feiner Quelle wörtlich, 
angeführten Belegſtellen nicht ohne Wichtigkeit, weil wir dadurch 
einen Einblick in die Quellen des Lebens des Gregorius Jllu⸗ 
minator überhaupt erhalten. Dies ift um fo wertvoller, weil wir 
fonft nur aus dem Inhalte der Quellen felber auf das gegen« 
feitige Verhältnis derſelben Schluffe ziehen können und weil bie 
Citate George, nach denen wie bie von ihm benupten Quellen 
beflimmen konnen, aus einer vefatio frühen Zeit ftammen. Was 
fi ans einer Vergleichung unferer Citate mit den verſchiedenen 
Quellenſchriften ergiebt, ift in Kürze Folgendes: Die Citate find, 
wie oben im einzelnen nachgewiefen worden ift, teils der Biographie 
des Agathangelus ?), teils der kürzeren Mita entnommen, die gleich 


3) Der Berfaffer dieſer Bingraphie, bes fid; Agathangelus nennt, d. h. der 
mbelannte Berfaffer, der umter deſſen Namen ſchrieb, bezeichnet fich felbft als 
inen Beitgenoffen Gregors, wagegen aber grobt Anachronlomen ſprechen. Da⸗ 
ud lduute ber im 4. Jahrhundert lehende Agathaugelus, der Geheimſchreiber 


38 Ryſſel 


dem griechiſchen Texte des Agathangelus in ben Acta Sanctorum 
(Sept. [30.], VII. Band, ©. 320ff.) abgedruckt worden ift. Diefe 
kürzere Darftellung des Lebens Gregors, welche von einem un 
befannten Verfaſſer vielleicht aus dem 9. Jahrhundert ftammt 
und einem Manuſtripte der‘ Barberinifchen Bibliothek in Rom ent 
nommen wurde, geht auf die ausführlichere griechiſche Biograpfie 
zurück, jedoch fo, daß die kürzere nicht ein bloßer Auszug der 
längeren, ſondern eine freie und felbftändige Bearbeitung derſelben 
ift. Während man nun bisher *) annahm, daß der Verfaffer diefer 
Iateinifchen Schrift auf Grund des griechifchen Originals der au& 
fuhrlichen Lebensbeſchreibung refp. einer lateiniſchen Überfegung 
derfelben fein Werk niedergefchrieben Habe, geht aus dem Gitaten 
bei Georg hervor, daß auch diefer Tateinifchen Vita ein griechiſcheb 
Original zugrunde Tiegt, welches eben dem Gregor zugleich mit 
der ausführlicheren Biographie Gregors vorlag. Wir laſſen dabei 
die Frage offen, ob Georg von ber Schrift des Agathangelos, die 
armenifch 2) und griechifch vorhanden ift — indem der armeniſcht 
Text feines Stils wegen der urfprüngliche ift —, die griechifche ober 
die armenifche Recenfion vor fich Hatte, was auf Grund der wenigen 
von ihm citierten Säge auch gar nicht zur Entſcheidung gebradt 
werden kann; und ebenfowenig läßt fich fagen, ob ber von une 
poftufterten griechiſchen Schrift, welche der Meineren, nur lateiniſch 
vorhandenen Vita zugrunde Liegen muß, nicht wiederum ein ar 
menifcher Urtert zugrunde Tiegt; da ferner Georg nur von einer 
Biographie (f. ©. 344) ſpricht, aus ber er fchöpft, fo märe ch 
aud nicht undenkbar, daß beide Biographieen auf einen gemein 
ſamen — entweder armenifchen oder griechiſchen — Bericht zurüd: 


des Königs Tirkdates, nur dann der Verfaffer fein, wenn alle jene Stellen, 
in denen ſich hiſtoriſche Verſtöße finden, fpätere Interpolationen wären, wat 
an und für ſich unwahrſcheinlich ift (vgl. v. Gutſchmid a. a. O., ©. 10) 

1) &. Acta Sanctorum, Sept., T. VIII, bie Einleitung zu den beiben 
Biographien Gregor, ©. 295ff., und fpeziell Kap. IV: „Quae et qualia 
sint S. Gregorii Acta cum Graeca tum Latina ... et vitae aliquot re 
centiores.“ 

2) Der armenifde Tert if mehrfach gedrudt worden, zuletzt Benedig 
1862; eine itafienifche Überfegung der Ausgabe von 1835 erſchien Venedig 1843. 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber ꝛtc. 39 


gehen könnten. Cine ungelöfte Frage bleibt auch infofern ftehen, 
als auffälligerweife der Bericht Georgs in verfchiedenen Punkten 
von dem Berichte der von ihm benußten Biographieen, mit deren 
Text doch die von ihm mitgeteilten Eitate faft wörtlich übereinftimmen, 
nicht unweſentlich abweicht (f. 0. ©. 340, Anm. 1). — Mit der Ler 
bensbefchreibung des Simeon Metaphraftes (um 900) Haben weder 
die Eitate Georgs, noch die Schriften, denen fie entnommen find, 
irgendetwas gemein, obwohl eriwiefen ift, daß der Metaphraft die 
größere Biographie benußte, was, wie erwähnt, auch der Verfaſſer 
der Meineren Schrift, aber unabhängig vom Metaphraften, gethan 
Sat; ebenfowenig mit den anderen auf das Leben Georgs bezüg⸗ 
lichen Schriften, die in der Einleitung zu der Publikation des 
griechiſchen Textes der Vita des Agathangelus noch namhaft ger 
macht find *). 

Bon allen dieſen Berichten, bie wenigftens dem Stoffe nad) 
ſamtlich unter einander zufammenhängen, weichen in wichtigen 
Bunkten die allerdings nur kurzen Notizen ab, welde der berühmte 
armenifche Geſchichtſchreiber Moſes Chorenenſis, der wahrſcheinlich 
am Anfange des 5. Jahrhunderts geboren iſt, in feiner „Geſchichte 
der Armenter“ über Gregors Leben giebt *). Befonders auffällig 
iſt es, daß Mofes von Khorni nichts von der Anweſenheit Gregor 
auf der Synode von Nice weiß, fondern ausbrüdtich erzählt ®), 
daß Gregor es ablehnte, nach Nicha zu reifen, „um nicht von den 
berfammelten Vätern als Konfeffor allzu fehr geehrt zu werben, 
obgleich der Kaiſer den König Tiridates — wenngleich ohne Erfolg — 
bitten fieß, den Gregor zu fenden. Nach dem Berichte des Mofes 


1) ©. Acta 8. a. a. D., Ende des 4. Kapitels. Alle dieſe Schriften, 
verſchiedene lateiniſche Überjegungen aus dem Armeniſchen und vier italieniſche 
Biographien, ſtammen aus dem Mittelalter ober aus noch fpäterer Zeit. 

2) Bgl. befonders Wh. II, Kap. 77 der 1736 erſchienenen Ausgabe der 
Gebrüder Whifton, welches von der Erziehung und ben Sitten Gregors und 
feiner Söhne u. ſ. w. handelt. So ift z. B. aud) in den Acta Sanctorum 
a. a. D., ©. 317 ($ 116 der Einleitung) ausdrüdlich darauf aufmerkſam ge» 
macht, daß bei Mofes von Khorni durchaus nicht gejagt werde, Gregor habe 
die ganze Zeit von 13 Jahren in dem Kerker verbracht. 

3) So B. 2, Rap. 86: Bon dem Ketzer Arins und bem über ihm gehale 
tenen Konzil zu Nicäa, forvie über das Wunber bei der Taufe Gregors. 


“ Rviſel 


Chorenenſis ſandte man nun Gyegors Sohn Ariſtarx, von dem er 
auch weiter berichtet, daß er bei der Taufe des Vaters Gregort 
des Theologen zugegen gemefen fei und mit Leontius und dem Ur 
enlel Gregors Jakob von Nifibis gejehen habe, wie ein Licht, das 
vom Waſſer der Taufe ausging, den Täufling umflutete, — was 
Georg oben gleichfalls als ein Erlebnis des Armenierapoftels 
Gregor berichtet. Die größere Glaubwürdigleit kommt Hierbei dem 
Mofes EHorenenfis zu, wie auch der Name des Ariſtax, wenns 
gleich verftümmelt, fih unter den Namen der in den Alten des 
nicänifchen Konzils verzeichneten Biichöfe findet. 

Betreffs der am Schluffe des Kapitels behandelten Trage, ob 
Gregor berechtigt gewefen fei, feinen Armenien bie Miſchung des 
Abendmahlsweins mit Wafjer zu unterfagen, fo fei in Kürze darauf 
hingewieſen, daß die ganze alte Kirche nur mit Waffer vermifchten 
Dein (zgäue) genoß *). Während aber in der abendländiſchen 
Kirche betont wurde, daß ber Wein das vorherrfchende Clement 
bleiben müffe *), fo ließ man in der griechifehen Kirche das Quantum 
des Waffers überwiegen, ja, bei den Syrern konnten drei Vierteile 
des Abendmahlsweines Waffer fein. Hieraus erklärt es ſich auf, 
daß die Sprer an dem Genufje ungemifchten Weines im Abendmahl 
als am einer unberechtigten Eigentümlichteit der Armenler Anftoh 
nahmen, um ſo mehr, als unter ben Chriften jener Zeit eben nur 
die armenifchen Monophyſiten ungemifchten Wein gebrauchten; und 
es zeugt fr den freien Blick Georgs, daß er diefe Sitte gemifler- 
maßen für ein adıayogov erklärte. 


Diefe Erläuterungen zum 5. Kapitel find ohne Berückſichtigung 
des Auffages von Alfred v. Gutſchmid über „Agathangelos* (Zeit 


1) Der Grund hierfür lag wohl nicht in astetifcger Weinfchen (ſ. Rüdert, 
Das Abendmahl, fein Weſen und feine Gefchichte in der alten Kirche, S. 456), 
fondern darin, daß man Überhaupt im Altertum ben Wein mit Waſſer meifte. 

9) Doch findet ſich auch bei Cyprianus der Ausbrud: „oalix mixtug vino“ 
(ogl. Gregor von Nyffa: Üdwg oivp jdusuevor), duch welchen das Waſſer 
ale der Hauptbeftandteil, dem man dem Mein nur beimiſcht, bezeichnet wird. 
S. Rüdert a. a. O., S. 456, vgl. ©. 406. 


Ein Brief Georgq, Viſchofs der Araber ıc. BB 


fgrift der DMMG. XXI, 1— 60) abgefaßt worden. Es wird 
deshalb im Folgenden nachgetragen, was aus diefem Auffage für 
bie oben behandelte Frage über das gegenfeitige Verhältnis ber 
Quillenſchriften des Lebens Gregprs des Armenierapofteld von 
Wichtigkeit iſt. 

Nach den ſcharſſinnigen Unterſuchungen A. v. Gutſchmids iſt 
von den verſchiedenen Beſtandteilen der Geſchichte des Könige 
Terdat und des heiligen Gregor, die unter dem Mamen des Agas 
thangelos überliefert ift, das „Reben des Heiligen Gregor“ ber 
Siftorifch wertoolifte. Und zwar ift ber Zeil des „Bebens des 
heiligen Gregor“, welcher die Belehrung der Armenier und das, 
was ſich nad ihrer Belehrung begeben, enthält, im ftrengften 
Sinne des Wortes geſchichtlich und darf ala eine Quelle von ab» 
feluter Glaubmwihrdigfeit betrachtet werden; der erfie Zeil aber, 
welcher fi mit den Thaten des Königs Khofrod und Terbat und 
des Gregor bis zu feiner Belehrung ber Armenier befchäftigt, ift 
wenigſtens in den Grundzügen hiftorifch, wenn auch „uerflärte Ger 
ſchichtt“. Auf- Grund einer Prüfung ber geſchichtlichen Glaub» 
würdigleit des Kernes dieſes „Lebens des heiligen Gregor” kommt 
v. Gutſchmid (S. 52 ff.) zu folgenden Aufftellungens Die Ans 
Inäpfung der Jugendgeſchichte Gregors an die Jugendgeſchichte des 
Terdat ) ift wahrſcheinlich unbiftorifh; der mahre Sachverhalt 
feint darin, daß Gregor in Gäfaren aufgewachfen ift und Terbat 
ihn als „einen Fremdling und unter uns unbefannt“ bezeichnet, 
noch durchzuſchimmern. Denn die Entdeckung, daß Gregor Sohn 
des Qonigsmörders Anak ift, bleibt etwas Nebenſächliches, das one 


2) v. Gutſchmids Prüfung der Berichte über das Jugendleben bes Terdat 
(ogl. o. S. 339, Anm. 2) ergiebt in Kürze Folgendes (a. a. D. ©. 40ff.): 
Die Ermordung des Königs Khoerov im Jahre 238, der von feinen Brüdern 
im Einverflänbniffe mit ben Perfern ang bem Wege geräumt wurde, blieb zu- 
nachſt one allen Einfluß anf die Geſchicke Armeniens; es folgte dem Er - 
mordeten fein Sohn Terdat im zarteſten Kindesalter. Erſt ſpäter gelang es 
den Perſern im Bunde mit ben Brüdern bes Khosrod 252 ober 253, dein 
Terdat, ehe er noch erwachſen war, zu vertreiben und ſich Armeniens zu be 
mächtigen; und zwar war nicht Artaſhit, ſondern fein Sohn Shapur der Er- 
oberer von Armenien. Später aber ging Armenien ben Perſern wieder ber« 
Toren, und Terbgt Tonne in fein wäterfiches Reich zurücklehren. 


32 Ryſſel 


Einfluß auf den Verlauf der Handlung iſt: auch der Biograph 
motiviert das eigentliche Martyrium des Gregor dadurch, daß Ter⸗ 
dat nach dem Beiſpiele der römiſchen Kalſer gegen die Chriſten | 
einzufchreiten für nötig hält. Die Bebrängung Gregors um feines 
Epriftentumes willen läßt der Biograph fehon während der Ber- 
bannung Terdats auf römifhen Boden beginnen, indem damals 
die Kirche vom römifchen Kaifer verfolgt worden fei. Dies ente | 
fpricht wenigftens der Zeitlage: in der That fällt in den genannten | 
Zeitraum die Valerianifche Chriftenverfolgung. Das Martyrium 
Gregors und die Umftände, welde die Belehrung des Könige 
herbeiführen, tragen zwar auch beim Biographen den Stempel des 
Wunderbaren; es fpricht dies aber, angefihts ber Herrfchenden An- | 
ſchauung der Zeitgenoffen, nicht gegen die Glaubwürdigkeit. Der 
Kernpunft, daß die Belehrung der Armenier von oben herab 
erfolgt ift, wirb auch durch Sozomenus fichergeftellt; wie aber das 
von oben herab befohlene Chriftentum fo raſch tiefe Wurzeln hat | 
faffen Können, wird durch die überaus wertvolle Nachricht, die der | 
Biograph und aufbewahrt Hat, begreiflih, daß nämlich Gregor 
den Armeniern armenifch predigte. — Die große Glaubwürdigkeit 
des Biographen bewährt ſich auch in feinen Angaben über das, 
was fi nad) der Belehrung zutrug: daß Gregor die Ordination 
in Gäfaren erhalten habe, daß R'eſtales oder, wie andere ihn 
nennen, Ariftats (d. i. Ariftar) der armenifche Katholikos war, 
der nad) Nicia ging, und daß des R'eſtalss Vater Gregor dar 
mals noch Tebte und zu den Canones des Nicänishen Konzils 
Zufäge machte, die ſich auf die fpeziellen Berhältniffe der armenifchen 
Kirche bezogen, — drei hiftorifche Thatfachen, für die v. Gut 
ſchmid durchſchlagende Beweiſe beibringt (S. 56F.). 

Ganz ander Tautet die Antwort auf die Frage mad ber 
hiſtoriſchen Glaubwürdigkeit ber „Alten des Heiligen Gregor und 
der Heiligen Rhipſimen“. Diefe Frage fann faft nur für bie 
Bartieen aufgeworfen werben, welche mit dem „Leben des Heifigen 
Gregor“ parallel laufen; dem Reſte ftcht der unhiſtoriſche 
Charakter meiftens an der Stirne gefchrieben. Das Beſte an ber 
Überfiefernng der „Akten“ ift, daß ihr die Anknupfung des Gregor 
an den Königemörder Anak, durch welche übrigens das Geſchlecht, 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber ac. 368 


in weldem von Gregor an bie Würde des armeniſchen Katholitos 
forterbte, zu einem arfafidifchen gemacht wird (ſ. ©. 33), fremd 
iſt, fo daß in biefem Falle fich das „Leben“ ans den „Alten“ 
lontrollieren und berichtigen Täßt. Auch die Abweichung, daß 
Gregor 15 ftatt 13 Jahre im Verlieſe zubringt, braucht nicht 
von vornherein verworfen zu werden. Völlig wertlos ift es dagegen, 
daß die „Akten“ die Einführung des Chriſtentums unter Diokletian 
und in der Zeit der Verfolgung, alfo etwa 304 (jo in der Ein- 
leitung der Acta Sanctorum) fegen; dies beruht nur auf der 
Einmiſchung des Martyriums der Nhipfimen (d. 5. der Beiligen 
Rhipfime und Ihrer Gefährtinnen), deſſen gefchichtlicher Wert gleich 
Rull ift (f. ©. 68f.), was aud von des „Viſion des heiligen 
Gregor“ und den anderen Zutaten des legten Bearbeiters gilt. 
Dagegen folgen auf den völlig ungefchichtlichen Bericht über die 
Translation der Heiligen Rhipfimen in den Akten wieder Stücke, 
die mit dem „Leben Gregors“ parallel Taufen und es zu ergänzen 
ſcheinen, ‚namentlih die Reife zur Ordination nach Caſarea 
(f. ©. 59, vgl. ©. 18ff.); doch ift auch Hier der hiſtoriſche Ger 
binn aus diefen Ergänzungen ein völlig illuſoriſcher. 

Eine Vergleichung des Berichtes, den Georg auf Grund der 
von ihm benußten Biographie des Gregorius Illuminator giebt 
(. 0. ©. 3309ff.), mit diefen Ergebniffen der Unterfuhung A. 
dv. Gutſchmids giebt folgendes Nefultat: Georg Hat nicht das 
Reben des Heiligen Gregor“ vor fich gehabt, welchem aber Mofes 
von Khorni, der fih auf Agathangelos beruft, folgt (fo betreffs 
der Anknüpfung der Genealogie des Gregor au den Königemörder 
Anat ©. 339, Anm. 2 und der Erzählung von der Reife feines 
Sohnes Ariſtax nad Nicia S. 350). Vielmehr ſcheint er 
die „Alten des heiligen Gregor“ benutzt zu haben, mit denen 
er zumeift feinen Stoff gemein bat. Denn auch Georg Hat nichts 
von einer Anknüpfung an den Königsmörder Anak (f. o. ©. 339f.) 
und verlegt die Einführung des Chriftentums in Armenien unter 
Dioffetian (ſ. o. S. 341); anderſeits findet fich jedoch auch eine 
Abweichung, wenngleich nur in einem ganz unweſentlichen Punkte, 
der auch fonft dem Schwanken unterworfen war (ſ. o. ©. 342, 
dgl. v. Gutſchmid ©. 15 u. a.), nämlich darin, daß er 13 Jahre, 


34 " Ryffel 


nicht wie die „Alten“ 15 Jahre des Aufenthaltes im Gefängniffe 
angiebt. Der fonflige Stoff des Berichtes Georgs, fo bie Gr 
ſchichte der Belehrung des Könige und die Ordination Gregors 
in Eäfarea, findet fi fowohl in bem „Leben“ als in den „Alten“, 
nur in diefen mehr noch als in jenem fagenhaft ausgefchmüdt, 
Bas ferner im Berichte George mit dem Wortlaute der lateiniſchen 
Bita übereinftimmt, betrifft Bauptfächlich den Stoff, ber in dem 
Wert des Mgathangelos in den jüngften, durchaus unbiftorifchen 
Bartieen befonder& bearbeitet iſt (vgl. den Bericht S. 343 mit 
der Viſion des Gregor, f. a. a. O. Anm, 3), welche Bearbeitung 
alfo dem Georg am Anfange des 8. Jahrhunderts noch nicht vor 
lag. Was oben (S. 348) über das Verhältnis ber Quelle 
Georg zur lateiniſchen Vita vefp. deren griechiſchen Originale ge 
fagt iſt, bleibt beftehen, ba bei der wörtlichen Übereinſtimmmg | 
mit ber lateiniſchen Schrift die Annahme einer bloßen Bearbeitung 

des und vorliegenden griechiſchen Textes des Agathangelos 
zur Erklarung dieſer Übereinſtimmung nicht ausreicht. Eher konni 
man annehmen, daß die lateiniſche Vita uns in dieſen Partien 
den Urtert der griechiſchen „Mlten“ erhatten Hat, während im | 
Agathangelos nur fpätere Paraphraſen desfelben vorliegen. Doch | 
bedürfen diefe Fragen erneuter eingehender Unterſuchung. Die | 
Vermutung v. Gutſchmids, daß die „Alten“, welche viel jünger 
find als das „Leben des Heiligen Gregor“, von einen Mon 
phyſiten, etwa am 450, verfaßt feien (ſ. &. 4Of.), findet em 
Betätigung darin, daß der Monophyſit Georg fie Tennt und ber 
nugt. Wenn es anderſeits auffällig erfcheinen muß, daß ſich unter 
den gefamten fyrifchen Handſchriften des Britifhen Muſeums kin 
Leben des Gregorins Illumtnator findet, fo könnte man hieraus 
vielleicht den Schluß ziehen, daß Georg ben armeniſchen Text der 
„Alten Gregors“ beuutzt Hat (ſ. ©. ©. 348). Zum Scluffe ſei 
noch darauf hingewieſen, daß ber ſchlichte, alles Wunderbaren ent ⸗ 
Heibete Bericht über das Leben Gregors, den Georg aus feiner 
Duelle zuſammenſtellt (ſ. o. S. 339ff.), mit alleiniger Ausnahme 
der chronologiſchen Datierung der Ghriftianifierung rmeniens, | 
durchweg mit den durch glänzende hiftoriſche Kritit genommenen 
Aufſtellungen v. Gutſchmids zufammenftimmt, cn Reſultat, des 





Ein Brief George, Biſchofs der Araber 2c. 8 


von größten Intereſſe iſt und für den Scharfblick beider Ge⸗ 
lehtten ein gleich ehrenvolles Zeugnis ablegt. 





Sechſtes Kapitel. Über den greifen Simeon, welder 
unferen Herrn im Tempel auf feine Arme nahm. 


Betreffs dieſes Simeon, des Greifes, nad weldem Deine 
brüberliche Liebe fragt, ob «8 Simeon Sirach ift oder nicht, fo 
wiffe wohl, o Du Freund der Wahrheit, daß die Leute vielerlei 
über ihn fagen. Denn die einen behaupten, daß es Simon Sirach 
if, wie auch Du gehört Haft; andere aber jagen, daß er 500 Jahre 
lebte ), und zwar von ber Zeit der Auswanderung nach Babel, 
bis daß er den Heiland im Tempel auf feine Arme nahm und 
bei fich ausrief: „Nun, mein Herr, läffeft Du Deinen Diener in 
Frieden fahren.“ ?) Andere wieder fagen, daß er ein Priefter war 
zugleich mit Zacharias und daß er mit Joſeph um das Geheimnis 
der Schwangerfchaft und Erzeugung unferes Erlbſers von ber 
Jungfrau wußte. — Im Folgenden zeigt num Georg, wie die Ver⸗ 
wehfelung des greifen Simeon mit Sirach durch die Ähnlichkeit 
beider Namen herbeigeführt worden fei: doch birfe man den Namen 
Sirach nicht von ’asıra (d. h. der Gefangene) herleiten, fondern 


1) Dosfelbe behauptete man von Hiram, dem König von Tyrus, wie 
Georg im Folgenden Mikteift. Vielleicht Hatte Georg dies ben Homilieen bes 
Aphraates entnommen, ber die Regierungszeit des Hivam auf 440 Jahre an- 
giebt (j. Wright, Hom. of Aphr., p. 84, 2 v. u. ff). Indem Georg dies 
als thöricht zurlichweift, bemerkt er, es fei eime ſolche Behauptung bei Hiram 
um fo unbegreiflicher, als dod „von dieſem Hiram, der in den Tagen des 
Könige Salomo Iebte, berichtet wirb, daß er 54 Jahre lebte, indem er 84 
von ihnen regierte”. Dieſe Angabe iſt aber dem Jofephus entnommen (c. Apion. 
1, 18), der dies bem Menander von Ephefus zufolge mitteilt, jedoch von 58 
!ebensjahren fpricht. Es AM nicht unmöglich, daß Georg biefe Notiz bireft ans 
Iofephus geſchöpft Hat, da befien Schriften auch fohft, twermgleich ſeltener, in 
der ſyriſchen Litteratur citiert werben (vgl. Wright, Chtel, p. 613 u. 831) 
mad teilweiſe auch ins Syriſche überfegt waren, fo 3. B. das 6. Bud) des 
ñũdiſchen Krieges“ (j. Monumenta sacra et profana. Mediol. T. V). 

2) eut. 2, 29. 


36 Ryffel 


muſſe bedenlen, daß es ein Hebräifcher Name wäre, der von vielen, 
und zu allen Zeiten, getragen worden fel!); aud Habe Simeon 
Sirach mehr al8 244 Jahre vor der Geburt Ehrifti gelebt, näm- 
fi im 65. Jahre der Griechen, zur Zeit des ägyptifcen Könige | 
Ptolemäus Euergetes 2). Aber nad) Terach jet außerhalb Indiens‘) | 
Niemand 200 Jahre alt geworden; auch dirfe man die Worte des 
Lukas (Rap. 2, V. 26 u. V. 29) nicht als Beweis für ein fo hohes 
Alter anführen; denn wenn au aus den Worten hervorgehe, daf 
er eine Lange Zeit von Jahren Iebte, indem Geſchlechter gingen 
und Geſchlechter famen, ohne daß er ftarb“, fo wären doch dieſe 
Worte auch dann am Plage, wenn er nur 80, 90 und 100 Jahrt 
alt geworden wäre; „denn auch der, welcher 80 und 90 und 100 | 
Jahre alt ift, aud der ift alt und Hochbetagt, und über bie | 
Davidifgen Grenzen 4) hinaus.“ Übrigens fei auch Hanna had 
betagt gewefen, und zwar etwa 105 Jahre, wie Georg md | 
Luk. 2, 36—38 berechnet 5), alfo „vielleicht ebenfo alt wie Simeon 
oder auch älter als er, obwohl zu ihr nicht vom Heiligen Geifte 
gefagt wurde, daß fie den Tod nicht fehen follte, bis fie ben Ger 
falbten des Herrn gefehen habe.“ — 


3) Diefe Behanptung Georgs entſpricht nicht den thatſächlichen Berhälte 
niffen (j. S. 358); wenigftens kommt der Name Sirach im Hebrdiſchen 
nicht dor. 

2) Gemeint iſt alfo Euergetes L, der von 247—222 regierte; von ©i- 
mon IT., der aber vom 219199 Hoherpriefter war, „dem Bater bes Ichus 
bar Afıca”, erzählt auch Gregorius Barhebräus (im Chronic. eccles.), daß et 
der Simeon geweſen fei, der das Jefusfind auf den Armen getragen habe, und 
daß er 216 Jahre Iang gefangen gewefen fei, weil ex der Weisſagung Id. 9 
nicht geglaubt Habe. Bl. Über dieſe ganze Frage nach dem Zeitalter eb 
Siraciden Fritzſche s Kommentar zur „Weisheit Iefus-Strade*, ©. zufl. 

8) Das nicht feltene Vorkommen einer Lebenszeit bis zu 200 (?) Jahren be ⸗ 
richten neuere Reifende aud) von den Wüftenarabern Afrikas, 3. B. Riley, 
Fürft Pudler. Bol. die Literatur Über dieſe Frage bei Delitzſch, Geueſia 
(4. Aufl), &. 542, Anm. 42. 

46. Bl. 90, 10. 

5) Wenn fie 14 Jahre alt war, als fie Heicatete, fo war fie 21 Jahre 
alt, als fie Witwe wurde (8. 86); und 84 Jahre mar fie fon Witwe, als 
fie den Herrn im Tempel fa. 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber 2c. 857 


Betreffs deſſen aber, daß der Greis Simeon Priefter geweſen fein 
ſoll, ift mir nicht unbefannt, daß es von dem Heiligen Mar Jaqub, 
dem Lehrer, in feinem Gedichte über diefen Greis !) gefagt worden 
it, felbftverftändlich aber nur, indem er nach feiner Gewohnheit 
allegorifiert (eig. feiner Rede feftlichen Schwung giebt) zur geift- 
fihen Freude der Herzen der Hörer. Aber wir meiiien, daß die der 
felige Lukas nicht verheimlicht hätte, da er über ihn.in feinem Evan. 
gelium (2, 25) ausführlich fehreibt, ohne daß er ihn an. diefer 
Stelle einen Priefter nennt. Auch der Heilige Cyrill *) bezeichnet den 
Simeon in feiner Auslegung biefer Worte nicht als Prieſter, 
fondern als Prophet, und ebenfo auch nicht der Heilige Patriarch 
Severus in feinen zwei Liedern, die er über ihm verfaßte ®). 


Auch diefe Frage, wer ber greife Simeon gewefen fei, war bei 
den Syrern ein beliebtes Problem; wir finden ähnliche Aufftellungen 
wie die, von denen Georg berichtet, auch bei anderen ſyriſchen 
Scäriftftellern, fo 3. B. außer bei Barhebräus (f. ©. 356, Anm. 2) 
in den „biblischen Scholien“ eines Unbelannten 4). Was bie oben 


2) Bgl. Abbeloos, De vita et scriptis 8. Jacobi Batnarum Sarugi 
in Mesopotamia episcopi (f. o. ©. 290), &. 108: Nr. 87 feiner Gedichte 
(De praesentatione Domini in templo et de Simeone sene) und Nr. 38 
(In illud Simeonis senis: bie positus est in ruinam et in resurrectionem 
multorum in Israel). Beide Gebichte find im zwei Handſchriften (cod. 117 
u. 118) der Baticana vorhanden; vgl. auch Wrights Katalog der ſyriſchen 
Sanbfcgriften des Britiſchen Muſtums, S. 362, Kol. 2, u. ©. 516, Kol. 1. 

2) &. Migne, Patrol., 8b. LXXII: Cyrilli Alezandrini Opera, T. V, 
p. 504 (zu 2uf. 2, 28): Zuudov, ngopmmxj zagımı reruumusvos u. |. w. 

3) Auch diefe zwei Hymnen des Geverus über Simeon den Greis find 
uns im ſyriſcher Überfegung in Handſchriften des Britiſchen Muſeums erhalten, 
und zwar in der Überfegung bes berüßmten Jakob von Edeſſa in cod. 
CCCOXXI (vielleicht Autograph Jakobe), Nr. 84 (zwar anonym, aber unter 
underen Ojmmnen des Severus); außerdem ein Hymuns auf Gimeon in cod. 
CCCCLXIV, Rr. 8.b, ala „Hymnus des Severus“ bezeichnet (S. 335 u. 869). 

4) Opuscula Nestoriana syriace - tradidit G. Hoffmann, 1880, 
5. 128168. Nach diefer Schrift (©. 189) war Simeon der Bater des 
Kfus bar Gira, der Bruder bes Prieſters Eleaſar, der an des Nathanja 

Theol. Stud. Yahıg. 1888. 


868 Ryffel 


erwähnte eigentümliche Werwechfelung des Namens Sirach mit 
dem forifchen Worte "asira anbetrifft, fo geht biefelbe auf die 
Peſchittã zuruck, wo am Anfange der „Weisheit Jeſus -Sirachs · 
als Verfaſſer Jeſchũ'a bar Schem’ün ’afirä d. h. Jeſus der Sohn 
Simeons des Gefangenen bezeichnet wird, während er am Ende 
nur Bar⸗ꝰ Aſirã d. 5. Sohn des Aſirã (tefp. Sohn des „Er 
fangenen“) Heißt. Diefe merkwürdige Abweichung der ſyriſchen 
Überfegung vom griechiſchen Urterte geht jedenfalls auf die rab- 
biniſche Schreibung des fonft nicht gebräuchlichen Namens Sirach 
99 zurüd, wonad der Verfaſſer des genannten Buches in dr 
judiſchen Litteratur einfach wyıp 3 Heißt. Diefen Namen fahte 
der ber rabbiniſchen Tradition folgende ſyriſche Überfeger dem 
Gleichtlange nad) als Verkürzung aus ’afirk d. h. der Gefangene 
(vgl. ©. 356, Anm. 2), woraus ſich die weiteren Mißverftänd- 
niffe ableiteten. Auch fonft ift über den Siraciden, wie auf 
über alfe altteftamentliche Verfaſſer, viel gefabelt worden (f. Fritzſches 
Kommentar, ©. xff.); nit minder aber auch über den greifen 
Simeon, der in der hriftlichen Tradition allgemein als Prieſter 
galt *). 





Siebentes Kapitel, Über diejenigen, welche verhüllten 
Hauptes vor dem Heiligen Altare ftchen und 
beten und Weihrauch anzünden, nämlich bei der 
Geier des Abendmaples. 


Auf diefe Frage werde nicht ich jegt Antwort geben, fondern 
der heifige Patriarch Severus, dem eben diefelbe Frage von den 
Presbytern und Archimandriten des Kloſters des Heiligen Abba Petrus 


bar Drin, einer ber Siebenzig, die ihre Überjegung im 6. Jahre mach der 
Nüdtche aus Babel, dem 17. nad) dem Tode Aleganders verfaßten. Da er 
derſelbe Stmeon war, bee den Heren auf dem Arınen trug, fo wird fein 
Lebensdauer auf 216 Jahre angegeben. 

2) S. 3. ©. Epiphanius (Migne, Patr. Gr. XLIH: Epiphanius, T. 
II, p. 418). ®gl. Thilo, Codex apocsyph. I, 886sgg. 





Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 890 


vorgelegt worden war, worauf er alſo antwortet 1): „Ihr Habt 
gefragt, ob es fich geziemt für den ehrmürbigen Johannes, zum 
heiligen Altare wegen feiner Schwäche mit verhüfftem Haupte zu 
gehen. Es ift aber Mar, daß es fich gar nicht einmal zu fragen ger 
ziemt fir euch, die ihr doch In den Heiligen Schriften unterrichtet 
feid und aus ihnen angewieſen worden feld zu dem, was euch zu 
tun geziemt. Denn der poftel vebete zu Heiden, welche ſich 
von dem heidniſchen Irrtume abgewendet hatten, und zwar ſowohl 
zu den Männern als zu den Weibern — von denen jene fich ihr 
Haar wachſen ließen, diefe aber gejchoren waren — von der Ber- 
hüllung des Kopfes). Diejenigen aber, melde ihr Leben in 
wohlanftänbiger Weife führen und evangelifch Ieben, und wegen 
ihrer Schwäche einer nötigen Bebedlung bedürfen, nicht aber einer 
ungeziemenden Verhüllung ſſich bedienen] — wie kann da jemand 
das apoftofifche Geſetz umzäunen und nicht in jeder Hinſicht er» 
lauben, daß fie ihre Schwäche tröften (d. h. ſich vor ſchlimmen 
dolgen, die aus ihrer Schwäche ®) hervorgehen Könnten, zu wahren 
ſuchen) entfprecend dem Bedürfniſſe fie zu bedecken, ohne deshalb 
bon den priefterlichen Gebeten abgehalten zu fein.“ Indem nun 
dieſer heilige Lehrer derart auf Deine Frage antwortet, fo wollen 
auch wir darauf antworten, was uns richtig erfcheint, felbftver- 
fändfich aber im Anſchluß an die Meimmg des Lehrers: Wenn 
die Styliten und Klausner ihr Haupt bededen wollen, zu einer 
‚Zeit, wo fie niemand fieht, wenn fie beten und Weihrauch anzunden, 
fo ſchadet dies auch nichts, weil es ja nicht anftößig ift für ſolche, die 
es fehen. Ebenſo aber auch verfallen die Presbyter und Kuratoren 
(f. ©. 336) und Bifhöfe und Patriarchen, die bei folder Schwäche 


2) In Mädficht darauf, daß ber Brief, dem diefe Stelle entnommen ift, 
fich nicht unter den in dem ſyriſchen Handſchriften des Britifchen Muſeums (f. 
Bright, ©. 1328) und erhaltenen Briefen befindet, teile id) bie Stelle Im 
Bortlaute mit. Daß dieſes Wort auch inſofern vom Wichtigkeit iſt, ala es 
bezeugt, daß Georg ber jakobitifchen Kirche angehörte, iſt ſchon oben (f. S. 286) 
erwähnt worden. 

2) ©. 1 Kor. 11, 2-16. 

3) Gemeint if, wie fi aus dem Zuſammenhange ergiebt, eine Glatze. 

24* 


860 Ryſſel 


eine Celebration haben oder infolge ſtrenger Kälte frieren oder 
von der Gewalt eiſiger Winde hart mitgenommen werden, durch⸗ 
aus feinem Tadel, wenn fie ſich aus der Kopfbededung einen Troft 
zu verfchaffen fuchen, zu der Zeit, wo fie beten ober Weihrauch 
anzunden außerhalb des Altarraumes oder außerhalb der Kirche, 
vorausgefegt daß ihr Haupt nicht mit einem Schleier (wörtlich: 
Teppich) oder mit einer Kappe (genauer: einem Capuchon) oder 
gar mit einem Turban bededct ift; in dem Altarraum aber ober 
in der Kirche ift dies nicht geftattet, außer wenn es wegen Kranf- 
heit ober großer Schwäche geſchieht. Wenn aber andere Kleriker 
und Mönche, was fie auch fein mögen, ohne die oben angeführten 
Gründe es thun, fo ift erfichtlih, daß fie mit Oppofitionsgeift 
und Hochmut und teufliſcher Hoffart behaftet find, und fie ver- 
fallen dem Tadel und der Verdammnis des Teufels. — Wenn 
aber Deine brüderliche Liebe fchreibt, daß Du nicht bloß Presbpter 
und Kuratoren fiehft, die mit verhulltem Haupte beten und Weihe 
rauch darbringen, fondern ebenfo auch Biſchöfe, fo Hat uns das 
ein wenig Spaß gemadt. Denn dur den von Dir gewählten 
Ausdrud (d. 5. das „nicht nur“ .... „ſondern auch“) deuteft Du an, 
um wie viel tadelnswerter der Bifchof fei, der ſolches thut, als 
der Presbpter und Kurator. Meiner Anficht nach ift dies aber nicht 
fo, fondern auch wenn der Bischof es thut — fei es wegen feines 
Alters, fei e8 weil er das Recht dazu Kat —, fo darf es doch 
deshalb keineswegs der Presbyter oder der Kurator thun, aus 
genommen unter den bereits oben angeführten Berhältniffen. Das 
ift, was wir auf Deine Frage betveffs der Kopfbedeckung zu er 
widern hatten. 


Zur Erläuterung dieſes Kapitels, welches ung in bie Interna 
des Kultus und der Sirchenzucht in der fyrifchen Kirche einen 
Blick thun läßt, iſt nichts Hinzuzufügen, da fi der Inhalt des 
Kapitels aus ſich ſelbſt erkllirt. In den Sammlungen ber für 
die abendländiſche Kirche maßgebenden Verordnungen, foweit dieſelben 
mir zuganglich waren, finden ſich keine Verordnungen über dieſe 
ſpezielle Trage, die den kirchlichen Anftand bei der Berrihtung der 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 861 


geiftfihen Amtshandfungen betrifft und deren Beantwortung von 
der ftraffen Subordination Zeugniß ablegt, die in der fyrifchen 
Kirche unter allen Umftänden gefordert wurde, 





Ahtes Kapitel, Über bie neugetauften Kinder, bie 
ber Satan fid bienftbar madt. 


Auch über diefe Frage antwortet Div an meiner Statt zuerft 
Athanaſius der Große und Bifchof der großen Stadt Alerandrien, 
welcher in feiner Lebensbefchreibung des Antonius, des durch feine 
edle Gottesfurcht ausgezeichneten Asketen, Folgendes über den Heiligen 
erzählt: „In der Zeit des Nachdenfens und der Überlegung fiel ihm 
[die Frage] ein, warum Heine Kinder Hinweggenommen werden ?) 
— d. 5. vor der Zeit fterben —, hochbetagte Greife aber am Leben 
bleiben, bis fie fogar von ihren Bedienſteten gefüttert werden 
müffen. Als nun diefe Erwägung dem Heiligen einfiel, warf er 
fih vor Gott nieder und flehte zu ihm, daß er ihm diefes Ger 
heimnis offenbaren möge. Nachdem er eine geraume Zeit im Ges 
bet zugebracht hatte, gefhah eine Stimme vom Himmel zu ihm, 
welche ſprach: O Antonius, forge für dich felbft; denn meine An- 
ordnungen (wörtlich: Rechte) find unfagbar.* 2) Indem nun auch 
Du diefes hörft, fo verlange nicht weiter darnach, die göttlichen 
Geſetze, die ein gewaltiger Abgrund find und von niemand erforfcht 
werben können, zu ergründen oder feine Wege, d. i. feine vers 
ſchiedenartigen (d. 5. widerſpruchsvollen) Thaten, zu prüfen; und 
fordere auch nicht von deinem Mitmenfchen und dem, der gleicher 
Abftammung ift, daß er lallwiſſend wie] Gottes Sohn fel, deſſen 


1) Bol. die Rede „mepl zuv mod Ögas dpapnafousvor vralar « von 
Gregor von Nyſſa („Oratio de infantibus, qui praemature abripiuntur “ 
[Borifer Ausgabe 1638] II, 3175qg.), welche aber die Frage behandelt, ob 
in dem Neugeborenen bereit8 Sünde fei, indem ſich Gregor barin für einem 
findfofen Lebensanfang des Menfchen eutſcheidet und die Sünde erſt mit dem 
Gebrauch des freien Willens eintreten Täßt, allerdings zugleich eine allgemeine 
Neigung zum Gündigen annimmt. 

3) Über diefe Erzählung und deren Duelle f. die Erläuterungen am 
Sqlufſe bes Kapitels, ©. 364f. 


302 ‚öfter 


alles ift, was des Vaters ift, und der ihn allein kennt, ober der 
heilige Geift, der alles erforfcht, auch die Tiefen Gottes 1). Wenn 
Du aber für Deine Seele forgft, wie das Deine Pflicht ift, fo ber 
denke dies vor allem und erkenne, daß alles, was Gott an dem 
Menſchengeſchlechte und um des Menſchengeſchlechtes willen thut, 
aud wenn es den Unverftändigen verderblich (mörtlich: feindlich) 
zu fein feheint, doch von ihm zur Belehrung und zum Nugen und 
zur Unterftügung derer, die fehen oder Hören, gethan wird, mögen 
fie nun Hausgenoffen (d. h. Ehriften) fein oder Fremdlinge. — 

Ein derartiges Problem ift aber auch dies, daß infolge der 
Zulaffung Gottes der Satan die getauften Kinder, welche noch 
nicht gefündigt Haben, überfällt und in fie hineingeht. — Rüdfiht- 
lich deffen aber, daß ber „Exeget“ 2), wie Du gefagt haft, behaupte, 
es fei nicht möglich, daß der Dämon in den Meenfchen Hineingehe, 
wenn er nicht gefündigt Habe oder wenn feine Eltern ober bie 
Eltern feiner Eltern nicht gefündigt Haben, fo fende Hin und laß 
Dir bringen das Buch der auf dem Thron gehaltenen Neben des 
heiligen Mar Severus und lies in der Rede, welche der Lehrer 
verfaßt Hat Über ben vom Mutterleibe an Blinden, betreffs deſſen 
auch die Zünger unfern Herrn fragten: „Hat diefer gefündigt oder 
feine Eltern, da er blind geboren ift“ ®); und von ihm kannſt Du 
Ternen, was betreffs diefer Auslegung 4) richtig ift; denn ich bin 
verhindert e8 Hier anzuführen wegen der Länge ber Darlegung ). 

4) Mit diefen Worten, die fi in ähnlichem Zuſammenhange auf am 
Schluſſe des 2. Kapitels (ſ. oben &. 322) finden, weiſt Georg derartige 
Fragen als Überhebungen über das gottgewollte Maf der menfcfihen Er 
kenntnis zurüd. 

9) Den Chrennamen „Ereget”, reſp. „Interpret”, bat in ber ſyriſchen 
Kirche Theodor von Mopfueftia, ber „Vorläufer bes Neſtorianismus“, beffen 
Werke eben deshalb jo viel gelefen wurden, weil man ſich auf ihm berufen 
tounte. Übrigens finden ſich bie beiden von Georg citierten Stellen weber in 
den Fragmenten aus feiner Schrift gegen bie Berteibiger der GErbfünde (ſ. 
Migne, Patrol. LXVI, 1005; f. u. ©. 364), noch in feinem Sommentare 
zum Johanneseyangelium (cap. 9). 

3) Joh. 9, 1ff. 

4) Gemeint ift zweifelsohne bie oben angeführte Auficht bes „Egegeter“ 
Theodor von Mopfueftia. 

5) Unter ben 125 Homilieen, den fog. Adyos dnuIedrios des Patrianhen 





Ein Brief George, Biſchofs der Araber 2c. 368 


Betreffs des anderen aber, was ber „Exeget“ behauptet hat, 
dag nämlich der Dämon nicht in den Menſchen Hineingehe, außer 
wenn er des Heiligen Geiftes beraubt ift, ift es Sache der Ein, 
fißtigfeit Deiner brüderlichen Liebe — und eines jeden, in bem 
Berftand ift —, daß Du erforſcheſt und zu erkennen fuchft, ob dies 
wahr ober nicht wahr ift. Siehe, e8 giebt — wie Du beobachten kannſt 
und auch gefagt Haft — viele Kinder, deren fi, nachdem fie den 
heiligen Geift aus der Taufe empfangen Haben und Kinder Gottes 
geworden find, der feindliche Dämon (wörtlich: Geift) bemächtigt 
und welche er dann fchädigt und quält. Leider aber haben wir 
feine Muße, um jegt viel darüber zu fagen, fo nötig es auch 
ft. Denn auch alles das, was wir oben auf deine Fragen, lieber 
Bruder im Geifte, geantwortet Haben, auch dies habe ich, wie du 
miffen follft, mit innerem Widerftreben und in der [wenigen] 
freien Zeit, welche die vielen mir aufgelegten Gefchäfte mir gelaffen 
haben, gefchrieben. Wenn Du es nun mit wohlwollender Prüfung 
lieft, fo behalte das, was Dir der Wahrheit zu entfprechen fcheint, 
das aber, bei dem es ſich etwa anders verhält, laſſe beifeite; Deine 
Gebete nur widme ber doppelten Schwachheit. Denn da ih 
meine geringe Kraft und Erkenntnis in dem, was ich Deiner 


Severus von Autiochien, die in der ſyriſchen Überfeung des Jakob von Edeſſa 
im cod. DCLXXXV bes Britifchen Muſeums erhalten find (. Wright, 
Ratal., ©. 534ff.; verſchiedene Homilieen in einer anderen Überfegung, viel · 
leicht der des Paulus von Callinicus, enthält der cod. DOLXXXVI, &. 546), 
findet ſich die von Georg citierte Rede über den Blindgeborenen unter Mr. 38. 
Vemerkt fei noch, daß die griechiſchen Fragmente, weldie Mai im IX. Bande 
feiner „Scriptorum veterum nova collectio“ (&. 750ff.) mitteilt, die zwei 
Homifieen über den Märtyrer Drofis und die Homilie über den Märtyrer 
Thallelaus enthalten, welche auch in ber oben erwähnten ſyriſchen Überfegung 
des Ialob von Edeſſa — als die 100., 114. und 110. Homilie — ſich vor- 
finden, Bier andere Homilieen, die Severus zu Ehren von Heiligen gehalten 
hat, teilt Mai a. a. O., ©. 742 ff. in Inteinifcher Überfegung mit (vgl. auch 
Spieilegium Romanum X, 202 u. 212), Die 21. Homilie, eine „Ermahe 
nung, gerichtet am Mittwoch der großen Woche des Paffafeftes an bie, welde 
beabfichtigen ſich zur Taufe zu melden“, Bat E. Neftle in ber „Brevis lin- 
guae Syriacae grammatica, litteratura, chrestomathia“ S. 79 -88 mit- 
geteift, 


364 Ryſſel 


brüderlichen Liebe geſchrieben habe, voll und ganz ausgenutzt habe, 
fo bin ich auch frei von Tadel, der vielmehr die menſchliche Natur 
trifft, welche nicht überall nach Wunſch Erfolg Hat. 


Diefes Kapitel berührt eine Frage, welche das Morgenland in 
einer den abendländifchen Anfchauungen entgegengefegten Weife be- 
antwortete, — die Lehre von ber Erbfünde. Während diefe Frage 
feit Auguftin für das Abendland im weſentlichen entfchteden war, 
hielt man in der griechiſchen Kirche 1) nad) wie vor, trotz der Ver⸗ 
dammung des Pelagius auch auf der Synode zu Ephefus, an der 
Freiheit des menfchlihen Willens feſt. Vor allem wandte fih 
Theodor von Mopfueftia gegen Auguftin und die Vertreter feiner 
Anfiht im Morgenlande in der Schrift „meds Tous Asyovzas 
ydosı zul od yvaum mralsıy zods dvIgwnovs‘?). Wenn 
nun auch Georg in dem obigen Kapitel augenſcheinlich nicht alle 
Konfequenzen der Anſchauungen des Theodor vertreten will, fo ift 
doch nicht anzunehmen, daß er deshalb in auguftinifcher Weiſe die 
Freiheit des menfchlihen Willens leugnen will, vielmehr wird er 
etwa in ber Weiſe Gregors von Nyffa °) eine allgemeine Neigung 
zum Sündigen als Erbteil der menſchlichen Natur angenommen 
haben. Es ift zu bedauern, daß er weder den Wortlaut der Aus⸗ 
laſſung des Patriarchen Severus über diefe Frage mitteilt, noch 
auch feine eigene Meinung in ausführlicher Darftellung zum Auss 
drud bringt. 

Bon befonderem Intereſſe find in dem Kapitel aud die Eitate. 
Im der Biographie des Antonius, die fi unter den uns erhaltenen 
Schriften des Athanafius findet 4), iſt die oben citierte Stelle 


1) Betreffs der ſyriſchen Kirche vgl. U. Hahn, Ephräm der Syrer über 
bie Willensfreiheit des Menfchen, nebſt ben Theorien derjenigen Kirchenlehret 
bis zu feiner Zeit, welche Hier befonders Berücfichtigung verdienen (im III- 
gens Denlſchrift der hiſtor.theol. Geſellſchaft zu Leipzig, 1819). 

2) ©. ©. 362, Anm. 2. 

%) &. On. I, p. 75lsgg.: or. V. de orat. dom. 

4) Der Titel diefer Schrift lautet: „Bios zul molıreie Tod aylon “- 
zaylov 'suyypapeis“, 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber ꝛtc. 365 


nit zu finden. Nun findet fih unter den Werken des Patriarchen 
Severus von Antiochien, die dem Georg wegen der hervorragenden 
Stellung, die Severus in der jakobitifchen Kirche einnahm, wohl 
befannt waren und mehrfach von ihm eitiert werden (f. 0. ©. 857. 
358 und 362), eine Homilie auf den Heiligen Antonius, die fich 
ausbrüdfich als eine Ergänzung der Biographie des Athanafius an» 
fündig 2). Es wäre nun leicht möglich geweſen, daß Georg eine 
Stelle diefer Schrift, wenn fie fi in der ihm vorliegenden Hand« 
fhrift gewiffermaßen als Fortſetzung der Schrift des Athanaſius 
unmittelbar an diefe angeſchloſſen Hätte, irrtümlich als aus der 
Biographie des Athanaſius entnommen hätte bezeichnen können. 
Aber auch in diefer Homilie, fo weit fie uns vorliegt, findet fi 
obige Stelle nicht. Entweder alfo hatte Georg einen vollftändigeren 
Tert der Schrift des Athanafius vor fi, als der iſt, der in 
unferen Ausgaben vorliegt, oder es ift die Stelle aus jener Schrift 
des Severuß entnommen, was uns deshalb nicht unmwahrfchein. 
lich dünkt, weil von dem griechiſchen Originale der Schriften des 
Seberus nur wenige Fragmente erhalten find, wie das bei einem 
folgen Häreſiarchen nicht zu verwundern tft, während die Werke 
des Athanaſius, eben weil er in der ganzen Kirche als pater 
orthodoxiae galt, auch zu aller Zeit viel gelefen und verbreitet 
waren. 





Renuntes Kapitel, Über die nächtliche Prüfung. 

In biefem Kapitel giebt Georg dem Presbyter Jeſus, der 
vielfach in der Nacht mit fündigen Gedanken zu kämpfen Hatte, 
auf Grund „möndifcher Schriften“ und feiner eigenen in der Jugend 
gemachten Erfahrungen gute Ratfchläge, wie man — neben dem 





1) &. Mai, Sceriptoram veterum nova collectio IX, 742sqq. 
Der Anfang lautet: „Divini Antonii gesta Athanasius ille ... singulari 
opere complexus est.“ In der ſyriſchen Überfegung des Jalob von Edeſſa 
0.0. ©. 363 Anın.), nad) welcher die Tateinifche Überfegung bei Mai a. a. D. 
angefertigt ift, nimmt obige Homifie die 86. Stelle ein; bie Überfchrift 
lautet: „Über ben 5. Antonins, ber in Ügypten Iebte, ben Exften und das Haupt 
der Einfiebfer und Eremiten“, 


366 Ryifel 


eigenen Gebet und der Fürbitte anderer, die Georg ihm zufagt — 
die „jchändlichen Leidenfchaften* wirkfam befämpfen könne. Erſtens 
folle er fich vor böfen Gedanken hüten, aus denen die Leidenſchaft 
hervorgeht, die zur böfen That führt; zweitens folle er ſich vor 
fetten und ſchweren Speifen hüten, weil fie den Magen beſchweren 
und fo zu finnlicher Luft reizen; ferner möge er nicht zu zeitig 
zu dem Nachtdienſte aufftehen, fo daß er dann fich nochmals 
ſchlafen legen müfje, weil in diefem Schlafe nach dem Nachtdienfte 
die böfe Leidenschaft der Unzucht den Mönch vielfach ſchädige; auch 
möge er fi vor dem langen Stehen an einem Orte Hüten und, wenn 
fein Fremder da fei, zwifchen den einzelnen Benediktionen der Pjalmo 
die umbergehen und fih in feine laufe begeben; weiter möge er 
vor der neunten Stunde zu Abend efjen, damit der Magen vor 
dem Schlafengeen ſchon ein wenig verdaut Habe; vor allem aber 
Tolle er fi vor andauerndem Umgange mit Frauen und weltlih 
gefinnten Männern hüten, weil aud dadurch die Seele des Ein- 
ſiedlers verdunfelt werde, wie bie Heiligen Ichren. Auch halte das 
fortgefegte Nachdenken über bie göttlichen Schriften ganz befonders 
den Sinn des Mönches ab, nach fremden Dingen abzufchweifen. Hierauf 
fließt er mit folgenden Worten: Dies ſchreibe Ih, weil ich Mufe 
habe und außer der Reihe des Kampfes bin (b. h. wegen feines 
Alters, vgl. den Anfang diefes Kapitels), aus großer Liebe zu 
Dir; Du aber Handle wie ein ampfbereiter Mann und ein waderer 
Streiter, und prüfe und fiehe und, was nüßt, behalte. — Ee 
gebe Div aber unfer Herr Kraft und Weisheit in allem; denn c& 
ift gut, daß unfer Schreiben an Dich fein Ende Habe durch das 
apoftofifche Gebet. 
Geſchrieben im Juli des Jahres 1025 der Griechen. 


Überblicken wir nun zum Schluſſe den Inhalt des Briefe 
Georgs an den Presbpter Jeſus, jo müffen wir fagen, daß wir 
zwar feine neuen Auffchlüffe über fein Leben und feine Lebens ⸗ 
verhältniffe erhalten ), wohl aber von feiner ſchriftſtelleriſchen 


1) So wird 3. ®. durch verſchiedene Stellen feines Brieſes beRätigt, def 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 86 


Bedeutung und bem ganzen Charakter feiner wiſſenſchaftlichen 
Arbeit ein Hares und deutliches Bild erhalten. 

Bor allem tritt feine außerordentliche Beleſenheit in der gefamten 
thriſtlichen Litteratur zutage. Er kennt nicht nur die hervorragen⸗ 
den Werke der kirchlichen Geſchichtsſchreibung, die Kirchengeſchichten 
des Euſebius (ſ. S. 344 vgl. Anm. 2), des Sotrates (ſ. 
S. 317) und Theodoret (ſ. ©. 316), ſondern er beherrſcht auch 
die dogmatiſche Litteratur der griechiſchen und ſyriſchen Kirche. 
Son namhaften griechiſchen Lehrern citiert er den Athanaſtus 
(. S. 361), Baſilius den Großen (ſ. S. 306) und Gregor den 
Theologen (ſ. S. 344, vgl. ©. 302), zu defien Homilieen er aud) 
Sholien fehrieb (ſ. o. ©. 293), ferner Cyrill (ſ. S. 357), 
Hippolytus (f. S. 320), fowie Theodor von Mopfueftia 
(. S. 362 f.) und von den berühmten Schriftftellern der fyrifchen 
Lirhe erwähnt er Bardefanes (f. ©. 319), Jakob von Sarug 
(1.©. 321; betr. Jakob von Edefja, feinen Lehrer, ſ. S. 299), wie er 
and mit den Homilieen des Aphrantes (f. o. ©. 312 bis ©. 331) 
die eingehendfte Bekanntſchaft zeigt. Daß er auch in den Schriften 
des Patriarchen Severus von Antiochien, des befannten monophy⸗ 
ſitiſchen Lehrers, genau bewandert ift (f. ©. 357f. u. 362) und 
in der lirchlichen Gefeggebung Befcheid weiß (f. S. 336'u. 358 ff.), 
iſt bei einem monophyſitiſchen of am wenigften zu verwundern. 
Aber diefe Aufzählung der von Georg benutzten und citierten 
Schriften der chriſtlichen Pitteratur ift noch bedeutend zu vermehren, 
wenn man auch feine übrigen Schriften und befonders feine Briefe 
(.S. 300ff.) durchmuftert, in denen wir außer den obengenannten 
und anderen Koryphäen der chriftlichen Sitteratur auch weniger 
wichtige Schriftfteller 3. B. (dem Pfeudo-) Dionyfins Areopagita 
(. ©. 296 u. 303%), citiert finden, wie er and) des Joſephus 


tt Bifhof war (f. S. 360, vgl. ©. 814, Anm. 1); weitergeführt wird aber unfere 
Kenntnis feines Lebens nur durch die eine Notiz, daß er im Jahre 1025/714, 
Ivo er dieſen Brief ſchrieb, bereits ein bejahrter Mann war (ſ. 0. ©. 805 u. 865 f.), 
was aber auch aus der Stellung, bie er damals bekleidete, geſchlofſen werden 
lann. 

1) Die Bekanntſchaft mit dem angeblichen Schriften des Dionyſios Areo- 
pagita iſt anderfeits deshalb weniger auffallend, weil diefe Schriften befanntfich 


368 Ryſſel 


Schrift conträ Apionem gekannt zu haben ſcheint (ſ. S. 355, 
Anm. 1). Ob er auch die armeniſche Litteratur in gleicher Weiſe 
beherrfchte, Können wir nicht näher beftimmen; ficher ift aber, daß 
er verſchiedene wichtige armenifche Geſchichtswerke, befonders die auf 
den Armenierapoftel Gregor bezüglichen Schriften — entweder im Ori⸗ 
ginafe, oder in Überfegungen — Tannte (vgl. ©. 348 u. 354). 
Aber, was wichtiger ift als diefe umfafjende Kenntnis ber 
chriſtlichen Litteratur, er weiß auch das Material, das die er 
mähnten Werke ihm darboten, in einer echt wiſſenſchaftlichen 
Weiſe zu verarbeiten. Er operiert mit dem Inhalte in einer 
Weife, die von unferer modernen Methode wiſſenſchaftlicher Arbeit 
nur wenig verfchieben ift, indem er das Material nicht nur über 
fihtlih zufammenftellt und die einzelnen Faktoren desſelben zur 
Gewinnung neuer Auffchlüffe und zum Beweife feiner Behauptungen 
tombiniert, fondern auch in feharffinniger Weife Kritit übt und 


falfche Meinungen zurücweift. Freilich, eine Hiftorifche Kritik, wie | 


wir fie heutzutage fordern, können wir bei ihm nicht vorausfegen, 
obwohl es ihm an freiheit des Urteils nicht fehft und ein Harer Über- 
blick ihm zugebote fteht. Indem wir zu diefen Urteilen über die fehrift- 


ftellerifche Bebeutung Georgs noch einzelne Belege beifügen, maden 


wir zunächft auf die genaueren chropologiſchen Berechnungen aufmerf- 
fam, die er zugleich in Überfichtlicher Weife zu gruppieren verfteht: 
wir verweilen 3. B. auf feinen Nachweis, dag Aphraates nicht 
ein Schüler Ephrems fein Tann (f. ©. 314ff.), fowie daß 
Gregorins Illuminator nicht einer der drei berühmten Gregore 
— Gregorius Thaumaturgus, Gregor von Nyffa und von Nazianz — 
ift (f. ©. 344f.), wobei wir noch beſonders bie Überfichtlichteit 
diefer chronologiſchen Berechnungen, die wir allerdings nur im 
Auszuge mitgeteilt Haben, anerfennend erwähnen müſſen, die er 
teils durch kunſtvolle Gruppierung erzielt, indem er häufige Rer 
Tapitufationen zwifchen die einzelnen Poften feiner Berechnung ein- 


in den reifen der monophytiſchen Severianer zuerft aufgetaucht find, und zwar 
auf der im Jahre 533 auf Befehl des Kaifers Juſtinian unter dem Vorſih 
des Metropoliten Hypatius von Epheſus zu Konftantinopel mit ben Eeveria- 
nern abgehaltenen Unterredung. &. Hefele, Komzifiengeichichte IL, 747 ff. 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber. zc. 869 


fiebt, oder auch dadurch, daB er, wie er fih im 1. Kapitel 
(S. 316) ausbrüdt, die Mittelglieber feiner Darlegung übergeht. 
Äpnlicer Art iſt auch feine Berechnung über bie Chronologie 
der Urväter (f. ©. 330f.) und fein Beweis der Unmöglichkeit einer 
Venticität des greifen Simeon, ber den Herrn im Tempel auf 
feine Arme nahm, mit dem Simeon Sirach, den die ſyriſche 
Überfegung als den Vater des Verfafjers der befannten apokryphiſchen 
Schrift, der „Weisheit Jeſus Sirachs“, bezeichnet (f. ©. 356). 
Und wie Georg es verftand, aus einzelnen gelegentlichen Äußerungen 
in einem größeren Schriftganzen fih ein Bild gewiffermaßen 
mofaitartig zufammenzufegen, das zeigen u. a. die Auffchläffe, die 
er über das Leben und die Lebensftellung des Aphraates auf Grund 
tinelner Stellen feiner Homilieen giebt (f. ©. 312 ff.). 

Seine kritiſche Befähigung können wir dagegen 3. B. da kennen 
Iren, wo er an der Hand der Schriftftelle uf. 2, 36—38 
der traditionellen Meinung entgegentritt, daß Simeon der Greis 
ein Briefter geweſen fei, indem er darauf hinweiſt, baß bei einer 
fo eingehenden Schilderung, wie Lufas fie giebt, auch dies mit er- 
wäßnt fein würde (f. ©. 357). Scarffinnig ift aud der im 
Boransgehenden gelieferte Nachweis, daß man aus Luk. 2, 26 
nit auf eine menschliches Maß überfchreitende Lebensdauer Simeons 
fließen dürfe, da er auch dann, wenn er 80, 90 oder 100 Jahre 
alt geworden war, eine über das gemühnliche Lebensalter hinaus⸗ 
ragende Lebensdauer erreicht habe (ſ. S. 356). in gleich treffen» 
des Urteil beweift Georg ferner bei der Auslegung der Schriftftelle 
Matth. 26, 29 (f. ©. 346), vor allem aber bei feiner eingehen« 
den Behandlung von 1Ror. 15, 44, wo er an der Hand des 
enerfannten Bibeltextes den eigentümlichen pſychologiſchen Ans 
ſchauungen des Aphrantes entgegentritt (f. ©. 326f.). Hierbei zeigt 
Georg eine echt philologiſche Aribie, befonders indem er auf die 
Moglichkeiten der Herkunft jener faljchen Lesart näher eingeht, 
auf welche Aphraates feine Theorie vom Seelenfchlafe gründet 
(1.&.326, 3. 11ff.). Auch giebt ihm die Befprehung diefer feltfamen 
Aufftelfung Gelegenheit zu einer philoſophiſchen Darlegung iiber die 
verfhiedenen Arten der organifchen Wefen (ſ. ©. 326f.). Im dog 
natiſcher Beziehung zeigt er ein freies Urteil, 3. B. indem er die 


870 Ryffel 


Frage, ob man den Wein mit Waffer vermifchen müfle oder m 
gemifcht genießen dürfe, gewiſſermaßen als ein ddıdyoger kr 
zeichnet (ſ. ©. 345Ff.). Ebenfo ftand er auch dem Wunderglauben 
feiner Zeit ziemlich vorurteildfrei gegenüber, was er zeigt, indem 
er bei der Erwähnung des 13 jährigen Aufenthaltes des Gregor | 
Illuminator in einem ungefunden Kerker noch feherzend Hinzufügt: 
ober wenn es dir recht ift, wollen wir nur drei Jahre am 
nehmen“. Doc dürfen wir felbftverftändlich im diefer Beyiehun 
den Georg, ber ſicher auch ein Kind feiner Zeit war, nidt mit 
unferem Maße meſſen. Selbft ein Blick für die Eigenarten der 
dogmatifchen Lehrthpus der verſchiedenen Perioden ber Kirche ſchein 
ihm zueigen gemefen zu fein, fo fehr fonft die alte Zeit folden 
biftorifchen Urteils entbehrte; wenigftens Täßt feine Bemerkung, 
daß bie Verſchiedenheit des Lehrtypus bei Ephrem und Aphrates 
der Annahme, daß letzterer der Schüler des erfteren fei, dirch 
widerſpreche (f. S. 314), einen ſolchen kritiſchen Blick für di 
Entwickelung der dogmatifchen Anſchauungen vermuten. Daß fit 
Genauigkeit in der Benutzung litterariſchen Materials auf Grund 
der unvichtigen Wiedergabe der Eufebinsftelle im 5. Kapitd 
(f. ©. 344, Anm. 2) nicht ernſtlich bezweifelt werben Kann, ift bei kr 
ganzen Art und Weiſe, mie man in jener Zeit citiert, midt be 
ſonders darzulegen nötig. Auch Können wir in diefer Bejichung 
auf die Maren Worte Hinmeifen, mit denen Georg am Anfang 
feines Briefes (f. S. 312) gewiffermaßen fein wiſſenſchafllichee 
Bekenntnis ablegt, das von der Gemiffenhaftigkeit und Treue zeugt, 
die ihm bei feinen Forſchungen und Arbeiten Teiteten. 

So ftand denn Georg auf der Höhe der Wiffenfchaft feinr 
Zeit, umd es iſt vom Intereſſe zu fehen, daß er ſich deſſen an 
wohl bewußt war, wie wir aus feinem Urteil über Aphtaatee 
erfehen können, von dem er zu wiederholten Malen fagt, daß er 
der „ftädtifchen Gelehrſamkeit“ entbehre, ımd zwar ſchon um der⸗ 
willen, weil er zu feiner Zeit noch nicht Gelegenheit gehabt habt, 
die Schriften der Hauptautoritäten ber chriſtlichen Literatur zu 
Tefen und zu ftudieren (ſ. ©. 325. 328 u. 329). 

Mag num and; eine fo ausgebreitete Litteraturkenntnis und fo 
gründliche Gelehrſamkeit, wie fie Georg befaß, bei den Eyrem 


Ein Brief George, Biſchofs der Araber zc. 871 


der damaligen Zeit nicht zu den Seltenheiten gehört haben, fo ift 
do die Belanntſchaft mit Georg ſchon deshalb nicht ohne Intereſſe, 
weil er eben in feiner wiffenfchaftlichen Arbeit die gelehrte Bildung 
der ſyriſchen Geiftlichkeit feiner Zeit in ebenfo vieljeitiger als 
tharalteriftiſcher Weife repräfentiert. Und überdies ragt doch zu 
gleih Georg durch feine umfichtige Bearbeitung des von ihm bee 
augten umfafjenden Materiales, durch feinen Scharffinn, durch 
fein treffendes Urteil und feinen freien Blick unter der großen 
Menge der ſyriſchen Gelehrten weit hervor und ift den beften 
khrern der Kirche Syriens, ja der chriftlichen Kirche jener Zeit 
überhaupt, an die Seite zu ftellen. 

Benn wir nun zum Schluß noch auf den liebenswurdigen 
Humor aufmerkſam machen, mit dem Georg bie Anfpielung des 
Preobpters Jeſus, die ihm, den Biſchof, einer Meinen Eigene 
mädtigkeit zeihen follte, gelaſſen zurückweiſt (j. ©. 360) und an 
den warmen Herzenston edler Befcheidenheit erinnern, mit dem ſich 
ber erfahrene Mann als väterlicher Berater zu dem jüngeren 
dteunde wendet, um ihn aus dem Schatze feines Wiſſens und 
feiner Lebenserfahrungen mit Belehrung und Mat beizuftchen 
(. ©. 363 u. 365), fo dürfen wir wohl die Hoffnung hegen, 
daß es der geiftig bedeutenden Perfönlichteit Georgs gelingen werde, 
das Wort de Lagardes, des gelehrten Herausgebers feines Briefes 
an den Presbyter Jeſus, in Erfüllung gehen zu laffen: „Georgium 
episcopum Arabum erunt multi, qui adamaturi sunt, homi- 
2em maxime et acutum et circumspectum.“ 


Sedanten und Bemerkungen. 


esl. Etub. Yahrg. 1888. 25 








1. 


Luthers Uberfegung der altteitamentlichen Apo⸗ 
kryphen. 
Von 
Dr. Wilibald Grimm, 


Profefior der wolevie und, Bieieneat Im Seo, Mitglieb ber zur Reviſion der Lutherif 
El —eS iſion weriſchen 





In den die Lutherbibel behandelnden Monographieen wird die 
Überfegung der Apokryphen entweder, wie von Lüde:) und 
Hopf®), gar nicht, oder wie von Palm), Banzer t), Hein 
rich Schott®) nur nad der Zeit ihrer erften Drude und deren 
typographiſcher Beſchaffenheit berüdfichtigt. Auf den inneren 
Charakter diefer Überfegung und ihren Unterſchied von derjenigen 
der lanoniſchen Bücher wird nicht eingegangen. Und doch iſt der⸗ 
felbe fehr bedentend. Denn wollte Luther auch in Verdeutſchung 


1) „Kurz gefaßte Geſchichte der Lutherſchen Bibefüberfegung”, in @tefeler 
md Lüüce, Zeitjchrift für gebildete Ehriften (Eiberfeld 1828), 8. Heft, ©. 1ff. 
und 4. Heft, ©. 86 ff. 

3) In feinem ſehr verdienftvollen Bude: „Würdigung der Lutherſchen 
Bibelverbeutfgung mit Rüdfiht auf ältere und neuere Überfegungen“, Rürn« 
berg 1847. 

3) Hiforie der deutſchen Vibelüberfegung D. Martin Luthers vom Jahre 
1517 an bis 1584, Berausgeg. von Joh. Melch. Goezen. Halle 1772. 4%, 

4) „Entwurf einer vollkändigen Geſchichte ber dentſchen MWibelüberfegung 
D. Martin Luthers“ (Nürnberg 1788) und Zufäge des Verfaſſers zu dieſem 
Berte (Nürnberg 1791). 

5) „Geſchichte ber deutſchen Bibelüberſetzung Luthers“ (Leipzig 1885). 

26* 


876 Grimm 
der kanoniſchen Bücher nichts weniger als „Buchſtabiliſt“ fein, 


trug er aud) Hier, befonders in den nachmaligen Revifionen, nicht | 


felten der Verftändlichfeit auf Koften der Form des Originals 
Rechnung: fo geftattete er ſich doch bei den Apokryphen, weil er 
hier nit an einen heiligen Text gebunden war, ungleich größere 
Freiheit und vertaufchte ſehr Häufig die Aufgabe des Überjegers 
mit der des Bearbeiter, Kritifers, Paraphraften und Auslegers, 
ohne Zweifel weil er hoffte, auf foche Weife die Lektüre diefer 
Bücher als veligiöfer Vollsſchriften leichter, angenehmer und ver⸗ 
ftändlicher zu machen. Bevor ih die Nachweiſung im einzelnen 
beginne, Habe ich die mir bisweilen in mündlicher theologiſcher 
Unterhaltung entgegengetretene, von Holgmann ?) fogar öffentlich 
aufgeftellte Behauptung zurückzuweiſen, daß Luther die Apokryphen 
aus der VBulgata überfegt habe. Es gift dies nur von den 
Büchern Judith, Tobit und dem Gebet Manafjes. Dem Gebet 
Afarias und dem Gefang ber drei Männer Hat er felber den Ber 
merk vorgefegt: „Aus dem Griechiſchen“. Wenn er aber in nicht 
wenigen Stellen der Vulgata?) folgt, fo Hat er dieſelbe nur al 
eine Art Kommentar benugt. Denfelben Gebrauch macht er von 
ihr fo wie von der LXX nicht felten auch in den kanoniſchen 
Büchern des Alten Teftamentes; niemand aber wird deshalb br- 
haupten, er Habe das Alte Teftament aus der LXX oder Zuls 
gata überfegt °). 

Nachdem im Jahre 1528 „der Prophet Jeſaia Deudſch“ in 
zwei Auflagen erfchienen war, fah Luther durch verfchtedene Um- 


4) In Bunfens Bibelmert VIL, df. 

3) Über Luther Benugung der Bulgata vgl. Hopf a. a. O., ©. 214 
Auf Luthers Verhältnis zur LXX ift Hopf nicht eingegangen. 

3) Ich bebiene mich des herfömmmlichen Ausbrudes Bulgata, bemerkte aber, 
daß Hieronymus den Jeſus Sirach, das Buch der Weisheit, die Maccabärr- 
bücher und ben Baruch ans der fog. Itala unverändert in fein, fpäter Bul- 
gata genanntes Bibelwerk herübernahm, bie Zufäge zu Eſther ziemlich frei, 
bie zu Daniel wörtlich überfete, dagegen in Bearbeitung ber Bücher Judith 
und Tobit ſehr willturlich verfuhr. Bol. Fritzſche, Art.: Lateiniſche Bibel: 
Überfegungen in Herzog, Theol. Real-Enc. VIII, 446 (2. Auflage), und 
im „Exegetifhen Handbuch zu ben Apokryphen“ I, 74. 119. 175; I, 
12ff. 121 ff. 





Luthers Überfegung ber altteftamentlichen Apokryphen. 877 


fände *) ſich genötigt, bie ſchwierige Dolmetſchung ber übrigen 
Propheten auf gelegenere Zeit zu verfchieben. Um aber bie Über 
fegungsarbeit nicht ganz ruhen zu Laffen, nahm er in ber ihm im 
Frühjahr 1529 verbleibenden Muße, während er an Schwindel, 
Bruſtkatarrh und Heiferkeit litt, da8 Bud der Weisheit vor, 
zunächft wohl, wie ich glaube, um in demfelben an bie Feinde des 
Evangeliums unter den weltlichen und geiftlichen Machthabern eine 
energiſche Mahnung und Warnung zu richten. Wenigftens führen 
hierauf feine Worte in der Vorrede: „Sonderlich ſollen es (das 
Buch der Weisheit) Tefen bie großen Hanfen, fo wider ihre Unter⸗ 
thanen toben und wider die Unfchuldigen um Gottes Wort willen 
wüten. Denn diefelbigen fpridt er an im 6. Kapitel und befennt, 
daß dies Buch an fie fei gefchrieben, da er ſpricht, euch Tyrannen 
gelten meine Reben. Und fehr fein zeuget er, daß die weltlichen 
Oberherrn ihre Gewalt von Gott haben und Gottes Amtleute 
feim. Aber dreuet ihnen, daß fie ſolchs göttlichen befohlen Amts 
brauchen. Darnm Kommt biefes Buch nicht uneben zu unfer Zeit 
an den Tag, dieweil igt auch die Thrannen getroft ihre Oberfeit 
mißbrauchen wider den, von dem fie ſolche Oberfeit haben. Und 
leben doch wohl fo jhändlich in ihrer Abgötterei und unchriſtlicher 
Heiligkeit als hie Philo (dem Luther für dem Verfaffer des Buches 
hielt) die Römer und Heiden in ihrer Abgötterei befchreibet, daß 
fichs allenthalben wohl reimet auf unfere igige Zeit.“ Daher gab 
er dem Buche die Auffchrift „Die Weisheit Salomonis: an bie 
Tyrannen“. Nachdem Melanchthon nad feiner Ruückkehr von 
Speier die Arbeit durchgefehen und verbeffert Hatte, erfchien diefelbe 
wahrſcheinlich im Juni 1529). Bei nohmaliger Revifion der- 
felben brachte Luther mancherlei Veränderungen an, bie aber nicht 
alle als Berbefferungen gelten Lönnen. In dieſer zweiten Be— 
arbeitung ward das Buch in die in der erften vollftändigen Bibel 
vom Jahre 1534 erjchienene Sammlung der Apofryphen aufs 
jenommen. Wenn Luther in der Vorrede bemerkt, „er habe das 
Buch der Weisheit mit Hilfe feiner guten Fremde aus dem fin- 


2) Bel. Schott a. a. O., ©. bö f. 
2) Säott a. a. D, ©. 57. 


38 Grimm 


fteren Lateinisch und Griechiſch in das deutſche Licht gebracht“ 1), 
fo wiffen wir nach dem Obigen, daß er damit nur fagen kann, 
er habe auch das Lateinische zurate gezogen und benugt. Den 
die lateiniſche Verfion enthält in 1,15; 2, 8.11; 9,19; 10,1; 
11, 5. 8; 17, 1 Zufäge von verfchiedenem kritiſchen Wert; aber 
feinen berfelben bat Luther aufgenommen und überfegt. Auch hat 
er auf das Buch der Weisheit diefelbe Gewifienhaftigkeit und 
Sorgfalt verwandt, wie auf bie kanoniſchen Schriften, wenn er 
auch wie bei biefen manches verfehlte. Ich Hebe nur drei Bei: 
fpiele aus. Die Mahnung Ygorjeare negd Tod xuglov & 
ayagdene 1, 1 überfeßte er in der erften Ausgabe: „Verfehet 
euch alles Cuts vom Herrn“, in der zweiten: „Denket, daß der 
Herr Helfen kann“. Er mochte wohl fo erklären: „in Betreff des 
Heren benfet an (deffen helfende) Güte“. Die Revifionstommiffion 
(wie ich der Kürze halber die zur Reviſion der Lutherbibel beru⸗ 
fene Konferenz von Theologen nennen will) Hat geändert: „Denkt 
dem Herrn nah in frommem Sinn“. Aber richtiger würde zu 
fagen fein: „in reinem Sinn“; denn der Gedanke des Schrift- 
ftellers ift, daß zur Erforfhung und Erkenntnis des Göttligen 
ſittliche Reinheit erforderlich fei (vgl. mein exeget. Handbuch zu 
der Stelle). Den folgenden Sag: &v anddrıuı xagdiag Lı- 
ifoare adıdv hatte er erft richtig überfegt: „Suchet ihn mit 
einfältigem Herzen“, nachher falſch: „Suchet ihn mit Ernſt“ 2). 
Die Revifionstommiffion hat hier die frühere Lesart wieder her⸗ 
geftellt. In 16, 3 Tieß er ſich durch die falſche Lesart: „der 


4) Der Abſchuitt der Vorrede, aus dem wir Vorftehendes entnehmen, findet 
fid) nur in der Separatausgabe des Buches vom Jahre 1529, abgebrudt in 
der Erlanger Ausgabe von Luthers Werken LXIII, 93. In der vollftändigen 
Bibel von 1534 und ihren Nachfolgerinnen Heß ihn Luther weg. Daher hat 
ihn auch Bindfeil in feiner Ausgabe der Originalbibel vom Jahre 1545 
weggelaffen, ohne etwas über deſſen früheres Borhandenfein zu bemerfen. 

2) Zu beiden Änderungen ließ er ſich wohl duch den auf bie Zeitverhält« 
niffe fid) beziehenden Ste verleiten, den er bei Veröffentlichung der Über 
fegung biefes Buches verfolgte (vgl. das oben aus der Borrebe Bitgeteilte). 
Den erften Sat feheint er fo gefaßt zu haben: „daß er den von Gud Be 
drängten Helfen Tann“. 


Luthert Überfegung der altteſtamenilichen Apolryphen. 59 


1deioav“ in der Aldina (au Compl. und bedeutende Sands 
föriften) und das „propter ea, quae illis ostensa et misse 
sunt“ in der Vulgata zu der konfuſen Überfegung verleiten: „Auf 
daß die, fo nach folder Speife Lüftern waren, durch ſolche dar⸗ 
gegebene und zugejchicte Wachteln Terneten auch der natürlichen 
Nothdurft abbrechen, die Anderen aber, fo eine Meine Zeit Mangel 
ften, einer nenen Speife mit genoffen.“ Er verlannte alſo ben 
Gegenſatz von Exeivos av (die Ägypter) und odsos da (die Juden), 
indem er exeivos auf die Juden bezog und daher zwei N lafien 
derfelben unterfchied. Und um nun dem erften Sag einen auf 
Juden paſſenden Sinn zu geben, verftand er das „Zugeſchicte“ 
von den ihnen befcherten Wachteln. In der revibierten Bibel 
foll der Vers alfo lauten: „Auf daß jene, fo fie nach Speife 
lüftern waren, wegen des fcheußfichen Anſehens ber zugefchidten 
Tiere ſich auch von der motwenbigen Nahrung abwandten, biefe 
aber, fo fie eine Heine Zeit Mangel Titten, einer neuen Speife 
genoffen.“ 





Nachdem Luther die Überfegung der Propheten und damit bie 
der fämtlichen kanoniſchen Bücher volfendet hatte, verbentfchte er 
feit dem Herbſt des Jahres 1583 und im Jahre 1534 die noch 
teftierenden Apolryphen und zwar zuerft ben Jeſus Sirach, 
deffen erfte Ausgabe zu Wittenberg 1533 in Mein Oftav mit 
Randgloſſen erſchien. Luthers Strap tft feiner Art ein Mufter 
war nicht treuer Überfegung, wohl aber freier Bearbeitung 2). 
Zu der Freiheit, die er ſich Hier nahm, fühlte er fich berechtigt 
durch die (mach ihrer beziehungswelſen Nichtigkeit für nicht zu 
unterfuchende) Überzeugung, daß der überlieferte Text zu entſetzlich 
verderbt fei®), dann aber auch wohl durch ben Zweed des Buchs 


1) Vgl. meine Abhandlung: „Zur Charalteriſtit der Lutherſchen Überfegung 
det Buches Jeſus Sirach“ im der Zeitſchr. f. wiſſenſchaftliche Theologie 1872, 
4. Heft, aus der ich im Folgenden, wit Hlnzufügung einiger Ergänzungen, 
das Nötigfe auhebr. . 

2) Ex bemerkt im ber Vorrede: „Es find fo viel Kluglinge in allen 


8 Grimm 


als eines müglichen Buchs für den „gemeinen Mann“, „wie er 
fi gegen Gott, Gottes Wort, Priefter, Eltern, Weib, Kinder, 
eigen Leib, echte, Güter, Nachbarn, Freunde, Feinde, Obrigkeit 
und jederman halten ſoll“. — In der Vorrede klagt Luther über 
die fehwere Arbeit, welche ihm diefes Buch gemacht 1); er iſt abır 
auch des Wertes feiner Arbeit bewußt und giebt ihr den Vorzug 
nit nur vor allen bis damals erfchienenen Verdeutſchungen, 
fondern auch vor dem griechifchen und lateiniſchen Texte, 

Bor allem tft dankbar anzuerkennen und beweift Luthers 
feitifchen Blick, daß er dem Abfchnitt, der im Griechiſchen Kap. 33, 
12; 34, 1 — 36, 168 umfaßt, feine in der Vulgata, wie auf 
beim Sprer, Araber und in der Komplutenfis erhaltene urfprüng 
liche und allein richtige Stellung nad) Kap. 30, 24 des Griechiſchen 
(bei Luther 30, 26) zurlicgegeben hat ?). 

Im Sirachbuche ift die Vulgata fehr reich an Zufägen. Doc; hat 
Luther nur diejenigen des erften Kapitels vollftändig aufgenommen, 
nämlich in 88. 5. 14. 15. 16 (hier von den Worten an: „und 
wohnet allein bei den ausermählten Weibern); 38. 17—19. 26f. 
Im Kap. 1, 2f. überfegt er nicht die Futura des Griechiſchen ris 
EEagıduncsı, vis SEiyvscioes, fondern die Präterita der Vulgata 
quis dinumeravit? quis investigavit? wer bat zuvor gedacht? 
wer Hat zuvor gemefjen? mit willfüclicher Einfegung des „zuvor“, 
wodurch aber, wie ih glaube, der Gedanke ungleich bedeutender 
wird. — Bon Kapitel 2 an folgt er nur felten der lateiniſchen 
Überfegung. Einen intereffanten Fall von Kombination des 


Sprachen über dieß Buch kommen, daß nicht Wunder wäre, weil ohne das alle 
Ding drinnen von feinem Anfang nicht in der Orbnung gefaffet geweft find, 
daß es ganz unb gar unkenutlich, unverfländlih und aller Ding untüchtig 
worden wäre. Wir habens aber, wie einen zuriſſen, zertretten und zerſtrentten 
Brief wieder zufammengelefen und ben Kot abgewiſcht.“ 

1) Am 2. Rovbr. 1532 ſchrieb er an Amsbdorf: „Ego in Ecclesiastion 
vertendo totus sum. Spero, intra tres hebdomates liberari ab hoc 
pistrino.“ 

2) Den deutfehen Text citiere ich nach der Canſteinſchen Ausgabe, dem grir- 
chiſchen nach Fritzſches Apokryphen, den lateiniſchen nad; der Clementins 
von van Eß. 





Luthers Überſetzung der altteſtamentlichen Apokryphen. 881 


Griechiſchen und Lateiniſchen bietet die Stelle 25, 9—14 (griech. BE. 
7—10; fatein. 88. 9—12). Hier fündigt Sirach an, daß er 
zehn Tugenden und Erlebniſſe aufzählen werde; er nennt aber 
deren nur neun. Entweder hat ſich alſo der Schriftfteller vers 
Ahle, oder aber es ift ein Glied im Texte verloren gegangen. 
Auch die Vulgata Hat nur neun Glieder, aber ftatt des griechiſchen 
Hazdgiog, oc sögs yedımom bietet fie „„beatus, qui invenit 
amicam verum“ Um nun bie Zehnzahl herauszubelommen, 
nimmt Luther bie genannten Glieder beider Texte auf: „Wohl 
dem, ber einen treuen Freund hat! Wohl dem der Hug iſt!“ — 
gu 8,8; 9, 12; 19, 5; 24, 15 (griech. Be. 11); 24, 28 
(griech. Vs. 178); 32, 13 (griedh. 35, 9b) überſetzt er nad 
arten, welche die Vulgata und das Griechiſche der Kompluten⸗ 
ſis bei gleicher Abmweihung von der Aldina und den fpäteren 
tejipierten Text mit einander gemein Haben. In 48, 19 (griech. 
8. 17) überfegt er nicht das wunderliche #6» Tey der Aldina, 
fondern zö Ödwg in der Komplutenſis und Vulgata. Bolgende 
fieben Steffen überfegt er nad) fingufären Tomplutenfifchen Les⸗ 
arten: 19, 3; 21, 9. 27 (griech. Vs. 25); 23, 17 (geied. 
3. 13); 43, 17 (griech. Be. 16f.); Be. 25 (grieh. 236); 
46, 9 (grieh. 16, 3). Genauer habe ich diefe Stellen beſprochen 
in der „Zeitſchrift für wiſſenſchaftliche Theologie“ 1872, ©. 531. 
Daß aber gleichwohl mur die Wenebiger Ausgabe der Aldina die 
Hauptgrundfage ber Rutherifchen Überfegungsarbeit gebildet Haben 
lann, glaube ih a. a. O. ©. 529ff. erwieſen zu Haben ?), 

Zu den Freiheiten, die Luther fich erlaubte, gehören üftere 
Auslaffungen, von denen id nur drei namhaft machen will, 





1) Ein Eremplar ber 1522 veröffentlichten komplutenſiſchen Polyglotte hatte 
Kurfürft Friedrich der Weiſe aus Spanien zum Geſchenk erhalten. Im Jahre 
1548 wurde es mit der Turfürtlichen Schloßbibliothel von Wittenberg nach 
Jena gebracht, welche dafelbft den Grundftamm ber nachmaligen Univerfitäts- 
bibliothel bildet. Es muß alfo das Exemplar Luthern wohl zugebote ger 
Rauden haben. Dennoch bleibt deſſen Verhältnis zu diefer Bibelausgabe min« 
deſtens zweifelhaft. Vgl. meine Bemerkung in der „Zeitfhr. f. wiſſenſchaftl. 
Theologie” 1873, ©. 581. Im Luthers übrigen Apokryphen bin ich ſpezifiſch 
lomplutenſiſchen Lesarten nicht begegnet. 


>} Grimm 


zu denen für ihn guter Grund vorhanden war. Rämlid Kap. 12 
zwifchen den Sah dis 16 dya9u zul un) dvsshaßn zod anap- 
To4od (im griech. Vs. 7; in ber Vulgata weggelaſſen), weil 
Sirach diefe Ermahnung ſchon faft unmittelbar vorher, Vs. 4, 
gegeben Hatte, nur daß er bafelbft edoeßet ſtatt dyada ge 
brauchte. — In Kap. 41 zwiſchen 38. 17 und 18 läßt Luther 
fogar vier Glieder aus, von vopla dA xexguuusden bis voplar 
adrod (im Griech. 41, 14be bis Vs. 15ab) als wörtlide 
Wiederhofung von 20, 29. im Griechiſchen, bei Luther 20, 32f. — 
Zwei Vorderfäge, deren jeder einen ziemlich gleichlautenden Nad- 
fag hat, verbindet er im einen einzigen, um der zweimaligen 
Wiederholung desfelben Nachſatzes überhoben zu fein. — Ander⸗ 
feits macht er willkürliche Zufäge, nämlich 10, 22 (nach 10, 18 
des Griechiſchen): „ber Menfch ift nicht böfe geſchaffen“. 12, 13: 
„und von ihnen zerriffen wird“. Nacdrudsvoll, obſchon bem 
Griechiſchen fremd ift das fiebenmalige „fchäme dich“ in 12, 
23—29. 

Dreimal überfegt er nad) Konjektur; nämlich 33, 31 (griech. 
30, 40b os yuyr cov dmidenasig adrod): „denn dir bedarfft 
fein als deines eigenen Lebens“, alfo nad der von dem meiſten 
Späteren befolgten Konjeltur s Yuxijs vov. — 36, 23 (griech. 
Vs. 26) überfegt er ndvre Agdeva Enıdeferas yurı) falih: 
„die Mütter Haben alle Söhne lieb“, und weiß diefe Überfegung 
nur dadurch zu fihern, daß er im folgenden Gliede Zar de 
Yvyarne Ivyargös xosloowv fehr kühn ftatt Fuyargos als 
vermeintlich richtige Lesart viod konjizierte: „und doch gerät bis 
weilen eine Tochter befjer als der Sohn“. — In 42, 2 (ad 
im grieh. Texte) verftand er dixamdons dep nicht und über 
fest daher, al8 wenn edoeßi zu leſen wäre ftatt daefn. 

Um Verfehlungen und Quid-pro-quo’8 zu übergehen, hebe ih 
als Beifpiel abfihtlih freier Wiedergabe des Griechiſchen 
nur folgende aus, durch welche er wahrſcheinlich den Gedanten des 
Schriftftellers zu verbeffern ſucht. So 41, 20—22 (grieh. 
38. 17—198), wo er die Perfonen, vor denen ſich zu ſchämen 
Sirach ermahnt, zu Subjekten der Pflicht, fich zu fchämen, 
macht. — Statt 43, 19 (gried. Vs. 17ed) wörtlich zu über 





Luthers Uberſetzung ber alttelamentlichen Apokryphen. 888 


fegen: „Wie herabfliegende Vögel ſtreuet er Schnee, und wie ſich 
niederlaſſende Heufchreden fein Ball“, giebt er dem Gedanken 
folgende ohne Zweifel viel ſchönere Wendung: „Und wie bie Vögel 
füegen, fo wenden ſich die Winde und wehen den Schnee durch⸗ 
einander, daß er fi au Haufe wirft, als wenn ſich bie Heuſchrecken 
nieder thun.“ — Kap. 40, 18 (auch im Griech.) wiirde im mög⸗ 
fihften Anschluß an das Griechiſche zu überfegen fein: „Eines 
Genügfamen und Arbeiters eben iſt füß und doch über beides ift 
der, welcher einen Schag findet.“ Diefen auf das Irdiſche ger 
tigteten befehränften Sinn des judiſchen Weifen veredelt er dur 
die ſchöne freie Überfegung: „Wer fi mit feiner Arbeit nähret 
und läßts ihm genügen, der Bat ein fein ruhiges Leben. Das 
heißt einen Schag über alle Schäge finden.“ Schon der Alt- 
lateiner hielt Hier eine Verbeſſerung des Sinnes für geboten: „et 
in ea (d. h. vita sibi sufficientis operarii) invenies thesau- 
rum“. — In zwei Stellen fucht Luther durch freie Überfegung 
das Delorum zu wahren: Kap. 26, 15 (gr. Vs. 124) würde 
wörtlich fo zu Überfegen fein: „Sie (das wollüftige Weib) öffnet 
jedem Pfeife den Köcher.“ Luther: „Sie nimmt an was ihr 
werden Bann.“ ap. 47, 21 (gr. 38. 19) überfegt er in einer 
Anrede an König Salomo: „Dein Herz hing fih an Weiber und 
fiegeft dich fie bethören“ ftatt wörtlich: „Du legteft deine Weichen 
an die Weiber und gabft dich in (ihre) Gewalt mit deinem 
Libe,- — In drei Stellen giebt er Guomen in Reimen: „So 
gehet 8 dem auch, der ſich am die Gottlofen hänget und ſich 
in ihre Sünden menget“, 12, 13. „The nichts ohne Rat, 
fo gereut's dich nicht nad der That“, 32, 24 (gr. 35, 19). 
„Geld und Gut machet Mut; 40, 26 (aud im Griech.). Eine 
Banonomafte bringt er an in 18, 5: „wehren noch mehren“, wo 
8 nach dem Griechifchen Heißen müßte: „mindern noch bins 
zuthun“. 

Wahrſcheinlich um dem chriſtlichen Bedurfnis beſſer zu ent 
ſprechen, gebraucht er häufig den Ausdruck Gottes Wort, wo 
die Tertvorlage etwas anderes Hat. So fr vonos in 9, 22 
(w. 38. 15), 15, 1; 32, 19 (ge. 35, 15) und Be. 28 
(gr. 23); 35 (gr. 36), 2; für sople in 4, 15 (gr. 88. 14); 


834 Grimm 


34, 8 (gr. 31, 8); für dadıjem Heod 11, 20 (gr. BE. 18); 
für defmmoıs Isle 6, 35 (gr. BE. 34). Die Redensart xera- 
onsöderv ant va zginara advod (d. i. 9600) zu Gottes Ge 
boten eifen, d. 5. ihre Kenntnis und Befolgung ſich eifrigft an 
gelegen fein laſſen, überfegt er „fleißig Gottes Wort hören“, 
18, 14 (gr. 88. 13°), 

Bekanntlich, liebt es Luther, da wo die Sache es mit fih 
bringt, wo e8 fi um Unebles und Gemeines Handelt, ftarfer und 
maffiver Ausdrücke der Vollsſprache ſich zu bedienen *). Aber in 
keinem Buche hat er es Häufiger gethan, ala im Sirach, wo er 
Dinge des gemeinen Lebens befpricht. Das Außerordentlichfte in 
diefer Beziehung leiftet er in Kap. 31, 12f. (griech. 34, 12): „Wenn 


du bei eines reichen Mannes Tiſch figeft, fo fperre deinen Rachen , 


nicht auf, und denke nicht: Hier iſt viel zu freſſen.“ — Vs. 19 
(gr. 38. 20): „ig wie ein Menſch was dir vorgefegt ift und 
feiß nicht zu fehr“. Kap. 37, 32—34 (gr. 38. 29): „Friß 
nicht zu gierig, denn viel freffen macht Trank und ein unfättiger 
Fras kriegt das Grimmen. Viele haben ſich zu Tod gefrefien °)." 


Es erübrigt noch zu bemerken, daß Luther auch den Prolog 


des griechifchen Überſetzers des Sirachsbuchs mit verbeutjchte. Da 
derfelbe in den fpäteren Oftav» Ausgaben der Tutherifchen Bibel 
weggelaffen wurde €) und demzufolge vielen unferer Leſer nicht zur 


1) Mit berfelben Freiheit fegt er Gottes Wort für »owos 2 Macc. 
2, 21; für 9eloug vonous, 2Macc. 4, 17; Aöyor dyasol (tröftende Worte) 
2Macc. 15, 11; für BupAla äyın, 1Macc. 12, 9; für via veritatis, Tob. 
1, 2; für timere deum 1, 10; monita salutis 1, 15; Gottes Wort und 
Strafe für zefpara: dixam, Sufanna, 8. 9. Solcher Freifeit im Gebranche 
des Ausdrudes Wort Gottes bedient fid Luther im Kanon nur Micha 6, 8; 
7, 11. Hofea 4, 1. 6. 

2) Ausführlich behandelt diefen Punkt Wegel, Die Sprache Luthers in 
feiner Bibelüberfegung (Stuttgart 1859), ©. 31ff. 

3) Ausführlicheres |. im meiner Abh. in dev Zeitſchr. f. wiffenfchaftl. 
Theologie 1872, ©. BBBf. 

4) Aus den genauen Nachrichten, welde Herr Paſtor Karl Bertheau 
in Hamburg nad) forgfältiger Einfiht in die reiche Sammlung Intherifcher 
Bibeln in der Hamburger Stabtbibliothel auf meine Bitte mir gütigft hat 
zugehen laſſen, glaube ich mit ziemlicher Sicherheit annehmen zu bürfen, dab 
fünntfiche Foiobibeln von 1534 an bis zur Testen Auflage ber Kurflärkbibel 


Luthers Überſetzung ber altteſtamenilichen Apokryphen. 885 


Hand fein wird oder nicht zugebote fteht, bderfelbe aber in bie 
tevidierte Bibel wieder aufgenommen werden fol, fo teile ich ihn 
bier mit, indem ich die von der Reviſionskommiſſion in ihm bes 
ſchloſſenen Änderungen durch gefperrten Drud bemerkbar made, 
darunter zur Vergleichung Luthers eigene Lesarten fege. Luther 
hat ihn in vier Abfäge geteilt. Diefelben follen in ber revi⸗ 
dierten Bibel mit der Stier ſchen Versabteilung in der Art vers 
bunden werden, daß der Anfang eines jeden Abſatzes durch einen 
fetten Anfangsbuchftaben bezeichnet wird. 

386. 1. Bieles und Großes iſt uns gegeben durch 
das Gefeg und die Propheten und die anderen‘), fo 
denfelbigen nachgefolget, daher man muß Israel billig loben um 
ſolche ) Weisheit und Lehre, 

88. 2. Darum follen nicht allein die, fo es Haben und leſen, 
beije daraus werden, ſondern au denen in der Fremde ®) 
dienen mit Lehren und Schreiben. 





vom Jahre 1768 (und auch wohl die Quartbibeln, mit Ausnahme ber Fan- 
Reichen) neben Luthers Vorreden zu den einzelnen bibliſchen Büchern aud die 
Überfegung des Prologe zum Bude Sirach enthalten. Die Angabe der Er- 
langer Ausgabe der Werte Luthers, Bo. LXII, ©. 102, daß bie Sirachvor - 
ide erft in der Ausgabe von 1545 entfalten fei, iR faljch, wie ich aus Wer- 
gleihung ber auf ber jenaiſchen Univerfitätsbibliothet befindlichen Ausgaben 
don 1534 und 1586 fonftatieren kann. Aber auch viele Oftavbibeln, wie 
die Minebieger von 1686, 1659, 1690, 1693, 1707, bie Wittenberger von 
1664, 1702, die Leipziger von 1704, 1710, 1738; die Stuttgarter im Pfaffichen _ 
Vibelwerke enthalten genanute Vorreden. Folgende Ausgaben Haben nur bie 
Giraborrede.: Frankfurt a. M. 1582, 1602, Straßburg 1596, Hamburg 
1690, 1708, Stuttgart 1704. Beide Vorreden fehlen in ben Ausgaben von 
Straßburg 1587, Nürnberg 1688, Baſel 1698, Stade 1703. Seit dem 
dritten Jahrzehent des 18. Jahrhunderts feinen fie in allen Oftavbibeln weg« 
gefallen zu fein. — Bon den Züriher Bibeln fanden mic zu Vergleichung 
dugebote nur bie erſte vollftändige Ausgabe von 1580 in Oktav, desgleichen 
die von 1828 und bie zuletzt durchgreifend vevibierte von 1868. Nur Ietere 
enthält die Sirachvorrede. 

1) uther: „Es haben uns viel und große Lente bie Weisheit ans dem 
Geſetz, Propheten und anderen — — dargethan“, nad; der Bulgata: „mul- 
torum nobis et magnorum per legem — — sapientia demonstrata est“. 

2) Luther: „ihre“. 

®) Luther: „andere mehr”. 


386 Grimm 


28. 3. So hat mein Großvater Jeſus, nachdem er fih 
fonderlich befleißiget zu Iefen das Geſetz, die Propheten und die 
anderen Bücher, fo und von unferen Vätern gelafjen find, 


und ſich wohl darinnen gelobt Hatte, fi vorgenommen?) | 


and etwas zu fehreiben von Weisheit und guten Sitten, 
8. 4. auf daß die, fo gerne lernen und klug werben wollten, 
defto verftändiger und gefchicter witrden, ein gut Leben zu führen. 
28. 5. Darum bitte ih, ihr wollet es freundlich annehmen 


und mit Fleiß Tefen und uns zu gut halten, fo wir etwa in | 


einigen Worten gefehlt haben, obwohl wir alten Fleiß 
gethan Haben, recht zu dolmetſchen ?). 

38. 6. Denn was in ebräifcher Sprache gefchrieben ift, ia 
lautet nicht fo wohl, wenn man's bringet In eine andere Sprache 

38. 7. Richt allein diefes mein Buch, fondern and das 
Oefeg felber und die Propheten und die Abrigen‘) 
Bücher lauten gar viel anders, werm fie in ihrer eigenen‘) 
Sprache gerebet werben. 

28. 8. Als ich nun in Ägypten kam im achtundbreißigften 
Jahre des Königs Ptolemäus Energetes und drinnen‘) 
blieb, gewann ih Raum viel Guts zu leſen und zu ſchreiben. 

38. 9. Darum fehe ich's für gut und not an, daß ich den 
Fleiß und die Mühe darauf legete und dies Buch verdolmetjſchte. 

38. 10. Und wie viel ich Zeit hatte, arbeitete ich und Fehrete 
Fleiß an, daß ic dies Buch fertig machte ) und an Xu 
brächte, auf daß aud die in der Fremde”), fo lernen wollen, 
ſich zu guten Sitten gewöhnen, anf daß fte nach dem Gefege deb 
Herrn leben mögen. 


2) Luther: „Mein Großvater — — nahm er vor“. 
9) Luther: „ob wir nicht fo wohl reden Fönnen, als die berllhmten Redner“. 
3) Luther: „des Geſetzes, der Propheten und anderer“. 
4) Luther: „unter ihrer“. 
sh 5) Luther: „zur Zeit des Königs Ptofemäi Euergetis und ſein Leben laug 
innen“. 
6) Luther: „ausmacht“. 
7) Luther: „die Fremden“. 





Luthers Überjegung ber aliteſtämentlichen Apokcyphen. 887 


Das erfte Buch der Makkab äer erſchien zuerft 1533 zu 
Wittenberg in zwei Einzelausgaben unter dem Titel: „Das Buch 
don den Maccabeern, darin dns Furbilde des Endehrifts, Antiochus, 
beſchtieben iſt.“ Der einen diefes Ausgaben ift beigefügt „Die 
Hifterie von des Suſanna und Daniel“ und „Vom Bel und 
Drachen zu Babel“. — Im erften Maccabäerbuch iſt Luther 
ſeht Häufig der Vulgata gefolgt. So gleih zu Anfang, wo er 
zu „Alexander“ als zweite Uppofition beifügt „der erfte Monarch 
as Grucia“ und fo die Schwierigkeit glücklich umgeht, welche im 
Griechiſchen mmodreoos oder rgdregov verurſacht. — Kap. 2, 1: 
‚auf dem Berge Moden“, Bulg.: in monte Modin, griech. &v 
Mudev, — 2, 9 Täßt er in Übereinftimmung mit der Bug. 
des griech. drsexecdvgn sa vie adrijs unüberfegt. — 2, 15: 
tt opfern und zw räuchern“, Vulg. immolare et accendere 
thura, griech. blog va Ivoıdawaı, — 2, 16: „bleiben bes 
ſtandig“, Vulg. constanter steterunt, was als pafjenderer Gegen. 
fag erſchien als das griechiſche auıiiggnsar. — 3, 6: „feine 
deinde“, inimiei ejus, griech. ol dvonos. — Rap. 9, 1 ftellt 
Luther nach Vorgang der Vulg. (interea) am die Spike des 
Soges „mitklerzeit“, zum Vortell des geſchichtlichen Verſtänd⸗ 
niſſes. — Rap. 16, 10: „Da verbrannte Johannes bdiefelbigen 
deſtungen“, nad; dem lateiniſchen eas,' auf turres bezogen. Aber 
nach dem Griechiſchen verbrannte er die Stadt, sm. Val. 
meinen Kommentat zu d. St. — Außerdem vergleiche man 
2, 325.; 3, 15; 7, 41; 8, 17; 9, 88; 50; 16, 10. Mehrere 
Formen von Eigennamen entwimmt er dem Lateinifhen, nämlich 
Laiſa 9, 15; Bethbeſen 9, 62. 64; Odaren 9, 66. Bei der 
großen Freiheit, die er in Behandlung diefer Bücher fich geflattete, 
lam e8 oft zweifelhaft fein, welchem der Beiden Texte er folgte. 
Aber an vielen Stellen iſt es fonnenflar, daß das Griechiſche der 
Aldina tum als Vorlage diente. So z. B. 9, 40: „Jonathan 
und Simeon“, griech. od mregd Iovdday, während ber Lateiner 
feine Subjette namhaft macht. — Kap. 13, 20 Tann „war Ihm 
ſtets zur Seite“ nur Überfegung von dvssmagiyev ads fein; 
Valg. ambulabant. Rap. 13, 29 überſetzt Luther mavondie 
wie Weish. 5, 18. Eph. 6, 11 u. 13 mit Harniſch, während 


838 Grimm 


Bulg. arma hat. Vol. außerdem 3, 48; 4, 15; 5, 3; 7, 2; 
9, 48; 11, 63; 15, 22f.; 39; 16, 4. 

Als Beiſpiele von zum Teil ungemein freier Überfegung oder 
Baraphrafe find Hervorzugeben: 1, 16. (Über 1, 38. ſ. unten) 
2, 6f. 35. 49; 3, 43—48. 51. 55; 4, 3; 5, 38. 45—48; 
6, 57; 8, 9; 10, 78; 11, 12. 18; 9, 11. 66; 11, 58; 
12, 42. In 14, 9 überfegt Luther: „Die Ülteften faßen im 
Regiment unverhindert und hielten gute Ordnung, und bie Bürger 
befferten fi fehe am ihrer Nahrung und fchafften Waffen und 
Borrat zum Kriege“, während es textgemäßer heißen müßte: 
„Die Alten foßen auf den Gaffen und redeten mit einander von 
des Landes Beftem, und die Yüngeren Meideten ſich mit Ehren 
und Kriegsräftung.* Es iſt nicht zu verkennen, daß hier Luther 
ein angemefjeneres und genaueres Bild des von boransgegangenen 
Drangfalen befreiten Landes giebt, als der Sthriftfteller. Damit 
hängt zuſammen Vs. 12: „Und ein jeber befag feinen Weinberg 
und feinen Garten" ftatt des wörtlichen: „ſaß unter feinem Wein⸗ 
fto und unter feinem Feigenbaum“, Vs. 12. — Während er 
fonft Hn und xad Zyevero überall überfegt: „und es begab fi“ 
ober „und es geſchah“, Täßt er es in unſerem Buche unüberjegt: 
1,15 5,15 6, 8; 7, 2; 9, 23; 10, 38%). — Ex feßt bie 
direlte Rede in indirelte um: 5, 17. 19. 82. 42. 48; 7, 3; 10, 
34, 55. 56 (hier fogar den Inhalt eines Briefs); 63; 11, 9—11. 
55. 57. (Cbenfo 2Mace. 9, 4; 14, 9; 15, 2, und umgefehrt 
die indirekte in direkte 2 Mac. 3, 10—12). — Wo er. glaubt, 
daß es der Logifchen Ordnung befier entfpredhe, ftellt er Säge um: 
5, 11; 6, 49; 7, 42; 10, 80. 84; 12, 28. — Im Intereſſe 
der hiſtoriſcheu Wahrheit lieſt er Kap. 8, 8: „Jonien umd 
Afien“ ftatt des textuellen „Ondien und Medien“. Er ver 
ſchmilzt mit ber Überfegung feine Auslegung. So 3, 45: „Das 
Heiligtum war entweiht mit dem Gößen, der darin geftellet war“ 


1) Dasfelbe gilt von dem dem genannten hebräiſchen Ausbrud im Sinne 
gleichfommenden, im 2. Macc-Buch fehr häufigen ovseßn (vgl. meinen Rom- 
mentar zu 8, 2). Nur 10, 5 umfchreibt er ihm fehr paſſend mit: „Und Gott 
ſchidte es affo”. J 


Luthers Überfegung der altteſtamentlichen Apotrypheu. 889 


(vgl. mit 4, 43) nad der älteren Meinung, daß Antiochus IV. 
eine Statue des olympifchen Jupiter im Tempel habe aufftellen 
Tafjen. — 11, 8: „unterftand fich Alexander zu vertreiben“ ftatt 
„er ſann gegen Alerander böfe Anfchläge*. Vs. 60 „Euphrat“ 
ftatt „Buß“ — 16, 1: „zeigte ihm an, daß Cendebäus ihnen ins 
Land gefallen wäre und hätte Schaden gethan“ ftatt „was Cendebäus 
vollbracht“. Das Üußerfte in diefer Beziehung leiftet er 1, 38 
(grieh. 36), wo er die fehr anſchauliche Vorftellung, die er fi 
von der dafelbft erzäplten Sache macht, in Form von folgender 
Überfegung mitteilt: „Und belagerten da das Heiligtum und lauerten 
auf die Leute, die in den Tempel gingen und fielen heraus aus 
der Burg in das Heiligtum, den Gottesdienft zu wehren“ ftatt 
des tertgemäßen: „und ward im Hinterhalt gegen das Heiligtum 
und ein böfer Widerſacher gegen Israel alle Zeit“. 

Nicht felten macht er Zufäge, wie 2, 56: (Caleb) „ftrafte 
das Boll“. — 6, 49: „darinnen man die Felder mußte feiern 
laſſen, und fie erlangten Geleit vom Könige, daß fie ſicher Heraus 
möchten gehen“. — 7, 2: „Hauptftadt“. Vs. 11: „aber es 
war eitel Betrug“. — 8, 5: „neulich“ und Vs. 7: „jährlich“. — 
9, 7: „zu tröften“, und Vs. 17: „da mußte ſich Judas gegen 
diefe ehren und wehrete ſich lange“. Vs. 55: „Gott frafte 
den Alcimus“. — 10, 38: „und Galilaa“. — 11, 67 zur 
Orientierung der Lefer: „des vorigen Demetrius Sohn“. — 
11, 42: „aber jegt bin ich in großer Gefahr“. — 13, 21: „ehe 
fih’8 Simon verfähe". 08.23 falſcher Einfag: ‚Juda“. Vs. 37: 
„die wir euch zuvor zu erlaffen zugefagt haben“. 

Größer als die Zahl der Einfchiebungen ift die der Auss 
laſſungen. Da, wie wir ſahen, Luther durch die Einfäge, fo wie 
durch freie Überfegung dem Verftändnis ber Leſer zuhilfe zu 
tommen fucht, fo Haben wir die Auslaffungen wohl nicht in 
Leichtſinn oder Eilfertigfeit, fondern in der ſehr wahrjcheinlichen 
Meinung zu fuchen, daß das Ausgelaffene zum Verftändnis des 
Erzälten nicht unbedingt nötig feit). Außer dem unten in der 


4) Schon ber 1720 als Generalfuperintendent von Bremen und Berden 
geftorbene, durch die Stader Bibeln um den Tert der Lutherbibel ſehr ver- 
Theol. Stad. Dahrs. 1888. 26 


5” 5 Grimm 


Anmerkung angeführten Stellen find zu bemerken: In 8, 8 iſt 
nad „Held“ ausgelaffen: „gürtete ſich mit Kriegswaffen, that 
Schlachten“ ). — Kap. 3, 37 verkürzt Luther; voliftändig muß 
es heißen: „und der König nahm die andere Hälfte feines Kriege- 
volles und zog aus von feiner Stadt“. — Kap. 4, 21 zu Ans 
fang ift einzufegen: „Da fie aber das fahen, murden fie ſehr 
verzagt.“ — Kap. 5, 7 muß es vollftändig lauten: „und fie 
wurden von ihm gefchlagen, und er ſchlug fie“. — 5, 28: „mit 
feinem Heere* nad „Zudas“. — 5, 54 übergeht Luther die ihm 
wahrſcheinlich unglaublich vorfommende Angabe, daß fein einziger 
Zube in dem erzählten Feldzuge umgelommen fe. — 6, 2 frei 
and verkurzend: „Der König ans Macedonien“ ftatt: „Der Mace- 
donier, welcher der erfte König der Griechen war“, 6, 37 
wird nad) „Turm“ in Luthers Sprache zu ergänzen fein: „fe auf 
feinem Rüden wit Kanft gegürtet war." — 6, 58: „Loft uns 
biefen Renten die Hand reihen und“. — Rap. 8, 7 überjekt 
Zuther den Satz Naßoy adrov Lüvre nicht, jedenfalls wegen 
deſſen Ungeſchichtlichteit. — 8, 15 übergeht er die falfche Angabe, 
daß der römifche Senat fid täglich verſammelt Habe. — 9, 5 
überjegt er &xAexrof nicht, wahrſcheinlich weil nach dem folgenden 
Verſe die Betreffenden diefes Prädilates fich nicht wurdig er- 
wiefen. — 9, 34: „am Sabbat“ und „über den Jordan“, zwei 
ſchwer zu rechtfertigende Auslaffungen. — 9, 45 am Schluß: „ımd 
& ift kein Raum zum Ausweichen“. — 10, 33: „ohne Der 
zahlung“ (dugsav) nach „frei fein". — 10, 35 am Schluß: 








diente Johann Diecmanı fand folgende Ergänzungen für nötig, bie nad- 
mals in die Canſteinſchen und meiften fpäteren Ausgaben aufgenommen wurden. 
Kap. 1, 68: „und e8 war ein großer Zorn über Israel”; 5, 52: „gegen 
Bethfan über“; 10, 49: „fi unter einander“; 18, 48: „und dankte und 
obere Gott“. Desgl. in 2Macc. 11, 18: „anf billige Mittel”. Die in 
2Macc. nad 8, 2 von Luther gelaffene größere Lüde (über diefefbe f. nuten) 
zu ergänzen nahm Diecmann Aufland, um den Vorwand eigenmächtiger 
Beränderung oder Interpolation ber deutſchen Kirchenbibel zu entgehen. Vgl. 
Palm a. a. D., ©. 398. 

2) Deine Überfegung de8 Ansgelaſſenen gebe ich in Worten and bem 
Spradjfchatg der Lutheriſchen Überjegung. 


Luthers Überfegung der altteſtamentlichen Apokryphen. 


„und fol niemand Macht Haben ihrer einen zu bedrängen und zu 
beſchweren vonwegen einiges Handels“. — 10, 42: „oder deſſen 
Zugehör“ (vgl. 11, 34) nad „Tempel“. — 11, 4: „und ihre 
Borftädte" nad „Stadt. — 11, 34: „fo von Judäa zu Sa- 
maria gethan find“ nad „Ramathä*. — 12, 53 „und eroberte 
es“ nah „Joppe“. — 13, 1 ift FIoose röν Auöv nicht 
überfegt. — 13, 51 verkürzt Luther „mit allerfei Saitenfpiel*, 
ftatt defjen es voliftändig lauten muß: „mit Zithern und Zymbeln 
und Lauten und Pfalmen und Liedern“. — 15, 1 und 14 ftarfe 
Verkürzung. — 15, 2: „und Zürften“ nad „Hohenpriefter“. — 
16, 3 „und ihr fteht durch Gottes Gnade in den beften Jahren“ 
(fehlt auch in der Vulgata) ?). 

Noch ift zu erwähnen, daß Luther 7, 45; 9, 52; 18, 54; 
14, 7. 34; 15, 28. 35; 16, 1. 19. 11 fuiſchüich Gaza ftatt 
Gazara oder Gazera gefegt Hat. — Au ift unferem Buche 
der fonft nirgends in der Bibel gebrauchte Ausdruck mittlerzeit 
eigentümlih: 6, 55; 9, 1. 675 11, 41; 12, 18; 13, 89; 
15, 25. — Zu bebauern ift, daß Luther das dem König Ans 
tlochus IV. erteilte Prabilat Zrupavıjs nach Vorgang der Vul- 
gata in 10, 1 (nobilis) mit Edler überfegt, da der gewöhnliche 
Leſer aus dem Vollke diefes Wort im ſittlichen Sinne ver 
ftehen und darum nicht begreifen wirb, wie man einem Könige, 
von dem fo große Granfamfeiten berichtet werden, diefes Prädikat 
habe erteilen Tönnen. Entweder war der griechiſche Ausdruck beie 
zubehalten (dies das Ratlichſte) oder der Erl auchte zu über 
fegen. 





Das zweite Buch der Maccabäer, die Bücher Tobias und 
Baruch, der Gefang der drei Männer und die Stüde in Eſther 
deinen nicht in Einzeldrucken (wenigſtens wird nirgends folder 
gedacht) erfchienen, fondern unmittelbar aus der Preſſe in bie erfte 





3) Die falfe Lesart maidas, Bırlg.: pueros (flattrrddas), in 8, 42 Bat 
Luther mit Recht unllberſetzt gelaffen. 
26* 


32 Grimm 


vollftändige Bibel vom Jahr 1534 aufgenommen zu fein‘). 
Das zweite Bud; der Maccabäer Hat Luther gerade fo bes 
handelt, wie das erfte, nur daß er die Vulgata ungleich feltener 
benugt. Derfelben gehören an: „bie mit ihm waren“ (qui cum 
eo erant) 1, 16. — „Den Ort“ (hunc locum, gried. zoüro, 
diefes Wafler) 38. 36 — „und fegte den Menelaus ab“ (et 
Menelaus remotus est a sacerdotio) 4, 29. — „Antiochien“ 
ftatt „Athen“ 6, 1. — „am fünften Tage“ ftatt „am fünf und 
zwanzigften“ 10, 35. — „Diostori“ ftatt „Xanthikus“ 11, 9. — 
„eine Stadt, die mit Brüden wohl bewahret und mit einer 
Mauer umfchlofjen war“ (eivitatem firmam moeris pontibusque 
circumseptam) 12, 13, wo Luther offenbar wegen der Unklar⸗ 
heit des griechiſchen Textes ben lateiniſchen vorzieht. — Belege 
dafür beizubringen, daß er ſonſt überall aus dem Griechiſchen 
überfegt, Halte ich für unnötig. Ich bemerke nur, daß das 1, 24 
von Gott gebrauchte Präbifat „Gefalbter“ Überjegung der aldinifchen 
Lesart xeoros ift ftatt genazds, Vulg. bonus. 

As Beifpiele ſehr freier Überfegung oder Umſchreibung find 
hervorzuheben: 2,29 (griech. Vs. 28); 3, 16; 4, 30. 37. 40; 
5, 10 (Hier paraphrafierende Briefe); 6, 23; 7, 2. 22; 9, 4. 
8. 11; 9, 28. 12. 15. — In 9, 28 überjegt er &v vols Ögeaıw 
„in ber Wildnis“, woburd das Tragiſche des Todes Antiochus’ IV. 
fchärfer gezeichnet wird. Nicht übel find folgende Zuſätze oder 
Einfhaltungen: „Diana“ 1, 14, mwodurd er den Lefer belehren 
will, welches Wefen unter Nanäa (oder wie er ſchrieb Nane 
38. 15) zu verftehen ſei; — „innge“ vor „König“ 4, 21. — 
„Wiewohl es ein ungleiher Zeug war“ 10, 28; — „und ftopfe 
die böfen Mäuler“ 14, 36. Unbefugt dagegen ift der Zujag: 
„die nicht befegt war“. — Anderwärts verfürzt er: 2, 32f. 
(grieh. 38. 31f.); 12, 39; oder erlaubt ſich Anslafjungen. So 
hätte er 1, 16 beginnen follen: „und öffnete die verborgene Thür 
der Dede". In 4, 13 überfegt er: „und das heidniſche Wefen 


2) Bol. Schott a. a. O., ©. 73f. — Ohne einen Beleg beizubringen, 
Täßt die Erlanger Ausgabe von Luthers Werken LXIII, 98, 103. 106f. bie 
genannten Apokryphen zuerft im Jahre 1588 erſcheinen. 


Luthers Überfegung der altteſtamentlichen Apokryphen. 8393 


nahm alfo überhand“, ftatt deffen es volfftänbig heißen müßte: 
„Und das Heidnifche Wefen nahm durch des gottlofen und Nichte 
Hohenprieſters Yafon alfo überhand“. — Von jeher hat man bie 
Auslaffung des längeren Abfchnittes 8, 33 —36 befremdlich und 
unerffärlich befunden 1). 

Die Revifionskommiſſion hat die Lucke in folgender Faſſung 
anszufüllen befchloffen. Vs. 33: „Sie feierten aber den Sieg 
daheim zu Serufalem und verbrannten den Kallifthenes und einige 
andere, welche die Heiligen Thore angezündet hatten und in ein 
Heines Haus geflohen waren, daß fie alfo den verdienten Lohn 
ihres gottlofen Weſens empfingen.” 

28. 34: „Der Erzböfewicht Nifanor aber, der die taufend 
Kaufleute mitgebracht Hatte, daß fie die Juden Kaufen follten“, 

38. 35: „wurde durch die Hilfe des Herrn von denen ger 
demütigt, die er für die allergeringften gehalten Hatte. Und nach⸗ 
dem er fein prächtiges Gewand abgelegt hatte, kam er ganz allein 
wie ein entlaufener Knecht mitten durchs Land nad Antiochien 
und war über die Maßen traurig, daß fein Heer zunichte geworden 
war.“ 

38. 36: „Und der ſich untermunden Hatte, er wollte von den 
Gefangenen Jeruſalems das Geld Töfen, das er den Römern 
jährlich zu bezahlen ſchuldig war, mußte verfündigen, daß Gott 
für die Juden ftreite, und dag die Juden darum unliberwind« 
lich feien, weil fie wandelten in den Geboten, die ihnen Gott ge⸗ 
geben hat.“ - 

Endlich Hat Luther in 9, 25 die Worte yeygaya da roös 


1) Solfte (mm eine nur ſchüchterne Vermutung auszufpredien) ber Grund 
der Auslaffung vieleicht in einem äſthetiſchen Interefje Luthers zu fuchen fein? 
Die Heine Erzählung macht nämlich den Eindrud, als müßte Nikanor mit der 
ſchimpflichen Flucht feine Rolle ausgefpielt Haben und aus der Geſchichte ver« 
ſchwunden fein. Num aber tritt er von Kap. 14, 12ff. vom neuem auf dem 
Schauplatz. Da mochte Luther das 8, 88 ff. Erzählte für eine das zwiſchen 
den Juden und Nilanor ſich abjpielende Drama ftörende Scene halten. Oder 
aber auch, er hielt es für unwahrſcheinlich, daß der Mann, ber durch bie 
ſchimpfliche Flucht das Anfehen des ſyriſchen Königtums fo ſchwer Tompro- 
mittiert Hatte, bald darauf wieder eine Hohe und einflußreiche Stellung erlangt 
habe. 


3 Grimm 


avsov za Unoysyganusva ficher mit Abficht ausgelaffen, weil 
der Erzähler den von Antiohus Epiphanes angeblich an feinen 
Sohn und Nachfolger gejchriebenen Brief nicht mit aufgenom⸗ 
men hat. 

Nicht unintereffant iſt es, wie Luther über die Aufgabe des 
Überfegers fi; Hinwegfegend als Kritiker verführt in 1, 7 und 
10. Um nämlich (griech. Vs. 9) die befannte in dem Datum 
„im Jahr 169“ (aer. Sel, = 143 vor Ehr.) liegende, gegen die 
Echtheit des Briefes (griech. 1, 1—9) entſcheidende chronologiſche 
Schwierigkeit zu befeitigen, ftellt er dasfelbe an den Anfang des 
zweiten Briefs in Vs. 10 und tilgt das an den Schluß von 
Vs. 9 gehörende Datum „im Jahr 188“ (— 124 vor Ehr.). 
Da mun aber unter dem Vs. 10 genannten Judas der Schrift 
ſteller ſicher Judas den Macrabäer verftanden Hat, der in ge 
nanntem Fahre nicht mehr Iebte, fo wandelt er den Namen in 
Zohannes um, indem er ohne Zweifel Johannes Hyrlanus 
verftanden wiffen wollte. — In 11, 33 und 38 modte er es 
(freifig mit Unrecht) für unwahrſcheinlich Halten, daß die Be. 27 
bis 33 und Vs. 34—38 erwähnten Urkunden an einem und dem 
jelben Tage ausgeftellt fein, daher ex das Datum von 11, 38 
als Zeitangabe zu 12, 1 zieht. 

Betannt ift Luthers Art, für bibliſche Münzen, Maße, Amter, 
Amtstitel, Gebräuche u. dgl. deutſche Bezeichnungen mehr oder 
weniger analogen oder auch fehr entfernt ähnlicher Objekte zu ger 
brauchen. Aus den Maccabäerbüchern gehören hierher: „Vogteien“ 
(auch von de Wette beibehalten) fir somagyeaı, 1 Marc. 10, 30 
(griech. 88. 28); „Ämter“ (— Amtsbezirke) 2 Macc. 3, 3; 
„ben Ball ſchlagen“ ftatt „den Diskus werfen" 4, 14; „einen 
Reichstag ausſchreiben“ 4, 21; „Malen“ (für Idgao) 10, 7; — 
„35000 Gülden“ ftatt „70000 Dramen“ 10, 20; „April“ für 
mxantifus“ 11, 30. — Hie und da in feiner Bibel nennt er die 
heidnifchen Tempel Kirchen), aber doch in feinem Buche fo 
Häufig als im 2. Macc. Buch, nämlih 1, 15; 6, 2 (zweimal); 


1) Ausführlich ‚handelt über diefes Wort Jütting, VBiblifches Wörterbuch 
zu — — Luthers Überfegung (Leipzig 1864), ©. 100f. 


Luthers Überfegung der altteftamentlichen Apokcyphen. 20 


9, 2; 10, 2; 14, 33 (wo Nifanor fagt: „Ih will diefes 
Gotteshaus fchleifen und dem Bacchus eine ſchöne Kirche an 
die Statt fegen.“ (Bol. auch Baruch 6, 42.) Vom Tempel in 
Serufalem gebraucht er den Ausdruck nur 2 Macc. 2, 9. 

In den Maccabäerbüchern ftimmen oft ganze Stellen ber 
Züricher Bibel vom Jahre 1828 mit der Lutheriſchen überein. 
Hierans ift aber nicht etwa zu fchließen, daß Luther jene Bibel, 
deren erfte vollftändige Ausgabe fehon 1530 erfchien, benußt habe. 
Denn biefe erfte Ausgabe bietet von Luther ganz Verfchiedenes. 
Die teifwelfe Übereinftimmung kann daher nur durch eine ber 
öfteren Reviftonen bewirkt worden fein, welche diefe Bibel unterzogen 
wurde und in denen man Luthers Bibel benutzte. 

Völlig unbegründet, weil auf einen Hiftorifchen Beweis geftigt, 
ift die Angabe des von hoher Bewunderung feines Lehrers Meland- 
thon erfüllten David Chyträus, daß bie Maccabäerblcher von 
Melanchthon überjegt fein, mie ſchon der Charakter ihres 
Deutſch beweife, welches reiner und verftändlicher fei, als das 
Lutheriſche 1). Alten wie Hätte im diefem Falle Suther auf dem 
Titel der Uransgabe des erften Buche (vom zweiten ift eine ſolche 
nicht befannt) als Überfeger ſich bezeichnen können? Im Kenntnis 
und Handhabung des Deutſchen aber iſt Luther bekanntlich von 
feinem feiner Zeitgenofjen übertroffen worden. Melanchthon „jchreibt 
fein fließende Deutſch. ebenfalls nimmt es ſich neben dem 
Luthers recht unbeholfen ans.“ %) Auch würde Melanchthon wohl 


1) Im Onomasticum (ed. Viteb. 1578) p. 486 (id) entlehne bie Aufüh- 
zung aus Schott a. a. O, ©. 71) fagt Ehyträus: „In germanicis bibliis 
duo primi tantum Maccabaeorum libri ex graeca in teutonicam linguam 
conversi sunt & Philippo Melanchthone. Quem versionis germanicae 
auctorem etiam oratio propria et purissima et multo simplicior et fa- 
cilior, quam in ceteris bibliorum lihris demonstrat.“ Diefe Behauptung 
iR von Martin Mylius (Chronographia scriptorum Mel. ad ann. 1529), 
Strobel (Melanchthons Berbienfte um bie Beil. Schrift, Altdorf 1773, ©. 19) 
und anderen nachgeſprochen worden, von Palmer (a. a. O., S. 289), Ban- 
3er (a. aD, ©. 248), Schott (a. a. D, ©. 71), Matthes (Phitipp 
Melanchthon [Altenb. 1846], &. 58) mit Recht zuräichgerviefen. 

2) Adolf Pland, Melanchthon (Nördlingen 1860), &. 100. 


8% Grimm 


ſchwerlich fo viele Freiheiten in der Verdeutſchung ſich geftattet 
haben wie Luther. 





Ganz denfelben Erfheinungen, in Freiheit der Überfegung, um- 
fhreibungen, Erweiterungen und Verfürzungen, Ausfaffungen und 
Zufägen, einzelnen kritiſchen Verbefferungen des Inhalts der 
bibfifen Texte, wie in Sirach und den Maccabäerbühern ber 
gegnen wir auch in dem übrigen Apofryphen. Da diefe von ger 
tingerer Wichtigkeit find, fo befchränfe ich mich auf einzelnes 
Charafteriftifche. Wie ſchon bemerkt ward, Hat Luther die Bücher 
Judith‘) und Tobtä aus der Vulgata überſetzt. Doch hat er 
es auch nicht an einzelnen Blicken in den griechifchen Text fehlen 
laffen. Dies ergiebt fih aus den Namensformen Hydafpes 
(Zulg. Jaduson), Arioch (Vulg. Erioch) — beides in Judith 
1,6 —, Bagoa (Bulg. Vagao) 12, 11; ferner aus der dem 
Sinne fehr angemeffenen Überfegung „was er (Gott) vor Hat“ 
(& EßovAsdoaro; Bulg. quae cogitavi), 12, 4; endlich aus 
16, 19 (griech. Vs. 16): „Denn alles Opfer und Wett ift viel 
zu gering vor dir, aber den Herren fürchten ift fehr groß“, welchen 
Gedanfen die Vulg. übergangen hat. — Das Wort Box (Bulg. 
abra), Lieblingsſtlavin, Zofe, Hielt Luther für einen Eigen» 
namen (worin ihm Stier in feiner verbefjerten Lutherbibel ges 
folgt ift), indem er überfegt „ihre Magd Abra“ (Vulg. abram 
suam) 6, 2. 11; 16, 28. 

Auch im Bude Tobiä läßt Luther den griechiſchen Text nicht 
unberüdfichtigt, indem er 13, 10 (Vulg. Bs. 11; griech. Vs. 9) 
überfeggt „wird dic) zuchtigen“ (waarıydosı, Vulg. castigavit te), 
„aber er wird ſich dein wieder erbarmen“ (mad Zisjaeı, 
welden zweiten Sag die Vulgata wegläßt). Sehr richtig, da ber 
Erzähler feinen chronologifch-Biftorifchen Standpunkt in der Zeit 


1) Bom Buche Judith kannte Palm nur einen Magdeburger Nachdrud 
vom Jahre 1634; Bindfeil (a. a. O. V, 4) hat den in ber Kirchenbibfiothet 
zu Arnſtadt befindlichen Wittenberger Originaldruck (vom bemfelben Jahre) 
verglichen. 


Luthers Überfegung der altteftamentfichen Apokryphen. 89 


zwiſchen dem aſſyriſchen und babylonijchen Exile nimmt, folglich 
Zerufalem und deſſen Tempel als nod) beftehend vorausfegt, aber ben 
alten Tobias deren Zerftörung und prächtige Wieberherftellung in der 
meffianifchen Zeit weisfagen Täßt, 14, 4—7 (bei Luther Be. 6—9); 
13, 9—18 (bei Luther Vs. 10ff.) . Mit Rüdfict hierauf 
läßt Luther 13, 18 den alten Tobias fagen: „wird er Löfen“, ftatt 
liberavit in der Vulgata. — lm den vom Erzähler genommenen, 
in der Bulgata und demnach auch bei Luther verdunfelten chrono⸗ 
logiſch /⸗hiſtoriſchen Standpunkt ans Licht treten zu laffen, foll nad 
Beſchluß der Revifionsfommiffton Kap. 14, 6 u. 7 im Anſchluß 
au das Griechiſche künftig alfo gefefen werden: 

„Zeuch nad) Medien, mein Sohn! Ninive — — Friede fein. 
Und unfere Brüder werden zerftreut werden aus dem guten Rande, 
Und Jeruſalem wird wüfte fein und das ‚Haus Gottes darin 
verbrannt werben und wird wüfte fein eine Zeit lang.“ 

Vs. 7: „Aber Gott wird fich ihrer wieder erbarmen und fie 
in das Land zurücführen, und fie werden das Hans bauen, nicht 
fo wie das erfte geweſen ift, bis ber Zeit Lauf erfüllt ift. Und 
darnach werden fie zurückfehren aus ihrem Gefängniffe und Jeru⸗ 
falem Herrlich aufbauen; und das Gotteshaus darin wird prächtig 
erbaut werden auf ewige Zeiten, wie die Propheten von ihr ges 
redet Haben.“ — 

Da endlich von dem asketiſchen Rate, den nach 6, 19— 23 
der Engel Raphael dem jungen Tobias und feiner Braut giebt, 
in den griechiſchen Handferiften feine Spur fi findet, der⸗ 
felbe alfo wohl als ein Fündlein des Hieronymus anzufehen ift, 
fo Hat die Revifionsfommiffion in einer Plenarfigung einftimmig 
beſchloſſen, den Abfchnitt bei Luther 6, 17—23 auf 6 Berfe au 
reduzieren und nach dem von den meiften Handſchriften gemwähr- 
keifteten feptuagintalen Texte (bei Tiſchendorf Vs. 16—18) 
alfo zu geben: 

38. 17: „Da ſprach der Engel zu ihm, gebenfeft du nicht 
der Worte, die dir dein Vater geboten hat, daß du dir ein Weib 
ans deinem Geſchlechte nehmeft?“ 

2) Vgl. meine Abhandlung: „Über einige, das Buch Tobit betreffende 
Fragen“, in der Zeitfchr. f. wiffenfhaftl. Theologie 1881, ©. 44 ff. 


28 Grimm 


28. 18: „Und nun höre mich, Bruder; denn dein Weib wird 
fie werden, und um ben böfen Geift fümmere dich nicht, denn in 
diefer Nacht wird dir diefe zum Weibe gegeben werben.“ 

38. 19: „Und wenn du in die Kammer kommſt, fo follft du 
glühende Kohlen nehmen und von dem Herzen und der Leber des 
Fiſches darauf legen und räudern; fo wird der böfe Geift es 
riechen und fliehen und in alfe Ewigkeit nicht wieder kommen.“ 

38. 20: „Wenn du aber zu ihr naheft, fo ftehet beide auf 
und rufet zu dem barmherzigen Gott, fo wird er euch erretten und 
ſich erbarmen.“ 

38. 21: „Furchte dich nicht, denn dir war fie beftimmt von 
Ewigkeit, und du mirft fie erretten, und fie wird mit bir ziehen, 
und ich achte, du werdeft von ihr Kinder haben.“ 

38. 22: „Und als Tobias dies Hörete, gewann er fie lieb 
und feine Seele hing fehr an ihr.“ 

In Übereinftimmung mit Vorftehendem foll aud Kap. 8, 4 
nad) dem Griechiſchen alfo gelefen werden: „Darnach ermahnete 
Tobias die Jungfrau und ſprach: Schwefter ftche auf und laß 
uns beten, daß der Herr ſich unfer erbarme.“ 


Im Buche Baruch 6, 30 (griech. Vs. 6, 31) Hat es Luther 
durch die teilweis freie Überfegung: „Und die Priefter figen in 
ihren Tempeln mit weiten Ghorröden, fcheren den Bart ab und 
tragen Platten, figen da mit bloßen Köpfen“, augenfcheinlich darauf 
abgefehen, die Heibnifche Priefterfchaft als Typus der Tatholifchen 
erſcheinen zu laſſen. 

Die in die LXX und Vulgata der kanoniſchen Bücher Efther 
und Dantel eingefehalteten oder ihnen beigefügten apokryphiſchen 
Stide (Stüde in Efther, Stücke in Daniel) erflärte 
Luther für „Kornblumen“, „weil fie im Hebräifchen nicht ftehen“ ; 
wir haben fie daher „ausgerauft, und doch, daß fie nicht verbörben, 
hie (d. 1. im feinem Bibelwerke) in fonderlihe Würzgärtlein ober 
Beete gefeit, weil dennoch viel Guts und fonderlich der Lobgeſang 
Benedicite darin gefunden wird“. 

Am Schluffe der LXX des Buches Efther wird berichtet, im 


Luthers Überfegung ber aliteſtamentlichen Apokryphen. 3” 


vierten Jahr ber Negierung „des Ptolemäus und der Kleopatra 
hätten der Priefter Doffitheus und fein Sohn Ptolemäus „den 
vorftehenden“, das Purim betreffenden Brief (ryy mooxeusunv 
änworolnv zür Yeovgai) herein (nad; Ägypten) gebracht, von 
dem jener behauptete, es habe ihn Lyſimachus zu Serufalem ins 
Griechiſche überfegt. Unter rooxsıudon Eroroln iſt das 
griechiſche Buch Efther zu verftehen, welches als Brief bes 
Mordohäus an die Juden angefehen werben follte, |. Efth. 9, 20. 
Luther aber bezog den Ausdruck auf das königliche Ausfchreiben 
des Artaxerxes, welches in ben bisherigen Ausgaben der Tutherifchen 
Bibel unter den Zufägen zum Buche Efther als Kap. 6 er- 
fheint und, obfchon nur ben Raum eines Verſes einnehmend, als 
Kap. 5 bezeichnet iſt. In der Gloſſe dagegen bemerkte Luther, 
dag man das Meine Stüd am Ende des 8. Kapitels vor bem 
9. Kapitel des Fanonifchen Eſterbuchs Iefen möge. Nach Beſchluß 
der Revifionsfommiffton ſoll das Stüd künftig am Ende ber 
Stüde in Ejther gelefen werden mit Wegfall der Kapitelziffer 
und mit der Überfehrift: „Unterfchrift des Buches Efther in der 
griechiſchen Überfegung“, dabei in Parentefe mit Heiner Schrift: 
„sonft Kapitel 5“. 

Das Tieblichfte Beifpiel von Freiheit, die fi Luther nahm, 
findet fih in der Hiftoria von der Sufanna Vs. 54f. 
58f., wo er bie griedifchen Wortfpiele örro axivov — — oylası 
ce und oͤro neivov — — reloeı os im Deutfchen alfo nach 
bildet: „unter einer Linden!) — wird di finden und zer» 
ſcheitern; — unter einer Eichen — did zeichen (S zeichnen) 
und zerhauen“. 

Das Gebet des Könige Manaffe gehört unter diejenigen 
Meineren bibliſchen Stüdte, welche Luther verdeutfchte, noch ehe er 
feine große Überfegungsarbeit begann. Luthers Überfegung erfchien 
zuerft in Leipzig 1519 als Anhang zu der nachher öfter heraus- 


1) Hierzu bemerkt Luther in der Gloſſe: „Im Griechiſchen ftehet unter 
einem Schino, das Heißt latine Lentiscus, und ift der Baum, bavon das 
Gummi fleußt, fo man Mafid; nennt. Weil aber der Baum uns Dentfchen 
nicht bekannt, hat man einen anderen bafür nehmen müffen.“ 


400 uſteri 


gegebenen kleineren Schrift: „Kurze Anweiſung, wie man beichten 
ſoll“. Da das Gebet in der Complutensis und Aldina fehlt, 
fo war Luther lediglich an die Vulgata gewieſen. Derjenige Text, 
den van ER in feine Ausgabe der Vulgata TI. II, S. 596 auf- 
genommen Hat, ift wörtliche Übertragung des Griechiſchen. Luthers 
Überfegung ift fürzer. Doch verficherte mir mein Freund und 
Revifionskollege, Hr. Pfarrer Dr. Schröder zu Endersbah im 
Württembergfchen, Luthers Text ftimme faft wörtlich mit einer im 
Stuttgart befindlichen Ausgabe der Bulgata vom Jahr 1512 
überein. Bei der Unbebeutendheit des Schriftftücs Hat die 
Reviſionskommiſſion Anftand genommen, bie Lücken in Luthers 
Text aus dem Griechifchen auszufülfen. 


Das im Staatsarchiv zu Zürich wieder aufge⸗ 
fundene Original der Marburger Artikel im 
Falfimile 
mit erlänternden Vorbemerkungen 


don 


Doh. Marlin After, 


Biarrer in Hinweil. 





Als ich anläßlich, meiner Studien über Zwinglis Tauflehre 
u. a. mit den Marburger Artikeln mic befcäftigte, befand ich 
mid) durch die Güte des Tit. Staatsarchivariats in der angenehmen 
Lage, das Original mit den eigenhändigen Unterfehriften der 
Neformatoren vergleichen zu können. Nach Ofianders Bericht 
(Corpus Reformat. XXVI, p. 115 oben) find in Marburg drei 
Exemplare unterzeichnet worden, die fämtlich lange Zeit für ver» 


Das Original der Marburger Artifel. 401 


loren gegangen galten, bis Heppe im Negierungsardiv zu Kaſſel 
ein erftes auffand und es 1847 im Fakjimile veröffentlichte. Ein 
zweites, deſſen Echtheit fchon um des Aufbewahrungsortes willen 
feinem Zweifel unterlag, war nunmehr zu meiner Einficht gelangt, 
und ich glaubte, eine Veröffentlichung desfelben im Fakfimile fei 
darum um fo mehr von Intereſſe, als erſt feit Auffindung dieſes 
Doppels der authentische Text der Marburger Artikel in feinem 
ganzen Umfang feftgeftellt werden kann. Den Herren Staatd- 
ardjivaren, Dr. Strickler und Dr. Schweizer, die mir in zuvor- 
kommender Weife die Veröffentlichung ermöglicht Haben, ſpreche ich 
hier meinen verbindlichften Dank aus. 

Das in Rede ftehende Aktenftüd, deſſen ganz getreue Nach— 
bildung das dargebotene Falſimile ift, befteht aus drei Foliobogen 
und einem einzelnen Blatt, das vermittel® eines Nückens mit den 
drei Bogen verbunden, reſp. zufammengeheftet ift. Es ift, was 
Bapier und Schrift anbelangt, wohl erhalten, aber ganz ſchmuck⸗ 
los und nicht frei von Schreibfehlern. Einen erften Bogen bilden 
die Seiten 1, 2, 7 und 8, einen zweiten Bogen die Seiten 3, 
4, 5 und 6, einen dritten Bogen nur eine befehriebene (S. 10) 
und drei leere Seiten, das abfchließende einzelne Blatt endlich 
enthält die letzte Seite des fortlaufenden Textes (S. 9) und 
Seite 11 mit den Unterfohriften. Daraus geht klar Hervor, daß 
Bogen 3 mit den drei leeren Seiten nicht zum urfprünglichen 
Konzept gehörte, denn er unterbricht ja ftörend die Reihenfolge 
der Seiten und ftünde richtiger Hinter den Unterfcriften am 
Schluß des Ganzen, wie er ja wirklich feparat ausgefertigt und 
dem Altenſtucke beigegeben worden ift. Der Grund, warum er 
zwifchen die zwei Bogen und das abjchliegende letzte Blatt hinein 
geheftet wurde, läßt ſich indefjen leicht erraten. Sein Inhalt fol 
dadurd dem Dokument einverleibt und als deſſen authentifcher 
Beftandteil auch äußerlich gekennzeichnet werden. Würden die 
Unterfehriften voranftehen, fo könnte es ja leicht den Anfchein ges 
winnen, wie wenn die Vereinbarung nicht auf das Nachkommende 
ſich ausgedehnt hätte, wie wenn in dieſem ein willkürlicher Zuſatz 
borläge. 

Es muß num auffallen, daß der auf ©. 10 ftehende Nach— 


2 uſteri 


trag, der gewiß auch dem in Kaſſel aufgefundenen Original bei⸗ 
gegeben, aber eben nicht beigeheftet war, verloren gegangen iſt. 
Da dort wie im Zuricher Dokument die Unterſchriften auf ber 
Nücfeite des legten Blattes ſich unmittelbar an ben Schluß des 
fortlaufenden Textes anreihen, konnte Heppe natürlich nicht auf 
die Vermutung kommen, baß feinem Exemplar ein integrierender 
Beſtandteil fehle. Er mußte im Gegenteil bie ſchon in den 
ätteften Druden ſich findenden Zufäge als unecht verwerfen, wobei 
freitich rätſelhaft blieb, wie fie fich dort einfchleichen konnten. 
Heppe gelangte durch Vergleihung der Schwabacher Artikel, welche 
die nämlichen Zufäge in etwas weiterer Ausführung enthalten, 
zu ber Anficht, fe feien aus dem Konzept ber Ieteren in die 
ültefte Druckausgabe der Marburger Berübergelommen (doch warum 
zugleich auch in die von diefer unabhängige, durch Oſiander nach 
einem mitgenommenen Exemplar beforgte Nürnberger Ausgabe 
und warum vollends in die Züricher?). Und er erblickte überdies 
in diefer Kombination eine Hauptftie für die auf einer Notiz 
des Veit Dietrich 1) beruhende Annahme, Luther Habe mit feinen 
Kollegen die Schwabacher Artikel noch in Marburg unmittelbar 
vor feiner Abreife nach Schleiz konzipiert. So kam er denn zu 
folgendem Refultat: „Da ſich jene unechten Stellen in allen Aus: 
gaben der Marb. Artt. finden, fo kann diefe Erſcheinung nur durch 
die Annahme erklärt werden, da die Schwabacher Artilel eben 
da zuftande gefommen find, wo die Marb. Artt. ausgearbeitet 
und zuerſt veröffentlicht wurden, d. 5. in Marburg. Dem offen 
bar müflen das Konzept der Schwabarher und die zur Beröffent- 
lichung benugte Kopie der Marb. Artt. ans einer Hand gekommen 
fein, wenn ſich jene unechten Stellen aus den Schwabachern in 
die allererfte Marburger Ausgabe der Marb. Artt. einfpielen 
Tonnten." Diefe Hypotheſe, die ohnedies etwas Kunftliches Hat, 
füllt durch Vergleihung des Zuricher Dokumentes, das jene Zu⸗ 
füge als offiziellen Nachtrag enthält, dahin. Nicht nur die Ein⸗ 
fügung derfelben, fondern namentlich auch die unverfennbare Iden ⸗ 


1) Praefatio Lutheri scripta Coburgi ad XVII articulos Marpurgi 
seriptos (Corp. Ref. XXVI, 138 Anm). 


Das Original der Marburger Artikel. 408 


tität der Handſchrift und die Übereinftimmung in Dialelt und 
Orthographie verbürgen ben offiziellen Charakter, der zudem allein die 
Thatſache zu erklären vermag, daß fragliche Zufäge meines Wiſſens 
in allen Drudausgaben von Anfang an fi) vorfinden. Ob vor oder 
nad Abfafjung dieſes Nachtrags unterfchrieben wurde, lußt ſich 
nicht mehr entfcheiden; aber ficher ift, daß der Nachtrag allgemeine 
Zuftimmung fand und zum authentiſchen Text zu rechnen ift. 
Ebenſo wenig läßt fich entjheiden, von welder Seite diefe Zuſätze 
beantragt wurden. Ich äußerte in meinem Artifel über Zwinglis 
Tauflehre ) die Anfiht, es fei ohne Zweifel von reformierter 
Seite geſchehen, weil Okolampad wirklich einiger weniger von 
diefer Partei gewünfchter Abänderungen gebenkt, und weil die Zur 
ſatze zugleich am betreffenden Ort im Text oder ala Randbemerkung 
von anderer Hand und teilweife in anderem Dialekt notiert find 
(auch die Tinte ift blafjer); fie möchten dann, bemerkte ich, auch 
von den Lutheranern angenommen und vom Schreiber als Nad- 
träge offiziell dem Altenſtück beigefügt worden fein. Diefe Auf- 
faffung des Hergangs ift mir aber bei näherer Überlegung aus 
folgenden Gründen fraglich geworden: 1) deutet der Wortlaut 
jener Notiz des Ofolompab: „Ut articuli Zwinglio et mihi 
praelecti, quaedam verba dumtaxat mutare petiimus propter 
contentiosos quosdam, qui verba magis quam verborum 
sensa urgent‘“ (Zw. Opp. IV, 191) auf Üuderungen und nicht 
auf Zufäge; es bezieht ſich aljo biefelbe wohl ausſchließlich auf 
einige unbebeutendere Korrekturen; 2) entgalten die Zufäge nichts 
der Anfhauung der Schweizer Eigentümliches, und 3) find eben 
diefe Zufäge faft wörtlich in die Schwabacher Artikel, die den 
Lutherifchen Lehrtypus entfchiedener repräfentieren und ſchärfer 
ausprägen, binübergenommen worben. Sie gehen aljo eher auf 
Lutheriſche Ynitiative zurück, fanden aber natürlich leicht auch die 
Zuftimmung der Neformierten. 

Die Eintragung in den Text oder an gehöriger Stelle am 
Rand wurde daun mohl nachträglich durch irgendeine in Schweizere 
deutsch fehreibende Hand vorgenommen; ob füt die Veranftaltung 


1) Stud. u. Krit. 1892, 9. 2, ©. 272 Anm. 


404 Ußeri 


des Drudes, ift ungewiß, weil zwar das Original» Dofument der 
Zuricher Drudansgabe zugrunde gelegen zu Haben ſcheint, dieſe 
aber doch nicht als ein wörtliher Abdruck desfelben ſich darftellt, 
indem fie die Unterfhriften in anderer Reihenfolge aufführt und 
den Text in ſchweizeriſcher Mundart reproduziert. 

Eine zweite, freilih nur äußerliche Eigentümlichleit unferes 
Attenftüces beruht darauf, daß die Unterfcriften der Reformierten 
voranftehen. Die Reihenfolge der einzelnen Namen hingegen ent 
ſpricht derjenigen im SKaffeler Dokument. Bei der Drucklegung 
hat man allerdings auch in Züri ben Lutheriſchen ben Vortritt 
gelafjen, jo daß meines Wiffens keine Drudausgabe die Reformierten 
voranftellt. Nur in dem Abdrud bei Hottinger (Histor. eccles. 
N. T., T. VII, p. 444sgq.) follen ihre Namen die Reihe er» 
Öffnen, was Riederer (Nachrichten zur Kirchen, Gelehrten- und 
Bücher» Geihichte IV, 438) fehr fonderbar findet. Hottinger 
ſcheint demnach das fonft ganz verſchollene und nirgends tale 
quale abgedruckte Züriher Aftenftüd gekannt zu haben. 

Eine genaue Vergleihung der Kaffeler und Züricher Exemplare 
weift wenig Abweihungen auf. In Art. 8 am Schluß hat 
das Züricher Er. die Worte: „ober Evangelion Chriſti“ zuerſt 
geftrihen, dann aber durch darunter geſetzte Punkte als gültig be 
zeichnet; im Kaſſeler fehlen fie und in dem älteſten Zuüricher 
Drud ebenfalls. Sie find als Repetition von etwas unmittelbar 
Vorausgehendem „felbftverftändlih Schreibfehler. Die übrigen 
Differenzen folgen bier überfichtlich: 


Zürid. Er. Kaſſel. Er. 
Art. 8 fin.: wirkt er und ſchafft er wirkt er und ſchaft 
ibidem: wo und in wilden wo und in wildem 
Art. 10: Bitten zu Gott beten zu got 
„ 14: bie Kinnderthauffe der finder taufe 
„ 15: nad Innſatzung nad der Infagung 


(An ſammtilichen 5 Stelten folgt der äftefte Zuricher Druck unferm 
Attenftüd.) 


Was die Korrekturen anbetrifft, fo findet fi nur diejenige bei 
Art. 12 in beiden Dokumenten genau übereinftimmend; auf diefe 


Das Driginal der Marburger Artikel. 405 


wird ſich alfo-jene Notiz Okolampads ohne Zweifel beziehen, wor 
für aud ihr inhaftlicher Charakter fpricht. Abgeſehen von diefer 
haben beide Exemplare noch je zwei Korrekturen von Schreibfehlern 
oder Auslaffungen, jedoch an verſchiedenen Orten. Ein uns 
geihicter Schreibfehler (, Gaube“ ftatt „Gabe“ in Art. 6) ift im 
Zuricher Er. ftehen geblieben. Daß beide Schriftftüce nicht von 
der gleichen Hand fein können, Teuchtet fofort ein. Abgeſehen 
von ber Verfchiebenheit der Schriftzüge weicht die allerdings gar 
nicht Tonfequent durchgeführte Orthographie ungemein ab; ber 
Schreiber des Züricher Dofuments liebt Verdoppelung der Kons 
fonanten, große Initialen und dergleichen. Auch dialeftifche Ver⸗ 
ſchiedenheiten laſſen fi faum verfennen, wie folgende Beifpiele 
zeigen: 


3. €. 8. E. 
volltommenlich volllommen 
Sönnde ‚ fonde 
ufferftanden auferftanden 
erlöſt erleſt 
Pfarrer pfarher 
darinn dorin 


Im Zuricher Er. iſt die Interpunktion oft finnftörend, — eine 
Erſcheinung, für die fi freilich audh aus Druden jenes Zeite 
alters zahlreiche Belege anführen Tießen. Sicher iſt, daß der 
Schreiber kein Schweizer war; ein folcher Hätte 3. B. nicht „die 
Thauffe“, fondern „der Touf“ gefchrieben, auch nicht, wies im 
offiziellen Nachtrag Heißt: „theufel“, fondern, wie von anderer 
Hand dem Texte beigefegt ift: „tüfel”. 

Die Übereinftimmung der beiden Dokumente ift nad dem Ges 
fagten, was den Wortlaut anbetrifft, eine beinahe totale, und die 
wenigen unbebeutenden Abweichungen erklären fi am leichteſten, 
wenn man annimmt, die Artifel fein mehreren Schreibern in bie 
Feder diftiert worden. Auch das dritte offizielle Erempfar würde 
wohl folche kleine Differenzen aufmeifen. Oflander, der ein 
Exemplar nad) Nürnberg mitnahm und es dort druden lieh, 
Tieferte bei weitem nicht einen jo diplomatiſch genauen Text und 

Theo. Etzb. Iapız. 1888, 


406 Uperi 


Bullinger gab eine noch freiere Reproduktion, was Riederer 
(a. a. ©. IV, 437) fehr übel vermerkt. Hingegen ift die bei 
Froſchauer erfdienene editio princeps, welcher wohl nur bie 
Marburger Ausgabe ebenbürtig ift, eine fehr genaue Übertragung 
des Originals in den ſchweizeriſchen Dialekt. Sie ift in die 
Schuler ⸗Schultheßſche Sammlung von Zwinglis Werken (II, 3, 
52ff.) aufgenommen. Bis auf die Zahl der Spezialtitel 
hinaus entjpricht fie den Originalien, und zwar abgefehen von der 
Reihenfolge der Unterſchriften fpeziel dem Züricher Exemplar, 
und zwar gerade da, wo dieſes vom Kafjeler abweicht. Ich ber 
merkte nur zwei Differenzen von feinem Belang. In Art. 8 
feine Gaben“, während das Original hat: „feine Babe“, und 
Art. 13 „offentlih wider gottes Wort“, während im Original; 
„widder offentlich Gottes Wort“. 

Zum Schluß fei noch bemerkt, daß in Art. 9 von der Taufe 
die Lesart „gefordert“ durch das Züriher Dokument eine neue 
Beftätigung erhalten hat, fo daß fie nun als fiher geſtellt be⸗ 
trachtet werben darf. Indem th im allgemeinen auf die bez. Ver- 
handfungen (Löscher, Histor. motuum, P. I, c. 6, 8 10, 
©. 153; , Unſchuld. Nachrichten a. 1707“, ©. 289-293; Rie⸗ 
derer a. a. O. IV, 421—426; Köftlin, Stud. u. Krit. 1866, 
©. 347 ff.) ſowie auf meine diegbezügl. Ansfügrungen in der Abhand⸗ 
Lung über Zwinglis Tauflehre (a. a. O.) verweiſe, erlaube ich mir 
noch folgende Bemerkungen. Es will mir feinen, wie wenn bier 
eine beabfichtigte oder wenigſtens wit Abſicht nicht vermiedene Zwei ⸗ 
deutigfeit vorlage. BÜBLI (in der Borrede zum 3. Zeil der Beitr. 
zur Ref. Geſch. der Schweiz, ©. XCIV) möchte doch nicht ganz 
unrecht gehabt Haben mit feinen Bemerkung, die Artifel feien in 
vielem geftelit worden, daß fie jede Portei zu ihrem Varteil aus⸗ 
legen konnte, fa bedenklich auch Kiederer (0. 4 D. ©. 495) biefe 
Außerung findet. Zwar könnte dag „gefürdert“ in der Nurn⸗ 
berger Ausgabe des Ohrenztugen Oſiander für die Ermittelnug 
des Siunes ſtaxk in hie Wegſchale fallen. Allein dem ift ent- 
gegenzußalten, daß bie Folio⸗Ausgahe, die als die editio princeps 
von Marburg gilt, „gefodert“ hat (Corp. Ref, a. a. D., &. 125, 
An. 55), defien Sinn wenigfiens zweifelhaft iſt daß ferner 


Das Original der Marburger Artikel. 47 


in der Zenenfer Ausgabe von Luthers Werfen das unzwei- 
deutige „gefoddert“ fi finden foll (Riederer a. a. O., ©. 425), 
und namentlich, dag die reformierten Teilnehmer am Geſpräch 
famt und fonders. „requiritur‘“ interpretierten, auch in diefem 
Sinne Öffentlich den Artikel auslegten, fo Zwingli in feinen 
Noten und namentlich Bucer in feiner Nachricht von dem Mar⸗ 
burger Gejpräd, die er feiner Evangelienerflärung voranſchickte 
und den Theologen von Marburg mibmete !), ohne dag meines 
Wiſſens zu jener Zeit von lutheriſcher Seite Widerfprud ers 
hoben wurde. Nicht einmal innere Gründe ſcheinen mir abfolut 
zugunften des „gefordert“ im Sinn von „gefördert“ zu entfcheiden, 
fo wenig id ihr Gewicht verfenne. Es ift wahr, daß, wie 
Riederer (a. a. O. S. 423 unten) bemerkt, in den Schwabacher 
Artikeln am Ende des 10. zu leſen ift: „gleich wie die tauf auch 
den glaub bringt und gibt, jo wan ir begert“; aber unmittelbar 
vorher heißt es, allerdings mit Bezug auf die Einfegungsworte des 
Abendmapls: „Diefe wort fordern und pringen auch zu dem, glaubn 
(Bar. : den glauben) 2), Bben auch denfelbigen, bei allen den, fo ſollichs 
Saframent begern umd nit dawider handeln‘. Könnte nicht Hier 
da8 „fordern“ als requirunt zu verftehen und gegen das opus 
operatum gerichtet fein? Allerdings bezieht es ſich mie gejagt 
auf das Abendmahl ; der Artikel non ber Taufe, der ald 9. vor 
angeht, nimmt eben feiner ganzen Haltung nad viel fpezielleren 
Bezug auf die Kindertaufe als der entſprechende der Marburger 
Artt. und läßt daher anders als diefer legtgenannte ®) die piycher 


2) Simmler, Sammlung alter u. neuer Urkunden 2c., Bd. II, 2. ZI, 
©. 495f. Riederer a. a. D, ©. 439. 


2) Corp. Ref. a. a. D, p. 156, Anm. 98. 


3) Iqh begreife nicht, wie Heppe a. a. D., S. 16, Ann. ** fagen kaum, 
daß im der Lehre von der Kaufe wohl gegen die Auffaffung bes Sakrameutes 
018 eines ledigen Zeichens, nicht aber gegen bie gleich nahe liegende Verkehrt» 
heit einer falſchen Objektivität polemiftert werde. If denn das „durch welchen 
tsc. Gfauben) wir zum Leben wiebergeboren werben“ nicht bezeichnend genug, 
alfo daß die in der Augustana fpäter beigeſetzte ausdrückliche Polemik gegen 
das opus operatum barin ſchon in nuce enthalten ift? 

27* 


408 uſteri 


logiſche Vermittelung der Wiedergeburt durch den Glauben ganz 
auf der Seite, bie objektive Machtwirkung des Wortes um fo mehr 
betonend. Aber der Gedanke, daß die Saframente im allgemeinen 
den Glauben als Grundlage eines gefegneten Gebrauchs ſchon 
fordern und vorausfegen, nicht erft ihn bringen und geben, ftärfen 
und üben, was fie allerdings auch thun, Tann gewiß nicht als 
unfutherifch bezeichnet werden, und es wäre daher nicht unmöglich, 
daß Luther demfelben im 9. Marburger Artikel Hätte Ausdruck 
geben wollen. Von bejonderem Intereſſe ift ung nun aber, Hierzu 
den 13. Artifel der Conf. Augustana zu vergleichen: „Vom 
braud) der Sakrament wirt geleret, das die Sakrament eingeſatzt 
find, nicht alfein darumb das fie zeichen find, dabei man euſſerlich 
die Chriften fennen möge fonder das es zeichen umd zeugnus find 
Gottlichs willens gegen uns, umfern glauben dadurch zu erwecken 
und zu fterden, derhalben fie auch glauben foddern, und denn 
recht gebraucht werden, fo man's im glauben empfehet und den 
glauben dadurch fterdt.“ Vergleicht man die Varianten zu dem 
„fobdern“, wie fie Corp. Ref. XXVI, 564, Anm. 16 mitgeteilt 
find, fo wird man überraſcht, fo zu fagen den nämlichen zu ber 
gegnen: Ed. ant. 6: fodern, Nor., Onold. 1, Wim. 1: fordern, 
Onold. 2: furdern, Dresd., Nordl. Ed..ant. 5: vordern, Editt, 
ant. 1—4: vorderend. Wim. 1: Das fie aud den glauben 
forbern und erheiſchen, und alsdann recht und nutzlich gebraucht 
werden. Die Variata hat: „Und wie uns das wort zu gleuben 
vermanet, und glauben fobdert und erwecket, alſo vermanen uns 
die Saframent zu gleuben, foddern und erweden glauben, als 
zeichen und ſiegel des worts. Darumb werden die Saframent 
alfo recht und krefftiglich gebraudet, fo man dazu gleubet und 
glauben "damit ſtercket, das gewißlih uns Gott wolle dasjenige 
halten und geben, das er im Evangelio zugefaget hat, welde aus 
fage er durch dieſe zeichen und zeugnis, dazu von im eingeſetzt, 
und verorduet, und vermanen wil, wie Paulus leret die Gafra- 
ment brauden, Röm. 4." Much in den lateiniſchen Ausgaben ift 
der Sinn diefes 13. Artikels ganz übereinftimmend (Corp. Ref. 
XXVI, 279sq. u. 359). 

Mit alledem fol num feineswegs behauptet werben, daß Luther 





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Das Original der Marburger Artilel. 49 


im 9. Marburger Artikel das „gefordert“ geradezu im Sinn der 
Zwingliſchen Note: Glaube gefordert, sive ipsius qui baptizatur, 
sive ejus qui ad baptismum mittit, puta parentis, h. e. ut 
baptizatus aut in promissa credat et ecclesiae velit inseri, 
aut cum ädolescat de fide doceatur (Zw. Opp. IV, 183f.) 
verftanden wiffen wollte; aber fo viel dürfte doch aus dem Mit- 
geteilten erhellen, daß die Auslegung, welde die Neformierten dem 
„gefordert“ gaben 1), der lutheriſchen Auffaffung vom Satrament 
nicht widerftrebte, mochte fie immerhin in derfelben ein mehr unter 
geordnetes Moment bilden. 


Der Wortlaut der facfimikierten Urkunde ift folgender (Hier 
die gedruckte Wiedergabe des Textes der Urkunde): 


Beilage zum Facſimile. 


Genauer Abdrud des im Zuricher Staatsardiv aufbewahrten Ori⸗ 
ginals der Marburger Artikel ?). 


Differ hernach gefhriben Artietelin Haben ſich die Hierunden- 
gefchriben, zu Warpurg verglichenn tertia octobris 1529. 


Erftlih. Das wir beberfeits Cintrehtiglih glauben und 
hallten / das allein ein einiger rechter Natürficher Gott ſey / 
Schopffer aller Creaturen / und derſelbig Gott einig im weſen / 


3) Bucer (Riederer IV, 440): „Fidem autem requiri, sed quae suo 
se tempore proferat, cur non fateremur, cum, quicunque baptizantur, in 
hoc baptizantur, ut Christum tandem induant, quod haud quaquam 
absque fide fieri potest?“ 

2) Die erſte Zuricher Drudausgabe von Froſchauer Hat ſich im Drie 
ginal auch mod; vorgefunden in dee Simlerſchen Manuſtriptenſammlung 
auf der Stadtbibliothel zu Zurich. Simler bemerkte dazu handſchriftlich, er 
Habe das Autograph, das damals noch im Kirchenarchiv Tag, genau verglichen 
und es, abgefehen von der Reihenfolge der Unterſchriften, die alfo ihm ſchon 
auffiel, gleidjfautend gefunden. Im der nämlichen Sammlung finden fih auch 
die Zw. Opp. IV, 183 abgebrudten, von Zwingli eigenhändig bem gebrudten 
Exemplar beigefeßgten Noten im Original, ebenfo das urſprünglich auch im 
Kichenarhio aufgefundene, Zw. Opp. U. 3, p. 58 abgedrucdte Manuffcipt 
mit ber nämlichen Vorbemerkung. 


40 Ußeri 


unnd Natur unnd Drepfaltig inn den Perfonen/ Nemlich vatter / 
Söone, unnd hepliger Geift ꝛc. Allermaffen wie im Eoncifio 
Niceno beſchloſſen umnd im Symbolo Niceno gefungen und ge» 
Tefen wurdett. bey gannzer Chriſtlicher kirchen inn ber wellte. 


Zum andern / glauben wir / das nicht der vatter / noch heyliger 
Geiſt / Sonder der Sone Gottes Vatters / rechter Naturlicher Gott 
ſey menſch worden / durch wirkung de heyligen Geyſtes / on Zu- 
thon mennlichs Samens geporen von der Reynen Junkfrawen 
Maria / leyplich volkommennlich / mit leyb unnd Seele / wie ein 
annder mennſch / on alle Sönnden. 


Zum dritten / das derſelbige Gottes und Maria Sone / onzer⸗ 
trennte perſon Iheſus Chriſtus fey/ für ums gecreuzigt / geſtorben / 
und begraben / ufferſtanden von thoten / ufgefahren / gen Hymmell / 
ſtzennd zur Rechten Gottes / Herr uber alle Creaturn / zukunnfftig 
zurichten, die lebendigen und thoten 2c. 


Zum vierten. Glauben wir, das die Erbſunnde ſey unns von 
Adam angeporen / unnd uffgeerbet / unnd ſey ein ſollich Sonnde / das 
sie t) alle mennſchen verdammet / unnd wo Iheſus Chriſtus unns 
nicht zu hillff kommen were / mit ſeinem thode und leben ſo hetten 
wir ewig daran ſterben / unnd zu Gottes Reich / unnd Seligkeit 
nicht kommen müffen. 


Zum funnfften/ Glauben wir/ das wir/ von ſollicher Sonnde 
unnd allen annderen Sonnden / fampt dem Emigen thode/ erlöft 
werden / &o wir glauben an folfichen gottes Sone Iheſum Ehriftum / 
für unns geftorben) ꝛc.) unnd außer follihem Glauben / durch 
keinerleh werck / ftand oder Orden x. loß werden mogen von 
einiger Sönnbde ꝛtc. 


Zum Schften/ das follicher Glaube] fey ein Gaube Gottes] 
den wir mit feinen vorgeenden werden ober verbiennft erwerben] 
noch aus Eygener Crafft machen Tonnen] Sonnder der Heyllig 
Geyſt gibbt und ſchafft / wo er will / denſelbigen inn unnſere Herzen, 
wenn wir das Euangelion oder wort Chriſti hören / 


i) „Go“ nachher mit anderer Tinte hineingeſetzt. 





Das Original der Marburger Artilel. 41 


Zum Sibennden) Das follicher Glaube fey/ unnfer gerechtikeit 
für Gott/ alle umb welchs willen) unns Gott/ geredht/ Fromme, 
und Heylig rechent / unnd hellt / on alle wer unnd verbiennft/ unnd 
dadurch von Sonnden / thod / Helle) hillfft Zu gnaden nimpt/ 
und ſelig macht umb / ſeines Sons willen / inn wilchen wir allſo 
gleuben / und dadurch feines Sons gerechtileit / lebenns unnd aller 
guter genieſſen unnd theylhafftig werden / darum alle cloſterleben 
unnd gelibde als zur gerechtileit nutzlich gang verdampt fint ) 

Von dem euſſerlichen Wortt. 

Zum Achten / das der heyllig Geyſt / ordennlich zu reden / 
nymands / ſollichen glauben / oder feine Gabe gibt / on vorgend 
Prebigt / oder muntlich wort / oder Euangelion Chriſti / ſonndern 
durch u. mit ſollichem muntlichen Wort / oder Cuangelion Chriſti 
8?) wirft er und ſchafft er den glauben / wo unnd in wilden er 
will Rom. 10. 


Bon der Thauffe) 

Zum neundten/ das bie hepfige thauffe/ fey ein Sacrament / 
das zu ſollichem Glauben / von Gott inngefegt/ unnd weil Gots 
gepott/ Ite baptisate/ unnd Bots vorheifjung drynnen ift Qui 
erediderit. jo ifts nicht allein ein leddig Zeichen] ober loſung 
unnder den Ghriften fonnder ein Zeichen unnd Wert Gottes] 
barinn unnfer Glaube gefordert/ durch welchen wir zum Leben wider 
geporen werben. 


Von guten werden] 

Zum zehenden / das follicher Glauben durch wirkung bef 
hehligen Geyſtess / hernach jo wir gerecht und heyllig dadurch ges 
rechennt unnd worden find/ gute werde duch unns. übett/ Nem⸗ 
lich die Liebe gegen dem nechſten / Bitten zu Gott/ unnd leyden 
allerley veruolgung/ 2. 

Bon ber beicht/ 

Zum Eyffften/ daß die beicht oder Rathſuchung bey feinem 

Pfarrer oder nechſten / wol ungezwungen und frey fein fol/ aber 


1) Zuſatz von anderer Hand. 
%) Im Original wie folgt: „ober Euangeflon Chriſti S*. 


412 . uſteri 
doch faft nützlich den betrübten/ angefochten / oder mit ſonnden be⸗ 
laden] oder inn irthumb gefallen) gewiſſen / allermeift. umb der 
Abfolution oder troftung willen deß Cuangelii / welchs die rechte 
abfolution iſt. 

Bon der Oberfeit. 

Zum Zwolfften das alle Oberfeit unnd weltliche Gefezte] Ge⸗ 
richt oder Ordnung) wo fy find/ ein rechter guter ftanndt finndt/ 
unnd nicht verpotten / wie etliche Bäpſtiſche uund wibertgeuffer 
leren unnd hallten *)/ ſonnder das ein Chriſt fo darinn beruffen / 
oder geporn wol kan / durch den glauben Chriſti ſelig werdenn 
ꝛc. gleich wie vatter unnd mutter ſtanndt / Herr unnd frawen 
ſtanndt / ꝛtc. 


Zum dreyzehennden / das man heiſt Tradition mentſchlich 
Ordnung. Ian Geiſtlichen oder kirchen geſchefften / wo ſy nicht 
widder offentlich Gottes Wort ſtreben mag man freyhalten oder 
laſſen / darnach die leuthe ſinndt / mit denen wir umbgeen / jnn alle 
wege onnöttig ergernus zu verhütten / unnd durch die liebe ben 
ſchwachen und gemeinem fridde zu Diennft 2c. 

Daß ouch die lere jo pfaffen Ee verbiit tufels leer ſeh ?). 


Zum vierzehennden/ das die kinnderthauffe recht ſey / unnd fh 
dadurch zu Gottesgenaben unnd in die Chriftennheit genommen 
werben. 

Vom Sacrament des Teibs und bluts Chrifti. 

Zum fünnffzehennden Gleuben unnd halten wir alfe/ vonn dem 
Nachtmale unnfers Lieben Herrn Iheſu Chriſti / das man bede geftalit 
nach Innſetzung Chrifti prauchen ſoll / das ouc die Meſſe nicht ein 
werd ift/ do mit einer dem andren tod oder lebendig gnad er⸗ 
langt ) Das auch das Sacrament def Altar) fey ein Sacrament 
deg waren leibs unnd pluts Iheſu Chriffi und die geiftliche 
Nieffung deffelbigen leibs unnd pluts/ einem Iden Chriften fr» 


1) Korrektur von der gleichen Hand: „verpotten — hallten“. Vorher hieß 
e3: fo farlich an im ſelbs wie der baptst unnd bie feinen gehallten. 

2) Zufat von anderer Hand. 

3) Randbemerfung von anderer Hand: „das ouch die Meffe — erlangt”. 








Das Original der Marburger Artifel. 48 


nemlich vonn nöthen/ begleichen der prauch deß Sacraments/ wie 
das wort) von Gott dem allmechtigen gegeben) und georbennt 
ſey / damit die ſchwachen Gewiſſen / zu gleuben/ zubewegen/ durch 
den heyligenn Geift. Unnd wiewol aber wir unns/ ob der war 
leyb unnd plut Chrifti/ leiplih im prot unnd wein ſeh / difer 
Zeit nit vergleicht haben) fo foll doc ein theyl gegen ben anndern 
Chriſtliche Kieb) fo fern Ideß gewiffen ymmer leiden kan / er⸗ 
zeigen / unnd bede theyl / Gott den Allmechtigen vleyſſig bitten / 
das er unns durch ſeinen Geiſt den rechten verſtanndt beſtetigen 
well. Amen. 


Nachträge von der Hand des Schreibers: 

Vor dem Tittell (von dem Euſſerlichen worte) ſoll ſteen / 

Darumb alle Cloſterleben oder Gelübde alls zur Gerechtileit 
nuzlich / gannz verdampt ſein / 

Im funfzehennden Artikel (ibi das man bede geſtallt nach der 
Inſezung Chriſti prauchen ſolle) ſoll ſteen / 

Das auch die Meſſe nicht ein werk iſt / damit einer dem 
anndern thod oder lebendig gnad erlannge / 


Nach dem dreyzehenden Artikel in fine ſoll ſteen / 
Das auch die lere fo pfaffen ehe verbeut theufels lere ſey / 
. Joannes Decolampadius f8. 
Huldrychus Zwinglius. 
Martinus Bucerus. 
Caſpar Hedio. 


Martinus Luther. 
Juſtus Jonas. 
Philippus Melanchthon. 
Andreas Oſiander. 
Stefhanus agricola. 
Joannes Brentius. 


Bars, Google 


Nezenjionen. 


Digiize 





1. 


Analeeta ad Fratrum Minorum Historiam. 


1. Fr. Nicolai Glasbergeri Narratio de origine et pro- 
pagatione ordinis e cod. Ms. primum edita et illu- 
strata. 

2. Quaestiones de ordinis conventu Lipsiensi. 
Seripsit C. F. Carolus Evers, Dr. theol. et philos. 
pastor in aede S. Matthaei Lipsiensi, p. 89. 4. 
Lipsiae, G. Böhme, 1882. 





Seitdem Lukas Wadding in feinem großen Wert gelehrten 
Sammlerfleißes (1625f.; 2. Aufl. 1731) die Geſchichte des 
Tranzisfanerordens ausführlich geſchrieben hat, find die urfprüngs 
fiften Quellenfhriften zur äfteften Geſchichte des Ordens bis auf 
die neuefte Zeit unbeachtet geblieben. Erſt feit 1870 find einige 
derfelben ans Licht gezogen worden, durh Georg Voigt (Ab. 
der 8. Sächſ. Gef. der Wiff., philof.-hiftor. Klaſſe, V. Band, 1870) 
die Denkwürdigkeiten des Jordanus von Giano vom Jahre 1262. 
D. Evers dagegen Hat fi um eine andere bisher faft nur dem 
Namen nah befannte Denkfchrift zur Gefchichte des Ordens ver» 
dient gemacht. Der Minorite Nikolaus Glasberger, aus 
Mähren, 1472 in den Orden aufgenommen, hat im Jahr 1508, 
aus Auftrag des Guardians im Nürnberger Konvent, auf Grund 
älterer Denkſchriften und Chroniken, eine Gefchichte des Franzis⸗ 
fanerordens, feiner Stiftung, Entwidelung und Ausbreitung in 


48 Anslecta ad Fratrum Minorum Historiam. 


Deutſchland, feiner Oberen, feiner öfter und der gehaltenen 
Kopitel bis zum Jahre 1508 reichend, handſchriftlich abgefaßt. 
Bon diefer Chronik hat zwar Waldbing in feinem Werk (III, 138) 
Erwähnung gethan, allein erft Riezler (Lit. Widerfacher der 
Papſte) und Woker (Nordb. Branzisfanermiffionen, 1880) Haben 
in neuerer Zeit einiges daraus geſchöpft. Schlieklih Hat der 
Verfaſſer, als er bei Gelegenheit des Umbaus der fogenannten 
Neutirche in Leipzig (jegt Matthaikirche) als Pfarrer derfelben, 
über den Urfprung diefer ehemaligen „Barfüßerficche” Forſchungen 
anftelite, fi darum bemüht, die Handfhrift aus dem Archiv der 
bayerifchen Ordensprovinz zu erlangen, was ihm durch die Biberali« 
tät des Provinzial P. Modeftus Leipold, damals in München, 
man beliebigen Gebrauch“ gewährt wurde. 

Aus dieſer Handſchrift (auf Papier, im 4%, nicht übel ge- 
ſchrieben) veröffentlicht nun der Verfaffer nach einem kurzen Bor« 
wort, S. 1—3, den Eingang, eathaltend bie Aufforderung von» 
feiten des Guardiand Bartholomäus Wyer, fobann die zu— 
jagende Antwort und Debifation Glashergers, hierauf das 
fachliche Vorwort des letzteren (S. 4— 6), demjenigen Teil der 
Ehronif felbft (brevis Annotatio betitelt), weldher über 56 Jahre 
ſich erftredt, nämlich von 1206 bis 1262, d. h. bis zu dem 
Kapitel von Halberftabt, S. 6— 72, unter Veifügung von Litter 
rariſchen und fachlichen Anmerkungen. 

Die Schrift Glasbergers enthält manche befangreiche Beiträge 
zur Inneren Geſchichte des Sranziöfaner- Ordens, aber aud) zur 
Geſchichte chriſtlicher Frömmigkeit im XII. Jahrhundert über⸗ 
haupt. Zum Beiſpiel in den Gang des inneren Lebens des Stifters 
der Minoriten bekommt man durch die Mitteilungen Glasbergers 
©. 6f. einen Maren Einblick. Es unterſcheiden ſich in der inneren 
Entwictelung des Mannes zwei Stadien: früher, al8 junger Kauf- 
mann, einen weltlichen Wandel führend, wurde er 1206 erwedt 
und führte nun einige Jahre lang ein Eiufteblerleben, welches ſich 
von dem anderer Asfeten nicht unterſchied. Da machte im Jahr 
1209, während er die Meſſe Hörte, die Verleſung der Worte 
Jeſu an die Apoftel Matt. 10, 9: „ihr follt nicht Gold noch 
Silber noch Erz in euren Gürteln Haben, auch Feine Taſchen zur 





Analecia ad Fratrum Minorum Historiam, 418 


Wegfahrt — — feinen Schuh aud feinen Stecken“ — ſolchen 
Eindrud auf ihn, daß er auf der Stelle Schuhe, Taſche und 
Stab abfegte, feinen Rod mit einem ganz gewöhnllchen Strid 
umgürvtete, um fortan ein volfftändig apoſtoliſches Leben zu führen. 
Damit begann denn, nach der fpäteren Anſicht der Franziskaner, 
der Minoritenprden in der Perſon des Stifters felbft. 

Berner, der BVerfafer ift aufrichtig genug, von allen den 
Meinungsverfchiedenheiten, Irrungen und Spaltungen zu erzählen, 
welde innerhalb des Ordens fich ereignet haben, während der 
eigentliche Geſchichtſchreiber des Franzisfaner- Ordens, Lukas Wad⸗ 
ding im XVII, Jahrhundert, dieſe Differenzen möglichſt zu ver⸗ 
tuſchen gefucht Hat. Jene Abweichungen betrafen fümtlih die 
Ordensregel. Bald ſollte Diefelbe verfchärft, bafd gemildert werden. 
Erftereg wurde ſchon 1219, nur 10 Jahre nad Gründung der 
Minoriten verſucht, während Franz von Affift ſelbſt ſich im 
Morgenlande hefand, wo er durch Mifftonieren unter den Muhas 
medauern den Märtyrertod ſuchte. Die beiden Bilarien, welche 
Zranz bei feiner Ahreiſe für Italien heſiellt haite, ordneten gewiſſe 
Verſcharfungen inbetreff des Faſtens om, welche Unzufriedenheit 
exregten. Diefe wurden indes, nochdem Franz zurückgelehrt war, 
wieder abgeſtellt, ſ. S. 17—19. 

Starkere Konflikte eutſtanden durch Verſchulden des Minoriten 
Elias. Derſelbe Hatte anfangs (1224) die eben erwähnten Ver⸗ 
ſcharfungen erneuert, welche jedoch durch Franz van Aſſiſi anders 
weit kaffiert wurden (©. 32). Allein nachdem letzterer geftorben 
war, wußte er auf einem @enerallapitel zu Aſſiſt 1230 den Ber 
ſchluß durchzuſetzen, daß einem Mimoriten geftattet würde, durch 
Mittelsperfonen Geld. einzunehmen u. f. w., was nur durch Papft 
Gregor IX, ay den die Beguer appelliert, wieder aufgehoben 
wurde (S. 48F.). Nachdem indes Eljas 1232 auf einem zu 
Rom gehaltenen Generalfapitel zum Ordensgeneral gewählt worden 
war. mußte er papſtliche Privilegten zu langen, kraft derer er 
durch Meittelöperfonen Geld einuehmen durfte, dem Orden allent- 
halben Geldſamuilungen anferlegte, despotiſch zu regieren und fürft« 
Uch zu leben anfing. Glasberger, welcher auf Elias ſtets übel 
au ſprechen iſt, behauptet, die Wahl deaſetben zum Ordensgeneral 


420 Analecta ad Fratiium Minorvm Historiam. 


fei nicht kanoniſch korrekt gewefen, vielmehr durch Parteiumtriebe 
durchgefegt worden. Die Gegner wurden bedrüdt, und von da an 
Scheint die Oppofition der fogenannten Zelatores ſich gebildet zu 
haben (S. 52ff. vgl. 59. 63. 66). Glasberger macht aus 
feiner Sympathie mit den letzteren kein Hehl. Sieben Jahre fpäter 
wurde, infolge von Appellationen und längeren Verhandlungen vor 
Gregor IX, Elias auf einem Generalfapitel zu Rom 1239 des 
Generalats enthoben (S. 56ff.). ine Mafregel, deren Rechter 
güftigkeit 1241 durch die Partei des Elias, welche ſich inzwiſchen 
wieder verftärkt Hatte, während Elias felbft bei Kaiſer Friedrich IL 
zu Hoher Gunft gelangt war, beftritten wurde (S. 6Lff.). 

Bas für eine Vorftellung von der welthiftorifchen Bedeutung 
des Franz von Affift und feiner Stiftung fi in gewifien reifen 
bildete, ergiebt fi aus den angeblichen Äußerungen eines Ber 
feffenen, welche nad) der Mitteilung eines gewiſſen Bartholomäus, 
der ein vertrauter Freund und Verehrer des heiligen Franziskus war, 
Glasberger ©. 15f. erzählt. Der Dämon in dem Beſeſſenen 
berichtet nämlich: vor nicht gar langer Zeit Hat unfer Furſt uns 
alle verfammelt, und ung eröffnet, daß Gott jederzeit einen Mann 
zur Belehrung der Welt fende; fo ſei Noah, fpäter Abraham, 
dann Mofe und die Propheten gefandt worden, nad diefen Chriſtus 
und die Apoftel; weil aber gegenwärtig die Menfchheit den Weg 
Chrifti und der Apoftel verlaffen Habe, und fein Leiden den 
Herzen entf hwunden fei, werde ein Mann zur Belehrung des 
Volts erſcheinen, um die Paſſion des Sohnes Gottes den Herzen 
der Gläubigen wieder einzuprägen. Diefer Mann fei eben Sran« 
ziskus. Deömegen feien gegen ihn und feinen Orden alle ihre 
(damoniſchen) Machte aufgeboten worden, um biejelben zu Falle 
zu bringen. — Unmittelbar aus dem Herzen eines frommen Minor 
riten fließt der Pragmatismus des Verfafjers der Chronik, nach- 
dem er erzählt Hat, wie Bruder Jordanus, Provinzial von Thür 
tingen, bei feiner Rucktehr von Affift, wo ihm der General Haare 
und Kleidungsſtücke des Heiligen Franz als koſtbare Reliquien mit» 
gegeben hatte, im Jahre 1230 im Minoritenfonvent zu Eiſenach 
mit Kreuzen, Weihrauch und Palmzweigen in feierlicher Prozeffion 
und mit Gefang in die Klofterfirche geleitet worden, und Jordanus, 


Analecta ad Fratrum Minorum Historiam. 421 


anfänglich betroffen über ſolche Verehrung, fih nun erinnerte, 
daß er ja die Reliquien des Heiligen Vaters bei ſich habe, und dag 
die Verehrung der Brüder, ihnen unbewußt, dem heiligen Franz 
don Affifi gelte. Hier fügt Glasberger, vielleicht einem älteren 
Ordensfchriftfteller folgend, die Bemerkung bei: „Wer dies mit 
frommem Sinne Tieft, wird nicht bezweifeln können, daß nicht in« 
folge menfchlicher Gedanken, fondern aus Eingebung des heiligen 
Geiftes die Söhne ihren feligen Vater angeſichts feiner Reliquien 
geehrt haben. Diefe ungewöhnliche Art des Empfangs und diefe 
anbächtige Stimmung hatte ihnen nur ber Geift gegeben, von 
welchen alle gute Regung ausgeht, und den der feligfte Vater, 
welcher in dem Geſchenk feiner Reliquien gegenwärtig war, für 
feine Söhne gnadenreic erlangt Hatte. O feliger Vater Franzis- 
tus, wer Tann fi würdig vorftellen, in wie großer Herrlichkeit 
du bei Gott im Himmel ftrahleft, wenn Gott macht, daß bein 
Allergeringftes, nämlich Haare und Kleider von dir, fogar von 
nichts ahnenden Söhnen auf Erben fo hoch geehrt werben!“ 
(S. 505.) Hier ift allerdings ein Punkt, an dem Erhabenes und 
Lacherliches fih unmittelbar berühren. 

Nur eine Thatſache möge Hier noch Erwähnung finden, ein 
mittelalterlicher Magdalenenverein, von welchem Glasberger be 
richtet, daß ihn der grundgelehrte Biſchof Wilgelm in Paris 1225 
ftiftete, indem er öffentliche Dirnen, die durch feine Predigten ber 
fehrt worden, zu einer Kongregation von Bußerinnen der heiligen 
Maria Magdalena vereinigte, ein Orden, der durch Gregor IX. 
Betätigung erhielt (S. 35f.). 

Die fähfifhe Ordenschronit Nikolaus Glasbergers zeichnet 
ſich durch Genauigkeit, ja felbft durch eine gewiſſe Kritik, ander» 
weitigen Nachrichten gegenüber, fowie durch Angabe der Quellen 
föriften aus. Es laffen ſich innerhalb des von Evers ver- 
öffentlichten Teils der Chronik wenigftens 10 verfchiedene Schriften 
nachweiſen, welche der Verfaſſer benutzt hat. Es find das aller» 
dings überwiegend Denkwürdigkeiten zur Geſchichte des Franz 
von Affifi und des Minoritenordens, 3. B. die Memorabilia 
des Jordanus von Giano, die Chronik Balduins von Braun 
ſchweig, Legenden über das Leben des Srangietus, von Thomas 

æheol. Stid. Yafız. 138. 


42 Analecta ad Fratrum Minorum Historiam. 


von Celano, und Bartholomäus von Pifa; aber and allgemeinere 
Geſchichtswerke wie des Vincenz von Beauvais Geſchichtsſpiegel, 
die Geſchichte Jeruſalems von Kard. Jakob de Vitriaco u. ſ. w. 

Bel Beſorgung des Abdruckes Hat der Herausgeber geglaubt, 
ſich volfftändig der Handſchrift anliegen zu follen, bis auf die 
mittelalterliche Schreibung und die Interpunktion, welche wicht 
felten das Verftändnis erſchwert. Der Text ift, abgefehen von 
Fällen, in denen eine Abbreviatur nicht beachtet ober faljch ent- 
ziffert wurde, 3. B. ©. 8 oben pari ftatt parari (bie HS. 
zeigt Hier allerdings fein Abfitrzungszeichen), S. 59 unten corri- 
gilibus für corrigibilibus, was die HS. fehr deutlich Hat, 
©. 32 unten apparuit ftett apperuit — oculos, S. 35 
Mitte novitatis ftatt noveritis, oder fonft falfch gelefen wurde, 
3.8. S. 13 unten fortes Zabulon et Neptalim, ftutt sortes 
Z. et N. — richtig wiedergegeben. An mehreren Stellen Hat der 
Herausgeber die Richtigkeit der Schreibung beanftandet, während 
diefelbe, genau betrachtet, einen vollſtändig zutreffenden Sinn giebt, 
z. B. ©. 6 quod; ©. 7 oben: malleo — tribulacionum 
at temptacionum — probatus (fo die Abkürzung anfzulöfen 
ftatt: tribulacionem — temptacionem). ©. 57 unten ift das 
Fragezeichen nad quasi um bdeswilfen völlig entbehrlich, weil 
quasi in ber mittelalterlihen Latinität dfters fo viel iſt als 
eireiter, wie ber Herausgeber aus Stellen feines Autors, bie 
er ©. 61 unten, ©. 72 unten hat abdrucken laſſen, erfehen Konnte. 
Das Fragezeichen zu dem Eitat S. 67 oben war gleichfalls über- 
ftüffig. " 

Dies alles Tann Ref. um ſo zuverſichtlicher behaupten, als 
durch die gütige Vermittelung bes jeßigen Kuſtos der bayriſchen 
Franzisfaner-Provinz, des gelehrten Paters Herrn Petrus Högt, 
die Glasbergerſche Handſchrift aus Italien requiriert und im zu⸗ 
gefandt worden ift, fo dag er von allen fraglichen Stellen Einficht 
zu nehmen In der Rage war. 

Die Anmerkungen des Herausgebers beftehen teils aus Titte- 
rariſchen Angaben paralleler Stellen von Werfen wie Wabding, 
Jordanus von Giano u. a., zum Teil auch aus Eltaten neuerer 
Geſchichtswerke, tells aus chronologiſchen Notizen. Sachliche Er⸗ 





Analecta ad Fratrum Minorum Historiam. 43 


Tünterungen wären je und je erwünfcht gewefen. Die Reihenfolge 
der vier erften Sranzisfaner-Generale ift zweimal gegeben: ©. 53, 
Anm. 1, und ©. 60, Anm. 2. 

Der zweite Teil diefer Schrift, De fratrum Minorum 
Conventu Lipsiensi, ©. 73— 89, giebt fragmentarifche 
Mitteilungen über Gründung und Gefchichte bes Franziskaner 
Mofters zu Leipzig, beziehungsweife der „Barfüßerkirche“ dafelbſt. 
Der Berfaffer Hat dabei möglichſt Urkunden des Leipziger Stadt- 
archlvs des Staatsarchivs zu Dresden, be8 Codex diplom&- 
ticus von Sachſen, und andere zugrunde gelegt. Den ftärkften 
Eindrud macht der Einblick in den fittlichen Verfall der Bar- 
füßer zu Seipzig im KV. Jahrhundert. Klare Bezeichnungen find 
hie und da zu vermiffen; was foll man fich denken unter cano- 
nici ordinarii episcopatus Augustini, ©. 84? Ber 
mutlich find die Auguftiner Chorherren von St. Thomas ger 
meint. — Der lateiniſche Stil dieſes Teils Täßt doch hie und ba 
Ausftellungen zu. 

Ein Druckfehlerverzeichnis wäre für ben I. imb den II. Teil 
wohl nicht überflüffig geweſen. 

9. Sehler. 


2. 


Lambert Daneau, sa vie, ses ouvrages, ses lettres 
inedites. Par Paul de Felice, pasteur. Paris (Fisch- 
bacher) 1882. VI u. 384 ©. gr. 8°. 





Ein Werk des adtungswerteften Fleißes und von einer nicht 
geringen Gelehrſamkeit zengend iſt diefe Monographie über Dar 
näus, diefen alten Calviniften des ſechzehnten Jahrhunderts, ber 
als treuer Baftor und aufopfernder Belenner feines Glaubens wie 
als namhafter Theologe — tüichtig In dem verſchiedenſten Disziplinen 

28* 


424 Fölice 


und Schöpfer der theologiſchen Ethil (60 Jahre vor Calixt) — 
die Bedeutung vollauf verdient hat, die feine Zeitgenoffen ihm bei⸗ 
gelegt, und Heute noch der Beachtung wert ift. Einer abeligen 
Familie angehörig, wurde er um das Jahr 1530 zu Beaugench- 
fur» Loire geboren, machte dort, und von 1543 an in Orleans, 
die Schule durch, ftudierte in Paris Philofophie, dann 1552 bis 
1557 Jurisprudenz in Orleans unter dem nachmaligen Märtyrer 
Anne du Bourg, und in Bourges unter dem berühmten Daneau, 
und wurde 1559 Dr. juris. Der Märtyrertod feines Lehrers 
du Bourg (1559) brachte feinen Übertritt zur reformierten Kirche 
zur Reife. Oftern 1560 begab er fid nad) Genf, wo die Predigten 
und Dorlefungen Calvins ihn bewogen, ſich der Theologie zu 
widmen, mit ber er fich längft ſchon befchäftigt Hatte. Bereits 
vor Oftern 1561 folgte er einem Rufe als Paftor nad Gien, 
dem alten Genabum (wofür meift Orleans, aber fälſchlich, gehalten 
wird; eine Vorſtadt von Gien Heißt noch Ia Genabie). Die 
manchfachen Gefahren und Leiden, die er dort mit feiner Gemeinde 
während der Religionskriege zu beftchen Hatte, können wir hier 
nicht im einzelnen verfolgen; der betreffende Abfchnitt des Werkes 
iſt intereſſant durch die aftenmäßige Widerlegung verfchiebener 
papiſtiſcher Nachrichten von Greueln, die den Hugenotten aufs 
gebürdet wurden. Bel der Bluthochzeit floh er nach Genf, unter 
Verluſt feiner Bibliothel und vieler; Manuftripte. Er wurde nun 
Brofeffor der Theologie in Genf und daneben Paftor im nahen 
Vandeuvres, dann in der Stadt ſelbſt; ein Doppelberuf, der bei 
feiner ſchon damals wankenden Gefundheit ihm fehr fehwer fiel. 
Seine Bejoldung belief ſich zulegt auf 400 Gulden; dafür hatte 
er — abwechfelnd mit Beza, feinem einzigen Kollegen — in jeder 
zweiten Woche drei Stunden (von 2 bis 3 Uhr, Montag, Diens- 
tag und Mitwoch) zu lefen. 

Nach langen Verhandlungen folgte er im Februar 1581, mit 
einem ehrenvollen Zeugnis des Rates von Genf verfehen, - einem 
Rufe an die, 1575 geftiftete Univerfität Leyden. Unterwegs, in 
Straßburg, wo er Jak. Sturm aufſuchen wollte, Hatte er ſeitens 
der dort eben zur Herrſchaft gelangten ubiquitarifchen Theologen 
eine Reihe von Schilanen zu erdulden, welche de Felice als pueriles 





Lambert Daneau. 425 


bezeichnet, welche man aber eher als bübifch zu bezeichnen geneigt 
fein möchte. Den 13. März kam er in Lepden an — um es 
fon nad einem Jahre wieber zu verlaffen. Die Anſchauungen 
und Begriffe von Kirche und Kirchenverfaffung, die er in den 
Niederlanden vorfand, waren denen, die er aus Frankreich und 
Genf mitgebracht, diametral entgegengefegt. Schon die Toleranz 
gegen Katholiſche, wenn diefe nur fir die pofitifche Selbſtändig⸗ 
feit der Niederlande mitwirken halfen, dunkte ihm Verrat an ber 
Sade des Herrn. Vollends die Unterwerfung des kirchlichen 
Gouvernements unter bie weltliche Obrigkeit mußte ihm, der fi 
nur eine presbyterial verfaßte, vom Staate unabhängige Kirche 
denen konnte, als ein Greuel erfcheinen, und dies um fo mehr, da 
unter den vornehmften und einflußreichften Vertretern ber entgegen» 
ftehenden Anficht mehrere ausgefprocene Schwenkfeldianer ſich bes 
fanden, welche „die äußerliche Kirche“ für ein Adiaphoron erklärten, 
auf deſſen Geftaltung gar nichts anfomme, und von welchem „bie 
unſichtbare Kirche“ ganz unabhängig ſei. Danäus feinerfeits Bielt, 
wie Calvin, an bem Begriffe der ecclesia universalis als einer 
visibilis feft, welde beides, mater fidelium und coetus sanc- 
torum (Führerin zum Glauben und Reſultat des vorhandenen 
Glaubens) zu fein berufen ſei. Mit Polanus geftand er fogar 
der römifchen Kirche zu, ein Teil der ecclesia universalis visi- 
bilis, wenn aud eine pars impurissima, zu fein, forderte aber 
von einer pura ecclesia die Requifite reiner Lehre und Safrar 
mentsverwaltung, bibliſcher Verfaffung und hriftlicher Zucht (Diss 
ziplin). 

Wenige Wochen war Daneau in Leyden, als die beiden, ein⸗ 
ander widerſtreitenden Grundanſchauungen ſchon in praktiſchen 
Einzelfällen in Konflikt gerieten. Daneau ſamt ſeinem ehemaligen 
Lehrer und jetzigen berühmten Kollegen Daneau widerſetzten ſich 
den Eingriffen der ſtädtiſchen Obrigkeit in kirchliche Angelegen⸗ 
heiten der walloniſchen Gemeinde mit Nachdruck und nicht mit 
Unrecht; erſterer griff aber auch die ganze, in Leyden herrſchende, 
durch Domine Coolhaes plumb genug vertretene ſchwenkfeldiani⸗ 
ſierende Kirchentheorie in fulminanten Streitſchriften an. Der 
Streit ſetzte ſich in die Synoden fort und: führte, was noch 


426 Felice 


ſchlimmer, zu Stubentenunruhen. Der Prinz von Oranien that, 
was er fonnte, zum Schuge der beiden berühmten Profefforen. 
ALS aber eine der beiden Magiftratsperfonen erklärte, der Rat 
wolle die Genfer Inquifition ebenfo wenig, als die fpanifche, da 
antwortete Daneau: in einer Stadt, wo die dem Worte Gottes 
gemäße Kirchenordnung auf eine Linie mit der ſpaniſchen Inqui⸗ 
fition geftellt werde, könne er feinen Augenblick Länger bleiben. 
Er reichte feinen Abſchied ein und verließ Leyden den 20. Mai 
1581. 

Es ift bekannt, daß mit feinem Weggange der Streit ber 
beiben Prinzipien nicht zu Ende war, fondern noch 37 Jahre Tang 
die Niederlande erſchütterte. Der arminianiſche Streit war ja 
feinem tiefften Grunde nach nichts anderes, als der Kampf zwiſchen 
der calviniſch⸗ orthodoxen, auf Selbftändigkeit und dogmatiſche wie 
disziplinare Neinheit gerichteten fynodalen — und der national« 
firhlihen, in Beziehung auf Dogma und Disziplin latitu— 
dinariftifchen antifynodalen, weil ſtaatskirchlichen Partei. 
Da bie leßtere zugleich einen Staatenbund, die erftere einen Bundes⸗ 
ftaat wollte, fo warf der Oranier für die erftere fein Gewicht in 
die Wagfchale und Half ihr in Dortreht zum Siege‘). „Mir 
{ft es einerlei“, fagte Morig von Oranten, „ob die Prädeftination 
gran ober blau ift; aber das weiß ich, daß bie Pfeifen des Advo⸗ 
Taten (Oldenbarneveldt) und die meinigen eine Freifchende Diffonanz 
bilden.“ 

Daneau ging nach Gent, wo er an der dortigen, ftreng cal⸗ 
viniſchen theologiſchen Alademie ein halbes Jahr Tang dozierte. Er 
kehrte dann nad) Frankreich zurück und wirkte als Profeffor an der 
theofogifchen Alademie von Bearn, welde erft in Orthey dann in 
Tesrar ihren Sig Hatte. Eudlih 1592 folgte er einem Rufe 
als Paftor nach Caftres, wo er den 11. November 1595 ftarb. 

Die Herftellung dieſes Lebeuslaufes war eine überaus mühe- 
volle. Aus vereinzelten Notizen in Briefen und Vorreden, aus 
den zerftreuten Akten der einzelnen Städte und Univerfitäten, aus 


1) Eine ausführliche Darftellung des merkwürdig Tompfigierten Streites 
habe ich in meiner Kicchene und Dogmeugeſchichte IE, 504—588 gegeben. 





Lambert Daneau, 421 


Vapieren in verſchiedenen Bibliotheken hat der unermüdete Verfaffer, 
unterftügt van feiner reichen Beleſenheit, die einzelnen Notizen 
ufammengefudt, verglichen, in feharffinuiger Kritik und nüchterner 
Beſonnenheit kombiniert und fo zu einem, freilich nicht lückenloſen] 
aber immerhin reichen Lebensbilde vereinigt. 

Nicht minder mühfelig war — und nicht minder danfenswert 
ift der zweite Hauptabfchnitt feines Werkes, der bibliographiſche, 
wo er den 66 größeren und Mleineren Werken Daneaus nah all 
ihren verfchiebenen Ausgaben, Wiederabdruden und Überfegungen 
in fremde Sprachen, wie fie in ben verfchtedenen Bibliothelen 
Europas ſich zerftreut auffinden Tießen, nachgegangen ift, ſich aber 
mit diefem formelf-bibliographifchen Material nicht beguügt, fondern 
don den wichtigeren Werken, wie 3. B. der Ethik, der Iſagoge 
oder dem Compendium sacrae theologiae, fowie auch den hüdjft 
interefjanten verſchiedenen Streitfchriften wider den Tanz und die 
Kleiderpracht, äußerft geſchicte Auszüge und kompendiöſe Repro- 
duftionen des Inhaltes giebt, fo daß man ans feinem Werke auch 
von der Methode Daneaus und feinen theologiſchen Anſchauungen 
ein Hares Bild gewinnt. 

Was insbefondere die Ethit (1577) betrifft, fo glaubt der 
Verfaſſer auf die von Alexander Schweizer aufgeworfene Frage 
eingehen zu müffen, wie es ſich reimen laſſe, daß die prädeftina- 
tianifchen Calviniften die erften Schöpfer einer Ethik waren. 
De Selice meint die Löfung darin zu finden, daß die Ealviniften 
nicht von der Prädeftination zur Ethik, fondern von der Ethik 
aus zur Prädeftination geführt worden feien, und beruft ſich zum 
Beweiſe dafür darauf, daß „in der Moral des Dandus nichts ift, 
was einer Apologie der Prädeftinationslehre gleichſähe“. Das ift 
denn aber doc nicht richtig. Der ganze erfte Teil von Daneaus 
Ethik (feine Unterfuhung über den Willen und deſſen Freiheit) 
ruht ja doc; gänzlich auf der Grundlage der prädeftinatianifchen Dog- 
matif; das prädeftinatianifche Theorem, daß der Wille feinen In⸗ 
halt vor dem Falle von Gott, nah dem alle vom Teufel 
empfange, und daß nur die Form des velle (de Begehrens) 
vor und nad) dem Falle, vor und nach der Belehrung dem Menfchen 
eigne, finden wir in Daneaus Ethik in alfer Breite entwidelt. 


48 Felice, Lambert Daneau. 


Auch wo er von ber hriftlichen Heiligung, dem Kampfe des neuen 
Menfchen gegen den alten rebet, fagt er (bei de Felice, ©. 184): 
„Die Ermwählten können nie fo tief in Sünden fallen, als die 
BVerworfenen, weil die Gnadengabe Gottes nie gänzlich verloren 
werden kann.“ — In der That bedarf au die von Schweizer 
aufgeworfene Frage keiner fo Künftlichen Antwort. Würde derfelbe 
nicht die altveformierte Präbeftinationslehre im Sinn eines philo⸗ 
ſophiſchen Determinismus verftanden d. 5. mißverftanden haben, 
fo würde er jene Frage überhaupt nit aufgeworfen Haben. Die 
Unterfu_hung, wer als letzte Urfacdhe die Umwandlung aus dem 
fündigen in den geheiligten Menfchen bewirke, ſchließt ja doch die 
Unterfu_hung, worin dieſe Umwandlung beftehe, nicht aus. Die 
Tegtere Unterfuchung ift Gegenftand der Ethik, die erftereift dogmatiſcher 
Art und wurde von Daneau wie von Calvin in dem mechaniſchen 
Sinne der abfoluten Prädeftination, unter Verkennung des Bes 
griffes der, in der Wiedergeburt dem Menfchen zurücgegebenen 
aktiven Rezeptivität, beantwortet. — 

Der dritte Teil des Werkes: die diplomatifch genaue Mit 
teilung von 61 bisher noch ungedrudten Briefen von und an 
Daneau, ift felbftverftändfih ein höchſt wertvoller Quellenbeitrag 
zur Geſchichte der Kirche und Theologie des 16. Jahrhunderts. 

Und fo Haben wir alfe Urſache, dem Verfaffer für diefe ges 
lehrte Arbeit Herzlich dankbar zu fein, und werben feinem bes 
fonnenen Urteile gerne beiftimmen, wenn er Daneau für ein 
Kind feiner Zeit, aber immerhin fir einen bedeutenden Theologen 
und ernften warmen Chriften und treuen Diener der Kirche er» 
tlart. 


U. Abrard. 





Stade, Zeitfäeft für aftteRamentlie Wiffenfeaft 49 


3. 


Beitfehrift für allteſtamentliche Wiſſenſchaft. Herausge- 
geben von Dr. Bernhard Stade, ord. Profeſſor der 
Theologie zu Gießen. J. Rickerſche Buchhandlung. 
Jahrg. 1881. 1882, Heft 1. (Der Jahrgang koſtet 
10 Mar.) 





Gegenwärtig find auf aftteftamentlichem Gebiete eine große Zahl 
von Einzelunterfuhungen zu führen, für welche weder eine all» 
gemein theologifche noch eine phifologifche Zeitſchrift den nötigen 
Raum gewähren fann. in Unternehmen wie das vorliegende, 
das Übrigens von der Deutfchen Morgenländifchen Geſellſchaft 
unterftügt wurde, kommt alfo gewiß einem dringenden fachlichen 
Bedürfniffe entgegen. Wie ſchon der billige Preis der Zeitſchrift 
zeigt, iſt diejelbe auf einen großen Leſerkreis berechnet, und es 
fteht zu wünfchen, daß es dem Herrn Herausgeber gelingen möge, 
auch feinen Stoff dem entſprechend auszuwählen. Die Vor 
bedingung dazu ift freifich eine möglichft alffeitige Beteiligung ber 
Fachgenoſſen. Möge die Gemeinfamleit bes fachlichen Intereſſes 
alle hier etwa entgegenftehenden Schwierigkeiten überwinden! Evens 
tuell wäre Übrigens zu fragen, ob bie Zeitfchrift zeitweilig nicht 
and in zwanglofen Heften erfcheinen könnte, — ein Ver— 
fahren, das fich bei einer ähnlichen Unternehmung vortrefflich 
bewäßrt hat. 

Eröffnet wird ber erfte Jahrgang durch eine Abhandlung des 
Herausgebers über Deutero⸗Zacharja“. Es wird Hier ber Nachweis 
verfucht, daß die Kapp. Sad. 9—14 von einem und zwar nadj- 
exilifchen Verfaffer herruhren, den Stade in bie griechiſche Zeit 
fegen möchte. Die Schwierigkeiten, die dem Verſtändnis diefer 
rätfelhaften Kapitel im Wege ftehn, find außerordentlich groß; auf 
Schritt und Tritt muß der Ausleger ſich fragen, ob er wirklich 
verfteht ober zu verftehen glaubt, ob der Text verderbt ift ober 
ob unfere Mittel zu feiner Erklärung nicht ausreichen. Auch in 


489 "Stade 


der forgfältigen Inhaltsangabe, die Stade feiner Erörterung vor- 
ausſchickt, werden namentlich feine tegtkritifchen Anmerkungen viel- 
fach den Widerfpruc Heransfordern. Bei diefer Sachlage ift die 
Löfung des Problems mehr als anderswo von ber richtigen Frage 
ftellung bedingt, es ift Bier durchaus unerlaubt, von bdiefen und 
jenen Einzelgeiten auszugehen, die zum Zeil mit großem Schein für 
die eine ober andere Meinung gektend gemacht werden lönnen. 
Dem gegenüber verlangt Stade mit vollem Recht, daß man biefen 
Abſchnitt vor allen Dingen in feiner Gefamtheit und dann im 
Zufammenhang der übrigen prophetiſchen Litteratur betrachte. 
Diefen Weg hat man fon beim Buche Joel eingefchlagen und 
m. €. mit Erfolg. ‚Der fekundäre Charakter des Buches Joel 
und des zweiten Teils des Buches Sadarja ergiebt fih m. E. in 
der That aus der Überfadung und Undurchſichtigkeit der Hier vor- 
liegenden eschatologiſchen Schilderungen, deren Unverftändlichkeit 
zum großen Teil darauf berußt, bag fie nicht lebendig vor unferen 
Augen aus der prophetifchen Predigt hervorwachſen, wie das bei 
den Älteren Propheten und noch bei Ezechiel und Sadarja der 
Tall if. Im Zuſammenhang damit fteht die Thatſache, daß bei 
Zoel und Deutero-Sacarja von der eigentlich propketifchen Predigt 
nichts mehr zu fpüren iſt. Binden wir Hier nun weiter die Zur 
kunftsbilder faft aller übrigen Propheten zum Teil ziemlich äußer- 
lich miteinander verarbeitet und ftehn wir vor der Alternative, 
ob Joel und Deutero-Sadarja die Fundgruben waren, aus denen 
Jeſaja, Jeremia und Ezechiel ihre Zufunftsbilder entlehnten, oder 
ob umgekehrt jene von diefen abhängig find, fo kann m. E. die 
Entſcheidung nicht zweifelhaft fein. Dann fragt ſich's immer noch, 
wie die große Bedeutung zu erklären fei, die fir Deutero⸗Sachar ja 
die Griechen haben. Wie könnte man bei einem (gleichgefinnten) 
Zeitgenaffen Jeſajas und Zeremias den Wunfch begreifen, dag die 
Prophetie doch endlich ein Ende nehmen und jedem Propheten mit 
Schlägen der Mund geftopft werden möge? — Freilich hat Stade 
die Beweistraft feiner Auseinanderfegungen ſehr weſentlich durch 
Überladung beeinträchtigt. Der Wunfch, den Beweis fo allſeitig 
wie möglich zu führen, Hat ihn bfter zu geivagten Behauptungen 
geführt. Nichtsdeſtoweniger möchte diefe Abhandlung zu einer 


Zeltſchrift für altteſtamentliche Wiſſenſchaft. 41 


Nevifton des Eritifchen Urteils über Sad. I—14 das Ihrige beis 
tragen. 

Die Abhandlung von Eduard Meyer: „Kritik der Berichte 
über die Eroberung Paläftinae“ (I, S. 117ff.) knupft in der 
Analyfe der jehoviftifhen Geſchichtserzählung von Num. 13 bis 
Richt. 1 überall an die Unterfuhungen von Wellhaufen an und 
Hat bdiefelben am mehreren Punkten mit Fleiß und Geſchick weiter 
geführt. Der Verfaffer hätte aber vieleicht wohlgethan, wenn er 
ſich hierauf befchränft hätte. Denn in der hieran ſich fehliegenden 
Kritik der jehoviſtiſchen Erzählung hat er die Schwierigkeit feiner 
Aufgabe m. E. weſentlich unterfhägt. Es Handelt fi Hier zus 
nächſt um die Rekonſtruktion der jahoiftifchen Erzählung (I), als 
der nah Wellgaufens und Meyers Urteil älteren Duelle des aus 
Jahviſten und Elohiſten (E) zufammengefegten jehoviftifchen (JE) 
Werkes. Die Scheidung von J und E fteht aber im einzelnen 
noch viel zu wenig feft und bei der Freiheit, mit der Redaktor 
(JE) gearbeitet Hat, ift die Refonftruftion von J und E vielleicht 
nicht überall fo einfach, als der Verfaſſer zu glauben ſcheint. 
Terner ift es zum mindeften zweifelhaft, ob der Jehoviſt ſowohl 
I als auch E überall vollftändig aufgenommen Hatte; gewiß ift, 
daß uns das Werk des Jehoviſten nicht ganz vollftändig vorliegt. 
Unter diefen Umftänden ift aber bei ber Kritik der verſchiedenen 
Erzählungen die Außerfte Vorficht geboten. Es mag fein, daß E 
jünger al J und vielfach von diefem abhängig ift, daß die Dar» 
ftellung von E durd) gewiſſe religiöfe Anſchauungen nicht unweſent ⸗ 
lich beeinflußt ift. Aber dem Ephraimiten E ftand doch ohne 
Zweifel noch eine andere Überlieferung zugebote als dem Judäer 
I, und wer neben J die Erzählung von E nirgends als eine 
felbftändige Quelle gelten laſſen will, muß zuvor beweifen, daß 
die Verfärbung der überlieferten Stoffe hier eine derartige ift, die 
die Verwertung der Relation von E für die Gefdichtsdarftellung 
überall ausſchließt. Es will uns feinen, daß die Erzählungen 
von E doc auf einer anderen Stufe ftehn als Richt. 19—21. 
1Sam. 7. Auch ift mit der Vergleihung der beiden hauptſüch- 
lichen Erzählungen über die Eroberung des Landes und dem 
Nachweis, daß fie auf einer Zurücktragung fpäterer Verhäftniffe 


482 Stade 


in die Vergangenheit beruhen könnten, noch nicht alle Arbeit 
gethan. Es ift m. €. freilich unlengbar, dag Nicht. 1 uns 
ein wefentlih anderes Bild von der Feftfegung Israels im Weſt⸗ 
jordanland bietet als felbft der Kern der Erzählung des Buches 
Joſua. Schon Richt. 1 erfcheinen die Stämme vereinzelt und 
während ber Richterzeit, Hat ein einheitliches Israel nicht exiftiert; 
deshalb Hat die fpätere Überlieferung aud fein Bild vom Ge 
famtverlauf der Nichterzeit fondern mur einzelne Geſchichten von 
durchaus lokaler Färbung fefthalten können. Aber daraus folgt 
feineswegs, daß die Erinnerung nicht über bie Nichterzeit hinaus⸗ 
reichte und eine Reihe von Ereigniffen fefthielt, die in der Haupt 
face wirklich die Schickſale des Volles vom Auszug aus Agypten 
bis zur Einwanderung in Kanaan beftimmt Hatten. Denn aus 
anderen Gründen ift es dennoch eine unzweifelhafte Thatſache, daß 
die Stämme unter Mofe in gewiffem Maße eine Einheit bilbeten 
und einheitlich handelten, und hieran finden die Erzählungen von 
Num. 21. Joſ. 1—12 doc einen mefentlichen Anhalt. Es mag 
fein, daß das Lied Num. 21, 27 ff. ſich auf andere Ereigniffe bezieht, 
als die dortige Erzählung. Wer aber deshalb die Gefchichtlichkeit 
der Erzählung leugnen will, muß zuvor beweifen, daß die Erzäh ⸗ 
fung aus dem Liede ftammt. So Hat ber Verfaffer mehrfach zu 
weitgehenden Schlüffen ſich hinreißen Taffen, die der genligenden 
Grundlage durchaus entbehren. Er ift 3. B. der Meinung, da 
I in der Kundfchaftergefchichte nichts vom Murren des Volkes ber 
richtete, und folgert daraus, daß der AOjährige Aufenthalt in der 
Wüfte in feiner Erzählung keine Stelle Hatte. Alfo: weil in ben 
übrigen Quellen die 40 jährige Wüftenwanderung mit dem Murren 
des Voffes motiviert ift, hat I, ber (angeblich) von diefem Grunde 
nichts berichtete, auch jene Thatſache nicht berichtet. Sole über- 
eilten Schfüffe find um fo mehr zu bedauern, als fie mandem Lefer 
leicht auch die Prüfung der Prämiffen des Verfaſſers verleiden 
Könnten, überhaupt aber nicht gerade zur Empfehlung feiner kri⸗ 
tiſchen Pofition dienen. 

Ein wertvoller Beitrag zur Pentateuchkritit iſt Gieſebrechts 
Abhandlung „Über den Sprachgebrauch des herateuchiſchen Elohiften“ 
(dl, S. 177— 275), d. 5. des Prieftercoder (Q). Nicht als ob 





Beitfegeift für aftteftamentfiche Wiffenfchaft. 438 


auf diefem Gebiete die Entſcheidung über das Zeitalter. des letzteren 
zn ſuchen wäre. Es ließe fi, wie Giefebrecht ausführt, auch im 
Fall der nacherxiliſchen Entftehung diefer Schrift fehr wohl be» 
greifen, wenn ihre Sprache einen altertümlihen Charakter zeigte, 
und umgefehrt kann der Beweis des Gegenteil® aus mehr als 
einem Grunde immer nur in zweiter Linie in Betracht kommen. Aber 
im Gegenfag zu V. Ryſſel (De Elohistae Pentat. sermone, 
Lips. 1878) Hat Gieſebrecht auf alle Fälle gezeigt, daß der ſprach⸗ 
liche Charakter des Prieftercoder, foweit man bis jegt fieht, der 
Annahme feiner nachexiliſchen Entſtehung durchaus nicht im Wege 
fteßt, fondern eher derfelben günftig ift. Der Verfaffer zieht drei 
ſprachgeſchichtliche Perioden in Betracht (vor 700 v. Ehr., von 700 
bis 450, nach 450), es fommt eben darauf an, für die zu führende 
Unterfuchung eine möglichft breite Baſis zu gewinnen. Die Ber- 
gleihung der Sprache des Prieftercoder mit der des einen Ezechiel 
führt ſchließlich nicht weit, da die größte Verwandtſchaft zwiſchen 
beiden an ſich allerdings noch nicht die ungefähr gleichzeitige Ent« 
ftehung derfelben beweift. Nun ftelit fi) aber heraus, daß die Ver⸗ 
wandtſchaft des Prieftercoder mit Ezechiel in diefem Punkte am Ende 
nicht größer ift als die mit Deutero⸗Jeſaja und Jeremia. So 
namentlich was das Lexikon betrifft. Man wird in der tabellarifchen 
Zufammenftellung S. 188 — 197 dieſes und jenes Wort mit 
Recht oder Unrecht beanftanden, die Thatſache bleibt beftehn, dag 
der Prieftercoder und mit ihm zumeift die Literatur der zweiten 
und dritten Periode für Befig und Erwerb, für ſchreien und 
ſchluchzen, für fürbitten und bundfchliegen, für Fürft und 
Stamm, fürausfundfhaften und fteinigen andere Ausdrüde 
hat, als die Literatur der erften Periode. Dagegen kann ich dem 
Verfaſſer nicht beipflichten, wenn ex weiterhin auch den teilweife aras 
mäifchen Charakter des elohiſtiſchen Wortſchatzes erweifen will. Bei 
einzelnen Wörtern mag dies wahrfcheinlich fein; geradezu beweifen kann 
man 8 vielleicht bei feinem einzigen. Übrigens wird dadurch das 
Gewicht der übrigen Nachweiſe Gieſebrechts nicht aufgehoben. Merk» 
würdig ift namentlich der von ihm nachgewieſene poetifche Charakter 
gewiffer Ausdrücke des Prieftercoder, und Ichrreich ift die mit großem 
Fleiß angeftellte Unterſuchung über einzelne feiner ſyutaktiſchen 


434 Stade, Zeitſchrift für altteſtamentliche Wiſſenſchaft. 


Eigentumlichkeiten, ſowie über den Gebrauch von ax und van, den 
Gebrauch der Nota accusativi und des Verbalfuffizes. 

Eine zweite Abhandlung desfelben Berfafjers über die Ab- 
faffungszeit der Pfalmen (I, S. 276— 332) wird vielfach zum 
Widerſpruch Herausfordern, fowohl da, mo er mit fprachlicen, 
als auch da, wo er mit inhaltlichen Indizien argumentiert. Gleich⸗ 
wohl Halte ich and dieſe Abhandfung für nüglih. Der Ber 
faffer Hat die ſprachlichen Erfcheinungen in einem Maße zu⸗ 
fammengeftelft, twie das bisher kaum gefchehen ift, und betreffs 
des Inhalts mehrerer Palmen Hat er neue Beobachtungen ge 
macht, die mir richtig und wertvoll zu fein feheinen. 

Es tann nicht meine Aufgabe fein, den ganzen Inhalt der bis 
dahin erfehienenen Hefte durchzugehen. Im Vorbeigehen nenne ich 
nod) die forgfältige Arbeit Buddes „Über das hebräiſche Magelieb“ 
(U, ©. 1-52), Harkavys Herausgabe und Überſetzung eines 
Fragments von der Vorrede zu Saadjas nam eo (I, ©. 72 
big 94), fowie die Mitteilungen von J. Hollenberg (I, ©. 97 ff.) 
und Bäthgen (I, ©. 105ff.). Beſonders wertvoll iſt die Unter» 
ſuchung von Georg Hoffmann nad der Bedeutung des Wortes 
po (IL, ©. 58— 71). Hoffmann weiſt nah, daß dies Wort 
die Bedeutung „Ziegelofen“ nicht wohl haben Fan, fondern zus 
nachſt die Ziegelform bedeutet. Danach ift 2 Sam. 12, 31 hochſt 
wahrſcheinlich zu überjegen: „und er ftellte fie an die Säge umb 
an bie eifernen Picken und am bie eifernen Ärte (d. h. er vers 
wandte fe zu Steinhanern und Steinmegen) und Tieß fie mit der 
Ziegelform arbeiten“ (lies am). Es iſt von Bedentung, daß 
die herkömmliche Auslegung diefer Stelle fortan für die Eharafte: 
riftit Davids und überhaupt des althebräifchen Weſens nicht in 
Betracht kommt. Betreffs einer Abhandlung des Ref. fei es ge 
ftattet, hier nachträglich zu bemerken, daß derfelben eine alademiſche 
Antrittsporlefung zugrunde liegt. 

Ich ſchließe mit dem Wunſche, daß die nene Zeitfchrift viele 
Mitarbeiter und Lefer finden möge. 

Bafel, 22. Juli 1882. Rudolf Smend. 





Miscellen. 


Programm 
ber 
Haager Geſellſchaft zur Verteidigung der hriftlichen Religion 
für das Jahr 1882. 





Nach dem Abdrud und der Veröffentlichung des vorigen Pros 
grammes haben ſich als Verfaſſer der Abhandlungen über „, Wiexandre 
Binet als Hriftlicher Moralift und Apologet“, denen von 
den Direktoren in ihrer Herbftverfammlung von 1881 ein Ehren- 
preis zuerfannt war, befannt gemacht, der einen mit dem Motto: 
„Jai cru, c’est pourquoi j'ai parlé“ 


F L. Fred, Chavanues, 
emeritierter Prediger in Laufanne, 


und der anderen mit dem Sinnfprudh: „Virtutem videant“ 


3 Cramer, 
Dr. theol. und Profefjor in Gröningen. 


Beide Arbeiten befinden fi fon unter der Preffe und werben 
als XVI. Band der Werke der Geſellſchaft ans Licht treten. 

Als Verfaffer der Abhandlung über die bergleihende 
Religionsgefhichte und das Chriftentum mit dem Motto 
aus Schiller: „Religion des Kreuzes u. f. w.“ dem von 

Tiesl, Stab. Yapız. 1208. 2 


488 Programm 


den Direktoren der Geſellſchaft ein Beweis der Anerkennung feiner 
BVerdienfte angeboten war, hat ſich befannt gemacht 


R. Seydel, 
Dr. und Profeſſor zu Gohlis bei Leipzig. 





In ihrer Verfammlung im Herbft von 1882 am 11. Sep- 
tember und folgenden Tagen mußten Direktoren ihr Urteil zu⸗ 
fammenfaffen über zehn Abhandlungen, welche vor dem 15. Der 
zember des vorigen Jahres bei der Geſellſchaft eingegangen waren. 

Fünf davon, alle in der dentfchen Sprache, verfuchten die 
Löfung der Preisaufgabe: 

„Wie muß auf Hriftlidem Standpunkte geur— 
teilt werden Aber den Eid und feine Aufreqht· 
haltung im modernen Staate?“ 

Drei dieſer Abhandlungen, mit den Mottos: „Qui non 
reverentur homines, fallunt deos“ (Curtius), „Ju- 
ramenta justae necessitati serviant“ (Calvin) und 
„Ich glaube nit, daß es die Aufgabe u. f. m.“ (Bie- 
mare) ftanden weit unter den Anforderungen, welche die Gefell- 
ſchaft berechtigt ift zu machen. Es verftcht fich ja von ſelbſt, daß 
bei einem Preis, wie er von der Gefellfchaft ansgefegt wird, nur 
diejenigen in Betracht fommen, welche ein gefliſſentliches Studium 
auf den Gegenftand der Preisaufgade verwendet Haben und das 
ernfthafte Streben kundgeben, das Ergebnis, wozu bie Unterſuchung 
fie geführt Hat, mit wiſſenſchaftlichen Beweisgründen zu bemahr- 
heiten und in gebührender Form abzufafien, um es auf diefe Art 
auch denen zu empfehlen, welche nicht ſchon a priori mit ihnen 
derfelben Meinung find. Es zeigte ſich gleich, daß die drei ge- 
nannten Abhandlungen, an diefen Anforderungen geprüft, ganz um» 
zulanglich waren. Die erfte enthielt wicht viel mehr als einige 
flüchtige Bemerkungen und wohlmeinende Wunſche inbezug auf den 
Eid und die Art feiner Aufrechthaltung, keinen Auſatz zur Be⸗ 
weisführung, fein einzige6 Zeichen eines eruften Studiums. Die 
zweite Abhandlung, mit dem Motto aus Calvin, litt an innerem 


der Hanger Geſellſchaft 3. Berteid. d. chriſtl. Religion. 289 


Widerfprud. Mit der ftrengen Handhabung des geſchichtlichen 
Charakter des Chriftentums im erften Teil ftimmte die Stelle, 
welche im zweiten Zeil dem Chriftentum eingeräumt wurde, nicht 
überein. Außerdem enthielt der zweite Teil viel Überflüffiges, 
und ſowohl die Beſtimmung des modernen Staates im dritten 
Zeil, als auch die Anficht über fein Verhältnis zum Eid im 
vierten Teil war von Oberflächlichkeit nicht freizufprechen und 
daher ungenügend. Aber auch die dritte Abhandlung, mit dem 
von dv. Bismard entlehnten Sinnſpruch wurde einftimmig für 
ungenügend erflärt. Es gelang den Direktoren nicht, den Plan 
ausfindig zu machen, welchen der Verfaffer verfolgt Hatte. Er 
verfiel oft in Wiederholungen und brachte dasjenige, worauf es, 
der Preisfrage zufolge, am meiften ankam, nur im Vorbeigehen 
zur Sprache. Das Ergebnis der Abhandlung konnte daher auch 
nicht für eine vehtmäßige Folgerung aus der vorhergehenden Ber 
weisfüßrung gehalten werben und entbehrte Hierdurch jedes wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Wertes. 

Gunſtiger als über diefe drei Arbeiten lautete das Urteil über 
die vierte, eine Abhandlung von 122 Seiten in Folio, gezeichnet 
mit den Worten: „yo d2 Adym udy um duouas üdng‘ 
(Matih. 5, 84). Sie erwies ſich als die Arbeit eines fehr tüch⸗ 
tigen und felbftändigen Mannes und enthielt, nach dem einftimmigen 
Urteil der Direktoren, viel Schönes und Beherzigenswertes. Trotz⸗ 
dem konnte ihr der Preis nit zuerkannt werden. Die ganz eigen 
tümliche Denfweife des Verfaſſers wärde gegen die Rrönnng kein 
Bedenken erregt haben, wenn fie ihn wicht fortwährend zu einfel- 
tigen und übertriebenen Anftchten geführt hätte, been ſchwerlich 
jemand beiftimmen dürfte. Sogleich tm erften Abſchnitt („Wefen 
und Zwed des Eides“) wurde die Möglichkeit, daß der Eid im 
Lauf der Jahrhunderte einen modifizierten Charakter angenommen 
Hätte, ohne hinlänglichen Grund beifeite geſetzt. Der zweite Teil 
(„Der Eid auf dem Boden der heiligen Schrift und die Ent 
wickelung ber in der Eidesfrage Tiegenden Gegenſätze auf chriftlichem 
Lebensgebiet“) Lieferte unzweifelhaft die Beweiſe genauer und viel» 
umfaſſender Unterſuchungen, wurde jedoch zugleich beherrfät vor 
dogmatifchen Vorausfegungen, welche ſchließlich zu einem gang um 

29* 


40 Programm 


annehmbaren Ergebnis führten. Demzufolge verloren jet auch die 
Anfichten des DVerfaffers im dritten Zeil („Die Stellung zum Eib 
von Kirche und Staat“) viel am Werte, welcher ihnen, wenn fie 
in eine andere Verbindung gefegt wären, unftreitig Hätte zuerkannt 
werden müfen. Zu ihrem Bedauern mußten daher die Direl- 
toren dem Berfafjer den Preis abſprechen. 

Auch die fünfte Abhandlung über den nämlichen Gegenftand 
von 36 Seiten in 4°, gleichfalls mit dem Motto: „Zyo da 
Asyo öpiv xroᷣ.“ (Matt. 5, 34) trug wohl Lob, aber nicht den 
Preis davon. Sie war nicht ohne Talent gefchrieben, zeichnete 
fi durch ordentliche und bzw. vollftändige Behandlung der Aufs 
gabe aus und zeugte don Nachdenken und Hellem Urteil. Dem 
gegenüber ftand jedoch, daß der Verfaffer oft mehr andeutete als 
entwickelte und namentlich im BHiftorifchen Teil den Beweis für 
die Richtigkeit feiner Mitteilungen durchgehende ſchuldig blieb. 
Auch mußte es gemißbilligt werden, daß er in der Beſchreibung 
der „Eidespraxis“ faft ausfchließih auf Deutſchland und die 
Schweiz achtgegeben hatte. Endlich ließ er, wie man meinte, im 
Tegten Teile den Beweggründen derer, melde ben Eid aufrecht 
halten wollen, nicht völlig Gerechtigkeit widerfahren. Das eine 
und das andere zufammengenommen führte Direktoren zu einem 
den Preis verfagenden Endurteil. 

An der Löfung ber Preisaufgabe: 

„Die Geſellſchaft verlangt eine Abhandlung, worin 
die firchliche Lehre Über die Heilige Schrift nach 
der Schrift felbft geprüft wird“, 

hatten fünf Einfender ihre Kräfte verſucht. 

Einer von ihnen hatte fich der Iateinifchen Sprache bedient und 
feinen Auffag gezeichnet mit den Worten: „eo gina Kuglov 
usver slg 509 alava“. Cr konnte für den Preis gar nicht in 
Betracht kommen. Umfonft verſuchte er zu beweifen, daß die 
Schrift im ganzen und in jedem ihrer Teile die kirchliche Lehre 
völlig beftätige. Die Methode war ganz veraltet, die fog. Wider- 
Tegung der kritiſchen Bedenken meither geholt und willkürlich, der 
Verfaffer offenbar unberechtigt, um in der gegenwärtigen Zeit feine 
Stimme abzugeben. 





der Haager Geſellſchaft 3. Verteid. d. chriſtl. Religion. 41 


Die zweite Abhandlung in der deutfchen Sprache und mit dem 
Motto: „mavres dv vosgovam xrö.“ (1Ror. 9, 24) konnte 
faum für eine Antwort auf die geftellte Frage gehalten werben. 
Anftatt zu unterfucen, ob und inwiefern die h. Schrift der kirch⸗ 
lichen Lehre über die Schrift entfpricht, Kieferte der Verfaffer eine 
Geſchichte der kirchlichen Lehre betreffs der Schrift und Tieß der- 
felben, wie eine Einleitung, eine „grundlegende Unterfuchung der 
Schriftlehre über die h. Schrift“ vorhergehen. Während darin 
vieles vorfam, was nicht zur Sache gehörte, wurde gerade bie 
Hauptfache faft ganz vermißt. Überdies war des Verfaſſers 
Eregefe oft fehr willkürlich und feine Anficht über den Charakter 
der 5. Schrift nebelhaft und unbeftimmt. 

Auch der Verfaffer der dritten, einer niederländifchen Abhand⸗ 
lung, gezeichnet mit den Worten: „Ile ndvra za) dvdod- 
rawa ndvea“, hatte ſich nicht freng genug an die Preisfrage 
gehalten und Infolge davon einesteils mehr gegeben, als verlangt 
war, andernteils dem eigentlichen Gegenftand fein Recht wider 
fahren laſſen. Die größte Hälfte feiner Schrift wurde einge 
nommen von einer Gefchichte der Firchlichen Lehre über die 5. 
Schrift, welche nicht nur überflüffig war, fondern auch Yeinen Ans 
ſpruch auf wifjenfchaftlichen Wert machen konnte. Der zweite, 
Meinere Abſchnitt enthielt vieles, womit bie Direktoren gerne ſich 
einverftanden erffärten; aber die Anordnung befriebigte nicht ganz, 
die Auffaffung entbehrte jeder Urſprunglichteit, und ber Beweis 
führung fehfte nur gar zu oft die überzeugende Kraft. Das Ends 
urteil lautete, daß dem offenbar noch ungelbten Verfaffer um 
feines ernfthaften Strebens willen Lob zufomme, aber feine Ab⸗ 
Handlung nicht gekrönt und zum Drud befördert zu werden vers 
diene. 

Die vierte Abhandlung, eine deutſche und gezeichnet mit dem 
Spruch: „Sapere aude“, war mit großer Klarheit und Les 
bendigkeit geſchrieben und zeichnete ſich ferner durch ordentliche und 
bezw. vollftändige Behandlung des Gegenftandes aus. Der britte 
Abſchnitt (, Grundlinien eines Neubaus“) war in der Preißfrage 
zwar nicht verlangt, enthielt jedoch fo viel Gutes, daß er gegen 
bie Krönung jebenfalls Yein Bedenken erregt Haben würde. Was 


42 Programm 


die Direktoren davon zurückhielt, war etwas anderes. Sie fanden 
nämlich in der Abhandlung eher Aphorismen als Eine ausgearbeitete 
Beweisführung. Mehr als eine Cinzelheit, welche eingehendere 
Auseinanderfegung erheifchte, wurde nur eben berührt, während 
viele Punkte, welche auch mit in Betracht kommen mußten, mit 
Stillſchweigen Übergangen wurden. Obgleich die Direktoren mein- 
ten, daß ber geſchickte Verfaſſer, wenn er ſich daran Hätte gelegen 
fein lafjen, imftande gewefen wäre, der Aufgabe vollftändig Genüge 
zu Teiften, konnten fie doch die von ihm eingefandte Abhandlung, 
troß ihrer Vorzüge der Krönung und der Aufnahme in die Werke 
der Geſellſchaft nicht würdig Hakten. 

Der fünften Abhandlung, ebenfalls von einem deutſchen Vers 
faffer, mit dem Motto: „7 divanıs Ev dadsvsig velsizar“ 
ward eine andere Entſcheidung zuteil. Verſchiedene Bedenken hielten 
die Direktoren von der vollftändigen Zuerfennung des ausgeſetzten 
Preifes zurüd. Es erhoben fih nämlich Bedenken gegen die 
Form der Abhandlung, ſowohl gegen die dann umd wann weits 
ſchweifige Veweisführung, als gegen die Anordnung der Teile. 
Der Berfaffer ſchien ihnen auch feinem Plane, den er in feinem 
Vorwort angezeigt und verteidigt Hatte, nicht ganz treu geblieben 
oder, mit anderen Worten, nicht durchgehende von der h. Schrift, 
wie fie von der Kirche angenommen und betrachtet wird, ausge 
gangen zu fein. Hier und da Hatte er ferner, ihres Erachtens, 
dem Zeugnis des Neuen Teftamentes hinſichtlich bes Alten nicht 
völlig Recht widerfahren laſſen und bisweilen Steffen und Aus— 
ſpruchen der Bibel eine Beweiskraft gegen die Kirchliche Lehre zu- 
erfannt, welche ihnen von Andersgläubigen mit Recht abgefprochen 
werden Tann. Die Direktoren fanden daher ihr Ideal in dieſer 
Abhandlung nicht ganz verwirklicht, fahen jedoch anderfeits in ihr 
eine in vieler Hinfit fo verdienftliche Arbeit und meinten von 
ihrer Veröffentlichung fo viel Gutes erwarten zu dürfen, ſowohl 
zur Förderung einer gefunden Wertfhägung der Bibel, als zur 
Befeitigung falſcher Begriffe über die Bibel, daß fie befchloffen, 
dem Verfaſſer eine filberne Medaille nebft 200 Gulden und bie 
Aufnahme feiner Abhandlung in die Werke der Geſellſchaft anzu⸗ 
bieten, im Vertrauen auf feine Bereitwilligkeit, von ihren Bemer⸗ 





der Haager Geſellſchaft 3. Berteid. d. Heißt. Religion. 48 


Zungen Kenntnis zu nehmen und Gebrauch zu machen. Wenn er 
ſich diefe Berfügung wohlgefallen läßt, fo melde er fi beim 
Sekretär der Geſellſchaft an und gebe Erlaubnis zur ffnung 
feines Namensbilletties. — 

Die Preiöfrage über den Eid und feine Aufrehthals 
tung im modernen Staate wird nicht erneuert. 





Die jest ausgeſchriebenen Preisfragen find die folgenden: 

I „Die Geſellſchaft verlangt: Eine kritiſch-hifto— 
riſche Unterſuchung über den Urfprung des Apo— 
ftolates und bie Bedeutung, welde demſelben 
nad den Schriften des Neuen Teftamentes und 
der weiteren chriſtlichen Litteratur der erſten 
zwei Jahrhunderte in der hriftligen Kirche zu» 
erfannt wurde.“ 

DI. „Die Geſellſchaft wünſcht zu erhalten: Eine ge⸗ 
meinfaßlihe Schrift für gebildete Leſer, worin 
mit Rüdfiht auf die Bedürfniffe der gegen— 
wärtigen Zeit, die wichtigſten Fragen, das fitt- 
liche Leben betreffend, ins Licht geftelft und be» 
antwortet werden.“ 

Bor dem 15. Dezbr. 1883 wird den Antworten auf biefe 
Fragen entgegengefehen. Was fpäter eingeht, wird beifeite gelegt 
und der Beurteilung nicht unterzogen. 

Vor dem 15. Dezbr. 1882 erwarten die Direktoren Ant ⸗ 
worten auf die im Jahre 1881 ausgefchriebenen Preisfragen über 
Glaube und glauben in den Schriften des Neuen 
Teftamentes und über die Lehre vom Gebet nad dem 
Neuen Teftamente. Über den Iegtgenannten Gegenfiand ift 
fon eine Abhandlung in der miederländifchen Sprache und mit 
dem Motto: „Gy dan, bidt aldusl‘ eingegangen. 





Für die genügende Beantwortung jeder Preisanfgabe wird die 
Summe von vierhundert Gulden ausgefegt, welde die Ver⸗ 


44 Programm dee Haager Geſellſchaft zc. 


faffer ganz in barem Geld empfangen, es ſei denn, daß fie vor⸗ 
ziehen, die goldene Medaille der Geſellſchaft von zweihundertfünfzig 
Gulden Wert nebft Hundertfünfzig Gulden in barem Geld, oder 
die filberne Medaille nebft dreihundertfünfundachtzig Gulden in 
barem Geld zu erhalten. Werner werden bie gefrönten Abhand- 
fungen von der Gefellfchaft in ihre Werke aufgenommen und 
herausgegeben. Eine Krönung, wobei nur ein Teil des ausgefegten 
Preifes zuerkannt wird, es fei die Aufnahme in die Werke der 
Geſellſchaft damit verbunden oder nicht, findet nicht ftatt ohne die 
Einwilligung des Verfaſſers. 

Die Abhandlungen, welche zur Mitbewerbung um ben Preis 
in Betracht kommen follen, müffen in holländiſcher, lateiniſcher, 
frangöfifcher oder deutſcher Sprache abgefaßt, aber mit Iateinifchen 
Buchſtaben deutlich lesbar gefchrieben fein. Wenn fie mit 
deutfhen Buchftaben oder, nach dem Urteil der Direktoren, 
undeutlich gefchrieben find, werben fie der Beurteilung nicht 
unterzogen. Gedrängtheit, wenn fie dee Sade nur nicht 
ſchadet und den Anforderungen der Wilfenfchaft nicht zuwider ift, 
gereicht zur Empfehlung. 

Die Preisbewerber unterzeichnen die Abhandlung nicht mit 
ihrem Namen, fondern mit einem Motto, und ſchicken dieſelbe, 
mit einem verfiegelten, Namen und Wohnort enthaltenden 
Billet, worauf das nämlice Motto gefchrieben ſteht, portofrei 
dem Mitdiveltor und Sekretär der Geſellſchaft: A. Kuenen, 
Dr. theol., Brofeffor zu Leiden, zu. 

Die Berfaffer verpflichten ſich durch Einlieferung ihrer Arbeit, 
von einer in bie Werke der Gefellfchaft aufgenommenen Abhand- 
lung weder eine neue ober verbefjerte Ausgabe zu veranftalten, 
noch eine Überfegung herauszugeben, ohne dazu bie Bewilligung 
der Direktoren erhalten zu Haben. 

Jede Abhandlung, welche nicht von der Geſellſchaft Herans- 
gegeben wird, Tann von dem Verfaſſer felbft veröffentlicht werben. 
Die eingereichte Handſchrift bleibt jedoch das Eigentum der Geſell⸗ 
ſchaft, es fet denn, daß fie diefelbe auf Wunfch und zu Nuten 
des Verfaſſers abtrete. 





Programm ber Teylerſchen theologiſchen Geſellſchaft zc. 45 


2. 
. Programm 
der 


Teylerſchen Theologiſchen Geſellſchaft zu Haarlem 
für das Jahr 1883. 





Die Direktoren der Teylerſchen Stiftung und die Mitglieder 
der Teylerſchen theologiſchen Geſellſchaft Haben in Ihrer Sigung 
vom 27. Oftober 1882 ihr Urteil abgegeben über bie zwei bei 
ihnen eingegangenen Abhandlungen zur Beantwortung der im Jahre 
1881 geftellten Preisfrage nach einer „Lebensbeſchreibung Melchior 
Hofmanne*. 

Eine diefer Abhandlungen war holländiſch verfaßt, unter dem 
Motto: „Ich vermag nit überall u. ſ. w. (Eornelius)“, die 
andere, eine deutſche, mit ben Worten: „Zmovdalers ngeiv erv 
Evörmra zul.“ gezeichnet. 

In den beiden Abhandlungen fchägten die Beurteiler den bes 
fonderen Fleiß und die Ausdauer, womit die Autoren, fich nicht 
bloß befchränfend auf das, was in der legten Zeit Hinfichtlich diefes 
Gegenftandes ans Licht Fam, auch an den verſchiedenen von Mel 
chior Hofmann befuchten Orten felber eine neue Unterfuhung an 
ftelften, welche ſowohl bei bem einen als bei dem anderen zu in⸗ 
tereffanten Refultaten führte. Sie mußten beide feiner feltenen, 
hier und da in fehr weit von einander entfernten Bibliotheken 
zerftreuten Schriften mächtig zu werben, und berichteten über die⸗ 
felben fo umftändlic (bisweilen gar zu meitfäufig), daß ihre 
Arbeit allerdings an Vollſtändigkeit wenig zu wünfchen Täßt. 
Keinem von beiden ift es aber gelungen, ein anfchauliches Lebens» 
und Charafterbild Melchior Hofmanns zu Kiefern. Dafür ift ihre 
Behandlung zu fragmentarifch: zwar wird der Inhalt jeder Schrift 
zur Zeit Ihres Erſcheinens bis in geringe Einzelheiten mitgeteilt, 
die Schriften aber nicht mit einander in pragmatiſchen Zufammens 


46 Programm 


hang gebracht, und eine allgemeine Überficht der Lehre und der 
Anfihten des Mannes fehlt. Überdies Hätte, um ein wahres 
Charafterbild von ihm zu zeichnen, was von beiden Autoren zu 
fehr vernachläſſigt wurde, feine tiefe Ehrfurcht vor der h. Schrift, 
feine innige Srömmigfeit, fein tadelloſer Lebenswandel in Betracht 
gezogen und zugleich gezeigt werden müfjen, wie in feinem Mangel 
an wiſſenſchaftlicher Bildung, in feinen unter Sürften und Ger 
lehrten erworbenen Erfahrungen, in feinem fpäteren Verkehr faft 
ausfchließlich mit Perfonen ber niederen Volksklaſſe die Erklärung 
dafür zu finden ift, daß die Gebildeteren ihm zuwider waren, daß 
er fo unfenffam war, daß er fi manderlei Träumereien und 
Schwarmertien hingab. 

Außer diefem in den beiden Abhandlungen Fehlenden urteilte 
man betreffs der hollandiſchen: daß fie, „Ein Beitrag zur Ger 
ſchichte des Chiliasmus im Zeitalter der Reformation“ genannt, 
diefe Geſchichte kaum berührt, — dag der Autor manchmal felun- 
dare Quellen benutzt, während doch die urfprünglicen noch vor- 
handen find, — daß er viel zu weitfchweifig mitteilt, was er für 
fich ſelbſt brauchte, um ſich die Zuftände, welche Melchior Hof 
mann an verſchiedenen Orten vorfand, klar vorzuftellen, — und 
daß er anf die Sprache und ben Stil zu wenig Sorgfalt ver- 
wendete. In ber deutfchen Abhandlung, die auf manchen Seiten 
Lob erntete wegen der gründlichen Kenntnis des Zeitalterö der 
Reformation und der genialen Auffaſſung, bedauerte man indeſſen 
einige Lücken, 3. B. hinfichtlich des Ereigniffes in Stockholm, mehr 
aber noch die große Überellung, weiche der Autor fi wohl ber 
müht zu entjchuldigen, zum Teile auch erflärt, welche aber der 
Herausgabe diefer Schrift Hinderlich im Wege ſteht. 

Trog diefen Einwendungen erfannten die Beurteiler die Ver⸗ 
dienfte der beiden Abhandfungen und meinten, obgleich fie aus den 
erwähnten Gründen feiner von ihnen die goldene Medaille zufagen 
konnten, daß es doch mit Rückſicht auf die vielumfafienden, zu 
diefem Zwed veranftalteten Nachforſchungen und die bedeutenden, 
dadurch erhaltenen Nefultate unverantwortlich wäre, die Frucht fo 
vieler Arbeit umbenugt zur Seite zu legen. Ste wünſchen alfo, 
vorausgefetzt daß die Antoren ſich bereit erffären, ihre Arbeit den 





der Teylerſchen theologifchen Geſellſchaft zc. 447 


genannten Einwendungen gemäß abändern und ergänzen zu wollen, 
die beiden Schriften in die Werke der Geſellſchaft aufzunehmen, 
mit Anerbietung der filbernen Medaille und 200 Gulden für jeden 
der zwei Autoren. Falls fie diefe Entfcheidung genehmigen, wollen 
fie ſich ſchriftlich wenden an die Herren Direktoren der Tehlerſchen 
Stiftung und diefen erlauben, ihren Namenszettel zu Öffnen. 

Die andere, für den 1. Mai 1879 ausgefchriebene und im 
vorigen Jahre wiederholte Preisfrage „Über die Übereinftimmung 
der Rechte der Individuen mit den Anſprüchen der Zufammen- 
gehörigkeit“ blieb aud nun wieder unbeantwortet, weshalb ber 
ſchloſſen wurde, diefe Frage zurlichzunehmen. 


Als neue Preisfrage wird angeboten: 

„Nahdem eine ausführliche Bibliographie der 
Schriften Coornherts, mit Andeutung der Büder- 
fammlungen, wo bdiefe vorhanden find, neulich 
in ber ‚Bibliotheca Belgica‘ gegeben ift, ver— 
langt die Gefellfhaft als Beitrag zur Geſchichte 
der Hriftlihen Kirche und des chriſtlichen Lebens 
in den Niederlanden: Ein Lebens- und Charakter— 
bild Dirt Volkertszoon Coornherts.“ 


Der Preis befteht In einer goldenen Medaille von 400 Gulden 
an innerem Wert. . 

Dan kann fi bei der Beantwortung des Holländiſchen, Latei⸗ 
nischen, Sranzöfifhen, Englifhen oder Deutfhen (nur mit lateis 
nifher Schrift) bedienen. Auch müffen die Antworten mit einer 
anderen Hand als der des Verfaſſers gefchrieben, vollftändig 
eingefandt werden, da feine unvollftändigen zur Preisbewerbung 
zugelaffen werden. Die Frift der Einfendung ift auf 1. Januar 
1884 anberaumt. Alle eingeſchickten Antworten fallen der Gefell- 
ſchaft als Eigentum anheim, welde die gefrönte, mit oder ohne 
Überfegung, in ihre Werke aufnimmt, fo daß die Werfaffer fie 
nicht ohne Erlaubnis der Stiftung Heransgeben dürfen. Auch be> 
hält die Geſellſchaft fi vor, von den nicht gefrönten Antworten 
nach Gutfinden Gebraud zu machen, mit Verfchweigung odert 
Meldung des Namens der Verfaffer, do im letzten Falle nic 


448 Programm ber Teylerſchen theologiſchen Geſellſchaft ıc. 


ohne ihre Bewilligung. Auch können die Einfender nicht anders 
Abfchriften ihrer Antworten befommen als auf ihre Koften. Die 
Antworten müffen nebft einem verfiegelten Namenszettel, mit einem 
Denkſpruch verfehen, eingefandt werden an die Abreffe: Funda- 
tiehuis van wijlen den Heer P. TEYLER VAN DER 
HULST, te Haarlem. 


Berichtigung. 
In der Inhaltsangabe der „Studien“ 1888, Heft 1 iſt zu berichtigen, daß 
der 2. Artitel der Gedanken und Bemerkungen: „Über die alten chriftlichen In 
ſchriften nad) dem Tert der Septuaginta” nicht von Böhl, fondern von Neftle if. 


Deut von Weiebr. Audr. Verthes in Gotha. 





Dirzao, GOOglE 
8 


Theologiſche 
Studien und Kritiken. 


Fine Zeilſchrift 
für 
das gefamte Gebiet der Theologie, 
begrundet von 
D. C. Ulmenn und D, F. W. €. Unbreit 
und in Verbindung mit 
D. G. Sanr, D. W. Beyſchlag, D. 3. A. Dorner moD. 3. Wagenmann 
Heransgegebeit 
er IN D. 3. Köftlin um D. E. Riehm. 


SER u? 


1883. 
Sechsundſünſziglter Bahrgang. 
Zweiter Band. 


334 





Gotha. 
Friedrich Andreas Perthes. 
1883. 





Theologiſche 
Studien und Kritiken. 


Line Zeilſchriſt 
für 
das geſamte Gebiet der Theologie, 


begrundet von 
D. C. Ullmann un D. F. W. €. Umbreit 
und in Verbindung mit 
D.6. Baur, D. W. Beyſchlag, D. J. A. Dorner u D. 3. Wagenmanu 
herausgegeben 


D. 3. Köftlin m D. €. Riehm. 





Dahrgang 1883, driftes Heft. 





Gotha. 
Briedrih Andreas Perthes. 
1883. 


Abhandlnungen. 





Go0g 
fi 





1. 
Zur Frage der fittlichen Weltordnung. 


Bou 


Dr. X. Sacmeifer, 
Gtabtpfarrer in Öfeingen. 





Im II. Heft des Jahrgauges 1881 der „Jahrbürher f. pro⸗ 
teftant. Theologie" hat Poul Mehlhorn dieſes Thema der ſittlichen 
Weltordnung erörtert und auf das im Jahre 1877 erfchieneg 
Wert von Morig Caxxiere: „Die ſitiliche Meltordgung“ anfe 
mertſam gemadt. Dieſes Wert ſcheint in ber That nicht bie 
Beachtwng gefunden zu haben, welche ihrn ſchon der Name feines 
Autor, „des eblen und geiftvefen Kunſtphiloſophen“, wie ihn 
Mehlhorn mit Recht nennt, hätte geben fpllen. In der theolo⸗ 
giſchen Fachlitteratur ift wenig Notiz dapon genommen worden, 
uud, fo weit wir ſehen können, Haben die Philoſophen ihm auch 
feine größere Beachtung geſchenlt. Sp dürfte man es beun eis 
Verdlenſt Mehlhorns nennen, das Buch Carrieres bervorgezogen 
zu haben, che ſich der Herüchtigte Blbliothelenſtaub darauf Tagerte, 
um fo wehr ein Verbienft, wenn es ſich beftätigen follte, daß „bie 
zwolf Kapitel des Buches wie zmblf Apoſtel erfcheinen, die ſowohl 
bei ben verlorenen Schafen aus dem Haufe Isbrael als auf der 
Heiden Straße und in der Samariter Städten noch eine recht 
geſegnete Miſfionswirlſamleit erfülfen Könnten, die den Heißfporneu 
von rechts und hen Kaltblutigen von linls wie der lauen Mitte 
gar mavches beherzigenswerte Wort zu fagen hätten“. Wir wmüfjen 


456 Bacmeifter 


zwar fofort bemerken, daß wir diefe Verleihung nicht für ganz 
gelungen Halten, denn die Konfequenz, welche in der That ſchon 
ftille Vorausfegung tft, ift die, dag „die fittliche Weltordnung“ 
an die Stelle des Evangeliums treten kann; befanntlich Haben die 
Apoftel eben das Evangelium gepredigt, und wenn jene Kapitel 
Apoftel genannt werben, fo ift ihr Inhalt das Evangelium. Da- 
gegen aber möchten wir gerade Verwahrung einlegen, und wenn 
wir das Ergebnis unferer Unterfuhung zum vorans nennen 
follen, fo ift gerade das der Grund der Nichtbeachtung von 
Carrieres „fittlicher Weltordnung“, daß folhe das Evangelium 
nicht erfegen Tann. Man könnte viel eher fagen: es iſt die 
Stimme eines Predigers in der Wüfte, es ift Johannes der 
Täufer: aber wie dieſer nichts gewefen wäre, hätte er feine Jünger 
nicht zu dem „Größeren nach ihm“ gewieſen, fo ift aud nit die 
fittliche Weltordnung „das tägliche, nahrhafte Brot“, wie Mehl- 
Horn meint, ſondern das ift das Evangelium, genauer derjenige, 
welcher von fi) fagt: „Ich bin das Brot des Lebens“, Joh. 6, 48. 
Oder verhält fih „der Gedanke der fittlihen Weltordnung“ 
zu dem Evangelium wie das Hausbrot zum Zuderbrot? Faſt 
konnte es fo gebeutet werden, wenn ber Verf. fagt: „Es gilt zu- 
nächft das tägliche Brot ſich zu erwerben, von dem ber geiftige 
Menſch leben kann, und von allem Luxus und Zuderbrot vorläufig 
abzufehen. Solches nahrhafte Brot ift aber der Gedanke der fitte 
lichen Weltordnung.“ Gene Deutung liegt um fo näher, als fo 
fort die oft gehörte Behauptung wiederhoft wird, bie Religione- 
Tofigfeit fo vieler Zeitgenofjen komme daher, daß „man fo Lange 
Zeit Religion und Dogmatik verwechſelte“, weshalb mit dem Ge⸗ 
ſchmack an legterer aud der Geſchmack an ber erfteren verloren 
gehe. Wir möchten diefe Behauptung zu denen reinen, bie, ein- 
mal aufgeftellt, fofort nachgeſprochen werden und dann bald felbft 
als — faft hätten wir gefagt „Dogmen‘ — als Ariome gelten, 
bis die Münze auf die Goldwage gelegt und hier als nicht voll 
wichtig erfannt wird. In der That ift nichts unrichtiger als die 
Ableitung der Religionslofigkeit, ja Neligionsfeindfhaft aus der 
Dogmatif. Leider begegnen wir diefer Meinung auch bei Carriere, 
wenn er (a. a. O., ©. 27) fohreibt: „Die Dogmatik der pro 


Zur Frage der fittlichen Weltordnung. 7 


teftantifchen Orthodoxie mit ihren natur» und gefchichtwidrigen 
Sagungen Hat die Dogmatik des Unglaubens bei den Kraftftofflern 
hervorgerufen.” Und noch fchärfer ift der Sag (S. 378): „Es 
ift nicht zu verwundern, wenn bie Denkenden und fittlih Ernften 
der Kirche den Rucken wenden, wenn Tauſende und aber Taufende 
die Dogmatif mit dem Chriftentum, das finnlofe Glaubensbefennte 
nis mit der Religion verwechſeln und von beiden nichts mehr 
wiffen wollen.” Run, ein beſonders glänzendes Zeugnis für diefe 
„Dentenden“ wäre jene Verwechfelung gerade nicht, aber es iſt 
auch das Gefagte gefhichtlih gar nicht begründet. Denn die 
„Kraftftoffler" Büchner, Moleſchott, K. Vogt und Genoffen Enüpfen 
an das „Systöme de la nature‘ an, und biefes ift bekanntlich 
nicht im Gegenfag gegen proteftantifche Orthodoxie entftanden, 
denn eine ſolche gab es in Frankreich gar nicht: die Bartholomäus- 
naht und die Dragonaden Hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. 
Aber wenn ein Mann wie Earriere einen folden geſchichtlichen 
Fehler begeht, was foll man dann von anderen erwarten? Raſch 
wird's ein Dogma werden, daß ber Materialismus durch die pros 
teftantifche Orthodogie erzeugt fei. Richtete überhaupt die Dog« 
matit das Unheil an, die Religionslofigkeit Hervorzurufen, fo 
müßten die Dogmenfreieften, wenn der Ausdruck erlaubt ift, auch 
bie Religiöfeften, Srömmften fein, wofür wir den Beweis nicht 
erbringen möchten. Umgekehrt müfjen gerade die Liberalften — viels 
Teicht mit Bedauern — zugeftehen, daß die dogmatifch „Befangenen* 
wirklich veligiöfes Leben zeigen. Das kann doch nicht Zufall fein. 
Es gift, daß wir uns endlich von einem alten Vorurteil gegen bie 
Dogmatit und das Dogma losmahen, welches alle Dogmen und 
alle dogmatifche Arbeit in einen Topf wirft und fehr wenig tole- 
rant alles mit einander verdammt oder verladht, das Dogma von 
der Unfehlbarkeit des Papfted wie das Dogma von ber Rechtfer⸗ 
tigung allein durh den Glauben. Das Unrecht diefes Vorurteile 
zeigt namentlich auch die Gedichte, denn die Neligionsfeindfcaft 
Hat ihren Anlaß nicht am Dogma der Kirche, fondern an deren 
Lebensanfchauung und Ethik genommen, wie deutlich an dem enge 
liſchen Deismus und franzöfiichen Materialismus zu erfehen ift. 
Überhaupt iſt es einfeitig, wenn man die Urſache der Religiond« 


468 Baemeiſter 


loſigleit oder ber Feindſchaft gegen den Chriſtenglauben nur in dem 
Intellekt ſucht; weil dieſer das Harte lirchliche Dogma nicht er⸗ 
tragen könne, daher ſoll die Spannung kommen. Nein, min⸗ 
deſtens ebenſo oft liegt jene Urſache in dem Willen des Menſchen, 
und am richtigſten wird man ſagen: beide Seelenkräfte zuſammen, 
Verſtand und Wille, find, wie beim Glauben, fo auch beim Un— 
glauben beteiligt, wobei der eine oder andere in den einzeluen Men⸗ 
fen das Übergewicht bilden Fann. Darum denfe man nicht durch 
eine einfache Belehrung etwa über die fittliche Weltordnung relis 
giöfe Meuſchen zu machen, jo wenig man durch eine ſolche Bes 
lehrung über das kirchliche Dogma ſchon Chriſten bilde. An 
jener Unmöglichkeit ſcheiterte überhaupt ber Nationalismus; er 
ift eine Stufe, auf der man nicht ftehen bleiben kann, ent« 
weder vorwärts zum Chriſtianismus oder rüdwärts zum Dia» 
terialismus. Ein Stüd Nationalismus, und wohl das werwollſte 
an ihm, ift aber auch der Begriff der fittlichen Weltordnung, und 
es Lohnt fi gewiß, auch einen der neueſten Verfuche des Ratio- 
nalismus zu prüfen, um fo mehr als die Abſicht eine edle ift. 
Wen würde «8 nicht ſympathiſch berühren, weun Carriere in heißer 
Sorge für unfer Volt vor den fluhwürdigen Beftrebungen der 
voten Jnternationale warnt? Wer würde nicht zuflimmen, wenn 
er fagt, daß die Maßregeln von außen keineswegs ausreishen, um 
jene Peft ferne zu halten, es müffe vielmehr „von innen her, vom 
fittlichen Geiſte aus“ die Genefung und die Zurüdführung der 
verirrten Lebenskräfte verfucht werden? Es fommt nur alles 
darauf an, wie diefeß „von innen Her“ beftimmt wird, und woher 
„der fittlihe Geift“ feine Impulſe erhält. 

Es Tann ung nicht beifalfen, dem gelehrten Verf. auf allen 
feinen Schritten zu folgen; das würde ein zweites Buch geben. 
Wir wollen nur unfere Bedenken über einige Houptpunfte aus« 
fprechen und e8 zu erffären verfuchen, weshalb der Gedanke einer 
fittlichen Weltordnung nicht recht verfangen will. Er ift mit einem 
Worte zu abftrakt und darum nicht für das Leben geeignet. Das 
ſcheint ein hartes Urteil; aber wenn wir uns ernfthaft befinnen, 
warum fo viele goldene Worte, die der Verfaſſer redet, in den Wind 
gefprochen fein werden, fo können wir feinen anderen Grund füt« 





Zur Frage der fittlichen Weltordnung. 459 


den, als daß er, im Rationalismus zu fehr befangen, feinen Staud⸗ 
punft in der Sittlichkeit ftatt in der Religion nimmt und an die 
Stelle des Tebendigen Gottes den Begriff der fittlichen Weltord⸗ 
nung feßt. Es bedarf wohl keiner ausdrüdlichen Verſicherung, 
daß wir das Wort Rationalismus nicht ald Scheltwort gebrauchen, 
und daß wir fein Glaubensgeriht über den Verf. der „fittlichen 
Weltorduung“ Halten wollen, fo dag uns fein Wort „über die 
gewöhnlichen verfegernden und denunzierenden Schmähungen des 
ultramontanen Pfaffentums“ (S. 365) träfe. Nein, der Begriff 
des Nationalismus ift ein gefchichtlicher und Hat in ber Geſchichte 
feine ehrenvolle Stellung, und ein Maun, der ſolch ernfte Geiſtes⸗ 
arbeit im Dienfte der Wifjenfhaft und feines Volles, ja „der 
fittlichen Weltordnung“ felbft vollbracht Hat, der, man darf wohl 
fagen, fein 2eben daran gefet hat, dem Materialismus zu wehren, 
verdient unfere höchſte Achtung. Solche aber zollen wir igm ges 
wiß thatſächlich dadurch am beften, daß wir feine Gedanken den» 
kend verfolgen; und wenn uns bier manches Bedenlen aufftößt, 
fo wird er zuerft es zu würdigen willen. 

Wir fagten: es ift an die Stelle des Konkretums des leben ⸗ 
digen Gottes das Abſtraktum der fittlichen Weltorbnung gefegt, es 
kommt daher die Religion gegenüber der Sittlichkeit zu kurz, und 
das rächt fi) am der Leßteren felbft, fie wird zur trodenrationa« 
liſtiſchen, es fehlt ihr die kräftige Wurzel, welde allein in dem 
realen Verhältnis des Menſchen zu dem lebendigen Gott zu finden 
ift, und weil das letztere verkürzt ift, darum kommt das Chrijtene 
tum oder, da dieſes Ehriftus ift, Chriſtus felbft nicht zu feiner 
vollen Würdigung und muß die Dogmatik die ſchon angeführten 
arten Urteile über fich ergehen laſſen. — Wir haben nun diefe 
Behauptungen zu erhärten und beginnen mit dem Schlußabſchnitt 
des Werkes, dem Abfchnitt von „Gott“. Der Verf. geht nämlich 
den analytifchen Weg, das hat ja gewiß feine Vorzüge, indem es 
vor dem Hörer das Refultat entftehen läßt, aber. bringt auf der 
anderen Seite auch den Mifftand mit fid, daß auf allen den vor- 
bereitenden Stufen diefes Reſultat noch fehlt und weshalb der 
Schein entfteht, als fei dort das im letzten Rejultat zu Gewinnende 
noch nicht wirkſam. Unwillkurlich fteigt, wenn man am Ende an⸗ 


460 Bacmeifter 


gefommen ift, der Wunfd auf: möchte ber Verfafer num no 
einmal den umgekehrten Weg, den der Synthefe, gehen, ob nicht 
das Ganze viel Iebensvoller würde! Bei dem jegigen Gang muß 
er eine faft ängftliche Zurücdhaltung beobachten, daß ja nicht der 
Begriff Gott gebraucht wird, ehe er Logifch gewonnen ift. Ri 
das Gefagte nicht 3. B. durch folgenden Sa beftätigt: „Die 
Natur und ihr Mechanismus vollendet ſich in der Empfindung der 
für fich feienden Wefen und wird zur Grundlage einer idealm 
Welt, indem fie den für ſich feienden Wefen, dem Geifte, beftän- 
dig die Bedingungen und Mittel zur Selbſtverwirklichung ge 
währt" (S. 384)? Natur und Menfch find Hier fo felbftändig 
geftellt, daß der Gottesbegriff faft Feine Stelle mehr daneben hat. 
Und doch ift der Verfaſſer redlich bemüht, einen Tebendigen Theismus 
zu gewinnen, ja er hat zum Teil ganz vortreffliche Säge Er 
wehrt vor allen Dingen den neueren Monismus ab, der in dem 
Sinne von Einerleigeit (und Gleichgültigkeit) gebraucht wird, und 
auf Koften der Seelen und aller fittlichen idealen Begriffe den 
felöftlofen Stoff, die bewußtlofe Kraft für das einzig Wirhliche 
erlärt. Treffend bemerkt Carriere dagegen: „Der Übergang von 
der räumlichen äußeren Bewegung zur Empfindung und zum 
Willen wie zum Gebanfen ift der Sprung, der fih auf dem 
Papier und mit Phraſen leicht vollzieht, den aber bis Heute kein 
Materialift, und aud Strauß nicht, denkbar gemacht oder durch 
einen Verſuch fichtbar aufgewiefen Hat. Das Gehirn ein Ge 
danfenfilter, ja wohl, wenn nur Gedanken etwas Gegenftändliches 
wären und man zeigen könnte, wie fie abgefondert werden!" (©. 
382.) Statt diefes falſchen Monismus will er einen wahren 
aufitellen, der von ben Einfeitigfeiten des Deismus und des Pan 
theismus fich gleichweit entfernt Hält. . Wiederum mit Recht fagt 
Earriere, daß der erftere einen Mittelpunkt ohne Peripherie und 
der letztere eine Peripherie ohne Mittelpunkt Habe, und erkennt mit 
ſcharfem Blick, daß alles auf die Perſonlichkeit Gottes anlommt: 
„Dieſe ift der Stein des Anftoßes" (S. 391). Was er zum 
Schutz dieſes Begriffes namentlich gegen die bekannten Angriffe 
der Straußfchen Glaubenslehre vorträgt, gehört wohl zum Beften, 
das über diefen Gegenftand gefagt worden ift. Es wird zuge 





Zur Frage der fittlichen Wellordnung. 461 


geben, daß die Perfönlicfeit Gottes dann unlösbare Schwierige 
teiten enthält, wenn man fie deiftifch neben die Natur und Geis 
fterwelt ſtellt, ftatt in ihr da8 Innere der Natur und das zur 
fammenfafjende Ich des Univerfums zu erkennen. Doch iſt letztere 
Beftimmung einer Mißdeutung fähig und könnte pantheiſtiſch aus⸗ 
gebeutet werden. Solches iſt freilich nicht bie Abſicht des Vers 
faſſers, was namentlich aus Bemerkungen wie bie folgenden er» 
hellt: „Indem das Unendliche fi felbft erfaßt, feiner in feiner 
Einheit bewußt ift, wird es nicht verendlicht; im Gegenteil, ohne 
ſich felbft erfaffende Einheit wäre es verendlicht, aufgelöft in die 
Bielpeit der Dinge“ (S. 398) und: „Die Enblicfeit erzeugt 
nicht die Perſönlichkeit, fondern beſchränkt fie" (S. 405). Der 
Tegtere Sat ift von grundlegender Bedeutung und großer Tragr 
weite, duch ihm iſt für die Perfönlicleit Gottes der fichere 
Boden gewonnen; denn wenn es wahr ift, baß „wir unfer weder 
völlig bewußt noch mächtig find, daß uns vieles in uns dunkel 
bleibt, und dag wir nur nad und nah, nit mit einem Blick, 
die Fülle unferes inneren Lebens überſchauen und unfere Triebe 
beherrſchen lernen“, wenn das wahr ift — und es möchte ſchwer 
das Gegenteil zu erweifen fein —: dann folgt mit Denknotwen⸗ 
digkeit, daß „das Unendliche, das nichts außer ihm Hat, fondern 
alles in ſich ſchafft und Hegt, es auch ganz anders durchſchauen 
und die Allmacht mit Allwiſſenheit erleuchten kann, und daß ſich 
alfo in ihm die Identität von Sein und Denfen vollendet“. Mit 
einem Worte: die Perfönlichkeit tommt Gott allein in vollkom⸗ 
mener Weife, den Menſchen nur bderiviert zu. Das ift die ein« 
fache alte Schriftlehre vom Ebenbild Gottes, welche denfelben Ger 
danken, nur im plaftifchen Bilde ausgedrückt, enthält und doch zu⸗ 
gleich dafür geforgt hat, daß das Bild nicht buchftäblih genommen 
wird, wenn fie verbietet: „Du follft die fein Bildnis noch Gleich 
nis machen x." Es dürfte nicht überflüffig fein, auf den philo⸗ 
ſophiſchen Tieffinn der Schrift immer wieder Hinzumeifen, da thats 
ſächlich in derſelben das bereit Tiegt, was die Spekulation immer 
wieber erft erarbeitet. Gegen letzteres ift an fi nichts einzu 
wenden, wird doch erft durch ſolche eigene Arbeit die Wahrheit 
unfer perfönfiches Eigentum; aber man vergeffe doch nicht, daß 


482 Bacmeifter 


es nur ein Nach —denken ift, dann bleibt man ebenfo vor dem 
Hegelfchen Irrtum, das Abfolute nur im menfchlihen Denken zum 
Bewußtſein kommen zu laffen, wie vor der Oberflädlichfeit des 
Materialismus, die Wirklichkeit eines fhöpferiihen Denkens über⸗ 
Haupt zu leugnen, bewahrt. Diefes Streben Garrieres, die Per- 
ſonlichteit Gottes philoſophiſch zu erhaften, iſt hoch anzufchlagen; 
er will Spinoza und Leibnig vereinigen und, wie Loge gefagt Hat, 
„den Begriff einer unendlichen Subftanz zu dem des einen leben⸗ 
digen Gottes verflären“. Im der That eignet er ſich auch, auf 
dem Höhepunft feiner Unterfuhungen angelangt, geradezu das neu⸗ 
teftamentlide „Gott ift die Liebe" an, als die vollfte, edelſte 
Wefensbezeichnung für den All-Einen ?). Und ſchön wird ber Be- 
griff der Liebe alfo entwicelt: „Liebe ift das Gefühl perſönlichet 
Weſen bei allem Unterſchied eines Weſens zu fein, einander zu 
ergänzen und dadurch die felige Lebensvollendung zu gewinnen. 
Liebe ift die Überwindung der Selbſtſucht im Selbſt, das im 
Wohle des andern und im DBeglüden jein Gluck findet.“ *) 
„Ohne den Unterfchied feine Einigung, in der Einigung aber ber 
thatſachliche Beweis, daß die Einheit das Urfprügliche. Wir ftehen 
unverrüdbar mit unferem Wefen in Gott, aber mit umferem Den⸗ 
ten umd Wolfen können wir uns von ihm fcheiden, doch er bfeibt 
und innerlich gegenwärtig mit feiner Bitte, und indem mir uns 
zu ihm zurückwenden, geſchieht fein Wille und kommt fein Reid, 


1) Im Borübergehen nur fei bemerkt, daß wir den Urſprung dieſes Wortes 
nicht einem Sohannes zufchreiben können, der „die höchſte Blüte refigiöfen Ge 
fahis im Semitentum in der gottinnigen Seele von Jeſus“ mit „der reifften 
Feucht ariſcher Weisheit im griechiſchen Altertum im Geifte Platos und feiner 
Jünger“ vereinigt Habe, denn ein folder Johannes ift ebenjo wenig geſchicht ⸗ 
ũch erwiefen, als das Weſen Jeſu mit der gelehrten Phrafe von ber „Göheren 
Einheit von Judaismus und Hellenismus“ erklärt ift; vielmehr ift aus diefen 
Schriften des Johannes ganz Mar zu erfehen, woher er jenen Gottesbegriff Hat, 
näwlich von dem perfönlichen Auſchauen beffen, „von dem wir genommen haben 
Gnade um Gnade“; wie ließe ſich auch nur fonft der Eingang des exfien 
Briefes, diefes wiederholte Hervorheben der perfönlichen Angen- und Ohren 
gengenfcaft ertlären? 

3) Letztere Beſtimmung teifft aber nur auf die menſchliche Liebe zu, denn 
von einer Überwindung der Selbſtſucht im göttlichen Gelbft kann do feine 
Rebe fein. 


N 





Zur Frage ber fittfichen Weltordnung. 468 


find wir deſſen freie Glieder und Genofien, ift die Liebe, iſt Gott 
als die Liebe verwirklicht.“ 

Diefen legteren Sag können wir alferdings nicht ohne Frage⸗ 
zeichen paffieren laffen, denn es fcheint uns ein Widerſpruch, daß 
wir mit unferem Weſen unverrüdbar in Gott ftehen, aber mit 
unferem Denfen und Wollen von ihm fcheiden fünnen. Was ift 
denn unfer Weſen? nicht eben dieſes Denken und Wollen? So 
Hat ja Garriere ſelbſt das Weſen ber Perfünlichkeit früher be— 
ftimmt, wenn er (S. 393) fagt: „Wil man den Begriff der 
Perſonlichteit auf das Endliche beſchränken, fo ift das willkürlich; 
ihr Weſen ift Bewußtſein und Wille, Selbftfein.“ Danach würde 
der Menfh, der mit feinem Denken und Wollen ſich von Gott 
ſcheidet, auch mit feinem Wefen von ihm getrennt fein und nicht 
mehr unverrückbar in Gott ftehen können. Das ift menigitens 
Tonfequent und nicht bloß eine logiſche Silbenfteherei, fondern von 
folgenfchwerer Bedeutung. Denn hier fest das Chriftentum ein, 
darauf fußt das Kirchliche Dogma von der durch Gott felbft in 
Jeſu Ehrifto vollzogenen Verföhnung umd Erlöſung. Gerade 
wenn nad) den Prämiffen Carrieres der Menſch mit feinem Den- 
fen und Wolfen ſich von Gott geſchleden hat, und wenn dies, wie 
wir daraus folgern, eine Scheidung des Weſens ift, fo wird die 
Heilung des Riſſes nicht fo einfach dadurch bewerkſtelligt, daß 
„wir ung zu ihm zuruckwenden“, es muß das alterierte Weſen 
ſelbſt wieder hergeftellt werden, d. h. es muß eine Neufchöpfung 
erfolgen, das, was die Schrift Wiedergeburt nennt, und das 
Dogma der Kirche erftheint von biefem Gefihtöpunfte aus doch 
nicht fo gar unvernünftig. Doch wir werden auf biejen Punkt 
noch zuritfommen. Iſt es aber ein ſtark ratlonaliſtiſcher Sauer- 
teig, der fich in dieſem „indem wir uns zu ihm zurücwenden“ 
offenbart, fo Mingt ums der Schluß, es wird dadurch „die Liebe, 
ja Gott als die Liebe verwirklicht“ zu pantheiftifch, ober follen 
wie mildernd fagen: zu myſtiſch? Aber es tft bekannt, wie Pan⸗ 
tHeismus und Myſtieismus den fiamefifhen Zwillingen gleichen. 
Es ift entfchieden zu viel gefagt, denn es gefährdet die Perſönlich- 
teit Gottes, es werde Gott als bie Liebe „verwirklicht“, denn ift 
fein Wefen am voliften und ebelften als Liebe bezeichnet, fo iſt 


464 Bacmeifter 


jener Sag gleichbedeutend mit dem pantheiftifchen: Gott wird in 
dem Menfchen, ja durch den Menſchen verwirklicht, er gewinnt 
fein Wefen in und. Carriere felbft Hat dieſen Irrtum Hegels 
und feiner Schule wohl erfannt, aber er verfällt demfelben faft 
unwillkurlich felber, wenn er fein Bud fchließt: „Das Eine ents 
faltet fid im All, und das AU findet ſich wieder im Einen, im 
Wollen und Wiffen wird das Wefenhafte durch bie Freiheit ver 
wirklicht und empfunden, das Heißt Gott ift die Liebe‘ (S. 434). 
Wem kommt diefes Wollen und Wiffen zu? nach den Prämifien 
dem Menfchen, denn defien That ift auch die Freiheit, und durch 
diefe That wird das Wefenhafte, d. h. offenbar Gott, verwirklicht 
und empfunden. Das iſt reiner Hegelianismus, nur verbrämt 
durch die That der Freiheit, die von Kant hergenommen ift, aljo 
BVermifhung von Pantheismus und Rationalismus, aber Keine 
Höhere Tebensvolle Einheit. Man kann jenem Sich ⸗verlieren des 
Einen an das AU und dem Sic-wiedergewinnen des Einen im 
Einzelnen, d. h. im Subjeft, nur daburch entgehen, daß man dem 
Einen ein inneres Leben zufchreibt. Das ift der tiefe Gedanke des 
wiederum als fo unvernünftig dargeftellten kirchlichen Dogmas von 
der Dreieinigkeit, da® der goldene Faden in dem „feft gedrehten 
NAnäuel von Widerfprühen in der Kircenfagung von der Dreis 
einigfeit" (S. 378). Iſt auch zuzugeftchen, daß mander Dog ⸗ 
matifer bier mit mathematiſch⸗logiſchen Diftinktionen des guten 
zu viel that und entfchieden ierte, wenn er der Meinung war, das 
Weſen Gottes in eine enge Formel zu fpannen, fo muß doch der 
Dogmenhiftorifer einen hoheren Standpunkt einnehmen. Wer 
Baurs Kirchen und Dogmengefchichte zum erftenmale Tieft, wird 
ſich des Eindrudes nicht erwehren Können: wie kommt es doch, 
daß in den kirchlichen Lehrftreitigfeiten das Unvernünftige und Uns 
logiſche fich immer behauptet Hat? Erft fpäter vielleicht kommt 
ihm dann der Gedanke: es könnte nit nur das, was bie Kirche 
als Härefte ausgeſchieden hat, etwas zu vorteilhaft dargeftelit fein, 
fondern es müfje notwendig dem kirchlichen Dogma ein tieferes 
Bedürfnis zugrunde liegen. Und ift nicht in der That Athana- 
fius im Recht gegen die Mythologie des Artus, und ift nicht ber 
Ausbildung des Trinitätsdogmas der berechtigte Kampf gegen die 





Zur Frage der fittfichen Weltorbnung. 465 


‚gnoftifche Vereinerleiung Gottes und der Welt zugrunde gelegen? 
Daß hierbei einzelne Lehrer der Kirche zu weit gingen, indem fie 
die Tiefen der Gottheit erjhöpft zu Haben glaubten, foll, wie ge⸗ 
fagt, nicht geleugnet werben, und doch haben wir gerade von einem 
der fühnften Denker, von Auguftin, die bekannte ſchöne und tiefe 
finnige Parabel von dem, der das Meer mit einer Muſchel aus⸗ 
ſchöpfen wollte. Aber daran ift mit ftrenger Beharrlichkeit feft- 
zuhaften, daß Gott, und zwar ber perfönliche Gott, nicht in bie 
Welt fi auflöfen darf. Sonft wird der Spinozismus nicht 
dauernd überwunden, wie doch Garriere felbft will. Wir finden 
hier eigentümliche Widerſprüche. Auf der einen Seite ſtellt er.den 
Sag „des jugendlichen Hegel in der Phänomenologie des Geiftes“, 
es komme alles darauf an, daß die Subftanz als Subjekt gefaßt 
werde, ganz richtig fo dar: „Aber nur in der Entfaltung zur Ende 
Tichleit, nur im Menſchen ließ er Gott zum Selbftbewußtfein 
kommen" (S. 390), und Earriere erfennt darin eine Nachwirkung 
Spinozas, wenn die Subftanz nicht in fih, fonbern nur in ihren 
Modifilationen Verftand und Wille ift. Aber auf der anderen 
Seite vernehmen wir als eigene Anfhauung des Verfaſſers die 
Aufftellung von Strauß, die Perfönlichkeit Gottes dürfe nicht ale 
Einzelperfönlichkeit, fondern müfje als Allperſönlichkeit gedacht wer⸗ 
den, „ftatt das Abfolute zu perfonifizieren, müfjen wir es als das 
ins Unendliche ſich ftets Perfonifizierende begreifen lernen“ (S. 
392). Und daß ja fein Zweifel übrig bleibt, wird noch hinzu ⸗ 
gefügt: „Ich bin mit diefem Schlußfag (Straußens) volitommen 
einverftanden: auch Gott ift nicht Geift, Perfönfickeit, Bewußt⸗ 
fein an fid, weil das dem Begriff der Sache wiberfpricht (warum 
denn?); er iſt es durch fortwährende Willensthat, er ift der ſich 
ſtets Perfonifizterende" (ib). Ufo ift Hegel wiederhergeftellt, 
ober follen wir nicht vielmehr Carrieres Widerlegung von jenen 
Sügen der Hegelſchen Phänomenologte auf feine eigene Anerken⸗ 
nung der Straußſchen Säge anwenden? Cr Hatte ja gewiß mit 
Recht gegen Hegel Spinoza gefragt, woher in dem Enblichen Ver⸗ 
ftand und Wille wäre, wenn fie nicht aus der Subftanz ftammen; 
er Hatte treffend Hinzugefügt, das wäre ein Werden aus nichts und 
das Ubgeleitete wäre größer als das Prinzip, und I jenem, nit 
Theol. Etub. Yahız. 1888. 


406 Bacmeifter 


in diefem Täge, was dem Sein allein feinen Wert und fein Leben 
verleiht. Damit aber ift der fich ſtets perfoniftzierende Gott, wie 
ihn Garriere denkt, ſelbſt widerlegt. Der Gegenfag von Einzel 
perfönficfeit und Allperfönlichkeit ift ein fehr ſcheinbarer, aber 
auch nur ein fcheinbarer. Dem Anſchein nad ſoll dadurch dem 
Abfoluten etwas verliehen werden, der Begriff der Perſonlichkeit, 
im Wirklichkeit wird diefer nur dem eingelmen Subjekt zugefchrieben, 
und das Abfolute gewinnt fi erft in diefem, d. 5. alfo, wie 
Earriere felbft vortrefflih fagt: „Das Abgeleitete ift größer als 
das Prinzip", es kommt ihm eine Wefensbeftimmung zu, um 
welde das Abfolute ärmer ift. Das ift aber ein Ungedanke. 
Wozu aber jene Straußſche Rehabilitation der Perfünlichkeit des 
Abfoluten führt, das zeigt wiederum unſer Philofoph, wenn er 
fagt: „Und id) gehe einen Schritt weiter. Es bedarf dazu (um 
ſich zu perfoniftzieren) der Welt. Ohne fi von einem anderen 
zu unterſcheiden und ſich in ſich zufammenzunehmen befteht oder 
entfteht fein Selbft." Die Welt wird geradezu der in beftändiger 
Umbildung begriffene Organismus Gottes genannt, es wird von 
einem „eigenen dunkeln Grunde des felbftlofen Seins" Gottes 
geredet, aus dem er allerdings „immerdar“ ſich felbft erhebt und 
erfaßt und das Sein im Bewußtſein erleuchtet, die ewigen Wahr 
heiten denkt und die vernunftnotwendigen Gefege der Wirklichkeit 
alten befonderen Kräften innerlich, aus der Tiefe des eigenen Wer 
fens, eingiebt. Das ift aber offenbar Tein Theismus mehr, fon- 
dern Pantheismus, wenn auch geiftvoller und nicht geiftesarmer 
oder gar geiftlofer. Dem gegenüber kommt es für eine lebendige 
Religion und Sittlichkeit darauf an, einen Gott zu Haben, ber 
wirklich von der Welt ſich befondert oder richtiger, der nicht bloß 
alles in allen, fordern auch über alle und über alle if. Ganz 
echt hat Carriere, wenn er ſich dagegen verwahrt, daß Gott „ein 
Objelt außer uns“ ift, denn dann ift er eigentlich nur unfer Ges 
danke, ber, wie Feuerbach fagt, feine Wefenheit von und Hat; aber 
ſchief iſt es, wenn Garriere Gott als „Subjeft in uns“ faßt, er | 
ift vielmehr Subjeft über uns, das „über“ natürlich nicht räum— 

lich gefaßt, nit — trans, weshalb der Ausdrud transcendent | 
überhaupt fein glücdliher tft. Gott ift Subjeft über uns, das | 





Zur Frage der ſittlichen Weltordnung. 467 


heißt vielmehr: er iſt das Urfubfekt, die vollkommene Perſonlichteit, 
während uns diefes Prädikat nur in abgeleiteter Beziehung zu⸗ 
Tommt. Wir find aber doch wieder relativ felbftändige Perfonen, 
fonft ift feine Sittlichkeit möglich. So können wir Carriere auch 
darin nicht beiftimmen, wenn er das Verhältnis von Gott und 
Welt und Menſch fo fagt: „Gott iſt Feine Perfünlichkeit neben 
anderen, außer der Welt, fondern als Weltfeele und Weltgeift in 
allem gegenwärtig; und weil wir in ihm bewußt und mollend 
werden, ift fein in und gegenmwärtiges Weſen Bewußtfein und 
Wille" (S. 395). Damit wäre unfer Bemußtfein und Wille 
eo ipso göttlich, und eine ethiſche Beſtimmung ift dann ausge 
ſchloſſen, denn jedes Bewußtſein und jeder Wille ift das im Men- 
ſchen gegenwärtige Wefen Gottes. Diefe Konfequenz wird aus 
jenen Sägen unweigerlich gezogen werden müffen, aber wie gefähr⸗ 
lich fie für die Ethik, für eine „fittliche Weltordnung“ iſt, Teuchtet 
ohne weiteres ein. Das mar doch Fichtes Irrtum, wenn auch die 
Ankfage auf Atheismus tief zu bedauern bleibt und infofern nicht 
einmal berechtigt war, als eigentlich das menfhlihe Ich von dem 
göttlichen verſchlungen wird ?). 

ft aud jo das Streben Earrieres, die Einfeitigfeiten des 
Deismus und des Pantheismus zu vermeiden und mit der Perfüns 
Tichfeit Gottes Ernft zu machen, Höchft anerfennenswert, fo Können 
wir doch nicht geftehen, daß er fein Ziel erreicht Habe. Aus Schen 
vor einem inneren verborgenen Leben Gottes in fich felbft giebt er 
das Göttliche an die Welt, bzw. an den Menfchen preis, trog 
allen Anfägen, diefen Sehler zu vermeiden. Wir wiffen nicht, ob 
nicht jene Schen aus einem Widerwillen gegen das kirchliche 
Dogma entftanden ift; aber faft fcheint e& fo, wenn wir uns der 
oben angeführten Ausfprühe über das Trinitätsdogma erinnern. 
Der Widerwille aber gegen das Dogma ift wohl aus dem Kampf 
wider den Geiftesbefpotismus Roms, wider Syllabus und In⸗ 


1) Bei Fichte ift das Bewußtſein am ſich das Göttliche; aber freilich die 
Kehrfeite wird duch bie Wirklichkeit doch twieder in den Vordergrund gedrängt, 
das menſchliche Subjekt läßt fid nicht in Abgang befvetieren, es behauptet fein 
Recht, und das göttliche Ich verſchwindet, wenn e8 nicht forgfäftig von jenem 
gefchieden wird. 

31* 


468 Bacmeifter 


fallibilitat entfprungen, ein Kampf, der im Dienfte der flttlichen 
Weltorbnung felbft geführt wird, der aber leicht dazu führt, alles, 
was ber Gegner fein eigen nennt, zu zerftören. In der That wir 
halten es wohl für möglih — und bei einem hochzuſchätzenden 
Denker ift es fogar fittlihe Pflicht, nad einer Erklärung zu 
ſuchen —, daß der Widerwille gegen die ſpezifiſch chriftliche An- 
ſchauung fih urfprünglic gegen Auswüchfe und Mißbräuche ders 
felben gebildet und dann auf fie felbft übertragen Hat. Weil von- 
feiten derer, welche das kirchliche Dogma auf ihre Fahne fchreiben, 
Anfprüche erhoben werden, die allem gefunden Denken wider 
ſprechen, und Thaten begangen werben, die alles fittliche Urteil 
empdren, darum führt man mit einer wohl nahe liegenden, aber 
keineswegs berechtigten Verwechſelung ſolche Anſprüche und Thaten 
auf das Dogma ſelbſt zurück, ja ſieht dieſes als die Urſache da⸗ 
von an und richtet feine Waffen gegen dieſes ſelbft. Was iſrs 
doch für einen Gegner Roms für eine Verlodung, weil ein In⸗ 
ftitorie oder Sprenger die Hexen „zu Ehren des breieinigen 
Gottes" verbrannt haben, die Greuel der Hexenprozeſſe mit dem 
Trinitätsdogma in Verbindung zu bringen! wie nahe liegt es, 
namentlich der großen Menge es vorzudemonftrieren, folder Greuel 
wird man nur dann ein» für allemal Ios, wenn man das Dogma 
aufgiebt! So plump geht freilich ein Garriere nicht zumerk, 
aber es will uns dod feinen, als fei ihm etwas Ähnliches pafe 
fiert, als Habe er fi an ber vielleicht unbeholfenen Form des 
Dogma geftoßen und darob ben tiefen Wahrheitsgehalt nicht ent 
deckt, und ſei für feinen eigenen Gottesbegriff in einen Zuftand 
gefommen, den man vieleicht als ein Schweben zwifchen Himmel 
und Erde bezeichnen darf, dem aber der folide Untergrund und 
Stügpunft fehlt. Sein Gottesbegrifi ift keine Befriebigung der 
Bitte: dos nos od oro. 

Eine Beftätigung des Gefagten finden wir, wenn wir die 
Ausführungen des Verfaſſers über das Verhältnis Gottes zur 
Welt im ganzen ins Auge faſſen. Man könnte zwar fragen, 
wie ſolches mit der „fittlichen Weltordnung* als folcher zu. 
fammenhänge; allein das metaphyſiſche Verhältnis Gottes zur 
Welt ift doch die Grundlage für fein fittlihes Verhältnis zu 


Zur Frage der firtlichen Weltorbnung. 469 


ihr, wenn auch vielleicht das Tegtere der Ausgangspunkt für das 
menschliche Denken if. Es kommen bier hauptſächlich drei Ab- 
ſchnitte aus Carrieres Wert in Betracht, der erfte über „die 
mechanische Weltorduung und die Materialiften“, der achte über 
„den Emporgang des Lebens in Natur und Gefchichte* und wieder 
der legte über „Gott“. Die Eindrücke, die wir beim Lefen bes 
tommen Haben, find furz die: fo dankenswert ber Kampf gegen 
bie Ritter der Materie”, wie fie Melchior Meyer nennt, tft, fo 
laßt fi Carriere doch allzu fehr von dem Mechanismus ber 
Weltordnung imponieren; fo anerfennenswert der Kampf gegen bie 
Ausschreitungen des Darwinismus ift, fo bringt es der Verf. doch 
nicht zu einer einhelligen Anſchauung; fo wenig er einen beiftifchen 
Gott will, fo ift fein Gott doc eigentlih — zur Ruhe gefegt. 
Beginnen wir mit dem legteren. Carriere leugnet ebenfo bie 
zeitliche Schöpfung, wie die Schöpfung aus nichts, verteidigt alſo 
die Ewigfeit der Materie und bie fogen. ewige Schöpfung. Die 
Schöpfung aus nichts wird mit dem gemöhnlichen „aus nichts 
wird nichts“ abgethan und durch den Syllogiomus ad absurdum 
zu führen gefucht, wonad das Sein aus dem Nichts geworden, 
das Nichts aljo felbft das Sein wäre. Doc; ift dabei vergeffen, 
daß die creatio ex nihilo nur bie eine Hälfte des kirchlichen 
Schöpfungsbegriffes ift, die megative, wonach Gott bei ber 
Schöpfung nicht an einen fehon vorhandenen Stoff gebunden wäre. 
Allerdings ift mit diefem Sag bes kirchlichen Dogmas die Ewig⸗ 
keit der Materie gelengnet eben Im JIntereſſe des Schöpfungsbe- 
griffes, ja im Jutereſſe des lebendigen Gottes felbft. Es ift eine 
BVerfchiebung der Frage, wenn es das Recht ber Materialiften ger 
nannt wird, fo lange zu ftreiten, bi man ben Grund der Materie 
in Gott, in der göttlihen Natur erkennt. Das Dogma erkennt 
diefen Grund der Materie in Gott an, aber ftatt „in der gött- 
lichen Natur“ fagt es „im göttlichen Willen‘ oder „in der gott⸗ 
lichen Liebe‘ oder beides zufammengefaßt „in dem göttlichen Liebes- 
willen“. Es ift Garriere nicht gelungen, bie Perfönfichkeit Gottes 
in Übereinftimmung zu bringen mit biefer göttlihen Natur oder 
vielmehr beide in das rechte Verhältnis zu fegen. Denn wenn er 
fagt: „Die Natur in Gott, das iſt die Bafis der Realität, die 


40 Bacmeifter 


das Ideale trägt, die Fülle der felbftiofen Kräfte, deren Bethä- 
tigung und Bewegung fortwährend die Entwidelung der Welt her- 
vorbringt" (S. 410), — fo ift jedenfalls dabei überfehen, daß 
Bafis und Bethätigung und Bewegung lauter Begriffe find, die 
in der Zeit fich volfziehen, und daß ftreng genommen ein ewiger 
Vorgang keine Bafis hat, ja daß der Begriff „Vorgang“ felbk 
fon die Zeit in ſich ſchließt. Es ift wichtig, daß wir Hier die 
Grenze unferes Erkennen einfehen. Wenn die Kirche lehrt: Gott 
bat bie Welt, die Materie mit der Zeit geſchaffen, fo Liegt freilich 
die Frage nahe: und was hat er denn zuvor gethan? Luthers 
Wort vom Sigen im Birkenwüldchen ift eine gefunde Antwort. Im 
Ernft geredet aber ſcheint es uns richtiger, die Schranke unferes 
Wiſſens zu erkennen und zu befennen, als mit Begriffen die Lücke 
auszufüllen, die, genau geprüft, doch nicht Stich Halten; denn was 
ndie Natur in Gott“ ift, Hat noch niemand Mar zu mahen ge 
mußt. Wir verftehen es nicht recht, wie Carriere in Oppofition 
gegen das kirchliche Dogma von der Schöpfung die Natur in Gott 
als die Bafis des Realen zubilfe nimmt und dann doch wieder 
fagt, ftatt die Welt durch einen Zauberſpruch entftehen zu Laffen, 
lehren wir lieber: „Der Schöpfer ſchöpft aus fich felbft, die Welt 
ift die Entfaltung und Wechſelwirkung feiner in ihm unterfchiedenen 
Kräfte, umd er erſchöpft fich nicht darin, fondern ift gerade da 
durch feiner als der Urkraft inne, fi und fein Reich wollend 
und wiffend“ (©. 411). Der Schöpfer ſchöpft aus fi ſelbſt, 
das lehrt auch die Kirche; die Vorftellung von einem Zauberfprud 
wird man allweg nicht in ihrer Lehre finden, ebenjo ift es ganz 
richtig, dag der Schöpfer fih niet in der Schöpfung erſchöpft; 
aber gerade bie Interpretation, wonad bie Schöpfung nur ein Spiel 
ber Kräfte in Gott ift, ober wonach ſich die Welt entfaltet, wie 
der Schmetterling aus der. Puppe, diefe wehrt die Kirche ab und 
gewiß nidt, mit Unrecht. Dan muß Mar ſcheiden: entweder 
Schöpfung tm vollen Sinn als eine That des — in legter Bes 
ziehung fir unfer Denken grumblofen, nad) der Offenbarung aber 
fiebevollen — Willens, ober „Entfaltung und Wechſelwirlung ber 
Kräfte in Gott“; dann aber iſt von feiner Schöpfung und eigent- 
lich auch von keinem Schöpfer und fomit aud von feinem per 





Zur Frage der ſittlichen Weltorbnung. 41 


ſönlichen Gott mehr bie Rede — tertium non datur. — Carriere 
fegt ſich an diefer Stelle mit Ulrici auseinander, und es ift in⸗ 
tereffant zu Hören, worin er mit biefem Philofophen übereinftimmt, 
und worin er fi von ihm unterfcheidet. Beide wollen Deismus 
und Pantheismus durch eine höhere Weltanfhauung überwinden, 
beibe Inüpfen bei den Ergebniffen der Naturwiſſenſchaft an und 
kommen vom Kaufalitätsverhältnis. der Atome unter einander zw 
einem unbedingten Bedingenden, welches um feiner Zwede fegenden 
Tpätigkeit willen als mit Selbfibewußtjein ausgeftattet und um 
der mit Freiheit und Berfönlichkeit ausgeftatteten Menfchen willen 
ſelbſt als Ich und Perfon zu denken ift. In allen diefen wich. 
tigen Punkten find die beiden Gelehrten eins. Die Differenz tritt 
nun aber nad Carrieres eigener fcharfer Beftimmung an dem 
Buntte hervor, wo es ſich darum Handelt, die Einwirkung Gottes 
auf die Welt Har zu maden. Hören wir ihm ſelbſt. „Ulriei 
fagt: wie Die Welt nur durch Gott entfteht, fo befteht fie nicht 
bloß dur ihn, ſondern auch in ihm, umfaßt, getragen, durch⸗ 
drungen von ihm; auch ber Prozeß der Weltbildung und Welt» 
entwicelung beruht auf göttlicher Thätigfeit. Aber nachdem durch 
die fhöpferifche Thätigfeit Gottes die einzelnen Wefen gefegt find, 
vollzieht fi der auf der Natur wie der Gedichte gemäß der 
ihm einwohnenden göttlichen Beftimmung felbftändig auf Grund 
der in ihm waltenden Kräfte, und nur der Erfolg jedes Wirkens 
der Dinge auf einander ift durch eine Mitwirkung Gottes bedingt, 
da jede Wirkung in die Ferne eine ſolche übertragende, vermittelnde 
Thatigkeit erfordert. Dies letztere Habe ich oben bereits berührt. 
Aber Hier tritt der Unterfhied meiner Weltanfhauung von der 
ulricis ſcharf hervor. Sein Gott ſchafft die Atome als ein von 
feinem Wefen Unterfeiedenes, ift damit außer ihnen, obwohl er 
fie umfpannt und in fih trägt“ (&. 412). Im Gegenfag hierzu 
formuliert Earriere feine eigene Anſchauung alfo: „Das AN if 
ein Syſtem von Kräften, Entfaltung ber Einheit, die in fich zus 
fommenhängenb bleibt, indem die Urkraft ſich in fi zu den ein- 
zelnen Kraftzentren befondert, die dadurch von einander unterſchieden 
und zugleich auf einander bezogen find; die vielen Realen find 
nicht als ſolche außer einander, um dann in Beziehung zu kommen, 


472 Bacmeifter 


fondern fie find Urpofitionen des Einen, Unendlihen, das fein 
Weſen in ihnen erſchließt, deſſen Kräfte fie bleiben, wie fie für 
fich auch außer einander da find; in ſich einheitlich, weil Pofi⸗ 
tionen des einen, grenzen fie ſich gegen einander ab, find aber 
für einander da, und das Gange bleibt in jeder gegenwärtig, ihre 
Beftimmtheiten find feine GSelbftbeftimmungen, und im Spice 
ihrer Bewegungen haben wir nur die Metamorphofen und beſon ⸗ 
deren Erfceinungen ber einen urfprünglichen Bewegung als der 
ewig venlen Bethätigung der Urkraft, des. Einen“ (S. 413). Wir 
ftehen aufſeiten Ulricis und nehmen Lieber den Vorwurf eines 
überfünftelten Mechanismus oder einer fortwährenden äußerlichen 
Affiftenz Gottes Hin, als daß wir die prinzipiell wichtigfte Pofi- 
tion eines fpezififcden Unterſchiedes zwifhen Gott und den Atomen 
aufgeben. Damit daß Carriere in den wirkenden Kräften der 
Welt „die Offenbarung göttliher Weſenheit“ erblickt, zieht ex ſich 
den Vorwurf des Semipantheismus zu und, wenn er fi auch 
dagegen wehrt, wird er ihm nicht los werden. Hier ſieht Ulrici 
ganz vecht: die Atome find nicht eines Weſens mit Gott, nicht 
Selpftbeftimmungen feiner Natur. Wohl ſucht Carriere die Per⸗ 
ſonlichkeit Gottes zu retten, er fagt, die Urweſenheit verliere fih 
nicht an die Vielheit ihrer Beſtimmungen, an die in ihr befow 
derten Kräfte, fondern fie bleibe das in ihnen Thätige und ge 
winne ſich felbft durch fie als Syſtem und Harmonie der Kräfte, 
als Energie der Liebe in der Entfaltung und Einigung des Unter 
ſchiedenen. Das ift anzuerkennen, daß er nicht beim Ev za mar 
ftehen bleibt, fondern das rr&v ausds fefthalten will. Aber fol 
ches gelingt doch nicht. Denn wenn man fragt: ift Gott auch 
außer diefer Vielgeit feiner Beftimmungen etwas für fih? fo muß 
nad dem vorhin Angegebenen mit Nein geantwortet werden, er 
„gewinnt fich ja erft“ durch dieſes viele, in dem er das eine iſt, 
er wird doch erft „Energie der Liebe“ durch diefe Atome, d. 5. 
durch ihre Entfaltung und Einigung. Er ift aljo ohne diefelben 
nicht zu denfen, ja fie gehören nicht nur zu feinem Wefen, fon- 
dern biefes vollendet fich erft durch biefelben. Wie ftimmt aber 
das zu dem früher gehörten Sag: der Schöpfer erſchöpft fid 
nicht in diefen Kräften? Ob nicht doch Ulrici vecht behält, wenn 





Zur Frage der ſitilichen Weltorbnung. 48 


er Carriere beshalb den Vorwurf des Semipantheismus macht, 
wonach etwa ber Halbe Gott, ein Teil feiner Subjtanz zur Welt 
imerde, ein anderer niht —? Uns fheint, bie Trage fei zu bes 
jahen. Forſchen wir aber nach dem Grund, der Earriere bewegt, 
in den Atomen Gottes Wefen felbft zu fuchen, fo dürfen wir den« 
felben wohl kaum allein oder vorzugsweife in dem von J. G. Fichte 
erhobenen Einwand gegen die Schöpfung aus nichts fehen, dieſer 
ſcheint ihm vielmehr nur als eine Stüge, die ihm gelegentlich 
willtommen ift. Denn wenn Fichte fhreibt: „Wie Begriffe als 
Beitimmungen einer Intelligenz entweder in Materie fi verwane 
dein mögen in dem ungeheueren Spftem einer Schöpfung aus 
nichts oder die ſchon vorhandene Materie mobifizieren mögen in 
dem nicht viel vernünftigeren Syftem der bloßen Bearbeitnng einer 
felbftändigen ewigen Materie: darüber ift mod immer das erfte 
verftändliche Wort vorzubringen“, — fo hat gewiß Earriere felbft 
die Widerlegung bei der Hand, daß es ſich eben bei dem Denken 
des Schöpfers gar nicht um bloße „Begriffe*, um Abftraktionen 
Handelt, fondern daß diefes Denen felbft ein fchöpferifches, ein 
Segen ift. Nein mit einer ſolchen logiſchen Spitfinbigfelt ift die 
Sache nicht abgethan. Vielmehr finden wir das Motiv von 
Carrieres Anſchauung in einem allzu großen Reſpekt vor dem 
Mechanismus der Weltkräfte. 

Schon in dem Abſchnitt über „Gott“ wiefen einzelne Aus⸗ 
ſpruche darauf Hin, fo 3. B. wenn er die „fortwährenbe Außer 
liche Affiftenz Gottes“ um der Wechſelwirkung der Dinge, ber 
endlichen Kräfte auf einander ablehnt, indem er die Thatſache ber 
tont, daß doch alle Kräfte in emergifher Beziehung zu einander 
ftehen, daß Feine für ſich allein, fondern nur in der Gemeinfam« 
kelt mit anderen wirke, baf alles Gefchehen ein Zuſammenwirken 
fet (S. 413). Das mag ja wohl nicht geleugnet werben, es ift 
nur die Frage, ob dieſe Kräfte auch fo felbftänbig auf einander 
wirken, wie die fittlichen Wefen, ob jene Gott zu berfelben Frei⸗ 
heit entlaffen Hat wie dieſe. Ulrici Iengnet dies, und, zwar gewiß 
mit Recht; er leugnet es (Earriere fagt: „die Thatſache“), daß 
in der Natur von innen heraus wirkende, nicht gemachte, fondern 
ſich felbft entwidelnde Kräfte walten, unter Berufung darauf, daß 


44 Bacmeifter 


nur das Unbebingte wahrhaft fponten und von innen berans In 
bend fei (S. 414). Letzteres muß Earriere natürlich einräumen, 
aber er beruft fih auf die Entwidelung des Organismus, die vor 
innen heraus kraft des „eigenen Bermögene“ geichehe, freilich, jegt 
ex faft ſchuchtern hinzu, „ale endliches Weſen allerdings in Be 
sichung auf andere und unter ihrer Mitwirkung“ (ib.). Aber hat 
nicht das gerade Ulrici im Ange, wenn er von einer fortwähren 
den Affiftenz Gottes redet? demm woher jene „Beziehungen auf 
andere" und jene „Mitwirkung anderer Kräfte?“ Des ift das 
punctum saliens. Die Antwort Iantet nr: entweber duch Zu | 
fall oder — da ja bei dieſem die Kräfte amd zufällig fich zer | 
Rören könnten, und da überhaupt der Zufali dem Denfen jeht | 
wenig einleuchten will — durch präftabilierte Harmonie. Diefer | 
letztere Begriff aber treibt notwendig weiter zu dem des lebendigen 
Gottes. Ulrici hat wohl recht, wenn er die Schöpfung als ein 
Thun fegt, „welches das Gegenteil des Machens ſei“, und Carriere 
darf mit Grund daraus folgern, alſo müſſe es ein Gewähren⸗ 
laſſen fein, wonach der Schöpfer den Lebensquellen und Lebens⸗ 
trieben freien Lauf Lafje und ihnen den Spielraum ihrer Thätig 
keit innerhalb ber ihnen gefegten Ordnung gemähre (©. 415). 
„Znerhalb der ihnen geſetzten Orduung“ — darauf fommt alle 
an, ſoll nicht jener Spielraum ein Tummelplatz der wildeften Un 
ordaung werden. Und es fragt fi num, ob diefe Ordnung ein 
für allemal gejegt ift, — dann Beben wir den zur Ruhe gefegten 
Gott des Deismus, oder ob diefe Ordnung fort und fort gejegt 
wird, — dann haben wir einen lebendigen Gott. Wir meinen: 
wir können uns Gott nicht lebendig und nicht thätig genug deuten, 
gerade weil er ganz @eift it. Gr, und nur er und er allein, 
iſt das Alles in allem. Es ift aber eine an Gnofticismus ſtrei⸗ 
fende Behauptung, wenn Garriere fagt: „Der Schöpferwißle des 
Geiftes und die Natur als der Mutterſchoß aller Dinge, fie zur 
ſammen begründen die Welt, fie gründet damit in Gott, und er 
beherrſcht fie und durchwaliet fe wie die Secle ben Leib und das 
Selbſtbewußtſein ſeine Borftellnugen” (S. 416); und noch mehr: 
„Indem GEndlihes fi, im Uneublichen befondert und vervollftän⸗ 
bigt, ſcheidet es fih für ſich von dem Ganzen ab, verdunkelt de 





Zur Frage der fittlihen Weltordnung. 475 


mit in fih das Licht der Einheit, das Selbftbemußtfein, und ift 
num blinde Kraft, felbftlos, vom ewigen Selbft (08, und aud in 
dem feelifchen, geiftigen Wefen bleibt diefe Naturgruudlage als die 
Bafis ihrer gefonderten Eriftenz* (S. 419). Diefer Dualismus 
wird niemand befriedigen, und wenn Carriere die Anwendung dier 
ſes Begriffes auf feine Anſchauung abwehren wollte, jo müßten 
wir uns eine genauere Definition des Begriffes „der göttlichen 
Natur" und ihres. Verhältnifjes zu dem „Schöpferwillen des 
Geiftes“ erbitten. Dieſe Begriffe. find wohl nicht weniger ſchwer 
als die des kirchlichen Dogmas von der Trinität, melde eine fo 
herbe Berurteifung erfahren Gaben. Wenn ſich Earriere auf Gior⸗ 
bano Bruno und auf Jakob Böhme beruft, um feine Anficht zu 
ftügen, fo ift es ſchwer einzufehen, weshalb, er nit einmal die 
Brzeihnung Semipantheismus für feine Anfchauung geftatten will, 
denn jene beiden find anerkannte Pantheiften. Mit etwas mehr 
Grund ruft er I. H. Fichte als feinen Bundesgenoffen auf, der, 
den „unverwüftlichen Grund" des Individualen betonend, „das 
gefamte Erfcheinende als den Werhfel von Löfung und Bindung 
urbeharrlicher, urqualitativer Kräfte" faßt, und es als „einen 
völligen Nichtgedanlen bezeichnet, jenjeits des Wirklihen, das uns 
alfgegenwärtig umgiebt und aus der eigenen, nie verfiegenden Quelle 
ewig fid) erneuert, mit entſchiedener Trennung und Entgegenfegung 
noch eine andere transcendente (jemfeitige) Wirklichkeit Gottes zu 
ſuchen“. Aber abgejehen davan, daß J. H. Fichte felbft jenes 
Judividuale fofort als in der Menfchengefchichte vorzugsmeife zur 
Erſcheinung kommend auffaßt, ift es Hödft bedeutfam, daß er 
wieder behauptet, daß Gott auch wicht fehaffen könnte, ohne dadurch 
in feinen Wefen ärmer ader innerlich verändert zu werden, Golde 
Behauptung befremdete Carriere fehr, und mit Reht, wenn man 
fi) on Säge von 9. H. Fichte erinnert, wie bie von jenem 
citierten: „Bott als das Unbedingte ift zugleich auch das eigentlich 
Wirkliche, und umgekehrt die wahre Wirklichkeit ift nur die Gottes“ 
and: „Gottes Wirklichkeit ift fein Erhalten des Monadenuniverr 
ſums; er hat fein objeftives Leben ihre Unendlichkeit zu fein und 
ihre Einheit zumal, die wirkende Urſache aller urbeharrlichen 
Weſen, aber darin auch ihre einende Madıt, was er nur im felbft 


476 Bacmeifter 


anſchauenden Geifte vermag." Wohl gehört das Wort von dem 
Nicht-fein-Fünnenden in das Weich der leeren Möglichkeiten, mit 
welchen die Philofophie nichts anzufangen weiß. Aber wenn wir 
uns darüber befinnen, was denn wohl J. H. Fichte zu jenem 
Ausfprud; veranlaßt Habe, fo können wir feinen anderen Grund 
denken, als die Einfiht, die vielleicht mehr in der Form des Gr 
fühts fich geltend machte, es Tönne das Weſen Gottes doch nidt 
in jenem „Monadenuniverfum* erjhöpft fein. Dieſes Gefühl if 
dann, allerdings etwas fonderbar, fo ausgedrüct, Gott könne auch 
nicht ſchaffen und wäre darum doch nicht im fi ärmer. Weiſt 
aber diefer Gedankengang nicht wieder auf den Kern des kirchlichen 
Dogmas von der Dreieinigkeit zurüc, auf ein innergöttliches 
Leben? An dieſem müffen wir fefthalten, wenn aud bei jedem 
Verſuch begriffliher Formulierung euergiſch an das apoftolifde: 
„Unjer Wiſſen iſt Stückwerk“ erinnert werden muß. Sit unſet 
Wiffen das einmal, fo ift es das Bier; „Sein Saum füllete den 
Tempel“, ins Angefiht vermögen wir ihm nicht zu fehauen; es 
fei uns genug, daß wir an feinen Saum rühren mit unferem 
armen Denken. — So künnen wir aud nicht in das freudige 
Lob einftimmen, welches Earriere dem Schöpfungebegriff J. H. Fichtes 
ſpendet, wonach Gottes Schaffen „ein Für⸗ſich-wirken-laſſen der 
jenigen Kräfte in Gott heißt, welche nur untergeordnet, nur Zeile 
feiner Einheit find, wie wenn fie für fi felbftändig wären“. 


Nehmen wir die Analogie des menſchlichen Weſens zuhilfe, bi | 


welchem wir aud von einem Schaffen reden. Aber verftchen wir 
darunter das Fur ⸗ ſich⸗ wirken⸗laſſen der untergeordneten Kräfte? 
dann müßte das Wachſen des menschlichen Körpers eine Schöpfung® 
that fein. Uber im allwege ift bei dem Begriff des Schaffens 


der des Bewußtſeins feitzuhalten, und wenn wir recht fehen, je | 


iſt das göttliche Schaffen, im Unterfchie von dem partiellen 
Schaffen des menfchlichen Geiftes im Gebiet des Idealen, deshalb 
das vollkommene, weil es ſich in gleicher Weife wie im Idealen 
fo aud im Realen vollzieht, was die Schrift einfach fo ausdrädt: 
„So er fpricht, fo geſchieht's; fo er gebeut, fo ſtehers da.’ 
Dagegen enthält die Vorftellung von den blinden Kräften in Gott, 
zu denen fich fein Selbſt verdunfelt und aus denen ein Teil wie 





Zur Frage der fittlichen Weltordnung. a7 


der zum Licht des Bewußtſeins ſich emporarbeiten foll, fo viel 
Unvollziehbares, daB wir fie unmöglich annehmen Können. Bes 
finnen wir uns aber, wie Carriere wohl auf folden Gedanten 
lam, fo finden wir als zureihenden Grund den oben angeführten 
allzu großen Reſpelt vor dem Mechanismus in der Natur. 

Wohl läßt fich die Freude des Gelehrten, ja jedes Denfenden 
begreifen, welche die Entdeckung eines „Geſetzes“ in der Welt und 
die immer herrlicher ſich auffchliegende Harmonie dieſer Geſetze 
verurſacht, und es fei ferne von uns, diefe Freude über die feit 
Galilei, Kepler, Newton gemachten Fortfehritte der Phyſik trüben 
ober verachten zu wollen. Auch ben Sa unterfchreiben wir, daß 
„die Gejege unferes Denkens zugleich die Weltgefege find“ und 
umgefehrt. Damit ift das dunffe Kantfde „Ding an fih“ in das 
Licht des Geiſtes gerüdt. Ganz befonders aber ift dem Verfaſſer 
die emergifche Zuruckweiſung de Materialismus, der Gedanken ⸗ 
loſigkeiten eines Büchner und Hellwald, der Ungeheuerlichfeiten 
eines Schuricht und einer Mathilde Reichardt, denen wir nicht die 
Ehre einer Wiederholung anthun wollen, zu danken. Aber wenn 
wir aud) dem ganz zuftimmen, daß ber praltifche Materialismus 
für die Kultur tödlich, und daß die Häckelſche Unterſcheidung eines 
wiſſenſchaftlichen und ethifchen Materialismus eine leere Abftraktion 
ift, wenn es auch gewiß richtig ift, daß erft mit der Erhebung des 
Menſchen über das blog Sinnliche, mit dem Bewußtfein des Geiftes, 
der Freiheit, des Göttlichen die Kultur beginnt, — fo möge doch 
der Berfaffer zufehen, ob nicht auch er vom Naturmechanismus zu 
fehr überwältigt ift, wie die Materiafiften, genauer, ob er jenen 
nicht fo felbftändig ftellt, daß die Konſequenzen notwendig bie 
jenigen der Materialiften find. Es wird den Tegteren zugeftanden, 
dag alles Gefchehen in der anorganifhen Natur auf mechanifche 
Weife und mit ausnahmslofer weil fachgemäßer Gefeglichkeit durch 
Stoß, Drud und Bewegung der Atome fich vollziehe (S. 40). Aber 
wenn fon eine tiefere Betrachtung dieſes mechaniſchen Ges 
ſchehens auf die Erkenntnis der. unfinnlihen Atome als Kraft 
zeuntren führte, fo ift man ja damit ſchon über „Stoß, Drud 
and Bewegung“ als legte Urſachen Hinausgefchritten, und man 
ans freng genommen von einem bloßen Mechanismus nicht mehr 


478 Bacmeifter 


reden, fondern von einer alles beftimmenben Kraft und Vernuuft. 
Darauf fheint und das Wort Lotzes Hinzuführen: „Uns hat der 
vereinigte Eindrud ber gefamten Erfahrung die Welt langſt ale 
ein zufammenhängendes Ganze kennen gelehrt, innerhalb deſſen 
jeder einzelne Inhalt, jeder Zuftand, jede Eigenfchaft, jede Natut 
eines Dinges andere Inhalte, Zuftände, Eigenfchaften und Naturen 
dergeftalt antrifft, daß aus der Zufammenfafjung beider Zeile der 
vollftändige Grund einer neuen Folge entftehen fan; jest, nad 
dem wir das willen, fcheint es uns freilich felbftverftändlich, daß 
jedes Einzelne, wie vereinzelt und unabhängig es auch ſcheinen 
mochte, doch in das Gewebe diefer allgemeinen, die Welt ums 
faffenden Wahrheit und Korrefpondenz alles Seins aufgenommen 
fei; an ſich aber eröffnet diefe Thatſache einen Abgrund der Ber- 
wunderung.” Ja auf bie „Zufammenfafjung beider Teile“ kommt 
es an; fegt dieſe nicht ein Zufammenfafjendes oder — richtiger 
gedacht, weil das Zufammenfaffen eine Thätigkeit ift, die nur von 
einer Perſon im vollen Sinn ausgeübt werden Tann — eimn 
Zufammenfaffenden voraus? Woher kommt's, daß biefer eingelne 
Inhalt mit jenem einzelnen zufammentrifft, woraus ſich der neu 
Inhalt ergiebt? Es mag ja fein, dag die Natur ein Mechanis⸗ 
mus, eine Maſchine ift, aber wir haben noch Keine felbftarbeitende 
Maſchine im vollen Einne des Worts gefehen; jede Mafıhine 
muß bedient fein, und ohne den vernünftigen Willen fteht fie ftill 
oder wirkt nicht zwedtentfprechend. Nicht erft in den Organismen 
des Staats ober der Kirche, im fittlichen Handeln, in der Kauſt, 
in der Wiffenfhaft tritt die Notwendigkeit der Annahme einer 
Seele (des Menſchen) zutage, fondern ſchon der Naturmechanis ⸗ 
mus fordert eine — der Analogie wegen ſei's geſagt — Seele 
(der Welt), richtiger einen allwirtenden Geiſt. Wenn Virchew 
für die organifche Welt die Lehre von einer felbftändig wirkenden 
Lebenskraft mit Recht für einen Überwundenen Standpunkt erklärt, 
muß nicht auch die Bewegung in der anorganifchen Welt als cin 
„Ergebnis eigentümficher Umftände” gefaßt werden, wenn dieſe 
„Umftände* Hier auch nicht fo kompliziert wirken, wie in der 
organifchen Natur, für welche Virchow noch weiter ,‚ungewöhnliche 
Bedingungen“ verlangt, „wodurd die Offenbarung eines ſonſt 


Zur Frage der ſittlichen Weltorbnung. 49 


Intenten @ejeßes vermittelt ward, fo daß die gewöhnlichen mecha- 
niſchen Bewegungen in vitale umſchlugen“. Wenn Carriere hier 
treffend fagt, ſolche Bedingungen ſetzen doch ſchon eine Urſache 
voraus, jo gilt dies auch für die gewöhnliche Bedingung in ber 
anorganiſchen Natur. So allein kommt eine einheitliche Welt» 
anfhanung zuftande; darum aber Tann auch der Naturmechanismus 
nicht aus der beftändigen göttlichen Machtwirkung entlafjen werden. 
Carriere verteidigt gegen Strauß die Entftehung des organifchen 
Lebens aus nichtmechanifchen Urſachen und fagt: „Wil man dag 
Raufalitätsgefeg nicht verleugnen, will man den ftrengzufammen» 
hängenden Bewegungsmechanismus, den bie Naturwiſſenſchaft feit 
Galilei und Newton zu ihrer Grundlage hat, nicht außeracht Laffen, 
fo muß man eine Urfache anerkennen, melde die neuen und eigen« 
tümfihen Bewegungsverhäftnifje ans dem gewöhnlichen Gang der 
Natur Heraustreten läßt, ihr Richtung, Maß und Ziel fegt und 
ihr Bildungsgeſetz giebt.“ (S. 52.) Uns fheint Loge richtiger zu 
fehen, wenn er fagt: „Nicht durd eine höhere eigentümliche Kraft, 
die ſich fremd dem Übrigen Gejchehen überordnete, nicht durch uns 
bergleichlich ſandere Geſetze -unterjCheidet ſich das Lebendige von 
dem Unlebendigen, fondern nur durch die befondere Form der Zu⸗ 
ſammenorduung.“ Das Kaufalitätsgefeg mag wohl zu Recht be⸗ 
flehen, aber es wirft auch in der anorganiſchen Welt nicht durch» 
aus felbftändig, fondern es wird durchweg gehandhabt; fo allein 
tann man die wunderbar verfchiedenen Formen in diefem Teil des 
Seins erflären. Und das wird vollends auf einem Standpunft 
gelten, der jo entichieden den Zweckbegriff fefthält, wie Garriere, 
aud ihn fo glücklich gegen „Se. Majeftät den Zufall“ verteidigt. 
Tritt auch die Wirklichkeit des Zweds im Organiſchen, man 
möchte faſt fagen: Handgreiflih vor Augen, fo findet fie ber 
venkende Forſcher aud im Unorganifchen. Zweck, Zwedjegen, 
Zwederreichen aber ift nie und nimmer Sache des Mechanismus, 
ieſer iſt Höchftene ein untergeordnetes wenn auch weſentliches 
Mittel dazu. Wohl ift der Zweckbegriff zunächft ein menfchlicher 
Jegeiff, „wir kommen zu ihm durch unfere eigene geiftige Thätige 
it“ und zwar in der Weife: „unfer Wille ergreift eine Vor⸗ 
lung, um fie zu verwirklichen, er faßt einen Entſchluß, um ihn 


430 Bacmeifter 


auszuführen; damit fegt er feinem Wirken ein Ziel, und alle, 
was er anwendet ober bedarf, um dasſelbe zu erreichen, um feine 
Gedanken zu verwirklichen, Heißt Mittel und ift die verbindende 
Mitte zwiſchen dem innerlihen Entſchluß und der Außenwelt; am 
Ende erfcheint verwirfficht, was am Anfang vorgebildet und bir 
ftimmt war, und das erreichte Ziel ift zugleich der Grund der 
Bewegung nad) ihm hin, es ward erftrebt und das letzte ift zu 
gleich das erfte, der Gedanke ift die Urſache der Handlung, die 
ihn ausführt“ (S. 55). Das ift vollftändig richtig, aber wenn & 
wahr ift, daß unjere Denkgejege zugleich die Weltgefege find oder, 
möchten wir lieber fagen, daß die Weltgefege fich in unferem 
Denken wieberfpiegeln, dann ift der Zmwedbegriff nit nur cin 
fubjeftiver, fondern ein objeftiver. Dann aber trifft aud die oben 
gegebene Beſchreibung der Art und Weife, wie der Zwedbegriff 
zuſtande kommt, vollftändig zu: ein Wille fegt feinem Wirken ein 
Ziel, wendet feine Mittel an und verwirklicht das im Anfang Bor 
gebildete. Solches aber können wir nicht auf einen Naturmedhanie 
mus zurüdführen, auch nicht auf einen deiftifch ober pantheiftifd 
gedachten Gott, fondern dieſer Welt» Zwedkbegriff fordert den 
Tebendigften, aktivften Theismus (vgl, Joh. 5, 17: 6 rarrjg noo 
Eus &orı doyaleraı). Es ift ein fehr willtommenes Beifpid, 
das Carriere aus Hädels natürlicher Schöpfungsgefchichte nebſt 
einer Bemerkung €. v. Hartmanns anzieht; nur werden wir ans 
diefem Beifpiel noch mehr lernen. Hädel in feinem Fanatismns 
gegen den Zwedbegriff nimmt die Lokomotive zuhilfe, um zu be 
weifen, daß nur ein Wilder die Leiftungen dieſes Mechanismus 
als unmittelbare Wirkungen eines mächtigen Geiſtes anftaunen 
tönne, während alles doch Mechanismus fe. Der Wilde denkt 
doch richtiger als der Jenenſer Profeffor. Carriere bemerkt einjah 
und treffend: „Hat denn der Wilde nicht recht? Steckt dem 
nicht Geift, ſehr viel Geift in der Lokomotive? Der Geift von 
Archimedes und Watt und Stephenfon und vieler anderer Denter! 
Und Hört diefer Geift, Hört der die Machine konſtruierende Ger 
danke damit auf zu beftehen, wenn wir die Räder, Schrauben, 
Triebfräfte auseinanderlegen und erkennen, durch bie er wirft?“ 
(&. 58.) Dazu bat fhon E. v. Hartmann bemerkt: „Hädes 





Zur Frage der fittlichen Weltorbnung. sl 


Beiſpiel beweiſt ftrifte das Gegenteil: es beweiſt nämlich, dag nur 
das ein Mechauismus zu heißen verdient, dem die Teleologie in 
demſelben Sime immanent iſt, wie bie Rofomotise, deren Daſein 
der Wilde mit Recht als Beweis einer der feinigen überlegenen 
Jutelligenz einfieht, und deren ftaunenswerte Zweckmäßigkeit ſich 
dadurch um nichts vermindert, wenn man ben vollen Einblid in 
den Mechanismus erlangt hat. So bleiben auch wir im Rechte, 
werm wir in dem weit ftaunenswilrdigeren großen Mechanismus der 
Natur die Dolumentierung einer der uufrigen weit überlegenen 
Intelligenz bewundern, und unfere Bewunderung wird dadurch nicht 
vermindert, fondern erhöht, wenn es uns gelingt, mit unferem 
Berftändnis allmäplih mehr und mehr in den Zuſammenhang 
diefes Mechanismus einzubringen.“ Das ift ganz richtig, bedarf 
aber der Ergänzung, daß das beſſere Verſtundnis des Mechanise 
mus zugleich eine reichere Erichliegung der Gedanken der Kon. 
ftruftoren der Maſchine ift, alfo, wie wir oben fagten, nicht beim 
Mechanismus ftehen bfeibt. Wir können auch das Wort Harte 
manns von der immanenten Teleologie vollftändig acceptieren, denn 
in berfelben Weife, wie der Lokomotive die Teleologie immanent 
ift, iſt fie es im großen Stile der Welt. Aber kanu man im 
ftrengen Sinn von einer immanenten Xeleofogie der Lokomotive 
reden? iſt es micht im beften Ball eine paffive Teleologie? und 
mo ift die aktive Zeleologie zu finden? natürlich in ihrem Er— 
bauer, diefer aber ift der Lokomotive nicht immanent, fonbern 
trangceendent, geht darum auch mit feinem Weſen nicht in der 
Lokomotive auf, ja man fönnte nicht fagen, er wäre gar nicht, 
wenn er die Lolomotive nicht gebaut hätte, er wäre nur nicht der, 
als dem er ſich durd diefe Schöpfung dokumentiert hat. Die 
Anwendung auf den Schöpfer des teleologifchen Naturmehanismus 
ergiebt fi von felbft. Es ift uns das eine willlommene Be- 
Ftätigung unferer Auffaffung von der Notwendigkeit eines lebendigen 
Scöpfungsbegriffs gerade au fr das Gebiet, das die Natur- 
viſſenſchaft für fich ganz mit ihren Gefegen in Anſpruch nimmt, 
»bgfeich die beſonnene Wiſſenſchaft Tängft ihr das Memento zu» 
erufen hat: wir meinen den viel citierten Vortrag „Über bie 
Srenzen des Raturerfennens“ von Emil Du Bois-Reymond vom 
Ayeol. Gtub. Yahrg. 1888. 32 


482 Bacmeifter 


14. Auguft 1872, der ein Markſtein in der Geſchichte genannt 
zu werden verdient. Diefer geiftvolle Denker faßt die Möglichkeit 
einer folhen Höhe des Naturerkennens ins Auge, daß „ber game 
Weltvorgang durch eine mathematifche Formel vorgeſtellt würde, 
durch ein unermeßliches Syſtem ſimultaner Differentialgleichungen; 
aus dem ſich Ort, Bewegungsrichtung und Geſchwindigkeit jedes 
Atomes im Weltall zu jeder Zeit ergübe“ (S. 3). „Ein Geil“, 
fagt Laplace, „der für einen gegebenen Augenblic alle Kräfte fennte, 
welche in der Natur wirkſam find, und bie gegenfeitige Lage ber 
Wefen, aus denen fie befteht, wenn fonft es umfaſſend genug 
wäre, um diefe Angaben ber Analyfis zu unterwerfen, würde in 
derfelben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper und db 
feichteften Atoms begreifen: nichts wäre ungemiß für ihn, und Zu 
funft wie Vergangenheit wäre feinem Blicke gegenwärtig. Der 
menſchliche Verftand bietet in der Vollendung, die er der Aftronomie 
zu geben gewußt Hat, ein ſchwaches Abbild ſolches Geiftes dar.“ 
Und diefen kühnen Gedanken ausmalend, fährt Du Bois-Reymond 
fort: „In der That, wie der Aftronom nur der Zeit in den 
Mondgleichungen einen gewiffen negativen Wert zu erteilen braudt, 
um zu ermitteln, ob, als Perilles nad Epidaurus ſich einfchiffte, 
die Sonne für den Pirdeus verfinftert ward, fo könnte der vom 
Laplace gedachte Geift durch geeignete Disfuffion feiner Weltformel 
ung fagen, wer bie eiferne Maske war oder wie der „Präftden“ 
zugrunde ging. Wie der Aftronom den Tag vorberfagt, an dm 
nad Jahren ein Komet aus den Tiefen bes Weltraumes am 
Himmelsgewölbe wieder auftaudt, fo laſe jener Geift im feinm 
Gleichungen den Tag, da das griechifche Kreuz von der Sophie 
moſchee bfigen, oder da England feine legte Steinkohle verbremen 
wird. Setzte er in der Weltformel t = — 00, fo enthüllte fh 
ihm der rätfelhafte Urzuftand der Dinge. Er fühe im unendlicen 
Raume die Materie bereits entweder bewegt oder ungleich verteilt; 
da bei gleicher Verteilung das labile Gleichgewicht nie gefürt 
worden wäre. Ließe er t im pofitiven Sinn unbegrenzt wodfen, 
fo erführe er, ob Carnots Sag erft nad; unendlicher ober jhm 
nach endlicher Zeit das Weltall mit eifigem Stillftande bedroft. 
Solchem Gelfte wären die Haare auf unferem Haupte gezählt, 


Zur Frage der fittlichen Weltordnung. 488 


und ohne fein Wiffen ftele kein Sperling zur Erde. Ein vor 
und rüdwärts gewandter Prophet, wäre ihm, wie ſchon d'Alem⸗ 
bert in der Einleitung zur GEnchflopädie, Laplaces Gedanken im 
Reime Hegend, es ausdrüdte, „das Weltganze nur eine einzige 
Thatſache und eine große Wahrheit". Auf diefem faft ſchwindeln⸗ 
den Höhepunkt erinnert Du Bois⸗Reymond, daß der menschliche 
Geift von diefer volltommenen Naturkenntnis ftets weit entfernt 
bleiben wird — ignoramus et ignorabimus. ber, fügen wir 
hinzu, felbft den Fall gefegt, daß wir dieſe Weltformel finden 
fönnten, fo wäre fie fängft da, und wir müßten doch wieder jagen: 
es ift noch etwas Größeres als diefe Formel, nämlich der, welcher 
fie gedacht — und zugleich gefegt hat. — Man fanıı mit Earriere 
ganz wohl fagen, das Geſetz fei undenkbar ohne ein Etwas, für welches 
«8 Geſetz ift; aber die Kehrſeite lautet: es ift aud undenkbar ohne 
Segenden, und nad Analogie der vollfommenften Organismen in 
der fittlihen Welt ift der Triumph des Geſetzes nicht der ftarre 
Mechanismus, Sondern der im Geſetz ſich bethätigende freie Wille, und 
als folhen denken wir uns angefichts des unendlichen Wechfels in 
der Natur auch den Schöpferwillen oder das Schöpfungsgefe Gottes. 
Aber ift nicht diefe ganze Anſchauung durch den Darwinismus 
erfhüttert, ja umgeſtoßen? Carriere fegt fi mit dieſer Hypo⸗ 
theſe — denn mehr ift bis jegt diefe Lehre nit — in dem 
ntereffanten 8. Abjchnitt: „Über den Emporgang des Lebens in 
Ratır und Geſchichte“ auseinander, wo zugleich der Übergang zu 
ver Frage im engeren Sinn nad) der fittlichen Weltorbnung Liegt, ob» 
lei Garriere eigentümficherweife die Erdrterungen über die Freiheit 
md das Gefeg, über das Gute und das Böſe vorangehen läßt. 
Schon bei Entwickelung des Zweckbegriffs war er auf die 
Iehauptung von Strauß geftogen, daß demfelben durch Darwin 
er Todesſtoß verſetzt fei, ſeitdem dieſer gezeigt, wie die Organismen 
ıf rein mechaniſchem Wege entftehen. Er Hatte dort (S. 57) 
ach im Anſchluß an €. dv. Hartmann diefe Meinung Straußens 
gültig widerlegt, daß dann jedenfalls kraft mechaniſchen Ger 
bes die Vorftellung des Zweds im menſchlichen Denken erzeugt 
erde, das zweckmäßige Handeln des Menſchen alfo im Anor« 
niſchen ſchon, wenn aud noch implicite, enthalten fei. Dagegen 


82° 


B⸗ Bacmeifter 


wird nicht aufzukommen fein. Über es ift nun die große rag, 
06 das Organifche wirklich auf bloß mechaniſchem Wege aus dm 
Anorganiſchen hervorgeht. 

Der Streit um Darwins Hypothefe begann von da am heftig 
und leidenfchaftlih zu werben, wo die Abſicht zutage trat, den 
Meufchen zu degradieren und damit die ganze ideale Weltanfchaumg 
zu zerftören. Das Pathos ift Hier in feinem echt, wenn & 
auch den Blid für wahre Wiſſenſchaft leicht trübt. Nun iſt s 
ein fehöner, glucklicher Gedanke Earrieres, gleich im Anfang jmb 
Vathos zu beruhigen durch die Verficherung, es gebe auch eine 
Auffaffung ded Darwiniemus, monac der Idealismus nicht mır 
erhalten fondern ſogat ausgedehnt werde. Statt alfo mit mol: 
tüftigem Behagen den Menfchen in den Schlamm herunterzuzichen 
and mit teufliſchem Grinfen die gefalfene Größe zu betrachten, 
will Garriere Tieber das Niedere zum Höheren emporziehen; tr 
will ein Band zwiſchen Phyſik und Ethik knüpfen, ſtatt letztere 
an die erſtere preiszugeben. Dieſer Gedanke Carrieres iſt vor- 


trefflich und verdient alle Anerkennung. Mit Bug fragt er: „I | 


nicht das Volllommene ein ethifcher Begriff, und können wir von 
volltommenen Gebilden anders reden, ala weil wir fie am Sie 


der Bernunft meffen, und Tann ohne die Wirklichkeit desfeln | 
ein Anffteigen vom Niedern zum Höhern geſchehen?“ (©. 268) | 


Es ift eine Hohe Aufgabe, Natur und Geſchichte zu verfetten; ob 


aber diefelde, wie num Cartiere raſch folgert, durch den Gedanken | 





der aufſteigenden Rebensentwicelung vollzogen wird, tft eine andere , 


Frage. Zuvor aber dürfte es nicht überflüffig fein, darauf Hin 
weifen, daß jene dee einer Verkettung von Natur und Geſchichte 
ſchon bei einem Jeſaias, Paulus und Johannes Mar ausgeſprochen 
ift, daß fomit der Zanber, welcher von diefer Idee aus anf den 
Darwinismus fällt, gänzlich verſchwindet. Wir denken Hierbei m 


die fchöne Stelle Jeſ. 11 von dem Frieden in der Natır zur | 


‚Zeit des Heils, welche Strauß in der Einleitung zu feiner Glanbent- 
Ihre mit fo rohem Spotte übergoffen hat, an das tiefe Wort Paul 
NRom. 8 von dem Seufzen der Kreatur und ihrem Schnen nad dr 
herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, an die großartige Rede Mt 
Apokalyptiters Kap. 21 vom neuen Himmel und von der nenen Erde. 





Zur Frage der fitlichen Weltorbnung. 485 


Den Weg zu diefer „auffteigenden Lebengentwidelung“ aber 
glaubt ſich Earriere durch eine Polemik gegen die Schriftlehre von 
der Erfhaffung der Organismen fpeziell des Menſchen bahnen zu 
wöfen. Die Schöpfung eines fertigen Organismus nennt er 
einfoh „natur» und vernunftwidrig" (S. 266) und dekretiert: 
„Der Menſch konnte nicht als fertiger Organismus wit einem 
Schlag da fein, weil dies dem Begriff des Organismus. wider 
ſpricht· Wir geftehen, diejen Widerſpruch nicht zu begreifen, 
denn im Begriff des Organismus liegt nur, daß er dem in ihm 
liegenden Geſetzen entfprecend Lebe; aber damit ift nicht ausgeſagt, 
woher diefe Gefege fommen, und woher er fein Leben habe. Es 
ift hochſt ſonderbar, wenn Carriere das nicht für natur» und ver⸗ 
wuoftwidrig Hält, daß ein neuer Organismus „in dem Leib eines 
hochſteheuden Tieres“ aus einem nur fich felöft homogenen, dieſem 
Tiere aber allogenen Keim ſich entwickele. Woher kommt dann 
plotzlich in diefes hochſtehende Tier der fpezififch verſchiedene Keim, 
aus weichen dann ber Menſch entfteht? Carriere fragt: „ft es 
glaubliher, daß der Schöpfer für die Menſchenzelle den rohen 
Thon nimmt, oder die bereits durch Pflanzen und Tiere vorbes 
teitete organifche Materie?“ (S. 265.) Die Antwort kann nur 
lauten: eines ift fo glaublich als das andere, und es ift cbeufe 
vernunfte als naturgemäß oder ebenfo vermunfte und naturwidrig, 
b eine Menfchenzelle oder ein fertiger Menſchenorganismus ger 
Hoffen werde. Es kommt für und nur auf die Anerkennung au, 
aß wirklich etwas fpezififch Neues geſchaffen wurde. Aber. es iſt 
benfo ein Dogma, wie das der Kirche, wenn die Naturmwiffen- 
Haft erflärt: „nicht der Affe macht den Menfchen, fondern Affe 
nd Affin find die Organe, deren Gott oder die Natur ſich ber 
ient, num der Menfchenfeele die Stätte zu bereiten und die Mittel 
no Yedingungen ihrer Organifation zu gewähren‘ (&. 266). 
fa, wenn man die Sade genau nimmt, fo müßte hier eine jener 
rüctigten Durchbrechungen der Naturgefege, aljo ein Winden 
- hkorribile dietul — fonftatiert werden, wenn aus dem samen 
8 Affen umd dem ovum ber Affin nicht wieder ein Äffchen. 
ndern plöglich eiwas ganz Neues, ein Menſch entftehen folk. 
ver das iſt die in der Gegenwart oft beliebte Art, durch einen 


4 Bacmeifter 


Seitenhieb auf das kirchliche Dogma ſich für allerlei natur» und 
vernunftwidrige Behauptungen Luft und Recht zu verfchaffe. 
„Mag der Geift von Gott ftammen, der Leib ift ein Sohn der 
Erde; das kann auch der gläubige Theolog nicht Teugnen“ — © 
iſt ihm mie eingefallen, da zu leugnen, denn ſchon auf dem zweiten 
Blatt feiner Bibel ſteht: „bon Erde bift du genommen und zur 
Erde folift du werden“. Aber dagegen wird der Theolog, mem 
er biefen Namen mit Recht trägt, auch füglich proteftieren dürfen, 
daß die Lehren feiner Kirche mit einem anderen Maßſtab gemefen 
werben als die Lehren der Philoſophie und Naturwiſſenſchaft, daß 
mit einer Verketzerung jener diefe fi einen Freibrief für allerlei 
Aufftellungen erfanfen, welche ebenfo wenig eine mathematiſche 
Deduftion geftatten wie jene. Über Vermutungen wird die Natur 
wiſſenſchaft nicht Hinausfommen, nur wird fie folch’ ſchillernde Aus⸗ 
drücke vermeiden müffen, wie 3. B. „der Organismus verlangt 
die Selbftgeftaltung aus dem homogenen Keim“ oder „Bott oder 
die Natur bedient fich der und der Organe“, denn ein „Selbit” 
fegt Bewußtſein voraus und ebenfo ein „Sich-bedienen“; man 
wird aber weder dem Keim noch der Natur Selbſtbewußtſein zw 
ſchreiben Tönnen. Wir fehen in folhen unwillkürlichen Redeweiſen 
unfreiwillige Geftändniffe der Unentbehrlickeit eines perſonlichn 
Scöpfers; denn daß auf diefen jene Ausdrüde allein im eraftm 
Sinn und vollen Umfang pafjen, bedarf faum eines befonderen 
Wortes. Das gilt auch von der Vorftellung Partys umd Karl 
Snells, wonad der Menſch ſich aus einer eigenen Zellenart 
ſtufenweiſe neben der Pflanzen und Tierwelt emporarbeite, ein 
Gedanke, den Carriere nicht verftehen zu können erklärt. Ba 
einem Sidjremporarbeiten kann doch im Ernſt nicht geredet werden, 
wenn fein Bewußtfein davon vorhanden ift. Aber an fich ift der 
Gedanke konfequenter als der Carrieres, wonach eines fchänn 
Tages der befruchtete Keim in der Affin ein Menfchentein ge 
worden ift. Jenen Forſchern ift der Keim das, was er if, di 
Potenz des Organismus und darum weſensgleich mit diefen. 
Darum ift der Wit ganz übel angebraht: „Dann wären ja in dm 
Verfteinerungen unfere Ahnen zu ſuchen, ober ſchämt fih dr 
Bettelftolz feiner Naturverwandtfaft?" Dann fage ich mit Kat 


Zur Frage der fittlichen Weltorduung. 47 


Bogt: „Lieber ein emporgelommener Affe als ein gefallener 
Engel!“ Damit ift die Frage wahrlich nicht erledigt. Die Na⸗ 
turwiffenfchaft fpottet fo gerne der Theologie, als fei diefe feine 
Erfahrungswiſſenſchaft; Tann fie vieleicht felbft in diefem wichtigen 
Stuck fi als ſolche dokumentieren? Tann fie einen mathematifch 
exalten Beweis antreten? Wir warten immer noch darauf und 
tönnen wahrſcheinlich noch lange warten. 

Auf die ganze Streitfrage des Darwinismus fünnen wir hier 
nicht eingehen. Nur einzelne Bemerkungen zu wichtigen Punften 
feien erlaubt. Carriere pflichtet Nägelt und Häckel bei, daß das 
Prinzip der Vervolllommnung ein organifches Grundgeſetz ſei, 
nur daß er foldes Gejeg nie dem Zufall in die Hand geben 
ann. Aber wenn er die nahe liegende Frage, warum es benn 
überhaupt noch niebere Formen giebt und warum fie nicht alle in 
die höheren emporftreben, fo beantwortet: „Halten wir feſt, daß 
durch ein Prinzip der Vervolltommnung, durch ein Entwickelungs⸗ 
geſetz das Höhere aus dem Nieberen emporfteigt, dann kann dieſes 
neben jenem fortbeftehen, dann geſchieht es durch einzelne Wefen, 
daß die vollfommenere Form hervorgebracht, die höhere Sphäre 
erreicht wird, während die anderen bleiben, was fie find, ja wie 
die Pflanzen für die Tiere, wie die einzelnen Tierklaffen für an⸗ 
dere als deren Nahrung zum Leben berfelben fortbeftehen müfjen“ 
(S. 271), — jo ift wahrlid Hier eitel Willkür und entfernt kein 
„Geſetz' mehr. Iſt das Entwicdelungsgefeg, daß das Höhere aus 
dem Niederen emporfteigt, dann muß diefes Geſetz allen niederen 
Formen einwohnen, oder fie find unter ſich ſchon fpezififch ver- 
ſchieden, wenn die einen emporftreben, die anderen in ihrer 
Niedrigkeit beharren. Trifft aber jenes zu, fo ift die notwendige 
Folge, daß alle niederen Formen mit der Zeit verfchwinden, ja der 
Sieg ber höheren Form müßte diefes Verſchwinden ungemein bes 
ſchleunigen; es ging Hier wie mit ben Rothäuten Amerikas: jeder 
Morgen Landes, den die Blaßgefichter weiter befegten, Koftete einer 
immer größeren Anzahl von Indianern das Leben, und jet find 
Hre Tage gezählt. Man muß mit der Anwendung des „Gefeges“ 
»orfichtig fein, denn es ift ein zweiſchneidig Schwert. Ferner 
adelt Earriere an Huber und Ulrici, dag fe den Darwinismus 


48 Bacmeifter 


befämpfen, ftatt fi als Freunde deöfelben zu befennen. Aber 
das, was er felbft vom Darmwinismns noch gelten laßt, ift ſchließ⸗ 
lich fo wenig, daß man nicht mehr von einem —ismus reden 
kann. Drüdt doch Carriere den „Kampf ums Dafein“ und bie 
„Vererbung“, diefe zwei ſtärkſten Springfebern des Darwinismut, 
ausdrücklich zu „techniſchen Behelfen für die Selbſtverwirklichung 
des fortſchreitenden Lebens“ herab und ſetzt an die Stelle des 
ſchließlich von Darwin ſelbſt zugeftandenen „inneren Entwickelungs⸗ 
geſetzes“ gewiß den lichtvolleren Begriff „einer das Beſondere 
durchwaltenden einheitlichen zwedjegenden Macht“ (S. 274f). 
Man frage Häckel, ob er das noch Darwinismus nenne. So 
tann jeder „gläubige Theolog“ Darwinianer ſein. Warum aber 
die Theologie, da wo fie ſich ſelbſt verftand, von Anfang an gegen 
den Darwinismus Front machte, das war gerade die Eliminierung 
jener „da® Befondere durchwaltenden einheitlichen Zweck ſetzenden 
Macht“ durch die mechaniſchen Begriffe Kampf ums Dafein und 
Vererbung. Es war freilich fehr befehämend für die neue oder 
doc neu aufgelegte Weltanfhauung, daß fie, bie anfangs mit 
einem fühnen Handftreih die Eitadelle des Theismus erftürmt ya 
Haben ſchien, Schritt für Schritt wieder zurüdgedrängt wurde, 
daß Darwin felbit, „der fi anfangs von dem Gedanken leiten 
eg, die organiſchen Typen als Prägftüce zu erflären, die ihr 
Gepräge ausiclieglih von der Matrige der äußeren Umgebung 
erhalten, mit dem Belenntnis endete, daß diefelben nur als Re⸗ 
fultate eines inneren Entwidelungsprogefies erflärlih feien“. Man 
darf wohl fagen, der Darwinismus feinem Begriff nach ift heute 
ſchon überwunden, und es gereicht den Forſchern nur zur Ehre, 
wenn fie einen tühnen Gedanken, der die nachfolgende Prüfung 
nicht aushält, aufgeben, wie das Darwins Freunde Lyell und 
Hurley thun, jener durch Betonung der durchgängigen, volltom- 
menen Harmonie des Planes und Zwedes in der Natur, befer 
durch einen Verſuch der Verſöhnung der teleologifchen und der 
mechaniſchen Naturerflärung, wobei der Teleologie die Ehre des 
Brius gewahrt bleibt. 

Weiter ſchutzt Carriere ben Meifter, Darwin, vor dem Ber 
wurf, welchen man den nach ihm benannten Syſtem gemacht hat, 








Zur Frage der fittlihen Weltordnung. 488 


den Zufall und den Mechanismus der Atombewegung zum Vater 
altes Rebendigen zu machen. Mit Recht, obwohl feine genuinen 
Schüler beharrlich die philoſophiſche Vorſicht Darwins verſchwiegen 
haben, welche in feinem öfter angeführten Worte enthalten iſt; 
„Es ift wahrlich eine großartige Anficht, daß der Schöpfer den 
Keim alles Lebens, das uns umgiebt, nur wenigen oder nur einer 
einzigen Form eingehaucht habe, und daß, während unfer Planet 
den ftrengen Gejegen der Schwerkraft folgend, fih im Kreife 
ſchwingt, ans fo einfachem Anfang ſich eine Reihe immer ſchönerer 
und voflfommenerer Weſen entwidelt hat und noch fortentwidelt.“ 
Über es iſt uns ſchwer verftändlih, wenn Garriere den Mangel 
des Darwinismus in der „Vernadläffigung der Immanenz“, „der 
Entwicelung, der Seldftbildung“ findet, jtatt in dem Brachliegen 
Ines Winkes von Darwin felbft. Wohl ift der Vorwurf berech⸗ 
tigt, daß Darwin zu viel Einfluß den äußeren Umftänden, 3. B. 
Bind und Wetter, Froft und Hige u. ſ. w. zuſchreibt. Aber wie 
er dafür gelobt werden Tann, daß er gegen „den äußeren Eingriff 
eines geijtigen Prinzipes, eines fchöpferifchen Gottes in das Ges 
triebe des Stoffes“ ift, das ift ein Nätfel. Man muß den Por 
danz „des äußeren Eingriffes“ zubilfe nehmen, um deu Schöpfer 
felbit zu befeitigen. So fagt auch befremdlicherweiſe Karl Ernſt 
d. Baer: „Die Elimination des äußeren Schöpfers ift es ja, 
was dem Darwinismus den Reiz verliehen hat.“ Nun ja, den 
äußeren Schöpfer fennt aud die Schrift nicht, aber einen von der 
Materie ſtrenge unterfdiedenen Schöpfer. Es ift fonderbar: man 
weiß feine höhere Voritellung als die des Naturmehanismus; aber 
entſteht denn nicht auch jeder Mechanismus durch einen Geift, der 
außer" demjelben ift? Wohl verwirklicht diefer Geift feine Ges 
banten in der Mafchine, aber darum iſt er doch nicht die Mar 
Idine, und die Maſchine ift nicht er, er ift — wenn man will, 
ja — „außer“ derfelben, d. h. er verliert fein Weſen, ſich ſelbſt 
uicht an die Maſchine. Man kann ganz wohl mit Baer ſagen: 
‚Man ſuche das Schaffende in jedem Organismus, fo läßt es 
ſich nicht heraustreiben? — darum bleibt doch die Frage: woher 
das Ei? Carriere muß auch hier den oben ſchon angefochtenen 
Begriff „der göttlichen Natur“ anwenden, um die Organifationg» 


400 Baemeiſter 


prinzipien als „göttliche Kräfte zu erkennen, die aus dem innerſten 
Quell des Ewigen felbft in die Erſcheinung treten" (S. 282). 
Wir fragen nur: mit phyſiſcher Notwendigkeit oder mit feinem 
Willen? Wird jenes bejaht, fo Haben mir die eimapmern über 
dem Zeus; wird letzteres zugeftanden, dann haben wir den Gott 
des Theismus. Und wahrlich diefer Gedanke erſcheint uns vid 
erträglicher al® der im Naturmechanismus höchft befremdliche eins 
„Sprunges“ (S. 285). Carriere jagt nämlih: „Wo immer die 
Zahl der Organe verändert ober ein friſches Gebild emtwidelt 
werben foll, da tft dies ein Sprung und bleibt ein Sprung, 
mochte derfelbe noch fo gut vorbereitet und ihm das Ziel noch jo 
nahe gerüdt fein. Und diefer Sprung fann nur durch Metamor- 
phofe des befruchteten Keimes gefchehen, fo daß bie Eltern ein 
Kind erhalten, das von ihnen felbft der Art nach verfchieden ift.“ 
Mit diefem Sag ift der Darwinismus dem Prinzip nad zerftört, 
und es bleibt die große Frage: woher denn diefe Metamorphofe? 
Wir Tönnen ja wohl die Thatſache den Naturforſchern zugeben, 
vorausgefegt, daß fie als folche feftgeftelit wird, während die Keim- 
metamorphofe bis jegt nur Problem ift, aber jene Frage bieiht 
doch. Die urſprüngliche Frage nad) dem Entſtehen bes Organifchen, 
ja des Seienden der finnlihen Welt ift nur hinausgeſchoben, nicht 
gelöft. Da plötzlich findet fi der Ausſpruch: „Nehmen wir ein 
mal zur Erklärung des Weltprozefjes einen göttlichen Willen der 
Weisheit an, warum diefen nur in der grauen Urzeit walten und 
alles wie eine Maſchine fertig machen lafjen, ftatt daß er das 
Werden und Wachen der Natur begleitet und zur rechten Zeit 
das Neue, Höhere ſchöpferiſch Hervortreten läßt?“ (S. 290.) 
Mit diefem Sage käme man dur; ſchade nur, daß Carriere jo 
wenig Gebrauch davon macht (er dient nur zur Widerfegung von 
Wigands kunſtreichem Automatenmechaniemus) und ihm fofert 
(S. 291) wieder neutralifiert durch die „einwohnende Gotteöktuft“, 
welche zur Bedingung und Leitung ber ganzen Entwickelung ger 
nügen foll. Es iſt ein fruchtbarer, fhöner Gedanke, die fleigende 
Vervollkommnung in den Naturwefen, wie fie ohne Zweifel ſicht 
bar und dur Darwins und feiner Anhänger fleißige Torfchunge 
noch mehr aufgefchloffen worden ift, in Parallele zu felgen mit der 


Zur Frage der fittlichen Weltordnung. 4 


neuen been, die in der Menfchengefchichte auftreten. Aber gerade 
für die letztere Erfcheinung ift, wie wir fehen werden, ein leben⸗ 
diger Gottesbegriff nötig, wie ja Earriere felbft hier von Offen 
barung, Eingebung, Miſſion redet, und von biefem Punkte aus 
fällt dann auch ein neues Licht auf das weite Gebiet der Schöp- 
fung. Iſt es doch nicht zufällig, daß der Eingang bes Evan« 
geliumd Johannis von dem aus, den fie gefehen und gehört und 
mit ihren Händen betaftet Hatten, bis an die Anfänge des Welt 
lebens ja bis in die Tiefen der Gottheit zurücgeht. Nur der 
wird die Natur vecht verftehen, der die Gefchichte verfteht; in 
letzteret aber offenbart ſich Gott als perfönlicher. 

Damit find wir an den Punkt gelangt, an welchem die eigent» 
liche Ftage der fittlichen Weltordnung beginnt. Aber alle die feit« 
her beſprochenen Punkte find unentbehrlich zur richtigen Würdigung 
unferes Themas, ja es ift ein gut Zeil deöfelben ſchon gelöft in 
den allgemeinen Fragen des Gottesbegriffs, der Perfönlichkeit, der 
Transcendenz und Immanenz, der Schöpferthätigleit. K. E. v. Baer 
ſchildert den Mufftieg vom Anorganifchen bis zum Menfchen in 
Borten, welche die Großartigfeit des bibfifchen Schöpfungsberichts 
nur in ein deſto Helferes Licht fegen und keinesfalls in einem 
prinzipiellen Widerfpruch mit der Kirchenlehre ftehen: „In der 
Entwidelung des Erdförpers finden wir zuerft eine Periode der 
anorganiſchen Maffe ohne Form, Leben und Beſeelung in einem 
rohen Metallklumpen. In einer zweiten Periode wird fie von Form 
und Geſetz gefeffelt in kryſtalliſchem Gefüge. In einer dritten 
tritt fie in den Dienft des vegetabtlifchen Lebens: Pflanzen bes 
deden den Erdboden, bewußtloſe Ziere beleben das Wafler. In 
einer vierten Periode entwickelt fi) aus dem vegetativen Leben 
das animalifche, und Tiere, mit Leiden und Sreuden befchentt, find 
eifrigſt befchäftigt, den Stoff weiter zu bearbeiten, in dem fie bie 
Subſtanz der Pflanzen in die Mafje ihres Körpers umwandeln. 
In einer fünften beginnt das geiftige Leben des Menfchen feine 
Mat zu entwideln, den Stoff zu bezwingen, die Elemente zu 
eherrſchen, das Lebendige zn feinen Sklaven zu machen, um end⸗ 
id den geiftigen Gewinn in eine Einheit zu fammeln. So ift 
er Erblörper das Samenbeet, auf welchem das geiftige Erbteil 


498 Bacmeifter 


der Menſchen wuchert, und die Geſchichte der Natur ift die & | 


ſchichte fortfchreitender Siege des Geiftes über den Stoff.“ an 
ann fi ja wohl auf diefe Weife das Werden der Menfhug 
ſchichte, die Entwidelung bis zu deren Beginn anſchauliqch m 
ftellen und alfo die großen Schöpfungsgedauken Gottes nadkerin. 
Nur wird der Wechfel, der mit dem Auftreten des Menden u 
der Natur ſich vollzog nicht bloß in der Weife erklärt wen 
dürfen, es fei uun die Menfchheit an die Stelle der Bid 
höherer Arten in der Natur getreten und ihr Charakter fi H, 
Gefchichte zu machen (S. 295), fondern das Band ift enger m 
tnüpfen und zu fagen: erft mit dem Menfchen war das Ziel kr 
Schöpfung, im Prinzip wenigftens, erreicht. Die phyſiſche Ent 
widelung der Natur hat ihren Zweck nicht in ſich, fondern über 
fi, fie dient zur Unterlage der ethifchen Geftaltung, wie ſolches 
Schleiermacher in treffender Weife jo ausgedrückt Hat, der Merſch 
übe an der Natur ebenfo eine organifierende wie fymbolifierende 
Tpätigfeit, jenes, indem er fie zu feinem immer vollfommeneres 
Werkzeug bildet (aber ohne deshalb den Geift zum Mechanismus 
erſtarren zu laſſen), diefes indem er ihr feinen Stempel aufrüh 
und fie alſo ein Spiegelbild des Geiftes wird. Der ganze Go 
danfe aber iſt ſchon Gen. 1 plaſtiſch jo ausgedrückt: hertſchet übe 
die Erde und machet fie euch unterthan. Auch Carriere erkmm 
diefen Zuſammenhang zwiſchen dev phyſiſchen und ethiſchen Di 
aa, wenn er (a. a. DO.) davon redet, daß durch die der da 
Beroolltommnung das Ethiſche ind Phyſiſche Himeinfchien; mat 
ſcheint und, dieſer Gedante fei mehr geftreift, als in den Wittd 
punft gerüdt. Es ift num freilich befannt, wie eine Art vum 
Bgitofopgie diefe ganze Anfchauung vom Zwed der Natur in it 
Menſchengeſchichte für eitel Hirngefpinft und verrückten Hochuu 
des Menſchen erklärt, und wie fie mit einem Schein des Kuh 
auf die Widerfpenftigleit, ja die Übermacht dev Natur gegesäbt 
deu Kultwrbeftvebungen des Menſchen hinweiſt. Und es lät hd 
nicht leugnen, daß, wenn der Menſch der einzige Zweck der Kar 
fein ſoll, unaufgelbſte Reftfragen übrig bleiben, daß insbeſerder 
ine Art von Größenwahnfinn des Menſchen gründlich dung I 
Ubermacht der kosmiſchen Kräfte ernüchtert werden mug. Abt 


Zur Frage der fittlichen Weltordnung. 498 


die Schrift erweitert auch unferen Gefichtöfreis, der Menſch als 
Herr ber Erde iſt mach ihrer Anfchauung nicht der hödjfte Gedanke 
der Schöpfung, fondern diefer iſt darin zu finden: „auf dag Gott 
fei alles in allen“ (1 Kor. 15, 28). Eine Stufe auf dem Wege 
au diefer Höhe, die wie eine im Goldglanz ſchimmernde Berges- 
frige über die Woltenmaffen und Dunſtgebilde der Niederung 
herdorragt, {ft die Menfchengefchichte, eine Stufe, die freilich fir 
ans eine zahllos fcheinende Menge Heinerer Stufen, Krümmungen 
amd Steige enthält, die aber für das zuſammenſchauende Auge des 
Hochſten doch nur eines ift, ein Glied, wen auch ein wertvolles, 
im der Offenbarung feiner Herrficteit und Siebe. Es ift gewiß 
werwoll, daß bie Geſchichtsphiloſophie dieſes Hbchſte in ber 
Meſchheitsentwickelung ſchauend fefthätt, damit ihr Blick nicht 
in der Menge ber Einzelheiteen ſich verftert und aus derfelben ſich 
nicht mehr zurechtfindet. Ganz befonders notwendig aber ift ſolches 
um des willen, daß das Weſen der Menſchengeſchichte nicht eins 
feitig, vom bloß menschlichen Standpunkt aus, beſchrieben, fondern 
als das gefaßt werde, mas es ift: eine Wechſelwirkung menſchlichen 
Thuns und göttfichen Waltens. Jeder ber beiden Faktoren muß 
im feinem Rechte kommen, jeder für fh allein würde eine Gin 
feitigteit derfefben und in unlösbare Widerſprüche hineinführen; 
beide im richtigen Verhältnis zu einander ftellen das dar, was 
man fittfiche Weltordnung nennt. Es darf vielleiht die Ber 
mertung vorausgeſchickt werden, daß die Beftimmung des Ver 
häftniffes der beiden Faktoren bislang eine unvofffommene ift. 
Bir maßen uns aber nicht an, mit Zirkel und Winkel dasſelbe 
zaft darzuftellen, fehen vielmehr bie Notwendigkeit jener Unvoll ⸗ 
ommenpeit ein, welche einfad; darin ruht, daß die Geſchichte noch 
tiht vollendet, fondern mitten in ihrer Entwidelung begriffen ift. 
Infer Wiffen muß hier noch vielmehr Stuckwerk fein als in der 
hyfiſchen Welt, denn letztere ift, wem auch noch nicht ihrem 
‚hften Ziel — das erreicht fie erft In Gemeinfchaft mit dem 
Nenſchen in dem „neuen Himmel und der neuen Erde“ —, fo 
och zu einem relativen Abfchluß eben mit dem Auftreten des 
Nenfchen gelangt. Aber doch befinden wir uns aud in der 
Renfchengefchichte nicht im Zuftand des Tohu-wabohu, fondern 


494 Bacmeifter 


haben in der chriſtlichen Weltanfhauung, beftimmte feftgepidnte 
Linien, einen Grundriß, der den Aufbau des Ganzen wenigften 
ahnen läßt. Darnach fteht in dem Mittelpunkt der Zeit lt 
Chriſtus und iſt es nicht zufällig, dag wir unſere Jahre nf 
feinem Eintritt in die Geſchichte zühlen. Wir ſtellen als On 
fag auf, daß nur innerhalb der chriſtlichen Weltanſchauung kr 
Zee einer fittlihen Weltordnung zu ihrer vollen Bedeut 
kommt, während diefelbe aus biefer Verbindung gelöft nicht lebem⸗ 
fähig ift; es geht ihr wie der Pflanze, die aus dem nähreden 
Boden gehoben wird: fie vertrodnet. 

Nun hat Carriere eine große Anzahl von Sägen, bie un 
fompathifch berühren. Dazu gehörte vor allem feine Befämpfun, 
Hädels und defien Windmühlenfampf gegen „das Därden von 
der fittlichen Weltorbnung“. Es ift in der That nicht einzuſchen, 
warum gegen ein „Märden“ fo große Macht aufgeboten wird; 
wahrhaft komiſch aber ift es, wenn das Märchen mit Hilfe der 
rudimentären Organe, 3. B. des fog. Wurmfortjages am Blind 
darın oder der Heinen halbmondförmigen Hautfalte im innen 
Winkel des menfchlichen Auges befämpft wird. Carriere fagt mit 
Recht, Häckels Machtſprüche, wonach die fittliche Weltordnung 
ebenfo wenig in der Natur als in der Menjchheit exiftiere, fer 
noch feine überzeugenden Gründe. Wir fügen Hinzu, wo die Be 
weisführung einzig in Schimpfwörtern befteht (Häckel fagt, mr 
noch der idealiſtiſche Gelehrte, der fein Auge vor der madten 
Wirklichkeit verfchließt, oder der fehlaue Pfaffe predigen jmd 
Märden), da iſt's mit ihrer Vernunft ſchwach beſtellt. Verlieren 
wir hierüber fein Wort weiter! Werner freuen wir ung der An 
erfennung des Providentiellen im Gang der Geſchichte. In da 
Sedanrede, welche der Verfaffer am 3. September 1870 unter dm 
unmittelbaren Eindrücken der gewaltigen Ereignifje in einer Mündenr 
Volksverſammlung Hielt und welde er als Einleitung feinem Bert 
vorangeftellt Hat, beginnt er mit dem kraftvollen Worte: „Cs giht 
eine ſittliche Weltordnung!“ und fagt im Verlauf: „Auch das gr 
Hört zu dem geheimnisvollen Gang und Plan der Vorfehung dab, 
wenn das Gute nicht mit der reiten Stärke begabt, die Bahl: 
wollenden nicht mit der rechten Einſicht erleuchtet find (freilich 


Zur Frage der fittlihen Weltordnung. 4% 


woher da6? — der Prophet jagt: „Mich, die lebendige Quelle, ver» 
laſſen fie 2c.”), alsdann die Selbſtſucht Raum erhält und ihre 
Ziele erreicht; aber dieſe Ziele Tiegen denn dod auf den Wegen 
der Geſchichte und find Mittel für die Zmede der Menfchheit, bie 
unter der einwohnenden göttlichen Leitung auch über das Wollen 
und Berftehen der Handelnden hinaus vollführt worden.“ Verfaſſer 
citiert Fhering, der fchreibt: „Es ift die Mitarbeiterfchaft an einer 
großen nationalen Aufgabe, zu ber der Einzelne berufen ift, möge 
er fie erfennen oder nicht. Denn das ift das Große und Er— 
habene in umferer großen Weltordnung, daß fie nicht verftanden 
zu werden braucht, um der Dienfte des Menfchen ſicher zu fein, 
daß fie der Hebel und Motive genug befigt, um auch denjenigen, 
dem das Verftändnis für ihre Gebote abgeht, zur Arbeit heran. 
auiehen.“ Und mas der Rechtsphiloſoph findet, beftätigt ber 
Hlfterifer. Heinrich v. Sybel jagt Über die Wölferwanderung: 
„Wenn wir uns das damalige Sneinanderfliegen der römischen 
und der deutfchen Welt vergegenwärtigen, fo erſcheint uns ein ganz 
providentielles Verhältnis der gegemfeitigen Ergänzung. Dort 
verödete Acker, die der Menſchen Karren, Bier eine Völtermaffe, 
der in jedem Jahr ihr Ader zu eng wird, Dort Abnahme der 
kriegerifchen Kraft, Berfiegen der Vollsſubſtanz, düfterer Lebens⸗ 
und Weltüberdruß, hier frifhe Freudigkeit an Kampf und Ruhm, 
an Genuß und Natur, an Gefahr und Erfolg. Dort eine weite 
formale Bildung, Hier eine unbegrenzte Bildungsluſt und -fühige 
*it. Dort eine an ihrer Allmacht abfterbende, in ihren Rechts⸗ 
ormen beifpiellos entiwicelte Monarchie, hier ein ftarker Freiheit 
inn, der nur ber politifchen Schule bedurfte und nad politifcher 
form hindrängte. Dort eine ausgebildete Kirche, auf den tiefften 
ttlihften Prinzipien ruhend, zur fittlichen Erziehung wie feine 
ndere geeignet, aber damals ohne ſittlich brauchbare Menſchen 
nd deshalb mehr als bilfig zur Weltflucht und Weltverachtung 
‚neigt; Hier ein ſtarkes und keuſches, aber weltfrohes und in 
inen Leidenſchaften unbändiges Geſchlecht, welches von der Kirche 
1e heilſame Zucht erwartet und ihr dafür als gleichwertige Gabe 
te freudige Erfriſchung entgegenbringen konnte.“ Wir freuen 
& dieſes consensus doctorum. ber gerade an dieſer Stelle 


494 Bacmeifter 


haben in der chriſtlichen Weltanfhauung, beſtimmte feftgezeidnt 
Linien, einen Grundriß, der den Aufbau des Ganzen twenigfint 
ahnen läßt. Darnach fteht in dem Mittelpunkt der Zeit Jr 
Chriſtus und iſt es nicht zufällig, daß wir unſere Zahre ud 
feinem Eintritt in die Geſchichte zählen. Wir ftellen als On 
fa auf, daß nur innerhalb der chriſtlichen Weltanſchauung de 
Idee einer fittlihen Weltordnung zu ihrer vollen WBedeubu 
tommt, während dieſelbe aus diefer Verbindung geföft nicht Ichens 
fähig ift; es geht ihr wie der Pflanze, die aus dem mährenden 
Boden gehoben wird: fie vertrodnet. 

Nun hat Carriere eine große Anzahl von Sägen, die uns 
ſympathiſch berühren. Dazu gehörte vor allem feine Bekämpfung 
Hackels und deſſen Windmühfenfampf gegen „das Märden von 
der fittlichen Weltordnung“. Es ift in der That nicht einzuſchen, 
warum gegen ein „Märchen“ fo große Macht aufgeboten wird; 
wahrhaft komiſch aber ift e8, wenn das Märcden mit Hilfe der 
rudimentären Organe, 3. B. des fog. Wurmfortfages am Blind 
darm oder der Meinen Halbmondfürmigen Hautfalte im inneren 
Winkel des menfchlichen Auges befämpft wird. Carriere fagt mit 
Recht, Hädels Machtſpruche, wonach die fittliche Weltordnung 
ebenfo wenig in der Natur als in der Menſchheit exiftiere, fein 
noch feine überzeugenden Gründe. Wir fügen Hinzu, mo die Be⸗ 
weisführung einzig in Schimpfwörtern befteht (Häckel fagt, un 
noch der idealiſtiſche Gelehrte, der fein Auge vor ber nadten 
Wirftichkeit verfchliegt, oder der ſchlaue Pfaffe predigen jms 
Märden), da iſt's mit ihrer Vernunft ſchwach bejtellt. Verlieren 
wir hierüber fein Wort weiter! Berner freuen wir uns der An 
erkennung des Providentiellen im Gang der Geſchichte. In der 
Sedanrede, welche der Berfaffer am 3. September 1870 unter din 
unmittelbaren Eindrücen der gewaltigen Ereigniffe in einer Mündenr 
Volksverſammlung Hielt und welche er als Einleitung feinem Watt 
vorangeſtellt Hat, beginnt er mit dem fraftvollen Worte: „Es gut 
eine fittlihe Weltordnung!“ und fagt im Verlauf: „Auch das gr 
Hört zu dem geheimnisvollen Gang und Plan der Vorſehung dad, 
wenn das Gute nicht mit der rechten Stärke begabt, bie Wohl 
wolfenden nicht mit der rechten Ginficht erleuchtet find (freifih 


Zur Frage der fittlichen Weltordnung. 49% 


moher das? — ber Prophet jagt: „Mich, die Lebendige Quelle, ver- 
faffen ſie 2c.”), alsdann bie Selbftfucht Raum erhält und ihre 
Ziele erreicht; aber dieſe Ziele Liegen denn doch auf den Wegen 
der Geſchichte und find Mittel für die Zwecke der Menſchheit, bie 
unter der einmohnenden göttlichen Leitung auch über das Wollen 
und Berftehen der Handelnden hinaus vollführt worden.“ Verfaſſer 
citiert Jhering, der ſchreibt: „Es ift die Mitarbeiterfchaft an einer 
großen nationalen Aufgabe, zu ber der Einzelne berufen ift, möge 
er fie erfennen oder nicht. Denn das iſt das Große und Ers 
habene in unferer großen Weltordnung, daß fie nicht verftanden 
zu werden braucht, um der Dienfte des Menfchen ſicher zu fein, 
daß fie der Hebel und Motive genug befigt, um auch denjenigen, 
dem das Verftändnis für ihre Gebote abgeht, zur Arbeit herans 
ziehen.“ Und mas ber Rechtsphiloſoph findet, beftätigt ber 
Hifteriter. Heinrich v. Sybel ſagt über die Völkerwanderung: 
„Wenn wir uns das damalige Ineinanderfließen der römiſchen 
und ber dentfchen Welt vergegenmärtigen, fo erſcheint ung ein ganz 
providentielles Verhältnis der gegenfeitigen Ergänzung. Dort 
verödete Ücker, die der Menfchen harten, Bier eine Völfermaffe, 
der in jedem Jahr ihr Ader zu eng wird. Dort Abnahme der 
riegeriſchen Kraft, Verfiegen der Vollsſubſtanz, büfterer Lebens⸗ 
md Weltüberbruß, Hier friſche Breudigfeit an Kampf und Ruhm, 
m Genuß und Natur, an Gefahr und Erfolg. Dort eine weite 
ormale Bildung, hier eine unbegrenzte Bildungsluft und -fähig« 
it. Dort eine an ihrer Allmacht abfterbende, in ihren Rechts⸗ 
rmen beifpiellos entwidelte Monarchie, Hier ein ftarter Freiheits⸗ 
an, ber nur der politiichen Schule bedurfte und nad) politifcher 
arm Hindrängte. Dort eine ausgebildete Kirche, auf den tiefften 
tlichften Prinzipien ruhend, zur fittlichen Erziehung wie feine 
dere geeignet, aber damals ohne fittlih brauchbare Menfchen 
d deshalb mehr als billig zur Weltflucht und Weltverachtung 
aigt; Hier ein ſtarkes und keuſches, aber weltfroßes und in 
sen Leidenfchaften unbändiges Geflecht, welches von der Kirche 
e heilfame Zucht erwartet und ihr dafür als gleichwertige Gabe 
: freudige Erfriſchung entgegenbringen konnte.“ Wir freuen 
dieſes consensus doctorum. ber gerade an biefer Stelle 


4% Bacmeifer 


tritt uns ein Mangel an Carrieres Darftellung entgegen. Wat 
heißt „einmohnende göttliche Leitung“? Iherings Wort wird dam 
erft recht wahr, wenn man bie fittliche Weltordnung perſönlich 
faßt und fie in einem fonfreten Willen anſchaut, denn von dieſem 
allein kann im Ernft gefagt werden, er befigt Mittel genug, um 
and; denjenigen, dem das Verſtandnis für feine Gebote abgeht, zu 
Arbeit Heranzuziehen, während man von „Geboten“ einer Ordnung, 
von einem „Heranziehen“ ſeitens derfelben nur uneigentlich reden 
tann. ber Earriere neigt doch wenigftens zu einer immanenten 
ſittlichen Weltordnung; fo namentlich, werm er das Wejen der 
Geſchichte nicht bloß ala Veränderung, fondern als „Entwidelung* 
faßt; fie ift auch nicht bloß Entwidelung, fondern That, Fortſchritt, 
fie ift Schöpfung einer fittlihen Welt, Aufrichtung eines Reiches, 
größer noch al® das nene Deutſche Reich, Aufrichtung des Reiches 
Gottes. Es liegt etwas Wahres in dem Sag: „Die Ziel- u 
Richtpunkte der Geſchichte find nicht die Erfindung deſſen, der fir 
findet (ahnt, erfaut), fondern das Junewerden an ſich feiender 
ewiger Wahrheiten“ (S. 300). Aber eben dieſes Innewerden 
muß genauer beftimmt werden, d. h. hier ift der Puntt, wo ver 
Begriff der Offenbarung zu entwideln if. Das Schmwanten 
zwiſchen zwei Ertremen ift hier leicht möglich. Entweder mar 
faßt die Offenbarung zu mechaniſch und macht aus berfelben cin 
Eingiegen mittelft des Nürnberger Trichters; damit thut man aber 
der Geſchichte Gewalt an und wird der Pſychologie wie der Ethil 
nicht gerecht. Oder man macht die Offenbarung zu einem bloßen 
pfghifchen Vorgang und verlegt damit wiederum die Thatjachen 
des Selbſtbewußtſeins und der Geſchichte. Letzterer Gefahr ſcheint 
uns Garriere heimzufallen, wenn er 3. B. kurzweg das Wort des 
Dichter8 adoptiert, daß die Weltgefchichte das Weltgericht ift um 
Goethes „Ale Schuld rächt fih auf Erden“ alſo interpretiert: 
„Jedes Unrecht erregt das Gefühl der Rache, Sügne, Vergeltung, 
und fie bfeibt nicht aus; früher oder fpäter findet jede That ihr 
Lohn duch die im der Menfchheit wirkenden Kräfte feloft“ (ib.). 
Es dürfte ſchwer werden, den Beweis für die letztere Behauptung 
anzutreten. Ganz befonder® aber ift das Verhältnis der dee 
zu der Geſchichte fo gefaßt, daß von einer Offenbarung fans 





Zur Frage der fittlichen Meltorbnung. n 


mehr bie Rede iſt, umb doc iſt wieder die Idee als „an ſich 
feiende ewige Wahrheit dargeftelit, welche offenbar einer Offen» 
barung bedarf, um zum Bewußtſein zu kommen. So leſen wit 
anf ©. 807: „Die fittlichen und äſthetiſchen Ideen find an fi 
feiende ewige Wahrheiten fo gut wie die Säge ber Mathematik; 
wir erfinden fie nicht, wir finden fie; fie find der Kampfpreis des 
dorſchens, Denkens, Bildens, um der Freiheit willen nicht ges 
geben, aber erreichbar; und fie zu erfennen und zu verwirklichen, 
das ift die Lebensaufgabe der Meenfchheit und die Bedeutung ber 
Geſchichte.“ Und auf &. 306 Hatten wir gelefen: „Da find die 
MPeen nicht das Gegebene, bereits Verwirklichte, bloß aufzufafjenbe, 
fondern fie find das aus der eigenen Junerlichleit zu Schöpfenbe, 
durch eigene That Hervorzubildende, fie find Prinzipien nicht bloß 
des Erkennens, fondern des Geftaltens, des Handelns, das durch 
fie Mag, Richtung und Ziel empfängt.“ So richtig ber letzte 
Teil des legten Satzes ift, fo dürfte es doch ſchwer fein, zwiſchen 
den beiden Hauptfägen einen Einklang Herzuftellen. Dort Heißt 
es: die Ideen find nicht zu erfinden, nur zu finden; bier aber: 
fie werden durch eigene That aus der eigenen Innerlichkeit here 
vorgebildet. Am letzteren wird’8 hängen, an ber eigenen innere 
lichleit. Sind wir in der That ſchöpferiſch, oder befteht die 
— freilich unerläglihe — That des Menſchen nicht vielmehr in 
einer Rezeptivität? Wir erinnern uns des richtigen Wortes uns 
feres Philofophen: die Denkformen find zugleich die Gefege der 
Dinge, Für den Real -Idealismus, den Carriere pflegen will, 
ann da nicht Hegelifch gedeutet merben, eher im Sinne der Leibe 
uiſchen präftabifierten Harmonie. Aber ba der Verfaſſer ent» 
chieden den Standpunkt eined erft in der Zeit und dazu verhult⸗ 
nismaßig fpät erfolgten Auftretens des Menſchen vertritt, fo muß 
08 Prius den Gefegen in den Dingen vor den Denfformen zus 
eſchrieben werden, und bie allerdings große That des Menfchen 
efteht darin, jene Geſetze nachzudenken, jene Ideen in ſich aufzu⸗ 
men. Das aber geſchieht nie ohne Mitwirkung der Dinge 
Sbft, oder richtiger — da wir gefehen haben, daß dieſe in ihrem 
keftand ebenfo von dem Iebendigen Gott erhalten werden, wie fie 
m ihm gefchaffen” wurden, und da zugleich ein Ver umua zu dem 
eol. Stud. Yang. 1088. 


48 Bacmeifter 


Weſen des Menſchen als Verftand und Wille oder Perfönkicteit 
fih nur feitens wieder einer Perſönlichkeit denken läßt —, fo 
fommt jene Erkenntnis der Dinge und die Kraft, fie zu geftalten, 
nad) den ewigen Ideen nur unter Mitwirkung des perfünliden 
Gottes, d. h. durch Offenbarung zuftande. 

Es fehlt zwar dieſer Begriff bei Earriere durchaus nicht; aber 
es ſcheint uns, als fei derfelbe feines ſpezifiſchen Weſens doch ent- 
Heidet, wenn Offenbarung auch bei einem Voltaire und Rouſſean 
angenommen wird. Das Providentielfe bei ihnen (S. 429), des 
zunüchſt allerdings nur betont ift, wird man nicht beftreiten können; 
man dürfte e8 aber vielleicht richtiger „Zulaffung“ nennen. Dod 
bleibt e8 ein Mangel am Offenbarungsbegriff, wenn er nicht 
dazu führte, das Spezifische im Chriftentum zu erkennen, und daß 
ſolches hier zutrifft, werden wir fofort nachweiſen. Yoranszu- 
ſchicken iſt nur ein anerfennendes Wort und zugleich eine Ein- 
ſchränkung zu dem allgemeinen Begriff der Offenbarung, den 
Earriere, allerdings ausſchließlich, vertritt. Es find wiederholt 
Anläufe gemacht, die Offenbarung ins Leben einzuführen. Wer 
wollte nicht beiftimmen, wenn er 3. B. Hört: „Offenbarung ft 
das Machtigwerden und Sichbezeugen des allgemeinen Geiftes im 
einzelnen“ (wenn au der Ausdruck „allgemeiner Geift“ nidt 
gerade glüclich ift)? oder: „Unfer Urfprung und unſer Urftand 
iſt in Gott, darum fönnen feine Gedanken im Innerſten des Ge 
möütes und aufgehen, . . . es ift aber nicht eine Impulſion oder 
Mitteilung von außen, fondern von innen, vom Zentrum alles 
Lebens ans; es ift auch nicht ein mechaniſches und fertiges Üher- 
Kiefern, fondern wie alles geiftige Einwirken die Erregung zu ber 
Geftaltung und Erfaffung derfelben Ideen, fo daß wir ben Gott 
zwar leiden, zugleich aber felbft den Eindrud feines Waltens in 
uns zum Wort, zur That, zum Bilde formen und feine freie 
thätigen Organe find." Auch dagegen wird nichts zu fagen fein, 
daß die Offenbarung im allgemeinen nit auf die Propheten und 
Religionsftifter befchränkt, fondern auf die Denker und die Männer 
der That ausgedehnt wird. Aber bier gerade zeigt füch eine Ge 
fahr, welche die Kirchenlehre glücklich durch ihre Unterfcheidung von 
providentia und revelatio vermeidet. Denn es ſtellt fich doq 


Zur Frage der fittlichen Weltordnung. 4% 


bei Garriere fo dar, daß jede geſchichtliche Perſon eine Dffen- 
batung Gottes ift, was die Perfönlickeit Gottes ſchließlich aufe 
hebt. Auch ift die Vorftellung, welde Carriere von dem Binden 
der Ideen feitens der Menfchen Hat, fonderbar. Danach ſollen 
die Ideen Feine Wefen fein, welche ſuchen und bewegen können, 
fondern zur Ausführung beftimmte Gedanken, welde die Vorfehung 
erfieht, und deren Darftellung diefelbe Vorſehung dadurch bewirkt, 
daß fie zur vechten Zeit und am redten Orte die geniale und 
originale Perfönlichkeit dazu ins Leben treten Täßt. Iſt das nicht 
faſt wie ein Puppentheater? und iſt es nicht wichtiger, das per⸗ 
ſonliche Verhältnis in den Vordergrund zu ſtellen, auf Grund 
deffen dann die Kräfte des Menſchen ſich frei und doc; zugleich 
innerhalb der geſchichtlichen Ordnung entfalten? Es iſt eigentüm⸗ 
fh, daß man bet Carriere abmechfelungsweife den Eindrud ber 
lommt, es gehe die Perfünlichteit Gottes ober die des Menſchen 
verforen. Das tührt von dem oben Hervorgehobenen Semipan- 
theiemus her. 

Die Beralfgemeinerung bes Offenbarungsbegriffes aber führt, 
wie gefagt, namentlich zur Verfennung des ſpezifiſchen Charakters 
des Ehriftentums, inſonders feines Stifter. Daß die Geſchicht⸗ 
Uigkeit des Ehriftentums anerkannt wird, ift freilich zu acceptieren, 
verjteht ſich jedoch im Grunde von felbft; denn fein Hiftorifer fann 
den tiefgreifenden Einfluß biefer Religion auf die ganze Menfchen- 
gefhiäte leugnen. Das Chriftentum erhebt aber bekanntlich einen 
noch höheren Anſpruch, nämlich etwas pofitiv Ewiges, „das ewige 
eben“, zu geben, und dieſer Anſpruch wird indirekt abgelehnt, wenn 
nan feine Gefchichtlichkeit ganz in Parallele zu der der Römer und 
Germanen fett. Werner ift es ganz richtig, daß Kunft, Religion, 
Staatsverfaffung, Sitte, Wiſſenſchaft als die verfchiedenen Seiten 
es Volksgeiſtes im innigften Zufammenhang mit einander ftehen. 
Iber welche dieſer Seiten die beherrſchende, ausfchlaggebende iſt, 
ird mit diefer Nebeneinanderftelfung nicht angedeutet. Das Epriften- 
m fagt: bie Religion ift das Herz der Menfchheit, und zwar 
cht bloß in dem Sinn, daß Bier das innerlichfte Reben und Wirken 
8 Menſchengeiſtes zur Erſcheinung fommt, fondern fo, daß hier 
ie Berührung des Menſchlichen mit dem @öttlichen ftattfindet: 

33* 





boo Baemeiſter 


„Du Haft Worte des ewigen Lebens“ oder das Gleichnis um 
Sauerteig. Hier tritt eine Nachwirkung des Rationaliemus zum 
Schaden des wahren Weſens des Ehriftentums wie der wichtigen 
Auffafjung bes Menſchen zutage. Es ift ſchön gejagt, daß die 
Freude an der Wahrheit bezenge, wir feien ethiſche Wefen (S. 153); 
aber nur mit einem großen Fragezeichen können wir den Seh 
ſtehen laſſen: „unfer Streben nad Glüdfeligkeit felbft wird uns 
zum Heile führen, das an das Gute geknüpft ift und damit in 
unfere Hand gelegt wird“ (S. 158). Wenn das wahr ifl, dam 
iſt das Wort Ehriftt unmahr: „Ich bin ber Weg.“ Und mit 
deutlicher Bekämpfung der chriſtlichen Auſchauung fügt dort Car⸗ 
tiere noch bei: „Und nit die gefchenkte, fondern die durch Glud⸗ 
wurdigkeit verdiente Gefigfeit als der Lampfpreis der Züchtigfeit 
ift die hochſie, zeitgemäße.“ Wir wollen zwar nicht mit Schlag ⸗ 
wörtern eine philoſophiſche Anfiht bekampfen; aber hier tann men 
doc ganz kurz und einfach fagen: das ift der Pelagianismus des 
Nationalismus, und wie in after Zeit muß auch heute die Lirche 
fi) deöfelben erwehren, wenn aud mit anderen Mitteln als dayı- 
mal. Es ift ein verhängnisvoller Irrtum Carrieres, dag er da 
Gute nicht als objeltiv Seiendes, fondern nur als Seim ⸗ſollendes 
gelten läßt, da® in der Geſinnung lebt ud im Willen verwirkidt 
wird, daß er überhaupt das Gute nur als Probuft des Willens 
faßt. Wir find es, welde die Ider des Vollkommenen bilden; 
damit daß der Geiſt feinem Begriff na nur durch eigenes Denten 
und Wollen zu fi kommt, ift auch ſchon gegeben, daß er die Idee 
der Pflicht, des Sollens faßt, und das Gewiſſen ift deshalb nur 
der Ausdrud unferes eigenen ethifchen Wefens“ (S. 164). Reben 
dieſen deutlichen Sägen finden wir dann aber Andeutungen von 
einer „Högeren Ordnung der Welt“, d. h. der ſittlichen Welton⸗ 
nung, zu welder uns der Tategorifche Imperativ erhebt, inden er 
uns von der Macht der Außerlichteit und Naturgebundenheit befeet. 
Iſt denn da nicht diefe höhere Ordnung als ein objektiv Gutes 
gefaßt, deffen Exiſtenz doch geleugnet wurde? Und were gefegt 
wird, im Gewiſſen komme uns die Unterfcheibungenorm wen Get 
und Böfe zum Bewußtſein (S. 158) und wir fühlen uns ver 
pflichtet, innerlich getrieben, uns ihr gemäß zu entſchelden, — I 


Zur Frage der fittlichen Weltordnung. [33 


fragen wir billig: fegt das wiederum nicht eine objektive Untere 
ſcheidung von Gut und Boſe voraus, und wo ein Verpflichten und 
Treiben iſt, ift da nicht aud ein Verpflichtender und Treibender ? 
Ulrici hat ganz richtig Kants Schwäche gejehen, wenn er aus der 
Boentität des Sittengefege® und des Selbftbewußtfeins des vernünfe 
tigen Willens die Zolgerung zieht: dann giebt es nur ein Wollen 
aber fein Sollen, der Imperativ Löft ſich auf, und mit der Pflicht 
fält die ganze Ethik dahin; fie wird zur pfpchologifchen Erſchei⸗ 
nung und fchließlich zur Phufit. Carriere meint diefer fatalen 
Wendung entgehen zu Löunen durch folgende Betrachtung: „Das 
vernünftige Wollen ift eben ein Wollen des Gefollten, das nicht 
als etwas Fremdes, Zwingendes, fondern als das Gelbftgefegte, 
als die Verwirklichung des eigenen Wejens empfunden wird, wie 
das Wachstum des Reims zum Organismns“ (S. 162). Gerade bie 
legtere Bergleichung, wenn fie aud nur eine Bergleihung fein ſoll, 
zeigt doch bie vorhin angebeutete Gefahr der Auflöfung der Ethik 
in die Phyſit deutlich. Gerade wenn das vernünftige Wefen des 
Denfhen nur ans ſich felbft ſich entwidelt, iſt der Begriff des 
Sollens eigentlich undenkbar; es ift in jedem Augenblick das, was 
es fein fol, es entwickelt fi ja, wie man von bem Organismus 
in feinem Augenblick fagen kann: er babe fein Sollten noch nicht 
errticht. Es trifft eben dieſe Kategorie gar nicht auf bie phyſiſche 
Rotur zu. Kant hat ſich bekanntlich durch die Unterfcheidung des 
Phänomenon und Noumenon zu helfen gefucht; aber wenn auch 
Uricis Bemerkung dagegen ganz zutrifft, es folge aus der Ent 
ngenfegung von Vernunftwefen und Sinuenweſen nicht, daß fi 
ieſes jenem unterwerfe, fo ift doch Kants Berſuch damit nicht ab⸗ 
han, daß man einfach jenen Gegenfag für falſch erlärt; es Tiegt 
emfelben vielmehr die unwillkürliche Anerkennung einer über dem 
hänomenafen Sian des Menfehen ftehenden Gefetzgebung zugrunde, 
sehe uns auf bie Anfhauung der Schrift führte, wonad in dem 
ten und gnädigen Willen Gottes das objektiv Gute und das Ber- 
lichtende für den Menfchen Tiegt. Ein Apriorifces, die Unter 
kidung von Gut und Mbfe nimmt auch Carriere mit Wfrkl 
id 3. H. Fichte an; aber was diefes Mpriorifche ift, erfahren 
x nicht. Wir dürfen es aber gewiß nicht bloß als eine Kater 


52 Bacmeifer 


gorie, als ein „Bildungsgefei des Geiftes“ faflen, wie Earriere 
tut, fondern die Kategorie ruht auf dem bildenden, ordnenden, 
regierenden Willen; das Apriorifche ift zugleich das Tranfcendente, 
das über dem menſchlichen Einzelweſen fteht, aber wiederum nicht 
in der vagen Faſſung als „Ganzes“, fondern als der perſönliche 
Wille Gottes. Es wird der Philofophie nie gelingen, diefem Be 
griff des „Ganzen“ Leben einzuhauchen, fo daß er felbft zur beieben- 
den Kraft würde. Ausführungen wie die nachfolgende Lafjen voll« 
ftändig kalt: „Das Selbft erhebt fi) aus dem gemeinfamen 
Lebensgrunde des Seins und wird für fi; aber es ift dabei auf 
alles andere bezogen, durch anderes bedingt, und wenn es dies ver⸗ 
Teugnet und in der Selbſtſucht nur es felbft fein will, wenn der 
Wille damit zum Eigenfinn und Eigenwillen wird, fo löſt das 
Seldft fih in feinem Denken und Wollen von feinem Lebensgrund 
und feiner Wefensgemeinfchaft, und ergiebt ſich trügeriſchem Schein 
und eitlem Unmefen; es trachtet nach feinem Nugen, auch zum 
Schaden der andern, es möchte fie unterbrüden und verlegen, um 
ſich groß und frei zu machen, und es befteht doch nur als Glied 
eines Ganzen und fann deshalb nur im Zufammenhang mit diefem 
und in der einträchtigen Wechſelwirkung mit anderen Gliedern fein 
Leben haben. Und diefe Thatfache wird notwendig aud als Ger 
fuhl in ihm mächtig, fie ift das Gefühl der Liebe, des Bebürf- 
nifjes der erglänzenden Gemeinfchaft, der Hingabe als das Ganze“ 
(S. 160). Die Antwort auf diefe ganze wohlgemeinte Ausfüße 
rung ift: Kampf ums Dafein. Wenn der Wille feine ftärfere 
Motivation erhält, als diefe, fo wird er nie zum Opfer feines 
Selbſt es bringen; denn gerade die Hingabe ans Ganze ift ftrittig: 
wie viel Recht Hat das Ganze an mich? mie viel Recht Habe ih 
an das Ganze? Über biefem Streit könnte ein ganzes Leben hin 
gebracht werden. Wohl fagt Carriere, auf diefe Weife komme auch 
feine Seligkeit und fein Friede in das Menfchenherz, dem die 
Lieblofigkeit werde auch als Unfeligfeit empfunden. Ganz reift; 
aber ob der Weg zum Frieden der ift: „fein Wohl im Wahl bes 
andern zu erftreben umd zu begründen, den Zwed des Ganuzen zum 
eigenen zu machen“, das ift die Frage, d. h. halb wahr ift das 
Geſagte, es fehlt ihm Teider nur die andere, erfte Hälfte: Die Lich 





Zur Frage der fittlichen Weltordnung. 508 


zu Gott, und der Weg zu diefer ift die Neue, welcher wohl auch 
die Erkenntnis und das Wollen des Rechten folgt, Mur mittelft des 
richtigen Zwifchengliedes der Vergebung. Kurz gefaßt: die fpezififch 
Hriftlichen Anfchauungen vom Heilsweg find bei Carriere ausge 
gefallen, und diefer Ausfall verurteilt das, was noch ftehen bleibt, 
zur Lebensunfähigleit. Iſt nicht die ganze Unfeligkeit und Fried» 
Tofigkeit de8 Heidentums darin begründet, daß ihm — nicht das 
Einsfein mit dem Ganzen (ſolches ift eigentlich immer da) fon 
dern — das Einsfein mit Gott felbft fehlt! Und giebt es, kirch⸗ 
lich geredet, eine Nächftenliebe ohne Gottesliebe? d. h. eine Nächſten⸗ 
liebe als durchgreifende Charakterbeſtimmtheit, nicht nur als flüch⸗ 
tige Regung oder edle Aufwallung? Es iſt gewiß wahr, daß die 
Gottesliebe in ſich krankt, ja hohl wird, wenn ſie die Nächſtenliebe 
nicht im Gefolge hat (die Sprüche des Neuen Teſtamentes in 
dieſer Hinſicht ſind den Kindern bekannt); aber ebenſo gewiß iſt, 
daß bie Nachſtenliebe die Liebe zu Gott zur unentbehrlichen Vor⸗ 
auoſetzung hat. Liebe zu Gott aber darf nicht in Liebe zum Ganzen 
aufgelöft werden, fo wird fie zu einem Schemen, das nur noch in 
Redensarten fpuft. Liebe ift ein perfönliches Verhältnis, in ihr 
ſchließt ſich das eigentliche Sein unferes Weſens auf, und da Liebe 
eben ein Berhäftnis Herftellt, fo kann fie ihr Ziel auch nur in 
einem perſonlichen Wefen finden. Daher kann man von „Liebe 
zur Natur“ z. B. nur im uneigentlihen Sinn reden. Ya, 
wir wagen fogar die Behauptung, auch Liebe zum Menſchen ift 
für fi nicht möglich, nämlich Liebe zum faktiſchen Menfchen, 
Denn wenn in der Liebe ſich unfer innerftes, ideales Weſen aufe 
fchließt und wenn dieſes Wefen ethifher Natur ift, fo kann es 
feine Befriedigung nur in einem vollfommenen ethifhen Weſen 
finden; diefes aber ift Gott. Zugleich aber ift der Weg Hiermit 
gezeigt, fi) dem Ganzen wirklich dienftbar zu machen: wir Lieben 
die Menſchen „um Gottes willen“, d.h. weil er fie zu feinem Reich 
berufen hat und weil diejes Neid erft fommt, wenn es in den 
Menſchenherzen aufgerichtet wird und weil dieſes Aufrichten mittelft 
der Liebe gefcieht („er Hat uns zuerſt geliebet“), darum lieben 
wir auch die Brüder, können in ihnen die Kinder Gottes fehen, 
zu welden fie durch bie entgegenfommende (vergebende, erlöfende) 


u Bacmeifter 


Liebe Gottes auch wirklich geworden find. Wie verwäſſert iſt da 
gegen die „Gotteökindfchaft“ bei Earriere, wenn er ©. 411 fagt: 
„Nur weil das Göttliche ſich in uns bezeugt ald das Unendliche, 
das allem Endlichen innewohnend bleibt, fühlen wir unfer Selbft 
als Glied eines Ganzen, fommen wir zum NReligionsgefühle und 
zur Gottesidee. Wie könnten wir die Kindichaft empfangen, wenn 
uns ein Zauberſpruch aus dem Nichts geſchaffen, uns außerhalb 
des ewigen Weſens geſetzt, uns gemacht hätte?“ Danach wären 
wir alfo nit „gemacht“, alfo wohl aus uns felbft? Ein drittes 
giebt es doch nicht. Und wo bleibt hier das ethiſche Moment in 
der Gottesfindfchaft, das doc den Ausſchlag giebt? Es ift ga 
fo dargeftellt, als dürfte der Menſch nur ein Kind Gottes fein 
mollen, und fofort ift er es auch. In der ſchon angeführten 
Sedansrede, die allerdings nicht im Schulftil gehalten ift, aber 
doch auch die wefentliche Anfhauung des Philofoppen ansdrüdt, 
Heißt es mit dürren Worten: „In der Selbſtſucht, wenn wir an 
deres fein und Haben wollen als Bott, als das Wahl des Ganzen 
verlangt (Gott und das Ganze ftehen au Hier als Korrelat⸗ 
begriffe), da verfinftert fich unfer Wefen, reißt ſich los von feinem 
wahren Grunde und verfällt der Sünde und ihrer Pein; fobal 
wir aber wieder nichts anderes wollen und ſuchen als das Gou⸗ 
liche, Ewige, find wir eins mit ihm, find wir befeligt von der 
Liebe, find wir Kinder Gottes, Glieder feines Reiches“ (©. 12). 
Sa, „jobald wir wollen und ſuchen“ — daran hängt’s. Bei Car⸗ 
rieres Anſchauung ift fein Raum für das Wort Chrifti won dem 
ſuchenden guten Hirten, für den Ausſpruch: „wen der Sohn frei 
macht, der ift recht frei“, oder „niemand kommt zum Water deun 
durch mich“. Es wird ebenfo fehr die Stellung Ehrifti verkürgt, 
wie die Bedeutung der Sünde unterfägt. Über die Mögligtet 
tommt man nicht hinaus; es Heißt: „wenn das Selbft nicht wieer 
Herr [über die Leidenſchaft] wird, dann verliert es fich ſelbſt im 
Wahnfinn oder in der Knechtſchaft der Sünde“ (S. 198). Hier, 
wo der Rationafismns, überhaupt das menſchliche Wiſſen und Mägen 
nicht weiter weiß, ſetzt eben das Chriftentum ein. Es ſoll nicht 
dem Zufall überlaffen bleiben, ob das Selbſt wieder Herr wird, 
oder ob der Menſch verfinkt, fondern das ift das Weltgeſchichtliche 


Zur Frage der fittfichen Weltorbmung. 506 


des Kommens Chriſti: Gott will, daß allen Menfchen geholfen 
werde. Um aber diefem Willen Gottes Eingang zu verſchaffen, 
um ihm aufzunehmen, muß vor allen Dingen das rechte Ges 
fühl und Verſtändnis für das Böfe vorhanden fein, dann wird 
auch die Bedeutung Chrifti beffer gewürdigt werden (vgl. das 
Bort: „Die Gefunden bedürfen des Arztes nicht“, Luk. 5, 
31. 32). 

Wir lönnen zwar nicht fagen, daß Carriere fein Verftändnis 
für das Bbſe und Gute zeige, im Gegenteil es find viele gute 
Keime da, ja manches ſchöne Wort ift zu lefen. So z. B. wenn 
er ſchlagend fagt: „Das Gute befteht in ber Liebe, die zugleich 
ihre Bejeligung in ſich trägt“ (S. 220), oder wenn mit Ariſto⸗ 
teles das Gute die Weſenheit Gottes genannt wird. Aber diefe 
Reime find nicht entwidelt und haben daher keine Frucht hervor 
gebragt. Wie vahe Liegt es, aus jenem Ausfprud) das Reſultat 
für die Perfönlichleit Gottes als Heilige Liebe zm ziehen und in 
dieſer den Lebendigen Urſprung für bie fittliche Weltordnung, für 
das fittlich Gute, das dem menfchlihen Willen als Geſetz vor⸗ 
ſchwebt, zu gewinnen. Über jenes Reſultat ift nicht gezogen, und 
darum bleibt Gott immer in deiftifcher Ferne, und diefer Urfprung 
iſt nicht aufgedeckt, vielmehr ift die Idee des Vollklommenen mie 
aus der Piftole gefchoffen; woher fie dem Menſchen tommt, erfährt 
kin Menſch. 

Wiederum fehlt es nicht am Ernſt gegen das Boſe, und wir 
find weit entfernt, Carriere der Beichtfertigkeit befchuldigen zu wollen, 
aber das Spejifiiche des Böfen als Unrecht gegen Gott felbft wird 
doc verwilcht, wenn das Gute den Willen, dem Gefege des Ganzen 
zu dienen, für das Gemeinwohl zu wirken, gefegt, ftatt daß es ale 
Kindesgeporfam gegen Gott gefaßt wird. Wie umftändfich ift dan 
am die Erklärung von der Entfiehung des Böfen (S. 2275): 
„Indem ein Weien ſich als Selbft erfaßt, ſcheidet es ſich dadurch 
son der unmittelbaren Einheit mit allen anderen, mit feinem Lebens⸗ 
runde, und macht ſich zum Bür+fich-feienden von allem Unter⸗ 
Giedenen. .... Indem das Seldft nun ſich fühlt und weiß und 
ille Dinge in der eigenen Empfindung, im eigenen Bewußtfein hat, 
iegt «8 ihm fo nahe, daß es in der Freude dieſes erften Lebens“ 


506 Bacmeifter 


oder Sonnenaufganges beharrt, daß es nichts anderes will als fih, 
daß es fich fiir den Mittelpunkt der Welt, für das allein wahr, 
allein berechtigte Sein hält und danach handelt; und damit üft die 
Selbſtſucht da und das Böfe geboren.“ Wie viel einfacher ift die 
Schrifterflärung von der Entftehung des Böjen: „Die Sünde ift 
das Unrecht oder die Übertretung des Gefeges“, abgefehen davon, 
daß jene Gedanken alle, nur ethiſch gefhärft, in Gen. 3 mitenthalten 
find. — Zu den Hoffnungsvolliten Keimen aber möchten wir das 
Wort rechnen, wie trog allem Böjen „das Ewige im endlichen 
Selbft Geftalt gewinnen will“ (S. 240). Die Wahrheit und 
Wirklichteit deffen haben wir im Chriftentum, d. h. in Eprifto als 
dem fleifchgewordenen Worte. 

Aber hier gerade zeigt fi ein Mangel an Verftändnis. Nicht 
nur wird Jeſus neben Muhammed geftellt (5.379), jadem Islam in 
faſt unbegreiflicher Boreingenommenheit der Vorzug vor der chriſtlichen 
Kirche und ihrem Dogma gegeben, fondern es wird namertlich 
Zefus und das Evangelinm nicht recht gewürdigt. Es ift ſchief, zu 
fagen: „Jeſus brachte die indiſche und die griechiſche Lebensider in 
Einklang“ (S. 226), denn er wird dadurch in die Reihe der Philo- 
fopen gerüdt; er ift aber fein Philoſoph vom Fach, fondern von 
der That. Carriere erfennt das felbft an, er Hat das gute Wort: 
„Der, welcher das fittliche Ideal verwirklichte, hat es zugleich er 
gänzt, indem er die Selbftgenugfamfeit des griechiſchen Weiſen auf- 
hob in ber Liebe, die des Geſetzes Erfüllung und das Gute ift, 
deffen Befeligung fie in ihr felber fühlt, — Jeſus von Naaret“ 
(S. 225). Aber warum wird diefer wirklich einzigartigen Perfönlich- 
feit dem faft feine Bedeutung zugefchrieben? Oder kann man 
denn von einem der andern großen Männer in der Gejchichte fagen, 
was hier Carriere von Jefus ausjagt: er Habe das fittlihe Jeal 
verwirklicht? Damit ift unendlich mehr gejagt, als Laſault von 
den Helden der Gefchichte rühmt: „Zu den fhönften und erhaben- 
ften Erfgeinungen im Leben der Völker gehören die geiftigen 
Heroen desjelben, die großen Männer, welche gerade zur reiten 
Zeit in den Entwickelungsperloden des Wöllerlebens mie lidjte 
Göttergeftalten erſcheinen und als die Träger der neuen, dat 
Leben geftaltenden Ideen, als Gründer und Wiederherſteller der 


Zur Frage der fittlichen Weltordnung. 587 


Religion und der Staaten auftreten, jene Männer, die wie 
Sproffen aus dem urfprünglichen Lebensfeime des Volkes, ja aus 
dem Herzen der Menſchheit ſelbſt geboren und eben darum mit ur« 
fprünglichen elementaren Kräften ausgerüftet, nicht bloß für ihre 
Zeit, fondern auf lange Fahrhunderte hinaus thatkräftig wirken.“ 
Das gilt von einem Luther; aber daß diefer das fittliche Ideal in 
der Weife wie Jeſus verwirklicht hat, wird niemand fagen wollen, 
Und aus demfelben Grunde ijt au der Tod Jeſu dem des So— 
trates nicht einfah an die Seite zu ftellen, wie das S. 306f, 
geſchieht. Jeſus ift überhaupt nicht in das richtige Verhältnis 
zu feiner Religion, oder fagen wir lieber zu dem von ihm geftife 
teten Gottesreich gefegt. Er ift nur Religionsſtifter wie Buddha 
oder Muhammed, nicht der lebendige Herr feiner Gemeinde, nicht 
derjenige, als welchen ihn unfer Glaube befennt: dem alle Gewalt 
im Himmel und auf Erden übergeben ift. Garriere fagt nur: 
Jeſus verwirklicht das fittliche deal, er ftellt damit das durch 
die Sünde getrübte göttliche Ebenbilb, das verlorene Bewußtſein 
der Kindſchaft, der Wefensgemeinfhaft der Menſchen mit Gott 
wieder ber; fo ift er der Erlöfer, und indem wir ihm nachfolgen, 
fein Wefen in uns leben laffen, gehen wir durd ihn in das 
Himmelreich ein, das nicht mit äußeren Geberden kommt, fondern 
in uns ift, im Gewiffen als ſittliche Weltordnung fich bezeugt, 
die Einrichtung unferes Willens mit Gottewillen als die wahre 
Freiheit und Lebensvollendung“ (S. 377). Carriere fteht hier auf 
demfelben Standpunft wie Bunfen, auf welchen er ſich auch aus⸗ 
drüclich beruft. Er citiert aus deffen Werke: „Gott in der Ge⸗ 
ſchichte“, die folgende Stelle, welde den Kern des Ghriftentums 
darftellen foll: „Der Geift Gottes lebt in jedem Menſchen, welder 
ſich dem inneren Gottesbewußtiein nicht verfchliegt. Dieſes Ber 
wußtfein ift das urfprüngliche Wert Gottes in ihm. Es giebt 
eine wahre Offenbarung als durch den Geift Gottes im Menſchen, 
als durch menfchliche Perfönlichkeiten, an deren Spige ein ur- 
fprünglih Erleuchteter ſteht. Indem ſich der Menſch dem Emigen 
Hingiebt und ſich entſchließt, in Übereinftimmung mit den ewigen 
Weltgeſetzen (dem Willen Gottes) zu Leben, folgt er dem innerften 
Zriebe feines Wefens; und indem er ſich gedrungen fühlt, den 


8 Bacmeifter 


Liebesgebanten des Ewigen in ſich felbit zu verwirklichen, im Kaurpfe 
gegen das Boſe in ihm, fürdert er das Reich Gottes und dadurf 
den wahren Bortfchritt der Menſchheit. Jeſus Heißt deshalb der 
Sohn Boties, weil diefes Bemußtfein feine wahre Natur gewor 
den; alle Menſchen find aber Gottes Kinder (Söhne), und folle 
den Geift Gottes in ſich felbft finden, wenn fie Epriftus nad 
folgen. Er ift alfo der Heiland, der, durch welchen die Meufde 
heit ſich erlöft fühlt vom Drud der Sünde und verfähnt (wieder 
vereint) mit dem Ewigen.“ So weit Bunfen. Allerdings, wem 
das „der Kern des Ehriftentums ift“, dann ift die Kirche kaum 
mehr egiftenzberechtigt oder fo teformbebürftig, wie in dem dunkel⸗ 
ften Zeiten des Mittelalters. Wohl ift mit Befriedigung zu fon 
ftotieren, daß auch die Philofophie die Notwendigkeit einer Erlöfung 
und Berföhnung anertennt, womit fie eo ipso die kirchliche Vor⸗ 
ansfegung von der allgemeinen Sundhaftigkeit zugeftcht. Ebenje 
iſt die kirchliche Lehre von der andern Voransfegung der Erlöfung 
und Verföhnung gefihert durch Carrieres Anerkennung: Jefus 
verwirklicht das fittliche Ideal — die Borausjegung der Eünde 
Iofigfeit Jeſu. Strauß hat wohl gewußt, weshalb er das in Ab⸗ 
rede zieht, wenn auch die angeführten Mängel, 3. B. das fehlende 
Finanztalent u. f. w., faft kindifch find. Uber der moderne Ratio 
nalismus ftellt e8 nun fo dar: Jeſus ift damit ſchon ber Erlöfe, 
daß im ihm das Bewußtſein von der Wejenseinheit des Menjchen 
mit Gott aufgegangen ift und daß er — dies ift eine Errungen⸗ 
ſchaft der geſchichtlichen Unterſuchungen über das Leben Jeſu und 
eine Frucht de gefräftigten gejchichtlichen Sinnes — diefed Ber 
wußtfein im Kampf gegen das Böfe behauptet, bethätigt Hat, und 
es bebarf unferfeits nur ein Ihm ⸗nachfolgen, Sein-Wefen-in-unk 
Teben-laffen“ — dann find auch wir erlöft und ganz ebenfo Gottes 
Söhne, wie er der Gottes Sohn ift. Von dem Ießteren abgefchen, 
weiches übrigens in ſich fchlöffe, daß dann auch wir das fittlice 
Ideal in un verwirklichen müßten, ift es gewiß als eine Einfeitige 
keit zu betrachten, daß das Göttliche, .d. h. Gottes Gnade, nHllig 
verkürzt wird und der menſchliche Wille allein alles aucrichtet. 
Ausdrudlich verfigert Carriere, nachdem er die Notwendigkeit einer 
Wiedergeburt anerkannt Hatte, daß biefelbe doch nur umfere eigen 


Zur Frage ber fittfichen Weltorduung. 609 


Tat fein könme; und ald Grund dafür wird angeführt, fonft ber 
geände fie nicht das Gute in uns, dieſes fünne feine fremde Macht, 
mar der eigene Wille hervorbringen (S. 282 u. 238). Aber wenn 
wir die Parallele des Denkens beiziehen, ift denn das, was wir 
vom den Gedanken anderer aufnehmen, nicht auch unfer geiftiger 
Befig, und giebt es dem entfprechend nicht auch ein receptives 
Verhalten des Willens, ohne daß deſſen Weſen alteriert wird? 
9a, dürfen wir vielleicht die Parallele noch weiter ausdehnen und 
fogen: wie e8 fein Wiffen ohne ein Objekt gäbe, wie das Denken 
zunuchſt an dem gegenftändlichen Sein erwacht und geübt wird, jo 
ſchopft auch der Wille nicht rein aus fi, aud er bedarf eines 
Objeltes, an dem er fi Abt, und das iſt in hochſter Beziehung 
Gottes Gebot. Weil aber, wie anerfannt wird, der Wille durch 
die Sünde geknechtet ift, fo bedarf er einer Erlöfung, die ihm ger 
fett wird, und feine erfte ganze That Hierbei ift, daß er ſich 
dieſelbe fehenten läßt. Carrier felbit citiert die Reden der Juder, 
3 8. den Spruch: 


Ich ging, du ftarker lichtet Gott, 
aus Schwachheit auf dem falſchen Weg, 
gieb Gnade, Almächtiger, Gnade! 

Db ich in Waſſers Mitte ftand, 
tam über mich des Durftes Rot, 
gieb Gnade, Almägtiger, Gnade!“ 


Er nennt es „Herrliche Ausfprüche des religids»fittlihen Be—⸗ 
wußtſeins“, wenn es im indifchen Epos heißt: 


„Ein jeber, 
der fein Inn'res von dem Guten losreißt, 
welche Schuld begeht er nicht! Gin Mäuber 
iR er an dem eignen Ichl — — — 

— — und wer nit aljo handelt, 
daß ber Michter in ber Bruft es billigt, 
bem find nimmerdar bie Götter gnädig.“ 


Es ift nur zu bedamern, daß biefe richtigen Begriffe Schuld 
und Gnade gar nicht verwertet find. Un dieſen hängt eigentlich 


810 Bacmeifter, Zur Frage der fittfichen Weltordmung. 


alles. Wird die Schuld als das gefaßt, was ihr Name fort, 
dann kann unmöglich an der That des Menſchen, fo wie Carrier 
und Bunfen fie beſchreiben, alles Liegen, dann muß die Gnade in 
ihr Recht eingefegt werden, und dann befommt die Berfon iu | 
eime ganz andere Stellung, und aud die Kirche mit ihren Gnade 
mitteln ift nicht mehr das Afchenbrödel. Aber der Grunbdirrtum 
des ganzen Werkes ift der, daß „ber Kern in allen Religionen der 
Glaube an die fittliche Weltordnung“ ift (S. 365). Man Kinmte 
zwar damit einverftanden fein, wenn man fich der Definition der | 
fittlichen Weltordnung erinnert, wonach „die moraliſche Weltord- 
mung, bie wirfende Vernunft Gott“ felbft ift (S. 102); danadı 
wäre der Kern aller Religionen der Glaube an Gott. Aber wenn 
wir eben dort leſen: „AU unfer Leben ift fein Leben, er iſt das 
Band der Geifter, ihre gemeinfchaftlihe Quelle und ihre Har- 
monie“, — fo werden wir wieder fehr bedenklich, denn dann vers 
ſchwimmt das Weſen der Religion wieder, und das, was fie dem 
Menſchen unentbehrlich macht, die Rettung und. die Gewähr feiner 
Perſonlichteit oder kirchlich geredet, das Heil feiner Seele, ift in 
unabfehbare Ferne gerüdt. Es ift der Irrtum der pantheiftiſchen 
Philoſophie — und frei davon ift auch Carrieres Philoſophie 
nicht —, daß über dem Ganzen ber Einzelne verfchwindet. Der 
an ſich feöne und wertvolle Gedanke der fittlihen Weltordnung 
darf nicht bloß wie des Himmels Blau fich über den Menfchen wöl 
ben, fondern muß wie das Sonnenlicht auf die Erde, ja in die 
Erde Hineinfcheinen, d. h. nur der perfönliche lebendige Gott, wie 
er ebenfo den einzelnen Menfchen wie die Menſchenwelt, ja die 
ganze Schöpfung im Auge hat, Ienft und vegiert, ift diefe Sonne; 
jenes Blau und jene Wölbung Löft fi dem Forſchenden auf, bie 
Sonne bleibt, je genauer man fie erforſcht. Es ift aber der welt 
geſchichtliche Beruf des Ehriftentums, diefen lebendigen perfönliden 
Gott der Welt geoffenbart zw Haben und fortwährend zu offen 
baren; darum ift diefes die abfolute Religion. Und wer derm 
Weſen genau erforſcht, wird finden, daß alles perſönlich gefaßt 
iſt, darum bleibt das Wort Chriſti unerſchüttert ftehen: „Niemand 
tommt zum Vater denn durch mid." Joh. 14, 6. 





Der Gebrauch der Wörter dAnsea ac. 51k 


2. 


Der Gebrand der Wörter dA7Sera, almSrs und 
ahmS>ınos im Neuen Teitamente 


auf Grund des alttefamentlichen Spracgebrandes 
unterfucht von 


$. 6. Wendt. 





Behufs einer genaueren Feſtſtellung der Bedeutung, welche die 
Begriffe AnIsıe, AAnIis und dAnIıvds im Sprachgebrauche 
des Neuen Teftamentes Haben, ſcheint es mir notwendig, zunächſt 
die entfprechenden hebräifchen Begriffe im Alten Teftamente 
zu prüfen. 

Belannt ift, daß der Verbalftemm pode, von weldem bie Sub» 
ftantive nyg (= nygs) und my abgeleitet find, die Grund⸗ 
bedeutung des Zeftfeins Hat. Im Kal bedeutet das Verbum 
das Feftfein des Stügenden, Haltenden ); wenigftens findet ſich 
das Particip einige Male in der Bedeutung bes Wärters oder der 
Amme, welde das Kind auf dem Arme tragen (Num. 11, 12. 
2Sam. 4, 4. Gef. 49, 23. Ruth 4, 16; vgl. das Part. pass.: 
Thren. 4, 5) und in ber von Bier aus erweiterten Bedeutung des 
Erzichers (2Reg. 10, 1: 5. Efth. 2, 7). Im Niphal bedeutet 
das Berbum das Zeftfein des fih Stügenden, Gehaltenen. So 
wird es zuerft gebraucht von dem Zeftfigen des getragenen Kindes 
"Zei. 60, 4), dann von dem Feſtſein des mwohlbegründeten Haufes 
"1 Sam. 2, 35; 25, 28. 2Sam. 7, 16. 1Reg. 11, 38) und 
yon dem Feſtſein des Plages, an welchem ein Pfloc feine ſichere 
Stelle findet (Jeſ. 22, 23. 25). In erweiterter Bedeutung wird 
8 ef. T, 9 'gebraucdht zur Bezeichnung bes Feſtſeins von Per⸗ 
onen binfihtlic ihres politifchen Zuftandes; wir können den ge- 


3) Bgl. 2Reg. 18, 16: MIHNT „bie (eine Thür tragenden) Pfeiler“. 


“2 Bendt 


nauen Sinn dieſer Stelle mit ihrer pointierten Gegenüberftellug 
bes Hiphil und des Niphal wohl folgendermaßen wiebergehm: 
„Wenn ihr nicht [Oott] zu einer feften Stüge macht, fo Habt ir 
keine Feſtigkeit. An der Stelle Hiob 12, 20 find die „Sehe“, 
denen Gott die Sprache entzieht, Die in ber RNedekunft Sicherer. 

Bon bejonberer Wichtigkeit find dann aber folgende Wendungen, 
welche die Bedeutung des Niphal nimmt. 

Erſtlich wird es gebraucht zur Bezeichnung des richtigen Über- 
einftimmens von Ausfagen oder Erſcheinungen mit der Wirklichkeit, 
welde fie zur Darftellung bringen. Die Wirklichkeit iſt Bier ge 
wiffermaßen als die Grundlage gedacht, welche den Ausſagen oder 
Erſcheinungen Feftigfeit verleiht. Wir überfegen das Wort dam 
duch „wahr fein“. So finden wir es von Worten und Offen 
barungen (Gen. 42, 20. Hof. 5, 9. 1Reg. 8, 26. 1Chron. 
17, 23f. 2Chron. 1, 9; 6, 17) und von ausfagenden Berjonen 
gebraudht (Jeſ. 8, 2. Ger. 42, 5. Bf. 89, 38). Mit Bay 
auf Erideinungen ift es an den Stellen Deut. 28, 59. gef. 
33, 16 und Jer. 15, 18 gebraucht, wo das „Feftjein“ der Krank» 
heiten oder des Waſſers bedeutet, daß der Aufere Anſchein deriel- 
ben, welcher auch täufchen Fönnte, mit der Wirklichkeit überein 
ftimmt, daß es alfo wahre, richtige Kranffeiten und wahres, rid- 
tiges Waſſer find ). 


1) Gewögulich findet man am biejen drei Tepten Gteflen fü JOR] die Dre 
deutung „dauerhaft, beſtäudig fein“. Die oben angenommene Bedeutung ſcheiut 
mie aber deu Vorzug zu verdienen, I) weil an der Stelle Ser. 15, 18, mie 
wiederum zur Erklärung der anderen beiden Stellen bient, im dem Begriffe 
EM IE die Vorfellung des unwahren Scheines des Waſſers fü ber 
Rünmt vorliegt, daß es am 'einfachften if, in dem erlänternben Bufake 
AAN) eben dieſe Borftellung fortgefegt zu finden; 2) weil, wie wir nachher 
fehen werben, in ganz analogen Fällen MAN die Richtigkeit im Gegeufage zum 
falſchen Scheine oder zur falſchen Borflellung bebeutet; 3) weil amd; font die 
Bedeutung der Dauerhaftigfit dem Stammworte ON und bem aßgeleiteter 
Worten wicht direkt anhaftet. Auch TAI MIIF bedeutet zumächft eim fehek, ſe · 
Üibes Haus, und nur fofern das Haus dann zur bildlichen Wezeidenug ber 
Nachtommenſchaft dient und wir in der Überfegung gleich das Bill 
anfldfen, gewinnt das Epitheton die Bedeutung „dauernd“, weil eben bei 
einer Rachtommenſchaft ſich die Feſtigkeit in ihrer zeitlichen Fortdauer derfel 


Der Gebrauch der Wörter dAjdeie ıc. 518 


Zweitens aber wird das Niphal gebraucht zur Bezeichnung auch 
anderer Arten richtigen Übereinftimmens ober richtig entſprechenden 
Verhaltens. So wird es vorzugsweiſe gebraucht von der richtigen 
Korrefpondenzg, in welcher das ethifche Verhalten einer Perſon gu 
beftimmten verpflichtenden WBerhiftmifien oder Thatſachen fteht. 
Wir überfegen es in diefen Fällen duch „tren fein“. Die Bere 
ſchiedenheit diefer Bedeutung von der auf Ausfagen oder Erſchei⸗ 
mungen oder Erkenntniſſe beziiglichen Bedentung des Wahrfeins 
erhellt befonders deutlich aus einer Stelle wie Prov. 11, 13, wo 
es von dem minang im Gegenfage zu bem die Grheimniſſe aus ⸗ 
Hlandernden Ohrenbläfer Heißt, er verherge das Wort. Yu biefer 
Bedeutung wird mun das Wort ansgefagt von Perfonen, ſofern 
fie im allgemeinen jenes den Verpflichtungen entſprechende ethiſche 
Verhalten üben (Bf. 101, 6. Prob. 11, 18. Nehem. 18, 18) 2), 
oder fofern fie es in einem befonderen verpflichtenden Verhältniſfe 
üben: vom Knechte (Num. 12, 7. 1:Sam. 22, 14), vom Boten 
(Brov. 25, 13), vom Priefter (1Sam. 2, 35) oder vom Gott 
in feinem Berhäftniffe zum Velfe IJsrael (Deut. 7, 9. Hof. 
12, 1. ef. 49, 7), oder von den Ssrneliten in ihrem Ber 
häftniffe zu Gott (Yef. 1, 21. 26. Pf. 78, 37). Weiter wird 
es ausgeſagt von der perfünlichen Gefinnung, fofern fie ſich auf 
iemes ethifcje Berhalten richtet (Pf. 78, 8. Nehem. 9, 8) und 
endlich von Äußerungen und Bethätigumgen bes Witlens, fofern 
ſich im ihmen jenes Verhalten bewährt: von dem Bunde Gottes 
(Bi. 89, 29) und von feinen Hulderweiſungen (Jeſ. 55, 3). 
Etwas anderer Art ift das durch yony bezeichnete „Richtigfein" an 
olgenden Stellen. Die Uutfage Prev. 27, 6: Aye ıyp DON 
edeutet: „ &ereht find die Wunden, die der Liebende fchlägt.“ 
In ®. 19, 8; 93, 5 und 111, 7 aber werden wir das von 
en Verordnungen Gottes ausgeſagte joy Überfegen: „anges 
1ejfen fein“; der Siam ift nicht, daß dieje Verordnungen wahr 
ind, d. h. etwas Wirkliches richtig zum Ausdruck Bringen, fonbern 
28 fie den Dingen und Berhältniffen, auf welche fie ſich beziehen, 


1) Im dem gleichen Ginne, wie an dieſen Stellen das Particip TON 
ird das Adjectivum ION gebraudt: Pi. 12, 2 u. 31, 24. 
Tpeol. Stad. Dahrs. 188. 34 


514 Bendt 


inſofern richtig entfprechend find, als fie diefelben im zutreffen 
Weiſe regeln *). 

Daß aud) bei diefer Verwendung des Wortes im übertragen 
Bedeutung die finnfihe Grundbebeutung des Feſtſeins dem Be 
mußtfein des Hebräers nicht ganz entfchwunden ift, Täßt fi nd 
daran erkennen, wie 1Sam. 2, 35 dem ſpoy ja ein yamma 
verheißen wird, wo das gleiche Attribut doch offenbar eine gleide 
Beſchaffenheit bei dem Priefter und dem Haufe bezeichnen jal, — 
wie ferner das og Pf. 111, 7 erläutert wird durch den Zu 
fag 8. 8: ph upop, oder wie es in Pi. 78, 37 im Parallib 
gliede zu der Ausfage MrI72 ua) 8 in ganz ähnlichem bildlichen 
Ausdrude Heißt: „Ihr Herz ftand nicht aufrecht (iaz-sb) mit ipm* 
(ogl. Bere 8). 

Auf die Bebeutung des Hiphil brauden mir Hier für unſeren 
Bwed nicht einzugehen. 

Ganz analoge Bedeutungen wie beim Niphal von yox nehmen 
wir nun wahr bei den Gubftantiven mpg und mag. Über bie 
Trage, ob fi) beim Verbum dieſe Bedeutung in Abhängigkeit von 
den Bedeutungen, welche die Subftantive allmählich angenommm 
hatten, entiwidelt haben, oder ob das Abhängigkeitöverhältnis en 
umgefehrtes iſt, laſſe ich das Urteil dahingeftellt. Teils der Küng 
halber, teils um das Maß der. zwifchen beiden Subftantiven be 
ftehenden Spnonymität deutlich hervortreten zu laſſen, Halte ich e# 
für zwedimäßig, die beiden Subftantiva nicht getrennt von einander, 
fondern in Verbindung mit einander zu betrachten. 

1..Die finnlihe Grundbedentung der durch gute Stügung kr 
geftellten Feſtigkeit findet fi ganz rein nur einmal bei mx 
naml. Exr. 17,12, wo es von ben geftüßten Händen Moſes heißt: 
„fie wurden F“. Zur Bezeichnung der ſoliden Sicherheit eines 
politischen -Zuftandes, aljo in analogem Sinne, wie yayy an der 
Stelle Jeſ. 7, 9, wird mehrfach muy gebraucht. So in der 
Verbindung nam big: Ger. 33, 6. Jeſ. 39, 8. 2Reg. 20,19. 


1) Die Rechtfertigung biefer Auffaffungen des Wortes an dem vier zulht 
genannten Stellen liegt in ben analogen Bedeutungen, welche wir nachher fr 
MIN und ON finden werden. 


Der Gebraud; der Wörter dAjdera ac. 515 


Et. 9, 80 oder nyy op: Ser. 14, 13; ohne dieſe Verbindung 
nur 2Chron. 32, 1: „nad; diefen Begebenheiten und diefer 'x*, 
d. i. nad) dem in ben vorangehenden Kapiteln gefchilderten Fries 
denszuftande im Gegenfage zu den in Rap. 32 zu berichtenben 
Kriegsläuften. mon findet fic in dem gleichen Sinne Jeſ. 33, 6: 
„es wird ‘x (d. i. Sicherheit) deiner Zeiten fein“ 1). 

II. Häufig bezeichnet dann ng bei Ausfagen oder Vorftellungen 
oder Erſcheinungen die Feſtigkeit oder Gültigkeit, welche diefelben 
infofern Haben, als fie etwas Wirkliches richtig zum Ausdrud 
oͤringen: d. i. die Wahrheit. So heißt es von Wortausſagen, 
daß fie nyy find, oder Worte der d find, oder x zum Gegen- 
ftande Haben, im Gegenfage zum Irrtum oder zur Lüge: Gen. 
42, 16. Deut. 13, 15; 17, 4; 22, 20. 2ſam. 7, 28. 1Reg. 
10, 6; 17, 24; 22, 16. Jeſ. 43, 9. Jer. 9, 4. Sad. 8, 16. 
®f. 119, 160; 182, 11. Prov. 22, 21. Kohel. 12, 10. Dan. 
10, 1; 11, 2. 2Chron. 9, 5; 18, 15; ebenfo von einem Zeichen: 
Joſ. 2, 12; von einer Schrift: Dan. 10, 21; von einer Viſion: 
Dan. 8, 26; von Lippen: Prov. 12, 19; von Zeugen: Ser. 
42, 5. Prov. 14, 25. So heißt e8 ferner, etwas fei oder ge⸗ 
ſchehe max, d. i. richtig fo, wie man es fagt ober benft, oder 
wie andere es fagen oder meinen: Jud. 9, 15. Ser. 26, 15; 
28, 92). — Wenn die durch my bezeichnete Übereinftimmung 
mit der Wirklichkeit darin befteht, daß Worte ober Handlungen, welche 
eine beftimmte Gefinnung zum Ausdrude bringen, wirklich anf der 
Gefinnung beruhen, welche fie ausdrücken, jo gewinnt der Begriff 
die Bedeutung der Aufrichtigkeit im- Gegenſatze zur Heuchelei. 
Vorzugsweife wird er in biefem Sinne mit Bezug auf religtöfe 


2) Bgl. 2Cam. 20, 19: DNPr OR bp, d. i. „feiebfame, ſichere 
Eente) Ieraclo”. Es foll am biefer Stelle geroiß nicht der moralifche, ſondern 
der politifche Zuftend der Einwohner der Siadt Abel gelobt werben. 

2) In dem gleichen Ginme werden bie Abverbia DIHN wab (in eageägen) 
EION „fihierlich, gewih“ gebrandit, um die Richtigkeit deffen, was man fagt 
»der Denkt, zu befräftigen, bzw. um die Richtigkeit einer Ansfage oder Bore 
tellung in frage zu ziehen: Gen. 20, 12. Joſ. 7, 20. 2Reg. 19, 17. Ief. 
17, 18. Siob 9, 2; 12, 2; 19, 4. 5; 84, 12; 38, 4. Muth 8, 12. — Gem. 
8, 18. Rum. 22, 87. 1Reg. 8, 27. 2@hron. 6, 18. Bi. 58, 2. 

sa” 


516 Bendt 


Funktionen angewendet, fofern biefefben nicht bloß äußerlich volle 
zogen werden, ſondern wehrer Ausdruck frommer "Gefiunung find: 
in Tioeg wandelt der Fromme vor Gott (1 Reg. 2, 4; 3, 6, 
2Reg. 20, 3), ober bient er Gott (of. 24, 14. i Sam. 12,24), 
ober ftügt er ſich auf Gott (Jeſ. 10, 20), eder ſchwört er ki 
Gott (Jeſ. 48, 1. Jer. 4, 2), oder ruft er Gott am (Bi. 145, 
18). Bon der Aufrichtigkeit Gottes bei feinem Verfahren gegen 
über feinem Wolle wird das Wort fo gebraucht: Ser. 32, 41, 
vielleicht auch Sach. 8, 8. In faft allen diefen Fällen ift ag 
mit einem parallelen Ausdrucke verbunden, welcher entweder nog 
befonder® amgiebt, daß das betreffende äußere Verhalten in der 
inneren Gefinnung feinen Grund Hat (35 -b77 ober op aba), 
oder aber in anderer Weiſe bie fittliche Rechtbeſchaffenheit des 
Subjektes bei diejem Verhalten hervorhebt (MpIyp oder Dana). — 
Endlich bedeutet gig einigemafe, in analoger Weiſt wie joyy an 
den Stellen Deut. 28, 59. Jeſ. 38, 16. Jer. 15,18, die Rich⸗ 
Higfeit, welche eine Sade infofeen Kat, als ihr äußerer Anfıhein 
oder die Vorfteliung, welde man ſich über fie gebildet Sat, der 
Wirklichleit entſpricht: na yr7 (Gen. 24, 48) bedeutet „richtiger 
Weg”, welder nicht trügeriſch fo erfdeint, als führe er zu dem 
brabfigtigten. Ziele; np xx (2Ehron. 15, 3 vgl. Jer. 10, 10) 
„richtiger Gott“, weicher nicht fätfhlih für Gott gehaften ae 
ald Gott verehrt wird; mo ya (Ger. 2, 21) „richtiger Same. 

Das Wort mymy wird in dieſer Bedeutung nicht gebrandt. 
Un einigen Stellen Liegt es beim erften Anblid nahe, diefe Ber 
deutung anzunejmen (j. B. Ger. 7, 28. Prov. 12, 17 vgl. 
8. 19. 2Chron. 19, 9); aber ‚eine genauere Betrachtung zeigt 
doch, daf hier vielmehr die Bedeutung der im Folgenden zu er ⸗ 
Örternden Kategorie vorliegt. 

II. Sowohl nyy als auch zymy bedeuten an Tehr zahlreichen 
Stellen nit die „Teftigkeit“, welche Ausfagen oder Erſcheinungen 
oder Borfteliuugen dadurch Haben, daß fie eiwas Wirkliches aut 
dructen oder darftellen, fondern eime „Zeftigleit“, welche bei Gand- 
nngen, Kußerungen oder Geflnmmgen durch ein anderdartiget 
richtiges Rorrefpondieren zu etwas Begebenem, Beſtehendem her 
geftellt wird. Je nach der befonderen Art der korrejpondierenden 


Der Gebrauch; der Wörter dAyj9eıa ıc. 617 


beʒichung nehmen die Worte dann die Bedeutung der Gerech⸗ 
tigleit ober der Angemeſſenheit oder der Pflichttreue an. 

So bezeichnen die beiden Worte zuerft die Gerechtigkeit, 
welche gebührend urteilt: und vorgilt. nyx wird.in diefer 
Beeutung am folgenden Steffen. gebraucht. uf, 42, 3 heißt es: 
„(der Knecht Jahves) wird dh das Gericht ausgehen: laſſen“; 
&d, 18, 8 und Sach. 7, 9; 8, 16 iſt von der Ausübung. von 
run die Rede; Prov. 29, 14 vom Könige, welcher da die 
Innen richtet. Entſprechende Belohnung gefjhicht in. 'x (Gef. 
61, 8: „ich gebe ihren. Sogn 3%, d. i. gebührend, wie er ver⸗ 
dent ift; Prod. 11, 18: -naiy); entiprechende Beſtrafung chen 
fal, (Pf. 54, 7: „er [Gott] wird das Böſe meinen Wider⸗ 
fagern vergelten; in deiner '; x vertilge fiel"). Sierher werden 
mir auch die Stelle Pf. 119, 43 ziehen dürfen, wo das max 27, 
um. beffen, Bewahrung der Dichter bittet, nicht, als. „Wahrheits- 
wort", fondern als „gebührendes Wort*: zu faffen fein wird, in⸗ 
dem der Gedanke der Bitte in Beziehung. zu dem vorangehenden 
Berie fteht, wo es Heißt: „ic werde Antivort geben meinem 
Schmäher“. Nicht darauf, daß der Inhalt feines Wortes der 
Birffichkeit entfpricht, fondern darauf, daß derſelbe für -die Schmä« 
dungen des Gegners eine gebührende Entgegnung bildet, kommt es 
m Bittenden · an. — tywdꝛ wird in gleichem Sinne gebraucht 
Bi. 96, 13: „Fahve richtet den Erdkreis in pyy und die Volker 
n feiner 'y#; und ebenfo Pf. 119, 75: „ich weiß, Jahre, daß 
M beine Gerichte find und ® (d& i. gebührend, wie ich e8- vers, 
inte) du mich gedemütigt Haft“ %). 

Wenn an diefen Stellen unfere: beiden Worte mit Beyug- auf 
ie Funktionen des. Richters angewendet: find, fo finden- wir fte 
n einigen- anderen Stellen mit Bezug auf die des Gefeggebers 
raucht. Won den dophrd, ber my, bden- mini, der niyo 
heites Heißt es, fie ſeien mu: Pf. 19, 105.119, 142. 151. 
!h. 9, 18. Im Munde Levis war nya nam: Mal. 2, 6. 
benfo wird np gebraudt Pf: 119, 86: „alle- Gehote Gottes 








3) Bgl. die oben (©. 518) berüdfichtigte Stelle Brov., 27, 6: „Die 
unden, die ber Licbende ſchlagt, find BA“ (d. i. geremt). 


518 Bendt 


find '* (vgl. 8. 138). Der Sim ift Hier chenfo wie am ben 
oben (S. 513) angeführten Stellen, wo ug in analogen Aus 
fagen gebraucht ift, daß die Geſetze infofern Richtigkeit haben, 
als fie den Dingen, Verhältniffen und Perfonen, auf welde fr 
fih beziehen, angemeffen find, fo daß ein gutes Berhalten 
herausfommt, wenn fie in Geltung find. 

Dann fommt für und nun eine große Reihe von Stellen in 
Betracht, wo aus dem Zufammenhange zunächſt das Negative far 
ift, dag mpg und npox die auf Ausſagen und Vorftellungen fih 
begiehende Wahrheit jedenfalls nicht bedeuten. Sehr Häufig er 
ſcheint der eine oder der andere Ausdruck als Objeft oder als 
Prädikat oder mittelft einer Präpofition als adverbielle Näher- 
beftunmung mit igy verbunden, fo daß man hieraus erficht, es 
ſei eine beftimmte Art praftifchen Verhaltens gemeint (mu: 
Gen. 24, 49; 32, 11; 47, 29. Joſ. 2, 14. Ju. 9, 16.19. 
2 Sam. 2, 6. Eyeh. 18, 19. Pf. 111, 7f. Neem. 9, 33. 
2 Ehron. 34, 20. — nymy,: 2 Reg. 12, 16, 22,7. Jeſ. 25,1. 
Pſ. 33, 4. Prov. 12, 22, 2Chron. 19, 9; 34, 12). ferner 
werden die beiden Ausdrücke einerfeits oft in koordinierende Ber- 
bindung geftelit mit anderen Worten, melde bie fittliche Rechthe ⸗ 
ſchaffenheit ganz im allgemeinen bedeuten, mit mpg, yr, DD, 
ago? und anderen (3. B. 1 Sam. 26, 23. Jef. 11, 5; 59, 14 
Sad. 8, 8. Pf. 15, 2; 111, 8; 143, 1. 2 Chron. 31, 20), 
anderfeits in Gegenfag zu dem Gittlih-Böfen im allgemeinen, 
(Deut. 32, 4. Prov. 8, 7. Nehem. 9, 33; vgl. Jeſ. 59, 15. 
Pſ. 51, 4f.). Wir müffen den befonderen Sinn von rg und 
apoy auch in diefen Fällen darin finden, dag fie eine ſolche gute 
Beſchaffenheit oder ein ſolches gutes Verhalten bezeichnen, wie es 
durch ein, richtiges Entfprechen gegenüber Beſtehendem, Gegebenem 
hergeftellt wird, die Pflichtt reue nämlich in den verfchiebenften 
Formen, in welder man den beftchenden verpflictenden Verhält- 
niffen oder Erfahrungen oder Handlungen oder Zufagen gebührend 
entſpricht 1). So find die na Wan „welde (unrechten) Gewinn 

1) Im dem gleichen Sinne wird TON Deut. 32, 20 und DYNOX Ye. 


26, 2. Prov. 18, 17; 20, 6 gebrandt. An der Stelle Prov. 14, 5 aber wirt 
der DINDON IX 018 „Zeuge der Wahrheit” zu überſetzen fein. 








Der Gebrauch der Wörter Andere x. 519 


Haffen* (Er. 18, 21; vgl. Nehem. 7, 2) und der nina wi, 
welcher einem ſolchen gegenübergeftelft ift, der „ſich drängt reich 
zu werden“ (Prov. 28, 20): „pflichttreme Leute“, welche ſich 
von dem ihnen pflichtmäßig obliegenden Handeln dur feine 
Ruckſichten auf ihren äußeren Vorteil abbringen laſſen. Wenn 
Jotham zu den Sichemiten darüber redet, ob fie nyx2 gehandelt 
Haben, indem fie den Wbimelch zum Sönige gemacht Haben 
(Jud. 9, 16.19), fo ift feine Meinung, wie aus dem Zufammen« 
ange der Worte deutlich Hervorgeht, ob fie in biefem Verfahren den 
Verpflichtungen, welche fie gegen Jerubbaal und fein Haus Haben, 
entſprochen Haben und „gemäß dem, was feine Hände ihnen er» 
wiefen haben, ihm gethan haben“ (3. 16). Wenn es mit. Bezug 
auf Beamte, und zwar vorzugsweife auf folhe, denen die Bes 
wahrung oder Verteilung von Geldern obliegt, Heißt, fie hätten 
yroyy fungiert (2 Reg. 12, 16; 22, 7. 2 Chrom. 31, 12. 
15. 18; 34, 12), fo ift der Sinn, man hätte ſich auf die Amts⸗ 
treue diefer Leute bei ihrer Thätigfeit verlaſſen, oder verlaffen können, 
ohne eine andere als diefe moralifhe Garantie zu verlangen. 
In der gleichen Bedeutung werden unfere beiden Worte auf Gott 
bezogen; fie bezeichnen die Eigenſchaft Gottes oder die Art des 
Berhaltens Gottes, in welcher er trew den Verpflichtungen ent« 
ſpricht, welche durch feine Bundfgließung mit dem Volke Israel 
und durch fein Verhältnis zu den einzelnen Frommen bedingt find. 
Deshalb erwartet der Fromme, daß bie myy oder die mpmx 
Gottes oder Bott vermöge derfelben ihn erhöre in den Zeiten der Not 
(Bf. 69, 14; 148, 1), ihn errette und beſchirme (Bf. 31, 6; 
91, 4) und ihn auf feinem Wege leite (Pf. 25, 5; 43, 3). 


1) In den an Gott gerichteten Ausſagen Pf. 86, 11: „ic will wandeln 
FMPF“ und Dan. 9, 13: „ir flehten nicht zu Gott, um uns abzukehren 
von unferen Sünden und um klug zu ſein TMPNI“ find die an MN ange 
hängten Suffira fo zu verſtehen, daß fie Gott nicht ale Gubjett, ſondern ale 
Objekt der geübten Treue bezeichnen: alfo „in Treue gegen di“. Au der 
Stelle Pi. 26, 3: MONI Aabann iſt dagegen durch die vorangehenden 
Worte: „deine Huld if vor meinen Augen“ ber Sinn angezeigt: „in deiner 
(. i. der von dir erwiefenen) Treue ergebe ich mich”, d. h. ich beichäftige mich 
mit ihr in meinen Gebanten. 


So umijeikend zun aber das darch die beiden Worte bezeichnete 
Fülic-gate Berheften ijt, indem chem für cimem jedem die treue 
Erfüllung der jür ihm befichenden beionberen Berpilictumgen bie 
ftlihe Hauptaufgabe bildet, je erhellt dach, dal eine beftimmte 
fein fan, nämfih nicht des olme befichende Verpflichtung oder gar 
irog erfahrener Unbill zunortommende, neu anfnüpjende, 
verföhnlige Verhalten. Das if der Grund, weshalb nor 
uud yızae je ungemein häufig verbunden werden wit 90; dem 
Die derch Dieie beiben Begriffe bezeichneten Berhaltungsweifen er 
gänzen einamber: die Huld, weiche durch ihre freie Kiebeserweijung 
mene Gemeiniceftsverhältnife ftiftet oder in dem beftehenden über 
Gebühr Wehlihaten erweilt oder die fduldvoll umterbradesen Ge- 
meinfhaften guabenvoll wieder aufuimmt, und die Bflidttreme, 
weiche gebüßrend die empfangenen Güter und Wohligaten vergilt, 
bie beftchenden Gemeinjhaftsverhättnife durch entiprehenee Be ⸗ 
thätigung aufredit erhält und aud die freiwillig und gnadenmäßig 
übernemmenes Berpflidtungen gewiſſenhaft erfüllt. Worzugsmeife 
wirb fo als nom on oder (eiwas feltener, nur in Pſalmen 
vosfommend) ymmı 'n der Snbegriff des heilsmäßigen Verhaltens 
Gottes gegenüber feinen Frommen und feinem Volke bezeichnet und 
gepriefen: Gen. 24, 27; 32, 11. Er. 34, 6. 2 Sam. 2, 6; 
15, 20. Mid. 7, 20. ®f. 25, 10; 36, 6; 40, 11f.; 57, 
4 11; 61, 8; 86, 15; 89, 23. 15. 25. 34; 92, 3; 98, 3; 
100, 5; 108, 5; 115, 1; 117,2; 138,2. Aber auch Maschen 
erweifen fid) einander 'ry und ne (Gen. 24, 49; 47, 29, Zei. 
2, 14. ®rov. 16, 6; 20, 28; vgl. Jeſ. 16, 5), und das 
Borhandenfein dieſes Doppelverhaltens im Volke wird als da 
takteriftifches Merkmal eines guten und glücklichen Zuftandes ans 
gegeben (Bf. 85, 11; vgl. Hof. 4, 1). An den Stellen Preu. 
3, 2; 14, 22 ift vom Erfahrung von ’xy '7 die Rede, pne 
deß fpeziell Gott oder fpeziel die Menfchen als bie dieſes Bere 
halten Erweiſenden genannt und gedacht find: die Erfahrung zes 
Outem im allgemeinen ift gemeint. 

Nicht an allen Stellen, wo nyx vorfommt, läßt fih mit Be 
ftimmtheit erfennen, ob die von uns unter II oder III angegebene 


Der Gebrauch der Wörter dAjIea ıc. [718 


Bedeutung verliegt. Wir dürfen wohl annehmen, daß in ſolchen 
Fällen au für dag Bewußtfein der Scheififtelier nicht beftimmt 
nur die eine oder die andere Bedeutung Play gehabt Bat. Wen 
8 Bi. 119, 160 Heißt: „die Summe beines (Gottes) Wortes, 
ift g*; oder Sach. 8, 16: „redet d gegen einander“ ; ober Prob. 
8,7: „y fiunt mein Gaumen und Greuel für meine Lippen ift 
Boſes“, fo find mir einerſeits durch die Beziehung der ’'x auf 
Ausfogem aufgefordert, fie von der Wahrheit im Gegenfage zur 
Lüge zu verftehen; anberfeits ijt ee durch den Bufanmenhang. 
nahegelegt, die Angemeſſenheit, Gerechtigfeit, Treue mithezeichnet 
zu finden, alfa dem Worte auch die Bedeutung zuzumelfen, welche 
wit für yung annehmen, wo dieſes Wort mit Bezug auf Aut 
Tagen gebraucht ift (Ger. 7, 28; 9, 2. PBrav. 12, 17. Pi. 
119, 86. 138). Den gleichen, ſowohl die Wahrheit des Aus⸗ 
fagens als aush die Treue des Handelns umfafjenden Sinn merden, 
wir daun aber aud an anderen Stellen annehmen, wo. von 
may geredet wird, 3. B. Gef. 59, I4f.: „es wankt anf dem 
Blage y, — — und die V ift. verlaſſta“; Sach. 8, 19: „liebet 
bie 'x und den Frieden" ; Prov. 23, 28: „'y kaufe und verkaufe 
nicht, Weispeit und Zucht und Beeftand“. 

Wir können das Mefultat unferer biöherigen Unterſuchung folgen- 
dermaßen zufammenfafien. Das Wort ng hat einen viel umfafien- 
veren Sinn als unfer Wort „Wahrheit“, und zwar wäre es nicht 
tichtig, dieſen umfoffenderen Sina nur als eine fehmbäre Er⸗ 
veiterung des Simes „Wahrheit“, welder den eigentliches und. 
viehtigften Sinn: des Wortes darftallte, zu. betrachten. Sondern 
uf Grund der urſprünglichen finnficgen Bedeutung der durch, 
Stügen hergeſtellen Feſtigke it bezeichnet das Wort in Über 
ragung auf Außerungen oder Handlungen oder Gedanken, ber 
chungsmeiſe anf Perſoner, ſofern fie eben aber Handeln oder 
enten, eing ſolche „Beftigkeit*, d. h. einen felhen gültigen guten. 
Beftanıd, wie ihn biefefben dadurch gewinnen, daß fie fih auf etwas 
Jeſtehendes, Gegebenes in genau entiprechenber Weife beziehen, ſich 
wiffermagen auf dasfelbe ftügend. Unfer Wort „Beftigfeit“ 
‘auchen wir nicht in dieſem übertragenen Sinne; das Wort 
Richtigkeit“ giebt den allgemeinen Sinn des hebräifshen Wortes 


522 Bendt 


vielleicht am beiten, und doch infofern nur ungenügend wieder, ld 
wir fpeziell die Korreſpondenz, in welcher ein pflichttreues Verhalten 
zu den verpflichtenden Verhältniffen und Thatſachen fteht, nit 
ale „Richtigkeit“ zu bezeichnen gewohnt find. Die Wahrheit, 
welche darin befteht, daß Äußerungen in Wort oder That, Cr 
ſcheinungen oder Borftellungen etwas Wirkliches ausdrücken oder 
darftellen und in dieſer Bezugnahme auf Wirkliches ihre intellet⸗ 
tuelle Gültigkeit Haben, bildet die eine Art der durch mye ber 
zeichneten „Richtigkeit“ ; ihr koordiniert find als andere Arten diefer 
Richtigkeit“ die Pflichttreue, Gerechtigleit, Angemeffenheit, welche 
darin beftehen, daß Handlungen oder Ausfagen oder Gedanken 
den in gegebenen Verhältniffen oder Thatſachen liegenden 
Forderungen gebührend entſprechen und in diefem gebührenden Ent 
fpregen ihren moraliſchen, bezw. rechtlichen Wohlbeſtand 
Haben. Mit noy ſtimmt nymy in der allgemeinen Bedeutung 
ganz überein, unterjcheidet fi aber im Gebrauche infofern, als 
zur Bezeichnung dev befonderen Art der Nichtigkeit, welche auf 
intellektuellem Gebiete durch die Übereinftimmung von Äußerungen 
ober Erfceinungen oder BVorftellungen mit der Wirklichleit her 
geftelt wird, nur gg und nit mymy gebraudt wird. 

Die Bebeutung der Worte p)y und mpg iſt mit derjenigen 
unferer beiden Begriffe nahe verwandt und doch auch beftimmt von 
ihr gefchieden. Auch jene beiden Worte bedeuten „NMichtigkeit", 
aber genauer die Richtigkeit, welche auf der Übereinftimmung mit 
einer Norm beruht, alſo die „Megelrichtigleit“ 2). In einer An 
wendung dedt fih nun freilich diefer Sinn ganz mit dem von 
np, ba nämlich, wo pyy in der Weife von Worten gebrandt 
wird, daß die Wirklichkeit als die Norm gedacht iſt, welcher die 
Worte richtig entſprechen; deun Gier bedeutet pıy einfach „Wahr 
heit“, 3. B. Bi. 52: „Du lichſt Luge mehr als zu reden "y“, Prev. 
8, 8 u. 5.9). Nur zweifelnd wird man dagegen die Gleiqhe- 
deutung don mg ober may mit pry oder mpg in Betracht zichen, 


1) Bol. E. Kautzſch, Über die Derivate des Stammes PS im altirkament- 
lichen Sprachgebraud; (Programm; Tübingen 1881), ©. 27 ff. 
2) Bol. Kaupfh a. a. D, ©. 80. 





Dev Gebraud; der Wörter dAjdeıe ıc. 5233 


wo dieſe Begriffe mit Bezug auf richterliche Funktionen ange 
wendet find )Y. Denn bier wird es ſich doch fragen, ob nicht die 
Verſchiedenheit des Sinnes darin befteht, daß jene erfteren Worte 
die Gerechtigkeit bezeichnen, fofern diejelbe in der genauen Korre⸗ 
ſpondenz zwiſchen dem Urteile oder der Bergeltung und bem ber 
urteiften oder vergoltenen Thatbeftande liegt, während die anderen 
beiden Worte die Gerechtigkeit bezeichnen, fofern diefelbe in der 
genauen Kongruenz des Urtelles ober der Vergeltung mit der für 
das Urteilen und Vergelten gültigen Gefegesnorm befteht. Wo es 
fi dann aber um die Anwendung der genannten Begriffe auf 
die ethiſch ⸗ gute Beſchaffenheit oder das ethifch-gute Verhalten, ſei 
es der Menſchen, ſei es Gottes, handelt, geſtaltet ſich die Ver⸗ 
ſchiedenheit der Bedeutung folgendermaßen. Da bedeuten pry ober 
8, daß die Befchaffenheit oder das Verhalten infofern gut find, 
als fie den irgendwie gegebenen, ethiſch gültigen Normen gemäß 
find, welche beftimmen, was für das betreffende ethiſche Subjekt 
gut it, und was nicht gut; mug oder mymy aber bedeuten, daß 
die Beſchaffenheit oder das Verhalten infofern gut find, als es 
zum wefentlichen Inhalte des durch jene ethlich gültigen Normen 
beftimmten Verhaltens gehört, daß eine folche ethifche Wechſel- 
wirkung ftattfinde, in welcher fid neue Leiſtungen in entſprechender 
Weiſe auf früßere Erfahrungen oder auf beftehende verpflichtende 
Berhäftniffe oder Zufagen beziehen. pIy und mp Haben aljo 
eine viel allgemeinere Bedeutung als umnfere beiden Worte; fie 
tönnen auch den ganzen Umtreis besjenigen normgemüßen Gute 
verhaltens umfaffen, welches fich nicht in der Erfüllung der bes 
ftehenden Verpflichtungen, fondern darüber Hinausgehend in der 
Erweifung unverbienter, gnadenvoller Liebe bewegt; diefe Art des 
Gutverhaftens ift, wie oben bemerkt wurde, im Begriffe der 
Dom oder mpg nicht mit eingefchlöffen. 


Die Septuaginta haben das Niphal joxy ſowohl wo «8 
„wahr fein“, als aud wo es „treu, gerecht, angemefien fein” 





1) Bgl. Kautzſch a. a. D., ©. 80f. 38. 42. 


524 Bendt 


bebeutet, durchgehende duch zugrescdas (mur Ser. 15,. 18: 
nlarıv Eye) ober, wo €6 im Particip gebraudit- ift, durch 
nuosds (Prev, 27, 6: afsörsarag) wiedergegeben. 

In der Stelle GE 17, 12, wo das Wort my im ber 
urfprünglices Bebeutung der geitäßten Weftigleit von den Händen 
Moſes gebrandt ift, haben die Septuaginta überfett: dysrarzo 
ab yaiges demgıyndvar,. 

Souſt: Haben fie. tiefes Wort in doppelter Weife wiedergegeben. 
Saft bei der Hälfte der Stellen überfogen fie es durch minus 
@. 8. 1Sem. 26, 28. Ier. 5, 1.8; 7, 28; 9, 3); und 
Hieran fliehen ſich die Stellen Deut. 32, 4, wo fie es durch 
raasdg, und Prov. 28, 20, wo fie es durch afsozosog wieder 
geben. Bei der anderen Hälfte der Stellen. bagegen überfegen fie 
es durch aAjIsıa. Hierher gehören einerfeits mit Ausnagme 
von Bj. 33 (82), 4, wo. fie zuiossg brauchen, und von Bi. 
37 (36), 3, wo fie den Sinn des Urtertes ganz. verlaffen., alle 
Pſalmſtellen, und darunter alle Stellen, wo ‘x ie Verbindung mit 
or vorfommt; anderſeits, mit Auenahme von Jeſ. 38, 6, me 
wieder eine ganz freie Überfegung.gegeben ift, die Sefajaftellen (11, 5: 
alıfIsa; 25, 1 und 59, A: dAmdıyac; 26, 2: mm == alı- 
Isa); außerdem nur noch. 2Ehran: 19, 9. 

Dog Wert nog geben die Geptuaginte in: den weitaus meiften 
Fällen durch - Adern wieder, und zwar ebenſowohl ba, wo 
«6, „Wahrheit“, als da, wo es „Pflichtreue* bedeutet. Die Ber 
bindung nen, any überfegen fie faft. durchgehends mit ZAsos zei 
adjdsa, und die Medensart ng migy mit dAfdssay morsir 
(Gen. 32, 10; 47, 29. 9ef. 2, 14. 2Sam. 2, 6. Reh. 9, 33; 
vgl. Jeſ. 26, 10). Da, wo ſie das Wort abjeftivifd wieder · 
geben, brauchen fie vorzugsweife EAntinds, und. zwar in ber Be 
deutung „wahr“ (2 Sam. 7,.28. 1Reg. 10, 6; 17, 24. Je. 
2, 21. ®rov. 12, 19. Dan. 10, 1. 2Chron. 9, 5; 15, 3), 
wie in der Bedeutung „treu“ (Ez. 34, 6. Pf. 86 [85], 15); 
feltener EAnIıfs, bezw. aAyIäc (Deut. 13, 14; 17, 4. Prov. 
22, 21. Dan. 8, 26).. Nur an verhältnismäßig ſehr wenigen 
Stellen überfegen fie nz anders, nämlich teile durch decasoauen 
oder abjektivifch durch dinnsos, teils durch zuiassg, beziehungswriie 





Der Gebraud; der Wörter dAndae ıc. 55 


durch muoeög. mpg, ofby wird Jeſ. 39, 8 wiederhegeben durch 
deyjyn zul dexuroeden, dagegen Jer. 33, 6 durch sigrjen ul 
acoric; tbenfo Ay u Ger. 42, 5 durd) nagrus dixaioy, aber 
Prob. 14, 25 durch uagrus mierdc; ferner my on Gen. 
24, 49 darq Neoc xal Uskarooven, dagegen Prov. 3, 23 16, 6 
duch elemuooivar al nmiareis. Außer on dieſen Stellen 
wird dixamedn oder Hxaros noch an folgenden yebrandt: Er. 
18, 21. Bf. 9, 14. Jeſ. 38, 19 (in B. 18 wird dutch 
Impoodem überfegt); &. 18, 8. Zah. 7, 9. Dan. 8, 12; 
dgl. Jeſ. 61, 8; mmlarıs dagegen nur noch er. 28, 9; 32, 41. 

Die Adverbin mpg und oppx pflegen entweder duch AlnIais 
@. 9. Gen. 18, 18; 20, 12) oder dAndele (ARE. 19, 17) 
oter En’ dindelas (5. B. Ye. 37, 18. Hiob 9, 2; 19, 4) 
ausgedrückt zu fein. 

Dfters werden aber aud von ben Geptuaginta die Worte 
Adjdere, dlydfs, Almdıvös zur Wiedergabe ünderer, als der 
bisher beriffichtigten Hebräifihen Ausdtucke verwendet. Zum Teil 
gefchiehtt es da, wo der Bepriff. des Waren bezeichnet werden foll. 
So Gen. 41, 32: „io} wird das Wort fein“; LXX: ZAndac 
Zoras co gina. Jeſ. 41, 26: „So wollen wir fügen pas 
(d. h. er tft mit feiner Behauptung im Rechte) )*“3 LXX: za) 
dgoäsv, des dündi duolv. Mi. 45, 19: „IH Sin Jahve, 
welcher oa verkünbigt“; LXX: wverysilor dlıjdeser. 
Hiob 17, 10: „Ich werde munter uch nicht einen v5n finden“; 
LKX: ou page söplonun wo dar Windes. Hiob 42, 7 u. 8: 
gIhr Habt nick mytoy geſprochen⸗; LXXI ovx Wdairjowes UAndsc. 
Deut. 25, 16: „Du ſollſt Haben pry) molug gay umd ' V mRIR“; 
LXX: oredInov alndwör nal Hinosov, uirgov alndwdv 
x. & (d. h. Gewichte und Maße, welche vimmfets wirklich fo 
ſchwer oder groß find, mie fie ünkerlich erſcheinen odet man von 
ihnen behauptet, und anberfeite ſo ſchwer dder geoß, wie es für 
fie normal if). Vol. auch die Überfegung des Chalduiſchen Sy 
Dan. 2, 45: 'dimdwor co vdemor, 6, 12: dindıvos 6 
Adyos. Ebenſo werben aber dieſe griechifähen Worte in Futlen 





2) Bl. Raupich a. 0. ©, ©. 18. 


526 Bendt 


verwendet, wo der Begriff des fittlich Rechten bezeichnet werben 
fol. Prev. 28, 6: „Ein Armer, welcher tanz wandelt"; LXX: 
news nogevönevos dv Alrdelg. Hiob 2,3: BEE 20T 
LXX: äydgumog dxaxog alndwos. Ebenfo: wı — dir 
Ywds: Hiob 4, 7; 8, 6; 17, 8; vgl. 6, 25; 23, 7. Ferner 
Hiob 27, 17: „In das Silber teilt fi py“; LXX: re ger 
para dindwol xaddkovow. 5, 12: „Ihre Hände ſchaffen 
nicht man“; LXX: od an) momjaovoov....dAmd6s. (8 fheint 
mir beachtenswert, daß an dieſen legtgenannten Stellen der Sim 
von aAnIsa, dAnIvög, dAndEs offenbar nicht eingefchränkt ift 
auf die befondere Art des fittlih rechten Verhaltens, welde durd 
ng und mx bezeichnet ift, fondern dag die Worte hier gleich⸗ 
bedeutend mit dixasoouyn und dixasos gebraucht find. Bei den 
hebräifcgen Worten war jene Einfchränkung des Sinnes durch das 
fortwirkende Bewußtſein von ihrer finnlihen Grundbedeutung un« 
mittelbar gegeben. Hatte man aber die Bedeutung jener griechi⸗ 
ſchen Worte einmal fo erweitert, daß fie neben der Wahrheit auch 
eine Richtigkeit rein fittliher Art bezeichnen Tonnten, fo hatte man 
bei ihnen Seinen ſolchen Anlaß, nur an eine fittliche Richtigkeit ber 
fonderer Art zu benfen. 

In der gleichen Weife, wie in der Überfegung aus dem hebräl- 
ſchen Kanon, finden wir die Worte dAjIesa 2c. auch im Bude 
Tobit, beim Siraciden und in der Weisheit Salomonis gebraudt. 
Als charalteriſtiſche Beiſpiele feien folgende Stellen angeführt. 
Wenn es Tob. 3, 2 heißt: dlnmsos el, ugs, zal ... mac 
as ödol cov dlemuoovvas xal dien, zal xglaıv dindıiv 
xai dıxalav av xglvsrs, fo müffen wir hier aAndeı= von der 
Treue des fittlichen Verhaltens verftehen, in welcher Gott den Ber 
pflichtungen, die er eingegangen ift, gebührend entſpricht, EAnFewds 
aber von ber Gerechtigkeit des richterlihen Verhaltens, in welder 
er die Thatſachen, über welche er richtet, gebührend beurteilt wud 
vergilt. Wenn dann in B. 5, nachdem nod einmal die zgfosx 
almdıval Gottes hervorgehoben find, im Gegenfage zu Diefem ger 
büßrenden Verfahren Gottes gefagt wird: oux dmomjaaper zus 
dvrokdis aov' od yag dmogsddnusv con, 
fo werden wir auch hier unter der dAnIeı= nicht die Aufrichtig 





Der Gebrauch ber Wörter dArdeir 2c. 527 


feit im Gegenfage zur Heuchelei, fondern! die den Verpflichtungen 
entſprechende Treue verftehen müffen. Den gleichen Sinn hat 
alfdeıan aud an den Stellen 1,* 2f.: ödois aAndelag dmo- 
gevöunv xal dixasoadıng ... xal dAemuoodvag moAldg dmolnge 
und 4, dff.: um mogevdis Tai Odois zus adızlas, dis 
nooÖvrös cov znv aljdsav, sodie Zaovras Ev roig Egyois 
00v,... dx z@v Önagyövsuv cos oleı dAenuoavvnv, wo beide 
Male die Danebenftellung der &Asyuoouvn es deutlich macht, daß 
unter &indsın das pflichttreue Verhalten gemeint ift. Wie an 
der Tetgenannten Stelle kommt die Wendung dAjgauv rroieiv 
„pflichttreues Verhalten üben“, auch 13, 6 vor. In den Worten 
14, 7 dagegen: ol dyanavıss xugiov Tov Heov &v dimdelg 
ai dıxaadyn werden wir bie dAdeı= nach Analogie von nyx 
an den Stellen 1Meg. 2,4; 3,6 u. f. w. (vgl. oben S. 515f.) 
als Aufrichtigkeit verftehen. — In der Weisheit Jeſus Sirachs 
heißt es 7, 20: „Mißhandle einen Sklaven nicht, welcher dv @ln- 
Felge (d. i. in Treue) arbeitet.“ Diefelbe Bedentung hat dAn- 
sem 27, 9: „Vögel ruhen aus bei ihres Gleichen und EAyIea 
wird wieder zurückkehren zu denen, welche fie üben; ein Löwe ſtellt 
dem Wilde nach, ebenfo die Sünden denen, welche Unrechtes üben“, 
während wir in den Ausfagen 4, 25: „Widerfprich nicht der @Arj- 
ser und ſchäme did deines Ungebildetſeins“, und V. 28: „Bis 
wm Tode kümpfe für die Ana, fo wird Gott der Herr für 
ich ftreiten“, die Anden wohl als die für die Erfenntmis güftige 
Wahrheit auffafjen müfjen. — Aus der Weisheit Salomonis ift 
mer der an Er. 34, 6 erinnernden Stelle 15, 1: Du, unfer 
Yott, bift zenorös zul arnIns (d. i. rechtichaffen und treu), lang⸗ 
zütig und. in Barmherzigkeit über alles waltend*, auch die Stelle 
, 9 zu eripähnen, wo es heißt: „Die auf Gott Trauenden ausr- 
ovow ührdear, und die Treuen werden in Liebe in feiner 
Jemeinfchaft bleiben“ ; denn hier hat die erſte Satzhälfte gewiß 
icht den Sinn, daß die Frommen richtige Erkenntniffe erlangen 
‚erden, fondern daß fie bei ihrem treuen Feſthalten an Gott wie- 
‚rum das treue Berhalten Gottes gegen fie merken werden. 

Uns liegt alfo bei den Septuaginta ein Gebrauch der Worte 
FI, am9rs und AAnIwös vor, für deilen Verftändnis uns 








Der Gebrauch der Wörter dArdeıe x. 529 


ide mit dem Verbum verbunden, weldes das Ausſagen ober 

kennen bezeichnet (dm’ aAndelag einag, örı xur.: Mark. 12, 32; 

ülmdelas Myo: Lut. 4, 25; Zn’ ühmdelas xarolauparouoı: 

4. 10, 34; dAm9ös Ayo: Wut. 9, 27; 12, 44; 21, 3; 
nos olda: Apg. 12, 11; Anus Eyvwoar: Joh. 7, 26; 
‚ 8), teil8 werden fte mit der Bezeichnung der Thatfache felbft, 
cn Behauptung richtig ift, verbunden (3. B. Zu’ arndelas xal 
105 wer’ aörod Av: Ruf. 22, 59; dAndüs Ieov viöc el: 
'attf. 14, 33; vgl. 26, 73; 27, 54. Mart. 14, 70; 15, 89. 
ch. 1,48; 4, 42; 6, 14; 7, 40; 8, 31. 1Xheff. 2, 13; 
305.2, 5). Zu diefer letzteren Kategorie gehört auch bie Stelle 
%. 4, 27: ovviydnoar yüg du’ ühy$elas tv v5 nöleı varım 
4, nur mit der Befonderheit, daß hier als die Ausfage, deren 
tige Übereinftimmung mit der Wirklichkeit durch ir’ dA7Ieag 
rvorgehoben werben foll, nicht biefe gegenwärtig bie Thatſache 
sprechenden Worte gedacht find, ſondern das vorher in V. 25f. 
geführte Pſalmwort, weldes prophetiſch die Thatſache verfün« 
:gt hatte, 

Dann wenden wir uns zunächſt zu den paulinifchen Brie- 
a), wo bei einer erften Reihe von Stellen Anden „Wahr- 
eit“ bedeutet, d. 5. die Richtigkeit, welche Hußerungen oder Er» 
antuiffe infofeen haben, als fie etwas MWirkliches zum Ausbrude 
”r zur Vorftellung bringen. Doc ift Hier wiederum eine Ver⸗ 
hiedenheit des Gebrauches zu bemerken. Nur an wenigen Stellen 
rd das Wort fo gebraucht, daß «6 bie Wahrheit rein als eine 
tt und Beſchaffenheit des Ausſagens oder Erkennens bes 
Idnet, indem «8 mit einer Präpofition als abverbiale Näher- 
fimmung zu dem Verbum des Ausfagens oder Erkennens Binzu- 
it, nämlich 2Kor. 7, 14: ds ndrsa dv Anden Aarroapıer 
wir; Kol. 1, 6: dmtyvwre zrv xapw Tod Heu dv Almdelg; 


1) Die Stellen des Epheferbriefes, ben ich nicht für authentiſch pauliniſch 
ıfte, diche ich doch Hier glei; mit in Betracht, weil fich der Gebrauch des 
dortes AAnIsıe in diefem Briefe ganz dem Gebraude der pauliniſchen 
'riefe auſchlietzt. Die Stellen der Paſtoralbriefe bagegen werde ich nachher 
!londers berückfichtigen. 

Tel Stad. Iahız. 1885. 35 


Bendt 


bie Bebentung der hebrätchen Worte nyxe und mx den Schluffel 
sieten muß. Ein Wort, welches den Sim diefer hebrätfchen Worte 
ganz gencu wiedergabe, fehlt ber griedhifchen Sprache ebenfo mie 
der deutſchen; verhältwisnäßig am pafjenditen wurde das Wort 
nilorıs fein, weil basfelbe ſowohl die Treue des ber Böirktichleit 
‚entfprechenden Auoſagens und Borftellens, als auch die Treme des 
pflichtgemaßen Verhaltens bedeuten fan. Und fo haben aud bie 
Sepinaginia das Niphel des Verbums Joy in nfl den detjchie ⸗ 
denen Bedeutungen, welche denen von ring und mx analog ſind, 
durch Worte, die vom Stamme zıor- gebildet find, wiedergegeben. 
Aber auffallenderweife haben fie das Wort yoy nur am ber 
Häffte der Stellen, das Wort ng num in ganz wenigen Fällen 
darch nlorız bezw. aioroc Überjegt. An den übrigen Stellen haben 
fie füft durchweg die Worte dAnden, AnIng ud almdrdg an- 
gewendet, deren eigentlicher Sinn doch nur ber Bedentung entfpriät, 
welche das Wort rip in einer beftimmten Auwendaug hat, deren 
Sim von ihnen mum aber fo erweitert worden iſt, daß er and 
die Bedeutungen, weiche nypx in den anderen Arten feiner Auwen - 
bung und damit übereinftinmmend mx Hat, umfaßt. 


. 


Wern wir unter dieſen Vorandfegungen an das Neue Te- 
ftament hinantreten, fo kann es us bei der fiarten Beeinfin- 
fung durch die Septuaginta, weldhe die Sprache des Neuen Teile 
mentes fonft zeigt, wicht befremden, wenn wir auch bie Worte 
enden, amd und ahmdwög hier zum Teil in einem Sinue 
verwendet finden, für deffen Eigentinnkikeit wir in der Bedeutang 
der Worte gg und ymy bie Erfläruug ſuchen müſſen. Es gitt 
für uns jegt, diefen hebraifterenden Gebrauch jener Worte im 
neuen Teftamente genau feftzuftellen. 

Vorwegnehmen lönnen wir zuerft die vielen, faft anefclich- 
lich den gefchichtlihen Büchern angehörigen Stellen, wo bie And 
dructe Zu’ areas Über King einfah in demjelben Sinne 
gebraucht find, wie im Hebräifchen mpg ober nyne, mm bei Aut- 
fagen ober Erkennmiſſen hervorzuheben, daß ihr Ingakt amit der 
Wirklichteit übereinftimmt. Teils werden biefe abdverbiellen U 





Der Gebraud; der Wörter dArdeım ıc. 529 


drüde mit dem Verbum verbunden, welches das Ausſagen oder 
Etlennen bezeichnet (dr? AmIelas einag, örı xri.: Marl. 12, 82; 
3 amdelas Ayo: Lut. 4, 25; Zn’ MAmIelas xaralaußaronar: 
Ag. 10, 34; aAm9as Alywı ul. 9, 27; 12, 44; 21, 3; 
amdos olda: Apg. 12, 11; Anus Zyrwoav: Joh. 7, 26; 
17, 8), teils werben fie mit der Bezeichnung der Thatſache felbft, 
deren Behauptung richtig iſt, verbunden (z. B. Zu’ arndelns xal 
oirog ner’ abrod wi Lut. 22, 59; Amdüs Fu vig el: 
Matt. 14, 33; vgl. 26, 73; 27, 54. Mark. 14, 70; 15, 39, 
Ih. 1, 48; 4, 42; 6, 14; 7, 40; 8, 31. 1Xheff. 2, 13; 
195.2, 5). Zu diefer legteren Kategorie gehört auch die Stelle 
Apg. 4, 27: ouvixImoov yüp in’ ülmdelag iv I nöleı rarım 
ch, nur mit der Befonderheit, daß hier als die Ausfage, deren 
richtige Übereinftimmung mit der Wirklichkeit durch Zr’ dindelag 
hervorgehoben werben foll, nicht biefe gegenwärtig die Thatſache 
ausſprechenden Worte gedacht find, fondern das vorher in B. 25f. 
angeführte Pfalmwort, weldes prophetifh die Thatſache verfün- 
digt Hatte, 

Dann wenden wir uns zunächft zu den paulinifchen Bries 
fen), wo bei einer erften Reihe von Stellen Anden „Wahr- 
heit“ bedeutet, d. h. die Nichtigkeit, welche Äußerungen oder Er- 
fenntniffe infofern haben, als fie etwas Wirkliches zum Ausdrude 
oder zur Borftellung bringen. Doc ift hier wiederum eine Ver⸗ 
ſchiedenheit des Gebrauches zu bemerken. Nur an wenigen Stellen 
wird das Wort fo gebraudt, daß es die Wahrheit rein als eine 
Art und Befhaffenheit des Ausſagens oder Erkennens bes 
zelchnet, indem es mit einer Präpofition als adberbiale Näher- 
velimmung zu dem Verbum bes Aue agens oder Erkennens hinzu⸗ 

tritt, nämlich 2Mor. 7, 14: ds märz ir äimdelg Makiioaper 
div; Kol. 1, 6: Zntyvare ı77 xügıv Tod Heu dv Amdeg; 





4) Die Stellen des Epheferbriefes, den id; nicht für authentiſch pauliniſch 
alte, ziehe ich doc) Hier gleich mit in Betracht, weil fi der Gebraud des 
Bores dAn9sıe in diefem Briefe ganz dem Gebraude der pauliniſchen 
driefe auſchließt. Die Stellen der Paftoralbriefe dagegen werde ich nachher 
fonders berücfiätigen. 

TesL Etub. Safe. 1888. 3 


380 Bendt 


Vhil. 1, 18: mars) re0np, eire mpopdseı eire AArIelg, Kooros 
zarayyirsrcı!). Als Eigenſchaft ber ausfagenden Perfon, die 
in der Bedeutung „Wotrhaftiglelt“, erſcheint AArdem 2 Kor. 
11, 10: Zorw AI Xguorob dv Zuöl, örı xrA.?) — Beikr 
aber wird das Wort fo gebraucht, daß es einen folden Gedanken⸗ 
inhalt bezeichnet, in welchem die Wirklichkeit zur richtigen Dar 
ſtellung gelangt: Wir gebrauchen unfer Wort „Wahrheit“ in der⸗ 
felben Weile, werden aber ben Sinn des geischifchen Wortes nad 
präcifer wiebergeben, wenn wir in dieſen Fällen überfegen: „Wake 
res, Richtiges“ ober: „Was wahr, richtig ift.“ Im Übergonge 
zu diefer Bedeutung fteht das Wort, wo es präbifativiich ven Ant 
fagen gebraucht wird (2 Kor. 7, 14: 7 wies Auar ... älr- 
Ian yerndn; Eph. 4, 21: eye... & airo Ldıdüzdnre, udag 
lorw dran dv 1ü Inoov). Beftimmter aber tritt biefe Se⸗ 
deutung hervor, wo das Wort als Objekt bei Berhen de Ant 
fagens gebraucht ift (MnIear Alyw: Röm. 9, 1; And Ipd: 
IRor. 12, 6; Anleire äl7Iaarı Eph. 4, 25), ober als Gene- 
tivus objeeti bei Subftantiven, welche ein Ausſagen begegnen 
(ARor. 4, 2: 77 Yarsguası vis Adelas „durch Qundthuung des 
Wahren“; 6, 7: dv Ayo dindelus „in Berkündigung won Weh⸗ 
rem“; Kol. 1, 5 unb Ep. 1, 18: 6 Aöyog zfs Andelas; ferner 
Röın.2,20: Yyovra iv nöppwar Trs yrinasıg zal wis AArdelus ir 
70 vönip „ber du den Mussbrud der Erkenntnis umb deſſen, mes 
wahr ift, im Geſetze haft“). Hieran reifen ſich folgende Stel: 
Gai. 2, 5.14 und Kol. 1, 5 bedeutet 1 dAgIea ad erayyekion: 
„der wahre (d. i. richtig die Art und die Bedingungen des He 
verhäftmifies der Menſchen zu Bott bezeichnende) Erfeustnisingelt, 


3) An ber Teßtgenonnten Stelle Hat dArgew« im Gegenſatze zu medgens 
den Cm der Aufrichtigfeit, weil Hier als das Wicfliche, welches bei bem ur 
ayy&isosoı dv dAndeig zum Ausdrud gebracht wird, bie innere Gefimmung 
dee Berfündigenden gebadht ift, welche ſich wirklich auf das Berfünbigen [3.23 
richtet, währen bei dem zurayy£Alsodes dv mgopdesı die Gefinmung Dt 
Berkündigenden fich eigentlich auf etwas auberes richtet, das Berfündigen Chriti 
aber als Mittel braucht, um diefe anderen Ziele zu erreichen. 

2) Bol. das Abjectivum 2 Kor. 6, 8: dis aAivror xal Aindeis „mt 
Irrende und Wahre (d. h. richtig Erkenneude und Redende)“. 





Der Gebrauch der Wörter dAnseıe 2c. 531 


welchen das Evangelium un verleiht.“ Gal. 5, 7 Heißt es: 
„Wer hat euch gehemmt, aAn9ela !), d. 5. Wahrem (einer Ver⸗ 
kündigung, welche end; richtig belehrte), zu gehorden?“ Ferner 
Röm. 1, 18: &rIgune räy zrv ülndeıny dv Ada xursgörrem, 
d. 5. „ber Menfhen, welche das Richtige (mämlich ihre richtige 
Erkenntnis von Gott) in- Ungerechtigkeit unterbräden“, und ganz 
analog in V. 25; ofswes nernAlufav ziv alter Tod Heov 
» ro yeider, d. h. „welche die richtige Erkenntnis von Gott 
(richt, wie gewöhnlich erklärt wird: „das wahre Wefen Gottes“) 
in ihrer Lüge verwandelt haben“. Endlich wird an der Stelle 
Eph. 4, 22ff. dem alten Menſchen, „welcher verderbt wird gemäß 
den Zmutuulen zig inaeng", d. i. gemäß den fündigen Begierden, 
welche den verfinfterten, irrenden Gedanken des borchriſtlichen Zur 
ftandes entjpringen (vgl. ©. 17f.), gegenüberftelit der neue Menſch 
„welcher gottgemäß geſchaffen worden ift 2» dusauaurn xal dmörnzı 
zn nIelos“, d. h. in der Rechtbeſchaffenheit und Heiligkeit, 
welche aus der richtigen Verkündigung und Erfenntniß (über Bott) 
entfpringen (vgl. V. 21). 

Andere pauliniſche Stellen erinnern uns beftimmter an den 
oben betrachteten hebräifchen Sprachgebrauch. Zuerft eine Stelle, 
wo &ijdsa entſprechend ber Bedeutung, welde wir fit 
Ay und my einige Male fanden (dgl. oben ©. 517), bie 
rigterlihe Gerechtigkeit bezeichnet. Aöm. 2, 2 Heißt es: 
„wir wiffen, daß das Gericht Gottes xarı dAjdeev über die 
ſolches Thuenden ergeht“. Mir fieint, dag wir Hier den Ger 
danken des Apoſtels nicht vollftändig wiedergeben, wenn wir xasd 
armFerav überfegen: „wahrheitsgemäß“, fondern daß wir übers 
jegen müffen: „nad Gerechtigkeit, gebührend“, fo daß der Sinn 
nieht, wie bei der anderen Auffaffung, nur ift, beim Gerichte werde 
daB Verhalten der Menfchen durch Gott richtig erfannt unb 
berüdfiätigt, fondern vielmehr noch beftimmter, e8 werde eine 


3) AAndelg iſt mit Tiſchendorf mad; NAB ohne Artikel zu leſen. Durch 
»a® Fehlen desſelben iſt ausgebrüdt, daf; basjenige, was bei der beſtimmten 
vahren Verkündigung, welcher die Galater nicht gehorcht Haben, ihren Gehorſam 
‚äste reizen und finden follen, die Wahrkeitsgualität im allgemeinen mar. 
36* 


682 Wendt 


feinem Schuldwerte entſprechende richterlihe Vergeltung er- 
fahren, wie dies nachher in B. 6ff. vom Apoftel noch befonders 
ausgeführt wird. "AA Isa bedeutet Hier doch eine etwas andere 
Art der Übereinftimmung mit der Wirklichkeit, als welche wir 
duch „Wahrheit“ zu bezeichnen pflegen. 

An zwei anderen Stellen des Römerbriefes ift von ber 
airgeıa Gottes die Rede, wo wir durch den Zufammenhang 
unmittelbar darauf geführt werben, fie von der Treue Gottes 
zu verftehen, in der er dem Heilsverhältniffe, zu welchem er ſich 
dem Volke Israel gegenüber durch feine Verheißungen verpflichtet 
Hat, pflichtgemäß entfpriht. Am Anfange von Röm. 3 weit 
Paulus zuerft die Trage, ob nicht die amıozia der einzelnen 
Sgsraeliten die relorıg Gottes aufheben werde (®. 3), zuruck durch 
die Behauptung der diefer Befürchtung entgegengefeßten Thatſache, 
daß vielmehr Gott aAndns und jeber Menſch weuaras. werden 
müffe, indem er diefe Behauptung dur das altteftamentliche 
Schriftwort begründet, daß Gott in feinen Worten ein dıxason- 
09a: erfahren, d. 5. als dixwsog anerkannt werden müfe (B. 4). 
Hieran fhliegt dann Paulus die Frage, ob nicht, wenn fo die 
Uizmoodyn Gottes gerade durch die Adızla der Israeliten zur 
Darftellung gebracht werde, das Strafgericht Gottes über die 
adırda ungereht, unbillig fein würde (V. 5), und biefe Frage 
wieberholt er in V. 7 noch einmal, indem er nur ihren Wortlaut 
verändert: „denn wenn die dAndeın Gottes auf Grund meines 
yevona@ Übergroß geworden ift zu feiner Ehre, was werde ih 
dann noch als Sünder gerichtet?“ Es iſt einfeuchend, daß in 
biefem Zuſammenhange die Begriffe ziorıs und ümorin, ar Io 
und wedoua, dixumorrn und adırla von Paulus ganz gleichbe⸗ 
deutend gebraudt find. Er läßt zuerft für zlorıg und amıorla 
den Gegenfag dns und wedorns eintreten, und kann feine Ber 
Hanptung, daß Gott trog aller Untreue der Menſchen immer 
5975 bleiben müffe, deshalb durch das vom dıxmmucdn: Gottes 
redende Schriftwwort begründen, weil nad feinem Bewußtjein 
Slxorog dasfelbe bedeutet, was er vorher unter &An975 verftanden 
hatte; der Ausdrud des Schriftwortes veranlagt ihn dann bei der 
Aufftellung der neuen Frage, zunädft das Wort duxuoadyn zu 





Der Gebrauch der Wörter dArdeım ac. 688 


brauchen und aderla dazu in Gegenfag zu ftellen; daß es ihm 
dabei aber doch noch um den Gegenfaß derfelben Verhaltungsweiſen 
zu thun ift, von denen er vorher geſprochen Hatte, beweiſt er da- 
durch, daß er ſich bei der Wiederholung der Frage in V. 7 au 
im Wortlaute wieder zurückwendet zu der Gegenüberftellung ber 
in ®. 4 gebrauchten Begriffe. Man beachte übrigens, wie Bier 
im Abhängigkeit von der Bedeutung der Begriffe dry und 
arrIeıu auch die entgegengefeßten Begriffe wedorns und werouu 
offenbar einen im Vergleich zu ihrer fonftigen griechiſchen Bes 
deutung erweiterten Sinn erlangen; denn ficher meint Paulus in 
2. 4 u. 7 nicht nur die Lügenhaftigkeit der Menfchen, in welcher 
fie die erfannte Wirklichkeit nicht recht zum Ausdruck bringen oder 
fi) der ihnen dargebotenen wahren Erkenntnis und Kundgebung 
verfchließen, fondern im Gegenfage zu der Treue Gottes die Un« 
treue der Menfchen, in welcher fie gewiſſenlos ihre Verpflichtungen 
Gott gegenüber verlegen. — Die zweite Stelle ift Nöm. 15, 8f., 
wo es heißt: „ich meine, daß Ehriftus Diener der Befchneidung 
geworben ift öndo aAndelas Heov, damit er die Verheißungen ber 
Väter befeftige, die Heiden aber reg 2Aovs Bott priefen.” Hier 
find Ar eu und Neoc die Übertragung von npx oder mon 
und pr; die letztere Verhaltungsweife Gottes, feine die Sünde 
bergebende und ein Heilsverhäftnis neu begründende Barmherzig⸗ 
teit bewährt fic gegenüber den Heiden; feine Treue aber, in welcher 
er das beftehende Heilsverhältnis aufrecht erhäft und die in dem⸗ 
felben gegebenen und ihn felbjt verpflichtenden Verheißungen durch 
entfprechende Erfüllung befeftigt, bewährt ſich gegenüber dem Volke 
der Beſchneidung. . 

An einigen anderen Stellen finden wir dAnIeı in direkten 
Gegenſatz geftellt zu zovrela und adırla, und fünnen Hier an 
nehmen, daß Paulus mit dem Worte die Richtigkeit des 
ethifhen Verhaltens, zu welcher die Wahrhaftigkeit in Wort 
und That nur als eine Seite gehört, Hat bezeichnen wollen, und 
zwar ohne daß von ihm dabei noch die Verfchiedenheit des Sinnes, 
durch welche im Hebrätfchen npx und mmy von pyy und mpyy 
getrennt find, beobachtet iſt. 1 Kor. 5, 8 heißt es: Eopralwuer 
pr... dr Cum xaxlas xol movmolas, GAR dv Albuoıs efdıngiveiag 


581 Wendt 


nal dlndelas, — 13, 6: od zalgeı Ani ci ddnla, auyyalge di 
ij Almdela, — Rom. 2, 8: vol... anıhodaer dv v7 Ahle, 
mutoubvors d2 ı7 Adızla. Wenn Paulus ferner 2 Theſſ. 2, 10f. 
mit Bezug auf die mugovola dB Avonos, deB Örspwnog Ti; 
Gyagsius ſchreibt, fie werde geſchehen dv maoy Amdrm adılas rg 
Gnoikvulvos, dvd’ dv viv Gyanıy vg Ahm9elas ol lkarıo 
ds To awdiva aureös" xol dis Toro meuns amrois 6 Ik 
dripyea mlarıg, els To mioreugo: abroüg To yedder, Tra zudinw 
ämavreg ol um muosebaurreg v7 ülmdela daR” eudoxjoarz 
z5 üdedg, fo beachte man, dag auch hier die Anden nid 
etwa im Gegenſatz zur dmaen ober zAcen fteht, fo daß mir fe 
deshalb als Wahrheit der Erkeantnis oder Verkündigung auffaſſen 
müßten, fondern im Gegenfage zu der adırla, melde den Inhalt 
und die Art der Irreleitung ausmacht. Der Sim ift, daß jene 
Berfonifitation der Unfittlichkeit, als welche” der Antieift gesadt 
ift, die Ungläubigen zur Unfittlickeit verführen wird und daß in 
biefer Verführung und dem darauf folgenden göttlichen Gerichte die 
Strafe dafür Liegen wird, daß fie dem, was ethiſch richtig it, 
nämlich dem criftlihen Evangellum, welches fie über das richtige 
eihifch-religiöfe Verhalten belehren und zu demſelben antreiben und 
befähigen wollte, feine Liebe und kein Vertrauen gewidmet haben. 
Unter der Area iſt alfo freilich das chriſtliche Evangelium ver 
ftanden, aber dasfelbe nicht im allgemeinen, fonbern fpeziell in ber 
Beziehung, daß e8 jene ethiſche Art und Abzwedung hat. Wir mäfen 
dann aber aud im dem folgenden B. 12, wo Paulus feine Dante 
barkeit daritber ausſpricht, daß Gott die Theflalonicher, im Gran 
fage zu den eben charafterifierten &roAvuuevor, erwählt Habe zum Heile 
Wr öyıwoup nreinerog xal mloreı dhmdelus, diefe letzten Borte 
von dem Vertrauen auf das ethiſch Richtige verfichen; nicht ber 
chriſtliche Glaube im allgemeinen, fondern fpeziell die Hingabe det 
Gläubigen an ben ethiſchen Juhalt des Evangeliums ift gemeint, 
und deshalb erſcheint diefe miorıs GAySelas fo unmittelbar ver 
nüpft mit dem dyınanög mwesnarog, welcher ebenfalls dm im 
Fittlichen Leben fich vollziehende Erfahrung des Gläubigen duch 
den Gottesgeift bedeutet, 

In der Ausſage 2 Mor. 13, 8: od yüp duvduedd ru zur 





Der Gebraub der Wörter dAnsen 2c. [> 


ur: aldelas, AMa Uno Tr AmIelas, iſt der angegebene ethiſche 
Sinn ded Wortes oA’Ian zwar nicht durch ausdrüdkiche Gegen 
überftellung von adıla, aber doch deutlich genug durch den Zur 
femmenhang angezeigt. Paulus hat im Vorangehenden ausgeſpro⸗ 
Gen, daß er bei feinem bevorftegenden neuen Beſuche in der ko— 
tinthifchen Gemeinde ein ſchonungsloſes Strafgericht über die 
agonuapenxözes werde ergehen lafjen (12,21 — 13,2), und daß 
er barin die Bewährung feiner apoftolifcken Autorität geben werde, 
welche die Korinther angezweifelt und herausgefordert hatten (13, 
3. 4. 6). Aber er fügt Hinzu, fein eigentlicher Wunſch richte ſich 
doc darauf, dag die Korinther nichts Böſes, fondern nur Gutes 
täten, und ihm ſelbſt dadurch jene Gelegenheit, feine apoſtoliſche 
Autorität ihnen gegenübes zu bewähren, entzogen würde (B. 7). 
Benn er diefen letzten Gebanfen nun durd bie angeführten Worte 
in ®. 8. begründet, fo kann ber Sinn derſelben nur fein, daß es 
ihm nicht möglich wäre, im Intereſſe ber Geltendmachung feiner 
Autorität Partei zu ergreifen gegen ein richtiges Verhalten, wie 
er e8 bei den Korinthern vorfinden würde, Tall fein in V. 7 ause 
geiprochener Wunſch fich erfüllte, fondern daß er nur für das 
richtige Berhalten Partei ergreifen Lönne. 

Nur zweifelhaft möchte ich mich ausdrücken hinſichtlich der 
Stellen Phil. 4, 8: don orlv dAm$H, dom orırd, dom Irma, ... 
& rıg üperr wol el rg Inmvog, radsa Aoylleoge, Eph. 5, 9: 
6 xagnös Tos pwrös dv don üyadwavrj) ol damoorvn zo 
aAndeg, 6, 14: orjre odv negılmodueror vv doplv Gucv dv 
Ündela wol bvdvoaneroı Tov Iopaxa Ts Immoodvng, WO einer- 
ſeits Die enge Zufammenftellung mit anderen Begriffen, welche 
fittfiches, gutes Verhalten im allgemeinen bezeichnen, es nahe Legt, 
auch AyIr und AArFea don dem richtigen Verhalten im allge» 
meinen zu verftehen, wo doc aber auch die Möglichkeit zugegeben 
werben muß, daß Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit im Gegenfage 
zur Lüge und Heuchelei gemeint feien. 

Der fehr umfafjende Gebrauch, welcher in den johanneifchen 
Schriften, dem Evangelium und den drei Briefen, von den Be— 
zriffen ange, Ans und dAnIwög gemacht ift, zeigt die nächfte 
Ber wandtſchaft mit dem Gebrauche diefer Begriffe in den pa 


586 Bendt 


liniſchen Briefen, und zwar berußt diefe Verwandtſchaft auf dem 
gemeinfamen Anfchluffe an den altteftamentlihen Sprachgebrauch 
Mir ſcheint in diefer Thatſache, welche ich im Folgenden darzulegen 
habe, ein Moment zu liegen, welches auch für die Beurteilung 
des Urfprunges der johanneifhen Schriften nit ganz unwefents 
lich ift. 

Wir betrachten zuerft den Gebraud des Subftantivum atr- 
9aa im Evangelium. An einigen Stellen ift mit dieſem 
Worte die Wahrheit bezeichnet, in welcher das Wirllihe 
richtig zur Darftellung kommt. So einerfeits 5, 33: [Tow- 
vns] neuogrögmer ij ähmdeln, und 16, 7: yo ziv ülr- 
Year Ayo vuiv, anderſeits A, 24: Todg mpogeuwonrrag 
adrov dv nveinun zul dAmdelg det moogeweir. An de 
Tegteren Stelle bedeutet das artitellofe 2v aAndee, ebenfo wie 
nosy an den oben ©. 516 angeführten Stellen, „in Aufrichtig- 
keit“, d. 5. fo, daß die äußere Handlung des Anbetens nicht eine 
bloß äußere Handlung ift, fondern ein richtiger Ausdruck der auf 
die Gottesverehrung gerichteten inneren Gefinnung. 

An anderen Stellen aber find wir ebenfo beftimmt genötigt, 
die Bedeutung „Wahrheit“ aufzugeben und dA7Iau als Treue 
des pflihtmäßigen Verhaltens oder noch allgemeiner als 
Nichtigkeit des Verhaltens zu verftehen. So zuerft im 
Prolog Kap. 1, 14: 2Ienospeda ziv doku adrod, dökar ix 
Hovoyevovg nuoù nurgög, mangng xagıros ol ühm$elas. Bet 
bie Bedeutung der altteftamentlichen Wortverbindung my pr, 
oder yon, n erfannt hat und berüdjichtigt, wie die Geptugiate 
den Begriff nyy oder mpg in dieſer Verbindung wiedergegeben 
haben, wird an unferer Stelle ohne weiteres überfegen „voll Gnade 
und Treue“ und der Erflärung Ritſchls und anderer zuftimmen, 
der Evangelift meine, daß fih die volle Offenbarungsperrligkeit 
Gottes in der geſchichtlich-irdiſchen Erſcheinung Jeſu den Züngen 
infofern dargeftellt habe, als fie an ihr diefelbe Berhaltungsmiit 
wahrgenommen haben, welde nad Ex. 34, 6 und vielen anderen 
altteftamentlichen Ausfprächen (vgl. oben S. 520) die darafte 
riſtiſchen Merkmale des ſich offenbarenden Heilsgottes find. Ken 
wir das Begriffspaar in diefer Weife auffaffen, wird es un 


Der Gebrauch der Wörter dArYeia ac. 537 


aud nicht als auffallend, fondern als befondere Probe der Fein. 
heit der Empfindung und des Ausdruckes des Evangeliften er» 
feinen, dag.er in ®. 16, wo er den in V. 14 gegebenen Hin- 
weis auf das, was die Junger in dem Kreatur gewordenen Logos 
angeschaut haben, noch verftärfen und beftätigen will durch den 
Hinweis auf das, was fie von ihm empfangen haben, nur von 
einem Anußavev xagıv üyrl xagırog vebet, während er dod) hinter- 
ber, in V. 17 wieder fagt, dag in Jeſu Ehrifto die zagıs und 
die aArIeıa verwirklicht worden fei. Alle Erweifungen und Leiftungen, 
welche die Zünger für ſich felbft von Jeſu erfuhren und empfingen, 
mußten ihnen nur als zuvorkommende Huld erfdeinen, nur 
als eine fi immer erneuernde xagıs, nicht aber als ein Verhalten, 
zu welhen in dem zwifchen ihnen und Jeſu beftehenden Verhälte 
alffe oder in vorangehenden von ihnen felbft Jeſu erwiefenen 
Leiſtungen ein verpflichtender Grund gelegen hätte, und infofern 
nit als &AnIea. Und doch konnte für die Junger das Urteil 
Beſtand behalten, daß in anderen Beziehungen das Verhalten Jeſu 
ſich ihnen auch als vollfte Übung pflichtgemäßer Treue dargeftellt 
habe, 

Eine zweite Stelle finden wir am Schluſſe der Nikodemusrede, 
Rap. 3, 21. Derin B. 19 ansgefprochene Sag, daß der Grund, 
weshalb die Menſchen das Licht, d. i. daS durch den Sohn Gottes 
in der Welt offenbarte Heil nicht lieben, in ihren bdfen Werken 
fiege, wird in V. 20f. begründet durch folgende Worte: „Denn 
ieber, weicher das Böfe thut, haft das Licht und kommt nicht an 
has Licht, damit feine Werke nicht geftraft werden; wer aber bie 
Anem thut, kommt an das Light, damit feine Werke kund 
verden.” Das moriv vv Alter iſt Hier die Übertragung 
»es hebräiſchen nyx infpy, und fomohl durch die Gegenüberftellung 
egen pavao mgaooer, als aud durch den übrigen Zufammen« 
ang der Stelle ift es Mar, daß wir unter ihm verſtehen 
auſſen: „das ſittlich Rechte thun“, oder: „pflihtmäßig, gewiſſen⸗ 
aft handeln“. 

Mehrfach wird das Wort dArIea gebraudt in der Rede 
‘ap. 8, 31ff., wo wir die gleiche Bedeutung anzunehmen haben, 
ie 3, 21. Wenn Jeſus mit den Worten beginnt: „Wenn ihr 


586 Bendt 


liniſchen Briefen, und zwar berußt diefe Verwandtſchaft auf dm 
gemeinfamen Anfchluffe an den altteftamentlichen Sprachgebrauch 
Mir ſcheint in diefer Thatfache, welche ich im Folgenden darzulegen 
babe, ein Moment zu Tiegen, welches auch für die Beurteilung 
des Urfprunges der johanneifhen Schriften nicht ganz ummwelens 
lich ift. 

Wir betrachten zuerft den Gebrauch des Subftantivum dir- 
9a im Evangelium. An einigen Stellen ift mit biefem 
Worte die Wahrheit bezeichnet, in welcher das Wirklihe 
richtig zur Darſtellung kommt. So einerfeits 5, 33: [Iuw- 
uns] Menagrögmeer ri ührdela, und 16, 7: yo zer ülr- 
Haar Aym duiv, anderfeits A, 24: Todg zpogxuvoUvıu; 
aurdy Zv mveiuar xol almdelg dei moogxuveir. An der 
legteren Stelle bedeutet das artifellofe 2» AArdeis, ebenfo wie 
Apxz an den oben ©. 516 angeführten Stellen, „in Aufrichtig- 
keit“, d. 5. fo, daß die äußere Handlung des Anbetens wicht eine 
bloß äußere Handlung ift, fondern ein richtiger Ausdruck der auf 
die Gottesverehrung gerichteten inneren Gefinnung. 

An anderen Stellen aber find wir ebenfo beftimmt genötigt, 
die Bedeutung „Wahrheit“ aufzugeben und Ana als Treue 
des pflihtmäßigen Verhaltens oder noch allgemeiner al 
Nichtigkeit des Verhaltens zu verftehen. So zueft im 
Prolog Kap. 1, 14: 2Iewoaueda ziv dokar adrov, dökar is 
Hovoyevovs nuoà nurgös, -mangng zugırog xul dhmdelas. Ber 
die Bedeutung der altteftamentlihen Wortverbindung ngm mn. 
oder ya, D erfannt hat und berüdfictigt, wie die Septunginte 
ben Begriff ng ober my in dieſer Verbindung wiebergegeben 
haben, wird an unferer Stelle ohne weiteres überfegen „voll Gnade 
und Treue“ und der Erflärung Ritſchls und anderer zuftimmen, 
der Evangelift meine, daß fich die volle Offenbarungsperrlidteit 
Gottes in der gefchichtlicheirdifchen Erfcheinung Jeſu den Züngern 
infofern dargeftellt habe, als fie an ihr dieſelbe Verhaltungeweijt 
wahrgenommen haben, welde nad Ex. 34, 6 und vielen anderen 
altteftamentlichen Ausfprächen (vgl. oben S. 520) die daratte 
riſtiſchen Merkmale des ſich offenbarenden Heilsgottes find. om 
wir das Begriffspaar in dieſer Weiſe auffaffen, wird es um 





Der Gebrauch der Wörter dAndera ac. 537 


auch nicht als auffallend, fondern als befondere Probe der Fein 
heit der Empfindung und des Ausdrudes des Evangeliften er⸗ 
feinen, daß.er in V. 16, wo er den in V. 14 gegebenen Hin» 
weiß auf das, was die Syünger in dem Kreatur gewordenen Logos 
angeſchaut haben, noch verftärfen und beftätigen will durch den 
Hinweis auf das, was fie von ihm empfangen haben, nur von 
einem Aupußareır xagır Ävrl xapırog redet, während er doch Hinter 
ber, in V. 17 wieder fagt, da in Jeſu Chriſto die zupıs und 
die aArIeıa verwirklicht worden fei. Alle Erweifungen und Leiſtungen, 
melde die Zünger für fich felbft von Jeſu erfuhren und empfingen, 
mußten ihnen nur als zuvorkommende Huld erfceinen, nur 
al eine fi immer erneuernde xugıs, nicht aber als ein Verhalten, 
zu welchem in dem zwiſchen ihnen und Jeſu beftehenden Verhält» 
niſſe ober in vorangehenden von ihmen felbft Jeſu erwiefenen 
Reiftungen ein verpflichtender Grund gelegen Hätte, und infofern 
nicht als Area. Und doch konnte für die Jünger das Urteil 
Beſtand behalten, daß in anderen Beziehungen das Verhalten Jeſu 
ſich ihnen auch als vollfte Übung pflichtgemäßer Treue dargeſtellt 
Babe, 

Eine zweite Stelle finden wir am Schluffe der Nikodemusrede, 
Rap. 3, 21. Der in ®. 19 ausgefprodhene Sag, daß der Grund, 
weshalb die Menſchen das Licht, d. i. das dur den Sohn Gottes 
in der Welt offenbarte Heil nicht lieben, in ihren bdfen Werken 
liege, wird in V. 20f. begründet durch folgende Worte: „Denn 
jeder, welcher das Böfe thut, haßt das Licht und kommt nicht an 
das Licht, damit feine Werke nicht geftraft werden; wer aber die 
Ansam thut, kommt an das Licht, damit feine Werke kund 
verben.” Das noir ziv Ahrdem Äft hier die Übertragung 
»es hebräifcgen mug imppp, und ſowohl durch die Gegenüberftellung 
gen padvıc npwooer, als auch duch den übrigen Zufammen« 
ang der Stelle iſt es Mar, daB wir unter ihm verftehen 
aüffen: „das fittlich Rechte thun“, ober: „pflitmäßig, gewiſſen⸗ 
aft handeln“. 

Mehrfach wird das Wort darge gebraucht in der Rede 
‘op. 8, 31ff., wo wir die gleiche Bedeutung anzunehmen haben, 
ie 3, 21. Wenn Jeſus mit den Worten beginnt: „Wenn ihr 


588 Bendt 


in meiner Verkündigung bleibt, fo feid ihr wahrhaft meine Finger 
und werdet die aAnFeıa erkennen, und die &Area wird euch frei 
machen“ (8. 31f.), fo wird ums der Zweifel, ob Hier nicht unter 
de die Wahrheit im Sinne eines richtigen Erkenntnisinhaltes 
über Gott oder daB göttliche Hell zu verftchen ſei, dadurch ges 
nommen, daß Jefus gleich darnach auf bie Einrede der aber, 
daß fie als Abrahamiden bereit: frei wären, die Antwort giebt: 
Wahrlich, ich fage end, jeder, der die Sünde thut, ift Knecht 
der Sünde“ (8. 84). Denn eine rechte begrimdende Baziefung 
diefer zweiten Ausfage auf jene erfte Liegt nu dann vor, wenn 
die adden als der Gegenfag und die Aufhebung der Süunde ge 
dacht ift, fo daß die Befreiung non der Knechtſchaft, in welcher 
die Sünde den Menſchen hält, erft mit der Aufnahme der 1r7Iea 
durch den Menfchen eintreten fann, mit ihr aber auch eintreten 
muß. Der Sinn von ®. 32 ift alfo: „he werdet das richtige 
ethifcp-religiöfe Verhalten erkennen und biefes Verhalten wird end 
frei machen“. Jeſus hält den Juden dann weiter vor, def fie, 
wie fie trotz ihrer außerlichen Freiheit doch hinſichtlich ihres eigente 
lich in Betracht fommenden Zuftandes, nämlich des ethifchen, ww 
frei find, fo auch trog ihrer Außerlichen Abftanınang von Abra⸗ 
Ham doch hinfichtlich ihres eigentlichen Weſens von einem anderen 
Vater abſtammen und daß fie dieſe ihre Herkunft daran bewähren, 
daß fie feine Verkündigung nicht aufnehmen wollen und ihn zu 
morden ſuchen, trogdem er ihmen die area verkündigt hat, 
weldhe ihm feitens Gottes, feines Vaters, offenbart worden iſt 
(8. 40). Ihr Vater ift der Teufel, und deſſen Begterban möhten 
fie ausüben, „der war Menfgenmörbder von Anfang und fieht 
wit in &Andelo, und Arsen ift nicht in ihm; wenn er das 
weidos ausfprit, fo fpriht er aus feinem eigenen Befige 
heraus, ....; weil ich aber die däYen verkimbige, glaubt ihr mir 
nicht; wer von euch überführt mid) in Betreff von Sünde? wenn 
ich aber arrIen verkündige, weshalb glaubt ihr mir nicht?“ 
(8. 44—46). Wie wir bier einerſeits um der beutfichen Be 
ziehung willen, in welcher dieſe Erbrterung zu dem fie beranfafiene 
den Anfangsworte Jeſu V. 31f. fteht, genötigt find, die ArIem 
weldje der Inhalt der Verkündigung Jeſu ift, welche aber dem 


Der Gebraud) der Wörter dAndsıe ıc. 589 


Weſen und ber Verkündigung des Teufels ganz fremd ift und 
deshalb auch bei den Kindern des Teufels feine Anerfennung und 
Aufnahme findet, ebenfo wie dort am Anfange von dem richtigen 
ethiſchen Verhalten im Gegenfage zur Sünde zu verſtehen, fo wird 
und anderfeits durch die Schlußworte der Grörterung, wo wieher 
Area in direkten Gegenfag zur äuapria geftellt ift, die Richtigkeit 
dieſer Auffaſſung beftätig. Denn nur bei dem durch diefe Aufe 
faffung gegebenen Sinne kann Jeſus mit vollem Rechte die zur 
geftandene Thatſache, daß man ihm Sünde nicht vorwerfen Tan 
(und dem Zufammerhang ift dabei nicht an Sünde feines Handelns, 
fondern an Sünde als Inhalt feiner Verkündigung gedacht), als 
Grundlage für dem Vorwurf betrachten, daß man feiner Wer 
Kindigung von dArIeıu keinen Glauben ſchenkt. Man Hat viel 
fach, um eine richtige, Logifch folgernde Verknüpfung zwiſchen den 
beiden Fragen B: 46 Herzuftellen, die Bedeutung der aͤucorla 
auf den Begriff der Unwahrheit oder des Srrtums einfchränfen 
su milffen gemeint; aber man muß vielmehr bie gewöhnliche Ber 
deutung der AAnIen auf ben Begriff des der fittlichen Pflicht 
entſprechenden richtigen Verhaltens erweitern, und zwar muß man 
diefe Erweiterung nicht als eine willkarlich vom Evangeliſten vor⸗ 
genommene Berſchiebung der Wortbebettung betrachten, ſondern 
als eine folche, welde in dem Sprachgebrauche der Septuaginta, 
der feinerfeits wieder deutfich durch den Kebrätfchen Sprachgebrauch 
bedingt ift, ihre gefchichtliche Begründung und in dem Sprachge⸗ 
brauche des Paulus ihre vofiftändige Analogie Hat. 

Das hHohepriefterliche Gebet Jeſu bietet uns einen meiteren 
Beleg für Diefe Bedeutung. Jefus bittet, daß jet, mo er felbft 
ws der Welt geht, Gott feine in der Welt zurückbleibenden 
Jünger bewahren möge (17., 11ff:). Cr bittet nicht, daß Gott 
ie aus ber Welt fortnehme, fondern daß er fie wor bem Böjen 
dx 100 movngoö) bewahre (®. 15). Auf dieſe Bitte folgt zuerſt 
n 8. 16 die Ausfage, daß die Jünger nicht ans der Welt ſeien, 
vie er felbft, Jeſus, nicht aus derſelben fe, eine Ausfoge, welche 
sofern zur Motivierung der Bitte dient, als das den Jüngern 
ir die Zukunft Erbetene ihrem gegenwärtigen Zuftande entfprechend 
t. Dann aber fegt Jeſus feine Bitte mit folgenden Worten 


bie Bebentung ber hebrätfchen Worte nur und oy den Schluffel 
bieten muß. in Wort, welches den Sim diefer hebrätfchen Work 
ganz genau wiedergabe, fehlt der griechiſchen Sprache ebenſo wir 
der deutfchen; verhaltmiomäßig am paffenditen wurde das en 
loric fein, weil basfelbe ſowohl die Treue des ber Wirklichtei 
entfprechenden Aubſagens und Borfteliens, als aud die Trem as | 
pflichtgemaßen Verhaltens bedeuten fan. Und fo Haben aud dir 
Sepinaginta das Niphel des Verbums Toy in Dil den werfiier 
denen Bedeutungen, welche denen von ring und mymx anafog find, 
durch Worte, die vom Stamme nıor- gebildet find, wiedergegeben. 
Aber auffallenderweife haben fie das Wort my nur an de 
Häffte der Stellen, das Wort non nur in ganz wenigen Fällen 
darth aloric bezw. mıorög überjegt. An den übrigen Gteffen haben 
fie faſt durchweg die Worte Ad7den, ddnIyg und dänderds an- 
geivendet, deren eigentlicher Sinn do nur ber Bedentung entipricht, 
welche das Wort mg in einer beftimmten Aumendaug hat, deren 
Sim von ihnen mem aber fo erweitert worden äft, daß er and 
die Bedeutungen, welde px in den anderen Arten feiner Auwen- 
bung und damit übereiuftiutmend yox Hat, umfaßt. 


u Bendt | 
| 
| 


Wern wir unter dieſen Boransfegungen an dus Neue Te 
ftament hinantreten, fo kann es uns bei der ftarlen Besiuflnj 
fung durch die Septuaginta, welche die Sprache des Neuen Teie 
mentes fonft zeigt, nicht befremden, wenn wir andy bie Worte 
dtden, Ahnds und AySwös hier zum Teil in einem Cime 
verwendet finden, für deffen Eigentimlichteit wir in der Bebruung 
der Worte npy und pay bie Erklärung ſuchen muſſen. Es gift 
für uns jet, diefen Hebraifierenden Grbrauch jener orte im 
neuen Teftamente genau feftzuftellen. 

Vorwegnehmen konnen wir zuerft die vielen, faſt aueihfiehe 
lich dem geſchichtlichen Büchern angehörigen Stellen, wo bie Ant 
dräde Zu’ anmdelag über dintüg einfach in demſelben Gimme 
gebraucht find, wie im Hebraifchen ngyg, ober dywte, am bi Unie 
fagen oder Erkennmiſſen hervorzuheben, daß ihr Inhalt mit dar 
Wirklichteit übereinftimmt. Teils werden dieſe abperhiclm Ude 


Der Gebrauch der Wörter dANdee ıc. 529 


ride mit dem Verbum verbunden, welches das Ausfagen oder 
Ertennen bezeichnet (dre’ dAmIelas ehnog, örı xer.: Marl. 12, 32; 
ir umdelas Mya: Luk, 4, 25; Zu’ Almdelos xorakapparonar: 
Apq. 10, 34; aAnIos Alyw: Qul. 9, 27; 12, 44; 21, 3; 
Andig olda: Apg. 12, 11; Andus Yyrwoav: Joh. 7, 26; 
17, 8), teil werden fie mit der Bezeichnung der Thatfache felbft, 
deren Behauptung richtig ift, verbunden (3. B. dr’ aindelns zul 
irog ner’ adron Mr: ul. 22, 59; Amdüg Head viög ef: 
Matth. 14, 33; vol. 26, 73; 27, 54. Mark. 14, 70; 15, 39. 
91,48; 4, 42; 6, 14; 7, 40; 8, 31. 1Xefj. 2, 13; 
190.2, 5). Zu diefer letzteren Kategorie gehört auch die Stelle 
A. 4, 27: ovrnyInoas yüp In’ üyselag iv T5 möleı zarım 
x, nur mit der Beſonderheit, daß hier als die Ausfage, deren 
richtige Übereinftimmung mit der Wirklichkeit durch ir’ dArSelag 
hervorgehoben werden foll, nicht diefe gegenwärtig die Thatſache 
ausfprehenden Worte gedacht find, fondern das vorher in V. 25f. 
angeführte Pfalmwort, welches prophetifh die Thatfache verkün- 
digt Hatte, 

Dann wenden wir und zunächft zu den paulinifchen Brie 
fin‘), wo bei einer evften Reihe von Stellen ary9eın „Wahr: 
Heit“ bedeutet, d. h. die Nichtigkeit, welche Äußerungen oder Er 
fenntniffe infofern haben, als fie etwas Wirkliches zum Ausdrude 
der zur Borftellung bringen. Doc ift Hier wiederum eine Ver⸗ 
Idiedenheit des Gebrauches zu bemerfen. Nur an wenigen Stellen 
wird das Wort fo gebraucht, daß es die Wahrheit rein als eine 
It und Befchaffengeit des Ausfagens oder Erkennens ber 
Adnet, indem es mit einer Präpofition als adverbiale Näher- 
eſtimmung zu dem Verbum des Ausfagens oder Erkennens Hinzu« 
ritt, nämlich 2Ror. 7, 14: ds narsa dv Anden Makroaner 
iv; Kol. 1, 6: Zmeyrwre sr» ya Ton Heu dv Almdeig; 





V Die Stellen des Epheferbriefes, ben ich nicht für authentiſch pauliniſch 
Mte, ziehe ich doch Hier gleich mit in Betracht, weil fich der Gebraud des 
ortes ARHISEa in dieſem Briefe ganz dem Gebraude der pauliniſchen 
siefe anfchließt. Die Stellen der Pafloralbriefe dagegen werde ich nachher 
onders berückfihtigen. 

Abesl. Stud. Yafız. 1888. 86 


880 Bendt 


Vhil. 1, 18: nayrl reömp, eire mpopaneı eire Andele, Kouors 
zuroyy&akeroı!). Als Eigeuſchaft ber ausfagenden Perſon, alſo 
in der Bedeutung Wohrhaftigkeit“, erſchrint aandeis 2 Kor. 
11, 10: dorıw Ad Kororod dv Zul, örı xur.?) — Boeiker 
aber wird das Wort fo gebraucht, daß es einen ſolchen Gedanken⸗ 
inhalt bezeichnet, in welchem bie Wirklichleit zur richtigen Dar 
ſtellung gelangt: Wir gebrauchen unfer Wort „Wahrheit“ in der 
felben Weife, werden ober ben Sinn des griechtjchen Wortes noch 
präcifer wiebergeben, wenn wir in dieſen Fällen überjegen: „Wah⸗ 
res, Richtiges“ oder: „Was wahr, richtig if.“ Im LÜbergauge 
zu dieſer Bebentung fteht das Wort, mo es präbdifativiich van Aus 
fagen gebraudt wird (2Ror. 7, 14: 9 wwunuug Auar ... dr- 
Ha yerıdn; Eph. 4, 21: eye... dr abrh Lrdugdyse, zudıi 
low üdrdeın dv 70 Inoos). Beftimmter aber tritt diefe Ber 
deutung hervor, wo das Wort als Objekt bei Berbm des Aus- 
fagens gebraucht ift (MArIear Ayo: Rom. 9, 1; indem Zaw: 
Kor. 12, 6; Ankeire äi7Iuv: Eph. 4, 26), ober als Gene- 
tivus objecti bei Subftantiven, welche ein Ausſagen bezeichnen 
(2Ror. 4, 2: 77 Yuregwosı z76 Amdelag „burd, Qundthuung des 
Wahren“; 6, 7: dv Ayo arndelas „in Verkündigung von Wa 
rem“; Kol. 1, 5 und Eph. 1, 18: 6 Aöyog zis dtmdelas; ferner 
Rom. 2, 20: oyro rw nogpuow rrs yraasug xal zig aAmdelag Ir 
zo vöup „ber du den Ausdruck der Erkenntnis und defien, mas 
wahr ift, im @efee Haft *). Hieran reihen fich folgende Stellen: 
Gal. 2, 5. 14 und Kol. 1, 5 bedeutet 7 dAgIeıu Tau erayyelloo: 
„der wahre (d. i. richtig die Art und die Bedingungen des Hele« 
verhältmifjes der Menſchen zu Gott bezeichnende) Erkeuntnisinhalt, 


1) An der letztgenannten Stelle hat dAyHeıa im Gegenſatze zu wedpass 
den Sim der Aufrichtigkeit, weil hier als das Wirkliche, weiches bei dem zur- 
ayyöiiscdns Ey dAndelg zum Ausbrud gebracht wird, bie innere Gefiuzung 
de8 Berkündigenden gebacht ift, welche fich wirklich auf das Verkündigen Chriſti 
tidhtet, während bei dem zasayyeilsogu Ev mgopdası die Gefinmung des 
Berkündigenden ſich eigentlid auf etwas auberes richtet, das Berfündigen Chrii 
aber als Mittel braucht, um dieſe anderen Ziele gu erreichen. 

9) Bgl. das Abjectivum 2 Kor. 6, 8: ds midvo xal dindeis „wit 
Irrende und Wahre (d. h. richtig Erkenneude und Redende)“. 


Der Gebrauch der Wörter dAydeıe 1c. 81 


welchen das Evangelium uns verleiht.“ Gal. 5, 7 Heißt es: 
„Wer hat euch gehemmt, aAm9sla !), d. h. Wahrem (einer Ber» 

- kündigung, welche end vichtig belehrte), zu gehorden?“ Werner 
Rom. 1, 18: ardgunws züv ırv ihydeav dv üdurla xursgörren, 
d. h. „der Menfchen, welche das Richtige (uänlich ihre richtige 
Erfenntnis von Gott) in- Ungerechtigkeit unterbräden“, und ganz 
analog in B. 25: ofrwes wernMabav Tiv arg Too Heu 
» ro yeider, d. h. „welche die richtige Erfenntnis von Gott 
(wicht, wie gewöhnlich erflärt wird: „das wahre Weſen Gottes“) 
in ihrer Lüge verwandelt Haben“. Endlich wird an der Stelle 
Eph. 4, 22ff. dem alten Menfchen, „welder verberbt wird gemäß 
den Zmudyular zig ünurng", d. i. gemäß den fündigen Begterden, 
welche den verfinfterten, irvenden Gedanken des borchriſtlichen Zur 
ſtandes entfpringen (vgl. V. 17 f.), gegenüberftelit der neue Menſch 
welcher gottgemäß geichaffen worden iſt 2 dummar»n xal önrörsre 
zus mdelag“, d. h. in der Rechtbeſchaffenheit und Heiligkeit, 
welche aus der richtigen Verkündigung und Erfenntniß (über Gott) 
entfpringen (vgl. B. 21). 

Andere paulinifhe Stellen erinnern uns beftimmter an den 
oben betrachteten hebräifchen Sprachgebrauch. Zuerſt eine Stelle, 
wo &Ajdsıa entſprechend ber Bedeutung, welde wir für 
Ag und ymy einige Dale fanden (vgl. oben ©. 517), bie 
rihterlihe Gerecht igke it bezeichnet. Nm. 2, 2 heißt es: 
„wir wiffen, daß das Gericht Gottes zur aljderev über die 
ſolches Thuenden ergeht“. Mir feheint, dag wir Bier den Ger 
danken des Apoftels nicht vollftänbdig wiedergeben, wenn wir xaza 
Akjesav überfegen: „wahrheitsgemäß“, fondern daB wir über⸗ 
Jetzen müffen: „nach Gerechtigkeit, gebührend“, fo daß der Sinn 
nieht, wie bei der anderen Auffaffung, nur ift, beim Gerichte werde 
das Verhalten der Menſchen durd Gott rihtig erfannt und 
berüdfiätigt, fondern vielmehr noch beftimmter, es werde eine 


1) 4Andelg iſt mit Tiſchendorf nah NAB ohne Artikel zu Iefen. Durch 
das fehlen desfefben iſt ausgebrüdt, baf dasjenige, was Bei der beftimmten 
wahren Verkündigung, welcher bie Galater nicht gehorcht haben, ihren Gehorfam 
jätte reizen und finden follen, die Wahrheitsqualität im allgemeinen mar. 

36* 


5832 Bendt 


feinem Schuldwerte entſprechende richterliche Vergeltung er 
fahren, wie dies nachher in V. 6ff. vom Apoſtel noch befonders 
ausgeführt wird. "AA Isa bedeutet hier doch eine etwas anbere 
Art der Übereinftimmung mit der Wirklichkeit, als welche wir 
durch „Wahrheit“ zu bezeichnen pflegen. 

An zwei anderen Stellen bed Römerbriefes ift von der 
alrdeıa Gottes die Rebe, wo mir durch den Zuſammenhang 
unmittelbar darauf geführt werden, fie von der Treue Gottes 
zu verftehen, in der er dem Heilsverhältniſſe, zu welchem er fih 
dem Volle Israel gegenüber durch feine Verheißungen verpflichtet 
Hat, pflichtgemäß entſpricht. Am Anfange von Röm. 3 weiſt 
Paulus zuerft die Trage, ob nicht die amriorde ber einzelnen 
gsraeliten die relazıg Gottes aufheben werde (B. 3), zuräd durch 
die Behauptung der diefer Befürchtung entgegengefegten Thatfadze, 
daß vielmehr Gott dAndrs und jeder Menſch weuarns. werden 
müffe, indem er biefe Behauptung durch das altteſtamentliche 
Schriftwort begründet, daß Gott in feinen Worten ein dızaou- 
09a erfahren, d. 5. als dixmrog anerfannt werden müffe (8. 4). 
Hieran fchliegt dann Paulus die Frage, ob nicht, wenn fo die 
dexaioodyn Gottes gerade durch bie Adıxla ber Joraeliten zur 
Darftellung gebradt werde, das Strafgericht Gottes über die 
adıria ungerecht, unbillig fein würde (V. 5), und diefe frage 
wieberholt er in V. 7 noch einmal, indem er nur ihren Wortlaut 
verändert: „denn wenn die AAmdeıa Gottes auf Grund meines 
Yevone Übergroß geworden ift zu feiner Ehre, was merde ih 
dann noch als Sünder gerichtet?“ Es ift einleuchend, daß in 
diefem Zufammenhange die Begriffe mlorıs und anıorlo, ardee 
und yerona, dixcuociyn und adırla von Paulus ganz gleichbe ⸗ 
deutend gebraucht find. Er läßt zuerft für zlorıs und amımia 
den Gegenfag &in9n6 und edorng eintreten, und kann feine Be 
Hauptung, dag Gott troß aller Untreue der Menfchen immer 
A975 bleiben müffe, deshalb durch das vom duxauvosa: Gott 
redende Schriftwort begründen, weil nad) feinem WBermußtfeit 
Ölxoıog dasſelbe bedeutet, was er vorher unter aAn97s verfianden 
hatte; der Ausdrud des Schriftwortes veranlaßt ihn dann bei der 
Aufftelung der neuen Frage, zunächft das Wort dumoaivn u 


Der Gebraud der Wörter @Andeıa ac. 588 


brauchen und adırda dazu in Gegenſatz zu ftellen; daß es ihm 
dabei aber doch noch um den Gegenfaß derfelben Verhaltungsmeifen 
zu thun ift, von denen er vorher gefprochen hatte, beweiſt er da= 
durch, daß er ſich bei der Wiederholung der Frage in V. 7 auch 
im Wortlaute wieder zurückwendet zu der Gegenüberftellung der 
in B. 4 gebrauchten Begriffe. Man beachte übrigens, wie bier 
in Abhängigfeit von der Bedeutung ber Begriffe arnIns und 
&rFeu auch die entgegengefegten Begriffe wevorns und Yeraua 
offenbar einen im Vergleich zu ihrer fonftigen griechiſchen Bes 
deutung erweiterten Sinn erlangen; denn ficher meint Paulus in 
8. 4 u. 7 nicht nur die Lügenhaftigfeit der Menfchen, in welcher 
fie die erfannte Wirklichkeit nicht vecht zum Ausdrud bringen oder 
fih der ihnen dargebotenen wahren Erkenntnis und Kundgebung 
verfchließen, fondern im Gegenfage zu der Treue Gottes die Un« 
treue der Menfchen; in welcher fie gewiſſenlos ihre Verpflichtungen 
Gott gegenüber verlegen. — Die zweite Stelle ift Röm. 15, 8f., 
mo es heißt: „ich meine, daß Chrifius Diener der Beſchneidung 
geworden ift ömdg dAnIelas Ieov, damit er die Verheißungen der 
Väter befeftige, die Heiden aber oͤrdo 2Aovs Gott priefen.“ Hier 
find AA79ea und Neoc die Übertragung von mpg ober ng 
und pn; die letztere Verhaftungsmeife Gottes, feine die Sünde 
vergebende und ein Heilsverhältnis neu begründende Barmherzig⸗ 
feit bewährt ſich gegenüber den Heiden; feine Treue aber, in welcher 
er das beftehende Heilsverhältnis aufrecht erhält und die in dem⸗ 
felben gegebenen und ihn felbjt verpflichtenden Verheißungen durch 
entſprechende Erfüllung befeftigt, bewährt fich gegenüber dem Volke 
der Beichneidung. . 

An einigen anderen Stellen finden wir Ana in direkten 
Gegenfag geftellt zu zovngts und adızla, und Können hier ans 
nehmen, daß Paulus mit dem Worte die Richtigkeit bes 
etHifhen Verhaltens, zu welcher die Wahrhaftigkeit in Wort 
und That nur als eine Seite gehört, hat bezeichnen wollen, und 
mar ohne daß von ihm dabei noch die Verfchiedenheit des Sinnes, 
»urch melde im Hebrätfchen npx und may von pjy und mpIy 
retrennt find, beobachtet ift. 1Kor. 5, 8 Heißt es: LoprdLwer 
er... dr idum xuxlag al novnolas, GAR 2v ükbuoıs elhınprelag 


584 Wendi 


al almdelas, — 13, 6: od zalpsı Zn ri üdınla, ovyyalgeı di 
zjj Almdela, — Rom. 2, 8: reis... Ansıdoücer ud ri AdnIeln, 
mudonbvors 62 z Adızla. Wenn Baulus ferner 2 Theff. 2, 10ff. 
mit Bezug auf die mupovoln des üvouos, des Ardewnog zis 
“pogsius ſchreibt, fie werbe gefchehen iv maoy anden adslas zog 
änorkvulvos, dvd’ dv vir Ayanıy Tg Almdelag oix 2dlkarıo 
eĩc 10 awsiva avrovg" xud dıa Tovro neun autos 6 Sec 
dvlgysay mAayrg, els To mıoredooı adroüg To werden, Tva zgudäo 
änayres ol um morebouyreg 77 ühmdela aAA” eudonnonsres lv 
z5 üdedg, fo beachte man, dag auch hier die aAndeıa nicht 
etwa im Gegenfag zur aͤräͤrn oder mAdın fteht, fo daß wir fie 
deshalb als Wahrheit der Erkenntnis oder Verkündigung auffallen 
müßten, fondern im Gegenfage zu der adızla, welche den Inhalt 
und die Art der Yrreleitung ausmadt. Der Sinn ift, def jene 
BPerfonififation der Unfittfichkeit, als melde‘ der Anticheift gedacht 
ift, die Ungfäubigen zur Unfittlichfeit verführen wird und daß in 
biefer Verführung und dem darauf folgenden göttlichen Gerichte die 
Strafe dafür liegen wird, daß fie dem, was ethiſch richtig iſt, 
nämlich dem criftlihen Evangellum, weldes fie über das richtige 
ethiſch⸗ religiöſe Verhaften belehren und zu demſelben antreiben und 
befähigen wollte, feine Liebe und fein Vertrauen gewidmet haben. 
Unter der ana iſt alfo freilich das chriftliche Evangelium vers 
ftanden, aber dasſelbe nicht im alfgemeinen, fondern ſpeziell in ber 
Beziehung, daß es jene ethifche Art umd Abzwedung hat. Wir müflen 
dann aber aud im dem folgenden ®. 12, wo Paulus feine Danf 
barkeit darüber außfpricht, daß Gott die Theſſalonicher, im Gegen 
ſatze zu den eben charafterifterten dmoAAyuevor, erwählt Habe zum Heile 
W you nyeinarog xal nlorer dAndelas, diefe legten Worte 
von dem Vertrauen auf das ethiſch Richtige verſtehen; nicht der 
chriſtliche Glaube im allgemeinen, fondern fpeziell die Hingabe des 
Gläubigen an ben ethifchen Yuhalt des Evangeliums ift gemeint, 
und deshalb erſcheint dieſe aloric aim9elas fo unmittelbar ver 
Inüpft mit dem dyınauös zveunaros, welcher ebenfalls eine im 
Atlichen Leben: ſich vollziehende Erfahrung bes Gläubigen durch 
hen Gottesgeift bedeutet. 

In der Ausfage 2 Kor. 13, 8: ou yüp durdmds Tu zura 


Der Gebraud der Wörter dAndeim ıc. 585 


rs Andeluc, GM into vis aAndelas, iſt der angegebene ethiſche 
Sinn ded Wortes 0A’ zwar nicht durch ansdrückliche Gegen- 
überftellung von &dexelo, aber doch deutlich genug durch den Zus 
fammenhang angezeigt. Paulus Hat im Vorangehenden ausgeſpro⸗ 
den, daß er bei feinem bevorftegenden neuen Befuche in der for 
rinthiſchen Gemeinde ein ſchonungsloſes Strafgeriht über die 
agenuogrmöres werde ergehen lafjen (12,21 — 13,2), und bag 
er darin die Bewährung feiner apoftolifchen Autorität geben werde, 
welche die Korinther angezweifelt und herausgefordert Hatten (13, 
3.4. 6). Aber er fügt Hinzu, fein eigentfiher Wunſch richte ſich 
doch darauf, dag die Korinther nichts Böfes, fondern nur Gutes 
thäten, umd ihm felbft dadurch jene Gelegenheit, feine apoſtoliſche 
Autorität ihnen gegemübes zu bewähren, entzogen würde (®. 7). 
Benn er diefen leizten Gedanken nun durch bie angeführten Worte 
in V. 8. begründet, fo kann der Sinn berfelben nur fein, daß es 
ihm nicht möglich wäre, im Sntereffe der Geltendmachung feiner 
Autorität Partei zu ergreifen gegen ein richtiges Verhalten, wie 
er es bei den Korinthern vorfinden würde, falls fein in V. 7 aus. 
geſprochener Wunſch ſich erfüllte, fondern daß er nur für das 
tihtige Verhalten Partei ergreifen könne. 

Nur zweifelhaft möchte ich mid ausbrücden hinſichtlich der 
Stellen Phil. A, 8: dom Zorlv din, dom osurd, 800 Öl... 
Urs ügerr xl el nis Inowvog, Todra Aoylicote, Eph. 5, 9: 
5 mognög Tod gards dv dom dyadwadı zul dirmoocrn med 
ünddlq, 6, 14: orits odv megılwodueron zrv dopiv dnav iv 
ühydelg xor Ivövadueroı rov Igaxıı Tis dinmuorvng, WO einere 
ſeits die enge Zufammenftellung mit anderen Begriffen, welche 
ftlihes, gutes Verhalten im allgemeinen bezeichnen, es nahe legt, 
auch And und KArFea von dem richtigen Verhalten im allge— 
Meinen zw verftehen, wo doc aber auch die Möglichkeit zugegeben 
werden muß, daß Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit im Gegenfage 
dur Lüge und Heuchelel gemeint felen. 

Der fehe umfafjende Gebrauch, welcher in den johanneifhen 
Schriften, dem Evangelium und den drei Briefen, von den Ber 
griffen AyIeıa, Ang und AAnIwög gemacht iſt, zeigt die nächfte 
Verwandtfchaft mit dem Gebrauche biefer Begriffe in den pau- 


586 Bendt 


liniſchen Briefen, und zwar beruht diefe Verwandtſchaft auf dm 
gemeinfamen Anſchluſſe an den altteftamentlihen Sprachgebrauch 
Mir fcheint in dieſer Thatfache, welche ich im Folgenden darzulgm 
habe, ein Moment zu liegen, weldes auch für die Beurteilung 
des Urfprunges ber johanneifhen Schriften nicht ganz ummwejen- 
lich iſt. 

Wir betrachten zuerſt den Gebrauch des Subftantivum au⸗ 


Io im Evangelium. An einigen Stellen ift mit dieſem 


Worte die Wahrheit bezeichnet, in welcher das Wirkliche 


richtig zur Darftellung kommt. So einerfeits 5, 33: [Muw- | 


vns] Memagrögrper zj ähneln, und 16, 7: Yo zer ülr- 
Yeoy Ayo üuiv, anderſeits 4, 24: Todg moog«uvoürs 
aörov dv myeiparı zul dlmdela dei moogxuveir. An dit 
Iegteren Stelle bebeutet das artitellofe &» dAndela, ebenfo wie 
npyz an den oben ©. 516 angeführten Stellen, ‚in Aufrichtig- 
teit“, d. h. fo, daß die äußere Handlung des Anbetens nicht eine 


bloß äußere Handlung ift, fondern ein richtiger Ausdruck der af | 


die Gottesverehrung gerichteten inneren Gefinnung. 

An anderen Stellen aber find wir ebenfo beftimmt genötigt, 
die Bedeutung „Wahrheit“ aufzugeben und dArIeu als Treue 
des pflihtmäßigen Verhaltens oder noch allgemeiner alt 
Nichtigkeit des Verhaltens zu verftehen. So zuerft in 
Prolog Kap. 1, 14: 2Ienodueda ziv dökar auron, dökar ) 
Aovoytvoug map nurgög, rAmeng xüpıros zo ühmdelag. Ber 
die Bedeutung der altteftamentlichen Wortverbindung nom mi 
oder yon, 'n erfannt Hat und berüdjichtigt, wie die Geptuaginte 
den Begriff mpg ober pro in dieſer Verbindung wiedergeheben 
haben, wird an unferer Stelle ohne weiteres überfegen „voll Ende 


und Treue“ und der Erklärung Ritſchls und anderer zuftimmen, | 


der Evangelift meine, daß ſich die volle Offenbarungsperrlidkit | 


Gottes in der gefehichtlicheirdifchen Erfcheinung Jeſu den Güngen | 


infofern dargeftelft Habe, als fie an ir dieſelbe Verhaltungeweit 
wahrgenommen haben, welde nad Ex. 34, 6 und vielen andere 
aftteftamentlichen Ausfprüchen (vgl. oben &. 520) die darafte- 
riſtiſchen Merkmale des fich offenbarenden Heilsgottes find. Lem 
wir das Begriffspaar im dieſer Weiſe auffaffen, wird es um 


Der Gebrauch der Wörter dAndein ıc. 587 


auch nicht als auffallend, fondern als befondere Probe der Fein- 
heit der Empfindung und des Ausdruckes des Evangeliſten er 
feinen, dag.er in V. 16, wo er den in V. 14 gegebenen Hin- 
wels auf das, was die Jünger in dem Kreatur gewordenen Logos 
angefhaut haben, noch verftärten und beftätigen will durch den 
Hinweis auf das, was fie von ihm empfangen haben, nur von 
einem Anufdvev ydpı ürrl xagırog redet, während er doc; hinter« 
ber, in V. 17 wieder fagt, daß in Jeſu Ehrifto die zapıs und 
bie Ar Ieıa verwirklicht worden fei. Alle Erweifungen und Leiftungen, 
welche die Jünger für ſich felbft von Jeſu erfuhren und empfingen, 
mußten ihnen nur als zuvorkommende Huld erſcheinen, nur 
als eine fich immer ernenernde zapıs, nicht aber als ein Verhalten, 
du welchem im dem zwiſchen ihnen und Jeſu beftchenden Verhält ⸗ 
niffe oder im vorangehenden von ihnen felbft Jeſu erwiefenen 
Leiſtungen ein verpflichtender Grund gelegen Hätte, und infofern 
nicht als AnIe. Und doch konnte für die Sünger das Urteil 
Beftand behalten, daß in anderen Beziehungen das Verhalten Jeſu 
ſich ihnen auch als vollfte Übung pflichtgemäßer Treue dargeſtellt 
habe. 

Eine zweite Stelle finden wir am Schlufe der Nitodemusrede, 
Rap. 3, 21. Der in®. 19 ansgefprodene Sag, daß der Grund, 
weshalb die Menſchen das Licht, d. i. das durch den Sohn Gottes 
in der Welt offenbarte Heil nicht lieben, in ihren böfen Werken 
liegt, wird in V. 20f. begründet durch folgende Worte: „Denn 
jeder, weldyer das Böfe thut, haft das Licht und kommt nicht an 
das Licht, damit feine Werke nicht geftraft werden; wer aber bie 
rdaa thut, kommt an das Licht, damit feine Werke fund 
erden.” Das moriv vv Alrdear iſt Hier die Übertragung 
des hebraiſchen nyx Ipy, und fowohl durch die Gegenüberftellung 
jegen Yadıa zgaooew, als auch durch den übrigen Zufammen- 
ang der Stelle ift «8 Mar, daß wir unter ihm verftehen 
nüffen: „das ſittlich Rechte thun“, oder: „pflihtmäßig, gewiſſen⸗ 
raft handeln“. 

Mehrfach wird das Wort arrIen gebraucht in der Rede 
tap. 8, 31ff., wo wir die gleiche Bedeutung anzunehmen haben, 
die 3, 21. Wenn Jeſus mit den Worten beginnt: „Wenn ihr 


588 Bendt 


in meiner Verkündigung bleibt, fo feid ifr wahrhaft meine Jimger 
und werdet die dAyIeıa erkennen, umd die «Area wird end) fri 
machen“ (B. 31f.), fo wird uns ber Zweifel, ob Hier nicht unter 
area die Wahrheit im Sinne eines richtigen Erkenntnieinhalici 
über Gott oder das göttliche Heil zu verftchen ſei, dadund ge⸗ 
nommen, daß Jefus gleich daruach auf die Einrede der Syaden, 
daß fie als Abrahamiden bereit® frei wären, die Antwort giebt: 
Wahrlich, ich fage euch, jeder, der die Sünde thut, iſt Luecht 
der Sünde“ (®. 34). Denn eine rechte begründende Beziehung 
dieſer zweiten Ausfage auf jene erfte liegt nur dann vor, went 
die Anden als der Gegenfag und die Aufhebung der Sunde ge 
dacht ift, fo daß die Befreiung non der Knechtſchaft, in welcher 
die Sünde den Menſchen hält, erft mit der Aufnahme der adydem 
durch den Menfchen eintreten fann, mit ihr aber auch eimtreten 
muß. Der Sinn von V. 32 ift alſo: „he werdet das richtige 
ethifch-religiöfe Verhalten erkennen und dieſes Verhalten wird end 
frei machen“. Jeſus Hält den Juden dann weiter vor, daß fit 
wie fie troß ihrer Außerlichen Freiheit doch Hinfichtlich ihres eigent ⸗ 
lich in Betracht kommenden Zuftandes, nämlich des ethifchen, ww 
frei find, fo auch trotz ihren Außerlihen Abſtammung von Abre 
Ham doc Hinfichtli ihres eigentlichen Weſens von eimem anbera 
Vater abſtammen und daß fie diefe ihre Herkunft daran bewäßren, 
daß fie feine Verkündigung nicht aufnehmen wollen und ihn zu 
morden fuchen, trogdem er ihmen bie are verkünbigt hat, 
welche ihm feiten® Gottes, feines Waters, offenbart worden iſt 
(8. 40). Ihr Vater ift der Teufel, und deffen Begterden mödten 
fle ausüben; „der war Menfgenmörber von Anfang und feit 
wit in Andelo, und aArderm ift nicht in ihm; wenn er dab 
verdog ausfpriht, fo ſpricht er aus feinem eigenen Beſitt 
heraus,...; weil ich aber die aändeıa verkundige, glambt ihr wir 
nicht; wer von euch überführt mic in Betreff von Sünde? wenn 
ic) aber ArAIeın verkündige, weshalb glaubt ihr mir nidt?“ 
(8. 44—46). Wie wir hier einerfeits um ber deutlichen Bo 
siehung willen, im welcher diefe Erörterung zu dem fie weranlaflen 
den Anfangeworte Jeſu V. 81f. fteht, genötigt find, die AyIe 
welche der Inhalt der Verkündigung Jeſu ift, welche aber des 


Der Gebraud) der Wörter dAugese ıc. 589 


Weſen und der Berfündigung des Teufels ganz fremd ift und 
deshalb auch bei den Kindern des Teufels keine Anerkennung und 
Aufnahme findet, ebenfo wie dort am Anfange von dem richtigen 
ethifhen Verhalten im Gegenfage zur Sünde zu verfichen, fo wird 
uns anderfeits durch die Schlußworte der Erörterung, wo wieber 
“hc in direkten Gegenfag zur ünuprla geſtellt ift, die Richtigkeit 
dieſer Auffaſſung beftätigt. Denn nur bei dem durch diefe Aufe 
faſſung gegebenen Sinne kann Jeſus mit vollem Rechte die zur 
geftandene Thatfache, daß man ihm Sünde nicht vorwerfen kann 
(un dem Zuſammenhang tft dabei nicht an Sünde jeines Handelns, 
fendern an Sämde als Juhalt feiner Verkündigung gedacht), als 
Grundlage für den Vorwurf betrachten, dag man feiner Vers 
ündigung von 79a keinen Glauben ſchenkt. Man hat viel 
fach, um eine richtige, Logifch folgernde Berfnüpfung zwiſchen den 
beiden ragen ©. 46 herzuftellen, die Bedeutung der aungria 
auf dem Begriff der Unmahrheit oder des Irrtums einfchränfen 
zu müſſen gemeint; aber man muß vielmehr bie gewöhnfihe Ber 
deutung der ana auf den Begriff des ber ſittlichen Pflicht 
eutſprechenden richtigen Verhaltens erweitern, and zwar muß man 
diefe Erweiterung nicht als eine willkurlich vom Gvangeliften vor⸗ 
genommene Verſchiebung der Wortbedeutung betrachten, ſondern 
als eime ſolche, welche in dem Sprachgebrauche der Septuaginta, 
der feinerfeitS wieder deutlich durch den Hebrätfchen Sprachgebrauch 
bedingt ift, ihre geſchichtliche Begründung und in dem Sprachge⸗ 
brauche des Paulus ihre vollftändige Analogie Hat. 

Das hohepriefterliche Gebet Jeſu bietet uns einen weiteren 
Beleg für diefe Bedeutung. Jefus bittet, daß jetzt, mo er ſelbſt 
aus der Welt geht, Gott feine in der Welt zurudbleibenden 
Zünger bewahren möge (17., 11ff.). Er bittet nicht, daß Gott 
fie aus ber Welt fortnegme, fondern daß er fie vor dem Böen 
(dx zo novnpoü) bewahre (B. 15). Auf diefe Bitte folgt zuerft 
in B. 16 bie Ausſage, daß die Jünger nicht aus der Welt feien, 
wie er felbft, Jeſus, nicht aus derfelben. fei, eine Ausſage, welche 
infofern zur Motivierung ber Bitte dient, als das den Yüngern 
Für bie Zukunft Erbetene ihrem gegenwärtigen Zuftande entfprechend 
ft. Dann aber fegt Jeſus feine Bitte mit folgenden Worten 


546 Bendt 


fort: „Weihe fie in der aA79ea ), beine Offenbarung ift är- 
Hera; wie du mic in die Welt entfendet haft, jo habe aud ih 
fie in die Welt entfendet, und zu ihren Gunften weihe ich mid, 
damit auch fie geweiht felen in Anden" (®. 17—19). Der 
Sinn diejer Worte und ihre enge Beziehung zum Vorangehenden 
teitt nur dann, dann aber auch mit voller Klarheit hervor, wenn 
wir in ihnen &An9eıa als direften Gegenfag zum mrorngo» 8. 15 
auffafjen und das in V. 17 erbetene Wirken Gottes als die poſi⸗ 
tive Kehrjeite desfelben Verhaltens betrachten, welches nad jene 
negativen Seite in V. 15 bezeichnet ift. Gott bewahrt die Jünger 
vor der Welt, und zwar nicht in Außerlicher Beziehung durd 
äußerlihe Hinwegnahme aus der Welt, fondern in ethiſcher Be 
ziehung durch Bewahrung vor dem Böfen der Welt, indem er fie 
heilig, d. 5. ſich zugehörig macht, und zwar wiederum in ethiſcher 
Beziehung, nämlich indem er fie erhält und fördert in -dem rich⸗ 
tigen religiös-fittlihen Verhalten, welches feine Offenbarung fie 
lehrt. Mir fcheint e8 aber ſicher, daß wir dann in B. 19 das 
zu Aynoubvog gejegte &v üAnIela in demfelben Sinne verfichen 
müffen, wie da6 3» 77 aAndeig V. 17: die Weihung, welche die 
Jünger erfahren, fol durch diefen adverbialen Zufag nicht aid 
eine wahrhafte, im Gegenſatze zu einer bloß ſcheinbar ſich vol 
ziehenden bezeichnet werden, fondern foll wieder nad) ihrer ethifcen 
Art charakterifiert werden. Dem das Fehlen des Artikels vor 
Andee in V. 19 kann man nit als entjcheibenden Gegengrund 
gegen diefe Zurücheziehung auf das dr ri aAndele V. 17 gelten 
laſſen, wenn man berüdfichtigt, wie auch 8, 4df. im offenbar 
gleigem Sinne zuerft gefagt wird: 1 Areas Alyo, und un 
mittelbar danach: Ar Yen» Adyw, oder wie 8 Joh. 3f. dem nıgı- 
nareiy iv dndela gleich, ein megınar. dv ri &An9. folgt. 

Bon den bisher betrachteten Stellen fällt num aber wieder ein 
Licht auf den Gebrauch des Begriffes «Ar Hau an anderen Gtellen 
de8 Evangeliums, mo fi aus dem nächſten Zufammenhang fein 
ſicheres Urteil über die Bedeutung diefes Begriffes gewinnen laßt 


2) Das oov der Rec. hinter dande(g ift mit Tifchendorf nach den beftr 
Handſchriften zu ſtreichen. 


Der Gebrauch) der Wörter aArdaın x. 541 


und wo deshalb unfere Kenntnis feines fonftigen Gebraudes in 
diefer Schrift die Entſcheidung geben muß. Es find zuerft zwei 
Stellen, wo Jeſus ſich felbft bie AAyeru, bzw. die Bezeugung 
berfelben beilegt. Wenn er 14, 6 fagt: „Ich bin der Weg, for 
wohl die AAnIeıu als aud die Cor; niemand kommt zum Vater, 
außer durch mich“, fo bürfen wir, glaube ich, unter der Arsen 
nicht die Wahrheit als den Inbegriff einer die Wirklichkeit Gottes 
oder der Welt darlegenden Erkenntnis verftehen, fondern nur die 
Richtigkeit des refigiös-füttlichen Verhaltens. AnFeıa bedeutet 
Hier weſentlich dasſelbe, was in den Reden Jeſu nad) den ſynop⸗ 
tiſthen Evangelien duxaadvn bedeutet. Die aAydaa in dieſem 
Sinne und die Lo bezeichnen zufammen das eigentliche Weſen des 
Reiches Gottes: das dem Willen Gottes entfpredhende richtige 
ethiſche Verhalten und das von Gott verliehene ewige Heilsleben. 
Sofern Jeſus fi bewußt ift, daß in feiner Perfon diefe beiden 
Weſensmerkmale des Gottesreiches ihre vollendete Verwirklichung 
gewonnen haben, weiß er ſich felbft auch als den rechten und 
Ainzigen Mittler, durch welden die übrigen Menſchen zu Gott 
'ommen und Gott zu erkennen vermögen. Ebenſo werben wir 
Anfihtfih der Stelle 18, 37f. urteilen müffen, wo Jeſus dem 
Pilatus fagt: „Ich bin zu dem Zwecke geboren und zu dem 
Zwede in die Welt gekommen, daß ich für die &AIeıa zeuge; 
eder, welcher aus der dAn9ea iſt, vernimmt meine Stimme", — 
voranf dann Pilatus fragt: „Was bedeutet IF Heu?“ Im diefer 
lusſage Jeſu ift das Wort dAnIeıo offenbar in demfelben Sinne 
raucht, wie in den Ausſagen 8, 40. 45. 46, und je nachdem 
nan unfere Deutung des Begriffes an jenen Stellen für beredh« 
igt halt oder nicht, wird man bie gleiche Deutung an dieſer Stelle 
illigen oder mißbilligen. Aus dem Evangelium bleiben dann nur 
och die Stellen übrig, wo der den Jungern verheißene napaxin- 
oc als zweuua vs aAmdelas bezeichnet wird, welder fie in bie 
ange Angeıa leiten foll (14, 17; 15, 26; 16, 13). Daß 
eſes nveögn als der Träger und Vermittler einer richtigen Er⸗ 
antnis gebacht ift, welcher für die Jünger und die Welt die bes 
htende Offenbarungsmwirffamteit Jeſu fortfegen fol, fteht außer 
weifel. Fraglich aber ift es, ob durch die Bezeichnung wein 


2 Bent 


zig aandelac der Geiſt arakterifiert werden fol, ſofern dide 
Erkenntnis, welde er befigt und mitteilt, einſchließlich natär« 
lich auch der ethiſchen Erlkenntnis, Nichtigkeit hat (mie wir der 
„Beift der Wahrheit“ zu verftchen uns gewöhnt haben), oder ob 
er durch fie in der Beziehung vhorakterifiert werden ſoll, dag des 
ethiſche Verhalten, weldes Gegenftand der von ihm mit. 
geteilten Erkenntnis ift, Richtigkeit Hat, oder enblih ob er dung 
fie als Inhaber und Vermittler des Richtigen ganz im allgemeinen 
bezeichnet werden foll, ohne daß dabei fpeziell am die Kictigtit 
der Erkenntnis ober an die des Verhaltens gedacht wäre. Eim 
Gatfeheidung für diefe letzte Möglichkeit möchte wohl am zutreffend ⸗ 
ſten fein. 

Ein gleicher Gebrauch wie im 4. Evangelium wird in ben 
johanneiſchen Briefen von unferem Worte gemadt. Yu 
der Ansjage I, 3, 18: „Laßt un Tieben nicht in Wort und mit 
der Zunge, fondern in Werk und Armen", bedeutet ir Adıpdeiz 
basjelbe wie Ev. 4, 24: „in Aufrictigleit”, im Gegenfage zu 
einem bloß äußeren, der Wirklihfeit der inneren Gefinnung nicht 
entfprecpenden Lieben. Wahrſcheinlich Hat das ayamar dv Amdıa 
im Unfongsgruße des zweiten und dritten Briefes ebenfalls dieſen 
Sinn. Bei den Ansfagen I, 4, 6: „Hieran erkennen wir dab 
myeöua vg ühmdelng und das mreiua zig aan", und 5, 6: 
„Das mveöne legt Zeugnis ab, denn das mveöpa iſt die aArSua", 
merden wir der Andea wohl denfelben allgemeinen Sinn der 
„Ricjtigfeit“ zuweiſen dürfen, wie an den Stellen Ev. 14, 17; 
15, 26; 16, 13. Wenn es aber I, 1, 6 heißt: „Wem wir 
fagen, daß wir Gemeinſchaft mit ihm Haben und in der Finſternis 
wandeln, fo fügen wir xai od maojuer zip AAndean" ; 1, 8: 
„Wenn wir fagen, daß wir ine Sünde Haben, fo täufchen wir 
ung felbft, und die Arne iſt nicht in uns“; 2, 4: „Wer fa: 
ich Habe ihn erkannt, und doch feine Gebote nicht Hält, Ran 
Lügner, und in diefem Ift die aA’ Heın nicht“; 2, 21: „Ich ſchrith 
euch nicht, weil ihr die adden nicht kennt, ſondern weil iht fie 
fennt und wiſſet, daß feine Luge aus der aArFea iſt“, fo dürfen 
wir uns Hier durch die Verbindung, in welcher aArdes mit den 
Begriffen yerdeoIuı, wedorng, Peödoc und miaväy fteht, nick 


Der Gebraud; der Wörter dAr den ıc.. 53 


dazu verfeiten lajfen, unter der Anden bie Wahrheit des Er⸗ 
lennens und Ausſagens zu verftehen, in welcher die Wirklichkeit 
dr richtigen Darftellung gebracht wird, zumal dann diefe Ausfagen 
über die gen bie leerſte Tautologie enthielten. Sondern wir 
muſſen zoeiv 779 AAnIeav ebenfo berftehen wie Ev. 3, 21, ax 
iso # drndea dv aöc ebenfo wie Ev. 8, 44, dx zic AAndelag 
dv ebmfo wie Ev. 18, 37, und dann gewinnen wir den nicht 
mehr eine Tautologie enthaltenden Gedanken, die Lüge, welche man 
im betreffenden Falle ausfpricht, fei der Beweis dafür, daß man 
überfaupt fein richtiges ethiſches Verhalten habe. Zu der gleichen 
Destung der AdyIaa auf die Michtigfeit bes praftifchen Werhal- 
tens find wir unmittelbar aufgefordert an der Stelle I, 3, 19, 
10 bie tätige und aufrichtige Liebe als der Beweis des eva dx 
tig aandeduc bezeichnet wird, und ferner in den Wortverbindungen: 
db ümdelg wui.üydnm IL, 3; negnareiv & dindelg IL, 4; 
II, 3f.; ovvegyor ylvaodas ri aAmdelg II, 8. Dann hat es 
aber wieder die größte Wahrſcheinlichkeit für fih, daß auch bei 
dem yubboxtiy erw üktduaw U, 1, bei der airdeın ulvovoa dv 
Zuiv I, 2 und bei dem pagrugeiodm Und adrns vis dAmdelas 
U, 12 jene Bedeutung anzunehmen ift. 

Die Adjectiva aAnIng und dAnFwös find wie bei ben Sep 
uaginta fo auch im den johanneiſchen Schriften in ihrer Bedeu⸗ 
ang nicht ſcharf von einander unterſchieden; wir dürfen nur fagen, 
35 eine gewiffe Bedeutung Überwiegend durch das erftere, eine 
adere überwiegend durch das zweite Wort ausgebrüdt wird. 
ufig find die Fälle, wo @An9ns von Ausfagen oder ausfagenden 
erfonen gebraucht wird, um zu bezeichnen, daß fie wahr find, 
5. die Wirklichkeit richtig zum Ausdrud bringen (Ev. 3, 33; 
18; 5, 31f.; 8, 13f. 17; 10, 41; 19, 35; 21, 24; III, 
). 20mSıwög wird ebenfo an zwei Stellen gebraucht, Ev. 4, 
db yüp vobrp 6 Abyog doriv älmdıwös, d. h. „hierin bes 
hrheitei fich das Wort“, und 19, 35: dAnswr adroü Zoriv 
nagrvgla; denn nur fünftelnd Tann man an biefen beiden 
een eine andere Bedeutung annehmen. Borzugöweife aber 
d dAn$ıwög don Dingen oder von Trägern eines Berufes oder 
r Würde gebraudt, um zw bezeichnen, daß biefelben in Wirk 


5 Wendt 


lichteit das find, was fie zu fein feinen, oder was ber Til 
ihres Berufes und ihrer Würde von ihnen ausfagt, alfo „ihren 
Begriffe entſprechend“, „recht“, „et“. In biefem Sinne win 
gerebet von einem Pos aAndwos (Ev. 1, 9; I, 2, 8), von mr 
dAndırol ngosxurnrol (Eo. 4, 23), von einem apros GA 
(6, 32), von einem iuyas KAmSıvög (7, 28), von einer zum 
aoc Anden (15, 1), von dem Jeog aAnwös (17, 3; 1,5, 
20) ?). 

In demfelben Sinne ift aber nad den beften Zertesgugm 
einmal auch AArns gebraudt, Ev. 6, 55: 7) odgE nov almdız 
Zorıv Powoıs xal To olua mov aAmdns dorw möoı. Übrigens 
ift an diefer Stelle wie an den anderen, wo Jeſus fich als us 
rechte Brot, den rechten Weinſtock bezeichnet, oder mo der Logos 
das rechte Licht genannt wird, nicht gemeint, daß er nicht im bild- 
Tichen, fondern in eigentlihem Sinne Brot u. f. w. fei, oder gar, 
daß im ihm erſt diefe natürlichen Dinge ihre volle, begriffsmäßige 
Verwirklichung fänden, während die irdifche Speife, das irdiſche 
Licht u. ſ. w. ihrem Begriffe nicht recht entjprächen. Sondern 
die bifdfiche Bedeutung bleibt immer gewahrt, und es handelt fd 
nur um analoge Wirkungen und Funktionen, wie beim wirklichen 
Brot, Sicht u. f. w.; aber duch die Hinzufgung des aAndois 
ſoll hervorgehoben werden, daß eben dieſe analogen Wirkung 
and Funktionen wirklich vorhanden find. 

Unfere befondere Beachtung verdient dann der Gebraud kt 
beiden Adjectiva an folgenden vereinzelten Stellen. In der Aus 
fage Ev. 8, 16: „Wenn id richte, fo ift mein Gericht &Andor‘, 
Hat dAndın die Bedeutung „gerecht“, „gebührend" (vgl. Tob. 
3,2 u. 5), einfach fynonym mit da (5, 30; 7, 24). Die 
felbe Bedeutung müſſen wir aber, wie ih glaube, aud an kt 
ſchwierigen Stelle 8, 26 für Ans annehmen, wo es kit: 


1) Wenn wir am ben beiden Stellen Ev. 4, 87 u. 19, 35 dire Bere 
tung von dAnsıwos annähmen, fo müßte ber Sinn fein, daf das Bart ste 
das Zeugnis, auf welches Bezug genommen wird, infofern eim wahrtz Ext 
Bzw. ein wahres Beugnis fei, als es dem Begriffe eines Wortes oder art | 
Zeugniſſes entſpreche. 


Der Gebrauch der Wörter dAjdeıe ıc, 645 


„Vieles habe ich über euch zu verkünden und zu richten; (dies 
werde ich auch nicht unterlaffen), fondern der, welcher mic gefandt 
hat, iſt Admins, und ich verfünde das in die Welt, mas ich von 
ihm gehört habe.“ Der Sinn diefer Worte Jeſu feheint mir zu 
fein, er habe noch. ein großes Strafgericht über feine Gegner aus⸗ 
sufprechen, und zwar müffe er diefe Gerichtsverfündigung deshalb 
ergehen Tafjen, weil Gott gerecht urteile und er felbft im Auftrage 
Gottes rede. Anders aber ift das aAndrg der Stelle 7, 18 zu 
faſſen: „Wer von ſich felbft aus redet, ſucht feine eigene Ehre; 
wer aber die Ehre deffen, der ihn gefandt Hat, fucht, der iſt arr- 
His, und Adel ift In dem nicht.“ Sowohl ber direlte Gegen« 
Tag zu adıxla als aud der übrige Zufammenhang (vgl. V. 16) 
xigt es deutlich, daß Hier A797 „treu“, „richtig im fittlichen 
Verhalten“ bedeutet. Wenn ein Beauftragter nicht feine eigenen 
Gedanken, jondern bie feines Auftraggebers anspricht und nicht 
fein eigenes Intereſſe, fondern das feines Auftraggebers im Auge 
bat, fo giebt er damit eine Probe nicht feiner Wahrheit, wohl 
aber feiner Gewiſſenhaftigkeit. Ebenſo möchte ich endlich im erften 
Driefe das Arnd deuten an den beiden Stellen 2, 8: „Wie 
derum ſchreibe ich euch als neues Gebot, was aA7IEs in ihm und 
in euch ift", und B. 27: „Wie feine (d. i. Chrifti) Geiftesfalbung 
euch über alles belehrt, und (wie) es aA79% iſt und nicht Lüge 
ift, und wie er (d. i. Chriſtus) es euch gelehrt hat, fo bfeibt in 
ihm.“ Die Entſcheidung über diefe letztere Stelle wird natürlich 
davon abhängen, ob unfere vorher gegebene Erklärung der Stellen 
1,6. 8; 2, 4. 21ff. als richtig gelten kann. 

Im Jakobusbriefe kommt das Wort Ana dreimal vor. 
Sollen wir an der erften Stelle 1, 18: „Nach feinem Willen hat 
er (Gott) uns gezeugt Abyp Ahrdelag“, unter der „Richtigkeits- 
offenbarung” das den Ehriften offenbarungsmäßig verlichene Prin- 
zip einer höchſten Erkenntnis oder aber eines höchſten ethifchen 
Verhaltens verftehen? Wenn wir die durch den Sprachgebrauch 
der Septuaginta begründete Möglichkeit der zweiten Auffafjung feſt ⸗ 
halten und berüdjichtigen, wie Jakobus gleich nachher das den 
Epriften eingepflanzte Offenbarungswort, weldes fie aufnehmen 
und durch die That bewähren follen (8. 21f.), en einen »önog 

Ziel. Stud. Sapız. 1888. 


Ds Wendt 


Oziog väg Iewdeplag charalleriſiert (B. 25), jo werden wir um 
unbedenklich fir jene zweite Auffafjung entjcheiden. Ebenſo werden 
wir die Anden an der Stelle 3, 14 deuten, wo wir mit Tiſche⸗ 
borf nach m zu lefen haben: ur zaraxmvzäcde v7s AAndelur mi 
yavdıcde. Nah der durch xurazuuzgächn ws AdmFelas, d.i. 
ſelbſibewußtes Sich · auflehnen gegen das, was ethiſch richtig if, 
bezeichneten Verletzung ber ethiſchen Pflicht im allgemeinen wird 
noch die fpezielle Verletzaug berfelben durch die Lüge gem, 
ebenfo wie wir 1Joh. 1, 6. 8 und 2, 4 jenem allgemeinm und 
dieſen befonderen Begriff, nur in umgelchrter Reihenfolge, wine 
einandergeftellt fanden. An ber dritten Jakobusſtelle endlich tritt 
die von und angenommene Bedeutung der aAydea vielleicht um 
Harften hesvor. Es heit 5, 19: „Wenn einer umter euch von 
der adden abirrt und einer ihn zurückführt, fo miffe er, daB, 
wer einen Sünder von feinem Irrwege zurückgeführt hat, feine 
Seele aus dem Tode retten wird.“ Das Abirren von der alndun 
bebeutet hier nicht das Verlieren der wahren Gotteserkenntnis oder des 
richtigen Gfaubens, fondern das Sich- abwenden von dem vechten chriſt⸗ 
lichen Verhalten und ift als gleichbedeutend mit Günbigen gedaft. 

Die übrigen Schriften des Neuen Tefkamentes betreffeud möchte 
ich hervorheben, daß einerſeits noch im erfien Betrusbriefen 
der Ausfage 1, 22: „Nachdem ihr eure Seelen geweiht Habt im 
Gehorfam gegen die arzIaa u. ſ. w.“ die adden als Richtig 
feit des ethiſchen Berhaktens aufzufaffen fein möchte, und daß ander ⸗ 
feits in der Apokalhpfe, wo die Worte Arten und did 
gar nicht vorfommen, das Wort AAyIwös in der gleichen Weile 
gebrancht IR, wie bei den Septunginta und an einigen Stellen des 
vierten Evangeliums. Zum Teil bedeutet das Wort „ahrkaft in 
der Ausſage“ (21, 5 und 22, 6: odzoı of Adyos zuozel zu 
ümSırol slow, wahrſcheinlich aud 19, 9: odro ol Adyıı er 
Hivol Too Feov slow, d. 5. „diefe Worte find wahre (ms 
Wirkliches witteilende) Gottesworte“; ferner 3, 7 und 6, 10: 5 
äyıos, 5 @lndrds (3, 14, und 19, 11: 5 zuorös zul adndwk), 
zum Teil bedeutet es auch „gerecht im Urteil" (16, 7 und 19,2: 
dAmIwal xal dlrmmı ai xglosıs oov, und wahrſcheinlich auch 15,3: 
Ibamoı nal dimdwar ai Ödel vov). 


Der Gebrauch ber Wörter dAndeım ıc. 547 


Sonft wird das Wort A7Iea einige Male in den Gefchichte- 
büchern des Neuen Teftamentes gebraucht, um die Wahrheit der 
das Wirkliche richtig ausdrücenden Ausfage zu bezeichnen (Mark. 
5, 33: dae⸗ aörh nass rw AArSe), und zwar an den 
Stellen Matth. 22, 16 (oldapıer örı Amin ed nal ziv ödlr 
100 Heov dv ühmdelg Iudaoxes, vgl. Mark. 12, 4) und Apg. 
26, 55 (dAyIelag xul owppoodens drnora dmopstyyouaı) ſpe- 
ziell die Wahrheit der das Wirkliche der inneren Gedanken richtig 
darftellenden Ausſage, d. i. die Anfrichtigfeit. Einen eigentümlich 
ausgeprägten Gebrauch des Wortes finden wir dann im Hebräer- 
briefe (10, 26), im zweiten Betrusbriefe (1, 12 und 
2, 2) und in den Baftoralbriefen (1Xim. 2,4; 3, 15; 
4,3; 6,5. 2Tim. 2, 15. 18. 25; 3, 7. 8; 4,4. Tit. 1, 
1.14), Indem es bier die Wahrheit zur” dfox⸗- bezeichnet, d. i. 
den Inbegriff der richtigen Erkenntnis über Gott und das göttliche 
Heil, wie er im chriftlichen Evangelium vorliegt. Wir werben 
uns aber freilich vor der Annahme Hüten müſſen, daß das Wert 
in diefen Fällen für das Bewußtſein der Schriftftelier feine aliges 
meinere Bedeutung ganz verloren und direkt bie Bebentung des 
Sriftlihen Glaubens oder des criftlichen Evangeliums gemom- 
ven habe. 

Das Wort aAnIng bedeutet 1 Petr. 5, 12 (Tadım eva 
And xagı roũ Heod) rechtꝰ, „erht“ im Gegenfage zur Falſch⸗ 
wit des Scheines, aber 2 Petr. 2, 22 (rd is akmoüg mapoı- 
das) „wahr“ im Gegenfage zur Falſchheit des Wortes. Ebenfo 
ch das Wort &AnIıvös an den Stellen Luk. 16, 11 (10 ary- 
wor tlg üpiv mıosevon); Hebt. 8, 2 (eis ommprc Tre ay- 
ws ) und 9, 24 (arstruna zör armIırav) ala „recht“, „echt“ 
am Scheinbaren oder blog Vorbilbfichen gegemüber, während man 
ı der Stelle Hebr. 10, 22 die xoupdia Amor ale „aufrichtige 
efamang“ wird erklären müffen. 


36* 


8 Bleibtreu 


3. 
Der Abſchnitt Röm. 3, 21—26, 
unter namentlicher Berückfichtigung des Ausdrucks Auoırgur 


erörtert von 


Lie, Walther Bleibtren, 


Blarrer zu Dilinn Bei Lennep In Rpeinpreufen. 





„Nun ift aber ohne Geſetz Gottesgerechtigleit geoffenbaret 
worden, nur unter Bezeugung durd das Geſetz umd durd bie 
Propheten; eine Gerechtigfeit aber Gottes, vermittelt durch 
Glauben an Jeſum Chriſtum, zielend auf alle mb 
tommend über alle, die da nur glauben. Denn fein Unter 
ſchied befteht. Alle nämlich fündigten fie und ermangeln fie der 
Gottesherrlichkeit, bie Rechtfertigung erfahrend umfonft, derch 
feine Gnade, mittelft der Erlöfung, der in CHrifte Jein 
vorhandenen, welchen am die Öffentlichkeit herausſtellte 
Gott, einen Gnadenſtuhl durh Glauben, mit feinem eigenen 
Blute, auf daß er ermeife feine Gerechtigkeit wegen der Über 
fehung ber vorher vorgefallenen Sünden während ber Gr 
duldszeit Gottes, in Abfehung auf die Erweiſung feint 


Gerechtigkeit in der jegigen Zeit; auf daß er felbft gerade ſei 


und gerecht mache den, ber da nur des Jeſusglaubens it“ 


So lautet in beutfcher Wiedergabe der Abſchnitt, fir defien 


Erörterung ich Aufmerffamfeit erbitte. Bevor ich jeboc die Aus 
legung der Stelle felbft in Angriff nehme, muß ich, damit der 


Rahmen erfichtlich werde, in welden ſich mein Verftänduis der | 


vorliegenden Worte einfügt, mit Burgen Strichen die Auflfieng 
bezeichnen, die ich von dem vorherigen Gedantengange dei 
Nömerbriefs gewonnen habe. 

Ziemlich allgemein verfteht man dem Mpoftel dahin, Ib er 
aus der erfahrungsmäßtgen Unmöglichkeit einer natürlichen heideiſche: 
Gerechtigkeit (1, 18— 32), fowie einer geſetzlichen jüdiſchen Gr 


Der Abſchnitt Röm. 8, 21-26. 549 


techtigkeit (2,1 — 3,20) die Notwendigkeit der hriftlichen Glaubens⸗ 
gerechtigfeit folgern (3, 21ff). Sein Schlußverfahren fol diefes 
fein: Non operibus, ergo fide. 

Neuerlich gefteht man e8 zu, daß der Apoftel anderwärts, nament- 
(ih im Galater⸗, aber auch in unferem Römerbriefe von deſſen 
4. Kapitel an, fo nicht verfährt. Man räumt e8 ein: Sonft ift 
ihm die chriſtliche fides der abfolute, der durch ſich felbft fefte 
ftehende Ausgangspunkt feines Denkens und nicht das End⸗ 
ergebnis einer Argumentation von erfahrungsmäßigen Prämifien 
aus. Die Glaubensgerechtigkeit hat ihm prinzipiellen Wert und 
nicht denjenigen eines Auskunftsmittels, das in Wirkfamfeit geſetzt 
worden, weil es mit der fich felbft überlaffenen Natur, und mit 
dem altteftamentlichen Gefege nach Ausweis des vorliegenden 
Thatbeftandes nicht geht. Statt: Non operibus, ergo fide, 
ſchlleßt Paulus gerade umgekehrt: Fide, ergo non operibus. 

Aber hier im Anfange des Römerbriefs, da foll er nad) eines 
Pfleiderer (Baulinismus, S. 35) Urteil ausnahmsweiſe doch 
von den Werken ausgehn und aus deren Mangelhaftigkeit die Note 
mendigkeit einer anderen Heilsbedingung, nämlich des Glaubens, 
herleiten. Und wäre es nicht in der That denkbar, daß der Apoftel 
einmal dialektifch auf den gegueriſchen Standpunkt einginge, um 
durch den Nachweis feiner Unhaktbarkeit die ihm prinzipiell feſt⸗ 
fießende Glaubensgerechtigleit aud als den erfahrungsmäßtg allein 
übrig bleibenden Heilsweg herauszuftellen? 

In der That, fold ein Verfahren würde durchaus dem Ges 
fümade unferer modernen Apologetif entſprechen, denn biefe liebt 
8, ihren Offenbarungsglauben durch die Mittel des Denkglaubens, 
du denen ja auch die empiriſche Beobachtung rechnet, einleuchtend 
zu machen und fo den Zeind, mie fie ſich wohl ausdrückt, „mit 
feinen eigenen Waffen zu fehlagen“. Indeſſen die zum Zeugnis 
aufgebotene Erfahrung lehrt: das Schlagen des Feindes geht auf 
diefem Wege fo leicht nicht ab. Es ift ein böfer Gelft, ben bie 
Apologetit beruft, und zu ihren großen Schaden wich fie ihn nicht 
bieder 106. Das Ehrijtentum kann mit feinen anderen als feinen 
öigenen Waffen fümpfen. In demfelben Maße, als es zu fremben 
greift, Hört es auf, es ſelbſt zu fein. Paulus aber Ift gewiß der 


660 Bleibtreu 


Tegte, der es vergiät: Der netürlige Menſch vernimmt nichts vom 
Reiche Gottes. Es Tann keine Säpe, Beobachtungen sder Er 
fahrungen geben, die für die chriſtlichen Überzeugungen des Apoftels 
erft den Ausgangspunkt bildeten. Die Iekteren ruhen rein auf ſich 
ſelbſt. 

Doch geſetzt auch, dieſe allgemeinen Erwägumgen griffen zu 
weit, fo konnte der Apoſtel had; nicht vom gegueriichen Gtaxd- 
pantte aus fein Gfaubensevangefium entwickeln wollen, weil er an 
Epriften ſchreibt und fein Brief weder eine Dogmatik, mod ein 
Ratechiemus, ned) eine Predigt ift. Mit dem geguerifcien Stamdr 
pumkte Haben bie Briefempfänger eben gar nichts zu thun. Gie 
brauchen darüber, daB die Gexechtigleit aus dem Glauben Kommt, 
nicht erft- belehrt zu werden; wären fie davon nicht Jängft über 
zagt, würden fie gar Seine Chriften fein. Freilch eine dog⸗ 
matiſche Abhandlung trägt vor lauter Ehriften Tängit Anerfauntes 
ungeſchaut noch einmal von vorne vor, — fie will es begrifflich 
utwideln. Der Katehiemus wiederholt für den Verſtand der 
Unmüubigen die Iandlänfige Wahrheit, — er fucht fie in die ein⸗ 
fachfte Form zu bringen. Die Predigt endlich fpricht das Ale 
in redueriſchen Wendungen ſtets don neuem aus — um es vollends 
einbrüdtih zu machen. Auders aber ein paulinifcher Brief. Der 
muß etwas inhaltlich Neues bringen, er muß die Erfenntuis 
feiner Leſer weiter führen über ige biaheriges Maß hinaus. Fide! 
Dieß Abe des Epriftentums ift den Mömern geläufig. Aber 
ab nicht neben dem Glauben doch auch das Gefet noch feine 
Stellung und Bedeutung habe, das ift eine Frage, die aud unter 
Chriſten noch verhandelt werden Tann. In diefe Verhandlung 
tritt der Upoftel mit feinem Schreiben an die römifchen Chriſten 
«in. Fidel Das ift feine Vorausſetzuug. Non fide et 
»„peribus! Das ift feine Behauptung. Ergo sola ide! 
Das ift feine Schlußfolgerung. Nicht der Glaube, ſondern die 
Alleinigkeht ders Glaubens bildet den Grundgedaulen in der 
Deilslehre des Nömerbriefed. Allem latholiſchen Schreien üker 
argſte Willkür zum Trotze war Luther im Recht, als x im 
28. Verſe unferes dritten Kapitels das Sala hinzudachte. Er 
hatte damit den Grundgedanken diejes Verſes getroffen und, 





Der Abſchuitt Röm. 8, 21—26. 861 


— was auch uns Proteſtanten och lange nicht bewußt genug 
iſt, — er Hatte damit zugleich in erjchbpfender Weiſe den Grund⸗ 
gedanken des ganzen Römerbriefs, ſoweit derfelbe Ichrhaft ift, 
getroffen. 

An dem Briefverlaufe von Rap. 1 bis 3, 20 dies nachzu⸗ 
weifen, würde hier viel zu weit führen. Ih Hoffe noch einmal 
Gelegenheit zu finden, es anberwärts zu thun. Ob die uns vor 
fiegenden Verſe 3, 21—26 das angegebene oder das herlömmliche 
Verftändnis erfordern, das möge durch ihre Erörterung entjdieden 
werden, zu der ich jegt übergehe. 

Auf bie als belannt und anerkannt vorausgeſetzte Thatſache, 
daß die Wirkung allen Gefeges in Sundenerkenntnis beftehe, hatte 
der V. 20 die Behauptung gegründet, daß Gerechtigkeit auf 
gefeglichem Wege nicht erzielt werde, und durch diefe Ausſage 
ſollte wiederum biejenige de8 19. Verſes geftüigt werden, daB der 
Zweck des Geſetzes fei, die ganze Welt Gott gegenüber als ge- 
richtsverfallen Hinzuftellen. Nun ift aber, fo Heißt es jegt mit 
einem nicht zeitlich, fondern logiſch zu verftehenden ur) de weiter, 
aun ift aber unverworren mit allem laut B. 20 zum Seile 
fo undienlichen, ja ihm Hinderfichen Befege Gottesgerechtigkeit in 
ber Welt durh Offenbarung zuftande gelommen. Iloart- 
ewscı lefen wir, nit amoxexarnru. Rap. 1, 18 hatte ber 
Ausdrud änoxakonrer Verwendung gefunden, uber da handelte 
es fih audh um bas Evangelium. Was fich im Evangelium 
als in einer Botſchaft voltzicht, das iſt bloß Anoxaruyıs, 
bloß Wegnahme ber Hüllen, bie eine bereits vorhandene Gottes⸗ 
gerechtigfeit nur dem Blicke entgegen: — bie verdefende Hulle 
der Unkenntnis wird abgehoben. Hier bagegen Handelt es füh um 
bie Gottesgerechtigfeit jelbft, nicht um bie Botſchaft von ihr, 
es Handelt ih um das Hineinftellen. der Gottesgerechtigleit in die 
finnenfällige Wirklichkeit, wicht bloß in ben Bereich der 
Erkenntnis, und dem eben eutſpricht det Begriff des @urepoor. 
Als ein fchöpferiiher Vorgang, als eine Stiftung durch göttliches 
Eingreifen iſt die in Rede ftehende Offenbarung gemeint. So will 
es verftanden fein, wenn der Apoftel das offenbarungsmäßige 
mit dem außergefeglichen Werden der Gottesgerechtigkrit zu · 


562 Bleibtren 


fammenftellt. Sowohl neparigwrar als zwels »öpov ift fiat 
zu betonen. Mit beidem fol menfchliche Verurſachung ausgefchlofn 
werben. 

Auf eine Erörterung des viel umftrittenen Begriffs duo 
Heoo Tann ich mich Hier nicht einlaffen. Es würde dieſe Ber 
handlung aus den Grenzen des mir zugemeffenen Raumes zu ehr 
heraustreten. Ich gebe daher nur kurz meine Auffafjung an. 
Die dimmoourn verftehe ih von menfhliher Gerechtigkeit, 
diefe aber nicht als Verhalten, fondern als Zuftend, richtiger als 
Gut betraditet. Das Gut, das Gluck, in ber Prüfung zu be 
ftehen, dies ift gemeint. Den Genetivus Heoo nehme ich nun als 
Genetivus auctoris. Der Apoftel denkt an einen von Gott ge 
wirkten Stand menſchlich er Gerechtigkeit. 

Bon ſolcher Gottesgerechtigkeit hat der Apoftel erftlich gefagt, 
fie ſei ohne Gefeg, und zweitens, fie ſei offenbarungsmweife 
Berbeigeführt worden, er fagt jetzt drittens von ihr, es ſei dies 
unter bem Zeugniffe des Gefeges und der Propheten 
geihehen. Das thut er aber durchaus nicht, um dem vorhin fo 
arg beifeite gefchobenen Gefege jegt doch auch fein Recht anzuthan, 
nicht, um ihm doc) feinen Anteil an der Offenbarung der Goties⸗ 
gerechtigfeit zu wahren. Im Gegenteil, einfhränten wil w 
diefen Anteil auf fein nun einmal unleugbares Maß. Bor nag- 
Fvgoyadyn hat man ein „nur“ einzubenken, das ja im Griechiſchen 
und Lateinifhen ganz gewöhnlich nicht ausgedrüdt, ſondern bloj 
durch die Sagbezüge angedeutet wird. Nur die Thätigkeit des 
Zeugens beläßt Paulus dem Gefege, und aud fie nicht dem 
Geſetze ſchlechthin, fondern dem Geſetze, fofern es einheitlich 
zufammengehört mit ben nicht ohne Nachdruck hinzuerwähnten Bro» 
pheten, deren eigentümliches Geſchaft eben im Zeuguisablegen 
befteht. Jene dem Gefege einzig belaffene zeugende Thätigkeit ift 
je num aber als ſolche wiederum felbft von der Art, dag mit iht 
das Gejeg im Grunde von ſich weg und auf die neu e Gerchtige 
feit Hinweift. Sie erinnert darin an jenen Mann, der auch nur zuge 
follte vom Lichte, nicht es felbft war. Es ift, als fpräde da 
zeugende Gefeg: „Ich muß abnehmen, jene, die Hriftliche dume- 
oövn Feov, muß zunehmen.“ Go verftanden treten num die Wort 


Der Abſchuitt Röm. 3, 21—26. 568 


Huprugoyubyn Und Tod vönov xal zur moopzov als gleichartige 
Beftimmung zu Xwels vönov und negartguraı, das erftere näher 
erffärend und es vechtfertigend hinzu, und wir begreifen, weshalb 
uaprugouudvn fein „aber“ oder „freilich“ bei fi hat, das man 
bei der gewöhnlichen Auffaffung erwarten müßte. Nach diefer foll 
der Participlalfag ja einen Gegenfag zu xwols »onov bilden. 
Ganz anders, wenn er diefes vielmehr erflärt. Da darf kein de 
ober des etwas ftehen. Es liegt in der nämlichen Richtung, daß 
de Offenbarung der Gotteögerechtigkeit ohme Gefeg erfolgt und 
daß fie vom Gefege bloß bezeugt wird. Letzteres erflärt das 
erſtere. 

Mit einem dreifachen Pradikate hat V. 21, wenn wir an⸗ 
ders mit Recht zwels vönov, meparigwras und agrupovulrn 
betont denken, die Gottesgerechtigkeit belegt. Ihre weitere Ber 
ſchreibung in V. 22 trägt num die Form, dag in dreifacher Weife 
808 Subjekt jener Ansage noch genauer beftimmt wird. Was 
bie nicht geſetzlich bedingte Gerechtigkeit denn aber für eine fei, 
die follen wir jegt erfahren. Die Gottesgerechtigkeit, heißt es zu⸗ 
näcft, ift ebem eine Gottesgerehtigkeit; Gott ift es in vollem 
Ernfte und ausſchließlichem Sinne, der diefen menſchlichen Gerech-⸗ 
tigfeitsftand Hergeftellt hat. Zum zweiten wird uns gefagt, daß 
die Gottesgerechtigkeit durch den Glauben an Jeſum Ehri« 
ftum vermittelt fei, und endlich drittens, daß fie auf alle hin. 
ziele — eis narrog — und aud alle in Wirklichkeit über 
komme — Zr} nürsag —, die nur die eine Bedingung des 
Glaubens Ieiften. Immer gilt e8 den Gegenſatz gegen die 
Vebingtheit des Heils durch menſchliche Gefegeserfüllung. 

So weit des Apoftels Behauptung. Es folgt der Beweis 
ur diefelbe, der zunähft und zumeiſt den letztausgeſprochenen 
Borten eis nirras xol dm ndysog Todg mioredorrag gilt und 
iefe fomit als den wichtigften Punkt der Behauptung heraustreten 
äßt. Hierfür würden fie auch ſchon ohnehin gehalten fein wollen. 
Banz richtig hat man (Th. Schott) das xwels vöuov als eine 
let Überfchrift angefehen. Dem entſprechend muß dann aber in 
m fo inhaltöverwandten eis mayras xul dm ndvrag Todg zı- 
tevovrag das untenftehende Facit gefunden werben. In ihm kom- 


554 B Bleibtren 


wen die vorigen Beftimmungen als in ihrem Einheitopunkte zu- 
ſammen und zur Ruhe. Gine nicht geſetzlich bedingte (zwels 
»öuov) Gottesgerechtigkeit, welche bemgemäß Wirkung einer Tedige 
lich zu glanbenden Offenbarung (meparkpwra:) und bloß Gegen: 
fand eines einfach hinzunehmenden Zeugniſſes (uaprupowuen), 
welche eben eine Gotte s gerechtigkeit (duxmumourn dE Ieov) und 
wie es fobann gerade heraus heißt, eine Glaubens gerechtigkeit 
(did aloreng Inooũ Kgıoros) Üft, — nun, was erheiſcht ſolch eine 
Gereditigteit mehr, als eben den Glauben. Wer immer diejen 
aufweift, muß zweifellos an ihr teil Haben. — Das ift alles, 
was der Apoſtel hier gefagt haben will. Keinen ganz allgemeinen 
Unterricht von der Rechtfertigung aus dem Glauben, von ihrem 
Weſen und Zuftandelommen gedenft er zu bieten. Als auf etwas 
den Lefern Bewußtes nimmt er auf fie Bezug, nur das fi zur 
Aufgabe fegend, die völlige Genugfamkeit des Glaubens zum 
Hefe eindrüdtich zu machen. 

Alle Glaubenden werden gerecht; der Glaube ift das ſchlechter⸗ 
dings hinreichende Heilsmittel. Schon aus den vorangegangenen 
Beftimmungen gewirmen wir, mie ſich gezeigt hat, dieſes Ergebnis, 
doch foll jegt vom Schluſſe des 22. Berfes an auch der Beweis 
feiner Wahrheit geführt werden. Ob yap dor dunoroin * narıy 
Yap Auagrov xal boregoüvrus rg dölng tod Icon, fo beginnt 
diefer Beweis. Da follte man nun billigerweife fein Wort dar- 
über zu verlieren branden, daß ber Apoftel als Subjekt dieſer 
Ausfage nicht alle Menſchen, fondern alle diejenigen, von welchen 
zuletzt die Rede war, nämlich alle Glaubenden denft (vgl. Hof⸗ 
mann). Wie fegen Bucher ganz richtig nicht überſetzte: „Alle find 
Sünder“, fendern: „Sie, — d. h. do wohl diejenigen, von 
welchen bie Rede ift, die Glaubenden, — find allzumal Sünder.” 
Der Apoftel will eigen, daß alle Glaubenden geredgt werden. 
Demgemäß fagt er, es beftehe zwiſchen denſelben kein Untetichied, 
welchem zufolge etliche Glaubenden, die innergeſetzlichen jüdijen 
etwa, auf Rechtfertigung eine Anwartihaft Hätten und ambere, die 
außergeſetzlichen Heidnifchen, nicht. Mein, wird nad) etwas der⸗ 
artigem gefragt, fo ftehen fie der Mechtfertigung alle gleich fern. 
Siealle fündigten, und fie alle ermangeln der Gottesgerechtigkeit, diejrd 


Der Abſchnitt Röm. 8, 21—26. 585 


gottgewirkten Standes menſchlicher Herrlichkeit, eines Abglanzes der 
Gott felbft eignenden, welcher den Seligfeitbefig der Sündlofen 
ausmacht. Wenn die Glaubenden dennoch eine Rechtfertigung er» 
fahren, fo geſchieht das bloß in einer- Weife, fiber die fich der 
Apoſtel B. 24 des näheren erklären wird. Iſt nun, wie voraus. 
giegt wird, der Glaube Mittel des Hells, und fteht es, abgejehen 
von ihm, mit den Glaubenden fo unterſchiedslos übel, dann ift 
der Glaube das Heilsmittel, welches er ift, jelbftändig als folder, 
ohne einer Ergänzung oder Beihilfe zu bedürfen. Dann aber läßt 
fich and nicht erkennen, weshalb es nicht fo fein follte, wie der 
Schluß von B. 22 gefagt Hat, daß nämlich, wo fi nur immer 
Glaube findet, da auch liberal Gottesgerechtigkeit in der That 
den Erfolg davon ausmacht. Die Unterſchiedsloſigkeit der Glau⸗ 
benden bewirkt für fie alle auch einen unterfdiebstofen, d. h. aber 
vollftändigen und vollgewiffen Anteil am Heile. 

In welcher Art geht nun die Rechtfertigung der Glaubenden 
vor fih? Sie kommt dugeav, gejhentweife, mithin nicht als 
ihr Erwerb zuftande, fie ift durch) Gott — denn wie zapızı, fo 
iſt auch das ungewöhnlich geftellte arrov betont — und zwar 
durch feine Gnade, alfo nicht durch eigenes Thun von DBerdienft- 
lichem auffeiten der Glaubenden verurfacht, und endlich berußt 
fie auf der Erlöfung, nämlich derjenigen, welde an Chrifto 
Iefu Haftet, wonad die Glaubenden unterſchiedolos erlbſungs⸗ 
bedärftig, fündig fein müffen. “Sind fie aber alte fündig, dann 
ft, wie gejagt, Fein Unterſchied zwiſchen ihnen, und hieraus wieder 
folgt, daß die Gottesgerechtigkeit kammt eis. murras zei im 
züvrag vodg moresorrag. B. 24 iſt alſo wirklich das, wofür 
er ſich giebt, nur ein untergeordneter PBartieipialfag. Oft Hat man 
ihn als Hanptfag behandelt, werm nicht gerabezu dafür ausgegeben. 
Aber dies rührt, ebenfo wie die Ausdehnung der miwreg in B. 28 
af alle Menſchen, bloß von der irrigen Meinung Her, daß der 
Apofiel Hier eigens und in gang allgemeiner Weiſe bie Lehre von 
»er Rechtfentigung des Menſchen aus dem GHanben entwideln 
volle. Wenn er dns wirtiih im Sinne hätte, dann mäfte in 
ver That DB. 24 als der wichtigſte Punkt in der gangen-Davtegug 
m Daupıfag fein. Uber der Mpoftel fegt alles in dem Berfe 


556 Bleibtren 


Gefagte vielmehr als befannt voraus und verwertet es bloß ald 
Beweismittel für einen vorher ausgeſprochenen Sat, als Beweis⸗ 
mittel für das sola fide. Dem entipricht genau der untergeord⸗ 
nete Wert de 24. Verſes. 

Durd die an Chriſto Jeſu Haftende Erlöſung ift die Recht- 
fertigung der Glaubenden vermittelt. Diefe Ausfage aber wird 
in 8. 25ff. fofort näher beftimmt. Grlöfung gab es ja auch 
ſchon auf aftteftamentlihem Boden. Das LUnterfcheidende der 
Hriftlichen Erlöfung, dies werden wir im Bolgenden hervorge ⸗ 
hoben finden, — unb wiederum ift es nicht eine ganz allgemeine 
Erlöfungslehre, was un geboten wird. 

Hier kommen wir nun zu dem Ausbrude iNuorijgor, der 
unfere jonderliche Aufmerkfamfeit in Anſpruch nimmt. Für feine 
Erklärung iſt dad richtige Verftändnis des Verbums mo0LFero 
maßgebend. Died Hat num fürzlih Godet aufs neue im Siune 
des „Sich- etwas -vorjegens", des „In-Ausfihtenehmens" gefaht, 
doch kann eine fo vereinzelte Stimme nicht auffommen gegen die 
übrigens faft einhellige und wohlbegründete Annahme der heutigen 
Ausleger, daß die urfprüngliche, finnliche Bedeutung des Sffents 
lien Ausftellens Hier Amwendung finde Daran haben wir 
aber in der That ſchon den ausreichenden Enticheid, wie iAuozrger 
zu nehmen fei. Gegen die unbeftimmte Wiedergabe mit „Sühne" 
ober „Sühnmittel” hat man richtig bemerkt, zu dem eine be 
ftimmte Öffentliche Erſcheinung anzeigenden mo0£Fero werde auf 
ein ebenfo beftimmtes, anſchauliches Objekt erfordert. Der gleiche 
Einwand trifft aber aud die maskuliniſche Faſſung, nach welder 
Baorigeov der Aceuſativ des Adjeltivs Muornguog und bie Be- 
deutung wäre: „ein Sühnender‘. „ALS einen Sühnenden bat 
Bott Ehriftum Jeſum ausgeftellt", — in dieſem Sage ift wieder 
das Berbum ebenfo anſchaulich und beftimmt, wie das Objekt ım- 
beftimmt. Cine gänzliche Beziehungsloſigleit waltet aber auch 
zwiſchen dem Verbum und der meift angenommenen Bedeutung 
„Sühnopfer“ ob. Oder welde Beziehung follte beftehen zwiſchen 
der Thatigkeit eines Herausruckens ans Licht der Öffentlichkeit und 
zwifchen einem Sühnopfer? Der Verſuch, eine herzuſtellen, bringt 
wunderliche Ergebniſſe zutage. Entweder hat zoodFero befondern 


Der Abſchuitt Rdm. 3, 21—26. 657 


Ton, und dann kommt man auf bie falfche Vorftellung, der Regel 
noch finde ein Sühnopfer im Verborgenen ftatt; oder aber das 
Berbum ift unbetont, — und dann wird der Anfchein erweckt, 
als ob Herausftellung der gemöhnliche, durch die Natur der Sache 
vorgeſchriebene Ausdruck für dasjenige fel, mas mit einem Sühn- 
opfer gefchieht. In Wirklichkeit verhält es fich ja fo, daß dem 
Suhnopfer Offentlichteit freilich als ftetiges, aber doch nur zus 
falliges, lediglich begleitendes Merkmal anhaftet. Man verzichtet 
denn auch auf jede innere Beziehung zwiſchen Verbum und Objekt 
und lann ſich hierzu deshalb ohne großen Entſchluß verſtehen, weil 
man es trotz des Verlangens nach Anſchaulichkeit aufgegeben hat, 
mit der ſinnlichen Bedeutung von zoo&Fero Ernſt zu machen. 
„Gott Hat Chriſtum Jeſum in der Weife zum Sühnopfer gemacht, 
daß derfelbe als ſolches vor aller Welt Augen da fteht“, — dies 
etwa foll ber Tange Gedanke fein, der in die kurzen Worte: dv 
n0069ero IRnorngıov zufammengedrängt wäre, Aber worin foll 
denn jene Allerweltsfichtbarkeit Jeſu als des Suhnopfers beftehen? 
Man müßte an feine allgemeine Verkündigung durch das Evange- 
lium denfen, aber, wie fchon zu Anfang bemerkt, der Gedanke an 
das Evangelium Liegt unferem Abfchnitte durchaus fern. Mit der 
Bewirtung, nit mit der Verkündigung der Gottesgerechtige 
fit Hat er es zu tun. So biiebe alfo nur übrig, der an Jeſu 
dorgenommenen Opferhandlung feldft im Verhältniffe zu ander 
weitiger Opferung eine ungewöhnlihe Offenkundigkeit beizumeffen, 
was ja aber ganz unangänglich ift. 

So kommen wir denn zu einer noch übrigen Deutung von 
Daorrgiov. Drigenes hat fie zuerft vorgetragen, Luther und 
Calvin, wenn fon Iegterer nit ohne Schwanfen, find ihr ge⸗ 
folgt, auch Bengel ift ihr noch zugethan; dann aber fehen wir bie 
Ungunft der Zeit fie zu Grabe tragen. „Valeat absurda expli- 
catiol“ ruft ihr Fritzſche verädtlich nad, und Ruckert fpricht 
ihr gar das Verdammungsurteil. Seitdem indefien Olshauſen 
md Tholnd die ſchon faft verfchollene von den Toten zurüd« 
yeholt Haben (vgl. auch Benecke, Funke in diefer Zeitfchrift, 
Jahrg. 1842, ©. 314f.; Delitzſch, Hebräerbrief, ©. 719; 
jerd. Weber, Bom Zorne Gottes, S. 273), ſeitdem überdies 


8 Bleibtren 


Bhilippi fie in tüchtiger Weife begründet und namentlich Ritfct 
(Recht. n. Verſ., Bb. II, ©. 169ff.) das Gewicht feines Namens 
für fie in die Wagſchale geworfen, darf fie als völlig wieder zu 
Ehren gebracht gelten. 

Das ift die Deutung, mad welder iaorzaor hier ebenio 
wie Hebr. 9, 5 die griechiſche Üiberfegung des Kebräifcken Aushrude 
ajez, diefer Bezeichnung für bie Platte über der Bundeslade, vors 
fteitt. 2Mof. 25, 17 wird mp2 von den Septuaginta mit Au- 
ormeıor Imldeua und von ba ftehend mit dem fnbftantivierten he— 
orrgrov allein wiedergegeben. Schreibt nun der Apoftek an ſchrijt ⸗ 
tundige Ehriften, fo ift es für dieſe ohne weiteres llar, wie er 
verftanden fein will, zumal nachdem mpofFero borandgegangen. 
Denn zwiſchen der Kapporethh und einer Herausftellung am die 
Offentlichteit findet allerdings eine innere Beziehung, nämlich eine 
gegenſätzliche, ftatt. Die Kapporeth Hatte ihre Stelle In ber 
Verborgenheit des Allerheiligften, Chrifius Jeſus aber ift als ihr 
nenteflamentliches Gegenbild vou Bott öffentlich ansgeftellt 
worden. Um biefen Gegenfag amzubeuten, fteht mpo&dero mit 
großem Nachdrude voran. In den drei erfien Evangelien leſen 
wir, nach Jeſu Tode fei der Vorhang des Tempels zerriffen. 
Wir find gewohnt, dieſes Begebnis als ein Sinnbild des Endes 
der altteftamentlichen Opferreligton zu verftehen. Run, Bier haben 
wir biefelbe Sache, nur ander gewandt. Nach ber dortigen Dar⸗ 
ftellung, ſowie auch nach Hebr. 4, 16 und 10, 19ff., kounen ale 
zur Kapporeth Hinein, nad; der hiefigen fommt die Kapporeth zu 
alten heraus. Beide Male handelt es fi) um das Aufhören des 
Gefeges und feiner Schranken. 

Aber, wendet man (Hofmann) gegen die Bezeichnung Ctrifti 
als einer Kapporeth ein, dies altteftamentliche Wort Tennen wir je 
bloß als Eigennamen eines ganz beftimmten Einzeldinges und nicht 
als Appellativum. Mußte nicht menigftens rd iRuorngor juur 
zu leſen fliehen? Indeſſen wie, wenn bie verlangte Näherbeftim- 
mung in dia nloreng und dv 7@ adrov aluarı allerdings nachfelgte? 
Geſetzt aber auch, fie thue «8 nicht, bedarf es ihrer denn wirfih? 
Daß Eigennamen zu Appellatiuis von der Bebentung der bejeich⸗ 
nendften Eigenſchaft erfterer erweicht werden, zählt durchaus wicht 


Der Abſchnitt Rom. 8, 21-26. 560: 


zu den Geltenheiten. Ganz gewöhnlich nennt man jeden beliebigen 
glänzenden Redner einen Demoſthenes oder Cicero, jebe Fremden 
flätte ein EI Dorado, jede Prachtanlage ein Tivoli. Bei unferem 
großen Dichter erfcheint Leipzig als ein Klein Paris und um nur 
din Veifpiel aus unferer homiletifhen Sprache anzuführen, wie 
geläufig iſt im Anſchluſſe an 1 Sam. 7, 12 die Redensart ger 

ren: „Laßt uns ein Ebens Eger errichten!“ Weshalb denn 
ſollte nicht auch das unbenommen fein, Chriftum Jeſum eine Kaps 
voreth zu beißen, wofern nur zwifchen diefem Geräte und ihm eine 
weſentliche Vergleichbarkeit obwaltet ? 

Und eine ſolche ift thatſächlich vorhanden. Auf der Kapporeth 
throute Jehova in lichter Wolle. Dort war er mit feiner Herr» 
ligteit und Guadenmacht unter Israel gegenwärtig. Daß für bie 
Gemeinde des Neuen Teſtamentes Chriftus Jeſus der Drt fei, da 
in entfprechender Weiſe Gottes gnadenvolle Herrlichkeit ſtrahlt, ift 
gewiß nicht, wie man geurteilt hat, ein „unpaffender, kunftlicher 
und gezwungener“ (Röllner), fondern ein cbenfo wahrer als ein- 
facher Gedaule. Und wenn fir denſelben auf 2Kor. 4, 6 verwieſen 
wird (NRitſchl), wo es Paulus für apoftofifche Aufgabe erklärt, 
die yraaıs ig Sims Tor Heod dv nyoounp Xgozoo "Inoou 
tufleuchten zu laffen, fo dürfen wir die Vergleichung dieſer Stelle 
nit der und vorkiegenden fogar über den Ausdruck iRuorzguor hin- 
ms auch auf zg0&Fero ausdehnen. Auf dem Angefichte Chriſti 

Jeſu ſtrahlt Gottes Herrlichkeit und zu dem Zwecke, daß fie er⸗ 
aunt werde. Diefe ihre Offentlichkeit, das iſt es gerade, 
rauf das Hauptgewicht der Audſage ruht. 

Hiermit ſcheint denn jede Sühnebebentung aus dem Ausdrucke 
aosngıo» beſeitigt und erſt durch bie beigefügten Worte dv 7@ 
drod adgre mit ihm verbunden zu werden. In ber That ift 

fo die Meeinung von Ritſchl. Chriſtus Jefus nis Kapporeth 
ft ihm fur den Vertreter Gottes ums Menſchen gegenäber und 
ar hierfür. Wie aber die Kapporeth des Alten Teſtamentes 
srael die guadenvolle Gottesgegenwart nur unter der Bedingung 
mittelte, daß fie mit Slut befprengt wurde, fo erlangt nach des 
tannten Theologen Uvtell auch die in Chriſto uns zugute vor⸗ 
dene Gottesgnade ihre Wirfjamteit erft durch die fühnhafte 


560 Bleibtreu 


Vergießung feines Blutes, erft durch den Gehorfam, den er als 
Menſch Gott gegenüber leiftet (ogl. a. a. D. ©. 172f. 236f.). 
Dem zufolge würden fi Kapporeth und Sühne in ber nämlicen 
Art von einander unterfcheiden, aber gegenfeitig ergänzen, wie Ehrifti 
Gottheit und Menfchheit. Daß dies Mar gedacht fei, Täßt fih 
gewiß nicht beftreiten. Und daß Baorngıov ſchlechterdings etwas 
Gottgehöriges, alfo feinesfalis eine Sühne oder ein Sühn⸗ 
opfer, bezeichnen muß, mit anderen Worten, daß in dem 
Ausdrucke notwenbigerweife eine Vertretung Gottes uns gegenüber 
liegt, dafür beruft ſich Ritſchl ſehr vichtig auf die nachfolgende 
Bwedangabe eis rdakır Trs dixmmoaurng aörov. Gottes ift 
die zu erweiſende Gerechtigkeit, Gottes muß daher auch fein, wor 
burd er biefelbe als durch ihr Mittel bezweckt und erreicht. Es 
durfte aber dennoch eine zutreffende Bemerkung Hofmanns bfei- 
ben, wenn der Apoſtel das iAuorjgo» von der Kapporeth verftche, 
fo meine er letztere auch in der durch jenen griechiſchen Namen 
angezeigten Bedentung. Sofern es den Wert einer allgemeinen 
Regel beanfprudt, muß befagtes Urteil freilich Zurückweiſung er- 
fahren, und derjenige ift gewiß am wenigften zur Aufftellung diefer 
Regel befugt, welcher felbft behauptet, da8 iAuorzgıov ber Septus⸗ 
ginta fet eine verkehrte Überfegung, wie Hofmann es thut. So 
darf man unfere Deutung ber Stelle auf die Kapporeth dod wicht 
in Schwierigfeiten zu verwickeln ſuchen, daß, wenn die griedhifce 
Sprache keinen pafjenden Ausbrud für dies heilige Gerät darbiettt, 
man darum ben Apoftel zwingt, auch auf deffen wahren Sinn zu 
verzichten, oder aber ſich feiner Erwähnung überhaupt zu enthalten. 
Nur wenn es eine Mehrheit von überdies durchaus zutreffenden 
griechiſchen Bezeichnungen jenes Gerätes gäbe, was doch nicht der 
Fall ift, konnte aus der angewendeten etwas für die Richtung ge 
folgert werden, nad) welcher ber Gegenftand in Betracht kommt. 
Allein thatſächlich Tiegt es num an unferer Stelle doch fo, daß bie 
von dem griechifhen Ausdrucke iRuoriggeov erwedte Suhnevorſtellung 
nicht einfach aufgegeben, ſondern ihres uͤnzutreffenden nur durch Über» 
ſetzung aus der heidniſchen in bibliſche Denkweiſe entledigt werden will. 
Das nachfolgende 2v ri aurov aluarı verbietet denn doch ſchlechter ⸗ 
dings, bei der Deutung des iAnorngıor gänzlich vom Bortfinıt 





Der Abſchuitt Abm. 8, 21—26. d61 


de Ansoruds abzufehen. Der Apoftel follte fich denfelben aus den 
Gedanken gefchlagen, dann aber gleich ſchon im nächften Augenblide 
wieder von der Süße gehandelt haben? Wie unwahrſcheinlich! 
Drot nun von biefer Erwägung der oben gewonnenen Ein⸗ 
ficht, daß unter aorngıor die Kapporeth verftanden jei, wirklich 
Gefahr? Man fagt, die Kapporeth fei nach dem Alten Teftamente 
Symbol der Nähe Gottes und nur dies, nicht zugleich auch 
Spmbol feiner vergebenden Gnade. Das fühmende Blut werde 
aur deshalb am fie gefprengt, weil «8 zu Jehova Hingelangen folle, 
Mer kann und muß fühnendes Blut Gott an feinem Thronfige 
erreichen, jo wird biefer ja eben Hierdurch zugleich eine Sühn⸗ 
und folglich auch eine Gnaden ſtütte. Cr ift eine wunderliche 
Behauptung, der Machtſpruch Fritzſches gegen Tholud (Ber 
dienfte D. Tholucks um die Schrifterflärung, S. 34), mit Gottes 
Gnade ſei die Kapporeih erft von den fpäteren Juden in Ver⸗ 
bindung gebracht worden, und als biutbefprengte Babe fie zur 
Gnade gar kein Verhältnis. Der Apoftel braucht ſich nicht erft 
duch die Septuaginte oder durch das fpätere Judentum irre führen 
Mm laſſen, um das Heilige Gerät als Sühnort zu verftchen. Iſt 
es ein folder aber als blutbeſprengter Gottesort, jo hat weiter 
die Frage ihr gutes Recht, ob fi Paulus das Verhältnis nicht 
vielmehr umgekehrt denke: Als Sühnort iſt die Kapporeth blut- 
befprengt und im des gleichen Eigenfchaft des Suͤhnortes wird fie 
dam weiter auch das, wozu fle won Gott in Ausficht genommen 
ift, nämlich die Stätte feiner Gegenwart. So fange wir nicht 
beftimmten Grund zu einer abweichenden Annahme haben, müffen 
wir vorausfegen, der Apoftel denke fo, wie das Alte Teftament; 
dieſes aber denkt, wie zuletzt angegeben. may verhäßt ſich zu 
Üaertgror nicht im mindeſten anders, als byrmpp zu ädoxe- 
oa. Beide Überfegungen find gleich richtig und gleich verkehrt. 
Weder „Fußſchemel“ (jo Ewald, Die Altertümer des Volles 
Jerael, 3. Ausg, ©. 165), noch „Dedel® (fo bie meiften; 
dgl. dagegen Riehm, Der Begriff der Suhne im Alten 
Teftament, S. 5 und defien Art. „Buubeslade* im Haubwörter⸗ 
buch ber bibliſchen Altertumer, auh Herm. Schulg, Alte 
teftamentliche Theologie, 2. Aufl., ©. 379), fonbern „Deder“, 
deol. Stud. Yafız. 1085. 


562 Bleibtren 


diefen Ausbrud in dem geprägten Sinne ber Opferfpradje vers 
ftanden, ift die Wortbedeutung von nye2, wie „Scheider“ diejenige 
von ning. Bermöge des am fie gefprengten Blutes deckt die 
Kapporeth die Seelen der Heilögemeinde von wegen ihrer Sünden 
dor dem Angefichte Jehovas, fo daß der Sünde ungeachtet bie 
Gottesgemeinſchaft fortbauern kann, und erft auf biefer deckenden 
Wirtung der Kapporeth beruht es, daß fie wird, was fie fein fol, 
bie Stätte der göttlichen Heilsanweſenheit, — wie fie Hebr. 4, 16 
genannt wird, der Ipövos Ts zXupırog, nad) Luthers and an 
unferer Römerbriefftelle befolgten Überfegung der „Gnadenſtuhl“. 
Die biutbeiprengte Kapporeth ift alfo nicht eine zuſammengeſetzte 
Vorftellung, fondern eine einfache; es gehört mit zu ihrem Be 
griffe, dedendes, fühnendes Blut am fich zu tragen. Mur bei 
dieſer Annahme erflärt fih der Name des Geräts. Die Ber- 
tretung Gottes den Menſchen und die Vertretung der Meufchen 
Gott gegenüber, beides ift in der altteftamentfichen mer, ift 
ebenfo in des Apoftels iRaozrgrov zugleich enthalten, in eins zus 
fammengefaßt. Diefer Reichtum des fich ergebenden Sinnes dient 
ebenfo wie deffen aufgezeigte genaue Angemefjenheit an das Vor⸗ 
bild des Alten Teſtamentes der origeniftifchen Erklärung unferer 
Stelle noch zu befonderer Empfehlung. 

Die fühnhafte Gottesftätte des Alten Teftamentes war im 
Alterheifigften verborgen. Ihr neuteftamentliches Gegenbild Epriftus 
Zefus ift an die Öffentlichkeit Heransgeftellt worden. Jetzt macht 
uns die Beifügung > 7@ avrov alnarı mit einem weiteren 
Unterfchiede befannt. Chriſtus Jeſus ift ein mit feinem eigenen, 
nicht mit frembem, nicht mit Tierblut befprengte Kapporeth. Daß 
des Apoſtels Worte in diefer Gegenfäglichkeit verftanden fein wollen, 
erhellt aus der ungewöhnlichen Stellung des aurov (vgl. Weiß, 
6. Aufl. von Meyers Komm.), der zufolge dasjelbe allen Ton auf 
fih zieht. Und um fo leichter Tann es ihn ganz auf fid ziehen, 
wenn mit dr 7& oiparı dem ÜAuszrgsor gegenüber nichts Neues 
mehr ausgefagt wird, wenn, anders ausgedrückt, in bem lehterra 
der Sühnebegriff ſchon mit enthalten war, — ein ferner Be» 
weis für die Richtigleit defjen, was wir im Vorſtehenden gegen 
Ritſchl ausführen mußten. 


Der Abſchnitt Röm. 3, 21—26. 568 


Bas aber machen wir num mit der noch vor dv z@ adzov 
oiuorı ftehenden Beftimmung des zlorews? Bisher haben wir 
den Begriff der miorıg ſtets ſtark betont gefunden. So wird es 
hier wohl nicht anders fein. Im Gegenfage wozu aber wird 
dann dia nlorewg den Ton haben? Gewiß au im Gegenfage 
zu etwas Altteftamentlihem. Nun war auf altteftamentlichem 
Boden die Kapporeth, diefe fühnhafte Gnadenftätte, in die Anftalt 
des Gefeges mit feinem ganzen Apparate eingefchloffen, nur 
Mitgliedern des Judenvolkes kam die Kapporeth zugute. Ganz 
anders Chriftus. Er ift Sühn- und Gnabdenftätte nur mittelft 
Glaubens, ift es für jeden, der ihn nur dazn haben 
will. Legen wir alfo auf mgod9ero, auf dia mlorewg und auf 
avroo den Ton und laffen wir ben Ausdruck iRuor/gıov felbft 
ganz unbetont! Denken wir ferner nad) 6 eos und nad due 
aloreng ein Komma gefegt! So werden wir den Apoſtel richtig 
verftehen. „Gott hat Chriftum Jeſum Herausgeftellt, eine 
Kapporeth nur mittelft Glaubens, eine Kapporetö mit ihrem 
eigenen Blute.“ Will übrigens jemand nad üblicher Weiſe 
& 14 avrou aluarı lieber mit mgoFero verbinden, ftatt es als 
zweite Näherbeftimmung von iAaorngıov mit dia mloreug als ber 
erften parallel Laufen zu laffen, fo machen wir ihm, falle er ſich 
nur bei jener gewöhnlichen Verbindung etwas Klares benfen kann, 
kein Verbrechen daraus. Aber der Grund wenigftens, auf den 
man ſich beruft, ift für uns nicht mehr ſtichhaltig. Man fagt: 
Gehörte Zr r@ adrod alyarı zu iRaorrgıov, fo müßte es als das 
Opfetive doch wohl bem fubjeftiven dia zloremg voranftehen. 
Aber ift die aloric hier im Gegenfage zur Geſetzeszugehbrigkeit 
der altteftamentlichen Kapporeth gedacht, fo iſt keine andere Stellung 
der beiden Beftimmungen möglich, als die vorfindliche, und „obs 
jeftio" und „fubjeftiv“ bleiben ganz abfeits Legende Geſichtspunlte. 
Erſt auf einer Unordnung bes Geſetzes beruht es, daß bie 
Rapporeth, wie vorhanden fein, fo aud mit Blut befprengt werben 
mußte. Dem entjpredhend muß auf der neuteftamentlichen Gegen 
feite zuerſt die Nicht⸗Geſetzes⸗, fondern Lediglih Glaubens» 
iedingtgeit der Kapporeth ausgeſprochen werden. Dann erft wird 


wc die Unabhängigkeit von der immerhin einzelnen, wiewohl 
37 


E71 Bteib treu 


"wefentlichen, Geſetzesvorſchrift betont, nach welcher es des Opfer⸗ 
Blutes bedurfte. Chriſtus Jeſus iſt in fich ſelbſt ſchon dus 
Opfer. Auch nad dieſer Seite braucht er fick durch Geſetzliches 
nicht zu ergänzen. 

Wenn wir von hier aus einen Ridblid werfen, fu haben wir 
eine dreifache Ausfage in B. 21 gefunden: — weils vöuos, 
neparigwrcs und napsvgouuln war betont. Einer dreifachen 
Ausfage begegueten wir desgleichen in B. 22: — Ion, dia 
nlovews 'Inoov Xgoros und ek rarrag xar dni nürtos Tedc 
oreðorac, jebes hatte feine jelbfändige Geltung. Eine dreifache 
Ausſage trafen wir ferner in B. 24 an: — dugsar, zi 
adrod xagısı und dia Tic dmolusguaews zig dv Xoro "Inn 
waren mis gleichem Gewichte einander nebengeordne. Auf eine 
derifache Ansjage ſtießen wir ſchließlich auch in B. 25: — 
noofdero, dia nloreus und dv. 70 avroo alkarı benwipruchte 
jedes beſonderen Nachdruck. 


Am Ende des 25. Verſes hebt nunmehr eine Beftimmung an, | 


die bis zum Schluſſe des 26. reihe. Daß auch Hier, nur in 
zum Teil anderer Weiſe·, Symmetrie herrſcht, ift leicht zu jeher. 
Dem Anfange eig deko 775 dixmmourng avron wer. lauſt 
offenbar der Abſchluß eis ro era aurov Ölxaıov xrr. als mit 
ihm inhaltsgleich parallel. Aber das erfte der parallelen Glieder 
ift num viel weiter ausgeführrt, als bas zweite. Gehen wir auf 
diefe weitere Ausführung ein, fo zieht zunächſt die Erwähnung der 
rgoyeyovbra änaprr’ use unfero Aufmerffemteit auf fi: Iſt es 
nicht verwunderlich, daß, foviel wir fehen, noch niemand dem Hin 
blick auf dem aftteftamentlichen großen Verfährungstag wahr 
genommen hat, welcher in der Anführung der mgoyeyorora auag- 
vruora ſichtlich enthalten ift, ja daß fogar damm, wenn wirklich 
das Alto Teſtament zur Aufhellung unferer- Stelle verwertet wurde, 
man eher noch die: entlegene batwı Maxf heranzog (RToftermann, 
Korrelturen zur bisherigen Erllavung des. Romerbriefes), als den 
naheliegenden oyaazı die? Alle Jahre einmal wurden am großen 
Verſohnungotage die vorher vorgefallenen Bergehungen geſſihat und 
fo Onttes Gerechtigkelt ins: Licht geſetzt. Hierzu bedurfte «6 
alo deo wichtigſten Alktes der — einzig am jenem großer Ber 





Der Abſchnitt Röm. 8, 21—26. [3 


ſchnungẽtage geſchehenden — Beiprengung der Kapporeth mit 
Blut. Rein Zufall alfo ift es, daß wir die mooyeyonöra dpeap- 
riuara und des iuosrgıov fo nähe bei einander erwähnt finden. 
Und fo wird es fich denn auch Hinfihtlich des Tonwertes mit 
jenen ebenfo wie mit dieſem verhalten. Wie Auweriper allen 
Prädifatsnachdrud an feine Umgebung abtrat, fo werden es die. 
moyeyovöra önoprnnare gleichfalls thun. 

Sofort zeigt ſich auch, daß dem wirklich fo ifl. Wir leſen 
nicht bloß, Gott habe feine Gerechtigkeit am großen Verfühnungss 
tage beweifen wollen hinfihtli der vorherigen Sünden, 
fondern das leſen wir, er habe es thun wollen wegen Borbet» 
loffung, wegen Überfehung bderfelben. Wiederum ift uns 
darin etwas die hriftliche Erlbſung von der judiſchen Unter» 
ſcheidendes angegeben. Denn auf altteftamentlichem Gebiete 
fund vor dem großen Verfühnungstage keineswegs eine Überfehung 
der Sünden ftatt. Im Gegenteil, auch vorher wurde alle Tage 
geopfert. War das Sähnopfer des nrapzn dr fon das hauptſüch ⸗ 
lichſte, dennoch trat es aud wieder nur ergängend und nachheifend 
am fonftigen Opfer Hinzu. Anders das Opfer des neuteftament- 
lichen großen Verföhnungstage. Da thut diefes Opfer alles für 
fih felbft allein, und vorher findet Lediglich uaenıs ftatt. Das 
Opfer Chriſti iſt vollgenugfam. Vor denselben Hat nichts ſchon 
Blog gegriffen, was zur Sühne ber Sünden diente. Die alte 
teftomentlichen Opfer find fo gut wie bie heidniſchen, neuteſta⸗ 
mentlich angefehen, wie Hebr. 10, 1 «8 ausdrückt, bloße Schatten ⸗ 
bilder gewefen, bie aud nur Schatten zum Erfolg haben konnten: 
vor Chriſto gab's in Wahrheit Iediglih mugsoıs. Was andern» 
falls Hätte der Fall fein müffen, nämlich dag Chriſtus mode 
and xuraßoAns »bonov gelitten (Gebr. 9, 26), es Hat nicht 
finttgefunden. Nach Maßgabe ber vor Chriſto geübten zägenıg 
Will denn auch ferner geradezu die vorchriftliche Zeit beurteilt 
werden. Es follte damals wirklich fo fein, wie es war. Die 
laufende Zeit war eben nicht fir Gerechtigkeitserweiſung, ſondern 
fir nügeons ba. Septere fand ſtatt dv 77 dvoxi zo Hol, 
d. h. zu einer Zeit, welche geradezu die Zeit der Geduld Gottes 
genannt werden muß, wobei 8e0ẽ in einem eigenſchaftlichen Sune 


566 Bleibtren 


fteht, der genugfam erflärt, weshalb dafür nicht vielmehr einfach 
aözon gejegt ift (fowohl gegen Ritſchl, als gegen Hofmann 
und Weiß). Auch anderwärts bezeichnet Paulus die vorchriſtliche 
Zeit ähnlich, wie hier. Apg. 17, 30 redet er von ihr als von 
xobyoic rĩc üyvolag, welche Gott überjehen habe. Aber freilich, 
eine Gebuldszeit Gottes hatte nur darin Möglichkeit und Wirklich- 
feit, daß eine nachherige Zeit der Gerechtigkeitserweiſung in Aus 
fit ftand. Und fo Hören wir denn den Apoftel in einer dem 
dr 75 üvoxi roõ Feou nebengeordneten Beftimmung ſich auch noch 
über jene fpätere Zeit äußern. Mit den Worten: zpos zrr 
Wdukır zn Ömoodyng ausov dv To vür xp erflärt er jene 
fpätere Zeit für die chriſtliche Jetzt zet. Die unter der Geduld 
Gottes in Ausfiht genommene Gerechtigkeitserweiſung, fo fagt er, 
fei, wie der Artikel zwifchen zpog und Zrdeiker anzeigt, eben dies 
jenige gewefen, zu deren Herbeiführung nad) dem vorher Geſagten 
Chriſtus Zeus in feiner Eigenfhaft ald iRaorrgor dient, aljo 
die jegige, die Hriftliche. Die Geredtigkeitserweifung follte 
erfolgen wegen — dus — ber vormaligen zupeoıg, und diefe wies 
derum hatte Raum gewonnen eben in Abfehung — eis — anf 
jene jegige Gerechtigkeitserweiſung. So kehrt das Ente der von 
V. 25 bis in die Mitte von V. 26 reihenden Beftimmung in 
ihren Anfang zurüd. Der auf die Verwendung Ehrifti Jeſu als 
Baorrgrov gefolgte wir xwgös, die Kriftliche Zeit, fie tritt als 
die einzige Heilszeit heraus. Auch Hier aljo wieder eine drei⸗ 
fache Tonftelle: Hua zrv mügeow, dv ci Wwoxn rou Ieov und 
79 vor og. Vor Chriſto nur Geduld, nur Durch⸗die · Finget · 
fehen! Aller Gerechtigkeitserweis in die chriſtliche Jetztzeit zu 
fammengelegt! Dann folgt aber, was in der abſchließenden, jegt 
gleichfalls Über ihre Prädifatsftelfe keinen Zweifel mehr Laffenden 
Beſtimmung fteht: Gott ift gerecht, und gerechtmachend den 
jenigen, welcher nur de6 Glaubens an Jeſum ift. Gicht es 
einen Weg, auf dem Gott feine Gerechtigkeit wahren und bo 
auch den Menſchen als einen Gerechten zu ftehen kommen Laffen 
Tann, fo muß, wer nur jefusgläubig ift, an diefer meafd- 
lichen Gerechtigkeit teilpaben. Das Gefeg Hat nichts mit dabei 
zu thun. Sola fide. 





Der Abſchnitt Röm. 8, 21—26. 567 


Und was Haben wir nun aus den Verſen 24—26 über das 
Befen und die Notwendigkeit von Sühne, fomie im Zur 
fammenhange hiermit über die Möglichkeit einer Mechtfertigung 
des Sunders gelernt? Gar nichts. Uber geht es uns Hierin 
nicht anders als allen übrigen Auslegern, die ja auch das in 
jener Beziehung Gewunſchte Hinter und zwiſchen den Zeilen leſen 
möffen, fo find wir anderfeits in dem entſchiedenen Vorteile, dag 
wir etwas Beſtimmtes anzugeben vermochten, was der Mpoftel 
ftatt defien fagt, was er nicht fagt. Über das die Hriftliche 
Sühne und Rechtfertigung von der jüdiſchen Unterfheidende 
find wir belehrt worden. Da war es num gar nit mehr mög. 
lich, daß uns die allgemeinen Wahrheiten von Sühne und Recht 
fetigung Hätten vorgeführt werden follen. Diefe Wahrheiten rechnen 
ja nit zu dem Unterfchiedlichen des Chriſtentums, fondern 
zu dem ihm mit dem Judentume, fowie überhaupt mit aller 
Religion Gemeinfamen. Nur einfah voransgefegt mußte 
es hier werden, daß Sühne notwendig, Rechtfertigung möglich fei 
und weshalb, und fo gefchieht «8 denn and. Demgemäß kommt 
war jenes Daß, nicht aber auch diefes Weshalb wenigftens in den 
mbetonten Stellen ber Verſe 24—26 zum Ausdruck. Die bes 
treffenden Stellen bilden den Zirkeleinfag, um welchen der Apoftel 
den Kreis der chriſtlichen Beftimmungen Herumlegt, fie find die 
Subjekte, die mit hriftlihen Prädikaten verfehen werden. So er- 
ſchen wir bein: Es bedarf eines "noengiov, es "bedarf einer &- 
dubıs Tag Ixaodvng Tod Heov, es bedarf, was mit dem Zweit» 
genannten dasfelbe ift, eines Ausgleichs zwifchen dem duxaov zivar 
Gottes und feinem dixaouv (rOv doeßn, vgl. 4, 5). Denn offen« 
bar im Sinne der Ausgleichung treten biefe beiden Begriffe 
neben einander, zur ficheren Widerlegung ber Unficht von ihrer 
völligen Gleichbedeutung (gegen Ritfchl, Rechtf. u. Verſ., Bd. II, 
S. 216f.). Aber all jenes, was freilich zur Ansprache kam, 
hat im vorliegenden Zufammenhange doch nur untergeorbneten 
Bert. Bon dem Weshalb erfahren wir nichte. 

Wir faſſen unfere Auslegung des Abſchnitts zufammen. Eic 
nüyrag xol Em) movsag Tods mioredovrag, das iſt fein Haupte 
und Höhepunkt, das Facit aus dem Vorherigen und das durch 


D68 Bleibtren, Der Abſchnitt Röm. 8, 21—26. 


das Nachherige zu Beweiſende. Der Beweis Liegt darin, di 
alle Glanbenden unterſchiedelos Sünder find und die Rechtferi⸗ 
gung als eine folde erfahren, die alle Mitwirkung des Gefept 
aueſchließt und fid demnach einzig eben auf den Glanben grüne, 
Zunãachſt fließt die chriftliche Rechtfertigung bie Werte bt 
Geſetzes von fich ans: Die Rechtfertigung geſchieht umfonf, 
durch Gnade, durch Erlöfung. Sodann aber ſchließt dire 
chriftliche Rechtfertigung die Erlöfung bes Geſetzes von ſich ans: — 
Iſt fie Erlöfungsrechtfertigung, fo doc feine geſetzliche. Nein, 
als Kapporeth ift Chriftus Jeſus ans dem Bereiche bes Gefeket 
Heransgeftellt, mittelft Glaubens wirkſam, das Opferblut 
mit dem bie Kapporeth zu befprengen iſt, an ſich ſelbſt bo 
figend. So ift die Erfheinung ber neuteſtamentlichen Kappe 
reth durchans allem Gefetlichen fremd. Und wie ihre Erfceinung, 
fo auf ihr Zwed. Die Gerechtigkeitserweiſung, auf welche «6 
mit der Wirkſamkeit diefer Kappoteth abgefehen ift, will Hinter 
fi nur Durch⸗ die-Finger-ſehen, nur Geduld Haben, ſelbſt 
will fie ganz der chriſtlichen Gegenwart angehören. Wie vor 
Hin durch mooßsero hinſichtlich des Raumes, fo wird jegt derch 
% 76 vor sage Hinfichtlich der Zeit das chriſtliche Heil den 
judiſchen Grenzen entrüdt, Dann aber gilt es wirklich nur ein 
Kind der neuen chriftlichen Zeit, es gilt mur bes Glaubens as 
Jefum zu fein. Die Gotteßgerechtigfeit fommt wirklich, mas p 
beweifen war, eis navrag wol ini nüstag Tous muorevorrug. Dab 
Ergebnis Tautet mit einem Wort: Sole. 





Gedanlen una Bemerkungen. 


1. 
Zur Evangelieufrage. 


Bon 
Dr. Sernfard Weiß. 


Mit befonderer Beziehung auf den Auffah von D. W. Bey— 
ſchlag: „Die apofolifche Spruchſammlung und unfere vier Evan- 
gelien“ (Cheol. Stud. u. Krit. 1881, Heft 4, 3. 565ff.). 





Ehen hatte ich in der „Theologifchen Litteraturzeitung“ (1881, 
©. 182) die Erflärung Holgmanns gelefen, wonach derfelbe feine 
Urmarkus · Hypotheſe im weſentlichen zurüdnimmt und nicht zu bes 
merken unterläßt, daß meine „dagegen ins Feld geführten Inſtanzen 
gegenſtandslos“ geworden feien, ala mir das Heft der „Studien 
und Kritifen“ zur Hand kam, in welchem Beyſchlag biefelbe in 
neuer Geftalt vertritt und eingehend gegen meine Ausführungen 
verteidigt. Allerdings gewinnt diefelbe nunmehr ein fehr anderes 
Befiht. In dem Mae, in welchem fih fein Bild von der 
‚apoftolifchen Spruchfammlung“ dem Bilde der „apoftolifchen 
Duelle“, wie ich es gezeichnet, nähert, indem er eine Fülle von 
Stoffen, die Holgmann derfelben einft abſprach, ir wieder vin⸗ 
igiert, wird fein „Urevangelium“ unferem Markus verwandter 
nd die Differenz der angeblich in Iegterem vorliegenden Bearbei⸗ 
ing des erfteren von dieſem felbft für die Eritifche Trage uner⸗ 
eblicher. Immerhin bleibt noch ein fehr wefentlicher Unterſchied 
oiſchen unferen Auffafjungen zurüd, indem ein nicht geringer 


572 Bei 


Zeil von Rede⸗- und Erzäflungsftüden bei Markus ihm im m 
ſentlichen als originale Konceptionen erſcheinen, die ich nur für 
fetundäre Bildungen Halten kann und in ihrer urfprünglidften Or 
ftalt in unferem Matthäusevangelium aus der älteſten Qule 
nod treuer erhalten finde. 

Es Tag mir wohl das Bedenken nahe, ob ich es wagen dürft, 
die Leſer diefer Blätter nochmals mit der Diskuffion bier 
Meinungsverfchiedenheit zu behelligen. Ich Habe im meinen Eu: 
gelienfommentaren fo vollftändig alles gejagt, was ich für mein 
Anfiht anzuführen weiß und wovon der Natur der Safe mh, 
mein verehrter Mitarbeiter auf diefem Gebiete doch nur einzeln 
berühren tonnte, daß die Lefer fürdten müffen, nur cramben bis 
terque recoctam zu empfangen. Ich habe in meinem „Leben 
Jeſu“ verſucht, vom hiſtoriſch-kritiſchen Gefichtöpunfte aus den 
Beweis zu liefern, daß meine exegetifch-fritifchen Rejultate ſich 
auch bewähren, wenn man verſucht, das aus umferen Quellen fh 
ergebende gefdichtlihe Bild des Lebens Jeſu wit dem Bilie zu 
vergleichen, das die Einzelheiten deöfelben im jedem unſeret vier 

* Evangelien gewinnen, und die Entftehung des legteren zu erfim. 
Ich kounte hiernach meine Arbeit auf diefem Gebiete ald abge 
ſchloſſen betrachten und es ihr felbft überlaſſen, ſich abweichenden 
Anſchauungen gegenüber geltend zu machen und Überzengungefrift 
zu gewinnen. Wenn ich trotzdem, an bie Urbeit Beyſchlags um 
tnupfend, noch einmal das Wort nehme, fo geſchieht es, weil ih 
glaube, dabei einige allgemeinere Geſichtspunkte zur Sprache bring 
za Mnnen, welche für die Beurteilung der einzelnen kritiſcen 
Differenzen von entfeeidender Bedeutung find. 

Es ift mir ja nicht felten vorgeworfen worden, daß weit 
Anfhauung von dem Verhältnis der drei erften Evangelien md 
ihren Quellen von vornherein im Vergleich mit der Urmartak 
hypotheſe (wie ich fie einmal nennen will, weit an die Unterfce 
dung des zweiten Evangeliums von der allen drei Synoptiten 
zugrunde llegenden erzähfenden Sqhrift fich doch nun einmal ale 
Differenen anknüpfen, welche meine Anficht von dem Verhaltais 
der beiden erften Evangelien unter einander umb zu der fe. 
Spruchſammlung von der Holgmanns, Weizfäters, Ber 


Zur Evangelienfrage. 578 


ſchlage u. a. unterſcheiden) als eine viel kunftlichere und kom⸗ 
pliziertere erſcheie. Ob dies wirklich der Fall ſei, möchte ich, 
nachdem ich nunmehr eine zuſammenhängende Darſtellung meiner 
Auffoffung von der Geneſis der Evangelienlitteratur in dem 
Quelleubuch meines Lebens FJeſu gegeben habe, erneuter Prüfung 
anheimftellen. Wenn dieſelbe von keinen anderen Schwierigkeiten 
gedruckt wird, ais von den drei „großen Unwahrfſchelmichtelten“, 
welche Behſchlag von vornherein gegen fie Ind Feld fühet (S. 670f.) 
fo möchte ich dem Reſultate dieſer Prüfung mit einiger Zuverſicht 
entgegenſchen. Am werigften ſchredt mich der Vorwurf, daß id) 
„den einfach großen Durchdlic Holtzmanns, nach melden das 
redearme zweite Evangelium lediglich aus ber erzahlenden Hanpte 
quelle, die beiden anderen mit ihren Meberhaffen aus jener Haupt⸗ 
quelle und der Spruchſammlung fich erllären“, wieder aufgegeben 
habe. Erkennt doch gelegentlich Beyſchlag ſelbſt, daß mar zuwenen 
das ſcheinbar Einfachere aufopfern muſſſe, weil es eben den vorliegen⸗ 
den Thatſachen nicht entſpricht (vgl. ©. 602); und wenn Beyſchlag 
ſelbſt die Vorſtellung Holtzmanns bekämpft, als Habe ein Evangeliſt 
irgend wahrſcheinlicherweife Die Abſicht Haben konnen, einer Schrift 
mit auoſchließlichem Lehrgehalt eine mit ebenſo uberwiegendom Ge⸗ 
ſchichteſtoff gegenüberguftellen (S. 598), wenn thatfächlich das 
alteſte Papiaszeugnis ger nicht den Aöyın des Matthäus etwa 
myaxHrro, die Markus gefhrieberr Habe, fondern Ada A 
na Ferro gegemüberftellt, alfo der VWorftellung vor einer urfpringe 
lichen Duplichät evangelifcher Quellen, die fid; nach diefem Ger 
ſichtspuukt uuterſcheiben, jede geſchichtliche Gewähr fehlt, fo frag 
ſich doch ſicher, ob jener „einfach große Durchblick“ wirtlich den 
Rern der Sache getroffen hat oder ob man nicht auf anderem 
Bege zum Ziele zu kommen verfuchen dürfte, 

Das. führt aber diveft auf den erften: Haupteiawand Bey 
qhlags. „Eine Queltenfhsift, welche uns einfach uud glanbwichig 
18 eine Zufammenſtellung von Aueſprüchen bezeichnet ift, foll dar 
«ben nicht Bloß geidichtliche Anläffe folder Ausſpruche enttaiten 
aben, fondern eine Menge von Mitteilungen, deren Schwerpunft 
icht ins Lehrthafte, ſondern ins: Thatſachtiche fällt.“ Ich braude 
tee nicht zus wiederholen, was oft genug der die Moglichleit ge⸗ 


574 Bes 


fagt ift, daß jene alte Notiz über die Matthäusſchrift keineswegt 
notwendig die Abfidht Hatte, ihren vollen Inhalt zu befchreiben, 
oder daß fie lediglich auf die Haupttendenz der Schrift fich bezog. 
Ich muß Hier einfach, behaupten, bag Beyſchlags eigene Vorftellung 
von ber „apoftolifchen Sprudfammlung“ mit jener faljchen Deutung 
ber Papiasnotiz, welche er mir hier entgegenhäft, bereits gründfid 
genug gebroden hat. Eine Schrift, welche mit einer kurzen Notiz 
über den Täufer, mit der Tauf- und Verfuchungsgefchichte begann, 
welche mit einer Notiz über die Vollswirkſamkeit und Jünger 
berufung zur Bergpredigt überleitete, welde den Hauptmann von 
Kapernaum und wahrſcheinlich auch das kanandiſche Weib, welche 
eine Dämonenaustreibung umd zwei Sabbatheilungen Jeſu, welde 
den Beſuch der Verwandten Jeſu umd die Erzählung von Maria 
und Martha enthielt, das ift doch ſchon Tängft Feine reine Sprud- 
fammlung mehr. Wo ift hier die Grenze zwifchen den Erzählungs« 
ftüden, welche Beyſchlag der Quelle zugefteht und welche er als ihr 
völlig fremdartig aufs entfchiedenfte abwehrt? Wenn er insbe⸗ 
fondere die Dämonenaustreibung in der Defapolis, die Jeirus⸗ 
tochter und den Epileptifchen am Fuß des Verklärungsberges als 
folche nennt, "deren ganzes Intereſſe ins Thatſächliche fällt, fo 
fürchte ih, daß ihm hier überall die farbenreihe Marfusdarftellung 
vorſchwebt, nicht aber die Darftellung der Quelle, wie ich fie mir 
nach Abzug deſſen, was ber erfte Evangelift zu ihrer Bereicherung 
aus Markus aufgenommen hat, denke. Auch habe ich wiederholt 
gezeigt, wie auch diefe Erzählungen fi um ein denkwürdiges Wort 
Zefu drehen. Dies gilt aber von allen Erzählungsftüdten, bie ich 
der äfteften Duelle zuteifen zu müffen glaube; und daß ich 
irgendwo einfache geſchichtliche „Mitteilungen“ ihr zugeſchricben 
Habe, wüßte ich nicht. 

Die zweite „große Unmwahrfceinlickeit" formuliert Behſchlag 
alfo: „Ein Evangelift, wie unfer zweiter, der unleugbar ein Gefamt« 
bild des Öffentlichen Lebens Jeſu beabfichtigte, fol diefe authentiſche 
Sammlung von Reden Jeſu vor fi gehabt und fie Hinfihlid 
ihres felunbären, erzählenden Gehalts möglichft ansgebeutet, abet 
von bem Beften darin, den Reden Jeſu, nur einen fo kümmrr ⸗ 
lichen Gebrauch gemacht haben, dag er Berge von Schägen un⸗ 


Zur Evangelienfrage. 575 


berührt gelafjen Hätte.“ Bei diefem Einwande hat doch mein vers 
ehrter Gegner ſichtlich nicht ermogen, wie ich mir die Entftehung 
unfered zweiten Evangeliums denke. Da ich dasfelbe für bie 
von Papias bezeugte Markusfchrift Halte, fo verſteht fich ganz von 
ſelbſt, daß ich den Evangeliften nicht als einen Schriftfteller dente, 
der aus ſchriftlichen Quellen arbeitet, alfo darüber reflektiert, wie 
weit er diefelben ausfaufen will oder nicht. Markus erzählt, wie 
ber Presbyter fagte, nach feinen Erinnerungen an die Mitteilungen 
des Petrus, ober vielmehr er fucht, wie Beyſchlag von dem Ver⸗ 
faffer der fogen. Grundſchrift ganz richtig bemerkt, aus ihnen ein 
Gefamtbild des öffentlichen Lebens Jeſu zufammenzuftelfen. 
Gerade daranf führe ich ja überall feine farbenreichen Detail» 
erzählungen, feine lebensvollen Schilderungen zurüd. Wenn ich an⸗ 
nehmen zu miffen glaube, daß er die ültefte Apoftelfchrift gekannt 
hat und darum vielfach unwillkürlich an die klaſſiſche Darftellungs« 
weife derſelben ſich anlehnt, fo ift das doch feine Ausbeutung ihres 
rzäblenden Inhalts. Diefe Gefchichten Hatte er alle auch vom 
Petrus erzählen gehört, wie eben feine Detailausführungen uns 
iegeugen; und wenn ich fir jene Anlehnungen „auf die relative 
Barheit der Gieſelerſchen Traditionshypotheſe von einem münd⸗ 
ichen Erzählungstypus zurücgreife“, fo gefchieht es gerade, weil 
& in jener älteften Apoſtelſchrift nur die erfte Aufzeichnung des 
mählungstypus finde, wie er fi im Kreife der Urapoftel zu 
jerufalem gebildet Hatte und eben infolge dieſer Fixierung bie 
sangeliftifche Erzählungsweife beherrſchte. Vielfach wird derſelbe 
eilich auch die Erzählungsweife des Petrus beeinflußt haben, obs 
ohl derfelbe daneben, wie jeder andere, ihren Rahmen mit den 
ytails feiner eigenen Erinnerungen ausfülte. Aber wenn ich 
ogbem meine nachweiſen zu Tönnen, daß dem Evangeliften bie 
tefte Aufzeichnung dieſer Erzählungen befannt war, fo gefchieht es, 
eil ich überall in feinen Darftellungen derſelben neben Bes 
iherungen aus dem Schatze feiner Erinnerungen an bie Petrus- 
itteilungen auch rein ſchriftftelleriſche Umgeftaltungen der im erften 
vangefium vorliegenden älteften Erzählungsform und nicht felten 
ıe noch fpürbare Verflechtung feiner Zufäge mit einem gegebenen 
xte wahrzunehmen glaubte, welche die Annahme einer einheit- 


bes 5 Beik 


tigen felbftändigen Darftellung unmdglid macht. Auf diefe Desit | 
in chen Beyſchlag nicht eingegangen, umb‘ doch Tiegt in im 
gerade der Nero meiner Beweisführung. Wenn ic) wirklich md 
Bagſchiag ©. 589 etwa die Hälfte des CErzählumgaftoffe bi 
Markt der Gpruchfemumlung vindiziert Hätte — ich Habe mt 
— wie fol mich das „bedenklich machen“, da «8 m 
die Annahme auffällig Beftätigt, daß die älteſte Quelle mr die 
Aufzeiheung der im Apoſteltreiſe, alſo auch von Petra, au 
Hanfigften erzählten Werten und Thaten Jeſa war? 

Nah meiner Borfiellung von ber GEntftehung bes pin 
Evangeliums tonute Markus gar nicht barumf reflektieren, ob m 

den Nedeſchaden jener äfteften Quelle Gebtauch machen wollt. 
iſt ja nur ein altes Vorurteil, daß dieſes Eoamgelium arm ın 
ſei. Dasfelbe Hat, abgefehen vom ber Parufierebe, 
derum notwendig aus einer ſchriftlichen Quelle ent⸗ 
nf, feine langeren Reden, weil eben Petrus fider 
recitierte, wenn er vom Jeſu erzäglte, ſondern 
berichtete, die durch irgendein mterkiwitrbiges ort 
Gedächtnis eingeprägt Hatten, oder merkwürdig Gr 
größten Teil ja gerade Markus auf Grund feint 
Mittelangen in bie evangelifche Überlieferung eingeführt hat. Fi 
feinen Zweck, ein Gefamtbild des dffentlichen Lebens Seh: za gehe, 
genügte das chen völlig, ohne dah er deshalbb ein „ejnsrin 


| 


jepaıgıı 
HH 


Quelle zu entfehuen, da Petrus wohl erzählt haben Eormte, wei 
Kndentungen Zejus über die Beziehung feiner MWicbertusit 
der ledten Trübfelegeit, die über Judta fommen follte, anf dm 
Obberge anf Anlaß des Geſprache über den Untergung des Tan 


Zur Evangelienfrage: 577 


pels gegebene, aber diefelbe ficher nicht in der Form einer großen 
Rede feinen Hörern eingeprägt Hatte, fo war ihm damit noch 
fange nicht die Frage nahe gelegt, ob er etwa auch andere Reden 
aus jener Quelle entlehnen follte. Oder wenn bier und da in 
feiner Wiedergabe von Ausfprüchen Jeſu, dur die er einzelne 
Momente feines Lebens illuftrierte, ihm nicht eine beftimmte Mit 
teilung des Petrus vorſchwebte, fondern die Form, in welcher er 
fie aus den großen Redeſtücken der äfteften Apofteljchrift kannte, 
fo war das noch lange nicht eine fehriftftellerifche Benugung diefer 
Quelle, die man ob ihres „Aimmerlichen Gebrauches“ der Rede⸗ 
ftüde derſelben ſcheel anfehen dürfte. Damit foll über die Haupt« 
differenz, die uns trennt, felbftverftändlich noch nichts entichieden 
fein; nur daß Hier eine große Unwahrſcheinlichkeit vorliege, die 
meine Auffafjung von vornherein unannehmbar macht, muß ih 
befteeiten. 

Der dritte Bunkt, an welchem Beyſchlag fo befonderen Anftoß 
nimmt, ift, daß der erfte und dritte Evangelift, „welche die apo« 
ſtoliſche Quelle und deren wählerifchen Bearbeiter neben einander vor 
fich Liegen hatten“, auch in denjenigen Fällen den Markus mit ber 
rückſichtigt Haben follen, wo diefer nur aus jener jhöpfte. Das 
erſcheint Beyſchlag, als ob „unfer Matthäus und Lukas, um reines 
Waſſer zu erhalten, die klar fliegende Quelle, an der fie ftanden, 
und den abgeleiteten, mannigfach getrübten Bad), der ſich vor ihren 
Augen zum Teil aus ihr Herleitete, mit einander gemifcht hätten, 
anftatt fich für die Redemitteilungen an jene unmittelbares Apoftel- 
zeugniß bietende Quelle allein zu Halten!“ Man Hat meift bei der 
BViderlegung der Griesbachſchen Hypotheſe fo viel gefpöttelt über 
den Evangeliften, den man ſich nad} ihr, modernen Gelehrten gleich, 
vor zwei Buchrollen figend benfen foll und mühſam beide folla- 
tionierend, um fie mit einander zu kombinieren und durch einander 
zu reftifizieren. Aber ift denn die Vorftellung, von der aus hier 
mein verehrte Gegner mich bekämpft, eine weſentlich andere oder 
nicht vielmehr eine noch ungeſchichtlichere? Werden hier nicht die 
beiden Evangeliften zu gut geſchulten modernen Hiftoriographen ge 
macht, welche nichts Wichtigeres zu thun haben, als fauber zwiſchen 
primären und feundären Quellen zu fcheiden und mit „Deiettegung 

beol. Gtnd. Dahrz. 1838. 


vs Weiß 


der letzteren ganz methodiſch ſich rein am die erſteren zu halten? 
So habe ih mir die Evangeliften allerdings nicht gedacht. Da 
der erſte beabfichtigt, bie äftefte Quelle mit Hilfe des Markus zo 
einer vollftänbigen Gefchichte Jeſu zu ermeiteen, brachte es ja frei⸗ 
&d mit fih, daß er oft von dieſem gefliffentlich auf jene feine 
Harpiquelle zurückging; aber dabei war ſicher der Geſichtspunlt 
einer quellenkritifchen Scheidung wicht maßgebend. Wenn Beyfhliag 
geltend. macht, daß die alte Kirche doch das apoftelifche Wort für 
fchlechthin maßgebend Hielt (vgl. S. 606 Anm.), fo vermeäelt 
er den Standpunkt einer viel fpäteren Zeit mit dem unferer Eva 
geliften und bie apoftolifche Heilsverfündigung mit der Erzähfung 
von den Thaten und Worten Jeſu. Diefe hatten Hunderte und 
Zaufende fo gut gefehen und gehört, wie die Apoftel; und umfere 
Evangeliſten, bie noch mitten im Fluß der mündlichen Überlieferung 
mit ihren freien Variationen in der Wiedergabe beider ftanden, 
waren ficher ganz frei von ber bogmatiftifchen Vorftellung, aß Wnne 
tegendeine Wiedergabe berfefben, auch bie apoftalifche nicht amöger 
fehkoffen, auf abſolute Genauigkeit Anſpruch machen. Daqju fam, 
daß ja auch Markus nad dem Mitteilungen eines Apoftels erh 
hatte; und wenn wir heute zu ſcheiden verſuchen, was er aus diejen 
überlommen und was er nad) eigener fchriftjtelierijcher Kombination 
modiſtziert oder hinzugefügt Hat, fo hat jene Zeit au ſolche krittihe 
Operationen doch wahrlich nicht gedacht. Oder, wer fagt Bei: 
flag, daß ber erfte Evangelift, aud) wenn er bei Mark. LO, 29f. 
erkannte, daß diefe Sprüche nichts andeves als die Wiedergabe einer 
Stelle aus den apoftolifchen Quelle waren, bie Zufäge des Mar- 
Rs, den er aboptiert, für felhftgemachte Zufäge und nicht für Nach- 
träge aus‘ petriniſcher Überlieferung, daß er Mark. 10, 31 für 
eimen ſekundären Ausdrud von Matth. 20,. 16 und nicht für eimm | 
ähnlichen Ausfpruc anderen: Ginnes hielt? (&. 583.) Aber hat 
denn überhaupt auch nur irgendeiner unferer Ebangeliften eine be 
ftoriographifcde Tendenz, wie fie zu folchen Reflexionen führe 
Könnte? Erbauen, belchren wollen fie. Wo ihnen ein Zug Kr 
Erzählung, ben fie im eimer ihrer Quellen gelefen hatten, bie 
Sache amfchauliher, bebeutungsvoller zu. machen feiern, wo eine 
neue- Wendung. des Wortes Jeſu dasfelke: Harer, eindrücklicher, bes 


Zur Evangelienfrage. brs 


zichungsreicher machte, da haben fie denſelben aufgenemmen unb 
wahrlich nicht gefragt, ob er aus der primären oder ſekundären 
Quelle herſtammie. Gewiß thut Beyſchlag fehr wohl daran, bie 
Kritik zu warnen, daß fie nice ſolle das Gras wachſen hören, d. h. 
alles: erflären wollen (S. 598), alſo au warum der Evangeliſt 
ehmmal ein Reber oder Erzaͤhlungsſtuck einfach aus diefer Quelle 
entnommen Habe, and einmal durch einen Zug ober eine neue 
Wendung aus ber anderen bereichert. Aber mit diefer einfachen 
Betrachtung fullt ja die ganze Schwierigkeit, die er gegen meine 
Quellenanſchauung erhebt, in nichts zuſammen. 

Dieſe Betrachtung hat freilich noch eine andere, ſehr viel wich⸗ 
tigere Seite, auf die ih in einem anderen Zuſammenhange zu 
kommen Hoffe. Es fei mir aber zunächſt erlaubt, noch einmak die 
umer ung ftreitige Hauptdifferenz unter den Geſichtspunkt der 
wichtigſten allgemeinen Gntfcheißungsgriinde zu ftellen‘, die ſich 
hinter der Berhandlung über die Einzelfälle, die ung Beyſchlag 
bietet, oft doch etwas verbergen. Daß der erfte und dritte Evan» 
zeliſt zwel Hauptquellen haben, nehmen wir beide an; ebenfo daß 
es beſonders da Kervortritt, wo dieſelben weſentlich denſelben Aus⸗ 
pruch einmal im Zuſammenhannge des Markus bringen ud ein⸗ 
nal in einem anderen Zuſammenhange, der darum mutmaßlich der 
Zufommenhang der anderen Quellen fein: wird: Ich verſtehe nicht, 
rum Beyſchlag ſchließlich immer wieder anf diefe Thatſache 
rumpft, die ja von beiden Seiten anerkannt if. Die Frage: ift 
ur die, ob die Faffung bei Markus eine originale, in der Über» 
eferumg felbftändig gebildete oder eine durch bie Faſſung der älteren 
wielle bedingte, nach ſchriftſtelleriſchen Motiven aus ihr abgewandelte 
t. Auch hier verſteht ſich von ſelbſt, daß die Evangeliſten auf 
eſe Frage nicht refleltiert Haben. Bringen fie einen ſolchen Ausſpruch 
etwas modifizierter Faſſung nach ihrer zweiten Quelle zum zweiten» 
ale, fo werden fie, vorbehaltlich einzelmer Ausnahmefalle, wo ihnen 
tganıgen fein. dürfte, daß fie den Spruch bereits gebracht haben, 
genommen haben, Buß: died ehr anderer Ausſpruch über diefelbe: 
ache fei. Gelegentlich nimmt Bas ja Behſchlag ſelbft an, und die 
e Harmoniſtit Hat diefe Annahme bis zur Außerfteh Unnaturlichteir 


sgebeutet. NE die igſtoriſche Kritik Tann die abſtrette Mögliche 
38° 


580 Beiß 


keit, dag Jeſus einmal fi in diefer Weife wieberhoft Haben Könnte, 
nicht in Betracht kommen; mir ift kein Fall bekannt, wo man mit 
irgendeinem zwingenden Grunde zu folder Annahme genötigt wäre, 
felbftverftändlich eine Mahnung ausgenommen, wie die Jeſu jo 
geläufige: „Wer Ohren bat, höre!“ Aber unfere Evangeliften übten 
folge Kritit nun einmal nicht, und die Frage Beyſchlags, ob es 
wahrſcheinlich fei, daß Matthäus denfelben Spruch einmal aus den 
Logia direft und einmal aus dem die Logia verändernden Mar 
tus entnommen habe (S. 573), ift einfach zu bejahen, weil der 
Evangeliſt nun einmal in ber veränderten Faſſung einen neuen 
Spruch ſah. 

Gewiß iſt nun jene Hauptfrage fo leicht nicht zu entſcheiden. Aber 
damit ift doch auch gar wenig gefagt, wenn Beyſchlag fi darauf 
beruft, daß, wenn zwei Schriftfteller dasſelbe deutſche Sprichwort 
benutzen, daraus noch feine fchriftftellerifche Abhängigkeit des einen 
vom anderen folge (vgl. ©. 578). Denn um überall gangbare 
Sprichwörter Handelt es fi Hier nicht, fondern um geſchichtliche 
Ausſprüche Jeſu, auch wenn diefelben ſich etwa hier oder da an 
proverbielle Wendungen anlehnen follten. An fich tft ja gewiß die 
Möglicgkeit zuzugeben, daß derſelbe Ausſpruch Jeſu auch verſchie⸗ 
denen Schriftſtellern ſelbſtändig im gleichen Wortlaut zugekommen 
fein könnte, zumal auch für mic die petriniſche Überlieferung zu⸗ 
letzt auf denſelben Traditionstypus zurückgeht, der ſich im jeruſa⸗ 
lemiſchen Apoſtelkreiſe gebildet hatte. Aber mit ſolchen Möglid 
feiten kann man nur rechnen, wenn anderweitig die Unabhängigfeit 
jener beiden Schriftfteller über alle Zweifel erhaben if. Das Ge 
mwöhnliche ift doch gerade, daß die Faſſung bei Markus erhebfih 
von derjenigen abweicht, welche wir ber anderen Quelle vindizieren 
müffen, und baß eben darum bie felundären Evangeliften fich ein 
mal mehr an die eine, das andere Mal mehr an die andere ans 
ſchließen. Hier pocht nun gerade Beyſchlag auf die Verſchiedenheit 
der Faſſung für feine Annahme zweier verſchiedener Überlieferungs- 
quellen und will ſchlechterdings nicht begreifen künnen, wie die der 
neben ſich findenden Übereinftimmungen auf Titterarifche Bezichun« 
gen hinweiſen follten, wenn es doch einmal derfelbe Ausſpruch fei, 
den beide wiedergeben. Gewiß wäre e8 auch jehr verkehrt, aus 





Zur Cvangelienfrage. 581 


jeder ſolchen Übereinftimmung auf die Abhängigkeit eines Schrifte 
fteller8 von dem anderen zu fchliegen. Allein wo diefelbe ſich in 
ſprachlichen Wendungen oder Ausdrücken zeigt, die ohne jede Alte 
tation des Sinnes von verjchiedenen Perfonen auch verſchieden ger 
wahlt werden würden, weil ſich verſchiedene gleich leicht darbieten, 
da wird doch ein zufällige Zufammentreffen ſchon recht unwahr⸗ 
ſcheinlich. Wenn nun eine diefer Wendungen oder Ausdrüde einem 
der beiden Schriftfteller befonders geläufig ift, bei dem andern ſich 
nur vereinzelt in einer ſolchen Parallele findet, da ift doch die An⸗ 
nahme einer fchriftftellerifchen Beziehung ficher die nächftliegende, 
und wenn Beyſchlag die Bemerkung, dag das 5 narne Univ ° dv 
orgavois nur Mark. 11, 25 anffingt, damit entkäften will, daß 
dem Evangeliften zum Anbringen biefer Wendung faum ander⸗ 
weitige Gelegenheit gegeben war, obwohl er doch überall Gott fo 
nennen konnte, fo weiß man faum, ob man diefe Entgegnung 
(S. 574) ernft nehmen fol. Die legte Entſcheidung aber Tiegt 
darin, wenn die Abweichungen von der gemeinfamen Grundlage fi 
bei einem der beiden nicht als zufällige Variationen des Ausdruds 
nehmen, fondern nur als abfichtsvolle und darum fehriftftellerifche 
Movdififationen der Faſſung verftehen laſſen. Nach diefen Gefichte- 
punften Habe ich im einzelnen nachzuweiſen gefucht, daß die Faffuns 
gen bei Markus nicht als felbftändige Überlieferungsformen, fon« 
dern als Modifikationen der ihm bekannten Ausfprüche der älteften 
Quelle zu nehmen find; und da Beyſchlag auf die Details dieſer 
Nachmweifungen nicht eingegangen ift, fo kann ich auch feine Ablch- 
nung der von mir angenommenen fitterarifchen Beziehungen nicht 
gerechtfertigt finden. 

Aber es handelt ſich hier gar nicht um vereinzelte Ausſprüche, 
die Markus aufbehalten hat. Wo Markus felbft erzählt, wo die 
Ausſpruche Jeſu fih an beftimmte Vorfälle anfnüpfen oder in 
Gefpräche verflochten find, da ift auch die Faſſung derfelben ori» 
ginal und die feiner Bearbeiter fo ſichtlich fefundär, dag in ihnen 
feine ältere Geftalt derfelben gefucht werden Tann. Wo irgend 
aber die Ausfprüce loſer angeknüpft find, wo fih Sprud an Sprud 
reiht und Spruchketten oder redeartige Gefüge entftehen, da laſſen 
fi überall, wenn wir von verſchwindenden Ausnahmen abfehen, 


582 Weis 


die Materialien entweder in ben enſprechenden voliftäudigeren Reden 
oder in anderen Zufammenhäugey ber älteſten Quelle nachweiſen. | 
Daß aber in zwei felbftändigen Überlieferungsfreifen ausſchließlich 
dasfelbe Material von Ausiprücen und Redefragmenten erhalten 
fein ſollte, ift doch äußerft unwaheſcheinlich; wir durch die ſchrift⸗ 
liche Fixierung der ätteften, in dem jerufofemifchen Ereiſe gefam- 
melten Überlieferung yon Spruchketten und Heben Jeſu it st 
wedglid) geworden, daß ein fo eng geſchloſſener Kreis ſolcher Lehr⸗ 
elemente dur unfere Evangelien hindurchgeht. Ich muß darauf 
zurüdtommen, daß ich mir von müundlicher Überliefernug längerer 
Soruchletten ader Reden Jeſu Leine DWorftellung macher fan. 
Dort im Mpoftelreife zu Jeruſalem konnte man verfuchen, uud 
gemeinſamer Erinnerung zuſammenzuſtellen, was Jeſus über einm 
beſtinunten Gegenftand ober bei einem bejtimmten Anlaß geingt 
hatte; dort konnten jene Spruchletten und Meden ſich biden, wie 
fie in der ülteften Quelle ſchriftlich firiert find; aber daß man 
irgendwo, daB ſelbſt ein Petrus ſolche Spruchketten und Reben 
recifierte, vermag ich mir nicht vorzuftellen. Er fonnte, auch mo 
ihm nicht der fpezielle Anlaß eines Ausſpruches Jeſu gegemahrig 
war, denfelben in feiner Verkündigung gelegentlich anführen, and 
mit anderen ähnlichen frei verknüpfen, weil er moös Tas zosias 
moito zug dıdaozahlas, AAA” aux wong ovrrafv Tüv zugu- 
wir mowüpevog Adyav, wie Papias mit offenbarer Beziehung auf 
bie von Matthäus verſuchte ovyrafıg jagt, Aber daraus entftand 
then Teine konſtante Überlieferung von Spruchketten und Heben. 
Gerade weil Markus ans dem Vorgange des Petrus an jolche 
Verwendung und Verknüpfung der Herrenfpräce gewöhnt war, 
hat er kein Bedenken getragen, gelegentluh ein gleiches zu thun. 
Liegt denn wixklich bie mindeſte Wahrfeheinfichfeit vor, daß eim 
Spfruqhtetie, mie Mork. 4, 21-25 oder 11, 23—26 von Peru 
Yprgetragen oder nicht vielmehr won dem Evangeliſten felbft gebildet 
fein foßfte? 

Gewiß ift es an fih möglich, daß and dis Verbindung zweier 
Ausſpruche duch Jeſum ſelbſt fih der Erinnerung einprigen 
konnte (S. 575) und fo in zwei fsfbftändigen Überlieferungstreiite 
auftauchen kann; aber wenn nun neben einer ſolchen Kombination, 


Zur Evangelienfrage. 588 


wie Mark. 8,34 f. (ogl. Matth. 10, 38f.), eine Verbindung völlig 
heterogener Ausſpruche, wie einer fachlichen Reminifoenz an Matth. 
10, 33 und 25, 31 auftritt (Mark. 8, 38), oder werm mit Mark. 
9,42. 43 ff., welche ſchon in der älteften Quelle fo verbunden geweſen 
fein mößfen (wie ber ganz fonforme Ausdruck Matth. 18, 6; 
5,29f. zeigt), Ansfprüche, wie Mark. 9, 41. 50, beren völlig anderer 
Zufammengang durch Matt. 10, 42. Quf. 14, 34 ausreichend 
Tonftatiert ift, verbunden werden, fo fpricht doch alle Wahtſcheinlichleit 
dafite, daß jene wie diefe nur durch fihriftftellerifche Reminiſcenz an bes 
ſtimmte NMedeftüce der älteften Quelle und nicht durch felbftänbige 
Erinnerung an Ausfprühe Jeſu, wie fie Petrus mitteilte, dort 
ihre Stelle gefunden haben. Unfer verehrter Gegner möchte das 
freilich gern abwehren und Marl. 9, 41 als einen von Matth. 
10, 42 ganz verſchiedenen Spruch nehmen; allein da bicht davor 
Dart. 9, 37 eine Reminiſcenz an Matth. 10, 40 ſich findet, 
aus einem geſchloſſenen Zufammenhange der Alteften Quelle ent 
aommen und in- ganz felundärer Weiſe verwandt, die mit Marl, 
9, 41 nur einen fchriftftellerifchen Zuſammenhaug hat, jo it 
augenfällig Eonftatiert, daß hier dem Gvangeliften der Zufammens 
Bang der Ausfendungsrebe vorſchwebt. Und wenn Beyſchlag fragt, 
wer denn dafür bürgt, daß Luk. 14, 34 der urjprüngliche Text 
ber Logia vorliege (S. 573), fo habe ich eben nachzuweiſen ver- 
ſucht, dag dort die wefentlih urfprüngliche Form und der einzig 
wahrſcheinliche Ort des Spruches vom Salz erhalten fei. Einen 
Schritt weiter fehen wir Markus gehen, wenn er von der Ber» 
teibigungörede gegen die MBerlzebubverleumdung (8, 23—30) und 
von der Ausſendungsrede (6, S—11) erhebliche Bragmente auf 
behalten hat. Behyſchlag findet hier eine felbftändige Überlieferung 
diefer Reden; aber es ift mir in der That nicht Mar gemorden, 
wie er fich die Verteidigungsrede der Logia denkt, wenn Matth. 
12, 25f. 29. 31 aus dem Urebangelium herrügren fol. Nur 
durch ein willkürliches Zerreigen des Zufammengehörigen fann 
man body) Matth. 12, 27f. 30 aus feinem Zufammenhange heraus- 
fen und barin eine felbftändige Verfion jener Rede finden. Daß 
Matth. 12, B1f. bie Faſſung des Spruches von der Geiftes⸗ 
äfterung in den Logia (But. 12, 10) mit ihrer Erweiterung durch 


584 Weiß 


Markus verſchmolzen iſt, meine ich ja auch; aber woher entrüftet 
Bh denn Beyſchlag in anderen Fällen darüber, daß ich derartige 
Kombinationen im erften Evangelium annehme und redet ſpöttiſch 
von einem „Zufammenfiltrieren“ ber Logia mit ihrer angeblichen 
Bearbeitung im Markus? Denn dag die Mark. 3, 28f. vor 
liegende Erweiterung und Verallgemeinerung des Spruches Lul. 
12, 10 ganz eine der fohriftftellerifchen Weife des Markus ent 
ſprechende Umbildung und nicht eine Variante der Überlieferung 
ift, liegt Hier doch auf der Hand. Bon der Ausfendungsree 
tönnte man es ja an fi glaublic finden, daß in der petriniſchen 
Überlieferung nur die Hauptanweifungen an die Jünger trabiert 
wurden; aber aud Hier gerade Habe ich zu zeigen verfucht, wie 
immer noch zu viel Übereinftimmung in der fhriftftellerifchen For⸗ 
mung biefer Anweifungen vorliegt, um an eine jelbjtändige Über 
lieferung derfelben zu glauben. 

Die letzte Entfheidung liegt natürlich in der Parufierede. 
Diefe Rede kann nur entweder ganz freie fchriftftellerifche Bildung 
fein, wofür in ben Evangelien feine Analogie vorliegt, oder fie 
muß einer fchriftlichen Quelle entnommen fein, da eine mündliche 
Überlieferung folder Reden undenkbar ift. Der Beweis dafür 
Tiegt aber noch Mar vor in den Einfcaltungen, die Markus in ihr 
gemacht hat und die fi) noch aufs deutlichfte vom der gegebenen 
Grundlage loslöfen, vor allem, von kleineren Erweiterungen abge 
fehen, in Mark. 13, 9—13; 13, 21—23 und der Schlußparänrie 
13, 33—37. Beyſchlag will freilich nicht zugeben, daß wir in | 
dem erften Stüd eine freie Wiedergabe von Matth. 10, 17—22 
haben; aber Hier ift die Urſprünglichteit diefer Spruchreihe dur | 
alle kritiſchen Indicien und ihre Zugehörigkeit zu einem felf- | 
ftändigen Redeſtuck der Logia durch den Zufammenhang von Luk. 
12, 11f. jo gefichert, daß e8 nur eine fümmerliche Ausflucht ge 
nannt werden kann, wenn Beyſchlag den erften Evangeliften in | 
Matth. 10 ein Stüd der urevangeliftifchen Parufierede anticipieren 
und bann diefelde Stelle in feiner Parufierede deſto fürzer und 
freier geftalten Täßt. Mark. 13, 21 ſcheint ihm von Luk. 17,23 
fo verfchieben, wie es bei der Wiedergabe desfelben Wortes in zwei 
Quellen erwartet werden Tann, was ich allerdings nicht zugeben 


Zur Evangelienfrage. 585 


fan; aber der Zufammenhang von Luk. 17 zeigt uns eben, daß 
dies Fein vereinzelt umlaufendes Wort Jeſu war, fondern in einen 
ganz beftimmten Zufammenhang gehörte, der ihm übrigens ur» 
fprünglich doch eine andere Bedeutung gab, als es durch feine 
Anwendung bei Markus erhält. In Mark. 13, 34 aber Liegt die 
ſchriftſtelleriſche Reminiscenz an den Eingang des Gfeichniffes von 
den Talenten in feiner ſprachlichen Faffung fo ar zutage, daß hier 
an eine Variante der Überlieferung nicht gedacht werden kann, 
Gar nicht berührt Habe ich bisher die Markusparabeln. Daß 
die Weinbergsparabel aus der älteften Duelle herftammt, habe ich, 
abgejehen von der zweifello® urfprünglicheren Faſſung der erften 
Hälfte beim erften Evangeliften, worüber ſich Beyichlag gar nicht 
ausläßt, daraus erwieſen, daß derſelbe 21, 43 noch die urfprüng« 
Üihe Deutung derjelben aufbewahrt hat, während er fie in feinem 
Kontezt mit Markus auf die Hierarchen bezieht, weil er aus diefem 
den alfegorifierenden, fichtlich auf diefe gemünzten Schluß derfelben 
acceptiert Hat. Woher weiß denn Behfchlag, daß, wenn meine 
Vermutung über den Sachverhalt richtig, der Evangelift die Dar⸗ 
ftellung des Markus für eine Umdeutung des Älteren Berichts und 
nit vielmehr filr eine Berichtigung und Vervollſtändigung des⸗ 
felben gehalten hat (S. 584)? Daß er fich, etwa wie Beyſchlag, 
den Spruch 21, 43 im Zufammenhange mit dieſer Darftellung 
des Markus zurechtgelegt Hat, will ich gar nicht leugnen; aber 
dies ift nun einmal der Sinn des Spruches offenbar nicht. Daß 
da8 Gleichnis vom Senfforn nit von Markus Toncipiert iſt, 
fondern aus den Logia ſtammt, beweift Luk. 13, 18f. unwider⸗ 
leglich. Ich brauche mich nicht darauf zu berufen, daß die Ber 
mutung Beyſchlags, Lukas habe mit dem Gleichnis der Logia 
13, 20f. in einem Zufammenhange, wo er fonft ganz diefen folgt, 
78 Senflorngleichnis des Urevangeliums verbunden, bei der kon⸗ 
'ormen Geftaltung beider und angefichts der Thatſache, daß der⸗ 
leihen Gleichnispaare vielfältig in unferer Überlieferung gegeben 
ind, das Allerunwahrſcheinlichſte if. Daß Luk. 18, 18f. die 
infachere Grundform von Mark. 4, 30-32 ift, erhellt aus der 
Irt, wie Matth. 18, 31f. beide zu fombinteren verfucht, augenfällig. 
Im fo flegesgeiiffer meint Beyſchlag in dem Gleichnis vom 


386 Weiß 


wachſenden Samen (4, 26—29) eine originale Überlieferung de 
Mertus nachweiſen zu können, während id) diefeibe für eine Um— 
geitaltung der Unfrautsparabef Halte. Seine Erklärung des Gleich⸗ 
niffes beweift nur, was ic) brhauptet habe, daß das Gleichnis, 
wie es vorliegt, feine einheitliche Pointe bat; und meinem Haupt⸗ 
grunde, den id dafür anfhre, entzieht Benfchlag fich nur, indem 
er anf die Möglichkeit hinweiſt, dag Jeſus ſelbſt Parabelmotix 
variiert habe, die ich wieder in abstracto nicht leugnen will, für 
deren Annahme ich aber in nuferer Überlieferung Seinerlei zwingen 
den Anlaß finde. Dann aber weicht feine fanft fo gehalten 
Polemik plöglih einer mir völlig unverftändlichen Leibenfchaftlig 
feit, indem er mich al8 einen halben Nachfolger von Strauß und 
den Evangeliften, wie ic) ihn mir denke, als einen freden Moder ⸗ 
nifierer darſtellt (S. 579f.). Und warum? Weil id aunchme, 

daß der zweite Evaugelift aus dem ihm aus der Duelle befannten | 
Untrautgleihnis den Zug vom Unkraut entfernt Habe, um, dem 
Ichrhaften Gefichtspunft feiner Gleichnistrilogie entjprechend, den 
Gedanken von ber Allmählichkeit des Wachstums des Gottesreiches, 
ber ja ohne Zweifel auch im Unkrantgleichnis liegt, ausjhleiih 
auszuführen, und daß der erfte den das ganze Weſen der Parabel 

aufpebeuden allegorifierenden Zug vom Feinde eingefügt bat, um 
den ebenfo wahren als erbaulicyen, aber freilich in das Gleichnis 
nicht gehörigen Gedanken einzuflechten, daß das Böfe, das fich ins 
Gottesreich einfchleicht, eine Wirkung bes Teufels ſei. Beyichleg 
nennt das ein Umfpringen mit den in der apoftolifchen Quelle 
beurfundet vorliegenden Heilandsworten, wie er es feinem ein 
fältigen, treuen Ghriften zutraut; ich fehe darin nur einen Beweis 
von dem, was id oben fagte, daß bie Evangeliften nicht den 
Maßſtab Hiftorifcher Kritit an ihre Quellen legten und ikberhanpt 
nicht die Abficht Hatten, die Worte Jefu, am wenigften feine Bilder 
reden, urkundlich zu reproduzieren, fonbern fie jo rei, fo er 
baulich wie möglich wiederzugeben. Aber wie kommt mein verehrier 
Gegner überhaupt zu diefer Expektoration, die doch nur auf dem 
Standpunkt ber ftrifteften Inſpirationslehre einen Sinn hat, wenn 
doch er jelbft nad ©. 620 Anm. in dem Gleihnis vom koniglichet 
Hoch zeitsmahle Matth. 22 „eine der fortgefchrittenen Situation 





Zur Evangelienfcage. 587 


entſprechende, fteigernde und erweiternde Umbilbung ber Lukas⸗ 
pargbel“ fit. Hat dann Hier nicht der Evangelift noch ungleich 
mehr Hinzugefügt und modifiziert, als Matth. 137 Wo ich aber 
den ſicher ganz verfeßlten Gebanfen ausgeſprochen haben foll, daß 
das Gleichnis vom verlorenen Gohne eine traditionelle Fortbildung 
don Matth. 21, 28—31 fei (S. 620), erinnere ich mich ſchlechter⸗ 
dinge nicht. 

Gerade weil Beyſchlag durch ſolche Äußerungen landläufige 
Einreden einer ihm völlig heterogenen Nichtung ermatigt, die aller 
Epangelienkritit den Lebensnerv abſchneiden, muß id auf diefen 
Punkt noch etwas näher eingehen. Weil ich annchme, daß ber 
erſte Evangeliſt einen Ausſpruch feiner Quelle (18, 18) in modi⸗ 
füiester Deutung auf die dem Petrus von Chrifto verliehene 
Primatsftellung angewandt (16, 19), redet er von anticipierender 
Erfindung des Evangeliften, von einem leichtfertigen Umfpringen 
mit Worten Jeſu, bei dem nichts mehr feftitände (S. 580f. Anm.). 
Aber auch nach ihm iſt doch Matth. 6, 5 eine folge „anticipierende 
Erfindung“ im Verhöftnis zu Matth. 18, 36 (S. 613 Anm.); 
und wenu der erfte Evangelift das Gleichnis vom verlorenen Schaf 
18, 12—14 „iur Motivierung des Wertes, den auch des Ge— 
tingften Seele vor Gott habe, in einer feiner Redekowpoſitlonen 
verwendet hat" (S. 621), fo hat Beyſchlag doch auch ſelbſt ihm 
zugetraut, daß er ein Bildwoxt Jeſu in anderem Ginne verwendet, 
als diefer es nad) feiner apoſtoliſchen Duelle geipraden. Ebenſo 
entruſtet ſich Beyſchlag ©. 592f. aufs Heftigfte über die Ber- 
mutung, daß Rufas in 14, 2f. dem Handlahmen einen Waſſer⸗ 
fügtigen fubftitwiert habe (die ich übrigens, wie Beyſchlag aus 
neinem Metthäusfommentar wiſſen konnte, felbft Tängft aufgegeben 
jabe), obwohl bier unter allen Umftänden trog der Beurkundung 
iner Geſchichte in der dem erften Evangeliſten befanntes apofto- 
ühen Dpelle eine Vermiſchung diefer Geſchichte mit der des 
daudlahmen vorliegt. Dagegen erkennt er felbft S. 612f. ganz 
ınbefangen an, daß der Epangelift die Dümonenaustreibung, welche 
n den Zogin die Verteidigungsrede einleitete, zweimal gebracht hat: 
Natth. 9 ud Matth. 12. Er fogt freilich nicht, daß er den 
Jämonifchen, der in der Quelle nur ftanım mar, zu einem bfinden 


588 Weiß 


und ſtummen macht, alſo ſich feine Blindheit genau fo „aus den 
Fingern gefogen hat“, wie ich dergleichen nad) S. 593 dem Lulas 
zutrauen fol. Gewiß fann man darüber ftreiten, ob die dm 
Seligpreifungen parallelen Weherufe bei Lukas von dem eriten 
Evangeliften ausgelaffen oder von dem dritten Hinzugefügt find. 
Aber wenn Beyſchlag S. 608 Anm. pathetifch erflärt, er glaube an 
letzteres nicht, weil er überhaupt nicht an eine Erdichtung von 
Zefusworten durch Lukas glaube, oder ſich darüber ereifert, daß ih 
Matth. 18, 4 durch den Evangeliften „entftanden, d. h. erfunden! 
fein laſſe, was foll aus unferer Evangelienkritit werden, wen 
man mit dieſem Grundfag Ernjt mat? Wenn in der Geſchichte 
des biutflüffigen Weibes Lukas Jeſu die Reflexion des Markus 
(5, 30) wirklich in den Mund Iegt (8, 46), wenn der erfte Evan 
gelift beim Beginn der Leidensgeſchichte Jeſum das Bevorftehen 
feines Todes am Paſſafeſt meisfagen läßt, ohne daß eine Quelle 
denkbar wäre, aus der er dies Jeſuswort gefhöpft haben Tönnte 
(26, 2), wenn beide Jeſum mit ganz verſchiedenen Worten den 
Schwertſtreich des Petrus zurücdweifen laſſen (Matt. 26, 52-54. 
Luf. 22, 51), wenn Markus das Wort von der Wiederverheiratung 
auf die römischen Verhältniffe anwendet (Mark. 12), find dies und 
taufend AÄhnliches, vor allem unzählige Erweiterungen der urfprüng: 
lichen Ausfprüde Jeſu, nicht lauter „Erdictungen von Jeſus⸗ 
worten“ nad diefem Kanon? Und was foll aus den Epriftusreden 
bei Johannes werden, wenn man biefen Kanon konſequent hand | 
Habt? Ohne die Annahme, daß unjere Evangeliften fein Arg 
darin gefehen haben, die überlieferten Jeſusworte ihrem Sinn md 
nicht ihrem Wortlaut nach mitzuteilen und daher zu modifizieren 
und zu amplifizieren — man denfe an die Eintragung fpezieller 
Prädiktionen, die doch Beyſchlag unmöglich wird beftreiten wollen —, | 
bleibt uns eben nichts übrig, als zu allen Thorheiten der altm | 
Harmoniftit zurückzulehren und jeden Verſuch zur Loſung der | 
fogenannten Evangelienfrage oder gar zur Darftellung eines Lebens 
Jeſu einfach aufzugeben. Doc ich Habe mich über diefe Dinge 
fo eingehend und prinzipiell in meinem Leben Jeſu ausgefprocen, 
daß es mir nur darauf anfam, zu zeigen, wie felbft ein Mit 
forfcher wie Beyfhlag im Eifer der Polemik in Behauptungen 





Zur Evangelienfrage. 589 


verfallen fann, die man nur von fehr anderer Seite zu hören ges 
wohnt ift. J 

Was nun die Erzählungsftüde des Markus anlangte, die ich 
meinte der älteſten Quelle vindizieren zu müfjen, fo fann man 
ja über manches ftreiten. Charakteriftifch ift, daß Beyſchlag feine 
Einzefpolemit mit der Gefchichte des reichen Jünglings beginnt, 
die ih, wie er wieder aus meinem Matthäusfommentar willen 
Tonnte, jegt dem Markus zuſpreche. Wenn er aber gegen bie 
dolgerung, die ich aus dem Stilharakter diefer Stucke gegen ihre 
Auffaffung als Verkürzung der Markusdarftellung ziehe, die 
zweifellofe Verkürzung der Erzählung vom Tode des Täufers an« 
führt, fo Hätte er wohl feinen Leſern fagen können, daß ich gerade 
aus der durchgängigen Verſchiedenartigkeit diefes Falles von den 
anderen von Anfang an einen Beweis für meine Annahme in 
betreff der anderen abgeleitet habe. Er konnte diejen Beweis zu wider 
legen verfuchen; aber er durfte nicht glauben machen, als ob ih diefe 
angebliche Gegeninftanz Üüberfehen Habe. Doc, ftatt hier auf einen 
Bunft näher einzugehen, den ich in meiner Kontroverfe mit Holg« 
mann an einem der wichtigften Bälle, der Yairusperifope, bis in 
alle Details erörtert Habe, fei es mir erlaubt, noch ein Beiſpiel 
ju erwähnen, an dem fich unfere prinzipielle Verſchiedenheit in ber 
Auffafjung des Verfahrens der Evangeliften auch bei erzählendem 
Momente recht deutlich zeigt. Mark. 8, 1f. ift zweifellos eine 
Sarhparaliele zu Matth. 12, 38. Ob Markus von dem Streit 
iber die Zeichenforderung aus den Mitteilungen des Petrus ges 
oußt oder aus der apoftolifchen Quelfe, ift in der Sache natürlich 
chr gleichgültig; mir fcheint beides zugleich angenommen werden 
u können, ja zu müſſen. Nur läßt ſich letzteres nicht mit ber 
zrage beftreiten, worum Markus einen Beftandteil der Duelle 
hne erkennbaren Grund in einen völlig anderen Zeitpunkt ver» 
iefen Habe (5. 576). Diefe Quelle hatte ja aud nad) Bey- 
hlag keinerlei feftes chronologiſches Gerüfte; von einer Differeuz 
es Zeitpunftes fann alfo hier gar nicht die Rede fein. Wenn 
ber der erfte Evangelift, der Matth. 12, 38 die Zeichenforderung 
ach der apoftolifcden Quelle erzählt Hatte, bei Mark. 8, 1 auf eine 
af, die nicht mit einer längeren Rebe, fondern mit einer kurzen 


590 Beiß 


Abweifung begleitet war, fo hat er diefelbe eben fiir eine zmeite 
gehalten und ift keinesfalls „gedantenlos“ verfahren. Denn wenn 
wir Grund haben anzunehmen, daß Markus die Zeichenforderung 
aus Matth. 12, 88 entnommen hatte, fo felgt darans natürlid 
nicht, daß der erfte Evangeliſt dieje Reflexion anfteffte. Und do 
kommt Beyſchlag, der gar keinen Anſtoß daran nimmt, daß ber 
Evangeliſt diefelben Sprüche aus den Logia und bem Uredangelium 

zweimal aufgenommen bat, immer wieber darauf zurlick, mie un 
denkbar es fei, ihm einmal die Logia und einmal den dieſelben der⸗ 
ändernden Markus benuhen zu laſſen. Als ob derfelbe, mie wir, 
die ihm vorliegenden Evangelienterte kritiſch analyfiert Hat! 

Mit den Gegengründen, welche ich gegen bie Urmarfashupe 
thefe geltend gemacht ımd melde er felbft ©. 596 zufammenge ⸗ 
faßt, hat es mein verehrter Gegner doch etwas zu Leicht genommen. 
Diefelden find. mir aber um fo bedeutfamer, als ich ftets von 
vornherein zugegeben Habe, daß jene Hypotheſe in mander Be 
ziehung etwas DVerlodendes hat, ja daß fie manche Erſcheinungen 
leichter zu erflären fcheint, 3. B. die durch Markus wicht ver 
mittelten Berührungen zwifchen dem erften umb beiten Evangelium 
in der Leidensgefchichte. Es ift merkwürdig, daß diefe Erſchei⸗ 
nungen von Beyichlag nur flüchtig erwähnt (S. 590), vom Holt 
mann jet fogar ganz anders erflärt werben. Ich würde fie neh 
heute am liebften aus einer Bearbeitung der erzählenden Grund 
ſchrift in unferem zweiten Evangelium erflären, wenn fich eine 
ſolche wahrſcheinlich, ja denkbar machen ließe. Aber die ver | 
ſchiedenen Formen, in welchen dieſelbe bei Holtzmann, bet Weiz | 
ſäcker und num bei Beyſchlag zu konſtruieren verſucht ift, Haben | 
mich nur immer aufs neue überzeugt, daß diefer Urmarkus en 
unfaßbares, geftaltlofes Ding ift. Bei der Würdigung der in | 
meinem Markusevangelium aufgezäßften und von Behyſchlag repro- 
duzierten Gegengründe ift freifich nicht zu vergeffen, daß dabei die | 
Hanptdifferenz zwiſchen mir und den Vertretern jener Hypotheſe 
noch unberührt bfeibt. Cinig find wir je: darin, daß in unſeren 
erften Evangelium neben den Partien, wo es durchaus ven 
Markus abhängig ift, auch ſolche vorfommen, in denen es ihm 
gegeriber original erſcheint. Diefe Erfcheinung erffäre ich daraus, 


Zur Evangelienfrage. 591 


daß es in ihnen den Text der älteften Quelle treuer reproduziert hat, 
als die freie Bearbeitung berfefben bei Markus, während die Ber- 
treter ber Urmarkushpotheſe Hier nur den Terxt der erzählenden 
Grundſchrift treuer erhalten finden. Daraus folgt dann von 
felbft, daß ich birfe Stücke der apoftofifchen Quelle zuteile, fie ihr 
abfprehen und fo Umfang und Charakter der leßteren ein fehr 
verichiebemer wird. Allerdings ftümmen. nun jene drei Vertreter 
der Urmarkushypotheſe keineswegs darin überein, in welchen Pate 
tern das erfte Evangelium dem Markns gegemüber original ift, 
und darum auch weder in ihrer Vorſtellung von Umfang und 
Charakter der fogen. Spruchſammlung nod von dem Verhältnis 
der fgmoptifchen Grundſchrift zu ihrer Bearbeitung im zweiten 
Evangelium. Trotzdem bleibt bei allen noch eine Reihe von Er⸗ 
hlungen übrig, in denen fle die Darftellung des erften Evan- 
geliums für eine Verkürzung der Markusbarftellung haften, während 
ch fie für die relativ unfprüngliche anfehe, und auch eine Reihe 
von Ausfprücen, Redeſtlicken, beſonders Parabeln, wo id den 
Text des erften Evangeliums für urfprüngliher Halte. Diefe 
Differenz muß zuerſt ausgeglichen. werden, und ich hoffe, daß die 
darlegungen in meinem „Leben Jeſu“, die nicht vom litterariſch⸗ 
‚tischen Gefichtspuntt, ſondern vom geſchichtlichen aus biefelbe an« 
fen, zu ihrer Loſung etwas beitragen werden, Aber die Möge 
chteit, das fynoptifche Problem. wefentlih auf dem: Wege der 
rmarfushypothefe zu Löfen, bleibt an ſich aud dann noch übrig, 
enn fi Hier die Entſcheidung in erhöhten Maße auf meine 
ieite neigt. 

An Teichteften meint mein verehrter Gegner damit fertig werden. 
können, daß dieſe Hypotheſe von vielen Redeſtücken eine ſelb⸗ 
indige Aufzeichnung in der Grundſchrift und in ber Spruch⸗ 
mmfung voraueſetzt, die mir viel zu viel ſchriftſtelleriſche Über- 
iſtimmung · zeigen, um unabhängig von. einander entftanden zu 
n. Daß id aber Hier nicht eine fachliche Apnlichkeit, die fich 
8 der. Hiftorifcgen Treue mündlicher Übenfieferung volfauf erflärt, 
reilig zu litteraviſcher Verwandtſchaft zu ſtempeln mar allzu. ger 
ge bin (S. 597), Haben meine obigen Auseinanderfegungen 
HU gezeigt. Hier muß ich nur noch daran erinnern, daß die 


592 Weiß 


ältefte mündliche Überlieferung der aramäifchen Worte Jeſu oh 
unzweifelhaft eine aramäifche geweſen ift, daß ihre ältefte Auf⸗ 
zeichnung nach ficherer Kunde eine aramäifche war, daß aber die 
Petrusüberlieferungen, auf welche das zweite Evangelium dad 
irgendwie jedenfall® zurüdgeht, wahrſcheinlicherweiſe urfprünglid 
in griehifche Sprache gefaßt waren. Dana wird dann zu bee 
urteilen fein, ob meine „kritiſche Verirrung“ Hier wirklich cin 
„fo auffallende* genannt werben fann. Mit der Annahme jmer 
felbftändigen Aufzeichnungen ber Nedeftüce in der Spruchjammiug 
und im Urevangelium hängt dann aber vielfach das dadurch not 
wendig werdende Hin» und Herſchwanken des erften umd brittm 
Evangeliften in der Benugung diefer beiden Schriften zufammen. 
Beyſchlag verfichert zwar, daß er bei zehnfältiger Durcherklärung 
der ſynoptiſchen Evangelien feine Stelle gefunden habe, wo fih 
das kombinierende Verfahren der Evangeliften nicht ausreichend 
Hätte motivieren laſſen (S. 597f.). Ich geftehe aber, daß mir 
feine Ausführungen nur die ganze Größe diefes Bedenkens noch 
Harer vor Augen geführt haben. 

Dies ift ſchon beim erften Evangeliften der Fall, der imm- 
hin bei feiner Neigung zu größeren Nebefompofitionen nod am 
eheften auf foldem Kombinieren betroffen werden könnte. Man 
fehe, wie derjelbe Kap. 10 die Ausfendungsrede der Grundicrift 
nicht nur aus ber gleichen Rede der Spruchſammlung, fondert 
noch durch lauter andere Materialien derfelben erweitert und nun 
auf einmal 10, 17—22 ein Stüd aus der urevangeliftifchen Ba 
rufierede anticipiert ( S. 586). Man Iefe feine Verteidigungsrek 
Jeſu Kap. 12, wo er V. 25f. aus der urevangeliftifchen Rejen⸗ 
fion entnimmt, V. 27f. aus der Spruchſammlung, V. 29 amt 
jener, ®. 30 aus bdiefer, V. 31 wieder aus jener, V. 32 wieder 
aus biefer, obwohl letzterer dort nicht einmal im formellen Zur 
fammenhange mit der Berteidigungsrede ftand (S. 577. 613). 
Kann man fi von folder Schriftftellerei wirklich eine Vorftellung 
machen? Ebenſo beginnt er Kap. 18, 3f. mit der Sprucjame 
Lang, geht B. 5f. zum Urevangelium über, um dann mit dm 
Spruch aus den Logia (B. 7) einen Übergang zu den weiten | 
Sprüden des Urevangeliums (B. 8f.) zu bilden, die fi doh 


Zur Evangelienfrage. 593 


formell und materiell viel enger ohne ihn an V. 6 anſchließen. 
Biel fhlimmer aber wird die Sache bei Lukas, der doch fo fanber 
feine Einfhaltungen aus der apoſtoliſchen Quelle zwifchen die aus 
dem Urevangelium entlehnten Abfchnitte eingeſchoben hat, insbe⸗ 
fondere, wie auch Beyſchlag erkennt, in dem fogen. Reifebericht 
im großen und ganzen der Spruhfammlung folgt. Dennoch vers 
arbeitet er fon den Eingang der Perikope vom größten Gebot 
10, 25—28 mit der urevangeliftifchen Erzählung des Markus 
12, 285. (S. 162) und folgt Rap. 11 zunächſt dem kürzeren, 
urevangeliftifchen Bericht von der Verteidigungsrede, um dann erft 
zu den Logia überzugehen, obwohl er die Einleitung bereits aus 
ihnen entlehnt hat (S. 577). Im Kap. 13 Tombiniert er das 
Senflorngleihnis des Markus mit dem Sauerteigsgleihnis der 
Logia und zwar merkwurdigerweiſe ganz wie der erfte Evangelift 
es felbftändig auch gethan. Daß Luk. 17, 1f. ein Sprud der 
Logia mit einem urevangeliftifchen verknüpft wird, fagt uns 
Beyſchlag zwar nicht, es folgt aber notwendig aus feiner Angabe 
auf S. 582, und zwar Handelt Lukas hier wieder ganz in Über« 
einftimmung mit dem felbftändig fehreibenden erſten Evangeliften. 
Daß Luk. 17, 31 mitten in einer Rede der apoftolifchen Quelle 
aus feinem Urevangelium (Mark. 13, 15f.) entlehnt ift, möchte 
Beyſchlag (S. 587) zwar gern abwehren, aber der Mare Augen- 
fein ſpricht dagegen. 

Gern geftehe ich, daß Beyſchlag nad dem Vorgange Weiz« 
ſackers die Urmarkushhpothefe einer großen Schwierigkeit entlaftet 
bat, indem er die angeblichen Auslafjungen des zweiten Evan- 
geliften, die Holgmann annahm, aufgegeben Hat, und num nicht 
mehr eine Reihe von Stüden in der ſynoptiſchen Grundſchrift ger 
ftanden Haben follen, die do von ihrem fo ausgeprägten Sprach- 
charakter nichts zeigen. Auch verändert fi bei ihm in dem Maße, 
In welchem das zweite Evangelium der Grundfchrift ähnlicher wird, 
vie bei Weizfäder noch gefteigerte Schwierigkeit, die Zufäge des 
Evangeliften in ihrer ſprachlichen Cigentümfidteit von ber ber 
Brundſchrift zu unterfcheiden. Uber er überfieht, daß in demfelben 
Maße fich die Schwierigkeit vergrößert, den möglichen Zwed einer 
olchen durchaus unerheblichen Bearbeitung nahgumeien, von ber 

Zpeol. Gtab. Yang. 1888. 


594 Beyihlag 


doch zuletzt die Wahrfcheinlichkeit der ganzen Hypotheſe abhängt. 
Beyſchlag Hat ja num freilich verfudt, unter Abmweifung der gan 
ungenügenden und unwahrſcheinlichen Motivierung einer folhen, 
die Holgmann einft gegeben hatte, eine newe aufzuftellen. Inden 
er jene Grundfchrift für eine paläftinenfifche Bearbeitung der ur 
fprünglien Martusaufzeihnungen erflärt, läßt er die neue Br 
arbeitung derfelben nad der Zerftörung Jeruſalems für bie Be 
dürfniffe römifcher Leſer gemacht fein. Das Hört fich ja an fih 
ganz glaublih an; aber Beyſchlag Hat nicht nachgewiefen, dag dir 
tritiſch nachweisbaren Modififationen der Grundfchrift durd den 
Evangeliften in ihrer weit überwiegenden Mehrzahl mit dieiem 
Zwede zufammenhängen, und davon hüngt doch die ganze Evidenz, 
einer ſolchen Hypotheſe ab. So lange nicht eine im weſentlichen 
fefte Vorftellung von der Art der Bearbeitung der Grundſchrift 
im zweiten Evangelium, welde ſich mit zwingender Notwendigkeit 
aus den Verwandtſchaftsverhältniſſen unferer fynoptifchen Evan. 
gelien ergiebt, erreicht und diefe Art aus dem Zwecke derjelben 
begründet ift, muß ich dabei bfeiben, daß die ganze Urmarkushypo ⸗ 
thefe in der Luft ſchwebt und deffen entbehrt, was einer Hypotheſe 
erft wiſſenſchaftlichen Wert giebt. 


Zu dem vorftchenden Aufſatz von D. B. Weiß: 
„Zur Evangelienfrage“. 


Bon 


D. W. Benfhlag. 


Die Redaktion der „Studien und Kritifen“ hat die Güte ger 
Habt, mir den gegen meine Abhandlung im Jahrgang 1881, Heit 
4, gerichteten Auffog von D. Weiß vor defjen Abdrud zur Einfiht 
mitzuteilen, — allerdings nicht in der Meinung, damit eine Duplil 


Zu dem vorftehenden Auffag von D. 8. Weiß ıc. 58 


von meiner Seite zu veranlaſſen. Wohin follte es auch führen, 
wenn jede Beſtreitung vorgetragener Unfichten wieder eine Beſtrei⸗ 
tung diefer Beftreitung nach fich ziehen follte? Nachdem mein 
Verfuh, in der ſynoptiſchen Frage zwiſchen Holgmann und Weiß 
zu ſchlichten, von erfterem in dem Punjerſchen Theologijchen 
Jahresbericht eine fo auszeichnende und weithin zuftimmende Bes 
urteilung gefunden hat, fann id) ihn famt den vorftehenden ges 
wiß ſehr beachtenswerten Gegenbemerkungen von D. Weiß ruhig 
den Alten einer Unterfuhung einreihen Laffen, die nicht von geftern 
Ger ift und auch mit diefem Pro und Contra nicht gefchloffen fein 
wird. Nur weil einige Ausführungen ber vorſtehenden Replik auf 
die Ruhe und Überlegung, mit benen ich jenen nicht gerade aufs 
regenden Gegenftand behandelt habe, einen falſchen Schein werfen 
fönnten, bitte ih um Raum für wenige Gegenbemerfungen. 
Zunächft beſchwert ſich mein verehrter Gegner darüber, daß ich 
einige fpätere Modifilationen feiner Anficht und feine exceptionelfe 
Behandlung der Parallele von Markus und Matthäus über den 
Tod des Zäufers unerwähnt gelaffen. Ich muß bekennen, dag 
mir diefe Einzelheiten, fei es beim Gxcerpieren oder beim Aus⸗ 
ırbeiten, entgangen find. Wer den Umfang der Verhandlungen 
wiſchen Holgmann und Weiß inkl. der Monographie des erfteren 
md des Markus- und Matthäusfommentars des letzteren kennt 
nd die taufend Einzelheiten, melde hierbei zur Sprache kommen, 
berfchlägt, wird das verzeihlih finden. Cin andermal meint 
. Weiß, daß man meine Entgegnung gegen ihn faum ernft nehmen 
inne. Ich habe feiner kritiſchen Wertlegung auf die Thatſache, 
iß bei Markus die Wendung „euer Vater im Himmel“ nur 11, 25 
rlommt, entgegnet, Markus habe zum Anbringen berfelben auch 
um anderweitige Gelegenheit gehabt, und er repliziert, Martus 
be ja überall wo „Gott“ vorfomme, fo fehreiben Können. Kann 
m diefen Ausſpruch ernfthaft nehmen? Man verfuche einmal, 
Markusevangelium überall wo „Gott“ fteht, „euer Vater im 
mmel“ zu fegen, alſo fogleih 1, 11 Nur auf die Ausdrucks⸗ 
fe in den Jeſusworten fann es antommen. Nun aber findet 
von allen Jeſusworten bei Matthäus, in denen „euer Vater 


Himmel“ vortommt, außer Matth. 6, 14 — Mark. 11, 25 
39* 


596 Beyſchlag 


kein einziges bei Markus wieder, und fo weit ich ſehe, auch font 
kein Jeſuswort, wo jener Ausdrud ftatt des einfachen „Gott“ oder 
„der Vater“ natürlich erſchiene. 

Doc das find Kleinigkeiten. Ernſter ift mir, dag D. Wii 
mir in einigen Fällen eine Polemik von ganz unverftändficher Leiden 
ſchaftlichteit vorwirft, eine Polemik, die nur vom Standpunkt ber ftrif: 
teften Juſpirationslehre einen Sinn habe und aller Evangelienfritit 
den Nerv abſchueide. Die Fälle find diefe: nah D. Weiß fl 
Markus aus einer Unkrautsparabel Jeſu das Unkraut Heraus 
gethan und fo die Parabel von der Wachstümlichkeit des Reicht 
Gottes, Mark. 4, 26f., gefhaffen, Matthäus dagegen zu dem Un 
kraut auch noch ben dasfelbe ſäenden Feind erdichtet haben; ebenſt 
fol Lukas die den Seligpreifungen feiner Bergpredigt entſprechenden 
Weherufe erfunden, auch (mas Weiß jet indes aufgegeben hat) 
14, 2 den von der Quelle dargebotenen Handlahmen in einen von 
Jeſu zu Heilenden Wafferfüchtigen verwandelt Haben; endlich meint 
Weiß noch heute, das „Binden und Loſen“, Matth. 16, 19, fü 
dem Petrus von Jeſu nicht wirklich zugeſprochen, fondern mur vom 
Evangeliften auf Grund von Matth. 18, 18, wo es der gangu 
Züngergemeinde zuerfannt wird, hierher Lonjekturiert worden. Dieje 


Hppothefen habe ich gemißbilligt als Annahmen, die ich mit in | 
Gewifjenhaftigkeit der Evangeliften nicht zu vereinigen wiſſe, und | 


muß aud dabei bleiben. Ich ftehe damit nichts weniger ld 


auf dem Boden der alten Inſpirationslehre, ſchneide auch, wie | 


mein ganzer Auffag zeigt, der Evangelienkritit nicht den Nero 
durch, fondern wahre mir nur ein mir weſentliches Fundament 
derjelben, die Vorausfegung, daß die urfprünglichen Überlieferer 
aus Ehrfurcht vor Jeſu Worten und Thaten außerftande waren, 
fo mit denfelben umzufpringen und damit die ganze Überlieferung 
unzuverläffig zu machen. D. Weiß beruft fih auf Analogie, 
bie ich felbft einräumte oder einräumen müſſe. Hinfichtlich det 


Verhältniffes der zwei Gaftmahlöparabeln, Luk. 14 und Math 


22 mißverfteht er mich; ich ſchreibe auch Legtere Erweiterung Jeir 
ſelbſt zu; andere Jeſusworte, die er als rein fchriftftellerifche Fre 
dukte betrachtet, ſehe ih, wenn fie nicht pure eingeflochtene Ber 
deutlihungen find, anders an als er, und Tann feine Analogie 


Zu dem vorfehenden Aufſatz von D. B. Weiß ıc. 597 


nicht als ſolche erkennen. Wenn der greife Johannes zwifchen den 
urfprüngfichen Jeſusworten und feiner Auslegung derfelben nicht 
mehr ſcheiden kann, wenn die Synoptifer Worte und Thaten Jeſu 
zweimal anführen, entweder weil fie fie für verfcieden Halten oder 
ihr Mittellungsfaden fie zweimal auf diefelben führt, wiederum 
wenn fie traditionellen Vermiſchungen verſchiedener Dinge unterliegen, 
fo verfahren fie bei aller Fritifch « diplomatifchen Unvollfommenheit 
durchaus unſchuldig. Uber wenn Lukas jene Weherufe ohne allen 
Grund der Tradition frei erfunden, wenn er den Handlahmen aus 
freier Hand in einen Wafferfüchtigen verwandelt und fo ein nie 
geſchehenes Jeſuswunder produziert hätte; wenn Markus ein Uns 
trautsgleichnis Jeſu, lediglich weil es ihm unverändert in feine 
„Gleichnistrilogie“ nicht gepaßt, feines Grundgedanfens, der Mir 
ſchung von Kraut und Unkraut im Reiche Gottes, beraubt und 
aus einem Nebengedanfen heraus zu etwas ganz anderem umge» 
formt Hätte; endlich wenn Matthäus, weltgeſchichtliche Verwirrungen 
anrihtend, das der ganzen Jüngergemeinde zugefprochene Binden 
und Löfen aus fich zur Auszeichnung des Petrus verwendet hätte, 
fo fann ich da8 — ich kann mir nicht helfen — nicht unſchuldig 
und mit ber den Erftlingszeugen des Evangeliums zuzutrauenden 
heiligen Scheu nicht vereinbar finden, komme auch in meiner Evans 
gelienkritit und Konftrultion des Lebens Jeſu aus den Quellen 
ganz ohne ſolche bedenkliche Annahmen aus. ch betrachte diefelben 
auch in der Weißſchen Kritit als fremde Blutstropfen, die ſich 
derfelben aus gewiffen DVerirrungen der Tendenzkritik beigemifcht 
haben, und hielt e8, gerade bei der fonftigen Verwandtſchaft unferer 
theologifchen Standpuntte, für erlaubt, einen verehrten Mitarbeiter 
auf dieſe heterogenen Elemente freundſchaftlich aufmerkſam zu 
machen 1). 

Was unſere allgemeine Differenz über die ſynoptiſche Frage 
angeht, fo will ich nur zwei bedingende Punfte derfelben berühren, 


1) Die Ableitung des Gleichniſſes vom verlorenen Sohn aus Matth. 21, 
28—30, über die W. fich ebenfalls beflagt, Habe ich ihm gar nicht Zuger 
ſchrieben; erinnere id) mid) recht, fo if fie eine Konjetur Holgmanns, bie 
ih ablehnen wollte. 


508 Beyſchlag 


unſere verſchiedene Vorſtellung von der mundlichen Überlieferung 
der Reden Jeſu, und von dem ſchriftſtelleriſchen Verfahren der 
Evangeliften. D. Weiß erklart: „Ich kann mir von mundlicher 
Überlieferung längerer Spruchketten oder Reben Jeſu feine Bor: 
ftellung machen; die mündliche Überlieferung einer folden Rebe 
wie die Parufierede ift undenkbar.“ Erft ein Menfchenatter nad, 
Jeſu Tode — die Logia find nah Weiß kurz vorm jüdifchen 
Kriege aufgezeichnet — Hätten bie Mpoftel bie bis dahin lediglich 
vereinzelt und gelegentlih, in aramäifcer Sprache, wiederholten 
Sprüche Jeſu fo geordnet und zufammengefügt, wie dann Matthäus 
fie auffchrieb. Daher, wo Sprüde Jeſu in zweierlei Relation 
doch im griechiſchen Ausdruck fi ähneln, oder zu Gruppen 
und Neden verbunden erjcheinen, fie nur aus biefer Logiaquelle 
folfen hergeleitet werden können, aud bei Markus. Ich kann dieſe 
Anficht für feine Hiftorifch richtige und natürliche Halten. Jeſus 
hat nicht bloß Voltsreden gehalten, aus welden einzelne Sentenzen 
in Umlauf famen: er bat feinen Jungern „infonderheit‘ einen 
darüber Hinausgehenden fürmlichen Unterricht gegeben, ihnen feine 
Lehren in behaltbarfter Form eingeprägt, und dann ihnen geboten, 
das, was er ihnen fo „ins Ohr gefagt, von ben Dächern zu pres 
digen“. Ich zweifle nicht, daß fie das treulich gethan haben, daß 
fle nicht bloß allgemeine Miffionspredigten gehalten haben, wie fie 
Apg. 2—10 ſtizziert find, fondern daß fie innerhalb der fo 
gewonnenen Kreife die Schäge ihrer Erinnerungen aufgethan und 
die nachgelommenen Jünger alles halten gelehrt haben, was ihnen 
Jeſus geboten, und zwar mit deſſen eigenen Worten. So werden 
diefe Worte auch in ihren urfprünglihen Zufammenhängen in den 
Gemeinden fortgepflanzt worden fein, nicht buchſtäblich, aber doch 
im wefentlichen treu, aud nicht bloß aramälfch, fondern bei dem 
ſchon ‚frühe aud in der Urgemeinde vorhandenen helleniſtiſchen 
Elemente bald auch griehifh, und werden nachher, als man be 
gann, Evangelien zu verfafen, nicht bloß aus einer fchriftlichen 
Duelle, fondern aus ber mündlichen Überlieferung zur Verfügung 
geftanden haben, in einer ausgeprägten Verwandtichaft des Ausdrude 
ohne Uniformität, in Reihen oder größeren Zufammenhängen, wie 
fie im zweiten Evangelium erſcheinen. Oder warum jollten die | 





Zu dem vorſtehenden Aufſatz von D. B. Weiß :c. boo 


Apoſtel nicht mehr denn einmal, unvergeßlicher Tage vom See 
Genezareth gedenkend, mit dem erſten Gleichnis ſich auch die Regeln 
zurüdgerufen haben, welche Jeſus über rechtes Lernen und In⸗ 
der» Erkenntnis »wachfen demfelben angefügt (Marl. 4, 21 — 25); 
warum follten fie das alles nicht ebenfo wieder ihren Jüngern ein« 
geprägt haben? Zumal aber die Parufterede, Mark. 13, auf 
welche Weiß ganz beſonders provociert, als fei fie nur als littera⸗ 
riſches Produft begreiflih, — mas ift natürlicher bei der Sehn- 
fucht der Jünger nad den letzten Erfüllungen, bei der ganzen es ⸗ 
chatologiſchen Spannung der äfteften Chriftenheit, als daß bie 
Apoftel fie nicht erft nach 30—40 Yahren, fondern fehr bald aus 
dem Gebächtnis möglichft reproduziert, und fie nach ihrem Ber- 
ftändnis der Gemeinde zu Troft und Mahnung mehr denn einmal 
wiederholt Haben, ja auf deren Bitten haben wiederhofen müffen! 
Was andrerjeits die evangeliftifche Schriftftelferei angeht, jo 
Hätte Weiß mid nicht auf die Lächerlickeit der Griesbachſchen 
Hypotheſe anreden ſollen. Diefe Lächerlichkeit beftand nicht in der 
Vorftellung eines Evangeliften, der zwei Buchrollen auf feinem 
Tiſch liegen hat und diefelben vergleicht — ich wüßte nicht, wie 
man fich einen nach zwei Quefffchriften arbeitenden Schriftfteller, 
alfo auch den erften und dritten Evangeliften nad Weiß, anders 
vorftellen follte —, fondern fie beftand in der Vorftellung eines 
Soangeliften, der aus zwei reihen Evangelien ein armes macht 
und jedesmal, wenn er in dem einen auf eine längere Rede Jeſu 
trifft, vor derfelben zurückſcheut und zum anderen überfpringt. Mit 
dieſer Vorſtellung habe ich doc ganz und gar nichts zu fchaffen. 
Daß umfere Evangeliften nicht nad Art moderner gefchulter Ge- 
ſchichtſchreiber zu denken find, habe aud ic mir gegenwärtig ge« 
halten, und glaube, daß es fich hiermit recht wohl vereint, fie nicht 
ohne alles kritiſche Urteil zu denken. Wenn ein Lukas feine Bor- 
gänger kennt und von ihnen nicht befriedigt ift, wenn er fih auf 
bie Überlieferung der Ar” dexis aördmron beruft und feinem Lefer 
über die in Umlauf befindfichen Erzählungen zıv aoparıar, bie 
fihere Wahrhelt mitteilen will, fo fee id, daß er mit Umſicht 
und Unterfcheidung zuwerke gegangen iſt. Es wird demnach feine 
ungefchichtlihe Phantafie fein, wenn ich annehme, daß er ſowohl 


60o Beyſchlag 


wie der Verfaſſer des Matthäusevaugeliums die Schrift eins 
wöronsng, eines Mpoftels, anderen Schriften vorgezogen haben 
wird; daß, wenn ihnen meben jener apoftolifchen Duelle eine 
zweite nicht apoftofifche Darftellung vorlag, fie diefelbe darauf an- 
gefehen Haben werden, ob fie zuverläffig fei und wie fie fih zu 
jener verhafte, daß fie alfo einigermaßen davor behütet geweſen fein 
werben, „um reines Waſſer zu erhalten, den Quell und dem 
daraus abgeleiteten Bach zu vermifhen“. Wenn fie aber, wie ih 
gegen Weiß annehme, zwei felbftändige und ebenbürtige Quellen 
hatten, dann wird es wieberum nicht unwahrſcheinlich fein, doß fit 
bei deren Zufammenarbeitung aud da, wo fie im ganzen der einem 
Quelle folgten, doch — in der Erinnerung, daß die andere Hierzu eine 
Parallele biete —, diefelbe mit zurate gezogen und ihre Darftellung 
mitunter Vers um Vers aus beiden kombiniert haben werden. 
Haben fie doch nad Weiß die nicht ebenbürtigen und von einander 
nicht unabhängigen Quellen zuweilen nicht bloß versweiſe, fondern 
in noch Meineren Partikeln zufammengefchweißt. 

Am wenigften fann ih das von Weiß dem Markus zuge 
ſchriebene jchriftftellerifche Verfahren natürlih und wahrjcheinfid 
finden. Er foll einen fehr erheblichen Teil feines Materials wie 
feiner Darftellung nicht den Erinnerungen des Petrus, fondern der 
Matthãusſchrift entnommen haben, und doch foll man nicht fragen 
dürfen, warum er Berge von Schägen, die in derfelben vorlagen, 
unberührt gelaffen. Er ſoll fi nur bei der Aufzeichnung feiner 
Petruserinnerungen unwillkuürlich an die ihm befannte Matthäus 
fhrift angelehnt haben. Dann muß er biejelbe geradezu auswendig 
gefonnt Haben; und felbft dann, — ift es noch ein ‚unwillkürliches 
Anlehnen“, oder dod ein „Arbeiten nad Quellen“, wenn er neben 
der ihm von Petrus erzählten Speifungegefehichte eine zweite aus 
den Logia entnommen haben foll, weil er fie für ein won jemer 
verfchiedenes Faltum Hielt? Hat er aber, wie dieſes Beiſpiel zeigt, 
nit nur Ordnung, fondern aud Vervollftändigung der Petru& 
materialien angeftrebt, fo lehrt die Frage wieder, warum er doch 
fo viele wertvolle Materialien der Logia verjhmäht Haben foll, 
auch folge, melde wie 3. B. die Gefdichte vom Hauptmann zu 
Kapernaum fich fehr Teicht in feinen Gang Hätten einreihen Lajjen. 





Zu dem vorftehenden Aufſatz von D. B. Weiß ac. 601 


Es kommt Hinzu, daß unſer Markusevangelium auch Stoffe ent⸗ 
halt, die ihrer Natur nach weder in der ovvrakıg Aoylav xugroxüv, 
noch in den von Petrus vorgetragenen Uno Too xuplov Aydrro 
7 ngaxdbvro enthalten gewefen fein konnen, wie das Apoftelver- 
zeichnis und die Erzählung vom Tode des Täufers. Endlich, wie 
weit fommt die Weißſche Hypotheſe von den Papiaszeugniffen ab, 
dem einzigen hiſtoriſchen Anhaltspunkt! Während feine Matthäus⸗ 
fhrift mit fo vielem Erzählſtoff belaftet wird, daß Papias fie 
anftatt eine ovvrakıg Aoylav vielmehr eine Sammlung von oͤnd 
od xvplov 7 AexdHvra 7 ngaydevra hätte nennen müffen, fo ſoll 
die Markusſchrift nit nur erheblich noch aus anderer Quelle ges 
floffen fein als den Petruserinnerungen, fondern fie ſoll auch trog 
des 00 zes des Papias wiederzuerfennen fein in einem Evans 
gelium, das die Matthäusfhrift an Wohlordnung weit übertrifft. 
Wenn Weiß dieſen Widerſpruch dadurch zu befeitigen fucht, daß 
er dem einfachen ovveraaro des Papiad den Sinn aufdrängt 
„in der urſprünglichen Ordnung zuſammengeſtellt“, und dann 
den guten Papias unkritifh und hyperkritiſch zugleich die ihm bes 
Iannten aramätfchen Logia mit unferem griechiſchen Matthäus ver⸗ 
wechfeln, im Markus aber Hin und wieder die Ordnung dieſes 
Matthaus evangeliums vermiffen Täßt (vgl. „Leben Jeſu“ I, 43), 
fo wird kein befonnener Forſcher ihm in dieſe Deutung des 
00 rise folgen. Ja, wenn Papias die Markusſchrift eine 
ovvrokes genannt, und die Logia als od rufe geſchrieben ber 
zeichnet Hättel 

Herr Dr. Weiß bat auf eine, wie ich glaube, verfehlte Hypo⸗ 
Ihefe eine Fülle von Scharffinn und Fleiß verwendet, die in ihren 
Einzelheiten für die ſynoptiſche Trage gewiß nicht verloren fein 
verden: daß die Hypotheſe felbft feinen nennenswerten Anklang 
indet, ift ſchon jegt, gerade den höchſt vefpektabeln Mitteln gegen- 
iber, die ber Urheber auf fie verwendet hat, offenbar. Weil ih 
iefe Thatſache famt ihren Gründen wahrnahm und doch auf der 
nderen Seite Weiß gegenüber der weit natürlicheren Holzmannfchen 
»ypotheſe in vielem vet geben mußte, Habe ich geglaubt, der 
Biffenfchaft einen Heinen Dienft zu thun, wenn id die im Streit 
vifchen Holgmann und Weiß wie feftgerannte ſynoptiſche Frage 


2 Kolbe 


wieder in Fluß bräcdte und meine eigenen Beobachtungen über die 
felbe als einen Schlichtungsverſuch zwifchen beiden verdffentlichte. 
Weder habe ich mir dabei eingebifbet, die leiten Mätfel dieſer Frage 
zu Töfen, noch Hat mich irgendeine Neigung zur Polemik gegen 
einen hochverehrten Mitarbeiter treiben können, mit dem ich mid 
viel lieber begegne und zufammenfinde und von dem ich fort: 
während gern und bankbar ferne. 





Die erfte Nürnberger ebangeliſche Gotteszienft- 
ordnung. 


Mitgeteilt von 
D. 3. Kolde 
An Erlangen. 





Es ift befannt und mehrfach gewürdigt worden, daß man in 
Nürnberg verhältnismäßig früh und, fieht mar von den allgemeinen 
Grundjägen ab, in einer gewiſſen Unabhängigkeit von Wittenberg | 
evangelifhen Gottesdienft eingeführt hat. Man Hat fich hier 
von vornherein, als man überhaupt zu reformieren anfing, nicht 
darauf befchränft, dem einzelnen Geiftlichen es anheimzuftellen, nad) 
Belieben Unevangelifhes fortzulaffen ?), ſondern — das wird dab | 
weiter unten Mitzuteilende mit Sicherheit ergeben — eine beftimmte 
evangelifche Gottesdienftordnung aufgeftellt, die in einzelnen Zeilen 
für viele Kirchen vorbildlich geworden ift. Ihren Juhalt im | 
großen und ganzen, fo wie den Umſtand, daß fie im Laufe des 
Jahres 1524 in Gebrauch gefommen, konnte man bisher zumaßt 


2) Gegen Möller, Oftander, S. 164 ff. j 


Die erfte Nürnberger evangeliſche Gottesbienftorbnung. WB 


aus zwei Schriften ), der DVerteidigungsfchrift der beiden Pröbfte 
von St. Sebald und St. Lorenz, Georg Peßler und Hector 
Böhmer: „Grundt vnd vrſach auf der heiligen fchrifft, wie und 
warumb die Cerwirdigen herren baider Pfarkirchen S. Sebalt 
vnd fant Laurengen Pröbft zu Nurmberg bie mißpreuch beh 
der heyligen Meſſz, Jartäg, Gewehcht Saltz, und Waſſer, fampt 
ettlihen andern Ceremonien abgeſtelt vndterlaſſen vnd geendert 
haben: Nürnberg“ (die Vorrede iſt datiert vom 21. Tag des Wein⸗ 
monat® Imm Jar MDXXiüij) und der durch Riederer (in feiner 
Abhandlung von Einführung des deutſchen Gefanges in die evangeliſch⸗ 
lutheriſche Kirche ac. Nürnberg 1759) wieder abgedrudten feltenen 
Schrift des Andreas Döber: „Uon ber Euangeliſchen Meß, wie 
fie zu Nürmberg im Neuen Spital, durd Andream Döber ge⸗ 
halten wirdt, Caplan dofelbft 1525*. Sehr inſtruktiv iſt ganz 
beſonders die letztere Schrift, die aber Lediglich den Meßgottesdienft 
im Ange Hat und ſchon um ihres Titels willen zu der Annahme 
verleitet hat, daß wir es hier eben nur mit dem Gottesdienſte, 
wie er in der Spitallirche üblich, zu thun Hätten, während ſchon 
!ine Vergleihung mit dem, was in der Schrift „Grund und Ur- 
ah“ über den Gottesdienft mitgeteilt wurde, auf einen gemein« 
amen Grundftod Hätte führen müfen, zu bem ſich das, was 
Döber berichtet, nur als eine weitere Ausführung ermeift *). Bor 
urzem Hat fih nun in Münden in der Kgl. Hof» und Staate- 
ibliothek die meines Wiffens ihrem Wortlaut und ihrer Datierung 
ach bisher unbelannte, weiter unten mitzuteilende erfte Gottesdienft- 
nung Nürnbergs gefunden ®), aus ber ſich ergiebt, daß man 
n zweiten Sonntag nad) Trinitatis den 5. Juni 1524 in Nürn 
rg mit dem neuen evangelifchen Gottesdienft begonnen hat, und wie 
ı Vergleich mit Döber erkennen läßt, nicht nur in den Parochial⸗ 


1) Bgl. Medicus, Gedichte der enangelifchen Kirche in Bayern (Er- 
gen 1868), ©. 60fj. Möller, Ofiander, ©. 21. 

2) Es iſt daher nurichtig, wie Löhe (Erinnerungen aus ber Reformationd- 
thichte in Fronten, Nürnberg 1847, S. 126) thut, von zwei Gottebienft» 
nungen zu ſprechen. J 

8) Here Setreiär Dr. Wilh. Meder, der fie daſelbſt fand, Hat fie mir 
iebe nswurdigſter Weife zur Veröffentlichung überlaffen. 


604 Kolbe 


tirchen, für welche die Gottesdienftordnung urfprünglich feftgefegt 
war, fondern auch in den anderen Kirchen dieſelbe alsbald mit ge⸗ 
ringen faum weſentlichen Veränderungen angenommen bat. Da 
das Schriftftüd das Datum vom 5. Juni trägt, fo wird man 
kaum fehlgehen mit der Annahme, daß es legtlich auf jener Ver⸗ 
fammlung von Geiſtlichen vereinbart wurde, melde am 1. Juni 
zur Abfaffung „der Artikel, der ſich der beiden Pröbſt vergliden 
haben, nechſt als fie beifammen waren primo Junii 1524, zur 
fammentrat. 

Das fraglihe Manuffript, auf zwei Folioblättern, ift in felten 
ſchöner Schrift offenbar für den offiziellen agendariſchen Gebrauch 
gefchrieben. Die Eigenart diefer Gottesdienftordnung wie ber Um⸗ 
ftand, daß fie eine der ältejten der evangelifchen Kirche ift, 
wird ihre dipfomatifche genaue Wiedergabe, der ich nur wenige 
Noten beizufügen hatte, rechtfertigen. 


DOMINICA SECVNDA POST TRINITATIS. 

Nurnberge in ecclesijs parrochialibus inceptus est ordo 
subsequens. MDXXIIII. 

Hora consueta dimidia sez. ante horam primä diei;pul- 
setur ad prima missam, Neque sal neque aqua conse- 
cretur. Sed confestim ad altare sese recipiunt celebrans 
& ministri. INTROITVS. Factus est dns protector meus: 
&e Deinde loco uersus Psalmus XVII. hoc modo. 





rm 


III 


Sub hac melodia totus cantetur psalmus. 


Die erfte Nürnberger evangelifche Gottesdienftordnung. 05 


Finis psalmi cü Gloria patri concludatur, atque In- 
troitus repetatur.!) Et per quamlibet septimanam cantat 
CHORVS aliü Introitüa & Psalmü, ut de tempore cancionalia 
habent. Dein Kyrie eleyson domicale, CELEBRANS, 
Gloria in excelsis. CHORVS. Et in terra. Postea ce- 
lebrans Orationem dominicald cantat, Sancti tui nois: &c. 
Oroe finita ineipit minister canere caput primü. dein ad 
subsgques offitium aliud caput, ut ordo expostulat, ad 
Romanos lingua germana, & premittit hanc prefations. 
Ir aller liebsten uernemet das N: capitel, der epistel die 
der heilig S. Paulus schreibt zu den Romern, Paulus ein 
diener Jesu Chri &. GRADVALE, Ad dnm cum tribularer 
<lamaui: &c ALLELVIA. Deus iudex iustus: &c. Subin- 
de diaconus cantare orditur caput. N. Mathei germanice, 
hanc premittens prefations, Ir aller liebsten uernemet 
die wort des heiligen Euangelij, das uns schreibt der heilig 
euangelist S. Matheus am N. capitel, Das puch der gepurt 
Jesu Chri: &c & sic ex ordine. Euangelio lecto, CELEBRANS 
canit Credo. CHORVS Patrem dominicale. Symbulo ®) 
finito. Offertorio ac Canone minore omissis, ineipit 





1) Grundt und Urſach 2c.: „Dieweil man nun fonft feyret, bisſ ſich der 
priefter ruſtet, den Altar bereytet, vnnd hynein tritt, hatt man pilich diweil 
ain gaiftfichen pſalm gefungen. Welcher auch barumb, der Eintritt, oder Ein- 
gang genennt ift, vnd Belt ſich aljo. Man nimpt ausf ainem pfalm ain Hüb- 
fen merdfichen vnd tröſtlichen Spruch, macht ain gefang daransf, darnadı 
fingt man den ganen pfalmen, von wort zu wort und befchleuft in zuletzt mit 
dem Gloria patri ond finget damit widerumb das erft gefang. Aiſo iſt es 
auch von anfang geweft, vnd zu vunfern gezeiten ausf faulhait allain ber erfte 
versſ gefungen. Darumb haben wir das auch wider angericht, und ben Pfalm 
gang lasſen fingen. ... Darnach volgt das Kriechiſch gefang, Kyrie eleiſon 
ymas. Das iſt zu teutſch. Herr erbarm dich vnſer. Bub dann das Gloria 
in excelsis unnd das Et in terra ıc.” Einige Abweichungen bei Döber, 
der feinen Meß-Gottesbienft mit dem Confiteor und ber Abfolution beginnt 
und erft hierauf den Jutroitus folgen läßt (bei Riederer a. a. O., ©. 318f.), 
alſo ganz fo wie bie fpätere Brandenburg-Nürnbergije Kirchenorduung von 
1583 8 vorſchreibt. Bol. Richter, Kirchenordnungen I, 204. 

2) Dazu am Rande von gleichzeitiger Hand: auupoAor öro (?) dieitur 
signum signa militaria. 


os Kolbe 


CELEBRANS Dos uobiscum. Sursum corda. Gras agamus. 
dno deo nostro, Vere dignu & iustum est gquü & salutare, 
nos tibi semper & ubique gras agere, dne sancte pater 
omnipotös gterne deus per Chrm domind nostrü, hie finitur 
prefatio. CHORVS. Sanctus, sanctus!), CELEBRANS 
aut subiügit legendo. 

Qui pridie quam pateretur, accepit panem in sanctas ac 
uenerabiles manus suas, & eleuatis oculis in celü ad te 
deum patrem omnipotents, tibi gras agens benedixit, fregit 
dedit discipulis suis dicens, Accipite & manducate ex hoc 
omnes. Hoc est eni corpus meum. 

ELEVATVR PANIS. 

Simili modo postquam cenatü est, accipiens & hunc pre- 
clarü calicem in sanctas ac uenerabiles manus suas, Item 
tibi gras agens, benedixit, dedit discipulis suis dicens, Acci- 
pite, & bibite ex eo omnes, Hic est enI calix sanguinis mei, 
noui & eterni testamenti misterium fidei, qui pro nobis & 
pro multis effundetur in remissionem peceatoru. 

ELEVATVR CALIX. 

Finito Osanna in excelsis, celebrans incipit, Oremus 
preceptis salutarib: moniti, &c. Pater noster qui est 
in: &e. 

Posthac admonetur populus sacramentü sumpturus his 
uerbis ). 


1) Bei Döber fprict der Priefter, und zwar erft nad Glevation des 
Kelches, das sanctus (a. a. D., ©. 320). 

- 2) Hier wilden’ wir alfo die erfte Erwähnung diefer berühmten Exhor- 
tatio haben, welche die beiden oben genannten Schriften ſchon dem Wortlaut 
nach mitteilen, bie beiden Pröpfte mit der Borbemerkung: „Dieweyl die orden- 
lich predig nicht allmal von tod Chriſti Iauttet, haben wir ain kurtze verma- 
nung an das vold verorbnet, darinnen begriffen, wie, und warumb Chriſtus 
geftorben fey, was wir dadurch erlangt Haben, und was wir hernach zu thun 
ſchuldig fein, dann das Wort Chriſti und Pauli tringt Hart, man musf fein 
gebenden, fein tobt verfhünbigen, fo offt man das thut ꝛc.“ Gin Jahr fpäter 
bei Döber (S. 821) Heißt fie ſchon ſchlecht weg „die Exhortation“. Wer ber 
Berfoffer, ob Wolfgang Bolprecht, wie nad) älterem Vorgang Löhe ©. 126 
mit Beftimmtheit behauptet, oder Ofiander, wie andere meinen, läßt fih wohl 


Die erſte Nürnberger evangelifche Gotiesdienſtorduung. 7 


Mein ?) aller liebsten in got, die weil wir ietzo das abent 
essen unsers lieben herren Jesu Chri wollen bedencken und 
halten, dar in uns sein flaisch und plut, zur speisz und 
zu eim*) tranck, nicht des leibs sonder der selen gegeben 
wurdt°). Sollen wir pillich mit grossem fleisz, ein itlicher *) 
sich selbs prüfen, wie Paulussagt, und °) uon diesem brotessen, 
und uon dem) kelch trinken. Dan es sol nicht, dan nur 
ein hungerige seel, die ir sund erkent, gottes zorn, und 
den tod furcht, und nach der gerechtigkeit hungerig und 
durstig ist, dis heilig sacrament empfahenn. So wir aber 
uns selbs prufen, finden wir nichts in uns, dan sundt und 
tod, kunnen auch uns selbs nit ?) darausz helfen. Darumb 
hat unser lieber herr Jesus Chrus sich uber uns erbarmet, 
ist umb unsert willen mensch worden, das®) er fur uns 
das gesetz erfullet, und lide was wir mit unsern sundern 
uerschuldigt ?) hetten, und das wir das ye festiglich glauben, 
und uns frolich darauff uerlassen mogen !°), Nam er nach 
dem abent essen das brot, saget dank, prachs und sprach, 
Nembt hin und esset, das ist mein leib, der fur euch dar- 
geben 4) wirt. Als wolt er sagen, das ich mensch pin 
worden, und alles was ich thue und leid, das ist alles euer 
aygen fur euch und euch zu gut geschehen, des zu eim !?) 
wartzeichen gib ich euch mein leib zur speisz. Des gleichen 





mit Sicherheit nicht mehr darthun. Ich gebe die Varianten, abgefehen von ber 
verſchiedenen Orthographie. 

1) Grundt u. Urſach: „Ic“; dagegen wie hier bei Döber. 

2) „um“. Döber: einem getranf. 

3) „mirt®, 

4) „yedlicher“. Döber: yglicher. 

5) „Und alsdann“. Ebenſo Döber. 

6) „bijlem, 

7) ‚in kaynen weg“. Ebenſo Döber. 

®) „auff bafa“. 

9) „verſchuldet“. Döber: verſchuldt. 

10) „mödjten”. Ebenſo Döber. 

2) „dargegeben“. 

18) „ainem gewißen“. Döber: def zu wortzeychen. 


608 Kolde 


auch den kelch und sprach. Nembt hin und trinckt ausz 
disem all, das ist der kelch des neuen testaments, mit 
meinem plut, der fur euch und fur uil uergossen wirdt 
zu !) uergebung der sundt, so?) offt ir das thut solt ir mein 
darpei gedenckenn. Als wolt er sprechen, die weil ich 
mich euer angenomen, und euer sundt auf mich geladen 
hab, wil ich mich selbs fur die sundt opfern, mein plut 
uergiessen, gnad und uergebung der sund erwerben, und 
also ein neu testament aufrichten, darin der sund ewig nicht 
gedacht soll werden, des zum °®) wartzeichen gib ich euch 
mein leib zu essen) und mein plut zu trincken. Wer 
nun also uon disem brot isset, und uon disem kelch 
trincket, das ist, wer disen worten die er hort, und disen 
zeichen die er empfahet festiglich glaubet, der pleibt in 
Christo, und Chrus in im, und lebt 5) ewiglich. Darpei sollen 
wir nun auch ©) seins tods gedencken, und ?) im danck sagen, 
ein ytlichen ®) sein kreutz auf sich nemen, und in ®) nach- 
uolgen. Vnd zuuor einer den andern lieb haben !%), wie 
er!) uns geliebt hat, dan wir uil, sein ein brot und ein 
leib, die wir all eins brots tailhaftig sein 2), 


Subiungit deinde CELEBRANS pax dni sit semper uo- 
bisca, CHORVS respondet. Incipiatur dein populus comu- 


4) „zur“. Döber: zur verzeyhung. 

3) Döber: als offt je das tHut, fo thuts zu meiner gedechtnus. 

®) „zu atnem gewiſen“. Döber: zu wortzeichen. 

4) „mein leib zu eſſen und“ fehlt in Grundt m. Urſach und bei Döber. 

8) „Abet aljo“. 

6) „au“. Ebenſo bei Döher. 

?) „und“ fehlt. 

8) „geblicher.” Döber: yeglicher. 

9) Döber: dem Herren. 

10) „lieben“. 

1) „er au“. Döber: aud) er. 

18) Hier folgt in Grundt u. Urſach und bei Döber noch: vnd auß ainem 
kelch trinden. 





Die erfte Nürnberger evamgelifche Gottesbienftorbnung. 600 


nicari, Officiante panem prebente, & ministro calicem. Sub 
comunione Chorus canit Agnus dei: & comunions, tardius 
aut uelocius iuxta holm comunicantid numera. Administrato 
seeramento, siquid superest a Celebrante & ministrantibus 
sumitur. Demu Offitii cum oratione, quam Complenda 
uocant, concludatur. 

Finita prima missa ineipiuntur tres Psalmi, qui quotti- 
die ex ordine, ut Psalteriü habet, psallentur Dominieis & 
feriatis diebus Offitin immediate següntur psalmi, sed alijs 
diebus publicum precedüt offitium. Incipit eni regens. 
Deus in adiutoriü meü: &c Antiphona intonatur de historia, 
sub cuius tono cantentur psalmi, Btus uir: Quare fremuerüt: 
Dne quid multiplicati: Dein Antiphona repetatur. Finita 
Antiphona, recipist sese regens ad aram Joannis legens in 
Geneseos libro caput, & premittens prefations simils eius, 
que epistolis Paulinis premissa est, capite finito idem regens 
in Choro cantat. Dns uobiscum, & subiungit Orations do- 
minicale, deinde Benedicamus. 

His completis presbyter ascendit contions, populo Oroem 
dominicä, Salutations angelica, Symbolü, & decem precepta 
predicens, item & festa Sanctorü in septimana futuram in- 
cidentia. " 

Subinde !) ecclesiastes sermon facit, post sermons pu- 
blicum peragatur officium, per hunc, ut supra notatü est, 
modü. 


AD VESPERAS. . 
Deus in adiutorin meum: &c Antiphona de historia, ut 
supra, intonatur, sub eius tono cantötur psalmi quinque ex 
ordine, ut in psalterio següntur, Dein Antiphona repetatur, 


1) Nach den Zuſammenhang Heißt das Hier wohl foniel als „wieberhofent- 
NG, öfters, von Zeit zu Zeit”. Wo in biefem Fall die Predigt zu Reben dam, 
ergiebt eine Stelle aus „Grundt und Urſach“ (Bogen H), wo es nad) ber Er- 
wähnung des Symbolums Heißt: „Als dann fahet fich erſt recht die Mei an“, 
fo das Officium. Die Predigt mwürde bemmach dieſelbe Stelle eingenommen 
‚Haben, welche ihr die Kirchenordnung von 1533 zuweiſt, Hinter dent (1.) Credo. 

Deol. Stud. dabrs. 1882. 40 


610 uſteri 


qua sequatur subsqquens in Genesi caput, capite lecto sg- 
quitur Responsoriü de historia, post quod. uersiculus. Diri- 
gatur: aut Vespertina oro: &c deinde Magnificat, cu anti- 
phona de historia, his finitis, subiungit regens, omisso 
Completorio. Dns uobiscum & Orations. demü Bene- 
dicamus. - 


4. 
Weitere Beiträge zur Geſchichte der Tanflehre 
der reformierten Kirche, 
Bon 


Joh. Martin Ufer, 


Pfarrer in Hinweil, 





(&gt. Jahrg. 1882, 9. 2, und Jahrg. 1883, 8. 1.) 





L 
Joh. Bader, ein weniger bekannter Verteidiger der Aindertaufe. 


Joh. Bader, der erfte evangelifche Prädifant und Reformator 
von Landau in der bayerischen Pfalz, wird von Gelbert bei Herzog, 
Real⸗Enc. XIX, 160 (wo über ihn das Nähere nachzulefen) einer 
der Sterne zweiten Nanges genannt, die im 16. Jahrhundert ihr 
Licht leuchten ließen. Er ſchrieb, von Zwingli angeregt, ein Büch⸗ 
fein über die Tauffrage ?). In der Vorrede befennt er, wie fehr 
ihm Hubmehers „vom hriftlichen Tauf der Gläubigen“ eingeleuchtet, 
To daß auch Zwinglis Taufbüchlein feine Bedenken nicht ganz ger 
Hoben, Bis er mit einem Wiedertäufer perſönliche Bekanntſchaft 


1) „Brüberliche Warnung für dem newen abgbttiſchen Orden ber Wider» 
täuffer“. 1827. 


Weitere Beiträge zur Geſchichte der Tauflehre 2c. 6 


gemacht und deffen Anmagung und über die Schrift ſich erhebende 
Geifteswillfür mit eigenen Augen gefehen. Da Habe ihn Gott 
erleuchtet, und einer forgfältigen Prüfung der Schriftftellen vers 
danke er die Einfiht in deren natürlichen, von den Wiedertäufern 
verdrehten Sinn. Seine Abfiht fei nun für die Unerfahrenen zu 
ſchreiben *). 

Um die Frage über die Kindertaufe zu entfcheiden, betont Bader, 
mit Zwingfi darin übereinftimmend, Habe man einfach zu unter 
ſuchen, ob bdiefelbe dem Wefen der Taufe überhaupt nicht wider 
ſpreche; wie die Mpoftel ſich verhalten, komme nicht in erfter 
Linie in Betracht. Nun ſpreche Matt. 28 und Marl. 16 weder 
fpeziell für nod; gegen bie Sindertaufe, fondern es werde dort 
einfach den Apofteln Anweifung über ihr Lehren und Taufen ums 
faffendes Amt gegeben, aber nichts darüber entfchieden, unter was 
für Umftänden bei einzelnen Individuen das Lehren oder das 
Taufen vorauszugehen habe. Der allgemeine Begriff der Taufe 
aber, infofern fie Chrifto zum Eigentum weihe und zu Dienft, Ges 
horfam und Vertrauen verpflichte, ftreite nicht mit der Kinder⸗ 
taufe. 

ee Taufe des Johannes und die hriftliche Taufe find auch 
nach Bader identifh. Wer die Taufe vor der Himmelfahrt 
degrabiere, thue es, weil es damals noch am Verſtändnis fir 
dieſes Zeichen des Neuen Bundes gefehlt. Allein diefer Mangel, 
der ja nicht nur das Sakrament, fondern aud vielfach das Wort 
Chriſti betroffen, habe nichts zu fagen; die vorläufig noch unvers 





1) Er will nichts anderes fein als „ein armer, ungelehrter Bader“ und 
doch ſchmeichelt es ihm, fo zu heißen, und er meint ala „Yohannes Bader“ 
(. i. als ein zweiter Johannes der Täufer) gleichſam zu einer folden Schrift 
inneren Beruf zu Haben. Wie diefes Wortipiel, das er fehr liebt und zur 
Genüge wiederholt, iſt noch manches in feinem Büchlein etwas ſchwach; auch 
von einer rohen Denkungsart enthält dasſelbe Proben, z. B. die Gtelle: 
„Wenn ich den Glauben hätte, wovor Gott mic behüte, daß der Teufel und 
alle Verdammten endlich felig würden, fo follt mir fein Bosheit zu viel fein, 
fondern e8 wäre mir nur eine Luft, daß ich die ganze Welt und den Teufel 
jelbſt in der Bosheit übertreffen ſollt. Wie möcht ich größer Ehe und beſſer 
Leben auf Erden erlangen?” 

40* 


02 uſteri 


ftandene Weihe fel doch gultig geweſen, fo gut mie mem heute 
ummündige Kinder getauft werden. Wenn nun aber aus letzterem 
zugunſten der Fohannestaufe ein Schluß gezogen wird, fo ift das 
Intongruente nur das, daß es dert ebem nicht Sinder anging, 
umd daß das Verſtandnis ganz umd ger, d. h. auch Bei den das 
Saframent Erteilenden fehlte). Nur als opus operatum aufs 
gefaßt, laßt fich jene frühere vorbereitende Taufe. (des Johannes 
und der Jünger Jeſu dor der Himmelfahrt) mit der fpäteren ganz 
auf eine Linie ftellen %). — Gar wunderlich iſt es, wenn Baber 
zugunſten der Taufe des Johannes, den er natürlich zum Neuen 
Bunde rechnet, auch das geltend macht, daß dabei der heilige Geift 
fogar in fihtbarer Geftalt gegenwärtig gewefen. Eher läßt ſich 
hören, daß er, nebſt der Bußforderung, nad) Joh. 3 (am Schluß) 
und Apg. 19 auch eine Glaubensanweiſung beim Täufer nit ver⸗ 
mißt. 

Weittäufig Täßt fi fodann Bader darüber aus, daß die Taufe 
fein Geſetz und feine conditio sine qua non ber Seligkelt fet, 
fondern ganz und gar ber chriſtlichen Freiheit anheimgegeben. 
Man habe fie weder jemals einem Menfchen aufgebrängt, noch fie 
verweigert. Man habe ſich fogar bisweilen taufen luffen, damit 
es ungläubigen Verftorbenen zugute komme ®); nun fei es doch un⸗ 
glei natürlicher und bei weitem nicht fo Kühn, Kinder, die noch 
zum Glauben gelangen könnten, zu tanfen 4). Im Intereſſe der 
Wahrung KHriftlicher Freiheit gegenüber folgen, die fie in Feſſeln 
ſchlagen wollen, müßte man mit der Kindertaufe Heute anfangen, 
wenn fie noch nicht in Übung wäre. Das Dringen auf Wieber» 


1) Außerdem if e8 matikelich ein Zirkel, wet die Mindertaufe durch die 
—— und die Johanuestaufe wieber durch die Kindertaufe geftütt 


Ein anderes iſt es mit der Kindertaufe, Die als dektaratoriſcher Akt der 
Senteinde aufzufaſſen iſt, von deffen Bedeutung und innerer Begraundung wenig · 
ſtens diefe ſamt Eltern und Paten das volle Bewußtſein Kat. 

®) Nach der wohl richtigen Deutung ven 1’Ror. 15, 29. 

4) Hter konntt man allerdings Baber mit feinem eigenen Arlome ſchlagen, 
daß exempla, zumal von dergleichen firpesfiitiöfen Mißbräuchen hergenommen, 
gar nichts beweifen. 


Weitere Beiträge zur Gedichte der Tauflehre zc. 618 


taufe aber fei dem jubaiftifchen Aufnötigen der Beſchneidung zu 
vergleichen. Dieſe allerdings Habe die Geltung eines Gebotes im 
Alten Bunde befeffen. 

Bader erfcheint e8 ferner gar nicht als unwahrſcheinlich, daß 
Gott in ben prädeftinierten Kindern eine Erkenntnis feiner felbft 
wirle, man brauche davon nicht gerade etwas zu fehen; auch bei 
Aindifch gewordenen Alten bemerfe man nichts mehr vom Glauben, 
fo wenig derfelbe ihnen abzufprechen feil Man Habe übrigens bei 
der Taufe gar nicht nach dem innerlihen Glauben zu fragen, 
fondern mäffe es eben [bei alten und jungen in guter Hoffnung 
wagen. Das Neue Teftament enthielte gewiß eine Warnung vor 
der Kindertauft wie vor anderen Irrlehren, wenn biejelbe un. 
erlaubt wäre, Nur offenbares Widerftreben berechtige zur 
Taufverweigerung, und von ſolchen fei ja bei Kindern Feine Rebe, 
deren Uufpuld jedenfalls alle Heuchelei ausſchließe *). 

Was die Wiedertaufe betreffe, fo begünftige fie nur ein ger 
ſetzliches, werlgerechtes Weſen und verdunkle die allein wieder» 
gebürende Kraft des geiftlihen Waſſers, davon Jeſus Joh. 3 
rede; unter den Exempeln mache Apg. 19 am meiften Schwierige 
keiten, wo auch Origenes eine zweite Taufe angenommen. Bader 
befennt, daß, „wenn ihn nicht der treue Hirt Jeſus Chriftus ges 
halten, er unbefonnen in den abgöttifchen Wiedertauf hineinge⸗ 
plumpft wäre”. Gr zieht aber nun der Zwingliſchen Anſchauung 
die andere vor, Johannes Habe die Männer mit Waffer getauft, 
Paulus aber fie bloß im Chriſtentum unterrichtet. Übrigens 
märbe eine einmal ftattgehabte Wiedertaufe 2) für alle anderen 
Fälle noch nichts beweiſen; dies geltend zu machen, ift Bader uns 
befangen genug, während Zwingli durch Apg. 19 arg ins @e- 


2) Bgl. die Stelle bei Zwingli im Brief an Haller VIII, 380: „De in- 
fantium baptismo, qui ex Christianis nati et eoclesine ad baptizandum 
pblati, certi, oertil quod peccare et dissimulare non possunt (peccare 
i e. contra legem facere, nam quod originalem morbum tenent non ipsi 
‚Peccaverunt), non possunt ergo infantes ecclesiam fallere.“ . 

2) Wie bei Timotheus, dem ſchon Getauften, für die Beſchneidung, hätte 
dann Paulus Hier für die Wiederholung der Taufe feine ganz beſonderen 
Grunde gehabt. 


614 uſteri 


dränge kam. Schon das richtet nach Bader den Wiedertauf, 
„daß er wie ein Raub gehalten und heimlich vollzogen wird“. 
Die einzig ſchriftmäßige Wiedertaufe fei nah Lul. 12, 50 das 
Martyrium. 

Namentlich drei Schriftzeugniffe führt Bader für die Kinder- 
taufe ins Feld: 1) Die Beſchneidung. 2) Das unfchuldige, über 
dem Glauben ftehende Leiden der betlehemitiſchen Kinder um 
Ehrifti willen. 3) Wie Jeſus die Kinder fegnet. Dies Exempel 
zeige, daß man mit den Kindern glei nad) der Geburt „etwas 
Ehriftliches“ vornehmen folle. Und hier fei nun eben das von 
ben Heiden Unterfcheidende die Taufe. 

Über die Bedeutung der Taufe fagt Bader: fie fei ein Bundes⸗ 
zeichen, dadurch man ſich Gott ergebe zu einem Heiligen Leben 
(das er freilich bezeichnet ald „ein ewiges Labyrinth, darin nie= 
mands zum End fummen kann, Gott geb ihm denn Urlaub und 
nehm ihn aus dieſem irdiſchen fterblichen Leben in fein ewiges 
Reich, da kein Summer oder Winter, auch kein Hunger oder Durft 
mehr ift, funder ein ganz ungebrechlich Leben, wie die Engel im 
Himmel haben“) und dadurch man fi namentlich verpflichte, dem 
teuren Taufherrn und Hauptmann nachzufolgen im Kreuz, im 
geiftlihen Abfterben und Auferftehen. 

Bader ift nicht blind gegen die Mißbräuche, die mit der Kins 
dertanfe ſich eingeſchlichen. Dazu rechnet er: 1) Vernachläffigung 
ber chriſtlichen Erziehungspflicht. 2) Weltliche Intereſſen bei der 
Auswahl ber Paten. Zur Abhilfe ſchlagt er vor: Wo fich feine 
Hriftlihen Zuchtſchulen mit bewährten Lehrmeiftern errichten 
ließen, da follten treue Prädifanten „eiman mehr dann eineft im 
Jahr“ das jung getaufte Volt zufammenberufen und unterrichten. 
Ohne das könne man um der Treulofigkeit der Eltern und Paten 
willen nicht mit gutem Gewiſſen die Kinder taufen. Entweder 
muſſe der Täufer felbft fi zur Kinderlehre bequemen (denn fonft 
werde ans dem Kindertauf ein „Gefpött“, und daran trage er 
ebenfo ſehr Schuld als bie ungetreuen Eltern und Zeugen), ober 

" „er muß des Heiligen Kindertaufs gar müßig gon“. Indem bie 
NReformatoren die Kindertaufe acceptierten, erhoben 
fie doch durd die beftimmte Forderung nahfolgenden 


Weitere Beiträge zur Geſchichte der Tauflehre ꝛtc. 615 


Unterrihts gegen das Opus operatum unzwei— 
deutigen Proteft, fo ſchon Zwingfi (Opp. I, 239sqgq.), fo auch 
Bucer (bei Baum, Capito und Bucer in der Sammlung „Bät. 
u. Begründer ꝛc.“, ©. 285). 

Baber berichtet auch am Schluß über eine Disputation mit 
bem fprachgelehrten Zoh. Denk, der nach Landau gefommen. In 
Matth. 28 habe er trog Denks Deuteleien auch den Buchſtaben 
für fi gehabt, indem nad Zwingli zu überfegen fei: „Nehmet in 
die Züngerfchaft auf alle Völker. Alſo aber machet mir die Leute 
zu Züngern, indem ihr fie zuerft taufet und dann lehret.“ Übrigens 
fei auch dann Feine Waffe gegen die Kindertaufe aus der Stelle 
zu gewinnen, wenn man pasmtevoore mit docete überjege, 
denn bei Erwachſenen folge natürlich die Taufe ber Predigt nad. 

Dent unterſcheidet zwifchen Befchneibung und Taufe und will 
letztere bloß dem geiftlihen Samen Chrifti zuerfennen; aber 
Baber frägt, woraus man wifjen fönne, wer mit Sicherheit dazu 
gehöre. Denk entgegnet nicht ungeſchidt, auch die Unterſcheidung 
des Herrnleibes im Nachtmahl fei nicht zu kontrollieren. — Wenn 
Denk das bloße „nicht Widerfprechen zur Stunde des Taufe“ ?) 
zu dürftig findet, fo Hält ihm Bader entgegen, zum mündlichen 
Bekennen, wenn's nur darauf ankomme, fönne man am Ende auch 
einen Papagei äbrichten. Und fo gehts im ftichelnder Rede und 
Gegenrede fort. Bedeutſam ift nur, wie nachdrücklich Bader auch 
hier die pädagogiſche Bebeutung der Sindertaufe hervorhebt: fie 
fei „ein fonderliher Ermahner und Wächter, der täglich ermahne, 
um fo ernftlicher in der Kinderzucht anzuhalten“; Mißbrauch hebe 
den rechten Gebrauch nicht auf. Auf der SKindertaufe ruhe ein 
Segen, mit ihr pflanze ſich der chriftliche Name und der Buch» 
ftabe des Evangeliums von Gefchlecht zu Geſchlecht fort, und es 
fei alfo aud die Möglichkeit einer Belebung des Buchſtabens zur 
Erkenntnis des Geiftes gegeben. So hange u. a. ber Segen ber 


1) Bader bemerkt am Schluß, er Habe bieje® „Minimum“ feines Wiſſens 
zuerſt firiert, er Kaffe fi) aber belehren. Schriftgemäß jet jedenfalls, daß 
offenbares Widerfireben mit Worten oder Werfen (Laftern) von ber Taufe aus- 
ſchließe; das mindefte alfo, was man verlangen könne, fei ein Nicht ˖ wider- 
ſtreben. 


616 uſteri 


Neformationszeit mit der Kindertaufe zuſammen. Die Forderung, 
daß die Lehre vorausgehe, Habe nur dann Sinn, wenu man 
darunter’ die Einbürgerung des Evangeliums und des chriſtlichen 
Namens bei der Gefamtheit verftehe. In diefem Siun aufgefaßt 
fei ja allerdings Lehre und Glaube das prius, die Taufe aber das 
posterius. 


I. 


Zwinglis Korrefpondenz mit den Berner Reformatoren Haller, 
Kolb ıc. über die Taufftage. 


Wie an allen Hauptherden her Reformation, fo erhob aud in 
Bern der Unabaptismus fein Haupt. Auch dort war es belichte 
Taktik, die Prediger des Evangeliums zu verdächtigen, als ob fie im 
geheimen wenigftens einverftanden wären. Haller glaubte fih da⸗ 
ber Zwingli gegenüber verteidigen zu müflen. In einem Brief 
vom 29. Nov. 1525. (Zw. Opp. VII, 441), worin er fih für 
Überfendung des Taufbuchleins bei Zwingli bedanft, ſchreibt er zu 
feiner Mechtfertigung: „Utcunque et Thomas et ego delatä 
simus apud te, eo tamen insaniae nunquam devenimus, 
ut puerorum baptismum negaremus. Collocuti sumus saepe 
de hac re, sed illius animi nunquam fuimus, ut catabaptis- 
mum affırmaremus. Seducit multos scripturarum plana alle- 
gatio (wohl oberflählicher Schriftbeweis) Balthasari. At ubi 
ex te imposturam (Verdrefung Verfälſchung) et praeter eam 
Testamenti rationem (geht woßl auf ben „vom ewigen Bunb“ 
hergenommenen Beweis fiir die Sindertaufe) viderint, procul 
dubio aliter sentient. Mentem meam nunc habes de tota 
Catabaptismi causa, ut potius emorier quam vel rebaptisem 
vel rebaptismo consentiam.“ 

Immerhin Scheinen die Prediger einer Anleitung zu erfolge 
reichem Kampf fehr bebürftig gemefen zu fein; fie hatten nämlich 
entgegen der zu Gemwaltmaßregeln meigenden Regierung die Über» 
zeugung, „ihre Sache fei es, alles mit dem Schwert des Geiftes 
entweder auf der Kanzel oder in öffentlichem Geſpräch zu wider- 
legen“, und fo wendeten fie fich denn wiederholt an Ziwingli, der 


Weitere Beiträge zur Geſchichte der Tauflehre zc. 67 


fie nicht Teicht zufrieden ftellen konnte i). Bei einer Hausburdr 
ſuchung in der Morgenfrühe war man auch wiedertäuferifcher 
Schriften Habhaft geworden; „articuli eorum‘ ?) nennt fie Haller 
und überſendet fie Zwingli zur ſchriftlichen Widerlegung. — 
Namentlich fegten die Wiedertänfer den Prebigern duch Eifern 
gegen die mit ber SKindertaufe noch verbundenen römiſchen Miß- 
bräuche zu und brachten fie dadurch wirklich in peinliche Verlegen 
heit. Zwingli riet unterm 22, Mai 1527 (Opp. VI, 71), 
wohl zu unterſcheiden zwifchen den frommen und unſchuldigen und 
zwifchen den thörichten Zuthaten; betonte aber, daß auch das Aller- 
abgefchmadttefte die Gultigkeit der Taufe nicht aufzuheben vermöge. 
Dean könne und folle den Wiedertäufern gegenüber das Verwerfe 
liche zugeben, gleichwohl aber in praxi nicht radikal verfahren, 
fondern „pleraque ferre ad tempus“?). Man könne fogar ihr 
Drängen auf Abſchaffung diefer Mißbräuche benügen zu einem ge 

3) Auf einen Tangen Brief Hin dod) wieder (Zw. Opp. VIIL, 66): „At 
ut rem dilueidius nobis aperias precamur.“ Cf. VII, 50. 

2) Ein Schriftſtuck diefes Titels widerlegt Zwingli noch im Herbſt dee 
Sahres 1627 im feinem Elenchus öffentlih (Zw. Opp. III, 388); vgl. das 
über die litterariſche Beranlafjung des Elenchus in der Abhandlung über 
Zwinglis Tauflehre Gefagte. Zwar bemerkt Zwingli III, 862, daß er die 
anabaptiftifchen Schriftftüce, die ev fi zu widerlegen vorgenommen, von Baſel 
durch Öfolampab, vir vigilantissimus, erhalten, aber zugleich auch p. 388, 
daß diefe articuli, im vielen fchriftfichen Exemplaren vorhanden, in ihrer aller 
Händen feien, und Haller jagt ja in feinem Brief an Zwingli vom 25. April 
15627 (Zw. Opp. VII, 49) ausbrüdiih, die Wiebertäufer, deren Käufer 
durchſucht und bei denen die fraglichen Schriftfüde gefunden worden, feier von 
Bafel Hergelommen. Es miüfjen folder Dokumente verichiedene geweſen fein 
(copiam factionis eorum eorum arma et fundamina). Ob «6 biefelben 
find, die Zwingli im Elenchus widerlegt und ob wir aljo aus biefem ihren 
Inhalt kennen lernen, in freifich nicht gewiß, aber wahrſcheinlich. Allerdings 
ſtimmt zu dem im Elenchus Abgedruckten nicht, was Haller in feinem Brief 
am Schluß über die Behauptungen ber Gegner jagt: „Admiserunt etc.“ 
Doch kdunen fie diefe Aufichten auch in der p. 49 erwähnten Unterrtdung were 
fodzten haben. 

8) Freilich über alles Maß hinaus ging das bei einem Marienbilde im 
Rauton Bern übliche Taufen von Aborten und toten Kindern, welches einträge 
Hehe Geſchäft mehr als 80000 Pfund abgeworfen, bis ihm emblich durch Wer» 
bremumg des Idols ein Ende gemacht wurde (Zw. Opp. VII, 147). 


618 uſteri 


wiſſen Druck auf die Obrigkeit, „freier einher zu gehen auf dem 
Wege bes Herrn“. So müßten durch Gottes Gnade felbft die 
Gegner der guten Sache noch vorwärts helfen. 

Auch über bie Frage, inwiefern Glaube zur Taufe erforder- 
lich, feheinen die Berner nicht Har geweſen zu fein, wenigftens in⸗ 
formiert fie Zwingli unterm 9. Dezember 1529 (Opp. VII, 380) 
mit nichts zu wünfchen übrig Taffender Deutlichkeit. Die Stelle, 
die zu den bündigften in feinen Schriften gehört, ift in der Ab- 
Handlung über feine Tauflehre ſchon im Auszug mitgeteilt worden. 


II. 


Leo Indae über die h. Taufe. 

Diefem Freund und Mitarbeiter Zwinglis gebührt zwar nicht 
das DVerdienft, die Tauflehre mehr oder weniger felbftändig ent= 
widelt, wohl aber fie in feinem größeren Katechismus durd Zus 
fammenftellung von Auszügen aus Zwinglis früheren und päteren 
Schriften in anfprechender Abrundung dargeftellt zu Haben ). Et« 
was Neues, Originelles ift wenigftens in diefem Lehrftüc nicht zu 
finden; Hingegen gewährt e8 Befriedigung, die disjecta membra 
Zwinglifcher Lehrauffaffung zu einem einheitlichen Ganzen zufammen- 
gearbeitet zu fehen. Leo Judaes Katechismus fand ungeteilten 
Beifall, wurde die Grundlage des katechetiſchen Unterrichtes in der 
zurcheriſchen Kirche und ſtellt jedenfalls den fpezifiich Zwinglifchen 
Lehrtypus, wie er bis zu der Einigung mit Calvin, mas bie 
Satramentslehre anlangt, unangetaftet blieb, authentifch dar. 

Das göttliche Motiv zur Gewährung von äußerlichen Zeichen 
und religiöfen Zeremonien wird genau wie am Anfang der Schrift 
vom Kindertauf erläutert: „Was alle Völker hatten, wollte Gott 
aud) den Seinen nachlaſſen, daß ihnen an ihrem Gott nichts ger 


3) Bullinger in der Vorrebe: „Denn er (eo Judae) fih auch nicht 
ſchamt, aus anderer gelehrter Diener Arbeit das Kommlichſte abzufchreiben und 
in das Seine zu feßgen, dieweil gleiches nicht nur von den Allerhochgelehrteſten 
der uralten Lehrer, fondern and von ben h. Propheten felbft geichehen if.“ Mit 
dem gegenwärtigen Begriffen vom litterariſchen Eigentum fteht es allerdings 
nicht im Einklang, daf dieſe Auszüge nicht jeweilen ale Eitate bezeichnet find. 
Es thut fich darin eine gewiſſe, das „alles ift euer” geltend machende dmAdrns kund. 


Weitere Beiträge zur Gedichte der Tauflehre zc. 69 


bräche und fie vor ber Verſuchung die Heiden nachzuahmen bewahrt 
blieben.“ Bon innerlichen Wirkungen eines Äußerlichen als ſolchen 
Tann freilich im Neuen Bund noch weniger als im Alten die Rede 
fein. — Bei der Definition von sacramentum bereinigt Leo, 
nad Erwähnung des Wortfinnes „Eid“, die jpätere Darftellung 
Zwinglis mit der früheren und ftellt folgende zwei Bedeutungen 
auf: 1) Zeichen eines Heiligen Dings, dadurch dasjelbe und vor⸗ 
getragen umd angebildet wird. 2) Pflichtzeihen, dadurch wir und 
zu biefem Beifigen Ding verbinden und verpflichten, 

Fürs erfte foll nämlich das „dur den Gebrauch und die 
Bedeutung geheiligte Waſſer“ Hindeuten und Hinführen anf das 
innere wefentlihe Ding, d. 5. auf die Wiedergeburt und Reinigung 
im heiligen Geift. Dem äußeren Menſchen ift das äußerliche 
Zeichen gegeben, daß es ihn aufs Innere führe. Es vermittelt 
dabei der Glaube. Diefer befommt nun auch vom äußeren Menfchen 
her einen Antrieb, Chriftum mit feinem ganzen Verdienft, Sünden« 
vergebung und Wiebergeburtögnade, Rechtfertigung und Heiligung 
(beides wird durch die Taufe bezeichnet ?)) anzuziehen. Sold ein 
Hinweis auf den Heiland war auch die Taufe des Johannes. 
Zur Veranſchaulichung deſſen, daß das „Bezeichnen und Bedeuten“ 
zugleich ein „vor die Sinne tragen“ im konkreteſten Sinn ſei, 
werden bie früher *) mitgeteilten Stellen aus ber Expositio 
Zwinglis und aus der Schrift gegen Ed wörtlich angeführt. 


4) Dies ins Licht geftellt zu Haben, bezeichnet Schweizer, Reform. 
Glaubensiehre II, 622 oben, als einen Vorzug des reformierten Syſtems, 
während Schenkel, Weſen des Proteflantismus I, 466 darin, freilich mit 
Unrecht, eine Abweihung von einer „objektiv theologiſchen Auffaſſung ber 
Taufe” erbfidt. Es Handelt fi ja nad; veformierten Grunbfägen bei den 
Saframenten allerdings um eine objektive Gnadenmitteilung, wiewohl nur 
unter Borausfegung ber ordnungsmäßigen pſychologiſchen Vermittelung. Das 
Taufſakrament ift zunächft Darftellungsmittel und bringt durch feine Symbolik 
ſowohl die objektive Sündenvergebung als auch die allerdings ſubjektiv zu ver - 
wirklichende Wiedergeburt zur Anſchauung. Es ift nun nicht abzufehen, warum 
wicht, wo fubjeftive Bedingungen geftellt und erfüllt find, auch bie beides wir« 
ende Gnade duch Bermittelung bes Gaframentögenuffes ordnungsgemäß 
Lönnte dargereicht werben. Bei der Rindertaufe kann natürlich bezüglich ber 
Wiedergeburt nur von einer Weihe zum Chriftenftand die Rebe fein. 

2) Im der Abholg. über Zwinglis Tauflehre. 


“2 Begel 


Es Lägt fich zum voraus benfen, baß Hingegen Leo feine Eitate 
zur Erläuterung des Pflichtzeichenbegriffs aus Zwinglis Taufbüch⸗ 
lein entnahm. Er geht von der Analogie der Geſchneidung ans 
nud vechtfertigt daran auſchließend die Kinbertaufe, beftätigt alfe 
nur bie oben ausgeſprochene Anficht, daß das Intereſſe, bie Kinder⸗ 
taufe zu rechtfertigen, auf jene Analogie und dieſe hiuwiederum anf 
den Pflichtzeichenbegriff geführt. Die dem Kind auferlegte Ver- 
pflichtung zum Chriftenwandel als die eine Seite des heiligen 
Dinge, das durch die Kaufe bezeichnet und vor die Gimme getragen 
wird, fommt bier nicht mehr zur Sprache, fondern nur, genau 
nach dem Taufbüclein, die den Eltern anferlegte nnd von ihnen 
übernommene Verpflichtung mit Bezug auf das äußere Sehren, auf 
die chriſtliche Erziehung. Und am Schluß heißt es noch unter 
beutlicher Anfpielung auf die Wiedertaufe ebenfalls nah Zwingfi, 
die Taufe fei nicht ein neues, durch Zwang aufzurichtendes ?), zur 
Barteiung dienendes Gefeg, fondern ſchlicht und recht die Äußerliche 
Kundgebung einer Pflicht. 


* 


Alphäns und Klopas. 
Bon 


Wextzel 


Baßor in Vandeliew. 





Bor elf Zahren hat der Unterzeichnete in einem Auffage über 
„Die Brüder des Herrn“, ber in der „Monatsfchrift für die 
evangelifh + lutheriſche Kirche Preußens“ (1871, ©. 205ff.) ger 
druckt erſchienen ift, bie Unfiht vertreten, daß diefe Männer Jeſu 


3) Wie dazu bie obrigkeitlichen Mandate paßten, welde die Kindertaufe 
‚erzwangen, ift freilich ſchwer abzufehen. 


Alphaus und Klopas. ea 


Hafbbrüder von ber Maria geweſen feien, und fam bei der Wider» 
legung ber entgegenftehenden Anſicht auch auf die Behauptungen, 
die von den Gegnern ans einigen Stellen in den Erzählungen ber. 
Evangeliften von dem Leiben und der Auferftehung bes Herrn abs 
geleitet. worden, nämlich: 

1) daß Apuios und Kionüs nur verfdiebene griechiſche Bor» 
men bes Hebräifchen Namens won feien, und einen und 
denfelben Mann bezeichnen, 

2) daß feine Frau Maria geheißen, und die Schweſter der 
Mutter Jeſu gemefen fei. 

Inbetreff des erfteren Satzes nun Habe ic; anerfannt, daß 
Arpaiog die regelrechte griechiſche Form für den aramälfchen 
Namen bie) fet, aber entſchieden beftritten, daß aus diefen Namen 
im Griechiſchen aud) Kiwnag geworden ſei; fondern dies, fagte ich, 
fet ein von 4poiog völlig verfchtedener Name, und Habe einen 
von Alphäus ganz verſchiedenen Mann bezeichnet. So viel ich 
weiß, Hat ſeltdem feiner unferer Gelehrten die von mir geltend 
gemachten Gründe wiberlegt, oder au nur von meinem Einfpruche 
gegen die allgemein Herrfchende 1) Annahme ber Identität beider 
Namen Kenntnis genommen. Sondern wie man ſich auch, inbetreff 
der Frage wegen der Brüder des Herrn für die eine oder andere 
der einander beftreltenden Anfichten entfchled, auf beiden Seiten 
ſcheint es für eine ausgemachte Sache zu gelten, dag Alphäus und 
Mopas berfelbe Name fein und denfelben Mann bezeichnen. Daß 
man meinen Einſpruch nicht beachtet hat, wundert mich eben nicht, 
da jene Monatsſchrift nur in einem mäßigen Kreife von Amts 
brudern gelefen wurde, und unferen Meiftern auf dem Gebiete der 
Schriftausfegung wohl gar nicht befannt geworden ift. Aber das 
befremdet mich, daß ſeit Winer von fo vielen gelehrten Männern 
teiner e8 der Mühe wert gehalten Hat, jene unhaltbare Meinung 


1) gt. jedoch Ewald, der (Geſch. des Woltes Israel V, 253; VI, 189; 
VI, 241) Alphans und Klopas beftimmt unterfheibet, indem er wahrfchein- 
lich findet, dag Alphäus, der Vater Levis (Marf. 2, 14), auch der Vater des 
Jatobus war, wogegen ber mit dem Emmausjünger Kleopas (Luk. 24, 18) 
identiſche Klopas in Joh. 19, 25 nicht der Mann, fonbern ber Sohn der an 
zweiter Stelle genannten Maria fen foll. €. Richn. 


62 Wetzel 


einer eingehenden Prüfung zu unterwerfen, deren fie, um ber itris 
gen Folgerungen willen, die man daraus ableiten zu dürfen wähnt, 
gar ſehr bedarf. Unbeſehens, wie es fheint, wird fie auch von 
folgen Männern, welche wegen ihrer wiſſenſchaftlichen Akribie be» 
ſonders gefhägt find, mie eine feftftehende Wahrheit weiter ge= 
geben. Darum erlaube ich mir im Intereſſe der Wahrheit und 
einer vorurteilsfreien Wiffenfchaft meinem Einſpruch an diefem 
Orte zu wieberhofen, und behaupte: 

Aus won konnte nicht Krwmäg werden, und ift nicht daraus 
geworden. Alphäus und Klopas find ganz verſchiedene Namen 
unb benennen zwei ganz verſchiedene Männer. 

Zur Rechtfertigung meiner Behauptung möge mir verftattet 
fein, das, was ich einft darüber gefhrieben, mit einigen geringen 
Änderungen zu wiederholen. 

Was die Namen Alphäus und Klopas betrifft, fo werden wir 
es bem fleißigen, genauen und gewifjenhaften Winer wohl glauben 
dürfen, daß es einen Hebräifchen oder aramäifchen Namen won ge⸗ 
geben habe, wenn wir auch nicht in der Lage ſein ſollten, Lightfoot 
zu Matth. 10, 3 und Apg. 1, 13 ſelber nachzultſen; und 42- 
poios ift davon die regelrechte Verwandlung in griechiſche Form. 
Aber dag daraus auch KAwzas geworben fei, muß ich ganz ente 
ſchieden beftreiten, obgleich der genannte, unbedingt als fachverftändig 
anzuerfennende Gelehrte (in feinem Neal» Wörferbuch unter dem 
Artitel „Alphäus“) darüber fchreibt: „Die doppelte griechiſche Schreib» 
art geht von der doppelten Pronunciation des m aus, bie wir in der 
LXX finden; und wenn au aus LXX kein fiheres Bei- 
fpiel angeführt werden kann, dag n aud im Anfange 
der Wörter dur x wiedergegeben wurde, fo ift doch 
diefe Verhärtung des m im Griechifchen fonft nicht ohne Beifpiel.“ 
Durch feine Bemerkungen wird nicht mehr bewiefen, als daß der 
Übergang des r von sehr in das x von Kawräs nicht ſchlechthin 
außer dem Bereiche aller Möglichkeit überhaupt Tiege. Dagegen 
beweift der Thatbefund, daß diefer Übergang im allerhöchften Maße 
unwahrſcheinlich ift. Leider ift die Feftftellung und Vorlegung dieſes 
Befundes eine mühfame und undankbare Sache, mühfam, denn die 
Feſtſtellung fordert nichts Geringeres als eine Mufterung fämtlicher 


Alphäus und Klopas. 63 


hierher gehörigen Eigennamen in ber Beiligen Schrift und weit 
darüber Hinaus, im Joſephus u. f. w.; undanfbar, weil das Ver⸗ 
zeichnis derfelben in diefen Blättern wegen des Raumes, den es 
Einnehmen würde, unzuläffig fein dürfte, dem Druder viel Not 
machen, und am Ende von den geehrten Leſern überfchlagen werden 
würde. Deswegen habe ic) felber, wie ich offen befennen will, 
auch nur etwa ein halbes Taufend Hier einfchlagender Namen in 
verſchiedenen Teilen der heiligen Schrift verglichen und muß alfo 
die Möglichkeit zugeben, daß ein anderer Nachfucher Erſcheinungen 
entdecken möge, die von meinen Wahrnehmungen abweichen. Es 
find diefe. 

Das rı geht in den allermeiften Fullen überhaupt in den grie- 
chiſchen Spiritus lenis über, daher Aryaios in der Ordnung ift, 
viel feltener in x, noch feltener in den Spiritus asper. In der 
Mitte der Wörter verfchwindet es daher fehr oft gänzlih. Die 
einzigen Ausnahmen, die ich gefunden habe, wo aus ein x wird, 
find außer den beiden. von Winer angeführten Beifpielen: Toßde 
flür hebraiſches may in der Stelle 1Mof. 22, 24 und Yaod« für 
hebräifhes mop durch das ganze 30. und 35. Kapitel des 2. Buches 
der Chronifa, nur noch der Name opp, der Neh. 3, 6 von den 
LXX durch @aoex wiedergegeben wird. Diefer legte wird aber 
Esra 2, 49 Pac, 1 Chron. 4, 12 und bei Nehemia felber 7, 51 
Oeooq̃ gef hrieben, fo daß id) in 3, 6 einen Schreibfehler anneh⸗ 
men würde, wie von folchen bie Namenverzeichniffe in den Büchern 
Nehemia und der Chronika wimmeln, wenn nidt bie Wahrnehmung, 
daß im 30. und 35. Kapitel des 2. Buches der Chronifa der 
befannte Name des Ofterfeftes immer wieder paod«, nur im 30. 
Kapitel in einigen Handſchriften guoéx ftatt, wie fonft in der 
ganzen Heiligen Schrift, maoxa gefchrieben wird, diefe Vermutung 
befeitigte. Man darf aber nur diefe Ausnahmen anfehen, und mit 
den vielen Hunderten von Namen vergleichen, in denen das m in 
der Mitte oder am Ende der Wörter durch x wiedergegeben 
wird ober ganz verſchwindet, um zu fehen, wie wenig fie die Ber 
hauptung zu ftügen vermag, daß in Kiwräs das x aus einem rı 
im Anfange des Wortes entjtanden fei. Winer gefteht felber 
— und über diefe Thatſache ſollte man nicht leichten Fußes hin⸗ 


a Begel 


wegfchlüpfen — daß man bis jegt feinen Namen gefuns 
den hat, in dem das n im Anfange eines Wortes in 
x verwandelt worden wäre; und wenn er fid) in diefer Hin- 
ficht Hinter phöniziihe Inſchriften flüchtet, die ich nicht habe ein- 
ſehen fönnen, fo wird, wie ich vermute, das Leſen der Monum. 
phoenic. von Gefenius, ©. 345, 6 wohl mur dem in feiner 
Meinung beftärten, daß aus mon habe Kiwnäs werden können, 
der gern darin beftärkt fein will 1). 

Wer nicht die Geduld hat, die ganze Unterſuchung diefer Frage 
aufzunehmen, und ſich doch gern ein ungefähre® Urteil bilden 
möchte, darf nur einige Kapitel im Anfange des 1. Chronika- Buches 
in der Stierſchen Polygotte durchgehen, oder Namen wie ’Towrıg, 
"Iodyva, Avavlas, Avvuc, Avavos mit Yypiv und mh, und in 
den Geſchlechtsregiſtern die griechifche und hebräifche Geſtalt folder 
Romen wie ’Eveiy (Fun), MaIovonrd (nbyinp), Nee (1), 
Zald (may), Noxco (AM), Oag& (mM), ’Toacx (pr731), "Bopau 
(myn), Nauoocᷣ/ (ter), “Poßoge (Dyar)- Aral (OR), "Elenias 
PM) u. ſ. w. vergfeihen, um den Übergang des m von wor 
in das x von Kiwnäs höchſt unwahrſcheinlich, dagegen. die Forde⸗ 
rung geredjt zu finden, daß der, welcher die Identität von AAgeios 
und Kiwnäg behauptet, erft bewelfe, daß aus won Monãc wir · 
den konnte und wirklich geworben ift. 

Dazu genügt aber auch noch nicht ein einzelnes Beifpiel, we 
m im Anfange des Worted zu x geworden ift; denn der Name 
Konräs giebt noch zu anderen Bedenken Anlaß, die ich hier nur 
turz berühren will. Dahin gehört die Zufammenziehung der Eile 
dr in xa, das m im Kiomag, ſtatt deffen man in Übereinftimmurg 
mit verwandten Erjheinungen ein Y erwarten follte, vielleicht auf 
das äg ftatt acoc für ’-, gewiß aber, daß zu der Einfchiebung det 
@ die aramäifche Form des Namens nicht die geringfte Beran 
laffung fehen laßt. Kurz, das Wort Kiwnüs, fofern es aux 
or) entftanden fein fol, iſt faft in jedem Laute mit Bedenle 
befaftet, und wer die Identität der beiden Namen behauptet, dar 





1) Das Citat bei Winer foll wohl heihen Gesen. Momum. phoen: 
8 Handelt fi um Yon = affyr. Hi-lak-ku == griet. Kıksscter, 


Alphäus und Klopas. 6% 


ſich der Aufgabe nicht entziehen, für die Möglichkeit und Wirklich⸗ 
feit den erfhöpfenden Beweis zu führen. So lange er diefen Be- 
weis ſchuldig bleibt, behaupte ih, daß aus br Kdmmäz nicht 
geworden ift, weil es nicht daraus werden fonnte 9). 

Wendet mir jemand ein, daß ich dies legte eigentlich nicht ge⸗ 
nügend bewieſen Habe, ich Hätte nur bie Unwahrſcheinlichkeit nach⸗ 
gewiefen, Hätte aber die Möglichkeit frei laffen müffen, daß noch 
Beifpiele gefunden werden könnten, die gegen mic) fpräden, fo er- 
widere ich: daß vor allem denen, die die Identität der beiden 
Namen behaupten, die Beweisführung für ihre Behauptung obliegt, 
und daß es für fie micht genug iſt zu jagen: Ich glaube das. 
Diefe meine Forderung ift nicht allein einfach gerecht, fondern auch 
billig, weil jene Beweisführung mit mäßigen Mitteln gergeftellt 
werben Tann, während ber Beweis für die Unmöglichkeit der Iden⸗ 
tität beider Namen maßlos ift, und niemals bis zum abjchließenden 
Ende geführt werden kann. Daß fie durchaus unwahrſcheinlich ift, 
glaube ich bewiefen zu haben, und mein Einfprud wird fo lange 
ftehen bfeiben, als die Behauptung meiner Gegner nicht durch 
ſchlagende Beifpiele gefichert wird. 

Über den Einfluß, den mein Einſpruch auf die Entſcheidung 
der Frage wegen der Brüder des Herrn hat, und über die Ber 
deutung diefer Frage für die Würdigung der Ehe Habe ih mich 
in meinem anfangs erwähnten Auffage ausführlich ausgeſprochen; 
die die Verhandlungen bdiefer Frage kennen, wiflen es ohnehin. 
Man wird alfo nicht fagen dürfen, daß der Streit über die Iden ⸗ 
tität oder Verfchiedenheit ber beiden Namen Alphäus und Klopas 
ganz bedeutungslos fei. Wir die wiſſenſchaftliche Berechtigung 
meines Einſpruchs aber ift e8 mir angenehm, mich aud auf das 
Wort eines Mannes berufen zu dürfen, dem wegen feiner aner« 
fannten , ausgebreiteten und gründlichen Gelehrfamfeit niemand die 
Berechtigung abſprechen wird, gerade in diefem Streite eine beach⸗ 


1) Übrigens ſcheint Lightfoot feine lautliche Umwandlung von EIN 
in Meophas anzunehmen, fondern eine Umformung des hebrälſchen Namens in 
einen Agılich Mingenden griechiſchen; denn zu Apg. 1, 18 führt er als analog 
die Umformung des Namens Saulus in Paulus an. €. Kichn. 

Theol. Stud. Yahıg. 1888. 4 


6% Wetzel, Alphäus und Klopas. 


tenswerte Meinung auszuſprechen. Herr Prof. Dr. Delitzſch in 
Leipzig ſchreibt mir in einem Briefe, mit der Erlaubnis, auch 
Öffentlih davon Gebrauch zu machen, Folgendes: 

„Es ift durchaus unzuläffig, auf vermeintliche Identität der 
Namen Aryaiog und Kiwras die Anfiht zu gründen, daß die 
Brüder Jeſu Söhne der Schwefter feiner Mutter, einer zweiten 
Maria, geweſen feien. 

„Der Name Arpatos iſt hebraiſch. Er gehört der Gruppe 
abrı an, und lautet hebräifch won. Dagegen ift ber Name Kiw- 
ns, Joh. 19, 25, oder Kisonds (fo ift Luk. 24, 18 zu accen- 
tuieren) die Verkürzung des Namens Ksönargog, alfo ein grie- 
chiſcher Name. 

„Es kommt vereingelt vor, daß Hebräifches m griechiſchem x ent- 
fpricht, obwohl mir außer wÄnopbn xAsyidon (Waſſeruhr) fein 
Beifpiel gegenwärtig iſt ). Aber in dem vorliegenden Falle hans 
delt es fih um zwei Namen, die fo wenig identifch find, als He- 
bräif und Griechiſch. 

„Demgemäß lautet der Name Aryaros (Name der Väter des 
Apoftels Jakobus und des Apoftels Matthäus) in meiner Über» 
ſetzung ®) porn (mit afpiriertem D von wegen der nur loſe geſchloſſe ⸗ 
nen erften Silbe), und der Name des Emmaus-Füngers (Luk. 24, 18) 
bonbp >). 

„Nach der Tradition bei Hegefipp war Klopas ein Bruder des 
Joſeph und Vater des auf Jakobus den Gerechten gefolgten zweiten 
jerufalemifhen Biſchofs Simeon. Die Kombination von Klopas 
und Alphäus Tonnte feinem der Alten einfallen. Die Namen Liegen 
zu weit von einander.“ 

So weit die Worte des Herrn Dr. Delitzſch, in denen ic, 
was er, meine Worte berichtigend, jagt (über dad D und daß der 


1) In dieſem Nomen appellativum entfpricht hebräiſches M griedjtfchem =, 
nicht griechiſches x Hebräifchem N. 

2) Nämlich des Neuen Teftamentes ins Hebräiiche. 

3) Auch die frühere Ausgabe des hebräiſchen Teſtamentes hat da nicht 
DT), fondern SERÖp- — eh füge bei, daß in ber Pefdhito AApezos dur 
halphaj, dagegen fowohl Käwmäs in Joh. 19, 25 ale Käconäs in Zul. 
24, 18 ducc) Mejöpha wiedergegeben if. €. Riem, 


Nele, Vemerkung zu: Uperi, Das Original der Marb. Artt. 627 


Name wor hebräiſch, nicht aramaiſch fei), ebenfo mit Dank an 
nehme wie das, womit er meine Anficht unterftügt. Daß übrigens 
Klopas und Alphäus nicht diefelbe Perfon geweſen find, wird auch 
aus den in der heiligen Schrift vorliegenden Bemerkungen — um 
nicht mehr zu fagen — höchſt wahrſcheinlich. Doc ich will Hier 
nit den Streit über die Brüder des Herrn noch einmal verhan- 
dein; ich will nur bezeugen, daß die Behauptung der Identitut der 
beiden Namen Apeios und Kiozäs nit, wofür man es ger 
wöhnlich nimmt, eine ausgemachte Wahrheit, fondern ein offenbarer 
Irrtum fei, und die Forderung hinſtellen, daß man entweder die 
Hoentität der beiden Namen mit ftandfeften Gründen beweife oder, 
wenn man das nicht kann, die fo oft daraus abgeleiteten Folge» 
rungen bei ben wifjenfchaftfichen Verhandlungen über die Brüder 
des Heren aus dem Spiele laſſe. 


6. 
Bemerkung zu: Niteri, Das Original der Mar⸗ 
burger Artilel, S. 405. 
Bon 


Dr. $. Ueftle, 
Diatonns in Münfingen (Witrttemberg). 





Herr Ufteri nimmt an, die Artitef fein mehreren Schreibern 
in die Feder diktiert worden; dadurch erflären ſich am Teichteften 
die wenigen unbebeutenden Abweihungen der beiden zu Kaſſel und 
Zürich noch erhaltenen Dokumente. ebenfalls aber wurden fie 
nicht gleichzeitig diftiert. Das beweift die Korrektur im 8. Artikel 
des Zuricher Eremplars, die es im Gegenteil wahrſcheinlich macht, 
daß diefes durch Abſchrift entftanden fei. Die ausgeſtrichenen, im 


Raffeler Eremplar fehlenden Worte „ober Euangelion Eprifti“ 
41* 


623  Refle, Bemerkung zu: Uſteri, Das Original der Mach. Artt. 


find eine irrtümfiche Wiederholung der zwei Zeilen vorangekenimn 
Worte, was befonders dadurch dentlih wird, daß der Schrei 
ſchon aud das nächte dort auf „Ehrifti" folgende Wort „fonden" 
zu ſchreiben angefangen hatte, ehe der Irrtum bemerkt murk. 
(Im Abdrud war deswegen kein Grund, dies & mit lateiniſcer 
oder, wie in den Anmerkungen, mit Schwabacher Schrift wirkr 
zugeben, als ob diefer Buchſtabe etwas Befonderes bedeutet.) Würk 
die fehlerhafte Wiederholung bei gemeinfamen Diktieren geſchehen 
fein, müßte fi auch im Kaffeler Exemplar eine Spur derſelben 
finden, was nicht der Fall ift. Am leichteften geſchieht aber ir 
tauntlich ſolch Abfpringen des Auges bei einfachem Abjchreiben, wie 
jeder weiß, der ſchon viel mit Abfchreiben von Codices zu tun 
hatte, 





Rezenſionen. 


1. 


Eduard bon Hartmann, „Das religiöfe Bewnßtfein 
der Menfchheit im Stufengang feiner Eutwickelung“ 
und „Die Religion des Geiſtes“. Berlin 1882. 





Die genannten Arbeiten des Verfaſſers gehören entſchieden zu 
den Hervorragenden Leiftungen auf dem Gebiete der Religions⸗ 
philoſophie. Der Verfaffer, welcher befanntlih dem Immanenz⸗ 
prinzip huldigt, fucht in der erften die refigiöfe Entwickelung der 
Menſchheit als den immanenten Prozeß bes Weltgeiftes zu erfaffen. 
Diefe Tendenz muß notwendig da8 Auge für die allmähliche Ent- 
widelung des religiöfen Bewußtſeins ſchärfen, welche als eine 
immanent teleologiſche angefehen wird, fo daß jede Stufe des 
teligiöfen Bewußtſeins als notwendiger Durchgangspunft zu der 
höchſten Stufe begriffen werden fol. Es Tiegt in der Art diefer 
Methode, daß fie eine Verbindung des empirifchen und apriorifchen 
Elements fucht und die religiöfe Vernunft in der Entwidelung, 
die fie empiriſch durchläuft, darftellen wil. Das treibende Prinzip 
ür den Fortſchritt ift da notwendig einmal die logiſche Kons 
equenz. Allein hierin unterfcheidet fi Hartmann von Hegel, daß 
r fich nicht mit dem formalen Logifchen Prinzip begnügt. Vielmehr 
oird ikberall auch die natürlich bedingte ethifche Seite mit Hinzugezogen, 
veiche nicht bloß aus der logischen Idee abgeleitet wird. Das zweite 
zrinzip Hartmanns, der Wille, ergänzt das erfte; daher er überall 
ie religiöfe Entwidelung im Zufammenbang mit der ethifchen bes 
achtet. Wir wollen in aller Kürze den Prozeß an und vorüber» 
ehen laffen, wie er von Hartmann zum Zeil originell vorgeftellt 


682 Hartmann 


wird, wenn er auch öfters eine tiefer gehende Kenntnis des empi- 
rifchen Stoffes vermiffen läßt. 

In etwas uuflarer Weife beginnt er damit zu zeigen, daB and 
die Tiere Religion Haben, nämlich im Verhältnis zum Menfchen, wo: 
bei aber eben gerade das fehlt, was nad) ihm felbft bie Religion ermög- 
licht — die makrokosmiſche Bedeutung der Objekte, die der Menſch 
beobachtet und als göttlich verehrt, welche eben für die urfprüngfice 
Form der Religion die Conditio sine qua non ift, für dem Heno⸗ 
theismus. Weshalb er audin „der Religion des Geiftes“ wieder rund- 
weg abfeugnet, daß bie Tiere Religion haben. Die Ausführung über 
die Entftehung der Religion aus dem eudämoniſtiſchen Triebe ift 
Feuerbach entlehnt, nur dag Hartmann — freilich ohne zu zeigen, 
wie beides zufammen geht — die Fähigkeit unintereffierter Be 
obachtung und äfthetifcher Eindrüde zur Erklärung der Religion 
mit Hinzuzieht. Letztere ſollen es möglich machen, daß der Menſch 
fih auf den Makrokosmus richtet, den Himmel und feine Erſchei⸗ 
nungen beobachtet und dann fie in fein endämoniftiiches Intereſſe 
sieht, fie als die Erfüller feiner Wunſche betrachtet und fo zu ihnen 
in ein religiöfes Verhältnis tritt. Jubezug auf den Henotheismus, 
den er als bie Grundform der Religion anfieht, fchliegt er fid 
im wefentlichen an die bekannten Anfichten von Mar Müller an; 
es find Hauptfächlich drei Kreife von Naturerfcheinungen, welde 
als göttlich, aktiv angefehen werden, Himmel und Erde, Sonne 
und Mond, Gewitter. Aber immer ift es ein und dasfelbe Gött⸗ 
liche, das in biefen Weſen aktiv ift; fie alle find verfchiedene Er- 
ſcheinungsformen des Göttlichen. Um fich die Gottheit finnlic näher 
zu bringen, wird fie zu beftimmten einzelnen Objekten in ein ber 
fonderes Verhältnis geſetzt. Zuerft bleibt es bei einer bildloſen 
Berehrung — hochſtens ein von Himmel gefallener Stein x. ift 
das Zeichen des Gottes —; fpäter aber wird die Gottheit zon- 
morphiſch, dann anthropomorphiſch vorgeftellt. Der der hens⸗ 
theiſtiſchen Stufe entfprechende moralifche Inhalt ift durchaus 
eudämoniftifher Natur. Wie die Gottheit eine Art praktiſche Ab⸗ 
folutheit Hat, um die Wünfche der Menfchen zu erfüllen, fo haben 
Opfer, Gottesfurcht, Neue, Schulobewußtfein eudämoniftiihe Ber 
deutung und die fich im eubämoniftifchen Intereſſe bildende ſoziale 


Das religiöje Bewußtſein der Menichheit ac. 688 


Ordnung wird den Göttern unterftellt und wird zu einer Art fitte 
licher Weltordnung; fo entfteht eine heteronom⸗ eudämoniftifche 
Moral, welche als der Wille der Götter aufgefaßt wird. Der 
Henotheismus bietet zwei Möglichkeiten weiterer Entwidelung; er 
pflegt entweder die Seite der Einheit unter Vernachläſſigung des 
Konkreten — Hieraus wird abftrafter Moniemus, der aber, da 
das abftrafte Eine feine Naturerfcheinung mehr ift, über ben 
Naturalismus Hinausführt —, oder das Intereſſe am Konfreten 
macht fich geltend, und der Henotheismus geht in Polytheismus 
über. Von dem Polytheismus aus ift eine auffteigende und eine 
abfteigende Linie möglich. Verzettelt fi das religiöfe Bewußt ⸗ 
fein, fo treten immer mehr alle zufällige einzelne Naturdinge 
in den Vordergrund, und es tritt Animismus, Zauberei, ſchließlich 
Fetiſchismus ein, mit dem die Religion aufhört. Fetiſchismus ift 
ihm mit M. Müller u. a. der Verfall der Religion. Der Poly- 
thelsmus Täßt aber auch eine andere Möglichkeit zu. Wird näme 
lich die Einheit nicht völlig aufgegeben, fondern im Bewußtſein, 
wenn auch in abgejchwächter Form feftgehalten und der fittfiche 
Gehalt vertieft, fo kann der Polytheismus ein Durchgangspunkt 
für den Fortſchritt werden und auch das in doppelter Weife, ent» 
weder fo, daß die einzelnen Götter menfchenähnlich gebildet und mit 
teilweife geiftigem Inhalt erfüllt werden — und hierdurch gewinnt das 
teligiöfe Bewußtſein an konkretem Inhalt, was es an Einheit ver-. 
liert, ohne daß deshalb die Einheit völlig verloren ginge, — oder fo, 
daß die Götter ſyſtematiſiert und zu einer Einheit zufammengefaßt 
werden in theologifcher Spekulation. Beide Formen ?) führen freilich 
nicht über den Naturalismus völlig hinaus, weil die polytheiſtiſchen 
Gottheiten ihre Naturbafis nicht verlieren. Der Unterfchied 
zwiſchen beiden Richtungen iſt wefentlih nur der, daß die erfte 
Richtung mehr dem Konkreten zuneigt, und dur das, wenn auch 
teifweife noch naturaliftifch und eudämoniſtiſch bedingte Sittliche bie 
Böttergeftalten vergeiftigt und daß die andere mehr der Einheit zuftrebt, 
‚auf Koften der Vergeiftigung und perfünlichen Beftimmtheit der 
Bötter, während fie das ebenfalls noch nicht von Naturalismus befreite 

1) „Anthropoide Vergeiſtigung“ und „theologiihe Syſtematiſierung bes 
denoiheismusꝰ. 


634 Hartmann 


Sittliche theokratiſch beftimmt und den Menfchen in den Dienft des 
noch teilweife in den Naturprogeß verwidelten Gottesreiches ftelit. 
Immerhin aber bringen beide Richtungen als Nefultat ihres Prozeſſes 
die Notwendigkeit zutage über die natwraliftiiche Baſis zu der fupra- 
naturalen aufzufteigen. Von dem Henotheismus geht alfo ein 
doppelter Weg: der eine führt wie bemerkt zur Negation des Nas 
turaliftifchen durch Negation alles Konkreten — abftrafter Monis⸗ 
mus; der andere führt durch die angedeutete Fortbildung des Heno- 
theismus zu fnpranaturalem Monotheismus; die Sittlichleit des Monis⸗ 
mus ift negativ, aber neigt zur Autonomie, die des Monotheismus 
iſt pofitio, aber Heteronom. So bedarf es einer Synthefe, in 
welcher die fupranaturale Gottheit dem SKonfreten nicht fremd 
iſt und doch auch nicht, mie im Theismus, der Welt ferne 
bfeibt, fondern ihr immanent ift, in welder die Ethik nicht 
negativ ift, aber auch nicht wie im Theismus heteronom, fondern 
autonom. Und das ift der Ball im konkreten Monismus des 
Geiftes. Wir Haben alfo im großen zwei Entwidelungsftufen zu 
verzeichnen, welche dem urfprünglichen naturaliſtiſchen Henotheismns 
entwachfen; eine die naturafiftifche Baſis nicht völlig überwindende 
Form mit zwei Zweigen, einem anthropoiden, mehr der Vielheit 
Rechnung tragenden, und einem füftematiflerenden, mehr die Einheit 
fefthaftenden, und eine jupranaturafiftifche Stufe, welche wiederum zwei 
Zweige Hat: einen, der völlig abftrafte Einheit erftrebt, und einem 
fonfreten, ber monotheiftifch beſchaffen ift. Überall ift es das fitte 
liche Element, welches den Inhalt diefer Stufen näher beftimmt, 
zunäcft der Eudämoniemus, fodann feine Vergeiftigung in indivi⸗ 
dueller und foziafer Form, fowie feine Beſchränkung durch eine noch 
naturaliftifch bafierte Theofratie, endlich feine Überwindung in einer 
autonomsnegativen und einer heteronom=pofitiven Ethit. Das Ziel ift 
Tonfreter Monismus mit autonomspofitiver Ethik (die freilich im letzten 
Hintergrund das negative Teßte Biel des Peſſimismus aud in 
diefem Werfe nicht ausfchlteßt, obgleich hiervon wenig gefagt wird). 
Fragt man, wie Hartmann fi den Fortſchritt als immanenten 
bedingt vorftelit, fo iſt es micht bloß die logiſche Notwendigkeit, die 
ein neues Gebilde hervortreibt, fondern ebenfo aud bie ethifche 
Notwendigkeit, die den Prozeß fördert und bedingt; möglich wird der» 


Dos refigiöfe Bewußtſein der Menſchheit ıc. 65 


ſelbe durch die providentiell angelegte Naturbegabung ber verfchier 
denen Völker oder Individuen, welche eine bejtimmte Entwicelungs« 
ftufe zu vertreten berufen find und die ihre Anlage mit immanenter 
Notwendigkeit entfalten, wobei ihnen die ebenfalls providentiell ber 
beftimmte Umgebung, Natureinflüffe und gefchichtliche Konftellationen 
zuhilfe kommen. 

Ich will es nicht völlig unterlafen, mit ein paar Zügen die 
Entwicelung im einzelnen näher anzudeuten. Auf der Stufe der 
anthropoiden Vergeiftigung des Henotheismus fteht die in ihrem Prinzip 
vortrefflich erfaßte griechifche Religion als Religion der Schönheit und 
des Maßes mit einer Afthetifchen Ethik der Phantafte, welche nicht über 
verfeinerten Genuß hinaus fommt, wie überhaupt das Griechentum 
den Naturalismus, auf dem es aufgebaut ſei, nicht überwinde, 
Mit den Griechen werden die Ehinefen auf eine Stufe geftelft, 
fofern Maß und Ordnung das Zentrum ihrer Religion und 
Ethit fei. Eine andere Entwidelung nimmt bie römifche Reli⸗ 
gion, die er als bie utifitarifche bezeichnet; es ift die Moral 
des nüchternen praftifchen Verftandes, welche Hier den Inhalt ber 
Religion näher beftimmt, hier tritt da8 Staatswohl in den Mittel- 
punkt; fte ift fozialseudämoniftifch, wie die griechifche noch in» 
dividual-eudämoniftifch blieb. Die Religion wird Hier utilitariſch 
fätularifiert, und fobald das Römerreich feine Höhe erreicht Hat, 
tritt das Staatsintereffe wieder gegen das eudämontftifche Indivi— 
dualintereffe zurüd, Die dritte Form ift das Germanentum, in 
welcher ebenfalls auf naturaliftifcher Baſis eine gefühlemäßig 
tragisch beftimmte Moral zum Inhalt der Religion wird, womit 
ein Anfag zur Automonie gegeben ift, der fi in der Treue, dem 
tragiſchen Mitgefühl, der opferwilligen Hingabe offenbart; das 
Schuldbewußtſein tritt befonders Hervor, die Götter felbft find in 
diefen Prozeß verflochten aber doc wieder zu naturartig gedacht, 
um den Gedanken einer fittlihen Weltordnung in der Form einer 
univerfellen Sühne durchzuführen. Auch Hier trete der Individual⸗ 
eudämonismus wieder hervor, indem der Germane mit feinen 
Göttern dem drohenden Untergange nach Kräften entgegenarbeite, 
um das elende, durch Schuld verwirkte Daſein feiner felbft und 
feiner Götter noch ein wenig zu friften. Die anthropotde Vergei⸗ 


686 Hartmann 


ftigung des Henotheismus vollzieht ſich alfo in der Religion der 
Schönfeit, der Nüglicfeit, der Tragik; ihr Inhalt ift eine phan⸗ 
tafte«, verftandes«, gefühlsmäßige Moral, welche wie die Religion die 
naturaliſtiſche Baſis, den Eudämoniemus, nicht überwindet. 

Diefer Richtung ftehen die Vertreter der theologifchen Syſie⸗ 
matifierung des Henotheismus gegenüber. Diefe Syftematifierung 
kann aber nur ausgehen von jolchen, bei denen religiöſes und 
ſpelulatives Interefje Hand in Hand geht. Diefe Religionen 
tönnen alfo nicht Überlieferungerefigionen fein, find fein populäre 
Erzeugnis, fondern Probuft der Weisheit der Priefter, melde m 
ihrer Legitimation fi auf Offenbarung berufen müfjen, die auf Ju 
fpiration geftügt wird. Hier alfo ift der Ort für Offenbarungsreligionn, 
welche natürlich auch die religiöfe Ethik als Teil des theologiicen 
Syſtems als geoffenbarte behandeln. Die Offenbarung muß über 
den Zwed, den Anfang, das Ende der Welt Auffchluß geben; der 
Weltprozeß erſcheint hier als die teleologifche Entfaltung und Wirk: 
ſamkeit göttlicher Kräfte, die Menſchheit in Verbindung mit dem 
Geifterreich als Reich göttlicher Herrfchaftsbethätigung als The 
tratie. Hiermit ift die Aufgabe geftelit, alles in den Dienft vr 
Gottheit zu ftellen, und der Einzelne ift Hier Glied des Gottesreihet, 
und dadurch allein hat er Wert. Hier muß eine univerfelle mar 
krotosmiſche, eschatologifche Tendenz hervortreten. 

Die erfte auf Offenbarung ruhende Theokratie ift die äghp 
tiſche, welche die Erde als Purgatorium betrachtet, um zu einer 
transcendenten Endämonie zu gelangen, zu welcher ber Menſch u 
der XTheofratie erzogen wird, ohne deshalb im Diesfeits al 
Eubämonie praftifch zu entfagen. Diefe Theokratie ruht auf den 
Yundamente einer abfoluten, in ſich mannigfaltigen Urgottheit, weit 
fih) in der Welt entfaltet, aber von der naturaliftiichen Baſis nid 
Tosgeföft ift, fondern zwifchen dem Weltäther und Geift in unklare 
Mitte ſchwebt. Alles ift Glied des Ganzen, des All-Einen, m 
bat in diefem Ganzen feine Stellung; alles hat feine beftimmt 
Bezogenheit zu dem Al-CEinen, ift in diefem Sinne Glied det 
Gottesreiches. Die zweite Stufe theologiſcher Spftematifierung it 
Henotheismus, ſtellt das Parfentum dar. Hier ift die Bermiſch 
von Boſem, Übel einerfeits und Gutem, Wohl anderfeits vr | 


Das religiöfe Bewußtſein der Menfchheit zc. 637 


fommen aufgehoben, indem beides auf vollfommene Weiſe geſchieden 
und an verfchiedene Götter verteilt ift, jedoch fo, daß das Boſe 
und Übel im Kampfe ſchließlich unterliegt, fo daß am Ende der 
gute Lichtgott fliegt. Der Menſch tritt in feinen Dienft, dient 
der Ausbreitung feines Reiches im Kampf gegen die Feinde (die 
Öremden) und in pofttivem Schaffen. Er ift dazu inftand ger 
fegt durch das geoffenbarte Geſetz diefer Theokratie; es ijt bier 
eine ethische Heteronomie mit der auftauchenden abfoluten fupra« 
natural» monotheiftifhen Spige erreicht. Der Grundbegriff iſt, 
weil die Sonderung von Bös und Gut vollzogen ift, der Begriff 
der Reinheit. Allein eine reine Durchführung der Geiftigfeit Gottes 
zeigt ſich nicht; der gute Gott ift mit dem phufiichen Licht zu⸗ 
fammengeworfen und dadurch wieder den naturaliftifchen Göttern 
gleihgeftellt,, dem entiprechend auch die Neinheit ?) ebenfo phyſiſch 
wie ethiſch beftimmt, und die Heteronomie endet in einem läftigen 
Zeremoniell, auch die eudämoniſtiſche Tendenz ift nicht überwunden, 
»a Übel und Böfes, Gutes und Wohl nicht geſchieden find. 

So ergiebt der bisherige Prozeß zwar das Nefultat, daß der 
Begriff der Gottheit vergeiftigt ift; aber fo lange nicht die natura» 
iſtiſche Baſis überwunden ift, ſchwankt er zwiſchen Natürlihem 
nd Geiftigem widerſpruchsvoll Hin und her. Die ungeiftige 
Raturmacht foll zugleich geiftig fein, ein Widerſpruch, der durch 
le bisher befprochenen Religionsformen hindurch geht und um fo 
nerträglicher wird, je mehr geiftige Beftimmungen dem Gottes* 
griff zugefchrieben werden. Ebenſo ift der ethifhe Inhalt zwar bes 
eutend vertieft; der naturaliftifche Individunl-Eudämoniemus zwar ift 
üctgedrängt durch die Schönheit, die | ozial-eubämoniftifche Rich ⸗ 
ng, die gefühlsmäßige Moral der Treue, Opferwilligkeit, Sühne 
dürftigfeit, durch die Idee des Gottesreiches, welches den trans⸗ 
ndenten Gudämonismus an die Stelle des irdifhen fegt, oder 
a Menjchen in den Heteronomen Dienft des guten Geſetzes ftelt, 
» die emdämoniftifhe Motivation zurüctritt; aber er ift nicht 
erwunden, fondern macht fi der naturaliftifhen Grundlage ent» 


1) Bei dieſer Gelegenheit giebt Hartmann eine beachtenswerte Auseinander- 
ang fiber ben veliglöfen Begriff der Reinheit (&. 2487.). 


688 Hartmann 


fprechend überall bemerflih. So ift der Fortfchritt zum Sup: 
naturalismus notwendig. 

Diefer zeigt ſich zunächft in der Form des abftraften Meonit- 
mus, welder nur das fchlechthin eine Sein kennt umd als 
Konkrete für Illuſion, Täufhung der Maja erflärt, dem Bra 
manismus. In diefer Form ift er Alosmismus, welchem cin 
Ethit zur Seite geht, die in Quietismus, myſtiſcher Kontempla— 
tion und Askefe gipfelt, aber einen durchaus efoterifhen Charaftır 
trägt und nur für die bevorzugte Klaſſe Wert Hat, während das 
Bolt fi mit einer exoteriſchen Moral begnügen muß. Die un 
verjale Erweiterung hat der Buddhismus zuftande gebracht, der 
zugleich, die Beſtimmungsloſigkeit des abjoluten Seins weiter vr 
folgt, dasjelbe für nichts erklärt und fo, da weder ein konkrete, 
nod ein abjtraftes Sein egiftiert, den abfoluten Illuſionismut 
vertritt, der freilich mit dem abfoluten Aufgeben alles Handelns 
und Erfennen® enden müßte. Allein das ift nach Hartmann nur 
die eine Seite des Buddhismus: als pofitive Ergänzung ftehe dem 
Illuſionismus die fittlihe Weltordnung zur Seite, welde eine 
autonome Sittlichfeit ermögliche, da ein heteronom befehlendes Ab 
folute nicht da fei; Hier fei es die Menjchheit, in welcher fid die 
fittliche Weltordnung in immanenter Weife offenbare, wenn auch auf 
der gegebenen Grundlage nur negative Tugenden, nicht eine produftive 
Ethit erwachſen könne. Diefer Standpunkt feheint Hartmann zwar au 
widerſpruchsvoll, aber doch Hält er die Hier erreichte Stufe für fo be 
deutend, daß er ausmalt, wie eine etwaige Reform des Bubbhiemus 
beichaffen fein müßte. Es müßte der Glaube an die fittliche WWeltord- 
nung von dem metaphufifchen Yllufionismus befreit werben. Das 
brahminifche abjolute Sein müßte infofern zur Geltung kommen, als 
da8 Streben nach der Einheit mit der fittlichen Weltordnung zur Ein: 
heitmitdem Sein führte, das mit dem geiftigen Inhalt der Weltordnung 
erfüllt fei. Berner müßte auch den Individuen eine wenigftens phäne 


menale Realität zugefchrieben werden, dem entfprechend eine diejelben - 


hervorbringende Naturorbnung als die Vorausfegung der fittlichen 
Weltordnung anerkannt werden; das Abfolute müßte zugleich Welt 
grund fein, aber von dem Einzelſein unterjchiedenes Sein, potentiel 


unendlicher Grund des Geſchehens, der alles wirkliche Sein über 


Das religiöfe Bewußtſein der Menfhheit ıc. 89 


tagt und injofern transcendent if. Der Illuſionismus aljo muß 
befeitigt werden, dann kann der teleologijche Prozeß der fittlichen 
Weltordnung ein realer werden, der Einzelne wirklich mit an dem 
Erföfungsprogeß arbeiten, da eine reale Erlöfung notwendig, nicht 
bloß eine Illuſion zu überwinden ift. Dadurch wird der indifferen« 
tiftifhe Quietismus befeitigt; an feine Stelle tritt rüftige Mit» 
arbeit am realen Weltprozeß, der Erlöfungsprozeß ift. Im übrie 
gen brauchte wohlbemerft der Buddhismus nicht die peffimiftifche 
Bafis und das negative Endziel preiszugeben. Mit einem Worte, 
Hartmann will den Buddhismus Torrigieren, indem er für den 
Weltprozeß felbft einer, pofitiven ethifchen Bethätigung Raum ſchaffen 
vill, ohne den peffimiftifchen ſchlechthin negativen Schlußftein aufe 
geben. Wenn freilich nichts anderes als ein negatives Refultat 
jrausfommen foll, fo fragt man fi: Wozu die ganze pofitive 
Dittelwelt vor dem negativen Ende? Hartmann giebt hier der 
mpirifchen Wirklichkeit und der poſitiv ethiſchen Tendenz der 
hriftlichen Völker, die befonders auch in der neueren Philofophie 
zit Kant vertreten ift, Raum. Prinzipiell tft der Buddhismus fon« 
:quenter, wenn er dem, das in letter Inſtanz doch nur zugrunde 
then fol, auch die metaphyfifche Bedeutung abfpricht und der end» 
ültigen Wertlofigkeit der Welt einen metaphufifchen Illuſionismus 
ir Seite ftellt. Hartmann fieht daher ehr fcharf, wenn er felbft 
hauptet, daß diefe Reform dem Buddhismus nicht aus eigener 
raft möglich fei, daß vielmehr die fittliche Weltordnung und das 
-@ine mit Tonfretem Inhalte zu erfüllen nur gelingen könne, 
an man Religionen zuziehe, welche die Realität der Welt anerkennen, 
o auch einen pofitiv fittlichen Inhalt Haben, ohne deshalb im 
Ipineiftifch und naturaliſtiſch gefärbten Henotheismus fteden zu 
iben, d. h. die teiftiichen Religionen. 

Der Monotheismus durchläuft eine Reihe von Stufen. Er ent- 
kelt fich bei den Juden aus dem naturaliftifchen Henotheismus zuerft 
Hilfe der Phantafiearmut, nationalen Gehäffigkeit und partikulari« 
hen Beſchränktheit, welhe es ermöglichen, daB Jaho zu dem 
ionalen Haupt und Bundesgott erhoben wird. Die Propheten 
ihärfen den Monotheismus, indem fie ihn univerfalifieren, der 
ihen Theokratie eine nationale Weltherrſchaft in Ausſicht 





640 Hartmann 


ftellen. Der Rationalgott wird zugleich immer mehr über die 
finnfihen Schranken Hinausgerüct und vergeiftigt, ohne abfolıt 
zu fein. Das Problem, wie ſich Abfofutheit und Geiftigkeit, Per 
ſonlichteit reime, ift noch nicht zum Bewußtſein gelommen. Di 
Zranscendenz Gottes ift noch nicht durchgeführt, er ift als Geiſ 
den Israeliten immanent, ohne völlig denaturiert zu fein. Die 
wefentlichen Eigenfchaften Gottes find die Bertragstreue, welche nd 
auf den naturaliftifchen Bundesftandpunft zurückweiſt, die Gerechti 
teit und Langmut, welche er in der Geſchichte des Volkes durch pro 
videntielle Erziehung des Volles und eben damit auch der Menſchheit 
bethätigt. Das Verhältnis zur Sünde weift bei der national 
Theofratie auf die Abhängigkeit des Einzelnen vom Ganzen, 
Kollektivfünde und ⸗ſchuld, daher auch die Idee der Stellen 
tretung, nach welcher ein Unſchuldiger als Glied des Ganzen mit 
leidet, auch fr die anderen leidet, welche in der Idee des leibenden 
Sotteöfnechtes ihren Gipfel erreicht, defjen Tragik übrigens am Ende 
in äußere Eudämonie aufgelöft wird. Kurz der Standpunft der 
Bropheten ift der des primitiven Monotheismus, daher ihre Haupt: 
aufgabe ift, die bildlofe Verehrung des Nationalgottes und die 
Befeitigung der Verehrung anderer Götter durchzuführen. Nah 
Löfung diefer Aufgabe treten die Briefter an ihrer Stelle in im 
Vordergrund und begründen den Mofaismus. Die vollkomment 
Ausbildung des Monotheismus fordert die volllommen durchge 
führte Heteronomie des Gefegeaftandpunftes, welcher im Mojait: 
mus, dem Judentum und dem Judenchriſtentum zur Darftelung 
kommt. Je mehr die geiftige Perfönlichkeit Gottes Hervortritt, 
um jo mehr wird die Sittlichfeit heteronomes Gebot, auf Offen 
barung geftägt. Die Biftorifche Bedeutung des Mofaismus lg | 
darin, dag das Prinzip der Heteronomie zum alleinherrſchenden 
religiöfen Prinzip auf Grund des Monotheismus gemacht wit, 
wodurch das Sittliche vollftändig von dem naturaliftifchen Bode 
Tosgelöft und der Eudämonismus prinzipiell und pofitiv überwunte 
wird, wenn auch Lohn und Strafe als Nebenmotive noch beräd 
fihtigt werden. Freilich muß auch der gefamte Kultus mit fein 
Zeremoniendienft in Kauf genommen werden und gilt ebenfo u: 
das Sittliche als geoffenbart, was übrigens eine Verinnerlichra 


Das vefigiöfe Bewußtſein der Menſchheit 2c. 6 


des Geſetzes wenigftend inſoweit nicht ausſchließt, als die Liebe zu 
Gott als die Wurzel aller Gefegeserfüllung angefehen, auch die 
innere Gefinmung betont, aber natürlich felbft heteronom, als ein 
von Gott befohlenes Werk aufgefaßt wird. Der weitere Fort⸗ 
ſchritt, der durch das Judentum teilweife unter perfljchen, ügyp« 
tiſchen und griechiſchen Einflüffen gemacht wird, befteht in der volle 
ftändigen Vergeiftigung des Monotheismus, in dem Hervortreten des 
Schriftſtudiums und der praftifchen Nächſtenliebe (Wohlthätigkeit) 
gegenüber dem Opferkult, in der Judividualiſierung des religiöfen 
Berhäftnifjes mit Hilfe der Auferſtehungslehre und in der Ber- 
jenfeitigung der Zukunft des Gottesreiches. Gott wird der alle 
liebende Vater, und der Einzelne tritt im Gotteskindſchaft duch 
perfönliche Gerechtigkeit, pofitive Geſetzeserfüllung 1). Wehr habe 
das Judenchriſtentum aud nicht geleiftet. „ES ſetzt ſich aus 
allgemein judiſchen, hiltelitifchen, adfetifch-pgarifäifchen und effätfchen 
Beſtandteilen zuſammen.“ Das Eigentümliche (findet Hartmann 
in ber Mobififation, daß das Judenchriſtentum für Arme fein 
will und daß Jeſus als der Meifias betrachtet wird, der in 
nächſter Rähe das Gottesreich vollenden wird. „Es ift die Ge—⸗ 
fegesreligion mit der Hoffnung, die bisher verfehlte Gerechtigkeit 
mit Hilfe des Evangeliums d. 5. durch die verftärkte Motivationd- 
kraft der nahe gerücten Belohnung umd Beftrafung zu erlangen.“ 
Was fonft über die Perfon Yen Hinzugefegt werde, feien per- 
ſonelle Zutgaten, welche den religiöfen Inhalt, das Dogma nicht 
berühren; die Sünden, welde im Gottesreich begangen werden, 
follen dur die Fürbitte des auferftandenen und zum Himmel 
gefahrenen Propheten von Nazaret, fein unverjchuldetes Leiden und 
freiwilliges Martyrium, das ftellvertretend ift, wie durch feine Ge⸗ 
techtigfeit gefühnt fein, womit bie prophetifche Idee des leidenden 
Gottesknechtes anfgefrifcht fei; außerdem fei er Weltrichter. Allein 
alles das gehe nicht Über den Gedanfenfreis des Judentums 
hinaus, da nur innerhalb des jübifhen Volks, oder durch Prro- 





1) Die weitere Ausführung über bie Entwidelung des Judentums, den 
ihm entwachſenden Islam, ſowie die beachtenswerten Bemerkungen über das 
neuere Iudentum (S. 535f.) übergehe ich hier. 

veol. Gtab. Yafız. 1888. 42 





“2 Hartmann 


feldtentum eine Teilnahme an der Wirkung der Fürbitte Chriſi 
möglich fei umb überhaupt diefe perſonellen Zuthaten lediglich vom 
Zubendriftentum binzugefügt fein, um eine ergänzende Nad 
Yiüfe für den Mangel an Gefegeögereihtigkeit zu haben. 

Die letzte Stufe des Monotheismus Hat Paulus erftiegen, ber 
dee Gettesreich völlig univerfal auffaßt, eben deshalb das national: 
Teriide Gefeg ale das Hindernis feines Kommens betrachtet un 
Desjelbe darch dem Tod des Meijias völlig abrogiert denkt, fo da 
on die Selle der Gejeheögerechtigfeit der Glaube am die objektiv 
Bedeutung der Grlöfung von dem Gejege duch den Tod Jeſa 
trete. Hier iſt dieſer Tod nicht mehr Ergänzung der Geſetzes⸗ 
geredhtigkeit, fendern er ift der Zentralpunft, durch welchen dad 
Geſetz ehregiert if, und der allen Menfchen die Verſöhnung ge 
weht het. Se tritt Hier Chriſtus als der alleinige Mittler in 
den Mittelpunft, die Chriftwsliche wird die Wurzel der Gottes⸗ 
und Nücdfienficbe. Die innere Freiheit, bie hier möglich if, wir 
aber dech wieder darch die Heteronomie des Glaubens an die objektive 
Zyatjeche der Crföjung in Epriftus geftört. Damit ferner Ehriftus 
wirffich alle vertreten lauu, muß er eine übermenfchliche Kraft haben, 
uud jo wird er im der Schule des Panlus und im Johannes 
teangelium vergettet, was Paulus felbft nicht gewollt Hatte. 
Hartmann zeigt hier am weiſten Berftändnis für die „Chrifius 
tragit“ ; indem der Gott, der zugleich Menſch ift, freiwillig alles 
Niden der Menfchheit durchleftet, beifätigt er in dem Leiden bie | 


Hide Leiden der Menjchheit auf ſich mimmt. Allen Hier zeigt fih 
i de Wertes dieſes Leidens; es leidet nur eine 
Einzefgeftalt, ftatt dag alle Menſchen leiden, und es folgt dem | 
Weiden die Auferfichung. ie hierin noch der Eubämonismms ent | 
beiten if, jo if der Chriftwöglanden noch heteronom, indem ein | 
darwehehalten äuferer rt gefordert wirb, da ja der Verſuch der 
wyſtijchen Einheit wit Chrifto, bie allerdings Autonomie zulice, 
an der Unmöglichkeit der Immanenz zweier Perfonen in einander 
ſchtitert, zumal wicht vorzuftellen it, wie eine Perſon zugleid 
vielen anderen Perfonen immanet fein folle, da die Perfönficfeit 
beichräntt it. Zwar wird der Geift als Prinzip der Fmamanen; 


Das religiöfe Bewußtſein der Menfchheit zc. 643 


zugezogen ; aber aud das Hilft nichts, da, wenn er auch perfonis 
ftert wird, diefelbe Schwierigfeit ſich ergiebt, wenn er aber nicht 
perfonifiziert wird, er nicht völlig denaturiert zu fein fcheint, jeden« 
falls aber dann Ehrifti Immanenz verdrängt. Die theiftifche 
Heteronomie kann nur überwunden werden; eine wirffiche Einheit 
Gottes und des Menſchen ift nur möglich, wenn nicht ein perfüns 
licher Gott in dem perfönlichen Menſchen ift, wie e8 die Trinitäts⸗ 
lehre in ihrem bdreiperfönlichen Gott verfucht, Indem fie zuerft den 
Sohn, dann den Geift als Mittler braucht, weil die Perfönlichkeit 
Gottes die direkte Immanenz verhindert und Gott in einfeitige 
Transcendenz kommt, — fondern wenn der göttliche Geift als über⸗ 
natürlicher aber unperfönlicher eine jede Perfönfichkeit befeelt, über 
jede aber zugleich vermöge feiner Unperfönlichkeit übergreift. Da⸗ 
durch wird aber das Mittlertum Chrifti 1) und der Vater über 
fläffig; die Heteronomie Hört auf; wir find bei dem konkreten 
Monismus des Geiftes angelangt, wo jeder autonom fittlich ift, weil 
der Geift zugleich als fein eigenſtes Wefen aufgefaßt werden muß 
und feine Wejensverfchiedenheit zwifchen dem gebietenden Gott und 
dem gehorchenden Menfchen übrig bleibt. In diefer Autonomie 
ift auch die Tragif vollendet, da alle leiden, wie der Gottmenſch 
Jeſus gelitten hat und ohne Ausficht auf jenfeitige Eubämonte, 
„ohne Auferftehungsjubel”, was übrigens nicht ausſchließt, fondern 
einfchließt, daß fie für die Zeit des irbifchen Lebens pofitio fitte 
lich thätig find. Eben hiermit aber find wir an demfelben Punkte 
angelangt, ben er als die notwendige Reform des Buddhismus bes 
zeichnete. Durch den Theismus ift der konkrete Inhalt gewonnen, 
den Hartmann für die Mittelzeit bedarf, fo dag nun beide 
Richtungen, abftrafter Monismus und Theismus, im fonfreten 
Monismus aufgehoben werden. 
Diefen konkreten Moniemus als Religion des Geiftes zu 
»ofitiver Darftelfung zu bringen, ift die Aufgabe, welche er in der 
weiten Schrift zu erfüllen ſucht. Wir tönnen uns bier kurz 





1) And) die Bedeutung Chriſti ale des Borbifdes fei unmöglich, weil es 
n völlig abftcaftes Ideal fei, das nicht nachgeahmt werben könne, ba es nicht 


m Weg amm Ziele der Gottmenfchheit zeige. 
42* 


“ Hartmanz 


faflen, da feine leitenden Grumbgedanfen bekannt find 2), bie Ans 
führung aber teifweife breit umb nicht oue Wiederholungen ift. Weil 
die alic6 Seherridende Ider die des Tonfreten Monismus ift, ber 
ämpft er fewohl dem abftraften Menisnms als and den Theis ⸗ 
mus auf alien Bantıcn. Die Bekämpfung des Theismus Kat für 
ig befondere Bedeutung, de er das Chriftentum als bie reiffte 
Sorm des Theiemus auffaßt. Cr ficht in ihm die Borftufe zum 
Tontreten Moniemus, weiche überall an die Stelle der Sbentität 
der Begenfäge eine äußerfihe Bereinigung derſelben ftelle, die auf 
alten Buntten nit bloß im diniektifcgen, ſondern auch im religiöfen 
Zutereffe über fi Hinansweife. Der Gang, den Hartmann wimmt, 
iſt der von der Religions pfyHologie zur Religionsmetaphyſſil 
und Religiensethil. Gemäß ber metaphyfiicen Grundanfepaunng 
iſt ihm die Religionspfy hologie nicht bloß einfeitig Beſchreibung 
der religiöfen Funktion der Worftellung, des Gefühls und Willens, 
ſendern fie behandelt das Werhättwis boppelfeitig; Gott ift in 
bem Frommen, daher die religiöfe Grundfunktion Glaube, der mit 
der Gnade identiſch iſt; im einzefnen ergiebt ſich ihm bie Identitüt 
von Dffenbarungsgnade und intefleftuellem Glauben, Crlöfungt 
guade und Gemütöglauben, Heiligungsgnade und praktiſchem Glan 
ben. Wie ihm die veligiöfen Borftellungen nım als Motive und 
die religiöjen Gefühle nur als Bewußtſeinsreſonanzen, die für 
den Willen Impuls geben, von Wert find, fo hat der intellektuelle 
und Gemütögleube fein Ziel darin, Mittel fir den prattiſchen 
Glauben zu fein. Die Offenbarungs⸗ und Erlöjungegnade emdigt 
in der Heifigungegnabe. Es ift alfo die eine Gnabe, melde dem 
Menfchen immmanent ift, fofern er glaubt, und welche wie ber Glaube 
den drei Kräften ber Seele entſprechend nach den drei genannten 
Seiten ſich darftellt, jedoch fo, daß bie beiden erften lediglich Mittel 
fur Die lehte find. Die Idemifikatien der Religien mit Ethik, weihe 
tm deitten Kapitel fich vödig zeigt, ift Hiemit vorbereitet. Wir 
muſſen es uns verfagen, näßer auf feine Grörterungen inbezug asi 
das Verhältnis von Philofophie und Dogmatik, die in die Phile 


2) Bol. meine Wöhembfung: „Bartmanne pejfimiftifche Pstlsfopir” (IBEN, 
©. 17f. 975. 875. 44f. 71f. 777. 


Das religiöfe Bermußtfein der Menfchheit ꝛtc. [713 


fophie aufgehen foll, von religids-äfthetifchen und myſtiſchen Ger 

fühlen 1), weiche er gefchieden wiſſen will, u. a. einzugehen. Die 

Metaphyſik der Religion hat zwei Teile, die Gotteslehre und die 

Metaphyſik des religiöfenSubjekts, die ihm inreligiöfe An» 

thropologie und Kosmologie zerfällt. Beachtenswert ift die Vers 

bältnisbeftimmung von religidfer und theoretifcher Metaphyſit. Exftere 

hat Lediglich darauf auszugehen, das religidfe Verhältnis meta- 

phyfiſch zu begründen, während die Tegtere eine weit breitere Baſis 

bat, nämlich die gefamte Erfahrung, für welche die metaphyſiſche 
Begründung zu ſuchen ift. Die erftere ift ein unerläßliches prak⸗ 
tifches Poftulat, da ohne diefelbe die Religion als Illuſion er⸗ 
ſcheint, letztere ift der Schlußftein der theoretifchen Weltanfchauung. 
Beide können inhaltlich einander voll entfprehen, nur daß die 
theoretiſche ficherer, weil umfangreicher, baftert ift, obgleich auch fie 
nicht über Wahrſcheinlichteit fich erhebt ?). Demgemäß führt 
Hartmann in der Gotteslehre den Grundfag durch, für jede 
Ausfage das religiöfe Intereſſe aufzuzeigen, worin ſich ein Heil 
famer Einfluß Schleiermachers fundgiebt. Er unterfceidet hier 
Bott als „das die Abhängigkeit von der Welt überwindende“ 
und als „das die abſolute Abhängigkeit begründende Moment“, 
dem er noch Gott „als das bie Freiheit begründende Moment“ 
binzufügt. Das erſte Moment führt auf Gottes Abfolutheit, 
welche fich ebenfo in feiner Subftanzialität und Identität mit ſich 
zeigt, im welch legterer die Erhabenheit über Raum, Zeit, Mates 
rialität enthalten iſt (omtologifches Argument), wie in feiner 
Geiſtigkeit, dynamiſchen Allgegenwart, Aktualität, welche als Allmacht 
und Allweisheit (Allwiſſenheit) Hervortritt (kosmologiſcher und 
teleologifcher Beweis). Gott als das die abfolute Abhängigkeit 
begründende Moment ift ſowohl Begründer der objektiven Welt 
als des Subjelts, woraus ſich der erfenntnistheoretifhe und der 
pſichologiſche Beweis ergiebt, dem der ibentitätäphifofophiiche zuzur 
fügen ift, der Gott gleichmäßig als Begründer der Welt und bes 





2) Über die ſinnlich befiimmten veligiöfen Gefühle indbefondere fagt er 
Beachtenswertes (©. 35f.). 
2) Bol. meine Abhandfung, ©. 181. 


646 Hartmann 


Subjiekts darftellt. Das Facit biefer Beweiſe ift, daß Gott er⸗ 
faßt wird als Idee und Wille, da er ald Einheit von Wille und 
Idee die Welt hervorbringt, was ber Metaphufit Hartmanns ent- 
ſpricht. Schließlich befpricht Hartmann noch Gott als das die Freiheit 
begründende Moment. Hier ergeben ſich bie moralifchen Beweile, 
welche Gott als objektive, fubjektive und abſolute fittliche Weltorduung 
darftellen 1). Gott wird beftimmt durch die Eigenfchaften der Ge 
rechtigkeit, Heiligkeit, Gnade, welche eine objeftive und fubjeftive Geite 
haben: „objektive Gerechtigkeit ift die Allmacht der abfoluten Vernunft 
zu ihrer Selbſtverwirklichung“, Heiligkeit „die Bernünftigfeit des von 
der Allmacht realifierten Weltzuftandes“, Gnade „die objektive ſittliche 
Weltordnung als Heilsordnung“ ; die fubjeltive Gerechtigkeit if 
„die in der religiöfen Selbftbeurteilung des Menfchen ſich durch-⸗ 
fegende abfolute Bernünftigfeit“, die fubjektive Heiligkeit „Erhebung 
der fittlichen Weltordnung zum autonomen Geſetz“, fubjeftive Gnade 
„die im Glauben zum praftijch religiöfen Bewußtjein ihrer felbft 
tommende abfolute Idee“. Sofern die objektive und fubjeftive 
Seite zufammenfallen, ift Gott die abſolut fittliche Weltordnung. 
Bir können kurz fagen: Diefe Gottesichre läuft zurüd auf feine 
Metaphyfit, nach der Gott Idee und Wille ift, welche durch die 
Subftanz formal geeeint find. Als Subftanz ift Gott identiſch 
mit fi, aktuell ift er Wille und Idee, welche fih auf immanente 
unbewuhte Weiſe in der Welt als Allmacht und Weisheit entfalten 
und in der fittlihen Weltorbuung als gerechter, Heiliger und 
gmädiger gipfeln *). 

Die religiöfe Anthropologie entipricht diefer Auffafjung. Es 
wird der Menfch als erlöfungsbebürftig und erlöfungsfähig bes 


2) Bel. weine Whandlung, ©. 721. 
2) Eakei Aigen dr Oetene cefale feachatn wid, daß der une 


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Das religiöfe Bewußtſein der Menfchheit 2c. 647 


ſchrieben, ohne daß Hartmann bei feiner Lehre vom Böfen, von 
der Berantwortlichkeit, von der Einheit von Gott und Menſch das 
in feiner Phänomenologie des fittlihen Bewußtſeins erreichte 
Niveau überfchritte, wenn er auch hie und da genauer in das 
Einzelne eingeht *). 


1) Bl. über das Böſe meine Abhdlg. a. a. D., S. 75—77. Der Eudämonis- 
mus, ber dem Menſchen natürlich ift, wird durch das Hervortreten des fittlichen 
Bewußtſeins böfe, fofern diefes dem Menſchen ben Zwieſpalt zwiſchen der na- 
türfichen fubjeftiven egoiftifchen Tendenz und zwiſchen der Aufgabe der objel- 
tiven fittlichen Weltorbnung zum Bewußtſein bringt. Der Begriff der Ber- 
antwortung und der Schuld Hat nicht fowohl Beziehung auf bie böfe Natur 
als auf den Mangel an Energie und Aufmerkfamkeit im einzelnen Fall, durch 
die der Menſch es verfäumt, die egoiftifche Natur zu bekämpfen, nachdem ihm bie 
Hingabe am die fittliche Weltordnung al Aufgabe bewußt geworden if. Der 
Menſch iſt erlöfungsbebürftig, fofen er von Übel und Schuld befreit werden 
fol. Er ift erlöfungsfähig, ſofern feine fittliche Anlage, die als Erbgnade in 
ihm iſt, ihm zum Bewußtſein kommen, er ſich in dem Dienft der ſittlichen 
Weltordnung ftellen und auf alle Eubämonie verzichten Tann, eben damit aber 
von Schuld und von Übel, von Ieterem idealiter durch den Verzicht auf Eu« 
dämonie befreit werden kann (Glaube als Heiligungswille). Religiös ausge- 
drüdt: der Menſch ift erlöfungsbebürftig, ſofern er nur in ber ontologiſchen 
Einheit mit Gott ſteht, erföfungsfähig, ſofern ex auch in bie teleologiſche Einheit mit 
Gott kommen, die Gnade aktuell in ihm fein fann. Der Menſch ift immer eine 
nBunktionengeuppe Gottes“ (vgl. meine Abhdig, ©. 26. 29). Gott ift in 
dem Imbividunm immer aktuell, aber auf verſchiedene Weiſe; entweder ift er im 
dem Menfchen, als natürlichem, wirkt jo and den natürlichen Eudämonismns, 
oder er iſt in dem Menſchen, fofern in ihm das Sittliche aber auch bamit das 
Böle erwacht, wirft den Zwieſpalt im Menfchen, oder endlich wirft er, daß 
der Menfch ſich zum Mittel für die fittliche Weltorbuung macht, als Gnade. 
Im diefem Sinne vedet Hartmann, vom fittli-teleologifhen Ge- 
fihtspuntt aus gefehen von einer „untergöttlichen, relativ widergätt« 
licheun, pofitiv gottgemäßen Sphäre“ im Menfchen. Gott wirkt im Menſchen, 
und der Menſch wirkt, ift ihm identiſch. Denn Gott wirft im Menſcheu 
ala ein „eingeſchränktes Subjekt“, während er in ber Welt als abfolutes 
Subiekt wirkt, als das ihr zugrunde liegende Weſen, das als Weſen aber 
über die Welt übergreift und fid nicht in der Welt erfhöpft. Als wir 
tendes Subjekt faßt Gott eine Fülle von Einzelfubjekten in fi}, welde einer- 
eits realiter Funktionen Gottes ſind, aber als ſolche noch natürliche Subiekte, 
ann aber auch ſich als Funktionen Gottes wiſſen und dies Bewußtſein als 
Motiv für ihr Handeln verwenden, oder in denen Gott ſich fo weiß, daß er 
gleich Motiv für ihr ſittliches Handeln wird, womit zugleich das Naticliche 


“us Hartmann 


Yu der religiöfen Kosmologie werben zumächft bie Begrifft 
der Schöpfung, Erhaltung, Regierung durch den Sat erſetzt. daß bie 
Welt die ftetige Erſcheinung des göttlichen Weſens fei, weiches ſich 
in der Naturorbnung und fittlihen Weltorduung offenbart, die für 
einander beftimmt find, jedoch fo, daß die fittliche Welterbuung 
zugleich in Gegenfag zu der natürlichen tritt, eben dadurch aber 
als fittfiche fich fund that. Der in der natürfihen Weltordnung 
begründete Eubämoniemns, ber in allem Wollen enthalten ift, foll 
durch dem fittlichen Weltprozeß überwunden werden, um all 
Wollen zu quiescieren und fo Gott von feinem unfjeligen Wollen 
zu befreien. Hier rebet er äftetiih von der abjoluten Zrogit 
der Gotteserlöfung. 

In der Religions ethit wird der fubjeftive und der objeftive 
Heilsprozeß unterfieden. Der fubjektive Heifeprozeß verläuft 
natürlich in dem Schema von Identität von Gnade und Glauben, 
zumädft als Erleuchtung, dann im Gefühl als Friede, endlid als 
Heiligungswillen, welder Beſſerung dur Selbftzucht hervorbringt. 
Bon einer prinzipiellen Umfchr ift Hier nicht die Rede, wenn au 
auf die Sefianung hingewieſen wird). Da Egoität und Egois 





i 


I at Böfe eis, age 6 vi nee aihwlhich Begacti, 
Sitiliche aur durch den Gegenſatz gegen das Natürliche zum Bersuft- 
Toumen few. Gott als „eingefhränttes Subjekt” durdläuft alſo die 
liche und fittfiche Stufe, ofme deehatb im biefer Partialfunttion anfzu- 
welche der Maxi ik. Hartmann fan hier zwar betonen, daß der 
wit Gott identifizieren Bönne, da er aur eine Partinlfanktios 
j eb unbe muß = end ben wikeben Got fi urabligen 
die Bielheit und Endlichkeit, in alle Gegenfäge 
eim, und wenn er auch über jede Bartia 
i wirtender doch in eine Fülle won Partial- 

funttionen werenblicht. So if Gott abjolut und endlich zugleich Das ik 
cin Widerjpruach, der natärfuch aur zu Ungunfen der Eudlichteit gehoben wirt. 
Die CEedlichteit Gottes iR in letter Hinficht wach ihm nur eine Folge feines 
Bollens, das er alt Abfall Gottes den fid) betrechttt, das quietciert ierben 


& 
14 


HH 
Kehl 
at 


1) Bl. „Das refigidfe Bewußtjein ber Menſchheit·, ©. 624: „Auf ker Starr 
iR das Immenenzprinzip des religiößefitilichen Lebens in irgendweihern Gate 





Das veligiöfe Bewußtfein der Menſchheit zc. 6409 


mus nicht auseinandergehalten werden, könnte eine ſolche prin⸗ 
‚Nipiele Umkehr auch nur im Untergang des ch gefunden werden. 
Er betont daher die Allmählichteit des Prozeſſes. Die Umwandlung 
ift, wie die Perſönlichkeit überhaupt, bloß Mittel fir den objektiven 
Brogeß, was von einer „Wunftionengruppe des Abſoluten“ fich nicht 
anders erwarten läßt; ihre Aufgabe ift die Realifierung der teleo- 
logiſchen Weltordnung, d. 5. zunächſt des Kulturprozefſes. In dem 
Abſchnitte von dem objektiven Heilsprozeſſe wird daran erinnert, 
wie Steigerung bes Bewußtſeins das providentielle Ziel fei (natürs 
lich, um durch dasſelbe das Abfolute zum Quiescieren zu bringen 1)). 
Dies ift durch den Kulturprozeß zu erreichen, dem die Kirche fo 
Tange dient, als fte nicht durch Wiſſenſchaft, Kunft, fittliches Handeln 
erfegt werden fan. Die fchließfiche Überflüffigkeit der Kirche ver» 
ſucht er darzuthun, fofern ihre drei Funktionen Kirchenzucht, Kultus, 
Dienft am Wort überflüffig werden follen. Die Kirchenzucht ift 
durch die Autonomie ansgefchloffen, die Üfthetit im Kultus geht 
in die Kunft über, da fie der Reinheit des religiöfen Kult fchade, 
im religiöfen Kult wird Gebet und Opfer überflüfftg, letzteres als 
ber enbämoniftifchen Stufe zugehörig, erfteres durch das Immanenze 
Prinzip, weldes ebenfo die fymbolifchen Handfungen als äußere 
Onadenmittel abrogiert. So bleibt ber Dienft am Wort, der, 
fomeit es fih um veligiöfe Erziehung Handelt, durd die Schule 
zu beſorgen ift, ſoweit es fih um Bearbeitung Erwachſener handelt, 
In dem Maß den geiftlichen Stand überflüffig macht, als bie Er⸗ 
wachfenen felbft befähigt werden, religidß zu reden. Genug, da der 
jubjettive Heilsprozeß (ſ. 0. S. 644) im praftifchen Glauben gipfelt, 


Benn an anderen Stellen vielleiht mehr von Umkehr der Gefinnung die Rebe 
ſt, ſofern der Wille, feiner Grundrichtung mach, nicht feine egoiſtiſchen Zwecke 
aben, fondern der fittlichen Weltordnung dienen will, fo ift das doch dem 
anzen Syſtem nad nuc relativ gemeint. Diefe Ordnung ift felbft im Werben 
nd fetst auch wieder den Eubämonismus ale zu überwindenden voraus (vgl. 
eine Abhdlg., S. 72—77); auch er, d. h. das Boſe gehört zur Weltorbuung 
3. 75). 

1) al. meine Abhdlg.,, S. 30. Übrigens ſcheint Hartmann zu ſchwanken, 
dem wir bald hören, daß Gott im Menſchen bewußt wird, bald, daß Gott un- 
mußt bleibt (3. ©. „Religion des Geiftes“, S. 807f.; „Das religidfe Ber 
aßtfein ber Menſchheit“, S. 625). 


[0] Hartmaun 


diefer felbft aber Lediglich Mittel für den objektiven Heilsprozeß, 
bie Realifierung der fittlihen Weltorduung in dem Kulturprozeß 
ift, der die Steigerung des Bewußtfeins hervorruft, fo ift für bie 
Kire feine Stelle; die fuhjektive Religion ift identiſch mit der 
ſittlichen Gefinnung, welche ſelbſt Mittel ift für den Kultur 
Brogeß, den Prozeß der Steigerung des Bewußtſeins, die wieder 
nur Mittel ift, um dem Weltprozeß überhaupt zu fiftieren und das 
Abfolute von feinem unfeligen Wollen zn erldfen. 

Man hat gelegentfic) behauptet, daß man es fich zu Leicht mad, 
wenn man hauptſächlich Hartmanns Peſſimismus zu widerlegen fuck, 
da dieſer für ihm feine weſentliche Rolle fpiele. Wer einigermaßen 
den Zufammenhang feines Denkens verfteht, Tann aus „der Re 
ligion des Geiftes“ deutlich erkennen, daß der Pelfimismus und 
feine Metaphyſik eng zufammengehören, wie ich früher dargethan 
habe. ber foviel ift richtig, daß Hartmann fo fehr von der 
Bhilofophie feit Kant und von dem Chriſtentum beeinflußt ift, 
daß er für den jegigen Weltäon nach pofitiven Werten fucht, die 
aber nur relativ find. Cr verfucht das auf dem Wege der 
Evolutionstheorie zu erreichen, ohne freilich ben Klippen, an melden 
jede Evofutionstheorie ſcheitern muß, zu entgehen. Ich will mich 
bier darauf befhränfen, Hartmanns Neligionsphilofophie aus dem | 
evolutioniftifchen Geſichtspunlt zu betrachten und in diefer Be» 
ziehung einige kritiſche *) Bemerkungen beizufügen. 

Was den gefchichtlichen Prozeß der Religion angeht, fo verſucht 
Hartmann — hierin mit einer mächtigen Richtung der Zeit im 
Einklang — denfelben auf rein immanentem Wege zu erklären. | 
Der Fortſchritt vollzieht ſich dadurch, daß in einem beftimmten 
Entwidelungemomente providentiell beanlagte Männer oder Bölfer 
Bervortreten, um ben Prozeß weiter zu führen; und zwar ift Hart | 
mann nicht der Meinung, daß diefe Völker befonders auf höheren | 
Stufen ſchon gleich im Anfang ihrer Entwidelung das neue rel 
gidfe Entwidelungsmoment entfaltet haben; vielmehr beginnen alle j 


1) Im übrigen verweiſe ich auf meine Abhdig. a. a. O, ©. 37[. ik | 
651. 77f., wo id die Prinplpien der Gartmannfihen Philofophie ausfägetih 
Beurteit Habe. 


Das veligiöfe Bewußtfein der Menſchheit 2c. 61 


mit dem Henotheismus; nur ermöglicht ihnen ihre verjchiedene 
Anlage im Verein mit ben verfchiedenen äußeren Einflüffen von 
dieſer Stufe aus eine eigentümliche Entwidelung durchzumachen, 
die in dem Charalteriſtiſchen gipfelt, das fie für den Fortgang des 
Brogefjes Teiften, und wenn fie hier angelangt find, greifen fie in 
den Prozeß ein?). Diefe Methode differiert von der Hegels, 
welcher die jedesmal höhere Stufe in dem beftimmten Wolle durch 
den Prozeß der Idee fofort erfcheinen läßt, ohne fih darum zu 
kümmern, wie biefes Volt zu diefer Stufe gefommen ift. Wenn 
bier gewiß auffeiten Hartmann der Fortſchritt liegt, fo ift dar 
mit doch zugleich gegeben, daß der immanente Fortgang des Pro- 
veffes nicht in derfelben ftriften Weiſe feftgehalten werden Tann. 
Die Mannigfaltigkeit der Völker tritt zu ungunften der Einheit 
8 Prozeſſes hervor. Wir finden ftatt eines fortlaufenden Pros 
jeſſes eine Reihe von Entwidelungen, welche felbftändig neben ein 
inder herlaufen und höchſtens providentiell zufammengeordnet find. 
Das zeigt fich befonders, wenn Hartmann nach Beſprechung des 
Buddhismus fagt, daß wir „umkehren“ müßten, um von einem 
ndern, dem theiftifchen Ausgangspunkt zum Ziele zu gelangen, 
der über alle Religionen, welde Offenbarung haben, bemerkt, 
aß fie in ihre Grenzen eingefchloffen feien, und insbeſondere ver- 
chert, daß weder Buddhismus noch Ehriftentum von ſich aus zu 
em konkreten Monismus kommen könnten. (S. 625. 364.) Wenn 
er Übergang zu einer höheren Religionsſtufe nicht auf allmähs 
dem Wege aus dem bisher Gegebenen erflärbar ift, warum vers 
hmäht es dann Hartmann, anzuerkennen, daß das Abfolute jedes⸗ 
al eine Höhere Stufe dur eine neue Offenbarung, durch einen 
men geiftigen Alt im Menfchen Hervorrufe, wenn es dod über 
fen muß? In feiner Naturphilofophie erkennt er an, daß das 
bſolute eingreife und für eine höhere Entwidelung einen neuen 
ypus fege. Hier foll in der providentiellen Naturanlage für die 
(igiöfe Entwidelung ein neues Moment enthalten fein. Dadurch 
ixd aber der veligiöfe Prozeß bedenklich naturalifiert. Das hängt 
des damit zufammen, daß er den Charakter und die Eigentüm« 

1) Am Harfien wird das Prinzip bei dem israelitiſchen Monotheismus 
chgeführt, aud) bei ben AÄgyptern. 


62 Hartmann 


lichteit „pfychologifch determiniert* fein laſſen will auf Grund ihrer 
natürlichen Entftehung ?). 

Es ift der Immanenztheorie eigentümlich, daß fie aus den in der 
Belt vorhandenen Urſachen alles zu erflären verfucht; daher wird fe 
als Evolutionsfehre dazu neigen, alle Unterfciede als quantitative aufe 
zufaſſen. Denn in dem Maße, ald man das Neue als etwas von allem 
Bisherigen qualitativ Verſchiedenes auffate, kann man es aus den vor⸗ 
handenen Urfachen nicht erflären, muß das Abfolute direkt aus fein 
Fülle Heraus ein Neues fegen Laffen und macht e8 dadurch zu einem 
Tranfeendenten, das über die der Welt immanenten Urſachen al 
eine befondere Kaufalität übergreift. Die ftrifte Immanenztheorie 
lann feine feften Begriffe Haben; die Allmähfichkeit der Übergänge 
Hindert fie daran. Natur und Geift können bier nicht rein unter 
fihieden werden. Bei Hartmann ift der Wille des Abfoluten niht 
von bfindem Naturtrieb und feine Intelligenz nicht von natürlichen 
Inſtinkt Har unterfchieden. Ebenfo wenig ift im Weltprozep eine 
ſcharfe Grenze zwifchen Natur und Geift gezogen. Daher fein 
Schwanken, ob Tiere Religion haben (ſ. o. ©. 632). Daher 
feine Unflarheit über die Entftehung der Religion. Sie ſel 
im Eudämonismus ihre Wurzel Haben und zugleich im der Fählg 
keit unintereffierter Beobachtung und äfthetifcher Beurteilung. Nah 
der erften Seite wäre fie reines Naturproduft. Allein es würde 
für den Naturmenſchen völlig genügen, wenn er bei feinen ver 
einzelten Wünfchen jedesmal den einzelnen Objekten eine Art von 
Borftehern andichtete, um auf diefem Ummege durch Beeinfluffung 
diefer das Objekt beherrſchenden Cinzelmäcte feinen Zwed a 
erreichen. Henotheismus als Urform der Religion ift fo mi 
begreiflich. Wenn Hartmann nun die Fägigkeit uminterefftertr 
Beobachtung und äfthetifcher Beurteilung zur Erflärung des Ha 
theismus zuzieht, fo genügt auch das nicht. Vielmehr ift es, werm and 
nur in Form der Ahnung die Vernunft, welche ihr Streben nad gr 
fammenfaffender Einheit bethätigt, indem fie alles, was im ihm 
Geſichtskreis tommt, einer wenn auch noch naturartig vorgeftelften Gott 
heit unterordnet. Es ift ein übernatürliches Prinzip, das fich Hier zeigt, 


2) Dgl. meine Abholg, S. 37—40. 


Das religiöfe Bewußtfein der Menſchheit zc. 658 


das Hartmann mit dem Namen ber unintereffierten Beobachtung 
und äfthetifcher Beurteilung bezeichnet, ohne in beftimmter Weiſe 
auf bie Übernatitrfichteit der Vernunft Hinzumeifen. Wenn aber gleich 
im Anfang der Religion bie Einheit fordernde Bernunft fi fo deutte 
lich anfimdigt, fo kann andy nicht der Egoismus als ihr wefentlicher 
Entftehungsgrumd angefehen werben. Wenn ferner Hartmann den 
Fetiſchismus für Verfall erklärt und nit an ben Anfang ftellt, 
fo ift das zwar richtig, aber in dem Immanenzprinzip des alle 
mählichen Fortſchritts nicht begrümdet. 

Die Allmähfichkeit des Immanenzprinzipes fordert ferner eine 
allmahliche Überwindung bes Eubämonismus; nicht eine Umlehr 
ſoll nötig fen, die das Chriftentum fälſchlich fordert *). Diejes 
Zurückſinken auch Hinter Kant, der eine intelligible Umkehr fordert, 
hat aber wieder feinen Grund darin, dag natürliche Egoität und 
Attlicher Egoismus nicht ſcharf unterfcgieden werden. Da verfteht 
 fih ganz von felbft, daß der Egoismus nur „approgimativ“ 
tberwunden werden Tan, fo lange das Ich noch da iſt. Daher 
auch der „konkret e Monismus“, ja gerade er, nicht leiftet, was er 
ol, da, jo lange konkrete Welt da ift, auch Eudämonismus da ift. 
Er ift ein Notbehelf für dieſen Weltäon und ift durd den ab» 
traften Monismus ſchließlich zu erfegen, der mit allem Konkreten 
ch allen Eudämonismus vernichtet. 

Der Evolntioniemus betrachtet alled nur als Moment im 
Brogeffe; alles ift aur Durchgangepumft, nur Mittel für den Fort⸗ 
chritt, Hat feinen Wert an fih, fondern hat nur relativen Wert 
18 Moment des Prozefied. Wenn daher auch die Perfonen dazu 
iemen, daß das Abfolute in denfelben zum Bewußtſein kommt ?), 
» ift doch anf der andern Seite das Bewußtfein nur etwas End 
des, das dem Abſoluien nicht eiguet. Die Perſonen haben feinen 
‚eibenden Wert, find Mittel für den objektiven Prozeß, daher auch 


1) „Das vefigiöfe Bewußtſein 3c.”, S. 628 f. Dem entfpridt ber Ber 
iff des Boſen, das aud nur relativ gefaßt wird, und das fi im Prozeß 
ı als etwas relativ Gutes erweiſt. Bol. meine Abh., S. 63. 73. 

2) Bgl. „Das vefigiöfe Bewußtſein der Menfchheit”, S. 625. Der vefi« 
fe Prozeß fei ber Prozeß des allmählichen Zusfih-felber-fommens bes 
eiftes. 


654 Hartmann 


Hartmann die Perfönlichkeit Chriſti nicht entfernt zu mürdign 
weiß. Überhaupt entfteht die Perfönfidjkeit und das Bermuftfen 
mur dur einen Naturprogeß und das menfchliche Bemuftjein 
wird lediglich quantitativ vom Bewußtſein ber Tiere ꝛc. unter: 
ſchieden ). Es ift ferner durchaus natürlich, daß KHartmam 
bei dem beften Willen nicht imftande ift, von bem (Evolution 
ftandpunft aus das religiöfe Phänomen in feiner Selbftändig 
teit zu begreifen. Iſt e8 Gott, der in allem fich ſelbſt mil. 
viert, fo ift gar kein Grund vorhanden der Religion eine be 
fondere Stelle zu laffen. Alles ift Gottes Evolution, das Biffn, 
das fittliche Handeln, die Kunft. Der Religion kann Keine befonder 
Stelle bleiben. Man könnte es verſuchen, die Immanenz Gott 
in der Perfon als Religion zu bezeichnen. Allein dann wäh 
man nit auf feine Immanenz im Wiſſen oder Wolfen das Gr 
wicht legen, weil bei erfterer Annahme bie Religion im Ville, 
bei legterer im Handeln unterginge, fondern im Gemüt als dem 
Zentrum der Perfon; daran aber ift der Evolutioniſt wieber gr 
hindert, weil er die Perfon nur als Durchgangspunft und Mittl 
für den objektiven Prozeß auffagt, fo daß der Gefühls- oder Gr 
mütsreligion nur die Stellung eines vorübergehenden Mittels blick, 
wie es auch bei Hartmann ber Fall ift. 

Schließlich fei nod auf einen bedeutfamen, fehr folgenreider 
Mangel eines jeden Evolutionsftandpunftes hingewieſen, der bi 
Hartmann befonders ſcharf Hervortritt. Das Abfolute foll KA 
evolvieren. Wenn dies das Abfolute will, was hindert dasiek, 
fofort feinen gefamten Inhalt zu offenbaren? Die Annahme cn 
Progeffes ſetzt ein retardierendes Element vorans, das der reine Begrifi 
des Abfoluten ausſchließen würde. Hier ift ein dualiſtiſcher Reĩ 
nicht überwunden. Das Mbjolute ift durch die „ımbegreiflict 
Schranke“ gehemmt (Fichte) oder es wird die Negation zugeogn. 
um ben Prozeß zu erffären (Kegel), welde nicht aus dem Arie | 
Inten ftammen fann, oder e8 wird ein „Abfall“ des Abſoluten vu 
ſich felbft angenommen (Schelling). Die letztere Modifikation 
in etwas veränderter Form aud Hartmann angenommen, joitr: 


2) Bgl. meine Abh., ©. 26f. 29f. 


Das religiöfe Bewußtſein ber Menfchheit ac. 665 


er zur Erklärung des Weltprozefies aus ber abfoluten Subftanz 
den Willen Hervortreten Täßt, dem das Logifche, nachdem der Wille 
einmal will, Inhalt giebt. Diefes Hervortreten des Willens aber 
ift ein Abfall des Abfoluten von fich felbft. Eben in diefem, für 
den Prozeß notwendigen, dem Abſoluten aber fremden Elemente 
ift der Schwache Punkt der Evolntionstheorie. In allem, was aus 
der Evolution Hervorgeht, ift ein unaufgelöfter Widerſpruch: es tft 
alles nur Produkt des gehemmten, von ſich abgefalfenen Abfo« 
Inten; es ift mit Endlichkeit behaftet und Bat an dem Abſoluten 
felbft gemeffen nur relativen Wert; es ift aus ihm Bervorgegangen, 
aber verſchlechtertes, verendlichtes Abſolutes. Das aber ift der 
Standpunkt der Emanation, in ben die Evofutionstheorie umfchlägt. 
Allem Endlichen Haftet das Nichtſein, die Schranke, der Abfall 
des Abfolnten von felbft an. Eben daher muß auch der evolutios 
niſtiſche Optimismus in Peſſimismus umſchlagen. 

Betrachtet man Hartmanns Philoſophie als Evolutionsſyſtem, 
fo kann man ihm das Lob nicht verſagen, daß er die Evolutiond- 
theorie prinzipiell zu Ende gedacht hat. Nachdem einmal das Ab» 
folute mit feinem Willen den Abfall vollzogen hat, wird eine reiche 
Evolution anerkannt, indem er die Naturordnung und fittliche Welt» 
wbnung auf einander folgen läßt (freilich ohne beide ſcharf genug zu 
interfcheiden), und fo weit möglich eine Harmonifierung beider ver» 
ucht, indem er ferner nichtirgendein geiftiges Gut einfeitig geltend macht, 
ondern alle in ihrem relativen Wert anzuerkennen fucht, Kunſt, 
Biffenfchaft, fittliches Leben, felbft, fo weit es geht, Religion, wenn 
uch nur als notwendiges Mittel zum Handeln. Befonders aber er» 
nnt er die Konfequenz der Evolutionstheorie, welche allem Guten nur 
lichen Wert zuſchreiben kann, weil fie Produkte eines gehemmten 
er nach ihm von ſich abgefallenen Abfoluten find, und behandelt 
mnady den Optimismus als Durchgangspunkt zu dem Peſſi—⸗ 
ismus des Endes. Indem er konkreten Monismus will, 
ird er bem Theiemus nur in dem Maße gerecht, in welchem er 
nfrete Werte anerkennen kann, die, wie er fehr wohl fieht, unter 
a höheren Religionen allein der Theismus, insbefondere das Ehriften« 
n ſchutzt. Der Theismus foll nad) ihm dazu dienen, den Wert des 
mereten zum Bewußtſein zu bringen. Allein der Theismus kennt 


646 Hertmann 


Subjetts darftellt. Das Facit diefer Beweife ift, daß Gott er⸗ 
faßt wird als Idee und Wille, da er ald Einheit von Wille und 
dee die Welt hervorbringt, was der Metaphyfit Hartmann ent 
ſpricht. Schließlich befpricht Hartmann noch Gott als das die Freiheit 
begründende Moment. Hier ergeben ſich die moralifchen Beweiſe, 
welche Bott als objektive, jubjektive und abfolute fittliche Weltordnung 
darftelfen ). Gott wird beftimmt durch die Eigenfchaften der Gr 
rechtigkeit, Heiligfeit, Gnade, welche eine objektive und fubjektive Seite 
haben: „objektive Gerechtigkeit ift die Allmacht der abfoluten Vernunft 
zu ihrer Selbftverwirtlihung“, Heiligkeit „die Bernünftigfeit des von 
der Allmacht realifierten Weltzuftandes“, Gnade „die objektive fittliche 
Weltordnung als Heilsordnung“ ; bie fubjeftive Gerechtigkeit ift 
„die in ber religidfen Selbftbeurteilung des Menfchen ſich durd« 
ſetzende abfolute Vernünftigfeit“, die fubjektive Heiligkeit „Erhebung 
der fittlichen Weltordnung zum autonomen Geſetz“, ſubjektive Gnade 
„die im Glauben zum praftijch religiöfen Bewußtjein ihrer felbft 
tommende abfolute dee“. Sofern die objektive umd fubjeftioe 
Seite zufammenfallen, ift Gott bie abfolut fittliche Weltordnung. 
Wir können kurz fagen: Diefe Gotteslchre läuft zurüc auf feine 
Metaphyfit, nach der Gott Idee und Wille ift, welche durch die 
Subftanz formal geeeint find. Als Subftanz ift Gott identiſch 
mit ſich, altuell ift er Wille und Idee, welche fih auf immanente 
unbewußte Weife in der Welt als Allmacht und Weisheit entfalten 
und in der fittlihen Weltordnung als gerechter, Heiliger und 
gnadiger gipfeln ?). 

Die religiöfe Anthropologie entipricht diefer Auffaffung. Es 
wird der Menſch als erlöfungsbebürftig und erlöfungsfähig ber 


3) Bgl. meine Abhandlung, &. 72. 

3) Wobei übrigens der Gedanke ebenfalls feftgehalten wird, baf ber un- 
endliche Wille aus der Subfanz zu unendlichem Wollensdrang hervorgetreire 
das von ber logiſchen Idee Gegebene realiſiere, ohne damit befriebigt zw 
fein, daß in Gott felbft alfo, auch fofern er nicht im der Welt aktuell iſt, ein 
Überfguß von Untuft fei, fo Tange er wolle. Bgl. meine Abhandlung, S. 19. 
Im diefer Hinficht thut er den Ausſpruch: „Alles if in Gottes Macht, zur 
nicht feine Macht ſelbſt“, Gott iſt nicht Herr über ſich ſelbſt; indem er will, 
iſt er aus der Subftang bervorgetreten, ſomit von fich abgefallen. 


Das religiöfe Bewußtſein der Menfchheit 2c. 47 


fgrieben, ohne daß Hartmann bei feiner Lehre vom Böfen, von 
der Verantwortlichfeit, von ber Einheit von Gott und Menſch das 
in feiner Phänomenologie des fittlichen Bewußtſeins erreichte 
Niveau überfchritte, wenn er aud Hie und da genauer in das 
Einzefne eingeht *). 


2) Bol. über das Böſe meine Abhblg. a. a. D., S. 75—77. Der Eudämonis- 
aus, der dem Menfchen natürlich ift, wird durch das Hervortveten des fittlichen 
Bewußtſeins böfe, foferm diefes dem Menſchen den Zwieſpalt zwiſchen der na- 
türfichen fubjeftiven egoiftifchen Tendenz und zwilchen der Aufgabe der objel- 
tiven fittlichen Weltorbnung zum Berwußtfein bringt. Der Begriff der Ber- 
antwortung und der Schuld hat nicht ſowohl Beziehung auf die böfe Natur 
als auf den Mangel an Energie und Aufmerkfamkeit im einzelnen Fall, durch 
die der Menſch es verfäumt, die egoiflifche Natur zu bekämpfen, nachdem ihm die 
Hingabe an die fittlie Weltordnung als Aufgabe bewußt geworben if. Der 
Menſch if erlöfungsbebürftig, fofern er von Übel und Schuld befreit werden 
fol. Er ift erlöfungsfähig, fofern feine fittliche Anlage, die als Erbgnade in 
ihm if, ihm zum Bewußtſein Tommen, er ſich in dem Dienft der fittlichen 
Weltordnung ftellen und auf alle Eubämonie verzichten Tann, eben damit aber 
von Schuld und von Übel, von letzterem ibenliter durch den Werzicht auf Eu- 
damonie befreit werden Tann (Glaube als Heiligungsmwille). Religiss ausge» 
drüdt: der Menfch ift erlöfungsbedürftig, fofern er nur im der ontologifchen 
Einheit mit Gott fteht, erlöfungsfähig, fofern er auch in bie teleologifche Einheit mit. 
Gott kommen, die Gnade aktwell in ihm fein fanın. Der Menſch ift immer eine 
Gunktionengeuppe Gottes“ (vgl. meine Abhdlg,, ©. 26. 29). Gott if in 
dem Individuum immer aftısell, aber auf verfchiedene Weife; entweder ift er in 
dem Menfchen, als natürlichem, wirkt fo auch den natürlichen Eubämonismus, 
oder er ift in bem Menfchen, fofern in ihm das Sittliche aber auch bamit das 
Böfe erwacht, wirkt den Zwieſpalt im Menſchen, oder endlich wirkt er, daß 
der Menſch fid) zum Mittel für die fittliche Weltordunung macht, ale Gnade. 
Im biefem Sinne vedet Hartmann, vom fittli-teleologifhen Ge— 
fihtspunktt aus gefehen von einer „untergöttlichen, velatio wibergött- 
fichen, pofitiv gottgemäßen Sphäre” im Menſchen. Gott wirkt im Menfchen, 
und der Menſch wirkt, iR ihm identiſch. Denn Gott wirkt im Menfchen 
als ein „eingeſchränktes Subjekt“, während er in ber Welt als abfolutes 
Subjeft wirkt, als das ihr zugrunde Tiegende Weſen, das als Weſen aber 
über bie Welt übergreift und ſich nicht im ber Welt erfhöpft. Als wir- 
tendes Subjekt faßt Gott eine Fülle von Eingelfubjelten in fich, welche einer- 
feits veafiter Funktionen Gottes find, aber als ſolche noch natürliche Subjelte, 
dann aber auch fi als Funktionen Gottes wiſſen und dies Bewußtſein als 
Motiv für ihr Handeln verwenden, oder in denen Gott fi fo weiß, daß er 
zugleich Motiv für ihe fittliches Handeln wird, womit zugleich das Natürliche 


“s Hartmann 

In der religiöfen Kosmologie werben zumächft die Begriffe 
dee Schöpfung, Erhaltung, Regierung durch den Sag erfegt, daß die 
Welt die ftetige Erfcheinung des göttlichen Weſens fei, welches fih 
in der Naturordnung und fittlichen Weltorduung offenbart, die für 
einander beftimmt find, jedoch fo, daß bie fittliche Weltorduung 
zugleich in Gegenfag zu der natürlichen tritt, eben dadurch aber 
als ſittliche ſich kund thut. Der in der natürlichen Weltordnung 
begründete Eubämonismns, der in allem Wollen enthalten iſt, ſoll 
dur den fittlichen Weltprogeß überwunden werden, um alle 
Wollen zu quiescieren und fo Gott von feinem unfeligen Wollen 
zu befreien. Hier rebet er äfthetifch von der abfoluten Tragil 
der Gotteserlöfung. 

In der Religions et hik wird der fubjeftioe und der objeftide 
Heilsprozeß unterſchieden. Der fubjektive Heilsprozeß verläuft 
natürlich in dem Schema von Identität von Gnade und Glauben, 
zunächſt als Erleuchtung, dann im Gefühl als Friede, endlich als 
Heiligungswillen, welcher Beſſerung durch Selbſtzucht Herverbringt. 
Bon einer prinzipiellen Umkehr ift Hier nicht die Rede, wenn auf 
auf die Gefinnung hingewiefen wird). Da Egoität und Egoi® 


relativ als Vöfe erſcheint, obgleich es Jugleich inſofern teleologiſch begelinbet iR, 
als das Sittliche nur durch ben Gegenſatz gegen das Natürliche zum Bewußt⸗ 
fein kommen kann. Gott als „eingeſchränktes Subjekt“ durchläuft alfo die 
natürliche und fittfiche Stufe, ohne deshalb im dieſer Partialfunktion aufzu- 
gehen, welche ber Menſch iſt. Hartmann kamn hier zwar betonen, daß der 
Menſch ſich mie mit Gott identifizieren könne, da er mm eine Partialfunktien 
Gottes fei; aber anderſeits muß ev auch dem wirkenden Gott ſich verendliden 
laffen; Gott als wirkender geht in die Vielheit und Enbfichkeit, in alle Gegenfäe 
des Weltprozefies, ja in das Böfe ein, und wenn er aucd über jede Part | 
funktion übergreift, fo iR er als wirfender doch in eine Fülle won Partial- 
funktionen verendficht. So ift Gott abſolut und endlich zugleich. Das ft 
ein Widerfprudi, der natürlich nur zu Ungunfen der Eublichfeit gehoben wir. 
Die Endlicjteit Gottes if in letzter Hinficht nad ihm nur eine Folge feine 
Wolleus, das er als Abfall Gottes von ſich betrachtet, das quieseiert werden 
muß. 
1) Bal. „Das religiöſe Bewußtſein der Menſchheit“, ©. 624: „Auf jeder Stat | 
iR das Immanenzprimip des religiös- fittlichen Lebens in irgendwelchen Geeie 
thätig, auf jeber findet es aber auch noch Störungen ber vollendeten Gottinenkte 
Seit zu befeitigen, d. h. Gelegenheit, ſich als Exlöfungsprinzip zu betpätigen“ 


Das veligiöfe Bewußtfein der Menfchheit 2c. 649 


mus nicht auseinandergehalten werden, könnte eine ſolche prins 
ipielle Umkehr auch nur im Untergang des Ich gefunden werden. 
Er betont daher die Allmählichteit des Prozeſſes. Die Umwandlung 
ft, wie die Perſönlichkeit überhaupt, bloß Mittel fiir dem objektiven 
Prozeß, was von einer „Zunktionengruppe des Abſoluten“ ſich nicht 
anders erwarten läßt; ihre Aufgabe ift die Realiſierung der teleor 
logischen Weltordnung, d. h. zunächſt des Kulturprogefies. In dem 
Abſchnitte von dem objektiven Heilsprozeſſe wird daran erinnert, 
wie Steigerung des Bewußtſeins das providentielle Ziel ſei (natürs 
lich, um durch dasſelbe das Abfolute zum Quiescieren zu bringen 1)). 
Dies ift durch den Kulturprozeß zu erreichen, dem die Kirche jo 
fange dient, als fie nicht durch Wiffenfchaft, Kunft, fittliches Handeln 
erfegt werden fann. Die fchließliche Überflüffigkeit der Kirche ver⸗ 
fucht er darzuthun, fofern ihre drei Funktionen Kirchenzucht, Kultus, 
Dienft am Wort überflüffig werden follen. Die Kirchenzucht ift 
durch die Autonomie ausgeſchloſſen, die Äſthetik im Kultus geht 
in die Kunft über, da fie der Reinheit des religiöfen Kult ſchade, 
im refigiöfen Kult wird Gebet und Opfer überflüffig, letzteres ale 
ber eudämoniftifchen Stufe zugehörig, erfteres durch da8 Immanenze 
prinzip, welches ebenfo die ſymboliſchen Handfungen als äußere 
Gnadenmittel abrogiert. So bleibt der Dienft am Wort, ber, 
ſoweit es fi um refigiöfe Erziehung Handelt, durch die Schufe 
zu bejorgen ift, foweit es fi um Bearbeitung Erwachſener handelt, 
in dem Maß den geiftlihen Stand überflüffig macht, als die Er⸗ 
wachfenen felbft befähigt werden, religiös zu reden. Genug, ba der 
fubjeftine Heilsprozeß (f. 0. ©. 644) im praftifchen Glauben gipfelt, 


Bern an anderen Steffen vielleiht mehr von Umkehr der Gefinnung die Rede 
iſt, ſofern ber Wille, feiner Grundrichtung nach, nicht feine egoiftiichen Zwecke 
Haben, ſondern der fittfichen Weltordnung dienen will, fo ift das doch dem 
ganzen Syſtem nach nur relativ gemeint. Diefe Ordnung ift felbft im Werben 
und fett auch twieder den Eubämonismus als zu überwindenden voraus (vgl. 
meine Abhdlg., S. 72—77); auch er, d. 5. das Boſe gehört zur Weltorduung 
S. 75). 

' 1) at. meine Abhblg., S. 30. Übrigens feheint Hartmann zu ſchwanken, 
indem wir bald hören, daß Gott im Menſchen beruft wird, bald, daß Bott un- 
bewußt bleibt (3. B. „Religion des Geiſtes“, S. 307f.; „Das religidſe Ber 
vuhijein bee Menſchheit“, &. 628). 


660 Hartmann 


biefer felbft aber lediglich Mittel fir den objektiven Keilsprog, 
die Realifierung der fittlihen Weltordnung in dem Kufturprogg 
ift, der die Steigerung des Bewußtſeins hervorruft, fo ift für die 
Kirche keine Stelle; die fubjeftive Religion ift identifch mit der 
fittlihen Gefinnung, welche ſelbſt Mittel ift für den Kultur 
Prozeß, den Prozeß ber Steigerung des Bewußtſeins, die wieder 
aur Mittel ift, um den Weltprogeß überhaupt zu fiftieren und das 
Abfolute von feinem unfeligen Wollen zu erlöfen. 

Man hat gelegentlich behauptet, daß man es fich zu Leicht made, 
wenn man hauptfädlic Hartmauns Peſſimismus zu widerlegen fuck, 
da diefer für ihm feine mwefentliche Rolle fpiele. Wer einigermaßen 
den Zufammenhang feines Denkens verfteht, kann aus „der Re 
Tigion des Geiftes“ deutlich erkennen, baß ber Belfimismus und 
feine Metappyfit eng zufammengehören, wie ich früher dargethan 
habe. Aber foviel ift richtig, daß Hartmann fo fehr von der 
Philoſophie feit Kant und von dem Chriſtentum beeinflußt ift, 
daß er für ben jegigen Weltäon nach pofitiven Werten fucht, die 
aber nur relativ find. Er verfucdt das auf dem Wege ber 
Evolutionstheorie zu erreichen, ohne freilich den Klippen, an melden 
jede Evofutionstheorie ſcheitern muß, zu entgehen. Ich will mid 
bier darauf beſchränken, Hartmanns Religionsphiloſophie aus dem 
evolutioniftifchen Geſichtspunkt zu betrachten und in diefer Ber 
ziehung einige Fritifche 1) Bemerkungen beizufügen. 

Was den gefcichtlichen Prozeß der Religion angeht, fo verfugt 
Hartmann — hierin mit einer mächtigen Richtung ber Zeit im 
Einklang — benfelben auf rein immanentem Wege zu erklären. 
Der Fortſchritt vollzieht ſich dadurch, daß in einem beftimmten 
Entwickelungsmomente providentiell beanlagte Männer oder Völker 


Hervortreten, um ben Prozeß weiter zu führen; und zwar ift Hart 


mann nicht der Meinung, daß diefe Völker befonders auf Höheren 
Stufen fon gleich im Anfang ihrer Entwidelung das neue reis 
giöfe Entwidelungsmoment entfaltet Haben; vielmehr beginnen alle 


3) Im übrigen veriveife ich auf meine Abhdig. a. a. D., S. 37f. Hi. 
65f. 77f., wo id die Prinzipien der Hartmannfgen Philoſophie ausführt 
beurteilt Habe. 


Das religiöfe Bewußtſein der Menſchheit 2c. 61 


mit dem Henotheismus; nur ermöglicht ihnen ihre verfchiebene 
Anlage im Verein mit ben verfchiedenen äußeren Einflüffen von 
diefer Stufe aus eine eigentümlihe Entwidelung durchzumachen, 
die in dem Charalteriſtiſchen gipfelt, das fie für den Fortgang bes 
Brogeffes leiften, und wenn fie hier angelangt find, greifen fie in 
den Prozeß ein‘). Diefe Methode differiert von der Hegels, 
welcher die jedesmal Höhere Stufe in dem beftimmten Volke durch 
den Prozeß ber Idee fofort erſcheinen läßt, ohne fh darum zu 
ftümmern, wie dieſes Volt zu diefer Stufe gefommen ift. Wenn 
bier gewiß auffeiten Hartmanns der Fortfehritt liegt, fo iſt das 
mit doch zugleich gegeben, daß der immanente Fortgang des Pro⸗ 
zeſſes nicht in bderfelben ftriften Weife feftgehalten werden kann. 
Die Mannigfaltigleit der Völker tritt zu ungunften ber Einheit 
de8 Progefjes hervor. Wir finden ftatt eines fortlaufenden Pros 
zeſſes eine Reihe von Entwicelungen, welche felbftändig neben ein 
ander herlaufen und höchſtens providentiell zufammengeordnet find. 
Das zeigt fich befonders, wenn Hartmann nad Befprehung bes 
Buddhismus fagt, daß wir „umkehren“ müßten, um von einem 
andern, dem theiftifchen Ausgangspunkt zum Ziele zu gelangen, 
der über alle Religionen, welche Offenbarung haben, bemerkt, 
daß fie in ihre Grenzen eingeſchloſſen fein, und insbefonbere ver» 
idert, daß weder Buddhismus noch Chriftentum von fih aus zu 
em Eonkreten Monismus kommen Könnten. (©. 625. 364.) Wenn 
ver Übergang zu einer Höheren Religionsſtufe nicht auf allmäh- 
ihem Wege aus dem bisher Gegebenen erflärbar ift, warum ver⸗ 
chmäht es dann Hartmann, anzuerkennen, daß das Abfolute jedes- 
aal eine höhere Stufe durch eine neue Offenbarung, durch einen 
euen geiftigen Akt im Menſchen Hervorrufe, wenn es doch über 
reifen muß? Im feiner Naturphilofophte erfennt er an, daß das 
lbſolute eingreife und für eine Höhere Entwidelung einen neuen 
ypus fee. Hier foll in der providentiellen Naturanlage für die 
ligiöfe Entiwicelung ein neues Moment enthalten fein. Dadurch 
ird aber der religiöſe Prozeß bedenklich naturalifiert. Das hängt 
des damit zufammen, daß er den Charakter und bie Eigentüm⸗ 

2) Am Harften wird das Prinzip bei dem israefitifhen Monotheismus 
wchgefüßet, auch bei den Ägyptern. 


2 Hartmann 


lichteit „pigchofogifch determiniert“ fein laſſen will auf Grund ihrer 
natürlichen Entftehung *). 

Es ift der Jmmanenztheorie eigentlich, daß fie aus den in ber 
Belt vorhandenen Urfachen alles zu erklären verfucht; daher wird fie 
als Evolutionslehre dazu neigen, alle Unterſchiede als quantitative aufe 
zufaſſen. Denn in dem Maße, als man daB Reue als etwas von allım 
Bisherigen qualitativ Verſchiedenes auffaßte, kann man es aus den vor 
handenen Urfachen nicht erflären, muß das Abfofute direkt aus feiner 
Fülle heraus ein Neues fegen laſſen und macht e8 dadurch zu einem 
Zranfcendenten, das über die der Welt immanenten Urſachen did 
eine befondere Kanfalität übergreift. Die ſtrikte Immanenztheorie 
tann keine feften Begriffe haben; die Allmahlichkeit der Übergänge 
Hindert fie daran. Natur und Geift können hier nicht rein unter 
ſchieden werden. Bei Hartmann ift der Wille des Abfoluten nicht 
von blindem Naturtrieb und feine Intelligenz nicht von natürlichen 
Inſtinkt klar unterfchteden. Ebenſo wenig ift im Weltprozeß cine 
ſcharfe Grenze zwifchen Natur und Geift gezogen. Daher fein 
Schwanken, ob Tiere Religion haben (f. 0. ©. 632). Daher 
feine Unflarheit über die Entſtehung der Religion. Sie fol 
im Eudamonismus ihre Wurzel Haben und zugleich in der Fähig 
keit unintereffierter Beobachtung und äfthetifcher Beurteilung. Nah 
der erften Seite wäre fie reines Naturproduft. Allein es mürk 
für den Naturmenſchen völlig genügen, wenn er bei feinen ver 
einzelten Wünfchen jedesmal den einzelnen Objekten eine Art von 
Borftehern andichtete, um auf diefem Umwege dur Beeinfluſſung 
diefer das Objekt beherrſchenden Ginzelmächte feinen Zwed u | 
erreichen.  Henotheismus als Urform der Religion ift fo mid 
begreiflih. Wenn Hartmann nun die Fähigkeit umintereſſiernt 
Beobachtung und äfthetifcher Beurteilung zur Erklärung des Hen® 
theismus zuzieht, fo genügt aud) das nicht. Vielmehr iſt es, wem and 
nur in Form der Ahnung die Vernunft, weiche ihr Streben nach | 
fammenfafjender Einheit beihätigt, indem fie alles, was in ik 
Geſichtskreis kommt, einer wenn auch noch naturartig vorgeftelkten Got 
heit unterordnet. Es ift ein übernatürliches Prinzip, das fich Hier zeigt, | 


4) Vgl. meine Abhdlg., S. 37—40. 


Das religibſe Bewußtſein der Menfchheit ac. 658 


das Hartmann mit dem Namen der unintereffierten Beobachtung 
und äfthetifher Beurteilung bezeichnet, ohne in beftimmter Weiſe 
auf die Übernatitrfichkeit ber Vernunft Hinzumeifen. Wenn aber gleich 
im Anfang der Religion die Einheit fordernde Vernunft fich fo deut 
lich ankundigt, fo kann andy nicht der Egoismus als ihr wefentlicher 
Entftehungsgrumb amgefehen werden. Wenn ferner Hartmann den 
Fetiſchismus für Verfall erklärt und nit an ben Anfang ftelt, 
fo ift das zwar richtig, aber in dem Immanenzprinzip des alle 
mahlichen Fortſchritts nicht begrimbet. 

Die Allmäpfichleit des Immanenzprinzipes fordert ferner eine 
allmahliche Überwindung des Eubämonismus; nicht eine Umkehr 
ſoll nötig fein, die das Ehriftentum fälſchlich fordert *). Diefes 
Zurückſinken auch hinter Kant, der eine intelligibfe Umkehr fordert, 
bat aber wieher feinen Grund darin, dag natürliche Egoität und 
ſittlicher Egoismus nicht ſcharf unterfhieden werden. Da verfteht 
&8 ſich ganz von felbft, daß der Egoismus nur „approgimativ“ 
überwunden werben Tann, fo lange das Ich noch ba ift. Daher 
aud) der „Eontrete Monismus“, ja gerade er, nicht leiftet, was er 
oll, da, fo lange konkrete Welt da ift, auch Eudämonismus da iſt. 
Er ift ein Notbchelf für diefen Weltäon und ift durd den ab» 
traften Monismus ſchließlich zu erjegen, der mit allem Konkreten 
iuch allen Eudämonismus vernichtet. 

Der Evolntioniemns betrachtet alles nur als Moment im 
Progeffe; alles ift nur Durchgangspunkt, nur Mittel für den Fort⸗ 
chritt, Hat feinen Wert an fih, fondern hat nur relativen Wert 
18 Moment des Prozefied. Wenn daher auch die Perfonen dazu 
ienen, daß das Abſolute in denfelben zum Bemußtfein kommt ?), 
» ift doc anf der andern Seite das Bewußtfein nur etwas End» 
iches, das dem Abjolnten nicht eignet. Die Perfonen haben feinen 
(eibenden Wert, find Mittel für den objektiven Prozeß, daher auch 


3) „Das veligiöfe Bewußtſein 3c.“, S. 623f. Dem entfpridt der Ber 
Aff des Böfen, das auch nur relativ gefaßt wird, und das fi im Prozeß 
ich als etwas relativ Gutes erweiſt. Bol. meine Abh., ©. 63. 73f. 

2) Bgl. „Das religiöfe Bewußtſein der Menſchheit“, S. 625. Der veli- 
öfe Prozeß fei der Prozeß des allmählichen Zu-fich-felbertommens des 
eiſtes. 


654 Hartmann 


Hartmann die Perfönlichkeit Eprifti nicht entfernt zu wirdigen 
weiß. Überhaupt entftcht die Perfönlichkeit und das Bewuftfein 
nur dur einen Naturprogeß und das menfchliche Bewußtſein 
wird Tedigfich quantitativ vom Bewußtſein ber Tiere zc. unter 
ſchieden Y. Es ift ferner durchaus natürlich, daß KHartman 
bei dem beften Willen nicht imftande ift, von dem Evolution 
ftandpunft ans das religiöfe Phänomen im feiner Selbftändig 
teit zu begreifen. Iſt e8 Gott, der im allem fich ſelbſt mol: 
viert, fo ift gar kein Grund vorhanden der Religion eine be 
fondere Stelle zu laſſen. Alles ift Gottes Evolution, das Wille, 
das fittliche Handeln, die Kunft. Der Religion kann Teine bejondere 
Stelle bleiben. Man könnte es verfuchen, die Immanenz Gott 
in der Perfon ale Religion zu bezeichnen. Allein dann müßt 
man nicht auf feine Immanenz im Wien oder Wolfen das Ge 
wicht fegen, weil bei erfterer Annahme die Religion im Biffe, 
bei letzterer im Handeln unterginge, fondern im Gemüt als dm 
Zentrum der Perſon; daran aber ift ber Evofutionift wieber ger 
hindert, weil er die Perfon nur als Durchgangspunkt und Mittel 
für den objektiven Prozeß auffaßt, fo daß der Gefühls- oder Ger 
mütsrefigion nur die Stellung eines vorübergehenden Mittels blick, 
wie es aud bei Hartmann der Fall ift. 

Schließlich fei noch auf einen bedeutfamen, fehr folgenreiden 


Mangel eines jeden Evolutionsftandpunftes hingewieſen, der hi | 


Hartmann befonders ſcharf Hervortritt. Das Abfolnte fol fih 
evolvieren. Wenn dies das Abſolute will, was hindert basjele, 
fofort feinen gefamten Inhalt zu offenbaren? Die Annahme ein 
Prozeſſes ſetzt ein retardierendes Element vorans, das der reine Begrifl 
des Abfoluten ausfchliegen würde. Hier ift ein dualiftifcher Rt 
nicht überwunden. Das Abſolute ift durch die „unbegreifliche 
Schranke“ gehemmt (Fichte) oder es wird bie Negation zugezogen, 
um den Prozeß zu erflären (Kegel), welche nicht aus dem Abe 
Tuten ftammen kann, ober e8 wird ein „Abfall“ des Abfoluten vw 
ſich jelbft angenommen (Schelling). Die letztere Mobifikation ke 
in etwas veränderter Form aud Hartmann angenommen, foter: 


3) Bgl. meine Abh., ©. 26f. 29f. 





Das refigiöfe Bewußtſein der Menſchheit ꝛtc. 665 


er zur Erflärung des Weltprogefjes aus der abſoluten Subftanz 
den Willen Hervortreten läßt, dem das Logifche, nachdem der Wille 
einmal will, Inhalt giebt. Diefes Hervortreten des Willens aber 
ift ein Abfall des Abfoluten von ſich felbft. Eben in diefem, für 
den Prozeß notwendigen, dem Abfoluten aber fremden Elemente 
ift der Schwache Punkt der Evolntionstheorie. In allem, was aus 
der Evolution Hervorgeht, ift ein unaufgelöfter Widerſpruch: es ift 
alles nur Probuft des gehemmten, von fich abgefalfenen Abfos 
Inten; es ift mit Endlichkeit behaftet und Bat an dem Abfoluten 
ſelbſt gemeſſen nur relativen Wert; es ift aus ihm hervorgegangen, 
aber verſchlechtertes, verendlichtes Abfolutes. Das aber ift der 
Standpunkt der Emanation, in den bie Evolutionstheorie umfchlägt. 
Allem Endlichen Haftet das Nichtfein, die Schrante, ber Abfall 
des Abfoluten von felbft an. Eben daher muß auch der evolutios 
niſtiſche Optimismus in Peſſimismus umfchlagen. 

Betrachtet man Hartmanns Philofophie als Evolutionsfyftem, 
o fann man ihm das Lob nicht verfagen, daß er die Evolutions⸗ 
heorie prinzipiell zu Ende gedacht hat. Nachdem einmal das Ab- 
olute mit feinem Willen den Abfall vollzogen Hat, wird eine reiche 
ĩvolution anerkannt, indem er bie Naturordnung und fittliche Welt 
rduung auf einander folgen läßt (freilich ohne beide fharf genug zu 
nterfcheiden), und fo weit möglich eine Harmonifierung beider ver« 
icht, indem er ferner nichtirgendein geiftiges Gut einfeitig geltend macht, 
dern alle in ihrem relativen Wert anzuerkennen fucht, Kunft, 
diffenfchaft, fittliches Leben, felbft, fo weit es geht, Religion, wenn 
ich nur als notwendiges Mittel zum Handeln. Beſonders aber er⸗ 
ant er die Konfequenz der Evofutionstheorie, welche allem Guten nur 
lichen Wert zufchreiben Tann, weil fie Produkte eines gehemmten 
er nach ihm von fich abgefalfenen Abfoluten find, und behandelt 
nnady den Optimismus als Durchgangspunkt zu dem Peſſi—⸗ 
smus bes Endes. Indem er konkreten Monismus will, 
rd er dem Theiemus nur in dem Mae gerecht, in welchem er 
trete Werte anerkennen ann, die, wie er ſehr wohl fieht, unter 
Höheren Religionen allein der Theismus, inabefonbere das Chriſten ⸗ 
ı fügt. Der Theismus foll nad) ihm dazu dienen, den Wert des 
atreten zum Bewußtſein zu bringen. Allein ber Theismus kennt 


666 Hartmann, Das religidſe Bewußtſein zc. 


abfolute Werte. Das ift dem konſequenten Evolutionismus nicht 
möglih. Daher Hartmann den Theismus als Durchgangäftufe zum 
Monismus behandelt, der eben die negative Schlußperfpektive off 
Hält. Hartmanns Lontreter Moniemus ift, fo weit er konfretif, 
zu demfelben Schickſal von ihm verurteilt, wie der Theismus: Durd- | 
gengäftufe zum reinen Monismus zu fein. Als Fonkreter ermög 
licht er ein pofitives Verhalten in der Gegenwart, als Monismt 
ftellt er die ſchließliche Aufgebung aller „phänomenalen® Eriftenn 
in Ausfiht. Der Evolutionismus, aud in der Form, bie im 
Hartmann gegeben, ift ein großer Widerſpruch; das Abſolute wol 
viert fi) vermittels eines Abfalles, und muß die Evofution wie 
aufheben 1). in ſolches Abſolute ift aber nicht abfolut nud cm 
ſolche Welt hat kein wahres Sein. Der Standpunkt der Evolution 
weift über fi) Hinans; es ift ein Verdienſt von Hartmann, dar 
felben fo fonfequent ausgebildet zu haben, daß dies unzmeideutig er | 
hellt. Ein Werben mit blog negativem Ziel kann die Vernunft niät | 
befriedigen, fo wenig als ein Werden ohne allen Zweck, fondern um 
ein Werden, welches zugleich; ein wahres Sein in ſich dat, d.6 | 
eine Welt, in welcher ſchlechthin wertvoller, wahrhaft feiender Je 
halt ift, der fi in verſchiedenen Formen entfaltet. Cine folk 
Welt aber garantiert nur der chriftliche, ethifche Theismus ?). 


1) Auf ben Dualismus bei Hartmann Habe ich hingewieſen (f. min 
Abhandlung, ©. 99). 

3) Der Raum geſtattet nidit, bie Bedenken, welche Hattınann dem Their 
mus entgegenhäft, Hier ausführlich zu beſprechen. Sie Ianfen zum greice 
Zeil darauf Hinaus, daß Perfönfickeit und Abſolutheit fi nicht reimen Ife 
Wenn die Perſonlichteit nur duch eine Schranke entfliehen Tann, Kat Hartmar 
vet. Men Loge hat („Wikcolosmes“ IIL, BE5F.; „Grundzüge der IE 
gronephilofopfie*, $ 2985) dieſen Sertwm ſqhon tieffimsig bekämpft. And 
anf theiſtiſchem Staudpuult ift eine nicht Beteronome Bereinigung von Gott m 
Menſch denfbar, die den Vorzug hat, zugleich dem Menſchen feine bereiz 
Autonomie weit grünblicher zu garantieren, als es Hartmann mit kirz 
Begriff des Menſchen als einer „Funktionengruppe Gottes” vermag. S 
meine Abh. a. a. O., &. Y1f. (60f.). Über das Wefen ber Religion in der 
Zeitſchrift 1883, Heft 2, ©. 262f. 

Wittenberg. Dewa. 





Theologiſche 
Studien und Kritiken. 


Fine Zeitſchrift 
für 
das geſamte Gebiet der Theologie, 
begründet von 
D. €. Ullmann und D. F. W. C. Umbreit 
und in Verbindung mit 
D. 6. Baur, D. W. Beyſchlag, D. J. A. Dorner und D. 3. Wagenmann 

herausgegeben 


D. 3. Köftlin - D. €. Riehm. 


Bahrgang 1883, viertes Heft. 






<OREIS) 
ER 


Gotha. 
Triedrih Andreas Perthes. 
1883. 


Abhandlungen. 


1. 
Die Liebesthätigleit der deutſchen Reformation. 


Bon 
Brofeffor H. Hering 
In Halle. 


L 
Dorgefchichte. 
Don den Arenzügen bis zum Ausgange des Mittelalters. 


Die Reformation gilt mit Recht zunächft als eine That des 
Hriftlich-religiöfen Geiftes, die aus dem Innenleben einer mäch⸗ 
gen Perfönlickeit in ein ganzes Zeitalter mit den Lebenskräften 
»es urfprünglichen Evangeliums als umbildende Macht eintritt und 
ine neue geſchichtliche Epoche begründet. Die Fruchtbarkeit diefer 
Beiftesthat erſchöpft ſich nicht in Lehrbildung und Gemeindegrün« 
ung. In Sauerteigswirtung auf das Volfsleben bewährt fie ſich 
ielmehr als ein Gotteswerk nad jenem Wort des Herrn: „Setzet 
inen guten Baum, fo wird die Frucht gut." Die neuere For 
Yung bat diefer Seite mehr Aufmerkſamkeit zugewandt ala bie 
(tere Geſchichtſchreibung, und doc bleibt noch zu thun. Beſon⸗ 
ers bedarf ein Punkt forgfältiger Erforfhung: die Liebes» 
Jätigkeit der Reformation). Wenn der berühmte Maler, 


2) Menerdings Hat B. Riggenbach im feiner Borlefung über „das 
eımeumwefen der Reformation“ (Bafel 1883, Berlag von Schneider) 
ı Bild der Beſtrebungen ber Reformation aus ben Kirchenorbnungen ent 
wfer, eigentlich bie erfte Arbeit von Belang über den Gegenfland ale 
arızee. Und doch hat Am. L. Richter ſchon 1845 bie Hauptquellen fur eine 


62 Hering 


der uns das Zeitalter der Reformation bdargeftelit Hat, unferen 
Luther in hoch emporgehaltener Bibel den Zeitgenoffen den Spruh 
predigen läßt: „Du follft deinen Nädjften Tieben wie dich felbft!’ 
fo ift Hierin trog der Einfeitigfeit ein Wink enthalten, welde 
mahnt, ein Bild der Reformation zu zeichnen, auf dem das Glau⸗ 
benswert auch als Liebeswerk erkannt wird. 

Eine ſolche Arbeit ift in Hervorragendem Maße die Abtragung 
einer Schwd der Dankbarkeit und Pietät gegen bie Väter unfert 
evangelifchen Kirche und ein Werk des Friedens. Und doc ift 
fie nicht möglich, ohme auf die Schäden und Verfchuldungen ber 
romiſchen Kirche des Mittelalters Hinzuweifen; denn Reform wird 
in ihrem Recht und ihrer Bedeutung auch auf diefem Gebiete nur 
erfannt, wenn die Zuftände, die der Reform bedurften, hervor: 
treten. Die Pflicht, hieran nicht in falſcher Schonung vorüber 
zugehen, wird durch die DVerfuche römischer Federn, die Refor 
mation durch eine miebrige werzerrende Darftellung zu verunglim⸗ 
pfen, noch dringlicher. Unbillig wäre es allerdings, wollte die 
Betrachtung nur bei diefen Zuftänden verweilen und bie groß 
artigen Leiftungen des Mittelalters ignorieren. Möge fie vielmeht 
in jener Blütezeit des Mittelalters anheben, in welcher die fird- 
lichen Ideale noch vom Schwung der Begeifterung getragen wer 
den, die Kirche als eine Geiftesmacht auf allen Gebieten ſich an 
meift, die Möfter Träger chriftlicher Kultur find und zugleich 
unter der Pflege der Hohenftaufen das deutſche Bürgertum über 
feine Anfänge Hinansgelangt ift und zur Selbftändigfeit mit glän- 
zenden Erfolgen fi durchkämpft. 


1. 


Schon aus den Anfangszeiten der chriftlichen Kirche wird eine 
große Anzahl von Pflegeftätten auf die fpäteren Jahrhunderte vers 
erbt. Beſonders der alte hriftliche Kulturboden des Oberrhein 
ift mit ihnen befegt. Die Möfter Hatten dort ihre erften Kranken 


foldhe Darſtellung im feiner Ausgabe der „Eoangelifchen Kirdpenorimngen de⸗ 
16. Jahrhunderts“ veröffentlicht! Zahlreiche und wertvolle Eingelbeiträge em · 
Halten die Biographien der Reformatoren und reformatoriſchen Mässer. 





Die Liebesthätigfeit ber deutſchen Reformation. 668 


häufer und Pilgerherbergen gegründet 1), wie es die Chrodegangſche 
Regel den Benediktinern vorfchrieb. Später wachſen dieſe An« 
ftaften nicht nur aus dem Organismus des Klofterlebens hervor, 
and Bifchöfe und Kanonifer rufen fie durch Stiftungen ins Beben, 
und die ſachſiſchen Kalfer Halten darauf, daß die Zehnten von 
allem Freigut, die Saal- ober GSeelzehnten, den Zwecken ber 
chriſtlichen Liebesthätigkeit erhalten bleiben ). Dann aber beginnt 
in der Epoche ber Kreuzzüge eine neue Zeit des Stiftens und 
Grändens für die Anftalten der Charitas. Die Bewegung, in 
welcher die Völker des Abendlandes durch Jahrhunderte erhalten 
werben, mit ihren Antrieben zu Werken und Leiftungen, mit dem 
gefteigerten VBebürfnis der Fürforge und Pflege und mit den Ger 
legenheiten zur Bereiherung für die Kirchen der Heimatländer hat 
gewiß auch in Deutſchland manches Hofpital entftehen laſſen. Be— 
fonder8 aber ift das 13. Jahrhundert von Bedeutung. Die deut⸗ 
hen Städte blühen auf, das Bürgertum kommt zu Wohlftand 
und fogialer Geltung, mit eigener züher Kraft vorwärts dringend, 
nachdem die Gunft der Staufen ihm emporgeholfen hatte. Die 
alten Geſchlechter, die Geiſtlichen, auch die Kaifer felbft find alle 
in edlem Wetteifer an den Liebeswerfen, wie man fie zu jener 
Zeit auffaßte, beteiligt. Die zweite Fundation des Ulmer Hofpi» 
tal8 geſchah fo 1240 dur Bürger der Stadt unter Beihilfe bes 
Kaiſers Friedrich ?). Und alle diefe Stiftungen, wen fie immer 
ihren Urfprung verdanfen, ermachfen auf dem @eiftesboden ber 
Hriftlichen Srömmigfeit des Mittelalters. Schon der Name ber 
Mehrzahl: Geifthofpital, hospitale St. Spiritus, verkündet diefen 


1) Kettberg, Kirchengeſch. Deutfhlande II, 683f. Mone, Zeitſchr. 
U, 268. 

2) Bobmann, Rheingauifche Altertümer (Mainz 1819) II, 871. Hein- 
ich befichft der Abtei S. Marimin: „de ecclesiis vero et de omnibus per 
otam abbatiam salicis decimationibus nulli omnino beneficium aliquod 
:oncedi permittimus, sed in usus hospitum, pauperum et peregrinorum 
‚erpetualiter constituimus et saneimus“. ũhulich Heinrich IN. gl. 
Bait, Deutſche Berfaffungsgeic. VII, 349 ff. 

3) Jäger, Schwählides Städteweſen im Mittelalter, ©. 464. Bol. 
innen, Geld. von Köln III, 807. 


664 Hering 


Zufammenhang, mie ihn ber Lombarde in dem Say von der 
Hoentität der Siebe und des h. Geiftes ausgeprägt hatte‘). Ein 
Zeugnis für die Macht diefes Geiftes ift die Zahl der Hofpitäter. 
Stetig wachſend mit immer neuem Zuflug an Stiftungen erreicht 
dieſelbe eine erſtaunliche Höhe. Im 14. Jahrhnndert ift kaum 
eine Stadt ohne Hofpitel; größere Städte befigen ihrer eine An 
zahl. In Köln, dem deutfchen Rom, gab es ihrer acht 2); am 
Oberrhein waren viele Dörfer mit noch nit 200 Einwohnern 
mit dem Haus der riftlichen Barmherzigkeit ausgeftattet ®). Und 
viele der ftäbtifcgen Hofpitäfer find fehe reich, gleich den SM öftern 
im Befig von Wiefen und Weiden, Gärten und Weinbergen, 
Gütern und Mühlen. Hofhörige Leute bearbeiten die Grund 
ftüde; Erträge des Feldbaus, Naturallieferungen als Pächte und 
Zehnten machen jene ftattliche Pflege möglich, von der die Küden- 
zettel der Hofpitäfer Zeugnis geben. Schwerlich genoß der Hörige 
Mann, der den Ader des Hoſpitals pflegte, gleiche Koft, wie fie 
die chriſtliche Liebespflege dem Kraufen und Armen darreichte, des 
Bratens und Weins an Fefttagen nicht vergefjend 4). 

Nicht minder eifrig wird im Mittelalter für eine andere Kate: 
gorie von Pflegebedürftigen geforgt, für die Pilger; und auch für 
diefen Zweig der chriftlichen Liebesthättgkeit bedeuten die Kreuz⸗ 
züge eine neue Epoche. Denn fon feit Konftantins Zeiten 


1) Petrus Lombard., lib. I, dist. 17 u. 10. Zunächft zwar meint der 
Lombarde das innertrinitarifche Verhältnis, wenn er die charitas die Subftan; 
im Bater, Sohn und Geift nennt (I, 10). Damm aber iſt der 5. Geift aut 
charitas, qua diligimus Deum et proximum. Die brüberlide Liebe iR 
daher felbft Gott (dev Lombarde verweift auf Röm. 5, 5), und durch die cha- 
ritas wohnt die Trinität in uns (I, 17). Bon diefer Auſchauung aus if der 
Rome „Geiſthoſpital“ zu erfläcen, nicht aus dem Ramen der Brüderfchaft vom 
h. Geiſt. Bielmehr geht auch diefer Name auf jene Lehrbetrachtung Zuräd. 

2) Ennen, Seh. von Köln III, 807 ff. 

3) Mome, Zeitſchrift II, 265. 

4) Über die Wohlhabenheit der Hofpitäler vgl. Jäger, ©. 467. Kür 
im SHafberfläbter Urkundenbuch, beraußgeg. von Schmidt II, Wr. 40. 45. 
50 u. 0. Die ausführficeren bentfchen Gtäbtegefchichten überhaupt find je 
vergleichen. Zur Hofpitalbewirtung iſt zu vergleichen Jäger, ©. 479. 


Die Liebesthätigfeit der deutſchen Reformation. 665 


bewegt immer fteigend ein Wanbertrieb die Welt bes Mittelalters, 
der die Heiligen Stätten zum Ziele und im Glauben an die Ver- 
dienftlichfeit des Beſuches derjelben feine Wurzeln hat. Er erfaßt 
aud die germanifchen Völker, denen die Luft am Wandern im 
Blute Ing. Wie früh fittlihe Schäden und Mißftände hierbei zu- 
tage traten *), die Pilgerfahrt behielt im kirchlichen Bewußtſein 
doch ihre Geltung. Sie biieb Bußübung und nicht bloß den 
Bilgern ſelbſt verdienftlih. Lohnmürdiges Werk war es, ihnen zu⸗ 
hilfe zu kommen. Wer auch nur eine Fähre über den Fluß ein 
tigtete, eine Brüde baute, eine Wegſtrecke befjerte, hatte Verdienſt. 
Die Könige der Langobarden, dann die Merovinger Hatten dieſe 
Liebespflicht geſchärft, ich der Pilger eifrig angenommen, fie von 
Zoff und Brüuckengeld befreit, der Gaftfreiheit aller, befonders der 
öfter, empfohlen propter amorem Dei et propter salutem 
animae. Die Klöſter Hatten ſchon damals befondere Räume oder 
Häufer, für die Pilger. Beſonders an den Päffen, auch in denen 
der Alpen, baute man Hofpize; das auf dem Mont Cenis ift zu 
Ludwigs des Frommen Zeit entftanden. Auch die größeren Städte 
bergaßen nicht, dem Pilger folche Gaftfreiheit zu bieten. 

Die Kreuzzüge fteigerten noch die Vorftellungen von der Ber» 
dienftlichkeit der Betfahrt. Die eigentliche Begeifterung warb von 
diefen Vorftellungen überdauert. Pilger zogen ins Heilige Land, 
als fich Fein Heer mehr rüftete. Auch als nicht mehr die Scharen 
derer, die das Kreuz genommen hatten, zu den Sammelplägen 
ziehen, ift der Pilger eine ftehende Erfcheinung der Heerftraße, 
weithin kenntlich an feiner Tracht, dem breitfrämpigen Hut mit 
der Bilgermufchel, dem Stab und der Flaſche, mie fie noch heute 
der Pferdehirt auf ber Pußta führt. Tauſende machen die Roms 
fahrt zu den Gräbern der Apoftel Petrus und Paulus; wieder 
andere zieht die berühmte Reliquie eines kleineren Wallfahrtsortes 
an, und alle diefe Scharen, die zu Fuß das Land durchwandern, 
erft in Wochen und Monaten ans Ziel gelangen, ftellen an bie 
chriſtliche Gaftlichkeit Anforderungen, machen Leiftungen nötig, wie 
fie der Chriftenheit nicht wieder zugemutet find. 


1) Rettberg II, 741. 


066 Hering 


„Glienden-Herbergen“ nannte man bie Pilgerhäufer, denn das 
fhöne, vom Heimweh eingegebene Wort „Elend“ bezeichnet den 
Bremden. Auch die Jakobshoſpitäler weifen darauf zurüd, daß 
fie aus der Pilgerpflege entftanden. In Norbdeutfchland ift dies 
augenſcheinlich ber Ball, denn nach ben nördlichen Hafenftäbten hin 
finden fie fih in dihterer Gruppierung. Dort fchiffte man fich 
nah San Compoſtella ein, der Stadt, die von San Giacomo 
poftolo den Namen trug. „Die größten Zeichen, bie kein Heiliger 
tun mag, die thut diefer Heilige“, fagt trenherzig Hermann von 
Fritzlar Y. Ihn pries man als den „wahren Jakob“ °). Wer 
die Meerfahrt antrat, dem leuchtete am Nachthimmel wegweiſend 
der „Satobsftab“. Und wie groß die Zahl derer war, die bie 
weite Reife unternahmen, bezeugt derfelbe Hermann: „Ihn fucht 
man in aller Epriftenheit, und Frauen und Männer wagen Leib 
und Leben, daß fie kommen zu feinem Münfter.“ 

Aber am Pilgerwefen hafteten ſchon in jener Zeit „fittliche 
Schäden; und der Eifer, der Eritiflos den Pilgern Weg und Steg 
ebnete, fie beherbergte und fpeifte, half ohne fein Wiſſen dazu, 
jene Schäden mit groß zu ziehen. Einem Prediger wie Berthold 
von Regensburg, der bei verbienftlichen Werken zugleich nach der 
Zucht und Sitte fragte, und dem der Gottesdienst nicht im Heiligen. 
Kult aufging, war es Gewiffensfahe, gegen das Abergläubifche 
und fittlich Bedenkliche der Pilgerfahrt zw zeugen. Von dem 
toten Schädel, den feine Zuhörer in Compoſtell fuchen möchten, 
verweiſt er fie auf den Herrn felbft, der in der Mefje gegenwärtig 
fei. Und was die Frauen betrifft, fo Hält er ihre Romfahrt für 
fo viel nüge wie einer Henne Flug über den Zaun ®). Den fitt- 
lichen Gefahren aber gingen auch foziale zur Seite. Wie viele, 
die fi ihrem Beruf auf lange Zeit entzogen, ganz oder teilweife 
ihres Eigentums ſich entäußerten! Die natüirlich-fittlichen Gottes⸗ 
ordnungen mußten von der felbjtermählten Geiftlichfeit beeinträch« 


3) Ausgabe von F. Pfeiffer, ©. 169. 

2) Bgl. den Aufſatz von Kohl in der Zeitſchr. für deutſche Kulturgeſch. 
II, 103ff. zu dem Abſchnitt über die Pilger. 

3) Berthold von Megensburg, Predigten, Ausgabe von F. Pfeiffer, 
©. 356. Dort aud) die Erläuterung durch einen befonderen Fall. 


Die Mebesthätigfeit der deutſchen Reformation. “@ 


tigt werden. Und leicht verloren die, welche in Beruf und Arbeit 
nicht mehr fittlihen Boden Hatten, auch Sitte und Zucht, pil⸗ 
gerten, ohne je an das Ziel zu kommen umb Tiefen bie Betfahrt 
in Bettelwege enben. Andere lohnten der Einfalt, welche ihnen 
den Weg geebnet, indem fie zurückkehrend neue Reliquien mit⸗ 
bradjten, wie fie feit den Kreuzzugen das Land überſchwemmten. 
Zugleich mit den frommen Pilgern werden alle diefe zweifelhaften 
und bebenklichen Gefellen mitgehegt und -gepflegt. Sie dürfen die 
Thüren der Fremdenherbergen belagern, ſich aus den Klofterküchen 
füttern faffen. Hier tritt einer der Schäden, an denen die Liebes⸗ 
thätigfeit des Mittelalters tief Trank ift, an einer feiner größten 
Leiftungen zutage. Wenn au in der Pilgerherberge die Hause 
ordnung allzu zügellofem Treiben vorbengte, indem man Männer 
und Frauen in befondere Räume fonderte, bie Ans und Eingänge 
überwachte, an eine Beauffichtigung, Leitung diefer Maſſenwan⸗ 
derungen, an eine erziehliche Einwirkung auf die Einzelnen hat bie 
Kirche nicht gedacht. Und doch traten ſchon fehr widrige Erſchei⸗ 
nungen hervor. Die Landfrieden des 13. Jahrhunderts erklären 
außer dem Fried die Lotterpfaffen mit langem Haar, welde ſich 
in Gemeinfhaft mit Spiellenten und Weibsperfonen umhertreiben. 
Bettelhaftigkeit, Unfittlichkeit und Gaunertum beginnen alfo ſchon 
damals fih an das Pilgerwefen anzuhängen, die parafitiichen Er⸗ 
fcheinungen, die zum Ausgang des Mittelalters wie ein Krebs am 
Leibe des deutfchen Volkes zehren und zu einer Krifis drängen. 

Neben dem Pilger erfeheint aber noch ein anderer Pflegling 
der chriſtlichen Barmherzigkeit, in deffen großer Not ebenfalls eine 
Frucht der Pilgerfahrten ſich darftellt: der Ausſätzige. Den Aus- 
ſatz, dieſe furdtbare Krankheit, die unferem heutigen Geſchlecht 
nur aus der evangelischen Gefchichte bekannt ift, kannte das Mittel» 
alter aus reichlicher, ſchmerzlicher Erfahrung. Schon im 4. Jahr⸗ 
hundert fand er fih bei den Kelten, früh auch bei den Deutſchen, 
teils durch Unreinfichfeit unter den niederen Volksklaſſen erzeugt 
und verbreitet, teils duch Pilger aus Afien eingefchleppt. Früh 
mar aud bie hriftliche Barmherzigkeit der Pflicht eingedenk, diefe 
Nachfolger des Hiob und Lazarus zu tröften und zu erquiden ?). 
9 Die Ausfaghäufer Italiens hießen „lazaretti “. 


668 Hering 


Schon im Jahre 549 beftimmte das Konzil von Orleans, daß 
man Ausfägigen vor der Kirche Kleidung und Speife reiche ?); 
ja, mit jelbftverleugnender Hingebung ward ihnen gedient; fo wuſch 
in St. Gallen ihnen Abt Othmar felbft die Füße und wartete 
ihrer Wunden). Die Kreuzzüge, indem fie den Verkehr mit dem 
Orient zu Flutwellen fteigerten, Haben fpäter die Anſteckungskeime 
durch ganz Europa, den Süden und Weften zumeiſt, ausgeftreut. 
Denn feit der Mitte des 12. Jahrhunderts erfcheint die erotifche 
Pflanze üppig wuchernd an allen Orten; der Ausfag wurde zu 
einer, fir einige Jahrhunderte ftehenden furchtbaren Plage. Zur 
gleich aber wuchfen die Anftalten, welche den Angeſteckten wenig« 
ftens eine Zuflucht boten; Frankreich) Hatte im 12. Jahrhundert 
zweitauſend Seprofenhäufer; in der Chriftenheit ſoll fich ihre Zahl 
auf neunzehntaufend belaufen Kaben®). Und vor den Anftalten 
des Orients und denen Süd ⸗Europas erwarben ſich bie germa⸗ 
nifchen den Ruhm, daß Hier ein höheres Maß chriſtlicher Barm⸗ 
herzigkeit walte. Denn in jene war die aftteftamentliche Praxis, 
den Kranken aus der Gemeinſchaft auszufchließen, übergegangen; 
ber Ausfägige galt fir Tebendig tot (Num. 12, 12). Auf freiem 
Felde war ein Altar gebaut; dort hörte der Unglücliche feine 
Totenmeffe, vernahm die legten Ermahnungen, fein Leiden recht zu 
tragen. Dann legte er das Mleid an, welches ihn fofort als Aus- 
fägigen und aus aller Gemeinfchaft mit Gefunden Berbannten 
kennzeichnete und ward in das Beprofenhaus, wo er Leidensgenoſſen 
fand, oder in eine einfame Hütte im Felde geführt. Im 
Deutfchland anders. Zwar verfäumt man nicht die Vorkehr gegen 
Auſteckung. Der Ausfägige war aud hier „ausgezählt“ ; er durfte 
nicht in der Stadt um Gaben bitten, aber draußen vor dem Thor, 
auf der Brüce oder am Wege war ihm eine Stätte angemiefen, 
wo er im langen Kleid, das Haupt mit einem Tuch umwunden, 
einen langen Stab mit einem Säcklein hinreichte und um eine 
Spende anſprach“). Auch traf man Hier und da die Einrichtung, 


1) Rettberg II, 668. 

2) Rettberg II, 786. 

3) Nah) Benete, Hamburgiſche Geſchichten, ©. 11. 

4) Bol. den lehrreichen Artikel Kamphanfens über den Ausſatz in 


Die Liebesthätigfeit der deutſchen Reformation. 669 


daß an beftimmten Tagen der Woche ein Einfammler milder 
Gaben mit Korb und Glocke dur die Straßen ging‘). Der 
Ertrag der Sammlung war für die „armen Siehen", die „guten 
Rente” — fo nannte man bie Ausfägigen Hier und da — und 
andere Kranke in dem Hofpital beftimmt. Auch das Siechenhaus, 
das Hofpital für die Ausfägigen, dürfen wir uns nicht ohne 
Leitung und Pflege criftlicher Barmherzigkeit denken, mochte fie 
auch nicht immer fo wohlorganifiert fein, wie im Kamburger 
Siechenhaus, das Adolf IV. von Schauenburg zu Holftein ums 
Jahr 1195 nad) der Rückkehr vom Kreuzzuge gegründet und dem 
heiligen Georg geweiht Hatte”). In der Stille gethan, find 
diefe Werke fpäteren Geſchlechtern nicht fund geworden. Aber ein 


€. Riehms Handworterbuch des bibl. Altertums, &. 120ff. und die an- 
ſprechende Schilderung in Benete, Hamb. Geſch. u. Denkw., ©. 8ff. Über 
einzelne deutſche Städte bietet H. Häfer Notizen in der „Geſch. der dheifll. 
Kranfenpflege (1857), &. 30ff. Über die Kranfheit, ihre Verbreitung und 
Behandlung vgl. H. Häfer, Lehrb. der Medizin (3. Bearbeitung), III. Bd. 
Geſchichte), S. 70ff. Ratzinger, Geh. der kirchl. Armenpflege (1868), 
S. 273ff. Hier wie bei Häfer und Riehm ältere Litteratur. 

4) Diefen „Glodenkorb* finden wir dann in der Weformationszelt in 
einigen Städten wieder. Noch jegt befteht im mauchen kleinen Städten Chir 
ringens ein lehter Reſt ber alten Gitte, indem ber Gemeindehirt ſich an Feſt- 
tagen fein Kuchendeputat auf biefe Weile einfordert. So z. B. in Weißenfee, 

%) Beneke, ©. 8.17. — Das Siechenhaus hat feinen Namen nicht, wie 
es nad) dem heutigen Sprachgebrauch; anzunehmen nahe liegt, von „ſiech“, im 
Sinne von „ſchwaͤchlich, kränklich“, fondern von der beftinumten Seuche des 
Ausfages. Der Name wurde fpäter für Armen- und Krantenhäufer beibe- 
Halten, als der Ausſatz felten ward und ganz verſchwand. Auf die Abfon- 
derung weift noch das Kompofitum „Sonderſiechenhaus“ Hin. Andere Namen 
find: Leprofenhaus, Melaten-, Malazhaus (maladie ebenfalls im prägnanten 
Sinne für Ausfag), Miſelhaus, da der Ausſatz, wie andere Hautausſchläge 
auch „Mifelfucht” hieß; Gutlenthaus, nicht von ben Pflegern, dieſen „wahrhaft 
guten Leuten“ (Benete, ©. 17), fondern von den Ausjägigen, die man aud) 
„gute Leute, boni homines“ nannte. Lateinifde Bezeichnungen: domus le- 
progorum, infirmaria, aud) infirmitoria. Bgl. Mone, Zeitſchr. für Geſch. 
des Oberrheins II, 258. Ennen II, 814. Häfer, S. 82. Gegen das 
Ende des Mittelalters hat der Ausfag an Ausbreitung wie an Heftigfeit und 
Anfesungefähigkeit verloren; übrigens if die Bezeichnung „Ansjag“ niemals 
eine egafte geweſen; fie ſchloß im Mittelalter auch andere Hautkrankheiten ein, 


670 Hering 


Gedicht, wie „der. arme Heinrich“ Hartmanns von ber Une Konnte 
nicht entftehen, wenn jene innige felbftvergeffene Hingebung, mit 
der das Mügdlein des krauken Mitters fich annimmt und au 
fein Blut der Genefung besfelben zu opfern bereit ift, in der 
Wirklichkeit nicht zu finden gewefen wäre. 


2. 

Die Anfänge der Hofpitäler wieſen auf die Klöſter zurück; 
denn dieſe beſonders waren die Mutterhäufer jener in ber Zeit der 
Pflanzung des Ehriftentums in Deutſchland. Aber auch in der 
Blütezeit des Mittelalters, als die Anftalten fi vervielfacht Hatten, 
die Stifter und Helfer aus allen Ständen erftanden, trieb das 
Möncdtum neue, tragfähige Zweige. Seit dem 12. Jahrhundert 
entfalteten die Cifterzienfer eine großartige foziale Wirkfamteit. 
Sie waren zu einer folden vor anderen Drden durch die Ber 
ftimmung ihres Statuts ausgerüftet, da die Brüder ihren Lebens⸗ 
unterhalt mit der Arbeit ihrer Hände gewinnen folften. Schon 
duch ihre von Intelligenz geleitete und von der Hingebung des 
Gehorſams und feiner Zucht getragene Arbeit waren dieſe Wälder 
rodenden, Sümpfe troden Legenden Mönche, diefe geſchulten Waſſer⸗ 
baumeifter und feinen Obfttenner als bie rationellen Landwirte 
jener Zeit ein Segen fürs Sand; fie wurden auf ihren Grangien, 
den zahlreichen Höfen, die zu jedem Kloſter gehörten, die Vor- 
arbeiter im Landbau, bie Erzieher eines tüchtigen Bauernftandes 
in den norddeutſchen Gebieten mit ihrer gegen den Süben und 
Weften Deutfchlands fo viel fpäteren chriſtlichen Kultur. Aber 
ihre Arbeit befühigte fie auch zu befonderen Leiftungen für das im 
eigentlichen Sinne arme Voll. Der dee der Statuten gemäß 
ſollte ja dod der Ertrag dieſer Arbeit, die in mander Hinficht 
gegen die des Bürgers begünftigender Umftände genoß, nicht für 
Wohlleben, fondern für Wohlthun da fein. Und in der That, eine 
ſchrankenloſe Gaftlicgkeit ward gegen Hunderte gebt. Die Armen, 
die vorübergingen, erhielten beim Pförtner ein Stüd Brot, man 
fpendete ihnen die Überbleibfel der Mahlzeit, verteilte an fie 
Schuhe und Tuch) zum Gewand. Das Eifterzienferflofter Gunthers⸗ 
thal gab an der Pforte täglich fünfzehn Brote, ein Maß Wein, 


Die Liebesthätigfeit der deutſchen Reformation. Lri8 


drei Schüffeln mit Muß. Die Befte des Kloſters feierten Arme 
mit. Wenn eine Nonne eingeffeidvet ward, erhielten drei arme 
Leute Gefottenes, Gebratenes, Kuchen und drei Kaunen Wein. 
Für alle feine Spenden brauchte das Klofter jägrlih 1095 Maßt). 
In Hungersnöten warb biefe freigebige Milde zu umfafjender 
Fürforge. Dann thaten die reichen Cifterzienferklöfter ihre Vor⸗ 
väte auf. Ein rheiniſches Kloſter fchlachtete im Teuerungsjahre 
1197 täglich ein Rind, um das Fleifh mit Gemüfe an die Armen 
zu verteilen. In Morimund rief, als es an Brot fon gebrach, 
der Abt den Brüdern zu: „Wehe mir, wenn ein Armer an ums 
ferer Pforte ftürbe, fo Lange wir noch das kleinſte Stüd Brot 
befigen!“ Der Abt des Kloſters Sichem wußte ſich in gleicher 
Bedrängnis des Herrn zu tröften, der mit fünf roten fünf. 
taufend Menſchen fpeifte. „So lange wir leben“, ſprach er, 
„ſollen die Armen auch leben, wenn fie fterben, wollen wir auch 
sterben in dem Heren.“ ®) 

Anfänglich war die Anſtalt, welche fih bei jedem Kloſter 
findet, das Hoſpiz; Hoſpitäler waren nur mit einigen Klöftern 
verbunden. Im 12. Zahrhundert indes wurden biefelben zahl 
reicher von ben Cifterzienfern gegründet; und die Wirtfchaft in 
denfelben war eine fo amsgezeichnete, daß fogar Städte die Ver⸗ 
waltung ihrer Hofpitäter in die Hände der bewährten Brüder 
legten. Das Eifterzienferklofter Pforta 3. B. erhielt fo die Ver⸗ 
waltung des Georgen-Hofpitals in Erfurt °). Vorleuchtend in den 
Werken der riftlichen Gaftlichfeit und Barmherzigfeit wie in dko⸗ 
nomifcher Tüchtigkeit ftand der Orden in hoher Gunft bei den 
dentſchen Furſten 

Und doch zeigen fich im eben dieſem Jahrhundert ſchon hier 
und da Spuren des Verfalles. Den Statuten von Citeaur zu⸗ 
wider treten jetzt die erften Symptome einer Veränderung im wirt« 
ſchaftlichen Verhalten auf, indem der Eifer, fi) von Zehntpflichten 
zu befreien, immer größer wird, mährend jene vorbildliche Trieb- 


I) Mone, Zeitfhrift I, 147f. 

2) Winter, Die Cifterzienfer des nordöſtl. Deutſchlands II, 142. 

8) Winter II, 144. Hier noch andere Fälle. Bl. für das Kloſter 
Eberbach Mone, Zeitfä. IL, 282. 


672 Hering 


traft des Fleißes nachläßt )Y. Es wird fich fpäter zeigen, welche 
Tragweite über die wirtfchaftliche Lage hinaus diefes Zurüdbleiben 
hinter der urfprünglichen Aufgabe gewann. Schon jet wird es 
dazu mit beigetragen Haben, daß die Bettelorden wie ein glän- 
zendes Geſtirn fo ſchnell auffteigen, fo bald in der öffentlichen 
Geltung die arbeitenden Mönche überholen konnten. In den reich 
werdenden ifterzienfern ſah das Bürgertum Konkurrenten auf 
dem Gebiet des Erwerbs, in den Bettelorden Ideale des after 
tifchen Lebens. Mit Ehrfurcht blickte es auf diefe Nachahmer der 
Armut Chrifti, denen e8 auch zugute fam, daß fie über Zehnten 
und Ungeld nicht mit dem Bürger in Streit geraten, mit ihrem 
Befi und ihrer Hantierung dem Gewerbe nicht unbequem werden 
tonnten. Die Erfolge, bie fie auf einem anderen Arbeitögebiet, 
in Predigt, Seelforge, Gelehrfamfeit errangen, fegten die Parochial⸗ 
geiftlichkeit, nicht das Bürgertum in Verlegenheit. So befreundete 
ſich merkwüurdigerweiſe die foziale Macht, welche damals mit leiden- 
ſchaftlicher Spannung der Kraft für Erwerb und Eigenbefig thätig 
war, mit der neuen kirchlichen Erſcheinung, welche Erwerb und 
Beſitz verſchmähte. Die Franziskaner hinwiederum befegten ihrer- 
ſeits mit Vorliebe die großen Städte; dorthin wies ſie ihr Beruf, 
die Vollspredigt und die ſeelſorgeriſche Einwirkung auf die Maſſen. 
Was fie hier leifteten, erinnert in den guten Tagen des Ordens 
an die Beitrebungen der Gegenwart für „innere Miffton“ und 
bat in der Reihe der Liebeswerle des Mittelalters eine Ehrenftelle. 

Doch Hatten die neuen Orden kraft ihres Prinzips die 
Bedeutung, eine foziale Gefahr, an der das Mittelalter Leidet, 
zu fteigern, fie noch dazu mit dem Schimmer ber Vollkom⸗ 
menheit zu umgeben. Denn die Vollkommenheit des Lebene 
durch freiwillige Armut Tieß auch den Bettler ohne Ordenskleid 
weniger häßlich erfcheinen. Noch gründlicer, als es ſchon ohne 
hin — und wie reichlih! — geſchehen, ward das Urteil der 
Chriftenmenfchen über bettelnde Armut irre geleitet; die Schmach 
und fittliche Gefahr derfelben hat das Mittelalter nie erkannt; 
aber jegt fing die Schmach an fih in Ehre zu verwandeln, und 


1) Mone, Quellen zur badiſchen Sandestunde III, Bd, 


Die Aebesthatigkeit ber deutfchen Reformation. 678 


der terminierende Monch, der auf die Dörfer ging, um Brot und 
Käfe zufammenzuholen, war für das Gefühl der anderen, die auf 
Bettel ausgingen, faft eine ermutigende Geftalt. 

Aber auch abgefehen von diefer Ruckwirkung erftand mit dem 
Anwachſen ber Bettelorden ein wucherndes Gebilde, das am 
Ganzen des Volkslebens zehrte. Je beliebter und je zahlreicher 
jene wurden, defto größere Opfer machten fie, bie nicht arbeiteten 
und doch afen, nötig. Wenn die Berechnung richtig ift, daß der 
ſchwarze Tod in Deutſchland 124400 Bettelmönche weggerafft '), 
und wenn biefe Zahl als ein Drittel der Geſamtſumme angenom- 
men wird, fo erhalten wir einen Eindrud von dem Gewicht dieſes 
fozialen Faltors. Was immer Gutes die Mönde am armen Bolt 
geſchafft haben, fie haben die Armut felbft nicht gemindert. Sie 
bifdeten eine Körperfchaft, die aus himmliſchen Beweggrunden die 
irdifche Arbeit verfhmähte und mit Anfpruch auf chriſtliche Voll⸗ 
Tommenheit die Hand nad dem Almofen. der nicht Bolltommenen 
ausftredte. Es war wohl nicht Zufall, daß gleichzeitig mit den 
Bettelorden die Beghinen emporfamen. Die Gunft gleicher An« 
ſchauung von verdienftlicher Armut hob fie. Aus den Nieder- 
landen nach Deutſchland verpflanzt, finden fie fi bald *) als 
Affiliterte der Bettelorden an vielen Orten. Sie lebten nad ber 
dritten Regel des h. Franciscus, durch die dem Bettelorden eine 
„breite, vollstümliche Grundlage“ gegeben war?). In Köln er 
ſchienen fie im Jahre 1247, und 1261 waren ihrer ſchon zwei⸗ 
taufend. Am Rhein und in Oberbeutfchland begegnet man ihnen 
überall; aber auch bis in die Mark Brandenburg finden ſich ihre 
Spuren. Noch jetzt ftehen „Beghinenhäuſer“ unter den Ruinen 
des Kloſters Lindow. Die an Irrungen und Scidjalen reiche 
Geſchichte der Beghinen9) ift doch auch mit der der chriftlichen 

2) Häfer, Geſch. d. Med. III, 180. 

2) Anfanglich Iebten fie in Genoffenfhaften unter Meifterinnen, die mit 
disziplinarer Befugnis ausgeſtattet waren. 

8) Über die Tertiarier dgl. Haſe, Franz von Aſſiſi, ©. eff. 

4) Durch ihre Beteiligung an der Härefie der freien Geifter verfielen fie 
befanntlid der Erfommunilation. Vgl. bie Bulle Klemens’ V. im Corp. jur. 
can. lib. IH, tit. XI, cap. 1 und die Johannes XXI. in der Extrav, 
Joann. XXI. tit. VII 

Abeol. Etub. Dahrg. 1888, 44 


624 Hering 


Vehesübung verflochten. Sie dienten den Kranken in den Hofpis 
tälern, Halfen beim Begräbnis, lagen pflichtmäßiger Gebetsübung 
ob, die jemand ſich bei einer Stiftung ausbedungen hatte So 
als betende Gehilfinnen des Seelenheild anderer Haben fie auch 
den Nomen „Seelfrauen“ getragen. Meiſt waren fie arm; doch 
bereiteten ‚ihr Dienft und der Eifer des Stifters ihnen zuweilen 
andy eine behagliche Lage, fo daß der Stadtrat, um ſich die Steuer 
von igrem Güterbefig nicht entgehen zu laſſen, ihnen das Bürger» 
recht verlieh; anderſeits reichten oft die Almoſen nicht für fie zu. 
Sie nährten fi dann don Handarbeit, namentlich Nähen, Weben 
und feiner Stiderei, oder vom Bette‘). Wie bedeutend ihre 
Bflegetpätigkeit in verſchiedenen Zeitabfchnitten geweſen fei, wird 
ſich nicht völlig deutlich ermitteln laſſen?). Aber auch abgefehen 
von den Schäden, die fie durch die „freien Geifter“ dann durch 
Freitzeit des Fleiſches erlitten, find auch fie ein Symptom für die 
ungefunde Seite mittelglterlicher fozialer Zuftände. Sie bilden mit 
all den Jungfrauen, welche, das Gelübbe binhet, eine „Frauenfrage 
des Mittelalters", welche mande fehlunme Frucht getragen hat. 
As die Orden, an bie fie ſich angeſchloſſen Hatten, fittlicher Fäufr 
nis verfielen, find fie yon derſelben mitergriffen worden. 

Tür dag 13. Zahrhundent, aber ift die Reihe der imponierenden 
und für die: priftliche Lisbesthätigkeit fruchtbaren Erfcheinungen des 


2) Ennen II, 819f. 826. €. Bücher, Die Frauenfrage des Mittel- 
alters (1882), S. 28ff. Frank, Geſch. von Oppenheim, &. 113. Jäger, 
Schwãbiſches Städterwefen des Mittelalters, ©. 489. Vgl. auch in Herzog, 
Neal-Enc, den Art. „Begharden, Beghinen“. 

2) Es muß auffallen, daß die Bulle Johanns XXIL, melde fie einiger 
maßen veftitwiert (vgl. oben die Exrfommunifationsbullen), gerade die Kranken 
pflege nicht erwähnt, während fie Übrigens mit Anerkennung nicht fpart: „Ve- 
rum quia in multis mundi partibus plurimae sunt mulieres, quae simi- 
liter vulgo Beguinge vocatae, segregatae quandoque in parentum aut 
suis, interdum vero in aliis aut conductis sibi communibus domibus in- 
simul habitantes, vitas deducunt honestas, ecclesias de nocte frequen- 
tant, dioecesanis locorum et parochialium ecelesiarum rectoribus reve- 
renter obediunt, curiositatem disputandi, aut auctoritatem, seu temeri- 
tatem potiys prapdicandi nullo modo sibi usurpant, nec se vel alias 
seu alios quog libet praemissis opinionibus erroribusque invalvunt ...“ 
(Extrav. comm. lib. III, tit. IX). 


Die Liebesthätigfeit ber dentfchen Reformation. 6 


Mönhtums noch nicht erſchöpft. Eine der bedeutendften ſtellt ſich 
in den Orden dar, welche unter dem Anhauch der Begeifterung 
durch die Kreuzzüge recht eigentlich aus dem Trieb der chriftlichen 
Fürſorge für Pilger umd Kranke hervorgewachſen find. Mag es 
fein, daß die Johanniter als Pflegeorden in Deutfchland, auf das 
fich unfere Betrachtung befchränft, weniger hervortraten 9), fo ift doch 
der Deutfchorden neben feiner befonderen Miffions- und Kultur 
aufgabe im Often der Pflicht der Armen» und Krankenpflege nach⸗ 
gelommen. Den alten Preußen brachte er das Evangelium zwar 
auf der Spige des Schwertes, aber der Unterdrüder baute ‚nicht 
blog Burgen, ſondern auch Heimftätten der Liebe. Das bedeutete 
etwas für das Preugenvolf, das zwar feine Verarmten unterftüßte, 
aber feine ArbeitSunfähigen und Krüppel totſchlug oder verbrannte %). 
Marienburg erhielt drei Hofpitäler: das Serufalem-, Georg und 
Heiligengeift-Hofpital, welche aus reichen: Zändereien ihre Einkünfte 
zogen. Rein Ordenshaus war ohne Spital; der Komtur ſelbſt 
hatte die Pflege der Kranken zu beauffichtigen®), ein Oberſt⸗ 
Spittler in Elbing, wo eine ber bedeutendften Anftalten. fi bes 
fand, Hatte das Hofpitalwefen von ganz Preußen unter ſich. Er 
folgte im Range dem Marſchall“), — ein Umftand, der auf die 
Geltung der ihm zugewiefenen Aufgabe ein Licht zurückwirft. 
Dem. entfprac das Wirken des Ordens in Deutfchlend. In 
12 Balfeien durch das ganze deutfche Gebiet verzweigt, von Boten 
bis Utrecht und von der Mofel bis an die Weichſel Hat er überall 
mit den Orbdenshäufern Spitäler verbunden, in denen ein Spittel- 
oder Siechmeifter die Pflege leitete und überwacht; denn die 
Hausordnung gebot, die Kranken follten nach Notburft ehrlich ge— 
halten werden, der alten Gewohnheit de8 Ordens gemäß ®). 
Halle a/S. war der erfte Ort, wo der Orden im Jahre 1200 
Fuß faßte und, unterftägt durch die Schenkung des Magdeburger 


1) Bal. Ratzinger ©. 264 gegen Häfer, Geſch. der Krankenpflege, 
2) Ederdt, Geſch. des Kreifes Marienburg, ©. 57. 
3) Boigt, Geh. Marienburgs, S. 52. 
4) Ederdt a. a. O. Boigt, Geſch. Marienburgs, S. 84. Eine auf 
das Heifigegeift-Hofpital fid) beziehende Urkunde, S. 5205. 
5) Boigt, Geſch. des deutſchen Ritterordens I, 2597. 
44* 





676 Hering 


Biſchofs Ludolf von Kroppenftädt, zu Ehren ber 5. Kunigunde 
ein Hofpital für Armen» und Sranfenpflege erbaute *). Dann 
folgten raſch weitere Gründungen, die Ausbreitung des Ordens 
begleitend 2); auch ſchon beftehende Anftalten wurden ihm zuge 
wiefen 3). Wie in Preußen Efbing, fo gewann in Deutfchland 
Nürnberg durch das Elifabeth-Spital die Bedeutung eines Vor⸗ 
ortes 4). Und Gunft und Gnade wurden über den Orden jo aus⸗ 
geſchuttet, daß er zu Hervorragenden Leiftungen ausgerüftet war. 
Bapft und Kaifer waren Hierin wenigftens eins. Jener belohnte 
in ihm den legten kräftigen, verdienftvollen Träger des Kreuzzugs⸗ 
gedankens durch Freifprehung vom Zehnten, durch die Erlaubnis, 
überall, von niemand beunruhigt, Almofen fammeln zu können, 
durch Betätigung der zahlreichen Schenkungen; Friedrich aber, 
dem Hermann von Salze ein Freund war, vergalt nit nur 
die Verdienfte um die Chriftenheit, ſondern aud die Treue 
gegen den Kaifer und fein Haus, wenn er den Orden in feinen 
Schug und Schirm nahm und ihm außerordentliche Freiheiten ges 
wahrte 5). Unter Fürften, Grafen und Herren, geiftlichen und 
weltlichen, erwachte ein Eifer des Stiftens und Schentens, durch 
den der Orden ſchnell zu einem umfangreichen Orundbefig gelangte ; 
es iſt der Adel deutfcher Nation, der aus Chriftenpflicht und 
Standesbemußtfein fich gerade dieſes Ordens annimmt, und wie 
würdig diefer folcher Hingebung war, dafür zeugt das Ber- 
trauen, das ihm die 5. Clifabeth bewies, indem fie die DVer- 
waltung ihrer Marburger Stiftung in feine Hände legte. Aber 
auch Nict-Ritterbürtige wurden als Halbbrüder aufgenommen. 
Schweftern und Halbſchweſtern, Frauen aus dem Adel wie 
aus dem Bürgerftande Haben in den Orbensfpitälern Dienfte 


3) Voigt, Geſch. des Deutſchen Ritterordens I, 2. 

2) Im Jahre 1208 in Frieſach und Mäcnthen; 1210 in Regensburg; 
1212 in Nürnberg; 1216 in Koblenz; 1220 in Speier; 1221 in Frankfurt. 
Bol. Voigt, Bd. I. 

8) So das Hofpital in Altenburg (Boigt, ©. 4); das vom ber 5. Eli⸗ 
ſabeth in Marburg gefiftete (Voigt, ©. 22f.). 

4) Boigt, Geſch. des Deutſchen Ritterordens I, 84. 

5) Boigt, Geſch. Preußens II, 98ff. 118ff. (Dort auch Anszüge aus 
den Tatferlichen Urkunden und den Bullen Honorius' III.) 


Die Liebesthatigkeit der deutſchen Reformation. 6 


geleiftet. In fpäterer Zeit entftanden in manden Balleien fürm- 
liche „Schwefterkonvente” ; das Frankfurter Frauenkloſter, beffen 
Bau 1344 begonnen ward, war mit einem Hofpital für zwanzig 
arme Frauen verbunden, und bie Pflege derfelben war den 
Ordensſchweſtern, Jungfrauen aus altbürgerlichen Geſchlechtern, 
übertragen). Auch den Priefterbrüdern, zu deren Aufnahme 
abelige Geburt nicht erfordert ward, wurden die Werke der chriſt⸗ 
lichen Liebe durch befondere Amtsverpflichtung befohlen. Sie 
hatten die Seelforge zu üben, die Armen und Kranken zu bes 
fuden, an ihrer Pflege fi mitzubeteiligen. Sie follten die 
„Ölänzfterne” fein, melde in Zucht, Sitte und Pflichttreue den 
Nitterbrübern voranlenchteten ). 

Nur in Umriffen ift im Vorftehenden ein Bild der kirchlichen 
Pflegeanftalten gegeben. Aber die Liebesthätigkeit iſt nicht bloß 
Anftaltspflege. Die Kirchen, Möfter, Hofpitäler hatten vielmehr 
auf Grund zahllofer Einzelftiftungen Almofen und Spenden ver» 
ſchiedener Art auszutellen. An dem Todestage der Stifter im 
Anſchluß an die Seelmefje erhielten Arme Brot, Tuch zur Klei⸗ 
dung und Schuhe; Naturaljpenden (largae) überwogen; doch teilte 
man aud wohl Feine Geldfpenden (eleemosyna) aus; oder man 
gewährte den Armen an jenem Tage den Beſuch der Badeſtube, die 
fich in jeder Stadt des Mittelalters findet, weil das warme Bad 
ein allgemeines Vollsbebürfnts bildete, deffen Befriedigung man 
nur den asketifch Lebenden entzog. Auch ward für gewiſſe 
Telertage den Armen im Spital der „Tiſch gebefjert“, ftatt der 
gewöhnlichen „Pitanz“ (Kompetenz) eine Extrafpende in Weißbrot, 
Fleifch und Wein gewährt. Plan, Ordnung ift in dieſen Spenden 
nicht; es find, um einen treffenden Ausbrud Bugenhagens zu 
brauchen, „verftreute Gaben“; aber fie fallen doch, wie ein 
erquidender Regen im zahllofen erfriſchenden Tropfen auf das 
Elend der Armen; fie erinnern uns, unter der Zahl jener ftatt- 
lichen Anftalten die „Scherflein“, die Größe des Kleinen nicht zu 
überfehen; und wenn wir daran denken, baß es Barmherzigkeit, 

V Boigt, Gef. des Deutſchen Nitterordens I, 880ff. 844. Geld. 


Preußens II, 114ff. 
2) Boigt, Gef. des Deutſchen Kitterordene I, 200 ff. 


8 Hering 


chriſtliche Milde ift, welche den Beweggrund aller dieſer Anftalten, 
Werke und Gaben bildet, fo befommen wir einen Eindrud von 
der fozialen Macht jener mittelalterlichen Kirche, dem wir uns 
auch bei einer kritiſchen Betrachtung nicht entziehen dürfen, wollen 
wir nicht ungerecht fein. 
3 

Zur Kritit allerdings drängt ſchon in der äußeren Erſcheinung 
jener Liebespflege manches. Diefe in ihrem hierarchiſchen Aufbau 
fo kunſtvoll gegliederte Kirche Hat, eben weil fie auf hierarchiſcher 
Baſis fi erbaut hat, das Hauptftüc wirklicher Organifation, die 
gemeindliche, Tängft vernachläffigt, und ihre Erneuerung follte, wie 
wir fehen werben, von einer ganz anderen Seite angeregt werben. 
So Hat au alle von der Kirche und von den Klöftern ausgehende 
Thätigfeit nur an jenen Anftalten feine Mittelpunkte, und um fie 
ift ein aus aller Welt zufammengelaufenes Heer Elender gelagert. 
Jene Anftalten gleichen Reſervoiren, die fih aus taufend Zur 
flüffen füllen, um fi nad) taufend Seiten zu ergießen; aber Zur 
fluß wie Abfluß Haben mit der lokalen Kirchengemeinde keinen ane 
deren als zufälligen Zufammenhang. Werner fehlt in der Liebes- 
thätigkeit der Kirche im ganzen das pädagogifche Moment. Gene 
Maſſen Armer bejchließen ohne Zweifel in fih Böſe und Gute, 
wirklich Hilflofe und Faule: die Barmherzigkeit der Kirche öffnet 
allen ihre Hand ohne Unterſchied. Daß es eine Aufgabe der 
Volkserziehung giebt, die gerade für rechte Armenpflege im Auge 
behalten werden muß, dafür ſcheint der Kirche des Mittelalters 
die Erfenntnis völlig zu fehlen, während doch ihr anftaltlicher 
Charakter fie gerade auf diefe Aufgabe Hinwies. Es muß dem⸗ 
nad die fo auffallende Verſäumnis in ihren fittlichen Prinzipien 
einen Grund Haben, ben es aufzudecken gilt *). 


ij uhlh orn geht in feinem verbienftvollen Aufſatz „Vorſtudien zu einer 
Geſchichte der Liebesthätigkeit im Mittelalter” (Zeitſchrift für Kirchengeſchichte, 
3b. IV, Heft 1) jenen Zufammenhängen nad. Mit der Thefis Uhlhorus 
(S. 52), die Anſchauung von der Verdienflichteit des Almoſens wurzele in 
einem falſchen Eigentumsbegriff, bin ich indes nicht einverfianden, Halte viel- 
mehr die asketiſche Richtung der mittelalterlichen Ethit für die Wurzel jenes 
Eigentumsbegriffes. 


Die Liebesthätigfeit ber deutfchen Reformation. 079 


Der Eindrud von ber Großartigkeit jener Leiftungen wird ja 
zunächft dadurch noch gefteigert, daß diefelben fämtlich den von 
der Kirche ins Volkstum eingepflanzten und alle Schichten des⸗ 
felben beherrfchenden Beweggründen entftammen. Was irgend 
gegeben wird, wird „durch Gott“, nm Gottes Willen gegeben. In 
der Prebdigtlitteratur ift uns noch fpredender als in den Summen 
der Kirchenlehrer ein Zeugnis davon bewahrt, wie bie Kirche jenes 
Motiv pflanzte und pflegte. Hier wo fie auf Herz und Gewiffen 
des Volkes einwirkt, fehen wir ihrer Liebesthätigfeit ins Herz, 
umd die inmerliche Seite derfelben, die ſich uns da erſchließt, bietet 
Züge des Gemeindhrifilichen genug. Es iſt doch chriftlicher 
Bruderfinn, wie er die Gegenfäge von arm und reich innerlich 
ausgleiht, wenn eine Predigt das Gebot, fi über den Nächſten 
zu erbarmen fo auslegt: „Du follft gedenken: o weh, Herr vom 
Himmel, wie ift der arme Menſch fo wohl ein Menſch als id; 
o weh, Herr, num haft du ihn ſowohl gefchaffen wie mich; o weh 
Herr, nun Haft du mir Ehre und Gut gegeben, fo Haft du ihm 
alle Armut und alles Unglück gegeben. Ach Herr vom Himmel, 
fo magft du mir’s allesfamt nehmen und magft mid fo arm oder 
ärmer machen als ihn.“ 2) — „Die Geneigtheit, ſich fo innerlich dem 
Armen gleichzuftellen, nicht aus dem Unglüd, fondern aus dem 
Beſitzſtand Heraus die Anfrage an Gott zu richten: ‚Warum mir 
das?‘ ift fie nicht eine Frucht des hriftlichen Geiftes, demitiger 
Dankbarkeit? Aber noch ausdrücklicher beruft fih die Ermahnung 
zur Gutthat auf die Pflicht der Dankbarkeit gegen den Exlöfer: 
Dan fol die armen Dürftigen gern fehen an dem Wege, und ihr 
ſollt fie Haben am dem Tifche um bdeswillen, daß mir Gott fünnen 
danfen, darum daß er uns von derfelben Armut und von der 
Krantheit ſchön und reich und alfo ſtark hat gemacht.“ 2) Über 
diefe Betrachtung überwiegt allerdings eine andere. War doch feit 
länger als einem halben Jahrtauſend das Almofengeben den Mit- 
ten, da8 Hell zu gewinnen, angereiht. Längft auch Hatte die 


2) Deutfche Predigten des XI. Jahrhunderts, Herausgeg. von Gries⸗ 
haber, Abtlg. I, ©. 58. 
3) Leyfer, Deutſche Predigten, ©. 45. 


68 Hering 


Scholaſtik dies lehrhaft ausgebildet, Längft war die Praxis im 
deutfchen Volke 'eingelebt. Doc ift neben ber Betrachtung des 
Almofengebens als eines Bußwerkes oder einer verdienſtlichen 
Leiftung der fittlihe Ernſt Iebendig genug, um die Gefahr ftolzer 
Selbftgerechtigkeit zu erfennen. „Hochmut“, Heißt es in einer Predigt, 
„kommt von guten Dingen, jo daß einem das Gemüt fteigt, da 
man Almofen giebt; auch wird trog mander Trübung des ethiſchen 
Blickes, welche durch das Intereſſe an kirchlicher Übung bedingt 
iſt, gegen jene Moral Verwahrung eingelegt, die ſich vom ſittlich 
Verbindlichen durch Verdienſtliches loslaufen und ſich mit beflecktem 
Opfer Gott nahen möchte: Du ſollſt opfern dich ſelbſt mit allen 
guten Werfen. Giebſt du Gott dein Gut und dich ſelbſt dem 
Teufel mit fündlichen Werfen, das ift ungleich geteilt. Gott der 
hat beide geſchaffen, dich und das Gut; darum fo will er beide 
Haben. Opfere dich ſelbſt allererft und danach dein Gut, das feien 
deine Almofen.“ ) — „Hätteft bu einem Manne fein Kind zu Tode 
gefchlagen, fagt ein anderer Prediger, fo willlommen du dem 
wäreft, wenn du es ihm brächteft, fo willlommen bit du Gott 
mit dem Opfer ungerechtfertigten Gutes“ 2). 

Verwahrungen wie biefe Hindern indes die Anfchauung, daß 
das Almofen Verforgung der eigenen Seele fei, nicht, die chrift« 
lie Nächſtenliebe zu beeinträchtigen und zuweilen auch die fittliche 
Erkenntnis zu trüben. Welche rohe Vorftellungen von der Kraft 
de8 Almofens an der kirchlichen Lehre emporwuchern konnten, zeigt 
eine Wundermär, welche ein Prediger unter Berufung auf Papft 
Gregor den Großen feinen Zuhörern treuherzig erzählt. Ein 
Menſch, der den Armen gern gab und dabei unfeufch lebte, ftarb. 
Da ward einem guten Manne in Rom ein Gefiht, wie e8 um 
jenen ftand. Ihm deuchte, wie jener über eine hängende Brüde 
geführt ward, unter der ein geundlofer See von Schwefel und 
Beh wallte, in dem die Teufel ſchwammen wie die Fröſche in 
einem fchmugigen Pfuhl. Da auf diefer Brücke den Unkeufchen 
beftimmt war auszugleiten, fo ftel auch jener; aber zwei Engel 


2) Leyſer, ©. 57. 
2) Grieshaber, ©. 89. 





Die Liebesthätigfeit der dentſchen Reformation. 68 


sogen ihn aufwärts mit den Armen und mit den Händen, damit 
die Almofen gegeben waren, während die Teufel abwärts zogen. 
Diefer Streit währte lange, wer da fiegte, fagt das Buch nicht. ') 

Bar das Almoſen ein Bußwerk, fo fleigerte ſich feine Bedeu⸗ 
tumg noch durch das Hineinreichen der Buße in das Fegefener und 
dur die Verknüpfung der Bußleiftungen diefes Lebens mit der 
Bein des Jenſeits. Im Sinne einer rechneriſch gedachten Kom⸗ 
penfation ward es Grundfag: Je mehr Buße, defto weniger Fege⸗ 
fener; je weniger Buße, defto Tängeres Tegefener *). Die Phan- 
tafie der Prediger und der grübleriſche Sinn der Scholaftifer waren 
gleich geichäftig, diefen Gefichtspunkt recht wirkfam zu machen, jene, 
indem fie die Bein des Fegefeuers mit brennenden Farben aus⸗ 
malten, biefe, indem fie biftinguterend die Frage: „Wem und in 
welhen Maß nügen die kirchlichen Hilfen?“ flir die Heiligen die 
Mittelguten, die Mittelböfen und die ganz Boſen unterfuchten ®). 
Für die Mittelllaffe waren die Ausfihten am günftigften, und bie 
Mehrzahl wird geneigt gewefen fein, ſich und die Angehörigen 
jener zuzuzähfen. So entftand eine Liebesthätigleit befonberer Art: 
den armen Seelen im Fegefeuer zuhilfe zu kommen. Wer wäre 
nicht willig geweſen zu ſolchem Liebesbienft, wenn er bie Hitze 
jener Glut erwog, zu welcher die des irdifchen Feuers ſich verhielt 
wie die des gemalten zum irbifchen, wenn er die Länge jener 
Strafzeit in Anfchlag brachte, in der nach vielen Jahren gezählt 
werben fonntel Was wollten hier Opfer an zeitlihem Gut bes 
deuten! Hatte doch Bruder Berthold gefagt: „Unfer Herr rechnet 
es ihren alles ab an ihrer Buße, die fie da am Fegfeuer brennen 
folten; und man möchte einer Seele mit ſolchem Frommen helfen, 


3) Leyfer, ©. 64f. 

%) Berthold von Regensburg. 

8) Petrus Lomb. IV, dist. 45b: „Mediocriter malis suffragantur 
ad poenae mitigationem: mediocriter bonis ad plenam absolutionem“. 
Der Lombarde braucht den Ausdrud absolutio für die Befreiung von ber 
Fegefeuerſtrafe, was zu beachten ift, da die katholiſche Polemik fi in dem 
Streit über die Bedeutung des Ablaffes fo gern auf bie Schulterminologie ver - 
fteift. 


2 Hering 


da fie zehn Jahre brennen folte, daß man fie in fechs Wochen 
erlöftte." *) 

Ein ungeheure®, aber fehr wirlſames Motiv entftand fo aus 
dem Irrtum der Tatholifden Heilslehre, und die Liebe warb bes 
droht, von der Furcht ausgetrieben zu werden; aber wo das Ge— 
wiſſen die Furcht fchärfte, Hat diefe gewiß auch des Geizes Sprö- 
digfeit oft gefchmeidig gemacht. Das Iebendige Bedurfnis, fo 
furchtbarem Schrecknis gegenüber fih mit Barmherzigkeit zu ver 
binden, wirkte zufammen mit dem fteigenden Reliquienunweſen auch 
dahin, den Kultus der Heiligen immer volfstümlicher zu machen. 
Das Vertrauen auf ihre Fürbitte und auf bie Kraft des Almo- 
ſens drängen ſich feit den Kreuzzügen immer mehr vor; immer 
neue Altäre werden gegründet, fhon beim Bau der Kirchen nimmt 
die Anlage des Chores auf das Bedurfnis Nücfiht, indem ein 
Kranz von Apfiden die Oftfeite umgiebt; am bie Pfeiler des 
Schiffes lehnen fich Altäre; Kapelle auf Kapelle wird gebaut, 
Meffe auf Meffe geftiftet und mit ihnen zugleich die Zahl der 
Spenden vervielfacht. Es wird zum Ausgang des Mittelalters in 
vielen Kirchen großer Städte, fo wie in St. Jakobi in Hamburg 
faft jeder Tag feine Seelmeſſe, mander fogar eine ganze Anzahl 
gehabt Haben ?). 

Diefe geiftliche Liebesthätigkeit, welche aus martervolfem Kerker 
die Gefangenen Toszufaufen fuchte, konnte fi auch ohne den Sinn 
wirklicher Näcjftenliebe behaupten. Und wie oft wird die Liebes⸗ 
thätigfeit an den Armen nur Mittel für jene feheinbar höhere ger 
weſen fein! ener rechnende Geift nämlich macht fi in Fragen 
geltend, welche den Egoismus der Heilsſicherung allzu deutlich er» 
kennen laſſen ®), umd den Almofenempfängern eine eigentümliche 
Stellung zumeifen, bie zwifchen der Herrlichkeit eines Patrons 
und der Niebrigkeit eines bezahlten Fürbitters ſchwankt. Denn 


1) Berthold von Regensburg, S. 332. 

2) Staphorft, Hamb. Kirchengefih. III, 878Ff., hier ein Verzeichnis 
ſamtlicher Meffen. Hierdurch war es bedingt, daß die Zahl der Geiftfichen fich 
immer mehr fleigerte. Hannover Hatte ihrer damals 69. Uhlhorn, Zwei 
Bilder aus dem kirchlichen Leben der Stadt Hannover (1867), ©. 11f. 

3) Petrus Lomb. IV, dist. 45d. 


Die Liebesthätigkeit ber deutſchen Reformation. 688 


diefe nahmen freilich nach jenem Wort des Herrn auf in bie einigen 
Hütten; fie vermitteln es duch ihre Fürbitte, daß der Herr 
ſpreche: „Ih bin Hungrig geweſen und ihr Habt mich gefpeift“; 
aber es ward auch dafür geforgt, daß fie ihres Furbitteramtes 
warteten zu rechter Zeit und in rechtem Maße. Sie mußten mit 
zur Meſſe erfcheinen; der Verfäumende ging leer aus, wenn als⸗ 
bald nach derfelben die Spende verteilt ward auf dem Kirchhof, 
am Grabmal des Stifters oder im Kreuzgang. Wie ein Bertrag 
lautet es nicht zum Vorteil des Liebesfinnes, ber nit das Seine 
fucht, wenn die Stiftungsurkinden jene Pflicht allzu pünktlich 
firieren. Gegen das Ende des Mittelalters nimmt diefe juridifche 
Bergröberung der Liebe immer mehr zu. Adelheide v. Fulmen⸗ 
fingen, welde 1393 für die Beginen ein Haus mit Hof und Hof- 
raite in Ulm ftiftet, beftimmt, daß an gewiſſen Tagen vier der» 
felben an ifrem Grabe und dem ihres Gemahles beten’). Und 
die Wohlthäter des Lubecker Hofpitals fihern fich noch forgfältiger: 
die Kranken follen die vorgefchriebenen Gebete für ihre Wohlthäter 
ſprechen, fo lange ihr Zuftand ihnen erlaubt, die Lippen zu ber 
wegen 2). So moaterialifiert ſich Frömmigkeit und Liebe zugleich. 
Was drüct Herrlicher die Dankbarkeit ans, als das Gebet im 
Verborgenen, mit welchem der Arme feinen Wohlthäter fegnet! 
Die ftatutarifche Forderung verlegt die Liebe in ihrer ſittlichen 
Schönheit, der Einfalt, und in ihrem Abel, der Freiheit. 

In diefem Herabfinten zum Gefeglihen und Außerlichen, in 
ber -Abzielung auf Straferlaß, in der Vermifhung mit einem 
Triebe der Selbfterhaltung, wenn auch höherer Art, waren die 
Wege für eine weitere Wendung nad abwärts ſchon angebahnt, 
welche ſich, eine verhängnisvofle Frucht der Kreuzzüge, eben jetzt 
vollzog. Längſt ſchon Hatte die altkirchliche Bußpraxis, die anfangs 
nur don Milderungen der auferlegten Bußübung wußte, auch eine 
Umwandlung in andere „verdienftliche Werke“, unter anderem auch 
in Almofen, verftattet. Das Liebeswerk Hat fo der Ablaßtheorie 
ihre Genefis ermöglichen Helfen, die Ablaßpraxis auf bie Liebes⸗ 


1) Jäger, Schwäbiſches Städteweien, S. 496. 
2) Michelſen, Scähleswigfde Kircheugeſch. IT, 143. 


684 Hering 


gefinnung zuruickgewirkt. Beide bleiben fortan in verhängnisvollem 
Bunde. 

Die Krenzglüge, welche den Eifer durch Plenarindulgenzen, wie 
fie die Kirche vorher nie gewährt Hatte, anfenerten, verlangten 
zunächft große perfönliche Opfer; fpäter MHeinere: Geldopfer. 
Die Materialifierung des Sittlihen war hiermit nod völliger 
geworden, der Wechslertiſch in den Tempel gefeht, das Gelb als 
Äquivalent für fittliche Werte zugelaffen mit der allzu nahe Legenden 
Gefahr, dag Gott Mammon feine dämonifche Macht entfalten 
werde; und in der That, fo erfchredend war die Wirkung der neuen 
Praxis alsbald nach ihrer Einführung, daß ſchon das Laterans 
konzil 1215 Vorkehr zu treffen Hatte. Der Bußernft des Bruder 
Berthold fträubte ſich noch vier Jahrzehnte fpäter, die vollendete 
Thatſache als kirchlich güftig anzuerkennen. Er erinnerte ſich nicht, 
biefe Pfenningprebiger in feiner Jugend gefehen zu haben, es wollte 
ihm nicht in den Sinn, daß fie vom Bapfte die Gewalt Haben 
follten, einem Menſchen die Sünde abzunehmen um einen Heller. 
Lügner fah er im ihnen, welche den Teufel krönten mit viel taufend 
Seelen, Mörder der wahren Buße !)! Der treue Warner behielt 
Recht. Nicht nur Mörder der Buße wurden bie Ablaßprediger 2), 
fondern auch Mörder der wahren Liebe. Nach der fcholaftifchen 
Formel follte zwar Liebe (charitas) den Chriſten zu einem Gliede 
des myſtiſchen Leibes Chrifti machen, und fo ſchien der Anteil an 
dem Schag der Verdienfte Epriftt und der Heiligen auf einer 
innerlichen Borausfegung zu beruhen. Allein mit dürren Worten 
wird es auch vom Doktor Angelilus ausgeſprochen, dag bie inner 
liche Richtung des Herzens und Willens nicht hinreicht, um aus 
jenem Schage Ablaß zu empfangen. Geld tft nun einmal ftipuliert, 
fo ift denn die Geldzahlung für den Beilfamen Erfolg unerläg- 
lich ®). So leicht wohnten im ſcholaſtiſchen Syſtem tieffinnige und 
rohe Betrachtung bei einander. Die vergröbernde Macht der Praris 


3) Berthold, Predigten, ©. 208. 117. 182. 251. 

2) Die Bußordnungen gehen feit dem 11. Jahrh. ihrem Ende entgegen. 
In bie fpätere Zeit fallen nur noch einige Kompilationen. Waſſerſchleben, 
Die Bußordnungen der abendländiſchen Kirche, S. ob ff. 

5) Thomae Aquinatis Summa theol. IV, qu. 26. 





Die Liehesthätigkeit der dentfchen Reformation. 685 


bewährte fich auch hier: nicht das Unfichtbare, die Herzensgefiunung, 
fondern das Sichtbare, die Leiftung, die Geldzahlung Hat im 
weiteren Berlauf dem Ablaßtreiben das Gepräge aufgedrüdt. So 
ift die Liebesthätigfeit tief dadurch geſchädigt worden. 

Gleichzeitig mit diefem Umſchwung und che derfelbe feine ver» 
derblichen Wirkungen ganz entfalten konnte, machte ſich indes eine 
vertiefte und verinmerlichte Askeſe in einer Weiſe geltend, welde 
der Liebesübung zugute fam. Der Geift der Myſtik, welche ſchon 
zu Ende des 12. Jahrhunderts Frauen zu Propketinnen machte, 
durch ihren Mund Kirchenfürſten ftrafte, gegen den Reichtum und 
die Verweltlichung der Kirche, gegen die Üppigfeit und Zügellofige 
feit des Klerus Zeugnis ablegte, Hat damals namentlich in ber 
Frauenwelt zugleich mit dem Ernft der Buße den Eifer und bie 
Innigkeit der Liebe angefacht. Es war St. Bernhard, der auch 
auf deutfche Frömmigkeit Einfluß gewann‘), Er gab ihr die 
unmittelbare Bezogenheit auf die Perfon des Erlöfere. Seine 
Betrachtung des Verhältniffes der Seele zu Chriſto als eines 
bräutfichen war zwar einfeitig und konnte der religibſen Phantafie 
Anftog geben, in ſinnlich geartete Vorftellungen auszuſchweifen; 
aber der gefährlicheren Ausartung des Heiligenkultus geſchah durch 
fie einiger Abbruch, und nichts Geringe® war es, daß in jener 
Zeit, werm auch in unvolltommenem Ausdrud, die Herzen in ein 
unmittelbares Verhältnis zu Chriftus eingewößnt wurden. Wie 
oft Hat doc gerade aus dieſem bie chriftliche Liebesthätigfeit ihre 
ftächten Antriebe empfangen! Die aus der Geiftesart des Bern- 
hard entfprungene ältere Myſtil ſchloß dann leicht einen Bund mit 
der Aslefe, welche durch die gewaltige Perfünlichfeit des Franciscus 
von Aſfiſi ſchnell und weithin mächtig wurde. Denn auch hier 
war die Askefe liebreich und die Liebe asketiſch. Allerdings tritt 
die Trübung durch Aokeſe in den Geiftesgenoflen des Franciscus 
ftärfer hervor; die Liebe zu den Elendeften ift im Begriff, in eine 
Leidenschaft für das Efelhafte auszuarten, die Selbftverleugnung, 
diefe Begleiterin der Liebe, ſich zur Selbftmarterung und Selbft- 


3) Bgl. Breger, Geſch. d. deutſchen Myftif I, 82; er berichtet dies fpeziell 
mit Berug anf Hildegard von Bingen, 


686 Hering 


vernichtung zu verzerren; und auch diefe Trübungen haben fich auf 
jene myftifch angeregten Kreiſe übertragen. Immer war auch jo 
der Liebe nicht nur ein Vorbild ber Selbſtverlengnung in Ehrifto 
gezeigt, fondern ein Gegenftand gegeben, in ben ſie fi mit Innig⸗ 
keit verfenkte, um aus ihm Kraft und Imigkeit zu fchöpfen. 
Chriſtus ward in ben Elenden geſehen unb geliebt, ihm ward in 
den Niedrigen gedient, aus ihm der Lohn innerlich empfangen, 
während andere Belohnung verſchmäht ward. Beide Seiten diejer 
Sinnesart fpiegeln ſich in dem Leben der Landgräfin Elifabeth ab, 
die eine Diafoniffin von Gottes Gnaden gemefen ift. Bon An- 
fang ift in ihrer Frömmigkeit und demütigen Liebe ein Zug von 
Weltverachtung, doch zerftört derfelbe das lichte Bild des Menjd- 
lichen in ihr nit. Wir werden beffen gewahrt, wenn fie im 
ſchlichten wollenen Kleid barfug den Beljenftieg von der Burg zur 
Kirche Hinabfchreitet, um. mit ihrem Kinblein den Kirchgaug zu 
Halten, und wenn fie dann, nachhauſe zurückgelehrt, das Kleid den 
Armen ſchenlt. Befremdlicher ſchon, wenn fie einen Ausfägigen, 
den fie felbft gereinigt, in das Bett ihres Gemahls Ing. Dann 
teübt: ſich die Harmonie ihres inneren Lebens, feitdem, von der 
Zürforge Gregors IX. beftellt, Konrad von Marburg ihr Seel ⸗ 
forger oder. vielmehr der Beherrfcher ihres Seeleulebens und der 
Vernichter ihres perfünlien Willens wird). Es war gottver- 
ordnete Nachfolge Ehrifti, als die Künigstochter im frifchen Schmerz 
um ben Tod ihres geliebten Mannes mit ihren beiden Kindern im 
Winter aus der Wartburg hinausgeftoßen ward, vom Spott berer 
erfolgt, welde fie mit Wohlthun gefegnet hatte. Aber Härteres 
noch war ihr in der asfetifchen Schule jenes Menſchen aufbehalten, 
deu ihren Rucken geißelte und ihr Backenſtreiche gab, damit fie 
zun völigen Abtötung des Willens: gelange. Dort Iernte fie von 
der Mutterliebe loglommen und nur noch Nächſtenliebe für ihre 
Kinder Haben ?). 


3) Bol. die Auffäge von Wegele (in Sybels Hifl. Zeitſche. V, 351) 
und E. Ranke (im der Allgem. deutſchen Biographie). Gegen die Wegeleſche 
Schägung der Quellen ift zu beachten €. Wend, Die Entftehung ber Rein- 
hardtsbrunner Geidichtebilcher (1878). — Imbetreff ber veligiöfen Eindrücke, 
welche Elifabeth in ihrer Jugend empfing, wird der Hinweis auf die Mutter» 





Die Liebestätigfeit der deuiſchen Reformation. 687 


So lagert fi. Über einen der Tiehreichften Menſchen, welche 
über diefe Erde gegangen find, der tiefe Schatten der katholiſch⸗ 
möndijgen Ethik, fo ift Eliſabeth typifch für ihre Zeit, Tofern die 
möndifhe Anfhauung vom vallfommenen Leben in ihr ſich durch- 
feßt. Auch Hier verliert die Liebe zulett von ihrem Weſen: ftatt 
das Menſchliche zu vollenden, läßt fie die natürlichrfittlihe Seite 
des Menſchen untergehn. Die Bewältigung der Sinnlichkeit durch 
den Geift in dieſem Sinne verſtanden, führt zur Austilgung der 
Perfönlicpkeit, zum Bruch urfpränglicher Gottesorbnungen. 

Diefer astetifche Zug ift der Liebesthätigkeit alfer Frauen diefer 
Richtung eigen. Hedwig, die, Gemahlin Heinrich, des Bärtigen, 
hat al8 Herzogin von Liegnig den Druck der Slaven erleishtert, 
das Los den Gefangenen gemildert, auf eine menfchlichere Hand⸗ 
habung der Juſtiz duch ihren Einfluß hingewirkt und ihren Ge— 
mahl beſtimmt, ein Eiftercienferinnenflofter reich zu dotieren, damit 
es eine Erziehungsanftalt für arme Mädchen werde, Ebendieſelbe 
hat in 40 Jahren nyz einmal, als fie frank war, Fleiſch ge- 
geſſen; fie hat die Geſchwüre der Ausfägigen, die fie pflegte, ger 
tügt! — Jutta, aus dem Haufe der Herren von Sangerhaufen, 
30g, nachdem fie eine Zeit lang den Armen gedient und Ausſätzige 
gepflegt, 1260 zu den Preußen, um bort als Einfiedlerin für den 
Ehriftenglauben zu miffionieren. Ihre Kinder Hatte fie vorher 
— ihr Mann war auf einer Kreuzfahrt nach dem Beifigen Lande 
geftorben — ins Klofter gebracht. Befremdet uns an ſolchem 
Thun die felbfterwählte Asleſe, ehrwürdig bleibt, jener Richtung ent» 
ſtammt, die Freudigkeit, welche fich auch in dem van Gott auferlegten 
Kreuz behauptet, dem Peſſimismus wie der Selbſtſucht wehrt und 
den Liebesfinn fteigert. Die Heilige Elifath Hat nie, auch nicht 
während der Zeit der Härteften asketiſchen Übungen, jene Heiterkeit 
fi trüben laffen. Gleichen Sinnes Hat Hebwig, eine Kriftliche 





ſchweſter, Hedwig, welchen Ranke giebt, zu beherzigen fein; nimmt man hierzu 
die Notiz Pregers (I, 188), daß Hildegard von Bingen auf einer Reife 
nach Oſtfranken auch nad Kitingen gefommen fei, wo unmittelbar darauf 
Hedivig erzogen wurde, fo erſcheint es wahrjcheinlic, daß es die Sinuesart der 
Myfit war, welche durch Ermahnung und Vorbild diefer älteren Bermandten 
auf Elifabeth zuerſt einwirkte. 


688 - Hering 


Spartanerin, die Nachricht vom Tode ihres Sohnes, der über die 
Tataren fiegend fiel, mit der Danffagung empfangen, daß Gott 
ihr einen folchen Sohn gegeben. Was bedeutete es doc, wenn die 
Erziehung der Töchter des Adels htiffinnen anvertraut war, mie 
jener Gertrud v. Hadeborn, welche Bildung und praftifche Tüchtig- 
keit mit Liebe und Sanftmut verband, von der uns erzählt wird, 
daß fie, zuletzt gelähmt, ſich zu den Franken Schweftern tragen Tieß, 
um fie durch ihr Wort zu tröften, und, als auch die Sprade 
verfagte, durch den Blick des Auges, die Liebkofung der Hand ihre 
Liebe ausdrüctel Die Leidenswilligkeit und Leidensfreudigkeit, wenn 
fie in ſolcher Schule gelernt wurden, wie viel haben fie der Liebe 
an ihrem Werk geholfen ?)! 

Der Blick auf diefe wolhthuenden Erfcheinungen fordert aber 
doch zu einer anderen Betrachtung auf. Diefelbe Kirche, welche 
bier zur Verleugnung des Natürlichen anleitet, welche in der Los⸗ 
fagung von Mutter» und Gattenliebe ein Ideal der Vollfommen- 
heit zeigt, predigt Ablaß, fie ift nicht unintereffiert für irdifchen 
Befig, während fie den Gläubigen aus dem Boden natürlicher 
Gottesgabe und Ordnung bis zur Nichtachtung entwurzelt. Hierin 
zeigt fich ein tiefer fittlicher Widerſpruch, den die römifche Kirche 
niemals prinzipiell überwunden hat. Die asketifche Betrachtung 
bat zunächft zu einer Verkennung jener natürlichen Gottesorbnungen 
geführt, welche auch auf Eigentum und Beſitz ſich ausdehnt und 
ſchon in der patriftifchen Zeit kommuniſtiſche Gedanken ftreift *). 
Aus der Fiktion eines Urzuftandes Heraus, in welcher die Erde 
alfen gemeinfam gegeben worden fei, ermahnt Ambrofins, daß nie 
mand fein eigen nenne, was über das Bedürfnis Hinaus aus dem 
gemeinfamen Gut genommen fei; und Auguftin behauptet, daß die 
Ehriften den für fie zureichenden Privatbefig nicht als Eigentümer 


1) Breger I, 114 und die betr. Artikel in Herzogs Real-Enc. und 
der „Allgem. deutſchen Biographie“. 

2) Eine Sammlung patriftifcher Ausiprüche bei Brentano, Die Arbeiter- 
verſicherung gemäß ber Heutigen Wirtfhaftsordnung (1879), ©. 250f. Über 
die Ausführung und Weiterbildung diefer Gedanken bet Thomas von Aquino, 
Paraldus, Antoninus Florentinus und in ber Summa Astexana ift der Auf- 
fag Uhlhorns zu vergleichen, 





Die Liebesthätigkeit ber deutſchen Reformation. 689 


fondern als Armenverforger befigen. Scholaftiter wie Thomas 
und ©. Biel, auch die ethifchen Summen zu Ende des Mittelalters 
haben diefe Säge noch überboten. 

Man wird freilich wit urteilen dürfen, daß diefelben eine 
grundlegende Bedeutung hätten. Sie find nicht Grundlinien, fondern 
Hiffelinien am Syftem der asfetifchen Ethil. Würde mit ihnen 
voller Ernft gemadt, fo öffneten fie einem Kommunismus aus 
chriſtlicher Pflicht das Thor. In Wirklichkeit iſt nur dem Volle 
tommenen bie volle Befigentäußerung als evangelifcher Mat zuge 
mutet, während das Gebot der Liebe mit dem beſcheidenen Pflichte 
teil abgefunden wird, in der Außerften Not vom Überfluß dem 
Nãchſten beizuftehen *). Aber auch das Motiv der Verdienftlichkeit 
war ftark genug, um weithin zur Losſagung vom Beſitz bis zur 
völligen Enteignung zu beftimmen, und je reicher die Kirche wurde, 
defto jchroffer mußte, da der Sag: der vierte Teil des Kirchen 
vermögens fei Armengut, Tängft nicht mehr in Kraft war, jener 
Widerſpruch fich fühlbar machen. Wie tief er von ernfteren Geiftern 
empfunden warb, zeigen die Protefte, die Mahnungen, bie pros 
phetifchen Warnreden, die apofalyptifchen Weisfagungen, bie in der 
Kirche felbft Tant werden. Wie gefährlich ſolche Protefte waren 
zeigt die Geſchichte des Arnold von Brescia. Die Kirche des 
Mittelalters hat jenen ethiſchen Widerfpruch nicht überwunden; dieſer 
aber Hat fie felbft im den fchweren Verfall ziehen Helfen, welcher 
die kirchliche Liebesthätigkeit aufs tieffte mitbetroffen hat. Wir 
werden zu zeigen haben, wie fich in dieſem Widerfpruch, der durch 
die zunehmende Sntereffiertgeit der Kirche für das zeitliche Gut 
immer ſchroffer und unerträglicher wird, nicht einmal das asketiſche 
Motiv der Liebesübung in feiner Lauterfeit behauptet; dann aber 
tritt im Verlauf der abwärts führenden Entwickelung auch ber 
Schaden zutage, ber fih in jenen fommuniftifchen Sägen als 
Symptomen anfündigt, und deſſen Gefahr ſich durch die Glori⸗ 
fizierung der freiwilligen Armut noch mehr fteigert: die Kirche 
verfennt, daß die irdiſche Berufsarbeit eine gottgeordnete Form 
fittlicher Bethätigung ift, daß fie im Reich Gottes ihre Geltung, 


3) Bal. Uhlhorn a. a. O., ©. 60ff. 
Weol. Etub. Sahrg. 1885. 45 


[7] Hering ” 


fürs Selig ⸗ und Vollklommenwerden ihre Bedeutung behält; fo 
fieht fie nicht, daß der Befig zeitlichen Gutes für Diefe ſitiliche 
Aufgabe eine Vorausfegung und eben dadurch einen fittlichen Wert 
bildet; fo faßt fie eudlich die Liebespflicht nicht fo auf, wie fie 
mit der Berufspflicht in det Einheit bes Gehorſams gegen den 
Willen Gottes verbunden iſt. Jener Widerſpruch, welcher an der 
Kirche haftet, überträgt fi auch auf die Liebesübung, verwirrt 
jet durch juridiſche, jetzt durch adletiſche Auſchauung, kommt ihr 
Weſen nicht Mar und voll zur Geltung. Die Welt des Mittel- 
alters ift num zwar in der lirchlichen Auffaffung fo befangen, daß 
eine bewußte, prinzipieffe Auflehnung gegen biefelbe ſich nirgend 
durchſetzt. Erft die Reformation, welche eine evangeliſche Liebes⸗ 
lehre ftatt der einfeitig aoletifchen gab, welche die Kirche aus jenem 
fittlicgen Widerſpruch von Weltherrlichkeit und Weltverachtung be⸗ 
freite, Hat auch jenen natürlichen Gottesorbnungen, dem fittlichen 
Recht der Verufsarbeit und des Eigentums zu feiner Geltung im 
Neiche Gottes verholfen und fon dadurch in der Gefchichte ber 
chriſtlichen Liebesthatigkeit eine weus Epoche begründet. Doch aber 
Hat unbewußt der Lebemötrieb ber am Berufvarbeit und Erwerb 
fih fammelnden Gemeinſchaften eine Gegenwirkung gegen die Ge⸗ 
fahren, mit welden fte ſich durch bie Kirche bebroht ſahen, aus- 
gehen Laffen. Träger diefer Gegenwirkung ift das Bürgertum. 
Die Erfofge desfelben find von großer Bedeutung für bie An» 
gänge des Mittelalters wie für bie Reformation geworden; fo mag 
fih, da die Enwwicelung einen Langen Weg durdläuft, ein Zuruck⸗ 
gehen in die ältere Zeit rechtfertigen. 


4. 

Schr früh Haben auch in Deutſchland Laien, die eine Kirche 
fundierten, Rechte und dadurch Einfluß auf das kirchliche Leben 
erhatten. Schon im fiebenten Jahrhundert hatten fie es zu einer 
Aufficht Über die Verwaltung ihrer Stiftungen, je, zum Teil zu 
einem Nutzungsrechte gebracht ?). Eine Synode von Toledo 633 


1) Bol. Uhltorn, ©. baff. 
3) Blanc, Gefechte der Heiff. Geſellſchaftsverf. IT, 622. Rettberg 
u, e16fl. 


Die Fiebesthätigfeit ber deutſchen Reformation. LU} 


erlannie es fogar als billig, daß die Kirche einen verarmten Patron 
von ihren Gütern unterhalte 1), und im neunten Zahrhundert 
konnten Patrone ſchon begehrliche Hände nad dem Kirchengut und 
foger mach den Hirchlichen Opfern ausftreden ®). Dies fo früh 
bis zar Möglichkeit des Mißbrauchs erftarkende Recht war es ohne 
Zweifel, das auch Gemeinden, wenn fie irchen und kirchliche Ans 
ſtalten ftiften, zugute kam. Die Gefchichte der alten kölniſchen 
Pfarreien ift Hierfür um fo lehrreicher, als es eine kirchliche Mer 
tropole war, im der fi), unter den Augen der Erzbiſchöfe, von 
ihuen felbft ermöglicht, bie Bildung eines Gemeinderechts vollzog. 
Dort Hatten fchon im Jahre 641 die an ber Sudmauer der Alte 
ſtadt anfäffigen Ackerleute, Weingärtner, Schiffer und andere Ges 
werbtreibende die Kirche zum Beil. Jakob famt einem Pfarrhaus 
erbaut. Auf Grund dieſer Leiftung find die Leute dieſes Kirch⸗ 
ſpiels und die der anderen ähnlich eutſtandenen Parochieen im Bes 
fis faft aller Rechte, wie fie umfere neueren evangelifchen Kirchen» 
verfafjungen den Gemeinden erteilt haben, und ſchon damals werden 
diefe Rechte von gewählten Vertretern ber Gemeinden wahrges 
nommen, den Kirchgeſchworenen (jurati ecclesiae) die an anderen 
Orten auch Proviforen, Heiligenpfleger oder Heiligenmeifter heißen, 
und welche Hier und da ein weiterer Kreis von Bevollmachtigten 
umgiebt. Sie wählen und präfentieren den Pfarrer, verwahren 
die Heifigen Geräte und verwalteten das Kirchenvermögen wie fümt- 
liche kirchlichen Inſtitute. Das Armenvermögen gehörte in Köln 
zur Pfarrei ®). So erſcheint hier ein Gemeindereht, nicht auf 
Srund eines Prinzips, fondern als Weiterbildung eines Rechts, 
das bie moderne Betrachtung gern im Gegenfag gegen das Recht 
der Gemeinde auffaßt, des Patronats. Leiftungen find die 
Grundlage dieſes hiſtoriſch gewachſenen Rechts; biefe Gemeinde 
organe, die den Pfarrer wählen, haben Kirche und Pfarre auch 


2) Bland II, 626. 
2) Pland II, 781. 
8) Ennen I, 147. 641. 704ff. 714. Maurer, Geſch. der Städteverf. 
II, 876ff. Ein durch Umfidht ausgezeichneter Modus der Pfarrwahl, der allen 
Konflikten zwiſchen der Gemeinde und dem Domfapitel vorzubeugen ſucht, vom 
Jahre 1212, bei Ennen III, 799f. . 
46* 


[7] Hering 


gebaut und dotiert, fie erhalten die Gebäude im Stand umd er⸗ 
heben auch eine Kirchenftener, den Fahrdenar. 

Diefe intereffante Erfcheinung ift nicht vereinzelt; wie alle 
rechtlich⸗ ſozialen Gebilde des Mittelalters mit einer überraſchenden 
Beharrlichkeit fi weiter durchfegen, fo findet auch diefe ſich weiter⸗ 
bin in vielen deutſchen Städten 1). Mit ihr war ein erfter keim⸗ 
artiger Anfang einer Organifation der Liebesthätigkeit auf der 
Grundlage der Gemeinde gegeben, die der Kirche gänzlich verloren 
gegangen war. Träger eines Amts in der Ortsgemeinde waren 
doch mit der Austellung der Spenden und der Armenpflege beauf⸗ 
tragt ?). Für das Ganze des chriftlichen Lebens bedeutete aller- 
dings diefer Keim pfarrgemeindlicher Organifation nicht viel, und 
überdies ift er von einer anderen Entwidelung, von der der Städte, 
überholt worden. Wie oft ift es dem kirchlichen Gemeinderecht, 
diefer zarten Pflanze, begegnet, daß es unter dem Aufſtreben hand⸗ 
greiflicherer, die Welt mehr intereffierender Mächte oder im Kampf 
der Intereſſen, verfümmert if. So ift in der Blütezeit des 
Mittelalters, von der wir reden, das parochiale Gemeinderecht im 
Tommunalen faft aufgegangen, eine Entwicelung, welde für die 
Reformation fehr folgenreich geworden iſt. 

Denn die Kommune, das bürgerliche Gemeinwefen, wird im 
zwölften Jahrhundert eine lebensfriſche, aufftrebende Macht; das 
Streben nach Mehrung der Gerechtſame und freiheiten ift die 
Seele aller Verhandlungen und Kämpfe zwiſchen Bürgern und 
Stadtherren. Eben die Kreuzzuge, melde die Macht Firchlicher 
Gedanken in weltgeſchichtlichen Ereigniffen offenbarten und die Kirche 
Tide Leiftungskraft durch Zufluß von Schenkungen und Stiftungen 
erhöhten, öffneten auch dem Weltverkehr neue Bahnen und trugen 
dem Auge des abendländifchen Kunftfleißes neue Anfchauungen als 
Vorbilder zu. Namentlich Süddeutſchland und die Rheingegenden, 
welche der neuen über die Alpen führenden Handelsſtraße am 
nädhften waren, blühten auf; die Städte legten die Geftalt unbe» 
deutender Heiner Ortfchaften ab, der Naturalienaustaufch wich einem 


1) ®gl. Maurer I, 876. 
3) Mone, Zeitſchrift I, 188f. 


Die Liebesthätigkeit ber deutſchen Reformation. 6 


gefteigerten Geldverkehr; bie Verfaffung der Städte, welche Lange 
der eines großen Fronhofs ähnlich geweſen, nahm jet immer 
mehr Beftimmungen bürgerlicher Selbftverwaltung in fi auf; und 
die Bürgerfcaften felbft mußten im Gefühl ihrer Kraft fich der 
Abhängigkeit von den Stadiherren, auch den Bifchöfen, zu ent 
ledigen. Vergleih und Kampf nah Umftänden brauchend, zieht 
fich diefer Prozeß durch das ganze dreizehnte Jahrhundert, um in 
einer Biſchofsſtadt wie Straßburg um 1300 mit der Abftreifung 
aller Rechte der alten Stadtherren und dem Übergang in eine freie 
faiferliche Reichsſtadt zu enden 1). 

Eben Hier, in Straßburg, tritt die Folge, welche diefer Um⸗ 
ſchwung für das Armenweſen gewinnen follte, lehrreich hervor. 
Schon im Jahre 1263 erlangte die Stadt nad; breijährigem 
Kampfe mit dem Bifchof Walter v. Geroldseck unter anderen 
wichtigen Rechten der Selbftverwaltung auch die Abtretung der 
Hofpitalverwaltung an die bürgerlihe Gemeinde®), 


1) Bgl. Schmoller, Strafburgs Blüte und die volfswirtfhaftliche Re 
volution im 13. Jahrh. (Strafburg 1875). 

3) gl. die allgem. Einleitung Hegels zu Bd. VIII der Ehronifen ber 
deutſchen Städte, S. 32. Hiernach wird die Erklärung zu beanftanden fein, 
welde v. Maurer in feiner Geſchichte ber deutſchen Gtäbteverfaffung für die 
Thatfache giebt, daß „längft vor der Reformation bie Armen- und Kranken- 
pflege (richtiger: die Verwaltung der Hofpitäfer in ben Städten) aus ben 
Händen der Geiftlihen und öfter in bie ber Stadträte gelommen if”. 
Maurer giebt als Grund Hiervon die Steigerung des Verkehrs an, der viele 
umbemittelte Leute in die Stadt gezogen und fo eine Vermehrung der Mittel 
der Armen- und Krankenpflege veranlagt habe. So feien denn in allen heran- 
firebendeu Städten von der Geiſtlichkeit unabhängige Armen- und Kranfen- 
Häufer, Findel und MWoifenhäufer errichtet worden (Wb. III, ©. 102; vgl. 
auch Bd. IH, ©. 46f.; Bd. IV, &.101). Hiergegen iſt zu fagen, daß ohne 
vorhergegangene Ünderung ber rechtlichen Kompetenz die bürgerfic;e Gemeinde 
nicht einmal die Selfverwaltung ihrer eigenen Gründungen hätte beanfpruchen 
Tonnen, höchftens das Patronat. Noch weniger aber if aus ihren Leiftungen 
die Erlangung des Rechtes auf Verwaltung eines ſchon Tänger beftandenen, 
vorher der biſchöflichen Verwaltung unterftellten Hofpitals zu erklären. Und 
doch Hebt, wie der Strafiburger Fall zeigt, den v. Maurer unter anderen ar« 
führt, ohne ihm als Schläffel für die Erklärung ber folgenreichen Veränderung 
zu benugen, biefe mit einer Kompetenzänderung an. 


1.73 Hering 


Eine Reihe analoger Erſcheinungen ſchon in ber nächften Zeit zeigt, 
daß wir es nicht mit einer vereinzelten Begebenheit, fondern mit 
dem Reſultat einer in allen Städten ſich regenden Beftrebung zu 
thun Haben. Köln ift 1275 nad) Kämpfen, die fich faft durch das 
ganze Jahrhundert Hindurchziehen, dahin gelangt, den Erzbiſchof, 
den bifhöflichen Offtzial, auch den Kaiſer umd defien Beamte, von 
der Teilnahme an der ftädtifchen Verwaltung auszuſchließen. In 
Fraulfurt gewinnt die ftädtifche Verwaltung vom Jahre 1278 bis 
1293 völlig die Oberhand; und die mittel- und norddeutfchen 
Städte laſſen den gleichen Zug mit gleichem Erfolge erfenmen. 
Über die Erfurter Bürger hat fi ber Erzbiſchof Bitter zu 
beklagen, daß fie alle feine Rechte an ſich geriffen, md in Magde- 
burg ift 1285 der Innungsmeifter Stockviſch als erfter Profurater 
des Geiſthofs genannt ?). 

Was das Bürgertum veranlaßte, die Hände nad ber Ber- 
waltung der milden Anftalten auszuftreden, war nicht Einſicht in 
die Mängel, mit denen die kirchliche Armenpflege behaftet war, 
fondern das Jutereſſe an der öfonomifchen und finanziellen Seite 
derjelben. Dies Intereſſe war in den durch Wohlftand zu Blüte 
und Freiheit gelangenden Städten ungemein lebendig. Wir erleben 
es gegenwärtig wieder, daß Befteuerungsfragen durch ihren Zu ⸗ 
fammenhang mit großen volfswirtfchaftlichen Reformgedaulen weit 
über die Wedentung bloß öfonomifdjer Maßregeln Hinansgehoben 


1) Ennen II, 214f. 408. 41df.; vgl. fürs 14. Jahrh. ©. 4975. — 
Kriegk, Deutfces Bürgertum, ©. 82. Bod, Das Armenweſen zu Magbe- 
burg, ©. 227. Maurer, Städteverf. I, 645. — BgL ferner für Münnberg 
Fräntiihe Chroniken, Bd. I, S. XXIX; für Ungeburg, wo ſich üfnliche 
Kämpfe unter Dazwiſchenkunft des Kaifecs ſchon im 11. Jahrhundert finden, 
dv. Stetten, Geil. von Augsburg I, 49. Die obige Darlegung berichtigt 
auch die Uhlhorns („Borfindien“ in Briegers Zeitiehrift, S. 49%.), nad) 
welcher die ſtädtiſche Reaktion als durch ſchlechte Spitalverwaltung ber Kirche 
hervorgerufen erſcheint. Die Oppoſition geht vielmehr gegen daB kirchliche 
Guterweſen; und erſt fpäter bringt ber Verfall ber kirchlichen Inftitationen 
noch ein anderes kritiſches Moment im jenen Gegenſatz. — Ratziuger geht 
auf die fogialen Urſachen jener Änderung in der Berwaltang der Hofpitäler 
nicht ein; den umfihtigen guten Hanshalt der Bürgergemeinden erlennt er an 
(&. 280). 


Die Liebesthätigkeit der dentſchen Reformation. 605 


werden. Ein gleiges wird man im Mittelalter bemerken. Die 
deutſchen Könige Hatten Urfac genug, alle Geldangelegenheiten mit 
dem größten Nachdruck zu behandeln *); für das deutjehe Bürger 
tum war es in gleicher Weiſe Lebensfrage, alle Schädigung, Ber 
einträctigung, Minderung ber Einkünfte abzuwehren und nad 
neuen Einnahmequellen zu forfchen. In diefem Beftreben Hatte es 
fi zu wehren gegen die mit Grumdbefig und mit Rechten veich 
ansgeftattete und den Befitz fietig erweiternde Kirche; und die 
chriſtliche Liebesthätigfeit hing fo eng mit ber mittelalterlichen Wirte 
ſchaftsordnung und ducch diefe mit dem kirchlichen Gütermefen zu⸗ 
fammen, daß fie in die fozialen Kämpfe zwifchen Bürgertum und 
Kirche mit verfloten ward. Denn wenn auch nicht in fo unge 
heuerem Umfange wie bie Klöſter, Hatten doch auch die Kirchen 
und Hofpitäler Grund und Boden zueigen, und biefer Grund 
befig war in beftändigem Wachſen, vermehrte fich durch jede Stife 
tung. Da nämlich das kanoniſche Recht unter hauptſüchlicher Bes 
rufung auf Luk. 6, 34. 35 das Zinsnehmen als Wucher verbot, 
fo legte man jede Geldfumme, um einen Ertrag zu erhalten, in 
Grundftücen an. Man Taufte das Obereigentum und empfing 
don dem Untereigentümer die vorher ausgemachte „Gült“, eine 
Jährliche Rente ). Wer die Schenkung eines Kapitals beabfichtigte, 
deffen Zinfen Armen zugute kommen follten, Tegte dasſelbe in bie 
Hände einer Kirche, eines Hoſpitals oder eines Kloſters, und diefe 
Tonnten den übernommenen Verpflichtungen nur nachlommen, indem 
fie das Obereigentum eines Grundftücks, eines Haufes, oder eines 
Feldes erwarben und den Untereigentümer zu der Lieferung ber 
Naturalien verpflichteten, welde die Spende erforderte. Es mar 
fon überhaupt für die bürgerliche Gemeinde mißlich, wenn in der 


1) Waitz, Deutſche Verf.Geſch. VIII, 216ff.; VII, 180 ff. 

2) Über die verſchiedenen Arten dieſer Anlage von Kapital vgl. Arnold, 
Geſchichte des Eigentums (1861), ©. 6Off. Mach Arnold if ber „Seel 
zius“ eine Übergangafufe vom Grundzins zur Rente (S. 95). — Eine po— 
pulare Überficht giebt Benfen in der Meinen lehrreichen, aber zu kritiklos 
die mittelalterliche Urmenpflege lobenden Schrift: „Ein Hofpital im Mittel- 
alter” (Megeneburg 1853). Bol. auch Kriegt, Burgerzwifte, S. 91 ff. 


6% Hering 


Stadtmark die Kirche, diefe Großgrundeigentümerin, ſich Immer mehr 
ausbreitete. Die Grundſtücke wurden durch die Leiftungen befaftet; 
wirtfchaftete die Anftalt felbft, fo beengte fie den bürgerlichen Ge⸗ 
werbfleig, der über feinen Marktgerechtigfeiten mit Eiferſucht wadhte, 
mit ihrer Konkurrenz. Oft genug verzapften Mlöfter und Hofpitäler 
den Wein, der in ihren Vefigungen gewachſen war, felbft, und 
brachten ihr Korn molterfrei — frei von Mahlgeld — zur Mühe. 
Gaben fie aber ihre Güter in Erbpacht oder legte fie als „ewige 
Gulte“ an, jo konnte e8 etwa in ſchweren Zeitläuften gefchehen, 
daß die Häufer und Güter verfielen, weil weder Eigentümer noch 
Pächter fie in gutem Zuftand erhalten mochten !). 

Bon befonderer Wichtigkeit aber war es für die ftädtifchen 
Gemeinden, die Abgabenfreiheit der Geiftlihen nicht ſchraukenlos 
fi erweitern zu laſſen. Daß die Kirche für die Bedürfnife des 
Gemeinwefens und für das allgemeine Beſte Beiträge zu geben 
nicht vermeigere, hatte Innocenz III. vorausgefeßt, als er auf dem 
vierten Sateran-Konzil betonte, daß die Laien ſolche Hilfe als eine 
freiwilfig gewährte mit Dank aufzunehmen hätten ?); aber in der 
Folgezeit wurden diefe Defrete als Anhalt für Anfprüche auf völlige 
Steuerfreiheit von ben Geiftlihen benugt. Die Gegenwehr ließ 
nicht auf fih warten ®). In Deutſchland trifft 1266 Erzbiſchof 
Engelbrecht von Köln die Beftimmung, daß alle Kirchengüter, ja 
auch das Eigentum kirchlicher Perfonen in der Stadt und der 
Diderfe Köln von allen Zöllen und Laften frei fein ſollte %): wenige 
Jahre darauf ift die Stadt Herrin aller Berwaltungsangelegen- 
heiten. Fortan fehen wir beutfche Stadträte gegen bie Ermeiter 
rung des Grundbefiges der Geiftlichen und der geiftlihen Juſtitute 
innerhalb der Stadtmarf Beftimmungen treffen. Sie behalten ſich 
bei Kauf und Schenkung die Genehmigung vor und=jegen einen 
Termin feft, bis zu dem die Geiftlihen ein an fie gegebenes 


1) Kriegk, Frankf. Bürgerzwifte. 

2) Conc. Later. IV, can. 26 bei Pland, Gef. der Griff. kirchlichen 
Geſellſchaftsverf, Bd. IV, Abſchn. 2, ©. 200. 

8) Bland IV, 218ff. 

4) Bland IV, 209. 


Die Liebesthätigkeit ber deutfchen Reformation. 6 


Grundftüd wieder zu veräußern haben !). Ein Gegenzug, den bie 
politiſche Klugheit der Italiener erfonnen hatte, wurde fo auch in 
Deutfhland zur allgemeinen Magime ?). 

Das neue Berwaltungsreht war von gleicher Bedeutung für 
die chriſtmilden Anftalten, wie für die bürgerlichen Gemeinden. 
Für jene ſchloß es Schug gegen willfürliche Entfremdung ihrer 
Guter, für diefe die Möglichkeit ein, einer allzu großen Aufftanung 
von Grumdbefig der Anftalten zu begegnen. Wir werden fehen, 
daß in der Periode des Verfalls des kirchlichen Lebens dieſe bürger⸗ 
liche Verwaltung eine noch weitere Tragweite gewinnt. Schon 
jet reicht diefelbe über den Punkt hinaus, gegen den ber Stoß ſich 
richtet. Nicht bloß die Biſchöfe werben ihres Einfluſſes ledig, 
auch die Rechte der Kirchfpiele werden herabgemindert. Nachdem 
Finanz und Steuerfragen einmal zu Ausichlag gebenden geworben 
waren, mußten auch jene „Kirchgeſchworenen“, der Aufficht bes 
Stadtrats unterftellt werden. Und oft blieb es micht bei der Aufe 
fiht. In jenem Zeitraum war es berechtigt, alle Lebensintereſſen 
der bürgerlichen Gemeinfchaft au von ber Inſtanz vertreten zu 
laſſen, welche die Macht Hatte. Ein zentralifierender Zug geht 
daher durch die erftarfenden ftädtifchen Kommunen. Wie die Vor⸗ 
fteher der Orte, die ſich an eine Altftadt anſchließen, ſich in fie 
einverleiben lafjen, die Burrichter, zu ausführenden Beamten des 
Stadtrats Herabfinten ®), fo werden auch die Vertreter ber Kirch⸗ 
gemeinden oft zu bloßen Organen ber Stadträte. Diefe werben 
immer ausgeprägter zu einer Obrigfeit mit kirchlichen Befugniſſen 
für Sittenzucht, wie für die Aufſicht und Verwaltung aller Güter 
und Anftalten der Barmherzigkeit. Im Jahre 1510 ließ ber 


ı) Hällmann, Städteweſen des Mittelalters (1829) IV, 128ff. So 
in Regensburg 1308, in Münden 1345. In Köln warb 1885 beichloffen, 
daß Vermãchtniſſe an Geiſtliche nicht mehr flattfinden follten, diefe wären dann 
dem Stifter verwandt. Ähnliche Beſtimmungen in übel. Kür Halberftabt 
dgl. Urtundenbuch, Heransgeg. von Schmidt, Bb. IL 

2) Die Florentiner waren nad Pland IV, 219 die erfien, die ein ber. 
artiges Geſetz erließen, nämlich ſchon tm Jahre 1218. 

8) v. Maurer, Stäbteverf. I, 550. 


ws Hering 


Rat von Köln an fänntlichen SHofpktälern das Stadtwappen an- 
bringen *). 

Denn nun Hinfort der Rat die Spitalpfleger ernennt, die 
Hausordnung erläßt, die Hoſpitalbeamten beauffichtigt und die Seh. 
nungen präft?), fo ift man doch nicht berechtigt zu fügen, ſchon im 
Mittelalter fei die Armenpflege aus einer kirchlichen eine burger⸗ 
Ude geworden. Das Mittelalter weiß von eimer folden im wor 
dermen Berftande nichts. Hier iſt kein Gefek, das den Kommunen 
auferlegte, fir ihre Armen zu forgen, ober das den Armen bes 
rechtigte, für fich Unterftügung zu verlangen. Wohl treffen die 
Städte aus den gemeinen Mitteln Vorkehr in Zeiten allgemeiner 
Not; fo dffnet Nürnberg im Jahre 1437 die Kornböden und 
Tauft, als ber bort aufgefpeicherte Vorrat nicht zureicht, noch für 
14 000 Gulden (gegen 300 000° Mark nad) heutigem Geldwerte) 
Getreide nach 2); aud empfangen wohl bie Hofpitkfer von der 
Stadtgemeinde Holz und Weibegerechtigkeit auf ber Almende, der 
Gemeinmweibe; und beim Ratswechſel wird den Yufaffen Her Ho- 
fpitäter, M öfter und ben armen Beghinen ein Geſchenk aus der 
Stadtkaſſe verehrt; aber alle diefe auferorbentlichen Teiftungen, mag 
ihnen altes Geſetz ober nur Brauch und Gitte zugrunde liegen, 
begründen nicht den bürgerlichen Charakter der Armenpflege über- 
Haupt). Bielmehr ift es, wenn wir an die Summen, welche 


1) Ennen III, 818. 

2) In Magdeburg ernannte der Rat zivei Bürger als Kuratoren, welche 
alle zwei Jahre im Beifein des Vredigers ber St. Gertraudentapelle dem Rat 
Beſcheid uud Meinung über bie Bermaltimg obpulegen hatten. Bond, &. 264. 

8) Fränk. Chroniken I (Nürnberg), ©. 455. Ebenſo verfährt Augsburg. 
Karl der Große hatte ſchon die geiſtlichen und weltlichen Großen zu einer fol« 
hen Fürjorge im Zeiten der Teuerung verpflichtet (Nitzſch, Miniſterialität 
ud Bürgertum, ©. 93). Bon Kaifer Heinrich IV. wich berichtet, daß er in 
Hungerjahren viele Tauſende gefpeift (Wait, Verf.Geſch. VIII, 236f.). 

4) Am meiften erinnert es an eine Armenſteuer, wenn 1256 der rheiniſche 
Stäbtetag beſchließt, daß jeder Einwohner einer Bundesftadt, der mindeſtens 
5 Mark befigt, jährlich an einem beſtimmten Sonntag 1 Pfennig als Almofen 
an bie beftellten Gamer (Geſchworene) abliefeen fol (Kriegt, Deutſches 
Bürgertum, ©. 162). Wer eben dieſer Beſchluß macht das veligiäfe Motiv 
aufs flärkfte geltend, . 


Die Giebestfätigfeit der beutfchen Reformation. ce⸗ 


unfere heutige burgerliche Arwenpflege braucht, an den Titel 
„Armenpflege“ in den Haushalts⸗Etats der Städte denlen, für das 
ganze Mittelalter charalteriſtiſch, daß die Stadtrechnungen des 
reichen Nurnberg, deſſen Hoſpitäler noch Heute von der Fürſorge 
der Vergangenheit zeugen, außer den Koſten jener außerordentlichen 
Maßregeln nicht eine einzige Ausgabe für die Armen oder für die 
Bflegeanftalten aufweiſen ). Nur bie Verwaltung ift bürgerlich, 
der Geift der Armenpflege bleibt der kirchliche. 

Und au die Formen der Berwaltung befunden noch den Ein« 
flug der Kirche. Das moderne Bewußtſein hegt von bürgerlichen 
Inſtitutionen, fo wie fie der Abgrenzung gegen Firchliche Befugnis 
dienen, Berftellungen, welche da8 Bürgertum des Mittelalters nicht 
tennt. Auch jene aufftrebenden Städte, welche Selbftgefühl genug 
haben, um mit Biſchbfen Krieg zu führen, denen nicht daran, 
tirchliche Lebensthätigkeiten zu hemmen. So ordnen fie aud das 
Hoſpitalweſen mit Sreilaffung für den Einfluß der Kirche. Wenn 
der Rat einem bürgerlichen Spitafmeifter die Leitung bes Hauſes 
überträgt, fo läßt er doch die Pflege der Kranten in den Händen 
der geiftlichen Brüder» und Schwefterfchaften; ober er überträgt 
fie den Beghinen, fo lange dieſe kirchlich und ſittlich unbefcholten 
find. Es bfeibt dafür geforgt, daß ein Geiftliher an der Ka⸗ 
pelfe des Hofpitals angeftelft fei, welder die Meffe lieſt, Beichte 
hört, bie. Abſolution erteilt, Bußen auflegt und die Sakramente 
verwaltet. Die Pfleglinge felbft werden nicht nur zu unanftößigem 
Wandel and zum Gehorfam gegen den Meifter, fondern zu chriſt⸗ 
lichem Shane in ber Hoſpitalordnung ermahnt: Sie follen ger 
demittigten Sinnes fein, ſich der erfahrenen Barmherzigkeit nicht 
überheben, amdädtig allezeit Gott Dank fagen. Man fchärft 
ihnen die in ſolchem Zufammenfeben fo Ieicht gefährdete Fried⸗ 
fertigkeit ein, „daß fie nicht täglich Kriegen miteinander vor Klaffen, 
vor Murmelung und vor gehäffigen Wirken‘. Auch dem Kaplan 
wird, wie es nur eine Kirchenordnung zu thun vermag, feine Pflicht 


1) Bal. Fränk. Ehronifen, Nürnberg, I, 392. Im Miürnberger Geift- 
Hofpital werden noch gegenwärtig 180 alte Leute unterhalten (perſönliche Mit - 
teilung des evang. Hofpitafgeiffihen). 


700 Hering 


dorgehalten. Er foll keuſch, mäßig, gütig, demittig fein, von volle 
tommenen Sitten, vor allem erwärmt vom euer der göttlichen 
Liebe, daß er die Krankheit ber Elenden mittrage in gütigem Mit 
leiden und als ein guter Hirte und Vater auf das geiftliche wie 
auch für das leibliche Wohl ber Armen ein Auffehen habe. Aus 
der Bedeutung des Wohlthuns für das Seelenheil der Wohlthäter 
erklärt fich die ſtatutariſch erteilte Mahnung, im Gebet ein fleifiges 
Gedächtnis der Wohlthäter zu üben. Es foll da fein — Heißt 
es in der Hofpitalorduung, die diefer Darftellung zugrunde 
liegt — „eine volltommene Wandelung und eine Möfterliche 
Zucht“ 1). Wahrſcheinlich alfo waren für die ſtädtiſchen Ord⸗ 
nungen Formen vorbildlich, welche die Kirche ſchon vorher ge⸗ 
ſchaffen hatte. 

Noch bemerkenswerter iſt dies Zuſammengehen von Kirche 
und Bürgertum in den Gemeinſchaftsbildungen, welche in die Ent⸗ 
twidelung ber Städte tief eingegeiffen haben, den Gilden und 
Innungen?). Die Bürger, welde zu Befig, zu Rechten und 
Freiheiten gelangen, fehen wir einem Zuge zur Vergeſellſchaftung 
folgen, der ſchon im ſechſten Jahrhundert -anhebt ®), jet aber 
mächtig ward und die Keime einer Ummälzung der Stadtregierung 
in fi trug. Die Körperfchaften, die er entftehen ließ, waren Ge⸗ 
werksgenoſſenſchaften, die zugleich gegenfeitiger Hilfsleiftung wie 
freier Gefelligfeit dienten. Diefe Gilden und Zünfte erſcheinen 
wie ein bürgerliches Nachbild der kirchlichen Orden. Wie in biefe 
die Beſchaulichkeit einging, fo verfaßte ſich im jeme die Arbeit. 
Zugleich verbanden fie die durch das Bewußtſein gemeinfamen 
Berufs und durch Bruderfinn Verbundenen zu einem in fich ge- 
ſchloſſenen gefelligen Verkehr; endlich aber hingen fie mit der Kirche 


1) Benfen a. a. O., ©. 64 u. 80fj. Dort bie Statuten des Hofpitals 
zu Rotenburg a. T. Die Spitalorbnungen anderer Orte werben oft ähnlich 
verfaßt fein. Hierauf führt 3. B. die kürzere Ordnung des Spitals auf ber 
Rheinbrüce bei Konſtarz. Mone, Zeitſchrift I, 148. Bol. auch Fechter 
in den „Basler Beiträgen zur vaterl. Geſchichte“ IV, 386. 

%) Bol. Wilde, Das Gildenwefen des Mittelalters. 

3) Über die Anfänge vgl. Hartwigs Unterfugungen in d. „Forſchungen 
zur deutſchen Geſchichte“ I, 133 ff. 


Die Lichesthätigkeit ber deutſchen Steformation. 701 


und dem kirchlichen Kultus aufs engfte zufammen. Jede Zunft 
hatte ihren Schugpatron und in der Kirche ihren Altar; bie Mit- 
glieder feierten ben Tag der Heiligen gemeinfam; fie geleiteten ihre 
Berftorbenen zu Grabe, wohnten ber Totenmeffe bei und kamen 
den Abgefchievenen im Fegefeuer mit Gebet und Almoſen zuhilfe. 
Schon dieſe Feier ward Anlaß zu Spenden, zu Armenfpeifungen, 
zu Austellungen von Tuch zu Kleidern und Schuhen, wie fie die 
Feier des Anniverfarius mit ſich brachte. Aber von größerer Bes 
deutung waren die Hilfsleiftungen, welche die Lebenden einander 
erwiefen. Denn „zu brüberlicher Lieb’ und Treu's, zum gemein 
famen Tragen von „Lieb und Leib“ verpflichtete man ſich. Die 
Junung forgte für bie Verpflegung Kranker, für die fie etwa im 
Hofpital befondere Betten unterhielt; fie nahm ſich befonders in 
der fpäteren Zeit der Walfen ihrer Mitglieder an; fie nahm die 
Witwe und ihre Nahrung in Schug und ſchaffte ihr Unterftügung. 
Nun ift chrifiliche Näcjftenliebe zwar als Brüderlichkeit in Chriſio 
ebler Art, „frei und gemein gegen alle Ehriften“, wie Luther fpäter 
erinnert; aber daß eine ſoziale Erſcheinung, wie jene Gilden, ſich 
fo vom Sinn Hilfreiher Furſorge durchdringen ließ, war doch eine 
Frucht des chriſtlichen Geiſtes. Der Erziehung zu chriſtlicher Liebe 
hinwiederum war es fürderlid, wenn die Einzelnen in einem Ver⸗ 
bande ftanden, der fie vor egoiftifcher Weyfafgung der „materiellen 
Intereſſen“ bewahrte. Wieviel behamiekıss. doch, daß hier der 
Wetteifer vorwärts ftrebender Kräftezanuher Gemeinſchaft eine fitt- 
liche Schranke Hattel Auch das gewerblichn Leben blieb davor ger 
fügt, die Einzelnen nur im Kampf vwädchtslofer Konkurrenz 
fi) bewähren zu laſſen. Und bie freie Arbeit felbft, die damals 
gegenüber dem Anfcwellen der Orbensgemeigähaften die fozial- 
ethiſche Bedeutung einer rettenben That Hattezsifie hätte ihre Aufe 
gabe nicht gelöft, wäre fie nicht Ehrenſache einer von Selbſtgefühl 
befeelten Gemeinschaft geworden. Won hier aus ergab fi von 
felbft, nicht auf theoretifchem Wege, fondern durch die Macht des 
wirklichen Lebens ber Anfang einer Umbilbung der fittlihen Vor⸗ 
ftellungen. Hier, bei der Arbeit, Ternte der deutfche Bürger eine 
Selbftfhägung nach der Tüchtigkeit, die gegen die einfeitig asketiſche 
Lebensſchatzung ein Gegengewicht bildete. Erwerb und Eigentumg« 


202 Hering ” 


befig esfchlenen nun nicht mehr als etwas, das nun einmal im 
dem Zuftend, den die Glinde in bie Welt gebracht, notwendig fei, 
defjen fich aber der Volllommene zu entlebigen habe; fie gaben 
igren Wert von felbft zu erkennen. Armut und Vollkommenheit, 
welche die Kirche auf einander bezogen hatte, loſten dieſe Ver⸗ 
bindung; der Blick für die Armut als ein Übel erſchloß fi, und 
fo nahm denn auch die Hilfsleiſtung jenes vorbeugende Moment 
in fi anf, das die Kirche nicht kaunte. Es galt, den Gilde⸗ 
bruder, die Gildefchwefter nit verarmen zu laffen. Dieſen Fort» 
Schritt förderte jenes Ehrgefühl, das fi auch damals am Bes 
wußtfein bes korporativen Bandes ftärkte; und eine ftraffe Die 
ziplin, die jeden Verſtoß gegen das Gtatut mit Bußen belegte, 
gewann auch für das fittliche Leben einige Bedeutung, um fo 
höhere, je mehr die Kirche ihre Zucht verfänmte und felbft zuchte 
loſes Wefen in fi aufnahm. Das Wert: „Zünftler müflen fo 
rein fein, als ob fie von den Tauben gelefen wären!“ fprac das 
fittliche Selbftgefühl jener Kreiſe aus. Underfelts barg dieſe 
torporative Zufammenfaffung auch bie Gefahr der Vereinsfelbftfucht 
und Borntertheit in fih, die am Verfall des Bunftwefens ihren 
Anteil hat; wir werden Luthers Tadel über den Mangel an criſt⸗ 
licher Nachſtenliebe, ber Hitrans entjprang, vernehmen; aber wenn 
ſich an den gefhichtlidptertvachfenen Formen des Voltslebens Ver⸗ 
bildungen zeigten, fo&erduißeten fie doch eine padagogiſche Bedeu⸗ 
tung; waren fie and) miht utellorte, fo blieben fie dod Sam ⸗ 
melorte für ſittliche? Mühe, in denen fih auf lange Tuchtig- 
keit, Ehrbarteit, EHBEREBL und der Sinn brüderlicher Dienſtwillig ⸗ 
keit erhielt. 1 Aisd“ 

Die robuften did" regfamen Kerufte, welche ft in dieſem Auf ⸗ 
wartsſtreben ber “Ühittferen und unteren ſozialen Schichten offenbaren, 
begten num zwar fittliche Momente in ſich, die der Zucht⸗ wie der 
Liebesübung zugute kamen und zu den von ber Kirche verſäumten 
natürlichen Gottesordnungen zurüchzulenken antrieben; aber fie 
reichten doch bei weitem nicht hin, um bie Gefahren und Schäden 
abzuwenden, deren tiefe Schatten auf dem ganzen Zeitalter Liegen. 
Nachdem das Stanfengefcplecht überwunden war, blieb das Rei 
nicht mehr Träger hoher idealer Aufgaben; der Saftzug der leben⸗ 


Die Aebesthauigkeit det dentſchen Neformation. 208 


digen Kräfte ergoß fich in die Heineren im Werden begriffenen 
Gebilde des politiſchen und ſozialen Lebens; bie kleineren Staaten, 
die Nationalitäten, die Städte. Aber ber Lebenstrieb, der an ber 
Auftöfung der alten fo fange alles tragenden und. zufanmmengalten« 
den Macht fich ftärkte, hatte etwas Gelbftfüchtiges, Rückſichtslofes; 
jeder Fortſchritt wurde durch Kumpfe gewonnen, welche Härte und 
Rohheit keunzeichnete. Fanerhulb der nen ſich bildenden Gemein⸗ 
ſchaften waltete ein Bruberfian, aber eng waten bie Grenzen, 
welche Gilde und Imuugt zug gegen die Handwerke, bie nicht für 
gleich ehrlich galten; innerhalb jener Gemeinſchaften war bie Kon⸗ 
turrenz gezugelt durch die Über ben einzelnen übergreifende Macht, 
aber das hinderte nicht, daß arm und reich, vornehm und gering 
in einem Wettfampf rangen, dei dem chrijtlichen Liebesfiun, ja, 
den dotderungen der Gerechtigkeit, ber Mäßigung ben Einfluß 
auf die fezialen Strebungen wehtte und damals wie heute dafür 
Zeugnis ablegte, da die berechtigtſten, jugendfeifcheften Fortſchritie 
des Volfstume zu ethiſchen Hücfchritten werden ohne Vertiefung 
im Chriſteuum. Daß die Kirche jener Zeit, des vierzehuten und 
fünfzeguten Jahrhunderts zw diefer Vertiefung richt auregte, das 
war ihre Schald und ward ihr Gericht. So entſtanden die harten 
Zeiten, welche die Reformation heiſchten. 

Schon in den Jahren des Juterregnum melden fig ihte Bore 
zeichen an. In den Predigten des Berthold von Regeneburg, 
die gerade damals gehalten wurden, ſehen wir wie im einem 
Spiegel das Bild bes Bollslebens uns entgegentreten; ein gewiß 
unteigliches, denn der berühmte Frauzislaner Hat in feinen Strafe 
reden offenbar aus der fpeziellften Vertrautheit mit ben Zuftänben 
und in ber fchneidigften Abzielung auf feinen Hürerfreis gejprerhen. 
Es ift ein buntes, farbenreiches Bild, aber mit vielen dunkelen 
Bügen! Geiz iſt ſeht gemein in allen Stünden. Da giebt jener 
Waſſer für Wein; ein anderer verkauft Luft für Brot und macht 
es mit Hefen, daß es innen Hohl wird. So Hat der unrechtes 
Gewicht in ſeinem Kram oder unrechte Elle. Der Mantelmacher 
giebt mit Stärke einem alten Lumpen das Ausfehen eines neuen 
und verkauft ihn an einen armen Kuecht, der vielleicht ein halbes 
Jahr darum gedient hat. Hohe Herren unterbräden den Armen, 


Dienftboten 
veruntreuen das Gut ihrer Herrſchaften. Schon treten auch die 
fogialen Gegenfäge ſchroffer auseinander: üppiger Genuß und 
Lupus und bittere Armut; rauen, welche bie Schreine und 
Stangen voll henken, che fie einem nadenden Dürftigen einen alten 
Qumpen geben, ben böfeften, den fie Haben, und ann wieder 
foldhe, die Hundert Pfund von ifrer Arbeit befigen follten und fich 
wicht deo Froftes erwehren Können; denn Bruder Berthold weiß, 
dag mander zu feiner Predigt Hergelaufen ift in diefem Talten 
Reif barfuß in binner Meldung ). 

Das Bild, von dem wir nur einige Striche bier geben kön⸗ 
men ?), wird durch anderweitige Nachrichten aus jener Zeit beftär 
tigt. Die Schatzung der fittlihen Werte Hielt mit dem ſteigenden 
Erwerbsfinn nicht Schritt; die regierenden Herren aus ben alten 
Geſchlechtern in Straßburg gründeten zwar zu Anfang des vier- 
zehnten Jahrhunderts Kirchen und Spitäler, bewieſen fih auch 
fonft als fähig und tdhtig, aber daß die fittlichen Kräfte im Ab- 
nehmen waren; das belamen bie niederen Stände in parteiiſcher 
Handhabung des Regiments, in Überbitrdung mit Laften, ja in 
mancherlei Willkür und Gewaltthat zu fühlen. Es kam Hinzu, 
dag mit dem Emporlommen ber Geldwirtſchaft das Kapital fein 
Übergewicht ohne Rüdficht geltend machte. Zuweilen war fogar 
Net für den Armen nur zu erlangen, wenn er fi entſchloß, 
eines Patriziers Mundmann zu werden. Vollends Jahre der 
Teuerung ftießen ihn in Verſchuldung oder in Abhängigkeit, damit 
er nur mit den Seinen das Leben frifte. Und babei hatte doch 
der Stand der Handwerker ein Kraftgefuhl gewonnen, das ihn 


1) Berth. von Regeneburg, ©. 16f. 150f. 89ff. 116. 218. 58. 84. b8 f. 

9) Seiner Bervölftändigung mögen folgende Verweiſe dienen. Üppigfeit 
wird geſchildert und geftraft: ©. 25. 59. 88. 178ff. 207. 224. 256. 261; 
Hoffahet in Meiderprait: S. 54. 118. 819; Geiz und Wucher: ©. 28. 
40ff. 55. 59. 60. 107. 185. 245. 819, 





befäßigte, ben alten Gefchleiktern ihre Alleinherrſchaft zu entreißen. 
Die Zunftrevolutionen gehen aus der ſozialen Spannung herver ; 
aber mit der neuen Ara für das Bürgertum, die hiermit anhob, 
war jener fittliche Durchſchnittscharalter des Zeitalters nicht ver- 
ändert. Es bleibt burd Die Triebe ruckfichtsloſer Selbſtſucht ber 
herrſcht ). 

5 

So ging man den Nöten entgegen, die alsbald auf einander 
folgten. Mißwachs, Teuerungsjahre bildeten die Borboten der 
Heimfuhung, melde die Zeitgenojien „das große Sterben, den 
großen Tod“ nannten *). Beftepidemieen hatten Europa ſchon feit 
Zuftinians Zeiten bis zu den Kreuzzügen heimgefucht. Set aber 
30g eine Seuche aus dem Orient heran, die dem Geflecht, des 
vor ihr dahinfant, wie eine Offenbarung des göttlichen Zornes 
zur Anstilgung der Menfchen erſchien. Es war eine Peſtilenz mit 
Blutſpeien, welche oft den Tod brachte, che nur die Anfangs 
ftadien der Krankheit durchlaufen waren; die Länder, durch die fie 
30g, wurden entvölfert. Zu Ende des Jahres 1346 und Anfang 
1347 drang fie aus Afien über die Krim zu den Seeftäbten 
Staliens vor, um fi) 1348 und 1349, teils durch Alpenpäffe, 
teils über Frankreich nad der Schweiz und Dentfchland zu ver- 
breiten und im Jahre 1350 am furdtbarften zu haufen. War 
auch in Deutſchland die Sterblichkeit nicht fo entfeglich, wie in 
Italien, das die Hälfte feiner Bewohner verlor, fo bezeugen doch 
die Verluftziffern für eine Anzahl von Städten den mörderifchen 
Charakter der Krankgeit®). Baſel hatte 14000, Straßburg 
16000, Wien 40000 Tote, und bie Bedeutung biefer Zahlen 
wächſt, wenn man ben Unterjdied der Bevblkerungsmengen von 
Heute und damals in Anfag bringt. Unter den deutſchen Lande 
ſchaften Kitten Württemberg and Thüringen am ſchwerſten. In 
Württeniberg 'blieb kein Gehöft, kein Schloß, fein Kloſter ver⸗ 

i) Sähmoller, Straßburg zur Zeit der Zunftlämpfe, ©. 18ff. 

3) Lechner weiſt nach, daß biefe Benennung allein von den Beitgenoffen 
gebraucht ward, uad bie Bezeichnung „Ihwarzer Tod“ ein Jahrhundert fpäter 
noch nicht belaunt war (©. 11f.). 

3) Eine Berluftabelle giebt Häfer, ©. 180. 

heol. Gtnb. Yapız. 1888. 46 


706 Hering 


font; Ulm war von Flüchtlingen überfüllt, die das Verderben 
um fo fiherer ereifte, während Stuttgart weniger ftarfe Verlufte 
erlitt. Ähnlich waren bie Verheerungen in Thüringen. Im 
Weimar ftarben 6000 Menſchen, in Erfurt 12000, die man, 
nachdem die Gottesäcer angefüllt waren, in große Gruben beer- 
digte. Dann drang die Epidemie 1350 bis zur Oftfeefüfte vor, 
um bier in ähnlicher Weife zu wüten. Denn ihre Heftigkeit gab 
in nördlichen Gegenden der des Südens nicht nad. In Holftein 
erlagen ihr zwei Drittel, in Schleswig vier Fünftel der Bevöl- 
kerung ?). 

Die ſittlichen Erſcheinungen, welche der Schreden diefer Heim⸗ 
ſuchung Hervorrief, waren ſehr ungleih. Die einen trieb bie 
Todesfurcht zur Buße; andere gaben ſich den Lüften hin. Die 
Lubecker Kaufleute brachten ihr Gold zu den Klöſtern, und als 
die Monche die Spende als tobbringend verfhmähten, warfen jene 
das Geld über die Mauern, um fo ihre Seele zu verfihern. In 
anderen Städten hielt man Gelage, Tänze und Faſchingzüge ab. 
Die Monche einiger ſchwäbiſchen Klöſter zogen nad Ulm, um dort 
zu ſchwelgen. Zugleich vertiefen ſich jene dunkelen Geiten des 
Vollslebens, von denen die Rede war. Das Gefeg verliert an 
Geltung und Achtung, und es zeigt ſich eine erfchredende Zunahme 
der Verbregen. Der Haß gegen die Juden, durch den Wucher 
berfelben gefteigert, Hatte bei den gefunfenen fittlichen Zuftänden 
ſchon vor dem Auftreten des großen Todes Maffenmorde er- 
zeugt. Jet aber kommen diefe Judenverbrennungen durch bie 
Mahr von der Brunnenvergiftung, die auch bei den Beſſeren 


1) Kür die Skizze über das „große Sterben“ find außer der älteren Dar- 
Rellung von F. Heder, Die großen Volkskrankheiten des Mittelalters (neue 
Ausgabe von Hirſch, Berlin 1865) befonders benugt: Käfer, Lehrbuch der 
Geſchichte der Medizin (8. Aufl. 1876) III, 97ff. (Hier finden ſich auch die 
älteren Ouellen in einer Zufammenftellung abgedbrudt); Höniger, Der 
fGmwarge Tod in Deutfejland (Berfin 1882) (fritifc gegen die älteren Vor⸗ 
flellungen vom Urfprung der Seuche, verbreitet biefe Arbeit auch über bie for 
Slafen Verhäftniffe neues Licht); Lechner, Das große Sterben in Dentfchland 
in den Jahren 1848—1851 (Gymnaf.-Programm, Mitterburg 1882; Fort» 
ſetzung zu erwarten [bietet für die geogr. Verbreitung der Krankheit neue Re- 


fuftate)). 


Die Liebesthätigfeit ber deutſchen Reformation. 707 


Glauben fand, noch mehr in Aufnahme. Sie find Symptome 
einer entjeglichen Verrohung des Volkslebens. Ebenſo charak⸗ 
teriſtiſch iſt die düſtere Glut der religiöfen Erregung, welche ſich 
in den Geißlerfahrten zur Schau ſtellte. Hier ein Bußeifer, der 
ſich bis aufs Blut kaſteite und doch fo plöglich in Fleiſchesfreiheit 
umſchlugl Hier ein bis zur Gewaltthat getriebener Gegenſatz 
gegen die Geiſtlichleit und Kirche, und zugleich eine Macht der An- 
ziehung auf das Volksgemüt! Wie krankhaft und vorübergehend 
dieſe Erſcheinung war, eine Fieberzudung bes durch das Schrednis 
der Zeit tief erregten religiöfen Volksgeiſtes, fie läßt doch erkennen, 
daß Kirche und Volkstum nicht mehr fo wie ein Jahrhundert zu« 
vor in Einheit find. 

Und eben das tritt da hervor, wo immer der Zug zur Gott« 
innigfeit Gemeinſchaften ftiftete. Denn bie Weltentfremdung, 
welche die Myſtik des 14. Jahrhunderts in fich Hegt, bedingt auch 
der Kirche gegenüber eine veränderte Stellung. Das Auge jener 
Frömmigkeit, die auf Innerlichkeit, wahre Andacht im Geift, Hin 
gabe des Herzens an Gott, Einfalt und Lauterfeit, drang, war 
für die Verweltlichung der Kirche, für das Äußerliche und Media» 
nifterte ihrer Andacht, wie ihrer Askeſe, für alle „pharifäliche 
Weiſe und geiftlichen Schein“ gejhärft. Und wie weltflüctig, je 
weltfremd dieſe Srömmigfeit ift, fo trägt fie doch nicht den fta« 
tutarifchen Charakter der mönchiſchen. Sie ruht auf dem Sinn 
für das Göttliche. Obſchon fie durch manches, dem Chriften- 
tum fremde Element getrübt, dazu neigt, die Selbftverleugnung in 
eine praftifche Abftraktion umzuwandeln, behält fie eine freund« 
lichere Stellung zu den fittlichen Gottesordnungen als zu den kirche 
lichen Menſchenſatzungen. Von einer Volltommenheit der äußeren 
Armut weiß Tauler nichts; vielmehr befennt er, daß es ihm 
ſchwer fei, Almofen zu nehmen, und hätte ex gewußt, was er jegt 
wiffe, jo wäre er viel Lieber ein Arbeiter geworden !). Mon 
Pfaffen und Nonnen redet er wohl einmal geringſchätzig als ver- 
dingten Knechten %), und er felbft will nicht durch feine Kappe und 


2) Zaulers Sermone (Ausg. von 1498), BI. 191c. 
2) BI. 146c. 
46* 


708 Hering 


Platte Heilig fein ?); beifer als ein Geiſtlicher, der auf fih nicht 
acht hat, Können Ernte, melde Schuhe machen und anf einem Dorfe 
Dünger ftreuen, dem Rufe Gottes folgen ?). Gegen die anſpruchs⸗ 
volle Astefe und des Vertrauen auf fie macht er den beſchränkten 
Bert derfelben geltend; Dagegen find Werle gut, die im ber 
Furgt umd Liebe Gottes und zu feiner Ehre gefchehen). Es if 
auffallend, daß gerade in der Zeit, in welcher die Nichtachtung des 
Ratürlichen, die Berkennung der fittlichen Gottesorbnungen ſich bis 
zur Krifis fleigert, die Denfmweife jener innerlichen Kreife fich trotz 
der Neigung zu einer abftraften Geiftigfeit des fittlichen Medytes ünd 
Wertes jener Ordnungen annimint. Dem entfpricht auch ihre 
Predigt von der Nücjftenliebe. Nicht Leiftungen gelten ihr, ſon⸗ 
dern Geſinnung. Nicht Erwerb von Lohn oder Abwendung von 
Strafen wirkt als Motiv, fondern von innen heraus dringt das⸗ 
felbe glei, einem Licht: wo das göttliche Leben in die Seele ein⸗ 
gegangen ift, da fließt es auch aus mit einer Liebe, die „gemein 
iſt· und wirt allen Menfchen vereint 4). Wie leidentlich die myſtiſche 
Srömmigeit, ivie Einfeitiges, Schwärmerifches in ihrer Gottinnig- 
teit, wie Übertriebenes in ührer Gelbftlofigkeit ift, ihre Zünger 
find doch nicht als Träumer dahingegangen. Kein befchaufiches 
Keben gift für fi, es ſoll in wirkliches Leben, in Liebesübung 
übergehen 5), Ehrifti Nachfolge das praftifche Maß für alle bilden, 
and der, welcher eben Gottes Einwirkungen in feiner Seele erfährt, 
fi gern von einem kranken Siechen rufen Laffen. Es ift befannt, 
daß der Mann, von dem diefe Grundfäge ftammen, fie perfünlic 
im freiwilligen Dienft an Peſttranken bewührt at. Wie ein Lichter 


1) Tauler, Bf. 2831c. 

2) Bl. 150cd. 

®) 81. 65f. 149 u. a. 1512. 

4) 81. 181. 161. 232. 159. . 

%) Tauler, BI. 105. 192. Diefelben Grundfäge finden fich auch bei 
Meifter EdHart, bei dem, wenn man ihn abſtrakt betrachtet, der überſpaunte 
moniſtiſche Foealiemus das Sittliche imbifferenziieren müßte. Thatſachlich ift 
dies nicht der Fall. Ich vermeife auf ben betr. Abfchnitt in A. Laffons 
Monographie und Pregers Geſch. der deutfchen Myſtit I, 451. Hier nur 
das Urteil (Werke, Ansg. vom Pfeiffer, ©. 350), daß “ beſſer fei, einem 
Hungeigen zu effen zu geben, als fid zu üben an innerlicher Schauumg. 


Die Liebesthätigkeit der deutſchen Reformation. 709 


Streifen zieht ſich diefe myſtiſche Denkweiſe durch die folgende Zeit. 
Es ift fein Lebensgebiet da, auf dem ſich ihr erfriſchender Einfluß 
nicht geltend machte. Der Liebesthätigfeit bemahrte fie die Liebe, 

Aber es fehlte ihr die Kraft eines umbildenden Prinzips. Die 
Annäherung an evangelifhe Gedanken, die ihre Bedeutung aus— 
macht, entipringt einem feinfühligen veligiöfen Inſtinkt; aber der» 
felbe ift nicht von Elarer evangelifcher Erkenntnis geleitet. Der 
abosmiftische Zug, welcher der Myſtik anhaftet, bekundet, daß fie 
troß aller Hohen Anläufe auf dem Geiftesboden des Mittelalters 
erwachſen ift. So legt fie immer noch Zeugnis für die Lebens⸗ 
kraft desfelben ab. ALS die theofratifchen Gewalten und Formen 
fich ablebten, das Kirchentum nicht mehr Träger des deals der 
asketifch gedachten Volltommenheit war, blieb der Geijt desfelben 
doc noch mächtig genug, um, wenn auch nur in Heiner Ausbreis, 
tung, eine innige, ernfte Lebensrichtung zu erzeugen und Gemeins, 
fchaftskreife um fie zu fammeln. Aber diefer fpäte Tebensvolle 
Trieb gleicht den Wurzelfgößlingen eines Baumes. Sie find ein 
Lebenszeichen der Wurzel, aber fie vermögen das Abfterben des 
Ganzen nicht aufzuhalten. 


6 

Denn unaufbaltfam vollzog ſich der Verfall der Kirche, der 
in der Zeit ihrer äußeren Macht ſchon angehoben Hatte. Es 
förderte ihn, daß das Ablaßprinzip, befonders feit dem Beginn, 
des 14. Jahrhunderts, feine Konfequenzen z0g, und dieſe follten 
für die fittliche Seite des Lebens, für die Liebesthätigfeit ins. 
befondere, nicht mindere Gefahren mit fih führen, als für die 
religiöfe. Die Päpfte felbft verhalfen ihm zu einer ungeheuren 
Ausdehnung. Über den römiſchen Weltverftand, defjen Bonte 
fo; VIII. und mander feiner Nachfolger noch immer mächtig war, 
fehlen es indes verhängt, zugleich mit feinen Erfolgen Wirkungen, 
ganz entgegengefegter Art zu erzielen. Siegreich über das deutſche 
Kalſertum nach blutiger Austilgung des Staufengefchlechtes, gerät 
das Papfttum alsbald durch gefteigerte Machtbeftrebungen in big 
demütigende Abhängigkeit von feinem glten Bundesgenofjen. Auch 
fo noch vermag es den deutſchen Kaiferftreit zu verbittern, in 


210 gering 


Bann und Interdilt feine Hand ſchwer fühlen zu laffen, bie 
Burgerſchaften der Städte zu entzweien!) und den Zwiefpalt in 
die innigften Gemeinfchaften, auch die myſtiſcher Frömmigkeit zu 
tragen ?): aber eben damit regt es einen Geiſt der Renitenz und 
ber DVerbitterung an, der die Entwurzelung feiner ungeheuren 
Macht im deutfchen Volke vorbereitet. Endlich gelingt e8 ihm mit 
der SFindigkeit eines Bergmannes, das Nationalvermögen aller 
europäifchen Voller anzufchürfen und ſich zu einer Finanzmacht 
erften Ranges zu erheben: aber gerade dies Beſtreben und jein 
Erfolg teifft den empfindlichen Punkt des damaligen Zeitalters; 
es veizt zur Gegenwehr, Hilft das Papfttum feines Nimbus ent» 
Heiden, ſchlägt au dem Wohlftand der kirchlichen Inſtitute tiefe 
Wunden, beeinträchtigt ihre Leiſtungsfähigkeit und zieht endlich die 
Liebesthätigkeit immer mehr auf das tiefe Niveau äußerlicher 
Leiftungen herab. 

An der Schwelle des 14. Jahrhunderts wurde die Thür der 
Ablaßgnade durch das Jubildum des Bonifaz fo weit aufgethan, 
wie nie zuvor. Allen wahrhaft Reuenden und Beichtenden, welche 
an beftimmten Tagen die Bafilifen des Petrus und Paulus in 
Rom befuchen würden,. ward der vollfommenfte Ablag aller Sün«- 
den verheißen ?). Der Erfolg bewies die Kraft dieſes Motives. So 
viel Volks lief aus allen Ländern zu, daß die Zahl während des 
Zubeljahres fortdauernd etwa 200000, zu Weihnachten das Zehn- 
fache betrug. Am Altar von St. Paul Hatten zwei Kleriler Tag 
und Naht das Geld mit Rechen zufammenzufharrent). Hatte 
der Erfinder der Yubilden fo außerordentliche Gnadenfpende nur 
der Wende der Jahrhunderte vorbehalten, fo bedachte doch ſchon 


3) Ein lehrreiches Beiſpiel bieten die Straßb. Verhältnifſe. €. Schmidt, 
Joh. Tauler, S. 9ff. 

2) Bol. Phil. Strand, Margarete Ebner und Heinrich von Nörd- 
lingen (1882). Margarete betet für Ludwig den Baier, Heinvich iſt deſſen 
entfdjiebener Gegner. S. XXXVIII. LXX. 158, 

®) „Non solum plenam et largiorem immo plenissimam omnium 
suorum concedemus et concedimus veniam peccatorum.“ Corp. jur. can. 
Extravag. commun. lib. V, tit. IX, cap. I 

4) Woker, Das Fichliche Finanzweſen ber Papſte (1878), S. 116, nad 
dem Chroniſten von Afti. 


Die Liebesthätigkeit der deutichen Reformation. a 


1350 Klemens VI., daß es bei der Kürze des menfchlichen Lebens, 
welche nur wenige zum hundertſten Jahre gelangen laſſe, für die 
Kirche ſich nicht gezieme, den Schag des Erbarmens im Schweiß ⸗ 
tuche zu vergraben. Er glaubte daher der Bitte des römiſchen 
Bolkes: „Herr, öffne ihnen deinen Schag, den Quell lebendigen 
Waffers!“ nicht widerftehen zu dürfen. So proffamierte er das 
weite Jubeljahr für das Jahr 1350 als neuteftamentliche Erfül⸗ 
lung bes altteftamentfichen Gebotes, und er wagte es, Hierbei mit 
feierlichen Worten auf den Hinzumweifen, „der und von Gott ger 
macht ift zur Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Grlöfung, 
der uns nicht mit vergänglihem Gold oder Silber, fondern mit 
feinem Heiligen, teueren Blute als dem eines unbefledten Yammes 
erlöfet Hat!“ 1) Dahin war die Theorie vom Scha der verdient. 
lichen Werke gediehen. Das Jubeljahr, welches mit der Zeit der 
Heimſuchung durch „das große Sterben“ zufammenfiel, ift übrie 
gens für die Pilger in Rom verhängnisvolf geworden; wenige von 
ihnen haben die Heimat wiedergefehen. 

In fpäterer Zeit, als päpftliche Bullen dafür forgten, daß 
man auch daheim in Deutjchland ben Yubiläumsablaß erlangen 
Tonnte®), und als die Herolde diefer Gnade von Ort zu Ort 
zogen, drängte da8 Intereſſe, die Kraft, die Gültigkeit und Wur⸗ 
digkeit dieſes Ablaſſes Heranszuftreichen, die Sorge um da8 innere 
Heiligtum der Gefinnung, um den Ernft der Buße und die Rein 
heit der Liebe immer mehr zurüd. Die Predigten des Johann 
Palg, auf der Grenze zwifhen dem 15. und 16. Jahrhundert ger 
halten ®), lafjen den großen Umſchwung, der ſich feit den Zeiten 
des Berthold in der Betrachtung vollzogen Hatte, erfennen. 
Überall zeigt ſich das Beſtreben, dem Jubildumsablaß bie größten 
Wirkungen für das Seelenheil nachzuruhmen. Palg polemiftert 


ı) Das über Klemens VI. Gefagte ſchließt ſich an bie Ausdrüce ber Bulle 
Unigenitus Dei filius an. Corp. jur. can. Extrav. comm. lib. V, tit. IX, 
cap. I. 

2) Wie teuer diefe Privilegien waren, vgl. Woker, S. 117. 

8) Die Coelifodina coelestis und das Supplementum eoelifodinae. Über 
dieſelben ift zu dgl. Kolde, Joh. Staupig. Ich bemugte bie Erfurter Aus- 
gabe vom Jahre 1502, gebruct durch Wolfgang Schend. 


112 Hering 


fogar gegen die, welde dieſen Ablaß nur auf Erfah der Strafe 
beziehen wollen i). Er billigt ausbrüdtic die gemeine Rede, daß 
mon im Jubiläus von Strafe und Schuld abjolviert wird, indem 
er die Belehrung hinzufügt, daß der Papft in ihm die Vollmacht 
mit erteile, von allen Suünden zu abjolvieren?). Aus diefer Voraus- 
fegung ift es dann begreiflih, wenn Paltz wie ein Herold der 
göttlichen Barmherzigkeit auftritt, gleichſam mit Poſaunenſtößen die 
größten Sünder zur Belehrung zu rufen. 

Aber eben diefe Predigten find auch Zeugnifje dafür, daß bei 
den Fürften wie beim Volke Widerſpruch und Widerftand gegen 
dem Ablaß fi regte, daß man in ihm eine Schädigung der Wohl- 
fagrt, wenn auch noch nit der hriftlichen Srömmigkeit erkannte. 
Schon fprah man von Betrügereien ber Kleriler, zweifelte, ob 
das für den Türkenkrieg Gefammelte fr diefen Zwed verwendet 
würde, klagte, daß durd die Indulgenzen die Länder von Gelb 
entblößt würden; ja man unterftand fi, auf gewiffe Sünden der 
Papſte jener Zeit hinzudeuten. Der rüftige Ablaßkämpe, der nicht 
zweifelte, daß alle diefe Bedenken aus dämonifchen Einwirkungen 
herrührten, hat, eines Artilferiften Sohn, die väterliche Kunſt geift- 
lich gebt und jene Einwendungen aus vielen Fenftern feines „Dar 
vidiſchen Turmes“ niedergedonnert ?). 


1) Balg antwortete denen, melde den Ablaß nur von der remissio 
poenae verftehen wollen: „Indulgentia dupliciter aceipitur, uno modo 
stricte ac proprie, et sic solum extendit se ad pene remissionem. Alio 
modo aceipitur large pro jubileo sive pro litera indulgentiali, et tune 
non solum extendit se ad pene sed etiam ad culpe remissionem, quia 
in jubileo vel confessionali certis temporibus remittitur tam culpa quam 
pena.“ Suppl. celif., Bog. A, Bl. 4. 

2) Zum klareren Verſtäudnis macht Pal biefelbe Unterfdeibung wie 
oben, und fagt dann mit Bezug auf den Jubiläumsablaß: „Alio modo (sc. 
indulgentia aceipitur) large pro jubileo vel pro litera indulgentiali in- 
eludente jubileum, et tunc extendit se ad culpe et pene remissionem, 
quia comrauniter, quando papa dat jubileum non dat nudam indulgen- 
tiam, sed dat etiam auctoritatem confitendi et absolvendi ab (forrig. für 
ad) omuibus peccatis etiam quo ad culpam. Et sic culpa remittitur 
ratione sacramenti penitentie, quod ibi introducitur, et pena ratione in- 
Aulgentie, que ibi exercetur.“ Celif., Bog. O, Bl. 3b. 

®) Der Holyihnitt, auf dem Titelblatt des Supplementum celifodine, 





Die Viebesthätigfeit der deutſchen Reformation. 718 


Und doch lieferten die Thatfachen Gegenbeweife genug gegen 
ſolches Spiel des Monchswitzes. Nicht alles, was durch Ablaß 
für die Armen einging, kam biefen zugute. Die Nitnberger 
Bürger 3. B. erhielten im Jahre 1489 einen Ablaß für das 
Hofpital bewilligt; 4500 Gulden famen ein: diefe find ſämilich 
ua Nom gefloffen trog der Bitten der Bürgerfchaft, ihr wenig« 
ftens 1000 Gulden für den milden Zweck, für den fie gefammelt 
waren, zu überlaffen ®). 

Die Methode der Einfammlung verurfachte freilich viel Koften, 
die vom Ertrag in Abzug kamen. Cine Flugſchrift vom Jahre 
1522, deren Verfaſſer ſchon durch die evangelifchen Grundfäge 
von Nächftenliebe und Liebesübung beeinflußt ift, führt uns den 
ganzen Apparat vor, der in Bewegung gejegt werden mußte, um 
die päpftfichen Gnaden zu erhalten und auszunugen®). Schon 


zeigt einen aus Quadern gefügten Turm mit zahlreichen Schießſcharten. Teufel 
umringen ihn angreifend. Aus den Scharten blitzen die Gefüge, von Engeln 
bedient. Dem Geſchmad der Homifeten jener Zeit entſprechend difponiert fich 
die Rechtfertigungsſchrift zugunſten des Ablaß im Anſchluß an das Bild: 
Aus dem erflen, zweiten, dritten u, f. w. Fenſter gegen das erſte, zweite u. |. w. 
‚Heer. — Unter deu teufliſchen Angriffen gegen den Wblaf findet fich aud dev 
Borwurf, daß die Untertanen durch ihn verarmen. Aus dem vierten Fenſter 
erfolgt Hierauf der Kernichuß, daß fe „vielmehr reich gemacht werben an der 
Seele”. — An einer anderen Stelle begegnet Paltz bem Verdacht, der fich gegen 
das Leben der Päpfte richtet, mit dem Appell an die Ghriftenpflicht, von ihnen 
das Gute anzunehmen. Es war die Zeit Aleganders VI. — Die Klagen, daß 
die Länder durch den Jubelablaß von Geld entblößt wilden, waren berechtigt; 
das laßt fi aus den Erträgen der Abläffe erfennen. Im Hannover am ber 
Kirche St. Georg brachte der von Alexander VI. ausgeſchriebene Jubelablaß 
im Jahre 1508 die damals fehr große Summe von 8018 Gulden ein. Uhl» 
born, Zwei Bilder, ©. 17. 

4) Briem, Geſchichte von Nürnberg (1875), ©. 124. 

3) Der Titel: „Ermahnung zu den Oueftionieren abzuſtellen überfläffige 
Koften“. Die Aufihrift: „Den wirdigen andächtigen Herrn, fo von wegen der 
Armen und Spitale Gunft halten oder Almuſen ſammeln wunſcht Johanna 
Schweblin, Diener der Armen, Gnad und Frieden Gottes“. Zum Schluß: 
„Geben zu Pforgen am erſten Tag des Chriſtmonats 1522”, Unterzeichnet: 
„Ram Epifcopus“. — Auf dem Titelblatt ein Holzſchnitt, welcher die Aus - 
bietung des Ablafjes darſtellt. Geiſtliche ziehen mit dem Allerheiligen vor- 


714 Hering 


um die Ablaßbulle zu erlangen, muß man mit ſchwerer Zehrung 
nach Rom reiten; den Kopiften, Notarien, Sefretären, Profurae 
toren und anderen viele Dufaten ſchenken; dann bligen, falls 
jemand der Bulle widerfpricht, die Ungewitter des Interdikts; da 
find Konfervatoren und Profuratoren nötig, um bie erlangten 
Freiheiten zu befhirmen, was fie freilich wieder nur für 40 ober 
30 Dufaten thun, und dann bedarf es doch, wenn der Papft mit 
Tode abgeht, neuer Beftätigung, will man nicht Revolation fürchten. 
Iſt aber die Bulle ausgeftellt, dann muß fie bei den Bifchöfen 
transfumiert und vidimiert werden, was ſich ungefähre auf 
30 Gulden beläuft; Hierauf folgen Summarien und Konfeffionalien, 
da8 Volk über den Ablaß zu berichten und Mandate von den 
Bifhöfen, daß die Pfarrer den Sammler zulaffen, wofür alle 
Zahre 40 Gulden gegeben werden. Nach erlangtem Mandat er⸗ 
halten Pfarrer, Kaplan, Meßner, Kolleltoren auf Grund befon- 
derer Jura die Hände auf; dann ift wieder große Zurüftung er⸗ 
forderlih, um den Sammler mit Stiefel und Sporn auszurüften; 
die in den Wirtshäufern aufgewandte Zehrung will beftritten, der 
Schreiberlohn für die kaiſerliche Freiheit bezahlt fein, obſchon 
Fürften und weltliche Stände den Spitälern geneigt find. So 
bringt der Brief des Papftes mehr Koften als Gewinn. Der 
Verfaſſer der Slugfchrift meint, daß von 1000 Gulden, die für 
die Armen gefammelt find, nicht 10, wollte Gott 5, ihnen wirklich 
zunuge fümen. „Wenn ein Tyrann“, fagt er, „in unerhörter 
Wüterel die Armen beraubt, wird jedermann über Mord fhreien; 
und niemand will betrachten, was großer Abbruch den Armen 
durch dies Verfahren gefchieht!* 

Der Ablag war aber nur eine Wurzel an der Wucherpflanze 
diefer Finanzerei, die mit dichtem Geflecht ausfaugend in die Na— 
tionaldermögen eindrang. Auch die für die Kreuzzüge gefammelten 
Gelber Haben das Schiefal gehabt, in eine päpftlihe Einnahme» 


über; ein Menſch, in jeder Hand eine Schelle, läutet vor ihnen her. Ein 
tnieender Mann bietet ala Gabe ein Huhn und ein Schwein dar. Bor ihm 
ſteht ein gefüllter Sad mit der Aufichrift: „Umb gelt ein fad vol ablaß“; 
daneben ein mit Gelb gefüllter Kaften. Auf die pofitiven Reformvorſchläge ber 
Schrift wird der folgende Aufſatz zurlickommen. 








Becig Ur er Sem must mr Fumı mr m 
Begfreie zu „cr Trieim- pr mim Bus 






ge rt: 
a harı 


werze ande BAU 
Behl Kız dr Serrr, mr fahr A ie Tan 
Hört were, Emm zr ne Ruin Str za aaa; 
doch Hat ber den Scrzien ma geisen Sagen at on er 
geſprocher. Die Türferitner nun an Kriegt der 
Papfte erhob, mid ifen 1248 ſind Dear far in amt 
mitgegehutet, dem Pırite gegen Kaiſer Friedrich IL detzudeden N 
Noch auf lange baden dann die Saladindzeduten ein vom ledten 
Schimmer der längit vergejfenen großen Aufgabe vernoldetes Motio 
hergegeben, um Gelder zu jammeln, vom denen auch nicht einee 
Mannes Ausrüftung bejorgt ward t). 

Einer Steuer famen, um vom Peterepfennig zu ſchwelgen, der 
als einzutreibender Tribut überwiegend auf England und une 
dinavien laftete ®), die Gelder gleich, welche fir papfttiipe Onaden 





1) Nr. 116 der Ausgabe von Pfeiffer. Die glelche Veſhrchiung ſpelcht 
fich in dem Gedicht über den „welschen schrin“ aus (Mr. 110). 

3) Bol. die Anm. im der Pfeifferſchen Ausg. zu Mr. 110,” 

3) Heyne, Denkw. a. der ſchleſiſchen Kirchengeſch. bel Woktr, & 47, 

4) €. Wend, Klemens V. und Heinrich VII, ©. 89, 

5) Wolter, ©. 82ff., bei. S. 41ff. Doc) wurde 1200 dleſer Trldut 
durch den Legaten auch aus deutſchen Kirchen, Klbſtern und Hoſpltälern elite 
gegogen: Woler, ©. 44. 


7 Hering 


gesohlt wurden. Denn da das päpitfiche Recht ein Reh vom 
Sagımgen über alle menſchlichen Handlungen anögebreitet Hatte, in 
weldem gõitlich Erlaubtes menid;lih verboten, Berbotenes erfanbt 
ward”, fo war die Zahl der Diſpenſe, Privilegien, Abjolutionen 
region‘). Johaun XXI., der den Detailhandel mit dieſen 
Gnuaden mit Meifterjhaft und glänzendem Erfolge zu organifieren 
gewußt hatte, verdanfte die päpftliche Kaffe einen ftrommeifen Zu- 
flug von Millionen Tropfen. Johann Hinterlieg 25 Millionen 
Goldgulden. Beſonders einträgfih waren die Disipenfe von Ehe ⸗ 
Hinderniffen, und wo fie feinen Ertrag verſprachen, wurden fie 
nicht gewährt ?). 

Welche fittlihe Schädigung aber folgte jenen päpftfihen Abfo- 
Tutionen, welche den unfittlichen Geiftlihen mit 7 Groſchen, das 
gegen Geiftlihe, welche einen Erfommunizierten beerbigt hatten, 
mit 8 Groſchen büßen ließen! Wog die Sünde gegen kirchliches 
Gebot nicht ſchwerer als Gottes Gebot, wenn ein Blutſchänder 
5 Groſchen, der Fälſcher einer päpftlihen Bulle 17 oder 18 Gr. 
bezahlte! Sittlich widerwärtig war auch jene Finanzprogedur der 
fogen. Kompofition. Sixtus IV. ermädtigte durch die Bulle 
Domini et salvatoris nostri feinen Legaten, über geftohlenes, 
zweifelhaftes oder durch Wucher erworbenes Gut in der Art zu 
„vergleichen“ (componere), daß die Schuldigen nad) Abgabe eines 
Teiles von der Wiedererftattung des übrigen geftehlenen oder durch 
Wucher erworbenen Gutes abfolviert und auch fernergin nicht zur 
Erftattung verpflichtet feien 9). 


1) Ste wurden nad) feften Sägen bewilligt, welche tm „Buch der Taxen 
apoſtoliſcher Pönitentiarie und Kanzlei” verzeichnet waren. Johann XXI. 
(1816—1324) hat zuerft ein ſolches Berzeihnis zufammenftellen lafſen. Das 
Tarbuch ift wiederholt unter dem Augen der Päpfte in Rom gebrudt, Über 
feine Echtheit ift zu vgl. Wolter ©. 6öff. 

2) Die Begründung ift eyniſch. Bol. Woker. 

3) Woker, S. 102f. 106f. Man vgl. hiermit das Eifern Bertholds 
von Regensburg um Miebererflattung (Pred. ©. 55 u. 8). Worer teilt 
S. 11f. die Preife nach der in Döllingers Beiträgen zur Kulturgeſchichte, 
8b. II abgedrudten Tarrolle für eine große Zahl von Bistümern mit. Mainz 
wurde im 15. Jahrh. auf 27000 Gulden gefteigert (S. 12), Es Bat in 


Die Liebesthätigkeit der deutſchen Reformation. ar 


Einer ſchonungsloſen Ausbeutung waren die firchlichen Inſtitute 
amd Inter felbft ausgefegt. Die Erzbiſchöfe Hatten für ihr Pal⸗ 
lium, die Bifhöfe und Äste für ihre Konfirmation hohe Summen 
am die päpftliche Kaffe zu zahlen, feit dem Anfang des 14. Jahre 
hunderts nad) einer beftimmten Taxe. Salzburg und Mainz 3. B. 
zahlten je 10000 Goldgulden, — mindeftens 200000 Mark 
nad unferem Gelbel Die Romreiſe, welde der Empfang des 
Valliums nötig machte, fteigerte diefe Opfer. Die Biihöfe 
der alten Kirche Hatten durch Verkauf Föftbarer Gewänder ges 
fangene Brüder losgekauft; bei dieſen Biſchöfen gegen Ende des 
Mittelalters Tam es dor, daß fie die Heiligen Geräte verpfändeten 
ober gar Armengut einzogen, um fich aus der Verfchuldung zu 
befreien, welche die püpftlihen Forderungen veranlaßt hatten; 
Überdies fiel die Laſt derfelben auch als Steuerdruck auf die Raten; 
Ein Mainzer Erzbifchof weinte auf feinem Totenbett im Gedanken 
an bie Anfprüche, welche fein Nachfolger an das arme Volk werde 
Machen müflen, um die Kurie zu bezahlen ?). 

Was aus den Stellen des niederen Klerus an Annaten eins 
ging, mag wieder das Beiſpiel der Erzdiöcefe Mainz zeigen. Ans 
ihr floffen einmal in einem Jahre 175000 Gulden in die 
päpftliche Kaffe”). Seit aber vollends Innocenz III. das „götte 
Eiche Recht“, über jedes Beneficium der ganzen Welt zu verfügen, 
entdeckt und ſich und feinen Nachfolgern die Belegung dei geiſt⸗ 
lichen Stellen nach Belieben vorbehalten hatte, that ſich eime neue 
Einnahmequelle auf. Wer eine Stelle erhielt, Hatte eine Provi⸗ 
ſionsbulle, wer eine Zuſicherung für die nächfte Erledigung erhielt, 
eine Erpectanzbulle zu bezahlen. Da die päpftlichen Provifions- 
bullen über den Kopf der Patrone hinweg über Stellen verfügten, 
fo vermochten dieſe fich ihr Mecht, aber wiederum nur gnaden⸗ 
welſe, dadurch zu ſichern, daß fie vom Papft einen Indult nach⸗ 
ſuchten. Solchen Indult zu widerrufen, ftand dem Papſte frei⸗ 


deimelben Jahrhundert die Summe von 25000 Gulden während eines Men- 
ſchenalters fieben mal zu Bezahlen gehabt (©. 17). 
2) Wolter, S. 2, fi Georgi, Gravanılna advers. Rontam (1725). 
2) Wolter, ©. 27. 


718 Hering 


lich jederzeit frei. Ein Stellenmarkt war fo in Rom etabliert, auf 
dem die Einfünfte der Ämter Unwurdigen in den Schoß fielen 
und von ihnen verpraßt wurden, während die, welde, ſchlecht bes 
zahlt, den Dienft verfahen, in eine Armut gerieten, die um fo- 
bitterer war, da man fehr gut wußte, wie bie päpftlichen „Kurs 
tifanen“ es ſich wohl fein ließen *). Zur Verarmung der Köfter 
haben dieſe päpftlihen Anfprüche ebenfalls ihr Teil mit beige» 
tragen. Die dem Deutſchorden zugemuteten Opfer an "Gefchenten- 
waren im 15. Sahrhundert jo groß, daß die Briefe der Ger 
fandten des Ordens, die in Rom verfaßt find, von Klagen über» 
floffen. Sie ſprachen die Überzeugung ganz unverhoßlen aus, dag 
man in Rom nur Geld Haben müffe, um etwas durchzuſetzen, 
vollends päpftliche Ungnade in „Süßigkeit“ zu verwandeln. Es 
tam vor, daß die Gefandten fo ausgepfündert waren, daß auch 
Wucherer kein Darlehen mehr gaben, Gläubiger ihre Wohnung, 
mit Beichlag belegten und einer aus der Geſandtſchaft im Efel 
und Unmut über dies Treiben Worte voll Zorn und Verachtung. 
über „biefen irdifchen Gott“ nachhauſe ſchrieb 2). 

Der Drud diefer Finanzwirtfhaft ward von den Nationen 
ſchwer empfunden. Die Klagen der Deutſchen verftummten im 
15. Jahrhundert nicht; immer wieder fehrten die Beſchwerden 
wieder; die Konzilien aber brachten feine Abhilfe °); erſt als die 
Reformation eine Macht wurde, haben die gravamina der deutſchen 
Nation Nahdrud befommen. 


2) Wolter, ©. 29. Eberlin von Günzburg jagt in dem Traktat „Rlag 
und Antwort von futherifchen und bebſtiſchen Pfaffen vom Jahre 1524: „Wer 
hat die Pfründ mit Zinfen überlegt und beſchwert, denn ihr Päpfle und Biſchöfe 
und die ſchnden römiſchen Eurtifon! Wir armen Pfaffen haben Wein gen 
Hof tragen und Waſſer trinken müflen. Ihr habt den Kern genommen und 
ung bie Spreu gelaſſen. Was fagt ihr von Auskommen, da ihr doch felbft 
die Pfründe ringert und beſchwert mit Zinfen uud Reſervaten, daß fein ge= 
ſchicier Mann daranf bleiben Tann.“ (Originalbrud, Bl. 7b.) 

%) Woler ©. 54ff. nad) Auszügen aus dem Briefen, welche die Ger 
fandten von Kom aus am die Hochmeifter geſchrieben (veröffentlicht durch dem 
Hiftorifer des Ordens, Voigt, in Raumers Hiftor. Taſchenbuch, Jahrg. 4). 

3) Bland V, 447. 463. 472. 475. 4B4ff. 


Die Viebesthätigfeit der deutſchen Reformation. as 


7. 

Noch ſchädigender als der gefchilderte Mißftand war es für 
die Wirkfamfeit der Kirche, daß fie in den Klöſtern weder öfonos 
mifch noch fittlich leiftungsfähige Organe behielt. 

Hätten fih nur die Orden in ifrer inneren Kraft erhalten: 
fie hätten dann dennoch vermocht, äußere Schädigung zu überftehen; 
aber fie felbft waren von Entgeiftung, zum Teil von Entfittlihung 
infiziert, und jener Finanzgeiſt, deſſen verhängnisvolle Erfolge chen 
dargeftellt find, Hatte aud fie ergriffen, um fie immer tiefer hinab» 
zuziehen. Die Eifterzienfer waren feit Anfang des 13. Jahrhun⸗ 
derts in dem Wendenlande, wo fie Kirchen und Schulen errichtet 
hatten, in ben Befig zahlreicher Patronate gelangt: jegt mußten 
fie dies Recht ſich felbft nugbar zu machen, indem fie die Ein- 
fünfte der Patronatskirchen ſich überweifen ließen und das Pfarr 
amt durch Targ befoldete Kaplane verfahen. Auch der Arbeitstrieh, 
der fich eben im Bürgertum jest fo mächtig entfaltet, wellte in 
dem Orden ab, der ihm einft fo bahnbrechend gefolgt war. 
Ein Chronift des 15. Jahrhunderts findet es auffallend, daß 
vor 100 Jahren der Konvent zur Arbeit aufs Feld gezogen 
fit). So fremd war ſchon die ruhmreide Vergangenheit ge» 
worden. Bon jest an werben bie Ländereien verpachtet oder als 
Zehen vergeben, ober es werben induftrielfe Unternefmungen, Ans 
Tage von Mühlen u. dergl. angefangen, die mehr Gewinn als bie 
einfache Landarbeit bringen, aber zugleich bie Anläffe zum Streit 
mit den bürgerlichen Gemeinfchaften vermehren. Wbläffe ohne 
Zahl werben zuhilfe genommen, um die Einfünfte der Kloſter auf⸗ 
zubeffern; es wird ben Wohlthätern des Kloſters Anteil an ben 
guten Werten des Ordens und ein feierliches Begräbnis verheißen; 
ja, e8 fommt vor, daß die Namen derer, welde eine Tonne Bier 
ſchenken, ins Kloſterbuch mit dem Wunfche eingetragen werben: 
Seine Seele ruhe in Frieden! Aber alle Finanzlünfte, alle Prat- 
titen, alle Abläffe und Gefchenke Halten ben Vermögensverfall nicht 
auf. Diefer äußere Verfall Hängt, dies ift nun das Charal- 
teriftifche, ftetS mit dem inneren zufammen und befteht mit Ges 


1) Mone, Quellen zur badiſchen Landeskunde III, 85. 


Kr.) Hering 


nußſucht. Man pflegt des Leibes und klagt über ſchlechte Zeiten. 
Der Bermögensverfall des Kloſters erweicht die Mönche keines⸗ 
wegs, auf die Extrafpenden bei Tiſch zu verzichten, und der Abt 
von Volkerode ficht fich genötigt, für „die im Weinberge des Herrn 
ſchwitzenden Brüder“ einen erheblichen Trunt als Erquidung feft- 
aufegen. In manden rheiniſchen Kloſtern wird Weinſchank etabliert; 
der Becher Freift unter dem Rollen der Würfel, und es werden 
Lieder gefungen, die fi nicht ziemen. Ja, es kommt vor, daß 
von Übten Frauenbedienung gehaften wird. Um ſo ſchlimmer dies 
alles, da in Tracht und Gebaren der Anfprud eines um Gottes 
willen von der Welt abgefonderten Lebens aufrecht erhalten 
wurde 3), 

Zu ber Üppigfeit am die Habfucht, um von einer anderen 
Seite her die Hauptftüge des Monchtums zu erſchuttern: die per⸗ 
ſönliche Eigentumslofigkeit. Eigenbefig, diefe Grundlage einer in 
den natürlichen Gottesorduungen ſich bethätigenden Sittlichkeit, 
mußte eine zerftörende Macht fein für ein Leben, das in der 
Verleugnung jener Ordnungen den Weg zur Vollkommenheit bes 
ſchritt. Als die Gemeinfamleit des Lebens zerfiel, die Mönde 
ſich aus dem Kloſter Privatbefig zulegten, waren fie nicht mehr 
Asfeten, wurden aber auch nicht Glieder der arbeitenden Gefell- 
ſchaft. Der asketiſche Idealismus verblich, mit ihm erlaftete die 
Liebe, und die Klöſter Hörten auf, Stätten der Gaftlichteit, der 
Krankenpflege und der Barmherzigkeit zu fein. Als 1443 die 
Bauern in der Nähe von Klofter Sponheim infolge eines harten 
Winters ihr Vieh ſchlachten oder in die Wälder treiben mußten, 
war das Klofter jo verarmt, daß es nicht einmal den Dörfern in 
nädjfter Nähe etwas beiftehen konnte 2). 

Dan könnte gegen dies Bild einwenden, daß es aus einzelnen 
dunkelen Zügen zufammengefegt jei. Darum fei ausdrücklich auf 
bie Monographien über einzelne Orden hingewieſen. Fur den 
Deutſchorden ſtellt Boigt den Beginn des üfonomifchen Verfalls 
feit dem 13. Jahrhundert feft, der fon 1420—1425 fümtliche 

4) Winter III, 114. Ennen IM, 756. Schnergans, Joh. Tri 


themius und Kloſtet Sponheim (1882), ©. 36—58. - 
9) Säneegans, ©. 87. 


Die Liebesthätigfeit der deutſchen Reformation. 72l 


12 Balletien mit ſchweren Schulden belaftet. Seit Mitte des 
15. Jahrhunderts ift die Lage de8 Ordens völlig rettungslos. 
Dei Umftand allein, daß eine ſo außerordentlich Teiftungsfähige 
Kraft ausnahmslos im jene Krifen Hineingezogen wird, erweckt 
für die Berſuche eines Jauſſen, das kirchliche und Hlöfterliche Leben 
der erften Hälfte des 15. Jahrhunderts ins Helle zu malen, große 
Bedenken 1). 

Nichts iſt vollends verfehlter, als wenn neuerdings Janſſen 
uns glauben machen will, dieſen Zuftänden ſei durch die Reform⸗ 
verſuche, die ſich an den Namen des Nikolaus aus Cues knupfen, 
ein Enbe gemacht und eine Zeit nener Blüte voll Hingebung an 
das alte Ideal bes Monchtums und noch dazu voll Eifers für die 
Wiſſenſchaften augebrochen. In Wirklichkeit find jene Reform. 
gedanken, von wie wohlmeinenden und perfönfich frommen Männern 
auch unter den Biſchöfen fie getragen wurden, überwiegend ges 
ſcheitert. In Koln fuchte Erzbifchof Ruprecht die Dominikaner 
zu reformieren; . 1469 leiſteten ſamtliche Brüder den Eid und 
fieferten ihren Privatbefig aus, aber die Reform emtbehrte aller 
nachhaltigen... Kraft ). In Ulm Hätte der Nat, dem die völlig 
verwilderte Geiftlichkeit Samt den Münden große Not machte, die 
Barfußer gern reformiert, wie denn die Stadträte in jener Zeit 
der Sittenzucht fich öfter gegen Geiftliche annehmen müffen; alles, 
was er erreichte, war, daß feine fittenpofizeilichen Anordnungen 
mit Einwiligung des Bifhofs für bie Geiftlichen verbindlich ge⸗ 
macht wurden ?). Durch das ganze 15. Jahrhundert wird Reform 
an den Ciftercienferklöftern verfucht, aber ohne durchzugreifen *). 
Dem gelehrten und frommen Abt Zritheim trugen feine Des 
mühungen, die Bursfelder Reformen im Kloſter Sponheim durch⸗ 
zuführen, fo viel Feindſchaft und Widerwärtigkeit vonfelten der 
Monche ein, dag er fich nicht entfchliegen konnte, in basfelbe zur 
rüdzufehren. Und eben biefer Tritheim, der an die Wieberbelebung 


1) Boigt, Geſchichte des Deutſchordens I, 580ff. 

3) Ennen.IH, 771f. 

3) Jäger, ©. 501. boaf. 

4) Winter III, 181. 

Theol. Stud. dabrs. 1883. 47 


722 Hering 


deso Monchtums in jener Zeit glaubte, dafür arbeitete umb duldete, 
ſpricht fein Urteil über den Grfolg der Reformbeitrehungen in der 
Mage ans: „Wo ift jewe Reformation, welde Nikolaus von Cuſa 
wit unglaublichen Eifer begonnen Hat; wo find jeue ſchrecklichen 
Eide, mit welchen alle Äste uuferer Provinz ſich zur teguläcen 
Obſervanz in bie. Hände des Cardinals vor bem Altar des heil. 
Stephanus in Würzburg verpflichtet Haben! Siehe, 127 Abteien 
habt ihr in eurem Kapitel, von welchen kaum 70 unter der Res 
formation verblieben find. Es giebt ohne Zweifel ſolche darunter, 
welche meinen, fie wären beften® reformiert, aber das Verhalten 
ftimmt damit nicht überein. Sehet das Leben ber AÄbte und 
Monche, wie es ohne Ehrbarkeit ringsum raucht. Was ich daven 
weiß, fehene ich mich auszuſprechen.“ — Auch der Bursfeler Res 
formation meisfagt er gleiches Schickfal: „Sie tft erſt 80 Jahre 
alt und ſchon find verſchiedene Klöſter in ber Obfervanz nach⸗ 
füffig geworden; diejenigen aber, mit welchen es noch gut fteht, 
werben, wie id) fürchte, innerhalb weniger Jahre ebenfalls finten.“ 1) 
Mit bejonderer Renitenz murden die Reformverſuche im den Frauen« 
Höfteen abgewiefen, — eine Erſcheinung, bie in der Reformation 
wieberfehrt. Und doch haben fie zu der Verderbnis reichlich bei 
geftenert. Bifitetionen hatten das Widerwärtigſte zu berichten 2). 
Auch die Beghinen, die ſich befondere der Krankenpflege gewidmet 
hatten, wurden am vielen Orten im 15. Jahrhundert zuſchanden 
und zum Geipött des Volles. Yu Ulm dagegen waren fie nach 
1518 verpflichtet, zu Armen und Kranken zu gehen, und erhielten 
dafür eine Bezahlung, welche der Rat feitfegte?). Im Norde 
dentichland bewahrte fie der Einfluß der Brüder des gemeinfamen 
Lebens vor dem Verfall 4). . 
Daß es dahin kam, dag die Organismen, durch welche die 
Kirche Armen» und Krankenpflege geübt, untüchtig wurden und 
blichen, war nicht nur in dem Verfall begründet, fordern and 


1) Schneegans, S. 188-166. 

2) Bgl. Winter II, 32f. 118. Jäger, S. 498. boa. 
®) Jäger, ©. 497. 

4) Uhlhorn, Zwei Bilder aus dem Firchl. Lehen, ©. 22. 





Die Fichesthätigfeit der Dewtichen Feformatien. 


durch das Lnfräftige und Umgenägende der Verfudhe, 
fienern, verſchuldet. Diefelben verbienen mitt den 
Reformation, kaum einer Weform. Wenn dieſe Mafnafenen, 


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macht, wurde damit mit erwect 1). Es if Temizeidmenb, dag 
fromme und gefehrte Männer wie Zritheis: fich hierkber fo vbllig 
tüufdhen, daß fie der wieder im Kraft gefehten Mümderege die 
Mat der Ernenerung zutrauen Toumten. Allerdings war dies 
Zutranen nicht fo unbedingt, daß nicht Tritheim eine große Revo ⸗ 
lutien voransgeahnt Hätte ?). 

Dem aufbänmernden Tage ging zwar bis in bie verberbte 


ver 

um die Wiſſenſchaften, der mit den Zuftänden feltfam Tontraftierte, 
Aber es ift aus diefen Regungen des Humanismus durchans nicht 
mit Sanffen auf eine Wlütezeit des kichlich ⸗ chriſtlichen Lebens za 
fließen. Dem diefe Mönde, die fih zum Studium drängen, 
Haben am den geſchilderten Zuftänden nichts geändert. Eher ift zu 
vermuten, daß das Univerfitätsleben den Verfall des Kloſterlcbens 
hat beſchleunigen helfen. ine innige Verbindung zwiſchen dem 
Erienntnisteieb, der damals erwachte, und dem chriftlichen Glanben 
hat fich nicht einmal im jenen edlen philofophierenden Monchen wie 
Tritheim, noch weniger in Cicero citierenden Ablaßpredigern wie 
Bag, fondern erft durch die Meformation vollzogen, welde den 
neuen Moſt nicht in die alten Schläuche faßte. 

So allganeinem Verfall gegenüber hat die Muftit noch einmal 
einen Iebensträftigen Spättrieb entwidelt, an dem mene wichtige 
Gefchtspunfte für die Liebesthütigkeit zum erftenmale hervortveten. 
In den Brüderſchaften des gemeinfamen Lebens, welche in den 
Niederlanden aus Anregungen Gerhard Groots durch das Drgas 
mfationstalent feines Nachfolgers Florentius hervorgehen, ſcheim 


ij Uhlhorn, Zwei Bilder ans dem kirchl. Leben, ©. 22. 
2) Schneegans, ©. 182f. 
47° 


724 B Hering 


ſich zumächft zwar die Askeſe zu verjüngen, die in ben fich ableben⸗ 
den Orden „keine rechte Stätte mehr hatte. „ Aber wenn auch 
die Regeln diefer neuen Gemeinſchaften Klofterregeln nachgebildet 
waren, fo haben fie mehr pädagogifche Bedeutung ; hervorgegangen 
aus einem tiefen Bußernft, wollen fe den Brüdern ein Mittel 
für die astetifche Sefbfterziehung zur myſtiſchen Gottesgemeinfchaft 
fein, nicht ein Gelübde, das für das Leben bindet. Trotz aller 
Strenge gegen das eigene Ich -ift deshalb dennoh in jenen Ge» 
meinſchaften weniger Gefeglichkeit, mehr Milde, Weitherzigleit und 
Breifeit; und wenn das kontemplative Leben aud das eigentliche 
Ziel der asketifchen Beftrebungen ift und einfeitig gefhägt, ja 
überfhägt wird, fo. fehlt doch jener ethiſche Zug uicht, welcher der 
Myftit eigentümlich ift und der jet die-Michtung auf Seolenpflege 
nimmt. Die Übung der Barmherzigkeit bleibt fo vor jenem Da- 
terialismus bewahrt, der im Armen ein Mittel zur Ausrichtung 
verdienſtlicher Werke fieht, fie will vielmehr im Wohlthun auch er⸗ 

* bauen, beffern, belehren. So tritt Bier jenes Moment der Liebess 
thätigkeit zum erftenmale träftig auf, das die mittelafterliche Liebes» 
thätigfeit vermiffen ließ. An den Wendepunften der Entwickelung 
macht es ſich fortan geltend, an welchen der chriſtliche Kiebesfinn 
Rh auf feine Gtleichartigkeit mit dem Sinne Chriſti befinnt und 
ſich dadurch mit dem Eifer um Seelenrettung durchdringt. 

Ein zweiter Zug, welder die Brüder des gemeinfamen Lebens 
anszeichnete, war die Abwehr des Bettels und der Grundfag, erar- 
beitetes Brod zu effen. Indem fie zugleich im Rückblick auf die 
erfte Gemeinde in Serufalem alle Güter gemeinfam beſaßen, 
lenkten fie zu Prinzipien zurüc, welche 3. B. die Eifterzienfer zu 
ihrem großen Schaden aufgegeben Hatten. Allerdings blieb ber 
Geſichtspunkt, unter welchen die Arbeit aufgefaßt ward, der aske⸗ 
tiſche. Den alten Drganifationen der Kirche ähnlich waren hier⸗ 
mit neue, für die Liebesthätigkeit tüchtige Organtfationen gefchaffen. 
Die Stifter felbft glängten als Vorbilder, root blieb dem 
alten myſtiſchen Grundfa getreu, der Kontempfation fi gern zu 
entziehen, wenn es gelte, dem Nächſten zu dienen. Arme, die er 
zu Tiſche lub, bewirtete er dann aud mit geiftlicher Koft; beſon⸗ 
ders ift die Furſorge für die armen Studigrenden, die Meriker, 


De Serküruer vr verider Wrrcmenn. L- 3 


weiche fü im ten Edles seit were hitca weiten, wer m 
und feinen Geißrfgeassre Ichisr Im Yun: det Read 
hat Themes nen Sirmmwer geweint zu Weikhur zensen Wh 
in der Srunfeupflege trat der isferge-ihe oz Äerrer. imen 
von ber Peit ergriinen freun> trier, bi: 5 Gruee ver 
die tadliche Sramfpeit zugegen. Anh urer Na Brörxee berriite 
der Sinn ber zuusrfomumerren Tibe, fe men Kuh Fk abitcht: 
ama neseiri wer Grunbiag "). 

Die Winbesfeimer Kerirer:iem, welde wen dicken Peine 
bungen emtging, hat ſich mir dem Gein derielden darcdrur geu 
und als ein Gaweririg reinigen» anf viele Kloner in den Mirder - 
landen, Sranfreih web Deatisland gewirkt. Die Beſttebungen 
für Bolls· und Zugenbbildung aber hat fie ſich wicht angeeignet ). 
Die Bruder- und Schwefterhäuier find Träger diefer Aufgabe ge ⸗ 
blieben bis zur Zeit der Reformation. Schen im Beginn dere 
felben zeigte es ſich, daß bie Ichendigen Quellen, aus denen jene 
Berbrüderungen ihre Kraft genommen, im Berfiegen waren ?). 


8. 

Für die Thatigkeit der Städte bietet das 16. Jahrhundert eine 
Reihe neuer Erfceinungen. Der Trieb zu genofjenfchaftlichem 
Verband, an dem wir eine verjüngende Ginwirkung auf die adke ⸗ 
tiſchen Kreiſe beobachteten, war ja in den Städten längft zum 
Bebenstrieb neuer fozialer Bildungen geworden. Die Zünfte, mit 
zur Teilnahme an der Regierung gelangt, haben im 15. Jahr⸗ 
hundert ihre Blütezeit. Hilfsleiſtung wird auch ferner von ihnen 
geübt. Zu den älteren Spitälern und Siechenhäufern treten auch 
jetzt immer voch neue Anftalten Hinzu, und allen kommt die Spare 
famfeit, wenn man. fi ihrer im Stadthaushalt befleißigt, die zus 
nehmende Ordnung durch Rechnunglegung zugute %). Und wie ſehr 
die geiftigen Mächte in der Kirche durch eine mechanifierte und 


1) Das Obige nad; dem inhaltreichen Auffag Hirfche® Aber die Brüder 
des gemelnfamen Lebens in Herzogs Neal-Enc., Vd. II, 

3) Hirſche a. a. D., ©. 697. J 

8) Bgl. den Traktat „Summa ber h. Schrift”, heramegeg. von Benrath. 

% Schmoller, Straßburg zur Zeit der Zunftkämpfe, S. 68. 79. 


Hering 


abergläubige Andacht beeinträchtigt wurden: aud fo noch behielt 
die Kirche einen breiten, wenn auch nicht tiefen Elufluß anf das 
Vollsleben. Wie die Zünfte, fo ſtehen auch bie Bruderſchaften, 
deren Zahl fi im 15. Jahrhundert außerordentlich ſteigert, in 
engfter Verbindung mit dem Heiligenkult und ber Meſſe. Neben 
der Teiblicgen Hilfe, die die Mitglieder einander oder den Armen 
gewähren, Hat der Veiſtand, den man ſich durch Gebet und gute 
Werke zur Erlöfung aus dem Fegefeuer leiſtet, eine Hauptſtelle ?), 
Es ift aber qharalteriſtiſch, daß gerade bie Bruderſchaft, welche 
überwiegend aus Geiftlichen beftand und das Gebet für bie Serien 
tm Fegefeuer zu ihrer befonderen Aufgabe machte, wor anderen in 
Verfall geraten und vielfach am Woßlleben zugrunde gegangen 
iſt. Der Vollewitz Hat das Andenken am died Leben des Kalaud 
biß heute bewahrt ®). 

An den gefteigerten Notftänden, welche Epidemieen — die Beft 
lehrt feit 1349 in nicht zu großen Zeiträumen immer wieder — 
und fittliche Schaden, die letzteren von großer Schwere, verur ⸗ 
ſachten, bewährte der Samariterfinn jenes Vorrecht der Liebe, an 
alfem einen Anlaß zum Wachstum zu haben. In einigen Städten 
werden Waifenhäufer gegründet, und feit dem Ende bes 14. Jahr⸗ 
handerts wird ein urſprunglich romaniſches Inſtitut im die Kin⸗ 
derpflege mit hlulbergenommtu, das Findelhaus. Gewöhnlich 
hatte man verwaiſte ober verlaſſene Kinder in Albftern ober 
GSpitälern, befonders auch bei ſogen. Müttern untergebracht; jeigt 
aber werden in verſchiedenen beutfchen Stübten Finbeihkufer gebaut, 
in Ulm (1386), Freiburg, Ehlingen. Der Gründung folder 
Hänfer begegnen wir dann auch km 15. Jahrhundert. Sie werfen 
zuweilen ein grelles Licht auf die Sittlichleit ber Zeit. In Hugs« 
burg wurde 1471 ein Haus für die Findellinder erfauft; das 
war gerade in jenen Jahreu, tm melden mit dem Reichtum bie 


4) Näheres über die Bruberfchaften bei Wilde; Maurer, Gtäbtenerf. 
II, Sf; Arieat, Deutiches Bürgertum, S. 169; Enmen IN, 792; 
Migelfen II, 149; Rakinger, ©. 286; Uhlhorn, Zwei Yiher aus 
dem kirchl. Leben, ©. 28. 70. 

2) Die erfe Kelaudegilde Deutſchlauds iſt bie in Aſchereleben (Hartwig, 
©. 160). Bal. and Wilde, Michelſen, Uhlhoxn, Hällmann (Bb. IV). 


Die Liebesthätigkeit der bentjchen Sieformatise. ma 


Üppigteit und Siätenfofigfeit berhend meh. Des Ulmer Gofpitel 
echielt viele Pfleglinge, als tiefe Verfhulbung manchen Bürger 
trieb, fein Heimweſen, auch Weib umb Kinder zu verlafin. Zu 
Anfang des 16. Yahrkumderts befanden fi 200 Findlinge in der 
Pflege des Ulmer Haufe ); wir vernehmen das Aullepfen der 
ſozialen Sünden und Nöte, am deren Ausbrachen die Reformation 
zu tragen belam. 

Far Gefalieue Hatte es wohl vereinzelt ſchen fruher Büßerinnen- 
hauſer gegeben, fo in 2a); jeht werben Biefelben häufiger ge» 


durch Berheicatung zu weiten ®). "Für munde Ret, für weiße 
gegenwärtig im Namen der Barmherzigkeit wie durch Mnorbnung 
de9 Staates viel geichleht, If dem Mitteleiter der DE nad; nicht 
aufgegangen. Über dem Zanbfimumen war das „Hephata“ no 

gewiß 


meiſt in den Gpitälern ımter, wahrend es in Paris fon im 
13. Jahrhundert eine befondere Muftalt für 


und Speife gefammelt, die Wehlthat der Seelſorge ward ihnen 
nicht. Dem Miffethäter, der hinausgeführt ward, zeigte man von 
einem beftimmten Orte aus etwa das Bild des Gefreuzigten. 
Dagegen fängt der Bürgerfinn an, Ruckſicht auf die Armen 
der bürgerlichen Gemeinde zu nehmen. Es wurde wieder an die 
Hausarmen gedacht *); die Präbendare, Pfründner in den Hoſpi⸗ 


3) Jäger, ©. 487. 

%) Ennen II, 880. 

ij Hälfmann, Bd. IE giebt mehrfadie Beifpiele. 

4 Raginger, ©. 297. J 

6) Griefinget, Bathof. und Therapie der pſych. Krankheiten (2. Aufl.), 
©. 520. 

©) „Veri pauperes, in quibus manifesta signa paupertatis et inopiae 
apparent et mendicare erubescunt hostiatim.“ Ennen nad Kal. apost. 
fol. 78, 


78 Hering 


tüfern beftanden zum Zeil aus den alten Bürgern der Kommune; 
der Stadtrat verpflichtete Hier und da ben Stadtarzt zur Behand» 
lung der Kranken des Hoſpitals. Unfänge der Armenpflege auf 
der Bafis ber Gemeinde werden wir hierin erbliden dürfen, die 
der Reformation eine Antnüpfung darboten; die Bedeutung einer 
Neform Haben fie nicht. Zu ihr fehlten dem Bürgertum weſent ⸗ 
liche Vorausſetzungen. Es war natürlich unfähig, die fittlichen 
Motive. ber Liebesthätigkeit zu reinigen, und auch die vollswirt⸗ 
ſchaftlichen Grundfäge, welde vom Recht der Kirche aus das 
Mittelalter beherrfchen, behielten ihre Geltung für die einſchlagen⸗ 
den fozialen Gefihtspunfte. Der Bettlernot mit dem Unfug, der 
ſich an fie anhängte, ſuchten mande Städte diefer. Periode durch 
Bettelordnungen zu ftenern ): man verfah die Berechtigten mit 
einem Abzeichen, wies die Fremden durch den Bettelvogt aus der 
Stadt; aud das Neih ſchlug fih mit einer Polizeiordnung ins 
Mittel, aber die ſtets wachfende Flut der Voganten war dur 
nichts zu vermindern. Der Bafeler Bürger Bamphilus Gengen- 
bach Hat ihrer 20 Arten aufgezählt und geſchildert ?), alle erfahren 
in den Künften der Täuſchung. Und doch war die Bettlernot nur 
eine Erſcheinung kranker fozialer Zuftände. Die Spannung von 
Arm und Reich wuchs, Unruhen in den Städten, zum Teil mit 
bfutigem Ausgang, wie in dem Kölner Aufftand von 1513, deuten 
anf eine Gärung in den niederen Ständen). Schlimmer noch 


1) Die Nürnberger Bettelordnung (um 1478 entworfen) verbietet, daß 
Kinder über 8 Jahren auf ben Bettel mitgenommen werben. Diefe follen 
vielmehr in einen Dienft gebracht werden. Den verjhämten Bettlern wird es 
als Gunft gervährt, in dem erften Abendſtunden Betten zu dürfen; doch follen 
fie Licht und ein Zeichen mit fi führen. Kriegk, Deutſches Bürgertum, 
©. 146. “ “ 

3) Bol. den Aufſatz von Pfaff über bie Lanbftreicher und Bettler in 
Schwaben (Zeitfeir. für Kulturgeſch 1857, ©. 481). Die Schrift Gengen- 
bachs, ein Gedicht mit dem Titel „liber vagatorum “ erſchien im Jahre 1509. 
Sie ift in den folgenden zwei Sahrzehnten fünfmal abgebrudt; zwei biefer 
Ausgaben find von Luther bevorwortet (Kiggenbach, Das Armenmwelen der 
Reformation, ©. 1). . 

®) Ennen I, 669. Kür Augsburg vgl. Roth, Augsburgs Refar- 


Die Sehesthätigfeit der beuchlen Serecausien. k:- 


als um das Profetariat der großen Erädte war es damals, anders 
als heute, um die ärmere ländliche Bevölterung beftelit. Jenes 
tanonifche Recht, das uns Jannſen als jo beglüdend jdhildert, hat 
an der, Unfreiheit des Iandbebauenden Arbeiserd nichts geändert. 
Die Härte, mit welcher die Kirche selbft ihre Rechte beitrieb, die 
Ausdehnung diefer Rechte über allen Grundbefig, die Berarmung 
der Möfter, die Finanzerei der Päpfte, — dies alles ift mit dazu 
ausgefchlagen, das Los des armen Bauern ſchwer zu machen. 
Andere Urſachen haben nach derjelben Seite gewirkt: Preisftei- 
gerungen, Großhandel, die innerdentſchen Wirren, die Kriege und 
Fehden, der Drud der Grundherren, es ficht dahin, ob auch das 
tömifde Recht; Die Löfung dieſer Frage iſt feine theologiſche Auf 
gabe. Das aber geht aus ber Darſtellnug der Leiftungen der 
Kirche hervor, daß fie and in foziafer Hinfiht ein Doppelgeficht 
dat. Indem fie Gegen brachte, hat fie and Elend gebraßt; in- 
dem fie die Armen pflegte, Hat fie die Armut groß gezogen. Wie 
ungerecht es wäre, der Kirche das hereinbrecdhende Verhängnis der 
ſozialen Revolution allein ſchuld zu geben, fo hat fie do, obs 
fon unbewußt, in simplieitate, zu dem Braude diefer Revo⸗ 
Intion ihr Scheit mit Hinzugetragen. 

Das Ergebnis des Überblis über die letzte Periode der mittelr 
alterlihen Armenpflege läßt fi in biefelben Worte fafjen, mit 
welchen Eruel in feinem trefflihen Buch die Predigt desfelben 
Zeitraumes Tennzeihnet: Materiole Blüte, idealer Verfall. Um 
des Tegteren willen wartet and) dieſe ZThätigfeit der Kirche, wie 
ide andere, auf die Reformation. 


mationsgeſch., &. 18ff.: die von den Webern veranlaßten Unruhen; S. BOff.: 
Über die Spannung zwif—en den Biihöfen und Bürgern. 


70 uſte ri 


2. 
Vertiefnng der Zwingliſchen Salraments⸗ und 
Taufiehre bei Bullinger. 
Bon 


Hof. Katlin Zſteri 


Blarrer in Dinweil. 





Joh. Jakob Sinmler Kat in feiner Sammlung alter und 
neuer Urkunden zur Belenchtung der Kirchengeſchichte (Züri 1767)2) 
ein Erſtlingsſchriftchen H. Bullingers veröffentlicht, ein Send 
ſchreiben an Heiunrich Simmler, Bürger zu Bern, „vom Tauf“. 
Dasielbe entgält die originellen Gedanken Zwinglis aus der Streit» 
periode in fo ausgeprägter Geftalt, dad, wenn das Schriftchen 
wirklich ſchon Ende 1524 oder Anfang 1525 gefchrieben wäre, wie 
Sinmnnler aus der Paginierung des das Driginal enthaltenden Eobeg 
glaubt ſchließen zu müffen, die Priorität in der ſchriftlichen Bro ⸗ 
duttion jener Gedanlen Bullinger und nicht Zwingli zuläme, Dies 
ft nun fon an und fir fi nuwahrſcheinlich, und der Inhalt des 
Sendſchr eibens felbft bemweift daB Gegenteil. Nicht aur Kat die 
Disputation mit den Wiedertäufern vom Sanur 1525, welcher 
Bullinger beimohnte, ſchon ftattgefunden (a. a. D., ©. 108), fon 
bern Hubmeyers Schrift vom Chriftlichen Tauf der Gläubigen, 
im Sommer 1525 abgefaßt, ift ebenfalls ſchon weit verbreitet und 
allgemein bekaunt. Bullinger citiert ja ben Mann im Send 
ſchreiben (S. 107) als „Dr. Filzhut v. Waldshut“. Run wiffen 
wir, daß wenigftens Zwingli dies Buch erft im Oftober zu Ger 
ficht befam, und daß er dann noch im Spätjahr feine Widerlegung 
ſchrieb, im der er das gute Recht ber Kindertaufe namentlich auf 


1) @gl. Jahrg. 1882, 9. 2, ©. 206ff.; 1888, 9.1, ©. 1856; und 
9.8, 6. s1ofl. 
9) 8. II, 1. A, 6. voff. 


Vertiefung ber Zwingliſchen Gaframente- und Tauflehre ꝛc. TBL 


die wefentliche Einheit des fogen. Alten und Neuen Bundes ftüßgte, 
hierdurch dem von der Beſchneidung bergenommenen Wnalogier 
beweis einen feften Halt gab und fih fo den Weg bahate, von 
der bleß Hifteriichen Frage, ob ſchon die Apoftel Kinder getauft, 
als von einer nicht durch den ausdrücklichen Buchſtaben der Schrift 
mit abjeluter Sicherheit zu entfheidenden eher abfehen zu dürfen, — 
ein Beweisverfahren, werin ihm Bullinger in dem genannten Send» 
ſchreiben getreulich folgt. Dieſes Tann alfo, da deſſen Möhängige 
feit von ben Zwingliſchen Schriften kaum in Abrede zu ftellen ift, 
unmðglich vor dem Sputjahr 1525 verfaßt fein, und bies war 
(nah Beftalozzi, B. Haller, ©. 25f.) gerade ber Zeitpunft, 
wo bie Wiedertäufer, vor denen Bullinger Simmiern warnen 
möchte, auch in Bern zu rumoren anfingen. 

Genan nach dem Zwingliſchen Vorgang fegt Bullinger die 
Taufe in gar feine Beziehung zum indivibuellen Glaubensleben, 
als Hätte fie anf pſychologiſchen Wege Erbauung zu bewirken, 
Gnade zu vermitteln, zu tröften, zu verfihern, gegen Anfechtung 
zu ſtärken. Sie iſt ihm vielmehr Zeichen der anererbten Bundeb« 
gemeinfchaft von weſentlich verpflichtender Natur, Kokarde bes 
Bundesgliebes, dem eibgenäffiichen Kreuz vergleichbar. Der Bund 
iſt der einige, mit Abraham gefchloffene und auch auf feinen Samen, 
zunãchſt deu leiblichen, in der Folge aber aud den geiftlichen, ſich 
erſtrelende. Auf der Grenzicheibe der beiden Hauptperioden, des 
fogen. Wten und Neuen Bundes, fteht Johannes, den Bundes⸗ 
wütler Chriſtus, deſſen Buudesblut („jedes Gemädt tritt buch 
Todesfall in Kraft!“) ſchon durch die Beſchneidung angedeutet war, 
bertündigend; nun biejer jelbft in die Welt kommen folite, hörte 
die blutige Beſchneidung, dies Schattenbild des Zufünftigen auf, 
md an ihre Stelle kam mit gleicher Bedeutung die Taufe. „Das 
Blut Chriſti gftelt alles Bit“, ftatt deſſen haben wir nun „ein 
fründfich Zeichen“ 1). Die Kontinuität des Werkes Chrifti und 


2) Bol. im Rommenter zu Rol. 2: Die einflige Beſchneidung Bebemtete: - 
die Gläubigen werden durch das Verdienſt des Blates des werkeifienen Samens 
in die Guade aufgenommen, gerechtfertigt und ſodann amd zu einem neuen 
Leben werpflichtet, und bie Webentung ber Taufe ift bie nämliche; und zwar 


182 uſteri 


Johannes iſt dadurch erwieſen, daß Jeſus fich ſelbſt von Johannes 
taufen ließ „uns zu einem Vorbild und zu einer Einigkeit des 
Chriſtenvolkes“ (Eph. 4), ferner dadurch, daß er wie Johannes 
lehrte und durch feine Junger auch taufen ließ. Der Auferftan« 
dene und ſeine Apoſtel haben die Einheit des Bundes, trotz deſſen 
nunmehriger Ausdehnung auf die Heiden, dennoch des beſtimm⸗ 
teſten feſtgehalten, Gott ſelbſt hat die Berechtigung der Heiden 
durch zuvorkommende Geiſtesausgießung z. B. bei den Haus— 
genoſſen des Cornelius erwieſen; ſo kam denn nach Chriſti Willen 
und nach übereinftimmender Lehre der Apoſtel folgerichtig an die 
Stelle der Beihneidung für den ganzen Umfang der Kirche als 
Bundeszeichen die Taufe. Die Kontinuität mit der Beſchneidung 
ift durch Paulus (Kol. 2, 10) und diejenige mit der Johannes⸗ 
taufe Apg. 19 (am Anf.) bezeugt ?). Das Recht der Kinder, zur 
Taufe zu gelangen, fteht demjenigen der Erbberechtigung -unmün« 
diger Kinder völlig gleich; wie eine Enterbung erft bei unwürdigen 
Ermwachfenen denkbar, fo kann auch erft bei foldhen von einem Aus« 
der-Onaderfallen die Nede fein. So lange der Bund nicht gröb- 
lich verlegt wird, bleibt er in Gültigkeit. 

Auch noch in der berühmten Schrift vom Jahre 1530 „Bon 
dem unverfchambten Frävel und unmwahrbaften Lehren der Wieders 
täufer, 4 Gefprächbücher 2), geht Bullinger ganz mit dem urs 
fprünglicden Zwingli einig. Bei Johannes, Chriftus und den 
Apofteln findet er nur eine Lehre, alfo auch nur eine Taufe. 
Er nennt die Zohannestaufe eine Taufe auf Chriſtum, den Volle 
ender. Die göttliche Natur Chriſti ſei e8 vornehmlich gewefen, 
auf die Johannes getauft, und von dieſer fei die Trinität unge» 
ſchieden. Übrigens beweife feine Vertrautheit mit dem Dreieinige 


Gemerkt Bullinger zu Apg. 19) fon der Iohannestaufe, indem biefe fchon 
in remissionem peccatorum, nicht etwa im Unterfhied von der fpäteren 
chriſtlichen bloß in poenitentiam vollzogen ward (Mark. 1, 4). 

1) Bei dem zu letzterer Stelle Bemerkten iſt nicht recht erfichtlich, ob 
Bullinger eine einmalige Taufe oder nur einerlei Taufe annimmt, wahrfcheine 
Kid doch mit Zwingli erftere. 

%) Sie erlebte mehrere Auflagen und Erweiterungen umd erſchien endlich 
anno 1560 gänzlich umgearbeitet unter verändertem Titel in 6 Büchern. 


Vertiefung der Zwingliſchen Sakraments- und Tauflehre zc. 788 


teitömpfterium das Geſicht bei der Taufe Jeſu und Joh. 3 am 
Schluß. 

Den pharifäifchen Sauerteig des Anabaptismus Tegt er richtig 
bloß, indem er auf den Einwurf, Kinder müßten nichts von ihrer 
Taufe, Erwachſene aber könnten Gott bei der 5. Handlung Reinige 
feit und ein Leben ohne Sünde geloben, antwortet: „Dazu braucht 
man das Waffer nicht, es fei denn, daß man das Heil an ein 
Element binde und dann folgerichtig dazu komme, ſich um des äußeren 
Werkes willen für rein und Heilig zu halten. Das eben ſei das 
Gift. Eine ſolche Kirche ohne Sünde, die nicht mehr im Fleiſch 
fei, wollten die Täufer fein; wo dann aber der verlorene Sohn 
bleibe und das verlorene Schaf, und der Ader, der Korn und 
Unkraut trage, und das Ne, das allerlei Fiſche aufnehme, und 
die Hochzeit darin männiglich fige?“ 

Gegen Mifdentung der Befchneidungsanalogie verwahrt ſich 
Bullinger mit dem Sag: „Nicht die leibliche Geburt macht Ehriften« 
finder zu Gotteslindern, fondern Gottes Verheißung. Drum iſt 
auch altfällige Unwurdigkeit der Eltern kein Hindernis der Taufe 1). 
Anderfeits ift ein Mbfterben vor der Taufe Fein Hindernis der 
Seligkeit, denn die Reinigung Ehrifti durch den Geift, die in Kraft 
der Verheißung unabhängig vom äußeren Zeichen erfolgt, iſt das 
Prius. Das Außerliche ift am Ende doch nur ein Teil der Sache, 
darin ihre Kraft nicht beruht; Die hervorragende Hauptſache ift ein 
großes Geheimnis, und diefes macht das Ganze zu einem hoch⸗ 
würdigen Saframent der Sündenvergebung und der Wiedergeburt.“ 

Ausgehend von der Borausfegung, daß die Taufe an die Stelle 
der Befchneidung getreten, und diefelbe, einerfeits durch die be« 
hauptete Parallelifierung in den apoftolifchen Schriften, anderfeits 


1) € ift freifich fonderbar, wie nicht bie leibliche Geburt, ſondern bie 
göttliche Verheißung den Ausſchlag geben foll, und wie biefe ſich thatſächlich zu 
wiederholten Malen vom der phyſiſchen Abſtammung emamzipiert, fo fon bei 
Sau und dann twieder beim Übergang des Reiches Gottes. an die Heiden; wie 
fie dann aber doch wieder auch bei ben Heidenvölfern ihren Bundesſegen an 
die Abſtammung Inüpft und die Taufe aller innerhalb der Chriftenheit Gebor 
tenen legitimiert, gleichviel, ob fie im partifularen Ratſchluß zu den Exwählten 
gehören ober nicht, alfo ganz tie bei Israel. 


784 Uferi 


durch die mit beiden Gebrämcher verbundene Ramengebung ftitgend, 
findet es Bullinger, abgejehen von den gewöhnlichen Argumenten, 
auch daram wahrſcheinlich, daß ſchon bie Apoftel Kinder getauft, 
weil fie ſich ſtets ſehr and Alte Teſtament angelehnt umd „ihre 
Händel gericht't auf den Anlaß, Grund und Vorbild des Alten 
Teftemented“. ö 
Waren die bisherigen Erörterungen Bullingers, wie diejenigen 
Zwinglis in der Streitperiode, hauptſachtich von dem Beftreben, 
die Kindertaufe zu rechtfertigen, beeinflußt, fo wendete füh fpäter 
fein Interefſe der Sakramentslchre Überhaupt in umfaffenderer 
und tleferer Weiſe zu, und bie fruchtbaren Keime, welche diesfalle 
in Zwinglis legten Schriften niedergelegt waren ?), fielen bei ihm 
auf empfänglichen Boden. Noch einen Schritt weiter führten ihn 
endlich die Verhandlungen mit Calvin, deren Frucht der Consen- 
sus Tigurinus war, und deren Einfluß bei der legten volfendeten 
Lehrdarftellung in den Defaden ſchon mitgewirkt hat. Es iſt von 
Imtereffe, zu fehen, welche Ansbildung bie Grundlinien fpäterer 
Zwingliſcher Anffaffung bei Bullinger, noch ganz abgefeen von 
Calvinſchen @efihtspunften, erhalten Haben. Im Jahrr 1545 
verfaßte er zu näherer Begründung ber „wahrhaften Bekanntuuß 
der Diensren der Kirchen Zürich, mas fie gloubend amd leerend, 
infonderheit aber vom Nachtmahl“ in Oppofttion gegen Luther eine 
Tateinifche Schrift de sacramentis, die den Zwingliſchen Stand- 
punkt noch entſchieden vertrat, und an ber Calvin, den Bullinger 
fie zuerft überfandte, allerlei auszufegen fand. Die Korrefpondenz, 
die fi darüber emtfpann und die endlich zum Consensus führte 
(1549), ift noch vorhanden und giebt einen deutlichen Einblick in 
die Differenzpunfte, Die Schrift felbft Tieg Bullinger nicht 
druden, fte ift auch in Zürich in Abfchrift nicht vorhanden; hin⸗ 
gegen gab fie Joh. a Lasco, der das Manuffript von Bullinger 
erhielt, zu London Anno 1551 doch noch Heraus auf anodrückliches 
Verlangen de8 Erzbtfhofs Eramner, ohne Bullingers Vorwiſſen, 
unter dem Titel: „Absoluta de Christi domini sacramentis 


3) Bot. meine Abhandlung er Broimgis Tauflehre in biefer Beitfcheift 
1883, Seft 2, ©. 208fJ. 


Bertiefung der Zwingliſchen Gakvaments- und Tauflehre c. 78h 


et ecolesia ejus tractatie“ (Peftalozzi, Bullinger, ©. 638). 
Das Bad, war mir nicht zuganglich; es ift micht zu derwechſeln 
mit einer 15532 erfchienenen Schrift von Lasco feibft, ähnlichen 
Titels und Inhalts. Bullinger bemerkt zwar in einem Verzeichnis 
feiner Schriften): „quae mecessaria mihi videbantur, in 
Decades transtuli‘; allein ein Einblick in die Schrift felber 
wäre eben darum Ändereffant, weil ſie, wirwohl ohne Zweifel haupte 
Fügtih anf die Abendmahlelehre ſich beziehend, Bullingers genuiz 
Zwingliſchen Standpunkt nod zum Ausdrud brachte und Galvins 
Widerſpruch deshalb hervorrief. Es blieb mir nun nichts anderes 
übrig, als das Material für eine zuſammenhängende Darftellung 
der Bullingerjgen Tauflehre in ihrer früheren Phaſe aus den 
zahlreichen, aus biefer früßeren Zeit fiammenden Kommentaren zu 
ſammenguſuchen. 

Was zunächft bie Eyegefe der in Frage kommenden Schrift ⸗ 
ſtellen anbetrifft, fo ftimmt fie mit derjenigen Zwinglis in der 
Negel überein. Auch Bullinger denkt nicht überall, wo im Grand» 
tert Aansıone fickt, an das Taufſakrament, fondern verſteht 
3 B. 1 Petr. 3, 21 ganz allgemein den spiritus vivificas Christi, 
die vis fidei, spiritus et virtus Christi, Christus ipse, oder 
auch die aqua vitae qua nos lavit a peccatis, mithin überhaupt 
das neue Lebensprinzip. Vergleicht man damit die Definition, 
die Bullinger zu Mpg. 19 dem 5. Geift giebt, fidei maxima vis 
quae ex spiritu eat, conscientiae securitas, fo fommt «8 alfo 
in der That auf dasſelbe Hinaus, wie mern Ziingli 1 Petr. 8 
unter Parersope den innerlichen Herzensglauben verſteht. Apg. 19 
denkt Bullinger ebenfalls mit Zwingli an den haptismus doc- 
trinae, dem die Johanneöfünger empfangen, aber nicht recht ber 
griffen, und auf ben allein num, nicht auf das elementum aquae 
Pauli nähere Erläuterung fi beziehe. Er legt, wie fein Vor⸗ 
gänger, ein großes Gewicht darauf, daß es B. 3 nicht Heißt: dv 
16 I. Banslanarı, ſoudern: els so I. Bansıoua und bemerkt 
mit Bezug auf Zwinglis Anfhanung von der erft durch Paulus 


1) Bei J. H. Hottinger, Schola Tigurina, im 1. Anh. Biblioth. 
Tigurina unter „Bullinger “, 


786 " uſteri 


vollzogenen, nicht etwa wiederholten Waſſertaufe: „Hunc vere 
nodum ad hunc fere modum primus solvit felicis memoriae 
darissimus vir Zwinglius“. Noch weniger trägt Bullinger 
Bedenken, in Joh. 3, 5. 1905. 5, 6. Hebr. 10, 23 aqua alles 
goriſch zu deuten, ſei's von der coelestis doctrina, die mit Recht 
fo heißen könne ob puritatem et quod reficiat ac fluat, fei’s 
vom Geift wegen feiner Reinigungs und Belebungskraft, wie er 
denn das „am Leibe gewaſchen niit ‚reinem Waffer“ (Hebr. 10) 
als eine figurliche Redeweiſe ‚bezeichnet, wobei Paulus ‘doch nichts. 
anderes meine, als die immerliche ‚Reinigung durch den einen 
Glauben, aljo ganz dasfelbe, was auch mit dem „gereinigt im 
Herzen vom böfen Gewiſſen“. Ganz übereinftimmend fagt auch 
Zwingli, unter Anfpielung auf die äußeren nuglofen Luftrationen 
rede Paulus von der Reinigung des Gewiſſens oder der Unſchuld 
des Lebens, während ‘er Hingegen bei 190h. 5, 6 origineller an 
die Hiftorifihe Taufe Jeſu im Jordan und an alles, was babei 
vorfiel, denkt.” Man fieht, auch Bullingern beherrfcht bet feiner 
Exegeſe die Scheu, dem Waffer zuzufchreiben, was nur dem Geifte 
zukommt, daneben Läßt fich aber dody das Beſtreben erkennen, 
neben ‚dem „douygirws“ gleihfam dem „Adsmigssus“ fein 
Net wiberfahren zu laffen; das zeigt die Bemerkung zu Apg. 2: 
„Wenn man nicht nur vom bloßen Waffer, fordern de toto Dei 
instituto rede, fo feien die Ausdrüde „lavacrum regeneratio- 
nis“ md „aqua mundificans et peccata abluens‘‘ wohl zus 
Rffig”, und zu Tit. 2: „Vere renovat, abluit, purgat, rege- 
norat vivificat et sanctificat gratia Spiritus sancti, renovat 
autem, abluit, purgat, regenerat, vivificat et sanetificat 
etiam baptismus, quod illius ministerio Deus in‘ dispen- 
sandis donis suis propter infirmitatem nostram utatur“, 
Ein Übergang zur Würdigung des ſakramentlichen Altes in feiner, 
Innerlichteit und Außerlichteit zufammenfaffenden, Totalität 1) 
macht ſich auch darin bemerkbar, dag Bullinger durchaus nicht 
alles Waffertaufen ohne Unterſchied vermengt und darum Hebr. 6, 2 
gar nicht die h. Taufe (als welche nur eine Eph. 4,-5), fondern- 





2) Bol. meine Abhandlung über Zwinglis Tauflehre, ©. 281. i 


Vertiefung der Zwingliſchen Sakcamente- und Tauflehre ꝛc. 787 


die Quftrationen der Juden verftanden wiſſen will, während Zwingli 
hier allgemein von dem baptismus aquae redet, dem die Hebräer 
zu viel beimaßen, ohne ausbrüdfich zu fagen: die hriftliche Taufe 
iſt hier nicht gemeint, auch nicht als Waffertaufe *). 

Was nun die Bedeutung des Saframentes anbetrifft, fo an« 
erfennt Bullinger eine ſolche für die fichtbare und für die unſicht⸗ 
bare Kirche. Durch die communicatio sacramentorum wird 
allerdings zumächft die ecclesia als visibilis konſtituiert. Weil 
die Aufnahme in diefe ein äußerlicher, menſchlicher Initlative an⸗ 
heimgegebener At ift, dabei die Taufe als Tegitimer Ritus gilt 
(communis solemnis mos seu inscriptio), ift dies Saframent 
Amächft Symbol der äußerlichen Kircheneinheit, weshalb, wer diefe 
zerftört, oder den kirchlichen Frieden gefährdet, gegen die h. Taufe 
fündigt *). Allein fo fehr bei der Adminiſtration derfelben nur 
äuferliche Merkmale der Zugehörigkeit zur Kirche entfcheiden können 
— Bullinger nennt die Blindeit derjenigen groß, welche „nescio 
quibus rebus invisibilibus et coelestibus ecclesiam moliuntur 
eolligere“* —, fo hat in feinen Augen das Saframent doch nicht 
mir eine Beziehung zur fichtbaren Kirche, fondern es ift zugleich 
das Symbol der Glaubensgemeinfhaft mit Ehriftus und der par- 
tieipatio omnium bonorum ejus. Diefer Geſichtspunkt der in- 
eorporatio in Christum wird namentlih im Kommentar zu 
Matth. 3 anläßlich der Taufe Jeſu fehr ſchön Hervorgehoben und 
gegenüber dem Zwinglifchen Pflichtzeichenbegriff, der auch Hier nicht 
fehlt, aber im letzte Linie geftellt wird, in den Vordergrund gerückt: 
„Christus ideo baptisatus est nobiscum in eodem baptismo, 
ut declararet se esse fratrem nostrum et ut nos credere- 
mus nos cohaeredes fore Christi (als jet ſchon omnium bo- 
noram consortes)“ ®). Auch zu Apg. 8 wird in gleicher Reigen» 


1) Opp. Zw. VI, 2. p. 301: „Baptismatum. Hoc est, ut doceamus 
quid sit baptismus ac rursum disputemus contentiose cur baptizemur, 
numne salutem praestet aquae baptismus necne? Plurimum enim He- 
braei externis tribuebant, haud dubie etiam tincti baptismo.“* 

N) Zu 1Ror. 10 u. 12, 18. 

3) AÄhnlich freilich auch Zwingli, nicht fowohl im Komm. zu Matth. 8, 
ale viefmehr zu Luk. 3: „Si Johannis baptismus alius esset a baptismo 

Deol. Stud. Yahıg. 1888. 48 


788 Ufteri 


folge der Taufe die doppelte Bedentung vindiziert: a) hoe sacra- 
mento initiari ac conglutinari fideles in unum corpus, b) con- 
stringi sub fidem unius Christi ac vitae sanctimoniam. Na- 
türlich vollzieht fi) die wirkliche incorporatio in Christum et 
in corpus ejus mysticum nur im Glauben durch den h. Geiſt, 
aber die Taufe ift das Symbol, weil fi Epriftus durch fie mit 
uns verbrüdert bat. Durchweg definiert num Bullinger das Gar 
trament in erfter Linie übereinftimmend mit den alten Kirchen- 
fchriftftellern als sacrae rei signum, aljo ald Symbol des Gna- 
denheils, fo 3. B. zu Röm. 4: „Baptismus est signum populi 
Dei quod sanguine Christi lustratur. Significat enim visi- 
bilis aqua gratiam invisibilem.‘‘ Als foldhes kann das Sakra- 
ment feinerlei innere Vorgänge zu des Glaubens Stärkung ver- 
fiegeln, oder die Gnade dem Glauben irgendwie zueignen helfen. 
Bullinger legt großes Gewicht darauf, dag Paulus Röm. 4 das 
signum circumcisionis „signaculum justitiae fidei“ nenne, nicht 
signaculum fidei, als ob des Glaubens Vorhandenfein dadurch 
verfiegelt würde, aud nicht signaculum justitiae, als ob das 
Sakrament ſelbſt rechtfertigte, fondern signaculum justitiae fidei, 
„quod fidei et nullius alterius rei sit justificatio“. Bann 
die Redtfertigung in jedem einzelnen Fall wirklich erfolgt, kommt 
dabei nicht in Betracht; bei Abraham war fie in volftäudiger 
Weiſe ſchon vorausgegangen, und die nachfolgende Beſchneidung 
konnte nichts dazu thun, fondern nur nach außen Bin ein testimo- 
aium fein. Sie fönnte indes ebenfo gut nachfolgen; darum bliebe 
das Sakrament doch ein signaculum „quod fidei et nullius 
alterius rei sit justificatio“. 

Beiteht nun aber auch feine direfte Beziehung des Sakramentes 
zum Gnadenempfang, fo läßt ſich Hingegen eine indirefte wohl 
aufrecht Halten. Das Saframent kann freilich die Gnade nicht zur 


Christi, caput totius corporis mystici alio baptismo esset baptizatum 
quam membra. Acoessit ergo ad Johannis baptisma ut videremus eum 
totum nostrum esse. Unum ergo bnptisma, ung fides.‘ Inmerhiu tritt 
diefer fchöne und fruchtbare Gefichtspunkt bei Zwingli wenigſtens in der frür 
heren Zeit mehr zurüd. 


Bertiefung der Zwinglifen Sakraments · und Tauflehre zc. 789 


eignen, wohl aber als Veranſchaulichungsmittel auf fie. hinweiſen 
und als Heilige Weihe auf fie verpflichten; infofern erfcheint dann 
die Übernahme dieſes Siegels (sigillum, signacnlum, aygeyis) 
als ein jusjurandum, und es kommt bie Bedeutung von sacra- 
mentum nach altrömiſchem Sprachgebrauch zu ihrer Geltung, 
Nach Zwinglis Vorgang vekurriert auch Bullinger noch, wiewohl 
nicht mehr fo ausfchließlich, auf das Haffiihe sacramentum mi- 
litare und muß fi deshalb fpäter den Tadel Calvins gefallen 
laſſen. Das ift mın das zweite Moment, das für die Bedeu⸗ 
tung der Satramente in Betracht kommt: es verpflichten ſich da- 
durch die Empfänger: „quod in nulla alia re quam in Deo 
per fidem justitiam quaerere velint“. So mit Bezug auf die 
Beigueidung zu Xöm. 4, und ebendafelbft mit Bezug auf die 
Taufe: „Obstringit baptizatos ut pactis stent, uni Deo fidant, 
cui per immertionem, consecrati sunt, denique et maculas 
animi indies eluant pietate et sinceritate vitae.“ Die Taufe 
ift hiernach nichts anderes denn ein. Pflichtzeihen, aber im um⸗ 
faffendften Sinne. Sie verpflichtet nicht nur zu einer chrifte 
lichen Lebensführung (ad innocentiam zu Röm. 6), fendern 
au) sub cultum religionemque unius Dei patris et filii et 
‚piritus sancti; Äberhaupt macht fie auf die ganze chriſt⸗ 
ie Heilsordnung verbindfih. Wenn nun a) der religidfen 
Beſinnung durch da8 Sakrament als durch ein Dentzeihen und 
3timulans die rechte Richtung gegeben wird, und dieſelbe b) durch 
en heiligen Akt an Eidesſtatt ſich verpflichtet, die Gnade am 
ahren Ort zu fuchen und ihren Forderungen im Leben Folge zu 
eben, jo läßt fi immerhin von einer die Rechtfertigung ver- 
uttelnden. Bedeutung des Saframentes reden. Direltes Gnaden⸗ 
nittel iſt dasſelbe nicht, aber Anregungsmittel, Heilige Loſung, 
dmonitorium interni, wie es fon Zwingli (Opp. VI, 1. 
. 551) nannte?). Darum fpielen eine Hauptrolle die „argu- 
enta a sacramentis petita“, d. h. die Belehrungen über 
waus vefultierende Verbindlichteiten. Die Bezeichnung des Heils⸗ 





ı) „Deus qui cordis puritatem requirit externum quogue signum 
ıat et requirit, quod admonitorium interni est.“ 
46* 


740 uſteri 


gutes durch das Sakrament iſt nur Mittel zum Zweck. Der 
Zweck iſt die Aneignung des Heils und die chriſtliche Bethätigung, 
und dieſe führen beide über das Sakrament hinaus, nicht abermals 
zum Saframent hin. Zu Hebr. 6 bemerkt Bullinger fehr bezeich⸗ 
nend: „Christus ecclesiam regit verbo, conservat spiritu, 
constringit baptismo et excitat sancto eucharistiae monu- 
mento.“ 

Hiernach müffen nun auch unbeftimmtere Ausfagen, bie eine 
Auffaffung, wie fie Bullinger urfprünglich fern lag, zuließen, ver» 
ftanden werden, und man darf aus ihnen feine zu weit gehenden 
Folgerungen ziehen. So wird z. B. zu Matth. 3 betont, die 
Taufe fei für Glaubensaugen „non inane et humanum sed di- 
vinum spectaculum, in quo non tantum minister ceremo- 
niam externe ceu ludens exercet, sed ipse quoque Deus in- 
terne pro gratia sua et promissione operatur salutem suo- 
zum evidentissime“. Dies operari fann nichts anderes als eben 
jenes Hineinmweifen in die Heilsordnung fein, und das Saframent 
ift und bfeibt der Vorhof zum Heiligtum. Dies gilt von dem 
des Alten und von dem des Neuen Bundes gleicherweife, wie denn 
auch 1 Kor. 10 die Namen reciprof gebraucht werden (Taufe auf 
Mofes, Bouue und rroue rrvevuerızdv, dgl. Beſchneidung Eprifti 
Kol. 2, 11 und unfer Paſſa 1Kor. 5, 7). Klar ift nun, daß 
diefe allgemeine Bezeugung des Gnadenheils, wie fie im Safras 
ment gegeben ift, ihre Güftigfeit als eine durchaus objektive nie 
verliert, und daß daher die Erinnerung daran durchs ganze Leben 
in jeder Anfechtung troftbringend ift !). Werner ift Mar, daß bie 
Taufe zwar nicht die conditio sine qua non des Seligwerdens 
fein kann, daß aber, diefen Troſt, den Gott der elterlichen Sorge 
um das Seeleneil der Kinder gönnt, zu verachten und über ben 
Befehl und die Einfegung Eprifti fih hinwegzuſetzen, von einem 
ungeiftlichen, feiner unſichtbaren Segnungen jedenfalls unwürdigen 
Sinne zeugt 2). Endlich läßt fich von Bullingers echt reformiertem 


1) Zu Matti. 3: „Valet baptismus in omni vita et refertur ad om- 
nia peccata universae vitae hominum. Unde baptismi mysterium to- 
tiens revocandum est in animum quoties peccaverimus in vita nostra.“ 

2) Zu Apg. 19: „Apud quos nomen Christi semel auditum est, 


Bertiefung ber Zwingliſchen Sakraments · und Tauflchre ꝛc. 741 


Standpunkt aus auch folgender Ausſpruch zu 1Kor. 1, 17 wohl 
verfiehen: „Major est docendi functio, ut baptismi gloria 
evangelicae praedicationis gloriae collata subobscurior esse 
videatur.“ 

In Vorftehendem dürfte eine Zufammenftellung der in Bul⸗ 
linger8 Kommentaren zerftreut ſich vorfindenden Bemerkungen über 
die Saframente im allgemeinen und über die Taufe im befonderen 
in erfchöpfender Weife geboten fein. Veranlaſſung zu neuer Durch⸗ 
arbeitung ber Lehre erhielt Bullinger, wie ſchon Demerkt, durch 
Galvin. Und während er bisher, wie ſich ergeben hat, nur 
Zwinglifche Gefihtspunkte namentlich der fpäteren Zeit verwertet 
und durch weitere Ausführung fruchtbar gemacht Hatte, ward er 
durch Calvin genötigt, fi mit neuen, der Zwingliſchen Anfhauung 
fern Tiegenden Ideen auseinanderzufegen. Was er fi affimilieren 
Tonnte, nahm ber zugleich entſchiedene und friedliebende Mann auf, 
jedoch nur zögernd und mit vorfictiger Zurüchaltung. Es läßt 
fi, wenn man bie fpätere zufammenfafjende Darftellung in den 
Decaden vergleicht, eigentlich nicht nachweiſen, dag er einen ein» 
sigen feiner früheren Säge zurüdgenommen habe. Der Consen- 
sus Tig. aber geht, wiewohl von Bullinger acceptiert, redaktionell 
eben doch auf Ealvin zurüd. 

Bullinger hat das Sakrament bisher weſentlich als religibſes 
Veranſchaulichungs und Anregungsmittel ganz im Sinne des fpü- 
teren Zwingli t) gewürdigt, nicht aber als direktes Gnadenmittel, 
d. 5. als Kanal der Önadenmitteilung (natitrlich nicht im Sinne 
der katholiſchen Kirche, fondern unter Vorausjegung gehöriger Ver⸗ 
mittefung durch Geift und Glauben). Er hat die Alte der Sa⸗ 
framentsdarreihung und der innerlichen Verwirklihung des Gnaden- 
heils als getrennte und gefchiedene behandelt, und ein Miteinander 


nemo negare potest, parentes de liberorum salute anxios hosce ad sa- 
crum offerre baptismum, quod audiant Deum etiam infantium esse 
Deum.* Zu Apg. 8: „Non potest fidelis mens contemnere institutionem 
Domini.‘ Der ſchon gläubige Kämmerer „sponte ergo poscit baptismum 
sentiens hoc initiari et conglutinari fideles in unum corpus et constringi 
sub fidem unius Christi ac vitae sanctimoniam “, 

4) Nameutlich ber Expositio fidei Christi. 


742 Uferi 


und Sneinander berfelben nicht einmal als Ideal angeftrebt. = 
foweit bfieb er alfo doch im ganzen dem Zwinglifchen Dualismus 
treu, mochte er immerhin in einzelnen Bemerkungen über demfelben 
Binauszugehen feinen. Demzufolge Hatte er denn auch nur em 
Intereſſe, eine zwiſchen dem signum und der res sacramenti 
beftehende analogia hervorzuheben, wie ſchon Zwingli, wenn auch 
weniger eingehend, gethan. Hierin wollte nun aber Calvin um 
einen Schritt weiter gehen; ihm genügte ſolche analogia nicht, fein 
chriſtliches Bewußtſein verlangte eine unio. „Gottes Wahrhaftig- 
feit erfordert, daß auch wirklich praestatur quod figuratur.“ 2) 
Bullinger wollte weder ein praestare, noch ein exhibere gelten 
Taffen, Calvin billigte beide termini. Nach ihm ſoll das signum zur 
gleich pignus fein, und zwar nicht nur im allgemeinen (Pfand eines 
objeftin beftehenden Sachverhaltes, etwa deffen, daß der Glaube 
rechtfertigt), nein: Pfand der Gnadenmitteilung durch das Safra- 
ment im einzelnen Fall, den gläubigen Genuß natürlich voraus⸗ 
gefegt. Dominus quod signo repraesentat simul 
efficit impletque in nobis Spiritus sui virtute. 
Demgemäß mußte Calvin der Geſichtspunkt der Veranſchaulichung 
und Vergegenwärtigung, ben Zwingli in den Vordergrund geſtellt, 
al8 ein, wenn auch nicht verwerflicher, fo doch höchſt bürftiger er 
feinen; er mißbilfige darum die Vergleihung der ſakramentlichen 
Zeichen mit profanen Bildniffen: wo denn 3. B., fo fragt er, der 
Geiſt fei, der des Caſars Bildnis belebe? *) Hier beachtet freilich 
Ealsin nit, dag auch nad) Zwingliſcher Anſchauung die Sache 
bei den Saframenten fi) ganz anders ftellt, eimerfeitS wegen des 


ı) Calvin ſchreibt an Bullinger unterm 15. Febr. 1547: „Analogiam 
proponis unionis loco. Atqui longe plus est: nempe veritas et comple- 
mentum analogiaee. Quemadmodum in baptismo analogia est purgatio- 
nis inter Christi sanguinem et aquam, mortificationia rursum et novi- 
tatis vitae inter mortem ae resurrectionem Christi et extemporalem sub- 
mersionem. Unio est rei figuratae complementum, quo fit ne signum 
sit inane.“ 

8%) „Scio multos bonos viros abhorruisse a Zwinglii doctrina, quod 
toties occurreret ista comparatio absque correctione. In his etiam est 
Philippus“ — (bezieht ſich übrigens fpeziell anf das Abendmahl). 


Veriefung der Zwinzkiäen cz TEE 


abgebildeten Gegeuflmrdet, der zum wufet erbabener iR, weil götte 
lich und wit menfchlih, ambericrt wegen det Etiftere Arien 
Denkmäler und jener eirsise Sjairiten, mern Calvin 
der Zwingli-Bullimgerfdpen Mxjrswauz wirst gar; geredet wire, je 
iſt doch widt zu Iemgerm, Dei er im eimem weienelihen Fuafte über 
biefelbe Ginaußgcht mub won der Hejen Berarihaziihung water 
Mitwirkung des des Beraufenihee — mann, we und wir er 
will — imerlich beichenben Gritie werwärth fdhreitet Zar cigent- 
lichen Guabenmitteilung und Heilswerfirgelrng, wie fir erinungt- 
gemäß erfolgt durch die Gaframenie. Die von Bullinger ſchroff 
jurüdigeisiefene Ansjege: sacramenta cenferre gratam fei dech 
zuläffig, weil fie nichts anderes bedeute als administrare 
Dei gratias. Zuaädkt jeien die Geframente zujelge ührer fimen- 
fälligen Natur allerdings adjumenta ad percipiendam Dei gra- 
tiam, scalae quibus fides promovetur; aber damit jei nur ihre 
Außerlichteit gefenmzeichuet, ihr Leib gleichſam, durch den fie and 
wiederum vermittelft unferer Zeiblichfeit auf uns zu wirken beftimmt 
fein. Ihre Seele hingegen, der fie belebende Hauch ſei der Geift: 
Spiritus anima sacramentorum. Und diejer vermittele den 
Empfang der Gnade felbft. Dura locutio (sacr. gratiam con- 
ferre) sana interpretatione mollitar. Gott gehe dadurch nichts 
an feiner Ehre ab, wenn er ſich der Saframente als feiner Dr» 
game bedtene; fonft dürfte die Sonne nicht mehr Iendten, das 
Brot nicht mehr nähren. Die Saframente halten ung ja nicht 
bet fich felbft feft, fondern weifen auf Ehriftum. Es fei daher 
ein ungereihtfertigter Einwurf, der auf Mißverftand beruhe: Deus 
ad se vocat, non ablegat nos ad sacramenta. Bullinger bes 
forgte offenbar, e8 möchte den Sakramenten zugefehrieben werden, 
was nur dem Geift zulomme; allein «8 leuchtet ein, daB Calvin 
diefen „Organen“ wirklich feine Kraft, vom Geiſte getrennt, zur 
geftand. Seine diesfälligen Erklärungen laſſen an Deutlichkeit 
nichts zu wunſchen übrig. Die innerliche Wirkſamkeit des Geiſtes 
durch die Sakramente ift das Maß der glaubenfördernden Kraft 


"der Tegteren und alfo auch das Maß ihrer Heifbringenden Kraft, 


Nur infofern ‚der Geift durch fie wirkt, find fie fidei exercitia 
und ftehen ſomit im Dienft ber Rechtfertigung durch den Glanben, 


744 uſteri 


Indem fie nämlich vermöge des durch fie wirkenden Geiſtes den 
Glauben weſentlich fördern, bringen fie auch zur Rechtfertigung 
nod; etwas Wefentliches herbei. Man kann die Gnade vor dem 
Saframentsgenuß ſchon empfangen, doch kommt durch dieſen noch 
ein Plus Hinzu, Calvin nennt e8 die plenitudo gratiae; fo beim 
Kämmerer 3. B. Bullinger hielt den vor ber Befchneidung ſchon 
gerechtfertigten Abraham entgegen; und Calvin erflärte fi genauer 
dahin: Allerdings kam durch das opus circumeisionis nichts zur 
Subftanz des Gnadenheils Hinzu, defjen objektive Realität zu er⸗ 
höhen; aber doch Läßt ſich infofern von einem Plus reden, als die 
Beſchneidung die justitia fidei befiegelte und mithin dem Glauben 
etwas bot, indem fie volleren Genuß der Glaubensgerech⸗ 
tigfeit vermittelte „nempe pro fidei suse modo“. Nicht 
die causa justificationis wird vollfommener per signa, es han- 
delt fid nur um die exhibitio „quae fit piis conscientiis verbo 
et sacramentis“ '). 

Man wird fih nad dem Bisherigen nicht verwundern, wenn 
Ealoin, fo wenig er das Innewohnen des Geiftes in den Sakra⸗ 
menten als eine naturhafte oder mechaniſche Immanenz verftanden 
wiffen will, dennoch mit einer organifchen Immanenz, die durch 
das Walten des Geiftes im Gnadenhaushalt und innerhalb der 
Ordnungen desſelben bedingt ift, fo vollen Ernft macht, daß er 
fogar „quoad dispensationem“ den Sag zuläßt: sacramenta 
Christum in se continere, wie man auch fagen könne: Christum 
in evangelio contineri. So weit konnte ihm allerdings Bul⸗ 
finger in den Deladen nicht folgen, wie fi nachher zeigen wird ?). 


1) Diefen Gedanken hat Bnllinger fpäter in die Dekaden aufgenommen, 
f. unten ©. 752. 

3) Im Consens. Tig. hat Calvin den Gebanfen fo verffaufuliert, daß 
Bullinger zuftimmen konnte. Bol. dafelbft Art. 12: „Durch fi felbft wirken 
die Saframente nichts. Gott gießt ihnen feine Kraft nicht ein — sed pro 
ruditatis nostrae captu ea tanguam adminicula sic adhibet ut tota agendi 
facultas maneat apud ipsum solum. — Spiritus fidei inchoator et per- 
feotor.“ Ihm kommt auch das Attribut sigillum vor den Sakramenten in 
erfter Linie zu (Met. 18). Bol. noch rt. 16, der ber Bullingerſchen An- 
ſchauung Rechnung trägt, indem er betont, daß Glaube zuftande kommen könne 


Bertiefung ter Zuinlider Eafrımrers- um Emule es 2 TE 


Calvin ging aber med; weiter und rebete wen eimer exhibitio gra- 
tiae per sacramenta jelb in jeldım Fülle, we tie Gmaten- 
wirkung zeitlich mit dem Seframenttempjang nicht zujammenjicl: 
„ÜUt renovatio vitze, quam Deus exhibet in baptismo non 
sistitur illic ad manum quasi sub aqua sit inclusa, sed gra- 
datim proficiseitur a Deo.‘ Mon fickt, da die Rindertaufe 
ihn zu diefer Bemerkung veranlaft het. Der Gedanfe einer auf 
das ganze Leben fi eritredenden Bedeutung der Taufe war Bul« 
finger nicht fremd, umb er hätte ſich aljo mit dem Sag, daß ihr 
Segen fich nachträglich noch elhmählidh entjalte, an und für fid 
fehr wohl befreunden fönnen, nur des „exhiberi gratiam in 
baptismo“ mußte ihm anſtößig fein. 

Nach Zwinglis Vorgang erblickte auch Bullinger in einer Er⸗ 
hebung der Sakramente zu Guadenmitteln nach Calvins Sinn eine 
Gefahr der Werlgerechtigkeit; doch treffend entgegnete der Genfer 
Reformator, die Sakramente feien ja leineswegs unfere opera; da® 
in ihnen dargereichte Heil fomme alfo ganz und gar von Gott. 

Die Hanptbedenfen Bullingers find niedergelegt in feinem 
Briefe vom November 1548. Daß Calvin eben doch ein simul 
des gläubigen Sakramentsgenuſſes und des Gnadenempfanges ber 
ftimmt behauptet, ift und bleibt ihm anftößig: dadurch werde die 
Gnade an die Saframente gebunden, und fie werde „beneficio 
sacramentorum“ zuteil. Bullinger urgiert die Alleinwirkſamkeit 
Gottes und feines Geiftes im Inneren des Menſchen, will ftatt 
ber exhibitio gratiae per sacramenta nur ein Hinweiſen der 
Zeichen auf Ehriftum gelten Lafjen, eine Bezeugung und Verfieger 
lung des Heils durch die Saframente aber bloß in dem mehrfach 
erwähnten allgemeinen Sinne, ober dann erft eine nachträgliche 
(nad) fon vollendeter justificatio), alſo nicht mehr zum Gna⸗ 
bdenempfang zu rechnende: „Sanguine Christi abluuntur credentes 
in Spiritu per fidem. Eam vero emundationem attestatur 


ohne das Sakrament, wenn auch beffen Empfang ſelbſt dann nicht über 
flüffig, fonbern zur continustio und reparatio ber Gemeinſchaft mit Chriſto 
dienlich fei (Art. 9), Nur in Motfällen (Erläuterung Calvin zu Art. 16) 
Lönne das Sakrament ohne Schaden wegbleiben. 


746 uſteri 


significat et obsignat Deus in electis suis per baptismum.“ 
Bullinger läßt nicht gelten, daß die Saframente instrumenta 
gratiae fein, per quae exhibentur dona Spiritus. Bielmehr 
faßt er feine Anfhannng dahin zufammen: „Deus confert, exhi- 
bet infanditque gratiam non per signa (quae rerum spiri- 
tualium non sunt capacia, cum sint inanima neque affıza 
aut alligata dona Spiritus teneant cum sint Hbera et nulli 
rei visibili alligata, sed per Spiritum S. ac fidem. Spiritus 
est, per quem illabitur animis nostris Deus; fides id Dei 
donum est, per quod recipit homo alia Dei dona. Saera- 
menta illa non conferunt aut exhibent ceu exhibendi et 
conferendi instrumenta, sed significant, testificantur et ob- 
signant.“ Deffenungeadhtet aber find die Saframente testimonia 
veritatis (niht fallax spectaculum), ejus veritatis, quod per 
Christum in fide redempti et haeredes regni Dei effecti 
sumus. Bei biefen Süßen ift denn auch Ballinger im ganzen 
geblieben, und es ift troß zutage tretenden reblihen Beftrebens, 
Calvin gerecht zu werben, eine gewiffe vorfichtige Zurückhaltung 
nicht zu verfennen, wenn man in den Defaden fpäter lieft, Zeichen 
und bezeichnete Sache feien verbunden institutione divina, con- 
templatione et usu fideli; die Ausbrüde find unbeftimmt und 
elaſtiſch. 

Schließlich bleibt nur noch zu erwähnen übrig, daß Calvin in 
feiner Antwort vom 21. Januar 1549 Bullinger fo weit entgegen⸗ 
fam, daß er zugab, das Maß des entgegengebrachten Glaubens fei 
auch das Maß der durch die Saframente wirkfamen Gnade, dieſe 
fei alfo an fi weder lolal noch temporal mit den Saframenten 
verbunden *). 

Den Eindruc, den diefer intereffante, den Consens. Tig. vor- 
bereitende Briefwechſel zwifchen Bullinger und Calvin Hinterlägt, 
kurz zufammenfaflend, muß man zwar zugeben, daß eime völkige 
Verftändigung bis auf die Ausdrucksweiſe hinaus nicht ftattfand, 


1) „Conjunctam Dei gratiam sacramentis esse fateor non tempore 
non loco sed quatenus vas fidei quisque affert ut quod illie figuratur 
obtineat,“* 


Vertiefung der Zwingliſchen Safcaments- und Tauflehre zc. 747 


und daß auf beiden Seiten ein felbftverleugnendes Entgegenfommen 
notwendig wurde — man Tann nad) wie vor zum mindeften von 
einer verfchiebenartigen individuellen Färbung Bullingericher und 
Calvinſcher Lehrweiſe reden —, daß aber doch mande ſcheinbare 
Differenz ſich als Migverftändnts herausſtellte, und daß Bullinger, 
allzu ängftlih im Ausdrud, nicht genugfam würdigte, wie fehr 
Calvin trog größerer Freiheit in ber Darftellung feinen eigent- 
lichen und innerften Tendenzen gerecht wurbe 1). Immerhin leuchtet 
bei der Leltüre der fpäter in Bullingers Dekaden niebergelegten 
luciden Ausführungen Über die Saframente ein, daß die Aus— 
inanderfegung mit Calvin befreiend und befruchtend gewirkt, und 
daß in der Vertiefung der Zwinglifchen Lehre ein Fortſchritt ftatt- 
gefunden Hat. Wusbrüde wie gratiam conferri per sacramenta 
oder contineri in sacramentis fonnte Bullinger fi zwar nim⸗ 
mermehr aneignen; auch als Kanäle, durch welche die Gnade fich 
mitteile, wollte er die Sakramente nicht gelten lafjen; allein bie 
Entſchiedenheit, mit der er ſolche Definitionen in den Defaden bes 
kämpft, kehrt ſich doch unverkennbar gegen den römifchen Aber» 
glauben und gegen das opus operatum, nicht aber zugleich gegen 
diejenige Anfchauungsweife, vom welcher ausgehend Calvin jene 
nämlichen Definitionen als zuläffig erachtet hatte. Won einer, ob 
au verhüllten Polemik gegen den Calvinſchen Lehrtypus findet 
fih im ben Defaden feine Spur ). Freilich Hatte des großen 


1) Sehr befonnen if das Gutachten des Joh. a Lasco über biefe Aus- 
einanderfegungen zwiſchen Bullinger und Calvin (1550, in der Simlerſchen 
Sammlung): Erfreuliche Einigkeit herrſche im ber Betonung deſſen, baf ber 
5. Geiſt diefen Juſtitutionen Ehrifti (des Sakramenten) ſtets gegenwärtig fein 
(adesse) müffe. In uau illorum legitimo per Spir. sanet. nostro assisten- 
tem ministerio animi nostri in fide obsignantur. Es beficht alfo eine 
unio sacramentalis symbolorum cum mysteriis. &o feien die Sakramente 
nicht nur externa symbola (mie Zwingli dualiſtiſch gelehrt), fondern interna 
etiam in nostris animis justitiae fidei obsignacula. Die Außbrüde offerri, 
conferri, exhiberi felen ihrer Vißverſtändlichteit wegen lieber zu vermeiden. 
Die Mitteilung fei ja eine fortwährende und ſchon vorher gefhehende 
audy von Calvin qzugeftanden). Lasco betont fer, man werbe durch bie 
Sakramente mit erft etwas, fie fein vielmehr Zeugniffe von einem ſchon 
Beienben. 

2) Es ift vielmehr das Gegenteil dee Fall: Als Bullinger Calvin bie 


18 Ufßeri 


Dogmatiters Scharffinn und Gewandtheit es auch verftanden, 
dur die im Consensus gegebene, beiden Zeilen gerecht werdende, 
meifterhaft umfichtige Lehrfafiung Bullingern das Mißtrauen zu 
benehmen. 

Die Darftellung in der fünften Dekade *) (Sermo 6, 7 u. 8) 
verdient es, zum Abſchluß noch im ihren wefentlihen Momenten 
ſtizziert zu werden *). Predigten der Benennung nad) (sermones), 
find diefe Auffäge vielmehr bogmatifhe, immerhin von religiöfer 
Wärme durhdrungene Abhandlungen. Bulfinger handelt ausführ⸗ 
lid) zuerft de sacramentis und dann nod in befonderen Ab» 
fnitten de baptismo und de coena Domini unter beftändiger 
Fühlung mit dem Tieffinn der alten Kirche, mit entſchledener Pos 
lemit gegen bie fpätere römifhe Superftition und mit Häufiger, 
durchweg pietätvoller Berufung auf Zwingli, mit dem den Zu⸗ 
ſammenhang aufrecht zu erhalten und den verehrten Meifter gegen 
Berfennung in Schug zu nehmen Bullinger fih aufs höchſte an- 
gelegen fein ließ. Namentlih werden die legten Schriften des 
Reformators gehörig verwertet. 

Schon die Alten, beginnt B., nannten die Saframente sym- 
bola, und zwar a) als alfegorifhe Darftellungen der größten 
Möfterten Gottes, und b) als Pflihtzeihen, wodurd ſich Gott 
uns und wir uns ihm verpflichten, und wodurch wir zu brüder« 
Ticher Siebe uns verbinden. Die Saframente kann nur Gott ſelbſt 
eingefegt haben, denn fie gehören zum Kultus und follen zugleich 
ein Pfand und Zeichen der Liebe Gottes fein; aljo muß er fie 
gegeben haben, fonft hieße ſich ihrer bedienen fremdes Feuer auf 
den Altar bringen. Wie das Wort Gottes, obgleich von Menſchen 
abminiftriert, dennoch anzunehmen ift al8 von Gott, fo gilt das 


5. Detade überfandte, ſchrieb ec dazu, er habe genau dafür geforgt, daß alles 
darin völig mit dem Consensus übereinftimmend fei, ev habe ſich gegen das 
Ende Hin felbft der Worte Calvins aus feinem Lehrbuch bedient. 

3) Sermonum decas V, Tig. 1551. 

%) Bullinger ſchrieb darüber an Vadian: „Ich denke namentlich im ben 
4 Reden über die Sakramente etwas ber Mühe Wertes getfan zu haben und 
‚glaube, diejenigen werben ihre Sünde erkennen, welche uns als Keger und Sa- 
kramentierer verbammen“ (Peſtalozzi, Bullinger, ©. 886). 


Bertiefung der Zwingliſchen Sakraments · und Tauflehre 2c. 749 


Nämlihe auch von den Saframenten; die fichtbaren Zeichen find 
eine Herablaſſung der göttlichen Güte zu unferer Schwachheit. 

Schrift und ältere Kirchenlehrer kennen nur zwei Saframente 

(es fet denn, fie nehmen das Wort in einer allgemeineren Bes 
deutung). Die Siebenzahl findet ſich erft bei den Scholaſtikern. 
Die menſchliche Spigfindigfeit Hat feine Vollmacht, Saframente zu 

erfinden. 

Den Worten darf nicht eine magiſche, das Heil bewirkende 
Kraft beigelegt werben, als Hätten fie diefe, indem und dadurch 
daß fie gejproden würden. So konnte man Heute zu einem Ans- 
fägigen hundertmal jagen: „Sei gereinigt!“ das hilfe ihm nichts. 
Der Wille Gottes thut's allein, nicht diefes oder jenes Wort. 
Bas man nah Gottes Geheiß thut, das ift dadurch geheiligt; fo 
ift es auch die Sakramentshandlung, nicht aber liegt in ben 
Worten als folden eine umwandelnde Kraft. Naeman wird durch 
das Jordanbad, das er auf des Propheten, d. h. Gottes Geheiß 
bin nimmt, gereinigt, nicht durch eine Zanberformel. Auch Auguftin 
dachte fo, denn er bemerkt zu der Stelle Tit. 3: „und Bat uns 
gereinigt durch das Wafferbad im Wort“, „nicht weil es geſprochen, 
fondern weil es geglaubt wird“. Durd das Glaubenswort wird 
bie Taufe geweiht — was Heißt das anders als: das Geſchäft 
des Glaubens macht fie wirffam? Der Herr hat einfach Hand⸗ 
tungen eingefegt, und wir vollziehen fie genau nach Borbild und 
Vorſchrift. Er Hat aber nicht gefagt: In dem Augenblicke, da 
ihr diefe Worte fprechet, gefchieht der und der geheimnisvolle Vor⸗ 
gang. Das Wort kann nur andeuten, ferner moralisch und pfy« 
chologiſch, aber nicht magiſch wirken, reſp. Gott wirkt durch das⸗ 
felbe. Der Menſch braucht das Saframent nicht erft durch 
Sprechen der Worte zu weihen; «8 ift ſchon von Gott durch fein 
Einfegungswort, diefen Ausbrud feines unmandelbaren Wollens, 
für einen Heiligen Gebrauch geweiht. Zum Einfegungswort kommt 
yann nur nod) die precatio; nicht imprecatio und praecantatio, 
ondern fidelis gratiarum actio, d. 5. Danffagung für das dem 
Blauben fehon Gebotene, nicht Ummandelung in ein Neues duch 
inen Segens- oder Zauberfprug. Die Subftanz ber Elemente 
ıleibt natürlich diefelbe wie vorher, „accedit autem nunc alius 


760 uſteri 


usus et finis; habent nunc notam verbi Dei impressam et 
praeceptum Dei, sunt itaque consecrata. Constat ergo 
sanctificatio et consecratio sacramentorum voluntate et in- 
stitutione Dei, fine certo et usu sancto, quae nobis expli- 
cantur verbo.‘ 

Es kennzeichnet den Praktiker, daß das Gefagte durch ein paar 
Gleichniſſe veranfhaulicht wird: 1) das geprägte Gold oder Silber, 
die Geldmünze, ift zwar noch dasſelbe Matall, aber nun reprä« 
fentiert es einen beftimmten, geſetzlich normierten Verkehrswert; 
2) das Wade, wenn ihm das Siegel eines Königs aufgedrückt 
worden, iſt zwar noch Wachs, aber es nun verlegen’ oder miß⸗ 
achten ift ein crimen laesae majestatis. 

Einfache Konfequenz ift, daß man das Zeichen befommen kann, 
ohne an der Sache felber Anteil zu haben *). 

Die Zrage wegen der Unio sacramentalis ift durch Spitz ⸗ 
findigkeit eine ſchwierige geworden. Die Schrift kennt die Prü- 
dilate personalis, realis und rationalis, zwifchen welchen man 
ſchwankt, gar nicht. Vielmehr ift Zeichen und bezeichnete Sache 
ganz einfach verbunden institutione divina ®), contemplatione 
et usu fideli °), significatione denique rerumque similitudine. 
Die Verbindung ift von Gott gefegt, wird im glänbigen Subjeft 
zur Wirklichkeit und beruht auf Analogie zwifchen dem Zeichen 
und der bezeichneten Sache. 

Sehr einläglih redet Bullinger von ber Wirkungsweife der 
Sakramente: dem katholiſchen Aberglauben Liege vielfach ein Mike 


1) Hübſches Wortfpiel von Indas Iſcharioth: „Edit quidem panem 
Domini at panem Dominum non edit.“ 

3) Swed diefer institutio: „ut redemptionis et gratiae suae denique 
salutis nostrae mysteria nobis commendaret signis visibilibus eaque re- 
praesentando renovaret obsignandoque confirmaret.* 

3) „Contemplatione fideli, quia religiose participantes sacramentis 
oculos suos non in sensibilia tantum sed magis in res insensibiles, in 
significatas et coelestes defigunt: ut in seipsis quidem duo illa conjuncta 
habeant, quae in signo aut cum signo alioqui nullo connectuntur vin- 
culo. Corporaliter enim et sensibiliter signa percipiunt: spiritualiter 
vero res possident, versant, renovant atque exercent significatas.‘“ 


Bertiefung der Zwingliſchen Saframents- und Tauflehre ac. Tl 


verftändniß zugrunde. Es fei nämlich von der Schrift und von 
den alten Kirchenlehrern oft das Zeihen mit dem Namen der 
Sache ſelbſt bezeichnet und ihm zugefchrieben worden, was eigent- 
fi nur von jener gelte. Urfprünglih Habe man Verftändnis 
gehabt für ſolche ſymboliſche Ausdrudsweife, wie fie namentlich 
auch Auguftin liebte; fpäter Hingegen habe ein Eraffer, maſſiver und 
geiftlofer Realismus um fich geriffen, und weil man der Taufe 
mn eine die Wiedergeburt mit ſich führende Kraft vindizieren 
wollte, habe man einer himmliſchen Materie, eines gefegueten und 
dadurch zu einer neuen Kreatur umgewandelten Taufwaſſers be- 
durft ). Man habe zwiſchen dem altteſtamentlichen und neuteftas 
mentlihen Sakramenten unterfchieden, jene allerdings nur „Zeichen“, 
diefe Hingegen „wirkende Urſachen“ genannt, während doc der 
Unterfhied nicht in den Symbolen, fondern in den Sachen liege, 
indem es fi im Alten Bund um noch zu Erfüllendes, im Neuen 
Bund aber um ſchon Erfülltes haudele *). 

Allen die Gnade könne in den Saframenten als in fichtbaren 
md umgrenzten Dingen nicht enthalten fein, auch nicht durch ſolche 
als durch Kanäle auf uns fich Übertragen. Denn die Gnade fei 
die Gütigkeit und das Wohlwollen Gottes, womit er ſich in eigener 
Machtvollkommenheit zu uns hermiederneige. Diefer geiftige Vor⸗ 
gang aber fei lediglich im Glauben zu erfaſſen. Ein receptacu- 
lum der Gnade, ein domicilium der Geiftesgaben, könne nur das 
glänbige Gemüt fein ®). 


2) Anlaßlich der Taufe des Kammeres Apg. 8 betont Bulliuger im 
Rommentar zu der betreffenden Stelle, daß wie dort Flußwaſſer gewöhnliches 
Baffer genüge „significatione et mysterio congecrata et jam non pura 
tantum sed sacramentalis et mysterio sancta, quam minister cum pre- 
bus et summa oblatis affundat reverentia “. 

2) „Promissiones rerum complendarum — indicia rerum comple- 
tarım.“ 

) In diefem Punlt wollte Bullinger fogar den Schein der Zweibeutigkeit 
Wefeitigt wiffen. Ex führt eine Stelle aus Bonaventura an, die er ſich wohl 
Hätte gefallen lafſen Tonnen, fie lautet: „Non est aliquo modo dicendum 
quod gratia contineatur in sacramentis essentialiter tanguam aqua in 
vage vel medieina in pyxide, imo hoc intelligere est erroneum. Sed di- 
euntur continere gratiam, quia ipsam significant, et quia nisi ibi sit 


762 uſteri 


Die Apoſtel hätten die wiedergebärende Kraft weder an ein 
Element gebunden — fonft hätten fie nicht in ungeweihtem Waſſer 
getauft —, noch überhaupt fie der Taufe zugeſchrieben — fonft 
hatten ſie nicht ſchon Glaubiggewordene getauft. Offenbar habe 
in ihren Augen das Sakrament den Glauben und die Gnade nicht 
mit ſich gebracht, es ſei ihnen vielmehr erſchienen als eine Ver⸗ 
fiegelung der ſchon empfangenen Gnade, als testimonium veri- 
tatis, al8 obsignatio justitiae fidei und fo als donorum con- 
tinuatio et incrementum !). 

Wäre das Saframent ein Kanal der Gnade felbft, fo hätte 
die Kindertaufe feine Berechtigung. Denn biefe, bemerkt Bulfinger, 
Hat fie nur, weil der Herr befohlen, die Kinder ihm zuzuführen, 





defectus ex parte suscipientis, in ipsis gratia semper confertur, ita in- 
telligendo quod gratia sit in anima non in signis visibilibus. Possunt 
etiam dici vasa alia ratione. Quia sicut quod est in vase non est de 
ipso nec ex ipso, sed tamen ab ipso hauritur: sic gratia non est a sa- 
cramentis nec de sacramentis, sed oritur a fonte aeterno, et ab illo 
hauritur ab ipsa anima in ipsis sacramentis. Et sicut quis recurrit ad 
vas cum requirit liquorem, sic quaerenti liquorem gratiae et non ha- 
benti recurrendum est ad ipsa sacraimenta.“ Dazu bemerkt Bullinger: 
„Torsit se in hac re mirum in modum Bonaventura“, 

1) Hier feheint fich doch Calvins Einfluß in etwas bemerkbar zu machen, 
Er redet von einem folden Plus, das durch ben Sakramentsempfang dem 
Gläubigen zuteil werde. Die charakteriſtiſche Stelle bei Bullinger lautet: 
„Promisit Deus se nostrum futurum et in Christo se nobis cum omni- 
bus donis suis communicaturum. Talem ergo se nobis certo praestat 
et communicat, licet id faciat non nunc primum cum sacramentis par- 
tieipamus, veluti se nobis per illa ut canales et in his ut vasis inclu- 
sum effundat. Statim enim a mundi exordio suam nobis gratiam pro- 
misit: statim atque credere coepimus, talem ille se nobis praestare 
coepit et praestat magis magisque per omnem vitam nostram: nos fide 
ac spiritualiter ipsum recipimus atque haurimus. Ergo cum participa- 
mus sacramentis, pergit is se nobis singulari modo, id est sacra- 
mentis proprio communicare, adeoque nos, qui dudum participes 
facti sumus Christi, communionem illam in sacramentorum celebratione 
fide ac spiritualiter continuamus atque reparamus, eandem 
nobis obsignantibus signis sensibiliter. Quis autem posthac dixerit sic 
sentientes de sacramentis et hac fide his participantes inania habere 
spectacula et in his nihil percipere?« 


Bertiefung der Zwingliſchen Sakraments - und Zauflchre c. 7ER 


weil er verheißen, unfer und unferes Samens Gott zu fein, und 
weil, nicht die Kinder, fondern wir glauben, daß Gott in feiner 
freien Gnade und Erbarmung im Blute Epeifti fie gereinigt und 
m Rindern und Erben des ewigen Lebens angenommen. Beruht 
fie auf diefen Erwägungen, fo ift fie alſo nicht Gnadenmitteilung, 
fondern Bezeugung und Verfiegelung eine ſchon vorhandenen Heils. 

Wie über die Wirkungsweife, fo ſpricht ſich Bullinger aud 
über die Sraft und den Wert der Saframente fehr gründlich aus. 
Er acceptiert gern daS Anguftinfche visibilia verba. Die Taufe 
ift wie bie Beſchneidung ein dem Körper felbft mitgeteiltes Siegel, 
daß der Olaube unſere Gerechtigkeit fei, und daß alle Güter Chriſti 
gute fommen den Gläubigen. Gpäterer Unglaube und gottlojes 
Leben entfremden der Gnade, in die man im unſchuldigen Alter 
aufgenommen worden; Reue führt zuräd. Ein Siegel, an eine 
Urkunde gehängt, ift immer noch Außerlicher als ein foldes Zeichen, 
dem Körper aufgeprägt. Zwinglis Sag: „testimonium rei 
gestae praebent‘“ verkleinert die Saframente nicht, fondern will 
fie auch als Siegel und VBergegenwärtigungen betrachtet wiſſen. 
Aerdinge iſt es nach der Schrift eigentlich der Geift, der bes 
fisgelt, aber wie das „confirmare‘“ (durch Lehren) auch den 
Dienern des Wortes zugefchrieben wird, fo a8 „obsignare‘“ den 
Sakramenten. Zu einem spectaculum divinum werden fie freie 
lich nur für Augen, die der h. Geift erlenditet Hat, während fie 
den Ungläubigen nichts nügen. 

Die Taufe insbefondere foll beftänbig erinnern an bie ger 
ſchehene Übergabe und an ben Empfang des neuen Namens, welche 
beiden Akte bei ihrer Adminiftration ideell ftattgefunden. So ver- 
anſchaulicht vermöge ber zutreffendften Analogie das Zeichen felber 
die dadurch bezeichnete Sache. Mortificatio und vivificatio, re- 
missio, renovatio und refrigeratio, alle diefe Momente des Pro⸗ 
zeſſes der Wiedergeburt finden im Ritus ihre Veranſchaulichung. 
Dem Glauben bringen die Saframente wefentlihe Anregung und 
Unterftägung (exeitant et adjuvant), weil fie mithelfen, daß der 
ganze Menſch ergriffen wird, nicht nur der Geift, der allerdings 
{don zuvor ein Verftändnis haben muß. Die Sakramente haben 
auch die Bedeutung einer eidlichen Verpflichtung geaenlber der 

Wesl. Stad. Jahrg. 1888. 


754 Ufteri 


Kirche Eprifti, und endlich liegt in ihnen ein mächtiger Antrieb 
zur Heiligung und zum neuen Leben. 

Obgleich die Saframente ohne entgegenfommenden Glauben 
diefe ihre Kraft nicht entfalten Tönnen (mas mit Stellen aus 
Auguftin belegt wird), darf man doch nicht fagen, daß fie ihre 
Würde von der inneren Verfafjung des Menfchen her befommen. 
Diefelbe beruft vielmehr auf ihrer göttlichen Einfegung, und fofern 
man auf diefe und auf die göttliche Güte, die fie darreicht, ficht, 
haben fie immer die gleiche Würde und den gleichen Wert, und 
Gottes Schuld iſt's nit und entwürdigt das Saframent an fi 
nicht, wenn der Menſch es nit nügt. Bei ſolchem Mißbrauch 
reagiert feine Würde dadurch, daß der Menſch es zum Gerichte 
empfängt). Am unglüdlichften im ganzen Abſchnitt von den 
Saframenten ift wohl ber Verſuch, nachzuweiſen, daß es auch bei 
der Kindertaufe in mehrfacher Hinſicht am Glauben nit fehle. 
Da ift 3. B. die Rede von einem zugerechneten Glauben: die 
Kindertaufe beruht auf der zuvorkommenden Barmherzigfeit Gottes, 
welche die Kinder für Gläubige rechnet (imputat), und als Be 
weiß foll der Spruch dienen: „Wer einen dieſer Keinen, die an 
mid glauben, veradtet ꝛc.“ Sodann wird erinnert an den 
Glauben der Eltern und der Kirde, dag auch die Kinder zum 
Volke Gottes gehören, ferner an ihren glieblihen Zufammenhang 
mit dem einen myſtiſchen Kirchenleib und an den daraus reſul⸗ 
tierenden Anteil am alfgemeinen Kirchenglauben. Und endlich 
wagt Bullinger fogar die Frage aufzuwerfen: Wer will fagen, 


1) Bol. dazu Calvin zu Gal. 3, 27: „Non fallacem pompam ostentat 
Deus in sacramentis, sed quae externa ceremonia figurat, exhibet simul 
re ipsa. Hine fit ut veritas secundum Dei institutum conjuncta sit cum 
signis. Siquis hie quaerat: Ergone fieri potest hominum vitio ut sa- 
eramentum non sit quod figurat? Responsio est facilis: nihil sacra- 
mentis derogari per impios, quin suam naturam et virtutem retineant, 
quamvis ipsi nullum sentiant effectum. Sacramenta enim bonis perinde 
ac malis Dei gratiam offerunt nec fallaciter promittunt Spiritus sancti 
gratiam: fideles quod oblatum est recipiunt; impii respuendo faciunt 
quidem, ut sibi nihil prosit quod erat oblatum; quin Deus sit fidelis et 
verax sacramenti significatio, facere nequeunt.* Ebeuſo zu Tit. 8, 5. 


Vertiefung ber Zwingliſchen Sakraments · und Tauſlehre ıc. 766 


was für „motus spiritus Sancti“ die Kinder außerdem noch 
haben? Sie müffen ſolche Haben, denn die Gottes find, haben 
den Geift Gottes 1). 

Inwiefern der Saframentsgebraud für die Verwirklichung des 
Heils conditio sine qua non fei und nicht ſei, macht kurz und 
bündig folgender Doppeljag deutlich: Die innerliche Heiligung 
fann erfolgen ohne fichtbare Sakramente; aber die Sakraments⸗ 
verachtung ſchließt die innerliche Heiligung aus. 

Und am Schluß wird noch betont, daß die Unwürdigkeit des 
Spenders fo wenig als bie des Empfängers den Charakter des 
Saframentes an ſich alteriere. Hierin findet fih Bullinger im 
Widerſpruch mit Eyprian, der das Gegenteil behauptet, Hingegen 
in Übereinftimmung mit Auguftin. 

In einem befonderen Abfchnitt über die Taufe erweiſt Bul⸗ 
linger zunächft in fon oben angedeuteter Weife die Identität der 
Taufe des Johannes und der Apoftel, indem er namentlich auch 
die Weihe betont, die die Johannestaufe dadurch empfangen, daß 
Chriſtus felbft fich ihr unterzog. Alſo: ein Herr, ein Glaube, 
eine Taufe! 

Sodann definiert er die Taufe auf den Namen Gottes ale 
ein „Eingefchriebenwerden in die Familie Gottes, aljo daß ber 
Getaufte nun den Namen Gottes empfängt und ein Sohn Gottes 
genannt wird“. 

Für d08 AÄußerliche, chriſtlicher Freiheit Anheimgegebene, in der 
Art, das Sakrament zu gebrauchen, giebt Bullinger nur wenige 
Normen; als richtigen Ort bezeichnet er, Notfälle ausgenommen 
(doch nicht, da die Not bloßer Vorwand jei!), die Kirche, als 
richtigen Modus die Öffentlichkeit; jedenfalls foll alles „decenter 
et secundum ordinem“ vor ſich gehen. Die Zeit ift frei, doch 
darf nicht gezögert werden. Die Taufe ift an Stelle der Be 
fneidung getreten, und auf der Verfäumnis Teßterer Taftete ein 
ſchwerer Fluch. Ein vorheriger Tod des Kindes kann allerdings 


1) Bgl. dazu die Bemerkung im Kommentar zu Apg. 2: Sie können den 
h. Geift fo gut haben wie die Vernunft ale scintilla sopita excitanda aeta- 
tis accessu. 
49* 


756 uſteri 


ſeinem Heile keinen Eintrag thun, noch das Beſtreben, ihn zu ver⸗ 
hüten, die Uſurpation einer an das Amt gefnüpften kirchlichen 
Handlung durch Hebammen rechtfertigen ). Bullinger iſt ſich ber 
mußt, darin von Auguftin abzumelden, nichtsdeſtoweniger aber mit 
Pelagius, der die Erbfünde leugnete und die Kindertaufe für un. 
nötig hielt, nichts gemein zu Haben. Nach feiner Anfchauung bes 
ruht eben ber erfte Anfang des Heils nicht auf dem Sakramenis ⸗ 
empfang, fondern auf ber Verheißung. 

In Joh. 3 betrachtet Bullinger Luft und Waffer als Sym⸗ 
bole des die innerlihe Ummandelung Bewirkenden; er hält aber 
auch die beliebte Beziehung auf die Taufe nicht gerade für ver⸗ 
kehrt; denn — fagt er — die Taufe ift wirklich zum Heil note 
wendig, Notfälle ausgenommen. Weil Auguftin diefe Ausnahme 
nicht gelten Taffen will, kommt er nad Joh. 6 konſequent dazu, 
auch die Mitteilung des Abendmahles an Kinder für notwendig 
zu erflären. Übrigens ift felbft Auguftin nicht ganz folgerichtig, 
da er beim Schächer fi mit der Geiftestaufe zufrieden giebt. 
Jedenfalls, meint Bullinger, feien für Kinder die „pia parentum 
vota“ ein ebenfo genügender Erfag in Notfällen, als für Er- 
wachſene das ernftliche „desiderium baptismi “. 

Die Frage, wer zu taufen fei, beantwortet Bullinger in dop⸗ 
pelter Weife: 1) Alle, welche den Glauben recht bekennen, und 
wären fie unentdedte Heuchler, wie Simon Magus; 2) die von 
Zeus fo Hoc gehaltenen Kinder ?), nit um ihter natürlichen 
Unſchuld willen, fondern weil Gott fie unter die Gläubigen rechnet, 


2) Zu Apg. 8 bemerft Bullinger, daß die Weiber- und Hebammentaufe 
als ein mit dem Waſſer getriebener Aberglaube zu verwerfen ſei. Calvin ber 
tonte dies auch nachdrücklich, doc; findet fi das ganz in ber Konfequenz der 
reformierten Doktrin liegende Urteil bei Bullinger ſchon früher, anfangs ber 
30er Jahre. Betr. Zwingli vgl. meine Abhandlung a. a. D., ©. 241. In 
der zweiten helvetiſchen Konfeffion flellt Bullinger die Taufe einfach unter bie 
Kategorie der officia ecclesiastica, von benen nad Paulus bie rauen aus - 
geichloffen feien. 

3) Da warfen freifich die Gegner ein: Warum hat fie denn Jeſus nicht 
gleich getauft? Und Bullinger erwidert: Weil gefchrieben ſteht: „Jeſus aber 
taufte nicht ſelbſt, ſondern feine Fünger.” Siclt 





Vertiefung der Zwingfifhen Gakrements- und Tauflehre zc. 757 


und weil die Gläubigen zu taufen find (wie oben). ine Blas⸗ 
phemie nennt es Bullinger, daß die Wiedertäufer die Kinder mit 
„tranei“ vergleichen, die von einem Symbol nichts verfichen. 
Auch die Beſchneidung hatte ihre Myſterien, und Gott bat doch 
gewiß nicht etwas Widervernünftiges angeordnet. Auf die Taufe 
folgt ja fpäter der Unterricht. 

Am Schluß redet Bullinger noch erbaufih vom Wert ber 
Taufe: So oft wir gefündigt haben, wollen wir uns ins Ge 
dächtnis rufen das Myſterium ber 5. Taufe. Einmal find wir 
getauft worden, damit wir nie verzweifeln an der Vergebung uns 
ferer Sünden durd den Gott, dem wir durch die Taufe einmal 
einverleibt worden, damit er immer in uns das Heil wirke, bie 
wir aufgenommen werden aus bem Elend im die Herrlichkeit. 
Die Taufe verbindet uns mit Ehriftus, der fih mit unferer Taufe 
taufen ließ, um zu zeigen, daß er unfer Bruder und mir feine 
Miterben fein. Die Zaufe verbindet uns aber auch mit allen 
Glaͤubigen hier und drüben. Sie ift ein Bekenntnis von Sunde 
und Gnade und ein Antrieb zum chriſtlichen Reben. 

Die begeifterte Aufnahme, die Bullingers Dekaden in der res 
formierten Kirche überall fanden ), entfprah nur ihrem inneren 
Wert. Noch heute kann ſich ein Lefer am dieſen fchönen, geifte 
reichen, tiefen Gehalt und lichtvolle Darftellung in ſich vereinigen» 
den Abhandlungen erfreuen und erbauen. Was fpeziell die ein. 
gehend behandelte Sakramentslehre anbetrifft, fo wird man es 
Bullinger zugeftehen müffen, daß das Enge, Steife und Pedan⸗ 
tiſche der Zwinglifchen Lehrweife verſchwunden und an deſſen Stelle 
eine der myſtiſchen Tiefe des Gegenftandes angemeffene größere 
Gejchmeidigkeit und farbenreichere Lebendigkeit im Ausdruc getreten 
ift, und daß mithin Calvins Mahnung anläßlich jenes Briefwech- 
ſels nicht unbeachtet geblieben: „Videndum est semper, ne 
simus in repudiandis loquendi formis nimium morosi, quae 
nihil falsum nihil absonum continent.“ Der Genfer Refors 
mator Hat fi denn auch hoch erfreut über diefe Partie der Des 
taden geäußert. Als endlich Bullinger bei Abfaffung der zweiten 


1) Peſtalozzi, Bullinger, ©. 386 u. 4691. 


758 Ufteri, Vertiefung der Zwingliſchen Sakraments - zc. Lehre, 


hefvetifchen Konfefftion nochmals Gelegenheit befam, die Safra- 
mentslehre auf Grund der im Consensus getroffenen Verſtän⸗ 
digung kürzer, aber um fo fernhafter darzuftellen, wurde ihm in 
der ganzen reformierten Kirche durch alfgemeine freudige Zuftims 
mung die verdiente Anerkennung zuteil. 





Gedanlen una Bemerkungen. 





1. 
Sind im Buche Koheleth außerhebräiſche Eiu⸗ 
flüſſe anzuerlennen? 
Bon 
Prof. Dr. $, Kleinert 


in Berlin. 





Die Frage, ob nicht die ftarke Eigentümlichkeit, durch welche 
fich das Predigerbuch von der übrigen Litteratur des Alten Teſta- 
mentes abhebt, durch die Annahme eines weſentlichen Einfluffes 
außerhebräifcher Faktoren zu erklären fei, ift neuerdings namentlich 
dur die Arbeiten von Tyler!) und Plumptre?) angeregt 
worden. Beiden ift gemeinfam, daß fie darauf Verzicht leiften, 
das Buch als ein Produkt innerhebräifcher Geiſtesentwickelung zu 
begreifen, vielmehr feine Entftehung von der Mifhung hebräifcher 
Denkart mit den helleniſchen Philoſophieen bedingt fein laſſen, 
welche ben legten vordriftlichen Jahrhunderten eignen. Die 
Eigenart des Buches wäre alfo nicht die Originalität eines her 
bräifchen Denkers, fondern bie eines Litterarifchen Eflektifers, ber, 
in herföimmfichen Überzeugungen unbefriedigt, aus den vorhandenen 
Mitteln der ftoifchen und epifuräif—hen Schuftheorieen eine Popu⸗ 
larphiloſophie hergeftellt. 


ı) Th’ Tyler, Ecelesiastes, a contribution to the interpretation. 
London 1874. 

3) E. H. Plumptre, Ecelesiastes or the preacher, with notes and 
introduction. Cambridge 1882. 


762 aleinert 


Mit gelehrter Grundlichkeit, aber etwas mechaniſch iſt dieſe 
Theſis bei Tyler durchgeführt. Nach gewiſſen äußerlichen U 
rüßrungen weiſt er gewiſſen Abſchnitten des Buches (namentlich 
1, 2—11; 3, 1—15, c. 7 und mehreren einzelnen Stellen) 
ftoifche, anderen, wie 8, 18—22; 5, 18—20 epifuräifche Her 
tunft zu (vgl. namentlih S. 13ff. 67ff.). In 3, 1ff. findet er 
die ftoifche Lehre von den Welteyklen; in 1, 17; 2, 12; 7,25 
das ftoifche Ariom, daß avrss ol äppovss yalvorsa; in 
12, 7 die ftoifche Lehre von der Reabſorption ˖ der einzelnen Ser 
in die göttliche Weltfeele u. &. m.; epifuräifch fei die Gleichſetzung 
der Menſchenſeele mit der Tierfeele u. a. — Plumptre hat dieſe 
Poſition in geiftvoller Weife weiter ausgebaut. Sie bietet ihm 
nit bloß die Möglichkeit, feinen Kommentar, den er für bie 
Lektüre des Buches in oberen Studienklaſſen beftimmt, durch Heran 
ziehung zahlreicher Paralfefftellen aus den Haffifchen Litteraturen 
für diefen Zweck in vorzüglicher Weife zu adaptieren, fondern auch 
den Anlaß, mit plaftifher, allerdings auch phantafiereicher Bere 
wertung zahlreicher Stellen des Buches ein innerlich mohlverftänd 
liches Lebensbild des geheimnisvollen PHilofophen aufzurollen, der 
im Koheleth den Ertrag feiner Studien und feiner Lebenserfahrung 
niedergelegt. Er führt ihn vor, wie er aufgewachſen im engen 
Kreife frommen Judentums, zu einer Zeit, wo bie Gottſeligkeit 
zur tonventionellen Routine erftarrt war, frühzeitig durch bie 
Wahrnehmung frommer Heuchelei angewidert, zunädft das Ger 
werbe des Landmannes ergreift; dann, vom inneren Drang in bie 
Weite ergriffen, fih zu der blühenden Judenkolonie Alexandriens 
begiebt. Dort lernt er das Mißregiment des Ptolemäos Phil 
pator kennen und haſſen; gerät aber zugleich mit den Hetürem der 
Refidenz in verhängnisvolfe Berührung und macht eine finnliche 
Sturm- und Drangperiode durch, die mit feinem moraliſchen 
Ruin endigt. Des geiftigen Strebens bei alledem nicht verfuftig 
gegangen, ein eifriger Befucher der ptolemätjchen Bibliothek, flüchtet 
er in einem Inſtinkt der Selbftrettung zu den Hörfälen der Phil 
fopgen; von den Stoifern zu den Epifuräern, deren Phyſik ihn 
anzieht und deren Lebenslehre ihn einer freundlicheren Auffaflung 
des Lebens wiedergiebt. Aber das philofophifche Treiben kann iha 





Sind im Bude Koheleth außerhebräifce Einflüffe anzuerfennen? 768 


nicht davor bewahren, fdließlih der Leerheiten und Illuſionen 
beöfelben müde zu werden und dem „wer weiß?“ des Skepticis⸗ 
mus in die Arme zu fallen. Da kommt das Elend und die Ver⸗ 
einfamung des Alters, und mühfam rettet fi das umhergeworfene 
Leben an den Erinnerungen und Reſten religiöfer Ynftinkte, die 
ihm aus der Jugend geblieben, und melde der zum Tode Reis 
fende, frei und felbftändig genug, mit dem Nieberfchlag feiner 
philofophifchen Studien zu den VBelenntniffen unferes Buches 
verfnüpft hat. 

Diefe „ideale. Biographie“, welde Plumptre (S. 35—55) 
dem Berfaffer des Koheleth widmet, tft eine interefjante Leftüre; 
ſchon um der feinen Kunft willen, mit welder jeder wefentliche 
Zug des reich ausgeftatteten Gemäldes durch irgendeine Ausſage 
des Buches, und zwar ohne exegetifche Gewaltſamkeit begründet 
wird. Womit freilich nicht gefagt fein foll, daß das nämliche 
Material nicht auch für mande fehr andersartige Schilderung und 
Auffaffung die geeigneten Baufteine liefern würde. Ein Beweis 
dafür wird uns weiter unten bei Renan entgegentreten. Zunächſt 
handelt es ſich für uns um eine Prüfung der Baſis, ob die angenom- 
mene Beeinfluffung des Verfaſſers durch die griechiſchen Schul 
philofophieen wirklich vorliegt. Worab muß da anerfannt werden, 
daß die geiftige Gefamtatmofphäre, welcher die großen Spätlings- 
fofteme der griechiſchen Philofophte ihre Entftehung verdanken, ſich 
auch in umferem Buche wieberfpiegelt. Es fehlt faum einer von 
den harakteriftifchen Grundzügen derfelben, wie fie Zeller in der 
ſchönen Einleitung zum dritten Bande feiner Gedichte ber grie- 
chiſchen Philoſophie zufammengeftelit. Die eigentümlihe Stellung 
des Koheleth zur älteren Chokhmalitteratur des Alten Teftamentes 
bietet gerade unter diefem Geſichtspunkte eine merkwürdige Pa- 
rallele zu der Eigenart, mit der ſich die Philoſophenſchulen der 
Tegten Jahrhunderte vor Chriſto von den älteren großen Geftalten 
der griechiſchen Philoſophie abheben. Hier wie dort die Ablöfung 
des Denfens von der nationalen Grundlage, der kosmopolitiſche 
Charakter nicht bloß in der Stellung, fondern aud in der Bes 
bandfung der Probfeme. Hier wie dort da® Zurüdtreten der 
Trage nad) dem Seienden, der reinen Erkenntnisfragen. Das 


264 Kleinert 


heiße Ringen um das Erkennen der Wahrheit als folder, wie es 
im Buch Hiob mit leidenſchaftlichem Ungeftüm in die abgrindige 
Tiefe hineinarbeitet, ift Hier erfaltet: „Weitab ift das Seiende und 
tief, tief, wer mag's ergründen?“ (7, 24.) „Sei's Liebe, ſei's 
Haß, nichts weiß der Menſch von alledem, das vor ihm liegt, 
gar nichts“ (9, 1). 

Das Intereſſe, an welches die Spekulation ſich fnüpft, ift 
— mie bei jenen Philoſophleen des fintenden Griechentums — 
ausſchließlich das praftifhe: es muſſen Grundfäge fürs Han 
deln gefunden werden; der Menſch bedarf einer Orientierung 
fürs Leben. Hier wie dort wird zu dieſem Behuf der Weg ein 
geſchlagen, mit Verzicht auf die Wirkung ins Ganze den Einzelnen 
ganz unabhängig vom Äußeren auf ſich felbft zu ftellen; die großen 
Probleme des Gemeinjcaftslebens außer Sicht zu rüden und unter 
der. allgemeinen Mifere dem Weifen ein ruhendes Äquilibrium im 
eigenen Gemüt zu fchaffen, darin er Frieden habe. Es wird das 
Berdienft der beiden englifchen Ausleger bleiben, gegenüber einer 
bloß kanoniſchen oder bloß philologifchen Behandlung des Koheleth 
jedem tommenden Exegeten die Anseinanderfegung mit ben Ger 
fichtspunften einer fulturgefchichtlichen Betrachtung des Buches zur 
Pflicht gemacht zu haben. 

Und auch einem fpeziellen Punkt ihrer Auffefjung, der freilich 
nicht erft von ihnen betont worden ift, kommt Wahrheit zu. Es 
ift unleugbar, daß nit bloß das allgemeine Gepräge der 
Diadochenzeit, fondern daß auch ſpezifiſche Einflüffe griechiſchen 
Weſens auf den Hebräifchen Geift in unferem Buch anerkannt 
werden müffen. Die lange überfehenen Bemerkungen Zirkels, der 
im Jahre 1792 auf Gräcismen in der Sprache des Koheleth Hin- 
wies, find durch die neuefte Phafe der Betrachtung des Buches zu 
ihrem Recht gelommen. Hat Zirkel im Eifer des erften Ent- 
deckers zu viel gejehen: anderes hat er Überfehen. Wenn Plumptre 
nach Gräg’ Vorgange die Wendung „unter der Sonne“, welche in 
unferem Buch 29 mal, fonft im Alten Teſtamente nirgends bes 
gegnet, als einen Gräcismus urgiert, fo mag die Einrebe ſich ber 
haupten, daß dies nicht gerade die exotifche Lieblingswendung eines 
grächfierenden Autors fein müffe, fondern auch Die perfünliche eines 


Sind im Bude Koheleth außerhebräiſche Einflüffe anzuertennen? 766 


hehräifchen fein fönne. ber wenn die hebräifche Wendung 172 
m, die nad; äfterem Sprachgebraug nur „Gutesthun“ bebeuten 
tan, hier. anf einmal die Bedentung des behaglichen Zuftandes, 
„fh gutlich thun“, „ſich's wohl fein laſſen“ aufmeift (3, 12), fo 
ift das ohne ein dazwifchenfiegendes ed) ouoceıw doch ſchwer⸗- 
lich zu verftehen; ebenfo ift der Zufammenflang des main om 
7, 14 mit sönnegla evident. Und die Formierung von Kunfte 
ausbräden der Spekulation wie am (1, 13; 2, 3; 7, 25) und 
a (9, 1) für das Geſchäft des Philoſophierens felbft, wie 
mw no =0 vl dor, das Wefen der Dinge (7, 24) n. a. ift 
ebenfalls auf hebrätfher Wurzel nicht gewachſen. Ber terminus 
a quo der Abfaffung des Buches kann, wie fih ans dieſen Zeichen 
griehifch kolorierter Sprache ergiebt, über das Jahr 300 nicht 
wohl hinaufverlegt werben. 

Aber mit den beiden Momenten, die hier anzuerkennen waren, 
iſt doch eben nur jene allgemeine Einwirkung des griechiſchen 
Gelftes auf das Werden unferes Buches konſtatiert, welche feit 
Aegander dem Großen den ganzen vorderen Orient überrollt hat, 
und von der das jüdifche Stillfeben ausgefchloffen zu denken auch 
aus anderen Gründen nicht angeht; keineswegs aber eine konſtitu⸗ 
tive Beteiligung griechiſcher Schulphiloſophie am Inhalt desſelben. 
Soll dieſe erhärtet werden, ſo würde vorab von der äußeren 
Beweisführung zu fordern fein, daß fie die behaupteten Entlch- 
nungen an unferer Kenntnis über die erften Phafen der bezüglichen 
Schulſyſteme erwiefe, von denen namentlich das ftoifche eine ſtarke 
Innere Entwickelung aufweiſt. Denn bie Entftehung unferes Buches 
fällt in das Jahrhundert des erften Aufblühens jener nadjariftote- 
liſchen Philofophieen und kann über das Jahr 200 v. Ehr. nicht 
wohl Hinabverlegt werden. Das ergiebt ſich aus feinem Verhältnis 
zum Buch der Weisheit, fowie aus dem fehlen der ſcharf mar» 
Herten Signatur der makkabaiſchen und nachmakkabaiſchen Litteratur- 
woche; und es wird beftätigt durch die talmudifchen Forſchungen, 
welhe aus Anlaß der Aufftellungen von Gräg (Koheleth 1871) 
namentlich von jübifchen Gelehrten über dies Problem Titterarifcher 
Chronologie angeftellt worden find, und deren Refultate eingehend 
und überfichtlich zufammengeftellt zu Haben das Verdienſt des 


766 Kleinert 


foeben erjchienenen Kommentars von Ch. Wright !) if. Um fo 
mehr muß es Bedenken erregen, wenn die von Tyler und Plumptre 
angezogenen Parallelen, foweit fie fubftantielle Bedeutung Haben, 
faft ausjchließlich auf fehr junge Autoritäten der Stoa und des 
Epikuräismns Bezug nehmen; einerfeit8 auf Mark Aurel, anders 
feitö auf Lueretius. Tyler fcheint diefen Mangel empfunden zu 
haben. Er nimmt ©. 11f. einen Anlauf, wenigftens für jenen 
Sag, welcher der Zeit und Bedeutung nach als Grundaziom der 
ftoifchen Ethik gelten kann, und deffen Fehlen allerdings ein 
übelftes Manko des Beweiſes darftellen würde, das Vorkommen 
aud im Koheleth nachzuweiſen: für den Sag vom naturgemäßen 
Leben; ömoAoyovusvus 7 yvosı Liv. Er will in dem Abe 
ſchnitt Koh. 3, 1ff. neben anderem aud eine Explikation diefes 
Sages erblickt wiffen. Uber der Verſuch ift doch wohl mißgkädt. 
Zn der Stoa hat der Sag die Bedeutung, daß es gelte, unter 
Beobadtung der Empirie (zar’ dunsiglav zöv yıca ovußai- 
vovrov Chrysipp) eine Lebensregel zu finden, welde dem Ver⸗ 
nunftgefeg entſpricht, das in der allgemeinen Natur der Dinge 
und in der des Menfchen ibentifh iſt. Wan vergleiche bie Er— 
Härung, welche Diogenes Laërtius VII, 88 dem Satze giebt: 6 
xovög vönos, Ögneg Eorıv 6 0gF0g Adyog dia navımv dg- 
xousvog 6 avsös @v zo Ai. Einem völlig anderen Zweck 
dient jene Ausführung im Koheleth. Anknüpfend an die erfah- 
rungsmäßige Induktion 1, 12 — 2, 23, daß das gefamte vielfache 
und unter der bewußten Direktive des Weisheitsſtrebens (2, 9) 








1) Ch.H.H. Wright, Ecclesiastes (London 1883), p.3sqq. Bol. auch 
Herzog, R.-Enc. (2. Aufl.) XII, 171. — Geringeren Wert möchte ic} auf die von 
Tyler (S. 6ff.) wie von Plumptre (©. 56ff.) ausführkc, erörterte Abhangig⸗ 
feit des Siraciden vom Koheleth legen; bie Argumentation führt meines Erachtens 
über fubjeftive Evidenz nicht hinaus. Dagegen verdient Beachtung die Er- 
ſcheinung, mit welcher Unbefangenheit gewiffe Grundanfchanungen im Koheleth 
tombiniert erſcheiuen, welche weiterhin im Pharifäismus, Sadbucäismus, Effenis- 
mus zu ſcharfer Sonderung auseinandergetreten find. Die weitere Unterſuchung 
dieſes Punktes, auf welchen ſchon Ewald (Dichter des Alten Bundes U, 271) 
beifäufig bingeriefen, würde, wenn unter umfafjenden Gefihtspunkten unter- 
nommen, nicht ohne Ertrag fein. Tylers Behandlung desſelben (S. 84ff.) iſt, 
namentlich inbezug auf ben Efienismus, zu dürftig. 


Sind im Buche Koheleth auferhebräifche Einflüffe anzuerkennen? 767 


verfolgte Suden und Ringen Koheleths ohne Befriedigung ges 
blieben, zeigt er in diefer zweiten großen Ausführung 2, 24 bis 
3, 22, warum das fo habe fein müfen. Deswegen nämlich, weil 
der Lauf der Dinge ein- für allemal unabänderlich von Gott feſt⸗ 
geftellt und jedem Dinge feine Zeit zugewiefen fei (3, 1—8. 14; 
vgl. 7, 13). Diefer Plan Gottes ift unerforfhlih (3, 11b), und 
vergeblich müht fi der Menſch, auch der Weife, ab, ihn zu er- 
fennen (3, 18—22). Aber an diefer alles bindenden Gottesver⸗ 
anftaltung liegt es, daß das Streben des Menſchen von fi auß, 
wenn auch noch fo eifrig und vernünftig verfolgt, reſultatlos und 
unbefriedigend verläuft (3, 9f.). Der Menſch hat fi eben an 
dem Zugewiefenen in Arbeit und Genuß genügen zu laſſen, das 
die Zeit bringt (2, 24f.; 3, 12f.; dgl. 9, 11). Nicht das qual« 
volle Suden nad) dem, was Gott nun einmal, fei es verhüllt, fei 
es verfagt hat, fondern die Einficht, welche den gewiefenen Zeit- 
punkt wahrnimmt, um das Richtige zu thun, ift das wahre Gut 
und bewährt den wahren Weifen (3, 9f.; vgl. 8, 6). Geht alfo 
die Rebensregel der Stoa darauf hinaus, daß der Logos, der zur 
Natur des Menſchen gehört, fi durchſchauend wiebererfenne in 
der Vernunft des Weltganzen, und darnach von fih aus das 
Leben geftalte, fo fummiert fie fich beim Koheleth in der Beugung 
vor dem unerforfchten Gotteswert in der Welt, im Verzicht auf 
die durchſchauende Erkenntnis und auf die felbftwollende Initiative. 
Biel näher als das ſtoiſche Axiom fteht ihm das andere: xaugov 
17631, welches die Griechen auch haben, aber nicht von der Stoa, 
fondern von den alten Weifen herleiten (Diog. Laert. I, 79). 
Schon diefe Erörterung führte uns auf die innere Geite der 
Sade, auf welche ja freilich bei der Beſchaffenheit unferes Pro- 
blems der Hauptnachdruck fallen muß. Iſt bie inhaltliche Ver⸗ 
wandtjchaft des Koheleth mit den nachariſtoteliſchen Schulphilo- 
fophieen derartig, daß Abhängigkeit oder gar Entlehnung ange 
nommen werden muß? Zunähft die Stoa anlangend, ift es ja 
richtig: ſtoiſch ift der oben vorgeführte Determinismus des Buchs, 
der für Willensfreigeit leinen Raum läßt, dem siuagusvn und 
ngövoa in einander aufgehende Begriffe find, und der namentlich 
in Rap. 3 fo mädtigen Ausdruck findet. Wenn nun aber doch 


768 Kleinert 


gefagt werden muß, daß diefer Determinismus dem femitifchen 
Geifte fo wenig wurzelfremd ift, daß er vielmehr recht eigentlich 
das Gepräge derjenigen religtöfen Weltanficht ausmacht, welche der 
vom alten Prophetengeift verlafjene Semitismus ſchließlich als fein 
eigenftes Gut und Abbild erzeugt hat, der mohammedanifchen: wo⸗ 
her die Nötigung, ihn im Koheleth aus der Stoa Berzufeiten? 
Ste würde nur unter zwei Bedingungen anzuerkennen fein, fei es, 
daß in der älteren hebräifchen Sitteratur die Anknüpfungspunkte 
für diefen Determinismus fehlten; fei es, daß er in Tonfretem 
einzelnen Gedanfenbildern ſich ausprägte, deren ftoifche Herkunft 
und Priorität eriiejen ift. Jene Anknüpfung aber ift vorhanden 
in der altteftamentlihen Grundlehre von der göttlichen Allwirk- 
famteit; diefe Gedankenbilder, in denen ſich auf beiden Seiten der 
Determinismus gleichartig ausfpräde, fehlen. Nicht einmal für 
Hanptbegriffe, wie elnagusyn, meovoa u. a., hat Koheleth 
entfprechende Worte. — Ferner, wie Koheleth Hat auch die Stoa 
jene Grundunterfcheidung, welche eigentlih nur zwei Klaſſen von 
Menſchen kennt, Weife und Thoren. Uber diefe Unterfheidung ift 
in der altteftamentlichen Chothma von Anfang ab wurzelhaft anger 
legt, und beherrfcht bereits ihr älteſtes Produkt, die falomonifchen 
Sprüche in den älteften Schichten des Spruchbuchs durchgehende. 
Man würde vielleicht fragen können, ob nicht der Gegenfag des 
Weiſen und Thoren zu den orientalifhen Fermenten der Ston ges 
höre — die äfteften Schulhäupter derfelben find ja faft ohne Aus- 
nahme geborene Aftaten; aber man kann nicht fragen, ob Koheleth 
diefe Unterſcheidung aus der Stoa habe entlehnen müflen. Dies 
nun behauptet auch Tyler nicht; wohl aber meint er aus ber 
mehrmaligen Nebeneinanderftellung der beiden Worte mbzp und 
nam (1, 175 2, 12) den ſpezifiſch ftoifchen Sag herausleſen 
zu follen, daß alle Thoren wahnftunig find, navsag Todg 
aggovag nalveodas Diog. Laert. VO, 124. Aber auch biefe 
Inſtanz von ſekundärer Bedeutung, welde von Siegfried 1) ale 
die glücklichſte unter den Tylerfchen Entdeckungen bezeichnet worden 
iſt, ficht auf ſchwachen Fügen. Als Prädikativſatz ift die Senten 


3) In Hilgenfelds Zeitſchrift 1876, S. 288. 470. 





Sub m Dar Sıhereht sujehricanne Eukiie onen: ο 


an feiner ber beireikrier Exrler aminsmeher, ms deb dar 
firengen Beweit wrmmgirz-h ;2 imien wire Zicmce farm 
ih in jener BWerwwerkirtzrz vor ce hr ;chreichen Campaien 
durch Berbeppelung des Anttr-36 Tür dericlien Begiit orten, 
wie fie für die ee gehrä he Rpererif zeieree Besos daraheriitüd 
find. In der kurzen Strede 1, 14—17 fizden fh acen der im 
Rebe fichenben medh trei io her Berzoppeluzgen: om rum I 
V. 14, mern ern E16, van B. 16, in melde 
ariomatijden Sun bimeinzulegen niemand gcweizt jein wird. So 
wird denn auch 2, 13 jofort die Gruppe rög rm aus 
2, 12 durd) das bloße m>20 wieder aufgenommen. Kodhelerth ge» 
braucht die Worte als Synonyme Mag immerhin eine leiſe 
Nüance im Begriff ihm vorjchweben: daß jie die Überpflanzung 
des Begriffe Narr vom ethiſchen Gebiet des Gegenſatzes zum 
Weiſen (m5>0) auf das phyñiſche Gebiet des Gegenjages gegen den 
geiftig Gefunden (mbbir) enthalte, wird ſchon dadurch widerlegt, 
daß 9, 3 mbbn and für fi allein die ethiſche Thorheit aus« 
drüdt, umd das entſprechende Berbum bbtn 7, 7 ſich direlt in 
Gegenfaß nicht zu gefunden Sinnen, fondern zur ethiſchen Weis ⸗ 
heit ftellt. Nicht eimmal eine wefentlihe Steigerung wird man 
von D zu /n annehmen dürfen, fonft würde das letztere 1, 17; 
2, 12 nicht voran-, fondern nmachgeftellt fein. In 10, 18, wo 
Geſenius (Thes.) die Steigerung mit Recht findet, liegt fie nicht in 
mbbin, fondern in dem Beifag myy. Und fo wird auch in 7, 25, 
welche Stelle bei richtiger Überfegung ) noch am eheften für die 
Tylerfche Theſis geltend gemacht werden koönnte, der Sinn nicht 
der fein, daß Koheleth die Thorheit Habe als Geifteögeftörtheit 
erfennen wollen, fondern als das, mas fie ift, ald Thorheit, Uns 
finn. Es wäre an allen diefen Stellen ſchwer zu begreifen, warum 
Koheleth, um die Thorheit nad ſtoiſchem Vorgang als einen Zus 
ftand der Geiftesfrankheit zu bezeichnen, ftatt gangbarer und une 


3) Gerade biefe Stelle überfegen Tyler und Plumptre: „to know 
the depravity of obduracy and folly, madness“, während grammatiſch es 
näher Tiegt zu überjeen: „zu erfennen bie Gottloſigkeit als Cinnlofigkelt, und 
die Thorheit als Unfinn“. 

Theol. Gtub. Dahrg. 1888. 50 


770 Kleinert 


mißverftändlicher Hebräifcher Ausdrücke für diefen Zuftand gerade 
das Wort mbbın gewählt Haben follte, deſſen Verknüpfungen im 
älteren Sprachgebrauh (Pf. 5, 6; 73, 3; 75, 5) und deſſen 
nachheriger tafmudifcher Gebrauch (vgl. Levys Wörterbud I, 473) 
gerade auf das ethische Moment im unfinnigen Gebaren den Nach— 
drud Tegen heißen. 

Neben diefen halben und nicht beweifenden Berührungen treten 
nun aber um fo evidenter die Gegenfäge hervor, welche zwifchen 
den Grundanfchauungen des Koheleth und der Stoa eine tiefe Kluft 
befeftigen. So ſchon in Anfehung des Verhäftniffes von Gott 
und Welt. Der Gedanke der Immanenz Gottes in der Welt ift 
in feinem philofophifchen Syſtem des Haffifhen Altertums mit 
folcher Energie durchgeführt, wie im ftoifchen: dem Koheleth ift er 
fremd. Diefem fteht Gott ſchlechthin über der Welt, in erhabener 
Ferne; und unter allen Möglichkeiten ihn zu denken, ift die VBor- 
ftellung einer Weltfeele für Koheleth die fremdartigfte. Und das 
muß um fo nahbrüdficher betont werden, als in der älteren 
Chothmalitteratur Antnüpfungspunfte für die ftoifche Immanenzlehre 
teineswegs fehlen — wenn etwa in chofhmatifchen Pfalmen von 
Gottes Atem die Erde grünt (Pf. 104, 30), im Hiob von feinem 
Hauch der Himmel fi aufheitert (Hiob 26, 13). Hat Koheleth 
diefe Anknüpfungspunfte einfach fallen Laffen, um feine Anſchauung 
zur ftarrften Tranfcendenz fortzubilden, die nur ein Bewirken und 
Geben ?) Gottes, aber. nicht ein Leben Gottes in der Welt fennt, 
fo ift es unthunlich, ihn unter ftoifchen Einflüffen entftanden zu 
denten. Mit Unrecht urgiert Tyler die Lehre von der Gleichartig⸗ 
feit und Wiederkehr der Erfcheinungen (Rap. 1 u. 3) als eine 
Reproduktion des ftoifchen Phllofophumenons von den Weltchklen. 
Die Eyflen der Stoa, zumal der älteren, münden in Weltbrände, 


2) Auch der Menſchengeiſt ift in der Stelle 12, 7 ausbrüdlich ale Gabe 
Gottes bezeichnet; daher die Meinung Tylers (S. 65), daß in diefer Stelle 
eine Reabſorption besjelben in die Gottheit gelehrt werde, welde dann freilich 
auf die Weltfeelentheorie führen wärde, kaum ernflich gu diskutieren. Wie die 
erfte Vershälfte von 12, 7 (vgl. Gen. 8, 19), fo iſt auch die zweite gut alt- 
hebraiſch (vgl. 1Kdn. 19, 4). 


Sind im Buche Koheleth außerhebräifce Einfläffe anzuerkennen? 77L 


bie alles Seiende außer ber Gottheit felbft vernichten: Koheleth 
lehrt 1, 4 den bfeibenden Beſtand der ‚Erde, und der Weltlauf 
ift ihm nicht ein ziellofes Eilen zu wiederholten Vernichtungen, 
fondern Hat fein Ziel im Gericht Gottes über die Welt (8, 17; 
58,7; 8, 6—8. 13; 11, 9). Die Betonung der Gfeihmäßig- 
feit in den Erfheinungen ift ihm, wie namentlich der Zufammen- 
hang in 3, 14. 15 zeigt, nicht eine Illuſtration phantaſtiſch ange» 
nommener Weltperioden, fondern der gleichförmigen Geſetzlichteit 
des göttlichen Wirkens, welche die ftolze Meinung menſchlicher 
Eintagsgedanfen, als erlebten gerade fie ein Neues oder könnten 
gar ein Neues fchaffen, ausſchließt. — Endlih, was wir als den 
marfanteften Zug im Stoicismus fennen und hochachten, jenen 
fittlichen Idealismus, der die Mittelftraße verwirft und Glüd- 
feligleit nur im ftrengen, ja ftarren Feſthalten der erkannten und 
gewollten Tugend erkennen kann: dieſen fittlichen Idealismus lehnt 
Koheleth ab. „Sei nicht gar gerecht, und mad) dich nicht allzu 
weife, warum willſt du did) in Verlegenheit bringen?“ (7, 16). — 
Will man fehen, wie fih eine hebräiſche Denkart ausnimmt, welche 
durch und durch mit ftoifchen und platonifchen Elementen durch⸗ 
tränft iſt, aber eben deshalb auch das nicht mehr zureichende Dar⸗ 
ſtellungsmittel der Hebräifhen Sprache beifeite Tegt und griechiſch 
redet, fo lefe man das Bud) der Weisheit. Der Gegenfag nicht 
bloß der Sprache, aud nicht bloß einzelner polemifcher Aus⸗ 
führungen, fondern der ganzen Gedankenatmofphäre zum Koheleth 
ift eim durdgreifender und für das vorftehend erörterte Problem 
höchſt inftruftio. 

Wenn Stellen, wie die legtangeführte (7, 16), die Annahme 
epiturätfher Elemente im Koheleth offen laſſen, fo müchte 
überhaupt gefagt werden fönnen, dag die in diefer Richtung von 
Tyler und Plumptre beigebrachten Berührungspunfte der Vermeh⸗ 
rung fähig find. Die Empfehlung nicht bloß der Gemütsruße als 
der Höchften Tugend, fondern auch der Einfiht als des höchſten 
Gutes, der Preis der Freundſchaft u. ä. find Elemente, welche 
Rohelet, wennſchon nicht mit epiluräifchen Formeln ausgedrüct, 
fo doch mit diefer Philofophte gemeinfam Hat. Und merkwürdig 


ſtimmt zu ber formalen Charakteriftif dieſes Syftems, daß es von 
50* 


772 Kleinert 


feinem Stifter her unter allen Philofophieen des klaſſiſchen Alter- 
tums am meiften dogmatifchen Charakter aufzeigt, bie Eigenheit 
unferes Autors, feine Lieblingsſentenzen unermüdlih nnd mit ge- 
ringem Wandel der Formulierung immer wieder einzufchärfen. 
Und doc, ein Einfluß des Epifurätsmus als philoſophiſcher Schule 
auf unfer Buch wird ebenfalls nicht anzuerkennen fein. Die 
ſpezifiſchen Schullehren, die ja gerade bei Epikur in recht fcharfen 
Umtriffen entgegentreten, fehlen famt und fonbers; ſowohl der 
Atomismus, als aud) die Leugnung des Geiftes, ald aud die Lehre 
von der Vielheit der Welten, — nicht zu reben von den polye 
theiftifchen Arabesfen des Syſtems. Iſt beim Epikur alles darauf 
angelegt, ein Hereinmwirken jenfeitiger Mächte ins Weltleben aus- 
zufchliegen und dadurch, wie er meint, jeglichen Grund der Furcht 
vom Menfchengemüt hinwegzunehmen, fo geht Koheleth überall dar- 
auf Hinaus, alles in der Welt als Werk Gottes aufzuweifen; 
und zwar ein Werk, das auch da, wo es am unverftänblichften 
und rätfelhafteften erfcheint, gerade mit dieſer Nätfelhaftigfeit den 
Zwed verfolgt, Furcht vor Gott zu pflanzen. Jeder aufmerkſame 
Lefer des Buche wird dem Urteil zuftimmen, daß, abgefehen etwa 
dom Evangelium Johannis, fein Buch in ber ganzen heiligen 
Schrift die abfolute Abhängigkeit des Menſchen von Gott fo ener- 
gif allenthafben zum Eindruck bringt, als Koheleth; und für das 
Gefühl diefer Abhängigkeit Hat er feinen andern Namen, als ben 
dom Alten Teftament überall gebrauchten, von Epikur aufs äußerfte 
perhorrescierten der Furcht (3, 14; 5, 6; 7, 18). Zieht der 
Epituräismus ous dem Mangel der Wahrnehmung einer gerechten 
Ordnung im Weltergehn den Schluß, dag überhaupt fein Walten 
ſolch Höherer Ordnung vorhanden fei, fo Koheleth bei gleichem 
Ausgangspunkt den entgegengefeiten, daß zwar alles, was Gott 
thut, ſchön gethan fei zu feiner Zeit, daß aber Gott dem Menſchen 
die Erfenntnis feiner Wege fchlechthin verhüllt Habe (3, 11; 
8,7. 17), freifih nicht, ohne ihm durch die ins Herz gelegte 
Ewigkeit die rätfelhafte Mühe des Suchens nad) jener Erkenntnis 
mit in die Welt gegeben zu haben (3, 10. 11a; 1, 13). — Ich 
übergehe Einzelmomente, wie dieſes, daß zu der bedeutenden Rolle, 
welche den Frauen als Weisheitsfüngerinnen gerade in den erften 


Sind im Buche Koheleth außerhebräiſche Einflüffe anzuerkennen? 77B 


Stadien des Epikuräismns zugefallen iſt i), der Effenismus in 
7, 28 übel harmoniert. Nur auf eine weſentliche Discrepanz der 
ethiſchen Mazimen fei noch Hingemwiefen. Wie hoch unfer Autor 
das Glüc der Gemütsruhe fchäge, fo fteht doch, was er im Auge 
hat, fehr weit ab von dem quietiftifchen Begriff diefer Gemitsruhe 
bei Epikur. Überall ift das Zugewiefene, daran ber Menſch ſich 
genügen laſſen ſoll, nicht bloß Genuß, fondern auch Arbeit (3, 22; 
5, 17f.; 8, 15; 10, 18). Unter den marfigften Betonungen der 
Atioitätspflicht im Alten Teſtament wird man die des Koheleth 
nicht mifjen mögen: „Alles, was dir vor die Hand kommt, thue 
mit deiner Kraft!" „Säe deine Saat des Morgens, und laß des 
Abends deine Hand nicht raften!“ (9, 10; 11, 6.) — Wenn aber 
Blumptre (©. 46) meint, in Kap. 12 den Beweis einer ana⸗ 
tomiſchen Gelehrſamkeit zu finden, die der Verfafjer nur bei jenen 
Seftionen gefammelt haben könne, welche die Epikuräer bei ihren 
mediziniſch⸗ naturwifjenfchaftlihen Studien in Alexandrien vor⸗ 
nahmen, fo ift doch wohl einerfeits auf die Thatſache hinzumeifen, 
daß die griechiſche Medizin in Ägypten überhaupt nichts Neues ger 
ſchaffen Hat, fondern lediglih in ein uraltes Erbe eingetreten ift; 
anderfeit8 darauf, daß der, Inhalt von Kap. 12 überall nicht auf 
anatomifche Gelehrfamteit, fondern auf die ſcharfe Naturbeobachtung 
begründet ift, welche dem Altertum, auch dem hebrätfchen, auch fonft 
nicht fremd ift. Man vergleihe die Opfergefege im Pentateuch 
und Stellen wie Hiob 10, 10f.; Gen. 32, 26. 33 u. a. 

Nicht als Ausflug einer Schulphilofophie, fondern als ein 
Bud) praltifcher Lebensweisheit will da8 Predigerbuch begriffen fein. 
Es tritt aus dem Grundcharalter der hebräifhen Chokhmalitteratur 
nicht Heraus. Mag man diefe mit dem Namen einer altgebräifchen 
Philoſophie dem kulturgeſchichtlichen Verſtändnis nahe zu bringen 
fuchen, fo wird man fi) doc immer vergegenwärtigen müffen, da 
der altgebräifche Geift durch feine vefigidfe Grundpofition von ger 
wiffen Gebieten der Philoſophie im ftrengen und umfaffenden Sinn 
des Wortes fo gut wie abgejchnitten ift. Die Probleme der Er» 
tenntnistheorie wie der Metaphyſik find für ihn faum vorhanden; 


1) Bol. Zeller, Philofophie der Griechen (8. Aufl.) II, 1. ©. 462. 


774 Kleinert 


er hat eine erhabene Gotteslehre und vermöge derſelben eine Naturs 
anſchauung, der an Lebendigkeit, Einheitlichkeit und Tiefe feine andere 
des Altertumß gleich kommt: aber er Hat feine philoſophiſche Theo» 
logie und feine philofophifche Phyſil. Nur die Ethik ift ihm zum 
pofitiven Anbau übrig geblieben, und ihre Probleme, auch die letzten, 
die Frage um das Böfe und um das Übel, die Frage nach der 
Vereinbarkeit der menſchlichen Geſchicke mit der göttlichen Ger 
rechtigleit, Kurz die Probfeme der Theodicee find feine ſpezifiſche 
Domäne. Es iſt ein Zeichen nachlaſſender Kraft des eigentümlich 
hebräifchen Philofophierens, wenn die Frage der Theodicee, welche 
Hiob in ihre Abgründe verfolgt, im Koheleth zwar wieder und 
wieder angefaßt und umbhergewälzt wird, aber doch nur um als 
ein büftere® non liquet beifeite gelegt zu werben; aber ber Charakter 
der älteren Chofhmafchriften, nicht ſchulmäßige fondern Lebensphilo- 
fophie zu fein, tritt durch biefen Verzicht im Koheleth nur um fo 
ſchärfer hervor. Eben darum wird aud Plumptres Verfuh, den 
ſchulmäßigen Stepticismus des fpäteren Hellenentums an ber 
Entftehung des Buchs mitbeteiligt zu denken (S. 32. 49. 137), 
ebenfo wenig für durdführbar gehalten werden können, als die 
Löfung der Rätfel des Buchs durch ftoifche und epikuräiſche Philo- 
ſophumena. Die Schulfrage des Stepticismus, ob wir überhaupt 
erkennen können, egiftiert für Koheleth nicht; die Unterfcheidung, 
welche die moderne Erfenntnistheorie zwifchen dem Ding an fi 
und der Erſcheinung macht, ift ihm aud in der Geftalt fremd, 
mit welcher fie bereits bei dem Pyrrhoniker Timo entgegentritt. 
(TO El örı dor) yAvrd od lin, To d’ ön yalvsras 
önoAoya, Diog. Laert. IX, 105.) Daß die finnliche Wahrnehmung 
die indiefutable Quelle ficherer Erfahrung und Kenntnis, fteht ihm 
ebenfo feft wie dem Ariftoteles; und nur dies, daß wir den Zu- 
fammenhang der Dinge in der göttlichen Weltordnung durchfchauen 
können, leugnet er. Der Gegenftand feiner Skepſis ift nicht for 
wohl das menſchliche Grfenntnisvermögen als ſolches, als viel 
mehr da8 Ausreichen besjelben für überweltliche Dinge. 

Wie Nenan ?) gegen Grüß recht hat, die von legterem im 
DE. Renan, L’eceltsiaste, traduit de P’höbreu arec une 6tude sur 
Page et le caractöre du livre. Paris 1882, 





Sind im Buche Koheleth außerhebräiſche Einflüffe anzuerkennen? 775 


da8 Bud) Hineingetragenen Obfeönitäten als ein Unrecht gegen den 
Berfaffer abzulehnen (S. 72), fo wird man ihm gegenüber von den 
Engländern nicht unrecht geben können, wenn feine Behandlung 
des Buchs den Geſichtspunkt der Schulphilofophie einfach beifeite 
biegen Täßt. Uber dies anerfennend, erwächſt der Betrachtung des 
Buchs gerade auch im vorliegenden Zufammenhang um fo mehr 
die Frage, ob der Schlüffel zum Verftändnis, den Renan feiners 
ſeits gefunden zu Haben meint, die Thür zu einer richtigen Ges 
ſamtauffaſſung erſchließt. Ihm ift das Buch eine „delicibſe 
Bhantafie* ; das Selbftbefenntnis nicht eines Syſtematikers oder 
Eiektiters, fondern eines durchgebildeten praftifchen Skeptikers; 
durchgebildet in dem Grade, daß er darauf Verzicht leiſtet, irgend» 
etwas, was ihm Überzengungsfacge wäre, geltend zu machen. So 
fei denn das Buch das charmanteſte, ja das einzige liebenswürdige 
Bud) des Alten Teftaments, allein unter allen unbehelligt von dem 
Zufunftsbürftigen, Aftionsfrohen des prophetif—hen Geiftes, der 
überall fonft im Alten Teftaments den Leer beunruhigt. Diefer 
Geiſt des prophetifcden Optimismus, der immer noch an mögliche 
Weltverbefferung glaubt, immer noch auf ein Ganzes Binarbeitet 
und einen Wert des Einzelnen für das Ganze prätendiert, liegt dem 
Koheleth fern: er würde das behagliche Genußleben, das fih mit 
feinem Peffimismus aufs befte verträgt, empfindlich ftören. Nicht 
einmal Atheift ift der Verfaffer; um die Konfequenz des Atheis⸗ 
mus zu ziehen, würde eine gewiſſe Anfpannung intereffierten 
Denkens, ein Wille zum Kampf mit Vorurteilen aufzubieten fein 
(S. 19. 87), den aufzuwenden die Mühe nicht lohnt, Denn 
vorab ift alles Echauffierende abzulehnen; weil Erfahrung den 
Verfaſſer gelehrt Hat, daß nichts in der Welt des Echauffements 
wert ift. So ift er zu jenem feinften, für ihn felber und für die 
andern behaglichften Sfepticismus der peffimiftifchen, aber ges 
bildeten Blaſiertheit gelangt, welche fih im die Lage fegt, alle 
Freuden des Lebens mit völligftem Behagen auszuſchlürfen, indem 
fie alle für eitel erflärt (S. 92). Wolle man das Buch voll 
verftehen, den Verfaffer ſich richtig vorftellen, fo dürfe man den 
Typus desfelben nirgend ander ſuchen, als in den feingebildeten 
und Liebenswürdigen BVörfenfürften der gleichen Nationalität, wie 


776 Kleinert 


fie ſeit fünfzig Jahren eine wohlbelannte Erſcheinumg im high-life 
der europäifchen Nefidenzen geworden find, — ein Charaltertypus, 
mit deſſen plaftifcher Ausmalung Renan feine eleganten Aus- 
führungen elegant abſchließt. 

Wird von der mnummunbenen Anerfenntnis Renans, daß 
Koheleth nicht Atheift ift (ogf. namentlih S. 20), Akt zu nehmen 
fein, fo wird diefelbe doc im Widerfprud mit ihm dahin ausge⸗ 
dehnt werden müffen, daß, was Koheleth vom Atheismus zurüd- 
Hält, nicht fatte Bequemlichkeit iſt — es fehlt dem Buche keineswegs 
an fehr energifchen Uccenten fittliher Polemik (3, 16; 4, 1; 5, 3ff. 
u. ſ. f.) —, fondern ein kräftiger Thelsmus. Das Bud ift von 
den Pfeilern einer Überzeugung getragen, die an monotheiftifcher 
Präcifion den älteren Schriften des Alten Teftamentes nichts nach« 
giebt, und deren Stihmworte vom Verfafjer mit derfelben Dringlich- 
keit und Unermrüblichfeit eingefchärft werden, wie nur immer feine 
Säge von der Eitelkeit der Dinge und ber Vernunft in der 
Lebensfreude. Gewiß, dieſer Theismus entbehrt des prophetifchen 
Schwungs ; er entbehrt Überdem der Innigkeit einer religidfen Selbft- 
beziehung zu Gott in der Welt. Koheleth ftellt eine Ebbe des 
religiöfen Bemußtfeins dar, bei der fich dasfelbe im fein letztes 
Bett zurückgezogen Hat, und welde es wohl begreiflich macht, mit 
welcher Wucht im weiteren Verlauf erft die maccabäifchen Im⸗ 
pulfe, dann die platonifierende Weisheitslchre, ſchließlich das Ehriften- 
tum in die verlafjenen Watten einftrömte. Aber Ebbe ift noch 
nicht Verfiegen. Man kann nicht fagen, es fei eine Stepfis, bie 
mar aus genußfüchtiger Schen vor Echauffement das letzte Wort 
des Atheismus unausgefprochen Taffe, wenn doch unfer Buch 
allenthalben ſchlechthin alle wirkenden Urſachen in der Welt in das 
eine Agens der Gottheit zufammenfaßt; wenn es bie Freude und 
Mühfal des Lebens und jeglichen Erfolg in gleicher Weife' als 
Gabe Gottes bezeichnet; wenn e8, wie wir vorhin fahen, felbft die 
Nätfel und das Ungenügende des Lebens auf das Werk, ja auf 
Abficht Gottes zurücführt. Man kann Peſſimismus, d. i. eine 
Weltanficht, welche fi) auf der Grundpofition von der Wertlofig« 
teit bes Lebens aufbaut, nicht als den Charakter einer Schrift dee 
finieren, welche innerhalb des Lebens die Arbeit, die Freude an 





Sind im Buche Koheleth auferhebrätfcge Einflüffe anzuertennen? 777 


derfelben, die Einficht, die Freude am Genuß und an der Gemein- 
ſchaft, den Befig der Möglichkeit zum Wohlthun, die Staatsordnung 
als Güter, fei es immerhin als vergängliche Güter wertet; welche 
als fefte Bafis den Kanon hinftellt: alles, was Gott thut, ift 
fhön gethan zu feiner Zeit (3, 11); welde dem Gefomtinhalt des 
Lebens feine fpezififche Wertung dadurch verleiht, daß ein Gericht 
am Ende über diefen Wert entfcheibet. 

Man fragt fih, wie kann diefen ftarfen und das ganze Bud 
durchziehenden Pofitionen gegenüber Renan feine Auffaffung bes 
haupten; ja wie ift er bazu gekommen? Der Schlüffel Tiegt in 
der merkwürdigen inneren Dialeltit des Buchs. Jene Bofitionen 
ſtehen dem Verfaſſer feft wie Granitfelfen; aber der brandende 
Zweifel der Empirie, dem er in der graufamen Aufrigtigfeit Hiobs 
das volle Wort giebt, nagt unterweilen fo tief hinein, daß durch 
optische Tauſchung fie felber als ſchwankend erfcheinen können, 
während doch nur die Luft um fie her zittert. Bisweilen trägt 
jene immanente Diafektit den Charakter eines ergögenden Gedanken⸗ 
fpiels, fo daß die mittlere Wahrheit, die der Verfafer will, von 
felöft aus den fich ergänzenden und bejchränfenden Gegenſätzen her⸗ 
austritt (vgl. 3. B. 4, 4—6); bisweilen aber, und gerade in Haupte 
punften ftogen die Gegenfäge mit harter und unvermittelter Schärfe 
aufeinander (8, 11—13), und auch wo fie auseinander gerückt find, 
werden fie durch die räumliche Diftanz nicht milder (vgl. 3. B. 
12, 7 mit 3, 21; 4, 2 mit 9, 4). Es tft das Phänomen, um 
deſſentwillen von after&her wiederholt der undurdführbare Ver⸗ 
ſuch gemacht worden ift, das Bud nicht als die fei e8 im einem 
Zuge, ſei es zu verſchiedenen Zeiten fucceffive niedergefchriebene 
KRonception eines und desſelben Verfaſſers, fondern gleichſam als 
das Protokoll einer Disputation von mehreren aufzufaflen. Der 
Berfaffer ftelit ſich offen auf die Poſition des Zwieſpalts zwiſchen 
Glauben und Wiffen, aber nicht fo, daß ihm die Realität ſchlechter⸗ 
dings ins Wiffen, der Glaube dagegen in das Gebiet des Wahnes 
flele, fondern fo, dag ihm aus ber Unzulängfichfeit alles Wifſens 
die Notwendigfeit des Glaubens oder, wie er es nennt, der Gottes⸗ 
furcht als Grundlage nicht bloß fir eine Harmonische, fondern auch 
ſchon für eine erträgliche Geftaltung des Lebens folgt. So muß 


778 Kleinert 


denn Renan, um feine Pofition durchzuführen, ganze Partieen des 
Buche, zumal die, in denen der Lebensernft desfelben ſich ganz un⸗ 
mißverftändlich ausſpricht, als ſolche behandeln, die vom Verfaſſer 
nur ironisch eingeführt fein, um fie ad absurdum zu führen. 
Aber die deductio ad absurdum ift nicht vorhanden. Oder 
kann man es im Ernft für eine folche anfehen, wenn Renan, um 
der Ausführung 7, 2ff. den Stachel zu nehmen, zu V. 1 die 
Bemerkung macht: Kohelet beginne diefe Ausführung mit einem 
banalen Sprichwort, um ihr den Charakter der Lächerlichleit auf⸗ 
zubeften? Vorfichtiger und wenigftens mit mehr Bemühung gerecht 
zu fein verfährt da doch der deutfche Peſſimismus. Wie gern und 
eifrig die Schopenhauerſche Schule mit Koheleth exemplifiziert, 
fo Hat doch jene geſchickte Apologie diefes Peſſimismus, welche eine 
begeifterte Jungerin Hartmanns 1873 unter dem Pfendonym 
A. Taubert und unter dem Titel: „Der Beifimismus und feine 
Gegner" herausgegeben, ſich mit der limitierten Behauptung ber 
gnügt, das Stud Koh. 1,2 — 4, 4 könne als Peſſimiſtenkatechismus 
bezeichnet werden (S. 75). Allerdings auch dies nur vermittelft 
einer Exegefe, die fofort auch die Weisheit Salomonis, Sirach und 
da8 Neue Teftament für den Peſſimismus, und zwar für den 
Hartmannſchen, mit Beichlag belegt. Das Verfahren Renans 
aber, in der Hauptſache eine Nachbildung Grägihen Borgangs 
iſt im weſentlichen fein anderes, als die Umkehrung des von dem 
älteften Exegeten, Gregorins Thaumaturgus, geübten, wenn biefer 
nad feinem Gefühl allzu freie Stellen, wie 9, 7—9, als folde 
bezeichnet, wo Koheleth üble Ratſchläge eitler Menſchen einführe, 
um fie zu widerlegen. In beiden Fällen wird nicht Exegefe, fondern 
verftümmelnde Gewalt gegen den Schriftfteller geübt. — 

Haben wir Tyler und Plumptre gegenüber die Selbftändigkeit 
des Inhalts im Koheleth zu behaupten gefunden, fo wird Renan 
gegenüber diefer jelbftändige Inhalt als ein folder zu behaupten 
bleiben, der die Entwidelung der hebräiſchen Chofhma nicht auf das 
Gegenteil ihrer Bafis ftellt, fondern bderfelben, wennfchon in 
niebergehender Linie, jo doch in ftammeigener Folge ſich anfchliegt. 
Die Eigenart des Buchs ift, inhaltlich angefehen, nicht auf 
Konftituttve Einflüffe egotifcher oder Heterogener Art zurüdzuführen, 


Sind im Buche Koheleth außerhebräiſche Einflüffe anzuertennen? 779 


fondern aus dem gefdichtlichen Gefamtcharakter feiner Entftehungs- 
zeit zu begreifen. Hat die neuefte Phafe der Exegefe des Buchs 
ein Necht, mit gefteigertem pſychiſchen Feingefühl den fremdartigen 
Hauch zu betonen, der ihr im Vergleich mit andern altteftament. 
lien Büchern aus dieſem entgegenwehe, fo wird dieſes Recht, 
foweit e8 nicht auf jene eigentümliche Zeitlage ſich gründet, viel- 
mehr in der befonderen Form zu fuchen fein, in welcher jener 
Inhalt geboten wird. Genauer in dem ganz eigenartigen Stims 
mungscharafter, der diefe Form bedingt, und der namentlich in den 
in ihrer Weife großartig dichterifhen Anfange- und Schlußabs 
ſchnitten des Buches, aber auch innerhalb desfelben *) immer wieder 
dem Lefer fich fühlbar macht. Man kann diefen Stimmungscharakter 
als eine Mifchung tief fhwermütiger, efegifcher Kontemplation und 
anafreontifcher Lebensluſt bezeichnen. Und inbetreff diefer äſthe—⸗ 
tiſchen Eigentümlichleit des Buchs möchte ih die Annahme einer 
direkten Einwirkung außerhebräifcher Impulſe und Bildungselemente 
auf das Werden des Buchs nicht mit gleicher Beftimmtheit ver 
neinen, wie bei den Lehrpofitionen de8 Bude. Nur dag dies von 
außen hereinwirkende Element ganz wo anders zu fuchen fein wird, 
als in dem philofophifchen Geiftesbewegungen der Diadochenzeit. 
Bereits in meinem Programm über den Prediger Salomo (1864) 
Habe ich zu 11, 1 beiläufig darauf Hingewiefen, daß dieſe Stelle 
nicht auf Serufalem als Entftehungsort hinweiſe, fondern ben 
Kornhandel einer Seeftadt, als ein dem Verfaffer und den erften 
Leſern, für welche das Buch beftimmt war, geläufiges Anfchaus 
ungsbild vorausfege. Deligfh (Komm., S. 223) Hat von dieſer 
Bemerkung Notiz genommen, ift aber bei der herfömmlichen und 
Herrfchenden Anfiht von der Abfaffung des Buches im 5. Sande 
ftehen geblieben. Aber jene Suftanz fteht nicht allein. Man 
wird die Entftehungsftätte des Buches doch wohl am natürlichften 
an dem Orte zu ſuchen haben, wo die früheften Spuren einer 


3) Der Charakter ift ein durchgängiger, und baher bie Abſchneidung ein- 
zelner Stüde, wie fie}. ®. von €. Taylor (The dirge of Koheleth, 1874) 
inbezug auf Kap. 12 vorgenommen ift, dem Verſtändnis des Ganzen nicht 
forderlich. 


70 Kleinert 


eingreifenden Wirkung desfelben mit Sicherheit wahrzunehmen find. 
Diefer Ort ift Aerandrien, das ermeift das Buch der Weisheit 
(ogl. Deligfh, S. 219). Dahin weifen neben dem Obigen auch 
manche andere Zeichen im Innern des Buches. Zwar auf die 
litterarkritiſche Verwertung der geſchichtlichen Eremplifitationen, die 
der Verfaſſer liebt, wird niemand einzugehn geneigt fein, ber 
einerſeits den tppifchen Charakter diefer Erfahrungebeifpiele, ander» 
feits die verfchiedenartigen Beziehungen ins Auge gefaßt Hat, 
welche ihnen in der Geſchichte der Exegeſe gegeben worben find. 
Die redende Weisheit, nachdem fie mit Kap. 2, 23 aus ihrer 
erften Inkarnation in Salomo herausgetreten, nimmt ihren Illu⸗ 
ftrationsftoff aus den Yahrhunderten, wie fie ihn findet. Aber 
daß einer, der in ihrem Namen in Jeruſalem fchrieb, es nötig 
gefunden haben follte (1, 12), zu bemerken, daß der König über 
Israel „in Jeruſalem“ refidiert Habe, ift pfychofogifch wenig 
wahrſcheinlich. Um fo wahrſcheinlicher dagegen, daß die Exem⸗ 
plififation vom Meere (1, 7) nicht im Gebirgslande, fondern an 
der Seekuſte Toncipiert ift; dag die Medeweife 12, 5, das 
Grab als ein ewiges Haus zu bezeichnen, da gefehrieben ift, wo 
fie nationale Sitte war, in Äghpten. gl. Diodorus, Sic. I, 51. 
Und vom entſcheidendſten Gewicht erfcheint der Umftand, daß das 
Buch die unmittelbare Nähe eines Königshofes vorausfegt (8, 2—5; 
10, 4—7. 16—20; 5, 8), der dod in der Periode feiner Ab— 
faffung in Jeruſalem nicht vrefidiert Hat. Diefen Inſtanzen 
gegenüber kann fi bie herfümmliche Anficht Über den Abfafjungs- 
ort — ein bereits von Luther in Frage geftelltes Reſiduum der 
älteren Annahme falomonifher Abfafjung — mur auf die eine 
Stelle 4, 17 berufen und thut es auch. Das dort genamte 
Gotteshaus, der dort erwähnte Opferkultus weiſe mit Notwendig- 
keit auf den Tempel und das Tempelritual zu Serufalem. Aber 
in diefem Argument läuft ein Zirkel mit unter. Denn eben erft 
unter ber Borausfegung, daß das Buch in Jeruſalem gefchrieben, 
ift eine überwiegende Wahrjcheinlichfeit vorhanden, dag in jener 
Stelle das Gotteshaus vom Tempel und das Opfer der Narren 
vom heiligen Ritual zu verftehen fei. An fih und unbefangen 
betrachtet, wird man fagen müffen, daß ein Haus, in welches man 


Sind im Bude Koheleth außerhebräiſche Einflüffe anzuerkennen? TEL 


geht, um zu hören, viel fiherer von einer Synagoge (vgl. Apg. 
15, 21), al® vom Tempel zu verftehen fein wird; und daß bei 
den opfernden Thoren, welche „Unwifjende find zum Böfesthun“, 
d. 5. alfo folchen, denen ihre Unwiffenheit zum Sündigen Anlaß 
giebt, der Gedanke an bigotte Heiden (vgl. Jeſ. 45, 20; 44, 18) 
mindeftens ebenfo nahe liegt, wie der an fromme Israeliten. 
Unter der Annahme alerandrinifcher Abfaffung aber gewinnt 
ein eigentümliches Moment ber ügyptifchen Sittengeſchichte Ber 
deutung für die Würdigung des Buches. Herodot erzählt IL, 78 
bon der ägyptifchen Sitte, bei Gaftmählern unter Herumreihung 
eines Totenbildes zum Genuß des vergänglichen Lebens aufzu« 
fordern. Es find neuerdings einige zum Teil mehrfach erhaftene, 
alfo ihrer Zeit vielverbreitete Lieder aufgefunden und aus den 
altägyptifchen Texten überfegt worden, welche diefe Sitte, fofern fie 
vorwiegend auf Gaftmähler bei Totenfeiern zu beziehen fein wird, 
anſchaulich illuſtrieren. In dem Harfnerlied aus dem Grabe des 
Nfr —htp zu “Abdelgurna Heißt e8 nad; der Überjegung von 
8. Stern (Records of the past, vol. VI, p. 129, 3. 3—8. 
10—16): „Menfchen gehn vorliber feit der Zeit der Sonne, und 
die Jüngeren treten an ihre Stelle. Gleichwie Ra jeden Morgen 
aufgeht und Tum (die Abendfonne) am Horizont niebergeht: fo * 
zeugen Männer, und Weiber gebären. Jede Nüfter atmet einmal 
das fanfte Wehen des Morgens; aber alles, was vom Weibe ge- 
boren, geht hinunter an feinen Ort. — Laß Wohlgeruh und 
Salben vor dein Atmen ftellen, Gewinde von Lotus fein am Arm 
und Bruft deiner Schwefter, die in deinem Herzen wohnt, figend 
an deiner Seite. Laß Gefang und Saitenfpiel vor deinem An- 
geſicht fein und wirf Hinter dich alle böfen Sorgen. Laß dein 
Gemüt fröhlich fein, ehe denn der Tag der Wanderung kommt, da 
wir nahen zum Lande bes Schweigens.“ Ähnliche Klänge ver- 
binden fi zu dem Liebe, deſſen Urheberfchaft der Papyrus Harris, 
der es mitteilt, dem Könige Antef (XI. Dynaftie) zueignet; und 
deſſen Überfegung Goodwin in den „Records of the past“ IV, 
117. publiziert Hat. Man kann, wenn man mit einer Tebhaften 
Zmpreffion von Stellen wie Koh. 1, 2—11; 5, 17—19; 7, 
2—4; 9, 7—10; 11, 9—12, 6 zur Lefung dieſer Lieder 


782 Schmidt 


fchreitet, fi dem Eindrud ſchwerlich verſchließen, dag, wenn irgend 
woher der Verfaffer unferes Buchs einen Impuls zu der eigen 
artigen Darftellungsweife empfangen hat, im die er feine Lebens 
weisheit eingefaßt und feinen Zeitgenoffen dargeboten, diefer Impuls 
am eheften in jenen altägyptifchen Feſtmahlgeſüngen zu fuchen fein 
wird. Und ob unbewußt oder bewußt, ein merkwürdiger Nad- 
Hang diefer Entftehung de6 Buchs würde darin zu finden fein, 
daß die Synagoge es als Leſeſchrift grade der feftfichften unter 
ihren Feiern, dem Laubhüttenfeft, zugemiefen hat. 


2. 


Die Bedentung der Talente in Der Parabel 
Matth. 25, 14-30. 


Bon 


Dr. 8. Schmidt 


in Cürtom. 





Es Hat einen im Alten wie im Neuen Teftamente gleich wohl 
verbürgten Sinn, alles, was uns im Unterſchiede von amderen 
eigentümlich ift an Leiblichem und geiftigen Befig, unter den Be 
griff anvertrauten, von Gott dem Einzelnen eigens anvertrauten 
Gutes zu ftellen. 

Nicht minder ſchriftgemäß ift der noch erweiterte Gedanke, alle 
Güter überhaupt, ob fie und mit anderen gemein oder im Linter- 
ſchiede von ihnen eigen find, generelle und individuelle, ala Gaben 
unſeres Gottes anzufehen, die wir in feinem Auftrag zu vermalten 
haben und worüber wir dem Geber zur Rechenſchaft verpflichtet find. 

Wollte man die Talente Matth. 25, 15 in diefem allgemeinften 
Sinne faffen und mit Gran („Bibelwerk für die Gemeine‘, 
1. 3b. [1877), ©. 140) den Gedanken in dem Gleichnis au% 
gefprochen finden, daß nach Gottes Anordnung alle göttfiden 


Die Bedeutung ber Talente in der Parabel ıc. 788 


Gaben in der Menfchheit zugleich Aufgaben find, und zwar gleich« 
viel Geld und Gut oder Kräfte des Geiſtes: fo würde dasfelbe 
weder der heilfamften Moral noch der wirkfamften fittlich-religiöfen 
Impulſe entraten; aber zu feinem urfprünglichen, tertgemäßen 
Rechte kame es nicht. 

Man mag ſich darauf berufen, daB es nicht die Weiſe des 
Gleichniſſes fei, in allen einzelnen Zügen betont fein zu wollen 
und den parabolifchen Vergleich auf mehr als eine oder allenfalls 
einige Hauptmomente auszudehnen. Dennoch wird man dieſes 
Hauptmoment immer nur aus dem Ganzen analyfieren und ger 
wirmen können; und für diefen Prozeß des Auffindens find die 
einzelnen Züge unzweifelhaft von Wert und Bedeutung. 

Die ganze generelle und individuelle, leibliche und geiftige 
Meitgift, mit welcher wir ins Leben treten, unter den Talenten zu 
verftehen, ift deshalb durch das Gleichnis felber ausgefchloffen, 
weil jene Knechte diefe allgemeine und befondere Ausrüftung be 
reits befaßen, ehe der vorübergehend ſcheidende ArFpwnos anodn- 
uov bie Talente ihnen anvertraute. 

Die von B. Weiß vertretene und im feinem „Matthäus 
evangelium und feine Lukasparallelen“ (Halle 1876) durchgeführte 
Anfiht, dag das Matthäusevangelium aus Markus und der von 
diefem ſchon benugten älteſten apoftolifchen Quelle zufammengears 
beitet fei (Vorwort, ©. ıv), beftimmt auch feine Stellung zu 
unferer Parabel. Nach ihm Hat fie mit der Wachſamkeitspflicht 
urfprünglic nichts zu thun. Nur der Evangelift knupft fie ber 
gründend an ®. 13 an. Auch das Verreifen des Herrn im 
Gleichnis giebt nur die Situation für die Erprobung der Knechte 
her. Die Beziehung auf die Wiederfunft Jeſu Tag der Parabel 
urfprünglih fern. Ebenfo find V. 21b „eiseide ... oov“ 
und V. 23b, fowie V. 30 Zufäge, welche auf das Eonto des 
Evangeliften kommen. Dagegen gehört V. 29 fehon der Quelle 
an. Jeſus deutet die Parabel durch diefe Gnome, die Mark. 
4, 25 ihre urfprüngliche Stelle hatte und dort gar nichts anderes 
befagt, als baß es ganz allgemein ?) von dem Ertrage, den man 


1) Keil ©. 496 macht dagegen geltend, daf auch vor Mark. 4, 25 von 


784 Schmidt 


aus der Anwendung der verliehenen Gaben erzielt hat, abhängt, 
ob man mehr empfangen, oder auch die befeffene Gabe verlieren 
fol (S. 534). In der apoftolifchen Quelle folgte unfer Gleich⸗ 
nis auf dasjenige vom ungerechten Haushalter (Luk. 16, 1—9), 
und beide bildeten ein Parabelpaar, von welchem das erfte Glied 
die rechte Klugheit, das zweite die rechte Treue in der Anwendung 
des irdiſchen Gutes zeigt, „To daß auch Hierdurch fich beftätigt“, 
ſagt Weiß ©. 536, „wie unfer Gleichnis nicht auf geiftliche 
Güter und Gaben, fondern auf die anvertrauten irdifchen Güter 
[und Gaben] ſich bezieht“. 

Zu demfelben exegetifhen Facit könnte man aud noch auf 
einem anderen Wege fommen, ohne die genannte kritiſche Texte 
analyfe zugleiy mit in den Kauf nehmen zu müſſen. Die zur 
Vergleidung gewählten Begriffe des Tularrov üpyugror, rganebi- 
Ta, Töxog und der aus demſelben Borftellungsfreife entnommenen 
Verba, nicht nur des xepdeiv V. 22, fondern auch des mgogpäges 
und felbft des nogadıdovra V. 20 legen den Gedanken nahe, daß 
es ſich um äußerlich greifbare Gaben handele, und diefer Umftand 
tönnte uns beftimmen, an irdifche Güter zu denfen. Das müßten 
entweder folde fein, die den betreffenden Knechten durch Geburt 
eigen, oder folhe, die ihnen fpäter irgendwie zugefallen wären. 
Zene können es nicht fein, denn fie würden mit in die Kategorie 
deffen gehören, was fie fehon Hatten, ehe ihr Herr von ihnen 
zog. Aber auch dieſe ſchließen fi von felbft von der Betrachtung 
aus, da es Güter von derfelben Gattung und demfelben Werte 
find, alfo bei diefer Annahme auch irdiſche Güter fein müßten, 
über deren Gewinn der erfte und ber zweite Knecht das lobende 
Zeugnis erhalten. Nun ift es zwar gewiß ein unberechtigter Vor⸗ 
wurf, der gelegentlich laut geworden, daß das Evangelium ben 
materiellen Erwerbsſinn ächte und dadurch lahm lege. Sondern 
diefer Sinn ift ohnehin fo verbreitet, daß er der Ermunterung 


geiſtlichen Gaben und von ber Berufstätigkeit die Rede fei, uud allerdings 
Handelt es fi dort um die Lehrthätigkeit, fur bie die Wahrheit der Gnome 
in Anſpruch genommen wird; aber fie ſelbſt kommt gleihwohl in ſprichwört⸗ 
licher Allgemeinheit zum Ausdrud. 


Die Bebeutung ber Talente in der Parabel zc. 7 


nicht noch bedarf und das Neue Teftament alle Veranlaſſung hat, 
vor der Gefahr zu warnen, ihm über das zuläffige Maß hinaus 
nachzugeben und auch die idealen Intereſſen in feinen Dienft oder 
ihm nachzuftellen *). 

Man Hat daher nicht am irdiſche, auch nicht ala „bienend bei ⸗ 
gerechnete“, wie Stier („Die Reden des Herrn Jeſu“ [Barmen 
1852] II, 526) will, fondern an geiftige &aben zu deuken. 
Darüber herrſcht unter den übrigen Auslegern fein Diffenfus, 
Aber die eigentliche Schwierigleit beginnt nun erft innerhalb diefer 
anerkannten Grenzen. Bon melden geiftigen Gaben fann die Rede 
fein? 

Ob man mit Bengel („Gnomon n. t.“ [Berlin, Schla⸗ 
wig 1860], p. 95) den Begriff fo weit wie möglich nimmt und 
nit nur dona spiritualia, fondern auch die Gunſt des Augen- 
blicks und der Umftände zu ihrer Ausübung („facultates tem- 
porales, tempus ipsum et omnis denique generis occasio- 
nes“) als Gegesftand der Augteilung anfieht, ober mit Ols⸗ 
Haufen („Bibl. Kommentar“ I [1833], ©. 926) von „Geiſtes · 
gaben“, „Geiſteskräften Eprifti* ohne nähere Spezifizierung ſpricht; 
ob man mit Lange („Das Evangelium nach Matthäus“, Biele ⸗ 
feld 1861, ©. 363) fagt: „Ehriftus vertraut den Chriſten dies⸗ 
feits den Schag feines Geifteslebene an“ und bei den Talenten 
an „individuelle Gnadengaben“, mit Godet („Kommentar zu dem 
Evangelium des Lukas“, deutih von Wunderlich, Hannover 1872) 
an xuplouora (&. 387) oder ſelbſt mit Meyer („Rritiichexeger 
tiſches Handbuch über das Evangelium des Matthäus“, Göttingen 
1876, ©. 513) an „Dienftgaben* denkt: immer gerät man in 
Berlegenheit der Thatſache gegenüber, daß Gaben gleiher Gat- 
tung und gleihen Wertes damit gewonnen werben. 

Geradezu tertwidrig iſt es, wenn Stier a. a. DO. behauptet, 
bie genannten „beim Hingang ben Seinigen erworbenen und zurüd« 


3) Das Gleichnis vom ungerechten Haushalter zeigt nicht bie Klugheit in 
dee Anwendung bes irdiſchen Gutes überhaupt, fondern Handelt ausſchließlich 
vom ungerecht erworbenen Gut, und das ift die für gleiche Fälle empfohlene 
Augheit des Haushafters, daß er den Gefchäbigten noch eilends reflituiert, was 
er ihnen ungerecht entzogen hat, und dadurch ihre Herzen vetöhnt und gewinnt. 

Theol. Stud. Sahrg. 1888. 


186 Sämidt 


gelaffenen Geiftesgaben und Gnadengüter“ feien noch nicht „nasre 
76 Öndpporsa“, fondern „deren geringe Erftlinge“. Der Text 
enthält auch nicht den geringften Anhalt für biefe Befchränfung; 
der Wortlaut B. 14 „xul napkduxer avroig Ta Undgyorra av- 
ov“ ſchließt fie vielmehr augenfheinlih aus. 

Allerdings giebt es Güter, die man auch mit auf die Reiſe 
nimmt, die und begleiten, aud wenn wir unfer Heimweſen 
verlaffen; es find diejenigen, welche uns durch innerliche Aneignung, 
fo zu fagen zu Momenten unferes eigenen Selbſts, unſeres So- 
feins geworden find. Sie, mit denen auch der ſcheidende Erlöfer 
zu feinem Vater zurüdtgefehrt ift, laſſen ſich nicht zurücklaſſen und 
anderen zur Obhut anvertrauen. Auf fie kann alfo nicht Bezug 
genommen werden, und hat aud Stier nit Bezug genommen, 
wenn er bie in Rede ftehende Hinterlaffenfchaft einſchränkt. 

Dagegen ift e8 ganz richtig, wenn Goebel („Die Parabeln 
Jeſu methodifh ausgelegt“, III. Abtlg. [Gotha, Friedr. Andr. 
Verthes, 1880], ©. 164) fagt: „7& indpxorra aöros ift nicht 
notwendig das gefamte Vermögen, weldes der Hausherr irgend 
wo und irgendwie befaß, fondern beſchränkt fich hier durch den 
Kontext auf dasjenige Vermögen, weldes er an feinem bis— 
herigen Wohnort in feinem Befig und unter feiner perfün« 
lien Verwaltung gehabt hat.“ 

Es ift die Vorftellung eines Anweſens, das der arIgwmos 
änodmuv vorübergehend verläßt, eines Befiges, den er nicht mit. 
nehmen kann, den er für die Dauer feiner Abweſenheit der Obhut 
anderer, die zurückbleiben, anvertrauen muß, eines Befiges, deſſen 
Natur e8 mit fi bringt, daß er perſönlich gepflegt und überwacht 
werben muß. Das Befigtum „za Unupgorre adrou“, das ber 
Herr ſcheidend verläßt, charalteriſiert ſich danach 1) als ein dies⸗ 
feitiges, 2) als ein ſolches, welches, fo nahe es feinem Herzen 
fteht, was er durch feine Fürforge bekundet, fein eigenes von ihm 
unterfchiedenes Sein Hat und bewahrt und 3) als ein foldes, 
welches perfönficher Pflege und Überwachung bedarf. Diefes fo 
geartete Befigtum Binterläßt er feinen Knechten ganz, wie auch 
Godet a. a. O., ©. 387 ausdrüdlic anerkennt; den ganzen Be 
fig, den er auf Erden Hat und der bei aller Zugehörigkeit zu ihm 


Die Bedentung der Talente in ber Parabel 2c. 7187 


doch unterfchieden von ihm ift. Diefen verteilt er ganz, nicht in 
gleichen, fondern in verfchiebenen Raten unter feine Zünger. Will 
man nun mit den genannten Auslegern nur am allerlei Geiftes- 
und Gnadengaben denken, fo fteht dem, wenn man auch die In« 
tongruenz diefes Begriffes mit der DVorftellung eines Befigtums 
von relativ felbftändigem oder doch von bem Geber unterfchiedenen 
Sein überfehen wollte, ſchon der Umftand entgegen, daß das 
offenbar nicht fein ganzes Anmefen auf Erden ift, fondern daß 
dazu vor allem Menſchen, feine Gläubigen, gehören. Die Gemein 
ſchaft diefer ift das Neih, das ihm am Herzen liegt und doch 
feine unterfchiedene Sondereziftenz bewahrt, das Reich, das zwar 
nicht von der Welt ift, aber doch im der Welt wachſen und ges 
deihen muß, welches dazu der perfünlihen Überwahung bedarf, 
und weldes er darum unter die perſönliche Obhut anderer ftellen 
muß, wo er feinen Wandel auf Erben vorläufig abſchließt. 

Was diefen Gedanken an Geiftes-Önadengaben aber noch ferner 
rückt, ift nicht fomwohl der von Goebel a. a. O., ©. 183 ber 
tonte Umftand, daß fie ja erft der erhöhete Jeſus mit der Aus» 
gießung des 5. Geiftes feiner Gemeinde verlichen Habe; war doch 
auch diefer ausdrücklich verheigen worden für die Tage, wo der 
Erlöfer nicht mehr wie bisher fichtbar den Seinen zur Seite ftand, 
fo daß die Charismen dur diefe, wenn man will verfpätete, 
Spende den Charakter von Gaben, bie der Gefchiedene den Jun⸗ 
gern für die Zeit feiner Abwefengeit anvertraut, nicht verlieren 
würden. Auch dem amderen Einwurf desfelben Verfaſſers, daß 
diefe Geiftesgaben nur etwa als eine fubjektive Ausrüftung gelten 
önnten, ließe ſich wohl entgegenhalten, daß ungeachtet der erfors 
derlichen fubjektiven Aneignung die Objektivität diefer ganz beftimmt 
begrenzten, gefonderten Gnadengaben nicht in Abrebe geftellt wer⸗ 
den Tann. Noch anfechtbarer iſt das dritte Bedenken Goebels, 
daß „das mit einem dunkeln Bilde erft auf Pfingften weisfagende 
Gleichnis den Züngern des Herrn damals noch unverſtändlich ges 
wefen fein wurde“, da dieſes Los ja nachweislich fo mande ans 
dere Äußerung, wenn nicht die meiften und die tiefften feiner 
Neben teilen, daß es dem Pfingftengeift noch überlaffen bleibt, ihx; 


Berftändnis zu vermitteln. „„mlfiong 
* 


788 Sämibt 


Dagegen läßt fich deshalb nicht an die Charismata in unferer 
Barabel denen, weil es auch wieder Talente und zwar in gleicher 
Zahl wie die empfangenen find, die damit gewonnen werben, alfo 
bei diefer Annahme auch wieder Geiftes⸗Gnadengaben fein müßten, 
die dazu erworben wurden. 

Man mag über die Natur biefer Geiftesgaben im einzelnen 
verfchiedener Meinung fein, aber darüber, daß es zu ihrer Natur 
gehört, empfangen und nicht erworben zu werben, ift ein dissen- 
sus ausgefchloffen. Der Begriff der nenteftamentlichen Charis⸗ 
mata duldet weder bie Annahme, daß fie objektiv, noch daß fie 
fubjettio erworben werben könnten. Es läßt ſich daher weder an⸗ 
nehmen, daß bie treuen Knechte die Zahl der Geiftesgaben über- 
Haupt vermehrten, noch daß fie fi aus ber im ganzen vorhan⸗ 
denen Geſamtzahl zu den ihnen etwa anvertrauten noch andere der⸗ 
felben durch eigene Arbeit dazu ameigneten. 

Dazu kommt, daß biefe Geiftesgaben ihrer Natur nach Fähig- 
teiten find. Es Hatte aber jeder ber Knechte bereits feine ddl 
Sövamı. „Kara zw duvanır“ werben die Talente verteilt. 
Soll man das fo verftehen, daß die fo zu fagen natürlichen An⸗ 
lagen nun einen geiftfihen Inhalt, eine geiftliche Richtung er» 
hielten? — oder, wie Meyer fi ausbrüdt S. 511: „Es ift die 
verfchiedene Naturanlage, welcher die verfchiedene charismatiſche 
Gabenverteilung entſpricht?“ Freilich ift die Begabung individua⸗ 
ffterend, und Bengel hat reht ©. 95: „Nemo urgetur ultra 
quam potest“. Aber es waren ja bereits id dovAor, die als 
210: im eigenften und ausſchließlichen Dienfte des Herm bereits 
ftonden. Man wird danach annehmen müfien, daß ihre natitrlichen 
Anlagen bereits zu geiftlihen Tähigkeiten geworden waren, noch 
ehe fie die Undpxorso ihres Herrn erhielten. Daher fich dieſe 
auch nicht in weiterer Anwendung auf alle driftlihe Begabung ber 
ziehen Laffen, wie Meyer koncediert ©. 514. 

Nimmt man endlich Hinzu, daß das Wild (mpogtveywer Ka 
nivıe rülayıa — ide — in’ avrois, ®. 20, 21) den Eindrud 
macht, als ob es fich auch bei den erworbenen um Güter handele, 
die ſich aufweiſen, gleichfam nachzählen Laffen, um Güter, melde 
gewiffermaßen äußerlich Tontrollierbar find; fo wird man fi des 


Die Bedeutung der Talente in ber Parabel 2c. 789 


Zugeftänbniffes nicht erwehren können, daß die Faſſung der Talente 
als Geiſtes⸗, Gnaden- oder felbft Dienftgaben nicht befriedigt. 
Kaum günftiger ftellen fi die Chancen, wenn Keil („Rome 
mentar über das Evangelium bes Matthäus“ [Leipzig, Dörffling 
und Sranke, 1877], S. 495) den Begriff erweitert und „die 
durch Gründung des Himmelreiches geftifteten Heilsgüter, nämlich 
die in dem Worte und den Saframenten und den feiner Gemeinde 
zu ihrer Erbauung verliehenen Geiftesgaben (Charismen, Eph. 
4, 7. 1Ror. 12, 4—11 und Röm. 12, 6—8)“ unter den Tas 
Ienten verfteht, oder wenn Goebel a. a. O., ©. 184 der älteren 
und zulegt von Hofmann zu Luk. 19, 11 vertretenen Auslegung 
den Borzug giebt, wonach „das Vermögen, welches der Hausherr 
feinen Knechten übergiebt, einfach und ausſchließlich das Wort des 
Herrn ober da8 Evangelium fei, das Wort vom Reich, mit deſſen 
Verwaltung Jeſus, indem er felbft die Welt verläßt, feine Jünger 
beauftrage“. Zwar denkt Goebel den Akt der Übergabe im Gleich⸗ 
nis nicht als diejenige Thätigkeit, duch welche der Meifter den 
Glauben an das Wort in den Herzen der Sünger pflanze und fie 
bamit erft zu feinen Jungern mache, denn das waren fie ja ſchon 
(10: dowro:), fondern er hat nur „bie befondere Bevollmächtigung, 
durch welche er die, welche ſchon feine ihm und feinem Worte ans 
Bangenden Jünger waren, zu Verkundigern dieſes feines Wortes 
einſetzt gegenüber der Welt“, im Sinne und beruft ſich auf 1Tim. 
6, 20, wo das Wort des Herrn aud in diefem Sinne 7 zaugu- 
Im heiße. Obwohl es nun an der angezogenen Stelle, unge 
achtet der für diefe Faſſung citierten Interpreten Wiefinger, 
van Ooſterzee und dv. Hofmann, immerhin Disputabel bleibt, ob 
die zagoxarasnen, die Timothens bewahren foll, das Wort des 
Herrn ift; obwohl es faft näher liegt, bier fomohl wie 2Xim. 
1,12, wo Paulus bie Bewahrung feiner naar (uov) bis zur 
Barufte (dig dxeloyp zw Auegar) von dem Herrn vertrauensvoll 
erwartet, und er demnach das Wort desfelben Heren unmöglich 
damit meinen kaun, und 2Tim. 1, 14, wo Timotheus ermahnt 
wird, za» xalv napaxozadrem dia nveiunrog Aylov ou tvor- 
soörzog dr muiv zu bewahren, an dad Seelenheil, das ewige Leben 
zu denken: fo würde die Vorftellung des Wortes des Herrn als 


790 Schmidt 


einer nagadnen dennoch als eine bibliſche anſtandslos zuzugeben 
fein, und am allerwenigſten werden wir evangeliſche Chriſten Be» 
benfen tragen, in dem teuer-werten Wort, in dem feften gefchrie» 
benen Wort des Herrn, das da bleibet in Ewigkeit (1 Petr. 1, 25), 
ein uns zurückgelaſſenes unvergleichliches Gut anzuerkennen. Gleich⸗ 
wohl vermögen wir uns den Gedanken nicht anzueignen, dag den 
Züngern, welche die Kraft diefes Wortes an ihren Herzen bereits 
in dem Grade an ſich erfahren Hatten, daß fie dem Mittler folgten 
und feine !d4ı dovAo: geworden waren, eben dasſelbe Wort durch 
einen befonderen Akt zur Verkündigung an andere anvertraut wor« 
den wäre. Die Verkündigung ift nur begrifflich von der gläubigen 
Aneignung des Wortes Gottes zu ſcheiden; thatſächlich ift fie in 
irgendeiner Form die innerlich) notwendige Bethätigung diefer Ans 
eignung. Sie verhäft fich zu biefer nicht nur wie die Frucht zum 
Baume, auf dem und nur auf dem fie wächſt und wachſen Tann, 
fondern etwa wie das Leuchten zum Licht, von dem es ausgeht. 
Es ift danach eine ſchwer vollziehbare Annahme, im konkreten Leben 
neben und nad) ber erfahrenen Wirkſamkeit des Wortes des Herrn 
am eigenen Herzen nod eine gefonderte Inſtallation zur Verkün⸗ 
digung besfelben am andere zu ftatuieren. Oder man müßte unter 
ſcheiden zwiſchen dem Beruf im generelfen Sinn, wie er allen 
Chriſten eignet, zur Verkündigung des Wortes an andere in irgend» 
einer Form, und dem Beruf dazu im engeren Sinne, wie ihn der 
Prediger von heute ausübt. In diefem Iegteren Falle würde man 
allerdings die Berufung und Einfegung zur Verkündigung in ber 
ganz beftimmten öffentlichen Weife von ber gläubigen Aneignung 
des Wortes auch in concreto ſcheiden fünnen, womit aber das 
Gleichnis feine Adreffe auf eben dieſen ganz beftimmten einzelnen 
Lebensberuf befchränfen müßte: eine weitere Anwendung auf bie 
Epriften Überhaupt nicht zufieße; übrigens ein Ball, den der Exeget 
nit im Sinn zu haben ſcheint, da er von der allen Yüngern 
de8 Herrn befohlenen Verkündigung feines Wortes ſpricht (S. 192). 

Auch will es doch nicht befriedigen, wenn Goebel die für feine 
Annahme erwachſende Schwierigkeit der BVerteilung und Anver- 
trauung dieſes Wortes in verfchtedenen Raten dadurch zu ‚heben 
verſucht, daß es, inſofern es ber Geſamtheit der Singer über 





Die Bedeutung der Talente in der Parabel ıc. 791 


tragen werde, das Wort in feiner ganzen Fülle und im feinem 
ganzen Reichtum fei, wie es Jeſus felbft verfündigt habe, dagegen 
infofern es den einzelnen Jüngern anvertraut werde, ſei es fehr 
verſchieden rückjichtlich feines Reichtums je nach der größeren ober 
geringeren Tähigkeit des Einzelnen, es im feinen Tiefen zu er⸗ 
faffen und in feiner Fülle zu verfünden. Es mag das Ber 
ftändnie und die Verkündigung verfchieden fein, je nad ber 
la Öüvaus; aber gottlob das von dem Herrn uns hinter 
laſſene Wort ift überall das gleiche, nicht nur fir die Gefamtheit, 
fondern für jeden einzelnen Gläubigen das volle, unverfürzte 
Gotteswort, deifen Eigentümlichkeit es allezeit geweſen ift, daß das 
Lamm darin waten und der Elefant ſchwimmen fann. 

Mögen andere Güter verſchieden und zu ungleichen Teilen res 
partiert fein, das Wort Gottes ift voll und ganz für jeden zu 
haben, der es begehrt: in der Hütte wie im Palafte ift es ein 
und dasfelbe, ungefchmälert und unverfürzt, wo es ſich findet. 

Die Faffung der Talente als das Wort des Herrn ift aber 
dadurch ganz unmöglich, weil ſich fein Sinn denken läßt, in dem 
die Erwerbung gleicher Werte feitens bes erften und des zweiten 
Knechtes verftanden werben Könnte. So gewiß das Wort Gottes 
ſchlechthin unvergleichlich ift, fo gewiß von einer Erwerbung des⸗ 
felben immer nur in dem Sinne einer innerlichen Aneignung des 
einen gegebenen geredet werden kann, fo gewiß ift diefe Jnter⸗ 
pretation durch den Text des Gleichniſſes felber definitiv aus⸗ 
geſchloſſen; ganz abgefehen davon, daß dasſelbe ebenfo unmöglich 
als das diesfeitige Gefamtvermögen des ſcheidenden Erlöfers be⸗ 
griffen werben Tann. 

Wohl find die Talente Güter geiftiger Natur, aber nicht for 
wohl Fähigkeiten, Anlagen der Seele, fo zu fagen neuteftamentliche 
Talente in dem Sinne, in dem der Ausdrud in den Sprad- 
gebrauch übergegangen tft, Geiſtesgaben, mit denen wir wirken, 
ebenfo wenig das Wort Gottes, welches wir verfündigen, als viel» 
mehr Arbeitögebiete, in denen wir thätig fein folfen für unferen 
Herrn. Eipyaoaro ?v avrois B. 16, während das bei Der 
moftgenes und den Maffitern für Handels- und Wechſelgeſchäfte 
ſehr gebräuchliche Verbum gewöhnlich mit dem bloßen Dativ in- 


192 Sämidt 


strum. tonſttuiert wird (vgl. Meyer a. a. O., ©. 511). Was 
der Mittler in einem andern Gleichnis feinen Weinberg nennt, den 
er an Arbeiter ausgiebt, das dürfte er Hier unter dem Bilde der 
Zalente meinen. Sein Weinberg ift fein Heim» und Anweſen 
hienieden, 7& öndeyovra adson im engeren Sinne. Ihn verteift 
er je nach den Wähigfeiten unter die, welche zurüdbleiben und 
feinem Dienft fi eigens widmen. Es ift bezeichnend, daß der 
Here die Parabel an feine Jünger adreffiert; was wir nicht fo 
verftehen, als ob fie fih etwa nur am die wende, welde es zu 
ihrem Sebensberuf im engeren Sinne erwählt haben, im „Wein⸗ 
berge“ zu arbeiten, fondern vielmehr jo, daß bamit allen Ehriften 
ein priefterliches Zebensziel gegeben wird (1 Petr. 2, 9). Es er» 
hält ein jeder Chriſt feinen größeren oder kleineren Zeil des Wein⸗ 
berges, d. 5. feinen Kreis an Seelen, die feiner priefterlichen 
Pflege überwiejen werden. Jeder Chriſt foll an feinem Plage 
Priefter fein, und wer es ift, wer den Meinberg feines Herru 
pflegt an ber Stelle, wo er ihn ihm angemwiefen; wer in dem gott 
gegebenen engeren oder weiteren Kreiß feines Wirkens treu dem Herrn 
an den Herzen dient: ber wird gerade damit und vermittelft ihrer 
neue Herzen ihm gewinnen und zwar naturgemäß je mehr, je 
größer die Zahl derer war, auf die fein Einflug möglich wurde. 

Diefe Talente laſſen fi) erwerben. Diefe durch die priefter- 
liche Treue an ben durch unfere Lebensftellung uns überwieſenen 
Seelen für ben Herrn erworbenen neuen Herzen find von gleicher 
Gattung und von gleichem Werte, find diesjeitige Werte, find bei 
alter Zugehörigkeit zum Herrn doc in ihrem von ihm und an« 
deren unterfchiedenen Sein fo zu fagen äußerlich Eonteollierbar, 
und ihre Zahl wird bei übrigens gleicher Treue derjenigen ber 
und urſprünglich anvertrauten Seelen proportioniert fein. 

Das gewählte Bild der Talente kann uns an dieſer Auffaffung 
um fo weniger irre machen, al® gerade dadurch der Wert, den 
eine Menfchenfeele vor dem Herrn Kat, zum beredteften Ausdrude 
kommt. 

Mit diefer Faſſung ſtimmt ſchliehlich, wie alles andere im 
Gleichnis, and die Art der Vergeltung: nicht nur der allgemeine 
Sag, daß, wer fih an den wenigen ihm anvertrauten Seelen treu 


Die Bedeutung bes Telente in ber Parabel zc. 788 


erwiefen Hat, fich dadurch als qualifiziert zeigt, über eine größere 
Anzahl priefterlich zu wachen, fondern der beſtimmtere Zug in dem 
wenn auch nicht identiſchen, fo doch zweifelsohne analogen Gleich 
als Sul, 19, 12—27, daß je nad ihter Bewährung der eine 
über zehn, der andere über fünf Städte, affo über entſprechend 
größere Gemeinſchaften gefegt wird; und endlich auch die 
Vergeltung, die ber dritte erhält. Es wird ihm auch das eine 
Talent genommen, ber Heine Kreis, mit dem er Gottesfurdt in 
weiteren Kreifen hätte wirken follen umd auf ben er feine Mühe 
verwendet hat, ober vielleicht mur bie eine Seele, die ihm zur 
priefterlichen Pflege überwiefen war, feinem Einfluß entzogen. 
Ganz naturgemäß. Er hat das ihm gefchenkte Bertrauen nicht 
gerechtfertigt. Er Hat für feinen Heren nichts gethan. Das Ar 
beitsfeld muß er verlieren, wenn's nicht durch ihn zu dauernder 
Unfruchtbarkeit verurteilt werden fol. Die Seelen können feiner 
Obhut nicht ferner überlaffen bleiben, und indem er fie verliert, 
duch die er einen guten Einfluß hätte ausüben follen, ſchließt er 
fich ſelbſt aus der Gemeinſchaft derer aus, die Gottes Kuechte 
find und im dienen wollen. Gs bedarf dazu nicht eines eingrei⸗ 
fenden richterlichen Einzelaltes des Herrn, ſondern der Menſch 
richtet fi felbft durch die gleihfem maturnotwendige Folge feines 
Thuns. Was dir gegeben, ergreif es, um es gu befigen. Nor 
von du nie Beflg ergriffen, es ann dir mie zueigen werden. 
Des Menfchen Wine ift fein Gericht. 

.Was Übrigens die zpamelires fein, darf man hier nicht 
fragen“, „die gehören ja zum Bilde des mpmyuaressodu wit 
Öpyigiov“, fagt Stier a. a. DO. ©. 533. Auch Godet ver- 
zichtet auf die Antwort. „Was verftcht Jeſus unter dem Wechsler?“ 
fragt er zu der Parabel bei Lukas (19, 15—27). „Etwa drifte 
liche Verbindungen, welchen jeder Gläubige die Mittel anvertrauen 
Tann, die er felbft nicht zu verwenden weiß? Es ift kaum mög« 
lich, einen folhen Gedanken damals ſchon voranszufegen. Es 
ſcheint uns, Jeſus wolle durch diefes Bild vielmehr die göttliche 
Allmacht barftellen, vermöge welcher wir durch das Gebet wirken 
Tonnen, ohne daß bie Sache des Herrn dadurch irgendeiner Gefahr 
ausgefeigt if. Den, der nicht gearbeitet hat, wird der Herr fragen: 


79 Sämibt 


„Haft du mwenigftens gebetet?“ (a. a. O., ©. 389). Dana 
wäre der allmächtige Gott felbft der Wechsler, dem der faule 
Knecht fein anvertrautes Gut wenigftens betend hätte empfehlen 
ſollen. Indeſſen diefe Vorftellung des Gebete vermögen wir uns 
weder anzueignen, noch für bibliſch anzuerfennen. Das Gebet ver- 
mag und hat die Verheißung, das Werk unferer Hände zu fördern 
und es in irgendeinem Sinn zu unferem Segen zu geftalten, 
aber nie es zu erfegen. Das Gebet vermag viel, wenn es ernſt⸗ 
lich ift; aber ernftlih kann es nicht fein, wenn es die Arbeit 
fliegt. Den Aufrichtigen läßt es der Herr gelingen; aber wer es 
aufrichtig meint und nimmt mit feinen Pflichten, der kann bie 
Anftrengung nicht ſcheuen. Der Müfftggänger wird niemals durch 
Gebet wieder einholen ober erfegen, was er duch Trägheit ver 
fäumte, 

Auch Keil laßt fi nicht auf eine Deutung der Wechsler ein; 
fondern findet in dem ABareiv zois ronneLlraus nur das Mühelofe 
des Thuns ausgedrückt: „Ohne Mühe und Riſilo Hätteft du mein 
Gelb fo anlegen können, daß ich bei der Nüdkehr das meinige 
wieberbefommen konnte, adv zöxp" (a. a. O., ©. 494. 495). 

Wir Lönnen nur Goebel beipflichten, wenn er (a. a. O., 
©. 193) fagt: „Gewiß darf man nit, wie manche Ausleger 
thun, über diefe ganze Vorhaltung in ber Deutung ſtillſchweigend 
binweggehen; man müßte denn annehmen wollen, daß das ganze 
Geſpräch zwifchen dem dritten Knechte und dem Hausherrn in 
Wahrheit ebenfo nichtsfagend umd für bie Sache nichtsbedeutend 
wäre, als es ausführlich und eigentümlich ift, und das wird auch 
nicht beffer durch die Bemerkung, es folle dadurch nur überhaupt 
die Unentſchuldbarkeit der Unthätigkeit eines Dieners Chriſti au 
einem konkreten Beifpiele gezeigt werden“ (Meyer zu Luk. 19, 
20—23). 

Uber feine eigene Dentung beweift von neuem bie Unhaltbar- 
feit feiner Faſſung der Talente. Er meint die Schwierigkeit, welche 
diefe eigentümliche Vorhaltung des Hausherrn an den Kuecht der 
Auslegung bdarbiete, damit „dem Sinne der Worte im Zufammens 
hange ber Erzählung wirklich entfprechend gelöft“ zu haben, daß er 
darin die Verpflichtung des Kuechtes ausgefprochen findet, fich des 





Die Bedeutung der Talente in der Parabel zc. 795 


empfangenen Geldes, ftatt es zum Schaden des Beſitzers nutzlos 
zu vergraben, vielmehr überhaupt zu entledigen, und es ſolchen zu 
überlaffen, bie zur gewinnbringenden Verwaltung bdesfelben ſich 
willig finden Tiegen, fo daß dann doch der Befiger zu feinen 
Zinfen gelommen wäre. So entftehe auch einem Sünger, der fi 
zur thätigen Mitarbeit an der allen Jüngern des Gern befoh« 
Ienen Verkündigung “und Ausbreitung feines Wortes an feinem 
Teile nicht entfchliegen könne, hieraus die Verpflichtung, dann auch 
für feine Perfon überhaupt zurüdzutreten von dem Dienfte am 
Worte des Herrn, welches feinen Jüngern anvertraut ift, und 
dasfelbe, fofern es auch ihm anvertraut war, ſolchen zu überlaffen, 
welche bereit find, bamit zu arbeiten und dem Herrn bie Frucht 
zu ſchaffen, die er davon Haben wolle (a. a. O., ©. 192. 193). 
Wobei die Borausfegung zugrunde liegt, daß, wie auf dem Gebiete 
des irdiſch⸗ geſchaftlichen Lebens ſich allezeit Leute finden, welche 
willig und bereit find, eine Geldfumme, deren ſich der zuerſt ber 
ſtellte Verwalter entledigen wollte, an feiner Statt zu übernehmen 
und fie für den Befiger gewinnbringend zu verwerten, fo auch auf 
dem Gebiet der Arbeit im Reiche Gottes das Wort des Herrn, 
auch wenn fi einzelne Junger von ihm Losfagen und dem Herrn 
den Dienft an feinem Worte auffündigen wollten, doch alfezeit 
genug willige Herzen und Hände finden wird, die von ihnen vers 
weigerte Arbeit mit dem Worte zu thun (S. 193). 

Indeſſen liegt die Inkongruenz deffen, was das Gleichnis Hat, 
und defien, was bier als Deutung ausgegeben wird, doch zu offen 
zutage, als daß man ſich bei ihr als einer „wirklich entſprechen⸗ 
den“ beruhigen könnte. Der allgemeine Gedanke zwar iſt ja uns 
zweifelhaft richtig, daß ein freimilliger Rücktritt von irgendeiner 
Thätigkeit, die wir auszuüben hätten, aber nicht ausüben, unter 
Umftänden noch mehr im allgemeinen Intereſſe tft, ober richtiger 
noch weniger der zu vertretenden Sache zum Schaden gereicht, als 
wenn wir den fraglichen Beruf nominell behalten und ihm doc 
nicht dienen. Man könnte danach auch zugeben, daß es ber Sache 
des Herrn förderlicher ober beffer weniger nachteilig fein möchte, 
wenn ein Diener am Worte lieber fein Amt aufgäbe, als es uns 
treu zu verwalten. Aber doch nur infofern, als ein ſolcher ent⸗ 


706 Sämibt 


weder niederreißen ftatt banen oder den Poften einnehmen Könnte, 
ohne ign auszufüllen, auf den genug andere bereits warteten oder 
für den doch eine hinreichende Zahl Bewerber vorhanden wäre, 
deren Pfund ohne dieſen Poften brach liegen und unverwertet 
bleiben müßte für das Ganze. Daß jener Knecht dadurch feines 
Herrn Sache gefhädigt Hätte, daß er pofitiv (gegen ©. 192) und 
aggreffiv fich gegen fie vergangen Hätte, kann man nicht fagen. 
Er giebt das überfommene Talent unverlürzt und ungefchmälert 
wieder. Es war fogar feine augenfcheinliche Zürforge, dag davon 
nichts verloren gehe, daß fein Here wieberempfange das Seine. 
„ide, Eyes vb 06“ (B.25). Aber auch anderen kounte er das 
Talent nicht entziehen, wenn darunter mit Goebel das Wort des 
Herrn zu berſtehen ift, denn dieſes ift ja jedermann zugänglid, 
und jeder der Jünger hat an feinem Play Gelegenheit genug, 
damit zu operieren und zu wirken. Selbft die Verkündigung dieſes 
Wortes ließ ſich nicht hindern, fofern fie allen Jüngern befohlen 
und allen möglich war. Und fo gewiß fi allezeit genug willige 
Herzen und Hände finden werden, um die Arbeit mit dem Worte 
zu thun; fo gewiß bebürfen fie zu diefer ihrer Thätigkeit nicht 
erft, daß irgendein anderer e8 ihnen aus Trägheit überläßt und 
felbft von dem Dienfte zurädtritt. Es klingt faft wie ein Ana» 
Hronismus, faft als ob Vorftellungen, die der kirchlichen Gegen« 
wart entnommen find, auf bie Deutung der Parabel zurückdatiert 
Anwendung gefunden hätten, wenn Goebel ums dieſe Löfung em⸗ 
pflehlt und fih dadurch mit der Vorhaltung des Hausherrn an 
den Knecht auseinanderzufegen fucht. 

Freilich find die TganeLtsas die anerkannten Diener des Herrn, 
die die geiftliche Pflege, die Seelſorge nicht notwendig ex pro- 
fesso, aber doch mit willigem Herzen ausüben und fie gerne jedem 
zuteil werben laffen, ber fich von ihnen erreichen Täßt; die fie 
oleichfam öffentlich feilgaften und umfonft darbieten, die ihren 
beften Lohn in der Erfahrung haben, daß ihr Wort nicht Teer zu⸗ 
rüdtehrt, fondern Seelen erhält und gewinnt, bewahrt und erwirbt 
fürs Reich ihres Herrn. Aber fo unverftändlich es fein würde, 
ihnen das Wort des Herrn zu überlaffen, womit fie ohnehin aus⸗ 
ſchließlich operieren, fo wohl Läßt es ſich verftehen, wenn ihnen 


Die Bedeutung der Talente in der Parabel zc. 797 


Seelen übergeben werden. Indeſſen das Gleichnis fordert mehr 
als diefen allgemeinen Gedanken. Wozu, zu welchem Zwecke wer 
den ihnen Seelen übergeben werden? Es iſt die Sache ber voo- 
nebiron, Zinfen zu gewinnen; und Zinfen fordert der Hausherr. 
Nicht als ein Harter Mann, der erntet, wo er nicht gefäct und 
fammelt, wo er nicht gemorfelt bat, fondern der zum Heile der 
Menſchheit in emiger Liebesabficht eine fortgehende Vermehrung der 
Seinigen, eine beftändige Erweiterung feines Weinberges, feines 
Reiches auf Erden verlangt und ein gutes Recht Hat zu erwarten. 
Diefe Ausbreitung der Grenzen feines Anweſens hienieden, d. h. 
die Zunahme der Zahl der ihm gehörigen Seelen kann aber nur 
dadurch vor fich gehen, daß die Seinen mit folden in Berührung 
tommen, die noch nicht zu ihm ftehen und an ihn glauben, nur 
dadurch, daR die Gläubigen ſich nicht tfolieren umd den Teil ber 
Menfchenwelt fliehen, welche die neuteſtamentliche Sprache mit 
xocaoc ſchlechtweg bezeichnet. Und gerade biefen Verkehr zu ver» 
mitteln und ihn zu einem gewinnbringenden, zinfentragenden zu 
geftalten, ift das Gefgäft der ronneltsa. Die Wechsler nehmen 
feinem Arbeitsfchenen die Arbeit ab und üben fie an feiner Statt: 
die Wechsler arbeiten überhaupt im eigentlichen Sinne diefes 
Wortes nicht, fondern fie bringen das Geld in den Öffentlichen 
Berkehr und ziehen es aus bemfelben mit Zinfen zurüd; fie über» 
fehen den Geldmarkt und die verſchiedenen Unternehmungen, zu 
denen fie Rapitalien leihen, fie forgen für fichere Anlage und für 
gewinmbringende Geichäfte, aber urſprunglich und ihr nächfter 
Zweck ift der Wechſel, das Eintauſchen der verfchiedenen fremden 
Münzen in landesübliches courantes Geld gegen ein Agio. Allen 
diefen mannigfahen Manipulationen ift gemeinfam, dag fie das 
Geld aus feiner Iſoliertheit dem Verkehr übergeben und dadurch 
gewinnen. 

Wenn nun der Herr dem Kuechte, der fein Talent vergraben 
hat, ſagt, daß er es menigftens den Wechslern hätte übergeben 
ſollen, fo läßt dieſes Bild feine andere Deutung zu, als daß er 
es dadurch in den Verkehr gebracht Haben würde. Ohne Bild ift 
das da8 Unrecht des betreffenden Knechtes, daß er die ihm anvere 
trauten Seelen, die er zwar Ihrem Herrn intaft erhalten Hat, ber 


108 Schmidt 


Welt entzogen und dadurch durch ſie keine neuen Herzen dem 
Herrn gewonnen und ſein Reich auf Erden nicht gefördert hat. 
Es iſt danach irrelevant, ob man, was vielleicht am nächſten liegt, 
bei den Wechslern an die Gemeinde der Gläubigen in der Welt 
denken will oder an einzelne bevorzugte Chriſten, die einerſeits für 
die intakte Erhaltung der ihnen anvertrauten Seelen bürgen, aber 
nit minder auch für die erfolgreiche Wirkſamkeit anderen noch 
nicht Gläubigen gegenüber Sorge tragen. Die Pointe der frag« 
Tichen Vorhaltung bes Hausherren iſt, daß durch Weltflucht das 
Reich Gottes nicht gefördert wird. Damit entfpricht das Thun 
des Knechtes, das durch Vergraben dem Verkehr Entziehen des 
Talentes genau der Forderung des Hausherren, es dem Verkehr zu 
übergeben und es dadurch zu mehren, Anderfeits ftimmt dazu bie 
Nede des Knechtes, der aus Furdt, das anvertraute Talent zu 
verlieren, die größere Sicherheit, die das Vergraben gewährt, vor⸗ 
sicht (B. 25). 

Man könnte fich fehlieglih noch für die vertretene Bedeutung 
der Talente auf den consensus interpretum berufen. Obwohl 
nämlih nur Braune unferes Wiſſens den Gedanken ausſpricht, 
die Talente feien nicht innere Gaben, fondern „Wirkungsfreife” 
verfchiedener Ausdehnung, fo lieft man fo zu fagen zwiſchen den 
Zeilen aller Eregefen, daß derſelbe mit berückſichtigt wird und ſich 
gleihfam zum Verftändnis des Gleihniffes als unentbehrlich er⸗ 
weift. Auch nah Goebel (S. 187) Tann „der Gewinn, da er 
der Ertrag einer Arbeit mit dem Worte des Herrn fein foll, nur 
darin beftehen, dag Seelen gewonnen werden für das Reich des 
Herrn“. Und es zeigt die ganze Schwierigkeit, bie andere Faſſung 
der Talente ald Wort des Herrn durdzuführen, wenn Hofmann 
zu Luk. 19, 11 ebenfo kunſtlich wie unbefriedigend argumentiert: 
„Wer mit dem Worte des Herrn Gefchäfte macht, ber mehrt es, 
indem es ſich in dem Maße vervielfältigt, als Herzen dafür ger 
wonnen werden, in welchen e8 eine Stätte at.“ Augenſcheinlich 
find e8 vielmehr und ausichließlih bie Herzen, die vom Worte 
ergriffenen Herzen, die vervielfältigt werden, aber nimmermehr das 
eine, unveränderliche, immer gleiche Wort. 

Auch Stier erkennt an, der Wirkungsfreis gehöre wohl als 





Die Bedentung ber Talente im der Parabel zc. 79 


mitberüdfichtigt dazu, fei aber an fich feine Gabe, fein anvertrautes 
Gut. Aber wer wird diefes Bedenken teilen? Es mag wenige idealere 
und befviedigendere Gaben auf Erden geben als einen ſympathiſchen 
Wirkungskreis, und wer es aus Erfahrung weiß, wieviel dazu ges 
hört, daß er und wird, mie viele Momente, welche nicht in dem 
Bereiche unferes Wollens und Könnens Liegen, zu der genügenden, 
aber doch immer individuellen Ausrüftung hinzukommen müſſen, 
der wird an dem Begriff der Gabe in diefem Falle ſicherlich 
keinen Anftoß nehmen, fondern diefes Enfemble des „tempus ip- 
sum“ und „omnis generis occasiones“ mit ben „facultates 
temporales“ (Bengel) im ganzen Umfang als ein gottgegebenes 
empfinden, wo er's genießt. Und menn wir vollends das Ab- 
ftraetum ins Concretum überfegen und damit dem von uns ver⸗ 
teibigten Gebanfen noch adäquater reden, wer könnte Anftand 
nehmen, in den Seelen, die durch Geburt oder irgendwelche Ber 
ziehungen auf unferen Einfluß, unſere fittlichsreligiöfe Pflege an⸗ 
gewiefen find, amvertraute Güter unferes Gottes zu erkennen? 
Mit Vorliebe pflegen wir die die Unterpfänder der göttlichen Liebe 
zu nennen, welde es zugleich recht eigentlich find, die unferen 
nächſtſtehenden Wirkungsfreis in ben Grenzen der eigenen Familie 
bilden. 


Barasn, Google 





Rezenſionen. 


Deol. Stud. Jahrg. 1883. 52 


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Die altteftamentliche Weisfaguug bon der Voll⸗ 
endung des Gottesreiches in ihrer geſchicht⸗ 
lichen Entwidelung dargeftellt von C. v. Orelli, 
Dr. phil., Lie. u. o. Profeffor d. Theologie in Bafel. 
Bien bei ©. P. Faeſy, 1882. VI u. 538 ©. 8°, 





Der Verfaſſer Hat es im vorftchendem Werke unternommen, 
den halt der altteftamentlichen Weisfagung von der Vollendung 
des Reiches Gottes fo zur Darftellung zu bringen, daß einerfeits 
ihre Offenbarungscharakter und ihre durchgängige Abzielung auf die 
neuteftamentlihe Erfüllung, anderſeits ihre menſchlich- gefchichtliche 
Entwidelung in das Licht treten follen. In manchen Beziehungen 
ift ihm das auch wohl gelungen. Daß man in den Grundans 
fhauungen über das Weſen und den Charakter der altteftament- 
lichen Weisfagung und Über ihr Verhältnis zu der neuteftamente 
lichen Erfüllung keinen wefentlich neuen Geſichtspunkten begegnet, 
ift fein Mangel des Werkes. Der Verfaſſer ſchließt fich darin 
an Fr. Deligfh und G. F. Ochler an. Bon der Anſchauung, 
welche Referent in feiner Schrift „Die meſſianiſche Weisfagung“ 
(Gotha 1875) über das Verhältnis der Weisfagung zur neutefta- 
mentlichen Erfüllung entwidelt hat, glaubt er allerdings abweichen 
zu müffen (vgl. S. 72). Allein diefe Abweichung ift wohl nur 
eine vermeintliche. Der Verfaffer fett nämlich irrtümlich voraus, 
daß ich „bloß das dem Berftande des Propheten wie der Zuhörer 
völlig Durchfichtige“, dagegen nicht das ben Keim kunftiger Ent» 
wickelung in fich ſchließende Ahnungsvolle zum Inhalt der Weis- 

52* 


804 Drelli 


fagung gerechnet Habe. Er muß dabei die Anmerkung auf ©. 7f. 
meiner Schrift ganz überfehen Haben; dort heißt e8 unter anderem: 
„Zum Inhalt der Weisfagung gehört allerdings nicht bloß der 
Sinn, welchem der Prophet einen vollen klar bewußten Ausdruck 
giebt, fondern aud das Höhere umd Tiefere, was für ihn felbft 
noch im Helldunfel der Ahnung liegt. Aber es gehört eben nur 
dazu in der ganzen Unbeftimmtheit ber Ahnung, in welcher es im 
Geift des Propheten vorhanden ift und auch von feinen Zeitgenofjen 
je nach dem Maß ihrer Empfänglichkeit mehr oder weniger ahnend 
erfaßt werden fann. . . . . Das Objekt der Offenbarung und der 
Weisfagung felbft aber (dev Ratſchluß Jehovas) ift fo groß und 
hoch, daß es aud) über das noch hinausragt, was die Ahnung des 
Propheten erfaßt; und darum bleibt es auch in der Weiſe Objekt 
neuer künftiger Offenbarungen, dag der Inhalt diefer nicht äußer- 
ih zum Inhalt der früheren hinzukommt, fondern organifh aus 
diefem Heraus entwidelt wird. Aber was davon für ben ein« 
zelnen Propheten auch jenfeits des Bereichs feiner Ahnung 
Tiegt, das gehört nicht mehr bem Inhalt feiner Weisfagung an.“ 
Aus diefen Bemerkungen wird erhellen, daß der Verfaffer keinen 
Grund Hatte, meine Forderung einer reinlichen Unterſcheidung 
zwiſchen dem Inhalt der Weisfagung und ihrer durch Gottes Rat- 
ſchluß geordneten offenbarungsgefhichtlihen Abzielung auf die Er 
fülung durch Chriftum eine „dualiftifche Zerteilung“ zu nennen. 
Die grundfägliche Durchführung diefer Unterſcheldung in dem 
Sinne, in welchem ich biefelbe wirklich gemacht und gefordert habe, 
ift vielmehr die unerläßliche Vorausfegung für jede Hare wiffen« 
ſchaftliche Erkenntnis des zwiſchen der Weisfagung und der Er- 
füllung beftehenden DVerhältniffes; und wer nicht geneigt ift, ſich 
bezüglich diefer Erkenntnis felbft mit dem Helldunfel der bloßen 
Ahnung zufrieden zu geben, kann ſich ihrer gar nicht entfchlagen. 
Je mehr ich hiervon überzeugt bin, um fo lieber ift es mir, Ton» 
ftatieren zu dürfen, daß der Verfaffer in diefer Beziehung in 
der That feinen andern Weg geht, als den auch von mir einge 
ſchlagenen. Denn wenn er erflärt; „Den Standort müffen wir 
ganz in der Zeit der Entftehung biefer (Weisfagungs-) Sprüde 
nehmen“, und der Erfüllungsgefchichte einen „bloß regulativen“ 





Die altielementfihe Weisiagusg vea ber Bolleatung x. 805 


Einfluß auf die Betrachtung der Prophetie eingeräumt wiſſen will, 
fo ift damit nur mit andern Worten — wenn auch vielleicht 
weniger Mar und beftimmt — diejelbe Forderung ausgeſprochen; 
und in feiner ganzen Darftellung des Inhalts der altteftamentlichen 
Weisfagung finde ih wohl vieles, wogegen ich Widerſpruch ein- 
legen muß, aber feine Meinungsverſchiedenheit, die ich auf eine 
abweichende Auffafjung des Berhältnifjes der Weisſagung zur Er⸗ 
füllung zurüdzuführen vermödte. Wo es ſich zwijchen und nicht 
bloß um .einzelme exegetiſche Differenzen handelt, fondern wo wir 
wirklich verfchiedene Wege gehen, da Tiegt — wie fich zeigen 
wird — der Scheidungsgrumd auf einem andern Gebiet. 

Nicht in neuen die Grundanſchanungen betreffenden wifjen- 
ſchaftlichen Geſichtspunkten, fondern in der Durchführung diefer 
Grundanſchauungen im einzelnen, in der aus felbftändiger eregetifcher 
Forſchung und liebevoller Bertiefung in das prophetifche Wort 
erwachfenen, geift« und Iebensvollen und in frifcher, anfprechender 
Darftellung gefchriebenen Entfaltung des gefamten Inhaltes ber 
mefftanifchen Weisfagung (mir gebrauchen im Intereſſe der Kürze 
diefen Ausdruck) liegt der Hauptwert des Buches; und zu feinen 
Vorzügen gehört es, daß der Verfaffer von der Notwendigkeit auf 
die litteräriſch⸗kritiſche Forſchung einzugehen, um den geſchichtlichen 
Entwicelungsgang der Weisfagung bdarftellen zu können, überzeugt 
if. Mit diefem Vorzug hängen freilich anderfeits die ſchwächſten 
Seiten des Werkes zufammen, fofern bie Eritifche Forſchung des 
Berfaffers noch allzu fehr unter dem Banne Überlieferter An« 
ſchauungen fteht, oft den Eindruc der Unſicherheit und einer ger 
wiffen Angſtlichteit macht und durch Haltlofe Wermittelungen den 
Konfequenzen der angenommenen kritiſchen Ergebniſſe zu ent 
sehen fucht. 

In den einleitenden Paragraphen (19), welche die Grund⸗ 
anſchauungen bed Verfaſſers entwickeln, fprechen die religionsge⸗ 
ſchichtlichen Vergleihungen der altteftamentlichen Prophetie mit den 
analogen Erfcheinungen auf dem Gebiete des Heidentums, durch 
welche die Einzigartigkeit jener in Helles Licht geftellt wird (8 2 
und 6), beſonders an. — Wenn der Verfaffer die pfychologifche 
BVermittelung der göttlichen Offenbarung an die Propheten mit 


806 Orelli 


Oehler u. a. durch den Ausbrud „unmittelbare Anſchaumg“ 
bezeichnen will, fo habe ich dagegen nichts einzuwenden; denn der 
Verfaffer irrt, wenn er zu meinen fcheint, daß ich den „intuitiven 
Charakter” der Prophetie verfenne (S. 84). Wenn ich auch aus 
den prophetiſchen Schriften die Überzeugung gewonnen habe, daß 
die gemöhnlichfte pſychiſche Funktion des Propheten bei dem Akt 
der Offenbarungsmitteilung zutveffender als „innerliches Vernehmen 
der Rede Gottes“ bezeichnet wird, jo bin ich doch weit davon 
entfernt, in Abrede zu ftellen, daß gerade bei der Mitteilung zu— 
kunftsgeſchichtlicher Erkenntniffe mehr das Imaginationsvermögen 
als der BVerftand und die Vernunft des Propheten in Thätigkeit 
gefegt wird, und daß ihm diefe daher vorwiegend in der Form der 
Anfhauung zum Bewußtſein kommen. Nur jollte man den Unter⸗ 
ſchied zwiſchen diefer „inneren Anfhauung* und der efftatifchen 
Viſion immer wohl im Auge behalten und ſich durch jenen Aus— 
druck nicht verleiten Taffen, bei landläufigen Vorftellungen ftehen 
zu bleiben, die aus der Vorausfegung, daß die Weisſagung weſent- 
lich Beſchreibung geſchauter Bifionen fei, erwachſen find und nur 
unter diefer Vorausfegung Berechtigung und Bedeutung haben. 
Es wäre zu winfchen, daß der Verfaſſer mehr daranf bedacht ge- 
weſen wäre, feine Lefer vor diefer Verirrung zu bewahren. Was 
er 5 B. ©. 39 über den fogen. „perfpeftivifchen Charakter“ der 
Weisſagung fagt (ein Ausdruck, der übrigens fehr unzutreffend 
erfcheint, wenn man ſich vergegenmärtigt, in welchem Sinne man 
fonft eine Zeichnung oder ein Bild perſpektiviſch zu nennen pflegt), 
kann die Leſer Leicht in verbreiteten Vorftellungen beftärfen, welche 
felbft Hengftenberg, nachdem er fie in ber erften Auflage feiner 
Ehriftofogie in Umlauf gefegt hatte, in der zweiten Auflage (II, 2. 
©. 193) als „zu mechaniſch“ zurücdgenommen Hat. Im übrigen 
will ich zu diefer Einleitung nur noch bemerfen, daß, wenn der 
Verfaſſer in $ 9 auch nur einen Ruckblick auf die Behandlung 
de8 Gegenftandes in der hriftlichen Theologie werfen wollte, 
doch eine Hinweifung auf die Verdienfte der jüdifchen Eregefe 
um das gefchichtliche Verſtändnis der Weisfagung und auf den 
Einfluß, welchen fie auf die chriſtliche geübt Hat, nicht Hätte fehlen 
dürfen; denn fo entfteht der falfche Schein, als ob es die Mer 


Die altteflanmentfiche Weisfegung von ber Vollendung ıc. 7 


formation gewefen wäre, melde überhaupt zu ben erften Verſuchen 
geführt Hat, dem Biftorifchen Sinn der Weisfagung gerecht zu 
werden (vgl. ©. 79). 

Am wenigften kann ih mid) mit dem erjten Hauptteil, welcher 
„das prophetifche Wort als Vorbote der Entftchung und 
Begleiter der Ausgeftaltung einer nationalen Gottesherrihaft auf 
Erden“ barftellen foll, einverftanden erklären. In den zwei erften 
Abſchnitien (8 10—18) werden hier in herfümmlicder Weiſe das 
fogen. Protevangelium, der Segen Noahs, die Verheißungen an 
die Patriarchen, der Segen Jakobs und die Sprüde Bileams 
behandelt. Stände ber Verfaffer auf dem einfeitig fupranatu- 
raliſtiſchen Standpunkt der Hengftenbergfchen Chriftologie, und hielte 
‚er gegenüber der litteräriſch⸗kritiſchen Forſchung mit der Schule 
Hengftenberge weſentlich an den traditionellen Anfichten über den 
altteftamentlichen Kanon feft, jo hätte dies Verfahren nichts Bes 
fremdliches. Der Ausdrud „gefhichtlihe Entwidelung“ der 
Weisfagung, der auf dem Titel fteht, wurde dann freilich nicht 
das bedeuten, was man fonft unter demfelben verfteht, ſondern 
twäre richtiger durch „ftufenmägiger gefchichtlicher Fortfchritt der 
Offenbarung“ zu erfegen. — Ganz unvereinbar mit den wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Anforderungen an eine Darftellung ber „gefchichtlichen 
Entwickelung“ der Weisfagung erfcheint aber dieſes Verfahren auf 
dem Standpunkt de8 Verfaſſers, und die Art, wie er es zu recht ⸗ 
fertigen fucht, wirb nur auf ſolche einen Eindruck machen, die von 
vornherein mit ihm die Neigung teilen, fih von den im Bibel» 
gläubigen Kreifen Herrfchenden Meinungen möglihft wenig zu ent 
fernen. 

Zunãachſt kommen hier die ziemlich weitgehenden Zugeftänd« 
niffe in Betracht, welche der Verfaſſer der litteräriſch-kri— 
tiſchen Forſchung macht. Er ſcheut fich, bie Komfequenzen zu 
gießen, welche biefelben für die Beurteilung der bibliſchen Übers 
llefernngen haben; fie follen auf die unmittelbar aus biefen ent 
nommenen Anſchauungen von bem Verlauf ber Geſchichte Israels 
mb der Menfchheit keinen weientlichen Einfluß üben; die litteräriſche 
Keitit ſoll fo wenig als möglich zur kritiſchen Geſchichtsforſchung 
führen. Das ift eime Halbheit, die zur SHaltlofigkeit werden 


808 Orelli 


muß. — Gewiß hat es im allgemeinen ſeine Wahrheit, daß die 
„verhältnismäßig jungen Schriftſteller“, welche die oben bezeichneten 
Weisfagungsfprüce im Pentateuch mitteilen, biefelben nicht er⸗ 
funden, fondern aus der Überlieferung geſchöpft haben (S. 89); 
aber womit will ber Verfaſſer beweifen oder auch nur wahrſchein⸗ 
lich machen, daß diefe Überlieferungen bis In die Zeiten der Patri« 
archen oder gar der Urväter zurüdreihen? Mag man auch wegen 
der Berührungen der Schöpfungserzählung Gen. 1 mit dem alte 
babyloniſchen Schöpfungsmptäus zugeben, daß Hier der Überliefe- 
rungsftoff älter ift, als das Hebräifche Vollstum felbft, — ift denn 
damit bewiefen, daß derſelbe ein Denkmal deſſen ift, „was die 
frühefte Menſchheit, welche Gott und der Natur nod 
am nädften ftand, aus biefer über ihr Verhältnis zu jenem 
herausgelefen hat“ (S. 90)? Wenn vollends zu der Sunden⸗ 
fallsgeſchichte bisher Teine babylonifche Parallele aufzufinden war, 
fondern nur einzelne Elemente derfelben fich mit der babylonifchen 
Mythologie berühren, — darf daraufhin angenommen werden, daß 
Israels Vorväter das fogen. Protevangelium ſchon aus Ur⸗Kasdim 
mitgebracht haben (S. 91)? Wenn ferner zugeftanden wird, daß 
auf den Segen Noahs nicht bloß die Hebrälfhe Sprache, „melde 
der Volkervater natürlich fo wenig geredet Hat, als Adam im 
Paradieſe“, einen ſtarken formalen Einfluß gebt Hat, fondern da 
derfelbe auch inhaltlich durch die feit Mofe dem Volke Israel ger 
wordene Offenbarung beftimmt ift, — geben dann die Schwierigkeiten, 
welche die gefchichtliche Erflärung darin findet, ein Recht zu der 
Annahme, daß diefer Spruch feinem Kerne nach von einem „Pros 
phetifch tief und weit blickenden Seher“ (ob von Noah felbft oder 
von einem andern, bleibt unklar) herrühre, welcher der Zeit vor 
der Entftehung des hebraiſchen Volketums angehört hat (S. 117)? 
Und wenn Bileam weder die Berheißungen an Abraham und Juda 
gefannt, noch auch Hebräifch geredet hat, fo daß „jedenfalls eine 
umlleidung (feiner Sprüche) in hebraiſches Gewand ftattgefunden 
hat“, — kann dann wirklich darin, daß in diefen Sprüden vor⸗ 
wiegend „die exoterifche Entwidelung des Gottesreihes“ gezeichnet 
und von Israel ein Lichtbild ohne Schatten entworfen wird, ein 
Beweis dafür gefunden werden, daß biefelben von dem alten Heid- 


Die altteftamentliche Weisfogung von der Vollendung 2c. 809 


niſchen Seher herrühren muſſen (S. 164f.)? Und ähnlich ſteht 
es mit den Patriarchenverheigungen und dem ſogen. Segen Jakobs, 
bei denen ber Verfaffer fogar den fpäteren Erzählen noch mehr 
Einfluß auf die formale Geftaltung zugefteht als bei dem Prot« 
evangelium und dem Noahſegen (S. 91). Mit Verficherungen, 
wie die: „Als heiliges Erbe wurden gewiß ſolche prophetiſche 
Sprüche mit großer Zäbigkeit von Geſchlecht zu Geſchlecht über 
liefert”, mit Berufungen auf den „Ernft der biblifchen Gejchicht- 
ſchreibung“ (S. 92) oder auf den „Geift des Altertums“ und 
den „fittlichen Ernft der biblifhen Autoren“ (S. 117), ober gar 
mit der Ausfpielung von Trümpfen wie: „Wer einmendet, daß 
man in hohem Alter und angeſichts des Todes nicht zu dichten 
pflege, ift zu bemitleiden, weil er weder Prophetie noch wahre 
Poeſie kennt“ (S. 128), ift hier in der That gar nichts gethan; 
und einem Theologen, der es wagt, troß des Wortes Chrifti 
Matth. 22, 43—45 den 110. Pſalm für nicht-davidifch zu er⸗ 
Mären (S. 173), fteht e8 übel an, mit ſolchen willkürlichen Macht⸗ 
fprüden der kritiſchen Forſchung Halt gebieten zu wollen. — 
Überdies macht der Verfafjer aus guten Gründen nirgends ben 
Verſuch, genauer anzugeben, was man in jenen Grundverheigungen 
als urfprünglichen Überfieferungsfern und was als Zuthat der 
fpäteren Referenten anfehen fol; jener bleibt überall in nebelpafter 
Unbeftimmtheit. Die Hier gegebene Darftellung des geſchicht⸗ 
lichen Entwidelungsgangs der Weisfagung Hat daher ein 
überaus ſchwankendes und flüffiges Fundament. 

Wenn aber auch das Fundament, auf welches der Verfaſſer 
eine bis in die Patriarchenzeit und in die Anfänge des menfchlichen 
Geſchlechts zurückreichende Gefchichte der Weisfagung bauen will, 
einen fefteren Halt Hätte, jo bliebe fein Verfahren in Anbetracht 
des Verſprechens, die Weisfagung „in ihrer geſchichtlichen Ent⸗ 
widelung“ darzuftellen, immer noch verfehlt. Denn es muß in 
den Lefern die Vorſtellung erweden, daß in diefen einzelnen 
BVerheigungsworten die Wurzeln und Keime liegen, aus welchen 
die prophetifche Weisfagung von der Vollendung des Gottesreiches 
fich gefchichtlich entwickelt Hat. Daß aber die Lefer damit zu einer 
unrichtigen und ungeſchichtlichen Vorftellung verleitet werden, 


810 Orelli 


wird der Verfaſſer ſelbft nicht in Abrede ſtellen wollen. Wollte 
er es thun, fo läge ihm der Nachweis ob, daß ſich in der meſſia— 
nischen Weisfagung der Propheten von Anfang an Beziehumgen 
auf diefe Grundworte göttlicher Verheißung, Anknüpfungen daran, 
Nachtklänge davon finden. Diejer Nachweis wäre aber ſchwer zu 
führen; denn das verfteht fich doch wohl von ſelbſt, daß er mit 
dem Hinweis auf bie Wiederkehr der allgemeinen Gedanken jener 
Grumdverheigungen, 3. B. in der Wiederkehr des Grundgedanfens 
der Abrahamsverheißung in der Weisfagung vom Eingang der 
Heiden in das Reich Gottes, noch nicht erbracht wäre, daß viel 
mehr gezeigt werben müßte, wie in dem Gepräge der meffianifchen 
Weisfagung das für jene Grundverheigungen Charakteriftifche 
noch erkennbar ift und fie als aus diefen gefchichtlihen Wurzeln 
erwachſen fennzeichnet. Wo wären aber für die Vorftellung von 
dem Weibesfamen, der der Schlange den Kopf zertritt, ober von 
der Segnung aller Gefchlechter des Erdbodens in dem Samen 
Abrahams oder von dem Stern, der aus Jakob aufgehen ſoll, 
folche Nachwirkungen aufzuzeigen? Außer dem Anklang von Hef. 
21, 32 an Gen. 49, 10 (&. 135. 138. 412) finden wir auch 
in dem Werke bes Verfaffers nichts, worin man ben Verſuch eines 
folgen Nachweiſes erkennen könnte. Auch er wird darum wohl 
anerkennen, daß die mefftanifche Weisfagung der Propheten ſich 
nicht fpeziell aus jenen einzelnen Verheißungsworten geſchichtlich 
entwidelt hat, fondern daß der Mutterboden, aus welchem ber 
Geift der Offenbarung fie hervorwachſen ließ, ein viel breiterer 
und umfaffenderer ift und im den Grundwahrheiten des alttefta- 
mentlihen Glaubens befteht. Um den Lefern eine richtige Vor— 
ftellung von der „gefchichtlichen Entwidelung“ der Weisfagung zu 
ermöglichen, hätte dann aber auch der organifch = genetifche Zu⸗ 
fammenhang derfelben mit diefen Grundwahrheiten aufgezeigt werden 
müffen, und die Erörterung über jene einzelnen Verheißungsworte 
Hätte, fo hoch man auch ihre offenbarungsgefchichtliche Bedeutung 
anſchlagen mag, doch nur innerhalb diefes Nachweiſes, als sin Teil 
desfelben ihre richtige Stelle erhalten 1). 


I) Den Verſuch eines folden Nachweiſes Habe id; in dem erften Abſchnitt 


Die altteftamentliche Weisfagung von der Vollendung zc. 811 


Auch der dritte Abſchnitt des erſten Teils, der unter der Über⸗ 
ſchrift „Der Gefalbte des Herrn“ zuerft die an David ergangenen 
Veisfagungen, nämlich die Nathans in 2 Sam. 7 und die Gottes- 
fprüche des 110. Pſalms, dann den Wiederhall berfelben in den 
Pſalmen und den legten Worten Davids 2 Sam. 23, weiter die 
typiſch⸗ meſſianiſche Bedeutung Davids, Salomos und der Dapibiden 
in ihrer föniglichen Herrlichkeit und in ihrem Leiden (Leidende 
pfalmen) und endlich das Wohnen Jahves auf dem Zion erörtert 
(8 19— 22), enthält mandes, was mehr dazu geeignet ift, die 
Erkenntnis der „geſchichtlichen Emtwidelung“ der Weisfagung zu 
verwirren, als fie zu fördern. Abgefehen von der unficher taften« 
den Pfalmenkritit des Verfafjers bringt die Anlage und der Inhalt 
des Abfchnitts den Lefer Leicht auf die falfche Vorftellung, als ob 
3. B. die typifche Auffaffung bes Hohenliedes (S. 193) oder bie 
Erkenntnis, daß der meſſianiſche König durch das fehwerfte, uns 
verfchuldete Leiden hindurch zu der ihm beftimmten Stellung und 
Wirkſamkeit im Reiche Gottes gelangen werde (S. 193ff.), ſchon 
zu den geſchichtlichen Vorbereitungen und Grundlegungen für die 
Weisfagung ber Propheten von der Vollendung des Gottesreiches 


meiner Schrift „Die meſfiauiſche Weisſagung“ gemacht, jedoch ohne bie nähere 
Erörterung jener einzelnen Verheißungsworte in den Bereich meiner Aufgabe 
zu ziehen. Diefer Verſuch mag manche Mängel haben; aber gegen den Bor- 
wurf, daß id) die Weisfagung „durch dialektiſche Reflerion“ aus den Grund» 
gebanten der aftteftamentlichen Neligion entftanden fein Taffe (S. 84), glaube 
ich mich hinreichend verwahrt zu haben. Was die Bemerkung des Verfafſers: 
„bie Grundideen ſelbſt, nach ihrer lebendigen Energie, find aber eine Feucht 
der prophetifchen Offenbarung” fagen toill, verftehe ich nicht, da ich nicht au- 
nehmen Tann, daf dem Verfaffer erft die Propheten als die eigentlichen Stifter 
der aftteftamentlihen Religion gelten, DMofes aber eine myſtiſche Nebelgeftalt 
if. Daß fon die älteften Propheten die Grundgedanken ber altteftamentfichen 
Religion als aftüberliefert und dem Volke Israel feit der Zeit der Ausführung 
aus Ägypten wohl betannt voransfegen (vgl. Smend, Über bie von ben 
Vropheten bes 8. Jahrhunderts vorausgeſetzte Entwickelungsſtufe der isrneli- 
tifhen Religion in diefer Zeitfchrift, Jahrg. 1876, 9. 4), wird der Berfaffer 
gewiß nicht Teugnen, und daß die Entfaltung diefer Gruudgedauken in der 
meffianifhen Weisfagung eine Frucht der prophetifhen Offenbarung war, ift 
mir nicht eingefallen in Abrede zu ftellen. 


812 Orelli 


gehöre. Auch der 72. Pſalm, den der Verfaſſer geſchichtlich auf 
Salomo deutet, durfte meines Erachtens nicht in dieſem Abſchnitt 
verwertet werden; denn, wie man ihn auch ſonſt auffaſſen möge, 
ob als ein aus dem liturgiſchen Bedurfnis hervorgegangenes Ge⸗ 
meindelied beim Regierungsantritt eines neuen Königs oder direkt 
meſſianiſch, jedenfalls ift er nicht ein Vorgänger, fondern ein 
Nachhall der mefflanifchen Weisfagung der Propheten (B. 1—4 
von Jeſ. 11, 4; V. 8—11 von Sad. 9, 10; vgl. auch V. 12 
mit Hiob 29, 12), ähnlich dem freilich jüngeren Nachhall in den 
Pialmen Salomos (17, 23ff.), deren Tanonifches Vorbild dieſer 
Pſalm „Salomos“ ift. Dagegen Hätte fih, 2 Sam. 23, 1ff., 
beffer für die Darftellung des Verfaſſers verwerten laſſen, als es 
©. 185ff. gefchehen ift; denn die von ihm gebilligte Anfiht vieler 
Exegeten, daß V. 3b u. 4, als Border und Nachſatz mit einander 
verbunden, einen allgemeinen Sag enthalten, paßt gar wenig zu 
dem feierlichen Eingang mit ber viermaligen Verficherung, daß die 
folgenden Worte aus Eingebung des Geifte® Gottes geredet feien. 
Die Deutung des „gerechten Herrſchers“ auf eine Fünftige Einzel- 
perfon lehnt der Verfaſſer allerdings mit Recht ab; fie ift durch 
V. 5 („mein Haus“) ausgefchloffen. Wohl aber enthalten bie 
Worte die auf die Zufage des ewigen Bundes mit dem Haufe 
Davids (2 Sam. 7, 16) gegründete Ankündigung, daß gerechte 
und gottesfürchtige Herrfcher aus Davids Haufe fommen, und daß 
mit ihnen das Licht des Helles in vollem Glanz über dem Gottes- 
reihe aufgehen und ein. Zuftand reichen Segens und fröhlichen 
Gedeihens Herbeigeführt werde. Gehören dieſe Worte wirklich David 
an, woran zu zweifeln auch ich feinen Grund finde, fo haben wir 
hier in der That einen bedeutſamen Fortſchritt über die durch 
Nathan dem Haufe Davids gegebene Verheißung hinaus, einen 
Fortſchritt, der freilich die angebliche, au von dem BVerfafjer ber 
hauptete „meffianifche Selbſtſchau“ Davids fehr in Frage ftellt. 
Weit mehr entſpricht den wiffenfchaftlichen Anforderungen an 
eine Darftellung der geſchichtlichen Entwidelung der Weisfagung 
der zweite Hauptteil, welcher in ſechs Abfchnitten „das pro 
phetifche Wort als Vorbote der Neugeburt und Bürge der fünftigen 
Vollendung des Gottesreiches“ nah der Zeitfolge der einzelnen 


Die altteftamentfiche Weisfagung von der Vollendung ıc. 818 


Bropheten erörtert, ſich wefentlih auf dem Boden der geſchicht ⸗ 
lichen Auslegung Hält, aber auch die Beziehung der Weisfagung 
auf die Erfüllung im Neuen Bunde forgfältig erörtert und in den 
meiften Bartieen geeignet ift, in ein tiefere® Verſtändnis des pro« 
phetifchen Wortes einzuführen. Auch wo ich der Auffafjung des 
Verfaſſers mich nicht anfchliegen kann, wie z. B. in der ganz ber 
ftimmt perfönlihen Faſſung des VBegriffs „Knecht Jahves“ in 
Jeſ. 42. 49. 50 u. 53, erkenne ich die Förderung, welche die 
Auslegung und Iebendige Neproduftion der Weisfagung durch den 
Berfaffer erhält, ebenfo gerne an, als feine wohlgelungene, ger 
ſchmackvolle Überfegung der wichtigſten Stellen. Zwei allgemeinere 
Mängel machen ſich aber auch hier bemerflih. Der eine betrifft 
bie Titterärifche Kritik des DVerfaffers, die auch hier oft auf 
halbem Wege ftehen bleibt. Ich will nicht mit ihm darüber rechten, 
daß er Obadja für den äfteften Propheten hält, von dem ung eine 
Schrift erhalten ift (S. 220f.); aber ſchwer begreiflich ift, wie 
er ef. 40—66 für die Weisfagung eines erilifhen Propheten 
erklären (S. 423ff.) und doch die jefajanifche Abkunft von ef. 
13 u. 14 und gar auch von ef. 34 u. 35 verteidigen kann 
(S. 323. 330f.); und geradezu abentewerlich werben feine Eritifchen 
Operationen fhlieglich beim Buche Daniel (S. 515 ff.). Er fieht 
fi nämlich, genötigt, da8 Zugejtändnis zu machen, daß das Buch, 
fo wie es vorliegt, einem in der Zeit des Antiohus Epiphanes 
lebenden Verfaſſer angehöre, und daß im Sinn biefes Schrift 
ſtellers das vierte Weltreich das griedifch-makebonifche fei; aber 
weder ben exilifchen Propheten Daniel noch die traditionelle Deus 
tung des vierten Weltreich® auf Rom möchte er aufgeben. Darum 
nimmt er an, daß jener Verfaſſer in Daniel 1—6 überlieferte 
Erzählungen aus der Zeit des Exils und Daniel 7—12 überlieferte 
Gefichte Daniels gefammelt, überarbeitet und in nähere Beziehung 
zu den Derhältniffen feiner eigenen Zeit gefeßt Habe. Auch Hier 
begegnen wir freilich dem Eingeftändnis, eine fichere Ausfcheidung 
deffen, was dem alten Daniel angehört Habe, jet im einzelnen nicht 
möglich; aber der Verfaffer verfichert ung: „Auf Daniel gehen 
ohne Zweifel die Grundgedanken zurüd.“ So weit möchte man 
ſich diefen kritiſchen Vermittelungsverfuch, auch wenn man ihn als 


814 Orelli 


unhaltbar anſieht, noch gefallen laſſen, wie er ja auch befannte 
Vorgänger hat; aber kaum Glaubliches leiſtet der Verfaſſer, indem 
er nun weiter zu beweiſen unternimmt, nach dem urſprünglichen 
Sinn der Geſichte Daniels ſei das vierte Weltreich doch das 
romiſche geweſen!! Die von dem Überarbeiter gegebene Deutung 
auf das griechiſch⸗ makedoniſche ſei zwar nicht unberechtigt, aber 
auch nicht erſchöpfendl! Dasſelbe Kunſtſtuck muß dann auch dazu 
helfen, die herkömmliche chriſtologiſche Deutung des „Geſalbten“ 
in Daniel 9, 26 zu retten, während zugegeben wird, daß „der 
Herausgeber und Rebaktor des Danielbuchs“ in der Ermordung 
des Hohenprieſters Onias III. die Hier geweisfagte Tötung des 
Gefalbten „zu erkennen geglaubt“ Habe (S. 526f.)! — Der 
andere Mangel befteht darin, daß der Zufammenhang der Weis⸗ 
fagung mit der Geſchichte nicht genügend hervorgehoben wird. 
Mochte der Verfaffer immerhin finden, daß der Referent in der 
Nachweiſung diefes Zuſammenhangs „zu fehr bis ins Kleinliche“ 
gegangen fei (S. 84), wenigftens da, wo derjelbe fo handgreiflich 
hervortritt, wie 3. B. in Jeremias Weisjagung von dem Neuen 
Bunde und der ganz neuen Gejtalt des vollendeten Gottesreich® 
(ogl. Meſſianiſche Weisfogung, S. 137) oder in dem Herein« 
treten des Prieftertums in den Bereich der meffianifchen Weisfagung 
in der nachexiliſchen Zeit (dgl. Meffianifche Weisfagung, S. 127 ff.), 
Hütte ihn der Verfaffer feinen Lefern viel gefliffentliher aufzeigen 
möüffen, als er es gethan hat. Es Handelt fich dabei keineswegs 
darum, der Prophetie „pragmatifche Stügen“ zu geben (S. 253), 
fondern um bie Erkenntnis der einheitlichen zweckvollen Wechjel- 
beziehung des ftufenmäßigen Fortgangs der Offenbarung Gottes 
über feinen Heilsratſchluß und der gefhichtlihen Führungen feines 
erwählten Eigentumßvolfes, welche jeden für das Göttliche empfüng ⸗ 
lihen Sinn mit anbetender Bewunderung der wunderbaren Wege 
Gottes erfüllen muß. Daß der Verfaffer fo wenig Gewicht auf 
diefe Erkenntnis gelegt hat, Tann ich mir nur daraus erflären, daß 
er fi von den übeln Nachwirkungen ber einfeitig fupranaturaliftie 
ſchen Betrachtung der Weisfagung nicht völlig zu befreien vers 
mochte. 

Wir fügen noch einige Bemerkungen über einzelnes bei. Ju 


Die altteftamentliche Weisfagung von der Vollendung zc. 815 


Gen. 9, 26 u. 27, wo der Fluch Über Kanaan auch in den 
Segensworten über Sem und Japhet dumpf nachgrollt, fteht job 
fiher nicht für ib (S. 112), fondern entſpricht dem vod, und 
bie „Ruhmeszelte* des DVerfaffers (S. 114ff.) find in „Zelte 
Sems“ zu berichtigen; die Ankündigung des brüderlichen Wohnens 
Japhets in ben Zelten Sems aber fteht in gegenfäglicher Beziehung 
zu dem DVerbot jeder Bundesgemeinſchaft mit den Kanaanitern; 
das Japhet verheigene „Wohnen in den Zelten Sems“ bleibt 
Kanaan verfagt. — Gen. 15, 18 fteht nit „vom Bad“ 
(©. 123), fondern „vom Strom Ägyptens“, womit nicht der 
Wadi el Ariſch, fondern nur der Nil gemeint fein kann. — 
©. 125f. vermißt man eine Bemerkung Über die Bedeutung, welche 
die Verfiegelung der Abrahamsverheifung durch den Schwur Gottes 
bei ſich felbft in Gen. 22, 16 Hat (vgl. darüber Achelis in 
biefer Zeitfchrift, Jahrgang 1867, Heft 3). — Die ©. 137 ger 
gebene Deutung von Gen. 49, 10 „bis daß er gelange in das, 
was ihm zufommt“ (Abyi = ib Sy), iſt ſprachlich nicht annehm« 
bar, da win mit dem Accus. in folder Anwendung nicht zu bes 
legen ift; vielmehr wird jene Lesart nur entweder nach Sept. mit 
„bis kommen wird, was ihm gehört, gebührt“ ober nach den übrigen 
alten Überfegern mit „bis der fommen wird, weldem es (das 
Scepter) gehört” erklärt werden können; wahrſcheinlich ift fie aber 
nur daraus entftanden, daß die alten Überfeger die Stelle nad) 
Ez. 21, 32 gedeutet haben. — Die S. 144 angeführte Angabe 
Brugſchs über das ägyptiihe nuk pu nuk — Ich bin Ich ift 
von R. Pietfhmann in Baftians Zeitſchrift für Ethnologie 1878, 
Heft 3, S. 171 Anm. als ganz nichtig erwiefen worden. — Die 
Bevorzugung der Lesart 1x9 in Pf. 22, 17 (©. 198) dürfte 
mehr in den Wünfchen des Verfaffers, als in Fritifchen Erwägungen 
begründet fein, und die Ergänzung von nbrin zu 1120 in V. 28, 
um die Belehrung der Heiden zur Folge der Errettung des Pfal- 
miften und feines Lobes dafür zu machen (S. 198f.), ift ganz 
unmöglich. — Über die ©. 240 nad) Baubiffin erklärte Redens- 
art „einen Krieg heiligen“ f. Studien und Kritiken, Jahrgang 
1880, S. 175. — Daß Hof. 1 von einem wirklichen Erlebnis 
des Propheten verftanden werden, Hof. 3 dagegen mur eine fingierte 





816 Orelli 


Erzählung fein ſoll (S. 257), iſt wieder eine Kombination von 
zwei Anftchten, bei denen nur ein Entweder» Ober zuläffig iſt. — 
Die herfümmliche Auffaffung des „Sahne und Honig-Efjens“ in 
gef. 7, 15 u. 22, welder der Verfaffer ©. 296 folgt, ift ſchon 
don Hengftenberg in feiner Ehriftologie treffend widerlegt worden 
und verdreht namentlih in B. 22 den Haren Wortlaut (auch 
wenig Bich wird fo reichlich Milch geben, daß man nur das 
Befte davon, die Sahne, genießen wird) fo fehr in fein Gegen- 
teil (das Land wird fo vermüftet fein, daß das Vieh überall weiden 
Tann), dag man ſich über die Zähigkeit, mit welcher fie feftgehalten 
wird, nicht genug wundern Tann. — Über die Anficht, dag Im— 
mannel in Jeſ. 7, 14 ein Sohn bes Propheten fei, Hätte der 
Verfaſſer fih (S. 298) wohl weniger wegwerfend ausgefprocen, 
wenn er ſich bemüht Hätte, den ganzen Zufammenhang biefer 
Zeichenanfündigung, bei welder übrigens au er das Hauptge⸗ 
wicht mit Recht auf den Namen Immanuel legt, mit dem Vor—⸗ 
hergehenden und folgenden lebendiger aufzufaffen. — In ben 
Parallelen Jeſ. 2, 2—4 und Mid. 4, 1—4 will er ©. 342f. 
wieder erftere Stelle für das Original ausgeben. — In Micha 7 
hat er (©. 351) die bedeutſame, die Weisfagung Deuterojefajas 
vorbereitende Umbildung der Idee des Reſtes zu der Vorftellung 
der Idealperſon des echten Volkes Jehovas, das fih in der Ge— 
richtönot bewährt und darum von dem treuen Bundesgotte ber 
Heidnifchen Weltmacht gegenüber glänzend gerechtfertigt wird, über⸗ 
fehen. — Nahum fegt er (S. 351) trog der Auffchlüffe über die 
3, 8ff. erwähnte Eroberung No-Amons, die wir den aſſyriſchen 
Inſchriften verdanken, immer noch in die Zeit Hisfias. — Seine 
Erklärung des upıs mm in Ser. 23, 6 u. 33; 16 (S. 375f.) 
giebt dem Begriff der „Rechtbeſchaffenheit“ zu fehr eine ethifche 
Wendung (— Wohlverhalten, Rechtverhalten), während nad dem 
Parallelismus die thatfähliche Rechtfertigung durch Spen⸗ 
dung des Heiles damit gemeint iſt. — Gut wird die dunkle Stelle 
ger. 31, 22; ©. 379f. erläutert. — Daß das om in Jeſ. 
66, 21 auf die Heiden gehen foll (S. 470), halte ih nad V. 22 
und 61, 5f. für unmöglich. — Den ſchon von Hitig gut nach⸗ 
gewiefenen apokalyptiſchen Charakter der Nachtgeſichte Sacharjas, 


Die altteftamentliche Weisfagung von der Vollendung ac. 817 


traft deffen der Prophet in den erften Gefichten feinen Standpunft 
in der Vergangenheit nimmt und, wie fehon Ezechiel in Kapitel 
17 und 19, an die Bilder des Vergangenen die Weisfagung an« 
Inipft, hat auch der Verfaffer wieder verfannt (S. 483. 490. 
494), und darum aus dem Grunbftein des Tempels (Sad. 3, 9; 
4, 7), bis zu deſſen Legung im fünften Geficht der Ausgangs- 
punkt vorgefchoben ift (während ſich vom fechften Geſicht an die 
Weisfagung nicht mehr an Vergangenes anfnüpft), einen Stein ger 
macht, der ein Surrogat für die mangelnde Bundeslade fein fol. — 
In Sad. 6, 13 Hält er (S. 499.) die herkömmliche Erklärung 
feft, bei welcher freilich da8 oma > nicht bloß „ſchwierig“, fons 
dern ohne willfürliche Umdentung unbegreiflih wird. Der Um« 
ftand, daß ſchon die LXX den Sinn meiner Erklärung (die meffia- 
niſche Weisfagung, ©. 128) ausdrückt, hätte den Verfaſſer wohl 
zu einer genaueren Prüfung derfelben veranlaffen dürfen. 

Andere Einzelheiten, bei denen ich meinen Diffenfus eingehen« 
der motivieren müßte, übergehe id. Ohne Zweifel wird das Werk 
bes Verfaſſers bei dem tHeologifchen Publikum eine gute Aufnahme 
finden und namentlih von allen denen willtommen geheißen werden, 
die fi der Erfenntnis nicht verfchliegen, daß auf dem Gebiet des 
Alten Teftamentes manche Zugeftändniffe an die ftreng hiſtoriſche 
Auslegung und an die Teitifche Forfhung nicht zu umgehen find, 
dabei aber auch die in den kirchlichen und bibelgläubigen Kreifen 
Herfömmlichen Anſchauungen, zu deren gründliher Reviſion fie 
weder Zeit noch Luft haben, wefentlic unverändert. beibehalten 
möchten. Um fo mehr erfchien e8 mir als eine Pflicht, bei aller 
Anerkennung der Vorzüge des Werkes feine Schattenfeiten ſcharf 
Hervorzuheben. Denn mit haltlofen Vermittelungen ift nach meiner 
Überzeugung weber der altteftamentlichen Wiffenfhaft noch dem 
wahren Intereſſe des Bibelglaubens gedient. 

I. Riehm. 


Theol. Stud. Yahrz. 1888. 53 


818 Reuß 


2. 


Eduard Reuss, Die Geschichte der heiligen 
Schriften Alten Testaments. Braunschweig, 
C. A. Schwetschke & Sohn, 1881. XV u. 744 8. 
gr. 8. 





Wenn der Unterzeichnete dem Tang vorbereiteten und im 
Freundes⸗ und Schülerkreife lang erwarteten Werke von Neuß 
einige Worte widmet, fo gefchieht es nicht, um dasfelbe bekannt zu 
machen, denn in ben etwa anderthalb Jahren, welche feit feinem 
Erſcheinen verflofen find, hat das Buch felbftändig ſich feinen Weg 
gebahnt, — nicht um dasfelbe zu empfehlen, denn deffen ift eine 
Arbeit des Altmeifters bibliſcher Wiſſenſchaft nicht bedürftig. Aber 
es würde biefer Zeitfchrift nicht ziemen, von dem Buche zu fehweigen, 
welches bie abfchließende, Hoffentlich nicht die Leite, Arbeit ift eines 
langen, vorwiegend der altteftamentlichen Wifjenfchaft mit der nie 
erfalteten Wärme erfter Liebe gewibmeten Gelchrtenlebens. Auch 
jet noch mag die durch äußere Umftände verzögerte Beſprechung 
einem Teile der Lefer diefer Blätter zur Orientierung von Dien- 
ften fein. 

Weniger noch, als es fonft aud bei den beften wifjenfchaft- 
lichen Arbeiten der Ball zu fein pflegt, haben wir es hier mit 
einer Leiftung von geftern Her zu thun. Der Verfafjer nennt dies 
Wert fein letztes und zugleich fein erftes. Den Ausgangspunkt 
besjelben bildet eine im Jahre 1834 gehaltene Vorlefung. Seitdem 
hat der Verfaffer an dem Plane des Ganzen gemodelt, an dem Wort» 
laute der Paragraphen gefeilt. Die Grundgedanken, mit welchen 
er in den dreißiger Jahren ihrer Neuheit wegen nicht an die Offent ⸗ 
lichkeit hervortreten mochte, find biefelben geblieben. Heute haben 
fie vor der Kritik fich micht zu ſcheuen; denn was damals unerhört 
ſchien — die von dem Verfaſſer dem großen Kultuögefege des Pen- 
tateuchs angemiefene Stelle, bie Behauptung diefer zeitlichen 
Folge: Propheten, Geſetz, Pfalmen —, ift ſeitdem duch unmittel« 





Die Geſchichte der Heiligen Schriften Alten Teſtaments. 819 


bare und mittelbare Schüler von Reuß in weiten Kreifen zur 
Anerkennung gelangt. Wenn es im vollen Umfange nicht Gemein⸗ 
gut der Fachgenoſſen geworben (auch Ref. zählt zu den Diver- 
gierenden), fo Hat doch unter ber von Neuß neben Vatke und 
George (1835) ausgegangenen Anregung wohl die gefamte Fade 
genoffenfchaft, foweit fie ein von der Tradition unabhängiges Ge⸗ 
ſchichtsbild der altteftamentlihen Entwickelung erftrebt, an wichtigen 
Punkten die ältere Anſchauung von ber Literatur» und Religions⸗ 
geihichte Israels zu modifizieren fich genötigt gefehen. — Das 
Wert, bis dahin „nie geſchloſſen, oft geründet“, fam dennoch zur 
Vollendung, als vor wenigen Jahren eine fchwere Erkrankung ben 
verehrten Verfafjer an die dem menfchlichen Leben geftedtte Grenze ger 
mahnt Hatte und zu feiner Erholung eine kurze Unterbrechung der 
alademifchen Thätigkeit notwendig wurde. Damals Kollege des 
Verfaffers, werde ich nicht vergeffen, mit welch jugendlichen Mute, mit 
wie befchämender Raftlofigkeit der kaum Genefene ſich an die Arbeit 
machte, um zu vollenden, was er vor neun Luſtren begonnen. Die 
Befriedigung darüber, daß dies ihm gelingen durfte, iſt es wohl 
nicht zum mindeften gewefen, welche feiner ſeitdem wieder unaus⸗ 
geſetzt geübten Arbeitskraft neue, — gebe Gott — lange Stetige 
teit verliehen hat. 


I 


1. Die „Geſchichte der Heiligen Schriften Alten Teftaments“" 
iſt beftimmt, an die Stelle deffen zur treten, was man gemeinhin 
mit einem wenig günftig gewählten Namen als Einleitung in das 
Alte Teftament zu bezeichnen pflegt. Der Titel weiſt darauf Hin 
— und wer des Verfaſſers Gefchichte des Neuen Teftamentes kennt, 
wird es kaum anders erwarten —, daß die altteftamentliche Littera⸗ 
tur hier in Hiftorifcher Entwickelung dargeftellt wird, nicht nur in 
dem Sinne, wie die gewöhnlichen Einleitungen ſich als hiſtoriſch⸗ 
tritiſche zu bezeichnen pflegen, indem fie die einzelnen Bücher des 
Alten Teftamentes in der angegebenen Weife behandeln, fondern in 
der Art, daß ein fortlaufender Gefchichtöbericht Hergeftellt ift. Der 
Verfaffer ift ſich defien voll bewußt, daß die Durchführung eines 
ſolchen Geſchichtsbildes auf altteftamentlichem Gebiete weit größeren 

53* 


820 Neuß 


Schwierigkeiten begegnet als auf neuteftamentlihem, weil die Un« 
ficherheit der Anfegung dort eine viel größere ift als hier. Das 
vorliegende Werk zeigt aber, daß ein folder Plan ſich au fir das 
Alte Teſtament befolgen läßt, da wenigftens, wo eine Darftellungs- 
gabe vorhanden ift, wie fie dem Verfaſſer eignet. Ganz freilich 
iſt die Durchführung nie möglih. Die Pfalmen z. B. Können 
immer nur in Gruppen zufammengeftellt werden an dem zeitlichen 
Bunfte, welcher den Endpunkt einer Gruppe zu bezeichnen ſcheint. 
Das Zeitalter der einzelnen Lieder einer folchen Gruppe mag da» 
bet ein nicht unbeträchtlich verſchiedenes fein. Ebenſo fteht es mit 
den vielfach aus fehr verfchiedenen Schichten beftehenden Gefeges- 
codiced. Das Bekanntwerden eines neuen ober Täßt fi etwa 
zeitlich figieren. Wo aber folfen die einzelnen Beftandteile desfelben 
untergebracht werden, von welchen ſich im beften Galle nur fagen 
laßt, in welchem Altersverhältniſſe fie unter einander ftehen? Am 
wenigften wollen fi die aus vielen Urkunden zufammengefitgten 
Geſchichtsbucher einer ftreng litteraturgefhichtlihen Behandlung 
fügen. Wann bie legte Redaktion der Bücher Richter, Samuel, 
Könige vorgenommen wurde, Täßt fich fo ziemlich genau beftimmen; 
aber an welcher Stelle hat die Litteraturgeſchichte von ihren bieler- 
fei älteren Bejtandteilen zu veden? — Es find die Andeutungen 
von Schwierigkeiten, welche niemand beffer kennt als der Verfaffer 
felbft. Mit glänzendem Gefchide zur Gruppierung, zum Ente 
"werfen von Rückblicken an gewiſſen firierbaren Punkten ift er ſolcher 
Hemmniſſe für die Hiftorifche Darftellung Herr geworden fo weit 
ungefähr, als ſich derfelben eben Herr werben läßt. Wer die ber 
ftehenden Schwierigfeiten kennt, vermag zu beurteilen, welcher Ge⸗ 
ftaltungsfraft es bedurfte, um zum erftenmale biefe Litteraturgefchichte 
als ſolche zu entwerfen. Jeder Nachfolgende Hat es nicht ſchwer, 
nad diefem Vorgang in Einzelheiten Verbefferungen zu bringen. 
Daß der Verfaffer diefen Entwurf gewagt Hat, wollen wir ihm 
Dank wifjen; denn diefe erftmalige Zeichnung des Entwicelungse 
ganges ift als folche in hohem Grade Ichrreih. Auch das Tann 
taum einem Zweifel unterliegen, daß eigentliche Litteraturgefchichte 
das Ziel ift — oder, wenn man etwa an der Möglichkeit der voll« 
endeten Durchführung zweifelt — das Ideal fein follte defien, was 





Die Geſchichte der Heiligen Schriften Alten Teſtaments. 821 


wir in unferer „Einleitung“ zu betreiben pflegen. Dennod er» 
laube ich mir, für die von dem Verfaffer mit geringer Liebe ftizzierte 
alte Methode, für beftimmte Fälle wenigftens, ein Wort einzu 
legen. So gewiß der Schriftfteller berechtigt ift, den Verfud der 
Litteraturgefchichte zu wagen, fo wenig finde ich dasſelbe Verfahren 
(ih weiß mich hierbei in Widerſpruch mit der von Reuß befolgten 
Praxis) empfehlenswert für Vorlefungen. Wir haben nun einmal 
die israelitiſche Litteratur überkommen in ber Form der Bücher, 
wie fie im Kanon ftehen. Der Lernende kennt das Königsbuch 
und kennt das Buch Jeſaja jedes als ein Ganzes und will, ehe 
der kritiſche Hiſtoriker eine Vielheit darans macht, wifjen, weshalb 
dies geſchieht; — bei Neuß erfährt er es teils nachträglich, teils 
auch muß er fi die Gründe für die Zergliederung zufammenfuchen 
aus dem erft auf Grund derfelben ermöglichten Gefchichtebilde. Ich 
zweifle fehr, daß ein Lernender auf diefem Wege von der Nots 
wendigkeit ber kritiſchen Sonderung überzeugt werden wird, auch 
dann, wenn ich als Lernenden nicht mar den Studenten, fondern 
überhaupt den Nichtfachmann denke, welcher nicht alle kritiſchen 
Vorunterſuchungen für ſich felbft vorwegnehmen konnte. Es will 
mir fcheinen, als ſei das vorliegende Wert fehr zu günftiger Zeit 
erfchlenen oder — mas richtiger gefagt ift — als habe der. Ver⸗ 
faffer die Form feines Werkes richtig berechnet nach dem, was er 
als eine Errungenfchaft früher erfchienener Arbeiten anficht. Ohne 
die Leiftungen von Graf, Kuenen, Kayfer, Wellhauſen, welche 
unterfuhend verführen, würde fein bdarftellendes Verfahren 
ſchwerlich in dem Umfange Zuftimmung finden, wie es jetzt der 
Ball iſt. Ich will Hiermit nur die Berechtigung von zwei Wegen 
behaupten, eines jeden in feiner Weife. Schr wohl ift mir bes 
wußt, daß bei dem gewöhnlichen Berfahren der „Einleitung“ ein 
empfindlicher Mangel nicht zu vermeiden ift: der Lernende empfängt 
kein Gefamtbild des Litteraturganges, fondern nur Studien zu 
einem folchen. Ich Halte aber die größere Kraft der Überzeugung, 
welche ich für Lehrzwecke diefem Verfahren zufchreibe, für einen 
wertoolferen Gewinn als den eines doch nur teilweiſe verftandenen 
Geſamtuberblickes. Dagegen ſcheint mir das Werf von Neuß 
fehr geeignet und empfehlenswert auch als Lehrbuch im eigentlichen 


2 Renß 


Sinne, wenn es zur Ergänzung von Vorlefungen benügt wird, welche 
nad der anderen Methode verfahren. 

2. Reuß giebt weit mehr an Stoff, als man in den „Ein 
Teitungen“ zu finden gewöhnt ift. Ausgehend von der Erkenntnis, 
daß die Sitteraturgefchichte nur dann verftanden werden kann, wenn 
fie zuſammengeſchaut wird mit der politiſchen Geſchichte und mit 
der allgemeinen Kufturgefchichte, hat er jene als den Mittelpunkt 
umgeben von bem breit gehaltenen Rahmen ber beiden letztgenaunten 
Entwidelungen. In dem erften, bie „Heldenzeit“ behandelnden Abs 
ſchnitte kann nicht einmal von der Verwertung nur als Rahmen 
bie Rede fein: da aus diefer Periode geringe Litteraturrefte vor⸗ 
liegen, nimmt die Beſprechung diefer einen Heinen Raum ein in 
dem allgemeinen Geſchichtsbilde. Trogdem das Buch viel mehr bietet 
als eine Litteraturgefhichte, wählte der Verfafer den auf diefe 
verweifenden Titel feines Werkes „nicht bloß deswegen, weil er ſo 
das Seitenftüc zu der Gefchichte des Neuen Teftaments bildet und 
ankündigt, fondern deswegen, weil in bem größeren Zeile der 
israelitiſchen Geſchichte die Litteratur eben das Wichtigfte, ja faft 
allein ficher Belannte ifi“ (©. 4). Durch jene Verflechtung ver⸗ 
fchiedenartigen Stoffes gewinnt die Darftellung ungemein an Lebens⸗ 
friſche. Mit nicht unberechtigtem Stolze blickt der Verfaſſer herab 
auf bie dürren und oft Tangweiligen Unterſuchungen, welche andere 
als Surrogat einer Gefchichte geboten Haben. Jedesfalls ift ihm 
gelungen, was er fich vorfegte: „Mir ſchwebte die Aufgabe vor, 
in eine nachgerade gar zu trockne, und vor lauter Detail» Kritik 
formlos gewordene Wiſſenſchaft etwas friſches Leben zu bringen, 
ohne in den entgegengefegten Fehler zu verfallen und etwaige gefunde 
Gedanken in einer Sintflut von Phrafen zu erfäufen" (S. zu). 

Es Täßt ſich mit dem Verfaſſer nicht darüber rechten, wie er 
feine Auswahl des der Ritteraturgefchichte hinzugefügten Plus ger 
troffen Hat: er hat dasfelbe vorzugsweife entnommen der pofitifchen 
und der im engeren Sinne fo genannten Kultur⸗Geſchichte, weniger 
der religiöfen Entwidelung. Ich möchte wunſchen, daß dies letzt⸗ 
genannte Gebiet etwas mehr in den Vordergrund geftellt wäre. 
Daß «8 nicht geſchah, iſt wohl nicht zufällig, Der Verfaffer 
tadelt nicht ohne Grund die bisherigen Bearbeitungen der „alt 





Die Geſchichte der Heiligen Schriften Alten Teſtaments. 828 


teftamentlichen Theofogie“, weil fie zu viel moderne theologiſche 
und pbilofophifche Gedanken ins Altertum zurüdbatieren (S. 23). 
Er will, fo ſcheint es, die Heiligen Schriften, um nicht in fie 
einzutragen, ſelbſt reden laſſen von ihrem religibſen und doch auch 
theologischen Gehalte. Allein um unferem modern «theologifchen 
Denken verftändlich zu werben, muß bie altisraelitifche Religions⸗ 
anffaffung in ihrer Verſchiedenheit von jenem und in ihren originalen 
Zufammenhängen bargeftellt werden. Die Schriften felbft Leiften 
dies nicht; Aufgabe des Hiftoriters ift es, die in ihnen zerftrenten 
Glieder zu einem Ganzen zu verbinden und dieſes in eine folde 
Beleuchtung zu ftellen, welde uns das Verftänbnis desfelben er⸗ 
mögliht. — Indeſſen — um nicht mißverftanden zu werden — 
Neuß ignoriert das theologif—he Element Teineswegs; es handelt 
fih nur um ein Mehr, welches ich nach biefer Seite gewünſcht 
Hätte, 
Die hebräifch- judiſche Geſchichte und ihre Litteratur wird von 
Neuß bargeftellt bis auf die Zerftörung Jeruſalems durch Titus, 
demnach auch an Litteratur weit mehr, als fonft unter dem Namen 
des Alten Teftamentes begriffen zu werben pflegt. „Belannt ift, daß 
nachmals in der hriftlichen Kirche über den Umfang dieſer Samm ⸗ 
lung ſder Bucherſammlung, „welche die chriftliche Kirche bei 
ihrem Entftehen von der fübifchen ererbt hat“ ] zeitweife verfchiedene 
Meinungen ſich geltend gemacht haben, und fo erffären wir, daß 
unfer Bericht, aus nahe liegenden Gründen, alle Elemente des 
alfo erweiterten Schriftkreifes ohne befchränfende Auswahl berüde 
fihtigen wird" (S. 1f.; vgl. $ 520). — Behandelt auf dieſe 
Weiſe nad) vielen Seiten Hin das Buch ein viel größeres Bereich 
als fonft die „Einleitung“, fo bietet e8 dagegen in einer Beziehung 
weniger. Von dem, was man in der Pegel als „allgemeine Ein» 
leitung“ zufammenfaßt, fällt nur der Heinere Teil in den Zeitraum, 
welchen der Verfaſſer für fein Buch abgrenzte. Die Arbeit ber 
Mafforeten, die Entftehung der nachchriſtlichen Überfegungen fand 
hier Keinen Play. Nicht ohne ſich einer Keinen Inkonſequenz bes 
wußt zu fein (8 29), hat troßdem ber Verfaſſer mit wenigen 
Strichen die fpätere Arbeit zur Figierung des Heiligen Textes ſtizziert 
(8 578ff.) — eine heimliche und beſcheidene Spende dem, man 


82 Reuß 


folfte nicht glauben, dennoch fascinierenden Idole des Einleitungs⸗ 
begriffe® dargebradtt. 

3. Die äußere Anordnung ift diefelbe, welche der Verfaſſer 
für feine Gefchichte des Neuen Teftamentes gewählt hatte: Para« 
graphen mit dazwifchen geftellten Grläuterungen und Litteratur⸗ 
angaben. Der Text jedes Paragraphen reiht fih eng an den des 
vorhergehenden, fo daß zur Wiederfindung des Fadens über die 
Zwiſchenbemerkungen Hinweggefehen werden muß. Die Verarbeitung 
diefer (fofern fie nicht bloß Sitteraturangaben enthalten) mit dem 
Paragrapgenterte wäre vielleicht in mancher Hinſicht wunſchens⸗ 
wert; namentlich bürfte etwa eine ftärfere Beeinflufjung dieſes 
Textes durch die mehr in bie Zwiſchenbemerkungen vermiefene 
Kritit der Geſchichte am Plage gewefen fein. Es ftehen öfters 
dort bie Pofition, Hier die Negation friedlich neben einander, fo 
befonder8 in der „Heldenperiode*. Doc ift bei der befolgen 
Gruppierung ein alles gelehrten Apparates entledigter, durch keinen 
Ballaft des Details befchwerter Text gefchaffen worben, welchen 
glänzendes Darftellungstalent entworfen, künftlerifcher Geſchmack 
in jedem Sage, es ift faum zu viel gefagt, in jedem Worte ges 
ftaltet Hat. Ohne Wortreichtum weiß der Verfaffer viel zu fagen: 
wo er einen Charakter fchildert, fteht er mit wenigen Strichen 
lebensvoll vor uns, nicht wie ein Porträt gerade von Lenbad) 
— dazu find die Konturen zu Hein, die Striche zu zierlich und 
Motive der Umgebung zu ſtark charakterifiert —, eher wie eine 
Figur aus den Meinen Holzſchnitten Menzels, man vergleiche 
3. B. die Art des Joſephusporträts 8 15 mit dem in wenigen 
Linien hingezauberten Voltairekopf auf der „Abendgefellfchaft in 
Sansſouci“; wo er eine landſchaftliche Gegend befchreibt, find wir 
durch einige dharakteriftifche Barben wie durch ein Hildebrandtſches 
Aquarell in die örtliche Stimmung verfegt; wo er ein Dichtunge- 
wert — ich fann nicht ganz allgemein fagen ein Litteraturwerk — 
fchildert, da wählt er wie ein Unger in feinen meifterhaften Nach-⸗ 
bildungen von Gemälden eine jeweils dem Gegenftand entſprechende 
Art der Radierung, fo daß die Strihführung der Schilderung uns 
hineinverfegt in die eigentiimliche Färbung des Originals. Überall 
nicht kalte, gleihmäßige Konturen, fondern der Wechſel in der 


Die Gefchichte der Heiligen Schriften Alten Teſtaments. 8 


Führung des Stiftes läßt die Gegenftände wie gefärbt, belebt er» 
feinen. Ich Habe eine Ausnahme gemacht. An den Propheten 
bes Berfaſſers — bei Jeremia mit feinem elegifchen Tone ftcht es 
anders — bin wenigftens ich unerwärmt vorübergegangen. Michels 
angelo hat aus den Propheten Geftaften gefchaffen, die and nicht 
erwärmen, aber fie find Kolofjal, und wir glauben an ihre Größe; 
diefe Propheten aber von Neuß — ber verehrte Verfaffer molle 
es mir verzeihen — find Mein, Ghobomwiedi-figuren, und mir 
meinerfeits fällt es ſchwer zu glauben, daß vom ihnen Großes aus⸗ 
gegangen. Es ift eben nicht alles zu ſchildern auch dem größten 
Künftler gegeben. Wer mag — damit ih no einmal auf dem⸗ 
felben Gebiete der Bergleichung bleibe und damit ber Verfaffer ans 
der Höhe des Verglichenen erfehe, wie fehr ich ihn auch in feinen, 
ich meine, ſchwächeren Geftaltungen äftimiere — wer mag des 
großen Florentiners Heilige Familie vergleichen mit irgendeiner 
unter den vielen heiligen Familien des Urbinaten? Ich weiß 
unter den Modernen einen nur, ber, obwohl er nichts weniger 
war als ein Künftler mit der Feder, Propheten Hat ſchildern 
tönnen; er wurbe darüber felbft fo unmodern, daß feine Gegenwart 
ihn oft verladit Hat. Unſer verehrter Verfaſſer hat in reichem und 
gefegnetem Leben ſtets den Forderungen der Gegenwart gerecht zu 
werden gewußt. Aber man halte Ewalds Elia und den von Neuß 
einander gegenüber: jenen hat einer gezeichnet, der ihn im @eifte 
ſah; diefer ift durch Reflexion am Schreibpulte kunſtlich gebildet. 
Wo es aber ein gedanfenvolles Dichtungswerk wie Hiob oder ein 
naturfriſches wie das Lied der Lieder zu ſchildern gilt; wo es ſich 
Handelt um die Spruchweisheit bes kernigen bürgerlichen Lebens 
oder au um die melancholiſche Reflexion bes auf die eigene und 
die volfstämliche Blüte zuridfchauenden Skeptikers; wo es ans 
kommt auf die Tendenzen des ben Kultus gründenden ober des ihn 
ansgeftaltenden Geſetzgebers: überall hier — ich zähle fie nicht auf 
die anderen Fälle — Hat das feine, in den Gegenftand fi vers 
fentende Berftänduis des Verfaſſers Mufter der Darftellungskunft 
geſchaffen. Wie die Schilderung der Propheten, fo ſcheint mir auch 
die des heroiſchen Zeitalter8 im allgemeinen nicht auf der gleichen 
Höhe zu ftehen mit der des Judentums im engeren Sinne. Das 


826 Reuß 


Talent des Verfaſſers, meine ich, ift größer für das Genre und das 
Stillfeben als für das Grandiofe und das Bewegte. Er malt nicht 
ibealifierend, aber feinfühlend in dem für den Hiftorifer ziemenden 
Realismus. Die Schilderungen von Kulturzuftänden find in allen 
Perioden reizende Kabinetteftüde (3. B. $ 112f.). Man wolle 
diefe Unterſcheidungen nicht mißverftehen. Einmal beruhen fie auf 
aſthetiſchem Urteile, nicht auf hiſtoriſchem. Ich bin mir deshalb 
des Subjeftivismus derfelben bewußt. Sodann würden fie nicht 
gemacht werben, Handefte es fich hier um ein gelehrtes Opus der 
Art, an die wir gewöhnt find. Aber wir haben es mit dem Kunft- 
werke zu thun eines Meifters der Stiliftit, welchem als ſolchem, 
ich glaube es fagen zu dürfen, unter den Sachgenofjen keiner gleich« 
zuftellen ift. Nur ganz vereinzelt bin ich einer Wendung bes 
gegnet, welche meinem Ohre unſchön klingt, wie ©. 639 „fein 
wollender geſchichtlicher Inhalt“ (des Ariftensbriefes). Wir, 
insbefondere die Theologen, pflegen fonft in Deutſchland zufrieden 
zu fein, wenn ein gelehrtes Werk fo gefchrieben ift, daß man es 
überhaupt verftcht. Es braucht uns diefe Beobachtung nicht allzu 
Teid zu fein; „denn in allen ihren großen Zeiten hatten die Ger» 
manen den Inhalt höher gejhägt als die Form“. Nah der 
Schönheit zu fragen, ſcheint uns auf wiffenfchaftlichem Gebiete 
beinahe unberechtigt. Hier wird die Frage herausgeforbert. Denn 
Neuß macht Anſpruch und darf Anfpruh maden, ein Gelehrter 
nicht nur, fondern ein Schriftfteller zu fein. Er hat in dem Lande 
mit beutfcher und franzöftfcher Bildung gelernt, daß beides verein 
bar ift. Möge Frankreich ihm danken, daß er deutſche Bibel» 
wiffenfchaft dorthin vermittelt hat; wir wollen es ihm unferfeits zu 
Dank anrechnen, daß er uns ehrt, auch die erufte Göttin der Wiſſen⸗ 
ſchaft mit den Zügen der Schönheit, in einem ber Antike abgelanfchten 
Saltenwurfe der Gewandung zu ſchauen. Bon den Franzofen Hat 
ex gelernt; er wird es nicht Teugnen. Auch die leichte Grazie ber 
ſitzt er, welche zu ignorieren verfteht, wo der fehwerfällige Deutfche 
fih an Schwierigkeiten aufhält, bis er darüber zum Stolpern 
tommt. Manches Hemmmis wird leife angedeutet, und vorſichtig 
geht der DVerfaffer um bdasfelbe herum, fo daß wir es kaum be 
merken. Ich glaube, er lacht über die Pebanten, welde um jeden 


Die Geſchichte der heiligen Schriften Alten Teſtaments. 87 


Preis den direften Weg bahnen wollen und für Hinwegräumung 
des Kiefelfteines den gleichen Kraftaufwand einfegen, womit fie den 
Felſen fprengen. An mancher zierlichen und wenn auch beftimmten, 
dod immer Tiebenswürdigen und faſhionabeln Jronie merkt man, 
daß wir nod mit bemfelben es zu thun Haben, weicher vor 
Decennien am 68. Pſalm unferer ganzen Zunft in ihrer Not und 
Kunft ein Denkmal errichtet Hat. Deutſche Lefer, welden das 
franzöfifche Bibelwert von Neuß weniger befannt ift, mögen darauf 
aufmerkfam gemacht werden, daß er dort noch vor kurzem den 
dramaturgifchen Egegeten des Hohenliedes eine ähnliche, mir ſcheint, 
ehr lehrreiche und beherzigenswerte Lektion erteilte. 

4. In den Anmerkungen findet fi eine erſtaunliche Fülle von 
Kitteraturangaben. Der Verfaffer hat damit dem nicht Meinften 
unter feinen Werken, feiner mit befonderer Siebe gefammelten, mit 
ausgezeichneter Umficht geordneten und Iatafogifierten Bibliothek ein 
bleibendes Denkmal gefegt. „Ich eitiere kein Buch und feine 
Differtation, ja nicht einmal einen Artikel aus irgendeiner Zeite 
ſchrift, die ich nicht felbft befige, vielleicht Höchftens mit einem halben 
Dugend Ausnahmen, die nicht zu umgehn waren, und dabei habe 
ih meinen Vorrat durchaus nicht erfhöpft“ (S. xı). Wenige 
Privatleute Deutſchlands werden eine ſolche Bibliothek befigen, wie 
fie in fauberem und gejhmadvollem Gewande ein halbes Stock⸗ 
wert in dem geräumigen Haufe des Verfaſſers füllt. Nicht fo 
leicht wird man, da der Verfaſſer nad) einem ftreng eingehaftenen 
Plane nur auf die Bibelwiſſenſchaft direft oder inbireft fi Bes 
ziehendes gefammelt Hat, irgendwo einen folhen Apparat der Bibel» 
forſchung beifammen finden. Möchte es dem Verfaſſer, der feine 
Schäge mit feltener Liberalität jedem ihrer Bedurftigen erſchließt, 
gefallen, dies Werk eines etwa fünfzigjäßrigen Sammelfleißes uns 
geſchmälert in dieſer Zufammenftellung aud künftigen Gefchlechtern 
feiner Vaterſtadt offen zu erhalten zum nicht geringften Nachruhme 
feines Namens! 

Allerdings ohne mein Augenmerk fpeziell darauf zu richten, 
Habe ich nur an wenigen Punkten Litterariſches vermißt. $ 25 
wäre Riehms Handwörterbuh, 8 67 Ebers „Dur Gofen zum 
Sinai“ zw erwähnen gewejen. Bei Beiprehung der angeblichen 


8 Reuß 


Metrik 8 125 iſt Bickell zu vermiſſen, unter der Litteratur über 
den Salomoniſchen Tempel 8 167 de Vogüe, 8 218 Friedr. 
Delitzſch über die Lage des Paradieſes. 8 224 oder wo ſonſt von 
B. Sacharja die Rede iſt (88 269. 365), habe ih Stades Unter⸗ 
fuchung nicht erwähnt gefunden, 8 250 unter ber Litteratur zu 
Jeſaja Nägelsbach und auch fonft nennenswerte Teile des Langer 
ſchen Bibelwerkes vermißt, ebenfo 8 441 zu Koheleth Delitzſch, 
8 464 zu Daniel Hitzig. Neſtles Artikel $ 420 iſt vom Jahre 
1879 (nit 59). An wenigen Stellen ſcheint mir der Verfaffer, 
une um feine Leſer durch Auftiihung einer Kurtofität zu erheitern, 
Schriften erwähnt zu haben, deren Namen der Würde diefes Wertes 
nicht entipreden, wie © 91 ©. Seyffarths aftronomifche 
Zräumereien. 


u 


1. Der Stoff ift gruppiert nad den vier Perioden der Helden, 
ber Propheten, der Priefter und der Schriftgelehrten. Natürlich 
geht auch für ben Verfaffer eine Wirkſamkeit der Priefter ſchon 
neben derjenigen der Propheten her; aber auch dann, wenn man biefer 
älteren priefterlichen Thätigkeit einen größeren Umfang und ein 
tieferes Eingreifen zufchreibt als der Verfaſſer (Ref. ficht ſich hierzu 
genötigt), find es doch erft ſeit dem Exile (von hier an datiert Reuß 
die „Zeit der Priefter“) die Kohanim, welche dem jübifchen Volt 
ihren Stempel aufbrüden. Umgekehrt ragen die Propheten ihrer 
feits noch Hinüber im die folgende Periode. Wie der Verfaſſer 
feine vier Zeiten verftanden wiſſen will, erfieht man am beiten aus 
biefer Eharakterifierung berfelben: „das Volt als Subjekt, die Offen. 
barung als Mittel, der Kultus als Form, das Geſetz als Ergeb» 
nis: Individualismus, Idealismus, Formalismus, ZTraditionalis- 
mus“ (S. 31). 

Zunächft wird Stammes und Volfögejchichte dargeftellt. Yon 
Litteratur ift, indem verneint wird, daß es ſich um ſolche handle, erft 
von S. 70 an (Mofes, Joſua), pofitiv erft S. 118 (Deboralied) 
die Rede. Der Verfaffer Täßt 8 37 „die femitifchen Völker ihrer 
Sprache nad) mit den indogermanifchen verwandt fein“. Möglich, 
aber nicht erwiefen. Jedesfalls aber wären nicht zum Belege, 


Die Geſchichte ber Heiligen Schriften Alten Teftaments. 829 


was wohl nur der Popularifierung zufiebe gefchehen ift, deut ſche 
Wörter: „Erbe, ſechs, fieben, Horn, halfen“ u. f. w. anzuführen 
gewefen, da bie ariſchen Grundformen ander Tauteten. Im -allges 
meinen tritt das Sprachgeſchichtliche in diefem Buche mit Wiffen 
und Willen des Verfaſſers (S. xı) in den Hintergrund. — Daß 
der Stamm Levi, abgefehen vom Pentatendh, „erft feit David alle 
mählich (denn mit den Fabeln der Chronik laſſen wir uns nicht 
abfpeifen)“ in der Geſchichte „zum Vorſchein kümmt“ (S. 64), 
ſcheint mir mit Rüdfiht auf Richt. 17f. zu viel gefagt; 
doch vgl. ©. 127 („Levit“ Richt. 17f. vielleiht Berufs 
name?). 

Sehr beachtenswert ift das Urteil des Verfaſſers über die 
Wirkfamfeit Moſes, weit pofitiver, als es Heutzutage Mode wird, 
darüber zu urteilen. Ich ftimme durchaus bei und ftelle der 
Wichtigkeit des Gegenftandes wegen eine Reihe charakteriftifcher 
Äußerungen zufammen: ber Verfaſſer findet ſich „ſchlechterdings 
nicht veranlaßt, an der Eriftenz des Mannes Mofe zu zweifeln; 
jedenfalls Tann feine Wirkſamkeit, welche fie nun auch gewefen fein 
mag, nicht eine bloße Fiktion jüngerer Jahrhunderte fein, und die 
fpäter ins helle Licht der Gefchichte tretenden Beftrebungen der Propheten 
weifen ihren Anfängen nah auf einen frühern Zeit- 
punkt, welden wir eben nirgends in der fonft befann» 
ten nahmofaifchen Periode aufzufinden vermögen“ 
(S. 69). „Mofe wurde für alle Zeiten der Geſetzgeber Israels; 
für uns nicht in dem Sinne, daß feine Hand niedergejchrieben 
hätte, was wir jegt noch in dem heiligen Lehr. und Rechtsbuch des 
Volkes beifammen leſen können, auch nicht in dem andern, daß 
von ihm menigftend mündlich alles fo angeordnet und bis ins 
Heinfte herab beftimmt worden wäre, was feine Nachfolger zulegt 
fammelten und aufzeichneten . .. Aber fein Geift, darin eben als 
ein göttlicher ſich erweifend, beherrfchte das Urteil ber Jahrhunderte 
und drückte der nationalen Entwicelung Stempel und Richtung auf“ 
(S. 70). „Ihm gehörte zweifelsohne die Regel und 
Ordnung des Gottesdienftes, wie fie nahmals in 
Israel beftand, wenigſtens ihren Grundzügen nach, ober genauer 
gefagt, die engere Beziehung meift uralter Heiliger Gebräuche, zu 


80 Reuß 


welchen vielleicht auch die Beſchneidung zu rechnen iſt, zu den beſſern 
religiöfen Ideen“ (S. 80). „... möglich bleibt, daß fein Einfluß auf 
eine beffere und feftere Geftaltung des gefellfchaftlichen Rechtsherkom- 
mens fic erftredt Hat, wäre es auch nur durch gelegentlich eingehofte 
Entſcheidungen einzelner Fälle, welche dann auch für ähnliche gelten 
konnten. Und daß bie alfo gegründete bürgerliche Ordnung eine 
fittfihe Grundlage Hatte... ., die Liegt für das fpäter gefchriebene 
Gefeg fo Har am Tage, daß der Trieb dazu füglich ſchon an ben 
Anfang gerückt werden mag" (S. 82). „Sei es num viel oder 
wenig, was durch Mofen eingeführt und gefördert wurde, jeben- 
falls haben wir uns fein Wirken als das eines Propheten zu 
denken, eined Mannes, der in der Kraft des göttlichen Geiftes, die 
in ihm war und aus ihm fprad, und als folder anerkannt, in 
lebendigem Verkehr mit den Zeit- und Volksgenoſſen ftand, wie 
und wo fein Wort fie erreichen konnte“ (S. 87). — Man ficht 
ſchon aus biefen Anführungen, das Bild des Mofes ift Hier mit 
viel beftimmteren Umrifjen gezeichnet, die ſpezifiſch aftteftamentliche 
Neligion und ihr Kultus ift Bier viel ſicherer durch Moſes ver- 
mittelt gedacht als 3. B. bei Kuenen. Nicht erft die Propheten 
des achten oder auch des neunten Yahrhunderts haben demnach, 
wie man neuerdings vielfah annimmt, dem israelitifchen Volke 
feinen eigentiimlichen religiöfen Stempel aufgedrüdt. Ich ftimme 
dem Verfaffer durchaus bei, und kann ohne eine ſolche Moſaiſche 
Grundlage weder die altteftamentliche Anſchauung von den Anfängen 
der israelitiſchen Religion noch das Auftreten eines Amos und 
Hofen begreifen. Hat mit Mofes eine feftere und genauere Ordnung 
des Kultus begonnen, jo wird die Arbeit feiner weiteren Ausgejtaltung 
von da an nicht geruht haben. Wir Haben alfo anzunehmen eine 
neben der prophetifchen Thätigkeit Hergehende wie eine ihr voraus⸗, 
gehende Ausbildung der Gottesbienftordnung; jene fand naturgemäß 
bei der Priefterfchaft igre Pflege. Neuß bemerkt dies ausdrücklich: 
„Daß ... das Beſtehn einer levitifchen Tradition inbetreff der 
Ritualien, ſchon in der Konigszeit nicht geleugnet werden ſoll, 
verſteht ſich von ſelbſt; nur von einem ſchriftlichen, offiziellen, 
heiligen Coder dieſer Art Tann keine Rede fein" (S. 76). Bon 
einem „offiziellen“, d. h. für das ganze Volk bindenden, Coder ber 


Die Gefhichte der heiligen Schriften Alten Teſtaments. 88 


Nitualien vor Esra gewiß nicht. Aber follte von Mofes bis 
auf Esra die Reife der Jahrhunderte hindurch, in welchen 
der Kultus aus dem wandernden Dralelzelte des Nomadenvoltes 
einzog in die feften Gotteshäufer von Siloh, Bethel, Dan und 
hernach im jerufolemifchen Tempel ein mit befonderem Pompe 
ausgeftattetes Tönigliches Heiligtum fand, — follte in alt diefer Zeit 
nur die Trabition des „Mofaifcden“ die Kluft überbrücken zwiſchen 
Mofes und Esra? ES will mir, die Sache ganz allgemein anger 
fehen, ohne Ruckſicht auf die Beſchaffenheit des pentateuchifchen 
Prieſtercoder, ſchwerlich denkbar erfcheinen, daß nicht ſchon die große 
und mächtige (man denke ſchon an Jojada) BPriefterichaft des 
Salomonifhen Tempels den Verſuch der Fixierung ihrer Kultus» 
vorfchriften gemacht Haben follte, und daß nicht Beftandteile ſolcher 
voregilifher Sammlungen in dem von Esra veröffentlichten Rituale 
gefege erhalten fein ſollten. Bundesbuch und Deuteronomium find 
folhe Fixierungen nicht; denn die Außerlichteiten des Kultus find in 
ihnen Nebenſache. — ber, ich weife noch einmal darauf Hin, Neuß 
fteht in einem fehr bedentſamen Gegenfage zu denjenigen, welche 
feine Pentateuch · Hypotheſe aufgenommen und fortgeführt haben. 
Anders als bei Kuenen, Wellhanfen und vielen neueren handelt es 
fi bei ihm mehr um eine litteratwrgefcichtliche Frage. Seine 
Darftelfung der Kultus geſchichte fteht der älteren bedeutend näher. 
Ich meinerfeits Tann nicht umhin, im dieſem Hiftorifchen Urteile, 
wie auch anderwärts in der befonnenen Zurütdhaltung des Verfaſſers, 
gefunderen Geſchichtsfinn zu erkennen als bei der Mehrzahl der 
jüngeren altteftamentlichen Kritiler. Dieſen Eharakterzug des Buches 
begrüße ich mit befonderer Freude. 

Die Abfaffung des Liedes Richt. Rap. 5 durch Debora felbft 
bat, entgegen der Bemerkung ©. 119, fon Wellhaufen (Bleek, 
4. Aufl.) in Abrede geftellt. Seine mit Reuß vielfach zufammens 
treffenden Argumente find durchaus überzeugend. 

2. Die „Zeit der Propheten“ wird vom Königtum Davids an 
datiert, wofür offenbar die Anfchauung maßgebend war, daß ber 
mächtige Gottesmann Samuel, eine neue Periode einleitend, doc 
feiner eigenen Perfon nach mehr noch ber älteren angehört. — 
Die Berneinung der Davidiſchen Abfafjung von Pf. 18 (S. 186) 


832 Reuß 


bebürfte irgendwelcher Begründung (doch vgl. ©. 348). — Die 
Behauptung ©. 196, da8 Innere des Salomoniſchen Tempels 
fei „den Ungeweihten unzugänglich“ gewefen, überträgt auffallender- 
weife Vorſchriften für die Stiftshütte des Prieftercoder auf bie 
Salomonifche Zeit. — „Darftellung der Gottheit" (S. 196) 
waren die Cherubsfiguren bes Tempels nicht, auch nicht aus folder 
Darftellung entftanden. — Die Anfegung des Jalkobſegens in die 
Salomonifhe Zeit (S. 200.) ſcheint mir denfelben zu tief hinab⸗ 
zurüden wegen bes über Levi Gefagten, auch mohl wegen des 
doch wahrſcheinlich als Haupikultusort gedachten Siloh („fo Tange 
man fommt nad Siloh*?). — Das ohne Zweifel ältefte der 
uns erhaltenen Gefegbücher, da8 Bundesbuch „Er. 21,1 — 23, 13“ 
Hält Neuß vermutungsweife für das unter Joſaphat „promul« 
gierte Zandreht“ (2 Ehr. 17, 7ff., ©. 231). Es ift aber faum 
zu verfennen, daß auch Er. 20, 22ff. zum Bundesbuche gehörte 
(S. 232). Sollte nun nit in einem vom jubäifhen Könige 
ausgegangenen Geſetzbuche, anders als es bier gejchieht, irgendwie 
ein Vorrang des jerufalemifhen Tempels vor den anderen Heilige 
tümern zu erwarten fein? her ſcheint mir das Bundesbuch 
älter zu fein. 

ALS ältefter Prophet wird Joel angefegt, als Zeitgenofje des 
Joas von Juda. Doch gefchieht es „nicht mit voller Überzeugung“. 
Unter allen anderen Anfegungen fcheint dem Verfaſſer allein die 
entgegengefeßte in Betracht zu kommen, welche dem Joel unter den 
Propheten die legte Stelle anweift (S. 243). Ich teile durchaus 
den Standpunkt des Verfafjers in feinem Schwanfen wie in feinem 
Endurteil; die beftehenden Schwierigkeiten und das den Ausichlag 
Gebende feinen mir von demfelben richtig und präcife formuliert 
zu fein. „Ich geftehe, daß für mic) von jeher der ſchwerwiegendſte 
Grund gegen ein höheres Alter in der Maren, Leichtverftändlichen, 
fliegenden Sprache lag, wie ich mir biefelbe bei einem Vorgänger 
von Amos und Hofea nicht wohl denken konnte. Und ich möchte 
denfelben auch jet noch in die Wagſchale werfen, obgleich die 
gegnerifche Kritit darauf zu verzichten fcheint“ (&. 244). Ferner 
ſcheint bebeutfam für fpäte Zeit: „Won Ephraim ift feine Spur 
mehr; die Juden find bereits in ale Welt zerftreut; fie haben einen 





Die Gefchichte ber Heifigen Schriften Alten Teftaments. 838 


König, nur noch Ültefte; Stadt und Tempel exiftieren, aber nur 
inmitten eine ganz Heinen Gebietes, in deffen Grenzen man es 
überall Hört, wenn zu Serufalem die Trompete geblafen wird. 
Der Kultus ift da die Hauptfache, und dabei wird am meiften auf 
das Faften gehalten. Namentlich aber werden dem Volke keine ber 
fonderen Vorwürfe gemacht; von Götzendienſt, von den Höhen, wie doch 
zu Amos’ und Hoſeas Zeit ift nicht die Rede“ (S. 245f.). Ente 
ſcheidend iſt trog alledem für den Verfaſſer das anfceinende 
Abhängigfeitverhältnis de6 Amos (S. 244) und namentlich die 
Schilderung der Völkerwelt bei Joel, der Umftand, „daß er als 
Feinde Judas, über melde Jahweh Gericht halten will, nur 
Edomiter, Ägypter, Bhilifter und Phönizier nennt, ausdruͤcklich 
die beiden letzten als Sflavenhändler: nicht aber Syrer und 
Affigrer“. Die Erwähnung Jawans macht keine Schwierigkeiten 
(©. 245). 

Den Jehowiſten (Jahwiſten) fest Reuß an in der Blütezeit der 
Nimfiden. Daß ©. 250 Deut. 33 in der Eharakteriftit desſelben 
verwertet wird, ift doch wohl ein Verfehen, obgleih nah S. 254 
Deut. 33 dem Jehowiſten „ungefähr gleichzeitig“ iſt. — Sehr 
ſchwankend, mir ſcheint, etwas dürftig, ift $ 215 die Darftellung 
des Verhältnifjes vom fogen. zweiten Elohiften zum Jehowiſten aus» 
gefallen. Reuß ift nicht für die Ergänzungshhpothefe; über das 
Altersverhältnis entſcheidet er fi nicht. Wenn aljo nah ©. 75 
Nöldefe u. a. „beiviefen“ Haben, daß der „fogen. zweite Elohift 
älter war als der Jehowiſt“, fo fcheint dies nur aus dem Sinne 
jener Kritiker gerebet zu fein. Die nicht der priefterlichen Schrift 
angehörenden Beftandteile der Urgeſchichte vor Gen. Kap. 12 
find nad Reuß wie nad) Wellhaufen (der Hier wohl zu nennen ge⸗ 
wefen wäre) nicht oder doch nur teilweife jehowiſtiſch (S. 255). 
Jedesfalls ift auch nach Neuß anderen Urfprungs Kap. 2, 4b bis 
3, 24. Wellhaufen fheint mir dies bewiefen zu Haben. Ob fi 
nicht aber Neuß darin tert, daß diefer Mythos oder nad Reuß 
vielmehr diefe Allegorie eine Schöpfungsgefchichte und bie Er⸗ 
zählung eines einmaligen Sundenfalles gar nicht. fein wolle und 
erft von einem Redaktor im diefer Weife mißverftanden wurde 
(©. 2575)? 

Theol. Stud. Yabrg. 1888. 54 


[3 Reuß 


Iſt nicht Joel der Ültefte umter den in Schriften erhaftenem 
Propheten, fo iſt es Amos; darüber befteht (von Obadja darf 
mar, meine ih, abfehen) Feine Frage. Nicht fo allgemein wird 
anerlannt werden, daß bes Amos Buch „nieht darnach ausſteht, als 
od ihm nichts Ahnliches vorausgegangen wäre“. Mir ſcheint diefe 
Beobachtung jehr richtig und fehr beachtenswert: „Gleich das erfte 
Blatt beruft fich auf frühere Weisfegungen, und überhaupt jegt das 
Ganze eine bereits gangbare Ideenreihe voraus, die meber dem 
Scehriftſteller noch feinem Publikum neu war. Schon feine Er⸗ 
Kärung, ex fei weder ein Prophet noch Prophetenſchuler, würde 
genigen, jene Vorſtellung abzumeifen‘ (&. 268). — Daß Ra 
auch durdy Wellhauſen (Bleck, 4. Aufl.) von dem Reallsmus ber Ehe 
bes Hofen fich nicht hat überzeugen laſſen (S. 264 f.), befrembet mich. 
Es ift nur konfequent, daß der Berfafler geneigt tft, auch bie Kinder 
de8 Jeſaja für Symbole zu nehmen (S. 308). Wie dies nament- 
lich für Schearjafhub möglich fein ſoll, fehe ih nicht ein. — Der 
Autor von Sad. Kap. 9—11 iſt nad Reuß gleichzeitig mit Hoſea 
(S. 266). Stabes Gegengrunde feinen Überfehen werben zu fein. 
Ich meinerfeite ftimme trotz derſelben dem Urteife von Reuß bei, 
daß Kap. 9—11 der Zeit angehören, „wo noch beibe Druchteile ber 
Nation neben einander beftanden, mit ihren Königen und Göttern, 
wie mit eitlen Hoffnungen auf fiegreiche Bergeltungslriege“ (©. 
266). Der WMbfchnitt Sad. Kap. 12—14 gehört nah Reuß 
bielleicht* der Zeit des Manaſſe an, jedesfalls der Zeit nad 
Ephraims und vor Judas Untergang (S. 832ff.).. Ich vermag 
noch jest 12, 11 nur vom Tode Joſias zu verftehen. 

Am wenigften begreifli unter den litteraturgeſchichtlichen Urteilen 
von Reuß ift mir das über Buch Muth gefälle (S. 292ff.). 
welches, gleichzeitig etwa mit Hiob, in Die Zeit des Jeſaja verlegt 
wird, kurz nad dem Wolle Ephraims. Es fell eine politifche 
Tendenzſchrift fein, indem es ben im Lande gebliebenen Meft Ephtaims 
auffordert, fich dem judäiſchen Reich anzufchliegen. Der Schu 
des Boas iſt von jeinem Vater her Judäer, aber, als von Neomi 
aboptiert, Ephraimit. Ephratim nämlich (1, 2) bezeichnet nicht die 
Männer von Beigfehem Ephrata, fondern die Gphraimiten, „fei es 
nun daß wirklich zu Bethlehem ſolche (Ephraimiten) angefiedelt 


Die Geſchichte der heiligen Schriften Alten Teſtaments. = 


waren, oder daß mit dem Ramen &frata gefpielt wird" (©. 297). 
Alfe die Rachtommen bed Bons, die Davididen find Erben Ephraims 
von Noomi her. Reuß zeigt in feiner Perſon, dag es moglich ift, 
die Erzählung fo zu verftehen. Ob aber der Autor des Büchleins 
anf allgemeines Verftändnis einer folchen Allegorie rechnen Sonnte, 
fo daß er feinen Zweck irgendwie erreicht Hätte? Ich Tann nur 
die eine Tendenz in dem Buche erfennen, den König David zu 
verherrlichen durch die Erzähfung von feiner Ahmmutter. — Nicht 
mit voller Sicherheit wird in die Zeit der Endkataftrophe Ephraims 
aud das Samuelbuch verlegt (S. 298 ff.) mit Ausnahme der vier 
letzten Kapitel, welche deutlich ein fpäterer Anhang find (S. 303). 
Es mtgeht dem Berfaffer nicht, daß das Bud in feiner vorliegen« 
den Geftalt mit dem Konigsbuche zufammengeasbeitet ift und daß 
die Redaktion des letzteren erft in bie exilifhe Zeit fällt. Ich 
dezweifle die Berechtigung, vor dieſer Zufammenarbeitung das 
Samuelbuch als ein Ganzes vorauszufegen. Wellhauſen, deffen 
Kritit diefes Buches (Bleek, 4. Aufl.) ich in ihren Grundzügen zu dem 
Überzeugenbdften rechne, was er gefchrieben, ſcheint mir beffen Ent» 
ſtehung aus drei gefonderten Büchern, einer Geſchichte Sauls und 
zweler verfchiedener Geſchichten Davids nachgemiefen zu Haben. Nichts 
weiſt darauf Hin, daß diefe drei Elemente von einer früheren Hand 
verbunden wurden als derjenigen, welche die Fortſetzung der Königs⸗ 
geſchichte Hinzufügte. Daß die Medaktion des Samuelbuches als 
eines Ganzen „vordeuteronomiſch“ fel (&. 299), wird irvig daraus 
gefolgert, daß der Gedanke der Rultuszentralifation fehlt. Auch der 
deuteronomiftifche Redaktor des Konigsbuches laßt diefen erft mit 
dem Baue des Salomonifchen Tempels prattiich werden (1 Kon. 
3, 2). Stlliſtiſch unklar if S. 203 1. A., dieſem zweiten Buche“. 
Wolches? 

Nach der Beſprechung ber Propheten Jeſaja und Micha, für 
deſſen Integrität Reuß eintritt (S. 318ff.), wirft der Verfaſſer 
einen Rudblick auf die Theologie der Propheten (S. 315ff.). 
Sehr beherzigenswert gegenüber der mobernen Liebhaberei fir Lehre 
begriffe der einzelnen Propheten ift die Erklärung: „Wir find 
überzeugt, daß die weſentlichen Elemente der prophetifchen Gefamt« 
anfhanung älter find als unfere älteften Zeugen“ (S. 316). Es 

. dae 


836 Reuß 


ſcheint mir dies ſehr richtig. Dennoch aber will mich bedünken, als 
habe Reuß den Einfluß der uns noch vorliegenden Propheten nicht 
eingreifend genug dargeftellt. Auch die Predigt Jeſu bot, von 
feinem perfönlichen Verhältnifje zum Gottesreiche abgefehen, nicht 
abfolut Neues, und dennoch war fie als Ganzes ein Neues. In 
geringerem Maße wird basjelbe von der Predigt der Propheten 
gelten. Es geht dies hervor aus einer Vergleichung derjelben mit 
dem, was wir aus den Hiftorifhen Schriften als früheren Volls⸗ 
glauben refonftruieren können, wie mit dem, was wir aus den 
Proppetenfchriften felbft als die zeitgenöffifche Anſchauung erfehen. 
Sogar die Wende, welche mit ber Predigt des Jeremia beginnt 
— Reuß nennt ihn mit Recht den größten unter den Propheten —, 
ſcheint mir vom Verfaffer nicht genugfam hervorgehoben zu fein. 
Iſt Hier bei Neuß ein Mangel zu finden, fo hängt er damit zu⸗ 
fammen, daß derfelbe die Propheten zu fehr als Schriftfteller, zu 
wenig als Prediger denft. Natürlich meine auch ich, daß manches 
Prophetenwort nicht in der uns vorliegenden Form Tann geredet 
worden fein und daß mandes, namentlich bei den fpäteren Pro» 
pheten, von Anfang an nur ſchriftlich exiftiert hat. Es Handelt 
fi nur um ein Mehr oder Weniger. — Unfer hiſtoriſches Urteil 
über des Verfaſſers Prophetengeftalten fteht in engem Konnex mit 
dem äjthetifchen, welches ich mir erlaubte. 

Das Richterbuch, von Einleitung und Anhängen abzufehen, alfo 
2, 6—16. 31 ift nad) dem Verfaſſer jünger als das Samuelbuch, 
aber ebenfalls noch vordeuteronomiih (S. 339). Sollte wirklich 
gleich der Anfang 2, 6ff., der fih fo ganz in beuteronomifchen 
Wendungen bewegt, der vorjofianiſchen Zeit angehören? Ich kann 
mic mit vielen anderen dem Eindrude nicht entziehen, daß bie 
Redaktion wie von Buch Joſua und Konigsbuch (fo auch Neuß), 
ebenfo nicht minder die des Nichter- und des Samuelbuches in 
Abhängigkeit ftand vom Deuteronomium. S. 342 hat der Verfaffer 
den Anhang Richter Kap. 17f. zu fpät angefegt, überfehend, daß 
18, 30 eine Gloſſe ift (Wellhaufen). 

Zu den beſonders beachtenswerten Partien rechne ich die über 
das Deuteronomium (S. 340 ff.). Neuß ficht richtig, daß das⸗ 
felbe nicht ein Werk der jeruſalemiſchen Priefterfchaft zur Zeit 


Die Geſchichte der Heiligen Schriften Alten Teſtaments. 837 


des Joſia iſt; denn die deu Zadokiden unbequeme Gleichſtellung 
der Sandpriefter, welche das Deuteronomium fordert, wurde nad) 
2 Kön. 23, 9 in der Reform des Joſia nicht durchgeführt, ohne 
Zweifel unter dem Einfluffe der Tempelprieſterſchaft. Vielmehr 
find „die Propheten die eigentlichen Verfaſſer der deuteronomifchen 
Geſetzgebung“ (S. 350). Das neugefundene Buch war weniger 
ein Gefe als ein „Lehrbuch für das Bolt, ein Katechismus der 
Religion und Moral aus der Schule der Propheten“ (S. 359). 
Diefe im Gegenfag zu vielen neueren Darftellungen ftehende An« 
ſchauung ift fehr wichtig. Es iſt Hiernah annchmbar, daß zur 
gleichen Zeit wie das Deuteronomium oder ſchon früher in den 
Kreifen der jerufalemifchen Priefterfhaft Kultusordnungen entftan« 
den, welche von ber des Deuteronomiumsd weſentlich verſchieden 
waren. Dabei wäre nicht auffällig, wenn diefe jerufalemifchen 
Ritualienſammlungen einen ausgebildeteren Opferdienft vorausfegten 
als das Deuteronomium. — Man wende nicht ein, daß der jeru⸗ 
ſalemiſche Oberpriefter Hilkia es war, welcher das deuteronomiſche 
Geſetz ans Licht zog. Er mochte dasſelbe bona fide als das 
Mofaifche Geſetz begrüßen, obwohl bie Beftimmungen desjelben den 
Tendenzen feiner Kafte nur in dem einen Punkte der Kultus⸗ 
zentralifation entfprachen. Wer weiß überdies, ob nicht etwa Hilfe 
über jene Tendenzen erhaben war? Der Erfolg zeigt, daß das 
den Zadokiden Unbequeme des Geſetzes ohne Schwierigkeit zu 
ignorieren war. Demnach giebt and) Reuß zu: „Es iſt neuerdings 
die Vorftellung empfohlen worden, daß die fogen. elohiſtiſche .. . 
Geſetzgebung, trog ihrer Verfchiedenheit von der deuteronomifchen, 
nicht notwendig als eine jüngere zu betrachten ſei; fie Könnte ja 
mit: letzterer gleichzeitig entftanden und parallel gegangen fein. 
Wenn damit gefagt werden will, daß bereits in vorerilifcher Zeit 
die Priefter zu Jeruſalem eine mehr oder weniger fefte Kultord⸗ 
nung befolgten, fo könnten wir dies füglich gelten laſſen“ (S. 365). 
Wenn Neuß Hinzufügt: „Aber dabei an einen offiziell redigierten 
Codex zu denken, von dem etwa gar bie Verfafjer des Deutero« 
nomiums nichts gewußt hätten und vice versa, da® geht nicht 
wohl an“, fo liegen die Gründe für diefe Einſchränkung in feiner 
Beurteilung ber elohiftifchen Gefeggebung an und für fih und in 


838 Reuß 


ihrem Verhaltniſſe zu Ezechiel. An einen „offiziell redigierten 
ober“ denfen auch wir nicht; denn das Deiteronomsum ift zur 
Zeit des Joſia das Geſetz Mofes! Nicht ausgeſchloſſen aber 
Halte ich eine andersartige in jeruſalemiſchen Priefterfreifen kurſierende 
Vizierung der am Tempel bereits beftehenden ober doch von deſſen 
Briefterfcaft gewünfchten Kultusorduung. Daß man nicht fie an- 
ftatt des Deuteronomiums als Moſaiſches Geſetz an das Licht 
treten ließ, Konnte fehr einfach darin begründet fein, daß die Urs 
fprünge jenes prieſterlichen Geſetzes damals nor zu Kar am 
Tage lagen. Daß die elohiftifge Geſetzgebung nicht erſt erilifch 
oder nachexiliſch ift, ſchließen wir zunädft aus der Art, wie dies 
felbe mit dem Denteronomium und mit dem jeowiftifchen Buche 
verbunden ift. Wie feltfam wäre es doch, wenn ber offenbar dem 
Deuteronomium zeitlich nicht zu ferne ftehende (nah Neuß noch 
vor dem Exile arbeitende) Medaktor des deuteronomiſchen Gejeges 
(ih) denke aus mehrfachen Gründen cher das Exil als feine Zeit) 
dasfelbe nur mit dem jehowiftifchen Buche verbunden hätte in der 
Weife, daß er das vom Horeb ergangene Gejeg nicht dem Be- 
richte vom Wüftenzuge einverleibte, fondern als eine Abſchiedsrede 
an das Ende des Lebens Mofes fiellte (©. 383f.). Reuß ber 
merkt: „Daß das ältere aus Joſijas Zeit ſtammende Geſetzbuch 
bei der legten Auordnung Hinter das jüngere des Esra ſelohiſtiſches 
Geſetz gericht wurde, erflärt fich ganz einfach aus dem Umftande, 
daß es den Schauplag in die Nachbarſchaft Kanaans und ans 
Ende des Sehens Moſes verkegt, und nicht an den Sinai“ (©. 477). 
Ganz einfah? Aber die Frage ift, weshalb der Deuteronomiler 
ober vielmehr nicht diefer, fondern der Medaktor des Denterono« 
miums dem Joſianiſchen Gefege jene zeitliche und Lokale Stellung 
in der Mofesgefcichte auwies. Darauf giebt Reuß feine Antwort, 
Diefe Stellung vermag ich nur daraus zu erklären, daß ſchon für 
den deuteronomiftifchen Redaktor das Deuteronomium als eine 
Relapitulation der eigentlichen Geſetzgebung erfchien, daß alfo ſchon 
igm ein anderer Eober vorlag. Das Heine Bundesbuc kann ihm 
unmöglich als das eigentliche Sinaigefeg gegolten Haben; als Re- 
fapitulation der Gejeßgebung läßt fi das Deuteronomium nur 
werten dem großen elohiftifchen Geſetze gegenüber. An dasjenige 


Die Geſchichte der heiligen Schriften Alten Teftamente. =” 


Geſetzbuch, welchem Leo. Kap. 17—26 angehörte, können wir wicht 
benfen, als ob diefes für den bdeuteronomiftifhen Redaltor dns 
eigentliche (zuerft verkündete) Geſetz des Sinai oder Horeb geweſen 
wäre, da fich feine Spar einer deuteronomiftiichen oder auch jeho⸗ 
wiftifchen Redaktion biefed Codex findet. Mir wenigſtens ſcheint 
(anders als Dillmann), daß uns dasfelbe nur im elohiftifcher Über- 
‚arbeitung (verbunden mit dem Prieftercader) vorliegt. 

Das für die Zeitbeftimmung des Nahum (Neuß ſtellt ihn 
weben Jeremia und ben Deuteronomiter) wichtige Datum des 
Untergangs No-Amons (Theben), ift nicht fo ganz unbezeugt, wie 
Neuß (S. 369) annimmt Nach aſſhriſcher Angabe wäre dasſelbe 
atıon das Jahr 663 (Schrader, 8. U. T., 2. Aufl, ©. 449ff.). 

3. Mit ber Redaktion des Deuterenomiums und (der älteren [?] 
desteronomiftifchen) bes Buches Joſua ſchließt die „Zeit der Pro⸗ 
Pheten“. Klagelieder und Ezechiel leiten die „Zeit Ser Priefter“ 
ein. Dafür, dag Ezechiel die Brücke bilde vom Deuteronomium 
zum Prieftercoder al dem jüngeren, ift auch für Reuß wie fir 
Graf, Ruenen u. a. ein Hauptargument die vermeintliche Beobachtung, 
daß Ezechiel den Unterfchied zwifchen Prieftern und Leiten erft 
ſchaffe (S. 416). Es iſt dies ber eigentliche Angelpunft der 
Reußſchen Hypotheſe. Aber Ezechiel ftellt nicht im mindeften im 
Abrede, daß am jermfalemifchen Tempel eine Unterjdeidung von 
eigentlichen Prieſtern (Zadoliden) und Tempeldienern beftand, wobei 
naturlich abzufehen ift von den deutlich erwähnten Tempelſklaven. 
Die nichtezadekidifcgen Leviten, welche nach Ezechiel früher Priefter 
waren, nad) feinen Gefetze aber nicht mehr fein follen, find (das 
ift allgemein anerkannt) bie früheren Höhenpriefter, welche auf 
Grund des Deuteronomiums eine Zulaſſung zu dein jerufalemäfchen 
Kultus beanfprugen konnten. Wenn diefe „Leviten“ nicht mehr 
Priefter fein ſollen, fo ſchließt das doch nicht aus, daß ſchon vor« 
ber am jeruſalemiſchen Tempel nur eine beftimmte Familie feiner 
Zeviten des eigentlichen Priefteramtes gewaltet hatte. Die „Les 
viten“ des Prieftercoder find die Sänger und XThorhüter des 
Tempels, melde nach Buch Esra und Nehemia aus dem Exil 
zurücklehrten, alfo fchon vorher beſtauden. Es ift deutlich; denn 
das Sangergeſchlecht der Korachiden gehbrt zu ben „Leviten‘ des 


80 Reuß 


Vrieſtercoder, ſteht in nahem verwandiſchaftlichem Verhältniſſe zu 
der eigentlichen Prieſterſchaft und hadert noch mit dieſer um die 
Gleichberechtigung. Die von Ezechiel zu „Leviten“ degradierten 
find, meine ih, eine neue Größe, von welder der Prieſtercodex 
gar nicht vedet, weil fie zu feiner Zeit für dem jerufalemifchen 
Kultus nicht in Betracht kam. 

Nach Ezechiel, Haggai und Saharja fegt Neuß den Obadja 

an (S. 448ff.); mir fheint, zu fpät, da der Haß gegen die 
Helfer am Werfe ber Zerftörung Jeruſalems noch fo lebendig ift. 
Ganz Har finde ich die für die Meine Schrift gegebene Kritik nicht. 
Wenn die Parallelftelle bei Jeremia „lüdenhaft erſcheint, faft wie 
ein Excerpt“ (©. 450), fo follte man doch meinen, Jeremia habe 
Obadja 1—8 vor ſich gehabt. Dennoch ift dies nach Neuß nicht 
der Fall, fondern „Obadjas Schrift nichts weiter als eine Kom⸗ 
pilation“ (©. 451), aud aus Jeremia. Mir fcheint für V. 18 
die Annahme einer (dem Jeremia und Obadja vorliegenden) älteren 
Quelle notwendig. 
Als Mittelglied zwiſchen Ezechiel und Esra wird das Meine 
Geſetzbuch Leo. Kap. 17— 26 gewertet (S. 452). Dabei ver- 
ftehe ich nicht die Argumentation, daß es älter als Ezechiel deshalb 
nicht fein Tönne, weil es demfelben unbefannt geblieben oder von 
ihm nicht beachtet worden wäre, obgleich ihm fo vielfah verwandt 
(S. 454). Wenn auch Ezechiel auf ein ihm vorliegendes Kultus 
geſetz fich nicht beruft, fo feheint mir doch nichts der Annahme 
im Wege zu ftehen, daß er ein ſolches kannte und benügte. Dill» 
manns Beweisführung für vordeuteronomifchen Urfprung des Grund« 
ftodes von Len. Kap. 17—26 hat mich überzeugt. Iſt auch der 
Prieſtercoder in feinen Grundbeftandteilen vorsezehielifch, fo ſcheint 
doch noch Ezechiel das Geſetzbuch, welchem Lev. Kap. 17—26 
angehörte, in feiner DBefonderung gekannt zu Haben. 

Mit Esra find wir endlich an dem Zeitpunft angelangt, wo 
nah Neuß das von den erften Blättern diefer Litteraturgefchichte 
om negativerweife befprochene große Kultusgeſetz in Sicht tritt 
(S. 460ff.), nit in die Vollendung; denn fehr beftimmt und 
von Wellhaufen weſentlich ſich unterfcheidend, dent Neuß zu Esras 
Zeit nur die Anfänge diefer Gefeßgebung entftanden. Die fichere 


Die Geſchichte der Heiligen Schriften Alten Teftaments. 31 


Parallele, welche nach Wellhauſen die Verlefuug des Gefeges unter 
Nehemia und Esra mit der unter Joſia bieten foll zur Fixieruug 
der Entftehungsgeit des Prieftercoder, wird alfo doch einigermaßen 
wieder unficher. Bon dem abzufehen, was Neuß für fpätere Zeiten 
referviert (S. 387), behält meines Erachtens die hier gegebene Dar⸗ 
ftelflung von der Entftehung des Prieftercoder unter Esra etwas Un⸗ 
befriedigende. Nachdem wir vom Anfang des Buches an Polemik 
gelefen gegen andere Anfegungen dieſes Eoder, erwarten wir nun 
den pofitiven Beweis, dag nur und ganz zu Esras Zeit die viel⸗ 
befprochene Größe paßt. Dies Pofitive ift verhältnismäßig kärg⸗ 
lich behandelt, und Referent muß geftehen, daß er ſich nicht ganz 
ohne Verwunderung unvermutet am Ende ber lange vorbereiteten 
Bentateuchfrage ſah. Ich weiß nicht, ob auch Lefer fo urteilen 
werben, welche die kritiſchen Anfchauungen des Verfaſſers in weiterem 
Umfange teifen. Ich meinerfeits Tonftatiere jenes Vermiffen dank⸗ 
barft. In der That fcheint mir die Zeit des Esra fehr wenig 
darnach auszuſehen, als ob fie den Prieftercoder erzeugt hätte. 
As Volksgeſttzbuch ift er damals zuerft proflamiert worden, das 
unterliegt feinem Zweifel. Dieje Veröffentlichung wird nicht ger 
gehen fein ohne vorhergehende Reviſion, welche einzelne oder auch 
manche Zufäge nötig finden mochte. „Der Prieftercoder ift eine 
Sammlung von Gefegen verfchiedenen Urſprungs“ (S. 463), — 
wir zweifeln nit daran. Es ift damit die Berechtigung gegeben, 
trog unſeres Zugeftändniffes an die moderne Anſchauung don 
Esras Verhältniffe zum Prieftercoder nach älteren Beftandteilen 
desfelben zu ſuchen. Die Darftellung der BPriefterverhältnife 
— alfo da8 eigentliche Gerüft des Prieftercoder — rechnen wir 
dahin. Die beiden Klafjen der Priefter und Geviten im Gefege 
paſſen fchlecht fir eine Zeit, welche neben den Prieftern drei ober 
zwei Rategorieen des QTempelperfonals Tannte: Leiten und, (von 
ihnen verfchieden) als- eigentliche QTempeldiener, Sänger und Thors 
hüter. Die angeblich nur den Zadokiden entgegenkommende Aus-⸗ 
erwählung der Aaroniden wäre ſehr unvorfichtig gewefen zu einer 
Zeit, wo das nichtzabofidifche, aber nach dem Prieftercoder aaroni⸗ 
tiſche Haus Ithamar noch exiftierte (Esra 8, 2). Der Priefter- 
codeg, warn immer entftanden, iſt — alle geben es zu — ideali⸗ 


2 Reuß 


fieread, nicht der Wirklichteit ſich aubequemend. Weshalb das zu 
einer Zeit wie die Esras, wo ein prieſterlicher Gefeiggeber errrichen 
Tonnte, was irgend in feinem Initereſſe erreichbar? Jenes mn 
praltiſche Verfagren ift verftündfidger aus einer Zeit heraus, wo 
die Priefterfchaft noch entfernt war von dem Cinflufie, welchen fie 
unter Esra befaß, uud größeren Anlaß Hatte als damals, ſich mit 
Luftſchloſſern ftatt mit der Wirklichkeit abzugeben. Ben alten 
Details aber abgejchen — man leſe die Refte von den Memoiren 
Esras und Nehemias —: machen ihre Verfafler, die gervorragendften 
wuter ihren Zeitgenoffen, den Eindruck ſchöpferiſcher Geiſter? Ich 
glaube, daß ein erneutes Studium der Buücher Esra und Nehemia, 
die ich bei Vertretern der Reußſchen Hypotheſe mehrjach vernach⸗ 
Täffigt finde, zu Modififationen jener Konftruktion nötigen wird. — 
Zu den Stücken des Prieſtercoder, weiche der nachezechieliſchen Zeit 
erſt anzugehören ſcheinen, zähle ih das Geſetz vom Berfühnungs- 
tage. Reuß verlegt dasfelbe in die nachnehemianiſche Zeit, weil 
Nepemia ein Verföhnungsfeft feierte am 24., nicht am 10. Zage 
des fiebenten Monates (S. 475). Deutlich ſcheint mir wenigſtens 
dies, daß Ezechiel mit feiner einfacheren Verſöhnungszeremonie ben 
Ritus von Ber. Kap. 16 mach nicht kannte. Ich acceptiere von 
Reuß die Loslöfung von Lev. Kap. 16 aus dem Gros des Priefter 
coder, obgleich fie nicht unbedeutende Schwierigkeiten vermrfadht, 
werüber id eine Erläuterung bei Reuß vermiffe. Wenn micht 
&;. 30, 10, fo wird doch Num. 29, 7—11 (beide Stellen läßt 
Neuß älter fein) von der Auſetzung jenes Geſetes abhängig fein. 
Gleiches gilt für Se. 28, 26— 32, worüber Meng ſich nicht 
äußert. 

Befremdend ift mir, daß erſt nach Nehemia das Spruchbuch 
eingereigt ift (S. 487 ff.). Von dem drei Anhlngen desſelben will 
ih nicht reden; aber die voranftehenden größeren Spruchfamm ⸗ 
Tungen weifen doch auf eine fo geſunde und kräftige Denkungsart, 
wie fie dem nachexiliſchen Judentum ſchwerlich zugstrauen iſt. Daß 
bie einzelnen Spruche, im großen und ganzen genommen, wenn 
aud uralte darunter fein mögen, gar nicht die Farbe der Pro- 
phetenzeit tragen“ (S. 494), finde ic bei früherer Anfegurg nicht 
auffallend. Die „Barbe der Psophetenzeit" Tann Hier doch mur 


Die Gejhichte der heiligen Schriften Alten Teſtaments. 38 


befagen bie ‚Forbe der Propheten“. Das Bürgertum wirb zur 
Zeit der Propheten weientlich anders gedacht und gerebet haben als 
diefe. — Mit Jona, Chronik (über deren Glaubwürdigkeit und 
Charakter fehr beſonuen und maßvoll geurteilt wird), den Anfängen 
dee LXX, Koheleth, Jeſus Sirach, Tobias flieht Reuß fein 
drittes Bud. 

4. Das vierte Bad; über „die Zeit der Schriftgelehrten“ 
bietet, wa® fonft unter dem Titel der weuteftamentlihen Zeitge⸗ 
ſchichte behandelt zu werden pflegt. Es feheinen mir fin Kritik 
und Verftändnis der Epigonenlitteratur viele daukenswerte Beiträge 
geliefert zu fein. Die Verwebung der litterariſchen Geſchichte mit 
der politifchen ift hier befonders glänzend gelungen, die theologifche 
Entwickelung reichlicher, ſcheint mir, als in den anderen Perioden 
bedacht. Über Abgrenzung und Titel dieſes Abfchnities ließe ſich 
ſtreiten. Jene it in der Geſchichte nicht allzu ſicher an die Hand 
gegeben. Der mallabäifche Aufftand war das Mafgebende, um 
die voranftehende Periode abzujchliegen. Über den Namen jagt 
der Verfaffer: „Wenn wir diefe vierte Pertode die der Schrift 
gelehrten nennen, fo geſchieht es nicht deswegen, weil dieſe etwa 
anf dem Schauplatz der Gefchichte im Bordergrund ftünden. Dies 
war um fo weriger der Fall, als die großen Entſcheidungen von 
ganz anderer Seite und vorwiegend von außen kamen. Wohl 
aber Teitete uns bie Betrachtung, daß nad dem Berfchwinden ber 
Propheten und nach dem ſittlichen und politischen Bankrott der 
Zaboliben, als der eigentfichen Nepräfententen der Hierarchie, die 
dem Judentume eigentümliche geiſtige Thätigleit ſich auf Studium 
und Gelehrfamteit konzentrierte“ (S. 568). 

IH hebe nur noch hervor, welchen Zeilen des hebräiſchen 
Alten Teftamentes Reuß Hier ihre Stelle angewieſen hat. Es 
find Daniel, Ejtger und Pſaltet. Daniel würde, fo ſcheint wir, 
richtiger noch in der vorhergehenden Periode, innerhalb der malla⸗ 
baiſchen Kämpfe, feine Stelle finden. Das Buch ift doch abge 
ſchloſſen vor bem ſchon dort berichteten Tode des Antiochus. 
Reuß beftreitet die nicht; ex läßt aber „die einzelnen Abſchnitte“ 
zunächſt gefondert veröffentliht werden (S. 581). Die dem Buch 
angewiejene Stelle bezieht fi alſo nur auf die Sammlımg. Ich 


844 Reuß 


zweifle an einer urfprünglichen Ausgabe in ofen Blättern, da 
diefelben in der Vereinzelung großenteils unverftändlich gewefen 
wären. Über die dem Pfalter angewiefene Stelle will ich oft Ge— 
ſagtes nicht wiederholen. Ich zweifle nicht daran, daß die Pfalmen 
44. 74. 79 und vielleicht noch andere maltabäifh find. Aber 
doch, meine ich, nicht allzu viele; jedesſalls kann ich mit der An- 
ſchauung, daß die ſcheinbar den Abſchluß des vierten Pfalmbuches 
vorausfegende Stelle 1Chron. 16, 8—36 „eine junge Inter⸗ 
polation® ſei (S. 588), mid nicht befreunden. Weshalb die 
chasidim der Pfalmen die politiſche Partei der Maftabäerzeit fein 
müfjen (S. 596), vermag ich nicht einzufehen. 


Es ift mir nicht leicht gewefen, zu der „Kritik“ eines Werkes 
von Neuß mich zu entfchließen. Nachdem ich durch fünf Jahre 
demfelben als Kollege und nächſter Fachgenoſſe zur Seite geftan« 
den, würde ich, der um vieles Süngere, eine Beurteilung feiner 
Arbeit von meiner Seite nicht am Plage gefunden haben, Hütte 
nicht der verehrte Verfaffer ſelbſt Einwilligung und Ermunterung 
gegeben. Wie des Verfaſſers Name, fo Täßt auch der andere, 
welchen er dem feinigen in der Widmung an bie Seite geftellt hat, 
ein Pietätsverhältnis zu diefem Buche mich einnehmen. Wer ihm 
näher getreten — es wird nicht allzu leicht geftattet —, dem 
wahren und geraden Eunig, muß ihn verehrten. Ihm dies Werk 
gewidmet zu fehen, findet faft felbftverftändfich, wer die Verhält⸗ 
niſſe der Kaifer-Wilhelms-Univerfität kennt und dieſe beiden ehr⸗ 
würdigen Zeugen ihrer vergangenen Zeit. 

Nachdem ich einmal Vericterftatter geworden, konnte ich es 
nicht anders fein als freimütigerweife. Wie ich beftrebt war, her» 
vorzubeben, was mir an dem Werke von Reuß gerade für die 
gegenwärtige Lage unferer Wiffenfchaft bedeutſam zu fein fcheint, 
fo Hoffe ih auch betont zu Haben, was der Verfaſſer als feine 
Leiftung betont zu wiſſen wunſcht. Es ift mir ſchwer gefallen, 
daß die Art einer Titterarifchen Beſprechung mir unterfagte, wie 
von dem Werke, fo auch von dem Verfaſſer zu reden und von 
meiner Verehrung. Selten Habe ich ein wiſſenſchaftliches Wert fo 


Die Geſchichte der Heiligen Schriften Alten Teftaments. 35 


Horakteriftifch gefunden für die Perfon des Autors. Wer bie 
Reden an Studierende kennt und dieſes Buch, der kennt den Ders 
faffer, glaube ich, fehr gut. Liebenswürdigfeit — dort an dem 
Menſchen und Ehriften, im höchſten und tiefften Sinne —, foweit 
fie fih von dem Gelehrten als ſolchem ausfagen Tägt, ift fie auch 
bier die Signatur. 

Die Vorrede iſt datiert von dem Landfige des Verfaſſers. 
Es weht etwas in dem Bude von der Baumesfrifche jenes Tus- 
eulums. Möge deſſen jungerhaltende Kraft an dem verehrten 
Manne au ferner fi bewähren. Er, der Raftlofe, fammelt 
Zufäge für eine zweite Auflage. Wolle ein freundliches Geſchick 
ihn noch ſchauen laſſen auch diefen Erfolg feines Schaffens. 


7. April 1883, Wolf Wilh. Waudiſſm. 


— 


* 


Inhalt des Jahrganges 1883. 


Erites Heft. 


Abhandlungen. 





. Brüdner, Über die Zufammenfegung der Liturgie im achten Buche 


der Apoſtoliſchen Konſtitutionen. * 


. Kleinert, Bemerkungen zur Kompoſition ber Clemensliturgie .. 
Schultz, Religion und Sittlichkeit in ihrem Verhältnis zu einander 


Gedanken und Bemerkungen. 


. Franke, Die galatifcen Gegner des Apoftels Paulus. . . . .- 
. Neftle, Die alten hriftlichen Inſchriften nach dem Text der Sentuoginte 
. Ufert, Öfolampabs Stellung zur Kindertaufe . . . 


Nezenfionen. 


. Erdmann, Der Brief des Jakobus, und Beyſchlag, Kritiſch-exegeti - 


fies Handbuch über den Brief des Jakobus; re. von Haupt . . 


. BöHL, Ehriftologie des Alten Teftamentes oder Auslegung ber wich- 


tigſten meffianifchen Weisfagungen; rez. von Kloflermann . . . 


. Kloftermann, Korrekturen zur bisherigen Erklärung des Römer- 


briefes; veg. vom M. Rähler. . 2 0 0 nennen 


Zweites Heft. 


Abhandlungen. 


. Dorner, Über das Weien dev Religion «2 2000 e 
. Ryffel, Ein Brief Georges, Biſchofs der Araber, an den Presbyter 


Jeſuussss.... 


196 


199 


217 


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vr 


* 


Inbalt. 


Gedanken und Bemerkungen. 


. Grimm, Luthers Überfegung der altteftamentlichen Apofcyphen . 


Uferi, Das im Staatsarchiv zu Zürich wieder auſuelaen· Ori 
ginal dev Marburger Artikel im Fakfimile. . . ... 


Rezenfionen. 


. Analecta ad Fratrum Minorum Historiam; te. von Lechler. 


Felice, Lambert Daneau, sa vie, ses oomtes ses lettres 
inedites; rez. von Ebrard 
Stade, Zeitſchrift für altteſtamentliche Wifſen chaft; wm. bon Smend 


Miscelten. 


. Programm der. Haager Gefellichaft zur Bertihigung der chriſtlichen 


Religion für das Jahr 1882 . . . 
Programm der Zenecen Zieolgitäen Bra u San Mm 
das Jahr 1888. . 


Drittes Heft. 





Abhandlungen. 


» Bacmeifter, Zur Frage der fittlichen Weltordnung . . 


. Wendt, Der Gebraud) der Wörter dAyjdsia, —— und eine 
im Neuen Teftamente . . . . . 
. Bleibtreu, Der Abſchnitt Km. 8 21-26 more 
Gedanken und Bemerkungen. 
. Weiß, Zur Evangelienfrage . .. .. 
. Beyſchlag, Zu dem vorſtehenden Aufſatz von D. 8. wäh: ,Zur 
Evangelienfrage“ . .. 


» 


Wetzel, Aiphaus und Rloyas 
. Neftle, Bemerkung zu: Une, Das Original der ee Ar⸗ 


Kolde, Die erſte Nürnberger "ewangelfche Sottesbienfordnung 


. Üfteri, Weitere Beiträge zur —— der Leuſuehre der ——— 


Rice 





till, S. 405...» vo. . .. 
Regenfionen, 


. dv. Hartmann, „Das religiöfe Bewußtſein der Menfchheit im Stufen- 


gang feiner Ertwidetung“ und de Senn des s Site“; I von 
Dorner 


445 


511 


631 


848 Inhalt. 


ver 


fe 


Biertes Heft. 


Abhandlungen. 


. Hering, Die Eiebesthätigfeit der deutſchen Reformation. 1. Artikel . 
. Mfteri, —— der Zwingliſchen Salraments · und —— bei 


Bullinger PER . .... 
Sedanten und Bemerkungen. 


. Kleinert, Sind im Buche Roheleth außerhebräiſche Einfläffe anzu - 


erlennen Le 


. Schmidt, Die Bedeutung der Talente in der Parabel Matth. 25, 


M-890. 2200020. . 
Rezenftonen. 


. v. Orelli, Die altteftamentliche Weisſaguug von der Bollendung des 


Gottesreiches in ihrer gefchichtlichen Entwidelung; ve. von Riehm. 


Reuß, Die Geſchichte der Heifigen Schriften Alten Teſtaments; rez. 


von Bandiffin. - 2: 2 2 ernennen. 


Deut von Beiedr. Made, Verthes In Cote. 


661 


730 


803 





Studien und Kritiken. 


ine Beitfhrift 
für 
das gefamte Gebiet der Theologie, 


begründet von 
D. €. Ullmann m D. F. W. 6. Umbreit 


und in Verbindung mit 


J 


— 
8 


F D. G. Baur, D. W. Beyſchlag, D. J. A. Dorner m D. J. nn R 


herausgegeben 


D. J. Röflin un D. E. Riem. 


Jahrgang 1883, erſtes Heft. 


Gotha. 
Sriedrih Andreas Perthes. 





Zur gefäligen Beachtung! 


Die für die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einfendungen 
find an Profeffor D. Riehm oder Konfiftorialrath D. Köftlin in 
Halle 0/8. zu richten; dagegen find die übrigen auf dem Titel 
genannten, aber bei dem Redaktionsgeſchäft nicht beteiligten Herren 
mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re 
baftion bittet ergebenft, alle an fie zu fendenden Briefe und Patete 
zu franfieren. Innerhalb des Poſtbezirks des Deutſchen Reiches, fowie 
aus Öfterreich» Ungarn, werden Manuftripte, falls fie nicht allzu 
umfangreih find, d. 5. das Gewicht von. 250 Gramm nicht 
überfteigen, am beften al8 Doppelbrief verjendet. 


Friedrich Andreas Perthes. 


Im Verlage von Wiegandt & Grieden in Berlik iſt ſoeben erfhienen 
und durch jede Buchhandlung zu beziehen: [62] 
Steinmeyer, 8 L., Die Ehrifophanicen des Verherrlihten. 2 4. 








Neuer Verlag von J. C. B. Mohr in Freiburg 1./B. 
Weizsäcker, C. Das_Neue_ Testament, übersetzt 


von Carl Weissäcker. Zweite, 
neu bearbeitete Auflage. Klein 8°. 4 5. [s1] 











Verlag don Friedrich Andrens Perthes in Gotha. 
Die Ehe 
in 


befonderer Beziehung auf Ehefcheidung und 
Eheſchließung Geſchiedener. 
Nach evangeliſchem Kirchenrecht und nad) Lehre der Heiligen Schrift 


Dr. Kudotf Roedenbech. 
AB. 


Die natürliche Theologie, 
Eine Darftellung 


den vereinigen Zeugniſſen von Holt innewohnenden Beweiskraft 
don 


Dr. Alfred Barry, 


Direftor von Kings College in Eondon, Kanonifus zu Worcefter, 
Bofprediger der Königin. 
44. 


Bibliſche Skizzen 


F. Pauli, 


Paftor an der Frauenkirche in Kopenhagen. 
#4 1.80. 


Korrekfuren 


zur bisherigen Erklärung des Kömerdriefes. 
Bon 
a. Kloſtermann. 
A 4.80. 








JIuhalt. 


WBG 


3. Säulg, Religion und Citttiäfeit in ihrem Verhältnis zu einander 


Gedanken und Bemerkungen. 


N 1. Franke, Die galatifhen Gegner des Apoftels Paulus... . . 
2. Böhl, Die alten hriftlichen Juſchriften nach dem Tert der Be 
3. Ufteri, Öfofampads Stellung zur Kindertaufe . . . . . 
> 


NRezenfionen. 





1. Erdmann, Der, Brief des Jalobus, und Beyſchlag, Kritifcregegeti» 
ſches Handbuch über den Vrief des Jalobus; reg. von Haupt . . 
2. Böhl, Chriftologie des Alten Teftamentes oder Anslegung der wide 
tigſten meſſianiſchen Weisfagungen; rez. von Kloftermann . . . 
3. Klofermanı, Korrefturen zur bisherigen Erllarung des Römer» 


i 
\ brieſes; vg. von M. Kähler. . . o 2 220. 
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Drud von Friedr. Audr. Vertbes in Gotha. 
—E ———⏑——— 


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— 
Studien und Kritiken. 


Fine Zeitſchrift 
für 
das geſamte Gebiet der Theologie, 


begründet von 
D. C. Ullmann uud D. 3. W. C. Umbreit IL 
f: 


und in Verbindung mit 
mp D.G. Baur, D.W. Beyſchlag, D. J. A. Dorner u] 


Herausgegeben 
von 


D. 3. Köftlin uw D. €. BR 


—— 


Dahrgang 1883, zweiles Heft. 


Gotha. 
SFriedrich Andreas Perthes. 





Zur gefäligen Beachtung! 


Die für die Theol. Studien und Kritiken’ beftimmten Einfendungen 
find an Profeffor D. Riehm oder Konfiitorialrath D. Köftlin in 
Halle a/6. zu richten; dagegen jind die übrigen auf dem Titel 
genannten, aber bei dem Redaktionsgeſchäft nicht beteiligten Herren 
mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re 
daftion bittet ergebenft, alle an fie zu fendenden Briefe und Pafete 
zu frankieren. Innerhalb des Poſtbezirls des Deutſchen Reiches, ſowie 
aus Ofterreich- Ungarn, werden Manuftripte, falls fie nicht allzu 
umfangreich find, d. 5. das Gewicht von 250 Gramm nicht 
überfteigen, am beften als Doppelbrief verfendet. 


Friedrich Andreas Perthes. 


Iuhalt. 


Abhandlungen. 
1. Dorner, Über das Weſen der Religion 
2. Ryffel, Ein Brief Gras, Bitänfe der Araber, an den Grainer 
Jeſus 
Gedanken und Semertungen 
1. Grimm, Luthers Überfegung der altteſtamentlichen Mpolcyphen . . 375 


> 2. Ufteri, Das im Staatsardiv zu Züri) wieder Die 


ginal der Marburger Artiel im Fakfimile . . » . - 400 


Rezenfionen. 


. Analecta ad Fratrum Minorum Historiam; re. von Lechler. . 417 
. Felice, Lambert Daneau, sa vie, ses ouvrages, ses lettres 
inedites; rez. von Ebrard . . 0. 428 
. Stade, Zeitjchrift für afttefamenttide Biffenfäaft; m. von Smend 429 


Miscelten. 
. Programm der Haager Gehſellſchaft zur Betbigung ber chriſtlichen 
Religion für das Jahr 1892 . . 437 
. Programm ber Leyrrichen Sinn ocrican uu arm m 
das Jahr 1883. . 45 








Theologiſche 
Studien und Kritiken. 


Line Zeilſchrift 
für 
das geſamte Gebiet der Theologie, 


begründet von 
D. €. Ullmann und D. $. W. C. Umbreit 


und in Verbindung mit 


 D.G. Baur, D. W. Beyſchlag, D. J. A. Dorner u» D. 3.Wagenmann Ei 


herausgegeben 
von 


D. 3. Köftlin um D. E. u 


Jahrgang 1883, drittes G 


Gotha. 
Friedrich Andreas Perthes. 





Bur gefäligen Beachtung! 


Die für die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einfendungen 
find an Profefjor D. Riehm oder Konſiſtorialrath D. Köftlin in 
Halle 0/8. zu richten; dagegen find die übrigen auf dem Titel 
genannten, aber bei dem Redaktionsgeſchäft nicht beteiligten Herren 
mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re 
daftion bittet ergebenft, alfe an fie zu fendenden Briefe und Pafete 
zu franfieren. innerhalb des Poſtbezirks des Deutfchen Reiches, ſowie 
aus Ofterreih Ungarn, werden Manuftripte, falls fie nicht allzu 
umfangreich find, d. 5. das Gewicht von 250 Gramm nicht 
überfteigen, am beften al8 Doppelbrief verfendet. 


Friedrich Andreas Perifes. 


Verlag von G. Reimer in Berlin. 


Zu beziehen durch jede Buchhandlung. 
Dr. Martin Luthers 


Briefe, 
Sendfchreiben und Bedenken, 


vollſtãndig 
aus den verſchiedenen Ausgaben ſeiner Werle und Briefe, aus andern 
Büchern und noch unbenutzten Handſchriften geſammelt, 
tritiſch und hiſtoriſch bearbeitet 


Dr. W. MU de Wette. 
[7] 6 Leite. 
Ermäßigter Preis 18 A. 





In meinem Verlage ist soeben erschienen: ls] 


Untersuchungen 
über die 
synoptischen Evangelien 
August Jacobsen. 
Preis 2 A. 
Berlin, den 6. März 1883. G. Reimer. 





Berlag von Friedrich Andrens Wertes in Gotha. 
Kirche and Reid Gottes. 
Don 


A. Dorner, 
Profeffor und Mitdireftor am Predigerfeminar in Wittenberg. 
AT. 


Ein Brief 
Georgs, Biſchofs der Araber, 


an den Presöyter Jefus, 
aus dem Syriſchen überſetzt und erläutert. 
Mit einer Einleitung Aber . Xeben und feine Schriften. 





Lic. theol, vn $ KR 
Privatdozent in deipi * 
[Erweiterter Separalabdrus aus den „Cheol. Atndien mi Kritiken.) 
A 2.80. 


‚suite 





Inhalt. 
Seite 
Abhandlungen. 
1. Bacmeifter, Zur Frage ber ſittlichen Weltordnung . .. 405 9 
2. Wendt, Der Gebrauch der Wörter dAjdsıa, Arie und Antoe 
im Neuen Tefamente . . . . .. 51 
3. Bleibtren, Der Abſchnitt Am. 2.. 34] 
Gedanken und Bemerkungen. 
1. Weiß, Zur Evangelienfrage .... . . 571 
2. Beyſchlag, Zu dem vorftehenden Aufſatz on D. 8. Beh: „Zur J 
Evangelienfrage“ . . .. 59 8 
3. Kolde, Die erſte Nürnberger wongeuiſche Sottesbienftorbnung . . 602 9 
4. Ufteri, Weitere Beiträge zur Bi der — der reformierten 
Kircht . . . Pa VER 
5. Wegel, aiyhaus and Rlopas .. 620 & 
6. Neftle, Bemerkung zu: Ufteri, Das Sriginat der sun ar⸗ 
till, S. abß.* 627 & 
Rezenſionen. 
1. v. Hartmann, „Das religidſe Bewußtſein der Menſchheit im Stufen- 
gang ſeiner Lnmwiuilung · und „Die Hagen des soil; 5 von ii 
Dorner .... .. 631 — 


rat von Betr. Bub, Bares In Bath, 





Fine Zeitſchrift 
für \ 
das gefamte Gebiet der Theologie, 
" begründet von 
D. €. Ullmann um D. F. W. €. umnbreit 

und in Verbindung mit 
oD. G. Sant, D. W. Beyſchlag, D. 3. A. Dorner un» D. 3. Wagenmann 9 

Herausgegeben 5 


D. 3. Röftin uw D. E. Riehn. 27 . 


Bahrgang 1883, viertes Heft. 


Gotha. 
Friedrich Andreas Perthes. 





——— — 1. m 1885. 


Zur gefäligen Beahtung! 


Die für die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einfendungen 
find an Profeffor D. Riehm oder Konſiſtorialrath D. Köftlin in 
Halle «/. zu richten; dagegen find die übrigen auf dem Zitel 
genannten, aber bei dem Redaktiousgeſchäft nicht beteiligten Herren 
mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re— 
daftion bittet ergebenft, alfe an fie zu fendenden Briefe und Pakete 
au frankieren. Innerhalb des Poſtbezirls des Deutfchen Reiches, ſowie 
aus Ofterreich» Ungarn, werden Manuffripte, falls fie nicht allzu 
umfangreich find, d. h. das Gewicht von 250 Gramm nicht 
überfteigen, am beften als Doppelbrief verfendet. 


Friedrich Audreas Perthes. 














Verlag von F. C. W. Vogel in Leipzig. 


Soeben ’erschien vollständig: 


W. Gesenius’ 
Hebräisches und Chaldäisches 


Handwörterbuch ' 


über das A. T. 


Neunte vielfach umgearbeitete Auflage 
von 


F. Mühlau u. W. Volck, 


ord. Proff. der Theologie an der Universität Dorpat. 
[s4] komplett LXVI u. 978 8. gr. 8°. 15 Mark. 





Zum Luther - Jubiläum. 


Soeben erschien in 2. wesentlich umgearbeiteter Auflage: 


Martin Luther. be] 


Sein Leben und seine Schriften. 


Von Professor Dr. Julius Köstlin. 
2 Bände, 100 Druckbogen stark. 
Preis broschiert 18 Mark, in Halbfranz gebunden 21 Mark. 


Elberfeld. Die Verlagshandlung: R. L. Friderichs. 





Im Verlage der Hahnschen Buchhandlung in- Hannover ist 
soeben erschienen: 


Einblicke in das Sprachliche 


der 
semitischen Urzeit 
beireffend die Enistehungsweise der meisten hebräischen Woristämme 


von 
Prof. Dr. 8. Herzfeld, 
braunschweigischem Landrabbiner. 
gr. 8.6.4. 


Im Verlage von Joh. Ambr. Barth in Leipzig ist erschienen: 


unter Mitwirkung von Basser- 

Theolog. ahresbericht, 1: “yikıe vn ame 

Dreyer, Holtsmann, Lipains, Lädomanı, Beyerlen, Siegfried, Wer- 

- ner, herausgeg. von B. Pünjer. 2. Band; enthaltend die Littera- 

tur von 1882. 464 S. gr. 8°. Preis 8 A. [s2] 

Berichtet in ——— Darstellung in 12 Hauptab- 

schnitten über die theologische Litteratur des Jahres 1882, einschliesslich 

der periodischen und der ausländischen. Für Bibliotheken, theologische 

Lesezirkel, wie überhaupt für alle, welche Veranlassung haben, sich 
über die theologische Litteratur zu orientieren, unentbehrlich. 


== Durch alle Buchhandlungen zu beziehen, — 
In meinem Verlage ift ſoeben erſchienen: 
Ber Pelfimismus und die Sittenlehre, 


Getrönte Preisiärift 
der Teylerſchen Tpeotogifihen Geſellſchaft zu Haarlem 


[8] 





Hugo Sommer, 
Amtsrigter in Blantenbusg am Harz. 
Zweite Auflage. [ss] 
broſch. 3 Mart 60 Pf. 
Berlin, den 12. Juni 1883. ©. Reimer. 


Im Verlage von Wiegandt & Grieben in Berlin ift forben erſchienen 
und dur) jede Buchhandlung zu beziehen: 
Borgius, Konf.-Rat, Srofamen vom Tiſche des Herrn. (2 4. „en 
Solßhener, Sup. Lic., Der Brief am die Ebräcr, ausgelegt. 


Inhalt. 


Abhandlungen. 


1. Hering, Die Liebesthätigkeit der deutſchen Reformation. 1. Artilel 


. Ufteri, Bertiefung der Seen Saframents- und Zauſehre bei 
Bullinger 


Sedanten und Bemerkungen. 


. Kleinert, Sind im Buche Koheleth Einflüffe anzu- 
erlennen ? 
. Schmidt, Die Bag, de Zolente in der Parabel Natth. 26 


14-80. 


Rezenflonen 
.v. Orelli, Die altteſtamentliche Weisſagung von der Vollendung des 
Gottesreiches in ihrer geſchichtlichen Entwickelung; rez. von Riehm. 
. Reuß, Die Geſchichte der vage Ban Alten en Zefamenie; rez. 
von Bandiffin. ... oo. 


Deut von u Bel Andr. — in ge. 








Dita, GOOglE 
8 








Bars, Google